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Full text of "Goethe als Naturforscher, Vorlesungen gehalten im Sommer-Semester 1906 an der Universität Heidelberg"

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RUDOLF   MAGNUS 


E  T  H  E 

LS  NATURFORSCHER 


I 


Der  Genius  der  Poesie  entschleiert  das  Bild  der  Natur. 

Widmungsbiad   zu   AI.  v.  Humboldts  Ideen   zu  einer   Ueoicrnphie  der  Pflanzen 

netMt  einem  NalurKcmilldc  der  Tropcnlilndcr.    TUbinRcn  mri.    Qczcichnet  von 

Thorwatdttn.    Daruntei  die  Worte:  An  Oocihc. 


Goethe  als  Naturforscher 

Vorlesungen 

gehalten  im  Sommer-Semester  1906  an  der 
Universität  Heidelberg 

von 

Rudolf  Magnus 

ao.  Professor  für  Pharmakologie 

Mit  Abbildungen  im  Text  und  auf  8  Tafeln 


-.0   " 


Leipzig 

Verlag  von  Johann  Ambrosius  Barth 

1906 


Spimcrichc  Buchdruckerd  In  Leipilg-R. 

,     ■   r 

Wnted  in  Uoriuaui 


Meiner  Frau 
und  treuen  Mitarbeiterin 


Vorwort. 

Die  in  diesem  Buche  veröffentlichten  Vorlesungen 
sind  die  Frucht  mehrjähriger  Beschäftigung  mit  Goethes 
naturwissenschaftlichen  Arbeiten.  Seit  in  der  Weima- 
rer Ausgabe  das  gesamte  Material  an  gedruckten  und 
handschriftlich  erhaltenen  Aufzeichnungen  der  Allge- 
meinheit zugänglich  gemacht  wurde,  ist  eine  aus- 
führlichere Darstellung  dieses  Zweiges  Goetheschen 
Wirkens  nicht  versucht  worden.  Ich  selbst  ver- 
danke die  Anregung  zu  genauerem  Studium  einem 
Leseabend  mit  den  Freunden  A.  v.  Domaszewski  und 
J.  Baron  Uexküll,  bei  welchem  wir  die  Farbenlehre 
durchgingen,  und  dabei  alle  zugehörigen  Experimente 
selbst  anstellten.  Unser  Erstaunen  über  die  Schön- 
heit der  Versuche  und  die  Treue  der  Beobachtung 
wuchs  dabei  ständig.  Darauf  wurde  es  mir  durch 
das  freundliche  Entgegenkommen  des  Herrn  Geh. 
Hofrat  Dr.  Ruland  in  Weimar  ermöglicht,  im  Goethe- 
Hause  mit  des  Dichters  eignen,  noch  wohl  erhaltenen 
Apparaten  seine  Versuche  zu  wiederholen. 

Diese  durch  persönliche  Anschauung  gewonnene 
Kenntnis  von  Goethes  Arbeitsweise  war  Veranlassung 


VI  Vorwort 

zu  weiterem  Studium  seiner  Schriften.  So  wurde  es 
mir  möglich,  im  verflossenen  Sommer  für  Hörer  aller 
Fakultäten  über  „Goethe  als  Naturforscher"  zu  lesen. 
An  der  ursprünglichen  Fassung  der  Niederschrift 
ist  nachträglich  so  wenig  wie  möglich  geändert 
worden.  Die  Form  der  Vorträge  soll  andeuten, 
daß  eine  bis  ins  Kleinste  eingehende  Darstellung 
nicht  beabsichtigt  ist,  sondern  nur  das  Wichtigste 
in  möglichst  allgemeinverständlicher  Form  heraus- 
gegriffen werden  sollte. 

Der  Entstehungsgeschichte  der  Vorträge  ent- 
sprechend ist  die  auch  heute  immer  noch  nicht  in 
ihrer  Bedeutung  genügend  gewürdigte  Farbenlehre 
in  den  Mittelpunkt  gestellt  Die  biologischen  For- 
schungen gehen  voran,  die  geologischen  bilden  den 
Schluß.  Bei  der  Abfassung  dieses  letzteren  Kapitels 
hat  mich  Herr  Professor  Wilhelm  Salomon  in  Heidel- 
berg mit  freundlichem  Rate  unterstützt 

Herr  Geh.  Hofrat  Dr.  Suphan  hat  mir  in  liebens- 
würdiger Weise  die  Pforten  des  Goethe-  und  Schiller- 
Archivs  eröffnet  Dem  stellvertretenden  Direktor  des 
Goethe-Nationalmuseums,  Herrn  Geh.  Regierungsrat 
V.  Goeckel,  bin  ich  zu  großem  Danke  verpflichtet, 
daß  er  die  Genehmigung  zur  Wiedergabe  der  in 
diesem  Buche  abgebildeten  anatomischen  und  bo- 
tanischen Zeichnungen  und  der  optischen  Instru- 
mente erteilt  hat  Ebenso  wie  die  Reproduktion 
dieses  bisher  unveröffentlichten  Materials  wird  auch 


Vorwort.  VII 

die  Abbildung  des  Kasseler  Elefantenschädels  und 
das  Thorwaldsensche  Widmungsblatt  „An  Goethe" 
manchem  willkommen  sein. 

Bei  der  weitverzweigten  Goethe -Literatur  ist  es 
dem  Einzelnen,  wenn  er  nicht  speziell  Goethe- 
Forscher  ist  und  sich  mehr  aus  Liebhaberei  in 
dieses  so  vielfach  durchpflügte  Feld  gewagt  hat, 
unmöglich,  alle  bis  jetzt  aufgedeckten  Beziehungen 
zu  berücksichtigen.  Ich  werde  daher  allen  Lesern, 
die  mich  auf  Irrtümer  oder  auf  Lücken  aufmerksam 
machen,  zu  großem  Danke  verpflichtet  sein. 

Heidelberg,  im  September  1906. 

Rudolf  Magnus. 


Inhalt. 

Seite 

Vorwort V 

Erste  Vorlesung:  Einleitung 1 

Zweite  Vorlesung:  Goethes  Leben 18 

Dritte  Vorlesung:  Die  botanischen  Arbeiten  1 48 

Vierte  Vorlesung:  Die  botanischen  Arbeiten  II.  ...  72 
Fünfte  Vorlesung:  Die  osteologischen  und  vergleichend 

anatomischen  Arbeiten  1 105 

Sechste  Vorlesung:  Die  osteologischen  und  vergleichend 

anatomischen  Arbeiten  II 132 

Siebente  Vorlesung:  Die  Farbenlehre  I.  —  Physiologische 

Optik 164 

Achte  Vorlesung:  Die  Farbenlehre  II.  —  Physikalische 

Optik 219 

Neunte  Vorlesung:  Mineralogie,  Geologie,  Meteorologie  261 

Zehnte  Vorlesung:  Goethe  als  Naturforscher    ....  290 

Literatur 323 

Register 327 


Erste  Vorlesung. 
Einleitung. 

Meine  Herren! 

„Weite  Welt  und  breites  Leben, 
Langer  Jahre  redlich  Streben, 
Stets  geforscht  und  stets  gegründet, 
Nie  geschlossen,  oft  gerundet. 
Ältestes  bewahrt  mit  Treue, 
Freundlich  aufgefaßtes  Neue, 
Heitern  Sinn  und  reine  Zwecke, 
Nun!  man  kommt  schon  eine  Strecke.* 

Diese  Verse,  welche  der  Dichter  selbst  der  Ab- 
teilung „Gott  und  Welt"  seiner  Gedichte  voran- 
gesetzt hat,  in  welcher  er  seine  naturwissenschaft- 
lichen Dichtungen  zusammenfaßte,  können  auch  wir 
als  Motto  für  eine  Betrachtung  von  Goethes  natur- 
wissenschaftlicher Tätigkeit  nehmen.  Hat  er  doch 
von  seinen  Jünglingsjahren  an  fast  ununterbrochen 
geforscht  und  gegründet.  Nur  die  Schlußworte  „Nun, 
man  kommt  wohl  eine  Strecke"  werden  wir  als  zu 
bescheiden  nicht  zu  den  unsrigen  machen:  Denn  wir 
haben  tatsächlich  in  Goethe  einen  der  hervorragenden 
Naturforscher  an  der  Wende  des  18.  und  19.  Jahr- 
hunderts zu  sehen,  der  auf  allen  den  zahlreichen 
Gebieten,  die  er  bearbeitete,  seine  Studien  mit  größter 
Energie  betrieb  und  sich  nie  mit  dilettantischer  Tätig- 
keit begnügte,  sondern  nicht  ruhte,  bis  er  sich  die 

'Magnus,  Goethe  als  Naturforscher.  1 


2  Erste  Vorlesung. 

Kenntnisse  und  die  Selbständigkeit  des  Fachmanns 
erworben  hatte.  Es  soll  gleich  hier  zu  Beginn  auf 
das  schärfste  betont  werden,  daß  derselbe  Mann,  der 
uns  die  herrlichsten  Dichtungen  deutscher  Sprache 
geschenkt  hat,  seine  naturwissenschaftlichen  Ergeb- 
nisse nicht  als  gelegentliche  Früchte  dichterischer 
Phantasie  gewonnen  hat,  sondern  stets  die  sorg- 
fältigsten und  mühevollsten  Detailstudien  anstellte, 
ehe  er  zu  seinen  oft  grundlegenden  Verallgemeine- 
rungen gelangte.  Nur  ist  für  Goethe  charakteristisch, 
daß  er  sich  nie  mit  Kleinigkeiten,  mit  unwichtigen 
Nebensachen  abgab,  sondern  daß  ihn  stets  die  grund- 
legenden Hauptfragen  der  von  ihm  bearbeiteten  Ge- 
biete interessierten.  So  kommt  es,  daß  von  den 
Resultaten,  die  er  in  den  einzelnen  Zweigen  der 
Naturwissenschaft  zeitigte,  viele  geradezu  die  Grund- 
lage für  die  weitere  Fortentwicklung  dieser  Wissen- 
schaften geworden  sind,  und  daß  eine  ganze  Reihe 
von  wichtigen  Erkenntnissen  direkt  auf  Goethe  zu- 
rückgeführt werden  können. 

Müssen  wir  so  die  Energie  anerkennen,  mit  der 
er  jedesmal  bemüht  war,  in  die  Tiefe  der  Erkenntnis 
zu  dringen,  so  ist  andrerseits  die  Breite  seiner  natur- 
wissenschaftlichen Studien  erstaunlich.  Es  ist  heut- 
zutage einem  einzelnen  Menschen  überhaupt  nicht 
mehr  mOglich,  Goethe  In  allen  Zweigen  seiner 
wissenschaftlichen  Tätigkeit  mit  vollem  Verständnis 
nachzugehen.    Ich  muß  daher  auch  Ihre  Nachsicht 


Einleitung.  3 

erbitten,  wenn  ich  diejenigen  Gebiete  Goethescher 
Forschung,  welche  mir  persönlich  näher  liegen,  ein- 
gehender vor  Ihnen  erörtere,  während  ich  z.  B.  seine 
mineralogischen  und  geologischen  Arbeiten  als  Nicht- 
fachmann  Ihnen  nur  in  kürzerer  Übersicht  referieren 
kann. 

Goethe  hat  schon  von  seiner  Studienzeit  her 
Chemie  getrieben,  er  hat  die  Entwicklung  dieser 
Wissenschaft  sorgfältig  verfolgt  und  selbst  gelegent- 
lich chemische  Versuche  angestellt.  Sehr  viel  ein- 
gehender war  seine  Beschäftigung  mit  physikalischen 
Problemen.  Dasjenige  Werk,  das  Goethe  selbst  für 
sein  hervorragendstes  gehalten  hat,  ist  die  Farben- 
lehre, für  die  er  das  ganze  Gebiet  der  physikalischen 
Optik  aufs  exakteste  durchexperimentiert  hat;  auch 
späterhin  hat  er  die  optischen  Versuche  fortgesetzt. 
Die  Physik  der  Atmosphäre  beschäftigte  ihn  lange 
Jahre  hindurch  und  fand  ihren  Abschluß  in  einer 
eigenen  Schrift  über  Meteorologie.  Auch  astrono- 
mische Beobachtungen  blieben  ihm  nicht  fremd.  Sehr 
eingehend  war  seine  Beschäftigung  mit  Mineralogie 
und  Geologie.  Er  legte  ausgedehnte  Sammlungen 
an,  verschaffte  sich  fachmännische  Kenntnis  des 
geologischen  Aufbaus  der  deutschen  Mittelgebirge 
und  nahm  selbst  Stellung  zu  den  sich  damals  be- 
kämpfenden geologischen  Theorien.  Sehen  wir  ihn 
so  fast  das  gesamte  Gebiet  der  anorganischen  Natur- 
wissenschaften  bearbeiten,  so  sind  ihm  fast  noch 


4  Erste  Vorlesung. 

größere  Erfolge  bei  dem  Studium  der  organischen 
Natur  beschieden  gewesen.  Pflanzenlcunde  hat  ihn 
durch  viele  Jahrzehnte  seines  Lebens  beschäftigt; 
die  moderne  Botanik  verdankt  das  erste  Eindringen 
in  das  Verständnis  der  Pflanzenform  unserem  Dichter. 
Eifrige  zoologische  Studien  gehen  nebenher,  und  wir 
haben  in  Goethe  den  eigentlichen  Schöpfer  der 
vergleichenden  Anatomie  zu  sehen:  seine  Abhand- 
lung über  den  Zwischenkiefer  ist  die  erste  ver- 
gleichend-anatomische Abhandlung.  Die  Knochen- 
lehre studiert  er  eifrig  und  bereichert  sie  durch 
wichtige  Befunde.  Auch  das  Studium  der  vorsint- 
flutlichen Tiere  nach  ihren  knöchernen  Überresten 
gewinnt  sein  Interesse.  Dabei  bleiben  diese  Forschun- 
gen nicht  auf  die  Säugetiere  beschränkt,  auch  Vögel, 
Fische,  ja  die  Wirbellosen  werden  in  den  Kreis  der 
Beobachtung  hineingezogen.  Aus  all  diesen  Unter- 
suchungen hat  dann  Goethe  die  Lehre  von  der  Ge- 
stalt der  organisierten  Wesen,  die  Morphologie,  als 
eigene  Wissenschaft  zusammengefaßt  und  begründet. 
Doch  auch  hiermit  ist  der  Kreis  seiner  Interessen 
nicht  erschöpft.  Neben  der  Form  interessiert  ihn 
das  Funktionieren  der  lebenden  Gebilde,  die  Physio- 
logie. Er  studiert  das  Leben  der  Insekten,  beob- 
achtet Entwicklung  und  Bewegung  der  Infusions- 
tiere, experimentiert  über  den  Einfluß  der  Wärme, 
des  Lichts  und  andrer  Bedingungen  auf  das  Pflanzen- 
Wachstum.    Einen  wichtigen  Zweig  der  Physiologie 


Einleitung.  5 

hat  er  aber  geradezu  selbst  begründet,  das  ist  die 
physiologische  Optik!  Ich  werde  Ihnen  später  aus-  • 
einanderzusetzen  haben,  daß  die  grundlegende  Be- 
deutung der  Goetheschen  Farbenlehre  weniger  in 
ihrem  physikalischen  als  in  ihrem  physiologischen 
Teil  liegt,  und  daß  die  physiologische  Optik  des 
19.  Jahrhunderts  sich  in  direktem  Anschluß  an  die 
Goethesche  Farbenlehre  entwickelt  hat.  So  sehen 
wir  Goethes  Geist  den  gewaltigen  Umfang  der  Natur 
ganz  umfassen. 

Der  Dichter  hat  auf  fast  allen  Gebieten,  die  er 
bearbeitete,  zunächst  seine  Forschungen  durchaus 
selbständig  begonnen;  war  er  aber  zu  wichtigen  Er- 
gebnissen gelangt,  so  suchte  er  den  Anschluß  an 
die  gleichzeitigen  Fachgelehrten,  und  es  hat  ihn  nichts 
so  sehr  gekränkt  und  erbittert,  als  daß  er  fast  jedes- 
mal von  diesen  nicht  anerkannt  und  zurückgewiesen 
wurde.  Später  drangen  dann  in  den  meisten  Fällen 
die  Goetheschen  Ideen  durch,  und  so  finden  wir  ihn 
denn  in  den  letzten  Jahrzehnten  seines  Lebens  in 
regem  persönlichen  und  brieflichen  Verkehr  mit  den 
hervorragendsten  Gelehrten  seiner  Zeit.  Es  kam 
schießlich  dazu,  daß  die  Fäden  fast  der  ganzen 
naturwissenschaftlichen  Welt  in  Weimar  zusammen- 
liefen und  Goethe  nach  allen  Seiten  hin  in  regem 
Gedankenaustausch  stand.  Mit  Alexander  v.  Hum- 
boldt verbanden  ihn  schon  früh  anatomische,  später 
botanische  Interessen.    Der  Anatom  Loder  in  Jena 


6  Erste  Vorlesung. 

ist  anfangs  Goethes  Lehrer,  und  auch  später  nach 
dessen  Übersiedlung  nach  Moskau  wird  der  Ver- 
kehr brieflich  fortgesetzt  Mit  Sömmering,  dem  her- 
vorragenden Anatomen  in  Kassel,  später  am  Senken- 
bergschen  Institut  in  Frankfurt,  steht  Goethe  in 
fortgesetzter  Verbindung.  Seine  Beziehungen  zu  Gall, 
dem  Phrenologen  und  Gehirnanatomen,  werden  wir 
noch  zu  erörtern  haben.  Der  Chemiker  Döbbereiner 
in  Jena,  noch  heute  als  der  Erfinder  des  bekannten 
Feuerzeuges  genannt,  muß  Goethe  in  allen  Fort- 
schritten der  Chemie  durch  Mitteilungen  und  Expe- 
rimente auf  dem  laufenden  erhalten.  Von  dem 
Meister  der  modernen  Chemie  Berzelius  sind  ver- 
schiedene Briefe  an  Goethe  erhalten.  Der  Botaniker 
V.  Martins  in  München  und  eine  Reihe  von  andern 
zeitgenössischen  Botanikern  stehen  in  regem  Brief- 
wechsel mit  Weimar.  D'Alton  in  Bonn  und  Carus 
in  Dresden,  beide  vergleichende  Anatomen,  berichten 
regelmäßig  über  ihre  wissenschaftlichen  Fortschritte 
an  Goethe,  und  dieser  teilt  ihnen  wieder  die  eigenen 
Forschungen,  Ideen  und  Zeichnungen  mit.  Ein  um- 
fassender Briefwechsel  wurde  mit  dem  Grafen  Kaspar 
Sternberg  besonders  über  mineralogische  und  palä- 
ontologische Probleme  geführt,  und  auch  mit  Leonhard, 
der  später  Professor  der  Mineralogie  an  der  Heidel- 
berger Universität  wurde,  verbanden  Goethe  per- 
sonliche und  briefliche  Beziehungen.  Wenn  man 
diese  zahlreichen  uns  erhaltenen  Briefe  durchmustert, 


Einleitung.  7 

SO  Spricht  aus  ihnen  allen  die  tiefe  Bewunderung 
und  Ehrfurcht  nicht  nur  vor  Goethes  Persönlichkeit, 
sondern  auch  vor  dem  Ernst  und  der  Bedeutung 
seiner  wissenschaftlichen  Bestrebungen. 

Nun  fiel  Goethes  Leben  allerdings  auch  in  eine 
Zeit,  in  der  die  Naturwissenschaften  eine  ganz  un- 
geahnte Entwicklung  erlebten.  Als  er  geboren  wurde, 
befanden  sie  sich  mit  wenig  Ausnahmen  in  einem 
ziemlichen  Tiefstand;  als  er  starb,  hatten  sie  ihren 
Siegeszug  als  moderne  Naturwissenschaften  ange- 
treten, der  bis  auf  den  heutigen  Tag  nicht  aufge- 
hört hat.  Goethe  hat  als  junger  Mann  noch  alchi- 
mistische Studien  getrieben,  am  Ende  seiner  Tage 
aber  die  neuere  Chemie  bereits  als  einen  stolzen 
Bau  aufgeführt  gesehen.  Als  er  seine  botanischen 
Studien  begann,  herrschte  noch  absolut  das  starre 
System  Linnes,  als  er  sie  abschloß,  war,  zum  Teil 
auf  Grund  seiner  eigenen  Arbeiten,  die  neuere  wissen- 
schaftliche Botanik  im  Entstehen;  und  so  war  es  auf 
fast  allen  Gebieten  des  Naturganzen. 

Das  bisher  Besprochene  bildet  aber  nur  die  eine 
Seite  dessen,  was  uns  hier  interessiert.  Wir  haben 
es  nicht  allein  mit  der  Schilderung  eines  der  großen 
Naturforscher  zu  tun.  Es  würde,  wie  ich  glaube, 
niemandem  einfallen,  eine  eigene  Vorlesung  etwa 
über  Cuvier,  Faraday  oder  selbst  Helmholtz  vor 
einem  allgemein  gebildeten  Hörerkreis  zu  halten. 
Was  uns  hier  interessiert,   ist,   daß  eben  Goethe 


8  Erste  Vorlesung. 

dieser  Naturforscher  gewesen  ist,  daß  in  dem  Leben 
des  Mannes,  der  uns  den  Werther,  den  Faust,  den 
Wilhelm  Meister  geschenkt  hat,  die  Naturwissen- 
schaften eine  solche  große  Rolle  gespielt  haben. 
Und  in  der  Tat  ist  die  Berücksichtigung  dieser 
wissenschaftlichen  Beschäftigung  Goethes  zum  Ver- 
ständnis seines  Gesamtbildes  und  seiner  Entwick- 
lung unumgänglich  notwendig.  Es  haben  daher  die 
Goethebiographen  auch  in  neuererZeit  immer  größeren 
Wert  auf  diese  Seite  seines  Geistes  gelegt.  Man  muß 
aber  im  allgemeinen  wohl  sagen,  daß  die  Kenntnis 
von  Goethes  wissenschaftlichen  Bestrebungen  lange 
nicht  in  dem  Maße  Gemeingut  aller  Gebildeten  ge- 
worden ist,  als  es  für  eine  richtige  Würdigung  des 
Dichters  wünschenswert  wäre,  und  wir  werden  im 
Verlauf  dieser  Stunden  sehen,  wie  vielfältig  die  natur- 
wissenschaftlichen Bestrebungen  alles,  was  Goethe 
denkt,  tut  und  dichtet,  durchdringen  und  bedingen. 
Wir  wollen  in  dieser  Einleitung  die  Frage,  wie  in 
Goethes  Persönlichkeit  der  Dichter  und  der  Natur- 
forscher zusammenhängen,  nur  kurz  streifen,  um  sie 
dann  ein  zweites  Mal  zu  erörtern,  wenn  wir  von 
Goethes  Forschungen  Näheres  erfahren  haben.  Schon 
jetzt  aber  sei  darauf  hingewiesen,  daß  das  Zusammen- 
treffen von  künstlerischer  und  naturwissenschaftlicher 
Betätigung  bei  ein  und  demselben  Individuum  gar 
nicht  80  selten  vorzukommen  scheint.  Um  mit  ge- 
ringeren Beispielen  zu  beginnen,  so  erinnere  ich  Sie 


Einleitung.  9 

nur  an  den  Dichter  Chamisso,  dessen  reizvolle  Be- 
schreibung seiner  Weltumsegelung,  auf  der  er  wich- 
tige zoologische  und  botanische  Untersuchungen  vor- 
nahm, Ihnen  allen  bekannt  ist.  Von  Albrecht  v.  Haller 
wissen  die  meisten  Menschen  nur,  daß  er  ein  be- 
schreibendes Gedicht  über  die  Alpen  verfaßt  hat; 
er  war  aber  außerdem  der  Begründer  der  modernen 
experimentellen  Physiologie  in  Deutschland,  und  seine 
Forschungen  sind  die  Grundlage,  auf  der  auch  heute 
noch  weiter  gearbeitet  wird.  Schon  Goethe  hat  sich 
mit  den  Anschauungen  und  Dogmen  Albrecht 
V.  Hallers  mehrfach  in  polemischer  und  scharfer 
Weise  auseinanderzusetzen  gehabt.  Auch  unter  den 
bildenden  Künstlern  finden  sich  nicht  selten  Natur- 
forscher. Michelangelo  hat  seine  anatomischen 
Studien  nicht  allein  deshalb  vorgenommen,  um  seinen 
Skulpturen  und  Gemälden  höchste  Lebenswahrheit 
verleihen  zu  können,  sondern  auch  aus  reinem 
Interesse  an  der  wissenschaftlichen  Forschung.  Die 
schlagendste  Parallele  gewährt  aber  der  Mann,  in 
dem  Art  und  Geist  des  italienischen  Volkes  ihren 
höchsten  Ausdruck  gefunden  haben:  Lionardo  da 
Vinci.  Es  ist  wohl  mehr  als  ein  Zufall,  daß  gerade 
jetzt,  wo  man  sich  Goethes  naturwissenschaftlichen 
Bestrebungen  wieder  mit  Interesse  zuwendet,  auch 
Lionardos  gleiche  Tätigkeit  neu  untersucht  wird. 
Ich  hatte  durch  die  Liebenswürdigkeit  eines  italie- 
nischen Kollegen  Gelegenheit,  bei  einem  diesjähri- 


10  Erste  Vorlesung. 

gen  Aufenthalt  in  Florenz  einem  Vortragszyklus  bei- 
zuwohnen, welcher  in  der  Societä  Lionardo  da  Vinci 
über  den  italienischen  Meister  gehalten  wurde.  Wenn 
ich  Ihnen  nun  ganz  kurz  aufzähle,  was  da  über 
Lionardos  Bedeutung  als  Architekt,  Anatom  und 
Biologe  gesagt  wurde,  so  werden  Sie  ohne  weiteres 
die  auffallende  Ähnlichkeit  in  der  Betätigung  beider 
Männer  erkennen. 

Lionardo  hat  als  Baumeister  nicht  nur  neue 
künstlerische  Gesichtspunkte  entwickelt,  sondern 
auch  konstruktive  und  technische  Fortschritte  an- 
gebahnt. Er  legte  dem  Florentiner  Rat  einen  ge- 
nauen Plan  vor,  wie  man  das  Baptisterium  S.  Gio- 
vanni, das  ziemlich  tief  in  der  Erde  steckt,  als 
Ganzes,  ohne  es  zu  verletzen,  heben  und  auf  ein  neues 
Fundament  stellen  könne.  Er  galt  als  der  erste 
Wasserbaumeister  seiner  Zeit,  und  seine  Pläne  zur 
Kanalisation  der  Poebene  und  Toskanas  sind  Ideale, 
welche  bis  heute  noch  nicht  erreicht  worden  sind. 
Von  ihm  stammt  die  Idee  einer  völligen  Reform  des 
Städtebaus  in  der  Weise,  daß  jede  Stadt  zwei  von- 
einander unabhängige  Systeme  von  Straßen  besitzen 
soll,  von  denen  eine  nur  für  Fußgänger,  die  andere 
für  Wagen  und  Güterverkehr  dient,  jedes  Haus  aber 
von  beiden  Straßenzügen  zugänglich  sein  soll.  Nur 
Edinburgh  besitzt  meines  Wissens  Andeutungen 
einer  derartigen  Bauart.  Als  Festungsingenieur  be- 
saß Lionardo,  in  ähnlicher  Weise  übrigens  wie  auch 


Einleitung.  1 1 

Michelangelo,  weitverbreiteten  Ruf;  die  Zitadelle  von 
Mailand  ist  von  ihm  erbaut  worden.  Er  galt  als 
einer  der  hervorragendsten  Artilleristen,  der  Ge- 
schützkonstruktionen erfand  und  die  Geschoßbahnen 
berechnete.  Auch  als  Mathematiker  ist  er  seiner 
Zeit  weit,  vorausgeeilt.  Erst  in  neuerer  Zeit  ist 
bekannt  geworden,  daß  wir  in  Lionardo  den 
eigentlichen  Begründer  der  modernen  menschlichen 
Anatomie  zu  sehen  haben.  Während  bisher  Vesal 
diesen  Ruhm  besaß,  hat  sich  jetzt  ergeben,  daß 
Lionardo  schon  mehrere  Jahrzehnte  früher  seine 
Sektionen  menschlicher  Leichen  ausgeführt  und 
deren  Resultate  in  wunderbaren  Zeichnungen  nieder- 
gelegt hat,  zu  denen  er  einen  eingehenden  wissen- 
schaftlichen erklärenden  Text  gab.  Die  einzige 
Frage,  welche  heute  noch  diskutiert  wird,  ist,  ob 
Vesal  von  diesen  Arbeiten  Lionardos  Kenntnis  hatte, 
und  also  des  Plagiats  schuldig  ist,  oder  ob  er  selb- 
ständig die  ganze  Anatomie  noch  einmal  entdeckt 
hat.  Auch  vergleichend  anatomische  Studien  hat 
Lionardo  angestellt.  Er  verglich  besonders  den 
Aufbau  des  Menschen  mit  dem  des  Pferdes,  und 
legte  sich  die  Frage  vor,  inwieweit  durch  die  ver- 
schiedene Körpergestalt  und  die  verschiedene 
Funktion  der  Unterschied  in  der  Anordnung  von 
Knochen  und  Muskeln  bei  beiden  Wesen  bedingt 
sei.  Daneben  treffen  wir  bei  Lionardo  auf  ein- 
gehende   Beschäftigung   mit   physiologischen    Pro- 


12  Erste  Vorlesung. 

blemen.  Er  studierte  den  auch  heute  noch  nicht 
aufgeklärten  Vogelflug.  Er  stellte  Untersuchungen 
über  die  Bewegungen  des  Blutes  an  und  er  scheint 
der  Erste  gewesen  zu  sein,  der  die  Probleme  des 
tierischen  Stoffwechsels  klar  erkannt  und  formuliert 
hat.  Allgemein  bekannt  ist,  daß  er  optische  Studien 
betrieben  und  Forschungen  zur  Farbenlehre  an- 
gestellt hat.  So  finden  wir  denselben  Künstler,  der 
die  Mona  Lisa  und  das  Abendmahl  schuf,  als 
Techniker,  Physiker,  Anatom  und  Physiologe 
tätig.  Wenn  Sie  nun  das  vergleichen,  was  ich 
Ihnen  vorhin  über  Goethes  naturwissenschaftliche 
Wirksamkeit  gesagt  habe,  werden  Sie  leicht  die 
überraschende  Ähnlichkeit  in  der  Geistesart  beider 
Männer  erkennen.  Freilich  war  Lionardo  Bildner, 
Goethe  Dichter,  aber  auch  hier  ist  der  Unterschied 
kein  so  durchgreifender,  als  es  auf  den  ersten  Blick 
scheint  Goethe  selbst  hat  in  einem  kurzen  Aufsatz, 
anknüpfend  an  eine  Bemerkung  in  Heinroths  Anthro- 
pologie, ausgeführt,  daß  für  seine  Geistesart  die 
Fähigkeit  zu  anschaulichem  Denken  charakteristisch 
sei,  da  er  das  Vermögen  besitze,  sich  alle  Dinge, 
alle  Vorgänge,  alle  Menschen,  über  die  er  nach- 
denke und  die  er  dichte,  in  jedem  Augenblick  so 
plastisch  vorzustellen,  daß  er  sie  gleichsam  vor 
seinem  inneren  Auge  erscheinen  sehe.  So  operiert 
Goethe  beim  Dichten  und  beim  Forschen  immer 
mit  optischen  Vorstellungen,  und  es  ist  ohne  weiteres 


Einleitung.  13 

klar,  wie  ihm  das  beim  wissenschaftlichen  Arbeiten, 
wie  für  die  unmittelbare  Anschaulichkeit  seiner 
Dichtungen  zustatten  kommen  mußte.  Sehen  wir 
hier  den  Poeten  von  der  Eigenschaft  des  Natur- 
forschers Gebrauch  machen,  so  wird  auf  der 
andern  Seite  auch  der  Forscher  Goethe  durch 
die  dichterischen  Qualitäten  unterstützt.  Kein  ge- 
ringerer als  Helmholtz  hat  darauf  hingewiesen,  daß 
jeder  Naturforscher,  der  mehr  leisten  will,  als 
die  einfache  nackte  Aufzählung  der  von  ihm  be- 
obachteten Erscheinungen,  der  die  Naturphänomene 
begreifen  und  zu  einem  übersichtlichen  und  ver- 
ständlichen Ganzen  zusammenfassen  will,  etwas  von 
der  schöpferischen  Phantasie  des  Künstlers  nötig 
hat,  und  so  sehen  wir,  wie  sich  auch  bei  Goethe 
diese  beiden  Eigenschaften  gegenseitig  ergänzen  und 
durchdringen:  vom  Naturforscher  die  Fähigkeit 
gegenständlichen  Denkens,  vom  Dichter  die  schöpfe- 
rische Phantasie;  und  wir  finden  daher  sowohl  in 
den  naturwissenschaftlichen  Werken  immer  den 
ganzen  Goethe,  wie  in  seinen  Dichtungen.  So  be- 
wundern wir  in  seinen  wissenschaftlichen  Abhand- 
lungen neben  der  Exaktheit  der  Forschung  und  der 
Klarheit  des  Gedankens  auch  die  Schönheit  der 
Darstellung,  und  so  finden  wir  auch  in  Goethes 
Dichtungen  neben  der  höchsten  poetischen  Voll- 
endung die  außerordentliche  Anschaulichkeit  der 
dargestellten   Menschen   und   Handlungen   und   die 


14  Erste  Vorlesung. 

Treue  in  der  Wiedergabe  der  menschlichen  Art  und 
der  Natur.  Auch  Goethes  Dichtungen  kann  man 
erst  ganz  würdigen,  wenn  man  den  naturwissen- 
schaftlichen Einschlag  in  ihnen  bewußt  oder  unbe- 
wußt mit  in  Rechnung  zieht 

Bis  in  die  80  er  Jahre  des  vorigen  Jahrhunderts 
war  man  für  die  Beurteilung  von  Goethes  natur- 
wissenschaftlicher Tätigkeit  im  wesentlichen  auf 
diejenigen  Aufsätze  angewiesen,  welche  er  selbst 
in  seine  Werke,  einschließlich  der  nachgelassenen 
Schriften,  aufgenommen  hatte,  und  welche  hier  ein 
ziemlich  wenig  beachtetes  Dasein  fristeten.  In  Wirk- 
lichkeit ist  der  Umfang  seiner  naturwissenschaft- 
lichen Werke  ein  wesentlich  größerer.  Schon  zu  Leb- 
zeiten von  Goethes  Enkeln  haben  diese  seine  natur- 
wissenschaftliche Korrespondenz  in  einer  Reihe  von 
Publikationen  veröffentlichen  lassen.  Nach  ihrem 
Tode  wurde  Goethes  vollständiger  Nachlaß  der  All- 
gemeinheit zugänglich,  und  es  ist  nun  auf  Grund 
dieses  jetzt  im  Goethe-  und  Schillerarchiv  befind- 
lichen Materials  die  Gesamtheit  von  Goethes  natur- 
wissenschaftlichen Aufzeichnungen  als  2.  Abteilung 
der  großen  Weimarer  Goetheausgabe  in  13  statt- 
lichen Bänden  veröffentlicht  worden,  welche  jetzt 
nahezu  vollständig  vorliegen.  Erst  dadurch  wurde 
es  möglich,  einen  wirklichen  Einblick  in  Goethes 
Forschungen  zu  gewinnen.  Hier  sind  nicht  nur  die- 
jenigen Schriften  abgedruckt,  welche  er  selbst  ver- 


Einleitung.  15 

öffentlicht  hat,  sondern  eine  Fülle  noch  ungedruckten 
Materials;  Aufsätze,  Entwürfe,  erste,  später  verworfene 
Fassungen,  Notizen,  Aufzeichnungen  und  Versuchs- 
protokolle, hingeworfene  Ideen  zu  späteren  Arbeiten, 
kurzum  alles,  was  Goethes  Geist  in  diesen  Fragen 
bewegt  hat  und  was  er  der  Aufzeichnung  für  wert 
erachtete.  Dadurch  ist  die  Übersicht  über  Goethes 
naturwissenschaftliche  Forschungen  wesentlich  ver- 
tieft und  erweitert,  und  wir  können  erst  jetzt  die 
Fülle  desjenigen  ermessen,  was  ihn  alles  beschäftigt 
hat.  Nicht  minder  wichtig  erscheint  aber,  daß 
sich  aus  seinen  kurzen  Notizen  und  Protokollen 
ein  klarer  Einblick  in  die  Art  gewinnen  läßt,  wie 
er  wissenschaftlich  arbeitete,  wie  bei  ihm  die  Pro- 
bleme sich  entwickelten,  angepackt  und  gelöst  wurden, 
wie  ihm  seine  Resultate  durchaus  nicht  spielend 
zufielen,  sondern  in  ernster,  mühevoller  und  oft  ent- 
täuschender Arbeit  errungen  werden  mußten.  Indem 
wir  so  in  die  Werkstätte  des  Forschers  einen  Ein- 
blick tun  können,  wie  das  vielleicht  bei  keinem 
andern  Naturforscher  mit  gleicher  Deutlichkeit  mög- 
lich ist,  gewinnen  wir  zugleich  von  einer  neuen 
Seite  her  ein  persönliches  Verhältnis  zu  Goethe  und 
sehen  seine  reifen  Arbeiten  aus  ihren  ersten  An- 
fängen her  entstehen  und  sich  entwickeln. 

Außer  dem  handschriftlichen  Nachlaß  haben 
Goethes  Enkel  das  Haus  ihres  Großvaters  mit 
seinem  gesamten  Inhalt   der  Nation  vermacht,  und 


16  Erste  Vorlesung. 

hier  findet  sich  nun  noch  wohl  erhalten  neben  den 
zahlreichen  anderen  Sammlungen  auch  alles,  was 
von  den  naturwissenschaftlichen  Studien  her  von 
Goethe  der  Aufbewahrung  wert  erachtet  wurde. 
Hier  ruht  in  umfangreichen  Schränken  seine  ge- 
waltige, mehr  als  18000  Nummern  umfassende  Mine- 
raliensammlung, welche  Stücke  von  ganz  hervor- 
ragender Schönheit  und  Seltenheit  enthält.  Hier 
sieht  man  Skelette  und  Schädel,  an  denen  Goethe 
vergleichend  anatomische  Studien  gemacht  hat. 
Hier  finden  sich  zahlreiche  physikalische,  besonders 
elektrische  Apparate,  mit  denen  er  für  sich  und 
bei  seinen  Vorträgen  experimentierte.  Hier  ist  vor 
allen  Dingen  in  ganz  überraschender  Reichhaltigkeit 
alles  erhalten,  was  er  zu  seinen  optischen  Studien 
verwendet  hat:  Prismen,  Spiegel,  Polarisations- 
apparate, Flintglasstücke,  farbige  Papiere  und 
Seiden,  und  alle  die  andern  Dinge,  welche  bei  den 
in  der  Farbenlehre  beschriebenen  Experimenten  zur 
Verwendung  kamen,  liegen  noch  heute  zum  Teil 
in  denselben  Papieren,  in  welche  Goethe  sie  ein- 
gewickelt hat,  in  den  Schränken  des  Goethehauses, 
und  es  gewährt,  wie  ich  Sie  aus  eigener  Erfahrung  ver- 
sichern kann,  einen  eigentümlichen  Reiz,  an  dieser 
geweihten  Stätte  mit  Goethes  eigenen  Apparaten  seine 
Versuche  nachzumachen  und  sich  zu  überzeugen, 
mit  welcher  Exaktheit  er  beobachtete,  mit  welcher 
anschaulichen  Treue  alles,  was  er  bei  seinen  Ver- 


Einleitung.  1 7 

suchen  sah,  von  ihm  geschildert  wurde.  Auf  diese 
Weise  läßt  sich  noch  heute  die  ganze  Pracht  der  von 
Goethe  beschriebenen  optischen  Phänomene  wieder 
hervorzaubern.  Im  Goethehause  findet  sich  ferner 
seine  naturwissenschaftliche  Bibliothek,  die  von  der 
Reichhaltigkeit  seiner  Interessen  und  seiner  Studien, 
von  dem  Ernst,  mit  dem  er  sich  auf  allen  Gebieten 
unterrichtete,  ein  noch  heute  sprechendes  Zeugnis 
ablegt.  Außerdem  liegen  hier  noch  zahlreiche 
Zeichnungen  und  graphische  Darstellungen,  welche 
ein  wertvolles  Illustrationsmaterial  für  viele  von 
Goethes  naturwissenschaftlichen  Schriften  abgeben, 
Tafeln  mit  geologischen,  anatomischen,  botanischen 
und  anderen  Abbildungen,  welche  zum  Teil  noch 
immer  der  Veröffentlichung  harren. 

So  ist  man  heute  vielleicht  besser  als  vor 
30  Jahren  imstande,  Goethes  naturwissenschaftliche 
Tätigkeit  zu  verfolgen  und  zu  würdigen,  und  ich 
will  versuchen,  ob  es  mir  gelingt,  Ihnen  ein  an- 
schauliches Bild  von  dieser  Seite  des  Goetheschen 
Geisteslebens  zu  entwerfen. 


Magnus,  Goethe  als  Naturforscher. 


Zweite  Vorlesung. 
Goethes  Leben. 

Meine  Herren!  Wir  wollen  jetzt  beginnen,  den 
Rahmen  zu  entwerfen,  in  den  wir  später  Goethes 
naturwissenschaftliche  Leistungen  in  Einzeldarstel- 
lungen einfügen  wollen.  Wir  wollen  seinen  natur- 
wissenschaftlichen Entwicklungsgang  kennen  lernen 
und  sehen,  wie  sich  die  verschiedenartigen  Studien 
und  Beschäftigungen  in  seinen  Lebenslauf  ver- 
flochten haben.  Es  soll  das  zunächst  nur  eine  ganz 
oberflächliche  Skizze  werden,  die  näheren  Details 
werden  wir  später  nachzutragen  ausreichend  Ge- 
legenheit haben. 

Aus  Goethes  Kindheit  erfahren  wir  nur  wenig 
über  Berührung  mit  naturwissenschaftlichen  Dingen 
und  er  selber  hat  bei  der  Schilderung  seines  Ent- 
wicklungsganges auf  diese  kindlichen  Anfänge  nur 
geringen  Wert  gelegt.  In  eigentliche  Berührung 
kommt  er  mit  der  Naturwissenschaft  erst  auf  der 
Universität  1765—68  finden  wir  ihn  als  Studiosus 
der  Rechte  in  Leipzig.  Aber  schon  hier  beschränkt 
er  sich  keineswegs  auf  das  Fachstudium.  Außer 
den  vielen  andern  Interessen,  die  er  in  der  Leipziger 


Goethes  Leben.  19 

Zeit  pflegt,  studiert  er  auch  Physik  und  hört  be- 
sonders Elelctrizitätslehre  bei  Winkler.  In  näherem 
Verkehr  steht  er  mit  mehreren  Medizinern,  unter 
denen  Erhardt  Kapp,  der  später  berühmte  Arzt,  der 
auch  Goethe  zu  seinen  Patienten  zählte,  genannt 
sein  möge.  Auch  bei  dem  Mittagstisch  des  Medi- 
ziners und  Botanikers  Ludwig,  an  dem  er  teilnahm, 
mögen  zahlreiche  Anregungen  auf  ihn  eingewirkt 
haben.  Dann  erkrankt  er  an  jenem  rätselhaften 
Leiden,  dessen  Natur  bis  heute  noch  nicht  aufge- 
klärt ist.  Er  kehrt  nach  Frankfurt  zurück  und  macht 
ein  längeres  Krankenlager  in  seinem  Elternhaus 
durch.  Hier  wird  er  durch  den  Einfluß  der  schönen 
Seele,  des  Frl.  v.  Klettenberg,  und  seines  Arztes  auf 
alchimistische  Studien  gebracht.  Er  studiert  und 
experimentiert  mit  Retorten  und  Kolben  und  liest 
auch  in  jener  Zeit  neben  den  Werken  des  Paracelsus 
das  chemische  Kompendium  und  die  Aphorismen 
Boerhaves,  des  berühmten  Klinikers,  dessen  An- 
schauungen und  Lehren  damals  die  gesamte  medi- 
zinische Wissenschaft  beherrschten.  Auf  jene  Studien 
haben  wir  wohl  die  alchimistischen  Reminiszenzen 
in  Fausts  Osterspaziergang  zurückzuführen,  in  denen 
die  Darstellung  der  Arzenei  in  der  phantastisch- 
symbolischen Sprache  jener  Wissenschaft  aus  dem 
„roten  Leu"  und  der  „Lilie"  geschildert  werden. 

1770  und  71  studiert  Goethe  in  Straßburg  und 
er  gerät  daselbst  in  den  Kreis  anregender  Männer, 


20  Zweite  Vorlesung. 

teilweise  wieder  Mediziner,  die  er  uns  in  Wahrheit 
und  Dichtung  so  anschaulich  geschildert  hat.  Er 
erwähnt  dabei,  daß  nach  seinen  Erfahrungen  die 
Mediziner  die  einzige  Klasse  von  Studierenden  seien, 
welche  sich  für  ihr  Fach  so  interessieren,  daß  sie 
auch  außerhalb  des  Kollegs  davon  zu  sprechen 
pflegen.  In  dieser  „fachsimpelnden"  Gesellschaft 
hat  nun  Goethe  nach  seiner  eigenen  Angabe  eine 
Menge  medizinischer  und  naturwissenschaftlicher  An- 
regungen erfahren.  Aber  er  begnügte  sich  damit  nicht, 
sondern  hörte  auch  eifrig  Vorlesungen,  so  Chemie 
bei  Spielmann,  der  zugleich  Professor  der  Botanik 
und  Lehrer  am  botanischen  Garten  war,  Anatomie 
beim  berühmten  Anatomen  Lobstein,  ja,  er  be- 
suchte die  Klinik  des  älteren  Ehrmann  und  hörte, 
was  heutzutage  einem  Juristen  wohl  schwerlich  er- 
laubt sein  dürfte,  sogar  Geburtshilfe  beim  jüngeren 
Ehrmann. 

Die  Straßburger  Zeit  geht  vorüber;  er  kehrt  nach 
Frankfurt  zurück;  die  Wetzlarer  Periode  folgt.  Wir 
stehen  in  der  Zeit  von  Goethes  Sturm  und  Drang. 
Werther  und  Götz  werden  geschaffen  und  begründen 
den  Ruhm  des  Dichters.  In  diesen  Jahren  hören  wir 
von  naturwissenschaftlichen  Bestrebungen  Goethes 
nur  wenig.  Sie  treten  hinter  den  übrigen  mächtigen 
Interessen  des  jungen  Genies  zurück.  Das  einzige 
Erwähnenswerte  aus  jener  Zeit  ist  die  Bekanntschaft 
mit  Lavater  (1774),  der  damals  die  physiognomischen 


Goethes  Leben.  21 

Fragmente  herausgab,  für  die  sich  Goethe  alsbald 
aufs  lebhafteste  interessierte.  Er  hat  dann  an  dem 
Werk  mitgearbeitet,  einzelne  kurze  Beschreibungen 
zu  Köpfen  berühmter  Männer  und  auch  zu  Tier- 
köpfen gegeben  und  wurde  von  Lavater  nachdrück- 
lichst auf  die  knöcherne  Grundlage  des  Gesichtes, 
den  Schädel  hingewiesen.  So  knüpfen  die  Anfänge 
von  Goethes  osteologischen  Studien  an  die  Lehre 
vom  Gesichtsausdruck  an,  an  die  Frage,  wie  man 
Art  und  Charakter  eines  Menschen  aus  den  Gesichts- 
zügen ablesen  könne  und  durch  welche  anatomischen 
und  psychischen  Faktoren  die  Physiognomie  bestimmt 
werde.  Daran  schloß  sich  eine  eifrige  Korrespon- 
denz über  osteologische  Fragen  mit  seinem  Freund 
Merck  in  Darmstadt. 

Im  November  1775  tritt  der  Umschwung  in 
Goethes  Leben  ein.  Er  folgt  der  Einladung  des 
Herzogs  von  Weimar,  und  binnen  kurzem  finden  wir 
ihn  als  Freund  Carl  Augusts,  dann  als  leitenden 
Minister  in  dem  kleinen  mitteldeutschen  Herzogtum. 
In  die  ersten  Weimarer  Jahre  fallen  nun  die  ent- 
scheidenden Anfänge  intensiver  Beschäftigung  Goethes 
mit  den  Naturwissenschaften,  und  zwar  gingen  die 
Anregungen  hierzu  zu  einem  gewissen  Teil  aus  von 
den  dienstlichen  Beziehungen  mit  den  verschiedenen 
Ressorts  seines  Ministeriums.  Durch  die  Beschäfti- 
gung mit  Land-  und  Forstwissenschaft  wurde  er  auf 
Botanik,  durch  die  Notwendigkeit,  den  Ilmenauer 


22  Zweite  Vorlesung. 

Bergbau  wieder  zu  beleben,  auf  Mineralogie  und 
•  Geologie  hingewiesen,  und  schon  1777  finden  wir 
ihn  auf  der  Harzreise,  1780  auf  der  Schweizerreise 
mit  eifrigen  geologischen  Studien  beschäftigt.  Schon 
damals  mußte  er  sich  auch  mit  den  naturwissen- 
schaftlichen Instituten  der  Universität  Jena  befassen, 
denen  er  sein  ganzes  Leben  hindurch  von  da  ab 
sein  lebhaftes  Interesse  und  seine  Arbeitskraft  ge- 
widmet hat.  Anfangs  stand  Goethe  mit  diesen 
naturwissenschaftlichen  Bestrebungen  in  Weimar 
allein.  Nur  der  Hofapotheker  Buchholz  hatte  ähn- 
liche Neigungen.  Von  diesem  erfuhr  Goethe  die 
neueren  Fortschritte  der  Physik  und  Chemie,  und 
da  Buchholz  nach  der  damaligen  Sitte  in  dem  Garten 
seines  Hauses  sich  die  offizineilen  Pflanzen  für 
seine  Apotheke  selber  zog  und  auch  andre  Pflanzen 
kultivierte,  so  lernte  Goethe  auf  diesem  Wege 
auch  vieles  über  Botanik  und  Pflanzenzucht.  Erst 
1780  gelang  es  ihm,  den  Herzog  für  die  Natur- 
wissenschaften zu  interessieren.  Er  wird  ihn  ver- 
mutlich bei  ihrer  gemeinschaftlichen  Schweizerreise 
immer  wieder  auf  die  interessanten  Phänome  der 
großartigen  Schweizernatur  hingewiesen  haben.  Vier 
Jahre  später  aber  hat  er  bereits  die  ganze  Weimarer 
Gesellschaft  und  den  Hof  in  den  Bannkreis  seiner 
naturwissenschaftlichen  Bestrebungen  hineingezogen. 
Wie  weit  das  damals  ging,  ersehen  wir  aus  einem 
an  Körner  gerichteten  Brief  Schillers,  welcher  im 


Goethes  Leben.  *  23 

Jahre  1787,  während  Goethe  in  Italien  weilte,  nach 
Weimar  geicommen  war  und  dort  Goethes  Einfluß 
fortwirkend  vorfand.  Hören  wir  Schiller  selbst: 
„Goethes  Geist  hat  alle  Menschen,  die  zu  seinem 
Zirkel  zählen,  gemodelt.  Eine  stolze  philosophische 
Verachtung  aller  Spekulation  und  Untersuchung  mit 
einem  bis  zur  Affektation  getriebenen  Attachement 
an  die  Natur,  eine  Resignation  in  seine  fünf  Sinne, 
kurz  eine  gewisse  kindliche  Einfalt  der  Vernunft  be- 
zeichnet ihn  und  seine  ganze  hiesige  Sekte.  Da 
sucht  man  lieber  Kräuter  und  treibt  Mineralogie,  als 
daß  man  sich  in  leere  Demonstrationen  verfinge.  Die 
Idee  kann  ganz  gesund  und  gut  sein,  aber  man 
kann  auch  viel  übertreiben." 

1781  beginnt  nun  Goethe  wieder  anatomische 
Studien,  und  zwar  läßt  er  sich  von  Loder  in  Jena 
acht  Tage  lang  an  zwei  Leichen  Knochen-  und 
Muskellehre  demonstrieren.  Die  hierdurch  wieder 
aufgefrischte  Kenntnis  der  menschlichen  Anatomie 
macht  er  dann  sofort  praktisch  nutzbar  und  hält  in 
Weimar  für  die  Schüler  der  Zeichenschule  anato- 
mische Vorlesungen,  um  sie  in  das  Verständnis  der 
menschlichen  Form  einzuführen.  Diese  anatomischen 
Studien  werden  nun  zunächst  nicht  wieder  abge- 
brochen und  schon  drei  Jahre  später  hat  Goethe 
seine  erste  wissenschaftliche  Abhandlung  vollendet, 
den  Aufsatz  über  den  Zwischenkiefer,  dessen  Be- 
deutung weit  darüber  hinausgeht,  daß  er  das  Vor- 


24  Zweite  Vorlesung. 

handensein  dieses  Knochens  auch  beim  Menschen 
nachwies,  der  vielmehr  als  die  erste  wissenschaft- 
liche vergleichend  anatomische  Abhandlung  anzu- 
sehen ist  Trotzdem  wurde  sie,  wie  später  näher 
zu  schildern  sein  wird,  von  den  Fachgelehrten  ab- 
gelehnt und  erst  allmählich  brachen  sich  die  in  ihr 
niedergelegten  Erkenntnisse  Bahn.  Goethe  wurde 
aber  durch  diesen  Mißerfolg  so  verstimmt,  daß  er 
weitere  anatomische  Publikationen  zunächst  unter- 
ließ. In  jener  Zeit  setzte  er  außerdem  die  geo- 
logischen Studien  fort.  1784  auf  der  dritten  Harz- 
reise, 1785  in  Karlsbad  gewinnt  er  wichtige  neue 
Erfahrungen. 

Im  folgenden  Jahre  schüttelt  Goethe  die  drückende 
Last  der  Weimarischen  Enge  mit  all  ihren  beruf- 
lichen und  gesellschaftlichen  Verpflichtungen  von 
sich.  Er  flieht  nach  Italien  und  erlebt  in  diesem 
Lande  eine  menschliche  und  künstlerische  Wieder- 
geburt. Auf  diesem  zweiten  Höhepunkt  seines  dichte- 
rischen Schaffens,  als  er  Egmont  vollendet,  Iphigenie 
umarbeitet,  die  bedeutendsten  Teile  des  Tasso  dichtet, 
hat  er  nun  interessanterweise  auch  gleichzeitig  einen 
der  wichtigsten  naturwissenschaftlichen  Fortschritte 
gemacht  Es  wird  gelegentlich  behauptet,  daß  Goethe 
seine  naturwissenschaftlichen  Studien  hauptsächlich 
in  den  Jahren  mangelnder  poetischer  Produktivität 
getrieben  habe;  für  die  botanischen  Entdeckungen 
der  italienischen  Reise  gilt  dies  zweifellos  nicht  Er 


Goethes  Leben.  25 

studiert  hier  auf  italienischem  Boden  die  ihm  neuen 
südlichen  Pflanzenformen,  gewinnt  neue  Erfahrungen 
über  die  Abhängigkeit  des  Wachstums  von  den 
äußeren  Bedingungen,  wie  Licht,  Luft  und  Boden, 
und  gelangt  schließlich  bei  der  Suche  nach  einer 
Urpflanze  zu  jener  höchsten  Verallgemeinerung  über 
den  Aufbau  der  Pflanzenform,  die  er  in  seiner 
Pflanzenmetamorphose  niedergelegt  hat.  Damit  sind 
aber  seine  naturwissenschaftlichen  Interessen  in  Ita- 
lien nicht  erschöpft.  Er  wendet  sich  hier  wieder  der 
Anatomie  zu,  studiert  den  menschlichen  Körper, 
besonders  die  Muskeln,  und  versucht  auf  diesem 
Wege  in  das  Verständnis  zunächst  der  Skulpturen 
Michelangelos,  dann  der  Antike  einzudringen.  Indem 
er  die  antiken  Statuen  auf  ihre  anatomische  Natur- 
treue hin  prüft,  gelangt  er  zu  dem  Verständnis,  wie 
die  alten  Künstler  auf  Grund  genauester  Kenntnisse 
der  menschlichen  Form  doch  zu  typischen  und  all- 
gemeingültigen Einzeldarstellungen  gekommen  sind. 
Dabei  stellt  er  interessante  Parallelen  an  zwischen 
der  Art,  wie  die  Natur  und  wie  der  Künstler  bei 
der  Hervorbringung  körperlicher  Gestalten  schöpfe- 
risch vorgeht. 

Von  Italien  kehrt  er  wieder  nach  Weimar  zurück, 
und  von  nun  an  bis  zu  seinem  Tode  brechen  die 
naturwissenschaftlichen  Studien  nicht  wieder  ab.  Er 
entfaltet  eine  rastlose  Tätigkeit,  um  alle  Gebiete  in 
gleicher  Weise  zu  bearbeiten.    Als  Beispiel  für  die 


26  Zweite  Vorlesung. 

Vielseitigkeit  seiner  Tätigkeit  möge  kurz  aufgezählt 
werden,  was  er  schon  im  Jahre  1790  alles  getrieben 
hat.  Da  wurde  die  Schrift  über  die  Pflanzenmeta- 
morphose vollendet,  da  brachte  er  bei  der  Betrach- 
tung eines  gesprengten  Schafschädels  am  Lido  die 
Wirbeltheorie  des  Schädels,  über  die  er  schon  früher 
nachgedacht  hatte,  zum  Abschluß,  da  schrieb  er, 
während  er  sich  mit  den  Truppen  des  Herzogs  im 
schlesischen  Lager  befand,  inmitten  des  militärischen 
Trubels  den  Versuch  über  die  Gestalt  der  Tiere, 
und  in  demselben  Jahre  begann  er,  ausgehend  von 
einer  Untersuchung  des  malerischen  Kolorits,  seine 
optischen  Studien,  und  glaubte  nach  kurzer  Zeit  ge- 
funden zu  haben,  Newtons  Hypothese  von  der  Zu- 
sammensetzung des  weißen  Lichtes  aus  farbigem  sei 
falsch.  Diese  optischen  Arbeiten  nehmen  von  da  an 
immer  mehr  sein  Interesse  gefangen,  und  20  Jahre 
lang  forscht  und  experimentiert  er,  bis  im  Jahre  1810 
ein  vorläufiger  Abschluß  erzielt  ist  und  seine  Farben- 
lehre der  Öffentlichkeit  übergeben  werden  kann.  In 
demselben  Jahre,  1790,  ist  er  wieder  in  größerem 
Maßstabe  für  die  Universität  Jena  tätig,  deren  Museen 
vervollständigt  und  erweitert  werden.  Jetzt  und  in 
späteren  Jahren  ist  es  seine  Hauptsorge,  diese  Samm- 
lungen durch  Geschenke  zu  vergrößern  und  dafür 
zu  sorgen,  daß  auch  von  andrer  Seite  reichlich  Zu- 
wendungen gemacht  werden.  Auch  die  Anlage  des 
botanischen  Gartens  in  Jena  fällt  in  diese  Zeit 


Goethes  Leben.  27 

Zwei  Jahre  später  finden  wir  Goetlie  im  Feld. 
Er  begleitet  die  Truppen  des  Herzogs  auf  ihren 
Märschen  mit  der  preußischen  Armee  unter  dem 
Befehl  des  Herzogs  von  Braunschweig  nach  Frank- 
reich hinein  und  erlebt  das  hoffnungsfreudige  Vor- 
dringen, die  unrühmliche  Kanonade  von  Valmy  und 
den  schwierigen  und  gefährlichen  Rückzug  des 
Heeres,  den  er  uns  in  seiner  Campagne  in  Frank- 
reich so  anschaulich  geschildert  hat.  Als  Reise- 
lektüre in  die  Strapazen  des  Feldzuges  begleitet  ihn 
charakteristischerweise  Gehlers  physikalisches  Lexi- 
kon. Unausgesetzt  beobachtet  er  während  des  Mar- 
sches die  Naturphänomene,  studiert  Lichtbrechungs- 
erscheinungen in  klaren  Gewässern,  und  des  Abends 
beim  Wachtfeuer,  mit  dem  Prinzen  Reuß  auf  und 
ab  gehend,  doziert  er  diesem  zu  dessen  höchstem 
Erstaunen  nicht  etwa  künstlerische  oder  politische 
Anschauungen,  sondern  seine  neuesten  Ergebnisse 
über  die  Farbenlehre.  Diese  optischen  Studien  wer- 
den auch  später  bei  der  Belagerung  von  Mainz  fort- 
gesetzt. Nach  der  Rückkehr  aus  Frankreich  geht 
Goethe  den  Rhein  hinunter  und  besucht  bei  Düssel- 
dorf seine  Freunde  Jacobi  in  Pempelfort.  Bei  der 
Schilderung  dieses  Besuchs  tritt  uns  so  recht  an- 
schaulich entgegen,  was  er  sein  ganzes  Leben  hin- 
durch immer  wieder  erfahren  mußte,  die  völlige 
Verständnislosigkeit  und  das  mangelnde  Anerkennen 
von    Goethes   Freunden    seinen   naturwissenschaft- 


28  Zweite  Vorlesung. 

liehen  Studien  gegenüber.  Man  wollte  immer  nur 
den  Dichter  Goethe  gelten  lassen,  betrachtete  die 
naturwissenschaftlichen  Forschungen  als  ein  Ab- 
trünnigwerden von  seinem  eigentlichen  Beruf  und 
konnte  durchaus  nicht  begreifen,  daß  für  ihn  die 
Naturphänomene  zeitweise  von  größerer  Anziehungs- 
kraft und  Bedeutung  waren  als  alle  dichterischen 
Vorwürfe.  Dieselbe  Bitterkeit,  die  hier  den  Freunden 
gegenüber  laut  wird,  hat  Goethe  auch  gegen  die 
Zunft  der  Fachgelehrten  gefühlt  und  ausgesprochen, 
welche  gewöhnlich  seinen  wissenschaftlichen  Werken 
bei  ihrem  Erscheinen  ablehnend,  ja  feindlich  gegen- 
überstanden. Zahlreiche  harte  Worte  sind  darüber 
aus  seinem  Munde  gefallen,  und  er  hat  zweifellos 
unter  der  mangelnden  Anerkennung  seiner  natur- 
wissenschaftlichen Bestrebungen  mehr  gelitten  als 
unter  der  Verständnislosigkeit,  auf  die  seine  Dicht- 
werke zeitweise  stießen.  Noch  im  Jahre  1831  schrieb 
er  darüber:  „Seit  länger  als  einem  halben  Jahrhundert 
kennt  man  mich  im  Vaterland  und  auch  wohl  aus- 
wärts als  Dichter  und  läßt  mich  allenfalls  für  einen 
solchen  gelten;  daß  ich  aber  mit  großer  Aufmerk- 
samkeit mich  um  die  Natur  in  ihren  allgemeinen 
physischen  und  organischen  Phänomenen  emsig  be- 
müht und  ernstlich  angestellte  Betrachtungen  stetig 
und  leidenschaftlich  im  Stillen  verfolgt,  dieses  ist 
nicht  so  allgemein  bekannt,  noch  weniger  mit  Auf- 
merksamkeit bedacht  worden."  Für  jeden,  der  Goethes 


Goethes  Leben.  29 

abgeklärte  und  oft  bewußt  ruhige  Sprechweise  kennt, 
zittert  in  diesen  Worten  das  Gefühl  jahrelangen  Ver- 
kanntseins durch. 

Wir  kommen  jetzt  in  die  Jahre,  in  denen  Wil- 
helm Meister  entstand.  1794  und  1795  verweilte 
Goethe  besonders  viel  in  Jena  und  verkehrte  dort 
unter  andern  nahe  mit  den  Brüdern  Humboldt.  Er 
hörte  damals  mit  Alexander  von  Humboldt  und  seinem 
Hausgenossen  Heinrich  Meyer  Loders  Vorlesung 
über  Bänderlehre.  Im  Anschluß  an  diese  Demonstra- 
tionen entwickelte  Goethe  den  Freunden  näher  seine 
Ideen  über  vergleichende  Anatomie.  Diese  wurden 
mit  höchstem  Interesse  aufgenommen,  und  Alexan- 
der von  Humboldt  war  von  ihrer  Bedeutung  so 
durchdrungen,  daß  er  nicht  nachließ  zu  drängen, 
bis  Goethe  sie  dem  jungen  Jacobi  diktierte.  So 
entstand  die  allgemeine  Einleitung  in  die  ver- 
gleichende Anatomie.  In  dieselbe  Zeit  fällt  ein 
Ereignis,  daß  für  Goethes  ganze  geistige  Weiter- 
entwicklung von  allerhöchster  Bedeutung  werden 
sollte.  Im  Anschluß  an  eine  naturwissenschaft- 
liche Sitzung  kommen  Goethe  und  Schiller  ins  Ge- 
spräch, und  eine  Diskussion  über  Goethes  Pflanzen- 
metamorphose bildet  den  Ausgangspunkt  für  den 
Freundschaftsbund,  dem  die  deutsche  Literatur  so 
viel  verdankt.  Das  Gespräch  selbst,  das  uns 
Goethe  aufbewahrt  hat,  ist  für  die  Eigenart  der 
beiden    Männer    so    charakteristisch,    daß    wir    es 


30  Zweite  Vorlesung. 

Später  noch  eingehender  zu  erörtern  haben  wer- 
den. Wie  die  erste  Anknüpfung  zwischen  ihnen 
auf  naturwissenschaftlichem  Boden  stattfand,  so 
wurde  dieser  letztere  auch  in  der  Folgezeit  nicht 
verlassen,  und  es  erging  Schiller  selbst  so,  wie  er 
es  weniger  als  ein  Jahrzehnt  vorher  halb  ironischer- 
weise von  der  Weimarschen  Gesellschaft  an  Körner 
berichtet  hatte.  Er  geriet  allmählich  immer  mehr  in 
den  Bannkreis  von  Goethes  naturwissenschaftlichen 
Ideen,  und  der  Briefwechsel  zwischen  Goethe  und 
Schiller,  dieses  herrliche  Denkmal  des  Gedanken- 
austausches der  beiden  Geistesheroen  zeigt,  wie 
Schiller  allmählich  an  diesen  Forschungen  immer 
mehr  Interesse  gewann  und  schließlich  sogar  selbst 
Goethe  Vorschläge  für  anzustellende  optische  Ex- 
perimente machen  konnte.  Schiller  war  in  diesem 
Bund  durchaus  nicht  nur  der  Nehmende.  Von  den 
Dingen,  die  uns  hier  interessieren,  sei  erwähnt,  daß 
Goethe  von  Schiller  mit  Nachdruck  auf  die  Kant- 
sche  Philosophie  hingewiesen  wurde.  Goethe  kam 
dem  Gedankenkreis  des  Königsberger  Philosophen 
durch  das  Studium  von  dessen  Werken  näher,  be- 
sonders aber  wurde  er  durch  die  Lektüre  von 
Schillers  Schriften  immer  wieder  auf  diese  philo- 
sophischen Probleme  aufmerksam  gemacht.  Es  mag 
aber  gleich  hier  im  Anfang  betont  werden,  daß  be- 
sonders die  Kantsche  Erkenntniskritik  eine  Lehre  war, 
welche  Goethes  Geist  nicht  adäquat  gewesen  ist, 


Goethes  Leben.  31 

und  die  er  daher  nur  unvollständig  sich  assimilieren 
konnte.  Trotz  eingehendstem  Studium  der  Kant- 
schen  Lehre  konnte  er  sich  doch  von  seinem  spino- 
zistischen  Standpunkte  nicht  freimachen.  Wir  wer- 
den später  bei  der  Besprechung  der  Farbenlehre 
sehen,  daß  gerade  hier  in  der  Nichtanwendung 
Kantscher  Prinzipien  der  entscheidende  Fehler  von 
Goethes  wissenschaftlichen  Schlußfolgerungen  liegt, 
und  daß  es  erst  Goethes  Nachfolgern  auf  optischem 
Gebiete,  besonders  Johannes  Müller,  gelang,  die  end- 
gültige Klarheit  in  das  damals  noch  dunkle  und 
verworrene  Gebiet  zu  bringen. 

Die  Jahre,  in  denen  Hermann  und  Dorothea  ge- 
dichtet wurde,  sind  ebenfalls  reich  an  naturwissen- 
schaftlicher Betätigung.  Goethe  wendet  sich  jetzt 
der  Untersuchung  der  Metamorphose  der  Insekten 
zu,  beobachtet  die  Umwandlung  der  Raupe  zur 
Puppe  und  zum  Schmetterling,  studiert  die  Be- 
dingungen, durch  welche  sich  dieser  Prozeß  fördern 
und  hemmen  läßt  und  sammelt  wichtige  physio- 
logische Beobachtungen  an  diesen  Tieren.  Neben- 
her gehen  astronomische  Studien.  Er  verfolgt  in 
seinem  Gartenhaus  mit  dem  Teleoskop  einen  ganzen 
Monat  lang  den  Wechsel  des  Mondes  und  lernt 
dabei  das  Bild  der  Mondoberfläche  so  gut  kennen, 
daß  er  in  späteren  Jahren  Schriften  über  die  Ge- 
stalt und  Natur  des  Mondes  mit  eigener  Kritik  lesen 
kann.    Auch  der  Saturn  wird  von  ihm  beobachtet. 


32  Zweite  Vorlesung. 

Die  Entwicklung  der  Chemie,  welche  in  jenen  Jahren 
nach'  Entdeckung  des  Sauerstoffes  entscheidende 
Fortschritte  machte,  verfolgt  er,  und  läßt  sich  be- 
sonders durch  Buchholz  und  Professor  Göttling  in 
Jena  von  den  neueren  Entdeckungen  berichten  und 
sich  die  entscheidenden  Experimente  vormachen. 
Gleichzeitig  experimentiert  er  selbst  ununterbrochen 
über  Optik,  und  hat  diese  Lehre  nun  schon  so  weit 
gefördert,  daß  er  Vorträge  darüber  halten  kann. 
Überhaupt  fühlt  er  das  Bedürfnis,  die  Naturwissen- 
schaften zu  dozieren  und  hält  in  den  folgenden 
Jahren  Mittwochs  Experimentalvorträge  für  Damen, 
zu  denen  sich  kurze  Notizen  und  Entwürfe  in  der 
Weimarer  Ausgabe  finden.  Hier  trägt  er  über  Magne- 
tismus, Elektrizität,  über  Raum  und  Materie,  Luft, 
Optik,  ja  auch  über  Teile  der  Chemie  vor  und  seine 
Aufzeichnungen  beweisen,  daß  er  sich  bemühte, 
die  wichtigsten  Versuche  in  einfacher  und  demon- 
strabler  Form  seinem  Hörerkreise  vorzuzeigen.  Ap- 
parate, deren  er  sich  vermutlich  bei  diesen  Demon- 
strationen bedient  hat,  als:  Elektrisiermaschinen, 
Batterien  von  Leidner  Flaschen,  Elektroskope  u.  v.  a. 
befinden  sich  noch  heute  im  Goethehaus.  Auch 
die  Botanik  wird  in  jenen  Jahren  nicht  vernach- 
lässigt Während  er  seinen  früheren  Forschungen 
hauptsächlich  die  höheren  Pflanzen,  die  Phanero- 
gamen,  zugrunde  gelegt  hatte,  wendet  er  sich  jetzt 
den  Kryptogamen,  Moosen,  Farnen,  Algen  usf.  zu 


Goethes  Leben.  33 

und  experimentiert  über  den  Einfluß  des  Lichtes, 
der  Dunkelheit  und  der  verschiedenen  Farben  auf 
das  Pflanzenwachstum.  Besonderes  Interesse  bringt 
er  in  jenen  Jahren  auch  den  Heilungsvorgängen 
entgegen,  wie  sie  sich  an  abnormem  Elfenbein  be- 
obachten lassen,  das  während  des  Lebens  seiner 
Träger  auf  irgend  eine  Weise  verletzt  worden  war. 
Er  stellt  eine  ganze  Sammlung  solcher  Stücke  zu- 
sammen, die  er  beschreibt  und  aus  Dankbarkeit 
seinem  Lehrer  Loder  schenkt,  mit  dem  sie  dann 
später  nach  Moskau  gewandert  sind. 

1803  gehen  wichtige  Veränderungen  in  der  Je- 
naer Universität  vor  sich.  Nach  Loders  Weggang 
wird  Ackermann  Anatom,  Schelver  bekommt  die 
Leitung  des  botanischen  Gartens.  Dann  brausen 
die  Stürme  der  Napoleonischen  Kriege  über  das 
Land  und  auch  die  Universität  Jena  hat  nach  der 
unglücklichen  Schlacht  von  Jena  und  Auerstädt  1806 
schwer  zu  leiden.  Aber  schon  3  Jahre  später 
kommt  es  unter  Goethes  besonders  tätiger  Mit- 
wirkung zu  einer  völligen  Reform  der  Hochschule. 
Von  Wichtigkeit  ist,  daß  von  nun  an  alle  An- 
stalten und  Museen  unter  einer  einheitlichen  Leitung 
vereinigt  werden  und  daß  Goethe  hiermit  betraut 
wird.  Bis  dahin  war  es  noch  Sitte  gewesen,  daß 
jeder  Professor  sich  die  Sammlungen  und  Präparate, 
die  er  zu  seinen  Vorlesungen  brauchte,  selbst  an- 
fertigte   und    zusammenbrachte.     Wurde   dann   ein 

Mag/ius,  Goethe  als  Naturforscher.  3 


34  Zweite  Vorlesung. 

Hochschullehrer  an  eine  andre  Universität  berufen, 
so  nahm  er  diese  höchst  wertvollen  Sammlungen 
mit  sich  und  der  Nachfolger  mußte  von  frischem 
anfangen.  Hier  hat  Goethe  entscheidenden  Wandel 
geschaffen.  Er  bemühte  sich  und  setzte  es  durch, 
daß  jede  einzelne  naturwissenschaftliche  Anstalt  ihr 
eigenes  Museum  bekam.  Er  hat  auf  Einrichtung 
und  Ausgestaltung  dieser  Sammlungen  große  Mühe 
und  Sorgfalt  verwendet,  selbst  wertvolle  Zuwen- 
dungen gemacht,  dafür  gesorgt,  daß  wichtige  Funde 
der  Universität  Jena  zugewiesen  wurden  und  seine 
ausgedehnten  Beziehungen  dazu  benutzt,  um  die 
Jenenser  Sammlungen  zu  bereichern.  1812  wurde 
dann  in  Schillers  Gartenhaus  in  Jena  die  Universitäts- 
sternwarte errichtet.  So  blieb  die  Hochschule  auch 
in  jener  Zeit  eine  der  ersten  Pflegestätten  deutscher 
Geisteskultur. 

In  diesen  Jahren  beschäftigt  sich  Goethe  viel 
mit  Hirnanatomie.  Loder  hatte  ihm  früher  den  Auf- 
bau des  Gehirns  demonstriert,  indem  er  dieses  der 
Reihe  nach  in  Schnitte  zerlegte  und  beschrieb,  was 
auf  diese  Weise  zu  sehen  war.  Ganz  anders  faßte 
Gall,  mit  dem  Goethe  im  Jahre  1805  in  Berührung 
kam,  den  Bau  dieses  Organs  auf.  Er  lernte  ihn  bei 
einem  Besuch  beim  Philologen  Wolf  in  Halle  kennen 
und  hörte  seine  Vorträge.  Gall,  dessen  Name  in 
der  Gegenwart  hauptsächlich  durch  seine  Schädel- 
lehre bekannt  Ist,  durch  die  er  versuchte,  die  geistigen 


Goethes  Leben.  35 

Eigenschaften  eines  Menschen  aus  seiner  äußeren 
Schädelform  zu  erkennen,  besitzt  eine  weit  größere 
Bedeutung  durch  seine  Forschungen  über  den  Auf- 
bau des  Zentralnervensystems.  Goethe  folgte  seinen 
Ausführungen  mit  dem  größten  Interesse,  und  be- 
richtet, daß  Gall  die  Gehirnanatomie  dabei  nach 
vergleichend  anatomischen  Gesichtspunkten  vorge- 
tragen habe,  eine  Behandlungsweise,  welche  ihm 
schon  von  vornherein  sympathisch  sein  mußte.  Auch 
der  Zusammenhang  des  Gehirns  mit  dem  Rücken- 
mark durch  leitende  Nervenfaserbahnen  wurde  schon 
damals  erörtert.  So  sehen  wir  also  Goethe  in  den 
Jahren,  in  denen  er  die  Wahlverwandtschaften 
konzipierte  und  schrieb,  fortgesetzt  naturwissen- 
schaftliche Bestrebungen  verfolgen.  Ist  doch  auch 
der  Titel  dieses  Romans  selbst  der  Chemie  ent- 
nommen. Die  „Wahlverwandtschaft"  der  Schwefel- 
säure zum  Kalk  muß  dazu  dienen,  die  unwider- 
stehliche Anziehungskraft,  welche  zwei  Menschen 
triebartig  zueinander  hinführt,  zu  symbolisieren.  All- 
jährlich führte  ihn  sein  Weg  in  die  böhmischen 
Bäder,  und  hier  wurden  mineralogische  und  geo- 
logische Studien  mit  höchstem  Eifer  betrieben.  Er 
lernte  allmählich  die  ganze  Geologie  der  Umgebung 
von  Karlsbad,  Marienbad  und  Eger  kennen,  ordnete 
und  katalogisierte  selbst  die  reichhaltige  Sammlung 
des  Mineralienhändlers  Müller,  publizierte  den  Kata- 
log  und   verschaffte    dadurch   den   Gelehrten   und 

3* 


36  Zweite  Vorlesung. 

den  Museen  Gelegenheit,  ihre  Sammlungen  zu 
vervollständigen.  Mineralogische  Interessen  ver- 
banden ihn  ferner  mit  dem  Polizeirat  Grüner  in 
Eger  und  später  mit  dem  Grafen  Kaspar  Stem- 
berg,  mit  dem  eine  ausgiebige  mineralogische  und 
botanische  Korrespondenz  durch  Jahre  hindurch  ge- 
führt wurde. 

Im  Jahre  1810  wurden  die  optischen  Studien 
zunächst  abgeschlossen  und  die  Farbenlehre  ver- 
öffentlicht Auch  hier  wieder  wurde  Goethe  aufs 
lebhafteste  enttäuscht  durch  die  Anfeindungen,  die 
er  deswegen  von  allen  Seiten  erfuhr.  Aber  nichts- 
destoweniger wandte  er  sich  sofort  nachher  einem 
neuen  Forschungsgebiet  zu.  Er  ließ  den  optischen 
Versuchen  solche  über  eine  Tonlehre  folgen.  Hier 
ist  es  zu  keiner  abgeschlossenen  Publikation  Goethes 
gekommen.  Er  hat  die  Versuche  etwa  durch  5  Jahre 
fortgeführt,  und  es  sind  uns  Schemata  zu  einer  Ton- 
lehre und  Notizen  für  anzustellende  Versuche  er- 
halten. Es  sollte  die  Lehre  von  der  menschlichen 
Stimme,  die  Physiologie  des  Ohres,  die  Rythmik 
und  der  Takt,  die  Eigenschaften  der  musikalischen 
Instrumente,  die  Zahl-  und  Maßverhältnisse  schwin- 
gender Saiten  und  die  Lehre  von  der  musikalischen 
Harmonie  behandelt  werden.  Diese  Tatsachen  sind 
uns  deshalb  von  ganz  besonderem  Interesse,  weil 
wir  etwa  50  Jahre  später  Helmholtz  genau  denselben 
Entwicklungsgang  nehmen  sehen.  Kaum  hatte  dieser 


Goethes  Leben.  37 

sein  grundlegendes  Werk  über  die  physiologische 
Optik  abgeschlossen,  so  wendete  auch  er  sich  der 
Akustik  zu,  nur  daß  Helmholtz  seine  Forschungen 
zum  Abschluß  brachte  und  in  seiner  Physiologie 
der  Tonempfindungen  die  Grundlage  für  die  physio- 
logische Akustik  legte.  Bei  Goethe  ruhten  übrigens 
die  optischen  Versuche  nur  kurze  Zeit.  Schon  1813 
studierte  er  die  Phänomene,  die  man  damals  die  ent- 
optischen nannte.  Nach  der  heutigen  Ausdrucks- 
weise beschäftigte  er  sich  mit  dem  Auftreten  von 
Farbenerscheinungen  im  polarisierten  Licht;  er  unter- 
suchte die  optischen  Eigenschaften  des  Kalkspats, 
des  Glimmers,  des  rasch  gekühlten  und  gepressten 
Glases  u.  a.  m.,  Versuche,  die  ihn  fast  ein  Jahrzehnt 
in  Anspruch  nahmen,  und  über  die  er  dann  zusammen- 
fassend berichtet  hat.  Von  Anfang  an  stand  er  in 
lebhaftem  Gedankenaustausch  hierüber  mit  dem  Phy- 
siker Seebeck,  der  zuerst  in  Jena,  dann  in  Nürnberg 
lebte  und  Goethe  dauernd  über  seine  Forschungen 
und  Erfolge  auf  dem  gleichen  Gebiete  auf  dem  lau- 
fenden erhielt.  Seebeck  siedelte  später  nach  Berlin 
über,  aber  es  kam  dann  zu  Meinungsverschieden- 
heiten zwischen  beiden  über  optische  Fragen,  die  zu 
einer  völligen  Entfremdung  führten. 

Wir  nähern  uns  jetzt  wieder  einer  Periode  höch- 
sten dichterischen  Schaffens,  den  Jahren,  in  welchen 
der  westöstliche  Diwan  entstand  und  Goethes  Liebe  zu 
Marianne  von  Willemer  so  herrliche  poetische  Werke 


38  Zweite  Voriesung. 

zeitigte.  Goethe  stand  damals  schon  in  der  zweiten 
Hälfte  der  60er  Jahre,  aber  wir  dürfen  an  diesen 
Mann  nicht  den  Maßstab  des  gewöhnlichen  Ablaufes 
des  menschlichen  Lebens  legen.  Man  braucht  nur 
eines  der  zahlreichen  Bildnisse  aus  jener  Zeit  zu 
betrachten,  wie  z.  B.  das  herrliche,  im  Besitz  des 
Freiherrn  von  Bemus  befindliche  Brustbild,  auf  dem 
Wilhelm  von  Kügelgen  das  Aussehen  des  60]ährigen 
festgehalten  hat,  und  das  auf  der  deutschen  Jahr- 
hundertausstellung zu  sehen  war:  imponierende  Züge, 
frei  von  jedem  Zeichen  des  Alters,  dichtes,  dunkles 
Haar  und  das  gewaltig  blitzende  Auge  zeigen  uns 
an,  daß  Goethe  in  jenen  Jahren  wie  ein  jugendliches 
Innere,  so  auch  ein  Äußeres,  frei  von  allen  Spuren 
der  Jahre  besessen  hat.  So  verstehen  wir,  daß  auch 
die  naturwissenschaftlichen  Bestrebungen  mit  un- 
verminderter Kraft  fortgeführt  wurden,  daß  Goethe 
ununterbrochen  sich  über  die  Fortschritte  auf  allen 
Gebieten  auf  dem  laufenden  hielt,  und  daß  er  rast- 
los selbst  weiter  arbeitete.  Wir  erfahren,  daß  zu 
jener  Zeit  Döbbereiner  ihn  in  die  Stöchiometrie  ein- 
führen mußte.  Diejenigen  von  Ihnen,  welche  sich 
mit  Chemie  beschäftigt  haben,  werden  wissen,  daß 
die  chemischen  Körper  sich  nach  ganz  bestimmten 
und  gesetzmäßigen  Mengenverhältnissen  miteinander 
verbinden.  Die  damals  in  ihrem  ersten  Siegeslauf 
befindliche  Chemie  hatte  schon  diese  Gesetze  ein- 
gehend studiert,  und  so  sehen  wir  auch  Goethe  be- 


Goethes  Leben.  39 

strebt,  sich  diese  Fortschritte  anzueignen.  Eigene 
chemische  Versuche  stellte  er  in  jenen  Jahren  mit 
Pflanzenextrakten  an,  deren  Färbung  er  durch  Säure 
oder  Lauge  veränderte.  Die  Weimarer  Ausgabe  ent- 
hält sorgfältige  Protokolle  über  diese  ausgedehnten 
und  wichtigen  Versuche,  in  denen  Goethe  das  stu- 
dierte, was  man  heute  als  Indikatoren  bezeichnet, -1 
d.  h.  chemische  Substanzen,  welche  durch  ihren 
Farbwechsel  anzeigen,  wann  in  einer  Lösung  saure 
oder  alkalische  Reaktion  auftritt.  —  Sehr  lebhaft 
finden  wir  Goethe  auch  mit  der  Witterungskunde» 
beschäftigt.  Er  hatte  schon  in  früheren  Jahren,  so 
z.  B.  auf  der  italienischen  Reise,  Beobachtungen  über 
Wolkenform  und  Wetter  angestellt.  Doch  erst  nach 
dem  Jahre  1815  begann  er  sich  wieder  eingehender 
damit  zu  befassen,  seitdem  der  Engländer  Howard 
die  einfache,  noch  heute  gebrauchte  Terminologie 
der  Wolkenformen  (Stratus,  Cirrus,  Cumulus,  Nimbus) 
eingeführt  hatte.  Er  sammelte  zahlreiche  eigene  Be- 
obachtungen, suchte  in  den  schier  endlosen  Wechsel 
der  Witterungserscheinungen  Ordnung  zu  bringen 
und  bildete  sich  eigene,  sehr  merkwürdige  theore- 
tische Anschauungen  über  die  Entstehung  der  Ba- 
rometerschwankungen. Seiner  praktischen  Tätigkeit 
auf  diesem  Gebiete  wird  später  noch  zu  gedenken 
sein.  Auch  die  botanischen  Studien  ruhten  nicht. 
Er  studierte  in  jenen  Jahren  eingehend  die  gleich- 
zeitige wissenschaftliche  Literatur  und  excerpierte  sich 


40  Zweite  Vorlesung. 

aufs  gewissenhafteste  alle  Stellen,  welche  zu  seiner 
Pflanzenmetamorphose  in  Beziehung  standen.  Als 
eine  besonders  reiche  Fundgrube  erwies  sich  Jägers 
Werk  über  die  Mißbildung  der  Gewächse.  Alle 
diese  außerordentlich  vielfältigen  Notizen  hat  er 
dann  geordnet  und  in  kurzen  Abschnitten  seiner 
Pflanzenmetamorphose  beigefügt,  so  daß  in  seinen 
Beiträgen  zur  Morphologie  ein  stattliches  Tatsachen- 
material veröffentlicht  werden  konnte. 

In  ähnlicher  Weise  arbeitete  er  in  diesen  und 
den  folgenden  Jahren  bis  zu  seinem  Tode  die  Ent- 
wicklung der  vergleichenden  Anatomie  nach,  machte 
zahlreiche  Auszüge,  schrieb  Rezensionen,  welche 
aber  z.  T.  den  Wert  von  selbständigen  wissenschaft- 
lichen Leistungen  besaßen,  regte  Untersuchungen 
andrer  an  und  blieb  so  stets  auf  der  Höhe  auch 
dieses  Zweiges  der  Wissenschaft.  Besonderes  Inter- 
esse wandte  er  auch  den  fossilen  Tierformen  zu.  Es 
wurden  damals  in  Süddeutschland  und  im  Herzogtum 
Weimar  Oberreste  vom  Mammut  und  von  fossilen 
Stieren  gefunden.  Er  interessierte  sich  lebhaft  für 
diese  Funde,  würdigte  in  kleineren  Aufsätzen  deren 
Bedeutung  für  die  vergleichende  Anatomie  und  sorgte 
für  gute  Aufstellungen  in  den  Sammlungen. 

Die  Jahre  1817—1824  sind  für  Goethes  natur- 
wissenschaftliche Tätigkeit  besonders  ergiebig.  Er 
ließ  damals  die  Bände:  „Zur  Naturwissenschaft"  und 
,^ur  Morphologie"  in   Einzelheften   erscheinen,  in 


Goethes  Leben,  41 

denen  er  seine  botanischen,  anatomischen,  minera- 
logisch-geologischen und  allgemein -naturwissen- 
schaftlichen Aufsätze,  sowie  einiges  Optische,  zusam- 
mengefaßt veröffentlichte.  Dadurch  wurde  er  ver- 
anlaßt, seine  aus  früheren  Jahren  fertig  daliegenden 
Manuskripte  vielfach  zu  erweitern;  er  hat  aber  auch 
in  jenen  Jahren  eine  Fülle  von  Arbeiten  neu  ge- 
schrieben und  auf  diese  Weise  manche  jahrzehnte- 
lang fortgeführte  Untersuchungen  und  Gedanken- 
reihen zum  Abschluß  gebracht.  Auch  einige  kürzere 
Aufsätze  von  befreundeten  Gelehrten:  Seebeck,  d' Al- 
ton, Carus,  Nees  van  Esenbeck  u.  a.  sind  in  jenen 
Heften  erschienen.  Eine  eingehende  Rezension  dieser 
Veröffentlichungen  ist  in  der  Jenaischen  allgemeinen 
Literaturzeitung,  Juni  1823,  erschienen,  die  größten- 
teils von  Nees  van  Esenbeck,  in  den  mineralogischen 
Abschnitten  von  Nöggerath,  herrührt,  und  deren  sehr  » 
anerkennende  Fassung  Goethe  hoch  erfreut  hat: 
„es  kam  augenblicklich  der  Friede  Gottes  über 
mich,  der,  mich  mit  mir  selbst  und  der  Welt  ins 
Gleiche  zu  setzen,  sanft  und  kräftig  genug  war". 
Zur  Beurteilung,  wie  Goethes  Schriften  auf  die  Zeit- 
genossen gewirkt  haben,  ist  jene  Rezension  sehr  » 
wichtig. 

Inmitten  dieser  Tätigkeit  überschritt  Goethe  die 
Schwelle  des  siebenten  Lebensjahrzehntes,  und  nun 
beginnt  er  auf  allen  Gebieten  die  Früchte  dessen 
zu  ernten,  was  er  selbst  in  früheren  Jahren  gesäet 


42  Zweite  Vorlesung. 

hatte.  Seine  anatomischen  Untersuchungen  waren 
schon  längst  anerkannt  worden.  Jetzt  wird  auch 
seine  erste  wissenschaftliche  Abhandlung  über  den 
Zwischenkiefer  in  den  Akten  der  kaiserlich  leopol- 
dinisch-karolinischen  Akademie  der  Naturforscher 
mit  allen  Kupfertafeln  abgedruckt.  Der  Widerstand 
der  Botaniker  gegenüber  der  Pflanzenmetamorphose 
hatte  ebenfalls  aufgehört,  und  die  wissenschaftliche 
Botanik  der  damaligen  Zeit  wandelte  nunmehr  in 
Fortschritt  und  Irrtum  auf  Goetheschen  Bahnen.  Nun 
aber  kamen  auch  die  so  lange  schmerzlich  vermißten 
ersten  Erfolge  seiner  Farbenlehre.  Freilich  die  Phy- 
siker blieben,  bis  auf  wenige  Ausnahmen,  feindlich, 
aber  von  physiologischer  Seite  wurde  das  grund- 
legende von  Goethes  Werk  erkannt  und  noch  zu 
Goethes  Lebzeiten  in  glücklicher  Weise  fortgebildet. 
Purkinjes  „Beiträge  zur  Kenntnis  des  Sehens  in  sub- 
jektiver Hinsicht"*  knüpft  direkt  an  seine  Farben- 
lehre an,  und  1826  erscheint  Johannes  Müllers  „Ver- 
gleichende Physiologie  des  Gesichtssinns",  in  wel- 
cher in  unmittelbarem  Anschluß  an  Goethes  Farben- 
lehre die  moderne  Sinnesphysiologie  begründet  und 
das  Gesetz  von  der  spezifischen  Sinnesenergie  auf- 
gestellt wird.  So  sah  Goethe  in  diesen  Jahren  die 
Erfolge  seiner  wissenschaftlichen  Tätigkeit  heran- 
reifen. Wenn  auch  noch  mancher  Stachel  früherer 
Verbitterung  zurückblieb,  so  überwiegt  doch  jetzt  in 
diesen  Jahren  die  Freude  über  den  Erfolg.    Schon 


Goethes  Leben.  43 

1807  hatte  ihm  A.  von  Humboldt  seine  „Ideen  zu 
einer  Geographie  der  Pflanzen"  mit  einem  von  Thor- 
waldsen  gezeichneten  Widmungsblatte  zugeeignet  — 
der  Genius  der  Poesie,  Apoll,  lüftet  den  Schleier  der 
Göttin  der  Natur  —  „durch  welches  angedeutet 
werden  sollte,  daß  es  auch  dem  Dichter  gelingen 
könne,  den  Schleier  der  Natur  zu  heben".  Eine  Re- 
produktion dieses  schwer  zugänglichen  Stiches  findet 
sich  am  Eingang  dieses  Buches.  Jetzt  breitet  sich 
Goethes  naturwissenschaftliche  Korrespondenz  fast 
über  alle  zivilisierten  Länder  aus.  Von  allen  Seiten 
strömen  die  Anerkennungen.  Gebend  und  emp- 
fangend nimmt  er  Anteil  an  der  Fortentwick- 
lung aller  der  zahlreichen  Gebiete,  auf  denen  er 
selbst  gearbeitet  hat.  Erstaunlich  sind  die  vielsei- 
tigen Interessen,  welche  in  dieser  naturwissenschaft- 
lichen Korrespondenz  berührt  werden.  Ein  schönes 
Denkmal  der  Empfindungen  des  alten  Goethe  den 
jungen  Mit-  und  Nacharbeitern  gegenüber  findet  sich 
in  einem  Brief,  in  dem  er  dem  Grafen  Sternberg 
über  Carus'  Werk  von  den  Ur-Teilen  des  Knochen- 
und  Schalengerüstes  der  Tiere  berichtet.  Hier  schreibt 
er  die  oft  zitierten  Worte:  „Ein  alter  Schiffer,  der 
sein  ganzes  Leben  auf  dem  Ozean  der  Natur  mit 
Hin-  und  Widerfahren  von  Insel  zu  Insel  zugebracht, 
die  seltsamsten  Wundergestalten  in  allen  drei  Ele- 
menten beobachtet,  und  ihre  geheim -gemeinsamen 
Bildungsgesetze  geahnt  hat,  aber  auf  sein  notwen- 


44  Zweite  Vorlesung. 

digstes  Ruder-,  Segel-  und  Steuergeschäft  aufmerksam, 
sich  den  anlockenden  Betrachtungen  nicht  widmen 
konnte,  der  erfährt  und  schaut  nun  zuletzt:  daß 
der  unermeßliche  Abgrund  durchforscht,  die  aus 
dem  Einfachsten  ins  Unendliche  vermannigfaltigten 
Gestalten  in  ihren  Bezügen  ans  Tageslicht  gehoben 
und  ein  so  großes  und  unglaubliches  Geschäft  wirklich 
getan  sei.  Wie  sehr  findet  er  Ursache  verwundernd 
sich  zu  erfreuen,  daß  seine  Sehnsucht  verwirklicht 
und  sein  Hoffen  über  allen  Wunsch  erfüllt  worden." 
Und  noch  als  Achtzigjähriger  setzt  er  die  natur- 
wissenschaftlichen Bestrebungen  fort.  Den  Verhand- 
lungen der  Versammlungen  deutscher  Naturforscher 
und  Ärzte,  1827  in  München  und  1828  in  Berlin, 
widmet  er  das  größte  Interesse,  um  so  mehr,  als  hier 
botanische  Probleme  zur  Sprache  kamen,  die  an 
seine  Planzenmetamorphose  anknüpften.  In  jenen 
Jahren  hatten  der  Münchner  Botaniker  v.  Martius 
und  dessen  Schüler,  der  später  berühmt  gewordene 
Alexander  Braun,  Untersuchungen  über  die  Anord- 
nung der  Blätter  und  Sprosse  an  den  Pflanzen 
angestellt  und  waren  zu  einfachen  Regeln  über  die 
Blattstellung  gelangt.  Sofort  nahm  Goethe  diesen 
Fortschritt  auf  und  versuchte  in  seinem  letzen  bota- 
nischen Aufsatz  über  die  Spiraltendenz  der  Vege- 
tation die  neueren  Tatsachen  mit  seiner  Lehre  in 
Einklang  zu  bringen.  Aufs  lebhafteste  beschäftigte 
ihn  aber  ein  Ereignis^  das  er  direkt  als  ein  Zeichen 


Goethes  Leben.  45 

für  das  endliche  Durchdringen  seiner  eigenen  vor 
Jahrzehnten  ausgesprochenen  Ideen  ansah.  Damals 
brach  im  Schöße  der  Pariser  Akademie  jener 
berühmte  Streit  zwischen  Cuvier  und  Geoffroy 
St.  Hilaire  aus,  in  der  die  alte  und  die  neue  Rich- 
tung in  der  vergleichenden  Anatomie  aufeinander 
platzten.  Damals  siegte  noch  Cuvier,  der  mit  seiner 
ganzen  Autorität  die  ältere  Lehre  vertrat.  Der 
82jährige  Goethe  griff  aber  von  neuem  zur  Feder 
und  wies  seine  Landsleute  auf  dieses  bedeutende 
wissenschaftliche  Schauspiel  hin.  Er  stellte  sich 
dabei  rückhaltslos  auf  die  Seite  Geoffroy  St.  Hilaires. 
Mit  Rührung  liest  man  aus  seinen  mit  höchster 
Klarheit  geschriebenen  Sätzen  den  Stolz  heraus, 
mit  dem  er  sich  selbst  als  den  Vater  der  hier 
kämpfenden  Ideen  fühlte.  Das  war  das  letzte  was 
Goethe  geschrieben  hat.  Kurze  Zeit  darauf  endete 
ein  Leben,  das  voll  von  den  höchsten  Erfolgen, 
aber  auch  voll  von  Mühe  und  Arbeit  gewesen  war. 
Fast  60  Jahre  hindurch  hat  Goethe  ohne  Unter- 
brechung aufs  emsigste  auf  allen  Gebieten  der 
Natur  geforscht.  Keines  der  Resultate  ist  ihm 
mühelos  zugefallen.  Wenn  man  die  Gesamtheit 
dessen  überblickt,  was  er  geleistet  hat,  so  sieht 
man,  daß  Goethe  der  letzte  naturwissenschaftliche 
Polyhistor  gewesen  ist,  der  noch  die  Gesamtheit 
der  Natur  in  seinem  Geiste  umfaßte.  Wenige  Jahr- 
zehnte später  war  es  schon  fast  unmöglich,  daß  ein 


46  Zweite  Vorlesung. 

einzelner  Mensch  Teilgebiete,  wie  etwa  Virchow  die 
Medizin,  umfassen  konnte. 

Wie  Goetiie  seinen  ganzen  Lebensgang  als  mit 
der  Naturwissenschaft  verwachsen  ansah,  dafür 
mögen  zum  Schluß  noch  seine  eigenen  Worte  an- 
geführt werden:  „So  ruhen  meine  Naturstudien  auf 
der  reinen  Basis  des  Erlebten;  wer  kann  mir  nehmen, 
daß  ich  1749  geboren  bin,  daß  ich  (um  vieles  zu 
überspringen)  mich  aus  Erxlebens  Naturlehre  1.  Aus- 
gabe treulich  unterrichtet,  daß  ich  den  Zuwachs 
der  übrigen  Editionen,  die  sich  durch  Lichtenbergs 
Aufmerksamkeit  gränzenlos  anhäuften,  nicht  etwa 
im  Druck  zuerst  gesehen,  sondern  jede  neue  Ent- 
deckung im  Fortschreiten  sogleich  vernommen  und 
erfahren;  daß  ich  Schritt  für  Schritt  folgend,  die 
großen  Entdeckungen  der  2.  Hälfte  des  18.  Jahr- 
Hunderts  bis  auf  den  heutigen  Tag  wie  einen 
Wunderstern  nach  dem  andern  vor  mir  aufgehen 
sehe.  Wer  kann  mir  die  heimliche  Freude  nehmen, 
wenn  ich  mir  bewußt  bin,  durch  fortwährendes  auf- 
merksames Bestreben  mancher  großen  weltüber- 
raschenden Entdeckung  selbst  so  nahe  gekommen 
zu  sein '),  daß  ihre  Erscheinung  gleichsam  aus  meinem 
eigenen  Innern  hervorbrach  und  ich  nun  die  wenigen 

')  So  z.  B.  1783  der  Entdeckung  des  Luftballons.  Vgl. 
Naturwissenschaftlicher  Entwicidungsgang:  „Die  Luftballone 
werden  entdeckt.  Wie  nah  ich  dieser  Entdeckung  gewesen. 
Einiger  Verdrufi,  es  nicht  selbst  entdeckt  zu  haben.  Baldige 
TriMmg'" 


Goethes  Leben.  47 

Schritte  klar  vor  mir  liegen  sah,  welche  zu  wagen 
ich  in  düsterer  Forschung  versäumt  hatte." 

Wir  wissen  jetzt,  daß  Goethe  nicht  nur  einzelnen 
Entdeckungen,  wie  er  schreibt,  sehr  nahe  gekommen 
ist,  sondern  daß  er  eine  Reihe  von  grundlegenden 
Naturerkenntnissen  selbst  zutage  gefördert  hat. 


Dritte  Vorlesung. 
Die  botanischen  Arbeiten  I. 

Meine  Herrn!  Wir  haben  in  der  letzten  Vor- 
lesung den  Lebensgang  des  Naturforschers  Goethe 
kennen  gelernt  und  wollen  nun  dazu  übergehen, 
seine  einzelnen  Forschungsgebiete  gesondert  zu  be- 
sprechen und  das  von  ihm  Geleistete  eingehender  zu 
würdigen.  Wir  beginnen  dabei  mit  seinen  Arbeiten 
auf  dem  Gebiet  der  organischen  Naturwissen- 
schaften, zunächst  der  Zoologie  und  Botanik. 
Goethe  hat  die  hierher  gehörigen  Schriften  nach 
dem  Jahre  1817  zusammenfassend  veröffentlicht  in 
seinen  Heften  »zur  Morphologie".  Dieses  Wort 
stammt  von  Goethe  und  bezeichnet  auch  heute  noch 
denjenigen  Zweig  des  Wissens,  für  den  er  ihn  ge- 
prägt hat  Als  Motto  ist  diesen  Heften  ein  Spruch 
aus  Hiob  vorangesetzt:  „Siehe  er  geht  vor  mir 
über  ehe  ich's  gewahr  werde,  und  verwandelt  sich 
ehe  ich's  merke."  Aufs  Verwandeln  ist  dabei  der 
größte  Nachdruck  zu  legen,  und  Goethe  definiert 
selbst  die  Morphologie  durch  den  von  ihm  ge- 
wählten Untertitel:  Bildung  und  Umbildung 
organischer  Naturen.    Zeitlich  haben  auf  diesem 


Die  botanischen  Arbeiten  I.  49 

Gebiete  Goethes  vergleichend  anatomische  Unter- 
suchungen zuerst  zu  einem  wichtigen  Resultate  ge- 
führt Wir  aber  wollen  mit  den  botanischen  Studien 
beginnen,  weil  hier  die  Probleme  einfacher  liegen, 
und  wir  daher  leichter  eine  Vorstellung  davon 
gewinnen  können,  wie  Goethe  die  Morphologie 
auffaßte  und  wie  er  Bildung  und  Umbildung  orga- 
nischer Naturen  zu  erforschen  suchte. 

Als  Goethe  seine  botanischen  Studien  begann, 
herrschte  auf  diesem  Gebiete  als  Alleinherrscher 
Linn^.  Während  man  noch  im  17.  Jahrhundert  über 
Anatomie  und  Physiologie  der  Pflanzen  manche 
wertvolle  Untersuchungen  angestellt  und  auch  den 
Pflanzenbau  mikroskopisch  studiert  hatte,  waren  alle 
diese  Bestrebungen  durch  Linn^s  Einfluß  vollständig 
unterbrochen  worden.  Er  hatte  die  Mikroskopiker 
und  Physiologen  geradezu  als  Dilettanten  bezeichnet, 
und  so  kommt  es,  daß  bis  gegen  Ende  des  18.  Jahr- 
hunderts das  Interesse  der  damaligen  Botaniker  sich 
fast  ausschließlich  der  Systematik  zuwandte.  Linne 
brachte  die  Bestrebungen  seiner  Vorgänger,  zu  einer 
brauchbaren  Einteilung  des  gesamten  Pflanzenreichs 
zu  kommen,  zu  einem  vorläufigen  Abschluß.  Sein 
System  gehört  zu  den  sogenannten  künstlichen,  d.  h. 
es  wird  das  gesamte  Pflanzenreich  nach  einzelnen 
äußeren  Merkmalen  eingeteilt.  Linn^  benutzte  dazu 
die  Anordnung  und  Zahl  der  Staubwerkzeuge  und 
Griffel  und  gelangte  auf  diese  Weise  dazu,  ein  bis 

Magnus,  Goethe  als  Naturforscher.  4 


50  Dritte  Vorlesung. 

ins  feinste  durchgearbeitetes  System  zu  liefern,  in 
das  sich  alle  Pflanzenformen  ohne  großen  Zwang 
einreihen  ließen.  Linne  selber,  und  seine  nächsten 
Nachfolger  sahen  nun  die  Anwendung  und  Durch- 
führung dieses  Systems  als  die  Hauptaufgabe  der 
wissenschaftlichen  Botanik  an.  Linn^  erklärte  ge- 
radezu denjenigen  für  den  besten  Botaniker,  der  die 
meisten  Arten  kennen  und  unterscheiden  gelernt  habe. 
Das  war  der  Zustand  der  Botanik,  als  Goethe 
sich  mit  ihr  zu  beschäftigen  begann.  Wie  schon 
erzählt  wurde,  hatte  er  als  Student  botanische  Vor- 
lesungen gehört,  aber  sein  eigentliches  Interesse  für 
die  Pflanzenwelt  wurde  erst  in  Weimar  wach,  als 
er  auf  der  Jagd  in  nähere  Berührung  mit  Wäldern 
und  Wiesen  kam  und  sich  als  leitender  Minister 
unter  der  Mitwirkung  von  Skell  und  v.  Wedel  mit 
Forstkultur  zu  beschäftigen  hatte.  So  studierte  er 
das  Wachstum  der  Bäume,  Moose  und  Wurzeln  in 
der  freien  Natur,  wie  immer  die  praktischen  Bedürf- 
nisse zum  Ausgang  nehmend.  Er  hat  uns  über- 
liefert, daß  das  Geschlecht  der  Enziane  deshalb  sein 
besonderes  Interesse  erregt  hat,  weil  aus  seinen 
Wurzeln  sich  so  heilsame  und  so  wohlschmeckende 
Tränke  bereiten  ließen.  Praktische  Erfahrungen 
sammelte  er  auch,  als  er  im  eigenen  Garten,  den 
ihm  1776  der  Herzog  schenkte,  selbst  eifrig  zu 
pflanzen  begann.  Weitere  Fortschritte  in  der  Botanik 
brachte  der  Verkehr  mit  Buchholz,   der  in  seinem 


Die  botanischen  Arbeiten  I.  51 

Apothekergarten  die  offizinellen  Gewächse  und  neue 
seltene  Pflanzen  zog.  Sobald  Karl  Augusts  natur- 
wissenschaftliche Interessen  wach  geworden  waren, 
äußerten  sie  sich  unter  andrem  auch  in  der  Anlage 
größerer  Gärten  bei  Weimar  und  Jena.  Alle  diese 
botanischen  Studien  wurden  unter  den  Gesichts- 
punkten Linnes  vorgenommen.  Goethe  führte  die 
Linneschen  Schriften  auf  seinen  Exkursionen  bei 
sich  und  bemühte  sich  redlich,  alles  was  er  fand, 
mit  größter  Gewissenhaftigkeit  nach  dem  Linneschen 
System  zu  bestimmen.  Dabei  fand  er  Unterstützung 
durch  die  Botaniker  in  Jena,  mit  denen  er  in  näheren 
Verkehr  trat.  So  kam  er  auch  in  Berührung  mit 
einer  interessanten  Familie  in  der  Nähe  von  Jena. 
Die  Dietrichs  in  Ziegenhain  hatten  schon  seit 
mehreren  Generationen  das  Privileg  ausgeübt,  für 
die  botanischen  Vorlesungen  das  Demonstrations- 
material zu  besorgen,  die  Studenten  mit  den  in  der 
Vorlesung  zu  besprechenden  Pflanzen  zu  versehen. 
In  jenen  Jahren,  wo  Goethes  botanische  Neigungen 
erwachten,  war  besonders  ein  junger  Sohn  hierbei 
tätig  und  dieser  hatte  sich  im  Laufe  der  Jahre  eine 
ganz  umfassende  Kenntnis  der  Flora  des  Jenenser 
Gebietes  zugelegt.  Das  ging  so  weit,  daß  der  ein- 
fache Bauernjunge  schließlich  alle  Pflanzen  nicht 
nur  mit  ihren  deutschen,  sondern  auch  mit  ihren 
lateinischen  Namen  nach  dem  Linneschen  System 
zu  bezeichnen  wußte.     Goethe   nahm   nun    diesen 

4* 


52  Dritte  Vorlesung. 

jungen  Dietrich  mit  sich  nach  Karlsbad.  Er  schil- 
dert uns  aufs  Anschaulichste,  wie  er  in  seinem 
Reisewagen  durch  die  Landschaft  fährt  und  der 
junge  Mann,  nebenher  gehend,  alle  interessanten 
Pflanzen  und  Blumen  am  Wege  sammelt  und  ihm 
mit  der  richtigen  lateinischen  Bezeichnung  in  den 
Wagen  reicht  In  Karlsbad  wird  diese  Tätigkeit 
fortgesetzt  Des  Morgens,  wenn  die  Kurgäste  sich 
am  Brunnen  versammeln,  hat  Dietrich  gewöhn- 
lich schon  einen  ganzen  Strauß  von  Pflanzen  ge- 
sucht Nach  kurzer  Zeit  nimmt  die  ganze  Brunnen- 
gesellschaft an  Goethes  Bestrebungen  teil,  und  es 
wird  nun  eifrig  von  allen  Seiten  botanisiert,  Diet- 
rich hat  nachher  den  Doktorgrad  erworben  und  ist 
als  großherzoglicher  Gartendirektor  in  Eisenach 
gestorben. 

Kam  so  Goethe  allmählich  in  die  praktische  An- 
wendung des  botanischen  Systems  hinein,  so  blieben 
ihm  auch  theoretische  Arbeiten  nicht  fremd.  Das 
Linn^sche  System  war  wie  erwähnt  ein  künstliches, 
in  dem  ein  einzelnes  Merkmal  der  Pflanzen  zur 
Unterscheidung  benutzt  wurde.  Schon  Linn^  hatte 
demgegenüber  die  Notwendigkeit  eines  natürlichen 
Systems  betont,  in  welchem  die  Gruppierung  der 
Pflanzen  nach  der  Gesamtheit  ihrer  Eigenschaften 
vorgenommen  wird,  wobei  also  die  Gruppen  des 
Systems  den  natürlichen  Pflanzengruppen  möglichst 
entsprechen.    Diese  Bestrebungen  waren  von  fran- 


Die  botanischen  Arbeiten  I.  53 

zösischen  Botanikern  zunächst  fortgesetzt  Von 
Goethes  Bekannten  bemühte  sich  Doktor  Batsch 
ein  solches  natürliches  Pflanzensystem  aufzustellen. 
Ähnliche  Versuche  machte  damals  Hofrat  Büttner 
in  Jena,  ein  Sonderling  und  Polyhistor,  mit  dem 
Goethe  noch  in  vielfache  Berührung  kam.  An  diesen 
Arbeiten  nahm  unser  Dichter  nun  den  allerlebhaf- 
testen  Anteil  und  konnte  sich  so  ein  eigenes  Urteil 
über  Wert  oder  Unwert  dieser  und  andrer  Systeme 
bilden.  In  diesen  Jahren  las  er  auch  die  bota- 
nischen Schriften  eines  andern  Dichters,  Jean 
Jacques  Rousseaus,  der  bei  seinem  Bestreben,  sich 
an  die  Natur  anzuschließen,  auf  das  Studium  der 
Pflanzenwelt  gekommen  war.  Auch  diesen  Schrif- 
ten verdankt  Goethe  nach  seiner  Angabe  manche 
Anregungen. 

Je  weiter  er  nun  in  der  Kenntnis  der  Botanik 
fortschritt,  desto  größere  Bedenken  kamen  ihm  gegen 
die  Anwendung  des  Linneschen  Systems.  Zunächst 
eine  technische  Schwierigkeit.  Es  erwies  sich  für 
ihn  als  vollkommen  unmöglich,  die  komplizierte 
Terminologie  vollständig  zu  beherrschen.  Es  ist 
bekannt,  welches  vorzügliche  Gedächtnis  Goethe 
besessen  hat,  und  welche  Fülle  von  Tatsachen  er 
in  seinem  Geiste  bewahrte,  um  sie  im  Bedarfsfall 
hervorholen  zu  können.  Das  waren  aber  alles 
Dinge,  die  irgend  welchen  Bezug  für  ihn  hatten. 
Dagegen  die  einfach  äußerliche  Terminologie   des 


54  Dritte  Vorlesung. 

Systems,  bei  der  sich  nichts  denken  und  vorstellen 
ließ,  hat  er  nicht  auswendig  lernen  können.  So 
war  er  denn  im  Linneschen  Sinne  kein  guter  Bota- 
niker. Dazu  kam  aber  noch  ein  schwerwiegender 
sachlicher  Einwand.  Linn^  hatte  gelehrt  und  alle 
folgenden  hatten  ihm  darin  beigepflichtet,  daß  die 
verschiedenen  Arten  seines  Systems  unabänderlich 
seit  der  Schöpfung  bestehende,  in  sich  abgeschlossene 
und  durch  keine  Übergänge  vermittelte  Gruppen 
von  Pflanzen  seien.  Goethe  wurde  durch  seine 
Beobachtungen  dagegen  zu  andren  Anschauungen 
geführt.  Er  konnte  allerdings  feststellen  und  er  hat 
das  späterhin  noch  des  Näheren  ausgeführt,  daß  es 
einzelne  Geschlechter,  wie  die  Gentianen,  gibt,  bei  denen 
jedes  Pflanzenindividuum  immer  wieder  genau  die- 
selben äußeren  Merkmale  besitzt,  so  daß  über  seine 
Zugehörigkeit  zu  einer  der  Linneschen  Arten  kein 
Zweifel  bestehen  kann.  Daneben  aber  gibt  es 
Pflanzengruppen,  wie  z.  B.  die  Rosen,  die  man  nach 
Goethe  als  charakterlose  bezeichnen  kann,  weil  die 
einzelnen  Individuen  bei  ihnen  außerordentlich 
große  Abweichungen  zum  Teil  auch  in  den  ent- 
scheidenden Merkmalen  voneinander  zeigen,  so  daß 
es  ganz  unmöglich  ist,  festzustellen,  zu  welcher 
Art  gerade  dieses  Einzelindividuum  gehört.  Goethe 
findet  also  schon  damals,  daß  zwischen  den  ab- 
geschlossenen Linni^schen  Arten  alle  möglichen 
Obergänge   vorkommen    können.     Er    findet    eine 


Die  botanischen  Arbeiten  I.  55 

außerordentlich  große  Variabilität  bei  einzelnen 
Pflanzenspezies.  Dadurch  mußte  natürlich  sein 
Glaube  an  die  Möglichkeit  erschüttert  werden,  über- 
haupt fest  begrenzte,  unveränderliche  Arten  bei  den 
Pflanzen  unterscheiden  zu  können. 

Dazu  kam  nun  noch  etwas  Weiteres.  Während 
die  damaligen  Botaniker  in  der  Mehrzahl  eine  Wissen- 
schaft des  Herbariums  trieben,  d.  h.  die  Pflanzen  los- 
gelöst von  der  Natur  bestimmten  und  aufbewahrten, 
studierte  Goethe  ihr  Wachstum  unter  freiem  Himmel. 
Hier  drängte  sich  ihm  immer  mehr  die  Erkenntnis 
auf,  daß  die  Ausbildung  der  äußeren  Form  einer  be- 
stimmten Pflanze  wesentlich  mit  bedingt  werde  durch 
äußere  Einflüsse.  Er  fand,  daß  ein  und  dieselbe  Art 
im  Tiefland  und  auf  der  Höhe  des  Gebirges,  des 
Harzes,  Thüringer  Waldes  oder  der  Alpen,  ein  ganz 
verschiedenes  Aussehen  hatte.  Er  beobachtete,  daß 
eine  Pflanze  wesentlich  andere  Wuchsformen  zeigte, 
je  nachdem  sie  im  Schatten  oder  an  einer  sonnigen 
Stelle  stand.  Er  fand  eine  starke  Abhängigkeit  des 
Pflanzenwachstums  von  der  Bewässerung,  von  der 
Wärme,  dem  Klima,  von  Frostschäden  u.  v.  a.  Durch 
fortgesetzte  Beobachtung  wurde  es  ihm  allmählich 
klar,  daß  durch  diesen  Wechsel  der  äußeren  Be- 
dingungen sich  Varietäten  der  einzelnen  Pflanzen- 
arten schaffen  ließen.  Er  wurde  also  immer  mehr 
dazu  gedrängt,  die  Unveränderlichkeit  der  Linneschen 
Pflanzenspezies  nicht  mehr  anzuerkennen. 


56  Dritte  Vorlesung. 

Das  war  der  Stand  seiner  botanischen  Studien, 
als  er  den  engen  Verhältnissen  in  Weimar  entfloh 
und  sich  südwärts  nach  Italien  wandte.  Wenn  er 
nun  in  diesem  Lande  die  endgültigen  Fortschritte 
seiner  Erkenntnis  des  Pflanzenwachstums  gewann, 
so  ist  dabei  nicht  zu  vergessen,  daß  ein  zehnjähriges 
genaues  Studium  in  der  Heimat  vorherging,  durch 
das  er  die  Pflanzenwelt  kennen  gelernt  hatte  und 
durch  das  er  schon  seit  längerer  Zeit  den  Linn^schen 
Lehren  allmählich  entfremdet  worden  war.  „Das 
Gewahrwerden  der  wesentlichen  Form,  mit 
der  die  Natur  gleichsam  nur  immer  spielt  und  spielend 
das  mannigfaltige  Leben  hervorbringt,"  wie  er  kurz 
vor  der  Reise  an  Frau  von  Stein  schreibt,  sollte  ihm 
nun  gelingen. 

Wie  Goethe  nun  über  den  Brenner  nach  Nord- 
Italien  herabsteigt,  tut  sich  in  überwältigender  Fülle 
eine  ganz  neuartige  Vegetation  vor  seinen  Augen 
auf;  er  selbst  schildert  uns,  daß  dieser  Eindruck 
am  gewaltigsten  beim  Besuch  des  botanischen  Gar- 
tens in  Padua  auf  ihn  gewirkt  habe.  Hier  sah  er 
eine  Pflanzenpracht  und  einen  Blumenflor,  wie  er 
ihn  in  der  Heimat  niemals  erblickt  hatte,  und  es 
gewann  so  der  schon  Im  Norden,  wie  wir  wissen, 
allmählich  entstandene  Gedanke,  daß  das  Pflanzen- 
wachstum von  äußeren  Einflüssen  abhängig  sei, 
in  Padua  die  endgültige  Gewißheit.  Hier  war  unter 
den  veränderten  Bedingungen  des  Klimas,  der  süd- 


Die  botanischen  Arbeiten  I.  57 

liehen  Sonne  und  der  milderen  Winter  eine  ganz 
andere  Flora  entstanden,  als  sie  im  rauhen  Norden 
wuchs.  Dazu  kam  nun  noch  eine  zweite  Beobach- 
tung, die  er  in  Padua  machte.  An  einer  Fächer- 
palme, die  im  botanischen  Garten  stand,  konnte 
er  sehen,  daß  die  Blätter  von  verschiedener  Aus- 
bildung ihrer  Form  waren.  Von  der  einfachsten 
Blattgestalt  bis  zum  vollentwickelten  komplizierten 
Fächerblatt  waren  eine  ganze  Reihe  von  Übergängen 
vorhanden.  Goethe  ließ  sie  sich  vom  Gärtner  ab- 
schneiden und  bewahrte  sie  auf  als  Beweisstücke 
für  die  allmähliche  Entwicklung  der  komplizierten 
Blattform  bei  ein  und  derselben  Pflanze.  Die  Palme 
stand  gleichzeitig  in  Blüte.  Aber  daß  sich  auch  die 
Blume  ebenso  in  den  Kreis  dieser  Betrachtungen 
einbeziehen  ließ,  war  ein  Gedanke,  der  Goethe  hier 
noch  nicht  gekommen  ist.  So  gewann  er  gleich  bei 
seinem  Eintritt  in  Italien  die  sichere  Erkenntnis,  daß 
die  Pflanzenteile  sich  unter  verschiedenen  äußeren 
Bedingungen  verschieden  ausbilden  können,  und  daß 
es  auf  diese  Weise  zur  Entstehung  verschiedener  For- 
men kommen  könne.  Er  gewann  aber  gleichzeitig  die 
Einsicht,  daß  es  möglich  sein  müsse,  auch  die  aller- 
verschiedensten  Pflanzenarten  untereinander  zu  ver- 
gleichen und  dadurch  zu  einer  einheitlichen  Auf- 
fassung der  Pflanzengestalt  zu  gelangen.  Um  dies 
durchzuführen,  suchte  Goethe  zunächst  eine  mög- 
lichst einfache  Pflanzenform  zu  finden,  die  so  ele- 


58  Dritte  Vorlesung. 

mentar  gebaut  sei,  daß  man  alle  andern  Wuchsformen 
auf  sie  zurücicführen  könne.  Er  suciite  eine  „Ur- 
pflanze".  Da  uns  dieser  Ausdruck  hier  zum  ersten 
Male  entgegentritt,  wollen  wir  uns  klar  machen,  was 
Goethe  darunter  verstanden  hat.  Er  suchte  nämlich 
nicht  eine  Pflanze,  von  der  alle  andern  abstammen 
sollten,  in  dem  Sinne,  wie  man  heute  davon  spricht, 
daß  der  Mensch  vom  Affen  abstamme,  sondern  er 
suchte  nur  eine  möglichst  übersichtliche,  einfache 
und  primitiv  konstruierte  Pflanze,  bei  der  sich  die 
Art  ihres  Aufbaues  durch  die  bloße  Anschauung  ohne 
weiteres  erkennen  ließ,  und  auf  die  er  dann  die 
Bauart  aller  übrigen  Pflanzen,  mochte  sie  auch 
noch  so  kompliziert  und  unübersichtlich  sein, 
schließlich  durch  Vergleichung  zurückführen  konnte. 
Diese  Idee  begleitete  ihn  nun  auf  seiner  Wanderung 
durch  die  italienische  Halbinsel  und  sie  tauchte  in 
konkreter  Gestalt  wieder  auf,  als  er  auf  dem  süd- 
lichsten Punkt  seiner  Reise,  in  Palermo,  angelangt 
war.  Hier  suchte  er  den  Plan  einer  Nausikaa,  zu  der 
uns  einzelne  ausgearbeitete  Szenen  erhalten  sind, 
weiter  auszuführen  und  ging  zu  diesem  Zwecke  in 
den  öffentlichen  Garten:  „Die  vielen  Pflanzen,  die 
ich  sonst  nur  in  Kübeln  und  Töpfen,  ja  die  größte 
Zeit  des  Jahres  nur  hinter  Glasfenstern  zu  sehen 
gewohnt  war,  stehen  hier  froh  und  frisch  unter 
freiem  Himmel,  und  indem  sie  ihre  Bestimmung 
vollkommen  erfüllen,  werden  sie  uns  deutlicher.   Im 


Die  botanischen  Arbeiten  I.  59 

Angesicht  so  vielerlei  neuen  und  erneuten  Gebildes, 
fiel  mir  die  alte  Grille  wieder  ein,  ob  ich  nicht  unter 
dieser  Schar  die  Urpflanze  entdecken  könnte?  Eine 
solche  muß  es  denn  doch  geben:  woran  würde 
ich  sonst  erkennen,  daß  dieses  oder  jenes  Gebilde 
eine  Pflanze  sei,  wenn  sie  nicht  alle  nach  Einem 
Muster  gebildet  wären?  —  Ich  bemühte  mich,  zu  unter- 
suchen, worin  denn  die  vielen  abweichenden  Ge- 
stalten voneinander  unterschieden  seien.  Und  ich 
fand  sie  immer  mehr  ähnlich  als  verschieden,  und 
wollte  ich  meine  botanische  Terminologie  anbringen, 
so  ging  das  wohl,  aber  es  fruchtete  nicht,  es  machte 
mich  unruhig,  ohne  daß  es  mir  weiter  half.  Gestört 
war  mein  guter  poetischer  Vorsatz;  der  Garten  des 
Alcinous  war  verschwunden,  ein  Weltgarten  hatte 
sich  aufgethan.  Warum  sind  wir  Neueren  doch  so 
zerstreut!  Warum  gereizt  zu  Forderungen,  die  wir 
nicht  erreichen  noch  erfüllen  können!"  Von  nun 
an  lassen  ihn  die  botanischen  Gedanken  nicht 
mehr  los.  Noch  in  Sizilien  findet  er,  daß  man  das 
Rätsel  dadurch  lösen  könne,  daß  man  alle  Pflanzen- 
teile als  ursprünglich  identisch  ansieht.  Nun  sucht 
er  die  Urpflanze  nicht  mehr  in  der  Natur,  sondern 
sie  ist  ihm  jetzt  nur  noch  ein  Schema,  auf  das  er 
alle  in  der  Natur  vorkommenden  Pflanzenformen 
ohne  Zwang  beziehen  kann.  Vier  Wochen  später, 
am  17.  Mai  1787,  ist  er  bereits  so  weit,  daß  er  von 
Neapel  an  Herder  schreibt:  „Die  Urpflanze  wird  das 


60  Dritte  Vorlesung. 

wunderlichste  Geschöpf  von  der  Welt,  um  welches 
mich  die  Natur  selbst  beneiden  soll.  Mit  diesem 
Modell  und  dem  Schlüssel  dazu  kann  man  alsdann 
noch  Pflanzen  ins  Unendliche  erfinden,  die  konse- 
quent sein  müssen,  das  heißt,  die,  wenn  sie  auch 
nicht  existieren,  doch  existieren  könnten,  und  nicht 
etwa  mahlerische  oder  dichterische  Schatten  und 
Scheine  sind,  sondern  eine  innerliche  Wahrheit  und 
Nothwendigkeit  haben.  Dasselbe  Gesetz  wird  sich 
auf  alles  übrige  Lebendige  anwenden  lassen."  Jetzt 
glaubt  er  also,  die  endgültige  Verallgemeinerung 
gefunden  zu  haben,  und  ist  sich  darüber  klar,  daß 
sich  dieselbe  dann  auch  auf  das  Tierreich  übertragen 
lassen  müsse.  In  der  Weimarer  Goetheausgabe  sind 
zum  ersten  Male  die  botanischen  Notizen  und  Be- 
obachtungen abgedruckt,  welche  Goethe  auf  der 
italienischen  Reise  gesammelt  hat.  Hier  findet  sich 
mitten  unter  einer  Reihe  andrer  Notizen  plötzlich 
bemerkt:  „Hypothese  Alles  ist  Blat.  und  durch  diese 
Einfachheit  wird  die  größte  Mannigfaltigkeit  mög- 
lich." Das  ist  die  entscheidende  Konzeption  und 
alles  fernere,  was  Goethe  noch  in  Italien  und  Deutsch- 
land zur  Pflanzenmetamorphose  geforscht  hat,  ist  nur 
Ausführung  dieses  einen  Gedankens. 

Man  bezeichnet  diejenige  Stelle,  wo  ein  Blatt 
aus  der  Achse  (dem  Stamm,  dem  Zweig  oder  dem 
Stengel)  der  Pflanze  hervorsprießt,  als  Knoten,  und 
wenn  Goethe  nun  alle  Seitenteile  der  Pflanze  mit 


Die  botanischen  Arbeiten  I.  61 

Ausnahme  der  Achse  als  Blatt  oder  blattähnliches 
Gebilde  ansieht,  so  kann  er  diese  Regel  auch  mit 
den  Worten  zusammenfassen:  „von  Knoten  zu  Knoten 
ist  der  ganze  Kreis  der  Pflanze  im  wesentlichen  ge- 
endet". Er  betrachtet  von  nun  an  die  Pflanze  als 
aufgebaut  aus  lauter  Teilstücken,  welche  ein  Stück 
der  Achse  von  einem  Knoten  bis  zum  nächsten,  und 
die  aus  diesem  Knoten  entspringenden  blattähnlichen 
Gebilde  tragen.  So  ist  für  ihn  das  entscheidende 
Gesetz  jetzt  klar  geworden  und  er  kann  schreiben: 
„Ferner  glaubte  ich  (in  Italien)  der  Natur  abgemerkt 
zu  haben,  wie  sie  gesetzlich  zu  Werke  gehe,  um 
lebendiges  Gebild  als  Muster  alles  künstlichen 
hervorzubringen."  Sein  „Versuch,  die  Metamorphose 
der  Pflanzen  zu  erklären",  beruht  für  ihn  darauf, 
„die  mannigfaltigen  Erscheinungen  des  herrlichen 
Weltgartens  auf  ein  allgemeines  einfaches  Prinzip 
zurückzuführen". 

Aus  dem  Süden  Italiens  kehrt  er  nach  Rom 
zurück  und  benutzt  seinen  zweiten  Aufenthalt  in 
der  ewigen  Stadt,  um  die  gewonnene  Erkenntnis 
nach  Möglichkeit  zu  vertiefen.  Es  ist  Goethe  be- 
sonders von  Botanikern  zum  Vorwurf  gemacht  wor- 
den, daß  seine  Lehre  von  der  Pflanzenmetamorphose 
im  wesentlichen  auf  die  Betrachtung  der  fertigen 
Pflanze  basiert  sei  und  nicht  die  Entstehung  der 
Pflanzenform  berücksichtige.  Das  ist  insofern  richtig, 
als  er  allerdings  nur  wenige  mikroskopische  Unter- 


62  Dritte  Vorlesung. 

suchungen  angestellt  hat,  aber  die  jetzt  veröffent- 
lichten Papiere  aus  Italien  und  der  nachfolgenden 
Weimarer  Zeit  beweisen  aufs  schlagendste,  daß  er 
der  Entwicklung  der  Pflanzenform  aus  den  einfach- 
sten Anfängen  eingehende  Aufmerksamkeit  geschenkt 
hat  Schon  in  Rom  sehen  wir  ihn  zahlreiche  Be- 
obachtungen über  das  Keimen  von  Samen  machen, 
und  er  verfolgt  das  Auswachsen  der  kleinen  Pflänz- 
chen  bis  zur  Ausbildung  ihrer  entschiedenen  Form. 
In  Rom  und  Weimar  hat  er  Notizen  und  Zeichnungen 
gemacht  von  der  Keimung  des  Mais,  der  Bohne,  des 
Kürbis,  der  Wicke,  des  Nasturtium,  der  Pinie,  Dattel- 
palme, ja  selbst  des  Kaktus,  und  gewann  so  einen 
umfassenden  Einblick  nicht  nur  in  die  endgültige 
Pflanzenform,  sondern  auch  in  deren  allmähliche 
Entstehung.  Diese  entwicklungsgeschichtlichen  Stu- 
dien sind  auch  für  seine  spätere  Darstellung  der 
Pflanzenmetamorphose  mit  maßgebend  gewesen.  Auf 
andere  Untersuchungen  wurde  er  von  dem  in  Rom 
lebenden  Deutschen  Reiffenstein  hingewiesen.  Dieser 
verfocht  die  These,  daß  eigentlich  jeder  abgeschnittene 
Pflanzenteil,  in  die  Erde  gesteckt,  Wurzel  schlage 
und  weiter  wachse.  Er  und  Goethe  stellten  außer- 
ordentlich zahlreiche  Versuche  hierüber  an  und 
konnten  sich  in  der  Tat  von  der  Möglichkeit  über- 
zeugen, sehr  viele  Pflanzen  durch  Stecklinge  weiter 
zu  züchten.  Für  Qoethc  resultierte  daraus  eine  er- 
weiterte Kenntnis  von  der  Wachstumsfähigkeit  der 


Die  botanischen  Arbeiten  I.  63 

einzelnen  Teile.  Auch  abnorm  ausgebildete  Pflanzen 
wurden  studiert  und  gezeichnet.  Die  Beobachtung 
der  später  zu  erwähnenden  durchgewachsenen  Nelken 
fällt  in  diese  Zeit.  So  gewinnen  seine  Anschauungen 
an  Umfang  und  Tiefe.  Sein  „Pflanzensystem"  rundet 
sich  immer  mehr  ab.  Im  Anschluß  an  den  Versuch, 
seinem  Freunde  Moritz  die  neuen  Ideen  zu  dozieren, 
werden  die  ersten  zusammenhängenden  Aufzeich- 
nungen in  Rom  gemacht. 

Dann  kehrte  Goethe  nach  Deutschland  zurück. 
Aber  es  dauerte  noch  über  zwei  Jahre,  bis  die  bota- 
nischen Entdeckungen,  die  er  in  Italien  gemacht 
hatte,  so  weit  gereift  waren,  daß  er  sie  für 
publikationsfähig  hielt.  Es  wurden  noch  vielfach 
Einzelbeobachtungen  angestellt,  Notizen  gesammelt, 
Zeichnungen  angefertigt  und  das  Ganze  immer  und 
immer  wieder  durchdacht  bis  zur  ausführlicheren 
schriftlichen  Formulierung  geschritten  wurde.  Aber 
auch  hier  blieb  es  nicht  bei  der  ersten  Form,  mannig- 
fach wurde  umgeschrieben,  Hypothesen  wurden  auf- 
gestellt und  verworfen,  bis  endlich  die  Pflanzen- 
metamorphose die  uns  heute  überlieferte  Gestalt 
erhielt.  1790  erschien  dann:  „J.  W.  v.  Goethe  Her- 
zoglich Sachsen-Weimarischen  Geheimrats  Versuch, 
die  Metamorphose  der  Pflanzen  zu  erklären";  ein 
Heft  von  86  Seiten,  das  die  Resultate  von  Goethes 
Forschungen  enthielt.  Wir  sehen  aus  der  Vorgeschichte 
dieses  Werkchens,  daß  Goethe  recht  hatte,  wenn  er 


64  Dritte  Vorlesung. 

schrieb:  „Nicht  also  durch  eine  außerordentliche 
Gabe  des  Geistes,  nicht  durch  eine  momentane  In- 
spiration, noch  unvermutet  und  auf  einmal,  sondern 
durch  ein  folgerechtes  Bemühen  bin  ich  endlich  zu 
einem  so  erfreulichen  Resultate  gelangt." 

Wir  wollen  jetzt  den  Inhalt  von  Goethes  Ab- 
handlung kurz  entwickeln,  um  dann  später  ihre  Be- 
deutung besser  würdigen  zu  können.  Die  These, 
welche  bewiesen  werden  soll,  ist,  daß  alle  Pflanzen- 
teile außer  dem  Stamm  (der  Achse)  als  umgewandelte 
Blätter  anzusehen  sind.  Der  Gegenstand,  auf  den 
sich  dieser  Goethesche  Satz  bezieht,  sind  nicht  die 
niedern  Pflanzen  (Kryptogamen),  sondern  nur  die 
Phanerogamen,  also  die  Blütenpflanzen  im  eigent- 
lichen Sinn,  und  auch  bei  diesen  handelt  es  sich 
für  Goethe  im  wesentlichen  nur  um  die  oberirdischen 
Pflanzenteile.  Die  Wurzel  fällt  fast  ganz  aus  dem 
Kreis  seiner  Betrachtungen  heraus.  Die  Methode, 
mit  der  er  nun  alle  Seitenorgane  der  Pflanze  als 
umgewandelte  Blätter  nachweist,  beruht  darauf,  daß 
er  überall  Übergänge  zwischen  den  ausgebildeteren 
Laubblättern  und  den  andern  Seitenorganen  auf- 
deckt, und  zwar  findet  er  solche  Übergangsformen 
zunächst  bei  normalen  Pflanzen  (normale  Metamor- 
phose), dann  aber  auch  zweitens  bei  abnormen,  ja 
sogar  bei  pathologischen  Wuchsformen,  wie  sie  in 
der  Natur  vorkommen,  oder  durch  künstliche  Züch- 
tung erzielt  werden,  (unregelmäßige  oder  regressive 


Die  botanischen  Arbeiten  I.  65 

Metamorphose)  und  drittens  bei  Pflanzen,  die  durch 
äußere  Ursachen,  z.  B.  Insektenstiche,  verändert  wor- 
den sind  (zufällige  Metamorphose). 

Goethes  Darstellung  beginnt  mit  den  Keim- 
blättern, den  Kotyledonen.  Er  findet  diese  in  der 
Ein-  oder  Zweizahl  von  den  verschiedensten  Formen, 
kann  sie  aber  alle  in  eine  Reihe  ordnen,  so  daß 
von  der  ungestaltetsten  abenteuerlichsten  Form  bis 
zur  einfachen  blattähnlichen  alle  Übergänge  vor- 
handen sind.  Er  findet  weiter,  daß  die  Keimblätter 
beim  weiteren  Wachsen  der  Pflanze  allmählich 
immer  mehr  eine  blattähnliche  Form  und  grüne 
Farbe  gewinnen;  sie  bleiben  aber  stets  einfacher 
gestaltet  wie  die  vollausgebildeten  Blätter.  Diesen 
wendet  sich  nun  der  Autor  zu  und  weist  darauf 
hin,  daß  beim  Wachstum  vieler  Pflanzen  zuerst 
nach  den  Kotyledonen  Blätter  hervorsprossen,  welche 
noch  relativ  einfach  gebaut  sind,  keinen  Stiel  haben, 
einen  ungezackten  Rand  besitzen  usw.  |e  mehr  die 
Pflanze  wächst,  desto  mehr  Blätter  werden  produ- 
ziert und  diese  werden  bei  zahlreichen  Pflanzen  nun 
stufenweise  immer  komplizierter,  bis  die  endgültige 
Blattform  erreicht  ist.  Die  Mittelrippen  werden  all- 
mählich länger,  Nebenrippen  werden  ausgebildet,  der 
Blattrand  gekerbt  oder  eingeschnitten,  der  Blattstiel 
immer  mehr  entwickelt.  Goethe  weist  an  dieser  Stelle 
auf  das  Beispiel  der  Dattelpalme  hin.  Im  Goethe- 
hause fand  sich  eine  Folge  von  Aquarellen,  welche 

Magnus,  Goethe  als  Naturforscher.  5 


66  Dritte  Vorlesung. 

die  allmähliche  Ausbildung  der  komplizierten  Blatt- 
form veranschaulicht  und  von  Goethe  wahrschein- 
lich zur  Illustration  seines  „zweiten  Versuchs  über 
die  Metamorphose  der  Pflanzen"  bestimmt  war. 
Fig.  1  gibt  die  Abbildungen  in  verkleinertem  Maß- 
stabe wieder.  Von  Wichtigkeit  für  die  Gestaltung 
der  Blattform  sind  ferner  äußere  Bedingungen,  Be- 
lichtung, Luftzug,  Höhe  des  Standortes.  Ein  Bei- 
spiel sind  die  Ranunkelblätter,  welche  verschieden 
gebildet  werden,  je  nachdem  sie  unter  Wasser  oder 
in  freier  Luft  auswachsen.  So  gelangt  Goethe 
stufenweise  zu  der  voll  ausgebildeten  Blattform. 

Daran  schließt  sich  die  Erörterung  des  Blüten- 
standes, der  entweder  unvermittelt  von  der  Pflanze 
hervorgebracht  wird  oder  durch  Übergänge  mit 
den  Laubblättern  verbunden  ist.  Diese  letzteren 
werden  nun  ausführlich  dargelegt.  Zwischen  Kelch- 
blättern und  Laubblättern  finden  sich  zahlreiche 
Zwischenformen;  bei  einzelnen  Pflanzen  werden 
unterhalb  des  Kelches  die  Laubblätter  kleiner  und 
vermitteln  so  den  Übergang;  der  Kelch  kann  aus 
einzelnen  getrennten  Blättern  bestehen  oder  ringsum 
verwachsen.  Danach  wird  die  Blumenkrone  be- 
sprochen. Von  dieser  zu  den  Kelchblättern  werden 
ebenfalls  Zwischenformen  beobachtet,  z.  B.  bei  der 
Nelke,  wo  noch  grün  gefärbte  Kronenblätter  vor- 
kommen. Bei  einzelnen  Blumen  fehlt  der  Kelch  ganz 
und  es  kommen  dann  direkte  Übergänge  zwischen 


Flg.Z 

Tulpe.    Da«  mit  a  bezeichnete  Blatt  ist  zur  Htilltc  Lniil>- 

bUtt  und  grün,  zur  Hallte  Blumenblatt  und  violett  (Pllanzcn- 

melamorphoie  §  44).       Verkleinerte  Nnchbildung  des  im 

Ooethehausc  bcllndllchen  Originalaquarells. 


Fig.  1. 
Allmähliche  Entwicklung  einer  komplizierten  Blattform  (9)  aus  einer  ein- 
fachen (1).  —  Verkleinerte  Nachbildung  der  im  Goethehaus  befindlichen 
Originalaquarelle. 


Die  botanischen  Arbeiten  I.  67 

Stengelblättern  und  Kronenblättern  vor,  wie  z.  B. 
bei  der  Tulpe,  wo  manchmal  ein  Blumenblatt  noch 
zur  Hälfte  grün  sein  und  die  Form  eines  richtigen 
Stengelblattes  zeigen  kann  (siehe  Fig.  2  nach  einem  im 
Goethehaus  befindlichen  Aquarell).  Das  nächste  Glied 
in  der  Reihe  bilden  die  Staubwerkzeuge.  Auch  bei 
diesen  kommen  normale  und  unregelmäßige  Über- 
gangsformen vor.  Normale  z.  B.  bei  der  Canna, 
wo  ein  Blumenblatt  direkt  den  Staubbeutel  trägt. 
Unregelmäßige  lassen  sich  zahlreich  bei  gefüllten 
Blumen,  z.  B.  Rosen  auffinden;  bei  halbgefüllten 
Rosen  sieht  man  einerseits  ausgebildete  Blumen- 
blätter, andrerseits  richtige  Staubgefäße,  dazwischen 
aber  Blumenblätter,  welche  in  der  Mitte  einen 
Staubbeutel  tragen ,  oder  Gebilde ,  welche  zur 
einen  Hälfte  die  Gestalt  eines  halben  Rosenblattes, 
zur  andern  die  eines  halben  Staubbeutels  haben. 
Hieran  schließt  Goethe  die  Besprechung  der  Nek- 
tarien,  derjenigen  Blütenorgane,  die  den  Honigsaft 
produzieren,  welcher  die  Insekten  anlockt.  Er  gibt 
auch  bei  diesen  zahlreiche  Beispiele,  welche  deren 
Blattähnlichkeit  illustrieren.  Danach  folgt  die  Be- 
sprechung des  Griffels.  Normale  Übergänge  zu  den 
Blumenblättern  sind  zahlreich.  Bei  gefüllten  Blumen 
kann  der  Griffel  geradezu  durch  solche  ersetzt  wer- 
den.' Auch  die  Frucht  führt  Goethe  auf  die  Blatt- 
form zurück.  Er  findet  Übergänge  zwischen  den 
Samenkapseln  und  kelchähnlichen  Blättern  bei  der 

5* 


68  Dritte  Voriesung. 

Nelke;  er  demonstriert  die  Zusammensetzung  aus 
blattähnlichen  Gebilden  bei  Hülsen,  Schoten  und 
Kapseln,  bei  denen  dies  besonders  deutlich  wird, 
wenn  sie  aufspringen  und  so  selbst  in  ihre  natür- 
lichen Bestandteile  zerfallen.  Durch  schrittweise 
Stufenfolge  der  Darstellung  gelangt  Goethe  dazu, 
auch  schließlich  die  eigenartig  geformten  Früchte, 
wie  den  Apfel  oder  die  Kastanie,  mit  der  Blattform 
zu  vergleichen.  Daran  schließt  sich  dann  noch  eine 
Besprechung  der  Samenhüllen. 

Die  bisherige  Darstellung  bezog  sich  haupt- 
sächlich auf  einfach  gebaute  einjährige  krautartige 
Pflanzen,  bei  denen  Blätter  und  Blüte  im  wesent- 
lichen nur  um  eine  Achse  geordnet  sind.  Das  Ver- 
ständnis des  Baues  bei  den  vielfach  verzweigten 
Sträuchern  und  Bäumen  ergibt  sich  für  Goethe  aus 
der  Betrachtung  der  Augen.  In  vielen  Fällen  sitzt 
in  dem  Winkel,  in  welchem  der  Blattstiel  von  der 
Achse  entspringt,  ein  Auge,  d.  h.  ein  Vegetations- 
punkt, der  im  günstigen  Falle  zu  einem  neuen  Zweig 
auswächst.  Diesen  betrachtet  der  Autor  einfach  als 
eine  neue  kleine  Pflanze,  welche  auf  dem  alten 
Stamm  wächst  und  nun  ihrerseits  wieder  Laub- 
biätter,  Blume  und  Frucht  produzieren  kann.  Auf 
diese  Weise  gelingt  es  ihm,  auch  die  kompliziertest 
verzweigten  Gewächse  auf  sein  einfaches  Schema 
zurückzuführen.  Es  werden  dann  noch  kurz  die 
zusammengesetzten    Blütenstände   diskutiert     Dann 


Die  botanischen  Arbeiten  I.  69 

weist  Goethe  noch  auf  zwei  abnorme  Beispiele  hin, 
welche  er  zu  beobachten  Gelegenheit  hatte:  eine 
durchgewachsene  Rose  und  eine  ebensolche  Nelke. 
Es  waren  das  Blüten,  welche  nicht  den  Abschluß  des 
sie  tragenden  Stengels  bildeten,  sondern  aus  denen 
wieder  ein  Stengel  herauswuchs,  der  bei  der  Rose 
zuerst  noch  gefärbte,  dann  grüne  Blätter  trug  und 
schließlich  an  seinem  Ende  eine  zweite  Rose  ent- 
stehen ließ.  Aus  der  Nelke  waren  sogar  mehrere 
weitere  Blüten  hervorgesproßt.  Diese  Fälle  sind 
für  Goethe  ein  Beweis  dafür,  daß  der  Blütenstand 
nicht  notwendigerweise  das  Ende  des  Wachstums 
der  Achse  bedeutet,  sondern  daß  diese  wenigstens 
die  Möglichkeit  besitzt,  weiter  zu  wachsen  und  wieder 
Blüten  hervorzubringen. 

Den  ganzen  Kreis  der  Erscheinungen,  die  im  vor- 
stehenden kurz  skizziert  worden  sind,  faßt  Goethe 
nun  in  eine  einfache  Regel  zusammen,  indem  er 
von  einem  dreifachen  Auseinander-  und  Wieder- 
zusammenziehen spricht.  Den  kleinen  und  unschein- 
baren Keimblättern  folgen  zunächst  durch  Ausein- 
anderziehen der  Form  die  ausgebildeten  Laubblätter, 
dann  findet  ein  Zusammenziehen  zum  Kelch,  eine 
Wiederentfaltung  zur  Blumenkrone,  ein  drittes  Zu- 
sammenziehen zu  Staubgefäßen  und  Griffel  und  eine 
endliche  letzte  Entfaltung  in  der  Frucht  statt.  Im 
Anschluß  hieran  legt  sich  nun  der  Dichter  die  Frage 
vor,    durch    welche   Ursachen    ein    derartiges   ab- 


70  Dritte  Voriesung. 

wechselndes  vollständiges  Ausbilden  der  Seiten- 
organe und  Zusammenziehen  ihrer  Form  veranlaßt 
werde,  und  gibt  zur  Erklärung  dieser  Erscheinung 
eine  Hypothese,  welche  für  Goethes  ganze  Auf- 
fassungsweise von  größtem  Interesse  ist.  Er  nimmt 
an,  daß  mit  dem  Wachstum  der  Pflanze  die  Säfte 
auch  in  ihre  höheren  Teile  eindringen  und  dabei  in 
den  Saftbahnen  allmählich  immer  feiner  filtriert  und 
verändert  werden.  Durch  diese  veränderten  Säfte 
werde  dann  die  Ausbildung  der  Blattform  modifi- 
ziert und  deshalb  käme  es  zur  Produktion  von 
Blumenblättern,  Staubwerkzeugen  usw.  Die  fort- 
schreitende Kenntnis  der  Pflanzenphysiologie  hat 
allerdings  gezeigt,  daß  die  Stoffwechselvorgänge 
lange  nicht  so  einfach  liegen,  wie  Goethe  vor  über 
100  Jahren  noch  voraussetzen  konnte.  Es  ist  aber 
von  größter  Wichtigkeit,  daß  er  schon  damals  an- 
genommen hat,  daß  die  Formbildungsprozesse  bei 
der  Pflanze  abhängig  seien  von  Stoffwechselvor- 
gängen  und  daß  ein  veränderter  Chemismus  im 
Pflanzeninnern  die  Ursache  sein  könne  von  ver- 
änderter Ausbildung  der  Blattform.  Wir  werden  das 
prinzipiell  Wichtige  dieser  Annahme  noch  weiter 
unten  zu  erörtern  haben. 

Das  ist  in  Kürze  der  Inhalt  von  Goethes  Ver- 
such, die  Metamorphose  der  Pflanzen  zu  erklären. 
Er  hat  später  daran  gedacht,  das  dem  Werke  zu- 
grunde liegende  Tatsachenmaterial   zu   einem  Teil 


Die  botanischen  Arbeiten  I.  71 

wenigstens  zur  Anschauung  zu  bringen,  und  ließ 
kolorierte  Tafeln  anfertigen,  welche  zahlreiche  Bei- 
spiele für  seine  Behauptungen  brachten.  Die  Ver- 
öffentlichung ist  aber  bis  jetzt  unterblieben.  Die 
Tafeln  ruhen  heute  noch  im  Goethemuseum.  Zwei 
von  ihnen  konnten  zur  Illustration  dieses  Vortrages 
verwendet  werden.  Wie  Prof.  Hansen  im  Goethe- 
jahrbuch mitteilt,  wird  er  demnächst  diese  Ab- 
bildungen veröffentlichen. 


Vierte  Vorlesung. 
Die  botanischen  Arbeiten  II. 

Meine  Herren!  Wenn  ich  Ihnen  zu  Beginn  dieser 
Vorlesung  den  Inhalt  der  Pflanzenmetamorphose 
wieder  kurz  ins  Gedächtnis  zurückrufen  soll,  so 
kann  ich  nichts  Besseres  tun,  als  dazu  die  schönen 
Verse  zu  benutzen,  in  denen  Goethe  selbst  dem 
Kreis  seiner  Freundinnen  und  speziell  Christiane 
Vulpius  den  Inhalt  seiner  Forschungen  in  anschau- 
licher und  poetischer  Form  zu  vermitteln  ver- 
sucht hat 

Dich  verwirret,  Geliebte,  die  tausendfältige  Mischung 

Dieses  BlumengewUhls  Ober  dem  Garten  umher; 
Viele  Namen  hörest  du  an  und  immer  verdränget, 

Mit  barbarischem  Klang,  einer  den  andern  im  Ohr. 
Alle  Gestalten  sind  ähnlich,  und  keine  gleichet  der  ändern; 

Und  So  deutet  das  Chor  auf  ein  geheimes  Gesetz, 
Auf  ein  heiliges  Rätsel.    O,  könnt'  ich  dir,  liebliche  Freundin, 

Überliefern  sogleich  glücklich  das  lösende  Wort! 
Werdend  betrachte  sie  nun,  wie  nach  und  nach  sich  die  Pflanze, 

Stufenweise  geführt,  bildet  zu  Blüten  und  Frucht. 
Aus  dem  Samen  entwickelt  sie  sich,  sobald  ihn  der  Frde 

Stille  befruchtender  Schoß  hold  in  das  Leben  entläßt. 
Und  dem  Reize  des  Lichts,  des  heiligen,  ewig  bewegten, 

Oleich  den  zartesten  Bau  keimender  BläUer  empfiehlt. 


Die  botanischen  Arbeiten  IL  73 

Einfach  schlief  in  dem  Samen   die  Kraft;   ein  beginnendes 

Vorbild 

Lag,  verschlossen  in  sich,  unter  die  Hülle  gebeugt, 
Blatt  und  Wurzel  und  Keim,  nur  halb  geformet  und  farblos; 

Trocken  erhält  so  der  Kern  ruhiges  Leben  bewahrt, 
Quillet  strebend  empor,  sich  milder  Feuchte  vertrauend, 

Und  erhebt  sich  sogleich  aus  der  umgebenden  Nacht. 
Aber  einfach  bleibt  die  Gestalt  der  ersten  Erscheinung; 

Und  so  bezeichnet  sich  auch  unter  den  Pflanzen  das  Kind. 
Gleich  darauf  ein  folgender  Trieb,  sich  erhebend,  erneuet, 

Knoten  auf  Knoten  getürmt,  immer  das  erste  Gebild. 
Zwar  nicht  immer  das  gleiche;  denn  mannichfaltig  erzeugt  sich. 

Ausgebildet,  du  siehsfs,  immer  das  folgende  Blatt, 
Ausgedehnter,  gekerbter,  getrennter  in  Spitzen  und  Teile, 

Die  verwachsen  vorher  ruhten  im  untern  Organ. 
Und  so  erreicht  es  zuerst  die  höchst  bestimmte  Vollendung, 

Die  bei  manchem  Geschlecht  dich  zum  Erstaunen  bewegt. 
Viel  gerippt  und  gezackt,  auf  mastig  strotzender  Fläche, 

Scheinet  die  Fülle  des  Triebs  frei  und  unendlich  zu  sein. 
Doch  hier  hält  die  Natur,  mit  mächtigen  Händen,  die  Bildung 

An  und  lenket  sie  sanft  in  das  Vollkommnere  hin. 
Mäßiger  leitet  sie  nun  den  Saft,  verengt  die  Gefäße, 

Und  gleich  zeigt  die  Gestalt  zartere  Wirkungen  an. 
Stille  zieht  sich  der  Trieb  der  strebenden  Ränder  zurücke. 

Und  die  Rippe  des  Stiels  bildet  sich  völliger  aus. 
Blattlos  aber  und  schnell  erhebt  sich  der  zartere  Stengel, 

Und  ein  Wundergebild  zieht  den  Betrachtenden  an. 
Rings  im  Kreise  stellet  sich  nun,  gezählet  und  ohne 

Zahl,  das  kleinere  Blatt  neben  dem  ähnlichen  hin. 
Um  die  Achse  gedrängt  entscheidet  der  bergende  Kelch  sich, 

Der  zur  höchsten  Gestalt  farbige  Kronen  entläßt. 
Also  prangt  die  Natur  in  hoher  voller  Erscheinung, 

Und  sie  zeiget,  gereiht,  Glieder  an  Glieder  gestuft. 
Immer  staunst  du  aufs  neue,  sobald  sich  am  Stengel  die  Blume 

Über  dem  schlanken  Gerüst  wechselnder  Blätter  bewegt. 
Aber  die  Herrlichkeit  wird  des  neuen  Schaffens  Verkündung, 

Ja,  das  farbige  Blatt  fühlet  die  göttliche  Hand. 
Und  zusammen  zieht  es  sich  schnell;  die  zartesten  Formen, 

Zwiefach  streben  sie  vor,  sich  zu  vereinen  bestimmt. 


74  Vierte  Vorlesung. 

Traulich  stehen  sie  nun,  die  holden  Paare,  beisammen. 

Zahlreich  ordnen  sie  sich  um  den  geweihten  Altar 
Hymen  schwebet  herbei  und  herrliche  Düfte,  gewaltig, 

Strömen  süßen  Geruch,  alles  belebend,  umher. 
Nun  vereinzelt  schwellen  sogleich  unzählige  Keime, 

Hold  in  den  Mutterschoß  schwellender  Früchte  gehüllt. 
Und  hier  schUeßt  die  Natur  den  Ring  der  ewigen  Kräfte; 

Doch  ein  neuer  sogleich  fasset  den  vorigen  an. 
Daß  die  Kette  sich  fort  durch  alle  Zelten  verlange, 

Und  das  Ganze  belebt,  so  wie  das  Einzelne,  sei. 
Wende  nun,  o  Geliebte,  den  Blick  zum  bunten  Gewimmel, 

Das  verwirrend  nicht  mehr  sich  vor  dem  Geiste  bewegt. 
Jede  Pflanze  verkündet  dir  nun  die  ew'gen  Gesetze, 

Jede  Blume,  sie  spricht  lauter  und  lauter  mit  dir. 
Aber  entzifferst  du  hier  der  Göttin  heilige  Lettern, 

Oberall  siehst  du  sie  dann,  auch  in  verändertem  Zug. 
Kriechend  zaudre  die  Raupe,  der  Schmetterling  eile  geschäftig. 

Bildsam  andre  der  Mensch  selbst  die  bestimmte  Gestalt! 
Ol  gedenke  denn  auch,  wie  aus  dem  Keim  der  Bekanntschaft 

Nach  und  nach  in  uns  holde  Gewohnheit  entsproß, 
Freundschaft  sich  mit  Macht  in  unserm  Innern  enthüllte, 

Und  wie  Amor  zuletzt  Blüten  und  Früchte  gezeugt. 
Denke,  wie  mannigfach  bald  die,  bald  jene  Gestalten, 

Still  entfaltend,  Natur  unsern  Gefühlen  geliehn! 
Freue  dich  auch  des  heutigen  Tags!    Die  heilige  Liebe 

Strebt  zu  der  höchsten  Frucht  gleicher  Gesinnungen  auf. 
Gleicher  Ansicht  der  Dinge,  damit  in  harmonischem  Anschaun 

Sich  verbinde  das  Paar,  finde  die  höhere  Welt. 

Und  nun  wollen  wir  versuchen,  gleich  an  dieser 
Stelle,  nachdem  wir  zum  ersten  Male  eine  wissen- 
schaftliche Arbeit  Goethes  näher  kennen  gelernt 
haben,  uns  darüber  klar  zu  werden,  welches  die 
Stellung  und  die  ihrer  Zeit  vorauseilende  Bedeutung 
dieser  Schrift  ist  und  wollen  sogleich  hier  die  ersten 
Konsequenzen  zur  Beurteilung  von  Goethes  wissen- 


Die  botanischen  Arbeiten  II,  75 

schaftlicher  Methode  ziehen,  um  diese  Kenntnis  dann 
später  schrittweise  erweitern  und  vertiefen  zu  können. 
Während  Linne  und  seine  Schule  versucht  hatten, 
die  Gesamtheit  der  pflanzlichen  Formenwelt  dadurch 
für  den  menschlichen  Geist  zu  bemeistern,  daß  sie 
möglichst  viel   einzelne   verschiedene   Formen   und 
Arten  aufstellten,   daß  sie   also   möglichst   bis   ins 
kleinste     unterschieden    und    sonderten,    beschritt 
Goethe  den  umgekehrten  Weg.    Er  unternahm   es, 
das    allen    Pflanzenformen     Gemeinsame     heraus- 
zuschälen  und   dadurch   eine   einheitliche   Betrach- 
tung der  unendlichen  Mannigfaltigkeit  des  Pflanzen- 
wachstums zu  ermöglichen.    Die  Methode,  deren  er 
sich  hierbei  bediente,  ist  im  letzten  Vortrag  schon 
kurz  angedeutet  worden.    Er  stellte  sich  zunächst 
aus  alle  den  verschiedenen  Erscheinungen,  die   er 
untersuchen  wollte,   eine  kontinuierliche  Reihe 
her,  die  er  so  anordnete,  daß  sie  vom  Einfachen 
bis  zum  Kompliziertesten  stufenweise  fortschritt    Er 
suchte    und    fand    in    der    Natur    zwischen    den 
einzelnen    Gliedern    dieser   Reihe    dann    zahlreiche 
vermittelnde  Übergänge,  so  daß  er  direkt  die  kompli- 
zierteren  Formen   schrittweise   auf  die   einfacheren    p 
zurückführen    konnte.     In    diesem    Verfahren,    sich     • 
zunächst  aus  den  zu  untersuchenden  Phänomenen 
eine  kontinuierliche  Reihe  zu  bilden,  besteht  eigent- 
lich  Goethes    allerpersönlichste   Methode.     Er   hat 
sie   fast    bei    allen    seinen    naturwissenschaftlichen 


76  *        Vierte  Vorlesung. 

Untersuchungen  angewendet,  bei  den  botanischen 
und  zoologischen  nicht  nur,  sondern  auch  bei  den 
mineralogischen  und  den  optischen.  Während  er 
auf  diese  Weise  in  der  Morphologie  der  Pflanzen 
und  Tiere  die  wichtigsten  Resultate  zeitigte,  werden 
wir  sehen,  daß  der  Versuch,  diese  Betrachtungsweise 
auch  für  die  Farbenlehre  anzuwenden,  einen  der 
wesentlichsten  Gründe  für  Goethes  Irrtum  in  der 
physikalischen  Optik  darstellt.  Für  die  botanische 
Forschung  erwies  sie  sich  dagegen  als  außerordent- 
lich fruchtbar.  Goethe  hat  hier  zwei  verschiedene 
Reihen  aufgestellt.  Einmal  versuchte  er  die  Formen 
der  verschiedenen  Pflanzenarten  nebeneinander  zu 
stellen  und  sie  durch  zahlreiche  Obergänge  und 
Varietäten  zueinander  in  Beziehung  zu  setzen.  So 
gewann  er  eine  Übersicht  über  die  verschiedenen 
in  der  Natur  vorkommenden  Pflanzenformen  vom 
einfachsten  Kraut  bis  zum  kompliziert  gebauten 
Baumriesen.  Die  zweite  Reihe  bestand  aus  der 
Stufenfolge  der  einzelnen  Seitenorgane  ein  und  der- 
selben Pflanze:  vom  Keimblatt  bis  zum  voll  ausge- 
bildeten Laubblatt,  von  diesem  bis  zur  ausgebildeten 
Blumenkrone  und  Frucht  Sobald  nun  Goethe  diese 
beiden  Reihen  vor  sich  hatte,  machte  er  den  nächsten 
Schritt  und  suchte  in  das  Verständnis  dieser  fort- 
laufenden Formenkette  durch  die  Anwendung  der 
vergleichenden  Methode  einzudringen.  Durch  Ver- 
gleichung   war   festzustellen,   welche   Unterschiede 


Die  botanischen  Arbeiten  II.  77 

zwischen  den  einzelnen  Gliedern  der  Reihe  be- 
standen, welche  Ähnlichkeiten  sich  finden  ließen 
und  welche  einzelnen  Teile  in  den  zu  vergleichenden 
Objekten  unmittelbar  aufeinander  zu  beziehen  waren. 
Dabei  wird  nun  von  Goethe  selbst  darauf  hin- 
gewiesen, daß  man  bei  Anwendung  der  vergleichen- 
den Betrachtungsweise  vorsichtig  darauf  achten 
müsse,  daß  die  Gebilde,  welche  man  miteinander 
vergleicht,  auch  vergleichbar  seien.  Dieser  Hin- 
weis war  um  so  notwendiger,  als  in  der  damaligen 
Zeit  oft  die  wildesten  Kombinationen  gemacht  und 
die  heterogensten  Dinge  miteinander  in  Beziehung 
gesetzt  wurden.  Linn^  selbst  hatte  gemeint,  den 
Pflanzenkeimling  mit  dem  tierischen  Embryo,  die 
Keimblätter  mit  der  Plazenta  vergleichen  zu  können, 
und  es  ließen  sich  noch  zahllose  Beispiele  derar- 
tiger Phantastereien  finden.  Dem  gegenüber  behielt 
Goethe  bei  seinen  Untersuchungen  den  festen  Boden 
stets  unter  den  Füßen,  denn  er  schritt  zur  Ver- 
gleichung  immer  erst  dann,  wenn  er  sich  vorher 
nach  dem  Prinzip  der  „Stetigkeit"  eine  vollständige 
kontinuierliche  Reihe  gebildet  hatte.  Dann  konnte 
er  ohne  weitere  Spekulation  durch  direkte  An- 
schauung erkennen,  welches  die  vergleichbaren 
Elemente  waren,  und  blieb  so  vor  allen  Trug- 
schlüssen bewahrt.  So  wird  es  deutlich,  wie  Goethe 
das  sorgfältigste  Detailstudium  zur  Voraussetzung 
seiner    schließlichen    Verallgemeinerungen    nehmen 


78  Vierte  Vorlesung. 

mußte,    und    wie    er   schrittweise    um    den   Erfolg 
rang. 

An  dieser  Stelle  wollen  wir  auch  gleich  eine 
Betrachtungsweise  erwähnen,  durch  welche  Goethe 
seiner  Zeit  um  viele  Jahrzehnte  vorausgeeilt  ist. 
Er  zog  nämlich  für  die  Ergründung  der  Formbil- 
dung nicht  nur  die  normalen  Formen  heran,  sondern 
stützte  sich  ganz  bewußt  und  eingehend  auch  auf 
die  abnormen  und  pathologischen  Gebilde.  Dieses 
Vorgehen,  welches  uns  heute  so  selbstverständlich 
erscheint,  war  für  jene  Zeit  durchaus  ungewöhn- 
lich. Man  nahm  damals  noch  an,  daß  die  krank- 
haften Zustände  gar  nichts  mit  den  normalen  zu 
tun  hätten,  daß  die  Krankheit  etwas  sei,  was  den 
normalen  Körper  von  außen  befalle,  und  daß  man 
daher  die  krankhaften  Prozesse  nicht  mit  den  nor- 
malen in  Verbindung  setzen  könne.  Erst  der  Ver- 
einigung von  Medizin  und  Naturwissenschaft  in  der 
ersten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts  ist  es  zu 
danken,  daß  diese  Anschauungen  beseitigt  worden 
sind.  Vor  allem  war  es  Rudolf  Virchow,  der  die 
neue  Erkenntnis  begründete.  Wir  sehen  heute  die 
krankhaften  Prozesse  als  Lebensäußerungen  des 
Patienten  an.  Wir  wissen,  daß  sie  in  vielen  Fällen 
die  Reaktion  des  Organismus  auf  abnorme  Be- 
dingungen darstellen,  welche  in  seinem  Innern  ent- 
stehen, oder  von  außen,  wie  die  Bakterien,  in  ihn 
eindringen.     Es   Ist   längst  Gemeingut   der   medi- 


Die  botanischen  Arbeiten  II.  79 

zinischen  Forschung  geworden,  daß  man  in  den 
krankhaften  Prozessen  sehr  oft  wichtige  Lebens- 
äußerungen des  Organismus  studieren  kann,  welche 
im  gesunden  Zustand  nur  schwer  zu  fassen  und  zu 
ergründen  sind.  Der  gesunde  Körper  zeigt  uns  die 
normalen  Leistungen,  der  kranke  Körper  in  vielen 
Fällen  dagegen  das,  was  der  Organismus  außerdem 
noch  zu  leisten  befähigt  ist,  und  so  ergänzen  sich 
die  Kenntnis  des  normalen  und  des  pathologischen 
erst  zu  dem  vollen  Bilde  der  gesamten  Lebens- 
äußerungen. Wir  sehen  nun  Goethe  genau  dieselben 
Überlegungen  für  seine  Pflanzenmetamorphose  an- 
stellen. Auch  er  ist  von  der  Überzeugung  durch- 
drungen, daß  man  in  jedem  Abnormen  die  normale 
Grundlage  erkennen  müsse,  und  so  zieht  er  die 
natürlich  vorkommenden  und  die  durch  Züchtung 
erzielten  Abnormitäten  in  den  Kreis  seiner  Betrach- 
tungen mit  hinein.  Sie  erinnern  sich,  daß  er  die 
gefüllten  Blumen,  die  durchgewachsene  Rose  und 
Nelke  und  anderes  hierher  gehörige  als  vollwertige 
Beweisstücke  in  die  Entwicklungsreihe  der  Pflanzen- 
form eingefügt  hat.  Das,  was  Goethe  als  regressive 
und  als  zufällige  Metamorphose  bezeichnet,  sind 
derartige  abnorme  und  pathologische  Zustände. 
Er  betrachtet  auf  diese  Weise  das  Normale  und 
das  Pathologische  gleichzeitig  und  ergänzt  die 
Kenntnis  des  einen  durch  die  des  andern.  Er  hat 
später,  als  er  diese  Studien  eingehender  fortsetzte, 


80  Vierte  Vorlesung. 

wiederholt  betont,  daß  man  aus  den  Mißbildungen 
der  Pflanzen  die  normalen  Grundlagen  oft  aufs 
allerschönste  erkennen  könne.  So  hat  er  auf  einem 
scheinbar  weit  abliegenden  Gebiete  grundlegende  An- 
schauungen auch  über  die  Pathologie  gewonnen. 

Goethes  Schrift  nennt  sich  einen  Versuch,  die 
Metamorphose  der  Pflanze  zu  erklären,  und  wir 
wollen  gleich  hier  bei  den  botanischen  Studien 
erörtern,  was  Goethe  darunter  verstanden  hat.  Das 
ist  um  so  nötiger,  als  wir  heutzutage  den  Begriff 
der  Metamorphose  sehr  viel  enger  fassen,  als  es 
damals  geschah.  Der  Dichter  hat  seine  zoologischen 
und  botanischen  Studien  unter  dem  Sammelbegriff 
der  Morphologie,  den  er  schuf,  zusammengefaßt,  und 
er  definierte  die  Morphologie  als  die  Lehre  von  der 
Bildung  und  Umbildung  organischer  Naturen.  Wir 
können  sagen,  daß  Goethe  unter  Metamorphose 
alles  das  verstanden  hat,  was  sich  auf  Umbildung 
organischer  Naturen  bezieht.  Diese  Bezeichnung 
war  der  damaligen  Zeit  durchaus  geläufig,  sie 
war  besonders  schon  von  Linn^  für  die  Beobach- 
tung der  Pflanzenform  angewendet  worden.  Linnö 
wollte  nämlich  das  Verständnis  der  Pflanze  dadurch 
fordern,  daß  er  ihr  Wachstum  mit  der  Metamorphose 
der  Insekten  verglich.  Es  sollte  die  Blüte  aus  ihrer 
Hülle  hervorbrechen,  wie  der  Schmetterling  aus  der 
Puppe,  und  demgemäß  hat  Linn^  die  Rinde  der 
Pflanze  direkt  mit  der  Larvenhülle  der  Insekten  ver- 


Die  botanischen  Arbeiten  II.  81 

glichen.  Die  Blüten  sollten  nach  ihm  aus  der  Rinde, 
speziell  die  Blumenkrone  aus  dem  Bast,  die  Staub- 
beutel aus  dem  Holz,  die  Narbe  aus  dem  Mark  des 
Stammes  hervorgehen.  Erst  wenn  man  sich  diese 
wilden  Phantasien  vergegenwärtigt,  sieht  man,  wel- 
chen großen  Fortschritt  Goethes  uns  heute  so  selbst- 
verständlich erscheinende  Metamorphosenlehre  be- 
deutet. Statt  unbegründeter  Vergleiche  ist  jetzt  ein 
auf  zahlreiche  Einzelbeobachtungen  gestütztes  Ver- 
ständnis möglich.  Auch  das  Ei  des  Columbus 
schien  nachher  den  Zuschauern  ein  selbstverständ- 
liches Experiment. 

Goethe  unterscheidet  nun  verschiedene  Formen 
der  Metamorphose  und  stellt  als  erste  die  succes- 
sive  Metamorphose  auf.  So  bezeichnet  er  diejenige 
Art  der  Umbildung,  die  wir  auch  heute  noch  Meta- 
morphose nennen:  die  Metamorphose  der  Insekten, 
der  Amphibien  u.  dgl.  Wenn  sich  die  Raupe  zur 
Puppe,  die  Puppe  zum  Schmetterling  umbildet,  wenn 
aus  dem  Froschei  die  Kaulquappe  und  aus  dieser 
der  ausgebildete  Frosch  entsteht,  so  sehen  wir,  wie 
successive  ein  und  dasselbe  Individuum  als  Ganzes 
sich  verwandelt  und  verschiedenartige  Gestalten  an- 
nimmt. Demgegenüber  unterscheidet  Goethe  eine 
zweite  Gruppe  von  Umbildungen  als  simultane  Meta- 
morphose und  begreift  darunter  Dinge,  welche  wir 
heute  nicht  mehr  mit  diesem  Ausdruck  bezeichnen. 
Er  gibt  in  seinen  Aufzeichnungen  dafür  die  Defini- 

Magnus,  Goethe  als  Naturforscher.  6 


82  Vierte  Vorlesung. 

tion:  „Simultane  Metamorphose,  indem  die  Teile 
sich  voneinander  unterscheiden."  Was  darunter  ver- 
standen wird,  möchte  ich  Ihnen  an  einem  einfachen 
Beispiel  klar  machen.  Betrachten  wir  einen  einfach 
gebauten  Wurm,  wie  z.  B.  den  Regenwurm,  und  sehen 
wir  dabei  zunächst  von  Kopf  und  Schwanzende  ab, 
so  finden  wir  den  Körper  zusammengesetzt  aus  einer 
Reihe  von  Ringen,  welche  aufeinander  folgend  den 
Wurmkörper  bilden  und  welche  bei  der  näheren 
Untersuchung  einander  so  gut  wie  vollkommen 
gleichen.  Jedes  einzelne  Teilstück  oder,  nach  der 
heutigen  Ausdrucksweise,  Metamere  besteht  aus 
einem  Muskelring,  in  dessen  Innerem  sich  das  zu- 
gehörige Nervensystem  und  die  übrigen  Organe  be- 
finden. Der  Regenwurm  ist  also  dadurch  ein  ein- 
fach gebautes  Tier,  daß  er  aus  einer  fortlaufenden 
Reihe  durchaus  gleichartig  zusammengesetzter  Teil- 
stücke besteht.  Ganz  anders  liegen  die  Verhältnisse, 
wenn  wir  zu  höheren  Tieren  fortschreiten.  Wir 
wollen  als  Beispiel  an  dieser  Stelle  ein  auch  von 
Goethe  mehrfach  angeführtes  und  studiertes  be- 
nutzen, nämlich  das  Rückgrat,  die  Wirbelsäule  eines 
Säugetieres.  Betrachten  wir  die  Wirbelsäule  eines 
Hundes,  Rindes  oder  Menschen,  so  finden  wir,  daß 
dieses  Organ  aus  einer  Reihe  von  gleichwertigen 
Teiistücken  besteht,  welche  alle  annähernd  nach 
demselben  Plan  gebaut  sind.  Sie  enthalten  einen 
Wirbelkörper,    Wirbelbogen    und    Wirbelfortsätze, 


Vertebrae  —  die  Wirbelbeine. 


Atlas 


Epislropheus 


des  Halses 


des  Rückens 


der  Lenden        « 


HK.  3. 
Wirbel  des  Menschen.  Talcl  aus  der  Mappe:  .Qoethes 
anatomische  Studien  in  Jena  hei  Lodcr  1781',  imOoethc- 
haus.  Vermutlich  benutzt  zu  Goethes  anatomischen 
VortrttKcn  an  der  Zcichcnakndcmic  in  Weimar.  Dazu 
Kchörl  ein  Blatt  UmrIUzcichnunKcn  mit  schriftlichen 
ErldutcrunKcn. 


Die  botanischen  Arbeiten  II.  83 

welche  zusammen  den  Rückenmarkskanal  um- 
schließen. Auch  hier  also  wie  beim  Regenwurm 
ein  Gebilde,  welches  aus  einer  fortlaufenden  Reihe 
von  Metameren  besteht.  Wenn  wir  aber  die  Teil- 
stücke genauer  betrachten,  so  finden  wir,  daß  sie 
im  einzelnen  außerordentlich  große  Verschieden- 
heiten aufweisen,  wie  ein  Blick  auf  nebenstehende 
Tafel  3  zeigt,  auf  der  Goethe  selbst  diese  Ver- 
hältnisse verdeutlicht  hat.  Die  zierlichen  Halswirbel 
sehen  vollständig  anders  aus  wie  die  plumpen  Lenden- 
wirbel. Die  Brustwirbel  mit  ihren  charakteristisch 
ausgebildeten  Dornfortsätzen  haben  eine  ganz  andere 
Form  als  die  einfache  Knochenspange  des  Atlas,  des 
ersten  Halswirbels.  Diese  Unterschiede  gehen  fort 
bis  ins  einzelne.  Goethe  selbst  hat  das  für  die 
Halswirbel  genauer  durchgeführt  und  eingehend  die 
Formunterschiede  vom  1.  bis  zum  7.  beschrieben 
Wir  sehen  also,  daß  bei  einem  Organ,  welches  aus 
gleichwertigen  Teilstücken  besteht,  diese  einzelnen 
Teile  sich  sehr  stark  voneinander  unterscheiden. 
Diese  Formunterschiede  oder  diese  Umbildung  der 
Wirbelform  von  einem  Metameren  zum  andern  be- 
zeichnet Goethe  als  simultane  Metamorphose. 
Wir  benutzen  heute  hierfür  den  Ausdruck  Differen- 
zierung. 

Welche  Stellung  nimmt  nun  die  Metamorphose 
der  Pflanzen  in  dieser  Einteilung  ein?  Goethe  selbst 
weist  ihr  eine  Mittelstellung  zwischen  der  succes- 

6* 


84  Vierte  Vorlesung. 

siven  und  simultanen  Metamorphose  zu.  Betrachtet 
man  die  ausgebildete  Pflanzenform,  so  findet  man 
die  einzelnen  Seitenorgane  der  Pflanze,  Blätter,  Blüte, 
Frucht  usw.,  voneinander  unterschieden:  simultane 
Metamorphose.  Wenn  man  aber  die  Pflanze  wachsen 
sieht,  so  entsteht  Knoten  für  Knoten  der  Reihe  nach, 
und  jeder  Knoten  läßt  ein  oder  mehrere  Seitenorgane 
hervorsprießen,  welche  in  immer  wechselnder  und 
immer  vollkommenerer  Weise  ausgebildet  werden. 
Die  einzelnen  Wirbel  der  Wirbelsäule  sind  gleich- 
zeitig da.  Die  einzelnen  Knoten  der  Pflanze  mit 
ihren  Seitenorganen  werden  nacheinander  ge- 
bildet. So  steht  die  Metamorphose  der  Pflanzen 
in  der  Mitte  zwischen  der  successiven  und  simul- 
tanen Metamorphose  und  enthält  die  Elemente  von 
beiden. 

Damit  ist  aber  der  Kreis  dessen,  was  Goethe 
unter  Umbildung  organischer  Naturen  zusammen- 
faßte, noch  nicht  erschöpft.  Es  kommt  als  drittes 
hinzu  die  Verschiedenheit  der  Form,  welche  sich  bei 
vergleichender  Betrachtung  der  einzelnen  Pflanzen- 
und  Tierarten  ergibt.  Oben  wurde  auseinander- 
gesetzt, daß  Goethe  die  Verschiedenheit  der  Pflanzen- 
und  Tierwelt  dadurch  anschaulich  und  untersuchbar 
machte,  daß  er  die  verschiedenen  Einzelformen  der 
Pflanzen-  und  Tierspezies  in  eine  vollständige  und 
kontinuierliche  Reihe  einordnete.  Der  Vergleich  ein- 
zelner charakteristischer  Vertreter  dieser  Reihe  ergibt 


Die  botanischen  Arbeiten  II.  85 

dann  natürlich  wesentliche  Formunterschiede,  eine 
Metamorphose  innerhalb  des  ganzen  Tier-  und 
Pflanzenreiches.  Die  Wissenschaft  von  diesen  Form- 
änderungen ist  die  vergleichende  Anatomie. 
Goethe  hat  als  das  eigentliche  Ziel  dieser  Wissen- 
schaft die  Aufstellung  einer  Grundform  angesehen, 
auf  welche  sich  alle  Einzelformen  zurückführen  lassen 
müssen.  Für  die  Pflanzenwelt  hat  Goethe  zunächst 
nach  einer  solchen  Urpflanze  wirklich  in  der  Natur 
gesucht,  dann  aber  erkannt,  daß  es  sich  nur  um 
ein  Schema  handeln  könne,  welche  man  kon- 
struieren, aber  nicht  tatsächlich  auffinden  müsse. 
Er  hat  danach  für  Pflanzen-  und  Tierreich  das  ge- 
sucht, was  er  einen  Typus  nannte,  eine  einfachste 
Grundform,  auf  die  sich  alle  tatsächlich  vorhandenen 
Formen  zurückführen  ließen,  und  er  redet  später 
direkt  von  der  Aufgabe,  einen  solchen  Typus  zu 
konstruieren.  Diese  dritte  Form  der  Metamor- 
phose von  Art  zu  Art  ist  also  eine  Betrachtungs- 
weise, welche  schließlich  den  großen  Formenkreis 
der  Tier-  und  Pflanzenwelt  in  den  Bereich  ihrer 
Forschung  zieht,  und  stellt  so  die  höchste  Verallge- 
meinerung von  Goethes  morphologischen  Forschun- 
gen dar. 

Diese  kurze  Einteilung  der  Metamorphosenlehre 
enthält  in  nuce  das  ganze  Programm  von  Goethes 
morphologischen  Forschungen.  Wir  haben  sie  an- 
geknüpft  an    eine    Diskussion    der    Pflanzenmeta- 


i 


86  Vierte  Vorlesung. 

morphose  und  werden  bei  den  folgenden  Be- 
sprechungen sehen,  wie  Goethe  dieses  Programm 
der  Reihe  nach  selbst  erfüllt  hat  und  wie  er  so  die 
Gesamtheit  des  organischen  Formenwesens  Schritt 
für  Schritt  in  den  Kreis  seiner  wissenschaftlichen 
Bemühungen  zog. 

Die  rein  morphologischen  Studien  bildeten  aber 
nur  einen,  wenn  auch  den  wesentlichsten  Teil  von 
Goethes  biologischen  Interessen.  Er  stellte  sich  nicht 
nur  die  Aufgabe,  in  das  Verständnis  der  Form  orga- 
nisierter Gebilde  einzudringen,  sondern  legte  sich 
auch  die  Frage  nach  den  Ursachen  der  Form- 
bildung vor.  Diese  Forschungen  haben  nach  Goethes 
Tod  lange  Zeit  geruht,  und  erst  in  den  letzten  Jahr- 
zehnten wendet  sich  ihnen  das  Interesse  der  Natur- 
forscher wieder  zu.  Die  ganze  Wissenschaft  der  Ent- 
wicklungsmechanik und  Entwicklungsphysiologie  ist 
jüngsten  Datums  und  deshalb  muten  Goethes  Aus- 
einandersetzungen über  diese  Fragen  den  Leser  als 
ganz  besonders  modern  an.  Er  unterscheidet  in  seinen 
botanischen  Studien  zwei  verschiedene  Gruppen  von 
Ursachen  der  Formbildung.  Die  einen  sind  äußere. 
Wir  haben  in  der  letzten  Vorlesung  schon  erfahren, 
daß  Goethe  den  äußeren  Bedingungen,  wie  Licht, 
Luft,  Klima,  Wärme,  Standort,  Bewässerung  und  vielen 
anderen,  einen  enpchiedenen  Einfluß  auf  die  Aus- 
bildung der  Pflanzenform  zuschrieb.  Er  stellte  dieses 
durch  Beobachtung  an  frei  in  der  Natur  wachsenden 


Die  botanischen  Arbeiten  II.  87 

Pflanzen  und  durch  die  verschiedenartigsten  Experi- 
mente fest,  welche  in  der  Folgezeit  noch  vielfach 
fortgesetzt  wurden,  und  kam  so  zu  seiner  Über- 
zeugung, daß  die  Pflanzenformen  von  diesen  äußeren 
Umständen  besonders  in  der  Weise  abhängig  seien, 
daß  die  Ausbildung  der  ganzen  Pflanze  durch  sie 
bedingt  wäre.  Er  nahm  also  die  Wirksamkeit 
äußerer  formativer  Reize  an.  Demgegenüber  fand 
er  nun  noch  eine  zweite  Gruppe  von  Faktoren  von 
entschiedenem  Einfluß  auf  die  Pflanzenform.  Er 
bezog  die  verschiedene  Gestaltung  der  Seitenorgane 
bei  ein  und  derselben  Pflanze  auf  innere  Ursachen; 
wenn  ein  Gewächs  zuerst  unvollkommene,  dann  immer 
vollkommenere  Laubblätter  hervorbringt,  wenn  dann 
nach  diesen  die  zarteren  Kelch-  und  Blumenblätter 
und  darauf  die  Befruchtungswerkzeuge  entstehen, 
so  nahm  Goethe,  wie  Sie  sich  erinnern,  an,  daß 
mit  dem  Pflanzenwachstum  die  Säfte  allmählich  in 
den  Gefäßen  des  Stammes  immer  feiner  destilliert 
würden,  und  daß  diese  verfeinerten  Säfte  in  den 
höheren  Pflanzenteilen  Ursache  für  die  Bildung  der 
zarteren  Seitenorgane  (Blüte  und  Frucht)  seien.  Diese 
Hypothese  ist  von  prinzipieller  und  fundamentaler 
Wichtigkeit,  denn  sie  enthält  die  Vorstellung,  daß 
im  Stoffwechsel  der  Pflanzen  chemische  Substanzen 
gebildet  werden  können,  welche  an  den  Ort  ge- 
langen, wo  die  Seitenorgane  ausgebildet  werden  und 
welche  hier  deren  Formgebung  in  entscheidender 


88  Vierte  Vorlesung. 

Weise  beeinflussen.  Es  werden  also  den  äußeren 
formativen  Reizen  innere,  und  zwar  chemische  gegen- 
übergestellt; die  äußeren  Reize  beeinflussen  die  Ge- 
samtform der  Pflanze,  die  inneren  bedingen  die 
spezielle  Ausbildung  ihrer  Organe.  Durch  diese  An- 
schauung entwicklungsphysiologischer  Art  hat  Goethe 
sich  zu  Problemen  erhoben,  welche  fast  100  Jahre 
später  erst  wieder  aufgenommen  worden  sind.  Es 
ist  dabei  von  Interesse,  daß  ungefähr  gleichzeitig  und 
wahrscheinlich  unabhängig  der  Göttinger  Anatom 
Blumenbach,  wie  von  Driesch  in  letzter  Zeit  betont 
worden  ist,  ebenfalls  entwicklungsphysiologische  Be- 
trachtungen und  Experimente  angestellt  hat.  Hier- 
mit wollen  wir  diesen  Gegenstand  verlassen  und 
weitere  formphysiologische  Ermittlungen  Goethes  erst 
berühren,  wenn  wir  die  zoologischen  Arbeiten  näher 
gewürdigt  haben. 

Wir  müssen  aber  an  dieser  Stelle  noch  eine 
andre  Frage  streifen,  welche  von  Goethe  selbst  auf- 
geworfen und  zu  verschiedenen  Zeiten  seines  Lebens 
verschieden  beantwortet  worden  ist  Es  handelt 
sich  um  die  erkenntnistheoretische  Grundlage  der 
Metamorphosenlehre.  Wir  werden  auf  diesem  Wege 
auch  gleich  einen  tiefen  Einblick  in  die  persönliche 
Denkweise  des  Naturforschers  Goethe  tun.  Als 
Ausgang  benutzen  wir  die  viel  citierte  Scene 
seines  ersten  näheren  Zusammentreffens  mit  Schiller. 
Er  hat  auf   diesen  Moment   seines  Lebens   selbst 


Die  botanischen  Arbeiten  II.  89 

solchen  Wert  gelegt,  daß  er  ihn  uns  an  mehreren 
Stellen  seiner  Werke  und  auch  in  seinen  natur- 
wissenschaftlichen Schriften  schildert.  Er  erwähnt, 
daß  Schiller  ihm  anfangs  durchaus  unsympatisch  ge- 
wesen und  daß  er  einer  Berührung  mit  ihm  sorg- 
fältig aus  dem  Wege  gegangen  sei.  Schillers  Dramen, 
die  Räuber,  Fiesko,  selbst  noch  Don  Carlos,  vom 
Publikum  mit  Begeisterung  aufgenommen,  schienen 
Goethes  abgeklärter  Denkart  nur  ein  Rückfall  in 
Stadien  zu  sein,  die  er  selbst  in  der  Götz-  und 
Wertherepoche  überwunden  hatte.  Schiller  hatte  sich 
dann  weiter  dem  Studium  der  Kantschen  Philosophie 
zugewendet  und  in  seinem  Aufsatz  über  Anmut  und 
Würde  auch  die  Stellung  des  Menschen  zur  Natur 
berührt.  Bei  dieser  Gegenüberstellung  war  nun  die 
Natur  nicht  gerade  gut  weggekommen  und  für  Goethe, 
der  die  Stellung  des  Menschen  in  der  Natur  be- 
tonte, war  die  Schillersche  Betrachtungsweise  keines- 
wegs anziehend.  „Gewisse  harte  Stellen  sogar  konnte 
ich",  so  schreibt  Goethe  später,  „direkt  auf  mich 
deuten,  sie  zeigten  mein  Glaubensbekenntnis  in  einem 
falschen  Lichte;  dabei  fühlte  ich,  es  sei  noch  schlimmer, 
wenn  es  ohne  Beziehung  auf  mich  gesagt  worden; 
denn  die  ungeheuere  Kluft  zwischen  unseren  Denk- 
weisen klaffte  nur  desto  entschiedener.  —  An  keine 
Vereinigung  war  zu  denken.  .  .  .  Niemand  konnte 
leugnen,  daß  zwischen  zwei  Geistesantipoden  mehr 
als  Ein  Erddiameter  die  Scheidung  mache,  da  sie 


90  Vierte  Vorlnsung. 

denn  beiderseits  als  Pole  gelten  mögen,  aber  eben 
deswegen  in  Eins  nicht  zusammenfallen  können.  Daß 
aber  doch  ein  Bezug  unter  ihnen  stattfinde,  erhellt 
aus  Folgendem.  Schiller  zog  nach  Jena,  wo  ich  ihn 
ebenfalls  nicht  sah.  Zu  gleicher  Zeit  hatte  Batsch 
durch  unglaubliche  Regsamkeit  eine  naturforschende 
Gesellschaft  in  Tätigkeit  gesetzt,  auf  schöne  Samm- 
lungen, auf  bedeutenden  Apparat  gegründet.  Ihren 
periodischen  Sitzungen  wohnte  ich  gewöhnlich  bei; 
einstmals  fand  ich  Schillern  daselbst,  wir  gingen  zu- 
fällig beide  zugleich  heraus,  ein  Gespräch  knüpfte 
sich  an,  er  schien  an  dem  Vorgetragenen  teilzu- 
nehmen, bemerkte  aber  sehr  verständig  und  einsich- 
tig und  mir  sehr  willkommen,  wie  eine  so  zerstückelte 
Art,  die  Natur  zu  behandeln,  den  Laien,  der  sich  gern 
darauf  einließe,  keineswegs  anmuten  könne.  —  Ich 
erwiderte  darauf,  daß  sie  den  Eingeweihten  selbst 
vielleicht  unheimlich  bleibe,  und  daß  es  doch  wohl 
noch  eine  andre  Weise  geben  könne,  die  Natur  nicht 
gesondert  und  vereinzelt  vorzunehmen,  sondern  sie 
wirkend  und  lebendig,  aus  dem  Ganzen  in  die  Teile 
strebend,  darzustellen.  Er  wünschte  hierüber  auf- 
geklärt zu  sein,  verbarg  aber  seine  Zweifel  nicht; 
er  konnte  nicht  eingestehen,  daß  ein  solches,  wie 
ich  behauptete,  schon  aus  der  Erfahrung  hervor- 
gehe. —  Wir  gelangten  zu  seinem  Hause,  das  Ge- 
spräch lockte  mich  hinein;  da  trug  ich  die  Meta- 
moiphose  der  Pflanzen  lebhaft  vor,  und  ließ,  mit 


I 


Die  botanischen  Arbeiten  II.  91 

manchen  charakteristischen  Federstrichen,  eine  sym- 
bolische Pflanze  vor  seinen  Augen  entstehen.  Er 
vernahm  und  schaute  das  alles  mit  großer  Teilnahme, 
mit  entschiedener  Fassungskraft;  als  ich  aber  ge- 
endet, schüttelte  er  den  Kopf  und  sagte:  „Das  ist 
keine  Erfahrung,  das  ist  eine  Idee."  Ich  stutzte, 
verdrießlich  einigermaßen;  denn  der  Punkt,  der  uns 
trennte,  war  dadurch  aufs  strengste  bezeichnet.  Die 
Behauptung  aus  Anmut  und  Würde  fiel  mir  wieder 
ein,  der  alte  Groll  wollte  sich  regen;  ich  nahm  mich 
aber  zusammen  und  versetzte:  „Das  kann  mir  sehr 
lieb  sein,  daß  ich  Ideen  habe,  ohne  es  zu  wissen, 
und  sie  sogar  mit  Augen  sehe"." 

Schärfer  konnte  der  Gegensatz  der  beiden  Männer 
nicht  veranschaulicht  werden  als  in  diesen  drama- 
tischen Sätzen,  und  Goethe  konnte  in  der  Tat  auch 
nicht  schärfer  getroffen  werden,  als  durch  Schillers 
kurzen  Einwand,  durch  den  er  beinahe  zu  sofortigem 
Abbruch  des  Gesprächs  veranlaßt  wurde.  Goethe 
hatte  bis  dahin  seine  Naturstudien  tatsächlich  „mit 
unbewußter  Naivetät"  betrieben,  vertraute  auf  seine 
gesunden  fünf  Sinne,  glaubte,  daß  alle  seine  Re- 
sultate durch  reine  Erfahrung  gewonnen  worden 
seien  und  unterschätzte  die  Denkoperationen,  die 
zu  ihrer  Erreichung  notwendig  gewesen  waren.  Sein 
Realismus  war  ja  noch  vor  wenigen  Jahren  so  weit 
gegangen,  daß  er  versucht  hatte,  die  Urpflanze  als 
tatsächlich  vorhanden  in  der  Natur  aufzufinden.  Hier 


92  •         Vierte  Vorlesung. 

wurde  er  durch  Schiller  aus  seiner  Betrachtungs- 
weise unsanft  aufgerüttelt.  Um  was  es  sich  dabei 
handelt,  werden  Sie  gleich  noch  deutlicher  verstehen 
lernen,  wenn  Sie  sich  klar  machen,  wie  überhaupt 
menschliche  Erkenntnisse  zustande  kommen.  Be- 
denken Sie,  wie  ein  kleines  Kind  zuerst  Sinnes- 
eindrücke empfängt  und  danach  Erfahrungen  sam- 
melt Sobald  es  überhaupt  einigermaßen  bewußt 
sehen  gelernt  hat,  bemächtigt  es  sich  der  Objekte 
der  Außenwelt  mit  lebhaftestem  Interesse.  Jeder 
Gegenstand,  den  es  sieht,  ist  eine  neue  Erscheinung. 
Der  blattlose  Baum  im  Winter,  derselbe  Baum  im 
Laubschmuck  des  Sommers,  eine  blühende  Kastanie, 
eine  aufragende  Fichte,  ein  Baum,  der  vor  dem 
blauen  Himmel  steht,  ein  andrer  im  Dickicht  des 
Gebüschs,  alle  diese  Bäume  werden  zunächst  für 
unser  Kind  ebensoviele  unzusammenhängende  Einzel- 
erscheinungen sein.  Jedesmal,  wenn  es  einen  neuen 
Baum  sieht,  macht  es  eine  neue  Erfahrung.  Nach 
kurzer  Zeit  aber  wird  das  Kind,  natürlich  völlig 
unbewußt,  beginnen,  alle  diese  verschiedenen  Ein- 
drflcke  einheitlich  zusammenzufassen.  Durch  fort- 
gesetzte äußere  Einflüsse  und  belehrt  durch  den 
Zwang  der  begriffsbildcnden  Sprache  wird  es  schließ- 
lich das  allen  diesen  Formen  Gemeinsame  erkennen 
und  80  den  Begriff  Baum  bilden.  In  der  Er- 
scheinung sind  dem  Kind  nur  die  einzelnen  Elemente 
jedes  einzelnen  Baumes  gegeben.    Um  aus  diesen 


Die  botanischen  Arbeiten  II.  93 

den  zusammenfassenden  Begriff  Baum  zu  bilden 
und  unter  diesem  Begriff  (Idee)  nun  alle  Einzel- 
erscheinungen der  Bäume  zu  subsummieren,  dazu 
bedarf  es  der  Denkoperation  des  Kindes.  Ganz 
dasselbe  vollführt  nun  Goethe  bei  seinem  Studium 
der  Pflanzenform.  Auch  er  müht  sich  redlich  10  Jahre 
lang,  die  Einzelerscheinungen  der  verschiedenen  Pflan- 
zen zu  studieren.  Dann  erst  beginnt  der  Versuch,  alle 
diese  Erfahrungen  einheitlich  zusammenzufassen.  Daß 
dieses  letztere  eine  reine  Denkoperation  sei,  warGoethe 
damals  noch  nicht  klar  und  auch,  nachdem  er  die  Ur- 
pflanze  nicht  mehr  in  der  Natur  suchte,  glaubte  er, 
die  Pflanzenmetamorphose  mit  Augen  sehen  und  mit 
Händen  greifen  zu  können.  Er  wurde  erst  jetzt  durch 
Schiller  darauf  hingewiesen  und  erkannte  es  allmäh- 
lich immer  klarer,  daß  sein  Gesetz  der  Pflanzen- 
metamorphose allerdings  von  der  Erfahrung  ausgehe, 
daß  aber  der  Begriff  der  Urpflanze  daraus  durch  eine 
Denkoperation  abstrahiert,  daß  der  von  ihm  ermittelte 
Zusammenhang  aller  Pflanzen  daher  ein  ideeller 
sei.  So  liegt  die  Wahrheit  auch  in  diesem  Fall  in  der 
Mitte.  Erst  durch  das  Zusammenwirken  der  von 
Goethe  allein  betonten  Erfahrung  und  der  von  Schiller 
in  den  Vordergrund  gestellten  Idee  ist  ein  Resultat 
von  solcher  wissenschaftlichen  Tragweite  wie  Goethes 
Metamorphosenlehre  möglich  geworden.  Er  fand 
allerdings  immer  noch  „die  Schwierigkeit,  Idee  und 
Erfahrung  miteinander  zu  verbinden,  sehr  hinderlich 


94  Vierte  Vorlesung. 

bei  aller  Naturforschung:  die  Idee  ist  unabhängig 
von  Raum  und  Zeit,  die  Naturforschung  ist  in  Raum 
und  Zeit  beschränkt;  daher  ist  in  der  Idee  Simul- 
tanes und  Successives  innigst  verbunden,  auf  dem 
Standpunkt  der  Erfahrung  hingegen  immer  getrennt, 
und  eine  Naturwirkung,  die  wir  der  Idee  gemäß  als 
simultan  und  successiv  zugleich  denken  sollen,  scheint 
uns  in  eine  Art  Wahnsinn  zu  versetzen.  Der  Verstand 
kann  nicht  vereinigt  denken,  was  die  Sinnlichkeit 
ihm  gesondert  überliefert,  und  so  bleibt  der  Wider- 
streit zwischen  Aufgefaßtem  und  Ideirtem  immer- 
fort unaufgelöst*.  Daß  Goethe  sich  später  selbst  rück- 
haltlos auf  Schillers  Standpunkt  gestellt  hat,  sieht 
man  aus  den  Worten,  die  er  1817  in  der  Einleitung 
zu  seinen  morphologischen  Heften  schrieb:  „Daß 
das,  was  der  Idee  nach  gleich  ist,  in  der  Erfahrung 
entweder  als  gleich  oder  als  ähnlich,  ja  sogar  als 
völlig  ungleich  oder  unähnlich  erscheinen  kann, 
darin  besteht  eigentlich  das  bewegliche  Leben  der 
Natur,  das  wir  in  unsern  Blättern  zu  entwerfen  ge- 
denken." Die  Urpflanze  ist  jetzt  für  Goethe  das 
Schema  oder,  wie  er  es  später  nannte,  der  Typus 
geworden,  auf  den  sich  alle  Pflanzenformen  durch 
Vergleichung  zurückführen  lassen.  Sie  ist  der  allen 
Pflanzen  gemeinsame  Bauplan. 


Gleich  nach  Vollendung  des  Manuskripts  über 
die  Pfianzenmetamorphosc  traten  Goethe  Schwierig- 


Die  botanischen  Arbeiten  II.  95 

keiten  entgegen.  Sein  Verleger  Göschen,  bei  dem 
die  früheren  Werke  erschienen  waren,  lehnte  den 
Verlag  ab,  und  erst  nach  Überwindung  mehrfacher 
Hemmnisse  konnte  das  Werk  bei  Ettinger  in  Gotha 
erscheinen.  Das  war  nur  das  Vorspiel  für  die  Auf- 
nahme, welche  die  Arbeit  im  Publikum  fand.  Daß 
ein  Dichter  etwas  anderes  veröffentlichen  könne,  wie 
seine  poetischen  Werke,  wollte  der  damaligen  ge- 
bildeten Welt  nicht  in  den  Kopf.  Man  stellte  sich 
dem  Versuche  Goethes  gegenüber  auf  den  Stand- 
punkt „Schuster,  bleibe  bei  deinem  Leisten",  und 
so  hatte  er  fast  nur  Ärger.  Dazu  kam  nun  die 
ziemlich  einmütige  Ablehnung,  die  seine  Metamor- 
phosenlehre bei  den  Fachgelehrten  fand.  Diese 
standen  damals  fast  allgemein  auf  dem  Standpunkt 
der  sog.  Präformationslehre.  Es  wurde  alles  Wachs- 
tum und  alle  Entwicklung  dadurch  verständlich  zu 
machen  gesucht,  daß  man  annahm,  jeder  Keim 
enthalte  alle  Organe  und  Formen,  die  aus  ihm 
später  hervorwüchsen,  schon  im  kleinsten  Maß- 
stabe in  sich  eingeschlossen.  Die  ganze  spätere 
Pflanze  sollte  schon  in  dem  Samen  stecken  und 
bei  der  Keimung  weiter  nichts  stattfinden,  als  ein 
Auswachsen  dieser  kleinen  Anlage.  Auch  die  Ei- 
zelle sollte  das  ganze  spätere  Tier  mit  allen  seinen 
Organen  gewissermaßen  eingeschachtelt  enthalten. 
Dieses  damals  herrschende  Dogma  trat  ihm  besonders 
1792    bei    dem    schon    geschilderten  Besuche  auf 


96  Vierte  Vorlesung. 

dem  Jacobischen  Gute  in  Pempelfort  entgegen,  wo 
er  der  starren  Vorstellungsart  begegnete:  „Nichts 
könne  werden,  als  was  schon  sei"  oder  wie  Albrecht 
V.  Haller  dieses  Dogma  formuliert  hatte:  „nil  noviter 
generari".  Goethes  Metamorphosenlehre  stand  natür- 
lich in  schneidendem  Gegensatz  zu  einer  solchen 
Anschauung,  da  sie  die  Umbildung  organischer  Teile 
zum  Gesetz  erhob,  während  die  Präformationstheorie 
die  Unveränderlichkeit  der  sich  entwickelnden  Ge- 
bilde lehrte.  So  dauerte  es  Jahre  und  Jahrzehnte, 
bis  die  langersehnte  Anerkennung  wissenschaftlicher 
Kreise  unserm  Dichter  zu  Teil  wurde. 

In  den  folgenden  Jahren  sammelte  nun  Goethe 
weiteres  wissenschaftliches  Material  zu  einem  zweiten 
Aufsatz  über  die  Pflanzenmetamorphose.  Von  diesem 
ist  aber  nur  der  Anfang  erhalten.  Veröffentlicht 
wurde  er  nie.  Dagegen  begann  Goethe  in  der  Mitte 
der  90  er  Jahre  wieder  in  ausgedehnterem  Maße  an 
Pflanzen  zu  experimentieren.  Wieder  sind  es  die 
Bedingungen,  welche  die  Formbildung  der  Pflanzen 
beeinflussen  und  verursachen  können,  die  ihn  inter- 
essieren. So  läßt  er  Kressen-  und  Bohnensamen 
im  Licht,  im  Dunkeln,  unter  gelben,  blauen  und  vio- 
letten Gläsern  keimen  und  führt  täglich  genaue  uns 
erhaltene  Versuchsprotokolle,  in  denen  er  die  Länge 
der  Wurzeln,  der  Stengel  usw.  nach  sorgfältigen 
Messungen  registriert.  Er  beschäftigt  sich  dabei  unter 
anderm   auch   mit  einem  Vorgang,  der  bis   in  die 


Die  botanischen  Arbeiten  IL  97 

jüngste  Zeit  hinein  das  Interesse  der  Pflanzenphysio- 
logen erregt:  das  Etiolement.  Darunter  versteht  man 
die  Erscheinungen,  welche  an  Pflanzen  auftreten,  wenn 
sie  im  Dunkeln  auskeimen.  Es  wird  dann  der  grüne 
Farbstoff  nicht  gebildet  und  die  blassen  Keimlinge 
zeigen  ein  ganz  exzessives  Längenwachstum,  gleich- 
sam als  wollte  die  Pflanze  möglichst  in  die  Höhe 
streben,  um  der  Dunkelheit  zu  entrinnen.  Dieser  Vor- 
gang ist  nun  keineswegs  etwa  von  Goethe  entdeckt 
worden;  schon  1700  hat  Senebier  Untersuchungen 
darüber  angestellt.  Aber  das  Studium  hatte  unter 
dem  Druck  von  Linnes  Autorität  geruht  und  erst 
10  Jahre  nach  den  geschilderten  Goetheschen  Ver- 
suchen hat  der  berühmte  französische  Botaniker 
de  Candolle  wieder  eine  Arbeit  über  den  Gegen- 
stand veröffentlicht.  Goethe  machte  dann  ferner  an 
einer  Pflanze,  die  ihn  auch  in  andrer  Hinsicht  inter- 
essierte, Bryophyllum  calycinum,  Beobachtungen  über 
den  Vorgang,  den  man  heute  als  Heliotropismus  be- 
zeichnet. Er  stellte  fest,  daß  diese  Pflanze,  wenn  sie 
im  Zimmer  gezogen  wird,  sich  immer  gegen  das 
Licht  hin  krümmt,  und  machte  nun  den  Versuch, 
diese  heliotropische  Reaktion  dadurch  zu  über- 
winden, daß  er  jedes  Mal,  wenn  die  Pflanze  anfing, 
sich  zu  krümmen,  den  Blumentopf  drehte.  Auf  diese 
Weise  gelang  es  ihm,  ein  gerades  Wachstum 
zu  erzielen.  In  dieselbe  Zeit  fallen  auch  Versuche 
festzustellen,  wie  weit  Pflanzen  nach  Verletzungen 

Magnus,  Goethe  als  Naturforscher.  7 


gß  Vierte  Vorlesung. 

noch  wachstumsfähig  bleiben.  Er  beobachtete,  ob 
nach  Entfernung  der  Keimblätter  noch  eine  weitere 
Entwicklung  möglich  sei,  wie  die  Pflanzen  es  ver- 
tragen, wenn  alle  Laubblätter  entfernt  werden,  und 
was  aus  Blüten  wird,  die  des  Kelches  beraubt  sind. 
Auch  der  Einfluß  der  Ernährung  auf  die  Blüten- 
bildung der  Gewächse  wird  von  neuem  wieder 
studiert  und  es  gelingt  ihm,  durch  Überernährung 
das  Blühen  seiner  Versuchspflanzen  zu  verhindern. 
An  diese  Versuche  schließt  sich  nun  der  Plan, 
eine  Pflanzenphysiologie  zu  schreiben.  Auch  von 
diesen  Bemühungen  sind  nur  die  Entwürfe  vor- 
handen, aus  denen  sich  aber  wenigstens  so  viel  er- 
sehen läßt,  daß  Goethe  allerdings  die  sämtlichen 
Lebensäußerungen  der  Pflanze  mit  berücksichtigen 
wollte,  daß  aber  das,  was  ihn  am  meisten  dabei 
interessierte,  die  Physiologie  der  Formbildung  ge- 
wesen ist.  So  stellt  sich  die  Pflanzenphysiologie 
seinen  morphologischen  Bestrebungen  parallel  gegen- 
über, und  es  ist  als  ein  großer  Verlust  zu  bezeich- 
nen, daß  er  nie  etwas  Zusammenfassendes  über 
seine  pflanzenphysiologischen  Vorstellungen  publi- 
ziert hat. 

Im  Jahre  1812  veröffentlichte  der  Hallenser  Ana- 
tom und  Physiologe  Meckel  die  deutsche  Über- 
setzung einer  zu  ihrer  Zeit  völlig  unbeachtet  ge- 
bliebenen lateinischen  Abhandlung  von  Caspar 
Friedrich  Wolff  aus  dem  Jahre  1768:  „De  formatione 


Die  botanischen  Arbeiten  II.  99 

intestinorum".  Diese  Schrift,  ebenso  wie  die  berühmte 
„Theoria  generationis"  von  1759  war  in  bezug  auf 
das  Pflanzenwachstum  zu  ganz  identischen  Resul- 
taten wie  Goethe  gekommen.  Letzterer,  der  auf 
Wolffs  Schriften  schon  bald  nach  Veröffentlichung 
seiner  eigenen  Pflanzenmetamorphose  durch  den 
Philologen  F.  A.  Wolf  aufmerksam  gemacht  wurde 
und  sie  besonders  1807  genauer  studiert  hatte,  er- 
kannte die  Wichtigkeit  dieser  Abhandlung  sofort 
und  unumwunden  an  und  nahm  in  seine  morpho- 
logischen Hefte  ein  eigenes  Kapitel  „Entdeckung 
eines  trefflichen  Vorarbeiters"  auf,  in  welchem  er 
die  einschlägigen  Stellen  aus  Wolffs  Arbeit  z.  T. 
wörtlich  abdruckte.  Daraus  ergibt  sich  nun,  daß 
Wolff  tatsächlich  fast  genau  dieselben  Vorstellungen 
entwickelt  hatte.  Auch  er  führt  alle  Seitenorgane 
der  Pflanze  auf  das  Blatt  zurück.  Bei  der  Beweis- 
führung für  diesen  Satz  ist  Wolff  aber  noch  einen 
Schritt  weiter  gegangen  als  Goethe.  Er  studierte 
nämlich  die  Form  und  Entwicklung  der  ersten  An- 
lage aller  Blätter  und  Seitenorgane  mikroskopisch 
und  konnte  so  feststellen,  daß  alle  diese  Gebilde 
tatsächlich  ursprünglich  aus  gleichen  Anlagen  her- 
vorgehen. Nur  in  einem  Punkt  wich  Goethe  von 
Wolff  ab.  Dieser  hatte  die  Blüte  als  eine  Verküm- 
merung der  Blattbildung  aufgefaßt.  Das  mußte  Goethe 
durchaus  unsympathisch  sein.  Er  sah  in  der  Blüte 
vielmehr  die  höchste  Entfaltung  des  Pflanzenwachs- 

7* 


100  Vierte  Voiiesung. 

tums.  Dagegen  waren  beide  darin  Gesinnungs- 
genossen, daß  sie  aufs  schärfste  die  Präformations- 
iehre  bekämpften. 

In  diesen  und  den  folgenden  Jahren  begann  nun 
Goethes  Metamorphosenlehre  allmählich  immer  mehr 
durchzudringen.  Es  kamen  eine  Reihe  von  günstigen 
Rezensionen  in  wissenschaftlichen  Zeitschriften.  Die 
Lehre  wurde  mehr  und  mehr  von  den  Fachleuten 
citiert  Schließlich  gelangte  sie  zu  völliger  An- 
erkennung und  ging  in  den  festen  Besitzstand  der 
wissenschaftlichen  Botanik  über.  Goethe  selbst  ver- 
folgte in  diesen  Jahren  hauptsächlich  die  laufende 
Literatur  und  machte  sich  sorgfältige  Auszüge  von 
allem,  was  auf  seine  Metamorphosenlehre  Bezug 
hatte.  Alle  diese  Bestätigungen  und  Fortbildungen 
hat  er  dann  anhangsweise  seiner  eigenen  Abhand- 
lung über  die  Pflanzenmetamorphose  beigefügt  und 
so  sind  sie  in  die  Ausgabe  letzter  Hand  über- 
gegangen. Besonders  eingehend  studiert  und  be- 
rücksichtigt er  dabei  Jägers  Werk  über  die  Miß- 
bildungen der  Gewächse.  Seinen  Exzerpten  fügt 
er  hier  zahlreiche  eigene  Beobachtungen  bei  und 
betont  dabei  nochmals  nachdrücklichst  die  normale 
Grundlage  alles  Pathologischen.  Dabei  wird  die 
Frage  diskutiert,  wie  weit  diese  Abnormitäten  auf 
veranlassende  Außenbedingungen  zurückgeführt  wer- 
den können. 

So  kommt  es  schließlich  zum  endgültigen  Sieg 


Die  botanischen  Arbeiten  II.  101 

von  Goethes  Ideen.  Die  führenden  Botaniker  der 
damaligen  Zeit  ericennen  ihn  rückhaltlos  an.  Mit 
Alexander  v.  Humboldt  werden  Gedanken  und 
Werke  ausgetauscht.  Der  damals  höchst  geschätzte 
Nees  van  Esenbeck  in  Bonn,  Präsident  der  Leopol- 
dinisch-karolinischen  Akademie  der  Naturforscher, 
dem  man  heute  wegen  zahlreicher  naturphiloso- 
phischer Verirrungen  keine  so  hervorragende  Stel- 
lung mehr  einräumt,  steht  in  engstem  brieflichen 
Verkehr  mit  Weimar,  und  ebenso  ist  der  Münchner 
Botaniker  v.  Martins  mit  Goethe  in  wissenschaft- 
lichem Briefwechsel  und  persönlichem  Gedanken- 
austausch. Kurz  vor  Goethes  Tode  legt  dann 
Geoffroy  St.  Hilaire  der  französischen  Akademie  eine 
von  Soret  gefertigte  Übersetzung  der  Pflanzenmeta- 
morphose vor  und  setzt  in  schönen  Worten  die 
grundlegende  Bedeutung  dieses  Werkes  an  der  da- 
maligen wissenschaftlichen  Zentralstelle  auseinander. 
Nur  ein  Irrtum  liege  der  Abhandlung  zugrunde,  daß 
sie  fast  ein  halbes  Jahrhundert  zu  früh  erschienen 
sei,  ehe  es  noch  Botaniker  gab,  die  sie  zu  studieren 
und  verstehen  fähig  waren. 

Im  Auslande  fielen  Goethes  Ideen  überhaupt 
auf  fruchtbaren  Boden.  Jussieu,  de  Candolle,  Robert 
Brown  entwickelten  zum  Teil  ganz  ähnliche  Vorstel- 
lungen. Die  deutschen  Botaniker  ergaben  sich  da- 
gegen vielfach  naturphilosophischen  Spekulationen. 
Als  nun  Schieiden,  Sachs  und   andere  mit  diesen 


102  Vierte  Vorlesung. 

Lehren  gründlich  aufräumten,  ziehen  sie  auch  Goethe 
solcher  Verirrungen  und  machten  ihn  für  die  Fehler 
seiner  Nachfolger  verantwortlich.  Erst  in  der  letzten 
Zeit  dringt  auch  in  den  Kreisen  der  Botaniker  die 
volle  Würdigung  von  Goethes  wissenschaftlicher 
Leistung  immer  mehr  durch. 

Goethe  selbst  hat  in  den  späteren  Jahren  seines 
Lebens  nur  noch  kleinere  botanische  Aufsätze  ver- 
faßt Er  schrieb  Recensionen  über  Humboldts  Ideen 
zu  einer  Physiognomie  der  Gewächse,  über  eine 
graphische  Darstellung  der  Verteilung  organischen 
Lebens  in  der  Natur  vonWilbrand  und  Ritgen  u.a.  Er 
veröffentlichte  einen  Aufsatz  über  den  hamburgischen 
Rektor  Joachim  Jungius,  1587 — 1657,  der  nicht,  wie 
behauptet  wurde,  die  Metamorphose  entdeckt  hat, 
sondern  vielmehr  ein  Vorläufer  Linn^s  gewesen  ist 
Er  übersetzte  einige  wichtige  Stellen  aus  dem  Werke 
des  berühmten  de  Candolle:  „Von  dem  Gesetzlichen 
der  Pflanzenbildung",  und  schrieb  einen  Aufsatz  über 
den  Weinbau,  in  dem  er,  im  Anschluß  an  ein  Buch 
von  Kecht,  den  Knoten  des  Weinstockes  mit  Blatt, 
Blüte,  Traube  und  Ranke  vom  Standpunkt  seiner 
Metamorphose  aus  betrachtet 

Die  letzte  botanische  Schrift  Goethes  ist  die 
viel  umstrittene  Abhandlung  über  die  Spiraltcndenz 
der  Vegetation,  welche  er  1829  —  31  verfaßt  hat 
Damals  hatten  der  Botaniker  Schimper  und  weiter 
v.  Martius  in  München  und  dessen  Schüler  Alexander 


Die  botanischen  Arbeiten  II.  103 

Braun  eine  Reihe  von  Arbeiten  veröffentlicht,  in 
denen  einfache  Gesetze  über  die  Blattstellung  der 
Pflanze  aufgestellt  wurden.  Man  fand,  daß  bei  ein- 
zelnen Pflanzen  die  Blätter  in  spiraliger  Anordnung 
um  den  Stamm  oder  Stengel  gestellt  sind,  gerade 
so  wie  auch  die  Schuppen  eines  Tannzapfens  eine 
durchaus  regelmäßige  Spirale  zeigen.  Auch  die 
Stellung  der  Blütenblätter  zeigt  ähnliche  Gesetz- 
mäßigkeiten, und  besonders  Alexander  Braun  machte 
den  Versuch,  diese  Anordnungen  auf  eine  Reihe  ganz 
einfacher  mathematischer  Gesetze  zurückzuführen. 
Darüber  hatte  Martins  auf  den  Versammlungen 
deutscher  Naturforscher  und  Ärzte  vom  Jahre  1828 
und  1829  berichtet,  und  Goethe  griff  diese  Vorstel- 
lungen auf,  um  sie  mit  seiner  Metamorphosenlehre 
in  Verbindung  zu  bringen.  Hatte  er  selbst  die  ein- 
heitliche Auffassung  aller  Seitenorgane  der  Pflanze 
angebahnt,  so  schien  ihm  jetzt  die  Möglichkeit  ge- 
geben, die  Verteilung  dieser  Seitenorgane  an  und 
um  die  Pflanze  ebenfalls  auf  eine  einfache  Regel 
zu  reduzieren.  Er  leitet  daher  die  genannten  Er- 
scheinungen alle  ab  von  einer  Spiraltendenz,  die 
im  Pflanzenreich  verbreitet  sein  soll,  und  der  die 
Vertikaltendenz  des  senkrecht  in  die  Höhe  wachsen- 
den Stammes  gegenübergestellt  wird.  Um  nun  die 
allgemeine  Gültigkeit  dieser  Spiraltendenz  zu  er- 
weisen, wird  eine  Reihe  von  Vorgängen  herangezogen, 
welche  offenbar  tatsächlich  gar  nichts  miteinander 


104  Vierte  Vorlesung. 

gemein  haben:  die  Stellung  der  Blätter  um  die 
Achse,  das  Winden  des  Hopfens  und  anderer 
Pflanzen  um  die  Stange,  das  Herumschlingen  von 
Ranken  um  feste  Gegenstände,  die  Anordnung  der 
Spiralgefäße  und  noch  manches  andere.  Goethe 
ist  hier  offenbar  viel  zu  weit  gegangen  und  hat 
heterogene  Dinge  zueinander  in  Beziehung  gesetzt. 
Der  alte,  kurz  vor  seinem  Tode  stehende  Dichter 
hatte  nicht  mehr  die  Zeit  gefunden,  seine  Theorien 
durch  ausgedehnte  eigene  Beobachtungen  und  Ver- 
suche zu  prüfen. 

Damit  schließen  wir  unsere  Betrachtung  von 
Goethes  botanischen  Studien.  Wir  haben  durch 
die  eingehende  Bekanntschaft  mit  seinem  Forschen 
und  Denken  über  das  Pflanzenwachstum  schon 
ein  gutes  Teil  von  der  Persönlichkeit  des  Natur- 
forschers erfahren.  Wir  haben  seine  Gründlichkeit, 
seinen  Ernst,  die  umfassende  Breite  seiner  Ver- 
allgemeinerung und  manche  seiner  grundlegenden 
Vorstellungen  kennen  gelernt,  auf  denen  sich  seine 
Auffassung  des  Naturganzen  aufbaut.  Aufgabe  der 
ferneren  Betrachtung  wird  es  sein,  dieses  Bild  bei 
der  Besprechung  der  anderen  Forschungsgebiete  zu 
vervollständigen,  bis  uns  schließlich  ein  volles  Ver- 
ständnis für  Goethes  wissenschaftliche  Denkweise 
möglich  sein  wird. 


Fünfte  Vorlesung. 

Die  osteologischen  und  vergleichend  anatomischen 
Arbeiten  I. 

Meine  Herren!  Wir  wenden  uns  jetzt  zur  Be- 
sprechung von  Goethes  anatomischen  und  ver- 
gleichend anatomischen  Studien.  In  einer  der  letzten 
Vorlesungen  haben  wir  schon  gehört,  wie  Goethe  an- 
fing, sich  mit  Anatomie  zu  beschäftigen,  wie  er  auf 
der  Universität  bei  Lobstein  in  Straßburg  hörte,  wie 
er  durch  Bekanntschaft  mit  Lavater  und  durch  seine 
Teilnahme  an  den  physiognomischen  Fragmenten 
auf  die  Schädellehre  und  deren  Bedeutung  für  die 
Physiognomik  hingewiesen  wurde,  wie  er  in  den 
Fragmenten  schon  eine  Reihe  von  Tierschädeln 
kommentierte,  wie  er  diese  Anregung  in  seiner 
Korrespondenz  mit  Merck  vertiefte  und  wie  er  dann 
bei  Loder  in  Jena  seine  Kenntnis  der  menschlichen 
Anatomie  in  kurzer  Zeit  so  weit  auffrischte  und  er- 
weiterte, daß  er  in  Weimar  Vorträge  für  Kunst- 
schüler halten  konnte.  Von  1781  an  werden  nun 
diese  anatomischen  Beschäftigungen,  welche  sich 
damals  überwiegend  auf  die  Knochenlehre,  die 
Osteologie,   beschränken,    mit  Loder   eifrigst  fort- 


106  Fünfte  Vorlesung. 

gesetzt  Er  studiert  und  zeichnet  besonders  Schädel 
der  allerverschiedensten  Tiere.  Viele  Jahre  später 
hat  Goethe  über  diese  Studien  angegeben,  daß  er 
schon  damals  auf  einen  allgemeinen  Typus  hin- 
gearbeitet habe;  so  schreibt  er  in  den  Annalen: 
„Ich  war  völlig  überzeugt,  ein  allgemeiner  durch 
Metamorphose  sich  erhebender  Typus  gehe  durch 
die  sämtlichen  organischen  Geschöpfe  durch,  lasse 
sich  in  allen  seinen  Teilen  auf  gewissen  mittleren 
Stufen  gar  wohl  beachten  und  müsse  auch  noch  da 
anerkannt  werden,  wenn  er  sich  auf  der  höchsten 
Stufe  der  Menschheit  ins  Verborgene  bescheiden 
zurückzieht."  Diese  Angabe  ist  jedoch  nur  „cum 
grano  salis**  zu  nehmen.  Goethe  hat  tatsächlich 
in  diesen  Jahren  immer  mehr  die  Vorstellung  in  sich 
befestigt,  daß  der  Mensch  und  die  Säugetiere  in 
ihrem  Aufbau  einander  im  Prinzip  ähnlich  seien.  Die 
Idee  der  Metamorphose  hat  er  jedoch  erst  in 
Italien  gewonnen,  ihre  Anwendung  auf  die  ver- 
gleichende Anatomie  und  die  Entwicklung  der  Lehre 
vom  Typus  läßt  sich  erst  nach  der  Rückkehr  nach 
Deutschland  nachweisen  und  erfährt  ihre  erste  Aus- 
gestaltung in  den  Schriften  seit  1790.  Bei  seinen 
Studien  zur  Schädellehre  gelang  es  nun  Goethe  im 
März  1784,  den  Fund  zu  tun,  der  für  sein  ganzes 
wissenschaftliches  Arbeiten  und  Denken  entscheidend 
werden  sollte.  Er  berichtet  darüber  an  Herder: 
„Nach  Anleitung  des  Evangelii   muß   ich  Dich  auf 


Osteologische  und  veigleichend  anatomische  Arbeiten  I.     107 

das  eiligste  mit  einem  Glück  bekannt  machen,  das 
mir  zugestoßen  ist.  Ich  habe  gefunden  —  weder 
Gold  noch  Silber,  aber  was  mir  unsägliche  Freude 
macht,  das  Os  intermaxillare  beim  Menschen.  Ich 
verglich  mit  Lodern  Menschen-  und  Tierschädel, 
kam  auf  die  Spur,  und  siehe  da  ist  es  ...  .  es  ist 
wie  der  Schlußstein,  fehlt  nicht,  ist  auch  da!  Aber 
wie!  Ich  habe  mir's  auch  in  Verbindung  mit  Deinem 
Ganzen  gedacht,  wie  schön  es  da  ist!"  Der 
Zwischenkiefer,  os  intermaxillare,  ist  ein  Knochen, 
der  in  den  Oberkiefer  eingelassen  ist,  und  die 
Schneidezähne  trägt.  Er  war  damals  bei  der  größten 
Mehrzahl  der  Säugetiere  nachgewiesen  und  anerkannt, 
wurde  von  dem  berühmtesten  Anatomen  der  dama- 
ligen Zeit,  dem  Holländer  Camper  und  von  Blumen- 
bach in  Göttingen  auch  dem  Affen  zugeschrieben, 
dagegen  sein  Vorkommen  beim  Menschen  geleugnet. 
Es  sollte  gerade  das  Fehlen  dieses  Knochens  das 
charakteristische  Unterscheidungsmerkmal  zwischen 
Mensch  und  Affe  abgeben.  Diese  Vorstellung  er- 
schien Goethe  schon  von  vorne  herein  unwahr- 
scheinlich. Er  konnte  nicht  glauben,  daß  der  Mensch 
in  einem  einzigen  wichtigen  Punkt  so  von  der  Bau- 
art der  Säugetiere  abwich.  Entscheidend  war  die 
Überlegung,  daß  der  Mensch  doch  Schneidezähne 
besitze,  während  ihm  der  Knochen  fehlen  sollte,  der 
diese  Zähne  trägt. 

Nachdem   Goethe   seinen   Fund    gemacht   hatte. 


108  Fünfte  Vorlesung, 

begnügte  er  sich  nicht  mit  der  Registrierung  dieser 
Tatsache,  sondern  ging  sofort  daran,  ihn  auf  das 
breiteste  wissenschaftliche  Fundament  zu  gründen. 
Zu  diesem  Zwecice  machte  er,  und  darin  liegt  das 
Bahnbrechende  seiner  Arbeit,  in  ausgedehntestem 
Maße  von  der  vergleichenden  Methode  Gebrauch. 
Er  verfolgte  Lage  und  Form  des  Zwischenkiefers 
bei  allen  Tierschädeln,  die  er  erreichen  konnte. 
Selbst  Sömmering  in  Kassel  mußte  ihm  Schädel 
schicken,  darunter  den  eines  jungen  indischen  Ele- 
fanten, nach  welchem  genaue  Zeichnungen  gefertigt 
wurden  (S.  u.  Fig.  5). 

So  entstand  Goethes  erste  wissenschaftliche  Ab- 
handlung: „Versuch  aus  der  vergleichenden  Knochen- 
lehre, daß  der  Zwischenknochen  der  oberen  Kinn- 
lade dem  Menschen  mit  den  übrigen  Tieren  gemein 
sei  —  Jena  1784."  Die  Bedeutung  dieser  Abhand- 
lung geht  weit  darüber  hinaus,  daß  in  ihr  der 
Zwischenknochen  beim  Menschen  nachgewiesen 
und  dadurch  der  vermeintliche  Unterschied  in  der 
Bauart  des  Menschen  und  der  Säugetiere  beseitigt 
wird.  Wir  haben  in  ihr  vielmehr  zugleich  die  erste 
eigentliche  vergleichend  anatomische  Abhandlung 
zu  sehen,  die  geschrieben  worden  ist,  und  somit 
bildet  sie  einen  Markstein  in  der  Geschichte  dieser 
Wissenschaft.  Im  allgemeinen  wird  Cuvier  als  der 
Begründer  der  vergleichenden  Anatomie  angesehen, 
und  das  mit  vollem  Recht,  denn  er  vor  allen  hat  in 


Osteologische  und  vergleichend  anatomische  Arbeiten  I.     109 

seinem  langen  arbeitsreichen  Leben  die  ganze  riesige 
Masse  der  Grundtatsachen  dieser  Wissenschaft  fest- 
gelegt. Als  aber  Goethe  seine  Arbeit  über  den 
Zwischenknochen  vollendete,  war  Cuvier,  der,  in 
Mömpelgart  geboren,  auf  der  Karlsschule  bei  Stutt- 
gart studierte,  erst  15  Jahre  alt,  und  hat  erst  später 
die  Anregungen,  die  er  auf  der  Karlsschule  von 
seinem  Lehrer  Kielmeier  empfing,  in  so  großartiger 
Weise  zu  seinen  zoologischen  Studien  in  Paris  ver- 
wendet. 

Wir  wollen  nun  den  Inhalt  von  Goethes  Schrift 
in  aller  Kürze  kennen  lernen.  Der  Autor  geht  aus 
von  der  Beschreibung  des  Zwischenknochens  beim 
Pferd,  wo  er  besonders  gut  ausgebildet  ist  und 
leicht  erkannt  werden  kann.  Im  Anschluß  hieran 
wird  dann  eine  ausführliche  lateinische  Terminologie 
des  Knochens  gegeben,  welche  im  wesentlichen  von 
Loder  entworfen  worden  ist.  Jede  Kante,  jede 
Fläche,  jede  Öffnung  im  Knochen  erhält  ihren  Namen, 
so  daß  es  möglich  ist,  bei  vergleichender  Betrach- 
tung der  verschiedensten  Tiere  sich  sofort  an  diesem 
Knochen  zu  orientieren.  Die  folgende  Darstellung 
schließt  sich  dann  ganz  eng  an  die  beigegebenen 
Abbildungen  an.  In  der  ursprünglichen  Arbeit  waren 
von  Waiz  gezeichnete  Abbildungen  vom  Pferd, 
Ochsen,  Fuchs,  Löwen,  dem  jungen  Walroß,  Affen 
und  Menschen  beigegeben.  Später  sind  dann  noch 
Stiche  nach  dem  Schädel  des  Rehs,  Kamels,  des  auf 


110  Fünfte  Vorlesung. 

Celebes  lebenden  Schweines  Babirussa,  des  Eis- 
bären, Wolfs  und  erwachsenen  Walrosses  beigefügt 
worden.  Goethe  weist  nun  auf  die  Formänderungen 
hin,  die  der  Knochen  bei  diesen  verschiedenen 
Säugetieren  erleidet.  Bei  den  Wiederkäuern,  die  das 
Gras  abraufen,  fehlen  die  oberen  Schneidezähne  und 
der  Knochen  bildet  vorn  eine  flache  Platte,  gegen 
die  die  Zähne  des  Unterkiefers  sich  legen;  bei  den 
Raubtieren,  welche  zur  Nahrungsaufnahme  von  ihren 
Schneidezähnen  kräftig  Gebrauch  machen,  ist  der 
Zwischenknochen  stark  entwickelt  und  an  der  Vor- 
derseite des  Gesichts  gut  entfaltet.  Den  Weg  zum 
Menschen  gewinnt  nun  Goethe  durch  die  Betrach- 
tung des  jungen  Walroßschädels.  Bei  diesem  Tier 
ist  das  OS  intermaxillare  in  den  Oberkiefer  fast  genau 
in  der  gleichen  Weise  eingelassen  wie  beim  Men- 
schen, nur  daß  es  noch  nicht  mit  dem  Oberkiefer- 
knochen verwachsen  ist.  Die  Gegenüberstellung  des 
senkrecht  durchschnittenen  Oberkiefers  vom  Walroß 
und  vom  Menschen  dient  zur  anschaulichen  Illustrie- 
rung der  Verhältnisse  bei  letzterem.  In  dem  ur- 
sprünglichen Manuskript  sind  dabei  diezum  Zwischen- 
kiefer gehörigen  Knochenteile  der  größeren  Deut- 
lichkeit halber  durch  rote  Färbung  hervorgehoben. 
Goethe  zeigt  nun,  daß  ein  kleiner  Kanal,  der  den 
knöchernen  Gaumen  in  der  Mitte  durchbohrt  und 
durch  den  Gefäße  und  Nerven  hindurchtreten,  auch 
beim  Menschen  die  Grenze  zwischen  Oberkiefer  und 


AbbilduHK  des  menschlichen  Oberkieferknochens 
von  innen.  Aus  Goethe,  Über  den  Zwischcn- 
klefer  des  Menschen  und  der  Tiere.  Vcrh.  der 
K.  Lcopold.-Karol.  Akademie  der  Naturforscher 
Bd.  15.    ItUI. 


Osteologische  und  vergleichend  anatomische  Arbeiten  I.     1 1 1 

Zwischenkiefer  abgibt.  (Fig.  4*)  zeigt  die  rechte 
Hälfte  des  menschlichen  Oberkiefers  von  innen  ge- 
sehen. A  ist  der  Zwischenkiefer,  dessen  hintere 
Grenze  durch  den  erwähnten  Kanal  gebildet  wird. 
Die  Schneidezähne  fehlen.)  In  vielen  Fällen  sieht 
man  von  der  unteren  Öffnung  dieses  Kanals  eine 
feine  Naht  verlaufen,  welche  zwischen  dem  Eckzahn 
und  dem  äußeren  Schneidezahn  endet.  Dagegen 
läßt  sich  an  der  Außenseite  des  Oberkiefers  die 
Grenze  nicht  mehr  feststellen.  Hier  findet  in  nor- 
malen Fällen  schon  in  sehr  frühen  embryonalen 
Stadien  die  völlige  Verwachsung  statt,  und  Goethe 
nimmt  an,  daß  der  Grund  hierfür  darin  zu  suchen 
sei,  daß  die  auf  engem  Raum  entstehenden  kräftigen 
Zahnbildungen  nur  auf  diese  Weise  sicher  zusammen 
gefaßt  werden  können.  So  findet  er  die  Grenzen 
des  Zwischenknochens  auf  der  Unter-  und  Hinter- 
seite desselben  und  zeigt  durch  den  Vergleich  mit 
dem  Walroß,  daß  es  sich  hier  tatsächlich  um  das- 
selbe Gebilde  handeln  müsse.  Daß  der  Knochen 
an  der  Vorderseite  verwächst,  ist  nichts  mit  seiner 
Sonderstellung  Unvereinbares,  weil  auch  bei  Tieren 
gelegentlich  Verwachsungen  vorkommen.  Der  Schä- 
del   des    Kasseler    Elefanten    (Fig.  5)    zeigte    den 

^)  In  der  Weimarer  Goethe-Ausgabe  sind  die  Abbildungen 
zur  Zwischenkieferabhandlung  in  verkleinertem  Maßstabe 
wiedergegeben.  Am  menschlichen  Oberkiefer  sind  die  wich- 
tigsten Details  dabei  unkenntlich  geworden.  Es  ist  deshalb 
diese  Figur  hier  in  Originalgröße  noch  einmal  abgedruckt. 


112  Fünfte  Voriesung. 

Zwischenkiefer  auf  der  einen  Seite  frei,  auf  der 
anderen  verwachsen.  Goethe  begnügt  sich  aber 
nicht  damit,  seinen  Knochen  durch  die  Säugetier- 
reihe zu  verfolgen,  sondern  führt  weiter  an,  daß  er 
ihn  auch  bei  Fischen,  Amphibien,  bei  der  Schild- 
kröte und  den  Vögeln  habe  nachweisen  können. 
Durch  die  ganze  Reihe  der  Wirbeltiere  hindurch  ist 
er  also,  wenn  auch  in  verschiedenster  Ausbildung, 
vorhanden.  „Welch  eine  Kluft  zwischen  dem  os 
intermaxillare  der  Schildkröte  und  des  Elefanten! 
Und  doch  läßt  sich  eine  Reihe  von  Formen  da- 
zwischen stellen,  die  beide  verbindet."  Durch  den 
Nachweis,  daß  der  Zwischenknochen  allen  Säuge- 
tieren zukommt,  gelangt  Goethe  auch  zu  einer  bes- 
seren Definition  der  Schneidezähne.  Obere  Schneide- 
zähne sind  eben  diejenigen,  welche  im  Zwischen- 
knochen sitzen.  Dadurch  kommt  er  dazu,  auch  dem 
Kamel  und  dem  Walroß  Schneidezähne  zuzuschreiben, 
die  bisher  geleugnet  worden  waren.  Schließlich 
wird  dann  noch  darauf  hingewiesen,  daß  die  Aus- 
bildung dieses  Knochens  für  die  Nahrungsaufnahme 
entscheidend  ist,  und  daß  auf  diese  Weise  ein  naher 
Zusammenhang  zwischen  seiner  Form  und  seiner 
Funktion  sich  erkennen  lasse. 

Das  ist  der  Inhalt  von  Goethes  erster  wissen- 
schaftlicher Arbeit  Sie  wurde  sauber  geschrieben, 
eine  lateinische  Obersetzung  aus  Loders  Feder  bei- 
gefügt,  und    dann  wurde   sie  zusammen   mit  den 


Fig.  5. 
Schädel  des  jungen  Kasseler  Elefanten  von  vorne.    Aus  Goethe,  Zur  ver- 
gleichenden Osteologie  (mit  Zusätzen  und  Bemerkungen  von  Dr.  Ed.  d'Alton). 
Verhandl.  der  K.  Leopold.-Karol.  Akademie  der  Naturforscher  Bd.  12.    1824. 


Osteologische  und  vergleichend  anatomische  Arbeiten  I.     113 

Zeichnungen  am  19.  Dez.  1784  an  Merck  nach 
Darmstadt  geschickt.  Dieser  sandte  sie  nach  Cassel 
zu  Sömmering  und  von  da  ging  sie  zu  Camper  nach 
Stavoren  in  Holland,  wo  sie  aber  erst  nach  ^4  Jahren 
eintraf.  Das  Manuskript  und  die  Tafeln  blieben  nach 
Campers  Tode  in  Holland  und  gelangten  von  dort 
erst  1894  durch  Schenkung  ins  Goethearchiv  zurück. 
Sömmering  war  keineswegs  von  der  Richtigkeit  von 
Goethes  Ansicht  zu  überzeugen.  Dieser  berichtet 
an  Merck:  „Von  Sömmering  habe  ich  einen  sehr 
leichten  Brief;  er  will  mir  gar  ausreden,  ohe!"  Sehr 
viel  ernster  nahm  Camper  die  Angelegenheit.  Er 
prüfte  das  Behauptete  sofort  sorgfältig  nach,  er- 
kannte, wie  er  an  Merck  berichtete,  die  Anwesenheit 
des  Knochens  beim  Walroß,  wo  er  noch  nicht  be- 
kannt war,  rückhaltlos  an,  erklärte  aber  nach  wie 
vor,  beim  Menschen  sei  kein  Zwischenknochen  vor- 
handen. Goethe  hat  damals  schwer  unter  diesen 
Enttäuschungen  gelitten.  Es  ist  dies  der  Grund, 
weshalb  er  lange  Jahre  nichts  Anatomisches  wieder 
publiziert  hat  und  die  Abhandlung  über  den  Zwischen- 
knochen auch  zunächst  nicht  drucken  ließ.  Es  war 
die  erste  derartige  Erfahrung,  die  Goethe  noch  so 
oft  machen  sollte.  Später  schreibt  er  hierüber:  „Nun 
zeugt  es  freilich  von  einer  besonderen  Unbekannt- 
schaft mit  der  Welt,  von  einem  jugendlichen  Selbst- 
sinn, wenn  ein  laienhafter  Schüler  den  Gildemeistern 
zu  widersprechen  wagt,  ja  was  noch  thöriger  ist,  sie 

Magnus,  Goethe  als  Naturforscher.  8 


114  Fünfte  Vorlesung. 

zu  überzeugen  gedenkt.  Fortgesetzte  vieljährige  Ver- 
suche haben  mich  eines  andern  belehrt,  mich  belehrt: 
daß  immerfort  wiederholte  Phrasen  sich  zuletzt  zur 
Überzeugung  verknöchern  und  die  Organe  des  An- 
schauens  völlig  verstumpfen.  Indessen  ist  es  heil- 
sam, daß  man  dergleichen  nicht  allzu  zeitig  erfährt, 
weil  sonst  jugendlicher  Frei-  und  Wahrheitssinn  durch 
Mißmut  gelähmt  würde." 

Trotzdem  konnten  sich  aber  auch  die  Fach- 
gelehrten dem  schließlichen  Durchdringen  der  Goethe- 
schen  Anschauungen  nicht  entgegenstellen.  Daß 
Loder  den  Befund  im  Jahre  1788  in  sein  anatomi- 
sches Handbuch  aufnahm,  ist  selbstverständlich. 
Aber  auch  Sömmering  erwähnte  das  Vorhandensein 
des  Zwischenkiefers  1791  in  seinem  Buch  vom 
Bau  des  Menschen.  Blumenbach  stemmte  sich  viel 
länger  gegen  Goethes  Entdeckung.  Erst  nachdem 
er  selbst  in  einigen  abnormen  Fällen  sich  von  dem 
isolierten  Vorkommen  des  os  intermaxillare  auch 
beim  Menschen  überzeugt  hatte,  bekannte  er  sich 
zu  Goethes  Anschauung.  Er  hatte  bei  einem  wasser- 
köpfigen Kind  den  Zwischenkiefer  gesondert  ge- 
funden, studierte  dann  besonders  die  Fälle  von 
doppelseitiger  Hasenscharte  und  Wolfsrachen,  bei 
denen  der  Zwischenkiefer  nicht  mit  dem  Oberkiefer 
verwächst  und  durch  breite  Spalten,  welche  zwischen 
Eckzahn  und  seitlichem  Schneidezahn  hindurch- 
gehen, vom  Oberkiefer  getrennt  bleibt.    Besonders 


Osteologische  und  vergleichend  anatomische  Arbeiten  I.     115 

instruktiv  war  ihm  ein  von  Langenbeck  operierter 
Athlet,  bei  welchem  der  Zwischenkiefer  stark  aus 
dem  Gesicht  heraustrat.  Blumenbach  schickte  Zeich- 
nungen dieses  Mannes  vor  und  nach  der  Operation 
als  interessanten  Beitrag  zur  Zwischenknochenfrage 
an  Goethe.  So  konnte  schließlich  an  der  Richtig- 
keit des  Befundes  ein  Zweifel  nicht  mehr  obwalten. 

In  den  zwei  nachfolgenden  Jahren  hat  Goethe 
seine  Zwischenkieferstudien  noch  fortgesetzt  und 
genaue  Beschreibungen  dieses  Knochens  bei  den 
verschiedensten  Säugetieren  aufgezeichnet.  Besonders 
der  Casseler  Elefant  wurde  noch  eingehend  unter- 
sucht. Dabei  fand  sich,  daß  der  Eckzahn  (Stoß- 
zahn), welcher  scheinbar  im  Zwischenknochen  sitzt, 
in  Wirklichkeit,  wie  es  der  osteologischen  Regel 
entspricht,  dem  Oberkiefer  angehört,  denn  eine  feine 
Knochenlamelle  schlingt  sich  von  diesem  um  die 
Wurzel  des  Stoßzahnes  herum. 

Goethe  hat,  wie  wir  gehört  haben,  seine  Abhand- 
lung zunächst  nicht  veröffentlicht.  Das  Resultat 
wurde  hauptsächlich  durch  die  Citate  in  Loders  und 
Sömmerings  Werken  der  ganzen  Welt  bekannt.  Ge- 
druckt wurde  die  Schrift  erst  1820,  als  Goethe  sie 
in  erweiterter  Form  in  seinen  Heften  zur  Morpho- 
logie erscheinen  ließ.  Doch  war  auch  diese  Publi- 
kation unvollständig,  da  die  Abbildungen  fehlten. 
Diese  erschienen  erst  sehr  viel  später  in  den  Ver- 
handlungen der  Kaiserl.  Leopoldinisch-Carolinischen 

8* 


116  Fünfte  Vorlesung. 

Akademie  der  Naturforscher.  Im  Jahre  1824  ließ 
Goethe  dort  die  vier  Abbildungen  vom  Schädel  des 
jungen  Casseler  indischen  Elefanten  ^)  und  gleichzeitig 
zwei  Schädelbilder  eines  erwachsenen  afrikanischen 
Elefanten  aus  der  Jenaer  Sammlung  abdrucken; 
d'Alton  schrieb  den  begleitenden  Text  hierzu.  Erst 
1831  wurde  dann  die  Zwischenkieferabhandlung  mit 
den  dazu  gehörigen  Figuren  im  15.  Band  dieser 
Zeitschrift  veröffentlicht.  Jetzt  sind  die  Abbildungen 
mit  Ausnahme  der  Elefantenschädel  in  der  Wei- 
marer Ausgabe  in  verkleinerter  Form  reproduziert. 
Auch  in  der  Folgezeit,  vor  und  nach  der  italie- 
nischen Reise  hören  wir  von  fortgesetzten  Einzel- 
untersuchungen Goethes.  Er  studierte  unter  anderm 
die  Anatomie  der  Halswirbel  durch  die  Säugetier- 
reihe von  den  einfachsten  und  gedrungensten  Bil- 
dungen beim  Walfisch,  wo  sie  zu  einem  einzigen 
Knochen  verwachsen,  bis  zu  ihrer  mächtigsten  Ent- 
faltung im  Halse  der  Giraffe.  Um  nun  bei  diesen 
und  ähnlichen  Studien  die  Resultate  stets  übersicht- 
lich zur  Hand  zu  haben,  legte  er  sich  eine  Tabelle 
an,  für  die  mehrfache  Entwürfe  erhalten  sind.  Die 
Anordnung  war  derart,  daß  er  vertikal  untereinander 
die  verschiedenen  Knochen  vom  Schädel  und  den 
Halswirbeln  herunter  bis  zu  den  Schwanzwirbeln 
und  den  Extremitätenknochen  der  Reihe  nach  schrieb 


*)  Die  erste  dieser  Abbildungen  ist  oben  S.  111  als  Fig.  5 
wieder  abgedruckt. 


Osteologische  und  vergleichend  anatomische  Arbeiten  I.    117 

und  horizontal  die  Namen  der  verschiedenen  von 
ihm  studierten  Tiere  (Löwe,  Biber,  Dromedar,  Büffel, 
Bär,  Schwein,  Elend)  anordnete.  Dann  fügte  er 
seine  Einzelbefunde  jedesmal  an  der  richtigen  Stelle 
ein.  So  war  ihm  die  Übersicht  über  den  Knochen- 
bau der  Säugetiere  außerordentlich  erleichtert.  In 
jeder  Horizontalreihe  fand  sich  die  Form  irgend  eines 
Knochens,  z.  B.  des  Zwischenkiefers,  des  7.  Hals- 
wirbels oder  des  Oberschenkelknochens  durch  die 
ganze  Säugetierreihe  hindurch  mit  allen  ihren  Ab- 
wandlungen angegeben  (vergleichend  anatomische 
Betrachtung),  in  jeder  Vertikalreihe  fanden  sich  alle 
Knochen  ein  und  desselben  Tieres,  so  daß  man 
z.  B.  die  Formänderung  der  Wirbel  an  der  Wirbel- 
säule des  Büffels  mit  einem  Blick  übersehen  konnte 
(simultane  Metamorphose).  Diese  systematischen 
Untersuchungen  wurden  höchst  wahrscheinlich  im 
Anschluß  an  die  Idee  der  Pflanzenmetamorphose 
ausgeführt.  Sie  bilden  die  Vorarbeiten  für  die 
seit  1790  verfaßten  vergleichend  anatomischen 
Schriften. 

Bevor  wir  jedoch  zur  Besprechung  dieser  Arbeiten 
übergehen,  müssen  wir  noch  eines  Forschungsergeb- 
nisses gedenken,  zu  dem  Goethe  in  diesen  Jahren 
im  Anschluß  an  seine  Studien  über  die  Wirbelsäule 
gelangte.  Ebenso  wie  er  auf  botanischem  Gebiete 
die  komplizierten  und  zusammengedrängten  Formen 
von  Blüte  und  Frucht  auf  die  einfacheren  Metameren, 


118  Fünfte  Vorlesung. 

die  Blätter,  zurückführen  konnte,  so  gewann  er  bei 
Betrachtung  des  kompliziert  gebauten  und  zusammen- 
gedrängten Schädels  die  Anschauung,  daß  derselbe, 
da  er  die  Fortsetzung  der  Wirbelsäule  nach  vorne 
bildet  und,  wie  diese  das  Rückenmark,  so  das 
mächtig  ausgebildete  Gehirn  umschließt,  auch  ent- 
sprechend der  Wirbelsäule  aus  metamorphosierten 
Wirbeln  zusammengesetzt  sei.  Es  hatte  sich  in  ihm 
allmählich  die  Überzeugung  befestigt,  daß  man  in 
dem  hinteren  Teil  des  Schädels,  wo  er  sich  an  die 
Wirbelsäule  anschließt,  zunächst  drei  solcher  Wirbel 
unterscheiden  könne:  das  Hinterhauptsbein,  das  hin- 
tere und  das  vordere  Keilbein.  Als  er  dann  im 
Jahre  1790  auf  den  Dünen  des  Lido,  welche  die 
venezianischen  Lagunen  von  dem  Adriatischen  Meer 
sondern,  sich  oftmals  erging,  fand  er  einen  so  glück- 
lich geborstenen  Schafschädel,  bei  dessen  Betrach- 
tung ihm  intuitiv  durch  einfache  Anschauung  die 
Erkenntnis  aufging,  daß  noch  drei  weitere  Wirbel 
im  Schädel  enthalten  seien,  das  Gaumenbein,  der 
Oberkiefer  und  der  Zwischenknochen.  Er  konnte 
gleichzeitig  an  diesem  Schöpsenschädel  besonders 
deutlich  erkennen,  wie  die  charakteristische  Gestalts- 
änderung dieser  metamorphosierten  Wirbelmassen 
durch  die  am  Kopf  zu  so  mächtiger  Entwicklung 
gelangten  höheren  Sinneswerkzeuge,  die  Organe 
des  Gesichts,  Gehörs  und  Geruchs  beeinflußt 
wird.    Es  befestigte  sich  damit  zugleich  sein  alter 


Osteologische  und  vergleichend  anatomische  Arbeiten  I.     119 

durch  Erfahrung  bestärkter  Glauben,  „welcher  sich 
fest  darauf  begründet,  daß  die  Natur  kein  Geheim- 
nis habe,  was  sie  nicht  irgendwo  dem  aufmerk- 
samen Beobachter  nackt  vor  Augen  stellt".  Das  ist 
die  berühmte  Wirbeltheorie  des  Schädels,  nach 
welcher  also  dieser  Skeletteil  ursprünglich  ebenso 
wie  die  Wirbelsäule  aus  Metameren  zusammen- 
gesetzt sein  soll;  und  zwar  glaubte  Goethe  sechs 
metamorphosierte  Wirbel  im  Schädel  erkennen  zu 
können. 

Trotzdem  er  in  den  folgenden  Jahren  die  ver- 
gleichende Anatomie  der  Schädelknochen  beson- 
ders bearbeitete,  hat  er  die  Wirbeltheorie  des 
Schädels  zunächst  nicht  weiter  gefördert  und  ließ 
sie  schließlich  liegen,  weil  ihre  Durchführung  im 
einzelnen  sehr  erhebliche  Schwierigkeiten  bot.  Als 
nun  im  Jahre  1807  der  Anatom  Oken  von  Göttingen 
nach  Jena  berufen  wurde,  entwickelte  er  in  seiner 
akademischen  Antrittsrede  ebenfalls  eine  Theorie 
des  Schädels,  welche  der  Goetheschen  außerordent- 
lich nahe  kam.  Es  war  der  Vortrag  aber  derartig 
mit  naturphilosophischen  Spekulationen  gewürzt, 
daß  Goethe  später  das  Okensche  Programm  als 
tumultuarisch  und  vollständig  unreif  bezeichnen 
konnte.  Oken  hat  diesen  Vortrag  an  Goethe  geschickt, 
beiden  Männer  haben  sogar  mündlich  darüber  ver- 
handelt. Aber  auch  jetzt  veröffentlichte  Goethe 
nichts  über  seine  Wirbeltheorie.    Erst  als  er  1817 


120 


Fünfte  Vorlesung. 


bis  1820  seine  morphologischen  Hefte  herausgab,  er- 
wähnte er  ganz  kurz  seine  20  Jahre  zurückliegenden 
Ideen.  In  der  Folge  kam  er  noch  gelegentlich  darauf 
zurück.  Es  entwickelte  sich  daraus  eine  Art  von 
Polemik,  die  aber  erst  nach  Goethes  Tode  gehässige 
Formen  annahm.  Schelling  zieh  Oken  direkt  des 
Plagiats  und  dieser  wies  in  seiner  Antwort  nicht  nur 
eine  solche  Unterstellung  zurück,  sondern  beschul- 
digte seinerseits  wieder  Goethe,  daß  er  die  Wirbel- 
theorie von  ihm  entlehnt  habe.  Heute  kann  über 
den  Tatbesland  ein  Zweifel  nicht  mehr  obwalten. 
Goethe  hat,  wie  aus  gleichzeitigen  Briefen  an  seine 
Freunde  hervorgeht,  im  Jahre  1790  die  Wirbeltheorie 
des  Schädels  konzipiert.  Ihm  gebührt  daher  die 
Priorität.  Es  ist  aber  auch  Oken  völlig  selbständig 
zu  dieser  Anschauung  gelangt  und  ihm  gebührt  das 
Verdienst,  sie  zuerst  in  wissenschaftlicher  Form 
publiziert  zu  haben. 

Die  Wirbeltheorie  des  Schädels  hat  sich  in  der 
ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  als  eine  Arbeits- 
hypothese von  allerhöchstem  Wert  erwiesen.  Fast 
alle  die  zahlreichen  Forschungen,  welche  über  die 
Anatomie  des  Kopfes  ausgeführt  wurden,  gingen 
von  dieser  Theorie  aus  oder  suchten  sie  zu  wider- 
legen. Schon  1824  konnte  Carus  an  Goethe  ein 
vollständiges  Schema  dazu  übersenden.  Die  letzte 
eingehende  Begründung  lieferte  1847  Richard  Owen. 
Es  muß  hier  aber  daran  erinnert  werden,  daß  Goethe 


Osteologische  und  vergleichend  anatomische  Arbeiten  I.     121 

selbst  in  späteren  Jahren  sich  sehr  vorsichtig  über 
diese  seine  Schädeltheorie  ausgesprochen  hat.  Er 
fand  sie  schon  1820  sehr  schwierig  und  nicht  im 
einzelnen  durchzuführen:  „Im  Ganzen  läßt  sich's 
aussprechen,  aber  nicht  beweisen,  im  Einzelnen  läßt 
sich's  wohl  vorzeigen,  doch  bringt  man  es  nicht 
rund  und  fertig."  Diese  Skepsis  hat  sich  in  der 
Folgezeit  als  berechtigt  erwiesen.  1858  wurde 
die  Theorie  von  Huxley  aufs  schärfte  bekämpft 
und  es  ist  heute  ein  Zweifel  nicht  mehr  möglich, 
daß  sie  in  der  von  Goethe  aufgestellten  Form  in 
keiner  Weise  haltbar  ist.  Die  Verhältnisse  des 
Schädelbaues  liegen  so  kompliziert,  daß  man  an 
ihm  eine  ursprüngliche  Gliederung  in  einzelne  Wirbel 
nicht  mehr  nachweisen  kann.  Dagegen  scheint 
allerdings  der  Goethesche  Grundgedanke,  daß  man 
nämlich  den  Kopf  als  aus  einzelnen  Metameren 
zusammengesetzt  sich  vorstellen  könne,  zu  Recht 
zu  bestehen.  Gegenbaurs  Segmenttheorie  des  Schä- 
dels ist  der  erste  Versuch,  diese  Anschauung  ver- 
gleichend anatomisch  zu  begründen,  und  es  scheint, 
als  ob  man  sowohl  an  der  Muskulatur  wie  am 
Nervensystem  des  Kopfes  noch  Reste  einer  ur- 
sprünglichen Gliederung  erkennen  könne.  Speziell 
bei  niedern  Fischen  läßt  sich  dieses  nachweisen. 
Doch  wird  über  all  diese  Dinge  bis  auf  die 
neueste  Zeit  unter  den  Anatomen  noch  lebhaft  po- 
lemisiert. 


122 


Fünfte  Vorlesung. 


Dieser  kurze  Exkurs  sollte  zeigen,  daß  die 
Goethesche  Wirbeltheorie  des  Schädels,  wenn  sie 
sich  auch  in  den  Einzelheiten,  wie  ihr  Schöpfer 
selber  erkannte,  nicht  hat  durchführen  lassen,  doch 
die  Forschung  tiber  die  Anatomie  des  Schädels  und 
des  Kopfes  in  vielfältiger  Weise  beeinflußt  und  be- 
fruchtet hat,  und  daß  die  grundlegende  Auffassung, 
welche  in  ihr  enthalten  ist,  auch  heute  noch  wissen- 
schaftliche Gültigkeit  besitzt. 

Damit  verlassen  wir  dieses  spezielle  Gebiet  und 
wenden  uns  nun  wieder  Goethes  allgemeineren  ver- 
gleichend anatomischen  Arbeiten  zu. 

In  ihnen  überträgt  er  die  Fortschritte  der  Er- 
kenntnis, die  er  bei  der  Ausbildung  der  Lehre  von 
der  Pflanzenmetamorphose  gemacht  hat,  auf  das  Stu- 
dium der  tierischen  Form,  und  in  demselben  Jahre 
1790,  in  welchem  er  seine  botanische  Abhandlung 
veröffentlicht,  entwirft  er  im  schlesischen  Lager, 
inmitten  des  militärischen  Trubels,  wohin  er  seinen 
Herzog  begleitete,  den  „Versuch  über  die  Ge- 
stalt der  Tiere",  der  nur  ein  Fragment  geblieben 
ist,  aber  trotzdem  den  großen  Fortschritt  erkennen 
läßt,  den  Goethes  morphologische  Anschauungen 
in  den  letzten  Jahren  gemacht  haben.  Er  beschränkt 
sich  in  diesem  Aufsatz  auf  das  Studium  des  Säuge- 
tierskeletts, dessen  vergleichende  Anatomie  darin 
begründet  wird.  Er  geht  davon  aus,  daß  die  Ske- 
lette der  Säugetiere  und  auch  das   des  Menschen 


Osteologische  und  vergleichend  anatomische  Arbeiten  I.     123 

sehr  große  Ähnlichkeiten  miteinander  zeigen.  Wenn 
man  aber  mit  Erfolg  Vergleichungen  vornehmen 
will,  so  muß  zunächst  eine  einheitliche  Nomen- 
klatur geschaffen  werden  und  es  dürfen  nicht  mehr, 
wie  es  vielfach  geschieht,  ganz  verschiedene  Ske- 
letteile mit  gleichen  Namen  belegt  werden.  Man 
darf  z.  B.  nicht  das  Gelenk  zwischen  Vorderarm  und 
Handwurzel  beim  Pferd  als  Kniegelenk  bezeichnen. 
Wenn  man  nun  eine  einheitliche  Nomenklatur  be- 
sitzt, auf  Grund  deren  man  die  vergleichende 
Methode  anwenden  will,  so  fragt  sich's,  was  denn 
als  tertium  comparationis  benutzt  werden  soll. 
Goethe  spricht  in  diesem  Aufsatz  die  Ansicht  aus, 
daß  man  dazu  nicht  irgend  ein  willkürlich  gewähltes, 
ein  in  der  Natur  vorkommendes  Säugetierskelett 
nehmen  dürfe,  sondern  daß  man  ein  möglichst  ein- 
faches Schema  des  Knochengerüsts  der  Säugetiere 
ausbilden  müsse,  auf  das  sich  alle  in  der  Natur 
vorkommenden  Formen  zwanglos  zurückführen  lassen. 
Ein  solches  Schema  nennt  Goethe  den  Typus.  Wir 
sehen  ihn  also  hier  dieselben  Überlegungen  an- 
stellen, wie  beim  Studium  der  Pflanzenform,  wo  er 
auch  nicht  eine  in  der  Natur  vorkommende,  son- 
dern eine  schematische  Urpflanze  seinen  Betrach- 
tungen zugrunde  legt.  Es  soll  also  ein  osteolo- 
gischer  Typus  konstruiert  werden,  eine  Aufgabe,  die 
natürlich  nicht  leicht  zu  lösen  ist.  Goethe  selbst 
spricht  von  der  großen  „Schwierigkeit,  den  Typus 


124 


Fünfte  Vorlesung. 


einer  ganzen  Klasse  im  Allgemeinen  festzusetzen,  so 
daß  er  auf  jedes  Geschlecht  und  jede  Species  paßt; 
da  die  Natur  eben  nur  dadurch  ihre  genera  und 
Spezies  hervorbringen  kann,  weil  der  Typus,  welcher 
ihr  von  der  ewigen  Notwendigi<eit  vorgeschrieben 
ist,  ein  solcher  Proteus  ist,  daß  er  einem  schärfsten 
vergleichenden  Sinne  entwischt  und  kaum  teilweise 
und  doch  nur  immer  gleichsam  in  Widersprüchen  ge- 
hascht werden  kann."  Die  Konstruktion  des  Typus 
ist  aber  trotzdem  durchführbar,  weil  eben  alle 
Säugetiere  tatsächlich  nach  einem  einheitlichen 
Schema  gebaut  sind.  Goethe  selbst  hatte  ja  früher 
nachgewiesen,  daß  der  Zwischenkiefer  entgegen  der 
herrschenden  Lehre  auch  beim  Walroß  und  beim 
Menschen  vorhanden  ist.  Er  macht  jetzt  darauf 
aufmerksam,  daß  auch  Tränen-  und  Nasenbein  sich 
beim  Elefanten,  wo  man  sie  vermißt  hatte,  auffinden 
lassen,  und  führt  einige  scheinbare  Ausnahmen  von 
dem  gemeinsamen  Bauplan  der  Säugetiere  auf  ihre 
wahre  Bedeutung  zurück.  Hat  man  nun  nach  diesen 
Gesichtspunkten  einen  Typus  konstruiert,  so  ist 
durch  Vergleichung  in  jedem  einzelnen  Fall  zu  er- 
mitteln, welche  Veränderungen  irgend  ein  beliebiges 
Säugetierskelett  gegenüber  dem  Typus  aufweist. 
Mit  Beispielen  für  diese  allgemeinen  Erörterungen 
bricht  das  Fragment  ab,  und  Goethe  hat  erst 
4  Jahre  später  wieder  etwas  Zusammenfassendes 
auf  diesem  Gebiete  geschrieben,  wenn  auch  seine 


Osteologische  und  vergleichend  anatomische  Arbeiten  I.     125 

osteologischen  Detailstudien  fortgesetzt  wurden.  Im 
Jahre  1794  entstand  dann  der  „Versuch  einer  all- 
gemeinen Knochenlehre",  in  welchem  Goethe 
beginnt,  die  in  dem  „Versuch  über  die  Gestalt  der 
Tiere"  dargelegten  allgemeinen  Grundsätze  im  ein- 
zelnen auszuführen.  Anknüpfend  an  die  Tabelle, 
welche  er  sich  schon  vorher  für  die  vergleichende 
Untersuchung  der  einzelnen  Knochen  verschiede- 
ner Säugetiere  angelegt  hatte,  liefert  er  zunächst 
eine  genaue  vergleichend  anatomische  Beschreibung 
fast  sämtlicher  Schädelknochen,  indem  er  mit  dem 
Zwischenkiefer  beginnend  ihre  Formänderungen 
durch  die  ganze  Säugetierreihe  hindurch  genau  dar- 
legt. Hierbei  erweist  sich  ihm  ein  Prinzip  als 
fruchtbringend,  das  er  schon  bei  den  Zwischen- 
kieferforschungen angewendet  hatte.  Ebenso,  wie 
er  den  scheinbar  einheitlichen  Oberkiefer  des 
Menschen  in  den  Oberkiefer  und  den  Zwischen- 
kiefer zerlegte,  so  betrachtet  er  jetzt  auch  das 
Keilbein  als  aus  zwei,  das  Schläfenbein  als  aus 
drei  Teilstücken  bestehend,  von  denen  jedes  seine 
eigene  vergleichend  anatomische  Beschreibung  finden 
muß.  Goethe  hat  die  vergleichende  Anatomie  des 
Skeletts  zunächst  nicht  weiter  durchgeführt,  hat  aber 
später  noch  Aufsätze  über  „Ulna  und  Radius"  (Elle 
und  Speiche  des  Vorderarmes)  und  über  „Tibia 
und  Fibula"  (Schienbein  und  Wadenbein  des 
Unterschenkels)    geschrieben,    in    denen    er   diese 


126 


Fünfte  Vorlesung. 


Knochen  in  ihren  Formwandlungen  bei  den  Säuge- 
tieren verfolgt  Er  findet,  daß  bei  den  verschiedenen 
Tieren  diese  Knochen  sehr  verschieden  entwickelt 
sind,  je  nach  den  Funictionen,  zu  denen  sie  dienen. 
Wird  große  Beweglichkeit  von  ihnen  verlangt,  so 
finden  sie  sich  in  vollendeter  Ausbildung  und  mit 
entsprechenden  Gelenken  versehen.  Dienen  sie  aber 
hauptsächlich  der  Stützfunktion,  so  können  sie  sogar 
zu  einer  einzigen  feststehenden  Säule  verwachsen. 
Dieser  Zusammenhang  zwischen  Form  und  Funktion 
erweist  sich  für  Goethe  überhaupt  als  ein  sehr 
brauchbarer  leitender  Gedanke  zum  Verständnis  der 
tierischen  Formverschiedenheiten. 

Das  folgende  Jahr  bringt  uns  dann  den  um- 
fassendsten Aufsatz  Goethes  zur  tierischen  Morpho- 
logie, in  dem  er  seine  ganze  Auffassung  in  über- 
sichtlicher Form  dargelegt  hat.  Die  Entstehungs- 
geschichte dieses  Werkes  wurde  schon  kurz  erwähnt. 
Goethe  hörte  im  Januar  1795  mit  Humboldt  und 
Meyer  bei  Loder  anatomische  Demonstrationen  und 
entwickelte  im  Anschluß  daran  den  Freunden  die 
Vorstellungen,  die  er  sich  selbst  über  tierische  Form 
und  Formbildung  gemacht  hatte.  Diese  Ausführungen 
schienen  nun  Alexander  v.  Humboldt  von  solcher 
Bedeutung  zu  sein,  daß  er  in  Goethe  drang,  sie 
aufzuzeichnen  und  so  diktierte  dieser  dem  jungen 
Jacob!  den  „Ersten  Entwurf  einer  allgemeinen 
Einleitung  in   die   vergleichende  Anatomie, 


Osteologische  und  vergleichend  anatomische  Arbeiten  I.     127 

ausgehend  von  der  Osteologie".  Im  folgenden 
Jahre  hat  er  die  ersten  drei  Vorträge  dieses  Entwurfs 
näher  ausgeführt. 

Als  Goethe  1820  in  seinen  Heften  zur  Morpho- 
logie diese  Vorträge  zuerst  abdruckte,  setzte  er  ihnen 
folgende  Verse  als  Motto  voran: 

Freudig  war,  vor  vielen  Jahren, 
Eifrig  so  der  Geist  bestrebt. 
Zu  erforschen,  zu  erfahren. 
Wie  Natur  im  Schaffen  lebt. 
Und  es  ist  das  ewig  Eine, 
Das  sich  vielfach  offenbart; 
Klein  das  Große,  groß  das  Kleine, 
Alles  nach  der  eignen  Art. 
Immer  wechselnd,  fest  sich  haltend, 
Nah  und  fern  und  fern  und  nah; 
So  gestaltend,  umgestaltend.  — 
Zum  Erstaunen  bin  ich  da. 

Wir  haben  es  hier  mit  Goethes  bedeutendstem 
morphologischen  Werk  zu  tun,  welches  alles  vor- 
herige in  vertiefter  Form  enthält.  Ich  brauche  Ihnen 
daher  nicht  alles  zu  wiederholen,  was  hier  nochmals 
ausgeführt  ist,  sondern  nur  einige  Hauptpunkte  heraus- 
zugreifen, Goethe  geht  davon  aus,  daß  alle  Natur- 
geschichte auf  Vergleichung  beruhen  müsse,  und  daß 
man  die  kompliziertesten  tierischen  Gestalten  wie  die 
des  Menschen  nur  dann  verstehen  könne,  wenn  man 
sie  auf  einfachere  Formen  zurückführt.  Zum  Zwecke 
solcher  Vergleichung  muß  zunächst  ein  Typus  kon- 
struiert werden,  indem  die  Erfahrung  uns  vorerst 


128  Fünfte  Vorlesung. 

die  Teile  lehren  muß,  die  allen  Tieren  gemein  sind, 
und  wenn  man  dann  weiß,  welche  Organe  und  Teil- 
stücke sich  durch  die  ganze  Tierreihe  vorfinden, 
muß  man  zusehen,  worin  diese  Teile  untereinander 
und  bei  den  verschiedenen  Arten  verschieden  sind. 
„Die  Idee  muß  über  dem  Ganzen  walten  und  auf 
eine  genetische  Weise  das  ganze  Bild  abziehen." 
Während  Camper  und  Buffon  immer  nur  einzelne 
Tiere  und  Tierklassen  miteinander  verglichen  haben, 
will  Goethe  die  Gesamtheit  der  tierischen  Formen  in 
den  Kreis  seiner  Betrachtungen  ziehen,  indem  er  aus 
ihnen  allen  zunächst  eine  kontinuierliche  Reihe  bildet, 
welche  von  den  einfachsten  bis  zu  den  komplizier- 
testen Formen  aufsteigt.  Mit  Hilfe  dieser  Reihe  und 
unter  steter  Benutzung  des  konstruierten  Typus  ist 
dann  eine  rationelle  Vergleichung  möglich.  Man 
kann  die  einzelnen  Tierarten  und  den  Menschen 
untereinander  vergleichen,  man  kann  innerhalb  ein 
und  derselben  Art  die  beiden  Geschlechter  mitein- 
ander vergleichen  und  so  ihre  Geschlechtsunter- 
schiede ermitteln,  man  kann  drittens  bei  ein  und 
demselben  Individuum  die  einander  entsprechenden 
Körperteile,  wie  Ober-  und  Unterextremitäten,  ver- 
schiedene Wirbel  usw.,  nach  der  vergleichenden 
Methode  studieren.  Bevor  nun  Goethe  an  die 
Konstruktion  seines  Typus  geht,  entwickelt  er  ein 
ganz  allgemeines  Schema  der  tierischen  Form,  das 
zunächst  für  alle  Wirbeltiere  gilt,  aber  sich  auch 


Osteologische  und  vergleichend  anatomische  Arbeiten  I.     129 

auf  die  höheren  Wirbellosen,  Insekten,  Crustaceen, 
Würmer  mitbezieht.  Er  zerlegt  den  tierischen  Kör- 
per in  drei  Teile.  Der  Kopf  ist  das  Vorderende 
des  Tieres;  seine  Entwicklung  ist  dadurch  be- 
dingt, daß  hier  die  wichtigsten  Sinnesorgane  sich 
vorfinden:  Auge,  Ohr,  Geruchs-  und  Geschmacks- 
organ. Durch  die  Ausbildung  dieser  Sinneswerk- 
zeuge wird  nun  das  Zentralnervensystem  an  dieser 
Stelle  besonders  mächtig  entfaltet;  es  kommt  zur 
Ausbildung  des  Gehirns.  Zum  Schutz  für  die  Sinnes- 
organe und  das  Gehirn  wird  auch  das  Skelett 
des  Kopfes  in  besonderer  Weise  modifiziert;  es 
funktioniert  als  Schutz-  und  Stützorgan  und  wird 
zum  Schädel.  Der  mittlere  Teil  des  tierischen 
Körpers  enthält  die  „Organe  des  inneren  Lebens- 
antriebes", des  Kreislaufes  und  der  Atmung.  So 
liegen  beim  Säugetier  das  Herz  und  die  Lunge  im 
Brustkorb.  In  dem  hinteren  Teil  des  Tieres  be- 
finden sich  die  Organe  der  Nahrung,  also  Darm, 
Magen,  Leber  usw.,  und  der  Fortpflanzung.  Dieses 
allgemeine  Tierschema  wird  nun  noch  ergänzt  durch 
Hilfsorgane  zur  Bewegung,  welche  aber  nach  Goethe 
nur  im  mittleren  und  im  hinteren  Teil  angegliedert 
werden.  Im  Anschluß  an  diese  ganz  allgemeine  Ein- 
teilung löst  nun  Goethe  endlich  die  Aufgabe,  die  er 
sich  seit  Jahren  vorgenommen  hat;  er  gibt  eine  ganz 
genaue  Aufstellung  des  Typus  für  das  ganze  Skelett, 
liefert  also  hiermit  die  tatsächliche  Grundlage  für 

Magnus   Goethe  als  Naturforscher.  9 


130  Fünfte  Vorlesung. 

eine  vergleichende  Knochenlehre.  Daran  schließt 
er  eine  Erörterung  der  Abweichungen,  welche  im 
Einzelfalle  von  diesem  Typus  vorkommen  können; 
es  können  bei  bestimmten  Tieren  Gebilde  verknöchert 
sein,  welche  bei  andern  nur  im  knorpeligen  oder 
bindegewebigen  Zustand  vorhanden  sind;  es  können 
in  einzelnen  Fällen  Knochen  miteinander  verwachsen 
sein,  welche  bei  andern  noch  getrennt  vorkommen; 
es  können,  wie  z.  B.  im  Schädel,  Knochen,  welche 
bei  einigen  Tieren  aneinander  grenzen,  bei  andern 
durch  den  Fortsatz  eines  dritten  Knochens  ausein- 
andergedrängt werden;  es  können  alle  möglichen 
Verschiedenheiten  in  der  Zahl  der  Knochen  vor- 
kommen, wie  z.  B.  die  Zahl  der  Schwanzwirbel  bei 
den  verschiedenen  Tieren  eine  außerordentlich  wech- 
selnde ist;  es  können  sehr  weitgehende  Unterschiede 
in  der  Größe  und  in  der  Form  der  Knochen  auf- 
treten. Im  Einzelfalle  sind  also  die  größten  Ände- 
rungen möglich,  und  es  ist  oft  außerordentlich 
schwierig,  ihn  auf  den  Typus  zurückzuführen.  Da 
weist  nun  Goethe  darauf  hin,  daß  das  sicherste 
Kriterium  zur  Erkennung  eines  Knochens  sein  Platz 
sei,  daß  die  Knochen  in  der  Tierreihe  wohl  Form, 
Größe  und  ihre  andern  Eigenschaften  ändern,  den 
Platz  im  Skelett  aber  mit  großer  Zähigkeit  festhalten. 
So  ist  es  möglich,  im  Zweifelsfalle  Klarheit  über  die 
Bedeutung  eines  bestimmten  Knochen  zu  bekommen. 
Bei  der  Vergleichung  findet  man  gelegentlich  auch 


Osteologische  und  vergleichend  anatomische  Arbeiten  I,     131 

Teile  im  Zustand  hochgradigster  Rückbildung,  rudi- 
mentäre Organe,  welche  eine  Funktion  nicht  mehr 
besitzen.  Auch  über  deren  Bedeutung  spricht  sich 
Goethe  aus.  Er  rügt  an  Buffon,  daß  er  unnütze 
Teile  im  Tier  passieren  läßt:  „unnütz  nach  außen, 
ja,  aber  notwendig  nach  innen".  Die  rudimentären 
Organe  haben  allerdings  keine  äußere  Funktion  mehr, 
wie  z.  B.  der  Blinddarm  der  Fleischfresser  und  die 
Schwanzwirbel  des  Menschen.  Sie  sind  aber  not- 
wendig bedingt  dadurch,  daß  sie  zum  Typus  ge- 
hören, daß  sie,  wenn  auch  in  verkümmerter  Form, 
da  sein  müssen,  weil  kein  Tier  die  Schranken  seines 
Typus  durchbrechen  kann. 

Das  ist  im  wesentlichen  der  Inhalt  von  Goethes 
größeren  vergleichend-anatomischen  Schriften.  Wir 
wollen  nun,  gerade  wie  bei  Besprechung  der  bota- 
nischen Werke,  uns  in  der  nächsten  Vorlesung  die 
Frage  vorlegen,  welches  die  in  diesen  Werken  ent- 
haltenen grundlegenden  Gesichtspunkte  sind  und 
welche  für  Goethe  charakteristischen  Anschauungen 
sich  in  ihnen  finden  lassen. 


Sechsie  Vorlesung. 

Die  osteologischen  und  vergleichend  anatomischen 
Arbeiten  IL 

Meine  Herren!  Die  Methode,  nach  der  Goethe 
auf  vergleichend -anatomischem  Gebiet  zu  Werke 
geht,  ist,  wie  schon  mehrfach  betont,  derjenigen  ganz 
ähnlich,  die  er  zu  seinen  botanischen  Studien  ver- 
wendete. Er  stellt  sich  zunächst  aus  den  Einzel- 
erscheinungen eine  kontinuierliche  Reihe  her,  welche 
von  den  einfachsten  bis  zu  den  kompliziertesten 
Formen  fortschreitet,  und  erst  wenn  er  diese  hat, 
wendet  er  das  Mittel  der  Vergleichung  an,  da  sich 
erst  dann  mit  Sicherheit  erkennen  läßt,  welche  Dinge 
tatsächlich  miteinander  verglichen  werden  können. 
Bei  den  Formänderungen,  die  er  so  durch  Ver- 
gleichung bei  den  verschiedenen  Tieren  und  bei  den 
verschiedenen  Teilstücken  desselben  Tieres  feststellen 
kann,  ergibt  sich  nun  als  leitender  Gesichtspunkt,  der 
durch  alle  seine  einschlägigen  Arbeiten  hindurchgeht, 
der  Zusammenhang  zwischen  Form  und  Funktion. 
Schon  beim  Zwischenkiefer  hatte  Goethe  gefunden, 
daß  die  Ausbildung  dieses  Knochens  aufs  engste 
mit  den  Nahrungsgewohnheiten  des  Tieres  verknüpft 


Osteologische  und  vergleichend  anatomische  Arbeiten  II.     1 33 

ist,  und  er  sah,  wie  wir  gehört  haben,  ähnliche  Be- 
ziehungen auch  bei  andern  Skeletteilen  obwalten. 

Um  aber  eine  ganz  einheitliche  Betrachtung  in 
dieses  Gebiet  der  Gestaltenlehre  zu  bringen  und 
um  aus  ihr  die  Wissenschaft  der  Morphologie  zu 
schaffen,  bedurfte  es  einer  gemeinsamen  Grundlage 
für  die  Vergleichung,  und  diese  ist  für  Goethe  der 
Typus,  den  er  nach  sorgfältiger  Erforschung  der  in 
der  Natur  vorkommenden  Einzelformen  aus  diesen 
konstruiert  und  den  er  für  alle  weiteren  Vergleichungen 
zum  Ausgang  nimmt.  Diese  vergleichende  Form- 
betrachtung unter  Zugrundelegung  eines  schema- 
tischen Typus  ist  der  wesentliche  Inhalt  von  Goethes 
Morphologie.  Bei  der  Betrachtung  der  tierischen 
Form  gliedert  sich  diese  zunächst  in  vergleichende 
Anatomie,  d.  h.  das  Studium  der  Formwandlung  von 
einer  Tierart  zur  andern,  und  in  das  Studium  der 
simultanen  Metamorphose,  d.  h.  der  Formänderung 
bei  ein  und  demselben  Tiere  von  einem  Metameren 
zum  andern. 

Zunächst  geht  also  Goethe  so  vor,  daß  er  das 
allen  Tieren  Gemeinsame  festzustellen  sucht;  wenn 
er  dies  hat,  schlägt  er  den  umgekehrten  Weg  ein 
und  sieht  zu,  welche  Formänderung  nun  diese  ge- 
meinsamen Bestandteile  in  den  verschiedenen  Einzel- 
fällen erleiden.  Diese  Anschauung  des  Naturforschers 
ist  auch  für  den  bildenden  Künstler  von  größter 
Wichtigkeit.  Nach  Goethes  Ansicht  kann  der  Künstler 


134  Sechste  Vorlesung. 

nur  dann  mit  der  Natur  wetteifern,  wenn  er  die  Art, 
wie  sie  bei  Bildung  ihrer  Werke  verfährt,  ihr  wenig- 
stens einigermaßen  ablernt.  Auch  er  muß  den  Typus 
zugrunde  legen  und  dann  die  Abweichungen  suchen, 
wodurch  Charaktere  entstehen.  Die  Bildwerke  der 
Antike  stehen  deshalb  so  unerreicht  da,  weil  die 
alten  Künstler  auf  Grund  genauen  Naturstudiums 
immer  das  Typische  zur  Grundlage  ihrer  so  charakte- 
ristischen Figuren  genommen  haben. 

Goethe  ist  aber  nicht  dabei  stehen  geblieben,  die 
unendliche  in  der  Natur  vorkommende  Formver- 
schiedenheit nur  dadurch  meistern  zu  wollen,  daß 
er  sie  auf  den  Typus  zurückführte.  Er  hat  sich  auch 
die  weitere  Frage  vorgelegt,  wie  es  denn  komme,  daß 
die  einzelnen  Tiere  jedes  für  sich  so  vollkommen 
harmonisch  ausgebildet  seien.  Um  dies  zu  erklären, 
stellte  er  sein  Gesetz  von  der  Korrelation  der  Teile 
auf,  das  von  ihm  herrührt  und  sich  als  außerordent- 
lich fruchtbringend  für  die  Fortentwicklung  der 
Wissenschaft  erwiesen  hat.  Er  betrachtet  den  Orga- 
nismus nicht  nur  als  ein  Konglomerat  seiner  einzelnen 
Teilstücke,  sondern  nimmt  gesetzmäßige  Wechsel- 
beziehungen zwischen  ihnen  an,  zunächst  in  phy- 
siologischer Hinsicht.  Hier  wissen  wir  heute,  daß  die 
Tätigkeit  der  verschiedenen  Organe  in  engster  Ab- 
hängigkeit voneinander  steht,  daß  für  ein  gutes 
Funktionieren  des  Gehirns  oder  der  Leber  notwen- 
digerweise  das   Herz   eine   kräftige   Blutzirkulation 


Osteologische  und  vergleichend  anatomische  Arbeiten  11.     135 

bewirken  muß,  daß  die  chemische  Tätigkeit  der 
Leber  in  entscheidender  Weise  die  Nierenfunktion 
beeinflußt,  und  daß  Erkrankungen  der  Niere  wieder 
zu  bestimmten  Änderungen  im  Herzen  Anlaß  geben. 
Goethe  beschränkte  aber  sein  Gesetz  von  der  Korre- 
lation der  Teile  nicht  allein  auf  die  physiologischen 
Wechselbeziehungen;  er  gab  ihm  vielmehr  auch  einen 
entwicklungsphysiologischen  Sinn.  Er  nahm  nämlich 
an,  daß  jedes  Tier  bei  seiner  Entwicklung  eine  be- 
stimmte unveränderliche  Summe  von  Entwicklungs- 
möglichkeiten mitbekomme,  daß,  wenn  irgend  ein 
Organsystem  besonders  mächtig  ausgebildet  wird, 
dafür  an  irgend  einer  andern  Stelle  des  Körpers 
gespart  werden  müsse,  und  „daß  keinem  Teil  etwas 
zugelegt  werden  könne,  ohne  daß  einem  andern  da- 
gegen etwas  abgezogen  werde,  und  umgekehrt". 
Jedes  Tier  bekommt  von  vornherein  einen  bestimmten 
Etat,  mit  dem  es  haushalten  muß,  den  es  aber  im 
einzelnen  auf  die  verschiedenen  Körperteile  und 
Organsysteme  nach  Bedarf  verteilen  kann.  „Um  nun 
jene  Idee  eines  haushälterischen  Gebens  und  Nehmens 
anschaulich  zu  machen,  führen  wir  einige  Beispiele 
an.  Die  Schlange  steht  in  der  Organisation  weit 
oben.  Sie  hat  ein  entschiedenes  Haupt  mit  einem 
vollkommenen  Hilfsorgan,  einer  vorne  verbundenen 
unteren  Kinnlade.  Allein  ihr  Körper  ist  gleichsam 
unendlich,  und  er  kann  es  deswegen  sein,  weil  er 
weder  Materie  noch  Kraft  auf  Hilfsorgane  zu  ver- 


136  Sechste  Vorlesung. 

wenden  hat.  Sobald  nun  diese  in  einer  andern 
Bildung  hervortreten,  wie  z.  B.  bei  der  Eidechse  nur 
kurze  Arme  und  Füße  hervorgebracht  werden,  so 
muß  die  unbedingte  Länge  sogleich  sich  zusammen- 
ziehen und  ein  kürzerer  Körper  stattfinden.  Die 
langen  Beine  des  Frosches  nötigen  den  Körper 
dieser  Kreatur  in  eine  sehr  kurze  Form,  und  die 
ungestaltete  Kröte  ist  nach  eben  diesem  Gesetze  in 
die  Breite  gezogen."  So  sorgt  das  Gesetz  von  der 
Korrelation  der  Teile  dafür,  daß  keine  Monstra  ent- 
stehen können. 

Welches  sind  nun  aber  die  treibenden  Kräfte  für  die 
Formänderungen  in  der  Tierreihe?  Hier  nahm  Goethe 
gerade  wie  auf  botanischem  Gebiet  zwei  Reihen  von 
Faktoren  an,  innere  und  äußere.  Einen  inneren  Drang 
nämlich,  der  dem  Typus  innewohnen  soll  und  dazu 
führt,  daß  dieser  sich  in  möglichst  viel  verschiedenen 
Formen  verkörpere,  eine  Versalität  des  Typus,  ein 
inneres  Bestreben,  möglichst  viel  verschiedene  Varie- 
täten hervorzubringen.  Zweitens  aber  sieht  er  auch 
äußere  Ursachen  am  Werke.  Dieser  Teil  seiner 
Formbildungsiehre  ist  für  Goethes  ganze  Vorstel- 
lungsweise außerordentlich  charakteristisch.  Er  zeigt 
uns,  wie  der  Poet  in  jedem  Falle,  auch  wenn  das 
Wissen  der  Zeit  nur  sehr  kärgliches  Material  darbot, 
auf  eine  greifbare  und  anschauliche  Vorstellung  hin- 
drflngte,  und  wie  er  auf  seine  Weise  sich  die  Lösung 
eines  Problems  zurecht  legte,  das  auch  heute  noch 


Osteologische  und  vergleichend  anatomische  Arbeiten  II.     1 37 

zu  den  dunkelsten  Gebieten  der  Biologie  gehört. 
Sie  erinnern  sich  von  der  Besprechung  der  botani- 
schen Studien  her,  daß  Goethe  die  Ausbildung  der 
Pflanzenform  in  engster  Abhängigkeit  von  äußeren 
Bedingungen,  wie  Licht,  Luft,  Sonne  und  Boden, 
gefunden  hatte.  Genau  dieselbe  Überlegung  stellte 
er  auch  für  die  tierische  Formbildung  an.  Er  spricht 
den  äußeren  Bedingungen,  dem  Milieu,  in  dem  das 
Tier  lebt,  einen  wichtigen  Anteil  an  dessen  Form- 
gestaltung zu.  Seiner  Ausdrucksweise  nach  erfolgt 
die  Bildung  der  Tiere  „durch  Umstände  für 
Umstände".  Um  was  es  sich  dabei  handelt,  geht 
am  klarsten  aus  Goethes  eigener  Darstellung  her- 
vor: „Das  Wasser  schwellt  die  Körper,  die  es  um- 
gibt, berührt,  in  die  es  mehr  oder  weniger  hinein- 
dringt, entschieden  auf.  So  wird  der  Rumpf  des 
Fisches,  besonders  das  Fleisch  desselben  aufge- 
schwellt, nach  den  Gesetzen  des  Elements.  Nun 
muß  nach  den  Gesetzen  des  organischen  Typus  auf 
diese  Aufschwellung  des  Rumpfes  das  Zusammen- 
ziehen der  Extremitäten  oder  Hilfsorgane  folgen, 
ohne  was  noch  weiter  für  Bestimmungen  der  übrigen 
Organe  daraus  entstehen,  die  sich  später  zeigen 
werden.  —  Die  Luft,  indem  sie  das  Wasser  in  sich 
aufnimmt,  trocknet  aus.  Der  Typus  also,  der  sich 
in  der  Luft  entwickelt,  wird,  je  reiner,  je  weniger 
feucht  sie  ist,  desto  trockener  inwendig  werden, 
und  es  wird  ein  mehr  oder  weniger  magerer  Vogel 


138  Sechste  Vorlesung. 

entstehen,  dessen  Fleisch  und  Knochengerippe  reich- 
lich zu  bekleiden,  dessen  Hilfsorgane  hinlänglich  zu 
versorgen,  für  die  bildende  Kraft  noch  Stoff  genug 
übrig  bleibt.  Was  bei  dem  Fische  auf  das  Fleisch 
gewandt  wird,  bleibt  hier  für  die  Federn  übrig.  So 
bildet  sich  der  Adler  durch  die  Luft  zur  Luft,  durch 
die  Berghöhe  zur  Berghöhe.  Der  Schwan,  die  Ente, 
als  eine  Art  von  Amphibien,  verraten  ihre  Neigung 
zum  Wasser  schon  durch  ihre  Gestalt.  Wie  wunder- 
sam der  Storch,  der  Strandläufer  ihre  Nähe  zum 
Wasser  und  ihre  Neigung  zur  Luft  bezeichnen,  ist 
anhaltender  Betrachtung  werth.  —  So  wird  man  die 
Wirkung  des  Klimas,  der  Berghöhe,  der  Wärme  und 
Kälte,  nebst  den  Wirkungen  des  Wassers  und  der 
gemeinen  Luft,  auch  zur  Bildung  der  Säugetiere  sehr 
mächtig  finden.  Wärme  und  Feuchtigkeit  schwellt 
auf  und  bringt  selbst  innerhalb  der  Gränzen  des 
Typus  unerklärlich  scheinende  Ungeheuer  hervor, 
indessen  Hitze  und  Trockenheit  die  vollkommensten 
und  ausgebildetsten  Geschöpfe,  so  sehr  sie  auch 
der  Natur  und  Gestalt  nach  dem  Menschen  ent- 
gegenstehen, z.  B.  den  Löwen  und  Tiger,  hervor- 
bringen, und  so  ist  das  heiße  Klima  allein  im  Stande, 
selbst  der  unvollkommenen  Organisation  etwas 
Menschenähnliches  zu  erteilen,  wie  z.  B.  im  Affen 
und  Papageien  geschieht"  Es  handelt  sich,  wie  Sie 
sehen,  hier  um  sehr  primitive,  aber  darum  nicht 
minder   anschauliche   Vorstellungen.     Die    äußeren 


Osteologische  und  vergleichend  anatomische  Arbeiten  II.     139 

Umstände  schaffen  vollkommen  blind  und  wirken 
rein  nach  physikaUschen  und  chemischen  Gesetzen 
auf  die  verschiedenen  Organismen  ein,  sie  in  ener- 
gischer Weise  umgestaltend.  Trotzdem  entstehen 
keine  widersinnigen  Gestalten,  sondern  das  Gesetz 
von  der  Korrelation  der  Teile  greift  regulierend  ein 
und  sorgt  dafür,  daß  das  Tier  als  Ganzes  harmonisch 
gebildet  wird.  Das  ist  Goethes  Lösung  des  Problems 
vom  Zusammenhang  zwischen  Form  und  Funktion. 
Die  Lebensweise  und  das  Milieu  eines  Tieres  ändern 
rein  mechanisch  seine  Gestalt  und  die  inneren  Orga- 
nisationsgesetze sorgen  dafür,  daß  diese  Gestalt  einen 
organischen  Zusammenhang  behält. 

So  beantwortet  sich  auch  die  Frage  nach  der 
inneren  Zweckmäßigkeit  der  Organismen.  Goethe 
selbst  hat  dieses  Problem  des  öftern  diskutiert  und 
nimmt  dabei  jedesmal  in  schärfster  Weise  Stellung 
gegen  jede  teleologische  Betrachtungsweise.  Für  ihn 
ist  die  Frage  sinnlos,  wozu  der  Eber  die  Hauer  hat, 
man  darf  nur  fragen,  warum  er  sie  besitzt.  Der  Ochse 
hat  nicht  Hörner,  um  sich  zu  wehren,  sondern  er 
wehrt  sich,  weil  er  Hörner  hat.  In  der  damaligen  Zeit 
war  es  noch  eine  geläufige  Betrachtungsweise,  anzu- 
nehmen, daß  die  Tiere  des  Waldes  und  die  Fische 
des  Meeres  deshalb  geschaffen  seien,  damit  der 
Mensch  sie  esse.  Diese  Anschauungsweise  gilt  für 
Goethe  als  unnaturwissenschaftlich.  „Die  Vorstel- 
lungsart,  daß   ein   lebendiges  Wesen   zu  gewissen 


140  Sechste  Vorlesung. 

Zwecken  nach  außen  hervorgebracht  und  seine  Ge- 
stalt durch  eine  absichtliche  Urkraft  dazu  determi- 
niert werde,  hat  uns  in  der  philosophischen  Be- 
trachtung der  natürlichen  Dinge  schon  mehrere 
Jahrhunderte  aufgehalten  und  hält  uns  noch  auf. . . . 
Der  Mensch  ist  gewohnt,  die  Dinge  nur  in  dem 
Maße  zu  schätzen,  als  sie  ihm  nützlich  sind,  und  da 
er,  seiner  Natur  und  seiner  Lage  nach,  sich  für  das 
Letzte  der  Schöpfung  halten  muß:  warum  sollte  er 
auch  nicht  denken,  daß  er  ihr  letzter  Endzweck  sei. 
Warum  soll  sich  seine  Eitelkeit  nicht  den  kleinen 
Trugschluß  erlauben?  Weil  er  die  Sachen  braucht 
und  brauchen  kann,  so  folgert  er  daraus:  sie  seien 
hervorgebracht,  daß  er  sie  brauche.  ...  Da  er  nun 
femer  an  sich  und  an  andern  mit  Recht  diejenigen 
Handlungen  und  Wirkungen  am  meisten  schätzt, 
welche  absichtlich  und  zweckmäßig  sind,  so  folgt 
daraus,  daß  er  der  Natur,  von  der  er  ohnmöglich 
einen  größern  Begriff  als  von  sich  selbst  haben 
kann,  auch  Absichten  und  Zwecke  zuschreiben  wird." 
Diese  Betrachtungsweise  wird  von  Grund  aus  ab- 
gelehnt und  Goethe  kommt  so  dazu,  alle  End- 
ursachen zur  Erklärung  der  Naturerscheinungen  zu- 
rückzuweisen. Für  ihn  ist  nur  eine  rein  causale 
Betrachtungsweise  auch  in  den  organischen  Natur- 
gebieten möglich. 

Um   also    nochmals   zu    rekapitulieren,    so   Ist 
Goethes  Anschauung  von  der  tierischen  Formbildung 


Osteologische  und  aergleichend  anatomische  Arbeiten  II.     141 

in  Kürze  diese:  Der  Typus  ist  von  vornherein  ge- 
geben. Die  äußeren  Umstände  bedingen  seine  spe- 
ziellen Ausbildungen.  Durch  das  Gesetz  von  der 
Korrelation  wird  das  Ganze  harmonisch  gestaltet. 
Also  entsteht  die  zweckmäßige  Ausbildung  des 
tierischen  Körpers.  Die  Tierform  ist  die  Resultante 
zweier  Komponenten,  äußerer  und  innerer. 

Wenn  in  dieser  Weise  die  Ausbildung  des  Tier- 
körpers in  konstanter  Abhängigkeit  vom  Milieu  steht, 
in  dem  das  Tier  lebt,  so  müssen  alle  äußeren  Dinge, 
auch  die  Pflanzenwelt  und  die  niedere  Tierwelt  die 
Organisation  irgend  eines  Tieres  gesetzmäßig  beein- 
flussen. „Das  ganze  Pflanzenreich  z.  E.  wird  uns 
wieder  als  ein  ungeheures  Meer  erscheinen,  welches 
ebensogut  zur  bedingten  Existenz  der  Insekten  nötig 
ist  als  das  Weltmeer  und  die  Flüsse  zur  bedingten 
Existenz  der  Fische,  und  wir  werden  sehen,  daß 
eine  ungeheure  Zahl  lebender  Geschöpfe  in  diesem 
Pflanzen-Ocean  geboren  und  ernährt  werde,  ja  wir 
werden  zuletzt  die  ganze  tierische  Welt  wieder  nur 
als  ein  großes  Element  ansehen,  wo  ein  Geschlecht 
auf  dem  andern  und  durch  das  andere,  wo  nicht 
entsteht,  doch  sich  erhält."  Auf  diese  Weise  erhebt 
sich  Goethe  zu  einer  grandiosen  Anschauung  der 
Gesamtheit  des  organischen  Lebens,  das  sich  gegen- 
seitig bedingt  und  durchdringt  und  dessen  Aus- 
gestaltung durchaus  gesetzmäßig  erfolgt,  eine  Kon- 
zeption von  einer  Großartigkeit,  die  des  Dichters 


142  Sechste  Vorlesung. 

würdig  ist  und  für  die  erst  ein  halbes  Jahrhundert 
später  durch  Liebig  und  andere  einige  tatsächliche 
Grundlagen  geliefert  worden  sind^). 

Von  dieser  einheitlichen  Betrachtung  der  ganzen 
Lebewelt  ist  es  nur  ein  Schritt,  wenn  Goethe  über- 
haupt die  gesamte  Natur  als  einen  großen 
Organismus  auffaßt,  der  Tier-  und  Pflanzenreich 
als  seine  Kinder  hervorbringt.  Diesen  Gedanken 
hatte  Kant  (Kritik  der  Urteilskraft,  §  80)  als  ein  ge- 
wagtes Abenteuer  der  Vernunft  2)  bezeichnet,  das 
vielen  Naturforschern  wohl  schon  durch  den  Kopf 
gegangen   sei.     Goethe  bekennt  sich   ausdrücklich 


*)  Die  allgemeinen  morphologischen  und  formphysiologi- 
schen Ideen  Goethes,  die  im  Vorhergehenden  entwickelt 
worden  sind,  zeigen  eine  auffallende  Verwandtschaft  mit 
den  Anschauungen,  zu  denen  kurze  Zeit  später  die  großen 
französischen  Forscher  Cuvier  und  Geoffroy  St.  Hilaire  ge- 
kommen sind.  Cuvier  gilt  bekanntlich  sogar  als  der  Be- 
gründer der  vergleichenden  Anatomie.  Auch  er  betonte  den 
Zusammenhang  zwischen  Form  und  Funktion  der  Organe.  Er 
und  Geoffroy  St.  Hilaire  sprechen  von  einer  Korrelation  der 
Organe  und  Letzterer  sah  als  das  wichtigste  Kriterium  für 
die  Homologie  verschiedener  Organe  in  der  Tierreihe  die 
Konstanz  ihres  Platzes  an.  Wenn  wir  so  die  leitenden  Vor- 
stellungen, zu  denen  Goethe  gelangt  ist,  kurze  Zeit  darauf 
bei  den  hervorragendsten  und  anerkanntesten  Fachgelehrten 
wiederfinden,  so  wird  uns  erst  recht  die  überragende  Be- 
deutung klar,  die  er  als  Naturforscher  im  Verhältnis  zu  seinen 
Zeitgnossen  eingenommen  hat. 

*)  Das  ist  der  zweifellose  Sinn  jener  vielfach  mißdeuteten 
Stelle  (.Anschauende  Urteilskraft'.  Weim.  Ausg.  II.  Abt. 
Bd.  11.  S.  55),  der  man  sogar  eine  descendcnztheoretische 
Bedeutung  unterlegen  wollte. 


Osteologische  und  vergleichend  anatomische  Arbeiten  II.     143 

zu  dieser  Vorstellungsart  des  „Alten  vom  Königs- 
berge",  um  sich  ^  durch  das  Anschauen  einer  immer 
schaffenden  Natur  zur  geistigen  Teilnahme  an  ihren 
Produktionen  würdig  zu  machen". 

Durchaus  auf  naturwissenschaftlichem  Boden  steht 
Goethe,  wenn  er  aufs  entschiedenste  alle  theolo- 
gischen Erklärungsarten  der  Tierentstehung  und 
Tierverwandlung  ablehnt.  In  der  wissenschaftlichen 
Morphologie  hat  für  ihn  „das  fromme  Streben,  die 
Organismen  zur  Ehre  Gottes  deuten  zu  wollen" 
nichts  zu  suchen.  Bei  den  zeitgenössischen  Natur- 
forschern spielte  der  Bibelglaube  fortwährend  in 
ihre  wissenschaftlichen  Theorien  hinein.  Linne 
führte  alle  einzelnen  Arten  seines  Systems  direkt 
auf  den  Schöpfungsakt  zurück,  und  Cuvier  hat  be- 
kanntlich angenommen,  daß  nach  jeder  Erdkata- 
strophe, welche  wie  die  Sintflut  zum  Untergang  des 
gesamten  organischen  Lebens  auf  der  Erde  geführt 
haben  sollte,  eine  neue  Tierwelt  neu  geschaffen 
worden  sei.  Derartige  Anschauungen  sind  Goethes 
naturwissenschaftlicher  Denkweise  durchaus  ent- 
gegen. Für  ihn,  der  in  spinozistischen  Ideen  groß 
geworden  war,  ist  Gott  und  Natur  dasselbe.  Er 
sucht  das  höchste  Wesen  nicht  über,  sondern  in 
der  Natur  und  ihm  scheint  es  eine  würdige  Aufgabe 
des  Naturforschers,  Gott -Natur  bei  ihrer  Bildungs- 
tätigkeit zu  beobachten.  „Wir  treten",  schreibt  er, 
„weder  der  Urkraft  der  Natur,  noch  der  Weisheit 


144  Sechste  Vorlesung. 

und  Macht  eines  Schöpfers  zu  nahe,  wenn  wir  an- 
nehmen, daß  jene  mittelbar  zu  Werke  gehe,  dieser 
mittelbar  im  Anfang  der  Dinge  zu  Werke  gegangen 
sei.**  Nicht  ein  einmaliger  Schöpfungsakt  erklärt  ihm 
die  Vielfältigkeit  der  tierischen  und  pflanzlichen 
Form,  sondern  das  mittelbare  Wirken  und  fort- 
dauernde Wirksambleiben  aller  oben  genannten  Na- 
turfaktoren hat  die  tierische  Form  gebildet  und 
bildet  sie  noch  fortdauernd  um. 

Bezeichnend  für  Goethes  vorurteilslose  Denkweise 
ist  die  einfache  Selbstverständlichkeit,  mit  der  er 
ohne  weiteres  den  Menschen  vergleichend  anatomisch 
den  Säugetieren  zuzählt.  Wenn  man  bedenkt,  welchen 
Sturm  noch  vor  wenigen  Jahrzehnten  Darwins  Lehre 
von  der  Abstammung  des  Menschen  hervorgerufen 
hat  und  wie  noch  unmittelbar  vor  Goethe  die  her- 
vorragendsten Anatomen  sich  bemühten,  den  Men- 
schen prinzipiell  von  den  Säugetieren  zu  unter- 
scheiden, so  wird  man  auch  in  diesem  Punkte  die 
ruhige  Sicherheit  bewundern,  mit  der  Goethe  sich 
in  allen  Dingen  auf  den  Boden  des  Tatsächlichen 
gestellt  hat. 

Von  großem  Interesse  ist,  daß  uns  eine  kurze, 
mehr  gelegentliche  Bemerkung  erlaubt,  auch  über 
seine  Stellung  zu  einer  Frage  etwas  auszusagen, 
welche  gerade  in  der  letzten  Zeit  wieder  vielfach  von 
Naturforschern  ventiliert  worden  ist,  die  Frage  nach 
der  Tierseele.   Eine  Reihe  von  Physiologen  steht  jetzt 


Osteologische  und  vergleichend  anatomische  Arbeiten  II.     145 

auf  dem  besonders  durch  v.  Uexküll  vertretenen  Stand- 
punkt, daß  wir  kein  Mittel  besitzen,  um  diese  Frage 
überhaupt  zu  lösen  und  daß  sie  deshalb  nicht  Aufgabe 
der  physiologischen  Forschung  sein  könne.  Man  kann 
feststellen,  auf  welche  äußeren  Reize  ein  Tier  reagiert, 
man  kann  die  nervösen  Erregungsvorgänge  in  seinem 
Nervensystem  untersuchen,  man  kann  die  Bewe- 
gung&n,  welche  das  Tier  auf  irgend  einen  Reiz  oder 
„spontan"  ausführt,  beobachten;  aber  es  gibt  keine 
Möglichkeit,  zu  entscheiden,  ob  das  Tier  dabei  eine 
bewußte  Empfindung  hat  oder  nicht.  Diejenigen, 
welche  geneigt  sind,  den  höheren  Tieren  solche  be- 
wußten Empfindungen  zuzuschreiben,  mögen  sich 
die  Frage  vorlegen,  wo  sie  in  der  Tierreihe  die 
Grenze  ziehen  wollen,  unterhalb  derer  sie  kein  Be- 
wußtsein mehr  annehmen.  Wer  die  Entwicklung 
kleiner  Kinder  beobachtet  hat,  weiß,  daß  es  voll- 
ständig unmöglich  ist,  den  Zeitpunkt  anzugeben, 
wann  in  ihrem  Leben  zuerst  bewußte  Empfindungen 
auftreten.  Wir  können  also  die  Frage  nach  einer 
Tierseele  mit  naturwissenschaftlichen  Methoden 
nicht  lösen,  und  es  ist  für  diejenigen,  welche  diesen 
Standpunkt  einnehmen,  von  besonderem  Interesse, 
daß  Goethe  in  seiner  allgemeinen  Einleitung  in  die 
vergleichende  Anatomie  die  Frage  nach  der  Tier- 
seele als  eine  leere  Spekulation  bezeichnet  hat,  da 
wir  durch  die  Erfahrung  nichts  darüber  feststellen 
können. 

Magnus,  Goethe  als  Naturforscher.  10 


146  Sechste  Vorlesung. 

Das  sind  einige  der  wichtigsten  Gesichtspunkte 
und  Gesetze,  welche  Goethe  in  seinen  morpho- 
logischen Arbeiten  über  tierische  Form  und  Form- 
bildung entwickelt  hat.  Wollen  wir  das  Gesagte 
uns  noch  einmal  kurz  vergegenwärtigen,  so  können 
wir  nichts  besseres  tun,  als  das  schöne  Gedicht  zu 
lesen,  in  welchem  Goethe  zehn  Jahre  später  (1806) 
seine  Anschauungen  in  klarster  Weise  zusammen- 
gefaßt hat 

Wagt  ihr,  also  bej-'eitet,  die  letzte  Stufe  zu  steigen, 
Dieses  Gipfels,  so  reicht  niir  die  Hand  üird  Öffnet  den  ffele'fii 
Bück  in's  weite  Feld  der  Natur.    Sie  spendet  die  reichen 
Lebensgaben  umher,  die  Göttin;  aber  empfindet 
Keine  Sorge  wie  sterbliche  Fraun  um  ihrer  Gebornen 
Sichere  Nahrung;   ihr  ziemet  es  nicht:   denn   zwiefach  be- 
stimmte 
Sie  das  höchste  Gesetz,  beschränkte  jegliches  Leben, 
Gab  ihm  gemess'nes  Bedürfnis,  und  ungemessene  Gaben, 
Leicht  zu  finden,  streute  sie  aus,  und  ruhig  begünstigt 
Sie  das  muntre  BemUhn  der  vielfach  bedürftigen  Kinder; 
Unerzogen  schwärmen  sie  fort  nach  ihrer  Bestimmung. 
Zweck  sein  selbst  ist  jegliches  Tier,  vollkommen  entspringt  es 
Aus  dem  Schoos  der  Natur  und  zeugt  vollkommene  Kinder. 
Alle  Glieder  bilden  sich  aus  nach  ew'gen  Gesetzen, 
Und  die  seltenste  Form  bewahrt  im  Geheimen  das  Urbild. 
So  ist  jeglicher  Mund  geschickt  die  Speise  zu  fassen, 
Welche  dem  Körper  gebührt,  es  sei  nun  schwächlich  und 

zahnlos 
Oder  mächtig  der  Kiefer  gezähnt,  in  jeglichem  Falle 
Fördert  ein  schicklich  Organ  den  übrigen  Gliedern  die  Nahrung. 
Auch  bewegt  sich  jeglicher  Fuß,  der  lange,  der  kurze, 
Oanz  harmonisch  zum  Sinne  des  Tiers  und  seinem  Bedürfnis. 
So  ist  jedem  der  Kinder  die  volle  reine  Gesundheit 
Von  der  Mutter  bestimmt:  denn  alle  lebendigen  Glieder 
Widersprechen  sich  nie  und  wirken  alle  zum  Leben. 


Osteologische  und  vergleichend  anatomische  Arbeiten  II.     147 

Also  bestimmt  die  Gestalt  die  Lebensweise  des  Tieres, 
Und  die  Weise  zu  leben,  sie  wirkt  auf  alle  Gestalten 
Mächtig  zurück.    So  zeiget  sich  fest  die  geordnete  Bildung, 
Welche  zum  Wechsel  sich  neigt  durch  äußerlich  wirkende  Wesen. 
Doch  im  Innern  befindet  die  Kraft  der  edlern  Geschöpfe 
Sich  im  heiligen  Kreise  lebendiger  Bildung  beschlossen. 
Diese  Gränzen  erweitert  kein  Gott,  es  ehrt  die  Natur  sie: 
Denn  nur  also  beschränkt  war  je  das  Vollkommene  möglich. 
Doch  im  Inneren  scheint  ein  Geist  gewaltig  zu  ringen, 
Wie  er  durchbräche  den  Kreis,  Willkür  zu  schaffen  den  Formen 
Wie  dem  Wollen;  doch  was  er  beginnt,  beginnt  er  vergebens. 
Denn  zwar  drängt  er  sich  vor  zu  diesen  Gliedern,  zu  jenen, 
Stattet  mächtig  sie  aus,  jedoch  schon  darben  dagegen 
Andere  Glieder,  die  Last  des  Übergewichtes  vernichtet 
Alle  Schöne  der  Form  und  alle  reine  Bewegung. 
Siehst  du  also  dem  einen  Geschöpf  besonderen  Vorzug 
Irgend  gegönnt,  so  frage  nur  gleich,  wo  leidet  es  etwa 
Mangel  anderswo,  und  suche  mit  forschendem  Geiste, 
Finden  wirst  du  sogleich  zu  aller  Bildung  den  Schlüssel. 
Denn  so  hat  kein  Tier,  dem  sämmtliche  Zähne  den  obem 
Kiefer  umzäunen,  ein  Hörn  auf  seiner  Stirne  getragen. 
Und  daher  ist  den  Löwen  gehörnt  der  ewigen  Mutter 
Ganz  unmöglich  zu  bilden  und  böte  sie  alle  Gewalt  auf: 
Denn  sie  hat  nicht  Masse  genug,  die  Reihen  der  Zähne 
Völlig  zu  pflanzen  und  auch  Geweih  und  Hörner  zu  treiben. 

Dieser  schöne  Begriff  von  Macht  und  Schranken,  von  Willkür 
Und  Gesetz,  von  Freiheit  und  Maß,  von  beweglicher  Ordnung, 
Vorzug  und  Mangel  erfreue  dich  hoch;  die  heilige  Muse 
Bringt  harmonisch  ihn  dir  mit  sanftem  Zwange  belehrend. 
Keinen  höhern  Begriff  erringt  der  sittliche  Denker, 
Keinen  der  thätige  Mann,  der  dichtende  Künstler;  der  Herrscher 
Der  verdient  es  zu  sein,  erfreut  nur  durch  ihn  sich  der  Krone. 
Freue  dich,  höchstes  Geschöpf  der  Natur,  du  fühlest  dich  fähig, 
Ihr  den  höchsten  Gedanken,  zu  dem  sie  schaffend  sich  auf- 
schwang, 
Nachzudenken.    Hier  stehe  nun  still  und  wende  die  Blicke 
Rückwärts,  prüfe,  vergleiche  und  nimm  vom  Munde  der  Muse, 
Daß  du  schauest,  nicht  schwärmst,  die  liebliche  volle  Gewißheit 

10* 


148  Sechste  Vorlesung. 

In  den  zwei  letzten  Jahrzehnten  seines  Lebens  be- 
schränkte sich  Goethe  darauf,  die  Fortentwicklung 
der  zoologischen  und  vergleichend  anatomischen 
Literatur  zu  verfolgen,  zahlreiche  Notizen  zu  sammeln 
und  gelegentlich  kleinere  Aufsätze  zu  veröffentlichen. 
Eingehendere  selbständige  Forschungen  hat  er  nicht 
mehr  angestellt.  Von  bleibendem  Werte  sind  vor 
allem  einige  Recensionen,  die  er  zu  den  Arbeiten 
seiner  Freunde  Carus  und  d'Alton,  welche  ihn  be- 
sonders interessierten,  geschrieben  hat  Er  berichtet 
in  den  Annalen:  „In  der  Zoologie  förderte  mich  Carus 
von  den  Urteilen  des  Schalen-  und  Knochengerüstes, 
nicht  weniger  eine  Tabelle,  in  welcher  die  Filiation 
sämtlicher  Wirbelverwandlungen  anschaulich  ver- 
zeichnet war.  Hier  empfing  ich  nun  erst  den  Lohn 
für  meine  früheren  allgemeinen  Bemühungen,  indem 
ich  die  von  mir  nur  geahnte  Ausführung  bis  ins 
Einzelne  vor  Augen  sah.  Ein  gleiches  ward  mir, 
indem  ich  d'Altons  frühere  Arbeit  über  die  Pferde 
wieder  durchnahm  und  sodann  durch  dessen  Werk 
Dber  die  Faultiere  und  Dickhäutigen  belehrt  und 
erfreut  wurde."  So  entstanden  im  Anschluß  an  Carus 
der  Aufsatz  „Die  Lepaden",  im  Anschluß  an  d'Alton 
die  Recensionen  „Die  Faultiere  und  die  Dickhäuti- 
gen" und  „Die  Skelette  der  Nagetiere".  Diese  Ar- 
tikel gehen  weit  über  das  hinaus,  was  man  gewöhn- 
lich von  einer  Recension  erwartet.  Sie  enthalten 
vielmehr  Goethes  eigene  Gedanken,  die  er  an  die 


Osteologische  und  vergleichend  anatomische  Arbeiten  II.     149 

Befunde  seiner  Freunde  anknüpfte,  und  haben  da- 
durch auf  die  Zeitgenossen  einen  tiefen  Eindruck 
gemacht.  Johannes  Müller,  der  vergleichende  Ana- 
tom und  Physiologe,  schrieb  1826  in  seiner  Unter- 
suchung über  die  phantastischen  Gesichtserschei- 
nungen: „Wer  davon  (von  der  Einbildungskraft  des 
Künstlers  und  Naturforschers)  sich  einen  deutlichen 
Begriff  machen  will,  lese  Goethes  meisterhafte 
Schilderung  des  Nagetiers  und  seiner  geselligen 
Beziehungen  zu  andern  Tieren  in  der  Morphologie. 
Nichts  Ähnliches  ist  aufzuweisen,  was  dieser  aus 
dem  Mittelpunkt  der  Organisation  entworfenen  Pro- 
jektion gleichkommt.  Irre  ich  nicht,  so  liegt  in  dieser 
Andeutung  die  Ahndung  eines  fernen  Ideals  der 
Naturgeschichte."  Goethe  benutzt  hier  das  d'Altonsche 
Werk,  um  an  einer  einzelnen,  in  sich  abgeschlossenen 
Gruppe  von  Säugetieren  noch  einmal  seine  eigenen 
Anschauungen  über  tierische  Form  zusammenfassend 
zu  verdeutlichen.  Die  Gruppe  der  Nagetiere  ist  des- 
halb für  ihn  ein  so  gutes  Beispiel,  weil  ihre  Knochen- 
gestalt „zwar  generisch  von  innen  determiniert 
(nicht  genetisch;  Goethe  meint,  daß  dem  Nagetier- 
skelett ein  gemeinsamer  Bauplan  zugrunde  liegt) 
und  festgehalten  sei,  nach  außen  aber  zügellos  sich 
ergehend  durch  Um-  und  Umgestaltung  sich  spezifi- 
.zierend  auf  das  allervielfältigste  verändert  werde.** 
Diese  Formwandlung  leitet  Goethe  von  den  Ein- 
flüssen des  Milieus  ab,  in  dem  die  Tiere  leben. 


150  Sechste  Vorlesung. 

„Eine  innere  und  ursprüngliche  Gemeinschaft  aller 
Organisation  liegt  zum  Grunde;  die  Verschiedenheit 
der  Gestalten  dagegen  entspringt  aus  den  notwen- 
digen Beziehungsverhältnissen  zur  Außenwelt,  und 
man  darf  daher  eine  ursprüngliche,  gleichzeitige 
Verschiedenheit  und  eine  unaufhaltsam  fortschrei- 
tende Umbildung  mit  Recht  annehmen,  um  die 
ebenso  constanten  als  abweichenden  Erscheinungen 
begreifen  zu  können.**  Um  nämlich  zu  verstehen, 
wie  bei  dieser  schier  unendlichen  Umbildungsfähig- 
keit doch  bestimmte  Arten  sich  als  feste  Formen 
herausbilden  können,  greift  er  auf  einen  Gedanken- 
gang zurück,  der  auch  bei  botanischen  Überlegungen 
eine  Rolle  gespielt  hat  Es  gibt  Arten,  die  sich 
schrankenlos  ergehen  wie  die  Rosen,  bestimmte  Ge- 
schlechter wie  die  Gentianen  halten  aber  in  jedem 
Einzelindividum  hartnäckig  ihre  Form  fest,  und  so 
wird  auch  bei  den  einzelnen  Formen  der  Nager, 
wenn  sie  einmal  individualisiert  sind,  die  Gestalt 
viele  Generationen  hindurch  mit  großer  Zähigkeit 
festgehalten.  Goethe  führt  nun  im  einzelnen  aus, 
wie  die  Beziehungen  zur  Außenwelt  die  tierische 
Form  beeinflussen,  wie  das  Leben  im  Wasser,  das 
Eingraben  in  den  Boden,  das  Herumspringen  auf 
der  Erde  zu  ganz  verschiedenen  Tierformen  führt, 
ja  wie  sogar  fliegende  Arten  sich  ausbilden  können. 
Wichtig  ist  besonders  die  Ernährungsweise.  Das 
Ergreifen  und  Benagen  der  Nahrung  beeinflußt  die 


Osteologische  und  vergleichend  anatomische  Arbeiten  II.     151 

Ausbildung  der  Extremitäten  und  vor  allen  Dingen 
das  Gebiß,  dem  Goethe  einen  wichtigen  Platz  in 
der  Gesamtorganisation  des  Tieres  zuspricht.  So 
wird  noch  einmal  der  ganze  Goethesche  Ideen- 
kreis an  diesem  einen  Beispiel  anschaulich  ent- 
wickelt. 

In  den  Jahren  von  1819—1823  wurden  in  ver- 
schiedenen Gegenden  Deutschlands  eine  Reihe  von 
fossilen  Knochen  gefunden,  die  auch  Goethes  Inter- 
esse aufs  lebhafteste  in  Anspruch  nahmen.  Er  kor- 
respondiert darüber  mit  Dr.  Jäger  in  Stuttgart,  Söm- 
mering,  d'Alton  u.  a.,  erhält  Abgüsse  und  Knochen 
zugeschickt  und  sendet  diese  weiter  an  seine  Freunde. 
Bei  Stuttgart  werden  Zähne  vom  Mammut  und  Nas- 
horn und  Knochen  eines  Stieres  entdeckt.  Später 
finden  sich  mehrere  vollständige  Skelette  des  fossilen 
Stieres  in  Mitteldeutschland.  Goethe  läßt  eines  der- 
selben in  den  Jenaer  Sammlungen  aufstellen.  In  den 
morphologischen  Heften  wird  der  Urstier  eingehend 
gewürdigt,  und  bei  dieser  Gelegenheit  macht  Goethe 
die  folgende  Bemerkung:  „Auf  allen  Fall  läßt  sich 
der  alte  Stier  als  eine  weit  verbreitete  untergegangene 
Stamm-Race  betrachten,  wovon  der  gemeine  und  der 
indische  Stier  als  Abkömmlinge  gelten  dürften."  Es 
ist  dies  eine  der  wenigen  Bemerkungen  Goethes, 
in  welcher  descendenztheoretische  Anschauungen  ge- 
äußert werden.  —  Man  hat  in  Goethe  vielfach  einen 
Vorläufer  Darwins   sehen   wollen.     Besonders   hat 


152  Sechste  Vorlesung. 

Häckel  diese  Ansicht  zu  begründen  versucht.  Daran 
ist  jedenfalls  richtig,  daß  Goethe  als  einer  der  Mit- 
begründer der  vergleichenden  Anatomie  die  Grund- 
lagen schuf,  auf  denen  Darwin  weiter  gearbeitet  hat. 
Dagegen  finden  sich  in  Goethes  morphologischen 
Hauptwerken  aus  den  80er  und  90er  Jahren  des 
18.  Jahrhunderts,  deren  Inhalt  im  vorstehenden  aus- 
führlich dargelegt  wurde,  keine  Anschauungen,  welche 
als  darwinistisch  im  engeren  Sinne  bezeichnet  wer- 
den können.  Goethe  betrachtete  damals  als  Aus- 
gangspunkt der  wissenschaftlichen  Forschung  den 
Typus,  dessen  verschiedene  Abwandlungen  in  der 
Natur  verwirklicht  sind.  Erst  in  den  späteren  Jahren, 
nach  1820,  tauchen  gelegentlich  Andeutungen  einer 
Descendenzlehre  auf.  Goethe,  der  die  zeitgenössische 
Literatur  genau  verfolgte,  kannte  die  Schriften  von 
Geoffroy  St.  Hilaire  u.  a.;  ob  er  Lamarck  gelesen 
hat,  ist  mir  nicht  bekannt;  aber  sein  naher  Verkehr 
mit  d'Alton,  Carus  u.  a.  mußte  ihn  über  alle  wissen- 
schaftlichen Zeitströmungen  auf  dem  Laufenden  er- 
halten. Trotzdem  ist  die  genannte  Stelle  fast  die 
einzige  wirklich  unzweideutige,  und  wir  dürfen  dar- 
aus schließen,  daß  der  ganze  Vorstellungskreis  der 
Descendenzlehre  keineswegs  für  Goethe  im  Mittel- 
punkt des  Interesses  gestanden  hat.  Nur  in  diesem 
einen  konkreten  Fall,  wo  ihm  die  Vergangenheit 
durch  eine  ihrer  typischen  prähistorischen  Arten 
entgegentrat,  knüpfte  er  an  das  Tatsächliche  an  und 


Osteologische  und  vergleichend  anatomische  Arbeiten  II.     1 53 

betrachtete  jetzt  lebende  Formen  als  Abkömmlinge 
fossiler  Tiere.  In  dem  Aufsatz:  „Die  Faultiere  und 
die  Dickhäutigen"  versuchte  er  dann,  wahrscheinlich 
im  Anschluß  an  Kant,  zu  schildern,  wie  aus  einem 
großen  walfischartigen  Meertier,  das  aufs  Land 
übersiedelt,  durch  allmähliche  Umbildung  ein  Faul- 
tier entstehen  könne.  Aber  hier  bezeichnet  er  seine 
Darstellung  selbst  schon  als  poetisch,  „da  überhaupt 
Prose  wohl  nicht  hinreichen  möchte".  Und  in  der 
klassischen  Walpurgisnacht  läßt  er  den  Homunkulus, 
der  gerne  entstehen  möchte,  im  Meere  anfangen: 

„Da  regst  du  dich  nach  ewgen  Normen 
„Durch  tausend,  abertausend  Formen, 
„Und  bis  zum  Menschen  hast  du  Zeit." 

Zu  einem  durchgreifenden  wissenschaftlichen  Prin- 
cip,  von  welchem  aus  der  Formenbau  des  ganzen 
Tierreiches  zu  begreifen  wäre,  hat  er  aber  den  Des- 
cendenzgedanken  nicht  gemacht.  Man  kann  deshalb 
Goethe  als  Vorläufer  Darwins  ansehen  oder  nicht. 
Die  Wissenschaft  selbst  entwickelt  sich  kontinuier- 
lich und  jeder  Spätere  steht  auf  den  Schultern  seiner 
.Vordermänner,  jeder  Frühere  ist  als  Vorläufer  der 
Nachfolgenden  zu  betrachten.  Goethes  Anschauungs- 
weise von  der  tierischen  Formenwelt  war  eine  in 
sich  abgeschlossene  und  abgerundete.  Darwinistische 
Gedanken  sind  in  ihr  erst  in  späteren  Jahren,  und 
auch  dann  nur  als  sekundäre  Elemente  aufge- 
treten. 


154  Sechste  Vorlesung. 

In  seinem  letzten  Lebensjahrzehnt  hat  sich  Goethe 
tiberhaupt  für  die  Frage  interessiert,  wie  neue 
Tierarten  entstehen  könnten,  und  er  notierte  sich 
beispielsweise  1824  die  Mitteilung  des  Dr.  Sturm, 
daß  Rassen,  welche  durch  Kreuzung  entstanden 
sind,  konstant  bestehen  können.  Das  scheint  ihm 
ein  Faktum  von  größter  Wichtigkeit  Er  bemerkt 
aber  sogleich  dazu:  „Freilich  muß  die  Umwandlung 
eine  Gränze  haben,  und  nur  die  Vollkommenheit 
des  Geschöpfs  kann  sie  bestimmen." 

Auch  die  plötzliche  Entstehung  neuer  Formen 
bei  der  Aussaat  von  Gewächsen,  die  heute  unter 
dem  Namen  Mutation  durch  die  Forschungen  von 
de  Vries  eine  so  große  Bedeutung  gewonnen 
haben,  scheint  Goethe  beachtet  zu  haben,  doch 
ist  die  betreffende  Stelle  nicht  eindeutig  genug, 
um  hierin  ganz  sicher  zu  gehen:  „Dagegen  ent- 
wickeln sich  aus  den  Samen  immer  abweichende, 
die  Verhältnisse  ihrer  Theile  zu  einander  verändert 
bestimmende  Pflanzen,  wovon  uns  treue  sorgfältige 
Beobachter  schon  manches  mitgeteilt  und  gewiß 
nach  und  nach  mehr  zu  Kenntnis  bringen  werden". 

Goethes  letzter  Aufsatz  „Princlpes  de  Philo- 
sophie Zoologique",  den  er  kurz  vor  seinem  Tode 
abschloß,  behandelt,  wie  schon  erwähnt  wurde,  den 
Streit  zwischen  Cuvier  und  Geoffroy  St  Hilaire. 
Dieses  bedeutende  wissenschaftliche  Ereignis  inter- 
essierte den  alten  Forscher  aufs  lebhafteste.   Er  be- 


Osteologische  und  vergleichend  anatomische  Arbeiten  II.     155 

richtet  seinen  Lesern  zunächst  historisch  die  Ent- 
wicklung der  Kontroverse  und  gibt  im  Anschluß 
daran,  um  seine  Parteinahme  für  Geoffroy  St.  Hilaire 
zu  begründen  und  um  zu  zeigen,  daß  gleichsam 
seine  eigenen  Ideen  hier  kämpfend  auftreten,  noch- 
mals einen  gedrängten  Überblick  über  seine  ver- 
gleichend anatomischen  Untersuchungen.  Er  selbst 
hält  den  Streit  für  unschlichtbar,  weil  hier  zwei  ganz 
verschiedene,  seiner  Meinung  nach  unvereinbare 
Anschauungsweisen  miteinander  kämpfen.  Er  weist 
darauf  hin,  wie  er  selbst  50  Jahre  früher  gegen 
Linnes  Lehrmeinung  aufgetreten  ist.  Cuvier  sowohl 
wie  Linne  sehen  die  Aufgabe  der  Naturforschung 
darin,  die  Einzelerscheinungen  der  Natur  zu  be- 
schreiben und  nach  Möglichkeit  zu  unterscheiden, 
während  Goethe  und  Geoffroy  St.  Hilaire  das  Haupt- 
augenmerk darauf  richten,  die  Analogien  und  Ver- 
wandtschaften zwischen  den  einzelnen  Formen 
aufzufinden.  Sowohl  die  trennenden  wie  die  zu- 
sammenfassenden Naturforscher  sind  im  Interesse 
der  Wissenschaft  notwendig,  aber  ihre  Methoden 
sind  zu  verschieden,  als  daß  ein  Streit  sich  ver- 
hindern ließe. 


Bis  hierher  haben  wir  die  Gesamtheit  von  Goethes 
morphologischen  Anschauungen  im  Zusammenhang 
dargestellt.  Die  meisten  seiner  Arbeiten  fügen  sich 
zwanglos  diesem  großen  Ganzen  ein.    Es  ist  aber 


156  Sechste  Vorlesung. 

natürlich,  daß  dabei  eine  Reihe  von  Einzelheiten 
welche  nicht  in  unmittelbarer  Berührung  zu  diesen 
wichtigsten  Grund  Vorstellungen  stehen,  unberück- 
sichtigt gelassen  wurden.  Wir  müssen  daher  Nach- 
lese halten  und  noch  einzelnes  nachtragen. 

Goethe  hat  in  allem,  womit  er  sich  beschäftigte, 
gesucht,  sich  zu  einer  anschaulichen  Vorstellung 
durchzuringen.  Auch  seine  zoologischen  Ideen  waren 
immer  auf  Anschaulichkeit  gerichtet.  Da  war  es 
denn  auch  sein  Bestreben,  das  von  ihm  Erkannte 
sich  und  andern  in  anschaulicher  Form  vor  Augen 
zu  stellen.  Er  selbst  fertigte  sich  eine  große  Wand- 
tafel an,  um  sich  Humboldts  Ideen  zu  einer  Geo- 
graphie der  Pflanzen  klar  zu  machen,  und  ließ  sie 
1813  im  Druck  erscheinen.  Ein  ähnliches  „Gemälde 
der  organischen  Natur"  von  Wilbrand  und  Ritgen 
wurde  von  ihm  aufs  freundlichste  recensiert.  Bekannt 
ist,  welchen  großen  Wert  er  auf  Deutlichkeit  natur- 
wissenschaftlicher Abbildungen  legte.  Besonders  mit 
d'Alton  wurde  hierüber  eifrig  korrespondiert  und  ein 
Aufsatz  von  diesem  in  die  morphologischen  Hefte 
aufgenommen.  Seine  Fürsorge  für  Ausgestaltung 
naturwissenschaftlicher  Sammlungen  und  Museen  in 
Jena  wurde  schon  eingehend  gewürdigt.  Interessant 
ist  sein  Vorschlag,  besondere  Museen  für  ver- 
gleichende Anatomie  zu  gründen;  diese  sollten  so 
angeordnet  sein,  daß  man  auf  einen  Blick  die  Form- 
wandlung    irgend    eines    beliebigen   Organs    oder 


Osteologische  und  vergleichend  anatomische  Arbeiten  II.     1 57 

Knochens  durch  die  Tierreihe  hindurch  anschaulich 
vor  Augen  hat.  In  einem  Schrank  sollten  z.  B.  die 
Halswirbel  sämtlicher  Tiere  von  den  größten  bis  zu 
den  kleinsten,  von  den  einfachsten  bis  zu  den  dif- 
ferenciertesten  vereinigt  werden,  in  einem  andern 
beispielsweise  die  Vorderarmknochen  von  den  be- 
weglichsten und  zierlichsten  bis  zu  den  plumpsten 
und  kräftigsten  Stützorganen.  Wie  weit  sein  Inter- 
esse für  diese  Dinge  im  einzelnen  ging,  zeigt  sein 
Bestreben,  die  Technik,  anatomische  Präparate  in 
Wachs  nachzubilden,  nach  Deutschland  zu  ver- 
pflanzen. Er  hatte  auf  der  italienischen  Reise  in 
Florenz  die  schöne  Sammlung  der  dortigen  Moulagen 
(Wachsnachbildungen  in  natürlichen  Farben)  gesehen, 
die  ihm  einen  tiefen  Eindruck  machte.  In  Wilhelm 
Meisters  Wanderjahren  kam  er  später  hierauf  zurück. 
Es  schien  ihm  notwendig,  bei  der  zunehmenden 
Schwierigkeit,  Leichen  für  den  anatomischen  Unter- 
richt zu  bekommen,  an  den  Universitäten  anatomische 
Moulagensammlungen  anzulegen.  Unter  seiner  Mit- 
wirkung wurde  ein  junger  Arzt,  Franz  Heinrich 
Martens,  der  solche  Präparate  anfertigen  konnte, 
nach  Jena  berufen  und  die  von  dessen  Hand  her- 
rührenden Moulagen  menschlicher  Mißbildungen, 
sämtlich  Kunstwerke,  zieren  noch  heute  die  dortige 
Sammlung.  Noch  kurz  vor  seinem  Tode  kommt 
Goethe  in  einem  Schreiben  an  Geheimrat  Beuth  in 
Berlin   auf  die  Angelegenheit  zurück  und  regt  an, 


158  Sechste  Vorlesung. 

daß  in  Berlin  aus  Staatsmitteln  ein  Moulagenmuseum 
gegründet  werde  und  daß  zur  Erlernung  der  Technik 
ein  Anatom,  ein  Plastiker  und  ein  Gipsgießer  nach 
Florenz  gesendet  werden  sollen.  Goethes  Anregung 
hat  damals  keine  praktischen  Folgen  gehabt,  aber 
heute  bilden  die  Moulagen  eine  wichtige  Ergänzung 
medizinischer  Sammlungen,  wenn  es  sich  darum 
handelt,  seltene  Krankheitsfälle,  die  zu  Unterrichts- 
zwecken nicht  jederzeit  verfügbar  sind,  zu  ver- 
ewigen. 

Studien  über  Regeneration  bei  Tieren  wurden  zu 
Goethes  Zeiten  besonders  von  Blumenbach  angestellt. 
Unter  Regeneration  versteht  man  das  Vermögen  der 
Tiere,  verlorene  Körperteile  neu  zu  bilden,  wie  z.  B. 
die  Eidechse  den  Schwanz.  Daß  Goethe  auch  für 
diesen  Zweig  biologischer  Forschung  sich  interes- 
sierte, geht  aus  seiner  Bemerkung  hervor,  daß  ein 
Tier,  das  zur  Regeneration  eines  abgelösten  Teiles 
geschickt  sein  soll,  ein  unvollkommenes  Tier  sein 
müsse.  Tatsächlich  ist  bei  den  höheren  Wirbeltieren 
die  Regeneration  eine  beschränkte. 

Kurz  vor  der  italienischen  Reise  hat  Goethe  das 
Leben  der  kleinsten  Lebewesen,  besonders  in  Heu- 
infusen,  studiert.  Wirft  man  trockenes  Heu  in 
Wasser  und  läßt  es  einige  Tage  stehen,  so  ent- 
wickelt sich  aus  Keimen,  welche  an  dem  Heu  an- 
getrocknet sind,  eine  reiche  Fauna,  besonders  von 
einzelligen   Protozoen  und   Infusorien.    Goethe  hat 


Osteologische  und  vergleichend  anatomische  Arbeiten  II.     1 59 

diese,  wie  aus  seinen  Protokollen  hervorgeht,  unter 
dem  Mikroskop  beobachtet  und  es  sind  sauber  aus- 
geführte Zeichnungen  erhalten,  auf  denen  man  ohne 
Schwierigkeit  Paramäcien  und  Vorticellen  erkennen 
kann.  Bei  den  Vorticellen  hat  er  auch  die  Flimmer- 
bewegung beobachtet  und  die  Richtung  des  Wimper- 
strudels untersucht. 

Mit  der  Anatomie  der  Muscheln,  Schnecken  und 
Würmer  hat  er  sich  durch  eigene  Präparation  ver- 
traut gemacht,  die  innere  Anatomie  des  Frosches 
genau  untersucht  und  Männchen  und  Weibchen  mit- 
einander verglichen.  Sehr  umfassend  sind  schließ- 
lich seine  Studien  über  Anatomie,  Physiologie 
und  Umwandlung  der  Insekten  gewesen,  welche 
hauptsächlich  in  die  Jahre  1796—98  fallen.  Das 
Problem,  das  ihn  hier  interessierte,  war  die  succes- 
sive  Metamorphose,  die  Umwandlung  ein-  und  des- 
selben Individuums  während  seines  Lebens.  Das 
war  die  einzige  Form  der  Metamorphose,  welche  er 
bisher  nicht  eingehend  studiert  hatte.  Es  ist  auch 
bei  der  experimentellen  Durcharbeitung  des  Gebietes 
geblieben.  Notizen  und  Versuchsprotokolle  sind  zahl- 
reich erhalten,  eine  zusammenfassende  Arbeit  hat 
Goethe  aber  nicht  geschrieben.  Er  studierte  zu- 
nächst die  Anatomie  der  Raupen  und  Puppen  z.  T. 
nach  Injektionspräparaten,  beobachtete  dann  die 
Entwicklung  verschiedener  Arten,  des  Ligusterspin- 
ners,  der  Wolfsmilchraupe,  der  Hummel,  und  ver- 


160  Sechste  Vorlesung. 

folgte  in  einzelnen  Fällen  die  Metamorphose  vom 
Ei  bis  zum  Schmetterling.  Der  Einfluß  von  Hitze 
und  Kälte  auf  diese  Vorgänge  wurde  untersucht.  Er 
beobachtete  die  Bewegungen  der  Raupe,  sah  die 
mehrfache  Häutung  dieser  Tiere,  stellte  fest,  was 
sie  fressen  und  was  sie  ausscheiden,  experimentierte 
über  ihr  Verhalten  bei  Belichtung  und  Verdunkelung, 
machte  genaue  Notizen  über  das  Einspinnen  und 
die  Verpuppung  und  studierte  das  Ausschlüpfen  der 
Schmetterlinge.  Besonders  interessierte  ihn  die  Er- 
scheinung, daß  die  ausgeschlüpften  Schmetterlinge 
ganz  kleine  und  weiche  Flügel  haben,  die  erst  im 
Verlauf  von  etwa  einer  halben  Stunde  sich  ent- 
falten und  hart  werden.  Goethe  führte  dies  auf 
Einströmen  von  Säften  aus  dem  Innern  des  Tieres 
in  die  Gefäße  der  Flügel  zurück  und  sah  seine 
Ansicht  bestätigt,  als  er  dem  Schmetterling  nach 
dem  Ausschlüpfen  den  Kopf  abschnitt  und  die 
Flügelentfaltung  nun  ausblieb;  nach  Eröffnung  des 
Tieres  konnte  eben  keine  Flüssigkeit  mehr  in  die 
Flügel  hineingepreßt  werden.  Die  innere  Ana- 
tomie der  Schmetterlinge  wurde  genau  untersucht, 
ihre  Fortpflanzung  beobachtet.  Seinem  Streben 
nach  Veranschaulichung,  seinem  „Museumstriebe" 
ist  es  zuzuschreiben,  daß  er  zehn  verschiedene 
Stadien  von  der  Puppe  bis  zum  Schmetterling 
konservierte  und  zwischen  Glasplatten  aufhob.  Be- 
obachtet wurde  ferner  die  Entwicklung  von  Schlupf- 


Osteologische  und  vergleichend  anatomische  Arbeiteu  II.     161 

wespeneiern  im  Innern  von  Raupen  und  Puppen. 
Wichtig  sind  weiter  in  dieser  Versuchsreihe  eine 
Anzahl  von  physiologischen  Beobachtungen.  Da 
die  Raupe  während  des  Verpuppens  keine  Nahrung 
nimmt,  so  fragt  es  sich,  wovon  sie  lebt  Genaue 
Wägungen  der  Tiere  ergaben  einen  fortschreiten- 
den Gewichtsverlust;  das  Tier  zehrt  also  von  sei- 
nem Körpermaterial.  Goethe  registriert  ferner  die 
Beobachtung,  daß  der  Saft  einer  Raupe  an  der 
Luft  schwarz  wird  und  untersucht  das  Verhalten 
dieses  Saftes  gegen  Wasser,  Säuren  und  Laugen. 
Wir  wissen  heute,  daß  die  Erscheinung  auf  der 
Anwesenheit  eines  oxydierenden  Fermentes  im  Safte 
beruht,  dem  man  in  jüngster  Zeit  wieder  größeres 
Interesse  entgegengebracht  hat.  Die  Reaktion  der 
Raupen  auf  Berührung  an  verschiedenen  Stellen 
ihres  Körpers  wird  untersucht.  Die  Bewegung  der 
Flügelmuskeln  wird  auch  nach  dem  Tode  noch 
fortdauernd  gefunden.  Auch  die  Tätigkeit  des  über- 
lebenden Herzens  beobachtet  Goethe  und  macht 
darüber  folgende  Notiz:  „Langes  durchsichtiges  Ge- 
fäß bei  der  Hummel,  das  den  ganzen  Rücken  hinunter- 
geht (Ist  das  sogenannte  Herz  der  Inseckten)  und 
sehr  lebhaft  pulsiert;  es  geht  unten  durch  ein  durch- 
sichtiges häutiges  Gewebe  durch,  das  sehr  mit  Luft- 
gefäßen durchwebt  ist.  Es  pulsierte  3  bis  4  Stunden, 
so  lange  bis  alle  Feuchtigkeit  vertrocknet  war;  wenn 
man   es  anhauchte,  pulsierte  es  viel  schneller.    Es 

Magnus,  Goethe  als  Naturforscher  11 


162  Sechste  Vorlesung. 

ist  der  Versuch  zu  machen,  wie  lange  es  schlägt, 
wenn  man  es  feucht  erhält  und  ob  es  etwa  in  der 
Kälte  gleich  erstarrt.  In  einer  aufgeschnittenen 
Puppe  in  anderthalb  Sekunden  pulsierte  es  einmal." 

Auch  sonst  enthalten  diese  Aufzeichnungen  zur 
Insektenkunde  noch  viele  feine  Beobachtungen. 
Überhaupt  gewähren  gerade  diese  Protokolle  einen 
interessanten  Einblick  in  Goethes  Art  zu  arbeiten. 
Man  sieht,  mit  welcher  Sorgfalt  das  ganze  Tat- 
sachenmaterial schematisch  geordnet  wird  und  wie 
außerordentlich  genau  seine  Einzelbeobachtungen 
gewesen  sind. 

Damit  schließen  wir  die  Darstellung  von  Goethes 
morphologischen  Arbeiten.  Wir  haben  gesehen, 
wie  er  sich  durch  eigenes  Studium  einen  Über- 
blick über  die  unendliche  Fülle  der  pflanzlichen 
und  tierischen  Formen  verschafft  hat  und  wie  er 
jahrelang  sich  bemühte,  die  zahlreichen  Einzeltat- 
sachen zu  einem  Gesamtbilde  zu  verschmelzen. 
20  Jahre  Arbeit  ist  dazu  nötig  gewesen.  Schließ- 
lich aber  bildete  sich  bei  Goethe  eine  umfassende 
Anschauung  von  der  Gesamtheit  der  Organismen 
heraus,  die  in  ihrer  Großartigkeit  ihresgleichen  sucht 
und  die  uns  zeigt,  daß  der  Naturforscher  dem  Dichter 
in  keinen  Stücken  nachgab. 

Jetzt  erst  verstehen  wir  die  Verbitterung,  die 
Goethe  erfaßte,  als  seine  Ideen  anfangs  gar  nicht 
durchdringen  wollten  und  auf  den  passiven  Wider- 


Osteologische  und  vergleichend  anatomische  Arbeiten  II.     1 63 

stand  der  Gelehrten  stießen.  Aber  er  hat  es  noch 
erlebt,  daß  sie  zum  Siege  kamen.  Durch  die  Be- 
gründung der  vergleichenden  Anatomie  und  der 
Morphologie  pflanzlicher  und  tierischer  Formen 
wirkt  Goethes  wissenschaftliche  Arbeit  bis  auf  den 
heutigen  Tag  fruchtbringend  fort. 


!!• 


Siebente  Vorlesung. 
Die  Farbenlehre  I.  —  Physiologische  Optik. 

Meine  Herren!  „Die  Geschichte  der  Wissenschaft 
nimmt  immer  auf  dem  Punkte  wo  man  steht  ein 
gar  vornehmes  Ansehen;  man  schätzt  wohl  seine 
Vorgänger  und  dankt  ihnen  gewissermaßen  für  das 
Verdienst  das  sie  sich  um  uns  erworben;  aber  es 
ist  doch  immer,  als  wenn  wir  mit  einem  gewissen 
Achselzucken  die  Gränzen  bedauerten  worin  sie  oft 
unnütz,  ja  rückschreitend  sich  abgequält;  niemand 
sieht  sie  leicht  als  Märtyrer  an  die  ein  unwieder- 
bringlicher Trieb  in  gefährliche,  kaum  zu  überwin- 
dende I-agen  geführt,  und  doch  ist  oft,  ja  gewöhn- 
lich, mehr  Ernst  in  den  Altvätem  die  unser  Dasein 
gegründet,  als  unter  den  genießenden,  meistenteils 
vergeudenden  Nachkommen."  Dieses  Goethesche 
Wort  wollen  wir  als  Motto  über  unsere  Besprechung 
der  Farbenlehre  setzen,  denn  was  Schiller  von 
Wallenstein  sagte,  gilt  für  kein  Buch  mehr  als  für 
dieses: 

»Von  der  Parteien  Ounst  und  Haß  verwirrt, 
Schwankt  sein  Charakterbild  in  der  Geschichte. * 


Die  Farbenlehre  I.  —  Physiologische  Optik.         165 

Gleich  nach  seinem  Erscheinen  von  den  Phy- 
sikern vollständig  abgelehnt  und  aufs  heftigste  ver- 
urteilt, von  einigen  der  bedeutendsten  zeitgenössi- 
schen Physiologen,  wie  Purkinje  und  Johannes 
Mtiller,  außerordentlich  geschätzt,  wurde  es  in  der 
Mitte  des  Jahrhunderts  fast  vergessen  und  selbst 
Helmholtz  wird  seiner  Bedeutung  keineswegs  ge- 
recht. Erst  in  den  letzten  Jahrzehnten  erweckt  es 
wieder  das  Interesse  der  Gelehrten.  Während  die 
Physiker  auf  ihrem  ablehnenden  Standpunkt  ver- 
harren müssen,  finden  die  Physiologen  hier  zahl- 
reiche Tatsachen  und  Anschauungen  niedergelegt, 
welche  in  der  letzten  Zeit  zu  den  Grundlagen  der 
physiologischen  Optik  geworden  sind. 

Die  Würdigung  des  Inhalts  der  Farbenlehre  ist 
daher  eine  schwierige  Aufgabe,  und  wir  wollen  den 
Gang  der  Darstellung,  den  wir  bei  den  früheren 
wissenschaftlichen  Werken  Goethes  gewählt  haben, 
hier  verlassen.  Ich  will  Ihnen  nicht  zuerst  den 
Inhalt  von  Goethes  Schriften  mitteilen  und  danach 
entwickeln,  welches  die  allgemeinen  leitenden  Ge- 
danken und  die  gewichtigen,  wissenschaftlichen 
Resultate  sind,  sondern  ich  möchte  Ihnen  zunächst 
in  dieser  Vorlesung  eine  kurze  sinnes-physio- 
logische  Einleitung  geben,  damit  Sie  in  den 
Stand  gesetzt  werden,  aus  eigener  Kenntnis  die 
Probleme,  um  deren  Lösung  Goethe  sich  bemühte, 
zu  begreifen.     Denn  die  Farbenlehre  gründet  sich 


166  Siebente  Vorlesung. 

nicht  nur  auf  physikalische  Tatsachen,  sie  gehört 
vielmehr  zu  einem  wesentlichen  Teil  der  Sinnes- 
physiologie an.  Durch  unser  Auge  empfangen  wir 
erst  optische  Eindrücke,  Licht  und  Farbe.  Zu  Be- 
ginn muß  nun  gleich  bemerkt  werden,  daß  alle  die 
Tatsachen  und  Erwägungen,  die  ich  Ihnen  jetzt 
vortragen  werde,  zu  Goethes  Zeiten  noch  so  gut 
wie  unbekannt  waren.  Während  wir  heute  mit  ver- 
hältnismäßiger Leichtigkeit  die  Probleme  beurteilen 
können,  legten  Goethe  und  seine  sämtlichen  Vor- 
gänger und  Zeitgenossen  sich  derartige  sinnesphysio- 
logische Fragen  überhaupt  noch  nicht  vor.  Wir 
haben  es  jetzt  leicht,  in  Goethes  Werk  das  Gold 
von  den  Schlacken  zu  sondern.  Der  damaligen  Zeit 
war  dies  keineswegs  geläufig. 

Goethes  Farbenlehre  enthält  zunächst  einmal  eine 
genaue  und  ganz  mustergültige  Darstellung 
der  Tatsachen.  Die  verschiedenen  Arten  der 
Farbenerscheinungen  und  die  Methoden,  sie  her- 
vorzurufen, werden  mit  unerreichter  klassischer  An- 
schaulichkeit geschildert,  mit  einer  Treue,  daß  jeder 
mit  Leichtigkeit  alle  Versuche  selber  anstellen  kann. 
Erst  auf  Grund  dieser  Goetheschen  Schilderung  der 
Erscheinungen  und  in  bewußter  Anlehnung  an  Kants 
Kritik  der  reinen  Vernunft  hat  zunächst  Schopen- 
hauer die  Farbenlehre  für  die  Physiologie  in  An- 
spruch genommen,  und  danach  Johannes  Müller  die 
wissenschaftliche   physiologische   Optik   begründet; 


Die  Farbenlehre  I.  —  Physiologische  Optik.        167 

von  deren  Fortentwicklung  durch  Helmholtz  und 
Hering  werden  wir  noch  später  zu  sprechen  haben. 
Wir  dürfen  es  also  Goethe  nicht  zum  Vorwurf 
machen,  daß  er  die  Kenntnis,  die  sich  erst  später 
auf  Grund  seiner  eigenen  Farbenlehre  entwickeln 
konnte,   selbst  noch  nicht  besessen  hat. 

Licht-  und  Farbenempfindung  werden  uns  ver- 
mittelt durch  ein  Sinnesorgan,  das  Auge.  Wir 
legen  uns  zunächst  die  Frage  vor,  worin  denn  im 
allgemeinen  die  Bedeutung  unserer  Sinnesorgane 
liegt?  Die  Antwort  lautet:  daß  von  der  Art  und 
von  der  Funktion  unserer  Sinnesorgane  ganz  eigent- 
lich die  Beschaffenheit  unserer  Außenwelt,  unseres 
Milieus  abhängig  ist.  Ein  Beispiel  wird  die  Richtig- 
keit dieses  scheinbaren  Paradoxons  schneller  ver- 
deutlichen als  alle  Auseinandersetzungen.  Denken 
Sie  sich  einen  tiefstehenden  Wurm,  der  auf  dem 
Grunde  des  Meeres  lebt  und  der  nur  eine  einzige 
Art  von  Sinnesorganen  besitzt,  die  tastempfinden- 
den Apparate  seiner  Haut.  Die  Außenwelt  eines 
solchen  Tieres  wird  sich  nur  aus  denjenigen  Teilen 
des  Meeresgrundes  zusammensetzen,  welche  mit 
seiner  Hautoberfläche  in  direkte  Berührung  geraten. 
Zu  allen  anderen  Körpern  hat  der  Wurm  über- 
haupt keine  Beziehungen,  sie  existieren  also  nicht 
für  ihn.  Er  ist  nur  imstande,  den  Kreis  seiner 
Außenwelt  zu  erweitern,  wenn  er  mit  seinem  Körper 
Ortsbewegungen  ausführt  und  so  immer  neue  Teile 


168  Siebente  Vorlesung. 

des  Meeresgrundes  mit  seiner  Haut  in  direkte  Be- 
rührung bringt  Ein  beschränkteres  Milieu  läßt  sich 
wohl  kaum  vorstellen  als  in  diesem  Fall.  —  Wir 
betrachten  jetzt  einen  anderen  Wurm,  der  etwas 
höher  steht  und  der  außer  den  Tastorganen  noch 
ein  zweites  Sinnesorgan  haben  möge,  ein  Auge  am 
Vorderende  des  Kopfes.  Ohne  weiteres  wird  Ihnen 
klar,  wie  durch  den  Gewinn  dieses  Organs  sich 
das  Milieu  des  Tieres  mit  einem  Schlage  ausdehnen 
muß.  Es  kann  jetzt  von  einer  ganzen  Reihe  von 
Gegenständen  beeinflußt  werden,  welche  weit  von 
ihm  entfernt  liegen,  sofern  nur  von  ihnen  Licht 
zum  Auge  gelangen  kann.  So  wird  durch  das  Auf- 
treten neuer  Sinnesorgane  der  Kreis  der  Körper, 
welche  auf  ein  gegebenes  Tier  einwirken  können, 
um  ein  Beträchtliches  erweitert.  Nun  machen  wir 
gleich  einen  großen  Sprung  und  gehen  über  zu  uns 
selber.  Wir  haben  optische  Sinnesorgane  in  unseren 
Augen,  akustische  in  unseren  Ohren,  chemische  für 
die  Ferne  in  unserer  Nase,  für  die  Nähe  in  den 
Qeschmacksapparaten,  die  Sinnesorgane  in  unserer 
Haut  vermitteln  uns  Druck-,  Schmerz-  und  Tem- 
peraturempfindungen. Aus  den  Elementen,  welche 
uns  diese  Sinnesorgane  liefern,  setzt  sich  unsere 
so  außerordentlich  reichhaltige  und  komplizierte 
Außenweit  zusammen.  Sie  bestimmen  das  Milieu, 
in  dem  wir  leben.  Sie  stellen  aber  keineswegs  das 
Maximum    dessen   dar,   was   überhaupt  erreichbar 


Die  Farbenlehre  I.  —  Physiologische  Optik.        169 

wäre.  Würde  unser  Auge  für  Lichtwellen  von 
größerer  Länge  als  die  des  äußersten  Rot  empfind- 
lich sein,  so  würden  wir  den  wärmenden  Kachelofen 
Licht  in  einer  Farbe  ausstrahlen  sehen,  die  wir  uns 
natürlich  nicht  vorstellen  können.  Besäßen  wir  eine 
ganz  neue  Gruppe  von  Sinnesorganen,  welche  direkt 
für  elektrische  Veränderungen  unserer  Umgebung 
empfindlich  wären,  so  würden  wir  beim  Vorbei- 
fahren eines  elektrischen  Trambahnwagens  eine 
ganze  Fülle  von  Erscheinungen  in  den  Drähten  und 
der  umgebenden  Luft  wahrnehmen,  die  uns  jetzt 
völlig  entgehen;  bei  jedem  telephonischen  Gespräch, 
bei  jedem  Druck  auf  die  elektrische  Klingel  würde 
eine  ganze  Reihe  von  Empfindungen  in  uns  aus- 
gelöst werden.  Wie  sehr  wir  von  unseren  Sinnes- 
organen abhängig  sind,  sehen  wir  daraus,  daß  es 
uns  völlig  unmöglich  ist,  uns  vorzustellen,  wie  die 
Welt  einem  der  sogenannten  Farbenblinden,  welche 
meist  Rot  und  Grün  nicht  unterscheiden  können,  er- 
scheint, und  umgekehrt  haben  solche  Farbenblinden 
keine  Möglichkeit,  sich  die  Außenwelt  eines  normal- 
sichtigen Menschen  zu  vergegenwärtigen.  So  sehen 
wir,  daß  die  Sinnesorgane  Tyrannen  sind,  welche 
uns  einzwängen  in  einen  ganz  bestimmten  Kreis  von 
Vorstellungen  von  der  Außenwelt,  aus  dem  wir  nicht 
herauskönnen. 

Welches  sind  nun  die  Gesetze,  nach  denen  diese 
Sinnesorgane  arbeiten?   Die  leitende  Regel,  welche 


170  Siebente  Vorlesung. 

für  alle  Sinnestätigkeit  gilt,  ist  von  Johannes  Müller 
in  dem  Gesetz  von  der  spezifischen  Sinnes- 
energie aufgestellt  worden.  Dieses  besagt,  daß 
unsere  Sinnesempfindungen  allein  abhängig  sind 
von  der  Art  des  Sinnesnervenapparates,  welcher  in 
Erregung  gerät.  Es  mag  dies  zuerst  selbstverständ- 
lich klingen,  ist  es  aber  keineswegs,  wie  Sie  sofort 
sehen  werden,  wenn  wir  die  Kehrseite  dieses  Satzes 
betrachten.  Die  Sinnesempfindung  ist  nämlich  nicht 
abhängig  von  der  Art  des  äußeren  Reizes,  der  unser 
Sinnesorgan  trifft.  Auch  hier  ein  Beispiel  statt  vieler 
Worte.  Der  Arzt  kommt  gelegentlich  in  die  Lage, 
an  unglücklichen  Patienten,  um  sie  vor  schwererem 
Unglück  zu  bewahren,  ein  Auge  herausnehmen  zu 
müssen.  Das  Auge  ist  durch  den  Sehnerv  mit  dem 
Gehirn  verbunden,  und  dieser  muß  bei  der  Opera- 
tion durchtrennt  werden.  In  früheren  Zeiten,  wo  die 
Narkose  noch  unbekannt  war,  hat  man  nun  fest- 
gestellt, daß  in  dem  Moment,  wo  die  Schere  des 
Chirurgen  den  Sehnerv  des  Patienten  durchtrennt, 
dieser  nicht  eine  Schmerzempfindung,  sondern  eine 
Lichterscheinung  hat.  Diese  Tatsache  illustriert  das 
Gesagte,  denn  trotzdem  der  Sehnerv  keineswegs 
optisch  durch  das  Licht  gereizt  worden  ist,  sondern 
mechanisch  durch  den  Scherenschiag,  hat  der  Patient 
eine  optische  Empfindung,  und  diese  optische 
Empfindung  beruht  gesetzmäßig  darauf,  daß  der 
Sehnerv   erregt  worden   ist,   ist   aber   unabhängig 


Die  Farbenlehre  I.  —  Physiologische  Optik.        171 

davon,  durch  welche  Art  von  Reiz  die  Erregung 
des  optischen  Nerven  bewirkt  wurde.  Wenn  wir 
einen  galvanischen  Strom  quer  durch  unseren 
Kopf  in  der  Augengegend  schicken,  so  haben  wir 
beim  öffnen  und  beim  Schluß  desselben  ebenfalls 
eine  Lichtempfindung.  Wenn  wir  unseren  Augapfel 
drücken,  resultiert  daraus  in  gleicher  Weise  eine 
Lichtempfindung.  Unsere  Sinnesorgane  sagen  uns 
also  gar  nichts  aus  über  die  Art  des  Reizes,  der 
von  außen  auf  unseren  Sinnesapparat  einwirkt, 
sondern  sie  vermitteln  uns  nur  die  Kunde  davon, 
daß  überhaupt  das  betreffende  Sinnesorgan  erregt 
worden  ist.  Wie  kommt  es  nun,  daß  wir  trotz 
dieser  Unzuverlässigkeit  doch  so  wenigen  Sinnes- 
täuschungen unterliegen,  daß  wir  trotzdem  so  richtige 
Nachrichten  von  der  Außenwelt  erhalten;  d.  h.  daß, 
wenn  wir  auf  Grund  unserer  Sinneswahrnehmungen 
handeln,  wir  so  selten  mit  den  Gegenständen  der 
Außenwelt  in  Konflikt  geraten?  Die  Lösung  dieser 
schwierigen  Aufgabe  wird  ermöglicht  wiederum 
durch  die  Anordnung  unserer  Sinneswerkzeuge.  So 
liegt  z.  B.  unser  inneres  Ohr,  in  welchem  sich  die 
Endigungen  des  Hörnerven  befinden,  tief  eingebettet 
im  Innern  des  Kopfes,  eingeschlossen  in  den  kom- 
paktesten elfenbeinharten  Knochen  des  Felsenbeins, 
in  dem  sich  kleine  Hohlräume  befinden,  die  mit 
Flüssigkeit  erfüllt  sind;  in  dieser  Flüssigkeit  liegen 
die  Endapparate  des  inneren  Ohres  aufs  sorgfältigste 


172  Siebente  Vorlesung. 

geschützt  vor  allen  Einflüssen  der  Außenwelt,  welche 
etwa  den  Hömerven  erregen  können.  Nur  einzig 
und  allein  die  Schallwellen  der  Luft  vermögen  sich 
in  diese  Tiefe  den  Weg  zu  bahnen.  Durch  den 
Gehörgang  setzen  sie  das  Trommelfell  und  dahinter 
die  Gehörknöchelchen  in  Schwingungen,  welche  sich 
auf  die  Flüssigkeit  des  inneren  Ohres  übertragen 
und  so  den  Hörnerven  erregen  können.  Die  Sinnes- 
organe sind  also  so  angeordnet,  daß  alle  anderen, 
wie  man  sagt,  nicht  adäquaten  Reize  nach  Mög- 
lichkeit fern  gehalten  werden  und  nur  die  adäquaten 
Reize,  z.  B.  die  Schallwellen  zum  Ohr,  die  Licht- 
wellen zum  Auge  hingelangen  können.  Und  noch 
etwas  weiteres:  der  Hörnerv  selber,  welcher  die 
Verbindung  des  inneren  Ohres  mit  dem  Gehirn 
vermittelt,  ist  für  die  Schallschwingungen  der  Luft 
völlig  unempfindlich.  Nur  seine  Endigungen  im 
inneren  Ohr  werden  durch  Schallwellen  erregt.  Es 
besitzen  also  die  Sinnesorgane  die  wichtige  Auf- 
gabe, Vorgänge  der  Außenwelt,  welche  an  sich  aufs 
Nervensystem  nicht  wirken,  aufzunehmen  und  in 
Nervenerregungen  umzusetzen.  Dasselbe  gilt  fürs 
Auge.  Der  Augapfel  ist  eingebettet  in  die  Augen- 
höhle, wohlbeschützt  durch  die  Lider  und  die 
knöchernen  Augenbrauenbogen.  Er  besteht  aus  einer 
derben  fibrösen  Kapsel,  die  mit  einer  durchsichtigen 
Gallerte  gefüllt  ist,  und  nur  auf  dem  Grund  dieser 
Kapsel  breitet  sich  der  nervöse  Endapparat  aus,  die 


Die  Farbenlehre  I.  —  Physiologische  Optik.        173 

Netzhaut,  welche  für  Licht  empfindlich  ist,  während 
der  Sehnerv  selber  durch  Lichtschwingungen  nicht 
erregt  werden  kann.  Wir  besitzen  in  Ausnahme- 
fällen die  Möglichkeit,  Druck  oder  Elektrizität  auf 
unser  Auge  einwirken  zu  lassen,  aber  im  allgemeinen 
ist  die  Netzhaut  vor  diesen  Eingriffen  geschützt  und 
nur  die  Lichtstrahlen  gelangen  durch  die  brechenden 
Medien  des  Auges  zu  ihr.  So  kommt  es,  daß  wir 
gewöhnlich  keinen  Trugschluß  machen,  wenn  wir 
unseren  Gesichts-  und  Gehörwahrnehmungen  trauen, 
denn  nur  in  Ausnahmefällen  werden  diese  durch 
andere  äußere  Ursachen  hervorgerufen  als  durch 
Licht-  bzw.  Schallschwingungen. 

Aus  dem  Material,  welches  so  die  Sinnesorgane 
dem  Geiste  liefern,  setzt  dieser  seine  Vorstellung 
von  der  Außenwelt  zusammen.  Wir  treten  z.  B. 
aus  dem  Hause  in  den  Garten  und  nehmen  mit 
unserem  Auge  eine  blaue  Fläche  wahr,  in  deren 
Mitte  sich  etwas  Grünes  befindet,  unterhalb  dessen 
wir  etwas  Braunes  sehen.  Das  Ohr  hört  gleich- 
zeitig ein  leises  Rauschen,  und  wenn  wir  uns  nach 
dem  Orte  hinbewegen,  von  dem  diese  Empfindungen 
auszugehen  scheinen  und  mit  der  Hand  das  ge- 
sehene braune  Gebilde  berühren,  so  bekommen  wir 
das  Gefühl  des  Harten,  Rauhen;  gleichzeitig  riechen 
wir  einen  angenehmen  Duft,  oder,  wenn  unsere 
Hand  ein  rundes  Gebilde,  welches  wir  sehen,  nimmt 
und  zum   Munde    führt,    so  bekommen  wir  einen 


174  Siebente  Vorlesung. 

Süßen  Geschmack.  Aus  diesen  rein  objektiv  ge- 
schilderten, ganz  heterogenen  Sinnesempfindungen, 
welche  uns  unsere  verschiedenen  Sinnesorgane 
liefern,  baut  der  Verstand  zwangsmäßig  und  unbe- 
wußt einen  Gegenstand  auf.  In  diesem  Fall  einen 
grünen  Baum,  der  vor  dem  blauen  Himmel  steht 
und  Blüte  oder  Frucht  trägt  Was  nun  das  Merk- 
würdigste von  allem  ist,  dieser  Gegenstand,  der  in 
unserem  Innern  durch  das  Zusammentreffen  so  ganz 
verschiedener  Sinneseindrücke  gebildet  wird,  wird, 
ohne  daß  wir  uns  dessen  bewußt  werden,  zwangs- 
mäßig nach  außen  verlegt  und  erscheint  uns  als 
ein  außerhalb  unseres  Körpers  befindlicher  Baum. 
Jetzt  sind  wir  so  weit  gelangt,  daß  wir  uns  die 
Frage  vorlegen  können,  was  denn  geschieht,  wenn 
jemand  einen  Gegenstand,  sagen  wir  eine  brennende 
Kerze,  sieht.  Die  Prozesse,  die  hierbei  mitspielen, 
können  wir  wie  folgt  beschreiben:  In  der  brennen- 
den Kerze  findet  eine  Oxydation  des  Stearins  oder 
Paraffins  zu  Kohlensäure  und  Wasser  statt,  und 
dieser  Prozeß  geht  bei  so  hoher  Temperatur  vor 
sich,  daß  dadurch  einzelne  Kohlenteilchen  in  der 
Flamme  zum  „Glühen"  kommen,  d.  h.  sie  werden 
nach  der  Annahme  der  Physiker  in  so  lebhafte 
Schwingungen  versetzt,  daß  sie  diese  Bewegung 
ihrer  Umgebung  und  speziell  dem  hypothetischen 
Äther  mitteilen.  Von  den  glühenden  Kohlenteilchen 
der  Flamme  pflanzen  sich  also  Bewegungsvorgänge 


Die  Farbenlehre  I.  —  Physiologische  Optik.        175 

mit  großer  Geschwindigkeit  nach  allen  Seiten  durch 
den  Äther  fort.  Ein  Teil  von  ihnen  trifft  auf  das 
Auge  des  Beobachters  und  dringt  durch  dessen 
Pupille  ins  Innere  bis  zur  Netzhaut.  Unter  dem 
Einfluß  dieser  Ätherschwingungen  entstehen  nun  in 
der  Netzhaut  auf  noch  nicht  näher  aufgeklärte  Weise 
nervöse  Erregungen  und  diese  werden  ähnlich  wie 
durch  einen  telegraphischen  Draht  auf  dem  Wege 
des  Sehnerven  zum  Gehirn  unserer  Versuchsperson 
fortgeleitet.  Hier  treten  darauf  eine  Reihe  von  kom- 
plizierten nervösen  Erregungsvorgängen  auf,  über 
deren  feineres  Ineinandergreifen  wir  nur  unvoll- 
kommen unterrichtet  sind.  Und  nun  kommt  das 
Wunder!  Gleichzeitig  mit  den  nervösen  Erregungen 
im  Gehirn,  welche  vom  Sehnerven  aus  veranlaßt 
worden  sind,  hat  die  Person  eine  Empfindung,  und 
zwar  eine  Lichtempfindung.  Über  den  Zusammen- 
hang der  nervösen  Erregungen  mit  den  Empfin- 
dungen besitzen  wir  keine  Kenntnis,  es  ist  dies 
ein  unlösbares  Rätsel.  Aber  die  Lichtempfindung 
tritt  gesetzmäßig  im  Anschluß  an  die  optische  Er- 
regung auf  und  wird  zwangsmäßig  nach  außen  ver- 
legt und  lokalisiert.  Die  Versuchsperson  sieht  die 
Kerze  an  ihrem  Orte  im  Raum.  Jetzt  wollen  wir 
eine  einfache  Frage  der  Nomenklatur  stellen;  wir 
wollen  fragen,  wie  man  die  einzelnen  Teile  dieses 
ganzen  eben  geschilderten  Vorgangs  benennt.  Die 
brennende  Kerze  nennen  wir  Licht,  den  Schwin- 


176  Siebente  Vorlesung. 

gungsvorgang  des  Äthers,  der  von  der  Kerze  aus 
nach  allen  Seiten  sich  verbreitet,  nennen  die  Physiker 
wieder  Licht,  und  die  Empfindung,  welche  im 
Geiste  unserer  Versuchsperson  dadurch  hervor- 
gerufen wird,  nennen  die  Physiologen  und  Psycho- 
logen ebenfalls  Licht  (eine  Lichtempfindung).  Ja  es 
ist  sogar  der  Erregungsvorgang  in  der  Netzhaut  von 
Helmholtz  und  anderen  als  Lichtempfindung  be- 
zeichnet worden;  wir  wollen  von  dieser  Benennung 
hier  absehen.  Wenn  wir  statt  der  weißbrennenden 
Kerze  ein  rotleuchtendes  bengalisches  Zündholz  zu 
unserem  Versuche  nehmen,  so  schreiben  wir  der 
roten  Flamme  eine  Farbe  zu.  Die  Lichtstrahlen, 
die  von  ihr  ausgehen,  nennen  die  Physiker  wiederum 
farbiges  Licht  oder  Farbe,  und  die  Empfindung, 
die  der  Beobachter  dadurch  bekommt,  ist  wieder 
Farbe.  So  sehen  Sie,  daß  bei  diesem  kompli- 
zierten Vorgang,  den  wir  eben  in  seine  Kompo- 
nenten aufgelöst  haben,  eine  heillose  Verwirrung 
der  Nomenklatur  besteht,  und  daß  jeder  mit  dem 
Worte  Licht  oder  Farbe  eigentlich  etwas  ganz 
anderes  bezeichnet  Daher  ist  es  so  schwer  ge- 
wesen, und  auch  heute  noch  so  schwierig,  sich  über 
die  Natur  der  Farbe  und  des  Lichts  zu  verständigen. 
Hier  liegt  der  Hauptgrund,  weshalb  auch  Goethe  in 
seiner  Farbenlehre  heterogene  Dinge  miteinander 
vereinigen  wollte.  Denn  wir  müssen  daran  denken, 
daß,  wie  oben  betont  wurde, »die  Aufklärung  des 


Die  Farbenlehre  I.  —  Physiologische  Optik.        177 

ganzen  Sehprozesses  erst  in  die  nachgoethesche 
Zeit  fällt.  Goethe  hat  allerdings  einen  sehr  wich- 
tigen Schritt  vorwärts  getan  dadurch,  daß  er  alle 
Farbenerscheinungen  in  drei  große  Gruppen  son- 
derte, in  die  physiologischen,  in  die  physischen 
und  die  chemischen  Farben.  Die  physiologischen 
Farben  sind  nach  Goethe  diejenigen,  welche  durch 
die  Zustände  und  Tätigkeit  unseres  Auges  bedingt 
sind.  Die  physischen  sind  die,  welche  nach  unserer 
heutigen  Nomenklatur  durch  Beeinflussung  der  Licht- 
strahlen und  Ätherschwingungen  entstehen,  also  die 
prismatischen  Farben,  die  Farben  bei  der  Brechung 
und  Beugung  des  Lichtes,  die  Farbenerscheinung 
bei  der  Doppelbrechung  durch  Kalkspat  u.  a.  m. 
Die  chemischen  Farben  endlich  sind  die  Körper- 
farben, die  Farben  der  Steine,  Wände,  Kleidung, 
Papiere  usf.^).  Diese  Goethesche  Einteilung  lehnt 
sich  also  eng  an  das  Schema  an,  das  wir  oben 
vom  Sehprozeß  gegeben  haben.  Hierbei  würde  der 
Kerze  die  chemische,  den  Ätherwellen  die  physische 
und  den  Erregungen  in  der  Netzhaut  und  im  Gehirn 
die  physiologische  Farbe  entsprechen.  Goethe  hat 
aber  dadurch  einen  fundamentalen  Irrtum  begangen, 


0  Heute  würden  wir  den  Gegensatz  zwischen  den  physio- 
logischen und  den  andern  Farben  so  definieren,  daß  in  dem 
einen  Fall  eine  Farbenempfindung  ohne  äußeren  Reiz  ent- 
steht, in  dem  andern  Fall  durch  äußeren  Reiz  hervorgerufen 
wird. 

Magnus,  Goethe  als  Naturfosrcher.  12 


178  Siebente  Vorlesung. 

daß  er  versucht  hat,  diejenige  Methode  auch  auf 
die  sinnesphysiologischen  Probleme  zu  übertragen, 
welche  sich  ihm  bei  seinen  morphologischen  Studien 
so  glänzend  bewährt  hatte,  die  Methode  der  kon- 
tinuierlichen Reihe.  Er  hat  versucht  die  physio- 
logischen, physischen  und  chemischen  Farben  so 
zu  schildern,  daß  er,  ausgehend  von  den  physio- 
logischen, die  physischen  und  die  chemischen  all- 
mählich schrittweise  entwickeln  wollte.  Er  hat  wohl 
gesehen,  daß  in  dem  Gegensatz  zwischen  Objekt 
und  Subjekt  ein  großes,  schwieriges  Problem  ver- 
borgen liegt:  „Hier  ist  es,  wo  sich  der  Praktiker 
in  der  Erfahrung,  der  Denker  in  der  Speculation 
abmüdet  und  einen  Kampf  zu  bestehen  aufgefordert 
ist,  der  durch  keinen  Frieden  und  keine  Ent- 
scheidung geschlossen  werden  kann."  Aber 
er  hat  ebenso  wie  alle  seine  Zeitgenossen,  außer  Kant, 
versucht,  den  prinzipiellen  Unterschied  zwischen  der 
physiologischen  und  der  objektiven  Seite  des  Seh- 
prozesses außer  acht  zu  lassen  bzw.  zu  überbrücken, 
und  daher  schreibt  sich  der  Irrtum  in  Goethes 
Farbenlehre.  In  diesem  Irrtum  aber  ist  Goethe  das 
Kind  seiner  Zeit;  und  sein  fundamentales  Verdienst 
ist,  daß  er  als  einer  der  ersten  auf  die  physio- 
logischen Gesichtserscheinungen  im  Zusammenhang 
aufmerksam  geworden  ist  und  sie  in  ihrer  Gesamt- 
heit in  klassischer  und  mustergültiger  Weise  dar- 
gestellt hat    Der  Teil  der  Farbenlehre,  welcher  die 


Die  Farbenlehre  I.  —  Physiologische  Optik.        179 

physiologischen  Farben  schildert,  ist  daher  bis  auf 
den  heutigen  Tag  als  bahnbrechend  und  wissen- 
schaftlich grundlegend  anzusehen.  Ihm  werden  wir 
in  unserer  Besprechung  die  erste  und  wesentliche 
Stellung  einräumen.  Doch  auch  die  anderen  Teile 
von  Goethes  optischem  Werk  entbehren  der  Be- 
deutung nicht,  weil  sie  eine  vollständige  Zusammen- 
fassung und  genaue  tatsächliche  Schilderung  der 
Phänomene  und  Experimente  darbieten,  so  daß 
selbst  ein  so  genauer  Kenner  wie  Helmholtz  an- 
gibt, daß  über  die  tatsächliche  Richtigkeit  irgend 
eines  von  Goethe  geschilderten  objektiven  Vor- 
ganges und  Experimentes  niemals  ein  Zweifel  habe 
obwalten  können. 

Jetzt  haben  wir  die  Grundlage  gewonnen,  von 
der  aus  das  Goethesche  Werk  zu  beurteilen  sein 
wird.  Eine  genauere  Kenntnis  der  Farbenlehre  wird 
uns  vor  allem  mit  dem  äußerst  exakten  Vorgehen 
des  Naturforschers  bekannt  machen. 


Goethe  selbst  hat  uns  am  Schluß  seiner  Ge- 
schichte der  Farbenlehre  überliefert,  wie  er  zu  seinen 
optischen  Studien  gekommen  ist.  Schon  als  Student 
in  Leipzig  sah  er  in  Winklers  physikalischen  Vor- 
lesungen die  optischen  Versuche,  welche  in  großer 
Zahl  im  Anschluß  an  Newtons  Lehre  angestellt 
wurden,  und  er  behielt  sie  von  daher  bis  in  sein 
Alter  wohl  im  Gedächtnis.    Er  berichtet  aber,  daß 

12* 


180  Siebente  Vorlesung. 

er  selbst  nicht  von  der  physikalischen  Seite  zur 
Farbenlehre  gekommen  sei,  sondern  von  der  künstle- 
rischen. In  den  Jahren  vor  der  italienischen  Reise 
versuchte  er  vielfach  sich  als  Maler  und  als  Zeichner 
zu  betätigen  und  gewann  erst  in  Italien  die  Erkennt- 
nis, daß  ihm  das  eigentliche  Talent  hierzu  mangele. 
Daher  bemühte  er  sich  auch  vor  allem  um  die 
technische  Seite  der  Malerei,  um  ihre  Regeln.  In 
Italien  studierte  er  von  diesem  Gesichtspunkte  aus 
die  Gesetze  der  Farbengebung  an  den  Meisterwerken 
der  Malerei  und  suchte  sich  vielfach  auch  bei 
Künstlern  Rat  zu  erholen.  Diese  aber  konnten  ihm 
gewöhnlich  nur  ganz  allgemeine  Anhaltspunkte  geben, 
sie  unterschieden  kalte  und  warme  Farben  und 
wußten,  daß  einzelne  Farben  sich  gegenseitig  in 
ihrer  Leuchtkraft  heben.  Bestimmte  Gesetze  er- 
fuhr aber  Goethe  von  ihnen  nicht.  Angelika  Kauff- 
mann,  mit  der  er  in  Rom  nah  verkehrte,  wurde  nun 
von  ihm  zu  verschiedenen  koloristischen  Versuchen 
veranlaßt.  Sie  malte  ein  Bild  zunächst  grau  in  grau, 
das  erst  zum  Schluß  mit  Farbe  lasiert  wurde;  sie 
entwarf  eine  Landschaft,  in  der  alle  blauen  Töne 
fehlten,  und  dergleichen  mehr.  Neben  diesen  male- 
rischen Studien  hielt  Goethe  auch  in  der  freien 
Natur  seine  Augen  offen  und  beobachtete  eifrigst 
die  atmosphärischen  Farbenerscheinungen:  grüne 
Schatten  bei  purpurnem  Sonnenuntergang,  die  blaue 
Färbung  entfernter  Berge,  die  Farben  naher  Schat- 


Die  Farbenlehre  I.  —  Physiologische  Optik.        181 

ten  und  manches  andere.  So  wurden  ihm  die 
Farbenphänomene  in  Natur  und  Kunst  vertraut. 
Nach  der  Rückkehr  auf  deutschen  Boden  trat  die 
optische  Beschäftigung  zunächst  zurück.  Als  aber 
Hofrat  Büttner  von  Göttingen  nach  Jena  übersiedelte 
und  einen  reichhaltigen  optischen  Apparat  mit- 
brachte, lieh  er  einiges  davon  aus  und  beabsichtigte 
damit  zu  experimentieren.  Es  blieb  aber  bei  dieser 
Absicht  und  Büttners  Prismen  blieben  unberührt 
liegen,  bis  ihr  Eigentümer  ungeduldig  wurde  und 
sie  immer  energischer  zurückverlangte.  Schließlich 
wurde  sogar  ein  Bote  nach  Weimar  geschickt,  um 
sie  zu  holen.  So  gedrängt,  wollte  sie  Goethe  ge- 
rade aushändigen,  als  er  noch  rasch  einen  Blick 
durch  ein  Prisma  warf.  Dieser  Moment  ist  für 
Goethes  ganze  späteren  optischen  Studien  entschei- 
dend. Ihm  war  von  der  Studienzeit  her  im  Ge- 
dächtnis geblieben,  daß  durch  ein  Prisma  weißes 
Licht  in  farbiges  zerlegt  werde,  und  als  er  durch 
Büttners  Prisma  die  weiße  Wand  seines  Zimmers 
betrachtete,  erwartete  er  fälschlich  die  ganze  Wand 
in  Regenbogenfarben  schillern  zu  sehen.  Das  war  nun 
natürlich  nicht  der  Fall.  Die  Wand  erschien  weiß, 
nur  ihre  Ränder  und  die  Stäbe  des  Fensterkreuzes 
zeigten  die  prismatischen  Farben.  Goethe  stutzt,  und 
es  fällt  ihm  ein,  die  Newtonsche  Theorie  des  Lichts 
müsse  falsch  sein.  Er  behält  die  Prismen  zurück  und 
beginnt  nun  1790  aufs  eifrigste  zu  experimentieren. 


182  Siebente  Vorlesung. 

Mehr  und  mehr  befestigt  sich  in  ihm  die  Überzeu- 
gung von  der  Unrichtigkeit  der  Newtonschen  Lehre, 
aber  alle  Bemühungen,  diese  Überzeugung  auch 
andern  Leuten  zu  vermitteln,  scheitern,  besonders 
die  Physiker  verhalten  sich  Goethes  immer  dringen- 
der werdenden  Demonstrationen  gegenüber  völlig 
ablehnend.  Doch  immer  tiefer  versenkt  er  sich  in 
seine  Überzeugung.  Er  läßt  sich  schließlich  Newtons 
Werke  kommen  und  macht  seine  Versuche  in  allen 
Einzelheiten  aufs  sorgfältigste  nach.  Diese  Experi- 
mente scheinen  ihm  nun  absichtlich  kompliziert  zu 
sein,  um  den  wahren  Sachverhalt  zu  verdecken,  und 
er  geht  jetzt  daran,  selbst  die  einfachen  grundlegen- 
den Versuche  anzustellen  und  zu  schildern.  Von 
den  physikalischen  Forschungen  gelangt  Goethe 
dann  wieder  zurück  zu  den  physiologischen.  Er 
studiert  die  Phänomene  der  farbigen  Schatten,  er 
vertieft  sich  schließlich  von  Jahr  zu  Jahr  immer  mehr 
in  die  Farbenlehre,  bis  schließlich  nach  mehr  als 
zwanzigjähriger  Tätigkeit  das  gesamte  Werk  abge- 
schlossen wird  und  1810  erscheint 

Wie  rasch  aber  Goethe  besonders  am  Anfang 
arbeitete,  ist  daraus  zu  ersehen,  daß  er  schon  im 
Jahre  1791  das  erste  Stück  seiner  Beiträge  zur  Optik 
erscheinen  ließ,  mit  Abbildungen,  die  in  Spielkarten- 
format  in  einer  Kartenfabrik  gedruckt  waren.  Diese 
wurden  «niit  schlechtem  Dank  und  hohlen  Redens- 
arten der  Schule  beiseite  geschoben."    Das  zweite 


Die  Farbenlehre  I.  —  Physiologische  Optik.        183 

Stück  der  Beiträge  erschien  1792;  in  demselben 
Jahre  schrieb  er  den  ersten  Aufsatz  über  die  farbigen 
Schatten,  der  das  dritte  Stück  seiner  Beiträge  bil- 
den sollte  und  das  höchste  Interesse  des  Physikers 
und  Satyrikers  Lichtenberg  in  Göttingen  erregte. 
Im  Jahre  1793  wurde  im  Lager  von  Marienborn 
ein  kleiner  Aufsatz,  „einige  allgemeine  chroma- 
tische Sätze",  geschrieben.  In  demselben  Jahre 
verfaßte  er  höchst  wahrscheinlich  noch  den  „Ver- 
such die  Elemente  der  Farbenlehre  zu  entdecken", 
den  Aufsatz  „über  Newtons  Hypothese  der  diver- 
sen Refrangibilität"  und  „über  Farbenerscheinungen 
bei  der  Refraktion".  Das  endgültige  Hauptwerk: 
„Zur  Farbenlehre"  erschien  in  zwei  Bänden  mit 
einem  Tafelheft.  Der  erste  Band  enthält:  „Ent- 
wurf einer  Farbenlehre.  Des  Ersten  Bandes  Erster, 
didaktischer  Teil"  und  „Enthüllung  der  Theorie 
Newtons.  Des  Ersten  Bandes  Zweiter,  polemischer 
Teil".  Der  zweite  Band  besteht  fast  ganz  aus  den 
„Materialien  zur  Geschichte  der  Farbenlehre.  Des 
Zweiten  Bandes  Erster,  historischer  Teil".  Ein  be- 
absichtigter zweiter  supplementärer  Teil  ist  nie  er- 
schienen. „Statt  des  versprochenen  supplementären 
Teils"  läßt  Goethe  einen  Aufsatz  von  Seebeck 
„Wirkung  farbiger  Beleuchtung"  abdrucken.  Seine 
späteren  optischen  Aufsätze  sind  in  den  Heften 
„Zur  Naturwissenschaft"  erschienen.  So  weit  die 
bibliographischen  Notizen.    Lassen  Sie  uns  jetzt  zur 


184  Siebente  Vorlesung. 

Sache,  zum  Inhalt  von  Goethes  Farbenlehre  über- 
gehen. 

Goethe  geht  in  dei  Einleitung  davon  aus,  daß  wir 
durch  unser  Sinnesorgan  über  das  eigentliche  Wesen 
des  Lichtes  nichts  Direktes  wahrnehmen  können,  son- 
dern nur  seine  Wirkung  erfahren.  Die  wichtigsten 
Wirkungen  sind  die  Farben.  „Die  Farben  sind  Thaten 
des  Lichts,  Thaten  und  Leiden."  Für  die  Erkenntnis 
unserer  sichtbaren  Welt  sind  nun  die  Farben  von 
wesentlicher  Bedeutung.  „Die  ganze  Natur  offenbart 
sich  durch  die  Farbe  dem  Sinn  des  Auges."  Er 
spricht  von  der  Welt  des  Auges,  die  durch  Gestalt  und 
Farbe  erschöpft  wird,  und  fragt:  „Gehören  die  Farben 
nicht  ganz  eigentlich  dem  Gesicht  an?"  Die  Emp- 
findungen Schwarz,  Weiß  und  die  Farben  sind  nach 
unserer  heutigen  Bezeichnungsweise  die  Qualitäten, 
d.  h.  die  verschiedenen  Empfindungsarten  des  Auges. 
Unser  Auge  vermittelt  uns  nur  solche  Qualitäten. 
Diese  Erkenntnis  spricht  Goethe  schon  mit  aller 
Deutlichkeit  aus,  wenn  er  sagt:  „Hell,  dunkel  und 
Farben  zusammen  machen  allein  dasjenige  aus,  was 
den  Gegenstand  vom  Gegenstand,  die  Teile  des 
Gegenstands  voneinander  fürs  Auge  unterscheidet, 
und  so  erbauen  wir  aus  diesen  dreien  die  sicht- 
bare Welt"  Wie  entsteht  nun  ein  Auge?  Goethe 
beantwortet  diese  Frage  von  demselben  Standpunkte, 
von  dem  aus  er  die  tierische  Formbildung  überhaupt 


Die  Farbenlehre  I.  —  Physiologische  Optik.        185 

betrachtet.  Das  Auge  soll  durchs  Licht  fürs  Licht 
gebildet  sein;  aus  gleichgültigen  tierischen  Hilfs- 
organen soll  unter  dem  Einfluß  des  Lichts  ein  so 
zweckmäßiges  Sinnesorgan  entstanden  sein.  Wir  er- 
innern uns,  daß  Goethe  dieselbe  Vorstellungsart  ent- 
wickelte, als  er  die  Fische  durchs  Wasser  fürs 
Wasser,  die  Vögel  durch  die  Luft  für  die  Luft  ge- 
bildet sein  ließ.  Es  wird  dann  in  der  Einleitung 
weiter  darauf  hingewiesen,  daß  die  alten  ionischen 
Philosophen  lehrten,  es  könne  nur  Gleiches  von 
Gleichem  erkannt  werden,  und  welche  daher  dem 
Auge  auch  Licht  zuschrieben.  „War'  nicht  das  Auge 
sonnenhaft,  wie  könnten  wir  das  Licht  erblicken?" 
Er  meint  nun  von  seinem  Standpunkte  aus  dies 
etwa  so  ausdrücken  zu  können:  „Im  Auge  wohnt 
ein  ruhendes  Licht,  das  bei  der  mindesten  Ver- 
anlassung von  innen  oder  von  außen  erregt  wird." 
Dieses  ruhende  Licht  bezeichnen  wir  heute  als  Licht- 
empfindung, die  durch  innere  oder  äußere  Ursachen 
hervorgerufen  werden  kann.  Goethe  ist  hier  also 
der  Erkenntnis,  daß  Licht  und  Farbe  nur  unsere 
Empfindungen  sind,  ganz  außerordentlich  nahe  ge- 
kommen, hat  aber  trotzdem  diese  Konsequenz  nicht 
gezogen  und  spricht  kurz  darauf  von  der  Farbe  als 
einem  Naturphänomen  für  den  Sinn  des  Auges. 

Der  erste  Abschnitt  von  Goethes  Farbenlehre 
behandelt  die  physiologischen  Farben.  Es  ist 
schon  eine  große  wissenschaftliche  Tat,  diesen  Ab- 


186  Siebente  Vorlesung. 

schnitt  an  die  Spitze  zu  stellen  und  als  das  Funda- 
ment der  ganzen  Lehre  zu  bezeichnen.  Diese  Farben- 
erscheinungen, welche  man  früher  nur  für  zufällig, 
täuschend  oder  krankhaft  gehalten  hatte,  beruhen 
nach  Goethe  auf  der  Tätigkeit  des  gesunden  Auges, 
über  dessen  Eigenschaften  wir  durch  sie  Sicheres  er- 
fahren. Sehr  scharf  wendet  sich  Goethe  gegen  die  An- 
schauung, daß  es  sich  hier  um  Gesichtstäuschungen 
handle.  „Gesichtstäuschungen  sind  Gesichtswahr- 
heiten**, und  „es  ist  eine  Gotteslästerung  zu  sagen, 
daß  es  einen  optischen  Betrug  gibt".  Gerade  aus 
den  Fällen,  in  denen  unser  Auge  uns  Empfindungen 
vermittelt,  die  den  Vorgängen  in  der  Außenwelt  ent- 
sprechen, können  wir  nichts  über  die  normale  Tätigkeit 
dieses  Organs  erfahren;  die  physiologischen  Farben- 
erscheinungen lehren  uns  dagegen  die  Eigenschaften 
des  Auges  kennen.  Goethe  hat  hier  in  aller  Kürze, 
aber  doch  eingehend  genug  ein  Lehrbuch  der  physio- 
logischen Optik  geschrieben.  Hier  liegen  auch  nach 
ihm  die  Ursachen  der  chromatischen  Harmonie 
begründet  Da  er  in  seinen  Studien  von  der  Unter- 
suchung des  malerischen  Kolorits  ausgegangen  war,  so 
mußte  ihn  die  Frage,  worauf  denn  die  Farbenharmonie 
beruhe,  lebhaft  interessieren.  Seine  Studien  haben  ihn 
zu  der  Erkenntnis  geführt,  daß  sie  durch  die  physio- 
logischen Eigenschaften  unseres  Auges  bedingt  sei. 
Der  erste  Abschnitt  „Licht  und  Finsternis  zum 
Auge"  setzt  das  Verhalten  des  Auges  zur  Beiich- 


Die  Farbenlehre  I.  —  Physiologische  Optik.        187 

tung  und  Verdunkelung  auseinander.  Die  Netzhaut 
befindet  sich  nach  Goethe  bei  Belichtung  und  Ver- 
dunkelung in  zwei  verschiedenen,  und  zwar  ent- 
gegengesetzten Zuständen.  Trotzdem  bezeichnet  er 
das  Schwarz  nicht  als  eine  eigentliche  Empfindung, 
wie  es  heute  geschieht,  sondern  als  einen  Mangel 
an  Empfindung.  Die  Erregbarkeit  des  Auges  zeigt 
nun  im  Dunkeln  und  im  Hellen  sehr  starke  Ver- 
änderungen. Diese  Zustände,  die  wir  als  Adaption 
bezeichnen,  sind  Ihnen  allen  aus  Erfahrung  bekannt. 
Wenn  wir  in  ein  dunkles  Zimmer  treten,  so  sehen  wir 
zunächst  gar  nichts;  erst  nach  einiger  Zeit  gewöhnt 
sich  unser  Auge  an  die  geringe  hier  herrschende 
Helligkeit,  und  wir  beginnen  allmählich  die  Gegen- 
stände immer  besser  zu  unterscheiden.  Goethe 
hat  die  zur  Dunkeladaption  erforderliche  Zeit  zu  ein 
bis  acht  Minuten  bestimmt.  Umgekehrt  werden  wir, 
wenn  wir  aus  dem  Dunklen  ins  Helle  treten,  ge- 
blendet und  können  erst  nach  einiger  Zeit  die  Gegen- 
stände wieder  gut  unterscheiden.  Im  Dunkeln  wird 
die  Empfindlichkeit  unseres  Auges  gesteigert,  im 
Hellen  herabgesetzt.  Darauf  beruht  es  nach  Goethe, 
daß  wir  am  Tage  die  Sterne  nicht  sehen,  obwohl 
sie  am  Himmel  stehen  und  dieselbe  Lichtmenge  wie 
des  Nachts  zu  uns  herunter  schicken.  Wir  sehen 
auch  faulendes  Holz  im  hellen  Tageslicht  aus  diesem 
Grunde  nicht  leuchten,  nicht  aber  weil  die  Erschei- 
nung nur  des  Nachts  tatsächlich  eintritt. 


188  Siebente  Vorlesung. 

Der  nächste  Abschnitt  „Schwarze  und  weiße 
Bilder  zum  Auge"  handelt  zunächst  von  den  Irra- 
diationserscheinungen. Sie  sehen  auf  der  oberen 
Hälfte  von  Fig.  6,  daß  eine  weiße  Scheibe  auf 
schwarzem  Grunde  größer  aussieht  als  eine  schwarze 
Scheibe  von  gleichem  Umfang  auf  weißem  Grunde. 
So  scheint  auch  die  leuchtende  Mondsichel  einem 
größeren  Kreis  anzugehören  als  die  dunkle  Mond- 
scheibe, die  man  an  klaren  Nächten  gleichzeitig  sieht. 
Schwarze  Kleider  machen  schlank,  weiße  dick.  Ein 
Lineal,  das  man  quer  vor  eine  leuchtende  Kerze 
hält,  scheint  an  der  Stelle,  wo  es  die  Flamme 
schneidet,  durch  diese  eingekerbt  zu  sein.  Ich  möchte 
hier  nicht  die  heutige  Theorie  der  Irradiationserschei- 
nung auseinandersetzen,  welche  etwas  kompliziert 
ist,  sondern  nur  die  interessante  Deutung  erwähnen, 
die  Goethe  diesen  Phänomenen  wenn  auch  mit  aller 
Vorsicht  und  nur  hypothetisch  gibt.  Er  stellt  sich 
vor,  daß  im  Dunkeln  die  Netzhaut  in  sich  zusammen- 
gezogen ist  und  sich  bei  Belichtung  flächenhaft 
ausbreitet  Dasselbe  tritt  ein,  wenn  die  Netzhaut 
gleichzeitig  das  Bild  schwarzer  und  weißer  Gegen- 
stände empfängt.  Dann  bleibt  sie  an  den  Stellen, 
die  nicht  vom  Licht  getroffen  werden,  zusammen- 
gezogen und  breitet  sich  an  den  belichteten  aus. 
So  beruht  also  nach  Goethe  die  Vergrößerung  des 
weißen  Bildes  auf  einer  objektiven  Größenzunahme 
und  Ausdehnung  der  belichteten  Netzhautstelle.  Be- 


Die  Farbenlehre  I.  —  Physiologische  Optik.        189 

Wegungserscheinungen  der  Netzhaut  haben  sich  in 
dieser  Form  nicht  nachweisen  lassen.  Die  Hypo- 
these muß  daher  aufgegeben  werden.  Sie  ist  aber 
deshalb  von  größtem  Interesse,  weil  Goethe  hier 
schon  überhaupt  Bewegungserscheinungen  der  Netz- 
haut durch  Belichtung  angenommen  hat.  Solche 
Phänomene  sind  in  der  Folgezeit  verschiedentlich  be- 
kannt geworden,  und  wir  wissen  jetzt,  daß  durch  Be- 
lichtung Verlängerungen  und  Verkürzungen  der  Stäb- 
chen und  Zapfen  in  der  Netzhaut  eintreten  können, 
und  daß  ganz  gesetzmäßige  Wanderungen  schwarzen 
Pigments  zu  beobachten  sind. 

Es  werden  sodann  die  positiven  Nachbilder 
geschildert.  Fixieren  wir  mit  wohl  ausgeruhtem 
Auge  kurze  Zeit  das  Fensterkreuz  und  schließen 
sodann  die  Lider,  so  bleibt  das  Bild  noch  einige 
Zeit  lang  bestehen.  Die  Erscheinung  ist  allbe- 
kannt, daß,  wenn  man  zufällig  in  die  strahlende 
Sonne  gesehen  hat  und  darauf  geblendet  das  Auge 
schließt,  das  leuchtende  Sonnenbild  noch  eine  Zeit 
im  Auge  bleiben  kann.  Auch  hier  hat  Goethe  die 
zeitliche  Dauer  der  Nachbilder  bestimmt.  Er  findet 
sie  abhängig  von  der  Intensität  der  Beleuchtung  und 
vor  allem  von  der  Empfindlichkeit,  vom  Adaptions- 
zustande des  Auges.  Bei  Augenkranken  können  sie 
eine  Viertelstunde  und  länger  dauern. 

Genau  das  Umgekehrte  tritt  auf,  wenn  man  nach 
Fixierung  z.  B.  des  Fensterkreuzes  nicht  ins  Dunkle, 


190  Siebente  Vorlesung. 

sondern  ins  Helle,  auf  eine  graue  oder  weiße  Wand 
sieht  Dann  erblickt  man  das  umgekehrte,  nega- 
tive Nachbild,  nach  Goethes  Ausdrucksweise  „das 
geforderte  Bild".  Wenn  Sie  z.  B.  eine  weiße 
Scheibe  auf  schwarzem  Grunde  (Fig.  6)  längere  Zeit 
fixieren  und  danach  auf  eine  weiße  Fläche  blicken, 
so  sehen  Sie  einen  dunklen  Kreis  auf  hellem  Grunde. 
Goethe  gibt  gleich  die  richtige  Erklärung.  Starren 
wir  längere  Zeit  auf  eine  schwarze  und  weiße 
Fläche,  so  bleiben  die  Teile  der  Netzhaut,  auf  die 
das  schwarze  Bild  fällt,  ausgeruht  (dunkeladaptiert), 
während  die  Teile,  auf  die  das  weiße  Bild  fällt,  er- 
müdet, in  ihrer  Empfindlichkeit  herabgesetzt  (hell- 
adaptiert) werden.  Fällt  nun  nachher  das  Bild  einer 
gleichmäßig  grauen  Fläche  ins  Auge,  so  trifft  dies 
verschiedene  Teile  der  Netzhaut  in  verschiedenem 
Erregungszustande.  Die  Teile,  auf  die  vorher  das 
dunkle  Bild  gefallen  war,  sind  erregbarer  und  sehen 
daher  das  graue  Papier  an  den  entsprechenden 
Stellen  heller.  Sehr  zahlreich  sind  die  Fälle,  in 
denen  sich  dies  Phänomen  beobachten  läßt.  Z.  B. 
sehen  wir  um  dunkel  gekleidete  Personen  auf  hellem 
Grunde  eine  Gloriole,  einen  Heiligenschein,  der  be- 
sonders deutlich  wird,  wenn  z.  B.  Menschen  im  Ge- 
birge sich  gegen  den  grauen  Himmel  abheben.  Es 
ist  „das  geforderte  Bild",  das  bei  kleinen  Augen- 
bewegungen über  die  Konturen  der  dunkeln  Personen 
herObergrelft.  Diese  Erscheinung  bezeichnet  man  als 


Fig.  6. 


Die  Farbenlehre  I.  —  Physiologische  Optik.        191 

Successivkontrast.  Im  Gegensatz  hierzu  unter- 
scheidet man  einen  Simultankontrast,  zu  dessen 
Schilderung  Goethe  in  dem  nächsten  Abschnitt 
„Graue  Flächen  und  Bilder**  übergeht.  Sie  sehen 
auf  der  unteren  Hälfte  von  Fig.  6  zwei  graue  Recht- 
ecke. Das  auf  weißem  Grunde  erscheint  dunkler, 
das  auf  schwarzem  Grunde  heller.  In  Wirklichkeit 
sind  sie  aber  genau  gleich  hell.  Goethe  deutet 
dieses  Phänomen  physiologisch,  es  beruht  nach  ihm 
auf  einer  Lebensäußerung  der  Netzhaut.  Wenn  irgend 
welche  Teile  der  Retina  durch  Licht  getroffen  wer- 
den, so  ändert  sich  nicht  nur  ihre  eigene  Empfind- 
lichkeit, sondern  auch  die  der  umliegenden  Netz- 
hautpartien. Diejenigen  Stellen  der  Retina,  auf 
welche  die  beiden  gleichgrauen  Bilder  fallen,  haben 
eine  verschiedene  Empfindlichkeit,  weil  die  um- 
liegenden Netzhautteile  das  eine  Mal  von  weißem 
Licht,  das  andere  Mal  von  keinem  Licht  getroffen 
werden.  Einige  andere  hierher  gehörige  Beispiele 
führt  Goethe  des  weiteren  noch  an.  In  der  Deutung 
des  Simultankontrastes  nimmt  er  einen  ganz  modernen 
Standpunkt  ein.  Noch  Helmholtz  hatte  den  Simultan- 
kontrast auf  psychologische  Ursachen  bezogen;  es 
sollte  ihm  eine  Urteilstäuschung  zugrunde  liegen. 
Die  neuere  Forschung  hat  aber  immer  mehr  Fälle 
bekannt  gemacht,  in  denen  solche  Urteilstäuschungen 
ausgeschlossen  sind,  und  bekennt  sich  daher  mehr 
und  mehr  zu  dem  Goetheschen  Standpunkt.    Wir 


192  Siebente  Vorlesung. 

haben  im  Simultankontrast  ein  physiologisches  Phä- 
nomen zu  sehen,  eine  „Induktion"  von  einem  Teil 
der  Netzhaut  auf  einen  anderen,  wodurch  dessen 
Erregbarkeit  geändert  wird. 

Goethe  geht  nun  zu  den  Farbenerscheinungen 
über  und  bespricht  zunächst  solche  Fälle,  in  denen 
Farbenempfindungen  nach  Belichtung  mit  weißem 
Licht  auftreten;  das  beste  Beispiel  liefert  das  farbige 
Abklingen  der  Blendungsbilder,  wie  wir  es  von  der 
Sonne  oder  im  Dunkelzimmer  von  stark  belichtetem 
weißen  Papier  empfangen.  Sehen  wir  danach  ins 
Dunkle,  so  wird  das  ursprüngliche  gelbe  Sonnen- 
bild allmählich  farbig.  Für  Goethes  Augen  war  die 
Reihenfolge  so,  daß  zuerst  das  Bild  purpur,  dann 
blau,  dann  grau  gefärbt  wurde.  Er  bestimmte  die 
zeitliche  Dauer  der  verschiedenen  Farbenerschei- 
nungen und  fand  sie  sehr  wechselnd,  meinte  aber, 
daß  sich  vielleicht  ein  konstantes  Verhältnis  zwischen 
der  Dauer  der  einzelnen  Phasen  finden  lasse.  Hieran 
hat  dann  später  Purkinje  in  seinen  „Beiträgen  zur 
Kenntnis  des  Sehens  in  subjektiver  Hinsicht"  an- 
geknüpft. Ganz  anders  wurden  nun  die  Farben,  wenn 
Goethe  das  Biendungsbild  nicht  auf  dunklem,  son- 
dern auf  hellem  Grund  abklingen  ließ.  Sah  er  auf 
ein  weißes  Blatt  Papier,  so  erschien  ihm  das  Nach- 
bild der  Sonne  nicht  gelb,  sondern  blau,  die  nächste 
Phase  war  nicht  purpur,  sondern  grün,  die  dritte 
gelb  statt  blau.    Schließlich  ging  das  Bild  ebenfalls 


Die  Farbenlehre  I.  —  Physiologische  Optik.        193 

in  grau  über.  Sehr  schön  läßt  sich  dieses  gegen- 
sätzliche Verhalten  erkennen,  wenn  man  das  Nach- 
bild auf  ein  Blatt  Papier  fallen  läßt,  das  zur  Hälfte 
schwarz,  zur  Hälfte  weiß  gefärbt  ist;  dann  sieht  man 
gleichzeitig  in  der  einen  Hälfte  die  Folge  gelb, 
purpur,  blau,  während  in  der  andern  Hälfte  blau, 
grün,  gelb  erscheint.  So  können  Farbenempfindungen 
in  einem  Auge  entstehen,  in  welches  vorher  nur 
weißes  Licht  gefallen  war.  Diese  Farben  sind  ver- 
schieden, je  nachdem  die  Netzhaut  in  Ruhe  bleibt 
oder  gleichzeitig  durch  weißes  Licht  gereizt  wird. 
In  letzterem  Falle  erscheint  die  Komplementär- 
farbe, nach  Goethes  Ausdruck  die  „geforderte" 
Farbe.  Ein  schönes  Beispiel,  welches  gleichzeitig 
lehrt,  wie  Goethe  in  der  Natur  seine  Augen  offen 
hielt  und  zu  beobachten  pflegte,  findet  sich  in  der 
Farbenlehre.  „Ich  befand  mich  gegen  Abend  in 
einer  Eisenschmiede,  als  eben  die  glühende  Masse 
unter  den  Hammer  gebracht  wurde.  Ich  hatte  scharf 
darauf  gesehen,  wendete  mich  um  und  blickte  zu- 
fällig in  einen  offenstehenden  Kohlenschoppen.  Ein 
ungeheures  purpurfarbnes  Bild  schwebte  nun  vor 
meinen  Augen,  und  als  ich  den  Blick  von  der  dunklen 
Öffnung  weg,  nach  dem  hellen  Bretterverschlag  wen- 
dete, so  erschien  mir  das  Phänomen  halb  grün,  halb 
purpurfarben,  je  nachdem  es  einen  dunklem  oder 
hellem  Grund  hinter  sich  hatte."  Ebenso  wird  von 
Goethe  das  Purpursehen  der  Schneeblinden,  welche 

Magnus,  Goethe  als  Naturforscher.  13 


194  Siebente  Vorlesung. 

längere  Zeit  ohne  Schutzbrillen  über  Gletscher  ge- 
wandert sind,  als  solche  Blendungsfarbe  gedeutet. 
Nach  dieser  Vorbereitung  erörtert  Goethe  die 
Erscheinungen,  welche  bei  Betrachtung  farbiger 
Bilder  auftreten,  und  schildert  zunächst  die  nega- 
tiven farbigen  Nachbilder.  Wenn  man  auf  einer 
weißen  Papiertafel  ein  rotes  Papierstückchen  (z.  B. 
eine  Zehnpfennigmarke)  befestigt  und  dieses  längere 
Zeit  fixiert,  so  sieht  man  nachher,  wenn  das  Auge 
auf  einen  gleichmäßig  weißen  Grund  gerichtet  wird, 
ein  grünes  Nachbild.  War  das  Papier  vorher  grün 
(eine  Fünf  pfennigmarke),  so  ist  das  Nachbild  rot, 
nach  orange  ist  es  blau,  nach  gelb  violett,  und  um- 
gekehrt Dieses  Auftreten  der  geforderten  Farbe 
nennen  wir  Successivkontrast,  und  Goethe  gibt  auch 
hierfür  die  noch  heute  gültige  physiologische  Deu- 
tung. Es  erscheint  uns  bei  diesem  Versuch  „die 
zur  Opposition  aufgeforderte  und  durch  den  Gegen- 
satz eine  Totalität  hervorbringende  Lebendigkeit 
der  Netzhaut".  Der  Sinn  dieses  nicht  leicht  zu  ver- 
stehenden Satzes  ist,  daß  es  sich  bei  dem  Phänomen 
um  eine  Lebensäußerung,  um  eine  Reaktion  der 
Netzhaut  handelt,  welche  unter  dem  Einfluß  des 
Reizlichtes  ihre  Erregbarkeit  so  ändert,  daß  sie  für 
die  Gegenfarbe  erregbarer  (zur  Opposition  aufgefor- 
dert) wird.  Da  nun,  wie  wir  gleich  sehen  werden, 
Reizlicht  und  Gegenfarbe  sich  ergänzen  und  auf- 
heben, 80  wird  durch  diesen  Gegensatz  eine  Totali- 


Die  Farbenlehre  I.  —  Physiologische  Optik.        195 

tat  hervorgebracht.  Goethe  hat  an  einer  andern 
Stelle  sich  folgendermaßen  ausgedrückt:  „Wenn  das 
Auge  die  Farbe  erblickt,  so  wird  es  gleich  in  Thätig- 
keit  gesetzt,  und  es  ist  seiner  Natur  gemäß,  auf  der 
Stelle  eine  andere,  so  unbewußt  als  notwendig, 
hervorzubringen,  welche  mit  der  gegebenen  die 
Totalität  des  ganzen  Farbenkreises  enthält.  Eine 
einzelne  Farbe  erregt  in  dem  Auge,  durch  eine 
spezifische  Empfindung,  das  Streben  nach  Allge- 
meinheit." Daß  es  sich  bei 
diesen  negativen  Nachbildern 
um  tatsächliche  farbige  Er- 
regungen in  der  Netzhaut  han- 
delt (Successivinduktion),  da- 
für gibt  Goethe  einen  schönen 
Beweis.  Er  zeigt  an  einer  spä- 
teren Stelle  der  Farbenlehre,  ^'^•'• 
daß  man  die  Farbe  des  negativen  Nachbildes  mit 
der  Farbe  irgend  eines  objektiven  Papierstückes 
mischen  könne,  und  daß  dabei  die  gesetzmäßige 
Mischfarbe  auftritt.  Auf  Grund  dieser  Tatsachen 
hat  nun  Goethe  einen  Farbenkreis  konstruiert,  aus 
dem  sich  die  geschilderten  Erscheinungen  sofort 
ableiten  lassen. 

In  diesem  Kreis  (Fig.  7)  stehen  sich  die  Farben 
gerade  gegenüber,  welche  sich  gegenseitig  fordern. 
Er  enthält  nach  Goethes  Ansicht,  der  in  dem  Grün 
keine  einheitliche,  sondern  eine  Mischfarbe  sah,  drei 

13* 


196  Siebente  Vorlesung. 

einfache  Farben:  blau,  gelb  und  purpur  (rot),  und 
drei  Mischfarben:  grün,  orange  und  violett.  Es 
stehen  sich  immer  eine  einfache  und  eine  Misch- 
farbe gegenüber.  Da  die  geforderte  Mischfarbe 
(orange,  violett,  grün)  immer  aus  den  zwei  andern 
Farben  zusammengesetzt  ist,  als  das  einfache  Reiz- 
licht (blau,  gelb,  purpur),  so  sehen  wir,  wie  nach 
Goethe  das  Reizlicht  und  die  geforderten  Farben 
zusammen  immer  eine  Totalität  liefern  müssen,  in- 
dem sie  immer  aus  den  drei  Grundfarben  zusammen- 
gesetzt sind.  Das  ist  die  physiologische  Dreifarben- 
theorie, wie  sie  Goethe  gegeben  hat.  Sie  hat  mit 
der  Young-Helmholtzschen  Dreifarbentheorie  gar 
nichts  zu  tun,  zeigt  vielmehr  eine  nähere  Verwandt- 
schaft mit  der  Heringschen  Theorie  der  Gegenfarben, 
weil  sie  ebenfalls  von  den  Empfindungen  ausgeht. 
Der  Farbenkreis,  wie  er  sich  in  neuern  physio- 
logisch-optischen Lehrbüchern  findet,  hat  ein  anderes 
Aussehen.  Hier  stehen  sich  grün  und  rot,  blau  und 
gelb  gegenüber.  Wir  dürfen  daraus  aber  nicht 
schließen,  daß  Goethes  Farbenkreis  etwa  fehlerhaft 
konstruiert  sei.  Es  ist  nur  ein  anderes  Konstruktions- 
prinzip verwendet  worden.  Hering  z.  B.  konstruiert 
seinen  Farbenkreis  so,  daß  immer  zwei  gegenüber- 
stehende Farben  bei  der  Mischung  grau  oder  weiß 
ergeben,  während  Goethe  die  physiologischen  Kon- 
trastfarben einander  gegenüberstellt.  Das  ist  aus 
Gründen,   deren    Erörterung   hier   zu   weit   führen 


Die  Farbenlehre  I.  —  Physiologische  Optik.        197 

würde,  nicht  ganz  dasselbe.  Goethes  Farbenkreis 
beruht  auf  außerordentlich  genauen  Beobachtungen. 
So  gelangt  er  zu  dem  Schluß,  daß  die  Farben- 
empfindungen unseres  Auges  einen  in  sich  abge- 
schlossenen Ring  bilden,  der  aus  drei  Grundfarben 
und  den  dazwischenliegenden  Übergängen  besteht. 
Dadurch  scheidet  sich  das  Farbensystem  unseres 
Auges  scharf  vom  objektiven  Farbensystem,  wie  es 
im  Spektrum  vorhanden  ist.  Dieses  bildet  eine  ein- 
fache lineare  Reihe  vom  Rot  über  Gelb,  Grün,  Blau 
zum  Violett;  das  Auge  erst  schließt  diese  Reihe  zum 
Kreis  dadurch,  daß  es  eine  Farbenempfindung  be- 
sitzt, für  welche  im  Spektrum  das  entsprechende 
Reizlicht  nicht  vertreten  ist,  und  welche  erst  bei 
Mischung  des  äußersten  spektralen  Rots  und  Violetts 
auftritt,  den  Purpur.  Dieser  Goethesche  Purpur  stellt 
nach  seiner  Ansicht  das  reinste  Rot  dar,  welches 
keine  Spur  von  Blau  oder  Gelb  beigemischt  enthält. 
Von  dem  modernen  Heringschen  Farbensystem  unter- 
scheidet das  Goethesche  sich  dadurch,  daß  Grün  als 
eine  Mischfarbe  betrachtet  wird.  Goethe  war  hier 
durch  die  Erfahrung  irregeleitet,  daß  man  bei  der 
Malerei  Grün  aus  Gelb  und  Blau  mischen  kann.  Das 
liegt  aber  nur  an  der  Unreinheit  der  verwendeten 
Pigmente.  Reines  spektrales  Blau  und  Gelb  ge- 
mischt geben  grau  oder  weiß.  Aus  diesem  Irrtum 
ist  aber  Goethe  kein  Vorwurf  zu  machen,  denn  die 
Erkenntnis  der  Mischungsverhältnisse  von  Blau  und 


198  Siebente  Vorlesung. 

Gelb  ist  erst  fünfzig  Jahre  nach  Goethe  durch  die 
Untersuchungen  von  Helmholtz  ermöglicht  worden. 
Es  ist  interessant,  daß  bei  Goethe  ebenso  wie  bei 
dem  Physiker  Brewster  die  Gewißheit,  Grün  sei  eine 
Mischfarbe,  so  weit  ging,  daß  sie  im  Grün  den 
gelben  und  den  blauen  Anteil  zu  erkennen  glaubten, 
während  es  doch  tatsächlich  unmöglich  ist,  sich  ein 
gelbliches  Blau  oder  bläuliches  Gelb  vorzustellen^). 
Abgesehen  von  diesem  einen  Punkte  entspricht 
Goethes  Dreifarbentheorie,  soweit  es  das  Wissen  der 
Zeit  erlaubte,  in  den  wesentlichen  Zügen  der  späteren 
Vierfarbentheorie  Herings. 

Sehr  anschaulich  sind  wieder  die  Beispiele,  die 
Goethe  für  den  Successivkontrast  anführt.  „Als  ich 
gegen  Abend  in  ein  Wirtshaus  eintrat  und  ein  wohl- 
gewachsenes Mädchen  mit  blendendweißem  Gesicht, 
schwarzen  Haaren  und  einem  scharlachroten  Mieder 
zu  mir  ins  Zimmer  trat,  blickte  ich  sie,  die  in 
einiger  Entfernung  vor  mir  stand,  in  der  Halbdäm- 
merung scharf  an.  Indem  sie  sich  nun  darauf  hin- 
wegbewegte, sah  ich  auf  der  mir  entgegenstehenden 
weißen  Wand  ein  schwarzes  Gesicht,   mit   einem 


*)  Ooethe  hat  allerdings  beachtet,  daß  Grün  uns  nicht 
80  deutlich  als  Mischfarbe  erscheint,  wie  z.  B.  Orange  oder 
Violett.  So  sagt  er:  .Die  Mischung  OrUn  hat  etwas  Spezi- 
fisches für  das  Auge"  und  bemerkt,  daß  „das  Auge  und  das 
Gemüt  auf  diesem  Gemischten  wie  auf  einem  Ein- 
fachen" ruhe.  Den  Schluß,  daß  Grün  eine  einheitliche 
Grundempfindung  sei,  hat  er  aber  nicht  gezogen. 


Die  Farbenlehre  I.  —  Physiologische  Optik.        199 

hellen  Schein  umgeben,  und  die  Übrige  Bekleidung 
der  völlig  deutlichen  Figur  erschien  von  einem 
schönen  Meergrün."  Dieses  Eriebnis  muß  einen 
tiefen  Eindruck  auf  ihn  gemacht  haben,  denn  unter 
den  optischen  Papieren  im  Goethehaus  befindet  sich 
noch  heute  das  Bild  eines  Mädchens  in  den  Kon- 
trastfarben (s.  unten  S.  240,  Fig.  9,  Nr.  6).  Hat  man 
dieses  längere  Zeit  fixiert,  so  sieht  man  nachher  auf 
weißem  Grunde  ein  deutliches  Frauenbild. 

Das  nächste  hierher  gehörige  Phänomen  hat 
Goethe  längere  Zeit  beschäftigt  und  wird  auch 
in  seiner  Korrespondenz  mehrfach  erwähnt.  „Man 
erzählt,  daß  gewisse  Blumen  im  Sommer  bei  Abend- 
zeit gleichsam  blitzen,  phosphorescieren  oder  ein 
augenblickliches  Licht  ausströmen.  Einige  Beobach- 
ter geben  diese  Erfahrungen  genauer  an.  .  .  .  Am 
19.  Jun.  1799,  als  ich  zu  später  Abendzeit,  bei 
der  in  eine  klare  Nacht  übergehenden  Dämmerung, 
mit  einem  Freunde  im  Garten  auf-  und  abging,  be- 
merkten wir  sehr  deutlich  an  den  Blumen  des 
orientalischen  Mohns,  die  vor  allen  andern  eine  sehr 
mächtig  rote  Farbe  haben,  etwas  Flammenähnliches, 
das  sich  in  ihrer  Nähe  zeigte.  Wir  stellten  uns  vor 
die  Stauden  hin,  sahen  aufmerksam  darauf,  konnten 
aber  nichts  weiter  bemerken,  bis  uns  endlich,  bei 
abermaligem  Hin-  und  Wiedergehen,  gelang,  indem 
wir  seitwärts  darauf  blickten,  die  Erscheinung  so 
oft  zu  wiederholen,  als  uns  beliebte.   Es  zeigte  sich, 


200  Siebente  Vorlesung. 

daß  es  ein  physiologisches  Farbenphänomen,  und 
der  scheinbare  Blitz  eigentlich  das  Scheinbild  der 

Blume  in  der  geforderten  blaugrünen  Farbe  sei 

Die  Dämmerung  ist  Ursache,  daß  das  Auge  völlig 
ausgeruht  und  empfänglich  ist,  und  die  Farbe  des 
Mohns  ist  mächtig  genug,  bei  einer  Sommer- 
dämmerung der  längsten  Tage,  noch  vollkommen  zu 
wirken  und  ein  gefordertes  Bild  hervorzurufen. . . . 
Will  man  indessen  sich  auf  die  Erfahrung  in  der 
Natur  vorbereiten,  so  gewöhne  man  sich,  indem 
man  durch  den  Garten  geht,  die  farbigen  Blumen 
scharf  anzusehen  und  sogleich  auf  den  Sandweg 
hinzublicken;  man  wird  diesen  alsdann  mit  Flecken 
der  entgegengesetzten  Farbe  bestreut  sehen.  Diese 
Erfahrung  glückt  bei  bedecktem  Himmel,  aber  auch 
selbst  beim  hellsten  Sonnenschein,  der,  indem  er 
die  Farbe  der  Blume  erhöht,  sie  fähig  macht  die 
geforderte  Farbe  mächtig  genug  hervorzubringen, 
daß  sie  selbst  bei  einem  blendenden  Lichte  noch 
bemerkt  werden  kann.  So  bringen  die  Päonien 
schön  grüne,  die  Calendeln  lebhaft  blaue  Spectra') 
hervor.* 

Eine  farbige  Belichtung,  welche  eine  Stelle  der 
Netzhaut  trifft,  ändert  aber  nicht  nur  die  „chroma- 
tische Stimmung"  an  dieser  selben  Stelle,  sondern 
vermag  auch  auf  die  umliegenden  Netzhautbezirke 


')  Spectra  *-•  Nachbilder. 


Die  Farbenlehre  I.  —  Physiologische  Optik.        201 

eine  ähnliche  Wirkung  auszuüben.  Wir  kommen 
damit  zur  Besprechung  der  Fälle,  welche  heute  als 
farbiger  Simultankontrast  bezeichnet  werden.  Goethe 
hat  sie  in  besonders  eingehender  Weise  studiert 
und  ihnen  die  physiologische  Deutung  gegeben. 
Wird  an  einer  gelben  Wand  ein  Stückchen  weißes 
Papier  befestigt,  so  bekommt  dieses,  aus  der  Ent- 
fernung gesehen,  einen  violetten  Schein.  Legt  man 
geblümten  Musselin  auf  ein  lebhaft  grün  gefärbtes 
Papier,  so  scheint  die  Unterlage  durch  die  durch- 
sichtigen Stellen  des  Musselins  grünlich  hindurch, 
die  undurchsichtigen  weißen  Blumen  erscheinen  in 
der  geforderten  Komplementärfarbe  rötlich.  Sieht 
man  durch  die  Zwischenräume  des  herabgelassenen 
grünen  Fensterladens  aus  dem  Zimmer  auf  ein  gegen- 
überliegendes graues  Haus,  so  sehen  dessen  Wände 
ebenfalls  rötlich  aus.  Am  Meeresstrand  sieht  man 
die  grünen  Wellen  lebhafte  purpurne  Schatten  werfen. 

„Siehst  auf  und  ab  lichtgrüne  schwanke  Wellen, 
Mit  Purpursaum,  zu  schönster  Wohnung  schwellen" 

(Faust). 

Alle  diese  Fälle  haben  das  Gemeinsame,  daß  eine 
Netzhautstelle  farbig  erregt  wird  und  dadurch  andere 
Netzhautstellen  disponiert  werden,  die  Komplemen- 
tärfarben erscheinen  zu  lassen.  Diesen  Vorgang 
physiologisch  gedeutet  zu  haben  ist  Goethes  Ver- 
dienst „Mahlt  sich  auf  einem  Theile  der  Netzhaut  ein 
farbiges  Bild,  so  findet  sich  der  übrige  Theil  so- 


202  Siebente  Vorlesung. 

gleich  in  einer  Disposition,  die  bemerkten  correspon- 
direnden  Farben  hervorzubringen.**  Diese  physio- 
logische Deutung  Goethes,  die  sich  eng  an  seine 
Auffassung  des  farblosen  Simultankontrastes  an- 
schließt, ist  keineswegs  die  einzig  mögliche.  Helm- 
holtz  hat  auch  den  farbigen  Simultankontrast  auf 
psychische  Ursachen  zurückzuführen  und  als  Urteils- 
täuschungen zu  deuten  versucht.  Neuerdings  ist 
man  aber  mehr  und  mehr  wieder  zu  der  Goetheschen 
Ansicht  gekommen.  Man  sieht  im  Simultankontrast 
den  Ausdruck  für  eine  „farbige  Induktion",  die  ein 
Netzhautbezirk  auf  den  andern  auszuüben  imstande 
ist,  in  dem  Sinne,  daß  bei  Belichtung  eines  Netz- 
hautteiles die  chromatische  Stimmung  der  Umgebung 
gegen  die  geforderte  Farbe  hin  verschoben  wird. 
Dafür,  daß  es  sich  tatsächlich  beim  Simultankontrast 
um  farbige  Erregungen  der  Netzhaut  handelt,  hat 
Goethe  einen  sehr  schönen  experimentellen  Beweis 
angegeben.  Fixiert  man  längere  Zeit  ein  orange 
Viereck  auf  weißem  Grund,  so  bekommt  man  nach- 
her, wenn  der  Blick  auf  eine  gleichmäßig  weiße 
Fläche  fällt,  ein  lebhaft  blau-grünes  Nachbild;  ist 
dieses  kräftig  genug,  so  sieht  man  die  Umgebung 
dieses  Nachbildes  nicht  weiß,  sondern  deutlich  orange. 
Hier  tritt  also  in  der  Umgebung  des  farbig  gereizten 
Netzhautbezirks  an  Stellen,  welche  während  des 
ganzen  Versuchs  nur  von  weißem  Lichte  getroffen 
worden  sind,  eine  Farbenerscheinung  auf.    Dieser 


Die  Farbenlehre  I.  —  Physiologische  Optik.       203 

Simultankontrast  gegen  ein  farbiges  Nachbild  ist 
vielleicht  der  Versuch  Goethes,  der  am  schlagend- 
sten die  physiologische  Natur  dieser  Phänomene 
beweist  Aber  damit  nicht  genug.  Goethe  zeigt 
an  einer  andern  Stelle  der  Farbenlehre  weiter,  daß 
man  die  Farben,  welche  durch  Simultankontrast  er- 
scheinen, mit  objektiv  dargebotenen  Reizlichtern 
mischen  kann,  wenn  man  auf  eine  farbige  Fläche 
blickt.  Goethes  Beispiel  bezieht  sich  allerdings 
auf  den  nicht  ganz  reinen  Fall  der  Mischung  von 
subjektivem  Blau  und  objektivem  Gelb  zu  Grün, 
aber  er  gibt  ausdrücklich  an,  daß  auch  alle  übri- 
gen Mischungen  in  typischer  Weise  zu  erzielen 
sind.  So  wird  die  farbige  Erregung  nicht  gereiz- 
ter Netzhautpartien  durch  Induktion  von  ihm  nicht 
nur  behauptet,  sondern  auch  bewiesen.  Die  den 
Malern  bekannte  Tatsache,  daß  nebeneinanderge- 
stellte Komplementärfarben  sich  auf  Bildern  gegen- 
seitig „heben",  d.  h.  in  ihrer  Leuchtkraft  verstärken, 
wird  von  Goethe  mit  Recht  ebenfalls  auf  Simultan- 
kontrast bezogen. 

Die  größten  Triumphe  feierte  diese  neue  Er- 
kenntnis, als  sie  zur  Aufklärung  einer  Erscheinung 
verwendet  wurde,  welche  schon  früher  vielfach  be- 
kannt, aber  falsch  gedeutet  war.  Goethe  hat  die 
farbigen  Schatten  auf  den  Simultankontrast  zurück- 
geführt. Schon  früh  hatte  er  dieselben  in  der  Natur 
mit  aufmerksamem  Auge  beobachtet,  auf  seinen  Reisen 


204  Siebente  Vorlesung. 

im  Harz,  in  der  Schweiz  und  Italien  drängten  sie  sich  ihm 
immer  von  neuem  auf,  und  schon  im  Jahre  1792  ver- 
öffentlichte er  einen  kleinen  Aufsatz  „Über  die  farbigen 
Schatten*,  in  dem  die  Bedingungen  ihres  Auftretens 
auf  das  Sorgfältigste  experimentell  dargelegt  werden. 
Die  richtige  Deutung  findet  sich  jedoch  in  diesem 
Aufsatze  noch  nicht.  Sie  wird  erst  18  Jahre  später 
in  dem  Hauptwerk  gegeben.  Die  Erscheinung  selbst 

ist  allbekannt.     Stellt 

Jüsrzenlieht  Tageslicht  ., . 

(acib)^  l,iweirs)     man     gegen     Abend, 

wenn  das  Tageslicht 
gedämpft  ins  Zimmer 
dringt,  eine  brennende 
Kerze  so  auf,  daß  ein 
weißes  Blatt  Papier, 
das  auf  dem  Tische 
liegt,  vom  Tageslicht 
und  Kerzenlicht  gleichzeitig  getroffen  wird,  und  läßt 
nun  von  einem  senkrecht  gestellten  Bleistift  oder  Lineal 
zwei  Schatten  auf  das  Papier  fallen  (s.  Fig.  8),  der 
eine  vom  Kerzenlicht  geworfen  und  vom  Tageslicht 
erhellt,  der  andere  umgekehrt  vom  Tageslicht  ge- 
worfen und  vom  Kerzenlicht  erhellt,  so  sieht  man 
den  einen  Schatten  gelb,  den  andern  in  lebhaftem 
Blau  erscheinen.  Dieses  Blau  ist  oft  so  kräftig,  daß 
die  früheren  Beobachter  die  Farbe  für  objektiv  hielten 
und  viele  sie  als  Reflex  vom  blauen  Himmel  her 
erklärten.    Um  was  es  sich  tatsächlich  dabei  han- 


Fig.a 


Die  Farbenlehre  I.  —  Physiologische  Optik,        205 

delt,  wird  klar,  wenn  man  sich  überlegt,  welches 
Licht  die  einzelnen  Partien  des  weißen  Papiers  bei 
diesem  Versuche  bekommen.  Der  weiße  Grund  A 
(siehe  Figur  8)  erhält  weißes  Licht  vom  Fenster  und 
gelbes  Licht  von  der  Kerze,  der  eine  Schatten  B  er- 
hält nur  gelbes  Kerzenlicht,  der  andere  C  nur  weißes 
Tageslicht;  dieser  letztere  erscheint  blau,  und  zwar, 
wie  Goethe  gezeigt  hat,  deshalb,  weil  die  Um- 
gebung A  dieses  Schattens,  welche  uns  bei  ober- 
flächlicher Betrachtung  einfach  weiß  erscheint,  in 
Wirklichkeit  durch  das  Gemisch  von  Tages-  und 
Kerzenlicht  gelblich  erleuchtet  ist.  Die  blaue  Farbe 
des  Schattens  erscheint  durch  Simultankontrast  gegen 
den  gelblichen  Grund.  Daß  dieses  die  richtige 
Deutung  ist,  dafür  gibt  Goethe  eine  ganze  Reihe 
von  verschiedenen  Versuchen  an.  Erzeugt  man  sich 
die  Schatten  zunächst  mit  zwei  ganz  gleichen  Kerzen, 
so  sehen  beide  schwarz  aus;  färbt  man  aber  das 
Licht  der  einen  Kerze  mit  farbigen  Gläsern,  so  er- 
scheinen beide  Schatten  farbig,  der  eine  in  der 
Farbe  des  Glases,  der  zweite  in  der  „geforderten" 
Kontrastfarbe.  Ein  besonders  elementares  Beispiel 
dafür,  daß  die  Farbe  des  Schattens  unabhängig  ist 
von  der  Farbe  des  zweiten  Lichts,  findet  sich  in 
Goethes  erster  Abhandlung.  Hier  wird  das  gleich- 
mäßig graue  Licht,  das  von  einer  weißen  Hauswand 
reflektiert  wird,  benützt,  um  einmal  gegenüber  dem 
Kerzenlicht,  das  andere  Mal  gegenüber  dem  Sonnen- 


206  Siebente  Vorlesung. 

licht  zu  wirken.  Trotzdem  der  zweite  Schatten  in 
beiden  Fällen  von  dem  gleichen  Licht  erhellt  wird, 
sieht  er  das  eine  Mal  gelb,  das  andere  Mal  blau  aus. 
Besonders  schön  erscheinen  die  farbigen  Schatten, 
wenn  Kerzenlicht  und  Mondlicht  gegeneinander 
wirken.  Zahllos  ist  ihr  Auftreten  in  der  Natur.  Nach- 
stehende schöne  Schilderung  zeigt,  wie  Goethe  hier 
zu  beobachten  verstand.  „Auf  einer  Harzreise  im 
Winter  stieg  ich  gegen  Abend  vom  Brocken  her- 
unter, die  weiten  Flächen  auf-  und  abwärts  waren 
beschneit,  die  Heide  von  Schnee  bedeckt,  alle  zer- 
streut stehenden  Bäume  und  vorragenden  Klippen, 
auch  alle  Baum-  und  Felsenmassen  völlig  bereift, 
die  Sonne  senkte  sich  eben  gegen  die  Oderteiche 
hinunter.  —  Waren  den  Tag  über,  bei  dem  gelblichen 
Ton  des  Schnees,  schon  leise  violette  Schatten  be- 
merklich gewesen,  so  mußte  man  sie  nun  für  hoch- 
blau ansprechen,  als  ein  gesteigertes  Gelb  von  den 
beleuchteten  Teilen  widerschien.  —  Als  aber  die  Sonne 
sich  endlich  ihrem  Niedergang  näherte,  und  ihr  durch 
die  stärkeren  Dünste  höchst  gemäßigter  Strahl  die 
ganze  mich  umgebende  Welt  mit  der  schönsten 
Purpurfarbe  überzog,  da  verwandelte  sich  die  Schatten- 
farbe in  ein  Grün,  das  nach  seiner  Klarheit  einem 
Meergrün,  nach  seiner  Schönheit  einem  Schmaragd- 
grfln  verglichen  werden  konnte.  Die  Erscheinung 
ward  immer  lebhafter,  man  glaubte  sich  in  einer 
Feenwelt  zu  befinden,  denn  alles  hatte  sich  in  die 


Die  Farbenlehre  1.  —  Physiologische  Optik.        207 

zwei  lebhaften  und  so  schön  übereinstimmenden 
Farben  gekleidet,  bis  endlich  mit  dem  Sonnen- 
untergang die  Prachterscheinung  sich  in  eine  graue 
Dämmerung,  und  nach  und  nach  in  eine  mond- 
und  sternhelle  Nacht  verlor.**  —  Auch  die  farbigen 
Schatten  in  der  Taucherglocke,  welche  von  Newton 
für  objektiv  angesehen  waren,  erklärt  Goethe  als 
physiologisch  bedingt.  Bei  Sonnenschein  sehen  die 
Taucher  den  Meeresgrund  purpurfarbig,  die  Schat- 
ten im  lebhaftesten  Grün.  Alle  Schilderung  der 
farbigen  Schatten  vermag  aber  nicht  das  Vergnügen 
zu  ersetzen,  welches  die  Nachahmung  der  von 
Goethe  angegebenen  Versuche  gewährt.  Man  wird 
erstaunt  sein  über  die  Schönheit  der  auftretenden 
Farben. 

Gelegentliche  Bemerkungen,  welche  Goethe  an 
anderer  Stelle  der  Farbenlehre  macht,  zeigen,  daß  er 
auch  über  die  Brechungsverhältnisse  des  Auges  nach- 
gedacht hat.  Er  erwähnt,  daß  eine  Öffnung  im  Fenster- 
laden der  Dunkelkammer  ihm  beim  Geradeaussehen 
mit  farblosen  Rändern  erscheine,  daß  er  dagegen 
bei  starkem  Neigen  des  Kopfes  nach  vorn  oder 
hinten  gelbe  und  blaue  Ränder  wahrnehme.  Er  be- 
zieht das  darauf,  daß  die  Kristallinse  im  Auge  in 
ihren  mittleren  Partien  ein  guter  achromatischer 
optischer  Apparat  sei,  daß  dagegen  ihre  seitlichen 
Teile  nicht  genügend  chromatisch  korrigiert  wären, 
so  daß  beim  Durchtritt  der  Lichtstrahlen  durch  die 


208  Siebente  Vorlesung. 

Seitenteile  ebensolche  farbigen  Ränder  entstehen  wie 
bei  schlechten  Ferngläsern.  Goethe  bemerkt  also 
die  ungentigende  chromatische  Korrektion  unserer 
Linse  unter  bestimmten  Bedingungen,  die  später  von 
Helmholtz  auch  für  ihre  mittleren  Teile  exakt  nach- 
gewiesen worden  ist 

Daß  Goethe  die  Erscheinung  der  Doppelbilder 
auch  wohl  vertraut  war,  und  daß  er  über  das  Zu- 
standekommen der  Tiefenwahrnehmung  nachgedacht 
hat,  ergibt  sich  aus  gelegentlichen  Bemerkungen. 

Nach  einem  kurzen  Kapitel  über  subjektive  und 
objektive  Höfe,  wie  sie  um  Kerzenflammen,  um 
Sonne  und  Mond  erscheinen,  folgt  dann  im  didak- 
tischen Teil  der  Farbenlehre  der  kurze,  aber  inhalt- 
reiche Abschnitt:  „Pathologische  Farben".  Auch 
gegenüber  den  Krankheitszuständen  des  Auges  ver- 
tritt Goethe  denselben  Standpunkt,  den  wir  schon 
früher  anläßlich  der  Mißbildungen  von  Tier  und 
Pflanzen  kennen  gelernt  haben.  Er  sieht  im  Ab- 
normen ebenfalls  Lebensäußerungen,  deren  normale 
Grundlage  erforscht  werden  kann.  „Die  krankhaften 
Phänomene  deuten  ebenfalls  auf  organische  und 
physische  Gesetze."  Die  interessanteste  Beobachtung 
dieses  Abschnitts  bezieht  sich  auf  die  sogenannte 
Farbenblindheit,  im  Jahre  1794  hat  der  englische 
Chemiker  Dalton  diesen  Zustand,  an  dem  er  selber 
litt  und  der  nach  ihm  „Daltonismus"  genannt  wurde, 
zuerst  wissenschaftlich  geschildert.  Seine  Mitteilung 


Die  Farbeniehre  I.  —  Physiologische  Optik.        209 

erschien  1798  im  Druck  und  in  demselben  Jahre  hat 
Goethe  unabhängig  von  Dalton  ebenfalls  an  zwei 
Fällen  genaue  Untersuchungen  angestellt.  Beson- 
ders bot  sich  ein  junger  Gildemeister,  der  eben  in 
Jena  studierte,  freundlich  zu  allen  Hin-  und  Wieder- 
versuchen, und  Goethe  lieferte  eine  so  klare  Be- 
schreibung dessen,  was  sich  an  den  Versuchs- 
personen feststellen  ließ,  daß  wir  heute  die  Art  der 
Farbenblindheit  noch  nachträglich  diagnosticieren 
können.  Er  beschränkte  sich  aber  keineswegs  wie 
Dalton  auf  einfache  Schilderung  der  Symptome, 
sondern  gab  als  der  erste  eine  theoretische  Deu- 
tung. Nach  seiner  Meinung  beruht  „das  wunder- 
bare Schwanken,  daß  gewisse  Menschen  die  Farben 
verwechseln",  darauf,  daß  sie  einige  Farben  sehen, 
andere  nicht  sehen,  daß  sie  also  für  bestimmte 
Farben  blind  sind.  Die  von  Goethe  untersuchten 
Fälle  gehören  dem  häufigsten  Typus  der  Farben- 
blinden an,  welche  nach  Hering  als  rot-grtinblind 
bezeichnet  werden.  Goethe  aber  deutet  diese  Fälle 
als  Blaublindheit.  Interessanterweise  rührt  diese  letz- 
tere Ansicht  von  Schiller  her,  und  es  ist  lehrreich, 
sich  den  Grund  klar  zu  machen,  aus  dem  die  beiden 
Dichter  zu  ihrem  Irrtum  kamen.  Sie  stellten  fest,  daß 
Grün  nicht  gesehen  wurde;  da  aber  Grün  nach 
Goethes  Meinung  eine  gemischte  Empfindung  aus 
Blau  und  Gelb  ist,  und  da  Gelb  von  den  unter- 
suchten Personen   sehr  gut  unterschieden  werden 

Magnus,  Goethe  als  Naturforscher.  14 


210  Siebente  Vorlesung. 

konnte,  wurde  per  exciusionem  geschlossen,  daß 
die  blaue  Empfindung  fehlen  müsse.  Wenn  es  sich 
also  tatsächlich  auch  nicht  um  Blau-,  sondern  um 
Rotgrünblindheit  gehandelt  hat,  so  ist  wichtig  ge- 
nug, daß  Goethe  als  der  erste  in  dem  Fehlen  einer 
Gruppe  von  Farbenempfindungen  die  Ursache  dieses 
Zustands  gesehen  hat.  Um  zu  veranschaulichen, 
wie  solchen  Personen  die  Welt  erscheint,  bildete  er 
in  den  Tafeln  zur  Farbenlehre  eine  Landschaft  ab, 
auf  der  alles  Blau  fehlt,  der  Himmel  rosa  und  die 
Bäume  rot  und  gelb  aussehen. 

Erwähnt  wird  in  dem  Abschnitt  über  patholo- 
gische Farben  noch  die  Lichterscheinung,  welche 
bei  galvanischer  Durchströmung  des  Kopfes  ein- 
tritt, das  Funkensehen,  welches  bei  einem  Schlag 
aufs  Auge  erfolgt,  die  Lichtempfindung,  die  durch 
seitlichen  Druck  auf  den  Augapfel  hervorgerufen 
wird,  u.  a.  m.  Eine  sehr  gute  Beschreibung  gibt 
Goethe  von  den  sogenannten  „mouches  volantes", 
den  fliegenden  Mücken,  welche  durch  das  Ge- 
sichtsfeld huschen,  wenn  man  längere  Zeit  mit 
gesenktem  Kopf,  z.  B.  am  Mikroskop,  gearbeitet 
hat,  und  die  hauptsächlich  auf  kleinen  Trübungen 
beruhen,  welche  im  Glaskörper  des  Auges  auf- 
gewirbelt werden.  Erwähnt  wird  ferner,  daß  in 
krankhaften  Zuständen  des  Auges  die  Nachbilder 
oft  abnorm  lang  andauern,  Blendungsbilder  manch- 
mal tagelang  von  Patienten  gesehen  werden.    Noch 


Die  Farbenlehre  I.  —  Physiologische  Optik.        211 

vieles   Interessante   ist    in    diesem   Abschnitt   ent- 
halten. 

Fragt  man  nun,  worin  die  Bedeutung  dieses  ersten 
Teiles  der  Farbenlehre  liegt,  der  zweifellos  als  der 
wichtigste  und  wissenschaftlich  bahnbrechendste  des 
ganzen  Goetheschen  Werkes  bezeichnet  werden  muß, 
so  läßt  sich  zusammenfassend  etwa  folgendes  sagen. 
Ein  Teil  der  Tatsachen,  die  hier  geschildert  werden, 
war  schon  früher  bekannt,  so  die  Irradiationserschei- 
nungen, die  farbigen  Nachbilder  und  die  farbigen 
Schatten.  Aber  sie  waren  teilweise  nicht  als  sub- 
jektiv angesprochen  worden,  teilweise  hatte  man  sie 
für  nebensächliche  oder  pathologische  Phänomene 
gehalten.  Goethe  war  der  erste,  welcher  alle  diese 
Dinge  unter  dem  gemeinsamen  Gesichtspunkte  zu- 
sammenfaßte, daß  sie  ein  Kennzeichen  für  die  normale 
Tätigkeit  unseres  Auges  sind,  und  er  hat  auf  diese 
Weise  die  erste  Darstellung  von  der  Physiologie  des 
Licht-  und  Farbensinns  gegeben,  eine  Darstellung, 
welche  den  heutigen  Leser  noch  durchaus  modern 
anmutet.  Nimmt  man  irgend  eines  der  jüngsten 
Lehrbücher  der  physiologischen  Optik  zur  Hand, 
z.  B.  die  neu  erschienene  Darstellung  Herings,  und 
liest  nachher  Goethes  Farbenlehre,  so  ist  man  er- 
staunt, in  diesem  Werke  in  den  Grundzügen  die 
heutigen  Anschauungen  bereits  niedergelegt  zu  finden. 
Goethes  wichtigste  Entdeckungen  sind,  daß  er  die 
Kontrastfarben  auf  die  physiologische  Tätigkeit  der 

14* 


212  Siebente  Vorlesung. 

Netzhaut  bezog;  sowohl  der  Successivkontrast  wie 
der  Simultankontrast  sind  so  von  ihm  in  modernster 
Weise  gedeutet  worden ;  die  Lehre  von  den  farbigen 
Schatten  hat  von  ihm  die  feste  physiologische  Basis 
erhalten;  für  die  Erscheinung  der  Farbenblindheit 
hat  er  zuerst  eine  physiologische  Theorie  gegeben; 
auch  die  Anordnung  des  Farbensystems  in  einen 
Farbenkreis  nach  physiologischen  Gesichtspunkten 
ist  Goethes  originelles  Werk,  das  von  ihm  auf  die  Er- 
scheinung der  Kontrastfarben  gegründet  wurde.  So 
sehen  wir  in  diesem  Abschnitt  von  den  physiologi- 
schen Farben  wichtige  wissenschaftlicheEntdeckungen 
und  Anschauungen  in  großer  Zahl  niedergelegt. 

Goethe  läßt  hierauf  die  Darstellung  der  physischen 
und  chemischen  Farben  folgen.  Wir  wollen  diesen 
Gang  hier  aber  unterbrechen  und  gleich  das  letzte 
Kapitel  des  didaktischen  Teils  besprechen,  das  von 
der  „sinnlich-sittlichen  Wirkung  der  Farben"  handelt. 
In  diesem  Abschnitt  hat  Goethe  seine  Farben- 
ästhetik  niedergelegt.  Wie  Sie  wissen,  gingen  ja 
die  optischen  Untersuchungen  von  Fragen  des  male- 
rischen Kolorits  aus,  und  hier  am  Schluß  kehrt  Goethe 
zu  diesem  Ausgangspunkt  zurück.  Auch  hierin  be- 
währt er  sich  als  durchaus  originell.  Er  nimmt 
nämlich  die  von  ihm  ermittelten  physiologisch-opti- 
schen Gesetze  zur  Grundlage  für  die  ästhetische 
Betrachtung  der  Farbenzusammenstellungen.  „Das 
Grundgesetz  der  Farbenharmonic  ist  physiologisch." 


Die  Farbenlehre  I.  —  Physiologische  Optik.        213 

So  sehen  wir  Goethe  auf  Wegen,  die  später  Helm- 
holtz  in  seinem  Vortrag:  „Optisches  über  Malerei" 
betrat.  Dadurch,  daß  er  die  Lehre  von  der  Farben- 
harmonie so  auf  physiologische  Basis  stellte,  ist  er 
ebenfalls  ein  Bahnbrecher  geworden,  dessen  Aus- 
führungen von  vielen  der  zeitgenössischen  Maler 
freudig  aufgenommen  worden  sind, 

Goethe  geht  aus  von  seinem  Farbensystem,  von 
dem  Farbenkreis  (s.  o.  S.  195,  Fig.  7),  dessen  Konstruk- 
tion ja  auf  den  Kontrastempfindungen  des  Auges  be- 
ruht. Hier  stehen  sich  Rot  (Purpur)  und  Grün,  Orange 
und  Blau,  Gelb  und  Violett  gegenüber.  Diese  drei 
Paare  von  Kontrastfarben  („geforderten  Farben") 
bilden  nun  nach  Goethe  diejenigen  Farbenzusammen- 
stellungen, welche  harmonisch  wirken.  Die  harmo- 
nische Ergänzung  jeder  Farbe  ist  ihre  Kontrastfarbe. 
Bei  Betrachtung  des  Farbenkreises  ergibt  sich  dann 
weiter,  daß  noch  eine  Reihe  von  andern  Farben- 
zusammenstellungen möglich  ist.  Zunächst  kann  man 
zwei  Farben  nebeneinander  stellen,  welche  im  Farben- 
kreis nur  durch  eine  zwischenliegende  Farbe  getrennt 
sind.  SolcheZusammenstellungnenntGoethe  charak- 
teristisch. Es  sind  z.  B.  Blau  und  Gelb,  Gelb  und 
Purpur,  Purpur  und  Blau,  Orange  und  Violett.  Dann 
kann  man  aber  auch  Farbenpaare  bilden  aus  Pig- 
menten, welche  im  Farbenkreis  direkt  benachbart 
sind.  Das  sind  charakterlose  Zusammenstellungen: 
Gelb  —  Orange,  Orange  —Purpur,  Purpur  —  Violett, 


214  Siebente  Vorlesung. 

Violett  —  Blau,  Blau  —  Grün,  Grün  —  Gelb.  Durch 
diese  Einteilung  schafft  Goethe  in  der  unendlichen 
Mannigfaltigkeit  der  möglichen  Zusammenstellungen 
zunächst  einmal  durch  die  Aufstellung  weniger  charak- 
teristischer Gruppen  Ordnung.  In  Wirklichkeit  wer- 
den alle  Möglichkeiten  durch  die  angeführten  Bei- 
spiele nicht  erschöpft;  es  gibt  erstens  viel  mehr 
Farbennüancen  als  die  sechs  des  Goetheschen  Kreises, 
und  diese  Farben  können  in  allen  Abstufungen  der 
Sättigung  und  Reinheit  erscheinen;  aber  immer  wer- 
den sie  sich  bei  der  Zusammenstellung  mehr  oder 
weniger  in  eine  der  drei  Goetheschen  Gruppen 
einfügen  lassen.  —  Es  wird  dann  weiter  noch  die 
Definition  des  Bunten  gegeben.  Bunt  wirken  alle 
Zusammenstellungen,  in  denen  die  Pigmente  in  ihrer 
höchsten  Energie  und  Leuchtkraft  erscheinen,  die 
aber  nicht  in  harmonischem  Gleichgewicht  sind. 

Darauf  analysiert  Goethe  die  verschiedenen  Kom- 
ponenten, aus  denen  sich  das  Kolorit  eines  Ge- 
mäldes zusammensetzt.  Zunächst  erscheinen  in  einem 
Bilde  die  Unterschiede  zwischen  Hell  und  Dunkel. 
Alle  Obergänge  vom  höchsten  Licht  durch  das 
Halblicht  zu  dem  tiefsten  Schatten  sind  möglich, 
und  diese  letzteren  können  wieder  durch  zahlreiche 
Reflexe  aufgehellt  werden.  Um  sich  den  Anteil 
dieser  „Schwarz-weiß-Komponente"  an  der  Bild- 
wirkung klar  zu  machen,  hatte  Qoethe,  wie  erwähnt, 
Angelika  Kaufmann  veranlaßt,  ein  Ölbild  grau  in 


Die  Farbenlehre  I.  —  Physiologische  Optik.        215 

grau  auszuführen  und  dann  erst  nachträglich  mit 
Lasurfarben  zu  überziehen.  Auf  dieses  „Helldunkel" 
superponieren  sich  nun  die  Farbenwirkungen.  Zu- 
nächst hat  jeder  Gegenstand  im  Gemälde  seine  ihm 
eigentümliche  Körperfarbe,  die  Lokalfarbe:  der  Baum 
sein  Grün,  der  Stamm  sein  Braun,  das  Dach  sein 
Rot.  Auf  einem  guten  ölbilde  werden  aber  diese 
ursprünglichen  Körperfarben  durch  die  mannigfal- 
tigsten Umstände  modifiziert.  Vor  allem  kommt  die 
lokale  Beleuchtung  hinzu.  Wird  diese  durch  das 
Sonnen-  oder  Tageslicht  gegeben  und  trifft  sie 
Gegenstände  des  Vordergrundes,  so  werden  die 
Körperfarben  dadurch  ins  Gelbliche  oder  Rötliche 
hinübergezogen.  Demgegenüber  unterliegen  die  ent- 
fernten Gegenstände  des  Hintergrundes  der  Ein- 
wirkung der  Luftperspektive.  Sie  erscheinen  da- 
durch, aus  Gründen,  welche  im  Abschnitt  über  die 
physischen  Farben  auseinandergesetzt  werden,  bläu- 
licher, als  der  Körperfarbe  entspricht.  Zu  diesen 
Abwandlungen  der  Körperfarben  gesellen  sich  dann 
weiter  solche,  die  durch  physiologische  Vorgänge 
bedingt  sind.  Der  aufmerksame  Naturbeobachter 
sieht  in  einer  Landschaft,  besonders  in  den  Schatten, 
vielfach  die  „geforderten"  Farben.  Vor  einer  grünen 
Wiese  erscheinen  die  braunen  Baumstämme  im  röt- 
lichen Ton,  die  Schatten  einer  Schneelandschaft  sind 
blau,  usw.  Auch  dieses  hat  der  Maler  wiederzugeben, 
v^renn  er  auch,  wie  Goethe  bemerkt,  von  Unkundigen 


216  Siebente  Vorlesung. 

sich  den  Vorwurf  der  Unnatürlichkeit  zuzieht.  Man 
glaubt  hier  einen  Beurteiler  der  modernsten  Malerei 
reden  zu  hören.  Aber  auch  die  Farben  des  Bildes 
selbst,  so  wie  sie  der  Maler  nebeneinandersetzt,  be- 
einflussen sich  gegenseitig.  Schon  die  Farbe  des 
Rahmens  vermag  die  Stimmung  eines  Gemäldes 
vollkommen  zu  ändern.  So  gehen  in  das  farbige 
Kolorit  die  verschiedenartigsten  Elemente  ein.  Die 
Körperfarbe  wird  durch  Beleuchtung  und  Luft- 
perspektive und  durch  Simultankontrast  sehr  wesent- 
lich geändert.  Alle  diese  oft  widerstreitenden  Ele- 
mente, alle  diese  verschiedenen  Färbungen  muß  nun 
der  Maler  zu  einer  einheitlichen  Gesamtwirkung  zu- 
sammenfassen. Hier  lassen  sich  allgemeine  Regeln 
nur  schwer  aufstellen.  Die  Farbenzusammenstellung 
muß  vielmehr  nach  rein  künstlerischen  Gesichts- 
punkten geschehen.  Trotzdem  greift  Goethe  einige 
charakteristische  Arten  des  Kolorits  heraus.  Mäch- 
tig wirken  nach  seiner  Ansicht  Bilder,  auf  denen 
die  aktiven  Farben  gelb,  orange,  purpur  überwiegen, 
dagegen  wenig  violett  und  blau  und  fast  gar  kein 
grOn  enthalten  ist.  Sanft  wirken  Gemälde,  in  denen 
die  passiven  Farben  blau,  violett  und  purpur  vor- 
herrschen, dagegen  wenig  grün  und  kein  gelb  vor- 
handen ist.  Einen  glänzenden  Eindruck  machen 
dagegen  solche  Kunstwerke,  welche  die  Gesamtheit 
des  Farbenkreises  In  sich  enthalten.  Die  höchste 
Aufgabe  des  Künstlers  liegt  darin,  auf  seinen  Bil- 


Die  Farbenlehre  I.  —  Physiologische  Optik.        217 

dern  die  Gesamtheit  der  Farben  in  harmoni- 
scher We  i  s  e  zueinander  in  Einklang  zu  bringen,  d.  h. 
in  einer  Weise,  wie  sie  durch  die  physiologischen 
Eigenschaften  des  Auges  gefordert  wird. 

Verwerflich  aber  ist  es,  die  Farben  dadurch  zu- 
sammen zu  stimmen,  daß  das  ganze  Bild  mit  einem 
gleichmäßigen  Ton  überzogen  wird.  Besonders 
energisch  spricht  sich  Goethe  über  die  Mode  der 
Maler  aus,  ihre  Bilder  mit  dem  gelbbraunen  Ton 
zu  überziehen,  wie  ihn  die  nachgedunkelten  Werke 
der  alten  Meister  zeigen;  gerade  wie  viele  moderne 
Maler  macht  auch  Goethe  energisch  gegen  die 
„braune  Sauce"  Front.  Eine  derartige  Malweise  stört 
ihm  die  Totalität. 

Das  ist  in  Kürze  der  Inhalt  von  Goethes  Farben- 
ästhetik. Ihr  Wert  liegt  darin,  daß  sie  auf  die  physio- 
logischen Eigenschaften  unseres  Auges  gegründet 
wird.  So  hat  sich  Goethe  durch  wissenschaft- 
liche Studien  einen  Einblick  in  das  Zustande- 
kommen malerischer  Wirkungen  errungen.  Der  Un- 
befangene sieht,  daß  sein  künstlerischer  Geschmack 
und  sein  Urteil  in  vielen  Fällen  sich  mit  den  Be- 
strebungen der  modernen  Malerei  decken.  Goethe 
stand  auch  über  diese  Dinge  in  brieflichem  Ge- 
dankenaustausch mit  einem  Maler,  dem  die  neuere 
Kunstgeschichte  einen  der  ersten  Vorkämpferposten 
für  die  Begründung  der  neueren  Malerei  angewiesen 
hat,  mit  Philipp  Otto  Runge.  Dieser  Künstler,  dessen 


218  Siebente  Vorlesung, 

Bilder  heute  durch  die  Schwere  des  Kolorits  einen 
so  merkwürdigen  Eindruck  machen,  war  ein  großer 
Farbentheoretiker.  Auch  er  hatte  ein  Farbensystem 
ausgebaut,  das  er  auf  eine  Kugel  auftrug,  und  Regeln 
über  harmonische  und  unharmonische  Farbenzusam- 
menstellungen entwickelt  Ein  Brief  Runges  findet 
sich  am  Schluß  der  Farbenlehre  abgedruckt,  und 
umgekehrt  nimmt  der  Maler  in  seinem  1810  er- 
schienenen Werk  „Farbenkugel  oder  Konstruktion 
des  Verhältnisses  aller  Mischungen  der  Farben  zu- 
einander, und  ihrer  vollständigen  Affinität,  mit  an- 
gehängtem Versuch  einer  Ableitung  der  Harmonie 
in  den  Zusammenstellungen  der  Farben"  auf  Goethes 
Anschauungen  dauernd  Bezug. 

So  sehen  wir  die  Fäden  von  Goethes  optischen 
Studien  sich  hinüberschlingen  zu  den  Anfängen  der 
neuen  farbenfreudigen  Malerei  des  19.  Jahrhunderts. 


Achte  Vorlesung. 
Die  Farbenlehre  II.  —  Physikalische  Optik. 

Meine  Herren!  Wenn  wir  jetzt  an  die  Bespre- 
cliung  des  Abschnittes  von  den  physiologischen 
Farben,  der  Goethes  grundlegende  Leistungen  auf 
optischem  Gebiete  birgt,  die  des  Kapitels  über  die 
physischen  Farben  anschließen,  in  dem  seine 
optischen  Irrtümer  enthalten  sind,  so  wollen  wir 
ein  Selbstbekenntnis  von  ihm  an  die  Spitze  stellen. 
„Meine  Absicht  bei  meinen  optischen  Bemühungen 
ist:  alle  Erfahrungen  in  diesem  Fache  zu  sammeln, 
alle  Versuche  selbst  anzustellen  und  sie  durch  ihre 
größte  Mannigfaltigkeit  durchzuführen,  wodurch  sie 
denn  auch  leichter  nachzumachen  und  nicht  aus 
dem  Gesichtskreis  so  vieler  Menschen  hinausgerückt 
sind.  Sodann  die  Sätze,  in  welchen  sich  die  Er- 
fahrungen von  der  höheren  Gattung  aussprechen 
lassen,  aufzustellen  und  abzuwarten,  inwiefern  sich 
auch  diese  unter  ein  höheres  Prinzip  rangieren." 
Den  ersten  Teil  dieser  selbstgestellten  Aufgabe  hat 
Goethe,  darin  sind  alle  Beurteiler  einig,  auf  das 
Glänzendste  gelöst.  Seine  Schilderung  der  Experi- 
mente ist  mustergültig.     Es  ist  kein  Zweifel,   daß 


220  Achte  Vorlesung. 

die  Versuchsergebnisse,  soweit  er  sie  tatsäclilich 
schildert,  vollkommen  richtig  sind.  Ein  so  genauer 
Kenner  der  Farbenerscheinungen  wie  Johannes  Müller 
sagt  in  seinem  grundlegenden  Werke  „zur  verglei- 
chenden Physiologie  des  Gesichtssinnes":  „Insbe- 
sonders  scheue  ich  mich  nicht  zu  bekennen,  daß 
ich  der  Goethe'schen  Farbenlehre  überall  dort  ver- 
traue, wo  sie  einfach  die  Phänomene  darlegt  und 
in  keine  Erklärungen  sich  einläßt,  wo  es  auf  die 
Beurteilung  der  Hauptkontroverse  ankommt."  In 
demselben  Sinne  hat  sich  mehrfach  Helmholtz  aus- 
gesprochen. Die  von  Goethe  geschilderten  Tat- 
sachen und  Experimente  bestehen  also  zu  Recht. 
Im  Goethehaus  sind  noch  heute  die  optischen  In- 
strumente, mit  denen  die  Versuche  angestellt  wurden, 
vollständig  erhalten.  Goethe  hat  unter  Aufwendung 
großer  Kosten  „nach  und  nach  einen  Apparat  zu- 
sammengebracht, wie  er  wohl  noch  nicht  beisammen 
gewesen  ist".  Auf  Fig.  9  ist  einiges  davon  abge- 
bildet. Bei  einem  Aufenthalt  in  Weimar  konnte  ich 
durch  die  Liebenswürdigkeit  von  Herrn  Geh.  Hofrat 
Ruiand  dieses  Instrumentarium  ans  Licht  ziehen  und 
eine  große  Reihe  von  Goethes  Experimenten  mit 
seinen  eigenen  Apparaten  wiederholen.  Es  waren 
eigentümlich  weihevolle  Stunden,  in  denen  das 
Handwerkszeug  des  großen  Meisters  aus  der  Tiefe 
der  Schränke  hervorgeholt  wurde  und  nun  alle 
die   vielfältigen    Farbencrschcinungcn   wieder   ent- 


Die  Farbenlehre  II.  —  Physikalische  Optik.         221 

stehen  ließ,  die  in  der  Farbenlehre  geschildert  sind. 
Goethe  hat  durchweg  mit  den  einfachsten  Mitteln 
gearbeitet,  aber  diese  waren  so  ausgewählt,  daß 
die  Farben  in  wundervoller  Klarheit  und  Schön- 
heit unter  den  geschilderten  Versuchsbedingungen 
sich  hervorrufen  ließen.  So  sind  auch  heute  noch 
dieselben  Phänomene,  die  Goethe  gesehen  hat,  mit 
denselben  Mitteln  und  an  demselben  Orte  wieder 
in  voller  Deutlichkeit  zu  reproduzieren. 

Anders  steht  es  mit  dem  zweiten  Teil  der  Auf- 
gabe, die  sich  Goethe  stellte.  Die  theoretische  Ver- 
wertung seiner  Experimente  führte  ihn  zu  einer  An- 
sicht über  die  Entstehung  der  Farben,  mit  welcher 
er  schon  bei  seinen  Zeitgenossen  mit  wenig  Aus- 
nahmen keine  Anerkennung  fand  und  die  heute 
völlig  verlassen  ist.  Sie  führte  ihn  weiter  zu  einer 
Polemik  gegen  Newtons  Farbentheorie,  deren  Ge- 
dankengang wir  weiter  unten  zu  würdigen  haben. 
Will  man  aber  in  diesem  Punkte  völlig  gerecht 
urteilen,  so  darf  man  nicht  vergessen,  daß  zu  Goethes 
Zeiten  die  physikalische  Theorie  des  Lichtes  und 
der  Farben  keineswegs  so  geklärt  war  wie  heute. 
Damals  kämpften  die  alte  Newtonsche  Emissions- 
theorie, welche  annahm,  daß  das  Licht  aus  kleinsten 
körperlichen  Teilen  bestehe,  die  von  der  Licht- 
quelle geradlinig  fortgeschleudert  werden,  und  die 
Huyghens'sche  Undulationstheorie  miteinander,  welche 
im  Licht  die  Wellenbewegung  eines  hypothetischen 


222  Achte  Vorlesung. 

Lichtäthers  sieht  Gerade  in  jenen  Zeiten  wurden 
nun  eine  Reihe  optischer  Phänomene  entdeckt, 
welche  sich  den  herrschenden  Theorien  nicht  ohne 
weiteres  einfügen  wollen  (die  Achromasie,  die  Er- 
scheinungen des  polarisierten  Lichtes  u.  a.).  Zu  ihrer 
Erklärung  mußten  die  Vertreter  beider  Theorien  ihre 
Ansichten  wechseln.  Es  herrschte  ein  lebhaftes  Hin 
und  Wider  der  Meinungen,  und  Goethe  gewann 
daraus  die  Überzeugung  von  der  Wertlosigkeit  jeder 
Theorie  überhaupt.  So  bildete  er  sich  seine  selbst- 
ständige Ansicht,  der  man  jedenfalls  zubilligen  muß, 
daß  sie  erstens  anschaulich  und  zweitens  in  sich 
konsequent  war. 

Die  physischen  Farben  sind  nach  Goethe  solche, 
zu  deren  Hervorbringung  das  farblose  Licht  mit 
materiellen,  selbst  ungefärbten  Medien  in  Beziehung 
treten  muß.  Wenn  also  Licht  durch  ein  farbloses 
Glasprisma  hindurchfällt  und  danach  die  Farben- 
erscheinung des  Spektrums  gibt,  so  ist  das  phy- 
sische Farbe  im  Goetheschen  Sinne.  Diese  schließen 
sich  nun  „unmittelbar  an  die  physiologischen  an  und 
scheinen  nur  um  einen  geringen  Grad  mehr  Realität 
zu  haben".  In  diesem  Satz  ist,  wie  Sie  sich  er- 
innern, Goethes  Grundirrtum  enthalten;  er  war  sich 
nicht  klar  darüber,  daß  zwischen  der  Sinnesempfin- 
dung und  dem  diese  Empfindung  auslösenden  Reiz 
eine  unüberbrückbare  Kluft  besteht,  daß  es  sich  um 
zwei  völlig  unvergleichbare  Dinge  handelt. 


Die  Farbenlehre  II.  —  Physikalische  Optik.         223 

Die  physischen  Farben  sind  entweder  objektiv 
oder  subjektiv  darstellbar;  wenn  Licht  durch  ein 
Prisma  fällt  und  auf  der  gegenüberliegenden  Wand 
ein  farbiges  Spektrum  erscheint,  so  sind  die  Farben 
objektiv  dargestellt;  sieht  dagegen  der  Experimen- 
tator durch  das  Prisma  hindurch  nach  einer  Öffnung 
im  Fensterladen,  so  erscheint  diese  von  farbigen 
Rändern  umsäumt;  das  ist  die  subjektive  Darstel- 
lungsweise. Diese  subjektiven  Versuche  hat  Goethe 
unter  anderem  deshalb  in  den  Vordergrund  gestellt, 
weil  sie  es  nach  seiner  Meinung  sind,  die  sich 
unmittelbar  an  die  physiologischen  anschließen;  der 
Unterschied  ist  nur,  daß  das  zu  Studierende  in 
diesem  Falle  nicht  die  Eigenschaften  des  Auges, 
sondern  die  Eigenschaften  des  äußeren  Mediums, 
des  Prismas,  sind. 

Das  erste  Kapitel  dieses  Abschnittes  handelt  von 
den  dioptrischen  Farben,  welche  entstehen,  wenn 
Licht  durch  durchsichtige  Körper  hindurchtritt.  Als 
Ausgang  benutzt  Goethe  die  Farbenerscheinungen, 
welche  durch  trübe  Mittel  hervorgerufen  werden. 
Die  Lehre  von  den  trüben  Mitteln  ist  für  Goethe  die 
Grundlage  seiner  ganzen  physikalischen  Farbenlehre. 

Gießt  man  in  ein  Glas  Wasser  etwas  Seifen- 
spiritus oder  trübt  man  es  mit  einem  anderen  an 
sich  farblosen  Zusatz,  so  erscheint  die  Flüssigkeit 
im  durchfallenden  Licht  gelb;  betrachtet  man  da- 
gegen  das    getrübte   Wasser   vor    einem    dunkeln 


224  Achte  Vorlesung. 

Hintergrund,  also  im  auffallenden  Licht,  so  sieht 
es  blau  aus.  Bei  zunehmender  Trübung  des  Wassers 
erscheint  es  im  durchfallenden  Licht  gelbrot  und 
schließlich  rot,  im  auffallenden  Lichte  immer  weiß- 
licher. Wenn  die  Trübung  dagegen  nur  sehr  zart 
ist,  so  entsteht  bei  auffallendem  Licht  ein  schönes 
Violett.  Dieses  Phänomen  ist  nach  Goethe  so  un- 
mittelbar anschaulich,  daß  es  jedem  Menschen  ohne 
weitere  Erklärung  demonstriert  werden  kann.  Es  ist 
eine  absolut  einfache  Erscheinung,  und  Goethe  sieht 
in  ihr  das  „Urphänomen"  der  Farbenlehre.  „Da 
wir  alle  Farben  nur  durch  Mittel  und  an  Mitteln 
sehen,  so  ist  die  Lehre  vom  Trüben,  als  dem  aller- 
zartesten  und  reinsten  Materiellen,  derjenige  Begriff, 
woraus  die  ganze  Chromatik  sich  entwickelt." 
Goethe  stellt  die  Farben  der  trüben  Medien  des- 
halb in  den  Vordergrund,  weil  sie  so  außerordent- 
lich einfach  erscheinen.  „Man  soll  keine  abge- 
leiteten Phänomene  an  die  erste  Stelle  setzen."  Er 
macht  gerade  Newton  zum  Vorwurf,  daß  die  Experi- 
mente, aus  denen  er  seine  Farbenlehre  entwickelt, 
schon  so  abgeleitet  und  kompliziert  sind,  daß 
man  ihre  Bedingungen  nicht  ohne  weiteres  über- 
schauen kann.  Das  ist  bei  den  Farben  der  trüben 
Mittel  dagegen  ohne  Schwierigkeit  möglich.  Diese 
waren,  wie  gesagt,  für  Goethe  das  „Urphänomen", 
d.  h.  eine  Erscheinung,  die  an  sich  schon  so  an- 
schaulich ist,   daß  sie   keiner  weiteren  Erklärung 


Die  Farbenlehre  II.  —  Physikalische  Optik.         225 

bedarf.  Goethe  hat  niemals  versucht,  die  Frage  zu 
beantworten,  warum  denn  die  trüben  Medien  im 
durchfallenden  Licht  gelb  und  im  auffallenden  blau 
erscheinen.  Er  gibt  überhaupt  keine  Theorie  des 
Lichtes,  aus  der  er  diese  Farbenerscheinung  ableiten 
könnte,  sondern  das  „Urphänomen**  wird  als  ge- 
geben vorausgesetzt,  und  Goethes  physikalische 
Farbenlehre  besteht  darin,  daß  er  alle  Phänomene 
aus  diesem  einen  zu  entwickeln  versucht,  daß  er 
alle  Farbenerscheinungen  auf  trübe  Medien  zurück- 
führt. An  einer  Stelle  seiner  Notizen  findet  sich 
die  Bemerkung  „Von  dem  Werte  des  Was.  Die 
Fragen  Wie?  Warum?  Wozu?  abgelehnt."  So  leitet 
Goethe  seine  physikalische  Optik  ohne  jede  Theorie 
aus  einem  einfachen,  ohne  weiteres  anschaulichen 
Phänomen  ab. 

An  zahlreichen  Beispielen  wird  nun  die  Lehre 
von  den  trüben  Mitteln  illustriert.  Besonders  er- 
giebig sind  hier  die  atmosphärischen  Farbenerschei- 
nungen. Wenn  die  Sonne  durch  Dunst  hindurch- 
scheint, wird  sie  gelblich  bis  gelbrot,  wenn  sie  am 
dunstigen  Horizont  untergeht,  steigert  sich  diese 
Farbe  zum  leuchtendsten  Purpur.  Morgen-  und 
Abendrot  werden  auf  denselben  Vorgang  zurück- 
geführt. Die  blaue  Farbe  des  Himmels  bezieht 
Goethe  ebenfalls  in  diese  Erscheinungen  mit  ein; 
die  Luft  wirkt  als  ein  trübes  Mittel  vor  dem  dunkeln 
Hintergrund  des  Weltenraumes.    Er  ist  sehr  erfreut, 

Magnus,  Goethe  als  Naturforscher.  15 


226  Achte  Vorlesung. 

als  er  findet,  daß  diese  noch  heute  gültige  Erklärung 
schon  von  Lionardo  da  Vinci  gegeben  worden  ist, 
während  zu  Goethes  Zeiten  vielfach  andere  kom- 
pliziertere Meinungen  aufgestellt  waren.  Auch  die 
Luftperspektive,  die  blaue  Farbe  entfernter  Berge, 
gehört  hierher.  Diese  letzteren  wirken  als  dunkler 
Hintergrund,  vor  dem  die  Luft  als  trübes  Mittel 
blau  erscheint. 

„Wenn  der  Blick  an  heitern  Tagen 
Sich  zur  Himmelsbläue  lenkt, 
Beim  Siroc  der  Sonnenwagen 
Purpurrot  sich  niedersenkt, 
Da  gebt  der  Natur  die  Ehre 
Froh,  an  Aug'  und  Herz  gesund 
Und  erkennt  der  Farbenlehre 
Allgemeinen,  ew'gen  Grund." 

Sehr  schön  lassen  sich  die  Farbenerscheinungen 
trüber  Mittel  an  dem  sogenannten  Opalglas  beob- 
achten. Goethe  hat  sich  für  dessen  Fabrikation 
aufs  lebhafteste  interessiert,  selbst  alte  Vorschriften 
aus  mittelalterlichen  Büchern  (Kunckels  Glasmacher- 
kunst) hervorgesucht  und  durch  verschiedene  Glas- 
hütten derartige  Gläser  anfertigen  lassen.  Noch 
heute  finden  sich  im  Goethehaus  zahlreiche  Scher- 
ben von  Opalglas,  die  in  der  Durchsicht  gelb  bis 
gelbrot,  in  der  Aufsicht  blauweiß,  blau  oder  violett 
aussehen.  Ein  humoristisches  Beispiel  erzählt  Goethe 
von  einem  Maler,  dem  das  Ölbild  eines  schwarz- 
gekleideten Mannes  zum  Reinigen  übergeben  war. 


Die  Farbenlehre  II.  —  Physikalische  Optik.        227 

Er  wusch  es  zunächst  mit  einem  nassen  Schwamm 
ab  und  sah  zu  seinem  Erstaunen,  daß  das  schwarze 
Gewand  darauf  im  schönsten  Hellblau  erstrahlte. 
Goethe,  dem  dies  mitgeteilt  wurde,  gab  die  richtige 
Deutung;  die  oberflächliche  Firnisschicht  hatte  sich 
bei  der  Behandlung  mit  Wasser  getrübt  und  erschien 
nun  auf  dem  schwarzen  Hintergrunde  der  Ölfarbe 
hellblau.  Am  folgenden  Morgen,  als  das  Wasser 
verdunstet  war,  war  auch  die  blaue  Farbe  ver- 
schwunden. Aufgüsse  von  nephritischem  Holz 
(Sandelholz),  von  Quassia  und  von  der  Rinde  der 
Roßkastanie  zeigen  ebenfalls  in  der  Durchsicht  eine 
gelbe,  in  der  Aufsicht  eine  blaue  Färbung.  Goethe 
bezog  auch  dieses  auf  das  Phänomen  der  trüben 
Medien;  es  wurde  aber  später  von  Herschel,  Brewster 
und  Stokes  nachgewiesen,  daß  es  sich  hier  um  die 
zu  Goethes  Zeit  noch  unbekannten  Fluoreszenz- 
erscheinungen handelt. 

An  die  Lehre  von  den  trüben  Mitteln  reiht  Goethe 
als  wichtigsten  Abschnitt  des  Kapitels  von  den 
physischen  Farben  die  Lehre  von  der  Refraktion, 
von  den  Farbenerscheinungen  bei  der  Lichtbrechung. 
Wir  wollen  hier  nicht  dem  ganzen  weitverzweigten 
Darstellungsgang  Goethes  folgen,  sondern  gleich 
zum  wichtigsten  Abschnitt,  den  prismatischen  Far- 
ben, übergehen.  Da  ist  nun  einer  der  Haupt- 
punkte, der  immer  wieder  betont  wird,  der,  daß 
es    unstatthaft    sei,    bei    der    Schilderung    solcher 

15* 


228  Achte  Vorlesung. 

prismatischer  Versuche  von  Lichtstrahlen  und 
deren  Brechung  zu  reden.  Das  seien  nur  Abstrak- 
tionen des  Mathematikers.  Was  man  tatsächlich  be- 
obachtet, wenn  Licht  durch  eine  enge  Öffnung 
des  Fensterladens  in  die  dunkle  Kammer  fällt,  ist 
ein  Bild  der  Sonne  bzw.  andrer  außen  befindlicher 
Gegenstände,  das  nach  ähnlichen  Gesetzen  entsteht 
wie  das  Bild  auf  der  Mattscheibe  einer  photogra- 
phischen Kamera.  Dieses  Bild  der  Sonne  ist,  wie 
Goethe  richtig  bemerkt,  begrenzt,  und  die  Grund- 
bedingung für  die  Farbenerscheinung  bei  der  Re- 
fraktion sieht  Goethe  darin,  daß  solche  Bilder  bei 
der  Brechung  verrückt  werden  und  daß  nur  des- 
halb an  ihren  Grenzen  die  Farbenerscheinungen 
auftreten  können.  Von  diesem  Gedanken  ausgehend, 
hat  Goethe  auch  die  subjektiven  prismatischen  Ver- 
suche an  die  Spitze  gestellt.  Er  hatte  sich  eine 
Reihe  von  schwarzen,  weißen  und  farbigen  Bildern 
auf  geeigneten  Tafeln  aufgeklebt  und  betrachtete 
diese  durch  das  Prisma.  Dann  erschienen  sie  an 
einem  andern  Orte,  und  gleichzeitig  mit  dieser  Ver- 
rOckung  traten  farbige  Säume  an  ihren  Rändern  auf. 
FQr  die  Darstellung  der  objektiven  Versuche,  bei 
denen  ein  Lichtstrahl  in  der  dunklen  Kammer  auf 
ein  Prisma  fiel,  hat  Goethe  es  nun  stets  vermieden, 
enge  Offnungen  im  Fcnsteriaden  zu  benutzen.  Er 
glaubte,  daß  hierdurch  das  Licht  in  seiner  Unmittel- 
barkeit gestört  würde,  wenn  es  durch  enge  Löcher 


Die  Farbenlehre  II.  —  Physikalische  Optik.        229 

sich  hindurchzwängen  müßte.  Auf  der  Anwendung 
breiter  Lichtbündel  beruht  ein  großer  Teil  von 
Goethes  Versuchsresultaten.  Es  wird  dann  ferner 
die  prismatische  Farbenerscheinung  auf  die  Lehre 
von  den  trüben  Mitteln  zurückgeführt.  Das  gelingt 
auf  folgende  Weise.  Goethe  nimmt  an,  daß,  wenn 
auf  der  weißen  Wand  durch  das  Prisma  das  Bild 
der  Sonne  oder  der  Öffnung  im  Fensterladen  ent- 
worfen wird,  dieses  Bild  eigentlich  aus  zweien  be- 
stände: aus  einem  Hauptbild  und  einem  Nebenbild, 
geradeso  wie  ein  schlechter  Spiegel  die  Gegen- 
stände zweifach  zurückwirft,  ein  Bild  von  der  Hinter- 
fläche und  eines  von  der  Vorderfläche  des  Glases, 
von  welchen  das  eine  schattenhaft  über  dem  andern 
zu  schweben  scheint.  Es  sollte  auch  bei  der  pris- 
matischen Brechung  ein  Haupt-  und  ein  Nebenbild 
entstehen  und  das  Nebenbild  vor  dem  Hauptbilde 
schweben.  Wir  haben  gesehen,  daß  Goethe  bei 
der  prismatischen  Brechung  ein  Bild  verrückt  wer- 
den läßt.  Dabei  soll  das  Nebenbild  immer  weiter 
verrückt  werden  als  das  Hauptbild,  es  soll  dem 
Hauptbild  gleichsam  immer  voraneilen.  Die  ganzen 
Farbenerscheinungen  lassen  sich  nun  dadurch  ab- 
leiten, daß  Goethe  das  Nebenbild  als  ein  trübes 
Mittel  betrachtet,  durch  welches  hindurch  man  das 
Hauptbild  sieht.  Umstehende  Zeichnung  (Fig.  10), 
in  welcher  das  Hauptbild  durch  die  ungebrochene, 
das  Nebenbild  durch  die  punktierte  Linie  angedeutet 


230  Achte  Vorlesung. 

wird,  möge  das  Folgende  verdeutlichen.  Oben 
sehen  wir  die  scharfe  Begrenzung  des  Hauptbildes, 
das  wir  uns  weiß  auf  dunklem  Grunde  denken 
wollen.  Davor  schwebt  der  dunkle  Teil  des  Neben- 
bildes. Dieser  wirkt  wie  ein  trübes  Mittel,  das 
vor  hellem  Hintergrunde  gelb  erscheint.  Nach  dem 
Rande  zu  wird  die  Trübung  stärker  angenommen, 
und  deshalb  geht  der  gelbe  Rand  allmählich  in 
Rot  über.  Unten  sehen  wir  da- 
gegen das  Nebenbild  über  den 
dunklen  Teil  des  Hauptbildes 
herübergreifen.  Das  trübe  Neben- 
bild vor  dem  dunklen  Grunde 
erscheint  daher  blau,  und  nach 
dem  Rande  zu,  wo  das  Neben- 
bild sich  verflüchtigt  und  die 
*■  Trübung    feiner    wird,    entsteht 

Violett.  So  ist  es  Goethe  gelungen,  auf  Grund  seiner 
Hilfsannahme  vom  Haupt-  und  vom  Nebenbild  zu- 
nächst einmal  das  Auftreten  von  Gelb  und  Blau  bei 
der  prismatischen  Brechung  zu  erklären  und  daraus 
durch  „Steigerung"  Rot  und  Violett  abzuleiten.  Je 
weiter  sich  nun  das  Prisma  von  der  Wand  entfernt, 
oder  je  stärker  der  brechende  Winkel  des  Prismas 
wird,  um  so  mehr  läßt  Goethe  das  Nebenbild  dem 
Hauptbiid  bei  der  Brechung  voraneilen.  Dadurch 
müssen  sich  die  farbigen  Ränder  verbreitern,  und 
schließlich   wird    es   so   weit   kommen,   daß   sich 


Die  Farbenlehre  II.  —  Physikalische  Optik.        231 

Gelb  und  Blau  in  der  Mitte  treffen.  Es  entsteht 
dann  durch  Vermischung  dieser  beiden  Farben  das 
Grün.  Goethe  läßt  also  die  grüne  Farbe  auch  hier 
keine  einfache  sein,  sondern  erklärt  sie  durch 
Mischung.  Wir  haben  schon  gehört,  daß  das  falsch 
ist,  daß  durch  Mischung  von  spektralem  Blau  und 
Gelb  nur  Grau  oder  Weiß  entsteht,  und  daß  die 
Mischung  Grün,  welche  die  Maler  aus  blauen  und 
gelben  Pigmenten  erhalten,  nur  darauf  beruht,  daß 
diese  Farbstoffe  nicht  im  physikalischen  Sinne  reine 
Farben  bilden.  Goethe  läßt  also  das  Grün  nicht 
nur  eine  gemischte  Empfindung  sein,  sondern  auch 
das  objektive  spektrale  Grün  durch  Mischung  ent- 
stehen, während  wir  heute  wissen,  daß  das  Grün 
des  Spektrums  eine  unzerlegbare  einfache  Farbe  ist. 
Zu  diesem  Irrtum  konnte  Goethe  aber  deshalb 
kommen,  weil  die  Mischungsverhältnisse  des  Grün 
damals  noch  nicht  physikalisch  erklärt  waren.  Erst 
später  hat,  wie  schon  oben  erwähnt  wurde,  Helm- 
holtz  diese  verwickelten  Beziehungen  vollkommen 
aufgedeckt  —  Anders  verlaufen  die  prismatischen 
Erscheinungen,  wenn  ein  schwarzes  Bild  auf  weißem 
Grunde  verrückt  wird.  Dann  entstehen  ebenfalls 
gelbe  und  blaue  Ränder,  die  gegen  das  Schwarz 
hin  in  Rot  bzw.  Violett  übergehen.  Nimmt  die 
Brechung  zu,  so  treffen  sich  Rot  und  Violett  in  der 
Mitte  des  schwarzen  Streifens  und  bilden  durch 
Vermischung  den  Purpur.  Diese  Feststellung  Goethes 


232  Achte  Vorlesung. 

trifft  das  Richtige.  Purpur  ist  tatsächlich  eine  Farbe, 
die  als  einfache  im  Spektrum  nicht  vorkommt,  son- 
dern erst  durch  Mischung  von  Rot  und  Violett  ent- 
steht. So  ist  Irrtum  und  Wahrheit  in  Goethes  System 
zu  einem  in  sich  abgeschlossenen  und  in  sich  konse- 
quenten Ganzen  verflochten.  Aus  dem  bisher  Ge- 
sagten ergibt  sich,  daß  nach  Goethes  Auffassung 
die  Farben  nur  dann  auftreten,  wenn  das  prisma- 
tische Bild  entweder  ins  Auge  oder  auf  eine  weiße 
Wand  fällt.  Sonst  sind  die  Bedingungen  zu  ihrer 
Entstehung  nicht  gegeben.  Er  weist  daher  mit 
größter  Entschiedenheit  immer  wieder  darauf  hin, 
daß  nach  seiner  Darstellung  die  prismatischen  Farben- 
erscheinungen keineswegs  fertige  sind,  sondern 
immer  nur  als  werdende  beobachtet  werden  können; 
es  sei  deshalb  vollständig  falsch,  wenn  Newton 
behauptet,  daß  die  Farben  im  weißen  Licht  enthalten 
seien,  im  weißen  Licht  drin  steckten,  vielmehr  sei 
das  weiße  Licht  etwas  durchaus  Einheitliches;  die 
Farben  entstehen  immer  nur  an  den  Rändern  von 
Bildern,  welche  durch  Refraktion  verrückt  werden. 
In  dem  ersten  Hauptteil  von  Goethes  optischem 
Werk,  dem  didaktischen  Teil,  werden  die  Phäno- 
mene und  Experimente  nur  einfach  der  Reihe  nach 
geschildert  und  in  der  Weise  angeordnet,  daß  sich 
die  theoretische  Ansicht  dadurch  gewissermaßen  von 
selbst  ergibt  Die  Auseinandersetzung  mit  der 
Newtonschen  Farbenlehre  ist  davon  vollständig  los- 


Die  Farbenlehre  II.  —  Physikalische  Optik.         233 

gelöst.  Sie  findet  sich  in  dem  zweiten,  polemischen 
Teil.  Hier  nimmt  Goethe  das  optische  Hauptwerk 
Newtons  Abschnitt  für  Abschnitt  und  Satz  für  Satz 
durch  und  weist  bis  ins  einzelnste  jeden  Punkt 
nach,  in  dem  Newton  seiner  Meinung  nach  etwas 
Falsches  behauptet  hat.  Er  geht  hier  streng  ins 
Gericht,  wird  stellenweise  sogar  sehr  grob,  wirft 
seinem  Gegner  Advokatenkniffe,  captiöse  Methode 
und  bewußten  Schwindel  vor.  Nur  in  dem  Schluß- 
abschnitt entschuldigt  er  dieses  Verfahren  mit  der 
polemischen  Natur  der  Schrift  und  verspricht  im 
historischen  Teil  Newtons  Persönlichkeit  besser  ge- 
recht zu  werden.  Die  Haupteinwände,  welche  Goethe 
gegen  Newton  richtet,  sind  in  Kürze  folgende: 
Zunächst  der  schon  erwähnte,  daß  bei  den  Ver- 
suchen in  der  dunklen  Kammer  Newton  immer  von 
Strahlen  redet,  während  doch  tatsächlich  Bilder 
entworfen  und  durch  Brechung  verändert  würden. 
Weiter  tadelt  Goethe,  daß  Newton  an  die  Spitze 
seiner  Farbenlehre  einen  verwickelten  und  abgelei- 
teten Versuch  gesetzt  habe,  dessen  Bedingungen 
absichtlich  kompliziert  worden  seien,  daß  also  die 
ganze  Darstellung  von  einem  beschränkten  Einzel- 
falle ausgehe,  nicht  von  einem  allgemein  gültigen 
Naturphänomen.  Von  diesem  Standpunkt  aus  wird 
nun  die  ganze  Reihe  der  Newtonschen  Versuche 
durchkritisiert,  und  Goethe  geht  so  weit,  daß  er 
selbst  die  kurz  vorher  entdeckten  Fraunhoferschen 


234  Achte  Vorlesung. 

Linien  des  Sonnenspektrums  nicht  anerkennen  will, 
da  sie  nur  auftreten,  wenn  man  das  Licht  durch 
einen  engen  Spalt  fallen  läßt. 

„Freunde,  flieht  die  dunkle  Kammer, 
„Wo  man  Euch  das  Licht  verzwickt 
,Und  im  kümmerlichsten  Jammer 
„Sich  verschrobnen  Bildern  bückt. 
„Abergläubische  Verehrer 
„Gab's  die  Jahre  her  genug 
„In  den  Köpfen  Eurer  Lehrer 
„Laßt  Gespenst  und  Wahn  und  Trug." 

Sehr  wichtig  ist  der  folgende  Punkt,  weil  er  sich 
auf  experimentelle  Beobachtungen  stützt.  Newton 
hatte  angegeben,  daß,  wenn  man  aus  dem  Sonnen- 
spektrum eine  einzelne  Farbe  isoliert  und  diese 
durch  ein  zweites  Prisma  einer  zweiten  Brechung 
unterwirft,  dann  die  Farbe  unverändert  bleibe  und 
daß  keine  neuen  farbigen  Säume  erscheinen.  Goethe 
bestreitet  das  aufs  entschiedenste.  Er  findet  die 
Angabe  allerdings  beim  Rot  zutreffend,  nicht  aber 
beim  Blau  und  beim  Violett.  Dieses  abweichende 
Ergebnis  ist  zur  Charakteristik  der  beiden  streitenden 
Parteien  sehr  wichtig.  Newton  hat  seine  richtige 
Behauptung  aufgestellt,  weil  er  bei  seinen  Versuchen 
das  Wesentliche  sah  und  die  unwesentlichen 
schwachen  Farbenränder  vernachlässigte.  Goethe 
dagegen  hat  durchaus  richtig  beobachtet.  Bei  der 
Newtonschcn  Versuchsanordnung  gelingt  es  tatsäch- 
lich nicht,  ganz  reines  spektrales  Licht  zu  bekommen; 


Die  Farbenlehre  II.  —  Physikalische  Optik.        235 

es  treten  bei  der  zweiten  Brechung  immer,  wenn 
auch  schwache  Farbensäume  auf.  Das,  was  Newton 
behauptet  hatte  und  was  Goethe  nicht  experimentell 
bestätigen  konnte,  ist  erst  Helmholtz  gelungen, 
welcher  durch  mehrfache  Brechung  und  die  Ver- 
wendung enger  Spalten  wirklich  einfaches  Licht 
aus  dem  Spektrum  isolierte.  Newton  hat  also  den 
richtigen  Schluß  aus  seinen  unvollkommenen  Ver- 
suchen gezogen,  Goethes  gegenteilige  Behauptung 
beruht  aber  auf  genauer  und  feiner  Beobachtung. 
—  Ein  weiterer  Punkt,  bei  dem  es  sich  um  ab- 
weichende tatsächliche  Befunde  handelt,  bezieht 
sich  auf  die  verschiedene  Brechbarkeit  verschieden- 
farbigen Lichtes.  Newton  hatte  gefunden,  daß 
das  violette  Licht  stärker  gebrochen  wird  als  das 
rote,  und  zu  diesem  Zwecke  verschiedene  Ver- 
suche angegeben.  Goethe  hat  diese  nachgeprüft 
(die  optische  Bank,  die  er  dazu  benutzte,  ist  im 
Goethehaus  vorhanden,  s.  Fig.  9,  Nr.  2)  und  konnte 
Newtons  Angabe  nicht  bestätigen.  Dieses  merk- 
würdige Ergebnis  beruht  wahrscheinlich  darauf,  daß 
Goethe  mit  farbigen  Papieren  gearbeitet  hat,  welche 
keine  im  physikalischen  Sinne  reine  Farben  besaßen. 
Zur  Beurteilung  dieses  Befundes  ist  aber  zu  be- 
merken, daß  ein  so  geschickter  physikalischer  Ex- 
perimentator wie  Goethes  Freund  und  Mitarbeiter 
Seebeck  ebenfalls  nicht  imstande  gewesen  ist, 
Newtons  Angabe  zu  bestätigen.    Seebeck  arbeitete 


236  Achte  Vorlesung. 

mit  farbigen  Gläsern,  welche  vermutlich  ebenfalls 
keine  reinen  Lichter  gaben.  Ein  weiteres  Argument 
Goethes  gegen  Newton  bezieht  sich  auf  die 
Achromasie  und  die  Möglichkeit,  die  dioptrischen 
Femgläser  zu  verbessern.  Newton  hatte  die  Farben- 
zerstreuung bei  der  Brechung  durch  Linsen  unter- 
sucht und  daraufhin  behauptet,  die  Fernrohre  wären 
nicht  zu  verbessern,  weil  bei  jeder  Lichtbrechung 
eine  Farbenzerstreuung  eintrete.  Es  ist  Ihnen  be- 
kannt, daß  man  durch  schlechte  Fernrohre  oder 
Operngläser  alle  Gegenstände  mit  farbigen  Rändern 
umsäumt  sieht.  Nun  hatte  aber  in  der  Mitte  des 
18.  Jahrhunderts  Dollond  die  achromatischen  Linsen- 
kombinationen aus  Crown-  und  Flintglas  entdeckt,  bei 
denen  durch  Vereinigung  zweier  Gläser  mit  verschie- 
denem Farbenzerstreuungsvermögen  das  Zustande- 
kommen dieser  farbigen  Ränder  verhindert  war^). 
Dadurch  war  bewiesen,  daß  nicht,  wie  Newton  an- 
genommen hatte,  die  Farbenzerstreuung  von  der 
Refraktion  direkt  abhängig  sei,  sondern  daß,  je  nach 
den  chemischen  Eigenschaften  der  Gläser,  verschie- 
dene Farbenzerstreuung  bei  gleicher  Refraktion  auf- 
treten könne.  Die  damals  kämpfenden  optischen 
Theorien  mußten  sich  diesen  neuen  Vorstellungen 
anpassen.  Goethe  aber  zog  daraus,  daß  diese 
Theorien  auf  Grund  einer  neuen  Tatsache  ad  hoc 


')  Den  von  Ooethe  benutzten  achromatischen  Prismen- 
satz sieht  man  auf  Fig.  9  Nr.  1. 


Die  Farbenlehre  II,  —  Physikalische  Optik.        237 

modifiziert  wurden,  den  Schluß,  daß  sie  über- 
haupt falsch  wären.  Seiner  Meinung  nach  wider- 
legten die  achromatischen  Fernrohre  die  Newtonsche 
Theorie  vollständig.  —  Einer  der  wichtigsten  Punkte, 
in  denen  Goethe  von  Newton  abwich,  war  nun 
schließlich  folgender:  Newton  hatte  die  Farben  aus 
dem  weißen  Lichte  gesondert;  es  ergab  sich  also 
für  ihn  die  Aufgabe,  das  weiße  Licht  aus  den  Farben 
wieder  zusammenzusetzen,  und  tatsächlich  gibt  New- 
ton an,  daß  durch  Mischung  der  spektralen  Lichter 
Weiß  entstände.  Dieser  Angabe  widerspricht  Goethe 
entschieden.  Seiner  Meinung  nach  haben  alle  Farben 
etwas  Schattiges,  oxiegöv,  und  wenn  man  mehrere 
Farben  miteinander  mischt,  nimmt  dieses  Schattige 
zu;  das  Resultat  kann  also  niemals  Weiß,  sondern 
nur  Grau  sein,  und  „hundert  graue  Pferde  machen 
nicht  einen  einzigen  Schimmel".  Tatsächlich  kann 
man  aus  reinen  spektralen  Farben  von  genügender 
Intensität  Weiß  mischen,  wie  schon  Schopenhauer 
gegen  Goethe  geltend  machte.  Aber  trotzdem  liegt 
dem  Goetheschen  Einwand  eine  richtige  Beobachtung 
zugrunde.  Wenn  man  mehrere  Farben  so  mischt, 
daß  das  Gemisch  farblos  wird,  so  ist  die  Helligkeit 
tatsächlich  geringer  als  die  Helligkeit  der  ursprüng- 
lichen Komponenten  zusammengenommen.  Hering 
hat  diesen  Versuch  mit  zum  Ausgangspunkt  seiner 
Theorie  der  Gegenfarben  gemacht.  Wenn  man  also 
farbige  Pulver  oder  die  Farben  pigmentierten  Papiers 


238  Achte  Vorlesung. 

durch  geeignete  Mittel  (Farbenkreisel  usw.)  mischt, 
so  tritt  tatsächlich  Grau  auf,  und  nur  bei  Benutzung 
sehr  lichtstarker  prismatischer  Farben  wird  Weiß 
erhalten. 

So  sehen  wir,  daß  alle  Einwände  Goethes  gegen 
die  Newtonsche  Lehre  auf  unmittelbarer  richtiger 
Beobachtung  beruhen  und  daß  sie  konsequent  zum 
System  von  Goethes  Farbenlehre  passen.  Er  hat 
seine  Polemik  gegen  Newton  noch  in  der  Geschichte 
der  Farbenlehre  fortgesetzt.  Hier  entwickelt  er,  wie 
diese  seiner  Meinung  nach  falsche  Theorie  entstehen 
konnte.  Heute  hat  Newtons  Ansicht  in  allen  wesent- 
lichen Punkten  den  unzweifelhaften  Sieg  errungen. 
Goethes  Farbenlehre  ist  in  diesem  Streite  völlig 
unterlegen;  es  ist  aber  interessant,  zu  verfolgen,  wie 
ihr  Urheber  auf  Grund  möglichst  anschaulicher  Ver- 
suche und  Phänomene  unter  Ausschaltung  jeder 
Theorie  über  das  Wesen  des  Lichtes  imstande  war, 
aus  dem  einfachen  Urphänomen  der  trüben  Mittel 
die  Gesamtheit  der  physikalischen  Farbenerschei- 
nungen sich  klar  zu  machen. 

An  die  dioptrischen  Farben  schließt  Goethe  die 
katoptrischen  an,  welche  durch  Spiegelung  an  einer 
farblosen  Fläche  entstehen.  Denen  folgen  die  par- 
optischen,  welche  auftreten,  wenn  das  Licht  an 
einem  Rande  erscheint  (Beugungserscheinungen), 
und  weiter  folgen  die  epoptischen  Farben.  Diese 
entstehen    nach   Goethe   an   glatten   Flächen;    die 


Die  Farbenlehre  II.  —  Physikalische  Optik.        239 

Hauchbilder,  die  Farben  der  Seifenblasen,  die  New- 
tonschen  Ringe  gehören  hierher.  Goethe  hat  wenig- 
stens andeutungsweise  versucht,  auch  diese  Farben 
aus  der  Lehre  von  den  trüben  Mitteln  herzuleiten. 
Damit  schließt  die  Abteilung  von  den  physischen 
Farben.  Goethe  hat  aber  später  noch  ein  weiteres 
Kapitel  bearbeitet,  das  an  dieser  Stelle  eingefügt 
werden  sollte,  die  Lehre  von  den  „entoptischen 
Farben".  Im  Jahre  1809  hatte  Malus  endeckt,  daß 
das  Licht  durch  Spiegelung  veränderte  Eigenschaften 
bekommt,  was  wir  heute  als  die  Erscheinung  des 
polarisierten  Lichtes  bezeichnen.  Seebeck  hatte 
dann  1812  das  Verhalten  von  Glas  in  derartigem 
Lichte  untersucht  und  1813  das  Auftreten  von  sehr 
merkwürdigen  Figuren,  schwarzen  Kreuzen  auf 
weißem  Grunde  und  weißen  Kreuzen  auf  schwarzem 
Grunde,  bei  verschiedenen  Gläsern  gefunden.  Diese 
Figuren  bezeichnete  man  damals  als  „entoptische". 
Er  untersuchte  nun  die  Bedingungen  dieser  Er- 
scheinung und  fand,  daß  nur  schnell  gekühltes  Glas 
sie  zeigt.  Er  erhielt  1816  die  Hälfte  eines  Preises 
vom  Institut  de  France,  die  andere  erhielt  der  Phy- 
siker Brewster.  Goethe  hatte  von  Anfang  an  leb- 
haftestes Interesse  für  diese  Seebeckschen  Unter- 
suchungen und  er  übernahm  es,  das  Auftreten  der 
Farbenerscheinungen  hierbei  durchzuexperimen- 
tieren.  Im  Jahre  1813  schrieb  er  schon  einen  Brief 
über  die  Doppelbilder  des  Kalkspats,  1817  die  Ele- 


240  Achte  Vorlesung. 

mente  der  entoptischen  Farben  und  1820  den  zu- 
sammenhängenden Aufsatz  „Entoptische  Farben", 
der  in  den  didaktischen  Teil  der  Farbenlehre  ein- 
geschoben werden  sollte.  Dieser  Aufsatz  enthält 
nun  eine  geradezu  musterhafte  Sc.iilderung  der 
Phänomene,  die  Goethe  von  den  allereinfachsten 
schrittweise  bis  zu  den  kompliziertesten  entwickelt. 
Er  experimentiert  auch  hier  wieder  mit  den  ein- 
fachsten Mitteln,  wenigen  Spiegeln  und  Glaswürfeln, 
und  man  kann  sich  eigentlich  kein  schöneres  Ex- 
perimentierbuch für  Knaben  denken  als  diese  klare 
Schilderung  der  entoptischen  Versuche.  Im  Goethe- 
haus finden  sich  noch  zahllose  Proben  rasch  ge- 
kühlten Glases,  Glaswürfel,  Glasplatten,  Kalkspat- 
kristalle, Glimmerscheiben,  Bernsteinknöpfe  und  alle 
die  einzelnen  Stücke,  die  in  Goethes  Aufsatz  er- 
wähnt werden.  Der  Polarisationsapparat,  mit  dem 
Goethe  zumeist  arbeitete,  war  der  denkbar  einfachste 
(Fig.  9,  Nr.  3):  zwei  schwarz  hinterlegte  Glasspiegel 
an  einem  einfachen  Holzgestell  so  befestigt,  daß 
zwischen  ihnen  Glasplatten,  Würfel  (Nr.  4)  usw.  an- 
gebracht werden  konnten.  Einen  sehr  vollkommenen 
Apparat  des  Mechanikers  Niggl  in  München  (Fig.  9, 
Nr.  5),  den  ihm  Professor  Schweigger  1818  zu  seinem 
Geburtstage  geschickt  hatte,  benutzte  er  nur  ungern, 
weil  ihm  die  Bedingungen  hier  schwieriger  über- 
sehbar zu  sein  schienen  als  bei  seinem  einfachen 
Instrument    Goethe  glaubte  in  diesen  entoptischen 


Fig.  9. 
Einige  von  Goethes  optischen  Apparaten.  1.  Achromatischer  Prismensatz 
(Farbenlehre,  didakt.  Teil  §  298).  —  2.  Optische  Bank  aus  Holz.  —  3.  Einfacher 
Polarisationsapparat  zum  Studium  der  entoptischen  Farben  mit  zwei  schwarzen 
Spiegeln  (Entoptische  Farben,  Kap.  XVII).  —  4.  Zwischen  den  Spiegeln  entop^ 
tischer  Würfel  aus  übereinander  gelegten  Glasplatten  in  Metallrahmen  (Entop= 
tische  Farben,  Kap.  XVI).  —  5.  Nigglscher  Polarisationsapparat,  Geschenk 
Prof.  Schweiggers  an  Goethe  (Entoptische  Farben,  Kap.  XXVI).  —  6.  Negatives 
Bild  eines  Mädchens  zu  Nachbildversuchen  (Grund  rot,  Kopftuch  gelb,  Backen: 
flecken  grün)  vgl.  Farbenlehre,  didakt.  Teil  §  52  u.  53. 


Die  Farbenlehre  II.  —  Physikalische  Optik.        241 

Farben  das  „Tüpfelchen  auf  dem  i"  seiner  Farben- 
lehre gefunden  zu  haben  und  machte  sich  weidlich 
über  die  Bemühungen  der  Physiker  lustig,  ihre 
optischen  Theorien  mit  diesen  ganz  neuen  Phäno- 
menen in  Einklang  zu  bringen. 

„Möget  ihr  das  Licht  zerstückeln, 
„Färb'  um  Farbe  draus  entwickeln, 
„Oder  andere  Schwanke  führen, 
„Kügelchen  polarisiren, 
„Daß  der  Hörer  ganz  erschrocken 
„Fühlet  Sinn  und  Sinne  stocken. 
„Nein!  es  soll  euch  nicht  gelingen, 
„Sollt  uns  nicht  beiseite  bringen, 
„Kräftig  wie  wir's  angefangen, 
„Wollen  wir  zum  Ziel  gelangen.* 

Die  Folge  hat  allerdings  Goethe  unrecht  gegeben. 
An  der  Hand  der  entoptischen  Phänomene  und  der 
Polarisationserscheinungen  ist  die  Undulationstheorie 
des  Lichtes  ausgebaut  worden  zu  der  Vollendung, 
mit  der  sie  heute  die  Gesamtheit  der  optischen 
Erscheinungen  umfaßt.  Die  Richtigkeit  von  Goethes 
tatsächlichen  Beobachtungen  aber  bleibt  auch  auf 
diesem  Gebiete  unbeschränkt  bestehen.  Er  zog 
es  auch  hier  wieder  vor,  die  dunkle  Kammer  zu 
fliehen  und  möglichst  unter  freiem  Himmel  zu 
arbeiten.  Dieses  Mal  wurde  ihm  dadurch  eine 
wichtige  Erfahrung  ermöglicht.  Er  fand  nämlich,  daß 
die  entoptischen  Figuren  sich  ganz  verschieden  ver- 
hielten, je  nachdem  er  seine  Spiegel  nach  verschie- 

Magnus,  Goethe  als  Naturforscher.  16 


242  Achte  Vorlesung. 

denen  Teilen  des  Himmels  richtete,  und  es  gelang 
ihm,  die  Gesetzmäßigkeit  dieses  Verhaltens  nachzu- 
weisen und  von  der  jeweiligen  Stellung  der  Sonne 
abzuleiten.  Nach  Goethes  Meinung  war  damit  der 
atmosphärische  Ursprung  der  entoptischen  Phäno- 
mene nachgewiesen.  Nach  unserer  heutigen  Aus- 
drucksweise hat  er  gefunden,  daß  das  Licht,  das 
von  verschiedenen  Teilen  des  Himmels  reflektiert 
wird,  teilweise  und  in  gesetzmäßiger  Weise  polari- 
siert ist.  Hierauf  führt  er  nun  die  allen  Malern  be- 
kannte Tatsache  zurück,  daß  in  den  Ateliers  die 
Beleuchtung  zu  den  verschiedenen  Tageszeiten  ver- 
schieden gut  ist.  Er  geht  mit  seinem  entoptischen 
Apparat  in  die  Malerateliers  und  stellt  fest,  daß  die 
entoptischen  Eigenschaften  des  Lichtes  mit  dieser 
Beleuchtung  gleichmäßig  wechseln  und  macht  darauf- 
hin den  Vorschlag,  ein  gutes  Maleratelier  müsse 
zwei  Fenster  haben,  eines  nach  Norden,  eines  nach 
Westen,  damit  zu  verschiedenen  Tageszeiten  Licht 
aus  verschiedenen  Himmelsgegenden  einfallen  könne. 
Vorschläge  zu  Beobachtungen  auf  Reisen  und  zu 
Demonstrationen  in  der  Vorlesung  schließen  diesen 
Aufsatz,  in  dem  die  mustergültige  Darstellung  und 
die  klare  Schilderung  der  Experimente  bewunderungs- 
wert sind.  Auch  hier  bildet  Goethe  aus  den  Phäno- 
menen eine  kontinuierliche  Reihe,  die  von  den  ein- 
fachsten bis  zu  den  kompliziertesten  fortschreitet, 
und  versucht,  alles  auf  die  Lehre  von  den  trüben 


Die  Farbenlehre  II.  —  Physikalische  Optik.        243 

Mitteln  zurückzuführen.    Hierher  gehört  auch   das 
schöne  Gedicht  an  Julie  v.  Egloff stein: 

Entoptische  Farben. 

„Laß  Dir  von  den  Spiegeleien 
»Unsier  Physiker  erzählen, 
„Die  am  Phänomen  sich  freuen, 
»Mehr  sich  mit  Gedanken  quälen. 

„Spiegel  hüben,  Spiegel  drüben, 
„Doppelstellung,  auserlesen; 
„Und  dazwischen  ruht  im  Trüben 
„Als  Kristall  das  Erdewesen*). 

„Dieses  zeigt,  wenn  Jene  blicken, 
„Allerschönste  Farbenspiele, 
„Dämmerlicht,  das  beide  schicken, 
„Offenbart  sich  dem  Gefühle. 

„Schwarz  wie  Kreuze  wirst  du  sehen, 
„Pfauenaugen  kann  man  finden, 
„Tag  und  Abendlicht  vergehen, 
„Bis  zusammen  beide  schwinden. 

„Und  der  Name  wird  ein  Zeichen, 
„Tief  ist  der  Kristall  durchdrungen: 
„Aug'  im  Auge  sieht  dergleichen 
„Wundersame  Spiegelungen. 

„Laß  den  Makrokosmus  gelten, 
„Seine  spenstischen  Gestalten! 
„Da  die  lieben  kleinen  Welten 
„Wirklich  Herrlichstes  enthalten.* 

Goethe  beabsichtigte  ursprünglich  am  Schluß  der 
Farbenlehre  noch  einen  supplementären  Teil  folgen 
zu  lassen,  in  dem  besonders  ein  Aufsatz  über  Ver- 

0  Vergleiche  hierzu  den  Apparat  Fig.  9  Nr.  3  und  4. 

16* 


244  Achte  Vorlesung. 

suche  sich  finden  sollte,  bei  denen  Prismen  und 
Linsen  miteinander  vereinigt  werden.  Goethe  ver- 
weist oftmals  auf  diese  Arbeit,  hat  sie  aber  niemals 
veröffentlicht.  Ferner  sollte  im  supplementären  Teil 
der  zu  den  optischen  Versuchen  nötige  Apparat  ein- 
gehend geschildert  werden  und  auch  ein  Aufsatz 
über  den  Regenbogen  folgen.  Statt  dessen  bringt 
Goethe  am  Schluß  seiner  Farbenlehre  „statt  des 
versprochenen  supplementären  Teils"  nur  einige 
Aufsätze  Seebecks  über  die  Wirkung  farbiger  Be- 
leuchtung. Der  erste  derselben  knüpft  an  eine  ältere 
Entdeckung  Goethes  an.  Dieser  hatte  schon  im 
Jahre  1792  Untersuchungen  über  das  Verhalten  des 
bononischen  Leuchtsteins  (Schwefelbaryum),  eines 
phosphoreszierenden  Minerals,  das  nach  vorheriger 
Belichtung  im  Dunkeln  weiter  leuchtet,  angestellt 
und  gefunden,  daß  nur  die  blauen  und  violetten, 
nicht  dagegen  die  gelben  und  roten  Strahlen  des 
Sonnenspektrums  die  Phosphoreszenz  hervorzurufen 
imstande  sind.  Diese  Entdeckung  ist  also  nicht, 
wie  in  einer  neuern  Arbeit  zn  lesen  steht,  1849 
von  Becquerel,  sondern  57  Jahre  früher  von  Goethe 
gemacht  worden.  Seebecks  Artikel  befaßt  sich  mit 
der  Wirkung  des  Lichtes  auf  Leuchtsteine,  auf 
Schwärzung  des  Chlorsilbers  und  auf  das  Wachs- 
tum der  Pflanzen. 

Es  bleibt  uns  nun  noch  übrig,  ganz  kurz  auf 
den    dritten   Hauptteil  von  Goethes  Farbensystem 


Die  Farbenlehre  II.  —  Physikalische  Optik.        245 

einzugehen,  auf  die  Lehre  von  den  chemischen 
Farben,  den  Körperfarben.  Auch  hier  versucht 
Goethe  das  Prinzip  der  trüben  Medien  zur  Erklärung 
heranzuziehen.  Ein  Körper,  der  gar  kein  Licht 
zurückwirft,  erscheint  schwarz;  ein  Körper,  dessen 
Oberfläche  „die  vollendete  Trübe"  besitzt,  erscheint 
weiß;  die  Farben  entstehen  dadurch,  daß  nach 
Goethes  Ansicht  die  Oberflächenschicht  gefärbter 
Körper  durchsichtig  ist  und  wie  ein  trübes  Mittel 
wirkt.  Das  Licht  dringt  also  eine  kleine  Strecke  in 
den  Körper  ein  und  wird  erst  dann  reflektiert.  Wenn 
die  Oberflächenschicht  eines  weißen  Körpers  leicht 
getrübt  ist,  so  ergibt  sich  ein  trübes  Mittel  vor 
weißem  Hintergrunde,  und  die  Farbe  des  Körpers 
wird  gelb;  nimmt  die  Trübung  zu,  so  steigert  sich 
das  Gelb  zu  Orange  und  Rot.  Trübt  sich  dagegen 
die  Oberflächenschicht  eines  schwarzen  Körpers,  so 
erblicken  wir  ein  trübes  Medium  vor  dunklem 
Hintergrunde,  und  der  Körper  erscheint  blau;  ist 
die  Trübung  eine  besonders  zarte,  so  entsteht 
Violett.  Durch  Mischung  der  gelben  und  der  blauen 
Farbe  ergeben  sich  dann  grüne,  durch  Mischung 
der  roten  und  der  violetten  Farbe  purpurgefärbte 
Körper.  So  gelingt  es  Goethe  in  der  Tat  durch 
konsequente  Anwendung  der  Lehre  vom  Trüben 
eine  anschauliche  Hypothese  über  das  Auftreten  der 
Körperfarbe  zu  gewinnen. 

Goethe   sucht   in  diesem  Abschnitt  noch  eine 


246  Achte  Vorlesung. 

zweite  Aufgabe  zu  lösen,  nämlich  die  Frage  zu  be- 
antworten, wie  die  Farbe  chemischer  Körper  von 
ihrer  chemischen  Zusammensetzung  abhängt.  Das 
Problem  selbst  ist  ein  altes;  schon  Paracelsus  hatte 
die  Farbe  der  Körper  auf  ihren  mehr  oder  minder 
großen  Gehalt  an  Schwefel  zurückgeführt.  Es  be- 
schäftigt aber  die  Chemiker  noch  bis  auf  den 
heutigen  Tag,  und  erst  die  Anfänge  zu  einer  Lösung 
sind  getan.  Nur  auf  dem  Gebiete  der  Teerfarb- 
stoffe ist  es  bisher  gelungen,  zu  bestimmten  Ge- 
setzmäßigkeiten zu  gelangen.  Entsprechend  der 
damaligen  Entwicklung  der  Chemie  ist  nun  auch 
Goethes  Ableitung  der  Farben  von  der  chemischen 
Zusammensetzung  noch  durchaus  unvollkommen. 
Er  sucht  allerdings  die  Farben  der  „Metallkalke", 
d.  h.  der  Oxyde,  von  dem  Grade  ihrer  „Oxydation 
und  Desoxydation"  abzuleiten.  Ziemlich  vollständig 
hat  er  die  Farben  der  Pflanzen extrakte  und  ihren 
Farbenwechsel  in  saurer  und  alkalischer  Lösung, 
die  sogenannten  Indikatoren,  untersucht,  worüber 
besonders  seine  Versuchsprotokolle  Aufschluß  geben. 
Ist  ihm  die  Lösung  der  chemischen  Aufgabe  auch 
keineswegs  gelungen,  so  ist  es  doch  wichtig  zu 
sehen,  daß  Goethe  sich  mit  diesem  Problem  über- 
haupt genauer  beschäftigt  hat.  Es  finden  sich  in 
diesem  Abschnitt  ferner  Ausführungen  über  Färberei 
und  über  die  Methoden,  Körper  zu  entfärben  (Bleich- 
kunst), wobei  Goethe  in  interessanter  Weise  das 


Die  Farbenlehre  II.  —  Physikalische  Optik.         247 

Zustandekommen  der  Bleichung  erörtert  und  Ex- 
perimente zur  Erklärung  vorschlägt.  Dann  wird 
noch  das  Vorkommen  der  Farben  in  der  Natur  bei 
Pflanzen,  Würmern,  Insekten,  Fischen,  Vögeln  und 
Säugetieren  geschildert.  Diese  wenigen  Bemerkungen 
mögen  genügen,  um  über  den  Inhalt  des  an  Tat- 
sachen reichen  Kapitels  von  den  chemischen  Farben 
zu  orientieren. 

Es  folgen  nun  noch  Auseinandersetzungen  über 
allgemeine  Eigenschaften  der  Farben,  und  Goethe 
versucht  dann  weiter  das  Gebiet  der  Farbenlehre 
gegen  die  Grenzgebiete  Philosophie,  Mathematik, 
Physiologie,  Naturgeschichte,  allgemeine  Physik  und 
Tonlehre  abzugrenzen.  Dabei  kommt  manches  zur 
Sprache,  was  im  Vorhergehenden  schon  berück- 
sichtigt wurde,  manches,  auf  das  wir  in  allge- 
meinem Zusammenhange  noch  zu  sprechen  kommen 
werden. 

Das  ist  der  Inhalt  des  didaktischen  Teils,  der 
das  gesamte  zu  Goethes  Zeiten  vorhandene  Tat- 
sachenmaterial nach  einheitlichen  Gesichtspunkten 
geordnet  und  zusammengefaßt  enthält.  Von  dem 
polemischen  Teil,  der  hierauf  folgt,  war  schon 
weiter  oben  die  Rede,  und  wir  müssen  dem- 
nach nur  noch  des  letzten  Teiles  gedenken,  der 
„Materialien  zur  Geschichte  der  Farbenlehre".  Ma- 
terialien deshalb,  weil  Goethe  ursprünglich  beab- 
sichtigte, den  gesamten  historischen  Stoff,  den  er 


248  Achte  Vorlesung. 

durch  emsige  Studien,  besonders  1801  auf  der  Göt- 
tinger Bibliotheic,  gesammelt  hatte,  zu  einer  einheit- 
lichen Darstellung  zu  verschmelzen.  Als  er  aber 
in  den  Jahren  1807—1810  endlich  mit  seinen  opti- 
schen Studien  zum  Abschluß  kommen  wollte,  unter- 
blieb diese  letzte  Überarbeitung  und  er  faßte  alles, 
was  er  zu  sagen  hatte,  in  einer  Reihe  von  Einzel- 
darstellungen zusammen,  aus  denen  sich  jetzt  dieses 
Werk  zusammensetzt.  Trotz  oder  vielleicht  gerade 
wegen  dieser  lockeren  Form  der  Darstellung  besitzt 
der  historische  Teil  einen  ganz  besonderen  Zauber 
und  ist  von  jeher  als  eines  von  Goethes  Meister- 
werken angesehen  worden.  Er  unternimmt  es 
nämlich,  die  Geschichte  der  Farbenlehre  von  den 
ältesten  Uranfängen  bis  auf  seine  Zeit  als  ein  Sym- 
bol für  die  Geschichte  aller  Wissenschaften  über- 
haupt darzustellen.  Diese  Aufgabe  gelingt  ihm  auf 
folgende  Weise.  Er  läßt  die  Erkenntnis  vom  Wesen 
der  Farben,  deren  historische  Entwicklung  er  gibt, 
vor  unsern  Augen  entstehen  auf  dem  großen  und 
allgemeinen  Hintergrunde  einer  Geschichte  der  ge- 
samten Naturwissenschaften.  Aber  auch  hiermit 
nicht  genug  zeichnet  er  wieder  die  Naturwissen- 
schaften auf  dem  breiteren  Hintergrunde  einer  Ent- 
wicklungsgeschichte des  menschlichen  Geistes.  Zu 
diesem  Zwecke  unterbricht  Goethe  oftmals  die  Dar- 
stellungen von  den  Leistungen  einzelner  Natur- 
forscher   durch    allgemeinere    Betrachtungen    über 


Die  Farbenlehre  II.  —  Physikalische  Optik.        249 

Naturwissenschaft,  über  Philosophie,  Malerei  und 
vieles  andere.  Besonders  setzt  er  den  jeweiligen 
Stand  der  Farbenlehre  immer  in  Bezug  zu  den  Fort- 
schritten der  Technik  auf  der  einen  und  zu  denen 
der  Philosophie  auf  der  andern  Seite.  So  gelingt 
es  ihm  bei  der  historischen  Entwicklung  einer 
Einzeldisziplin  die  allgemeinsten  Gesichtspunkte 
darzulegen,  und  deshalb  ist  die  Lektüre  dieses 
SpezialWerkes  ein  so  besonderer  Genuß.  Überall 
findet  man  eingestreute  Perlen,  Betrachtungen  von 
höchstem  allgemeinen  Werte. 

Die  Geschichte  der  Farbenlehre  zerfällt  in  zwei 
Teile.  Der  erste  geht  vom  Altertum  bis  zum  Ende 
des  17.  Jahrhunderts,  der  zweite  von  Newton  bis 
auf  Goethes  Zeit.  Der  erste  Teil  ist  es  besonders, 
der  die  allgemeinen  Betrachtungen  enthält.  Zuerst 
wird  die  geistige  Eigentümlichkeit  des  Altertums 
geschildert  und  dabei  Theophrasts  Buch  von  den 
Farben  in  Übersetzung  eingeschaltet.  Auch  eine 
hypothetische  Geschichte  des  Kolorits  bei  den  Alten 
aus  der  Feder  Heinrich  Meyers  ist  mit  aufgenommen. 
Schließlich  wird  das  Wesen  des  Altertums  zusammen- 
gefaßt und  die  drei  großen  Stämme  der  Überliefe- 
rung, die  von  hier  aus  in  das  Mittelalter  hinüber- 
reichen, die  Bibel,  Plato  und  Aristoteles,  in  wunder- 
baren Sätzen  charakterisiert.  Die  Frühzeit  des 
Mittelalters  ließ  die  Naturforschung  brach  liegen. 
Goethe  füllt  diese  „Lücke"  wieder  durch  Betrach- 


250  Achte  Vorlesung. 

tungen  allgemeinen  Inhaltes  und  stellt  an  den  Be- 
ginn der  neuen  Entwicklung  die  Persönlichkeit  jenes 
englischen  Mönches  Roger  Bacon,  der  die  Natur- 
wissenschaft auf  mathematische  Grundlage  zu  setzen 
unternahm.  Dann  wird  die  Entwicklung  der  Natur- 
forschung im  Mittelalter  geschildert  und  an  die 
Grenze  gegen  die  neue  Zeit  der  andere  Bacon  von 
Verulam  gesetzt,  der  im  Gegensatz  zu  aller  Scholastik 
die  Naturforschung  ganz  allein  auf  den  Boden  ein- 
fachster Empirie  beschränkt  sehen  wollte.  Daran 
schließt  sich  dann  die  Darstellung  des  17.  Jahr- 
hunderts, beginnend  mit  Galilei  und  Keppler,  in 
welchem  die  Farbenlehre  die  wichtigsten  Fortschritte 
zu  verzeichnen  hat.  Den  Schluß  bildet  eine  „Ge- 
schichte des  Colorits  seit  Wiederherstellung  der 
Kunst"  von  Heinrich  Meyer,  in  welcher  die  Ent- 
wicklung der  Malerei  nach  der  von  Goethe  auf- 
gestellten Farbenästhetik  geschildert  wird. 

Der  zweite  Teil  beschäftigt  sich  mit  der  Ent- 
stehung und  der  Fortentwicklung  von  Newtons  Lehre. 
Zunächst  wird  die  Gründung  der  Royal  Society 
und  damit  das  Milieu  geschildert,  in  dem  Newton 
seine  Entdeckungen  vortrug,  dann  gibt  Goethe  eine 
wDrdlge  Charakteristik  von  der  Persönlichkeit  seines 
großen  Gegners,  den  er  im  polemischen  Teil  so  heftig 
angegriffen  hatte,  und  beschreibt  dann  in  allen  Einzel- 
heiten das  Bekanntwerden,  den  Siegeszug  und  die 
ersten  Kämpfe  der  Newtonschen  Theorie.     Dabei 


Die  Farbenlehre  II.  —  Physikalische  Optik.        251 

verzeichnet  er  natürlich  besonders  genau  alle'Ein- 
wendungen,  die  schon  von  der  frühesten  Zeit  an 
gegen  diese  Lehre  gemacht  wurden,  und  stellt  auch 
deshalb  die  Entdeckung  der  achromatischen  Fern- 
rohre durch  Dollond  in  den  Mittelpunkt  seiner  Dar- 
stellung, da  hierdurch  die  Ansicht  Newtons,"  daß 
Farbenzerstreuung  und  -brechung  dasselbe  sei,  wider- 
legt wird.  Goethe  nahm,  wie  wir  wissen,  an,  daß 
durch  Dollonds  Befund  die  Newtonsche  Optik  über- 
haupt gestürzt  sei,  und  er  setzt  nun  auseinander, 
wie  die  Zunftgelehrten  diese  vermeintliche  Irrlehre 
immer  nur  weiter  wiederholten  und  befestigten, 
während  ihre  Gegner  nicht  beachtet  und  totge- 
schwiegen wurden.  Das  Ende  des  historischen 
Teiles  bildet  die  „Confession  des  Verfassers",  in 
der  Goethe  die  Entstehung  seiner  eigenen  optischen 
Studien  erzählt. 

Während  er  im  didaktischen  Teil  die  Phänomene 
und  Experimente  einfach  so  schildert,  wie  er  sie 
selbst  angestellt  hat,  ist  im  historischen  Teil  die 
Entdeckungsgeschichte  jeder  einzelnen  Tatsache  der 
Farbenlehre  verzeichnet.  Goethe  wird  hier  also 
allen  seinen  Vorgängern  gerecht.  Um  so  klarer  aber 
sieht  man,  wie  selbständig  er  bei  der  wissenschaft- 
lichen Durcharbeitung  des  gesamten  Materials  vor- 
gegangen ist. 

Am  Schluß  der  Betrachtung  von  Goethes  opti- 
schem Gesamtwerk  müssen  wir  uns  noch  einmal 


252  Achte  Vorlesung. 

die  Frage  vorlegen,  wie  es  denn  möglich  gewesen 
ist,  daß  er  in  so  unüberbrückbaren  Gegensatz  zu 
Newton  kommen  konnte.  Wir  haben  die  einzelnen 
Argumente,  die  er  gegen  ihn  vorbringt,  der  Reihe 
nach  gewürdigt  Der  wahre  Grund  aber  für  seine 
Stellungnahme  liegt  tiefer.  Goethe  hat  nicht  umsonst 
die  physiologischen  Farben  an  die  Spitze  seiner  Lehre 
gestellt.  Er  ging  bei  der  Betrachtung  des  ganzen 
Farbenwesens  durchaus  von  subjektiven  Gesichts- 
punkten aus.  Da  es  für  ihn  ohne  weiteres  evi- 
dent war,  daß  Weiß  eine  einheitliche  Emp- 
findung ist,  so  hielt  er  es  auch  für  absurd, 
daß  das  objektive  weiße  Licht  aus  farbigen 
Lichtstrahlen  gemischt  sein  sollte.  Ich  bitte 
Sie,  sich  ins  Gedächtnis  zurückzurufen,  was  wir  in 
unserer  sinnesphysiologischen  Betrachtung  ausein- 
andergesetzt haben:  die  scharfe  Scheidung,  welche 
zwischen  den  Empfindungen  auf  der  einen  und  den 
diese  Empfindungen  auslösenden  objektiven  Vor- 
gängen der  Außenwelt  auf  der  andern  Seite  besteht 
Goethe  war  sich,  wie  wir  wissen,  über  diesen  Gegen- 
satz noch  nicht  im  Klaren  und  schloß  deshalb  als 
naiver  Sinnesmensch  von  der  Einheitlichkeit  der 
Weißempfindung  auf  die  Einheitlichkeit  des  weißen 
Lichtes,  während  der  Physiker  Newton  sich  um  die 
Empfindungen  überhaupt  nicht  gekümmert  und  nur 
die  Vorgänge  der  Außenwelt  studiert  hatte.  So  kam 
Ooethe  zu  seiner  Stellungnahme  in  der  Farbenlehre 


Die  Farbenlehre  II.  —  Physikalische  Optik.        253 

dadurch,  daß  er  von  einer  ganz  neuen  Seite  das 
Problem  anpackte,  und  daß  er,  durch  seine  Erfolge 
auf  physiologischem  Gebiete  verleitet,  die  physika- 
lischen Fragen  von  demselben  Standpunkte  aus 
lösen  wollte. 

Es  bleibt  nur  noch  kurz  zu  schildern,  wie  sich 
die  Farbenlehre  nach  Goethe  und  im  Anschluß  an 
ihn  weiter  entwickelt  hat.  Von  Seiten  der  Physiker 
wurde  er,  wie  wir  wissen,  gleich  von  Anfang  an 
aufs  heftigste  bekämpft.  Wirklich  rückhaltlose  An- 
hänger hatte  er  wohl  überhaupt  nur  zwei.  Der  eine 
war  der  Staatsrat  Schultz,  ein  merkwürdiger  Mann, 
der  schon  im  Jahre  1806  sich  mit  der  Fabrikation 
von  Flintglas  beschäftigte,  1812  einen  Aufsatz  „über 
die  farbigen  Ränder  und  die  verkleinerten  Bilder 
nach  Goethe*  schrieb,  1814  seinen  Briefwechsel  mit 
Goethe  begann,  der  bis  zu  dessen  Tode  fortgeführt 
wurde,  und  1816  eine  Arbeit  „über  physiologe  Ge- 
sichts- und  Farbenerscheinungen**  in  Schweiggers 
Journal  erscheinen  ließ.  Derselbe  Mann  war  es  aber 
auch,  der  1820  die  Karlsbader  Beschlüsse  an  der 
Berliner  Universität  durchführte  und  ein  Hauptver- 
folger der  deutschen  Burschenschaften  gewesen  ist. 
Später  fiel  er  in  Ungnade.  Er  hat  sich  auch  noch 
mit  geographischen  Fragen  beschäftigt  und  war  einer 
der  ersten,  der  die  alten  römischen  Kastelle  auf 
deutschem  Boden  studierte.  Außer  Schultz  kann 
eigentlich    nur    noch    der   junge    Berliner   Dozent 


254  Achte  Vorlesung. 

V.  Henning,  ein  Schüler  Hegels,  als  treuer  Anhänger 
gerechnet  werden.  Er  las  vom  Jahre  1822  ab  über 
Goethes  Farbenlehre  und  zeigte  die  dazu  gehörigen 
Experimente  seinen  Hörern. 

Wir  haben  gesehen,  daß  Goethe  von  der  physio- 
logischen Seite  her  die  Farbenlehre  in  Angriff  ge- 
nommen, aber  die  scharfe  Scheidung  zwischen  Sinnes- 
empfindungen und  äußeren  Reizen  nicht  gemacht  hatte. 
Während  er  selbst  über  diese  Frage  noch  im  Finstern 
irrte,  war  im  Norden  Deutschlands  schon  das  Licht 
aufgegangen,  das  dieses  Dunkel  erhellen  sollte.  Kant 
hat  in  seiner  Kritik  der  reinen  Vernunft  für  immer  die 
Gesichtspunkte  festgelegt,  nach  denen  wir  unser  Ver- 
hältnis zur  Außenwelt  zu  beurteilen  haben.  Goethe 
hatte  Kants  Schriften  gelesen  und  war  durch  Schiller 
nachdrücklichst  auf  ihren  Inhalt  hingewiesen  worden. 
Aber  er  war  von  Jugend  auf  in  spinozistischen  Bahnen 
zu  denken  gewohnt  und  hat  die  Kantsche  Vorstellungs- 
art nicht  mehr  so  in  sich  aufgenommen,  daß  er  sie 
für  die  wissenschaftlichen  Grundfragen  anwendete. 
Dagegen  beruhen  die  Fortschritte,  welche  die  Sinnes- 
physiologie noch  zu  Goethes  Zeiten  über  ihn  hinaus 
machte,  auf  einer  folgerichtigen  Anwendung  der 
Kantschen  Lehre.  Den  ersten  Schritt  auf  dieser  Bahn 
tat  Arthur  Schopenhauer.  Goethe  lernte  den  jungen 
Philosophen  1813  im  Hause  von  dessen  Mutter  in 
Weimar  kennen  und  gewann  solches  Interesse  an 
ihm,  daß  er  ihm  seine  optischen  Versuche  und  Appa- 


Die  Farbenlehre  II.  —  Physikalische  Optik.        255 

rate  demonstrierte.  Diese  Unterweisung  fiel  auf  frucht- 
baren Boden.  Schopenhauer  setzte  die  Beschäftigung 
mit  der  Farbenlehre  fort  und  sandte  schon  1815  das 
Manuskript  seines  Aufsatzes  „über  das  Sehen  und 
die  Farben"  an  Goethe.  Dieser  las  die  Arbeit,  war 
aber  keineswegs  mit  ihr  einverstanden,  und  es  be- 
durfte mehrerer  brieflicher  Mahnungen,  bis  Schopen- 
hauer nach  Monaten  seine  Schrift  zurückerhielt, 
welche  1816  im  Druck  erschien.  In  diesem  Aufsatz 
zeigt  Schopenhauer  zunächst,  daß  man  im  Gegensatz 
zu  Goethes  Angabe  durch  Vermischung  spektraler 
Lichter  tatsächlich  weißes  Licht  erhalten  kann,  eine. 
Abweichung,  die  Goethe  seinem  Schüler  nie  ver- 
ziehen hat.  Weiter  aber  ist  Schopenhauer  der  erste, 
der  als  bewußter  Schüler  Kants  die  scharfe  Schei- 
dung zwischen  Sinnesempfindung  und  Sinnesreizen 
macht.  Er  teilt  nicht  mehr  die  Farben  wie  Goethe 
in  physiologische,  physische  und  chemische,  sondern 
erklärt  ohne  weiteres  alle  Farben  als  unsere  Emp- 
findungen, hervorgerufen  durch  Affektion  unseres 
Auges.  Solche  Farbenempfindungen  können  ohne 
äußere  Reize  entstehen  (physiologische)  oder  durch 
Vorgänge  in  der  Außenwelt,  durch  Lichtstrahlen 
erzeugt  sein  (physische  und  chemische  Farben).  Da- 
durch war  das  physiologische  Gebiet  scharf  von 
dem  physischen  gesondert. 

Den  nächsten  großen  Fortschritt  der  Sinnesphysio- 
logie hat  Goethe  ebenfalls  noch  erlebt.    1826  ver- 


256  Achte  Vorlesung. 

öffentlichte  Johannes  Müller  in  Bonn  sein  Buch  „zur 
vergleichenden  Physiologie  des  Gesichtsinnes  des 
Menschen  und  der  Tiere",  in  welchem  das  Ge- 
setz von  der  spezifischen  Sinnesenergie  aufgestellt 
wurde.  Johannes  Müller  zeigte,  daß  die  Art  unserer 
Sinnesempfindungen  überhaupt  nicht  abhängt  von 
der  Art  der  äußeren  Reize,  sondern  nur  von  der 
Art  des  Sinnesorgans  oder  Sinnesnerven,  der  er- 
regt wird.  Auch  hierbei  handelt  es  sich  um  eine 
Anwendung  Kantscher  Ideen  auf  physiologische 
Probleme. 

Diese  beiden  großen  Fortschritte  knüpfen  nun 
unmittelbar  an  Goethes  Optik  an;  Schopenhauer  war, 
wie  gesagt,  Goethes  direkter  Schüler,  Johannes  Müller 
bekennt  selbst,  daß  „ohne  mehrjährige  Studien  der 
Ooetheschen  Farbenlehre  in  Verbindung  mit  der  An- 
schauung der  Phänomene  selbst  seine  Untersuchungen 
wohl  nicht  entstanden  wären".  Es  ist  aber  notwendig, 
festzustellen,  daß  Goethe  selbst  die  große  Bedeutung 
dieser  beiden  Arbeiten  nicht  erkannt  hat  Für  ihn 
war  das  System  seiner  Farbenlehre  so  abgeschlossen, 
daß  er  nicht  mehr  imstande  war,  umzudenken.  Da- 
bei ist  allerdings  zu  berücksichtigen,  daß  er  zur  Zeit 
der  Schopenhauerschen  Arbeit  66,  des  Johannes 
Müllerschen  Buches  schon  77  Jahre  alt  war,  und 
daß  es  eine  bekannte  Tatsache  ist,  daß  es  in  natur- 
wtottnschaftlichen  Fragen  den  meisten  Forschem 
schwer  fällt,  von  einem  gewissen  Alter  an  neue 


Die  Farbenlehre  II.  —  Physikalische  Optik.         257 

Ideen  aufzunehmen.  Auf  Schopenhauer  beziehen  sich 

die  Verse: 

„Trüge  gern  noch  länger  des  Lehrers  Bürden, 
Wenn  Schüler  nur  nicht  gleich  Lehrer  würden." 

Und  ferner: 

„Dein  Gutgedachtes,  in  fremden  Adern, 
Wird  sogleich  mit  dir  selber  hadern." 

Dem  Philosophen  selber  schrieb  er:  „Komm'  ich 
aber  an  das,  wo  Sie  von  mir  differiren,  so  fühle 
ich  nur  allzu  sehr,  daß  ich  jenen  Gegenständen  der- 
gestalt entfremdet  bin  und  daß  es  mir  schwer  ja 
unmöglich  fällt,  einen  Widerspruch  in  mich  aufzu- 
nehmen, denselben  zu  lösen,  oder  mich  ihm  zu  be- 
quemen. Ich  darf  daher  an  diese  strittigen  Punkte 
nicht  rühren";  und  in  seinem  Dankschreiben  an  Jo- 
hannes Müller  für  Übersendung  seines  Buches  sagt 
er:  „Freilich  ist  die  Region,  in  der  w  uns  umtun, 
so  weit  und  breit,  daß  von  einem  gemeinsamen 
Wege  die  Rede  nicht  sein  kann;  und  gerade  die, 
welche  vom  Zentrum  nach  der  Peripherie  gehen, 
können,  obgleich  nach  einem  Ziele  strebend,  un- 
möglich parallelen  Schritt  halten."  —  Dagegen  hat 
Goethe  an  dem  Werke  eines  andern  Physiologen, 
das  sich  ebenfalls  an  seine  Farbenlehre  anschloß, 
an  Purkinjes  „Beiträgen  zur  Kenntnis  des  Sehens  in 
subjektiver  Hinsicht"  eine  uneingeschränkte  Freude 
gehabt.  Das  erste  Heft  wird  von  ihm  mit  größtem 
Lobe  recensiert,  das  zweite  ist  ihm  gewidmet.   Hier 

Magnus,  Goethe  als  Naturforscher.  17 


258  Achte  Vorlesung. 

entwickelt  Purkinje  auf  Grund  sehr  zahlreicher  und 
subtiler  Versuche,  die  zum  Teil  Goethes  Experimente 
direkt  weiterführen,  die  Lehre  von  den  subjektiven 
Licht-  und  Farbenerscheinungen.  Die  Phänomene 
werden  klar  und  einfach  geschildert  und  Goethe 
erkannte  diese  Darstellungsart  rückhaltlos  an.  So 
sehen  wir  die  drei  größten  Sinnesphysiologen  der 
Zeit  unmittelbar  an  Goethes  Werk  anknüpfen.  Die 
physiologische  Optik  des  19.  Jahrhunderts  geht  in 
ihren  Wurzeln  direkt  auf  seine  Farbenlehre  zu- 
rück. In  der  Mitte  des  Jahrhunderts  hat  dann 
Helmholtz  in  seinem  klassischen  Handbuch  der 
physiologischen  Optik  das  gesamte  Wissen  der  Zeit, 
das  von  ihm  selbst  in  Vielem  erweitert  war,  zu- 
sammenfassend dargestellt.  Erst  Helmholtz  war  es, 
der  viele  der  Punkte,  in  denen  Goethe  von  Newton 
abwich,  klar  gestellt  hat;  er  klärte  die  Mischungs- 
gesetze von  Blau  und  Gelb  auf,  er  erzielte  zuerst 
wirklich  reine  spektrale  Lichter,  die  durch  weitere 
Brechung  nicht  verändert  werden  können.  Durch 
Helmholtz  sind  also  Goethes  Irrtümer  auf  physika- 
lisch-optischem Gebiete  als  endgültig  widerlegt  an- 
zusehen. Dagegen  lebt  der  alte  Gegensatz  zwischen 
der  Goetheschen  und  derNewtonschen  Betrachtungs- 
weise bis  auf  den  heutigen  Tag  auf  dem  Gebiete  der 
physiologischen  Optik  unvermittelt  fort.  Ebenso 
wie  Goethe  die  Farbenlehre  von  der  Seite  der  Emp- 
findung und  Newton  von  der  Seite  der  objektiven  Reize 


Die  Farbenlehre  IL  —  Physikalische  Optik.        259 

aus  anfaßte,  so  wird  auch  jetzt  noch  die  physio- 
logische Optik  durch  die  Schüler  von  Hering  und 
die  von  Helmholtz-v.  Kries  in  verschiedener  Weise 
bearbeitet.  Hering  geht  ebenso  wie  Goethe  von  der 
Betrachtung  unserer  Empfindungen  aus,  die  er  als 
Schwarz -Weiß-,  Rot- Grün-,  Blau-Gelbempfindung 
beschreibt,  v.  Kries  dagegen  lehrt,  daß  man  über 
die  Farbenempfindung  irgend  einer  Versuchsperson 
gar  nichts  wissenschaftlich  Sicheres  aussagen  kann, 
daß  diese  uns  vielmehr  nur  angeben  kann,  wann 
ihr  zwei  Farben  völlig  gleich  erscheinen.  Mit  Hilfe 
solcher  „Farbengleichungen"  untersucht  v.  Kries  den 
Farbensinn  normalsichtiger  Menschen  und  findet, 
daß  alle  überhaupt  möglichen  Farbenempfindungen 
sich  durch  Mischung  von  drei  einfachen  spektralen 
Lichtern  hervorrufen  lassen.  Es  führt  also  die  Ana- 
lyse der  Empfindungen  auf  die  Annahme  von 
vier  Grundfarben  (außer  Schwarz  und  Weiß),  die 
Analyse  der  objektiven  Reize  dagegen  auf  die 
Tatsache,  daß  durch  Kombination  dreier  Reizarten 
alle  verschiedenen  Farbenempfindungen  ausgelöst 
werden  können.  Diese  beiden  Ergebnisse  stehen 
sich  völlig  unvermittelt  gegenüber.  Warum  durch 
drei  Reizarten  vier  verschiedene  Farbenempfin- 
dungen hervorgerufen  werden,  ist  bis  heute  völlig 
dunkel.  Der  Gegensatz  zwischen  den  beiden  Be- 
trachtungsarten Goethes  und  Newtons  besteht  un- 
überbrückt  weiter.  ^ 

17  • 


260  Achte  Vorlesung. 

Wir  sehen  aus  dieser  Darstellung,  daß  Goethes 
Farbenlehre  in  ihrem  physiologischen  Teile  ein 
grundlegendes  Werk  ist,  daß  die  physiologische 
Optik  in  unmittelbarem  Anschluß  an  sie  sich  fort- 
entwickelt hat,  und  daß  die  Goethesche  Lehre  und 
Anschauungsweise  von  der  einen  der  heute  herrschen- 
den physiologisch-optischen  Schulen  im  wesentlichen 
auch  jetzt  noch  vertreten  wird.  So  hat  Goethe  recht 
behalten,  wenn  er  von  seiner  Farbenlehre  sagte: 
„Mir  aber  können  sie  nichts  zerstören,  denn  ich  habe 
nicht  gebaut;  aber  gesäet  habe  ich  und  so  weit  in 
die  Welt  hinaus,  daß  sie  die  Saat  nicht  verderben 
können,  und  wenn  sie  noch  so  viel  Unkraut  unter 
den  Weizen  säen." 


Neunte  Vorlesung. 
Mineralogie,  Geologie,  Meteorologie. 

Meine  Herren!  „Ich  fürchte  den  Vorwurf  nicht, 
daß  es  ein  Geist  des  Widerspruchs  sein  müsse,  der 
mich  von  Betrachtung  und  Schilderung  des  mensch- 
lichen Herzens,  des  jüngsten,  mannigfaltigsten,  beweg- 
lichsten, veränderlichsten,  erschütterlichsten  Theiles 
der  Schöpfung  zu  der  Beobachtung  des  ältesten, 
festesten,  tiefsten,  unerschütterlichsten  Sohnes  der 
Natur  geführt  hat."  So  schreibt  Goethe  im  Jahre 
1784  bei  seinen  Studien  über  den  Granit  und  wir 
finden  den  Dichter  mehr  als  50  Jahre  hindurch  mit 
dem  eifrigsten  Studium  der  Erdrinde,  ihres  Aufbaus 
und  ihrer  Entstehung  beschäftigt.  Es  würde  den 
Rahmen  dieser  Vorträge  überschreiten,  wenn  wir 
ihm  auch  auf  diesem  Gebiete  in  alle  Einzelheiten 
der  fachwissenschaftlichen  Forschung  folgen  wollten. 
Es  soll  hier  nur  ein  allgemeiner  Überblick  über 
seine  Untersuchungen  und  seine  Ansichten  gegeben 
werden.  ^)    Wie  wir  schon  wissen,  ist  Goethe  aus 


*)  Eine  eingehendere  Darstellung  und  Würdigung  dieses 
Zweiges  von  Goethes  Tätigkeit  findet  sich  in  der  diesjährigen 
lenaer  Prorektoratsrede  des  dortigen  Mineralogen  G.  Linck: 


262  Neunte  Vorlesung. 

praktischen  Gründen  zur  Beschäftigung  mit  der 
Mineralogie  veranlaßt  worden.  Es  handelte  sich 
seit  1776  um  die  Wiederbelebung  des  seit  langem 
daniederliegenden  Ilmenauer  Bergbaues,  die  Goethe 
als  leitender  Minister  1777  in  die  Hand  nahm.  Er 
fand  aber  in  Thüringen  bereits  den  Boden  für  geo- 
logische Studien  geebnet,  denn  durch  die  Nähe  der 
Freiberger  Bergakademie  und  besonders  durch  das 
Wirken  des  berühmtesten  Geologen  seiner  Zeit, 
Werners,  war  das  Interesse  ein  reges  geworden. 
Der  Ilmenauer  Bergbau  war  ein  Flötzbergbau,  und 
es  erwuchs  dadurch  die  Aufgabe,  bei  der  berg- 
männischen Gewinnung  der  Erze  immer  ganz  be- 
stimmte Schichten  und  Plötze  wieder  zu  erkennen. 
Dabei  wurde  Goethe  auf  die  große  Regelmäßigkeit, 
mit  der  die  Schichten  der  Erdrinde  gerade  in  Thü- 
ringen angeordnet  sind,  aufmerksam  gemacht,  und 
es  wurde  das  für  ihn  eine  wichtige  Stütze  der 
Wernerschen  Lehre,  der  als  ein  Neptunist  die  Ent- 
stehung der  Erdrinde  auf  das  Wirken  des  Wassers 
zurückführte. 

Schon  in  dieser  ersten  Zeit  hatte  Goethe  Ge- 
legenheit, auch  in  anderm  Sinne  sich  praktisch  zu 
betätigen.    Auf  seine  Veranlassung  wurde  1779  vom 


Ooethet  Verhiltnis  zur  Mineralogie  und  Oeognosle  (Jena  1906, 
Oustav  Fischer).  Auf  diese  Schrift  sei  hier  besonders  hin- 
gewtefco.  Sie  liegt  auch  der  nachstehenden  Darstellung  teil- 
wtiM  sugrunde. 


Mineralogie,  Geologie,  Meteorologie.  263 

Herzog  das  Walchsche  Naturalienkabinet  mit  einer 
großen  Sammlung  von  Mineralien  erworben  und 
unter  der  Leitung  von  Lenz,  der  nachmals  der  erste 
Professor  der  Mineralogie  in  Jena  wurde,  im  dor- 
tigen Schlosse  aufgestellt.  Sie  wurde  nach  Werners 
System  geordnet  und  gab  den  Grundstock  für  das 
später  so  berühmte  mineralogische  Museum.  Um 
aber  auch  für  das  Bergwesen  einen  geeigneten 
Fachmann  zu  gewinnen,  veranlaßte  Goethe,  daß 
der  Herzog  den  später  berühmten  J.  C.  W.  Voigt 
auf  die  Bergakademie  zum  Studium  schickte  und 
arbeitete  1780  für  diesen  eine  genaue  Instruktion 
zu  einer  geologischen  Reise  durch  das  Herzog- 
tum aus. 

Goethes  geologische  Anschauungen,  die  in  Thü- 
ringen wurzelten,  erweiterten  sich  auf  zahlreichen 
Reisen  um  ein  Beträchtliches.  Schon  auf  der  ersten 
und  zweiten  Harzreise  hatte  er  geologische  Beobach- 
tungen gemacht  und  die  Bergwerke  von  Goslar  und 
Klausthal  besucht.  Die  dritte  Reise,  die  er  im 
August  und  September  1784  mit  dem  Zeichner 
Kraus  unternahm,  war  ganz  mit  diesen  Studien  ausge- 
füllt. Das  geognostische  Tagebuch  aus  diesen  Wochen 
ist  erhalten  und  gibt  Zeugnis  von  dem  Ernst,  mit 
dem  die  Untersuchungen  angestellt  wurden,  und  im 
Goethehaus  befinden  sich  noch  heute  die  schönen 
Zeichnungen,  welche  Kraus  von  den  merkwürdig- 
sten und  bedeutendsten  Granitformationen  der  Harz- 


264  Neunte  Vorlesung. 

kuppen  angefertigt  hat,  denn  dem  Studium  des 
Granits  war  diese  Reise  hauptsächlich  gewidmet. 
Die  zahlreichen  Aufenthalte  in  den  böhmischen  Bädern 
gaben  Goethe  Gelegenheit,  auch  hier  geologische 
und  mineralogische  Erfahrungen  zu  sammeln.  Er 
lernte  allmählich  diesen  Teil  Böhmens  gründlich 
kennen,  beobachtete  die  Entstehung  der  heißen 
Mineralquellen,  befestigte  seine  neptunistischen  An- 
schauungen und  sah  die  Ausbreitung  und  den  Ein- 
fluß der  großen  Kohlenlager.  In  der  Schweiz  und 
Tirol  studierte  er  Form,  Ausbreitung  und  frühere 
Wirkungen  der  Gletscher.  In  Italien  lernte  er  bei 
der  Besteigung  des  Ätna  und  Vesuv,  beim  Besuch 
der  phlegräischen  Felder  Bau  und  Wirksamkeit  der 
Vulkane  beurteilen  und  selbst  während  der  Cam- 
pagne  in  Frankreich  trieb  er  mineralogische  For- 
schungen. So  war  das  Anschauungsmaterial  be- 
schaffen, das  Goethe  seinen  Erdstudien  zugrunde 
legen  konnte.  Es  ist  das  wichtig,  weil  sich  durch 
die  Betrachtung  dieser  Landschaften  die  durch 
Werner  begründeten  neptunistischen  Anschauungen 
mehr  und  mehr  in  ihm  befestigen  mußten.  Goethe 
weist  darauf  hin,  daß  er  vermutlich  nicht  ein  solcher 
Anhänger  dieser  Lehren  geworden  wäre,  wenn  er 
seine  ersten  Studien  z.  B.  in  der  vulkanischen 
Auvergne  hätte  anstellen  können. 

Von    diesen    Reisen    brachte    er   große  Samm« 
lungcn    mit  nach  Hause,   die  er  ordnete  und  auf- 


Mineralogie,  Geologie,  Meteorologie.  265 

stellte.  Durch  Voigt  war  er  in  die  mineralogische 
Nomenclatur  und  Systematik  eingeführt  worden  und 
so  entstand  jene  große,  mehr  als  18000  Nummern 
umfassende  Kollektion,  die  durch  ihre  Reichhaltig- 
keit und  die  Schönheit  der  Einzelstücke  noch  heute 
die  Bewunderung  der  Besucher  des  Goethehauses 
erregt.  Der  größte  Teil  setzt  sich  aus  Fundstücken 
von  Thüringen,  dem  Harz  und  Böhmen  zusammen, 
aber  auch  die  andern  Teile  Deutschlands,  Italien 
und  viele  andere  Länder  sind  vertreten.  Außerdem 
werden  Verzeichnisse  angelegt  z.  B.  von  sämtlichen 
in  Thüringen  aufgefundenen  Fossilien. 

Von  besonderer  Bedeutung  wurde  die  Sammlung 
des  Steinschneiders  Joseph  Müller  in  Karlsbad. 
Derselbe  hatte  zunächst  für  sein  Gewerbe  viele 
Mineralien  bei  Karlsbad  gesammelt,  seine  Kollektion 
immer  mehr  erweitert  und  legte  sie  1806  Goethe 
vor.  Dieser  ordnete  die  Mineralien,  indem  er,  vom 
Granit  ausgehend,  eine  kontinuierliche  Reihe  der 
verschiedenen  Vorkommnisse  aufstellte,  und  fertigte 
einen  genauen  wissenschaftlichen  Katalog  an.  Er 
veranlaßte  nun  Müller,  diese  Mineralien  in  größerer 
Anzahl  zu  sammeln  und  in  gleichartiger  Anordnung 
in  den  Handel  zu  bringen.  Schon  1806  zeigte 
Goethe  im  Intelligenzblatt  der  Jenaischen  Literatur- 
zeitung die  Kollektion  an  und  veröffentlichte 
1808  den  Katalog  in  v.  Leonhards  mineralogischem 
Taschenbuch.    Auf  diese  Weise  wurde  eine  mine- 


266  Neunte  Vorlesung, 

ralogische  Mustersammlung  allen  Gelehrten  in 
gleichmäßiger  Weise  zugänglich  gemacht  und  der 
Bonner  Mineraloge  Noeggerath  bezeichnete  sie  für 
Unterrichtszwecke  geradezu  als  die  beste.  Goethe 
gab  dann  an  ihrer  Hand  eine  genaue  mineralogische 
Beschreibung  der  Karlsbader  Gegend  und  ließ  1821 
eine  ebensolche  der  Umgebung  von  Marienbad 
folgen,  der  eine  entsprechende  Sammlung  zugrunde 
lag.  Er  hat  auch  später  der  Karlsbader  Sammlung 
sein  Interesse  bewahrt  und  noch  1832  eine  Folge  von 
verschiedenen  Sprudelsintern,  die  Müllers  Nachfolger 
KnoU  in  den  Handel  brachte,  ebenfalls  angezeigt 

Als  Sammler  und  Forscher  stand  Goethe  in 
regem  Verkehr  mit  vielen  Fachgenossen.  Minera- 
logische Korrespondenz  wurde  gepflogen  mit  den 
Freunden  Merck  und  v.  Knebel,  mit  v.Trebra,  v.  Leon- 
hard,  Aug.  v.  Herder,  Cramer,  dem  Grafen  Stem- 
berg,  Grüner  und  besonders  mit  Lenz.  Ein  leb- 
hafter Tauschverkehr  mit  diesen  Fachgenossen  und 
mit  den  fernsten  und  fremdesten  entwickelte  sich. 
Vielfach  vermittelte  auch  Goethe  den  Mineralien- 
austausch, erweiterte  so  seine  und  die  Jenaische 
Sammlung  und  als  der  Erwerb  des  bedeutenden 
Cramerschen  Kabinettes  für  Jena  aus  Mangel  an 
Mitteln  unterbleiben  mußte,  sorgte  er  dafür,  daß 
es  nach  Heidelberg  kam. 

In  den  Jahren  1796—98  wurde  durch  Lenz  die 
mineralogische   Gesellschaft  In  Jena  gestiftet,   die 


Mineralogie,  Geologie,  Meteorologie.  267 

Goethe  zu  ihrem  ersten  Ehrenmitglied  ernannte. 
Lenz  entfaltete  eine  außerordentlich  große  Rührigkeit, 
neue  Mitglieder  für  die  Sozietät  zu  gewinnen  und 
durch  deren  Vermittlung  die  Jenaische  Sammlung  zu 
vergrößern.  Dadurch  wurde  diese  zu  einer  der 
bedeutendsten  ihrer  Zeit  und  die  auswärtigen  Ge- 
lehrten strömten  herbei,  um  ihre  Schätze  zu  bewundern. 

In  der  damaligen  Zeit  gewann  die  Mineralogie 
zwei  wichtige  Hilfswissenschaften  in  der  analy- 
tischen Chemie  und  Kristallographie.  Auf  die  Ini- 
tiative des  großen  nordischen  Chemikers  Berzelius 
hatte  man  begonnen,  die  Gesteine  auf  ihren  Gehalt 
und  ihre  chemische  Zusammensetzung  zu  analy- 
sieren. Goethe  selbst  hat  solche  Analysen  nicht 
ausgeführt,  wohl  aber  die  Fortschritte  der  neuen 
Wissenschaft  mit  großem  Interesse  verfolgt.  Zuerst 
durch  Göttling,  später  durch  Döbereiner  ließ  er 
sich  über  die  Entwicklung  der  neueren  Chemie  auf 
dem  Laufenden  halten.  Für  sein  reges  Interesse 
legt  die  große  Sammlung  chemischer  Hand-  und 
Lehrbücher  Zeugnis  ab,  welche  in  seiner  Bücherei 
zu  finden  ist.  Weniger  hat  er  sich  mit  Kristallo- 
graphie beschäftigt,  deren  Kenntnis  ihm  vor  allem 
durch  Soret  vermittelt  wurde.  Doch  stellte  er  auch 
gelegentlich  Beobachtungen  über  das  Entstehen,  das 
Wachstum  und  die  Größe  der  Kristalle  an. 

Wenn  Goethes  mineralogische  und  geologische 
Forschungen   auch   keinen  Markstein    in    der  Ge- 


268  Neunte  Vorlesung. 

schichte  dieser  Wissenschaften  bilden,  so  hat  er 
doch  „den  Besten  seiner  Zeit  genug  getan".  Seine 
Beobachtungen  wurden  wenigstens  in  den  späteren 
Jahren  von  den  Fachgenossen  höchlich  geschätzt. 
Er  war  Mitarbeiter  von  v.  Leonhards  mineralogi- 
schem Taschenbuch,  seine  fachwissenschaftlichen 
Schriften  wurden  von  Noeggerath  in  der  Jenaischen 
Literaturzeitung  einer  höchst  anerkennenden  Kritik 
unterzogen;  er  wurde  1822  wegen  seiner  Forschungen 
in  Nordböhmen  zum  Ehrenmitglied  der  unter  dem 
Präsidium  des  Grafen  K.  Sternberg  gegründeten 
Gesellschaft  des  vaterländischen  Museums  in  Böhmen 
ernannt  und  die  Wernerische  naturforschende  Ge- 
sellschaft in  Edinburgh  wählte  ihn  ebenfalls  zum 
Ehrenmitglied. 

So  weit  der  äußere  Gang  von  Goethes  Studien; 
lassen  Sie  uns  jetzt  den  Inhalt  kennen  lernen. 

Goethe  hat  eine  Reihe  von  sorgfältigen  Be- 
schreibungen der  verschiedensten  Mineralien  und 
Gesteine  geliefert,  zunächst  des  Granits  und  seiner 
verschiedenen  Abarten.  Die  Schilderung  der  Feld- 
spatzwillinge  des  Karlsbader  Granits  wird  von  Linck 
geradezu  als  mustergültig  bezeichnet.  Sein  Verdienst 
ist  auch  die  Entdeckung  eines  zweiten  grünlich 
verwitternden  Feldspats  in  diesem  Granit  Ein- 
gehende Studien  widmete  er  dem  Vorkommen  des 
Zinns,  das  er  besonders  bei  Zinnwalde  und  Alten- 
burg untersuchte.     Er  schildert  genau  das  granit- 


Mineralogie,  Geologie,  Meteorologie.  269 

ähnliche  Gestein  „Greissen",  in  dem  das  Zinn  ent- 
halten ist,  und  untersucht  die  Übergänge  vom  Granit 
zu  den  zinnhaltigen  Gesteinen.  Die  verschiedenen 
Porphyrarten  werden  genau  untersucht  und  die 
Konglomeratsteine  und  Breccien  damit,  wenn  auch 
irrtümlicherweise,  verglichen.  Auch  das  Vorkommen 
der  böhmischen  Granaten  ist  von  Goethe  studiert 
worden. 

Der  Granit  war  für  ihn  ebenso  wie  für  seine 
Zeitgenossen  das  eigentHche  Urgestein,  die  Unter- 
lage aller  geologischen  Bildung.  Ihm  hat  er  jenen 
herrlichen  hymnusartigen  poetischen  Aufsatz  (1784) 
gewidmet,  dem  das  Zitat  am  Anfang  dieses  Vortrags 
entnommen  ist  und  dessen  Lektüre  keiner  versäumen 
sollte.  Im  Granit  sieht  er  die  tiefste  Schale  unsrer 
Erdrinde,  und  vom  Granit  aus  untersucht  er  die 
ersten  Differenzierungen  der  Gesteinsarten.  Im  Harz 
wie  bei  Marienbad  und  in  den  übrigen  Gebirgen 
findet  er  im  Granit  das  eigentliche  Knochengerüst 
der  Gebirgsbildung.  Er  ist  für  ihn  das  letzte  An- 
schauliche, zu  dem  die  Forschung  vordringen  kann, 
das  geologische  „Urphänomen".  „Mein  Geist  hat 
keine  Flügel,  um  sich  in  die  Uranfänge  empor- 
zuschwingen. Ich  stehe  auf  dem  Granit  fest  und 
frage  ihn,  ob  er  uns  einigen  Anlaß  geben  wolle,  zu 
denken,  wie  die  Masse,  woraus  er  entstanden,  be- 
schaffen gewesen."  Nach  Goethes  Vorstellung  hat 
sich  aus  dem  ursprünglichen  feuerflüssigen  Zustand 


270  Neunte  Vorlesung. 

der  Erde  zunächst  ein  Kern  herauskristallisiert,  über 
dessen  innere  Beschaffenheit  wir  nichts  wissen, 
dessen  äußere  Schale  aber  der  Granit  ist.  Schon 
bei  der  ersten  Kristallisation  und  nicht  erst  bei  der 
späteren  Abkühlung  sind  in  diesem  die  noch  heute 
vorhandenen  Risse  und  Spalten  aufgetreten.  Über 
diesem  Kern  befand  sich  eine  Hülle  von  Wasser 
als  großer  Ozean,  aus  dem  sich  nun  zunächst  Gneis 
und  Glimmer  (-schiefer)  niedergeschlagen  und  den 
Granit  bedeckt  haben.  Daran  schloß  sich  eine  Ab- 
lagerung von  Tonschiefer  und  den  übrigen  Ge- 
steinsarten, die  Goethe  als  Übergangsgebirge  be- 
zeichnet. Aus  den  Wassern  fand  dann  eine  weitere 
Sedimentierung  statt,  deren  Ergebnis  die  Flötzgebirge 
sind  (Sandstein,  Kalk,  Gips,  Kohle  usw.).  Zu  diesen 
gesellt  sich  als  jüngste  Formation  das  unter  dem 
Einfluß  der  fließenden  Gewässer  gebildete  auf-  und 
angeschwemmte  Land. 

Um  sich  die  Formbildung  bei  der  ersten  Kristalli- 
sation des  Granits  zu  veranschaulichen,  zieht  Goethe 
die  noch  heute  vor  sich  gehenden  Gestaltungen  der 
großen  Schnee-  und  Gletschermassen  heran.  Die 
Bildung  der  Granitklippen  im  Harze  wird  direkt  mit 
der  Bildung  der  Eistürme  und  Seracs  in  den 
OIctschcrabbrüchen  verglichen.  Die  schon  bei  der 
ersten  Bildung  auftretenden  Risse  und  Spalten 
sollten  eine  gewisse  Tendenz  haben,  in  bestimmten 
Richtungen  (nord-sUdlich)  zu  verlaufen.  Dazwischen 


Mineralogie,  Geologie,  Meteorologie.  271 

sollten  sekundäre  Spalten  entstanden  sein  (ost- 
westlich), aber  nicht  rechtwinklig,  sondern  schräg 
zu  jenen  ersten  Spalten.  So  sollten  die  ursprüng- 
lichen Formen  der  Granitmassen  rhombisch  aus- 
gebildet gewesen  sein.  Für  diese  Spaltenbildung 
führt  Goethe  als  noch  heute  zu  beobachtende  Bei- 
spiele die  Risse  an,  die  sich  in  erweichtem  Lehm 
beim  Trocknen  oder  in  zu  stark  geglühten  Ziegelsteinen 
bilden.  Den  Grund  für  das  Auftreten  dieser  Spalten 
gleichzeitig  mit  der  ersten  Kristallisation  sieht  er 
darin,  daß  jede  Solideszenz  wie  auch  die  des  Eises 
mit  einer  Erschütterung  verbunden  sei,  und  diese 
letztere  dient  ihm  dazu,  manche  heute  gewaltsam 
scheinenden  Formen  zu  erklären.  Die  Entstehung 
der  Klüfte  und  im  Zusammenhang  damit  der  Ur- 
sprung der  Gänge,  z.  B.  der  erzhaltigen  Gänge  und 
Adern  im  Gestein  war  für  Goethe  ein  Problem, 
über  dessen  Lösung  er  vielfach  nachdachte.  Im 
ganzen  neigte  er  dabei  zu  der  Ansicht,  daß  die- 
selben gleichzeitig  mit  den  umgebenden  Gesteinen 
bei  deren  erster  Gestaltung  und  Solideszenz  ent- 
standen seien.  Er  hielt  überhaupt  manches,  wie  er 
an  V.  Leonhard  schreibt,  für  simultan  entstanden,  was 
andere  auf  verschiedene  Bildungsepochen  zurück- 
führen wollten.  Er  versuchte  geradezu,  vom  Granit, 
dessen  verschiedene  Bestandteile  so  eng  miteinander 
verbunden  sind,  daß  man  keine  Kontinens  und  kein 
Kontentum  unterscheiden  kann,  alle  Übergänge  bis 


272  Neunte  Vorlesung. 

zu  den  porphyrartigen  Bildungen  aufzufinden,  bei 
denen  die  Teile  einer  Gesteinsart  gleichsam  in  eine 
andere  eingeschmolzen  erscheinen,  und  schloß  hieran 
die  Konglomerate  und  Breccien,  bei  denen  Ge- 
steinstrümmer in  eine  gemeinsame  Bindemasse  ein- 
gelagert sind.  Auch  diese  letzteren  sollten  nach  Goethe 
simultan  entstandene  Gesteine  darstellen,  eine  An- 
sicht, die  heute  als  widerlegt  angesehen  werden  kann. 
Die  Phänomene  der  Ablagerung  und  Sedimen- 
tierung  studierte  Goethe  an  den  gleichmäßig  ge- 
lagerten Schichten  Thüringens  und  an  dem  geolo- 
gischen Aufbau  Böhmens,  das  er  als  einen  uralten 
Binnensee  ansah.  Als  noch  heute  fortdauerndes 
Beispiel  solchen  Absetzens  von  Gesteinen  betrachtete 
er  die  Bildung  des  Sprudelsteins  und  Sinters  aus 
den  Karlsbader  Quellen.  Für  die  Beurteilung  des 
Alters  der  verschiedenen  abgesetzten  Schichten  und 
Flötze  benutzte  er  die  in  ihnen  eingeschlossenen 
Versteinerungen.  Er  ist  höchstwahrscheinlich  der 
erste  gewesen,  der  die  Bedeutung  der  Versteinerungen 
zu  diesem  Zweck  erkannt  hat,  denn  schon  1782 
schreibt  er  an  Merck:  „Es  wird  bald  die  Zelt 
kommen,  wo  man  Versteinerungen  nicht  mehr  durch- 
einanderwerfen, sondern  verhältnismäßig  zu  den 
Epochen  der  Welt  rangieren  wird."  Er  selbst  hat 
dieses  Kriterium  gelegentlich  verwendet  und  z.  B. 
einen  Schiefer  als  späte  Formation  angesprochen, 
weil  sich  Larven  von  Wasserinsekten  In  ihm  fanden. 


Mineralogie,  Geologie,  Meteorologie.  273 

Die  ursprünglich  gebildeten  Schichten  und  Ge- 
birgsformen  werden  nun  fortwährend  umgebildet 
und  umgestaltet  durch  die  langsam  wirkenden  Ein- 
flüsse des  Wassers  und  der  Atmosphäre.  Vor 
allem  studiert  Goethe  den  Einfluß  der  Verwitterung 
auf  die  einzelnen  Mineralien  im  kleinen  und  auf 
die  Gebirgsform  im  großen  und  schreibt  diesem 
Faktor  die  allerwichtigste  Bedeutung  zu.  Er  schil- 
dert, wie  man  die  groteskesten  Bildungen  aus 
Granit,  wie  sie  z,  B.  an  der  Luisenburg  bei  Alexan- 
dersbad vorkommen,  auch  ohne  die  Mitwirkung 
vulkanischer  Kräfte  begreifen  könne,  wenn  man  an- 
nimmt, daß  einzelne  Teile  des  ursprünglichen  Granit- 
massivs verwittert  und  die  widerstandsfähigeren 
Blöcke  dann  übereinandergestürzt  seien.  Er  zeigt, 
daß  unter  dem  Einfluß  der  Ausdünstung  der  Marien- 
bader Quellen  die  umliegenden  Gesteine  zu  Gebilden 
verwittern,  welche  vulkanischen  Mineralien  ganz 
ähnlich  sehen. 

Besonderes  Interesse  widmete  er  dem  Auftreten 
der  Findlinge  und  erratischen  Blöcke  in  den  Alpen 
und  der  norddeutschen  Tiefebene.  Er  führt  dieses 
auf  verschiedene  Ursachen  zurück.  Die  Granitblöcke 
des  Rhonetales  sind  seiner  Meinung  nach  in  früheren 
Zeiten  durch  Gletscher  dahin  transportiert  worden. 
Viele  Blöcke  in  Norddeutschland  betrachtet  er  aber 
als  Reste  einer  alten  Urgebirgsreihe,  die  der  Ver- 
witterung  entgangen   seien,   und   führt   als   deren 

Magnus,  Goethe  als  Naturforscher.  18 


274  Neunte  Vorlesung. 

wichtigstes  Beispiel  den  Heiligendamm  an.  Außer- 
dem aber  läßt  er  eine  Reihe  dieser  Findlinge  auf 
Eisschollen  und  Eisbergen  von  Skandinavien  her 
übers  Meer  angeschwemmt  sein  und  schließt  sich 
damit  einer  Hypothese  Voigts  an,  besonders  als 
tatsächlich  das  Anschwemmen  skandinavischer  Ge- 
steinsarten auf  Eisschollen  an  der  Ostseeküste  durch 
Preen  beobachtet  wurde.  Im  Anschluß  an  diese 
Betrachtung  entwickelt  nun  Goethe  die  Vorstellung 
einer  Eiszeit,  und  es  scheint,  daß  er  tatsächlich  der 
erste  gewesen  ist,  der  eine  solche  Epoche  ange- 
nommen hat.  „Ich  habe  eine  Vermutung,  daß  eine 
Epoche  großer  Kälte  wenigstens  über  ganz  Europa 
gegangen  sei."  Damals  habe  sich  das  Meer  noch 
bis  auf  1000  Fuß  Höhe  über  den  Kontinent  erstreckt, 
der  Genfer  See  sei  mit  dem  Ozean  in  Zusammenhang 
gewesen,  und  die  Gletscher  seien  von  den  Alpen 
bis  zum  Genfer  See  heruntergegangen.  Auch  in 
Wilhelm  Meisters  Wanderjahren  kehrt  diese  An- 
schauung wieder.  Überhaupt  hat  Goethe  bei  seinen 
geologischen  Studien  eine  Reihe  von  Vorstellungen 
entwickelt,  welche  erst  später  zu  allgemeiner  An- 
erkennung gelangt  sind.  Außer  seiner  Ansicht  über 
die  historische  Bedeutung  der  Versteinerungen  und 
seiner  Annahme  einer  Eiszeit  war  es  besonders  die 
Überzeugung,  daß  die  bei  der  Erd-  und  Gebirgs- 
bildung  wirksamen  Kräfte  dieselben  seien,  wie  wir 
sie  jeden  Tag,   nur   modifiziert,   gewahr   werden. 


Mineralogie,  Geologie,  Meteorologie.  275 

Daher  auch  sein  Bestreben,  für  die  geologischen 
Prozesse  in  unserer  heutigen  Umgebung  anschau- 
liche Beispiele,  wie  z.  B.  die  Gestaltung  des  Gletscher- 
eises, zu  finden.  „Was  mich  betrifft,  so  traue  ich 
der  Natur  zu,  daß  sie  noch  am  heutigen  Tage  Edel- 
steine uns  unbekannter  Art  bilden  könne."  Ja,  er 
dehnt  diese  Vorstellung  sogar  auf  das  Gestein  aus, 
das  für  ihn  die  Grundlage  bildet,  auf  den  Granit: 
„Es  ist  sehr  möglich,  daß  Granit  mehrmals  vor- 
kommt." Da  für  die  Erdgestaltung  seiner  Ansicht 
nach  die  noch  heute  spielenden  Kräfte  genügen 
und  die  Umbildung  der  Erdoberfläche  in  unsern 
Tagen  nur  eine  sehr  langsame  ist,  so  mußte  schon 
Goethe  zu  der  jetzt  allgemein  angenommenen  Über- 
zeugung kommen,  daß  die  Perioden  der  Erdbildung 
von  ganz  außerordentlich  langer  Dauer  gewesen 
seien,  und  er  legt  diese  seine  Überzeugung  im 
2.  Teile  des  Faust  dem  Thaies  in  den  Mund: 

„Nie  war  Natur  und  ihr  lebendiges  Fließen 
Auf  Tag  und  Nacht  und  Stunden  angewiesen; 
Sie  bildet  regelnd  jegliche  Gestalt, 
Und  selbst  im  Großen  ist  es  nicht  Gewalt." 

So  sehen  wir,  wie  Goethe  durch  seine  geologischen 
Studien  zu  ganz  modernen  Anschauungen  über  die 
Erdbildung  geführt  wird. 

Die  Zeit,  in  welche  seine  Beschäftigung  mit  der 
Geologie  fiel,  wurde  beherrscht  durch  den  Streit 
zwischen    Neptunisten    und   Vulkanisten,   zwischen 

18» 


276  Neunte  Vorlesung. 

denjenigen,  welche  dem  Wasser,  und  denjenigen, 
welche  den  vulkanischen  Kräften  den  Hauptanteil 
an  der  Gestaltung  unserer  Erde  zuschrieben.  Der 
alte  Gegensatz  ist  heute  längst  ausgeglichen.  Man 
hat  dem  Wasser  und  dem  Feuer  beiden  ihren  ge- 
bührenden Anteil  an  dem  geologischen  Geschehen 
zugewiesen.  In  der  damaligen  Zeit  aber  tobte  der 
Streit  mit  der  größten  Heftigkeit.  Goethe  hat  sich 
im  großen  und  ganzen  von  den  Übertreibungen  der 
beiden  Lehren  fern  zu  halten  gewußt.  Dem  ganzen 
Gange  seiner  Ausbildung  nach  neigte  er  mehr  zu 
den  neptunistischen  Anschauungen  Werners  und 
klagte  in  den  „Zahmen  Xenien": 

„Kaum  wendet  der  edle  Werner  den  Rücken, 
Zerstört  man  das  Poseidaonische  Reich; 
Wenn  alle  sich  vor  Hephästos  bücken, 
Ich  kann  es  nicht  sogleich: 
Ich  weiß  nur  in  der  Folge  zu  schätzen, 
Schon  hab'  ich  manches  Credo  verpaßt. 
Mir  sind  sie  alle  gleich  verhaßt 
Neue  Götter  und  Götzen." 

Die  großartigste  Darstellung  dieses  wissenschaft- 
lichen Streites  aber  hat  er  im  2.  Teil  des  Faust 
gegeben.  In  der  klassischen  Walpurgisnacht  läßt  er 
Thaies  als  Neptunist  und  Anaxagoras  als  Vulkanist 
über  Gebirge  und  Meere  wandern  und  stellt  ihre 
Ansichten  in  scharfen  Gegensatz.  Auch  hier  läßt  er 
ahnen,  daß  er  selbst  auf  Seite  des  Thaies  steht  und 
verspottet  die  Lehren  der  ungestümen  Vulkanisten, 


Mineralogie,  Geologie,  Meteorologie.  277 

die  sich  nicht  scheuen  würden,  selbst  Steine  vom 
Monde  herabfallen  zu  lassen.  Trotzdem  wird  auch 
im  Faust  eine  endgültige  Entscheidung  über  den 
Streit  nicht  gegeben,  vielmehr  die  Bergentstehung 
nach  vulkanistischer  Ansicht  durch  Seismos  (Erd- 
beben) anschaulich  vorgeführt: 

„Das  hab'  ich  ganz  allein  vermittelt. 

Man  wird  mir's  endlich  zugestehn: 

Und  hätt'  ich  nicht  geschüttelt  und  gerüttelt, 

Wie  wäre  diese  Welt  so  schön?" 

Demgegenüber  aber  bleibt  Thaies  auf  seinem 
neptunistischen  Standpunkt,  den  er  in  den  herrlichen 
Versen  ausspricht: 

„Alles  ist  aus  dem  Wasser  entsprungen!! 

Alles  wird  durch  das  Wasser  erhalten! 

Ocean,  gönn'  uns  Dein  ewiges  Walten. 

Wenn  Du  nicht  Wolken  sendetest, 

Nicht  reiche  Bäche  spendetest, 

Hin  und  her  nicht  Flüsse  wendetest. 

Die  Ströme  nicht  vollendetest, 

Was  wären  Gebirge,  was  Ebnen  und  Welt? 

Du  bist's,  der  das  frischeste  Leben  erhält." 

Goethes  eigene  Stellung  zu  der  Wirksamkeit  und 
Bedeutung  vulkanischer  Kräfte  ist  im  Laufe  seiner 
Forschungen  eine  wechselnde  gewesen.  Er  hat  sich 
ihrer  Bedeutung  wohl  niemals  verschließen  können, 
schreckte  aber  vor  den  Übertreibungen  der  damali- 
gen Schule  zurück.  Er  versuchte  vieles,  was  als 
Produkt  vulkanischer  Eruptionen  auftrat,  im  Anschluß 
an  Werner  auf  unterirdische  Erdbrände  zurückzu- 
führen, als  deren  Träger  man  besonders  die  großen 


278  Neunte  Vorlesung. 

Steinkohlenlager  betrachtete.  Vor  allem  glaubte  er 
solche  Vorkommnisse  in  Böhmen  zu  finden.  Das 
Brennen  der  Gesteine  sollte  durch  die  eingelagerten 
vegetabilischen  Reste  erleichtert  werden.  So  fand 
er  z.  B.  bei  Grünlaß  einen  Brandschiefer,  der  an 
der  Flamme  entzündet  werden  konnte.  Von  diesem 
Gesichtspunkte  aus  studierte  er  den  Einfluß  des 
Brennens  und  Glühens  auf  eine  ganz  beträchtliche 
Anzahl  von  Gesteinsarten,  und  es  ist  uns  noch  ein 
Verzeichnis  von  38  verschiedenen  Mineralien  er- 
halten, die  er  1820  in  Zwetzen  dem  Feuer  des 
Töpferofens  aussetzen  ließ,  um  die  Wirkung  des 
Glühens  zu  ermitteln.  Solche  Versuche  hat  er  noch 
mehrfach  angestellt,  und  sie  waren  für  die  Beurtei- 
lung des  in  der  Natur  Vorkommenden  für  ihn  von 
großer  Bedeutung.  So  fand  er  „uralte  neuentdeckte 
Naturfeuer-  und  Glutspuren"  1824  bei  Pograd  in 
Böhmen  und  studierte  bei  Karlsbad  den  Einfluß 
solcher  Erdbrände  auf  schieferigen  Ton  und  Quarz, 
wodurch  sich  schließlich  Erdschlacken  bilden.  Sol- 
chen Prozessen  schrieb  er  einen  sehr  großen  Einfluß 
zu,  verschloß  sich  aber  doch  nicht  der  Erkenntnis, 
daß  auch  vulkanische  Kräfte  angenommen  werden 
müßten.  So  hat  er  selbst  1808  den  Kammerbühl 
bei  Eger,  dessen  vulkanische  Gesteinsarten  er  sam- 
melte und  genau  beschrieb,  als  einen  alten  sub- 
marinen Vulkan  angesprochen  und  1822  den  Vor- 
schlag gemacht,  zur  Befestigung  dieser  Meinung  von 


Mineralogie,  Geologie,  Meteorologie.  279 

der  Seite  her  einen  Stollen  in  den  Berg  einzutreiben, 
um  seinen  Aufbau  studieren  zu  können,  ein  Projekt, 
das  nach  seinem  Tode  vom  Grafen  Sternberg  tatsäch- 
lich ausgeführt  worden  ist.  1824  aber  glaubte  er  doch 
wieder  auch  pseudovulkanische  Prozesse  hier  zu  er- 
kennen und  ließ  den  Basalt  des  Kammerberges  durch 
Brand  eines  darüberliegenden  Gemenges  von  Ton- 
schiefer und  Steinkohle  nachträglich  verändert  sein. 
Seiner  Meinung  nach  sind  die  Vulkane  nicht 
gemeinsamen  Ursprungs  aus  einem  feuerflüssigen 
Kern  der  Erde,  sondern  entstehen  rein  lokal,  wenn 
Wasser  an  Stellen  in  die  Tiefe  dringt,  wo  unter- 
irdische Brände  stattfinden.  Daher  liegen  die  Vul- 
kane auch  meist  in  der  Nähe  des  Meeres;  bei  den 
feuerspeienden  Bergen  der  höchsten  Anden  Süd- 
amerikas wird  das  Wasser  vom  schmelzenden  Schnee 
geliefert.  Eines  der  Probleme,  das  Goethe  und  seine 
Zeitgenossen  beschäftigte,  war  die  Entstehung  des 
Basalts,  der  für  eine  sehr  junge  Formation  gehalten 
wurde  und  einen  Hauptstreitpunkt  zwischen  Neptu- 
nisten  und  Vulkanisten  bildete.  Auch  Goethe  hat  über 
diese  Streitfrage  geforscht  und  geschrieben  und  Ver- 
gleichsvorschläge für  die  widerstrebenden  Meinungen 
gemacht,  ohne  zu  einem  endgültigen  Ergebnis  zu  ge- 
langen.   Daher  sein  Stoßseufzer: 

„Amerika,  du  hast  es  besser 
Als  unser  Continent,  das  alte, 
Hast  keine  verfallenen  Schlösser 
Und  keine  Basalte." 


280  Neunte  Vorlesung. 

In  einem  Punkte  war  aber  Goethes  Stellungs- 
nahme  gegen  die  Vulkanisten  eine  durchaus  ent- 
schiedene und  klare.  Er  lehnte  grundsätzlich  die 
Annahme  ab,  daß  unsere  Erdoberfläche  nach  ihrer 
ersten  Gestaltung  noch  nachträglich  durch  Heben 
und  Senken,  durch  Faltungen,  durch  Risse  und  Ver- 
werfungen umgestaltet  worden  sei.  Die  damaligen 
Vulkanisten  ließen  diese  Vorgänge,  für  welche  man 
heute  Zeiträume  von  langer  Dauer  annimmt,  kata- 
strophenähnlich ganz  plötzlich  eintreten  und  ganze 
Gebirge  auf  einmal  sich  zu  ihrer  vollen  Höhe  er- 
heben. Dagegen  hat  Goethe  immer  wieder  aufs 
energischste  Front  gemacht.  „Die  Sache  mag  sein 
wie  sie  will,  so  muß  geschrieben  stehen,  daß  ich 
diese  vermaledeite  Polterkammer  der  Weltschöpfung 
verfluche."  Wir  haben  schon  gehört,  daß  Goethe  die 
Gebirge  in  ihren  Hauptformen  schon  bei  der  ersten 
Entstehung  des  Granits  in  allen  wesentlichen  Zügen 
ausgebildet  sein  ließ  und  keine  spätere  Gebirgsbil- 
dung  mehr  annahm.    In  diesem  Sinne  spricht  Faust: 

«Oebirgesmasse  bleibt  mir  edel  —  stumm, 

Ich  frage  nicht  woher  und  nicht  warum? 

Als  die  Natur  sich  in  sich  selbst  gegründet, 

Da  hat  sie  rein  den  Erdball  abgerundet, 

Der  Gipfel  sich,  der  Schluchten  sich  erfreut 

Und  Fels  an  Fels  und  Berg  an  Berg  gereiht; 

Die  Hügel  dann  bequem  hinabgcbildet, 

Mit  sanftem  Zug  sie  in  das  Thal  gcmildct, 

Da  grünt's  und  wächst's,  und  um  sich  zu  erfreuen 

Bedarf  sie  nicht  der  tollen  Strudclcien." 


Mineralogie,  Geologie,  Meteorologie.  281 

Die  Ansicht  seiner  Gegner  aber  persifliert  die 
Erzählung  Mephistos,  wie  die  Teufel  im  Innern  der 
Erde  eingeschlossen  husten  und  pusten  und  durch 
die  so  produzierten  Gase  die  Erdoberfläche  um- 
gestalten. Der  Hauptgrund  für  Goethe,  diese  nach- 
träglichen Formänderungen  der  Erdoberfläche  zu 
verwerfen,  war  die  in  Mitteldeutschland  schon  im 
Anfang  seines  geologischen  Studiums  gemachte  Er- 
fahrung, daß  die  Schichten  und  Plötze  mit  größter 
Regelmäßigkeit  angeordnet  sind.  Was  er  hier  vor 
Augen  sah,  übertrug  er  auch  auf  andere  Gebiete. 
An  Stellen,  wo  die  geologischen  Schichten  nicht 
horizontal,  sondern  mehr  oder  weniger  geneigt  ge- 
stellt sind,  glaubte  er  sogar  hypothetisch  annehmen 
zu  dürfen,  daß  auch  solche  Ablagerungen  ursprüng- 
lich seien.  Ein  Hauptbeweisstück  für  Höhenver- 
änderung der  Erde  in  historischen  Zeiten  war  der 
Serapistempel  in  Pozzuoli,  dessen  noch  aufrechte 
Säulen  in  der  Mitte  des  Schaftes  von  Bohrmuscheln 
angefressen  sind,  jetzt  ^ber  wieder  in  freier  Luft 
stehen,  v.  Hoff  sah  hierin,  in  Übereinstimmung  mit 
der  heute  allgemein  angenommenen  Meinung,  den 
Beweis,  daß  das  Meer  im  Mittelalter  diesen  Küsten- 
strich überflutet  und  dieser  sich  später  wieder  ge- 
hoben habe.  Goethe  aber  setzt  an  der  Hand  von 
Zeichnungen  auseinander,  daß  bei  der  Verschüttung 
des  Tempels  sich  höchstwahrscheinlich  in  der  Mitte 
eine  Vertiefung  und  ein  See  gebildet  habe,  in  dem 


282  Neunte  Voriesung. 

die  Bohrmuscheln   leben   konnten,   ohne   daß   man 
solche  nachträgliche  Hebungen  annehmen  müsse. 

Ebenso  wie  die  Vulkane,  so  ließ  Goethe  auch 
die  heißen  Quellen  rein  lokalen  Ursprungs  sein 
und  leitete  sie  von  dem  Oberflächenwasser  ab,  das 
in  die  Tiefe  dringt  Er  war  überzeugt,  daß  die 
Karlsbader  Thermen  aufhören  würden  zu  sprudeln, 
wenn  man  die  Tepel  aus  ihrem  Bette  ableiten  würde. 
Das  Oberflächenwasser,  in  die  Tiefe  dringend,  sollte 
seiner  Ansicht  nach  das  feste  Gestein  durch  die 
Benetzung  wie  eine  galvanische  Säule  in  Tätigkeit 
und  Hitze  bringen  und  so  die  Entstehung  der 
Thermen  veranlassen.  Diese  Meinung  behielt  er 
auch  später  noch  bei,  gegenüber  der  allgemein  an- 
genommenen Ansicht,  daß  die  Quellen  „aus  dem 
siedenden  Abgrund  unserer  Erdkruste  hervordringen" 
Auch  praktisch  hat  sich  Goethe  einmal  mit  Balneo- 
logie beschäftigt  und  1812  ein  eingehendes  Gut- 
achten darüber  verfaßt,  ob  die  Schwefelquellen 
bei  Berka  durch  die  Anlage  eines  Badeortes  nutz- 
bar gemacht  werden  sollten.  Diese  durch  ihre 
OrQndiichkeit  mustergültige  Schrift,  die  auf  einer 
Analyse  Döbereiners  fußt,  enthält  genaue  Angaben 
über  die  voraussichtliche  Ergiebigkeit  der  Quellen, 
Ober  Anlagen  zur  Erwärmung  des  Wassers,  zu 
Dampf-  und  Schlammbädern,  über  den  Versand  des 
Wassers  und  über  die  praktische  Einrichtung  des 
Badeortes. 


Mineralogie,  Geologie,  Meteorologie. 


283 


Es  werden  wohl  wenige  Geologen,  wenn  sie  eine 
ihrer  schön  und  deutlich  kolorierten  Karten  [zur 
Hand  nehmen,  sich  dessen  bewußt  sein,  daß  diese 
Farbengebung  auf  Goethe  zurückgeht.  Als  Käfer- 
steins geognostisch-geologische  Karte  von  Deutsch- 
land 1821  erschien,  wurde  die  Kolorierung,  die  in 
den  wesentlichsten  Zügen  noch  die  heute  maß- 
gebende ist,  nach  Goethes  Vorschlägen  ausgeführt, 
der  dabei  von  zwei  Gesichtspunkten  ausging:  ein- 
mal die  einzelnen  geologischen  Schichten  so  zu 
färben,  daß  sie  sich  möglichst  voneinander  unter- 
scheiden, und  zweitens,  die  Färbung  der  gesamten 
Karte  harmonisch  zu  gestalten.  So  spielen  Goethes 
Studien  zur  Farbenlehre  hinüber  bis  in  die  prak- 
tische Geologie  der  neuen  Zeit. 

Dieser  kurze  Überblick  über  Goethes  minera- 
logische und  geologische  Tätigkeit  läßt  erkennen, 
daß  er  auch  hier  gründlich  geforscht  und  sein 
Wissen  in  die  Tiefe  und  die  Breite  ausgedehnt  hat. 
Im  Gegensatz  zu  den  optischen  Studien,  in  denen 
er  stets  mit  der  größten  Entschiedenheit  und  dem 
ausgesprochendsten  Selbstgefühl  auftritt,  ist  er  in 
seinen  geologischen  Schriften  viel  zurückhaltender 
und  bescheidener.  Er  war  sich  wohl  bewußt,  daß 
das  ihm  zugängliche  Tatsachenmaterial  nur  eine 
unzureichende  Grundlage  abgab,  die  Entstehung  des 
Erdballs  zu  erklären,  und  deshalb  hat  er  auf  geo- 
logischem Gebiete  die  Notwendigkeit,  Hypothesen 


284  Neunte  Vorlesung. 

zu  Hilfe  zu  nehmen,  stets  anerkannt.  Charakteristisch 
aber  für  seine  Forschungsweise  ist,  daß  er  auch  hier 
immer  das  Tatsächliche  und  das  Hypothetische  sorg- 
fältig auseinander  hält,  die  Tatsachen  möglichst  genau 
sammelt,  sichtet  und  registriert,  in  den  Hypothesen 
sich  selbst  aber  eine  Meinungsänderung  vorbehält. 
An  die  Besprechung  der  mineralogischen  Arbeiten 
schließen  wir  die  von  Goethes  meteorologischen 
Untersuchungen  an.  Ebenso  wie  er  die  Phänomene 
auf  und  unter  der  Erde  zu  ergründen  suchte,  so 
entgingen  die  zahlreichen  Erscheinungen  in  dem 
Luftmeer  seiner  Beobachtung  nicht.  Dazu  wurde 
er  schon  durch  Erfahrungen  am  eigenen  Körper 
veranlaßt,  denn  es  ist  bekannt,  daß  er  gegen  Witte- 
rungsumschläge sehr  empfindlich  war  und  unter 
dem  trüben  Klima  Weimars  litt  Es  ist  dies  einer 
der  Gründe  für  seine  dauernde  Sehnsucht  nach 
den  südlichen  Lüften  Italiens.  So  wurde  er  schon 
früh  zu  Beobachtungen  über  die  Witterung  ver- 
anlaßt und  lernte  regelmäßig  auf  die  Änderungen 
des  Barometerstandes  achten.  Bereits  auf  der  ersten 
Schweizerreise  und  auf  der  italienischen  Reise 
machte  er  Notizen  über  Wind  und  Wolkenformen. 
Es  blieben  aber  alle  diese  Beobachtungen  nur  ver- 
einzelt, weil  es  ihm  zunächst  nicht  möglich  war, 
In  die  schier  unendliche  Fülle  der  wechselnden  Er- 
scheinungen, wie  sie  besonders  die  Wolkenbildung 
zeigte,   irgend  welche   Regelmäßigkeit  zu  bringen. 


Mineralogie,  Geologie,  Meteorologie. 


285 


Da  wurde  die  Terminologie  der  Wolkenform,  welche 
Luke  Howard  1803  veröffentlichte  und  die  1815  zu 
Goethes  Kenntnis  kam,  für  ihn  der  Ausgangspunkt 
zu  neuen  Untersuchungen.  Er  ergriff  diese  Ein- 
teilung „mit  Freuden,  weil  sie  ihm  einen  Faden 
darreichte,  den  er  bisher  vermißt  hatte".  Jetzt  konnte 
er  seine  Beobachtungen  über  Wolkenform  und  Be- 
wölkung in  ein  festes  Schema  bringen  und  so 
wissenschaftlicher  Bearbeitung  zugänglich  machen. 
Er  gewöhnt  sich,  „die  Bezüge  der  atmosphärischen 
und  irdischen  Erscheinungen  mit  Barometer  und 
Thermometer  in  Einklang  zu  setzen".  Die  Howard- 
schen  Wolkenbezeichnungen  Stratus,  Cumulus,  Cirrus 
und  Nimbus,  von  Goethe  noch  durch  die  der  Wolken- 
wand Paries  vermehrt,  werden  auch  heute  noch 
in  der  Meteorologie  verwendet.  Goethe  schreibt 
schon  1817  einen  Aufsatz  „Wolkengestaltungen  nach 
Howard"  und  macht  bei  seinen  Reisen  in  die  böh- 
mischen Bäder  1820—23  genaue  tagebuchartige  Auf- 
zeichnungen über  Wolken  und  Wetter.  Durch  die 
einfache  Howardsche  Nomenklatur  war  ihm  plötz- 
lich die  Möglichkeit  geworden,  sich  in  den  Wirr- 
salen  der  atmosphärischen  Erscheinungen  zurecht 
zu  finden,  daher  auch  seine  große  Verehrung  für 
den  englischen  Forscher: 

„Dich  im  Unendlichen  zu  finden, 
Mußt  unterscheiden  und  dann  verbinden; 
Drum  danket  mein  beflügelt  Lied 
Dem  Manne,  der  Wolken  unterschied." 


286  Neunte  Vorlesung. 

Zu  Howards  Ehre  und  zur  Erläuterung  seiner 
Lehre  schreibt  er  das  schöne  Gedicht  „Howards 
Ehrengedächtnis"  und  läßt  sich  von  ihm  eine  Auto- 
biographie schicken,  der  Howard  1822  sein  Werk 
„Das  Klima  von  London"  folgen  ließ. 

Schon  1822  sind  Goethes  Beobachtungen  und 
Überlegungen  so  weit  gediehen,  daß  er  einen  Auf- 
satz „Über  die  Ursachen  der  Barometerschwan- 
kungen"  schreibt  und  1825  den  „Versuch  einer 
Witterungslehre"  verfaßt.  Er  geht  dabei  von  der 
Tatsache  aus,  daß  das  Barometer  an  verschiedenen 
Orten  im  Laufe  eines  Monats  völlig  gleichartige 
Schwankungen  ausführt.  Vom  Meer  bis  zur  Höhe 
von  2000  Fuß,  von  Boston  bis  Karlsruhe,  von 
London  bis  Wien  hatten  z.  B.  im  Dezember  1822, 
wie  eine  graphische  Aufzeichnung  des  Jenenser 
meteorologischen  Beobachters  Schrön  zeigte,  die 
Kurven  der  Barometerschwankungen  völlig  parallelen 
Verlauf.  Daraus  folgerte  Goethe,  daß  die  Ursache 
der  Barometerschwankungen  nicht  in  irgend  welchen 
lokalen  Veränderungen  gesucht  werden  dürfte,  und 
er  macht  weiter  energisch  Front  gegen  die  damals 
verbreitete  Lehre,  daß  der  Mond  oder  die  Planeten 
die  Barometerschwankungen  nach  Art  einer  Ebbe 
und  Flut  der  Atmosphäre  verursachen  könnten.  So 
kam  er  dazu,  die  periodischen  Änderungen  des  Luft- 
drucks, wie  sie  das  Barometer  anzeigt,  auf  eine 
periodi8^,j^g  Veränderung  der  ;Schwerkraft  zurück- 


Mineralogie,  Geologie,  Meteorologie.  287 

zuführen.  Die  Erde  sollte  ihren  Dunstkreis  zeit- 
weise mehr  und  zeitweise  weniger  anziehen.  Diese 
Hypothese,  welche  er  schon  1816  in  der  italienischen 
Reise  angedeutet  hatte,  versuchte  er  des  weiteren 
auszuführen  und  zu  begründen,  war  sich  allerdings 
völlig  darüber  klar,  daß  es  eben  nur  eine  Hypothese 
war.  „Ob  ich  gleich  mir  nicht  einbilde,  daß  hier- 
mit alles  gefunden  und  abgetan  sei,  so  bin  ich 
doch  überzeugt:  wenn  man  auf  diesem  Wege  die 
Forschungen  fortsetzt  und  die  sich  hervortuenden 
näheren  Bedingungen  und  Bestimmungen  genau  be- 
achtet, so  wird  man  auf  etwas  kommen,  was  ich 
selbst  weder  denke  noch  denken  kann,  was  aber 
sowohl  die  Auflösung  dieses  Problems  als  mehrerer 
verwandter  mit  sich  führen  wird."  Goethe  hat  mit 
dieser  Prophezeiung  recht  behalten.  Seine  Hypo- 
these hat  sich  als  unrichtig  erwiesen,  weil  das 
Beobachtungsmaterial,  auf  dem  er  fußte,  noch  zu 
klein  war.  Ausgedehnte  Untersuchungen  haben  ge- 
zeigt, daß  die  Barometerschwankungen  auf  der  ganzen 
Erde  durchaus  nicht  immer  gleichsinnig  verlaufen. 
Aber  die  von  Goethe  angestrebte  und  veranlaßte 
Reihe  fortgesetzter  meteorologischer  Beobachtungen 
hat  tatsächlich  im  Laufe  der  Zeit  zur  Aufklärung 
der  schwierigen  Witterungsprobleme  geführt 

Goethe  beobachtet  weiterhin  den  Zusammen- 
hang zwischen  Barometerstand  und  Wolkenbildung, 
macht  auf  den  Einfluß  der  Gebirge  auf  die  Wolken- 


288  Neunte  Vorlesung. 

bildung  aufmerksam,  erörtert  den  Zusammenhang 
der  Windrichtungen  mit  dem  Barometerstand  und 
findet,  daß  zwischen  den  Schwankungen  des  Thermo- 
meters und  des  Barometers  keine  direkte  Ab- 
hängigkeit bestehen  könne.  Er  sammelt  zahlreiche 
Einzelbeobachtungen  über  seltenere  atmospärische 
Erscheinungen,  Nordlicht,  Nebensonnen  usw.  und 
sieht  die  Atmosphäre  als  in  mehrere  aufeinander 
folgende  Schichten  gegliedert  an,  in  denen  gleich- 
zeitig verschiedene  Witterungsphänomene  eintreten 
können. 

So  gewinnt  Goethe  eine  genaue  Kenntnis  der 
Vorgänge,  die  sich  im  Luftmeer  abspielen,  und  sucht, 
wenn  auch  ohne  großen  tatsächlichen  Erfolg,  in  die 
Gesetzmäßigkeit  dieser  Phänomene  einzudringen. 
Sehr  viel  größere  Bedeutung  als  seine  theoretischen 
Studien  zur  Meteorologie  besitzen  seine  praktischen 
Anregungen.  Ihm  ist  vor  allem  die  Gründung  zahl- 
reicher meteorologischer  Stationen,  zunächst  im 
Herzogtum  Weimar,  dann  auch  im  weiteren  Deutsch- 
land zuzuschreiben.  Er  selbst  arbeitet  mit  Hilfe  der 
Jenenser  Meteorologen  1817  eine  ganz  genaue  In- 
struktion für  die  Beobachter  auf  den  verschiedenen 
Stationen  aus,  welche  durch  Zweckmäßigkeit  und 
Obersichtiichkeit  noch  heute  Bewunderung  verdient, 
und  sorgt  dafür,  daß  das  Material  wissenschaftlich 
verarbeitet  wird.  Er  dringt  darauf,  daß  das  Netz  der 
meteorologischen  Stationen    bis   auf   die  höchsten 


Mineralogie,  Geologie,  Meteorologie.  289 

Berge  ausgedehnt  wird,  verschafft  sich  Beobachtungen 
vom  großen  St.  Bernhardt,  regt  an,  daß  auch  auf  der 
Höhe  des  Meeres  solche  Untersuchungen  angestellt 
werden.  Die  Gründung  der  meteorologischen  Station 
auf  der  Schneekoppe  ist  ebenfalls  auf  seine  Anregung 
zurückzuführen.  So  legte  er  den  Grund  für  das  dichte 
Netz  von  Beobachtungsstationen,  die  heute  alle  zivi- 
lisierten Länder  überziehen,  und  wenn  uns  heute  der 
Telegraph  von  diesen  Stationen  relativ  zuverlässige 
Wetterprognosen  übermittelt  und  wenn  wir  heute 
über  die  Ursache  der  Winde,  über  die  Gesetze  der 
Barometerschwankungen  besser  unterrichtet  sind  als 
vor  hundert  Jahren,  so  haben  dazu  nicht  zum  kleinsten 
Teil  die  praktischen  Anregungen  beigetragen,  die 
Goethe  zur  Beförderung  meteorologischer  Unter- 
suchungen gegeben  hat. 


Magnus,  Goethe  als  Naturforscher.  19 


Zehnte  Vorlesung. 
Goethe  als  Naturforscher. 

Meine  Herren!  Wir  haben  in  den  vorhergehen- 
den Vorlesungen  den  Inhalt  und  die  Bedeutung  von 
Goethes  wissenschaftlichen  Studien  auf  den  ver- 
schiedensten Gebieten  kennen  gelernt,  und  es  erübrigt 
noch  zum  Schluß  zusammenfassend  zu  erörtern, 
welches  seine  naturwissenschaftliche  Arbeitsweise 
im  allgemeinen  gewesen  ist,  wie  er  über  die  Mög- 
lichkeit naturwissenschaftlicher  Erkenntnis  gedacht 
hat,  welche  Bedeutung  seine  Forschungen  für  die 
Beurteilung  seiner  Persönlichkeit  besitzen  und  wie 
Dichter  und  Naturforscher  sich  bei  ihm  ständig 
durchdringen.  Die  Lösung  dieser  Aufgabe  wird  da- 
durch erleichtert,  daß  wir  außerordentlich  zahlreiche 
Zeugnisse  in  Goethes  Werken  besitzen,  aus  denen 
hervorgeht,  wie  er  selbst  über  diese  Fragen  gedacht 
hat  Wir  sind  ja  kaum  über  das  Leben  und  Denken 
eines  andern  Menschen  so  eingehend  unterrichtet, 
weil  wohl  niemand  alles,  was  er  dachte  und  was 
ihn  beschäftigte,  so  klar  formuliert  und  aufgezeichnet 
hat  wie  er. 


Goethe  als  Naturforscher.  291 

Nach  Besprechung  von  Goethes  botanischen  und 
zoologischen  Werken  haben  wir  schon  kurz  über 
seine  Forschungsmethode  in  diesen  Wissenszweigen 
gesprochen,  und  Sie  werden  sich  erinnern,  daß  er 
stets  in  der  Weise  vorging,  daß  er  aus  den  Einzel- 
erscheinungen, wie  die  Natur  sie  ihm  darbot,  sich 
eine  kontinuierliche  Reihe  herstellte,  welche  vom 
einfachsten  zum  kompliziertesten  fortschritt.  Die  An- 
wendung dieses  Verfahrens  beruht  auf  dem  Prinzip 
der  Stetigkeit,  das  Goethe  auf  allen  Gebieten  der 
Naturwissenschaft  anwendbar  findet.  Die  Natur  macht 
keine  Sprünge,  überall  finden  sich  Übergänge,  und  so 
ist  eine  Ordnung  der  Naturphänomene  möglich.  Ist 
die  kontinuierliche  Reihe  gebildet,  dann  kann  man 
ihre  einzelnen  Glieder  miteinander  vergleichen  und 
auf  diese  Weise  das  allen  Formen  Gemeinsame,  das 
Gesetzliche  feststellen.  So  gelangte  Goethe  in  der 
Botanik  zur  Urpflanze,  in  der  vergleichenden  Ana- 
tomie zum  Typus. 

Das  prinzipiell  gleiche  Verfahren  verwendet  er 
bei  dem  Studium  der  anorganischen  Naturerschei- 
nungen; aber  hier  wird  die  Beobachtung  der  Phäno- 
mene unterstützt  und  ergänzt  durch  willkürlich  vom 
Forscher  angestellte  Versuche.  Wieder  und  wieder 
betont  nun  Goethe,  daß  ein  Phänomen  allein,  ein 
Versuch  für  sich  nichts  beweisen  kann.  „Es  ist  das 
Glied  einer  großen  Kette,  das  erst  im  Zusammen- 
hange gilt.    Wer  eine  Perlenschnur  verdecken  und 

19* 


292  Zehnte  Vorlesung. 

nur  die  schönste  einzeln  vorzeigen  wollte,  verlan- 
gend, wir  sollten  ihm  glauben,  die  übrigen  seien 
alle  so,  schwerlich  würde  sich  jemand  auf  den 
Handel  einlassen."  Auch  hier  also  muß  aus  den  Be- 
obachtungen die  kontinuierliche  Reihe  gebildet  wer- 
den. „Ein  Versuch  erhält  doch  nur  seinen  Wert 
durch  Vereinigung  und  Verbindung  mit  andern."  Bei 
dieser  Ordnung  der  Versuche  kommt  aber  natürlich 
ein  willkürliches  Element  in  die  Wissenschaft  hinein. 
Die  Verknüpfung  der  Phänomene  in  der  richtigen 
Weise  vorzunehmen,  ist  eine  schwierige  Aufgabe 
des  Naturforschers.  Besonders  ist  aber  davor  zu 
warnen,  eine  zu  kleine  Anzahl  von  Beobachtungen 
den  wissenschaftlichen  Schlüssen  zugrunde  zu  legen. 
Es  entstehen  dann  Theorien,  die  zu  eng  begrenzt 
sind  und  nach  einiger  Zeit  ein  ernstes  Hindernis  für 
den  Fortschritt  werden.  Man  muß  also  stets  bei  der 
Untersuchung  eines  Phänomens  alle  Nachbarerschei- 
nungen mit  erforschen  und  jeden  Versuch  ins  End- 
lose vermannigfaltigen,  wie  das  Goethe  selbst  in 
der  Farbenlehre  getan  hat.  Die  so  gewonnene  Er- 
fahrung ist  dann  höherer  Art  und  die  Sätze,  die 
sich  daraus  ergeben,  lassen  sich  zu  höherer  Er- 
kenntnis verknüpfen.  Goethe  geht  also  stets  von 
möglichst  vermannlgfaltigtcn  Versuchen  zur  Erfah- 
rung über.  Dagegen  ist  seiner  Meinung  nach  nichts 
gefährlicher,  als  den  umgekehrten  Weg  einzuschlagen 
und  irgend  einen  vorher  aufgestellten  Wissenschaft- 


Goethe  als  Naturforscher.  293 

liehen  Satz  unmittelbar  durch  Versuche  beweisen  zu 
wollen.  Dadurch,  daß  ein  Versuch  mit  einer  vor- 
gefaßten Hypothese  stimmt,  wird  keineswegs  be- 
wiesen, daß  dieselbe  auch  richtig  sei. 

Man  muß  also  zuerst  die  Konsequenz  und  Kon- 
stanz der  Phänomene  in  möglichst  vielen  Fällen 
beobachten,  dann  kann  man  diese  Ergebnisse  vor- 
läufig zu  einem  empirischen  Gesetz  zusammenfassen. 
Dieses  muß  dann  aber  in  der  Erfahrung  an  einer 
ganzen  Reihe  von  andern  Versuchen  geprüft,  even- 
tuell berichtigt  und  erweitert  werden.  Nur  so  ist 
die  größtmögliche  Annäherung  des  menschlichen 
Geistes  an  die  Gegenstände  zu  erreichen.  „Kein 
Phänomen  erklärt  sich  an  und  aus  sich  selbst;  nur 
viele  zusammen  überschaut,  methodisch  geordnet, 
geben  zuletzt  etwas,  was  für  Theorie  gelten  könnte." 

Die  schwierigste  Frage  aber  ist  die,  welches 
Phänomen  an  den  Anfang  der  kontinuierlichen  Reihe 
gestellt  werden  soll.  Goethe  bezeichnet  diejenigen 
einfachsten  Fälle,  welche  eine  Erscheinung  in  mög- 
lichst klarer  Weise  zeigen  und  von  denen  sich  alle 
übrigen  Phänomene  ableiten  lassen,  als  Urphäno- 
men.  „Wer  nicht  gewahr  werden  kann,  daß  ein 
Fall  oft  Tausende  wert  ist,  und  sie  alle  in  sich 
schließt,  wer  das  nicht  zu  fassen  und  zu  ehren 
imstande  ist,  was  wir  Urphänomen  genannt  haben, 
der  wird  weder  sich  noch  andern  jemals  etwas  zur 
Freude  und  zum  Nutzen  fördern  können."    Für  die 


294  Zehnte  Vorlesung. 

Farbenlehre  war  ihm  ein  solches  Urphänomen  die 
Farbenerscheinung  der  trüben  Mittel,  und  der  physi- 
kalische Teil  seiner  Optik  stellt  den  konsequenten 
Versuch  dar,  alle  Farben  von  diesem  einen  Ur- 
phänomen abzuleiten.  Nichts  in  der  Erscheinung 
liegt  über  den  Urphänomenen,  „sie  dagegen  sind 

völlig  geeignet,  daß  man  stufenweise von  ihnen 

herab  bis  zum  gemeinsten  Falle  der  täglichen  Er- 
fahrung niedersteigen  kann".  Für  Goethe  ist  die 
Aufgabe  der  Naturforschung  mit  der  Auffindung  der 
Urphänomene  im  wesentlichen  erschöpft.  Er  macht 
nicht  den  Versuch,  diese  selbst  wieder  erklären  zu 
wollen.  Den  Grund  hierfür  gibt  er  selber  an.  Man 
soll  nicht  „hinter  ihnen  und  über  ihnen  noch  etwas 
Weiteres  aufsuchen,  da  wir  doch  hier  die  Grenze 
des  Schauens  eingestehen  sollten".  Es  sind  also 
die  Urphänomene  das  letzte  unmittelbar  Anschau- 
liche, zu  dem  wir  gelangen  können,  und  die  Natur- 
forschung soll  sich  streng  in  den  Grenzen  des  An- 
schaulichen halten.  Wir  sehen  hier  wieder,  wie  sehr 
Goethe  ein  Mann  des  Auges  gewesen  ist  und  wie 
für  ihn  Anschaulichkeit  die  erste  Voraussetzung  jeder 
Naturkenntnis  war.  Er  sucht  die  Phänomene  „bis 
zu  ihren  Quellen  zu  verfolgen,  bis  dorthin,  wo  sie 
bloß  erscheinen  und  sind,  und  wo  sich  nichts 
weiter  an  ihnen  erklären  läßt".  „Man  suche  nur  nichts 
hinter  den  Phänomenen,  sie  selbst  sind  die  Lehre." 
Goethe  sieht  also  die  Aufgabe  der  Naturforschung 


Goethe  als  Naturforscher.  295 

nur  darin,  eine  möglichst  vollständige  und  einfache 
Beschreibung  der  Naturvorgänge  zu  geben,  und 
berührt  sich  in  dieser  Forderung  aufs  engste  mit 
einem  der  hervorragendsten  theoretischen  Physiicer 
des  verflossenen  Jahrhunderts,  mit  Alfred  Kirchhoff. 
Dieser  stellte  als  Aufgabe  der  Mechanik  hin,  die 
Naturvorgänge  vollständig  und  auf  die  einfachste 
Weise  zu  beschreiben.  Der  Unterschied  liegt  nur 
darin,  daß  der  theoretische  Physiker  zur  Beschrei- 
bung das  Unanschaulichste,  die  mathematische  For- 
mel, benutzt,  während  für  Goethe  die  unmittelbare 
Anschaulichkeit  notwendige  Voraussetzung  jeder 
Naturerkenntnis  gewesen  ist.  Er  fragt  also  bei  seinen 
Forschungen  nicht  nach  den  Ursachen  der  Phäno- 
mene, sondern  er  will  nur  ihre  Bedingungen  unter- 
suchen, nur  feststellen,  welche  Vorgänge  in  der 
Natur  notwendigerweise  zum  Zustandekommen  einer 
bestimmten  Erscheinung  erforderlich  sind.  Sehr  gut 
läßt  sich  Goethes  Ansicht  aus  einer  Stelle  der  Farben- 
lehre erkennen,  die  sich  gegen  Newton  richtet.  „Die 
Phänomene  lassen  sich  sehr  genau  beobachten,  die 
Versuche  lassen  sich  reinlich  anstellen,  man  kann 
Erfahrungen  und  Versuche  in  einer  gewissen  Ord- 
nung aufführen,  man  kann  eine  Erscheinung  aus  der 
andern  ableiten,  man  kann  einen  gewissen  Kreis 
des  Wissens  darstellen,  man  kann  seine  Anschauungen 
zur  Gewißheit  und  Vollständigkeit  erheben,  und  das, 
dächte  ich,  wäre  schon  genug.    Folgerungen   hin- 


296  Zehnte  Vorlesung. 

gegen  zieht  jeder  für  sich  daraus,  beweisen  läßt 
sich  nichts  dadurch,  besonders  keine  Ibilitäten  und 
Keiten.  Alles,  was  Meinungen  über  die  Dinge  sind, 
gehört  dem  Individuum  an,  und  wir  wissen  nur  zu 
sehr,  daß  die  Überzeugung  nicht  von  der  Einsicht, 
sondern  von  dem  Willen  abhängt,  daß  niemand 
etwas  begreift,  als  was  ihm  gemäß  ist  und  was 
er  deswegen    zugeben  mag.     Im  Wissen  wie  im 

Handeln  entscheidet  das  Vorurteil  alles es  ist 

ein  freudiger  Trieb  unseres  lebendigen  Wesens  nach 
dem  Wahren  wie  nach  dem  Falschen,  nach  allem, 
was  wir  mit  uns  im  Einklang  fühlen."  Hier  wird 
scharf  zwischen  der  eigentlichen  Beobachtung,  die 
uns  Sicherheit  gibt,  und  allen  daraus  gezogenen 
theoretischen  Folgerungen,  welche  immer  nur  sub- 
jektive Bedeutung  besitzen,  unterschieden,  denn: 
„beim  Übergang  von  der  Erfahrung  zum  Urteil  ge- 
rät der  Forscher  in  die  größte  Gefahr  des  Irrtums." 
Aus  diesem  Grunde  ist  die  naturwissenschaftliche 
Weltanschauung  jedes  einzelnen  Forschers  etwas, 
worüber  sich  gar  nicht  streiten  läßt,  da  sie  von 
dessen  Persönlichkeit  abhängt  „Was  bleibt  dem 
Naturforschenden,  ja  einem  jeden  Betrachtenden 
endlich  übrig,  als  die  Erscheinungen  der  Außenwelt 
mit  sich  in  Harmonie  zu  setzen.  Und  werden  wir 
nicht  alle  jeden  Tag  überzeugt,  daß  dasjenige,  was 
dem  einen  Menschen  gemäß  und  angenehm  ist,  dem 
andern  widerwärtig  und  unlustig  erscheine."  Dieses 


Goethe  als  Naturforscher.  297 

subjektive  Moment  muß  aber  jeder  einzelne  nach 
Möglichlceit  auszuschalten  suchen,  indem  er  bei  der 
Naturforschung  völlig  im  Rahmen  des  Anschau- 
lichen bleibt. 

Goethe  steht  also  der  Natur  durchaus  als  ein 
Fragender  gegenüber.  Seine  „Anfragen  an  die  Natur" 
sind  die  Versuche.  Der  Versuch  wird  als  Vermittler 
zwischen  Objekt  und  Subjekt,  zwischen  Naturforscher 
und  Außenwelt  betrachtet.  „Diese  Vorstellungsart", 
schreibt  er  in  den  Annalen,  „wurde  nun  auf  die 
ganze  Physik  angewendet;  das  Subjekt  in  ge- 
nauer Erwägung  seiner  auffassenden  und 
erkennenden  Organe,  das  Objekt  als  ein  allen- 
falls erkennbares  gegenüber,  die  Erscheinung  durch 
Versuche  wiederholt  und  vermannigfaltigt  in  der 
Mitte,  wodurch  eine  ganz  eigene  Art  von  Forschung 
bereitet  wurde." 

Wenn  Goethe  so  alles  Theoretisieren  verwirft, 
so  ist  die  Beantwortung  der  Frage,  woran  wir  denn 
eigentlich  ein  Urphänomen  als  solches  erkennen 
sollen,  eine  schwierige.  Für  ihn  ist  es  die  Aufgabe 
des  Genies,  welches  auf  den  ersten  Blick  wahr- 
nimmt, daß  hier  die  Wurzel  der  Erscheinungen  vor- 
liegt „Alles  kommt  in  der  Wissenschaft  auf  das 
an,  was  man  ein  Apercu  nennt,  auf  ein  Gewahr- 
werden dessen,  was  eigentlich  den  Erscheinungen 
zum  Grunde  liegt,  und  ein  solches  Gewahrwerden 
ist  ins  Unendliche  fruchtbar."     Wer  nicht  an   der 


298  Zehnte  Vorlesung. 

richtigen  Stelle  zu  erstaunen  imstande  ist,  dem  fehlt 
das  Zeug  zum  Naturforscher.  „Alles,  was  wir  Er- 
finden, Entdecken  im  höheren  Sinne  nennen,  ist  die 
bedeutende  Ausübung,  Betätigung  eines  originellen 
Wahrheitsgefühles,  das,  im  Stillen  längst  ausgebildet, 
unversehens  mit  Blitzesschnelle  zu  einer  frucht- 
baren Erkenntnis  führt.  Es  ist  eine  aus  dem  Innern 
am  Äußern  sich  entwickelnde  Offenbarung,  die 
den  Menschen  seine  Gottähnlichkeit  vorahnen  läßt." 
Ist  das  Urphänomen  gefunden,  so  lassen  sich  alle 
andern  Phänomene  von  ihm  aus  zur  kontinuierlichen 
Reihe  -ordnen.  Man  soll  sich  aber  hüten,  die  Er- 
scheinungen nach  Kausalitätsgesetzen  verknüpfen  zu 
wollen,  denn  das  ist  schon  willkürliches  Theoretisieren. 
Immer  und  immer  wieder  wird  vor  dem  voreiligen 
Aufstellen  von  Theorien  gewarnt.  „Theorien  sind 
gewöhnlich  Übereilungen  eines  ungeduldigen  Ver- 
standes, der  an  die  Stelle  des  Phänomens  Bilder, 
Begriffe,  ja  oft  nur  Worte  einschiebt."  „Das  bloße 
Anblicken  einer  Sache  kann  uns  nicht  fördern.  Jedes 
Ansehen  geht  über  in  ein  Betrachten,  jedes  Betrachten 
in  ein  Sinnen,  jedes  Sinnen  in  ein  Verknüpfen,  und 
80  kann  man  sagen,  daß  wir  schon  bei  jedem  auf- 
merksamen Blick  in  die  Welt  theoretisieren.  Dieses 
aber  mit  Bewußtsein,  mit  Selbstkenntnis,  mit  Frei- 
heit und,  um  uns  eines  gewagten  Wortes  zu  bedienen, 
mit  Ironie  zu  tun  und  vorzunehmen,  eine  solche 
Gewandtheit  ist  nötig,  wenn  die  Abstraktion,  vor  der 


Goethe  als  Naturforscher.  299 

wir  uns  fürchten,  unschädlich  und  das  Erfahrungs- 
resultat, das  wir  hoffen,  recht  lebendig  und  nützlich 
werden  soll." 

Goethe  ist  sich  natürlich  vollständig  darüber  im 
Klaren,  daß  man,  um  überhaupt  Versuche  anstellen 
zu  können,  Hypothesen  braucht.  Er  will  sie  aber 
nur  als  Arbeitshypothesen  gelten  lassen,  als  bequeme 
Bilder,  um  sich  die  Vorstellung  des  Ganzen  zu  er- 
leichtern. Die  Aufstellung  der  Hypothesen  bildet  gar 
nicht  den  naturwissenschaftlichen  Teil  der  Forschung, 
sondern  den  philosophischen.  Die  Physik  hört  beim 
Urphänomen  auf,  der  Philosoph  fängt  bei  ihm  an. 
Haben  die  Hypothesen  aber  ihre  Aufgabe  erfüllt,  zu 
Versuchen  von  großer  Anschaulichkeit  und  Klarheit 
geführt  zu  haben,  so  soll  man  sie  verlassen.  „Hypo- 
thesen sind  Gerüste,  die  man  vor  dem  Gebäude 
aufführt,  und  die  man  abträgt,  wenn  das  Gebäude 
fertig  ist.  Sie  sind  dem  Arbeiter  unentbehrlich,  nur 
muß  er  das  Gerüst  nicht  für  das  Gebäude  ansehen." 
So  wird  es  verständlich,  wenn  Goethe  in  der  Farben- 
lehre alle  Hypothesen  über  die  Natur  des  Lichtes 
vermeidet,  in  der  Geologie  aber  hypothetische  An- 
nahmen für  unvermeidlich  hält 

Goethe  hat  einmal  die  verschiedenen  Arten  der 
Naturbetrachtung  in  übersichtlicher  Weise  eingeteilt. 
Die  tiefste  Stufe  sind  die  Nutzenden,  die  Nutzen- 
Suchenden,  die  das,  was  die  Natur  bietet,  für  ihre 
praktischen  Zwecke   verwenden;    die  zweite  Stufe 


300  Zehnte  Vorlesung. 

bilden  die  Wißbegierigen,  die  nur  das  wissen- 
schaftlich verarbeiten,  was  sie  vorfinden;  zu  der 
dritten  Stufe,  den  Anschauenden,  rechnet  sich 
Goethe  selbst:  sie  suchen  die  Imagination  nach 
Möglichkeit  zu  vermeiden  und  führen  alles  auf  An- 
schaulichkeit zurück;  die  vierte  Gruppe,  die  Um- 
fassenden, schlagen  den  umgekehrten  Weg  ein, 
sie  gehen  von  Ideen  aus  und  suchen  deren  Ver- 
wirklichung in  der  Natur.  Hier  geht  der  Verstand, 
nach  Kants  Darlegung,  „von  der  Anschauung  eines 
Ganzen  als  eines  solchen,  zum  Besonderen,  das 
ist,  von  dem  Ganzen  zu  den  Teilen."  Auch  diesen 
letzteren  Weg  sucht  Goethe  vielfach  zu  beschreiten, 
wenn  er  vom  Typischen  (z.  B.  in  Botanik  und  ver- 
gleichender Anatomie)  zum  Einzelfalle  vordringt  und 
sich  so  „durch  das  Anschauen  einer  immer  schaffen- 
den Natur  zur  geistigen  Teilnahme  an  ihren  Pro- 
duktionen würdig  macht." 

Bei  der  umfassenden  Betrachtung  aller  Gebiete 
der  Naturwissenschaft,  wie  sie  Goethe  während 
seines  langen  arbeitsreichen  Lebens  vorgenommen 
hat,  war  es  natürlich,  daß  er  schließlich  zu  einigen 
wenigen  ganz  durchgreifenden  Verallgemeinerungen 
gelangen  mußte,  auf  die  sich  alle  Naturvorgänge 
zurückführen  lassen.  Wohl  alle  großen  Naturforscher 
stellen  derartige  allgemeinste  Prinzipien  auf.  Für 
Goethe  waren  die  zwei  großen  Triebräder  der  Natur 
der  Begriff  von  Polarität  und  von  Steigerung. 


Goethe  als  Naturforscher.  301 

Wenn  wir  uns  kurz  klar  machen  wollen,  was  er 
darunter  verstanden  hat,  so  gehen  wir  von  dem 
zweiten  Begriff,  dem  Prinzip  der  Steigerung,  aus. 
Goethe  ordnete,  wie  wir  wissen,  alle  Naturphäno- 
mene, die  ihm  bei  seiner  Forschung  entgegentraten, 
in  eine  kontinuierliche  Reihe,  die  vom  einfachsten 
bis  zum  kompliziertesten  aufstieg  und  deren  einzelne 
Glieder  durch  fließende  Übergänge  verbunden  waren. 
So  verfuhr  er  in  der  Botanik  und  vergleichenden 
Anatomie,  so  auch  in  der  Farbenlehre.  Auf  diese 
Weise  ergab  sich  für  ihn  ein  Bild  des  Naturganzen, 
das  sich  in  aufsteigender  Linie  entwickelte,  wobei 
wir  uns  erinnern  müssen',  daß  diese  Entwicklung 
nicht  im  Darwinschen  Sinne  zu  nehmen  ist,  sondern 
vielmehr  so  verstanden  werden  muß,  daß  sich  die 
Natur  als  eine  solche  kontinuierlich  aufsteigende 
Reihe  darstellen  läßt.  Diese  Reihe  ist  für  Goethe 
der  Ausdruck  der  Steigerung.  Aus  den  einfachsten 
Phänomenen  werden  durch  Steigerung  die  kompli- 
zierteren und  zusammengesetzten  abgeleitet.  Sie 
knüpft  an  die  Urphänomene  an  und  führt  so  schließ- 
lich zu  den  verwickelten  Erscheinungen  der  täg- 
lichen Erfahrung. 

Das  Prinzip  der  Steigerung  hat  Goethe  schon 
relativ  früh  bei  seinen  botanischen  und  vergleichend 
anatomischen  Studien  im  Ausgang  der  achziger  Jahre 
gewonnen.  Später  erst  hat  sich  dazu  der  Begriff 
der  Polarität  gesellt,  den  er  durch  die  Beschäftigung 


302  Zehnte  Vorlesung. 

mit  der  Physik  gewann  und  im  Anschluß  an  diese 
Studien  in  aligemeinster  Weise  angewendet  hat. 

Der  Begriff  der  Polarität  knüpft  sich  an  die 
Lehre  vom  Magnetismus  an.  In  ein  und  demselben 
Eisenstück  finden  sich  vereinigt  und  doch  getrennt 
die  beiden  Pole  als  Gegensatz,  die  sich  anzuziehen 
streben.  Dieses  Phänomen  dient  nun  Goethe  zur 
Veranschaulichung  eines  allgemeinen  Naturprinzips: 
„Der  Magnet  ist  ein  Urphänomen,  das  man  nur 
aussprechen  darf,  um  es  erklärt  zu  haben:  dadurch 
wird  es  denn  auch  ein  Symbol  für  alles  übrige, 
wofür  wir  keine  Worte  noch  Namen  zu  suchen 
brauchen."  Zunächst  findet  sich  das  gleiche  in 
der  Elektrizitätslehre.  Die  positive  und  negative 
Elektrizität,  ihr  Anziehen  und  Abstoßen  „zusammen 
deutet  auf  eine  Scheidung,  auf  ein  Entzweien,  das 
wie  beim  Magnet  sein  Entgegengesetztes,  seine 
Totalität,  sein  Ganzes  wieder  sucht"  In  der  Chemie 
findet  Goethe  die  polaren  Gegensätze  in  der  Oxy- 
dation und  Desoxydation,  in  der  Optik  ist  es  der 
Gegensatz  von  Licht  und  Finsternis,  deren  Ver- 
einigung die  Farben  erzeugt.  Bei  letzteren  findet 
er  die  Polarität  in  dem  Gegensatz  von  Gelb  und 
Blau,  dem  trüben  Medium  vor  hellem  und  vor 
dunklem  Grund;  aus  beiden  leitet  er  wie  wir  wissen 
durch  Steigerung  Rot  und  Violett  ab,  und  durch 
Verknüpfung  entstehen  Grün  und  Purpur.  So  er- 
gibt sich  durch  Vereinigung  der  polaren  Gegensätze 


Goethe  als  Naturforscher.  303 

schließlich  die  Totalität  des  ganzen  Farbenkreises. 
Ähnliche  Betrachtungen  werden  nun  für  alle  Natur- 
gebiete angestellt.  „Treue  Beobachter  der  Natur, 
wenn  sie  auch  sonst  noch  so  verschieden  denken, 
werden  doch  darin  übereinkommen,  daß  alles,  was 
erscheinen,  was  uns  als  Phänomen  begegnen  solle, 
müsse  entweder  eine  ursprüngliche  Entzweiung,  die 
einer  Vereinigung  fähig  ist,  oder  eine  ursprüngliche 
Einheit,  die  zur  Entzweiung  gelangen  könne,  an- 
deuten und  sich  auf  eine  solche  Weise  darstellen. 
Das  Geeinte  zu  entzweien,  das  Entzweite  zu  einigen 
ist  das  Leben  der  Natur;  dies  ist  die  ewige 
Systole  undDiastole,  die  ewigeSynkrisis  und 
Diakrisis,  das  Ein-  und  Ausatmen  der  Welt, 
in  der  wir  leben,  weben  und  sind."  Wir  besitzen  von 
seiner  Hand  eine  kurze  Aufzeichnung,  wie  weit  er 
den  Begriff  der  Polarität  auf  Körperliches  und  be- 
sonders auf  Geistiges  ausdehnen  wollte.  Er  ver- 
zeichnet hier  die  Antithesen:  „Wir  und  die  Gegen- 
stände, Licht  und  Finsternis,  Leib  und  Seele,  zwei 
Seelen,  Geist  und  Materie,  Gott  und  die  Welt,  Ge- 
danke und  Ausdehnung,  Ideales  und  Reales,  Sinn- 
lichkeit und  Vernunft,  Phantasie  und  Verstand,  Sein 
und  Sehnsucht,  —  zwei  Körperhälften,  Rechts  und 
Links,  Atemholen,  Physische  Erfahrung:  Magnet" 
So  leitet  sich  von  dem  einfachen  Phänomen  des 
Magneten  für  Goethe  jeder  Zwiespalt  ab,  den  er 
in  der  Natur  findet: 


304  Zehnte  Vorlesung. 

„Magnets  Geheimnis,  erkläre  mir  das! 

Kein  größres  Geheimnis  als  Liebe  und  Haß". 

Das  sind  die  beiden  letzten  Verallgemeinerungen, 
zu  denen  Goethe  bei  seiner  Naturbetrachtung  ge- 
langt ist,  einfachste  Sätze,  die  er  auf  allen  Natur- 
gebieten bestätigt  fand.  Aber  auch  hier  handelt  es 
sich  bei  ihm  nicht  um  Abstraktes.  Dadurch,  daß 
er  den  Begriff  der  Polarität  vom  Magnet  als  einem 
Urphänomen  ableitet,  gewinnt  er  auch  ftlr  diese  all- 
gemeinen Gesichtspunkte  eine  Anschaulichkeit 

Das  durchgehende  Streben  Goethes,  alle  Natur- 
forschung ganz  rein  auf  Anschaulichkeit  zu  grün- 
den, bestimmt  auch  sein  Verhältnis  zu  zwei  Nach- 
bargebieten der  Naturwissenschaft,  zur  Mathematik 
und  zur  Philosophie.  Die  mathematische  Betrach- 
tungsweise besonders  der  Physik,  welche  die  Natur- 
vorgänge mit  Hilfe  einfacher  Formeln  darstellen  will, 
um  zu  rechnerischen  Ergebnissen  zu  gelangen,  sucht 
sich  nach  Möglichkeit  von  jeder  Anschaulichkeit  zu 
entfernen.  Sie  schlägt  also  gerade  den  umgekehrten 
Weg  ein  wie  Goethe.  Daher  dessen  oft  scharfe 
Stellungnahme  gegen  die  mathematische  Behand- 
lung der  Physik.  Er  sieht  in  der  Mathematik  nur 
ein  Verfahren,  um  mit  komplizierten  Mitteln  ein- 
fache Zwecke  zu  erreichen.  Dabei  verführt  sie  nach 
seiner  Meinung  zur  Unredlichkeit,  weil  sie  eine 
scheinbare  Sicherheit  der  Ergebnisse  vortäuscht. 
In  den  mathematischen  Resultaten  steckt  nämlich 


Goethe  als  Naturforscher.  305 

schließlich  nicht  mehr  drin  als  schon  in  den  ersten 
Propositionen,  von  denen  die  Rechnung  ausging. 
Das  Resultat  kann  also  auch  nicht  mehr  lehren  als 
die  ursprünglichen  Propositionen.  Die  Fehlerquelle 
liegt  in  diesen  letzteren.  Die  Naturvorgänge  sind 
oft  so  kompliziert,  daß  sie  sich  durch  eine  einfache 
mathematische  Formel  nicht  vollständig  darstellen 
lassen,  und  besonders  Newtons  Optik  ist  für  Goethe 
ein  trauriges  Beispiel,  wie  durch  mathematische  Be- 
handlung die  Naturwissenschaft  verwirrt  worden  ist. 
Die  Entwicklung  der  Physik  im  19.  Jahrhundert  hat 
Goethe  unrecht  gegeben.  Der  Anwendung  mathe- 
matischer Berechnungen  verdanken  wir  die  wich- 
tigen Fortschritte  der  Erkenntnis  und  der  Technik, 
die  unser  ganzes  äußeres  Leben  umgestaltet  haben. 
Dagegen  gilt  in  vielen  Zweigen  der  Physiologie  auch 
heute  noch  Goethes  Lehre.  Die  Lebensvorgänge  sind 
tatsächlich  meist  so  verwickelt,  daß  sie  sich  vielfach 
noch  nicht  in  mathematischen  Formeln  haben  darstel- 
len lassen.  Hier  ist  die  Unsicherheit  bei  der  Aufstel- 
lung der  ersten  Propositionen  noch  so  groß,  daß  auch 
die  Resultate  vielfach  noch  wenig  Vertrauen  finden. 
Es  ist  Goethe  von  den  zeitgenössischen  Phy- 
sikern oft  zum  Vorwurf  gemacht  worden,  daß  seine 
Farbenlehre  der  mathematischen  Behandlung  ent- 
behre, und  es  wurde  ihm  von  Freunden  nahegelegt, 
sie  noch  nachträglich  durchführen  zu  lassen.  Er 
aber  ärgerte  sich  nur,  daß  die  Mathematiker  dünkel- 

Magnus,  Goethe  als  Naturforscher.  20 


306  Zehnte  Vorlesung. 

haft  alles  für  nichtig  und  unexakt  erklären,  was  sich 
nicht  dem  Kalkül  unterwerfen  läßt.  Für  ihn  war 
nicht  die  Rechnung,  sondern  die  Anschaulichkeit 
höchstes  Ziel  der  Naturforschung,  und  deshalb  war 
es  seiner  Meinung  nach  „die  große  Aufgabe,  die 
mathematisch -philosophischen  Theorien  aus  den 
Teilen  der  Physik  zu  verbannen,  in  welchen  sie 
Erkenntnis,  anstatt  sie  zu  fördern,  nur  verhindern, 
und  in  welchen  die  mathematische  Behandlung  durch 
die  Einseitigkeit  der  Entwicklung  der  neueren  wissen- 
schaftlichen Bildung  eine  so  verkehrte  Anwendung 
gefunden  hat."  „Als  getrennt  muß  sich  darstellen: 
Physik  von  Mathematik.  Jene  muß  in  einer  ent- 
schiedenen Unabhängigkeit  bestehen  und  mit  allen 
liebenden,  verehrenden,  frommen  Kräften  in  die 
Natur  und  das  heilige  Leben  derselben  einzudringen 
suchen,  ganz  unbekümmert,  was  die  Mathematik  von 
ihrer  Seite  leistet  und  tut.  Diese  muß  sich  dagegen 
unabhängig  von  allem  Äußeren  erklären,  ihren  eigenen 
großen  Geistesgang  gehen  und  sich  selber  reiner 
ausbilden  als  es  geschehen  kann,  wenn  sie,  wie 
bisher,  sich  mit  dem  Vorhandenen  abgibt  und  diesem 
etwas  abzugewinnen  oder  anzupassen  trachtet."  Vor 
der  reinen  Mathematik  hatte  Goethe  stets  die  höchste 
Achtung  und  war  daher  auch  ein  warmer  Verehrer 
eines  der  größten  Mathematikers  seiner  Zeit,  La- 
granges. Nur  gegen  die  Anwendung  der  Mathe- 
matik auf  physikalische  Probleme  glaubte  er  an- 


Goethe  als  Naturforscher.  307 

kämpfen  zu  müssen.  „Die  Farbenlehre  besonders  hat 
sehr  viel  gelitten  und  ihre  Fortschritte  sind  äußerst 
gehindert  worden."  „Die  Mathematiker  sind  Fran- 
zosen: redet  man  zu  ihnen,  so  übersetzen  sie  es 
in  ihre  Sprache  und  dann  ist  es  alsbald  etwas  ganz 
anderes."  Poetischen  Ausdruck  hat  Goethe  diesem 
Standpunkt  in  dem  launigen  Gedichte:  „Katzen- 
pastete" verliehen,  von  dem  hier  nur  die  beiden 
ersten  Strophen  Platz  finden  mögen: 

„Bewährt  den  Forscher  der  Natur 
„Ein  frei  und  ruhig  Schauen, 
„So  folge  Meßkunst  seiner  Spur, 
„Mit  Vorsicht  und  Vertrauen. 

„Zwar  mag  bei  einem  Menschenkind 
„Sich  beides  auch  vereinen, 
„Doch  daß  es  zwei  Gewerbe  sind, 
„Das  läßt  sich  nicht  verneinen." 

Auch  Goethes  Stellung  zur  Philosophie  läßt  sich 
daraus  am  leichtesten  verstehen,  daß  für  ihn  stets 
die  Anschaulichkeit  das  letzte  und  höchste  Ziel  ge- 
wesen ist.  „Für  Philosophie  im  eigentlichsten  Sinne 
hatte  ich  kein  Organ."  Als  junger  Mensch  hatte  er 
wesentlich  die  philosophischen  Lehren  Giordano 
Brunos  und  Spinozas  in  sich  aufgenommen,  welche 
die  Alleinheit  der  Natur  lehren  und  einen  Pantheis- 
mus, eine  Allbeseelung  der  Natur  predigen.  Diese 
Auffassung  war  Goethes  Wesen  am  gemäßesten; 
daher  hat  er  das  Selbst  und  die  Außenwelt  auch 
bei  der  Naturbetrachtung  nie  scharf  gesondert  und 

20* 


308  Zehnte  Vorlesung. 

mit  Naivität  geglaubt,  er  „sehe  seine  Meinungen 
vor  Augen."  Er  war  so  von  der  Realität  seiner 
Wahrnehmungen  überzeugt,  daß  ihn  erst  Schiller 
in  dem  ersten  Gespräch  über  die  Pflanzenmeta- 
morphose aus  seinem  unkritischen  Schlummer  er- 
wecken mußte.  Er  hatte  Kants  „Kritik  der  reinen 
Vernunft"  und  „Kritik  der  Urteilskraft"  schon  1788 
und  1790  studiert,  wurde  aber  erst  durch  Schiller 
nachdrücklicher  auf  sie  hingewiesen.  Er  machte 
sich  nun  sorgfältige  Auszüge,  beschäftigte  sich  in 
seinen  Gedanken  vielfach  mit  diesen  Fragen  und 
es  gingen  ihm  dabei  die  neuen  Probleme,  wie  über- 
haupt unsere  Erfahrung  und  Erkenntnis  von  der 
Außenwelt  zustande  kommt,  allerdings  auf.  Er  stand 
aber,  als  er  mit  Kants  Lehre  bekannt  wurde,  schon 
in  den  vierziger  Jahren.  Die  Grundlinien  seiner 
Denkweise  waren  also  bereits  unverrücklich  fest- 
gelegt. So  hat  er  wohl  die  Fragen  der  Erkenntnis- 
kritik in  seinem  Geiste  aufgeworfen  und  diskutiert, 
sie  aber  nicht  mehr  zur  Grundlage  seines  Denkens 
gemacht.  Die  Farbenlehre  ist  ein  Zeugnis  dafür, 
daß  er  auch  nach  dem  Studium  Kants  zwischen 
seinen  Sinnesempfindungen  und  den  diese  Empfin- 
dung auslosenden  Reizen  nicht  scharf  unterschied, 
sondern  fließende  Übergänge  zwischen  beiden  auf- 
stellen wollte.  Erst  durch  Schopenhauer  ist,  wie 
wir  wissen,  die  Kantische  Lehre  für  die  Farben- 
lehre nutzbar  gemacht  worden.    Wir  finden  viel- 


Goethe  als  Naturforscher.  309 

fache  Erörterungen  zur  Erkenntnistheorie  bei  Goethe. 
„Bei  Betrachtung  der  Natur  im  Großen  wie  im 
Kleinen  habe  ich  unausgesetzt  die  Frage  gestellt: 
Ist  es  der  Gegenstand  oder  bist  Du  es,  der  sich 
hier  ausspricht?'  „Die  Erscheinung  ist  vom 
Beobachter  nicht  losgelöst,  vielmehr  in  die  In- 
dividualität desselben  verschlungen  und  verwickelt." 
„Wir  können  eine  organische  Natur  nicht  lange  als 
Einheit  betrachten,  wir  können  uns  selbst  nicht 
lange  als  Einheit  denken,  so  finden  wir  uns  zu 
zwei  Ansichten  genötigt,  und  wir  betrachten  uns 
einmal  als  ein  Wesen,  das  in  die  Sinne  fällt,  ein 
andermal  als  ein  anderes,  das  nur  durch  den  inne- 
ren Sinn  erkannt  oder  durch  seine  Wirkung  be- 
merkt werden  kann.  —  Die  Zoonomie  zerfällt  daher 
in  zwei  nicht  leicht  voneinander  zu  trennende  Teile, 
nämlich  in  die  körperliche  und  in  die  geistige. 
Beide  können  zwar  nicht  voneinander  getrennt  wer- 
den, aber  der  Bearbeiter  dieses  Faches  kann  von 
der  einen  oder  der  andern  Seite  ausgehen  und  so 
einer  oder  der  andern  das  Übergewicht  verschaffen." 
Diese  Kantischen  Probleme  sind  aber  für  ihn  stets 
nur  Probleme  geblieben.  Bei  seinem  Streben  nach 
unmittelbarster  Anschaulichkeit  setzte  er  doch  immer 
wieder  seine  Sinnesempfindung  als  unmittelbare 
Wirklichkeit  voraus. 

Ebensowenig  hat  ihn  bis  in  sein  spätestes  Alter 
sein  pantheistischer  Glaube  verlassen.    „Wir  können 


310  Zehnte  Vorlesung. 

bei  Betrachtung  des  Weltgebäudes  in  seiner  wei- 
testen Ausdehnung,  in  seiner  letzten  Teilbarkeit,  uns 
der  Vorstellung  nicht  erwehren,  daß  dem  Ganzen 
eine  Idee  zum  Grunde  liege,  wonach  Gott  in  der 
Natur,  die  Natur  in  Gott,  von  Ewigkeit  zu  Ewigkeit 
schaffen  und  wirken  möge."  Dieser  Allbeseelung 
der  gesamten  Natur  entnahm  Goethe  die  Aufforde- 
rung, in  der  Natur  nach  den  Ideen  zu  suchen,  die 
all  dem  Naturgeschehen  zugrunde  liegen,  nach  denen 
die  Natur  bei  Ausbildung  anorganischen  und  orga- 
nischen Wesens  zu  Werke  geht.  Die  Wirksamkeit 
dieser  Ideen  setzt  der  Naturforscher  Goethe  voraus; 
die  Harmonie  des  Naturganzen  ist  ihr  Ausdruck. 

„Was  war*  ein  Gott,  der  nur  von  außen  stieße, 
„Im  Kreis  das  All  am  Finger  laufen  ließe. 
„Ihm  ziemt's,  die  Welt  im  Innern  zu  bewegen, 
„Natur  in  Sich,  Sich  in  Natur  zu  hegen, 
„So  daß,  was  in  Ihm  lebt  und  webt  und  ist, 
„Nie  Seine  Kraft,  nie  Seinen  Geist  vermißt." 

Auf  diese  Weise  glaubt  Goethe  durch  die  Natur- 
forschung in  das  Innerste  der  Natur  einzudringen. 
Für  ihn  ist  der  Spruch  Albrecht  von  Hallers  ein 
Greuel,  des  Physiologen,  der  an  der  Kompliziert- 
heit der  Lebenserscheinungen  verzweifelnd  ausge- 
rufen hatte: 

„Ins  Innere  der  Natur  dringt  kein  erschaffener  Geist, 
»Glückselig,  wem  sie  nur  die  flußcre  Schale  weist* 

Diese  Resignation  wird  von  Goethe  aufs  schärfste 
zurückgewiesen. 


Goethe  als  Naturforscher.  311 

„Ins  Innere  der  Natur*  — 

0  du  Philister!  — 

„Dringt  kein  erschaffner  Geist." 

Mich  und  Geschwister 

Mögt  ihr  an  solches  Wort 

Nur  nicht  erinnern: 

Wir  denken:  Ort  für  Ort 

Sind  wir  im  Innern. 

„Glückselig!   wem  sie  nur 

Die  äußre  Schale  weist." 

Das  hör'  ich  sechzig  Jahre  wiederholen, 

Ich  fluche  drauf,  aber  verstohlen; 

Sage  mir  tausend  tausendmale: 

Alles  giebt  sie  reichlich  und  gern; 

Natur  hat  weder  Kern 

Noch  Schale, 

Alles  ist  sie  mit  einemmale; 

Dich  prüfe  du  nur  allermeist, 

Ob  du  Kern  oder  Schale  seist." 

Da  Goethe  auf  der  einen  Seite  sich  die  Natur 
forschend  anschaulich  zu  machen  strebte,  auf  der 
andern  aber  in  der  Natur  wirkende  (göttliche)  Ideen 
annahm,  so  mußte  sich  ihm  die  Frage  erheben,  mit 
der  sich  jeder  Naturforscher  einmal  auseinander- 
setzen muß,  ob  denn  die  Natur  überhaupt  begreif- 
lich sei,  ob  wir  annehmen  dürfen,  durch  Natur- 
forschung in  das  Wesen  der  Außenwelt  vollständig 
eindringen  zu  können.  Schon  Kant  hatte  diese 
Frage  aufgeworfen  und  dahin  beantwortet,  daß  die 
Wissenschaft,  deren  Aufgabe  es  sei,  die  Natur  zu 
begreifen,  die  Begreiflichkeit  der  Natur  voraussetzen 
müsse.  Ebenso  lehrt  auch  Goethe,  „der  Mensch 
muß  bei  dem  Glauben  verharren,  daß  das  Unbe- 


312  Zehnte  Vorlesung. 

greifliche  begreiflich  sei;  er  würde  sonst  nicht  for- 
schen." Trotzdem  hat  er  ein  Unbegreifliches  in 
der  Natur  zugegeben.  Die  Ideen,  nach  denen  Gott- 
Natur  alle  Dinge  gestaltet,  sind  für  die  Natur- 
forschungzu  erkennen  unmöglich.  Wenn  man 
aber  auch  ein  solches  Unbegreifliches  voraussetzt, 
so  soll  doch  der  Mensch  seinem  Forschen  keine 
Schranken  setzen  und  so  weit  in  der  Erkenntnis  zu 
gelangen  streben,  als  ihm  möglich  ist.  In  seinem 
Aufsatz  „über  Noses  mineralogische  Arbeiten"  er- 
örtert er  diese  wichtigste  Frage:  „in  wiefern  wir  ein 
Unerforschtes  für  unerforschlich  erklären  dürfen,  und 
wieweit  es  dem  Menschen  vorwärts  zu  gehen  er- 
laubt sei,  ehe  er  Ursache  habe,  vor  dem  Unbegreif- 
lichen zurückzutreten  oder  davor  stille  zu  stehen. 
Unsere  Meinung  ist:  daß  es  dem  Menschen  gar 
wohl  gezieme,  ein  Unerforschliches  anzunehmen, 
daß  er  dagegen  aber  seinem  Forschen  keine  Gren- 
zen zu  setzen  habe;  denn  wenn  auch  die  Natur 
gegen  den  Menschen  im  Vorteil  steht  und  ihm 
manches  zu  verheimlichen  scheint,  so  steht  er  wie- 
der gegen  sie  im  Vorteil,  daß  er,  wenn  auch  nicht 
durch  sie  durch,  doch  Ober  sie  hinaus  denken  kann. 
Wir  sind  aber  schon  weit  genug  gegen  sie  vorge- 
drungen, wenn  wir  zu  den  Urphänomcnen  gelangen, 
welche  wir  in  ihrer  unerforschlichen  Herrlichkeit 
von  Angesicht  zu  Angesicht  anschaun  und  uns 
sodann  wieder  rückwärts  in  die  Welt  der  Erschei- 


k 


Goethe  als  Naturforscher.  313 

nungen  wenden,  wo  das  in  seiner  Einfalt  Unbe- 
greifliche sich  in  tausend  und  aber  tausend  mannig- 
faltigen Erscheinungen  bei  aller  Veränderlichkeit 
unverändert  offenbart."  —  Hier  wird  Goethes  Stand- 
punlct  aufs  klarste  ausgesprochen.  Die  Naturfor- 
schung kann  nur  so  weit  dringen,  als  die  Möglichkeit 
der  Anschauung  reicht,  d.  h.  bis  zu  den  Urphäno- 
menen.  Über  diese  hinaus  geht  Goethes  Naturfor- 
schung niemals.  Das  zu  tun  ist  vielmehr  die  Aufgabe 
der  Philosophie.  Wie  weit  diese  zur  Erklärung  der 
Urphänomene  und  zur  Erkenntnis  der  der  Natur 
zugrunde  liegenden  Ideen  beitragen  könne,  bleibt 
ungewiß.  Der  menschliche  Geist  muß  aber  in  das 
dunkle  Land,  soweit  es  ihm  möglich  ist,  vorzudringen 
suchen  „und  wenn  es  gleich  scheint,  daß  die  mensch- 
liche Natur  weder  die  unendliche  Mannigfaltigkeit  der 
Organisation  fassen,  noch  das  Gesetz,  wonach  sie 
wirkt,  deutlich  begreifen  kann,  so  ist's  doch  schön,  alle 
Kräfte  aufzubieten,  um  von  beiden  Seiten  sowohl  durch 
Erfahrung  als  durch  Nachdenken  dieses  Bild  zu  er- 
weitern." Es  liegt  also  in  Goethes  Auffassung  vom 
Begreiflichen  und  Unbegreiflichen  ein  Stück  Resigna- 
tion, aber  zur  Beruhigung  dient  ihm  die  Erkenntnis, 
daß  nur  das  Erforschliche  praktischen  Wert  hat. 
Deshalb  kann  er  das  Unerforschliche  ruhig  verehren. 
Die  Stellung  eines  Jüngers,  der  die  große  Mutter 
Natur  verehrt,  hat  Goethe  sein  ganzes  Leben  lang 
beibehalten.     Für  ihn   war    die   Beschäftigung  mit 


314  Zehnte  Vorlesung. 

der  Natur  eine  Art  Gottesdienst  Der  Verkehr  mit 
ihr  ist  deshalb  so  glüclcbringend,  weil  sie  keine 
menschlichen  Schwächen  besitzt:  „Warum  ich  zuletzt 
am  Liebsten  mit  der  Natur  verkehre,  ist,  weil  sie 
immer  recht  hat  und  der  Irrtum  bloß  auf  meiner 
Seite  sein  kann.  Verhandle  ich  hingegen  mit  Men- 
schen, so  irren  sie,  dann  ich,  auch  sie  wieder,  und  so 
fort,  da  kommt  nichts  aufs  Reine;  weiß  ich  mich  aber 
in  die  Natur  zu  schicken,  so  ist  alles  gethan.**  — 
„Die  Natur  bekümmert  sich  nicht  um  irgend  einen 
Irrtum;  sie  selbst  kann  nicht  anders  als  ewig  recht 
handeln,  unbekümmert  was  daraus  erfolgen  möge." 


Haben  wir  bisher  Goethes  Verhältnis  zur  Natur 
erörtert,  so  bleibt  uns  nur  noch  als  letzte  Auf- 
gabe, uns  klar  zu  machen,  welch  Aufschlüsse 
Ober  Goethes  Persönlichkeit  wir  aus  der  Kennt- 
nis seines  Naturforschens  erhalten.  Man  kann  die 
Menschen  im  allgemeinen  in  zwei  große  Gruppen 
sondern,  in  solche,  die  auf  Grund  von  optischen 
Vorstellungen  zu  denken  gewohnt  sind,  und  solche, 
welche  mit  Hilfe  akustischer  Eindrücke  und  Erinne- 
rungsbilder ihre  geistige  Tätigkeit  ausüben.  Zur 
ersteren  Gruppe  gehören  viele  der  Naturforscher 
und  Techniker,  zur  letzteren  die  Geisteswissen- 
schaftler, Philosophen  und  Philologen.  Bei  vielen 
Menschen  ist  eine  oder  die  andere  Denkweise  an- 
geboren.   Sie  kann  aber  auch  durch  Erziehung  ab- 


Goethe  als  Naturforscher.  315 

geändert  werden,  wie  denn  tatsächlich  viele  Knaben 
das  humanistische  Gymnasium  als  anschauend  be- 
treten und  als  anhörend  verlassen.  Diese  Ausein- 
andersetzung ist  deshalb  hier  von  Wichtigkeit,  weil 
Goethe  vielleicht  das  typischte  Beispiel  für  diejenige 
Menschenklasse  ist,  die  auf  Grund  von  Gesichts- 
vorstellungen denkt.  Goethe  ist  ein  reines  opti- 
sches Genie,  daher  hat  er  auch  die  Farbenlehre 
vollendet  und  die  Tonlehre  im  ersten  Entwurf  liegen 
lassen.  „Gegen  das  Auge  betrachtet  ist  das  Ohr 
ein  stummer  Sinn."  Goethe  war  wirklich  „zum  Sehen 
geboren,  zum  Schauen  bestellt"  und  konnte,  als  er 
als  Greis  den  Schlußakt  des  Faust  dichtete,  wohl 
mit  Fug  und  Recht  sagen: 

„Ihr  glücklichen  Augen, 
Was  je  ihr  gesehn, 
Es  sei,  wie  es  wolle, 
Es  war  doch  so  schön!" 

Er  selbst  ist  über  diese  seine  Geistesart  be- 
sonders durch  die  treffende  Bemerkung  des  Arztes 
Heinroth  aufgeklärt  worden,  der  ihm  gegenständ- 
liches Denkvermögen  zuschrieb,  und  hat  im 
Anschluß  daran  in  seinem  Aufsatz:  „Bedeutendes 
Fordernis  durch  ein  geistreiches  Wort"  Anlaß  ge- 
nommen, sich  über  seine  Denkweise  auszusprechen. 
Er  weist  hierbei  darauf  hin,  daß  sein  Dichten 
und  sein  Naturforschen  beide  auf  dieser  selben 
Grundlage  ruhen,  daß  er  so  zu  dichten  pflege, 
daß  er  die  Stoffe  oft  jahrelang  mit  sich  herumtrage 


316  Zehnte  Vorlesung, 

und  von  Zeit  zu  Zeit  in  plastischer  Form  vor  seinem 
geistigen  Auge  reproduziere.  Diese  fortwährende 
Erneuerung  durch  die  Einbildungskraft  führt  dann 
schließlich  zur  endgültigen  Gestaltung,  und  so  schreibt 
er  oft  Dichtungen,  die  Jahrzehnte  in  ihm  gereift  sind, 
schließlich  in  wenigen  Tagen  nieder.  Auch  die 
Neigung  zu  Gelegenheitsgedichten  hängt  mit  diesem 
gegenständlichen  Denken  zusammen.  Wie  sehr  Goethe 
bei  seiner  Naturforschung  sein  gegenständliches 
Denken  betätigte,  braucht  hier  nur  angedeutet  zu 
werden.  Alles  Vorhergehende  ist  die  beste  Illustra- 
tion dafür.  In  Farbenlehre  und  Physik  strebte  er 
ebenso  nach  Anschaulichkeit,  wie  er  bei  Betrachtung 
des  Schöpsenschädels  am  Lido  mit  einem  Blick 
den  Aufbau  des  Schädels  aus  Wirbelkörpern  erkannte, 
und  wie  er  seine  Idee  des  Pflanzenbaues  so  tatsäch- 
lich vor  Augen  zu  sehen  glaubte,  daß  ihm  Schillers 
Einwurf,  sie  sei  nur  eine  Idee,  als  eine  Beleidigung 
erschien.  So  sehen  wir,  daß  das  Auge  tatsächlich 
Goethes  Hauptsinn  ist,  daß  die  optischen  Eindrücke 
dauernd  sein  Denken  bestimmen  und  in  seinen  Vor- 
stellungskrels  eingehen.  Wenn  man  so  auf  Grund 
seiner  Sinneseindrücke  Dichter,  Künstler  und  Natur- 
forscher ist,  so  ist  allerdings  diese  Fähigkeit  zur 
Sinnlichkeit  notwendige  Voraussetzung.  „Dichter 
und  Künstler  müssen  geboren  sein."  Goethe  selbst 
schildert  uns  an  mehreren  Steilen  seiner  Werke,  wie 
es  ihm  ein  Leichtes  gewesen  ist,  Bilder,  Menschen 


Goethe  als  Naturforscher.  317 

und  Handlungen  sich  jederzeit  so  vorzustellen,  daß 
er  sie  mit  Augen  zu  sehen  glaubte. 

Mit  der  Fähigkeit  des  gegenständlichen  Denkens 
verknüpft  sich  bei  Goethe  naturgemäß  ein  zweites, 
die  schöpferische  Phantasie.  Wir  brauchen  hier 
nicht  näher  auszuführen,  daß  Goethe  diese  Grund- 
lage jeder  dichterischen  Tätigkeit  in  höchstem  Maße 
besessen  hat.  Wir  wollen  nur  das  in  der  Einleitung 
Gesagte  uns  in  das  Gedächtnis  zurückrufen,  daß 
auch  jeder  Naturforscher,  der  zu  umfassenden  Vor- 
stellungen gelangen  will,  nach  Helmholtz'  Zeugnis 
etwas  von  der  Phantasie  des  Dichters  nötig  habe. 
Diese  schöpferische  Einbildungskraft  äußert  sich  in 
allen  Zweigen  von  Goethes  Naturforschung,  in  der 
Pflanzenmetamorphose,  in  der  Konstruktion  des 
tierischen  Typus  ebensowohl  wie  in  der  Farben- 
lehre und  den  geologischen  Theorien.  Kein  Gerin- 
gerer als  Johannes  Müller  hat  noch  zu  Goethes 
Lebzeiten  auf  diese  gemeinsame  psychologische 
Grundlage  von  Goethes  Dichtung  und  Natur- 
forschung hingewiesen.  Er  schreibt  in  seinem  Auf- 
satz „über  die  phantastischen  Gesichtserscheinungen": 
„Hier  zeigt  sich  denn,  wo  das  Phantasieleben  des 
Künstlers  und  des  vergleichenden  Naturforschers  in 
gemeinsamem  Gebiet  sich  berühren  und  auch  aus- 
einandergehen. In  beiden  bewegt  sich  das  plastische 
Phantasieleben  nur  innerhalb  der  Sphäre  des  Begriffs. 
Der  Naturforscher  spricht  das  Gesetz  der  Formen- 


318  Zehnte  Vorlesung. 

bildung  und  Verwandlung  aus,  er  sieht  es  nur  in 
dem  Wirklichen  und  Natürlichen  verwirklicht.  Die 
Phantasie  des  Künstlers  ist  auch  nur  in  diesem 
Gesetze  tätig,  aber  sie  verläßt  seine  Verwirklichung 
im  Wirklichen  und  Natürlichen,  und  erhebt  sich,  in 
denselben  Gesetzen  sich  bewegend  und  fortschrei- 
tend, ohne  den  Begriff  zu  verlassen,  über  das  Wirk- 
liche zur  idealen  Form,  die  Selbstzweck  und  nicht 
mehr  ein  Ausdruck  innerer  Funktionen  und  als 
solcher  immerhin  durch  diese  beschränkt  ist.  Wun- 
dern wir  uns  darum  nicht,  wenn  einer  und  derselbe 
das  Größte  in  beiden  Richtungen  erreicht  hat.  Nur 
durch  eine  nach  der  erkannten  Idee  des  lebendigen 
Wechsels  wirkende  plastische  Imagination  entdeckte 
Goethe  die  Metamorphose  der  Pflanzen,  eben  darauf 
beruhen  seine  Fortschritte  in  der  vergleichenden  Ana- 
tomie und  seine  höchst  geistige,  ja  künstlerische 
Auffassung  dieser  Wissenschaft" 

Wir  haben  in  der  sinnesphysiologischen  Ein- 
leitung zur  Farbenlehre  auseinandergesetzt,  daß  von 
der  Art  und  Funktion  der  Sinnesorgane  das  ab- 
hängt, was  wir  als  Milieu  eines  Lebewesens  be- 
zeichnen. Wenn  Sie  nun  versuchen,  sich  einmal 
zu  vergegenwärtigen,  in  welch  umfassender  Weise 
Goethe  seine  Sinnesorgane  und  vor  allem  sein  Auge 
zum  Studium  seiner  Außenwelt  benutzt  hat,  so  wird 
Ihnen  ohne  weiteres  klar  werden,  wie  unendlich 
reichhaltig  das  Milieu  dieses  Mannes  gewesen  sein 


Goethe  als  Naturforscher.  319 

muß.  Alle  Zweige  des  großen  Baumes  der  Natur 
hat  er  selbst  in  eigener  Arbeit  kennen  gelernt;  die 
Tier-  und  Pflanzenwelt,  die  Oberfläche  unserer  Erde 
und  die  Atmosphäre,  der  gestirnte  Himmel,  die  physi- 
kalischen Vorgänge  in  unserer  Umgebung,  das  Wir- 
ken des  Lichts  und  der  Farbe  waren  ihm  vertraut 
und  so  bekannt,  daß  er  sie  jeden  Augenblick  vor 
seinem  geistigen  Auge  reproduzieren  konnte.  Daher 
auch  die  Fülle  anschaulicher  Bilder  aus  der  Natur, 
die  dem  Dichter  zur  Verfügung  stehen:  „Ich  habe 
niemals  die  Natur  poetischer  Zwecke  wegen  be- 
trachtet. Aber  weil  mein  früheres  Landschaftszeich- 
nen und  dann  mein  späteres  Naturforschen  mich  zu 
einem  beständigen  genauen  Ansehen  der  natürlichen 
Gegenstände  trieb,  so  habe  ich  die  Natur  bis  in 
ihre  kleinsten  Details  nach  und  nach  auswendig 
gelernt,  dergestalt  daß,  wenn  ich  als  Poet  etwas 
brauche,  es  mir  zu  Gebote  steht  und  ich  nicht  leicht 
gegen  die  Wahrheit  fehle."  Es  ist  nicht  meine  Auf- 
gabe, in  eine  Analyse  von  Goethes  Dichtungen  ein- 
zutreten, und  alle  die  zahlreichen  naturwissenschaft- 
lichen Dinge,  die  hier  anklingen,  herauszuschälen. 
Aber  ich  bin  überzeugt,  daß  jeder  von  Ihnen,  wenn 
er  jetzt  eines  jener  Meisterwerke  wieder  in  die 
Hand  nimmt,  mit  um  so  größerer  Freude  auch  auf 
diese  Grundlage  von  Goethes  Dichten  achten  und 
mit  um  so  größerem  Genüsse  die  vielen  aus  der 
Natur  genommenen  Gleichnisse,  Bilder  und  Schil- 


320  Zehnte  Vorlesung. 

derungen   auf  sich  wirken   lassen  wird,  die   dem 

Dichter  in  so  überwältigender  Fülle  zur  Verfügung 

standen.  ^    / 

„Über  allen  Gipfeln 

Ist  Ruh, 

In  allen  Wipfeln 

Spürest  du 

Kaum  einen  Hauch; 

Die  Vöglein  schweigen  im  Walde."  . . . 

Hier  wird  nur  geschildert  und  dieses  einfachste 
Naturgemälde  gilt  als  unmittelbares  Symbol  der  ge- 
heimsten Stimmung  des  Dichterherzens.  So  ist  es 
in  hunderten  und  aber  hunderten  von  Goethes 
Schöpfungen. 

„Die  naturwissenschaftlichen  Arbeiten  haben  mich 
genötigt,  meinen  Geist  zu  prüfen  und  zu  üben. 
Wenn  auch  für  die  Wissenschaft  gar  kein  Vorteil 
daraus  entspränge,  so  würde  der  Vorteil,  den  ich 
daraus  ziehe,  mir  immer  unschätzbar  sein."  Den 
Einfluß  der  Naturwissenschaft  auf  Goethes  Geist 
haben  wir  kurz  angedeutet  Daß  aber  auch  für  die 
Wissenschaft  bedeutender  Vorteil  durch  Goethes 
Forschung  erwachsen  ist,  das  hoffe  ich  Ihnen  in 
diesen  Vorlesungen  zur  Genüge  gezeigt  zu  haben. 
Goethe  war  ein  Geist,  der  aus  jedem  Felsen,  an 
den  er  anschlug,  lebendiges  Wasser  hervorsprudeln 
lassen  konnte. 

Meine  Herren!  Wir  sind  am  Schluß.  Indem  ich 
diese  Vorträge  beende,  lassen  Sie  mich  noch  auf 


Goethe  als  Naturforscher.  321 

einen  Grundzug  Goetheschen  Wesens  hinweisen, 
das  ist  die  völlige  Reinheit  seines  naturwissen- 
schaftlichen Strebens,  das  nur  von  dem  Drange 
nach  Erkenntnis  geleitet  wurde.  Es  ist  eine  alte, 
aber  immer  wieder  vergessene  Erfahrung,  daß  die 
wichtigsten  auch  praktisch  brauchbarsten  Ergebnisse 
durch  rein  theoretische  zunächst  nicht  auf  praktische 
Ziele  gerichtete  Forschung  erreicht  werden.  „Man 
wird  sich  durch  die  Erfahrung  überzeugen,  wie  es 
bisher  der  Fortschritt  der  Wissenschaft  bewiesen 
hat,  daß  der  reellste  und  ausgebreitetste  Nutzen  für 
die  Menschen  nur  das  Resultat  großer  und  un- 
eigennütziger Bemühungen  sei,  welche  weder  tag- 
löhnermäßig  ihren  Lohn  am  Ende  der  Woche  fordern 
dürfen,  aber  auch  dagegen  ein  nützliches  Resultat 
für  die  Menschheit  weder  am  Ende  eines  Jahres  noch 
Jahrzehnts  noch  Jahrhunderts  vorzulegen  brauchen." 
Für  Goethe  war  das  höchste  Glück,  bei  seiner 
Naturforschung  sich  mit  der  Natur  eins  zu  wissen, 
in  der  Natur  aufzugehen  und  erst  aus  dem  großen 
Naturganzen  seine  Persönlichkeit  wieder  heraus- 
Zugewinnen. 

„Und  so  lang  du  das  nicht  hast, 
Dieses:   Stirb  und  werde  1 
Bist  du  nur  ein  trüber  Gast 
Auf  der  dunklen  Erde." 

Lassen  Sie  uns  zum  Schluß  noch  jene  gewal- 
tigen Verse,  in  denen  der  Dichter  das  Aufgehen  in 

Magnus,  Goethe  als  Naturforscher.  21 


322  Zehnte  Vorlesung. 

der  Natur  predigt,  in  denen  er  zugleich  das  um- 
fassendste Bild  eines  vorwärtsstrebenden,  in  stetem 
Wechsel  befindlichen  Naturganzen  entwirft,  anhören. 

Eins  und  Alles. 

Im  Gränzenlosen  sich  zu  finden 
Wird  gern  der  Einzelne  verschwinden, 
Da  löst  sich  aller  Überdruß; 
Statt  heißem  Wünschen,  wildem  Wollen, 
Statt  läst'gem  Fordern,  strengem  Sollen, 
Sich  aufzugeben  ist  Genuß. 

Weltseele  komm  uns  zu  durchdringen! 
Dann  mit  dem  Weltgeist  selbst  zu  ringen, 
Wird  unsrer  Kräfte  Hochberuf. 
Teilnehmend  führen  gute  Geister, 
Gelinde  leitend,  höchste  Meister, 
Zu  dem,  der  alles  schafft  und  schuf. 

Und  umzuschaffen  das  Geschaffne, 
Damit  sich's  nicht  zum  Starren  waffne. 
Wirkt  ewiges,  lebendiges  Tun. 
Und  was  nicht  war,  nun  will  es  werden, 
Zu  reinen  Sonnen,  farbigen  Erden, 
In  keinem  Falle  darf  es  ruhn. 

Es  soll  sich  regen,  schaffend  handeln. 
Erst  sich  gestalten,  dann  verwandeln; 
Nur  scheinbar  steht's  Momente  still. 
Das  Ewige  regt  sich  fort  in  allen! 
Denn  alles  muß  in  Nichts  zerfallen, 
Wenn  es  im  Sein  beharren  will. 


Literatur. 

1.  Goethes  Werke.  Weimarer  Ausgabe.  11.  Abteilung.  Goethes 

naturwissenschaftliche  Schriften.    Bd.  1 — 13, 

2.  J.  W.  von  Goethe  Herzoglich  Sachsen-Weimarischen  Ge- 

heimenraths  Versuch  die  Metamorphose  der  Pflanzen  zu 
erklären.  —  Gotha  bey  Cari  Wilhelm  Ettinger  1790. 

3.  Tafeln  zu  Goethes  Farbenlehre. 

4.  Zur  vergleichenden  Osteologie,  von  Goethe,  mit  Zusätzen 

und  Bemerkungen  von  Dr.  Ed.  d'Alton.  —  Verhandl. 
d.  Kaiserlich  leopold. -Carolin.  Akademie  der  Natur- 
forscher. Bd.  XIl.  1.  S.  324.  1824.  (Tab.  XXXIII— 
XXXV.) 

5.  Über  den  Zwischenknochen  des  Menschen  und  der  Tiere 

von  Goethe.—  Ibid.  Bd.  XV.  1.    S.  1.    1831.  (Tab.  I-V.) 

6.  Briefwechsel  zwischen   Goethe   und  Staatsrath  Schultz. 

Ed.  Düntzer.    Leipzig. 

7.  Goethes  naturwissenschaftliche  Correspondenz   (1812 — 

1832).    Ed.  Bratranek.    2  Bde.    Leipzig  1874. 

8.  Goethes  Briefwechsel  mit  den  Gebrüdern  v.  Humboldt 

(1795—1832).    Ed.  Bratranek.    Leipzig  1876, 

9.  Goethes  Gespräche.    Herausgegeben  von  W.  v.  Bieder- 

mann.   Leipzig  1890. 

10.  Einleitungen  und  Anmerkungen  zu  Goethes  naturwissen- 

schaftlichen Arbeiten  von  Dr.  S.  Kalischer,  in  der  Hempel- 
schen  Goetheausgabe.    1877—1879. 

11.  Einleitungen  und  Anmerkungen  zu  Goethes  naturwissen- 

schaftlichen Arbeiten  von  Rudolf  Steiner,  in  Kürschners 
Deutscher  Nationalliteratur  Bd.  114—117. 

12.  Bielschowski.    Goethe.    Sein  Leben  und  seine  Werke. 

München  1902—1904.  —  Besonders:  Goethe  als  Natur- 
forscher von  Dr.  S.  Kalischer. 

21* 


324  Literatur. 

13.  Recension  von  Nees  von  Esenbeck  und  Noeggerath  über: 

Goethe.  Zur  Naturwissenschaft  überhaupt,  besonders 
zur  Morphologie  Bd.  I.  —  Jenaische  Allg.  Litteratur- 
zeitung.    1823.    Bd.  2.    S.  321  ff. 

14.  AI.  V.  Humboldt    und  Aime  Bonpland's   Reise.     I.  Abt. 

Bd.  1.  Einleitung,  oder  Ideen  zu  einer  Geographie  der 
Pflanzen,  nebst  einem  Naturgemälde  der  Tropenländer. 

—  Tübingen  1807.    (Widmungsblatt  „An  Goethe"). 

15.  Rudolf  Virchow.    Goethe  als  Naturforscher  und  in  be- 

sonderer Beziehung  auf  Schiller.    Berlin  1864. 

16.  Herman  v.  Helmholtz.    Über  Goethes  naturwissenschaft- 

liche Arbeiten.  —  Reden  und  Vorträge.    Bd.  I.   S.  1. 

17.  —  Goethes  Vorahnungen  kommender  naturwissenschaft- 

licher Ideen.  —  Deutsche  Rundschau  Juli  1892. 

18.  J.  Sachs.     Geschichte   der  Botanik  vom    16.  Jahrh.   bis 

1860.    München  1875. 

19.  M.  Büsgen.   Über  Goethes  botanische  Studien.  — Goethe- 

lahrb.  XI.    S.  145.    1890. 

20.  A.  Hansen.    Die   angebliche   Abhängigkeit  der  Goethe- 

schen  Metamorphosenlehre  von  Linnä.  —  Goethe- 
Jahrb.  XXV.    S.  128.    1904. 

21.  —  Goethes  Metamorphose  der  Pflanzen.  —  Goethe-Jahrb. 

XXVIII.    S.  207.     1906. 

22.  H.  S.  Chamberlain.    Immanuel  Kant.    Die  Persönlichkeit 

als  Einführung  in  das  Werk.    München  1905. 

23.  W.  v.  Wasielewski.    Goethe   und   die   Deszendenzlehre. 

Frankfurt  1904. 

24.  K.  V.  Bardelcbcn.    Goethe  als  Anatom.  —  Goethe-Jahrb. 

XIII.    S.  163.    1892. 

25.  J.  Schwalbe.    Zur  Geschichte  der  plastischen  Anatomie. 

—  K.  V.  Bardelcben.  Franz  Heinrich  Martens.  In  me- 
moriam.  —  Deutsche  mcdlzin.  Wochenschrift.  1896. 
Nr.  47. 

20.   H.  Braus.    Die  Morphologie  als  historische  Wissenschaft. 

—  Exper.  Beiträge  zur  Morphologie.    I.  1.    1906. 

27.  H.  Dricsch.    Der  Vitalismus  als  Geschichte  und  als  Lehre. 

Uipzig  1905. 

28.  Philipp  Otto  Runge,   Mahlcr.    Farbcnkugcl    oder   Con- 

ttruktion  des  Verhältnisses  aller  Mischungen  der  Farben 


Literatur.  325 

zu  einander,  und  ihrer  vollständigen  Affinität,  mit  an- 
gehängtem Versuch  einer  Ableitung  der  Harmonie  in 
den  Zusammenstellungen  der  Farben.  Nebst  einer  Ab- 
handlung über  die  Bedeutung  der  Farben  in  der  Natur, 
von  Hrn.  Prof.  Henrik  Steffens  in  Halle.  —  Hamburg, 
bey  Friedrich  Perthes.    1810. 

29.  Johann  Purkinje.    Beobachtungen  und  Versuche  zur  Phy- 

siologie der  Sinne.  2.  Bändchen.  Neue  Beiträge  zur 
Kenntnis  des  Sehens  in  subjectiver  Hinsicht.  —  Berlin 
1825. 

30.  Johannes  Müller.    Zur  vergleichenden   Physiologie   des 

Gesichtssinnes  des  Menschen  und  der  Tiere,  nebst 
einem  Versuch  über  die  Bewegungen  der  Augen  und 
über  den  menschlichen  Blick.  —  Leipzig  1826. 

31.  —  Über  die  phantastischen  Gesichtserscheinungen  etc. 

—  Coblenz  1826. 

32.  Arthur  Schopenhauer.    Über  das  Sehen  und  die  Farben. 

—  S.'s  Werke  herausg.  v.  Grisebach.  Bd.  VL  Leipzig. 
Reclam. 

33.  Paul  Schultz.    A.  Schopenhauer  in  seinen  Beziehungen 

zu  den  Naturwissenschaften.  Deutsche  Rundschau. 
November  1899. 

34.  —  A.  Schopenhauers  Abhandlung  über  das  Sehen  und 

die  Farben.  —  Engelmanns  Archiv  für  Physiologie. 
1899.    Supplement  S.  510. 

35.  A.  Leitzmann.    Briefwechsel  zwischen  Goethe  und  Lich- 

tenberg. —  Goethe-Jahrb.  XVIII.    S.  32.    1897. 

36.  C.  Ruland.     Zu    Goethes   naturwissenschaftlichen   For- 

schungen. —  Goethe-Jahrb.  Xll.    S.  152.    1891. 

37.  G.  Linck.  Goelhes  Verhältnis  zur  Mineralogie  und  Geogno- 

sie.    Akademische  Rede.  —  Jena  1906. 

38.  H.  V.  Helmholtz.     Handbuch  der  physiologischen  Optik. 

2.  Auflage.    Hamburg  1896. 

39.  J.  V.  Kries.    Die  Gesichtsempfindungen.    Nagels  Handb. 

d.  Physiologie.    Braunschweig  1904. 

40.  E.  Hering.    Grundzüge  der  Lehre  vom  Lichtsinn.   Graefe- 

Saemisch's  Handbuch  der  ges.  Augenheilkunde.  — 
2.  Aufl.    Leipzig  1905. 


326  Literatur. 

41.  R.  Steiner.   Goethes  Beziehungen  zur  Versammlung  deut- 

scher Naturforscher  u.  Ärzte  in  Berlin  1828.  —  Goethe- 
Jahrb.  XVI.    S.  52.    1895. 

42.  Kant.    Kritik    der    Urteilskraft.    —    Edid.   Kehrbach.   — 

Leipzig.    Reclam. 

43.  A.  Tschermak.    Kontrast  und  Irradiation.  —  Ergebnisse 

der  Physiologie.    Bd.  II.  2.  —  Wiesbaden  1903. 

44.  J.  V.  Uexküll.    Physiologie  und  Biologie  in  ihrer  Stellung 

zur  Tierseele.  —  Ergebnisse  der  Physiologie.    Bd.  I.  2. 
—  Wiesbaden  1902. 


Register. 


A. 

Abenteuer  der  Vernunft  142. 

Abklingen,    farbiges   —   der 
Blendungsbilder  192. 

Achromasie  222,  236. 

Achromasie  der  Linse  207. 

Ackermann  33. 

Acta  Leopoldina  42,  115  f. 

Adaptation  des  Auges  187, 190. 

Affen,    Zwischenkiefer  beim 
107. 

Alchimie  19. 

Alexandersbad  273. 

d' Alton  6,  41,  116,148,  151  f., 
156. 

Anatomie  105  f. 

Anatomie,  vergleichende, 
siehe  vergl.  A. 

Anaxagoras  276. 

Anschaulichkeit  294  ff.,  313. 

Apparate,  Goethes  16, 32, 199, 
220  f.,  235,  240,  243. 

Archiv,    Goethe -Schiller  14, 
113. 

Aristoteles  249. 

Arten,  Konstanz  und  Varia- 
bilität der  54,  150. 

Arten,  Entstehung  der  152, 154. 

Ästhetik  der  Farben  212. 

Astronomie  31. 

Ätna  264. 

Atmosphärische    Farbener- 
scheinungen 225. 

Auges,  Entstehung  des  184  f. 


Ausgabe,  Weimarer  Goethe- 

14. 
Auvergne  264. 

B. 

Bacon  Roger  250. 

Bacon  v.  Verulam  250. 

Barometerschwankungen,  Ur- 
sachen der  39,  286. 

Barometerstand,  Änderungen 
des  284. 

Basalt  279. 

Batsch  53,  90. 

Becquerel  244. 

Begreiflichkeit  der  Natur  311. 

Begriffsbildung  92. 

Beleuchtung,  lokale  215. 

Beleuchtung  in  Malerateliers 
242. 

Berka,  Schwefelquellen  in  282. 

Berzelius  6,  267. 

Beuth  157. 

Bewegungsvorgänge    in    de 
Netzhaut  188  f. 

Bibel  249. 

Bibliothek  Goethes  17,  267. 

Bild,   bei   der  prismatischen 
Brechung  228,  233. 

Blaublindheit  209. 

Blaue  Farbe  des  Himmels  225. 

Bleichkunst  246. 

Blumenbach  88, 107, 1 14f.,  158. 

Boerhave  19. 

Böhmen  264,  272. 


328 


Register. 


Bononischer  Leuchtstein  244. 
Botanische  Arbeiten  48  ff. 
Botanischer  Garten    in  Jena 

26,  33. 
Braun,  Alexander  44,  103. 
Braunschweig,  Herzog  von  27. 
Breccien  269,  271. 
Brechung  des  Lichtes  227  ff. 
Brechung  im  Auge  207. 
Brewster  198,  227. 
Brown  R.  101. 
Bruno  Giordano  307. 
Bryophylium  calycinum  97. 
Buchholz  22,  32,  50. 
Buffon  128. 
Büttner  53,  181. 
Bunte    Farbenzusammenstel- 

lungen  214. 

C. 

Campagne  in  Frankreich  27, 
264. 

Camper  107,  113,  128. 

Carl,  August  21,  51,  263. 

Carus  6,  41,  43,  120,  148,  152. 

CausaleBctrachtung8weisel40i 

Chamisso  9. 

Candolle,  de  97,  101,  102. 

Charakteristische  Farbenzu- 
sammenstellungen 213. 

Charakterlose  Farbenzusam- 
mcnstcUungcn  213. 

Chemie  32,  246,  267,  302. 

Chemische  Konstitution  und 
Farbe,  Zusammenhang  von 
246. 

Chemische  Farben  177,  245. 

Chemische  Körper  als  for- 
mative  Reize  87. 


Christiane  Vulpius  72. 
Chromatische  Korrektion  der 

Linse  207. 
Chromatische    Sätze,      über 

einige  allgemeine  183. 
Cramer  266. 
Cuvier  45,  108,  142,  143,  154. 

D. 

Dalton  208. 

Darwinismus  151jf.,  301. 
Denken,  gegenständliches  12, 

315. 
Deszendenztheorie  142,  151  f. 
Dietrich  51. 
Differenzierung  83. 
Dioptrisclie  Farben  223. 
Döbereiner  6,  38,  267,  282. 
Dollond  236,  251. 
Doppelbilder  208. 
Dreifarbentheoric  196, 198,259. 

E. 

Eger  35,  278. 

Egloffslein,  Julie  v.  243. 

Ehrmann  20. 

Einleitung  in  die  vergleichende 
Anatomie  29,  126. 

Eins  und  Alles  322. 

Eiszeit  274. 

Elefantenschüdcl  108,  115, 
116,  124. 

Elektrizität  302. 

Elfenbeins,  Sammlung  krank- 
haften 33. 

Emissionstheoric  des  Lichts 
221. 

Endursachen  140. 

Entoptische  Farben  37,  239  ff. 


Register. 


329 


Entwicklungsmechanik    und 

-Physiologie  86. 
Epoptische  Farben  238. 
Erdbrände  277  ff. 
Erde,  Bildung  der  270,  275. 
Erfahrung  und  Idee  91  f. 
Erratische  Blöcke  273. 
Erxlebens  Naturlehre  46. 
Etiolement  97, 
Ettinger  95. 

F. 

Fächerpalme  in  Padua  57,  65. 

Färberei  246. 

Farbe  176,  184. 

Farbenblindheit  169,  208  f. 

Farben,  entoptische  37,  239  f. 

Farbenerscheinungen  bei  der 
Refraktion  183. 

Farbenkreis  195  f.,  213. 

Farbenkugel  von  Runge  218, 

Farbenlehre  26,  36,  42, 164  ff., 
183. 

Farbenmischung,  physiolo- 
gische 195,  203,  209. 

Farbiger  Beleuchtung,  Wir- 
kung 244. 

Faultiere  und  die  Dickhäu- 
tigen, die  148,  153. 

Feldspat  268. 

Fernrohre,  dioptrische  236. 

Findlinge  273. 

Flimmerbewegung  159. 

Flötze,  Konsequenz  der  262, 
281. 

Flötzgebirge  270. 

Florenz,  Moulagensammlung 
in  157. 

Formative  Reize  87. 


Formbildung  beiden?  flanzen 
Ursachen  der  70,  86,  96. 

Formbildung  bei  den  Tieren, 
Ursachen  der  136  f.,  149  f. 

Form  und  Funktion,  Zusam- 
menhang zwischen  112, 126, 
132,  139,  142. 

Fossilien  40,  151,  265,  272. 

Fraunhofer  233. 

Freiberger  Bergakademie 
262  f. 

Frosch  159. 

G. 

Gänge  271. 

Galilei  250. 

Gall  6,  34. 

Gebirge,  Einfluß  der  —  auf 

die  Wolkenbildung  287. 
Geforderte  Farben  193,  196. 
Gegenbaur  121. 
Gegenfarbentheorie  196,  198, 

259. 
Gegenständliches  Denken  12, 

315. 
Gehirn  34,  129. 
Gehlers  Physikalisches  Lexi- 
kon 27. 
Gemälde     der     organischen 

Natur  156. 
Genfer  See  274. 
Geoffroy  St.  Hilaire  45,  101, 

142,  152,  154. 
Geognostisches    Tagebuch 

der  Harzreise  263. 
Geologie  261  ff. 
Geschichte    der  Farbenlehre 

238,  247. 
Gesichtstäuschungen  186. 


390 


Register. 


Gildemeister  209. 

Giraffe,  Halswirbel  der  116. 

Gletscher  270,  273,  275. 

Glimmer  270. 

Gneis  270. 

Göschen  95. 

Göttling  32,  267. 

Gott  und  Natur  143,  309  f. 

Granaten  269. 

Granit  261,  263  f.,  265,  268  f., 

271,  275. 
Grau  237. 
Greissen  269. 
Grenze,  Bedeutung  der  —  für 

die  Farbenentstehung  228. 
Grün  195,  197  f.,  209,  231. 
Grüner  36,  266. 
Grundfarben  196,  197. 

H. 

Haeckel  152. 

Hailer,  Albrecht  v.  9,  96,  310. 
Halswirbel  83,  116. 
Harmonie,  chromatische  186, 

213. 
Harmonie    in    der  tierischen 

Form  134,  139. 
Harmonie,  musikalische  36. 
Harzreise  22,  24, 204, 206, 263, 

269 
Hasenscharte,  Zwischenkiefer 

bei  114. 
Haus,Ooethc- 1 5f. ,32,66,71 ,  199, 

220,  226,  235,  240,  263,  265. 
Hegel  253. 
Heiligendamm  274. 
Heinroth  12,  315. 
HeUotropiBmus  97. 
Helldunkel  215. 


Helmholtz  13,  36,  165,  167, 
179,  191,  196,  198,  202,  213, 
220,  231,  235,  258. 

V.  Henning  253. 

Herder,  August  v.  266. 

Herder,  Johann  Gottfried  v. 
59,  106. 

Hering  167,  196,  198,  209,211, 
237,  259. 

Herrschel  227. 

Herz,  überlebendes  —  der 
Hummel  161. 

Hirnanatomie  34. 

V.  Hoff  281. 

Homunculus  153. 

Howard  39,  285  f. 

Humboldt,  Alexander  v.  5, 29, 
43,  101,  102,  126,  156. 

Huxley  121. 

Huyghens  221. 

Hypothesen,  Naturwissen- 
schaftliche 299. 

I. 

Jacobi  27,  29,  90,  126. 

Jäger  40,  100,  151. 

Idee  und  Erfahrung  91  f. 

Jenaer  Sammlungen  22,  26, 
33,  151,  266. 

Jenaer  Sternwarte  34. 

Jenaer  Universität  33. 

Ilmcnaucr  Bergbau  21,  262f. 

Indikatoren  39,  246. 

Induktion  in  der  Netzhaut 
192.  195,  202  f. 

Infusionsticrc  158. 

Insekten  31,  80,  159. 

Instruktion  für  meteorologi- 
sche Beobachter  288. 


Register. 


331 


Intermaxillare  107  ff. 
Irradiation  188,  211. 
Italienische  Reise  24,  56,  106, 

180,  204,  264,  284. 
Jungius,  Joacliim  102. 
Jussieu  101. 

K. 

Kalkspat,    Doppelbilder   des 

239. 
Kammerbühl  278. 
Kant  30,   89,   142,   153,   166, 

178,  254  ff.,  300,  308,  311. 
Kapp,  Erhard  19. 
Karlsbad  24,  35,  52,  265  ff., 

272,  282. 
Karten,  geologische  283. 
Kasseler  Elefant  108, 111, 115  f. 
Katoptrische  Farben  238. 
Kauffmann,  Angelika  180, 214. 
Keilbein  118,  125. 
Keimung  von  Samen  62. 
Kepler  250. 
Kielmeier  109. 
Kirchhoff  295. 

Klettenberg,  Fräulein  v.  119. 
V.  Knebel  266. 
Knochenlehre,  vergleichende 

130. 
Knoll  266. 
Körner  22. 

Kohlenlager  264,  278. 
Kolorit  180,  186,  212f.,  216. 
Kolorits,  Geschichte  des  249, 

250. 
Komplementärfarben  193,  196. 

201  f.,  205. 
Konfession  des  Verfassers  251 . 
Konglomeratsteine  269,  271. 


Kontinuierliche  Reihe  75,  84. 
128,  132,  178,  222  f.,  242, 
291  ff.,  298,  301. 

Kontrast  191  ff. 

Kontrastfarben  213,  215. 

Korrelation  der  Teile  134, 139. 
142. 

Korrespondenz,  naturwissen- 
schaftliche 14,  43,  266. 

Kraus  263. 

V.  Kries  259. 

Kristallographie  267. 

Kritik  der  reinen  Vernunft 
166,  254,  308. 

Kritik  der  Urteilskraft  142, 308. 

Kryptogamen  32. 

Kügelgen,  W.  v.  38. 

Kunckels  Glasmacherkunst 
226. 

L. 

Lagrange  306. 
Lamarck  152. 
Langenbeck  115. 
Lavater  20.  105. 
Leipzig  18. 

Leitungsbahnen    im   Rücken- 
mark 35. 
Lenz  263,  266. 

V.  Leonhard  6,  265.f.,  268,  271. 
Lepaden  148. 

Leuchtstein,  bononischer  244. 
Licht  174  f. 
Lichtenberg  183. 
Liebig  142. 

Linne  49  f.,  75,  77,  80,  97,  155, 
Linse  des  Auges  207. 
Lido  26,  118. 
Lionardo  da  Vinci  9  f.,  226. 


332 


Register. 


Literaturzeitung,  Jenaische  41, 
265. 

Lobstein  20,  105. 

Loder  5,  23,  29,  33f.,  105, 107. 
109,  112,  114,  126. 

Lokalfarbe  215. 

Ludwig  19. 

Luftballons  46. 

Luftperspektive  215,  226. 

Luisenburg  bei  Alexanders- 
bad 273. 

M. 

Magnetismus  302. 

Mainz,  Belagerung  von  27. 

Malus  239. 

Mammut  40,  151. 

Marienbad  35,  266,  269,  273. 

Martens  157. 

Martius  6,  44,  101  f. 

Mathematik  228,  304. 

Meckel  98. 

Menschen,  Stellung  des  106f., 

144. 
Merck  21,  105,  113,  266. 
Metamere  82,  133. 
Metamcrie  des  Kopfes  121. 
Metamorphose  80  ff.,  106. 
Metamorphose  der   Insekten 

159. 
Metamorphose  der  Pflanzen 

25,  56  ff.,  63  ff.  83. 
Metamorphose,  simultane  81  f., 

133. 
Metamorphose^successive  1 59. 
Meteorolosie  284. 
MeteorologischcStationen288. 
Methode  der  Naturforschung 

291  ff. 


Meyer,  Heinrich  29,  126,  249  f. 
Michelangelo  9,  11,  25. 
Milieu  167f.,  318. 
Mineraliensammlung  16,  265. 
Mineralogie  261  ff. 
Mineralogische     Gesellschaft 

266. 
Mineralquellen  264. 
Mischfarben   196f.,  231,  237, 

255,  258. 
Mißbildungen  der  Gewächse 

40,  80,  100. 
Mohns,  Blitzen  des  199. 
Monstra  136. 
Moritz  63. 

Morphologie  48,  80,  133  ff. 
Morphologie,  pflanzliche  56f. 
Morphologie,  tierische  105f. 
Morphologie,  Zur  40,  48. 
Mouches  volantes  210. 
Moulagen  157. 
Müller,  Johannes  31,  42,  149, 

165f.,   170,  220,  256ff.,  317. 
Müller,  Steinschneider  35, 265. 
Muscheln  159. 
Mutation  154. 

N. 

Nachbilder,  Dauer  der  189. 

Nachbilder,  farbige  194. 

Nachbilder,  positive  189. 

Nachbilder,  negative  190,  194, 
202. 

Nagetiere  149. 

Nasenbein  des  Elefanten  124. 

Nashorn  151. 

Naturwissenschaft,  Zur  40. 

Nebenbild  bei  der  prisma- 
tischen Brechung  229f. 


Register. 


333 


Nees  van  Esenbeck  41,  101. 
Nelke,   durchgewachsene  63, 

69,  79. 
Nephritisches  Holz  227. 
Neptunismus  262,  264,  275 ff. 
Netzhaut    173,    188f.,    190ff., 

194 ff.,  200ff.,  211. 
Newton  26,   179,   181  ff.,  207, 

221,   224,  232  ff.,   250,  252, 

258  f.,  295,  305. 
Niggl  240. 

Noeggerath  41,  266,  268. 
Nose  312. 
Nordlicht  288. 

0. 

Objekt  und  Subjekt  178,  252. 
297,  309. 

Öffnung,  Enge  —  bei  opti- 
schen Versuchen  228f. 

Oken  119f. 

Opalglas  226. 

Optik,  Beiträge  zur  182 f. 

Optisches  Genie ,  Goethe 
als  —  315. 

Osteologie  105  f. 

Owen  120. 

Oxydationsferment  161. 

P. 

Padua,  botanischer  Garten  in 

56. 
Palermo,  Garten  in  58. 
Pantheismus  309. 
Paracelsus  19,  246. 
Paramäcien  159. 
Paroptische  Farben  238. 
Pathologie  78,  100,  208. 
Pathologische  Farben  189, 208. 


Pempelfort  27,  96. 

Pflanzenentwicklung  62. 

Pflanzenextrakten ,  Färbung 
von  39,  246. 

Pflanzenphysiologie  98. 

Pflanzenwachstum,  Experi- 
mente über  33,  96  ff. 

Phantasie,  dichterische  13, 317. 

Philosophie  91,  307,  313. 

Phlegräische  Felder  264. 

Phosphoreszenz  187,  244. 

Physiognomik  21,  105. 

Physiologie  der  Formbildung 
86f.,  98,  136f. 

—  der  Insekten  160. 
Physiologische    Farben    177, 

179,  185  f. 
Physiologie  des  Ohres  36. 

—  der  Pflanzen  98. 
Physische  Farben  177,  219ff. 
Plato  249. 

Platz  eines  Knochen  im  Ske- 
lett 130.  142. 

Pograd  278. 

Polarisation  des  Lichts  37, 222, 
239 ff.,  242. 

Polarität  300,  302 ff. 

Polemischer  Teil  der  Farben- 
lehre 233. 

Porphyr  269,  271. 

Pozzuoli,  Tempel  in  281. 

Präformationslehre  95.  100. 

Preen  274. 

Principes  de  Philosophie  Zoo- 
logique  154. 

Prisma  181,  222  ff.,  227  ff. 

Pseudovulkanismus  277  ff. 

Purkinje  42,  165,  192,  257. 

Purpur  197  f.,  231  f. 


334 


Register. 


Q. 

Qualitäten  des  Auges  184. 
Quassia  227. 

R. 

Rassenkreuzung  154. 
Refraktion  227. 
Refrangibilität,  Ober  Newtons 
Hypothese  der  diversen  183. 
Regenbogen  244. 
Regeneration  158. 
Regenwurm  82. 
Reiffenstein  62. 
Reuß,  Prinz  von  27. 
Rhönetal  273. 
Ritgen  102.  156. 
Rom  61. 

Rose,  durchgewachsene  69, 79. 
Rot-Grün-Blindheit  209. 
Rousseau  53. 
Royal  Society  250. 
Rudimentäre  Organe  131. 
Runge,  P.  O.  21 7f. 

S. 

Sachs  101. 

Säfte  der  Pflanze  als  Ursache 

der  Formbildung  87. 
Sandelholz  227. 
Schädellehre  106,  129. 
Schädels,  Vergl.  Anatomie  des 

125. 
Schädels,  Wirbelthcorie  des 

118  f. 
Schafschfidel,  geborstener  1 18. 
Schatten,  farbige    180,   182, 

203f.,  211. 
Schelling  120. 
Scbelver  33. 


Schema  der  tierischen  Form 

128  f. 
Schiller  22,  29,  209,  254,  308. 
Schiller,  Erstes  Gespräch  mit 

88. 
Schimper  102. 
Schläfenbein  125. 
Schieiden  101. 
Schlesien  26. 
Schnecken  159. 
Schneeblindheit  193. 
Schneekoppe,  Station  auf  der 

288. 
Schneidezähne  107,  110,  112. 
Schopenhauer  166,  237, 254  ff. 

308. 
Schrön  286. 
Schultz,  Staatsrat  253. 
Schwarz  187. 

Schwefelquellen  in  Berka  282. 
Schweigger  240,  253. 
Schweizerreise  22,  204,  264, 

284. 
Schwerkraft,  Änderungen  der 

286. 
Sckell  50. 
Seebeck  37,  40  f.,  183,  235, 

239,  244. 
Seismos  277. 
Senebier  97. 
Simultane  Metamorphose  81  f., 

133. 
Simultankontrast  91,201,203, 

205,  216. 
Sinnesorgane  129,  167. 
Sinnesorgane,  Einfluß  der  — - 

auf  die  Schädclform  118. 
Sinnesphysiologische  Einlei- 
tung 165. 


Register. 


335 


Sinnlich-sittliche  Wirkung  der 

Farben  212  ff. 
Skeletts,  Vergl.  Anatomie  des 

122  ff. 
Skelette  der  Nagetiere  148. 
Sömmering  6,  108,  1131,  151. 
Soret  101,  267. 
Spaltenbildung,    geologische 

270  f. 
Spezifische  Sinnesenergie  170, 

256. 
Spektrum  197,  229  f.,  234  f. 
Spielmann  20. 
Spinoza  31,  143,  254,  307. 
Spiraltendenz  der  Vegetation 

44,  102. 
Stecklinge  62. 
Steigerung  230,  300. 
Stein,  Frau  v.  56. 
Sternberg,  Graf  6,  36.  43,  266, 

268,  279. 
Stetigkeit  77,  291. 
Stier,  fossiler  151. 
Stöchiometrie  38. 
Stokes  227. 

Stoßzahn  des  Elefanten  115. 
Straßburg  19  f. 
Sturm  154. 
Successive  Metamorphose  81, 

159. 
Successivkontrast  191.  194. 


T. 

Tabelle  des  Knochengerüstes 

116  f. 
Teleologie  139. 
Teleskop  31. 
Thaies  275  ff. 


Theologische  Betrachtung  der 
Natur  143. 

Theophrast  249. 

Theoria  generationis,Wolffs  99 

Thermen  282. 

Thorwaldsen  43. 

Tibia  und  Fibula  125. 

Tiefenwahrnehmung  208. 

Tierseele  144. 

Töpferofen,  Glühversuche  im 
278. 

Ton,  gelbbrauner  —  der  Ge- 
mälde 117. 

Tonlehre  36. 

Totalität  des  Farbenkreises 
194  ff.,  303. 

Tränenbein  des  Elefanten  124. 

V.  Trebra  266. 

Trübe  Mittel  223  ff.,  229  f., 
239,  242,  245. 

Tulpe,  abnorme  67. 

Typus  85,  106,  123,  127  f., 
133  f.,  291. 

Typus  des  Skeletts  129. 

Typus  in  der  Kunst  25,  134. 

U. 

Überernährung  der  Pflanzen 

98. 
Übergangsgebirge  270. 
V.  Uexküll  145. 
Ulna  und  Radius  125. 
Undulationstheorie  des  Lichts 

221,  241. 
Urpflanze  58,  85,  91,  123,  291. 
Urphänomen  224,   269,  293, 

297  ff.,  302. 
Urstier  151. 
Urteilskraft,  anschauende  142. 


336 


Register. 


V. 

Variabilität  der  Pflanzenarten 
54  f. 

Vergleichende  Anatomie  85, 
105  f.,  108  f.,  133  f. 

Vergleichende  Anatomie,  Ein- 
leitung in  die  126  f. 

Vergleichung  76. 

Verletzungen  bei  Pflanzen  97. 

Versammlung  deutscher  Na- 
turforscherundÄrzte44, 103. 

Versatilität  des  Typus  136. 

Versteinerungen  172. 

Versuch,  die  Elemente  der  Far- 
benlehre zu  entdecken  183. 

Versuch  über  die  Gestalt  der 
Tiere  26,  122. 

Versuch    einer    allgemeinen 
Knochenlehre  125. 

Verwitterung  273. 

Vesal  11. 

Vesuv  264. 

Vierfarbentheorie  196,  198. 

Virchow  46,  78. 

Voigt,  J.  C.  W.  263,  265,  274. 

Vorticellen  159. 

Vorträge  für  Damen  3Z 

Vorträge    an    der    Zeichen- 
schule 23,  105. 

de  Vrics  154. 

Vulkanismus  264,  273,  275  ff., 
279  ff. 

W. 

Wahlverwandtschaft  39. 

Waiz  la). 

Walchschcs    Nalurallcn- 

kabinctt  263. 
Walfisch,  Halswirbel  des  116. 


Walroß  110,  113. 

Wasserkopf,    Zwischenkiefer 
bei  114. 

V.  Wedel  50. 

Weinbau,  über  den  102. 

Weißes  Licht  237. 

Weiß  als  einheitliche  Empfin- 
dung 252. 

Werner  262,  276. 

Wilbrand  102,  156. 

Wilhelm  Meister  157,  274. 

Willemer,  Marianne  von  37. 

Winkler  19,  179. 

Wirbelsäule  82. 

Wirbeltheorie    des    Schädels 
26,  118  f. 

Witterungskunde  39,  284  ff. 

Witterungslehre, Versuch  einer 
286. 

Wolf,  F.  A.  34,  99. 

Wolff,  C.  F.  98  f. 

Wolfsrachen,  Zwischenkiefer 
bei  114. 

Wolkenformen  39,  284  ff. 

Würmer  159. 


Voung  196. 


Y. 


Z. 


Zeichnungen,  Goethes  17,66, 
67,  71,  199,  263. 

Zinn  268. 

Zwätzcn,  Versuche  in  278. 

Zweckmäßigkeit  der  Organis- 
men 139. 

Zwischenkiefer  23,  42,  107  ff., 
132. 

Zwischcnklcfcr-Abblldungcn 
109,  111,  116. 


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