Skip to main content

Full text of "Gestaltwandel der Götter"

See other formats


Mf  (Sf  (Jrfi 


UNIVI.  !-i.ü  i  ' 

■  i  -v.v:':  l 
!     F.Ai-0 


<4/$  (tfy  (f/f> 


E3  r— \ 


i 


k 


GESTALTWANDEL  DER  GÖTTER 


LEOPOLD  ZIEGLER 

GESTALTWANDEL 
DER  GÖTTER 

DRITTE   AUFLAGE 


ZWEITER    BAND 

DARMSTADT  1922 
OTTO  REICHLVERLAG 


DRUCK  DER  SPAMERSCHEN  BUCHDRUCKEREI 

IN  LEIPZIG 


ALLE  RECHTE  VORBEHALTEN, 

BESONDERS  DAS  DER  ÜBERSETZUNG 

COPYRIGHT   1922  BY  OTTO  REICHL  VERLAG 

IN  DARMSTADT 


Gt 


FÜNFTE  BETRACHTUNG 

DER  MYTHOS  ATHEOS  DER  WISSEN. 

SCHÄFTEN 


Zur  Vorbeugung  von  Mißverständnissen  sei  kurz  er* 
wähnt,  daß  der  im  Mythos  Atheos  der  Wissenschaften 
erörterte  Weltbegriff  der  Mechanik  ausschließlich  auf 
der  sogenannt  klassischen  Mechanik  fußt,  wie  das  bei 
der  Anlage  des  Ganzen  ja  nicht  anders  sein  kann.  Die 
Krisis,  in  welche  Einsteins  Gesetz  heute  das  media* 
nischsmaschinelle  Denken  stürzte,  ist  unberücksichtigt 
geblieben.  Als  mathematische  Vision  einer  Weltwirk* 
lichkeit,  die  durch  riemannsche  Geometrien  gedanklich 
beherrscht  wird,  weist  die  Theorie  Einsteins  in  eine 
Zukunft,  die  kaum  jemand  heute  schon  übersehen 
können  wird,  —  wenn  anders  diese  Zukunft  nicht  über* 
haupt  auf  eine  perspektivische  Irrung  der  Gegenwart 
hinausläuft  .  .  .  Auf  jeden  Fall  werden  durch  Einsteins 
Gesetz  die  hier  von  der  klassischen  Mechanik  aufge* 
worfenen  Erkenntnisfragen,  die  ihrerseit  ganz  wesent* 
lieh  mit  letzten  und  ersten  religiösen  Fragen  zusammen* 
hängen,  weder  im  mindesten  berührt  noch  gar  gegen* 
standlos  gemacht  .  .  . 


DIE  WELT  ALS  MASCHINE 

\ lies  in  alles  gerechnet,  besteht  die  folgenwichtigste  Ent* 
iTx.  Scheidung  der  deutschen  Reformation  doch  vielleicht 
darin,   aus   dem   weit*   und   vielsinnigen  Zusammenhang 
mittelalterlicher  Religiosität  die  Bestandteile  hellenistisch* 
intellektualistischen    Ursprungs    (dem    Grundstoff   einer 
chemischen  Verbindung  vergleichbar)   herausgefällt  und 
den  Glauben  zumindest  der  mittel*  und  nordeuropäischen 
Menschheit  noch  einmal  auf  den  paulinischen  Mythos  ver* 
pflichtet  zu  haben.  Der  griechische  Einschlag  des  Christen* 
tums  wird  ausgeschieden,   der  jüdische  (wohlverstanden 
nicht  der  .israelitische')  behauptet  und  verstärkt,  und  so 
unerfreulich  einen  dieser  Umstand  nachträglich  bedünken 
mag,  ist  er  doch  zu  seiner  Zeit  nicht  unbegründet  gewesen 
als  eine  dringend  erforderliche  Vereinfachung  und  Ver* 
wesentlichung  einer  allzu  verwickelten  Heilslehre  und  Heils* 
Übung.   Derartige  Zeitalter  überwiegender  Vereinfachung 
pflegen  mit  einer  gewissen  Regelmäßigkeit  in  der  Geschichte 
die  Zeitalter  einer  überwiegenden  Vermannigfachung  ab* 
zulösen,  und  da  der  Verstand  immer  dazu  neigt  zu  ver* 
schränken  und  zu  verschwierigen,  mußte  es  auch  hier  dem 
Bedürfnis  des  Gemüts  vorbehalten  sein,  die  religiösen  Ver* 
hältnisse  innerhalb  des  Christentums  auf  eine  übersichtliche 
Grundgestalt  zurückzuführen.   Bezeichnen  wir  die  mittel* 
alterliche  Scholastik  ganz  allgemein  als  die  angestrebte  Ver* 
wissenschaftlichung  des  Dogmas,  das  Dogma  aber  schon 
als  eine  Verwissenschaftlichung  des  Mythos,  so  sind  wir 
unbestreitbar  dazu  befugt,  jene  eine  Verwissenschaftlichung 
in  zweiter  Potenz  zu  nennen:  von  Luther  zuvörderst  auf 
die  erste,  dann  auf  die  nullste  Potenz  herabgesetzt,  indem 
er  aus  der  Scholastik  zunächst  das  eigentliche  Dogma,  aus 
diesem  aber  sofort  den  urtümlichen  Mythos  säuberlich  und 

473 


glatt  herauszuschälen  sich  gedrungen  fühlt.  Diese  Zurück* 
bringung  der  christlichen  Frömmigkeit  auf  den  Mythos  ist 
gewiß  nicht  die  einzige  Möglichkeit  einer  Vereinfachung 
des  religiösen  Lebens  gewesen,  die  man  sich  vorstellen  kann, 
denn  wir  sind  uns  ja  seither  anderer  evangelischer  Möglich» 
keiten  bewußt  geworden,  die  den  Mythos  des  Paulus  weniger 
voraussetzen  als  ihm  vielmehr  widersprechen.  Aber  für 
Luther  selbst,  der  in  vielen  und  bestimmenden  Zügen  eine 
bemerkenswerte  Hingezogenheit  zu  der  religiösen  Welt  der 
Semiten  erkennen  läßt  und  menschlich  öfters  geradezu  wie 
eine  Wiederverkörperung,  Wiederverpersönlichung  des 
Paulus  oder  des  Augustinus  anmutet,  hat  wohl  in  der  Tat 
kaum  eine  andere  Wahl  bestanden.  Für  eine  kurze  Frist 
scheint  mithin  das  Christentum  noch  einmal  als  der  schlichte 
und  doch  so  anspruchsvolle  Glaube  an  den  Mittlergott  Jesus 
den  Nazoräer  aufleben  zu  können,  entbürdet  von  allen 
Bürden  aristotelischer  und  neuplatonischer,  arabischer  und 
westeuropäischer  Spekulation,  ein  simples  Zutrauen  in  das 
Gotteswort,  wie  es  die  Schrift  (zufolge  der  Auslegung  des 
Paulus)  bewahrt  und  übermittelt. 

Welches  nun  die  auffallendsten  Wirkungen  des  noch 
einmal  verselbständigten  evangelischen  Mythos  in  der 
deutschen  Reformation  gewesen  seien,  ward  zuletzt  hier, 
wenn  auch  einigermaßen  im  Stil  des  al  fresco,  zu  um* 
reißen  versucht.  Wie  sich  aber  die  immerhin  beträchtlich 
entwickelte  wissenschaftliche  Gesinnung  des  Abendlandes 
mit  dieser  gewaltsamen  Abschnürung  von  der  allgemeinen 
Heilslehre  abfinden  würde,  dies  bleibt  im  bisherigen  durchs 
aus  unerwähnt  und  bildet  in  Wahrheit  ein  Kapitel  für  sich. 
Denn  einen  guten  Teil  ihrer  ehemaligen  Spannkräfte,  die 
ihr  nach  dem  Zusammenbruch  des  hellenistischen  Alter= 
tums  verloren  gegangen  waren,  hatten  die  Wissenschaften 
offenbar  durch  ihre  seltsame  Paarung  mit  dem  christlichen 

474 


Mythos  zurückgewonnen,  und  die  Vermutung  ist  erlaubt, 
daß  die  europäische  Wissenschaftlichkeit  des  Mittelalters 
der  Glaubensinbrunst  der  Zeit  ebensoviel  verdankt  wie  — 
diese  ihr.  Es  ist  richtig:  in  manchem  Betracht  tritt  schon 
damals  die  Unvereinbarkeit  religiösen  und  philosophischen 
Erkenntniswillens  grell  und  abschreckend  zutag.  Aber  fürs 
erste  weiß  man  sich  zu  helfen.  Weil  ja  Gott  die  Wahrheit 
und  die  Wahrheit  Gott  ist,  müssen  Wissen  und  Glauben 
stets  in  dieselben  Gewißheiten  einmünden.  Die  Lehre  von 
der  doppelten  Wahrheit,  oftmals  mit  wenig  angebrachtem 
Takt  und  Eifer  als  Beispiel  für  die  innerliche  Unwahrhaftig= 
keit  des  mittelalterlichen  Menschen  verächtlich  gemacht,  er- 
weist sich  im  Gegenteil  von  dieser  Voraussetzung  aus  als 
die  völlig  aufrichtige  Anerkenntnis  eines  vorgefundenen 
Sachverhaltes.  Das  Wort  der  Schrift  offenbart  Gott,  offen* 
bart  folglich  die  Wahrheit;  die  menschliche  Wissenschaft 
hingegen  offenbart  die  Wahrheit,  offenbart  folglich  Gott. 
Wenn  dabei  etwas  nicht  ganz  geheuer  aussah,  so  war  dies 
zwar  unheimlich  und  beängstigend  genug,  konnte  aber  von 
sich  aus  immer  noch  keinen  Zweifel  an  der  grundsätzlichen 
Übereinstimmung  des  theologischen  und  des  szientifischen 
Wahrheitbegriffes  hervorrufen.  Erst  indem  Luther  den 
Christenmenschen  ausschließlich  und  starrsinnig  auf  den 
Buchstaben  des  biblischen  Berichtes  verweist  und  die  Be* 
tätigung  der  Vernunft  auf  die  richtige  Auslegung  des  Wortes 
einschränkt;  erst  indem  er  vom  Dogma  eigentlich  nur  noch 
den  Mythos  übrig  läßt,  den  er  freilich  gar  nicht  als  Mythos, 
sondern  schlechterdings  als  Historie  geltend  gemacht  haben 
möchte;  erst  indem  er  alle  Erkenntnisweisen  und  Forschung* 
arten,  die  nicht  dem  Evangelium  zu  dienen  sich  bescheiden 
wollen  oder  können,  mehr  oder  weniger  als  überflüssig,  so* 
gar  als  schädlich  ablehnt:  erst  jetzt  gerät  der  geistige  Eni* 
deckertrieb  in  eine  Krisis  von  wirklich  seltener  Schärfe. 

475 


Nicht  mehr  dazu  berufen,  die  Enge  des  offenbarten  Wortes 
durch  eigene  Gedanken  zu  erweitern,  die  Auffassungen  vom 
Seelenheil  zu  deren  eigenem  Vorteil  im  Fluß  zu  erhalten, 
muß  sich  die  Wissenschaft  notwendig  zwecks  und  stellenlos 
vorkommen.  Und  wieweit  diese  Empfindung  in  den  ersten 
Zeiten  nach  Luthers  Auftritt  tatsächlich  um  sich  gegriffen 
haben  mochte,  wird  aus  der  beklagenswerten  Verödung  der 
deutschen  Hochschulen  in  jenen  Jahren  sehr  bemerklich. 
Wozu  Gelehrsamkeit  erwerben,  wozu  Verstandeskräfte  üben, 
wozu  Wissenschaften  pflegen,  wenn  doch  ein  für  alle  mal 
der  biblische  Buchstabe  die  einfache  Wahrheit  völlig  er= 
schöpft,  für  eine  doppelte  nicht  den  mindesten  Spielraum 
mehr  gewährend ! 

In  dieser  Not,  welche  vorübergehend  die  europäische 
Wissenschaftlichkeit  noch  einmal  ernsthaft  in  Frage  stellt, 
geschieht  indessen  zweierlei.  Erstlich  gelingt  es  nämlich 
auch  Luthern  nicht,  eine  endgültige  Trennung  des  Mythos 
vom  Dogma  durchzusetzen.  Auch  das  verjüngte  und  wieder 
verjudete  Evangelium  der  Reformation  kristallisiert  sich 
bald  zu  einem  neuen  Dogma,  und  zwar  überwiegend  aus 
denselben  Gründen,  welche  einstmals  die  urchristliche  Froh- 
botschaft dogmatisiert  hatten.  Damals  wie  jetzt  erzwingt 
die  Verpflichtung  zur  Verteidigung  der  erworbenen  Glau* 
benslehre  ohne  weiteres  einen  dauernden  Bezug  auf  die 
Vernunft  und  ihre  Gewißheiten :  überall  wohl  werden  ja 
Dogmen  weniger  aus  einer  seelischen  Notwendigkeit  heraus 
erschaffen,  als  daß  sie  zufällig  entstehen  als  Erzeugnis  der 
Polemik  und  Apologie.  Solang  das  religiöse  Bewußtsein 
nicht  auf  jede  Art  von  Beweisführung,  Bewahrheitung,  Be= 
gründung  seines  Glaubens  stolz  und  bescheiden  zugleich 
verzichtet,  wird  der  Glaube  stets  auch  dort  dogmatisch  ver* 
krusten,  wo  er  mythologisch,  wo  er  kritisch  begonnen  hat. 
Solchermaßen   entsteht   aus   der  lutherischen  Erneuerung 

476 


des  evangelischen  Christglaubens  die  protestantische  Theo? 
logie,  und  binnen  kurzem  weiß  der  deutsche  Reformator 
einen  großen  und  auserlesenen  Stab  wissenschaftlicher  Hilfst 
arbeiter  zu  versammeln,  damit  sich  die  in  Bildung  begriffene 
Kirche,  oder  besser  die  in  Bildung  begriffenen  Kirchen 
ihrer  befestigten  Gewißheiten  bedienen  möchten.  Neben 
denselben  Martin  Luther,  der  schließlich  den  umbuhlten 
Führer  des  schon  wieder  abwelkenden  Humanismus  als 
einen  aristophanischen  oder  lukianischen  Freigeist  mit  der 
grimmigen  Wildheit  des  nordischen  Berserkers,  des  islän- 
dischen Bärenhäuters  der  Saga  anfällt,  —  wie  sehr  er  mit 
dieser  vermeintlichen  Beschimpfung  den  wirklich  freien 
Geist  Erasmi  Rotterdami  ehrte,  entging  ihm  leider  durch= 
aus!  —  neben  diesen  Luther  tritt  in  vielsagender  Symbolik 
das  mehr  wie  zahme  erasmische  Hutzelmännlein  mit  der 
ganzen  Ängstlichkeit,  Menschenfurchtsamkeit,  Zweideutig- 
keit, Zappeligkeit.Unentschiedenheit  des  geborenen  Bücher= 
wurms  und  Stubenhockers,  um  im  Gedächtnis  langer  Jahr* 
hunderte  als  der  Sancho  Pansa  der  Reformation  eifrig  theo= 
logisierend  auf  dem  Esel  nebenher  zu  reiten  .  .  . 

Unverhältnismäßig  wichtiger  aber  wie  diese  teilweise 
Wiederherstellung  der  Wissenschaft  zu  Gunsten  einer  bes 
nötigten  protestantischen  Theologie  ist  eine  zweite  hier  an« 
zuführende  Auswirkung  der  Reformation  geworden.  Ich 
meine  die,  daß  gerade  durch  die  ursprünglich  streng  ge? 
handhabte  Ablösung  der  Wissenschaften  vom  evangelischen 
Bekenntnis  jene  sehr  rasch  nach  Überwindung  ihres  toten 
Punktes  eine  unerwartet  wunderbare  Belebung  erfuhren, 
um  schon  rund  ein  Jahrhundert  nach  dem  Reichstag  zu 
Worms  alle  ihre  Leistungen  in  einer  dogmatisch  eingeengten 
Vergangenheit  auf  Nichtmehrwiedersehen  hinter  sich  zurück 
zu  lassen.  Auch  hierbei  gehört  es  zu  den  ebenso  rätselhaften 
wie  fruchtbaren  Widersprüchen  in  Luthers  eigener  Person, 

477 


denselben  Wissenschaften  unendliche  Fortschrittmöglichs 
keiten  bereitet  zu  haben,  die  er  folgerichtigerweise  als  die 
Bastarde  der  Teufelshure  Vernunft  hätte  verfolgen  und  aus= 
rotten  müssen.  In  seinem  auch  heut  noch  zündenden  pro= 
grammatischen  Entwurf  einer  Reformation  der  gesamten 
teutschen  Nation  an  Haupt  und  Gliedern  findet  man  be- 
kanntlich auch  den  Plan  einer  Neugestaltung  der  Hoch- 
schulen wohl  erwogen,  dessen  hauptsächliche  Forderungen 
für  die  philosophische  Fakultät  darin  bestehen,  den  scho* 
lastischen  Betrieb  tunlichst  einzuschränken,  damit  für  die 
humanistischen,  historischen  und  mathematischen  Diszi= 
plinen  mit  vermehrtem  Eifer  eingetreten  werden  könnte. 
Eine  Blüte  dieser  Wissenszweige  womöglich  herbeizuführen, 
war  ihm  merkwürdigerweis  ein  aufrichtiges  Bedürfnis,  wälv 
rend  er  sogar  von  philosopho  die  Bücher  der  Logik,  Rhe= 
torik  und  Poetik  als  nützlich  empfahl,  ,um  junge  Leute  zu 
üben  im  Wohlreden  und  Predigen*.  Wie  man  weiß,  hat 
Luther  dann  bei  der  Ausgestaltung  der  von  Friedrich  dem 
Weisen  gestifteten  Hochschule  wirklich  seinen  erstarkenden 
Einfluß  ganz  im  Sinn  dieses  Entwurfes  geltend  gemacht  und 
damit  einer  Neuordnung  deutscher  Bildunganstalten,  die 
ihm  ja  auch  in  anderer  Hinsicht  Unsägliches  verdanken, 
dort  vorgearbeitet,  wo  er  zunächst  als  rücksichtloser  Zer= 
störer  eingegriffen  hatte.  Von  den  humanistischen,  nisto* 
rischen,  mathematischen  Disziplinen  aber,  die  er  bevorzugt 
haben  möchte,  nimmt  jetzt  eine  Entwicklung  ihren  Aus* 
gang,  die  ohne  Übertriebenheit  mit  der  Entwicklung  in 
Griechenland,  fünftes  Jahrhundert  vor  Christi  Geburt,  ver* 
glichen  werden  darf,  allwo  eine  szientifische  Erkenntnis  zum 
ersten  mal  in  Europa  von  der  mythischen  geschieden  wird 
und  wo  mithin  die  ungeheure  Tatsache  ins  Dasein  tritt,  die 
als  abendländische  Wissenschaft  nicht  mehr  aus  unserem 
Welterleben  getilgt  werden  kann.  Jetzt  wird  die  Wissen* 

478 


schaft  fast  nach  allen  Richtungen  hin  zum  zweiten  mal  er* 
funden,  zum  zweiten  mal  entdeckt,  und  die  vom  religiösen 
Mythos  losgetrennte  Forschung  kann  nach  der  Reformation 
eine  völlig  veränderte  Gestalt  als  die  Scholastik  des  Mittel* 
alters  annehmen,  —ja  sie  kann  in  unseren  Augen  überhaupt 
erst  jetzt  die  Freiheit  besitzen,  sich  zu  dem  auszuwachsen, 
was  wir  selbst  als  Wissenschaft  anerkennen.  Ein  zunehmend 
enttheologisiertes  Wissen  mit  vollkommen  selbständigem 
Untersuchung*  und  Beobachtungverfahren  verdrängt  mit 
Schnelligkeit  die  ganze  ehemalige  Dogmatik  und  Scholastik, 
und  diese  Tatsache  ist  geeignet,  das  religiöse  Leben  des 
Abendlandes  in  der  Tiefe  und  in  der  Breite  mit  so  viel 
zwingender  Bestimmtheit  abzuändern,  daß  wir  zu  dieser 
szientifischen  Entstehung  schlechterdings  aufs  klarste  Stel* 
lung  nehmen  müssen. 

Keineswegs  hebt  freilich  diese  vom  Mythos  des  Christen* 
tums  wie  vom  Mythos  des  Protestantismus  gleichermaßen 
abgelöste  Bewegung  der  modernen  Wissenschaften  damit 
an,  sich  etwa  auf  die  von  Luther  begünstigten  Forschung* 
gebiete  der  philosophischen  Fakultät  zu  erstrecken.  Die 
philologisch*humanistischen  Studien  erweitern  gewißlich 
aufs  bedeutendste  ihren  alten  Stoff  kreis;  gewiß  beginnt  sich 
im  Zusammenhang  mit  diesen  und  ähnlichen  Studien  ein 
Verständnis  für  Historie  allmählich  einzustellen.  Aber  was 
will  dies  besagen  gegen  die  märchenhafte  Anspannung  der 
mathematisch*physikalischen  Erkenntnis,  durch  welche  mit 
beängstigender  Raschheit  die  Lebensführung  und  Welt= 
betrachtung  des  Europäers  sinnfälliger  umgewandelt  wird 
als  durch  alle  sonstigen  Veränderungen,  durch  welche  der 
Mensch  mit  seinem  Gesicht  von  heute  in  Erscheinung  zu 
treten  befähigt  worden  ist.  Hart  nach  der  gesellschaftlichen 
Umwälzung,  die  mit  dem  Protestantismus  Platz  greift  und 
in  engster  Verknüpfung  mit  ihm  ereignet  sich  eine  zweite 

479 


Umwälzung,  die  von  der  Geburt  der  modernen  Mechanik 
datiert:  und  noch  heute  könnte  man  billig  in  Streit  geraten, 
welche  von  beiden  Umwälzungen  die  wirksamere  gewesen 
sei.  Ein  Umstand  von  hoher  Einfachheit  und  Selbstverständ* 
lichkeit  verursacht  es  fast  von  einem  Tag  zum  anderen,  daß 
sich  der  Abendländer  als  Herr  des  natürlichen  Geschehens 
fühlen  darf,  und  zwar  darum,  weil  einigen  stillen  Gelehrten 
die  Anwendbarkeit  der  euklidischen  Geometrie  des  ebenen 
Raumes  auf  Vorgänge  der  Wirklichkeit  über  jeden  Zweifel 
sicherzustellen  gelingt.  Zuerst  werden  die  Bewegungen  der 
Himmelskörper  kinetisch,  bald  darauf  aber  etliche  Ver= 
änderungen  der  Lagen  irdischer  Massen  mechanisch  durch 
ein  paar  mathematische  Operationen  von  nicht  ungemeiner 
Art  gedanklich  beherrscht.  Eine  Wende  von  beispiellosem 
weltgeschichtlichem  Pathos  wird  eingeleitet  durch  den  sim* 
peln  Vorgang,  daß  gewisse  Ausschnitte  der  sinnlichen  Ge* 
gebenheiten  des  Bewußtseins  offenkundig  einer  Geometrie 
sierung  zugänglich  sind,  und  von  dieser,  von  keiner  anderen 
Einsicht  sonst,  datiert  die  Exaktheit  unserer  Physik.  Dabei 
haben  wir  vielleicht  die  Aufstellung  der  Fallgesetze  durch 
Galileo  Galilei  aus  doppeltem  Grunde  höher  zu  bewerten 
als  die  kopernikanische  und  die  keplersche  Grundlegung 
der  Mechanik  des  Himmels.  Denn  einmal  bleibt  die  Kennt* 
nisnahme  der  astronomischen  Vorgänge  bis  zur  vollenden* 
den  Entdeckung  Isaak  Newtons  auf  bloß  astrale  Bewegungen 
eingeschränkt,  deren  eigentlich  mechanisches  Verständnis 
sogar  nach  der  Einführung  des  Begriffes  der  Massenan* 
Ziehung  noch  reichlich  problematisch  erscheint,  während 
die  tellurischen  Bewegungen  des  freien  Falls,  der  schiefen 
Ebene,  des  elastischen  und  unelastischen  Stoßes  immerhin 
ohne  ausdrückliche  Annahme  von  Fernkräften  mechanisch 
deutbar  werden.  Zweitens  greifen  die  Folgen  dieser  tellu* 
rischen  Physik  sofort  ins  unmittelbar  tätige  Leben  des  Ein* 

480 


zelnen  und  der  Gesellschaft  ein,  indes  die  moderne  Astro* 
nomie  zwar  endlich  mit  den  ebenso  poetischen  wie  phan= 
tastischen  Vorstellungen  babylonischer,  platonischer,  aristo* 
telischer,  neuplatonischer,  ptolemäischer  Überlieferungen 
bricht,  die  menschliche  Einbildungkraft,  bisher  im  End* 
liehen  heimisch  und  heimelig  gewesen,  ins  Unendliche 
hinausstößt  und  sie  durch  denselben  Überschwung  oder 
Überschwang  auf  der  einen  Seite  nicht  minder  aufregt  und 
berauscht,  wie  durch  die  erzwungene  Preisgabe  auf  religiöse 
Wünsche  und  Hoffnungen  ernüchtert;  —  jedoch  im  großen 
und  ganzen  doch  nur  theoretisch  zurechtweist,  aufklärt  und 
erweitert,  ohne  praktisch  auch  nur  annähernd  im  Maße  der 
tellurischen  Mechanik  zu  befruchten,  zu  erneuern,  umzu* 
wandeln. 

Von  jener  tellurischen  Mechanik  also,  deren  Aufstellung 
wir  für  folgenwichtiger  noch  erachten  dürfen,  ja  müssen  als 
die  kopernikanische  Errichtung  des  neuen  astronomischen 
Systems,  sagt  ihr  Urheber  —  er  selber  übrigens  bei  weitem 
nicht  bloß  Zeitgenosse  der  Kepler  und  Tycho  Brahe,  viel= 
mehr  durchaus  einer  der  eminentesten  Vertreter  der  klas* 
sischen  Astronomie  des  siebzehnten  Jahrhunderts  durch 
seine  Entdeckung  der  Jupiter^Trabanten,  durch  seine  Be- 
obachtung des  dreigestaltigen  Adspekts  des  Saturn  (planeta 
frigemistus),  durch  seine  Feststellung  der  Sonnenflecke  und 
endlich  durch  seine  Wahrnehmung  des  Gestaltwechsels  der 
Venus:  alles  das  in  denkwürdigen  zwei  Jahren  in  Erfahrung 
gebracht,  nachdem  er  zufällig  bei  einem  venezianischen 
Aufenthalt  von  einer  großartigen  in  Holland  gemachten 
Erfindung  hatte  fabeln  hören  und  sich  nach  diesen  spar* 
liehen  Andeutungen  selbsttätig  eine  Fernröhre  ersonnen 
hatte  1  —  von  jener  tellurischen  Mechanik  sagt  also  ihr  Ur* 
heber,  gleichzeitig  einer  der  erfolgreichsten  Erweiterer  der 
cölestischen  Mechanik,   mit  großem  Rechte  aus,   daß  sie 

31     Ziegler,  Gestalt wandel  der  Götter  481 


nichts  anderes  sei  als  angewandte  Geometrie.  Die  Wahrheit 
dieser  grundsätzlichen  Behauptung  ist  auch  heute  noch  nicht 
ernstlich  erschüttert,  etwa  weil  gegenwärtig  die  von  Galilei 
aufgefundenen  Gesetze  für  die  Bewegungen  sichtbarer 
Massen  im  Raum  nicht  mehr  durch  die  etwas  plumpen  Pro* 
portionen  der  euklidischen  Geometrie,  sondern  durch  ana* 
lytische  Gleichungen  von  größerer  Leichtigkeit  ausgedrückt 
zu  werden  pflegen.  Immer  beruht  die  sogenannte  Exaktheit 
des  Gedankens  auf  dem  erprobten  Gebrauch,  raumzeitliches 
Geschehen  in  seine  einzelnen  Momente  begrifflich  zu  zer= 
legen  und  zwischen  ihnen  eine  mathematische,  heißt  das 
eine  in  zähl*  oder  meßbaren  Werten  auszudrückende  Be* 
Ziehung  herzustellen.  Mit  Genauigkeit  und  Strenge  ver* 
wirklicht  damit  der  selbständigste  Platoniker  der  neueren 
Zeit  eine  Bestrebung,  welche  sicherlich  dem  Stifter  des  Pia* 
tonismus  vor  Jahrtausenden  selbst  vorgeschwebt  hat,  wenn 
er  im  Timaios  ausdrücklich  die  (physikalische)  Zeit  dem 
geometrischen  Schema  der  Planeten  gleich  setzt:  kaum  etwas 
anderes  scheint  wenigstens  meines  Dafürhaltens  Galileo 
Galilei  getan  zu  haben,  wofern  er  tatsächlich  Zeiten,  Ge* 
schwindigkeiten,  Bewegungarten  in  geometrischen  Strecken 
symbolisch  darstellt  und  auf  solche  Weise  der  Geometrie 
ein  unübersehbar  ausgebreitetes  Gebiet  zur  Anwendung 
aufschließt.  Jetzt  kann  man  grundsätzlich  durch  eine  Auf* 
Stellung  geeigneter  Gleichungen  alle  Lagen  eindeutig  fest* 
legen,  die  ein  körperliches  Gebilde  zu  jeder  beliebigen  Zeit 
im  Raum  einnimmt,  und  nebst  den  Lagen  kann  man  die 
Geschwindigkeit  bestimmen,  mit  welcher  sich  dasselbe  Ge* 
bilde  im  Raum  bewegt.  Oder  falls  wir  den  nämlichen  Sach* 
verhalt  mit  den  gebräuchlichen  Begriffen  der  Mechanik 
allgemein  bezeichnen  wollen:  jede  Verrückung  materieller 
Punkte  aus  einer  Lage  in  die  andere  erscheint  von  nun  an 
darstellbar  durch  Angabe  ihrer  rechtwinklich*geradlinigen 

482 


Koordinaten  in  bezug  auf  ein  System  ruhender  Achsen. 

Was  Galilei  für  den  freien  Fall,  den  Wurf,  die  schiefe  Ebene 

leistet,  ist  im  wesentlichen  für  alle  räumlichen  Veränderung 

gen  beweglicher  Massen  des  Himmels  und  der  Erde  zu 

leisten.  Die  Geometrisierung  einer  einzigen  Bewegung  ma* 

terieller  Punkte,  die  Zerlegung  in  ihre  aufzeigbaren  Mo* 

mente,  räumliche  Lage  und  Geschwindigkeitzuwachs  in  der 

Zeit,  die  Errichtung  einer  geeigneten  Gleichung  zwischen 

diesen  einzelnen  Momenten  bewirkt  in  der  Folge  nicht  nur 

eine  beispiellose  Bereicherung  unserer  Kenntnis  von  der 

Natur,  sondern  auch  eine  erste  Möglichkeit  zuverlässiger 

begrifflicher  Meisterung  derselben.  Mit  Galilei  tagt  zum 

ersten  mal  auf  unserem  Planeten  der  Europäer  von  spezi* 

fischer  Modernität,    der  gleichsam  als   ein   umgekehrter 

Hamlet  (und  doch  kein  bloßer  Fortinbras)  nicht  an  der 

irdischen  Wirklichkeit  mehr  zuschanden  wird,  sondern  die 

gedanklichen  Handhaben  entdeckt,  die  Wirklichkeit  geistig 

zu  meistern  und  zu  bezwingen.  In  ihm  hat  man  den  eigent* 

liehen  Bahnbrecher  zur  exakten,  zur  induktiven  Methode 

zu  verehren,  —  bei  weitem  nicht  in  jenem  englischen,  ihm 

zwar  als  Beobachter  innerlich  verwandten ,  aber  der  Mathe* 

matik  mit  Entschiedenheit  abgeneigten  Baco  von  Verulam: 

was  nach  Christoph  Sigwarts  vortrefflicher  Darlegung  über 

des  letzteren  methodische  Grundabsichten  endlich  einmal 

anerkannt  sein  und  bleiben  sollte.  Wo  fortan  überhaupt 

Bewegungen  sichtbarer  Massen  wahrzunehmen  sind,  da 

kann  auch  ihre  mathematisch*logische  Entsprechung  mittels 

ihrer  Bedingunggleichungen  aufgesucht  und  gefunden  wer* 

den,  und  für  die  gesamte  spätere  Physik  handelt  es  sich 

zuletzt  nur  darum,  womöglich  alle  Vorgänge  der  Natur  in 

Bewegungen  aufzulösen,  selbst  wenn  sie  sich  dem  unmittel* 

baren  Erlebnis  durchaus  nicht  als  solche  zu  erkennen  geben. 

Wo  also  Bewegung  in  Raum  und  Zeit  stattfindet,  sei  es 

31*  483 


sichtbare,  sei  es  unsichtbare,  ist  sie  grundsätzlich  für  den 
menschlichen  Gedanken  solang  beherrschbar,  als  sie  sich 
der  Geometrisierung  irgendwie  zugänglich  erweist,  —  wo* 
bei  allerdings  die  Frage  offen  bleibt,  ob  dieser  Geometrie 
sierung  nicht  doch  bei  gewissen  Arten  natürlicher  Bewegung 
eine  Grenze  gesetzt  sei:  eine  Grenze  folglich  auch  der 
mechanischen  Darstellung  und  der  physikalischen  Er* 
kenntnis  .  .  . 

Bevor  wir  uns  jedoch  dieser  geargwöhnten  Grenze  gedankt 
licher  Naturbeherrschung  anzunähern  getrauen,  sei  uns  noch 
ein  voller  Blick  rückwärts  verstattet  nach  dem  oben  ange= 
führten  Ausspruch  Galileis  hin,  Mechanik  sei  nichts  anderes 
als  angewandte  Geometrie.  Denn  hinter  dieser  so  harmlos 
hingesagten  Äußerung  des  Rinascimento*Platonikers  dürfte 
ein  Problem  von  großer  Tragweite  zu  erahnen  sein,  ja  wahr* 
scheinlich  sogar  das  grundlegende  Problem  der  europäischen 
Wissenschaftlichkeit  überhaupt.  Schon  die  Anwendbar* 
keit  der  Geometrie  auf  etwas,  das  selbst  nicht  mehr  Geo* 
metrie  ist,  deutet  darauf,  daß  die  von  ihr  entwickelten  Be* 
Ziehungen  und  Gesetze  eines  Raumes,  der  seine  Merkmale 
und  Bestimmungen  ausschließlich,  man  merke  wohl  aus* 
schließlich!  aus  ihren  eigenen  Definitionen  und  Axiomen 
herleitet,  auch  vor  unserem  gegebenen  Wahrnehmungraum 
ihre  Geltung  keineswegs  verlieren,  wiewohl  er  seine  Merk* 
male  und  Bestimmungen  aus  dem  Erlebnis  einer  sichtbaren 
und  tastbaren  Wirklichkeit  gewinnt.  Unserer  räumlichen 
Erlebniswirklichkeit  entsprechen  mithin  seltsamerweise  die 
von  jeder  Erlebniswirklichkeit  unabhängig  gewonnenen 
Beziehungen  und  Gleichungen  einer  geometrischen  Raum* 
Vorstellung  a  priori  Zug  für  Zug,  und  diese  gewaltige  Tat* 
sache  dürfen  wir  allgemeingültig  so  aussprechen,  daß  von 
der  Erlebniswirklichkeit  unabhängig  aufgestellte  Erkennt* 
nisse  gewissen  Erfahrungen  der  Erlebniswirklichkeit  den* 

484 


noch  gedanklich  untergelegt  werden  können.  Oder  mit 
etwas  anderen  Worten :  daß  Erfahrungen  der  Erlebniswirk* 
lichkeit  durch  Erkenntnisse,  Urteile,  Ergebnisse,  Gleichun* 
gen,  die  auf  keine  Weise  der  Erlebniswirklichkeit  ent= 
nommen  sind,  dennoch  mit  mathematischer  Genauigkeit 
und  logischer  Gewißheit  darstellbar  erscheinen!  Vorstellung 
gen,  die  wir  wie  die  geometrischen  offenbar  nur  aus  den 
Voraussetzungen  unserer  Vernunft  geschöpft  haben,  finden 
wir  nachträglich  und  überraschend  einem  Bezirk  ihrer 
Gültigkeit  zugeordnet,  welcher  sich  völlig  außerhalb  dieser 
Voraussetzungen  erstreckt.  In  diesem  Tatbestand,  der  wie 
kein  zweiter  die  moderne  Naturerkenntnis  überhaupt  erst 
möglich  macht,  stoßen  wir  mithin  noch  einmal  und  aber* 
mals  in  einer  neuen  Bedeutung  auf  das  uralte  aristotelische 
Problem  des  Proteron  oder  des  Früheren,  dessen  sich,  wir 
wissen  es  zur  Genüge,  die  mittelalterliche  Philosophie  seiner* 
zeit  unter  dem  berühmt*berüchtigten  Terminus  des  a  priori 
bemächtigt  hatte.  Die  Merkmale  des  ebenen  Raumes  der 
euklidischen  Geometrie  sind  derart  im  Verhältnis  zu  den 
Merkmalen  des  ebenen  Raumes  unserer  Erlebniswirklich* 
keit  ein  Früheres,  Unabhängiges,  Selbstherrliches,  Selbst* 
gewisses,  weil  sie  in  keinerlei  Betracht  zu  ihrer  Wissenschaft = 
liehen  Entwicklung  dieses  Erfahrungraumes  bedürfen.  Und 
nicht  trotz,  vielmehr  wegen  dieser  Apriorität  tritt  eine  An= 
wendbarkeit  des  .Früheren'  auf  das  »Spätere*  in  Kraft,  will 
heißen  eine  Anwendbarkeit  der  euklidischen  Definitionen 
und  Axiome  auf  den  vorgefundenen  Tast*  und  Gesichts« 
räum  unseres  Bewußtseins.  Welch  ein  befremdlich  an* 
mutender  Sachverhalt,  aber  auch  welch  eine  großartige 
Rechtfertigung  und  Fruchtbarmachung  des  platonisch=ari* 
stotelischen  Apriorismus  ,  der  hellenischen  Transzendental 
Philosophie!  Gipfelte  doch  die  Wissenschaft  des  Altertums 
zu  ihrer  Zeit  ganz  überwiegend  darin,  die  von  dem  Wirk= 

485 


lichkeiterleben  unabhängige  und  befreite  Gültigkeit  des 
begrifflichen  Proteron  über  jeden  berechtigten  Zweifel  hin* 
aus  sicherzustellen  und  damit  den  Apriorismus  der  ,Idee' 
mit  vollendeter  Klarheit  herauszuarbeiten.  Und  war  es  doch 
insbesondere  jedem  eifrigeren  Leser  Piatons  eine  wohl  vers 
traute  Gepflogenheit  gewesen,  diese  Apriorität  des  Begriffes 
immer  wieder  an  Beispielen  erhärtet  zu  finden,  die  wie  die 
Begriffe  des  Größeren,  des  Kleineren,  des  Gleichen  dem 
Vorrat  geometrischer  Urbeziehungen  entstammten  und 
keiner  noch  so  sorgfältigen  Zergliederung  der  Wahrneh* 
mungwelt  sonst  analytisch  entnommen  werden  konnten. 

Daß  mittels  solcher  und  verwandter  Ideen  unsere  Ver* 
nunft  die  Wirklichkeit  ordne,  gehörte  tatsächlich  zu  sehr 
zum  Stammgut  platonischer  Erkenntnisse,  um  selbst  von 
Aristoteles  eigentlich  angetastet  zu  werden.  Wenn  trotzdem 
die  europäische  Menschheit  bis  auf  Galilei  warten  mußte, 
bis  die  damit  in  ihren  spekulativen  Grundzügen  schon  ent* 
worfene  und  geplante  mathematische  Naturlehre  Ereignis 
geworden  war,  so  deshalb,  weil  dieser  klaren  und  beson- 
nenen Herausstellung  begrifflicher  Apriorität  unerachtet 
die  Philosophie  der  Griechen  leider  doch  wieder  leicht  im 
einzelnen  versagt  bei  ihren  Folgerungen  aus  dem  unbestreit* 
bar  richtigen  Grundsatz :  namentlich  dort  versagt,  wo  sie 
das  Gebiet  ethischer,  ästhetischer,  logischer,  metaphysischer 
Untersuchungen  überschreitet  und  sich  zu  mechanistischer 
Konstruktion  hinreißen  läßt.  So  sehen  wir  Piaton  wie  Ari* 
stoteles  ein  wissenschaftlich  brauchbares  Proteron,  welches 
etwa  die  reichen  und  ausgebreiteten  astronomischen  Be= 
obachtungen  ihrer  Zeit  gedanklich  zu  bemeistern  gestattet 
hätte,  je  und  je  verfehlen.  Indem  der  eine,  pythagoreisch 
berückt,  von  der  Vorstellung  der  akustischen  Harmonie 
und  ihrer  arithmetischen  Verhältniswerte  ausging,  um  den 
wahren  Abstand  der  Planeten  voneinander  zu  ermitteln,  — 

486 


indem  sich  der  andere  völlig  in  die  Einbildung  einer  ,voll* 
kommenen'  Bewegung  verliebte  und  diese  im  kreisförmigen 
Umschwung  entdeckt  zu  haben  glaubte,  um  das  Schema  der 
Gestirnbahnen  ja  nicht  zu  verfehlen,  denken  beide  mit  ihren 
Substruktionen  a  priori  an  der  Erfahrung  vorbei,  anstatt 
zur  Erfahrung  hin.  Noch  mißglückt  ihnen  die  entscheidende 
geistige  Tathandlung,  Begriff  und  Wirklichkeit,  Vernunft 
und  Welt,  Gedanke  und  Erfahrung,  Idee  und  Empirie  so 
innig  zu  schürzen,  daß  beide  nicht  mehr  aufgenestelt  werden 
können ;  wogegen  eine  derartige  Schürzung  dem  pisanischen 
Forscher  gelingt,  der  sich  zeitlebens  mit  ebensoviel  Stolz 
wie  Berechtigung  den  Piatonikern  der  Zeiten  zuzählt.  Nach 
rund  zweitausend  Jahren  ist  die  Wissenschaft  endlich  wieder 
imstand,  die  Schnur  an  der  Stelle  vom  Boden  aufzunehmen, 
wo  sie  Altertum  (und  Mittelalter)  hatten  liegen  lassen.  Und 
liest  man  Galileo  Galileis  Gespräche,  so  wird  es  einem 
schier  zur  Gewißheit,  daß  zum  Beispiel  sein  mehr  wie  ver- 
wegenes aber  als  richtig  erweisbares  Apriori,  alle  Körper 
würden  (vom  Luftwiderstand  abgesehen)  mit  ein  und  der* 
selben  Geschwindigkeit  fallen,  ganz  unmittelbar  einer  Aus* 
einandersetzung  mit  der  entgegenlautenden  Behauptung 
der  aristotelischen  Physik  verdankt  worden  sei;  —  derart 
innig  berührt  sich  die  neue  Wahrheit  mit  den  fruchtbarsten 
Irrtümern  einer  Vergangenheit,  die  alles  in  allem  doch  auch 
hier  schon  der  Wahrheit  knapp  auf  cjen  Fersen  war.  Der 
erste  Entwurf  zu  einer  wissenschaftlichen  Mechanik,  die 
ungeheuere  Forderung  einer  geometrisch  bezwungenen 
Lehre  von  den  natürlichen  Veränderungen  in  Raum  und 
Zeit  ist  Eigentum  der  Griechen.  Aber  die  Ausführung  und 
Durchführung  des  Vorhabens  gehört  dem  Europäer  an,  als 
ihn  nach  dem  Ende  des  Mittelalters  eine  durch  die  deutsche 
Reformation  vom  christlichen  Mythos  nunmehr  getrennte 
und  folglich  .voraussetzunglose'  Forschung  zu  neuer  wissen- 

487 


schaftlicher  Arbeit  lockte.  Daß  es  mathematisch-geome* 
trische  Schemata  geben  müsse,  welche  die  Natur  in  ihren 
Zusammenhängen  mechanisch  begreiflich  machen  könnte, 
dies  gehört  zu  den  tiefgewurzelten  Überzeugungen  helle* 
nischer  Philosophie,  —  daß  es  solche  Schemata  auch  wirklich 
gibt,  dies  haben  Astronomie  und  Physik  bald  nach  dem 
Auftritt  Martin  Luthers  mit  Erfolg  bewahrheitet  .  .  . 

Um  diese  nicht  unbedeutende  Einsicht  reicher,  dürften 
wir  aber  jetzt  dazu  vorbereitet  sein,  die  methodische  Ein- 
stellung der  neueren  Wissenschaftlichkeit  hinlänglich  zu 
verstehen.  Vorzüglich  handelt  sich's  hierbei  darum,  wenn 
irgend  möglich  jeder  stattfindenden  Veränderung  der  Wirk* 
lichkeit  ihr  entsprechendes  geometrisches  oder  sonstwie 
mathematisches  .Proteron  als  ihre  Bedingunggleichung 
zuzuordnen  und  sie  dadurch  zum  mechanischen  Vorgang 
zu  erheben.  Und  in  der  Tat,  nachdem  die  eben  erwähnte 
Schürzung  zwischen  Begriff  und  Wirklichkeit  vollzogen 
war,  konnte  die  Hoffnung  kaum  überschwänglich  erscheinen, 
dieselbe  Schürzung  überall  vorzunehmen,  und  in  Bälde 
ließen  die  märchenhaften  Fortschritte  der  Physik  wahrlich 
keine  Enttäuschung  einer  solch  tapferen  Hoffnung  mehr 
befürchten.  Bildeten  die  Fallgesetze  Galileis  zunächst  eine 
vereinzelt  inselhafte  Feststellung  inmitten  eines  unbegreif- 
lich mannigfaltigen  Geschehens,  so  reiht  schon  die  Formel 
Newtons  jeden  materiellen  Komplex  in  das  Ganze  der 
sichtbaren  und  unsichtbaren  Welten  ein :  mit  der  Entdeckung 
eines  mathematisch  ausdrückbaren  Grundgesetzes  taucht 
auch  schon  die  Vorstellung  einer  universalen  Mechanik,  ja 
eines  mechanistischen  Weltbegriffes,  einer  mechanistischen 
Weltdeutung  im  wissenschaftlichen  Gesichtskreis  des  neuen 
Europäers  empor.  Durchaus  scheint  es  möglich  zu  sein, 
die  gegebene  (und  folglich  aufgegebene)  Wirklichkeit  in 
der  Tat  als  Einen  Mechanismus  in  all  seinen  logischen  und 

488 


mathematischen  Beziehungarten  a  priori  darzustellen,  wo* 
fern  ja  alles  wahrnehmbar  irdische  Geschehnis  zuletzt  rück- 
führbar  sein  muß  auf  meßbare  Geschwindigkeit*Änderungen 
von  Massen,  die  ihre  Lagen  im  Räume  tauschen.  Jeder 
Form  von  Bewegung,  jedem  Grad  von  beschleunigter  oder 
unbeschleunigter  Geschwindigkeit  muß  ausnahmlos  eine 
Gleichsetzung  von  Größen,  entsprechend  ihren  unterscheid* 
baren  Momenten,  gedanklich  genügen  können,  und  in  der 
gesicherten  Kenntnis  solcher  Gleichsetzungen  im  einzelnen 
gelingt  uns  schließlich  eine  idealische  Konstruktion  der 
natürlichen  Prozesse  durch  die  Vernunft,  eine  »Antizipation' 
der  Wahrnehmung  und  der  Erfahrung  durch  den  Begriff. 
Während  sich  jedoch  in  der  Folge  die  Mechanik  des 
Himmels  und  der  Erde  ungesäumt  ans  Werk  begibt,  die 
notwendigen  Annahmen,  Grundsätze,  Abgrenzungen,  Er* 
läuterungen,  Vorausschickungen  zu  diesem  weitausschauen* 
den  Unternehmen  vollzählig  zu  sammeln,  arbeitet  schon  die 
Philosophie  im  innigsten  Einverständnis  mit  einem  der* 
artigen  Vorhaben  ihrerseit  daran,  gleichsam  die  allgemeinen 
Voraussetzungen  der  besonderen  Voraussetzungen  dieser 
universalen  Mechanik  zu  liefern.  Denn  soviel  ist  von  vorn* 
herein  gewiß,  daß  sich  die  Mechanik  des  Himmels  und  der 
Erde  nicht  etwa  selber  veranlaßt  fühlen  kann,  die  ihr  un* 
entbehrlichen  begrifflichen  Grundlegungen  wie  Raum,  Zeit, 
Bewegung,  Kraft,  Masse  des  genaueren  zu  untersuchen.  Sie 
hat  wahrhaftig  genug  getan,  wenn  sie  mit  ihrem  eigentlichen 
Vorhaben  Erfolg  haben  sollte,  die  geforderten  und  ge* 
suchten  mathematischen  Beziehungen  zwischen  solchen  und 
ähnlichen  Begriffsbildern  zu  ermitteln.  Diese  hingegen 
vorher  noch  auf  ihre  logische  Zweckmäßigkeit,  Berechtigung, 
Richtigkeit  hin  zu  prüfen,  übersteigt  vollständig  ihre  eigene 
Endabsicht,  ihr  eigenes  Können  und  ihr  eigenes  Vermögen. 
Begriffsbilder  und  Denkhilfen  von  solcher  Beschaffenheit 

489 


gibt  es  nun  freilich  für  die  Mechanik  nicht  eben  wenige, 
und  zu  den  geläufigsten  unter  ihnen  gehört  von  allem  An* 
fang  an  die  galileische  .Kraft',  insonderheit  die  Schwerkraft 
oder  die  gravitä  als  die  Ursache  der  Bewegung,  als  die  Ur* 
sache  der  Geschwindigkeitänderung  bewegter  Massen. 
Isaak  Newton  macht  zwar  den  Versuch,  diese  sehr  rätsei* 
hafte,  wenn  nicht  geradezu  dunkle  (okkulte)  Vorstellung 
der  Kraft  gewissermaßen  dadurch  zu  enträtseln  und  auf* 
zuhellen,  daß  er  eben  die  Schwere  vorsichtigerweise  als 
eine  causa  mathematica  und  nicht  als  eine  causa  physica 
bezeichnet,  um  durch  Einführung  dieser  Denkhilfe  philo- 
sophisch beileib  nicht  verpflichtet  oder  gar  bloßgestellt  zu 
werden:  aber  unwiderruflich  bleibt  damit  doch  der  Begriff 
der  Ursache  und  der  Verursachung  mechanisch  darstellbarer 
Bewegungen  in  die  neue  Wissenschaft  eingeschmuggelt, 
um  seit  dieser  ersten  Stunde  seines  Eintritts  das  Schmerzens* 
kind  nicht  nur  ihrer,  sondern  der  ganzen  modernen  Philo* 
sophie  zu  werden. 

Bedenkt  und  überschlägt  man  diesen  eigentümlichen 
Sachverhalt,  dann  gibt  es  jetzt  kein  zeitgemäßeres  Unter* 
nehmen,  als  wenn  gerade  die  Philosophie,  hingerissen  von 
der  ungeheueren  Endabsicht  einer  zusammenhängenden 
mechanischen  Grundwissenschaft,  bezaubert  von  einer  bis 
ins  kleinste  gedankenmäßig  zu  beherrschenden  Weltord* 
nung,  endlich  die  Frage  aufwirft  und  im  gleichen  Atem  auch 
beantwortet,  ob  die  sämtlichen  hierzu  benötigten  Grund* 
legungen  der  Menschenvernunft  nicht  ein  für  alle  mal  zu 
sammeln  und  als  ein  abgeschlossenes,  vollendbares  System 
konstitutiver  Stammbegriffe  abzustecken  wären.  Es  war 
wirklich  einmal  der  Mühe  wert,  zur  Kenntnis  unserer  jungen 
Wissenschaft  zu  bringen,  ob  nicht  die  Vernunft  just  in  sich 
selbst  eine  Handhabe  darböte,  die  Erkenntnismittel  und 
Denkhilfen  einer  derartigen  universalen  Mechanik  voll* 

490 


zählig  und  befriedigend  aneinander  zu  reihen.  Und  man 
weiß,  daß  es  Kant  vorbehalten  gewesen  ist,  die  sogenannten 
Kategorien  als  die  begrifflichen  Grundlegungen  a  priori 
einer  mechanischen  Darstellung  der  Wirklichkeit  aus  der 
charakteristischen  Funktion  des  Urteils  und  seiner  verschie* 
denen  Erscheinungformen  bündigst  zu  deduzieren,  um 
solchergestalt  die  »metaphysischen  Anfangsgründe'  zu  der 
erhofften  und  ersehnten  universalen  Mechanik  aufzuzeigen. 
Ja,  diese  Mechanik  ist  für  Kant  ganz  unstreitig  so  sehr  das 
logische  Modell  aller  erstrebenswerten  Wissenschaftlichkeit, 
daß  er  die  letztere  selbst  im  wesentlichen  vernünftig  ge* 
rechtfertigt  zu  haben  wähnt,  wenn  er  die  Voraussetzungen 
der  ersteren  vollzählig  entwickelt.  Darnach  finden  wir  ihn 
bemüht,  den  Vorrat  an  Stammbegriffen  der  reinen  Vernunft 
zu  sichten,  zu  ordnen,  zu  verknüpfen,  damit  sie  ihrerseit 
nunmehr  die  mechanistische  Konstruktion  der  Wirklichkeit 
verstatten  möchten,  ohne  von  der  Wirklichkeit  a  posteriori 
abgezogen  zu  sein.  Und  eben  weil  er  sämtliche  Ursprung* 
liehe  Erkenntnisbedingungen  der  Vernunft  in  den  verschie* 
denen  Formen  der  Urteilsbildung  in  einer  begrenzten  An* 
zahl  sozusagen  angelegt  zu  sein  meint,  überrascht  er  seine 
Zeitgenossen  tatsächlich  mit  einem  abgeschlossenen  System 
der  logischen  Grundlegungen,  die  zum  Aufbau  der  all* 
gemeinen  Mechanik  des  Himmels  und  der  Erden  geeignet 
wären.  Die  Mittel  und  Hilfen  aber,  durch  welche  er  die 
Welt  wissenschaftlich  bezwingen  zu  können  gedenkt, 
treten  in  Reih  und  Glied  wie  eine  Kompanie  zum  Exer= 
zieren:  der  glänzende  Traum  einer  begrifflichen  Beherr* 
schung  des  Wirklichen  durch  die  Vernunft  steht  dicht  vor 
seiner  glänzenden  Erfüllung. 

Dicht,  aber  doch  nicht  völlig!  Denn  kaum  sind  die  Kate* 
gorien  als  die  wirklichkeitunabhängigen  Grundformen  des 
vernünftigen  Denkens  vollzählig  unter  Dach  und  Fach  ge* 

491 


bracht,  um  eine  mechanische  Welterfahrung  philosophisch 
zu  gewährleisten,  so  taucht  vor  der  exakten  und  diszipli* 
nierten  Einbildungkraft  des  Metaphysikers  ein  gegebener 
Komplex  von  Dingen  und  Erscheinungen  auf,  der  sich  den 
bisher  gesammelten  Voraussetzungen  einfach  nicht  fügen 
will.  Das  kantische  System  der  Kategorien,  von  seinem  Ur* 
heber  durchaus  für  zulänglich  befunden,  das  Geschehen 
der  Natur  in  seinen  räumlichen  und  zeitlichen  Verände* 
rungen  der  logisch*mathematischen  Substruktion  zugänglich 
zu  machen,  versagt  peinlich,  um  brauchbare  Denkhilfen 
zur  Erforschung  dessen  zu  gewähren,  was  wir  das  Leben 
nennen.  Die  Bewegungen  und  Änderungen  der  leblosen 
Natur  bedünken  den  mechanistischen  Philosophen  mecha* 
nisch  denkbar,  —  die  Bewegungen  und  Änderungen  der 
belebten  Natur  aber  nichtl  Noch  hat  der  Grashalm  seinen 
Newton  immer  nicht  gefunden,  wird  ihn  aller  menschlichen 
Voraussicht  nach  nicht  finden;  noch  gibt  es  eine  Grenze 
für  alles  konstruktive,  substruktive  Wissen,  die  diesesnimmer 
übersteigen  kann.  Das  Leben  lebt  jenseit  der  Bedingung* 
gleichungen  der  mathematischen  Methode,  verharrt  jenseit 
der  geometrisierten  Beziehungen  zwischen  den  Grund* 
begriffen  der  Mechanik.  Mag  sein,  daß  auch  das  Leben  zu* 
letzt  Bewegung  von  Massen  ist;  mag  sein,  daß  auch  hier 
nur  Änderungen  der  Lagen  kleinster  Teilchen  im  Spiele 
sind  und  unsere  Erkenntnis  mit  dem  Anschein  völliger  Un* 
vergleichlichkeit  nur  äffen.  Aber  auch  in  diesem  nicht  un* 
günstigen  Fall  entziehen  sich  diese  Veränderungen  der  Dar* 
stellbarkeit  in  einem  geometrischen  Schema,  —  entziehensich 
ihr  schon  darum,  weil  sie  nicht  mehr  begreiflich  werden  als 
Wirkungen  der  ihnen  verhältnismäßigen  meßbaren  Ur* 
Sachen.  Kant  selber  drückt  diese  negative  Tatsache  bekannt* 
lieh  so  aus,  daß  die  kategoriale  Bestimmung  Ursache* Wir* 
kung  beim  Organismus  ergänzt  werden  müsse  durch  die 

492 


Bestimmung  Mittel*Zweck,  indem  die  Beziehungen  der  ein* 
zelnen  Teile  zum  lebendigen  Ganzen  offenbar  nur  durch 
die  Vorstellung  einer  zweckmäßigen  Ordnung  der  Vernunft 
zugänglich  gemacht  werden  können.  Im  Organismus  ist 
seltsamerweise  das  Spätere  der  Wirkung  früher  als  das 
Frühere  der  Ursache,  weil  der  Zweck  auf  gewisse  Weise 
früher  ist  als  seine  Mittel,  das  Ganze  früher  als  seine  Teile : 
und  diese  vollkommen  neuartige  Verknüpfung  der  Elemente, 
die  nicht  aus  der  Verknüpfung  Ursache*Wirkung  hergeleitet 
werden  kann,  auch  nicht  beim  besten  Willen,  —  sie  ist  es, 
welche  die  außermechanische  Beschaffenheit  belebten  Welt* 
Stoffes  begründet.  Im  Organismus  ist  jedes  Glied,  jedes 
Gewebe,  jede  Faser,  jede  Zelle  Ursache  und  Wirkung  in 
einem,  indem  jeder  Bestandteil  zwar  das  Ganze  bedingt, 
seinerseit  aber  auch  wieder  vom  Ganzen  erst  bedingt  wird. 
Nicht  als  ob  hier  die  Verursachung  überhaupt  von  jeder 
vernünftigen  Anwendbarkeit  ausgeschlossen  bliebe,  —  nicht 
als  ob  der  Organismus  nicht  auch  nach  der  Regel  der  Kau* 
salität  zu  beurteilen  wäre.  Maßgebend  ist  keineswegs  eine 
Nicht*Ursächlichkeit  des  Lebendigen,  denn  ganz  natürlich 
unterliegt  auch  dieser  Teil  der  Natur  dem  Zusammenhang 
von  Ursache  und  Wirkung.  Maßgebend  ist  vielmehr,  daß 
das  Lebendige  nicht  ausschließlich,  nicht  .bloß'  aus  diesem 
Zusammenhang  begriffen  werden  kann,  sondern  obendrein 
und  daneben  die  Vorstellung  einer  obwaltenden  Zweck* 
mäßigkeit  herausfordert,  welche  die  organische  Mannig* 
faltigkeit  und  Unterschiedlichkeit  ungleicher  und  ungleich* 
artiger  Teile  sinnvoll  dem  Dasein  des  Ganzen  dienstbar 
sein  läßt.  Dieses  Ganze  des  lebenden  Wesens,  sein  Umriß, 
seine  Gestalt  ist  Ursache  und  Wirkung  seiner  einzelnen 
Teile  zumal,  und  eben  als  dessen  Ur*Sache  ist  es  dessen 
Zweck.  Wofern  also  das  Organische  anstatt  allein  nach  Ur* 
sächlichkeit  außerdem  nach  Zweckmäßigkeit  beurteilt  wer* 

493 


den  muß,  fällt  die  Wissenschaft  vom  Leben  außerhalb  der 
Grenzen  einer  universalen  Mechanik,  folglich  auch  außer* 
halb  der  Grenzen  des  geschlossenen  Systems  der  sämtlichen 
Erkenntnismittel  a  priori,  dessen  Vollendbarkeit  Kant 
zweifellos  zuzeiten  vorgeschwebt  hat.  Mit  seiner  Kritik 
der  Urteilskraft,  die  man  weniger  als  eine  nachträgliche 
Ergänzung  denn  als  eine  Überwindung  der  Kritik  der  reinen 
Vernunft  auffassen  sollte,  biegt  der  Urheber  einer  all* 
gemeinen  Philosophie  der  Mechanik  in  einen  neuen,  frei* 
lieh  von  ihm  nicht  mehr  bis  ans  Ziel  verfolgten  Weg  ein. 
Die  unbefangene  Würdigung  des  Lebens  führt  ihm  die  Vor* 
läufigkeit  und  Eingeschränktheit  der  mechanischen  Methode 
mit  Eindringlichkeit,  ja  mit  Aufdringlichkeit  zu  Gemüt  und 
läßt  ihn,  den  Fanatiker  der  exakten  Wissenschaften,  den 
Typus  einer  zukünftigen  Wissenschaftlichkeit  dennoch  er* 
ahnen,  welche  nicht  verhaftet  bleibt  den  begrifflichen  Vor* 
aussetzungen  einer  mathematischen  Substruktion  der  Natur 
und  ihrer  materiellen  Veränderungen.  Die  organische  Be* 
wegung  der  Wirklichkeit,  von  uns  gemeinhin  .Leben'  ge* 
nannt,  wird  als  die  (verhältnismäßige)  Wirkung  einer 
(meßbaren)  Ursache,  einer  (meßbaren)  Kraft  nicht  begreif* 
licher  und  nicht  begrifflicher,  —  diese  Entdeckung  läßt  das 
großartige  Vorhaben  einer  restlos  mechanischen  Interpreta* 
tion  der  Welt  unwiderruflich  in  sich  zusammenbrechen. 

Aber  merkwürdig!  Wie  die  Dinge  nun  einmal  lagen, 
mußte  vielleicht  gerade  das  kantische  Vorhaben  einer  mög* 
liehen  Ergründung  des  Lebens  abseit  von  den  Gepflogen* 
heiten  der  galileisch*newtonschen  Mechanik  Kants  be- 
rufenste Nachfolger  in  den  europäischen  Wissenschaften  je 
länger  desto  stärker  dazu  bestimmen,  zunächst  einmal  die 
mechanische  Betrachtungweise  bis  an  ihre  äußerste  Grenze 
durchzuführen.  Denn  wie  wir  festzustellen  Gelegenheit  ge* 
funden  haben,  bekennt  auch  Kant  sich  zu  der  Überzeugung, 

494 


daß  der  Organismus  unerachtet  seiner  teleologischen  Be* 
schaffenheit  ein  in  die  universale  Kausalität  eingestelltes 
Gebilde  bleibe;  daß  mithin  auch  eine  Mechanik  des  Lebens 
innerhalb  dieser  kausalen  Geltung  an  ihrem  Platz  sein  müsse, 
falls  man  sich  den  Organismus  absichtlich  so  zu  beurteilen 
entschließe,  ,als  ob'  er  ein  bloßer  Mechanismus  und  nicht 
außerdem  noch   etwas   anders  wäre.   Wie  sich  halbwegs 
von  selbst  versteht,  ist  und  bleibt  ja  auch  der  lebendige 
Körper  ein  Körper,  dessen  ursächliche  Verknüpftheit  mit 
der  Umwelt  sich   unschwer  von  seiner  Zweckmäßigkeit 
unterscheiden  läßt:  und  an  diesen  seinen  unzweifelhaft  kau= 
salen  Charakter  beginnt  sich  im  neunzehnten  Jahrhundert 
eine  neue  mechanistische  Auffassungweise  zu  lehnen,  wenn 
jetzt  in  zunehmendem  Maß  der  mechanische  Vorgang  als 
Arbeitvorgang  verstanden  wird,  dessen  meßbarer  Leistung 
mit  nachweisbarer  Genauigkeit  ein  meßbarer  Verbrauch 
aus  dem  Gesamtarbeitvorrat  der  Welt  entspricht.  Wo  sich 
infolgedessen  mechanisches  Geschehen  zuträgt,  da  findet 
Arbeit  statt;  wo  Arbeit  stattfindet,  da  wird  eine  gewisse 
Menge  vom  Gesamtarbeitvorrat  oder  von  der  »Energie'  auf= 
gezehrt,   um   eine  grundsätzlich  gleichgroße  Menge  von 
Arbeitnutzwert  zu  erzeugen.  Behaupten  wir  also,  die  ganze 
Welt  sei  ein  Mechanismus,  so  behaupten  wir  wesentlich 
nichts  anderes,  als  daß  völlige  Gleichheit  zwischen  Antrieb 
und  Bewegunggröße,  zwischen  energetischem  Verbrauch 
und  energetischer  Leistung  allerwärts  mit  Zuverlässigkeit  zu 
beobachtensei.  Oder  in  einer  anderenWendung  ausgedrückt: 
daß  die  Menge  dieser  teils  für  die  Arbeit  bereitliegenden, 
teils  in  Arbeit  schon  umgesetzten  Energie  im  großen  und 
ganzen  unvermindert  und  unvermehrt  —  ob  auch  leider, 
was  jedoch  nicht  hierher  gehört,  keineswegs  auch  unent= 
wertet!  —  stets  ein  und  dieselbe  bleibt.  Die  Welt  als  einen 
universalen  Mechanismus  aufgefaßt  wissen  wollen,  heißt 

495 


im  Licht  des  modernen  Begriffes  der  Arbeit  mithin  die  Welt 
als  einen  ungeschlossenen,  unumkehrbaren  Kreis  der  arbei= 
tenden  Energie  auffassen,  —  und  unter  allen  möglichen 
strengen  oder  läßlichen  Bedeutungen  des  Wortes  ,mecha= 
nisch'  gelangt  jetzt  die  buchstäblichste  zur  Anerkennung. 
Die  Welt  mechanisch  begreifen,  heißt  sie  nämlich  in  dem 
ursprünglichen  Sinn  der  griechischen  }W/.av^  ak  Maschine 
nehmen:  als  ein  Triebwerk  mit  der  Bestimmung,  Arbeit  zu 
leisten  oder  Lasten  zu  heben  und  fortzubewegen.  Die  Welt 
mechanisch  oder  maschinell  betrachtet  ist  ein  so  geordneter 
Zusammenhang  von  Teilen,  daß  er  der  Arbeit  fähig  erscheint, 
und  derartige  Weltarbeit  wird  überall  geleistet,  wo  Ge« 
wichte  gesenkt  oder  gehoben  werden,  überall,  wo  wägbare 
Massen  ihren  Ort  verändern  oder  einen  Weg  zurücklegen. 
In  allen  diesen  Fällen  wird  Energie  verzehrt,  eine  gewisse 
Menge  jenes  geheimnisvollen  Vorrates,  von  welchem  man 
annimmt,  daß  die  Natur  über  ihn  schalten  und  verfügen 
dürfe,  wenn  sie  als  Maschine  wirken  soll  .  .  . 

Die  Arbeit  dieser  Welt^Maschine,  um  bei  ihr  noch  etwas 
zu  verweilen,  stellt  sich  vor  allem  als  eine  Abhängige,  als 
eine  .Funktion'  von  Bewegungen  dar.  Jeder  in  Bewegung 
begriffene  Körper  (und  eigentlich  nur  er)  arbeitet,  sei's  auch 
nur  so,  daß  er  seine  eigene  Masse  von  einer  Lage  des  Rau= 
mes  in  eine  andere  befördert.  Geht  er  hingegen  von  der 
Bewegung  in  die  Ruhe  über,  dann  endigt  er  auch  im  Grund 
genommen  seine  Arbeit,  ob  er  sich  übrigens  in  seinem 
Inneren  nachträglich  noch  so  stark  verändere.  Eine  Frucht, 
welche  vom  Baum  fällt,  arbeitet  während  ihres  Falles,  indem 
sie  dieselbe  Menge  an  vorhanden  gedachtem  Arbeitvorrat 
aufbraucht,  die  notwendig  gewesen  wäre,  sie  um  die  Strecke 
ihrer  Fallhöhe  zu  heben.  Liegt  sie  dann  einmal  am  Boden, 
so  mag  sie  immerhin  faulen  und  dadurch  bezeugen,  daß 
sie  durchaus  nicht  energetisch  tot  ist,  —  Arbeit  im  engeren 

496 


Wortverstand  der  physikalischen  Mechanik  leistet  sie  nicht 
weiter,  da  sie  sich  in  bezug  auf  andere  Körper  nicht  mehr 
bewegt.  Und  dennoch:  in  einem  weniger  strengen  und  desto 
fruchtbareren  Begriffe  arbeitet  auchsie !  Die  anscheinend  trag 
am  Boden  liegende  Frucht,  langsam  in  Moder  und  Fäulnis 
übergehend,  spendet  an  ihre  Umgebung  Kohlensäure,  in* 
dem  sie  in  der  freien  Luft  einer  allmählichen  Verbrennung 
unterliegt.  Atmosphärischer  Sauerstoff  verbindet  sich  in  ihr 
mit  pflanzlichem  Kohlenstoff,  wobei  er  sich,  chemisch  ge* 
sprochen,  nicht  in  einzelnen  Atomen,  sondern  in  Atom« 
paaren  um  die  der  Oxydation  verfallenen  Stoffe  lagert.  Aus 
diesen  Peroxyde  genannten  Verbindungen  entwickeln  sich 
alsdann  die  eigentlichen  Produkte  der  Verwesung.  Diese 
allmähliche  Verbrennung  vollzieht  sich  indes  nicht,  ohne 
daß  dabei  Wärme  entstünde,  die  zwar  für  die  einzelne 
Frucht,  das  einzelne  Blatt  unbeträchtlich  ist,  für  die  Summe 
der  pflanzlichen  Stoffe  unserer  ganzen  Erde  jedoch  schät* 
zungweis  einen  Betrag  von  Kalorien  ergibt,  der  zu  unge* 
heuer  ist,  um  mehr  als  ein  bloßes  Wort  für  uns  zu  sein  (es 
handelt  sich  beinah'  um  hundertunddreißig  Trillionen). 
Wo  aber  Wärme  entsteht,  wird  Energie  aufgebraucht,  ge= 
nau  wie  vorhin,  da  Lasten  gehoben  oder  gesenkt  wurden: 
wenn  auch  diesmal  keine  mechanische,  sondern  chemische 
Energie.  So  daß  die  verwesende  Frucht  zwar  nicht  auf  die 
Weise  der  vom  Baum  fallenden  mechanisch  arbeitet,  aber 
dennoch  arbeitet  in  einer  übertragenen  und  unentbehrlichen 
Bedeutung  des  Wortes,  vorhandene  Energie  der  Welt  ver= 
brauchend  und  umsetzend. 

Unsere  Vorstellung  vom  maschinell=mechanischen  Ge* 
schehen  erweitert  sich  nochmals  hier  auch  über  das  der 
eigentlich  mechanischen  Arbeit  hinaus.  Die  am  Boden 
modernde  Frucht  arbeitet  nicht  und  arbeitet  doch.  Sie  ar- 
beitet nicht,  denn  ihre  Masse  verändert  nicht  ihre  Lage  und 

32    Ziegler,  Gestaltwandel  der  Götter  497 


legt  nirgends  einen  Weg  zurück.  Sie  arbeitet  doch,  denn 
sie  verbrennt  langsam,  stellt  gemäß  ihrer  chemischen  Wahl= 
Verwandtschaften  Verbindungen  her,  erzeugt  Wärme  und 
liefert  dadurch  eine  Abart  der  Energie,  die  wiederum  in 
mechanische  Arbeit  rückverwandelt  werden  kann.  Nicht 
allenthalben,  wo  Energie  verbraucht  wird,  wird  mechanisch 
gearbeitet  oder  eine  Masse  bewegt,  aber  allenthalben  finden 
Umsätze  statt,  die  der  Arbeit  irgendwie  verwandt  erscheinen 
oder  entsprechen.  Man  kennt  das  Gesetz  dieser  Entspre* 
chung  als  den  ersten  Hauptsatz  von  der  Energie,  dessen 
Wichtigkeit  vor  allem  darauf  beruht,  für  einen  meßbaren 
mechanischen  Arbeitaufwand  den  Verbrauch  einer  gleich= 
wertigen  Wärmemenge  nachgewiesen  zu  haben,  und  um= 
gekehrt.  Mit  diesem  Gesetz  von  dem  Gleichwert  der  ver= 
schiedenen  Arten  der  Energie  ward  die  maschinelle  Auf- 
fassung der  Welt  außerordentlich  vertieft.  Denn  jetzt  war 
nicht  mehr  die  einfache  Tatsache  entscheidend,  daß  im  All 
durch  bewegte  Massen  Arbeit  verrichtet  würde,  Arbeit  wie 
in  einem  künstlich  hergestellten  Triebwerk,  dessen  innerer 
Aufbau  restlos  erkennbar  erscheint,  weil  man  ihn  restlos  sel= 
ber  entworfen  hat ;  —  sondern  entscheidend  war  jetzt  das  an* 
dere,  daß  die  Arbeit  als  das  meßbare  Äquivalent  aller  nach* 
weisbaren  Vorgänge  der  äußeren  Weltwirklichkeit  aufgezeigt 
werden  konnte.  Mechanisch  heißt  jetzt  nicht  nur  der  eigent* 
liehe  Arbeitvorgang,  sondern  einfach  jede  wirklicheVerände= 
rung,  die  dem  physikalischen  Ausdruck  für  Arbeit  mittel^ 
bar  vergleichlich  ist.  Der  erste  Hauptsatz  von  der  Energie 
besagt  zunächst,  daß  alle  natürlichen  Prozesse,  die  chemi- 
schen, elektrischen,  magnetischen,  thermischen,  akustischen 
und  optischen  durch  ihre  mechanische  Entsprechung  aus* 
zudrücken  seien,  —  (wobei  es  unentschieden  bleibt,  ob  tat- 
sächlich die  energetischen  Prozesse  der  Maschine  ,Welt' 
ohne   jeden   Abzug    in   mechanische   Arbeit  umzusetzen 

498 


wären!)  Wo  ein  Energieverbrauch  überhaupt  bemerkbar 
wird,  sei  es  durch  Strahlung,  chemische  Zersetzung  und 
Verbindung,  Leitung  oder  sonstige  Fortbewegung,  darf  er 
indes  von  nun  an  als  Arbeit  verstanden  und  gewertet 
werden. 

Diese  beträchtliche  Vertiefung  und  Erweiterung  des  Be* 
griffes  »mechanisch'  in  seiner  Anwendung  aufs  Ganze  der 
Natur  wirkt  dann  freilich  wieder  zurück  auf  unsere  be* 
stimmte  Vorstellung  vom  Wesen  der  Maschine,  von  dem 
wir  jenen  Begriff  inhaltlich  abzuleiten  versuchten.  Das  tech= 
nische  Triebwerk,  vom  Menschen  erfunden,  um  Arbeit  zu 
ersparen,  mithin  um  Arbeit  zu  leisten,  entwickelt  sich  ganz 
allgemein  zu  einer  Verbindung  mit  Teilen,  welche  Energie 
fortpflanzt,  umsetzt  und  verwandelt.  Schon  die  einfachste 
maschinelle  Vorrichtung  des  Hebels  und  des  Flaschenzuges, 
wo  die  mechanische  Energie  noch  innerhalb  ihrer  selbst  be* 
harrt,  setzt  die  Energie  der  großen  Last  und  des  kleinen 
Weges  um  in  die  gleiche  der  kleinen  Last  und  des  großen 
Weges.  Die  Umsetzungen  beispielweis  der  hydraulischen 
Presse  vollziehen  sich  gleichfalls  noch  innerhalb  der  media* 
nischen  Form  der  Energie,  aber  die  Transformation  greift 
im  Vergleich  mit  vorhin  doch  schon  etwas  weiter.  Die  me* 
chanische  Energie  des  Hebels  und  Druckkolbens  wird  hier 
nämlich  übertragen  auf  die  Energie  des  Wassers,  dessen 
Druck  zwar  durchaus  ein  mechanischer  ist,  aber  doch  schon 
eigenen  Gesetzen  der  Ausbreitung  folgt  und  eben  darum 
die  Arbeitleistung  der  festen  Teile  vervielfältigt.  Eine  ener* 
getische  Umwandlung  verschiedener  Arten  der  Energie 
findet  jedoch  unzweifelhaft  in  der  Dampfmaschine  statt, 
wo  die  chemische  Energie  der  Verbrennung  erst  in  Wärme, 
dann  in  Bewegung  und  Arbeit  abgeändert  wird.  Die  Um* 
sätze  werden  schließlich  immer  vielfältiger,  übergangr  eicher, 
die  Maschinerie  immer  zusammengesetzter.  Mechanische 

32*  499 


Energie  des  Wassers  oder  Dampfes  bewegt  den  Anker  einer 
Dynamomaschine,  erzeugt  hier  magnetische  und  elektrische 
Ströme,  die  sich  nach  einigen  Umdrehungen  zu  ihrem 
Höchstwert  steigern  und  je  nach  Bedarf  und  Bedingung 
Licht,  Wärme,  hörbare  Zeichen  liefern  oder  Massen  in  Be* 
wegung  setzen,  Bahnen  befördern.  Die  durch  chemische 
Zersetzung  von  Metallen  in  wässerigen  Lösungen  gewönne* 
nen  elektrischen  Ströme  wirken  wiederum  chemisch,  wofern 
sie  die  Jonen  der  Lösung  an  die  Elektroden  der  Zelle  ziehen 
und  dort  binden.  Wo  nur  ein  materielles  System  da  ist, 
Energie  zu  übertragen,  kann  es  maschinenmäßig  ausgenutzt 
werden.  Die  wunderbarsten  Leistungen  elektrischer  Kräfte 
bringen  aber  nicht  die  geschlossenen,  sondern  die  unge* 
schlossenen,  durch  isolierende  Mittel  wie  die  Luft  unter* 
brochenen  Leiter  hervor,  wo  die  dielektrische  Polarisation 
des  Isolators  die  Verbreitung  von  Oszillationen  ermöglicht, 
die  ein  maschineller  Empfänger  aufnimmt  und  den  mensch* 
liehen  Sinnen  zuführt.  Nur  eine  kindliche  Vorwegnahme 
der  Verwandlungkünste  der  Energie  war  die  Legende  vom 
rüstigen  Meergreis  Proteus:  denn  diese  Energie  ist  bald 
Licht,  bald  Strom,  bald  Klang,  bald  Welle,  bald  sichtbare 
Bewegung.  In  einem  Hohlspiegel  gesammelte  Lichtstrahlen 
eines  Flammenbogens  verwandeln  sich  in  elektrische  und 
akustische  Wellen,  wenn  sich  im  Brennpunkt  eine  Selen* 
zelle  befindet,  deren  elektrischer  Widerstand  unter  dem 
Einfluß  der  Belichtung  sinkt:  als  welcher  seltsamste  Um» 
stand  genügend  ist,  durch  telephonische  Maschinenbedin* 
gungen  die  Lichtstrahlen  und  elektrischen  Ströme  in  tönende 
Längswellen  umzusetzen,  und  umgekehrt.  Alle  Teile  der 
Materie  werden  derart  durch  Maschinen  für  einander  (und 
letzthin  für  uns)  empfindlich  gemacht.  Die  Zahl  der  außer* 
menschlichen,  der  unterorganischen  Sinnesapparate  ver* 
mehrt  sich  mit  jedem  erfundenen  Resonator  für  einen  ener* 

500 


getischen  Prozeß,  und  alles  wirkt  auf  alles,  alles  klingt,  tönt, 
sprüht,  zittert,  stößt,  drückt,  strahlt,  verbreitet  sich  und 
leitet  sich  auf  alles.  In  Ansehung  aber  der  Maschine  kommt 
es  jetzt  nicht  mehr  in  erster  Linie  darauf  an,  daß  sie  über- 
haupt  arbeite,  sondern  daß  sie  die  vorhandene  Energie  bei 
sparsamstem  Verbrauch  in  diejenige  Form  zwinge,  die  vom 
Menschen  beliebt  wird:  Arbeit  oder  Nichtarbeit  in  vielerlei 
Gestalt.  Hat  vorhin  noch  die  mechanische  Auffassung  der 
Wirklichkeit  darin  bestanden,  die  Welt  als  .arbeitendes' 
Triebwerk  oder  .Maschine*  mit  immer  wachsender  Be= 
stimmtheit  zu  gewahren,  so  berichtigt  sich  diese  Vorstellung* 
weise  jetzt  dahin,  daß  es  bei  der  Maschine  als  solcher  wie 
bei  der  maschinisierten  Welt  weniger  auf  die  geleistete 
Arbeit  abgesehen  sei,  als  vielmehr  auf  eine  tunlichst  unein* 
geschränkte,  ja  grenzenlose  Umformungmöglichkeit  der 
Energiearten  ineinander.  Und  eben  darauf  hat  schließlich 
auch  der  Entdecker  des  ersten  Hauptsatzes  von  der  Energie 
den  Akzent  gelegt,  wenn  er  die  erste  grundlegende  Hälfte 
seiner  berühmten  Abhandlung  über  Die  organische  Be* 
wegung  in  ihrem  Zusammenhange  mit  dem  Stoffwechsel 
mit  der  Aufzählung  von  fünfundzwanzig  Verwandlung* 
weisen  der  Energie  beschließt:  Fallkraft  in  Fallkraft  und 
Bewegung;  Bewegung  in  Fallkraft  und  Bewegung;  mecha* 
nische  Arbeit  in  Wärme ;  Wärme  in  Arbeit  und  in  Wärme, 
in  chemische  Differenz  und  in  Elektrizität;  chemische  Dif* 
ferenz  in  Wärme,  galvanische  Ströme  und  wieder  in  chemi* 
sehe  Differenz;  Elektrizität  in  Wärme  und  mechanische 
Arbeit;  Strom  in  Strom;  mechanischer  Effekt  in  Elektrizität, 
chemische  Differenz  und  umgekehrt .  .  . 

Äußerte  ich  vorhin,  jedes  materielle  Gebilde  der  Wirk* 
lichkeit  arbeite,  auch  wenn  es  nur  seine  eigene  Masse  von 
einem  Punkt  des  Raumes  nach  einem  anderen  hinbewege, 
ja  es  arbeite  in  einem  erweiterten  Wortsinn  sogar  noch  dort, 

501 


wo  als  Träger  der  physikalischen  Veränderungen  keine 
Massen  mehr  in  Frage  stehen,  sondern  etwa  Jonen,  Elek* 
tronen,  Elementarquanten  wie  bei  den  magnetischen  und 
elektrischen  und  chemischen  Erscheinungen:  so  darf  in  einer 
konsequent  maschinell  betrachteten  Welt  jede  Bewegung 
welches  stofflichen  Substratums  auch  immer,  folglich  auch 
die  Bewegung  des  Organismus,  als  ein  Arbeitvorgang  auf? 
gefaßt  werden.  Nichts  in  Raum  und  Zeit  verändert  seine 
Lage,  ohne  von  dem  vorhandenen  Arbeitvorrat  einen  Bruchs 
teil  in  Arbeit  oder  arbeitähnliche  Geschehnisse  umzusetzen, 
und  daß  sich  das  All  in  seiner  Gesamtheit  ausnahmlos  in 
dieser  Bedeutung  der  mechanisch=mathematischen  Darstel* 
lung  zugänglich  erweist,  beruht,  wir  erinnerten  schon  daran, 
auf  der  grundsätzlichen  Ausgleichs  Ermächtigung  seiner 
zahllosen  energetischen  Umsätze  im  einzelnen.  Solcher* 
gestalt  leistet  der  menschliche  Brustkorb,  der  sich  bei  der 
Atmung  hebt,  nicht  weniger  eine  Arbeit  wie  der  Hebel,  der 
eine  Last  von  der  Erde  wegbewegt;  der  Kreislauf  des  Blutes 
in  den  Gefäßen  nicht  weniger  eine  Arbeit  wie  der  ge= 
schlossene  elektrische  Strom  in  einem  Drahtwerk;  die  Ver= 
brennung  tierischer  Gewebe  nicht  weniger  eine  Arbeit  wie 
die  Verbrennung  pflanzlicher  Kohle  in  der  Feuerstelle  einer 
Dampfmaschine.  Eine  Mechanik  auch  des  Organischen  liegt 
darnach  (in  durchgängiger  Übereinstimmung  mit  der  von 
Kant  angebahnten  Lösung  der  Streitfrage)  durchaus  im  Be= 
reich  des  Erlaubten,  sogar  des  Erwünschten,  indem  die 
grundlegende  Tatsache  einer  meßbaren  Verhältnismäßigkeit 
zwischen  Ursache  und  Wirkung  innerhalb  aller  bekannten 
Umsatzmöglichkeiten  für  alle  stofflichen  Gebilde,  mithin 
auch  für  die  Träger  des  Lebens  gilt.  Auch  unser  Leib  ist 
ein  Mechanismus,  auch  unser  Leib  eine  Maschine:  und  zwar 
erstens  soweit,  als  seine  natürlichen  Bewegungen,  seine 
physikalischen  und  chemischen  Veränderungen  durch  Ände* 

502 


rungbedingungen  verursacht  gedacht  werden,  die  ihrerseit 
wieder  natürliche  Bewegungen  von  mechanischer,  elek* 
trischer,  magnetischer,  akustischer,  optischer,  thermischer 
oder  chemischer  Beschaffenheit  sind  und  als  solche  ihren 
Wirkungen  energetisch  genau  verhältnismäßig  erscheinen; 

—  Maschine  und  Mechanismus  aber  auch  zweitens  insofern, 
als  diese  sämtlichen  Verursachungen  und  Bewirkungen  der 
verschiedensten  energetischen  Arten  schließlich  jeweils  als 
die  Zustandänderung  einer  einzigen  energetischen  Ur=Form 
oder  Ursache  aufgefaßt  werden  können,  welche  als  .Energie 
der  Lage'  in  »Energie  der  Bewegung'  übergeht  und  dadurch 
alle  tote  und  alle  lebendige  Wirklichkeit  mit  einem  Schlag 
in  einen  umfassenden  Arbeitvorgang  wandelt,  dessen  Ge* 
samtleistung  vom  Gesamtverbrauch  nicht  um  die  kleinste 
Größe  abweicht.  In  diesem  zwiefachen  Sinn  energetischer 
Umsätze  im  einzelnen,  energetischer  Zustandänderung  im 
ganzen  arbeitet  auch  der  Organismus  in  allen  seinen  Teilen, 

—  sei  es,  daß  seine  Gewebe  mit  dem  Sauerstoffdes  Blutes,  sein 
Blut  mit  dem  Sauerstoff  der  Luft  verbrennten;  sei  es,  daß  die 
Kammern  seines  Herzens  sich  zusammenzögen  oder  ausein? 
anderdehnten,  um  die  Lebensflüssigkeit  ein*  und  auszupum* 
pen;  sei  es,  daß  die  Nervenfasern  Empfindungen  von  den 
Körperenden  nach  dem  Inneren  leiteten  oder  umgekehrt  vom 
Gehirn  aus  die  Muskeln  der  Glieder  zur  Betätigung  reizten. 

Vom  Standpunkt  einer  derartigen  .Mechanik  des  Orga* 
nischen'  aus  ist  es  am  Ende  gar  nicht  so  sehr  ein  blinder 
Zufall  gewesen,  daß  der  Begründer  dieser  erweiterten  Theorie 
einer  mathematischen  Beherrschung  der  Wirklichkeit,  den 
man  mit  einigem  Recht  den  Galilei  des  neunzehnten  Jahr* 
hunderts  genannt  hat,  —  den  man  aber  mit  besserem  Recht 
den  Cartesius  desselben  Jahrhunderts  hätte  nennen  dürfen, 
weil  doch  Cartesius  wohl  die  Maschinen/Theorie  des  Or* 
ganismus  mit  den  Mitteln  seiner  weitgreifenden  empirischen 

503 


und  konstruktiven  Forschungen  als  erster  angestrebt  hat! 
—  vom  Standpunkt  dieser  unbeirrten  Mechanik  aus  war  es 
also  vielleicht  mehr  als  ein  Zufall,  daß  ihr  eigentlicher  Be* 
gründer  die  Entdeckung  seines  Welt*Gesetzes  gerade  der 
Beobachtung  einer  physiologischen  Unregelmäßigkeit  ver= 
dankt.  Bekanntlich  hat  Robert  Mayer  in  seiner  Eigenschaft 
als  Arzt  in  den  Tropen  von  Insulinde  Gelegenheit  zu  der 
Wahrnehmung  gefunden,  die  der  bis  dahin  geltenden  For* 
mel  von  der  Entsprechung  der  Verbrennunggröße  und  der 
Wärme  offenbar  zuwiderlief,  und  vielleicht  ist  sein  Ver* 
fahren,  das  ihn  zum  Satz  von  der  Unzerstörbarkeit  des  irdi* 
sehen  Gesamtarbeitvorrats  verholfen  hat,  ebenso  aufschluß* 
reich  oder  aufschlußreicher  noch  als  dieser  Satz  selber,  der 
die  quantitative  Gleichwertigkeit  und  Vertretbarkeit  der 
chemischen,  thermischen  und  mechanischen  Leistungen  des 
Organismus  sicherstellt.  Dieses  Verfahren  bestand  aber  im 
wesentlichen  darin,  daß  die  bei  einem  javanischen  Aufent* 
halt  beobachtete  Verminderung  der  Verbrennunggröße  des 
Blutes  bei  gleichbleibender  Körperwärme  dem  nachdenke 
liehen  Mediziner  den  Schluß  nahelegte,  die  Wärme  nicht 
mehr  wie  bisher  als  die  eindeutige  Abhängige  der  Ver* 
brennung  aufzufassen,  sondern  sie  ihrerseit  mit  der  mecha* 
nischen  Arbeitleistung  des  Leibes  in  Bezug  zu  bringen.  In* 
dem  jetzt  auch  Wärme  die  Arbeit  energetisch  vertreten 
konnte  oder  mit  ihr  energetisch  vertauschbar  war,  erledigte 
sich  gerade  von  der  Mechanik  des  Organischen  her  ein 
letzter  Einwand,  der  einer  ausnahmlosen  Gleichwertsetzung 
aller  bekannten  energetischen  Arten  entgegenstand.  Daß 
die  Welt  aber  mit  Einschluß  des  Lebens  mechanisch,  daß 
sie  maschinell  deutbar  sei,  konnte  kaum  glaubhafter  erhärtet 
werden  als  durch  die  aparte  Tatsache,  daß  die  unentbehr* 
liehe  Voraussetzung  dieser  Deutung  vom  Organismus  aus 
aufgefunden  und  aufgestellt  ward! 

504 


Werfen  wir  indessen  von  dieser  Stelle  nochmals  einen 
Blick  zurück  auf  das  ungeheuere  Vorhaben  der  modernen 
Wissenschaft,  die  gesamte  Wirklichkeit  durch  den  Begriff 
des  Mechanismus,  will  heißen  durch  den  Begriff  der  Ma* 
schine  gedanklich  exakt  zu  meistern.  Als  die  Vorbedingung 
schlechthin  für  das  Gelingen  dieses  Anschlages  mußte  dabei 
eine  mögliche  Geometrisierung  namhaft  gemacht  werden, 
wodurch  die  natürlichen  Veränderungen  in  mathematischen 
Gleichungen  wenigstens  grundsätzlich  für  darstellbar  gelten 
durften.  In  dem  Maße  nun,  als  die  mechanistische  Bewegung* 
lehre  der  Physik  aber  zu  einer  universalen  Arbeitlehre  fort* 
schritt,  gab  sich  dann  freilich  die  mathematische  Gleichung 
als  Gleichsetzung  zwischen  verschiedenen  Umsätzen  ein* 
und  derselben  energetischen  Menge  einerseit,  zwischen 
energetischem  Verbrauch  und  energetischer  Leistung  ande* 
rerseit  zu  erkennen:  und  kein  Zweifel  war  infolgedessen 
darüber  möglich,  daß  sich  hinter  den  mathematischen  Glei* 
chungen  oder  Gleichsetzungen  der  Mechanik  im  wesent* 
liehen  kausale  Gleichungen  oder  Gleichsetzungen  gewisser* 
maßen  verborgen  hielten,  und  daß  ferner  auf  diesen  kau* 
salen  Äquivalenzen  der  eigentliche  Erkenntniswert  des 
mechanisch  =  maschinellen  Weltbegriffes  als  einer  wissen* 
schaftlichen  Deutung  wirklicher  Vorgänge  und  wirklicher 
Veränderungen  beruhte.  Wie  eine  der  bekannten  Grund* 
formein  dieser  unserer  Wissenschaft  den  Antrieb  gleich  der 
Bewegunggröße,  mithin  die  Ursache  gleich  der  Wirkung 
setzt  und  damit  das  transzendentale  Geheimnis  aller  mecha= 
nischen  Formeln  mit  wohltätiger  Aufrichtigkeit  preisgibt, 
so  dürfen  wir  ganz  allgemeingültig  die  Gleichwertsetzung 
zwischen  Ursache  und  Wirkung,  auf  analytische  Beziehun* 
gen  und  Ausdrücke  gebracht,  als  letzte,  tiefste  und  wunder* 
lichste  Endabsicht  der  exakten  Naturlehre  überhaupt  kenn* 
zeichnen.  Dieses  methodische  Ziel,  diese  methodische  Un* 

505 


gereimtheit  und  Widersprüchlichkeit  der  mechanischen 
Welterfahrung  hat  aber  wiederum,  soweit  ich  sehe,  keiner 
mit  soviel  Naivität  bewußtermaßen  herausgestellt  wie  Robert 
Mayer  selbst.  Was  hat  man  dieses  enfant  terrible  der  mo* 
dernen  Physik  nicht  getadelt  und  abgekanzelt  in  den  Krei* 
sen  seiner  engeren  und  weiteren  Fachgenossen,  daß  er 
seiner  frühesten  Abhandlung  über  das  mechanistische 
Grundgesetz  mehrere  Axiome  vorausschickt,  unter  welchen 
das  leibnizische  causa  aequat  effectum  unstreitig  das  wich* 
tigste  gewesen  ist.  Stimmt  doch  sogar  ein  Denker  und  For* 
scher  von  der  Einsichtfülle  Helmholtzens  in  den  gemeinen 
Chorus  der  Rügenden  gleichsam  als  Vorsänger  ein:  Robert 
Mayer  habe  den  induktiven  Charakter  seiner  Entdeckung 
verleugnet,  den  wissenschaftlichen  Wert  seiner  Errungen* 
schaft  geschmälert,  wofern  er  den  Verdacht  einer  deduktiven 
Herleitung  des  ersten  Hauptsatzes  von  der  Energie  aus  bloß 
philosophischen  und  spekulativen  Selbstgewißheiten  herauf* 
beschwöre,  dadurch  die  gottlob!  überwundenen  Methoden 
einer  schlechten  Epoche  zu  einem  flüchtigen  Scheindasein 
nochmals  flüchtig  erweckend  .  .  .  Nicht  unsere  Sache  ist  es 
hier,  diesen  Anwurf  in  seiner  nackten  Unverständigkeit 
bloßzustellen,  und  es  wäre  heute  viel  zu  spät,  den  Lehrer 
von  Heinrich  Hertz  daran  zu  erinnern,  daß  die  deduktiven 
Neigungen  der  Mechanik  wahrhaftig  auf  etwas  anderen  Ur* 
Sachen  beruhen  als  nur  auf  rückfälligen  Anwandlungen 
Robert  Mayers.  Aber  eines  müssen  wir  doch  auch  hier  mit 
hoher  Bestimmtheit  aussprechen :  daß  nämlich  Robert  Mayer 
mit  seiner  unbedenklichen,  ob  auch  keineswegs  unbedachten 
Bezugnahme  auf  das  leibnizische  causa  aequat  effectum  die 
schlechterdings  unentbehrliche  Voraussetzung  aller  mecha* 
nischen  und  maschinellen  Theorien  mit  einer  genialischen 
Treffsicherheit  des  Blickes  ausfindig  gemacht  hat.  Induktiv 
oder  deduktiv,  —  eine  Mechanik  gibt  es  nur  insoweit,  als 

506 


die  natürliche  Ursache  ihrer  natürlichen  Wirkung  meßbar 
gleich  ist;  als  der  Kraftaufwand  der  Arbeitleistung  gleich- 
wertig ist;  als  die  Größenmenge  der  verfügbaren  Energie 
der  Lage  der  Größenmenge  der  Energie  der  Bewegung 
gleich  ist.  Mag  es  immerhin  den  führenden  Naturforscher 
eines  naturalistischen  Zeitalters  anstößig  bedünken,  durch 
einen  unmäßigen  Aufwand  an  Beobachtungen  und  Berech* 
nungen  zuletzt  doch  nur  bestätigt  zu  finden,  was  eine  Regel 
a  priori  der  Vernunft  mühelos  kenntlich,  wenn  auch  nicht  un* 
bedingt  gewiß  macht,  —  vom  Standpunkt  einer  allgemeinen 
Wissenschaftlehre  aus  hat  Robert  Mayer  ein  wohlbegrün* 
detes  Recht,  den  ersten  Hauptsatz  von  der  Energie  doch 
nur  als  eine  a  posteriori  erbrachte  Bestätigung  der  leibni* 
zischen  Regel  zu  bewerten.  Denn  nicht  allein  dieser  erste 
Hauptsatz,  nein  die  gesamte  bisherige  Mechanik  mit  ihrer 
geradezu  schicksalhaften  Wichtigkeit  für  den  neuen  Euro* 
päer  steht  und  fällt  mit  der  (gewissermassen  platonischen) 
.Grundlegung',  daß  in  der  Wirklichkeit  die  Wirkung  allent* 
halben  ihrer  Ursache  gleich  bleibt:  sollten  wir  unter  dieser 
Ursache  den  eigentlichen  Bewegungantrieb,  die  äußere 
Änderungbedingung,  oder  aber  den  Gesamtarbeitvorrat  der 
Welt  im  Zustand  der  Ruhe  oder  der  Unwirksamkeit  ver* 
stehen.  Auf  alle  Fälle  kann  das  System  mathematischer  Be* 
dingunggleichungen,  welches  wir  moderne  Mechanik  nen* 
nen,  nur  dann  errichtet  werden,  wenn  sich  die  Ausschnitte 
der  entsprechenden  Wirklichkeit  als  die  Glieder  einer  kau* 
salen  Gleichsetzung  erkenntnismäßig  aufeinander  beziehen 
lassen.  In  dieser  Annahme  treffen  die  philosophischen  In* 
stinkte  Robert  Mayers  mit  den  metaphysischen  Erwägungen 
Immanuel  Kants  aufs  erfreulichste  zusammen:  dervernünf* 
tige  Stammbegriff  Ursache* Wirkung  bedingt  in  seiner  von 
Leibniz  herrührenden  Auslegung  des  causa  aequat  effectum 
tatsächlich  die  Möglichkeit  eines  mechanisch*maschinellen- 

507 


Weltbegreifens.  Wo  eine  Wirkung  in  der  Natur  größer 
wäre  als  ihre  Ursache,  eine  Arbeitleistung  größer  als  ihr 
Verbrauch,  eine  Bewegung  größer  als  ihr  Antrieb,  eine 
Änderung  größer  als  ihre  Bedingung,  da  wäre  jeder  mecha* 
nischen  Beherrschung  dieses  Sachverhaltes  gleichsam  ipso 
facto  der  Boden  unterausgezogen.  Wo  die  sogenannten 
Kräfte  der  Natur  nicht  mehr  meßbar  gleiche  Kraftäußerun* 
gen  bewirkten,  würde  die  unerläßliche  Voraussetzung  für 
jede  erdenkliche  Art  von  Äquivalenzen  fehlen,  und  eben 
im  Hinblick  auf  diese  einigermaßen  aufregende  Möglich* 
keit  müssen  wir  allerdings  noch  einmal  auf  das  Problem 
einer  universalen  Mechanik,  einer  ,Welt  als  Maschine'  zu* 
rückkommen,  um  uns  der  absoluten  Erkenntnisgrenze  der* 
selben  genau  bewußt  zu  werden.  Denn  wie  wir  jetzt  arg* 
wohnen,  macht  es  die  tiefste  Bedeutung  des  organischen 
Lebens  aus,  daß  es  im  ewigen  Gegensatz  zu  allem  Unbelebten 
mit  Kräften,  Bewegungantrieben,  Änderungbedingungen 
wirtschafte,  die  im  bisherigen  Verstand  des  Wortes  gar  keine 
.Ursachen*  sindl 

Während  wir  uns  aber  noch  etwas  ratlos  fragen,  wie  dies 
gemeint  sein  könnte,  entsinnen  wir  uns  vielleicht  des  Um* 
Standes,  daß  Robert  Mayer  selbst  schon  solche  Kräfte  un* 
umwunden  zugestanden  hat,  und  zwar  zugestanden  schon 
für  das  Bereich  der  leblosen  Natur.  Er  nämlich  nennt  ,kata* 
lytisch'  jede  Kraft,  welche  mit  der  ihr  zugeordneten  Wirkung 
,in  keinerlei  Größenbeziehung  steht',  und  sein  Beispiel  dafür 
ist  der  Sturz  einer  Lawine,  die  ein  Windstoß,  ein  Vogel* 
flügelschlag  ins  Rollen  bringen  kann.  Was  hier  von  den 
katalytischen  Kräften  ganz  allgemein  angedeutet  wird, 
daß  sie  tatsächlich  die  Grenze  der  Mechanik  bezeichneten, 
gilt  selbstverständlich  von  jeder  Änderungbedingung,  die 
ihrer  Änderung  nicht  meßbar  gleich  ist:  einerlei,  ob  man 
•mit  Robert  Mayer  darauf  beharre,  sie  eine  Kraft  zu  nennen, 

508 


oder  ob  man  mit  Heinrich  Hertz  darauf  bedacht  bleibt, 
diesen  unentwegt  rätselhaften  Begriff  oder  Unbegriff  nach 
Tunlichkeit  zu  vermeiden.  Dies  wie  gesagt  dahingestellt, 
gibt  es  also  sogar  noch  innerhalb  der  Grenzen  der  leblosen 
Wirklichkeit  Ursachen  von  Bewegungen,  die  sich  dem 
Grundsatz  des  causa  aequat  effectum  unstreitig  entziehen, 
und  dieser  Vorstellung  einer  außermechanischen  Bedingung* 
änderung  brauchen  wir  nur  etwas  weiter  nachzugehen,  um 
in  ihrem  Auftreten  eines  der  Hauptmerkmale  des  orga= 
nischen  Geschehens  jenseit  der  mechanisch5 maschinellen 
Beherrschbarkeit  zu  würdigen.  Machen  wir  beispielweis 
die  simple  Annahme,  ein  Mensch,  ein  Handwerker,  der  auf 
einem  Gerüst  zu  arbeiten  habe,  stürze  plötzlich  in  die  Tiefe. 
Niemand,  der  sich  je  für  naturwissenschaftliche  Feststellung 
gen  interessierte,  wird  daran  zweifeln  wollen,  daß  auch 
dieser  noch  vorhin  lebendige  Körper  mit  der  Geschwindig* 
keit  des  freien  Falles  zur  Erde  gelange,  —  niemand  wird  be= 
rechtigterweise  daran  zweifeln,  daß  dieser  ganze  Vorgang 
mechanisch  durchaus  nicht  weniger  deutbar  abläuft,  als  wenn 
statt  des  Menschen  etwa  ein  Trog  mit  Mörtel  oder  ein  Sack 
mit  Gips  vom  Gerüst  gestürzt  wäre.  Indessen  treten,  diese 
mechanische  Deutbarkeit  beiseite  gelassen  und  als  statthaft 
vermerkt,  bei  dem  menschlichen  Unfall  zwei  Möglichkeiten 
auf,  die  den  über  die  Ursache  des  Ereignisses  Nachdenkens 
den  zur  Entscheidung  nötigen :  indessen  bei  dem  Mörtel= 
trog  oder  beim  Gipssack  nur  eine  Möglichkeit  in  Frage 
steht.  Der  Handwerker  nämlich  ist  vielleicht  abgestürzt, 
weil  ihm  ein  fahrlässiger  Arbeitgenosse  einen  Stoß  ver= 
setzt  hat,  der  nach  mechanischen  Gesetzen  das  Gleich5 
gewicht  seines  Körpers  aufheben  und  eine  Bewegung  her- 
vorbringen mußte,  die  anfänglich  etwa  der  Bedingung- 
gleichung des  freien  Falles  entsprechen  mochte.  Etwas  wie 
eine  katalytische  Kraft  tritt  hier  nicht  ins  Spiel  und  wir 

509 


finden  unser  bisheriges  Ergebnis  vollauf  bewahrheitet,  daß 
auch  Bewegungen  des  Organismus,  Bewegungen  des  Lebens= 
trägers  nach  bloß  mechanischen  Gesichtspunkten  wissen* 
schaftlich  aufgefaßt  und  dargestellt  werden  können.  Ein 
anderes  Gesicht  erhält  die  Angelegenheit  jedoch,  sobald 
wir  uns  der  zweiten  Möglichkeit  zuwenden,  der  abstürzende 
Handwerker  könne  aus  den  und  den  Gründen  gar  nicht 
fahrlässig   (oder  meinetwegen   auch   verbrecherisch)  von 
seinem  Gerüst  herabgestoßen  worden  sein,  sondern  habe 
sich  geradezu  in  einer  Anwandlung  von  Lebensüberdruß, 
von  Liebesgram,  von  Schwermut,  von  Verzweiflung,  von 
Umnachtung  selber  herabfallen  lassen.  Jetzt  darf  als  Ursache 
des  stattfindenden  mechanischen  Vorganges  nicht  ein  Ereignis 
von  der  gleichen  natürlichen  Ordnung  dieses  erachtet  wer* 
den,  nicht  ein  Ereignis,  welches  die  Störung  des  körperlichen 
Gleichgewichtes  und  den  sofort  daran  schließenden  Fall 
ohne  weiteres  nach  mathematischen  Bedingunggleichungen 
mechanisch  zu  beherrschen  gestattet.  Zum  mindesten  den 
Ruck  nach  vorwärts  hat  sich  der  Körper  des  Verunglückten 
vermöge  eines  Willensentschlusses  selbsttätig  gegeben,  und 
es  besteht  zwischen  diesem  Entschluß  einerseit  und   der 
ihm  folgenden  motorischen  Innervation  mit  abermals  fol= 
gender  Fallbewegung  andererseit  auf  keine  Weise  ein  me* 
chanisch  begreiflicher  Zusammenhang  mehr.  Der  Leib  des 
Lebendigen  hat  eine  Tathandlung  verübt,  die  dem  Leib  des 
Unlebendigen  auch  nur  fiktiv  anzusinnen  eine  Ungereimt* 
heit  sondergleichen  wäre.  Ohne  energetischen  Antrieb,  ohne 
Übertragung  einer  Bewegung  von  außen  her,  ohne  physi= 
kaiische  oder  chemische  Änderungbedingung  hat  er  sich 
selber  zur  Bewegung  bestimmt,  und  statt  eines  für  stätig 
genommenen  Zusammenhanges  von  Ursache  und  Wirkung 
derselben  Reihe  energetischer  Umsätze,  bemerken  wir  eine 
gedanklich  nicht  zu  bewältigende  Unstätigkeit,  einen  Bruch, 

510 


wo  jählings  aus  einer  innerlichen  Gemütsverfassung,  aus 
Gefühl  und  Wille,  aus  Absicht  und  Entschluß  ein  Be= 
wegungantrieb  gleichsam  wie  ein  Funken  aus  dem  Stein 
hervorstiebt  und  etwa  eine  Masse  fremden  Stoffes  sprengt. 
Ein  geheimnisreiches  Vermögen  zu  selbsttätiger  Bestimmung 
hebt  den  Organismus  aus  dem  Kontinuum  von  mecha= 
nischen,  thermischen,  elektrischen,  magnetischen,  optischen, 
akustischen,  chemischen  Bewegungformen  heraus,  inner= 
halb  dessen  jede  Lageänderung  kleinster  Teilchen  die  Lage= 
änderung  anderer  kleinster  Teilchen  bedingt,  und  plötzlich 
gelangen  jetzt  Bewegungen  von  Massen  oder  von  sonstigen 
Bewegungträgern  zum  Vollzug,  ohne  daß  nachweisbar  etwas 
anderes  vorausgegangen  wäre  als  eine  Zustandänderung 
im  Bewußtsein,  eine  Unlustvorstellung,  ein  Schmerzgefühl 
oder  dergleichen,  —  kurz  eine  seelische  anstatt  einer  körper* 
liehen  Beeinflussung.  Was  wir  aber  früher  von  der  soge= 
nannten  katalytischen  Kraft  nach  dem  Wortgebrauch  Ro- 
bert Mayers  behaupten  durften,  daß  nämlich  sie  die  Er= 
kenntnisgrenze  der  universalen  Mechanik  bezeichne,  ob= 
wohl  sie  dort  noch  durchaus  den  körperlichen  Änderung^ 
bedingungen  zuzuzählen  ist,  dies  gilt  vernünftigerweise  von 
diesem  neuen  Bewegungantrieb  in  viel  höherem  Grad.  Er 
ist  der  ihm  zugeordneten  Bewegunggröße  nicht  nur  nicht 
meßbar  gleich,  sondern  ihr  obendrein  noch  wesentlich  und 
beschaffenheitlich  ungleich:  einerlei,  ob  man  auch  jetzt 
wieder  diesen  Antrieb  mit  Robert  Mayer  noch  eine  .Kraft' 
zu  nennen  beliebe,  oder  ob  man  eher  dem  gedachten  Bei* 
spiel  Heinrich  Hertzens  zuneige  und  den  verdächtigen  Aus= 
druck  absichtlich  vermeide.  Gewiß  tritt  auch  hier  ein  Wech* 
sei  der  Lage,  eine  Zu=  und  Abnahme  der  Geschwindigkeit, 
eine  Veränderung  der  energetischen  Zuständlichkeit  nicht 
ursachlos  ein.  Aber  diese  Ursache  gehört  nicht  einmal  mehr 
wie  Robert  Mayers  katalytische  Kraft  der  körperlichen  Er= 

511 


scheinungreihe  an,  sondern  verbirgt  sich  jeder  äußeren  Er* 
fahrung  im  Innern  des  Selbstbewußtseins,  indem  sie  nun» 
mehr  ein  Hauptmerkmal  dessen  ausmacht,  was  wir  belebt 
im  Gegensatz  zu  unbelebt  seit  alters  zu  nennen  gewohnt 
worden  sind.  Solang  wir  Mechanik  des  Organischen  treiben, 
verfahren  wir,  kantisch  gedacht,  als  ob  der  Organismus  ein 
Mechanismus  oder  eine  Maschine  sei,  als  ob  er  ohne  Ein* 
schränkung  sich  dem  causa  aequat  effectum  schmeidige. 
Sobald  wir  dagegen  den  Organismus  behandeln,  als  ob  er 
Organismus  wäre,  haben  wir  selbsttätige  Beweglichkeit  nach 
bewußt  oder  unbewußt  seelischen  Anreizen  in  Betracht  zu 
ziehen  und  damit  nachdrücklich  auf  jenen  Grundsatz  zu 
verzichten.  Causa  inaequat  effectum  heißt  die  oberste  Regel 
jeder  besonnenen  Erforschung  des  Lebens  als  solchem,  und 
mit  dieser  Einsicht  befinden  wir  uns  auch  schon  Aug'  in 
Auge  mit  einem  schlechterdings  neuen  Typus  der  Wissen* 
schaftlichkeit .  .  . 


512 


DIE  WESENSBEGRIFFE  IN  DER 
MECHANIK 

Inzwischen  sind  wir  aber  mit  diesem  vorläufigen  Ergebe 
nis  unseren  näheren  und  nächsten  Absichten  und 
Zwecken  weit,  sehr  weit  vorausgeeilt.  Wollten  wir  daher 
auch  nur  einigermaßen  im  Bild  bleiben,  so  würde  sich's 
empfehlen,  die  uns  bis  hierher  führenden  Gedanken  ver= 
langsamend  noch  einmal  bündig  zusammenzudrängen.  Mit 
Galileo  Galilei,  sagten  wir,  sei  der  Mensch  von  spezifischer 
Modernität  des  wissenschaftlichen  Verfahrens  auf  den  Schau* 
platz  der  Geschichte  getreten,  nachdem  dieser  selbe  Mensch 
noch  in  einem  Leonardo  da  Vinci,  noch  in  einem  Nikolaus 
Kopernikus  hart  mit  Bestiarius,  Astrologus  und  Theologus 
des  Mittelalters  gestritten  hatte.  Jetzt  war  die  Wirklichkeit 
mit  ihren  Veränderungen  in  Raum  und  Zeit  geometrischen 
Gleichungen  unterworfen:  indes  freilich  die  Verknüpfung 
der  wirklichen  Dinge  der  Natur  ganz  offenbar  nirgends  in 
Gleichungen  geschah.  Eine  beunruhigende,  jedoch  unver* 
meidliche  Paradoxie  der  Erkenntnis!  —  zu  deren  Ermög* 
lichung  eine  unmittelbar  der  Vernunft  entliehene  Regel  a 
priori  herhalten  mußte,  welche  eine  Gleichheit  zwischen  Ur* 
sache  und  Wirkung  gewiß  macht  und  dem  mechanischen 
Forscher  eine  Handhabe  darbietet,  die  ihrerseit  der  ange* 
strebten  Geometrisierung  des  Wirklichen  erst  glückliches 
Gelingen  verheißt.  Von  da  an  war  in  der  Tat  für  die  wer? 
dende  Mechanik  der  von  Leibniz  schön  formulierte  Ge* 
danke  überall  bestimmend:  ostendo  aequationem  latentem 
intev  causam  et  effectum  nulla  arte  violabilem  esse  .  .  .  Die 
Welt  ein  Mechanismus,  die  Welt  eine  Maschine,  diese  wahr* 
haft  ingeniöse,  aber  auch  impendiöse  Interpretation  natür* 
liehen  Geschehens  konnte  nur  stattfinden,  wenn  die  Gleich* 
heit,  ja  wenn  die  Gleichung  zwischen  Ursache  und  Wirkung 

33    Ziegler,  Gestaltwandel  der  Götter  513 


auf  keine  Art  verletzt  oder  auch  nur  verschleiert  ward.  Ge* 
nau  besehen  durfte  man  mit  noch  besserem  Recht  sogar  als 
diesen  Satz  seine  logische  Umkehrung  für  die  mechanische 
Wissenschaft  in  Anspruch  nehmen  und  getrost  behaupten : 
daß  hier  weniger  die  Gleichheit  und  Gleichung  als  viel* 
mehr  die  Ungleichheit  und  Ungleichung  zwischen  Ursache 
und  Wirkung  allzu  geflissentlich  übergangen  worden  sei, 
daß  die  Kausalität  allzu  gewaltsam  je  und  je  in  die  Gestalt 
einer  reinen  Äquipollenz,  Äquivalenz  hineingezwungen 
und  hineingequält  ward.  Denn  kein  Zweifel,  dieser  von 
Galilei  gestifteten  profanen  Wissenschaft  der  angewandten 
Geometrie  schwebt  als  erreichbares  oder  unerreichbares 
Muster  die  Geometrie  des  ebenen  Raumes  selber  vor,  wie 
sie  schon  bei  Euklid  zu  sonst  nicht  mehr  anzutreffen* 
der  Vollendung  und  Geschlossenheit  ausgediehen  war. 
Diesem  einzigartigen  System  des  Wissens,  in  allen  seinen 
Teilen  genau  zusammenhängend,  überall  den  Beweis 
(oder  was  ja  im  Grund  ein  und  dasselbe  ist:  überall 
den  Vernunftschluß)  als  strengste  Form  gedanklicher 
Knüpfung  zulassend,  überall  das  eine  aufs  andere  lo* 
gisch  zurückführend  oder  das  eine  aus  dem  anderen 
logisch  ableitend,  überall  schließlich  nur  wenigen  un* 
ableitbaren  Grundannahmen  verdankt;  —  diesem  hoch* 
vorbildlichen  mathematischen  Gefüge  wollte  Galileis 
System  der  Natur  in  seinem  wissenschaftlichen  Cha* 
rakter  entsprechen.  Durch  die  Geometrisierung  der  Bahnen 
bewegter  Massen  wollte  man  erreichen,  daß  über  sie  Aus* 
sagen  von  der  Zuverlässigkeit  und  Notwendigkeit  der 
Geometrie  selbst  zu  machen  wären:  ein  Vorhaben  von  ent* 
schiedener  Vermessenheit  des  Erkenntniswillens,  wenn  man 
es  recht  bedenkt.  Die  Ergebnisse  zahlloser  einzelner  Beob* 
achtungen  und  Erfahrungen  sollten  aus  möglichst  weni- 
gen oder  sogar  aus  einem  einzigen  Grundsatz  (als  dem  all* 

514 


gemeinsten  Ausdruck  für  alle  Beobachtungen  und  Erfah* 
rungen  miteinander)  denknotwendig  ableitbar  sein.  Derart 
schien  eine  genügende  Anähnelung  geometrisierter  Wirk* 
lichkeit  an  das  Muster  der  reinen  Geometrie  möglich;  der* 
art  gelang  es  tatsächlich,  Grundsätze,  Lehrsätze,  Begriffs* 
abgrenzungen,  Beweise  zu  einem  deduktiven  Denkzusam* 
menhang  zu  verflechten.  Wobei  es  bemerkenswert  gewesen 
ist,  daß  die  Geometrisierung  der  Mechanik  um  so  besser 
und  schneller  fortschreiten  konnte,  desto  entschlossener 
sie  sich  von  den  schwerfälligen  und  umständlichen  Propor* 
tionen  des  Euklid  entfernte,  denn  auch  hier  machte  der 
Geist  der  cartesianischen  Geometrie  wirklich  erst  lebendig, 
nachdem  der  Buchstabe  der  euklidischen  Geometrie  bereits 
getötet  war  .  .  . 

Die  Annäherung  und  Anähnlichung  der  Mechanik  an 
die  Systeme  der  Geometrie  war  zuletzt  eine  so  auffällige, 
daß  man  billig  die  Frage  aufwerfen  durfte,  ob  überhaupt 
noch  ein  Unterschied  mindestens  zwischen  der  sogenann* 
ten  Bewegunglehre,  Kinematik  oder  Phoronomie,  und  der 
Geometrie  anzugeben  wäre.  Noch  Heinrich  Hertz  sagt  von 
der  Bewegunglehre:  „Solange  es  sich  um  die  Betrachtung 
gesetzmäßiger  (das  heißt  von  der  Zeit  unabhängiger)  Sy* 
steme  handelt,  fallen  die  Betrachtungen  der  Kinematik  mit 
denen  der  Geometrie  fast  zusammen."  Dieses  einschränkende 
.fast'  ist  hierbei  überaus  bezeichnend.  Verrät  es  doch  eine 
gewisse  Unsicherheit  und  Unentschiedenheit  über  die  Tat* 
sache,  ob  die  mechanische  Bewegunglehre  reine  oder  ange* 
wandte  Geometrie  wäre,  —  eine  Unsicherheit  und  Unent* 
schiedenheit,  welche  auch  durch  die  gleich  darauf  folgende 
Bemerkung  nicht  überwunden  wird,  daß  die  Mechanik  in 
dem  Augenblick  größere  Mannigfaltigkeit  vor  der  Geome* 
trie  gewönne,  wo  die  Zeit  in  die  Bedingunggleichungen 
der  Systeme  eingeführt  werde.  Denn  was  diese  Einführung 

33*  515 


der  Zeit  in  die  mechanischen  Bedingunggleichungen  ans 
langt  oder  die  mechanische  Behandlung  .ungesetzmäßiger' 
Systeme,  so  hebt  Hertz  ja  in  der  Folge  selbst  hervor,  daß 
die  Mechanik  diese  Ungesetzmäßigkeit  nur  als  eine  schein* 
bare  ansehe.  Schwankt  darnach  sogar  ein  Physiker  von 
diesem  Rang,  ob  er  die  Kinematik  als  ein  Gebiet  reiner 
Mathematik  zu  bewerten  habe  oder  nicht,  —  wie  wäre  es 
dem  Philosophen  zu  verübeln,  wenn  er  seinerseit  darüber 
im  Dunkeln  tappt  und  beispielweise  mit  Eduard  von  Hart* 
mann  die  Bewegunglehre  geradezu  einen  , Zweig  der  Ma* 
thematik'  nennt:  weil  ihre  Sätze  a  priori  gewonnen  und 
apodiktisch  gewiß  seien  und  es  überdies  dahin  gestellt  sein 
ließen,  ob  es  in  der  Natur  diesen  Gesetzen  entsprechende 
Bewegungen  wirklich  gäbe  .  .  . 

Diese  mehr  oder  weniger  in  der  Sachlage  gegründeten 
Schwierigkeiten  aber  beiseite,  wird  man  offenbar  doch  einen 
erheblichen  Unterschied  zwischen  einer  bloßen  Geometrie 
der  Lage  (oder  einer  .darstellenden  Geometrie',  wie  sie  von 
gewissen  Mathematikern  heutzutag  genannt  wird)  und  der 
Bewegunglehre  ohne  Schwierigkeit  feststellen  können.  Ich 
meine  diesen,  daß  die  Kinematik  in  die  Zahl  ihrer  grund* 
legenden  Begriffe  die  sogenannte  Masse  aufnehmen  mußte, 
was  für  kein  einziges  System  der  Geometrie  zutrifft.  Ge* 
rade  bei  Heinrich  Hertz  sind  die  erste  und  die  zweite  De* 
finition  seiner  Prinzipien  der  Mechanik  bemüht,  eine  schul* 
gerechte  Erläuterung  der  Begriffe  Masse  und  Massenteilchen 
zu  geben.  Und  man  kann  mit  dem  Bewußtsein  der  vollen 
Verantwortung  für  diese  Behauptung  den  Satz  aufstellen, 
daß  mit  diesem  Versuch  begrifflicher  Abgrenzung  alle  die 
unendlichen  Schwierigkeiten,  Unausdenkbarkeiten,  Wider* 
sprüche,  Verhängnisse  der  Mechanik  beginnen,  welche  der 
Geometrie  zu  ihrem  Heil  stets  fremd  geblieben  sind  und 
fremd  bleiben  werden.    In  der  Masse   steckt  das  proble* 

516 


matisch   kausale   Moment,    welches    die    Mechanik   mehr 
als   bloße   Geometrie,    mehr  als   bloße  Mathematik  sein 
läßt;   in   der  Masse   steckt   das   odiöse  kausale  Moment, 
welches   die   Mechanik   aus   ihrem    Erkenntnisbereich  am 
liebsten    zu  Gunsten    mathematischer  Äquipollenz    oder 
Äquivalenz   verdrängt  sähe,  aber  unter  keinen  Umstän* 
den    verdrängen    kann,   ohne  im  nämlichen    Augenblick 
schon  aufgehört  zu  haben,  Mechanik  zu  sein  . . .  Nicht  ein* 
mal  also  die  überlegsamste  Vorsicht  und  Sorgfalt,  mit  wel* 
eher  Heinrich  Hertz  an  die  Definition  dieses  entscheiden* 
den  Begriffes  gegangen  ist,  konnte  das  mechanistische  Welt* 
bild  davor  schützen,  mit  unbeabsichtigter  Schonunglosig* 
keit  sich  selber  bloßzustellen,  und  diese  Tatsache  nötigt  uns, 
an  der  hertz'schen  Definition  nicht  blindlings  vorbeizuge* 
hen.  „Ein  Massenteilchen",  wird  uns  nämlich  bedeutet,  „ist 
ein  Merkmal,  durch  welches  wir  einen  bestimmten  Punkt 
des  Raumes  zu  einer  gegebenen  Zeit  eindeutig  zuordnen 
einem  bestimmten  Punkte   des  Raumes   zu  jeder  anderen 
Zeit."  Und  sofort  darauf :  „Jedes  Massenteilchen  ist  unver* 
änderlich  und  unzerstörbar."   Da  die  Masse  lediglich  die 
Zahl  der  Massenteilchen  in  einem  bestimmten  Räume  ist, 
wäre  sie  also  nach  dieser  Abgrenzung:  erstens  das  einem 
Punkt   im    Raum   zugeordnete    .Merkmal',    zweitens  aber 
außerdem  noch  ein  Ding,  ein  Wesen,  ein  Eigenschaft*  und 
Merkmalträger,  dem  die  Kennzeichnungen  .unzerstörbar' 
und  .unveränderlich'  zugesprochen  werden!    In  welcher 
Hilflosigkeit  sich  hier  das  wissenschaftliche  Denken  befin* 
den  muß  bei  einem  so  scharfen  und  urteilskräftigen  Geist, 
ehe  es  zu  derartigen  Ungereimtheiten  seine  Zuflucht  nimmt 
und  dem  Leser  mit  soviel  Unverfrorenheit,  um  nicht  zu 
sagen  Dreistigkeit  eine  Nase  dreht,  —  das  vermag  wohl 
auch  der  logisch  Ungeschulteste  zu  erahnen,  der  sich  nie* 
mals  mit  den  Untersuchungen  des  Aristoteles  über  Hypo* 

517 


keimenon  und  Symbebekos  (ich  meine  hier  das  oi\ußEßi]y.6g 
y.ad?  avxö),  über  Substrat  und  Attribut,  über  Ding  und 
Eigenschaft  in  den  Analytiken  oder  in  der  Metaphysik 
weiter  eingelassen  hat.  Man  sollte  annehmen  und  man  darf 
es  wohl  auch,  der  jedem  Europäer  innewohnende  Takt  für 
Logik  und  Konsequenz  müßte  sich  gegen  die  Bestimmung 
eines  Begriffes  empören,  die  im  selben  Atemzug  ein  Etwas 
als  Eigenschaft  und  als  Ding,  als  Merkmal  und  als  Merk* 
malträger  umschreiben  möchte.  Wenn  sich  jemals  zwei 
Denkinhalte  von  vornherein  ausschließen,  so  ist  es  der  eines 
Merkmales,  mithin  der  an  einem  Ding,  an  einem  Wesen 
haftenden  Eigenschaft,  und  der  des  Dinges,  Gegenstandes 
oder  Wesens  selbst.  Ein  Etwas,  dem  selber  Eigenschaften 
wie  Unzerstörbarkeit  und  Unveränderlichkeit  beigelegt 
werden,  kann  seinerseit  ganz  und  gar  unmöglich  einem 
anderen  Etwas  eigenschaftlich  beigelegt  werden :  was  Merk* 
mal  hat,  das  ist  nicht  Merkmal,  und  beides  zusammen  läßt 
sich  nicht  erdenken. 

Aber  nicht  diese  einfache  Selbstverständlichkeit  sollte 
hier  in  Frage  stehen.  Was  unsere  Aufmerksamkeit  an  diese 
wahre  Mißgeburt  von  Definition  hängt,  das  ist  die  Tatsache, 
daß  mit  ihr  ein  eigentlicher  und  richtiger  ,Wesens*BegrifF 
(im  Sinne  der  sigwartschen  Logik)  etwas  unkenntlich  und 
jedenfalls  schämig  als  .Merkmal'  vermummt  in  die  moderne 
Mechanik  einzieht.  Diese  nicht  unverfängliche  und  noch 
weniger  unbefangene  Aufnahme  der  Masse  in  die  grund* 
legenden  Vorstellungen  der  Bewegunglehre  ist  es,  welche 
diese,  wie  schon  gesagt,  von  jeder  Art  Geometrie  oder 
Mathematik  handgreiflich  unterscheidet.  Denn  in  keiner 
mathematischen  Disziplin  gibt  es  in  diesem  Wortverstand 
gebrauchte  Wesensbegriffe,  in  keiner  gibt  es  Substrate  und 
Substanzen.  Um  sich  davon  überzeugt  zu  halten,  genüge 
ein  flüchtiges  Vergleichen  der  Begriffe  .Punkt'  und  .Massen* 

518 


teilchen',  die  vielleicht  die  einzigen  in  Geometrie  und  Me* 
chanik  überhaupt  vergleichbaren  sind.  Dabei  zeigt  es  sich 
ohne  Verzug,  daß  der  sogenannte  mathematische  Punkt 
gar  keinen  Substratcharakter  besitzt:  als  schlechthin  unde* 
finierbar  kann  er  nicht  im  mindesten  als  Träger  von  Merk* 
malen  oder  Eigenschaften  aufgezeigt  werden.  Wohingegen 
die  Masse  im  anspruchvollsten  Sinn  der  Metaphysik  als 
Substratum  auftritt,  wofern  ihr  unbedingte  Beharrlichkeit, 
Dauer  und  Unveränderlichkeit  per  deßnitionem  beigemessen 
werden.  Ohne  mich  weiter  auf  das  heikle  Problem  dieser 
Definition  einzulassen,  insonderheit  ohne  den  folgewichti* 
gen  Unterschied  zwischen  der  definierten  Masse  der  Kine* 
matik  und  der  Masse  tastbarer  Körper  in  der  eigentlichen 
Mechanik  zu  untersuchen,  glaube  ich  mich  genugsam  ge* 
rechtfertigt,  wenn  ich  schon  in  der  gewissermaßen  hypo* 
thetisch  definierten  Masse  der  Bewegunglehre  jene  .größere 
Mannigfaltigkeit'  vermute,  von  welcher  vorhin  Heinrich 
Hertz  gesprochen  hat.  Nicht  die  Zeit  ist  dies,  die  ja  über* 
haupt  eine  sehr  fragwürdige  Rolle  in  der  Mechanik  spielt, 
sondern  die  Masse:  Wesenheiten,  die  den  Anspruch  der 
(materiellen)  Dauer  und  Unveränderlichkeit  erheben,  tre* 
ten  in  keiner  Mathematik  auf.  Punkte  gibt  es  im  geometri* 
sehen  Sprachgebrauch  nur  solange  sie  im  Bewußtsein  ge* 
setzt  werden,  damit  dieses  aus  ihnen  räumliche  Gebilde 
von  der  und  der  konstruktiven  Beschaffenheit  erzeuge. 
Von  den  Massen  jedoch  wird  ausgesagt,  sie  seien  unzer* 
störbar  und  unveränderlich,  mithin  auch  unabhängig  von 
irgend  welchen  Akten  des  Gesetztwerdens  oder  Erzeugens: 
einerlei,  ob  man  dabei  an  logische  Substrate  wie  die  Massen 
der  Kinematik,  oder  an  reale  Substrate  wie  die  Massen 
natürlicher  Körper  denken  will.  Keine  mathematische  Vor* 
Stellung,  sei  es  Raum  und  Zeit,  sei  es  Punkt  und  Gerade, 
ist  von  dem  spezifischen  Substratcharakter  eines  Begriffes 

519 


wie  .Masse'.  In  dieser  Hinsicht  geschieht  es  tatsächlich, 
daß  die  Mechanik  eine  neue  Mannigfaltigkeit  unter  ihre 
Voraussetzungen  aufnimmt,  eine  Mannigfaltigkeit,  welche 
in  keinem  System  der  Geometrie  vorkommt:  einen  wasch* 
echten  Wesensbegriff  vom  Schlage  aristotelischer  Hypokei* 
mena,  der  genau  wie  diese  eine  rein  .vernünftige'  ebenso* 
gut  wie  eine  .wirkliche'  Essenz  zu  bezeichnen  vermag.  Und 
in  dieser  Hinsicht  bedünkt  es  mich  auch  durchaus  denk* 
bar,  daß  die  exakte  Bewegunglehre  kein  Zweig  der  Mathe* 
matik  sei,  wie  Eduard  von  Hartmann  wahrhaben  wollte, 
trotzdem  ihre  Sätze  für  apriorisch,  für  apodiktisch  gelten 
dürfen. 

Inzwischen  obwaltet  durchaus  kein  Zweifel,  daß  die  hier 
bereits  etwas  fatal  entlarvte  Masse  nicht  der  einzige  Wesens* 
begriff  ist,  der  sich  für  die  Mechanik  als  unumgänglich 
herausgestellt  hat.  Entsinnt  man  sich  nämlich  noch  einmal 
der  bisherigen  Entwicklung  des  mechanisch*maschinellen 
Weltbildes  in  groben  Zügen,  so  muß  man  sich  auch  wohl 
schon  eines  zweiten  Wesensbegriffes  entsinnen,  dessen  bei 
Gelegenheit  Erwähnung  geschah.  Die  Natur  maschinell 
betrachten,  hieß  sie  als  Triebwerk  nehmen,  welches  Arbeit 
leistet.  Arbeit  im  Wortgebrauch  der  neuen  Wissenschaft 
gab  es  nur,  wo  Massen  in  Bewegung  gesetzt  wurden.  Wie 
aber  geschah  dieses?  Soll  man  der  Einfachheit  halber  die 
Bewegung  für  den  Naturzustand  der  Masse  halten,  über 
welchen  keine  andere  Aufklärung  möglich  sei,  —  eine  An* 
nähme,  die  unsere  Erfahrung  dauernd  Lügen  straft?  Oder 
wird  man  nicht  eher  eine  Verursachung  für  wahrscheinlich 
erachten  müssen,  deren  Folge  die  Bewegung  ist?  Zwingt 
uns  nicht  geradezu  der  tyrannische  Satz  vom  Grunde,  auch 
die  Bewegung  der  Masse  als  Wirkung  einer  Ursache  auf* 
zufassen?  Wenn  Galilei  und  Newton  das  Gesetz  von  der 
Trägheit  aufgestellt  haben,    demzufolge  eine  freie  Masse 

520 


entweder  im  Zustand  der  Ruhe  oder  aber  in  einer  gleich* 
förmigen  Bewegung  beharrt,  deutet  da  nicht  schon  das 
.oder'  zwingend  daraufhin,  daß  die  bewegte  Masse  durch 
eine  Änderung  ihrer  Bedingungen  von  der  ruhenden  zu 
unterscheiden  sei?  Denn  es  kann  doch  unmöglich  einerlei 
Grund  haben,  daß  eine  Masse  entweder  in  der  Ruhe  oder 
in  der  Bewegung   beharrt.    Falls   diese   beiden  Zustände 
wechseln,  falls  der  eine  sowohl  wie  der  andere  eintreten 
kann,  müssen  gewiß  für  den  Eintritt  des  einen  Bedingung 
gen  da  sein,  welche  beim  Eintritt  des  anderen  fehlen.  Und 
da  es  der  menschlichen  Neigung  offenbar  näher  liegt,  die 
Ruhe  als  Mangel,  als  Beraubung,  als  privatio,  als  oteqijois 
der  Bewegung  aufzufassen  wie  umgekehrt:  was  ist  natür* 
licher  als  die  Bewegung  im  Zusammenhang  mit  einer  ganz 
besonderen  Ursache  zu  denken,  mit  irgend  einer  wirksamen 
Kraft  oder  Kraftäußerung?  Kraft  als  Ursache  der  Bewegung, 
—  ist  nicht  sie  seit  Leonardo  da  Vinci,  seit  Galileo  Galilei, 
seit  Isaak  Newton  der  zweite  Wesensbegriff  der  geschieht* 
liehen  Mechanik?  Und  erscheint  nicht  gerade  bei  ihr  der 
Substratcharakter  um  einen  Akzent  verstärkt,  der  bei  der 
Masse  zwar  durchaus  bemerkbar,  aber  nicht  ebenso  scharf 
und  laut  betont  war,  —  ich  meine  den  Akzent  der  Ursäch* 
lichkeit  dieses  Wesensbegriffes? 

Einmal  soweit,  dieses  zweite  Substratum  der  .Ursache  der 
Bewegung'  in  der  Mechanik  zu  gewahren,  bleibt  zu  unserer 
Überraschung  ein  drittes  nicht  aus,  welches  wir  in  anderer 
Bezugnahme  physiognomisch  schon  einigermaßen  zu  ken* 
nen  wähnen  dürfen.  Die  sogenannte  Energie  nämlich  nimmt 
gleichfalls  Substratcharakter  an:  zum  mindesten  in  einer  der 
drei  herrschenden  Schulen  der  modernen  Mechanik,  die 
man  gewöhnlich  als  die  .qualitative  Energetik'  zu  bezeich? 
nen  pflegt  im  Unterschied  zur  .Hylokinetik',  welche  den 
Wesensbegriff  der  Masse  als  den  ursprünglichen  und  maß* 

521 


geblichen  setzt,  im  Unterschied  auch  zur  , Dynamik',  welche 
dasselbe  mit  dem  Wesensbegriff  der  Kraft  tut;  —  und  diese 
substrathafte  Färbung  der  Energie  erscheint  um  so  abson* 
derlicher,  als  sie  ihr  von  Haus  aus  keineswegs  eigentümlich, 
eher  sogar  zuwiderlaufend  ist.  Aus  der  Energie  im  Wort* 
verstand  der  früheren  Mechanik,  will  heißen  aus  dem  hal* 
ben  Produkt  der  Masse  in  das  Quadrat  der  Geschwindig* 
keit,  oder  wie  man  seinerzeit  gern  sagte,  aus  der  ,lebendi* 
gen  Kraft'  (im  Gegensatz  zu  dem  ,peso  morte  Galileis  oder 
zum  unmittelbaren  Druck),  —  aus  ihr  wird  also  gleicher* 
maßen  ein  verborgen  Ding,  Wesen,  Substratum,  wirksam 
gedacht  in  allen  beobachtbaren  Vorgängen  der  Natur  und 
ihnen  ,zugrund  liegend*.  Die  vormals  durchaus  nicht  mit 
Substratcharakter  ausgezeichnete  Energie,  die  nach  einer 
der  bekannten  Hauptformeln  der  Mechanik  gleich  der  Ar* 
beit  ist,  (ps  =  1/2  m  v2),  gestaltet  sich  unter  dem  methodi* 
sehen  Einfluß  der  kategorialen  Knüpfung  Ursache*Wirkung 
selber  zur  Ur*Sache  um,  von  jetzt  an  freilich  nicht  mehr  als 
eigentliche  .Arbeit',  sondern  als  .Fähigkeit  zur  Arbeit'  ge* 
meinhin  definiert.  Eine  Umprägung,  die  indessen,  wie 
schon  angedeutet,  deshalb  ein  bißchen  widersinnig  anmutet, 
weil  sie  dem  griechischen  Wortgebrauch  offenbare  Gewalt 
antut.  Denn  bei  Aristoteles,  dem  Schöpfer  auch  dieses 
wissenschaftgeschichtlichen  Terminus,  stand  ivegysta  gerade 
im  Gegensatz  zu  allem,  was  nur  ,der  Möglichkeit  nach 
seiend'  angenommen  wird,  mithin  im  Gegensatz  auch  zu 
der  bloßen  Fähigkeit  oder  zu  dem  bloßen  Vermögen,  Arbeit 
zu  leisten:  dies  eine  wie  das  andere  bezeichnete  derStagirit 
passend  als  dvvajmg.  Ihrer  sprachlichen  und  sachlichen  Her* 
kunft  nach  ist  also  die  Energie  aktuelle  Wirksamkeit  und 
nicht  eine  Latenz  derselben,  und  dies  ist  ein  Widerspruch, 
um  welchen  sich  allerdings  die  qualitative  Energetik  ver* 
teufelt  wenig  kümmert.  Getrost  benennt  sie  den  Vorrat  an 

522 


möglicher  Arbeit,  möglicher  Tätigkeit  mit  dem  philosophi* 
sehen  Ausdruck  für  wirkliche  Arbeit,  wirkliche  Tätigkeit, 
—  in  der  uneingestandenen  Verlegenheit,  daß  sich  die  aks 
tuelle  Arbeitleistung  oder  die  Energie  im  strengen  und  ur* 
tümlichen  Wortsinn  (das  erwähnte  Produkt  aus  Masse  und 
Geschwindigkeit)  nicht  wohl  in  dem  willkürlich  abgeän* 
derten  Wortsinn  eines  ursächlichen  Wesensbegriffes  ver* 
wenden  läßt,  wie  dies  der  Vorgang  der  mechanischen  Hys 
lokinetik  oder  des  mechanischen  Dynamismus  nahelegt. 

Wie  dem  übrigens  auch  sei,  —  nicht  zu  bestreiten  ist,  daß 
die  bisherige  Mechanik  mit  Masse,  Kraft  und  Energie  zum 
mindesten  drei  sogenannte  Wesensbegriffe  aufzuweisen  hat, 
wobei  in  allen  dreien  die  substrathaft  gedachte  .Sache'  der* 
art  kausal  getönt  und  betont  erscheint,  daß  sie  mehr  und 
mehr  die  Bedeutung  der  ,UrsSache'  annimmt.  Die  große 
Frage  aber,  welche  der  Mechanik  nach  der  Ausbildung 
dieser  Substratbegriffe  gestellt  war,  lautete  nicht  anders  als 
so:  ob  sie  alle  drei  oder  nur  etwa  zwei  oder  am  Ende  gar 
nur  einen  einzigen  von  ihnen  unter  die  Zahl  ihrer  Grunds 
begriffe  aufzunehmen  habe,  und,  falls  eine  Auswahl  in  der 
Tat  getroffen  werden  müsse,  welche  zwei  oder  welches  eine 
Substratum  sich  am  geeignetsten  für  den  Aufbau  dieser 
weltumspannenden  Wissenschaft  par  exellence  erweisen 
würde.  Daß  alle  drei  zur  Grundlegung  unentbehrlich  sein 
sollten,  schied  von  selber  aus.  Wenn  zum  Exempel  die 
Kraft  für  das  Substratum  gehalten  ward,  welches  Bewegung 
gen  von  Massen  im  Raum  bedinge,  so  war  es  überflüssig 
und  folglich  unstatthaft,  noch  außer  ihr  eine  zweite  Ursache 
der  Bewegung  anzuerkennen.  Da  das  nämliche  auch  für 
die  Energie  gegolten  hätte,  konnte  es  sich  augenscheinlich 
nur  noch  darum  handeln,  ob  entweder  Kraft  und  Masse 
oder  Energie  und  Masse  als  die  Wesensbegriffe  der  Me* 
chanik  anzunehmen  wären.  Bis  dann  Heinrich  Hertz  mit 

523 


dem   kühnen,  aber   methodisch   folgerichtigen  Vorschlag 
hervortrat,  die  gesamte  Lehre  von  den  Bewegungen  mate* 
rieller  Systeme  aus  einem  einzigen  Wesensbegriff  abzulei? 
ten  (neben  Raum  und  Zeit,  die  ja  aber  einen  echten  Sub* 
stratcharakter  nirgends  erkennbar  werden  lassen).  Gemäß 
der  geschichtlichen  Lage  konnte  es  sich  dabei  nur  entweder 
um  die  Kraft  oder  um  die  Masse  handeln,  da  für  etwas  wie 
eine  ausschließlich  energetische  Mechanik  sich  erstens  bis 
dahin  noch  niemand  eingesetzt  hatte;    da    die  Energetik 
zweitens  an  einer  von  Hertz  namhaft  gemachten  Sonder* 
aufgäbe  der  Mechanik  (an  dem  Problem  des  Rollens  mit 
geringer  Gleitung)  überhaupt  versagt  haben  würde;  und 
da  der  Begriff  der  Energie  drittens  sofort  in  unauflöslichen 
Widerspruch  mit  dem  Begriff  der  potentiellen  Energie  ge? 
rät,  welcher  an  sich  jede  Substanzialisierung  schlechterdings 
verbietet;  —  und  hiermit  machte  sich  Hertz  den  hartmann? 
sehen  Einwand  von  der  .nichtarbeitenden  Arbeit',  den  auch 
wir  oben  berührt  haben,  auf  seine  Weise  zu  eigen.  Kraft 
oder  Masse :  das  war  also  in  aller  Kürze  die  neue  Disjunk* 
tion  gewesen,  vor  welche  Heinrich  Hertz  die  europäische 
Mechanik  stellte,  —  ja  wenn  man's  richtig  bedenkt,  nicht 
nur  die  europäische  Mechanik,  sondern  außerdem  die  euro* 
päische  Philosophie,  wie  er  mit  ausgesprochen  feinem  Takt 
für  geistige  Zusammenhänge  mehrmals  hervorgehoben  hat. 
Er  hatte  begriffen,  daß  diese  Frage  wissenschaftlicher  Grund? 
legung  aus  Substraten,  aus  Wesenheiten,  aus  Merkmalträgern 
weit,  weit  über  die  Grenzen  der  exakten  und  unexakten 
Naturwissenschaften  hinauswirke,  und  daß  hier  über  erste 
und  letzte  Erkenntnisfragen  szientifischer  Sinndeutung  der 
Welt  überhaupt  entschieden  würde.   Bald  wird  man  mit 
wachsender  Deutlichkeit  gewahr  werden,  wieso  und  warum. 
Eben  in  dieser  letzteren  Hinsicht  wird  manches  getan 
sein,  sobald  man  sich  einmal  Rechenschaft  darüber  zu  ver? 

524 


schaffen  trachtet,  warum  eigentlich  ein  Forscher  und  Den? 
ker  wie  dieser  Heinrich  Hertz  so  gut  wie  alles  darangesetzt 
hat,  einen  dieser  notwendigen  Wesensbegriffe  womöglich 
für  immer  aus  der  Grundlegung  der  Mechanik  zu  entfern 
nen.  Und  da  muß  man  freilich  vor  allen  Dingen  wissen, 
daß  der  Widerwille  dieses  genialischen  Wissenschafters 
gegen  jede  Art  von  Kräften  keineswegs  erst  aus  seiner  Be* 
schäftigung  mit  der  Mechanik  gegen  Abschluß  seines  früh 
erloschenen  Daseins  hervorgegangen  ist.  Eher  umgekehrt. 
Er  hat  diesen  Widerwillen  auf  die  Mechanik  übertragen, 
weil  ihm  seine  Untersuchungen  über  Elektrodynamik,  an* 
schließend  an  eine  bekannte  von  Helmholtz  gestellte  Preis* 
frage,  mißtrauisch  machten  zunächst  einmal  gegen  die  An* 
nähme  sogenannter  Fernkräfte.  Das  wichtige  Ergebnis  jener 
weit  über  das  Fach,  weit  über  jedes  Fach  hinausgreifenden 
Forschungen  ist  es  gewesen,  man  erinnert  sich  vielleicht, 
daß  hier  die  Wirkungen  scheinbarer  Fernkräfte  nachzu* 
weisen  waren  als  die  Übertragungen  eines  zwischenliegen* 
den  dielektrischen  Mittels.  Seither  hat  ihn  der  Argwohn 
gegen  jede  Art  von  Fernkräften  nicht  wieder  verlassen. 
Und  er  hat  ihn  auch  nicht  vergessen  können  angesichts  der 
sogenannten  , Kraft'  überhaupt,  die  ja  etwa  nach  Immanuel 
Kants  oder  Eduard  von  Hartmanns  Ansicht  stets  und  aus* 
nahmlos  zugleich  Fernkraft  ist.  Eben  das  glänzende  Ergeb* 
nis  seiner  elektrodynamischen  Versuche  mußte  ihm  die 
grundsätzliche  Prüfung  nahelegen,  ob  die  Kraft  nicht  (ge* 
nau  wie  die  Fernkraft  aus  der  Elektrodynamik)  aus  der 
Mechanik  überhaupt  auszumerzen  wäre,  auszumerzen  we* 
nigstens  als  einer  ihrer  Grundbegriffe,  nachdem  der  Spuk 
dynamischer  Fernwirkung  einmal  doch  glücklich  hat  ver* 
scheucht  werden  können.  Und  wirklich  fand  er  dabei  et* 
liehe  Einwände,  genügend  stark  und  gegründet,  um  die 
Vorstellung  der  Kraft  für  jegliche  Zukunft  zu  entwerten. 

525 


Der  schlagendste   dieser  Einwände   sei  gleich  vorwegge* 
nommen. 

Das  dritte  Gesetz  Newtons  oder  der  Grundsatz  der  Re* 
aktion,  macht  nämlich  Heinrich  Hertz  geltend,  fordere 
nicht  nur  eine  Kraft  als  Ursache  der  Bewegung  schlechthin, 
sondern  daneben  noch  eine  dieser  ersteren  gleichwertige, 
welche  nicht  anders  denn  als  Folge  der  Bewegung  aufzu* 
fassen  sei.  Kraft  und  Gegenkraft  sind  diesem  Gesetz  zu* 
folge  einander  gleich.  Wo  also  eine  Kraft  auf  einen  ruhen* 
den  Körper  dahin  ausgeübt  werde,  daß  dieser  in  Bewegung 
gerate,  übe  umgekehrt  der  bewegte  Körper  eine  Gegenkraft 
desselben  Grades  auf  den  bewegenden  Körper  und  dessen 
Kraft  aus.  Die  übliche  Definition  der  Kraft  erläutert  aber 
ja  diese  lediglich  als  das,  was  die  Bewegung  von  Massen 
einleitet,  bedingt  oder  verursacht,  keineswegs  zugleich  als 
das,  was  von  bewegten  Massen  zurückwirkt.  Die  Kraft,  in 
der  begrifflichen  Abgrenzung  und  in  den  beiden  ersten 
Gesetzen  Newtons  auftretend,  ist  wesentlich  Ursache  und 
gar  nichts  weiter.  Im  dritten  Gesetz  Newtons  hingegen 
lernt  man  ganz  plötzlich  eine  durchaus  andere  Kraft  ken* 
nen,  die  ebenso  sehr  Wirkung  wie  Ursache  ist.  Woher  sie? 
Entweder  war  es  jetzt  unrichtig,  vormals  die  Kraft  bloß  als 
Ursache  der  Bewegung  aufzuführen,  —  oder  das  dritte 
Gesetz  Newtons  ist  falsch.  Weil  jedoch  das  dritte  Gesetz 
Newtons  nachweislich  nicht  falsch  ist,  bleibt  nur  die  erste 
Folgerung:  die  Kraft  war  unzulänglich  definiert.  Oder  nein, 
nicht  nur  unzulänglich  definiert,  sondern  überhaupt  zu  un* 
recht  in  den  Grundbegriffen  der  Mechanik  mit  aufgezählt. 
Denn  diese  Kraft,  im  dritten  newtonschen  Gesetze  wie  ein 
Gott  aus  der  Maschine'  aus  der  Versenkung  des  Theaters, 
aufgetaucht,  darf  unter  keinen  Umständen  mehr  für  die 
(unumkehrbare)  Ursache  bewegter  Massen  gelten,  sondern 
für  ihre  umkehrbare  und  wechselbezügliche  Funktion:  — 

526 


Kraft,  das  ist  offenkundig  eine  doppeltgerichtete  (korrela* 
tive)  Beziehung  zwischen  bewegenden  und  bewegten  Mas* 
senl  Nicht  die  Kraft  ist  die  Änderungbedingung  der  Mas* 
sen,  sondern  die  Massen  je  zweier  Körper  bedingen  einen 
doppeltgerichteten,  von  einem  zum  anderen  und  vom  an* 
deren  zum  einen  laufenden  Zusammenhang  zwischen  ihnen 
beiden.   Mithin  ist  auch  die  Kraft  nicht  das  bewegliche 
Reale,  bewegende  Substratum  der  Weltmaschine,  vielmehr 
nur  noch  eine  Größe  dynamischen  Wechselbezuges  zwi* 
sehen  substanziellen  Massen  und  Massenpunkten.  Aus  den 
Wesensbegriffen  der  Mechanik  scheidet  sie  dann  aus,  weil 
und  wofern  zu  ihnen  vernünftigerweise  kein  Denkinhalt 
gehören  kann,  der  eine  von  wirklichen  Wesenheiten  erst 
bedingte  Beziehunggröße  bezeichnet.  Hat  man  einmal  die 
als  Substratum  auftretende  Kunst  als  bloße  Funktion  von 
Substraten  entlarvt,  so  hat  man  sie  selbstverständlich  auch 
als  methodische  Grundlegung  im  Sinn  von  mechanistisch* 
maschinellen  Wesensbegriffen  erledigt.  Nicht  mehr  Wesen* 
heit,  nicht  mehr  Eigenschaftträger,  nicht  mehr  Sache  oder 
gar  Ur*Sache,  nicht  mehr  Prinzip,  nicht  mehr  Hypokeime* 
non,  stellt  sie  jetzt  einfach  noch  eine  gewisse  wechselseitige 
Wirkungäußerung  von  Körpern  dar.  Von  Heinrich  Hertz 
aber  war  es  nur  konsequent  gehandelt  gewesen,  wenn  er 
in  seiner  Definition  der  Kraft   sorgfältig   den  Ausdruck 
»Ursache*  vermeidet  und   ihn  durch  den  augenscheinlich 
harmloseren  .Einfluß'   ersetzt.    Die  Kraft  keine  Ursache, 
höchstens  ein  Einfluß:   in  dieser   vorsichtigen  Wendung 
stabiliert  die  hertz'sche  Mechanik  und  Philosophie  der  Me* 
chanik  die  neue  wissenschaftliche  Errungenschaft  .  .  . 

Wie  man  sich  nunmehr  überzeugt  halten  darf,  gilt  also 
der  Kampf  gegen  die  Kraft  weniger  ihrem  eigentlich  sub* 
strathaften  als  ihrem  kausalen  Charakter,  den  sie  von  An* 
fang  an  bei  sich  führt.   Nicht  das  Substratum  an  und  für 

527 


sich  soll  etwa  aus  der  Mechanik  verdrängt  werden,  —  denn 
sonst  müßte  unverzüglich  auch  die  Masse  aus  ihr  ver* 
schwinden,  —  sondern  nur  das  kausal  belastete  Substratum. 
Man  möchte  gern  die  Kraft  als  unumkehrbare  Ursache  der 
Bewegung  eintauschen  gegen  einen  Begriff  wesentlich  ma* 
thematischen,  wesentlich  relationalen,  wesentlich  funktio* 
nalen  Gepräges,  und  dies  geschieht  mit  der  Deutung  der 
Kraft  als  eines  wechselseitigen  Bedingungverhältnisses  zwi* 
sehen  Massen  oder  Massenpunkten.  Die  Kraft,  will  man, 
sei  fortan  ebensosehr  eine  Wirkung  bewegter  Merkmalträ* 
ger  wie  Ursache;  die  Kraft  werde  zukünftig  nur  dort  noch 
als  Ursache  gedacht,  wo  sie  umgekehrt  sich  auch  als  Wir* 
kung  erkennbar  mache.  So  daß  man  sich  den  wohlbekannt 
ten  Bestrebungen  eines  Avenarius  oder  Mach  angenähert 
findet,  welche  im  Gehorsam  gegen  einen  übermächtigen 
Instinkt  der  Zeit  die  anscheinend  veraltete  Vorstellung  der 
Kausalität  ersetzt  wissen  möchten  durch  die  Vorstellung 
der  funktionalen  Abhängigkeit.  Und  diese  Bestrebungen 
befinden  sich  wiederum  in  einem  so  nahen  Zusammenhang 
mit  den  innersten  Tendenzen  mechanistischen  Denkens, 
daß  es  angebracht  sein  mag,  sich  mit  ihnen  noch  etwas 
ernsthafter  zu  befassen. 

Ziel  und  Zweck  und  Absicht  der  Mechanik,  sagten  wir 
hier  schon  häufiger,  gipfelten  darin,  den  möglichst  voll* 
kommenen  analytischen  Ausdruck  für  die  Bewegungen  na* 
türlicher  Systeme  zu  finden.  Diese  Bewegungen  sichtbarer 
und  tastbarer  Massen,  als  Ereignisse  der  Sinnesanschauung 
dem  vernünftigen  Denken  keineswegs  unmittelbar  zugäng* 
lieh,  werden  also  mittelbar  sozusagen  ins  Denkbare  über* 
setzt,  indem  man  ihnen  zuerst  ein  geometrisches  Schema 
(geradlinig  rechtwinkliger  Koordinaten)  substituiert  und 
dann  zu  ihm  die  entsprechende  Gleichung  aufzustellen 
sucht.    Diese  recht  eigentlich  wunderbare   Unterstellung 

528 


größenmäßiger  und  vergleichbarer  Denkgebilde  an  Stelle 
unmittelbarer  Gegebenheiten  der  Wahrnehmung  endigt 
und  vollendet  sich  also  damit,  daß  der  bewegte  Ablauf  der 
Natur  in  starre  Gleichsetzung  übersetzt  erscheint.  Zweckt 
aber  derart  der  tiefste  Erkenntniswille  der  Mechanik  auf 
einen  logisch  geordneten  Zusammenhang  solcher  Gleich* 
Setzungen  ab,  so  liegt  darin  die  Tatsache  zwar  nicht  aus? 
gesprochen,  aber  doch  eingeschlossen,  daß  dem  mechani* 
stisch*maschinellen  Weltdenken  ursächliche  Vorstellungen 
nicht  eigentlich  entsprechen.  Denn  was  auch  immer  es  für 
eine  Bewandtnis  mit  dieser  Ursächlichkeit  haben  möchte : 
sie  birgt  in  sich  eine  nicht  in  Abrede  zu  stellende  Ungleich* 
setzung.  Der  Satz,  wenn  A  gesetzt  ist,  ist  auch  B  gesetzt, 
duldet  keine  Umkehrung  und  keine  Vertauschung  seiner 
Glieder.  Eindeutig  gibt  er  vielmehr  dem  Geschehen 
seine  Richtung,  und  in  dieser  Hinsicht  sind  die  beiden 
Momente  der  Kausalität  durchaus  nicht  einander  gleich, 
sondern  streng  einander  ungleich:  denn  das  untrüg* 
liehe  Kennzeichen  der  Gleichheit  heißt  Vertauschbar* 
keit  und  Ersetzbarkeit  denkhafter  Inhalte.  Der  Satz 
jedoch,  ,wenn  A  gesetzt  wird',  verhält  sich  zum  Satz 
,dann  wird  auch  B  gesetzt',  eben  nicht  wie  die  Seite  einer 
Gleichung  zur  anderen  Seite,  die  ja  ihre  Stellen  nach  Be* 
lieben  tauschen  dürfen,  —  ganz  im  Gegenteil  ist  das  Ver* 
hältnis,  welches  beide  Sätze  zueinander  einnehmen,  ausge* 
sprochen  das  einer  unabänderlichen  Ungleichwertigkeit  von 
Bedingung  und  Bedingtheit. 

Daraus  wäre  vielleicht  zu  folgern,  daß  unser  mechani* 
sches  Denken  überall  gleichsam  automatisch  den  kausalen 
Nexus  verdrängen  würde,  wenn  andererseit  dem  psycholo* 
gischen  Zwang  zu  entrinnen  wäre,  natürliche  Bewegungen 
ohne  bewegende  Ursachen  nicht  vorstellbar,  nicht  denk* 
bar,  nicht  erklärbar  finden  zu  müssen.   In  dieser  schweren 

34     Ziegler,  Gestaltwandel  der  Götter  529 


Verlegenheit  ist  man  daher  auf  den  gar  nicht  üblen  Ausweg 
klug  verfallen,  diesen  beiden  Bedürfnissen  des  Geistes  nach 
Ursächlichkeit  und  nach  Gleichheit  recht  zu  geben  und 
das  kausale  Verhältnis  als  solches  zu  mathematisieren.  Un* 
übertrefflich  klar  gelangt  diese  witzige  Lösung  beispiel* 
weis  zum  Ausdruck  in  der  schon  mehrfach  hier  berührten 
Definition,  die  Robert  Mayer,  dieser  wahre  Gegenfüßler 
und  Gegenspieler  Heinrich  Hertzens,  von  der  physikali* 
sehen  Kraft  als  der  „einer  meßbaren  Wirkung  proportio* 
nalen  meßbaren  Ursache"  gegeben  hat.  Hier  haben  wir 
das  ursächliche  Verhältnis,  verschämt  verschleiernd  die  lo* 
gische  Ungleichwertigkeit  kausaler  Glieder  hinter  dem 
dünnen  Läppchen  mathematischen  Gleichwertes.  Gewiß: 
die  Kraft  ist  Ursache  und  als  solche  toto  genere  von  der 
Wirkung  verschieden,  —  dieses  Faktum  ist  schlechterdings 
nicht  aus  der  Welt  zu  schaffen.  Aber  gleichzeitig  und  zur 
Beschwichtigung  ist  Kraft  außerdem  noch  meßbare  Menge, 
meßbares  Wieviel,  meßbare  Größe,  —  und  in  dieser  Eigen* 
schaft  ihrer  Wirkung,  wer  wagt  daran  zu  zweifeln,  durch* 
aus  gleich,  gleichartig  und  gleichwertig.  Die  immanente 
Kausalität  des  mechanistischen  Wesensbegriffes  wird  hier 
nicht  geopfert,  nicht  preisgegeben.  Aber  sie  wird  gewisser* 
maßen  eingewickelt  in  Mathematik,  eingekapselt  in  ein 
äußeres  Skelett  umkehrbarer  Gleichungen  des  Größenwer* 
tes  ihrer  Glieder.  Dadurch  wird  der  Anschein  geweckt, 
als  sei  die  Mechanik  imstand  das  kausale  Denken  bis  zu 
jedem  beliebten  mathematischen  Gebrauche  gleichsam 
glatt  zu  hobeln,  und  man  braucht  nur  etwas  genauer  hin* 
zusehen,  um  derart  mathematisch  vermummte  Kausalitäten 
so  oft  anzutreffen,  daß  man  sich  wirklich  versucht  fühlen 
könnte,  Mechanik  ganz  allgemein  zu  definieren  „als  dieje* 
nige  Wissenschaft,  welche  ursächliche  Knüpfungen  der 
Natur  in  Gleichungen  übersetzt."  Erinnert  sei  hier  nur  an 

530 


solche  Formeln  wie:  lebendige  Kraft  =  geleistete  Arbeit; 
Antrieb  =  Bewegunggröße;  Produkt  der  Kraft  in  die  Zeit  = 
Produkt  der  Masse  in  die  Geschwindigkeit;  Kraft  =  Masse 
mal  Beschleunigung,  —  und  dergleichen  mehr.  Hierher 
gehörten  insbesondere  sämtliche  Ausdrücke,  die  Wilhelm 
Wundt  bei  Gelegenheit  teils  Kraftgleichungen,  teils  Energie* 
gleichungen  genannt  hat  und  deren  logische  und  szienti* 
fische  Verwandtschaft  untereinander  darin  besteht ,  daß  in 
ihnen  künstlich  herausgehobene  Wirkungen  des  natürlichen 
Geschehens  ebensolchen  Ursachen  bezüglich  ihrer  energe* 
tischen  oder  kinetischen  oder  dynamischen  Größe  gleich* 
gesetzt  erscheinen.  Die  Neigung,  ja  den  Hang  der  Mecha* 
nik,  ursächliche  Verhältnisse  auf  Gleichungen  zu  bringen, 
kann  man  gar  nicht  unbefangener  einräumen,  als  dies  an 
der  nämlichen  Stelle  durch  Wundt  geschieht,  und  mit  der 
Naivität  des  eingefleischten  Mechanisten  hat  dieser  For* 
scher  nicht  den  mindesten  Anlaß  entdeckt,  sich  an  dieser 
glänzendsten  und  erfolgreichsten,  gleichzeitig  aber  auch 
ungereimtesten  Paradoxie  der  neueren  europäischen  Wis= 
senschaftlichkeit  philosophisch  zu  stoßen. 

Alles  in  allem  verhält  es  sich  mit  dieser  Paradoxie,  wie 
wir  jetzt  doch  mit  ausreichender  Bestimmtheit  wahrnehmen 
dürfen,  nicht  viel  anders  wie  mit  dem  sogenannten  Ding 
an  sich  kantischen  Angedenkens,  von  welchem  ein  witziger 
Kritiker  ebenso  zutreffend  wie  artig  angemerkt  hat:  daß 
man  ohne  dieses  odiöse  Ding  an  sich  leider  nicht  ins  kan* 
tische  System  hineinzugelangen,  mit  ihm  dagegen  es  drinnen 
nicht  auszuhalten  vermöchte.  Denn  in  der  Tat!  Ohne  die 
kategoriale  Knüpfung  Ursache*Wirkung  kommt  man  unter 
keinen  Umständen  in  die  eigentliche  Mechanik  hinein, 
weil  diese  Knüpfung  unmittelbar  oder  mittelbar  in  die  not* 
wendig  vorauszusetzenden  Wesensbegriffe  dieser  Wissen* 
schaft  einverwoben  ist  und  ihrerseit  erst  die  Mechanik  als 

^*  531 


angewandte  Geometrie  von  der  reinen  Geometrie  unter* 
scheiden  läßt.  Mit  dieser  kategorialen  Knüpfung  jedoch 
verbietet  sich  der  Verbleib  innerhalb  der  Mechanik  mit  der* 
selben  Strenge,  wofern  es  zu  den  untilgbaren  Eigenheiten 
der  maschinellen  Weltauffassung  gehört  und  gehören  wird, 
kausale  Beziehungen  gleichsam  in  mathematische  zu  ver* 
flüchtigen.  Die  erstrebte  Geometrisierung  der  Wirklichkeit 
hängt  durchaus  davon  ab,  ob  man  die  Kausalität  restlos  zur 
Äquipollenz,  Äquivalenz  umzuformen  vermöchte:  aber 
eben  diese  gebotene  Umformung  vollzieht  sich  lediglich  in 
einem  methodischen  Wolkenkuckuckheim,  in  einem  szienti* 
fischen  Nirgendland.  Keinen  Augenblick  sollte  die  uner* 
hörte  Fruchtbarkeit  des  causa  aequat  effectum  über  seine 
vollkommene  Unmöglichkeit  hinwegtäuschen,  —  vom 
Standpunkt  der  unbestochenen  Vernünftigkeit  gibt  es  keine 
axiomatische  Annahme,  die  mit  dieser  an  Denkwidersinnig* 
keit  wetteifern  könnte  .  .  . 

Nur  um  einer  Forderung  der  geschichtlichen  Gerech* 
tigkeit  genug  zu  tun,  sei  hier  noch  des  Umstands  ge* 
dacht,  daß  sich  in  dieses  entscheidende  Problem  mathe* 
matischer  und  nicht  mathematischer  Kausalität  schwer* 
lieh  jemand  heftiger  und  niemand  wohl  frühzeitiger 
verbissen  hat  als  der  ganz  junge  Kant.  Man  hat  von 
seiner  Erstlingschrift  Notiz  genommen,  von  den  etwas 
unklaren  und  weitläufigen  Gedanken  von  der  wahren 
Schätzung  der  lebendigen  Kräfte,  wo  er  das  von  Leibniz 
aufgestellte  Maß  (m  v2)  für  geleistete  Arbeit  bekämpft  oder 
wenigstens  in  seiner  Geltung  einzuschränken  und  mit  dem 
Gebrauch  der  cartesianischen  Formel  (m  v)  in  Einklang  zu 
bringen  trachtet.  Was  an  dieser,  heut  längst  gegenstandlos 
gewordenen  Streitschrift  indessen  noch  immer  jeder  schär* 
feren  Aufmerksamkeit  würdig  zu  sein  scheint,  das  ist  die 
Begründung,  von  der  aus  Kant  zu    einer  bedingten  Ab* 

532 


lehnung  des  leibnizischen  Maßes  kam.  In  einen  Satz  zu* 
sammengedrängt  lautet  sie  ungefähr  dahin,  daß  die  Formel 
Leibnizens,  das  Produkt  der  Masse  in  das  Quadrat  der  Ge* 
schwindigkeit,  mathematikwidrig  sei!  Und  zwar  deshalb, 
weil  sie  gegen  die  oberste  Regel  der  Anwendbarkeit  der 
Mathematik  auf  Vorgänge  der  Natur  verstoße,  gegen  das 
von  Leibniz  selbst  erstmals  ausgesprochene  effectus  quilibet 
aequipollet  viribus  causae  plenae.  Denn,  meint  Kant,  nach 
dem  Stoß  eines  kleineren  elastischen  Körpers  gegen  einen 
größeren  sei  im  Vergleich  zu  vorher  ein  Mehr  an  Kraft  vor* 
handen;  nach  dem  Stoß  unelastischer  Körper  dagegen  (und 
dies  dürfte  zutreffend  sein!)  ein  Minder.  Folglich  laufe 
der  nach  Leibnizens  Arbeitausdruck  berechnete  Stoß  dem 
causa  aequat  effectum  zuwider  und  damit  dem  Grundsatz  der 
mathematischen  Gleichwertsetzung.  Folglich  müßten  die 
.lebendigen  Kräfte',  falls  es  solche  überhaupt  gibt,  außer* 
halb  einer  Natur  gesucht  werden,  die  sich  unser  Verstand 
gemäß  den  Voraussetzungen  der  Mathematik  errichtet  und 
deren  Geschehen  von  dem  Axiom  der  kausalen  Äquipollenz 
gedanklich  bemeistert  wird.  Und  die  Darlegung  Kants 
mündet  in  den,  verglichen  mit  seinem  späteren  Denken 
doch  überraschenden  Schluß,  daß  es  (als  methodisches  Be* 
reich  für  Leibnizens  Formel)  eine  Natur  außermathema* 
tischer  Kausalität  geben  müsse:  eine  Natur  mit  anderen 
Worten,  wo  die  Ursache  nicht  mehr  gleich  ihrer  Wirkung, 
die  Kraft  nicht  mehr  mechanisch  das  Ergebnis  äußerer  Be* 
dingtheit  (wie  etwa  beim  Stoß)  wäre,  sondern  wo  man  die 
Ursache  oder  die  Kraft  als  eine  innerlich  spontane  Tendenz 
oder  .Intension'  zu  verstehen  habe,  durch  welche  die  Be* 
wegung  materieller  Systeme  gleichmäßig  ins  Unendliche 
erhalten  würde.  Stellt  man  diese  reichlich  unerschrockene 
Folgerung  mit  dem  in  der  nämlichen  Zeit  geprägten  Satz 
in  eine  Reihe,  „wonach  wir  noch  keine  Dynamik  haben," 

533 


so  sieht  man  nicht  ohne  Bewunderung  dem  jungen  Kant 
als  Ziel  seines  naturphilosophischen  Denkens  eine  Wirk* 
lichkeit  vorschweben,  worin  jeder  Körper  seine  Kraft  sua 
sponte  unabhängig  von  dem  Grundgesetz  des  causa  aequat 
effectum  äußert  und  sich  nach  Ablauf  einer  endlichen  Zeit 
zu  einer  mathematisch  nicht  festzulegenden  Geschwindig* 
keit  entwickelt  oder  .verlebendigt'  (vivifiziert).  Von  hier 
aus  ward  dann  dem  Naturphilosophen  Kant  die  hohe  Kon< 
zeption  einer  allgemeinen  Dynamik  des  Kosmos,  deren 
Ausarbeitung  leider  bis  auf  ungenügende  Ansätze  in  der 
Neuen  Beleuchtung  der  ersten  Grundsätze  und  in  der  Phy* 
sischen  Monadologie  unterblieben  sind.  Und  abermals  von 
hier  aus,  dürfen  wir  vielsagend  hinzufügen,  laufen  wir 
unversehens  unserem  vorigen  Ergebnis  wieder  in  das  Ge* 
hege,  —  jenen  katalytischen  Kräften  Robert  Mayers,  die 
sich  mit  Kantens  lebendigen  Kräften  einer  nie  geschriebenen 
Dynamik  in  das  große  Merkmal  teilen,  jeglicher  Geometrie 
sierung  der  Wirklichkeit  nach  dem  Willen  des  causa  aequat 
effectum  ein  für  alle  mal  zu  widerstreben  und  damit  dem 
beengten  Blick  eine  maschinell  nicht  mehr  deutbare  Welt 
voll  Hoffnung  zu  erschließen  .  .  . 


534 


KAUSALITÄT     UND     AQUIPOLLENZ 
IN  DER  MECHANIK 

Im  Angesicht  dieser  letzten  und  ausgebreiteten  Perspektive 
wird  uns  nun  folgendes  gewiß.  Sowohl  Immanuel  Kant 
wie  Robert  Mayer  waren  der  außerordentlichen  Entdeckung 
hart  auf  der  Spur,  daß  die  konstitutive  Grundregel,  sozu* 
sagen  der  Generalbaß  aller  Mechanik,  ein  zuletzt  un* 
haltbares  Kompromiß  darstelle  zwischen  den  kausalen 
und  äquipollenten  Bedürfnissen  wissenschaftlichen  Welt* 
erklärens,  Weltbeschreibens.  Wobei  es  nur  in  der  Ordnung 
gewesen  ist,  wenn  der  Naturforscher  lieber  die  Ursächlich* 
keit  zu  Gunsten  mathematischer  Gleichwertsetzung,  der 
Philosoph  lieber  aber  diese  zu  Gunsten  jener  aufzuopfern 
offenbar  bereit  ist.  Im  Unterschied  zu  diesen  beiden  Ge* 
lehrten  haben  wir,  die  uns  kein  gelehrtes  Interesse  bindet, 
darüber  völlig  im  reinen  zu  sein,  daß  sich's  hier  weniger  um 
die  Geltung  äqualer  oder  inäqualer  Kausalität  dreht,  wie 
Kant  noch  wähnte,  auch  nicht  um  Kausalität  oder  Nicht* 
Kausalität,  wie  Robert  Mayer  wohl  anzunehmen  geneigt 
war,  —  nur  ganz  einfach  um  Kausalität  und  Äquipollenz 
schlechthin.  Es  handelt  sich  darum  zu  begreifen,  daß  es 
eine  äquale  Kausalität  gar  nicht  gibt.  Die  Ursache  ist  der 
Wirkung  wesentlich  ungleich,  und  keines  ist  mit  dem  anderen 
in  irgendeiner  Hinsicht  vertauschbar,  keines  kann  das  andere 
an  seiner  Stelle  ersetzen:  was  denn  doch,  wie  schon  erwähnt, 
das  unverkennbare  Merkmal  jeder  Gleichheit  wäre.  Selbst 
wenn  man  der  Ursache  eine  der  Wirkung  an  sich  gleich* 
wertige  Größe  oder  Zahl  zuordnete,  also  gewissermaßen 
dieselbe  Menge  Ursache  derselben  Menge  Wirkung  ent* 
sprechend  dächte,  so  wären  in  diesem  Ausdruck  nur  die 
mathematischen  Quanten  einander  gleich,  niemals  die  logi* 
sehen  Termini,  von  welchen  diese  Quanten  ausgesagt  wer* 

535 


den.  Diese  Unvertauschbarkeit  kausal  verknüpfter  Glieder 
beruht  nicht  allein  auf  ihrem  vollkommen  eindeutigen  und 
einsinnigen  GerichtetsSein  oder  auf  ihrer  Unumkehrbarkeit, 
wie  dies  etwa  auch  für  die  Zeit  so  lang  angenommen  ward, 
bis  Henri  Bergson  auch  hier  den  Begriff  des  .Mittels  mit 
ungleichartigen  Querschnitten*  eingeführt  hat.  Nein,  nicht 
nur  eindeutig  gerichtet  und  unumkehrbar  sind  die  Glie* 
der  der  Kausalität,  sondern  dazu  noch  logisch  verschiedenen 
Inhaltes:  ist  doch  die  Ursache  jederzeit  auch  .sachlich' 
von  der  von  ihr  gesetzten  Wirkung  verschieden.  Was  ich 
darunter  verstanden  wissen  möchte,  ist  wiederum  kaum  an 
einem  zweiten  Beispiel  so  gut  aufweisbar  wie  just  bei  dem 
mechanischen  Wesensbegriff  der  Kraft.  Denn  die  Kraft  ist 
ja  laut  begrifflicher  Abgrenzung  Ursache  der  Bewegung,  — 
Bewegung  mithin  Wirkung  der  Kraft.  Gibt  es  aber,  frag' 
ich,  zwei  weniger  miteinander  vergleichsame  Denkinhalte, 
die  man  zu  Gliedern  einer  natürlichen  Verknüpftheit  aus* 
ersehen  könnte,  als  diese  beiden?  Sind  nicht  beide  Begriffe, 
beide  Erlebnisausschnitte  völlig  disparat,  völlig  inhaltver* 
schieden?  Wo  wäre  auch  nur  die  leiseste  Ähnlichkeit  vor* 
handen  zwischen  der  als  Ursache  gedachten  Kraft  und  der 
als  Wirkung  gedachten  Bewegung?  Und  wenn  nicht  ein* 
mal  Ähnlichkeit,  nicht  einmal  Vergleichbarkeit,  —  wie  denn 
gar  irgend  welche  Gleichheit?  Höchstens  eine  gewisse 
Gleichwertigkeit  dürfte  man  diesen  Gedankenbildern  inso* 
fern  zugestehen,  als  beide  die  symmetrischen  Glieder  ein 
und  derselben  kategorialen  Knüpfung  oder  Beziehung  sind, 
mithin  beide  zu  einem  dritten  ihnen  übergeordneten  Be* 
griff  (eben  der  .Knüpfung'  oder  der  .Beziehung')  das  näm* 
liehe  logische  Verhältnis  (der  .Gliedschaft')  einnehmen. 
Aber  diese  Art  Gleichwertigkeit  reicht  gerade  aus,  um  die 
höchst  unverwandten  Vorstellungen  Kraft  und  Bewegung 
logisch  überhaupt  zusammensichten  (avyxQlvetv)  zu  können. 

536 


Durchaus  ist  sie  Gleichwertigkeit  sui  generis  und  hat  mit 
der  üblichen  Äquipollenz  der  Logik  nichts  zu  schaffen,  — 
noch  weniger  etwas  zu  schaffen  mit  einer  jederzeit  nur 
quantitativ  aufzufassenden  Äquivalenz,  wie  sie  etwa  im 
ersten  Hauptsatz  von  der  Energie  Grundlage  des  ganzen 
Gesetzes  bildet. 

Das  mechanische  Denken  pflegt  freilich  über  solche  Hin? 
dernisse  mit  großer  Leichtigkeit  hinwegzuspringen,  da  ihm 
die  mathematische  Gleichung  ja  stets  das  Mittel  darbietet, 
die  sachliche  Ungleichheit  und  Ungleichartigkeit  kausaler 
Glieder  glücklich  zu  verschleiern.  Ich  darf  mich  dabei  noch* 
mals  auf  Ausdrücke  von  der  Beschaffenheit  etwa  der  mecha* 
nischen  Grundformel:  Antrieb  =  Bewegunggröße  berufen. 
Hier  werden  anscheinend  nur  zwei  Produkte  einander 
gleich  gesetzt  (y  m  =  p  •  t),  und  unter  diesem  Gesichts* 
winkel  gesehen  ist  jeder  Einwand  gegen  die  Gültigkeit  der 
Formel  gegenstandlos.  Löst  man  jedoch  die  einzelnen 
Zeichen  der  Formel  einmal  von  ihrer  rein  algebraischen  Be= 
deutsamkeit  ab  und  spricht  den  Satz  aus,  daß  die  mit  einer 
gewissen  Geschwindigkeit  bewegte  Masse  der  in  einer  be* 
stimmten  Zeit  sich  äußernden  Kraft  gleich  sei,  so  stellt  sich 
sofort  das  Bild  der  dynamischen  Verursachung  eines  kine* 
tischen  Ereignisses  ein  und  der  mathematische  Sinn  des  Aus* 
drucks  rückt  wie  von  selbst  in  den  Hintergrund.  Es  ist, 
als  ob  das  Denken  unentschlossen  hin  und  wieder  schwanke 
zwischen  der  mathematischen  Gleichsetzung  und  der  kau* 
salen  Ungleichsetzung.  Mit  einem  der  Physik  entliehenen 
Wort  möchte  ich  sagen,  das  denkende  Bewußtsein  oszilliere 
zwischen  beiden  Einstellungen,  es  zittere  und  flirre  zuletzt 
schier  rhythmisch  hin  und  her,  je  länger  und  je  genauer  es 
beiden  Einstellungen  gerecht  zu  werden  versucht.  Und 
eben  die  unbestreitbare  Tatsache,  daß  das  Bewußtsein  über 
diesen  oszillierenden  Zustand  nicht  hinausgelangt,  erhärtet 

537 


die  Unmöglichkeit  für  die  äquale  und  die  kausale  Auffassung, 
sich  in  einem  dritten  Denkgebilde  einheitlich  zu  durch* 
dringen.  Hält  man  sich  dann  infolge  dieser  seltsamen 
Wahrnehmung  wirklich  überzeugt  von  dem  unauflöslichen 
Widerstreit  dieser  verschiedenen  Einstellungen  zwischen 
der  Naturbeherrschung  durch  (mathematische)  Gesetze 
und  der  Naturerklärung  durch  (dynamische)  Ursachen, 
zwei  Einstellungen  übrigens,  welche  gelegentlich  Alexander 
von  Humboldt  in  einer  Anmerkung  zum  ersten  Kapitel 
des  dritten  Bandes  des  Kosmos  überraschend  klar  und 
treffend  an  einer  Gegenüberstellung  Keplers  mit  Newton 
zu  illustrieren,  zu  .illuminieren'  verstand,  —  so  wird  man 
denselben  Widerstreit  innerhalb  der  maschinellen  Welt* 
betrachtung  an  zahllosen  Stellen  bei  zahllosen  Gelegens 
heiten  feststellen  können.  Und  man  wird  zu  begreifen  be* 
ginnen,  aus  welchem  warnenden  Instinkt  heraus  eine  Reihe 
von  exakten  Forschern  die  Kausalität  völlig  aus  der  natur* 
wissenschaftlichen  Deutung  der  Wirklichkeit  zu  entfernen, 
zu  bannen  versucht  haben.  Diese  Kausalität  verträgt  sich 
nicht  mit  der  Verfahrungweise  des  exakten  Denkens, 
welches  die  Natur  durch  eine  Reihe  analytischer  Gleichungen 
sinnbildlich  darzustellen  trachtet,  und  nichts  war  darum 
mehr  in  der  Richtung  dieses  Trachtens  gelegen  als  der  Ent* 
Schluß  Hertzens,  kurzer  Hand  aus  der  Mechanik  den  Wesens* 
begriff  hinauszuwerfen,  der  von  jeher  mit  kausalen  Vor* 
Stellungen  übermäßig  befrachtet  gewesen  ist,  ja  der  geradezu 
der  Magnet  war,  alle  nur  erdenklichen  kausalen  Asso* 
ziationen  an  sich  zu  ziehen.  Kraft  als  Ursache,  diese  Unter* 
Stellung  mußte  aus  den  Voraussetzungen  eines  hochgradig 
exakt  gebauten  Gedankenzusammenhanges  verschwinden: 
sonst  stand  es  schlimm  mit  jeglichem  Anspruch  an  vollen* 
dete  Genauigkeit  mechanisch*maschinellen  Denkens.  Denn, 
um  endlich  den  unausgesprochenen  aber  maßgeblichsten 

538 


Einwand  Hertzens  glatt  herauszusagen,  —  kausales  Denken 
versagt  sich  als  solches  der  Anwendung  der  mathematischen 
Methode  und  ist  in  diesem  Betrachte  ungenau.  Ursachen 
bleiben  jederzeit  geheimnisvoll.  „Die  wirklichen  Kräfte 
sind  niemals  Gegenstand  der  früheren  Erfahrung  gewesen, 
noch  erwarten  wir,  sie  in  zukünftigen  Erfahrungen  anzu* 
treffen",  heißt  es  in  der  Einleitung  zu  den  hertz'schen  Prin* 
zipien.  Und  es  ist,  als  ob  hier  ein  Argument  herangezogen 
würde,  welches  der  spätere  Kant,  jetzt  seinem  Dynamismus 
der  Jugendzeit  abschwörend,  in  den  Metaphysischen  An* 
fanggründen  noch  etwas  tiefer,  grundsätzlicher  und  ent* 
schiedener  in  Worte  gefaßt  hat:  „  .  .  .  dagegen,  wenn  der 
Stoff  selbst  in  Grundkräfte  verwandelt  wird,  uns  alle  Mittel 
abgehen,  diesen  Begriff  der  Materie  zu  konstruieren,  und, 
was  wir  allgemein  dachten,  in  der  Anschauung  als  möglich 
darzustellen  .  .  ."  (Zweites  Hauptstück,  Allgemeine  An* 
merkung  zur  Dynamik).  Fürwahr  leistet  der  Begriff  der 
Kraft,  der  weder  in  der  Erfahrung  aufzeigbar  ist,  noch  sich 
der  mathematischen  Konstruktion  —  ich  würde  eher  sagen: 
der  Darstellung  in  analytischen  Gleichungen  —  zugänglich 
erweist,  für  die  Mechanik  nichts,  als  daß  er  sie  mit  gefähr* 
liehen  Assoziationen  belastet  .  .  . 

Um  allen  diesen  Übeln  mit  einem  Male  zu  entweichen, 
schied  wie  gesagt  Heinrich  Hertz  die  Kraft  aus  den  grund* 
legenden  Vorstellungen  der  Mechanik  aus,  indem  er  gleich* 
zeitig  den  Substrat*Begriff  zu  einem  Funktion*Begriff  um* 
bildete.  Ein  doppelter  Vorteil  war  dadurch  ohne  Schwierig* 
keit  gesichert.  Einmal  wurden  die  Voraussetzungen  der 
Mechanik  von  unklaren  und  zweifelhaften  Bestandteilen 
gereinigt,  was  auf  die  Deduktion  des  gesamten  Systems  nur 
günstig  einwirken  konnte.  Zum  zweiten  bot  die  Umgestal* 
tung  des  Substrates  in  eine  Funktion  eine  unvergleichlich 
besser  geeignete  Möglichkeit  dar  für  die  Anwendung  der 

539 


Mathematik.   Faßt  man  nämlich  nach  dem  Vorgang  Hein* 
rieh  Hertzens  die  Kraft  nunmehr  als  die  wechselbezügliche 
Abhängige   bewegter   Massen  auf,   so   verschwindet  der 
frühere  Gegensatz  von  äqualem  und  kausalem  Denken,  einst* 
mals  von  dem  Begriff  der  Kraft  unzertrennlich,  so  gut  wie 
vollständig.    Als  korrelative  Funktion  zweier  Massen  ist 
die  Kraft  nicht  mehr  Glied  einer  unumkehrbaren  Beziehung 
gemäß  ihrer  vorigen  Definition,  sondern  die  Kraft  selber 
wird  Beziehung,  und  zwar  entsprechend  der  hertz'schen 
Bestimmung  eine  umkehrbare,  weil  wechselbezügliche  Be? 
Ziehung.    Denn  „der  Einfluß,  welchen  das  eine  von  zwei 
gekoppelten  Systemen  auf  die  Bewegung  des  anderen  aus* 
übt",  er  ist  dem  dritten  Gesetz  Newtons  zufolge  ja  ein 
gegenseitiger:  ihm  entspricht   durchweg  der  Einfluß  des 
anderen  Systemes  auf  das  erste  als  sogenannte  Gegenkraft. 
Wobei  es  dem  Belieben  überlassen  bleibt,  welcher  der  bei* 
den  Einflüsse  als  Kraft  und  welcher  als  Gegenkraft  zu  gelten 
hat.   Wird  auf  diese  Weise  das  mechanische  Substratum 
der  Kraft  nicht  sowohl  in  eine  Funktion  überhaupt  als  viel? 
mehr  sogar  in  eine  korrelative  Funktion  umgewandelt,  so 
ist  mit  dieser  Umprägung  ohne  Zweifel  auch  der  Begriff 
einer  unumkehrbaren  und  eindeutig  gerichteten  Beziehung, 
wie  ihn  die  Ursächlichkeit  enthält,  beseitigt  und  einem  Vor? 
stellunggefüge  aus  lauter  mathematischen  Gleichsetzungen 
ein  letztes  Hindernis  aus  dem  Feld  geräumt.   Der  Quer? 
schnitt,  den  man  sich  jetzt  durch  eine  von  solchen  Kräften 
ausgefüllte  Wirklichkeit  zu  einer  gewissen  Zeit  gezogen  zu 
denken  hat,  darf  tatsächlich  dem  Querschnitt  der  nächst? 
folgenden  Zeit  gleich  erachtet  werden,  wofern  jeder  Körper 
so  viel  an  dynamischem  Einfluß,  als  er  von  einem  anderen 
erfährt,  wieder  auf  diesen  zurück  ausübt.   Diese  Annahme 
war  bei  der  streng  kausalen  Auffassung  der  Kraft  nicht 
statthaft  gewesen.    Dort  ist  der  Querschnitt  durch  die  Ur? 

540 


sachenreihe  einem  Querschnitt  durch  die  Wirkungreihe 
ungleich  gewesen,  weil  der  erstere  nur  die  Summe  der  Be* 
dingungen  einschloß,  durch  welche  der  zweite  notwendig 
gesetzt  ward:  mithin  einer  den  anderen  zu  vertreten  unfähig 
gewesen  sein  würde.  Die  beiden  Folgezustände  der  mecha* 
nisch  entwickelten  Wirklichkeit  waren  nicht  umkehrbar, 
und  wofern  der  Ursachen*Querschnitt  sich  sachlich  schlecht 
terdings  vom  Wirkung*Querschnitt  unterschied,  verbot  sich 
jede  Vertauschbarkeit  des  einen  mit  dem  anderen  ganz  von 
selbst.  Keiner  war  dem  anderen  im  eigentlichen  Wortver* 
stände  .gleich',  —  ein  trügerischer  Augenschein  vorhandener 
Äquipollenz  oder  Äquivalenz  wurde  immer  erst  durch  den 
analytischen  Ausdruck  vorwändig  gemacht. 

Dem  allem  ist  man  durch  und  seit  der  hertz'schen  Neues 
rung  entflüchtet.  Der  umgeprägte  Wesensbegriff  Kraft 
ermöglicht  es,  das  mechanisch*maschinelle  Denken  fast 
ohne  Abzug  zu  geometrisieren,  und  von  hier  und  jetzt  ab 
gibt  es  für  die  analytische  Darstellung  der  Probleme  kaum 
noch  logische  Schwierigkeiten.  Sogar  die  sogenannte  Kon* 
struktion  der  Kraft,  von  Kant  seinerzeit  noch  mit  triftigen 
Gründen  in  Abrede  gestellt,  —  mit  triftigen  Gründen,  weil 
er  eben  unter  der  Kraft  noch  die  Ursache,  die  Grund* 
Kraft  verstanden  hatte!  —  diese  Konstruktion  wird  nun* 
mehr  wissenschaftliches  Ereignis.  Die  Einflüsse ,  welche 
gekoppelte  Systeme  (das  sind  solche  mit  einer  oder  mehreren 
Koordinaten  gemeinsam)  wechselseitig  auf  ihre  Bewegungen 
ausüben,  erweisen  sich  dem  analytischen  Ausdruck  zugäng* 
lieh.  Die  Mechanik  entursachter  Kräfte  ist  fürwahr  dem 
Ziele  nah',  welches  schon  den  ersten  Kinderschritten  dieser 
wunderbaren  Wissenschaft  vorgezeichnet  lag.  Beinah'  ist 
es  ihr  gelungen,  das  Gefüge  einer  Natur  verstandesmäßig 
a  priori  aufzurichten,  durchaus  der  Mathematik,  durchaus 
dem  Denken  in  reinen  Gleichsetzungen  unterworfen.  Schier 

541 


will  es  ihr  glücken,  dem  bescheiden^anspruchvollen  Satze 
Galileis  zu  genügen,  wonach  Mechanik  ,nur*  angewandte 
Geometrie  und  nichts  weiteres  sei  .  .  . 

Schier  wäre  dieser  Art  von  Mechanik  der  endgültige  Er* 
folg  beschieden  gewesen,  meinte  ich:  —  also  doch  nicht 
völlig?  Nein,  nicht  völlig.  Und  zwar  darum  nicht,  weil 
auch  diese  funktional  aufgefaßte  Kraft  der  hertz'schen 
Mechanik  an  der  inneren  Widerspänstigkeit  kränkelt,  die 
diesen  Begriff  nun  einmal  rettunglos  auszeichnet.  Und 
zwar  schließt  schon  der  Terminus  .Einfluß',  der  hier  zur 
begrifflichen  Kenntlichmachung  aufgeboten  wird,  ein  star* 
kes  Maß  von  Unklarheit  in  sich.  Einfluß,  das  ist  weniger 
als  Ursache,  weniger  als  Bedingung,  —  aber  doch  auch 
wieder  mehr  als  bloße  Funktion  im  Sinn  der  Mathematik, 
will  heißen,  mehr  als  ein  gegenseitiges  Abhängigkeitver* 
hältnis  zweier  Veränderlichen,  als  welches  zuletzt  seinerseit 
doch  nur  eine  Gleichsetzung  (y  =f[x\)  ist.  Der  hertz'sche 
.Einfluß'  ist  schon  darum  mehr  als  eine  solche  Funktion  der 
Mathematik,  weil  sich  an  ihn  der  ganz  spezifische  Sinn  des 
Tätig^Seins,  des  Wirkens,  der  dynamischen  Spannung,  der 
energetischen  Aktion  hängt,  und  zwar  so,  wie  wir  dies  einzig 
dem  Bereich  unserer  inneren  Erfahrung  im  Vollzug  einer  leib* 
liehen  Bewegung  oder  Anstrengung  entnehmen  können.  Die 
Kraft  geht  auch  als  funktional  gedachter  Einfluß  keineswegs 
in  der  (vorgeblich  allein  bestimmenden)  Vorstellung  mathe* 
matischer  Abhängigkeit  auf,  sondern  überschreitet  diese 
wesentlich.  Dem  scheinbar  maßgeblichen  Verhältnis  mathe* 
matischer  Funktionalität  wird  eine  Reihe  psycho^physio* 
logischer  Erlebnisse  eingeschaltet,  Erlebnisse,  welche  von 
dem  Begriff  des  Einflusses  so  wenig  wie  von  dem  der  Kraft, 
vom  definierenden  Denkinhalt  so  wenig  wie  vom  definierten 
jemals  in  Gedanken  abzusondern  sind.  Auch  der  Ausdruck 
der  Funktion  oder  der  Wechselbeeinflussung,  den  Heinrich 

542 


Hertz  zur  Erläuterung  der  Kraft  heranzieht,  ist  irgendwie 
mit  außermathematischen  Erlebnissen  unvermeidlich  be* 
lastet:  auch  er  widersetzt  sich  einer  vollständigen  Unter* 
jochung  durch  den  geometrisch*algebraischen  Schematis* 
mus.  Etwas  von  der  kausalen  Vergangenheit  der  Kraft 
haftet  auch  dem  Einfluß  gleichsam  als  ein  physiologischer 
chavactev  indelebilis  an;  —  was  will  man?  Denn  auch  Be* 
griffe  haben  ihre  Vergangenheit  wie  die  Menschen  selber, 
eine  Vergangenheit,  die  Gegenwart  und  Zukunft  über* 
schattet.  Und  die  Vergangenheit  der  Kraft  heißt:  als  Ur* 
sache  gesetzter  Wesensbegriff  zu  sein.  Dieser  kausale  Ak* 
zent  eignet  dem  fraglichen  Begriff  offenbar  schon  von  seiner 
Herkunft  an;  er  läßt  sich  vielleicht  etwas  dämpfen,  aber 
nie  wirklich  unterdrücken.  Einmal  war  Kraft  dem  Menschen 
nichts  anderes  als  ein  Komplex  seiner  Selbsterfahrung.  Ein* 
mal  war  sie  ihm  nur  das,  was  er  empfand,  wenn  er  eine  Last 
hob,  einem  Tier  nachstürmte  oder  einen  Feind  niederrang: 
also  wenn  er,  kurz  gesagt,  sich  selbst  zur  Ur*Sache  machte, 
um  später  diese  bestimmende  Tathandlung  in  das  Ganze 
der  Natur  hineinzuverlegen.  Keine  Zukunft  wird  die  Fol* 
gen  dieser  echten  Jntrojektion',  dieser  echten  Hineinwerfung 
und  Hineinverlegung  des  angespannten  Menschenwillens 
in  die  erfahrbare  Außenwelt  der  Dinge  ungeschehen  machen 
können.  Kein  noch  so  gewaltiger  Aufwand  an  szientifischer 
Schulung,  Steigerung,  Verfeinerung  wird  es  gestatten,  unser 
Denken  derart  zu  entursachen,  derart  zu  entmenschlichen, 
daß  bei  den  Vorstellungen  Kraft  oder  Einfluß  nur  das 
strenge  Verhältnis  mathematischer  Funktionalität  im  Blick* 
punkt  des  Bewußtseins  erscheinen  wird.  Diesen  Sachver* 
halt  hat  vielleicht  kein  Vertreter  der  modernen  Mechanik 
sich  selbst  mit  größerer  Aufrichtigkeit  eingestanden  wie 
Max  Planck  anläßlich  seiner  eigenen  Definition  der  Kraft, 
als  deren  ursprüngliches  und  einziges  Maß  wir  „die  Emp* 

543 


findung  unseres  Muskelsinnes  benutzen",  um  erst  nach* 
träglich  mit  größerer  Genauigkeit  die  Größe  der  ausgeübten 
Kraft  an  der  Größe  der  durch  sie  bewirkten  Geschwindig* 
keitänderung  (oder  Beschleunigung)  zu  messen.  Was 
Planck  dabei  ganz  allgemein  über  die  physikalische  Metho* 
dik  überhaupt  anmerkt,  dünkt  mich  der  Anführung  aus 
mehr  wie  einem  Grunde  wirklich  wert.  „Es  liegt  hier", 
fährt  er  nämlich  an  dieser  Stelle  fort,  „die  Frage  nahe,  ob  es 
nicht  einfacher  und  daher  rationeller  wäre,  die  Kraft  von  vorn* 
herein  durch  die  Beschleunigung  zu  definieren,  und  nicht 
erst  den  Umweg  über  die  Muskelempfindung  zu  machen. 
Dagegen  ist  aber  zu  bemerken,  daß  der  Begriffder  Kraft  doch 
etwas  ganz  anderes  ist,  als  der  der  Beschleunigung,  und  daß 
man  dem  Inhalt  dieses  Begriffes  viel  näher  kommt,  wenn  man 
ihn  mit  dem  Muskelsinn,  als  wenn  man  ihn  mit  der  Be* 
schleunigung  in  Zusammenhang  bringt  .  .  .  Übrigens  ist 
diese  Art,  einen  fundamentalen  physikalischen  Begriff  zu 
definieren,  daß  man  ihn  erst  auf  eine  Sinnesempfindung 
zurückführt,  und  hierauf  die  erste,  primitive  Definition 
durch  eine  zweite,  schärfere  ergänzt  und  verfeinert,  die  in 
der  Physik  allgemein  übliche  und  wohl  auch  allein  mög* 
liehe  .  .  .  Wollte  man,  wie  die  Kraft  direkt  durch  die  Be* 
schleunigung,  so  die  Wärme  direkt  durch  die  Volumens 
änderung,  oder  die  Farbe  direkt  durch  die  Wellenlänge 
definieren,  so  würden  diese  Begriffe  gerade  diejenige  Be* 
deutung  verlieren,  welche  sie  der  genaueren  Erforschung 
wert  gemacht  hat,  und  welche,  was  noch  wichtiger  ist,  der 
Weiterbildung  der  physikalischen  Theorien  den  Weg 
ebnet  .  .  ."  Uns  diese  Notiz  durchaus  aneignend,  dürfen 
wir,  sie  ergänzend,  hinzufügen,  daß  die  sogenannte  Funk* 
tion,  welche  der  Mechanist  im  Sinne  hat,  keineswegs  die* 
selbe  Funktion  ist,  welche  der  Mathematiker  brauchen  kann: 
denn  diese,  endgültig  befreit  von  allen  Bezugnahmen  auf 

544 


das  sinnliche  Urerlebnis  des  Menschen,  würde  für  den  phy* 
sikalischen  Vorgang  just  das  nicht  leisten,  was  jene  leisten 
soll  und  leisten  muß,  —  ein  Bereich  dynamischer  Spannungen 
schaffen,  welches  die  Wirksamkeit  bewegter  Massen  umfaßt 
und  darstellt.   So  aber  wiederholt  sich  für  den  Ausdruck 
der  Funktion,  der  wechselseitigen  Beeinflussung  zweier  ab* 
hängigen  Veränderlichen,  eben  dasselbe  Spiel  wie  bei  den 
Begriffen  der  Ursächlichkeit  und  der  Gleichheit.  Ein  außer* 
und  übermathematischer  Vorgang  verbirgt  sich  mit  der  Ge* 
bärde  der  Harmlosigkeit  hinter  dem  mathematischen  Ge* 
bilde.   Gewiß  hat  also  Heinrich  Hertz  die  Kraft  entursacht, 
wenn  er  sie  anstatt  des  Substratum  als  eine  Funktion  in  die 
Mechanik  einzuführen  gedachte,  —  nur  daß  die  Funktion 
als  solche  leider  gleichfalls  des  eindeutig  mathematischen 
Charakters  entbehrt!    Die  Macht   der  Umstände   zwingt 
diesen  wie  jeden  anderen  Mechanisten,  das  mathematisch 
definierte  Abhängigkeitverhältnis  auf  Gegenseitigkeit  hin* 
ten  herum  wieder  um  die  Merkmale  zu  bereichern,  die  dem 
Erlebnis  physiologisch*psychologischer  Funktionalität  und 
damit    einer    unverkennbar    kausalen    Erscheinung    ent* 
stammen.    Die  Kraft,  der  Einfluß,  das  ist  auf  jeden  Fall 
, Dasein  in  Tätigkeit  gedacht',  wie  Goethe  einmal  den  Be* 
griff  der  nichtmathematischen  Funktion  umschrieben  hat. 
Und  damit  wird  allerdings  der  ganze  Gewinn  ernstlich  in 
Frage  gestellt,  den  Hertz  seiner  Wissenschaft  gesichert  zu 
haben  wähnt,  wenn  er  die  Kraft  als  Ursache  aus  den  Vor* 
aussetzungen  der  Mechanik  entfernt. 

Steht  es  aber  so,  dann  muß  man  bereits  an  der  Möglich* 
keit  zweifeln,  ob  die  in  der  Mechanik  seit  Galilei  heimische 
Tendenz  einer  lückenlosen  Geometrisierung  der  Natur 
überhaupt  je  zu  verwirklichen  sein  möchte?  Darf  man, 
nach  dem  gegenwärtigen  Befund,  überhaupt  das  Ziel  einer 
ausschließlich  mathematischen  Naturerkenntnis  ins  Auge 

35     Ziegler,  Gestaltwandel  der  Götter  545 


fassen,  .ausschließlich'  in  dem  Sinn,  daß  jede  Durchkreuzung 
mathematisch  beherrschbarer  Komplexe  mit  außermathe* 
matischen  Kategorien  vermieden  wird,  —  darf  man  dies, 
oder  richtiger  gesagt,  kann  man  es?  Wird  es  je,  nach  un* 
serem  heutigen  Ermessen,  eine  denkwiderspruchfreie  Me* 
chanik  geben,  wie  sie  Heinrich  Hertz  ohne  weiteres  aus 
dem  naiven  Erkenntnistrieb  des  geborenen  Wissenschafters 
heraus  fordern  zu  dürfen  glaubte,  —  gänzlich  zu  schweigen 
von  allen  sonstigen  hohen  und  vielleicht  verstiegenen  For* 
derungen,  die  dieser  schärfste,  kernigste  und  durch* 
dringendste  Geist  der  europäischen  Physik  des  neunzehnten 
Jahrhunderts  an  einen  vollendeten  mechanisch*maschinellen 
Weltbegriff  noch  außerdem  gestellt  hat? 

Um  darauf  die  rechte  Antwort  zu  finden,  sei  nochmals 
die  Aufmerksamkeit  auf  denjenigen  Wesensbegriff  hin* 
gelenkt,  welchen  Heinrich  Hertz  an  Stelle  der  Kraft  zu  einer 
der  drei  Grundlegungen  der  Mechanik  erhebt,  ich  meine 
die  Masse.  Sie  freilich  tritt  zunächst  als  ein  reiner,  von 
keinerlei  kausalen  Ehrgeizen  angekränkelter  Wesensbegriff 
hervor :  wenigstens  schweigt  sich,  wie  wir  bemerken  durften, 
die  Definition  vollkommen  über  eine  solche  Bezugnahme 
aus.  Die  Masse,  wir  wissen  es  schon,  ist  keine  Ursache, 
sondern  ein  .Merkmal',  und  nur  etwas  nebenbei  verlaut* 
bart  auch  von  ihr,  daß  sie  unzerstörbares  und  unverändert 
liches  Substratum  oder  Hypokeimenon  sei.  Von  diesem 
ein  wenig  mephistophelischen  Gehinke  der  Definition  aber 
abgesehen,  entspricht  die  Masse  durchweg  besser  der  logi* 
sehen  Beschaffenheit  eines  Wesensbegriffes  als  vergleichung* 
weise  die  Kraft,  die  von  vorn  herein  mit  der  Tür  ihrer  kau* 
salen  Ansprüche  ins  Haus  fällt.  Die  Masse  dagegen  be* 
scheidet  sich  augenscheinlich  dabei,  das  Bewegliche  in 
Raum  und  Zeit  zu  sein,  Träger  aller  Veränderungen  der 
Lage,  welche  die  Mechanik  den  natürlichen  Bewegungen 

546 


zuzählt  und  analytischen  Gleichungen  unterwirft.  Wobei 
man  noch  als  einen  zweiten,  kaum  weniger  überzeugenden 
Vorzug  namhaft  zu  machen  hätte,  daß  eben  diese  Masse 
ein  sinnliches  und  greifbares  Ding,  eine  Gegebenheit  des 
Bewußtseins  ist,  indes  man  die  Kraft  doch  jeweils  hinter 
den  Dingen,  von  welchen  wir  mittelbare  oder  unmittelbare 
Erfahrung  haben,  zu  suchen  oder  zu  vermuten  genötigt 
war.  Zwei  Vorzüge  sind  es  also  mindestens,  die  der  Begriff 
der  Masse  vor  dem  Begriff  der  Kraft  voraushat,  gesetzt  den 
Fall,  daß  es  bei  diesen  Vorzügen  wirklich  sein  endgültiges 
Bewenden  habe. 

Gerade  dies  trifft  jedoch  leider  keineswegs  zu,  wie  man 
aus  der  hertz'schen  Mechanik  unschwer  selbst  entnehmen 
kann.  Wollte  man  nämlich,  fährt  unser  Gewährsmann  in 
seinen  Prinzipien  fort,  tatsächlich  alle  natürlichen  Be* 
wegungen  der  Körperwelt  restlos  verständlich  finden,  dann 
sei  man  durch  den  Zwang  der  Umstände  dazu  bestimmt, 
per  hypothesin  in  Gedanken  hinter  die  Erscheinungen  un= 
serer  Sinnlichkeit  zurückzugehen.  Lediglich  sichtbare 
Massen,  sichtbare  Bewegungen  vollführend  ergeben  das 
zusammenhanglose  Bruchstück  einer  Welt,  aber  keine  Welt 
als  solche,  keine  geordnete,  durchgängig  zusammenhängende 
Totalität,  keinen  eigentlichen  Kosmos.  Wer  derartiges  an* 
strebe,  —  und  dies  trifft  für  den  szientifischen  Mechanisten 
ohne  Einschränkung  zu,  —  der  müsse  sich  auch  nach  dem 
ausdrücklichen  Verzicht  auf  verursachende  Kräfte  noch  ent* 
schließen,  unsichtbare  Massen  und  unsichtbare  Bewegungen 
ergänzend  einzuräumen:  mithin  genau  das  vorzunehmen, 
was  der  klassische  Philologe  Friedrich  Nietzsche  mit  Vor* 
liebe  eine  .Interpolation'  der  Wirklichkeit  zu  nennen  pflegte. 
Entweder  man  findet  sich  genötigt,  Kräfte  in  dem  früheren, 
von  Hertz  bekämpften  Wortgebrauche  zuzulassen,  oder 
man  entscheidet  sich  für  verborgene  Massen  und  verborgene 

35«  547 


Bewegungen,  um  allerlei  Lücken  und  leere  Stellen  der  Na* 
tur  gedankenmäßig  zu  füllen,  welche  dem  aufs  Ganze  lei* 
denschaftlich  gerichteten  Verstand  kümmerlich  eine  bruch* 
stückhafte  Anschauung  darbietet.  So  hat  die  kinetische 
Theorie  der  Wärme  deren  Kräfte  aus  unsichtbaren  Be* 
wegungen  sichtbarer  Massen  abzuleiten  gelehrt,  während 
es  Maxwell  geglückt  ist,  die  elektrodynamischen  Kräfte 
mit  hoher  Wahrscheinlichkeit  auf  die  Wirkung  unsichtbarer 
Massen  zurückzuführen.  Beide  Annahmen  zählen  zwar 
nicht  zu  der  eigentlichen  Mechanik,  aber  auch  in  dieser  selbst 
gibt  es  Probleme,  die  das  Mitspiel  verborgener  Massen  und 
verborgener  Bewegungen  glaubhaft  machen.  Dies  sind  die 
Bewegungen  der  sogenannten  zyklischen  Systeme  oder  die 
zyklischen,  will  heißen  in  sich  zurücklaufenden  Bewegungen, 
beispielweis  einer  gleichartigen  Flüssigkeit  in  einem  rings 
geschlossenen  Gefäß.  Für  sie  hat  schon  Helmholtz  die  Mit* 
Wirkung  verborgener  Massen,  verborgener  Bewegungen 
zur  Erklärung  gefordert.  Den  Zusammenhang  zwischen 
zyklischen  und  verborgenen  Bewegungen  kann  man  dabei 
so  ausdrücken,  daß  man  etwa  sagt:  zyklische  Bewegungen 
sind  häufig  verborgen,  verborgene  Bewegungen  sind  fast 
immer  zyklisch.  Verborgene  Massen  wären  alsdann  je  und 
je  dort  anzunehmen,  wo  die  der  Beobachtung  zugänglichen 
Koordinaten  des  Systems  es  nicht  gestatten,  die  Lagen  all 
seiner  Massen  anzugeben.  Daten  über  den  Einfluß,  welchen 
verborgene  Massen  möglicherweis  auf  sichtbar  bewegte 
Massen  ausüben,  sind  durchaus  erdenklich,  namentlich  so* 
weit  sie  die  sogenannt  geleiteten  Systeme  angehen :  man  kann 
nämlich  ein  (scheinbar)  ungesetzmäßiges  System  als  ein 
.geleitetes'  auffassen,  dem  Anspruch  auf  Gesetzmäßigkeit 
durch  seine  verborgenen  Massen  Genüge  leistend,  und  so 
weiter.  Mögen  diese  spärlichen  Andeutungen  geeignet 
sein,  die  außerordentliche  Fruchtbarkeit  dieser  Hypothesis 

548 


für  die  Mechanik  wenigstens  erahnen  zu  lassen,  denn  mehr 
zu  leisten  steht  weder  bei  meinem  Können  noch  bei  meinem 
Wollen. 

Dieser  unbestreitbaren  Berechtigung  indes  ungeachtet, 
welche  die  wunderliche  Annahme  verborgener  Massen  und 
verborgener  Bewegungen  für  die  Entwicklung  des  mecha* 
nisch*maschinellen  Weltbegriffes  hat,  darf  der  Philosoph  viel* 
leicht  doch  mit  der  ihm  gebotenen  Bescheidenheit  darauf 
hinweisen,  daß  mit  dieser  helmholtz*hertz'schen  Hypothese 
so  ziemlich  die  Vorteile  wieder  preisgegeben  sind,  die  man 
durch  die  Entfernung  der  Kraft  aus  den  mechanischen 
Stammbegriffen  zu  erringen  und  zu  befestigen  gehofft  hat. 
Wie  immer  auch  das  Wesen  verborgener  Massen  und  ver* 
borgener  Bewegungen  im  einzelnen  auszumalen  sei,  —  daß 
sie  weder  den  greifbaren  noch  den  entursachten  Dings 
begriffen  zugehören,  liegt  auf  der  flachen  Hand.  Der  Vor* 
wurf  dauernder  Unerfahrbarkeit,  von  Heinrich  Hertz  gegen 
die  Grundkräfte  erhoben,  fällt  auf  die  verborgenen  Massen 
durchaus  zurück,  und  zwischen  beiden  bleibt  kaum  ein 
anderer  Unterschied  bestehen  als  der,  daß  die  verborgene 
Masse  immerhin  nach  dem  Modell  eines  an  sich  erfahrbaren 
Tatbestandes  ersonnen  zu  sein  erscheint,  wogegen  die  Kraft 
den  Charakter  einer  metaphysischen  Unterstellung  nie  ver* 
leugnen  kann.  Aber  vielleicht  ist  nicht  einmal  dieser  Unter* 
schied  wirklich  aufrecht  zu  erhalten.  Ist  doch  auch  die 
Kraft  nach  einem  wo  nicht  sichtbaren,  so  doch  lebendig 
empfindbaren  und  fühlbaren  Erlebnis  angespannter  Muskel* 
tätigkeit  gedanklich  ausgearbeitet  und  der  außermensch* 
liehen  Natur  deutend  eingelegt  worden.  Von  diesem  Ge* 
Sichtswinkel  aus  verschlägt  es  also  zuletzt  überhaupt  nicht 
mehr  viel,  ob  man  die  , leeren  Stellen'  der  Wirklichkeit  zum 
Zweck  gesetzmäßig  zusammenhängenden  Begreifens  lieber 
durch  verborgene  Massen  oder  lieber  durch  verborgene 

549 


Kräfte  ausgefüllt  denken  will:  beides  sind  logische  Inter* 
polationen,  beides  Hineinlegungen  und  Einschaltungen, 
beides  sind  in  einem  ähnlichen  Sinne  Verdinglichungen 
und  Verwesentlichungen  von  inneren  und  äußeren  Gegeben* 
heiten  des  Bewußtseins  .  .  . 

Wichtiger  aber  noch  als  die  offenkundige  Unerfahrbar* 
keit  des  von  Hertz  herangezogenen  Wesensbegriffes  ist  der 
rückfällig  kausale  Charakter  desselben.  Nach  ihrer  Defini* 
tion  in  den  Prinzipien  ist  die  Masse  zwar  Substratum,  aber 
Substratum  ohne  eine  schärfer  akzentuierte  kausale  Betont* 
heit.  Nach  ihrer  logischen  Leistung  hingegen  ist  auch  sie 
Ursache  und  Ur=Sache  nicht  weniger  wie  die  bescholtene 
Kraft.  Aus  verborgenen  Massen  werden  nicht  nur  geradezu 
Kräfte  abgeleitet,  wie  diejenigen  der  Wärme  oder  der 
Elektrodynamik.  Sondern  dieselben  Massen  werden  außer* 
dem  buchstäblich  dazu  berufen,  »Ursachen  der  Bewegung' 
vorzustellen,  nämlich  die  Ursachen  der  Bewegungen  ge* 
leiteter,  zyklischer,  .adiabatischer'  Systeme.  Ein  betörender 
Aufwand  an  Scharfsinn,  Überlegung,  Gründlichkeit,  Ge* 
nauigkeit  bringt  es  schließlich  zu  dem  nicht  ganz  verhält* 
nismäßigen  Ergebnis,  daß  im  ganzen  und  großen  alles  beim 
alten  bleibt,  —  das  beklagenswerte  Schicksal  fast  aller  nur 
gedankenhaften,  nur  wissenschaftlichen  Umwälzungen!  — 
höchstens  daß  eben  statt  der  mißbeliebten  verborgenen 
Kräfte  verborgene  Massen  als  Ursache  von  Bewegungen 
gelten  sollen:  wenn  auch  selbst  dieses  nicht  überall  und 
allgemein,  sondern  in  sorgfältig  ausgewählten  Fällen  und 
bei  besonders  namhaft  gemachten  Ereignissen.  Im  ganzen 
und  großen  jedoch,  sag'  ich,  erweist  sich's  einfach  als 
unausführbar,  einen  Wesensbegriff  zu  Gunsten  einer  ein* 
wandfreien  szientifischen  Grundlegung  der  Mechanik  so* 
weit  umzudeutein  und  auszuformein,  daß  der  ihm  ein* 
wohnende  kausale  Einschlag  gar  nicht  mehr  in  Frage  käme. 

550 


Und  damit  erweist  sich's  gleichfalls  als  unausführbar,  die 
Mechanik  gemäß  Plan  und  Anschlag  Galileis  als  bloß  an* 
gewandte  Geometrie  widerspruchfrei  zu  betreiben.  Das 
ursächliche  Bedürfnis  menschlicher  Erkenntnis*  und  Erklä* 
rungweisen,  an  sich  vielleicht  sehr  kindlicher,  sehr  roher, 
sehr  eiszeitlicher,  sehr  höhlenbewohnermäßiger  Beschaffen* 
heit  und  Abkunft,  ist  niemals  völlig  zu  übertäuben,  niemals 
völlig  durch  mathematische  Gleichsetzungen  zu  verdrängen. 
Dieselben  bleiernen  Gewichte  hängen  am  Begriff  der  Masse 
nicht  leichter,  als  an  dem  der  Kraft  und  ziehen  unser  Denken, 
Wissen,  Erklären  der  Natur  unwiderstehlich  in  eine  Tiefe, 
wo  Dunkelheit,  Schwere  und  Geheimnis  brausend  über 
ihm  zusammenschlagen. 

In  diesem  Urteil  über  die  Masse  als  Wesens*  und  Grund* 
begriff  der  Mechanik  werden  wir  nicht  unerheblich  bestärkt 
durch  die  Erinnerung  an  andere  Einwände,  welche  der 
streng  mechanistischen,  das  heißt  die  Kraft  aus  ihren  Vor* 
aussetzungen  ausschließenden  Richtung  dieser  vornehmsten 
aller  Wissenschaften  nicht  erspart  werden  dürfen,  und  in 
der  Tat  auch  nicht  erspart  worden  sind.  Um  dieser  neuen, 
ach  so  ururalten  Einwände  geziemend  zu  gedenken,  möchte 
ich  mich  noch  einmal  auf  den  Mechanisten  Kant  beziehen 
dürfen.  Vorhin,  als  es  die  eigentliche  logische  Paradoxie 
der  Mechanik  darzustellen  galt,  hatte  ich  mich  auf  denjun* 
gen  Kant  berufen,  weil  just  er  es  war,  der  den  sachlichen 
Widerspruch  zwischen  kausalen  und  äquivalenten  Denkzu* 
sammenhängen  mit  großer  Sicherheit  herauszuarbeiten  ver* 
standen  hatte,  eine  Jünglingstat  untrüglichster  philosophi* 
scher  Witterung  für  fruchtbare  Problematik,  die  (trotz 
Lessings  unangebracht  boshaftem  Epigramm)  wirklich  nicht 
leicht  zu  überschätzen  ist.  Aus  verwandten  Gründen  kann 
ich  mich  jetzt  auf  den  kritisch  gereiften  Kant  berufen,  wo* 
fern  dieser  die  Mängel  und  Widersprüche  einer  aus  bloßen 

551 


Massen  (.kleinen  Maschinen')  entwickelten  Mechanik  rück* 
sichtlos  rügt.  In  dieser  Beziehung  greift  er  mit  der  Abreche 
nung,  die  er  in  den  Metaphysischen  Anfanggründen  mit  der 
hylokinetischen  Mechanik  hält,  der  geschichtlichen  Ausge* 
staltung  um  rund  hundert  Jahre  vor,  und  alles,  was  die 
Philosophie  heute  gegen  diese  Spielart  der  Mechanik  zu 
bedenken  befugt,  zu  bedenken  verpflichtet  ist,  findet  sie 
grundsätzlich  schon  dort  angeführt.    Gewiß  könnte  man 
Kants  Einwände  gegen  die  Hylokinetik  vielleicht  da  oder 
dort  in  etwas  zeitgemäßere  Worte  fassen,  aber  auch  dann 
hätte  man  ihnen  weder  viel  hinzuzufügen  noch  abzuziehen. 
Nicht  weit  ab  von  der  Stelle,  wo  er  die  dynamische  Monado* 
logie  seiner  Jugendzeit  kritisch  umbiegt  durch  den  Erweis, 
daß  aus  Grundkräften  keine  Materie  zu  konstruieren  sei, 
macht  er  die  Voraussetzungen  namhaft,  auf  welchen  eine 
entschieden  .mechanistische',  will  sagen  kraftlose  Auffas* 
sung  der  Materie  beruhen  würde.    Das  sind  erstens  und 
zweitens  die  absolute  Undurchdringlichkeit  und  Gleich* 
artigkeit  des  .Stoffes',  drittens  die  absolute  Unüberwindlich* 
keit  seines  materiellen  Gefüges,  —  heute  würden  wir  sagen: 
die  Annahme  ursprünglich  starrer  Verbindungen  von  Mas* 
senteilchen.    Wobei  alle  diese  drei  Voraussetzungen  der 
Hylokinetik  wiederum  einer  einzigen  Tatsache  zur  Grund* 
legung  bedürfen,  mit  der  sie  selber  stehen  oder  fallen.  Kant 
meint  den  leeren  Raum,  der  bei  angenommener  absoluter 
Undurchdringlichkeit  und  Gleichartigkeit  der  (atomistisch 
aufzufassenden)  Grundstoffe   die  Tatsache   verschiedener 
spezifischer  Dichtigkeiten  zu  erklären  habe. 

Und  in  der  Tat  braucht  Kant  dort  diese  Voraussetzungen 
nur  aufzuzählen,  um  die  Hylokinetik  im  Urteil  jedes  Un* 
voreingenommenen  ebenso  in  Verruf  zu  bringen,  wie  das 
vorher  mit  der  rein  dynamischen  Auffassung  der  Fall  ge* 
wesen  war.  Denn  heute  so  wenig  wie  vor  hundert  oder  hun* 

552 


dert  mal  hundert  Jahren  kann  man  sich  eine  natura  naturata 
mechanisch  zusammengesetzt  denken  aus  lauter  unausge* 
dehnten  stofflichen  Teilchen  —  es  bleibt  hier,  wie  Eduard 
von  Hartmann  richtig  hervorgehoben  hat,  geflissentlich  in 
der  Schwebe,  ob  die  Massenpunkte  ganz  eigentlich  aus* 
dehnunglos  sind  oder  nur  eine  unendlich  kleine  Ausdeh* 
nung  besitzen!  —  aus  lauter  unausgedehnten  Teilchen  also 
mit  schlechterdings  unveränderlichen,  starren,  ,unüberwind* 
liehen'  Abständen  oder  Entfernungen;  aus  bloßen  Massen* 
punkten,  zwischen  denen  sich  nichts  befindet  als  jene 
schlechteste  aller  Hypostasen,  welche  die  Wissenschaftge* 
schichte  erfunden  hat  und  kennt :  das  große  Nein  aller  Dinge 
und  Wesenheiten,  der  leere  Raum.  Ja,  dabei  wird  es  nicht 
einmal  nötig,  sich  (wie  Kant)  auf  das  Faktum  der  verschie* 
denen  spezifischen  Dichtigkeiten  zu  berufen,  um  die  glatte 
Unsinnigkeit  des  leeren  Raumes  noch  besonders  auffällig 
herauszustreichen.  Es  bedarf  gar  nicht  erst  des  Nachweises, 
daß  leere  Räume  unmögliche  Erklärungen  für  gewisse  Tat* 
Sachen  der  Erfahrung  abgäben,  Erklärungen,  die  unver* 
hältnismäßig  weniger  sophistisch  durch  anders  lautende 
Annahmen  zu  liefern  wären.  Mich  bedünkt  vielmehr,  um 
wahrhaft  unausdenkbare  Vorstellungen  ihres  Wissenschaft* 
liehen  Kredits  zu  berauben,  müsse  schon  die  Überlegung 
als  solche,  ohne  jede  Bezugnahme  auf  erfahrbare  Tatbestände 
physikalischer  oder  sonst  welcher  Art,  durchaus  genügend 
sein.  Die  Starrheit  und  Unabänderlichkeit  leerer  Abstände 
zwischen  Massenteilchen  ist  etwas,  das  man  sozusagen  par 
ordre  du  Moufti  glauben  kann,  ungefähr  wie  man  an  die 
Schöpfung  aus  dem  Nichts,  an  die  Urzeugung  oder  an  die 
beste  aller  möglichen  Welten  glaubt.  Aber  ausdenkbar 
mit  den  Kräften  des  gesunden  Menschenverstandes  ist  es 
nicht,  wieso  die  an  sich  leeren  Entfernungen  zwischen  den 
elementarischen  Teilchen  der  Natur  ein  für  alle  mal  beharren 

553 


sollten.  Diese  Annahme  schüttet  der  Verstand,  kaum  daß 
er  sie  verschluckt  hat,  spielend  wieder  als  unverdaulich  aus, 
etwa  wie  ein  Säugling  unbekömmliche  Milch  wieder  über 
den  Trüler  ausschüttet,  ohne  besonders  groß  zu  schlingen 
und  zu  würgen.  Ist  doch  dieser  leere  Raum  in  der  Nähe 
betrachtet  nichts  anderes  als  die  Unendlichkeit  aller  dem 
Urteil  möglichen  Aberkennungen  von  Substraten,  welche 
den  Raum  als  erfüllend  gedacht  werden  könnten:  infolge? 
dessen  auch  gar  kein  mögliches  Subjekt,  gar  kein  möglicher 
Träger  von  Eigenschaften,  Merkmalen  oder  Betätigungen. 
Denn  er, ist' ja  überhaupt  nicht.Bei  genauerer  Prüfung  nur 
eine  leere  Hypostase  der  ins  Unendliche  laufenden  Reihe 
logischer  Verneinungen,  kann  von  ihm  ernsthaft  gar  nicht 
ausgesagt  werden,  er  bilde  Abstände,  und  gar  noch  solche, 
die  unänderlich,  starr  und  gleichsam  gottgewollt  sind.  Eine 
natura  naturata,  bestehend  aus  unausgedehnten  (oder,  was 
dahingestellt  bleibe,  unendlich  wenig  ausgedehnten)  Mas* 
senpunkten  nebst  starren,  aber  leeren  Abständen,  das  ist 
im  besten  Fall  eine  geometrische,  nicht  aber  eine  mechanisch* 
maschinelle  Vorstellung.  Von  geometrischen  Räumen  mag 
es  erlaubt  sein  für  ,leer'  zu  gelten,  aus  dem  triftigen  Grunde, 
weil  das  Problem  ihrer  Erfülltheit  ein  gegenstandloses  ist. 
Mechanische  Räume  hingegen,  in  welchen  sich  wirkliche 
Veränderungen  natürlicher  Substrate  zutragen,  sind  von 
irgend  einem  Etwas  stätig  erfüllt  oder  sie  sind  überhaupt 
nicht.  Vorausgesetzt,  daß  man  sich  nicht  den  Raum  schon 
von  vorn  herein  als  eine  Erfülltheit  in  diesem  Sinn  vorstellt, 
—  eine  Ausflucht  der  Spekulation,  die  uns  nachher  noch  ein 
weniges  beschäftigen  wird. 

Inzwischen  ist  obgedachter  Unterschied  zwischen  geome* 
trischen  und  mechanischen  Räumen  einschneidend  genug, 
um  an  jetziger  Stelle  kurz  untersucht  zu  werden.  Vergleicht 
man  nämlich  die  Raumvorstellungen  verschiedener  Geo? 

554 


metrien,  so  findet  man  zu  seiner  starken  Überraschung,  daß 
der  Raum  an  und  für  sich  gar  nicht  zu  den  Grundlegungen 
dieser  Geometrien  gehört!  Dieser  staunenswerte  Umstand 
ist  geradezu  ein  Axiom  moderner  Mathematik  geworden 
und  kann  deswegen  keiner  begründeten  Anzweiflung  unter* 
liegen.  Verschiedene  Geometrien  nehmen  verschiedene  Ele* 
mente  an,  aus  welchen  sie  ihre  Räume  nach  verschiedenen 
Regeln  der  Deduktion  allmählich  selbsttätig  erzeugen: 
zum  Beispiel  aus  Punkt  und  Gerade,  aus  Punkt  und 
Strecke,  aus  Punkt  und  Entfernung,  aus  Punkt  und  Be* 
wegung.  Die  Frage,  ob  leer  oder  ob  erfüllt,  besteht  ver* 
nünftigerweise  für  diese  Räume  gar  nicht  zu  Recht.  Denn, 
um  diese  Angelegenheit  mit  einem  Wort  zu  entscheiden,  — 
die  geometrischen  Räume  sind  nach  Auffassung  der  gegen* 
wärtigen  Mathematik  nichts  anderes  als  verschiedene  For* 
men  logischer  Ordnungen,  die  jeweils  durch  ihre  grundsätz* 
lieh  angenommenen  Elemente  eindeutig  und  erschöpfend 
bestimmt  sind.  Wobei  die  Frage  offen  bleiben  darf,  ob  zu 
der  Bildung  dieser  Elemente  synthetische  Funktionen  der 
Anschauung  erforderlich  wären,  wie  Kant  nachgewiesen  zu 
haben  wähnte,  oder  ob  sie  lediglich  auf  analytische  Aus* 
sagen  anschauungfremder  Vernunft  zurückzuführen  wären, 
wie  mehrere  moderne  Logistiker  und  Rationalisten  aus  der 
Schule  Russeis  und  Couturats  behaupten.  Mechanische 
Räume  hingegen  sind  unter  allen  Umständen  mehr  als  solche 
Formen  der  Ordnung:  nämlich  Wirklichkeit,  —  und  darum 
erscheint  bezüglich  ihrer  die  Frage  nach  ihrer  Erfülltheit 
unabweisbar.  Die  Mechanik  selbst  freilich  verfällt  bei  ihrem 
unentwegten  Bestreben,  die  Natur  in  zunehmendem  Maße 
zu  geometrisieren,  allzuleicht  in  den  entschuldbaren  Irrtum, 
auch  sie  habe  es  nur  mit  geometrischen  Räumen  zu  tun,  auch 
sie  dürfe  von  Abständen,  Entfernungen,  Bewegungen  der 
Punkte  mit  ähnlicher  Unbefangenheit  reden  wie  die  Mathe* 

555 


matik.  Und  sie  wird  in  diesem  Irrtum  zuverlässig  bestärkt, 
wenn  sie  etwa  nach  dem  Vorgang  von  Heinrich  Hertz  die 
unter  die  Hauptbegriffe  der  Kinematik  aufzunehmende 
Raumvorstellung  ausdrücklich  als  den  Raum  der  euklidi* 
sehen  Geometrie  einführt.  Dem  gegenüber  braucht  man 
nur  die  Frage  ohne  Umschweif  zu  erheben:  ob  der  von  der 
Mechanik  benötigte  Raum  wahrhaftig  nur  Form  der  Ord* 
nung,  mithin  nur  ein  aus  Elementen  deduktiv  abgeleitetes 
und  erzeugtes  System  von  Beziehungen  der  Lagen  oder 
Größen  sei,  —  oder  ob  er  zwar  nicht  sowohl  auch  dieses 
(in  seiner  Eigenschaft  als  Raum  der  euklidischen  Geometrie), 
dazu  aber  und  darüber  hinaus  ein  anderes,  nämlich  eben 
der  Raum  der  Mechanik,  der  Raum  bewegter  Massen  und 
bewegender  Kräfte  sein  müsse?  Die  Frage  stellen,  heißt  sie 
bejahen,  mit  desto  größerer  Entschiedenheit  bejahen,  als  uns 
das  Merkmal  der  Verschiedenheit  beider  schon  gegenwärtig 
geworden  ist  in  der  Feststellung  des  wissenschaftlichen  petit 
fait,  daß  keine  der  zeitgemäßen  Geometrien  den  Raum  als 
solchen,  die  Mechanik  dagegen  sogar  in  ihrem  mathema* 
tischsten  Teile  als  sogenannte  Kinematik  durchaus  den 
Raum  an  und  für  sich  voraussetze. 

Dieser  Unterschied  gewinnt  dann  sein  volles  Gewicht 
bei  der  eigentlichen  Mechanik  bewegter,  körperhafter  Mas> 
sen,  wie  sie  des  Raumes  nicht  nur  im  Sinn  einer  bestimmten 
Geometrie,  einer  bestimmten  logischen  Form  der  Ordnung 
benötigt,  sondern  außerdem  einen  Raum  erheischt,  auf 
welchen  jene  geometrischen  Ordnungformen  anwendbar 
erscheinen,  —  einen  natürlichen  und  wirklichen,  mit  Maß? 
Stäben  meßbaren,  mit  Fingerspitzen  abzutastenden,  mit 
Augen  zu  erblickenden  Raum.  Wer  sich  dies  einmal  deut* 
lieh  zu  machen  wußte,  wird  dann  wegen  des  ,Daß'  und 
wegen  des  ,Wie'  des  Unterschiedes  zwischen  geometrischen 
und  mechanischen  Räumen  ein  für  alle  mal  erwünschten 

556 


Bescheid  erlangt  haben,  und  er  wird  sich  auch  nicht  weiter 
darüber  wundern,  daß  der  mechanische  Raum  der  Erkennt* 
nis  tatsächlich  die  Frage  seiner  Erfulltheit  stellt,  einfach 
weil  er  nicht  Form  der  Ordnung  allein,  sondern  gleichzeitig 
Bereich  der  Anwendbarkeit  dieser  Ordnung  bedeutet.  Wie 
um  diesen  Sachverhalt  völlig  zu  entschleiern,  weicht  die 
Mechanik  von  jeder  möglichen  Geometrie  schon  dadurch 
ab,  daß  sie  Den  Raum,  ein  stätig  Ganzes,  Gegebenes,  We* 
sendes  zur  Grundlage  fordert,  indes  sich  die  Geometrie 
mit  Elementen  des  Raumes  begnügt.  Statt  den  Versuch, 
auch  den  mechanischen  Raum  more  geometrico  aus  bewegten 
Massenpunkten  und  ihren  (fragwürdig  , starren')  Entfer* 
nungen  abzuleiten,  methodisch  zu  begünstigen,  und  statt 
dadurch  eine  lückenlose  Geometrisierung  der  Natur  in  aller 
Strenge  durchzusetzen,  —  statt  dessen  zählt  die  Mechanik 
zwei  Räume  unter  ihre  unableitbaren  und  unabhängigen 
Grundvorstellungen:  den  Raum,  welchen  die  metrische 
Geometrie  als  ein  System  von  Beziehungen  meßbarer 
Strecken  zueinander  entwickelt,  und  den  Raum,  der  den 
Bezirk  der  Anwendbarkeit  für  jenen  darstellt.  In  beiden 
Fällen  geht  der  Raum  der  Mechanik  über  den  geometrischen 
Raum  hinaus,  in  beiden  Fällen  handelt  sich's  zwar  auch 
um  einen  geordneten  Zusammenhang  metrischer  Raum* 
demente,  aber  darüber  hinaus  noch  um  ein  das  Merkmal  der 
Erfulltheit  unablöslich  bei  sich  führendes  gleichartiges  und 
stätiges  Mittel;  —  stätig  nicht  wie  eine  arithmetische  Reihe 
oder  wie  eine  geometrische  Gerade,  sondern  eher  wie  eine 
homogene  Flüssigkeit  stätig  ist.  Als  selbstherrliche  Ganzheit 
tritt  der  mechanische  Raum  auf,  die  statt  aus  Teilen  logisch 
erzeugt  zu  werden  ihrerseit  Teile  und  Teilchen  in  sich  birgt: 
der  mechanische  Raum  ist  nicht  das  Ergebnis  mechanischer 
Elemente  oder  Massen,  sondern  das  gleichartige  Mittel,  in 
welchem  sich  Elemente  oder  Massen  bewegen  und  verändern. 

557 


Hierbei  gibt  es  für  den  Mechanisten  drei  Möglichkeiten, 
sich  diesen  Sachverhalt  näher  auszudenken.  Entweder  be* 
wegen  sich  die  greifbaren  Massen  physikalischer  Körper 
in  der  greifbaren  Stätigkeit  des  Wahrnehmungraumes.  Oder 
verborgene  Massen  vollziehen  verborgene  Bewegungen  in 
einem  gleichwertig  stätigen,  aber  verborgenen  Mittel.  Oder 
es  findet  sowohl  das  eine  wie  das  andere  statt.  Nur  eine 
Möglichkeit,  eine  vierte,  ist  für  den  denkenden  Betrachter 
unbedingt  und  a  priori  ausgeschlossen.  Ich  meine  die,  daß 
sich  sichtbare  oder  verborgene  Massen  in  einem  unerfüllten, 
leeren,  folglich  auch  unstätigen  Mittel  bewegten  und  ver* 
änderten.  Hieße  dies  doch  das  Dasein  des  Mittels  selbst 
verleugnen,  mithin  eben  jenen  Überschuß,  jene  neue  Man* 
nigfaltigkeit  verleugnen,  welche  der  mechanische  Raum  vor 
dem  mathematischen  voraus  hat.  Bewegungen  substrathafter 
Massen  in  leeren  Entfernungen  mit  leeren  Abständen  sich 
ausgeführt  denken,  heißt  (in  der  Einbildungkraft)  wirkliche 
Dinge  in  mathematische  Räume  versetzen,  heißt  zwei 
schlechterdings  verschiedene  Schichtungen  oder  Lagen  des 
Bewußtseins  miteinander  mengen :  nicht  anders  als  ob  ein 
wirklicher  Mensch  zwischen  Stuhl  und  Tisch  eines  gespie* 
gelten  Zimmers  auf  und  ab  schreiten  wollte.  Ist  es  aber  aus* 
gemacht,  daß  Substrate  der  Mechanik  nur  in  einem  Raum 
beweglich  sein  können,  der  über  die  geometrische  Ordnung* 
form  hinaus  gleichartig  stätiges  Mittel  ist,  so  spricht  man 
auch  die  Tatsache  der  Erfülltheit,  der  Nicht*Leere,  der 
Dichtheit  dieses  Mittels  ohne  weiteres  aus.  Möchte  es 
zur  Not  noch  angehen,  von  leeren  Räumen  zu  sprechen, 
so  wäre  es  unsinnig  und  ungereimt,  das  gleiche  mit  einem 
.leeren  Mittel'  versuchen  zu  wollen.  Der  Nachweis  einer 
mittelsmäßigen  Beschaffenheit  des  Raumes  umfaßt  infolge* 
dessen  auch  den  Nachweis,  daß  dieser  Raum  nicht  leer  sein 
könne  .  .  . 

558 


Aus  diesem  Umstand  ergibt  sich  abermals  eine  große 
Schwierigkeit  für  die  Hylokinetik.  Nicht  nur,  daß  sich  jetzt 
die  Annahme  leerer  Abstände  zwischen  Massenpunkten 
ganz  von  selbst  verbietet:  die  Masse  als  solche  büßt  über* 
dies  viel,  wenn  nicht  das  meiste  ihrer  Bedeutung  als  des 
eigentlichen  und  einzigen  Wesensbegriffes  der  Mechanik 
ein.  Es  ist  nämlich  nicht  zu  verkennen,  daß  der  Raum,  wo* 
fern  er  mehr  ist  als  ein  geometrisches  System  größenmäßiger 
Ordnungen,  an  sich  die  Züge  eines  Wesensbegriffes,  den 
Charakter  eines  Substratums  immer  ausgeprägter  annimmt. 
Als  stätig  erfülltes,  wirkliches  und  in  sich  gleichartiges 
Mittel  wird  der  Raum  gewissermaßen  selber  Wesensbegriff, 
oder  vorsichtiger  gesagt,  wird  er  selber  einem  Wesensbegriff 
ähnlich.  Weil  es  ihrer  Definition  zufolge  die  Massenteilchen 
nicht  sein  können,  welche  den  Raum  erfüllen,  müssen  ent* 
weder  andersartige  Substrate  diese  Aufgabe  der  Massen 
übernehmen,  also  vielleicht  doch  die  ominösen  Kräfte,  viel* 
leicht  aber  auch  irgend  ein  außermechanisches  Mittel  von 
der  erwünschten  Stätigkeit  wie  etwa  der  Äther!  —  oder  der 
Raum  gibt  sich  selber  als  kontinuierliches  Substratum,  als 
stätig  erfülltes  Gebilde  zu  erkennen.  Heinrich  Hertz  in 
Person  ist  ein  viel  zu  konsequenter  Kopf  gewesen,  um  an 
diesem  Problem  seiner  Mechanik  vorbeizugehen,  wenn 
er  es  auch  verschmäht  hat,  dort  darauf  Bezug  zu  nehmen. 
An  anderer  Stelle  jedoch  macht  er  den  Äther  als  das  räum* 
erfüllende  Mittel  namhaft,  und  mit  einer  wirklich  sehr  ver* 
wegenen  [xExdßaoig  eis  äXXo  yevog  stürzt  er  sich  der  meta* 
physischen  Vorstellung  in  die  Arme,  die  Masse  und  mit 
ihr  alle  übrigen  von  der  Physik  benötigten  Wesensbegriffe 
müßten  irgendwie  dem  Äther,  mithin  irgendwie  dem  er* 
füllten  Raum  als  solchem  entstammen.  Dieser  Hylokine* 
tiker  sans  phrase  träumt  sich  einen  »Ursprung'  der  Welt, 
ein  ,principium' ,  eine  AQX^  der  natura  naturata,  wie  ihn 

559 


einst  griechische  Philosophen  ferner  Jahrtausende  erträumt 
hatten  im  Wasser,  im  Feuer,  ja  schon  auf  ihre  Weise  in  der 
Luft  oder  im  al&rjo.  Es  ist  bemerkenswert  genug,  wenn  auch 
nach  unseren  eigenen  Einsichten  keineswegs  überraschend, 
daß  dieser  Forscher,  der  die  dynamische  Mechanik  der 
neueren  Zeit  wieder  an  die  Mechanik  fester  Verbindungen 
des  Altertums  knüpfen  möchte,  durch  die  gewaltige  Logik 
der  Umstände  darin  endigt,  nicht  nur  Archimedes,  sondern 
Anaximenes  und  Thaies  wieder  zu  verlebendigen.  Offenbar 
hat  man's  hier  mit  Aufgaben  zu  tun,  die  nicht  mehr  in  der 
Laune  geschichtlicher  Gelegenheit  allein,  sondern  in  der 
Sache  selber  erdtief  wurzeln.  Ansonsten  ja  nicht  zu  begreifen 
wäre,  wie  dieser  naturforschende  intellectus  agens  von  höchst 
temporärer  Haltung  zu  Vorstellungweisen  rückwärts  flüchtet, 
welche  die  europäische  Wissenschaft  in  ihrem  Entstehung* 
alter  einst  erfunden  und  ausgebildet  hat  .  .  . 

Wir  aber  verweilen  noch  eine  Minute  bei  dem  beziehung* 
reichen  Tatbestand,  daß  die  hylokinetische  Mechanik,  von 
dem  Problem  der  Raumerfüllung  gleichsam  in  die  Enge  ge* 
trieben,  als  eine  Ansicht  von  nur  vorläufiger  Gültigkeit  und 
Angemessenheit  entlarvt  werden  darf.  Nichts  rechtfertigt 
schlagender  den  Einspruch  Kantens  gegen  eine  auschließ* 
lieh  .mechanistische',  mit  Massenteilchen  und  starren  Ab* 
ständen  wirtschaftende  Mechanik  als  das  Faktum,  daß  die 
hertz'sche  Hylokinetik  wirklich  durch  den  Spuk  des  leeren 
Raumes  um  ihre  logisch*szientifische  WTiderspruchlosigkeit 
und  Bündigkeit  gebracht  worden  ist.  Denn  die  Massen, 
nunmehr  nachträglich  als  .Verdichtungzentra*  des  räum* 
erfüllenden  Äthers  gekennzeichnet,  sind  nicht  mehr  die 
Massen  der  Hylokinetik.  Als  Abkömmlinge  des  Äthers 
treiben  sie  nicht  mehr  in  der  nichtigen  Hypostase  eines 
mathematischen  Raumes  herum,  sondern  schwimmen  in 
einem  stätig  gleichartigen  Mittel  von  irgend  welcher,  sei  es 

560 


auch  unendlich  geringen  Dichtigkeit  umher.  Das  Ärgernis 
des  physikalisch  unerfüllten  und  doch  auch  nicht  ausschließe 
lieh  geometrischen  Raumes  ist  behoben,  aber  freilich  nur  um 
den  nicht  billigen  Preis  der  hylokinetischen  Auffassung* 
weise  selber.  Sub  specie  des  Äthers  gewertet,  hört  die  Masse 
auf,  mechanischer  Wesensbegriff  aus  erster  Hand  zu  sein, 
einfach  darum,  weil  sie  jetzt  von  einem  Wesensbegriff 
höherer  Dignität  hergeleitet  und  abhängig  erscheint:  her* 
geleitet  und  abhängig  sogar  dann,  wenn  die  Mechanik  an 
und  für  sich  auf  diese  Herleitbarkeit  und  Abhängigkeit 
keinerlei  Rücksicht  zu  nehmen  gewillt  sein  mag.  Die  Masse 
ist  höchstens  noch  Wesensbegriff  ,als  ob',  höchstens  noch 
.sogenanntes'  Substratum,  beibehalten  und  anerkannt  ledig* 
lieh  einer  freiwilligen  Übereinkunft  zum  Gefallen.  Im  Zu* 
sammenhang  des  maschinellen  Weltbildes  jedoch  hat  sie 
ihre  Rolle  an  den  Äther  abgetreten,  —  nicht  ohne  daß  dies 
Geschehnis  auf  die  gesamte  Stellung  der  Mechanik  im  Kreis 
der  exakten  Wissenschaften  aufs  bedeutsamste  zurückwirkte. 
Damit  haben  wir  aber  nach  einer  geistigen  Bewegung, 
die  man  füglich  einen  Zirkel,  ein  .Enkyklion'  nennen 
könnte,  von  ungefähr  den  Ausgangpunkt  unserer  bis* 
herigen  Kritik  erreicht.  Erreicht  zwar  insofern,  als  man  bei 
diesem  offenbar  letzten  möglichen  WesensbegrifT  der  Physik 
überhaupt,  wo  Raum  und  raumerfüllendes  Mittel  in  eine 
logisch  kaum  mehr  unterscheidbare  Einheit  zu  verfließen 
drohen,  die  ursächliche  Struktur  des  .Wesens',  des  Eigen* 
schaftträgers  und  Dinges  mit  nicht  zu  überbietender  Deut* 
lichkeit  inne  wird.  Zeuge  der  gewaltigen,  aber  vergeh* 
liehen  Anstrengung,  mittels  welcher  Heinrich  Hertz  das 
kausale  Moment  aus  der  Kraft  herauszuziehen,  ja  heraus* 
zupumpen  bestrebt  gewesen  war,  ähnlich  wie  man  aus  einem 
lecken  Schiff  Wasser  herauspumpt,  um  nicht  an  dessen 
Überfracht  zu  versinken ;  Zeuge  ferner  des  Stapellaufes  eines 

36     Ziegler,  Gestaltwündel  der  Götter  561 


neuen  Wesensbegriffes,  der  womöglich  kein  solches  Leck 
aufweisen  sollte  und  doch  schon  binnen  kurzem  mit  ebenso 
schwerer  Schlagseite  nach  unten  sackte,  —  als  Zeuge  dieser 
merkwürdigen  Vorgänge  befinden  wir  uns  dem  dritten  ent* 
scheidenden  Vorhaben  gegenüber,  dem  maschinell  aufge* 
faßten  Ablauf  der  Wirklichkeit  endlich  ein  einwandfreies 
Substratum  logisch  zu  unterstellen.  Mit  dem  Ergebnis:  daß 
auch  dieses  ein  kausal  belasteter  Begriff  sei,  dazu  auserlesen, 
die  Schnur  unserer  Gedanken  immer  wieder  anzulängern, 
bis  wir  an  ihr  uns  glücklich  ins  hoffnungloseste  Labyrinth 
hineingetastet  haben.  So  leiteten  wir  Bewegungen  aus 
Kräften,  Kräfte  aus  Massen,  Massen  aus  dem  Äther  ab,  um 
endlich  des  Dings  teilhaft  zu  werden,  dessen  Veränderungen 
in  allen  maschinell  deutbaren  Vorgängen  die  Vernunft  in 
analytische  Gleichungen  umdenkt  und  als  die  Sinnbilder 
der  natürlichen  Veränderungen  annimmt.  Dieser  Art  ist  der 
Äther  ebenfalls  zur  Ursache  geworden,  wie  es  der  Kraft,  wie 
es  der  Masse  kurz  vorher  ergangen  war,  —  der  Äther  und  mit 
ihm  auch  der  Raum,  das  stätig  gleichartige  Mittel  von  ge* 
wisser,  sei  es  selbst  nur  unendlich  geringer  Dichtigkeit. 
Äther  und  Raum  bleiben  zurück  als  die  letzten  oder  ersten 
mechanischen  Wesensbegrifle,  aber  nicht  minder  wie  die 
Kraft,  nicht  minder  wie  die  Masse  mit  dem  Charakter  der 
Kausalität  unauf  heblich  verhaftet.  Aus  dieser  weithin  sieht* 
baren  Tatsache  hat  der  Philosoph  seine  besonderen  Folge* 
rungen  zu  ziehen :  hier  erfährt  er  endgültig  etwas  über  den 
Erkenntniswert  der  mechanistischen  Naturwissenschaft,  mit* 
hin  über  den  Erkenntniswert  der  strengsten,  in  sich  ge* 
schlossensten,  pragmatisch  vollendetsten  (ob  auch  logisch 
nie  vollendbaren)  Wissenschaft  überhaupt,  die  es  bisher 
von  der  Wirklichkeit  der  Welt  gibt. 

Um  die  auffälligste  dieser  Folgerungen  schlicht  vorwegzu* 
nehmen  und  den  Stier  gleichsam  bei  den  Hörnern  zu  pak* 

562 


ken,  sei  der  Leitsatz  aufgestellt,  daß  es  augenscheinlich  ganz 
und  gar  nicht  möglich  ist,  eine  entursachte  Mechanik  aus  rei* 
nen  Gleichsetzungen  und  Gleichungen  gedanklich  zu  ent* 
wickeln.  Sobald  man  zu  einer  Angabe  gezwungen  ist,  welche 
Dinge,  welche  Wesenheiten  es  denn  eigentlich  wären,  die  sich 
in  Raum  und  Zeit  derart  bewegten,  daß  die  Veränderungen 
ihrer  Lagen  in  mathematischen  Äquivalenzen  und  Äquipol* 
lenzen  symbolisch  darstellbar  erschienen,  ist  man  auch  schon 
der  inneren  Dialektik  dieser  Wesensbegriffe  verfallen.  Einer 
Dialektik  also,  die  bis  jetzt  jeweils  den  Substratbegriff  in 
einen  Kausalbegriff  hinübergespielt  hat.  Die  kategoriale 
Knüpfung  Ursache  ^Wirkung,  die  aus  unserem  wissen* 
schaftlich  erkennbaren  Weltgefüge  zu  verdrängen  vielleicht 
das  tiefste  Bestreben  der  mechanisch^maschinellen  Auffas* 
sung  von  der  Wirklichkeit  je  und  je  gewesen  ist,  sie  stiehlt 
sich  folglich  immer  wieder  in  dies  Gefüge  ein,  wofern 
schlechthin  keiner  der  geschichtlich  aufgestellten  Wesens* 
begriffe  dieser  Wissenschaft  von  ursächlicher  Betonung, 
ursächlicher  Tönung  frei  zu  halten  ist.  Wenn  daher  selbst 
ein  denkgeübter  Mann  wie  Christoph  Sigwart  (im  zweiten 
Band  seiner  Logik)  wenigstens  der  Mechanik  des  Himmels 
nachrühmen  zu  dürfen  wähnt,  ihr  sei  die  Entfernung  der 
Knüpfung  Ursache^Wirkung  aus  ihren  Bildern  völlig  ge* 
glückt,  so  ist  dies  durchaus  nicht  richtig.  Eine  solche  ange* 
strebte  Entfernung  ist  auch  ihr  nur  soweit  geglückt,  als  man 
sich  in  ihr  strikt  an  die  mathematische  Darstellung  der  na* 
türlichen  Bewegungen  der  Gestirne  zu  halten  beflissen  ist, 
ohne  die  Frage  zu  berühren,  welche  Wesenheiten  in  weis 
chem  Mittel  diese  Bewegungen  nun  eigentlich  vollzögen, 
oder  wie  es  denn  überhaupt  komme,  daß  fragliche  Wesen? 
heiten  in  derart  gesetzmäßigen  Bewegungen  ihre  Lagen  ver* 
änderten.  Man  braucht  ja  nur  die  Zweideutigkeit  des  der 
Mechanik  des  Himmels  zugrunde  gelegten  Gesetzes  zu  be* 

36*  563 


rücksichtigen,  um  über  den  szientifischen  Zwiespalt  auch 
dieses  Teiles  der  exakten  Wissenschaften  genugsam  unter* 
richtet  zu  sein.  Die  bekannten  und  unausgetragenen  Streitig* 
keiten  über  die  richtige  Auslegung  der  sogenannten  Gravi* 
tation,  für  Newton  selbst  offenbar  ein  zweifelhafter,  un* 
sicherer,  fast  dunkler  Begriff  oder  vielmehr  Nicht*Begriff 
und  sogar  eher  eine  abgeleitete  als  eine  wirklich  grund* 
legende  Kraft  der  Materie  (im  Gegensatz  zu  Kant),  —  so 
wenn  er  mehrere  Jahre  vor  seinem  Tod  davor  warnen  zu 
müssen  meint:  ,,not  to  take  gtavity  for  an  essential  property 
ofbodies";  oder  wenn  es  schon  früher  bei  ihm  heißt:  „vatio= 
nem  harum  gravitatis  proprietatum  ex  phaenomenis  nondum 
potui  deducere  et  hypotheses  nonßngo.  Satis  est  quod gravitas 
revera  existat  et  agat  secundum  leges  a  nobis  expositas",  oder 
noch  entsagender,  verzichtender,  unverhohlener:  „what I call 
attraction,  may  be  performed  by  impulse  or  by  some  othev 
means  unknown  to  me.  Iuse  that  word  hexe  to  signify  only  in 
general  anyforce  by  which  bodies  tend  towards  one  another, 
whatsoever  be  the  cause";  —  all  diese  vielen  und  schweren 
Bedenklichkeiten  und  in  ihrem  Gefolge  die  nie  beseitigte 
Unsicherheit,  ob  die  Anziehung  der  Massen  etwa  wirklich 
bloß  als  mathematischer  Ausdruck  (mithin  als  logische  Äqui* 
valenz) ,  oder  nicht  doch  auch  als  Wirkung  vorhandener  Fern= 
kräfte  (mithin  als  kausales  Verhältnis)  aufzufassen  sei:  sie 
lassen  in  dieser  Hinsicht  keine  behagliche  Täuschung  auf* 
kommen.  Und  zwar  desto  weniger,  als  insbesondere  dieser 
letztere  Streit  in  Wahrheit  ein  gegenstandloser  ist,  indem  die 
begriffliche  Zweideutigkeit  des  Gesetzes  gar  nicht  vermieden 
werden  kann,  falls  man  auf  eine  mechanisch  verstandene 
Welt*  Gesetzmäßigkeit  nicht  von  vornherein  Verzicht  zu 
leisten  sich  entschließen  will.  Gebricht  es  aber  selbst  der 
cölestischen  Mechanik  an  jeder  Möglichkeit,  ihr  System  auf* 
und  auszubauen,  ohne  sich  irgendwelcher  Wesensbegriffe 

564 


zu  bedienen ;  —  wie  dürfte  man  ihr  dann  die  von  Sigwart 
behauptete  Durchsichtigkeit  und  Eindeutigkeit  tatsächlich 
zubilligen?  Zu  schweigen  vollends  von  der  tellurischen 
Mechanik,  welche  in  dieser  Hinsicht  der  Mechanik  des 
Himmels  so  unverkennbar  weit  nachsteht.  Das  liegt  nicht 
an  einem  Mangel  unseres  Denkvermögens,  nicht  an  den 
nochunausgereiften  Darstellungformen  der  Wissenschaften, 
sondern  es  liegt  ganz  einfach  in  der  Natur  der  Sache. 
Oder  ich  könnte  auch  beinahe  umgekehrt  und  beinahe  rieh* 
tiger  noch  sagen:  es  liegt  in  der  Sache  der  Natur.  Wir  über* 
zeugten  uns  davon,  daß  die  Mechanik  ohne  ein  Etwas, 
ohne  gegenständlich  beharrliche  Wesenheiten  vorauszu* 
setzen,  welche  gesetzmäßigen  Veränderungen  unterliegen, 
mit  der  Mathematik  in  eins  fiele  und  aufhörte,  ein  Wissen 
von  der  Natur  zu  sein.  Mit  der  Voraussetzung  solcher  Be? 
griffe  jedoch  verleibt  sie  sich  Bestandteile  ein,  die  sich 
dauernd  der  Forderung  logischen  Gleichgesetztwerdens  ver* 
sagen  müssen,  weil  ohne  weiteres,  wir  wissen  es  jetzt,  jeder 
Wesensbegriff  seiner  szientifischen  Leistung  nach  ein  Sach* 
und  Ursachbegriff  ist. 

Inzwischen  hat  man  diesen  eigentümlichen  dialektischen 
Umschlag  von  Substratbegriffen  in  Kausalbegriffe  erst  dann 
erschöpfend  verstanden,  wenn  man  sich  Klarheit  darüber 
verschafft  hat,  ob  hier  ein  verdrießlicher  Zufall  oder  eine 
höhere,  im  Sachverhalt  selbst  gegründete  Notwendigkeit 
vorwalte.  Mich  persönlich  will's  bedünken,  als  könne  man 
eine  derartige  Notwendigkeit  in  der  Tat  mit  der  gedankt 
liehen  Beschaffenheit  der  Mechanik  in  Verbindung  bringen 
und  auf  solche  Weise  das  große  Rätsel  auflösen,  warum  sich 
die  sämtlichen  in  diesem  Weltbegriff  einheimischen  Wesens? 
Vorstellungen  als  Ursachen  entpuppen  mußten.  Vergegen* 
wärtigt  man  sich  nämlich  jene  Beschaffenheit  an  und  für 
sich,  so  besteht  sie  vorzugweise  darin,  daß  aus  einem  oder 

565 


aus  mehreren  Grundgesetzen  oder  Grundsätzen  eine  Reihe 

von  Veränderungen  deduktiv,  —  und  dies  heißt  ja  zuletzt 

stets  auch  syllogistisch,  —  hergeleitet  werden,  erfahrbare 

Veränderungen  gewisser  beharrlicher  Dinge,  Gegenstände, 

Eigenschaftträger  in  linearen  Bahnen.  Dieses  Grundgesetz 

oder  diese  Grundgesetze  schließen  dann  als  unentbehrlichste 

Annahme  den  Satz  von  der  Trägheit  ein;  jene  schon  oben 

erwähnte  Aussage,  daß  die  besagten  beharrlichen  Dinge, 

Gegenstände,  Eigenschaftträger  in  ihrem  Zustand  beharren 

würden  nämlich  entweder  in  vollendeter  Ruhe  oder  in  gleich* 

förmig  geschwinder  Bewegung.  Wo  darnach  ein  materielles 

Substratum  seinen  Zustand  wechselt,  wo  es  aus  Ruhe  in  Be* 

wegung,  aus  gleichförmiger  Geschwindigkeit  in  Beschleunig 

gung  übergeht,  da  findet  man  sich  unwillkürlich  genötigt, 

eine  Ursache  dieses  Wechsels  namhaft  zu  machen,  weil  nach 

des  Gesetzes  Wortlaut  dieser  Wechsel  selbsttätig  nicht  er* 

folgen  kann.  Trifft  aber  dieses  zu  und  wird  der  zuständliche 

Wechsel  mechanischer  Substrate  von  irgendwoher  bedingt, 

verursacht,  bewirkt,  —  nun,  dann  kann  diese  Bedingung, 

Ursache,  Bewirkung  doch  wiederum  nur  in  eben  denselben 

Substraten  inwohnend  vermutet  werden,  welche  den  Wechsel 

an  sich  erleiden.    Denn  andere  Möglichkeiten  der  Verur* 

sachung  als  diese  Substrate  selbst  gibt  es  in  einer  mechanisch 

interpretierten  Wirklichkeit  nicht.  Dem  Satz  von  der  Trag* 

heit  gemäß  vollführen  die  Körper  der  Mechanik  entweder 

Bewegungen  mit  gleichförmiger  Geschwindigkeit  oder  sie 

verharren  in  Ruhe;  —  folglich  muß  auf  den  beschleunigten 

oder  auf  den  bewegten  Körper  eine  Ursache  einwirken,  die 

es  ihrerseit  erklärbar  macht,  warum  er  sich  nicht  mehr  seiner 

Trägheit  überläßt.  Folglich  müssen  andere  Körper  derselben 

Art  entweder  mittelbar  oder  unmittelbar  als  Ursache  wirk* 

sam  sein,  folglich  ist  es  unvermeidlich,  daß  der  Begriff  des 

mechanischen  Elements  einen  kausalen  Akzent  annimmt. 

566 


Hätten  wir's  mit  einer  Natur  zu  tun,  wo  die  beharrlichen 
Wesenheiten  auch  in  ihren  einmal  vorhandenen  Zuständen 
beharrten ;  böte  uns  die  Erfahrung  eine  stets  entweder  ruhende 
oder  stets  gleichförmig  bewegte  Welt  der  Erscheinungen 
dar,  —  dann  freilich  wäre  eine  mechanistische  Wissenschaft 
durchaus  erdenklich  mit  reinen  Wesensbegriffen  ohne  jede 
ursächliche  Tönung.  Weil  aber  das  Beharrliche  aller  Ver* 
änderungen  eben  nicht  in  seinem  Urständ  beharrt,  weil  es 
höchstens  in  seinem  Wesen,  nicht  aber  in  seiner  Wesens* 
äußerung  beharrt,  muß  zu  guter  Letzt  dies  eine  Wesen  der 
Änderung  derWesensäußerung  selber  zurLast  gelegt  werden. 
Wie  sich  die  Natur  der  Erfahrung  darbietet,  würden  entur* 
sachte  Substrate  für  die  Erkenntnis  gar  nicht  das  leisten,  was 
Substrate  ihrem  tieferen  Sinn  nach  leisten  sollen  und  leisten 
müssen.  Man  hätte  an  ihnen  wohl  Eigenschaftträger,  aber 
keine  solchen,  welche  den  Zustandwechsel  dieser  Träger 
irgendwie  verständlich  machten.  Alle  aus  einem  derartigen 
Wechsel  hervorgehenden  Änderungen  der  Natur  blieben 
völlig  unerklärbar,  so  unerklärt  und  unerklärbar  wie  die  merk* 
würdige  Tatsache,  daß  sie  sich  gar  nicht  dem  Trägheitgesetz 
entsprechend  verhielten.  Substrate  der  Mechanik  kausal  um* 
zubiegen  ist  mithin  geradezu  denknotwendig.  Entursachte 
Wesensbegriffe  gäbe  es  nur  in  der  Mechanik  einer  Körper* 
weit,  deren  Elemente  nicht  nur  wesentlich,  sondern  auch 
zuständlich  beharrten.  Für  die  Mechanik  unserer  Erfahrung* 
Wirklichkeit  hingegen  leisteten  reine  Wesensbegriffe  nicht 
mehr  und  nicht  besseres  als  etwa  die  Götter  des  Epikurios 
in  der  moralischen  Welt;  sie  blieben  zwar  vorhanden  und 
.seiend',  aber  ohne  sich  durch  etwelche  Äußerungen  oder 
Taten  zu  beglaubigen.  Ein  Luxus,  der  Göttern  vielleicht 
geziemen  mag,  nicht  aber  den  Ur*Teilen  einer  maschinell 
arbeitenden  Weltwirklichkeit  .  .  . 

Bei  diesem  Nachweis  von  der  Denknotwendigkeit  eines 

567 


dialektischen  Umschlages  mechanischer  Substratbegriffe  in 
Kausalbegriffe  darf  man  sich,  glaube  ich,  einstweilen  be* 
ruhigt  fühlen.  Es  wird  demnächst  ein  anderes  Argument 
aufgeführt  werden,  warum  die  Kausalität  trotz  allem  und 
allem  der  Mechanik  unentbehrlich  bleibt,  und  von  diesem 
anderen  steht  fast  zu  hoffen,  daß  es  das  jetzige  an  grund* 
sätzlicher  Bedeutsamkeit  noch  erheblich  übertreffe.  Bis  da* 
hin  möge  man  indessen  an  gegenwärtig  Ausgesprochenem 
Genüge  finden,  wofern  sich  ja  leider  nicht  alles  auf  einmal, 
nicht  alles  an  jeder  Stelle  sagen  läßt.  Tröstlich  dünkt  es  uns 
dabei,  daß  wir  bei  diesem  Umschlagen  der  Substratbegriffe 
in  Kausalbegriffe  offenbar  einem  unausweichlichen  Zwang 
statt  einem  verdrießlichen  Zufall  gehorchen  müssen.  Außer* 
dem  aber  kann  man  sich  jetzt  auch  über  den  früheren  Wider* 
spruch  leichter  hinwegsetzen,  den  ich  hier  mit  wachsender 
Schroffheit  herauszuarbeiten  beflissen  gewesen  bin,  —  ich 
meine  den  Widerspruch  zwischen  der  kausalen  und  der 
äquipollenten  Einstellung  in  die  Probleme  der  Mechanik. 
Ist  doch  auch  dieser  Widerspruch  als  ein  durchaus  denk* 
notwendiger  gegeben,  sobald  es  feststeht,  daß  die  kausale 
Auslegung  mechanischer  Substrate  eine  notwendig  ge* 
forderte  ist.  Denn  dann  hat  eben  die  kausale  Verknüpftheit 
der  erkundbaren  Welterscheinungen  in  den  Wissenschaft* 
liehen  Aussagen  der  Mechanik  dasselbe  unverkürzte  Ver* 
nunft*Anrecht  auf  Beachtung,  Anwendung,  Geltung  wie 
die  analytische  Gleichsetzung  der  Erscheinungen.  Daß  sich 
hiermit  der  logische  Widerspruch  an  und  für  sich  mit  der 
Methodik  an  und  für  sich  der  exakten  Wissenschaften 
transzendental  und  fundamental  verwurzelt  erweist,  das 
allerdings  ist  neu  und  widerspricht  allen  dermaligen  szienti* 
fischen  Bemühungen,  den  mechanischen  Weltbegriff  wo* 
möglich  von  jedem  Denkwiderspruch  sorgfältig  zu  reinigen, 
aufs  bestimmteste:  widerspricht  insonderheit  den  außer* 

568 


ordentlichen  Anstrengungen  eines  Heinrich  Hertz  und  dem 
hochgetriebenen  Vernunftehrgeiz  seinesgleichen  ebenso 
bündig  wie  unwiderleglich.  Die  widerspruchfreie  Dar* 
Stellung  der  Weltmaschine,  sehen  wir  jetzt  mit  hinlänglicher 
Gewißheit  ein,  die  gibt  es  nicht  und  wird  es  niemals  geben, 
einfach  darum  nicht,  weil  der  Widerspruch  den  konstitu* 
tiven  Voraussetzungen  a  priori  der  Mechanik  einverleibt 
ist.  Von  den  ungezählten  Schlüssen  und  Weiterungen  aber, 
welche  fast  gleichzeitig  mit  dieser  Einsicht  unser  Ahnung* 
vermögen  bestürmen,  wäre  vielleicht  nur  die  eine  Folgerung 
vollkommen  verfehlt  und  irrig:  daß  nämlich  hierdurch  der 
Erkenntniswert  der  Mechanik,  mithin  der  Erkenntniswert 
der  Wissenschaft  par  preference,  längst  aller  übrigen  Wissen* 
schaffen  von  der  Natur  unerreicht*unerreichbares  Muster, 
im  mindesten  verringert  werde.  Die  Gegensätzlichkeit 
zwischen  Wesens*  und  Ursachbegriffen,  zwischen  kausalen 
und  äquipollenten  Aussagen,  sie  bedingt  das  mechanische  Er* 
kenntnisgefüge  einer  maschinell  interpretierten  Natur,  und 
weiter  ist  darüber  nichts  zu  sagen.  Nicht  diese  Widersprüche 
und  nicht  diese  Spannungen  der  Vernunft  gefährden  die 
echte  Wissenschaftlichkeit  dieser  großen  Wissenschaft, 
sondern  der  aus  unbezähmtem  Eifer  des  systematischen 
Bewältigens  der  Wirklichkeit  hervorbrechende  Hang,  der 
Vernunft  ein  denkwiderspruchfreies  Ganzes  zuzumuten  und 
die  einzig  geheischte  Vollendung  des  Wissens  daran  zu 
messen,  ob  es  eine  restlos  durchklärte  Symbolik  der  Wirk* 
lichkeit  erziele  oder  nicht  erziele.  Dieser  Wissens*,  dieser 
Nicht* Wissenswahn  erhielt  hier  seinen  ersten,  aber  sofort 
todbringenden  Stoß  versetzt.  Widerspruchfreies  Welt* 
denken,  Weltwissen,  Weltdeuten  gibt  es  zumindest  inner* 
halb  der  maschinellen  Auffassung  von  der  Natur  nicht. 
Weiter  oben  schilderte  ich  diesen  Sachverhalt  so,  daß  das 
mechanische  Denken  sozusagen  eine  Oszillation  vollführe 

569 


zwischen  ursächlichen  Knüpfungen  und  entursachten  Gleich* 
Setzungen.  Jetzt  hat  sich's  erhärtet,  daß  diese  Oszillation 
zwischen  zwei  disparaten,  ja  sogar  konträren,  ja  sogar  kon* 
tradiktorischen  Vorstellungweisen  nicht  sowohl  psycholo* 
gischer  als  vielmehr  logischer  Notwendigkeit  entspringt  und 
fast  im  Sinne  Kants  als  , Bedingung  a  priori  der  Möglichkeit 
jeder  Erfahrung'  gerechtfertigt  werden  kann.  Allein  und 
einzig  ihr  haben  wir  jene  unermeßliche  Erweiterung  ver* 
standesmäßiger  Wirkungmöglichkeiten  auf  die  Natur  zu 
danken,  an  welche  man  bei  dem  Ausdruck  , moderne  Physik' 
sich  zu  erinnern  hat.  Nur  gleichsam  durch  ewige  Schwans 
kung,  Schwebung,  Schwingung  wirkt  der  Menschenverstand 
in  die  Ferne,  ungefähr  wie  nach  der  Theorie  Faradays  und 
Maxwells  oder  wie  nach  dem  Experiment  Hertzens  die 
elektrischen  Oszillationen  eines  ungeschlossenen  Leiters  in 
die  Ferne  wirken;  nämlich  indem  sie  das  umgebende  ab* 
sondernde  Mittel  polarisieren,  den  Zustand  seiner  Materie 
entscheidend  verändern  und  schließlich  den  Beeinflussungen 
des  entstandenen  ,Fünkleins'  zugänglich  machen.  Fast  auf 
verwandte  Art,  sage  ich,  polarisiert  die  Oszillation  unserer 
Vernunft  die  ganze  Natur.  Denn  jedes  ihrer  Ur*Teilchen 
pendelt  und  zittert  jetzt  hin  und  wider  zwischen  seiner 
eigenen  halb  substrathaft,  halb  kausal  anzunehmenden  Be* 
deutsamkeit;  jede  Veränderung  dieser  Teilchen  unterliegt 
der  schwankenden  Aussage,  ob  sie  mathematisch*funktional 
oder  kausal*effektuierend  richtig  zu  denken  sei.  So  wenig 
mithin  die  Natur,  die  mechanisch  zu  ergründende,  in  Wahr* 
heit  stillsteht  oder  wechsellos  beharrt,  so  wenig  steht  der 
Verstand  still,  darf  er  stillstehen,  der  die  Bewegungen  der 
Natur  auffangen  will  in  ein  N  etz  werk  logisch*mathematischer 
Beziehungen.  Das  ist  ein  Tatbestand,  welchen  doch  viel* 
leicht  schon  Aristoteles  auf  seine  Weise  vorweg  geahnt  hat, 
wenn  er,  Intellektualist  und  Monist  zumal,  das  erste  Be* 

570 


wegende  im  All  eben  den  vovg  sein  läßt.  Um  Bewegungen 
natürlicher  Dinge,  stofflicher  Wesenheiten,  materieller 
Punkte,  mechanischer  Massen,  physikalischer  Körper  recht 
eigentlich  zu  verstehen,  mußte  das  Denken  erst  selber  in 
Bewegung  geraten  sein,  —  das  ist  das  seltsame  und  doch 
wieder  kaum  überraschende  Erträgnis  weitschichtiger  Er? 
örterungen.  Ein  Erträgnis,  welches  man  etwa  auch  dahin  in 
Worte  fassen  könnte,  daß  der  Menschenverstand  je  und  je 
bei  sich  zu  Hause  bliebe,  auch  wo  er  sich  anscheinend  noch 
so  sehr  in  die  weite  Welt  verirrte  .  .  . 


571 


KAUSALE  UND  SYLLOGISTISCHE 
NOTWENDIGKEIT 

Der  Weltbegriff  einer  neuzeitlichen  Wissenschaft,  die 
wegen  der  Unumstößlichkeit  ihrer  Aussagen  und 
wegen  der  Geschlossenheit  ihres  Aufbaues  nicht  nur  den 
ersten  Rang  unter  allen  Wissenschaften  behauptet,  sondern 
in  entscheidender  Hinsicht  Urs  und  Musterwissenschaft  bis 
heute  geblieben  ist,  hat  sich  in  seinen  transzendentalen  Vor? 
aussetzungen  als  ein  fragwürdiger  gezeigt.  Sicherlich  wird 
von  dieser  Fragwürdigkeit  im  einzelnen  weder  die  Geltung 
des  analytischen  Ausdrucks  für  erfahrbare  Vorgänge  der 
Natur,  noch  im  allgemeinen  der  Erkenntniswert  mechanischer 
Gesetze  irgendwie  betroffen.  Von  ihr  betroffen  werden  in* 
des  die  sogenannten  Wesensbegriffe  der  Mechanik  und  ihre 
letzten  Formen  der  Verknüpfung,  —  wenn  man  will,  die 
.Kategorien*  der  Mechanik.  Die  Problematik  der  natür* 
liehen  Verknüpfungen,  des  inßuxus  physicus,  erscheint  dabei 
gewissermaßen  schon  verankert  in  der  Problematik  der 
Wesensbegriffe  selbst,  wofern  ein  kausaler  Charakter  bei 
allen  erdenklichen  mechanischen  Substraten  immer  wieder 
durchbrach.  Hat  man  sich  doch  davon  überzeugen  können, 
wie  der  Zustandwechsel  der  Eigenschaftträger  mechanischer 
Veränderungen  zuletzt  von  diesen  selbst  bedingt,  verursacht 
oder  bewirkt  sein  müsse.  Was  Wunder,  wenn  sich  um  das 
Rätsel  der  Verursachung  allmählich  trübe  Dünste  sammeln 
und  eine  vorher  noch  klare  Vorstellung  mit  zunehmender 
Bewölkung  überdüstern.  Was  Wunder,  wenn  der  Verstand 
vor  dieser  Kausalität  einigermaßen  seine  Fassung  verliert, 
da  er  ohne  Kausalität  offenbar  keine  Wissenschaft  von  der 
Natur,  mit  ihr  aber  keine  bloß  angewandte  Geometrie  be* 
treiben  kann.  Und  wie  um  diesem  groben  Widersinn  ent* 
gegenstrebender  Absichten  noch  dreist  aufzutrumpfen,  er* 

572 


gibt  sich  gleichsam  als  letzte  Ungereimtheit  die  Tatsache, 
daß  just  diese  ihrer  innersten  Bestimmung  nach  ursach*feind* 
liehe  Mechanik  von  allen  bekannten  Wissenschaften  am  Ende 
die  stärksten  Anstrengungen  macht,  die  Kausalität  gedankt 
lieh  und  begrifflich  so  eng  wie  nur  möglich  zu  umklammern! 
Schleppt  sie  sich  mit  ihr  nämlich  einerseit  wie  mit  einem 
altvererbten  Übel,  wie  mit  einem  Buckel  oder  wie  mit  einem 
Kröpfe  schlecht  und  recht  ab,  so  verwendet  sie  andererseit 
ihre  gesteigerte  Sorgfalt  darauf,  den  sozusagen  ,repräsen# 
tativen'  Vorgang  aller  ursächlichen  Ordnungen  und  Formen 
verstandesmäßig  zu  bewältigen.  Mit  diesem  Vorgang  meine 
ich  natürlich  den  Stoß.  Von  ihm  scheint  mir's  kaum  zuviel 
gesagt,  daß  sich  jede  Vorstellung  ursächlicher  Beziehungen 
mehr  oder  weniger  deutlich,  mehr  oder  minder  bewußt  auf 
ihn  berufe  als  auf  das  Paradigma  aller  kausalen  Verhältnisse 
überhaupt:  der  Stoß  ist  vermutlich  der  Anlaß  geworden, 
daß  die  Verknüpftheit  von  Ursache  und  Wirkung  eine 
unser  gesamtes  Weltdenken  beherrschende  Wichtigkeit  ge* 
winnen  konnte.  (Eine  Wichtigkeit  und  Dringlichkeit 
übrigens,  die  in  den  bildhaften  Symbolen  welterklärender 
Mythologien  fast  schon  mit  derselben  Schärfe  hervortritt 
wie  in  den  Begriffsgefügen  der  Wissenschaften.)  Im  Stoß 
registriert  das  Bewußtsein  tatsächlich  jede  Phase  der  be* 
dingenden  und  bedingten  Veränderungen;  hier  behorcht 
und  beklopft  es  sich  gewissermaßen  selber;  hier  ertappt  es 
sich  sozusagen  in  flagranti,  wie  durch  seine  eigenen  Denk* 
mittel  und  Denkbetätigungen  Dinge  zu  einer  Ordnung  kos* 
misch  zusammengesichtet  werden.  Wenn  irgendwo,  überlistet 
hier  der  Verstand  sich  selber,  indem  er,  unsichtbar  gemacht 
durch  die  Tarnkappe  der  Mathematik,  die  Kausalität  an  und 
für  sich  beschleicht,  überfällt  und  überwältigt  .  .  . 

Es  wäre  dabei  gestattet,  von  fünf  Aufgaben  zu  sprechen, 
welche  der  Stoß  dem  mechanischen  Denken  gestellt  und 

573 


welche  dieses  in  der  Tat  zu  lösen  verstanden  hat.  Erstens 
die  Bewegung  darzustellen  unter  dem  Einfluß  des  erlittenen 
Stoßes  oder  die  Geschwindigkeitänderung  anzugeben,  die 
einem  gestoßenen  System  aus  einem  stoßenden  zuerteilt 
wird.  Zweitens  die  Größe  der  Stoßkraft  zu  berechnen,  die 
ein  System  bei  einer  plötzlichen  Änderung  der  Bewegung 
auf  ein  anderes  ausübt.  Drittens  den  sogenannten  .Zwang' 
analytisch  auszudrücken  oder  die  Änderung,  welche  die 
Zusammenhänge  eines  Systems  an  der  Vermehrung  oder 
Verminderung  seiner  Geschwindigkeit  bewirken,  wobei 
Größe  und  Richtung  des  Zwanges  zu  berücksichtigen  sind. 
Viertens  Zuwachs  und  Abnahme  der  Energie  oder  der 
Arbeit  des  Stoßes  festzustellen,  die  ihrerseit  Wirkung  eines 
auf  das  System  ausgeübten  Stoßes  ist.  Fünftens  wäre  dann 
noch  die  Angabe  der  Bewegung  zweier  Systeme  nach  ihrem 
Zusammenstoß  diesen  Aufgaben  zuzuzählen,  soweit  sie 
wenigstens  durch  die  Bewegung  der  Systeme  vor  dem  Stoß 
bestimmbar  erscheint.  In  diese  fünf  Momente,  fünf  Pro* 
bleme,  teilt  sich  dieser  eminent  kausale  Vorgang  sub  specie 
der  Mechanik  auf,  und  man  sollte  beinah  glauben,  ihn  da* 
mit  endgültig  der  Vernunft  unterworfen  zu  haben. 

Nichtsdestoweniger  bedarf  es  keines  besonders  ge* 
schärften  Urteils,  um  zu  bemerken,  wie  gerade  das  Moment 
der  ursächlichen  Beeinflussung  in  allen  diesen  fünf  Auf* 
gaben  ebenso  geschickt  wie  geflissentlich  übergangen,  ich 
möchte  schier  sagen:  unterschlagen  wird.  Bewegung,  Stoß* 
kraft,  Arbeit  beziehen  sich  jeweils  auf  den  Zustand  eines 
materiellen  Systems  vor  oder  nach  dem  Stoß,  indes  dieser 
selbst  im  Grund  unberücksichtigt  und  unerfaßt  bleibt.  Auch 
der  Zwang  beim  Stoß  ist  nur  insofern  ein  Gegenstand  der 
mechanischen  Darstellung,  als  bestehende  Zusammenhänge 
gestoßener  Systeme  von  der  Änderung  ihrer  Geschwindig* 
keit  abweichen,  wie  sie  bei  unzusammenhängenden  Systemen 

574 


mit  Gewißheit  zu  erwarten  wäre.  Und  in  der  Tat,  entsinnt 
man  sich  der  Erläuterung,  womit  die  Mechanik  den  Be* 
griff  des  Stoßes  zu  umschreiben  trachtet,  so  verliert  dieser 
Umstand  alles  Befremdliche,  was  er  etwa  an  sich  haben 
könnte.  Denn  der  Stoß  ist  seiner  mechanischen  Natur  nach 
lediglich  ,eine  unstätige  Bewegung':  laut  begrifflicher  Be* 
Stimmung  das  Zeit4ntegral  einer  Kraft,  die  beim  Durch* 
gang  durch  eine  Unstätigkeitstelle  von  einem  System  auf 
das  andere  ausgeübt  wird.    Dieser  Augenblick  der  Un* 
stätigkeit  aber  bleibt  für  immer  der  logisch*mathematischen 
Umklammerung  seitens  der  mechanischen  Formel  entrückt, 
indem  die  Stätigkeit  der  durchlaufenen  Lagen  materieller 
Systeme  die  conditio  sine  für  jede  analytische  Bemeisterung 
natürlicher  Bewegungen  ist.  Streng  genommen  gehört  ein 
System,  in  welchem  Stöße  vorkommen,  gar  nicht  mehr  in 
das  Gesamtbild  mechanischer  Welterkenntnis,  sondern  kann 
diesem  nur  gleichsam  mit  Hilfe  einer  Art  von  fictio  juris 
eingegliedert  werden,  wonach  unstätige  Bewegungen  auf* 
gefaßt  werden  als  ob  sie  stätig  seien,  —  welche  szientifische 
Fiktion  wirklich  auch  durchführbar  ist,  wenn  hinreichend 
kleine  Spannen  von  Raum  und  Zeit  angenommen  werden. 
Derart  bemächtigt  sich  die  Mechanik  des  Stoßes  der  Kau* 
salität,  wofern  sie  die  unstätige  Ordnung  als  solche,  —  ich 
sage  unstätige  Ordnung,  weil  sie  aus  zwei  unumkehrbar 
aufeinanderfolgenden  Querschnitten  des  zeitlichen  Ablaufs 
zwei  voneinander  abgehobene  Gruppen  substrathafter  In* 
halte  als  .Ursache'  und  als  .Wirkung'  ideell  herausschneidet 
und  gegeneinander  absondert :  eine  kausale  Stätigkeit,  eine 
stätige  Kausalität,  wie  sie  Eduard  von  Hartmann  statuiert, 
erachte  ich  nahezu  für  eine  condradictio  in  adjectol  —  wo* 
fern  sie  also  die  unstätige  Ordnung  xaz    llo-/j]v  auf  eine 
stätige  zurückzuführen  sucht.  Im  Augenblick  der  Unstätig* 
keit,    im  Zeitpunkt  des  eigentlich  stattfindenden  inßuxus 

575 


physicus  wachsen  darnach  zwar  die  Werte  für  Kraft  und 
Beschleunigung  bei  beiden  Systemen  ins  unendlich  Große, 
aber  das  Zeitintegral  der  Kraft  und  Beschleunigung  behält 
dennoch  seinen  endlichen  Wert.  Die  Unstätigkeit  aller 
Verursachung  und  Bewirkung  ist  beileibe  nicht  abzuleugnen, 
jedoch  ist  sie  an  und  für  sich  nur  eine  .scheinbare',  in  Wahr* 
heit  gar  nicht  vorhandene.  Mit  dieser  aus  jeder  wissen* 
schaftlichen  Verlegenheit  rettenden  Philosophie  des  ,Als  ob' 
schwingt  sich  die  Mechanik  wie  ein  sehr  geübter  Turner 
auch  über  diese  bedrohliche  Stelle  hinüber.  Und  gegen 
dieses  Turnerstückchen  kann  auch  solange  kein  stichhaltiger 
Einwand  geltend  gemacht  werden,  als  man  sich  der  Täuschung 
hingibt,  man  habe  das  rätselhafte  Ereignis,  wo  das  stoßende 
System  auf  das  gestoßene  eine  .Kraft'  ausübt,  in  Ge* 
danken  gar  bezwungen.  Aber  das  ausgesucht  scharfsinnige 
Verfahren,  in  der  Mechanik  des  Stoßes  den  Vorgang  von 
paradigmatischer  Kausalität  wissenschaftlich  auf  Begriffe, 
auf  Maß  und  Zahl  zu  bringen,  gerade  dieses  führt  unstreitig 
am  sichersten  an  jeder  Kausalität  vorbei.  Gerade  den  Stoß, 
diesen  schlechthin  alle  sonstigen  Arten  der  Verursachung 
stellvertretenden  Vorgang  von  der  klassischen  Bedeutung 
eines  Urphänomens,  gerade  ihn  entursacht  die  mechanische 
Behandlungweise,  gerade  ihn  beraubt  sie  mit  seiner  offen* 
baren  Unstätigkeit  auch  seiner  ursächlichen  Beschaffenheit 
und  Würde.  Die  Unstätigkeitstelle  selbst,  der  Ort  des  Ein= 
griffs  des  einen  Systems  in  das  andere,  der  Akt  der  Beein* 
flussung  beharrt  außerhalb  der  Aufgaben  und  Lösungen 
des  mechanich*maschinellen  Weltdenkens:  das  Rätsel  wird 
anerkannt,  aber  in  keiner  Hinsicht  erkannt.  Die  vorzugweis 
kausale  Knüpfung  des  Stoßes  behandelt  man,  als  ob  sie  keine 
kausale  Knüpfung  wäre.  Man  entfernt  die  Unstätigkeitstelle 
aus  dem  Blickpunkt  des  Bewußtseins,  weil  eine  mehr  oder 
weniger   hohe  Wahrscheinlichkeit  dafür  spricht,  daß  die 

576 


Wirklichkeit  der  Natur  doch  nur  stätige  Bewegungen,  stätige 
Veränderungen  vollführe.  Mit  einem  Worte:  man  unter* 
drückt  die  Kausalität  eben  dort  mit  eiserner  Folgetreue,  wo 
man  sie  zum  Triumph  gleichsam  eingeladen  hatte  .  .  . 

Hier  wird  die  Frage  brennend,  ob  auch  jetzt  wieder  die 
Ursächlichkeit  einfach  dem  methodischen  Zielgedanken  der 
Gleichsetzung  geopfert  worden  sei,  oder  ob  nicht  für  das 
sich  häufende  Versagen  des  wissenschaftlichen  Könnens 
und  Vermögens  gegenüber  dieser  Kategorie  zuletzt  tiefere 
Gründe  verantwortlich  zu  machen  wären.  Darüber  könnte 
man  vermutlich  bis  zu  einem  gewissen  Grad  ins  reine 
kommen,  wenn  man  den  Vorgang  des  Stoßes  noch  etwas 
genauer  zu  überprüfen  sich  geneigt  zeigte :  wie  sich  hier  von 
selbst  versteht,  unabhängig  von  allen  analytischen  Dar* 
Stellungen,  zu  welchen  er  Gelegenheit  bietet,  und  unabhängig 
infolgedessen  auch  von  der  verdächtigen  Tendenz,  den  kau* 
salen  Nexus  zu  Gunsten  mathematischer  Äquivalenzen  um* 
zumünzen  oder  umzulügen.  Verzichten  wir  also  endlich  ein* 
mal  auf  jede  Bezugnahme,  die  der  eigentlich  mechanischen 
Darstellung  des  Stoßes  gelten  würde,  und  fassen  wir  einmal 
das  kausale  Geschehnis  beim  Stoß  wesentlich  als  solches  ins 
Auge.  Auch  für  diese  Absicht  hält  die  Mechanik  gleichsam 
zwei  Auslegungen  in  Bereitschaft,  unter  denen  die  Wahl  ge* 
troffen  werden  muß.  Die  eine  spinnt  ein  uralt  Fädchen 
weiter,  das  schon  die  peripatetische  Philosophie  um  ihre 
Kunkel  geschlungen  hatte,  wofern  sie  die  kausale  Beein* 
flussung  beim  Stoß  als  Berührung  (ß(p)]~)  der  stoßenden  und 
der  gestoßenen  Masse  zu  begreifen  gesucht  hatte.  Die 
andere  dagegen  ist  wohl  neuerer  Herkunft  und  ist  bemüht 
die  kausale  Äußerung  stoßender  Massen  letzthin  auf  die 
Wirksamkeit  von  Fernkräften  zurückzuführen.  Unsere 
Pflicht  ist  es,  uns  über  diese  zwei  Versuche,  die  Kausalität 
des  Stoßes  gleichsam  als  repräsentative  Instanz  aller  in  der 

37     Ziegler,  Gestaltwandel  der  Götter  577 


Natur  vorhandenen  Kausalitäten  dem  Verstand  zugänglich 
zu  machen,  ein  Urteil  zu  gewinnen.  Von  diesem  Urteil 
wird  es  dann  abhängen,  welche  Bedeutung  der  Knüpfung 
Ursache* Wirkung  innerhalb  des  mechanisch*maschinellen 
Weltbegreifens  überhaupt  zuzumessen  oder  nicht  zuzu* 
messen  ist:  nachdem  unser  Denken  am  Leitfaden  der  Kausa* 
lität  bis  hierher  tiefer  und  tiefer  in  Widersprüche  und  Ver* 
wirrungen  gegängelt  ward  .  .  . 

Der  Stoß  sichtbarer  Massen  kann,  darüber  obwaltet  kein 
Zweifel,  ebenso  aus  den  Einzelstößen  der  einfachen  Massen* 
teilchen  dieser  Massen  zusammengesetzt  gedacht  werden 
wie  eine  Kraft  aus  den  Komponenten  von  Einzelkräften, 
aus  den  Wirkunglinien  einfacher  Kraftpunkte.  Betrachtet 
man  folglich  gemeinhin  den  Stoß  als  einen  Vorgang  der 
Berührung,  so  wird  sich  dieser  Vorgang  am  vorteilhaftesten 
bei  Gelegenheit  des  Einzelstoßes  letzter  materieller  Bestand* 
teilchen  durchdenken  lassen.  Hier,  wo  alle  Verhältnisse  in 
ihrer  lauteren  Einfachheit  und  Einfältigkeit  zu  überblicken 
sind,  hier,  wo  man  sich  nichts  vorzustellen  hat  als  zwei 
Massenpunkte  im  Augenblick  des  vom  einen  ausgehenden, 
vom  anderen  aufgefangenen  Pralls,  muß  sich  am  schnellsten 
zeigen,  ob  dieser  Prall  möglicherweise  als  eine  Berührung 
gedeutet  werden  kann  und  darf.  Für  den  elastischen  Stoß 
zweier  Massenpunkte  ist  diese  Frage  knall  und  fall  zu  be* 
antworten,  denn  ihr  Stoß  kann  zeitlich  unter  keinen  Um* 
ständen  mit  der  Berührung  zusammenfallen,  weil  sie  sich 
beide  durch  ihr  Berühren  um  die  Möglichkeit  gebracht 
hätten,  sich  während  des  Stoßes  gegenseitig  abzustoßen. 
Dieser  Einwand  ist  mit  vorzüglicher  Klarheit  von  Eduard 
von  Hartmann  entwickelt  worden:  eine  Berührung  von  ein* 
fachen  Punkten  vermag  unser  Verstand  nur  als  ihr  bedingung* 
loses  Ineinanderfallen,  Zur*Deckung*Gelangen,  Ein*und* 
dasselbe*Werden   aufzufassen;    darum   vollzieht  sich   der 

578 


elastische  Stoß  notwendig  vor  jeder  denkbaren  Berührung; 
darum  ereignet  sich  die  gesuchte  ursächliche  Wirksamkeit 
des  Stoßes  auch  nicht  während  der  Berührung  oder  durch 
dieselbe;  darum  war  es  ein  handgreiflicher  Irrtum,  wenn 
beispielweis  Kant  die  Berührung  eine  wechselbezügliche 
Undurchdringlichkeit  nannte  und  aus  der  abstoßenden 
Kraft  ableitete,  —  findet  doch  eine  Abstoßung  von  Massen* 
punkten  eben  nur  insoweit  statt,  als  eine  Berührung  nicht 
eintritt! 

Trifft  mithin  beim  elastischen  Stoß  die  kausale  Beein* 
flussung  auf  keine  Weise  mit  einer  etwaigen  Berührung 
von  Massenteilchen  zusammen,  ja  schließen  sich  elemen* 
tarische  Berührung  und  elastischer  Stoß  begrifflich  gerade* 
wegs  aus,  so  steht  die  ganze  Angelegenheit  für  den  uns 
elastischen  Stoß  nur  noch  viel  mißlicher.  Er  nämlich  läßt 
sich  für  Massenteilchen,  für  Elementarquanten  der  Materie 
nicht  einmal  vorstellen.  Denn  sind  diese  Massenteilchen 
an  sich  unausgedehnte  Punkte  oder  Punkte  mit  unendlich 
kleiner  Ausdehnung,  dann  sind  auch  keine  inneren  Abstände 
vorhanden  oder  nur  unendlich  kleine  Abstände,  die  sich 
im  Sinne  des  unelastischen  Stoßes  verändern  oder  ent* 
formen  könnten.  Nicht  deshalb,  weil  der  Verlust  an  kine* 
tischer  Energie  beim  unelastischen  Stoß  einfacher  Massen* 
teilchen  nicht  in  latente  Energie  umgesetzt  werden  kann, 
wie  Hartmann  annimmt,  ist  der  unelastische  Stoß  schlechter* 
dings  unbegreiflich,  —  Heinrich  Hertz  hat  wenigstens  die 
Möglichkeit  dieses  Umsatzes  erklärlich  gemacht  durch  seine 
Voraussetzung  verborgener  Massen,  welche  jenen  Verlust 
an  arbeitender  Energie  durch  die  Umwandlung  in  Energie 
der  Lage  ausgleichen  und  derart  die  Geltung  des  ersten 
Hauptsatzes  retten  mögen!  —  vielmehr  ist  er  es  deshalb, 
weil  Punkte  nie  und  nimmer  ihre  Gestalt  zu  verändern  im* 
stände  sind.   Um  den  unelastischen  Stoß  dem  Wissenschaft* 

37*  579 


liehen  Denken  glaubwürdig  zu  machen,  müßte  man  infolge* 
dessen  schon  zusammengesetzte  Massen  anstatt  einfache 
Massenteilchen  oder  Massenpunkte  betrachten.  Wobei  trotze 
dem  der  erhoffte  Gewinn  ziemlich  hinter  den  Erwartungen 
zurückbliebe,  da  auch  bei  zusammengesetzten  Massen  nicht 
ersichtlich  würde,  wie  just  die  Berührung  eine  dauernde 
Veränderung  ihrer  Gestalt  zu  bedingen  geeignet  wäre. 

Die  Schwierigkeiten  türmen  sich  somit  schon  bei  der 
Durchforschung  künstlich  vereinfachtester  Fälle  unüber* 
windlich  in  die  Höhe  und  man  wird  beizeiten  der  Hoff* 
nung  entsagen  müssen,  den  kausalen  Vorgang  beim  Stoß 
etwa  grundsätzlich  durch  den  Aktus  der  Berührung  erklär* 
lieh  machen  zu  wollen.  Wie  einerseit  beim  elastischen  Stoß 
die  einfachen  Massenteilchen  augenscheinlich  die  ursäch* 
liehe  Einwirkung  erfahren  müssen,  ehe  sie  durch  eine  voll* 
zogene  Berührung  auch  schon  zur  Deckung  gelangt  wären, 
—  so  lassen  sich  andererseit  für  zusammengesetzte  Massen 
Berührungen  denken,  ohne  daß  sie  im  geringsten  von  ur* 
sächlichen  Einflüssen  begleitet  sein  würden:  beim  un* 
elastischen  Stoß  erklärt  gerade  die  (angeblich)  stattfindende 
Berührung  in  keiner  Hinsicht  die  dauernd  erfolgte  Änderung 
der  Gestalt  des  gestoßenen  Körpers.  Zwecklos,  ja  zweck* 
widrig  erscheint  es  darnach,  das  unerratene  Problem  der 
Verursachung  auch  noch  mit  dem  Problem  der  Berührung 
zu  komplizieren.  Keines  der  beiden  Vorkommnisse  er* 
leuchtet  das  andere  auch  nur  mit  einem  Strahl  von  Licht, 
indem  es  unzweifelhaft  ursächliche  Knüpfungen  ohne 
jede  Berührung  wie  Berührungen  ohne  jede  ursächliche 
Knüpfung  gibt.  So  daß  nach  Verabschiedung  dieser  An* 
nähme  zur  wirklichen  Verdeutlichung  mechanischer  Kausa* 
lität  nur  noch  die  zweite  jener  oben  genannten  Erklärung* 
möglichkeiten  offen  bleibt:  der  kausale  Eingriff  wird  nur 
noch  als  .Wirkung  in  die  Ferne'  verständlich,  heißt  das  auf 

580 


Abstände,  die  größer  sind  als  die  innere  Entfernung  zwischen 
den  Grenzoberflächen  der  wirksamen  Körper.  Schlösse  die 
Berührung  überhaupt  ein  ursächliches  Ereignen  ein,  so 
hätte  sich  dieses  an  der  Oberfläche  der  berührenden  Dinge 
abspielen  müssen.  Nun  die  Kausalität  nicht  im  mindesten 
aus  der  Berührung  herzuleiten  ist,  erstreckt  sich  die  Zone 
der  geheimnisvollen  Beeinflussung  auch  über  die  begren* 
zenden  Oberflächen  der  wirkenden  Gegenständlichkeiten 
hinaus.  Es  ist  dabei  überflüssig,  ja  unangebracht,  an  Fern* 
kräfte  im  Sinn  der  Mechanik  des  Himmels  zu  denken,  da 
für  unsere  Absichten  Fernkräfte  auf  Massenteilchen*Ab* 
stände  genügend  sind:  unter  ihnen  Abstände  verstanden, 
deren  Höchstwert  durch  die  eben  noch  merklichen  Wir* 
kungen  einer  einzelnen  Kraft  oder  Kraftäußerung  bestimm* 
bar  wird,  indes  ihr  Mindestwert  durch  die  Entfernung  zu 
geben  ist,  auf  welche  hin  die  Oberflächen  die  Erscheinung 
der  Undurchdringlichkeit  hervorbringen. 

Gestehen  wir,  daß  diese  Annahme  fernwirkender  Kräfte 
den  Vorgang  des  Stoßes,  kausal  interpretiert,  weniger  un* 
durchdringlich  und  undurchsichtig  aussehen  macht  wie  kurz 
vorher.  Wenigstens  gilt  das  vom  elastischen  Stoß,  —  um 
den  unelastischen  hier  aus  dem  Spiel  zu  lassen,  der  ohnedies, 
wie  schon  Kant  (in  den  Metaphysischen  Anfangsgründen) 
andeutet  und  wie  Eduard  vonHartmann  (in  derWeltanschau* 
ung  der  modernen  Physik)  nachdrücklich  hervorhebt,  letz* 
ten  Endes  eine  Fiktion  der  Mathematik  sein  dürfte.  Der 
Gedanke,  daß  Fernkräfte  da  wirken,  wo  sie  eigentlich  und 
uneigentlich  nicht  ,sind',  kann  dabei  für  uns  nichts  schlecht* 
hin  Unglaubliches  an  sich  haben,  wofern  wir  ja  im  täglichen 
Dasein  der  menschlichen  Gesellschaft  solche  Wirkungen 
nicht  nur  jederzeit  für  möglich,  sondern  sogar  für  notwen* 
dig  erachten  müssen.  Man  entsinnt  sich  hier  leicht  eines 
geistreichen  Wortes  von  Kant,  wenn  er  sich,  aus  den  an* 

581 


noch  etwas  uferlosen  Träumen  seiner  physischen  Monado* 
logie  längst  zu  kritischer  Besonnenheit  ernüchtert,  dennoch 
unentwegt  zu  der  Vorstellung  der  Fernkraft  bekennt  und 
diese  so  wenig  widerspruchvoll  in  sich  selber  findet,  „daß 
man  vielmehr  sagen  kann:  ein  jedes  Ding  im  Raum  wirkt 
auf  ein  anderes  nur  an  einem  Orte,  wo  das  Wirkende  nicht 
ist.  Denn  sollte  es  an  demselben  Orte,  wo  es  selbst  ist, 
wirken,  so  würde  das  Ding,  worauf  es  wirkt,  gar  nicht 
außer  ihm  sein,  denn  dieses  Außerhalb  bedeutet  die  Ge* 
genwart  an  einem  Orte,  darin  das  andere  nicht  ist."  Die 
schlagende  Beweiskraft  dieses  Satzes  wird  nicht  abge* 
schwächt,  weil  Kant  irrtümlich  und  im  Hader  mit  sich  sei* 
ber  die  Fernwirkung  als  eine  Wirkung  durch  den  leeren 
Raum  bestimmen  zu  müssen  wähnt,  unfähig  leider,  gewis? 
ser  kartesianischer  Vorurteile  ledig  zu  werden  und  an  der 
von  ihm  so  klar  geahnten  dynamischen  Erfülltheit  des 
Raumes  (bei  materieller  Leerheit  desselben)  ein  für  alle 
mal  festzuhalten.  Wichtiger  als  diese  gelegentliche  Inkon* 
sequenz  ist  es,  daß  Kant  mit  eben  diesen  angeführten  Wor* 
ten  das  Geheimnis  der  Verursachung  schier  zu  lüften  im 
Begriff  steht.  In  der  Tat:  Ursächlichkeit  ist  notwendig 
Fernwirkung,  ist  notwendig  Äußerung  von  Kräften  oder 
kraftbegabten  Wesenheiten,  —  auf  dieses  .notwendig*  werde 
ich  bald  zurückgreifen!  —  ist  beides  auch  da  oder  vielmehr 
nur  da,  wo  Kräfte  oder  kraftbegabte  Wesenheiten  als  solche 
nicht  sind.  Wer  diese  Wirkung  in  die  Ferne  ernstlich  an* 
zweifelt,  der  zweifelt  im  selben  Atemzuge  die  Möglichkeit 
ursächlicher  Beeinflussung  überhaupt  an.  Denn  Ursache 
lichkeit  ist  entweder  Fernwirkung  oder  —  nichts:  dies  bleibt 
der  dauernde  Ertrag  jener  bezeugenden  handvoll  Worte 
Kants.  Und  wenn  sich  Heinrich  Hertz  gezwungen  fand, 
mit  den  Fernkräften  die  Kraft,  mit  der  Kraft  die  Ursache 
lichkeit  aus  den  Grundbegriffen  der  Mechanik  auszumer* 

582 


zen,  so  liegt  in  dieser  logischen  Umkehrung  des  hier  ge* 
kennzeichneten  Sachverhaltes  die  beste  Bestätigung  obge* 
dachter  Worte.  Die  Verbitterung  wider  jegliche  Art  von 
Fernkräften,  das  ist  schon  die  vollzogene  Preisgabe  der 
Ursächlichkeit,  und  es  ist  wahrhaftig  kein  Mangel  an  in* 
nerer  Folgetreue  gewesen,  wenn  Hertz  trotzdem  die  Be* 
griffe  Fernwirkung,  Kraft,  Ursache  nicht  endgültig  aus  dem 
eisenfesten  Gefüge  mechanischer  Welterkenntnis  heraus* 
zubrechen  vermocht  hat. 

Befassen  wir  uns  jedoch  noch  etwas  eingehender  mit 
dem  Gedanken  der  Fernwirkung,  der  uns  hier  die  Lösung 
des  Kausalproblems  beinah'  in  nächste  Aussicht  zu  stellen 
scheint.  Nach  ihm  ist  es  die  besondere  Leistung  der  Ur* 
sache,  an  einer  Stelle,  wo  sie  selbst  nicht  ist,  ein  Etwas  zu 
setzen,  das  vorher  nicht  war.  Was  meint  aber  dies,  über* 
tragen  auf  die  dermaligen  Verhältnisse  des  mechanischen 
Stoßes?  Was  ist  hier  Ursache,  was  Wirkung?  Steht  es  so, 
um  den  denkbar  simpelsten  Fall  anzunehmen,  daß  von  zwei 
Massenpunkten  der  stoßende  die  Ur*Sache  des  gestoßenen 
wäre?  Oder  da  dies  offenbar  nicht  gemeint  sein  kann,  be* 
steht  die  Ur*Sache  nur  in  einer  Veränderung  der  Geschwin* 
digkeit,  etwa  vom  Nullwert  derselben  über  eine  augenblick* 
liehe  Unendlichkeit  weg  zu  einem  endlichen  Wert  und  von 
da  ab  wieder  zum  Nullwert,  —  die  Wirkung  hingegen  in 
einer  entsprechenden  Geschwindigkeitänderung  des  an* 
deren  Punktes?  Aber  woher  käme  dann  bei  dieser  Aus* 
legung  der  eigentliche  Stoß,  woher  die  Kraft,  welche  der 
Definition  dieses  Vorganges  gemäß  der  eine  materielle  Punkt 
auf  den  anderen  .ausübt'?  In  welchem  Zusammenhang 
hätte  man  sich  hier  die  beiden  Massenpunkte  mit  der  aus* 
geübten  Kraft  zu  denken?  Ist  es  tatsächlich  die  Masse, 
welche  die  Ursache  der  Übertragung  von  Geschwindig* 
keitänderungen  vom  einen  auf  den  andern  Punkt  abgibt, 

583 


—  oder  ist  es  nicht  vielmehr  die  Kraft  selber?  Denn  eines 
von  ihnen  beiden  ist  augenscheinlich  doch  nur  eine  Be* 
gleiterscheinung,  ein  ,Epiphaenomen'  der  eigentlichen  Ver* 
ursachung:  entweder  die  Kraft,  die  sich  wie  von  ungefähr 
bei  der  Geschwindigkeitänderung  der  Massen  einstellt,  oder 
die  Masse,  die  neben  der  dynamischen  Übertragung  durch 
die  Kraft  herläuft,  nicht  unähnlich  einem  Fohlen,  das  lose 
angeseilt  neben  dem  Ziehpferd  eines  Wagens  hertrabt.  Die 
Wahl  ist  schwierig  und  mancher  Verantwortlichkeiten  voll. 
Denn  die  Masse  zur  Begleiterscheinung  des  kausalen  Ge* 
schehnisses  zu  erniedrigen,  weigern  sich  die  Sinne.  Durch 
sie  ist  die  Masse  beglaubigt,  während  die  Kraft  als  bloßes 
Symbol  des  Verstandes  verblaßt.  Entscheidet  man  sich  aber 
auf  diese  Weise  als  der  Gläubige,  ja  als  der  Gläubiger  der 
Sinne,  der  dem  Geist  so  tief  verschuldeten,  ohne  Besin= 
nen  für  die  Masse,  dann  läßt  sich  kaum  verhehlen,  daß  sie 
genau  genommen  gar  nicht  befugt  sein  kann,  als  Ursache 
aufzutreten;  sintemalen  beim  Stoß  statt  ihrer  selbst  nur  ihre 
Geschwindigkeitänderung   die    Geschwindigkeitänderung 
einer  anderen  Masse  bedingend  vorgestellt  werden  darf! 
Just  diese  Auffassung  des  Geschehens  führt  indessen  zu 
einer  unendlichen  Regression,  laut  welcher  jede  in  ihrer 
Geschwindigkeit  veränderte  Masse   wiederum  von   einer 
eben  solchen  verursacht  sei:  nie  vermag  die  Masse  an  sich 
Geschwindigkeitänderungen  an  sich  zu  motivieren,  wenn 
sie  nicht  selbst  eine  solche  erfährt,  und  so  weiter,  und  so 
weiter  .  .  .  Das  hieße  aber  das  ohnehin  magere  Leitfädchen 
der  Kausalität  bis  in  fruchtlose  Unendlichkeiten  fort*  und 
fortspinnen  und  damit  die  gesuchte  Ursache  wesentlich 
verneinen.  Also  daß  man  hier  wieder  einmal  seine  arglose 
Zuversicht  betreffs  der  Sinne  mit  Undank  übel  gelohnt 
sähe  und  zuletzt  nicht  umhin  könnte,  die  Kraft  doch  noch 
mit  der  Rolle  des  ersten  Bewegers,  der  Ursache  der  Ge* 

584 


schwindigkeitänderung  gestoßener  Massen  entschlossen  zu 
betrauen:  die  Kraft  allein,  oder  die  Kraft  verbunden  mit 
,epiphaenomenalen'  Massen,  —  dies  bleibe  noch  dahinge* 
stellt.  Diese  Entscheidung  aber,  wir  werden  es  rasch  ge* 
wahren,  würde  einen  einschneidenden  Bedeutungwandel 
für  den  Begriff  der  Ursächlichkeit  bedingen,  denn  von  jetzt 
an  erwiese  sich  das  gesamte  kausale  Denken  dialektisch 
mehr  und  mehr  verankert  in  einem  als  genetisch  zu  bezeich* 
nenden  Denken. 

Die  Kausalität  des  Stoffes,  sagte  ich  vorhin,  könne  un* 
möglich  so  zu  verstehen  sein,  daß  die  Masse  gewissermaßen 
zur  Ursache  der  Masse  gemacht  würde.  Und  zwar  darum 
nicht,  weil  das,  was  der  Erklärung  bedarf,  gar  nicht  die 
Masse  als  solche  ist,  sondern  ihre  im  Stoß  erlittene  Ge* 
schwindigkeitänderung.  Fast  gleichzeitig  hat  sich  jedoch 
ergeben,  daß  die  Masse  auch  nicht  als  Ursache  dieser  Ge* 
schwindigkeitänderung  in  Betracht  käme,  da  nicht  sie,  son= 
dem  die  ihr  selbst  erst  von  außen  her  übermittelte  Ände* 
rung  der  Eigengeschwindigkeit  die  Änderung  in  der  Ge* 
schwindigkeit  des  anderen  Systems  bewirkt.  Zusammen* 
fassend  wäre  dies  ungefähr  so  auszudrücken:  Massen  als 
solche  sind  weder  die  Ursachen  von  Massen  noch  die  Ur* 
Sachen  der  Geschwindigkeitänderungen  von  Massen.  Was 
dagegen  die  Geschwindigkeitänderungen  von  Massen  un* 
mittelbar  verursacht  oder  (vorsichtiger  gesagt)  gründe 
sätzlich  wenigstens  verursachen  könnte,  ist  die  Kraft.  In* 
nere  Erfahrung  lehrt,  daß  ein  Aufwand  organischer  Kraft 
die  Bewegung  unbewegter  Massen  ohne  weiteres  zu  bewirb 
ken  vermag,  und  diese  physikalisch  anerkannte  Erfahrung 
erscheint  einer  wissenschaftlichen  Verallgemeinerung  durch* 
aus  fähig.  Es  hat  fortan  keinen  Anstand,  die  Kraft  als  ein 
unsichtbar  und  untastbar  Wirkendes  in  die  Ferne  zur  Ur* 
sache  von  Veränderungen  in  den  Geschwindigkeiten  sieht* 

585 


barer,  tastbarer  Gegenstände  zu  erheben.  Nicht  nur  hegt 
man  keine  Scheu,  die  Elemente  zweier  ganz  verschiedenen 
Lagen  des  Bewußtseins,  wie  sie  die  sichtbare  und  die  uns 
sichtbare  Wirklichkeit  offenbar  bilden,  kausal  aufeinander 
zu  beziehen;  sondern  man  meint  außerdem  mit  wachsender 
Bestimmtheit  feststellen  zu  dürfen,  daß  nur  bei  Bestands 
teilen  solch  verschiedenartiger  Lagen  überhaupt  von  einer 
mechanischsmaschinellen  Verursachung  gesprochen  werden 
könne;  —  alle  Kausalität  sei  mithin  eine  ,allotrope',  statt* 
findend  zwischen  zwei  wesensverschiedenen  Schichtungen 
bewußter  Weltwirklichkeit.  Gewiß  steht  es  auch  jetzt  noch 
nicht  so,  daß  die  Summe  der  Elemente  der  einen  Schicht 
schlechterdings  zur  Ursache  der  Summe  der  Elemente  der 
anderen  Schicht,  daß  Kräfte  schlechtweg  zu  Ursachen  von 
Massen  schlechtweg  gemacht  würden.  Nein,  nicht  das  dys 
namische  Substratum  ist  Ursache  des  materiellen  Substras 
tum,  sondern  Ursache  lediglich  zuständlicher  Änderungen 
im  letzteren.  Die  Kraft  überträgt  die  Änderung  der  Ges 
schwindigkeit  von  einem  Teil  sichtbarer  Massen  auf  andere 
Teile,  —  sei  es,  daß  sie  an  die  Massen  irgendwie  .gebunden' 
sei,  ähnlich  wie  nach  der  Meinung  vieler  Physiologen  oder 
Philosophen  die  Gedanken  an  die  graue  Rindenschicht  der 
großen  Hirnhalbkugeln  gebunden  sind,  sei  es,  daß  sie 
selbständige  Eigenschaftträger  seien  wie  die  Massen  selbst. 
Leider  kann  es  jedoch  bei  dieser  vorsichtigen  und  übers 
zeugenden  Auffassung  der  Sachlage  sein  Bewenden  nicht 
haben,  und  schon  wenn  man  die  bisherige  Deutung:  Kraft 
nicht  Ursache  von  Massen,  sondern  von  Geschwindigkeits 
änderungen,  über  das  Bereich  des  mechanischen  Stoßes 
und  darnach  auch  über  das  Bereich  der  eigentlichen  Mes 
chanik  hinaus  erweiternd  anzuwenden  trachtet,  wird  man 
sehr  unliebsam  durch  neue  Schwierigkeiten  verwirrt.  Denn 
unverkennbar  verfolgen  alle  physikalischen  Wissenschaften, 

586 


zunächst  auf  eine  analytische  Beherrschung  natürlicher 
Bewegungen  gerichtet,  im  weiteren  ganz  unverhohlen  die 
methodische  Absicht,  die  sämtlichen  Substrat^Erlebnisse 
des  Bewußtseins  womöglich  eben  —  als  Bewegungen  zu 
entlarven.  Ich  brauche  nur  an  das  Verfahren  der  Optik  zu 
erinnern,  wie  sie  die  für  den  naiven  Betrachter  substrathaf* 
ten  oder  wenigstens  substratähnlichen  Erscheinungen  Licht 
und  Farbe  in  Bewegungen  eines  »hypothetischen  Mittels' 
umzudenken  beflissen  ist;  solches  Verfahren  ist  typisch  für 
die  gesamte  mechanische  Naturerkenntnis.  Wo  irgendwie 
stätige  Wahrnehmunggebilde  zur  Beobachtung  gelangen, 
werden  sie  von  der  Physik  als  Formen  der  Bewegung  aufs 
gewiesen.  Der  Schall  wird  zur  strahlenförmigen  Bewegung 
der  Luft;  neben  der  Farbe  und  dem  Licht  werden  Magne* 
tismus  und  Elektrizität  zu  Fortpflanzungweisen  des  Äthers. 
Die  sogenannt  spezifischen  Qualitäten  der  Sinne  werden 
zurückgeführt  erstens  auf  die  spezifischen  Qualitäten  der 
Energie,  dann  aber  auf  besondere  Beschaffenheiten  der  Be* 
wegung.  Wo  aber  Bewegungen  stattfinden,  da  müssen  ganz 
allgemein  auch  Kräfte  vorausgesetzt  werden,  falls  überhaupt 
einmal  Kraft  als  Ursache  von  Bewegungen,  Ursache  von 
Geschwindigkeitänderungen  zugelassen  worden  ist.  Denn 
veränderliche  Geschwindigkeiten,  die  ihres  Teils  der  ,Ur* 
Sachen'  bedürfen,  besitzen  nicht  nur  die  Massenpunkte  der 
Mechanik  (im  engeren  Wortverstand),  sondern  die  Massen* 
punkte  jedes  materiellen  Aggregatzustandes,  jedes  chemi* 
sehen  Elements,  ja  sogar  die  Massenpunkte  des  Äthers, 
deren  er,  da  er  trag'  ist,  nicht  durchaus  entbehren  kann. 
Selbst  wo  nicht  mehr  die  eigentliche  Geschwindigkeit  (wie 
in  der  eigentlichen  Mechanik),  sondern  die  Spannung  als 
der  eine  Faktor  der  Energie  eingeführt  wird  (wie  in  den 
übrigen  Zweigwissenschaften  der  modernen  Physik),  bleibt 
dennoch  die  Änderung  der  Spannung  mit  einem  Vorgang 

587 


der  Bewegung  verknüpft,  —  und  umgekehrt  darf  die  Be* 
wegung  sichtbarer  Massen  als  Ausgleich  räumlicher  Span* 
nungen  ausgelegt  werden.  Kraft  als  Ursache  von  Geschwin* 
digkeitänderungen,  mithin  von  Spannungausgleichen,  mit* 
hin  von  Bewegungen  ist  also  keineswegs  ein  auf  die  Me* 
chanik  als  solche  eingeengter,  vielmehr  ein  physikalisch  zu 
verallgemeinernder  Begriff,  schließlich  überall  dort  unent* 
behrlich,  wo  die  Physik  einen  Wahrnehmungzusammen* 
hang  in  Bewegungvorgänge,  Geschwindigkeitänderungen, 
Spannungausgleiche  auflöst.  Damit  aber  ist  es  ausge* 
sprochen,  daß  die  Kraft,  weit  entfernt  nur  die  Ursache  von 
Bewegungen  und  bewegungähnlichen  Vorkommnissen  zu 
sein,  Ursache  auch  aller  jener  substratähnlichen  Gebilde 
des  Bewußtseins  ist,  welche  von  der  Physik  als  Formen  oder 
Arten  von  Bewegungen  durchschaut  werden.  Wie  sich  die 
Wahrnehmungstätigkeit  spektraler  Farben  gefallen  lassen 
muß,  als  soundso  viel  Billionen  Schwingungen,  will  heißen 
als  spezifische  Bewegung  von  der  und  der  Geschwindigkeit 
errechnet  zu  werden,  so  müssen  sich  alle  entsprechenden 
Erlebnisse  des  Bewußtseins  einer  entsprechenden  Zerglie* 
derung,  Auflösung,  Entstätigung,  Verzahlung  geduldsam 
unterziehen.  Die  Substrate  der  Sinne  oder  die  Qualitäten 
dieser  Substrate  werden  als  .scheinbare*  aus  dem  Bewußt* 
sein  hinausgedrängt  und  durch  entsprechende  Bewegung* 
Vorgänge  ersetzt:  also  daß  die  angenommene  Ursache  die* 
ser  Bewegungen  ipso  facto  als  Ursache  der  von  ihnen  ver* 
drängten  Schein*Substrate  eingeschwärzt  wird.  Die  Sub* 
strate  oder  vorsichtiger  gesprochen:  die  substratähnlichen 
Erlebnisse  der  Sinneswirklichkeit  teilen  infolgedessen  mit 
Notwendigkeit  das  Geschick  aller  mechanistischen  Bewe* 
gungen,  Wirkung  von  Kräften  zu  sein,  nachdem  es  für  ge* 
wiß  erachtet  wird,  daß  sie  in  Wahrheit  gar  keine  Substrate, 
gar  keine  Farben  oder  Klänge  oder  Wärmeempfindungen, 

588 


sondern  strahlende  oder  sonstweiche  Bewegungen  des 
ätherischen  Mittels  sind.  Nicht  viel  anders,  wie  man  sich 
ungefähr  die  Moleküle  einer  wässerigen  Lösung  chemisch 
zertrümmert  denkt,  um  sich  die  Bewegungen  ihrer  elektrisch 
geladenen  Atome  zu  den  Polen  der  Elektroden  hin  zu  er* 
klären,  denkt  man  sich  hier  die  extensiven  Erscheinungen 
des  Bewußtseins  gleichsam  zertrümmert  in  (intensive)  Eies 
mentarquanten ,  die  in  ihrer  Anhäufung  das  , Scheinbild' 
(Piatons  (pdvtaojua,  nicht  Piatons  eixcov})  des  substrathaft 
ausgedehnten  Weltstoffes  hervorbringt.  Der  ausgedehnte 
Komplex  sinnlicher  Empfindungen  ist  das  Ergebnis,  ja  die 
Schöpfung  an  sich  unausgedehnter  Intensitäten  unsinnlicher 
Kräfte,  die  im  Aufeinanderwirken  und  Gegensichbewegen 
denjenigen  Raum  erschaffen,  der  dem  Pseudosubstratum 
der  extensiven  Stätigkeiten  des  Bewußtseins  an  und  für 
sich  oder  ,in  Wirklichkeit'  entspricht  .  .  . 

Wir  kehren  nach  dieser  nicht  unwichtigen  Unterweisung 
in  die  methodischen  Absichten  der  Physik  zurück  zu  dem 
Satze  von  der  mechanischen  Fernwirkung,  der  mittlerweile 
freilich  ein  anderes  Gepräge  angenommen  hat.  Sagte  ich 
vorhin,  die  Ursache  setze  da,  wo  sie  nicht  sei,  notwendig 
etwas,  das  vorher  nicht  gewesen  wäre,  so  heißt  dies  jetzt 
nicht  mehr  allein,  daß  die  Ursache  in  einem  Substratum 
einen  veränderten  Zustand  bewirke,  sondern  daß  sie  dieses 
Substratum,  wofern  es  an  sich  doch  ,nur'  eine  Summe  von 
Bewegungvorgängen  sei,  geradezu  erzeuge  und  hervor* 
bringe.  Der  Begriff  der  Ursache  vertieft  sich  (etwa  mit 
anderen  Worten)  zum  Begriff  des  Ursprungs,  und  die 
Kausalität  offenbart  ihren  innersten  und  fragwürdigsten 
Charakter  als  Genesis,  Entstehung,  Hervorbringung,  Er* 
zeugung,  Abstammung!  Kausales  Denken,  freilich  die  Zu* 
gel  mathematischerGleichsetzungen  nunmehr  stark  lockernd, 
strebt  immer  augenfälliger  genetischem  Denken  zu :  so  tief 

589 


verwurzelt  ist  die  Ursache  ihrem  Wesen  nach  mit  dem  Ur* 
sprung.  Die  zur  Physik  erweiterte  Mechanik  aber  stellt 
sich  und  uns  die  außerordentliche  Aufgabe,  die  Wahrneh* 
mungstätigkeiten  des  Bewußtseins  genetisch  abzuleiten. 
Zwar  kann  sie  sich  aus  den  und  den  Gründen  an  der  Lö* 
sung  dieser  Aufgabe  scheu  vorbeidrücken :  aber  sie  kann 
nicht  in  Abrede  stellen,  daß  diese  Aufgabe  genau  in  der 
Linie  des  mechanisch*maschinellen  Weltdenkens  gelegen 
ist  und  von  hier  aus  ihre  Lösung  fordert.  Denn  trotz  aller 
geheimen  Feindschaft  wider  die  Kausalität  gehört  diese  je 
und  je  zu  den  konstitutiven  Grundregeln  jeder  erdenklichen 
Erkenntnis  und  Erfahrung  der  mechanisch  interpretierten 
Natur,  —  und  das  einmal  zugestanden,  erstreckt  sich  der 
Begriff  der  Ursache  bald  von  der  Bedingung  geänderter 
Geschwindigkeiten  von  Substraten  zu  der  Bedingung  von 
Substraten  selber.  Sicherlich  bringen  Kräfte  zunächst  nur 
Bewegungen  von  Massen  hervor,  aber  da  die  Masse  zuletzt 
doch  nur  ein  Pseudosubstratum  vom  Rang  einer  spektralen 
Farbe  ist,  darf  auch  sie  als  ein  Bewegungvorgang  aufgefaßt 
werden,  der  durch  Kräfte  oder  sonst  welche  letzten  Dinge 
verursacht,  heißt  das  erzeugt,  gesetzt,  hervorgebracht,  er* 
schaffen  ward.  Auf  eine  derartig  genetische  Interpretation 
der  Kausalität  stoßen  wir  schon  gelegentlich  der  hertz'schen 
Ableitung  der  Masse  aus  dem  Äther,  oder  der  hartmann* 
sehen  Ableitung  des  Äthers  und  der  Masse  aus  der  Kraft, 
und  die  wissenschaftgeschichtliche  Tatsache  dieser  und 
ähnlicher  Entwicklungen  würde  allein  genügend  sein,  um 
den  tatsächlich  genetischen  Umschlag  der  Kausalität  jeder 
feineren  Beobachtung  sicherzustellen.  Für  jeden,  den  die 
intellektuelle  Tugend  der  Konsequenz  auszeichnet,  wandelt 
sich  die  Ursache  von  mechanischen  Zustandänderungen  in 
die  Ursache  der  scheinbaren  Träger  dieser  Änderungen  um : 
einfach  darum,  weil  die  Physik  die  im  Bewußtsein  vorge* 

590 


fundenen  Substrate  kurzerhand  selbst  wieder  als  Zustand* 
änderungen  weiter  zurückliegender,  annoch  unbekannter 
und  .echter*  Substrate  entlarvt,  —  allerdings  ohne  damit 
den  Substratcharakter  jener  bloß  wahrscheinlichen  Gege* 
benheiten  völlig  tilgen  zu  können. 

Das  weitschichtige  und  unvermeidliche  Unternehmen 
einer  solch  genetischen  Ableitung  an  und  für  sich  sei  hier 
nur  im  Vorbeigehen  etwas  gestreift.  Eine  Entwicklung  der 
scheinbaren  Substrate  des  Bewußtseins  aus  den  (vermutlich) 
echten  Substraten  jenseit  oder  hinter  dem  Bewußtsein  würde 
darauf  hinauslaufen,  die  qualitativ  gefärbten,  qualitativ 
ausgezeichneten  Extensitäten  der  Wahrnehmungwirklich* 
keit  aus  qualitätlosen  Intensitäten  entstehen  zu  lassen.  Diese 
Aufgabe  von  Grund  auf  zu  lösen,  ist  mir  freilich  nur  ein 
einziger  Versuch  wahrhaft  großen  Wurfes  bekannt  gewor* 
den,  —  der  schon  erwähnte  Versuch  der  hartmannschen 
Naturphilosophie,  mit  einem  verschwenderischen  Aufwand 
an  physikalischen,  physiologischen  und  psychologischen 
Kenntnissen  eine  Brücke  zu  schlagen  zwischen  unausge* 
dehnt  qualitätfreien  Kraftpunkten  hüben  und  der  qualita* 
tiven  Wahrnehmungstätigkeit  des  »Stoffes*  drüben.  Dies 
proteisch  vielgestaltete  Scheinsubstratum  soll  darnach  aus 
dem  echten  Substratum  Kraft  hervorgegangen  sein,  so  zwar, 
daß  die  Äußerungen  dynamischer  Intensitäten  durch  gegen* 
seitige  Rückwärtsbiegung  und  Stauung  selbst  sich  als  Emp* 
findung  (genauer  wohl :  als  Gefühl)  von  Unlust  inne  wür* 
den,  um  dann  aus  diesem  primitiven  Inhalt  des  Bewußtseins 
unter  Mitwirkung  sogenannt  .unbewußt  synthetischer  In* 
tellektualfunktionen'  eine  extensiv  und  qualitativ  bestimmte 
Wahrnehmungstätigkeit  zu  erzeugen.  Indessen  verfällt  auch 
dieser  waghalsige  Versuch,  als  Spiel  einer  seltenen  speku* 
lativen  Einbildungkraft  viel  höher  zu  bewerten  als  es  bis* 
her  geschah,  einem  allgemeinen  Dilemma  der  Vernunft,  das 

591 


vom  Begriff  der  Entstehung  leider  nicht  abzulösen  ist. 
Stellt  man  sich  nämlich  ein  vorhin  noch  nicht  gewesenes 
Etwas  vor,  entstehend  aus  einem  vorhin  schon  gewesenen 
Etwas,  so  sind  zwei  Fälle  erdenklich.  Entweder  war  das 
neu  entstandene  Etwas  schon  im  vorigen  Etwas  auf  irgend* 
eine  Weise  enthalten,  beispielweis  wie  die  kinetische  Ener* 
gie  eines  Körpers  schon  als  latente  Energie  in  ihm  enthalt 
ten  gewesen  sein  muß,  —  und  dann  ist  es  pure  Taschen* 
Spielerei,  scheinbar  eins  aus  dem  andern  hervorzuzaubern 
und  eine  eigentliche  Entstehung  zu  behaupten.  Oder  aber, 
das  neue  Etwas  ist  in  keinem  vorhergehenden  Ding  oder 
Zustand  nachzuweisen,  —  und  dann  ist  seine  Entstehung 
unserem  Verstand  schlechterdings  unerfaßbar  und  der  Ver* 
such  seiner  wissenschaftlichen  Erklärung  eitel.  Wobei  na* 
türlich  beide  Möglichkeiten  in  demselben  Fall  abwechselnd 
herangezogen  werden  können,  um  gegenseitig  ineinander 
zu  greifen.  Und  eben  dies  trifft  zu  für  Hartmanns  Genesis 
der  qualitativen  Kontinua  des  Bewußtseins  aus  dynami* 
sehen  Intensitäten,  —  etwa  in  folgender  Weise: 

Um  eine  wirkliche  Entstehung  handelt  sich's  hier,  wenn 
auf  der  ersten  Stufe  dieser  Genesis  die  rein  intensive  Kraft* 
einheit  eine  räumlich  extensive  Sphäre  als  sogenannte 
,Kraft*Äußerung'  setzt  oder  erschafft.  Denn  enthalten  sein 
in  der  raumlosen  Intensität  der  Kraft  konnte  die  räumliche 
Extension  der  Kraftäußerung  in  keiner  Weise.  Steht  aber 
diese  mit  jener  trotzdem  in  einem  Verhältnis  der  Verur* 
sachung,  so  hat  man's  mit  einem  echten  und  rechten  Ur* 
Sprung  zu  tun,  mit  einer  metaphysischen  jusrdßaoig  eis  ällo 
yevog  verwegenster  Bedeutsamkeit,  —  die  Kraft  .springt'  aus 
dem  Zustand  raumlos  punktueller  Stärkegrade  in  den  Zu* 
stand  räumlichen  Ausgebreitetseins  hinüber,  ungefähr  wie 
nach  Hartmanns  eigenen  Worten  (der  Kategorienlehre)  in 
einem  ähnlichen  Fall  die  Ewigkeit  kurzerhand  in  die  Zeit* 

592 


lichkeit  hineinspringt:  mit  beiden  Beinen,  wie  wir  hoffen 
wollen  .  .  .  Ursprünge  in  diesem  Wortverstand  ereignen 
sich  vielleicht  tatsächlich  im  Weltgeschehen  oder  haben  sich 
ereignet,  ich  weiß  es  nicht.  Mit  auskömmlicher  Bestimmt* 
heit  weiß  ich  nur  das  eine,  daß  vor  ihnen,  wenn  sie  sich 
wirklich  ereignet  haben  sollten,  jedes  erkenntnismäßige 
Begreifen  abdanken  müßte,  weil  sie  dem  Grundsatz  ex 
nihilo  nilfit  stracks  zuwiderlaufen.  Als  sollte  jedoch  dieser 
Einwand  von  vornherein  unschädlich  gemacht  werden, 
wird  dann  auf  einer  nächsten  Stufe  dieser  hartmannschen 
Genesis  eine  Entwicklung  herangezogen,  wo  das  neu  Ent* 
stehende  zweifellos  in  dem  Etwas  schon  enthalten  war, 
woraus  es  hergeleitet  ist.  So,  wenn  die  zurückgestaute  Kraft* 
äußerung  zur  Empfindung  von  räumlich  charakterisierter, 
mithin  extensiver  Beschaffenheit  »umschlägt*.  Hier  ist  die 
Extensität  der  Empfindung  keine  schlechthin  neue  Katego* 
rie,  kein  erstmals  gesetztes  Etwas,  weil  extensiv  ja  schon 
die  Kraftäußerung  als  solche  gewesen  ist.  An  und  für  sich 
entsteht  also  die  Extension  auch  nicht  erst  im  Bewußtsein, 
wofern  sie  Extension,  sondern  lediglich  wofern  sie  Empfin* 
düng,  Spiegelung,  Bewußtsein  dieser  ist:  sie  selbst  hinge* 
gen  wird  ins  Bewußtsein  und  gleichsam  in  eine  andere 
Seins*Lage  übertragen.  Erst  auf  einer  dritten  Stufe  begibt 
sich  wieder  die  richtige  Entstehung  eines  unbestritten 
Neuen,  indem  die  als  Empfindung  zurückgebogene  exten* 
siv*intensive  Kraftäußerung  qualitativ  getönt  erscheint. 
Die  Qualität  ist  wieder  im  strengsten  Sinn  eine  Entstanden* 
heit,  wie  vorhin  die  Extensität  der  Kraftäußerung  im  Ge* 
gensatz  zur  bloßen  Intensität  der  Kraft  eine  Entstandenheit 
gewesen  ist.  Sie  kann  ganz  offenbar  weder  in  der  reinen 
Intensität  punktueller  Krafteinheiten,  noch  in  der  räum* 
liehen  Ausgebreitetheit  der  Kraftäußerung,  noch  in  der  emp* 
findungmäßigen  Spiegelung  dieser  Äußerung  enthalten  ge* 

38     Ziegler,  Gestaltwandel  der  Götter  593 


dacht  werden.  Zwischen  ihr  und  allem  früheren  klafft  eine 
Kluft,  welche  abermals  nur  ein  rechtschaffener  Ursprung 
zu  überspringen  fähig  wäre.  Aber  merkwürdigerweise  greift 
Hartmann  hier,  wo  die  Entstehung  eines  Etwas  aus  dem 
Nichts  besonders  eindringlich  aufgezeigt  werden  könnte, 
auf  einen  mehr  vermittelnden  und  weniger  verdacht* 
erweckenden  Gedanken  zurück.  Die  Qualität  entsteht  bei 
ihm  nicht  plötzlich  und  nicht  ursprunghaft;  sie  wird  nicht 
wie  die  Kugel  aus  dem  Rohr  geschossen  nach  dem  vorigen 
Muster  der  Entstehung  von  Kraftäußerungen  aus  Kräften 
oder  von  der  Zeit  aus  der  Ewigkeit.  Vielmehr  sie  wird 
allmählich,  behutsam,  in  zahllosen  zarten  Übergängen. 
Ähnlich  wie  die  Mechanik  des  Stoßes,  wir  bemerkten  es, 
die  Unstätigkeitstelle  behandelt  als  ob  sie  stätig  wäre,  ahn* 
lieh  behandelt  Hartmann  den  Sprung  von  qualitätfremden 
zu  qualitativen  Wahrnehmunggebilden  als  eine  Summie* 
rung  allerkleinster  Übergänge.  Und  zwar  bezieht  er  sich 
dabei  auf  das  Beispiel  der  Sirene,  wo  primitive  Empfin* 
düngen  von  rauhen  Luftstößen  in  Empfindungen  klang* 
ähnlicher  Geräusche,  ja  von  Klängen  selber  übergehen,  je 
nachdem  die  Luft  durch  die  Löcher  der  drehbaren  Scheibe 
in  schnelleren  oder  langsameren  Zeitmaßen  gepreßt  wird. 
Auf  solche  Weise  statuiert  der  Naturphilosoph  Hartmann 
einen  sukzessiven  Übergang  von  unqualifizierten  und  un* 
qualifizierbaren  Elementarempfindungen  bis  zu  den  quali* 
tativ  höchstwertigen  Erlebnissen  bunter  Erfahrungwirklich* 
keit:  die  Qualität  ist  als  entstanden  nachgewiesen  und  der 
Prozeß  ihrer  Entstehung  sogar  in  den  einzelnen  Phasen 
beschlichen  und  belauscht. 

Ist  es  notwendig,  zu  beweisen,  daß  diese  scharfsinnig  er* 
fundene  Entstehunggeschichte  auf  einer  Selbsttäuschung 
beruhe?  Daß  wir  auch  bei  den  einzelnen  Luftstößen  einer 
langsam  gedrehten  Sirene  keine  qualitätlosen  Empfindun* 

594 


gen  erleben,  ja  nach  dem  Gesetz  von  den  spezifischen  Ener* 
gien  der  Sinne  gar  nicht  erleben  können,  selbst  wenn  diese 
Empfindungen  in  Wahrheit  nur  noch  als  ,Druckwahrneh* 
mungen  im  Gehörorgan'  aufzufassen  wären,  die  zwar  noch 
nicht  jede  Qualität,  immerhin  aber  doch  schon  die  ,spezi? 
fisch  akustische'  eingebüßt  hätten?  Denn  gerade  jenem 
Gesetz  zufolge,  dessen  Geltung  anzuzweifeln  kein  Grund 
vorliegt,  antwortet  jedes  Organ  der  Sinne  auch  auf  nicht 
.konforme'  Reize  mit  der  ihm  eigentümlichen  Empfindung* 
weise,  muß  also  auch  das  mechanisch  von  Luftstößen  be* 
eindruckte  Ohr  oder  Auge  immer  noch  akustische  oder 
optische  Wirkungen  hervorbringen.  Der  Donner  heftiger 
Erschütterungen,  das  Gebrumm  und  Gesums  vereinzelter 
Stöße  ist  auch  durchaus  nicht  wirklich  .ärmer'  an  Qualität 
wie  beispielweis  das  mehrmals  angeschlagene  dreigestrichene 
F  eines  Bechsteinflügels,  —  so  wenig  wie  etwa  die  Qualität 
.schwarz'  an  sich  ärmer  ist  wie  die  Qualität  .purpur'  oder  die 
Qualität  »Wachenheimer  Auslese  Neunzehnhundertundelf 
ärmer  wie  die  Qualität  .Zuckerwasser' ;  mag  im  übrigen  der 
Klang  des  Bechsteins,  die  Tinte  des  Purpurs,  die  Blume 
des  Wachenheimers  aus  nicht  hierhergehörigen  Gründen 
den  Genießer  vielmals  mehr  beglücken  als  die  mit  ihnen 
verglichenen  Kontrastqualitäten.  Diese  sind  gewiß  anders 
als  die  anderen.  Aber  ich  finde  uns  keineswegs  dazu  be* 
rechtigt,  sie  darum  nun  die  ärmeren  zu  nennen  und  dadurch 
den  Anschein  zu  wecken,  als  seien  qualitative  Erlebnis* 
unterschiede  mittels  quantitativer  Kategorien  wie  .reich' 
und  ,arm'  abzumessen  oder  größenmäßig  zu  bestimmen. 
Folglich  ist  es  auch  nicht  statthaft,  von  solchen  angeblich 
.ärmeren'  Qualitäten  per  analogiam  auf  ,arme*  und  .ärmste' 
Qualitäten  ohne  spezifische  Beschaffenheit,  ja  zuletzt  auf 
die  mutmaßlich  qualitätlosen  Eindrücke  irgendwelcher  mut* 
maßlichen  Bewußtheiten  zu  schließen,  wo  die  Empfindung 

38*  595 


nur  noch  intensives  Quantum,  nicht  mehr  eigentliches  Quäle 
sei.  Selbst  den  Fall  gesetzt,  wir  stießen  bei  unseren  Ver* 
suchen  auf  dergleichen  elementarische  Empfindungen  von 
bloß  noch  intensiver  Beschaffenheit,  —  was  wäre  dann 
weiter,  als  daß  wir  uns  bei  dieser  Gelegenheit  der  geist* 
reichen  Feststellung  Bergsons  zu  entsinnen  hätten,  wonach 
die  sogenannte  Intensität  der  Empfindung  psychologisch 
gar  nichts  anderes  ist  als  eben  gleichfalls:  eine  Qualität? 
Die  bis  ans  Ende  gedachte  Ableitung  der  Qualität  aus  der 
Intensität  schlüge  dann  also  plötzlich  dialektisch  um  in  ihre 
eigene  Gegensetzung,  und  statt  einer  Entstehung  der  Quali* 
tat  aus  der  Intensität,  wie  sie  Hartmann  sozusagen  als  Be* 
auftragter  und  Vollstrecker  der  modernen  Physik  durchzu* 
führen  bestrebt  ist,  hätten  wir  eine  Entstehung  der  Intensi* 
tat  aus  der  Qualität  folgerichtig  anzustaunen!  Oder  wahr* 
heitentsprechender  ausgedrückt :  wir  hätten  überhaupt  keine 
Entstehung  mehr  zu  bewundern,  sondern  ein  ergötzliches 
Stückchen  Taschenspielerei  und  Eulenspiegelei,  bei  welcher 
man  jeweils  das  Etwas,  aus  dem  scheinbar  leeren  Sack  ge* 
zogen,  vorher  mit  Kunst  und  Heimlichkeit  dort  hinein* 
praktizieret  haben  würde  .  .  . 

Neben  diesen  etwas  allgemeinen  Einwänden  gegen  die 
genetische  Ableitung  qualitativer  Wahrnehmungstätigkeiten 
aus  bloßen  Kräften,  eine  Ableitung,  die  unstrittig  innerhalb 
der  methodischen  Absichten  der  mechanisch*maschinellen 
Weltdeutung  gelegen  ist,  stemmt  sich  demselben  Unterfans 
gen  übrigens  ein  anderweitiges  Hindernis  entgegen.  Ich 
meine  die  tiefe  Abneigung  gerade  der  Physik,  sich  auf 
hypothetische  Wesenheiten  wie  immaterielle  Kraftpunkte, 
dynamische  Monaden,  atomistische  Intensitäten  und  ahn* 
liehe  des  näheren  einzulassen.  Man  hat  zwar  beileibe  nichts 
dagegen,  gelegentlich  auch  einmal  diese  Dinge  in  den  Um* 
kreis  der   erdenklichen  Ur*Sachen  hereinzuziehen.   Aber 

596 


man  sieht  es  ungern,  wenn  darüber  allzuviel  geredet  und 
verhandelt  wird.  Denn  dem  mechanistischen  Interpreten 
der  Natur  ist  es  nicht  um  die  Ursachen,  sondern  um  die 
Erscheinungen  zu  tun,  und  es  verlangt  ihn  viel  weniger 
darnach,  von  diesen  auf  jene  rückwärts  zu  schließen,  als 
durch  sie  einen  möglichst  umfänglichen  Komplex  noch  un* 
erforschter  Wirkungen  aufzuzeigen  und  zu  ordnen.  Rück* 
sichtlich  dieser  Eigenheit  ist  es  ihm  nicht  zu  verübeln,  wenn 
er  einen  ziemlichen  Abscheu  vor  Spekulationen  fühlt,  die 
sich  in  genauer  Fortsetzung  und  Verlängerung  seiner 
eigenen  Vorsätze  mit  der  Ergründung  an  sich  unergründ* 
licher  Wesensbegriffe  befassen.  Derartige  Spekulationen 
bedünken  ihn  unbescheiden  und  überheblich,  indem  sie 
voreilig  eine  Grenze  festzustecken  scheinen,  an  deren  ewi* 
ger  Verrückbarkeit  er  das  stärkste  Interesse  hat.  Mit  un* 
endlichem  Erfindergeist  ausgerüstet,  die  Grenzen  der 
Sichtbarkeit,  der  Erfahrbarkeit  dauernd  zu  erweitern,  läßt 
er  sich  nicht  überzeugen,  daß  letzte  Ursachen  schlechter* 
dings  dem  Unsichtbaren,  Ungreifbaren,  Stofflosen,  Über* 
sinnlichen  angehören  sollten.  Und  in  dieser  Hinsicht  ist 
es  für  genetische  Ableitungen,  wie  sie  Eduard  von  Hart* 
mann  bevorzugte,  allerdings  ein  übles  Omen  gewesen,  daß 
etliche  Jahre  nach  ihm  und  seinem  Werk  das  Ultra*Mikro* 
skop,  Mehr* als* Mikroskop,  die  elektrischen  Elementar* 
quanten  zu  versichtbaren  vermocht  hat.  Bekanntlich  war 
man  so  erfolgreich,  die  Lichtstrahlen  als  Medium  optischer 
Vermittlungen  auszuschalten  und  sie,  die  an  einer  verhält* 
nismäßig  allzu  großen  Wellenlänge  kranken,  zuerst  durch 
ultraviolette,  später  durch  Röntgenstrahlen  passend  zu  er* 
setzen,  die  eine  ungefähr  zehntausendmal  kleinere  Wellen* 
länge  besitzen  als  das  Licht.  Dadurch  ward  eine  Wirklich* 
keit  sinnlich  gegenwärtig,  die  sich  zur  Welt  des  Mikroskops 
verhielt  wie  diese  zur  Welt  des  Menschenauges:  und  in 

597 


dieser  ultramikroskopischen  Wirklichkeit  tauchen  die  (durch 
Radiumstrahlen  erzeugten)  elektrischen  Ladungkerne  auf, 
wie  sie  von  feinst  zerteilten  öl*  oder  Quecksilbertröpfchen 
aufgefangen  werden,  ja  wie  sie,  o  Wunderl  die  Schwerkraft 
dieser  Tröpfchen  geradezu  aufheben,  wohl  zum  ersten  mal 
dem  Beobachter  einen  Blick  in  wahrhaft  okkulte  Zusam* 
menhänge  vergönnend.  (Denn  wer  von  uns  hier  könnte  in 
der  Tat  diesen  Bericht  über  die  von  elektrischen  Ladung* 
kernen  emporgetragenen  Quecksilbertröpfchen  lesen,  ohne 
dabei  der  köstlichen  Legende  San  Francescos  unwillkürlich 
zu  gedenken,  wie  er  von  seinen  Jüngern  eines  Tages  gleich* 
falls  in  der  Schwebe  aufgehobener  Schwerkraft  über  dem 
Berg  La  Vernia  wahrgenommen  wurde?  .  .  .)  Damit  aber 
nicht  genug,  elektrisierte  man  die  Atome  von  Kristallen 
mittels  Röntgenstrahlen  und  machte  sie  dadurch  zu  Aus* 
gangpunkten  eigener  Strahlung.  Aus  der  Interferenz  dieser 
Strahlungen  ergaben  sich  Licht*Minima  und  *Maxima,  die 
ihrerseit  auf  die  photographische  Platte  gebracht  werden 
konnten  und  es  ermöglichten,  die  Länge  der  Röntgenstrah* 
len  selbst  zu  messen.  Indes  das  Mikroskop  versagen  mußte, 
die  Atome  des  Wasserstoffs  zu  versichtbaren,  weil  deren 
Größe  vielmals  hinter  der  Lichtwellenlänge  nachstand,  ver* 
sichtbart  das  Ultramikroskop  die  elektrischen  Elementar* 
quanten,  als  welche  neunzehnhundertmal  kleiner  sind  als 
die  Elementarquanten  des  Wasserstoffs.  Die  Grenze  zwi* 
sehen  Sichtbar  und  Unsichtbar  aber  erweist  sich  jetzt  als 
höchst  veränderlich,  stets  sich  zu  Gunsten  der  Sichtbarkeit 
verschiebend.  Und  ist,  wie  sich  von  selbst  versteht,  mit 
dieser  sehr  relativen  Erkenntnis  noch  lange  nicht  das  letzte 
Wort  über  grundsätzliche  Sichtbarkeit,  grundsätzliche  Un* 
Sichtbarkeit  der  letzten  Bestandteilchen  der  Natur  ge* 
sprochen,  —  ich  fürchte,  das  letzte  Wort  in  dieser  wie  in 
allen  anderen  Fragen  dieser  Art  wird  erst  der  letzte  Mensch 

598 


gesprochen  haben:  auch  er  nur  kraft  höherer  Gewalten!  — 
man  wird  in  der  Berücksichtigung  solcher  Tatsachen  schließ* 
lieh  doch  ein  Haar  darin  finden,  sich  in  derlei  Untersuchung 
gen  schon  heute  oder  morgen  dem  Philosophen  zu  verkauf 
fen.  Man  wird  einer  Entscheidung  aus  dem  Weg  gehen 
wollen,  welche  einfach  ex  cathedra  verfügt:  die  letzten  Ein* 
heiten  der  Wirklichkeit  sind  schlechterdings  unstofflich, 
an  sich  unwahrnehmbar,  punktuell  unausgedehnt  (bei  räum* 
füllenden  .Äußerungen'),  und  schließlich  rein  intensiv  ohne 
jede  qualitative  Bestimmtheit.  Nicht  aus  intellektueller  Feig* 
heit,  sondern  aus  Besonnenheit  und  Verantwortlichkeit 
wird  man  auch  eine  Entstehung  der  bewußten  Wahrneh* 
mungstätigkeiten  aus  der  sogenannten  Kraft  dahingestellt 
sein  lassen  und  sich  weder  dafür  einsetzen,  daß  die  ultra* 
mikroskopisch  versinnlichten  Elementarquanten  der  Elek* 
trizität  etwa  schon  die  letzten  und  einfachsten  Einheiten  der 
materiellen  Natur  seien,  noch  dafür,  daß  diese  Einheiten 
unbedingt  als  unwahrnehmbare  dynamische  Punkte  gedacht 
werden  müßten  .  .  . 

Inzwischen  haben  es  die  mechanistischen  Wissenschaften, 
wie  schon  gesagt,  im  allgemeinen  gut  verstanden,  sich  von 
genetischen  Spekulationen  im  Sinne  der  hartmannschen 
Naturphilosophie  fernzuhalten.  Sie  haben  mit  diesem  Ge* 
danken  gespielt  und  werden  immer  wieder  mit  ihm  spielen, 
dies  ist  richtig.  Aber  sie  mögen  es  doch  lieber  der  Philo* 
sophie  überlassen,  sich  durch  allzu  ernsthaftes  Zuende- 
denken  ihrer  methodischen  Absichten  wissenschaftlich 
lächerlich  zu  machen,  —  ähnlich  wie  es  die  Sozialdemokratie 
aus  Gründen  höherer  Taktik  stets  ihren  Feinden  überlassen 
hat,  die  Gesamtverfassung  einer  sozialisierten  Gesellschaft 
im  einzelnen  auszumalen,  um  ihnen  kaltblütig  dann  die 
Abfuhr  zu  erteilen :  das  sagten  Sie,  mein  Herr,  nicht  ich  . . . 
Bei  solchen  Anlässen  weiß  man  dann  nicht  recht,  ob  man 

599. 


sich  freuen  soll  über  die  neunmal  Gescheuten,  die  eine 
konsequente  gedankliche  Durchbildung  ihrer  eigenen  Ten* 
denzen  gewitzt  zu  vermeiden  wissen,  weil  Konsequenzen 
mitunter  töten  können;  —  oder  ob  man  sich  betrüben  will 
über  die  wissenschaftlichen    enfants   terribles,   die   uner* 
schrocken,  unbefangen  ausplauschen,  was  andere  für  sich 
behalten;  —  oder  ob  man  sich  nicht  im  Gegenteil  der  letz* 
teren  freuen,  der  ersteren  aber  ärgern  möchte!    Über  die 
menschliche  Seite  dieses  Falles  wäre  vieles  zu  bemerken, 
namentlich  im  Hinblick  auf  das  Schicksal,  welches  die  bie* 
deren  Deutschen  der  hartmannschen  Philosophie  bereiteten, 
—  aber  nicht  hier  und  nicht  jetzt.    Für  hier  und  jetzt  ist  es 
wesentlich  erheblicher,  daß  die  vonHartmann  unternommene 
spekulative  Genesis  zwar  in  ihrer  Art  die  einzige,  nicht 
aber  überhaupt  die  einzige  ist,  welche  von  einer  Kritik  der 
mechanischen  Weltauffassung  in  Betracht  gezogen  werden 
muß.   Genetische  Absichten  bestimmen  vielmehr  noch  auf 
ganz  andere  Weise  die  Struktur  der  mechanischen  Wissen* 
schaften,  insonderheit  die  Struktur  der  eigentlichen  Mecha* 
nik  selbst.    Und  mit  ihnen  verglichen  sieht  Hartmanns  Ent* 
stehunggeschichte  der  qualitativen  Wahrnehmunggebilde 
des  Bewustseins  aus  unbewußten  und  qualitätfremden  In* 
tensitäten  nur  wie  eine  leere  Demonstration  der  Metaphysik 
aus,  indes  der  wirkliche  Durchbruch  genetischer  Tendenzen 
an  ganz  anderer  Stelle  erfolgt.   Es  ist  hier  mehrmals  darauf 
hingezeigt  worden,  daß  die  Mechanik  ihre  Sätze  über  die 
natürlichen    Bewegungen   und   damit   diese  Bewegungen 
selbst  wenn  irgend  angängig  aus  einem  einzigen  grund* 
legenden  Gesetze  abzuleiten,  das  heißt  zu  deduzieren,  das 
heißt   in   einer  Verknüpfungfolge  denknotwendiger  Ab* 
hängigkeiten  darzustellen   beeifert   ist.    Wohlan!     Fügen 
wir  nunmehr  hinzu,  daß  in  diesem  Bestreben  die  eigent* 
liehe  und  tiefste  genetische  Absichtlichkeit  zum  Ausdruck 

600 


kommt,  welche  die  Mechanik  und  mit  ihr  die  übrige  Physik 
mit  ihren  Disziplinen  beherrscht.  „Wir  betrachten  eine  Er* 
scheinung  der  Körperwelt",  sagt  Heinrich  Hertz  darüber, 
„als  mechanisch  und  damit  als  physikalisch  erklärt,  wenn 
wir  sie  erkannt  haben  als  eine  denknotwendige  Folge  des 
Grundgesetzes."    Es  ist  nicht  möglich,  das  genetisch*deduk* 
tive  Verfahren  der  Mechanik,  gänzlich  ohne  jede    Ein* 
mischung  oder  Beimischung  von  Spekulation  oder  Meta* 
physik,  mit  größerer  Knappheit  und  Sachlichkeit  zu  kenn* 
zeichnen.   In  , denknotwendiger  Folge'  muß  jeder  einzelne 
Vorgang  der  Natur,  jede  Bewegung  materieller  Systeme 
vom  Grundgesetz  abhängig  gemacht  und  abhängig  gedacht 
werden,  wenn  anders  ein  Vorgang  mechanisch  erkannt  und 
physikalisch  beherrscht  sein  soll.    Jedes  einzelne  Faktum 
der  Wirklichkeit  muß  also  irgendwie  aus  einem  oder  aus 
mehreren  allgemeinen  Gesetzen  .entstanden'  oder  .hervor* 
gegangen'  oder  .geworden'  sein.    Unser  gesamtes,  mit  so 
unermeßlichen  Mühen  induktiv  erarbeitetes  Wissen  von  der 
Natur  ist  nur  insofern  ein  Wissen  im  Sinn  der  Mechanik, 
als  es  in  deduktiven  Zusammenhängen  aneinandergereiht 
zu  werden  vermag.    Nicht,  wie  wir  all  die  Zeit  her  zu  ver* 
muten  Anlaß  zu  haben  wähnten,  nicht  die  analytische  Dar* 
Stellung  der  konkreten  Bewegung  eines  Körpers  ist  das 
vornehmste  Ziel  mechanisch  verstandener  Erfahrung,  son* 
dem  die  denknotwendige  Folgerung,  Ableitung,  Entstehung 
dieser  Bewegung  aus  einer  allerletzten,  alles  umspannenden 
Aussage  über  die  wirklichen  Bewegungen  zumal.   Das  ist 
die  ungemeine  Überraschung  für  jeden  vorurteilfreien  Be* 
trachter :  daß  die  induktive  Naturwissenschaft  holt    l&yfiv 
sehr  unverblümt   die   deduktive   Herleitung    aus  Grund* 
gesetzen,  aus  ursprünglichen  Beziehungen  ursprünglicher 
Teile,  kurz  aus  aristotelischen  Prinzipien  oder  o.Qya'1  betreibt, 
—  unter  aQ%>)  das  vielfüßige  Gewimmel  von  Vorstellungen 

601 


verstanden,  die  nach  des  Stagiriten  eigener  Begriffsbestim* 
mung  diesen  Denkinhalt  umschreiben:  Ausgangpunkt  oder 
tevminus  a  quo,  zweckentsprechender  Beginn,  urtümlicher 
Bestandteil,  Entstehunggrund,  letzte  Bedingung  für  Ver* 
änderung  und  Beharrung  samt  allem,  was  sonst  noch  im 
fünften  Buch  der  Metaphysik  zur  Definition  der  Ursache 
(alziov)  herangezogen  wird  . . .  Woher  aber  nun,  o  dreimal 
Bekreuzigter,  dies  unheilige  Stück  peripatetischer  Logik, 
peripatetischer  Metaphysik  —  jawohl!  es  ist  die  verdammte 
alte  Spinne  Metaphysik,  die  grau  mit  behaarten  Beinen  an  der 
hell  getünchten  Wand  hockt  1  —  inmitten  oder  richtiger:  gleich 
eingangs  unseres  modernen  Geistesstolzes  Physik?  Woher 
dieser  unverschämte  Einbruch  des  Organon  in  die  wohlbehü* 
teten  Prinzipien  der  Mechanik?  Woher  diese  erschreckende 
Ansteckung  zeitgemäßester  Wissenschaftlichkeit  mit  dem 
verschrieenen  Pilz  altertümlicher  Verstandes*Krankheiten? 
Eine  vorläufige,  vielleicht  eine  endgültige  Antwort  kann 
darauf  gegeben  werden,  sobald  wir  noch  einmal  jenen  auf* 
fallenden  Ausspruch  Heinrich  Hertzens  von  den  Erschei* 
nungen  der  Natur  als  denknotwendigen  Folgen  eines  Grund* 
gesetzes  zu  überprüfen  willens  sind.  Lassen  sich  doch  denk* 
notwendige  Folgen,  wie  sie  hier  ernsthaft  erwünscht  er* 
scheinen,  dem  Verstand  auf  keine  andere  Weise  vermitteln 
als  durch  das  einzig  dahinzielende  Verfahren  des  Vernunft* 
Schlusses,  des  Syllogismos  als  solchen.  Erst  indem  wir  diese 
Behauptung  dem  sonst  so  schmalen  und  schwanken  Bestand 
unumstößlicher  Gewißheit  dauernd  eingliedern,  werden 
wir  tatsächlich  befähigt,  jenen  erwähnten  Satz  genau  in  dem 
Sinne  aufzufassen,  wie  er  aufgefaßt  werden  muß :  die  ein* 
zelnen  Vorgänge  der  Natur  aus  einem  oder  aus  mehreren 
grundlegenden  Gesetzen  als  denknotwendige  Folgen  ab* 
leiten  heißt  eben  diese  Vorgänge  dem  Vernunftzusammen* 
hang  des  Syllogismos  einreihen  oder  sie,  was  dasselbe  ist, 

602 


aus  feststehenden  Ober*  und  Untersätzen  als  schlüssige 
Folgerungen  erhärten.  Dieses  zugestanden,  würden  also 
die  Ergebnisse  mechanisch*maschinellen  Welterfahrens 
immer  erst  dann  für  methodisch  gesichert  und  wirklich 
.mechanisiert'  erachtet  werden  dürfen,  wenn  sie  jeweils  ihre 
zukömmlichen  Stellen  in  einem  logischen  System  von 
Schlüssen  einnähmen.  Die  mechanisch  begriffene  Wirklich* 
keit  würde  zu  hinlänglich  szientifischer  Vollendung  erst 
dort  gediehen  sein,  wo  ihr  ein  universeller  Syllogismos  ge* 
wissermaßen  transzendental  unterstellt  (substituiert)  worden 
wäre;  —ein  zuverlässiges  Wissen  um  natürliche  Bewegungen 
erwürbe  man  nur  durch  eine  Art  von  (platonisch  zu  ver* 
stehender)  Teilhabe  oder  Teilnahme  an  der  vernünftigen 
Urbewegung  des  Denkens,  wie  sie  allein  im  Schluß  zur 
Auswirkung  gelangt!  Damit  es  seinen  selbstgestellten, 
selbstgewollten  Ansprüchen  voll  genügte,  müßte  das  maschi* 
nelle  Weltdenken  erst  gleichsam  eine  Drehung  um  die 
eigene  Achse  ausführen  und  in  abermals  platonischer  Vor* 
nähme  jene  berühmte  ntQiayoiyy]  vom  terminus  ad  quem  weg 
nach  dem  terminus  a  quo  vollziehen:  von  der  gedanklich 
zu  bemeisternden  Sinnenwirklichkeit  nach  dem  meisternden 
Erkenntnismittel  zurück!  Das  aber  wäre  dann  das  Paradox 
aller  Paradoxe,  das  letzte,  unbegreiflichste  mutwilligste 
Paradox  dieser  mit  Paradoxen  so  übermäßig  gesegneten 
Wissenschaft! 

Hier  ist  es  nun  offenbar  die  Forderung  des  Augenblicks, 
daß  wir  uns  einmal  noch  auf  jene  Theorie  des  Syllogismos  zu* 
rückberufen,  die  ich  seinerzeit  in  der  Darstellung  der  scho* 
lastischen  Theologie  und  ihrer  Beziehungen  zur  peripate* 
tischen  Logik  wenigstens  in  den  gröbsten  Zügen  zu  um* 
reißen  versucht  habe.  Diese  Theorie  gestattete  uns,  in  allem 
Schließen  eine  doppeltgerichtete  Bewegung  des  Denkens 
wohl  zu  unterscheiden:  zuvörderst  hinzielend  auf  eine  Art 

603 


, Wiederbringung'    aller   begrifflichen  Besondertheiten  in 
den  obersten,  allgemeinsten  und  folglich  .göttlichsten'  In* 
halt  der  Welt,    zum    anderen  mal  umgekehrt  hinzielend 
auf  eine  Entfaltung,  Herauswicklung,  Losschnürung,  Ab* 
leitung,  Hervorgehung  derselben  Besondertheiten  aus  jenem 
umspannenden  Erstbegriffe.     Gestützt  auf  diese  logisch* 
theologische  Lehre  vom  egressus  und  regressus  durfte  es  die 
Scholastik  und  die  Mystik  des  Mittelalters  wagen,  sich  das 
gesamte  weltliche  Geschehen  als  einen  einzigen  Syllogis* 
mos  zu  enthüllen,  wofern  alles  Geschehen  und  Verändern  der 
Wirklichkeit  durchaus  dieser  doppelten  Gerichtetheit  ver* 
nunftbestimmter  Regung  und  Strebung  entspricht.    Und 
nicht  war  es  uns  bei  dieser  Feststellung  entgangen,  daß  der* 
selbe  Syllogismos,  der  sozusagen  dastranszendental*logische 
Modell  für  die  natürlichen  Begebenheiten  lieferte,  nach 
einer  schon  von  Thomas  Aquinas  sauber  herausgeschälten 
Überzeugung  gleichfalls  das  logische  Modell  für  die  ur* 
sächliche  Schürzung  und  Knüpfung  abgab.    Die  Notwen* 
digkeit  natürlichen  Geschehens,  die  wir  Kausalität  zu  nennen 
pflegen,  ist  nach  den  klaren  Worten  des  Aquinaten  ein 
übertragener  Syllogismos,  heißt  das  eine  Notwendigkeit 
vernünftigen  Folgerns  und  Schließens,  —  also  daß  wir  uns 
den  artigen  Scherz  Lawrence  Sternes  in  seiner  viel  mehr  als 
scherzhaften  Beiläufigkeit  wohl  gefallen  lassen   konnten. 
Die  syllogistische  Bewegung  des  Denkens  statuiert  im  Sinn 
der  Transzendentalphilosophie  die  kausale  Bewegung  der 
Wirklichkeit,  und  was  wir  bei  dieser  Gelegenheit  als  eine 
wissenschaftgeschichtliche  Merkwürdigkeit  buchten,  brau* 
chen  wir  jetzt  nur  in  seiner  erkenntnismäßigen  Zeitlosig* 
keit  und  Unbedingtheit  abzuschätzen,  um  die  tiefste  Para* 
doxie  der  Mechanik  bis  in  ihre  geheimsten  Fältelungen  hin* 
ein  zu  durchspähen;  —  übrigens  eine  Paradoxie,  die  wir  an 
jetziger  Stelle  nicht  unzutreffend  mit  dem  Satze  kennzeichnen 

604 


dürften,  daß  eine  Mechanisierung  der  Natur  (mittels  trans* 
zendentaler  Schürzung  kausaler  Notwendigkeiten)  erst 
nach  einer  vorausgängigen  Mechanisierung  der  Vernunft 
(mittels  transzendentaler  Verkettung  syllogistischer  Not* 
wendigkeiten)  möglich  wird. 

Was  nämlich  das  Verhältnis  der  drei  Begriffe  anlangt, 
die  der  Syllogismos  in  der  Absicht  aneinanderknüpft,  den 
abgesonderten  Unterbegriff  seinem  Oberbegriff  wieder  ein? 
zuverleiben,  so  ist  man  unstreitig  berechtigt,  von  einer  Me* 
chanisierung  zu  sprechen:  und  zwar  eben  insofern,  als  der 
Schluß  als  dauerndes  Erträgnis  doch  wohl  kaum  etwas 
anderes  gewährleistet  als  —  seine  eigene  Notwendigkeit! 
Schließen,  das  läuft  unter  allen  Umständen  auf  eine  geistige 
Tathandlung  hinaus,  die  uns  die  unumstößliche  Gewißheit 
verschafft,  daß  Mittel*  und  Unterbegriff  gleichsam  als  die 
logischen  Abkömmlinge  des  Oberbegriffs  notwendig  wieder 
in  ihn  zurückgenommen  werden.  Wobei  das  Bewußtsein 
der  schlüssigen  Wiederbringung  nicht  weniger  als  das  Be* 
wußtsein  der  schlüssigen  Heraussetzung  aus  dem  Blickpunkt 
der  Aufmerksamkeit  des  Schließenden  je  und  je  verdrängt 
wird  zu  Gunsten  des  Bewußtseins  von  einem  schlechthin  un* 
entrinnbaren  Denkzwang.  Wer  schließt,  tut  dies  gemeinhin 
nicht,  um  sich  etwa  die  Mystik  des  Geistes  zu  vergegenwär* 
tigen,  die  im  Schluß  ihre  großartig  geschwungene  Bewegung 
vollzieht,  —  er  tut  es  fast  nur  noch,  um  sich  einer  Bürgschaft 
zu  versichern,  daß  seine  Verstandeshandlung  auch  wirklich 
eine  gültige  und  bündige  sei.  Derart  erscheint  die  Modali* 
tat  der  im  Schluß  auftretenden  Begriffsknüpfung  erheblich 
wichtiger  als  diese  Knüpfung  selbst.  Im  Syllogismos  findet 
das  menschliche  Denken  seine  Notwendigkeit  gegründet, 
und  das  ist  beinah'  mehr,  als  der  Ehrgeiz  der  Vernunft  er* 
warten  durfte.  Der  Schluß  zermalmt  jeden  beliebigen  Denk* 
inhalt,  wenn  er  ihm  nur  in  der  gebotenen  Ordnung  dar* 

605 


gereicht  wird,  zu  einer  Denknotwendigkeit:  und  dies  mit 
einer  solch  automatischen  und  mechanischen  Sicherheit, 
daß  er  an  und  für  sich  vollkommen  gleichgültig  gegen  Sinn 
oder  Unsinn,  Wahrheit  oder  Irrtum  der  ihm  gespendeten 
Denkinhalte  bleibt.  Aristoteles  in  Person  hat  die  ersten  Bei* 
spiele  gegeben,  wie  aus  vollkommen  idiotischen  Vorder* 
Sätzen  durch  einwandfreies  Schließen  denknotwendige 
Folgerungen  zu  erzielen  wären,  die  je  nachdem  sogar  rieh* 
tig,  sogar  ,wahr'  sein  können.  Dies  gälte  etwa  von  Folge* 
rungen  aus  Vordersätzen  dieser  Beschaffenheit:  alle  Steine 
sind  Geschöpfe;  alle  Menschen  sind  Steine;  folglich  sind 
alle  Menschen  Geschöpfe.  Oder  nach  einem  anderen  Tro* 
pos,  nach  einem  anderen  Modus  desselben  Schema  ge* 
schlössen;  kein  Mensch  ist  Geschöpf;  alle  Steine  sind  Men* 
sehen;  folglich  ist  kein  Stein  Geschöpf.  Oder  bei  richtigem 
Obersatz  und  falschem  Untersatz:  alle  Menschen  sind  Ge* 
schöpfe;  alle  Pferde  sind  Menschen;  folglich  sind  alle 
Pferde  Geschöpfe  .  .  .  Wider  diese  Schlüsse,  so  unsinnig, 
so  abgeschmackt  sie  einzeln  lauten,  ist  an  und  für  sich  nichts 
zu  sagen,  weil  sie  durchaus  untadelig  gebildet  sind.  Daß 
sie  aber  trotz  augenfälliger  Unsinnigkeit  und  Abgeschmackt* 
heit  syllogistisch  für  statthaft  zu  gelten  haben,  daß  mithin 
der  Schluß  als  solcher  in  keiner  Hinsicht  über  die  erkennt* 
nismäßige  Richtigkeit  und  Wahrheit,  nicht  einmal  über 
Sinngemäßheit  oder  Sinnwidrigkeit  der  in  ihm  vollzogenen 
Begriffs*Schürzungen  entscheidet,  —  das  möge  uns  ein  be* 
herzigenswerter  Wink  sein,  worauf  es  bei  diesem  Verstandes* 
verfahren  überhaupt  abgesehen  sein  kann:  nämlich  allein 
und  einzig  auf  die  Notwendigkeit,  mit  welcher  die  Folgerung 
aus  den  Vordersätzen  zu  ziehen  ist.  Dieser  Notwendig* 
keit*Denkzwang,  jede  Wahl,  jede  Freiheit,  jede  Verantwort* 
lichkeit  des  denkenden  Individuums  aufhebend,  ist  das 
angestrebte  Ziel  des  Schließens  je  und  je  geworden,  viel* 

606 


leicht  das  einzige,  welches  von  allen  Zielen  des  Organon 
nie  wirklich  veralten  kann. 

Den  bisherigen  Darlegungen  zufolge  hat  man  den  Syllo* 
gismos  also  aufzufassen  zunächst  als  eine  doppeltgerichtete, 
teils  deduktiv* genetische,  teils  reduktiv*apokatastatische 
Denkbewegung,  —  dann  aber  als  die  logisch  entstehende, 
logisch  gesetzte  Notwendigkeit  dieser  Bewegung:  welche 
Notwendigkeit  allmählich  sogar  die  ursprüngliche  Be* 
wegung  des  Schließens  an  Wichtigkeit  übertrifft  und  sich 
je  länger  desto  entschiedener  zum  beherrschenden  Zweck 
der  ganzen  Verstandeshandlung  aufwirft.  Am  Ende  schließt 
man  weniger,  um  jenem  intellektuellen  Kreislauf  zu  will* 
fahren,  sondern  um  als  erkennendes  Individuum,  will 
heißen  als  ein  dem  Irrtum,  der  Täuschung,  der  Ungewiß* 
heit  jämmerlich  verfallenes  Menschenwesen  einer  Vernunft* 
geborenen  Notwendigkeit  wohltätig  gehorchen  zu  dürfen. 
Diese  Notwendigkeit  ist  es,  die  der  Verstand  dann  gleichsam 
auf  die  Natur  überschreibt;  diese  Notwendigkeit  ist  es, 
welche  Ur*  und  Musterbild  der  Kausalität  darbietet.  Und 
so  sehr  eins  gewesen  ist  die  aus  dem  Syllogismos  heraus* 
geläuterte  Denknotwendigkeit  mit  der  Notwendigkeit  ur* 
sächlicher  Naturabfolgen,  daß  es  Jahrtausende  dauerte,  bis 
die  neuzeitliche  Philosophie  (seit  Leibniz)  zu  einer  be* 
grifflichen  Trennung  von  ratio  und  causa,  ägxv  und  ahia, 
Grund  und  Ursache  gelangt  war.  Wobei  selbst  mit  dieser 
Scheidung,  dieser  Unterscheidung  nichts  anderes  erreicht 
ist  als  die  Einsicht,  daß  die  Ursächlichkeit  vor  der  Denk* 
notwendigkeit  etwa  ein  besonderes  Gebiet  ihrer  An* 
wendung  voraus  hat.  Denn  in  der  Tat  ist  sie  gar  nichts 
anderes  als  die  der  Natur  eingelegte  Denknotwendigkeit, 
ein  gleichsam  verstümmelter,  auf  zwei  Glieder  einge« 
schrumpelter  Vernunftschluß,  bei  welchem  die  Prämissen 
zur   Ursache,   die    Konklusion  zur  Wirkung  umgedacht 

607 


wurden:  genau  wie  es  der  Aquinat  zu  seiner  Zeit  schon 
formuliert  hat . . . 

Darin  liegt  nun  freilich  doch  eine  nicht  ganz  unbeträchtliche 

Schwierigkeit,  die  wir  damals  noch  übersehen  durften,  hier 

aber  anerkennen  müssen.  Es  scheint  offenbar  anstößig,  daß 

die  dreigegliederte  Form  des  Syllogismos  bei  ihrer  Anwen* 

düng  auf  die  Naturwirklichkeit  auf  eine  nur  zweigegliederte 

vermindert  werden  konnte,  und  die  Gefahr  ist  nicht  klein, 

daß  an  dieser  Schwierigkeit  unsere  hier  vertretene  Auf* 

fassung  zuschanden  werden  möchte.    Indessen  sieht  auch 

dieses  bedrohlicher  aus  als  es  zuletzt  wirklich  ist.   Ist  doch 

die  zweigliedrige  Beschaffenheit  der  Kausalität  nur  eben 

eine  scheinbare,  nur  der  Sprache,  nicht  aber  dem  Sinn  nach 

vorhandene.    Die  Analysis  der  ursächlichen  Notwendig* 

keit  müßte  nämlich  dazu  führen,  einen  Unterschied  wahr* 

zunehmen  zwischen  der  Summe  der  allgemeinen  Bedin* 

gungen,  die  zu  ihrem  Teil  eine  kausal  gedachte  Beeinflussung 

von  künstlich  abgesonderten,  künstlich  vereinzelten  Gegen* 

ständen  überhaupt  erst  durch  ihr  Zusammentreffen  ermög* 

liehen,  und  zwischen  der  unmittelbaren  Gelegenheitursache 

selbst,  die  zu  diesem  allgemeinen  Zusammentreffen  hinzu* 

kommen  muß,  damit  ein  näher  bezeichnetes  Ereignis  not* 

wendig  eintritt.  Bei  jedem  Vorgang  konkreter  Verursachung 

erweitern  sich   diese   allgemeinen  Änderungbedingungen 

ins  wahrhaft  Kosmische,  Universelle,   während  sich   im 

Gegenteil  die  Gelegenheitursache  zu  einer  individuellen 

Einmaligkeit  des  Soseins   zuspitzt.    Daß  beispielweis  ein 

Elfenbeinball  einem  anderen  einen  elastischen  Stoß  erteilt, 

dies  gibt  den  ursächlichen  Anlaß,  die  ursächliche  Gelegen* 

heit  ab  für  die  Umsetzung  von  dessen  Energie  der  Lage  in 

Energie  der  Bewegung.    Was  ich  dabei  Anlaß  oder  Ge* 

legenheit  nenne,  ist  insofern  vergleichungweise  .individuali* 

siert',  als  sich  der  Stoß  des  ersten  Balls  gerade  in  der  und 

608 


der  Bewegungrichtung  und  gerade  mit  der  und  der  Kraft 
und  Beschleunigung  vermutlich  nur  ein  einziges  mal  unter 
zahllosen  malen  ereignen  wird.  Daß  jedoch  eben  dieser 
Stoß  geschehen  konnte,  hängt  wiederum  ab  von  einer  so 
verwirrenden  Vielheit  koexistenter  Bedingungen,  daß  sie 
füglich  nichts  minderes  als  die  Gesamtheit  der  Lagen  und 
Spannungen  eines  augenblicklichen  Weltzustandes  um* 
fangen.  Was  alles  vorhanden  sein  mußte,  damit  jener  indi* 
viduelle,  jener  einmalige  und  in  sich  abgesonderte  Stoß 
stattfinden  konnte,  läßt  sich  weder  überschauen  noch  nam* 
haft  machen:  das  Billard,  das  Zimmer  und  das  Haus,  worin 
es  aufgestellt  ist;  der  Mensch,  der  dieses  Spiel  mit  elfen* 
beinernen  Bällen  zu  seinem  Ergötzen  erfunden  hat;  die 
Menschen,  welche  eben  spielen  nebst  ihrer  vollständigen 
Ahnenreihe,  nebst  den  Rassen  und  Völkern  zu  diesen 
Ahnenreihen;  der  Stammbaum  des  ganzen  organischen 
Daseins,  heraufgeführt  bis  zu  der  Gattung  der  mit  Elfen* 
beinstoßzähnen  bewehrten  fünfzehigen  Huftiere  tertiären 
Ursprungs  nebst  einer  vieltausendjährigen  Geschichte  der 
Jagd  und  der  Waffen,  die  eine  Erlegung  solch  gewaltiger 
Tiere  erlauben;  die  Mannigfaltigkeit  der  leistungfähigen 
Gewerbe,  wie  sie  die  Herstellung  von  Billardtischen, 
stüchern,  *bällen,  *stöcken  voraussetzt  nebst  den  unerläß* 
liehen  Verkehrswegen,  Schiffen,  Bahnen,  Kolonien,  zivili* 
sierten  Wirtschaftformen,  nebst  subtropischen  und  tropi* 
sehen  Klimazonen,  nebst  Kugelgestalt  der  Erde,  regelmäßiger 
Sonnenbestrahlung,  Wasserverdunstung,  Bewaldung  und 
ich  weiß  nicht  allem  sonst  noch  ...  Zu  dieser  Bedingung* 
gesamtheit,  ohne  Zweifel  die  Ordnung  der  uns  bekannten 
Welt  ausnahmlos  umspannend,  verhält  sich  die  sogenannte 
Gelegenheitursache  wie  sich  ein  sehr  besonderter  Unter* 
satz  zu  einem  Obersatz  von  denkbar  ausgedehnter  Gültig* 
keit  verhält:  und  wie  ein  derartiger  Untersatz  wiederum, 

39     Ziegler,  GestaltwanJel  der  Götter  609 


so  stellt  auch  diese  Ursache  nur  einen  beliebig  herausge* 
griffenen  Einzelfall  vor,  eine  willkürlich,  ja  eine  künstlich 
akzentuierte  Konkretion  innerhalb  eines  allgemeinen  Kom* 
plexes.  Es  ist  wahr,  die  Bedingunggesamtheit  als  solche 
bleibt  aus  vielerlei  Gründen  meistens  unerwähnt,  wenn  man 
von  Ursachen  und  Wirkungen  spricht.  Aber  die  Haupt* 
sache  ist  ja  nicht,  daß  man  sich  ihrer  jederzeit  mit  aller 
Klarheit  bewußt  werde,  sondern  daß  sie  wirklich  zum  not* 
wendigen  Eintritt  einer  bewußten  Wirkung  unentbehrlich 
sei.  Überdies  pflegen  ja  auch  ungezählte  Obersätze  unge* 
zählter  Vernunftschlüsse  unerwähnt  zu  bleiben,  deren  Fol* 
gerungen  trotzdem  von  uns  gezogen  und  für  bündig  er* 
achtet  werden.  Alles  in  allem  sind  wir  sicherlich  berechtigt, 
die  Ursächlichkeit  in  eben  dem  Sinne  als  eine  dreigeglie* 
derte  Form  notwendiger  Verknüpfung  zu  betrachten,  wie 
wir  gezwungen  sind,  den  Vernunftschluß  als  eine  solche 
anzuerkennen.  Jede  sogenannte  Wirkung  entsteht  nur 
dann,  wenn  sich  der  gesamte  W'eltzustand  mit  der  beson* 
deren  Gelegenheitursache  derart  zusammenfügt,  daß  mit 
ihnen  beiden  der  Eintritt  jener  genau  so  notwendig  gesetzt 
ist  wie  die  Konklusion  mit  der  Vereinigung  der  Prämissen 
gesetzt  ist.  Keine  Ursache  allein,  könnte  man  etwas  her* 
ausfordernd  sagen,  ist  die  Ursache  ihrer  Wirkung,  vielmehr 
erst  sie  vervollständigt  um  die  Gesamtheit  aller  Bedingungen, 
die  den  Eintritt  der  Wirkung  als  einen  notwendigen  be* 
stimmen  helfen.  Auf  diese  Weise  erweitert  und  rundet  sich 
der  Umkreis  der  Änderungbedingungen  jedes  kausalen 
Ereignisses  zur  Totalität  alles  je  Gewordenen  und  je  Ent* 
standenen,  und  die  eigentliche  Ursache  wird  aus  diesem 
universalen  Komplex  herausgeschnitten  und  herausgesichtet 
wie  die  begriffliche  Konkretion  des  Untersatzes  aus  der 
Sphäre  des  Obersatzes  herausgeschnitten  oder  heraus* 
gesichtet  worden  ist.  Ja,  wenn  wir  im  Syllogismos  früher  den 

610 


doppelten  Vorgang  der  Besonderung  und  der  Zurücknahme 
des  Besonderten  uns  zum  Vollzug  gelangt  denken  durften 
durch  ein  und  dieselbe  geistige  Tathandlung  des  Schließens, 
so  dürfen  wir  eine  Analogie  auch  dieses  Sachverhaltes  bei 
der  Verursachung  feststellen:  die  als  Gelegenheitursache 
aus  der  Totalität  herausgehobene  Besonderung  kehrt  als 
Wirkung  gleichfalls  wieder  in  jene  Totalität  zurück,  indem 
sie  sich,  stets  weiter  und  weiter  in  unangemessene  Äonen 
wirkend,  bis  in  dieselbe  kosmische  Region  des  All  hinein 
fortpflanzt,  aus  der  sie  vormals  ursächlich  herausgetreten 
ist.  Damit  schwindet  dann  jede  Verlegenheit,  die  unserer 
Behauptung  hier  hinderlich  hätte  werden  können.  Auch 
die  Kausalität  umgreift  ganz  wie  der  Syllogismos  ein  drei* 
gegliedertes,  dreigeflügeltes  Verhältnis  der  Begriffe  und  der 
Dinge:  in  gestalt  erstens  einer  allgemeinen  Bedingung* 
gesamtheit,  zweitens  einer  herausgeeinzelten  Gelegenheit* 
Ursache,  drittens  der  notwendig  aus  beiden  sich  ergebenden 
Wirkung  .  .  . 

Offenbar  ist  es  der  Vorzug  dieser  Feststellung,  uns  das 
bessere  Verständnis  dessen,  was  vorhin  das  tiefste  Paradox 
der  Mechanik  genannt  ward,  vollends  zu  erschließen.  Deu* 
ten  wir  nämlich  die  Kausalität  wesentlich  als  den  auf  die 
Naturwirklichkeit  übertragenen  und  angewandten  Syllogis* 
mos,  so  brauchen  wir  uns  auch  fürderhin  nicht  den  Kopf 
zu  zerbrechen,  wieso  gerade  in  der  bisherigen  Physik  das 
Problem  der  Verursachung  in  das  Problem  der  Entstehung 
mündete.  Kein  Wunder,  wenn  auch  für  viele  reichlich 
staunenswürdig,  daß  just  die  ausgeprägteste  und  entwickeiste 
aller  induktiven  Wissenschaften  ihren  Hang  zur  Deduktion, 
zur  Syllogistik,  zur  genetischen  Methodos  am  wenigsten 
unterdrücken  konnte.  Kein  Wunder,  daß  just  die  Mechanik 
das  aristotelische,  von  Sigwart  wieder  in  Kraft  gesetzte  Ur* 
teil  am  unwiderleglichsten  bestätigt:  man  könne  Induktion 

39*  611 


im  Grunde  nur  betreiben,  um  zu  letzten  Obersätzen  von 
Schlüssen  und  damit  zur  Deduktion,  zur  syllogistischen 
Darstellung  der  eigentlichen  Erkenntnis,  eigentlichen 
lmox)]jU7)  zu  gelangen.  Freilich!  —nicht  zum  kleinsten  Teil 
mag  diese  sonderbare  Umkehrung  der  methodischen  End* 
absichten  dieser  Wissenschaft  auch  davon  herrühren,  daß  die 
sogenannte  Induktion  von  Haus  aus  selber  nie  etwas  anderes 
gewesen  ist  als  eben  ein  Vernunftschluß.  Beziehen  sich 
doch  alle  Theorien  der  Induktion  letzthin  auf  den  ££  eTiaycoyi] 
ov/.Xoyioiiog  der  ersten  Analytiken  und  der  Topik  zurück, 
hiermit  aber,  wie  schon  die  sprachliche  Benennung  anzeigt, 
auf  den  Syllogjsmos  als  solchen,  —  trotz  der  sonst  von 
Aristoteles  beliebten  strikten  Entgegenstellung  von  Syllogiss 
mos  und  Epagoge.  Seit  diesen  denkwürdigen  Formulier 
rungen  hat  die  Logik  ein  gewaltiges  Maß  von  Anstrengungen 
darauf  verwandt,  diese  syllogistische  Herkunft  der  Epagoge 
allmählich  etwas  zu  verschleiern,  ja  womöglich  ganz  in  Ver* 
gessenheit  geraten  zu  lassen,  —  Anstrengungen,  die  der 
Natur  der  Sache  nach  eitel  sein  mußten  und  wirklich  auch 
eitel  waren.  Insonderheit  scheint  der  mit  Unrecht  so  be* 
zeichnete  Gründer  der  induktiven  Wissenschaftlichkeit, 
Baco  von  Verulam,  durchaus  im  Syllogismos  befangen  ge* 
blieben  zu  sein:  eine  glaubwürdige  Tatsache,  wenn  man 
bedenkt,  daß  so  viel  später  ein  so  reifer  Denker  wie  Eduard 
von  Hartmann  die  (unvollständige)  Induktion  noch  immer 
als  einen  Vernunftschluß  ,mit  veränderter  Modalität'  cha* 
rakterisiert,  zeitlebens  auf  der  Meinung  beharrend,  ein 
logisches  Verhältnis  zwischen  mehreren  Begriffen  sei  auch 
dann  noch  als  ein  streng  schlüssiges  aufzufassen,  wenn  es 
keinerlei  Notwendigkeit  mehr  vermittelt.  Bei  derart  unge? 
klärten  geschichtlichen,  ungeklärten  sachlichen  Umständen 
mochte  es  dann  allerdings  leicht  geschehen,  daß  auch  die 
induktive  Erschließung  von  Ursachen,  wie  sie  vielgestal* 

612 


tig  in  der  Physik  auftreten  unter  dem  Namen  von  Wesens* 
begriffen,  von  Grundgesetzen,  von  Urbestandteilen,  von 
Prinzipien  und  dergleichen  mehr,  —  daß  auch  ihre  Er* 
Schließung  unversehens  im  terminus  a  quo  und  terminus  ad 
quem  eine  Umrichtung  erfuhr  und  zu  einer  unzweifelhaften 
und  echten  Apagoge  oder  Genesis  der  mechanischen  Wirk* 
lichkeitänderungen  und  Wirklichkeiten  aus  letzten  (oder 
vielmehr  ersten)  Dingen  gleichsam  entartete.  Diese  Genesis 
brauchte  dann  gar  nicht  einmal,  wie  in  der  eigentlichen 
Mechanik,  syllogistisch  zu  verfahren,  sondern  konnte  sich 
auch,  wie  am  Beispiel  der  hartmannschen  Ableitung  der 
Qualität  aus  der  Intensität  zu  entnehmen  wäre,  durchaus 
in  den  lockeren  Formen  einer  spekulativen  Entwicklung* 
geschichte  zu  bewegen  streben :  die  zu  allerinnerst  deduktiv* 
genetische  Tendenz  des  Forschens  gelangt  in  diesem  Fall 
trotz  aller  vorgeblichen  und  vorgeschützten  induktiven 
Methodik  immer  noch  stark  genug  zur  Erscheinung.  Denn 
eben  jene  vielerörterten  »spekulativen  Resultate',  welche 
Hartmann  einst  in  dem  Motto  seiner  Philosophie  des  Un* 
bewußten  nach  .induktiver  Methode'  gewonnen  haben 
wollte:  eben  sie  ließen  sich  auf  keine  Weise  durch  Induktion, 
sondern  höchstens  durch  Spekulation  und  verkappte  De* 
duktion  selber  aufstellen  .  .  . 

Diese  mehr  historisch*polemische  Zwischenschaltung  je* 
doch  in  Klammern  setzend  und  dahin  gestellt  sein  lassend, 
haben  wir  den  ausschlaggebenden  Grund  für  die  wesent* 
lieh  genetische  Beschaffenheit  aller  Ursachenerforschung 
doch  vor  allem  in  dem  syllogistischen  Ursprung  der  Ur* 
sächlichkeit  zu  vermuten.  Weil  die  Verursachung  als  solche 
ein  auf  die  Dinge  übertragenes  Schließverfahren  ist,  mit 
dem  inwohnenden  Ziel,  der  Erkenntnis  eine  in  Notwendig* 
keiten  ablaufende  Natur  zu  erdenken,  erscheint  sie  je  und 
je  mit  allen  Tendenzen  des  Vernunftschlusses  selbst  ver- 

613 


haftet:  folglich  auch  mit  dessen  vorwaltender  Tendenz  zur 
Entstehung  und  zur  Ableitung  aus  Grundsätzen,  Grund* 
Gesetzen,  Ur*Gründen,  Ursachen,  Ursprüngen.    Und 
wiederum  muß  sich  gerade  die  umspannende  Konzeption 
der  Mechanik  von  einer  eindeutig  kausal  gereihten  Natur 
krönen  wollen  im  szientifischen  System  einer  Welt,  die  zu* 
letzt  ein  alleinziger  Vernunftschluß,  ein  kosmischer  Syllo* 
gismos,  ein  syllogistischer  Kosmos  ist.     Sehr  ähnlich  wie 
das  Scheinbild  einer  mechanisch  gedeuteten  Natur  am  Ende 
nur  durch  Hineinverlegung  und  Übertragung  einer  vorher 
schon  mechanisierten,  will  sagen  syllogismierten  Intelligenz 
entstehen  konnte,  —  sehr  ähnlich  weiß  sich  in  umgekehrter 
Richtung  dieselbe  syllogismierte  Intelligenz  mit  ihren  Merk* 
malen  und  Eigenheiten  aus  jeder  mechanisch  treuen  und 
mechanisch  gründlichen  Durchforschung  herauszuarbeiten. 
Vom  Pathos  dieser  Einstellung  und  allein  von  ihm  her  wird 
es  einigermaßen  begreiflich,  warum  just  die  mechanische 
Darstellung  natürlicher  Bewegungen  und  Veränderungen 
in  der  hertz'schen  Forderung  gipfelt,  daß  alle  körperhafte 
Wirklichkeiten  als  denknotwendige  Folgen  eines  Grund* 
gesetzes  erklärlich  zu  machen,  ja  daß  „die  denknotwen* 
digen   Folgen   der   Bilder    als    Bilder   der    naturnotwen* 
digen  Folgen  der  Gegenstände"  zu  erachten  wären.   Diese 
schier  ungeheuerliche   Forderung  entbehrte  jeder  Recht* 
mäßigkeit  und  jeden  Sinnes,  wenn  sie  nicht  namens  einer 
zur  Macht  eines  wissenschaftlichen  Instinktes    erstarkten 
Überzeugung   erhoben   würde,    wonach   die  notwendige 
Verkettung  natürlicher  Gegebenheiten  an  sich  eins  sei  mit 
der  notwendigen  Verknüpfung  von  Begriffen  und  Urteilen 
im  Schluß.   Läßt  man  die  hertz'sche  Forderung  in  der  Tat 
schon  einmal  zu,  dann  hat  man  keine  Wahl,  ihre  unaus* 
gesprochene  Voraussetzung  gleichfalls  zuzulassen,  die  ihr 
erst  den  richtigen  und  vernünftigen  Gehalt  verleiht :  daß  näm* 

614 


lieh  natürliche  und  logische  Notwendigkeit  nur  zweierlei  Be* 
Zeichnungen  für  ein  und  dieselbe  unteilbare  Notwendigkeit 
überhaupt  seien,  —  eine  Notwendigkeit,  die  der  Verstand  in 
der  Tathandlung  des  Schließens  erstmals  setzt,  um  sie  hernach 
dem  Bild  einer  durchgehens  von  ihm  beherrschbaren  natura 
natuvata  als  natura  naturans  erkenntnismäßig  ordnend  zu 
unterstellen.  Mit  diesem  wirklichkeitordnenden  Schema 
einer  mechanischen  Notwendigkeit,  ihrerseit  weniger  von 
natürlicher  als  von  intelligenter  Herkunft,  unter  allen  Be* 
dingungen  aber  transzendentaler  Herkunft,  mit  diesem 
Schema  steht  und  fällt  denn  auch  die  gesamte  Konzeption 
des  Welt*Mechanismus,  der  Welt*Maschine.  Bei  welcher 
Gelegenheit  ein  von  Goethe  beiläufig  in  der  Farbenlehre 
gebrauchtes  Wort,  darin  wohl  die  Erfahrungen  einer  jähr* 
zehntelang  hingebenden,  schöpferischen  und  bahnbrechen* 
den  Arbeit  an  den  Problemen  der  Physik  zu  unerhört  reiner 
und  schöner  Kristallisation  ausgediehen  sein  mögen,  in 
einem  selbst  seinem  Urheber  kaum  vermuteten  transzendent 
talphilosophischen  Sinn  angeführt  werde :  „Die  letzten  Hand* 
griffe  haben  immer  etwas  Geistiges,  wodurch  alles  Körper* 
lich*Greif bare  eigentlich  belebt  und  zum  Unbegreiflichen 
erhoben  wird  ..."  Wahrhaftig,  —  unter  unseren  sehenden 
Augen  hat  sich  der  Mechanismus,  hat  sich  die  Maschine  der 
Welt  mit  den  Tendenzen  des  Geistes  und  der  Vernunft 
immer  inniger  durchdrungen  und  durchsättigt  und  durch* 
würzt,  wenn  auch  eines  Geistes,  einer  Vernunft,  die  sich 
selber  wesenhaft  mechanisierend  hier  betätigt,  wofern  sie 
Notwendigkeit  an  und  für  sich  durch  syllogistische  Selbst* 
bewegung  ihrerseit  erzeugt.  Aber  auch  des  von  Goethe 
hier  berufenen  .Belebens'  mag  sogar  in  diesem  mechani* 
sierten  Geist  immer  noch  übergenug  stecken:  soviel  dürfte 
unserer  Theorie  des  Syllogismos  mit  hinlänglicher  Gewiß* 
heit  zuzubilligen  sein.  Noch  tanzen  ja  zwischen  dem  Alpha 

615 


und  Omega  eines  Schlusses  all  die  unendlichen  Geheim* 
nisse  des  »Geistes'  ihr  mystisch  wundersames  Auf  und  Nie* 
der  vom  Einzelnen  zum  Ganzen  und  vom  Ganzen  wiederum 
zum  Einzelnen  wie  auf  Himmelsleitersprossen:  wer  sie  er* 
denken,  wer  sie  ersinnen,  wer  sie  erschwingen  könnte! 

Der  Syllogismos  logisches  Paradigma  und  transzenden* 
tales  Modell  der  Kausalität;  die  Denknotwendigkeit  das 
.Frühere',  das  Proteron  oder  Apriori  der  Naturnotwendig* 
keit,  —  das  ist  nun  freilich  ein  Ergebnis,  das  selbstredend 
weit  über  alle  Grenzen  der  Mechanik,  der  Physik,  der  exak* 
ten  Wissenschaften  hinausweist  und  in  mehr  wie  einer 
Hinsicht  geradezu  schicksalhaft  für  die  moderne  Wissen* 
schaftlichkeit  überhaupt  geworden  ist.  Denn  seit  dem  Sieg 
der  modernen  Mechanik  gibt  es,  ausgenommen  etwa  reine 
Mathematik  und  reine  Logik,  keine  Gattung  der  Erkennt* 
nis,  die  sich  nicht  der  Kausalität  mit  all  ihrer  Problematik 
als  ihres  vornehmsten  Denk*  und  Erfahrungmittels  überall 
bedienen  müßte  und  insofern  nicht  teilzunehmen  gezwungen 
wäre  an  der  ganzen  hier  entwickelten  Dialektik  dieser  Kate* 
gorie.  Die  unvergleichliche  Bedeutsamkeit  dieses  Sachver* 
haltes  ist  so  in  die  Augen  springend,  daß  sich,  irre  ich  nicht, 
auch  die  Untersuchungen  anderer  zeitgenössischer  Forscher 
meinem  hiesigen  Ergebnis  bis  auf  Haaresbreite  angenähert 
haben.  So  wenn  beispielweise  Hugo  Bergmann,  in  einer 
klugen  Abhandlung  (Der  Begriff  der  Verursachung  und 
das  Problem  der  individuellen  Kausalität  im  Logos,  1.  Heft 
des  V.  Bandes),  beim  Vorgang  der  Verursachung  einen 
Aktus  der  Stellungnahme  des  denkenden  Subjektes  als  eine 
die  Notwendigkeit  transzendental  setzende  Vernunfttat* 
handlung  aufzuzeigen  bestrebt  ist.  Gewiß  ist  von  hier  noch 
ein  Schritt  bis  zu  der  Auffassung,  wo  sich  das  Ereignis  der 
Verursachung  schlechthin  auf  das  Ereignis  des  Schließens 
zurückführen  läßt,  oder  wo  man  unter  der  Kausalität  nur 

616 


einen  auf  die  Dinge  angewendeten  Syllogismos  verstanden 
wissen  will.  Aber  zu  diesem  allerletzten  Schritt  wird  man 
sich  meines  Bedünkens  früher  oder  später  gleichfalls  auf* 
raffen  müssen.  Ansonst  man  vermaledeit  bleibt,  endgültig 
die  kantische  Deduktion  der  Kausalität  anzuerkennen  und 
die  Verursachung  zwar  als  die  Bedingung  a  priori  der  Mög* 
lichkeit  der  (mechanischen)  Natur,  mithin  als  eine  trans* 
zendentale  Denk*Zutat  des  nach  Regeln  urteilenden  Ver* 
Standes  des  transzendentalen  Ich  anzusprechen,  —  ohne 
jedoch  das  eigentliche  Erlebnis  dieser  intellektuellen  Aktion, 
welche  eine  gewohnheitmäßige  Aufeinanderfolge  der  Er* 
scheinungen  zu  wahrer  Notwendigkeit  umprägt,  im  Be* 
wußtsein  je  aufweisen  zu  können.  Dauernde  Beruhigung 
gewährleistet  aber  diese  Deduktion  Kants  schon  darum  nie, 
weil  sie  eben  dieses  fragliche  Erlebnis  fraglicher  Aktion 
nirgends  zu  erhärten  fähig  ist:  indes  es  unbestreitbar  erhärtet 
werden  kann  im  Vollzug  des  Vernunftschlusses,  wie  er  aus 
seinen  Vordersätzen  abgeleitet  wird  und  in  statu  nascente 
dieser  Ableitung  Notwendigkeit  gebärt!  Wenn  irgendwo, 
sind  wir  hier  Zeugen  und  Täter  zumal  einer  schöpferischen 
Leistung,  durch  welche  wir  die  einzig  uns  bekannte  Not* 
wendigkeit  selber  erzeugen,  setzen  und  hervorbringen.  Sie 
aber  ist  die  einfache  (keineswegs  die  schopenhauerisch  .vier* 
fache')  Wurzel  aller  Beziehungen,  die  einen  wirklichen 
Zwang  des  Auseinanderfolgens  bei  sich  führen.  Ohne  sie 
würde  man  vergeblich  die  Vorstellung  irgend  einer  Art  von 
Notwendigkeit  im  Bewußtsein  entdecken  wollen;  ohne  sie 
wäre  das  Heischen  nach  Gesetzmäßigkeit  gegenstandlos,  die 
der  Verstand  angesichts  der  Natur  zu  suchen  nicht  umhin 
kann;  ohne  sie  harrten  wir  heut'  noch  der  Antwort  auf  jene 
Frage,  die  seit  David  Hume  noch  keinen  Philosophen  hat 
ruhig  schlafen  lassen,  —  ich  meine  die  Frage,  warum  die  Ver* 
ursachung  zwar  mit  beinah'  triebhafter  Sicherheit  im  Einzel* 

617 


fall  den  Erscheinungen  unterlegt  werde,  sich  aber  selber 
der  Erscheinung  durchaus  versage  und  keiner  noch  so  ge* 
nauen  Zergliederung  derselben  zugänglich  gewesen  sei. 
Diese  seit  so  manchem  Jahrhundert  brennende  Frage,  vor 
kurzem  noch  zwei  derart  wesenss  und  rangverschiedene 
Denker  wie  den  späteren  Friedrich  Nietsche  und  Ernst 
Mach  gleichermaßen  dazu  ermutigend,  die  unaufzeigbare 
Kausalität  als  einen  .szientifischen  Fetisch'  streng  zu  ver* 
pönen  und  beiläufig  auch  zu  verhöhnen,  —  sie  ist  in  dem 
Augenblick  gelöst  und  gelöscht,  wo  man  die  Verursachung 
als  einen  auf  die  Gegenstände  der  Wirklichkeit  gleichsam 
überschriebenen  Vernunftschluß  gelten  läßt.  In  diesem  Fall 
sieht  man  es  endlich  ein,  wieso  die  Notwendigkeit  in  keiner 
Weise  als  Erlebnis  der  Anschauung  oder  Wahrnehmung 
vorführbar  sein  kann.  Hervorgebildet  durch  eine  sozusagen 
geschlossen? kreisförmige  Bewegung  des  Denkens,  kann 
die  Notwendigkeit  einer  Aufeinanderfolge  als  Auseinander* 
folge  nirgends  sonst  zur  Notifikation  gelangen  als  eben  im 
Vollzug  dieser  Bewegung  selbst.  Als  Fetisch,  feitigo  braucht 
darum  die  Kausalität  in  keinem  verächtlicheren  Wortsinn 
betrachtet  zu  werden  als  es  der  lateinische  Ausdruck  des 
facticius,  künstlich  gemacht,  billigerweise  erlauben  will. 
Künstlich  ist  sie  gemacht,  künstlich  verfertigt,  wofern  sie 
jenen  letzten  Handgriffen  zuzählt,  in  welchen  Goethes  un* 
ermeßliche  Einsicht  stets  etwas  Geistartiges  erkannt  zu  haben 
meint.  Zu  widerrufen,  einzuschränken  oder  ängstlich  zu 
bemänteln  ist  aber  an  der  ganzen  Sache  nichts,  —  es  sei  denn, 
der  Geist,  die  Vernunft,  die  Denkkraft  werde  von  ihren  Ab* 
trünnlingen  selbst  bezichtigt,  Fetisch  zu  sein:  was  übrigens 
in  der  Linie  manches  superklugen  und  empörerischen  Ges 
seilen  durchaus  gelegen  sein  könnte,  ohne  uns  hier  beson* 
ders  aufzuregen  .  .  . 

Pochen  wir  mithin  nur  auf  unser  gutes  Recht,  wenn  wir 

618 


Nichtigkeiterklärungen  und  Widerrufe  der  Kausalität  getrost 
den  wissenschaftlichen  Nihilisten  aller  Schulen  überlassen, 
dieweil  es  auch  mit  einer  als  Fetisch  verleumdeten  Kausalität 
weiter  nichts  Schlimmes  auf  sich  hat  und  wir  uns  vor  Ekel* 
namen,  Vogelscheuchen  und  Popanzen  keineswegs  zu  gruseln 
brauchen,  —  ein  ganz  anderes  Bedenken  macht  sich  schließ* 
lieh  doch  sehr  stark  fühlbar.  Eben  jetzt,  wo  uns  der  intellek* 
tuelle,  der  rationale  Ursprung  der  Ursächlichkeit  zur  uns 
widerleglichen  Gewißheit  geworden  ist,  muß  es  uns  einiger* 
maßen  schwer  auf's  Herz  fallen,  daß  wir  noch  unlängst 
gerade  die  Kausalität  als  ein  Exempel  logischer  und  ratio* 
naler  Undurchdringlichkeit  gekennzeichnet  haben!  Damals 
hatten  wir  uns  davon  überzeugt,  wie  sich  bei  der  Vorstel* 
lung  des  Verursachens  offenbar  zwei  miteinander  unverein* 
bare  Aussagen  durchkreuzten:  ich  meine  die  gleichsam 
größenmäßige,  mathetisch  *  mathematische  Gleichsetzung 
von  Ursache*Wirkung  nach  dem  eingestandenen  Grundsatz 
causa  aequat  effectum  einerseit,  die  eigentlich  aitiologische 
Ungleichsetzung  beider  Glieder  derselben  Kategorie  nach 
dem  zwar  uneingestandenen  aber  darum  nicht  minder  be* 
stimmenden  Grundsatz  causa  inaequat  effectum  andererseit. 
Wofern  eine  Aussöhnung  dieser  kontradiktorischen  Wider* 
sätzlichkeit  außer  Bereich  erklärender  Möglichkeiten  lag, 
hatte  ich  mir  die  Freiheit  genommen,  von  einer  Oszillation 
oder  Vibration  des  Denkens  zu  sprechen,  von  einer  Schwan* 
kung,  Schwebung,  Schaukelung,  Zitterung,  Pendelung,  die 
dauernd  zwischen  den  Vorstellungen  des  rein  äquipollenten 
und  des  rein  kausalen  Moments  hinwärts  herwärts  schwinge. 
Eine  solche  Turn*  und  Schaukelbewegung  des  Verstandes 
allein  schien  einen  wenigstens  instantanen  Ausgleich  zwi* 
sehen  den  beiden  zu  gleichem  Recht  bestehenden  Kon*Mo* 
menten,  Kom*Ponenten  der  Ursächlichkeit  zu  gestatten, 
ohne  doch  die  kontradiktorische  Beschaffenheit  der  Kate* 

619 


gorie  irgendwie  ernsthaft  in  Frage  stellen  zu  wollen;  — 
nicht  anders  wie  ein  elektrischer  Funke  einen  instantanen 
Ausgleich  zwischen  zwei  Polpunkten  gestattet,  ohne  die 
Polarität  selbst  irgendwie  in  Frage  zu  stellen.  Auf  diese 
Weise  sind  dann  allerdings  ein  für  alle  mal  Widersätzlich* 
keit,  Kontradiktion,  Antithetik,  Dialektik  sozusagen  als  ein 
Lebendiges  in  den  Vorgang  der  Verursachung  eingemauert, 
wie  etwa  im  Mittelalter  etwas  Lebendiges  in  den  Baugrund 
einer  hohen  Kirche  oder  eines  Schlosses  eingemauert  wurde : 
auf  diese  Weise  gibt  sich  ein  durchaus  irrationaler  Wesens* 
zug  der  mechanisch*szientifischen  Urkategorie  zu  erkennen. 
Und  kaum  würde  man  sich  jemals  bemüßigt  gefunden  haben, 
dieses  Ergebnis  in  Gedanken  anzutasten,  wenn  nicht  schier 
vor  Torschluß  die  andere  Feststellung,  daß  alle  Ursächlich* 
keit  und  alle  Notwendigkeit  der  Auseinanderfolge  aus  einer 
Verstandesbewegung  letzthin  selbst  entstehe  und  mithin 
streng  transzendentaler,  will  sagen  streng  rationaler  Ab* 
stammung  wäre,  jener  Feststellung  so  gar  handgreiflich  zu* 
widerliefe.  In  Erwägung  beider  Behauptungen,  beider  Ge* 
wißheiten  sollen  wir's  nun  einfach  und  gemütlich  hinunter* 
schlucken,  daß  die  nämliche  Kausalität  sowohl  rational  wie 
irrational  sei,  sowohl  dem  vernünftigen  Denken  an  und  für 
sich  verdankt  werde  wie  dem  vernünftigen  Denken  unfaßlich 
bleibe?  Jetzt  sollen  wir  plötzlich  innerhalb  der  Kausalität 
selber  einen  A*Logismos,  ja  einen  Anti*Logismos  endgültig 
zulassen,  der  aber  gleichzeitig  ein  einwandfreies  Erzeugnis 
des  Syn*Logismos,  infolgedessen  ein  einwandfreies  Erzeug* 
nis  der  intimsten  Betätigung  des  Logos  als  solchen  wäre? 
Um  die  Wahrheit  zu  sagen,  wühlten  wir  uns  hier  bis  auf 
eins  der  eiszeitältesten  und  granitsteinhärtesten  Vorurteile  der 
geschichtlichen  Wissenschaftlehren  heran,  mit  welchem  es 
endlich  einmal  radikal  zu  brechen  gilt,  nachdem  wir  im  ge* 
treuen  Verfolg  der  methodischen  Endabsichten  der  Mecha* 

620 


nik  die  maßlose  Problematik  aller  Ursachen* Wirkung  Denk* 
setzung  immer  besser  zu  würdigen  befähigt  worden  sind. 
Dies  Vorurteil,  wonach  die  Denk*  und  Erkenntnismittel 
der  Vernunft  durchgängig  von  logischer,  von  rationaler 
Transparenz  seien,  —  es  verträgt  sich  fortan  nicht  mehr  mit 
den  beiden  gleich  unumstößlichen  Tatsachen,  wonach  die 
Irrationalität  der  Kausalität  ebenso  außer  allen  Zweifeln 
steht  wie  ihre  Genesis  aus  dem  Syllogismos,  ihre  Verstandes* 
mäßige  Undurchdringlichkeit  ebenso  wie  ihre  Verstandes* 
mäßige  Herkunft.  Ja,  eher  als  man  durch  unstichhaltige 
und  untriftige  Einsprüche  die  doppelte  Gewißheit  dieses 
Ergebnisses  entkräften  zu  können  erwartete,  eher  würde  es 
sich  empfehlen,  in  eben  dieser  Richtung  noch  ein  Stück 
weiter  vorzudringen  und  die  Annahme  zu  wagen,  —  nie* 
mals  aber  mag  das  klassische  aude  sapexe  mühsamer  anzu* 
wenden  gewesen  sein,  —  daß  schon  die  vernunftgeborene, 
schlüssige  Notwendigkeit  an  sich,  noch  bevor  sie  zur  wirk* 
liehen  Ursächlichkeit  abartet,  ein  logisch  nie  völlig  auf  hell* 
bares  und  in  diesem  Sinn  irrationales  Gedankengefüge  sei. 
Gibt  es  doch  nämlich  eine  gewisse  Gattung  des  Unbegreif* 
liehen  und  Undurchsichtigen  im  Bewußstein,  deren  Un* 
begreiflichkeit  und  Undurchsichtigkeit  gerade  auf  den  seit* 
samen  Umstand  zurückzuführen  ist,  daß  sie  durch  trän* 
szendentale  Akte  vernünftiger  Setzungen  ins  Dasein  getreten 
ist.  Alles  was  als  Denkhilfen,  Erkenntnismittel,  Kategorien, 
ausgereift  zu  den  Organen  des  Geistes  und  als  diese  überall 
von  ihm  genützt,  in  der  Geschichte  der  Wissenschaften 
bisher  namhaft  gemacht  worden  ist,  alles  das  gehört  hierher. 
Wie  wir  fortwährend  unsäglich  vieles  tun,  das  wir  niemals 
wissen,  niemals  verstehen,  niemals  erklären  können,  ja  wie 
vielleicht  in  Wahrheit  alles  Tun  unbegriffen  und  unbegreif* 
lieh  für  uns  Täter  bleibt,  —  wissen  wir's  doch  nicht  und 
werden's  nie  wissen,  wie  es  geschieht,  daß  wir  hören  und 

621 


sehen,  schmecken  und  sprechen,  zeugen  und  empfangen, 
verdauen  und  aufbauen,  erkranken  und  heilen,  einschlafen 
und  erwachen,  leben  und  sterben  — ,  so  ähnlich  ,tut*  die 
Vernunft  ein  notwendiges  Verhältnis  zwischen  verschiede* 
nen  Denkinhalten,  so  ähnlich  ,tut*  sie  Notwendigkeit  der 
Begriffe  und  der  Dinge!  Gerade  in  ihrer  Eigenschaft  als 
Organon  des  vernünftigen  Denkens  entzieht  sich  die  Not* 
wendigkeit  diesem  Denken  selber;  gerade  aus  ihrer  trans* 
zendentalen  Funktionalität  folgt  ipso  facto  ihr  irrationaler 
Charakter!  Wo  der  Sehnerv  in  die  Netzhaut  eintritt,  da 
entsteht  auf  ihr  ein  sehuntauglicher,  ein  blinder  Fleck,  und 
ganz  entsprechend  entsteht  ein  denkuntauglicher  Fleck  an 
der  Stelle  des  Bewußtseins,  wo  sich  die  Erkenntnisformen 
und  Denkmittel  organisch  verzweigen  und  ausbreiten.  Wo* 
mit  man  sieht,  das  sieht  man  nicht;  womit  man  hört,  das 
hört  man  nicht;  womit  man  denkt,  das  erdenkt  man  nicht; 
womit  man  versteht,  das  versteht  man  nicht;  womit  man 
Natur  und  Wirklichkeit  geistig  meistert,  das  meistert  man 
geistig  nicht.  In  diesem  bescheiden  selbstverständlichen 
Wortverstand  ist  es  richtig  zu  sagen,  daß  sich  Apriorismus 
und  Irrationalismus  der  Kategorie  wechselseitig  durchaus 
bedingen:  als  transzendental  erwirktes  Erkenntnismittel  ist 
die  Notwendigkeit,  ist  die  Ursächlichkeit  notwendig  denk? 
unergründlich  und  erkenntnisfremd.  Zu  meiner  Genug« 
tuung  finde  ich  diesen  allgemeinsgültigsten  und  folgewichs 
tigsten  Ertrag  unserer  weitschichtigen  Darlegungen  gleich* 
falls  von  einem  zeitgenössischen  Mitdenker  in  einem  treff* 
liehen  Aufsatz  Über  die  Erkennbarkeit  des  Apriori  (Logos, 
V.  Band,  3.  Heft)  bestätigt,  —  um  so  eindrucksvoller  be* 
stätigt,  als  auf  so  gänzlich  anderen  Wegen  ausfindig  und 
mitteilbar  gemacht. 

Die  letzten  Handgriffe  also  auch  dieser  groß  konzipierten 
WeltsMaschine  haben  etwas  Geistiges,  wodurch  nicht  nur 

622 


alles  Körperlich^Greifbare  recht  eigentlich  belebt  erscheint, 
sondern  wo  es  tatsächlich  auch,  wie  Goethe  ahnungvoll 
fortfährt,  zum  Unbegreiflichen  erhoben  wird.  Das  ist  es, 
was  mit  dieser  naturwissenschaftlichen  Rationalisierung, 
Intellektualisierung,  Mechanisierung,  Syllogismierung  der 
Wirklichkeit  zuletzt  geschehen  ist:  ein  Ganzes,  nein  Das 
Ganze  ward  geistig  belebt,  aber  gleichzeitig  zum  Unbegreif* 
liehen  erhoben.  Selbst  eine  ,vermaschintec  Natur  darf  den 
Geist  und  seine  Mittel  nicht  verleugnen,  der  sie  geheim* 
nisreich  mit  dialektischen  Unergründlichkeiten  und  Wider* 
sätzlichkeiten  belebt.  Aber  selbst  diese  niederste  Stufe  kos* 
mischerVerlebendigung.so  wundersam  verschränkt  sind  aller 
Dinge  Wurzeln  ineinander,  sie  wird  teuer  genug  erkauft  um 
den  Preis  ihrer  vernünftigen  Begreiflichkeit.  Durch  Not* 
wendigkeit  gewährt  Vernunft  der  Wirklichkeit  einen  gesetz* 
mäßig  beharrenden  Zusammenhang  und  eine  eigentliche 
Ordnung.  Jedoch  ist  diese  Notwendigkeit  nur  wie  ein  Licht, 
das  da  leuchtet  in  die  Finsternis,  —  leuchtet  in  die  Finster* 
nis,  nicht  sich  selber  .  .  . 


623 


DIE  WELT  ALS  ORGANISMUS 

Es  sei  nochmals  gesagt  und  so  vielmals  wiederholt  ge* 
sagt,  bis  es  sich  unvergeßbar  jedem  eingedächtnißt  hat: 
aus  Grundsätzen,  Grundgesetzen  ableitend  trachtet  die  Me* 
chanik  danach,  die  natürlichen  Bewegungen  und  Verände* 
rungen  körperlicher  Eigenschaftträger  möglichst  vollständig 
als  die  denknotwendigen  Folgen  und  Folgerungen  inner* 
halb  eines  schlüssigen  Zusammenhanges  aufzuzeigen.  Wie 
dies  ausführbar  sei  und  in  welche  Ungründe  des  Denkens 
und  Erkennens  es  sich  verliere,  ward  hier  erörtert;  erörtert 
im  gleichen  auch  der  Umstand,  daß  die  labyrinthischen 
Schwierigkeiten,  die  aus  dieser  Aufgabestellung  erwachsen, 
nicht  Schwierigkeiten  der  Mechanik  allein  sein  und  bleiben 
konnten.  Reichte  doch  die  mechanisch? maschinelle  Auf* 
fassung  der  Welt  in  erweitertem  Wortverstand  beträchtlich 
hinaus  über  die  eigentliche  Mechanik,  hinaus  auch  über  die 
eigentliche  Physik  und  die  eigentlich  exakten  Wissen* 
Schäften,  —  nämlich  soweit,  als  das  erklärende  Bedürfnis 
überhaupt  auf  der  Genesis  der  Erscheinungen  aus  Gesetz* 
mäßigkeiten,  Ursachen,  Ursprüngen  besteht:  mithin  allent* 
halben,  wo  Wissenschaft  im  modernen  Sinn  versucht  wird. 
Die  Krisen,  Peripetien,  Katastrophen  der  Mechanik  sind  unter 
solchen  Umständen  die  Krisen,  Peripetien,  Katastrophen 
der  Erkenntnis  an  und  für  sich,  und  was  an  dieser  Stelle  über 
die  Undurchdringlichkeit  der  ersten  Voraussetzungen  für 
ein  mechanisch*maschinelles  Weltverstehen  angemerkt  wer* 
den  mußte,  bezieht  sich  ohne  Ausnahme  und  Einschränkung 
auf  das  gesamte  System  unserer  heutigen  Wirklichkeit* 
Wissenschaften.  Sie  alle  bewegen  sich  in  Kausalitäten  und 
darum  in  Irrationalitäten;  sie  alle  beginnen  und  endigen 
mit  transzendentalen  Unbegreiflichkeiten;  sie  alle  bedienen 
sich  denkfremder,  weil  denkerzeugter  Kategorien  und  Prin* 

624 


zipien,  Axiome  und  Hypothesen.  Es  trifft  hier  die  hohe  Seit* 
samkeit  zu,  daß  die  Mechanik  just  in  ihrem  fragwürdigsten 
Teil  das  maßgebliche  Muster  der  anderen  Erfahrungwissen* 
schatten  lieferte,  —  eben  in  ihrer  problematischen  Eigenheit 
wider  willen,  eine  Entstehung  und  Entwicklung  aus  Ur* 
Sachen  zu  sein:  sie,  die  nach  ihrer  innersten  Neigung  am 
liebsten  alles  was  Ursache  heißt  aus  ihrem  methodischen 
Umkreis  verbannen  oder  wenigstens  in  harmloser  aus* 
sehende  Gleichsetzungen  umbiegen  würde!  Ein  bunter 
Knäuel  ungelöster  und  unlösbarer  Fragen  begann  sich  hier 
zwischen  unseren  Fingern  immer  hoffnungloser  zu  ver* 
heddern  und  verhaspeln,  und  wie  oftmals  wir  ihn  auch  im 
Unmut  bald  hierhin  bald  dorthin  warfen,  blieb  er  doch 
in  all  seinen  Strähnen  und  Fäden  leider  verfitzt  und  ver* 
filzt  .  .  . 

Indes  haben  wir  darauf  zu  achten,  daß  wir  unbeschadet 
dieser  erkenntnismäßigen  Verlegenheiten  die  unermeßlichen 
Erfolge  der  eigentlichen  Mechanik  nicht  aus  den  Augen 
verlieren.  Seit  Galileo  Galilei  war  sie  auf  eine  geistige  Be* 
herrschung  der  Wirklichkeit  durch  gedankliche  Knüpfungen 
und  Beziehungen  unentwegt  gerichtet,  und  trotz  aller  be* 
reits  gemachten  Vorbehalte  kann  man  wahrhaftig  nicht  be* 
haupten,  daß  diese  ihre  vorzüglichste  Endabsicht  wesent* 
lieh  verfehlt  worden  sei.  Es  ist  der  europäischen  Mechanik 
durchaus  gelungen  und  im  Anschluß  an  sie  auch  der  spä* 
teren  Physik,  die  Bewegungen  und  Veränderungen  der 
Natur  in  analytische  Gleichungen  gewissermaßen  zu  über* 
setzen,  indem  sie  alles  Jenseit  dieser  Gleichungen  mit  mehr 
oder  minder  klaren  Willen  auf  sich  beruhen  ließ.  Allerdings 
war  diese  Übersetzung  natürlicher  Begebenheiten  in  die 
Formen  und  Formeln  der  Geometrie  grundsätzlich  nur  so* 
lang  vollziehbar,  als  die  bestimmende  Regel  causa  aequat 
effectum   unbestritten   ihre  Gültigkeit  bewahrte,  dadurch 

40    Ziegler,  Gestaltwandel  der  Götter  625 


eine  Art  Vorwand  für  den  analytischen  Ansatz  von  Bedin* 
gunggleichungen  schaffend.  Wohingegen  dasselbe  Axiom 
seine  Richtigkeit  einbüßte,  wo  die  Wirkung  der  Ursache 
in  keiner  Hinsicht  mehr  meßbar  verhältnismäßig  oder  gar 
vergleichsam  erschien,  da  erlosch  jede  Ermächtigung  der  Ver* 
nunft  zu  dieser  Geometrisierung  und  folglich  auch  Maschini* 
sierung  der  Natur  jählings  und  völlig.  Um  dies  zu  gewahren, 
brauchten  wir  unsere  Aufmerksamkeit  nur  auf  Bewegungen 
zu  lenken,  die  sich  dem  leibniz*mayerschen  Grundsatz 
offenbar  nicht  fügten,  —  und  schon  tauchte  am  Rand  unseres 
Bewußtseins  der  Typus  einer  neuen  und  andersartigen 
Wissenschaftlichkeit  auf.  In  dem  Beispiel  jenes  Hand* 
werkers,  der  ohne  äußerlich  erkennbare  Beeinflussung 
vom  Gerüst  stürzt,  der  mithin  eine  mechanisch  deutbare 
Bewegung  ohne  mechanisch  deutbare  Verursachung  aus* 
führt,  gerieten  wir  fast  absichtlos  an  einen  szientifischen 
Grenzfall,  wo  als  Motiv  der  statthabenden  Zustandänderung 
ein  schlechthin  unwägbarer,  unmeßbarer,  undarstellbarer 
Reiz  in  Kraft  trat.  Nach  Reizen  anstatt  nach  Ursachen  sich 
zu  bewegen,  dieses  mechanisch  nicht  mehr  erfaßbare  Ver* 
mögen  brachten  wir  uns  damals  zum  ersten  mal  in  Erfahrung ; 
—  wir  dürfen  es  jetzt,  nicht  mehr  im  Einzelvorgang  befangen, 
als  Grundeigenschaft  der  belebten  Materie,  des  organisierten 
Stoffes,  des  Proto*Plasma  wohl  ansprechen,  dazu  tauglich, 
Gegenstand  oder  Inhalt  einer  neuen  Erkenntnisgattung  im 
Gegensatz  zu  der  mechanisch*maschinellen  zu  werden. 

Für  organisch  sind  also  die  Bewegungen  des  sogenannten 
Lebens  zu  nehmen,  weil  und  wofern  der  Organismus  ent* 
steht,  wächst,  reift,  welkt,  abstirbt,  auf  Reize  hin,  deren 
Wirkungen  gleichsam  in  einer  anderen  Lage  der  Erschei* 
nungen  liegen,  als  diese  selbst.  Denn  jeder  Reiz  ist  seinem 
Begriff  nach  irgendwie  Wahrnehmung,  jede  Wahrnehmung 
eine  Tatsache  des  Bewußtseins,  jede  Tatsache  des  Bewußt* 

626 


seins  als  solche  ein  unwägbares,  unmeßbares,  unzählbares 
Erlebnis.  Sobald  ein  derartiges  den  gelegentlichen  Anlaß  zu 
einer  Bewegung  oder  Änderung  körperhafter  Teile  abgibt, 
ist  der  mechanische  Zusammenhang  von  Ursache  und  Wir* 
kung  unterbrochen.  Ja,  sogar  was  man  mit  einem  wirklich 
übel  ausgewählten  Wort  den  .Reflexmechanismus'  der 
Organismen  zu  bezeichnen  pflegt,  erweist  sich  in  Wahrheit 
als  ein  nichtsmechanisches  Geschehnis,  indem  doch  auch 
schon  hier  der  Reiz,  sei  er  mehr  physiologisch  als  Sinnes* 
Wahrnehmung,  sei  er  mehr  psychologisch  als  »Vorstel* 
lung  überhaupt*  verstanden,  änderungbedingend  und  *be* 
wirkend  auftritt.  Heiße  man  immerhin  die  zusammen* 
ziehenden  Bewegungen  eines  Polypen,  dessen  ausgestülpte 
Tentakeln  seinem  Magenschlauche  einen  Fisch,  eine 
Schnecke,  einen  Wurm  erstrudeln,  reflektorisch  oder  besser: 
mechanistisch,  verglichen  etwa  mit  den  mannigfachen  Will* 
kürhandlungen  eines  kultivierten  Menschen,  der  sich  zur 
Einnahme  seiner  Speisen  anschickt.  Daß  auch  noch  dortbei 
die  Mechanik  längst  überschritten  ist,  sollte  schon  deshalb 
keinem  Zweifel  unterliegen,  weil  doch  jene  Zusammen* 
ziehung  der  Gewebe,  der  Organe  die  Folge  eines  Wahr* 
nehmungreizes  ist  und  ihrerseit  selbst  dann  nicht  restlos 
dem  Begriff  der  mechanischen  Veränderung  eingeordnet 
werden  kann,  wenn  ihr  physikalisch*chemische  Bewegungen 
kleinster  Teile  in  den  leitenden  Nervenfasern  entsprechend 
gedacht  werden  müssen.  Wo  es  ein  Reiz  ist,  der  körperliche 
Änderungen  einleitet,  löst  er  als  unmeßbar  unkörperliche 
Tatsache  des  Bewußtseins  Bewegungen  aus  und  wirkt  in 
diesem  freilich  nicht  mehr  ganz  genauen  Wortverstande 
,katalytisch\  nämlich  auslösend  anstatt  auflösend,  wie  es 
der  Sprachausdruck  eigentlich  zunächst  besagt.  Oder  um 
denselben  Sachverhalt  eher  auf  unsere  Manier  zu  verdeut* 
liehen  statt  auf  die  Robert  Mayers:  wo  sogenannte  Reize 

40*  627 


änderungbedingend  für  Bewegungen  und  Lagewechsel  von 
Körpern  auftreten,  da  handelt  sich's  um  ein  vorzugweis 
organisches  Geschehen,  dessen  maschinelle  Interpretation 
an  dem  causa  inaequat  effectum  von  vornherein  zuschanden 
werden  muß.  Wobei  man  sich  freilich  vorher  noch  geschwind 
des  Irrtums  zu  entschlagen  hätte,  daß  etwa  die  gegenwärtige 
Psychologie,  weil  sie  Tabellen  über  Tabellen  ausfertigt  von 
Reiz^Graden  und  Reiz^Stärken,  nun  auch  in  der  Tat  den  Reiz 
als  Erlebnis  des  Bewußtseins  zu  messen  in  Stand  gesetzt 
wäre.  Ist  ja  doch,  was  je  und  je  von  ihr  gemessen  wird, 
lediglich  das  physikalische,  chemische,  physiologische  Phä* 
nomen,  wie  es  die  Tatsache  des  Bewußtseins  körperlich  be* 
gleitet,  nicht  diese  Tatsache  selber.  Ein  anderes  ist  die  be* 
wußte  Gegebenheit  des  Reizes,  die  schlechterdings  ist,  aber 
weder  wieviel  noch  wie  groß  ist;  ein  anderes  die  physika* 
lische,  chemische,  physiologische  Entsprechung  des  Reizes; 
ein  anderes  wiederum  die  durch  den  Reiz  erwirkte  körper* 
liehe  Handlung. 

Nennen  wir  also,  durch  derartige  Erwägungen  bewogen, 
fürderhin  alle  Änderungen  der  Wirklichkeit  organisch,  die 
von  Reizen  oder  reizähnlichen  Anlässen  nicht  sowohl  ver* 
ursacht,  als  ausgelöst  werden;  kennzeichnen  wir  des  ferneren 
alle  reizbedingten  Tätigkeiten,  Wirksamkeiten,  Bewegungen 
als  das  eigentliche  , Leben',  —  so  finden  wir  uns  zuverlässig 
dazu  berechtigt,  unter  einer  Organik  im  bewußt  erfaßten 
Widersatz  zu  der  Mechanik  das  wissenschaftliche  Verfahren 
zu  verstehen,  das  zu  seinem  Teil  das  Leben  in  seinen  be* 
stimmenden  Eigenheiten  und  Merkmalen  gedankenmäßig 
zu  beherrschen  trachtet.  In  dieser  Hinsicht  bedeutet  Leben 
als  Ganzes  genommen  eine  Herausstellung,  Auswicklung, 
Veräußerung,  Entfaltung,  Evolution  innerer  Möglichkeiten 
auf  grund  besonderer  Antriebe  und  Impulse,  die  nicht 
wesentlich  Ursachen  sind:  das  Leben  ist  infolgedessen  zu* 

628 


nächst  eine  Reihe  von  Veränderungen  sinnengegebener 
Wirklichkeiten  über  jede  größenmäßige  Berechnung  und 
Darstellung  hinaus.  Für  wen  die  Natur  mechanisch* 
maschinell  abläuft,  dem  kreist  ihr  Geschehen  zufolge  dem 
causa  aequaf  effectum  in  einem  geschlossenen  Zirkel,  inner* 
halb  dessen  keine  Wirkung  ein  Mehrfaches,  einen  Über* 
schuß,  eine  Mehrleistung  der  Ursache  enthalten  konnte. 
Wer  die  Natur  jedoch  unter  dem  Gesichtswinkel  des  Or* 
ganischen  betrachtet,  der  sieht  sich  diesen  Ring  des  Ge* 
schehens  plötzlich  öffnen  nach  der  gegengesetzten  Regel 
causa  inaequat  effectum  wie  auf  eine  Zauberformel  hin,  und 
ihn  überrascht  die  unvermutete  Gewißheit,  daß  die  Wir* 
kung  ihrer  Ursache  überhaupt  unvergleichbar  ist  und  sie 
deshalb  auch  unverhältnismäßig  zu  übertreffen  vermag,  — 
wenn  anders  hier,  wo  ein  Verhältnis  der  Größe  oder  des 
Wieviel  nicht  mehr  in  Frage  steht,  der  Ausdruck  ,unver* 
hältnismäßig'  noch  an  seinem  Platz  ist.  Als  Maschine  vor* 
gestellt,  gewährt  die  Natur  jedenfalls  nichts,  was  nicht 
irgendwie  von  allem  Anfang  und  vor  allem  Anfang  schon 
in  ihr  enthalten  war.  Als  Organismus  gewürdigt,  spendet 
Natur  hingegen  in  jedem  Augenblick,  dem  vorigen  ver* 
glichen,  Ungleiches,  Unähnliches,  Neues,  welches  sie  auf 
gewisse  Reize  hin  entwickelt,  auslöst,  entfaltet.  Dem 
Mechanisten  beharrt  der  Kosmos  als  ein  Triebwerk,  dessen 
sämtliche  Umsätze  nicht  dazu  führen  können,  die  Menge 
des  einmal  vorhandenen  Arbeitvorrates  zu  mindern  oder 
mehren,  selbst  wenn  dieser  Gesamtvorrat  in  Oberein* 
Stimmung  mit  dem  (übrigens  täglich  umstritteneren)  zweiten 
Hauptsatz  von  der  Entropie  zuletzt  völlig  energetisch  ent* 
wertet,  will  sagen  in  ein  und  dieselbe  energetische  Gattung 
der  Wärme  umgeformt  werden  sollte;  —  während  sich  dem 
Organiker  ganz  im  Gegenteil  derselbe  Kosmos  zu  einer 
Neuschöpfung    von   Stund'    zu   Stunde    umwandelt,    wo 

629 


weder  die  Wirkungen  als  solche  ihren  Ursachen  gleichen, 
noch  gleichen  Ursachen  gleiche  Wirkungen  entsprechen 
müssen:  sondern  wo  die  unvermeidbare,  un verminderbare 
Menge  des  irdischen  Vorrates  an  möglicher  Arbeit  zur  Er* 
Schaffung  unendlich  wechselnder  Bildungen  des  Lebens 
verschwenderisch  genützt  wird.  Bezüglich  der  Welt* 
Maschine  gilt  freilich  die  eine  der  Regeln  Robert  Mayers 
ganz  unbedingt,  daß  aus  Nichts  nichts  wird,  indem  hier  jedes 
Geschehens  Erfolg  seiner  meßbaren  Ursache  angemessen 
sein  und  bleiben  muß,  wogegen  bezüglich  des  AlL-Orga* 
nismus  die  Tatsache  Gültigkeit  erlangt,  daß  aus  dem  ver* 
hältnismäßigen  .Nichts'  der  Stoff  los*unkörperlichen  Reize 
ein  höchst  unvorhergesehenes  , Etwas'  entstehen  kann, 
ohne  das  Grundgesetz  der  Mechanik  von  der  Erhaltung 
des  Gesamtarbeitvorrates,  als  welches  ja  über  nicht  meß* 
bare  Änderungbedingungen  seelisch  unbewußter  oder 
seelisch  bewußter  Natur  nichts  auszusagen  sich  erdreistet, 
außer  Kraft  zu  setzen.  Der  Mechanist  traktiert,  kurz  und 
gut,  die  Welt  gleichsam  als  ein  Lastträger,  der  allerlei  Kisten, 
Säcke,  Ballen,  Körbe,  Rollen,  Fässer,  Kasten,  Laden,  Flaschen, 
Koffer,  Packen  von  einem  Stapelplatz  wegschleppt,  um  sie 
auf  einen  nächsten  wieder  anzuhäufen  oder  nach  Gutdünken 
auf  mehrere  entfernte  zu  verteilen  und  zerstreuen:  ohne 
daß  man  da  oder  dort  je  im  geringsten  mehr  dieser  Güter 
anzutreffen  hoffen  könnte,  als  sich  der  Träger  alles  in  allem 
auf  seine  Schultern  bürdete.  Der  Organiker  aber  traktiert 
die  Welt  gleichsam  als  ein  Künstler,  der  mit  seinen  bild* 
nerischen  Händen  kein  Stück  berührt,  ohne  aus  ihm  geist* 
gewollte  Formen  herauszuzaubern  in  immer  neuen  Einfällen 
und  Wandlungen.  Sehr  folgerichtig,  sehr  zwingend  endigt 
darum  die  Mechanik  in  den  Spekulationen  der  modernen 
Relativität*Theoretiker,  wonach  auch  die  Zeit,  diese  neben 
Raum   und   Masse   unentbehrlichste   Voraussetzung  jeder 

630 


exakten  Ergründung  der  Natur,  zuletzt  an  und  für  sich  nur 
eine  vierte  Dimension  des  Raumes  oder  (wie  Einstein  es 
ausdrückt)  eine  Zeiger*Stellung  sei,  wofern  die  Zeit  in  jedem 
ausgewählten  Querschnitt  mechanischen  Geschehens  wirk* 
lieh  immer  nur  dieselben  dauernden  Elemente  in  anderen 
Lagen,    Beziehungen,    Bildungen,   Verteilungen  geordnet 
und   bestimmt  nach  Gleichzeitigkeiten  aufweist.    Ebenso 
folgerichtig  besteht  hingegen  die  Organik  auf  einer  durch* 
gängigen  Unterscheidung,  ja  Gegenüberstellung  der  beiden 
Grundlegungen  Raum  und  Zeit,  weil  für  sie  jeder  Quer* 
schnitt   durch   den  Wirklichkeitablauf  in  unumkehrbarer 
Richtung  neue  Elemente  selber,  nämlich  organische  Gestalten 
als  in  der  Zeit  entstanden  bemerklich  macht.  Das  Stichwort 
für  den  ersteren  heißt  eiveulatio,  das  Stichwort  für  den  letz* 
teren  aber  evolutio.  Und  wenn  der  Mechanist  schwerlich 
umhin  kann  zu  sagen,  daß  alles,  was  da  ist,  in  zahllos  kyk* 
lischen  Wiederholungen  je  und  je  da  war  und  da  sein  wird, 
atmet  der  Organiker  von  dieser  methodischen  Verödung 
der  Welt  herzlich  auf,    wahrhaftig  von  Tag  zu  Tag  des 
lebendigen  Geschehens  nicht  wissend,  was  alles  noch  auf 
dieser  Welt  werden  mag  von  den  Trilobiten  des  Kambrium 
bis  zu  Sauriern  des  Jura,  von  den  Foraminiferen  der  Kreide 
bis  zu  den  sintflutlichen  Primaten,  von  dem  Menschen  der 
Gegenwart  bis  zu  dem  Übermenschen  der  nächsten  großen 
Metamorphose  dieses  oder  eines  edleren  Planeten  .  .  . 

Bereits  entglitt  der  Feder  der  Ausdruck  ,Welt*Organis* 
mus\  oder  in  einer  gebrauchtauglicheren,  Schellings  schönem 
Enthusiasmus  verdankten  Sprachfassung  ,All*Organismus\ 
um  die  zweite  entscheidende  Konzeption  der  modernen  Er* 
kenntnis  sachgemäß  zu  bezeichnen.  Indem  ich  aber  diesen 
einst  ebenso  hoch  gepriesenen  wie  übel  geschmähten  In* 
begriff  zu  adoptieren  mir  getraue,  finde  ich  mich  schon  jetzt 
zu  einer  gleichsam  vorbeugenden  Erläuterung  verpflichtet, 

631 


die  nach  Kräften  ein  naheliegendes  Mißverständnis  un* 
schädlich  machen  helfen  soll.  Geht  nämlich  unsere  Rede 
das  eine  mal  von  der  Welt*Maschine,  das  andere  mal  vom 
AlkOrganismus,  so  leuchtet  ohne  weiteres  ein,  daß  das,  was 
unter  einer  universalen  Mechanik,  unter  einer  universalen 
Organik  zu  verstehen  wäre,  nicht  etwa  zwei  hemisphärisch 
geschiedene  Wirklichkeiten  zu  zwei  hemisphärisch  ge* 
schiedenen  Welten  unserer  Erkenntnis  erhöbe,  sondern  daß 
wir  in  Mechanik  und  Organik  ein  und  dieselbe  Welt,  ein 
und  dieselbe  Wirklichkeit  unter  verschiedenen  Formen  der 
wissenschaftlichen  Einstellung  erblickten.  Diese  Erläuterung 
ist  desto  unumgänglicher,  als  hartnäckig  der  Anschein  vom 
Gegenteil  besteht.  Haben  wir  doch  kürzlich  noch  selber 
die  Grenzen  der  Mechanik  dort  zu  ziehen  uns  keineswegs 
gescheut,  wo  ein  Lebendiges  in  seinen  Äußerungen  von 
Reizen  bedingt  erschien,  indes  Unlebendiges  seine  Wir* 
kungen  nach  meßbar  verhältnismäßigen  Ursachen  zugeteilt 
erhielt:  wobei  wir  offenkundig  das  sogenannt  Lebendige 
nur  in  dem  gang  und  gäben  Wortsinn  verstanden  haben 
konnten,  verstanden  haben  wollten,  der  es  als  pflanzlichen 
oder  tierischen  Organismus  in  sachlichen  Gegensatz  stellt 
etwa  zu  chemischen  Elementen  und  ihren  Verbindungen 
oder  zu  physikalischen  Materien  und  ihren  Äußerungen. 
Immerhin  wiesen  wir  doch  damals  schon  auf  den  Umstand 
hin,  daß  die  Mechanik  als  die  Wissenschaft  vorzüglich  des 
Unlebendigen  anwendbar  war  auch  aufs  Lebendige,  ja  wir 
hoben  es  als  besonderer  Erwähnung  würdig  hervor,  daß 
die  moderne  Physik  die  Entdeckung  ihres  leitenden  Ge* 
setzes  auf  jener  Reede  zu  Surabaya  geradezu  der  Anwendung 
auf  physiologische,  wenn  nicht  sogar  auf  pathologische 
Tatsachen  verdanken  durfte.  Ein  seltsam  verschränkter, 
schwer  zu  enträtselnder  Sachverhalt  fürwahr!  Als  Wissen* 
schaft  von  der  leblosen  Natur  ist  die  Mechanik  augenschein* 

632 


lieh  nach  ihrer  besonderen  Gegenständlichkeit  abgegrenzt, 
indes  sie  im  selben  Atem  ihre  höchste  Leistung  durch  ihre 
Anwendbarkeit  auf  Gegebenheiten  vollbringt,  die  sich  ganz 
ohne  Zweifel  des  Lebendigseins  erfreuen  und  in  dieser 
Eigenschaft  mechanischer  Darstellbarkeit  schlechterdings 
spotten!  Wir  haben  also  die  universale  Mechanik  für  mög* 
lieh  und  unmöglich  in  einem  zu  halten,  ja  mehr  noch,  wir 
haben  sie  für  möglich  zu  halten,  wofern  sie  eigentlich  un* 
möglich  ist,  und  für  unmöglich,  wofern  möglich!  Es  gab 
eine  WehvMaschine  in  Ansehung  beider  Naturen,  der  un* 
belebten  und  belebten,  —  und  es  gab  wiederum  keine 
Welt*Maschine  in  Ansehung  der  belebten!  Vor  jeglichem 
organischen  Geschehen  setzten  sich  die  Gleichungen  und 
Gleichsetzungen  geometrisierender  Wissenschaftlichkeit 
sozusagen  von  selber,  ipso  facto,  außer  Geltung,  —  und 
doch  war  es  organisches  Geschehen,  das  zu  seinem  Teil  die 
Geometrisierung  der  Natur  vollenden  half!  Wie  sich  aus 
diesem  Irrtanz  der  Betrachtung  retten,  wie  sich  zum  Begriff 
des  Al^Organismus  ermutigt  fühlen,  wo  schon  die  Vor* 
Stellung  der  WehvMaschine  jedwelcher  Eindeutigkeit  und 
Ehrlichkeit  ermangelt? 

Dieses  Dilemmas  suchten  wir  uns,  man  wird  sich  dessen 
gut  entsinnen,  in  der  Folge  ziemlich  einfach  dadurch  zu 
entledigen,  daß  wir  in  aller  Unumwundenheit  die  gedankt 
liehe  Fiktion  einräumten,  auf  welcher  die  moderne  Mechanik 
beruht.  Die  lückenlose  Auffassung  der  Wirklichkeit  als 
einer  Maschine  war  tunlich,  wofern  sie  das  Organische  so 
ansah,  als  ob  es  ein  Mechanisches  wäre  und  der  Regel  des 
causa  aequat  effectum  unterwürfig  bliebe:  dergestaltig  durfte 
auch  das  Lebewesen  Tier,  Mensch  oder  Pflanze  als  eine 
Maschine  im  kleinen  wohl  passieren,  dergestaltig  war  die 
maschinelle  Deutung  der  daseienden  Totalität  als  Totalität 
vor  der  Vernunft  sichergestellt.   Für  eine  beabsichtigte  uni? 

633 


versale  Organik  aber  ergäbe  sich  daraus  ganz  die  ent* 
sprechende  Forderung,  daß  sie,  wollte  sie  an  erkenntnis* 
mäßigem  Rang  der  universalen  Mechanik  ebenbürtig  werdenf 
auf  einer  sehr  ähnlichen  Fiktion  ihrerseit  entschlossen  be* 
harren  müsse,  —  daß  es  ihr,  mit  anderen  Worten,  gleich* 
falls  obläge,  den  Mechanismus  allenthalben  so  zu  betrachten, 
als  ob  er  organisch  wäre,  als  ob  erlebe!  Erst  wenn  dieses 
eintrifft,  haben  wir  Mechanik  und  Organik  als  die  beiden 
gleich  möglichen,  als  die  beiden  gleich  notwendigen  Ab* 
zweigungen  der  Wirklichkeiterkenntnis  überhaupt  erhärtet. 
Erst  wenn  dieses  eintrifft,  dürfen  wir  eine  doppelte  Aus* 
deutung  der  Einen  einfachen  Natur  als  Maschine  und  als 
Organismus  mit  derselben  Wahrheit,  derselben  Richtigkeit, 
derselben  Gültigkeit  gesichert  wissen.  Erst  wenn  dieses 
eintrifft,  werden  wir  uns  der  Idee  ,Welt*Maschine'  und  der 
Idee  ,All*Organismus'  in  der  Tat  als  zweier  Notenschlüssel 
zu  bedienen  vermögen,  in  welchen  das  System  unserer  Er* 
fahrungen  in  seinen  sämtlichen  Klanglagen  und  Tonstufen 
erschöpfend  niedergeschrieben  werden  kann.  Erst  wenn 
dieses  eintrifft,  haben  wir  rühmlichen  Besitz  ergriffen  von 
zwei  wissenschaftlichen  Nachbildern,  Abbildern,  Vor* 
bildern,  Urbildern  des  Wirklichen:  gleichsam  eine  Bürg* 
schaft  ihrer  logischen  Vollständigkeit  darum  in  sich  selber 
tragend,  weil  eins  das  andere  gebieterisch  zu  seiner  Er* 
gänzung  heischt  und  nur  beide  zusammen  das  Bewußtsein 
endgültig  darüber  beruhigen,  von  der  Natur  alles  erfragt 
und  alles  erfahren  zu  haben,  was  nach  Beschaffenheit  der 
fragenden  und  erfahrenden  Vernunft  überhaupt  zu  erfahren, 
zu  erfragen  ist.  Denn  ein  Jenseit,  ein  Drittes  außer  der 
maschinisierten  und  außer  der  organisierten  Wirklichkeit 
gibt  es  wirklich  nicht.  Wenn  also  der  eine  Wissenschaft* 
liehe  Typus  seinen  entgegengesetzten  anstatt  ihn  auszu* 
schließen  fordert,  ungefähr  wie  sich  ergänzende  Farben, 

634 


ergänzende  Klänge,  ergänzende  magnetische  und  elektrische 
Pole  fordern,  dann  gilt  von  beiden  zusammen  unbedingt 
der  Satz  von  jenem  dritten,  das  als  solches  vernünftigerweis 
ausgeschlossen  bleiben  muß  .  .  . 

Indes  befindet  sich  auch  jetzt  noch,  ja  jetzt  vielleicht  erst 
recht,  der  Kosmos  der  Mechanik  verglichen  mit  dem  Kosmos 
der  Organik  in  einem  wesentlich  benachteiligten  Zustand. 
Währenddem  die  europäische  Mechanik  seit  den  Kopernikus, 
Galilei,  Newton,  Kant,  d'Alembert,  Mayer,  Hertz,  die 
Wissenschaft  vom  Kosmos  ist  in  dem  reichsten  und  groß* 
artigsten  Begriff,  den  dieser  Ausdruck  seit  Pythagoras,  seit 
Philolaos  bezeichnen  will  und  kann;  währenddem  diese 
Mechanik  zunächst  den  Himmel  und  seine  Umschwünge, 
später  die  Erde  und  irdischen  Körper  mit  ihren  Bewegungen, 
zuletzt  die  Lebewesen  und  ihre  Tätigkeiten  mit  ihren  analy* 
tischen  Gleichungen  ausnahmlos  zu  bewältigen  verstand: 
klebt  die  erstrebte  Schwester*Erkenntnis  der  Organik  noch 
heute  gar  kümmerlich  am  sogenannten  Lebewesen  allein, 
an  Pflanze  und  Tier  und  wenn's  hoch  kommt  an  deren 
Familien,  Arten,  Gattungen,  Klassen,  Stämmen,  ohne  die 
Erde  als  astrales  Organ,  geschweige  denn  die  Himmel  als 
Komplex  astraler  Organe  entsprechend  behandeln  zu  ver* 
mögen.  Es  gibt  also  zwar  einen  mechanisch*maschinellen 
Kosmos,  weil  es  eine  physiologisch*tellurisch*siderische 
Mechanik  gibt,  die  sich  mit  wenig  Abänderungen  und  Ein* 
schränkungen  auf  die  drei  Reiche  der  Wirklichkeit  beziehen 
läßt.  Nicht  aber  oder  noch  nicht  gibt  es  einen  organischen 
Kosmos,  der  Himmel,  Erde  und  Tier* Pflanze  gleichermaßen 
zu  umgreifen  sich  getraute,  trotzdem  die  feierliche  Ahnung 
dieses  Kosmos  vielleicht  älter  war  als  die  erste  Durchbildung 
einer  Welt*Maschine,  —  finden  wir  ihn  doch  schon  im 
Timaios  als  ein  »beseeltes  Lebendiges,  £coov  £fi\pv%ovl  viel* 
sagend  gekennzeichnet.  Seither  ward  jedoch  leider  die  An* 

635 


schauung  dieses  organischen  Kosmos  augenscheinlich  weiter 
und  weiter  zurückgedrängt  zum  Vorteil  des  maschinellen, 
und  unter  den  zahlreichen  geschichtlichen  Siegen,  die  der 
Stagirit  in  der  Folge  über  seinen  Piaton  (wahrhaftig  nicht 
über  Piaton  überhaupt)  davontrug,  ist  dieser  keiner  der 
geringsten,  wohl  aber  vielleicht  einer  der  schmerzlichsten. 
Ernsthaft  wieder  zu  Gnaden  aufgenommen  erscheint  der 
Gedanke  dieses  anderen  Kosmos  wohl  erst  vom  späten  Ge* 
schlecht  jener  Goethe,  Schelling,  Humboldt,  Fechner,  wenn* 
gleich  sie  ob  dieser  ihrer  hohen  Konzeption  noch  lange 
nicht  gebührend  gewürdigt  werden  und  gestern  wie  heut' 
einer  zeitgemäß  reifen  Nachkommenschaft  fast  völlig  ent* 
behren  müssen  .  .  .  Falls  man  hier  nicht  noch  das  seltsame 
Verhalten  des  Johannes  Kepler  heranzuziehen  gesonnen 
wäre,  der  (in  der  Harmonice  Mundi)  den  Erdkörper  als  ein 
lebendiges  Untier  schildert,  dessen  walfischartige  Respiration 
in  periodischem,  von  der  Sonnenzeit  abhängigen  Schlaf  und 
Erwachen,  das  Anschwellen  und  Sinken  des  Ozeans  ver* 
ursacht:  womit  derselbe  Kepler,  der  früher  die  durchaus 
richtige  mechanische  Erklärung  von  Ebbe  und  Flut  gegeben 
hatte,  von  dieser  plötzlich  Abstand  nimmt  und  gleichsam 
einen  Sprung  tut  von  der  mechanischen  in  eine  organische 
Auffassung  der  Weltkörper,  —  ein  Sprung,  der  hier  freilich 
daneben  gerät,  aber  vielleicht  aus  wer  weiß  wie  tiefen  und 
richtigen  Ahnungen  kosmischer  Möglichkeiten  heraus  ge* 
schehen  ist  .  .  .  zu  früh  vielleicht,  sehr  viel  zu  früh  und  nur 
darum  noch  zu  kurz!  .  .  .  Davon  indes  genug  und  mehr 
wie  genug,  —  denn  was  hülfen  Klagen  und  Anklagen  über* 
mächtiger  Verhältnisse?  Fehlt  doch  so  oder  so  noch  ent* 
scheidend  vieles,  wenn  nicht  alles,  um  schon  jetzt  und  zu 
dieser  Stunde  den  Organismus  in  eben  dem  Sinne  als  ein 
mikrokosmisches  Modell  des  Makrokosmos  kenntlich  zu 
machen  wie  vorhin  die  Maschine.  Wo  der  Mechanik  völliges 

636 


Gelingen  beschieden  war,  sämtliche  Erscheinungen  der  tel* 
lurisch*physiologisch*siderischen  Wirklichkeit  ihren  Regeln 
geschmeidig  zu  machen,  da  missen  wir  bei  der  Organik  von 
vornherein  schon  die  Regeln  selbst,  geschweige  denn  die 
Anlässe  ihrer  Anwendbarkeit:  zu  jeder  Nachahmung  und 
jeder  Anwendung  der  Geometrie  durchaus  ungeschickt, 
verfügt  sie  weder  über  Grundsätze  und  Grundgesetze,  noch 
über  schlüssige  Folgerungen  daraus,  sondern  gibt  sich  ein* 
fach  den  Erscheinungen  hin  und  deren  Beobachtung,  etwa 
langsam  von  ihnen  zum  Versuch,  zum  Experiment  fort* 
schreitend,  um  derart  vielleicht  doch  wenigstens  .mögliche* 
Gesetze  auf  dem  Weg  unvollständiger  Verallgemeinerung 
und  Annäherung  induktiv  zu  ermitteln. 

Bei  diesem  etwas  bettelhaften  Verfahren  verdient  es 
übrigens  immerhin  angemerkt  zu  werden,  daß  diese  (ver* 
glichen  mit  der  Mechanik)  zufälligen  und  unzusammen* 
hängenden  und  ungenauen  Beobachtungen  eine  Reihe  von 
Ergebnissen  gezeitigt  haben,  die  trotz  allem  ganz  unver* 
kennbar  in  der  Richtung  einer  universalen  Organik  höchsten 
Ranges  gelegen  sind.  Desto  sorgfältiger  und  geduldiger 
nämlich  der  Organismus  studiert  ward,  sei  es  vereinzelt, 
sei  es  als  Familie,  Gruppe,  Gattung,  desto  zwingender  bei 
diesem  Studium  sich  seine  radikale  Andersbeschaffenheit 
und  Unterschiedenheit  vom  Mechanismus  durchzusetzen 
begann :  um  so  verblüffender  offenbarte  sich  bei  Fortsetzung 
dieser  Studien  der  Tatbestand,  daß  alle  die  beobachteten 
und  beschriebenen  Merkmale  und  Kennzeichen,  die  an* 
scheinend  den  Organismus  so  scharf  vom  Mechanismus  ab* 
zuheben  gestatten,  ihrerseit  wieder  bei  eben  jenen  zur 
sicheren  Abhebung  gelangten  mechanischen  Gegenständen, 
Körpern,  Erscheinungen  feststellbar  seien,  —  derartig  zwar, 
daß  das  gesamte  Aufgebot  der  unterscheidendenMerkzeichen 
des  Organischen  Zug  für  Zug  an  den  mechanischen  Ge* 

637 


bilden  ebenfalls  betroffen  wurde.  Wie  beim  Wettlauf  des 
Swinegels  und  des  Hasen  zur  ungeheuren  Verwunderung, 
ja  zum  Entsetzen  des  letzteren  der  Meister  Swinegel  ihm 
immer  wieder  an  den  vereinbarten  Zielpunkten  mit  gar  ge* 
mütlicher  Zuvorkommenheit  entgegenschritt  und  dem  wind* 
schnell  gehetzten  und  aus  allem  Atem  geratenen  Schnell* 
läufer  sein  lustig  grinsendes  Grüßgott  bot,  so  könnte  im 
wissenschaftlichen  Wettstreit  des  Lebens  mit  dem  Nicht* 
lebendigen  das  erstere  dem  letzteren  mit  einem  etwas  ge* 
salzenen  Lächeln  aufwarten :  ick  bün  all  hier  . . .  Denn  wahr 
und  wahrhaftig,  nichts,  was  die  eifrigsten  und  genauesten 
Beobachtungen  fürs  Leben  als  dessen  Charakteristika  in 
Anspruch  nahmen,  ist  bei  gründlicher  Nachprüfung  dem 
Nichtleben  durchaus  abzuerkennen.und  bereits  heute  mehren 
sich  die  Zeichen,  daß  die  definitorischen  Versuche,  eins  vom 
anderen  klar  abzugrenzen,  eitel  und  voreilig  gewesen  sind. 
Berufen  wir  uns  zum  Exempel  auf  den  Umstand,  der  auch 
in  unseren  bisherigen  Erörterungen  als  ein  grundlegender 
namhaft  gemacht  ward,  und  behaupten  nachdrücklich,  mit 
untrüglicher  Sicherheit  ließe  sich  der  Organismus  vom 
Mechanismus  eben  durch  die  Fähigkeit  des  Protoplasma 
unterscheiden,  daß  es  nach  Reizen  anstatt  nach  eigentlichen 
Ursachen  Veränderungen  erleide:  so  wird  man  uns  heute 
ohne  Verzug  mit  der  widersätzlichen  Beobachtung  ins  Ge* 
sieht  springen,  daß  man  beim  Vorgang  der  Kristallisation 
längst  die  entsprechende,  wenn  nicht  genau  dieselbe  Fähig* 
keit  über  jede  berechtigte  Anzweiflung  hinaus  nachzu* 
weisen  vermocht  habe.  Wird  nämlich  ein  Kristall  verletzt, 
und  dies  gelangte  schon  vor  den  bahnbrecherischen  Ver* 
suchen  Otto  von  Schroens  zu  wissenschaftlicher  Beachtung, 
dann  ist  er  im  stände,  soviel  an  materieller  Masse  aus  seiner 
Mutterlauge  heran  zu  ziehen,  als  notwendig  ist,  sich  selber 
gleichsam  wieder  herzustellen  und  wieder  auszuheilen,  — 

638 


ist  mithin  im  stände,  auf  einen  Reiz  hin,  als  welchen  er  die 
erlittene  Verletzung  doch  irgendwie  wahrgenommen  haben 
muß,   mit  selbständiger   Betätigung  zu   antworten.    Und 
wenn  auch  hierbei  etwanig  mechanische  Erklärunggründe 
schon  keineswegs  außer  jedem  Betracht  bleiben  dürften, 
hat  man  immerhin  stark  zu  beachten,  daß  sie  neben  den 
organischen   und  außer  ihnen   zugelassen  werden,  nicht 
mehr  wie  früher  statt  derselben  und  an  ihrer  Stelle.    Im 
weiteren  Verfolg   dieser  und   verwandter  Beobachtungen 
ward  es  indessen  zur  befestigten  Gewißheit,  daß  bisher  dem 
lebendigen    Leben    ausschließlich    vorbehaltene  Verände* 
rungen  und  Bewegungen  wie  Wachstum,  Ernährung,  Selbst* 
tätigkeit,  Fortpflanzung  insgesamt  auch  bei  Kristallen  nach* 
zuweisen  seien.  Ähnlich  der  organischen  Zelle  verschmelzen 
die  Kügelchen  von  Kristallen  ineinander,  um  dergestalt  eine 
Vergrößerung  und  Zunahme  ihres  körperlichen  Umfanges 
zu  bewirken;  ähnlich  der  organischen  Zelle  senden  kristal* 
lische  Gestalteinheiten  gewissermaßen  »amoeboide*  Fort« 
sätze  in  solche  Kristalle,  die  noch  nicht  entwickelt,  noch 
nicht  reif  sind,  um  von  diesen  Fortsätzen  aus  in  sie  hinein* 
zuwachsen ;  ähnlich  der  organischen  Zelle  teilen  sich  Kristall* 
Scheiben  aus  sogenannt  »dunkeln  Stellen'  oder  »Wölken'  in 
Tochterscheiben,  die  sich  von  ihrem  Mutterkörper  abstoßen, 
abknospen,  um  frei  in  der  umgebenden  Lösung  umher  zu 
schwimmen;  ähnlich  der  organischen  Zelle  sind  die  Kristalle 
mancher  chemischen  Stoffe  dazu  geschickt,  sich  die  Kristalle 
derselben  Stoffe,  aber  von  anderer  mineralogischer  Struktur 
und  axialen  Systematik  anzuähnlichen  und  anzupassen.  Da* 
mit  noch  nicht  genug,  alte  Grenzen  zwischen  organischen 
und  anorganischen  Gegebenheiten  stark  verwischt  und  ein 
sauberes  Konzept  von  beider  Eigentümlichkeiten  gar  grob  in 
Unordnung  gebracht  zu  haben,  wird  uns  zuletzt  mit  einer  ent* 
scheidendsten  Übereinstimmung  zwischen  Leben  und  Nicht* 

639 


leben  aufgetrumpft,  indem  man  die  morphologische  Un* 
gleichartigkeit  der  Materie,  früher  als  stichhaltigstes  Cha* 
rakteristikum  des  Lebens  dem  Nichtleben  schlechterdings 
aberkannt,  in  den  Kernen  von  Kristallen  nun  gleichfalls  zur 
Anschauung  bringen  zu  können  scheint.  Die  Qualität  des 
.GestaltsHabens',  die  Essenz  des  ,Gestalt*Seins'  geht  vom 
Leben  aufs  Leblose  über  und  macht  dadurch  jeder  kontra* 
diktorischen  Vergleichung  beider  eigentlich  ein  Ende.  Ja, 
was  vielleicht  das  Tollste  ist,  —  nicht  nur  an  diesen  so  wie 
so  schon  höchst  merkwürdigen  Gebilden  anorganischer 
Natur,  nicht  nur  an  den  Kristallen  wurden  vitale  Merk* 
zeichen  je  und  je  gesichtet.  Schon  geraume  Zeit  vor  diesen 
Aufsehen  machenden  Entdeckungen  war  bei  Gelegenheit 
physikalischer  Versuche  mit  den  sogenannten  Kolloiden 
(Gallertkörperchen)  ein  anderer,  vorlängst  dem  Organis* 
mus  allein  zugeschriebener  Vorgang  beobachtet  worden, 
indem  sich  aus  deren  Umgrenzungen  und  in  sie  hinein  ge* 
nau  dasselbe  wie  eine  organische  Diffusion  zwischen  Zellen* 
häutchen  begab :  ein  Vorgang,  der  zum  mindesten  in  seinen 
einleitenden  und  abschließenden  Abschnitten  mit  jener  bio= 
logischen  Diffusion  streng  einhellig  war  und  nur  in  seinen 
mittleren  Abschnitten  sich  der  Vergleichung  noch  entzog . . . 
Die  Perspektive  aber,  die  sich  aus  solchen  Versuchreihen 
und  ihren  Ergebnissen  öffnet,  ist  ungefähr  folgende :  Kri* 
stalle  und  Kolloide  und  mit  ihnen  chemische  Elemente  und 
physikalische  Materien  teilen  sich  offenbar  mit  dem  eigent* 
liehen  Leben  in  seine  wichtigsten  Eigenheiten  und  Merk* 
male,  sobald  sie  auf  diese  hin  erforscht  werden.  Die  Grund* 
Stoffe  der  Erde  selber  fügen  sich  dadurch  der  organischen 
Behandlung  nicht  minder  wie  sie  sich  ehemals  der  mecha* 
nischen  gefügt  haben:  und  nicht  nur  die  Grundstoffe  al* 
leinig,  sondern  ganze  Epochen  ihrer  Vergangenheit,  wenn 
wir  daran  denken  wollen,  daß  etwa  das  geologisch  urfrüheste 

640 


.Lebensalter',  die  laurentinische  Zeit,  mit  kristallinischen 
Massen?  und  Schiefergesteinen  und  kristallinischem  Kalk? 
stein  auf  einen  vorzüglich  kristallinen  Zustand  unseres  Ge? 
stirns  offensichtlich  hindeutet.  Die  Hoffnung  findet  somit 
Nahrung,  daß  sich  eines  Tages  die  eng  umzirkte  physio? 
logisch?biologische  Organik  zu  einer  tellurischen  erweitere 
in  umgekehrter  Richtung  wie  zu  ihrer  Zeit  die  europäische 
Mechanik,  die  sich  schrittweis  erst  von  der  Erde  auf  das 
Leben  hatte  übertragen  lassen.  Weil  aber  außerdem  nach 
dem  hauptsächlichen  Ertrag  der  spektralen  Analysis  des 
Himmels  die  Erde  vielfach  aus  den  Grundstoffen  des  Welt* 
gebäudes  zusammengesetzt  ist  und  in  ihrer  Physik  und 
Chemie  sicherlich  teilweise  mit  der  astralen  Physik  und 
Chemie  zur  Deckung  gebracht  werden  kann,  besteht  nicht 
unbegründete  Aussicht,  jene  tellurische  Organik  vollends 
zu  einer  siderischen  ausgedeihen  zu  lassen:  einmal  wird 
künftig  der  Mechanik  der  ,drei  Reiche*  eine  Organik  der? 
selben  Reiche  ergänzend  zur  Seite  sein,  die  siderischen, 
tellurischen,  physiologischen  Erscheinungen  der  Wirklich? 
keit  in  eben  dem  Sinn  als  Kundgebungen  des  All?Organis? 
mus  deutend,  wie  sie  vorher  die  Mechanik  als  Leistungen 
der  Welt?Maschine  angesprochen  hatte.  Die  Stunde  wird 
schlagen,  da  des  großen  Humboldt  Worte  mehr  als  ein 
bloßes  Gleichnis  sein  werden,  wenn  er,  von  Nebelflecken 
und  Nebelsternen  erzählend,  unvermutet  in  die  Ahnung 
ausbricht:  „Die  genetische  Entwicklung,  die  perpetuier? 
liehe  Fortbildung,  in  welcher  dieser  Teil  der  Himmelsräume 
begriffen  scheint,  hat  denkende  Beobachter  auf  die  Analogie 
organischer  Erscheinungen  geleitet.  Wie  wir  in  unseren 
Wäldern  dieselbe  Baumart  gleichzeitig  in  allen  Stufen 
des  Wachstums  sehen,  und  aus  diesem  Anblick,  aus  dieser 
Koexistenz  den  Eindruck  fortschreitender  Lebens?Ent? 
wicklung  schöpfen,  so  erkennen  wir  auch  in  dem  großen 

41     Ziegler,  Gestaltwandel  der  Götter  641 


Weltgarten  die  verschiedensten  Stadien  allmählicher  Stern* 
bildung  .  .  ."  Mit  seherischem  Schwung  nimmt  hier  der 
zwar  nicht  gedankentiefste  aber  gedankenreichste  und 
menschlich  höchstgebildete  nicht  nur  der  deutschen  Natur* 
forscher  des  verflossenen  Jahrhunderts  die  schellingsche 
Hypothesis  vom  All*Organismus  in  dem  ebenso  kühnen 
wie  zutreffenden  Begriff  eines  Welt*  und  Himmels*Gartens 
auf  und  einer  späteren,  annoch  nicht  angebrochenen  Zukunft 
auf  seine  Weise  auch  vorweg,  —  erkennend  die  wissen* 
schaftliche  Möglichkeit,  Wahrscheinlichkeit,  Notwendig* 
keit,  daß  alles,  was  in  der  hergebrachten  Meinung  als  ein 
Mechanisches  den  Sinnen  und  dem  Sinn  vertraut  erscheine, 
einstens  mit  nicht  verringerter  Gültigkeit  als  ein  Organisches 
erfunden  würde :  Stern  neben  Stern,  Weltenkörper  neben 
Weltenkörper,  Stern  nach  Stern,  Weltenkörper  nach  Welten* 
körper  im  Himmel  (wachsend  nach  vitalen  , Reizen')  wie 
die  Bäume  eines  unermeßlichen  Eden,  jeder  auf  seiner 
Stufe  der  organischen  Reifung  und  alle  miteinander  Äuße* 
rungen  eines  all*lebendigen  Gestaltungwillens  und  Ge* 
staltungtriebes,  oder  vorsichtiger  und  bestimmter:  Äuße* 
rungen  eines  auf  das  All*Lebendige  gerichteten  Gestaltung* 
willens  und  Gestaltungtriebes  . . .  Dieser  nämliche  Grundriß 
einer  universalen  Organik  —  stärken  wir  uns  durch  dieses 
innige  Einverständnis  mit  einer  so  zuständigen  Kapazität! 
—  hat  offenbar  dem  nämlichen  Humboldt  Jahre  schon  vor* 
her  deutlich  vorgeschwebt,  wenn  er  ihn  in  einem  Brief  an 
Karoline  von  Wolzogen  nur  noch  persönlicher,  nur  noch 
grundsätzlicher,  nur  noch  hingerissener  umschreibt:  ,,  .  .  . 
in  den  Wäldern  des  Amazonenflusses  wie  auf  dem  Rücken 
der  hohen  Anden  erkannte  ich,  wie  von  Einem  Hauche  be* 
seelt  von  Pol  zu  Pol  nur  Ein  Leben  ausgegossen  ist  in 
Steinen,  Pflanzen  und  Tieren  und  in  des  Menschen  schwel* 
lender  Brust  .  .  ." 

642 


Mit  froher  Entschlossenheit  diese  wissenschaftgeschicht* 
liehe  Perspektive  ergreifend  und  wiederum  von  ihr  er* 
griffen,  könnte  man  ohne  Unruhe  dem  Tag  entgegen  sehen, 
wo  sogar  die  Proteine  des  organischen  Zellkernes  oder  der 
Zelle  synthetisch  hergestellt  würden  und  mit  diesem  Er* 
eignis  vielleicht  noch  eine  allerletzte  Schranke  fiele,  welche 
bislang  Lebendes  und  Lebloses  kontradiktorisch  vonein* 
ander  schied,  —  obzwar  gewiß  synthetisch  hergestelltes 
Protein  noch  immer  nicht  ein  richtiger  Organismus  wäre. 
Man  könnte,  sage  ich,  mit  einiger  Gelassenheit  auch  diesem 
aufregenden  Tage  entgegenharren,  aber  keineswegs  darum, 
weil  man  alsdann  einen  sogenannten  Monismus  für  er* 
wiesen  halten  müßte,  der  Lebendiges  und  Unlebendiges 
begrifflich  entweder  gar  nicht  gesondert  wissen  möchte  oder 
lieber  noch  Lebendiges  aus  Unlebendigem,  Unlebendiges 
aus  Lebendigem  entstanden  zu  sein  behauptet.  Sondern 
ganz  im  Gegenteil  darum,  weil  wahrscheinlich  dann  die 
Bahn  gänzlich  offen  und  eben  läge  für  einen  möglichst 
lückenlosen  Dualismus  und  Parallelismus  zwischen  einer 
rein  mechanisch  und  einer  rein  organisch  aufgefaßten  Natur. 
Eine  unter  keinen  Umständen  mehr  nach  verschiedenen 
Erlebnisinhalten  der  Wirklichkeit  zu  rechtfertigende  Spal* 
tung  der  Natur  in  eine  leblose  und  in  eine  belebte  würde, 
so  steht  vermutlich  zu  erwarten,  endlich  einer  nach  ver* 
schiedenen  Formen  der  Einstellung  des  Verstandes  ge* 
doppelten  Wissenschaft  von  der  Einen  Natur  ihre  Geltung 
gewährleisten.  Nicht  darnach  stünde  uns  also  in  jenem 
fruchtbaren  Augenblick  der  Herstellung  lebendiger  Subs 
stanzen  der  Sinn,  die  Gebiete  bisher  unterschiedener  Me* 
thoden  der  Wirklichkeiterkenntnis  vorsätzlich  zu  mischen 
und  zu  wirren,  vielmehr  sehr  im  Gegenteil  darnach,  sie  mit 
desto  größerer  Klarheit  und  Bewußtheit  auseinander  zu 
halten;  —  bereichert  freilich  um  die  unverlierbare  Einsicht, 

41*  .  643 


daß  nicht  eine  vereinzelte  naturgegebene  Erscheinung  lebt, 
eine  andere  nicht  lebt,  sondern  je  nach  unserer  erwählten 
Stellungnahme  entweder  mechanisch  oder  organisch  faßbar 
wird.  In  demselben  Grad,  als  die  naiv  gegenständliche 
Trennung  von  Leben  und  Nichtleben  unzulässig  wird,  muß 
die  kritische  und  methodische  Trennung  beider  bedeut* 
samer  werden.  Je  weniger  umständlich  sich  der  Schritt  vom 
Anorganischen  zum  Organischen  ausnimmt,  wofern  man 
jedes  Ding  und  jede  Sache  der  Natur  als  belebt  oder  als 
unbelebt  der  Erkenntnis  unterwerfen  kann,  um  so  fester 
muß  nach  einmal  getroffener  Entscheidung  die  transzendent 
tale  Einstellung  »Maschine'  oder  .Organismus*  aufrecht  er* 
halten  werden,  durch  welche  der  Eine  Kosmos  unserer 
Sinne  in  eine  parallele  Zweiheit  von  WeltsMaschine  und 
AlkOrganismus  für  den  Sinn  sich  hälfelte.  Unverrückbar 
wie  nur  jemals  wäre  auch  jetzt  die  Grenze  zwischen  Leben 
und  Nichtleben  von  uns  zu  ziehen:  neu  gegen  vorher 
wären  nur  die  Punkte  gelegt,  durch  welche  sie  verläuft. 
Nämlich  nicht  zwischen  den  einzelnen  Gegebenheiten  der 
Wahrnehmungwelt,  sondern  zwischen  unsere  erkenntnis* 
mäßigen  und  vernunftentsprechenden  Stellungnahmen  zu 
dieser  Welt,  der  wir  das  eine  mal  das  geistgeschaffene 
Modellchen  der  Maschine,  das  andere  mal  das  geist* 
geschaffene  Modellchen  des  Organismus  transzendental* 
mikrokosmisch  unterstellten  .  .  . 

Die  neue  DoppekWissenschaft,  Schwester=Erkenntnis 
also,  die  sich  in  dem  Europa  nach  der  Reformation  eines 
immer  heiterern  Aufblühens  zu  erfreuen  hatte,  beruht  auf 
zwei  grundsätzlich  verschiedenen  Einstellungen  der  Ver* 
nunft,  deren  erste  gegebene  Wirklichkeitänderungen  durch 
den  Gedanken  der  Gleichung,  deren  zweite  durch  den  Ge* 
danken  der  Ungleichung  geistig  zu  bemeistern  strebt. 
Glückt  ihr  mittels  der  ersten  Einstellung  die  Anwendung 

644 


geometrischer  Verhältnisse  auf  die  Bewegungen  sichtbarer 
und  unsichtbarer  Bewegungträger  durchzusetzen,  so  liegt 
es  in  der  Beschaffenheit  der  zweiten  Einstellung,  den  Ge* 
brauch  der  Geometrie,  der  Analysis,  der  Mathesis  geradezu 
von  sich  auszuschließen.  Was  die  Mechanik  daher  stets 
vor  der  Organik  auszeichnen  wird,  ist  die  Exaktheit,  — 
wobei  dieser  hohe  Vorzug  freilich  durch  den  Nachteil  auf* 
gewogen  wird,  daß  die  Welt  in  Äquivalenzen  fürs  mensch* 
liehe  Denken  doch  nur  ein  hoffnunglos  maschinelles  Ge* 
triebe  bleibt,  von  dem  allezeit  lediglich  dasselbe  zu  erwarten 
ist.  Die  Welt*Maschine  arbeitet,  hat  gearbeitet  und  wird 
arbeiten,  bis  etwa  eines  Tages  (der  aber  kein  Tag  mehr  sein 
wird)  der  ihr  für  dauernd  zugemessene  Gesamtarbeitvorrat 
ohne  Rest  in  die  Eine  energetische  Gattung  der  Wärme 
überführt  ist  und  das  geschäftige  Räderwerk  still  steht: 
wenn  anders  nicht  der  zweite  Hauptsatz  von  der  Energie, 
der  dies  behauptet,  des  Irrtums  geziehen  werden  kann. 
Denn  obgleich,  wie  schon  gesagt,  hier  durchaus  keine  Ge* 
legenheit  besteht,  den  unvermeidlichen  Begriff  der  Entropie 
oder  entwerteten  Energie  des  näheren  auszukunden,  wie  er 
hinter  der  modernen  Mechanik  erschütternd  und  grausig 
mit  seinem  Medusengesicht  droht,  trägt  doch  eben  er  zu 
einem  wichtigen  Teil  dazu  bei,  die  mechanistische  Stellung* 
nähme  unserer  Erkenntnis  trotz  aller  Exaktheit  ihrer  Ergeb* 
nisse  als  eine  höchst  ergänzungbedürftige  lebhaft  empfin* 
den  zu  lassen.  Dies  will  ich  gewiß  nicht  so  verstanden 
haben,  als  ob  die  Organik  von  sich  aus  Feststellungen  oder 
Grundlegungen  der  Mechanik  zu  entkräften  berufen  wäre 
und  damit  notwendige  Folgerungen  derselben  rückgängig 
machen  dürfte,  —  ist  es  doch  Sache  keiner  einzigen  Wissen* 
schaft  als  eines  in  sich  beruhenden  und  in  sich  befestigten 
Zusammenhangs  von  Urteilen,  Wahrnehmungen,  Voraus* 
Setzungen,  Schlüssen,  eine  andere  Wissenschaft  von  gleichem 

645 


Rang  zu  widerlegen.  Nicht  Widerlegung,  sondern  wirklich 
nur  Ergänzung,  wenn  auch  vielleicht  Ergänzung  durch  Ent* 
gegensetzung,  steht  den  organischen  Wissenschaften  im 
Vergleich  mit  den  mechanischen  zu.  Im  Hinblick  auf  diese 
Tatsache  aber  wird  es  von  Erheblichkeit,  daß  die  Mechanik 
sämtliches  Weltgeschehen  wesentlich  als  ein  voraussage 
bares  betrachtet,  indes  die  Organik  ebenso  wesentlich 
auf  dessen  Unvoraussagbarkeit  beharrt.  Die  Veränderungen 
einer  gedanklich  durch  Gleichungen  beherrschten  Wirk* 
lichkeit  können  mithin  vorhergesehen  werden,  die  Verän* 
derungen  einer  gedanklich  durch  Ungleichung  beherrschten 
Wirklichkeit  können  dies  nicht,  —  darin  meine  ich  die  uns 
endliche  geistige  Wohltat,  die  die  organische  Erkenntnis  vor 
der  mechanisch  auszeichnet,  recht  eigentlich  erblicken  zu 
dürfen.  Darüber  wird  noch  ein  und's  andere  Wort  an  seinem 
Platze  sein. 

Denn  wie  zum  Beispiel  ein  Tier  mit  den  Veränderungen 
seines  motorischen  Apparates  auf  die  ,katalytische'  Ursache 
eines  Reizes  antwortet,  das  könnte  auf  den  ersten  Anblick 
hin  einer  ganz  ähnlichen  Regelmäßigkeit  unterworfen 
scheinen  wie  die  Übertragung  und  Fortpflanzung  einer 
mechanischen  Ursache  auf  ihre  Wirkung.  Beobachten 
wir  etwa,  um  eine  recht  gewöhnliche  Wahrnehmung  heran* 
zuziehen,  irgend  eine  Spinne,  die  schlafend  oder  abwartend 
in  ihrem  Netz  hockt,  ohne  in  einer  halben  oder  ganzen 
Stunde  ihre  körperliche  Lage  zu  wechseln.  Etwas  unge* 
duldig  gemacht  durch  die  (nach  unseren  Begriffen)  fabel* 
hafte  Trägheit  des  Tierchens,  haschen  wir  eine  Fliege,  um 
sie  der  Spinne  in«  Netz  zu  werfen.  Mit  diesem  selben  Augen* 
blick  treten  mehrere  Bewegungen  in  Tätigkeit,  die  in  ihrer 
Folge  wirklich  viel  mechanische  Regelmäßigkeit  aufweisen. 
In  äußerster  Hast  verläßt  die  Spinne  ihren  Stammplatz, 
stürzt  auf  die  Fliege  zu,  schlingt  mit  höchster  Eilfertigkeit 

646 


und  Behendigkeit  ein  Tau  ein  paarmal  um  ihre  Beute,  um 
sie  alsdann  wie  einen  Packen  Ware  ordnunggemäß  zu  ver* 
schnüren  und  dann  mit  geübten  Kletterkünsten  dorthin  zu 
ziehen,  wo  sie  sich  mit  ihrem  wehrlosen  Ballen  in  Sicher* 
heit  wähnt.   Genau  dieser  Vorgang  wird  sich  immer  aufs 
neue  abspielen,  indem  sich  die  Spinne  durch  dieselbe  Wahr* 
nehmung  zu  derselben  Reihe  von  körperlichen  Handlungen 
bestimmt  findet.    Und  schon  könnte  der  Mechanist  uns 
vorhalten,  was    denn   überhaupt   dieses  Geschehnis  von 
einem  echt  mechanischen,  echt  maschinellen  unterscheide, 
und  ob  die  Spinne  mit  einer  geringeren  Gewißheit,  Not* 
wendigkeit,  Voraussagbarkeit  auf  die  Fliege  zustürze  als 
sich  der  Kolben   eines  Zylinders  hebe ,  wenn  Dampf  in 
ihn  einströmt?  Eine  Frage,  die  jedoch  glatt  zu  verneinen 
ist.     Man    braucht   denselben  Versuch    nur    mit  Fliegen 
verschiedener  Größe  zu  wiederholen,  und  man  wird  be* 
merken,   wie   die  Spinne   von  Fall   zu  Fall  ihr  Betragen 
abändert  und  ihr  Benehmen  so  durchgängig  ihrer  Wahr* 
nehmung  anpaßt,  daß  von   einer  Vorhersagbarkeit  wirk* 
lieh    keine    Rede    sein   kann.     Werfen    wir   nämlich    ins 
Netz   einer   Spinne    zur    Abwechslung   eine    Fliege,   die 
größer  als  sie  selber  ist ,  so  wirkt  offenbar  der  Sinnesreiz 
»Beute*  nicht  mehr  in  derselben  Art  wie  vorhin.    Anstatt 
sofort  leidenschaftlich  vorzustürzen,  bleibt  die  Spinne  viel* 
mehr  fürs  erste  unbeweglich  oder  zieht  sich  sogar  zurück, 
um  den  ihr  unheimlichen  Eindringling  einmal  scharf  zu 
beobachten.     Scheint   ihr   derselbe    betäubt   oder  leblos, 
dann  nähert  sie  sich  ihm  mit  einer  langsamen  Vorsicht,  um 
nunmehr,  angelangt  bei  ihrem  Feinde  oder  ihrem  Opfer, 
—  es  ist  ihr  aber  selbst  noch  ungewiß,  ob  dies  oder  jenes 
zutreffen  wird,  —  den  fremden  Leib  mit  ihrem  vorderen 
Beinpaar  wie  zaghaft  zu  betasten,  daraufhin  ermutigt  durch 
günstige  Erfahrungen  diese  Tastversuche  allmählich  zu  regel* 

647 


rechten  Ohrfeigen,  Hieben,  Fußtritten  zu  steigern.  Gibt 
die  Fliege  immer  noch  kein  Lebenszeichen,  dann,  aber  auch 
erst  dann!  wiederholt  sich  der  obige  Vorgang.  Auf  keine 
Weise  läßt  sich  darnach  wissen,  was  ein  lebendiges  Wesen 
auf  ein  gegebenes  Signal  als  .Ursache'  hin  tun  oder  lassen 
wird.  So  unfrei  es  uns  im  Grund  zu  sein  bedünkt,  dem 
Wahrnehmungreiz  der  dargebotenen  Nahrung  ernstlich  zu 
widerstehen,  so  frei  ist  es  dazu,  und  unsere  Vernunft  er* 
mittelt  zwischen  der  Gelegenheitursache  des  Reizes  und 
den  darauf  folgenden  Bewegungen  des  tierischen  Körpers 
keine  mechanische  Verbindung,  die  mit  dem  Eintritt  des 
einen  auch  den  Eintritt  des  anderen  als  notwendig  vorherzu* 
sagen  gestatten  würde:  obzwar  eine  eingefleischte  Ge* 
wöhnung  auch  von  dem  Reiz  als  einer  Ursache  reden  zu 
dürfen  sich  schwerlich  verbieten  lassen  wird. 

Aber  noch  weiter,  noch  sehr  viel  weiter!  Nicht  nur 
solche  auffälligen  und  äußerlichen  Ortsbewegungen,  die 
wir  das  Lebewesen  unter  dem  Eindruck  einer  auch  uns  zu* 
gänglichen  Reizursache  vollziehen  sehen,  spotten  sicherer 
Voraussagbarkeit.  Auch  die  inneren,  die  mikroskopischen 
und  submikroskopischen  Bewegungen  organischer  Ent* 
stehung  und  Entwicklung,  deren  physiologisch*psycho* 
logische  Änderungbedingungen  uns  entweder  schwer 
oder  gar  nicht  erkennbar  sind,  verbieten  jede  mecha* 
nische  Verknüpfung  der  maßgebenden  Reize  und  ihrer 
Auslösungen.  Die  Versuche  Mendels  allerdings,  die 
ihrerseit  sogar  die  Vererblichkeit  einer  gewissen  Regel 
unterwerfen,  scheinen  dieser  Behauptung  unrecht  zu  geben, 
und  das  Gewicht  dieser  Versuche  ist  zu  groß,  damit  es  als 
quantite  negligeable  leichtfertig  außer  Anschlag  bleiben 
dürfe.  Bekanntlich  hat  ja  dieser  geistliche  Naturforscher 
violette  mit  weißen  Erbsen  untereinander  gekreuzt  und  in 
der  ersten  Generation  lauter  violette,  in  der  zweiten  ein 

648 


Viertel  weiße  und  dreiviertel  violette  Individuen  erhalten, 
die  sich  ihrerseit  in  eine  weiße  und  eine  gemischt  weiß* 
violette  Generation  fortpflanzten,  und  so  weiter.  Dies  ist 
in  Ansehung  der  Voraussagbarkeit  vererbter  Eigenschaften 
wirklich  ein  bedeutsamer  Anfang,  der  bedeutsame  Weite? 
rungen  mit  Wahrscheinlichkeit  erwarten  läßt.  Solang  die 
Verschmelzung  männlicher  und  weiblicher  Zellkerne  mit 
ihrem  Mosaik  von  (farbhaltigen)  Vererbungträgern  auf  die 
besonderen  Reize  der  Befruchtung  hin  millionenfach,  mil* 
liardenfach  dieselbe  Entstehung  und  dieselbe  Entwicklung 
von  Organismen  derselben  Art  bewirkt  und  im  einzelnen 
all  die  wunderbaren  Geschehnisse,  Veränderungen,  Be* 
wegungen  einleitet,  die  stets  in  der  nämlichen  Abfolge  das 
Wachstum  eines  werdenden  Individuums  der  gleichen 
Spezies  ausmachen,  —  solang  darf  also  eine  Voraussagbar* 
keit  der  vererbten  Eigenschaften  bei  Tier  und  Pflanze  viel* 
leicht  sogar  dort  (wenigstens  grundsätzlich)  eingeräumt 
werden,  wo  sie  in  der  Tat  an  der  Unerkennbarkeit  der  zu 
vererbenden  Eigenschaften  (in  allen  mehr  als  körperlichen 
Beziehungen)  sowie  an  der  unendlich  vielfältigen  Zu* 
sammensetzbarkeit,  Umstellbarkeit,  Anordnungmöglich* 
keit  der  stofflichen  Vererbungträger  in  jedem  neuen  Keim 
für  immer  ihre  natürlichen  Schranken  finden  muß.  Wie 
aber  wird  es  um  diese  Voraussagbarkeit  bestellt  sein,  wenn 
es  sich  in  irgendeiner  Vergangenheit  ereignet  haben  sollte, 
—  und  es  hat  sich  in  ihr  einmal  ereignet,  des  sind  wir  nach 
der  Abstammunglehre  doch  alle  versichert!  —  daß  die  Ent* 
Wicklung  einer  pflanzlichen  oder  tierischen  Spezies,  meinet* 
wegen  der  Erbse,  meinetwegen  des  Seeigels,  vonstatten  ging, 
ohne  daß  ihr  die  vorangehende  Kernverschmelzung  zweier 
elterlicher  Zellen  derselben  Spezies  den  ursächlich  bestim* 
menden  Anlaß  dargeboten  hätte?  Wie  aber,  wenn  in 
irgendeiner  Vergangenheit  die  Erbse,  der  Seeigel  aus  einem 

649 


elterlichen  Organismus  hervorgegangen  wären,  der  zu  seinem 
Teil  noch  gar  nicht  Erbse,  noch  gar  nicht  Seeigel  gewesen 
ist  ?  Oder  wenn  es  sich  im  gleichen  in  irgendeiner  Zukunft 
ereignen  sollte,  daß  die  Kernverschmelzung  elterlicher 
Zellen  nicht  mehr  die  Entstehung  einer  Erbsenstaude,  nicht 
mehr  die  Entstehung  eines  Seeigels  einleitet,  sondern  die 
Entstehung  einer  neuen  organischen  Gestalt,  die  ihren  Er* 
zeugern  zwar  noch  spezifisch  ähnelt,  aber  nicht  mehr  spezi* 
fisch  gleicht?  Denn  nicht  mit  unbedingter  Gewißheit, 
nicht  unter  allen  Umständen  geht  aus  der  Vereinigung  elter* 
licher  Keimzellen  ein  Exemplar  der  elterlichen  Art  hervor. 
Nicht  mit  unbedingter  Gewißheit  und  nicht  unter  allen  Um* 
ständen  schafft  die  Tatsache  der  Kernteilung,  der  Spindel* 
bildung,  der  Umlagerung  farbhaltiger  Kernmengen  die 
Summe  der  unentbehrlichen  Reize  für  die  Entfaltung  eines 
Lebewesens  von  der  organischen  Gestalt  seiner  Erzeuger. 
Zu  irgendeiner  Zeit  wird  vielmehr  die  Natur  im  Plasma 
irgendeines  Keimes  in  des  Wortes  genauester  Bedeutung 
einen  Sprung  machen  und  an  gleichbleibende  Änderung* 
bedingungen  eine  unvorhersehbare  Änderungfolge  an* 
schließen,  —  wie  man  sich  übrigens  die  dabei  stattfindenden 
Vorgänge  im  einzelnen  ausmalen  möge.  Die  Natur  macht 
einen  Sprung,  einen  schlechthin  jeder  Voraussagbarkeit 
spottenden,  wenn  sie  neue  Arten,  neue  Lebensgestaltungen 
hervorbildet,  und  wir  haben  es  wohl  als  die  intimste  Er* 
kenntnis  vom  Leben  zu  bewerten,  wenn  die  gegenwärtige 
Organik  diese  Tatsache  sprunghafter  Abänderung  wohl 
auch  für  künftige  Zeit  sichergestellt  hat. 

Hierbei  beginnt  nun  ein  Begriff  in  Kraft  zu  treten,  der 
zwar  schon  innerhalb  der  Mechanik  nicht  völlig  zu  über* 
gehen  gewesen  ist,  jetzt  aber  ein  entschiedenes  Übergewicht 
zu  beanspruchen  berechtigt  erscheint:  ich  meine  den  Be* 
griff  der  Möglichkeit,  der  möglichen  Bewegung,  der  mög* 

650 


liehen  Gestalt.  Wir  lernten,  wie  gesagt,  diese  Möglichkeit 
schon  bei  den  mechanischen  Wissenschaften  kennen  als 
mögliche  Arbeit,  sogenannte  Energie  der  Lage,  die  seit* 
samerweise  nicht  auf  das,  was  Aristoteles  evegyeia  nannte, 
zurückgeführt  werden  konnte,  sondern  im  Gegenteil  auf  das, 
was  er  mit  dem  Sprachausdruck  övva/Mg,  Kraft,  Fähigkeit, 
Vermögen  zu  bezeichnen  pflegte;  —  wobei  die  moderne 
Physik  wesentlich  auf  den  Umstand  abhebt,  daß  ein  Körper, 
der  nicht  in  Bewegung  ist,  zwar  auch  nicht  eigentlich  ar* 
beitet,  aber  trotzdem  den  Arbeitvorrat,  den  er  gegebenen* 
falls  bei  seiner  Bewegung  verausgabt,  in  einem  (uns  an  und 
für  sich  unbekannten  Zustand)  enthalte.  Dieses  Vermögen, 
diese  Möglichkeit  erschöpft  darnach  ihre  Bedeutung  für 
den  maschinellen  Kosmos  darin,  daß  seine  Teile  nicht 
jederzeit  diejenige  Bewegung  auch  wirklich  vollziehen 
müssen,  die  in  ihnen  gleichsam  in  Bereitschaft  liegt  und 
bloß  auf  ihr  Zeichen  lauert,  das  sie  zur  Betätigung  aufruft. 
Also  daß  etwa  eine  Kohlenfadenglühbirne,  in  die  der  Strom 
eingeschaltet  ist,  ihre  nach  Einschaltung  des  Stromes  sofort 
vollzogene  strahlende  Bewegung  doch  schon  ,der  Möglich* 
keit  nach'  enthaltend  erachtet  wird.  Im  Vergleich  jedoch 
zu  dieser  mechanistischen  Bewegungbereitschaft  besteht 
die  organische  Bewegungbereitschaft  nicht  allein  darin, 
eine  ihrer  besonderen  Beschaffenheit  angemessene  Be* 
wegung  als  Vermögen  oder  Möglichkeit  in  sich  zu  bergen, 
sondern  außerdem  noch  darin,  das  Vermögen  oder  die 
Möglichkeit  zu  einer  Wandlung  dieser  ihrer  besonderen 
Beschaffenheit  zu  besitzen;  —  nicht  anders,  als  wenn  die 
Kohlenfadenglühbirne  imstand  wäre,  plötzlich  einmal  gar 
keine  Kohlenfaden*,  sondern  eine  Metallfadenglühbirne  zu 
sein!  Es  ist  dem  Organismus  im  Unterschied  zum  bloßen 
Mechanismus  möglich,  nicht  nur  mögliche  Bewegungen  in 
wirkliche    zu  überführen:  es    ist  ihm    daneben  noch  das 

651 


Größere  möglich,  das  Uberschwängliche,  seine  gesamte 
Wirklichkeit  in  eine  andere  Wirklichkeit  zu  wandeln  und 
aus  einer  Erbse,  aus  einem  Seeigel  eines  Tages  die  annoch  un* 
beschreiblichen  Erscheinungen  eines  organischen  X  hervor* 
zubringen.  Im  Mechanismus  ist  es  die  Möglichkeit  als 
solche,  welche  im  Hinblick  auf  die  Wirklichkeit  im  Bereit* 
schaftstand  verharret.  Im  Organismus  hingegen  verharret 
außerdem  die  Wirklichkeit  selbst  gewissermaßen  im  Bereit* 
schaftstande:  möglicherweise  wird  er  in  einem  günstigen 
Augenblicke  seine  bisherige  Naturform,  sein  bisheriges  So* 
sein  und  Dasein  abändern,  und  dieser  äußerste  Fall  der 
Ungleichung  zwischen  Änderungbedingung  und  Änderung 
gibt  der  gesamten  organischen  Natur  ein  neu  Gesicht.  Als 
Leben  erblickt,  ist  es  der  Natur  durchaus  gemäß,  hin  und  wie* 
der  einen  unvoraussagbaren  Sprung  zu  machen,  und  bezüg* 
lieh  dieses  Tatbestandes  ist  es  ebenso  richtig  zu  behaupten 
natura  fecit  saltus  wie  natura  non  fecit  saltus,  indem  die 
letztere  Behauptung  offenbar  nur  für  den  kosmischen  Me* 
chanismus  methodische  Gültigkeit  besitzt.  Das  Leblose  ist 
trag  in  dem  tiefen  Sinn,  daß  es  selbsttätiger  Veränderungen 
seiner  selbst  nicht  mächtig  ist;  das  Lebendige  aber  über* 
windet  die  Trägheit,  indem  es  sich  selbst  von  Zeit  zu  Zeit 
zu  wandeln  nicht  verschmäht  .  .  . 

Derart  besteht  die  letzte,  eben  noch  feststellbare  Tendenz 
des  Lebens  in  einem  dunkeln  Drang,  die  Wirklichkeit  in 
ihrer  bisherigen  Gestalt  immer  wieder  von  neuem  zu  über* 
schreiten.  In  Ansehung  der  möglichen  Versichtbarungen 
des  Organischen  hat  alles  Daseiende  nur  vorläufige  Bedeu* 
tung,  und  stets  bleibt  das  Leben  daraufgespannt,  sich  selbst 
zu  übertreffen  oder  sich  selbst  als  Vorläufigkeit  zu  wider* 
rufen.  Und  dabei  bedünkt  es  freilich  unseren  die  Natur 
immer  nur  nachschaffenden  Verstand,  als  müsse  ihr  etwas 
wie  ein  Modell  ihrer  künftigen  Gestalten  jeweils  vorschwe* 

652 


ben :  und  dies  um  so  mehr,  seitdem  wir  als  durchgängiges 
Gesetz  organischer  Veränderlichkeit  die  sogenannte  Korre* 
lation,  will  heißen  die  Wechselbezüglichkeit  und  Wechsel* 
abhängigkeit  morphologisch  und  funktionell  verschiedener 
Teile  zu  unserer  Kenntnis  gebracht  haben  und  damit  die 
etwas  ärmliche,  jedenfalls  aber  unzulängliche   Annahme 
Darwins  berichtigen  durften,  daß  im  Organismus  lediglich 
richtunglose  Abänderungen  im  kleinsten  und  einzelnsten 
einträten,  die  dann  zusammengezählt  zufällig  einen  neuen 
lebensfähigen  Typus  ausmachten.   Die  gerade  von  Darwin 
schon  sehr  bestimmt  hervorgehobene  Erfahrung  also,  wo* 
nach  das  Leben  in  unbegreiflichen  Zusammenhängen  seine 
Abänderungen  korrelativ  bewirke,  gleichsam  an  den  ver* 
schiedensten  Angriffspunkten  und  an  den  verschiedensten 
Stellen  des  Organismus  sprungweise  Umformungen  durch* 
setzend,  gerade  diese  Erfahrung  legt  uns  die  Vermutung 
nah',  daß  die  Natur  nichts  hervorbringe  oder  *bilde,  was 
nicht  als  Ganzes  in  Einem  Wurf  geplant  worden  wäre :  un* 
erachtet   derselben  Natur   offenkundig   zahllos  Einzelnes 
mißrät  und  sie  in  verschwenderischer  Geberlaune  zahllose 
Einzelwesen,  Arten  und  Gattungen  schöpft,  die  sich  in 
ihrem  Haushalt  aus  unbekannten  Gründen  nicht  behaupten 
dürfen  oder  nicht  behaupten  können.   Indes  es  ihr  mit* 
hin  auf  der   einen   Seite  gar  nicht  darauf  anzukommen 
scheint,  ein  dauernd  Endgültiges  zu  erzeugen;  indes  sie  fast 
allenthalben  wie  ein  Essayist  verfährt,  der  im  Versuch  sein 
bestes,  erstrebenswertestes  Gelingen  liebt  und  achtet;  indes 
sie  sich  kaum  Mühe  gibt,  die  bloße  Vorläufigkeit,  Zeitig* 
keit,  Widerruf  barkeit,  Verbesserlichkeit  all  ihrer  bisherigen 
Bildungen  zu  verhehlen:  —  verfällt  sie  auf  der  anderen 
Seite  doch  niemals  auf  ein  blind  hilfloses  Getaste,  das  sich 
seine  Absichten  auf  keine  Weise  deutlich  machen  kann. 
Das  Leben  ist  immer  am  Ziel,  denn  es  bringt  im  ganzen 

653 


und  großen  nur  das  hervor,  was  irgendwie  des  Lebens 
fähig  ist;  und  wäre  es  ihm  nur  darum  zu  tun,  ein  seiner  Um* 
weit  vollkommen  Angepaßtes  von  vollkommen  dauernder 
Gestalt  zu  erschaffen,  so  wäre  nicht  einzusehen,  warum 
diesem  Ehrgeiz  nicht  schon  der  erste  beste  Bazillus,  die  erste 
beste  Alge,  das  erste  beste  Räder*  oder  Strahlentierchen 
nicht  durchaus  genügen  sollte  und  statt  dessen  die  ganze  uns 
geheuere  Leiter  irdischer  Leiber  Sprosse  um  Sprosse  einst* 
weilen  bis  zum  Menschen  aufgerichtet  werden  mußte.  Das 
Leben  ist  aber  gleichzeitig  und  eben  darum  nie  am  Ziel,  — 
denn  seine  zahllosen  Arten  und  Gattungen,  deren  An* 
passung  an  die  entsprechenden  Umwelten  je  und  je  ge* 
glückt  erscheint,  sucht  es  immer  wieder  in  neuen  Arten  und 
Gattungen  zu  übertreffen,  als  könne  es  sich  wirklich  mit 
keiner  einzigen  seiner  Gestalten  zufrieden  geben  und  als 
suche  es  sich  ein  Ziel  weit  jenseit  seiner  eigenen  Möglich* 
keiten!  Sagen  wir  folglich,  die  Evolution  des  Organischen 
scheine  innerlich  irgendworauf  gerichtet  zu  sein,  wenn  sie 
im  ganzen  und  großen  anpassungfähige  Formen  ins  Leben 
rufe,  so  äußern  wir  schließlich  nur  einen  Gedanken,  den 
uns  die  Beobachtung  des  Lebens  selber  mit  ziemlicher  Be* 
stimmtheit  aufdrängt.  Mit  nicht  geringerem  Recht  hätten 
wir  aber  diesem  Gedanken  sofort  seine  Umkehrung  hinzu* 
zufügen,  wonach  die  Evolution  des  Organischen  ihrer  Rieh* 
tung  doch  wohl  kaum  genügend  sicher  sein  könne,  falls 
sie  wirklich  mit  jedem  neuen  Typus  ihre  früheren  Bil* 
düngen  gewissermaßen  widerruft  und  die  vitale  Reihe  noch* 
mals  von  vorn  beginnt,  stets  bereit,  neue  Bewegungen  nach 
unbekannten,  unerkennbaren  Zielen  hin  einzuleiten.  Jedes 
Lebendige  lebt:  und  in  diesem  Betracht  ist  es  freilich  an 
sein  Ziel  gelangt.  Jedes  Lebendige  lebt  aber  auch  über  sich 
hinaus  oder  lebt  zusammen  mit  anderem  Lebendigen,  das 
über  sich  hinaus  lebt:  und  in  diesem  Betracht  hat  es  frei* 

654 


lieh  sein  Ziel  gefehlt.  Vollendet  als  Leben  an  und  für  sich, 
vollendet  als  Schöpfung  und  Tatleistung  seiner  Umwelt, 
vollendet  als  Werkzeug  und  Werkglied  (ÖQyavov)  seiner 
Wälder,  Steppen,  Wüsten,  Meere,  Flüsse,  Lüfte,  Schlüfte, 
Höhlen,  Sümpfe,  Gletscher,  Felsen,  Firne,  Dünen,  Quellen, 
Zonen,  Lagen,  Höhen,  Tiefen,  Schichten,  —  drängt  dennoch 
das  Lebewesen  über  diese  seine  mögliche  Vollendung  von  Zeit 
zu  Zeit  hinaus.  Und  ob  es  zwar  die  Abänderungen  seiner 
Körperformen  und  Wirkungweisen  nur  mit  einer  großen  und 
sicheren  Kunst  der  Vorhersehung  und  Planung  zu  unterneh* 
men  scheint,  folgt  es  doch  mit  jedem  seiner  .Sprünge'  einer 
gleichsam  transzendenten,  weil  es  selbst  transzendierenden 
Absichtlichkeit;  —  selbst  von  hier  aus,  selbst  von  sich  selber 
aus  kann  also  das  Leben,  wie  ich  bei  anderer  Gelegenheit 
zu  behaupten  mir  getraute,  nichts  eigentlich  Letztes  und 
Endgültiges  und  Absolutes  sein.  Wollte  man  daher  Goethen 
beipflichten,  wenn  er  die  Meinung  äußert,  das  Leben  habe 
kein  anderes  Ziel  als  eben  das  Leben  selbst,  so  hieße  dies 
die  vielleicht  entscheidendste  Tendenz  zur  Erschaffung 
neuer  Arten  und  neuer  Gattungen  unberücksichtigt  lassen. 
Wollte  man  dagegen  jenen  beipflichten,  die  da  die  Ansicht 
hegen,  das  Leben  strebe  in  all  seinen  Gestaltungen,  in  all 
seinen  Überwindungen  Einem  allumfangenden  Ziel  jenseit 
des  Lebens  zu,  so  hieße  das  einer  Vorstellung  anhangen, 
die  jeder  Vorstellung  und  jeder  Vorstellbarkeit  schlechter* 
dings  spottet  .  .  . 

Sei  es  indes  wie  immer  um  diese  (übrigens  schon  stark 
von  der  Linie  zuverlässiger  Naturerkenntnis  ausbiegenden) 
Betrachtungen  bestellt,  —  des  Lebens  Hochgeheimnis  heißt 
unter  allen  Umständen  Form* Wechsel,  Gestalt = Wandel. 
Der  organische  Kosmos  vergegenwärtigt  uns  seine  Erschein 
nungen  als  zeitlich  nacheinander  umgeformte  Gestalten; 
überall  deutet  er  auf  eine  Metamorphosis  seiner  Verkörpe* 

655 


rungen  in  Vergangenheit  und  Zukunft  hin:  auch  wenn  seine 
entgegengesetzte  Neigung  zu  zähester  Erhaltung  einmal 
festgesetzter  Formen,  durchaus  durch  den  Nachweis  beharre 
licher  (.persistenter')  Arten  seit  dem  Kambrium  bis  zur 
Gegenwart  beglaubigt,  keineswegs  unterschätzt  werden 
darf.  Metamorphosis,  sage  ich  also,  sei  das  Hochgeheimnis 
alles  Lebens.  Sie  aber  nun  freilich  nicht  sowohl  in  dem  et* 
was  zwielichtigen,  hin*  und  widergleitenden,  verwischen* 
den  und  verschwimmenden  Sinn  verstanden,  den  Goethe 
noch  diesem  Begriff  unterstellen  zu  dürfen  wähnte,  — 
Goethe,  der  auch  hier  wie  in  seinen  Handzeichnungen,  wie 
in  seinem  Prosastil,  wie  in  seiner  gesamten  Denkweise  ,un* 
dulatorisch'  denkt  und  allen  Entscheidungen  eher  abhold 
als  zugetan  erscheint:  etwa  gebührendermaßen  die  Farben* 
lehre  als  eigensinnige  Ausnahme  beiseite  gesetzt,  —  vielmehr 
sie,  die  Metamorphosis,  in  dem  nüchternen  und  handgreif* 
liehen  Wortsinn  aufgefaßt,  den  die  heutige  Abstammung* 
lehre  demselben  Begriff  endlich  zu  unterlegen  gestattet,  zu 
unterlegen  gebietet.  Dieser  Gestaltwandel,  von  welchem 
jetzt  gesprochen  werden  muß,  betrifft  nicht  mehr  die  Um* 
formung  einer  zu  bestimmter  Anschaulichkeit  gediehenen 
idealischen  Urform  .Pflanze'  oder  Urform  ,Tier';  nicht  mehr 
eine  zu  fester  Bildhaftigkeit  geronnene  Denkvereinheit* 
lichung  der  Hauptmerkmale  und  Haupteigenheiten  von 
.Pflanze  überhaupt'  oder  .Tier  überhaupt';  nicht  mehr 
eine  zu  körperhaft  erblicktem  Typus  gehärtete  Begriffs* 
abgrenzung  dessen,  was  das  Tier  oder  was  die  Pflanze 
an  und  für  sich  zum  Tier  oder  zur  Pflanze  stempelt. 
Nein!  er  betrifft  in  der  Tat  die  wirklich  vorhandenen 
Exemplare  der  Arten  und  Gattungen  und  Klassen,  deren 
zeitweilige  stammesgeschichtliche  Umbildung  die  Des* 
zendenztheorie  mit  kaum  mehr  umstrittenen  Beweismit* 
teln  zum  Rang  einer   sehr  wahrscheinlichen  und  der  ge* 

656 


genwärtigen  Forschung  unentbehrlichen  Hypothesis  zu 
erheben  vermocht  hat.  Alles,  was  die  seit  Lamarck  und 
Darwin  fortissimo  einsetzende  Organik  des  verflossenen 
Jahrhunderts  mit  dem  Leitbegriff  und  Schlagwort  .Entwick* 
lung'  zu  bezeichnen  liebte,  nennen  wir  hier  Gestaltwandel, 
—  mit  entschlossener  Bevorzugung  dieses  letzteren  Aus* 
druckes  vor  dem  ersteren,  der  uns  alles  in  allem  für  die  Er* 
gründung  des  Lebens  mindestens  ebenso  stark  irreführend 
wie  führend  gewesen  zu  sein  bedünkt.  Haftet  doch  dem 
Kenn*  und  Stichwort  Entwicklung  der  gefährlichste  und 
verheerendste,  in  seinen  Weiterungen  geradezu  völkerbe* 
törende,  völkerverblendende  Irrtum  unabstreiflich  als  der 
Beigeschmack  sogenannten  .Fortschritts'  an,  womit  die 
Abstammunglehre  namentlich  durch  Ernst  Häckels  unge* 
schickte,  vorlaute  und  hetzerische  (obschon  mit  unleugbar 
reichen  naturwissenschaftlichen  Mitteln  bewerkstelligte) 
Propaganda  unterstützt,  den  europäischen  Verstand  seit 
fünfzig  Jahren  viel  eher  umdüstert  als  erleuchtet  hat.  Denn 
sagen  wir  statt:  die  organische  Natur  wandelt  die  Gestalt 
ihrer  Verkörperungen  je  und  je  nach  gewissen  Gesichts* 
punkten  um,  die  organische  Natur  entwickelt  sich  oder 
schreitet  gar  fort  in  dieser  Entwicklung,  —  so  unterschie* 
ben  wir  der  Vorstellung  des  lebendigen  Kosmos  ohne  jede 
Berechtigung  eine  (gleichsam  nach  Ordnungzahlen  abge* 
stufte)  Reihe  von  Niedererem  und  Höherem,  derart  zwar, 
als  sei  alles,  was  in  der  Zeit  als  Späteres  seines  Früheren 
auftritt,  nun  auch  ohne  weiteres  das  Höhere  seines  Niedere= 
ren,  das  Übergeordnete  seines  Untergeordneten.  Suchen 
wir  den  Tatbestand  des  Gestaltwandels  in  dem  von  vorn* 
herein  schiefen  Gedanken  einer  Entwicklung,  will  sagen 
einer  fortschreitenden  Verbesserung,  Vervollkommnung, 
Veredelung,  Höherzüchtung,  so  schwärzen  wir  dem  orga* 
nischen  Reich  der  natürlichen  Bildungen  gänzlich  fremde 

42     Ziegler,  Gestaltwandel  der  Götter  657 


Maßstäbe  ein  und  fälschen  eine  anspruchlose  aber  unan* 
fechtbare  Morphologie  in  eine  anspruchvolle  aber  anfecht* 
bare  Metaphysik  um.  Unter  dem  Gesichtswinkel  der  Eni* 
Wicklung  erblickt  sieht  es  so  aus,  als  bedeute  das  Moos 
einen  Fortschritt  gegen  die  Alge,  der  Laubwald  einen  Fort* 
schritt  gegen  das  Schaftbaum*  und  Schachtelhalm*Gehölze, 
das  mehrblätterkeimige  Pflanzenwesen  einen  Fortschritt 
gegen  das  einblattkeimige,  die  Kolonie  der  Korallen  einen 
Fortschritt  gegen  das  Schlammgemenge  der  Radiolarien, 
der  Krebs  einen  Fortschritt  gegen  die  Muschel,  der  Ringel* 
wurm  einen  Fortschritt  gegen  den  Plattwurm,  der  Kepha* 
lopod  einen  Fortschritt  gegen  die  Meduse,  der  Knochen* 
fisch  einen  Fortschritt  gegen  den  Knorpelfisch,  das  Repti* 
lium  einen  Fortschritt  gegen  das  Amphibium,  das  Land* 
Säugetier  einen  Fortschritt  gegen  das  Seesäugetier,  und  so 
fort  und  fort.  Halten  wir  uns  dagegen  schlecht  und  recht 
an  den  Begriff  des  Gestaltwandels  und  Formwechsels,  dann 
bleibt  es  uns  zwar  unverwehrt,  gemäß  der  Wahrheit  auch 
jetzt  ein  Einfacheres  vom  Mannigfaltigeren  zu  unterschei* 
den;  ein  Einzelliges  vom  Vielzelligen,  ein  Gliedärmeres 
vom  Gliedreicheren,  ein  Wirkungmächtigeres  vom  Wir* 
kungohnmächtigeren,  ein  Empfindsameres  vom  Unemp* 
findlicheren,  ein  Regwilliges  vom  Unregsameren,  ein  Täti* 
ges  von  einem  Trägen,  ein  Selbständigeres  vom  Abhängi* 
geren,  ein  Einzellebiges  vom  Geselligen,  ein  Selbstherrliches 
vom  Schmarotzerhaften,  ein  Wilderes  vom  Zahmeren,  ein 
Kriegerischeres  vom  Friedlicheren,  ein  Bewegbares  vom 
Festsitzenden,  ein  Bewaffnetes  vom  Waffenlosen,  ein  Ge* 
schlechtliches  vom  Ungeschlechtlichen,  ein  Gebärendes 
vom  Eilegenden  oder  Knospensprossenden,  ein  Werkzeug* 
besitzendes  vom  Werkzeugentbehrenden,  ein  Klügeres  vom 
Beschränkteren,  ein  Wachsames  vom  Schläfrigen,  ein  Viel* 
sinnliches  vom  Wenigsinnlichen  wohl  zu  unterscheiden. 

65S 


Nicht  aber  wird  uns  die  vage  Dehnbarkeit  des  Wortes 
Fortschritt  zu  einer  Fehlschätzung  der  organischen  Reihe 
nach  Höher  oder  Niederer,  Vornehmer  oder  Geringer, 
Übergeordneter  oder  Untergeordneter  verführen.  Sollte  es 
trotzdem  eine  Hierarchie  der  Geschöpfe,  etwa  nach  dem 
Vorgang  der  scholastischen  Theologie  und  Kosmologie  des 
Mittelalters  geben,  was  ich  für  mein  Teil  ohne  Abzug  be* 
jähen  möchte,  so  gibt  es  solche  Rangleiter  doch  auf  keinen 
Fall  schon  hier  in  den  Wissenschaften  vom  organischen 
Kosmos  oder  vom  kosmischen  Organismus.  Hier  waltet 
lediglich  das  Leben  seines  eigenen  Wandels  von  Gestalt  zu 
Gestalt,  ohne  irgendwelchen  Aufstieg,  ohne  irgendwelchen 
Fortschritt,  ohne  irgendwelche  Zielgewißheit,  ohne  irgend* 
welche  Siege,  aber  auch  ohne  Niederlagen.  In  keinerlei 
Wortbedeutung  ist  hier  das  zeitlich  Spätere  an  sich  schon 
ein  wesenhaft  Vorzüglicheres,  Geeigneteres,  Tüchtigeres, 
Passenderes,  Tauglicheres.  Und  wenn  das  Programm  Char* 
les  Darwins  mit  seiner  gehämmerten  Formel  des  survival  of 
thefittest  ähnliche  Auslegungen  geradewegs  herausfordert, 
ist  es  eben  um  dieser  Herausforderung  willen  falsch  gewe* 
sen.  Genug  wahrlich,  daß  just  diese  unrichtige  Auffassung 
der  Abstammung  der  Arten  aus  den  Arten  als  eines  Fort* 
schreitens  der  Arten  über  die  Arten  die  ohnehin  im  Über* 
maß  zu  Verzeichnungen  und  Verzerrungen  neigende  Ein* 
bildungkraft  des  homo  europaeus  zwischen  1870  und  1914 
aufs  heilloseste  verwirrt  hat.  Ist  doch  dieses  ganze  über* 
hebliche  Fortschrittgeflunker  geistentwöhnter  Handarbeiter, 
Maschinenarbeiter,  Garnichtarbeiter,  —  letzthin  allerdings 
doch  schier  im  Blut  von  Millionen  Männern,  Jünglingen, 
Knaben  elend  verraucht  und  verrauscht!  —  ist  doch  dieser 
ganze  wohllüstige  Fortschrittkitzel  kaum  von  einer  anderen 
Lehre  der  modernen  Wissenschaften  in  dem  Maß  unter* 
schwürig  genährt  und  gemästet  worden  als  von  der  darwin* 

42*  659 


sehen  Annahme  einer  Artentstehung  durch  natürliche  Zucht* 
wähl:  allwo  jeder  neu  gebildeten  Spezies  ausdrücklich  das 
Zeugnis  der  passenderen,  tüchtigeren,  geeigneteren,  taug* 
licheren,  fähigeren  (verglichen  mit  der  im  Daseinskampf 
unterlegenen  Wettbewerber* Art)  erteilt  wird,  —  mithin 
auch  das  Zeugnis  verhältnismäßigen  Vorzüglicher*Seins, 
Trefflicher*Seins,  Uberlegener*Seins!  Als  ob  ausgesucht  die 
gewandelte  Körpergestalt  einer  Spezies  Ergebnis  einer  voll* 
zogenen  Wahl  oder  Auslese  sein  könnte,  die  sich  doch  ihrem 
Begriff  nach  höchstens  auf  die  gesteigerte  Leistung,  den  ge* 
steigerten  Kraftaufwand,  die  gesteigerte  Betätigung  kon* 
kurrierender  Individuen  und  ihrer  Organe  beziehen  würde 
und  eben  darum  etwanige  Änderungen  in  Gliederung,  Auf* 
bau,  Anlage  und  Grundriß  der  Lebewesen  viel  eher  vor* 
aussetzte  als  erklärte !  Dies  ward  durchaus  zutreflenderweise 
bald  nach  Darwins  Hauptwerk  durch  die  lebhafte  und  ge* 
dankenreiche  Polemik  Eduard  von  Hartmanns  frühzeitig 
und  doch  für  alle  Zukunft  festgelegt,  nachdem  einen  ahn* 
liehen  Einwand  lang  vor  Darwins  Ursprung  der  Arten 
Goethe  in  einem  bekannten  Gespräch  mit  Eckermann  gel* 
tend  gemacht  hatte :  die  Theorie  von  der  Zuchtwahl  vermag 
bestenfalls  physiologische  Abänderungen  am  organischen 
Typus  zu  erklären,  die  aber  zu  ihrem  Teil  die  morphologi* 
sehen  Abänderungen  des  organischen  Typus  stillschweigend 
als  geschehen  voraussetzen  .  .  .,  und  schon  darum  war  es 
unerlaubt,  schief,  falsch  und  flach,  der  instinktiven  Eitelkeit 
jedes  Überlebenden  vorzuspiegeln,  er  sei  allein  kraft  seiner 
Eigenschaft  als  Überlebender  ipso  facto  der  Sieger  eines 
Übertroffenen,  Überwundenen,  Überschrittenen  .  .  . 

Gewiß  war  es  vorhin  nicht  völlig  ungereimt  zu  behaup* 
ten,  das  Leben  überschreite,  überwachse,  überforme,  über* 
liste,  überbiete,  überwinde,  überspringe  in  jeder  neuen  Ge* 
stalt  sich  selber.  Indessen  wohlgemerkt:  sich  selber,  —  wenn 

660 


anders  vom  Leben  als  von  einem  Ganzen  und  Seienden  in 
solch  gleichnishafter  Wendung  geredet  werden  darf.  Nicht 
aber  überschreitet,  nicht  überwächst,  nicht  überformt,  nicht 
überlistet,  nicht  überbietet,  nicht  überwindet,  nicht  über* 
springt  die  jeweils  neue  Gestalt  die  ältere,  —  sonst  würde 
es  ja,  konsequent  gedacht,  überhaupt  nie  ein  Nebeneinan* 
der  zeitlicher  Entstandenheiten  im  Räume  geben  können. 
Die  neue  Art  bildet  sich  vielmehr,  ohne  daß  darum  die  alte 
gegenstandlos  geworden,  vergehen  müßte:  was  man  doch 
eigentlich  zu  erwarten  hätte,  wenn  die  Lehre  von  der  fort* 
schreitenden  Vervollkommnung  der  Natur  in  ihrem  orga* 
nischen  Reich  buchstäblich  zu  recht  bestünde.  So  aber  bleibt 
in  Ansehung  der  generellen  Morphologie,  generellen  Me* 
tamorphosiologie  nur  das  eine  zu  sagen,  daß  Typus  sich  zu 
Typus  wandle  in  strenger  Ausschaltung  jeder  als  Fortschritt 
aufzufassenden  Tendenz.  In  jede  abweichende  Darstellung 
werden  bewußt  oder  unbewußt  Wertmaßstäbe  eingeschmug* 
gelt,  die  dem  organischen  Dasein  als  solchem  durchweg 
fremd  sind  und  fremd  bleiben.  Das  Leben  ist  offenbar  nir* 
gends  schöpferisch  im  Hinblick  auf  eine  stets  fragwürdige 
Vervollkommnung,  sondern  schöpferisch  lediglich  im  Hin* 
blick  auf  den  Wandel  seiner  Erscheinungen  und  Verkörpe* 
rungen.  Und  sinnentsprechender  als  von  einem  elan  vital 
würde  man  vielleicht  von  einem  elan  formal,  ja  von  einem 
elanßgural  gesprochen  haben,  —  so  sehr  ist  alle  Schwung* 
kraft  und  Leidenschaft  der  organischen  Welt  gesammelt 
auf  Form,  Umriß,  Gestalt,  Figur,  Plastik  in  jeweils  über* 
raschenden  Versinnlichungen. 

Was  dabei  leider  bis  auf  diesen  Tag  noch  unenträtselt 
blieb,  ist  das  nähere  ,Wie'  dieses  Gestaltenwandels,  den 
wir  als  das  wichtigste  Kennzeichen  des  Lebens  nunmehr 
für  grundsätzlich  bestehend  erachten.  Noch  immer  ver* 
mochten  sich  die  Wissenschaften  vom  Leben  nicht  auf  eine 

661 


jener  erklärenden  Theorien  zu  einigen,  die  bisher  der  be? 
denklichsten  aller  biologischen  Fragen  eine  vorläufige  Ant? 
wort  abzutrotzen  gedachten.  Es  ist  aber  möglich,  daß  von 
den  mehreren  heut'  zur  Erörterung  gestellten  Annahmen 
wie  Anpassung,  Gebrauch  und  Nichtgebrauch  der  Organe, 
natürliche  Zuchtwahl,  Auslese  der  Keime,  Wanderung, 
sprungweise  Abänderung,  künftighin  einmal  alle  (etwa  mit 
Ausnahme  der  darwinschen)  zur  Erläuterung  dieses  ,Wie' 
der  Artentstehung  und  Artumbildung  herangezogen  wer? 
den  müssen.  Es  ist  möglich,  daß  es  die  Natur  keineswegs 
treibt  wie  die  Menschen  und  unter  den  Menschen  vorzüg? 
lieh  wieder  die  Gelehrten,  die  ein  einziges  Steckenpferd  bis 
zum  Umfallen  tot  zu  reiten  lieben  und  in  jedem  Stecken? 
pferd  ihres  Nachbarn  und  Mitstrebenden  höchstens  den 
Steckenesel,  ja  das  Steckenheupferd  gelten  zu  lassen  pflegen. 
Vielleicht  steht  der  Natur  auch  hier  am  besten  jene  ver? 
schwenderische  Fülle  zu  Gesicht,  die  ihr  Goethe  in  dem 
bekannten  Gespräch  mit  dem  Naturforscher  Martius  nach? 
rühmt,  —  offenbar  war  aber  dieser  Herr  von  Martius  ein 
geistiger  Vorfahr  des  Herrn  Ostwald  und  verwandter  Zünf? 
tigen,  die  als  unentwegte  Verfechter  des  Gesetzes  von  der 
kleinsten  Bahn,  von  der  geringsten  Geschwindigkeit,  vom 
kleinsten  Aufwand  eine  einseitig  mechanische  Tatsache 
ohne  Bedenken  auf  die  organische  Welt,  ja  sogar  auf  die 
moralische  Welt  zu  übertragen  sich  erdreisten!  —  vielleicht 
also,  setze  ich  fort,  zieret  die  Natur  wirklich  eine  goethische 
Fülle  besser  als  die  ihr  von  den  Gelehrten  mit  Vorliebe  zu? 
gestandene  Knappheit,  Kargheit  und  Knauserei  in  ihren 
Mitteln  und  Wegen.  Vielleicht  verfährt  die  Natur  bei  der 
Hervorbringung  neuer  Arten  so,  daß  sie  einmal  durch  An? 
passung,  das  nächste  Mal  durch  Gebrauch  und  Nichtge? 
brauch,  dann  durch  Wanderung  in  neuen  Zonen  oder  La? 
gen,  dann  durch  sprungweise  Abänderung  ohne  äußeren 

662 


Anlaß  die  Gestalt  ihrer  Lebewesen  umformt;  vielleicht  be* 
dient  sie  sich  zu  demselben  Ende  bei  fünfter,  sechster  und 
siebenter  Gelegenheit  heut  noch  völlig  unbekannter,  un* 
geahnter  Verfahrungweisen.  Ja,  vielleicht  werden  wir  das 
Wie  des  organischen  Gestaltwandels  nicht  eher  wirklich 
erschöpfend  verstehen  können,  als  bis  wir  im  stand  sein 
werden,  in  jedem  einzelnen  Organismus  geradezu  ein  Or* 
gan,  in  jeder  einzelnen  Form  geradezu  ein  Glied  und  Werk* 
zeug  des  lebendigen  Kosmos  zu  erblicken,  dessen  noch  un* 
ergründete  Ursachen  seiner  Umbildung  erst  im  lückenlosen 
Zusammenhalt  aller  Wechselbezüglichkeiten  zwischen  samt* 
liehen  physiologischen,  tellurischen,  siderischen  Elementen 
des  All*Organismus  zumal  mit  eindeutiger  Bestimmtheit 
namhaft  zu  machen  sind.  Vielleicht  ist  jede  Lebensgrund* 
gestalt,  sei  sie  Individuum,  sei  sie  Spezies,  sei  sie  Genus, 
sei  sie  Klassis  in  einem  jetzt  noch  unenträtselbaren  Wort* 
sinn  die  Wesensäußerung  und  Tatleistung  der  organischen 
Totalität.  Vielleicht  gibt  es  buchstäblich  gemeint  wirklich 
nur  Ein  Pflanzensein,  Ein  Tiersein,   gegliedert  in  die  GÜe* 
der,  gezellt  in  die  Zellen,  geteilt  in  die  Teile,  gewebt  in  die 
Gewebe,  geartet  in  die  Arten,  gegattet  in  die  Gattungen 
aller  vormaligen,  aller  dermaligen,  aller  einstmaligen  Pflan* 
zen*Tiere  und  Tier* Pflanzen  nach  dem  großen  Grundgesetz 
des  Lebens  von  der  .totalen  Korrelation':  vom  wimmelnden 
Urschlamm  der  tiefsten  Meeresbecken  hinauf  bis  zu  den 
dünnsten  Bezirken  der  irdisch*erdigen  Lufthülle,  von  den 
Äonen  der  ersten  Gasballungen  und  Flüssigkeitdichtungen 
bis  zu  dem  Äon  des  ausgeglühten  Aschengestirns,  von 
diesem  mittleren  Planeten  dieser  kleinen  Weltlinse  bis  zu 
den  siriusfernsten  Nebelsternen,  deren  Wellen  erst  nach 
Millionen  Jahren  in  ein  Menschenauge  strahlen  werden  . . . 
Wobei  übrigens  besagtes  Gesetz  der  totalen  Korrelation 
(im  Unterschied  zur  Kausalität)  am  einfachsten  so  zu  for* 

663 


mulieren  wäre,  daß  „gleichzeitig  mit  Merkmal  A  auch  Merk* 
mal  B,  C,  D  .  .  .  wechselten". 

Aufgefaßt  als  die  Wissenschaft  vom  Gestaltwandel  des 
Einen  Lebewesens,  Lebewebens  ,Welt'  bricht  indes  die  mo* 
derne  Organik  ziemlich  wahrnehmbar  in  zwei  voneinander 
abgewandte  Problemkomplexe  auseinander,  die  nach  zwei 
verschiedenen,  ja  entgegengesetzten  Richtungen  streben;  — 
nicht  ganz  unähnlich  dem  Ring  der  Milchstraße,  der  nach 
einer  Beobachtung  des  älteren  Herschel  ein  .Aufbrechen' 
von  Hunderttausenden  von  Sternen  zwischen  ß  und  y  des 
Schwans  nach  zwei  gegenüberliegenden  Seiten  erkennen 
läßt.    Unbestreitbar  kann  man  nämlich  in  Ansehung  des 
organischen  Formwechsels  seine  wissenschaftliche  Aufmerk* 
samkeit  entweder  dem  Tatbestand  zuwenden,  daß  bei  aller 
plastischen  Abänderlichkeit  der  Lebewesen  doch  irgendwie 
eine  grundlegende  Gestalt  beharre,  die  ihrerseit  an  keinem 
Wechsel  teilnimmt,  sondern  jeden  Wechsel  erst  ermöglicht, 
indem  sie  sich  als  Bleibendes  in  ihm  behauptet.  Oder  aber 
man  kann  umgekehrt  seine  wissenschaftliche  Aufmerksam* 
keit  dem  Wandel  der  Formen  und  Bildungen  als  solchem 
zulenken,  ohne  sich  weiter  um  die  schwer  zu  umgehende 
Frage  zu  kümmern,  was  das  eigentlich  sei,   das  inmitten 
der  Abänderungen  des  All* Organismus   die  Einerleiheit 
und  Dieselbigkeit  seiner  abändernden  Gestalt  gewährleiste? 
Während  nun  diese  zweite  und  ungleich  geläufigere  Ein* 
Stellung  wesentlich  doch  mit  dem  zusammenfällt,  was  wir 
heutzutage  vorzugweise  unsere  Biologie  zu  nennen  pflegen 
mit  ihren  Hilfswissenschaften  Zoologie,  Botanik,  Physio* 
logie,  Morphologie,  Histologie,  Paläontologie,  Ontogenie, 
Phylogenie,  —  scheint  die  erstere  ungebührlich  vernach* 
lässigt,  ja  hat  bei  näherem  Zusehen  vielleicht  erst  einen  ein* 
zigen,  wenn  auch  besonders  hochmögenden  und  vollwich* 
tigen  Vertreter  in  Goethe  gefunden.  Die  in  unserer  des* 

664 


zendenztheoretischen  Gegenwart  gang  und  gäbe  Organik 
bearbeitet  die  Lehre  vom  natürlichen  Gestaltwandel  ganz 
überwiegend  in  dem  Sinn,  daß  sie  die  entwicklunggeschicht* 
liehen  Neuerungen  in  Anlage,  Aufbau,  Einteilung,  Glie* 
derung,  Leistung,  Lebensgewohnheit  bei  Keim  und  Stamm 
zu  beschreiben  und  soweit  tunlich  auch  zu  erklären  trach* 
tet.  Ob  abgesehen  von  diesen  Modifikationen  und  Modu* 
lationen  der  Organe  und  Organismen  nicht  dennoch  ge* 
wisse  formale  Grundwerte  überall  beharren  und  welches 
die  Grundwerte  sind,  liegt  zwar  durchaus  nicht  völlig  außer* 
halb  ihrer  Untersuchungen  und  Forschungen,  wohl  aber 
ziemlich  außerhalb  ihrer  gegenwärtig  bevorzugten  Aufga* 
ben  und  Erörterungen.  Sie  wäre  einstweilen  froh,  und  dies 
kann  man  ihr  einigermaßen  nachfühlen,  das  unendlich  ver* 
wickelte  Problem  von  der  Artumbildung  und  Artneuent* 
stehung  zu  lösen,  während  dem  kaum  minder  beschwer* 
liehen  Problem  der  in  den  spezifischen  Transformationen 
doch  stets  wieder  durchschlagenden  und  rückfallenden  or* 
ganischen  Urform  keinesfalls  das  entschiedene  Interesse 
gewidmet  wird,  welches  der  Naturforscher  Goethe  ihm  zeit 
seines  wissenschaftlichen  Erdenwallens  zugemessen  hat. 
Und  doch  wird  auch  unsere  .fortgeschrittene'  Organik  eines 
Tages  wieder  auf  die  von  Goethe  begründete  und  von 
Niemand  fortgesetzte  Wissenschaft  zurückgreifen  müssen, 
wofern  sie  den  Vorgang  des  natürlichen  Gestalt  wandeis  zu 
ausreichender  begrifflicher  Darstellung  bringen  will.  Setzt 
doch  ganz  allgemein  schon  aller  Wechsel  und  aller  Wandel 
der  Erscheinungen  ein  Unwandelbares  und  Wechselloses 
voraus,  welches  sich  überall  zu  erhalten  und  zu  bewahren 
versteht.  Die  organisch  aufgefaßte  Natur  kann  Umformun* 
gen  nur  insofern  erleiden,  als  sie  selber  in  irgendwelchem 
Betracht  aller  Umformung  widersteht,  und  was  sie  im  eigent* 
liehen  Wortverstand  zur  organischen  Natur  macht,  das 

665 


bleibt  notwendig  allen  Umbildungen  zum  Trotz  diesen  als 
ein  und  dasselbe  Dasein  und  Sosein  änderunglos  unter* 
stellt:  denn  sonst  müßte  sich  ja  dieses  Leben  in  jeder  neuen 
Ausprägung  stets  wieder  verlieren  und  stets  wieder  hervor* 
bringen  müssen.  Von  diesem  nämlichen  oder  doch  von 
einem  verwandten  Gedankengang  aus  wird  sich  eben  der 
Erforscher  einer  kosmischen  Metamorphosiologie  zu  dem 
goethischen  Schlüsse  gedrängt  sehen,  daß  das  Wesentliche 
des  Lebens,  das  Leben  als  solches  zu  seinem  Teil  Ermög* 
lichende  und  Bedingende,  nicht  bloß  ein  änderlich  Indivi* 
duelles,  änderlich  Generelles  sein  könne,  —  vielmehr  im 
Gegensatz  zu  diesem  Individuellen  oder  Generellen  ein 
reines  Typische  sein  müsse  von  ewig  beharrlicher  Einerlei* 
heit  und  Dieselbigkeit.  Gerade  dem  wissenschaftgeschicht* 
lieh  hervorragendsten  Verkünder  einer  Metamorphosis  des 
Organischen  also  erweist  sich  hier  seine  Metamorpho* 
sentheorie  zutiefst  als  eine  Typologie  des  Organischen! 
Gerade  ihm,  dem  eingeschworenen  Feind  der  Dialektik, 
die  er  wohl  als  eine  Sorte  von  Unfug  hegelscher  Welt* 
umdunkelungkünste  rund  zu  verurteilen  bereit  sein  mochte, 
—  gerade  ihm  widerfährt  die  dialektische  Seltsamkeit 
eines  wissenschaftgeschichtlichen  .Umschlages',  wofern 
gerade  er  in  allem  Wandel  der  Gestalten  immer  bewußter 
und  unumgänglicher  das  Unwandelbare  zu  ermitteln  sucht 
und  suchen  muß!  In  den  sämtlichen  Umformungen  der 
einzelwesentlichen  Pflanze  oder  des  einzelwesentlichen 
Tieres,  ja  wenn  wir  seinen  seltenen  (aber  darum  nicht  weg* 
zustreitenden)  deszendenztheoretischen  Äußerungen  eini* 
germaßen  trauen  dürfen:  auch  in  den  sämtlichen  Umfor* 
mungen  der  Arten  und  Gattungen  strebt  also  Goethe  eine 
einzige  Stammform  zu  erspähen,  einen  gleichbleibenden 
morphologischen  Charakter  oder  formalen  Typus,  der  sich 
in  allem  Wechsel   der  Erscheinungen  erkennbar  erhalte! 

666 


Und  nicht  anders  wie  etwa  sämtliche  Individuen  einer 
Spezies,  nicht  anders  wie  beispielweis  alle  Rankenfüßer 
oder  alle  Manteltiere  eine  Anzahl  dauerhafter  Merkzeichen 
aufweisen  müssen,  die  unbeschadet  der  vorhandenen  Ab* 
weichungen  der  individuellen  Exemplare  voneinander  be* 
stehen  und  es  ihrerseit  rechtfertigen,  sie  eben  als  Ranken* 
füßer  oder  Manteltiere  in  eine  Familie  oder  Gruppe  oder 
Art  zusammenzufassen;  —  nicht  anders  müssen  die  Abfol* 
gen  sowohl  der  individuellen  wie  der  spezifischen  und  ge* 
nerellen  Phasen,  unberührt  von  ihrer  Auseinandergezogen* 
heit  in  der  Zeit  eine  Anzahl  Merkzeichen  aufweisen,  die 
sie  ein  für  alle  mal  als  pflanzliche  oder  tierische  Gestalt  an 
und  für  sich  erkenntlich  macht  .  .  . 

Hierbei  ist  von  großer  Wichtigkeit  dieses,  daß  den  Na? 
turforscher  und  Naturphilosophen  Goethe  die  erkenntnis* 
mäßig  vereinheitlichten  Merkmale  des  pflanzenhaften  oder 
tierhaften  Belebt*Seins  nicht  bloß  eine  begriffliche  Zusam* 
mensichtung  bedünken,  gewonnen  aus  dem  Vergleich  ver* 
schiedenster  Erscheinungfolgen  und  Erscheinungformen, 
sondern  daß  er  sie  für  die  sinnliche  Gegebenheit  eines  ur* 
bildlich  Gestalteten  und  Zugrundeliegenden  nimmt:  für  das 
fundamentalste  Organon  gleichsam  der  ganzen  organischen 
Natur.  Eine  vermutlich  ihm  selbst  unbewußte,  desunerach* 
tet  aber  doch  bis  ins  Mark  .realistisch'  gefärbte  Gesinnung 
weiß  sich  hier  endlich  einmal  wieder  mit  angeborener  Kraft 
gegen  den  sonst  in  den  Naturwissenschaften  üblichen  No* 
minalismus  durchzusetzen,  —  trotz  des  eindrucksvollen  Wi* 
derspruchs  des  Nomalisten  und  Kantianers  Schiller,  der 
hier  die  undankbare  Wortführerschaft  der  gelehrten  Oppo* 
sition  übernommen  hat.  Dieser  goethische  Realismus  weiß 
sich  hier  in  der  Tat  durchzusetzen,  und  was  die  Metamors 
phose  der  Pflanze  betrifft,  sogar  mit  einem  gewissen  dau? 
ernden  Erfolg.    Hier,  wo  wenigstens  die  entwicklungge* 

667 


mäßen  Phasen  des  vegetativen  Individuums  als  die  Gestalt* 
Wandlungen  des  Einen  Blattes  entlarvt  werden,  sozusagen 
als  die  Versichtbarungen  der  .Blattheit',  hier  gelingt  es 
augenscheinlich,  die  zunächst  wirklich  nur  begriffliche  Kon* 
zeption  der  .Pflanze  überhaupt*  mit  einer  aufzeigbaren  or* 
ganischen  Form  oder  mit  einem  Grundorgan  zur  Deckung 
zu  bringen  und  derart  den  allgemeinen  Typus  jener  Pflanze 
überhaupt  in  seiner  besonderen  Ausgeprägtheit  gegenständ* 
lieh  zu  machen.  Als  Objektivation  der  Blattheit  lebt  die 
Pflanze  ontogenetisch  in  ihren  Gliedern  und  Teilen,  in  Blatt, 
Stengel,  Kelch,  Blume,  Staubgefäß,  Fruchtknoten,  Griffel, 
Narbe.  Als  Blattheit  lebt  sie  gleicherweise  in  ihren  phylo* 
genetischen  Phasen,  die  ja  im  groben  und  großen  immer 
wieder  die  Phasen  der  Ontogenie  wiederholen.  Und  diesem 
nicht  unbedeutenden  Umstand  geschieht  dadurch  kein 
Abtrag,  daß  Goethe  zeitweilig  in  Person,  fort  und  fortge* 
rissen  von  der  hohen  Fruchtbarkeit  seiner  eigenen  Idee,  mit 
nicht  ganz  glücklicher  Passion  in  Sizilien  und  sonstwo  auf 
die  Urpflanze  als  solche  fahndete,  —  da  sie  doch  in  Gestalt 
des  Proteus  , Blatt'  jedem  empirischen  Individuum  .Pflanze* 
einwohnend  und  eingewachsen  betrachtet  werden  darf, 
gleichsam  als  Rest  und  Abzug,  der  übrig  bleibt,  wenn  man 
die  Merkmale  des  Individuums,  der  Spezies,  des  Genus  von 
den  Merkmalen  der  .Pflanze  überhaupt'  subtrahiert  .  .  . 

Mit  einer  solchen  organischen  Typologie,  von  der  or* 
ganischen  Metamorphosiologie  streng  zu  unterscheiden, 
nimmt  alsdann  Goethe,  ein  später  Pythagoreer,  die  sehr 
altertümliche  Lehre  von  der  Wiederkehr  des  Gleichen  auf 
seine  besondere  und  eigene  Weise  wieder  auf,  —  nimmt  er 
dieselbe  Lehre  dem  noch  etwas  späteren  Pythagoreer 
Nietzsche  aus  dem  Mund :  ob  auch  diesem  letzteren  in  unver= 
kennbar  deutlicherer,  gebrauchsfähigerer,  wissenschaftlich 
aufrecht  haltbarer  Prägung.    Denn  was  hier  wiederkehrt 

668 


und  wiederkünftet,  ist  nicht  die  zufällige  Konstellation  oder 
Konfiguration  der  augenblicklichen  Weltstunde,  sondern 
bei  weitem  einfacher  und  überzeugender  der  morpholo* 
gische  Typus,  die  Mutter*  und  Stammform  des  Tieres,  der 
Pflanze  überhaupt.  Nach  Goethes  reiner  reicher  Anschauung 
gibt  es  in  der  animalisch*vegetativen  Natur  nicht  nur  ty* 
pische  Bewegungen,  wie  beispielweis  die  gleichfalls  von 
ihm  (mit  der  bei  ihm  gewohnten  Treue)  zur  Beobachtung 
gelangte  , Spiraltendenz'  des  Blattes,  des  Blütenstiels,  der 
Knospe  gewisser  Arten;  bekanntlich  übrigens  eine  moto* 
rische  Tendenz,  welche  nachher  Charles  Darwin,  hier  wirk* 
lieh  Goethes  berufener  Fortsetzer  und  Erbe,  als  sogenannte 
.Zirkumnutation'  (wörtlich:  Herum« Winkung,  Schrauben* 
Windung)  ausnahmlos  in  allen  Teilen  der  Pflanze  als  eine 
dem  Heliotropismus  verwandte  und  in  ihn  überleitende 
Bewegungstrebigkeit  vorzuweisen  und  somit  als  eine  der 
grundsätzlichen  Gesetzmäßigkeiten   des  Pflanzenseins   zu 

erhärten  gelungen  ist! nach  Goethes  reiner  Anschauung, 

sag'  ich,  gibt  es  außer  dieser  Typik  der  Bewegungen,  die 
vielleicht  eines  Tages  gleichfalls  der  Vorwurf  einer  aus* 
gebreiteteren  Wissenschaft  vom  Kosmos  bilden  wird,  eine 
noch  beachtenswürdigere  Typik  der  Gestaltungen,  in  allen 
individuellen,  spezifischen,  generellen  Abänderungen  je* 
weilig  wiederkehrend  als  das  stets  gegenwärtige  nunc  stans 
des  Lebens.  Und  eine  unendliche  Perspektive  ist  es  für* 
wahr,  die  sich  von  dieser  Wiederkehr  der  Grundgestalt  in 
allen  organischen  Entwicklungen,  Wandlungen,  Umfor* 
mungen  eröffnet :  denn  wollte  man  die  Vollzahl  der  mög* 
liehen  Folgerungen  ziehen,  die  aus  dieser  Theorie  Goethes 
insgesamt  gezogen  werden  dürften,  ja  gezogen  werden 
müßten,  so  dürfte  man  bei  den  äußerlich  wahrnehmbaren 
Gestalten  der  pflanzlichen  und  tierischen  Natur  noch  lange 
nicht  halt  machen.    Eine  goethisch  betreute  und  goethisch 

669 


betriebene  Typologie  reichte  vielmehr  grundsätzlich  genau 
soweit  wie  das  Leben  selber  und  wäre  infolge  davon  weder 
nach  unten  wie  nach  oben  genau  so  sicher  zu  begrenzen. 
Warum  nicht  sie  mutatis  mutandis  dann  auch  für  jenen 
Komplex  gelten  dürfen  sollte,  der  den  organischen  Schöps 
fungen  der  Natur  als  die  organischen  Schöpfungen  der 
Kultur,  folglich  als  eine  Natur  höheren  Grades  oder  als  eine 
Natur  in  der  zweiten  Potenz  mit  großer  Berechtigung  neben* 
geordnet  zu  werden  pflegt:  das  wäre  mit  stichhaltigen  Be* 
weismitteln  kaum  glaubhaft  zu  machen.  Bestehen  wir  mit* 
hin  auf  unserer  Voraussetzung  mit  Nachdruck,  daß  sich  die 
Organik  als  Schwesterwissenschaft  der  Mechanik  genau  wie 
diese  selbst  (nur  noch  in  ganz  anderem  Grad  und  Um* 
fang)  auf  den  Menschen  mit  erstrecke,  so  erstreckt  sich  auf 
diesen  mit  Notwendigkeit  auch  die  von  der  Organik  ab* 
zweigende  Tochterwissenschaft  der  Typologie.  Dann  gilt 
die  Annahme  unwandelbarer  Typen  und  Typenwerte  auch 
für  den  menschheitlichen  Gestaltenwandel  in  der  ganzen 
Breite  menschheitlicher  Lebens*  und  Willensäußerungen. 
Dann  weist  auch  unsere  Kultur  mit  ihren  subjektiven 
und  objektiven  Formungen  stets  durchschlagende,  stets 
rückschlagende  Grundgestalten  in  allen  Wechselzuständen 
auf.  Einmal  auf  den  Boden  dieser  goethischen  Stellung* 
nähme  sicher  und  bestimmt  getreten,  haben  wir  folglich 
von  hier  und  jetzt  an  die  Aufgabe  einer  Typologie  ins  Auge 
zu  fassen,  die  erstens  die  Urformen  unserer  sämtlichen  stoff* 
liehen,  geistigen,  seelischen  Werkzeuge  möglichst  ausnahm* 
los  umspannte  wie  etwa  die  Maschinen,  Instrumente,  Appa* 
rate  der  Technik  und  Praxis  aller  Bereiche  mitsamt  den 
höheren  Erfindungen,  ja  sogar  mitsamt  den  Wissenschaften, 
Künsten,  Weltanschauungen,  Religionen;  die  zweitens  nicht 
minder  die  äußere  und  innere  Physiognomie  alki  geschieht* 
liehen   Rassen,   Völker,   Stämme   wie   des  Ägypters   und 

670 


Inders,  des  Chinesen  und  Babyloniers,  des  Assyrers  und 
Pelasgers,  des  Hellenen  und  des  Juden,  des  Römers  und  des 
Germanen,  des  Galliers  und  des  Slawen,  des  Briten  und 
des  Deutschen  in  ihrem  außerzeitlichen  Durchschnittwert 
umfaßte;  die  drittens  sich  des  Habitus  bemächtigte  aller 
einzelmenschlichen  und  gesellschaftlichen  Lebensstufen  als 
da  sind  Jugendzeit  und  Primitivität,  erstes  Mannesalter  und 
Klassizität,  zweites  Mannesalter  und  Barock,  Greisenalter 
und  Dekadenz,  (wobei  man  tatsächlich  an  entsprechende 
Versuche  Lamprechts  und  Wölfflins  anknüpfen  könnte); 
die  viertens  ein  Inventarium  sammelte  der  charakterologisch 
immer  wiederkehrenden  Vertreter  unserer  Gattung  nach 
Beruf  und   Stand,    Geschlecht  und   Klasse,   Anlage   und 
Streben,  deutlich  zu  unterscheiden  etwa  als  den  Wirklich* 
keitmenschen  und  den  Traummenschen,  als  den  Diesseits 
gewandten  und  den  Jenseitgewandten,  als  den  Don  Juan 
und  den  Asketen,  als  den  Stoiker  und  den  Mystiker,  als 
den  Nazarener  und  den  Epikureer,  als  den  Skeptiker  und 
den  Enthusiasten,  als  den  Gelehrten  und  den  Seher,  als 
den  Künstler  und  den  Handwerker,  als  den  Herrscher  und 
den  Hörigen,  als  den  Kaufmann  und  den  Schieber,  als  den 
Händler  und  den  Vermittler,  als  den  Bauern  und  den  Land* 
Streicher,  als  den  Arbeiter  und  den  Soldaten,  als  den  Be* 
amten  und  den  Staatsmann,  als  den  Prasser  und  den  Bettler, 
als  die  Dirne  und  die  Dame,  als  die  Jungfer  und  die  Frau, 
als  den  Gesetzgeber  und  den  Verbrecher,  als  den  Priester 
und  den  Pfaffen,  als  den  Ironiker  und  den  Humoristen,  als 
den  Realpolitiker  und  den  Ekstatiker,  als  den  Ästheten  und 
den  Propheten,  als  den  Nihilisten  und  den  Romantiker,  als 
den  Leugner  und  den  Heiligen,  als  den  Vergewaltiger  und 
den  Erlöser . . .  Eine  morphologischeTypologie,  Anthropolo* 
gie,  Charakterologie,  Soziologie,  Physiognomik  höchsten 
Stiles,  wie  sie  dem  Dichter  der  Menschlichen  Komödie  auf 

671 


seine  Weise  vielleicht  doch  schon  vorgeschwebt  hat,  müßte  es 
erlauben,  die  goethische  Methode  auf  alle  inneren  und  äuße* 
ren  Gestalterfahrungen  überhaupt  anzuwenden  und  dadurch 
ins  Unabsehbare  zu  verfruchtbaren.  Vermöchten  wir  derart 
aus  allen  erscheinenden  Formwechseln  und  Wechselformen 
die  (zum  .Starren  gewaffneten')  Gebilde  der  unwandelbaren 
Elementarcharaktere  herauszuschälen,  —  es  wäre  mit  einem 
solchen  bereitgestellten  Vorrat  an  »konkreten  Definitionen' 
mindestens  so  viel  gewonnen,  daß  die  Lehre  von  einem  ufers 
losen  Fortschritt  und  von  einer  uferlosen  Entwicklung  eine 
heilsame  Eindämmung  erführe:  etwas  wie  ein  »Grundgesetz 
der  historischen  Relativität'  würde  in  dem  Nacheinander  der 
zeitlichen  Veränderungen  Ein  Wesenhaftes  stets  wieder^ 
und  wiederkehrend  erkennen  lassen,  stets  wesentlich  das 
gleiche  und  selbige  bleibend.  An  diesem  Wesentlichen,  das 
immer  war  und  ist  und  sein  wird,  durch  eigene  Verwesend 
lichung  je  und  je  teilzunehmen,  wäre  dann  vielmals  be? 
deutsamer  als  die  Jagd  nach  so  fragwürdigen  Fortschritten 
und  Entwicklungen,  wie  sie  die  Menschheit  Europas  heute 
in  den  Tod  hetzt.  Außerordentlich  in  ihren  Folgen  müßte 
diese  Typologie  für  den  künftigen  Abendländer  werden, 
wonach  in  sämtlicher  Vergängnis  dauernd  Eine  Erständnis 
pulste,  wonach  alle  Tode  im  Ring  stätiger  Wiedergeburten 
das  Leben  als  solches  stets  erneuten,  wonach  in  fortgesetzten 
Umgestaltungen  dieselbe  Gleichgestalt  an  und  für  sich 
beharrte.  Zeitlich  aufeinandergeschichtete  Wiederkünfte 
von  Weltstufen  und  Weltaltern  würden  sich  zeitlich  hier 
zu  Weltspiralen  aneinanderringeln  und  in  einem  vielleicht 
später  einmal  durchaus  enthüllbaren  Wortsinn  den  Begriff 
von  der  Spiraltendenz,  von  derZirkumnutation  der  Pflanzen* 
teile  ins  Menschheitliche  ungeheuer  zu  übertragen  gestatten 
als  eine  (gleichsam  heuristisch  auszuwertende)  Hypothesis 
der  Erkenntnis   alles  organisch  Daseienden  überhaupt.  In 

672 


weiter  oder  enger  gewundenen  Spiralen  wird  dermaleinst 
vielleicht  auf  höher  und  höheren  Ebenen  Dieselbe  und 
Einige  Gestalt  aller  Gestalten  zur  Wahrnehmung  gelangen 
können,  einen  Adspekt  auf  eine  besondere  Art  charaktero* 
logischer  oder  physiognomischer  Unsterblichkeit  herrlich 
eröffnend  und  damit  der  armsäligen  Gegenwart  eines  maß? 
und  ziellos  vorwärts  stürmenden  Weltfühlens  ihr  grausam 
verkürztes  Anteil  an  jener  strengen  Periodik  wiederum  ge* 
während,  die  zu  verehren  uns  sonst  Natur  so  häufig  und 
so  wohltätig  nötigte.  Hier  wäre  in  der  Tat  eine  Identität* 
philosophie  weiten  Wurfes  und  Schwunges  an  ihrem  Platz, 
angewandt  auf  die  humanen  Manifestationen  aller  Art,  — 
an  ihrem  Platz  auch  auf  die  nicht  zu  unterschätzende  Ge* 
fahr  hin,  daß  sie  erheblich  mehr  noch  als  die  übrigen  Wissen* 
Schäften  mit  den  stärksten  Fiktionen  arbeiten  müßte.  Und 
von  ihr  und  hier  aus  könnte  dann,  hoffentlich  noch  nicht 
durchaus  zu  spät,  ein  Tropfen  jenes  einhaltenderen,  atem* 
holenderen,  gelasseneren,  feiertäglicheren  Zeitmaßes  bal* 
samisch  lind,  bindend  und  sänftigend  ins  fiebrige  Getriebe 
ci=devant  Europas  fallen  und  endlich,  endlich  unserer  Ge* 
schichte  ein  Gut  retten,  das  sie  bis  heute  in  verhängnisvollen 
Graden  hatte  durchweg  missen  lassen,  —  Dauer!  .  . 

Mit  dieser  kleinen  und  dürftigen  Skizze  einer  im  Geist 
Goethes  betreuten  Typologie  des  Organischen  sind  wir 
freilich  wohl  allzusehr  auf  unsere  vorauseilende  Einbildung* 
kraft  angewiesen  gewesen,  wofern  von  ihr  die  bisher 
blühenden  Wissenschaften  höchstens  Ansätze  und  Triebe 
erkennbar  machen.  Ein  immerhin  nachteiliger  Umstand, 
der  sich  indes  zusehends  verbessert,  wenn  wir  uns  jetzt  von 
dieser  geforderten  Typologie  der  Erscheinungen  jener  zweit* 
genannten  Disziplin  einer  allgemeinen  Organik  zuwenden, 
die  im  Wandel  der  lebendigen  Gestalten  nicht  sowohl  das 
vermutet  Unwandelbare,  als  vielmehr  die  Wandlung  selbst 

43     Ziegler,  Gestaltwandel  der  Götter  673 


betrachtet.  Wie  schon  gesagt  läuft  sie,  die  eigentliche  Meta* 
morphosiologie,  so  ziemlich  auf  das  hinaus,  was  wir  moderne 
Biologie  mit  ihren  Hilfwissenschaften  zu  nennen  seit  längerem 
gewöhnt  worden  sind.  Indes  auf  eine  erweiternde  Behand* 
lung  auch  dieses  schon  reichlich  ausgebauten  Erkenntnis* 
ganzen  hinzuzeigen,  können  und  dürfen  wir  uns  nicht  ent* 
brechen:  auf  eine  Behandlung  und  Erweiterung,  die  sie  zu 
unserer  hypothetischen  Typenlehre  in  das  Verhältnis  eines 
noch  näheren  Parallelismus  zu  rücken  geeignet  ist,  —  ich 
meine  kurz  und  gut  auch  ihre  Geltendmachung  für  das 
wesentlich  menschheitliche  Bereich.  Sub  specie  nämlich  von 
schlechthin  beharrlichen  Grund*  und  Stammformen  erblickt, 
wuchs  sich  unsere  Organik  aus  zu  einer  allgemeinen  Typo* 
logie  und  Charakterologie  alles  Lebendigen,  folglich  auch 
aller  Lebensäußerungen  und  Lebensschöpfungen  des 
Menschen,  mochten  sie  als  äußerliche  oder  innerliche,  leib* 
liehe  oder  geistige,  sinnliche  oder  seelische  Gestaltwahrnehm* 
barkeiten  erscheinen.  Sub  specie  aber  von  schlechthin  ver* 
änderlichen  Glied*  und  Bauformen  erblickt,  wächst  sich  die* 
selbe  Organik  aus  zu  einer  allgemeinen  Historie  zunächst  der 
Natur,  dann  aber  ebenso  des  Menschen  und  seiner  Bildungen. 
Denn  wer  die  organische  Welt  anstatt  im  Hinblick  auf  ihre 
Dauerbarkeiten  nur  im  Hinblick  auf  ihre  Wechselgestal* 
tungen  erforscht  und  beurteilt,  der  sieht  sie  eben  vorwiegend, 
wenn  nicht  ausschließlich,  als  Geschichte,  —  wobei  unter  Ge* 
schichte  ihrem  innersten  Begriffgemäß  gar  nichts  anderes  ver* 
standen  werden  soll  und  kann  als  eine  Abfolge  von  Verände* 
rungen  eines  irgendwie  organisch  Gestalteten  in  der  Zeit. 
Sollte  es  also  gelingen,  einen  gemeinhin  für  unorganisch  er* 
achteten  Körper  wie  diesen  Erdstern  organisch  aufzufassen 
und  eine  Reihenfolge  von  gestaltlichen  Veränderungen  an 
ihm  in  der  Zeit  nachzuweisen,  so  wäre  die  Wissenschaft  dieser 
Veränderungen  unstreitig  schon  echte  Historie,  echte  Ge* 

674 


schichte.  Alles  organisch  zu  interpretierende  Dasein  als 
Nacheinander  wechselnder  Gestaltungweisen  in  der  Zeit 
hat  eine  Geschichte,  gehöre  es  den  elementarischen  und 
mineralischen  Erscheinungen  und  ihrem  kristallinen  Werden 
an,  oder  den  vegetativen  und  animalischen  Gestalten,  oder 
endlich  den  humanen  Wesens?  und  Willenskundgebungen. 
Unter  dem  Gesichtswinkel  des  All*Organismus  gibt  sich 
jedes  körperhafte  Sosein  nicht  nur  zu  erkennen  als  ein  im 
buchstäblichen  Wortverstand  .Gestaltetes'  mit  allen  Merk* 
zeichen  eben  der  Gestalt,  sondern  außerdem  auch  als  ein 
geschichtlich  Lebendes  mit  zeitlich  aufeinanderfolgendem 
Formens  und  Zustandwechsel.  Genau  wie  vorhin  die  Typo* 
logie  und  Charakterologie  erstreckt  sich  somit  auch  die 
Metamorphosiologie  oder  Historie  auf  einen  Inbegriff  der 
Natur,  der  die  Hervorbringungen  der  Kultur  nicht  aus* 
sondern  einschließt:  alle  Natur,  organisch  gesehen  und 
organisch  beurteilt,  hat  ihre  Historie,  und  alle  Historie  ist 
historia  naturalis,  oder  volltönender  und  stolzer  noch  historia 
naturae!  Sag'  ich,  die  Erde  sei  ein  Stern  wie  andere  Sterne 
auch  und  seien  ihr  darum  keine  anderen  Veränderungen 
und  Bewegungen  eigen,  als  sie  nach  den  mechanischen  Ge* 
setzen  des  Himmels  und  der  Erde  eben  möglich  sind,  so 
ist  die  Erde  allerdings  geschichtlos  und  bleibt  trotz  ihrer 
Umschwünge  und  Drehungen,  die  sie  um  sich  und  ihre 
Sonne  und  mit  dieser  Sonne  selbst  um  einen  unbekannten 
Schwerpunkt  in  der  Richtung  nach  dem  Sternbild  des  Her* 
kules  (mit  bisher  weder  merklich  verminderter  noch  merk* 
lieh  vermehrter  Geschwindigkeit)  ausführt,  im  Sinn  der  Ge* 
schichte  unänderlich,  starr,  tot,  unwandelbar  auch  dann,  wenn 
sie  ihren  Aggregatzusland  im  Lauf  der  Zeiten  ändert.  Sag' 
ich  aber :  die  Erde,  das  ist  die  gesetzmäßig  geognostisch*mor* 
phologische  Reihenfolge  der  Erzentstehungen  und  Schichten* 
bildungen,  der  Schmelzsteinschiebungen  und  Trümmerstein* 

43*  675 


kittungen,  der  Kristallwerdungen  und  Verkieselungen,  der 
Schieferablagerungen  und  Humusdurchsetzungen,  der  Glim* 
merverglasungen  und  Basaltverhärtungen,  der  Vergletsche* 
rungen  und  Berieselungen,  der  Gebirgstockknotungen  und 
Feuerausspeiungen,  der  Kratertrichterbohrungen  und  Salsen* 
ausschüttungen,  der  Geiserkochungen  und  Kalkversinte* 
rungen,  der  Kohlensäureaushauchungen  und  der  Schwefel* 
gasschwängerungen,  der  Inselauftauchungen  und  der  Fest* 
landzertrümmerungen,  der  Talausmuldungen  und  Land* 
anschwemmungen,  der  Küstensenkungen  und  Küsten* 
hebungen,  der  Korallenrifferungen  und  Kreidetürmungen, 
der  Dolomitzinnenabsonderungen  und  Tropfsteinsäulen* 
ausschwitzungen,  der  Karstauslaugungen  und  Wildbach* 
schluchtennagungen,  der  Verwesungstoffdüngungen  und 
Regenwurmerdreichdurchlüftungen  und,  und  .  .  . ;  sag'  ich 
des  ferneren:  diese  Erde,  das  ist  Urgneis  und  Urschiefer, 
ist  Silur,  Devon,  Karbon,  Perm,  ist  Trias,  Jura,  Kreide,  ist 
Tertiär  und  Quartär,  ist  Urzeit,  Altertum,  Mittelalter,  Neu* 
zeit,  ist  in  allen  diesen  Phasen  periodischer  Gestaltenwandel 
ihrer  selbst  mit  korrelativem  Wandel  fast  aller  ihrer  Orga* 
nismen,  Organe  und  Funktionen  (ausgenommen  die  seltenen 
.persistenten  Spezies');  —  wie  sollte  nicht  unverweilt  diese 
vorhin  noch  tote  Erde  anheben  sich  vor  unserem  Geistauge 
höchst  rührig  zu  gebärden!  Wie  sollte  sie  nicht  geschichtlich 
zu  leben  beginnen  in  ihrem  Zusammenfalten  und  Inein* 
anderwerfen,  Vergittern  und  Umpanzern,  Umdampfen  und 
Umwabern,  Erfüllen  und  Entleeren,  Abbalgen  und  Ent* 
häuten,  Umfurchen  und  Belauben!  Schichtet  sich  doch  jetzt 
das  ganze  Gestirn  als  räumliche  Gleichzeitigkeit  zum  zeit* 
liehen  Nacheinander  wirklich  .geschichtlichen'  Geschehens, 
und  nicht  nur  das  Gestirn  als  solches,  sondern  mit  ihm  seine 
Elemente  und  Mineralien  nicht  weniger  als  seine  Tiere  und 
Pflanzen.   Der  Kohlenstoff  etwa  erzählt  als  Torf,  Braun* 

676 


kohle,  Steinkohle,  Anthrazit,  Graphit  und  Diamant  von 
einer  richtigen  Lebensgeschichte :  und  gar  die  elementarische 
Gruppe  des  Radium,  berichtet  sie  nicht  von  dessen  eigener 
.sprungweisen  Abänderung'  in  Radium  und  Helium  und 
Neon?  Womöglich  unverkennbarer  aber  noch  offenbaren 
wahren  Gestaltwandel  solche  mineralischen  Stoffe  und  Ver* 
bindungen,  die  man  nach  der  Weise  ihrer  Entstandenheit 
geradezu  metamorphosierte  Gesteine  genannt  hat,  — 
metamorphosiert,  weil  sie  nämlich  durch  Berührung  oder 
sonstige  Einwirkung  ursprünglicher  Steinmassen  ihre  Be* 
schaffenheit  und  Art  gewechselt  haben:  wie  beispielweis 
der  Kalk,  der  durch  Einlagerung  von  Steinsalz  und  Schwefel 
zum  Gips  wird  oder  geschmolzen  unter  hohem  Druck  zu 
Marmor  körnig  gerinnt;  wie  der  verkieselte  Schiefer  durch 
Berührung  mit  Porphyren  sich  zum  Jaspis  veredelt;  wie 
unter  den  Einflüssen  des  Granits  der  Tonschiefer  selber  zu 
granitähnlichen  Gemengen  von  Feldspat  und  Glimmer  er* 
härtet.  Pflanzenhaft*tierhafte  Substanzen  vollends  wie  Fette 
und  Wachse  entwickeln  sich,  unter  Ausschluß  der  Luft  ver* 
wesend,  in  einer  höchlich  komplizierten  Reihe  zu  brenn* 
baren  Ölen;  und  gesetzmäßig  furcht  sich  der  tierische  Keim 
nach  seiner  Befruchtung  zur  Cytula,  Morula,  Blastula, 
Gastrula,  indes  der  ganze  animalische  Stamm  (in  einer 
freilich  nur  lückenhaft  erforschten  und  noch  stark  um* 
strittenen  Geschichte)  vom  Gliedertier,  Weichtier,  Krebs 
aufwächst  zum  Fisch,  Amphibium,  Reptil,  zum  Vogel, 
Nagetier,  Huftier,  Raubtier  und  Herrentier,  —  indes  nicht 
minder  die  vegetative  Welt  geschichtlichen  Zusammen* 
hang  vom  Schaftbaumwald  und  Farrenwald  zum  Nadel* 
wald,  Zapfenbaumwald,  Laubkronenwald  in  Umrissen  er* 
ahnen  läßt.  Grundsätzlich  sind  diese  Vorgänge  nicht  weniger 
historisch  als  es  die  Metamorphose  des  amphibischen  Eies 
in  Kaulquappe  und  Frosch,  die  Metamorphose  des  insek* 

677 


tischen  Eies  in  Larve,  Puppe  und  Schmetterling  ist.  Da 
gibt  es  kein  einzelnes  tierisches  Organ,  das  nicht  seine  be* 
sondere  Geschichte  hätte.  Wie  der  jeweils  spezifische,  wie 
der  generelle  Typus  die  Kieme  zur  Lunge,  den  Fuß  zum 
Freßwerkzeug,  das  Gehörsteinchen  zum  Ohr,  die  Linse  zum 
Auge  fort  und  fort  bildet,  ist  nicht  weniger  Gegenstand 
historischer  Forschung  als  der  Formwechsel  in  den  mensch* 
liehen  Rechtsbegriffen  oder  Wirtschaftgebräuchen  oder 
Baugedanken:  als  etwa  die  Metamorphose  vom  Mutterrecht 
zum  Neffenrecht  und  Vaterrecht,  von  der  Raubwirtschaft 
zur  Tauschwirtschaft  und  Geldwirtschaft,  von  den  Chroms 
lechs  und  Dolmen  zu  den  Kuppelgräbern  und  Basiliken 
und  Kathedralen!  .  .  . 

Damit  man  freilich  von  dieser  methodischen  Einheit  und 
Einheitlichkeit  sämtlicher  historischen  Wissenschaften  einer 
.kosmischen  Organik'  tiefer  durchdrungen  werde,  muß  man 
der  heute  noch  marktgängigen  Theorie  von  der  szienti* 
fischen  Gespaltenheit  der  Erkenntnis  in  Natur*  und  Kultur* 
forschung  seine  Beistimmung  schlankweg  verweigern.  Denn 
diese  Doktrin  setzt  das  Messer  zu  einem  Schnitt,  der  gewiß 
und  notwendig  geführt  werden  muß,  an  der  falschen  Stelle 
an,  —  oder  noch  besser,  diese  Doktrin  zerhackt  gleichsam 
den  gliedbaulichen  Zusammenhang  der  Wissenschaften, 
anstatt  ihn  unter  gebührender  Berücksichtigung  zooto* 
mischer  Regeln  nach  dem  Verlauf  der  Gelenke,  Sehnen, 
Gefäße  zu  zerlegen.  Was  die  Geschichtwissenschaften  ohne 
Frage  von  den  Naturwissenschaften  unterscheidet,  das 
unterscheidet  sie  kraft  ihrer  Eigenschaften  als  Erkenntnis 
eines  Organischen  von  der  Erkenntnis  eines  Mechanischen; 
unterscheidet  sie  mithin  nach  getroffener  Stellungnahme 
des  erkennenden  Subjekts,  keineswegs  aber  nach  einer  be* 
vorzugten  oder  vernachlässigten  Objektivität  als  solchen. 
Das  erkennende  Subjekt  nämlich  vermag  sehr  wohl,  wie  wir 

678 


jetzt  genugsam  wissen,  sogenannt  organische  Gegenstände 
(wie  pflanzliche  und  tierische  Körper)  mechanisch  aufzu* 
fassen  und  dergestalt  eine  Mechanik  des  Organischen  zu 
erdenken;  es  vermag  aber  auch  im  selben  Sinn  einen  söge* 
nannt  mechanischen  Gegenstand  (wie  einen  Kristall  oder 
ein  Gestirn)  organisch  zu  betrachten  und  unter  beiderlei 
Gesichtswinkeln  zwei  verschiedene,  ja  entgegengesetzte  Er* 
fahrungweisen  der  wirklichen  Welt  zu  veranstalten.  Einmal 
jedoch  entschieden  für  die  organische  Erfahrungweise, 
bleibt  ihm  zwar  immer  noch  die  Wahl,  lebendig  Daseiendes 
entweder  mehr  auf  sein  typologisches  oder  mehr  auf  histo* 
risches  Wesen  hin  zu  untersuchen,  —  nicht  aber  bleibt  ihm 
länger  die  Wahl,  etwa  die  gesamte  Historie  des  Organischen 
auf  die  einzige  Spezies  Mensch,  homo  sapiens,  homo  inventor, 
homo  faber  methodisch  einzuschränken  und  zu  behaupten, 
diese  Spezies  allein  besitze  eine  Geschichte,  wie  sie  allein 
eine  Gesittung,  eine  Kultur  besitze.  Im  entscheidenden 
Punkt  für  irrig  hat  man  daher  die  bis  zur  Ermüdung,  bis 
zur  Langeweile  erörterte  Theorie  zu  erachten,  die  der  Hi* 
storie  als  ihren  ausschließlichen  und  vorbehaltenen  Vor* 
wurf  das  humane  Individuum  in  der  Bedeutung  seiner  per* 
sönlichen  Einmaligkeit,  Einzigartigkeit,  Unvergleichbar* 
keit,  NichtWiederholbarkeit  zuspricht,  —  fast  wäre  man  zu 
der  Bemerkung  bewogen:  in  der  Bedeutung  seiner  unend* 
liehen  Eitelkeit,  Selbstüberheblichkeit,  Anmaßlichkeit  zu* 
spricht,  —  welche  die  moderne  Persönlichkeit  seit  Renais* 
sance  und  Reformation  in  Europa  kennzeichnet.  (Und  in 
diesem  Bezug  wäre  Windelbands  und  Rickerts  Theorie  der 
Historie,  sonst  eigentlich  wenig  aufregend,  dennoch  einiger* 
maßen  symptomatisch  für  die  gegenwärtige  Krisis  im  euro* 
päischen  Persönlichkeitbewußtsein  .  .  .)  Jene  besagte  Ab* 
grenzung  des  Begriffes  Geschichte  ist  nämlich  insofern  eine 
viel  zu  enge,  als  Geschichte  sogar  in  ihrem  eingeengtesten 

679 


Wortsinn  eines  Berichtes  oder  einer  Beschreibung  mensch* 
heitlicher  verum  gestavum  keineswegs  ausschließlich,  nicht 
einmal  vorwiegend  der  Persönlichkeit  an  und  für  sich  ge* 
widmet  erscheint,  sondern  ihre  Forschungen  durchaus  be* 
sonnen  auf  diejenigen  Träger  menschheitlicher  Verände* 
rungen  ausdehnt,  die  wir  mit  einigem  Fug  die  komplexen 
oder  die  kollektiven  Individuitäten  der  Rassen,  Stämme, 
Völker,  Geschlechter,  Sippen,  Gesellschaften,  Kirchen,  Ge* 
meinen,  Vereine,  Dorf*  und  Markgenossenschaften  nennen 
dürfen.  Was  die  Historie  in  erster  Linie  darzustellen,  was 
sie  zu  überliefern  strebt,  ist  gar  nicht  die  Persönlichkeit  als 
solche  mit  ihren  einmaligen  Merkmalen  und  Eigenschaften, 
sondern  viel  eher  die  erfahrene  Wechselwirkung  jener  kom* 
plexen,  jener  kollektiven  Lebenseinheiten,  die  sich  als  die 
eigentlichen  Träger  machthaberischer,  wirtschaftlicher,  gei* 
stiger,  sittlicher,  kriegerischer  Vorgänge  und  Bewegungen 
erweisen.  Einer  alten  Chronik  ist  in  selteneren  Fällen  die 
Biographie  eines  einzelnen  Mannes  merkwürdig,  häufiger 
hingegen  die  Biographie  einer  Dorfs  oder  Stadtgemeinde, 
eines  Kirchensprengels,  Klosters,  Bistums,  einer  Landschaft 
oder  eines  Staates.  Und  auch  den  eigentlich  Wissenschaft* 
liehen  Historiker  beschäftigt  die  monographe  Darstellung 
der  einzelnen  Persönlichkeit  nur  soweit,  als  diese  für  die 
Entwicklung  der  gesellschaftlichen  Beziehungen  kollek* 
tiver  Lebenseinheiten  zueinander  von  ausschlaggeben* 
der  Wichtigkeit  geworden  ist.  Von  Herodotos  bis  Macau* 
lay,  von  Thukydides  bis  Ranke,  von  Titus  Livius  bis 
Treitschke,  von  Tacitus  bis  Lamprecht,  von  Vitrivius  bis 
Burckhardt,  von  Plutarchos  bis  Carlyle  ließe  sich  ohne  An* 
strengung  die  Richtigkeit  dieser  Feststellung  erhärten,  und 
wie  beschaffen  in  den  verschiedenen  Kulturen  auch  die 
Ziele  und  Voraussetzungen  des  Geschichtschreibers  sein 
mögen,  —  sogar  innerhalb  der  sehr  genau  abgesteckten  Be* 

680 


zirke  der  politischen  Geschichte  zieht  er  die  Persönlichkeit 
nur  dort  heran,  wo  es  Wert  und  Wirkung  ihrer  Leistung 
für  die  kollektiven  Individuen  Staat,  Volk,  Nation  be* 
dingen,  deren  sachliche  Beziehungen  zueinander  in  ihrer 
unerschöpflichen  Mannigfaltigkeit  gleichsam  das  Apriori 
bilden  für  jede  persönliche  Betätigung*  und  Handlungweise 
eines  Einzelnen.  Und  selbst  wo  das  Individuum  in  seiner 
Eigenschaft  als  Träger  geschichtlicher  Änderungbedin* 
gungen  die  einschneidendsten  Wirkungen  verursacht,  wird 
die  Historie  als  die  Wissenschaft  vom  absolut  Einmaligen, 
Unvergleichbaren,  Einzigartigen,  Nichtwiederholbaren 
ihrerseit  wieder  beträchtlich  ergänzt  und  begrenzt  durch 
die  typologische  Urerfahrung  stätiger  Wiederkünfte  des 
wo  nicht  Gleichen,  so  doch  Ähnlichen  und  Vergleichbaren 
und  Entsprechenden.  Nicht  zum  wenigsten  bewährt  sich 
der  wissenschaftliche  Takt  des  Geschichtschreibers  in  der 
Tugend,  in  passenden  Analogien  zu  denken  und  die  jeweils 
geeignetsten  Glieder  solcher  Analogien  feinfühlig  zusam* 
menzustimmen,  —  in  welcher  Tugend  übrigens  Macaulay 
vielleicht  die  übrigen  Historiker  übertrifft.  Dabei  soll  die 
ungleich  bedenklichere,  kitzlichere,  heiklere  Frage  hier  nicht 
einmal  angeschnitten  werden,  ob  die  alsdann  unentbehr* 
liehe  Monographie  des  bedingt  Einzigartigen,  Unvergleich* 
liehen,  Einmaligen,  Nichtwiederholbaren,  welches  wir  Per* 
sönlichkeit  heißen,  —  wie  sparsam  verfährt  nicht  der  klassi* 
sehe  Meister  dieses  monographischen  Stiles,  Leopold  Ranke, 
mit  seinen  unvergeßlich  einprägsamen  Charakteristiken; 
wie  verhältnismäßig  selten  malt  er,  der  bei  weitem  befähigste 
Bildnismaler  und  schärfste  Menschenkenner  der  heutigen 
Geschichtschreibung,  eines  seiner  distanzierten  Porträte  I  — 
ob  jene  monographe  Darstellung,  sag'  ich,  nicht  doch  wie* 
der  eher  unter  die  Kompetenzen  des  Künstlers,  Dichters, 
Heldenverehrers,  Sehers  falle  statt  unter  die  Kompetenzen 

681 


(und  Potenzen)  des  Gelehrten  ?  Das  erstere  stark  zu  vermuten 
wäre  in  Ansehung  der  äußersten  Seltenheit  des  Monogra* 
phisten  höheren  Stiles  immerhin  nicht  unstatthaft:  zu  ver* 
muten  mithin,  daß  die  Fähigkeit,  eine  geschichtliche  Ge* 
stalt  so  auf  die  Beine  zu  stellen,  daß  sie  leidlich  geht  und 
steht,  dem  wissenschaftlichen  Forscher  gar  nicht  angehören 
möchte  oder  den  Umkreis  seiner  besonderen  Talente 
schlechterdings  überschreite.  Was  die  sogenannte  Person* 
lichkeit,  die  Ichgestalt,  die  .Lebensgrundweise',  den  Cha* 
rakter,  die  Subjektivität  als  solche  betrifft,  so  entzieht  sie 
sich  sehr  wahrscheinlich  nicht  nur  der  naturwissenschaft* 
liehen  Begriffsbildung,  um  etwa  der  historischen  Begriffs;: 
bildung  zuzufallen;  —  nein,  sie  entzieht  sich  vielmehr  jeder 
wissenschaftlichen  Begriffsbildung  überhaupt.  Nicht  der 
Geschichtforscher  im  Gegensatz  zum  Naturforscher  erkennt 
menschliche  Charaktere  in  ihrer  Besonderheit  und  Sobe* 
schaffenheit;  nicht  gibt  es  ein  methodisches  Problem,  weis 
ches  man  als  Induktion  der  historischen  Individualität  von 
einer  Induktion  mechanischer  oder  organischer  Komplexe 
unterscheiden  dürfte.  Die  menschheitliche  Subjektivität 
kann  vielmehr  unter  günstigsten  Umständen  lediglich  er* 
fühlt,  erahnt,  nacherlebt,  erwittert,  ausgespürt,  abgetastet, 
nacherschaffen,  wiederholt,  nachgeahmt,  nie  aber  erschlossen, 
nie  erfahren,  nie  erforscht  mit  den  Denk*  und  Beobachtung* 
hilfen  der  Wissenschaften  werden,  —  womit  sie  auch  der 
historischen  Erkenntnis  nur  uneigentlich  und  sozusagen 
hinten  herum  zur  Last  fällt  oder  zur  Last  fallen  darf . . . 

Indessen,  auch  wenn  die  obgedachte  Theorie  für  die 
wissenschaftliche  Darstellung  menschheitlicher  verum  ge= 
stamm  brauchbarer  wäre  als  sie  es  ist,  müßte  die  hierbei 
aufgestellte  Definition  des  Geschichtlichen  noch  in  anderer 
Rücksicht  für  eine  zu  enge  erachtet  werden.  Gesetzt  näm* 
lieh,  es   sei  tatsächlich  Aufgabe  der  historischen   Unter* 

682 


suchung,  das  Individuum  in  seiner  strengsten  Einmaligkeit, 
Unvergleichlichkeit,    NichtWiederholbarkeit,    Einzigartig* 
keit  aufzufassen  und  zu  umschreiben,  —  was  denn  in  aller 
Welt  sollte  den  Betrachter  organischer  Erscheinungen  davon 
abhalten,  seinerseit  Historie  dieser  Art  zu  betreiben  und 
innerhalb  der  tierischen,  ja  wenn's  ihm  gelingt,  hier  frucht* 
bare  Beobachtungen  zu  machen,  innerhalb  der  pflanzlichen 
und  kristallischen  Wirklichkeiten  das  Individuum  an  und 
für  sich  zum  Inhalt  seiner  Forschungen  zu  wählen?  Ist  doch 
der  Einwand  a  priori,  diese  Einstellung  aufs  Einzelwesen^ 
liehe    liege    eben  außerhalb  jeder  naturwissenschaftlichen 
Verfahrungweise,  welche  jeweils  das  einzelne  Dasein  nur 
als  Vertreter  der  Spezies  gelten  ließe  (zum  Behuf  der  Demon* 
stration  sogenannter  Naturgesetze),  nicht  viel  anderes  und 
besseres  als  eine  petitio  prineipii:  die  Erschleichung  einer  For* 
schungregel,  die  zwar  häufig  in  der  Vergangenheit  bindend 
sein  mag,  in  der  Zukunft  aber  durchaus  nicht  für  zwingend 
genommen  werden  braucht.    Daß  die  organische  Betracht 
tung  der  Natur  bisher  das  Individuelle  in  der  Untermensch* 
liehen  Schöpfung  nicht  zum  Vorwurf  ihrer  Disziplinen  er* 
hoben  hat,  ist  sicher  die  übliche,  vielleicht  auch  die  üble 
Gewohnheit  gewesen.    Daß  sie  aber,  ohne  sich  selber  auf* 
zugeben,  das  Individuelle  in  der  untermenschlichen  Schöp* 
fung,   soweit   dies  der    wissenschaftlichen  Darstellbarkeit 
überhaupt  unterliegt,  niemals  zu  ihrem  Vorwurf  erheben 
könne  oder  dürfe  oder  solle,  dies  ist  sicherlich  eine  ganz* 
lieh    unbegründete  Forderung,    ein  gänzlich  in  der  Luft 
schwebendes  Verbot,  allzu  voreilig  bereits  zum  methodischen 
Dogma  gestempelt.    Jedenfalls    hat   die    biologische   und 
psychologische  Zoologie  mit  den  ebenso  anziehenden  wie 
aufschlußreichen  (leider  jedoch  noch  zu  novellistisch  und 
sentimentalisch  aufgeputzten)  Tierschilderungen  und  Tier* 
darstellungen  des  Amerikaners  Seton  Thompson  jene  vor* 

685 


mals  geübte  Gepflogenheit  grundsätzlich  aufgegeben,  zu 
ihrem  eigenen  Nutzen  und  Vorteil  aufgegeben,  und  sich 
damit  sogar  im  Geist  der  windelband*rickertschen  Theorie 
zur  rechten  Historie  unstreitig  ermannt,  indem  sie  den  ersten 
schätzenswerten  Beitrag  zur  Monographie  Untermensch* 
licher,  oder  sagen  wir  bescheidener  und  sinngemäßer  zur 
Monographie  außermenschlicher  Individualitäten  liefert. 
Hier  hören  und  lesen  wir  von  ungemein  verwegenen,  listen* 
reichen,  aufopfernden,  klugen,  herrschgewaltigen,  bösen, 
manchmal  schlechtweg  heroischen  Krähen,  Hasen,  Hunden, 
Pferden,  Bergschafen,  Präriewölfen,  von  wirklichen  Person* 
lichkeiten  mit  den  angeborenen  Tugenden  des  Führers  unter 
minder  tüchtigen  und  minder  erlesenen  Genossen.  Was 
bisher  bloße  Liebhaberei  des  Züchters  oder  des  Sports* 
mannes  war,  nämlich  die  Beobachtung  und  Auszeichnung 
des  tierischen  Individuums  mit  gesteigerten  Merkmalen  der 
Spezies,  das  empfiehlt  sich  jetzt,  wenn  auch  erst  in  vorläu* 
figer  Gestalt,  ernster  Wissenschaftlichkeit  zu  ernster  Beach* 
tung,  um  jene,  wer  weiß  es,  im  Verlauf  der  Zeiten  mit  manch 
unerhörter  Eröffnung  zu  beglücken.  Wir  aber  sagen  wohl 
kaum  zu  viel,  wenn  wir  den  letzten  scharfsinnigen  Versuch, 
die  eigentliche  Geschichte  dem  Menschenwesen  allein  vor* 
zubehalten  und  in  diesem  Sinn  eine  kulturwissenschaft* 
liehe  Methodik  von  einer  naturwissenschaftlichen  ein  für 
alle  mal  zu  unterscheiden,  auf  die  eine  oder  andere  Art  als 
fehlgeschlagen  zu  bezeichnen  uns  gedreisten.  Wie  man  das 
Wort  Geschichte  auch  drehen  und  deuteln  möge,  —  alles 
organische  Werden,  Gewordensein,  Werdenwerden  ist  als 
Wandel  sinnlich  oder  geistig  wahrnehmbarer  Gestaltetheit, 
als  Metamorphosis  morphologischer  oder  charakterologi* 
scher  Eigenheiten  des  Wirklichen  jeweils  ein  historisches 
Werden ,  ein  historisches  Gewordensein,  ein  historisches 
Werdenwerden.    Ob  diese  zweifellos  historische  Metamor* 

684 


phosiologie  in  Ansehung  des  menschheitlichen  Geschehens 
dann  tatsächlich  jeder  Gesetzmäßigkeit  seiner  Verände* 
rungen  und  Änderungfolgen  spotte,  wie  dies  die  Theorie 
unserer  szientifischen  Individualisten  will,  oder  ob  hier 
nicht  wiederum  lediglich  die  Gesetzmäßigkeit  der  sogenannt 
mechanisch*maschinellen  Natur  in  Fortfall  gerate,  indes 
eine  noch  wenig  erkundete  organische  Gesetzmäßigkeit  sui 
generis  ihre  Wirksamkeit  betätige:  diese  und  dahin  ein* 
schlägige  Erörterungen  seien  dann  billig  einer  Zukunft 
anheimgegeben,  welcher  Humboldts  welthaft  beglücken* 
der  Jakobstraum  von  einer  kosmischen  Historie  des 
Himmels  und  der  Erde  und  der  Stufenleiter  ihrer  Organ* 
Organismen  besser  aus  dem  Herzen  stieg  als  diesem  armen 
Heute.  Ja,  aus  dem  Herzen  stieg  der  reife  Urgedanke 
stets  wiederholender  Pulsation,  Rhythmik,  Periodik  aller 
Lebensstufen  und  Weltalter  nach  einer  annoch  nicht  er* 
mittelten  , Spiraltendenz'  eines  irgendwie  daseienden  und 
bestehenden,  dawerdenden  und  entstehenden  All*Organis* 
mus  oder  .biotischen  Kosmos'  .  .  . 


685 


DIE  WELT  ALS  AXIOLOGISCHER  ZU* 
SAMMENHANG 

Es  schwebte  und  schwankte  uns  das  Leben,  genommen 
als  ein  Einiges  und  Ganzes,  jeweils  zwischen  einer 
vollendenden  Strebigkeit,  die  ihres  innersten  Zieles  mit  der 
Ermöglichung  des  Lebens  selber  versichert  zu  sein  scheint, 
und  zwischen  einer  nie  vollendbaren  Neigung,  auch  über 
seine  best  angepaßten  Erschaffenheiten  als  bloßen  Vor* 
stufen  zu  irgend  etwas  hinauszuleben.  Beruht  dieser  unent* 
schiedene  Zustand  des  Lebens  nicht  etwa  auf  einer  Tau* 
schung  unserer  Erkenntniskräfte,  so  liegt  es  jetzt  auf  uns, 
daraus  eine  Folge  von  erheblicher  Tragweite  zu  ziehen. 
Weil  wir  uns  nämlich  selber,  Söhne  und  Töchter  desselben 
wundersamen  Lebens,  mit  ihm  notgedrungen  in  derselben 
wundersamen  Schwankunglage  zwischen  vollendeter  Wirk* 
lichkeitanpassung  und  angestrebter  Wirklichkeitüberschrei* 
tung  beharrend  vorfinden,  fühlen  wir  auch  notgedrungen 
die  Verpflichtung  auf  uns  lasten,  eben  jenen  gleichsam 
lebenüberschreitenden,  lebenüberwindenden  Zielpunkt 
auszumitteln,  auf  den  es  das  Leben  vielleicht  abgesehen 
haben  möchte,  ohne  ihn  doch  seinen  Geschöpfen  aus  eigenen 
Machtvollkommenheiten  offenbaren  zu  können.  Die  grund* 
sätzliche  Richtung,  in  welcher  das  Leben  sozusagen  als  nach 
einem  ewigen  und  unstillbaren  plus  ultra  vorwärts  treibt 
und  stößt  und  wuchert,  wird  uns  zwar  niemals  wirklich 
gewiß  werden  können,  indem  sich  die  Gesamtbewegung 
der  organischen  Natur  aus  früher  angeführten  Gründen 
einer  gedanklichen  Bemeisterung  entzieht,  wie  sie  den  Be* 
wegungen  der  mechanischen  Natur  ohne  weiteres  zuteil 
wird.  Stets  werden  wir  in  diesem  Bezug  der  Besatzung 
eines  Kriegsschiffes  ähneln,  die  mit  versiegelten  Befehlen 
aus  dem  Heimathafen  ausläuft,  —  niemand  an  Bord  weiß 

686 


und  darf  wissen,  in  welche  fremden  Meere,  an  welche  uns 
bekannten  Gestade  hin  .  .  . 

Trotzdem  meinen  wir  in  stand  gesetzt  zu  sein,  etwas  von 
diesem  versiegelten  Lebensziel  zu  erraten:  wenn  nicht  un* 
mittelbar  durch  eine  Einschwenkung  in  die  organische  Ge* 
samtbewegung  als  solche,  so  doch  durch  eine  beinah  instinks 
tiv  vorgenommene  Drehung,  die  uns  mit  einem  Schlag  den 
bisherigen  Ablauf  organischen  Werdens  und  Geschehens 
nach  rückwärts  bis  fast  zu  seinen  Ursprüngen  anstatt  nach 
vorwärts  bis  zu  seinen  Zielen  überschauen  läßt,  —  wobei 
es  nicht  vermeidlich  sein  wird,  daß  wir  im  Vergleich  mit 
diesen  Ursprüngen  (oder  was  wir  dafür  halten  müssen)  in 
irgendeinem  Sinn  uns  selbst  als  Absicht  und  Ziel  aller  or* 
ganischen  Gestaltwerdungen  deuten.  Damit  soll  jedoch 
weniger  auf  jene  allzu  anmaßliche,  allzu  menschliche  Unter* 
Stellung  abgehoben  sein,  als  ob  die  zoologische  Spezies 
homo  sapiens,  homo  inventor,  homo  faber  an  und  für  sich 
Ziel  oder  Absicht  entwicklunggeschichtlicher  Abände* 
rungen  und  Formenwechsel  wäre.  Vielmehr  soll  auf  die 
wesentlich  besser  begründete  Auffassung  angespielt  wer* 
den,  daß  sich  frühestens  im  Menschen  eben  das  Leben 
überhaupt  einer  Strebigkeit,  Gerichtetheit,  Zielgewendet* 
heit  bewußt  zu  werden  beginne:  alsdann  aber  im  gleichen 
Augenblick  vermöge  dieser  Bewußtheit  seine  vorige 
Schwankunglage  zu  verlassen  und  ins  Gleichgewicht  zu 
setzen  durchaus  fähig  werde.  Nicht  darum  erhält  das  Leben 
Richtung,  Maß  und  Ziel,  weil  es  eines  schönen  Tages  in  die 
Reihe  erschaffener  Gestalten  den  Menschen  eingliedert, 
wie  um  sich  damit  nachträglich  gewissermaßen  vor  sich 
selber  zu  rechtfertigen,  —  sondern  darum,  weil  der  Mensch 
das  einzige  bekannte  Geschöpf  im  natürlichen  Zusammen* 
hang  organischer  Erscheinungen  ist,  der  eine  Vorstellung 
von  Richtung  oder  Ziel  oder  Strebigkeit  bewußt  aus  sich 

687 


herausarbeitet.  Nicht  von  der  Schwankunglage  der  Ge* 
samtbewegung  des  Lebens  aus  und  nicht  durch  die 
Einschwenkung  und  Eingliederung  in  sie  finden  wir 
das  vermutliche  Ziel  der  Bewegung,  sondern  von  der 
Tatsache  der  erkennenden  Menschenvernunft  aus,  die 
sich  allenthalben  der  Setzung  bestimmter  Zielpunkte, 
Richtlinien,  Polhöhen,  Gradnetze  bewußt  sein  muß, 
wenn  anders  sie  die  lebendigen  Veränderungen  der 
Wirklichkeit  begrifflich  vergegenwärtigen  will.  Wenn 
überhaupt,  dann  entdecken  wir  hier  das  mächtige 
Schaltwerk,  wo  wir  selbsttätig  den  Strom  des  Lebens  um* 
schalten  können,  damit  er  nicht  sowohl  von  unbekannten 
Herkunftstellen  zu  uns  selber,  als  vielmehr  auch  gerade 
von  uns  zu  seiner  mutmaßlichen  Herkunftstelle  wieder  zu* 
rückgeleitet  werde.  Und  weil  dem  gerade  so  ist,  werden 
wir  kaum  jemals  mit  voller  Aufrichtigkeit  davon  Abstand 
nehmen  können,  diese  höchst  neuartige,  unerwartete,  außer* 
ordentliche  Gabe  bewußter  Umschaltung  an  sich  zum 
eigentlichen  Ziel,  Zweck,  Sinn  und  Wert  des  Lebens  zu 
machen.  Um  das  sogenannte  virtuelle  Bild  eines  Gegen* 
Standes  zu  erhalten,  muß  man  sich  bekanntlich  die  Licht* 
strahlen  more  geometrico  nach  rückwärts  verlegt  und  das 
Bild  in  dieser  Rückwärtsverlegung  gespiegelt  denken. 
Ganz  ähnlich  müssen  wir  hier  gleichsam  durch  Rückwärts* 
beugung  der  Bewegungrichtungen  des  Lebens  in  unserem 
Bewußtsein  ein  virtuelles  Bild  von  ihm  erzeugen,  um  seiner 
selber  in  seiner  ganzen  Ungeheuern  Fragwürdigkeit  als 
Werden,  Geschichte,  Entwicklung  inne  zu  sein.  Denn 
nicht  das  Leben  als  solches,  nein,  die  Vorstellung  des  Le* 
bens  in  uns  ist  es,  welche  uns  das  Wort  von  der  Zielstrebig* 
keit  und  Eigengerichtetheit  der  organischen  Gesamtbe* 
wegung  immer  wieder  auf  die  Zunge  legt. 

Die  Vorstellung  des  Lebens,  schreibe  ich,  und  nicht  das 

688 


Leben  an  und  für  sich!  Dieser  Umstand  heischt  unsere 
nächste  sorgfältigste  Aufmerksamkeit,  denn  eben  er  zeigt 
uns  die  Stelle  an,  wo  die  organische  Gesamtbewegung  einst» 
weilen  stockt.  Daß  wir  Menschen  in  uns  neben  dem  Leben 
und  seinen  unmittelbaren  Regungen,  Antrieben,  Reizen, 
Spannungen  und  Lösungen  noch  eine  Vorstellung  des 
Lebens  hegen,  ja  sie  mit  Anstrengung,  mit  Leidenschaft  zum 
Begriff  verdichten  mögen,  das  unterscheidet  uns  am  sicher? 
sten  von  der  Unzahl  übriger  Geschöpfe.  In  dieser  Erhebung 
der  unmittelbar  erfahrenen,  erlittenen,  vollstreckten  Lebens* 
Wirklichkeit  zu  einer  erkenntnismäßigen  Vorstellung  tritt 
die  innewohnende  Neigung  alles  Lebens,  über  sich  selbst 
hinauszuzeugen  und  hinauszugebären,  gleichsam  nackt  an 
den  Tag,  —  hier,  wo  sich  das  Leben  im  Bewußtsein  des 
Lebenden  zu  einem  bis  dahin  nirgends  vorgefundenen  Er* 
Leben  wandelt.  Dieses  das  Leben  nunmehr  in  abstracto  vor* 
stellen,  das  Leben  in  abstracto  begreifen,  das  Leben  in  ab» 
stvacto  beurteilen  wollen,  heißt  aber  zugleich  das  Leben 
doch  schon  an  einem  ihm  von  Haus  aus  fremden  Maß 
messen  und  es  einem  ihm  selbst  nicht  mehr  entsprechenden 
Begriff  unterwerfen.  In  unserem  unverdränglichen  Erkennt* 
nistrieb,  der  uns  das  Leben  weniger  mit  Ausschließlichkeit 
zu  leben  als  vielmehr  daneben  noch  zu  verstehen,  zu  be* 
greifen,  zu  erleben  gebietet,  in  ihm  überschlägt  sich  geradezu 
die  stärkste  und  mütterlichste  Tendenz  des  Lebens  zur 
eigenen  Selbstüberschreitung.  Und  kaum  braucht  es  be* 
sonders  vermerkt  zu  werden,  daß  jene  frühere  platonische 
Lehre  von  der  Transzendenz  der  Ideen,  will  heißen  von 
der  Wirklichkeitübersteigung  der  Begriffs*Gesichte  im 
ganzen  und  großen  als  eine  logische  oder  metaphysische 
Fassung  dieses  ungemeinen  Tatbestandes  aufzufassen  ist.  Im 
Begriff,  der  kraft  seiner  Begrifflichkeit  die  Wirklichkeit  trans* 
zendieret,  transzendieret  das  Leben  am  entschiedensten  sich 

44     Ziegler,  Gestaltwandel  der  Götter  689 


selbst  und  seine  Sphäre,  Atmosphäre:  hier  endlich  bringt  es 
die  Urhewegung  seiner  selber  zunächst  und  vorläufig  zum 
gewissen  Stillstand  und  Abschluß.  Weil  und  wofern  das 
Leben  je  und  je  sich  selber  überflügelt,  weil  und  wofern 
das  Leben  im  Begriff  des  Lebens  uns  Menschen  seinen 
tiefsten,  regsten,  heiligsten  Drang  zum  Selbstbewußtsein 
bringt,  muß  just  der  Begriff  die  Wirklichkeit  am  meisten 
und  am  steilsten  übersteigen.  Als  Begriff  des  Lebens  steigert 
sich  Leben  zur  Aufgegebenheit  für  es  selbst  hinauf.  Als 
Begriff  sagt  es  sich  von  einer  Wirklichkeit  los,  in  der  es 
sich  scheinbar  niemals  völlig  heimisch  und  heimatlich  ge* 
fühlt  hat.  Als  Begriff  richtet  es  sein  eigen  Maß,  sein  eigen 
Ziel,  sein  eigen  Wert  auf,  woran  es  fortan  geprüft,  beur* 
teilt,  gemessen  zu  werden  heischt.  Als  Begriff  wird  sich  das 
Leben  fragwürdig  und  bedeutend,  Antwort  und  Deutung 
vom  Begreifenden  unnachlässig  fordernd.  Nicht  anders 
wie  vorhin  die  mechanische  Betrachtungweise  in  der  orga* 
nischen  ihre  unbedingte  Grenze  gefunden  hatte,  indem  die 
auf  geometrische  Gleichsetzungen  zurückzuführenden  Vers 
änderungen  der  Wirklichkeit  in  Veränderungen  anderer 
Art  übergingen,  die  sich  aus  triftigen  Gründen  einer  Dar* 
stellbarkeit  in  Bedingunggleichungen  entwanden;  —  nicht 
anders  findet  jetzt  auch  diese  organische  Auffassung  ihre 
Grenze  schlechtweg,  indem  eine  herkömmlich  .philoso* 
phisch'  genannte  Betrachtungweise  sich  überhaupt  auf 
keine  Veränderungen  der  Wirklichkeit,  auf  keine  Bewe* 
gungen  der  Natur  mehr  bezieht,  sondern  statt  dessen  eine 
Besinnung  anstrebt  auf  die  Begriffswelt  als  solche,  zu  wel= 
eher  die  Wandlungen  des  Lebens  in  der  menschheitlichen 
Vernunft  gleichsam  erstarren  und  kristallisieren.  In  aller 
Bestimmtheit  hebt  sich  somit  von  den  mechanischen  und 
organischen  Wirklichkeitwissenschaften  eine  dritte  Erkennt* 
nisart  ab,  die  ihren  Vorwurf  eben  in  jener  neuen  und  über* 

690 


raschenden  Tatsache  erblickt,  daß  das  Leben  an  und  für 
sich  vom  Menschen  nicht  sowohl  gelebt,  als  vielmehr  er* 
lebt,  erfaßt,  begriffen,  gedeutet,  beurteilt,  gewertet  sein  will. 
Mechanik  und  Organik  sind  sich  darin  einig,  eine  gedankliche 
Bewältigung,  Beherrschung,  Bemeisterung  der  Wirklichkeit 
anzustreben,  ohne  die  gedanklichen  Mittel  zu  dieser  End* 
absieht  als  solche  zu  rechtfertigen  oder  zu  ergründen,  indes 
Philosophie  die  Denkhilfen  der  Vernunft  selber  zu  unter* 
suchen,  zu  sammeln,  zu  vergleichen,  zu  ordnen  trachtet. 
Ihr  Urgegebensein  heißt  nicht  mehr:  natürliche  Verändere 
lichkeit  des  Wirklichen  in  Raum  und  Zeit  je  nach  mecha* 
nischer  oder  organischer  Einstellung  wahrgenommen;  ihr 
Urgegebensein  ist  der  Begriff  selber,  der  sich  in  jenen 
Wissenschaften  von  der  Natur  des  ungeheuren  Unter* 
fangens  erdreistet,  Leben  und  Welt  und  Dasein  vernünftig 
zu  bezwingen.  Immer  und  immer  wieder  bewährt  sich 
darnach  Philosophie  als  eigentliche  Wissenschaftlehre,  als 
Erkenntnis  der  Erkenntnis,  als  EJiicmjjur)  eavxfjg  oder  imorrj/ur} 
emoxijjut]g,  wie  sie  dem  jüngeren  Piaton  erstmals  etwa  im 
Charmides  fragwürdig,  ja  Widerspruch  voll  zu  sein  bedünkt, 
um  sie  jedoch  eben  durch  diese  Erhebung  ins  Proble* 
matische  und  Dialektische  ein  für  alle  mal  ins  Sein  zu 
rufen  .  .  . 

Lassen  wir  indessen  von  dieser  dritten  grundlegenden 
Stellungnahme  des  erkennenden  Subjektes  aus  noch  einmal 
unseren  Blick  zurückschweifen  zu  jenen  szientifischen  Denk* 
mittein,  deren  Inanspruchnahme  besonders  der  Organik  die 
Bewegungen  und  Gestalten  des  Lebens  wissenschaftlich  zu 
beschreiben  und  zu  erklären  helfen  sollte,  so  wird  uns  mög* 
licherweise  die  nachfolgende  Beobachtung  verwunderlich 
sein.  Zu  diesen  Denkmitteln  nämlich,  vom  Naturforscher 
zum  Behufe  einer  durchführbaren  Einteilung  der  orga* 
nischen  Erscheinung  ausgesonnen  und  angewendet,  gehören 

44*  691 


(unter  vielen  anderen)  etwa  auch  die  Vorstellungen  von 
Stamm,  Klasse,  Unterklasse,  Ordnung,  Unterordnung, 
Familie,  Gattung,  Art,  Rasse,  Einzelwesen,  in  welchen 
die  jeweiligen  Hauptmerkmale  der  unter  diese  Begriffe  je* 
weils  fallenden  Unterbegriffe  vereinigt  und  untersucht 
werden,  bis  das  höhere  Ziel  einer  womöglich  lückenlosen 
Darstellung  aller  vorhandenen  Lebewesen  erreicht  ist.  Für 
den  Naturforscher  hat  dabei  der  Gebrauch  derartiger  und 
verwandter  Einteilungformen,  Einteilungformeln  nichts 
weiter  Befremdliches  auf  sich  und  man  sieht  ihn  mit  diesen 
Denkhilfen  umgehen  und  wirtschaften,  wie  man  halt  mit 
einer  unbedenklichen  Sache  umgeht  und  wirtschaftet.  Die 
organische  Gesamtheit  der  tierischen  Lebewesen  zum  Bei* 
spiel  besteht  ihm  ganz  natürlich  aus  solchen  Stämmen, 
Klassen,  Ordnungen,  Familien,  Arten:  in  der  Natur  selbst 
glaubt  er  einen  animalischen  Stamm  wie  die  Zölenteraten, 
einen  Unterstamm  wie  die  Spongien,  eine  Klasse  wie  die 
Poriferen,  eine  Ordnung  wie  die  Kalzispongien  vorhanden, 
—  und  so  fort.  In  der  Natur  und  nirgendwo  sonst  vermutet 
er  eine  den  begrifflichen  Bestimmtheiten  dieser  abgestuften 
Vorstellungen  jeweils  gleichende  Wirklichkeit,  sei  es,  daß 
er  in  instinktiver  Anlehnung  an  die  realistischen  Auffas* 
sungen  des  Mittelalters  den  Gattung*  und  Artbegriffen  doch 
irgendwie  ein  Dasein  oder  eine  Wirklichkeit  einräumt,  sei 
es,  daß  er,  (kritisch  vermeintlich  gewitzter)  der  Natur  zwar 
keine  durchgängig  wirkliche  Entsprechung  jener  Begriffe, 
doch  aber  eine  mehr  oder  weniger  bestimmte  und  bestimm* 
bare  Beziehunggrundlage,  ein  sogenanntes  fundamentum 
relationis  unterstellt:  ohne  sich  freilich  im  einen  oderande* 
ren  Fall  tiefere  Gewissenszweifel  über  den  wahrheitgemäßen 
Sachverhalt  zu  leisten.  Seinen  wissenschaftlichen  Zwecken 
genügt  es,  wenn  er  in  jedem  einzelnen  Lebendigen  die  mit 
den  Begriffen  seiner  Rasse,  Art,  Gattung,  Familie,  Ordnung, 

692 


Klasse,  Stamm  erfahrungmäßig  zu  verknüpfenden  Haupt* 
merkmale  aufzuweisen  in  stand  gesetzt  ist,  —  wenn  er  also 
etwa  in  Einhelligkeit  mit  unserem  vorigen  Beispiel  von 
einem  im  Meer  aufgefischten  Schwamm  folgendes  auszu* 
sagen  berechtigt  ist:  Nerven,  Muskeln,  Sinneswerkzeuge 
fehlen  sozusagen  vorschriftmäßig;  ein  pflanzenähnlicher, 
aus  Bindegewebmassen  bestehender  Körper  ist  von  viel* 
fältigen  Hohlgängen  und  Geißelkammern  durchwunden; 
die  Ernährung  geht  vor  sich  durch  feine  Poren  einer  über 
das  Innere  der  Bindegewebmassen  gestülpten  Oberflächen* 
Schicht;  die  Fortpflanzung  geschieht  durch  Teilung  oder 
Knospung  .  .  .  Kann  der  Beobachter  solches  und  noch 
etliches  mehr  mit  Recht  von  dem  aufgefischten  Tier  behaup* 
ten,  so  ist  dies  eben  als  Schwamm  gebührend  gekennzeich* 
net  und  in  die  Anzahl  der  seine  Art  umschreibenden  Ober* 
begriffe  eingereiht.  Gewiß  bleibt  die  Bildung  der  Art*  und 
Gattungbegriffe  abhängig  von  einer  fortschreitenden  Zu* 
sammensichtung  gemeinschaftlicher  Merkmale,  die  bei  den 
einzelnen  organischen  Exemplaren  zur  Beobachtung  ge* 
langen,  und  wenn  man  nie  erfahren  oder  wahrgenommen 
hätte,  daß  gewisse  Einzelschwämme  ein  Grundgerüst  aus 
Kieselsäure,  gewisse  andere  dagegen  ein  solches  von  Kalk 
besäßen,  niemals  würde  man  die  Klasse  der  Poriferen  in 
die  zwei  Ordnungen  Silizispongien  und  Kalzispongien  auf* 
geteilt  haben.  Auf  anderer  Seite  ist  jedoch  nicht  außer  acht 
zu  lassen,  wie  diese  einmal  fertig  geprägten  Art*  und  Gat* 
tungbegriffe  jedem  einzelnen  unter  sie  fallenden  Lebewesen 
gewissermaßen  mit  einer  Forderung,  mit  einem  Anspruch,  mit 
einem  Befehl,  mit  einem  Sollen  gegenübertreten,  wonach  es 
die  feststehenden  und  festgestellten  Merkmale  der  Art*Gat* 
tung  schlechterdings  zu  befriedigen  hat,  um  überhaupt  unter 
sie  befaßt  oder  von  ihnen  umspannt  zu  werden.  Gesetzt,  man 
fischte  einen  Schwamm  im  Meere,  der  weder  ein  Skelett  aus 

693 


Kieselsäure,  noch  eines  aus  Kalk,  sondern  zur  Abwechslung 
einmal  eins  aus  Elfenbein  aufwiese,  so  wäre  ihm  ohne  weite* 
res  die  Aufnahme  in  die  bisher  bekannten  Ordnungen  der 
Kiesel*  oder  Kalkschwämme  zu  verweigern  und  ihm  das 
Schema  einer  neuen  Ordnung  zu  eröffnen:  und  zwar  darum, 
weil  er  dem  sozusagen  imperativen  Zwang  der  bislang  aufge* 
stellten  Oberbegriffe  mit  Eigensinn  widerstrebt.  Genau  aber 
dieser  Charakter  naturwissenschaftlicher  Ordnungbegriffe 
ist  es,  der,  sehr  weit  über  alle  naturwissenschaftlichen  Be* 
griffsbildungen  hinausgreifend,  in  uns  die  sehr  allgemeine 
Erkenntnis  vorbereitet,  daß  das  Verhältnis  jeder  Begrifflich* 
keit  zu  ihrer  angenommenen  oder  gesuchten  Wirklichkeit 
ohne  Ausnahme  als  ein  im  philosophischen  Wortverstand 
sollendes,  befehlendes,  Geltung  heischendes,  imperatives 
aufzufassen  ist.  Jede  begriffliche  Vorstellung  gebietet  ihrer 
wirklichen  Entsprechung,  allen  dort  zusammengezogenen, 
gesammelten,  vereinigten,  in  eins  gesichteten  Merkmalen 
durchaus  zu  genügen,  widrigenfalls  jedes  Anwendungrecht 
des  Begriffes  auf  die  ihm  zugeordnete  Erlebnisgegebenheit 
automatisch  erlischt. 

Diese  seltsame  Spannung  zwischen  Begriff  und  Wirklich* 
keit,  fast  wie  die  atmosphärische  Spannung  zwischen  Glas* 
und  Harzelektrizitäten  auf  einen  Ausgleich  immer  wieder 
drängend  und  in  der  Tat  auch  allerlei  logische,  allerlei  szien* 
tifische  Gewitter  mit  Donner,  Blitz,  Platzregen  wohltätig 
von  Zeit  zu  Zeit  verursachend,  —  sie  wird  allerdings  dort 
noch  allzu  leicht  übersehen,  wo  wir  innerhalb  der  Arten 
und  Gattungen  selbst  noch  keine  Unterschiede  zwischen 
den  einzelnen  Geschöpfen  zu  machen  pflegen;  wo  uns  mit* 
hin  der  nicht  unwichtige  Umstand  allzu  leicht  entgeht,  daß 
keineswegs  jeder  Vertreter  einer  Art  diese  selbst  in  gleicher 
Angemessenheit  zu  vertreten  geeignet  ist.  In  der  unbelebten 
Natur,  wo  das  wissenschaftliche  Herkommen  noch  gar  nicht 

694 


von  Gattungen  und  Arten  zu  reden  gewohnt  ist,  gehört  ein 
Stück  aufgelesenen  Gesteins  etwa  mineralogisch  zur  ,Art' 
Hornblende,  wenn  es  chemisch  aus  Kieselsäureverbindun* 
gen,  sei  es  aus  kieselsaurer  Magnesia,  aus  kieselsaurem  Eisen, 
Kali  oder  Natron  zusammengesetzt  ist,  einerlei,  ob  übrigens 
dies  Stück  groß  oder  klein,  rund  oder  spitz,  mit  anderen 
Gesteinen  gemengt  oder  rein  sei;  —  ob  auch  schon  hier, 
(wir  streiften  dies  Problem  vorhin  im  Vorbeigehen),  der 
Begriff  des  besseren  oder  schöneren  Exemplars  hereinzu* 
spielen  beginnt,  sobald  wir  unsere  Aufmerksamkeit  den 
Ausprägungen  der  kristallischen  Erscheinung  eines  der* 
artigen  Minerals  zuwenden.  In  der  eigentlich  so  benannten 
.organischen'  Natur  hingegen  liegt  es  schon  durchaus  im 
praktisch*pragmatischen  Interesse  der  Züchtung  nützlicher 
oder  schöner  Pflanzen,  nützlicher  oder  schöner  Tiere,  daß  die 
Aufmerksamkeit  des  Betrachtenden  gerade  auf  individuelle 
Verschiedenheiten  gerichtet  werde.  Eine  besondere  Kenner* 
schaft  entwickelt  sich  hinsichtlich  der  Vorzüge  und  Nach* 
teile  bestimmter  vegetativer  und  animalischer  Individuen, wo* 
bei  ein  begründeter  Zweifel  nicht  aufkommen  kann,  daß  die 
verschiedenen  Grade  hinaufgezüchteter  Vollkommenheiten 
der  Einzelwesen  an  einem  imperativisch  und  normativ  ge* 
dachten  Inbegriff  von  Art,  Abart,  Spielart,  Rasse  gemessen 
werden.  Mögen  diese  züchterischen  Absichten,  die  bei 
solchen  Verfahrungweisen  in  einem  sehr  buchstabengetreuen 
Wortsinn  .maßgeblich'  erscheinen,  immerhin  beträchtlich 
auseinandergehen,  indem  die  Züchter  von  Tulpenzwiebeln, 
Zentifolien,  Azaleen  ausschließlich  ästhetische,  die  Züchter 
von  Wollschafen,  Milchkühen,  Zugbüffeln  ausschließlich 
utilistische,  die  Züchter  von  Rennpferden  oder  Vorsteh* 
hunden  ausschließlich  sportliche  Zwecke  .verfolgen  und 
dennoch  den  Begriff  der  edelsten  Zentifolie,  der  ergiebigsten 
Milchkuh,  des  geschwindesten  Rennpferdes  nach  sehr  ver* 

695 


schiedenen  Gesichtspunkten  festlegen:  durchaus  gemeinsam 
bleibt  ihnen  jedoch,  daß  sie  das  einzelne  Exemplar  ein* 
schätzen  nach  dem  Grade,  wie  es  sich  dem  zum  Ideal  er* 
hobenen  Gattungbegriff  annähert.  In  diesem  Bestreben  des 
Züchters,  möglicherweise  Die  Zentifolie,  Die  Milchkuh, 
Das  Rennpferd  schlechtweg  zu  erzielen  und  im  einzelnen 
Vertreter  seiner  Art  alle  erwünschten  Eigenheiten  dieser 
letzteren  mit  einem  Schlag  zu  verwirklichen,  gelangt  aber 
auch  unser  innerstes  Verhältnis  zu  den  Ordnungvorstellun* 
gen  der  Natur  überhaupt  zum  Ausdruck,  wofern  wir  alle, 
ohne  Züchter  zu  sein  oder  sein  zu  wollen,  willkürlich  oder 
unwillkürlich  jedes  Spezimen  seiner  Spezies  mit  seiner  Idee 
als  mit  seinem  Ideal,  seiner  Norm,  seinem  Imperativ  ver* 
gleichen,  wie  sich  diese  in  den  begrifflichen  Zusammen* 
Sichtungen  allgemeiner  Merkmale  jeweils  niedergelegt  fin* 
den.  Und  diese  Gepflogenheit  dürfen  wir  vielleicht  in  der 
Tat  als  eine  höhere  Rechtfertigung  des  vielmals  gerügten 
Verfahrens  von  Charles  Darwin  erachten,  wenn  er,  begna* 
deter  Beobachter  aber  voreiliger  oder  unzulänglicher  Den* 
ker,  das  Leben  gleichsam  mit  den  Voraussetzungen  des 
Züchters  zu  bewältigen  strebt  und  dieselbe  Ursache  gestei* 
gerter  organischer  Typen  in  der  absichtlosen  Natur  wie  in 
der  absichtvollen  Praxis  aufzeigen  zu  können  wähnt.  Wenig* 
stens  liegt  es  offenbar  schon  in  den  Interessen  der  künst* 
liehen  Züchtung  begründet,  wenn  wir  pflanzliche  oder 
tierische  Individuen  auf  ihre  verschiedene  Eignung  hin 
prüfen  und  beurteilen,  die  sie  zur  mehr  oder  minder  ange* 
messenen  Vertreterschaft  ihrer  Art  befähigt,  und  wenn  wir 
solchermaßen  ganz  unvermerkt  jedem  Einzelwesen  den 
Ordnungbegriff,  dem  es  zugehört,  als  seine  Norm  und  seinen 
Imperativ  heischend,  fordernd,  befehlend  gegenüberstellen. 
Über  jedes  Stück  Leben  spannt  sich  von  jetzt  an  in  idea* 
lischerVollkommenheit  die  spezifische  Begriff  lichkeitdessen, 

696 


was  es  möglicherweise  sein  könnte  und  sein  sollte,  den 
Komplex  seiner  Eigenschaften  nach  Graden  der  individu* 
eilen  Vorzüglichkeit  stufend.  An  jedes  natürliche  organische 
Geschöpf  ergeht  die  Forderung,  in  sich  die  normative  Form 
seines  jeweiligen  Typus  tunlich  zu  verwirklichen.  Jedem 
Glied  im  Zusammenhang  erschaffener  Gestalten  ruft  der 
vernünftige  Ordner  der  Welt,  der  Menschengeist,  unhörbar 
und  dennoch  nicht  zu  überhören  zu:  werde  alles,  was  du 
deiner  Art  nach  bist;  sei  alles,  was  du  deiner  Art  nach  sein 
kannst;  stimme  überein  mit  deinem  eigenen  Begriff  und 
unterwirf  dich  unbedingt  seinen  ewigen  Verpflichtungen. 
Wer  da  als  Pflanzentier,  Wurm,  Käfer,  Vogel,  Fisch  ent* 
standen  ist,  der  trachte  auf  seine  Weise  unablässig  darnach, 
Pflanzentier,  Wurm,  Käfer,  Vogel,  Fisch  ganz  und  gar,  in 
jedem  Hauch,  in  jedem  Zug  zu  sein.  Und  wer  da  als  Mensch 
etwa  männlich  und  dazu  deutsch  geboren  wurde,  der  bleibe 
sich  fortan  stets  klar  bewußt,  daß  Deutscher,  Mann  und 
Mensch,  in  ihren  Ansprüchen  jede  endliche  Gegebenheit 
unendlich  überflügelnd,  dennoch  ihre  Verkörperlichung 
nach  besten  Kräften  des  Wollens  und  Vollbringens  von 
ihm  heischen  .  .  . 

So  werden  wir  hier  von  der  doch  nicht  ganz  unerheb* 
liehen  Tatsache  überrascht,  dem  scheinbar  abenteuerlichen 
Gedanken  des  mittelalterlichen  Realismus  von  den  söge* 
nannten  .Graden*  des  Wirklichseins  möchte  eine  gewisse  inne* 
wohnende  Wahrheit  nicht  durchgängig  abzuerkennen  sein. 
Es  gibt  wahrhaftig  in  gewissem  Sinn  verschiedene  Grade 
der  Wirklichkeit,  die  zugleich  verschiedene  Grade,  verschie* 
dene  Abstufungen  begrifflicher  Allgemeinheit  sind,  —  und 
zwar  insofern,  als  es  Stufen  der  Verwirklichung  gibt,  in 
welchen  ein  pflanzliches  oder  tierisches  Lebewesen  die 
Eigenheiten  seiner  Gattung  zu  jeweiliger  Verlebendigung 
bringt.   Der  individuelle  Organismus  ist  in  desto  höherem 

697 


Grad  zugleich  ein  .Allgemeines',  nämlich  ein  Vertreter  und 
Stellvertreter  seiner  Rasse,  Spielart,  Abart,  Art,  je  geringer 
die  Spannung  zwischen  seiner  eigenen  Erscheinung  und 
der  begrifflichen  Ineinandersichtung  seiner  artwichtigen 
Merkmale  ist.  Und  umgekehrt  bleibt  der  individuelle  Orga* 
nismus  um  so  mehr  zur  Kümmerlichkeit,  Bedeutunglosig* 
keit,  Stiefmütterlichkeit  verurteilt,  desto  weniger  er  die 
Förderung  seiner  gedanklich  umschriebenen  Gattunggestalt, 
seiner  gleichsam  ihm  von  der  Natur  selber  auferlegten  Nor* 
malität  befriedigt.  Wir  sehen  jede  naturgegebene  Einzeln* 
heit  in  dem  Maß  Bedeutsamkeit,  Wichtigkeit,  Lebensbreite 
gewinnen,  als  sie  sich  den  spezifischen  Allgemeinheiten  und 
Begrifflichkeiten  annähert,  die  von  der  Vernunft  erfunden, 
gegründet  und  errichtet  sind  zum  Behuf  einer  möglichen 
Bemeisterung  des  Lebens  und  seiner  Wirklichkeiten  durch 
den  Gedanken:  dies  ungefähr  ist  die  unverlierbare  Richtig* 
keit  des  scholastischen  Realismus  von  den  verschiedenen 
Staffeln,  Graden  und  Stufen  des  Wirklichseins,  eine  Richtig* 
keit,  die  sich  über  alle  Anfechtungen  nominalischer  Epochen 
durchgesetzt  hat  und  durchsetzen  wird.  Was  aber  uns  selbst, 
uns  Menschen  und  menschheitliche  Art  als  solche  betrifft, 
so  entnehmen  gerade  wir  der  Vorstellung  unserer  spezi* 
fischen  Qualität  mit  ihren  zahllosen  leiblichen,  geistigen, 
seelischen  Bestimmungen  und  Kennzeichen  den  letzten  An* 
trieb  zur  Höhersteigerung  unserer  lebendigen  Grundform: 
wir  werden  uns  nicht  nur  der  imperativen  und  idealischen 
Normalitäten  aller  außer*  und  untermenschlichen  Artbe* 
griffe  bewußt,  um  nach  ihnen  die  einzelnen  Verkörperungen 
des  Lebens  zu  schätzen  und  zu  eichen,  sondern  wir  besinnen 
uns  daneben  auf  die  imperativ* idealischen  Normalitäten 
unserer  eigenen  Art,  um  uns  im  Vergleich  zu  ihnen  stets 
und  stets  wieder  über  uns  selbst,  über  unsere  empirische 
Existenz  zu  erheben  und  im  Ablauf  unserer  inneren  Ge* 

698 


schichte  mit  der  Zeit  alles  zu  werden,  was  wir  unserer  Art 
nach  überhaupt  werden  sollen  und  werden  können.  Jedem 
Einzelnen  unter  uns  tritt  die  Vorstellung  seiner  Art  irgend* 
wie  mahnend,  billigend,  spornend,  absagend,  richtend,  ver* 
werfend,  beschämend,  strafend,  sühngebietend  gegenüber 
und  unhörbar*unüberhörlich,  wie  ich  schon  sagte,  flüstert 
ihm  eine  Stimme  ein,  ganzer  Mensch,  ganzer  Mann,  ganzes 
Weib,  ganzer  Bürger,  ganzer  Künstler,  ganzer  Bauer,  gan* 
zer  Priester,  ganzer  Führer  je  und  je  zu  sein.  In  unendlichen 
Verzweigungen,  Vervielfältigungen,  Zuspitzungen,  Anord* 
nungen,  Vermischungen  ist  es  immer  wieder  der  Gedanke 
einer  spezifischen  Begrifflichkeit,  der  zwischen  sich  und 
unserer  zufälligen  Existenz  eine  Spannung  herstellt,  unter 
welcher  allein  ein  Leben  im  menschlichen  Sinne,  will  heißen 
eine  persönliche  Erweiterung,  Ereiferung,  Aufgipfelung,  Er* 
mächtigung,  Ertüchtigung,  Ausbreitung,  Erziehung,  Entfal* 
tung,  Veredelung,  Läuterung,  Selbstbestimmung,  Ichgestal* 
tung,  Weltbereicherung,  Triebentwicklung,  Seelergreifung, 
Schicksalformung,  Herzensstillung,  Wertbejahung,  Sachbe* 
glückung,  Gemeinschaftfriedigung  gedeiht.  Demselben  Ge* 
danken  danken  wir  die  Nötigung  (ich  könnte  auch  sagen 
die  Freiheit),  uns  selbst  als  höhere  Möglichkeit  der  orga* 
nischen  Natur  auf  höheren  Ebenen  zu  verwirklichen;  — 
und  wollte  man  ihn  mit  ganzer  Energie  vollends  zu  Ende 
denken,  so  gewahrte  schließlich  jeder  Einzelne  von  uns  als 
letzte  und  verdichteste  Normalität  in  seiner  guten  Stunde 
etwas  wie  ein  ergreifend  geschautes  Ur*  und  Musterbild 
der  eigenen  Person  und  Eigenheit  als  seine  eigenste  Art 
und  Gattung:  die  platonische  Idee  dessen,  was  er  selbst  sein 
könnte  und  sein  müßte  im  Vergleiche  mit  sich  selbst,  im 
Vergleiche  mit  seinem  Selbst;   sein  eigenes  Gesicht,  nur 
wundersam  geglättet,  veredelt  und  verschönt  im  Spiegel 
gedanklicher  Vollkommenheit:    sozusagen  bei   Lebzeiten 

699 


noch  die  Maske  des  eigenen  Todes  und  der  eigenen  Voll* 
bringung . . .  Daß  mithin  jeder  Einzelne  sich  gleichsam  als 
Allgemeines  seiner  besondertsten  Besonderheit  vorstellig 
zu  werden  vermag,  daß  jeder  sich  gewissermaßen  Modell, 
Begriff,  Art,  Norm,  Idee  und  Ideal  zu  sein  vermag,  —  dies 
ist  wahrscheinlich  das  staunenswürdigste  Paradox  des  Tat* 
bestandes,  wonach  jeder  Begriff  der  zugeteilten  Wirklich* 
keit  ein  Sollen  auferlegt.  Braucht  es  dabei  noch  ausdrück* 
liehen  Hinweises,  wie  wir  hiermit  (zwar  etwas  scheu)  an  die 
Wurzel  aller  menschheitlichen  Gesittung  rühren,  die,  wenn 
sie  anders  diesen  Namen  überhaupt  verdient,  zu  allen  Zeiten 
humanistischer  Beschaffenheit  war  und  humanistischer  Be* 
schaffenheit  (nach  Überstand  gegenwärtiger  Katastrophe) 
wieder  sein  wird,  —  weil  sie  eben  zu  allen  Zeiten  dem  Men* 
sehen  ,im  Fleisch'  den  Menschen  ,im  Geist',  will  sagen  dem 
bloßen  Wirklichsein  das  Seinsollen  vor  die  Seele  hält? 
Braucht  es  etwa  noch  weitläufiger  Auseinandersetzungen, 
wie  hier  und  hier  allein  der  Mensch  sich  selbst  zum  Maß 
wird,  ja,  wie  er  der  sokratischen  Parodie  auf  des  großen 
Protagoras  äv$Qcojios  Jiävrcov  xQrjfxdrcov  juetqov  zum  Trotz 
gerade  in  einem  einwandfrei  platonischen  Wortverstand 
Maß  der  Dinglichkeiten  überhaupt  wird?  Wie  wir  uns 
lediglich  von  hier  aus  angetrieben,  von  hier  aus  bewegt 
fühlen  können  zu  jenen  immerwährenden  Selbstüber* 
Windungen  und  Selbsterhebungen,  Selbstverleugnungen 
und  Selbstverwirklichungen,  deren  zeitlicher  Ablauf  doch 
wohl  das  einzige  ist,  was  die  Bezeichnung  einer  wesenhaft 
menschheitlichen  Geschichte  im  Gegensatz  zu  aller  sonstigen 
»Geschichte  überhaupt'  verdient?  Wie  eben  diese  Art  von 
Geschichte  nur  stattfindet  insoweit,  als  Menschen  in  unzähl* 
bar  mannigfaltigen  Brechungen  und  Beugungen  und  Ab* 
Wandlungen  die  höchste  irdische  Weltgestalt,  Eingestalt, 
Wertgestalt  Der  Mensch  in  sich  herausarbeiten?  Wie  endlich 

700 


wir,  zum  einschneidendsten  Unterschied  von  allem,  was 
nicht  unserer  Herkunft  und  Gattung  ist,  die  eigene  Spezies 
nicht  sowohl  (nach  dem  Vorgang  der  ganzen  übrigen  Na* 
tur)  in  eine  andere  Spezies  abzuändern  streben:  als  vielmehr 
diese  selbst  erstmalig  in  sich  selbst  in  des  Begriffes  strenger 
Urbedeutung  zu  entwickeln,  höher  zu  steigern,  zu  vervoll* 
kommnen,  zu  überstufen  gedenken? 

Steht  es  indessen  gewißlich  so,  daß  jede  Allgemeinvor* 
Stellung  artwichtiger  Merkmale  im  Vergleich  zu  den  einzel* 
nen  Gegebenheiten  der  Erfahrung  und  des  Bewußtseins 
als  ein  Sollen  aufzufassen  ist,  jeder  erdenkliche  Begriff  aber 
schon  von  Haus  aus  eine  Vorstellung  von  spezifischer  All* 
gemeinheit  selbst  dort  einschließt,  wo  er  im  höchsten  Grad 
besondert,  verdichtet,  verpersönlicht  erscheint:  dann  liegt 
es  durchaus  folgerichtig  innerhalb  der  Möglichkeitgrenzen 
jeden  Begriffes,  einen  normativen  und  imperativen  Akzent 
anzunehmen,  dann  kann  jeder  Begriff  einen  werthaften 
(axiologischen)  Charakter  annehmen  und  sich  als  Wert* 
begriff  dartun.  Wir  bemerkten  es  schon  bei  den  naturwissen* 
schaftlichen  Ordnungvorstellungen,  daß  sich  jede  von  ihnen 
zu  den  einzelnen  Wahrnehmungerlebnissen,  zu  den  einzel* 
pflanzlichen  oder  einzeltierischen  Wirklichkeiten  gewisser* 
maßen  als  eine  Forderung  und  Verpflichtung  verhalte,  der 
jene  genügen  müssen,  wofern  sie  darunter  befaßt  werden 
wollen.  Während  sich  jedoch  hierbei  der  Naturforscher 
immerhin  noch  mit  einer  ungefähren  und  annähernden  Ent* 
sprechung,  mit  einer  festzustellenden  Übereinstimmung  in 
den  Hauptmerkmalen  bescheidet  und  bescheiden  darf,  legt 
im  Gegensatz  der  Philosoph,  der  Axiologe,  der  Wert  wissen* 
schafter  den  stärksten  Nachdruck  auf  die  unausgleichbare 
Spannung  zwischen  den  beiden  äußersten  Polaritäten  des 
Bewußtseins,  zwischen  Dinglichkeit  und  Begrifflichkeit, 
Sosein  und  Soseinsollen.    Denn  an  dem  Erlebnis  dieser 

701 


Spannung  allein  geht  ihm  der  grundsätzliche  Sachverhalt 
auf,  daß  in  jedem  ideellen  Gebild,  sei  es  welcher  Beschaffen* 
heit  auch  immer,  eine  idealische,  eine  axiologische  Latenz 
steckt,  die  kraft  menschheitlichen  Wollens  in  einen  Zustand 
der  Aktualität  übergeführt  werden  kann.  In  jedem  Begriff 
liegt  ein  Anspruch  auf  Wertverwirklichung  eingebettet;  jede 
Idee  ist  gleichsam  dynamisches  Potential  eines  in  keiner 
Realität  zwar  gegebenen  aber  doch  irgend  einer  Realität 
aufgegebenen  Ideales :  und  eben  diese  innerlich  spannende 
Potenz  oder  Latenz  der  Begriffe ,  die  sie  als  Willensziele 
möglicher  Verwirklichungen  kenntlich  macht,  pflegen  wir 
mit  dem  Ausdruck  ,Wert'  zu  bezeichnen.  Jeder  Begriff  kann 
im  Verhältnis  zu  seiner  wirklichen  Entsprechung  als  ein 
Willensziel  dessen  auftreten,  der  seiner  seelischen  Gesamt* 
haltung  nach  überhaupt  eines  Willenszieles  fähig  ist;  jede 
Idee  kann  als  idealische  Latenz  schlummernde  Energien  und 
verborgene  Tendenzen  zu  gewaltigster  Betätigung  drängen; 
in  jeder  gedanklichen  Ineinandersichtung  kann  das  ent* 
halten  sein,  was  Kräfte  des  Leibes  und  Geistes  ins  Unend* 
liehe  zusammenrafft  zu  Werk,  Tat,  Vollzug  und  Leistung. 
In  diesem  Betracht  steht  es  dem  Bewußtsein  anheim,  jeden 
beliebigen  Begriff  als  einen  noch  unverwirklichten,  unent* 
bundenen,  unverweltlichten  Wert  zu  nehmen,  indem  jeder 
Denkinhalt  als  solcher  unter  Umständen  unseren  Willen 
zu  bestimmen,  unsere  Trägheit  fortzureißen,  unsere  Ge* 
sinnung  zu  ändern,  unsere  Zuständlichkeit  zu  vervoll* 
kommnen,  unsere  Freiheit  in  Gesetzmäßigkeit  zu  überführen 
geeignet  ist.  Raffe  ich  ganz  aufs  Geratewohl  eine  Hand* 
voll  Begriffe  zusammen  wie  Heimat,  Frühling,  Lust,  Friede, 
Anstand,  Jugend,  Landschaft,  Achtung,  Liebe,  Persönlich* 
keit,  Wahrheit,  Glanz,  Offenbarung,  Armut,  Staat,  Ehe, 
Einsicht,  Tugend,  Macht,  Gesundheit,  Besitz,  Erkenntnis, 
Prüfung,  Sitte,  Gewohnheit,  Einheit,  Arbeit,  Wirtschaft:  so 

702 


ist  offenbar  kein  einziger  unter  ihnen,  der  nicht  als  ein  Wert, 
als  ein  Willensziel,  als  ein  Geltensollen  aufgefaßt  werden 
könnte.  Denkinhalte  wie  Lust,  Friede,  Jugend,  Persönlich* 
keit,  Ehe,  Besitz  gelten  genau  in  dem  Augenblick  für  wert* 
voll,  wo  das  Bewußtsein  ihres  transzendierenden  und  idea* 
lischen  Charakters  inne  wird  und  aus  dieser  Erkenntnis  den 
Antrieb  zu  ihrer  Verwirklichung  empfängt.  In  jedem  dieser 
Begriffe  ruht  eine  Anforderung,  welcher  kein  erfahrbares 
Dasein  erschöpfend  oder  auch  nur  angemessen  entspricht; 
von  keiner  dieser  Anforderungen  steht  es  von  vornherein 
fest,  daß  sie  nicht  sogar  zum  Rang  ganz  unbedingter  Gültig* 
keiten  oder  zum  Rang  von  absoluten  Werten  gesteigert 
werden  dürfen  oder  können.  Lust,  Friede,  Jugend,  Person* 
lichkeit,  Besitz  werden  an  und  für  sich  in  der  Wirklichkeit 
nicht  weniger  vermißt  wie  Frühling,  Achtung,  Liebe,  Wahr* 
heit,  Staat,  Tugend,  Erkenntnis,  Wirtschaft,  sobald  einmal 
ihre  wirklichkeitüberschreitende  Bedeutung  feststeht:  sie 
alle  besonnen  das  Wirkliche,  Nur* Wirkliche  mit  den  Aus* 
Strahlungen  eines  unbekannten  Himmels,  nach  welchem  sich 
übrigens  die  lautersten  Gemütskräfte  von  Tag  zu  Tag  immer 
wieder  drehen,  wenden,  schrauben  wie  Sonnenblumen* 
Scheiben  nach  dem  Gepräng  des  Lichtes.  Sie  dünken  uns 
wertvoll,  weil  sie  das  plus  ultra  aller  Wirklichkeiten  sind, 
und  dieser  Tatbestand  erstreckt  sich  auf  alle  gedanklichen 
Gebilde  ohne  jede  Ausnahme.  Insbesondere  sind  auch  die 
logischen  Umkehrungen  und  Gegensetzungen  dieser  (wie 
gesagt  nur  so  eben  aufgerafften)  Begrifflichkeiten  durchaus 
der  nämlichen  werthaften  Auszeichnung  fähig,  —  auch  sie 
befinden  sich  gleichsam  im  Zustand  einer  axiologischen 
Ruhelage,  um  nach  Belieben  des  wertsetzenden  Subjektes 
in  den  Zustand  axiologischer  Bewegtheit  und  Wirksamkeit 
überzugehen.  Denn  wer  wollte  mit  gutem  Gewissen  in  Ab* 
rede  stellen,  daß  etwa  statt  der  Lust  Unlust  und  Leid,  statt 

703 


der  Jugend  das  Alter  und  der  Tod,  statt  der  Macht  die  Ohn* 
macht,  statt  der  Gesellschaft  die  Einsamkeit,  statt  des  Be* 
sitzes  die  Armut,  statt  der  Achtung  die  Schmach  mit  nicht 
geringerer  Berechtigung  als  Werte,  freilich  als  Werte  mit 
verneinendem  Vorzeichen,  anerkannt  und  unter  besonderen 
Umständen  zu  der  Bedeutsamkeit  angestrebter  Normen  und 
Ideale  erhoben  werden  könnten?  Sehen  wir  doch  in  zahl* 
losen  Fällen  solche  und  ähnliche  Gegen*Werte  die  Willens* 
ziele  von  Menschen  sein,  die  der  satanische  Ehrgeiz  gepackt 
hat,  in  der  Verneinung  und  Widersetzung  zur  Vollkommen* 
heit  fortzuschreiten :  und  möglicherweis  wäre  es  einer  furcht* 
losen  philosoph*axiologischen  Untersuchung  gar  nicht  ganz 
unwürdig,  bei  Gelegenheit  einmal  darzustellen,  in  welchem 
Maß  die  humane  Vergangenheit  und  Gegenwart  diesem 
wundersamen  Fanatismus  verfallen  erscheint  und  wie  furch* 
terlich  tief  der  Wunsch  zur  Erniedrigung,  Vernichtung, 
Verkehrung,  Entstellung,  Schändung,  Entmenschung  unse* 
rer  Gattung  eingefleischt  ist  .  .  .  In  unleugbar  schönfärbe* 
rischer  Beflisssenheit  ist  dieser  eiserne  Tatbestand  bisher 
mit  Vorliebe  übertüncht  worden,  obschon  mancherlei  Ver* 
suche  insbesondere  in  der  deutschen  Philosophie  des  ver* 
flossenen  Jahrhunderts  zu  erwähnen  wären,  wo  das  Dis* 
angelion  der  menschlichen  Gegenwertung  eindringlich  und 
erschütternd  eintönig  von  Schopenhauer  und  seinen  Jüngern 
Bahnsen,  Mainländer,  Hartmann  gesungen  worden  ist.  Und 
wenn  es  seither  ganz  auffälligerweise  in  der  Ästhetik, 
dieser  bevorzugten  Wertwissenschaft  von  gestern,  nicht  an 
Versuchen  fehlt,  etwa  das  sogenannte  Häßliche  als  einen  an 
und  für  sich  zu  billigenden,  ja  sogar  geforderten  Gegenwert 
des  sogenannt  Schönen  für  die  Gestaltung  sowohl  als  für  die 
Betrachtung  zuzulassen  oder  die  axiologische  Antithesis 
Schön*Häßlich  in  einer  Synthesis  einzuschmelzen,  so  gehört 
auch    dies    zu   den  hoffnungvollen  Anzeichen  eines  sich 

704 


meldenden  tieferen  Ernstes  in  der  Behandlung  werthafter 
Fragen.  Dies  jedoch  in  Klammer,  haben  wir  hier  vor  allem 
darauf  zu  achten,  daß  die  Werthaftigkeit  und  Werthaltig* 
keit  jedes  beliebigen  Denkinhaltes  wenigstens  grundsätzlich 
in  Anschlag  gebracht  bleibe  und  daß  die  Besinnung  darauf 
als  die  Kernaufgabe  und  Kernleistung  der  abendländischen 
Philosophie,  der  abendländischen  Axiologie  begriffen  und 
ergriffen  werde:  Philosophie  ist  Wertwissenschaft,  Wert* 
erkenntnis,  Wertprägung,  seitdem  sie  sich  und  uns  den 
»Begriff  des  Begriffes',  will  heißen  die  normative  und  im= 
perative  Latenz  jeder  gedankenhaften  Ineinandersichtung 
zu  Bewußtsein  gebracht  hat.  Von  dieser  platonischen  Per* 
spektive  her  —  und  da  hilft  kein  Wider*den*Stachel*löcken : 
die  platonische  Perspektive  ist  hier  die  europäische  und  wird 
es  für  die  Dauer  einer  jeglichen  Europäerschaft  sein!  —  von 
diesen  hintergrundreichen,  hintergrundtiefen  Adspekten  her 
beginnt  sich  dann  der  Unterschied  der  dritten  Wissenschaft* 
geschichtlichen  Typik  von  den  beiden  anderen  deutlicher 
abzuheben,  die  wir  vorhin  als  Mechanik  und  Organik  (in 
gröbsten  Umrissen  wenigstens)  hinzuzeichnen  trachteten. 
Nunmehr  verbietet  es  freilich  unsere  jetzige  Auffassung 
schlankweg,  Philosophie  etwa  weiterhin  noch  auf  den  Wert* 
dreiklang  der  vielberufenen  Ideale  des  Wahren,  Guten, 
Schönen  allein  aufbauen  zu  wollen,  wie  das  die  offene  oder 
heimliche  Neigung  des  deutschen  Akademismus  unter  dem 
Einfluß  der  kantischen  drei  Kritiken  gewesen  ist.  Denn  wo 
jeder  Begriff,  sei  er  welcher  er  sei,  gleichsam  als  der  utopi* 
sehe  ,Ort'  einer  normativen  und  imperativen  Latenz  zu 
gelten  hat,  geht  es  schlechterdings  nicht  an,  diese  Latenz 
nur  auf  diese  drei  Begriffsgesichte  einzuschränken  und  sie 
nur  in  ihnen  zur  Aktualität  aufzurufen;  —  es  geht  schlech* 
terdings  nicht  an  so  zu  tun,  als  ob  eine  in  Bereitschaftlage 
verharrende  Normativität  nur  ihnen  und  keinen  Denkin* 

45     Ziegler,  Gestaltwandel  der  Götter  705 


halten  sonst  zuzuerkennen  sei.  Eine  wertbegriffliche  In* 
zucht  dieser  Art  würde  sich  auf  die  Dauer  an  der  Philoso* 
phie,  an  den  philosophisch  bewegten  Lebenskreisen  grausam 
rächen,  hat  sich,  wenn  wir  nur  aufrichtig  gegen  uns  sein 
wollen,  bereits  hart  und  grausam  an  uns  allen  gerächt:  und 
zwar  desto  bitterer,  als  doch  schon  zu  seiner  Zeit  der  Pia* 
tonismus,  diese  erste  und  noch  immer  unausgeschöpfte 
Mutter* Philosophie,  Mutter*Axiologie,  neben  diesem  nor* 
mativen  Dreiklang  des  Schönen,  Guten,  Wahren  eine  nicht 
allzu  knappe  Reihe  anderer  Vorstellungen  aus  latenter  in 
aktuelle  Werthaftigkeit  gedanklich  umzusetzen  bemüht  ge* 
wesen  ist.  Im  Widersatz  zu  diesem  durchaus  tüchtigen 
Verfahren  heißt  es  die  Aufgabe  der  Philosophie  unheilvoll 
verkümmern  und  entmännlichen,  wenn  man  aus  der  unend* 
liehen  Gesamtheit  möglicher  Willensziele  ängstlicherweise 
drei  oder  höchstens  vier  von  vornherein  auswählt,  um  mit 
ihnen  die  Äonen  menschheitlichen  Werdens  und  Wandeins 
zu  bestreiten.  Denn  fürwahr  besteht  die  Aufgabe  nicht 
darin,  eine  Begriffsdreiheit,  wenn  es  hochkommt  Begriffs* 
vierheit  ein  für  alle  mal  als  Wert  vor  Unwerten  auszuzeich* 
nen,  vielmehr  darin,  aus  jedem  Gedankenbild  die  axiolo* 
gische  Bedeutsamkeit  womöglich  glatt  und  sauber  heraus* 
zuschälen  und  es  als  erstrebenswürdige  Norm  den  Kräften 
des  Willens,  den  grenzenlosen  und  ausschweifenden,  dar* 
zubieten.  Auf  keine  Weise  ist  nämlich  einzusehen,  warum 
Erkenntnis,  Sittlichkeit,  Kunst  die  alleinigen,  echten  und 
wahren  Geltungen  sein  sollten,  die  unserer  Vernunft,  un* 
serer  Tat,  unserem  Gestaltungwillen  aufgegeben  sind,  — 
oder  warum  ausschließlich  sie  es  verdienen  möchten,  in  den 
Blickpunkt  der  Seele  gerückt  zu  werden  und  sie  im  höhe* 
ren  Sinne  als  verwirklichungwichtig  zu  beschäftigen  .  .  . 

Allerdings  wer  (gleichnisweis)  als  spitzwegscher  Dach* 
Stubenhocker  und  Biedermeier,  mit  Schlafrock,  Nachtmütze 

706 


und  Pantoffeln  angetan,  Großvaters  Pfeife  schmauchend 
und  hinterm  Fensterbrett  zierlich  *  possierlicher  Kakteen 
wartend,  wer  etwa  derart  altfränkisch  aufgeputzt  (o  teut* 
sehe  magistri  et  doctores!)  die  gewissermaßen  generative 
Notwendigkeit  ewig  erneuter,  ewig  zu  erneuernder  Wert* 
prägung  nicht  beachtete,  —  der  könnte  trotz  aller  gutge* 
meinten  Dachstubenromantik  und  Hinterhäuslerpoesei  un* 
liebsam  Zeuge  werden,  wie  seine  Zeit  ehrwürdige  Ideale, 
sei  es  mit  Recht  oder  Unrecht,  sei  es  mit  Recht  und  Un* 
recht,  zum  Gerumpel  schmeißt  und  die  beredsamen  Salba* 
der  des  Guten,  Schönen,  Wahren  an  ihren  abgeriebenen 
Ecken  stehen  läßt.  Absichtlich  sage  ich  dabei,  mit  Recht 
und  mit  Unrecht.  Und  zwar  mit  Unrecht,  um  dieses  gleich 
vorweg  zu  nehmen,  durchaus  insofern,  als  jener  Dreiklang 
des  Wahren,  Schönen,  Guten  unter  allen  Umständen  wert* 
haftes  Sollen  und  Gelten  auch  dann  noch  bleibt,  wenn  ihn 
anzuschlagen  ein  Weltalter  aus  Gründen  leiblicher  und 
seelischer  Bedrängnis  nicht  die  Kraft  aufbringt.  Mit  Recht 
dagegen  darum,  weil  zwar  an  und  für  sich  jeder  erdenkliche 
Inhalt  Ziel  eines  ihm  zugewandten  Willens  zur  Verwirk* 
lichung  zu  werden  die  Möglichkeit  besitzt:  wir  Menschen 
aber,  als  Träger  dieses  Willens,  schon  wegen  der  sogenann* 
ten  Enge  des  Bewußtseins  niemals  alle,  niemals  auch  nur 
eine  beträchtliche  Zahl  dieser  latenten  Imperative  und  po* 
tentiellen  Normen  zumal  und  an  derselben  Stelle  ihrer  Ver* 
wirklichung  zuführen  können,  vielmehr  nach  der  jeweils 
veränderten  Innenrichtung  unserer  Selbstheiten  nur  eine 
schmale  Auswahl  zu  treffen  befähigt,  ja  genötgt  sind.  Ohne 
Zweifel  sind  alle  vernünftigen  Denkinhalte  schon  in  ihrer 
Eigenschaft  als  Denkinhalte  mögliche  Werte ;  ohne  Zweifel 
liegt  es  im  Wesen  aller  Werte,  insgesamt  und  ausnahmlos 
zu  .gelten'.  Aber  keineswegs  gelten  alle  Werte  insgesamt 
und  ausnahmlos  für  alle,  sondern  erscheinen  in  ihrer  zeit* 

45»  707 


weiligen  Verwirklichung  gebunden  an  den  zeitweiligen  Zu* 
stand  und  Urständ  der  zu  ihrer  Verwirklichung  berufenen 
Lebenseinheiten  oder  Persönlichkeiten.  Darum  geschieht 
es,  daß  jedes  geschichtliche  Zeitalter,  ja  jede  geschichtliche 
Geschlechtfolge  und  Jugend  als  dringlichste  Aufgabe  eine 
zu  vollziehende  Um* Wertung  antritt,  die  eigentlich  auf  eine 
Neu*Wertung  oder  Neuprägung  hinausläuft.  Und  wie* 
derum  wird  sich  jeder  bevorstehende  oder  bereits  voll* 
ziehende  Wechsel  der  menschheitlichen  Innengestalt  und 
Seelengestalt  durch  eine  wachsende  Gleichgültigkeit  der 
Generation  anmelden  gegenüber  den  bisher  verehrten  Nor* 
men  und  Imperativen.  Eine  Krisis  der  Ideale  bricht  mit 
um  so  größerer  Gewalt  und  Heftigkeit  aus,  desto  eingreifen* 
der  die  generative  Wandlung  zwischen  Söhnen  und  Vätern 
gewesen  ist:  und  diese  Krisis  kann  erst  dann  behoben  wer* 
den,  wann  die  Schaffung  und  Kündung  neuer  Ideale  —  will 
heißen  solcher,  die  für  die  jeweils  gegenwärtige  Mensch* 
heit  neu  sind,  sonst  aber  urälteste  Wiederaufnahmen  fern* 
ster  geschichtlicher  Gleichläufigkeiten  und  Gleichsinnig* 
keiten  sein  können  und  auch  immer  sind  —  den  verant* 
wortungbetreuten  Führern  ziel*  und  willenloser  Massen 
glückte. 

Insonderheit  für  uns  Deutsche  war  es  die  letzte  Stunde 
schicksalhafter  Größe  und  Weihe,  als  sich  ein  abseitiger 
Denker,  Seher,  Deuter,  Täter  auf  die  Sendung  seines  und 
unseres  geschichtlichen  Daseins  besann  und  hierbei  die 
Erkenntnis  gewann,  daß  die  öffentlicht  verbrieften,  öffent* 
lieh  abgestempelten  Ideale  der  inzwischen  abgewelkten 
Epoche  deutscher  Klassik  unmöglich  länger  die  Ideale  einer 
Epoche  sein  könnten,  deren  katastrophale  (nämlich  für  die 
bisherige  europäische  Gesittung  katastrophale)  Bedeutung 
ihm  früher  und  schärfer  als  allen  andern  bewußt  geworden 
war.  Vielleicht  ist  bei  dieser  entscheidenden  Tat,  —  eine  Tat 

708 


übrigens  fast  ohne  Vorgängerschaft  und  Vorbildlichkeit, 

getan  mit  einer  so  unheimlichen  Sicherheit,  Genauigkeit, 

Unbestechlichkeit,  Richtigkeit,  daß  wir  sie  erst  heute  und 

auch  heute  erst  sehr  allmählich  ganz  zu  überschauen  begin* 

nen !  —  vielleicht  ist  bei  dieser  entscheidenden  Tat  Nietzsches 

die  versuchte  Gegenwertung  als  solche  von  geringerem  Be* 

lang  gewesen.   Denn  wie  schon  gesagt,  wird  unbeschadet 

der  vollkommen  veränderten  Gesamtlage  des  Europäers  von 

heutzutage  keines  der  vorigen  Ideale  auch  nur  einen  Grad 

seiner  Werthaftigkeit  und  Werthaltigkeit  etwa  deswegen 

einbüßen,  weil  es  unter  den  jetzigen  Verhältnissen  in  eine 

Latenz  zurückzutreten  hat,  welche  ihm  ihrerseit  in  irgend 

einem  Äon  unter  den  kommenden  Äonen  seine  spätere 

Aktualität  verbürgt  und  zuschwört  mit  allen  Bürgschaften 

und  Schwüren  der  Wirklichkeit  und  der  Menschheit  .  .  . 

Nein,  von  entscheidendem  Belang  war  eher  wohl  die  große 

Feststellung,  daß  auf  Grund  eines  wesentlich  veränderten 

Innenbefundes  keinesfalls  Wertvorstellungen  in  Kraft  zu 

bleiben  vermöchten,  die  von  der  gegenwärtigen  Gesellschaft 

durch  Tat,  Werk,  Gesinnung  Lügen  über  Lügen  gestraft 

werden.  Und  hier  legt  Nietzsche  der  Diagnostiker,  Nietz* 

sehe  der  Therapeut,  Nietzsche  der  Kathartiker,  (in  allen  die* 

sen  Attributen  wirklich  der  letzte  Bruder  im  Geist  zu  jenen 

hellenischen  Vorsokratikern,  die  ihm  unter  allen  prophe* 

tischsphilosophischen  Gestalten  der  Vergangenheit  bis  ans 

Ende  teuer  blieben),  —  hier  rührt  er  mit  dem  kundigen 

Griff  des  Chirurgen  an  die  Wunde  in  unserem  deutschen 

Fleisch,  die  erst  einmal  geschnitten,  ausgedrückt,  verpfropft 

werden  müßte,  ehe  sie  von  innen  her  geheilt  werden  könnte. 

Hier  rührt  er  an  die  Lebens*  und  Gewissenslüge  des  söge* 

nannten  deutschen  Idealismus,  wie  er  einem  in  jeder  Hin* 

sieht  pfuscherischen,  lahmen,  unentschiedenen  Verhältnis 

zur  Welt  halb  zur  Entschuldigung,  halb  zur  Anklage  her* 

709 


halten  soll;  rührt  an  den  lasterhaften  Hang,  sich  bei  reich* 
lichem  Zuspruch  von  Bier,  Tabak,  Kommersbuchgeplärr', 
Paukerei  und  Sauerei  auf  die  höhere  Laufbahn  staatlicher, 
geistiger,  sittlicher  Führerschaft  am  würdigsten  vorzube* 
reiten  und  dieser  Art  ,nach  dem  Ideal  zu  leben';  rührt  an 
die  eitle  Schönrederei,  die  mit  vorgeblich  erhabenen  Ge* 
danken  schlechte  und  gemeine  Handlungen  zuzudecken 
beflissen  ist  oder  die  Aufmerksamkeit  von  letzteren  durch 
erstere  abzulenken  versucht;  rührt  an  die  ererbte  Unfähig* 
keit,  ehrlich  gemeinte  Vorsätze  zu  edlerem  Menschtum 
gütig,  schlicht,  weise  und  treu  in  den  Alltag  umzusetzen 
und  mit  allen  tugendhaften  Forderungen  statt  bei  anderen 
bei  sich  selber  anzufangen;  rührt  an  den  unverbesserlichen 
Mangel  an  Ernst,  Folgerichtigkeit,  Zuverlässigkeit,  Wahr* 
haftigkeit,  Stätigkeit,  Unbeugsamkeit,  Verantwortlichkeit 
in  der  Leitung  von  unverantwortlichen,  aber  anvertrauten 
Menschenseelen  bei  Lehrern,  Beamten,  Offizieren,  Staats* 
männern,  Geistlichen.  Er  sieht  auf  den  empörenden  Schwin* 
del  dieser  Gründerzeit,  wie  sie  vor  ihre  elenden  Großstadt* 
vorstadtmiethöhlen  die  pomphaften  Fassaden  römischer, 
genuesischer  oder  venezianischer  Palazzi  pappt.  Er  sieht 
auf  diese  Zug  für  Zug  unverkennbarere  Scheingesittung 
eines  eben  emporkommenden  Proletariates,  wie  sie  mit  den 
Formen  und  den  Normen  schlechthin  unverstandener  Ver* 
gangenheiten  prahlt.  Er  sieht  einen  kaninchenhaft  sich 
mehrenden  Pöbel  die  Gebilde  unserer  eigenen  letzten  Re* 
naissance  mit  seinen  ungewaschenen  Pfoten  beschmudeln 
und  beschmutzen.  Er  sieht  einen  bourgeoisen  Klüngel  mit 
ausschließlich  wirtschaftlichen  Interessen  und  Instinkten  als 
Erben  des  großbürgerlichen  Kosmopolitismus  deutscher 
Musik,  Philosophie,  Poesie  vor  hundert  Jahren  in  groß* 
spurigen  Machtgebärden  sich  ergehen.  Er  sieht  die  artistisch* 
pädagogischen  Bestrebungen  einer  Erziehung  der  Mensch* 

710 


heit  durch  Geschmack  und  Schönheit  zur  Freiheit  und  zur 
Selbstbestimmung  verwahrlosen  zu  bettelhaften  Fragen  der 
Berechtigung,  der  Anwartschaft,  der  Reifezeugnisse  für  . . . 
Er  sieht  den  reichgesponnenen  Humanismus  einer  in  ihren 
dauerhaftesten  Erzeugnissen  doch  immer  wieder  griechisch 
behauchten  und  griechisch  befruchteten,  musisch  ergriffenen 
und  musisch  gebildeten  Generation  von  Künstlern,  Den* 
kern,  Gelehrten  verraten  und  verkauft  an  einen  unsagbar 
öden  Nützlichkeitdrill  kasernenhofmäßiger  Herkünfte.  Er 
sieht  den  Mensch*Bürger  und  Bürger*Menschen  unserer 
Klassiker  zwischen  1750  und  1830  —  die  übrigens  trotz 
aller  schroffen  Gegensätzlichkeit  zu  den  einstigen  .gotischen* 
Trägern  unserer  ersten  deutschen  Hoch*Zeit  zwischen  1200 
und  1300  eine  gewisse  Wahlverwandtschaft  mit  ihnen  nicht 
ganz  verleugnen  können  (im  Guten  und  im  Schlimmen) 
auf  Grund  wohl  eines  gleichen  Einschlags  von  höfischen 
Bindungen  und  Beziehungen!  —  er  sieht  diesen  Mensch* 
Bürger  schimpflich  ausarten  zum  Staatsbürger,  zum  Staats? 
Diener,  zum  Staats* Krüppel.  Er  sieht  die  gewaltig  verein* 
fachenden  und  zusammenraffenden  Kräfte  einer  auf  Totali* 
tat  und  Synthese  weise  bedachten  Forschung  historischer 
und  philologischer  Bahnbrecher  verschwächen  zu  einer 
kleinlichen  und  oft  noch  mehr  als  kleinlichen  Fachneuig* 
keitenschnüffelei  und  Zettelkastengelehrsamkeit.  Er  sieht 
den  einstigen  Enthusiasmus  für  das  Schöne  an  und  für  sich 
erbleichen  und  verglühen,  das  einstige  Tragödenpathos 
der  Bereitschaft  und  Bereitwilligkeit  zu  jeglichem  Opfersich 
ernüchtern,  die  einstige  Mystik  und  Mystagogie  des  Welt* 
einheitfühlens,  Welteinheitwissens  versickern:  wie  einen 
Wüstenfluß  sieht  er  diese  drei  nährenden  Ströme  der  Mensch* 
heit  in  ihren  eigenen  Betten  versanden  und  verschmachten. 
Er  sieht  dieses  alles  mit  Erstaunen,  mit  Entrüstung,  mit 
Grausen,  mit  Entsetzen,  ja  mit  Ekel!  Er  sieht  es  und  wägt 

zu 


und  erwägt  und  sinnt  und  richtet  und  fragt  zuletzt  die  zer* 
malmende  Frage :  wozu  denn  euch  noch,  ihr  Lügner  und 
Fälscher,  —  das  Ideal?  Allzu  lang  wärmte  euch  das  Ideal 
weder  Herzen  noch  Köpfe,  nicht  einmal  die  schlaffen  Ein* 
geweide.  Wohlan  1  es  ist  ander  Zeit,  das  Ideal  selber  aufs 
Eis  zu  legen,  damit  es  dort  endgültig  erfriere  .  .  . 

Nicht  völlig  mit  Stillschweigen  übergehen  dürfen  wir 
hier  (leider)  jenes  unrühmliche  und  sträfliche  Versäumnis, 
welches  sich  vorzugweis  die  akademische  Philosophie  in 
Deutschland  angesichts  der  nahenden  Katastrophe  des 
europäischen  Lebens  hat  zu  schulden  kommen  lassen.  An= 
statt  wenigstens  von  ungefähr  zu  erfassen,  was  die  Stunde 
gebieterisch  von  ihr  heische,  nachdem  einmal  das  Macht* 
wort  von  der  Umwertung  gefallen  war:  anstatt  die  ihr  über* 
lassenen  Jünglinge  und  werdenden  Männer  aufzuklären 
über  die  dringlichste  Dringlichkeit  der  Zeit;  anstatt  kund* 
zugeben  auf  sämtlichen  Lehrstühlen  der  Weltweisheit: 
Horcht  auf,  ihr  Jünglinge  und  werdenden  Männer!  Die 
Krisis  der  Ideale  ist  über  uns  hereingebrochen!  Horcht  auf! 
Und  laßt  uns  in  Andacht,  Strenge  und  Gemeinsamkeit  die 
neuen  Werte  suchen,  eh'  noch  die  Werte  selber  Gegenstand 
des  Ärgernisses,  des  Verdachtes,  der  Verächtlichkeit  gewor* 
den  sind! . . .  Anstatt  solcher*  oder  ähnlicherweis  vernehm* 
bar  zu  werden,  überließen  sich  diese  hochwissenschaft* 
liehen  Herren  unerschüttert  den  ernsteren  Pflichten  ihres 
seltsam  wiederholenden,  um  nicht  zu  sagen  wiederkäuen* 
den  Kursus,  den  sie  soeben  auf  allen  schwarzen  Brettern 
der  hohen  Schulen  Deutschlands  anzusetzen  für  gut  be* 
funden  hatten:  anhebend  mit  dem  streitbaren  Ruf  aus  Mar* 
bürg  und  Heidelberg  .Zurück  zu  Kant',  bald  aber  weiter 
nach  rückwärts  sichernd  mit  einem  »Zurück  zu  Hume',  dann 
wieder  leise  nach  vorwärts  fühlend  mit  ihrem  rhythmisch 
beschwingten  .Zurück  zu  Fichte,  zurück  zu  Hegel,  zurück 

712 


zu  Schelling,  zurück  sogar  zu  Herbart,  zu  Bolzano'  und  ich 
weiß  nicht  zu  wem  noch  alles,  —  wohlgemerkt,  den  ein* 
zigen  Schopenhauer  immer  ausgenommen,  dem  die  Ehre 
vorenthalten  ward,  in  einem  sogenannten  Neu*Schopen* 
hauerianismus  akademisch  verwässert  aufgewärmt  zu  wer* 
den :  woran  (neben  anderem)  etwa  seine  hervorstechendste 
Eigenschaft,  der  erste  Deutsche  von  ganzer  Aufrichtigkeit, 
Unverblümtheit,  Geradheit,  Wahrhaftigkeit,  Rechtschaf* 
fenheit  zu  sein  und  darum  für  jene  üble  Sorte  von  Idealis* 
mus  nicht  ausgeschlachtet  werden  zu  können,  nicht  durch* 
weg  unbeteiligt  gewesen  sein  möchte  .  .  .  Sonst  jedoch 
ward  teils  ein  lächerliches,  eher  aber  noch  ein  verdrießli* 
ches,  ja  verhängnisbeschleunigendes  Rückwärts,  rückwärts 
Don  Rodrigo  zum  wertwissenschaftlichen  Kennwort  einer 
Zeitenwende  ohnegleichen,  da  die  geschichtliche  Bewegung 
des  Abendlandes  in  ein  geradezu  schwindelerregendes  Ge* 
schwindigkeitmaß  verfallen  war  und  jeder  kaum  geborene 
Augenblick  schon  vom  nächsten  verzehrt  und  aufgefressen 
wurde.  Unmöglich  hätte  sich  der  akademisch  frisierte  Ide* 
alismus  der  Deutschen  kraftloser,  greisenhafter,  zeugung* 
unmächtiger,  lebensentfremdeter  gebärden  können  als  es 
von  Seiten  derer  um  Friedrich  Albert  Lange  herum  geschah, 
—  so  ganz  besonders  wenn  er  nach  dem  schändlichen  Re* 
zept  verfuhr,  Idealismus  als  Weltbild,  Weltanschauung, 
Weltdeutung  zwar  zu  verbieten,  Idealismus  aber  als  Ar* 
beiterfrage,  Idealismus  als  Kathedersozialismus,  Idealismus 
als  Prophylaxis  gesellschaftlichen  Umsturzes,  Idealismus 
als  Moral  für  Gewerkschaftführer  gnädig  zu  genehmigen ! 
Diesen  Idealismus  und  seine  zweideutigen  Vertreter,  die 
nicht  im  mindesten  das  Zeug  zu  einem  Paulus,  desto  mehr 
zu  einem  Petrus  aber  in  sich  hatten,  ihn  trifft  die  ungeheure 
Verschuldung,  dann  elendiglich  zusammengebrochen  zu 
sein,  als  man  seiner  am  meisten  bedurft  hätte.   Denn  ob* 

713 


gleich  ein  Unfug  von  solchen  Graden  der  Impotenz  schon 
an  und  für  sich  zur  Unwirksamkeit  verdammt  ist,  wofern 
er  sich  ja  ausschließlich  auf  die  törichte  Verwechslung 
zweier  nicht  zu  verwechselnden  Epochen  stützt  und  inmit* 
ten  einer  unerhört  schwierigen  Oberganglage  klassisch  ge* 
festigtes  Philosophieren  durchsetzen  zu  können  wähnt,  ist 
es  ihm  immerhin  gelungen,  Kraft,  Aufmerksamkeit  und 
Wille  des  Nachwuchses  von  dem  abzuziehen,  was  alleinig 
not  tat.    Wenn  nämlich  auch  das  Schwächliche,  Zwerg* 
wüchsige,  Nichtige,  Unechte  nie  dazu  geschickt  ist,  das 
Wohltätige  und  Befreiende  an  seinem  Ort  zu  erwirken, 
bleibt  es  doch  leider  geschickt  genug,  Stärkeres  und  Ech* 
teres  an  seiner  Ausbreitung  zu  hindern,  und  eine  einzige 
Milbe  kann  sogar  den  herrlichen  Feuerhengst  aus  dem  Buch 
Hiob  mit  Räude  bedecken,  indem  sie  sich  unter  seine  Haut 
bohrt  und  dort  vermehrt.  Damals  konnte  man  also  weithin 
gerühmte  Dozenten  mit  allen  Zeichen  edler  Empörung  und 
sittlicher  Entrüstung  (heißt  das,  soweit  derartige  Leute  ohne 
Tempo  und  ohne  Temperament  derartigen  Wallungen  des 
Bluts  überhaupt  unterworfen  sind!)  zetern   und  belfern 
hören  über  die  .Frechheit'  einer  irgendwo  angekündigten 
Umwertung  aller  Werte:   sie    ihrerseit  unverdrossen  die 
ewigen  Ideale  des  Schönen  Wahren  Guten,  Schönen  Guten 
Wahren,  Wahren  Schönen  Guten,  Wahren  Guten  Schönen, 
Guten  Wahren  Schönen,  Guten  Schönen  Wahren  in  den 
verschiedensten  und  anmutigsten  Variationen,  Kombination 
nen,  Permutationen  in  ihren  von  Hochgefühlen  geschwell* 
ten  Busen  wälzend.  Womit  der  deutsche  Idealismus,  ur* 
sprünglich  nur  nicht  ehern,  nur  nicht  wollend,  nur  nicht 
erobernd,  nur  nicht  schicksalhart  genug,  wirklich  zur  Feig* 
heit  heruntersank,  —  zur  Feigheit,  die  es  einfach  nicht  über 
sich  bringt,  der  grausamen  Tatsächlichkeit  der  Dinge  ins 
Aug'  zu  bohren,  vielmehr  um  die  Dinge  und  um  sich  selbst 

714 


einen  Schleier  süß*fauligen  Dunstes  zieht,  in  dem  sich  der 
gerade  und  klare  Strahl  der  Wahrheit  bricht.    Indes  die 
europäische  Gesellschaft  in  allen  ihren  Lagen  wieder  ein* 
mal  massenfühlig,  herdentriebhaft,  zuchtlos,  ungeordnet, 
unterschwürig,  verwildert,  umsturzfällig,  barbarisch  und  ar* 
chaisch  geraten  war,  tat  der  deutsche  Idealismus  nicht  der* 
gleichen;  suchte  er  sich  über  diese  unerläßliche  Feststellung 
durch  geistig  verabreichte  Einschläferungmittel,  Einschlafe* 
runggifte  hinwegzutäuschen;   schämte  er  sich  nicht,  die 
krachend  zerborstene  Tafel  der  Güter  hehlingen  verkitten 
und  verklittern  zu  wollen.  Dieses  erbärmliche  Geschwätz 
deutscher  Professoren  —  entlarven  wir  doch  endlich  einmal 
diese  unmöglichen  Professoren,   entlarven  wir  vor  allem 
einmal  den  »Professor  überhaupt',  den  wir  als  gebürtige 
Deutsche  jeweils  bis  zum  Beweis  des  Gegenteils  in  uns 
selber  spukend  vermuten  müssen!  —  dieses  Geschwätz  und 
Getratsch  von  den  ewigen  Werten  fünf  Minuten  vor  dem 
Untergang  dieses  .westlichen  Paradieses'  ist  es  sicherlich 
gewesen,  was  den  Idealismus  der  Deutschen  in  dem  Urteil 
der  übrigen  Welt  erst  aufs  empfindlichste  bloßgestellt,  dann 
aber  in  zunehmendem  Maß  verächtlich  gemacht  hat.  In  den 
Dämpfen  und  Nebeln  dieses  Geschwätzes  ist  die  Zeit  reif 
und  weich  geworden  für  jenes  in  manchen  Gauen  des  Vater* 
landes  vor  dem  Krieg  gern  erzählte  und  witzige  Anekdoton, 
worin  ein  pfälzischer  Bauer  dem  Gevatter  einen  drastischen 
Begriff  von  dem  beizubringen  trachtet,  was  man  gemeinhin 
einen  Idealisten  zu  nennen  pflegt:  einen  Kerl  nämlich,  der 
sich  einbildet,  er  könn'  (mit  Verlaub!)  mit  einem  einzigen 
Furz  gern  und  gut  einen  ganzen  badischen  Morgen  Landes 
düngen  ...  An  diesem  (übrigens  vortrefflichen)  Witz,  be* 
dünkt  es  mich,  sei  dann  der  deutsche  Idealismus  vollends 
gestorben.    Oder  vielleicht  auch  an  dem  Gelächter  über 
diesen  Witz,  das  etliche  unter  uns  nicht  ohne  ein  Gefühl 

715 


innerer  Beklommenheit  anschlugen,  als  sie  ihn  fürs  erste* 
mal  erzählen  hörten.  Oder  vielleicht  noch  richtiger  gedacht, 
—  dieser  Witz  ist  das  untrügliche  Merkzeichen  dafür  ge* 
wesen,  daß  der  deutsche  Idealismus  nur  noch  ein  Windlein 
war,  ein  Lüftlein,  und  zwar  beileibe  nicht  ein  solches,  das 
etwa  Mühlen  triebe  oder  Segel  straffte  .  .  .  Dieses  Witzes 
mannigfach  zu  gedenken,  hätten  wir  jedenfalls  Ursache, 
wenn  wir  heute  Deutschlands  Jugend  am  Mund  jedes  Pro* 
pheten  der  Gasse,  jedes  Sophisten  der  Gosse  hangen  sehen, 
ja  wenn  wir  sie  in  Scharen  hinter  Spartakus  und  anderen 
Rattenfängern  drein  laufend  gewahren,  —  wir,  die  wir  lei* 
der  wissen,  wie  das  ward,  die  wir  wissen,  wie  das  werden 
mußte.  Zitterte  diese  arme,  grüne,  vertrauensälige  Jugend 
nicht  nach  dem  Blitz  der  neuen  Ideale,  damit  er  bei  ihr 
einschlüge  mit  heißem  Strahl  und  zünde?  Die  höheren 
und  hohen  Lehrer  aber,  nichts  weniger  als  tuskische,  etrus* 
kische  Fulguratoren ,  nichts  weniger  als  berufene  Blitz* 
Beschauer,  Blitz*Blicker,  Blitz*Künder  und  weder  geübt  in 
der  Magie  der  , Herabziehung'  noch  in  der  Magie  der  ,Ab* 
wendung'  der  Wetterfunken,  ja  nicht  einmal  erfahren  in 
der  allerwichtigsten  Unterscheidung  von  Blitzen  des  Him* 
melsherrn  Jupiter  aus  Wolkenthronhöhen  und  von  Blitzen 
des  Erdgottes  Saturnus  aus  unterirdischen  Bezirken;  — 
ließen  sie  die  tiefe  Sehnsucht  der  Jünglinge  nach  Men* 
schengemeinschaft,  nach  austeilender  Gerechtigkeit,  nach 
Werkbeseelung,  nach  Lebensinnigkeit,  nach  Glaubenstreue 
nicht  leer  und  unbefriedigt?  Kein  Wort  der  Warnung, 
Mahnung,  Auferbauung;  der  Liebe,  Kräftigung,  Entscheid 
düng;  der  Tapferkeit  und  Tröstung.  Und  was  der  tolle 
Zarathustra  oder  Zerduscht  (das  ist  Gülden*Stern)  aus 
seiner  Einsiedler*Höhle  da  in  die  vier  Gegenden  des  Rau* 
mes  rief  und  rief  und  schrie,  erstarb  wie  ein  Seufzer  Pans 
im  schauerlichen  Brüten  hohen  Mittags  über  Alpenscheiteln 

716 


gleißenden  und  über  Brandungschäumen,  —  nur  vielleicht 
unmutig  vernommen  von  dem  Adler  Mazda  Ahuras  und 
listig  bewahrt  von  der  Schlange  Aka  Manahs  .  .  .  Die  Ju* 
gend  aber,  von  ihren  Seelsorgern  leichtfertig  verlassen  und 
verraten,  sie  machte  bald  auf  ihre  Weise  mit  der  Umkehrung 
des  alten  römischen,  folglich  unalternd  stolzen  Wortes  Ernst, 
welches  dem  eigentlichen  Anführer  und  Begründer  der 
deutschen  Sozialdemokratie  vormals  Wahl*,  Sinn*  und 
Trostspruch  in  einem  gewesen  war:  Flectere  si  nequeo  Su= 
peros,  Acheronta  movebo!  Dieweil  sich  nämlich  diese  Ju* 
gend  von  den  Oberweltmächten  nicht  berührt  und  nicht 
ergriffen  sah,  versuchte  sie's  mit  den  Unterirdischen.  In 
eben  jenen  Tagen  ist  uns  dann  aber,  deucht  mich,  ein  an* 
noch  unerstandener  Aischylos  seine  zweiten  Eumeniden 
schuldig  worden  .  .  . 

Solchermaßen  können  wir  der  gegenwärtigen  Philosophie 
und  Axiologie  als  der  dritten  hier  darzustellenden  wissen* 
schaftlichen  Typik  den  Vorwurf  nicht  gut  ersparen,  daß  sie 
sich  der  Tatsache  einer  historischen  Relativierung  der  Werte 
allzu  lange  verschloß  und  dem  Irrtum  nachhing,  als  gälten 
zu  allen  Weltaltern  dieselben  zeitlosen  und  unänderlichen 
Ideale,  —  ein  Irrtum  übrigens  kaum  besser  als  der  von  einem 
unerfahrenen  Seemann  gehegte,  er  würde  in  allen  befahr* 
baren  Breiten  dieselben  Gestirne  und  Sternbilder  zu  seiner 
Ostung  und  Westung  am  Himmel  stehen  sehen.  Dürfen 
wir  aber  diese  katastrophale  Versäumnis  hier  nicht  unter« 
schlagen,  dann  haben  wir  jetzt  freilich  eben  denselben  Ge* 
danken  einer  geschichtlichen  Relativierung  der  Werte  ge* 
bührend  zu  ergänzen  durch  den  Gedanken  einer  anderen, 
sachlichen  Relativierung,  die  gleich  hinter  dergeschichtlichen 
bemerkbar  wird.  Denn  in  Wahrheit  verhält  es  sich  nicht 
lediglich  so,  daß  die  Geschichte  mit  dem  periodischen  Ge* 
staltwandel  ihrer  Träger  eine  gewisse  Auswahl  aus  der  Un* 

717 


endlichkeit  möglicher  Werte,  möglicher  Zielsetzungen, 
möglicher  Lebensbestimmungen  gleichsam  ertrotze  und  da* 
durch  die  unbenannte  Anzahl  der  Werte  in  eine  Zeitreihe 
von  unterschiedlicher  Verwirklichungdichte  und  Verwirk* 
lichungneigung  abstufe.  Nein,  es  verhält  sich  außerdem  so, 
daß  vielmehr  die  Werte  schon  an  und  für  sich,  abgesehen 
von  den  Tendenzen  der  sie  verwirklichenden  Träger,  ein 
gegenseitiges  Verhältnis  zueinander,  eine  Staffelung  von 
Höher  und  Niederer,  von  Oben  und  Unten,  von  Erst  und 
Letzt  bilden.  Was  wir  kurz  vorhin  noch  für  die  organische 
Gliederung  der  animalischen  und  vegetativen  Lebens* 
gestalten  aufs  bestimmteste  zurückweisen  mußten,  weil  der 
Natur  als  solcher  nicht  minder  wie  ihrer  Geschichte  der 
Akt  der  Wertung  noch  unangemessen  und  fremd  bleibt,  das 
müssen  wir  hier  mit  gleicher  Bestimmtheit  annehmen  und 
voraussetzen:  es  gibt  eine  Rangordnung  der  Werte,  inner* 
halb  welcher  die  Werte  selbst  einander  über*  oder  unter* 
geordnet  scheinen.  Und  wenn  zwar  jeder  Begriff  einen 
Wert  in  sich  schließt,  der  um  zu  gelten  nur  aus  seiner  Latenz 
überführt  zu  werden  braucht  in  seine  Aktualität,  so  ist  darum 
doch  nicht  jeder  Wert  dem  nächsten  besten  gleichwertig 
und  ebenbürtig.  Nicht  jeder  Wert  gilt  soviel  wie  jeder 
andere  Wert,  selbst  wenn  wir  bei  seiner  Einschätzung  von 
der  Zeitgemäßheit  oder  *ungemäßheit  der  ihn  verwirk* 
lichenden  Seelenrichtungen  durchaus  absehen  wollen,  — 
mithin  absehen  wollen  von  allen  geschichtlichen  Um* 
ständen,  Forderungen,  Beeinflussungen,  die  für  seine  perio* 
dische  Valenz  ausschlaggebend  werden  können.  Vielmehr 
eignet  jedem  Wert  als  solchem  und  rein  sachlich  gewürdigt 
ein  gewisser  Grad,  der  ihn  im  Vergleich  mit  jedem  anderen 
Wert  als  einen  vorzuziehenden  oder  einen  zurückzusetzen* 
den  charakterisiert,  und  die  Gesamtheit  aller  Werte,  fußend 
und  beruhend  zuletzt  auf  der  Gesamtheit  der  Begriffe,  der 

718 


Sachverhalte  oder  der  Ideen,  gliedert  sich  tatsächlich  schon 
von  sich  aus  zu  einem  .Systema'  in  der  strengsten  Aus* 
legung  des  Wortes :  nicht  sowohl  zu  einer  überhaupt  ge* 
ordneten  Mannigfaltigkeit  von  Vorstellungen  und  Gegen* 
ständlichkeiten  wie  etwa  das  natürliche  System  der  pflanz* 
tierischen  Gestalten  und  Formen,  als  zu  einer  stufenweis  ge* 
ordneten  Mannigfaltigkeit  von  Vorstellungen  und  Gegen* 
ständlichkeiten  wie  etwa  das  arithmetische  System  ordinal 
gezeichneter  Zahlen.  Das  axiologische  System  ist  im  Gegen* 
satz  zu  jedem  bloß  biologischen  oder  gar  zu  jedem  bloß 
mechanischsmaschinellen  System  ein  durchaus  hierarchi* 
sches.  Unter  den  Werten  ist  ein  Wert  der  oberste  und 
erste:  ein  anderer  der  zweite,  dritte,  vierte  . . .;  ein  anderer, 
wenn  das  System  ein  endliches  und  geschlossenes  ist,  der 
letzte.  Und  die  unüberwindliche,  bisher  jedenfalls  un* 
überwundene  Schwierigkeit  wissenschaftlicher  Wertlehre 
besteht  darin,  ein  hinlänglich  zuverlässiges  Verfahren  aus* 
zumitteln,  das  einen  Zusammenhang  sachlich  relativierter 
Wertsetzungen  mit  möglichst  hoher  Evidenz  festzustellen 
gestatte.  Seit  dem  platonischen  Philebos  bis  zu  Nietzsches 
versuchter  und  wirklich  auch  angebahnter  Umwertung  ringt 
Europas  Philosophie  darum,  eine  Tafel  der  Güter  nach  dem 
geahnten  Gesetz  ihrer  sachlichen  Abstufung  abzufassen, 
dem  menschheitlichen  Willen  Richtung  und  Maß  seines 
Sollens  nach  sachlicher  Bestimmtheit  zuzuwägen.  Seit  Piaton 
bis  zu  Nietzsche,  —  „vielleicht  ist  dieser  alte  Plato  mein 
eigentlicher  großer  Gegner?"  fragt  Nietzsche  einmal  bei 
Paul  Deussen  anl  —  seit  zweiundzwanzig  oder  dreiund* 
zwanzig  Jahrhunderten  also  hat  sich  dieselbe  Philosophie 
über  diese  Tafel  noch  nicht  zu  verständigen  vermocht.  Sehr 
klar,  sehr  scharf  umrissen,  fast  wie  das  Profil  einer  verein* 
zelten  Kiefer  in  der  Landschaft,  die  gegen  Sonnenunter* 
gang  schwarzrandig  und  gezahnt  in  einen  hochgelb  leuch* 

719 


tenden  Frühlingabendhimmel  hinein  dunkelt,  steht  die 
Aufgabe  in  ihrer  Größe  vor  ihr.  Aber  noch  mußte  und 
muß  sie  an  den  Lösungen  verzweifeln,  die  ihr  ein  ununter* 
brochenes  Sinnen  und  Trachten  der  Generationen  erst  ge* 
schenkt  und  dann  wieder  entrissen  hat  .  .  . 

Ein  äußerstes  Hindernis  ergibt  sich  von  vornherein,  so* 
bald  man  den  Begriff  des  Wertes  einmal  näher  beäugen* 
scheinigt.  Zunächst  besteht  nämlich  der  Eindruck,  als  gälte 
jeder  Wert  ohne  jede  Einschränkung  und  Bedingung  eben 
für  das  gesamte  Gebiet,  dessen  Grenzen  er  festsetzt  und 
dessen  Gesetz  er  begründet:  zum  Beispiel  die  Forderung 
der  Pflicht  für  das  gesamte  Gebiet  menschlicher  Handlungen 
als  maßgebliche  Regel  der  sogenannten  Moral.  Darnach 
gäbe  es  nur  einen  einzigen  moralischen  Wert,  nur  eine  einzige 
unbedingte  Gültigkeit  moralischen  Sollens,  dieser  Wert  aber 
gälte  innerhalb  des  von  ihm  selber  umzirkten  Gebietes  ab* 
solut  und  das  Problem  seiner  Relativierung  könnte  nicht 
einmal  zur  Aufstellung,  geschweige  zur  Auflösung  ge* 
langen.  Gewiß  dürfte  man  auch  von  diesem  axiologischen 
Standpunkt  aus,  der  ungefähr  dem  kantischen  entsprechen 
würde,  den  Einwand  machen,  daß  außer  dem  die  Moral  kon* 
stituierenden  Wert  doch  auch  ein  die  Ästhetik,  ein  die  Logik 
konstituierender  anerkannt  sein  wolle  und  in  diesem  Be* 
tracht  den  moralischen  Wert  seiner  anscheinenden  Absolut* 
heit  doch  wieder  entkleide.  Indessen  würde  einem  Mann 
wie  Kant  auf  diesen  Einwurf  die  Antwort  kaum  schwer 
fallen,  wofern  ja  der  ästhetische  Wert  oder  der  logische 
schon  darum,  weil  sie  beide  das  moralische  Bereich  gar 
nicht  berühren  und  noch  weniger  durchkreuzen,  die  un* 
bedingte  Geltung  des  sittlichen  Imperativs  zu  beeinträch* 
tigen  nicht  geeignet  wären.  Und  in  der  Tat,  wenn  Kant 
und  die  auf  ihn  eingeschworenen  Schulen  in  diesem  haupt* 
sächlichen  Punkte  recht  behielten,  daß  je  und  je  nur  ein 

720 


einziger  Wert  ein  einziges  ihm  zugehöriges  Bereich  um* 
friedige,  mithin  zum  Beispiel  die  menschheitliche  Moral 
durch  eine  einzige  und  folglich  auch  unbedingt  geltende 
Norm  ausgefüllt  und  bestimmt  werde:  dann  tritt  einesach* 
liehe  Relativierung  der  Werte  auch  dort  nicht  ein,  wo  man 
neben  dem  moralischen  Ideal  ein  logisches,  ein  ästhetisches 
Ideal  durchaus  zuläßt.  Der  so  entstandene  Einzelwert  darf 
für  absolut  gelten,  darf  absolut  gelten,  trotzdem  noch 
andere  Werte  außer  ihm  geduldet  und  gesetzt  werden,  weil 
er  eben  seine  völlig  abgeschlossene  und  ungeteilte  Sphäre 
bildet,  —  die  Moral  die  Sphäre  des  menschheitlichen  Han* 
delns  und  Tatens,  die  Ästhetik  die  Sphäre  der  Hervorbrin? 
gung  schöner  Gegenstände  und  ihrer  Beurteilung,  die  Logik 
die  Sphäre  derVerknüpfung  begrifflicher  Mannigfaltigkeiten 
zu  wahren  Aussagen.  Falls  es  nur  Eine  Moral  gibt:  die  Moral 
der  Pflicht;  falls  es  nur  Eine  Ästhetik  gibt:  die  Ästhetik  des 
Schönen;  falls  es  nur  Eine  Logik  gibt:  die  Logik  der  Wahr* 
heit,  sind  die  Werte  unbeschadet  ihrer  Mehrfältigkeit  echte 
und  rechte  Absoluta,  unbedingte  Regeln  von  Verbindlich* 
keiten,  die  innerhalb  ihrer  besonderen  Bereiche  keiner  Ein* 
schränkung,  Wechselseitigkeit,  Bezugnahme,  Verhältnis* 
mäßigkeit,  Bedingtheit  unterliegen.  Die  Frage  ist  nur,  ob 
wirklich  nur  Eine  Moral  mit  ihrem  verfassunggeberischen 
Ideal,  nur  Eine  Logik,  nur  Eine  Ästhetik  nicht  sowohl  ge* 
schichtlich  vorhanden,  —  denn  diese  Annahme  wäre  nicht 
einmal  dem  Ununterrichteten  erlaubt,  —  als  vielmehr  sach* 
lieh  berechtigt  und  sachlich  benötigt  sei??  Welche  Frage 
allerdings  ohne  Zögern  zu  verneinen  ist.  Sieht  man's  doch 
unter  keinen  Umständen  ein,  warum  zwar  die  Moral  der 
Pflicht  eine  unbedingt  gültige  sein  solle,  dagegen  aber  samt* 
liehe  sonst  erdenklichen  Moralen  wie  die  der  Selbstgenug* 
samkeit,  der  Unergriffenheit,  der  Wohlbeschiedenheit,  der 
Seelenstille,   der  Gerechtigkeit,   der  Tüchtigkeit,  des  Mit* 

46     Zieglcr,  Gestaltwandel  der  Götter  721 


leidens,  der  Selbstvollendung,  des  amorfati,  der  Menschen* 
brüderschaft,  der  generosite  du  coeur,  des  Nichtwiderstehens, 
des  Wu  Wei  .  .  .,  warum  sie  und  neben,  über,  unter  ihnen 
zahllos  andere  Moralen  gleichsam  par  ordre  du  Moufti  zum 
platonischen  Nichtsein  des  Nicht*Seienden  verurteilt 
werden  dürften?  Diese  Moralen  sind  geschichtlich  wirklich 
und  geschichtlich  vorhanden  gewesen,  so  gut  wie  die  Moral 
der  Pflicht  und  manchmal  noch  erheblich  besser.  Weshalb 
sollte  aber  diesen  geschichtlichen  Wirklichkeiten  und  Wirk* 
samkeiten  die  sachliche  Bedeutsamkeit  gebrechen?  Kant 
selber  wähnte  die  Überlegenheit  seiner  Sittenlehre  darauf 
gründen  zu  können,  daß  er  ihr  als  den  konstitutiven  Wert,  als 
Die  Pflicht  einen  reinen  Formbegriff  unterstellte  und  somit 
aus  der  Form  allein  eine  Allgemeinheit,  Allgemeingültig* 
keit,  Allgemeinverbindlichkeit  gewänne,  wie  sie  die  inhalt* 
lieh  erfüllte  Vorstellung  immerhin  entbehren  muß.  Schön. 
Aber  wir  Heutigen  wissen,  daß  diese  Annahme,  im  ersten 
Augenblick  freilich  bestechend,  dennoch  eine  irrige  ge* 
wesen  ist  und  daß  auch  der  Gedanke  einer  .Maxime  meines 
Willens,  die  jederzeit  als  Prinzip  einer  allgemeinen  Gesetz* 
gebung  gelten  könne'  nur  relativ,  nur  verhältnismäßig  ein 
formhafter,  ebenso  verhältnismäßig  und  ebenso  relativ  je* 
doch  ein  inhaltbestimmter,  inhalterfüllter  ist,  —  ja,  daß  die 
beliebte  Gegenüberstellung  von  Form  und  Inhalt,  dieses 
bevorzugteste  Muster  kantischer  Dialektik  und  Antinomi* 
stik,  ihrerseit  unverkennbar  eine  Relativierung  umspannt 
und  nur  unter  der  stillschweigenden  Buchung  einer  solchen 
überhaupt  sinnvoll  bleibt :  daß  mithin  sogar  die  scheinbar  ge* 
lungene  Verabsolutierung  des  Sittengesetzes  in  seiner  Eigen* 
schaft  als  schlechthin  formale  Regel  des  tätigen  Verhaltens 
doch  wieder  abhängt  und  bedingt  ist  von  einer  vorgängigen 
In*Beziehung*Setzung  der  allgemeinen  Form  zum  beson* 
deren  Inhalt,  des  besonderen  Inhalts  zur  allgemeinen  Form! 

722 


Es  ist  richtig,  auch  dann  sagt  die  Regel  Kants  dem  Einzelnen 
nichts  davon,  was  er  von  Fall  zu  Fall  zu  tun  oder  gar  zu 
lassen  habe,  sondern  gebietet  ihm  nur  ganz  allgemein  das* 
jenige,  was  jeder  andere  oder  was  alle  zusammen  an  Stelle 
des  zufälligen  jetzigen  Täters  gleichfalls  zu  vollbringen 
hätten,  —  gebietet  mit  anderen  Worten  derart  zu  handeln, 
wie  jeder  wünschen  muß,  daß  eben  gehandelt  würde.  Aber 
man  hat  bereits  seit  längerem  mit  vieler  Berechtigung  dar* 
auf  verwiesen,  wie  just  die  formale  Tendenz  des  Sitten* 
gesetzes  nnd  seine  daraus  gefolgerte  leere  Allgemeinheit 
hier  die  sittliche  Persönlichkeit  an  sich  sozusagen  völlig 
entkerne,  und  dies  zwar  in  einem  Grad  wie  keine  andere 
der  sonstigen  Moralen.  Es  bleibt  das  nicht  zu  vergessende 
Verdienst  Georg  Simmeis,  diese  Konsequenz  der  kantischen 
Sittenlehre  stark  empfunden  und  streng  getadelt  zu  haben. 
Denn  wirklich  wird  hier  gleichsam  die  sämtliche  Menge 
Wertes  auf  das  an  und  für  sich  inhaltlose  Gebot  des  mora* 
lischen  Gesetzes  gehäuft,  die  tatende  und  handelnde  Per* 
sönlichkeit  jedoch  in  allen  Eingeweiden  aufgebrochen  und 
ausgeweidet,  nicht  anders  als  ein  erlegtes  Wild,  welches  der 
Jäger  als  Trophäe  seines  Schützenglückes  zu  seiner  und  der 
Seinigen  Erbauung  ausstopfen  läßt,  —  nicht  anders  wie  ein 
ägyptischer  Pharaone,  dessen  mumifizierter  Leichnam 
göttlicher  Unsterblichkeit  teilhaft  geworden  zu  sein  er* 
achtet  wird.  Was  und  wieviel  dem  Einzelmenschen  hin* 
gegen  an  sittlichem  Gehalt  und  Wesen  von  innen  her  zu* 
geströmt  sein  möchte,  das  gilt  für  unwert  an  und  für  sich, 
wofern  es  nicht  der  leeren  Bedeutsamkeit  der  Norm  selbst 
entflossen  ist.  Was  auch  das  Ich  als  angestammten  Besitz 
von  Haus  aus  mitbringe,  als  Erbschaft  seiner  Herkunft  oder 
als  Auszeichnung  seiner  Art,  —  wie  reich  oder  wie  ärmlich 
es  sei,  wie  hochfliegend  oder  wie  niedrig,  wie  stark  oder 
wie  schwach,  wie  edel  oder  wie  gemein,  wie  schwungvoll 

46*  723 


oder  wie  unfroh,  wie  geistig  oder  wie  sinnlich,  wie  tapfer 
oder  wie  feig,  wie  tätig  oder  wie  träge,  wie  aufgeweckt  oder 
wie  schläfrig,  wie  mitteilend  oder  wie  habsüchtig,  wie  mild 
oder  wie  grausam,  wie  empfänglich  oder  wie  stumpf,  wie 
gewissenhaft  oder  wie  leichtfertig,  wie  tief  oder  wie  ober? 
flächlich,  wie  leidenschaftlich  oder  wie  kühl,  wie  in  sich 
vollständig  oder  wie  bruchstückhaft,  wie  verschwenderisch 
oder  wie  geizig,  wie  liebreich  oder  wie  wohllüstig,  wie  offen 
oder  wie  verstockt,  wie  aufwallend  oder  wie  kaltschnäuzig, 
wie  planvoll  oder  wie  unbesonnen,  wie  heiter  oder  wie 
kopfhängerisch,  wie  gerad  oder  wie  verwinkelt,  wie  schöpfe* 
risch  oder  wie  unfruchtbar,  wie  sonnig  oder  wie  frostig, 
wie  innig  oder  wie  äußerlich,  wie  klug  oder  wie  töricht, 
wie  schmiegsam  oder  wie  spröd,  wie  geduldig  oder  wie 
aufbrausend,  wie  weltmännisch  oder  wie  muckerisch,  wie 
großherzig  oder  wie  schmalbrüstig,  wie  maßvoll  oder  wie 
unmäßig,  wie  gestillt  oder  wie  unstillbar,  wie  sanft  oder  wie 
roh,  wie  bildsam  oder  wie  verwildert,  wie  treu  oder  wie 
wetterwendisch,  wie  bestimmt  oder  wie  schwankend,  wie 
einfach  oder  wie  zusammengesetzt,  wie  klar  oder  wie  ver* 
worren,  wie  gereift  oder  wie  unreif,  wie  geschickt  oder  wie 
tölpelhaft,  wie  herrisch  oder  wie  unterwürfig,  wie  stolz  oder 
wie  aufgeblasen,  wie  selbstbewußt  oder  wie  eitel:  Träger 
sittlichen  Wertes  wird  das  Ich  durch  die  in  den  eigenen 
Willen  aufgenommene  Regel  der  Pflicht  allein,  die  für  alle 
die  nämliche  ist.  So  aber  geschieht  es,  daß  sich  Pflicht  als 
die  geheischte  Leistung  jedermanns  auch  nur  auf  der  Ebene 
jedermanns  bewegt  und  stets  nur  jenes  gewisse  Mindestmaß 
betrifft,  das  bei  jedermanns  Leibes*  und  Seelenkräften  steht. 
Diese  kantische  Pflicht  mutet  dem  Landsturmmann  Schmidt 
oder  dem  Gefreiten  Schultze  nicht  wesenhaft  etwas  anderes 
zu  als  dem  Alexander  oder  Bonaparte;  der  Krankenpflegerin 
Martha  und  Schwesteroberin  Klarissa  nicht  wesenhaft  etwas 

724 


anderes  zu  als  dem  synoptischen  Jesus  oder  dem  heiligen 
Franz;  dem  Geldbriefträger  Müller  oder  dem  Bankkassen* 
boten  Maier  nicht  wesenhaft  etwas  anderes  zu  als  dem  Roth? 
schild  oder  dem  Carnegie;  dem  Unterlehrer  Künzler  und 
Mücke  nicht  wesentlich  etwas  anderes  zu  als  dem  Aristoteles 
oder  dem  Leibniz;  dem  Theologielizentiaten  Ehrsam  oder 
dem  Geographiedozenten  Liebling  nicht  wesenhaft  etwas 
anderes  zu  als  dem  Luther  oder  dem  Kolumbus;  dem 
Kanzleisekretär  Spinnenhirn  oder  dem  Regierungassessor 
Frischmut  nicht  wesenhaft  etwas  anderes  zu  als  dem  Reichs* 
freiherrn  vom  Stein  oder  dem  Grafen  Cavour.  Die  Pflicht 
aber,  die  vielleicht  wirklich  alles  bedeuten  könnte,  wenn 
sie  jedem  das  und  nur  das  zumäße,  was  ihm  allein  an  seiner 
besonderen  Stelle  so  und  keinem  außer  ihm  so  zu  leisten 
obgelegen  wäre,  —  sie  bedeutet  zuletzt  allzu  wenig,  ja  gar 
nichts,  wenn  sie  von  jedem  nur  das  fordert,  was  jeder  andere 
nicht  besser  und  nicht  schlechter  auch  zu  vollführen  weiß. 
Ganz  und  gar  im  Gegensatz  zur  Lehre  Kants  steigert  also 
die  Pflicht  ihren  eigenen  Wert  und  Gehalt  in  eben  dem 
Maß,  als  sie  an  Allgemeingültigkeit  einbüßt  und  an  Sonder* 
gültigkeit  zunimmt,  während  sie  hoffnunglos  und  unauf* 
haltsam  in  jene  Geldbriefträger*  und  Kassenbeamtenmoral 
entartet,  sobald  ihr  eigentlicher  Wertgehalt  in  ihrer  rein 
formalen  Ausnahmlosigkeit  und  Allgemeinverbindlichkeit 
gesucht  wird.  In  eben  jene  subalterne  Geldbriefträger*  und 
Kassenbeamtenmoral  übrigens,  die  in  dem  Deutschland  vor 
dem  Krieg  als  das  Jammergespenst  der  klassischen  Philo* 
sophie  in  allen  Gymnasien  und  Universitäten  als  Königlich 
Preußische  Pflichtenlehre  gepredigt  ward,  allmählich  mit 
vermehrtem  Scharfsinn  dahin  ausgelegt,  daß  Pflicht  (,,du 
erhabener  großer  Name,  der  du  nichts  Beliebtes,  was  Ein* 
schmeichelung  bei  sich  führet,  in  dir  fassest,  sondern  Unter* 
werfung  verlangest  .  .  .")  im  wesentlichen  nichts  weiter  sei 

725 


als  der  Gehorsam  und  nochmals  Gehorsam  gegen  die  Wei* 
sungen  der  Vorgesetzten!  Offenbar  hatte  diese  Pflicht  doch 
etwas  an  sich,  was  Einschmeichelung  und  nicht  selten  sogar 
Einspeichelung  bei  sich  führte,  und  jenes  .Sondern  Unter* 
werfung  verlangest'  Kants  floß  balsamisch  lind  in  die  Ohren 
jedes  brauchbaren  Staatsbürgers  und  Untertanen,  bis  er 
giftiger  und  vergiftender  wie  jede  Säure  zu  Gunsten  der 
Tugend  des  Gehorchens  die  Tugend  des  Gebietens  zersetzt 
und  zerfressen  hatte.  Da  haben  in  diesem  Krieg  etwa  hundert* 
tausende  gemeiner  Soldaten  ,nur*  ihre  Pflicht  getan,  wenn 
sie  ihren  armen  Leib  allen  Mißhandlungen  der  dantischen 
Hölle  zumal  aussetzten ;  aber  kein  Staatsmann,  kein  Kanzler, 
kein  Abgeordneter  war  fähig,  im  selben  Sinne  seine  Pflicht 
auch  nur  zu  sehen,  wenngleich  auch  er  freilich  vom  Stand* 
punkt  Kants  nichts  anderes  getan  hat,  als  es  das  allgemeine 
Gesetz  der  Pflichten  jedermanns  gebot.  Auch  Staatsmann, 
Kanzler,  Abgeordneter  kannten  und  anerkannten  keine  an* 
dere  Tugend  als  die  der  Unterwerfung,  unter  die  öffentliche 
Meinung  und  diese  erzeugende  oder  bearbeitende  Tages* 
presse,  unter  die  Wünsche  der  Großbanken  oder  der  Par* 
teien,  unter  die  vielmögenden  Herren  von  Rheinland  und 
Westfalen,  unter  den  soldatischen  Eng*  und  Eigensinn  sieg* 
reicher  Generale,  unter  die  falschen  Berechnungen  und 
Versprechungen  großmäuliger  Admirale,  unter  die  unzeitige 
Begehrlichkeit  der  domini  terrae,  unter  die  Bedürfnisse  des 
Wuchers  oder  unter  sonst  einen  tausendmäuligen  und 
tausendgliedrigen  Moloch  mit  seinen  angeblich  unwider* 
stehlichen  Machtforderungen.  Da  haben  es  Hunderttausende 
und  Millionen  für  ihre  verdammte  Schuldigkeit  erachtet, 
um  des  Staates,  des  Vaterlandes,  des  Volkes  willen  den  so* 
genannten  Heldentod  zu  erleiden  und  noch  erheblich 
Schlimmeres.  Aber  kein  einziger  von  denen,  die  die  Pflicht 
der  Führung  übernommen  hatten,  vermochte  das  eigentliche 

726 


Sollen  seiner  übermenschlichen  Verantwortlichkeit  auch  nur 
von  fern  zu  erraten.  Pflicht  war's  für  Hinz  und  Kunz,  vier 
Jahre  des  Grausens  in  gelbgasverpesteten,  kotverkrusteten, 
schlammstarrenden  Rattenlöchern  hinter  erstickenden  Mas* 
ken  zu  verröcheln  und  Zug  für  Zug  ihres  Menschengesichtes 
mit  Dreck,  Schweiß,  Blut  zu  überschmieren,  —  und  dieser 
Pflicht  war  wahrlich  genug  und  mehr  wie  genug  geschehen. 
Was  aber  höhere  Pflicht,  unendlich  viel  höhere  gewesen 
wäre  für  die  Hüter  jener  willenlosen  Männerhorden,  einer 
unvermeidlichen  Vertierung,  ja  Vertigerung  der  ihnen  An* 
befohlenen  rechtzeitig  vorzubeugen  um  jeden  Preis:  dies 
nämlich  geschah  nirgends,  weder  hüben  noch  drüben,  weder 
bei  den  Schafen  noch  bei  den  Böcken,  weder  bei  den  Rechten 
noch  bei  den  Linken.  Und  indes  das  ungeschriebene  Ge* 
setz  der  wirklichen  Pflicht,  nicht  der  gemeinen,  sondern 
königlichen,  hohenpriesterlichen,  menschenbrüderlichen, 
welterretterischen  Pflicht  umsonst  seiner  Antigone  harrte, 
in  deren  Schwesterherzen  es  steil  und  feierlich  in  Flammen* 
zeichen  hätte  auf  zum  Himmel  lohen  dürfen,  loben  sich 
König  Kreons  Würger*Erben  hoch  in  allen  Landen,  durchaus 
ihrer  Pflicht  genügt  zu  haben  nicht  anders  wie  der  brave 
Mann  im  Rattenloch.  Und  noch  besudelt  vom  Unflat  dieses 
Eigenlobes  sehen  wir  sie  treten  zum  Beten  vor  Gott  den 
Gerechten  .  .  .  Vielleicht  hat  es  tatsächlich  dieses  verfluchten 
Krieges  bedurft,  damit  die  schreckliche  Unzulänglichkeit 
des  kategorischen  Imperativs  endlich  an  den  Pranger  ge* 
stellt  würde.  Vielleicht  war  dieses  hemmunglose  Gemord 
im  Fleisch  und  Bein  der  europäischen  Gemeinschaft  not* 
wendig,  damit  man  endlich  Wert  und  Sinn  sittlichen  Tuns 
nicht  länger  mehr  in  einer  gleichmäßig  auf  alle  sich  er* 
streckenden  Norm  vermute,  sondern  in  einem  nach  Rang, 
Beruf,  Persönlichkeit,  Macht,  Amt,  Begabung,  Können, 
Verantwortlichkeit  streng  bemessenen  Sollen  von  der  ver* 

727 


schiedensten  Inhaltlichkeit  und  Bestimmtheit.  Denn  in 
Wahrheit  ist  keine  einzige  Pflicht,  nicht  einmal  die  des 
Tötenmüssens  oder  Tötenlassenmüssens,  die  Pflicht  jeder* 
manns,  und  keine  noch  so  anerkannte  Gleichmacherei  im* 
perialer  oder  demokratischer  Staatsgötzen  ist  wirklich  dazu 
berechtigt,  ein  gleiches  und  allgemeines  Sittengesetz  über 
das  Gewissen  jedes  Einzelnen  zu  setzen.  Nicht  daß  ich  an 
meiner  Stelle  vollführe,  was  dir  an  deiner  Stelle  geziemen 
möchte,  nicht  daß  dir  Tat  sei,  was  mir  obliege,  kann  die 
menschlichen  Handlungen  zu  sittlich  werthaften  stempeln. 
Vielmehr  im  Gegenteil,  daß  ich  das  meinige  und  nichts 
sonst,  du  das  deinige  und  nichts  sonst  leiste,  ein  jeglicher 
nach  seiner  Art  und  seinem  Maß.  Auf  solche  Weise  allein 
kann  jeder  Einzelne  den  außerhalb  seiner  gelegenen  Welt* 
punkt  zu  erreichen  hoffen,  wo  sich  die  Linien  seines  Wollens 
mit  den  Linien  seines  Sollens  in  ihren  beiderseitigen  Ver* 
längerungen  schneiden;  wo  sich  sein  Ich  und  sein  Es  gegen* 
seitig  anziehen,  berühren  und  durchdringen.  Nicht  aus  der 
Form  der  allgemeinen  Regel  kann  man  werthaften  Gehalt 
gleichsam  auf  dem  Wege  der  Herauströpfelung,  Heraus* 
dampfung,  Herauskühlung  niederschlagen,  und  nicht  ein* 
mal  der  Eigensinn  Kants,  obschon  ein  sehr  beträchtlicher, 
bringt  es  zuweg,  dauernd  dieFiktion  einer  einzigenMenschen* 
pflicht  aufrecht  zu  erhalten  .  .  . 

Das  gültige  Ergebnis  dieser  zuweilen  etwas  streitbaren 
Erörterung  besteht  also  darin,  daß  der  verfassunggebende 
Grundwert  zumindest  beim  Beispiel  der  Moral,  wahrschein* 
lieh  aber  auch  bei  anderen  Beispielen  werthaft  selbstherr* 
licher  Bereiche,  keineswegs  ein  einziger  und  unteilbarer  ist. 
Konnte  man  vorhin  noch  eine  schwache  Hoffnung  hegen, 
durch  die  Voraussetzung  Kants  von  einem  für  jedes  be* 
sondere  Wertbereich  grundlegenden  Einzel*  und  Einzig* 
wert  das  Problem  einer  zu  befürchtenden  Relativität  der 

728 


Werte  untereinander  gewissermaßen  zu  vereiteln  und  der* 
art  dem  Ideal  den  Charakter  eines  imperativen  Absolutum 
zu  sichern,  so  verlischt  jetzt  auch  dieser  Schimmer  von 
Hoffnung,  und  sogar  der  moralische  und  axiologische  Ab* 
solutist  findet  sich  gezwungen  zur  Anerkennung  einer 
bestehenden  Verhältnismäßigkeit,  Wechselbezugnahme, 
Gegengesetztheit,  Wettbewerbschaft.Ineinanderverflochten* 
heit  der  einzelnen  Werte  innerhalb  des  einzelnen  Wert* 
bereichs.  Die  Kritik,  ja  das  Gericht  über  die  Sitten* 
lehre  Kants,  nicht  von  uns,  sondern  vom  unwiderruflichen 
Urteil  der  Wirklichkeit  selber  geübt,  hat  es  wenigstens  von 
der  Moral  gewiß  gemacht,  daß  sie  ihre  Verfassung  und  ihr 
Grundgesetz  durchaus  nicht  von  einem  einzigen  oder  auch 
nur  eindeutigen  Sollen  empfange:  daß  sogar  dann,  wenn 
nach  dem  kantischen  Vorgang  die  Pflicht  als  solche  zur 
Regel  sittlichen  Verhaltens  erhoben  wird,  bei  genauerer 
Prüfung  selbst  diese  simple  Tugend  der  Pflicht  in  eine  un* 
bestimmte  Mannigfaltigkeit  vieler  Pflichten,  vieler  Tugen* 
den  zerlegt  erscheint.  In  zahllosen  einzelnen  Normen  bricht 
sich  die  Eine  Norm  der  Pflicht  je  nach  der  Beschaffenheit 
des  besonderen  Stoffes  oder  Mittels,  von  welchem  sie  auf* 
genommen,  fortgelenkt,  abgeleitet,  aufgesogen,  zurück* 
geworfen  wird.  Der  Wert,  obzwar  unbestreitbar  gesetz* 
geberisch  innerhalb  der  von  ihm  selber  bestimmten  und 
umschriebenen  Gesamtheit  menschlicher  Auswirkungen,  ist 
nicht  einmal  als  Pflicht  ein  unzusammengesetztes  Gebild, 
sondern  stellt  sich  als  eine  Summe  dar  der  in  einer  stätigen 
Reihe  zu  entwickelnden  Teilgrößen  oder  Gliedwerte:  als 
eine  Reihe,  die  freilich  immer  noch  erst  gesucht  und  nicht 
gefunden  ist.  Ungefähr  wie  sich  ein  Klang  um  so  reicher, 
volltönender,  umfänglicher  anhört,  desto  größer  die  An* 
zahl  seiner  (zusammenstimmenden)  Ober*  und  Nebentöne 
ist,  so  darf  man  den  Wert  je  nach  dem  Reichtum  an  um* 

729 


spannten,  einbezogenen,  verwandten  Werten  für  Verhältnis* 
mäßig  wertgesteigerter  erachten.     Sogar  der  anscheinende 
Simplex  .Pflicht*  füllt  und  rundet  sich  je  nach  der  Mannig* 
faltigkeit  der  von  ihm  umgriffenen  Forderungen  zu  einem 
richtigen  Komplex  werthafter  Willensantriebe  und  Strebens* 
ziele.  Darum  sagte  ich  schon  vorhin,  die  sittliche  Pflicht 
könne  sehr  vieles  oder  aber  sehr  weniges  oder  gar  nichts 
bedeuten.  Wieviel  oder  wie  wenig  hängt  ab  von  der  per* 
sönlichen  Fähigkeit,  dieselbe  als  Komplex  oder  als  Simplex 
zu  würdigen.   Überschreitet  die  Vorstellung  eines  Wertes 
die  Schwelle  des  Bewußtseins  überwiegend  als  begriffliche 
Eingestalt  oder  als  Simplex,  dann  allerdings  wird  das  Pro* 
blem   der  axiologischen  Relativierung  nicht  einmal  dem 
geschärftesten  Gewissen  bedrohlich,  indem  es  noch  vor 
seiner  Entstehung  jäh  unterdrückt  wird ;  —  gefährlich  könnte 
in  diesem  Fall  höchstens  die  andere  Möglichkeit  werden,  daß 
sich  das  wertbejahende  Ich  in  ein  zwar  schlechthin  gültiges 
und  unbedingtes,  dafür  aber  inhaltbares  und  bestimmung* 
leeres  Sollen  vergaffe.  Überschreitet  der  Wert  hingegen  die 
Schwelle  als  Komplex,  so  bleibt  er  und  bleiben  wir  zwar 
gegen  diese  letztere  und  dringlichste  Gefährdung  gefeit, 
jedoch  nur  um  gleichzeitig  mit  der  vollen  Wucht  jener  sokra* 
tischen  Lebensfrage  bestürmt  zu  sein,  die  vormals  den  Ver* 
fasser  des  Größeren  Hippias,  des  Protagoras,  des  Gorgias 
oder  des  Menon  bestürmt  und  bestürzt  haben  mochte  .  .  ., 
ich  meine  jene  kitzlichste  aller  sokratischen  Vermächtnis* 
fragen,  die  sich  wie  ein  rotes  Fädchen  durchs  ganze  laby* 
rinthische  Gewind  der  Dialoge  Piatons  hindurchzieht  und 
den  innerlichen  Zusammenhang  dieser  Philosophie  in  ewi* 
gen  Essays  so  lange  immer  wieder  verbürgt,  bis  dieser  größte 
Sokratiker  in  einem  späten  Zustand  denkerischer  Reife  (im 
Philebos)   zuletzt  nicht  eigentlich  zwar  die  axiologische, 
wohl  aber   die  transzendentalphilosophische  Lösung  des 

730 


Problems  anbahnt.  Als  Komplex  mithin,  als  .Inbegriff  stellt 
uns  der  Wert,  sag'  ich,  ganz  unabweislich  vor  das  Problem 
der  Verhältnismäßigkeit  seiner  Teil*,  Glied*  oder  Ergänzung* 
werte.  Wir  alle,  mit  oder  gegen  unseren  Willen  Platoniker 
in  irgendeinem  persönlichen  Grade,  wir  erleben  das  noch 
immer  unenträtselte  Rätsel  der  platonischen  Wert*  und 
Güterlehre:  wie  beispielweis  sich  der  Inbegriff  des  Schönen 
verhalte  zu  seinen  Gliedbegriffen  des  Schicklichen,  Nütz* 
liehen,  Zweckmäßigen,  Brauchbaren,  Angenehmen,  Lust* 
vollen;  —  Problem  des  Größeren  Hippias.  Oder  wie  die 
Sondertugenden  der  Weisheit,  Frömmigkeit,  Mannhaftig* 
keit,  Selbstzucht,  Gerechtigkeit  zum  Inbegriff  .Tugend  über* 
haupt'  verschmelzen  oder  auch  nicht  verschmelzen  möchten ; 
—  Problem  des  Protagoras  bis  zum  Staat  über  den  Gorgias, 
Menon  und  sonst  noch  manchen  Dialog  hinweg.  Wie  also, 
allgemein  gesprochen,  dieser  synthetische  Charakter  des 
Wertes  an  und  für  sich  zu  verstehen  wäre,  ohne  daß  dabei 
ein  Wert  den  anderen  geradezu  aufhebe  und  vernichte  und 
entwerte?  .  .  . 

Selbstverständlich  kann  es  hier  unter  keinen  Bedingungen 
unsere  Sache  sein,  uns  sozusagen  als  die  berufeneren  Fort* 
setzer  oder  gar  als  die  Vollstrecker  des  Piatonismus  auf* 
spielen  zu  wollen  und  jene  vom  Nachkömmling  des  er* 
lauchten  Solon  unbeschrieben  hinterlassene  Tafel  der 
Güter  in  bescheidener  Selbsteinschätzung  eigenhändig 
vollzuschreiben;  heut'  und  jetzt,  nachdem  bis  hinauf  zu 
Nietzsche  selbst  die  eisernsten  Anstrengungen  abend* 
ländischer  Intelligenzen  und  abendländischer  Energien 
zu  keiner  endgültigen  Festsetzung  der  Werte  ausgelangt 
haben.  Weniger  zuwiderlaufend  der  gebotenen  Beschei* 
düng  vor  der  Unzugänglichkeit  der  Umstände  würde 
es  indessen  sein,  vorläufig  einmal  die  grundsätzliche  Mög* 
lichkeit  der  Lösung  unserer  axiologischen  Aufgabe  zu  er* 

731 


wägen  und  sich  einstweilen  mit  der  Aufzeigung  solcher 
Möglichkeit  abzufinden.  Bei  Gelegenheit  des  auffälligen 
Tatbestandes,  daß  Werte  bei  flüchtigem  Hinblicken  sowohl 
als  begriffliche  Einfachheiten  gleichsam  absolut,  wie  auch 
als  begriffliche  Mannigfaltigkeiten  relativ  aufgefaßt  werden 
können,  jedoch  bei  genauerer  Erforschung  stets  für  Vor* 
Stellungen  und  Aufgegebenheiten  von  zusammengesetzter 
Beschaffenheit  erachtet  werden  müssen,  —  bei  dieser  Ge* 
legenheit  ist  mir  vorhin  schon  ein  Vergleich  des  Wertes 
mit  dem  Klang  in  die  Feder  geflossen,  der  ja  ebenfalls  von 
unserem  Bewußtsein  entweder  als  Simplex  oder  als  Kom* 
plex  erlebt  zu  werden  vermag.  Der  aufmerksame  Leser  wird 
sich  vielleicht  dabei  zu  entsinnen  wissen,  daß  dieser  näm* 
liehe  Vergleich  schon  früher  in  dem  Kapitel  von  der  Welt* 
jenseitigkeit  des  Sinns  herbeigezogen  wurde,  oder  vielmehr 
sich  sozusagen  ohne  besonderes  Dazutun  eingestellt  und  ein* 
gefunden  hatte :  an  jener  Stelle  nämlich,  wo  wir  uns  die  plato* 
nische  Gemeinschaft  der  Gattungen,  xoivcovia  xeov  ysvwv  et* 
was  näher  verständlich  zu  machen  trachteten.  Jetzt  aber,  wo 
wir  endlich  daran  denken  dürfen,  den  ganzen  weiten  Ring 
unserer  bisherigen  Darstellung  europäischer  Wissenschaft* 
lichkeit  und  Weltsinndeutung  zusammenzuschweißen,  jetzt 
scheint  es  an  der  Zeit  zu  sein,  die  letzte  und  aufrichtigste 
Rechenschaft  uns  allen  abzulegen,  daß  jener  seltsam  aus* 
sehende  Vergleich  zwischen  Philosophie  und  Musik,  zwi* 
sehen  Musik  und  Philosophie  von  vornherein  nicht  auf 
bloßer  Zufälligkeit  beruhte,  sondern  eine  tiefe  Notwendig* 
keit  einschloß.  Sie  zu  erhärten,  sei  mir  es  erlaubt,  zum  Ab* 
Schlüsse  noch  folgendermaßen  ungefähr  auszuholen: 

Ein  kerniger  und  eigenwüchsiger  Komponist,  Musik* 
ästhetiker  und  Musikpädagog  unserer  Zeit  (der  Schwabe 
August  Halm  in  seinem  ausgezeichneten  Buch  Von  zwei 
Kulturen  der  Musik)  spricht  einmal  beiläufig,  aber  in  einem 

732 


hier  sehr  förderlichenWortverstand,  von  einem  »produktiven* 
Ton  als  dem  eigentlichen  Urelement  aller  Musik,  von  einem 
Ton,  welcher  „andere  Töne  entstehen  läßt",  —  um  mit  dieser 
Wendung  offenbar  auf  den  Tatbestand  abzuheben,  daß  jeder 
Klang  oder  Ton  zunächst  und  von  dem  rohen  Hörer  als  Sim* 
plex  (oder  EinsKlang),  später  jedoch  und  vomgeübten  Hörer 
als  Komplex  (oder  Zusammenklang)  zur  Wahrnehmung 
gelangen  könne :  der  vereinzelte  Ton  für  die  naive  Auffas* 
sung  mithin  das  wirklich  aufbauende  Element  (oder  das 
.Frühere')  der  ganzen  Töneleiter  bilde,  für  die  kritische  Auf* 
fassung  hingegen  selber  schon  ein  tonales  System  (und  folg* 
lieh  ein  .Späteres*  oder  ein  »Abgeleitetes*  der  Töneleiter)  sei. 
Der  anscheinend  hörbar  einfache  Klang,  tatsächlich  aus 
einer  Reihe  von  Ober*  und  Nebentönen  bestehend  mit 
ihren  jeweiligen  Intervallen,  will  sagen  mit  ihren  jeweilig 
tonalen  Abständen  Oktav,  Quint,  Terz,  Quart  .  .  .  von 
einem  angenommenen  ersten  Ton,  —  er  umspannt  schon  in 
sich  wesentlich  die  Beziehungen  der  Klänge  innerhalb  der 
Klangleiter,  darart  zwar,  daß  diese  letztere  nur  eigentlich 
herausstellt,  was  der  Klang  als  solcher,  der  Klang  als  System 
von  Verhältnismäßigkeiten  seiner  Obertöne  einschließt  und 
vereinheitlicht.  Der  Klang  ist  schon  an  und  für  sich  Klang* 
Verhältnis,  Klangbeziehung,  Klanggewebe,  Klangzusam* 
menordnung,  und  mit  demselben,  wenn  nicht  mit  viel  bes* 
serem  Recht,  als  ich  die  Tonleiter  aus  ihm  entstanden  denken 
darf,  darf  ich  umgekehrt  aus  der  Tonleiter  ihn  entstanden 
denken.  Diese  Abstände  oder  Intervalle  von  Klängen  nun, 
die  gleichsam  das  tonale  Apriori  des  Einzeltones  konsti* 
tuieren,  empfinden  wir  einige  als  zusammentönend,  andere 
hingegen  als  auseinandertönend,  wobei  sie  just  in  letzterer 
Eigenschaft  der  musikalischen  Komposition  oder  Organi* 
sation  als  höchste  Aufgabe  die  stellen,  eine  tonale  Bewegung 
(oder  eine  sogenannte  Melodie)  auf  die  Weise  zu  führen, 

733 


daß  jeweils  eine  Rückkehr  der  dissonierenden  Verhältnisse 
zu  den  konsonierenden  stattfindet  und  dadurch  eine  von 
unstimmigen  Intervallen  und  unstimmigen  Akkorden  er* 
regte  Seelenspannung  des  Spielers  oder  Hörers  zu  lustvoller 
Entspannung  gelöst  werde.  Jedem  akustisch  irgendwie  ver* 
wirklichten  Einzelklang  wohnt  demnach,  sobald  wir  ihn 
als  das  nehmen,  was  er  ist,  nämlich  als  Zusammenklang  oder 
Klangbeziehung,  die  unverkennbar  innige  Bestrebung  ein, 
andere  Klänge  herauszufordern,  die  mit  den  Intervallen 
seiner  eigenen  Obertöne   möglichst  übereinstimmend  zu 
Gehör  gebracht  werden  können:  eine  Bestrebung,  Neigung, 
Innenrichtung,  deren  Heftigkeit  desto  stärker  anwächst,  je 
häufiger  Mißklänge  ihre  endgültige  Befriedigung  hinaus* 
zögern  oder  gar  vereiteln.  Grundsätzlich  sucht  mithin  jeder 
Klang  einen  den  tonalen  Verhältnissen  seiner  Obertöne 
möglichst  genehmen  anderen  Klang,  jedes  Intervall  das  ihm 
von  allen  sonstigen  Intervallen  angemessenste,  jeder  Akkord 
seinen  ähnlichsten  Bruderakkord.  Auf  dieser  bemerkens* 
werten  Eigenheit  aller  tonalen  Erscheinungen,  auf  dieser 
gegebenen  Verwandtschaft  der  Klänge  untereinander  und 
zueinander  fußt  dann  nichts  mehreres  und  nichts  geringeres 
als  die  gesamte  Musik  mit  der  ihrem  tonalen  Gewebe  ein* 
gewirkten  Urgesetzmäßigkeit.  Derart  geht  in  der  musika* 
lischenTheorie  die  Rede  von  Quintverwandtschaft  und  Terz* 
Verwandtschaft,  von  Oberdominant,  Unterdominant  und 
Nebendreiklängen;  derart  kann  man  aus  den  Beziehungen 
der  einzelnen  tonalen  Elemente  immer  neue  Beziehungen 
und  aus  ihnen  wiederum  immer  neue  tonale  Elemente  ent* 
stehen  lassen :  Klang  erzeugt  Klang,  Ton  heischet  Ton,  Inter* 
vall  sucht  Intervall,  Akkord  fordert  Akkord.  Ja!  zuletzt  ge* 
biert  ein  einziger  Klang  kraft  seiner  synthetischen  Beschaffen* 
heit  als  Einklang,  als  Zusammenklang,  in  einer  Art  von 
generatio  aequivoca  seu  spontanea  die  endlose  Vielheit  aller 

734 


Klänge,  jenen  wundersamsten  tnundus  sensibilis  asque  inteU 
ligibilis,  der  rein  abgelöst  von  der  sogenannten  Wirklichkeit 
und  völlig  unbeschwert  mit  ihr,  dennoch  eine  durch  mensch* 
liches  Instrument  und  Organon  hervorgebildete  Wirklich* 
keit  höheren  Grades  selbstherrlich  und  selbstgesetzgeberisch 
darstellt.  Die  Musik  als  tongeordnetes  Gefüge  von  Be* 
Ziehungen,  die  je  und  je  nach  Verwandtschaftgraden  mit* 
einander  verknüpft  sind,  erfüllt  infolgedessen  das  Ideal 
einer  menschgeschaffenen  Eigenmächtigkeit  und  Selbstge* 
staltetheit  ohne  Rest  und  Abzug.  Indem  sie  aus  Mannig* 
faltigkeit  Einheit  zusammenfaltet  und  aus  Einheit  Mannig* 
faltigkeit  auseinanderfaltet,  bringt  sie  ein  Erlebnisbereich 
seiner  eigenen  Art  und  nur  seiner  Art  hervor,  worin  Sim* 
plexe  und  Komplexe  in  ihrer  wechselseitigen  Bezüglichkeit 
anerkannt  und  angewendet  werden,  aber  eben  auf  Grund 
dieser  ihrer  Bezüglichkeit  und  Verhältnismäßigkeit  ein 
durchweg  autonomes,  suveränes,  absolutes  Ganzes  mit* 
einander  ausmachen.  Nicht  zwar  der  Klang,  nicht  der  Ton, 
nicht  die  Töneleiter  sind  absolut,  aber  die  Musik  im  großen 
und  im  ganzen  ist  es,  —  ist  es  in  einer  kaum  ausdenklichen, 
überschwänglichen,  wirklichkeitgenesenen  Bedeutsamkeit. 
Scheinbar  Einfaches  bedingt  und  fordert  hier  nach  inne* 
wohnendem  Bedürfnis  Mehrfältiges,  scheinbar  Mehrfältiges 
bedingt  und  fordert  hier  nach  innewohnendem  Bedürfnis 
Einfaches  und  tönt  stets  wieder  zurück  zum  Einfachen  (Ge* 
setz  der  Tonika).  Verwandtschaft  der  Einzelklänge  zueinan* 
der,  Verwandtschaft  der  Verhältnisklänge  und  Klangver* 
hältnisse  zueinander  legt  den  Grund  zu  dem  Dasein  jeder 
Musik,  wodurch  eine  ungeheure  Möglichkeit  des  Lebens 
nicht  nur  zu  ihrer  Verwirklichung  berufen,  sondern  gleich* 
zeitig  zu  ihrer  Ordnung  und  Gesetzmäßigkeit  erhoben  wird. 
Die  Suveränität,  Autonomie,  Absolutheit  des  Musikers  ist 
aber  infolge  dieses  allen  die  schlechthin  unvergleichlichste, 

735 


uneingeschränkteste,  unwirklichste,  unbedingteste,  die  es 
gibt:  oder  vielmehr  sie  wäre  dies,  wenn  der  Musik  als  der 
entwirklichten  Kunst  nicht  Philosophie  als  die  entwirklichte 
Wissenschaft  völlig  ihresgleichen  gegenüberträte. 

Denn  kaum  bedarf  es  jetzt  noch  besonderer  Hervor* 
hebung  und  Unterstreichung,  daß  die  Verwandtschaft  der 
Werte  untereinander  genau  das  parallele  Phänomen  liefert 
zu  der  Verwandtschaft  der  Klänge  untereinander,  und  daß 
das  immer  noch  schmerzlich  vermißte  Gesetz  der  Wechsel* 
bezüglichkeit  der  Werte  nirgendwo  anders  entwickelt  und 
erläutert  werden  kann  als  an  dem  längst  gefundenen  Gesetz 
der  Wechselbezüglichkeit  der  Töne:  uns  schließlich  und  zu 
guter  Letzt  auf  diese  Art  durch  einen  kühnen  Seitensprung 
in  fremdes  Gebiet  entschlossen  rettend,  fast  ähnlich  wie 
Aristoteles,  wenn  er  der  Meinung  ist,  man  müsse  ,misswg 
links1  in  der  Reihe  der  tellurischen  Organismen  ganz  ein* 
fach  auf  dem  Monde  suchen!  —  was  zwar  buchstäblich  ge* 
nommen  dumm,  bildlich  verstanden  aber  weise  war,  wenn 
man  sich  etwa  der  bekannten  Entdeckung  tellurischer  Ele* 
mente  über  den  Umweg  der  spektralen  Analysis  hinweg 
zu  entsinnen  beliebt  .  .  .  Jedenfalls  besteht  die  akustische 
Tendenz  zu  relativer  Ergänzung,  Vervollständigung,  Span* 
nung,  Gegenüberstellung,  Abhebung,  Rückwendung,  Auf* 
lösung,  Vermittlung,  Versöhnung  auch  bei  den  sogenannten 
Werten,  und  einmal  in  Besitz  und  Griff  eines  einzigen  wie 
immer  auch  beschaffenen  Wertes,  erzeugt  dieser  bei  einer 
richtig  angewandten  axiologischen  Kontrapunktistik  alle 
folgenden  Werte,  ihre  Abstände  zu  ihm  und  unter  sich 
selbsttätig  nach  der  Regel  ihrer  engeren  oder  weiteren  Ver* 
wandtschaft  bestimmend  und  Wert  zu  Wert  hierarchisch  zu 
einem  gleichsam  natürlichen,  heißt  das  lediglich  axiologisch 
geordneten  System  aufeinander  schichtend  und  türmend. 
Für  den  Denker,  der  Werte  setzt,  besteht  jeder  Wert  aus 

736 


Teil*  und  Glied  werten,  die  sich  zur  Gesamtheit  aller  Werte 
nur  in  Einem  tatsächlich  richtigen  Bezug  verhalten  können: 
gesetzt,  man  habe  das  geistige  Organ  in  sich  genug  ge* 
schärft,  um  von  Fall  zu  Fall  über  den  Grad  der  Verwandt* 
schaff,  den  Grad  des  Einklangs  und  des  Mißklangs  zuver* 
lässig  zu  entscheiden.  Und  wenn  zu  seiner  Zeit  Goethe  mit 
dem  unbeirrbaren  Instinkt  des  begnadeten  Harmonisten 
und  Musageten  gleichsam  die  musikalische  Theorie  auf 
optische  Erscheinungen  und  Vorgänge  anzuwenden  sich 
herausnahm,  wofern  er  getrost  von  .geforderten'  Farben  wie 
die  Musik  und  ihre  Ästhetik  von  geforderten  Klängen, 
Auflösungen,  Ergänzungen  spricht  und  auf  diese  Kühn* 
heit  hin  uns  Nachgeborenen  die  Hoffnung  eröffnet  auf 
eine  neue  (ob  auch  menschheitalte!)  Optik,  nicht  nur  im 
Sinne  einer  neuen  Wissenschaft,  sondern  mehr  vielleicht 
noch  einer  neuen  Malerei  verstanden;  —  wohlan I  so  liegt 
es  auf  uns  und  stets  nur  auf  uns,  dieselbe  Theorie  der  Musik 
mutatis  mutandis  auf  Philosophie  und  Axiologie  anzuwen* 
den  und  eine  gleichfalls  menschheitalte  Wissenschaft  in 
der  Tat  und  durch  die  Tat  neu  zu  stiften.  Raffen  wir  uns 
zu  der  klaren  Feststellung  und  Voraussetzung  auf,  daß  es 
fordernde,  daß  es  geforderte  Werte  gäbe,  die  sich  nach  dem 
Verhältnis  einer  ewigen  Verwandtschaft  sachlich  abstaffel* 
ten,  —  daß  eine  gleichsam  ,intelligible  Musik'  von  Normen, 
Imperativen,  Idealen  vorhanden  sei,  nach  welcher  sich  (re* 
lativierend  und  relativiert)  deren  Reihung,  Gliederung, 
Aufstellung  vollziehe.  Vermöge  der  Wesenseigentümlich- 
keit jedes  Wertes,  schon  an  und  für  sich  ein  Wertverhältnis 
zu  umgreifen  und  sich  somit  als  Verhältniswert  erkennbar 
zu  geben,  muß  seine  Stelle  inmitten  der  Schwebewelt  aller 
Werte  zumal  auszumachen  sein.  Ein  jeder  Wert  fordert  und 
wählt  aus  und  bedingt  und  bezeichnet  zu  seinem  Teil  das, 
was  in  der  unendlichen  Reihe  von  seinesgleichen  und  seines* 

47     Ziegler,  Gestaltwandel  der  Götter  737 


ungleichen  ihm  am  nächsten  entspricht:  er  selber  seinerseit 
wiederum  gefordert  von  eben  derselben  Reihe  an  eben  die* 
selbe  Stelle,  die  er  und  nur  er  auszufüllen  im  stand  ist  .  .  . 
Sei  es  zum  Abschluß  noch  der  Erwähnung  für  würdig  er* 
achtet,  daß  als  das  erste  uns  überlieferte  und  immer  noch 
klassische  Beispiel  für  eine  wertwissenschaftliche  Darstel* 
lung,  welche  die  Teil*  und  Einzelwerte  eines  gesetzgebe* 
rischen  Grundwertes  nach  rein  sachlicher  Verwandtschaft 
herausstellt,  der  platonische  Staat  zu  gelten  hat  mit  seiner 
synthetisch*analytischen  Vergegenständlichung  der  Gerech* 
tigkeit  und  der  sie  begrifflich  aufzubauenden  Wertverhält* 
nisse.  Was  Piaton  in  diesem  Werk  offenbar  zum  allerersten 
mal  auf  abendländischer  Erde  bewußtermaßen  angestrebt 
hat,  —  und  Aristoteles  verhält  sich  trotz  seiner  nikomachi* 
sehen  Ethik  in  dieser  Hinsicht  zu  Piaton  doch  weniger  wie 
sich  ein  Kepler  zu  seinem  Kopernikus  als  wie  sich  ein  Tycho 
Brahe  zu  diesem  letzteren  verhält:  trotz  aller  Verbunden* 
heit  im  Geist  doch  weniger  als  Fortsetzer,  Erbe  und  Er* 
weiterer  denn  als  Gegner,  Widersacher  und  Verschleuderer! 
—  was  also  dieser  Sprößling  aus  solonischem  Blut  hier  an* 
strebte,  war  eben  jene  ,intelligible  Musik*  des  axiologisch 
gestuften  Kosmos,  der  jenseit  des  organischen  Kosmos  nicht 
anders  aufging  wie  dieser  organische  Kosmos  jenseit  des 
mechanischen  aufgegangen  war.  Den  Ungeheuern  Zusam* 
menhang  einer  Wert*Welt  zu  umschreiben  und  umschrei* 
bend  aufzuweisen,  diese  Aufgabe  sieht  Piaton  über  sich  am 
Horizont  der  europäischen  Philosophie  stehen,  —  aber  zu 
gleicher  Zeit  scheint  er  sich  klar  darüber  geworden  zu  sein, 
daß  diese  Aufgabe  selbst  von  keinem  einzelnen  Denker, 
von  keiner  einzelnen  Schule,  von  keiner  einzelnen  Rasse, 
von  keinem  einzelnen  Zeitalter  erschöpft  oder  gelöst  zu 
werden  vermochte.  Er,  der  ewige  Essayist,  der  mit  jedem 
Dialog  gewissermaßen  von  vorn  anfängt,  scheint  zu  ahnen, 

738 


daß  das  System  der  Werte  kein  endliches,  sondern  ein  un* 
endliches  System  ist,  und  darum  auch  nie  wie  die  Systeme 
des  Aristoteles,  des  Plotinos,  des  Thomas  abgeschlossen  oder 
vollendet  werden  kann.  Der  unendliche  Zusammenhang 
der  Werte  ist  auch  gedanklich  nur  im  Unendlichen  zu  ver* 
wirklichen:  die  Wertwissenschaft  im  gültigsten  und  voll* 
ständigsten  Begriff  ist  unter  allen  Umständen  der  proble* 
matischen  Vollendung  der  Menschheit,  als  der  unendlichen 
Summe  aller  wertsetzenden  und  wertlebenden  Persönlich* 
keiten,  ewig  vorbehalten  .  .  . 

Äugen  wir  inzwischen  aus  diesem  gleichsam  erflogenen 
Höhenabstand  einmal  noch  auf  diese  Darstellung  der  drei 
wissenschaftlichen  Erkenntnisstämme  herab,  —  auf  eine 
Darstellung,  die  in  mancherlei  Betracht  eine  gewagte  ge* 
nannt  werden  darf  und  muß.  Unvermeidlich  drängt  sich 
uns  hierbei  die  Beobachtung  auf,  daß  diese  europäischen 
Stammwissenschaften  von  gestern  und  von  heute,  —  schon 
vielleicht  nicht  mehr  die  Stammwissenschaften  für  morgen  1 
—  daß  sie  seit  der  Reformation  und  durch  diese  vom  Mythos 
sowohl  wie  vom  Dogma  des  Christentums  abgelöst  wurden, 
um  dann  zunächst,  durchaus  sich  selber  überlassen,  ihr  be* 
Vorzugtestes  Muster  in  den  Systemen  cölestischer  und  tellu* 
rischer  Mechanik  zu  gewahren.  Das  auf  die  reformatorischen 
Erschütterungen  folgende  Jahrhundert  ist  in  seinen  ersten 
Jahrzehnten  das  Zeitalter  der  klassischen  Astronomie  ge* 
worden,  mit  der  die  Neubegründung  der  Mechanik  des 
Irdischen  nun  einmal  unleugbar  verknüpft  ist :  sie  ihrerseit 
die  Mutterwissenschaft  unserer  modernen  Physik  und  Che* 
mie  mit  der  unübersehbaren  Menge  ihrer  Zweig*,  Hilf*  und 
Tochterwissenschaften.  Wie  grenzenlos  im  übrigen  die  Er* 
Weiterung  des  bisherigen  Erfahrungumkreises  durch  die 
Ergebnisse    dieses   ersten  wissenschaftlichen  Typus   sein 

47*  739 


mochte,  —  die  hundert  Jahre  früher  geschehene  Erweiterung 
durch  die  glorreiche  ,conquista' ,  durch  die  glorreiche  Ent* 
deckung  der  Erde  von  Seiten  der  Kolumbus,  Vasco,  Ves* 
pucci,  Magellaens,  Balbao,  Cortez,  Pizzarro  bei  weitem  über* 
treffendl  —  wir  konnten  dennoch  schon  in  Bälde  feststellen, 
daß  sogar  die  Voraussetzungen  dieser  exaktesten  Bewälti* 
gung  der  Wirklichkeit  vor  den  Problemen  der  sogenannt 
organischen  Natur  versagen  mußten.  Und  dieser  selbe  Vor* 
gang  der  Unzulänglichkeit  scheinbar  allgemeinster  Prin* 
zipien,  Axiome,  Hypothesen  wiederholte  sich  schnell  bei 
einer  dritten  Gruppe  wissenschaftlicher  Erkenntnisse,  die 
wir  mit  dem  älteren  und  ungenaueren  Ausdruck  ,  Philo* 
sophie',  mit  einem  neueren  aber  womöglich  zutreffenderen 
.Axiologie'  zu  benennen  pflegten.  Derart  begannen  sich  für 
unser  prüfendes  Urteil  drei  getrennte  Erkenntnisabsichten 
voneinander  abzuheben  und  doch  wiederum  zusammen 
das  Ganze  der  modernen  Wissenschaft  auszumachen.  Das 
grundsätzliche  Ziel  der  Mechanik  erwies  sich  gerichtet  auf 
die  gedankliche  Beherrschung  von  natürlichen  Bewegungen, 
die  sich  dem  causa  aequat  effectum  fügten  und  sich  vorzüg* 
lieh,  ja  ausschließlich  auf  die  Veränderungen  nach  Lage  oder 
Zusammensetzung  oder  Zustand  erstreckten.  Das  entscheid 
dende   Erkenntnismittel   zu   dieser  Erkenntnisabsicht  lie* 
ferten  offenbar  Größe  und  Zahl,  Megethos  und  Arithmos, 
die  eine  Gleichsetzung  und  Gleichung  zwischen  den  mecha* 
nischen  Erscheinungen  ermöglichten,  indes  das  hauptsäch* 
liehe  Ziel  der  Organik  und  ihrer  einzelnen  Disziplinen  auf 
die  gedankliche  Bewältigung  einer  ganz  anderen  Sorte  von 
natürlichen  Bewegungen  gesammelt  war,  —  nicht  etwa  sol* 
eher,  die  sich  auf  Lage,  Zustand,  Zusammensetzung  der 
Körper  erstreckten,  vielmehr  solcher,  die  den  Wechsel  der 
äußeren  (und  inneren)  Gestalt  und  die  damit  gegebenen 
Änderungen  betrafen.  Diese  Änderungen  erfolgten  anstatt 

740 


nach  dem  grundlegenden  causa  aequat  effectum  nach  dem 
widersätzlichen,  aber  eben  darum  gleichfalls  grundlegenden 
causa  inaequat  effectum :  will  heißen  nach  Antrieben,  Reizen, 
Beweggründen,  die  im  mechanischen  Wortverstand  über* 
haupt  keine  wirklichen  Ursachen  mehr  sind  und  folglich 
auch  keine  Ansätze  zu  mathematischen  Gleichsetzungen 
darbieten  können.  Im  Brennpunkt  organischen  Erkenntnis* 
willens  finden  wir  also  nicht  Größe  und  Zahl,  sondern  Ge* 
stalt  und  Gestaltwandel;  nicht  Megethos  und  Arithmos, 
sondern  Morphe  und  Metamorphosis,  Typos  und  Historia. 
Der  menschliche  Gedanke  schmiegte  sich  freilich  hier  nicht 
mehr  mit  der  vorigen  Geschmeidigkeit  den  natürlichen  Be* 
gebenheiten  an  und  es  konnte  billig  die  Frage  aufgeworfen 
werden,  ob  die  organischen  Wissenschaften  die  Wirklich* 
keit  durch  vernünftige  Begriffe  in  der  Tat  noch  .beherrsch* 
ten\  oder  ob  nicht  die  erkenntnismäßige  Beziehung  zwischen 
Begriff  und  Wirklichkeit  ungleich  aufgelockerter  und  viel* 
deutiger  geworden  sei.  Vollends  unterbrochen  erscheint 
diese  Bezugnahme  wissenschaftlicher  Bilder  und  Bildes* 
bilder  auf  die  Wirklichkeit  bei  der  Philosophie  selber,  die 
es  sinnfällig  weder  auf  eine  Beherrschung  noch  Bewältigung 
noch  Bemeisterung  der  Natur  mehr  abgesehen  hat,  —  statt 
dessen  aber  auf  richtige  Prägung  und  Schätzung,  Bindung 
und  Ineinandersichtung  solcher  Begriffe,  die  dem  mensch* 
liehen  Willen  unter  Umständen  seine  bestimmenden  Im* 
pulse  liefern  mochten  und  auf  diesem  Umweg  einer  späteren 
Verwirklichung  zusteuerten.  Das  Werkzeug,  dessen  sich 
der  Philosoph  dann  zu  dieser  Endabsicht  bediente,  war 
nicht  mehr  dieser  oder  jener  vereinzelte  Begriff  wie  Größe 
oder  Zahl  oder  Gleichung  oder  Gestalt  oder  Gestaltwandel 
oder  Leben  oder  Lebewesen.  Nein,  das  war  der  Begriff  an 
und  für  sich  kraft  seiner  Eigenheit,  möglicher  Wert  zu  sein; 
das  war,  wie  man  auf  die  anderen  griechischen  Bezeichnun* 

741 


gen  anspielend  sagen  könnte,  der  Logos  als  solcher,  der 
nicht  Wirklichkeiten  durch  Vernunft  gedankenhaft  meistert, 
sondern  Wirklichkeiten  durch  Werte  schöpferisch  ins  Da* 
sein  ruft  .  .  . 

Diesen  drei  Erkenntnisstämmen  oder  Wissensgrund* 
gestalten  entspricht  nun  völlig  genau,  wie  sich  vermuten 
läßt  und  wie  wir  schon  vermutet  haben,  ein  dreifaches  Ver* 
hältnis  des  Begriffes  zur  Wirklichkeit  überhaupt.  Denn 
wenn  wir  hier  in  diesen  Blättern  auch  bei  jeder  schicklichen 
Gelegenheit  hervorgehoben  haben,  daß  die  logischen  und 
mathematischen  Grundlegungen  der  Mechanik  durch* 
gehends  von  der  Wahrnehmungwirklichkeit  und  ihren  Zer* 
gliederungen  unabhängig  gewonnen  und  unabhängig  ge* 
bildet  worden  seien  und  in  dieser  Hinsicht  dem  Urbesitz* 
tum  der  Vernunft  als  dem  .Früheren'  der  Wirklichkeit  zu 
entlehnen  wären ;  wenn  wir  des  ferneren  mit  dieser  transzen* 
dentalphilosophischen  Feststellung  sowohl  den  platonisch* 
aristotelischen  wie  den  kantischen  Apriorismus  sogar  in 
seinen  äußersten  Konsequenzen  (etwa  als  .Phänomenologie' 
nach  dem  Vorgang  Edmund  Husserls  und  seiner  Schule) 
vorbehaltlos  bejaht,  bekräftigt,  bestätigt,  anerkannt  haben 
wollten :  gleichzeitig  ward  doch  in  keinem  Augenblick  ein 
Hehl  daraus  gemacht,  daß  jene  nämlichen  Grundlagen  der 
Mechanik  erkenntnismäßig  stets  nur  soweit  zu  Recht  be* 
ständen,  als  sie  gerade  dank  dieser  Eigenschaft  einer  logi* 
sehen  und  mathematischen  Substruktion  den  wahrnehm* 
baren  und  wirklichen  Gegebenheiten  des  Bewußtseins 
unterstellt  werden  konnten,  als  sie  allein  dank  ihrer  auf  die 
Wahrnehmungwirklichkeiten  anwendbar  waren.  Es  ist 
wahr,  die  Denkmittel  und  Erkenntnishilfen  der  mechani* 
sehen  Wissenschaften  entspringen  und  entstammen  keines* 
wegs  den  sinnesgegebenen  Stätigkeiten  des  Bewußtseins: 
aber  eben  darum  müssen  sie  mit  desto  größerer  Strenge  für 

742 


diese  Stätigkeiten  gelten,  sie  zunächst  gleichsam  einkreisend 
und  umspinnend,  weiterhin  aber  verdrängend,  stellver* 
tretend,  ersetzend,  eintauschend,  aufwiegend,  ausgleichend, 
auswechselnd  und  wenn  man  will  sogar  bezahlend.  Ein 
analytischer  Ausdruck  muß,  wenn  anders  er  mechanisch 
richtig  und  wahr  ist,  ganz  einfach  an  die  Stelle  des  von  ihm 
bezeichneten  Vorgangs  der  Natur  treten  können,  im  Geist 
des  erkennenden  Subjektes  genau  dessen  Sein  und  Wesen 
und  Ort  einnehmend;  —  ähnlich  wie  ein  Gesandter  oder 
Botschafter  an  fremdem  Hof  die  Stelle  und  Wesenheit  des 
heimischen  Herrschers  einzunehmen  und  dessen  Wille  und 
Macht  zu  vertreten  hat.  Auf  dieser  Stellvertretbarkeit  des 
natürlichen  Ereignisses  durch  den  logisch*mathematischen 
Ausdruck  beruht  letzten  Endes  die  so  weitgreifende  Tat* 
sache  der  Anwendbarkeit  von  Arithmos  und  Megethos  auf 
die  Wirklichkeit:  auf  sie  verzichten  müssen,  hieße  den  be* 
grifflichen  Ineinandersichtungen  der  Vernunft  jeden  Recht* 
fertigunggrund  überhaupt  entziehen.  Wo  man  im  Erleb* 
nisstrom  der  Wirklichkeiten  nichts  mehr  aufzuzeigen  wüßte, 
was  den  mathematischen  und  logischen  Symbolen  Zug  für 
Zug  eintauschbar  wäre,  da  ,wüßte'  man  eben  überhaupt 
noch  nichts  oder  nichts  mehr.  Gewissermaßen  ein  psycho* 
logischer  Reflex  dieses  doppelten  Sachverhaltes,  wonach 
der  mechanische  Ausdruck  zwar  a  priori  gewonnen  ist,  aber 
gleichzeitig  a  posteriori  für  anwendbar  zu  gelten  hat,  scheint 
schon  die  ersten  Bahnbrecher  der  neuen  oder  erneuerten 
Wissenschaft  erleuchtet  zu  haben.  So  wenn  wir  beispiel* 
weis  von  Kepler  selber  die  erstaunliche  Mitteilung  lesen: 
„Am  8.  März  1618  kam  Kepler  nach  vielen  vergeblichen 
Versuchen  auf  den  Gedanken,  die  Quadrate  der  Umlauf* 
zeiten  der  Planeten  mit  den  Kuben  der  mittleren  Abstände 
zu  vergleichen,  —  allein  er  verrechnete  sich  und  verwarf 
diesen  Gedanken  wieder.    Am  15.  Mai  1618  kam  er  auf 

743 


den  Gedanken  zurück  und  rechnete  richtig;  das  dritte  kep* 
lersche  Gesetz  war  jetzt  entdeckt."  In  dieser  Notiz  findet 
man  beide  Tatsachen,  die  Herkunft  der  rechnerischen  Be* 
Ziehung  zwischen  den  Umlaufzeiten  und  den  mittleren  Abs 
ständen  zweier  Himmelskörper  ausdem,Proteron'  einerseit, 
die  Notwendigkeit  empirischer  Anwendbarkeit  (durch  rieh* 
tige  Rechnung)  andererseit  mit  dem  gleichen  Nachdruck  und 
mit  gleicher  Selbstverständlichkeit  erwähnt.  Was  also  Kep* 
ler  hier  offenkundig  unter  den  Begleitumständen  einer  plötz* 
liehen  Eingebung,  Erhellung,  Begeistung  erlebt  hatte,  —  mit 
Erschütterungen,  die  übrigens  an  die  Berichte  anderer  und 
größerer  Nächte  gotamidischer  Erlöser*Heilsgedanken  seit* 
sam  treu  gemahnen!  —  das  umschließt  in  doppeltem  Ver* 
rungensein  die  Grundtatsachen  aller  mechanischen  Erkennt* 
nisleistung  an  und  für  sich,  darauf  fußt  das  unübertreff* 
liehe  Ergebnis  aller  Vernunftbeherrschung  der  Natur  mittels 
Maß  und  Zahl  und  wechselseitiger  Angleichungen  beider: 
eine  Welt-Ordnung  nämlich  nach  Raum,  Zeit,  Lage  und 
Arbeit  sichtbarsunsichtbarer  Teilchen.  Indem  die  (im  Syl* 
logismos,  wie  wir  wissen,  selbst  mechanisierten)  Knüp* 
fungen  und  Verbindungen  der  Begriffe  anwendbar  werden 
auf  eine  mechanisch  (das  ist  maschinell)  interpretierte  Na* 
turgesamtheit  und  ihre  Veränderungen,  verhält  sich  der 
Begriff  zur  Wirklichkeit  als  ein  weltordnendes  Tun,  her* 
vorbringend  ein  der  Zahl  und  Größe  zugängliches  Univers 
sum,  das  wir  seinerzeit  als  die  Welt*Maschine  einigermaßen 
beschrieben  und  geschildert  haben. 

Größe  und  Zahl  aber,  darin  möchte  der  Kant  der  reinen 
Vernunftkritik  wohl  dauernd  und  unbeugsam  recht  be* 
halten,  liefern  das  Schema,  mittels  dessen  transzendentale 
Begriffe  auf  empirische  Wahrnehmunggebilde  überhaupt 
erst  zur  Anwendbarkeit  gelangen  können,  derart  zwar,  daß 
ohne  Größe  und  Zahl  der  Begriff  die  Wirklichkeit  nicht 

744 


eigentlich  im  engeren  Wortverstand  beherrscht,  sondern 
sich  in  einem  irgendwie  loseren  und  unbestimmbareren 
Verhältnis  zu  ihm  befindet.  Erweisen  sich  darnach  die  Er* 
eignisse  der  recht  eigentlich  .belebten'  Natur  jenem  logisch* 
mathematisch*analytischen  Schematismus  der  Mechanik 
unzugänglich,  so  ist  damit  folgerichtig  auch  der  andere  Um* 
stand  zugegeben,  daß  man  in  den  organischen  Wissen* 
Schäften  nicht  mehr  wie  in  den  mechanischen  eine  unein* 
geschränkte  Anwendbarkeit  der  Begriffe  behaupten  dürfe. 
Die  Denkhilfen  und  Erkenntnismittel,  erfunden  von  den 
organischen  Wissenschaften,  um  organische  Vorgänge  und 
Bewegungen  gedanklich  zu  verdeutlichen,  zu  klären,  zu 
erläutern,  sie  versagen  sich  durchgängig  dem,  was  man  in 
der  Mechanik  anspruchvoll  die  .Beherrschung  der  Natur', 
etwas  bescheidener,  ,die  Anwendbarkeit  von  Größe  und 
Zahl  auf  die  Natur'  zu  nennen  beliebt.  Fanden  wir  doch 
gleich  schon  eingangs  der  Wissenschaften  vom  Leben  so 
grundlegende  Begriffe  wie  die  der  Art  oder  Gattung  in 
ihrer  erkenntnismäßigen  Bedeutsamkeit  mit  schwerster, 
keineswegs  scholastisch  verstäubter  Problematik  allein 
überlastet;  mußten  wir's  doch  in  Ansehung  lebendigen 
Werdens  und  Wandeins  schließlich  bei  Begriffsbildern  be* 
wenden  lassen,  die  wie  das  sogenannte  Leben  selber  in  einer 
Schwankunglage  zwischen  Anpassung  und  Nichtanpassung 
zu  schweben  scheinen.  Denn  zwischen  Anpassung  und 
Nichtanpassung  (bei  unverkennbar  vorhandener  Neigung 
zu  plötzlichen  oder  schrittweisen  Wandlungen  der  organi* 
sehen  Grundgestalt)  bewegt  sich  offenbar  das  natürliche 
Leben:  und  über  diese  vage,  vielsinnige,  dehnbare  Vor* 
Stellung  konnten  wir  uns  nicht  erheben.  Das  Leben  fließt 
in  jedem  Augenblick  seiner  unverkennbaren  Bahn,  und 
wie  das  Leben  fließt  auch  der  Begriff,  der  sich  seiner  zu  be* 
mächtigen  gedreistet:  wohl  uns,  wenn  er  nicht  geradezu 

745 


zerfließt  .  .  .  Gewiß  entsteht  auch  jetzt  wieder  eine  Art 
Ordnung,  wofern  Erkenntnis  und  Unordnung,  Wissen* 
schaff  und  Unordnung  schlechthin  unversöhnliche  Vor* 
Stellungen  bilden  und  wir  Ordnung  also  auch  dort  erwar* 
ten  dürfen,  wo  kein  mathematisches  Schema  die  Bedingung* 
gleichungen  für  natürliche  Ereignisse  anzusetzen  erlaubt. 
Aber  mit  der  vorigen  Ordnung,  vermittelt  durch  Maß,  Ge* 
wicht  und  Größe,  darf  diese  nur  noch  .sogenannte*  Ord* 
nung  doch  nicht  mehr  verglichen  werden.  Vielleicht  täte 
man  gar  am  besten,  jetzt  diesen  allzu  hochtrabenden  Aus* 
druck  zu  meiden  und  sich  an  seiner  Statt  des  bescheideneren 
Ausdrucks  zu  bedienen,  der  sich  hier  sehr  ungesucht  und 
darum  sehr  passend  darbietet:  ich  meine  selbstredend  den 
Begriff  der  Formung.  Nicht  freilich  ihn,  wie  ihn  Kant  und  die 
Transzendentalphilosophie,  auch  nicht  wie  ihn  Thomas  und 
die  Scholastik  aufgefaßt  hatten,  sondern  wie  er  sich  ohne 
weiteres  aus  der  Bildung  organologischer  Begriffe  ergibt, 
die  sämtliche  in  einer  Vereinheitlichung,  Durchdringung, 
Ineinanderschmelzung  der  beiden  verschiedenen  Ur*  und 
Grundbedeutungen  der  Form,  wie  sie  seit  den  Griechen 
immer  bestimmter  als  Eidos  und  als  Morphe,  als  Gedanken* 
gestalt  und  als  Körpergestalt  auseinandertreten,  ihr  höchstes 
und  vornehmstes  Erkenntnisziel  zu  verfolgen  scheinen. 
In  der  Tat,  der  organische  Begriff  form*gestaltet  und  gestalt* 
formt  die  Wirklichkeit  eher  als  daß  er  sie  ordnet,  —  und 
von  dieser  Einsicht  aus  braucht  die  Organik  den  Vergleich 
mit  der  Mechanik  auf  keine  Weise  mehr  zu  scheuen.  Ihre 
eigenste  Leistung  besteht  darin,  das  Wirkliche  in  womög* 
lieh  allen  Erscheinungen  begrifflich,  gedanklich,  wissen* 
schaftlich  als  Gestalt*Form  zu  verlebendigen,  —  als  Welt* 
Formung  nach  Raum,  Zeit,  Art  und  Gestalt  tritt  sie  eben* 
bürtig  der  Welt*Ordnung  nach  Raum,  Zeit,  Lage  und  Ar* 
beit  an  die  Seite.   Und  dieses  zwar,  ohne  daß  das  erwähnte 

746 


Verhältnis  des  transzendentalen  Begriffs  zur  empirischen 
Wirklichkeit  sonst  eine  durchgreifende  Änderung  erführe. 
Auch  der  auf  die  Wirklichkeit  nicht  eigentlich  anwendbare, 
sie  nicht  eigentlich  beherrschende  Begriff  entstammt  dem 
ewigen  Vernunftbesitz  des  .Früheren',  um  von  hier  aus  die 
Wirklichkeit  des  .Späteren'  erkenntnismäßig  zu  umklam* 
mern.  Auch  hier  zielt  der  transzendental  erzeugte  Denk* 
inhalt  auf  die  Inhalte  empirischer  Wahrnehmungen.  Auch 
hier  entsteht  Erkenntnis  aus  fortgesetzt  emsiger  Wechsel* 
Wirkung  zwischen  Verstand  und  Sinnlichkeit,  Vernunft  und 
Erfahrung,  Urteil  und  Anschauung  .  .  . 

Dieses  entscheidende  Verhältnis  zwischen  Wirklichkeit 
und  Begriff  erfährt  eine  Änderung  erst  in  der  Philosophie 
und  Axiologie,  wo  das  nicht  genugsam  zu  Verwundernde 
geschieht,  daß  die  Wissenschaft  mit  der  Auszeichnung  be* 
liebiger  Begriffe  zu  Werten  ihre  Hauptabsicht  erreicht  hat, 
ohne  daß  diesen  Werten  von  vornherein  eine  Gegebenheit 
der  Erfahrung,  der  Sinnlichkeit,  der  Wirklichkeit  zugeordnet 
werden  könne.  Die  Wissenschaft  als  Ganzes,  an  sich  be* 
müht  um  die  Herausstellung  von  Begriffsbildern,  die  ent* 
weder  eine  vernunftbestimmte  Ordnung  oder  eine  eben* 
solche  Formung  wirklicher  Dinge  ermöglichen  sollen, 
wendet  ihr  bisheriges  Verfahren  in  Philosophie  und  Axio* 
logie  überraschend  in  den  Gegensinn,  indem  sie  nunmehr 
nicht  wie  früher  zu  ausgewählten  Wahrnehmungstätigkeiten 
ordnende  oder  formende  Erkenntnismittel  sucht,  sondern 
indem  sie  umgekehrt  den  gleichsam  mit  werthaften  Kräften 
geladenen  Begriffen  allmählich  zu  verwirklichende  Erschein 
nungreihen  beizugesellen  strebt:  Erscheinungreihen,  die 
ihre  Setzung  ausschließlich  dem  normativen  Sollen,  norma* 
tiven  Wollen  in  ihrer  Vereinheitlichung  zu  danken  haben. 
Hier  wird  dem  Kosmos  des  Daseienden  der  Kosmos  des 
Nirgendseienden  nicht  nur  gegenübergestellt,  sondern  ihm 

747 


vorgezogen.  In  die  Aufgabe,  gedanklich  zu  umspannen, 
was  da  ist,  verringt  sich  die  höhere  und  verantwortlichere, 
tathandelnd,  tatgestaltend,  tatwerkend  zu  erschaffen,  was 
nicht  da  ist,  aber  das  wert  wäre,  da  zu  sein:  über  allen 
starken  Wirklichkeiten  webt  und  geistert  stärker  die  uto* 
pische  Gloriole  aller  Möglichkeiten  fern  und  stät  in  stern* 
hafter  Jenseitigkeit.  Die  Wissenschaft  als  solche  beginnt 
eine  Drehung  um  ihre  eigene  Achse  um  volle  zwei  Qua* 
dranten  zu  vollführen  und  von  ihrem  bisherigen  terminus 
a  quo  hinüber  zum  terminus  ad  quem  zu  wechseln  —  und 
umgekehrt.  Anstatt  zum  frommen  der  Wirklichkeit  brauch* 
bare  Denkmittel  und  Erkenntnishilfen  zu  ersinnen  und  sie 
mit  wachsender  gedanklicher  Schärfe  zu  bearbeiten,  bedient 
sie  sich  im  Gegenteil  begrifflicher  Gebilde,  um  unerhörte 
Arten  der  Verwirklichung  ins  Dasein  zu  locken,  ins  Dasein 
sogar  zu  zwingen  und  zu  quälen.  Darin  besteht  die  seit* 
same  und  von  Grund  auf  veränderte  Haltung  des  Philo* 
sophen  zum  Begriff  und  Inbegriff,  daß  diese  ihm  wenig 
bedeuten  in  ihrer  Eigenschaft,  wirkliche  Wirklichkeiten 
geistig  zu  umfangen,  aber  viel  bedeuten  und  alles  bedeuten 
in  der  anderen,  zu  jetzt  noch  unwirklichen,  später  aber  ver* 
wirklichten  Möglichkeiten  die  seelischen  Antriebe  herzu* 
geben.  Dadurch  aber  entbinden  die  axiologischen  Energien, 
von  welchen  die  Philosophie  ihrerseit  die  wissenschaftlichen 
Termini  entbindet,  den  Philosophen  und  die  von  ihm  ge* 
stiftete  Gruppe  der  Gesellschaft  des  dumpfen,  Unglück* 
liehen,  tierhaften,  menschenunwürdigen  Zwanges,  in  der 
Erlebniswirklichkeit  allein  und  in  den  ihr  entsprechenden 
Begriffen  zu  leben.  Anhebend  mit  einer  Ordnung  der 
Welt  durch  Maß,  Gewicht  und  Zahl;  fortschreitend  zu 
einer  Formung  der  Welt  durch  Art,  Gattung  und  Gestalt; 
endigend  in  eine  Wertung  der  Welt  schreitet  mithin  die 
Heersäule  der  Wissenschaften  selber  unwiderruflich  fort 

748 


von  dem  Wirklichen,  das  da  ist,  zu  dem  Wirklichen,  das  da 
zu  sein  verdiente.  Aufrufend  zur  Verwirklichung  der  Un* 
Wirklichkeiten  betritt  Erkenntnis  eine  Schwelle,  die  von  ihr 
selber  weg  weithin  in  andere  Lagen,  Schächte,  Flöze,  Falten, 
Innenschichten  des  Seins  weist  .  .  . 

So  schlagen  wir  ins  Schloß  denn  die  Flügel  dieses  wun= 
dersam  bebilderten  Triptychon  der  Wissenschaften,  schlagen 
ins  Schloß  jene  drei  überreich  gezierten,  geschnitzten,  be* 
schlagenen,  vergoldeten,  getriebenen  und  edelsteinbesetzten 
Flügel,  —  deren  linker  bedeckt  ist  mit  den  Symbolen  und 
Hieroglyphen  der  Tierkreisbilder  und  Parallaxen  und 
Rektaszensionen  und  Konjugationen  und  Kulminationen 
und  Mondgloben  und  Sterneichungen  und  Präzessionen 
und  Winkelmessungen  und  Gradeinteilungen  und  Pei* 
lungen  und  Lotungen  und  Binominalkoeffizienten  und 
Koordinatensysteme  und  Verbindunggewichte  und  Nutz* 
effekte  und  Affinitäten  und  Massenanziehungen  und  Entro* 
pien  und  Pendelbewegungen  und  Schwingungkurven  und 
Diagramme  und  Farbenkreise  und  Lichtmessungen  und 
Brechungexponenten  und  periodischen  Tabellen  und  Pro* 
jektionen  und  geodäsischen  Linien  und  Differentialquo* 
tienten  und  Integralen  und  imaginären  Größen  und  Gleis 
chungen  mit  mehreren  Unbekannten  und  Wahrscheinlich* 
keitrechnungen  und  Triangulationen  und  sphärischen  Drei* 
ecke  und  Kegelschnitte  und  Kristallachsen  und  unendlichen 
Reihen  und  Analysen  und  statistischen  Tabellen  und  archime* 
dischen  Sätzen  und  kardanischen  Formeln  und  und . . . ;  deren 
mittelster  besät  ist  mit  den  naturtreuen  Abbildern  der  mine* 
ralischen,  vegetativen,  animalischen  Gestalten  sämtlicher 
lebendigen  Erscheinungen,  so  wir  ihrer  gewahren  im  Krie* 
chen  und  Fliegen,  im  Krabbeln  und  Schwimmen,  im  Laufen 
und  Springen,  im  Geißeln  und  Flimmern,  im  Kugeln  und 

749 


Winden,  im  Fallen  und  Steigen,  im  Drehen  und  Kreiseln, 
im  Schreiten  und  Treiben,  im  Hüpfen  und  Bohren,  im 
Wachsen  und  Wuchern,  im  Schießen  und  Sprießen,  im 
Sprossen  und  Spinnen,  im  Knoten  und  Stielen,  im  Wirbeln 
und  Wühlen,  im  Begatten  und  Wiederkäuen,  im  Fressen 
und  Säugen,  im  Sterben  und  Gebären,  im  Einatmen  und 
Ausstoßen,  im  Kämpfen  und  Unterliegen,  im  Zersetzen 
und  Aufbauen,  im  Versteinern  und  Verwesen,  im  Schwan* 
gern  und  Gären,  im  Blatten  und  Balzen,  im  Brünften  und 
Rören,  im  Werben  und  Würgen,  im  Verlarven  und  Ent* 
puppen,  im  Brüten  und  Nisten,  im  Blühen  und  Welken, 
im  Entstehen  und  Vergehen  .  .  . ;  deren  rechter  beschrieben 
ist  mit  den  Namen  der  Güter  und  der  Übel,  der  Verbote 
und  der  Gebote,  der  Tugenden  und  der  Laster,  der  Pflich* 
ten  und  Ergötzlichkeiten,  der  Warnungen  und  der  Ver* 
heißungen,  der  Schätzungen  und  der  Wertungen,  der 
Weissagungen  und  der  Wahrsagungen,  der  Urteile  und  der 
Gerichtsprüche,  der  Lehrbriefe  und  der  Freisprechungen, 
der  Säligpreisungen  und  der  Verdammungen,  der  Wollüste 
und  der  Entsagungen,  der  Verbrechen  und  der  Guttaten, 
der  Urheberschaften  und  der  Verantwortlichkeiten,  der  Bot* 
Schäften  und  der  Entscheidungen,  der  Geltungen  und  der 
Ungültigkeiten,  der  Freiheiten  und  der  Notwendigkeiten, 
der  Leidenschaften  und  der  Überwindungen,  der  Satzungen 
und  der  Aufhebungen  dieser  Menschheit  .  .  .  Wir  ver* 
schließen  also,  sag'  ich,  die  Türen  dieses  hochgetürmten 
Dreiflügelbildes  der  Wissenschaften,  einstmals  auf  den  Altar 
gestellt  in  maiorem  genii  humani  gloriam  von  einem  besser 
beratenen  Europa,  wahrhaftig  von  einem  besser  beratenen, 
nun  bald  aber  schon  verschollenen  Europa  felix.  Vielleicht 
aber  wird  die  Ahnung  uns  begleiten,  daß  dieser  Umkreis 
der  Wissenschaften,  in  zunehmender  Freiheit  und  Abgelöst* 
heit  sowohl  vom  Mythos  wie  vom  Dogma  des  Christen* 

750 


tums,  im  Lauf  der  Zeiten  mehr  und  mehr  selbst  die  Stelle  jenes 
Mythos  eingenommen  und  behauptet  hat,  —  wenn  anders 
wir  unter  Mythos  überhaupt  ganz  unverbindlich  jede  ge* 
meinschafterwirkte,  gemeinschafterworbene,  gemeinschaft* 
verlebendigte  Auffassung,  Erklärung,  Erläuterung,  Versinn* 
barung,  Deutung  und  Darstellung  der  Welt  im  Zusammen* 
hang  verstehen  dürfen,  wie  ihn  die  Gesellschaft  jedes  ge* 
schichtlichen  Zeitalters  nach  Anlage,  Bedürfnis,  Geschmack 
und  Können  sich  erfindet.  Ein  Mythos  der  Wissenschaften, 
Der  Mythos  der  Wissenschaften  ist  das  Ganze  aller  Er* 
kenntnis  von  dem,  was  da  ist,  und  von  dem,  was  wert  wäre 
da  zu  sein:  Mythos  der  Religion  nur  darum  wohl  nicht 
mehr,  weil  er  zum  geistigen  und  seelischen  Aufbau  seines 
Kosmos  keines  Gottes,  keiner  Götter  mehr  bedürftig 
scheint  .  .  .  Oder  vielleicht  dennoch  Mythos  der  Religion 
in  einer  künftigen,  zukünftigen  Wortbedeutung  .  .  .? 


751 


SECHSTE  BETRACHTUNG 

DIE  MYSTERIEN  DER  GOTTLOSEN 


DIE  NEUE  ENTSCHEIDUNG 

In  einem  Atem  richtig  und  irrig  wäre  wohl  die  Behaup* 
tung,  daß  sich  die  religiösen  Lebenskräfte  unseres  Fest* 
landes  in  der  deutschen  Reformation  als  in  ihrer  letzten  heißen 
Wallung  erschöpft  und  verströmt  hätten.    Diese  Behaup* 
tung  wäre  richtig,  weil  die  deutsche  Reformation  nebst  den 
sonstigen  Reformen,  Reformationen  und  Reformatiönchen, 
die  sie  mittelbar  oder  unmittelbar  angeregt  hat,  tatsäch* 
lieh  das  letzte  Beispiel  darbietet  von  einer  religiösen  Um* 
wälzung  dieser  Wucht,  die  rein  aus  den  Bedürfnissen  der 
Religion  als  solcher  hervorgegangen  ist  und  auf  keine  Weise 
von  gesellschaftlichen  Ereignissen  unreligiöser  oder  außer* 
religiöser  Art  bedingt  erscheint.  Andererseit  wäre  jedoch 
diese  nämliche  Behauptung  auch  wieder  irrig,  da  sich  die 
religiösen  Antriebe  zu  weiteren  gesellschaftlichen  Wand* 
lungen   mit  der  Reformation   durchaus   nicht  verausgabt 
zeigen,  vielmehr  wichtige  Umgestaltungen  am  europäischen 
Völkerkörper  auch  ferner  noch  mitverursachen ;  —  nur  frei* 
lieh  mit  dem  Unterschied,  daß  sich  diese  Antriebe  immer 
seltener  als   ausschließlich  religiöse  kennzeichnen  lassen. 
Auch  nach  der  Reformation  der  Deutschen  setzen  die  im 
geschichtlichen  Christentum  miteinander  vereinigten,  mit* 
einander  wetteifernden  Religionen  ihr  Eigenleben  fort  und 
fort.  Auch  jetzt  ändern  sie  im  Zusammenhang  mit  anderen 
Veränderungen    ihren    Glaubensinhalt    und    Bekenntnis* 
willen;  —  nur  daß  diese  nachreformatorische  Frömmigkeit 
eben  durch  irgend  welche  Umstände  bewogen  wurde,  sich 
selber  in  wachsendem  Maß  hinter  Seelenkundgebungen  und 
Wesensäußerungen  zu  verstecken,  die  ihre  im  Grund  reli* 
giöse  Beschaffenheit  weder  dem  ersten  noch  dem  zweiten 
Blick  schon  preiszugeben  geneigt  sind.  Immer  seltener  ist 
es  die  religio,  die  Bindung  ans  Göttliche,  die  Verbunden* 

48*  755 


heit  mit  Gott,  welche  allgemein  kenntlich  als  solche  in  Er* 
scheinung  tritt;  immer  häufiger  wählt  sie  sich  die  uner* 
wartetsten  und  erstaunlichsten  Maskeraden  zur  mimikry,  um 
wirklich  wieder  ,una  substantia  in  multis  personis,  [da  ovoia 
elg  Tiolleig  vjzooxdoeis'  zu  sein.  Zur  Erläuterung  dieses  Um* 
Standes  gedenke  ich  gleich  etwa  der  geschichtlichen  Tatsache, 
daß  das  Wiedertäufertum  und  Erweckerwesen,  in  Deutsch* 
land  und  der  Schweiz  im  sechzehnten  Jahrhundert  unter 
Gräueln  getilgt  und  mit  Feuer  erstickt,  dennoch  eine  Weile 
später  in  Holland  und  in  England  samt  ihren  nordameri* 
kanischen  Siedelungen  ein  aufblühendes  Dasein  staatlicher, 
wirtschaftlicher,  sittlicher  und  sogar  künstlerischer  Art  be* 
günstigen,  ohne  daß  allerdings  dies  Dasein  zu  seinem  Teil 
als  Wiedertäufertum  und  Erweckerwesen  geradezu  kennt* 
lieh  würde.  So  gehört  es  heut'  zu  den  bevorzugten  Gegen* 
ständen  wirtschaftgeschichtlicher  Forschungen,  den  un* 
gefahren  Anteil  zu  veranschlagen,  welchen  Kalvinismus 
oder  Puritanismus  an  der  Entstehung  des  europäischen 
Hochkapitalismus  gehabt  haben  möchten,  und  grundsätzlich 
ist  man  bereit,  die  beschleunigte  Entwicklung  dieser  Wirt* 
schaft*  und  Gesellschaftverfassung  durch  kalvinistische, 
durch  puritanische  Motive  stark  mitverursacht  zu  vermuten. 
Änderungen  im  wirtschaftlichen  Weltzustand  führt  man 
hier  teilweis  zurück  auf  Änderungen  im  religiösen  Seelen* 
zustand;  in  den  Gebräuchen  der  Gütererzeugung,  Güter* 
anhäufung,  Güterverteilung  findet  man  zur  eigenen 
Überraschung  religiöse  Vorstellungweisen  wirksam.  Und 
nebenbei  gesagt  bekämpft  man  dadurch  mit  durchaus  taug* 
liehen  Mitteln  das  unbewiesenste  und  unbeweisbarste  aller 
wissenschaftlichen,  afterwissenschaftlichen  Dogmata,  das 
es  vielleicht  gibt:  den  historischen  Materialismus,  der  zwar 
einseitig  und  halbseitig  die  Abhängigkeit  aller  Seelenzu* 
stände  von  den  Wirtschaftzuständen  für  gewiß  nimmt,  um* 

756 


gekehrt  aber  jede  Bedingtheit  wirtschaftlicher  Verhältnisse 
durch  außerwirtschaftliche  in  Abrede  stellt,  und  damit  sich 
und  seine  Anhänger  jedes  Verständnisses  beraubt  für  den 
gar  nicht  eigentlich  kausalen,  vielmehr  (wie  wir  wissen) 
metamorphisch*korrelativen  Charakter  geschichtlichen  Le* 
bens  und  Werdens  .  .  . 

Diese  einigermaßen  allgemeingültige  Formel  von  den 
religiösen  Antrieben  nichtreligiöser  oder  außerreligiöser 
Bewegungen  gilt  für  die  Nachwirkungen  der  Reformation 
innerhalb  des  Protestantismus  nicht  strenger  als  sie  für  die 
nachreformatorischen  und  gegenreformatorischen  Wir* 
kungen  innerhalb  des  Katholizismus  gilt.  Auch  hier  ge* 
winnt  man  bald  den  Eindruck,  als  vermumme  sich  die  reli* 
giöse  Begebenheit  in  andere  Begebenheiten,  die  sonst  wenig 
oder  nicht  die  eigentliche  Religion  berühren.  So  wenn  der 
Jesuitismus  als  sein  weltgeschichtlichstes  Verdienst  dieses  in 
Anspruch  nehmen  darf,  daß  er  einmal  noch  mit  ungemeinem 
Aufwand  die  Verdiesseitigung  des  Christentums  durchzu* 
setzen  bestrebt  ist,  die  Aussöhnung  seines  asketischen,  escha* 
tologischen,  transzendenten  Grundzuges  mit  der  ,Welt\  will 
heißen  mit  den  Notwendigkeiten  (aber  auch  Überflüssig* 
keiten)  des  modernen  Staates,  der  modernen  Wirtschaft,  der 
modernen  Persönlichkeit,  der  modernen  Erkenntnis,  der 
modernen  Sittlichkeit,  der  modernen  Wirklichkeitgier,  des 
modernen  Lebenshungers;  —  denn  auch  dieses  trotz  aller 
Rückläufigkeit  ehrliche  und  mächtige  Pathos  der  Gegenrefor* 
mation,  das  ungeteilt  noch  einmal  dem  Dauergedanken  der 
Einen  und  Einigen  Kirche  dient,  auch  es  verbirgt  sich  im  Halb* 
schatten  hinter  mancherlei  Kundgebungen,  deren  wesent* 
lieh  religiöse  Signatur  stets  seltener  bemerkbar  wird.  Der* 
art  entsteht  in  jenen  Zeiten  wie  von  ungefähr  eine  religiöse 
Malerei,  die  an  Eindringlichkeit,  Innigkeit,  Innerlichkeit, 
Selbstvergessenheit  der  Gebärde  selbst  diejenige  des  Mittel* 

757 


alters  leidenschaftlich  überbietet,  sei  sie  in  allen  Fasern  und 
Wurzeln  evangelisch,  mennonitisch,  anabaptistisch,  illumi* 
natisch,   separatistisch,   mystisch  wie  bei  dem  Holländer 
Rembrandt,  —  oder  sei  sie  im  Gegenteil  in  jeder  Fiber  und 
in  jedem  Nerv  katholisch,  jesuitisch,  ekklesiastisch,  inqui* 
sitorisch,  ekstatisch,  mystizistisch  wie  bei  dem  Kreter  und 
Toledaner  Theotocopulos:  die  Religion  flüchtet  in  summa 
hier  gleichsam  in  eine  Malerei,  um  als  Malerei  und  nicht 
als  Religion  überzeugendste  Verkörperlichung  zu  gewinnen. 
Oder  es  entsteht  zur  nämlichen  Zeit  eine  religiöse  Archi* 
tektur,  ein  über  die  Gotik  noch  hinaus  gotisierender  Bau* 
wille  zu  Erstellung  prunkherrlicher  und  weltstolzer  Tempel* 
häuser,  Tempelhallen,  Tempel  weiten,  jetzo  gegen  früher  nur 
noch  in  sich  gesammelter,  ineinandergezogener,  zusammen* 
schaubarer,  abgeklärter,  einheitgegliederter  im  Geräum  und 
womöglich  wie  von  einer  Vogelklaue  von  einem  einzigen  Ge* 
wölb'  umkrallt  und  umgriffen,  welches  ein  Gleichnis  sein  soll 
in  allen  Stücken  des  eben  mit  einem  neuen  leiblichen  Organ 
durchforschten  Himmels  mit  seiner  neu  erdachten  Dynamik 
und  Kinematik :  die  Religion  flüchtet  in  summa  hier  gleichsam 
in  die  Architektur,  um  als  Architektur  und  nicht  als  Reli* 
gion    angemessenste   Verkörperlichung    zu  gewinnen;   — 
nicht  anders  übrigens,  als  sie  zur  gleichen  Stunde  in  die 
Astronomie  selbst  mit  ihrer  neuen  Dynamik  und  Kinematik 
des  Himmels  geflüchtet  war.  Oder  es  entsteht  da  des  ferneren 
(ein  wenig  früher  oder  später)  eine  religiöse  Musik,  die  sich 
als  Schwesterkunst  der  religiösen  Malerei  auch  ihrerseit  ent* 
zweit  und  wiederum  vereinigt  zeigt  in  zwei  Persönlich* 
keiten  ausgesprochen   katholischen,  ausgesprochen  evan* 
gelischen  Klangfügens  und  Klangführens,  dort  etwa  Pale* 
strina  und  hier  Bach  genannt:  die  Religion  flüchtet  sich  in 
summa  gleichsam  in  die  Musik,  um  als  Musik  und  nicht 
als  Religion  zeitgemäßeste  Verkörperlichung  zu  gewinnen. 

758 


Oder  es  entsteht  imgleichen  eine  religiöse  Philosophie, 
nach  ihren  bewußten  Absichten  eine  scharfe  Abkehr  von 
der  Scholastik  unseres  Mittelalters  und  dennoch  eine  Er* 
neuerung  derselben  Scholastik,  wie  der  architektonische 
Barock  eine  Erneuerung  der  Gotik  gewesen  ist.  Sie  wird 
und  entsteht  und  errichtet  auf  den  jüngst  gelegten  Funda* 
menten  der  physikalischen  Mechanik  den  neuen  Oberbau 
einer  wissenschaftlichen  Kosmologie,  der  sich  trotzdem  in 
seiner  gesamten  Anlage  durchkreuzt  zeigt  von  dem  Grund* 
riß  der  jüdisch*christlichen  Theologie  der  Vergangenheiten. 
Und  ernsthaft  erweist  sie  sich  damit  beschäftigt,  ein  für  alle 
mal  den  Punkt  festzunageln,  wo  im  Gefüge  dieses  modernen 
Wissens  die  Hebelkraft  des  vormaligen  Glaubens  am  er* 
folgversprechendsten  einzugreifen  hätte.  Ein  letztes  oder 
vorletztes  Bündnis  schließend  mit  der  christlichen  Religion, 
oder  vielleicht  richtiger  mit  der  .Religion  überhaupt',  die 
hier  zuerst,  fast  wie  das  sogenannte  Naturrecht  und  mit 
diesem  gleichzeitig,  als  unverlierbarer  Stammbesitz  der 
Gattung  Mensch  aufgefaßt  wird,  —  zeigt  sich  diese  euro* 
päische  Philosophie  des  siebzehnten  Jahrhunderts  befleißigt, 
das  teuerste  der  religiösen  Überlieferung  sich  zu  erhalten 
und  den  deus  sinnreich  in  die  kausalen  und  mechanischen, 
mathematischen  und  äquivalenten  Ordnungen  der  Wirk* 
lichkeithinein  zu  verflechten:  sogar  in  die  Philosophie  flüchtet 
in  summa  die  Religion,  um  als  Philosophie  und  nicht  als 
Religion  zukunftträchtigste  Verkörperlichung  zu  gewinnen, 
Selbiges  geschieht  bei  Pascal,  selbiges  bei  Descartes,  selbiges 
bei  Spinoza,  selbiges  bei  Leibniz,  —  bis  Kant  Immanuel 
auch  der  methodisch  verjüngten,  empirisch  erweiterten, 
mathematisch  gestrafften  Scholastik  dieser  aufrichtig  und 
ernst  gesonnenen  Kosmo*Theologen,  Theo*Kosmologen 
ein  vorläufiges  Ende  zu  bereiten  sich  anschickt.  Ein  vor* 
läufiges  Ende  nur,  sage  ich,  weil  kaum  ein  halb  Jahrhundert 

759 


nach  Leibnizens  Hingang  jene  romantische  Generation  in 
Deutschland  geboren  wird,  die  nochmals  System  um  System 
der  Kosmo^Theologie,  der  Pan^Noologie  zu  unwälzbar 
schweren,  aber  flüssig  glühenden  und  feurig  wärmenden 
Geistkörpern  weltsälig  ballt  und  ballt  .  .  . 

Veräußert  sich  derart  nach  der  Reformation  die  euro* 
päische  Religiosität  (ohne  sich  zu  veräußerlichen)  an  eine 
Reihe  von  Manifestationen,  die  von  Haus  aus  keineswegs 
dem  Umkreis  religiöser  Gemütsoffenbarungen  anzugehören 
scheinen,  so  liegen  zweierlei  Fälle  durchaus  im  Bereich  der 
Möglichkeit,  die  etwa  sinnbildlich  folgendermaßen  nicht 
übel  darzustellen  wären.  Wenn  nämlich  die  unzählbaren, 
selbstleuchtenden  Sonnen  unseres  Weltenraumes  ihr  Licht 
und  ihre  Wärme  zum  großen  Teil  an  den  weltraumfüllenden 
Äther  abgeben  und  somit  ihr  Licht  und  ihre  Wärme  zer* 
streuen,  dann  ist  die  Wirkung  hiervon  ein  schauerlich  kaltes 
und  nächtiges  All:  wie  es  der  Annahme  der  Astrophysik 
meist  auch  heute  noch  wirklich  entspricht.  Wenn  hingegen 
ein  liebender  Mensch  sein  grundlos  innerliches  Glück  und 
seines  Herzens  Zärtlichkeit  an  vielerlei  Mitmenschen  und 
menschenähnliche  Mitgeschöpfe,  ja  an  Tier  und  Pflanze  und 
Erdreich  und  Kluft  wohlwollend  wahllos  verschwendet, 
getreu  dem  sehr  göttlichen  Grundsatz  Benedikt  Spinozas: 
qui  deum  amat,  conarinonpotest,  ut deus  ipsum  contra  amet . ., 
dann  erleidet  diese  liebende  Seele  weder  Abnahme  noch 
Verminderung,  auch  wo  ihr  Gegenliebe  nirgends  geschenkt 
wird,  —  vielmehr  bereichert  sie  sich  je  und  je  an  ihrer  eigenen 
übermütig  glücklichen  Verschwendung.  Der  Liebende 
seinerseit,  und  dies  ist  wahrlich  seltsam!  ist  jenen  anderen, 
nicht  lichtspendenden,  nicht  wärmeschenkenden  Welt* 
körpern  vergleichbar,  die  nach  der  Annahme  etlicher  Astro* 
nomen  so  ungeheuer  groß  und  reich  an  Masse  sind,  daß  sie 
ob  des  Übermaßes  an  anziehenden  Kräften  ihre  eigenen 

760 


Licht*  und  Wärmestrahlen  wieder  in  sich  selber  saugen  und 
schlucken,  ehe  sie  sich  im  weiten  Himmelsraum  verlieren. 
Einem  solchen  Liebenden  nun,  Wärme  und  Helligkeit  des 
Herzens  stets  wieder  in  sich  selber  Sammelnden  dürften 
wir  die  Frömmigkeit  des  Mittelalters  vergleichen.  Denn 
sie  ersetzt  sich  entweder  jeweils  in  ebendemselben  Grad, 
als  sie  die  Formungen  der  Gesellschaft  durchdringt,  oder 
ihre  Masse  ist  so  groß,  so  unendlich,  daß  sie  immer  wieder 
den  gesamten  Betrag  ihrer  Kraftäußerungen  an  sich  zieht, 
die  sie  dem  Gemeinschaftleben  mitteilt.  Demgemäß  ver* 
ausgabt  sich  auch  die  Religiosität  etwa  des  dreizehnten 
Jahrhunderts  dort  keineswegs,  wo  sie  augenscheinlich  das* 
selbe  vollbringt  und  leistet  wie  die  Religiosität  des  sieb* 
zehnten  Jahrhunderts,  —  will  sagen  wo  sie  Genossenschaft* 
wesen,  Wirtschaftführung,  Kunstausübung,  Forschungver* 
fahren,  Wohlfahrtpflege,  Staatenverwaltung,  Rechts* 
gebarung  regelt  oder  begünstigt,  gründet  oder  beeinflußt: 
indes  sich  diese  spätere  Religiosität  offenbar  in  den  Wir* 
kungen  von  ähnlicher  oder  nämlicher  Art  zerstreut,  ver* 
flüchtigt  und  zerstäubt  wie  Tropfen  einer  balsamischen 
Flüssigkeit,  die  zwar  für  eine  Weile  ein  Zimmer,  einen  Saal, 
eine  Halle  angenehm  durchschwängern,  aber  mit  diesem 
ihrem  Gedüft  schnell  und  spurlos  selbst  verriechen.  Dieser 
Umstand  muß  wohl  schon  darum  von  einiger  Erheblich* 
keit  sein,  weil  vielleicht  er  allein  etwas  Aufschluß  zu  ver* 
schaffen  geeignet  sein  mag  über  den  Fortgang  der  Ereignisse 
seit  der  Reformation  und  der  im  ganzen  und  großen  seit* 
her  doch  immer  verhängnisvoller  abnehmenden  Stärke  des 
religiösen  Lebens  in  Europa.  Was  seit  dem  sechzehnten 
Jahrhundert  an  frommen  Triebkräften  der  festländischen 
Völker  zu  verspüren  war,  äußerte  sich  mehr  und  mehr  in 
Erscheinungen,  die  dem  religiösen  Verhältnis  als  solchem 
eigentlich  entrückt  sind,  und  im  Gegensatz  zu  den  mittel* 

761 


alterlichen   Verhältnissen    bedeutet   diese  Tatsache  keine 
Mehrung,    sondern    eine    Minderung,    keinen   Zuwuchs, 
sondern  eine  Einbuße  an  religiösen  Energien.  Noch  fristet 
der  Hauptgegenstand  bisheriger  religio,  bisheriger  Selbst* 
bindung  und  Selbstverpflichtung,  der  deus  einer  halben, 
vierteis,  achteis  Scholastik  sein  Dasein  anständig  in  dem 
eben  entstehenden  Mythos  der  Wissenschaften,  wo  insonder* 
heit  die  neue  Mechanik   eines  aristotelischen  ersten  Be* 
wegers  nicht  gleich  sich  entschlagen  zu  können  scheint. 
Aber  bald,  ungefähr  mit  der  Anerkennung  der  kantischen 
Theorie  des  Himmels,  erweist  sich  auch  der  Urbeweger  durch* 
aus  als  entbehrlich.  Entweder  war  jetzt  die  sinnliche  und 
wirkliche  Welt  überhaupt  unentstanden,   und   dann  be* 
durfte  sie  von  vornherein  keines  Gottes  mehr.    Oder  sie 
war  entstanden,  und  dann  vollzog  sich  ihre  Entstehung  aus 
der  Verdichtung  und  Gerinnung  kosmischer  Nebelflecken 
von  unendlich  geringer  Dichtigkeit  zu  Sternen  und  Kernen, 
unter  Beihilfe  anziehender  und  abstoßender  Kräfte,  che* 
mischer  Wahlverwandtschaften,  elektromagnetischer  und 
thermischer  Ursachen.  Unentstandenes  All  entsteht  über* 
haupt  nicht;  entstandenes  All  entsteht  nicht  aus  Gott.  Mit 
dieser  Alternative,  mit  dieser  Not*  und  Doppelwahl  gibt  die 
moderne  Mechanik  den  ersten  Beweger,  dieses  letzte  und 
schwächlichste  Überbleibsel  des  alten  Schöpfergottes,  schon 
bald  nach  Newton  vollends  preis,  der  noch  bekanntlich 
den  Namen  Gottes  nicht  auszusprechen  pflegte  ohne  sein 
Haupt  zu  entblößen,  —  was  bei  diesem  großen  Mechanisten 
immerhin  als  ein  Gestus  von  symbolischer  Ausdrücklich* 
keit  zu  beachten  ist.   Nicht  viel  später  wiegesagt,  und  der 
deus  in  seiner  Eigenschaft  als  Weltschöpfer,  Welterhalter 
und  Weltordner  stiehlt  sich   aus   der  wissenschaftlichen 
Mythologie  allmählich  und  sacht  hinaus.    Oder  richtiger 
und    aufrichtiger    gesprochen:    er    wird   hinausgestohlen, 

762 


während  im  übrigen  seine  erkenntnismäßigen  Leistungen, 
die  ihn  bisher  jeder  konsequenten  Welterklärung  und  Welt* 
sinndeutung  bestens  empfohlen  hatten,  von  den  sogenannten 
Wesens*  und  Gesetzesbegriffen  der  Wissenschaften  mit 
vieler  Selbstverständlichkeit  übernommen  werden.  Was 
nunmehr  innerhalb  des  wissenschaftlich  erfaßbaren  Welt* 
ganzen  geschieht,  das  geschieht  ohne  Gott,  wenn  nicht 
geradezu  trotz  ihm,  und  was  ehemals  dem  erschaffenden 
Wort  zugefallen  war,  das  vollbringen  jetzt  die  Eigenschaft* 
träger  der  Masse  oder  der  Kraft,  der  Energie  oder  des 
Stoffes,  des  Lebens  oder  der  Gestalt,  der  Maschine  oder 
des  Organismus  mit  ihren  ungezählten  Änderungen  in 
Raum  und  Zeit.  Je  weiter  sich  dieser  szientifische  Mythos 
ausbreitet,  je  in  sich  gerundeter,  gefestigter,  zusammen* 
haftender  die  Sinndeutung  der  Wirklichkeit  gerät,  desto 
unverkennbarer  läutert  sich  die  überwiegende  Kosmotheo* 
logie  zur  reinen  Kosmologie,  indem  alles  das,  was  im  früheren 
Verfahren  aus  Gott  erklärt,  begründet,  erschlossen,  abge* 
leitet,  gewiesen  wurde,  jetzt  aus  Wesens*  und  Gesetzes* 
begriffen  erklärt,  begründet,  erschlossen,  abgeleitet,  ge* 
wiesen  wird.  Der  theistische  Mythos  mausert  sich  in  einem 
seiner  wachsenden  Verwissenschaftlichung  entsprechenden 
Zeitmaß  zum  atheistischen  Mythos.  Die  Verwissenschaft* 
lichung  des  von  der  Welt  Wißbaren  setzt  sich  lediglich  als  Ent* 
göttlichung  der  Welt  durch,  und  wie  die  Seele  für  den  exakten 
Zootomen  oder  Anatomen  bald  nirgends  mehr  im  Leibe  einen 
Sitz  hat,  so  hat  Gott  keinen  Sitz  mehr  in  einer  wissenschaftlich 
durchforschten  Wirklichkeit.  Ein  Descartes  oder  Pascal, 
Spinoza  oder  Leibniz  konnten  den  deus  immerhin  noch  als 
wissenschaftliche  Hypothesis  mit  gutem  Gewissen  zulassen, 
ja  ihn  als  solche  vielleicht  sogar  benötigen.  Seit  Kant,  seit 
Laplace  hingegen  auch  die  Entstehung  unseres  kosmolo* 
gischen  Systems  ausschließlich  auf  mechanische  Grundbe* 

763 


griffe  zurückzuführen  vermochten:  und  mehr  noch  seit 
Kant  in  seinen  kritischen  Schriften  die  Unentstandenheit 
des  All  zu  einer  der  Entstandenheit  (logisch)  gleichwertigen 
Annahme  entgegenzusetzen  verstand,  —  seither  hat  die 
Hypothesis  Gott  im  Bereich  der  Wissenschaften  jede  Gel* 
tung  vollends  eingebüßt  und  ihre  Vernunftleistung  an  die 
Grundlegungen  der  Mechanik  und  Organik  abtreten  müssen. 
Einen  schwer  enttäuschenden  Umstand,  der  just  diese 
gewaltige  Entdeckung  des  juvdog  ä&eog  der  Wissenschaften 
betrifft,  dürfen  wir  indes  hier  keineswegs  unterschlagen. 
Die  erkenntnishaften  Leistungen  des  Begriffes  Gott  gingen 
allerdings,  dies  wurde  ganz  wahrheitgemäß  hervorgehoben, 
an  die  Grundbegriffe  unserer  Wirklichkeitwissenschaften 
über.  Aber  gleichzeitig  drängte  sich  doch  auch  die  beun* 
ruhigende  Tatsache  auf,  daß  diese  Grund*  und  Wesens* 
begriffe  der  Wirklichkeitwissenschaften  mindestens  die  eine 
Eigenschaft  mit  dem  Begriff  Gott  gemein  hatten:  nämlich 
seine  völlige  Undurchdringlichkeit  und  Unauflöslichkeit. 
Schon  die  Voraussetzungen  der  Mechanik,  die  nicht  Gott, 
aber  Masse,  Massenpunkt,  Kraft,  Raum  und  Zeit  heißen, 
schon  sie  umhüllen  sich  nach  kurzem  Hinblick  mit  einer 
Atmosphäre  von  Dunst  und  Nacht  und  Nebel,  und  nie* 
mand  weiß,  niemand  wird  je  wissen,  was  Masse,  Massen* 
punkt,  Raum  oder  Zeit  denn  eigentlich  nun  sind,  —  zu 
schweigen  von  den  sogenannten  Kräften  und  allen  sonstigen 
qualitates  occultae,  die  sich  an  sie  hängen.  Vergebens,  daß 
ein  nach  Klärung  unermüdet  Ringender  wie  Heinrich  Hertz 
die  eine  oder  andere  dieser  Voraussetzungen  als  entbehr* 
lieh,  ja  überflüssig  zu  entfernen  strebte.  Denn  dieselben 
Dunkelheiten  und  Widersprüche,  die  klettenzäh  dem  Ter* 
minus  Kraft  anhaften,  verschwinden  leider  nicht  bei  den 
Termini  Masse,  Raum,  Zeit.  Selbst  wenn  Heinrich  Hertz 
in   seinen    Prinzipien    unter   Berufung   auf  Kantens  An* 

764 


schauungform  für  die  weitere  Darstellung  von  Raum  und 
Zeit  gewissermaßen  die  Philosophie  statt  die  Mechanik 
verantwortlich  machen  möchte;  —  in  welch  unentwirrte, 
unentwirrbare  Verschränkungen  er  unser  Denken  durch 
diesen  scheinbar  rettenden  Entschluß  verstrickt  hat,  ist 
jedem  gegenwärtig,  dem  die  Geschichte  eben  dieser  beiden 
Kategorien,  eine  wahre  Schmerzensgeschichte,  nicht  völlig 
böhmisches  Dorf  geblieben  ist.  Und  nicht  anders  als  mit 
der  eigentlichen  Mechanik  verhält  sich's  ja  mit  der  media* 
nischen  Gesamtwissenschaft  der  modernen  Physik.  Fügt 
sie  doch  dem  Stammbesitz  an  fragwürdigen  Grundlegungen 
noch  viele  andere  hinzu,  indem  sie  außer  von  Massen, 
Kräften,  Raum  und  Zeit  bald  von  Energien,  bald  von  elek* 
tromagnetischen  Elementarquanten,  bald  von  Äther,  bald 
von  Entropie,  bald  von  Kraftfeldern,  bald  von  Molekülen, 
bald  von  Atomen,  bald  von  Uratomen,  bald  von  Elektronen 
spricht,  ohne  jemals  zu  erfahren,  was  es  mit  ihnen  für  eine 
Bewandtnis  hätte.  Grundsätzlich  gehören  die  ersten  Be* 
standteile  und  Kräfte  der  Wirklichkeit  nicht  zu  den  mög* 
liehen  Erlebnissen  des  Bewußtseins;  grundsätzlich  werden 
sie  stets  der  erlebbaren  Wirklichkeit  als  deren  Elemente 
nur  nach  dem  Erklärungbedürfnis  wissenschaftlich  betrie* 
bener  Vernunftbesinnung  unterstellt.  Solcherweise  unter 
allen  Umständen  immer  wieder  nur  ad  hoc  gebildet  und 
ad  hoc  gedeutet,  zeigen  sie  sich  mit  Widersprüchen  und 
Dunkelheiten  wie  die  Büchse  der  Pandora  mit  Plagen  und 
Übeln  bis  zum  Rand  angefüllt,  ohne  daß  wir  zu  unserem 
Teil  (und  zu  unserem  Heil!)  auf  die  Errichtung  solcher  ge* 
danklicher  Entsprechungen  wirklicher  Vorgänge  je  ver* 
ziehten  könnten.  Daß  alle  diese  ersten  und  letzten  Begriffe 
der  Wirklichkeiterkenntnis  sogar  notwendig  im  Unbegreif= 
liehen  beginnen  und  endigen  müssen,  lehrt  vielleicht  schon 
die  anspruchlose  Erwägung,  daß  sie  als  erste  oder  letzte 

765 


nicht  mehr  aus  anderen  Begriffen  ableitbar  und  zu  anderen 
Begriffen  rückführbar  erscheinen  und  in  diesem  Betracht 
unbegriffensunbegreiflich  bleiben.  Und  kaum  bedarf  es 
noch  der  Hinzufügung,  wie  genau  diese  selbe  Undurch* 
dringlichkeit  und  Undurchsichtigkeit  auch  bei  den  Wesens* 
begriffen  der  organischen  Wissenschaften  zu  beobachten 
ist.  Was  Leben,  was  Tod,  was  Erregbarkeit  durch  Reize, 
was  Selbsttätigkeit,  was  Wachstum,  was  Fortpflanzung,  was 
Vererbung,  was  Formwechsel  an  und  für  sich  sei,  können 
wir  füglich  desto  weniger  jemals  zu  verstehen  hoffen,  als 
in  diesen  sämtlichen  Vorstellungen  die  Grundlegungen  der 
Mechanik  ja  implicite  mit  enthalten  sind,  nur  vermehrt  um 
jene  Merkmale,  die  der  Organik  allein  vorbehalten  sind. 
Denn  wir  bemerkten  es,  jedes  Lebewesen  ist  auch  und 
außerdem  eine  Maschine,  ein  Mechanismus,  bestehend  aus 
raumfüllenden  Massenteilchen  oder  Kraftäußerungen,  deren 
Wirkungen  in  der  Zeit  verlaufen:  jeder  Organismus  ist 
seiner  Beschaffenheit  nach  also  schon  darum  verstandest 
mäßig  unausschöpf  lieh  und  unergründbar,  weil  und  soweit 
er  —  Mechanismus  ist.  Wo  aber  vollends  die  Betätigungen 
des  Lebens  beginnen,  da  schichten  sich  neue  und  neue  Uns 
begreiflichkeiten  über  ihn,  die  schließlich  insgesamt  in  der 
Einen  Unbegreiflichkeit  des  Lebens  gipfeln.  Wieviele 
Merkmale  und  Eigenschaften  wir  schließlich  dem  Organis* 
mus  vor  dem  Mechanismus  zubilligen  mögen,  —  immer  setzt 
jedes  einzelne  dieser  Merkmale  und  jede  einzelne  dieser 
Eigenschaften  das  ganze  ungeteilte  und  unteilbare  Leben 
voraus :  derart  zwar,  daß  nicht  wenige  Forscher,  die  das  Leben 
vom  Nichtleben  zuletzt  gar  nicht  mehr  unterscheiden  zu 
können  wähnen,  diesen  wichtigsten  Unterschied  sozusagen 
unter  die  Schwelle  der  Erkenntnis  haben  fallen  lassen  .  .  . 
Hierbei  sind  nun  zwei  Möglichkeiten  mit  zuverlässigster 
Entschiedenheit  gebührend  auseinanderzuhalten.  Gelangen 

766 


wir  nämlich  in  der  Tat  zur  Überzeugung,  die  Wesensbe* 
griffe  der  Wirklichkeitwissenschaften  seien  zuletzt  von  der 
Vernunft  nie  völlig  zu  durchklären,  so  könnte  dieser  Sach* 
verhalt  durch  zwei  voneinander  abweichende  Erklärungen 
befriedigt  werden.  Einmal  wäre  etwa  die  Wirklichkeit  als 
solche  für  logisch  undurchdringlich,  für  irrational  zu  erach* 
ten  und  dann  diese  selbe  Eigenschaft  nachträglich  und  durch 
Übertragung  den  ihr  wissenschaftlich  entsprechend  gedacht 
ten  Wesensbegriffen  zuzuschreiben.  Oder  zum  zweiten 
gälte  der  Begriff  an  und  für  sich  schon  für  undurchsichtig, 
sei  es,  weil  er  als  Grundlegung  und  Voraussetzung  anderer 
und  späterer  Begriffe  nicht  selber  wiederum  durch  Begriffe 
zu  umschreiben  ist,  sei  es,  weil  er  sich  bei  seiner  Ausein* 
anderfaltung  ohnehin  in  allerlei  Unauflöslichkeiten  und 
Denkwidersprüche  verlöre.  Es  ist  uns  nicht  eigentlich  hier 
aufgegeben,  uns  für  die  eine  oder  andere  dieser  (sich  übri* 
gens  keineswegs  ausschließenden)  Möglichkeiten  endgültig 
zu  entscheiden.  Aber  es  ist  uns  doch  wohl  geboten,  eine 
gewisse  Undurchdringlichkeit  nicht  sowohl  der  Wirklich* 
keit  allein  als  vielmehr  auch  des  Begriffs  für  wahrscheinlich 
zu  erachten,  —  eine  Undurchdringlichkeit,  wie  wir  sie 
weiter  oben  vornehmlich  bei  der  Setzung  der  Denkform 
Ursache*Wirkung  in  ziemlicher  Ausführlichkeit  dargelegt 
haben.  An  diesem  Ergebnis  wollen  wir  schon  deshalb  fest* 
halten,  weil  die  sogenannten  Wertbegriffe  der  Axiologie 
und  Philosophie  an  dieser  Irrationalität  mechanischer  und 
organischer  Wesensbegriffe  ihr  vollgerütteltes  Maß  Anteil 
haben.  Wären  nur  die  Grundbegriffe  der  Mechanik  und 
Organik  logisch  undurchdringlich,  so  wäre  die  Annahme 
statthaft,  daß  ihre  Irrationalität  irgendwie  von  der  Irratio* 
nalität  des  Wirklichen  her  bedingt  oder  beeinflußt  sei.  Er* 
weisen  sich  jedoch  außer  den  Grundlagen  der  Wirklichkeit* 
erkenntnis  auch  die  Wertbegriffe  als  undurchdenkbar  oder 

767 


gar  als  widersprechend,  verschwimmen  auch  sie  bei  länge* 
rem  Hinsehen  umrißlos  in  einem  zweideutigen  Dämmer* 
schein,  ja  im  grauen  Nebel,  so  ist  der  Argwohn  Ursprung* 
licher  Denkfremdheit  sogar  der  vernunftgeschaffenen  Denk* 
hilfen  und  Erkenntnismittel   schlechterdings   nicht  mehr 
zurückzudrängen.  Auf  die  Gefahr  hin,  einer  unannehm* 
baren  Paradoxie  bezichtigt  zu  werden,  muß  folglich  der 
Umstand  ins  Aug'  gefaßt  werden,  daß  jeder  Denkinhalt  in 
einem  Undenkbaren,  Unausdenklichen  münde  und  ent* 
springe,  und  daß  unser  begriffliches  Weltbild  nur  einem 
sehr  schmal  belichteten  Band  zu  vergleichen  sei,  dessen 
Anfang  und  Ende  dauernd  in  schwarzem  Kernschatten  ver* 
borgen  liegt:  nicht  anders  etwa,  als  ob  im  Spektrum  unse* 
rer  Sonne  die  schmalen  Spalten  der  Frauenhoferschen  Linien 
als  helle  und  farbige  Streifen  sichtbar  würden,  indes  die 
breiten  Licht*  und  Farbenbänder  als  leere  dunkle  Lücken 
dazwischen  gähnten.  Daß  aber  eben  die  Wertbegriffe  der 
Philosophie,  im  Gegensatz  zu  den  Wesensbegriffen  der 
Mechanik  und  Organik  jeder  unmittelbaren  Bezugnahme 
auf  die  Wirklichkeit  entbehrend  und  daher  auch  in  ihrer 
Undurchdringlichkeit  von  der  Undurchdringlichkeit  der  Er* 
lebniswirklichkeit  nicht  ableitbar  sind,  —  daß  just  sie  wissen* 
schaftgeschichtlich  zu  den  meist  problematischen  gehören, 
darf  ohne  weiteres  als  feststehend  angesehen  werden.  Be* 
liebe  man  doch,  sich  der  nie  unterbrochenen  Versuche  der 
Vergangenheit  bis  auf  diesen  Tag  zu  entsinnen,  Werte  und 
Gegenwerte  des  Lebens  begrifflich  zu  entwickeln.  Gedenke 
man  des  seltenen  Aufwandes  an  Tief*  und  Scharfsinn,  an 
Schwungkraft  und  Begeisterung,  an  Kunst  und  Können, 
an  Wissen  und  Weisheit,  an  Gründlichkeit  und  Treue,  an 
Tapferkeit  und  Ernst,  an  Liebe  und  Hingegebenheit;  ver* 
gegenwärtige  man  sich  den  manchmal  sehr  hohen  mensch* 
liehen  Rang  der  Forscher,  Denker,  Dichter,  Künder,  Seher, 

768 


Künstler,  Weisen  und  Überwinder,  die  insgesamt  dem  einen 
Ziel  zugewandt  waren,  des  Daseins  Wert  zunächst  sich  sei* 
ber  faßbar  zu  machen,  um  hernach  die  Mitmenschheit  zur 
Miterkenntnis  anzuhalten.  Kaum  wer  wird  sich  erdreisten 
wollen,  das  erschütternde  Halbgelingen ,  Halbmißlingen 
solch  hochgesinnten  Unterfangens  persönlicher  Unzuläng* 
lichkeit  allein  zur  Last  zu  legen,  statt  vielmehr  einer  ge* 
wissen  Unmöglichkeit  und  Undurchführbarkeit  der  Sache. 
Hat  doch  schon  ein  Mann  vom  Schlage  Kants,  in  den  letz* 
ten  Jahrzehnten  von  deutschen  Akademikern  vielleicht 
allzu  urteilslos  überschätzt,  heute  dagegen  von  allerlei  un* 
gebärdigen  Neutönern  lächerlich  mißgeschätzt,  —hat  doch 
schon  er  den  antinomischen  Charakter  der  logischen,  mo* 
ralischen,  ästhetischen  Wertbegriffe  an  drei  Beispielen 
von  allerdings  ungleicher  Würdigkeit  scharf  herausgear* 
beitet:  ist  doch  bereits  er  zutiefst  axiologischer  Vorstellung 
gen  auf  Unvereinbarkeiten,  Gegensätzlichkeiten,  Wider* 
sprüchlichkeiten  seltsamer  Art  gestoßen.  Dieselbe  Feststel* 
lung  hat  Hegel  dann  in  ihrer  Gültigkeit  erweitert  und 
grundsätzlich  auf  alle  erdenklichen  Begriffe  angewendet, 
um  eines  der  wichtigsten,  aber  auch  vergessensten  Motive 
heraklitischen  und  aristotelischen  Philosophierens:  die  ur* 
sprüngliche  .ävxmEQioxaoiz1  der  Vernunft,  damit  bewußt  zu 
erneuern.  Wir  Heutigen  dürfen  nun  zwar  im  Zweifel  sein, 
ob  tatsächlich  jeder  beliebige  Denksinn  durch  Vollzug 
seiner  logischen  Auseinanderfaltung  notwendig  in  seinen 
Gegensinn  .umschlagen'  müsse,  wie  dies  die  Dialektik  grie* 
chischer  und  deutscher  Philosophen  behauptet.  Nicht  aber 
dürfen  wir  fernerhin  noch  im  Zweifel  sein,  daß  jeder  Denk* 
inhalt  nachweislich  außerhalb  eines  gut  belichteten  und  gut 
beleuchtbaren  Kernes  von  einem  Rand  umfranst  werde,  den 
auch  das  .geklärte'  Auge  der  Vernunft  nicht  durchstrahle. 
Wer  da  den  Himmel  mit  einem  der  mächtigen  Reflektoren 

49    Ziegler,  Gestaltwandel  der  Götter  769 


oder  Refraktoren  abzusuchen  gewohnt  ist,  kennt  wohl  das 
von  Arago  für  den  Gebrauch  der  Fernröhre  erläuterte  Ge* 
setz  der  astronomischen  Optik,  wonach  die  Lichtstärke 
eines  leuchtenden  Weltkörpers  bei  zunehmender  Vergröße* 
rung  des  Bildes  eine  zunehmende  Minderung  seiner  Hellig* 
keit  erfährt,  weshalb  beispielweis  die  Scheiben  der  Planeten 
im  Teleskop  gesehen  dunkler  erscheinen  als  mit  bloßem 
Aug'  gesehen.  Eine  ähnliche  Verdunkelung  nun,  bedünkt 
mich,  tritt  auch  in  unserem  Falle  ein,  wo  wir  Begriffe  mit 
dem  übernatürlich  gesteigerten  Organ  der  Erkenntnis  zu 
durchmustern,  zu  ergründen  trachten:  je  stärker  wir  uns 
den  einzelnen  Denkinhalt  durch  künstliche  Verfahrung* 
weisen  annähern  und  vergrößern,  desto  stärker  beginnt  er 
sich  für  unser  erkenntnismäßiges  Organ  zu  umschatten  und 
umfloren.  Entgehen  wir  also  auch  einer  Irrationalität  des 
Rationalen  im  Wortverstand  einer  allgemeinen  Dialektik 
peripatetischen  oder  hegelschen  Stiles,  obschon  auch  hier* 
über  keineswegs  schon  heut  das  letzte  Wort  zu  sprechen 
ist,  —  auf  keinen  Fall  entgehen  wir  doch  dem  Irrationalis* 
mus  des  Rationalen  in  der  Bedeutung  einer  wachsenden 
Undurchsichtigkeit,  Abbiendung,  Verfinsterung  der  Be* 
griffe,  von  welcher  alles  Verstandesmäßige  schließlich  um* 
klammert,  gestützt  und  gehalten  wird  wie  wasserheller 
Diamant  vom  erdig*erzenen  Metall  seiner  Fassung.  Dieser 
Irrationalismus  der  Begriffe  wäre  vielleicht  in  mancher 
Richtung  zu  vergleichen  dem  Irrationalismus  einer  Zahl, 
die  durch  keine  andere  Zahl  endlich  teilbar  ist.  Denn  eigent* 
lieh  müßte  ja  jeder  vereinzelte  und  besonderte  Denkinhalt, 
um  bis  ins  letzte  dargestellt  und  bestimmt  zu  werden,  in 
den  Gesamtzusammenhang  aller  Denkinhalte  eingestellt 
werden,  und  zwar  dieses  darum,  weil  jeder  Denkinhalt 
sachlich  jedem  anderen  seinesgleichen  oder  seinesungleichen 
irgendwie  verwandt,  verschwägert,  versippt  ist  und  seine 

770 


Stelle  lediglich  einnimmt  nach  den  Graden  dieser  Ver* 
wandtschaft,  Schwägerschaft  und  Versippung.  Nur  als 
Gliedwesen  der  unendlichen  Reihe  aller  Begriffe  wäre  jeder 
Begriff  wirklich  erschöpfend  zu  kennzeichnen;  nur  im  ge* 
sicherten  Besitz  einer  platonischen  .Gemeinschaft  der  Gar* 
tungen'  wäre  die  Vernunft  im  stände,  die  vollendete  Dar* 
Stellung  jedes  Begriffes  zu  geben.  Aber  schon  wissen  wir 
ja,  daß  diese  Aufgabe  im  Unendlichen  verläuft  und  in  end* 
licher  Zeit  von  keinem  endlichen  Verstand  zu  lösen  ist;  — 
woraus  ich  freilich  nicht  gefolgert  haben  möchte,  daß  es 
einen  unendlichen  Verstand  gäbe.  So  wenig  wir  die  unend* 
liehen  Stellen  einer  irrationalen  Zahl  bei  der  Begrenztheit 
unserer  Lebensdauer  wirklich  errechnen  können,  so  wenig 
vermögen  wir  den  abgesonderten  Denkinhalt  durch  die 
unendliche  Reihe  der  von  ihm  als  benachbart  oder  als  ent* 
gegengesetzt  oder  als  ergänzend  geforderten  Denkinhalte 
auszudrücken,  —  hier  wie  dort  erweist  sich  die  geheischte 
Totalität  der  Glieder  als  eine  Infmitesimalität,  die  ihrer 
endgültigen  Ausbreitung  durch  Tathandlungen  irdischer 
Erkenntnisträger  schlechterdings  spottet.  Daher  denn  jeder, 
der  auch  nur  ein  einziges  mal  in  seinem  Leben  darauf  ver* 
sessen  war,  einen  einzigen  Begriff  bis  zur  Neige  erkennt* 
nismäßig  auszuschöpfen  und  auszudenken,  die  schmerz* 
liehe  Erfahrung  nicht  vermeiden  konnte,  daß  von  einer  be* 
stimmten  Stelle  an  selbst  seine  äußersten  Anstrengungen 
fruchtlos  waren  und  er  von  der  Unerfüllbarkeit  einer  For* 
derung  genarrt  ward,  deren  Unerfüllbarkeit  zuletzt  seine 
einzige  Gewißheit  ausmacht.  Strenggenommen  ließe  sich 
jeder  einzelne  Begriff,  wie  er  die  volle  Unendlichkeit  aller 
Begriffe  in  sich  einschließt,  umgekehrt  auch  nur  wieder 
durch  die  volle  Unendlichkeit  aller  Begriffe  vernünftig  be* 
stimmen:  wobei  man  diese  Art  Begriffsbestimmung  aller* 
dings  nicht  mit  der  bloßen  Abgrenzung,  mit  der  bloßen 

49*  771 


Definition,  mit  dem  bloßen  Horismos  verwechseln  dürfte, 
wie  dies  seit  den  Büchern  der  gewissermaßen  .negativen' 
Logik  des  Aristoteles  immer  noch  der  unerlaubte  Brauch 
sogar  moderner  Erkenntnis*  und  Wissenschaftlehren  ist,  — 
sondern  wobei  man  viel  eher  an  eine  Ineinandersichtung 
sämtlicher  den  Einen  Urbegriff  erzeugenden  und  bildenden 
Glied*  und  Teilbegriffe  zu  denken  hätte,  wie  sie  die  ,posi* 
tive*  Logik  Piatons  (insbesondere  seit  den  folgereichen 
Untersuchungen  des  Philebos)  mit  unübertroffener  Witte* 
rung  für  Wesentliches  ausgemittelt  hat.  Denn  nicht  darauf 
zielt  die  menschliche  Erkenntnisarbeit,  daß  man  ungefähr 
wisse,  was  einen  Begriff  von  anderen  vernünftigerweis  uns 
terscheide,  sondern  darauf,  daß  man  sich  Rechenschaft  ver* 
schaffe  über  das,  was  ein  Begriff  an  Erdenklichkeiten  je  und 
je  in  sich  falte  und  umspanne:  mithin  zielt  sie  eben  nicht 
auf  Definition,  vielmehr  auf  Konstitution,  nicht  auf  Horis* 
mos,  vielmehr  auf  Synopsis.  Hinsichtlich  dieser  vollende* 
ten  Ineinanderschau  und  Wesenssichtung  hängt  die  endlose 
Kette  sämtlicher  Begriffe  an  jeweils  einem  Begriff,  berühren 
sich  alle  darstellenden  Sachverhalte  mit  einem  Sachverhalt 
auf  irgendeine  Art  und  in  irgendeinem  Grade.  Dies 
zu  behaupten  heißt  ebendenselben  Vernunftgrundsatz  be* 
haupten,  den  wir  vielleicht  das  Gesetz  von  der  Irrationali* 
tat  des  Rationalen  zu  nennen  befugt  sein  möchten,  wenn 
wir  es  nicht  doch  vorzögen,  hier  lieber  von  einer  Tatsache 
als  von  einem  Gesetz  zu  sprechen.  Begriffliches  begreifen 
wollen,  das  ist  mithin  der  Versuch,  künstlich  herausgeson* 
derte  Vernunfteinheiten  nach  rückwärts  derselben  unend* 
liehen  Reihe  aller  Vernunfteinheiten  wieder  einzuverleiben, 
welcher  sie  in  willkürlich  verengender  Wissensabsicht  als 
Teile  oder  Glieder  entlehnt  sind.  Der  Paradoxie  dieses  Ge* 
schehens,  nicht  der  Paradoxie  dieser  Feststellung  sollte  man 
eingedenk  bleiben,  wo  immer  man  erkennend  sich  bemüht. . . 

772 


Diese  nunmehr  genugsam  erörterte  und  genugsam  erhär* 
tete  Irrationalität  des  Rationalen  muß  freilich  hier,  wo  wir 
das  Ganze  der  neueren  Erkenntnisarbeit  zu  veranschlagen 
haben,  deren  letztgültige  Bewertung  entscheidend  beein* 
Aussen.  Gerade  in  bezug  auf  die  europäische  Religiosität 
der  Vergangenheit  muß  ein  Erkenntnisganzes,  das  stets  nur 
auf  kurze  Strecken  durchklärbar  erscheint,  um  gleichsam 
nach  einem  Anlauf  die  Vernunft  in  ihren  eigenen  Voraus* 
Setzungen  stecken  zu  lassen,  notgedrungen  an  Wertschätzung 
einbüßen,  die  ihr  von  allen  Seiten  auf  Grund  anfänglich 
höchstgespannter  Erwartungen  und  Versprechungen  zuge* 
fallen  war.  Die  Menschheit  unseres  Mittelalters  hatte  Wirk* 
lichkeit  und  Welt,  die  sie  im  Bewußtsein  mit  so  reichem 
Scharfsinn  auferbaute,  nicht  ohne  Gott  und  Götter  aufer* 
bauen  können,  durchaus  in  der  Annahme  befangen,  daß 
Gott  und  Götter  für  die  menschliche  Erkenntnis  etwas  von 
anderen  Vorstellungen  nicht  zu  Ersetzendes  leisteten.  Die 
Menschheit  der  vier  auf  die  Reformation  folgenden  Jahr* 
hunderte  hingegen,  will  sagen  die  Menschheit  noch  unserer 
geschichtlichen  Gegenwart,  hatte  auf  unserem  Festland  zum 
zweiten  mal  seit  den  Griechen  eine  selbstherrliche  Wissen* 
schaft  ins  Dasein  gerufen,  gleichsam  unter  der  unausge* 
sprochenen  Bedingung,  mittels  ihrer  bei  weitem  besser, 
richtiger,  einfacher,  genauer,  zuverlässiger,  wirklichkeitge* 
treuer,  weltnäher,  voraussetzungloser  das  erklären  zu  kön* 
nen,  was  vorher  höchstens  unter  Berufung  auf  einen  inteU 
lectus  agerts,  intellectus  archetypus  oder  sonst  einen  Geist* 
spuk  für  erklärlich  gegolten  hatte.  Der  Mythos  der  Wissen* 
Schäften  erweckte  dergestalt  mehr  und  mehr  die  angenehme 
Zuversicht,  den  Mythos  der  Religionen  durch  ein  passen* 
deres  Gebild  von  Welterklärungen  zu  ersetzen,  und  bei 
diesem  Gefühl  konnte  es  einstweilen  sein  Bewenden  haben, 
solange  die  Kategorien  und  Ideen  dieser  zeitgemäßen  My* 

773 


thologie  die  Kategorien  und  Ideen  der  alten  an  Handhab* 
lichkeit,   Gebrauchsfähigkeit  und  Anwendbarkeit  ebenso 
sicher  übertrafen  wie  an  Gemeingültigkeit,  Vernunftgemäß* 
heit  und  Ergründbarkeit.  An  den  subtilen  Substruktionen 
der  scholastischen  und  dogmatischen  Theo*Kosmologien 
hatte  sich  der  Geist  des  Europäers  schartig  gewetzt,  und 
wenn  er  sich  seit  Renaissance  und  Reformation  mit  soviel 
Entschlossenheit  auf  eine  enttheologisierte  Wissenschaft, 
einen  Mythos  Atheos  warf,  so  geschah  dies  nicht  zum  we* 
nigsten  aus  ungeheuerer  Enttäuschung  über  den  Aufwand, 
den  er  für  nichts  und  wieder  nichts,  wie  ihn  jetzt  plötzlich 
bedeuchte,   vergeudet  und  vertan  hatte.  Der  atheistische 
Mythos  konnte  den  theistischen  nur  darum  und  nur  inso* 
fern  allmählich  verdrängen,  weil  und  wofern  er  eben  ver* 
hieß,  Welt  und  Leben  sinngemäß  zu  deuten,  ohne  beides 
mit  der  ewigen  Problematik  religiöser  Vor*Urteile  zu  be* 
lasten.  Wie  aber  nun,  wenn  diese  selbe  ewige  Problematik 
die  Wesensbegriffe  der  Wirklichkeitwissenschaften  und  die 
Wertbegriffe   der  Werrwissenschaften  nicht  weniger  mit 
Geheimnis  umspann  als   ehedem  die  Grundbegriffe  der 
Theologie,  der  Dogmatik  und  der  Scholastik?  Wie  nun, 
wenn  Gott,  Engel,  Erbsünde,  Erlösung,  Seelenheil  zwar 
eingestandenermaßen  dunkle  und  verworrene  Vorstellung 
gen  sind,  die  keines  Menschen  Verstand  geziemend  ins 
Licht  zu  setzen  vermag,  —  Massen  aber  und  Kräfte  und 
Vererbungträger  und  Raum  und  Zeit  und  Gut*und*Böse 
nicht  minder  als  jene  sich  ins  Abgründige  verlieren?  Wird 
nicht  im  gleichen  Augenblicke,  da  der  Abendländer  diesen 
Sachverhalt  durchschaut  und   heiß   davor  erschrickt  und 
vielleicht  sogar  ahnt,  was  alles  an  sonstigen  Menschlichkeit 
ten  er  diesen  affenhaft  geliebten  Wissenschaften  preisgege* 
ben  hat,  —  wird  er  nicht  versucht  sein,  etwa  den  längst  ver* 
jährten  Mythos  seines  Christentums,  des  an  und  für  sich 

774 


unverjährbaren,  wieder  in  seine  vorigen  Rechte  einzusetzen 
und  von  neuem  dort  die  Götter  einzustellen,  wo  auch  die 
Erläuterungen  der  Wissenschaften  nichts  mehr  zu  erläutern 
vermögen?  Sollte  der  Abendländer,  wieder  einmal  satt 
seines  eigenen  Wissens,  überdrüssig  der  unenträtselbaren 
Fragwürdigkeiten  der  Erkenntnis,  verzweifelt  über  die  nicht 
zu  beschwichtigenden  Zweifel  an  allen  Ecken  und  Enden 
scheinbar  feststehender  Gewißheiten,  —  sollte  er  nicht  nach 
seinen  früheren  Göttern  ausblicken,  die  zwar  den  An* 
Sprüchen  des  Erkennens  so  wenig  genügt  hatten  wie  die 
Begriffsbilder  der  Wissenschaften,  dafür  aber  um  so  besser 
den  Anforderungen  so  mancher  nieverwundenen  Gemüts* 
regungen? 

Vielleicht  gibt  es  für  die  nächste  Zukunft  der  Wissens 
schaft,  und  mehr  noch  für  die  Zukunft  der  Religion  keine 
dringlichere  Gefahr  als  diese:  daß  aus  dem  Rückschlag 
gegen  eine  übertreibende  Bewertung  wissenschaftlicher 
Möglichkeiten  und  wissenschaftlicher  Ergebnisse  eine  un* 
angebrachte  Nachgiebigkeit  gegen  schlechterdings  über* 
lebte  Vorstellungen  einer  überlebten  Religiosität  gefolgert 
werden  möchte,  und  daß  sich  noch  einmal  Götter  zwischen 
die  Risse  und  Sprünge  des  wissenschaftlichen  Begriffsge* 
füges  drängen  könnten,  um  ihresteils  der  Welt  den  klaren, 
eindeutigen  Sinn  zu  gewähren,  den  ihr  doch  auch  der 
atheistische  Mythos  trotzalledem  vorzuenthalten  scheint. 
Und  diese  Gefahr  besteht  schon  heute.  Schon  lassen  sich 
an  kleinen  und  großen  Erkennungmalen  anhebende  Er* 
müdung,  schleichender  Überdruß,  lebhafte  Mißachtung, 
zunehmende  Abneigung  an  gelehrten  Feststellungen  erra* 
ten,  und  die  Tatsache  der  Irrationalität  des  Rationalen  wird 
täglich  von  einem  sich  ausbreitenden  Kreis  von  Wissen* 
schaftern  und  wissenschaftlich  Gebildeten  tiefer  erahnt, 
erfühlt,  erwittert  und  erlitten.   Wer  wollte  es  ehrlicherweis 

775 


verabreden,  daß  heuer  just  die  Gebildeten,  just  die  Unters 
richteten  aller  Stände  in  steigender  Anzahl  wieder  jenen 
nämlichen  Geheimlehren  anhangen,  die  in  den  ersten  Jahr* 
hunderten  unserer  Zeitrechnung  als  Astrologie,  als  Nekro* 
mantie,  als  schwarze  und  weiße  Magie,  als  Spiritismus,  als 
Okkultismus  die  alternde  Gesellschaft  des  Imperiums  vol* 
lends  verheerten,  verherdeten  und  verblödeten,  —  bis 
überhaupt  jede  Fähigkeit  zu  wissenschaftlicher  Arbeitweise 
tatsächlich  verkümmert  war  unter  dem  traurigen  Wust  al* 
berner,  ja  wahnwitziger  und  fratzenhafter  Einbildungen, 
wie  sie  uns  Lukian,  Apulejus,  Petron  und  manch  anderer 
Autor  des  römischen  Verfalls  hinlänglich  bezeugen:  hat 
doch,  was  nicht  weniger  bezeichnend  als  belastend  ist,  das 
Imperium  seit  den  klassischen  Jahrhunderten  der  alexan* 
drinischen Mathematik,  Mechanik,  Astronomie,  Geographie 
höchstens  zwei  oder  drei  Naturforscher  noch  von  Rang, 
etwa  in  Strabo,  etwa  in  Claudius  Ptolemäus,  etwa  in  Plinius 
innerhalb  seiner  weitgestreckten  Grenzen  hervorgebracht. 
Im  Schatten  dieser  schauerlichen  Wissens*  und  Erkenntnis* 
dämmerung  sehen  wir  dann  eine  Art  Frömmigkeit  und 
Gläubigkeit  gedeihen,  die  sich  ernüchtert,  ermüdet  und 
betäubt  von  den  Dingen  des  Geistes  jedem  Kult  verschreibt, 
der  durch  irgendeine  Laune  der  Begebnisse  aus  exotischen 
Landen  eingeführt  ward  wie  eine  rare  Spezerei  oder  ein 
seltenes  Gewürz,  —  jedoch  unsere  abendländische  Wissen* 
schaft,  eingeklammert  zwischen  das  letzte  System  der  neu* 
platonischen  und  die  ersten  Systeme  der  scholastischen 
Philosophie,  ein  rundes  Jahrtausend  gekostet  hat . . .  Wenn 
jemals  Spuren  schrecken,  so  deucht  mich,  schrecken  sie  hier, 
und  ich  getraue  mir  deshalb  zu  behaupten,  daß  für  eine 
künftige  Gesittung  der  europäischen  Völkergruppe  nichts 
verhängnisvoller  wäre  als  die  Wiederholung  jener  müden 
Geste  der  Ablehnung  der  Wissenschaften  hinsichtlich  ihrer 

776 


alleinigen  Zuständigkeit  in  Sachen  der  Sinndeutung  von 

Welt  und  Wirklichkeit:  nur  aus  Verdrossenheit  und  Bitter* 

nis  darüber,  daß  auch  die  wissenschaftlichen  Grundlegung 

gen  und  Zielsetzungen  sich  der  Vernunft  nicht  ohne  Rest 

erschließen.  Bewahr'  uns  der  Himmel,  oder  entschlossener 

und  männlicher:  bewahren  wir  selber  uns  vor  einer  unfreu* 

digen  Erneuerung  jener  Religiosität,  deren  Macht  über  die 

Menschen  vornehmlich  darauf  beruhte,  daß  diese  sich  wie* 

der  einmal  an  Wissenschaft  und  Wissenschaftlichkeit  über* 

fressen  hatten  und  dem  Bedürfnis  jenes  Walfisches  nicht 

widerstehen  konnten,  dem  der  verschluckte  Prophet  etwas 

zu  schwer  im  verdorbenen  Magen  lag  . . .  Nur  keine  Fröm* 

migkeit  aus  Schwäche,  nur  kein  Glaube  aus  Ekel,  nur  kein 

Gott  aus  dem  hovror  vacui,  nur  kein  Kultus  des  Unsinnigen 

aus  Ungenügen  am  Sinnhaften,  nur  keine  Metaphysik  aus 

Übelkeit  an  der  Physik,  nur  keine  Theologie  aus  Mutlosig* 

keit  über  die  Kosmologie,  nur  kein  Dogma  aus  Verzweif* 

lung  an  der  Kritik,  nur  keine  Übergabe  an  den  Okkultis* 

mus  aus  der  Unvermeidlichkeit  eines  gewissen  Irrationalis* 

mus.  Lieber  noch  ein  tapferer  Nihilismus  als  die  Fußfälle 

der  Zerbrechenden  und  Gebrochenen;  —  denn  fürwahr!  zu 

viele  bereits  gewahren  wir  in  diesen  weh*  und  fluchbelade* 

nen  Zeiten  zerknirscht,  reuig,  hingeschmolzen,  bußfertig, 

mürb,  schwach,  feig  und  faul  in  der  Kirche  weitausgebrei* 

tete  Mutterarme  stürzen,  nicht  selten  zuletzt  deshalb,  weil 

sie  der  modernen  Wissenschaft  nicht  die  ewige  Fragwür* 

digkeit  alles  Lebens  verzeihen  konnten  und  weil  sie  sich 

rächen  mußten  an  der  unabänderlichen  Sinnverschlossen* 

heit  selbst    strengst    gedachter   Sinnbürtigkeiten.    Dieses 

Christentum  und  mehr  noch  diese  Katholizität  aus  dem 

geistigen,  ja  aus  dem  seelischen  Bankerott  heraus  wird  ganz 

bestimmt,  des  kann  man  sicher  sein,  der  Wissenschaft  arg 

schaden  und  sie  im  Urteil  urteilslosen  Pöbels  noch  schmäh* 

777 


licher  heruntersetzen,  als  sie  es  schon  bisher  war.    Aber 
unter  keinen  Umständen  wird  diese  Religiosität  der  Reli* 
gion  nützen  oder  dienen,  die  es  unter  allen  menschlichen 
Wesenskundgebungen  offenbar  am  wenigsten  erträgt,  von 
den  Giftstoffen  des  Ekels,  der  Überdrüssigkeit,  der  Räch* 
sucht  gespeist  zu  werden.  Von  allen  Wiederkünften  der 
Geschichte  wäre  keine  menschheitschänderischer  als  diese, 
die  Gottes  Reich  und  Herrlichkeit  zum  zweiten  mal  auf  der 
Schädelstätte  der  Vernunft  aufzurichten  sich  unterfinge  . . . 
Räumen  wir  immerhin  also  mit  der  geziemenden  Gelassen* 
heit  ein,  daß  auch  die  Wissenschaften  Welt  und  Wirklich* 
keit  nur  sehr  lückenhaft  und  unzulänglich  deuteten,  be* 
greif  lieh  machten  und  erklärten;    daß  auch  die  Wissen* 
Schäften  vorzeitig  sich  verlören  in  Unausdenklichkeiten, 
Undurchdringlichkeiten,  Unauflöslichkeiten;  daß  auch  die 
Wissenschaften  aus  einem  Ungrund  von  Zweifeln,  Ver* 
nunftwidrigkeiten,  Denkgegensätzlichkeiten  erwüchsen;  daß 
auch  die  Wissenschaften  für  jede  aufschließende  Antwort 
eine  unaufgeschlossene  Frage  in  Bereitschaft  hätten:  ahn* 
lieh  wie  der  Himmel  für  jede  raumdurchmessende  und  fern* 
bildnähernde    Vervollkommnung    optischer    Instrumente 
stets  neue  Weltinseln  und  Weltlinsen  in  nebel*rätselhafter 
Bereitschaft  hält.  Gestehen  wir  dies  höchst  freimütig  ein  und 
außerdem  noch  alles  das,  was  irgend  sonst  den  Wissen* 
schaften  mit  sachlicher  Berechtigung  benachredet  und  vor* 
geworfen  werden  könnte.  Nur  bleiben  wir  unbedingt  dar* 
auf  bestehen,  daß  ebendiese  Wissenschaften  in  ihrem  un* 
endlichen  und  nur  in  der  Unendlichkeit  vollendbaren  Zu* 
sammenhang  die  einzige  (vor  dem  Urteil  der  Menschen* 
Vernunft  gerechtfertigte)  Sinndeutung  überhaupt  darbiete, 
die  es  nach  dem  Grad  der  geschichtlich  von  uns  erlangten 
Altersreife  gibt  und  geben  kann.    Bekennen  wir  ruhig, 
daß  dieses  Weltbild  unserer  Wissenschaften  voller  Sprünge 

778 


ist  und  eingeschlagener  Stellen,  verkrustet  und  von  schwärz* 
lichem  Firnis  verrußt  und  hin  und  wieder  geradezu  durch* 
löchert  und  von  kaum  zu  ergänzenden  Lücken  unterbrochen, 
—  gut  und  richtig!  Aber  es  ist  unser  Bild,  entworfen,  ge* 
zeichnet  und  gemalt  von  diesen  unseren  Stümper*,  diesen 
unseren  Meisterhänden,  das  einzige  unzweifelhaft  echte 
und  beglaubigte  Geistwerk  unserer  einwandfrei  betätigten 
Menschenurheberschaft.  Seien  wir  mit  uns  selber  darüber 
zwar  im  reinen,  daß  das  Ganze  dieser  Wissenschaften,  ob* 
zwar  nicht  ihre  einzelnen  Bestandteile,  wirklich  nur  einen 
Mythos  darstellt,  will  sagen  wirklich  nur  einen  gemein* 
schafterwirkten  Versuch,  die  Welt  je  nach  unseren  gattung* 
bedingten  Mitteln  und  Bedürfnissen  gedanklich  zu  ordnen, 
gedanklich  zu  gestalten,  gedanklich  zu  werten :  aber  ver* 
steifen  wir  uns  gleichzeitig  auch  darauf,  daß  dieser  Mythos 
und  kein  anderer  als  der  unserer  heutigen  Bewußtseins* 
stufe  anstehende  erachtet  werden  muß,  daß  infolgedessen 
seine  strikt  atheistische  Fassung  und  Verfassung  als  die  ein* 
zige  uns  selbst  anstehende  und  anständige  erachtet  werden 
muß!  Nun  wir  unsere  besten,  sachlichsten,  selbstlosesten 
(und  dennoch  selbstischsten)  Kräfte  an  dies  Gelingen  setzten, 
ist  es  die  Angelegenheit  der  Treue  gegen  das  eigene  Werk, 
ihm  seinen  einwohnenden  Willen,  seine  einwohnende 
Richtung  vor  jedem  werkfremden  Eingriff,  mithin  auch 
vor  unseren  eigenen  und  .persönlichen'  Eingriffen  bestimmt 
zu  schützen,  um  seiner  innersten  Linie  ohne  Ausweichung 
und  Abbiegung  nach  rechts  oder  links  gerad  zu  folgen. 

Damit  wir  uns  übrigens  an  diesem  überaus  heikein  Punkt 
auf  keine  Weise  mißverstehen,  wird  man  mir  eine  kleine 
Einschaltung  hier  nicht  verübeln.  Wenn  ich  nämlich  be* 
haupte,  der  methodisch  erworbene  Sinnzusammenhang 
unserer  gegenwärtigen  Wissenschaften  sei  so,  wie  die  Dinge 
liegen,  der  einzige  Mythos,  der  uns  Heutigen  noch  ge* 

779 


blieben  ist,  mit  Fug  die  Stelle  aller   vormalig  religiösen 

Mythen  einnehmend  und  für  uns  vertretend,  —  so  liegt  mir 

die  Behauptung  doch  sehr  fern,  diese  wissenschaftliche  Welt* 

deutung  schließe  ihrerseit  mythische  Schauungen  und  Ge* 

staltungen  in  ihrer  urtümlichsten  Kundbarmachung  aus,  in 

der  sich  früher  beide  mit  Vorliebe  darzustellen  pflegten:  in 

der  mythischen  Dichtung  oder  im  mythischen  Kunstwerk. 

Ganz  im  Gegenteil  zu  dieser  Annahme  bin  ich  mir  viel* 

mehr  genau  bewußt,  daß  wissenschaftliches  Urteilen,  Den* 

ken,  Forschen,  Werten  im  strengsten  Wortverstand  noch 

kein  Mythologisieren  ist,  sondern  zu  einem  solchen  erst 

erstarkt,  wo  es  künstlerische  Anschaulichkeit,  dichterische 

Fülle,  seherische  Sinnfälligkeit  gewinnt,  —  was  freilich,  an* 

statt  in  den  üblichen  Formen  der  Dichtung  oder  Kunst  zu 

geschehen,  von  Zeit  zu  Zeit  innerhalb   der  Grenzen  der 

Wissenschaften  selber  Ereignis  zu  werden  hätte  und  wirk* 

lieh  auch  Ereignis  wird,  immer  dann,  wenn  der  Gelehrte 

oder  Denker  menschlich  auf  der  Höhe  seiner  Aufgabe  steht. 

Diesen  Mythos  des  Kunstwerks  schließt  der  Mythos  der 

Wissenschaften,  wie  er  hier  zu  verstehen  wäre,  nicht  nur 

nicht  aus,  sondern  ihn  schließt  er  wesentlich  ein.   Wenn  er 

im  Ablaufseiner  geschichtlichen  Entwicklung  seine  religiöse 

Abkunft  unvermeidlich  verleugnen  muß,  weil  und  wofern 

er  die  Wirklichkeit  von  allen  religiösen  Begriffen  mit  an* 

geblich  erkenntnismäßigen  Leistungzielen  säubert,  derart 

die  Welt  entgötternd,  ja  entgöttlichend,  so  verleugnet  er 

darum  noch  lange  nicht  seine  künstlerisch*dichterische  Ab* 

kunft,   die   in  vielen    Beziehungen   stets   seine  Hinkunft 

bleibt:  mit  dem  Unterschied  freilich  gegen  den  früheren 

und  vorwissenschaftlichen  Zustand  der  Gesellschaft,  daß 

auch  das  mythische,  mythenbildende  Kunstwerk  wissen* 

schaftbestimmter   Zeitalter    sein   Leben  und   seine   Farbe 

mittelbar  oder  unmittelbar  der  wissenschaftlich  errungenen 

780 


Erkenntnisstufe  verdankt.  Wo  also  im  Unterschied  zum 
Gelehrten  der  moderne  Künstler  auf  seine  eigene  und  nicht* 
wissenschaftliche  Weise  mythologisiert,  —  und  es  wäre  zu 
wünschen,  daß  er  (nach  Ansätzen  von  großer  Stärke  heute 
bei  Mombert,  George,  Däubler,  Pannwitz)  dies  immer 
häufiger,  mit  immer  empfundenerer  Verantwortlichkeit  und 
mit  immer  zulänglicheren  Mitteln  künftig  täte!  —  dort 
mythologisiert  er  mit  oder  ohne  Wissen  in  engster  Verbin* 
düng  mit  den  erkenntnismäßig  erarbeiteten  Ergebnissen 
wissenschaftlicher  Weltauffassungen  und  bestätigt  damit 
nach  allen  Seiten  die  Richtigkeit  unserer  Behauptung  von 
vorhin.  Ein  Künstler  wie  Goethe  etwa  bemächtigt  sich 
nach  zwei  Jahrtausenden  der  griechischen  Tantaliden* 
Mythe,  um  mit  ihrer  Neugestaltung  das  beseelteste, 
ausgetragenste,  zarteste,  durchklärteste  Drama  der  neuen 
Zeit  zu  schaffen.  Aber  der  Grund,  wieso  ein  uralter  und 
barbarischer  Stoff  unter  den  gänzlich  veränderten  Verhält* 
nissen  gänzlich  veränderter  Zeiten  noch  einmal,  ja  eigentlich 
zum  ersten  mal  diese  lautere  Verwirklichung  fand  oder  fin* 
den  konnte,  ist  darin  zu  suchen,  daß  der  Dichter  die  reife 
Erkenntnis  eben  von  zwei  Jahrtausenden  antiker,  christ* 
licher,  romantischer  Ethik  gepflückt  hat:  wonach  einfach 
und  schlicht  die  Gegenwart  eines  echten  Menschen,  eines 
echten  Weibes,  einer  echten  Jungfrau,  einer  echten  Schwester 
ausreicht,  die  schicksalverhaftete  Besessenheit  eines  anderen 
Menschen,  Jünglings,  Bruders  und  Muttermörders  wohlig 
zu  entsühnen  und  einen  flücheschwangeren,  gewitterver* 
hängten  Himmel  hell  und  freundlich  zu  entwölken;  Iphi* 
genie  ihren  Orest,  nachdem  sie  während  einer  kleinen 
Weile  selbst,  zaudernd  und  schaudernd,  von  der  Befleckung 
ihrer  Sippe  wie  mit  dem  Symbol  einer  Schuld  innerlich  be* 
rührt,  ja  mit  ihr  versucht  worden  war,  gleichsam  um  sich 
und  die  Ihrigen  davon  zu  überzeugen,  daß  auch  sie  nur 

781 


Priesterin,  nicht  Göttin  selber  sei:  will  sagen,  daß  sie  die 
heilenden  und  entsühnenden  Kräfte  ihrer  Seele  erst  durch 
Kampf  und  Leid,  Niederlage  und  Sieg  bewußt  erstreiten 
mußte,  bevor  sie  den  grausam  vom  Gewissensbiß  Vergif* 
teten  entgiften  kann  und  darf. . .    Hier,  an  dem  vermutlich 
vollkommensten  Beispiel  der  Vergangenheit,  wo  der  antike 
Mythos  tatsächlich  ein  modernes  Kunstwerk  von  einzig* 
artiger  Makellosigkeit  ermöglicht  hat,  hier  gewahren  wir 
deutlich,  daß  also  auch  der  künstlerisch  neu  gedichtete  und 
neu  gebildete  Mythos  den  Ertrag  wichtigster  philosophi* 
scher,  ethischer,    axiologischer  Erkenntnis  in  sich  aufge* 
nommen  zeigt,  mithin  sich  durchweg  in  Übereinstimmung 
statt  in   Gegensätzlichkeit  mit  dem   Zusammenhang  der 
Wissenschaften  befindet  und  von  ihm  in  allen  wesentlichen 
Zügen  abhängig  erscheint,  abhängig  nicht  zuletzt  in  seiner 
gleichfalls  vollzogenen  Abkehr  von  jenen  daimonologisch* 
theistischen,  magisch*theurgischen  Vorstellungen  von  Reli* 
gion,  die  im  Mythos  als  solchem  und  in  seinen  früheren 
Ausprägungen  (man  gedenke  nur  der  euripideischen  Iphi* 
geneial)  wahrnehmbar  werden,  aber  mit  unserer  spät  ge* 
läuterten  Einsicht  nicht  mehr  zu  vereinen  gewesen  wären. 
Wunderbar  entschlackt  tritt  also  schließlich  hier  nicht  so* 
wohl  ein  Mythos  der  Antike  in  ästhetische  Erscheinung,  als 
vielmehr  die  Antike  selbst,  zum  Mythos  und  mythischen 
Kunstwerk  erhoben;  — die  Antike,  meine  ich,  als  die  große 
Weltbegebenheit,  wie  sie  allmählich  in  zweijahrtausenden  des 
Seelen*  und  Erkenntniswandels  golden  gesiebt,  geseiht,  ge* 
waschen  worden  war.  Mythos  zur  ästhetischen  Erscheinung 
erhoben,  sag'  ich,  sei  hier  die  gesamte  griechisch  gewesene 
Antike,  weil  sich  ein  Künstler,  Denker,  Deuter  zu  Bewußt* 
sein  brachte,  um  welche  Achse  sich  Ethos  und  Pathos  helle* 
nischer  Menschheit  zuletzt  und  hauptsächlich  gedreht  hatte : 
nämlich  um  diese,  daß  die  Entsühnung  irgendwie  erwirkter 

782 


Schuld  am  Leben  herbeigeführt  werden  könne  auch  ohne 
Gott  und  ohne  Götter  alleinig  aus  den  Machtvollkommen* 
heiten  und  Selbstbetreuungen  der  eigenen  Seele  heraus. 
Was  mithin  in  diesem  untragischen,  weil  übertragischen 
Katharmos  der  neuen  Zeit  seine  ästhetisch*poetisch*drama* 
tische  Gestalt  gewinnt,  ist  ganz  zutiefst  ein  helles,  reiches, 
frohes  Wissen,  ein  Wissen,  wie  es  dem  Weisen  dieses  und 
anderen  Weltalters  so  wohl  ansteht  und  sicherlich  auch  dem 
einen  vom  anderen  übermittelt  wird  mit  jener  zeichenhaften 
Sprache,  die  ausschließlich  dem  Wissenden,  ausschließlich 
dem  Weisen  verständlich  bleibt  .  .  .  Ganz  ähnliche  Be* 
Ziehungen  mythischer  Kunstwerke  zu  der  geschichtlich  ge* 
leisteten  Erkenntnisarbeit  namentlich  philosophischer,  axio- 
logischer,  ethischer  Art  wären  bei  Goethe  auch  sonst  noch 
leicht  nachweisbar,  am  Urfaust  oder  Faust  zweiter  Teil 
nicht  minder  als  an  einem  so  einzelnen,  freilich  auch  ein* 
zigartigen  Gedicht  wie  die  Legende,  wo  Goethe  über  die 
deutsche  und  griechische  Mythologie  hinaus  die  indische 
stückweis  neu  verlebendigt.  Allgemein  gesagt,  wird  eine 
Wiederverkörperung  älterer  Mythen  auch  dem  Künstler  nur 
dann  gelingen,  wenn  er  sein  Bewußtsein  an  der  wissen* 
schaftlich  erarbeiteten  Weltauffassung  und  Anschauung  be* 
reichert  und  geklärt  hat,  und  hinter  jedem  Hebbel  wird  man 
einen  Hegel,  hinter  jedem  Wagner  einen  Feuerbach,  einen 
Schopenhauer  nicht  ohne  Grund  vermuten  dürfen  . . . 

Hat  aber  der  Mythos  der  Wissenschaften,  um  uns  nach 
dieser  Einschaltung  wieder  zu  ihm  zurückzuwenden,  durch* 
aus  entschieden,  daß  Gott  und  Götter  in  der  Reihe  wissen* 
schaftlicher  Sinndeutungen  der  Wirklichkeit  nirgends  eine 
Stelle  fänden,  wofern  weder  Gott  noch  Götter  eine  vor  dem 
Gewissen  der  Vernunft  stichhaltende  Erkenntnisleistung 
aufzuweisen  hätten,  —  nun  wohl!  dann  liegt  es  an  uns, 
diese  Entscheidung  endlich  als  eine  letztgültige  anzunehmen 

783 


und  sie  bis  in  ihre  äußersten  Weiterungen  hinein  zu  rechts* 
kräftigem  Vollzug  zu  bringen.  Ziehen  wir  endlich  den 
Schlußstrich  unter  so  viele  Einzelposten,  machen  wir  uns 
endlich  das  hauptsächlichste  Ergebnis  der  wissenschaftlichen 
Mythologie  aufrichtig  zu  eigen:  daß  Annahmen  wie  die 
von  Gott  oder  Göttern  die  Begreiflichkeit  der  Welt  um 
nichts  vermehrten,  eher  sogar  verminderten,  von  vornherein 
gegen  das  Axiom  wissenschaftlichen  Verfahrens  principia 
praeter  necessitatem  non  sunt  multiplicanda  durchaus  ver* 
stoßend.  Verabschieden  wir  uns  an  dieser  stürmischen, 
aber  nicht  unfeierlichen  Wintersonnwende  unserer  Ge* 
schichte  von  den  vielerlei  Gottwesen  der  Vergangenheit 
und  lassen  wenigstens  in  dieser  Hinsicht  unsälige  Halb* 
heiten,  Unwahrhaftigkeiten,  Schwachheiten  fahren.  Seien 
wir  nunmehr  tatsächlich  von  unserem  Jahrhundert,  und 
mehr  noch  von  unserer  Weltstunde,  die  diesen  Verzicht 
gebietet.  Entschlagen  wir  uns  endgültig  der  kindischen 
und  unfrommen  Versuche,  —  das  Kind  aber  ist  stets  un* 
fromm!  —  Gott  oder  Götter  als  die  willkommenen  Lücken* 
büßer  unserer  Erkenntnis  zu  bemühen.  Entsagen  wir  der 
Götterlehren,  die  nichts  anderes  sein  konnten  als  vorbe* 
reitende  Staffeln  zu  einer  streng  wissenschaftlichen  Wirk* 
lichkeiterforschung,  und  die  seither  vom  Mythos  Atheos 
überstiegen  worden  sind.  Denn  soviel  müßte  dem  geistig 
erwachsenen  Europäer  heutzutag  augenscheinlich  geworden 
sein,  daß  die  moderne  Wissenschaft,  volljährige  Erbin  und 
Tochter  der  dogmatischen  Mythologie  und  Theologie  des 
mittelalterlichen  Christentums,  auf  keine  Weise  mehr  neben 
ihrer  Erzeugerin  Platz  finde.  Eine  Weltsinndeutung  der 
Religion  und  eine  Weltsinndeutung  der  Wissenschaft,  eine 
Wirklichkeitordnung,  Wirklichkeitformung,  Wirklichkeit* 
Wertung  mit  Göttern  und  aus  ihnen  und  eine  Wirklichkeit* 
Ordnung,  Wirklichkeitformung,  Wirklichkeitwertung  ohne 

784 


Götter :  das  geht  schlechterdings  nicht,  das  gibt  es  schlechter* 
dings  nicht  1 

Eben  diese  nämliche  Folgerung  hat  bereits  Jean  Marie 
Guyau,  dieses  früh  hingegangene  (aber  auf  seltene  Art 
zum  Sterben  vorbereitete)  Ingenium,  das  hochherzigste 
Frankreichs  im  letzten  Halbjahrhundert,  in  seiner  l'irreligion 
de  l'avenir  gezogen,  —  gezogen  mit  der  feurigen  und  an* 
mutigen  Beredsamkeit,  die  eine  so  häufige  Auszeichnung 
der  Angehörigen  romanischer  Rassen  darstellt.  Gewertet 
als  theologische  Vorstufe  kosmologischer  Systeme  des 
Wissens,  kann  die  Religion  unserer  europäischen  Zukunft 
tatsächlich  nur  Irreligion  sein  im  Wortverstand  dieses 
Buches,  das  zu  den  ernsthaftesten  gehört,  die  über  Religion 
geschrieben  wurden  ohne  selber  Religion  zu  sein.  Ist 
doch  alles,  was  ehedem  der  Religion  an  richtigen  und  an* 
wendungfähigen  Gedanken  zugehörte  (und  nach  unseren 
eigenen  Darlegungen  braucht  man  das  wahrhaftig  nicht 
gering  zu  veranschlagen)  —  ist  dies  alles  doch  seither  in 
den  gesicherten  Besitz  der  Wissenschaften  übergegangen 
oder  wird  noch  an  ihn  übergehen.  In  den  Wissenschaften 
haben  die  großen  Systeme  der  Theologie  und  Dogmatik 
ihre  zeitgeforderten  Umbildungen  erfahren;  in  ihnen  ringen 
sie  miteinander  um  die  Herrschaft  weiter  und  bewähren 
dadurch  ihre  wahre  Unzerstörbarkeit.  Unausdenkbar  der 
Gedanke,  die  Wissenschaften  könnten  je  diese  umfassenden 
Entwürfe  gegenwärtigen  Weltwissens  den  Bedürfnissen 
vorwissenschaftlicher  Völker  oder  Gesellschaften  freiwillig 
unterordnen  oder  preisgeben;  unausdenkbar  der  Gedanke, 
das  Gefüge  mechanischer,  organischer,  axiologischer  Er= 
kenntnis  würde  aus  freien  Stücken  je  noch  einmal  abdanken 
zu  Gunsten  religiöser  Glaubenslehren.  Was  in  den  Welt* 
bildern  der  Veden,  Upanischaden,  des  Vedänta,  was  in  dem 
Tao*te*king  und  Zend*Awesta,  was  im  Talmud  oder  im 

50     Zirgler,  Gestaltwandel  der  Götter  785 


Koran  bereits  in  greifbaren  Umrissen  Wissenschaft  ge* 
wesen  ist,  das  hat  sein  Fortleben  und  *weben  in  den  Welt* 
begriffen  gegenwärtiger  (und  zukünftiger)  Wissenschaften 
gefunden:  nur  hier  klarer  gefaßt,  schlichter  berichtet, 
strenger  berichtigt,  ordentlicher  herausgestellt,  genießbarer 
enthülst,  unparteiischer  geschlichtet,  folgetreuer  aneinander* 
gereiht,  nüchterner  abgewogen,  sorgfältiger  gemessen  und 
gezählt,  feiner  beobachtet  und  gediegener  begründet.  Sol= 
chermaßen  hat  sich  die  Frage  nach  der  Religion  der  Zu* 
kunft,  oftmals  erörtert  und  voreilig  entschieden,  offenbar 
schon  ganz  von  selbst  entschieden.  Sie  hat  sich  entschieden 
genau  im  Sinn  Guyaus,  soweit  über  diese  Zukunft  in  der 
Zone  des  wissenschaftlich  erzogenen  Europäers  überhaupt 
gestritten  werden  kann.  Die  Religion  als  Frühzustand  der 
Wissenschaft  ist  für  das  Urteil  der  Vernünftigen  erledigt, 
weil  von  der  wissenschaftlichen  Erkenntnisarbeit  geradezu 
verdrängt.  Eine  in  Zukunft  etwa  geplante  außerwissen* 
schaftliche  oder  widerwissenschaftliche  Sinndeutung  der 
Welt,  gemodelt  nach  den  Bedürfhissen  einer  abstrakten 
Religiosität  an  und  für  sich,  wäre  ein  totgeborenes  Kind. 
Wer  es  daher  auch  nur  ein  wenig  aufrichtig  mit  unserer 
Gattung  meint,  darf  nicht  einmal  im  Traum  wünschen,  daß 
eine  kindisch  verwilderte  oder  greisenhaft  verblödete  Ge* 
Seilschaft  früher  oder  später  den  Geist  wissenschaftlicher 
Wahrheitfindung  verschwöre  und  den  Willkürlichkeiten 
sogenannten  Glaubens  (im  mißverstandenen  Gegensatz  und 
Widerspiel  zum  Wissen)  den  Lauf  frei  lasse.  Vom  Stand* 
punkt  der  Religion  als  Vorstufe  und  Frühzustand  wissen* 
schaftlichen  Erkennens  gibt  es  gar  keine  Religion  der  Zu* 
kunft,  weil  die  so  verstandene  Religion  zur  Wissenschaft 
geworden  ist  .  .  . 

Aber  ist  damit  nun  auch  wirklich  jede  Frage  nach  einer 
möglichen  Religion  der  Zukunft,  mehr  noch  die  Frage  nach 

786 


einer  Zukunft  der  Religion  abgeschnitten?  Erschöpft  sich 
Religion  tatsächlich  darin,  Vorstufe  und  Frühzustand  von 
wissenschaftlichen  Weltauffassungen  zu  sein?  War  es  für 
alle  Zeiten  ein  und  dasselbe,  Religion  zu  haben  und  die 
Welt  durch  Dasein  und  Eingriff  von  Göttern  leichter  faß= 
lieh  und  einfacher  erklärlich  zu  machen?  Sind  Religion  und 
Theologie,  sind  Religion  und  Mythos,  sind  Religion  und 
Theismus,  Pantheismus,  Panentheismus  oder  Deismus  so  un* 
zerreißbar  ineinander  vernestelt  gewesen,  daß  sich  notwen* 
dig  mit  dem  theistischen,  pantheistischen,  deistischen  Mythos 
ganz  von  selber  auch  die  Religion  als  solche  erübrigt? 

Unstreitig  läßt  sogar  die  tapfere  und  glatte  Antwort 
Guyaus  die  Frage  durchaus  offen,  ob  mit  den  dogmatischen 
und  metaphysischen  Vorstellungen  bisheriger  Religionen 
die  Religion  an  sich  nunmehr  gegenstandlos  geworden  sei,  — 
oder  anders  ausgedrückt,  ob  die  Religionen  der  Vergangen* 
heit  wirklich  nur  durch  die  wissenschaftliche  Erkenntnis 
überholte  Versuche  einer  Weltsinndeutung  gewesen  wären : 
sonst  aber  nicht  einen  einzigen  zukunftträchtigen  Menschen* 
willen  in  sich  verkörpert  hätten?  Und  wer  sogar  bei  diesem 
entschiedenen  Vorkämpfer  der  europäischen  Irreligion  feiner 
hinhorcht,  dem  wird  es  kaum  entgehen  können,  daß  es  bei 
ihm  neben  und  außer  dieser  Religion  als  Vorstufe,  die  sich 
zur  Wissenschaft  verhält  wie  die  Magie  zur  Physik,  wie  die 
Astrologie  zur  Astronomie,  wie  die  Alchymie  zur  Chemie, 
wie  die  Wahrsagekunst  zur  Wahrscheinlichkeitrechnung,  — 
daß  es  neben  und  außer  ihr  noch  eine  ganz  andere  Religio* 
sität  gäbe,  die  von  den  Verneinungen  des  Philosophen 
nicht  berührt  würde.  Hat  sich  doch  eben  Guyau  zu  dem 
außerordentlichen  Geständnis  bereit  gezeigt,  welches  seiner 
Feder  wie  beiläufig  entglitten  zu  sein  scheint:  ,,Ce  qui  seid 
est  eternel  dans  les  religions,  c'est  la  tendence  qui  les  a  pro* 
duits" ;  —  womit  selbst  er,  Atheist  und  Irreligiöser  von 

50*  787 


reinem  Wasser,  ein  Dauerndes,  Überzeitliches,  Unvergäng* 
liches,  Ewiges  in  sämtlichen  Religionen  einräumt,  über  ihnen 
und  über  sie  hinaus.  Mit  der  sicheren  Witterung  des  früh 
Sterbenden,  früh  den  Tod  Vorbereitenden,  errät  er  richtig 
die  Tendenz  zur  Religion  an  sich  als  das  Ewige  und  Unver* 
gängliche  aller  Religionen:  die  Tendenz  zur  Religion,  wor* 
unter  wir  Bedürfnis  und  Wunschverlangen,  Zielstrebigkeit 
und  Antrieb  zu  verstehen  hätten,  wie  sie  von  allem  Anfang 
an  religio  erzeugten  und  bis  ans  Ende  erzeugen  werden.  In 
Ansehung  dieser  Tendenz  wirft  sich  die  Frage  auf,  ob  sie 
zuletzt  mit  jener  anderen  Tendenz  zusammenfällt,  die  wir 
als  Wille  zur  Weltordnung,  zur  Weltformung,  zur  Welt* 
wertung  kennengelernt  haben,  oder  ob  sie  sich  nicht  im 
Gegenteil  von  dieser  Tendenz  aufs  bestimmteste  abhebt 
und  unterscheidet?  Die  Frage  wirft  sich  auf,  ob  diese  ewige 
Tendenz  zur  Religiosität  als  solcher  oder  zur  Religion  über* 
haupt  auch  jetzt  noch  verwechselt  werden  darf  mit  der 
Tendenz  zur  Wirklichkeitergründung,  oder  ob  sich's  nicht 
vielmehr  erweist,  daß  sie  eine  Innenregung,  Innenrichtung 
schlankweg  sui  generis  sei  und  sich  unter  keinen  Umständen 
sachlich  mit  wissenschaftlichen  Zielsetzungen  oder  erkennt* 
nismäßigen  Endabsichten  berühre,  obschon  geschichtlich  mit 
Vorliebe  in  sie  verflechte?  Gesetzt  mithin  der  Fall,  die  Re* 
ligion  als  bloße  Vorstufe  sei  durch  die  verselbständigende 
Entwicklung  wissenschaftlicher  Erkenntnis  mehr  oder  min* 
der  überholt  worden,  —  was  ist  dann  Religion  an  und  für 
sich?  Was  ist  dann  Religion  abzüglich  dieser  ihrer  Be* 
schaffenheit  als  Vorstufe  und  Frühzustand  des  Wissens? 
Was  ist  dann  die  ewige  Tendenz  zur  Religiosität,  getrennt 
von  ihrem  geschichtlichen  Verrungensein  in  Wissenschaft* 
lich=erkenntnismäßige  Tendenzen?  Was  ist  zuletzt  Religion 
rein  auf  sich  selbst  gestellt,  allein  ihres  eigenen  Bodens 
wüchsig  und  urwüchsig? 

788 


DIE  TENDENZ  ZUR  RELIGION  UND 
DIE  RELIGIONEN 

Seit  den  ersten  dieser  ärmlichen  Blätter  konnte  berech* 
tigterweise  ein  eigentlicher  Zweifel  nicht  Platz  greifen, 
daß  Religion  etwas  bei  weitem  Reicheres  und  Stärkeres  sei  als 
die  Keimzelle  zu  einer  wissenschaftlichen  Sinndeutung  der 
Welt.  Gewiß  1  Nie  wurde  dort  der  Versuch  gemacht,  eine 
schulgerecht  begriffliche  Abgrenzung  dessen  vorzunehmen, 
was  Religion  sei  oder  was  wir  am  zutreffendsten  unter  ihr 
verstehen  müßten,  obschon  nichts  leichter  gewesen  wäre  als 
eine  Definition.  Inzwischen  mag  der  verständige  Leser  die 
Gründe  dieser  scheinbar  schwer  zu  entschuldigenden  Unter* 
lassung  zu  würdigen  gelernt  haben  und  mit  mir  selbst  es 
für  besser  erachten,  religiöses  Sein  und  Wesen  unseres 
Europa  erst  in  seiner  Vielgestalt  zu  umspannen  und  um* 
fassen,  als  in  der  Enge  einschnürender  Bestimmungen  zu 
ersticken.  Der  Fülle  der  Geschichte  gegenüber  hätte  jede 
Definition  die  wenig  erfreuliche  Rolle  eines  Henkers  und 
Nachrichters  gespielt,  und  wie  weitsinnig  man  auch  die 
umschreibende  Formel  gewählt  hätte,  —  stets  hätte  man  bei 
jeder  Wendung  der  Begebenheiten  doch  wieder  neue  und 
vergessene  Merkmale  in  sie  stopfen  müssen,  wie  Welschkorn 
in  den  Kropf  einer  längst  gesättigten  Mastgans.  Ein  Ver* 
fahren  übrigens,  das  uns  um  so  schlechter  angestanden 
haben  würde,  als  wir  von  jeher  lieber  platonisch  als  aristo* 
telisch  vorzugehen  gedachten:  heißt  das,  daß  wir  schon  an* 
fangs  gesonnen  waren,  nicht  Definition  und  fiorismos,  wohl 
aber  Konstitution  und  Synopsis  bei  unseren  Begriffen  an* 
zustreben.  Dergestalt  gestattete  uns  der  freiwillig  geübte 
Verzicht  auf  eine  logische  Bequemlichkeit  peripatetischer 
Herkunft  und  scholastischer  Überlieferung  eine  desto  herz* 
lichere  Würdigung  religiösen  Wirkens  und  Waltens,  Bildens 

789 


und  Schaltens,  Kreißens  und  Webens.  Zum  wenigsten  die 
hier  erörterten  Religionen  des  Abendlandes  (freilich  nir* 
gends  Religionen  des  folk=lore,  sondern  immer  nur  gehobe* 
ner  Stände  und  ihrer  Vertreter),  —  sie  wiesen  an  den  Stellen 
ihres  Ursprungs  jeweils  eine  doppelte  Verknotung  auf:  ein* 
mal  nämlich  die  offenbare  Neigung,  Welt  und  Wirklichkeit 
durch  Bilder  und  Begriffe  vernünftig  zu  beherrschen,  ge* 
danklich  zu  bewältigen,  —  zum  zweiten  aber  ein  unzwei* 
deutiges  und  auf  sich  allein  gegründetes  Verlangen  nach 
Vergottung,    Vergötterung,    Vergöttlichung    des   eigenen 
Menschseins.   Ohne  uns  also  selbst  jetzt,  wo  alle  unsere 
Untersuchungen  zu  endgültiger  Klarstellung  der  grundsätz* 
lichsten  und  entscheidendsten  Ergebnisse  drängen,  auf  eine 
Definition  des  strotzenden  Komplexes  Religion  einzulassen, 
behaupten  wir  doch  soviel,  daß  zwar  (mit  Ausnahme  der 
homerischen,  synoptischen,  franziskanischen  Weltheiligung) 
die  europäischen  Religionen  mit  den  Ideen  und  Kategorien 
der  jeweils  doch  als  Wissenschaft  betriebenen  Weltsinn* 
deutungen  durchsprenkelt,  durchschossen,  durchmengt  er* 
scheinen,   daß  sie   insgesamt  aber  auch  noch  wesentlich 
Höheres  und  Tieferes  als  eben  die  Betätigung  dieser  szien* 
tifischen  Ideen  und  Kategorien  umgreifen.  Das  Verfahren, 
den  Sinn  der  Wirklichkeit  gleichsam  in  den  Gott  hineinzu* 
verlegen,  zwang  den  Religionen  immer  wieder  eine  künstliche 
Verbrüderung  auf  mit  den  Wissenschaften,  also  daß  auch 
sie  meist  als  Systeme  wohlgegliederter  Erkenntnis  in  Er* 
scheinung  traten,  sich  selbst  sinndeutende  Leistung  durch* 
aus  anmaßend.  Aber  zugleich  zielt  doch  viel  weiter  in  die 
Ferne  der  ganz  einfache  Wunsch ,  das  trotz  aller  wissen* 
schaftlichen  Einsichten  stets  unsäglich  fragwürdige,  leere, 
kümmerliche  Menschensein  auf  diese  oder  jene  Weise  zum 
Gottsein  zu  steigern.   Und  genau  dieses  Willens*,  dieses 
Wunschziel  ist  es,  welches  als  die  Tendenz  zur  Religion 

790 


überhaupt  von  allen  anderen  Tendenzen  des  Seelenlebens 
sorgfältig  zu  unterscheiden  wäre.  Auf  der  Treppe  der  Wesen* 
heiten  gleich  ein  paar  Staffeln  auf  einmal  höher  zu  klimmen 
und  die  eigene  Vergottung,  Vergötterung,  Vergöttlichung 
mit  allen  Kräften  über  jede  Kraft  hinaus  zu  betreiben:  das 
ist  der  wahre  Antrieb  zur  Religion  überhaupt,  wofern  sich 
eine  solche  in  den  hier  erörterten  Religionen  höherer  Ge* 
Seilschaften  anzukündigen  scheint.  Was  allerdings  Religion 
zur  Zeit  ihres  ersten  geschichtlichen  Auftretens  bei  Wilden, 
Halbwilden,  Naturvölkern,  Barbaren  sein  möchte,  was  sie 
insbesondere  sein  möchte  beim  sogenannten  Volk,  das  bleibt 
dahingestellt  und  muß  es  wohl  noch  bleiben,  trotz  der 
massenhaften  und  im  einzelnen  auch  aufschlußreichen 
Untersuchungen  unserer  Sozialhistoriker  und  Folkloristen. 
Mit  Sicherheit  ist  mithin  nur  dies  eine  festzustellen,  daß  auf 
den  Ebenen  höherer  Gesittung  in  den  verschiedensten 
Rassen  und  Persönlichkeiten  die  Religion  ihrer  lebendigsten 
Tendenz  nach  grundsätzlich  nichts  anderes  ist  als  der  aus* 
gesprochene  Wunsch  zur  Selbstvergöttlichung  mit  all  seinen 
unbewußten,  unterbewußten,  bewußten  Kundbarmachun* 
gen  oder  Verhehlungen.  Entbunden  ihrer  Bindungen  an 
die  Formen  und  Formeln  des  Erkenntniswillens  steht  und 
fällt  die  Religion  als  solche  mit  dem  innigen  Wünschen, 
Streben,  Heischen,  Trachten,  Begehren  und  Wollen  nach 
der  Selbstvergottung,  —  folglich  mit  einem  aus  sämtlichen 
Schranken  der  Menschlichkeit  ausbrechenden  Verlangen, 
nicht  länger  mehr  leibeszerbrechlicher,  weltverlorener, 
schicksalunterworfener,  wechselbetörter,  augenblickbefan* 
gener  Mensch  zu  sein,  sondern  Gottes  Kind,  Sohn,  Freund, 
Bruder,  ja  Gott  in  Person  selbst  zu  sein.  Religion  haben, 
das  heißt  in  alle  Seelenlagen  hinein  den  Wunsch  der  Fröm* 
migkeit  pflanzen,  dies  menschlich  angetretene  Leben  gött* 
lieh  zu  verwesentlichen.    Wobei  ohne  weiteres  einzuräu* 

791 


men  ist,  daß  es  nicht  allzu  zahlreiche  Träger  und  Vertreter 
dieses  religiösen  Urwunsches  gab  und  gibt,  die  sich  ganz 
offen,  ganz  klar,  ganz  tapfer  zu  ihm  bekannt  hätten,  —  es 
sei,  weil  angesichts  der  kirchlichen  und  staatlichen  Zucht* 
mittel  die  Gefahren  solcher  Bekenntnis  größer  waren  als 
der  Mut,  ihnen  zu  trotzen;  oder  es  sei,  daß  auch  die  religiös 
erleuchtetsten  Einzelpersonen  nur  selten  die  wirksamsten 
Beweggründe  ihrer  Daseinsgestaltung  zu  durchschauen 
vermochten  und  überdies  gerade  wegen  ihrer  tiefer  ent* 
wickelten  Religiosität  die  gemeinen  Vorurteile  einer  land* 
läufigen  Pietät  zu  bestärken  geneigt  sein  mußten.  Immerhin 
hat  in  Europa  wenigstens  die  deutsche  Mystik  des  Mittel* 
alters,  man  entsinnt  sich  dessen,  die  nötige  Aufrichtigkeit 
und  Treue  zu  diesem  ungeheueren  Geständnis  aufgebracht 
und  weder  in  Kirche  noch  in  Staat  irgend  eine  Feindschaft 
gescheut,  der  sie  auf  diese  Weise  den  bequemen  Vorwand 
frecher  Gotteslästerung  lieferte.  Wenn  einer  der  geschieht* 
liehen  Religionen  Europas,  so  gebührt  daher  der  Mystik 
der  Dank  dafür,  daß  sie  die  ewige  Tendenz  der  Religion 
und  zur  Religion  ohne  Verlegenheit  mit  einer  gewissen 
Naivität  ausgesprochen  hat:  ausgesprochen  hat  mit  dem 
unwiderruflichen  Erfolg,  daß  selbst  wir  Spätlinge  (und  doch 
auch  wieder  Frühlinge  der  Zeit!),  sogar  in  unserer  Eigen* 
schaft  als  entschiedene  Nichtmystiker,  ja  Widermystiker  tief 
in  der  Mystik  Schuld,  nicht  nur  unsere  eigene  Vergangen* 
heit  am  Leitfaden  dieses  Eingeständnisses  getrost  entziffern 
können,  sondern  außerdem  den  starken  Schlag  des  Pulses 
fühlen  dürfen,  der  uns  im  Kreislauf  aller  geschichtlichen 
Widerkünfte  den  warmen,  süßen,  wallenden  Purpurstrom 
des  Herzblutes  kündet.  Einmal  der  Tatsache  inne,  daß  religio 
zuletzt  Wunsch  nach  Vergöttlichung  bedeute,  beginnt  dann 
vieles  von  dem  zu  tagen,  was  religionhistorisch,  religion* 
phänomenologisch  im  Dunkeln  lag  von  Opfer  und  Gebet, 

792 


von  Tanz  und  Waschung,  von  Mysterienbegängnis  und 
Tragödienspiel,  von  Messe  und  Sakrament,  von  Raptus  und 
Visio,  von  Beschwörung  und  Ausschweifung,  von  Eni* 
äußerung  und  Versenkung,  von  Entzückung  und  Kasteiung, 
von  Berauschung  und  Beschauung,  von  Sohnesneugeburt 
und  Abgeschiedenheit,  von  Sinneswandel  und  Verlöschung. 
Ausnahmlos  werden  uns  diese  Kundgebungen  religiösen 
Lebens  der  Vergangenheiten  jetzt  verständlich  als  ebenso* 
viel  Mittel  und  Wege  der  Selbstvergottung,  —  als  Mittel  und 
Wege,  die  zu  ihrem  Teil  vielleicht  die  Religionen  besser  und 
gründlicher  nach  Rang  oder  Wert  zu  unterscheiden  gestatten 
als  das  eigentliche  Ziel,  welches  ihnen  allein  gemeinsam  ist . . . 
Vielmals  wichtiger  indes  als  diese  erfreuliche  Möglichkeit 
historisch  psychologischen  Verstehens  der  Vergangenheit, 
zu  dem  uns  Abendländern  die  von  der  Mystik  zum  ersten 
mal  wörtlich  vertretene  Auffassung  von  der  religio  den 
Schlüssel  eingehändigt  hat,   vielmals  wichtiger  ist  ohne 
Zweifel  das  andere,  daß  diese  Auffassung  es  überdies  er* 
laubt,  zwar  nicht  der  Religion  der  Zukunft,  dafür  aber  der 
Zukunft   der  Religion  einigermaßen  vorauszuleben.   Die 
Erkenntnis,  daß  Religion  im  Kern  nur  Wunsch  zur  Selbst* 
Vergöttlichung  sei  und  gar  nichts  anderes  sonst,  sie  dient 
uns  gleichsam  als  Bussole.  Allmählich  uns  abstoßend  von 
den  Buchten  und  den  Gestaden  der  Vergangenheit,  erman* 
nen  wir  uns  jetzt  zur  Fahrt  ins  hohe  Meer,  ins  Ferne,  Blaue, 
Unerforschte,  nach  irgend  welcher  preiswerten  .tierra  firme' 
hin,  nach  Ophir,  Atlantis,  Orplid  und  was  weiß  ich  noch 
hinsteuernd,  schiffend,  rudernd,  segelnd.    Und  selbst  wer 
als  Gott*Loser  und  *Lediger  der  Götter  schon  längst  ent* 
raten  gelernt  hätte,  etwa  weil  er  sogar  in  den  sublimiertesten 
Ideen  von  Gott  immer  noch  die  Puppe  argwöhnt,  mit  wel* 
eher  die  Geistreichen   in  müßigen  Stunden  trödeln  und 
tändeln;   oder  den  Popanz,   der  die  Dummen  ängstigen 

793 


und  scheuchen  soll;  oder  die  Zwingburg,  in  deren  Bann* 
meile  aufruhrlüsternes  Gesindel  nieder  gehalten  wird; 
oder  das  Schlafpulver,  welches  Zärtlingen  und  Feiglingen 
die  Schmerzen  der  Wirklichkeit  übertäuben  hilft;  oder 
die  Großbank,  welche  schlechtgehenden  Firmen  noch  in 
letzter  Stunde  einen  Kredit  bewilligt;  oder  die  Versiehe* 
runggesellschaft,  bei  der  man  sich  gegen  einen  Jahresbeitrag 
gegen  die  Unfälle  und  Umfalle  des  Lebens  versichert;  oder 
den  Porzellankitt,  womit  die  zerbrochenen  Scherben  so* 
genannten  Glückes  zusammengeleimt  werden;  oder  den 
Verein  zur  Belohnung  treuer  Dienstboten,  der  diesen  nach 
angemessener  Arbeitzeit  ein  Diplom  oder  eine  Medaille 
verleiht . . .;  selbst  wer  also  aus  derart  ehrenhaften  Gründen 
auf  Gott  oder  Götter  zu  verzichten  gelernt  hätte:  der  dürfte 
jetzt  fleißig  aufhorchen,  wenn  ihm  bedeutet  wird,  daß  er 
noch  lang  nicht  darum  die  Religion  verschwor,  weil  er  Gott 
und  Göttern  den  Laufpaß  gegeben  hatte.  Er  wird  aufhorchen 
und  sein  Herz  wird  zucken,  wenn  er  vernimmt,  daß  er 
Religion  und  nicht  das  Gegenteil  von  Religion  bewies,  da 
er  die  Götter  opferte  in  einem  strengeren  und  lautereren 
Sinn,  als  ehedem  der  Mythos  Götter  opferte:  da  er  sie 
opferte,  damit  sie  seinem  frömmeren  Wunsche  nach  Selbst* 
Vergöttlichung  länger  nicht  im  Wege  stünden.  Denn  dieses 
schälte  sich  ja  als  ewige  Tendenz  zur  Religion  mit  wachsen* 
der  Zuverlässigkeit  aus  allen  Religionen  kernhaft  und  kern* 
herrlich  heraus:  daß  man  die  Vorstellung  seiender  Götter 
für  immer  preiszugeben  habe,  weil  und  wofern  sie  in  den 
bisherigen  europäischen  Religionen  dem  Urwunsch  der 
Religion  überhaupt',  Menschsein  in  Gottsein  zu  wandeln 
und  zu  wenden,  aufs  härteste  widerstreitet.  In  Widerstreit, 
ja  mehr  noch  in  Widertat  gerät  hier  die  zeitlose  Tendenz 
der  Religion  mit  ihren  zeitlichen  Erscheinungen,  weil  jeder 
Gott,  sei  er  außer,  über  oder  im  Menschen  .seiend',  not* 

794 


wendig  der  Henker  jenes  anderen  Gottes  wird,  der  durch 
den  Menschen  werden,  entstehen  und  erstehen  möchte.  Der 
seiende  Gott,  der  seiend  ist  oder  seiend  wird,  das  ist  der 
Zwillingfeind  des  Menschgottes,  der  nirgends  ist  und  nir* 
gends  seiend  wird,  von  alters  her  gewesen.  Denn  wenn  es 
Gott  oder  Götter  gäbe,  dann  brauchte  es  weder  ja  des 
Menschen  noch  menschheitlicher  Religiosität,  um  sie,  deren 
Zahl  im  Grunde  gleichgültig  ist,  im  Ablauf  eines  Welt* 
Heilsjahres  um  einen  neuen  Gott  oder  zwei  oder  mehrere 
allmählich  zu  vermehren.  Entweder  Gott  ist  und  Götter 
sind:  dann  muß  der  Wunsch,  der  Gott  und  Götter  mensch* 
lieh  erst  erschaffen  möchte,  notwendigerweis  schweigen, 
und  wenn  nicht  schweigen,  sich  doch  bis  zur  Unkenntlich* 
keit  entstellen,  verzerren  und  verstellen.  Oder  aber  Gott 
ist  nicht  und  nicht  sind  Götter:  dann  kann  wirklich,  was 
nicht  ist,  durch  Menschentat  und  Menschenwerk  erzeugt 
werden.  Wir  aber  legen  vielleicht  am  besten  die  Formel 
dessen,  was  hier  als  religio  erfunden  ward,  gleichsam  an  der 
Wasserscheide  der  Zeit,  zwischen  Untergang  und  Aufgang, 
zwischen  Einst  und  Später,  zwischen  Abend  und  Morgen 
nieder:  noch  einmal  rückwärts  gen  Untergang  blickend  und 
dennoch  schon  vorwärts  nach  Aufgang  äugend.  Dann  ge* 
wahren  wir  dort  die  Religion  als  solche  in  dem  Maß  ver* 
blassen,  in  welchem  Theologie  und  Dogmatik  an  Körper* 
lichkeit  gewinnen ;  dann  gewahren  wir  hier  umgekehrt  die 
Religion  Leiblichkeit  und  Wirklichkeit  in  dem  Maße  sich 
zulegen,  in  welchem  das  Luftgesicht  und  Spukgebild  bis* 
heriger  Theognosie  in  Dunst  zerrinnt  .  .  . 

Um  der  Verständigung  über  diesen  merkwürdigen  Ad* 
spekt  zu  dienen,  ist  es  ratsam,  die  Summe  unserer  abend* 
ländischen  Theologie,  —  wohl  verstanden  nicht  die  Summe 
unserer  abendländischen  Religiosität!  —  in  drei  Gruppen 
aufzuteilen,  deren  erste  die  theistischen,  deren  zweite  die 

795 


pantheistischen,  panentheistischen  oder  monistischen,  deren 
dritte  endlich  die  deistischen  Bekenntnisse  unter  sich  be* 
fassen  würde.  In  diesen  drei  Gruppen  breitet  sich  aus,  was 
das  religiöse  Bewußtsein  Europas  von  den  seienden  Göttern 
(und  den  ihnen  jeweils  zugehörigen  Welten)  erdacht  hat, 
und  wie  sich  mit  ihnen  die  ewige  Tendenz  der  Religiosität 
selbst  vertragen  oder  nicht  vertragen  konnte,  oder  wie  diese 
sich  vollends  unter  dem  Einfluß  jener  und  im  andauernden 
Wechselkampf  mit  ihr  abgeändert,  abgelenkt,  abgebogen 
zeigt:  dieses  bleibt  zu  berichten,  eh'  wir  endgültig  aus 
der  Vergangenheit  der  Religionen  mit  großer  Fahrt  in 
die  Zukunft  der  Religion  zu  stechen  gedenken  dürfen. 

Was  dabei  zunächst  die  theistische  Gruppe  dieser  theo* 
logischen  Weltbegriffe  betrifft,  so  pflegt  man  noch  immer 
großen  Nachdruck  auf  die  Unterscheidung  zwischen  mono* 
theistischen  und  polytheistischen  Mythologien  zu  legen  und 
je  nach  Neigung  und  Reifegrad  die  einen  vor  den  anderen 
zu  bevorzugen.  Diese  Unterscheidung  kann  indes  hier  ganz 
und  gar  aus  dem  Spiel  bleiben,  weil  sie  für  das  Verhältnis 
der  theistischen  Theologie  zur  eigentlichen  Tendenz  der 
Religion  unerheblich  ist.  Denn  im  einen  wie  im  andern 
Fall,  für  Monotheisten  wie  für  Polytheisten,  vermag  sich 
der  Wunsch  zur  Selbstvergöttlichung  nur  als  eine  Art  von 
magischer  Praxis  oder  praktischer  Magie  zu  verwirklichen. 
Der  theistische  Ein=  oder  Vielgott,  an  Welt  und  Mensch 
nur  soweit  tatsächlich  interessiert,  als  beide  sich  seinem 
Heilsplan  nicht  entziehen  sollen  und  nicht  widersetzen 
dürfen,  er  genehmigt  die  Vergöttlichung  des  Menschen  nur 
etwa  so,  daß  er,  der  Gott  selbst,  sich  für  eine  Weile  auf  den 
Gläubigen  herniedersenkt,  von  ihm  Besitz  ergreift,  in  ihn 
eingeht,  während  der  Mensch  aus  sich  heraustritt,  außer  sich 
wird  oder  den  Gott  .anzieht*.  Eine  andere  Weise  der  Ver= 
göttlichung  als  diese  okkultanagische  läßt  sich  hier,  wo  der 

796 


Ein*  oderVielgott  als  Person  dem  Menschen  als  Person  gegen* 
übersteht,  ob  auch  als  Person  höheren  und  höchsten  Grades, 
schlechterdings  nicht  ermitteln;  eine  wirkliche  Erhebung  der 
geringeren  Person  zur  höheren  kann  sich  nur  im  Sinn  einer 
wundersamen  Vereinigung,  Vermählung,  Verschmelzung  er* 
eignen.    Überall,  wo  nicht  die  Theologie  des  Theismus  die 
eingeborene  Tendenz  der  Religion  von  vornherein  erstickt, 
genehmigt  sie  diese  Tendenz  nur  unter  dem  Vorbehalt,  daß 
die  ersehnte  Vergottung  des  Menschen  dank  einer  göttlichen 
Herablassung,  Einwirkung,  Hineinstrahlung  einenteils,  dank 
einer  menschlichen  Aufwärtshebung,  Austretung,  Über* 
wallung  anderenteils  stattfindend  vermutet  werden  dürfte. 
Dem  Menschen  steht  eine  Vergottung  hier  nur  insoweit  zu, 
als  sich  der  Gott  gleichzeitig  vermenschlicht,  wobei  Gott 
und  Mensch  gleichmäßig  an  die  Voraussetzungen  jeder  Per* 
sönlichkeit  und  jedes  Selbstbewußtseins  gebunden  erschei* 
nen,  deren  wichtigste  Undurchdringlichkeit  heißt  und  an 
dieser  Stelle  besonders  namhaft  gemacht  zu  werden  ver* 
dient.  Denn  diese  Undurchdringlichkeit  der  Person  und 
ihres  Bewußtseinsumkreises,  zwar  an  der  Peripherie  von 
leicht  änderlicher  endlicher  Größe  und  Stärke,  im  Zentrum 
aber  gleichsam  unendlich,  —  sie  ist  es,  die  jede  gegenseitige 
Durchdringung  personaler  Sphären  als  völlig  unbegreiflich 
ausschließt,  wofern  eben  kein  Bewußtsein  die  Stelle  eines 
anderen  Bewußtseins  unmittelbar  einnehmen  kann.   Gilt 
dies  schon  uneingeschränkt  für  die  Vereinigung,  Ineinander* 
Schmelzung,  Zusammengattung  zweier  wesentlich  gleich* 
gearteterBewußtheiten  und  Persönlichkeiten  wieMensch  und 
Mensch  durchaus,  so  gilt  es  nicht  minder  für  zwei  so  ungleich* 
artige  wie  Mensch  und  Gott  und  Gott  und  Mensch :  der  Aktus 
der  Selbstvergottung  widerspricht  hier  aller  Erfahrnng,  ja 
aller  möglichen  Erfahrung  so  sehr,  daß  man  ihn  am  liebsten 
dahingestellt  sein  läßt.  Von  diesem  Standpunkt  aus  war  es 

797 


dann  einfach  nur  konsequent,  wenn  die  Kirche  eine  restlose 
Angleichung  der  menschlichen  Einzelseele  an  Gott  und  ihre 
Vereinigung  mit  ihm  ,bei  Lebzeiten*  entweder  gar  nicht,  nicht 
einmal  unter  der  Bedingung  göttlicher  Mitwirkung  und  gött* 
liehen  Eingriffes  für  vollziehbar  erachtet,  oder  sie  (sehr  wider 
Willen)  als  ein  quasi  Wunder  ihren  bevorzugten  Heiligen 
allein  und  unter  Klauseln  zugesteht.  Es  war  dies,  sag'  ich,  nur 
konsequent,  und  vielleicht  wäre  diese  Konsequenz  noch  ehr= 
licher  zu  bewundern,  wenn  sich  dann  die  Kirche  auch  wirklich 
dazu  verstanden  hätte,  alle  die  religiösen  Mittel  des  Heiden* 
tums  von  der  Schwelle  her  abzulehnen,  die  sie  als  Sakra* 
mente  ihren  Angehörigen  verabreicht  mit  dem  eingestände* 
nen  oder  uneingestandenen  Zweck  magischer  Selbstver* 
götterung.  Aber  freilich,  —  der  unbedingte  Verzicht  auf  die 
Zauberwirkung  angewendeter  Sakramente  war  für  die  Kirche 
undurchführbar,  weil  just  diese  Sakramente  im  Gegensatz 
zur  begrifflichen  Symbolik  der  theistischen  Theologie,  im 
Gegensatz  also  dieser  angeblich  monotheistischen,  in  Wahr* 
heit  aber  polytheistischen,  nämlich  tritheistischen  Theologie, 
die  wirklichen  Elemente  der  Religiosität  enthielten,  die  ja 
keineswegs  ihre  Götter  denken,  sondern  ihre  Götter  sein 
will!  Beruft  man  sich  somit  auf  den  Gottesbegriff  des  Theis* 
mus,  dann  ist  das  Sakrament  mit  seiner  primitiven  Magie 
der  Selbstvergottung  ein  Ärgernis,  ja  eine  Lästerung.  Ver* 
sucht  man  aber  eine  Religion  zu  gründen  auf  die  reine  Lehre 
und  ihre  Gottesvorstellung  allein,  dann  spürt  man  bald, 
daß  man  zwar  Theologie,  nicht  aber  mehr  Religion  betreibt: 
daß  folglich  keine  noch  so  spekulativ  durchgebildete  und 
durchgefeilte  Vorstellunggesamtheit  theistischer  Dogmatik 
die  ewige  Tendenz  der  Religiosität  verdrängen  oder  gar 
ersetzen  kann.  Diese  Theologie  zwingt  die  erste,  mächtigste 
Regung  aller  Religion  überhaupt  dazu,  sich  als  Magie  höchst 
sinnfälliger  und  sinnlicher  Art  zu  äußern,  die  in  der  Folge 

798 


unter  dem  Einfluß  der  Dogmatik  zwar  eine  gewisse  Ver* 
geistigung  erfährt:  —  indes  der  religiöse  Urwunsch  wieder* 
um  die  theistische  Theologie  dazu  zwingt,  im  Widerspruch 
zu  ihrer  eigenen  wissenschaftlich  durchklärten  Lehre  jene 
Magie  fort  und  fort  gewähren  zu  lassen.  Mit  dem  Theismus 
konnte  sich  die  Tendenz  zur  Religion  überhaupt,  mit  der 
Tendenz  zur  Religion  überhaupt  konnte  sich  der  Theismus 
abfinden  und  vertragen  höchstens  auf  Grund  geduldeter 
wechselseitigen  Störung  und  Beeinträchtigung.  Die  Theo* 
logie  mußte  sich  abfinden  mit  einer  Trübung  ihrer  klaren, 
aber  an  sich  unschmackhaften  und  unnahrhaften  Lehre  durch 
die  Erlaubnis  zum  weitgehenden  Gebrauch  magischer  Spei* 
sungen  und  Bäder,  Opfer  und  Gebete,  Bußübungen  und 
Salbungen.  Die  Religion  als  solche  hingegen  mußte  sich 
eine  Umbiegung  ihrer  wesentlichsten  Tendenz  gefallen 
lassen  und  durfte  die  Verwirklichung  dieser  nur  noch  inso* 
weit  ehrlich  anstreben,  als  es  das  Dogma  vom  seienden  Gott 
in  Person  des  Vaters,  in  Person  des  Sohnes,  in  Person  des 
Geistes  zuläßt.  Die  Theologie  kann  die  Magie  nicht  missen, 
weil  sie  ohne  diese  eine  eigentlich  religiöse  Bedeutsamkeit 
gar  nicht  aufweisen  würde.  Die  Religion  aber  muß  zur 
Magie  ausarten,  weil  die  Theologie  nur  Götter  als  himmlische 
Persönlichkeiten  kennt  und  anerkennt,  in  welche  sich  der 
Gläubige  lediglich  kraft  irgend  einer  regelwidrigen,  zauber* 
haften,  wunderbaren  Begebenheit  zu  wandeln  vermag.  Das 
weltgeschichtliche  Ergebnis  dieser  äußerst  seltsamen  Schlich* 
tung  war  dann  freilich  nichts  geringeres  als  eben  das  euro* 
päische  Christentum  oder  die  Religion  der  Kirche  mit  ihren 
unermeßlichen  Innenspannungen  von  Wort  und  Tat,  For* 
derung  und  Gewährung,  Wunsch  und  Erfüllung,  Verkündi* 
gung  und  Seelsorge,  Theorie  und  Praxis,  Dogma  und  Kultus, 
Philosophie  und  Ritus:  ihrerseit  unstreitig  schon  viel  zu 
viel  bloße  Theologie  und  Dogmatik,  immerhin  aber  doch 

799 


auch  noch  Religion  und  Tendenz  zur  Religion;  ihrerseit 
unstreitig  schon  eine  kraß  entstellte  und  verfratzte  Religio* 
sität,  aber  doch  auch  etwas  viel  Besseres,  Stärkeres  und 
Stärkenderes  als  bloße  Mythologie.  An  der  Magie  der  Sakra* 
mente  wird  die  reine  Lehre  des  christlichen  Theismus  zu 
schänden;  an  der  Theognosie  der  theistischen  Dogmas  nützt 
sich  die  Energie  der  religiösen  Tendenz  als  solche  ab.  Aber 
wie  bei  allen  Widerstreiten,  die  im  Bereich  von  Wirklich* 
keiten  heftig  zum  Ausgleich  drängen,  spannt  sich  an  ihnen 
das  Leben  zu  vorher  nie  erahnter  Fülle,  Macht,  Pracht  und 
Größe.  Immer  wieder  feindet  im  Christentum  der  Kirche 
die  magische  Religiosität  die  dogmatische  Theologie  inner* 
lieh  an,  und  immer  wieder  zwingt  die  dogmatische  Theo* 
logie  die  magische  Religiosität  heimlich  auf  die  Kniee.  Aber 
von  diesem  Kampf,  den  bisher  nicht  Sieg  und  nicht  Nieder* 
läge  endigte,  bestreitet  (ganz  buchstäblich)  die  Kirche  seit 
anderthalb  Jahrtausenden  und  länger  ihr  starkes  Leben: 
von  ihm  bestreiten  ihr  Leben  sogar  die  Kirchen  und  After* 
kirchen  bis  auf  diesen  Tag,  da  sich  noch  nirgends  absehen 
läßt,  wie  oder  wann  die  Entscheidung  innerhalb  des  Christen* 
tums  fallen  werde,  —  oder  außerhalb  seiner  .  .  . 

Kaum  ganz  so  schroff  und  unversöhnlich  wie  im  Bezirk 
des  christlichen  Theismus  prägt  sich  der  Widerstreit  zwischen 
Theologie  und  Religion  in  den  Systemen  des  Pantheismus, 
Panentheismus  und  Monismus  aus.  Oder  vorsichtiger  ge* 
sagt,  nicht  ganz  so  schroff  und  unversöhnlich  scheint  er  sich 
hier  auszuprägen.  Und  dies  zwar  darum  nicht,  weil  Pan* 
theismus,  Panentheismus,  Monismus  in  mancherlei  Gestalt 
zwar  eine  gedankliche  Herausstellung  erfuhren,  niemals 
aber  bei  uns  in  Europa  zum  Dogma  einer  Kirche  selbst  ge* 
diehen,  vielmehr  im  bemerkenswerten  Unterschied  zu  Indien 
so  ziemlich  von  allen  christlichen  Bekenntnissen  der  Ketzerei, 
Freigeisterei,  Gottesleugnern  verdächtigt  und  ihrethalber 

800 


verfolgt  wurden.  Ohne  Zweifel  gibt  es  auch  bei  uns  eine 
pantheistisch*monistische  Theologie  und  Kosmologie,  und 
ihr  weitgeschwungener  Bogen  wölbt  sich  etwa  vom  einen 
Widerlager  Plotinos  über  seinen  Scheitel  Bruno  und  Spinoza 
bis  zum  anderen  Widerlager  Hegel,  Schelling,  Schopen* 
hauer,  Hartmann.  Indes  ist  diese  Theologie  und  Kosmo* 
logie,  trotz  aller  gnostischen  Einschläge  und  Zettel,  nie  eine 
im  engeren  Wortverstand  christliche  gewesen  oder  wenig* 
stens  nie  als  eine  christliche  anerkannt  worden ;  niemals  hat 
sich  die  flüssige  Beweglichkeit  ihrer  Erkenntniszusammen* 
hänge  zu  der  starren  Festigkeit  von  Bekenntnisformeln  ver* 
steift,  über  deren  Beobachtung  eine  irdische  Macht  unnach* 
sichtig  gewacht  hätte.  Daher  konnte  sich  ihr  Widerstreit 
mit  der  Religion  oder  mit  der  ewigen  Tendenz  zu  dieser 
niemals  mit  der  Leidenschaftlichkeit  wie  im  theistischen 
Christentum  äußern.  Sie  hatte  es  verhältnismäßig  leichter, 
Theologie  und  Religion  in  einem  zu  sein,  weil  sie  in  einem 
ganz  anderen  Sinn  Theologie  war  als  der  Theismus  der 
Kirchen  und  der  Kirche.  Ihr  Gott,  irgendwie  Eins  und 
Alles,  irgendwie  Eines  in  Allem  oder  Alles  in  Einem, 
weigert  sich  der  Selbstvergöttlichung  viel  weniger  als  der 
Gott,  der  Persönlichkeit  und  Selbstbewußtsein  ist,  umballt 
und  umwallt  von  einer  undurchdringlichen  Sphäre  von  Ich* 
Bezogenheiten  und  Ich*Beziehungen.  Keinesfalls  braucht 
sich  der  Wunsch  zur  Vergöttlichung  hier  als  Magie  zu 
äußern,  um  mittels  dieser  eine  sonst  nicht  zu  bewirkende 
Einigung  mit  Gott  zu  ermöglichen.  Vielmehr  erleichtert 
die  Unpersönlichkeit,  wenn  nicht  Überpersönlichkeit  Gottes 
dem  Pantheisten  seine  Wandlung  von  Ich  zum  Es  sehr  er* 
heblich.  Nur  allerdings  ist  auch  hier  diese  Schwierigkeit 
nicht  behoben,  daß  der  Wille  zur  Selbstgöttlichung  aber* 
mals  nur  zu  seinem  Ziel  gelangt  durch  eine  Vereinigung, 
Durchdringung,   Zusammenwachsung,   Ineinandergattung 

51     Ziegler,  Gestaltwandel  der  Götter  801 


mit  einem  unabhängig  von  diesem  Willen  doch  schon 
Seienden  und  Wesenden.  Auch  hier  erschafft  und  erzeugt 
und  setzt  die  religiöse  Leistung  nichts,  das  nicht  unabhängig 
von  ihr  schon  früher  als  sie  gewesen,  früher  als  sie  be* 
standen  hätte.  Auch  hier  durchkreuzt  die  Annahme:  es 
gibt  Gott,  es  gibt  vieleinige  Gottheit,  es  gibt  gotthaftes  Urs 
sein,  den  frömmeren  Zeugungwunsch  und  Zeugungwillen : 
o  daß  doch  ich,  so  und  so  Mensch,  den  Gott,  der  nirgends 
ist  und  den  es  nirgends  gibt,  durch  menschlichste  Tat  mensch* 
lieh  aus  mir  hervorbilden,  menschlich  in  mir  erschaffen, 
menschlich  durch  mich  verwirklichen  möchte  1  Gewiß, 
der  Pantheist  wird  infolge  seiner  philosophischen  Meinung 
von  Gott  seinen  Welt*Geist  und  seine  Welt*Seele  nicht 
mehr  zu  essen  und  nicht  mehr  zu  trinken  heischen,  und 
nicht  mehr  wird  er  Gott  durch  die  Zeremonie  des  Opfers 
zu  einer  stets  wiederholbaren  Wiedergeburt  nötigen.  Ober* 
all  wo  der  Pantheist  sich  nur  selbst  richtig  versteht,  wird 
er  auch  Sakrament  und  sakramentale  Magie  als  Unange* 
messenheiten  einer  überwindungbedürftigen  Phasis  und 
Praxis  der  Religion  verstehen  und  —  verschmähen.  Denn 
dies  trennt  offenbar  den  Pantheisten  am  meisten  und  ent* 
scheidendsten  vom  Theisten,  daß  er  sich  gewissermaßen 
selber  Gott  weiß.  Irgendwie  berühren  sich  ihm  die  Seelen* 
lagen  seines  Wachbewußtseins  mit  den  Seelenlagen  seines 
Schlaf  bewußtseins,  irgendwie  münden  ihm  die  einen  in  die 
anderen  ein,  irgendwie  entquellen  ihm  die  einen  aus  den 
anderen.  Und  weil  Persönlichkeit,  Ich,  Selbstbewußtheit 
mit  ihrem  weitstrahligen  Kerngerüst  von  subjektiv*objek* 
tiven  Stellungen  und  Gegenstellungen  auf  der  Ebene  pan* 
theistischen  Gotterkennens  lediglich  zum  ungöttlichen  Teil 
des  Menschseins  zählen,  wofern  Gott  selber  diesseit  jeder 
Ichstellung  und  Nichtichstellung  behaust  ist,  so  liegt  es  in 
der  Linie  dieser  Theologie,  die  menschliche  Vergöttlichung 

802 


als  den  stückweis  zu  verrichtenden  Abbau  aller  Bewußt* 
seins*  und  Persönlichkeitstufen  aufzufassen  und  solcher* 
gestalt  die  innerste  Tendenz  des  religiösen  Lebens  nicht  als 
Magie,  sondern  als  Mystik  durchzusetzen.  Wie  der  Theis* 
mus  an  die  Magie,  knüpft  sich  der  Pantheismus  an  die 
Mystik,  womit  er  zwar  den  Gegensatz  zwischen  Theologie 
und  Religion  mildert,  aber  nicht  tilgt.  Denn  wenn  einer* 
seit  der  theologische  Grundbegriff  des  Pantheismus  Gott 
als  den  Vieleinigen  und  Vieleinen,  mithin  als  gleichbetonte 
Doppelheit  der  göttlichen  und  der  weltlichen  Seinsschich* 
tungen  auffaßt  und  auf  diese  Weise  sowohl  der  Vielzahl 
der  wirklichen  Erscheinungen  wie  ihrer  Vereinheitlichung 
durchaus  gleiche  Rechte  widerfahren  läßt,  —  andererseit  aber 
in  der  Mehrheit  der  Fälle  trotzdem  eine  Bevorzugung  der 
göttlichen  Einheit  zum  Nachteil  der  weltlichen  Mannig* 
faltigkeit  zu  beobachten  ist:  dann  war  es  augenscheinlich 
das  religiöse  und  nicht  das  theologische  Interesse  des  Mo* 
nisten,  dem  die  Schuld  an  dieser  an  und  für  sich  unbe* 
gründeten  Bevorzugung  zuzumessen  ist.  Der  pantheistische 
Monismus  als  Theologie  behauptet  nicht,  daß  der  Einheit* 
gort  sei,  die  Vielheitwelt  aber  nicht  sei,  sondern  behauptet 
nur,  daß  diese  Vielheitwelt  eingöttlich  durchdrungen  und 
durchwaltet,  eingöttlich  unterwölbt  und  getragen  werde. 
Der  Mystiker  als  solcher  aber,  dem  wenig  am  dogmatisch* 
theologischen  Begriff,  viel  dagegen,  ja  alles  an  der  religiösen 
Praxis  gelegen  ist:  er  wird  in  der  Folge  dazu  neigen,  von 
diesen  zwei  gleichmäßig  bejahten  Seinsschichtungen  Welt* 
Gott,  Vielheit*Einheit,  Erscheinung* Wesen  jeweils  die  erste 
Hälfte  zu  verneinen.  Sagt  nämlich  die  Theologie  des  Mo* 
nisten :  Gott  ist  Eines  und  Alles,  so  antwortet  die  Praxis 
des  Mystikers :  folglich  muß  dieses  All  verschwinden,  falls 
das  Eine  alleinig  werden  soll.  Und  fährt  dieselbe  Theo* 
logie  fort:  Gott  ist  in  jedem  Ich  das  Es,  in  jedem  Bewußt* 

51*  803 


sein  das  Überbewußte,  in  jeder  Einzelseele  die  Weltseele, 
in  jeder  Person  die  Unperson,  so  antwortet  des  Mystikers 
Praxis:  just  darum  muß  jedes  Ich  im  Es,  jedes  Bewußtsein 
im  Uberbewußtsein,  jede  Einzelseele  in  der  Weltseele,  jede 
Person  in  der  Unperson  ertrinken  und  versinken.  Hebt 
ferner  die  monistische  Theologie  mit  Fug  hervor :  Gott  ist  so= 
wohl  Ich  wie  Du,  wie  Es,  wie  Er,  wie  Wir,  wie  Ihr,  wie  Sie 
zumal,  so  antwortet  die  Praxis  der  Mystik:  folglich  ist  Gott 
weder  Ich  noch  Du,  weder  Er  noch  Es,  weder  Wir  noch 
Ihr  noch  Sie  zumal,  sondern  das  an  sith  schlechthin  Un* 
geschiedene  und  Unscheidbare  in  allem  Geschiedenen  und 
Scheidbaren.  Zielt  mithin  die  Mystik  dahin,  die  seienden, 
bewußtseienden  Erscheinungen  zu  einigen  und  durch  den 
Vorgang  der  Einigung  zu  vergotten,  so  ist  ihr  dies  Ziel  nur 
erreichbar,  wenn  sie  die  seiend  bewußtseienden  Erschein 
nungen  durch  irgend  ein  Verfahren  aufhebt  und  widerruft. 
In  einem  sehr  buchstäblichen  Wortverstand  führt  der  Weg 
zur  Gott*Einheit  nur  über  die  Welt* Vielheit,  und  je  beharr* 
licher  der  Monismus  Religion,  will  heißen  Mystik  zu  sein 
bestrebt  ist,  desto  unaufhaltsamer  endigt  er  im  Akosmis* 
mus.  Der  Monismus  als  Theologie  kann  nur  um  den  Preis 
des  Akosmismus  Monismus  als  Religion  werden,  nur  um 
den  Preis  der  Jntelligibilität',  der  ,Phänomenalität',  ja  der 
Jllusorität'  aller  Wirklichkeit.  In  dem  warmen  Atem  des 
Wunsches  zur  Selbstvergottung  schmilzt  das  pantheistische 
Eins  und  Alles  wie  Schnee  vor  dem  Föhn  sehr  schnell  da* 
hin  zum  Eins  und  Nichts,  und  unverzüglich  wandelt  sich 
die  Welteinheit*Lehre  zur  Entweltung*Tat.  Prüfen  wir 
unter  diesem  Sehwinkel  ein  theognostisch*religiöses  System 
des  Monismus  von  ausgesprochen  mystischer  Beschaffen* 
heit,  wie  es  in  vollkommener  Ausgestaltung  immer  noch 
die  Enneaden  des  Plotinos  darbieten,  dann  erweist  sich 
dieses  System  genau  in  dem  Grade  akosmistisch,  als  die 

804 


allgemein  religiösen,  hier  notwendig  mystischen  Energien 
seines  Urhebers  noch  ungebrochen  sind.  Ein  in  vielen 
Zügen  ähnlich  geartetes  System  hingegen,  wie  etwa  das 
hartmannsche,  an  spekulativ*philosophischer  Kraft  vielleicht 
nur  wenig  hinter  dem  plotinischen  zurückstehend,  aber 
jeder  eigentlichen  Mystik  entratend,  möglicherweis  sogar 
jeder  echten  Religiosität,  —  trotz  eines  mit  großen  Mitteln 
unternommenen  Versuches  zur  Stiftung  des  .konkreten 
Monismus'  als  einer  Religion  des  Geistes,  der  Erlösung 
und  der  Zukunft!  —  nun,  es  selber  sucht  und  findet  be* 
zeichnenderweis  seine  Befriedigung  darin,  eben  die  Eins* 
undalleslehre,  eben  die  Alleinheitlehre  als  »konkreten 
Monismus'  vermittels  einer  konsequent  realistischen  Theorie 
des  Erkennens  vor  allen  akosmischen  Anwandlungen  be* 
wahrt  zu  haben.  In  diesem  höchst  aufschlußreichen  Fall 
opfert  also  die  Theologie  und  Kosmologie  des  Monisten 
unbedenklich  die  Mystik  (und  mit  ihr  die  dem  Monismus 
wesentlich  entsprechende  Form  der  Religion);  in  jenem 
früheren  Fall  gibt  umgekehrt  die  mystische  Religiosität  die 
monistische  Theo*Kosmologie  preis,  wenn  anders  man  die 
Wendung  zum  Akosmismus  ernstlich  als  eine  Preisgabe  des 
Monismus  auffassen  darf.  Beide  Fälle  miteinander  ver* 
glichen  aber  bestätigen,  daß  der  latente  Widerstreit  zwischen 
Theologie  und  Religion  auch  für  den  Pantheismus  keines* 
wegs  erledigt  ist.  Zwei  Theologen  von  so  inniger  Gleich* 
zeitigkeit,  von  so  besonderer  ,contemporaneite  der  Begriffe 
und  Vorstellungen,  der  Voraussetzungen  und  der  Ziele, 
sie  begegnen  sich  doch  zuletzt  als  Antipoden,  indem  der 
frühere,  religiös  ergriffen  wie  nur  wenige  und  unter  den 
gewaltigen  Heiden*Mitstiftern  des  Christentums  ohne  Frage 
der  geistig  überragendste,  reichste,  tiefste,  allseitigste, 
schlichteste,  keuscheste,  sachlichste,  sich  durchaus  von  der 
Notwendigkeit  erfüllt  zeigt,  die  Selbstvergottung  im  Vor* 

805 


gang  des  Abbaus  aller  Ichstufen,  Nichtichstufen  zu  be* 
werkstelligen;  —  indes  der  spätere,  vorwiegend  Denker, 
vorwiegend  sogar  Gelehrter,  (wie  leider  fast  alle  Philo* 
sophen  seiner  Zeit),  dieselbe  Notwendigkeit  mit  der  ihm 
eigenen  Halsstarrigkeit  abweist,  um  sich  möglichst  unge* 
schmälert  die  moderne  Überzeugung  von  der  Wirklichkeit 
des  Wirklichen  zu  bewahren  .  .  .  Nicht  an  sich  also,  ich 
wiederhole  es,  führt  der  Monismus  zur  Weltleugnung, 
Weltverneinung  und  Weltaufhebung  im  sogenannten  Akos* 
mismus.  Aber  er  führt  unweigerlich  dort  dazu,  wo  er  den 
theologisch*spekulativen  Antrieben  weniger  als  den  prak= 
tisch*religiösen  seine  Entstehung  dankt,  von  Stund'  an 
allerdings  Schritt  für  Schritt  mit  seinen  erkenntnismäßigen 
Absichten  in  stets  härteren  Widersatz  geratend  .  .  . 

Völlig  zum  Verschwinden  gebracht  wird  die   Gegen* 

Setzung  Theologie  und  Religion  dann  freilich  in  der  letzten 

Gruppe    der    hier  namhaft  gemachten   Erkenntnisgefüge 

unserer  abendländischen  Bekenntnisse.  Ich  meine  in  jener 

Gruppe,  die  wir  im  Unterschied  zur  theistischen  und  zur 

pantheistischen  die  deistische  nannten.    Völlig  zum  Ver* 

schwinden  wird  diese  seltsame  Gegensetzung  gebracht:  aber 

wohlverstanden  nicht  etwa  dadurch,  daß  der  Deismus  nun 

die  zwiespältigen  Tendenzen  grundsätzlich  miteinander  zu 

versöhnen  wisse,   sondern  einfacher,  selbstherrlicher,  ge* 

waltsamer  dadurch,  daß  die  deistische  Theologie  schon  an 

sich  jede   strengere   Geltendmachung  wirklich   religiöser 

Tendenzen  verbietet.    Der  Deismus,  könnte  man  bereits 

sagen,   sei   die   höflichste  Form   des  Atheismus,   die  wir 

Abendländer  kennen,  und  diese  Eigentümlichkeit  könnte 

ihm   sogar  vieles   von  unserer  aufrichtigsten  Sympathie 

sichern.    Aber  leider  ist  der  Deismus  nicht  Atheismus  um 

der  Religion  willen,  wie  wir  ihn  hier  für  wünschenswert 

erachteten,  sondern  er  ist  Atheismus  um  der  Unreligion 

806 


und  Irreligion  willen,  womit  er  sich  die  schon  knospende 
Sympathie  gleich  wieder  verscherzt.  Sein  weltjenseitiger 
Gott,  deus  transmundanus,  deus  extramundanus  ist  seiner 
ganzen  Herkunft  und  Leistung  nach,  wir  behaupteten  es 
schon  weiter  oben,  nur  eine  platonisch  zu  verstehende 
,Hypothesis\  nur  eine  irgendwie  für  notwendig  gehaltene 
Grundlegung;  sei  es  der  wissenschaftlichen  Mechanik  oder 
Physik,  wie  bei  den  Anaxagoras,  Aristoteles,  Newton  und 
jüngeren  Kant;  sei  es  der  wissenschaftlichen  Ästhetik  und 
Kosmoästhetik,  wie  bei  den  Shaftesbury,  Herder,  Wieland 
und  dem  jüngeren  Schiller;  sei  es  der  freigeistigen  Ethik  und 
Moralität,  wie  bei  den  Voltaire  und  Kant.  Dieser  Hypo* 
thesis  bedarf  man  gleichsam  als  eines  überweltlichen  Gott* 
restes  und  Gottrückstandes  aus  besseren  Zeiten,  etwa  als 
des  , Herrn  der  Kreisbewegung',  als  des  Bewegers  der 
Himmel  und  Himmelsumläufe,  als  des  Verursachers  der 
Grundkräfte  und  Grundstoffe,  als  des  Gesetzgebers  der 
Wirklichkeiten,  als  des  Künstlers  des  Kunstwerkes  Welt, 
als  des  Spenders  der  Schönheit  und  des  Einklangs,  als  des 
ewigen  Fugisten  und  Kontrapunktisten,  als  des  Ausgleichers 
und  Angleichers  der  Tugenden  und  der  Belohnungen.  Da 
sich  das  All  innerhalb  gewisser  Grenzen  als  wohlgeordnet 
bewährt,  meint  der  Deist  eines  AlkOrdners  nicht  entbehren 
zu  können;  da  uns  die  Dinge  innerhalb  gewisser  Grenzen 
voller  Schönheit  dünken,  wähnt  der  Deist  einen  Geist? 
werker  und  Werkmeister  dieser  Schönheit  annehmen  zu 
müssen;  da  der  Mensch  innerhalb  gewisser  (sehr  enger) 
Grenzen  zur  Tugend  neigt  ohne  des  Glückes  teilhaftig  zu 
werden,  glaubt  der  Deist  an  einen  himmlischen  Born  dieser 
Tugend  wie  an  einen  himmlischen  Hort  der  Glücksäligkeit, 
der  beide  in  ein  vernünftiges  Verhältnis  setzt.  Gesetz* 
mäßigkeit,  Schönheit,  Sittlichkeit  stellen  dem  Deisten  die 
Frage  ihres  Ursprunges  und  Voranfanges,  und  wer  oder 

807 


was  sollte  Ursprung,  wer  oder  was  sollte  Voranfang  sein, 
wenn  nicht  der  vovg,  wenn  nicht  die  Gottvernunft  über  den 
Sternen?  Dieser  Gott  ist  freilich  nur  ein  arger  Lückenbüßer 
der  Erkenntnis,  zugelassen  und  erfunden,  um  lebhaft  ge* 
fühlte  Eindrücke  von  der  und  der  Beschaffenheit  verstand* 
lieh  zu  machen.  Ein  Wunsch,  nunmehr  dieser  Gott  über 
den  Sternen,  dieser  Herr  der  Umläufe,  Urstoffe  und  Ur* 
kräfte,  dieser  vollkommenste  Künstler  und  Werkmeister 
aller  schönen  Gegenstände,  dieser  Born  der  Tugend  und 
Hort  der  Glücksäligkeit  zu  sein  oder  zu  werden  in  eigener 
und  menschlicher  Persönlichkeit,  —  ein  solcher  Wunsch  ist 
hier  nicht  einmal  denkbar,  weil  auch  beim  besten  Willen 
mit  diesem  deus  transmundanus  niemand  eigentliche  Be* 
Ziehungen  oder  Verbindungen  unterhalten  kann.  Es  sei 
denn,  daß  er  aus  Gründen,  die  zwar  viel  mit  Wissenschaft, 
Erkenntnis,  Tugend,  Kunst,  wenig  oder  nichts  aber  mit 
Religion  zu  schaffen  haben,  in  höchstgestimmten  Gefühlen 
für  diesen  Gott  erglühe,  in  Gefühlen,  die  wir  aus  Shaftes* 
bury  und  Rousseau,  aus  Sterne  und  Herder,  aus  Kant  und 
Schiller,  aus  Hölderlin  und  Jean  Paul  einigermaßen  kennen 
und  ehren,  ohne  sie  leider  noch  teilen  zu  können.  Diese 
jünglinghafte  Schwarmgeisterei,  diese  jungmädchensälige 
Verliebtheit,  Verzücktheit  in  allen  Tonarten,  seltsam  genug 
abstechend  von  der  sonst  weltmännischen  und  hof* 
männischen,  folglich  auch  übersättigten  Kultur  des  acht* 
zehnten  Jahrhunderts,  sie  glaubte  Gott  wahrhaftig  im 
Schäferspiel  am  besten  noch  zu  dienen;  sie  findet  den  ein* 
zigen  Ersatz  für  den  peinlichen  Mangel  des  Deismus  an 
eigentlich  religiösem  Leben  in  einem  leicht  üppigen,  zart 
berauschten,  zärtlich  schwelgerischen  Enthusiasmus,  der 
den  deus  extramundanus  gleichsam  weinlaunig  zum  Bankett 
lädt  wie  weiland  Herr  Giovanni  den  einsilbigen  Gast  von 
Marmelsteine  :  Es  lebe  der  gute  Gott,  es  lebe  der  liebe  Gott 

808 


es  lebe  die  schöngute  Gott*  und  Menschenwelt,  es  lebe  das 
höchste  Wesen,  es  lebe  der  ewige  Welt*Geist;  —  stoßt  an, 
Brüder,  überm  Sternenzelt!  .  .  .  Solch'  leis  dionysischer, 
leis  orgiastischer  Enthusiasmus  von  ungemein  festlicher  und 
geselliger  Wirksamkeit    ersetzt    dem    Deisten    tatsächlich 
einigermaßen  die  Magie  und  Mystik  theistischer  und  pan* 
theistischer  Religionen.  Er  ersetzt  ihm  diese,  soweit  er  sich 
nicht  selbst  bisweilen  von  ihnen  verführen  läßt,  wenn  er 
sich  in  seiner  Eigenschaft  als  Theolog  den  theistischen  oder 
pantheistischen  Überzeugungen  nähert.  Von  diesem  Kult 
der  Begeisterlinge  fürs  höchste  Wesen  aber  abgesehen,  hat 
der  Deismus  seinen  deus  soweit  über  die  Welt  gehoben 
und  geschoben,  daß  er  sich  bestenfalls  noch  für  ihn,  keines* 
wegs  aber  mehr  eigentlich  in  ihm  zu  enthusiasmieren  ver* 
mag  (wie  es  der  Sinn  dieses  Wortes  doch  verlangte).  Was 
sonst  übrig  bleibt,  ist  verschämter  Atheismus,  verschämte 
Irrelegion  und  Nichtreligion.  Nichts  ist  in  dieser  Hinsicht 
aufschlußreicher  als  das  Verhältnis  etwa  Voltaires  zu  der 
magisch*sakramentalischen  Praxis  des  theistischen  Christen* 
tums.    In  einer  denkwürdigen  Briefstelle  an  Friedrich  von 
Preußen  macht  er  diesem  großen  König  darüber  folgende 
Glosse:  „Ich  verzeih'  ihnen  (noch)  die  Jungfrauen  um  et* 
licher  schöner  Gemälde  willen,  welche  die  Maler  davon 
gemacht  haben.   Jedoch  werden  Sie  mir  zugestehen,  daß 
das  Altertum  niemals,  welcher  Volkart  es  immer  auch  war, 
auf  eine  abscheulichere  und  lästerlichere  Abgeschmacktheit 
verfallen  ist  als  diese,  seinen  Gott  zu  essen.  Das  ist  die  fürs 
höchste  Wesen  empörendste  und  beleidigendste  Glaubens* 
lehre,  der  Gipfel  der  Narrheit  und  des  Wahnsinns  .  .  ." 
Sieht  man  bei  diesem  überaus  scharfen  Urteil  auch  gern  von 
dem  verzeihlichen  Geschichtirrtum  ab,  als  hätten  die  Heiden* 
Völker  des  Altertums  den  Gebrauch  sakramentaler  Mahl* 
Zeiten  und  die  Einrichtung  sakraler  Tischgenossenschaften 

809 


nicht  gekannt,  als  hätten  sie  sogar  nicht  ihrerseit  dem 
Christentum  beides  als  Vermächtnis  hinterlassen  und  ver* 
erbt,  so  findet  man  dennoch  die  spezifisch  deistische  Un* 
fähigkeit  zur  Würdigung  tief  religiöser  Riten  bis  zu  einem 
Grad  gesteigert,  der  sich  nicht  überbieten  läßt.  Keine 
Ahnung,  daß  sich  hinter  dem  Brauchtum  oder  meinetwegen 
Mißbrauchtum  der  Verabreichung  und  Empfangnahme  des 
Sakraments  geradezu  der  Urtrieb  der  Religion  versteckt 
halten  könne.  Keine  Ahnung,  daß  sich  der  Christ,  das 
Abendmahl  genießend,  wohl  eines  ungeeigneten  und 
plumpen  Mittels  zur  Selbstvergötterung  bediene,  nichts* 
destoweniger  aber  weder  in  seinem  Ziel  noch  in  seiner 
Absicht  irre.  Diesem  in  entscheidender  Beziehung  doch 
wieder  naiven  Aufklärer,  —  und  welche  Naivität  setzt  es 
nicht  voraus,  überhaupt  aufklären  zu  wollen!  —  diesem 
eminent  gescheuten,  eminent  gewitzten  und  bei  aller  persön* 
liehen  Bosheit  doch  in  der  Sache  wohlmeinenden  Aufklärer 
widerlegt  sich  das  Sakrament  ganz  einfach  durch  seine  Ab* 
geschmacktheit.  Er  hält  es  für  abscheulich,  für  lästerlich,  weil 
sein  Instinkt  von  aller  Religiosität  so  weit  verlassen  ist,  daß  er 
Religion  eben  noch  als  erkenntnismäßige  Dreingabe  eines 
ersten  Bewegers,  eines  vollkommensten  Künstlers,  eines  all* 
gerechten  Schiedrichters  in  mechanicis,  in  artibus,  in  moralibus 
zu  gestatten  vermag.  Unter  keinen  Umständen  aber  ist  für 
ihn  und  seinesgleichen  der  Gott  noch  etwas,  das  der  Mensch 
sein  oder  werden  will,  sondern  günstigstenfalls  ein  Postulat 
der  Mechanik,  der  Ästhetik,  der  Ethik.  Der  Wunsch  zur 
Selbstvergöttlichung  scheint  versiegt  und  nicht  einmal  mehr 
in  der  Form  geschichtlichen  Verständnisses  hinreichend 
lebendig,  um  die  Religion  vor  ihren  schädlichsten  Ver* 
wechslungen  zu  behüten  .  .  . 

Wir  buchen  mithin  als  den  Ertrag  dieses  letzten  Rück* 
blicks,  daß  der  Gott  in  dem  Grad  untüchtig  zu  wesentlich 

810 


religiösen  Leistungen  wird,  als  sich  der  Begriff  von  ihm 
theologisch,  philosophisch,  metaphysisch  vergeistigt.  Was 
bisher  für  den  sichersten  Fortschritt  des  religiösen  Bewußt* 
seins  gegolten  hat,  erweist  sich  an  diesem  entscheidenden 
Tatbestand  geprüft  und  geprobt  als  größte  Fragwürdigkeit. 
Zugegeben,  die  menschlichen  Vorstellungen  von  Gott  und 
über  Gott  seien  im  Ablauf  geschichtlicher  Lebensalter  ge* 
danklich  reifer,  wiederspruchfreier,  begründbarer,  Vernunft* 
entsprechender,  urteilständiger,  deutungfähiger,  mit  einem 
Wort  wissenschaftlicher  geworden,  so  heißt  dies  noch  im 
entferntesten  nicht,  daß  nun  auch  die  Religion  fortge* 
schritten  sei.  Nach  sehr  geheimnisvollen,  umdunkelten  und 
voranfänglichen  Versuchen  der  Selbstvergottung  sehen  wir 
die  vernünftige  Überlegung  einsetzen,  die  gleichsam  un* 
interessierte  Spekulation,  wer  oder  was  denn  der  Gott 
möglicherweis  sein  könnte.  Abseit  von  Zauberei  und 
Mummenschanz,  abseit  von  Tiertänzen  und  Tätowierungen, 
abseit  von  Menschenopfer  und  Tempelunzucht,  abseit  von 
Mannbarkeitmartern  und  Teufelbeschwörungen,  bemäch* 
tigt  sich  der  Gedanke  des  Gott*Seins,  und  niemand  darf 
zweifeln,  daß  dieser  Gedanke  sich  wirklich  eine  würdigere 
Vorstellung  vom  Gottheitlichen  erarbeitet  als  jene  kaum 
ganz  unanfechtbaren  Gebräuche.  Indem  wir  dies  ehrlicher* 
weis  feststellen,  läßt  sich  indes  auch  die  entgegengesetzte 
Tatsache  nicht  gut  übersehen,  daß  der  Gott,  je  ausschließ* 
licher  als  ein  Vorwurf  der  Erkenntnis  wert  gehalten,  desto 
mehr  an  Brauchbarkeit,  Verwendbarkeit,  Nutzbarkeit  für 
die  Praxis  der  Religion  einbüßt,  auch  wenn  diese  Praxis 
keineswegs  bei  den  Verfahrungweisen  des  Urzustandes  be* 
harrt.  Eine  simple  Erfahrung  lehrt,  daß  schon  die  über* 
wiegende  Betätigung  des  Verstandes  als  solche  den  Willen 
ganz  allgemein  zu  schwächen  pflegt,  und  diese  Erfahrung 
allein  berechtigt  zu  der  Erwartung,  daß  eine  fortschreitende 

811 


Vergeistigung  des  Gottes  zu  einem  Begriff,  zu  einem  Denk* 
inhalt,  zu  einer  Vernunftwahrheit  den  religiösen  Wunsch* 
trieb  fortschreitend  versehre.  Selbst  wenn  diese  allgemeine 
Erfahrung  hier  nicht  zuträfe  und  der  Wille  zur  Selbstver* 
gottung  allen  philosophischen  und  metaphysischen  Ver* 
geistigungen  zum  Trotz  lebendig  sich  erhielte,  —  es  käme  doch 
der  Augenblick,  wo  dieser  Wille  den  derart  veredelten  Gott 
nicht  mehr  einzuholen  fähig  wäre.    Gesetzt  den  Fall,  der 
Stärkegrad  des  religiösen  Willens  bliebe  bei  aller  Theologie 
und  Dogmatik  doch  sich  selber  gleich,  weder  Minderung 
noch  Mehrung  erfahrend,  so  würde  dennoch  der  zunehmende 
Aufwand  von  Geist  und  Erkenntnis  den  Gott  in  solche 
Fernen  rücken,  daß  er  den  religiösen  Willen  um  mehr  wie 
einen  Sonnenabstand  hinter  sich  zurück  ließe.    Im  Wett* 
rennen  mit  dem  Gedanken  wird  ja  die  Tat  alle  mal  geschlagen, 
und  ob  es  unter  diesen  Umständen  eine  .Entwicklung'  ge* 
wesen  ist,  wenn  etwa  sich  der  Polytheismus  der  antiken 
Völker  in  den  Monotheismus  der  christlichen  (oder  gar 
mohammedanischen)  Völker  theologisch  mauserte,  das  steht 
für  den  dahin,  der  unbestreitbare  Läuterungen  der  Begriffe 
nicht  mit  Fortschritten  in  der  Tat  naiv  verwechselt.  Gewiß, 
kein  unbestochen  Urteilender  wird  in  Abrede  stellen  mögen, 
daß  der  christliche  Monotheismus,  —  angenommen,  das 
Christentum  sei  nach  herkömmlicher  Fiktion  Monotheist 
mus!  —  nunmehr  wirklich  vernünftiger,  sittlicher,  unan* 
stößiger  über  Gott  zu  denken  gestatte  als  der  heidnische 
Polytheismus.    Ob  er  aber  schon  darum  auch  die  fortge* 
schrittenere  Form  der  Religiosität  ist,  wie  das  landläufige 
Urteil  ein  für  alle  mal  entschieden  zu  haben  wähnt?  Ob 
die  bessere  Theologie  ohne  weiteres  auch  schon  die  höhere 
Stufe  der  Religion  heißen  darf?  Mit  den  Vielgöttern  der 
Heiden  konnte  man  fröhlich  oder  ernsthaft,  leichtherzig 
oder  schwerblütig,  episch  oder  tragisch,  dithyrambisch  oder 

812 


komisch  drauflos  fabeln,  drauflos  dichten :  nicht  aber  konnte 
man  mit  ihnen  der  Wissenschaft  oder  Erkenntnis  pflegen. 
Mit  dem  Eingott  hingegen  ließ  sich  denken  und  deuten 
und  erklären  und  begründen  und  begreifen  und  erweisen 
und  erhärten  und  bestätigen,  und  dabei  brauchte  man  nicht 
einmal  aufs  Fabeln  und  Dichten  völlig  zu  verzichten,  wie 
die  Legenden  und  Legendchen,  Historien  und  Novellen, 
Mythen  und  Anekdoten  der  mittelalterlichen  Folklore 
tausendfältig  zeigen.  Nur  eines  erschwerte  die  Eingottlehre 
ihren  Anhängern  fast  bis  zur  Unmöglichkeit:  nämlich  den 
unbefangen  traulichen  Umgang  von  Mensch  und  Gott,  wie 
er  den  Religionen  der  vielen  Götter  zur  ebenso  selbstver* 
ständlichen  wie  erfreulichen  Gewohnheit  längst  geworden 
war.  Hier  pflegte  man  in  leichter  rascher  Wandlung  die 
Haut  des  Löwen  anzulegen,  und  je  nach  Bedürfnis  und 
Gefühl  wählte  der  Gottsüchtige  die  Begattung  oder  die 
Entrückung,  die  Speisung  oder  die  Waschung,  die  Salbung 
oder  die  Sühnung,  um  sich  irgendwie  göttlicher  Vaterschaft, 
Mutterschaft,  Sippschaft  zu  erfreuen  oder  sonst  an  den 
Tafeln  der  Unsterblichen  zu  zechen.  Eingott  jedoch  zu 
werden,  menschenüberlegener  und  menschenferner,  das  steht 
schon  wesentlich  weniger  in  jedermanns  Belieben,  wenn 
nicht  der  Einfachheit  wegen  der  monotheistische  Kult  die 
Mittel  zur  Menschvergottung  unbesehen  von  den  poly* 
theistischen  Kulten  übernimmt  und  im  sinnfälligen  Wider* 
spruch  mit  sich  selber  jene  heiligen  Begattungen,  Speisungen, 
Ölungen  als  zweckdienlich  anerkennt.  Die  Vielgötter  haben 
weder  die  Welt  noch  den  Menschen  erschaffen,  und  die 
Entscheidungen  des  Lebens  fallen  oftmals  ohne  sie,  manch* 
mal  sogar  wider  sie.  Alles  in  allem  nur  ein  wenig  mächtiger, 
muskelkräftiger,  launischer,  böser,  grausamer,  gesünder, 
ungebrechlicher,  leidenschaftlicher,  naturverwachsener,  zu* 
fallenthobener,   unsterblicher  wie   der  Mensch,  laden  sie 

813 


diesen  ohne  große  Umstände  zur  Gesellung  mit  sich  ein. 
Der  Eingott  jedoch,  des  Himmels  und  der  Erden  Schöpfer, 
Geist  und  Wahrheit,  Ewigkeit  und  Unendlichkeit,  Hypo* 
keimenon  und  Symbebekos,  Usia  und  Prosopon:  wer  wagts, 
mit  ihm  sich  auf  gleichen  Fuß  zu  stellen  und  ein  Verfahren 
auszumitteln,  mit  ihm  eins  zu  werden?  Zugestanden,  jener 
Polytheismus  denke  von  seinen  Göttern  klein,  vielmals  so* 
gar  kleinlich  bis  unrühmlich,  menschlich  bis  allzumensch* 
lieh,  —  aber  er  ist  doch  im  Besitz  der  Mittel,  die  dem 
Wunsch  nach  Selbstvergöttlichung  seine  Verwirklichung 
verbürgen.  Der  Monotheismus  denkt  vom  Gott  strenger, 
weiser,  erhabener,  aber  er  verbietet  seinem  Begriff  gemäß 
die  Selbstvergottung  überhaupt,  will  sagen,  er  verbietet  die 
ewige  Tendenz  der  Religion  als  solche.  Der  Vielgott  ver* 
körpert  in  sich  etwa  eine  Naturkraft,  eine  Lebensmacht, 
eine  Seelenregung,  eine  Willensäußerung,  eine  Menschen* 
tugend,  und  ist  im  übrigen  lediglich  ein  vorgerückter  Mensch, 
—  mit  dem  Vorzug  freilich,  daß  er  den  Menschen  mit  der 
Hoffnung  durchdringt,  bis  auf  seine  Stufe  nachzurücken. 
Hinwieder  ist  der  Eingott  keine  Verkörperlichung,  ist  nicht 
einmal  ein  Körper,  und  teilt  mit  unserem  Menschsein  nur 
noch  die  allerletzten,  allerleersten  Bestimmungen,  Vernunft, 
Wille,  Bewußtsein  zu  haben  und  Person  zu  sein:  dafür  aber 
beraubt  er  den  an  ihn  Gläubigen  folgerichtig  seiner  teuersten 
Erwartung,  bei  Lebzeiten  —  es  sei  denn  in  außergewöhn= 
lichem  Zustand,  wie  Thomas  sagt  —  zu  ihm  aufzusteigen . . . 
Wo  sich  aber  die  Religion  bei  dieser  Auskunft  nicht  be* 
scheiden  will  und  bescheiden  kann,  —  welcher  Krampfs 
haftigkeiten,  Verstiegenheiten,  Unmöglichkeiten,  Außer* 
gewöhnlichkeiten ,  Übermäßigkeiten ,  Ungereimtheiten, 
Schwindelhaftigkeiten  bedarf  sie  da  nicht,  um  den  vollends 
vergeisteten  Eingott  mit  ach!  nur  menschlichen  Organen 
zu  umklammern.   Wie   muß  sich  der  Mensch  zu  diesem 

814 


höchsten,  einsamsten,  einzigsten  Geist*Gott  des  Monotheis* 
mus  hinaufquälen,  hinaufrenken,  hinauf  lügen.  Welcher 
unwahrscheinlichen  Gelenkigkeit  bedarf  er  nicht  zu  seinen 
affenmäßigen  Purzelbäumen  und  Klimmzügen  und  Wellen 
und  Rumpf  beugungen  um  das  »intelligible*  Reck  des  theo* 
logischen  Begriffs.  Die  allerchristlichsten  Systeme  des  Ari* 
stoteles,  des  Thomas,  des  Hegel,  um  nur  dieser  drei  trag* 
fähigsten  Säulen  monotheistischer  Theologie  zu  gedenken, 
sie  vergeisten  den  Eingott  schließlich  soweit,  daß  er  ge* 
radezu  mit  dem  Vorgang  des  Denkens  und  Gedachtwer* 
dens  in  eins  gesichtet,  in  eins  gesetzt  erscheint,  womit  dem 
Wunsch  zur  Selbstvergötterung  nur  übrig  bleibt,  entweder 
durchaus  abzudanken,  oder  seinen  Träger  zu  ertüchtigen, 
die  absolute  Vernunft,  des  Denkens  Denkung  oder  Geist 
an  und  für  sich  in  eigener  Person  zu  werden  (gemäß  etwa 
dem  wunderbar  klar  ausgesprochenen  Grundsatz  des  indi* 
sehen  Vedänta :  ,,WerBrahman  kennt,  der  wird  selbst  zum 
Brahman")  . . .  Seltsam  genug,  daß  sich  der  geschichtliche 
Mensch,  wenigstens  was  seine  höchsten  Exemplare  anlangt, 
nicht  einmal  hierdurch  abschrecken  ließ,  seiner  innersten 
Tendenz  zur  Religion  Treue  zu  wahren;  seltsam  genug, 
daß  er  unermüdlich  darum  rang,  mittels  einer  begrifflich* 
vernünftigen  Urbewegung  seines  Geistes  die  Gottes*  und 
Weltfülle  teils  syllogistisch,  teils  dialektisch  aus  seinem  an* 
scheinend  zu  eng  umschriebenen  Bewußtsein  zu  entwickeln. 
Der  geistig  geläuterte  Gott  zwingt  eben  dem  religiösen 
Menschen  seine  eigene  Läuterung  zum  Geist  ab,  und  so 
weigert  sich  der  religiöse  Mensch  auch  dieser  Vergeistung 
nicht.  Desgleichen  zwingt  der  denkschöpferische  Gott  den 
religiösen  Menschen  dazu,  sich  selber  als  Denker  schöpfe* 
risch  zu  gebärden,  der  begriffverwirklichende  Gott  den  re* 
ligiösen  Menschen,  seine  eigene  Wirklichkeit  zu  verbegriff* 
liehen,  —  keines  von  beiden  weigert  sich  der  Mensch.  Man 


815 


redet  dem  gehorsamen  Diener  seines  Herrn  zu,  der  Eingott 
sei  Wahrheit  und  Unendlichkeit,  und  der  Diener  macht 
sich  zum  Herren  über  Wahrheit  und  Unendlichkeit;  man 
überredet  ihn  desgleichen,  daß  der  Eingott  Absolutum  und 
Totalität  wäre,  und  flugs  getröstet  er  sich  selber,  Absolutum 
und  Totalität  zu  sein  ...  So  wird  der  fromme  Monotheist 
Peripatetiker,  Thomist,  Hegelianer,  indem  man  ihm  in  einer 
merkwürdigen  Verdrehung  bergpredigtlicher  Worte  die 
frohe  Botschaft  verheißt:  des  Peripatetikers  das  Himmel* 
reich!  Des Thomisten  das  Himmelreich!  Des  Hegelianers  das 
Himmelreich!  Kommt  her,  ihr  Dialektiker  und  Syllogistiker 
des  Absoluten,  die  Dialektik  und  Syllogistik  soll  euch  er* 
quicken !  Sälig,  wer  da  den  actus  purus  in  seiner  reinen  Tätig* 
keit  betätigt!  Sälig,  wer  sich  zur  forma  separata  aufwärts 
schnellt,  wer  mitformisseparatis  der  Erkenntnis  pflegt!  Sälig, 
wer  diese  Welt  durchaus  in  ihre  Kategorien  und  Ideen  zer* 
denkt  und  die  also  zerdachten  zum  Absolutum  wieder  run* 
det!  .  .  .  Aber  genug.  Haben  wir  doch  die  Verehrung  wür* 
dige  Narretei  monotheistischer  Religiosität,  wenn  sie  mit 
monotheistischer  Theologie  Schritt  halten  will,  in  der  drit* 
ten  Betrachtung  dieser  Schrift  zur  Darstellung  gebracht  und 
durch  sie  gewissermaßen  auch  zur  Überwindung.  Haben 
wir  doch  erfahren,  wohin  es  führen  mußte,  den  Fortschritt 
der  Religion  mit  dem  Fortschritt  der  Theologie  gleichzu* 
setzen:  haben  wir  dieses  doch  erfahren  und  brauchen  es 
nicht  nochmals  zu  erfahren.  Ist  es  uns  doch  augenschein* 
lieh  geworden,  wie  all  die  alten  Götter,  vom  Denken  als 
die  seienden  gedacht  und  angenommen,  den  Trieb  zur 
Selbstvergöttlichung  bisher  nur  hinderten,  sich  rein  und 
ungehemmt  auszuformen.  Der  Gott,  der  ist  oder  sogar  da 
ist,  war  stets  der  Todfeind  des  Gottes,  der  werden  sollte 
oder  werden  wollte,  —  er  war  es  um  so  hartnäckiger,  je 
mehr  die  Vernunft  und  Erkenntnis  an  seiner  Beschaffenheit 

816 


Anteil  nahm  und  hatte.  Summa  theologia,  summa  irreligio, 
—  oder  auf  gut  deutsch:  der  strengste  Theolog  hat  es  der 
Religion  jeweils  am  sauersten  gemacht  .  .  .  Die  Religion 
steht  heute  vor  der  Wahl,  entweder  mit  den  Theologien, 
Ideologien  ihrer  Vergangenheit  sich  selber  umzubringen, 
oder  sich  feierlich  für  jetzt  und  immer  von  aller  Theologie 
loszusagen.  Wer  Religion  sucht,  wer  Religion  hat,  wird  um 
die  Entscheidung  nicht  verlegen  sein.  Genau  wie  für  die 
europäischen  Wissenschaften  gehört  auch  für  die  europä* 
ische  Religion  dieses  Weltalters  jede  Theologie  der  seienden 
Götter  endgültig  zu  den  gewesenen,  endgültig  zu  den  ent* 
wesenden  Dingen.  Die  Religion  ist  für  uns  Heutige  ent* 
weder  Tat,  nur  Tat,  oder  sie  ist  gar  nichts;  die  Theologie 
dagegen  ist  Begriff,  nur  Begriff,  und  heischt  demnach  als 
ihre  einzig  entsprechende  Tat  nur  das  Begreifen,  will  heißen 
sie  verneint  die  Tat.  Dem  Glauben  an  Gott  und  dem  Wis* 
sen  um  Gott  läuft  also  der  Wille  zur  Vergottung  nicht  nur 
niemals  eigentlich  nebenher,  sondern  stets  und  stracks  zu* 
wider.  Dieser  Sachverhalt  klingt  in  dieser  Wendung,  dieser 
Fassung  vielleicht  neu  und  überraschend,  aber  gerade  in 
den  letzten  Zeitläuften  ward  er  an  betonter  Stelle  mindestens 
zweimal  angedeutet.  Das  eine  mal  noch  zaghaft  und  gleich* 
sam  vor  der  eigenen  Absicht  noch  etwas  erschrocken,  als 
Jean  Marie  Guyau  den  Satz  niederschrieb :  ,,Nous  aimerons 
d'autant  plus  Dieu,  que  nous  leferons  pour  ainsi  dive  .  .  ." 
Dann  aber  mit  der  unbiegsamen  Härte  des  religiösen  Kün* 
ders  und  Neutöners  selbst,  der  mit  treffsicherem  Schied* 
spruch,  Kennwort  und  Trennwort,  mit  kernechtem  ,verbum 
cordis  wirklich  die  Wahrheit  des  neuen  Heils  ins  Herz 
trifft  mit  so  scharfgeschnitztem,  scharfgespitztem  Bolzen: 
„Was  wäre  denn  zu  schaffen,  wenn  Götter  —  da  wären? . . ." 
So  hat  Nietzsche  zu  uns  gesprochen  und  doch  wieder  nicht 
Nietzsche;  so  hat  zu  uns  der  Scharfschütz  und  Meister* 

52    Ziegler,  Gestaltwandel  der  Götter  817 


treffer  Zarathustra  gesprochen  und  doch  wieder  nicht  Zara* 
thustra ;  so  hat  zu  uns  keiner  unseresgleichen  und  keiner 
unseresungleichen gesprochen:  vielmehr  die  ewige  Tendenz 
der  Religion  selber,  der  wenig  an  Göttern,  gar  nichts  an 
Gott,  alles  aber  an  einem  fröhlichen  Menschenwillen  zur 
Vergöttlichung  gelegen  ist.  Dieser  Wille  und  Trieb  irrt  seit 
etlichen  Jahrhunderten  stellen?  und  arbeitlos  auf  allen 
Gassen  herum,  zuletzt  um,  wie  alle  Stellenlosen,  Arbeitlosen, 
zu  stehlen  und  zu  hehlen,  zu  räubern  und  zu  plündern,  da 
er  unter  günstigen  Bedingungen  nicht  nur  arbeiten,  nein 
schaffen  könnte  und  schaffen  möchte.  Wohlan!  lassen  wir 
ihn  endlich  schaffen.  Es  gibt  so  viele  Räder,  die  nur  des 
Wassers  entraten,  damit  sie  um  und  mit  getrieben  würden ; 
es  gibt  so  viele  Wasser,  die  nur  der  Mühlen  harren,  damit 
drin  grob'  und  feine  Mehle  gar  gemahlen  würden.  Schaffen 
wir  diesem  Willen  zur  Gott^Erschaffung  seine  Gelegenheit, 
eh'  es  noch  zu  spät  geworden  ist,  —  und  möglicherweis  ist 
es  schon  zu  spät  geworden?  Die  Antwort,  Verantwort  auf 
uns,  auf  uns!  —  schaffen  wir  ihm  also,  sag'  ich,  Gelegenheit 
zu  angemessener  Auswirkung  und  Betätigung.  Die  Götter 
sind  tot,  Gott  selber  ist  tot.  So  leben  denn  die  Götter,  die 
Mensch*Gebildeten;  so  lebe  denn  Gott,  der  Mensch^Ge* 
bildete,  der  Mensch*Gott!  .  .  . 


818 


DAS    DREIGESTALTETE   MYSTERIUM 

Die  ewige  Tendenz  der  Religion  selber,  nicht  die  Person 
dieses  oder  jenes  Denkers,  hieß  es,  stelle  nach  Durch* 
Wanderung  der  bisherigen  theologisch*religiösen  Zustand* 
lichkeit  unseres  Festlandes  mit  steinernem  Ernst  das  Prob* 
lern  der  Religion  ohne  Gott.  Für  das  europäisch  eingeengte 
Gesichtsfeld  zunächst  eine  Vorstellung  von  entmutigender 
Widersinnigkeit,  ward  dennoch  genau  dieses  nämliche  Prob* 
lern  im  indischen  Altertum  von  Gotamo  Buddho  mit  einer 
gleichsam  spielenden  Gründlichkeit  aufgelöst,  —  mit  einer 
Gründlichkeit,  die  auch  dann  sachlich  für  endgültig  erach* 
tet  werden  darf,  wenn  geschichtlich  in  Indien  selbst  zwölf 
oder  vierzehn  Jahrhunderte  nach  Buddho  der  Brahmanis* 
mus  seine  große  Wiederherstellung  in  philosophicis,  theolo= 
gicis  religionibusque  durch  £ankara  erfuhr.  Durch  (^ankara, 
den  man  vergleichungweis  als  den  indischen  Aquinaten 
anzusprechen  hätte  mit  seinem  bedingunglosen  Gehorsam 
gegen  die  Unfehlbarkeit  geoffenbarter  Schriften;  mit  seinem 
Bestreben,  den  Hauptgehalt  eben  dieser  Schriften  in  streng* 
ster  Übereinstimmung  mit  dem  Leitfaden  irgendeines  sum= 
mus  philosophus  zu  entwickeln,  der  hier  freilich  nicht  Ari* 
stoteles,  sondern  Badaräyänä  heißt;  mit  seiner  scholasti* 
sehen  Überspitztheit  der  logischen  und  grammatischen 
Sprachzeichen  und  Zeichensprache;  mit  seinem  bevorzug* 
ten  Verfahren  endlich,  die  Wahrheit  mittelbar  zu  erschließen 
durch  Widerlegung  des  kontradiktorischen  Gegensatzes 
der  Wahrheit .  .  . 

Jene  buddhistische  Lösung  aber  eines  klassischen  Zeit* 
alters  der  Religion  ist  freilich  insofern  für  uns  unverbindlich 
und  unvorbildlich,  als  sie  unter  wesentlich  anderen,  unver* 
hältnismäßig  günstigeren  Umständen  getroffen  ward.  Und 
doch  ist  sie  gleichzeitig  auch  für  uns  wiederum  verbindlich 

52*  819 


und  vorbildlich,  wofern  sie  überhaupt  getroffen  ward.  Was 
Gotamo  als  religiöse  Tat  schlechthin  vollbrachte  und  was  er 
von  seinen  Jüngern  vollbracht  haben  möchte,  setzt  zum  un* 
endlichen  Erstaunen  des  Abendländers  weder  das  Dasein 
von  Göttern  irgendwie  voraus,  noch  hebt  es  dieses  Dasein 
geradezu  auf:  sondern  bleibt  gegen  dieses  Dasein  ganz  ein* 
fach  gleichgültig.  Wir  finden  hier  eine  Praxis  und  Diätetik, 
wenn  man's  lieber  hört:  eine  .Hygiene'  des  Leibes  und  der 
Seele  bis  zur  Vollkommenheit  geübt  und  angewendet.  Wir 
finden  aber  auch  trotz  des  unbestreitbar  religiösen  Grund* 
zuges  dieser  Hygiene,  Diätetik,  Praxis  jede  Frage  nach  dem 
Sein  oder  Nicht*Sein  Gottes  als  gegenstandlos  durchaus 
beiseite  gesetzt.  Gotamo  selbst,  sicherlich  der  lebensüber* 
legenste  Mensch  aller  Zeiten,  läßt  die  Götter  zu,  wie  etwa 
ein  vornehmer  Herr  Gäste  zuläßt,  die  nicht  ganz  seines 
Ranges,  seiner  Erziehung,  seines  Umganges  sind.  Er  ist 
Wirt,  Hausherr,  Schloßherr,  und  erweist  in  dieser  Eigen* 
schaft  ohne  jeden  Abzug  die  volle  Herzenshöflichkeit 
dessen,  der  beim  Empfang  und  im  Empfangen  mitteilt, 
spendet  und  verschenkt.  Da  ich  hier  leider  bloß  zu  Euro* 
päern  rede  und  obendrein  zu  solchen  von  beispielloser 
Selbstentwürdigung,  Selbstbefleckung  und  Selbstschändung, 
kann  ich  diese  unbeschreibliche  Haltung  Buddhos  gegen* 
über  den  Göttern  nicht  eigentlich  begreiflich  machen,  — 
so  wenig,  wie  ich  diesem  schlechten  Europäer  von  heute 
das  vorbildliche  gesellige  Zeremoniell  begreiflich  machen 
könnte,  welches  an  diesem  Wander*  und  Einsiedler*Hof 
des  erlauchten  Asketen,  allen  sonstigen  Fürstenhöfen  zur 
dauernden  Beschämung,  geherrscht  hat .  .  .  Genug,  daß 
also  nach  dem  Längeren  Bericht  vor  Buddho  bald  die  vedi* 
sehen  Dreiunddreißig,  bald  Brahma  der  Himmelsjüngling 
in  Person  erscheinen,  um  sich  in  den  Fragen  des  Heils 
sicheren  Bescheid  zu  holen.  Genug  ferner,  daß  ganze  Wir* 

820 


bei  von  Göttern,  Dämonen,  Geistern,  Heiligen,  Säligen 
aus  allen  Enden  und  Ecken  der  Welt  herbeiströmen  und 
jeden  Winkel  des  Raumes  ausfüllen,  um  Zeuge  des  ewigen 
Augenblicks  zu  sein,  da  der  vollkommen  Erwachte  und 
Beiderseit*Erlöste  zu  seiner  Erlöschung  eingeht.  Genug, 
daß  Gotamo  zwischen  seiner  vorletzten  und  letzten  Fleisch* 
werdung  den  jenseitigen  Göttern  vorankommt  „an  himm* 
lischer  Kraft  und  Fülle,  an  himmlischem  Wohlsein,  an 
himmlischer  Macht  und  Herrlichkeit,  an  himmlischem  Ge* 
sieht,  Gehör,  Geruch,  Geschmack  und  Getast"  .  .  .  Diese 
Umwertung  der  Religion,  unsäglich  viel  erschütternder 
noch  als  jede  Umwertung  der  Werte,  kaum  faßbar  unserem 
europäischen  Bewußtsein  und  jedenfalls  bis  in  die  Finger*, 
bis  in  die  Zehenspitzen  uneuropäisch  und  rebellisch,  sie  er* 
eignet  sich  in  Indien  mit  einer  bezaubernden  Selbstverständ* 
lichkeit,  Gefälligkeit,  Anmut,  Güte,  sozusagen  lächelnd 
und  scherzend,  mit  dem  denkbar  geringfügigsten  Aufwand 
an  Streit,  Umsturz,  Bürgerkrieg.  Gotamo  überwindet  Gott 
und  Götter  des  Brahmanismus,  wie  die  Blüte  ihre  Knospe, 
wie  die  Frucht  ihre  Blüte  überwindet.  Die  neue,  gottlose 
Religion  war  eines  Tages  da,  ohne  daß  man  recht  gemerkt 
hätte  wie.  Eine  Gegnerschaft  gegen  den  Brahmanismus  be* 
stand,  eine  unverhehlte,  unverheimlichte,  unverhaltene,  wer 
wollte  dies  leugnen?  Und  mehr  noch  bestand  Gegnerschaft 
gegen  die  Brahmanen  und  falschen  Asketen,  gegen  die 
Pfaffen,  Mucker,  Büßer,  Selbstquäler,  Nabelbetrachter,  Sau* 
lenheiligen,  Om*  und  Omcom*Stammler  und  sonstigen  Ehr* 
geizlinge  mißverstandener  Kasteiung.  Nirgends  aber  artet 
diese  Gegnerschaft  in  Feindschaft  oder  gar  in  Feindsäligkeit, 
Verächtlichkeit,  Gehässigkeit  aus.  Nirgends  wird  religiöse 
Andersgläubigkeit  politisch  mißbraucht.  Nirgends  finden 
Ketzerverfolgungen  und  Glaubensgerichte  im  Stil  des  Chri* 
stentums  statt.  Der  Veda  vermittelt  (seinem  Begriff  ent* 

821 


sprechend)  wesentlich  ein  Wissen.  Gotamo  aber  zielt  über* 
wiegend  auf  ein  Tun,  und  schon  dieserhalb  enthält  er  sich 
eigentlich  des  Urteils  über  die  brahmanische  Gottesweisheit, 
Gotteswissenschaft:  wahrhaftig  nicht  aus  innerer  Unent* 
schiedenheit  heraus,  sondern  aus  innerer  Überzeugtheit, 
daß  alles  wirklich  Not* Wendige  just  nicht  das  Wissen,  just 
nicht  die  Meinung,  just  nicht  die  Ansicht  beträfe.  Ob  die 
Welt  erschaffen  sei  oder  nicht  erschaffen  sei  oder  sowohl 
erschaffen  wie  nicht  erschaffen  oder  weder  erschaffen  sei 
noch  nicht  erschaffen  sei;  ob  die  Götter  entstanden  wären 
oder  nicht  entstanden  oder  sowohl  entstanden  wie  nicht 
entstanden  oder  weder  entstanden  noch  nicht  entstanden 
wären;  ob  die  Seele  sterblich  sei  oder  unsterblich  sei  oder 
sowohl  sterblich  wie  unsterblich  sei  oder  weder  sterblich 
noch  unsterblich  sei:  diese  Alternativen  und  Disjunktionen 
einer  Religiosität,  die  sich  immer  noch  mit  genetischer  Me* 
taphysik  verwechselt,  sie  lehnt  der  Buddho  schon  als  Prob* 
lerne  ab  mit  einer  gewissen  großmütigen  Gelassenheit  der 
Gebärde.  Die  Theo*Kosmologien  des  Veda  werden  keines* 
wegs  widerlegt,  sondern  sie  werden  erledigt,  erledigen  sich 
von  selber,  indem  ihre  Belanglosigkeit  für  die  religiöse  Tat 
und  religiöse  Leistung  enthüllt  wird  .  .  .  Wie  beispielweis 
der  heutige  Staat  seine  Beamten  wegen  zunehmender  Kränk* 
lichkeit  oder  vorgerückten  Alters  mit  dem  gesetzlich  be* 
willigten  Gehalt  in  den  Ruhestand  versetzt,  so  erklärt  Go* 
tamo  den  gesamten  vedischen  Götterhimmel  mitsamt  dem 
allerhöchsten  Brahma  unter  Gewähr  einer  ehrenvollen  Be* 
handlung  für  a.  D.  Nirgends  heißt  es  geradezu:  Götter 
sind  nicht.  Überall  jedoch  merkt  es  der  Eingeweihte:  Göt* 
ter  erübrigen  sich,  und  kein  Erwachender,  kein  Erwachter 
bedarf  ihrer,  bedient  sich  ihrer  oder  begehrt  ihrer.  Denn 
was  Götter  der  Seele  zu  ihrem  Heil  erwirken  könnten,  das 
erwirkt  der  Erwachte  für  sich  allein  und  von  sich  selber  aus. 

822 


Als  vierundzwanzig  Jahrhunderte  nach  Buddho  der  Urne* 
ber  des  Zarathustra,  in  vielen  wichtigen  Stücken  durch* 
aus  der  Buddho  des  gegenwärtig* künftigen  Weltalters, 
nur  mit  westlichen  Neigungen  und  Eigenschaften,  nur 
mit  westlichen  Tugenden  und  Untugenden,  nur  mit  west* 
liehen  Vorzügen  und  Mängeln  begabt,  —  als  so  viel 
später  bei  uns  Nietzsche  ein  ähnliches,  vielleicht  sogar 
gleiches  versucht,  da  geschieht  es  unter  Donner  und  Blitz, 
Hagel  und  Sturm.  Mit  einem  kaum  zu  bewältigenden 
Aufwand  an  Polemik  vollzieht  der  religiöse  Künder  hier 
bei  uns  die  Entthronung  der  Christengötter,  ebenso 
heroisch  wie  dort  asketisch,  ebenso  pathetisch  wie  dort 
eupathisch,  ebenso  zynisch  wie  dort  ironisch,  ebenso 
tragisch  wie  dort  epopöisch*idyllisch,  ebenso  dithyrambisch 
wie  dort  elegisch,  ebenso  katastrophisch  wie  dort  metamor* 
phorisch  .  .  .  Hier  wird  das  Christentum  angegriffen,  ge* 
tadelt,  verhöhnt,  angeklagt,  gescholten,  beschimpft  mit  einer 
Hitze  und  Leidenschaft,  die  fast  ganz  außer  acht  läßt,  daß 
ein  Christentum  dieses  strengen  und  treuen  Stiles  längst 
nicht  mehr  lebendig,  geschweige  denn  gefährlich  war,  daß 
die  Ideale  des  schlechten  Europäers  seit  Menschengedenken 
alles  andere  als  die  Ideale  des  Christentums  waren:  womit 
übrigens  Nietzsche  diesem  verhaßten  Christentum  zum 
zweiten  mal  den  unschätzbaren  Gefallen  erweist,  wegen 
dessen  er  Luthern  so  sehr  gram  gewesen  ist,  —  es  nämlich 
für  eine  Weile  durch  die  Wucht  seiner  Angriffe  aus  dem 
scheintoten  Zustand  in  einen  scheinlebenden  rettet,  just 
fünf  Minuten  vor  dem  endgültigen  Sterbefall  .  .  . 

Wir  aber,  Verantworter  der  Zeit  und  Verantworter  der 
Ewigkeit,  die  wir  uns  heute  auf  unsere  Weise  beide  Vor* 
gänge,  den  gotamidischen  und  den  zarathustrischen,  zu  eigen 
zu  machen  haben,  wir  stehen  nun  Aug'  in  Aug'  mit  der 
letzten  und  schwersten  all  unserer  Fragen :  was  diese  neu* 

823 


alte  Religion  ohne  Götter  denn  eigentlich  sei?  Was  die 
Religion  .oberhalb  der  Gnaden',  oberhalb  der  seienden 
Götter  Himmels  und  der  Erden  sein  könne,  wenn  nicht  im 
besten  Fall  Mystik  und  mystischer  Atheismus ;  was  sie  sein 
könne  ein,  zwei  oder  drei  Schritte  über  Meister  Eckhardt 
hinaus?  Was  schließlich  Religion  als  Tat  sei,  gesetzt  sie 
bestehe  darin,  dem  Menschen  Selbstvergöttlichung  als  Ziel 
zu  weisen?  Und  ob  es  am  Ende  nicht  doch  ein  offenbarer 
Größenwahn  sei,  eine  irre  Lästerung,  ein  ruchloser  Unsinn, 
ein  frecher  Schwindel,  den  Religionen  unserer  Vergangen* 
heit  eine  solche  Tendenz  zur  Selbstvergottung  als  Zukunft 
der  Religion  zu  unterstellen? 

Der  Argwohn  indes,  als  mische  sich  dem  Wunsch  nach 
Selbstvergöttlichung,  wie  sehr  er  übrigens  den  eigentlichen 
.Sinn'  überschreite,  etwas  von  Widersinn  oder  gar  von 
Wahnsinn  bei,  wird  denjenigen  nicht  beirren,  der  sich  von 
Gott  und  Göttern  bisheriger  Religionen  mit  wirklicher 
Aufrichtigkeit  verabschiedete.  Wer  erst  einmal  den  Ge* 
danken  an  den  Schöpfergott  als  unangemessen  hinter  sich 
brachte  (und  sogar  ein  urchristlich  urevangelischer  Mann 
vom  Schlag  Lew  Nikolajewitsch  Tolstois  scheint  ihn  hinter 
sich  gebracht  zu  haben,  wenn  er  im  Tagebuch  von  1896 
den  Glauben  an  ihn  kurz  als  .absurden  Aberglauben'  ver* 
wirft,  —  wie  andererseit  der  Swedenborgianer  Balzac  sei* 
nem  Seraphitus  das  erstaunliche  Wort  in  den  Mund  legt: 
„Indem  ihr  Gott  den  Schöpfer  nennt,  setzt  ihr  ihn  herab. 
Er  hat  weder  die  Pflanzen,  noch  die  Tiere,  noch  die  Ge= 
stirne  erschaffen,  wie  ihr  meint"  .  .  .);  wer  also,  sage  ich, 
bald  nachher  diesem  abgewirtschafteten  Schöpfergott  auch 
denLenkersErhaltersHerrschergott,  die  göttliche  Vorsehung 
und  sittliche  Weltordnung,  den  unerforschlichen  Ratschluß 
und  die  inwohnende  Weltvernunft  mit  allem  Drum  und 
Dran  nachzuschicken  sich  ermannte;  wer  schließlich  jed* 

824 


wede  Vorstellung  von  Sein,  Dasein,  Sosein,  von  Seinwer* 
den  und  Werdensein,  von  Wesen  und  Gewesensein,  von 
Wahrsein,  Ewigsein,  Unendlichsein  sorgfältig  abschälte 
von  der  Vorstellung  Göttlich,  Gott  oder  Gottheitlich:  der 
wird  es  durchaus  verschmähen,  hinter  dem  Wunsch  nach 
Selbstvergöttlichung  nur  die  zucht=  und  fruchtlose  Anstren* 
gung  zu  vermuten,  dies  arme,  schwanke  Menschenleben 
zum  Leben  einer  Allmacht,  Allweisheit  oder  Allgeistheit 
dreist  emporzulügen,  und  keineswegs  wird  er  dem  dummen 
Frosch  vergleichbar  sein  mögen,  der  sich  unbedingt  zum 
Ochsen  aufzublasen  gedachte  und  dieses  seltsamlichen  Wun* 
sches  wegen  elend  zerplatzte  .  .  .  Wer  vielmehr  seiner  Göt* 
ter  tapfer  sich  entraten,  sich  entschlagen  lernte,  ohne  doch 
vor  seiner  innersten  Entscheidung  mit  ihnen  zugleich  nun 
auch  die  Religion  als  solche  dahinzugehen,  der  wird  sich 
klar  geworden  sein,  daß  für  diese  gesuchte,  noch  nicht  ge* 
fundene  Religion  sicherlich  nicht  mehr  in  Frage  stehen 
könnten  die  ehemals  magischen  Wandlungen,  mystischen 
Einungen,  enthusiastischen  Wallungen,  gnostischen  Versen* 
kungen,  intellektualen  Schauungen,  syllogistischen  Rück* 
bringungen,  dialektischen  Bewegungen,  wie  sie  dem  Ur* 
wünsch  der  Religionen  in  früherer  Zeit  Verwirklichung  zu 
winken  schienen.  Das  einzige  in  Frage  stehen  Könnende 
zu  dieser  Stunde,  wo  die  Religionen  des  Abendlandes  ihrer 
theologischen  Flitter  entkleidet  und  als  Religion  nackend 
ausgezogen  worden  sind,  das  ist  der  Rest  von  Tat,  übrig 
geblieben  nach  dem  Abzug  nicht  nur  sämtlicher  erkennt* 
nismäßigen  Bestandteile,  sondern  auch  aller  durch  das  ge* 
glaubte  Dasein  Gottes  bedingten  Heilsverrichtungen.  Was 
als  des  Menschen  Tat  übrig  bleibt,  wenn  er  sich  ohne  Göt* 
ter  selbst  zu  vergotten  trachtet:  das  obliegt  uns  jetzt  noch 
festzustellen,  darzustellen;  —  in  etwas  anderer  Wendung 
festzustellen,  darzustellen,  auf  welche  Weise  das  in  allen 

825 


höheren  Religionen  gleiche  Mysterium  der  Tat  fortzuführen 
wäre,  nachdem  die  Eingriffe  und  Mithilfen  eines  Gottes  in 
Fortfall  geraten  sind.  Dieses  Mysterium  aber  der  Tat,  so* 
viel  steht  als  unantastbares  Ergebnis  dieser  nunmehr  durch* 
laufenen  Gestaltwandlung  der  Götter  Europas  fest,  es  offen* 
barte  sich  je  und  je  in  bemerkenswert  doppelter  Verrungen* 
heit  auf  dreierlei  Weisen:  als  Verschuldung  und  Entsühnung 
nämlich,  als  Opfer  und  Wiedergeburt,  als  Schöpfung  und 
Erlösung  .  .  .  Entweder  in  diesen  Tatverrungenheiten  oder 
nirgends  sonst  ist  die  religiöse  Leistung  gottloser  Religio* 
sität  zu  suchen.  Gelingt  wirklich  hier  der  Erweis,  daß  sie 
den  abgetanen  Glauben  und  Afterglauben  an  Gott  und 
Götter  sieghaft  überstehen,  dann  ist  die  atheistische  Zukunft 
der  Religion  über  jede  Anzweiflung  hinaus  gesichert.  Ge* 
lingt  das  schier  Unmitteilbare  hier  mitteilbar  zu  machen, 
was  nämlich  in  den  Heilshandlungen  überlieferter  Religio* 
nen  teils  als  Verschuldung  und  Entsühnung,  teils  als  Opfer 
und  Wiedergeburt,  teils  als  Schöpfung  und  Erlösung  gleich* 
sam  von  Ewigkeit  her  (wie  unsere  Mystiker  sagen)  zum 
Vollzug  gelangt,  rein  als  der  menschheitliche  Vorgang  ab* 
gelöst  von  jeder  Bezugnahme  auf  seiende  Götter  betrachtet, 
—  nun  wohl!  dann  ist  auch  meine  Aufgabe  hier  tat*  und 
grundsätzlich  zu  ihrem  glücklichen  Ende  gediehen  und 
vollführt  .  .  .  Wie  also  verhält  es  sich  mit  diesem  dreifach 
gedoppelten  Mysterium  der  Tat?  Wie  steht  es  mit  dieser 
Religion  der  Religionen,  die  da  in  Zukunft  einzig  Heils* 
Verwirklichung  verbürgen  wird?  Worin  besteht  die  dop* 
peltgeknüpfte  Tat  Verschuldung  und  Entsühnung,  die  fort* 
an  auch  dem  Gottlosen,  ja  besonders  und  ausschließlich 
ihm  für  göttlich  zu  gelten  hätte?  Worin  besteht  Opfer  und 
Wiedergeburt,  worin  Schöpfung  und  Erlösung,  die  der 
fromme  Mensch  der  neuen  Zeit  feierlich  wieder  auf  sich 
zurücknimmt,  nachdem  er  sie  einst  Gott  oder  Göttern  als  den 

826 


Vollstreckern  eigenen  Wünschens,  eigenen  Wollens  frei* 
gebig  unterstellt  hat? 

Wenden  wir  uns  in  diesem  dreigestaltigen  Mysterium 
zunächst  dem  ersten  zu,  so  entgeht  uns  freilich  keineswegs 
der  auffällige  Umstand,  daß  es  in  den  Religionen  der  sei* 
enden  Götter  regelmäßig  die  Schuld  zu  sein  pflegt,  die  den 
Menschen  vom  Gott  scheidet,  indes  erst  die  Sühnung  ihn 
wieder  an  den  Gott  bindet.  Ziemlich  allgemein  war  die 
Auffassung  bestimmend,  Gott  als  den  Reinen,  Unbefleckt 
ten  und  Unbefleckbaren  im  buchstäblichen  Sprachverstand 
zu  entschuldigen:  dafür  aber  den  irdischen  Gegenspieler 
Gottes  mit  Schuld  zu  belasten,  deren  Tilgung  ihn  erst  nach* 
träglich  wieder  gottbürtig,  gottwürdig  erscheinen  lasse. 
Keineswegs  die  Verschuldung,  vielmehr  die  Entsühnung 
wird  als  heilförderliche  Tat  erachtet,  und  dies  zwar  mit 
desto  größerem  Nachdruck,  je  entschiedener  das  Dogma 
der  Theologie  die  Unschuld  Gottes  im  Vergleich  zu  mensch* 
licher  Verschuldetheit  hervorhebt.  Insbesondere  weigerte 
sich  das  Christentum  mit  äußerster  Hartnäckigkeit  eines 
schuldverfallenen  Gottes ,  so  daß  es  im  wesentlichen 
den  tragischen  Griechen  vorbehalten  war,  folgerichtiger, 
sinngetreuer,  wahrheitgemäßer  den  Gott  grundsätzlich 
nicht  weniger  schuldig  zu  befinden  wie  den  Menschen.  In 
der  unendlich  lebensträchtigen  Überzeugung,  daß  die  Sühne 
durchaus  ein  Mittel  der  Selbstvergöttlichung  sei,  daß  folg* 
lieh  die  Sühne  wollen  müsse,  wer  Selbstvergöttlichung  an* 
strebe :  die  Schuld  aber  gleichfalls  wollen  müsse,  wer  die 
Sühne  als  Mittel  jenes  Zweckes  bejahe,  —  in  dieser  tiefge* 
gründeten  Überzeugung  schreckt  der  tragische  Grieche 
nicht  davor  zurück,  die  feste  Doppelschürzung  Schuld* 
Sühne  dem  Gott  selber  aufzuerlegen.  Göttlich  bedeucht  es 
diesen  frömmsten  Sohn  unseres  heidnischen  Altertums,  be* 
gangene  Schuld  durch  Leiden  oder  Sterben  zu  verbüßen 


827 


und  dadurch  das  verletzte  Grundgesetz  des  Lebens  wieder* 
herzustellen :  wie  sollte  es  ihn  da  ungöttlich  auch  für  den 
Gott  bedünken,  die  eigene  Unversehrtheit  dran  zu  geben, 
um  die  sakrale  restitutio  in  integrum  an  sich  selber  zu  voll* 
ziehen?  Göttlich  war  ja  die  Sühne,  göttlich  infolgedessen 
erst  recht  die  Schuld,  —  wie  übrigens  auch  bei  den  altger* 
manischen  Äsen,  die  sich  bekanntlich  tief  und  tiefer  im 
Kampf  mit  den  Vanen,  im  Kampf  um  das  Gold  verstricken, 
bis  einst  auch  ihr  Untergang  sühnt!  Außerstand,  sich  die* 
ser  schönen  Treue  zur  Tat  in  eigener  Tat  anzuschließen, 
aber  auch  außerstand,  auf  den  Vorgang  der  Vergöttlichung 
durch  Wiederherstellung  kurzerhand  zu  verzichten,  findet 
das  Christentum  an  einer  verhängnisvollen  Halbheit  Ver* 
gnügen  und  Genüge,  indem  es  die  Schuld  dem  Menschen 
allein,  die  Sühne  dem  Gott  allein  zuwälzt  und  damit  die 
streng  geschürzte  Doppelknotung  der  Heilstat  auseinander* 
reißt.  Seither  schleppen  sich  die  christlichen  Jahrtausende 
mit  einem  Sühnegott,  der  selber  nichts  verschuldet  hat,  und 
mit  einem  Sündenmenschen,  der  selber  nichts  zu  sühnen 
vermag,  —  religiös  gesehen  also  mit  einer  Wirkung  ohne 
Ursach'  und  mit  einer  Ursache  ohne  Wirkung.  Kaum  wird 
ein  zweites  Beispiel  von  dieser  Kraßheit  anzuführen  sein, 
wo  theologischer  Wahn  die  religiöse  Tat  so  bar  jedes  Ver* 
ständnisses  vernichtete,  —  so  sehr,  daß  der  heutige  Mensch, 
trotz  des  sehr  erfahrenen,  sehr  frommen  .Sündige  herzhaft' 
Luthers,  jede  Verschuldung  ipso  facto  als  erbrachten  Erweis 
vollbrachter  Entgöttlichung,  ja  Widergöttlichung  zu  schätzen 
bereit  gefunden  wird,  das  innig  Göttliche  solchen  Vor* 
kommnisses  nicht  von  fern  mehr  ahnend  .  .  . 

Etwas  wie  eine  Rückkehr  zu  jenen  tragischen  Griechen 
scheint  mithin  uns  Nichtmehrchristen  an  der  Zeit,  die  wir 
begierig  sind  der  religiösen  Tat  in  ihrer  Unzerbrochenheit 
und  Unentstelltheit,  —  ob  auch  natürlich  eine  Rückkehr 

828 


unter  dem  einschränkenden  Vorbehalt  frei  bekannter  Gott* 
losigkeit  und  *ledigkeit.   Denn  eben  weil  wir  aus  neu  ent* 
fachten  Instinkten  für  Religion  innerhalb  der  Religionen 
die   Schuld    wieder    auf  uns    zu  nehmen  gerüstet  sind, 
können  wir  unmöglich  im  Sinn  tragischer  Griechen  diese 
Schuld  als  Vergehen  wider  den  Gott  deuten,  der  nicht  be* 
steht  und  nicht  da  ist:  was  sie  doch  sogar  noch  bei  jenen 
trotzigen    Umstürzern  homerisch=epischer  Weltgesinnung 
geblieben  ist,  wo  der  jüngere  Gott  am  älteren,  der  ältere 
Gott  am  jüngeren  schuldig  zu  werden  pflegt,  um  seiner* 
seit    der    Sühnepflicht     anheim     zu    fallen.     Schuld    als 
Verletzung  göttlicher   Ehre    und   Heiligkeit,  und  sei   es 
die  Verletzung  durch  den  Gott  selber,  das  wäre  dem  gott* 
los  Frommen  der  neuen  Zeit  und  des  neuen  Geistes  ein 
schlechterdings    unannehmlicher   Gedanke:    falls  er  sich 
schuldig  kennt  und  fühlt,  muß  das  auf  völlig  andere  Art 
geschehen.    Unmöglich  kann  die  Schuld,  in  deren  felsiges 
Labyrinth  auch  wir  uns  verirrt  wissen,  im  Vergehen  gegen 
Gott  bestehen,  —  statt  dessen  aber  kann  sie,  nein  muß  sie 
bestehen  im  Vergehen  gegen  eben  jenes  bessere  Bewußt* 
sein  in  uns,  welches  zu  unserer  Vergöttlichung  drängt.  Daß 
auch  die  Stärksten  stets  soweit  hinter  ihrer  Stärke  zurück* 
bleiben;  daß  auch  die  Besten  nur  an  ihren  Sonn*  und  Feier* 
tagen  wirklich  gut  sind;  daß  auch  die  Lautersten  in  allerlei 
Unlauterkeiten  hinuntertauchen  müssen;  daß  auch  die  Tap* 
fersten  irgendwann  ihrer  Furchtsamkeit  erliegen;  daß  auch 
die  Fruchtbarsten  von  Zeit  zu  Zeit  Frucht,  Laub  und  Blatt 
fallen  lassen;  daß  auch  die  Reichsten  bei  Gelegenheit  betteln 
bei  den  Armen  gehen;  daß  auch  die  Liebendsten  keines* 
wegs  immer  ihre  Liebe  spenden ;  daß  auch  die  Geduldigsten 
so  oft  vor  Ungeduld  unreife  Schicksale  brechen;  daß  auch 
die  Stolzesten  für  leere  Eitelkeiten  nicht  zu  stolz  sind ;  daß 
auch  die  Tiefsten  zum  Atmen  an  ihre  Oberfläche  steigen 

829 


müssen;  daß  auch  die  Einsamsten  hie  und  da  um  schlechte 
Gesellschaft  buhlen;  daß  auch  die  Gerechtesten  von  der 
Ungerechtigkeit  zehren;  daß  auch  die  Geistigsten  manchmal 
auf  platten  Füßen  wandeln;  daß  auch  die  Weisesten  sich 
heimlich  selbst  zum  Narren  halten;  daß  auch  die  Barm* 
herzigsten  noch  voller  Grausamkeiten  stecken;  daß  auch 
die  Fröhlichsten  im  Abgrund  ihrer  Traurigkeit  versinken; 
daß  auch  die  Biedersten  hinter  jeder  Falte  einen  Schalk 
sitzen  haben;  daß  auch  die  Neidlosesten  noch  um  die  Ecken 
schielen;  daß  auch  die  Ehrlichsten  nicht  des  Betruges  missen 
können;  daß  auch  die  Wahrhaftigsten  sich  mit  der  Lüge 
wehren;  daß  auch  die  Saubersten  in  diesem  oder  jenem 
Müllhaufen  schnüffeln;  daß  auch  die  Ehrfürchtigsten  bei* 
leib'  nicht  jedes  Fremden  Ehre  fürchten;  daß  auch  die  Keu* 
schesten  sich  mit  des  Freundes  Weib  zumindest  im  Traume 
gatten;   daß  auch   die  Friedfertigsten  die  Fliege  tatschen 
und  die  Spinne   tottreten;    daß  auch   die  Treuesten  vor 
Hahnenweckschrei  zweimal  sich  selber  und  zum  dritten 
mal  die  Treue  verleugnen;  daß  auch  die  Zuverlässigsten 
sich  wie  die  Windfahnen  mit  dem  Wetter  drehen ;  daß  auch 
die  Einfältigsten  voller  Listen  und  Schliche  sind ;  daß  auch 
die  Adeligsten  in  den  Armen  der  Gemeinheit  ausruhen;  daß 
auch  die  Fleißigsten  im  Geiste  schwach  und  trag  im  Fleische 
sind  . . .,  dies  alles,  dies  alles,  und  was  nicht  sonst  noch  macht 
sie  schuldig  vor  sich  selber,  macht  sie  zu  Schuldnern  ihrer 
Selbstheit!   Denn  eines  jeden  Menschen  Menschlichkeit,  — 
und  hier  berühre  ich  die  Stelle,  wo  sich  die  Religion  für 
einen  Augenblick  wirklich  mit  der  Moral  zusammenfindet, 
mit  der  sie  sonst  wahrlich  wenig  genug  zu  schaffen  hat!  — 
eines  jeden  Menschlichkeit  also  hat  einen  Pegelstand  von 
wechselnder  Höhe  und  Niedrigkeit,  weshalb  ein  jeder  der 
Täter  höherer  und  niedrigerer  Taten  ist.   In  den  Zeiten 
hohen  Pegelstandes  begeht  er  Handlungen,  die   er  sich 

830 


willig  zuschreibt,  und  zu  welchen  er  sich  gern  bekennt.  Aber 
in  Zeiten  tiefen  Pegelstandes  begeht  er  Handlungen  (und 
vielleicht  mehr  noch  Unterlassungen),  deren  Urheberschaft 
er  sich  bei  höherer  Peilung  wieder  aufs  heftigste  schämt. 
Er  möchte  vergessenmachen,  möchte  widerrufen,  möchte 
bereuen:  alles  umsonst!  Denn  bereits  hat  seine  Tat  be* 
gönnen,  sacht  sich  von  ihm  abzuschnüren,  wie  sich  die 
Geißelzellen  zahlreicher  species  von  Radiolarien  von  ihren 
Elterntieren,  Elternpflanzen  abschnüren,  ausschwärmend 
zum  Behuf  der  Fortpflanzung  und  überall  hinschwimmend, 
hingeißelnd,  hinstrudelnd.  Ganz  ähnlich  pflanzt  die  Tat 
sich  fort,  in  unbekanntesten  Lagen  und  Bezirken  der  Wirk? 
lichkeit  neue  Taten  in  endloser  Reihe  fort  und  fort  zeugend, 
fort  und  fort  dabei  wider  ihren  Täter  zeugend.  Unwider* 
ruflich  und  unabänderlich  weiterlebt  die  Tat  an  und  für 
sich,  weiterlebt  sie  an  anderen  und  für  andere;  unaufhalt* 
sam,  glatt  und  lautlos  läuft  das  Rad  um  seine  wohlgeschmierte 
Achse.  Gleichsam  unendliche  Botschaften  und  Meldungen 
ergehen  vom  Urheber  an  alle  Wesen  aller  Welten,  Mel* 
düngen  und  Botschaften,  die  zwar  (vielleicht!)  bei  wachsen* 
den  Abständen  in  ihren  Wirkungen  wie  die  Lichtstärken 
selbstleuchtender  Körper  schwächer  werden,  niemals  aber 
zur  Null  und  Nichtigkeit  abschwellen.  Alles  Getane  hat 
seine  unübersehbar  strengen  Folgen,  deren  sich  der  Täter 
unter  keinen  Umständen  mehr  entledigen  kann,  und  von 
allen  Gewißheiten  des  Lebens  ist  ohne  Zweifel  das  die  ge* 
wisseste,  daß  jede  Tat  zu  ihrem  Urheber  eines  Tages  wie* 
derkehrt,  wie  etwa  ein  Bumerang  seinem  Schützen  wieder 
in  die  Faust  zurückspringt,  wenn  es  seines  lebendigen  Zieles 
fehlte:  „Erben  der  Werke  sind  die  Wesen",  sagt  ein  indi* 
sches  Wort  tief  einprägsam  und  viel  bedeutend  ...  Es  ist 
wohl  richtig,  nicht  jede  Tat  kehrt  als  Schuld  zu  ihrem  Täter 
zurück.   Als  Schuld  doch  aber  jede  Tat,  die  im  Seelenstand 

831 


niederer  Peilung  geschah,  im  Seelenstand  der  Unzuläng* 
lichkeit  für  das  eigene  Maß.  Uns  derartiger  Handlungen 
bewußt,  sind  wir  über  unseren  Unwert  hart  betroffen;  uns 
selbst  befragend,  verstehen  wir  es  nicht,  wie  jene  schmerz* 
liehe  Begehung,  verwerfliche  Unterlassung  damals  hat  statt* 
finden  können.  Außerstand,  geschehene  Tat  zurückzu* 
nehmen,  entsetzt  über  ihren  Weg,  der  mit  grausamer  Un* 
fehlbarkeit  über  hunderttausend  Abwege  und  Umwege  zu 
ihrem  Täter  zurücktastet,  möchten  wir  der  Verantwortung 
entbunden  sein  und  sagen  dürfen:  jene  Begehung  oder 
Unterlassung  entsprang  wohl  fremdem  Einfluß,  fremdem 
Zuspruch;  sie  lag  am  heuchlerischen  Feind,  am  falschen 
Freund;  sie  war  die  Versuchung  des  schlechten  Weibes,  die 
Lockung  des  schwachen  Augenblicks ;  sie  ward  erzwungen 
von  der  Not  der  Umstände,  von  der  Macht  der  Verhält* 
nisse,  —  nicht  aber  bin  ichs  gewesen,  wahrhaftig  nicht  ich, 
der  damals  entschied  und  sich  entschied  .  .  .  Und  vielleicht 
spricht  aus  dieser  Ausflucht  vor  sich  selber  nicht  einmal  die 
bloße  Verlogenheit.  Vielleicht  bin  ich,  die  Tat  vor  mir  jetzt 
verwerfend,  wirklich  gar  nicht  mehr  ich,  der  einst  die  Tat 
beging  oder  unterließ.  Vielleicht  ist  das  Ich,  welches  die 
Tat  brandmarkend  von  sich  abzuwälzen  trachtet,  dem  Ich, 
welches  für  die  Tat  haftbar  ist,  haftbar  gewesen  ist,  nicht 
viel  ähnlicher  als  zwei  beliebige  Persönlichkeiten  sich  ahn* 
lieh  sind,  mit  dem  Unterschied  freilich,  daß  jenes  und  dieses 
Ich  in  zeitlicher  Stätigkeit  lebendig  verkettet  sind.  Vielleicht 
hab'  ich  zwischen  meine  Tat  und  mich  längst  einen  neuen 
Menschen  wie  eine  Wand,  wie  eine  Mauer,  wie  einen  Turm 
gestellt,  einen  neuen  Menschen,  dem  keinerlei  Urheber* 
schaff  von  jener  Tat  zur  Last  gelegt  werden  darf.  Wobei 
es  allerdings  höchstmeine  eigene  Schuld  bleibt,  nicht  damals 
schon  der  Heutige  gewesen  zu  sein.  Ist  es  mithin  gut  aus* 
denkbar,  daß  die  lebendige  Beziehung  zwischen  Tat  und 

832 


Täter  eines  Tages  zerreißbar  würde,  wofern  man  der  alten 
Tat  einen  Täter  unterschöbe,  der  sie  als  Wesensäußerung 
ganz  einfach  ausschlösse,  —  immerhin  bleibt  die  Verant* 
wortlichkeit  von  vorhin  derart  in  Kraft,  daß  sie  zwar  nicht 
eigentlich  mehr  die  Tat,  wohl  aber  den  Täter  selbst  betrifft. 
Auch  jetzt  ist  eine  Schuld  im  vollen  Umfang  zu  bejahen 
mitsamt  all  ihren  nachträglichen  Wirkungen,  Weiterungen, 
Verhängnissen,  daß  der  Täter  nicht  immer  schon  der  war, 
der  er  hätte  sein  können,  ja  der  er  eigentlich  ist;  —  welcher 
Trost  liegt  aber  nicht  darin,  daß  keiner  von  uns  weiß,  wer 
er  eigentlich  ist:  keiner  folglich  an  seiner  Fähigkeit  zu  allen 
hohen  guten  Dingen  zu  zweifeln  oder  gar  zu  verzweifeln 
braucht!  —  daß  wir  zwar  also  damals  unsere  Taten  nicht 
vermeiden  konnten,  wohl  aber  unser  Selbst  zu  anderer 
Täterschaft  hätten  bestimmen  können,  bestimmen  sollen, 
bestimmen  müssen  .  .  . 

Hier  glimmt  indes  gleichzeitig  an  diesem  verhangenen 
Himmel  schon  eine  zarte  Hoffnung  auf.  Kann  aufrichtiger* 
weis  niemand  sich  der  Verantwortung  entschlagen  für  seine 
Täterschaft  und  damit  auch  nicht  für  seine  Tat,  so  steht  es 
eben  darum  in  der  Freiheit  eines  jeden,  seine  Schuld  mit  der 
einzigen  Münze  zu  bezahlen,  die  hier  gangbar  ist:  nämlich 
mit  sich  selbst,  dem  eigenen  Selbst.  Immer  wieder,  be* 
hauptete  ich  vorhin,  stoße  jeder  Urheber  und  Urtäter  im 
Leben  auf  die  unverwischten  und  unverwischbaren  Spuren 
seiner  eigenen  Handlungen,  einem  verirrten  Reiter  in  der 
Prärie  vergleichbar,  der  nach  aufreibendem  Tagesritt  am 
Abend  endlich  auf  eine  Menschenfährte  gerät,  um  zu  seinem 
Grausen,  vielleicht  zu  seinem  Verderben  wahrzunehmen, 
daß  dies  seine  Fährte  ist  und  er  Stund'  um  Stund'  des  kost* 
baren  Tages  im  Kreis  herumgeritten  ist.  Einmal  jedoch, 
fahr'  ich  jetzt  weiter,  könnte  es  sich  ereignen,  daß  die  Tat 
zwar  abermals  zu  ihrem  Urheber  wiederkehre,  —  er  unter* 

53     Ziegler,  Gestaltwandel  der  Götter  833 


des  aber  ein  völlig  anderer  geworden  wäre,  ein  nämlich 
mit  sich  selber  wunderbar  Vertauschter:  vergleichbar  einem 
anderen  Reiter,  der  gleichfalls  untertag  im  Kreise  ritt,  in* 
zwischen  aber  seinen  abgetriebenen  Gaul  mit  einem  noch 
unverbrauchten  aus  der  Grassteppe  selbst  ausgewechselt  hat 
und  folglich  den  Tag  in  die  Irre  nicht  als  dringende  Gefähr* 
düng  seines  Lebens  fürchten  muß.  Fand  er  die  Tat  unänder* 
lieh,  unabänderlich,  so  dünkt  ihm  wenigstens  der  Täter 
nicht  unbildsam  und  unwandelbar.  An  ihm  hat  er  in  der 
Zwischenzeit  so  unablässig  geknetet,  gebosselt  und  geformt, 
bis  er  zuletzt  der  geworden  ist,  der  er  in  seinen  besten  Stun* 
den  ehemals  zu  sein  begehrte.  Jetzt  hat  die  Sühne  die  Schuld 
eingeholt  und  ereilt,  jetzt  hat  die  Sühne  die  Schuld  aus* 
geglichen  und  getilgt:  nicht  aber  dies  durch  eitle  An* 
strengungen,  Geschehenes  ungeschehen,  Unwiderrufliches 
widerruflich  zu  machen;  weniger  noch  durch  nutz*  und 
ruhmlose  Büßungen,  Peinigungen,  Zerknirschungen,  die 
Gewissensbiß  und  Reue  ausdrücken  wollen,  —  vielmehr 
schlichter  und  durchgreifender,  wenn  auch  bei  weitem  be* 
schwerlicher,  durch  Selbstverwirklichung  eines  neuen 
Entschuldigten  und  Unschuldigen,  der  den  Täter  der 
verrufenen  Tat  endgültig  unter  sich  gebracht  hat.  Hat 
einer  sich  an  sich  selbst,  hat  einer  sich  an  seinem  Selbst 
vergangen,  dann  ist  er  sich  eben  ein  neues  Selbst 
schuldig  geworden.  Mit  diesem  möge  er  sühnen,  und 
Gott  in  Person,  wenn  es  Gott  gäbe,  könnte  nicht  gött* 
licher  mit  ihm  und  sich  verfahren.  Man  schuldet  und  man 
sühnt,  will  heißen,  man  war  jener  und  ist  dieser  geworden. 
Man  schuldet  und  man  sühnt,  will  heißen,  man  verzeiht 
sich  vielleicht  seine  Tat,  zeiht  sich  aber  desto  strenger  seiner 
Täterschaft.  Man  schuldet  und  man  sühnt,  will  heißen, 
man  wirkte  unter  seiner  Würde  und  erwirkt  seine  Würde 
Man  schuldet  und  man  sühnt,  will  heißen,  man  verant* 

834 


wortet  die  Tat  ohne  Abzug,  entwächst  jedoch  der  Täter* 
schaft  und  übergrünt  sie  .  .  . 

Nicht  die  Verschuldung  ist  infolgedessen  das  Anzeichen 
der  Entgöttlichung  des  Menschen,  sondern  die  Weigerung, 
schuldig  zu  werden.  Diese  Weigerung  ist  dem  Menschen 
durch  und  durch  natürlich,  und  als  natürlicher  Mensch  zer* 
bricht  er  hundert  mal  lieber  an  sich  selber,  läßt  tausend  mal 
lieber  andere  an  sich  zerbrechen,  eh'  daß  er  seine  Schuld  auf 
sich  nimmt  oder  gar  seine  Schuld  bekennt.  Kein  Streitfall 
und  keine  Feindschaft  zwischen  Einzelnen,  kein  Krieg  und 
kein  Kampf  zwischen  Völkern,  wo  sich  die  Gegner  nicht 
bis  ins  Mark  ihrer  Seele  selbst  vergifteten  durch  das  unsterb* 
lieh  fluchwürdige :  ich  bin  unschuldig,  du  bist  schuldig,  du 
bist  schuldig,  ich  bin  unschuldig  .  .  .  Wie  zahllos  oft  hat 
nicht  dies  Höllenwort  jede  beginnende  Verständigung  zwi« 
sehen  Menschen  wie  mit  einem  Fallbeil  jählings  geköpft 
und  abgeschnitten ;  wie  zahllose  male  hat  es  nicht  schüch* 
terne  Liebesregung  in  gärendem  Todhaß  wie  in  einer  Dung* 
und  Jauchegrube  erstickt  und  ersäuft.  Ich  bin  unschuldig, 
du  bist  schuldig :  das  ist  der  blechern  scheuernde  Kehrreim 
des  bösen  Geistes  Mensch,  der  da  die  Frechheit  hat,  sich  auf« 
zuwerfen  zum  Richter  über  Menschen,  ohne  Gericht  je  über 
sich  selbst  zu  halten.  Ich  bin  unschuldig,  du  bist  schuldig :  so 
meckert  und  blökt  und  kräht  des  Teufels  Stimme,  der  es  nie 
fassen  wird,  daß  Fallen  und  Schuldigwerden  je  und  je  das  kost* 
liehe  Himmelsvorrecht  der  Engel  und  Götter  gewesen  ist . . . 
Schuldlos  zu  sein  behaupten  heißt  daher  nicht  allein,  daß 
sich  der  Mensch  wie  er  just  geht  und  steht,  mit  allen  seinen 
Bosheiten,  Ruchlosigkeiten,  Grausamkeiten  viehisch  wohl 
gefällt;  heißt  nicht  allein,  daß  der  Mensch  noch  nie  die 
eigentliche  Wallung  seiner  Menschlichkeit,  die  warme 
Scham,  an  sich  erfahren  habe ;  heißt  nicht  allein,  daß  der 
Mensch  dahin  verdumpfe,  dahin  flegle  ohne  Ziel  und  Maß 

53*  835 


seiner  selbst  wie  Pflanze  oder  Tier;  —  schuldlos  zu  sein  be* 
haupten  heißt  vielmehr  niemals  noch  inne  geworden  sein 
des  frommen  Urwunsches  nach  Vergottung  und  Vergött* 
lichung  des  Selbst.  Von  allen  schlimmen  Wölfen  hinter 
Schafsgesichtern  ist  der  Unschuldige  der  schlimmste  Wolf, 
denn  er  frißt  sein  Opfer,  nicht  weil  ihn  hungert,  sondern  da* 
mit  dem  Opfer  vor  Gott  und  Menschen  recht  geschehe, 
recht  vor  dem  Allauge  der  Königin  Sonne  selber.  Wer  seine 
Unschuld  laut  beteuert,  beteuert  somit  nur  seine  Verstockt* 
heit  und  Verlogenheit.  Denn  er  gibt  vor,  in  allen  Lagen 
seines  Daseins  stets  der  Höchste  und  Beste  gewesen  zu 
sein,  der  er  unter  günstigen  Umständen  und  bei  rastlosem 
Aufwand  vielleicht,  vielleicht  hätte  sein  können.  Wer  seine 
Unschuld  laut  beteuert,  beteuert  somit  seine  Trägheit,  seine 
Faulheit,  denn  er  schleicht  der  Schuld  als  der  Aufgabe 
seines  Lebens  auf  den  Zehen  aus  dem  Weg  und  scheut  es, 
Herr  über  sie  zu  werden  und  mit  ihr  sich  selbst  zu  über* 
winden.  Wer  seine  Unschuld  laut  beteuert,  ja  der  beteuert 
schließlich  unwissentlich  aber  unwiderleglich  seine  Schuld, 
denn  wo  gäbe  es  eine  heillosere  Schuld  als  die,  dem  Nach* 
sten  überall  die  Schuld  aufzubürden  .  .  .  Wenn  eine  Schuld 
unsühnbar  ist,  dann  ist  es  diese,  weil  sie  den  Wunsch  zur 
Sühnung  und  Entschuldigung  unterdrückt,  den  Willen  zur 
Selbständerung  und  Selbstwandlung  erwürgt,  die  Sehnsucht 
nach  Genugtuung  und  Genügetat  erstickt.  Der  Unschul* 
dige  ist  weder  menschlich  noch  göttliches  Wesen,  sondern 
moralisches  Ungeheuer,  moralische  Ausgeburt  vornehm* 
lieh  solcher  Zeiten  und  solcher  Rassen,  die  die  Moral  mit 
der  Religion  verwechselt  haben  und  wähnen,  es  zieme 
Mensch  oder  Gott,  sich  in  Reinheit  zu  erhalten,  anstatt  sich 
an  die  Welt  hingegeben  zu  verlieren  und  von  ihr  befleckt 
nicht  Reinheit,  aber  Reinigung  nachträglich  zu  erwirken. 
Der  Unschuldige  ist  endlich,  man  glaube  mir's,  der  Irreli* 

836 


giöse  schlechthin,  der  gezüchtete  Typus  des  bloß  biologi* 
sehen  Menschen,  der  sich  seiner  vorgefundenen  Beschaffen« 
heit  freut  und  aus  angeborener  Abneigung  gegen  die  Reli* 
gion  überhaupt  unangreifbar  zu  machen  verstand  gegen 
jedweden  Antrieb  von  außen  oder  innen  zur  eigenen  Ver* 
gottung.  Der  Unschuldige  kehrt  und  wehrt  sich  gegen  die 
Schuld,  weil  er  sich  gegen  die  Sühne  kehrt  und  wehrt.  Er 
weigert  sich,  für  das  Leben  den  einzigen  Preis  zu  entrichten, 
den  das  Leben  notwendig  kostet  —  das  Selbst,  das  viel* 
gehätschelte,  äffisch  verzärtelte  Selbst.  Und  nicht  ist  das 
geflügelte  Ecce*homo*Wort  in  seinem  Gemüt  auch  nur  bis 
unter  die  Haut  gedrungen:  „Ein  Gott,  der  auf  die  Erde 
käme,  dürfte  gar  nichts  anderes  tun  als  Unrecht,  —  nicht 
die  Strafe,  sondern  die  Schuld  auf  sich  zu  nehmen,  wäre 
erst  göttlich  .  .  ."  Ein  Wort,  das  wie  kaum  ein  zweites  die 
in  einer  Notreife  gediehene  Frucht  der  Zukunft  unserer 
Religion  rasch  zufahrend  vorweg  pflückt  .  .  . 

Ein  fernes,  aber  reines  Echo  von  der  Einsicht,  daß  dem 
Schuldbejahenden  der  Rang  vor  dem  Unschuldigen  ge* 
bühre  (am  stärksten  wie  gesagt  erfühlt  von  den  tragischen 
Griechen),  es  klingt  noch  nach  in  dem  unbegreiflichen  und 
unbegriffenen  Wort  des  Evangeliums:  „Widerstehet  nicht 
dem  Übel."  Was  not  tut,  ist  tatsächlich  die  frei  über* 
nommene  Verantwortlichkeit  für  alle  Handlungweisen,  aus 
denen  Übles  wuchert  und  die  aus  Üblem  wuchern  in  end* 
los  vielen  Graden  und  Maßen :  die  Verantwortlichkeit  und 
mit  ihr  die  Pflicht  der  Genugtuung  und  Sühnung.  Nicht 
um  seine  Unschuld,  —  um  seine  Schuld  trägt  der  göttliche 
Mensch  die  tiefste  Sorge:  nicht  allein  um  seine  Urheber* 
schaft  an  unmittelbar  ihm  beizumessenden  Begehungen 
oder  Unterlassungen,  sondern  genau  so  sehr  und  mehr  noch 
um  seine  mittelbare  Urheberschaft,  Miturheberschaft  an 
allen  Begehungen  und  Unterlassungen   überhaupt.    Sich 


837 


schuldig  wissen,  als  Schuldiger  einstehen  wollen  auch  für 
Taten  und  Handlungen,  die  zu  jeder  Zeit  und  an  jedem 
Ort  geschehen,  zwar  ohne  nachweisliche  Beteiligung  des 
eigenen  Selbst,  aber  doch  unter  einer  Art  von  Mitbetei* 
ligung  desselben  nach  Maßgabe  seiner  Gliedschaft  inner* 
halb  aller  Menschengemeinsamkeit:  das  hat  als  Anzeichen 
echter  und  wohlverstandener  Heilsbedachtheit  durchaus  zu 
gelten.  Der  höhere  Mensch  ist  eingedenk,  daß  er  als  Stell* 
Vertreter  aller  für  die  Untaten  und  Vergehen,  für  die  Greuel 
und  Verbrechen  aller  mitverantwortlich  zeichne,  mitverant* 
wortlich  hafte.  Die  ungeheuerliche,  nicht  einmal  von  Satan 
auszuträumende  Menge  des  Unrechts,  welches  die  mensch* 
liehe  Gattung  in  jedem  Zeitteil  verschuldet,  sei  es,  daß  sie 
das  Unrecht  zulasse  und  dulde,  sei  es,  daß  sie  das  Unrecht 
verursache  und  begehe,  —  und  ich  könnte  mir  ein  göttlich 
erleuchtetes  Menschenbewußtsein  denken,  dem  geduldetes 
und  verursachtes  Unrecht  ein  und  dasselbe  wäre!  —  diese 
Last  von  Unrecht  also  ergibt  dem  Frommen  der  neuen  Zeit 
das  Maß  seiner  Mitschuld  und  dieses  ihm  wiederum  das 
Maß  seiner  Sühnpflicht.  Weil  alle  ohne  Hemmnis  und 
Schranke  übel  tun,  hat  auch  er  auf  gewisse  (dem  Verstand 
freilich  nicht  genau  zu  beglaubigende)  Weise  teil  an  der 
Gemeinschaft  Übeltat  und  Übelwerk;  hat  er  teil  folglich 
an  der  Vermehrung  dessen,  was  er  von  seinem  besseren 
Selbst  aus  verurteilt  und  verwirft.  Keineswegs  obliegt  es 
ihm  gleichsam  als  dem  »Ewigen  Christen'  die  Rolle  des 
Lammes  zu  spielen  und  der  Welt  Schuld  auf  sich  zu  nehmen 
und  zu  sühnen,  —  nichts  weniger  als  dies.  Nicht  die  Schuld 
Fremder  zu  sühnen,  sondern  mit  Fremden  und  an  ihnen  schul* 
dig  zu  werden,  wofern  er  ihnen  allen  angehört  und  mit  ihnen 
allen  verbunden  ist,  —  dieses  obliegt  ihm.  Auch  die  Schuld 
dieser  dort  ist  deine,  auch  die  Schuld  jener  dort  ist  meine 
Schuld,  spricht  der  Göttliche  zu  sich  selber,  die  Missetaten 

838 


der  Gesellschaft  bei  sich  überschlagend,  manchmal  gepackt 
von  Grausen,  gewürgt  vom  Ekel,  geschüttelt  von  Verzweif* 
lung,  vergiftet  von  Bitterkeit,  aufheulend  vor  Ohnmacht, 
heimgesucht  sogar  manchmal  von  Entleibunggedanken. 
Womit  die  Völker  sich  in  jeder  Stunde  ihres  Daseins  selber 
besudeln,  damit  gewahrt  er  auch  sich,  oh  Trübsal  ohne 
TrostI  an  eigener  Leib*Seele  besudelt,  und  nie  hört  er  von 
einem  Werk  der  Schmach,  des  Hasses  und  der  Rache,  das 
nicht  als  Same  künftiger  geiler  Tracht  auch  in  seinem  Busen 
keimte.  Denn  alles  Leben,  das  ist  ihm  längst  aufgegangen, 
ist  schließlich  Mitleben  und  Miterleben;  Mitleben  aber 
ist  unter  allen  Umständen  Mittaten  und  Mitunterlassen, 
Mittöten  und  Mitstehlen,  Mitbuhlen  und  Mitehebrechen, 
Mitheucheln  und  Mithecheln,  Mitbetrüben  und  Mitver* 
wunden,  Mitlästern  und  Mitenttäuschen,  Mitschwindeln  und 
Mitübervorteilen,  Mitbetrügen  und  Mithintergehen.  Eine 
ungenannte,  unnennbare  Schuld  als  Schuld  jedermanns 
läuft  hinter  jedem  wie  ein  Schweiß*  und  Bluthund  drein 
und  weiß  ihn  aufzustöbern,  aufzuschnobern  noch  in  den 
winkligsten  Einsiedeleien,  wohin  einer  aus  der  Gesellschaft 
anderer  in  die  Gesellschaft  mit  sich  selber  flieht,  die  viel= 
leicht  nicht  minder  unheilvoll  als  jene  ist  .  .  .  Der  Ungött* 
liehe  jagt  diese  Schuld  von  seiner  Schwelle  und  wälzt  sie 
seinen  Nächsten  zu.  Der  Göttliche  aber  heißt  sie  viel* 
willkommen,  indem  er  ihr  seinen  Namen  und  seine  Ver* 
antwortung  leiht,  sich  selber  sozusagen  auf  die  Schuld 
und  die  Schuld  auf  sich  selber  taufend.  Schuldig  als  Gat* 
tungü  und  als  Einzelwesen,  sühnt  er  als  Einzelwesen  für 
sich  und  die  gesamte  Gattung.  Und  wenn  überhaupt, 
darf  wahrlich  dieses  menschliche  Mysterium  göttlich  ge* 
nannt  werden,  denn  dies  ist  eben  unser  menschlichst  Gott* 
liches,  daß  wir  die  unbeglichene  Schuld  aller  mit  uns  selbst 
begleichen,  die  wir  selbst  irgendwie  alle  sind  und  mitsind . . . 

839 


Der  Menschgott  gleichsam  ein  Werkzeug  eigener  Reini* 
gung,  Sühnung,  Genugtuung,  Wiederherstellung,  griechisch 
gesprochen  der  Menschgott  ein  Kathartikon,  —  ungefähr 
das  schält  sich  als  süßer  Kern  des  ersten  Mysteriums  aus 
den  darren  Schalen  der  Theologie  und  Dogmatik  europäi* 
scher  Religionen.  Das  Entscheidendste  mußte  dabei  frei* 
lieh  auch  jetzt  Mysterium  sein  und  bleiben,  weil  es  ja  nicht 
als  Wort  sich  an  die  Vernunft,  sondern  als  Antrieb  an  die 
Tat  wendet.  Ob  und  wieweit  das  mühsälig  hier  Umschrie* 
bene  wirklich  religio,  wirklich  Bindung,  Verbindlichkeit 
und  Gelübde  sei,  wird  folglich  nur  der  endgültig  für  sich 
bejahen,  endgültig  für  sich  verneinen  dürfen,  der  das  dop* 
pelt  geknüpfte  Tun  der  Verschuldung*Sühnung  wirklich 
für  sich  geleistet  hat.  Einzig  der  durch  dieses  Tun  herbei* 
geführte  Zustand  ist  die  zulässige  und  zuverlässige  Probe, 
die  hier  überhaupt  zu  machen  ist.  Hier  gibt  es  keinen  Ein* 
wand  und  keinen  Beweis  als  allein  die  Erfahrung  an  sich 
selbst.  Wer  sie  verschmähte,  hätte  sicherlich  keine  Religion. 
Indes  auch  wer  sie  aufsuchte,  dürfte  zwar  von  sich  bekennen, 
daß  er  Religion  habe,  —  aber  nicht  mehr  noch  als  einen  Anfang 
der  Religion.  Von  den  drei  großen  Weihen  des  Mysteriums 
hätte  er  nur  die  erste  und  niederste  erworben.  Denn  der 
gottlos  Fromme  künftiger  Weltzeit  hat  nicht  nur  sich  selber 
mit  Schuld  zu  bebürden,  sondern  ihm  ziemt  es  außerdem, 
das  Opfer  darzubringen.  Nicht  nur  winkt  ihm  als  Preis 
bejahter  Schuld  die  Sühne,  sondern  als  Wirkung  des  Opfers 
die  Wiedergeburt  höherer  Grade.  Ihm  steht  es  in  Freiheit 
zu,  das  seltenere  Mysterium  anzutreten  vom  Opfer  und  der 
Wiedergeburt,  und  abermals  müssen  bettelhafte  Worte  zu 
umschreiben  trachten,  was  lediglich  die  starke  Tat  voll* 
bringen  kann. 

An  diesem  doch  schon  weit  vorgeschobenen  Punkt  die 
geschichtlich  ältesten  und  üblichsten  Deutungen  und  Bedeu* 

840 


tungen  der  Opferhandlung  noch  einmal  heranzuziehen,  kann 
unmöglich  unsere  Absicht  sein.  Genug,  daß  wir  durch  frü* 
here  Darstellung  ein  Recht  erhielten,  alles  für  frühere  Welt* 
zustände  allein  Bezeichnende  außer  Betracht  zu  lassen.  In* 
Sonderheit  berührt  uns  die  urchristliche  Lehre  vom  Opfer 
als  der  Darbietung  eines  stellvertretenden  Mittlergottes  zur 
Rettung  einer  sündenverstrickten  Menschheit  nicht  mehr 
im  leisesten:  dieser  von  Paulus  zwar  etwas  aufgemachte, 
immer  aber  noch  unsäglich  rohe  und  grausame  Blutglaube 
und  Aberglaube  eiszeitmenschlicher  Vergangenheiten. 
Schauerlich  darüber  belehrt  und  aufgeklärt,  was  aus  schuld* 
los  oder  schuldig  vergossenem  Blut  an  Pest*  und  Schwefel* 
dämpfen  auf  gen  Himmel  raucht,  haben  wir  feierlich  abge* 
schworen  dem  Wahn  vom  Heilszauber  vergossenen  Blutes. 
Mag  einst  geopfert  worden  sein,  um  die  Seelen  nah*  ver* 
sippter  Abgeschiedenen  im  Schattenreich  zu  bedienen 
oder  zu  ergetzen;  mag  geopfert  worden  sein,  um  gnä* 
digen  Göttern  zu  danken  oder  beleidigte  Götter  auszu* 
söhnen;  mag  geopfert  worden  sein,  um  in  die  Gemein* 
schaff  säliger  Geister  einzutreten  und  mit  einem  höchsten 
Wesen  in  Verbindung  zu  gelangen,  so  liegen  diese  an  sich 
sinnreichen  Gebräuche  doch  heut'  in  großer  Entfernung 
hinter  denen,  die  der  Zukunft  ihre  Botschaft  künden  wollen. 
Diesen  alten  (und  unstreitig  auch  veralteten)  Vorstellungen 
innerlich  sehr  überlegen  ist  offenbar  eine  dreifach  voll* 
zogene  Auswirkung  der  Opfertat,  die  sich  neben  den  theo* 
logisch  begründeten  Gebräuchen  der  christlichen  Religionen 
(und  ihrer  nicht  allein)  geltend  gemacht  hat.  Es  ist  dies 
erstlich  das  Opfer  des  Besitzes,  zweitens  das  Opfer  der  Per* 
son,  drittens  das  Opfer  des  Lebens,  welches  unabhängig 
von  allen  dogmatischen  Begriffen  immer  wieder  gefordert 
und  immer  wieder  dargebracht  wird.  An  diese  Dreigestalt 
des  Opfers,  meine  ich,  wäre  daher  passend  anzuknüpfen, 

841 


falls  man  den  zweiten  Teil  des  hohen  Mysteriums  .Religion 
überhaupt'  im  Ernst  begehen  und  mit  Andacht  feiern  wollte : 
hier  scheint  sich  mir  in  zeitlich  gebundenen  Gebräuchen 
ewig  Gültiges  anzukünden.  Hinsichtlich  dieser  drei  Hand* 
lungen  haben  sogar  die  theistischen  Religionen  der  Ver* 
gangenheit  einer  näheren  oder  ferneren  Zukunft  der  Religion 
mächtig  vorgearbeitet,  und  zwar  desto  wirksamer,  als  sie 
das  entscheidende  Vorkommnis  dreimal  aus  dem  Zirkel 
himmlischer  Götterkreise  hinausgewiesen  haben,  um  mit 
stets  zunehmender  Besonnenheit  das  Opfer  sowohl  des  Be* 
sitzes  wie  des  Selbstes  und  des  Lebens  der  religiösen  Leistung 
des  Menschen  selber  zuzusprechen.  Ich  stehe  nicht  an,  in 
dieser  Verirdischung  und  Vermenschlichung  des  hohen 
Mysteriums  Opfer* Wiedergeburt  die  tiefste,  eindruckvollste 
Rechtfertigung  zu  finden  der  weltgeschichtlichen  Entwick* 
lungen  vom  katholischen  zum  protestantischen  Christentum, 
ja  ganz  allgemein  von  katholischer  zu  protestantischer  Reli* 
giosität  .  .  . 

Stark  eingewurzelt  von  Natur,  sagte  ich  vorhin,  sei  offen* 
bar  dem  Menschen  der  merkwürdige  Hang,  sich  wider  jedes 
Schuldigwerden,  Schuldigsein  mit  Hand  und  Fuß  zu  stem* 
men  und  viel  lieber  an  eigener  Schuld  zu  zerbrechen,  viel 
lieber  Feind  und  Freund,  Kind  und  Geliebte,  Weib  und  Nach* 
bar  an  der  eigenen  Schuld  zerbrechen  zu  lassen,  eh'  er  sich 
für  Getanes  oder  Unterlassenes  schlicht  verantwortlich  be* 
kenne  und  aus  freien  Stücken  gebotene  Sühne  leiste.  Der 
nämliche  Hang  nun,  muß  ich  jetzt  weiter  fahren,  verstockt 
denselben  eigensinnigen  Menschen  aber  auch  gegen  die 
göttliche  Tathandlung  des  Opfers.  Noch  schwerer,  noch 
unlustiger  entringt  er  sich  das  Opfer  zur  rechten  Zeit;  leicht* 
hin  legt  er  das  Opfer,  das  er  selbst  mit  Mühe  oder  gar  nicht 
darbringt,  nur  den  anderen  auf;  fast  niemals  kann  er  sich 
zum  höchsten  überwinden,  das  Opfer  nicht  sowohl  zu  brin* 

842 


gen,  als  das  Opfer  geradezu  in  eigener  Person  zu  sein. 
Opfern,  das  versteht  er  je  und  je  nur  als  ein  Hergeben,  Ver* 
ziehten,  Aufgeben,  Entsagen,  indes  die  besten  und  die 
bösesten  Instinkte  seiner  Art  aufs  Gegenteil  blindlings  ver* 
sessen  sind.  Keiner  sieht  es  von  Natur  ein,  weshalb  ihm 
Verzicht  bekömmlicher  sein  soll  als  Behauptung,  Entsagung 
bekömmlicher  als  Erwerb.  Und  wie  um  ihn  in  dieser  schreck* 
liehen  Halsstarrigkeit  noch  recht  zu  bestärken,  springt  seiner 
eingeborenen  Neigung  hier  auch  noch  die  List  der  Ver* 
nunft  bei,  indem  sie  ihm  triftige  Beweisgründe  auf  die 
Zunge  legt,  die  diesen  inneren  Widerstand  zu  rechtfertigen 
geeignet  scheinen.  Die  Religion,  wendet  nämlich  die  Ver* 
nunft  mit  der  ihr  eigenen  Vernünftelei  hier  ein,  fordert  das 
Opfer  des  Besitzes,  —  als  ob  ihr  entgehen  könnte,  daß  jede 
menschliche  Betätigung  mittelbar  oder  unmittelbar  auf  Meli* 
rung  des  Besitzes  gerichtet  sei!  Betreffe  dies  nun  die  Meh* 
rung  der  im  engeren  Wortverstand  wirtschaftlichen  Güter, 
als  da  sind  Bargelder,  Tauschwerte,  Arbeitmittel,  Werks 
zeuge,  Waren,  Betriebvermögen,  Grundstücke,  Wohnstätten, 
Verkehrswege,  Bodenschätze,  Naturkräfte,  Nährstoffe  und 
dergleichen;  betreffe  es  die  Mehrung  der  nicht  eigentlich 
wirtschaftlichen  Güter  wie  Stellung,  Rang,  Ansehen,  Ein* 
fluß,  Macht,  Wirkungkreis,  Handfertigkeit,  Gelehrsamkeit, 
Arbeittüchtigkeit,  Witz,  Klugheit,  Kunstgeübtheit,  Urteils* 
kraft,  Erkenntnis,  Weisheit  und  ähnliche  mehr.  Ganz  un* 
verkennbar  gelangten  doch  jedes  Einzelnen  Fähigkeiten  zur 
Auswirkung  und  mehr  noch  zur  Veredelung  nur,  wofern 
er  absichtlich  oder  unabsichtlich  den  vorhandenen  Besitz 
vorhandener  Güter  aller  Art  zu  mehren  strebe.  Besitz 
schlankweg  verbieten  hieße  demnach  dem  Leben  seine  Mög* 
lichkeiten  unterbinden,  hieße  infolgedessen  das  Leben  selbst 
verbieten.  Bleibt  doch  sogar  der  Arme  durchaus  angewiesen 
auf  Besitz,  wenn  nicht  auf  eigenen,  dann  auf  fremden,  ohne 

843 


den  er  nicht  einmal  als  Armer  möglich  ist;  würden  doch 
ohne  Besitz  anderer  auch  Bettelmönch,  Kyniker,  Asket 
(mindestens  in  unseren  Breiten)  rasch  verhungern,  erfrieren, 
verelenden,  verkommen  müssen,  die  wirtschaftliche  Voraus= 
setzung  ihrer  eigenen  Armut,  ihrer  eigenen  Gesundheit, 
ihres  eigenen  Lebens  aufhebend.  Und  wirklich :  spinnt  man 
diesen  unwiderleglichen  Gedanken  weiter,  dann  steht  man 
dem  nicht  ganz  erwarteten  Ergebnis  bald  gegenüber,  daß 
gerade  das  Opfer  des  Besitzes  nicht  vom  Besitzlosen  ge* 
bracht  werden  kann.  Gerade  nicht  der  Habenichts,  nicht 
der  Bettler,  nicht  der  Mönch  erweisen  sich  des  Opfers  des 
Besitzes  fähig,  sondern  allein  der  Besitzende,  allein  der 
Wohlhabende,  allein  der  Reiche.  Wie  also  nun?  Bedingt 
nicht  just  das  Opfer  des  Besitzes  an  und  für  sich  den  Besitz, 
beruht  nicht  seine  Möglichkeit  auf  der  regelmäßigen  Be* 
schäftigung  mit  dem  Erwerb  und  seiner  Mehrung?  Gewinnt 
das  Opfer  des  Besitzes  nicht  sein  Gewicht  erst  daher,  daß 
der  Opfernde  preis  gibt,  was  ihm  besonders  teuer,  nicht 
aber  preis  gibt,  was  ihm  besonders  gleichgültig  ist?  Un* 
streitig  nur  weil  zu  allen  Zeiten  der  Besitz  gerade  der  wirt* 
schaftlichen  Güter  den  Menschen  der  teuerste  gewesen  ist, 
besteht  die  Religion  zu  allen  Zeiten  auf  der  inneren  Bereit* 
schaft,  den  Besitz  daran  zu  geben:  und  hier  ist  in  Bereit* 
schaft  sein  wirklich  alles,  hier  ist  in  Bereitschaft  sein  sogar 
Religion.  Sie  fordert  diese  Bereitschaft,  auch  den  Besitz, 
vor  allem  den  Besitz  zu  opfern,  nicht  weil  ihr  von  Haus  aus 
an  armen  mehr  wie  an  wohlhabenden  Anhängern  gelegen 
wäre,  nicht  weil  sie  aus  schwer  erklärlichen  Wertgesichts* 
punkten  den  Armen  für  besser,  frömmer,  göttlicher  hielte 
als  den  Reichen,  —  weiß  sie  doch  sehr  im  Gegenteil,  daß 
der  schlechthin  Besitzlose  meistenteils  nur  ein  Lump,  höchst 
selten  ein  Heiliger  ist,  sie  aber  zwischen  beiden  mitten  inne 
stehend  den  dritten  sucht,  der  zwar  besitzt,  aber  auch  gibt 

844 


und  aufgibt.  Sie  heischt  die  Bereitschaft  zum  Verzicht  auf 
den  Besitz  nur  als  die  gar  nicht  entbehrliche  Probe,  wieweit 
eines  jeden  Seele  überhaupt  noch  ihre  Unabhängigkeit  von 
Gütern,  Dingen,  Gegenständen,  Sachen,  will  heißen,  wie 
weit  sie  ihre  Selbstgenügsamkeit  und  Selbstherrlichkeit  zu 
wahren  fähig  oder  nicht  fähig  sei.  Die  Religion  zwingt  den 
religiösen  Menschen,  einmal  im  Leben  über  sich  selbst  mit 
vollkommener  Eindeutigkeit  die  Entscheidung  zu  treffen 
und  nötigt  ihn  vor  allem  zu  der  Entscheidung,  ob  er  noch 
Herr  über  die  Dinglichkeit  ist  oder  die  Dinglichkeit  bereits 
Herr  über  ihn.  Denn  allezeit  nimmt  Religion  am  Besitz  den 
untilgbaren  Makel  war,  daß  er  zunehmend  den  Besitzenden 
besitze.  Sie  weiß  es:  wer  da  etwa  Land  hat  und  eigene  Erde, 
der  muß  wohl  oder  übel  mit  allen  unzerstückten  Kräften 
seines  Wesens  der  Erde  frohnden.  Wer  da  Geld  hat  und 
bares  Vermögen,  der  muß  dem  Geld  frohnden  und  der 
Notwendigkeit  seiner  Verzinsung.  Wer  da  Arbeitmittel  hat 
und  eigenes  Werkzeug,  der  muß  dem  Arbeitmittel  frohn* 
den  und  seiner  Nutzbarmachung.  Wer  da  Bergwerke  hat 
und  Bodenschätze,  der  muß  den  Bodenschätzen  frohnden 
und  ihrer  Förderung.  So  geht  dies  weiter  und  immer  weiter, 
von  den  gröbsten  bis  zu  den  geistigsten  Formen  des  Besitzes. 
Eine  jede  dieser  Formen  formt  sich  nach  eigenen  unver* 
brüchlichen  Regeln  und  Gesetzen,  denen  sich  kein  Besitzen* 
der  willkürlich  entziehen  kann;  jede  drängt  ein  anderes 
Stück  Persönlichkeit  zu  unheilstiftender  Versachlichung  und 
Selbstentäußerung.  Nicht  brauch'  ich  dem  Leib=  und  Seel* 
eigenen  des  Geldes  des  näheren  zu  schildern,  wie  das  im 
einzelnen  wohl  gemeint  sei.  Genug,  daß  jeder  Besitz  den 
Besitzenden  hofTnunglos  an  seine  eisernen  Erfordernisse 
schlägt  und  kettet.  Ein  tödlich  fest  gesponnenes,  tödlich 
eng  geknüpftes  Netz  zieht  jeder  Besitzende  über  sein  Haupt 
zusammen,  und  nimmermehr  wird  er's  aus  eigenen  Kräften 

845 


zerreißen,  sondern  höchstens  mit  des  Opfermessers  Schärfe 
noch  durchschneiden  können.  Dazu  soll  er  stark  sein,  und 
weil  er's  nie  von  sich  selbst  schon  ist,  sich  stark  machen; 
soll  seine  Erstgeburt  ohne  Maulen  metzen,  wie  uralt  greu* 
liehe  Gebräuche  ihm  bedeuten.  Auf  Teuerstes,  Umworben* 
stes,  Wertgehaltenstes  soll  er  verzichten  können  und  den 
Hang  zum  Unentbehrlichsten,  ja  den  Hang  zum  Hang  über* 
haupt  noch  in  sich  überwinden.  Entsachlicht  von  den  Sachen, 
unbedingt  von  den  Dingen,  soll  er  zur  Götterfreiheit, 
Götterunbekümmertheit  des  Löserworts  heranreifen,  das 
einst  Aristippos  von  Kyrenai  unvergeßlich  prägtet  ich  be* 
sitze,  werde  nicht  besessen  .  .  .  (er  sprach  es  aber,  als  ihn 
jemand  über  sein  für  viele  anstößiges  Verhältnis  zu  der 
vornehmen  und  verwöhnten  »Gesellschafterin*  Lais  auszu* 
holen  gedachte,  und  noch  fühl'  ich  den  langen,  geraden, 
unbefangen*unverfänglichen  Blick  auf  mir,  der  dem  wunder* 
witzigen  Frager  antwortete:  ein  solcher  Blick  strahlt  hin 
durch  die  Jahrtausende  wie  das  Licht  eines  sehr  entfernten 
Sternes,  der  seit  Jahrtausenden  gleichfalls  schon  erloschen 
sein  mag).  Ich  besitze,  werde  nicht  besessen;  ich  besitze, 
bin  aber  nicht  besessen,  —  dies  Löserwort  eines  Gelösten, 
Gelassenen  und  Freien  bezeichnet  genau  den  Seelenstand 
der  Ununterworfenheit  unter  die  Gegenstände,  dessen  Be* 
kundung  durch  die  Tat  die  Religion  von  Zeit  zu  Zeit  immer 
wieder  als  Opfer  ihren  Bekennern  ansinnt.  Daß  die  Seele 
von  allerlei  Gütern  nicht  besessen  werde  und  besessen  sei, 
des  heischt  die  Religion  etwa  eine  Probe,  eine  Bestätigung, 
eine  Zeugenschaft,  auf  die  sie  im  Zweifelfall  nicht  ver* 
ziehten  kann.  Der  Mensch  darf,  ja  er  soll  besitzen,  hier* 
gegen  hat  Religion  keinen  Einwand  zu  erheben.  Aber  der 
Mensch  soll  und  soll  nicht  besessen  werden,  und  dies  gibt 
er  ausschließlich  durch  seine  Bereitwilligkeit  zum  Opfer  zu 
erkennen.  Erst  durch  die  Bereitwilligkeit  hierzu  erweist  sich 

846 


jeder  Einzelne  sich  selber  und  seinen  Freunden,  seinen 
Feinden;  erst  diese  Bereitwilligkeit  stellt  über  jeden  Zweifel, 
wie  ernst  oder  unernst  ihm  sei  mit  seinem  Streben  zur  Ver* 
göttlichung.  Die  Parabel  vom  reichen  Jüngling  beispielweis 
vermittelt  uns  die  Bekanntschaft  jemandes  (und  wer  wäre 
nicht  dieser  jemand?),  dem  es  mit  diesem  Streben  nicht 
ernst  genug  war.  An  sich  konnte  Jesu  gewiß  nichts  gleich* 
gültiger  sein  als  die  Vermögensumstände  eines  angehenden 
Anhängers  und  Jüngers.  Aber  freilich  mußte  ihm  so  gut 
wie  alles  daran  gelegen  sein  zu  erfahren,  ob  der  junge 
Mensch  mit  sich  selber  Ernst  oder  Spaß  machte.  Sälig  aber 
ist,  wer  vor  sich  die  Probe  des  Besitzes  bestanden,  denn  er 
darf  von  nun  auf  sich  selbst  bauen.  Aristippos  aber  von 
Kyrenai  und  der  Nazoräer  Jesus,  der  Bericht  vom  reichen 
Jüngling  und  von  der  schönen  Lais,  —  wie  nah'  sich  doch 
wahrlich  alles  ist,  was  einander  nah'  ist  .  .  . 

Die  Tathandlung  des  Opfers  indessen,  dies  merken  wir 
jetzt  wohl,  ist  wesentlich  vom  Vorgang  der  Wiedergeburt 
sachlich  gar  nicht  zu  unterscheiden.  Wer  sich  von  den  Din* 
gen,  auf  die  er  die  Hand  gelegt  hat,  innerlich  so  unabhängig 
zu  erhalten  versteht,  daß  er  sie  zu  jeder  Stunde  fahren  lassen 
kann,  der  ist  in  Ansehung  des  Besitzes  ein  Wiedergeborener. 
In  ihm  ward  fröhlich  der  Gott  geboren,  der  die  Gegenstände 
der  Wirklichkeit  ohne  Eingriff,  ohne  Zugriff  freiwachsen  und 
frei  walten  sieht,  einen  jeglichen  nach  seiner  Art.  Wenn  auch 
wahrscheinlich  noch  kein  Erlöster,  stellt  er  sie  immerhin  doch 
als  ein  Gelöster  fromm  zu  den  Gegebenheiten  dieser  Welt: 
Äußerliches  opfernd,  um  innerlich  zu  bleiben,  auf  Not* 
wendiges  verzichtend,  um  seine  Freiheit  zu  retten.  Voller 
Sehnsucht  nach  seinem  Selbst,  und  in  dieser  Hinsicht  wirk* 
lieh  voll  gesunder  Selbstsucht!  ist  ihm  an  nichts  so  viel  ge* 
legen  als  an  eben  diesem  Selbst.  Eben  wofern  jeder  Besitz 
an  und  für  sich  jeden  Besitzenden  verpflichtet,  denkt  er 

847 


nicht  daran,  sich  seinerseit  dem  Besitz  zu  verpflichten,  und 
so  bringt  er  das  Opfer  des  Besitzes  tatsächlich  sich  selber, 
tatsächlich  seinem  Selbst.  Aus  Selbstsucht,  kann  man  sagen, 
opfert  die  Seele  den  Besitz,  aus  jener  schwer  beschreiblichen, 
reinen  und  uneigennützigen  Selbstsucht,  die  dem  höheren 
Menschen  ins  Herz  gepflanzt  ist  als  das  stets  gegenwärtige 
Bewußtsein,  in  seinem  Selbst  den  Born,  Quell  und  Ursprung 
des  Göttlichseins  zu  verehren.  Denn  ehrwürdig  dünkt  sich 
selber  der  höhere  Mensch  im  Gegensatz  zum  gemeinen,  der 
sich  persönlich  selbst  verachtet;  Ehrwürde  zollt  er  jeder 
freien  Regung  seiner  an  Dinge  unverbrauchten  unverkauften 
Seele.  Unverkäuflich  ist  die  Seele  des  höheren  Menschen, 
aber  dabei  so  tief  auf  ununterbrochenen  Austausch  mit  sich 
selber  angewiesen,  daß  vielleicht  BeseehvSein  gar  nicht 
anderes  heißt  als  ewig  lebendigen  Verkehr  mit  sich  selber 
pflegen.  Bis  dann  zu  einer  Stunde  an  den  solchermaßen 
Opferwilligen  die  Forderung  eines  anderen,  zweiten,  grö* 
ßeren  Opfers  rauh  herantritt :  nunmehr  nicht  weiter  um  des 
Selbstes  willen  den  Besitz,  sondern  um  eines  noch  unaus* 
gemachten  Etwas  willen  das  höchsteigene  Selbst  zu  opfern, 
—  das  Selbst  aber  hier  verstanden  im  laxesten,  ausgebreitet* 
sten  Wortsinn  als  Eigenheit,  Innenrichtung,  Arbeitkraft  und 
=zeit,  Aufmerksamkeit,  Gedächtnis,  Leistung,  Tätigkeit,  Ge* 
wissen,  Strebensziel,  Beruf,  Sinnenleben,  Wahrnehmung* 
kreis,  Pflichtenfülle,  Meinung,  Erkenntnis,  Wissen,  Über* 
zeugung,  Glauben,  Weltbild,  Parteinahme,  Leidenschaft, 
Neigung,  Zutunlichkeit,  Wohlgefallen,  Steckenpferd,  Ver* 
trauen,  Abgunst,  Mißvergnügen,  Schickung,  Unlust,  Ver* 
kehr,  Geschmack,  Freundschaft,  Gesundheit,  Lebensalter, 
Muße,  Freiheit,  Feiertag,  Geschlechtstrieb,  Liebe,  Zärtlich* 
keit,  Stolz,  Glück,  Behagen,  Friede,  Häuslichkeit  eines 
jeden :  denn  alles  dieses  und  noch  mehr  gehört  seinem  Selbst 
und  seiner  Persönlichkeit  zu,  alles  dieses  kann  geopfert 

848 


werden  müssen.  In  diesem  Augenblick  nun  des  neuen 
Opfers,  sage  ich,  gerät  das  Selbst  in  äußerste  Verlegenheit, 
daß  ihm  jetzo  abgefordert  wird,  was  es  durch  Preisgabe  des 
Besitzes  am  sichersten  zu  bewahren,  in  sich  zu  gründen 
trachtete.  Seltsam  und  unerklärlich  in  der  Tat,  wieso  mit 
einem  mal,  wer  weiß  zu  welchem  Ende,  das  Opfer  des  Be- 
sitzes nun  länger  nicht  für  ausreichend  erachtet  wird,  son= 
dem  über  ihm  oder  nach  ihm  das  härtere  Opfer  des  Selbstes 
an  die  Reihe  kommt.  Wie  ist  es  ausdenkbar,  daß  des  Opfers 
Not  nicht  vor  diesem  nämlichen  Selbst  einhält,  dessen  Be= 
Währung  und  Befreiung  der  ausschlaggebende  Zweck  alles 
bisherigen  Opfers  gewesen  war?  Wie  geschieht  es,  daß  der 
Mensch  zu  diesem  gesteigerten  Opfer  verpflichtet  werden 
kann,  ohne  daß  damit  das  ganze  bisherige  Mysterium, 
welches  Opfer  heißt,  zu  einer  Fragwürdigkeit,  ja  Sinn* 
Widrigkeit  erniedrigt  wird?  Wie  soll  der  Einzelne  dazube* 
stimmt  sein,  aus  Religion  das  eigene  Selbst  daran  zu  setzen, 
nachdem  die  Religion  noch  vorhin  vor  allem  auf  die  Rettung 
dieses  Selbst  Bedacht  genommen  hatte? 

Das  Opfer  des  Besitzes  um  des  Selbstes  willen,  das  Opfer 
des  Selbstes  um  des  Selbstes  willen:  das  ist  ein  schwierig 
aufzulösender  und  dennoch  nicht  unauflöslicher  Schein* 
Widerspruch.  Denn  man  errät  es,  daß  eben  nicht  nur  der 
Besitz  beliebiger  Gegenständlichkeit,  vielmehr  gerade  auch 
der  Besitz  unserer  selbst,  der  Besitz  unseres  Selbstes  darzu* 
bringen  sei,  damit  dies  Selbst  am  gründlichsten  seine  ur* 
sprüngliche  Gestalt  wandle.  Auf  solche  Wandlung  zielt 
offenbar  jede  Weisung  zum  Selbstverzicht  und  zur  Selbst* 
Verleugnung,  die  Weisung,  ein  ätmayäji,  ein  Selbst*Opferer 
zu  sein,  wie  es  in  einer  Upanischad  einmal  sehr  bezeichnung* 
stark  vom  Yogin  heißt.  Denn  seit  dem  Brahmanismus 
scheint  jene  Weisung  allen  reiferen  Religionen  Asiens 
und  Europas  gemeinsam  zu  sein,  die  ein  deutscher  Sepa* 

54    Ziegler,  Gestaltwandel  der  Götter  849 


ratist  des  siebzehnten  Jahrhunderts  in  seiner  evangelisch 
zugespitzten  Sprache  gelegentlich  in  treuherzige  und  darum 
eindrucksvolle  Worte  zu  fassen  verstand,  wenn  er  in  seinen 
Bekenntnissen  von  drei  Arten  des  Abendmahles  redet 
und  die  zweite  kennzeichnet  als  das  Abendmahl  „des  tag* 
liehen  Opfers,  da  wir  den  alten  Menschen  täglich  annoch 
creutzigen,  tödten  und  begraben,  auf  daß  der  neue  wieder 
aufstehe"  .  .  .  Wer  darnach  zwar  wohl  zum  Opfer  dieser 
oder  jener  Sache,  nicht  aber  zum  Opfer  seiner  selbst  bereit 
gefunden  würde;  wer  darnach  zwar  ohne  Widerstreben  den 
Besitz,  nicht  aber  den  Besitzenden  zu  verschenken  willens 
wäre,  —  ein  solcher  bezeigte  sich  ganz  einfach  noch  nicht 
durchdrungen  mit  dem  Mysterium  des  Opfers  und  der 
Wiedergeburt,  welches  Mysterium  genau  in  dem  Umfang 
und  Grad  Wiedergeburt  in  sichere  Aussicht  stellt,  als  eben 
das  Opfer  vollzogen  wird.  Wer  nämlich  opfert,  der  ist 
wiedergeboren:  wenn  er  Dinge  opfert,  hat  er  sein  Selbst  ge= 
boren,  wenn  er  das  Selbst  opfert,  hat  er  in  höherem  Selbst 
sich  wiedergeboren.  Mit  dieser  ewigen  Tatsache  entlarvt  die 
Religion  die  landläufige  Ansicht  als  einen  Irrtum,  wonach 
das  menschliche  Selbst  für  ein  fest  abgrenzbares,  fertig  ge= 
gebenes,  sicher  umrissenes  Gebilde  vom  Schlag  sinnlicher 
Wahrnehmungbestandteile  der  Körperwelt  gilt.  Ohne  die 
nie  zu  beantwortende  Frage  nach  dem  Was  des  Selbstes 
erkenntnismäßig  beantworten  zu  wollen,  weiß  die  Religion 
als  solche  doch  so  viel,  daß  dieses  Selbst  vor  unserem  in* 
nersten  Fühlen  als  eine  unendliche  Bewegung  lebt,  die  in 
keiner  Daseinsweise  und  auf  keiner  Daseinsstufe  wirklich 
zu  vollenden,  wirklich  zu  verendlichen  ist:  am  wenigsten 
im  stätig  einheitlichen  Ablauf  jenes  sogenannten  Lebens, 
welches  wir  von  der  Kindheit  bis  zum  Tod  als  einen  be* 
wußten  Erlebniszusammenhang  unserer  Persönlichkeit,  ja  als 
unsere  Persönlichkeit  selbst  durchmessen.  Dieses  Leben  und 

850 


Dasein  der  Persönlichkeit,  diese  Persönlichkeit  selbst  reicht 
vor  unserem  Fühlen  wie  gesagt  keineswegs  aus,  die  unend* 
liehe  Linie  jener  Selbstbewegung  zu  ziehen,  und  im  ver* 
wegensten  Verfolg  dieser  Überzeugung  geschieht  es,  daß 
das  Opfer  der  Persönlichkeit  den  Fortgang  dieser  Bewegung 
nicht  nur  gar  nicht  in  Frage  stellt,  sondern  erst  recht  be-= 
stätigt  und  bekräftigt.  Unendliches  Selbst  —  unendliches 
Opfer  —  unendliche  Verjüngung  —  unendliches  Selbst:  über 
diese  ewige  Spirale  führt  der  Weg  der  Überschwänglichkeit 
zum  Gott.  Wer  ihn  beschreitet,  der  verleugnet  sich  selber, 
wie  die  Frucht  ihre  Blüte  verleugnet,  wie  der  Schmetterling 
die  Puppe  verleugnet,  wie  der  Mann  den  Jüngling  verleug= 
net,  wie  der  Gott  den  Menschen  verleugnet;  aus  Liebe  zur 
Frucht,  aus  Liebe  zum  Falterflug,  aus  Liebe  zur  Mannhaftig* 
keit,  aus  Liebe  zu  dir,  Gott,  Mensch=Gott  und  Menschen* 
Sohn  .  .  . 

Sich  selbst  opfern,  verleugnen,  heißt  somit  das  Selbst  von 
seinen  jeweiligen  Gestaltungweisen  sachte  lösen,  als  welche 
Gestaltungweisen  am  passendsten  nicht  mehr  .Selbst',  son* 
dem  ,Ich'  zu  nennen  wären,  unter  Bezugnahme  auf  ein  noch 
nicht  völlig  vergessenes  Gedicht  von  Herder,  dessen  weise 
Unterscheidung  auch  in  unseren  Zeiten  philosophischeren* 
giös  hier  und  da  genützt  ward.  Wobei  man  der  Tatsache 
billig  eingedenk  zu  sein  hätte,  daß  alles  Trachten  und  Sinnen 
der  indischen  Upanischaden  und  des  indischen  Vedänta 
nach  (^ankaras  berühmter  und  maßgeblicher  Deutung  dar? 
auf  hinaus  läuft,  die  sogenannte  .Übertragung'  oder  (nach 
Deussen)  ,adhyäsa'  gegenständlicher  Beilegungen  und  Be= 
eigenschaftungen  (upädhis)  auf  das  bestimmunglose,  un* 
gegenständliche  Selbst  rückgängig  zu  machen,  oder  mit 
anderen  Worten  das  persönliche  und  bewußte  Ich  (kshe= 
tranja)  vom  überpersönlich*unbewußten  Selbst  (ätman)  er* 
kenntnismäßig  zu  unterscheiden:  der  weltgeschichtlich  um= 

54*  851 


fassendste  Versuch,  eine  Theologie  des  Selbstes  zu  betreiben 
und  damit  den  Veda  identitätphilosophisch  auszulegen.  Der 
Vedänta  ist  (^ävivaka  Mimänsä,  das  ist :  Erforschung  der  ver= 
körperten  Seele,  und  diese  verkörperte  Seele  soll  überall 
als  Trug*  und  Scheinbild  des  wahren  Selbst  durchschaut 
werden.  Dieser  mehr  als  nur  theologischen  Unterscheidung 
beipflichtend,  sollten  wir  Selbstverleugnung,  Selbstverzicht 
richtiger  Ichverleugnung,  Ichverzicht  nennen,  wenn  anders 
Ich  die  endlich  herausgeformte  Seinsgestalt  unendlich  un« 
geformter  Selbstheit  ist.  Das  Ich  aber  und  seine  erklommene 
Erscheinungstufe  wird  geopfert,  damit  das  Selbst  gleichsam 
Luft  bekomme,  oder  damit  es  (unbildlicher  gesprochen)  von 
seiner  jeweils  stärksten  Bindung  entbunden  werde,  die  zu* 
treffend  genug  Bewußtsein  heißt.  Denn  das  Bewußtsein  mit 
seiner  Gegenstellung  Ich=Nichtich,  das  ist  die  starrste  Bin* 
düng  der  urtümlichen  Einheit  .Selbst',  diese  in  eine  Zwei* 
heit  gleichsam  optisch  brechend:  und  dieses  Bewußtsein 
durch  die  Tat  als  eine  Nicht*Endgültigkeit  des  Selbstes  zu 
erhärten,  ist  letztes  Ziel  und  letzter  Zweck  der  Selbstopfe* 
rung.  Der  hierzu  Willige  fühlt  des  Selbstes  Urständ  ganz 
offenbar  in  einem  Jenseit  der  Gegenstellung  Ich*Nichtich 
verstätigt,  im  Jenseit  mithin  verstätigt  der  Gegenstellung, 
die  bewußtes  Erleben,  bewußtes  Handeln,  bewußtes  Wissen, 
bewußte  Einsicht,  bewußtes  Bilden  grundsätzlich  erst  er* 
möglicht.  Person  und  Selbst,  Ich  und  Selbst,  Bewußtsein 
und  Selbst,  für  jeden  sich  selbst  noch  nicht  gefunden  Ha* 
benden  —  und  wäre  dies  zuletzt  nicht,  wer  wollte  es  ver* 
kennen,  der  sich  selbst  noch  nicht  geopfert  Habende?  — 
für  jeden  solchen  also  unbesehen  ein  und  dasselbe,  sie  ga* 
beln  sich  für  des  Selbstopfers  Vollstrecker  durchaus  in  zwei 
verschiedenste  Lagen  und  Stätten  des  Seins.  Einer  bis  dahin 
getriebenen  Ahnung  gilt  das  Bewußtsein  und  die  ihm 
entsprechende  Ichgestalt  fast  schon  als  Minderung,  Herab* 

852 


Setzung,  Unterbietung.Trübung,  Hemmung,  Abschwächung 
des  eigentlichen  Selbstes  und  seiner  Tätigkeiten :  um  drei, 
vier,  fünf  Meerestiefen  hinunter  ist  ihm  das  Selbst  gesunken 
unter  den  Spiegel  seiner  Oberfläche,  die  Ich  und  Nichtich 
als  die  zwei  Brennpunkte  persönlichen  Erlebens  einander 
wechselbezüglich  zugeordnet  zeigt.  Aus  diesem  elliptisch 
gerundeten  Gesichtsfeld,  in  dessen  radii  vectores  sich  die 
bewußte  Welt  schier  wie  in  einem  Gegitter  wunderlich  ver* 
fängt,  strebt  der  Selbstopferer  mit  heißem  Drang  hinaus ;  — 
der  Spiegelungen  überdrüssig,  taucht  er  hinab  unter  sie  in 
der  vollkommenen  Gewißheit,  daß  die  Tiefe  niemals  spie* 
gelt,  der  Spiegel  niemals  Tiefe  hegt. 

Mit  nicht  übertroffener  Bestimmtheit  hat  alles  das  der 
erste  abendländische  Philosoph  des  Unbewußten,  der  große 
Denker  und  Künder  Plotinos  in  seinen  Enneaden  dargelegt, 
wo  er  bereits  den  Umriß  eines  sozusagen  bewußtlos  Weisen 
und  Wohlbeschiedenen  entwirft:  „Auch  im  wachen  Zustand 
nehmen  wir  manchmal  schöne  Tätigkeiten  vor,  stellen  Be* 
trachtungen  an  und  handeln,  ohne  uns  doch  dabei  dieser 
Tätigkeiten  bewußt  zu  sein:  so  braucht  man  beim  Lesen, 
insbesondere  beim  aufmerksamen  Lesen,  kein  Bewußtsein 
davon  zu  haben,  daß  man  liest,  noch  während  man  tapfer 
ist,  davon,  daß  man  tapfer  ist,  und  so  in  unzähligen  anderen 
Fällen.  Es  scheint  sogar,  daß  das  Bewußtsein  die  Handlungen, 
von  denen  es  ein  Bewußtsein  hat,  schwächer  und  dunkler 
macht,  während  sie,  wenn  sie  unbewußt  geschehen,  reiner 
sind,  mehr  wirken  und  mehr  leben.  Auch  bei  den  Tugend* 
haften  dieses  Zustandes  muß  folglich  das  Leben  Spannkraft 
tiger  sein,  weil  es  sich  nicht  in  der  Empfindung  ausgießt, 
sondern  in  sich  selber  sammelt  .  .  .  Behauptet  man  aber,  in 
diesem  Zustand  lebe  der  Mensch  nicht  wirklich,  so  erwidern 
wir:  er  lebt  allerdings!  Aber  die  anderen  Menschen  sind  un* 
fähig,  sein  Leben  und  seine  Wohlbeschiedenheit  zu  begreif 

853 


fen."  Das  Unbewußtsein  spannkräftiger,  wirksamer,  gesam* 
melter,  triebreicher  als  das  Bewußtsein;  das  Selbst  tätiger, 
reiner,  lebendiger,  quellender  als  das  Ich;  Unbewußtheitund 
Selbstheit  dem  Ich  und  dem  Bewußtsein  darum  überlegen,  — 
dieses  hier  in  Europa  (wenn  der  Ägypter  Plotinos  überhaupt 
zur  europäischen  Kulturzone  gehört)  wohl  erstmals  ausge* 
drückte  Selbstfühlen  läßt  seinerseit  eine  neue  Erläuterung  des 
Vorganges  der  Selbstopferung  zu:  die  selbstbewußte,  rieh* 
tiger  ichbewußte  Persönlichkeit  bringt  sich  dar,  um  gleichsam 
das  unbewußte  Selbst  zu  stärkerer  Betätigung  anzuregen, 
etwa  wie  der  Satellit  in  eine  selbstleuchtende  Sonne  hinein* 
stürzend  gedacht  wird,  um  ihre  Wärme  und  Leuchtkraft  zu 
mehren.  Denn  jetzt  besteht  ja  Gewißheit,  daß  Vorstellungen 
von  solcher  Art  und  Beschaffenheit  wie :  das  da  bin  Ich, 
der  eben  jetzt  diesen  Gegenstand  betrachtet,  anschaut,  auf* 
faßt,  durchdenkt,  zergliedert,  erinnert,  darstellt,  ausformt, 
gestaltet,  erfindet,  verwirklicht,  hervorruft,  —  daß  sie  die 
Tätigkeit,  die  sie  begleiten,  nicht  nur  nicht  fördern,  sondern 
geradezu  entkräften  und  abschwächen,  vermindern  und 
umdunkeln.  Ungefähr  wie  ein  feinnerviger  Beobachter  das 
Betragen  eines  anderen  leicht  als  geziert,  geschraubt,  un* 
wahr,  gekünstelt  durchschaut,  weil  er  in  seinen  Mienen 
und  Gebärden  die  Absicht  wahrnimmt,  die  verstimmt,  so 
findet  dieser  letzte  hellenistische  Denker  ersten  Ranges  die 
Ursprünglichkeit  verletzt  und  die  Kraft  gebrochen  jeder 
Selbstbetätigung  durch  das  mitschwingende  Bewußtsein: 
jetzt  tu'  ich  das  und  das,  jetzt  nehm'  ich  auf  diesem  Sitze 
Platz,  jetzt  schmacht'  ich  mit  diesem  Augenaufschlag,  jetzt 
erreg'  ich  Staunen  mit  diesem  Einfall,  jetzt  stimm'  ich  An* 
wesende  für  mich  günstig  durch  diese  Liebenswürdigkeit. 
Jenes  berüchtigte  ,Ich  denke,  das  alle  meine  Vorstellungen 
muß  begleiten  können'  Kants,  ihm  widerfährt  an  dieser 
Stelle,  wo  Religion  und  nicht  Philosophie,  wo  Tat  und  nicht 

854 


Erkenntnis  in  Frage  steht,  seine  sehr  entschiedene  Ab* 
Weisung  und  Mißbilligung,  um  nicht  etwas  burschikos  zu 
sagen  seine  Abfuhr.  Bewußtsein  schädigt  das  Selbst,  Be* 
wußtsein  verarmt  das  Selbst,  Bewußtsein  staut  das  Selbst; 
dieser  von  den  alltäglichsten  Erfahrungen  belegte  Sach* 
verhalt,  —  man  denke  zum  Beispiel  nur  an  einen  Zeugung* 
lustigen,  der  während  der  Zeugung  sich  der  Wissenschaft^ 
lieh  bekannten  Schilderungen,  Darstellungen  und  Er* 
klärungen  der  Zeugung  in  mechanischer,  biologischer, 
psychanalytischer,  philosophischer  Hinsicht  bewußt  bleiben 
wollte  oder  sich  die  Vorschriften  der  Hygiene,  der  ars  amandi 
dabei  vergegenwärtigte!  —  dieser  Sachverhalt  also  erlangt 
hier  eine  hohe  Wichtigkeit.  Und  sicherlich  verdient  in 
diesem  Zusammenhang  hervorgehoben  zu  werden,  daß  eine 
religiöse  Praxis  wie  die  gotamidische,  in  jedem  Gebot  auf 
eine  radikale  Ausmerzung  und  Tilgung  des  Selbstes  ge* 
richtet,  ihren  Anhängern  nichts  so  zur  heiligen  Pflicht  macht 
als  eben  die  strengste  Schärfung,  Anstachelung,  Wartung, 
Übung  des  Bewußtseins.  Der  Mönch  Buddhos  „wacht, 
ihr  Lieben,  nach  innen  beim  Körper  über  den  Körper,  un= 
ermüdlich,  klaren  Sinnes,  einsichtig,  nach  Verwindung 
weltlichen  Begehrens  und  Bekümmerns;  nach  innen  beim 
Körper  über  den  Körper  wachend,  wird  er  da  vollkommen 
ausgeglichen,  vollkommen  abgeklärt :  weil  er  da  vollkommen 
ausgeglichen,  vollkommen  abgeklärt  wurde,  kann  er  nach 
außen,  an  anderem  Körper,  weise  den  Blick  bewahren. 
Nach  innen  wacht  er  bei  den  Gefühlen  über  die  Gefühle, 
wacht  beim  Gemüt  über  das  Gemüt,  wacht  bei  den  Er* 
scheinungen  über  die  Erscheinungen,  unermüdlich,  klaren 
Sinnes,  einsichtig,  nach  Verwindung  weltlichen  Begehrens 
und  Bekümmerns:  nach  innen  bei  den  Erscheinungen  über 
die  Erscheinungen  wachend,  wird  er  da  vollkommen  aus* 
geglichen,  vollkommen  abgeklärt:  weil  er  da  vollkommen 

855 


ausgeglichen,  vollkommen  abgeklärt  wurde,  kann  er  nach 
außen,  an  anderen  Erscheinungen,  weise  den  Blick  be* 
währen"  .  .  .  Über  die  tiefere  Absicht  dieser  seelenärzt* 
liehen,  seelsorgerischen  Vorschrift  besteht  kein  Zweifel. 
Gotamo  auferlegt  dem  Asketen  diese  unerhörte  Steigerung 
des  Bewußtseins  genau  aus  demselben  Grunde,  aus  welchem 
im  Gegenteil  Plotinos  die  Minderung  des  Bewußtseins  be* 
fürwortet:  weil  im  Bewußtsein  alle  die  Wunschantriebe  und 
Willensregungen,  alle  die  Freuden*  und  Leidenschaften, 
alle  die  Bewegungen  und  Strebungen,  alle  die  Gefühle  und 
Gewühle  des  Selbstes  gewissermaßen  zu  ihrer  Verbrennung 
gelangen,  gleichnisweis  wie  Docht  und  öl  einer  Lampe  in 
ihrer  Flamme  zur  Verbrennung  gelangen.  Was  zu  Bewußt* 
sein  gebracht  wird,  das  büßt  in  mehr  wie  einer  Bezugnahme 
das  eigentliche  Sein  ein  und  im  Selbstbewußtsein  versengt 
sich  das  Selbst  offenbar  am  sichersten.  Oder  aber  auch: 
im  Bewußtsein  gefriert  der  ungeheure,  unterirdische  Strom 
des  Lebens  zwischen  den  Ufern  von  Ich  und  Nichtich  eisig 
ein  und  wird  sich  selber  eine  Brücke;  —  im  Bewußtsein 
zieht  sich  die  Tiefenerstreckung  der  Seele  gleichsam  zur 
bloßen  Fläche,  Oberfläche  auseinander.  Der  Nur=noch*Be* 
wußte  erlebt  Wirklichkeit,  Selbst  und  Welt  einäugig,  ohne 
von  ihrer  drallen  Körperhaftigkeit  etwas  mehr  zu  ahnen, 
ohne  ihr  Hintenhinum  mit  den  Bewegungen  beider  Augen 
zu  ertasten.  Ja,  indem  er  sich  seiner  selbst  und  aller  Dinge 
vollendet  klar  bewußt  wird,  entlebt  und  entwest  er  sich 
selbst  und  allen  Dingen,  wie  man  das  in  den  buddhistischen 
Liedern  der  Mönche  und  Nonnen  mit  wörtlicher  Genauig* 
keit  ausgedrückt  findet :  „Ist  höchste  Klarheit  erst  erklommen, 
Löscht  aus  dein  Licht  wie  Fackelglut  im  Wasser."  Heraus* 
fordernder  kann  die  abtötende  Leistung  des  Bewußtseins 
in  Ansehung  des  Selbstes  und  seines  unbewußten  Lebens* 
Zustroms  nicht  verkündet  werden.    Das  Bewußtsein,  des 

856 


Bewußtseins  .Zwiesal',  vergessen  wir's  nicht,  istgotamidisch 
der  Ort  der  Leidensentstehung  und  somit  der  Ort  der  Her* 
kunft  von  Alter,  Krankheit,  Tod,  Geburt,  Werden,  An* 
hangen,  Durst,  Gefühl,  Berührung  und  Begriff*Bild :  und 
eben  dieses  Bewußtseins  äußerste  Belastung  und  Befrach* 
tung  kann  innerhalb  dieser  asketischen  Hygiene  und  Diä* 
tetik  nichts  anderes  als  die  Kenterung  des  ganzen  Fahr* 
zeuges  bezwecken,  —  ein  Meer  unbewußten  Willens, 
Strebens,  Wünschens,  Trachtens,  Sehnens,  Haftens,  Hei* 
schens,  Hangens,  Wähnens,  bisher  auf  seiner  Woge  das 
Bewußtsein  wie  ein  Schiff  tragend,  strömt  durch  aufge* 
sperrte  Lucken  solange  ein,  bis  das  Schiff  davon  sackvoll 
gelaufen  ist  und  nun  sinken  muß,  fortab  nicht  Schiff  und 
Fahrzeug  mehr,  sondern  ein  Tropfen  Meer  im  Meere. 
Überfüllung  des  Bewußtseins  muß  Entleerung  des  Unbe* 
wußtseins  herbeiführen:  wie  ein  Schmarotzertier  saugt  Be* 
wußtsein  vielarmig  die  Lebensfülle  seines  Wirtstieres  in 
sich,  bis  dessen  Glieder  darren,  bis  dessen  Eingeweide  ab* 
schwellen,  bis  dessen  Gefäße  vertrocknen,  bis  dessen  Ge* 
webe  faulen  .  .  . 

Einerlei  also,  ob  die  Praxis  der  Religionen  die  Schärfung 
des  Bewußtseins  befürworte  oder  seine  Abstumpfung,  ob 
seine  Spannung  oder  seine  Dämpfung,  —  unter  keinen  Um* 
ständen  verwechselt  sie  das  Ich  mit  dem  Selbst,  die  Person* 
lichkeit  mit  der  Seele,  das  Bewußtsein  mit  dem  Leben.  Wo 
daher  immer  auch  diese  Praxis  dem  Menschen  Selbstverzicht 
und  Selbstverleugnung  ansinne  bis  an  die  Grenzen  hin  der 
Selbstverkümmerung  und  darüber  hinaus:  grundsätzlich 
läßt  sie  ihn  hoffen,  daß  er  sein  Ich  stets  wieder  an  seinem 
Selbst  entzünde  und  mit  dessen  strahlenden  Energien  neu 
lade,  —  vorausgesetzt,  daß  er  nicht  mit  gotamidischem  Be* 
dacht  das  unbewußte  Selbst  durch  übermäßige  Inanspruch* 
nähme  des  Bewußtseins  allmählich  zu  erschöpfen  trachte. 

857 


Mag  darnach  immerhin  der  Mensch  seine  Person  an  diese 
oder  jene  Sache  setzen,  —  es  ist  gleichgültig  an  welche, 
da  jede  Sache  das  Opfer  jedes  Menschen  zu  fordern  berech* 
tigt  sein  kann!  —  stets  wird  er  sich  zu  irgend  einer  Stunde 
auf  höherer  Ebene  wiederfinden,  nicht  trotzdem,  sondern 
weil  er  sich  ohne  Rücksicht  hingegeben  hat.  Bleib'  es  da* 
hingestellt,  ob  höchstes  Glück  des  Erdenkindes  wirklich  die 
Persönlichkeit  sei ;  der  Erdenkinder  höchstes  Heil  besteht 
jedenfalls  in  der  Fähigkeit,  diese  Persönlichkeit  zu  ver* 
lieren,  gleichviel  woran,  voll  kindlichen  Zutrauens  in  die 
wiederherstellenden  Kräfte  des  Selbstes,  die  jenseit  der 
persönlichen  Sphäre  (oder  diesseit  ihrer?)  gerade  durch 
das  Opfer  der  Person  in  fruchtbarste  Mischung  und 
Erschütterung  zu  geraten  scheinen.  Sich  preisgebend  selbst 
vergessen,  das  heißt  sich  selber  sich  zum  Preise  geben. 
Etwas  in  uns  vergißt  unserer  nicht,  am  wenigsten  aber  ver* 
gißt  es  dieses,  daß  wir  uns  selbst  vergessen  konnten.  Wer 
da  vielleicht  an  einem  sonnenheißen  Julitag  ans  einladende 
Gestade  eines  Weihers  oder  Sees  gelangte,  den  versucht  die 
doppelte  Wahl,  sich  entweder  des  klaren  Spiegelbilds  der 
Landschaft,  des  klaren  Spiegelbilds  seiner  selbst  gelassen 
zu  erfreuen,  oder  dem  innigeren  Bedürfnis  nach  Abspülung, 
Säuberung,  Kühlung,  Erfrischung  nachzugeben  und  den 
schimmernden  Spiegel  zu  zersplittern,  indem  er  ihn,  ins 
seichte  Wasser  watend,  mit  seinem  Leib  zerteilt,  oder  ins 
tiefere  Gewässer  schwimmend,  unter  ihn  hinuntertaucht. 
Ähnliche  Wahl  versucht  den  Menschen,  der  entweder  Per* 
son  und  Ich  über  alles  wahren  möchte,  dann  aber  das  Bad 
der  Wiedergeburt  dauernd  entbehren  wird,  —  oder  der  zur 
Verjüngung  seiner  selbst  dies  Ich  daran  setzt,  sein  kostbares 
Spiegelebenbild  zertrümmert  und  sich  unter  seine  Fläche 
tief  hinabbegibt.  Nur  willige  Hingabe  der  Ichgestalt  sichert 
der  Ichgestalt  die  zweite,  dritte,  fünfte,  neunte  Neubeseelung, 

858 


Neuverlebendigung  im  Schoß  allumgestaltender  Unbewußt* 
heit;  allein  das  Opfer  der  Person  gewährt  der  Person  Ver* 
bindung  mit  nicht  personter  Selbstheit  Muttermächte.  Daß 
der  weiße  Strahl  des  Lichtes  unzerlegt  ist,  daß  die  reine 
Tätigkeit  ungestaut  ist,  daß  die  lebendigste  Lebensäußerung 
ungespiegelt  ist,  daß  die  unendliche  Seele  unverendlicht  ist, 
daß  die  stätigste  Bewegung  verborgen  ist,  daß  das  .wahre' 
Selbst  unbewußt  ist:  diese  Erkenntnis  wird  nur  dem  wirk* 
lieh  fruchtbar,  der  das  Mysterium  des  Opfers  der  Person 
begeht.  Bei  ihm  und  ihm  allein  ereignet  sich's  vielleicht,  daß 
das  Opfer  in  seinen  fernen  Wirkungen  sogar  bis  dorthin 
reicht,  wo  sich  das  Einzelselbst  geheimnisvoll  mit  dem 
Gattungselbst  verschwistert.  Wie  etwa  ein  Kind,  das  an 
der  Mutterbrust  genährt  wird,  durch  die  Saugbewegungen 
seiner  Lippen  nicht  nur  die  Milchdrüsen  des  mütterlichen 
Leibes  anreizt,  in  vermehrten  Mengen  den  notwendigen 
Nährstoff  zu  bereiten,  sondern  zu  innerst  im  Schoß  der 
Nährenden  ihre  Gebärmutter  in  zusammenziehende  Be* 
wegungen  versetzt,  —  ähnlich  versetzt  vielleicht  die  Opfer* 
handlung,  beschlossen  im  Bewußtsein  und  vom  Bewußt* 
sein  ausgeführt,  die  fernsten  innersten  Winkel  des  Unbe* 
wußtseins  in  Erschütterungen,  die  auf  das  zarte  Schlaf*  und 
Traumleben  der  ganzen  Gattung  allmählich  übergreifen. 
Lebt  doch  zuletzt  kein  Lebender  allein  für  sich,  allein  mit 
sich,  auch  wenn  er  auf  Robinsons  Eiland  hauste;  bleibt  doch 
der  Kranz  der  Wesen  ewig  dicht  und  fest  geschlossen  nach 
unten  und  oben,  vorn  und  hinten,  innen  und  außen,  rechts 
und  links;  hat  doch  nur  darum  zu  allen  Zeiten  der  Einzelne 
Wunderbarstes  wirken  können,  heißt  das,  nachdem  er 
nicht  unterlassen  hatte,  zunächst  Wunderbarstes  in  sich 
selber  zu  bewirken  .  .  .  Wie  weit  sich  darnach  aber  das  Feld 
der  Tatempfänglichkeit  und  Tatempfindlichkeit  hinein  ins 
Unbewußtsein  ziehe  und  wieweit  es  vollends  durch  stäte 

859 


Übung,  Andacht,  Sammlung  des  Täters  auszudehnen  wäre, 
wie  weit  mithin  jeder  die  Grenzwände  seines  Einzelseins 
und  Eigenseins  nach  innen  hin  gleichsam  wie  mit  Röntgen* 
strahlen  zu  durchstrahlen  vermöchte,  —  wer  unter  Menschen 
erdreistete  sich  endgültiger  Antwort  hierauf!  Hier  schlagen 
fernbebend  vielleicht  Pendel  aus,  deren  Schwingungen 
weder  sieht?  noch  meßbar  sind  und  dennoch  schwingen, 
dennoch  schweben.  Genug,  daß  hier  erlaubt  zu  glauben 
ist,  was  das  Herz  weiß,  und  zu  bekennen,  was  die  Tat  er* 
weist:  daß  nämlich  das  Opfer  der  Person  auch  nur  eines 
Einzigen  und  Einzelnen,  etwa  im  rechten  Augenblick  vom 
Richtigen  vollzogen,  im  Selbst  von  vielen  seinesgleichen 
Wiedergeburten  ohne  Zahl  zum  göttlichen  Ereignis  machen 
könne  .  .  .,  (als  welches  Wort  ich  mir  zur  Tröstung  nieder* 
schreibe  an  diesem  Dreiundzwanzigsten  Juni  Neunzehn* 
hundertundneunzehn,  an  die  Adresse  eines  annoch  unbe* 
kannten  Deutschen,  vor  dem  ich  mich  heut'  schon  in  Ehr= 
erbietung  verneige  .  .  .) 

Klein  ist  nur  mehr  der  Schritt  vom  Opfer  der  Person  zum 
Opfer  des  Lebens,  dem  dritten  und  bittersten  in  diesem 
Mysterium  der  gottlos  Frommen.  Oder  sage  ich  zutreffender 
und  genauer,  der  Schritt  von  einem  zum  anderen  ist  schein* 
bar  zwar  ein  kleiner,  —  in  Wahrheit  aber  unermeßlich  groß. 
Denn  auch  an  dieser  Stelle  trübt  sich  nochmals,  und  zwar 
stärker  wie  vorhin,  der  bisher  wenn  nicht  klare  so  doch  zu 
klärende  Gedanke  der  durch  das  Opfer  herbeigeführten 
Wiedergeburt.  Wer  beispielweis  den  Besitz  darbrachte, 
durfte  begründeter  Erwartung  sein,  das  Selbst  von  aller 
selbstmörderischen  Besessenheit  des  Besitzes  zu  heilen  und 
.seine  Seele  zu  lösen*  nach  einhelliger  Weisung  von  Bud* 
dhisten,  Kynikern,  Kyrenaikem  und  Urchristen.  Wer  dann 
über  den  Besitz  hinaus  seine  Person  darbrachte,  durfte  sich 
froh  der  Hoffnung  freuen,  unausschöpf  liehe  Gestaltungmög* 

860 


lichkeiten  zum  Aufbau  mehr  wie  nur  einer  Ichgestalt  in 
seinem  Innersten  je  und  je  zu  entbinden.  Wer  aber  sein 
Leben  darbringt,  wie  sollte  er  erraten,  welcher  Art  und 
Nam'  die  Wiedergeburt  sei,  die  ihm  nach  diesem  Opfer 
winke?  Und  sogar  abgesehen  von  dieser  Frage  nach  der 
Beschaffenheit  der  Wiedergeburt  aus  dem  Tod  scheint  hier 
schon  der  Vorgang  der  Lebensopferung  an  und  für  sich 
reichlich  fragwürdig,  wenn  wir  von  den  (übrigens  seltenen) 
Fällen  Abstand  nehmen,  wo  einer  das  Leben  wirklich  freien 
Willens,  nicht  im  Gehorsam  gegen  den  dumpfen  Zwang 
von  Herkunft,  Sitte,  Gesetz,  Gewohnheit,  öffentliche  Mei* 
nung  zur  Erhaltung  von  seinesgleichen  in  die  Schanze 
schlägt.  So  daß  an  dieser  dunkeln  Stelle  zwei  Punkte  ins 
Licht  zu  setzen  wären:  einmal  nämlich,  wie  das  Leben  über* 
haupt  geopfert  werden  könne,  da  uns  der  Tod  ja  allen  ohne* 
hin  gewiß  ist  und  niemandem  eigentlich  zur  Wahl  steht;  — 
zum  zweiten  aber,  welche  Hoffnung  aufweiche  Art  Wieder* 
geburt  dem  das  Leben  Opfernden,  gesetzt  es  gäbe  einen 
solchen,  erlaubt  sein  möchte,  da  doch  der  Tod  nach  Ansicht 
Aufgeklärter  die  Aussicht  auf  fernere  Verjüngung,  Läute- 
rung, Erneuerung  der  Person  nunmehr  schlechterdings  ver* 
nichte? 

Wie  also,  fragen  wir  erstens,  kann  das  Leben,  kann  besser 
noch  der  Tod  als  Opferung  des  Lebens  angesehen  werden, 
da  uns  der  Tod  doch  unstreitig  gewiß  ist  und  ihm  schon 
darum  das  Hauptkennzeichen  jeden  echten  Opfers,  die 
Freiwilligkeit,  von  vornherein  gebricht?  Und  dennoch  ist 
dies  nicht  unmöglich.  Dennoch  ist  der  Tod  als  des  Lebens 
Opfer  ohne  listigen  Selbstlug,  Selbstbetrug  als  Opfer  gleich* 
sam  zu  begehen  und  zu  vollbringen,  —  und  keineswegs 
zwar  dieser  oder  jener  Tod,  gewaltsam  zur  Aufopferung 
für  andere  in  der  Schlacht  oder  sonst  an  einer  Walstatt 
blutig  gesucht  und  erduldet,  sondern  ein  jeglicher  Tod  im 

861 


Bett,  auf  der  Straße,  bei  der  Arbeit,  im  Vergnügen,  wie  er 
jedem  gerade  zufällt.  Denn  was  den  Tod  offenbar  zumun* 
freiwilligen  macht  und  ihm  seinen  Opferwert  nimmt,  das 
ist  zuletzt  nicht  seine  Unvermeidlichkeit,  sondern  das  ist 
die  Angst  vor  ihm.  Viel  Notwendiges  ja  wird  vom  Menschen 
durch  Gesinnung  zur  Freiheit  geadelt,  und  so  kann  auch 
der  Tod  durch  Gesinnung  zur  Freiheit  geadelt  werden, 
dort  nämlich,  wo  die  Furcht  vor  ihm  besiegt  wird.  Wer  da 
in  jedem  Zeitteil  des  Todes  sonder  Angst,  Abscheu,  Miß* 
behagen,  Grauen  und  Bedauern  gewärtig  wäre,  der  hätte 
wohl  zu  ihm  ein  schönes  Verhältnis  der  Freiheit  und  Willig* 
keit  gewonnen  .  .  .  Daß  dieses  Verhältnis  einst  menschen* 
möglich  war  und  folglich  wieder  menschenmöglich  sein 
wird,  das  lehren  Beispiele,  die  freilich  im  geschichtlichen 
Christentum  spärlicher  zu  werden  scheinen,  nachdem  es 
diesem  vorbehalten  war,  auf  fratzenhafte  Weise  die  Todes* 
furcht  mit  der  Höllenangst  zu  gatten.  So  konnte  es  in  Ver* 
gessenheit  geraten,  daß  Sterbenkönnen  von  allen  mensch* 
heitlichen  Künsten  bei  weitem  die  schwierigste  sei,  ihrer* 
seit  aufs  engste  doch  mit  der  Kunst  des  Lebenkönnens  ge* 
paart.  In  Wirklichkeit  ist  es  die  hoheitvollste  Aufgabe  dieses 
Lebens,  dem  Tod  auf  würdige  Art  entgegenzuleben,  das 
Leben  tunlichst  in  der  zugestandenen  Spanne  zum  Reifen 
bringend;  —  wenn  die  Spanne  kurz  ist,  in  schnellen  Früh* 
lingen,  Sommern,  Herbsten,  Wintern;  wenn  die  Spanne 
lang  ist,  in  breitarmig  ausladendem  Wachstum.  Denn  selten 
wird  sich  der  rechte  Mensch,  der  im  treuen  Einvernehmen 
mit  sich  selber  lebt,  über  die  ungefähr  ihm  zugemessene 
Dauer  täuschen,  vielmehr  eben  nach  seinem  zukömmlichen 
Zeitmaß  weislich  die  Länge  seiner  Jahrzeiten  bestimmen. 
Dabei  ist  es  schier  unglaublich,  wie  wenig  entscheidende 
Wichtigkeit  der  Zeit  als  solcher  inwohnt  und  wie  der  Ge* 
halt  breiter  Daseinsabschnitte  ohne  Einbuße  an  Wesent* 

862 


lichstem  auf  kurze  Monate,  Wochen,  Tage,  Stunden,  Mi* 
nuten,  ja  Sekunden  zusammengedrängt  werden  kann,  —  ein 
hohes  und  noch  ungenügend  gewürdigtes  Mysterium  an 
und  für  sich,  welches  Gottfried  Keller  in  seiner  Erzählung 
von  Romeo  und  Julia  auf  dem  Dorf  mit  der  ihn  begnadenden 
Diesseitfülle  (die  ihn  soviel,  soviel  gekostet  hat!)  doch  hart 
bis  an  die  Grenzen  gültigster  Jenseitahnung  hingetrieben 
hat.  Ist  dies  die  klassische  Dichtung  und  Erdichtung  von 
der  beschleunigten  Notreife  eines  menschlichen  Paares,  das 
in  einem  Tag  und  in  einer  Nacht  die  Gezeiten  der  Liebe 
alle  durchläuft  und  sich  dadurch  auf  den  gemeinsam  ge* 
suchten  Tod  nicht  unfromm,  nicht  unheilig  vorbereitet, 
so  brauche  ich  an  dieser  Stelle  nur  den  Namen  Otto  Braun 
auszusprechen,  um  auch  diese  Dichtung  noch  unendlich 
durch  die  Wirklichkeit  übertroffen  zu  finden.  Wie  dieser 
Jüngling  in  ganz  wenigen  Jahren  zu  jener  höchsten 
menschlichen  Vollendung  gedieh,  die  schließlich  den  Tod 
ebenso  herausfordern  mußte,  wie  sie  ihrerseit  von  ihm  her* 
ausgefordet  war,  —  das  lebt  heute  schon  fast  als  ein  Mythos 
aller  besseren  Deutschen  und  wird  je  und  je  weiterleben. 
Vielleicht  darf  es  ganz  allgemein  gesagt  werden,  daß  jedes 
richtig  angewandte  Leben  wohl  sein  eigenes  Maß  ausfüllt: 
wenn  es  aber  sein  Maß  ausfüllt,  den  Tod  jeglicher  Schreck* 
nis  entkleidet  und  gewissermaßen  in  Freiheit  erleidet.  Wer 
in  diesem  Sinne  sinnvoll  lebt,  dem  stellt  sich  an  seinem 
Ende  ganz  ungerufen  das  Bewußtsein  ein,  er  sei  nun  eigent* 
lieh  mit  sich  und  seinen  Pflichten  fertig.  Jene  Weihstimmung 
demütiger  Ungeduld  und  Erwartung  eines  anderen  Lebens 
unter  anderen  Bedingungen  beseelt  ihn,  die  uns  die  Tage* 
bücher  des  Lew  Nikolaje witsch  Tolstoi  so  innig  teuer  macht, 
—  obwohl  nicht  er  es  war,  der  das  erhabene  Wort  vom 
.vollbringenden  Tod*  gefunden  hat:  nichtsdestoweniger  er 
aber  die  noch  erhabenere  Tat.  Die  Fähigkeiten  und  Kräfte 

863 


durchlaufener  Ichgestalten  sind  jetzt  fruchtbar  vernutzt  und 
weder  die  guten  noch  die  schlimmen  Menschlichkeiten  sind 
fremd  geblieben.  Wohlan!  Jetzt  gilt  es,  Leib  und  Leben  aus 
freien  Stücken  und  mit  heiterem  Gemüt  als  Einsatz  bevor* 
stehender  Wandlung  darzubieten,  darzubieten  auch  noch 
auf  die  nicht  geringe  Gefahr  hin,  daß  diesem  Einsatz  viel* 
leicht  einst  gar  nichts  entspreche  .  .  . 

Hier,  wo  einer  süß  gegorenen  Menschlichkeit  sogar  der 
Tod  süß  zu  schmecken  anhebt,  hier  irren  wir  allerdings 
schon  mitten  in  jener  anderen  Unbehobenheit  und  Unbe* 
holfenheit  herum,  in  die  sich  uns  vorhin  das  Ereignis  der 
Lebensopferung  verrätselt  hat.  Zwar  ist  es  einigermaßen 
faßbar  worden,  wie  durch  Gesinnung,  Haltung  und  Ver* 
haltung  der  Tod  als  Opfer  beinah'  festlich  und  mehr  noch 
wie  festlich  begangen  und  vollbracht  werden  könne.  Es  ist 
faßbar  worden,  daß  wir  den  Tod  in  freier  Billigung  und 
Zustimmung  als  den  Einsatz  zu  leisten  vermögen,  dessen 
Gewinn  Wiedergeburt  über  alles  irdisch*niedere  Wähnen 
hinaus  wäre.  Aber  gerade  in  Ansehung  dieses  möglichen 
Gewinnes  bleibt  auch  noch  nach  der  Entrichtung  des  Ein* 
satzes  alles  wie  zuvor  im  Dunkel.  Wir  opfern  das  Leben, 
wofern  es  unserer  Freiheit  anheim  steht,  auch  die  herrische 
Begebenheit  des  Sterbens  irgendwie  erwünscht  zu  finden 
und  irgendwann  willkommen  zu  heißen.  Jedoch  das  Ob 
und  Wie,  das  Daß  und  Was  der  Neugeburt  aus  diesem 
Opfer  entzieht  sich  durchweg  unserer  Erlebnis.  Mögen 
wir  uns  immerhin  selbst  dazu  ermutigen,  das  Leben  seiner* 
zeit  wie  eine  rissige  Schlangenhaut  an  der  Straße  abzu* 
streifen:  bei  keiner  Lebzeit  werden  wir  dennoch  inne,  ob 
uns  im  künftigen  die  neue  Haut  auch  wirklich  nachge* 
wachsen  sein  wird  oder  ob  wir  aus  nackten  Poren  nur  hilf* 
los,  heillos  uns  verblutet  haben.  Sogar  den  Fall  gesetzt,  es 
stünde  über  jedem  Zweifel,  daß  dieses  schwerste,   letzte 

864 


Opfer  Einsatz  in  der  doppelten  Bedeutung  dieses  Wortes 
sei  und  höchste  Wiedergeburt  sowohl  einzuleiten  wie  zu 
gewinnen  wisse;  —  und  nur  sehr  zögernd,  aber  unvermeid* 
lieh  wähle  ich  für  diese  Art  Wiedergeburt  die  mißverstand* 
liehe  Bezeichnung  Unsterblichkeit,  nachdem  wir  doch  schon 
früh  auf  den  Altären  der  magna  mater  deum  Idea  jenes  be* 
kanntgegebene  ,in  aeternum  renatus'  als  knappste,  reifste 
Formel  alles  Opferglaubens  lasen!  —  selbst  also  diesen  un< 
bedingt  günstigsten  unter  allen  erdenklichen  Fällen  gesetzt: 
so  hätte  diese  Wiedergeburt  auf  ewig,  diese  Wiedergeburt 
jenseit  von  Tod  und  Leben  trotzdem  nichts  mit  dem  ge* 
meinen  Wahn  vom  unsterblichen  Ich  und  der  unsterblichen 
Persönlichkeit  zu  schaffen.  Denn  dies  dürfen  wir  unter 
keinen  Umständen  hier  vergessen,  daß  diese  Ichgestalt, 
diese  Persönlichkeit  es  ist,  die  ja  ausdrücklich  sich  selbst, 
ausdrücklich  ihr  Dasein  und  Leben  zum  Opfer  darbietet, 
indem  sie  ihre  Todesangst  bezwingt  und  an  deren  statt 
etwas  wie  Todesliebe,  Todesglück  ins  Herz  pflanzt.  Diesen 
härtesten  Sieg  über  die  natürliche  Furcht  der  Kreatur  hieße 
es  zur  leeren  Eulenspiegelei  entwerten,  wollte  man  nach* 
träglich  verbessernd,  nachträglich  schlimmbessernd  das 
Sterben  zum  bloßen  Schein  heruntersetzen.  Nein,  nein! 
Das  Sterben  ,als  ob*  ist  nur  eine  christliche  oder  unchrist* 
liehe  Nichtswürdigkeit,  am  meisten  vom  Standpunkt  des 
Opfernden  selbst  aus,  der  es  mit  seinem  Opfer  heilig  ernst 
meint.  Der  Tod  ist  keine  Posse,  die  sich  der  feile  Komö* 
diant  Leben  selber  vornimmt.  Wer  stirbt,  stirbt  und  lüge 
sich  nicht  vor,  er  sterbe  nicht  —  und  wer  vollends  in  der 
Einsicht,  sein  Leben  und  Ich  sei  ein  vernutztes,  aufge* 
brauchtes  Ding,  sein  Leben  und  sein  Ich  ohne  Wehmut,  ja 
mit  innerlicher  Fröhlichkeit  darbringt:  es  ist  soweit,  es  ist 
soweit!  Dank  Leben  und  Dank  Tod!  Dank  Umbruch  und 
Dank  Erfüllung!  —  wie  wäre  dem  solcherweis  zwar  nicht 

55     Ziegler,  Gestaltwandel  der  Götter  865 


Vollendeten,  wohl  aber  Vollendenden  mit  dem  Altweiber* 
trost  gedient,  er  werde  für  irgendeines  Jenseit  Dauer  sein 
nämlich  abgelebtes,  ausgeschöpftes  Ich  nochmals  von  neuem 
antreten  dürfen,  nunmehr  gegen  früher  hieb-  und  stichfest 
gleich  dem  Leibe  eines  hürnenen  Siegfried,  dem  kein  herz* 
ähnlich  Lindenblatt  das  Mal  der  Todverwundbarkeit  mit* 
leidig  auf  die  Schulter  malte?  Was  sollte  einem,  der  sich 
selbst  schon  so  weit  ausgewirkt  und  veratmet  hat,  als  der 
ihm  anfangs  mitgeteilte  Lebensblust  ausreichen  wollte,  was 
sollten  ihm  die  alte  Ichgestalt,  die  alten  Ichgestalten,  wo* 
möglich  nochmals  sogar  im  alten  Fleisch  erstehend?  War 
er  einst  dieser  oder  jener,  mit  diesen  Eigenschaften,  jenen 
Gaben,  mit  diesen  Mängeln,  jenen  Fertigkeiten,  —  weshalb 
um  Himmelswillen  sollt'  er  noch  einmal  und  nun  gar  für 
immer  dieser  oder  jener  werden,  bleiben?  Wem  je  die 
Nichtverwechselbarkeit  von  Ich  und  Selbst  vedantisch 
offenbar  ward,  wem  eben  an  dieser  Unverwechselbarkeit 
die  bloße  Vorläufigkeit  alles  persönlichen  Daseins  und  So* 
seins  aufgegangen  ist,  dem  wird  von  allen  Übelbotschaften 
die  von  der  Unsterblichkeit  der  Person  die  allerübelste 
dünken,  die  unannehmbarste,  grausamste  und  zermal* 
mendste.  Ewig  geschmiedet  sein  an  die  Galeere  der  Eigen* 
heit,  ewig  sich  nie  entrinnen,  nie  entweichen,  nie  ent* 
wachsen  können:  dieser  satanische  Ungedanke  geht  wahr* 
haftig  über  seine  Kraft.  Nietzsches  unsterblicher  Herr 
Müller,  unsterblicher  Herr  Schmidt,  unsterblicher  Herr 
Schultze,  —  ich  hasse,  ich  verachte  jeden,  der  darin  allein 
die  billige  Bosheit  eines  Witzboldes,  Spötters,  Lästerers  be* 
lächelt,  nicht  aber  den  grimmen  Schrei  des  Schmerzes  und 
Entsetzens  aus  pythischem  Erdspalt  heulen  hört:  aus  jenem 
Erdspalt  nämlich,  dem  diese  Wirrsal  ewig  verzeichneter, 
ewig  krüppelhafter,  ewig  mißbürtiger  Lebensgebilde  wie 
allerlei  glucksender,  gurgelnder,  grunzender  Blasenschaum 

866 


aus  einem  stinkenden  Schlammkrater  entsteigt,  erst  flüssig 
und  heiß,  dann  in  allmählicher  Erkaltung  zur  Kruste  ver* 
festigt  und  versteint  .  .  .  Der  unsterbliche  Herr  Müller, 
der  unsterbliche  Herr  Schmidt,  der  unsterbliche  Herr 
Schultze,  —  unendlicher  Heerwurm  widrig  wimmelnden 
Gekribbeis  auf  allen  Tag*  und  Nachtgestirnen,  unendlicher 
Tausendfuß  freßzangenbeißenden  und  ^kneifenden  Ge* 
schmeißes:  emporgehaucht  aus  dem  Lebensabgrund  gott* 
lob  nur  für  die  Blitzschnelle,  Blitzhelle  eines  Augenblicks, 
und  schon  als  Ausgeburt  ruchloser  Daseinsgier  im  klingen* 
den  Nichts  wieder  spurlos  verschwunden  .  .  . 

Wenn  überhaupt,  ist  also  diese  Unsterblichkeit  nicht  das 
Ergebnis  dieses  Opfers,  denn  wer  sein  Leben  zum  Einsatz 
gibt,  dem  kann  vernünftigerweis  das  bloße  Fortleben  kein 
Gewinn  bedeuten.  Nicht  dem  Fortleben  von  Person  und 
Ich  strebt  ein  solcher  ,Selbstopferer'  zu,  sondern  gewisser* 
maßen  dem  Leben  eines  anderen,  den  er  »geistiger  Art' 
durch  Handlung,  Werk,  Tat,  Gesinnung,  Übung,  Über* 
Windung  über  sich  hinauszeugt,  —  nicht  unähnlich  den 
Mönchen  und  Nonnen  Buddhos,  die  er  seine  ,aus  dem 
Mund  gezeugten'  Söhne  und  Töchter  mit  Vorliebe 
nannte.  Aus  dem  Mund  gezeugt,  aus  dem  Wort  ge* 
zeugt,  aus  der  Einsicht  gezeugt,  aus  dem  Willen  gezeugt, 
aus  dem  Beispiel  gezeugt,  aus  dem  Selbst  gezeugt,  aus  dem 
Opfer  gezeugt  wäre  jene  neue  Entstehung,  die  hier  unsere 
Person  unter  unbekannten  Bedingungen  und  Umständen 
ablöste,  gleichwie  ein  Posten  den  anderen,  eine  Pflegerin 
die  andere  in  der  Wache  ablöst.  Mit  dem  einschneidenden 
Unterschied  freilich,  daß  der  nächste  Posten,  die  nächste 
Pflegerin  in  ihrem  Wesen  und  Verhalten  jeweils  durch* 
gehend  bestimmt  wären  durch  unser  eigen  Wesen  und  Ver* 
halten.  Welche  Elemente  oder  welche  Verbindungen  von 
Elementen  dabei  innerhalb  der  unerforschlichen  Natur  des 

55*  867 


Selbstes  als  Träger  fortpflanzenden  Geschehens  erhalten 
bleiben  und  welche  vergehen,  welche  verwesen  und  welche 
bestehen,  welche  dauern  und  welche  absterben:  dies  frei* 
lieh  wird  sich  unserer  Erkenntnis  nie  erschließen,  trotz  alles 
ungeheuerlichen  Denkaufgebotes  indischer  und  europäi* 
scher  Scholastik.  Denn  schon  wo  wir  von  Elementen,  von 
Trägern  oder  Bestandteilen  fortpflanzenden  Geschehens 
reden,  reden  wir  vom  Selbst  nur  in  sehr  rohen,  groben 
Gleichnissen.  Nie  werden  wir  erkenntnismäßig  fest* 
stellen,  wer  oder  was  in  uns  vergänglich,  wer  oder 
was  in  uns  unvergänglich  ist,  und  am  wenigsten  werden 
wir  erfassen,  auf  welche  Weise  Vergängliches  zur  Un* 
Vergänglichkeit  erhoben  und  bestimmt  wird:  ob  uns 
auch  eines  ausgemacht  erscheint,  daß  es  die  Wechsel* 
gestalt  bewußter  Ichheit  nicht  sein  könne.  Ein  schwängern* 
der  Sämling,  schwängernder  Keimling  unbekanntester  Be* 
schaffenheit  pflanzt  also  das  zarte  Reis  der  Unsterblichkeit 
in  eine  ferne  fremde  Erde,  und  wie  andere  Pflanzensamen 
bedarf  er  dabei  einer  Übertragung  durch  allerhand  Mittler* 
kräfte  des  Windes,  des  Wassers  oder  wandernder  Tiere, 
wenn  er  keimfähig  drüben  anlangen  soll;  bedarf  folglich 
einer  Übertragung  durch  Mittlerkräfte,  die  nach  dem  bis* 
herigen  nur  Opfer  des  Lebens,  nur  Todesüberwindung 
heißen  können.  Im  Verfolg  ähnlicher  Vorstellungen  ist  es 
somit  erlaubt,  auf  eine  Wiedergeburt  auch  aus  diesem 
bittersten  Opfer  zu  raten,  nur  eben  nicht  mehr  auf  eine 
Wiedergeburt  dieser  nämlichen  Persönlichkeit  mit  ihrem 
Zubehör  an  einzelmenschlichen  und  einzelwesentlichen 
Eigenheiten.  Am  wenigsten  aber  dürfte  man  raten  auf  eine 
Neugeburt  ohne  vorausgegangene  Opfertat,  auf  eine  Un* 
Sterblichkeit,  die  wie  die  christliche  von  ungefähr  jedem 
Lebenden  eingeboren,  wenn  auch  vielleicht  nicht  angeboren 
ist.    Denn  dieser  christunsterbliche  Herr  Müller,    christ* 

868 


unsterbliche  Herr  Schmidt,  christunsterbliche  Herr  Schultze 
entspringt  nur  einem  dummen  Mißbrauch  Unsterblichkeit* 
bewirkender  Vornahmen  antiker  Religionen,  welche  die 
Unsterblichkeit  jeweils  als  eine  Errungenschaft  betrachten, 
abhängig  von  der  Aufnahme  etwa  in  den  geheimen  Orden, 
in  die  geheime  Bruderschaft,  und  in  dieser  Rücksicht  durch* 
aus  erst  zu  erwerben.  Unsterblichkeit,  das  war  für  die  un* 
befangene  Auffassung  jedenfalls  eine  Auszeichnung,  —  das 
war  die  höchste,  seltenste,  erlesenste,  göttlichste  Auszeich* 
nung  überhaupt.  Gewiß  haben  sich  die  des  .Apathanatis* 
mos'  beflissenen  Mysterien  der  Antike  in  den  Formen  dieses 
Ausgezeichnetwerdens,  in  den  Formeln  und  Bedingungen 
dieses  Erwähltseins  stark  vergriffen.  Aber  in  der  Tatsache, 
auf  die  es  ankommt,  waren  sie  der  Wahrheit  um  vieles 
näher  als  das  Christentum.  Solang  auch  die  Christen  nur 
eine  Geheimgenossenschaft  unter  anderen  Geheimgenossen* 
Schäften  bildeten,  konnten  sie  gar  nicht  daran  denken,  Un* 
Sterblichkeit  ohne  jeden  Unterschied  und  ohne  Ansehen 
der  Person  als  eine  Grundeigenschaft  der  Menschenseele 
zu  verramschen.  Erst  die  unerwartet  große  Verbreitung 
des  Christentums,  erst  seine  Ausgestaltung  zur  Kirche  des 
Abendlandes  brachte  es  mit  sich,  daß  der  den  Erwählten 
vorbehaltene  Ertrag  des  Glaubens,  Wandels  und  der  Werke 
jedem  Mitglied  der  Kirche  fortab  ohne  weiteres  zugut 
kommen  konnte;  —  womit  aber  jedenfalls  die  ursprüngliche 
Absicht  aller  Unsterblichkeitbräuche  des  Altertums  in  ihr 
Gegenteil  umgefälscht  war.  Statt  erworbene  Unsterblich* 
keit  als  Preis  religiöser  Willensanspannung,  religiöser  Tat* 
bereitschaft,  religiöser  Selbstzusammenraffung  verdienen  zu 
lehren,  verschleuderte  die  Kirche  urteilslos  das  kaiserliche 
Gut  an  jedermann,  höchstens  verschieden  abgestuft  durch 
kindlich*kindische  Ausmalungen  der  Hölle  und  des  Feg* 
feuers  für  Seelen  verschiedener  Seelenwertigkeit.   Im  ganzen 

869 


und  großen  war  die  Seele  unsterblich,  war  die  Persönlichkeit 
unsterblich,  war  der  Mensch  unsterblich,  auch  wenn  er  zeit 
eines  verlorenen  Lebens  nie  an  die  Aufgabe  rührte,  Mensch, 
Seele,  Persönlichkeit  zu  werden  und  als  ein  Werdender  zu 
sein.  Diese  angeborene  oder  vielmehr  eingeborene  Un* 
Sterblichkeit  ist  künftig  mit  Härte  und  Ausschließlichkeit 
als  eine  religiöse  Zuchtlosigkeit  ohnegleichen  zu  bekämpfen : 
nicht  mit  Beweisgründen  des  Verstandes  und  der  Vernunft, 
denen  es  leicht  dünkt,  Unsterblichkeit  überhaupt  als  einen 
Ungedanken  kritisch  zu  zerpflücken,  sondern  mit  der  reli* 
giös  allein  zu  rechtfertigenden  »erworbenen*  Unsterblich* 
keit,  die  bei  den  antiken  Völkern  einwandfreies  Ziel  war, 
wenn  auch  verwirklicht  mit  verkehrten  oder  unzulänglichen 
Mitteln.  Heut'  gilt  es  bis  in  jede  abenteuerliche,  anstößige 
Folgerung  hinein,  ungerührt  vom  Zorngeschnaub  der 
schnöden  Menge,  dies  als  edle  Wahrheit  wieder  zu  ver* 
treten,  daß  Unsterblichkeit  ewig  erschaffen  werde  durch 
die  religiöse  Tat,  insonderheit  Tat  des  reinsten  Opfers  und 
der  innigsten  Messe :  daß  es  infolgedessen  bei  der  Willkür 
eines  jeden  liege,  das  Einmal*  und  Nimmermehr  seines 
jetzigen  Daseins  sowohl  leichtsinnig  an  tausend  Wirklich* 
keiten  zu  verschwenden,  als  es  treulich  in  einen  Knoten  so 
künstlich,  eng  und  vielfältig  zu  schürzen,  daß  ihn  sogar  des 
Todes  kundige  Löserhand  nicht  völlig  lösen  könnte.  Werde 
es  jedem  daher  zur  Gewißheit,  daß  er  mit  seinem  Tun  und 
Lassen  Gewebe  wundersamer  Welten  knüpfe,  Gewebe 
wundersamer  Welten  aufdrösle.  Und  wie  das  eine  Weib 
fruchtbar  und  trachtsam  ist  und  mit  vieler  Leichtigkeit 
empfängt  und  gebäret,  und  das  andere  Weib  jedoch 
tauben  Schoßes  all'  ihre  Nachkommenschaft  ungeboren 
mit  ihrem  eigenen  Leib  begräbt,  so  wird  der  eine  den 
Fortsetzer,  Nachfolger,  Höherbildner  seiner  selbst  aus 
seinem  Opfer  bilden,  der  andere  hingegen  einsam  in  sich 

870 


selbst  vergluten.  Nicht  über  sich  hinausgezeugt  zu  haben 
geistig,  das  eben  heißt,  sich  des  Todes  sterben,  das  eben 
heißt,  sich  des  Lebensopfers  weigern;  wer  aber  über  sich 
hinauszeugt,  hat  durch  das  Opfer  auch  den  Tod  in  sich 
überwunden.  Die  mittelalterlich  Frommen  aber,  die  das 
Kind  anbeteten,  mögen  sich  auf  ihre  Weise  vielleicht  dieses 
Sachverhalts  bewußt  gewesen  sein.  Denn  dort,  wo  gerade 
die  höchste  Ohnmacht  (der  Tod)  dem  Menschen  zur  hoch* 
sten  Macht  (zum  .ewigen  Leben')  gereichen  soll,  dort  ge* 
schieht  es  auch,  daß  der  Göttliche  gleichsam  des  Kindleins 
von  sich  geneset  .  .  . 

In  anderen  Erfahrungen  und  sonstigen  Forschungen  nach 
Bürgschaften  für  dieses  Mysterium  zu  suchen,  würde  ich 
für  zwecklos  und  töricht  halten,  nachdem  wir  hier  die  Brei* 
ten  gedankenhafter  Verständigungen  und  Erklärungen  so 
manche  Siebenmeile  schon  hinter  uns  gelassen  haben.  Und 
dies  ist  gleichzeitig  der  Punkt,  wo  ich  jede  Mystagogie  und 
jeden  Okkultismus,  jede  Theognosie  und  Anthroposophie 
als  eine  Art  Erbschleicherei  verwerfe,  —  nicht  trotz,  son* 
dem  weil  vielleicht  manche  der  hier  geäußerten  Ahnungen 
dort  scheinbar  bestätigt  und  scheinbar  befestigt  werden. 
Denn  was  alleinig  der  Tat  ist,  soll  der  Tat  bleiben  und 
nicht  verstohlen  zu  einer  Erkenntnis  umgemünzt  werden. 
Dabei  braucht  es  nicht  geleugnet  zu  werden,  daß  es  begriff* 
liehe  Ausdrücke  gibt,  die  der  Tat  und  ihrem  unveräußer* 
liehen  Mysterium  mehr  oder  weniger  entsprechen  können, 
—  weniger  zum  Beispiel  die  Lehre  von  der  Metempsychosis 
oder  Umseelung  aller  Seelen  in  stets  neu  erwirkter  Dies* 
seitgestalt:  mehr  dagegen  zum  Beispiel  die  Lehre  von  der 
Palingenesis  oder  Wiedererstehung  in  unbekannten  Welten 
nach  unbekannten  Regeln  und  in  unbekannten  Ausfor* 
mungen.  Es  ist  an  uns,  hier  streng  die  Grenzen  nicht  nur 
unserer,  sondern  jeder  Erkenntnis,  ja  der  Erkenntnis  über* 

871 


haupt  zu  achten  und  rechtzeitig  einzuhalten.  Es  ist  an  uns, 
der  nahgelegenen  Versuchung  Widerstand  zu  leisten,  nun* 
mehr  die  zahlreichen  Fassungen  des  Unsterblichkeitgedan* 
kens  um  eine  eigene  zu  vermehren,  dieweil  uns  am  Un* 
sterblichkeitgedanken  nichts,  an  der  Unsterblickeit  jedoch 
alles  gelegen  ist.  Genug,  daß  diese  Tat  selbstherrlich, 
selbstgenugsam,  selbstgesetzgeberisch  für  sich  selber  bürgt, 
indem  sie  mit  der  Schwerkraft  ihrer  Masse  wie  ein  Stern 
den  Aschenstaub  zahlloser  ätherischer  Körperchen  aus 
fernsten  Gegenden  an  sich  heranzieht,  saturnisch  geballt 
zum  Ring  oder  Doppelring  um  sich  drehen  und  schweben 
heißt:  um  endlich  eines  Tages,  den  Ring  wie  eine  Wurf* 
scheibe  von  sich  schleudernd,  ihn  als  ihr  Umfolger  und 
Nachfolger  verjüngten  Maßes  und  verjüngter  Erscheinung 
den  Himmeln  zuzuführen. 

Weit  fortgeschritten  in  eigener  Vergöttlichung  wäre 
schon  ein  solcher,  dem  das  dreifache  Opfer  nicht  über 
Willen  und  Vermögen  ginge.  Ein  Thronerbe  entthronter 
Götter,  gestaltete  er  auf  sehr  menschliche  Weise  Göttliches, 
bis  über  alle  Einwände  und  Wände  bloßer  Verständlichkeit 
hinaus.  Da  hat  einstens  der  Gott  dem  schuldverhafteten 
Menschen  Sühne  erwirkt,  bis  der  schuldverhaftete  Mensch 
gottherrlich  sich  selbst  entsühnen  lernte:  will  sagen,  bis 
Apollon  Phoibos  vor  dem  Gestühl  des  Areiopagos  spurlos 
verschwand  und  Orestes  sich  irdischem  Seelengericht  anzu* 
befehlen  so  unterwand  wie  überwand.  Da  hat  einstmals 
der  Gott  sich  selber  seiner  Neugeburt  zum  Opfer  darge* 
bracht,  bis  nachahmend  der  Mensch  in  seinem  wachen 
Selbst  Opfer  und  Wiedergeburt  vollbringen  lernte:  will 
sagen,  bis  Messe  und  Wandlung  der  sichtbaren  Kirche  in 
jedem  hochgemuten,  frommen  Herzen  unsichtbar  gefeiert 
wurde.  Nur  eines  schien  der  alte  Gott  dem  Menschensohn 

872 


und  werben  vorenthalten  zu  haben,  die  Tat  der  Schöpfung 
und  Erlösung  nämlich,  die  er  als  letztes  Machtgebiet  noch 
eine  kleine  Weile  für  sich  selbst  behielt.  Aber  zuletzt  mußte 
sich  auch  dieses  Mysterium  dem  Nachfolger  Gottes  auf* 
dringen,  das  merkwürdigerweise  von  der  Vergangenheit 
nicht  als  die  gleiche  doppelte  Verrungenheit  wie  Schuld 
und  Sühne,  Opfer  und  Wiedergeburt  begriffen  ward,  son* 
dem  das  man  fast  ohne  Ausnahme  buddhistisch*gnostisch* 
johanneisch  als  Zwietat  zweier  Gegengötter  gewähnt  und 
ge  wertet  findet.  In  Wahrheit  hat  insbesondere  das  Christen* 
tum  gemäß  seiner  Herkunft  zur  Schöpfung  Nein  und  zur 
Erlösung  Ja  gesprochen,  den  Schöpfergott  derart  (es  sei  ab* 
sichtlich  oder  unwillkürlich)  zu  Gunsten  des  Erlösergottes 
unterdrückend,  nicht  selten  ihn  sogar  gelegentlich  in  einen 
gegenstandlosen  Schemen  verflüchtigend.    Unabänderlich 
schien  der  Schöpfer  der  Gegengott  des  Erlösers  sein  zu 
müssen,  und  unter  den  vielen  vereinheitlichenden  Leistungen 
der  Kirche  geht  diese  eine  schier  ins  Märchenhafte,  daß  ihr 
sowohl  Gottvater  wie  Gottsohn,  sowohl  Jahve  wie  Christus, 
sowohl  roter  Leu  wie  Lilie  im  Tiegel  ihrer  unausdenklichen 
Alchymie  ineinanderzuschmelzen  gelang,  —  wenigstens  so* 
weit  gelang,  daß  ihre  tritheistische  Theologie  bei  uns  für 
Jahrhunderte  die  maßgebliche  werden  konnte.   Wir  Gott* 
losen  jedoch  der  neuen  Zeit,  die  wir  uns  vielleicht  nicht 
unzutreffend  umgekehrt  wie  die  Mormonen  die  , Unheiligen 
der  letzten  Tage'  nennen  dürften,  —  wir  haben,  nachdem 
wir  den  Schöpfergott  durchs  Schöpferselbst  verdrängten 
und    den    Erlösergott    durchs    Erlöserselbst,    an    unserer 
eigenen  Seele  als  Wahrheit  zu  erhärten,  daß  Schöpfung 
zu  wesentlichst   Erlösung   und  Erlösung  zu   wesentlichst 
Schöpfung  sei.     Uns  liegt  es   auf,    jahrtausendlang  ver* 
heimlichte  Zerklüftung  in  den  Religionen  des  Christen* 
tums  durch  Religion  zu  überbrücken,  uns  selber  aufrichtend 

873 


als  die  zwei  Pfeiler,  die  den  Schwung  des  versöhnenden 
Bogens  tragen  dürfen.  Was  also,  fragen  wir,  ist  Schöpfung, 
was  ist  Erlösung?  Was  ist  die  eine,  ist  die  andere,  wenn 
wir  die  überholten,  ausgehöhlten  Herausstellungen  derDog= 
men  und  Theologien  wieder  einmal  schlicht  und  treu  in  uns 
zurücknehmen,  uns  als  die  Stifter  aller  Theologien  und  aller 
Dogmen  auch  zu  ihrem  Widerruf  befugt  wissend?  Was  ist 
Schöpfung  dort,  wo  kein  Gott,  vielmehr  nur  ein  Selbst  als 
Schöpfer  sich  betätigt,  —  was  ist  Erlösung  dort,  wo  kein 
Gott,  sondern  allein  ein  Selbst  Erlöserwerke  übt? 

Dabei  hätten  wir  einmal  noch,  ehe  wir  uns  völlig  der 
Neuheit  dieses  Mysteriums  widmen,  an  die  Religionen  und 
ihre  alten  Götter  zurückzudenken,  die  uns  bisher  die  Mittler, 
die  Erschließer  und  die  Schlüssel  zur  Religion  geworden 
sind.  Wo  sie  von  Schöpfung  uns  berichteten,  von  Schöp* 
fung  aus  dem  Nichts  oder  auch  nur  von  Ordnung  aus  dem 
Urgemisch,  so  geschah  bei  ihnen  beides  durch  das  Wort. 
Auf  irgendeine  Weise  war  der  Schöpfer  selbst  das  Wort 
und  Wurzelwort  der  Dinge;  auf  irgendeine  Weise  galt 
Schöpfen  für  Sprechen,  galt  Beleben  für  Sprechen,  galt  Er* 
schaffen  für  Sprechen.  Das  Wort  war  vor  der  Tat  und  hing 
hoch  über  ihr  wie  die  Wolke  über  ihrem  Blitz;  das  Wort 
war  Tat  und  Urtat  schlechthin,  der  alle  einzelnen  Tätig* 
keiten  und  Betätigungen  entsprangen,  —  und  nur  abend* 
ländische  Kurzsinnigkeit  und  Kurzstirnigkeit  konnte  das 
Richtige  dieser  Auffassung  mißkennen.  Denn  in  Wahrheit 
geschieht  alles,  was  Schöpfung  ist  und  einer  Schöpfung 
gleicht,  durchs  Wort,  durch  ein  einziges  Wort  als  Wort 
aller  Worte:  durch  das  Ja!  —  (und  wer  weiß,  am  Ende 
dürfte  man  hier  in  einer  anderen  als  herkömmlichen  Bedeu* 
tung  sogar  wieder  eine  Schöpfung  aus  dem  Nichts  anneh* 
men)  .  .  .  Entstehen  doch  Dinge,  Gegenstände,  Wirklich* 
keiten,  Welten  nur  eben  dort,  wo  jemand,  ein  Geist,  ein 

874 


Ich,  ein  Selbst,  ein  Wille   sie  bejaht  und  durch  Bejahung 
setzt:  was  jemand  nicht  bejahend  nicht  setzt,  das  ist  im 
Grunde  (für  diesen  jemand  wenigstens)  auch  gar  nicht  da. 
Ja  zu  den  Wirklichkeiten   sagen   und  die  Wirklichkeiten 
erschaffen,  ist  mithin  ein  und  der  nämliche  Vorgang,  und 
die  Schöpfung  des  Schöpferselbstes  wird  nur  insoweit  Er* 
eignis,  als  sich  das  Schöpferselbst  dies  Ja  entringt  und  ab* 
zwingt.   Weder  mehr  noch  weniger  heischt  dies  Mysterium 
vom  Einzelnen,  —  nichts  anderes  fürwahr,  als  daß  er  die 
ganze  Welt  in  ihrer  lückenlosen  Gesamtheit  und  Beschaffen* 
heit  durch  sein  zubilligendes,  zustimmendes  Ja  bekräftige 
und  damit  erst  ins  Dasein  hebe,  das  für  ihn  da  ist.  Wohl 
kaum  eine  schwierige,  weniger  noch  eine  unmögliche  Sache, 
denkt  mancher  da  bei  sich,  und  —  nichts  einfacher  als  das? 
Nicht  schwieriger  und  nicht  unmöglicher  in  der  Tat,  mein 
Freund,  als  mit  weißglühenden  Stählen  Fangball  zu  spielen, 
ohne  sich  das  Fleisch  der  Hände  bis  auf  die  Knochen  zu 
verbrennen;  oder  als  sich  mit  den  Drähten  einer  Hoch* 
spannungleitung  einen  Stallzaun  zu  flechten,  ohne  bei  der 
ersten  Berührung  des  Drahtes  als  galvanische  Leiche  schauer* 
lieh  zu  zappeln ;  oder  als  sich  in  einem  Kessel  siedenden  Teers 
das  Gesicht  zu  waschen,  ohne  sich  auf  der  Stelle  schwarz 
und  tot  zu  verbrühen  .  .  .  Denn  daß  wir's  nicht  vergessen: 
der  Mensch  sagt  Nein,  Nein,  Nein  schon  von  Natur  zu  fast 
allen  Dingen,  Nein  fast  zu  allen  Wesen  und  Geschaffen* 
heiten,  Nein  fast  zu  allen  Vorkommnissen  und  Erschütte* 
rungen,  Nein  fast  zu  allen  Änderungen  und  Dauerhaftig* 
keiten.   Er  sagt  Nein  von  vornherein  zu  allem,  was  seine 
Aufmerksamkeit  nicht  auf  sich  zieht,  und  das  ist  leider  nur 
wenig  weniger  als  alles,  was  nicht  seine  Gier  aufregt.  — 
schier  alles  gemeinhin,  was  er  nicht  essen  oder  trinken  kann, 
womit  er  sich  nicht  gatten  kann  und  was  er  als  Tauschbares 
nicht  gegen  Eßbares,  Trinkbares  oder  Gattliches  eintauschen 

875 


kann.  Wie  eine  Schildkröte  stumpfsinnig  und  hart  um* 
panzert,  blinzelt  der  Mensch  blöden  Auges  in  den  Tag, 
trag,  gleichgültig,  stumpfsinnig  und  hart  umpanzert,  auch 
wenn  er  in  scheinbar  nicht  zu  überbietender  Betriebsamkeit 
dem  Erwerb  seiner  überflüssigen  Unentbehrlichkeiten 
amerikanisch  toll  nachhastet  ...  Er  bringt  es  fertig,  ein 
stücker  sechzig,  siebenzig  Jahre  seines  sogenannten  Men* 
schenlebens  dumpf  dahin  zu  fristen,  ohne  etwa  ein  einzig 
mal  hinauf  zu  der  goldenen  Sand*  und  Eieruhr  des  Orion 
geblickt  zu  haben  und  ohne  den  Sirius,  Aldebaran,  Fomal* 
haut,  Beteigeuze  einen  Blick  zu  gönnen.  Nicht  schieren 
ihn  Sternbilder  und  Gestirne,  Weltlinsen  und  Milchstraßen; 
nicht  schieren  ihn  die  Mondauf*  und  *untergänge,  die  hellen 
und  die  dunkeln  Nächte,  die  Glanzabende  und  Taumorgen : 
und  wer  wollte  es  ausrechnen,  was  ihm  in  dieser  Hinsicht 
nicht  alles  Sirius,  Aldebaran,  Orion  und  Beteigeuze  istl  Ob* 
wohl  seine  Sinneswerkzeuge  vollkommen  ausgebildet  sind, 
um  ihm  zuverlässige  Kunde  zuzutragen  aus  allen  Schich* 
tungen  und  Richtungen  her  des  All,  legt  er  seine  Gleich* 
gültigkeit  auf  die  Schwelle  des  Bewußtseins  wie  einen 
bissigen  Hund,  der  niemanden  und  nichts  einläßt,  was  nicht 
seine  hündischen  Instinkte  überredet,  überlistet,  über* 
schmeichelt.  So  klingt  und  rinnt  das  Licht  des  Äthers  ihm 
zu  einem  schmalen  Strahl,  den  er  sich  im  Prisma  geizig  fängt; 
so  dröhnt  und  donnert  der  Schwall  der  Ozeane  ihm  in  einer 
kleinen  Muschel,  die  er  sich  abwechselnd  ans  rechte  oder 
linke  Ohr  hält;  so  duftet  und  schwillt  der  Wohlgeruch  der 
Flieder*,  Jasmin=,  Rosenbüsche  ihm  nur  aus  einem  Tropf  lein 
balsamischen  Öles,  das  er  sich  auf  das  Taschentuch  sprengt . . . 
Nur  beileib  nicht  berührt,  beileib  nicht  betroffen,  beileib 
nicht  bewegt  werden  vom  Sturmwind  rauher  Wirklichkeiten. 
Nur  ja  den  heißen  Überschwang  des  Lebens  so  abkühlen, 
unterkühlen,  daß  es  beim  ersten  schwächsten  Anstoß  zu 

876 


harmlos  kühlem  Eis  erstarrt.    Nur  alles  Übermaß  der  Dinge 
herabsetzen  auf  ihr  armsäligstes,  lächerlichstes  Mindestmaß, 
nach  der  sattsam  bekannten  Regel:  zwar  alles  ist,  aber  du 
tu  nur  so,  als  ob  es   nicht  wäre.    Wie  etwa  ein  vormals 
wohlgegliedertes  Schmarotzertier  allmählich  seinen  Körper 
rückwärts  bildet  zu  einem  bloßen  Darmschlauch  mit  ein 
paar  Widerhaken  oder  Zangen  zum  Festsitzen  und  Fest* 
saugen,  sonst  aber  alle  Organe  mit  der  Zeit  eingehen  läßt, 
so  bildet  in  der  beklagenswerten  Mehrzahl  der  Fälle  der 
Mensch  sein  reicheres  Selbst  zurück  zum  ungestalten  Stumpf 
und  Stumpen,  —  nur  um  das  Schöpferja  nicht  sprechen  zu 
müssen;  nur  um  Lebendiges,  welches  da  ist  und  da  sein 
möchte,  zum  Nichtsein  verdammen  zu  können;  nur  um  un* 
göttlich  das  ungöttlichste  Gelüst  zu  büßen :  du  sollst,  du 
willst  Lebendiges  töten  .  .  .,  wenn  anders  töten  im  Wortver* 
stand  der  Religion  alles  ist,  was  nicht  lebendig  macht  und 
nicht  aufschließt,  was  nicht  betreut  und  nicht  willkommen 
heißt,  was  nicht  billigt  und  nicht  anerkennt,  was  nicht  ge* 
währen  läßt  und  nicht  fördert,  was  nicht  aufnimmt  und 
nicht  empfängt,  was  nicht  hegt  und  nicht  pfleglich  behan* 
delt,  was  nicht  Gastfreundschaft  übt  und  nicht  zur  Wach* 
heit  auferweckt.  Denn  „Wachsein  ist  Leben.    Nie  hab'  ich 
einen  Menschen  angetroffen,  der  ganz  wach  gewesen  wäre. 
Wie  hätte  ich  ihm  ins  Angesicht  blicken  können!"  —  sagt 
der  sehr  wachsame  und  weise  Henry  David  Thoreau,  dieser 
amerikanische  Hieronymus   im  Gehäus,  Hieronymus   im 
Freien  innigst.    Und  nie  noch,  möchte  ich  an  seiner  Stelle 
weiter  fahren,  haben  wir  einen  Menschen  angetroffen,  der 
alle  und  alles  in  sich  geweckt  und  wachgerufen  hätte.  Wenn 
nämlich  Wachsein  Leben  heißt,    dann   heißt    Wachrufen 
Schaffen,  Schöpfen  und  Beleben.    Ach,  daß  wir  wacher 
wären,  um  endlich  nur  Wachrufer  und  Aufwecker,  All* 
schöpfer  und  Allerschaffer  zu  seinl 

877 


Schlägt  somit,  wie  gesagt,  das  Fallbeil  menschlicher  Un* 
aufmerksamkeit  und  Unaufgewecktheit  zahllosem  Dasein 
gleichsam  den  Kopf  ab,  wo  sorgfältigste  Verlebendigung 
uns  eigentlich  obläge,  so  wütet  freilich  unvergleichbar 
schlimmer  und  verhängnisvoller  unsere  Unlust  an  den 
Wirklichkeiten  und  Begebenheiten.  Das  Nein  der  Unauf* 
merksamkeit  ist  gewissermaßen  nur  ein  passives  Nein,  aber 
das  Nein  der  Unlust  ist  höchst  aktiver  Art.  Das  erste  will 
uns  nur  nicht  gewahren  machen,  was  allenthalben  ist  und 
weset;  das  letzte  hingegen  will  ungeschehen  machen,  was 
es  als  seiend  und  als  wesend  schon  erfahren  hat.  Das  erste 
unterläßt  ganz  einfach  die  Setzung  von  Dingen,  die  auch 
ohne  diese  Setzung  schließlich  irgendwie  vorhanden  sind; 
das  letzte  verwahrt  sich  und  wehrt  sich  ausdrücklich  gegen 
Erscheinungen,  deren  mittelbare  oder  unmittelbare  Auf* 
hebung  es  sich  angelegen  sein  läßt.  Das  Nein  der  Unter* 
lassung  ist  darnach  nur  eine  Nicht*Schöpfung,  das  Nein 
der  Aufhebung  aber  ist  eine  Gegen=Schöpfung.  Wer  fünf* 
zig  Jahre  verabsäumt  hat,  nach  Maßgabe  religiös  vertiefter, 
religiös  erweiterter,  religiös  geübter  Aufnahmefähigkeit 
die  Wirklichkeiten  in  seiner  Seele  zu  ihrem  zweiten  und 
höheren  Leben  zu  wecken,  dem  steht's  im  einundfünfzig* 
sten  Jahre  frei,  wenn  er  sich  auf  seine  göttliche  Pflicht  und 
Würde,  wenn  er  sich  aufsein  eigentliches  Seelenamt  besinnt, 
alle  Versäumnis  nunmehr  nachzuholen:  die  Welt  hat  nur 
auf  diesen  Augenblick  des  großen  Weckens  gewartet,  da  sie 
am  Busen  eines  Liebenden  zu  sich  erwachen  könnte  . . .  Wer 
indes  während  fünfzig  Jahren  die  Wirklichkeiten  nachein* 
ander  aufgehoben,  verneint,  vernichtet  hat,  weil  sie  ihm 
überwiegend  Ungenügen,  Leid,  Unlust,  Sorge,  Trauer, 
Schmerz,  Gram,  Kummer  oder  Ekel  brachten,  heißt  das 
weil  sie  in  dieser  oder  jener  Hinsicht  ihm  wider  Wünschen, 
Trachten,  Sinnen,  Streben,  Minnen,  Wähnen  gingen,  der 

878 


hat  sie  unwiderruflich,  unwiderruflich  in  sich  begraben.  Er 
ist  es,  der  in  sich  am  tödlichsten  den  Schöpfer  traf;  er  ist 
es,  der  in  sich  dem  Gott  am  feindlichsten  begegnete.  Die 
Welt  als  Weh*  und  Übelwelt  verneinen,  das  ist  die  Tat  des 
Wider*Gottes,  Gottes*Wider.  Wünschen,  daß  Schnaken, 
Wanzen,  Schlangen  nicht  seien,  damit  unsereins  nicht  von 
ihnen  gestochen  würde;  wünschen,  daß  Dreckseelen,  Feig* 
linge,  Schurken  nicht  seien,  damit  unsereins  es  hienieden 
leichter  haben  möchte;  wünschen,  daß  Alter,  Krankheit, 
Tod  nicht  seien,  damit  unsereins  die  Freuden  ewiger  Jugend 
schmecke;  wünschen,  daß  Gier,  Scheelsucht,  Haß  nicht 
seien,  damit  unsereins  mit  anderen  eine  Menschenbrüder* 
schaft  bildete :  das  alles  heißt  die  weite  große  Welt  verkrüp* 
pelt  und  verarmt,  beschnitten  und  verkümmert  wünschen. 
Leicht  wäre  es  fürwahr,  in  einer  Wunschwelt  wohlig  her* 
umzuschwimmen  wie  ein  Goldfisch  im  Marmorbecken 
schimmernd  seines  Brunnens,  —  leicht  wäre  dies  und  gold* 
fischhaft  angenehm,  aber  kaum  doch  göttlich.  Oder  wie 
vermöchte  der  werdende  Menschgott  den  bisherigen  Men* 
sehen  und  jede  nur  menschähnliche  Kreatur  schlechthin  zu 
übertreffen,  wenn  er  nur  das  wirklich  zu  bejahen,  nur  das 
als  wirklich  zu  setzen  wagte,  was  gehorsam  und  gehorch* 
sam  in  der  Richtung  seiner  Wünsche  läuft,  —  wenn  er  nicht 
einmal  die  Kraft  aufbrächte  zur  Bejahung  dessen,  was  eigen* 
sinnig  dieser  Richtung  widerstrebt?  Es  sei  ferne  von  mir 
zu  behaupten,  daß  es  besonders  leicht  sei,  die  Wirklichkeit 
in  all  ihren  Wüchsen,  mit  all  ihren  Auswüchsen  in  Grund 
und  Boden  hinein  zu  verneinen  und  derart  brahmanisch, 
gotamidisch,  mystisch  der  Wirklichkeit  ledig  zu  werden. 
Aber  ist  dieses  unbedingte  Nein  keineswegs  leicht,  so  ist 
das  unbedingte  Ja  vielmals  schwerer  noch,  und  das  Schwe* 
rere  ist  hier  allerdings  das  Göttlichere.  „Denn  der  den 
Außendingen  nachstrebende  Mensch  geht  von  dem  Grund* 

879 


satz  aus:  ,Ich  will  das  Erwünschte  erlangen,  das  Nichter* 
wünschte  meiden',  und  auf  diesem  Wege  kann  er  das  letzte 
Ziel  des  Menschen  nicht  erreichen",  heißt  es  beziehung* 
reich  genug  in  (^ankaras  berühmtem  Kommentar  (in  dem 
an  innigsten  Einsichten  so  ergiebigen  vierten  Sütram  des 
ersten  Päda  des  ersten  Adhyäya).  Ein  Ja  anstatt  eines  Nein 
also  zu  allem,  was  keiner  wünschen  konnte!  Ein  Ja  zu 
Nattern  und  Ottern  und  Kröten  und  Würmern  und  Fliegen 
und  Spinnen  und  Lurchen  und  Echsen  sowohl  tierischen 
wie  menschlichen  Geschlechtes!  Ein  Ja  dem  Mißwuchs  und 
Hagelschlag,  dem  Frost  und  der  Hitze,  der  Trockenheit 
und  Überschwemmung,  dem  Erdbeben  und  Wirbelwind, 
der  heißen  und  der  kalten  Zone,  der  Wüste  und  dem  Eis* 
gebirg,  den  Sümpfen  und  ödlandstrecken!  Ein  Ja  den  Seu* 
chen  und  Ansteckungen,  den  Aussätzen  und  Krebsen,  den 
Grippen  und  Beulenpesten,  den  Schorfen  und  Knochen* 
fraßen,  den  Auszehrungen  und  Schlagflüssen,  den  Glieder* 
Verlusten  und  Unterleibschüssen,  den  Verblödungen  und 
Geistesgestörtheiten,  den  Gehirnerweichungen  und  Ge* 
webentartungen,  den  Zersetzungen  und  Verschüttungen, 
den  Erblindungen  und  Entmannungen!  Ein  Ja  den  Rechts* 
Übertretungen,  Grenzverletzungen,  Verleumdungen,  Mord* 
taten,  Hinrichtungen,  Abdeckungen,  Schlachtungen,  Zer* 
gliederungen,  Tierquälereien,  Raubüberfällen,  Kriegen, 
Umstürzen,  Aushungerungen,  In*die*Luft*Sprengungen, 
Vergewaltigungen,  Verschleppungen,  Standgerichten  und 
Erschießungen!  Ein  Ja  den  Glaubensverfolgungen  und 
Hexenverbrennungen,  den  Ketzergerichten  und  Gewissens* 
bedrängungen,  den  Menschenjagden  und  Seelenverkäufen, 
den  Marterpfählungen  und  Blutrachen,  den  Auspeitschun* 
gen  und  Prangerstellungen,  den  Folterungen  und  Lebend* 
begrabungen!  Ein  Ja  den  Theatern  und  den  Tempeln,  den 
Zirkussen  und  den  Tingeltangeln,  den  Bazaren  und  den 

880 


Lichtspielhallen,  den  Kaufhäusern  und  den  Bordellen,  den 
Großbanken  und  den  Börsen,  den  Fabriken  und  den  Mas 
schinenräumen,  den  Nachtherbergen  und  den  Spielhöllen, 
den  Gefängnissen  und  den  Besserunganstalten ,  den  Ka* 
sernen  und  den  Spitälern,  den  Klöstern  und  den  Irrenan* 
stalten,  den  Kohlenflözen  und  den  Tauchbootbäuchen,  den 
Schwefelgruben  und  den  Schlachtschifftürmen!  Ein  Ja  den 
Fahrlässigkeiten,  Unterlassungen,  Unbedachtsamkeiten, 
Zwistigkeiten,  Lüderlichkeiten,  Streikdrohungen,  Arbeit* 
niederlegungen,  Klassenkämpfen,  Rassenhetzen,  Ausbeu* 
tungen,  Versklavungen,  Empörungen,  Niederzwingungen, 
Schiebergeschäften,  Wuchergewinnen,  Schwindelkonkur* 
renzen,  betrügerischen  Bankerotten,  Lügenfeldzügen,  Par* 
teihadern,  öffentlichen  Meinungen  und  heimlichen  Stänke* 
reien!  Ein  Ja  den  Fügungen  und  Geschicken,  den  Zufällig* 
keiten  und  Schicksalen,  den  Heldenanstrengungen  und 
Seelenkämpfen,  den  inneren  Sorgen  und  Niederlagen,  den 
Umfallen  und  Überwindungen,  den  Treubrüchen  und 
Standhaftigkeiten,  den  Gewissensnöten  und  Büßungen, 
den  Selbstkasteiungen  und  Selbstkrönungen,  den  Heilsta* 
ten  und  Entsagungen,  den  Glaubensstärkungen  und  Ver* 
suchungen,  den  Liebesfreuden  und  Liebesentbehrungen, 
den  Fröhlichkeiten  und  Bitternissen,  den  Demütigungen 
und  Verzweiflungen,  den  Läuterungen  und  Wandlungen, 
den  Sündenfällen  und  Säligsprechungen!  Ein  Ja  den  Ver* 
rungenheiten  wie  Verhängnissen,  den  Niedergängen  wie 
Aufschwüngen,  den  Wiederholungen  wie  Neuentstehungen, 
den  Gleichheiten  wie  Verschiedenheiten,  den  Beharrungen 
wie  Veränderlichkeiten!  Wer  Ohren  hat,  hört,  und  wer 
Augen  hat,  sieht:  ist  nicht  dies  der  ewige  Kehrreim  in  den 
Reden  Gotamos  und  Jesu?  Wer  Ohren  hat,  höre,  und  wer 
Augen  hat,  sehe :  ist  nicht  dieses  das  oberste  Gebot  aller 
vornehmen  Religionen,  auf  daß  jeder  Wirkliches  in  sich 

56     Ziegler,  Gestaltwandel  der  Götter  881 


verwirkliche,  indem  er's  in  sich  einlasse  und  bette?  Be* 
trachte  deinen  Hund  oder  deine  Katze  oder  etwa  auch  dein 
Pferd,  wie  dir  das  Tier  in  ihnen  —  freilich  das  häusliche 
Tier!  —  manchmal  ins  Auge  schaut  (obwohl  nicht  häufig, 
denn  nicht  lieben  die  Tiere  des  Menschen  Auge  und  sehen 
gern  an  ihm  vorbei):  wartet  nicht  das  Tier  jedesmal  darauf, 
daß  du  ihm  etwas  antun,  ihm  etwas  gewähren  sollst?  Will 
es  sich  nicht  in  dir  gleichsam  vermenschlichen  und  mehr 
noch  wie  nur  vermenschlichen,  will  es  von  dir,  in  dir  nicht 
nochmals  erschaffen  und  mehr  wie  nur  erschaffen  sein? 
Und  bist  du  erst  frömmer  noch,  schöpferischer  noch,  leben* 
spendender  noch,  bejahender  noch  geworden,  dann  wirst 
du's  verstanden  haben,  weit  über  jeden  Verstand  hinaus, 
—  jedweder  Steinhaufen  und  jedwede  Kotpfütze  ist  ein 
solches  Tier  und  äugt  dich  an  in  stummer,  vielgeduldiger 
Erwartung . . .  Mit  dieser  Schöpfung  durch  das  Wort  und 
aus  dem  Wort  verglichen  sind  aber  alle  Schöpfungen  sonst 
nur  Schöpfungen  an  selbstfremdem  Stoff,  nur  Schöpfungen 
aus  zweiter  Hand,  nur  Schöpfungen  auf  Umwegen  und 
zum  Ersatz  der  Einen  Schöpfung:  alle  die  Palazzi  Pitti  und 
Sechste  Symphonien,  die  Don  Juans  und  Fauste,  die  Tristan 
und  Isolden  und  Grüne  Heinriche,  die  Isenheimer  Altäre 
und  die  Ulmer  Münstertürme,  die  Bürger  von  Calais  und 
Naumburger  Stiftergestalten,  die  Enneaden  und  Kritiken 
der  Urteilskraft,  die  Chefrenstatuen  und  Cheopspyrami* 
den,  die  Gilgameschepen  und  Iliaden.  Nie  schafft  der  relU 
giöse  Schöpfer  noch  irgendwie  in  ihrem  Sinn,  ob  auch  in 
ihnen  viel  Religion  und  viel  göttlicher  Wille  ans  Licht  bricht. 
Nicht  in  ihrem  Sinne  mehr  ist  der  Göttliche  der  Schaffende, 
noch  ist  in  ihrem  Sinn  der  Schaffende  schon  göttlich  . . . 

An  dieser  Stelle  aber,  vor  einer  gleichsam  harrenden  und 
wartenden  Unendlichkeit  menschgöttlich  erst  zu  erschaffen* 
der  Erscheinungen  jenseit  von  Wohl  oder  Übel,  von  Lust 

882 


oder  Leid,  von  Freund  oder  Feind,  von  Wunsch*Ja  oder 
Wunsch*Nein,  an  dieser  Stelle  bietet  sich  ungerufen  ein 
ältester  Gedanke  oder  vielleicht  nur  der  Traum  eines  Ge* 
dankens  zur  Probe  dar,  wie  weit  ein  jeder  in  der  Fähigkeit 
dieser  Weltbelebung  bereits  fortgeschritten  sei.  Vollendeter 
Schöpfer,  vollendeter  Gott  wäre  nämlich  nur  der,  —  und 
wir  wissen,  daß  Vollendung  die  menschliche  Grenze  ist! 
—  der  sein  Ja  und  Amen  auszusprechen  sich  getraute  zu 
allem  was  geschah,  zu  allem  was  geschieht  und  zu  allem 
was  geschehen  wird  und  mag:  auf  die  ungeheure  Gefahr 
hin,  daß  das  Gestern  wie  das  Heute,  das  Heute  wie  das 
Morgen  nichts  anderes  sei  als  die  Wiederbringung  je  und 
je  des  ewig  Gleichen.  Ein  Jasager  zu  einer  Wiederkehr  des 
Gleichen,  der  wäre  Weltbejaher,  Weltschöpfer,  Weiterschaf: 
fer  schlechthin,  —  ein  Jasager  jener  Wiederkehr  etwa,  wel* 
che  in  Morgen*  und  Abendlanden  zum  ersten  mal  ihre  klas* 
sische  Fassung  in  den  Reden  Gotamo  Buddhos  gefunden 
zu  haben  scheint.  In  der  Ersten  und  in  der  Achtundzwan* 
zigsten  Rede  aus  der  längern  Sammlung  Dighanikäyo  näm* 
lieh  wird  die  Behauptung  der  Ewigkeit  von  den  Behauptern 
der  Ewigkeit,  die  ihrerseit  noch  nicht  wie  der  Buddho  sei* 
ber  alles  Behaupten  in  seiner  Gegenstandlosigkeit  durch* 
schaut  haben,  auf  eine  Formel  von  höchster  sprachlicher 
Mächtigkeit  gebracht,  deren  einzelne  Worte  wie  Schäfte 
reich  kannelierter  Säulen  gerad,  schlank  und  gewaltig 
aufwärts  ragen:  „Ewig  ist  Seele  und  Welt,  starr,  giebel* 
ständig,  grundfest  gegründet;  und  diese  Wesen  wandern 
um,  wandeln  um,  verschwinden  und  erscheinen  wieder: 
es  ist  immer  das  Selbe I"  .  .  .  [Und  vielleicht  verdiente 
es  nebenbei  erwähnt  zu  werden,  daß  es  den  Vedänta  spä* 
terhin  nicht  ruhen  ließ,  geschichtlich  diese  Verkündigung 
schon  für  den  Veda  und  die  Upanischaden  in  Anspruch 
zu  nehmen,  indem  er  nämlich  einenteils  die  völlige  Gleich* 

56*  883 


heit  aller  zeitlich  aneinandergereihten  Weltalter  (oder 
kalpas)  durch  den  (scholastisch  ungemein  interessanten) 
.Realismus'  der  wörtlich  so  benannten  »Gleichheit  der 
Namen  und  Gestalten'  (nach  Deussen  äkciti  =  eidt) !),  wel* 
che  in  allen  zahlenmäßig  verschiedenen  Welterscheinungen 
grundsätzlich  doch  dieselben  seien,  stark  platonisierend  zu 
begründen  sucht;  —  andernteils  aber  ganz  naiv  buddhistisch 
auf  die  Behauptung  zu  stützen  strebt,  daß  jede  neue  Welt 
genau  nach  Maßgabe  ihrer  vergeltenden  Beschaffenheit  von 
früheren  Welten  bedingt  und  bestimmt  sei  und  ihnen  da* 
her  schon  als  Neuverkörperung  ihres  ,kavmanl  ähneln 
müsse  .  .  .]  Also  noch  Ja  zu  sagen  zu  dieser  sei  es  vedisch, 
sei  es  gotamidisch  gefaßten  Wiederkehr  des  Gleichen,  die 
alle  Schrecknisse,  Sinnlosigkeiten,  Scheußlichkeiten  des 
Wirklichen  wie  auf  eines  Kreisels  Spitze  ewig  an*  und  ewig 
abtanzen  ließe,  —  und  bekanntlich  hat  der  Buddho  selber, 
nachdem  er  dieser  Meduse  ins  Gesicht  gesehen  hatte,  Nein 
und  Abernein  gesagt!  —  Ja  zu  sprechen  zu  ihr  ohne  die 
leiseste  Weltfurcht  in  den  Gliedern,  das  hieße  den  Schöp* 
fer  in  sich  aufgeboten  haben,  den  wahren  Schöpfer,  der 
nicht  darnach  fragt,  was,  sondern  nur  daß  er  zu  schöpfen 
habe.  Wer  vor  dieser  Aussicht  nicht  wimmernd  zusammen* 
bräche  wie  einer,  dem  ein  keilender  Gaul  mit  den  Hinter* 
hufen  vor  den  Bauch  trat,  der  hätte  die  Probe  auf  seine 
übermenschlichste  Tugend  ein  für  alle  mal  bestanden.  Wer 
hier,  wo  sogar  Buddho  der  Strengstirnige,  Steilgewillte, 
Nichtserlassende  noch  verneinte,  den  Mut  zum  Ja  gefun= 
den  hätte,  dem  wäre  das  Mysterium  der  Schöpfung  pran* 
gend  wie  des  vollen  Mondes  Goldscheibe  aufgegangen:  er 
hätte  das  glorreiche  Mysterium  für  sich  und  uns  vollbracht. 
Denn  ob  auch  die  Schöpfung  der  Welt  einem  allmächtigen 
Schöpfergott  zur  unsterblichen  Schande  gereichte,  weil  er 
offenbar  Besseres  hätte  tun  und  leisten  können,  so  gereicht 

884 


sie  dem  menschlichen  Schöpferselbst,  dem  völlig  ohnmäch* 
tigen  im  Vergleich  mit  Brahmas  oder  Jahves  Allmacht,  zur 
unsterblichen  Ehre,  weil  ihm  Höheres  zu  tun  und  Besseres 
zu  leisten  auf  keine  Weise  beschieden  ist.  Als  der  Einleiter 
und  Einläuter,  als  der  Vorreiter  und  Herold,  als  derTrom* 
peter  und  Fahnenträger,  als  der  Frohbotschafter  und  Froh* 
locker  des  jüngsten  Weltalters  hätte  dieser  ehrwürdigste 
aller  Jasager  endlich  über  Buddho  und  den  Orient  hinaus* 
gebaut,  der  erste  wirkliche  Europäer,  nachdem  sich  die 
abendländischen  Religionen  bisher  auf  ihren  Gipfeln  stets 
entweder  mit  den  Lehren  Gotamos  oder  der  Upanischaden, 
des  Vedänta  begegneten;  —  Er,  Zarathustra,  der  die 
erste  der  heiligen  Schriften  des  neuen  Kanons,  so  etwa 
ihn  das  Jahr  Fünfundzwanzighundert  mit  vielen  anderen 
heiligen  Schriften  der  nächsten  Jahrhunderte  zusammen* 
gestellt  haben  wird,  unter  dem  Titel  ,Der  Genesende' 
verfaßt  hat.  „Aber  der  Knoten  von  Ursachen  kehrt  wie* 
der,  in  den  ich  verschlungen  bin,  —  der  wird  mich  wieder 
schaffen!  Ich  selber  gehöre  zu  den  Ursachen  der  ewigen 
Wiederkunft.  Ich  komme  wieder  mit  dieser  Sonne,  mit 
dieser  Erde,  mit  diesem  Adler,  mit  dieser  Schlange  — 
nicht  zu  einem  neuen  Leben,  oder  besseren  Leben  oder 
ähnlichen  Leben:  —  ich  komme  ewig  wieder  zu  diesem 
gleichen  und  selbigen  Leben,  im  größten  und  auch  im 
kleinsten,  daß  ich  wieder  aller  Dinge  ewige  Wiederkunft 
lehre,  —  daß  ich  wieder  das  Wort  spreche  vom  großen  Er* 
den*  und  Menschen*Mittage,  daß  ich  wieder  den  Menschen 
den  Übermenschen  künde.  Ich  sprach  mein  Wort,  ich  zer* 
breche  an  meinem  Wort;  so  will  es  mein  ewiges  Los  —  als 
Verkündiger  gehe  ich  zu  gründe!  .  .  ." 

Also  sprachst  du  dein  Wort  zu  uns,  oh  Zarathustra.  Also 
zerbrachst  du  an  deinem  Wort,  oh  Zarathustra.  Also  er* 
reichte,  also  ereilte  uns  endlich  dein  möwenschwirrend, 

885 


möwenflügelnd  Wort  aus  gewitterblauer  Ferne,  oh  Zara* 
thustra :  damit  wir,  wenn  es  uns  möglich  wäre,  nicht  mehr 
an  ihm  zerbrächen,  oh  Zarathustra.  Denn  du  weißt  es  ja, 
du  unseres  Herzen  Trautester  und  Teuerster,  Zärtlichster 
und  Nächster!  —  wir  lernten  da  inzwischen  einer  gewissen 
Sache  in  die  stieren  Augenhöhlen  schauen,  in  die  phospho* 
risch  schimmelnden  und  schwefelnden  und  grünelnden  — 
—  du  weißt  es  ja!  .  .  . 

Verläuft  indes  das  Mysterium  der  Schöpfung  auf  diese 
Weise,  so  gilt  es  eingedenk  zu  bleiben,  daß  für  dies  My* 
sterium  keineswegs  der  Erkenntniswert  der  Verkündigung 
von  der  ewigen  Wiederkehr  als  solcher  in  Frage  steht.  Sehr 
im  Bereich  des  Möglichen,  daß  es  eine  Wiederkehr  des 
Gleichen  überhaupt  nicht  gibt,  statt  ihrer  aber  vielleicht 
eine  Wiederkehr  des  Ähnlichen:  will  meinen  des  Gestalt* 
Verwandten,  wie  sie  von  mir  in  dem  Kapitel  Die  Welt  als 
Organismus  hier  erörtert  und  für  wahrscheinlich  befunden 
wurde.  Nicht  darauf  ist  ausschlaggebendes  Gewicht  zu 
legen,  daß  das  früh*und=späte  Urgesicht  von  der  ewigen 
Wiederkunft  erkenntnismäßig  mitteile  und  verbildliche, 
was  sich  in  Wahrheit  ereignet  und  in  Wirklichkeit  begibt. 
Sondern  darauf  ist  es  zu  legen,  daß  das  befestigte  Schöpfer* 
selbst  seinen  Schöpferwillen  nicht  einmal  vor  diesem  ge* 
furchten  Urgesicht  verlöre :  daß  das  Schöpferselbst  vielmehr 
sogar  dies  Urgesicht  beherzt  bestehe,  ganz  einerlei  im  übri* 
gen,  wie  es  mit  dem  erkenntnismäßigen  Gehalt  des  Welt* 
gesetzes  der  Spiralen  oder  der  Zyklen  oder  der  Zircumnu* 
tationen  genauer  nun  bestellt  sei.  Nicht  Forschung,  Erkennt* 
nis,  Deutung  hat  sich  in  der  Verkündigung  von  der  ewigen 
Wiederkehr  zu  bewähren.  Bewähren  soll  sich  allein  die 
Unbedingtheit,  Unbeirrtheit,  Unerschütterlichkeit  des  Wil* 
lens,  die  Wirklichkeit  aller  Dinge,  wie  sie  gerade  sind  (und 
nicht  minder  wie  sie  krumm  sind)  durch  das  Ja  göttlicher 

886 


Stärke  zu  bekräftigen  und  ungefähr  also  zu  reden:  „Sie  ist 
mir  eben  recht,  diese  Wirklichkeit.  Sie  dünkt  mich  gar  nicht 
übel,  diese  Wirklichkeit.  Sie  gefällt  mir  ausnehmend,  diese 
Wirklichkeit"  .  .  .  Nicht  anders  als  in  einer  Musterung  der 
namentlich  Aufgerufene  sein  Hiersein  durch  ein  Ja  ver* 
nehmlich  zu  bestätigen  hat,  nicht  anders  wird  der  schöpfe* 
risch  Gewillte  sich  selbst  und  alles,  was  Erlebnis  dieses 
Selbstes  ist,  vernehmlich  bestätigen,  zum  Zeugnis,  daß  seine 
Schöpfertat  stärker  sei  als  sein  Empfängerleid,  und  sein  Er* 
schafferanteil  größer  als  sein  Genießerfehlbetrag.  Diesen 
Sachverhalt  noch  einmal  unterstreichend,  beseitigen  wir 
jeden  Zweifel,  daß  in  dem  angezogenen  Kapitel  ,Der  Ge* 
nesende'  wirklich  der  Mann,  der  sich  auf  seines  Lebens 
Höhe  selbstherrlich  zum  Mythos  formte  und  sich  als  Wahr* 
und  Feuerzeichen  durch  die  Magie  des  Wortes  selbstherr* 
lieh  unter  die  Sterne  rückte  (gleichsam  zu  Ehren  seines  frei 
gewählten  Namens  Zarathuschtra  oder  Zerduscht,  der  ver* 
deutscht  der  goldene  Stern,  Gold*Stern  oder  Gülden*Stern 
lautet),  —  daß  in  jenem  Kapitel,  sage  ich,  Friedrich  Nietz* 
sehe  das  Dritte  Testament  für  die  Dauer  der  nächsten  Welt* 
zeit  feierlich  geschlossen  und  erhaben  beschworen  habe. 
Dort  fertigte  der  Stifter  die  Urkunde  seiner  Stiftung  aus 
und  versah  sie  mit  seines  blanken  Abendländergeistes  hart* 
geschnittenem  Insiegel,  jetzo  zum  allerersten  male  echt  euro* 
päisch  die  Welt  auf  Schöpfung  gründend:  jetzo  die  Welt, 
kraß  wie  sie  ist  und  nicht  wie  sie  geträumt  wird,  auf  das 
Wunsch*Ja  des  Schöpferselbstes  gründend.  Weltschaffend, 
weil  weltbejahend  sitzt  jetzt  der  neue  Mensch  gleichsam  am 
Strand  der  See  und  sieht  eine  Woge  um  die  andere  unend* 
lieh  sich  zu  Füßen  rollen.  Er  sitzt  und  blickt  und  lauscht 
und  harrt  jeder  anatmenden  Welle  und  wartet  ihrer  wie 
ein  Pate  seines  Täuflings  und  spricht  zu  ihr  und  hebt  die 
Hände  über  sie  und  spendet  ihr  den  Segen:  Heil  Welle! 

887 


Heil  Atem!  Heil  Meer  und  Meer*Unendlichkeit  in  allen 
Gegenden  des  Raumes!  Und  derart  Schwall  um  Schwall 
bei  sich  begrüßend,  wann  er  heransegelt  und  anflutet  end* 
los,  jetzt  einschmiegsam  und  schmeichlerisch,  geduckt  und 
kuschend,  jetzt  auf  brüllend  und  überschwellend,  gischtlef* 
zig  und  gefräßig,  —  da  wird  er  unversehens  diesem  selben 
Meere  Deich  und  Damm,  Düne  und  Nehrung,  Wind*  und 
Wellenbrecher,  Wind?  und  Wellenbesprecher.  Die  Gefahr 
nicht  achtend,  daß  er  früher  oder  später  an  seinem  eigenen 
Ja  zu  schänden  werden  könne,  wie  Zarathustra  daran  zu 
schänden  gekommen  ist,  —  und  wer  unter  uns  traut  sich 
die  endgültige  Entscheidung  zu,  ob  es  nicht  irgendwo  eine 
äußerste  Grenze  gibt,  jenseit  welcher  zwar  immer  noch  das 
Ja  der  Schöpfung,  nicht  aber  mehr  Leben  und  Ich  des  Ja* 
sagers  und  Schöpfers  möglich  sind??  —  diese  und  mithin 
überhaupt  jede  Gefahr  nicht  achtend,  entringt  er  sich  sein 
Ja  in  der  Zuversicht,  es  werde  schlimmstenfalls  sein  Ich 
und  Leben  überleben,  mehr  noch:  das  Wirkliche  werde 
schließlich  sogar  zu  seinem  Teil  an  diesem  Ja  zu  schänden 
geraten,  welches  ihm  Leib  und  Ich  und  Leben  wie  ein  Schild 
von  Demant  schirmt.  Denn  unstreitig  ist  diese  Welt,  an  die 
einmal  das  Ja  als  schibböleth  erging,  nicht  länger  mehr  die= 
selbe  Welt,  die  einst  unsere  Gleichgültigkeit,  Ungeweckt* 
heit,  Unaufmerksamkeit,  Unlustempfindlichkeit,  Mißver* 
gnügtheit,  Leidergriffenheit  verneinte.  Und  wie  die  Welt  ist 
auch  das  Selbst  auf  keine  Weise  mehr  das  nämliche,  welches 
die  Welt  verneinte.  Das  Ja=Selbst  ist  in  die  Unendlichkeit  der 
Schöpfung,  seiner  Schöpfung  hinein  gewachsen  und  zum 
Welt*Selbst  in  des  Wort  verwegenster  Bedeutung  worden. 
Die  Ja= Welt  aber  hat  sich  in  die  Unendlichkeit  des  Ja=Selbstes 
innig  eingebettet  und  ist  zur  Selbst* Welt  in  des  Begriffes 
tiefstem  Verstand  geworden.  Durch  die  Tat  der  Schöpfung 
und  der  Bejahung,  der  Bestärkung  und  der  Bestätigung, 

888 


der  Billigung  und  der  Setzung  ist  jener  vorige  Zustand  des 
vedantischen  , Erwünschtes  zu  erlangen  und  Unerwünscht 
tes  zu  vermeiden'  endlich  überwunden  und  überstanden, 
sind  Selbst  und  Welt  und  Welt  und  Selbst  ineinander  ge* 
schmolzen  wie  Kerne  geschlechtgetrennter  Zellen  bei  der 
Befruchtung  ineinanderschmelzen,  —  gleich  hernach  sich 
freilich  abermals  zerteilend  und  feste  Strahlenspindeln  von 
einem  Teil  zum  andern  schießend  .  .  . 

Wenn  überhaupt,  ist  damit  aber  auch  der  Augenblick 
nah',  wo  das  Mysterium  der  Schöpfung  übergleitet  in  das 
Mysterium  der  Erlösung,  nunmehr  dieses  auf  neue  Weise 
allerdings  erlebt,  aufgefaßt,  vollzogen.  Die  Religionen  der 
Vergangenheit  verkündeten  und  übten,  ersehnten  und  ver* 
wirklichten  wesentlich,  wie  weit  ihre  Voraussetzungen  und 
Mittel  sonst  auseinanderlaufen  mochten,  eine  Erlösung  von 
der  Welt.    In  dieser  unwiederbringlichen  Stunde  der  Ent* 
Scheidung  für  Jahrhunderte,  vielleicht  Jahrtausende  tut  in* 
dessen  das  eine  und  nur  eine  not:  Erlösung  nicht  von,  Er* 
lösung  zu  der  Welt!  Erlösung  zur  Welt,  die  eben  darum 
erlöste  Welt  ist,  weil  sie  Welt  des  Menschenselbstes  und 
der  Menschenseele  geworden  wäre.   Von  viererlei  haben 
uns  die  hohen  Religionen  der  Vergangenheit  erlösen  wollen: 
von  Schuld  und  Übel,  von  Irrtum  und  Leiden.  Von  vierer« 
lei  dürfen  wir  folglich  nicht  mehr  erlöst  sein  wollen :  von 
Schuld  nicht  und  nicht  vom  Übel,  von  Irrtum  nicht  und 
nicht  vom  Leiden.  Sie  haben  erlösen  wollen  von  der  Schuld, 
bis  wir  gewahr  wurden,  daß  schuldig  werden  höchster  Stolz 
und  tiefste  Verantwortung  der  Götter,  Verantwortung  und 
Stolz  mithin  auch  derer  sei,  die  nach  dem  Sturz  der  Götter 
die   eigene  Vergöttlichung   betreiben.    Sie  haben  erlösen 
wollen  vom  Übel,  bis  uns  offenbar  ward,  daß  Wirklichkeit, 
Welt  und  Leben  durchs  Übel  so  wenig  widerlegt  als  um* 
gekehrt  durch  Wohl  und  Wert  bewiesen  würden.  Sie  haben 

889 


erlösen  wollen  vom  Irrtum,  bis  wir  begriffen,  daß  ohne  Irr* 
tum  nicht  einmal  Wahrheit  Wahrheit  sei  und  überdies  alle 
menschheitwichtigen  Fragen  diesseit  von  Wahrheit  und 
Irrtum  entschieden  werden  müßten.  Sie  haben  erlösen 
wollen  vom  Leiden,  bis  wir  erfahren  hatten  an  uns  selber, 
daß  frei  gewolltes  Leiden,  als  Opfer  angenommen  und  ge* 
leistet,  heilsamer  sei  als  irgend  sonst  eine  Tathandlung.  Jene 
Erlösungen  von  ehedem  (und  ich  führe  nur  die  berühm* 
testen  und  geübtesten  an)  nunmehr  mit  Worten  zu  be* 
kämpfen  oder  auch  nur  als  rückständige  zu  tadeln,  entspräche 
indes  kaum  unseren  Vorsätzen  und  noch  weniger  der  Billig* 
keit.  Denn  tatsächlich  ist  menschlicher  Art  nichts  ange* 
messener,  als  über  Zustände  und  Begebenheiten  von  äugen* 
scheinlich  lebenhemmender,  unlustfördernder,  sinnent* 
blößter,  vernunftloser  Beschaffenheit  ganz  einfach  den  Stab 
zu  brechen  und  die  Tafel  des  Nichtseinsollens  aufzuhängen 
und  dabei  zu  sprechen:  diese  Verschuldung  ist  zwar,  sollte 
aber  nicht  sein;  dieses  Übel  ist  zwar,  sollte  aber  nicht  sein; 
dieser  Irrtum  ist  zwar,  sollte  aber  nicht  sein;  dieses  Leiden 
ist  zwar,  sollte  aber  nicht  sein.  Der  erste  Instinkt  der  Ab* 
wehr,  der  Verdrängung  entspricht  bei  diesen  Dingen  allzu 
sehr  der  Natur,  um  mit  Recht  gebrandmarkt  werden  zu 
dürfen,  —  aber  aus  demselben  Grund  darf  ich  es  anheim* 
stellen,  ob  der  erste  und  natürlichste  Instinkt  auch  schon 
der  göttlichste  Instinkt  sei?  Auf  uns  liegt  heute  jedenfalls 
das  Geständnis,  daß  es  mehr  Seelenstärke  und  Selbstherr* 
schaft  verrät,  diesen  Instinkt  zu  besiegen,  als  ihn  schlecht* 
hin  gewähren  zu  lassen.  Wir,  die  wir  glauben,  Herberes 
erlitten,  Schlimmeres  geirrt,  Bittereres  erduldet,  Härteres 
verschuldet  zu  haben  als  je  ein  Geschlecht  der  Geschichte 
und  Vorgeschichte,  —  wir  wünschen  nicht  durch  Religion 
von  diesem  allen,  sondern  durch  Religion  an  diesem  allen 
zu  genesen.  Nichts  liegt  uns  ferner,  als  uns  bei  allen  diesen 

890 


Vorkommnissen  für  ungöttlich,  gar  für  widergöttlich  Ge* 
zeichnete  zu  erachten:  im  Gegenteil  für  göttlich  Ausge* 
zeichnete!  Uns  von  diesen  nun  einmal  ins  Wirkliche  fest 
eingeflochtenen  Notwendigkeiten  Schuld,  Übel,  Irrtum, 
Leiden  erlösen  zu  wollen,  das  hieße  uns  von  der  Wirklich» 
keit  selbst  erlösen  wollen,  hieße  uns  wiederum  an  einen 
Baum  die  Axt  legen,  eh'  er  uns  noch  eigentlich  geblüht 
hat.  Erlöst  sein  mögen  wir  nicht  vom  Unvermeidlichen, 
was  da  der  Gang  der  Welträder  an  uns  heranstampft.  Er* 
löst  sein  wollen  wir  im  Gegenteil  von  aller  angeborenen 
Schwachheit,  Trägheit,  Widerwilligkeit,  Ohnmacht,  das 
Notwendige  durch  Tat  als  not*wendend  und  not=wendig 
zu  bestehen.  Denn  daß  ich's  endlich  frei  bekenne:  alles 
Beste  im  Menschen  und  Göttlichste,  das  am  meisten  Mensch* 
liehe  und  Menschselbstische,  das  hat  in  der  Vergangenheit 
bisher  der  Wirklichkeit  am  wenigsten  stand  gehalten.  Vor 
diese  Eisenstirn  der  Wirklichkeit  hingestellt,  haben  sich  die 
Tapfersten  immer  noch  feig  erwiesen,  und  selbst  wo  sie  die 
Wirklichkeit  bis  zu  jedem  Grad  der  Selbstmarterung  er* 
trugen,  so  wünschten  sie  doch  von  dieser  Marter  erlöst  zu 
sein,  statt  von  der  Schwäche,  ihr  nicht  im  vollen  Maß  ge* 
recht  werden  zu  können.  Vom  Übersinn  selbstvergottender 
Tat  also  gewertet,  hat  sich  der  Mensch  in  lang  vererbter, 
lang  verschleppter  Erlöserschwäche  scheu  an  Wirklichkeit 
und  Welt  vorbeigestohlen.  Vom  selbigen  Übersinn  aus 
gewertet  erscheint  der  Mensch  noch  heut'  recht  eigentlich 
als  weltlos,  wofern  Seele  und  Selbst  vor  dieser  Welt  nicht 
nur  zu  kreuz,  nein  buchstäblich  unters  Kreuz  gekrochen 
und  gebrochen  sind,—  das  Kreuz  als  das  beweisendste  Symbol 
derWeltuntüchtigkeit  und  Weltunzulänglichkeit  verstanden ; 
somit  verstanden,  was  man  sonst  davon  halten  oder  glauben 
möge,  als  das  zeichengewordene  Urverhängnis  unserer  bis* 
herigen  Art  .  .  .  Allzu  weit  sind  daher  Wissenschaft  und  Er* 

891 


kenntnis  der  Tat  vorausgeeilt,  wenn  sie  vorwegnehmend  in 
reichgeschlungenen  Lineamenten  Grundriß,  Umriß,  Auf= 
riß  der  Welt  auf  ihre  Pergamente  zogen,  indes  sich  nirgends 
Schultern  wölbten,  die  diese  Welt  nun  auch  zu  tragen  fähig, 
zu  tragen  auch  nur  gewillt  gewesen  wären.  Sobald  es  galt, 
das  Selbst  des  Menschen  in  Wirklichkeit  als  Wirklichkeit 
zu  verwirklichen,  besann  sich  dieses  entweder  brahmanisch, 
vedisch,  gotamidisch,  vedantisch,  evangelisch,  mystisch  oder 
sonst  asketisch  auf  seine  Weltfreiheit,  Weltledigkeit,  Welt* 
nichtigkeit:  oder  die  Wirklichkeit  verzehrte  umgekehrt  das 
Selbst  beim  ersten  besten  Zusammenprall,  wie  etwa  die 
Weibchen  gewisser  Spinnen  ihre  zwerghaft  gebildeten 
Männchen  sofort  nach  stattgefundener  Paarung  auffressen 
und  vertilgen.  Darum  ist  in  ihrem  Grund  die  Welt  noch 
heute  unbeseelt  und  unbesäligt;  darum  rollt  die  Welt  noch 
heute  unvermenschlicht,  unvergöttlicht  durch  die  dunkel* 
kalten  Räume;  darum  harrt  die  Welt  noch  unerlöst  der 
Schöpfung,  unerschaffen  der  Erlösung.  Nirgends  noch  er* 
löste  sich  das  Menschenselbst  zur  Menschenwelt,  wenn  sich 
auch  öfters,  es  ist  richtig,  ein  Menschenselbst  behutsam  aus 
der  Welt  geschlichen  hat.  Anstatt  des  starken  Ja  haben 
wir  uns  bisher  nur  das  starke  Nein  abgezwungen.  Anstatt 
Schöpfung  in  Erlösung  zu  vollenden,  haben  wir  nur  die 
Schöpfung  durch  die  Erlösung  widerrufen.  Anstatt  das 
Wirkliche  ins  unwirkliche  Selbst  zu  betten,  haben  wir  nur 
das  Selbst  vor  dem  Wirklichen  tunlichst  in  Sicherheit  ge* 
bracht.  In  mächtigem  Ausmaß  haben  Einzelne  das  böseste 
Tier,  haben  Einzelne  sich  selbst  gezähmt  und  sogar  abge* 
richtet;  aber  die  Höhlengräber  nennt  keine  Zahl,  die  sie 
in  sich  zugemauert,  in  die  sie  sich  eingemauert  haben.  Büßer 
und  Einsiedler,  Apostel  und  Asketen,  Märtyrer  und  Mes* 
siase,  Yogin  und  Fakire,  Sälige  und  Heilige,  Überwinder 
und  Erlöser  verehrten  wir  in  bunter  Reihe  als  Kronzeugen 

892 


und  bisweilen  Blutzeugen  der  Religion.  Aber  wie  Unschätz* 
bares  sie  im  einzelnen  Fall  für  sich  und  wie  Beträchtliches 
sie  für  ihre  Nachahmer  oder  =folger  taten,  —  sie  taten  allzu 
wenig  für  die  Wirklichkeit  und  weniger  noch  an  ihr.  Sie 
stehen  steinern  da  vom  Marktgewühl  des  Lebens  abge* 
sondert,  bildsäulengleich  in  ihren  Nischen,  vom  hohen 
Sims  der  Königgalerien  ins  wimmelnde  Getriebe  unteil= 
nehmend  blickend  oder  noch  nicht  einmal  blickend.  Alles 
in  allem  töteten  sie  mehr  Lebendiges,  als  daß  sie  Totes 
lebendig  gemacht  hätten,  und  jede  Götterstunde  ihrer  Selbst* 
erlöserschaft  kostete  ein  Weltjahr  unerlöst  ungöttlicher 
Wirklichkeit,  —  zu  teuer  fürwahr  seid  ihr  erkauft,  zu  teuer! 
Noch  verwechselten  sie  allzu  unbesehen  die  Erlösung  mit 
Erlöschung,  den  Sieg  mit  Versiegung,  die  Vollendung  mit 
Endigung.  Noch  lief  die  Fährte  ihres  Heilswegs  weitab* 
wärts,  welthinab,  statt  weltaufwärts,  welthinauf.  Noch 
hatten  sie  das  Mysterium  der  Erlösung  bei  weitem  nicht 
innig  genug  durchdrungen  als  das  Mysterium  der  Rück* 
kehr :  Rückkehr  zur  Welt,  Rückkehr  zur  Wirklichkeit,  nach* 
dem  das  Selbst  sich  einst  selbst  in  die  Schuld  verlor  und 
selbst  wiederfand  in  der  Sühne,  sich  selbst  in  Opferung  ver* 
lor  und  wiederfand  in  Wiedergeburten,  sich  selbst  in  Schöp* 
fung  und  Aufschließung  und  Erweckung  verlor  —  und 
wiederfand  in  Erlösung.  Derartige  Rückkehr,  feierliche  Rück* 
kehr  stufenweis  vergotteter  Selbstheit  zu  annoch  unver* 
gotteter  Wirklichkeit,  freiwilliger  Hineinstieg  in  den  feurigen 
Ofen,  um  darin  zu  singen:  dies  erst  ist  Erlösung.  Durch* 
glüht  von  den  Feuern  seiner  Tiefe  soll  das  Selbst  hinfort 
die  Welt  durchglühen  und  nicht  sich  an  ihr  fortschreitend 
abkühlen.  Begütigt  von  den  Mächten  innerer  Schlichtung 
soll  das  Selbst  hinfort  die  Wirklichkeit  schlichten  und 
nicht  länger  sich  unberufen  zu  ihrem  Richter  aufspielen: 
denn  was  man  auch  entgegnen  mag,  —  höher  als  der  Welt* 

893 


richter  ist  der  Weltschlichter,  Weltaufschichter  und  sauf? 
richter  .  .  .  Wo  aber  das  Selbst  die  Scholle  suchte  und  fand, 
in  welcher  es  als  Saatkorn  quellen,  keimen  und  gedeihen 
konnte,  da  geschah  es,  daß  das  nämliche  Selbst  ein  Stück 
des  Wirklichen  zu  sich,  sich  aber  zu  einem  Stück  des  Wirk* 
liehen  erlösete :  wobei  vielleicht  symbolisch  beachtsam  wäre, 
daß  das  edelste  aller  Körner,  das  des  Reises,  sogar  zu  seiner 
Scholle  den  Sumpf  keineswegs  verschmäht  hatl  .  .  Suchen 
wir  also  fortab  den  Selbsterlöser  an  keiner  anderen  Stätte, 
als  wo  wir  auch  den  Welterlöser  fanden,  und  imgleichen 
den  Welterlöser  nur  dort,  wo  einer  ein  wenig  Welt  zum 
Selbst  erlöste.  Ein  solcher  aber  heiße  uns  mit  Fug  echt 
gotamidisch  ein  BeiderseitsErlöser,  Beiderseit^Erlöster:  Er, 
der  das  Selbst  zur  Welt  und  die  Welt  zum  Selbst  erlöste. 
Ein  BeiderseitsErlöster  wird  er  dann  sein  Herz  wie  einen 
Blumentopf  aus  rotem  Ton  in  seinen  guten  Schöpferhänden 
tragen,  und  aus  dem  Topf  wird  ihm  der  Stiel  einer  blauen 
Schwertlilie  in  die  Höhe  sprießen,  so  steil  und  hoch  in  die 
Höhe  sprießen,  bis  sich  der  Kelch  der  Lilie  blauglänzend 
als  Himmelsglocke  auseinanderspreitet,  auseinanderblättert 
unendlich,  und  Tau  und  Licht  in  hellen  Bernsteinperlen 
unendlich  auf  die  Erde  träuft  und  tröpfelt  und  ihr  die 
Mulden,  Schalen,  Becken  wie  mit  geläutertem  und  ver* 
flüssigtem  Äther  blaugolden  bis  zum  Rand  anfüllt:  Himmel, 
Erde,  Meer  mit  allen  Ans  und  Inbewohnern  aus  Kelch  und 
Wurzel  der  steil  sprießenden  Lilie  ihm  treu  ins  Herz  ge* 
pflanzt  und  von  des  Herzens  Säften  wunderbar  getränkt 
und  genährt.  Mein  Himmel,  wird  da  der  Beiderseit=Er* 
löste,  BeiderseitsErlöser  in  der  schmerzsäligen  Ergriffenheit 
einer  Wöchnerin,  die  eben  eines  fremden  Lebens  auf  be* 
blutetem  Laken  genas,  zu  ihm  selber  seufzen  und  zu  ihm 
selber  sprechen:  Mein  Himmel,  Meine  Erde,  Mein  Meer! 
Mein  Licht  und  Mein  Geist,  Meine  Liebe  und  Meine  Brüder! 

894 


Gestaltet  aus  Meinem  Mark  und  entflossen  Meinem  Blut! 
Erlöst  in  Meinem  Mark  und  erlöst  in  Meinem  Blut!  Du 
Mein  Ich*Selbst,  Es  Mein  Ich*Selbst,  All*Alles  Mein  Ich* 
Selbst!  Oh  Gold*Tau  Meines  ersten  Morgens,  oh  Silber* 
glast  Meines  ersten  Mittags !  Oh  göttliches  Genügen,  heiliges 
Befrieden  in  Meinem,  aus  Meinem  Schöpfer*  und  Erlöser* 
Selbst!  Ein  Säligsprecher  der  Beiderseit*Erlöser,  Beiderseit* 
Erlöste,  ihr  Unerlösten,  werdet  ihr  ihn  somit  stets  an  seinem 
Säligspruch  erkennen.  Werdet  ihr  ihn  somit  stets  daran  er* 
kennen,  daß  er  in  seinem  Herzen,  dem  sanft  und  weise 
pochenden,  die  Welt  mitsamt  ihren  göttlichen  und  höllischen 
Kräften  als  die  Seine  eingepflanzt  göttlich  pflegen  und  hegen 
wird.  Den  Gral  aber  seines  Herzens,  die  Hostie  seines 
Herzens  werdet  ihr  (wie  gesagt)  in  seinen  zwei  Händen  gar 
fromm  wie  einen  Blumenstock  aus  rotem  Ton  vorange* 
tragen  und  umfaltet  sehen  .  .  . 


895 


DIE  FRUCHT  DES  MYSTERIUMS 

Schuld  und  Sühne,  Opfer  und  Wiedergeburt,  Schöpfung 
und  Erlösung  heißen  die  drei  doppeltverrungenen  My* 
sterien,  die  der  Religion  gleichsam  ihre  Verfassung  und 
ihren  Gehalt  geben.    Sie  sind  es,  welche  dem  Menschen, 
der  über  sich  hinauswünscht,  Vergöttlichung  gewähren, 
auch  wenn  er  Götter  längst  nicht  mehr  über  sich,  außer 
sich,  in  sich  gewahrt.    Mit  ihrer  Darstellung,  wofern  sich 
die  Sache  der  Tat  überhaupt  durch  Mittel  der  Schilderung 
und    des  Berichtes  darstellen  läßt,  mit  ihrer  Darstellung 
also  haben  wir  auch  unserer  Aufgabe  genug  getan  und  die 
Stelle  deutlich  bezeichnet,  wo  eine  etwanige  religiöse  Zu* 
kunft  Europas  an  Europas  religiöse  Vergangenheiten  ge* 
trost  anknüpfen  könnte,  ohne  doch  törichterweis  diese  Ver* 
gangenheit,  die  in  vielem  doch  köstlich  gewesen  ist,  in  den 
Wind  zu  schlagen  und  kurzatmig  von  vorn  zu  beginnen, 
wo  sie  vorteilhafter  nur  fortzusetzen,  weiterzuführen,  zu 
verbessern,  zu  durchklären,  zu  vertiefen,  geradezubiegen, 
aufzurichten,  hervorzuheben,  auszulassen,  zu  berichtigen, 
abzurunden,  fertig  zu  machen  brauchte.  Die  Religion  dieser 
drei  göttlichen  Mysterien  finden  wir  gleichsam  angelegt  und 
eingezeichnet  in  allen  höheren  Religionen,  und  es  darf  mit 
einiger  Zuversicht  erwartet  werden,  daß  sie  sich  eben  in  dem 
Maß  herausarbeite  und  herausschaffe,  als  die  Religionen 
ihrerseit  zerfallen.    Der  Entschluß,  durchaus  Unerhörtem, 
Neuem  zum  Leben  zu  verhelfen,  ist  dabei  für  die  Verant* 
wortlichen  des  Weltgeschehens  nicht  halb  so  schwer  zu 
fassen  als  der  andere,  aus  Altem  und  Gewohntem  (und  da* 
durch  freilich  auch  Gewöhnlichem)  die  richtige  Auswahl 
zu  treffen.  Denn  im  Grund  besteht  kaum  viel  Zuversicht, 
daß  künftighin  etwas  geschehe  oder  entstehe,  was  bisher 
überhaupt  noch  nie  und  nirgends  geschehen  oder  gewesen 

896 


war.  Wohl  aber  besteht  eine  berechtigte  Zuversicht,  daß 
demnächst  wieder  werde,  was  irgendwie  schon  immer  war, 

—  nur  etwa  nicht  allenthalben  erkannt  und  anerkannt,  nicht 
entschlossen  genug  erstrebt  und  angepackt.  Kindisch  ist 
der  Glaube  an  menschheitliche  Zukünfte,  die  sämtliche 
menschheitliche  Vergangenheiten  auf  den  Kopf  stellten  und 
mit  den  Beinen  strampeln  ließen,  und  gereifte  Geister,  ge* 
reifte  Seelen  werden  von  allen  kommenden  Äonen  hoch* 
stens  nur  vollere  Verwirklichung  dessen  erwarten,  was 
immer  eigentlich  beabsichtigt,  noch  nie  aber  durchzusetzen 
war;  —  und  das  wäre  wahrhaftig  der  Mühe  wert!  —  Dies 
für  grundsätzlich  genommen,  wird  sich  der  Mensch  fürder 
wahrscheinlich  auf  eine  andere  Art  zu  vergotten  wünschen, 
als  es  bisher  geschah:  nämlich  ohne  Gott  und  Götter  und 
darum  auch  ohne  die  teilweis  dummen  und  schlechten  Ge* 
pflogenheiten,  welche  die  sonderbare  Annahme,  daß  Götter 
seien,  bedingen  mußte.  Aber  schwerlich  wird  sich  der 
Mensch  nunmehr  in  höherem  Grade  vergöttlichen,  als  es 
die  Göttlichen  seines  Geschlechtes  in  ihren  höchsten  Zu* 
ständen  je  und  je  vermochten,  und  nie  wird  sich  auch 
späterhin  das  Sein  eines  Einzelnen  mit  dem  Vorgang  der 
Vergöttlichung  vollkommen  decken,  wie  dies  der  Messianis* 
mus  aller  Zeiten  wähnte  und  wähnt.  So  daß  es  Hauptsache 
bleibt,  daß  man  den  Menschen  neue  Wege  zu  alten  Zielen 
weise,  ja  daß  man  ihnen  überhaupt  wieder  Ziele  weise, 
nachdem  sich  in  diesen  Zeitläuften  alle  schlechterdings  ver* 
irrten,  nicht  wissend  mehr  woein  und  nicht  wissend  woaus, 

—  und  was  noch  übler  ist,  nicht  wissend  mehr  wie  hoch 
sich  der  Mensch  als  Gattung  und  als  Einzelwesen  in  seiner 
eigenen  Vergangenheit  gehoben  hatte  .  .  .  Jetztzeitlich  ein* 
geengt  und  ^gezwängt,  nimmt  der  Mensch  seine  vorüber* 
gehende  Verkrüppelung  und  Verlüderlichung  (um  nicht 
Verluderung  zu  sagen)  leicht  für  das  Maß  der  Dinge,  leicht 

57     Ziegler,  Gestaltwandel  der  Götter  897 


für  das  Maß  seiner  selbst:  er  selbst  ein  zweibeinig  Ge* 
schöpf,  das  keine  Flügel  hat,  wie  der  Ironiker  Piaton  einmal 
das  genus  humanum  nicht  ohne  Witz  begrifflich  abgrenzt. 
Nun  aber  sollen  ihm  die  Flügel,  die  schmählich  abgesengten, 
wieder  wachsen.  Nun  soll  der  Tag  herandämmern,  da  der 
Mensch,  zweibeiniges  Geschöpf  und  aufrechten  Ganges,  — 
und  was  folgerte  ein  so  großer  Humanist  wie  Herder 
nicht  alles  aus  diesem  aufrechten  Gangl  —  da  dieser  zwei* 
beinig  Ungeflügelte  sich  selbst  wieder  befiedert  und  be* 
fittigt  und  sein  eigen  Elend  hoch  wie  der  Sturm  den  Kot 
auf  der  Straße  überfliegt.  Wie  dieser  Flug  nicht  mehr  ikarisch, 
sondern  eher  daidalisch  stattfinden  könnte,  dies  haben  wir 
uns  jetzt  genugsam  vorgestellt.  Das  Wort  von  der  religio 
religionum  ohne  Gott  und  ohne  Götter,  das  Wort  vom 
Mythos  Atheos,  das  Wort  von  den  Mysterien  der  Gottlosen 
ist  ergangen  und  ergeht,  und  so  wird  es  kein  Wind  und 
kein  Besen  von  dieser  alten  Muttererde  mehr  fegen:  es  sei 
denn,  daß  es  wirklich  kosmisch  geworfelt,  kosmisch  ge* 
beutelt,  kosmisch  gesiebt  auf  anderen  Erdsternen  oder 
Sternerden  als  Lebensstaub  einst  angewirbelt  käme  .  .  . 
dies  Wort,  sie  sollens  gar  nicht  lassen  stahn,  sie  sollens  viel 
lieber  lassen  stäuben,  wirbeln,  tollen,  segeln  in  den  Winds* 
brauten  aus  Ost  und  West,  bis  daß  es  ganz  still  in  seiner 
Krume  gewiegt  liegt,  aufgeht  und  ausschlägt  einblattkeimig, 
zweiblätterkeimig,  wie  es  ihm  gut  dünkt  und  gemäß  ist. 
Dann  aber,  sage  ich,  wird  die  kernigste  Frucht  dieses 
Wortes  Weltsäligkeit  und  Wohlwollen  sein :  ein  Weltsäliger 
und  Wohlwollender  nämlich,  sage  ich,  tritt  nach  dem 
Mysterium  der  Rückkehr  dann  der  Myste  hin  vor  Freund 
und  Feind  .  .  . 

Hier  aber  wird  es  zum  ungesuchtesten  und  dennoch  wohl* 
gefundensten  Ereignis,  daß  sich  das  schönste  Ziel  einer  tat* 
sächlich  europäischen  Frömmigkeit,  die  ja  nur  Frömmigkeit 

898 


zur  Welt  sein  kann  und  soll,  um  ihren  ersten  erfreulichen  Be* 
ginn  zu  schlingen  kommt.  Weltheiligkeit  ward  eingangs  dieser 
Schriften  das  Fühlen  des  wahren  .Ersten  Menschen',  des  epi* 
sehen  Griechen  genannt,  —  Weltheiligkeit  die  erste  Erschein 
nungweise  einer  höheren  Religiosität,  die  eines  glückhaften 
Tages  auf  derSchwelle  Europas  erwacht  ist.  Und  von  der  ewi* 
gen  Welt  homerischer  Gesänge  galt  die  Behauptung,  daß  sie 
Unheiliges  weder  als  Person  noch  Sache  in  sich  enthielt  noch 
in  sich  duldete.  Es  stellte  sich  heraus,  daß  noch  in  jener 
Welt  nicht  weniger  als  alles  für  heilig  und  für  göttlich  er* 
achtet  wurde,  heißt  das  insofern  die  besondere  Erlebnisform 
des  .Sakral'  oder  , Profan'  weder  zu  einer  praktischen  noch 
gar  zu  einer  abstrakten  Unterscheidung  gelangt  war.  Gott* 
lieh  war  dort,  sagte  ich  damals,  der  Sauhirt  gewesen,  göttlich 
aber  auch  der  Sänger,  der  Seher,  der  Krieger,  der  König, 
der  Arzt,  der  Herold,  der  Seefahrer,  der  Fremdling,  der 
Gast,  der  Priester;  göttlich  Jüngling,  Mann  und  Greis; 
göttlich  Feld  und  Ähre,  Haus  und  Ölbaum,  Hügel  und 
Weinstock,  Grotte  und  Quell,  Meer  und  Insel,  Himmel 
und  Sonne,  Erde  und  Stern,  Armut  und  Fülle,  Gesundheit 
und  Siechtum,  Schicksal  und  Tod.  Göttlich  war  da  vor  allem 
der  ablaufende  Tag  und  sein  Vollbringen:  das  Schlachtfest 
am  frühen  Morgen  und  das  anschließende  Opfer,  die  Leibes* 
Übungen  und  Wettkämpfe,  das  Handwerk  und  die  Jagd, 
der  Kriegszug  und  der  Überfall,  die  Meerfahrt  und  die 
Feldbestellung,  das  abendliche  Gelag  in  herdrauchgeschwän* 
gerter  Halle,  das  Preislied  des  Spielmanns  und  das  Beilager 
mit  Gattin  oder  Kebse.  Dies  alles,  sagte  ich,  war  göttlich  und 
heilig,  und  unsäglich  viel  mehr  noch.  Dies  alles,  füg'  ichjetzt 
hinzu,  wird  einst  wieder  heilig  sein  und  göttlich  und  unsäglich 
viel  mehr  noch  darüberhinaus:  sälig  nämlich  für  Sälige,  die 
zum  Heil  der  Erlösung  sich  selbst  beriefen  und  sich  selbst  er* 
wählten,  und  darum  Berufene  und  Erwählte  sind.  In  einer 

57*  899 


säligen  Welt  wird  sich  der  Beiderseit*Erlöser,  Beiderseits 
Erlöste  wiederfinden,  ähnlich  wie  sich  der  Eingeweihte  in 
Eleusis  nach  Durchwanderung  so  manchen  dunkeln  Stollens 
plötzlich  gebadet  fand  im  Wunder  des  großen  Lichtes.  In 
einer  säligen  Welt  wird  er  sich  wiederfinden,  weil  er  sich 
weit  über  gedankliche  Versinnbildlichung  hinaus  die  Gewiß* 
heit  verschafft,  ja  erschaffen  hat,  daß  jedes  Wesen  und  jedes 
Glied  dieser  Welt  ganz  ausnahmlos  des  höchsten  Heiles 
ebenso  bedürftig  wie  befähigt  sei.  Auch  du  da  wirst  erlöst 
sein,  wirst  erlösen,  raunt  er  mit  einem  Blick  der  Liebe  jed* 
wedem  Geschöpf  in  seine  aufhorchenden  Ohren,  und  läßt 
sich  wahrlich  nicht  verdrießen,  wenn  diesem  Geschöpf  für 
sein  Geraun  Ohren  und  Lauscher  und  Löffel  noch  gar  nicht 
einmal  gewachsen  sein  sollten.  Es  wird  ja  doch,  wird  ein* 
mal  doch  gewißlich  Ohren  haben,  und  war'  es  auch  nur 
ein  winzig  Bläschen  mit  ein  paar  Härchen  und  einem  Stein* 
chen  drinnen,  —  genügend,  um  durch  frohe  Botschaft  inner* 
lieh  bewegt  und  erschüttert  zu  werden  .  .  .  Auch  du  tot' 
Erdklümpchen,  Schleimtröpf  lein,  Kristallkorn,  auch  du  Alge, 
Pilz,  Moos,  Amöbe,  Busch,  Vogel,  Fisch  und  Baum,  auch 
du  wirst  dich  auf  ewiger  Wiederkünfte  Schraube  aufwärts 
und  aufwärts  winden,  bis  du  deine  Selbstlosigkeit,  Welt* 
losigkeit  überwunden  haben  wirst,  bis  auch  du  dir  dein 
Teil  an  Schöpfer*  und  Erlöserwelt  ersiegt  haben  wirst.  Er* 
löst  wirst  auch  du  sein  auf  eine  der  Weisheit  Weiser  sehr 
überlegene  Weise,  erlöst  in  mir  und  dir,  durch  mich  und 
dich,  du  Pflanze,  Tier  und  Mitmensch  ...  In  dieser  Hin* 
sieht  verspricht  das  Mysterium  nicht  vieles,  sondern  alles, 
und  es  würde  nichts  und  weniger  wie  nichts  versprechen, 
wenn  eben  nicht  —  alles.  Denn  eine  Religion,  die  noch 
nicht  alles,  noch  nicht  das  große  All  und  große  Pan  zum 
Heil  beruft,  ist  noch  nicht  Religion  genug.  So  beispielweis 
ist  derVedänta,  verglichen  etwa  mit  dem  Buddhismus,  schon 

900 


darum  nicht  Religion  genug  gewesen,  weil  er  nach  £anka* 
ras  verstocktem  Meinen  der  vierten  Kaste  die  Berufenheit 
und  Eignung  zur  Erlösung  kurzweg  abspricht  ,als  vom 
Vedastudium  ausgeschlossen,'  —  mit  ausdrücklicher  Bezug* 
nähme  sogar  auf  die  grausamen  Strafen,  welche  der  Manu 
über  den  Sudra  verhängt,  der  den  Veda  ausspricht  oder  gar 
auswendig  behält:  für  den  freilich  folgerichtig,  der  mit  dem 
Vedänta  (und  jeder  konsequenten  Theologie)  Erlösung  auf 
Erkenntnis  stellt.  „Der  Sudra",  heißt  es  bezeichnend  dort 
(im  achtunddreißigsten  Sütram  des  dritten  Päda  des  ersten 
Adhyäya),  „der  Sudra  ist  wie  eine  Leichenstätte,  die  man 
betritt:  darum  soll  man  in  Gegenwart  eines  Sudra  nicht 
studieren."  Aber  für  die  Religion  der  Religionen,  für  die 
maxima  chavta  religionum  gibt  es  keine  Leichenstätte  und 
keine  zur  Erlösung  grundsätzlich  nicht  Zugelassenen  und 
Eingeladenen.  Dem  Selbsterlöser,  Selbsterlösten  wird  im 
erlösten  Selbst  die  ganze  Welt  dereinst  erlöst  sein  und  von 
den  Menschen  der  Wohltäter  nicht  minder  wie  der  Ver* 
brecher,  der  Ratgeber  nicht  minder  wie  der  Versucher,  der 
Grausame  nicht  minder  wie  der  Barmherzige,  das  Mündel 
nicht  minder  wie  der  Vormund,  der  Ausbeuter  nicht  minder 
wie  der  Ausgebeutete,  der  Hurer  nicht  minder  wie  der  Jung* 
frauliche.  Ihr  Allerseelenweg  wird  wohl  verschieden  lang 
sein  oder  kurz,  dornig  oder  gebahnt,  krumm  oder  gerad: 
aber  für  keinen  wird  er  leicht  sein,  schmerzlos  oder  bequem. 
Keiner  wird  ihn  nicht  zu  seiner  Zeit  geführt  werden  und 
für  keinen  wird  er  vor  dem  Ziel  abbrechen.  In  diese  Heils* 
weit  wird  der  Einzelne  zwar  nicht  hineingeboren,  aber  er 
wird  zu  ihr  hinaufgeboren.  Und  ist  es  erst  so  weit,  daß  einer 
in  dieser  Heilswelt  mit  der  Seele  lebt,  dann  leuchtet  endlich! 
ihm  am  heiligen  Äther  die  Sonne  Homers,  die  drei  Jahr* 
tausende  so  schmerzlich  entbehrte,  wieder:  leuchtet  ihm 
wieder  über  seinem  jetzt  in  drei  Mysterien  gesalbten  Scheitel. 

901 


Nicht  mehr  freilich  ist  es  die  Sonne  jenes  unvergessensten 
Frühsommervormittags,  sondern  eher  die  Sonne,  wie  sie 
etwas  stechend  und  dampfend,  aber  dafür  strahlenwärmen* 
der  und  regenbogenzauberischer  aufgeht  nach  heftigen  Ge* 
wittern  im  Juli,  die  den  Himmel  für  schwüle  Stunden  tief 
hinab  verhängen  und  tödliche  Blitze  als  einziges  Licht  in 
brütende  Finsternisse  zischen  lassen.  Nur  ungefähr  auf  diese 
Weise  wird  unsere  Weltsäligkeit  der  Weltheiligung  Homers 
gleichen  und  wieder  nicht  gleichen.  Denn  die  Weltheilig* 
keit  des  epischen  Menschen  ward  vormals  ganz  naiv  für  die 
Eigenschaft  der  Erscheinungen  selbst  genommen,  und  nie 
hätte  ein  Homeride  die  Frage  auch  nur  verstanden,  ge* 
schweige  denn  eine  Antwort  auf  sie  gewußt,  weshalb  er 
denn  eigentlich  Leben  und  Welt  als  göttlich*heiliges  Er* 
eignis  schätze.  Die  Weltsäligkeit  hingegen,  die  hier  von  mir 
gemeinte,  sie  ist  der  Preis  nur  unablässig  streng  geübter 
Selbstheiligung  und  Selbstvergöttlichung,  die  sich  und  das 
Wirkliche  nur  darum  sälig  sprechen  kann  und  darf,  weil 
beide  in  der  Tat  und  durch  die  Tat  erweisbar  als  erlösung* 
heischend  und  erlösungfähig  scheinen.  Was  ehedem  der 
Gott  des  Olympos  ohne  Müh'  einfach  durch  seine  Gegen* 
wart  bewirkte,  das  lastet  heute  auf  dem  Menschen  als  seine 
buchstäblich  übermenschlichste  Aufgabe  und  Leistung.  Eine 
gottlos*unsälige  Welt  harrt  menschheitlicher  Selbstvergot* 
tung,  um  durch  sie  sälig  zu  werden  und  zu  sein.  An  diesem 
Abstand  unseres  eigenen  Weltfühlens  vom  Weltfühlen  der 
Homeriden  werden  wir  dann  zu  jeder  Stunde  abmessen 
können,  wie  weit  wir  unserer  höchsten  Forderung  entspro* 
chen  oder  nicht  entsprochen  haben,  Besäliger  und  Beseeler 
einer  .dennoch'  säligen  Welt  zu  sein.  Just  um  die  Spanne 
dieses  .Dennoch'  dünkt'  mich,  werde  wohl  einmal  unser 
Taggestirn  an  seinem  Himmel  vorgerückt  sein  seit  den  Jahr* 
hunderten  jener  epischen  Gesänge,  die  den  Gesichtskreis 

902 


unseres  Europa  nach  rückwärts  stets  so  rein*  wie  reichge* 
bildet  wundersam  begrenzen  werden  .  .  . 

Lebt  folglich  der  und  der  allein  in  säliger  Wirklichkeit 
und  Welt,  wer  über  jede  gedankenhafte  Rechtfertigung  die 
Zuversicht  bewahrt,  daß  jedes  vorhandene  Geschöpf  zu* 
letzt  seinen  Weg  des  Heils  geführt  werde,  so  kann  es  nicht 
anders  sein,  als  daß  ihn  diese  Zuversicht  bald,  die  er  ja 
nicht  als  Wissen,  sondern  als  Wandel  betätigt,  mit  tiefem 
Wohlwollen  für  alles  und  gegen  alles  innig  erfülle.  Er  wird 
lernen,  jedes  Wesens  Wohl  ernstlich  zu  wollen  und  zu 
wünschen,  —  und  mehr  noch,  er  wird  lernen,  jedweden 
Wesens  Wohl  nach  besten  Kräften  überall  zu  fördern.  Und 
zwar  wird  er  dieses  Wohlwollen  durchaus  als  ein  über* 
menschliches  und  göttliches  erweisen :  nicht  menschlich  allzu* 
menschlich  nur  diesem  hier  widmen,  aber  jenem  dort  ent* 
ziehen,  und  diesem  hier  gönnen,  aber  jenem  anderen  scheel 
sehen.  Ohne  Unterschied  wird  der  Weltsälige  sein  Wohl* 
wollen  vielmehr  allen  mitteilen  und  allen  spenden,  die  sich 
an  des  Lebens  eiserne  Pforten  drängen.  Und  im  Verfolg 
dieser  wahrhaft  göttlichen  Erweisung  wird  er  sogar  vor 
jenem  äußersten  Zynismus  nicht  länger  zurückschrecken, 
der  sonst  alleiniges  Vorrecht  vollendeter  Frechheit,  Ruch* 
losigkeit,  Ehrfurchtlosigkeit  war:  sein  Wohlwollen  wird  die 
Rangleiter  der  Wesen  und  der  Werte,  das  festeste  Gerüst 
dieser  Welt,  mit  dem  Fuß  umstürzen  und  endgültige,  un* 
bedingte  Gleichheit  nicht  sowohl  verkünden  als  verwirk* 
liehen,  —  eine  ungeheure  Gleichheit,  die  nicht  mehr  und 
nichts  mehr  abstuft,  es  sei  nach  Haben  oder  Sein  oder 
Können  oder  Leisten  oder  Vermögen  oder  Streben  oder 
Wissen  oder  Wollen  oder  Vollbringen.  Für  den  wohlwollend 
Gewordenen  gibt  es  länger  kein  Unten  mehr  und  kein  Oben, 
kein  Vornehmer  und  kein  Geringer,  kein  Tüchtiger  und 
kein  Ungeschickter,  kein  Klüger  und  kein  Dümmer.  Für 

903 


ihn  sind  Unterschiede  an  Gestalt  und  Bau  so  gegenständ* 
los  geworden  wie  Unterschiede  an  Seele  und  Geist,  an  Adel 
und  Wert.  Ihm  erwacht  alles  Daseiende  zu  seiner  Zeit  zu 
seinem  Heil,  ohne  daß  dieser  Vorgang  von  religiös  ent* 
scheidender  Bedeutung  gebunden  wäre  an  die  üblichen 
Voraussetzungen  natürlicher,  geistiger,  sittlicher,  gesell* 
schaftlicher  Art.  Ihm  gelten  gleichviel  und  dürfen  endlich 
gleichviel  gelten  die  guten  und  die  schlechten  Musikanten; 
er  als  alleinziger  erblickt  die  Brillenschlange  nicht  unter 
Brahma,  sondern  neben  ihm.  Als  Wohlwollender  ist  er  so* 
gar  ganz  davon  durchdrungen,  daß  gerade  der  am  höchsten 
gehoben  werden  könne,  der  am  tiefsten  gefallen  ist,  wäh* 
rend  der  nie  auf  eigener  Ebene  Strauchelnde  sich  auch  nie 
verirrt  und  deshalb  auch  nie  wirklich  findet.  Wenn  also 
Jesus  der  Nazoräer  wirklich  mit  Sündern  und  mit  Zöllnern 
Umgang  pflegte,  so  war  es  das  Wahrzeichen  einer  von  ihm 
aus  menschgöttlicher  Machtvollkommenheit  vollzogenen 
Aufhebung  der  Rangordnung  aller  Werte  und  Gegenwerte, 
wie  sie  dem  Wohlwollenden  geziemt.  Und  es  gehört  genau 
hierher,  wenn  Gotamo  Buddho  nach  stets  neu  ausschmük* 
kenden  Berichten  den  Mörder  und  Straßenräuber  in  seinem 
Orden  nicht  weniger  aufrichtig  willkommen  heißt  als  die 
Buhlerin  und  Dirne,  —  derselbe  Buddho  wohlgemerkt,  der 
sonst  in  seinem  Bund  den  Älteren  dem  Jüngeren,  den  Be* 
wiesenen  dem  Unbewiesenen,  wohl  auch  den  Mönch  der 
Nonne    durchaus    vorgezogen  wissen   möchte:    derselbe 
Buddho,   der  mit  so   unerhörter  Schärfe  den  geborenen 
Knecht,  den  geborenen  Hundsfott  vom  höheren  Menschen 
zu  unterscheiden  lehrt,  daß  man  selbst  ihm  noch  unver* 
kennbar  für  alle  Zukunft  anmerkt,  was  es  heißen  wollte, 
am  Manu  und  am  Veda  als  königlicher  Prinz  zu  Kapilu* 
vatthu  erzogen  worden  zu  sein  .  .  . 

Durch  dieses  Wohlwollen  aber,  das  niemand  verscherzen 

904 


aber  auch  niemand  verdienen  kann,  richtet  sich  hinter 
dieser  Weltwand  unendlicher  Seins*  und  Wertverschieden* 
heiten  eine  Welt  auf  von  vollkommenen  Gleichheiten,  — 
mithin  eine  Welt  von  vollkommener  Ungerechtigkeit,  die 
nichtsdestoweniger  oder  eben  deshalb  die  eigentlich  gött* 
liehe  ist.  Eine  Welt  von  wirklich  gleichen  Teilen,  von  wirk* 
lieh  gleichen  Gliedern,  von  wirklich  gleichen  Erscheinungen, 
wie  sie  sich  keine  noch  so  lebhafte  Einbildungkraft  er* 
träumen  kann:  es  sei  denn  eben  die  des  Wohlwollenden, 
die  Menschenmaß  schlechthin  übersteigt.  Ein  Endzustand 
von  unfaßbarster  Lebensferne  und  Weltjenseitigkeit,  von 
dem  niemand  einen  Begriff,  niemand  ein  Bild  hat,  wird  hier 
der  Verwirklichung  zugeführt.  Wenn  alles  wirkliche  Leben 
auf  der  Verschiedengestaltigkeit  der  Glieder  beruht,  wenn 
jede  lebendige  Gesellschaft  diese  Verschiedengestaltigkeit 
notwendig  zur  Verschiedenwertigkeit  ihrer  Glieder  steigert, 
so  hebt  sich  der  Wohlwollende  durch  sein  Wohlwollen 
über  jedes  Leben  und  über  jede  Gesellschaft  hinaus,  den 
Hebel  an  den  archimedischen  Punkt  setzend,  wo  er  diese 
Welt  aus  ihren  Angeln  springen  läßt.  Und  sicherlich  war 
es  mehr  als  bloßer  Zufall,  daß  es  gerade  der  unbeugsamste 
Künder  welthafter  Rang*  und  Wertunterschiede  sein  mußte, 
der  tatsächlich  als  der  Archimedes  dieses  Punktes  auftrat, 
gewissermaßen  überwältigt  von  einer  ihm  selbst  unbegreif* 
liehen  Frömmigkeit,  die  ihn  Religion  über  jede  persönliche 
Absicht  nicht  zu  stiften,  aber  in  jedem  Atemzug  zu  leben 
und  zu  betätigen  hieß.  In  seiner  erschreckend  weis*  und 
erschreckend  wahrsagenden  Vermächtnisschrift,  die  gleich* 
sam  in  jeder  dunkeln  Zeile  geladen  ist  mit  dem  Verhängnis, 
das  über  uns  hereinbrach,  und  oftmals  nicht  bloß  geladen 
mit  ihm,  sondern  geradezu  von  ihm  gesprengt  wie  schließ* 
lieh  das  Gehirn  des  Künders  selber,  —  in  dieser  zeitent* 
schieiernden  Schrift  von  so  mancherlei  letzten  Dingen  über* 

905 


rascht  uns  auch  das  plötzliche  Gesicht  des  großen  Wohl* 
wollenden:  „Ein  anderes  Ideal  läuft  vor  uns  her,  ein 
wunderliches,  versucherisches,  gefahrenreiches  Ideal,  zu 
dem  wir  niemanden  überreden  möchten,  weil  wir  nie* 
mandem  so  leicht  das  Recht  darauf  zugestehen  .  .  .;  das 
Ideal  eines  menschlich* übermenschlichen  Wohlseins  und 
Wohlwollens,  welches  oft  unmenschlich  erscheinen  wird, 
zum  Beispiel,  wenn  es  sich  neben  den  ganzen  bisherigen 
Erdenernst,  neben  alle  bisherige  Feierlichkeit  in  Gebärde, 
Wort,  Klang,  Blick,  Moral  und  Aufgabe  wie  deren  leib* 
hafteste  unfreiwilligste  Parodie  hinstellt,  —  und  mit  dem 
trotzalledem  vielleicht  der  große  Ernst  erst  anhebt,  das 
eigentliche  Fragezeichen  erst  gesetzt  wird,  das  Schicksal  der 
Seele  sich  wendet,  der  Zeiger  rückt,  die  Tragödie  be= 
ginnt"  .  .  .  Brauch'  ich  zu  sagen,  daß  diese  vielleicht  noch 
unausgenutztesten  und  unausgehobensten  Worte,  diese 
vielleicht  noch  in  dumpfester  Latenz  versenkten  Sätze 
genau  die  Stelle  berühren,  wo  alles,  was  bisher  Philo* 
sophie  und  Theologie,  Ethik  und  Moral  gewesen  ist, 
von  der  Religion  endgültig  eingeholt  und  überflügelt 
worden  ist?  Brauch*  ich  noch  zu  beweisen,  daß  sie  die 
Summe  aller  bisherigen  Religionen,  die  Summe  der  Religion 
überhaupt  ziehen:  jedenfalls  aber  die  Summe  der  Mysterien, 
die  hier  zur  Religion  hinleiten,  reif  machen  und  weihen 
sollen,  —  zur  Religion  dieser  angebrochenen  Weltstunde, 
und  darum  freilich  doch  wohl  nicht  zu  der  Tragödie,  nein, 
viel  eher  über  jede  vorläufige  Tragik  hinaus  zu  einer  weit* 
gesättigten  und  *erfüllten  Epik?  Wo  je  die  Religionen  von 
Liebe  sprachen,  —  und  sie  taten  es  nicht  so  gar  häufig,  wie 
man  gerne  meint!  —  überall  zielten  sie  im  Grund  auf  dieses 
Wohlwollen,  dydm]  und  nicht  egog,  wie  wir  jetzt  abhebend 
auf  frühere  Betrachtung  sagen  dürfen.  Sie  zielten  auf  ein 
Wohlwollen,  das  nicht  mehr  wie  die  Liebe  wählt  oder  ver* 

906 


wirft,  sondern  das  alles  ohne  Ausnahme  umfaßt,  alles  um* 
armt,  alles  anstrahlt,  alles  erwärmt,  was  über  des  Erlebens 
Schwelle  schreitet.  In  einem  sehr  symbolischen  Wortver* 
stände  v/elt  vernichtend,  weltverneinend,  lebenüberwindend, 
gesellschaftaufhebend,  tagt  dieses  Wohlwollen  wirklich 
über  Gerechten  und  Ungerechten  und  macht  sie  alle  ein* 
ander  gleich.  Hier  steigt  im  selbstvergotteten  Menschen 
eine  Flut  auf,  so  hochgeschwollen,  so  uferüberquellend,  daß 
sie  alles  was  fest  ist  und  alles  was  fließt  gleichermaßen  über* 
schwemmt.  Sie  fällt  den  felsigsten  Urgebirgen  in  die  Flan* 
ken,  sie  durchsticht  die  härtesten  Dämme,  sie  deckt  die 
feierlichsten  Tempelhallen  zu,  sie  legt  vor  die  reißendsten 
Ströme  einen  Barren,  sie  kehlt  in  die  glättesten  Ebenen 
Höhlen  und  Schlüchte,  sie  bringt  die  Tiere  des  Landes  zum 
Tauchen  und  lehrt  die  Geschöpfe  des  Meeres  auf  dem 
Wasser  wandeln,  sie  schwillt  aufwärts  bis  zu  den  Sternen 
und  löscht  des  Himmels  Lichter  aus,  aber  entzündet  auch  fau* 
lendes  Holz  und  allerlei  treibendes  Kleinleben  auf  der  Fläche 
ihrer  hochgestauten  Mengen.  Und  so  endigt,  oh  unendliches 
Geheimnis!  der  Selbst*  und  Welterlöser  unmenschlich*über* 
menschlichen  Gehabens  auf  gewisse  Weise  dennoch  beim 
Weltvernichter,  Weltzerschmelzer.  Denn  diese  Welt  zer* 
schmilzt  fürwahr  am  Herzen  des  Wohlwollenden,  für  dessen 
Wohlwollen  ohne  Schranken  und  Maße  die  gotamidischen 
Worte  Maß  und  Schranken  ein  für  alle  mal  gesetzt  zu  haben 

scheinen: 

„Was  uns  irgend  an  lebendig  blickt, 
Ob  nun  zart,  ob  grob  geraten,  was  es  sei, 
Groß  gegründet,  ob  es  mächtig  um  sich  greift, 
Oder  Mitte  hält,  auch  winzig  klein  besteht: 

Sichtbar  was  geworden,  was  unsichtbar  bleibt, 
In  der  Ferne  was  auch  wandelt,  nahebei, 
Leben  wo  da  atmet  oder  atmen  will: 
Allen  Wesen  wünsch'  ich  Heil  nach  ihrer  Art  .  .  ." 

907 


NAMEN*  UND  SACHVERZEICHNIS 


Abendmahl  188, 427, 850  s.  sacra« 

mentum. 
Abgeschiedenheit  s.  Eckhart. 
Achilleus  20,  32. 
actus  purus  299,  430,  816. 
Adad  159. 
adhyäsa  851. 
Adonis  49,  54,  159. 
Agamemnon  32, 73, 77, 99  (Zitat). 
Agape  198  f.,  399,  906  s.  Eros, 

Paulus. 
Agni  46,  49,  165. 
AgnisPuruschamythos  173. 
Ähavaniya  46. 
Aias  bei  Homer  20,  im  Drama 

85,  87  f. 
äkriti  884. 
Albertus  Magnus  265,  266,  275, 

356. 
D'Alembert  635. 
Alexandrinische  Gesinnung  159. 
Alexandros  20. 
Alkestis  101. 
Allegorismus  305,  311. 
Allorganismus  645  (Idee  Welt« 

maschine— Allorganismus);  s. 

mechanisches  Weltbild,  Orga« 

nik,  Wissenschaft, 
„als  ob"  495  (Organismus,  Me« 

chanismus);    512,    561,    576, 

633  f.,  865,  877. 
Amphinomos  32. 
Ananke  s.  Dike. 
Anaxagoras  125,142,144,155,807. 
Anaximenes  28,  265,  560. 
Andromache  100. 
animistische  Theorie  22. 


Anselm  von  Canterbury  253. 

Antigone  69 f.,  72  (Zitat);  727. 

Antiperistasis  769. 

Antiphon  35. 

Äon  Jahve  179. 

Apathanatismos  48,  49,  57,  869. 

aphoristischer  Denker  275. 

Aphrodite  157. 

Apokalyptiker  170. 

Apokatastasis  s.  Dreifaltigkeit. 

Apollonius  776. 

Apollo  bei  Homer  29, 36  (Sühne* 
gott),  74,  81,  95,  130,  159,  im 
Drama  80,  85;  Phöbos  37. 

Apollos  222. 

Apostelgeschichte  s.  Bibel. 

Apriorismus  261,  300,  484 f.,  516, 
622,  681,  742  s.  Begriff,  Dia« 
lektik. 

Äquipollenz  517  u.  Äquivalenz 
537,  541,  563. 

Arago  770. 

Arbeit  336  (menschl.  Arbeit  uns 
bezahlbar);  s.  Buddho,  Fran* 
cescos;  mechan.  Vorgang  495, 
der  modernden  Frucht  497  f., 
520,  532  f.  s.  Hartmann,  mech. 
Weltbild,  Organik. 

Archimedes  560,  905. 

Ares  29,  81,  159. 

Ariadne  49. 

Aristipp  846  f. 

Aristophanes  44. 

Aristoteles  64  (Schuld);  131  f. 
(Synolon);  132  (Horismos); 
136,  139  (des  Denkens  Den« 
kung);145  (Intellektualismus); 


909 


153, 181  (Allgeist);  190  (Wohl, 
beschiedenheit);  255  (philo« 
sophus);  256  (Entelechie,  Kate» 
gorien);  261  (Proteron,  Apri» 
ori);  271  (principium  exclusi 
tertii);  281  f.  (Analytik);  284 f. 
(Prinzipien);  296  (nus);  359, 
383  (Dialektik);  430  (Theo» 
logie) ;  474,486  (Apriorismus); 
517  f.,  520,  522  (Energeia,  Dy» 
namis);  527,  570  (nus);  601, 
606,636  (Plato);651  (Energeia, 
Dynamis);  725,736,  738,  739, 
742,  762,  767, 769, 771  (Logik) 
s.  Plato,  Luther,  Thomas,  Au» 
gustin,  Gott. 

Arithmos  s.  Mathematik,  Or» 
ganik 

Äther  559  f.  s.  Hertz,  Kausalität, 
mechanisches  Weltbild. 

ätman  851. 

ätmayäjia  Selbstopferer  849. 

Arnoldi  428. 

Artemis  29,  74,  157. 

Äschylus  59,  69,  73, 74  (göttliche 
Selbstentsündigung) ;  76,  83 
(finis  tragödiae);  87  (theatr. 
Maschine);  89  (Urteil);  92 
(Mensch),  142 ;  Werke  und  Ge» 
stalten:  61, 69£, 73 f., 77,83, 85, 
87  f.,  93  f.  Vergleich  mit  Euri» 
pides  130,  mit  Sophokles  93, 
96,98, 101  s.  Drama,  Tragödie. 

Äsen  828. 

Asklepios  159. 

Astarte  53. 

Atargatis  53. 

Ate  32. 

Attis  49,  54,  155,  161. 


attritio  in  contritio  umwandeln 
418. 

Augustin   195,   252,   376,   386  f. 
(contra  Aristoteles)  s.  Gott. 

Avenarius  528. 

Averroes  296. 

Avicenna  296. 

Axiologisches  690  (3.  Erkennt» 
nisart) ;  700  (Begriff — ax.  Cha» 
rakter);  704  (Antithesis,  Syn» 
thesis);  707  (Geltung  der 
Werte);  713  (3.  Typik);  718 
(RangordnungderWerte);719 
(hieratisches  System);  720 f. 
(Moral,  Ästhetik,  Logik);  728  f. 
(Relativität  der  Werte  unter» 
einander);  730  (Relativierung); 
732,  736  (Wechselbezüglich» 
keit  der  Werte);  739  (Wert» 
Wissenschaft);  741  (Werkzeug); 
747,768  (Leben,  Dasein);  785 
(mechan.,  organ.  ax.),  s.  Philo» 
sophie. 

ba'al  samin  162. 

Bach  758. 

Baco,  Roger  275,  347,  483,  612. 

Badaräyänä  819. 

Bahnsen  704. 

Bakchen  101. 

Balzac  824. 

Basileides  176. 

Bayreuth  767. 

Begharden  404  f. 

Begriff:  144  (Arbeit  am);  262 
(hieratische  Gliederung);  305 
(Sinnbild);  486  (Apriorität 
des);  490  (System  konstitu» 
tiver    Stammbegriffe);    565 f. 


910 


(Substratcharakter) ;  701  (axio* 
logischer  Charakter) ;  702  (An= 
spruch  auf  Wertverwirkli* 
chung);  705  (Begriff  des  Be* 
griffes) ;  767,  770  (Irrationalis; 
mus);  772  (Konstitutives,  Sy* 
nopsis);  857  (Begriffsbild);  s. 
ApriorismUjS,  Dialektik. 

Begriffsgesicht  121,  689. 

Bendis  157. 

Bergmann  616. 

Bergson  536,  596. 

Bernays  103  f. 

Bezold  414. 

Bibel  und  Bibelstellen:  altes 
Testament  (182, 204, 334) ;  Syn* 
optiker  (206,  2 16  f.,  224,  228, 
241,  790);  Johannesevange* 
lium  (246  f.,  251,  323,  873); 
Apostelgeschichte  (204,  206) ; 
Paulinische  Schriften  (221, 
334,  423);  Sonstige  (312,  434). 

Biologie  667. 

Blutfrevel  33  f. 

Boetius  256,  388. 

Böhme  176,  280. 

Bollstädt,  von  s.  Albertus 
Magnus. 

Bolzano  712  f. 

Bonaventura  303,  347. 

Brahma  169,  177,  385,  819  f.,  849, 
885,  892,  904. 

brahmanirvänam  372  f. 

Braun,  Otto  863. 

Brüder  vom  freien  Geist  405. 

Brüder  vom  gemeinsamen  Leben 
405. 

Bruno  275. 

Büchner  67. 


Buddho  47,  66,  214  (Parallele 
zur  Ankündigung  der  Ge« 
burt  Jesu);  318  (Franzescos, 
Herzensfrömmigkeit) ;  324  f. 
(gotamid.  Jahr);  332  (Bereit* 
schaff  zum  dinglichen  Vers 
zieht);  335  („Arbeit");  378  u. 
382  (und  Eckhart);  380  (Aus» 
fahrten);  381  (4  heilige  Wahr» 
heiten  und  Vorschriften) ;  384 
(BuddhosEckhartsWort);  405 
(Eckhart) ;  406  (Religion  ohne 
Kirche) ;  855  (Praxis) ;  873, 900 
(Buddhismus) ;  904  f.  (Orden) ; 
907  (Worte) ;  s.  Indisches.Fran* 
cescos,  Eckhart,  Selbst. 

Byblos  54. 

Cajetan  415. 

Calderon  67. 

Caligula  450. 

Calvinismus  — Kapitalismus  756. 

Qankara  819,  851,  880,  901. 

Cartesius  515,  532,  759,  763. 

causa  aequat  effectum  506,  509, 
512,  532,  533,  534  (s.  Kausali* 
tat,  mechan.  Weltbild). 

causa  inaequat  effectum  629,  741 
(s.  Kausalität,  Organik). 

Cavour  725. 

Ceres  157  (s.  Demeter). 

Cervantes  337. 

Choephoren  93  f. 

Christentum  208  (Widerspruch 
im  Ansatz  des  geschicht- 
lichen Ch.);  209  (entscheid 
dende  Frage);  215  (evange* 
lisches  Wort) ;  227,  243  (Heils* 
dreiweg) ;  246  (Charakter  des); 


911 


251  (und  Griechentum);  254 
(christl.  Wahrheit  und  griech. 
Weisheit) ;  303  f.  (Widerspruch 
im);  452  (religiöse  Genossen* 
schaft  und  Priester);  757  (die 
„Welt") ;  774  (Mythos  des  Ch.); 
799  (europäisches);  801  (Theis* 
mus);  805  (Verhältnis  zum  Pan* 
theismus);  816  (der  fromme 
Monotheist  wird  Peripathe» 
tiker,  Thomist  und  Hegeli* 
aner);  823  (Kritik  des);  842 
(katholisches  und  protestan* 
tisches);  841  (Urchristliche 
Lehre  vom  Opfer  des  Besitzes, 
der  Person,  des  Lebens). 

Christian  science  171. 

Chryseis  26. 

Chryses  85  f. 

Claudius  Ptolemäus  776. 

coincidentia  oppositorum  394. 

Couturat  555. 

Crotus  Rubianus  426. 

Crusius  198. 

Cumont  50. 

Cuvier  276. 

Daniel  170. 

Dante  307,  308  f.  (Sensualismus, 
Beatrice);  310  (Homer, Marco 
Polo);  311  (Allegorie);  312 
(Intellektualität,  diffetivi  sillo* 
gismi);  3 12 f.  (Glaube);  337, 
347,  402,  416. 

Däubler  781. 

Darwin  653,  659,  662,  669,  696. 

Delacroix  280. 

Demeter  30  (Hymnos);  35,  48, 
55,  157  (Ceres). 


Demokrit  125,  141,  155. 

Demophoon  48. 

Denkung  d.Denkensl39,299,430. 

Deismus,  Gott  des  807,  809,  810 
(unfähig  zur  Würdigung  reli* 
giöser  Riten). 

Derketo  53  f. 

Descartes  s.  Carte^ius. 

deus  274,  303 f.,  386  (divina); 
807  (transmundanus) ;  807  f. 
(extramundanus). 

Deussen  46,  719,  884. 

Dialektikl44  (Arbeit  am  Begriff); 
273  (Ja  und  Nein);  305  (Sinn* 
bilder,  Begriffe);  565,  568 
(dialektischer  Umschlag  von 
Substratbegriffen  in  Kausal? 
begriffe) ;  768  (Denkinhalt 
mündet  in  ein  Undenkbares, 
Unausdenkbares);  s.  Begriff, 
Syllogismos,  Gott,  Kausalität. 

Dieterich,  Albrecht  50  f. 

Dietrich  von  Bern  211. 

Dighanikäyo  51,  177. 

Dike,  Ananke,  Moira  77,  85. 

Dingheiligung  110;  s.  Buddho. 

Dionysos  49. 

Dogma  249,  473,  476  (neues; 
Luther);  739. 

Dionysos  39,  159. 

Dostojewski  234. 

Drama  58  (Wort);  96  (Urtat* 
Folgetat);  97  („Drama");  104 
(hieratische  Bedeutung);  s. 
Ernst,  Nietzsche,  Tragödie. 

Dreifaltigkeit  259f.,  285  (Apo* 
katastasis). 

Drews210,  239  f. 

Duns  Scotus  358,  429,  436. 


912 


Eckhart  196,  348,  351  (Nachfolge 
Jesu,  Francescos);  352  (My* 
stik,  Augenschließen);  353 f. 
(Armut) ;  354  (Gegenwurf) ; 
355  f.  u.  366  f.  u.  372  f.  u.  384  f.  u. 
393  (Abgeschiedenheit);  359 
(Primat  des  Willens);  361 
(Seelengrund);  362 f.  (Gleich* 
heit  zwischen  Erkennendem 
u.  Erkanntem);  365  f.  (Gnade); 
366  (Religion  der  Seele);  368 
(Fünklein) ;  369  (Privation, 
Negation);  371  (Verwesent* 
lichung  der  Seele  zu  Gott); 
375  (Umschlag  vom  Ich  zum 
Es);  378 f.  u.  389 f.  u.  405  (E. 
und  Buddho);  385  f.  (Praxis) ; 
389  (Gottes  Personalität);  390 
(Dionysier) ;  393  (deutsche 
Gott);  824. 

Ebner  Margarete  376. 

Eidos  746,  884. 

Einstein  472,  631  f. 

elan  vital,  formal,  figural  661. 

Eleaten  110,  122,  124,  254,  311. 

Elektra  93  f. 

Eleusis  75. 

Empedokles  40,  125,  265,  362, 
385. 

Energie  495,  498  (1.  Hauptge* 
setz);  501  (Umformungmög* 
lichkeiten  der) ;  503  (der  Lage, 
Bewegung);  507,521  (Substrat* 
charakter,  qualitative  Ener* 
getik);  523  (substrathaft  ge* 
dachte  Sache  kausal  getönt); 
522  u.  651  (Energie,  Dynamis 
bei  Aristoteles);  s.  mechani* 
sches  Weltbild. 


ens  realissimum  263,  267,  285, 
429;  generalissimum  267,  285, 
430;  individualissimum  430, 
432. 

Entelechie  140,  255 f.  (Gott);  s. 
Aristoteles. 

Entropie  629,  645. 

Eobanus  Hessus  426. 

Epikur  149  f.,  153,  567. 

Epimenides  37. 

Erasmus  477. 

Erinnyen  35,  80  (Äschylus). 

Erlösergott  und  Erlösung  176, 
180  (Kampf  mit  dem  Schöpfer* 
gott);  873  (Schöpfung,  Erlö* 
sung,  Erlöserselbst);  889  (Er* 
lösung  zu  der  Welt). 

Eros  s.  Agape,  Paulus. 

Ernst,  Paul  59,  63,  64  (Schuld); 
67,  90. 

Es,  das  197,  801  f.  (vom  Ich  zum 
Es);  803  (das  Es  in  jedem  Ich). 

Essäer  182. 

Essener  171. 

Esther  239. 

Eteokles  69. 

etre  supreme  161,  329. 

Euhemeros  155,  186. 

Euklid  480,  514  f.,  556  s.  Mathe* 
matik,  mechanisches  Weltbild. 

Eumaios  17  f.,  899. 

Eumeniden79,  82  f.,  93  f.,  218, 
220. 

Eumolpiden  30. 

Euripides  63,  93  (Pathos  des  tra* 
gischen  Erleidens);  95  (Sühn* 
Wirkung);  97  (Schuldlosig* 
keit,  Unschuld  der  tragischen 
Gestalt);  98  (Götter,  Helden 


58    Ziegler,  Gestaltwandel  der  Götter 


913 


bei) ;  99  (Tragik  der  Frau) ;  1 02 
(Pathos  *  Katharmos) ;  Werke 
und  Gestalten  93  f.,  96,  100  f. 
Vergleich  mitÄschylus93,101; 
s.  Tragödie. 
Eurykleia  20. 

Faraday  570. 

Fechner  636. 

Feuer  46  f. 

Feuerbach,  Ludwig  783. 

Fichte  18,  712  f. 

Francescos  von  Assisi  315  i. 
(gegen  Intellektualisierung, 
imitatio  Jesu);  319  (Joglar); 
324  (Sonne);  325  (Anspruch 
des  Geistes);  326  (Anspruch 
des  Besitzes);  335  (Arbeit, 
Bettelmönch,  Gotamo) ;  348 
(evangelischer  Wandel,  Ge* 
fahr  für  Kirche  und  Staat); 

349  (Albigenser,    Provence) ; 

350  (Ketzer  im  Schoß  der 
Kirche);  351  (Eckhart,  Nus); 
353  (Dinglichkeit,  Natur) ;  372 
(Armut);  407 f.,  725;  Bibel, 
stellen  334;  s.  Arbeit,  Buddho, 
Eckhart. 

Freytag,  Gustav  438. 
Friedrich  der  Weise  478. 
Friedrich  von  Preußen  445,  807. 
Friedrich  II.  von  Hohenstaufen 
275  f. 

Gaia  35  f.,  80  (Äschylus). 

Gaißmayr  454. 

Galilei  288,  480 f.  (Fallgesetze); 
482  (Platoniker);  483  (Geo* 
metrisierung,   Induktive  Me* 


thode);  490 (Schwerkraft);  520 

(Trägheit);  542,  545  (Tendenz 

zur  Geometrisierung  der  Na« 

tur);625,  635. 
Gamaliel  181. 
gandhabbo  51. 
gandharvas  51. 
Gandharven  379. 
Geometrisierung483  f.,  505, 515f. 

(der  Mechanik);  532,  545,  555, 

557  (der  Natur);  626,  632  s. 

mechanisches  Weltbild,  Kau? 

salität. 
George,  Stefan  781. 
Gerechtigkeit,  poetische  99. 
Gerson  367. 
Geschichte  479  (Verständnis  für 

Historie);    672    (Relativität); 

687  f.  (Wort);700,741  (Morphe, 

Metamorphose ,     Typus ,    hi* 

storia). 
Gestaltwandel  655  f.,  741. 
Gilbertus  Porretanus  386. 
Gilgamesch  213. 
Giotto  325,  440. 
Glauben    184  f.,    188  f.,     196  f., 

221  f.,  225, 406, 433  (kritischer); 

435  f.  (rechte) ;  453  (Gleichheit 

der     Gläubigen);     473,    475 

(Wissen  und  G.). 
Gnade  190,  191  (Gnadenwahl); 

197,  365,  406,  417  (Gnaden* 

schätz). 
Gnosis  163,  167,  175  f.,  180, 187, 

241,  249, 309,  323  (Schöpfung); 

801,  873. 
Goethe   25,  67,  215,  337,  362, 

545,  615  („Die  letzten  Hand* 

griffe— ");  618, 622 f., 636,655, 


914 


656  (Metamorphose,  Farben* 
lehre);  660,  662,  666,  668  (Ur* 
pflanze);  669  (Spiraltendenz); 
672,  737,  781,  783,  858. 

Gotik  400,  759. 

Gott  11  f.,  24  f.,  29,  31,  33,  37, 
40  f.  (wiedergeboren  in  Gott); 
42  (Passion);  49  (sterbender); 
56  (Opfer);  73  (Entheiligung 
der  Götter);  85  (bei  Sopho* 
kies);  87  (aus  der  Maschine); 
109  (bei  Xenophanes);  142  f. 
(Aristoteles,  philos.  Gott) ;  143 
(Konkomitanz);158  (der  Gott); 
159  (Gottgestalt);  160  (Welt, 
urheber);  161  (Monos  theos, 
etre  supreme);  162  (Eingott, 
Alleingott);  167  (Gottes  Vor* 
sieht);  168  (Finger  Gottes); 
170  (Gott*König  bei  Daniel); 
172  (überweltliche,  außerweit* 
licheWesenheit ;  Schöpfergott, 
Erlösergott);  175 f.  (Jahve); 
179  (Äon  Jahve);  180  (Kampf 
zwischen  Schöpfer*  und  Er* 
lösergott);  182  (Gottmensch); 
250  (Gott*Schöpfer,  Gott*Er* 
löser,  Gott* Geist);  255  (an* 
thropomorphe,  antropopathe 
Schöpfergott  des  jüdischen 
Tetragrammaton  und  Gnosis, 
Augustin  und  Aristoteles) ; 
263  (ens  realissimum);  300  (In* 
tellektualisierung  von  Welt, 
Gott);  303  (eritis  sicut  deus); 
304  (Dialektiker,  Peripate* 
tiker);  305  (allgemeinstes,  be* 
sondertstesWesen) ;  322  (Wort* 
Gott);  386(divina,  deus);  387 


(der  Seele  Ur*  und  Musterbild, 
3  Personen  in  Gott:  memoria, 
intellectus,  voluntas;  Eck* 
hart);  390  („deutsche"  Gott); 
429  (Gottesbegriff) ;  430  (Drei* 
faltigkeitslehre) ;  445  („der  Er* 
folg") ;  762  (Urbeweger,  Welt* 
schöpfer  und  wissenschaftl. 
Mythologie) ;  764  (Begriff  Gott 
Grundbegriff  der  Wirklich* 
keitwissenschaft;  Mythos  athe* 
os  der  Wissenschaften);  793 
(gottlos,  gottledig);  796  (Ein* 
oderVielgott,  Vergöttlichung); 
801  (Unpersönlichkeit,  Über* 
persönlichkeit);  802  (Welt* 
geist,  Weltseele);  807  (Gott* 
rest ;  des  Deismus) ;  808  (Lük* 
kenbüßer  der  Erkenntnis) ;  81 1 
(Schiedsrichter,  Postulat  der 
Mechanik,  Ästhetik,  Ethik); 
815  (Vergeistung  des  Ein* 
gottes);  816  (Dialektiker,  Syl* 
logistiker  des  Absoluten);  (der 
Gott,  der  ist,  —  der  werden 
sollte);  828  (Sühnegott,  Sün* 
denmensch) ;  840  (der  gottlos 
Fromme);  872  (Menschen* 
söhn);  873  (Schöpfer* Gott, 
Erlöser*Gott) ;  879  (Gott  ledig 
werden) ;  901  (Selbsterlöser  — 
Selbsterlöster). 

Gottfried  von  Straßburg  402,445. 

Göttergleichungen  51,  53,  157, 
161  f. 

Götterschub  156,  159,  161. 

Gottesfreunde  405. 

Grabbe  67. 

Gral  378,  895. 


58' 


915 


Gregor  VII.  267. 

Groot  374. 

Guyau  159,449,  785  f.,  817. 

Häckel  657. 

Halm,  August  732  f. 

Haman  239  (s.  Jesus). 

Hartmann,  Eduard  von  158, 176, 
190, 224, 233, 275  (tektonischer 
Denker),  279  (Pessimismus); 
387  (Schriften);  516  (Bewe* 
gunglehre);  520,  524  (Arbeit); 
525  (Fernkraft);  553  (Massen* 
punkte);  575  (Kausalität);  578  f. 
581  (Stoß);  590  (Kraft);  592 f. 
(Kategorienlehre) ;  596  (Quali* 
tat);  600,  612  (Induktion); 
613  (Qualität);  704,  801,  805 f. 

Häßliche,  das  704. 

Hausrat  429. 

Hebbel  63,  67,  783. 

Hebel  204. 

Hegel  70, 141, 304, 666, 761, 769  f., 
783,  801,  815f. 

Hekabe  35;  im  Drama  96,  100. 

Hekataios  155,  184. 

Hektor  20. 

Helena  20;  94  (Euripides). 

Helios  26 f.,  50,  159. 

Helmholtz  506,  525,  548,  549. 

Hephästos  29;  78  (Äschylus). 

Hera  32,  39,  69,  74. 

Herakles  159. 

Heraklit  47,  125,  127,  152,  155, 
166,  274,  305,  769. 

Herbart  712  f. 

Herder  808,  851,  898. 

Hermes  159. 

Herodot  680. 


Herschel  (ältere)  664. 

Hertz  288, 506,509,51  l,515,5l6f. 
(Masse  und  Massenteilchen); 
518  (Punkte);  523  (Kraft  oder 
Masse);  526f.(Kraft*Funktion); 
527  (Einfluß);  538  (Kraft  aus 
der  Mechanik  verwiesen) ;  539 
(Substratbegriff  zum  Funk« 
tionbegriff);  540,  542,  545,  547 
(unsichtbare  Masse);  550,  556 
(Raum) ;  559  (Äther)  560, 569  f., 
579,  582,  590  (Masse,  Äther); 
601,  614f.,  635,  764;  s.  Kausa* 
lität,  mechan.  Weltbild. 

Hierarchie  128  (Kosmos);  262 
(Begriffe);  303,  364  (des  Gott* 
erlebnisses) ;  406,  407f.  (Staat) ; 
446 f.,  453  f.  (Aristokratie,  De* 
mokratie);  659  (der  Geschöpfe, 
Scholastik). 

Hieronymus  388. 

Himmelreich  217f.  (ivrog  v/uäv). 

Hippokrates  104. 

Hölderlin  808. 

Homer  16  f.  (Eumaios);75f.(Pan* 
theon);  102  (Religion  H.  abge* 
löst  durch  die  Tragödie);  108, 
128  (hieratische  Topologie  des 
Kosmos);  226  (epische  Welt* 
heiligung  —  evangelisches  Ver* 
halten);  310,  790,  898 f.  (Ilias); 
30 f.,  75  (Odyssee);  31  f.  Ver* 
gleich  mit  Äschylus  42 ;  Hym* 
nos  auf  die  Demeter  30. 

Honorius  334. 

Horos  159. 

Hrotsvith  67. 

Humboldt,  von  268,  538,  636, 
641  f.,  684. 


916 


Hume  288 f.,  617,  712f. 

Husserl  742. 

Hussiten  405. 

Hütten  427. 

Hymnos  auf  die  Demeter  (ho* 

merisch)  30. 
Hypokeimenon   517,   520,   527, 

546,  814. 
Hypostasen  387  (Usia  in  3). 
Hypsistos  160. 

Ibsen  67,  100. 

Ich,  das  190  (Unterschied  zwi* 
sehen  griech.  u.  christlichem 
Ichgefühl);  375  (Ichgefühl  der 
Persönlichkeit  —  Übergang 
vom  Ich  zum  Es);  801  f.  (Vom 
Ich  zum  Es);  803  (das  Es  in 
jedem  Ich);  851,  865 f.  (Ich* 
gestalt)  s.  Es. 

Idealismus  709  (Lebenslüge  des 
deutschen);  713  (als  Arbeiter* 
frage  usw.). 

Idee  s.  Begriffsgesicht. 

Indisches  167  (Buddhismus  athe* 
istische  Religion) ;  176  f.  (euro* 
päische  Religionen  und  Philo« 
sophien  im  Verhältnis  zu 
indischen);  335  (Arbeit);  381 
(Kein  Wort  für  Ketzer);  385 
(Mystik);  456  (Klausner  und 
Hausner);  783  (griech.  und 
indische  Mythologie) ;  800 
(Unterschied  von  Europa); 
831  (s.  Buddho). 

Indra  449. 

Innozenz  III.  334,  348. 

Intellektualismus  145  (Plato, 
Aristoteles);      221     (griech.); 


222  (Paulinismus);  251  (des 
neuen  Glaubens);  269 f.,  289 f. 
(griech.,  mittelalt.);  300  (von 
Welt  und  Gott) ;  302  (antiker) ; 
312  (Dante);  406,  417  (13., 
14.  Jahrh.) ;  434,  436 f.  (Mittel* 
alter). 

Io  69,  74. 

Iphigenie  73  (Äschylus) ;  101  (Eu* 
ripides). 

Isis  157. 

Jakobus,  der  Bruder  des  Herrn 
183. 

Jahve  175  f. 

Jean  Paul  808. 

Jessäer  171. 

Jesus  Christus  75  (Golgatha); 
182  (3  Joschuas);  183  (Auf* 
erstehung);  184  (Soter);  202 
(Paulus.Urchristl.  Gemeinde) ; 
204  (Markus);  205  (3 fache 
Sendung);  208  (paulinisch) ; 
210  f.  (Chiistusmythe);  214, 
224  („Talent");  227  (zum 
Grammatiker);  238  (zu  den 
Pharisäern  und  Sadduzäern, 
Tod  des  synoptischen  Jesus); 
239  (Haman);  240  (Mimos); 
241  (eleusinische  Tragödie); 
249,  251,  316f.  (evangelischer 
Wandel,  mimisch*mimetisches 
Kunstwerk) ;  322, 332, 351, 371, 
390,  397  (Messianismus) ;  408, 
417  (Gnadenschatz);  427,  431, 
470,  725,  810  (Abendmahl); 
88 1  (und  Gotamo);  904,  s.  Fran* 
cescos,  Eckhart,  Thomas. 

Johann  (Kurfürst)  459. 

Jugend  716. 


917 


Kant  28,  280 f.,  283,  288  (Kritiker 
der  Kausalität);  289,  295  (Er. 
kenntnislehre,  Begriffe  ohne 
Anschauung);  491  f.  (metas 
physische  Anfangsgründe 
Kategorien,  Stammbegriffe) ; 
492f.  (MittehZweck) ;  502  (Mes 
chanik  des  Organischen) ;  507, 
512,525  (Fernkraft);  532(wahre 
Schätzung  der  lebendigen 
Kräfte);  533  (Stoß);  534  (Dys 
namik  des  Kosmischen,  phys 
sische  Monadologie) ;  539  (mes 
taphysische  Anfangsgründe) ; 
541, 551  (Mechanist) ;  552  (Hys 
lokinetik,  leerer  Raum);  560 
(gegen  ausschließlich  mechas 
nische  Mechanik);  564,  570, 
579,  581  (unelastischer  Stoß); 
582  (Fernkraft)  590,  617  (De. 
duktion  der  Kausalität);  635, 
705,  722 f.  (Sittenlehre);  727 
(Kateg.  Imp.);  742  (Aprioriss 
mus);  759,  763  (Laplace);  807, 
712  (zurück  zu  Kant). 

Kapitalismus,  Kalvinismus  756. 

karman  884. 

Kassandra  61,  74. 

katalytisch  508  f.,  627,  646. 

Kategorie  270,  622,  816. 

Kategorischer  Imperativ  727. 

Katharmos  42,  48,  55,  61,  73,  80, 
103 f.,  106, 170  (Tragik);  s.  Pas 
thos. 

Kausalität  62  (Urs Sache,  Urs 
Tat);  87 f.  (UrsTat- Folgetat); 
288  (Syllogismos,  Kritiker  der 
Kausalität,  Hume,  Kant); 
492  (UrsachesWirkung,  Mittels 


Zweck);  495  (Universalien); 
505  (mathematische  Gleichs 
Setzung,  kausale  G.) ;  507  (Vers 
nünftiger  Stammbegriff;  causa 
aequat  effectum);  510f.  (der 
fallende  Handwerker);  514 
Äquipollenz,  Äquivalenz); 
517  (Masse);  521  (Kraft); 
522  (Energie) ;  528  (Avenarius, 
Mach,  funktionale  Abhängigs 
keit);  529  (Ursächlichkeit,  Uns 
gleichsetzung);  530  (Mathes 
matisierung,  Mayer) ;  531  (kas 
tegoriale  Knüpfung  Urs 
sachesWirkung) ;  533  (kausale 
Äquipollenz);  537  (Mathem. 
Gleichsetzung,  kausale  Un= 
gleichsetzung);  538  (Kausalis 
tat  zu  verbannen  gesucht); 
551  (ursächliche  Bedürfnis); 
563  (Substratbegriff,  Kausal- 
begriff); 582  (Fernwirkung); 
585  (Dialektik);  589  (Urs 
Sprung);  604  (übertragener 
Syllogismos,  Thomas) ;  607 
(Grund  u.  Ursache) ;  61 1  (Kaus 
salität  wie  Syllogismos,  dreis 
gegliedertes  Verhältnis  der 
Begriffe  und  Dinge);  (Verurs 
sachung,  Entstehung);  616 
(Bergmann);  617  (Frage,  die 
keinen  Philosophen  schlafen 
ließ),  s.  Hertz,  Mayer,  Planck, 
mechan.  Weltbild,  Organik. 

Keleus  30,  48. 

Keller,  Gottfried  865. 

Kephas  183. 

Kepler  480,  538,  636,  738,  743  f. 

Keraunios  161. 


918 


Kirche  204  (marcionitische  Ket* 
zerkirche);  222  (erste  Spur 
eines  Bekenntnisses);  245 f., 
248  (Glaube,  Urgemeinde); 
348  (Gefahr  durch  Frances* 
cos);  366 f.,  408  (Intellekte* 
lität  der  Seele,  Hierarchie 
der  Gesellschaft,  Magie  des 
Glaubens -3  Pfeiler);  415 f., 
417  (geistig*sittliches  Clearing* 
house) ;  436  f.  (Sachwalter  der 
evang.  Schriften) ;  457  (Seelen* 
hirt);  460(theokratisches  Ziel); 
777  (und  Wissenschaft);  869 
(des  Abendlandes);  871  Ok* 
kultismus,  Anthroposophie 
usw.).  s.  Religion,  Theologie, 
Wissenschaft,  Buddho,  Fran* 
cescos,  Luther,  Eckhart. 

Kirke  20. 

Kleist  67. 

Kolumbus  725,  740. 

Konkomitanz  143,  226. 

Kopernikus  268,480, 513,635,738. 

Koran  706. 

Köre  157. 

Kosmologie  801,  s.  Organik. 

Kraft  s.  mechan.  Weltbild,  Kant, 
Hertz,  Hartmann. 

Kreon  71,  727. 

Kreusa  100. 

Krischna  213. 

Kronion  73  f.,  76;  77  (Äschylus). 

kshetranja  851. 

Kues,  Nikolaus  Chrypffs  von 
(Cusanus)  394. 

Kybele  53. 

Kyklop  93. 

Kylon  36. 


Kyniker  332,  860. 

Kyrenaiker  860. 

Kyrios  Sabazios  157,  161. 

Lagarde  390. 

Lais  846  f. 

Lalitavistara  213  f. 

Lamprecht  671. 

Lange,  Friedrich  Albert  713. 

Langmann,  Adelheid  376. 

Laplace  763  f. 

Laurentius  Valla  427. 

Leibniz  506,  513,  532  f.,  607,  625, 
725,  759,  763. 

Leonardo  da  Vinci  513,  521. 

Lessing  551. 

Levapis  239. 

Libere  157. 

Locke  857. 

Logik  255  (antike),  s.  Plato  u.  Ari* 
stoteles ;  neuere  s.  Sigwart;720. 

Lukian  53,  56,  451,  477,  776. 

Luther  222,  227 f.,  312, 403  (Bau* 
ernaufstand);  409  (Augusti* 
ner);  411  (Staupitz);  412  f. 
(metanoia);  414,  416  (contra 
Aristoteles);  423  Rechtferti* 
gung,  Glauben),  425  f.  (Erfur* 
ter  Humanisten,  Nominaiis* 
mus);  426 f.  (Messe);  430  (Ka* 
techismus);  434  (Kritik  der 
Quellen);  437 f.  (Charakteri* 
stik) ;  442  (Erfolg  in  der  Welt) ; 
444, 452  (Priesterschaft,  Laien* 
schaft) ;  455  (nicht  auf  die  Kir* 
che  selbst  verzichtet;  Grund* 
Widerspruch);  457  (Kirche); 
475  (Buchstabe);  476  (neues 
Dogma);  478,  725,823,828. 


919 


Macaulay  681. 

Mach  528,  618. 

Mainländer  704. 

Makaria  102. 

Mandäer  171. 

Marxismus  329,  341,  756f. 

Maschine  496  (Arbeit  der  Welt* 
maschine  —  Funktion  der 
Bewegung;  499  (Wesen  der); 
505  (Erkenntniswert  des  mech. 
masch.  Weltbildes);  569  (Wi» 
derspruchfreie  Darstellung  d. 
Weltmaschine) ;  645  (Idee 
Weltmaschine  —  Allorganis? 
mus) ;  s.  mechan.  Weltbild. 

Masse  5 16  f.,  523  (substrathaft  ge» 
dachte  Sache,  kausal  getönt); 
546 f.  (Merkmale);  547  (ver» 
borgene);  557  f.  (Raum  und 
Masse);  562  (Bewegung  aus 
Kraft,  Kraft  aus  Masse,  Masse 
aus  Äther  abgeleitet);  564, 
764  (Voraussetzungen  der 
Mechanik),  s.  Hertz,  mechan. 
Weltbild. 

Materialismus,  historischer  344, 
756  f. 

Mathematik  480  u.  515  (Euklidi» 
sehe  Geometrie);  482 f.  (Kos 
ordinatensystem);  505  (Gleis 
chungen);  507  (Moderne  Me» 
chanik,  System  mathemati» 
scher  Bedingunggleichungen); 
513  (Cartesianische  Geome» 
trie);  515  (Unterschied  zwi» 
sehen  Kinematik,  Phorono» 
mie  und  Geometrie);  537 
(Grundformel,  mechanische); 
556 (Raumvoraussetzung);  742 


(Arithmos  und  Megethos); 
745  (Anwendbarkeit  von 
Größe,  Zahl  auf  die  Natur); 
s.  Kausalität,  mechan.  Welt» 
bild. 

Maxwell  548,  570. 

Mayer,  Robert  504,  506,  535,  630, 
632,  635. 

Mazda  Ahura  162,  167,  169. 

Mechanisches  Weltbild  288  (Syl» 
logismos);  289  (mechanisierte 
Wirklichkeit  —  intellektuali» 
sierte  Wirklichkeit) ;  472  (klas» 
sische) ;  480  (Euklidische  Geo» 
metrie,  Mechanik  des  Hirn« 
mels;  Kopernikus,  Kepler); 
481f.  (Mechanik— angewandte 
Geometrie);  488  (Universale 
Mechanik,  Massenanziehung); 
495  (Arbeit);  496  (wxavr) ;  Ar» 
beit  der  Weltmaschine,  Funk» 
tion  der  Bewegung);  504 
(Mayer,  Welt  und  Leben, 
mechanisch  deutbar;  kataly» 
tisch) ;  505  (Erkenntniswert 
des  mechanisch»maschinellen 
Weltbildes);  506  (Ziel  der  Me» 
chanik);  507  (causa  aequat 
effectum,  Moderne  Media» 
nik,  System  mathematischer 
Bedingunggleichungen) ;  513f. 
(Universale  Mechanik);  516f. 
(Masse);  518  (Unterschied 
zwischen  Mechanik  und  Geo» 
metrie;  Punkte);  520  (Bewe» 
gung);  521  (Energie,  Hylo» 
kinetik);526(Kraft»Funktion); 
523  (Grundbegriffe);  527(„Ein» 
fluß");  528  (analytischer  Aus» 


920 


druck) ;  530  (Mechanik  zu  de* 
finieren  als);  532  (kausale  Be* 
Ziehungen  zu  mathemat.  ver* 
flüchtigen);  536,  540  (Kraft); 
537  (mechanische  Grundfor* 
mel);  541  (Geometrisierung); 
543  (Introjektion);  547  (ver* 
borgene  Massen);  548,  550 
(Bewegung  der  sogenannten 
zyklischen  Systeme) ;  550(kau* 
saler  Einschlag);  559  (Masse, 
Raum);  560  (Hylokinetik); 
562  (Bewegung  aus  Kraft, 
Kraft  ans  Masse,  Masse  aus 
Äther  abgeleitet);  563  (me* 
chan.  maschinelle  Auffas* 
sung);  564  (Gravitation); 
565  (Substratbegriff,  Kausal* 
begriff) ;  569  (Widerspruchs 
freie  Darstellung  der  Welt* 
maschine) ;  572  (Kategorien 
der  Mechanik) ;  632  f.  (Wissen* 
schaft  des  Unlebendigen,  Le* 
bendigen);641  (Mechanik  der 
3  Reiche);  645  (Idee,  Welt* 
maschine,  Allorganismus) ; 
690  (Grenzen  der  Betrach* 
tung);  739  (System  zoelesti* 
scher,  tellurischer  Mecha* 
nik);  764  (Voraussetzungen 
der  Mechanik;  Masse,  Massen* 
punkte,  Kraft,  Raum,  Zeit); 
s.  Kausalität,  Hertz,  Mayer. 

Medeia  96,  100. 

Megethos  s.  Mathematik,  Orga* 
nik. 

Melanchthon  413,  439,  477. 

Mendel  648. 

Menelaos  94. 


Mennoniten  405. 

Merswin  374. 

Metanoia  206,  249. 

Michelangelo  430. 

mimisch*mimetischesKunstwerk 
316f. 

Mimos  67,  240  (Jesus);  316t. 

Minerva  197  (s.  Pallas). 

Minne  399  f. 

Mithralithurgie  50  f.,  171. 

Mittlergott  167  (Wort) ;  169  (drei* 
faches  Amt);  174,  190 f. 

Mombert  781. 

Monotheismus  s. Religion,  Theo* 
logie,  Gott. 

Moritz  von  Sachsen  463. 

Morphe  741,  746. 

Mozart  237,  337. 

Müller,  Max  46,  158. 

Munsalvaesche  378. 

Musik  732  (produktiver  Ton, 
Vergleich  zwischen  Philoso* 
phie  und  Musik);  736  (ent* 
wirklichte  Kunst). 

Mutianus  Rufus  426. 

Myconius  439. 

Myste  43  f.,  50,  371,  898. 

Mystik  352  (Augenschließen); 
355,  371  (deutsche  Mystiker); 
354  (Verzicht  auf  den  Gegen* 
wurf) ;  376  (weibliche  Mysti* 
ker,  psychol.  Erfahrungen); 
377  (Schilderungen  eines  My* 
stikers) ;  381  (Praxis) ;  386  (dyo* 
nysische  Elemente);  388  (Va* 
ter,  Sohn,  heiliger  Geist); 
399  f.  (Minne) ;  405  (im  Wesen 
stehen) ;  604,  792,  803  (Praxis) ; 
s.  Eckhart. 


921 


Mysterien  44,  52  (sacramentum); 

53  (Derketo);  163,  826. 
Mythos  atheos  471,  764,  774  f., 

784. 
Mythos  des  Kunstwerkes  780. 

Naassener  171. 

Nälako  214. 

Natur  —  Mortur  40 f.;  s.  Or* 
ganik,  Kausalität,  mechanis 
sches  Weltbild,  Francescos, 
Buddho. 

Nazoräer  171. 

Neoptolemos  89. 

Neumann,  Karl  Eugen  47,  51, 
381. 

Newton  480,  488,  490  (Kraft); 
492,  520  (Trägheit);  521  (Kraft 
als  Ursache  der  Bewegung); 
526  (Kraf ^Gegenkraft) ;  538, 
540,  564  (Gravitation);  762, 
807,  s.  mech.  Weltbild. 

Nibelungenlied  279. 

Nietzsche  58  („Drama");  62, 
108  (Genealogie  der  Moral); 
158,  167  (Zarathustra);  224 
(Antichrist);  233,  269,  275 
(aphoristischer  Denker) ;  328  f. 
(Keuschheit);  368,  547  (Inter* 
polation  der  Wirklichkeit) ; 
618, 668, 708  f.,  716, 719  (Plato); 
731  (Umwertung);  817,  823, 
866  (Unsterblichkeit);  885 f. 
(Zarathustra,  Übermensch, 
Genesende);  886  (Wiederkehr 
des  Gleichen);  887  (3.  Testa* 
ment) ;  s.  Drama. 

Nominalismus  s.  Scholastik, 
Thomas. 


Notker  320. 

Nus  808  s.  Aristoteles. 

Occam,  Wilhelm  von293,429,432. 

Odysseus  19,  24,  27,  88  f. 

Oedipus  Äschylus  59,  67,  383; 
Sophokles  72,  84f. 

Okeanos  78. 

om,  om  qom  166. 

Opfer  846,  849  (des  Besitzes,  des 
Selbstes);  851  f.  (Selbstopferer); 
859  (Mysterium  des  Opfers 
der  Person) ;  Opfer  u.  Wieder* 
geburt371,  840,  842,  847,  850. 

Orest67,  74,  79,  81,  93  f.,  96. 

Organik  492  (Mittel  -  Zweck); 
495  (Organismus  bei  Kant; 
„als  ob");  501  f.  (Bewegung 
des  Organismus  —  Arbeitsvor« 
gang);  512  (causa  inaequat 
effectum) ;  626  (Reiz) ;  628  (Or= 
ganik);  630  (Kristallisation); 
631  (Evolution);  633  (univer* 
sale  Organik);  636  (Organis- 
mus mikrokosmisches  Modell 
des  Makrokosmos) ;  639(Über* 
einstimmung  zwischen  Leben 
und  Nichtleben);  641  (tellu* 
rische  siderische  Organik, 
O.  der  3  Reiche) ;  644  (parallele 
Zweiheit  von  Weltmaschine  u. 
Allorganismus) ;  652  (im  Orga* 
nismusWirklichkeit  im  Bereit* 
schaftsstande);  656  (Deszen* 
denztheorie) ;  657  (Häckel); 
663  (totale  Korrelation);  664 
(organische  Wissenschaft  vom 
Gestaltwandel) ;  666  (kos= 
mische  Metamorphosiologie) ; 


922 


669  (goethisch  betriebene 
Typologie,  Zirkumnutation) ; 
671  (morphologische  Typolo* 
gie,  Anthropologie,  Charak* 
terologie,  Soziologie,  Physio* 
gnomik) ;  694  f.  (Art,  Gattung) ; 
697  (normative  Form  des  Ty* 
pus  verwirklichen);  740  (Ziel 
der  Organik);  741  (Reiz);  745 
(Art,  Gattung);  886  (Welt  als 
Organismus). 

Orphisch  37,  42,  55,  57,  61,  66, 
100,  106,  170. 

Osiris  49,  159. 

Palestrina  758. 

Päli  213. 

Palingenesis  871. 

Pallas  24,  81,  88,  157  (Minerva). 

Pannwitz  781. 

paramanirvänam  372  f. 

Parzival  464. 

Parmenides  122,  301. 

Pascal  372,  703,  759. 

Pathos  43,  47,  55,  57  f.,  60  f.,  74, 
88,  92  (des  Opfers);  (religiöse 
Leistung);  95  (neue  Bedeu* 
tung) ;  s.  Katharmos. 

Paulus  171,  181,  183f.,  188f. 
(Glaube);  191  (Gnadenwahl); 
194,  197,  198  f.  (Eros.Agape); 
202  (Jesus);  221  (erwählter 
Zustand  der  Seele);  245,  249, 
(Metanoia,  Mythos,  kirch* 
liches  Dogma);  376,  416  (con> 
tra  Aristoteles);  432  (Schrif- 
ten); 474,  713,  841;  s.  Luther. 

Penelopeia  20,  32. 

xegtaycoyfj  603. 


Perisseuein  201. 

Persephoneia  39,  55. 

Persönlichkeit  387  (persona) ; 
429  (Individualität);  679,  682 
(Subjektivität);  699  (Ur*  und 
Musterbild). 

Pessimismus  279 f.  (Hartmann); 
s.  Axiologisches. 

Petron  776. 

Pfleiderer,  Otto  171. 

Phaidra  100. 

Pherekydes  38. 

Philebos  772. 

Philo  167. 

Philoktet  85,  87,  89. 

Philolaos  635. 

Philosoph  und  Philosophie  110 
(Sieger  am  Pisaquell);  114 f. 
(Beauftragter  der  Gemein* 
schaft);  116  (Doppelstellung); 
127  (vorplatonische);  143 f. 
(Beauftragter);  149  (Person* 
lichkeit  und  Gemeinschaft); 
154  u.  158  (und  Religion, 
und  Einzelwissenschaft);  159 
(alexandrinische  Gesinnung); 
275  (tektonische,  aphoristische 
Denker);  289  („Die  Philo* 
sophie")  332  f.  (kynisches 
Philosophenideal);  333  (bios 
theoreticos);  415  (wider  alle 
Philosophen);  489  (Aufgabe 
gegenüber  den  Grund* 
legungen  der  Mechanik); 
535  (Naturforscher  und  Philo* 
soph);  617  (Frage,  die  keinen 
Philosophen  schlafen  ließ); 
691  (Erkenntnis  der  Erkennt* 
nis) ;    705   (Wertwissenschaft, 


923 


Werterkenntnis,  Wertprä* 
gung);  720  (Moral,  Ästhetik, 
Logik);  732  (und  Musik); 
736  (entwirklichte  Wissen* 
schaft);759  (Kosmo=Theolog  — 
TheosKosmolog);  860  (seine 
Seele  lösen;  Kyniker,  Kyre* 
naiker). 

Phoibos  37,  79  (Äschylus); 
84  (Sühnegott). 

Phoinix  32. 

Physik  480  (Exaktheit) ;  544  (Me* 
thode) ;  570  (moderne) ;  586  f. ; 
765  (Stammbesitz  an  frag* 
würdigen  Grundlagen) ;  s. 
mech.  Weltbild,  Wissenschaft, 
Hertz,  Mayer,  Planck. 

Pindar  98. 

Planck  288,  543  f.  (Definition 
der  Kraft*Empfindung  unseres 
Muskelsinnes,  physik.  Metho* 
dik). 

Plato:  41,  44,  120  (Jenseitigkeit 
des  Sinnes);  121  (Theoria, 
Begriffsgesicht);  122  (Frag* 
ment  des  Parmenides,  Eros); 
126  (Mathematik);  127  (erster 
Deuter  des  Weltsinnes);  132 
(Dualismus);  137  (Vergleich 
mit  Aristoteles);  145  (Intellek* 
tualismus);  149,  153,  162  f. 
(Seelenmythos) ;  168  (Tren* 
nung  von  Wirklichkeit  und 
Sinn);  169  (Gorgias);  198 
(Gastmahl,  Vergleich  mit  Pau* 
lus,  Eros);  308  (Gestirnseele); 
362,  399,  404, 482, 485  (Aprio* 
rismus);  486  (kein  wissen* 
schaftlich    brauchbares    Pro* 


teron);  589  (phantasma) ;  603, 
635  (Timäos,  Beseelte  Leben* 
dige);  636  (Aristoteles);  689 
(Begriffsgesicht);  691  (Char* 
mides,  Philosophie,  Erkennt* 
nis  der  Erkenntnis);  699 
(Selbst);  700,  705 f.  (Wahre, 
Gute,  Schöne) ;  709  f.  (Lebens* 
lüge  des  deutschen  Idealis* 
mus);  719  (Nietzsche);  730 f. 
(Gorgias,  Menon,  Philebos); 
731  (Staat);  742  (Aprioris* 
mus);  771  (Gattung);  772 
(positive  Logik);  807  (Hypo* 
thesis);  884,  898;  s.  Vorplato* 
niker. 

Plinius  776 

Plotin  180,  249  (neuplatonische 
Lehre);  254,  265  (animae 
nobiles,  Emanation) ;  362, 387, 
406,  430,  804  (Enneaden) 
805  f.  (Vergleich  mit  Hart* 
mann). 

Polyneikes  69. 

Polyphemos  20,  26. 

Polyxeina  102. 

Poseidon  81. 

Poseidonios  152. 

Prinzip  252  f.,  290  (entis,  mentis) ; 
784. 

Proklos  44. 

Prometheus  74  f.  77  f.  86. 

Prosepon  814. 

Protagoras  700. 

Proteron  486  (kein  Wissenschaft* 
lieh  brauchbares  Plato,  Ari* 
stoteles)  744. 

Proteus  500. 

Psychologie  628. 


924 


Ptolemäos  184,  776. 
Purimfest  239. 
Puruschasuktam  46,  48. 
Pylades  94. 

Pythagoras  38,  486,  635. 
Pythagoreer  55,  57. 
Python  36,  80. 

Radamanthys  82. 

Radiumstrahlen  598. 

Rämäyanam  449. 

Ranke  413,  681. 

Raum  484  (räuml.  Erlebniswirk* 
lichkeit  — geometrische  Raum« 
Vorstellung);  552  f.  (Kant); 
554  f.  (der  Geometrie  und 
Mechanik);  555  (nicht  Grund* 
läge  der  Geometrie);  556 
(Raumvoraussetzung  in  der 
Mechanik,  in  der  Geometrie); 
557  (Mechanik  zählt  2  Räume 
unter  ihre  Grundvorstel* 
lungen);  558  (mittelsmäßige 
Beschaffenheit) ;  559  (Wesens* 
begriff);  562  (mit  Äther  zur 
Ursache  geworden) ;  764  (Vor* 
aussetzungen  der  Mechanik); 
765  (und  Zeit) ;  s.  mech.  Welt* 
bild,  Mathematik. 

Realismus  259  f.,  437,  692,  697 
(Grade  des  Wirklichseins);  884. 

Reformation,  deutsche  463  f. 
(Folgen). 

Reintegration  284. 

Religion  152  (stoische);  158 
(Henotheismus,  Polytheis* 
mus);  159  (l'irreligion);  160  f. 
(Monotheismus) ;  191  (Kai* 
vinismus);    247    (der    Seele); 


456  (ohne  Kirche);  755,  762 
(religio);  786  (der  Zukunft); 
788  (Tendenz  zur);  790  (Sinn* 
deutung  der);  791  (Defini* 
tion);  796  (deutsche);  796 f. 
(theistische) ;  800  f.  (panthe* 
istische);  803  (pantheistischer 
Monismus) ;  806  f.  (Theismus) ; 
808  (des  Geistes,  der  Erlösung, 
der  Zukunft);  811  (Verstand 
u.  Wille  im  religiösen  Leben); 
812  (Vergleich  zwischen  Poly* 
theismus  und  Monotheismus); 
815  (Tendenz  zur);  817  (und 
Theologie);  819  u.  24  (ohne 
Gott);  830  (und  Moral);  831 
(Umwertung  der  R.  in  Indien); 
836,  840  (religio);  841  (R. 
überhaupt);  842,  844  (innere 
Bereitschaft  Besitz  preiszu* 
geben);  857  (Praxis  der);  860 
(Urchristentum);  901  (der 
Religion). 

Rembrandt  758. 

Rhea  29. 

Rickert  679  f.,  684. 

Rigveda  46. 

Riemann  472. 

Rodin  272. 

Röntgenstrahlen  597  f. 

Rohde,  Erwin  35,  63,  198. 

Rousseau  808. 

Ruodlieb  319. 

Rüssel  555. 

Ruysbroek  324,   364,   367,  374, 
386,  404  f. 

Sakramentum     52     (jxvazrjQiov) ; 
188  (Taufe,  Abendmahl);  189 


925 


(Hände  auflegen);  197,  427 
(Brot  Christi  Leib);  850  (3 
Arten  des  Abendmahls). 

Sabaoth  Herr  160. 

Sannyäsin  450. 

Schellingl76,631,636,642,712f., 
801. 

Scholastik  194,  259  f.  (Nomina, 
lismus,  Realismus);  262  (hier* 
archische  Gliederung  aller  Be. 
griffe);  264  (Himmel);  265 
(Gestirnseele  —  Engel) ;  266 
(Erschaffung— Ausgießen);  267 
(Versinnlichung  u.  Verkörpere 
lichung  der  Begriffe,  Gott 
Peripatetiker  usw.,  Spannung 
zwischen  Individuum  und 
Universale);  270  (Kategorien 
des  Aristoteles);  271  (princi. 
pium  exclusi  tertii);  274  (scho. 
lastische  deus);  292  (Essenz 
und  Existenz);  293  (anima  sen. 
sitiva);  299  (actus  purus);  305 
(Allegorismus);  314(Dogmen); 
363(Proportionalitas  zwischen 
Erkennendem  u.  Erkanntem); 
363  (raptus);  432  (termini. 
stische  Auffassung);  447,  473, 
746,  776  (Neuplatonismus); 
789,  868  s.  Thomas. 

Schopenhauer  617,  704,  713, 
783,  801. 

Schöpfergott  176  f.  180  (Kampf 
mit  Erlösergott);  323,  762,  824, 
873,  884. 

Schöpferja  877. 

Schöpferselbst  885  f.;  873 
(Schöpferselbst.Erlöserselbst); 
Wunschja  des  Seh.  887. 


Schöpfung  384  (aus  dem  Nichts); 

Mysterium  der  Seh.  884,  886, 

889. 
Schroen,  Otto  von  636. 
Schuld  63  f.,  65  (=Sünde),  68  f., 

827  (Schuld.Sühne  dem  Gott 

selber  auferlegt). 
Seele,    218 f.    (Erwachen);    220 

(Ich    in    der    Seelenkunde); 

229    (Seele    und   Welt);   409 

(Kämpfe);  848   (Beseeltsein). 
Selbst,    das    833,    847    (Selbst. 

Sucht);    851    u.  867    (Selbst. 

opferer);  852  (Theologie  des); 

888  (Jaselbst  und  Weltselbst) ; 

894  (Selbsterlöser);  901  (Selbst. 

erlöser,  Selbsterlöster). 
Semele  39. 
Semnonen  422. 
Seneca  185. 
Seusse  374. 
Shakespeare  67,  307. 
Sigwart  281   (moderne    Logik); 

483,  518,  563,  565,  611. 
Simmel  723. 
Sokrates  116  (Dialektik;  Kreuz. 

weg     zwischen     Logos     und 

Mythos);    117  (Begriff);    118 

(Anklage);   119  (Logos);   144 

(Ende  des  S.  u.  des  Aristoteles) ; 

149  (Plato);  (Beispiel  für  Be. 

griffsbildung);    700,    730    s. 

Vorsokratiker. 
Sol  invictus  159,  181. 
Sophokles  71  f.  u.  85 f.  (Werke); 

85  (Gott  bei  S.,   Stifter  des 

AsklepioskultesJ ;  86  (leiden. 

der  Gott  verschwindet);   87, 

89, 95  (Gott  aus  der  Maschine) ; 


926 


89  (Homer);  91  f.  (Mensch); 
Vergleich  mit  Euripides  93  f., 
mit  Äschylus  97,  130. 

Spiraltendenz  669. 

Stein,  Freiherr  vom  725. 

Sterne  289. 

Stoa  150  f.,  152  (Religion);  153 
(poikile);158f.,168  (Weise);  181 
(Allgeist);  185, 332  (Praxis);  387, 
844  (schlechthin  Besitzlose). 

Stoß  533  (Kant) ;  573  (Verknüpft, 
heit  von  Ursache  u.  Wirkung, 
5  Aufgaben);  574 f.  (influxus 
physicus);  576  (entursachen) ; 

577  f.  (Berührung,  Fernkraft) ; 

578  (elastischer);  579  (unelas* 
tischer);  580 (Fernkräfte) ;  583, 
608  („individualisiert"). 

Strabo  776. 

Strindberg  100. 

substantia  388  (persona) 

Substratbegriff  565  f.,  568  s.  Kau* 
salität,  mechanisches  Weltbild. 

Sühnwirkung  35  f.,  49  (Selbst* 
opfer);  57,  62,  66,  68,  79 
(Äschylus);  83  (Tod);  93 
(Muttermörder). 

Suttanipäto  214. 

Sutram  880. 

Syllogismos  281, 283, 285  (Geist); 
286f.,288(Ursache-Wirkung); 
291  (Denken  vom  Menschen 
zum  Gott);  292  (syllogistisch 
komplexes  und  Simplexes 
Wissen);  300,  391  (Dreifaltig* 
keit);  430,  432,  606  (Aristo* 
teles);  603,  605  f.,  606,  607 
(Denkbewegung  —  Notwen* 
digkeit  dieser  Bewegung);  603 


(Theorie  des,  scholastische 
Theologie ,  peripatetische 
Logik) ;  605  f.  (Verhältnis  der 
3  Begriffe);  611  (Kausalität  - 
der  auf  die  Naturwirklichkeit 
übertragene  und  angewandte 
Syllogismos);  612  (Aristote* 
les);  614  (kosmischer  Syllogis* 
mos — syllogistischer  Kosmos); 
616  (S.  logisches  Paradigma 
und  transzendentales  Modell 
der  Kausalität);  s.  Kausalität, 
mechanisches  Weltbild,  Orga* 
nik,  Aristoteles. 

Synoptiker  s.  Bibel. 

System  719  (natürliches,  sys* 
tema);  (axiologisches,  mechan. 
maschinell). 

Tacitus  422. 

Talmud  785. 

Tao  te  King  785. 

Tat  812  (Begriff,  Gedanke  u.  T.) ; 

824  (Religion  der);  831,  891  f. 

(Erkenntnis  u.  T.). 
Tauler  374,  425. 
Taurobolium  52. 
Telemachos  31  f. 
Tetzel  419. 
Thaies  560. 

Theismus  798  (Gottesbegrift). 
Themistios  44. 
Themistokles  40. 
Theoderich  211. 
Theognosie  800. 
Theoklymenos  31. 
Theotocopulos  (Greco)  758. 
Theologie   230    (protest.,    Jesu* 

forschung) ;  254  (mittelalterl.) ; 


927 


799  (Magie  und  Th.);  801 
(Religion  und  Th.);  803  f. 
(pantheistische,  monistische); 

815  (intelligibles  Reck  des  th. 
Begriffes);  875  (tritheistische). 

Therapeuten  171. 

Thomas  von  Aquino  297  f.,  304 
(Vernunft  und  Offenbarung); 
312  f.,  356  f.  (Psychologie); 
358  (Primat  des  Willens  oder 
der  Vernunft);  362  (Erkennt* 
nislehre);  388  (Dreieinigkeits* 
lehre);  389  (Sohn,  das  Bild); 
416,  428  (Nominalismus);  430 
(summa);  604,  608,  746,  814  f., 

816  (der  fromme  Monotheist 
wird  Thomist);  s.  Scholastik. 

Thompson,  Seton  683. 

Thoreau  877. 

Titanen  39,  41. 

Tolstoi  824. 

Ton,  produktiver  732. 

Trachinierinnen  85,  89. 

Tragödie  56  (Entstehung,  Bock« 
gesang);  60  f.  (Tragik);  63  (Be= 
griff  des  Tragischen);  67  (euro* 
päische),  (=  Messe);  83  (finis 
tragödiae);  99  (Tragik  der 
Frau);  96,  98,  100  (ressentü 
mentalische  Tragik),  (=  Reli* 
gion  102);  s.  Drama,  Äschylus, 
Sophokles,  Euripides. 

Trinität  (Dogma)  386,  391. 

Triptychon  der  Wissenschaften 
749  f. 

tritheistische  Theologie  798. 

Trurvetter  428. 

Tycho  Brahe  481,  738. 

Typologie  s.  Organik. 


Ultramikroskop  597  f. 
Universalien  257  („Volk");  259 

s.  Scholastik,  Thomas, 
upädhis  851. 

Upanischaden  46,  166,  177,  785. 
Usia  387  (in  3  Hypostasen);  814. 

väc  167. 

Valentinos  176. 

Vänaprastha  450. 

Veda  55,  177,  213,  381,  822,  852. 

Vedanta  785,  815.  852,  900. 

Vergil  309. 

Vergottung  184,  790  f.;  Ver* 
gotten  790  f.,  797  f.,  804,  897, 
Selbstvergottung  143,  804, 
81 1;  Menschvergottung  Selbst* 
Vergöttlichung  791,  793,  801, 
810,  813,  824;  816  (Trieb  zur) ; 
eigene  872;  s.  Gott. 

Versinnigung  142  (des  Gott« 
liehen). 

Versittlichung  142  (des  Gott* 
liehen). 

Volk  259  (Universalia). 

Voltaire  807,  809  f. 

Voluntarismus  437. 

Vorplatoniker  127. 

Vorsokratiker  122,  134. 

Wagner,  Richard  75,  783. 

Wahrheit  252,  475. 

Weise,  der  100,  114,  783. 

Weißmann  134. 

Welt,  die  1 13  (Sinn);  1 14  (Depro* 
blematisation);  229  (Seele 
und);  496  (Mechanismus);  506 
(mit  Einschluß  des  Lebens 
mechanisch    deutbar);    786  f. 


928 


(Sinndeutung  der) ;  877  (Welt, 
Verneinung);  888  (Ja*Welt); 
889  (Erlösungzu  der  Welt);  894 
(Welterlösung);  s.  mechani* 
sches  Weltbild,  Organik,  Kau* 
salität,  Philosophie,  Wissens 
schaft. 

Weltheiligung  23,  25  f.  (Homer); 
30,  34,  38,  129,  136,  226,  324 
(Francescos);  790. 

Wieland  54,  807. 

Wilamowitz,  von  79. 

Wille,  196  (freie);  256,  436  (Pri* 
mat  des  W). 

Windelband  679  f.,  684. 

Wirklichkeit  287  (mechanisierte, 
intellektualisierte);  634  (ma* 
schinisierte,  organisierte);  643 
(Methoden  der  Wirklichkeits* 
erkenntnis);  700  (Seinsollen); 
767,  804  (Phänomenalität, 
Illusorität  aller  W);  (Intelli* 
gibilität  der  W);  893  (ver* 
gottete). 

Wissenschaft  126,  154  (Wissen* 
schaftlichkeit);  265  (Planeten* 
system);  268  (Kopernikus); 
273  (Wahrfindung) ;  475 
(Mittelalter);  478  (abendlän* 
dische);479(enttheologisiertes 
Wissen);  483  (induktive);  488, 
505  (Endabsicht  der  exakten 
Naturlehre);  586  f.  (Physik); 
590  (hypothetisches  Wissen); 
628  (Psychologie);  644  (neue 
Doppelwissenschaft);  665,  667 
(Biologie);   739   (Dogma   des 


Christentums);  749  (Trip* 
tychon);  751  (=  Mythos);  772, 
774  f.,  784  (Mythos  atheos); 
785  (mechanisch,  organisch, 
axiologisch);  786  (Glaube, 
Wissen);  786  f.  (Sinndeutung 
der  Welt);  s.  mechan.  Welt* 
bild,  Organik,  Mathematik; 
Hertz,  Mayer,  Planck,  Goethe, 
Darwin,  Thompson. 

Wohlbeschiedene,  der  190,  414, 

Wölfflin  671. 

Wolfram  von  Eschenbach  378, 
403. 

Wundt  531. 

Xenophanes  108  f.  (Homer* 
zerstampfer);  110  (Sophist); 
112,  114,  122. 

Yogin  386,  848,  892. 

Zagreus  39,  42,  49,  55. 

Zeit. 515 f.  s.  Raum. 

Zeno  151. 

Zeus  29,  31,  55,  75,  81;  32 
(Xenios  Hikesios);  34  (chtho* 
nischer);  35 u.  39  (Honigsüße); 
bei  Äschylus  77  f.;  157  u.  161 
(Uranios);  157  u.  161  (Caeles* 
tis);  Zeupater  158,  160;  Zeus 
Keraunios  161. 

Zirkumnutation  669,  671  f.,  886; 
s.  Organik. 

Zio  432. 

Zoologie  s.  Thompson,  Wissen* 
schaft,  Friedrich  II. 


59    Ziegler,  Gestaltwandel  der  Götter 


929 


AUS  REICHLS  VERLAGSBERICHT 


DER  VOLLSTÄNDIGE  VERLAGSBERICHT  WIRD   AUF 
VERLANGEN  KOSTENLOS  UND  PORTOFREI  GELIEFERT 

OTTO  REICHL  VERLAG  •  DARMSTADT 


MiiiiiiiiiiiiiMniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii!iiiiiiiiiiiiniiiiiiMiiiiitiniiiiiiiiiiiiiiiifiiiiiiiiiiiniiiiiHiiiiiiiiiiiiiiiitiiiiiiiiiiiiiiiiiiiMiiiiiiiiiiii 

LEOPOLD     ZIEGLER 

GESTALTWANDEL  DER  GÖTTER 

VON  LEOPOLD  ZIEGLER 

DRITTE  AUFLAGE,  ZWEI  BÄNDE 

IN  LEINWAND  GEBUNDEN  360  M.,  IN  HALBLEDER  GE* 

BUNDEN  600  M.,  IN  GANZPERGAMENT  GEBUNDEN  900  M. 

Inhalt:  Erste  Betrachtung:  Weltheiligung,  Sühnwirkung,  Sinn« 
deutung  der  Griechen.  Zweite  Betrachtung:  Der  Mythos  vom 
Mittlergott  und  die  Religion  der  Seele.  Dritte  Betrachtung:  Der 
Heilsdreiweg  der  Christenheit.  Vierte  Betrachtung:  Deutsche 
Reformation.  Fünfte  Betrachtung:  Der  Mythos  Atheos  der 
Wissenschaften.  Sechste  Betrachtung :  Die  Mysterien  der  Gottlosen. 

1 1 1 1  m  1 1 1  j  i  j  1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1  j  •  1  r  1 1 1 1 1 1  ■  t  i  M  r  ir  ti  1 1  ■  1 1  r  1 1 1  i  i  r  1 1  r  1 1 1 1 1 1 1 1  m  i  m  1 1 1 1  i  1 1 1  r  1 1 1 1 1 1 1 1  r  1 1 1 1 1 1  f  r  1 1  ■  1 1  t  1 1  r  1 1  n  1 1 1 1  r  1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1  m  1 1 1 

DER  EWIGE  BUDDHO 

EIN  TEMPELSCHRIFTWERK  IN  VIER  UNTERWEISUNGEN 
VON  LEOPOLD  ZIEGLER 

IN  LEINWAND  GEBUNDEN  180  M.,  IN  HALBLEDER  GE* 
BUNDEN  300  M.,  IN  GANZPERGAMENT  GEBUNDEN  450 M. 

Inhalt:  Die  erste  Unterweisung:  Buddho  der  Protestant.  Die 
zweite  Unterweisung:  Buddho  der  Erlebende.  Die  dritte  Unter* 
Weisung:  Buddho  der  Wissende.  Die  vierte  Unterweisung:  Buddho 
der  ÖstsWestliche. 

IIIIIIIIIIIIIMlIlllllllllllllllllIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIlllllllllllllllllltllinilllllllllllllllllllllllllMIIIIIIIIHIIIIIItllllllllllllllllllllllMItllll 

DER  DEUTSCHE  MENSCH 

VON  LEOPOLD  ZIEGLER 

ZUR  ZEIT  VERGRIFFEN.  NEUE  AUFLAGE  FRÜHJAHR  1922 

IlllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllttlllllllllltllllllllUIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIillllllllllllllllll 

VOLK,  STAAT  UND  PERSÖNLICHKEIT 

VON  LEOPOLD  ZIEGLER 
GEBUNDEN  15  M. 

Inhalt:  Das  Volk  und  seine  Souveränität.  Der  Staat  und  die 
Gerechtigkeit.  Der  Notstand  der  Persönlichkeit  und  seine  Übers 
windung. 

Illlllllllllllllllllllltllllllltlllll 1 1  ii 1 1 1 i 1 1 r j  1 1  M 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 ■  1 1 m  j 1 1 M  1 1 1 1 1 1 1 1 1 ! ) t > 1 1 1 1 1 1 r l 1 1 ■  1 1( Hl 


MllHUUHHllHHHHUHUHmilHUlHHH i  m  1 1 1  ri  1 1  •  1 1  ri  n  1 1 1  ii  1 1 1 iiunniiimiiiiNMiiiii UIHIHIIHHUHIIHHIUHI    um  in    n 

DAS  WELTBILD  HARTMANNS 

VON  LEOPOLD  ZIEGLER 
GEBUNDEN  15  M. 

Inhalt:  System  und  Zeit.  Deduktion,  Induktion  und  Wahrschein; 
lichkeit.  Die  Ableitung  der  Qualität.  Die  Entstehung  des  Bewußt* 
seins.  Monistische  Philosophie.  Induktion  und  genetische  Meta= 
physik.  Der  Wahrheitsbegriff. 

iiiiMiiiiiiiiiiiiiiiiitiiliiMllliinliliiiMiiiiniiiiniiiiiiillllllMiiiiiiiiiiiiiiniiiiitiiiiiiiiMiiititliiiiilliililllliiilllllMiiiintniiiiiiiiiiMii 

ZUR  METAPHYSIK  DES  TRAGISCHEN 

EINE  PHILOSOPHISCHE  STUDIE 
VON  LEOPOLD  ZIEGLER 
BROSCHIERT  9  M. 

Inhalt:  I.  Die  letzten  Prinzipien  des  Tragischen.  II.  Die  Postulate  des 
Tragischen.  III.  Das  Tragische  als  Antizipation  des  Weltprozesses. 

lllliniMIIIIMlIHIIIIMMIMtllllMIMMIIMIMIinillllinillllllMIIIIIIIIIIIIIIUIIIIItMIIIIMIttlllllltlllllllMIIIIUlIllllltUIIIMIinilllllllllMIM 

FLORENTINISCHE  INTRODUKTION 

ZU  EINER  PHILOSOPHIE  DER  ARCHITEKTUR 
UND  DER  BILDENDEN  KÜNSTE 
VON  LEOPOLD  ZIEGLER 
GEBUNDEN  30  M. 

Illlllinilllllllllllllllllllllllllllllllllllllllfllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll 

GRAF  HERMANN  KEYSERLING 

DAS  REISETAGEBUCH 
EINES  PHILOSOPHEN 

VOM  GRAFEN  HERMANN  KEYSERLING 

FÜNFTE  AUFLAGE  1921.  ZWEI  BÄNDE 

IN  LEINWAND  GEBUNDEN  MIT  DEM  BILDNIS  DES  VER= 

FASSERS  300  M.,  IN  HALBLEDER  GEBUNDEN  450  M. 

titHiiiiitniiiiiiiiiiiiniiiiiiiitiiiiitiiiiiiiniiiittiiiiuiiiiiuiiiiiiitMiiiMiiMiMiiiiiiiiiiiiiiNiiiiiiiittMiiiiiiiiiiiniiiiiuiiiiiiiiiiiiiiiiiiii 

WAS  UNS  NOT  TUT  -  WAS  ICH  WILL 

VOM  GRAFEN  HERMANN  KEYSERLING 
DRITTE  AUFLAGE  1920 
BROSCHIERT  9  M. 

MM  MIHI  IHM  IIIHIMHII  Hill  Hill  II IIHII  Hill  III  IUI  II lllllllltlllllMIIII 1IIIII1 HIMI II M  IM  1 1 1  IUI  1 1  lltll  1 1  IUI  M II  i    II 


iiiiiiiiiliiiiiii iuiiiii iiiiiiiiiiiiiii i in immun nimm immiimmmmmiimmmm 

DAS  GEFÜGE  DER  WELT 

VERSUCH  EINER  KRITISCHEN  PHILOSOPHIE 

VOM  GRAFEN  HERMANN  KEYSERLING 

ZWEITE  AUFLAGE  1920 

GEBUNDEN  120  M.,  IN  HALBLEDER  GEBUNDEN  240  M. 

Inhalt :  I.  Die  Einheit  des  Universums.  II.  Kontinuität  und  Dis* 
kontinuität.  III.  Harmonices  mundi.  IV.  Die  Probleme  des  Geistes 
V.  Die  Freiheit  im  Weltzusammenhange.  Epilog:  Was  ist  Wahrheit? 

,,,,, i iimmiiiimiiii inmi miniinmiiimi iiimimm n im imiiimmmmmm 

UNSTERBLICHKEIT 

EINE  KRITIK  DER  BEZIEHUNGEN  ZWISCHEN  NATURGE* 

SCHEHEN  UND  MENSCHLICHER  VORSTELLUNGSWELT 

VOM  GRAFEN  HERMANN  KEYSERLING 

DRITTE  AUFLAGE  1920 

GEBUNDEN  120  M.,  IN  HALBLEDER  GEBUNDEN  240  M. 

Inhalt:  I.  Über  den  Unsterblichkeitsgedanken  überhaupt.  II.  Todes* 
gedanken.  III.  Das  Problem  des  Glaubens.  IV.  Dauer  und  Ewig* 
keit.  V.  Das  Bewußtsein.  VI.  Mensch  und  Menschheit.  VII.  In* 
dividuum  und  Leben. 

iimmiiiiiiiMiiiimmiiiiiimiiimiiiiimiiiimi iiiiiiiiiiiiiii  ii  iuiiiii  iiiiimiimi  in mnmmiimmmiitmmmiiiiiiiiiiiii 

PHILOSOPHIE  ALS  KUNST 

Vom  GRAFEN  HERMANN  KEYSERLING 

GEBUNDEN  120  M.,  IN  HALBLEDER  GEBUNDEN  240  M. 

Inhalt:  I.  Philosophie  als  Kunst.  II.  Sterndeutung.  III.  Zeitliche, 
zeitlose,  ewige  Geister.  IV  Entwicklungshemmungen.  V.  Indivi* 
duum  und  Zeitgeist.  VI.  Idealismus  und  nationale  Erziehung. 
VII.  Germanische  und  romanische  Kultur.  VIII.  Ost  und  West  auf 
der  Suche  nach  der  gemeinsamen  Wahrheit.  IX.  Die  begrenzte  Zahl 
bedeutsamer  Kulturformen.  X.  Das  Schicksalsproblem.  XL  Vom 
Interesse  der  Geschichte.  XII.  Deutschlands  Beruf  in  der  verändere 
ten  Welt.  XIII.  Erscheinungswelt  und  Geistesmacht.  XIV.  Für  und 
wider  die  Theosophie.  XV.  Was  uns  not  tut  —  was  ich  will. 

„um ,  1 1 1  ■  1 1  n  i  ■  i  ■  1 1 1 1 1 1 1 1 1  ■  1 1 inii i im nulluni i iiiiiiiiiiiiiiinii miiiii i u immun 


Mtlllllf  III III11IM  llf  f  llllttllll  M1III1MM  Itlf  tlllltl  tlllt IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIHIIIIIIIilllllllllllllllllllllllllllllllltlllllllllllllllllllHlllIII 

DEUTSCHLANDS  WAHRE 
POLITISCHE  MISSION 

VOM  GRAFEN  HERMANN  KEYSERLING 
DRITTE  AUFLAGE  1920 
BROSCHIERT  9  M. 

llllllllllimMllllllllllllllllllinilllllllMlllIltllllllllllllllllllllllllllllllillllllllllilillllllllllllllllllllllllllllllllllllllHI um  ii  nun  im 

POLITIK  -  WIRTSCHAFT  -  WEISHEIT 

VOM  GRAFEN  HERMANN  KEYSERLING 
ERSCHEINT  IM  JANUAR  1922 

IIIIIIIIIIJIIIIlirtllllUtlllMl ItllllJlflllJIIIIIIJIIMIIIItflllllllllllllttlt llllllllllllllIllllMIJIIIIIIfMIIIMMIIIIIItMlllltltl  M  1  M  ItM  II I II 1 

DER  WEG  ZUR  VOLLENDUNG 

MITTEILUNGEN  DER  SCHULE  DER  WEISHEIT 

IN  DARMSTADT 

HERAUSGEGEBEN  VOM  GRAFEN  HERM.  KEYSERLING 

JEDES  HEFT  9  M. 

niiitnninniiiiiiniuniuunuuinuriuiuuunniiiiiiuiiuuuuuuiuiuiuiuuiiiuui  nun  inniiutuiu  iiui  ii  iiui  iiiiuiuiiuniiiunu 

DER  LEUCHTER 

WELTANSCHAUUNG  UND  LEBENSGESTALTUNG 
JAHRBUCH  DER  SCHULE  DER  WEISHEIT  IN  DARMSTADT 
HERAUSGEGEBEN   VOM   GRAFEN  HERM.  KEYSERLING 
JAHRBUCH  1920.    GEBUNDEN  90  M. 

Inhalt:  Graf  Hermann  Keyserling:  Worauf  es  ankommt.  G.  F. 
Hartlaub:  Kritik  der  Geheimwissenschaft.  Heinrich  Nienkamp: 
Werten  und  Wirken.  Leopold  Ziegler:  Buddho  der  Protestant. 
HermanHefele:  Die  Idee  des  Kommunismus.  Gerhard  von  Mutius: 
Humanität  und  Bildung.  Max  Scheler:  Sozialismus  und  Person« 
lichkeit.  Fritz  Wiehert:  Sich  selber  beistehen.  Friedrich  Gogarten: 
Die  Kirche.  Peter  Behrens :  Das  Ethos  und  die  Umlagerung  der 
künstlerischen  Probleme.  Rudolf  Binding:  Ethische  Grundlagen 
eines  Volkes.  Günther  Weitbrecht:  Wertung  und  Erkenntnis. 
Günther  Weitbrecht:  Der  Brunnen  des  Lebens.  Alexander  von 
GleichensRußwurm :  Unter  Platanen. 

IMIimillMMIMIIinilll Min t IUIIIM  llllll  IIIIUIUIIIUII  tili I im  mir I n I II 1 1 1 II III II  UM  Uli 


Universily  of  Toronto 
Library 


DO  NOT 

REMOVE 

THE 

CARD 

FROM 

THIS 

POCKET 


Acme  Library  Card  Pocket 

Under  Pat.  "Ref.  Index  File" 

Made  by  LIBRARY  BUREAU