RUDOLF MAGNUS
E T H E
LS NATURFORSCHER
I
Der Genius der Poesie entschleiert das Bild der Natur.
Widmungsbiad zu AI. v. Humboldts Ideen zu einer Ueoicrnphie der Pflanzen
netMt einem NalurKcmilldc der Tropcnlilndcr. TUbinRcn mri. Qczcichnet von
Thorwatdttn. Daruntei die Worte: An Oocihc.
Goethe als Naturforscher
Vorlesungen
gehalten im Sommer-Semester 1906 an der
Universität Heidelberg
von
Rudolf Magnus
ao. Professor für Pharmakologie
Mit Abbildungen im Text und auf 8 Tafeln
-.0 "
Leipzig
Verlag von Johann Ambrosius Barth
1906
Spimcrichc Buchdruckerd In Leipilg-R.
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Wnted in Uoriuaui
Meiner Frau
und treuen Mitarbeiterin
Vorwort.
Die in diesem Buche veröffentlichten Vorlesungen
sind die Frucht mehrjähriger Beschäftigung mit Goethes
naturwissenschaftlichen Arbeiten. Seit in der Weima-
rer Ausgabe das gesamte Material an gedruckten und
handschriftlich erhaltenen Aufzeichnungen der Allge-
meinheit zugänglich gemacht wurde, ist eine aus-
führlichere Darstellung dieses Zweiges Goetheschen
Wirkens nicht versucht worden. Ich selbst ver-
danke die Anregung zu genauerem Studium einem
Leseabend mit den Freunden A. v. Domaszewski und
J. Baron Uexküll, bei welchem wir die Farbenlehre
durchgingen, und dabei alle zugehörigen Experimente
selbst anstellten. Unser Erstaunen über die Schön-
heit der Versuche und die Treue der Beobachtung
wuchs dabei ständig. Darauf wurde es mir durch
das freundliche Entgegenkommen des Herrn Geh.
Hofrat Dr. Ruland in Weimar ermöglicht, im Goethe-
Hause mit des Dichters eignen, noch wohl erhaltenen
Apparaten seine Versuche zu wiederholen.
Diese durch persönliche Anschauung gewonnene
Kenntnis von Goethes Arbeitsweise war Veranlassung
VI Vorwort
zu weiterem Studium seiner Schriften. So wurde es
mir möglich, im verflossenen Sommer für Hörer aller
Fakultäten über „Goethe als Naturforscher" zu lesen.
An der ursprünglichen Fassung der Niederschrift
ist nachträglich so wenig wie möglich geändert
worden. Die Form der Vorträge soll andeuten,
daß eine bis ins Kleinste eingehende Darstellung
nicht beabsichtigt ist, sondern nur das Wichtigste
in möglichst allgemeinverständlicher Form heraus-
gegriffen werden sollte.
Der Entstehungsgeschichte der Vorträge ent-
sprechend ist die auch heute immer noch nicht in
ihrer Bedeutung genügend gewürdigte Farbenlehre
in den Mittelpunkt gestellt Die biologischen For-
schungen gehen voran, die geologischen bilden den
Schluß. Bei der Abfassung dieses letzteren Kapitels
hat mich Herr Professor Wilhelm Salomon in Heidel-
berg mit freundlichem Rate unterstützt
Herr Geh. Hofrat Dr. Suphan hat mir in liebens-
würdiger Weise die Pforten des Goethe- und Schiller-
Archivs eröffnet Dem stellvertretenden Direktor des
Goethe-Nationalmuseums, Herrn Geh. Regierungsrat
V. Goeckel, bin ich zu großem Danke verpflichtet,
daß er die Genehmigung zur Wiedergabe der in
diesem Buche abgebildeten anatomischen und bo-
tanischen Zeichnungen und der optischen Instru-
mente erteilt hat Ebenso wie die Reproduktion
dieses bisher unveröffentlichten Materials wird auch
Vorwort. VII
die Abbildung des Kasseler Elefantenschädels und
das Thorwaldsensche Widmungsblatt „An Goethe"
manchem willkommen sein.
Bei der weitverzweigten Goethe -Literatur ist es
dem Einzelnen, wenn er nicht speziell Goethe-
Forscher ist und sich mehr aus Liebhaberei in
dieses so vielfach durchpflügte Feld gewagt hat,
unmöglich, alle bis jetzt aufgedeckten Beziehungen
zu berücksichtigen. Ich werde daher allen Lesern,
die mich auf Irrtümer oder auf Lücken aufmerksam
machen, zu großem Danke verpflichtet sein.
Heidelberg, im September 1906.
Rudolf Magnus.
Inhalt.
Seite
Vorwort V
Erste Vorlesung: Einleitung 1
Zweite Vorlesung: Goethes Leben 18
Dritte Vorlesung: Die botanischen Arbeiten 1 48
Vierte Vorlesung: Die botanischen Arbeiten II. ... 72
Fünfte Vorlesung: Die osteologischen und vergleichend
anatomischen Arbeiten 1 105
Sechste Vorlesung: Die osteologischen und vergleichend
anatomischen Arbeiten II 132
Siebente Vorlesung: Die Farbenlehre I. — Physiologische
Optik 164
Achte Vorlesung: Die Farbenlehre II. — Physikalische
Optik 219
Neunte Vorlesung: Mineralogie, Geologie, Meteorologie 261
Zehnte Vorlesung: Goethe als Naturforscher .... 290
Literatur 323
Register 327
Erste Vorlesung.
Einleitung.
Meine Herren!
„Weite Welt und breites Leben,
Langer Jahre redlich Streben,
Stets geforscht und stets gegründet,
Nie geschlossen, oft gerundet.
Ältestes bewahrt mit Treue,
Freundlich aufgefaßtes Neue,
Heitern Sinn und reine Zwecke,
Nun! man kommt schon eine Strecke.*
Diese Verse, welche der Dichter selbst der Ab-
teilung „Gott und Welt" seiner Gedichte voran-
gesetzt hat, in welcher er seine naturwissenschaft-
lichen Dichtungen zusammenfaßte, können auch wir
als Motto für eine Betrachtung von Goethes natur-
wissenschaftlicher Tätigkeit nehmen. Hat er doch
von seinen Jünglingsjahren an fast ununterbrochen
geforscht und gegründet. Nur die Schlußworte „Nun,
man kommt wohl eine Strecke" werden wir als zu
bescheiden nicht zu den unsrigen machen: Denn wir
haben tatsächlich in Goethe einen der hervorragenden
Naturforscher an der Wende des 18. und 19. Jahr-
hunderts zu sehen, der auf allen den zahlreichen
Gebieten, die er bearbeitete, seine Studien mit größter
Energie betrieb und sich nie mit dilettantischer Tätig-
keit begnügte, sondern nicht ruhte, bis er sich die
'Magnus, Goethe als Naturforscher. 1
2 Erste Vorlesung.
Kenntnisse und die Selbständigkeit des Fachmanns
erworben hatte. Es soll gleich hier zu Beginn auf
das schärfste betont werden, daß derselbe Mann, der
uns die herrlichsten Dichtungen deutscher Sprache
geschenkt hat, seine naturwissenschaftlichen Ergeb-
nisse nicht als gelegentliche Früchte dichterischer
Phantasie gewonnen hat, sondern stets die sorg-
fältigsten und mühevollsten Detailstudien anstellte,
ehe er zu seinen oft grundlegenden Verallgemeine-
rungen gelangte. Nur ist für Goethe charakteristisch,
daß er sich nie mit Kleinigkeiten, mit unwichtigen
Nebensachen abgab, sondern daß ihn stets die grund-
legenden Hauptfragen der von ihm bearbeiteten Ge-
biete interessierten. So kommt es, daß von den
Resultaten, die er in den einzelnen Zweigen der
Naturwissenschaft zeitigte, viele geradezu die Grund-
lage für die weitere Fortentwicklung dieser Wissen-
schaften geworden sind, und daß eine ganze Reihe
von wichtigen Erkenntnissen direkt auf Goethe zu-
rückgeführt werden können.
Müssen wir so die Energie anerkennen, mit der
er jedesmal bemüht war, in die Tiefe der Erkenntnis
zu dringen, so ist andrerseits die Breite seiner natur-
wissenschaftlichen Studien erstaunlich. Es ist heut-
zutage einem einzelnen Menschen überhaupt nicht
mehr mOglich, Goethe In allen Zweigen seiner
wissenschaftlichen Tätigkeit mit vollem Verständnis
nachzugehen. Ich muß daher auch Ihre Nachsicht
Einleitung. 3
erbitten, wenn ich diejenigen Gebiete Goethescher
Forschung, welche mir persönlich näher liegen, ein-
gehender vor Ihnen erörtere, während ich z. B. seine
mineralogischen und geologischen Arbeiten als Nicht-
fachmann Ihnen nur in kürzerer Übersicht referieren
kann.
Goethe hat schon von seiner Studienzeit her
Chemie getrieben, er hat die Entwicklung dieser
Wissenschaft sorgfältig verfolgt und selbst gelegent-
lich chemische Versuche angestellt. Sehr viel ein-
gehender war seine Beschäftigung mit physikalischen
Problemen. Dasjenige Werk, das Goethe selbst für
sein hervorragendstes gehalten hat, ist die Farben-
lehre, für die er das ganze Gebiet der physikalischen
Optik aufs exakteste durchexperimentiert hat; auch
späterhin hat er die optischen Versuche fortgesetzt.
Die Physik der Atmosphäre beschäftigte ihn lange
Jahre hindurch und fand ihren Abschluß in einer
eigenen Schrift über Meteorologie. Auch astrono-
mische Beobachtungen blieben ihm nicht fremd. Sehr
eingehend war seine Beschäftigung mit Mineralogie
und Geologie. Er legte ausgedehnte Sammlungen
an, verschaffte sich fachmännische Kenntnis des
geologischen Aufbaus der deutschen Mittelgebirge
und nahm selbst Stellung zu den sich damals be-
kämpfenden geologischen Theorien. Sehen wir ihn
so fast das gesamte Gebiet der anorganischen Natur-
wissenschaften bearbeiten, so sind ihm fast noch
4 Erste Vorlesung.
größere Erfolge bei dem Studium der organischen
Natur beschieden gewesen. Pflanzenlcunde hat ihn
durch viele Jahrzehnte seines Lebens beschäftigt;
die moderne Botanik verdankt das erste Eindringen
in das Verständnis der Pflanzenform unserem Dichter.
Eifrige zoologische Studien gehen nebenher, und wir
haben in Goethe den eigentlichen Schöpfer der
vergleichenden Anatomie zu sehen: seine Abhand-
lung über den Zwischenkiefer ist die erste ver-
gleichend-anatomische Abhandlung. Die Knochen-
lehre studiert er eifrig und bereichert sie durch
wichtige Befunde. Auch das Studium der vorsint-
flutlichen Tiere nach ihren knöchernen Überresten
gewinnt sein Interesse. Dabei bleiben diese Forschun-
gen nicht auf die Säugetiere beschränkt, auch Vögel,
Fische, ja die Wirbellosen werden in den Kreis der
Beobachtung hineingezogen. Aus all diesen Unter-
suchungen hat dann Goethe die Lehre von der Ge-
stalt der organisierten Wesen, die Morphologie, als
eigene Wissenschaft zusammengefaßt und begründet.
Doch auch hiermit ist der Kreis seiner Interessen
nicht erschöpft. Neben der Form interessiert ihn
das Funktionieren der lebenden Gebilde, die Physio-
logie. Er studiert das Leben der Insekten, beob-
achtet Entwicklung und Bewegung der Infusions-
tiere, experimentiert über den Einfluß der Wärme,
des Lichts und andrer Bedingungen auf das Pflanzen-
Wachstum. Einen wichtigen Zweig der Physiologie
Einleitung. 5
hat er aber geradezu selbst begründet, das ist die
physiologische Optik! Ich werde Ihnen später aus- •
einanderzusetzen haben, daß die grundlegende Be-
deutung der Goetheschen Farbenlehre weniger in
ihrem physikalischen als in ihrem physiologischen
Teil liegt, und daß die physiologische Optik des
19. Jahrhunderts sich in direktem Anschluß an die
Goethesche Farbenlehre entwickelt hat. So sehen
wir Goethes Geist den gewaltigen Umfang der Natur
ganz umfassen.
Der Dichter hat auf fast allen Gebieten, die er
bearbeitete, zunächst seine Forschungen durchaus
selbständig begonnen; war er aber zu wichtigen Er-
gebnissen gelangt, so suchte er den Anschluß an
die gleichzeitigen Fachgelehrten, und es hat ihn nichts
so sehr gekränkt und erbittert, als daß er fast jedes-
mal von diesen nicht anerkannt und zurückgewiesen
wurde. Später drangen dann in den meisten Fällen
die Goetheschen Ideen durch, und so finden wir ihn
denn in den letzten Jahrzehnten seines Lebens in
regem persönlichen und brieflichen Verkehr mit den
hervorragendsten Gelehrten seiner Zeit. Es kam
schießlich dazu, daß die Fäden fast der ganzen
naturwissenschaftlichen Welt in Weimar zusammen-
liefen und Goethe nach allen Seiten hin in regem
Gedankenaustausch stand. Mit Alexander v. Hum-
boldt verbanden ihn schon früh anatomische, später
botanische Interessen. Der Anatom Loder in Jena
6 Erste Vorlesung.
ist anfangs Goethes Lehrer, und auch später nach
dessen Übersiedlung nach Moskau wird der Ver-
kehr brieflich fortgesetzt Mit Sömmering, dem her-
vorragenden Anatomen in Kassel, später am Senken-
bergschen Institut in Frankfurt, steht Goethe in
fortgesetzter Verbindung. Seine Beziehungen zu Gall,
dem Phrenologen und Gehirnanatomen, werden wir
noch zu erörtern haben. Der Chemiker Döbbereiner
in Jena, noch heute als der Erfinder des bekannten
Feuerzeuges genannt, muß Goethe in allen Fort-
schritten der Chemie durch Mitteilungen und Expe-
rimente auf dem laufenden erhalten. Von dem
Meister der modernen Chemie Berzelius sind ver-
schiedene Briefe an Goethe erhalten. Der Botaniker
V. Martins in München und eine Reihe von andern
zeitgenössischen Botanikern stehen in regem Brief-
wechsel mit Weimar. D'Alton in Bonn und Carus
in Dresden, beide vergleichende Anatomen, berichten
regelmäßig über ihre wissenschaftlichen Fortschritte
an Goethe, und dieser teilt ihnen wieder die eigenen
Forschungen, Ideen und Zeichnungen mit. Ein um-
fassender Briefwechsel wurde mit dem Grafen Kaspar
Sternberg besonders über mineralogische und palä-
ontologische Probleme geführt, und auch mit Leonhard,
der später Professor der Mineralogie an der Heidel-
berger Universität wurde, verbanden Goethe per-
sonliche und briefliche Beziehungen. Wenn man
diese zahlreichen uns erhaltenen Briefe durchmustert,
Einleitung. 7
SO Spricht aus ihnen allen die tiefe Bewunderung
und Ehrfurcht nicht nur vor Goethes Persönlichkeit,
sondern auch vor dem Ernst und der Bedeutung
seiner wissenschaftlichen Bestrebungen.
Nun fiel Goethes Leben allerdings auch in eine
Zeit, in der die Naturwissenschaften eine ganz un-
geahnte Entwicklung erlebten. Als er geboren wurde,
befanden sie sich mit wenig Ausnahmen in einem
ziemlichen Tiefstand; als er starb, hatten sie ihren
Siegeszug als moderne Naturwissenschaften ange-
treten, der bis auf den heutigen Tag nicht aufge-
hört hat. Goethe hat als junger Mann noch alchi-
mistische Studien getrieben, am Ende seiner Tage
aber die neuere Chemie bereits als einen stolzen
Bau aufgeführt gesehen. Als er seine botanischen
Studien begann, herrschte noch absolut das starre
System Linnes, als er sie abschloß, war, zum Teil
auf Grund seiner eigenen Arbeiten, die neuere wissen-
schaftliche Botanik im Entstehen; und so war es auf
fast allen Gebieten des Naturganzen.
Das bisher Besprochene bildet aber nur die eine
Seite dessen, was uns hier interessiert. Wir haben
es nicht allein mit der Schilderung eines der großen
Naturforscher zu tun. Es würde, wie ich glaube,
niemandem einfallen, eine eigene Vorlesung etwa
über Cuvier, Faraday oder selbst Helmholtz vor
einem allgemein gebildeten Hörerkreis zu halten.
Was uns hier interessiert, ist, daß eben Goethe
8 Erste Vorlesung.
dieser Naturforscher gewesen ist, daß in dem Leben
des Mannes, der uns den Werther, den Faust, den
Wilhelm Meister geschenkt hat, die Naturwissen-
schaften eine solche große Rolle gespielt haben.
Und in der Tat ist die Berücksichtigung dieser
wissenschaftlichen Beschäftigung Goethes zum Ver-
ständnis seines Gesamtbildes und seiner Entwick-
lung unumgänglich notwendig. Es haben daher die
Goethebiographen auch in neuererZeit immer größeren
Wert auf diese Seite seines Geistes gelegt. Man muß
aber im allgemeinen wohl sagen, daß die Kenntnis
von Goethes wissenschaftlichen Bestrebungen lange
nicht in dem Maße Gemeingut aller Gebildeten ge-
worden ist, als es für eine richtige Würdigung des
Dichters wünschenswert wäre, und wir werden im
Verlauf dieser Stunden sehen, wie vielfältig die natur-
wissenschaftlichen Bestrebungen alles, was Goethe
denkt, tut und dichtet, durchdringen und bedingen.
Wir wollen in dieser Einleitung die Frage, wie in
Goethes Persönlichkeit der Dichter und der Natur-
forscher zusammenhängen, nur kurz streifen, um sie
dann ein zweites Mal zu erörtern, wenn wir von
Goethes Forschungen Näheres erfahren haben. Schon
jetzt aber sei darauf hingewiesen, daß das Zusammen-
treffen von künstlerischer und naturwissenschaftlicher
Betätigung bei ein und demselben Individuum gar
nicht 80 selten vorzukommen scheint. Um mit ge-
ringeren Beispielen zu beginnen, so erinnere ich Sie
Einleitung. 9
nur an den Dichter Chamisso, dessen reizvolle Be-
schreibung seiner Weltumsegelung, auf der er wich-
tige zoologische und botanische Untersuchungen vor-
nahm, Ihnen allen bekannt ist. Von Albrecht v. Haller
wissen die meisten Menschen nur, daß er ein be-
schreibendes Gedicht über die Alpen verfaßt hat;
er war aber außerdem der Begründer der modernen
experimentellen Physiologie in Deutschland, und seine
Forschungen sind die Grundlage, auf der auch heute
noch weiter gearbeitet wird. Schon Goethe hat sich
mit den Anschauungen und Dogmen Albrecht
V. Hallers mehrfach in polemischer und scharfer
Weise auseinanderzusetzen gehabt. Auch unter den
bildenden Künstlern finden sich nicht selten Natur-
forscher. Michelangelo hat seine anatomischen
Studien nicht allein deshalb vorgenommen, um seinen
Skulpturen und Gemälden höchste Lebenswahrheit
verleihen zu können, sondern auch aus reinem
Interesse an der wissenschaftlichen Forschung. Die
schlagendste Parallele gewährt aber der Mann, in
dem Art und Geist des italienischen Volkes ihren
höchsten Ausdruck gefunden haben: Lionardo da
Vinci. Es ist wohl mehr als ein Zufall, daß gerade
jetzt, wo man sich Goethes naturwissenschaftlichen
Bestrebungen wieder mit Interesse zuwendet, auch
Lionardos gleiche Tätigkeit neu untersucht wird.
Ich hatte durch die Liebenswürdigkeit eines italie-
nischen Kollegen Gelegenheit, bei einem diesjähri-
10 Erste Vorlesung.
gen Aufenthalt in Florenz einem Vortragszyklus bei-
zuwohnen, welcher in der Societä Lionardo da Vinci
über den italienischen Meister gehalten wurde. Wenn
ich Ihnen nun ganz kurz aufzähle, was da über
Lionardos Bedeutung als Architekt, Anatom und
Biologe gesagt wurde, so werden Sie ohne weiteres
die auffallende Ähnlichkeit in der Betätigung beider
Männer erkennen.
Lionardo hat als Baumeister nicht nur neue
künstlerische Gesichtspunkte entwickelt, sondern
auch konstruktive und technische Fortschritte an-
gebahnt. Er legte dem Florentiner Rat einen ge-
nauen Plan vor, wie man das Baptisterium S. Gio-
vanni, das ziemlich tief in der Erde steckt, als
Ganzes, ohne es zu verletzen, heben und auf ein neues
Fundament stellen könne. Er galt als der erste
Wasserbaumeister seiner Zeit, und seine Pläne zur
Kanalisation der Poebene und Toskanas sind Ideale,
welche bis heute noch nicht erreicht worden sind.
Von ihm stammt die Idee einer völligen Reform des
Städtebaus in der Weise, daß jede Stadt zwei von-
einander unabhängige Systeme von Straßen besitzen
soll, von denen eine nur für Fußgänger, die andere
für Wagen und Güterverkehr dient, jedes Haus aber
von beiden Straßenzügen zugänglich sein soll. Nur
Edinburgh besitzt meines Wissens Andeutungen
einer derartigen Bauart. Als Festungsingenieur be-
saß Lionardo, in ähnlicher Weise übrigens wie auch
Einleitung. 1 1
Michelangelo, weitverbreiteten Ruf; die Zitadelle von
Mailand ist von ihm erbaut worden. Er galt als
einer der hervorragendsten Artilleristen, der Ge-
schützkonstruktionen erfand und die Geschoßbahnen
berechnete. Auch als Mathematiker ist er seiner
Zeit weit, vorausgeeilt. Erst in neuerer Zeit ist
bekannt geworden, daß wir in Lionardo den
eigentlichen Begründer der modernen menschlichen
Anatomie zu sehen haben. Während bisher Vesal
diesen Ruhm besaß, hat sich jetzt ergeben, daß
Lionardo schon mehrere Jahrzehnte früher seine
Sektionen menschlicher Leichen ausgeführt und
deren Resultate in wunderbaren Zeichnungen nieder-
gelegt hat, zu denen er einen eingehenden wissen-
schaftlichen erklärenden Text gab. Die einzige
Frage, welche heute noch diskutiert wird, ist, ob
Vesal von diesen Arbeiten Lionardos Kenntnis hatte,
und also des Plagiats schuldig ist, oder ob er selb-
ständig die ganze Anatomie noch einmal entdeckt
hat. Auch vergleichend anatomische Studien hat
Lionardo angestellt. Er verglich besonders den
Aufbau des Menschen mit dem des Pferdes, und
legte sich die Frage vor, inwieweit durch die ver-
schiedene Körpergestalt und die verschiedene
Funktion der Unterschied in der Anordnung von
Knochen und Muskeln bei beiden Wesen bedingt
sei. Daneben treffen wir bei Lionardo auf ein-
gehende Beschäftigung mit physiologischen Pro-
12 Erste Vorlesung.
blemen. Er studierte den auch heute noch nicht
aufgeklärten Vogelflug. Er stellte Untersuchungen
über die Bewegungen des Blutes an und er scheint
der Erste gewesen zu sein, der die Probleme des
tierischen Stoffwechsels klar erkannt und formuliert
hat. Allgemein bekannt ist, daß er optische Studien
betrieben und Forschungen zur Farbenlehre an-
gestellt hat. So finden wir denselben Künstler, der
die Mona Lisa und das Abendmahl schuf, als
Techniker, Physiker, Anatom und Physiologe
tätig. Wenn Sie nun das vergleichen, was ich
Ihnen vorhin über Goethes naturwissenschaftliche
Wirksamkeit gesagt habe, werden Sie leicht die
überraschende Ähnlichkeit in der Geistesart beider
Männer erkennen. Freilich war Lionardo Bildner,
Goethe Dichter, aber auch hier ist der Unterschied
kein so durchgreifender, als es auf den ersten Blick
scheint Goethe selbst hat in einem kurzen Aufsatz,
anknüpfend an eine Bemerkung in Heinroths Anthro-
pologie, ausgeführt, daß für seine Geistesart die
Fähigkeit zu anschaulichem Denken charakteristisch
sei, da er das Vermögen besitze, sich alle Dinge,
alle Vorgänge, alle Menschen, über die er nach-
denke und die er dichte, in jedem Augenblick so
plastisch vorzustellen, daß er sie gleichsam vor
seinem inneren Auge erscheinen sehe. So operiert
Goethe beim Dichten und beim Forschen immer
mit optischen Vorstellungen, und es ist ohne weiteres
Einleitung. 13
klar, wie ihm das beim wissenschaftlichen Arbeiten,
wie für die unmittelbare Anschaulichkeit seiner
Dichtungen zustatten kommen mußte. Sehen wir
hier den Poeten von der Eigenschaft des Natur-
forschers Gebrauch machen, so wird auf der
andern Seite auch der Forscher Goethe durch
die dichterischen Qualitäten unterstützt. Kein ge-
ringerer als Helmholtz hat darauf hingewiesen, daß
jeder Naturforscher, der mehr leisten will, als
die einfache nackte Aufzählung der von ihm be-
obachteten Erscheinungen, der die Naturphänomene
begreifen und zu einem übersichtlichen und ver-
ständlichen Ganzen zusammenfassen will, etwas von
der schöpferischen Phantasie des Künstlers nötig
hat, und so sehen wir, wie sich auch bei Goethe
diese beiden Eigenschaften gegenseitig ergänzen und
durchdringen: vom Naturforscher die Fähigkeit
gegenständlichen Denkens, vom Dichter die schöpfe-
rische Phantasie; und wir finden daher sowohl in
den naturwissenschaftlichen Werken immer den
ganzen Goethe, wie in seinen Dichtungen. So be-
wundern wir in seinen wissenschaftlichen Abhand-
lungen neben der Exaktheit der Forschung und der
Klarheit des Gedankens auch die Schönheit der
Darstellung, und so finden wir auch in Goethes
Dichtungen neben der höchsten poetischen Voll-
endung die außerordentliche Anschaulichkeit der
dargestellten Menschen und Handlungen und die
14 Erste Vorlesung.
Treue in der Wiedergabe der menschlichen Art und
der Natur. Auch Goethes Dichtungen kann man
erst ganz würdigen, wenn man den naturwissen-
schaftlichen Einschlag in ihnen bewußt oder unbe-
wußt mit in Rechnung zieht
Bis in die 80 er Jahre des vorigen Jahrhunderts
war man für die Beurteilung von Goethes natur-
wissenschaftlicher Tätigkeit im wesentlichen auf
diejenigen Aufsätze angewiesen, welche er selbst
in seine Werke, einschließlich der nachgelassenen
Schriften, aufgenommen hatte, und welche hier ein
ziemlich wenig beachtetes Dasein fristeten. In Wirk-
lichkeit ist der Umfang seiner naturwissenschaft-
lichen Werke ein wesentlich größerer. Schon zu Leb-
zeiten von Goethes Enkeln haben diese seine natur-
wissenschaftliche Korrespondenz in einer Reihe von
Publikationen veröffentlichen lassen. Nach ihrem
Tode wurde Goethes vollständiger Nachlaß der All-
gemeinheit zugänglich, und es ist nun auf Grund
dieses jetzt im Goethe- und Schillerarchiv befind-
lichen Materials die Gesamtheit von Goethes natur-
wissenschaftlichen Aufzeichnungen als 2. Abteilung
der großen Weimarer Goetheausgabe in 13 statt-
lichen Bänden veröffentlicht worden, welche jetzt
nahezu vollständig vorliegen. Erst dadurch wurde
es möglich, einen wirklichen Einblick in Goethes
Forschungen zu gewinnen. Hier sind nicht nur die-
jenigen Schriften abgedruckt, welche er selbst ver-
Einleitung. 15
öffentlicht hat, sondern eine Fülle noch ungedruckten
Materials; Aufsätze, Entwürfe, erste, später verworfene
Fassungen, Notizen, Aufzeichnungen und Versuchs-
protokolle, hingeworfene Ideen zu späteren Arbeiten,
kurzum alles, was Goethes Geist in diesen Fragen
bewegt hat und was er der Aufzeichnung für wert
erachtete. Dadurch ist die Übersicht über Goethes
naturwissenschaftliche Forschungen wesentlich ver-
tieft und erweitert, und wir können erst jetzt die
Fülle desjenigen ermessen, was ihn alles beschäftigt
hat. Nicht minder wichtig erscheint aber, daß
sich aus seinen kurzen Notizen und Protokollen
ein klarer Einblick in die Art gewinnen läßt, wie
er wissenschaftlich arbeitete, wie bei ihm die Pro-
bleme sich entwickelten, angepackt und gelöst wurden,
wie ihm seine Resultate durchaus nicht spielend
zufielen, sondern in ernster, mühevoller und oft ent-
täuschender Arbeit errungen werden mußten. Indem
wir so in die Werkstätte des Forschers einen Ein-
blick tun können, wie das vielleicht bei keinem
andern Naturforscher mit gleicher Deutlichkeit mög-
lich ist, gewinnen wir zugleich von einer neuen
Seite her ein persönliches Verhältnis zu Goethe und
sehen seine reifen Arbeiten aus ihren ersten An-
fängen her entstehen und sich entwickeln.
Außer dem handschriftlichen Nachlaß haben
Goethes Enkel das Haus ihres Großvaters mit
seinem gesamten Inhalt der Nation vermacht, und
16 Erste Vorlesung.
hier findet sich nun noch wohl erhalten neben den
zahlreichen anderen Sammlungen auch alles, was
von den naturwissenschaftlichen Studien her von
Goethe der Aufbewahrung wert erachtet wurde.
Hier ruht in umfangreichen Schränken seine ge-
waltige, mehr als 18000 Nummern umfassende Mine-
raliensammlung, welche Stücke von ganz hervor-
ragender Schönheit und Seltenheit enthält. Hier
sieht man Skelette und Schädel, an denen Goethe
vergleichend anatomische Studien gemacht hat.
Hier finden sich zahlreiche physikalische, besonders
elektrische Apparate, mit denen er für sich und
bei seinen Vorträgen experimentierte. Hier ist vor
allen Dingen in ganz überraschender Reichhaltigkeit
alles erhalten, was er zu seinen optischen Studien
verwendet hat: Prismen, Spiegel, Polarisations-
apparate, Flintglasstücke, farbige Papiere und
Seiden, und alle die andern Dinge, welche bei den
in der Farbenlehre beschriebenen Experimenten zur
Verwendung kamen, liegen noch heute zum Teil
in denselben Papieren, in welche Goethe sie ein-
gewickelt hat, in den Schränken des Goethehauses,
und es gewährt, wie ich Sie aus eigener Erfahrung ver-
sichern kann, einen eigentümlichen Reiz, an dieser
geweihten Stätte mit Goethes eigenen Apparaten seine
Versuche nachzumachen und sich zu überzeugen,
mit welcher Exaktheit er beobachtete, mit welcher
anschaulichen Treue alles, was er bei seinen Ver-
Einleitung. 1 7
suchen sah, von ihm geschildert wurde. Auf diese
Weise läßt sich noch heute die ganze Pracht der von
Goethe beschriebenen optischen Phänomene wieder
hervorzaubern. Im Goethehause findet sich ferner
seine naturwissenschaftliche Bibliothek, die von der
Reichhaltigkeit seiner Interessen und seiner Studien,
von dem Ernst, mit dem er sich auf allen Gebieten
unterrichtete, ein noch heute sprechendes Zeugnis
ablegt. Außerdem liegen hier noch zahlreiche
Zeichnungen und graphische Darstellungen, welche
ein wertvolles Illustrationsmaterial für viele von
Goethes naturwissenschaftlichen Schriften abgeben,
Tafeln mit geologischen, anatomischen, botanischen
und anderen Abbildungen, welche zum Teil noch
immer der Veröffentlichung harren.
So ist man heute vielleicht besser als vor
30 Jahren imstande, Goethes naturwissenschaftliche
Tätigkeit zu verfolgen und zu würdigen, und ich
will versuchen, ob es mir gelingt, Ihnen ein an-
schauliches Bild von dieser Seite des Goetheschen
Geisteslebens zu entwerfen.
Magnus, Goethe als Naturforscher.
Zweite Vorlesung.
Goethes Leben.
Meine Herren! Wir wollen jetzt beginnen, den
Rahmen zu entwerfen, in den wir später Goethes
naturwissenschaftliche Leistungen in Einzeldarstel-
lungen einfügen wollen. Wir wollen seinen natur-
wissenschaftlichen Entwicklungsgang kennen lernen
und sehen, wie sich die verschiedenartigen Studien
und Beschäftigungen in seinen Lebenslauf ver-
flochten haben. Es soll das zunächst nur eine ganz
oberflächliche Skizze werden, die näheren Details
werden wir später nachzutragen ausreichend Ge-
legenheit haben.
Aus Goethes Kindheit erfahren wir nur wenig
über Berührung mit naturwissenschaftlichen Dingen
und er selber hat bei der Schilderung seines Ent-
wicklungsganges auf diese kindlichen Anfänge nur
geringen Wert gelegt. In eigentliche Berührung
kommt er mit der Naturwissenschaft erst auf der
Universität 1765—68 finden wir ihn als Studiosus
der Rechte in Leipzig. Aber schon hier beschränkt
er sich keineswegs auf das Fachstudium. Außer
den vielen andern Interessen, die er in der Leipziger
Goethes Leben. 19
Zeit pflegt, studiert er auch Physik und hört be-
sonders Elelctrizitätslehre bei Winkler. In näherem
Verkehr steht er mit mehreren Medizinern, unter
denen Erhardt Kapp, der später berühmte Arzt, der
auch Goethe zu seinen Patienten zählte, genannt
sein möge. Auch bei dem Mittagstisch des Medi-
ziners und Botanikers Ludwig, an dem er teilnahm,
mögen zahlreiche Anregungen auf ihn eingewirkt
haben. Dann erkrankt er an jenem rätselhaften
Leiden, dessen Natur bis heute noch nicht aufge-
klärt ist. Er kehrt nach Frankfurt zurück und macht
ein längeres Krankenlager in seinem Elternhaus
durch. Hier wird er durch den Einfluß der schönen
Seele, des Frl. v. Klettenberg, und seines Arztes auf
alchimistische Studien gebracht. Er studiert und
experimentiert mit Retorten und Kolben und liest
auch in jener Zeit neben den Werken des Paracelsus
das chemische Kompendium und die Aphorismen
Boerhaves, des berühmten Klinikers, dessen An-
schauungen und Lehren damals die gesamte medi-
zinische Wissenschaft beherrschten. Auf jene Studien
haben wir wohl die alchimistischen Reminiszenzen
in Fausts Osterspaziergang zurückzuführen, in denen
die Darstellung der Arzenei in der phantastisch-
symbolischen Sprache jener Wissenschaft aus dem
„roten Leu" und der „Lilie" geschildert werden.
1770 und 71 studiert Goethe in Straßburg und
er gerät daselbst in den Kreis anregender Männer,
20 Zweite Vorlesung.
teilweise wieder Mediziner, die er uns in Wahrheit
und Dichtung so anschaulich geschildert hat. Er
erwähnt dabei, daß nach seinen Erfahrungen die
Mediziner die einzige Klasse von Studierenden seien,
welche sich für ihr Fach so interessieren, daß sie
auch außerhalb des Kollegs davon zu sprechen
pflegen. In dieser „fachsimpelnden" Gesellschaft
hat nun Goethe nach seiner eigenen Angabe eine
Menge medizinischer und naturwissenschaftlicher An-
regungen erfahren. Aber er begnügte sich damit nicht,
sondern hörte auch eifrig Vorlesungen, so Chemie
bei Spielmann, der zugleich Professor der Botanik
und Lehrer am botanischen Garten war, Anatomie
beim berühmten Anatomen Lobstein, ja, er be-
suchte die Klinik des älteren Ehrmann und hörte,
was heutzutage einem Juristen wohl schwerlich er-
laubt sein dürfte, sogar Geburtshilfe beim jüngeren
Ehrmann.
Die Straßburger Zeit geht vorüber; er kehrt nach
Frankfurt zurück; die Wetzlarer Periode folgt. Wir
stehen in der Zeit von Goethes Sturm und Drang.
Werther und Götz werden geschaffen und begründen
den Ruhm des Dichters. In diesen Jahren hören wir
von naturwissenschaftlichen Bestrebungen Goethes
nur wenig. Sie treten hinter den übrigen mächtigen
Interessen des jungen Genies zurück. Das einzige
Erwähnenswerte aus jener Zeit ist die Bekanntschaft
mit Lavater (1774), der damals die physiognomischen
Goethes Leben. 21
Fragmente herausgab, für die sich Goethe alsbald
aufs lebhafteste interessierte. Er hat dann an dem
Werk mitgearbeitet, einzelne kurze Beschreibungen
zu Köpfen berühmter Männer und auch zu Tier-
köpfen gegeben und wurde von Lavater nachdrück-
lichst auf die knöcherne Grundlage des Gesichtes,
den Schädel hingewiesen. So knüpfen die Anfänge
von Goethes osteologischen Studien an die Lehre
vom Gesichtsausdruck an, an die Frage, wie man
Art und Charakter eines Menschen aus den Gesichts-
zügen ablesen könne und durch welche anatomischen
und psychischen Faktoren die Physiognomie bestimmt
werde. Daran schloß sich eine eifrige Korrespon-
denz über osteologische Fragen mit seinem Freund
Merck in Darmstadt.
Im November 1775 tritt der Umschwung in
Goethes Leben ein. Er folgt der Einladung des
Herzogs von Weimar, und binnen kurzem finden wir
ihn als Freund Carl Augusts, dann als leitenden
Minister in dem kleinen mitteldeutschen Herzogtum.
In die ersten Weimarer Jahre fallen nun die ent-
scheidenden Anfänge intensiver Beschäftigung Goethes
mit den Naturwissenschaften, und zwar gingen die
Anregungen hierzu zu einem gewissen Teil aus von
den dienstlichen Beziehungen mit den verschiedenen
Ressorts seines Ministeriums. Durch die Beschäfti-
gung mit Land- und Forstwissenschaft wurde er auf
Botanik, durch die Notwendigkeit, den Ilmenauer
22 Zweite Vorlesung.
Bergbau wieder zu beleben, auf Mineralogie und
• Geologie hingewiesen, und schon 1777 finden wir
ihn auf der Harzreise, 1780 auf der Schweizerreise
mit eifrigen geologischen Studien beschäftigt. Schon
damals mußte er sich auch mit den naturwissen-
schaftlichen Instituten der Universität Jena befassen,
denen er sein ganzes Leben hindurch von da ab
sein lebhaftes Interesse und seine Arbeitskraft ge-
widmet hat. Anfangs stand Goethe mit diesen
naturwissenschaftlichen Bestrebungen in Weimar
allein. Nur der Hofapotheker Buchholz hatte ähn-
liche Neigungen. Von diesem erfuhr Goethe die
neueren Fortschritte der Physik und Chemie, und
da Buchholz nach der damaligen Sitte in dem Garten
seines Hauses sich die offizineilen Pflanzen für
seine Apotheke selber zog und auch andre Pflanzen
kultivierte, so lernte Goethe auf diesem Wege
auch vieles über Botanik und Pflanzenzucht. Erst
1780 gelang es ihm, den Herzog für die Natur-
wissenschaften zu interessieren. Er wird ihn ver-
mutlich bei ihrer gemeinschaftlichen Schweizerreise
immer wieder auf die interessanten Phänome der
großartigen Schweizernatur hingewiesen haben. Vier
Jahre später aber hat er bereits die ganze Weimarer
Gesellschaft und den Hof in den Bannkreis seiner
naturwissenschaftlichen Bestrebungen hineingezogen.
Wie weit das damals ging, ersehen wir aus einem
an Körner gerichteten Brief Schillers, welcher im
Goethes Leben. * 23
Jahre 1787, während Goethe in Italien weilte, nach
Weimar geicommen war und dort Goethes Einfluß
fortwirkend vorfand. Hören wir Schiller selbst:
„Goethes Geist hat alle Menschen, die zu seinem
Zirkel zählen, gemodelt. Eine stolze philosophische
Verachtung aller Spekulation und Untersuchung mit
einem bis zur Affektation getriebenen Attachement
an die Natur, eine Resignation in seine fünf Sinne,
kurz eine gewisse kindliche Einfalt der Vernunft be-
zeichnet ihn und seine ganze hiesige Sekte. Da
sucht man lieber Kräuter und treibt Mineralogie, als
daß man sich in leere Demonstrationen verfinge. Die
Idee kann ganz gesund und gut sein, aber man
kann auch viel übertreiben."
1781 beginnt nun Goethe wieder anatomische
Studien, und zwar läßt er sich von Loder in Jena
acht Tage lang an zwei Leichen Knochen- und
Muskellehre demonstrieren. Die hierdurch wieder
aufgefrischte Kenntnis der menschlichen Anatomie
macht er dann sofort praktisch nutzbar und hält in
Weimar für die Schüler der Zeichenschule anato-
mische Vorlesungen, um sie in das Verständnis der
menschlichen Form einzuführen. Diese anatomischen
Studien werden nun zunächst nicht wieder abge-
brochen und schon drei Jahre später hat Goethe
seine erste wissenschaftliche Abhandlung vollendet,
den Aufsatz über den Zwischenkiefer, dessen Be-
deutung weit darüber hinausgeht, daß er das Vor-
24 Zweite Vorlesung.
handensein dieses Knochens auch beim Menschen
nachwies, der vielmehr als die erste wissenschaft-
liche vergleichend anatomische Abhandlung anzu-
sehen ist Trotzdem wurde sie, wie später näher
zu schildern sein wird, von den Fachgelehrten ab-
gelehnt und erst allmählich brachen sich die in ihr
niedergelegten Erkenntnisse Bahn. Goethe wurde
aber durch diesen Mißerfolg so verstimmt, daß er
weitere anatomische Publikationen zunächst unter-
ließ. In jener Zeit setzte er außerdem die geo-
logischen Studien fort. 1784 auf der dritten Harz-
reise, 1785 in Karlsbad gewinnt er wichtige neue
Erfahrungen.
Im folgenden Jahre schüttelt Goethe die drückende
Last der Weimarischen Enge mit all ihren beruf-
lichen und gesellschaftlichen Verpflichtungen von
sich. Er flieht nach Italien und erlebt in diesem
Lande eine menschliche und künstlerische Wieder-
geburt. Auf diesem zweiten Höhepunkt seines dichte-
rischen Schaffens, als er Egmont vollendet, Iphigenie
umarbeitet, die bedeutendsten Teile des Tasso dichtet,
hat er nun interessanterweise auch gleichzeitig einen
der wichtigsten naturwissenschaftlichen Fortschritte
gemacht Es wird gelegentlich behauptet, daß Goethe
seine naturwissenschaftlichen Studien hauptsächlich
in den Jahren mangelnder poetischer Produktivität
getrieben habe; für die botanischen Entdeckungen
der italienischen Reise gilt dies zweifellos nicht Er
Goethes Leben. 25
studiert hier auf italienischem Boden die ihm neuen
südlichen Pflanzenformen, gewinnt neue Erfahrungen
über die Abhängigkeit des Wachstums von den
äußeren Bedingungen, wie Licht, Luft und Boden,
und gelangt schließlich bei der Suche nach einer
Urpflanze zu jener höchsten Verallgemeinerung über
den Aufbau der Pflanzenform, die er in seiner
Pflanzenmetamorphose niedergelegt hat. Damit sind
aber seine naturwissenschaftlichen Interessen in Ita-
lien nicht erschöpft. Er wendet sich hier wieder der
Anatomie zu, studiert den menschlichen Körper,
besonders die Muskeln, und versucht auf diesem
Wege in das Verständnis zunächst der Skulpturen
Michelangelos, dann der Antike einzudringen. Indem
er die antiken Statuen auf ihre anatomische Natur-
treue hin prüft, gelangt er zu dem Verständnis, wie
die alten Künstler auf Grund genauester Kenntnisse
der menschlichen Form doch zu typischen und all-
gemeingültigen Einzeldarstellungen gekommen sind.
Dabei stellt er interessante Parallelen an zwischen
der Art, wie die Natur und wie der Künstler bei
der Hervorbringung körperlicher Gestalten schöpfe-
risch vorgeht.
Von Italien kehrt er wieder nach Weimar zurück,
und von nun an bis zu seinem Tode brechen die
naturwissenschaftlichen Studien nicht wieder ab. Er
entfaltet eine rastlose Tätigkeit, um alle Gebiete in
gleicher Weise zu bearbeiten. Als Beispiel für die
26 Zweite Vorlesung.
Vielseitigkeit seiner Tätigkeit möge kurz aufgezählt
werden, was er schon im Jahre 1790 alles getrieben
hat. Da wurde die Schrift über die Pflanzenmeta-
morphose vollendet, da brachte er bei der Betrach-
tung eines gesprengten Schafschädels am Lido die
Wirbeltheorie des Schädels, über die er schon früher
nachgedacht hatte, zum Abschluß, da schrieb er,
während er sich mit den Truppen des Herzogs im
schlesischen Lager befand, inmitten des militärischen
Trubels den Versuch über die Gestalt der Tiere,
und in demselben Jahre begann er, ausgehend von
einer Untersuchung des malerischen Kolorits, seine
optischen Studien, und glaubte nach kurzer Zeit ge-
funden zu haben, Newtons Hypothese von der Zu-
sammensetzung des weißen Lichtes aus farbigem sei
falsch. Diese optischen Arbeiten nehmen von da an
immer mehr sein Interesse gefangen, und 20 Jahre
lang forscht und experimentiert er, bis im Jahre 1810
ein vorläufiger Abschluß erzielt ist und seine Farben-
lehre der Öffentlichkeit übergeben werden kann. In
demselben Jahre, 1790, ist er wieder in größerem
Maßstabe für die Universität Jena tätig, deren Museen
vervollständigt und erweitert werden. Jetzt und in
späteren Jahren ist es seine Hauptsorge, diese Samm-
lungen durch Geschenke zu vergrößern und dafür
zu sorgen, daß auch von andrer Seite reichlich Zu-
wendungen gemacht werden. Auch die Anlage des
botanischen Gartens in Jena fällt in diese Zeit
Goethes Leben. 27
Zwei Jahre später finden wir Goetlie im Feld.
Er begleitet die Truppen des Herzogs auf ihren
Märschen mit der preußischen Armee unter dem
Befehl des Herzogs von Braunschweig nach Frank-
reich hinein und erlebt das hoffnungsfreudige Vor-
dringen, die unrühmliche Kanonade von Valmy und
den schwierigen und gefährlichen Rückzug des
Heeres, den er uns in seiner Campagne in Frank-
reich so anschaulich geschildert hat. Als Reise-
lektüre in die Strapazen des Feldzuges begleitet ihn
charakteristischerweise Gehlers physikalisches Lexi-
kon. Unausgesetzt beobachtet er während des Mar-
sches die Naturphänomene, studiert Lichtbrechungs-
erscheinungen in klaren Gewässern, und des Abends
beim Wachtfeuer, mit dem Prinzen Reuß auf und
ab gehend, doziert er diesem zu dessen höchstem
Erstaunen nicht etwa künstlerische oder politische
Anschauungen, sondern seine neuesten Ergebnisse
über die Farbenlehre. Diese optischen Studien wer-
den auch später bei der Belagerung von Mainz fort-
gesetzt. Nach der Rückkehr aus Frankreich geht
Goethe den Rhein hinunter und besucht bei Düssel-
dorf seine Freunde Jacobi in Pempelfort. Bei der
Schilderung dieses Besuchs tritt uns so recht an-
schaulich entgegen, was er sein ganzes Leben hin-
durch immer wieder erfahren mußte, die völlige
Verständnislosigkeit und das mangelnde Anerkennen
von Goethes Freunden seinen naturwissenschaft-
28 Zweite Vorlesung.
liehen Studien gegenüber. Man wollte immer nur
den Dichter Goethe gelten lassen, betrachtete die
naturwissenschaftlichen Forschungen als ein Ab-
trünnigwerden von seinem eigentlichen Beruf und
konnte durchaus nicht begreifen, daß für ihn die
Naturphänomene zeitweise von größerer Anziehungs-
kraft und Bedeutung waren als alle dichterischen
Vorwürfe. Dieselbe Bitterkeit, die hier den Freunden
gegenüber laut wird, hat Goethe auch gegen die
Zunft der Fachgelehrten gefühlt und ausgesprochen,
welche gewöhnlich seinen wissenschaftlichen Werken
bei ihrem Erscheinen ablehnend, ja feindlich gegen-
überstanden. Zahlreiche harte Worte sind darüber
aus seinem Munde gefallen, und er hat zweifellos
unter der mangelnden Anerkennung seiner natur-
wissenschaftlichen Bestrebungen mehr gelitten als
unter der Verständnislosigkeit, auf die seine Dicht-
werke zeitweise stießen. Noch im Jahre 1831 schrieb
er darüber: „Seit länger als einem halben Jahrhundert
kennt man mich im Vaterland und auch wohl aus-
wärts als Dichter und läßt mich allenfalls für einen
solchen gelten; daß ich aber mit großer Aufmerk-
samkeit mich um die Natur in ihren allgemeinen
physischen und organischen Phänomenen emsig be-
müht und ernstlich angestellte Betrachtungen stetig
und leidenschaftlich im Stillen verfolgt, dieses ist
nicht so allgemein bekannt, noch weniger mit Auf-
merksamkeit bedacht worden." Für jeden, der Goethes
Goethes Leben. 29
abgeklärte und oft bewußt ruhige Sprechweise kennt,
zittert in diesen Worten das Gefühl jahrelangen Ver-
kanntseins durch.
Wir kommen jetzt in die Jahre, in denen Wil-
helm Meister entstand. 1794 und 1795 verweilte
Goethe besonders viel in Jena und verkehrte dort
unter andern nahe mit den Brüdern Humboldt. Er
hörte damals mit Alexander von Humboldt und seinem
Hausgenossen Heinrich Meyer Loders Vorlesung
über Bänderlehre. Im Anschluß an diese Demonstra-
tionen entwickelte Goethe den Freunden näher seine
Ideen über vergleichende Anatomie. Diese wurden
mit höchstem Interesse aufgenommen, und Alexan-
der von Humboldt war von ihrer Bedeutung so
durchdrungen, daß er nicht nachließ zu drängen,
bis Goethe sie dem jungen Jacobi diktierte. So
entstand die allgemeine Einleitung in die ver-
gleichende Anatomie. In dieselbe Zeit fällt ein
Ereignis, daß für Goethes ganze geistige Weiter-
entwicklung von allerhöchster Bedeutung werden
sollte. Im Anschluß an eine naturwissenschaft-
liche Sitzung kommen Goethe und Schiller ins Ge-
spräch, und eine Diskussion über Goethes Pflanzen-
metamorphose bildet den Ausgangspunkt für den
Freundschaftsbund, dem die deutsche Literatur so
viel verdankt. Das Gespräch selbst, das uns
Goethe aufbewahrt hat, ist für die Eigenart der
beiden Männer so charakteristisch, daß wir es
30 Zweite Vorlesung.
Später noch eingehender zu erörtern haben wer-
den. Wie die erste Anknüpfung zwischen ihnen
auf naturwissenschaftlichem Boden stattfand, so
wurde dieser letztere auch in der Folgezeit nicht
verlassen, und es erging Schiller selbst so, wie er
es weniger als ein Jahrzehnt vorher halb ironischer-
weise von der Weimarschen Gesellschaft an Körner
berichtet hatte. Er geriet allmählich immer mehr in
den Bannkreis von Goethes naturwissenschaftlichen
Ideen, und der Briefwechsel zwischen Goethe und
Schiller, dieses herrliche Denkmal des Gedanken-
austausches der beiden Geistesheroen zeigt, wie
Schiller allmählich an diesen Forschungen immer
mehr Interesse gewann und schließlich sogar selbst
Goethe Vorschläge für anzustellende optische Ex-
perimente machen konnte. Schiller war in diesem
Bund durchaus nicht nur der Nehmende. Von den
Dingen, die uns hier interessieren, sei erwähnt, daß
Goethe von Schiller mit Nachdruck auf die Kant-
sche Philosophie hingewiesen wurde. Goethe kam
dem Gedankenkreis des Königsberger Philosophen
durch das Studium von dessen Werken näher, be-
sonders aber wurde er durch die Lektüre von
Schillers Schriften immer wieder auf diese philo-
sophischen Probleme aufmerksam gemacht. Es mag
aber gleich hier im Anfang betont werden, daß be-
sonders die Kantsche Erkenntniskritik eine Lehre war,
welche Goethes Geist nicht adäquat gewesen ist,
Goethes Leben. 31
und die er daher nur unvollständig sich assimilieren
konnte. Trotz eingehendstem Studium der Kant-
schen Lehre konnte er sich doch von seinem spino-
zistischen Standpunkte nicht freimachen. Wir wer-
den später bei der Besprechung der Farbenlehre
sehen, daß gerade hier in der Nichtanwendung
Kantscher Prinzipien der entscheidende Fehler von
Goethes wissenschaftlichen Schlußfolgerungen liegt,
und daß es erst Goethes Nachfolgern auf optischem
Gebiete, besonders Johannes Müller, gelang, die end-
gültige Klarheit in das damals noch dunkle und
verworrene Gebiet zu bringen.
Die Jahre, in denen Hermann und Dorothea ge-
dichtet wurde, sind ebenfalls reich an naturwissen-
schaftlicher Betätigung. Goethe wendet sich jetzt
der Untersuchung der Metamorphose der Insekten
zu, beobachtet die Umwandlung der Raupe zur
Puppe und zum Schmetterling, studiert die Be-
dingungen, durch welche sich dieser Prozeß fördern
und hemmen läßt und sammelt wichtige physio-
logische Beobachtungen an diesen Tieren. Neben-
her gehen astronomische Studien. Er verfolgt in
seinem Gartenhaus mit dem Teleoskop einen ganzen
Monat lang den Wechsel des Mondes und lernt
dabei das Bild der Mondoberfläche so gut kennen,
daß er in späteren Jahren Schriften über die Ge-
stalt und Natur des Mondes mit eigener Kritik lesen
kann. Auch der Saturn wird von ihm beobachtet.
32 Zweite Vorlesung.
Die Entwicklung der Chemie, welche in jenen Jahren
nach' Entdeckung des Sauerstoffes entscheidende
Fortschritte machte, verfolgt er, und läßt sich be-
sonders durch Buchholz und Professor Göttling in
Jena von den neueren Entdeckungen berichten und
sich die entscheidenden Experimente vormachen.
Gleichzeitig experimentiert er selbst ununterbrochen
über Optik, und hat diese Lehre nun schon so weit
gefördert, daß er Vorträge darüber halten kann.
Überhaupt fühlt er das Bedürfnis, die Naturwissen-
schaften zu dozieren und hält in den folgenden
Jahren Mittwochs Experimentalvorträge für Damen,
zu denen sich kurze Notizen und Entwürfe in der
Weimarer Ausgabe finden. Hier trägt er über Magne-
tismus, Elektrizität, über Raum und Materie, Luft,
Optik, ja auch über Teile der Chemie vor und seine
Aufzeichnungen beweisen, daß er sich bemühte,
die wichtigsten Versuche in einfacher und demon-
strabler Form seinem Hörerkreise vorzuzeigen. Ap-
parate, deren er sich vermutlich bei diesen Demon-
strationen bedient hat, als: Elektrisiermaschinen,
Batterien von Leidner Flaschen, Elektroskope u. v. a.
befinden sich noch heute im Goethehaus. Auch
die Botanik wird in jenen Jahren nicht vernach-
lässigt Während er seinen früheren Forschungen
hauptsächlich die höheren Pflanzen, die Phanero-
gamen, zugrunde gelegt hatte, wendet er sich jetzt
den Kryptogamen, Moosen, Farnen, Algen usf. zu
Goethes Leben. 33
und experimentiert über den Einfluß des Lichtes,
der Dunkelheit und der verschiedenen Farben auf
das Pflanzenwachstum. Besonderes Interesse bringt
er in jenen Jahren auch den Heilungsvorgängen
entgegen, wie sie sich an abnormem Elfenbein be-
obachten lassen, das während des Lebens seiner
Träger auf irgend eine Weise verletzt worden war.
Er stellt eine ganze Sammlung solcher Stücke zu-
sammen, die er beschreibt und aus Dankbarkeit
seinem Lehrer Loder schenkt, mit dem sie dann
später nach Moskau gewandert sind.
1803 gehen wichtige Veränderungen in der Je-
naer Universität vor sich. Nach Loders Weggang
wird Ackermann Anatom, Schelver bekommt die
Leitung des botanischen Gartens. Dann brausen
die Stürme der Napoleonischen Kriege über das
Land und auch die Universität Jena hat nach der
unglücklichen Schlacht von Jena und Auerstädt 1806
schwer zu leiden. Aber schon 3 Jahre später
kommt es unter Goethes besonders tätiger Mit-
wirkung zu einer völligen Reform der Hochschule.
Von Wichtigkeit ist, daß von nun an alle An-
stalten und Museen unter einer einheitlichen Leitung
vereinigt werden und daß Goethe hiermit betraut
wird. Bis dahin war es noch Sitte gewesen, daß
jeder Professor sich die Sammlungen und Präparate,
die er zu seinen Vorlesungen brauchte, selbst an-
fertigte und zusammenbrachte. Wurde dann ein
Mag/ius, Goethe als Naturforscher. 3
34 Zweite Vorlesung.
Hochschullehrer an eine andre Universität berufen,
so nahm er diese höchst wertvollen Sammlungen
mit sich und der Nachfolger mußte von frischem
anfangen. Hier hat Goethe entscheidenden Wandel
geschaffen. Er bemühte sich und setzte es durch,
daß jede einzelne naturwissenschaftliche Anstalt ihr
eigenes Museum bekam. Er hat auf Einrichtung
und Ausgestaltung dieser Sammlungen große Mühe
und Sorgfalt verwendet, selbst wertvolle Zuwen-
dungen gemacht, dafür gesorgt, daß wichtige Funde
der Universität Jena zugewiesen wurden und seine
ausgedehnten Beziehungen dazu benutzt, um die
Jenenser Sammlungen zu bereichern. 1812 wurde
dann in Schillers Gartenhaus in Jena die Universitäts-
sternwarte errichtet. So blieb die Hochschule auch
in jener Zeit eine der ersten Pflegestätten deutscher
Geisteskultur.
In diesen Jahren beschäftigt sich Goethe viel
mit Hirnanatomie. Loder hatte ihm früher den Auf-
bau des Gehirns demonstriert, indem er dieses der
Reihe nach in Schnitte zerlegte und beschrieb, was
auf diese Weise zu sehen war. Ganz anders faßte
Gall, mit dem Goethe im Jahre 1805 in Berührung
kam, den Bau dieses Organs auf. Er lernte ihn bei
einem Besuch beim Philologen Wolf in Halle kennen
und hörte seine Vorträge. Gall, dessen Name in
der Gegenwart hauptsächlich durch seine Schädel-
lehre bekannt Ist, durch die er versuchte, die geistigen
Goethes Leben. 35
Eigenschaften eines Menschen aus seiner äußeren
Schädelform zu erkennen, besitzt eine weit größere
Bedeutung durch seine Forschungen über den Auf-
bau des Zentralnervensystems. Goethe folgte seinen
Ausführungen mit dem größten Interesse, und be-
richtet, daß Gall die Gehirnanatomie dabei nach
vergleichend anatomischen Gesichtspunkten vorge-
tragen habe, eine Behandlungsweise, welche ihm
schon von vornherein sympathisch sein mußte. Auch
der Zusammenhang des Gehirns mit dem Rücken-
mark durch leitende Nervenfaserbahnen wurde schon
damals erörtert. So sehen wir also Goethe in den
Jahren, in denen er die Wahlverwandtschaften
konzipierte und schrieb, fortgesetzt naturwissen-
schaftliche Bestrebungen verfolgen. Ist doch auch
der Titel dieses Romans selbst der Chemie ent-
nommen. Die „Wahlverwandtschaft" der Schwefel-
säure zum Kalk muß dazu dienen, die unwider-
stehliche Anziehungskraft, welche zwei Menschen
triebartig zueinander hinführt, zu symbolisieren. All-
jährlich führte ihn sein Weg in die böhmischen
Bäder, und hier wurden mineralogische und geo-
logische Studien mit höchstem Eifer betrieben. Er
lernte allmählich die ganze Geologie der Umgebung
von Karlsbad, Marienbad und Eger kennen, ordnete
und katalogisierte selbst die reichhaltige Sammlung
des Mineralienhändlers Müller, publizierte den Kata-
log und verschaffte dadurch den Gelehrten und
3*
36 Zweite Vorlesung.
den Museen Gelegenheit, ihre Sammlungen zu
vervollständigen. Mineralogische Interessen ver-
banden ihn ferner mit dem Polizeirat Grüner in
Eger und später mit dem Grafen Kaspar Stem-
berg, mit dem eine ausgiebige mineralogische und
botanische Korrespondenz durch Jahre hindurch ge-
führt wurde.
Im Jahre 1810 wurden die optischen Studien
zunächst abgeschlossen und die Farbenlehre ver-
öffentlicht Auch hier wieder wurde Goethe aufs
lebhafteste enttäuscht durch die Anfeindungen, die
er deswegen von allen Seiten erfuhr. Aber nichts-
destoweniger wandte er sich sofort nachher einem
neuen Forschungsgebiet zu. Er ließ den optischen
Versuchen solche über eine Tonlehre folgen. Hier
ist es zu keiner abgeschlossenen Publikation Goethes
gekommen. Er hat die Versuche etwa durch 5 Jahre
fortgeführt, und es sind uns Schemata zu einer Ton-
lehre und Notizen für anzustellende Versuche er-
halten. Es sollte die Lehre von der menschlichen
Stimme, die Physiologie des Ohres, die Rythmik
und der Takt, die Eigenschaften der musikalischen
Instrumente, die Zahl- und Maßverhältnisse schwin-
gender Saiten und die Lehre von der musikalischen
Harmonie behandelt werden. Diese Tatsachen sind
uns deshalb von ganz besonderem Interesse, weil
wir etwa 50 Jahre später Helmholtz genau denselben
Entwicklungsgang nehmen sehen. Kaum hatte dieser
Goethes Leben. 37
sein grundlegendes Werk über die physiologische
Optik abgeschlossen, so wendete auch er sich der
Akustik zu, nur daß Helmholtz seine Forschungen
zum Abschluß brachte und in seiner Physiologie
der Tonempfindungen die Grundlage für die physio-
logische Akustik legte. Bei Goethe ruhten übrigens
die optischen Versuche nur kurze Zeit. Schon 1813
studierte er die Phänomene, die man damals die ent-
optischen nannte. Nach der heutigen Ausdrucks-
weise beschäftigte er sich mit dem Auftreten von
Farbenerscheinungen im polarisierten Licht; er unter-
suchte die optischen Eigenschaften des Kalkspats,
des Glimmers, des rasch gekühlten und gepressten
Glases u. a. m., Versuche, die ihn fast ein Jahrzehnt
in Anspruch nahmen, und über die er dann zusammen-
fassend berichtet hat. Von Anfang an stand er in
lebhaftem Gedankenaustausch hierüber mit dem Phy-
siker Seebeck, der zuerst in Jena, dann in Nürnberg
lebte und Goethe dauernd über seine Forschungen
und Erfolge auf dem gleichen Gebiete auf dem lau-
fenden erhielt. Seebeck siedelte später nach Berlin
über, aber es kam dann zu Meinungsverschieden-
heiten zwischen beiden über optische Fragen, die zu
einer völligen Entfremdung führten.
Wir nähern uns jetzt wieder einer Periode höch-
sten dichterischen Schaffens, den Jahren, in welchen
der westöstliche Diwan entstand und Goethes Liebe zu
Marianne von Willemer so herrliche poetische Werke
38 Zweite Voriesung.
zeitigte. Goethe stand damals schon in der zweiten
Hälfte der 60er Jahre, aber wir dürfen an diesen
Mann nicht den Maßstab des gewöhnlichen Ablaufes
des menschlichen Lebens legen. Man braucht nur
eines der zahlreichen Bildnisse aus jener Zeit zu
betrachten, wie z. B. das herrliche, im Besitz des
Freiherrn von Bemus befindliche Brustbild, auf dem
Wilhelm von Kügelgen das Aussehen des 60]ährigen
festgehalten hat, und das auf der deutschen Jahr-
hundertausstellung zu sehen war: imponierende Züge,
frei von jedem Zeichen des Alters, dichtes, dunkles
Haar und das gewaltig blitzende Auge zeigen uns
an, daß Goethe in jenen Jahren wie ein jugendliches
Innere, so auch ein Äußeres, frei von allen Spuren
der Jahre besessen hat. So verstehen wir, daß auch
die naturwissenschaftlichen Bestrebungen mit un-
verminderter Kraft fortgeführt wurden, daß Goethe
ununterbrochen sich über die Fortschritte auf allen
Gebieten auf dem laufenden hielt, und daß er rast-
los selbst weiter arbeitete. Wir erfahren, daß zu
jener Zeit Döbbereiner ihn in die Stöchiometrie ein-
führen mußte. Diejenigen von Ihnen, welche sich
mit Chemie beschäftigt haben, werden wissen, daß
die chemischen Körper sich nach ganz bestimmten
und gesetzmäßigen Mengenverhältnissen miteinander
verbinden. Die damals in ihrem ersten Siegeslauf
befindliche Chemie hatte schon diese Gesetze ein-
gehend studiert, und so sehen wir auch Goethe be-
Goethes Leben. 39
strebt, sich diese Fortschritte anzueignen. Eigene
chemische Versuche stellte er in jenen Jahren mit
Pflanzenextrakten an, deren Färbung er durch Säure
oder Lauge veränderte. Die Weimarer Ausgabe ent-
hält sorgfältige Protokolle über diese ausgedehnten
und wichtigen Versuche, in denen Goethe das stu-
dierte, was man heute als Indikatoren bezeichnet, -1
d. h. chemische Substanzen, welche durch ihren
Farbwechsel anzeigen, wann in einer Lösung saure
oder alkalische Reaktion auftritt. — Sehr lebhaft
finden wir Goethe auch mit der Witterungskunde»
beschäftigt. Er hatte schon in früheren Jahren, so
z. B. auf der italienischen Reise, Beobachtungen über
Wolkenform und Wetter angestellt. Doch erst nach
dem Jahre 1815 begann er sich wieder eingehender
damit zu befassen, seitdem der Engländer Howard
die einfache, noch heute gebrauchte Terminologie
der Wolkenformen (Stratus, Cirrus, Cumulus, Nimbus)
eingeführt hatte. Er sammelte zahlreiche eigene Be-
obachtungen, suchte in den schier endlosen Wechsel
der Witterungserscheinungen Ordnung zu bringen
und bildete sich eigene, sehr merkwürdige theore-
tische Anschauungen über die Entstehung der Ba-
rometerschwankungen. Seiner praktischen Tätigkeit
auf diesem Gebiete wird später noch zu gedenken
sein. Auch die botanischen Studien ruhten nicht.
Er studierte in jenen Jahren eingehend die gleich-
zeitige wissenschaftliche Literatur und excerpierte sich
40 Zweite Vorlesung.
aufs gewissenhafteste alle Stellen, welche zu seiner
Pflanzenmetamorphose in Beziehung standen. Als
eine besonders reiche Fundgrube erwies sich Jägers
Werk über die Mißbildung der Gewächse. Alle
diese außerordentlich vielfältigen Notizen hat er
dann geordnet und in kurzen Abschnitten seiner
Pflanzenmetamorphose beigefügt, so daß in seinen
Beiträgen zur Morphologie ein stattliches Tatsachen-
material veröffentlicht werden konnte.
In ähnlicher Weise arbeitete er in diesen und
den folgenden Jahren bis zu seinem Tode die Ent-
wicklung der vergleichenden Anatomie nach, machte
zahlreiche Auszüge, schrieb Rezensionen, welche
aber z. T. den Wert von selbständigen wissenschaft-
lichen Leistungen besaßen, regte Untersuchungen
andrer an und blieb so stets auf der Höhe auch
dieses Zweiges der Wissenschaft. Besonderes Inter-
esse wandte er auch den fossilen Tierformen zu. Es
wurden damals in Süddeutschland und im Herzogtum
Weimar Oberreste vom Mammut und von fossilen
Stieren gefunden. Er interessierte sich lebhaft für
diese Funde, würdigte in kleineren Aufsätzen deren
Bedeutung für die vergleichende Anatomie und sorgte
für gute Aufstellungen in den Sammlungen.
Die Jahre 1817—1824 sind für Goethes natur-
wissenschaftliche Tätigkeit besonders ergiebig. Er
ließ damals die Bände: „Zur Naturwissenschaft" und
,^ur Morphologie" in Einzelheften erscheinen, in
Goethes Leben, 41
denen er seine botanischen, anatomischen, minera-
logisch-geologischen und allgemein -naturwissen-
schaftlichen Aufsätze, sowie einiges Optische, zusam-
mengefaßt veröffentlichte. Dadurch wurde er ver-
anlaßt, seine aus früheren Jahren fertig daliegenden
Manuskripte vielfach zu erweitern; er hat aber auch
in jenen Jahren eine Fülle von Arbeiten neu ge-
schrieben und auf diese Weise manche jahrzehnte-
lang fortgeführte Untersuchungen und Gedanken-
reihen zum Abschluß gebracht. Auch einige kürzere
Aufsätze von befreundeten Gelehrten: Seebeck, d' Al-
ton, Carus, Nees van Esenbeck u. a. sind in jenen
Heften erschienen. Eine eingehende Rezension dieser
Veröffentlichungen ist in der Jenaischen allgemeinen
Literaturzeitung, Juni 1823, erschienen, die größten-
teils von Nees van Esenbeck, in den mineralogischen
Abschnitten von Nöggerath, herrührt, und deren sehr »
anerkennende Fassung Goethe hoch erfreut hat:
„es kam augenblicklich der Friede Gottes über
mich, der, mich mit mir selbst und der Welt ins
Gleiche zu setzen, sanft und kräftig genug war".
Zur Beurteilung, wie Goethes Schriften auf die Zeit-
genossen gewirkt haben, ist jene Rezension sehr »
wichtig.
Inmitten dieser Tätigkeit überschritt Goethe die
Schwelle des siebenten Lebensjahrzehntes, und nun
beginnt er auf allen Gebieten die Früchte dessen
zu ernten, was er selbst in früheren Jahren gesäet
42 Zweite Vorlesung.
hatte. Seine anatomischen Untersuchungen waren
schon längst anerkannt worden. Jetzt wird auch
seine erste wissenschaftliche Abhandlung über den
Zwischenkiefer in den Akten der kaiserlich leopol-
dinisch-karolinischen Akademie der Naturforscher
mit allen Kupfertafeln abgedruckt. Der Widerstand
der Botaniker gegenüber der Pflanzenmetamorphose
hatte ebenfalls aufgehört, und die wissenschaftliche
Botanik der damaligen Zeit wandelte nunmehr in
Fortschritt und Irrtum auf Goetheschen Bahnen. Nun
aber kamen auch die so lange schmerzlich vermißten
ersten Erfolge seiner Farbenlehre. Freilich die Phy-
siker blieben, bis auf wenige Ausnahmen, feindlich,
aber von physiologischer Seite wurde das grund-
legende von Goethes Werk erkannt und noch zu
Goethes Lebzeiten in glücklicher Weise fortgebildet.
Purkinjes „Beiträge zur Kenntnis des Sehens in sub-
jektiver Hinsicht"* knüpft direkt an seine Farben-
lehre an, und 1826 erscheint Johannes Müllers „Ver-
gleichende Physiologie des Gesichtssinns", in wel-
cher in unmittelbarem Anschluß an Goethes Farben-
lehre die moderne Sinnesphysiologie begründet und
das Gesetz von der spezifischen Sinnesenergie auf-
gestellt wird. So sah Goethe in diesen Jahren die
Erfolge seiner wissenschaftlichen Tätigkeit heran-
reifen. Wenn auch noch mancher Stachel früherer
Verbitterung zurückblieb, so überwiegt doch jetzt in
diesen Jahren die Freude über den Erfolg. Schon
Goethes Leben. 43
1807 hatte ihm A. von Humboldt seine „Ideen zu
einer Geographie der Pflanzen" mit einem von Thor-
waldsen gezeichneten Widmungsblatte zugeeignet —
der Genius der Poesie, Apoll, lüftet den Schleier der
Göttin der Natur — „durch welches angedeutet
werden sollte, daß es auch dem Dichter gelingen
könne, den Schleier der Natur zu heben". Eine Re-
produktion dieses schwer zugänglichen Stiches findet
sich am Eingang dieses Buches. Jetzt breitet sich
Goethes naturwissenschaftliche Korrespondenz fast
über alle zivilisierten Länder aus. Von allen Seiten
strömen die Anerkennungen. Gebend und emp-
fangend nimmt er Anteil an der Fortentwick-
lung aller der zahlreichen Gebiete, auf denen er
selbst gearbeitet hat. Erstaunlich sind die vielsei-
tigen Interessen, welche in dieser naturwissenschaft-
lichen Korrespondenz berührt werden. Ein schönes
Denkmal der Empfindungen des alten Goethe den
jungen Mit- und Nacharbeitern gegenüber findet sich
in einem Brief, in dem er dem Grafen Sternberg
über Carus' Werk von den Ur-Teilen des Knochen-
und Schalengerüstes der Tiere berichtet. Hier schreibt
er die oft zitierten Worte: „Ein alter Schiffer, der
sein ganzes Leben auf dem Ozean der Natur mit
Hin- und Widerfahren von Insel zu Insel zugebracht,
die seltsamsten Wundergestalten in allen drei Ele-
menten beobachtet, und ihre geheim -gemeinsamen
Bildungsgesetze geahnt hat, aber auf sein notwen-
44 Zweite Vorlesung.
digstes Ruder-, Segel- und Steuergeschäft aufmerksam,
sich den anlockenden Betrachtungen nicht widmen
konnte, der erfährt und schaut nun zuletzt: daß
der unermeßliche Abgrund durchforscht, die aus
dem Einfachsten ins Unendliche vermannigfaltigten
Gestalten in ihren Bezügen ans Tageslicht gehoben
und ein so großes und unglaubliches Geschäft wirklich
getan sei. Wie sehr findet er Ursache verwundernd
sich zu erfreuen, daß seine Sehnsucht verwirklicht
und sein Hoffen über allen Wunsch erfüllt worden."
Und noch als Achtzigjähriger setzt er die natur-
wissenschaftlichen Bestrebungen fort. Den Verhand-
lungen der Versammlungen deutscher Naturforscher
und Ärzte, 1827 in München und 1828 in Berlin,
widmet er das größte Interesse, um so mehr, als hier
botanische Probleme zur Sprache kamen, die an
seine Planzenmetamorphose anknüpften. In jenen
Jahren hatten der Münchner Botaniker v. Martius
und dessen Schüler, der später berühmt gewordene
Alexander Braun, Untersuchungen über die Anord-
nung der Blätter und Sprosse an den Pflanzen
angestellt und waren zu einfachen Regeln über die
Blattstellung gelangt. Sofort nahm Goethe diesen
Fortschritt auf und versuchte in seinem letzen bota-
nischen Aufsatz über die Spiraltendenz der Vege-
tation die neueren Tatsachen mit seiner Lehre in
Einklang zu bringen. Aufs lebhafteste beschäftigte
ihn aber ein Ereignis^ das er direkt als ein Zeichen
Goethes Leben. 45
für das endliche Durchdringen seiner eigenen vor
Jahrzehnten ausgesprochenen Ideen ansah. Damals
brach im Schöße der Pariser Akademie jener
berühmte Streit zwischen Cuvier und Geoffroy
St. Hilaire aus, in der die alte und die neue Rich-
tung in der vergleichenden Anatomie aufeinander
platzten. Damals siegte noch Cuvier, der mit seiner
ganzen Autorität die ältere Lehre vertrat. Der
82jährige Goethe griff aber von neuem zur Feder
und wies seine Landsleute auf dieses bedeutende
wissenschaftliche Schauspiel hin. Er stellte sich
dabei rückhaltslos auf die Seite Geoffroy St. Hilaires.
Mit Rührung liest man aus seinen mit höchster
Klarheit geschriebenen Sätzen den Stolz heraus,
mit dem er sich selbst als den Vater der hier
kämpfenden Ideen fühlte. Das war das letzte was
Goethe geschrieben hat. Kurze Zeit darauf endete
ein Leben, das voll von den höchsten Erfolgen,
aber auch voll von Mühe und Arbeit gewesen war.
Fast 60 Jahre hindurch hat Goethe ohne Unter-
brechung aufs emsigste auf allen Gebieten der
Natur geforscht. Keines der Resultate ist ihm
mühelos zugefallen. Wenn man die Gesamtheit
dessen überblickt, was er geleistet hat, so sieht
man, daß Goethe der letzte naturwissenschaftliche
Polyhistor gewesen ist, der noch die Gesamtheit
der Natur in seinem Geiste umfaßte. Wenige Jahr-
zehnte später war es schon fast unmöglich, daß ein
46 Zweite Vorlesung.
einzelner Mensch Teilgebiete, wie etwa Virchow die
Medizin, umfassen konnte.
Wie Goetiie seinen ganzen Lebensgang als mit
der Naturwissenschaft verwachsen ansah, dafür
mögen zum Schluß noch seine eigenen Worte an-
geführt werden: „So ruhen meine Naturstudien auf
der reinen Basis des Erlebten; wer kann mir nehmen,
daß ich 1749 geboren bin, daß ich (um vieles zu
überspringen) mich aus Erxlebens Naturlehre 1. Aus-
gabe treulich unterrichtet, daß ich den Zuwachs
der übrigen Editionen, die sich durch Lichtenbergs
Aufmerksamkeit gränzenlos anhäuften, nicht etwa
im Druck zuerst gesehen, sondern jede neue Ent-
deckung im Fortschreiten sogleich vernommen und
erfahren; daß ich Schritt für Schritt folgend, die
großen Entdeckungen der 2. Hälfte des 18. Jahr-
Hunderts bis auf den heutigen Tag wie einen
Wunderstern nach dem andern vor mir aufgehen
sehe. Wer kann mir die heimliche Freude nehmen,
wenn ich mir bewußt bin, durch fortwährendes auf-
merksames Bestreben mancher großen weltüber-
raschenden Entdeckung selbst so nahe gekommen
zu sein '), daß ihre Erscheinung gleichsam aus meinem
eigenen Innern hervorbrach und ich nun die wenigen
') So z. B. 1783 der Entdeckung des Luftballons. Vgl.
Naturwissenschaftlicher Entwicidungsgang: „Die Luftballone
werden entdeckt. Wie nah ich dieser Entdeckung gewesen.
Einiger Verdrufi, es nicht selbst entdeckt zu haben. Baldige
TriMmg'"
Goethes Leben. 47
Schritte klar vor mir liegen sah, welche zu wagen
ich in düsterer Forschung versäumt hatte."
Wir wissen jetzt, daß Goethe nicht nur einzelnen
Entdeckungen, wie er schreibt, sehr nahe gekommen
ist, sondern daß er eine Reihe von grundlegenden
Naturerkenntnissen selbst zutage gefördert hat.
Dritte Vorlesung.
Die botanischen Arbeiten I.
Meine Herrn! Wir haben in der letzten Vor-
lesung den Lebensgang des Naturforschers Goethe
kennen gelernt und wollen nun dazu übergehen,
seine einzelnen Forschungsgebiete gesondert zu be-
sprechen und das von ihm Geleistete eingehender zu
würdigen. Wir beginnen dabei mit seinen Arbeiten
auf dem Gebiet der organischen Naturwissen-
schaften, zunächst der Zoologie und Botanik.
Goethe hat die hierher gehörigen Schriften nach
dem Jahre 1817 zusammenfassend veröffentlicht in
seinen Heften »zur Morphologie". Dieses Wort
stammt von Goethe und bezeichnet auch heute noch
denjenigen Zweig des Wissens, für den er ihn ge-
prägt hat Als Motto ist diesen Heften ein Spruch
aus Hiob vorangesetzt: „Siehe er geht vor mir
über ehe ich's gewahr werde, und verwandelt sich
ehe ich's merke." Aufs Verwandeln ist dabei der
größte Nachdruck zu legen, und Goethe definiert
selbst die Morphologie durch den von ihm ge-
wählten Untertitel: Bildung und Umbildung
organischer Naturen. Zeitlich haben auf diesem
Die botanischen Arbeiten I. 49
Gebiete Goethes vergleichend anatomische Unter-
suchungen zuerst zu einem wichtigen Resultate ge-
führt Wir aber wollen mit den botanischen Studien
beginnen, weil hier die Probleme einfacher liegen,
und wir daher leichter eine Vorstellung davon
gewinnen können, wie Goethe die Morphologie
auffaßte und wie er Bildung und Umbildung orga-
nischer Naturen zu erforschen suchte.
Als Goethe seine botanischen Studien begann,
herrschte auf diesem Gebiete als Alleinherrscher
Linn^. Während man noch im 17. Jahrhundert über
Anatomie und Physiologie der Pflanzen manche
wertvolle Untersuchungen angestellt und auch den
Pflanzenbau mikroskopisch studiert hatte, waren alle
diese Bestrebungen durch Linn^s Einfluß vollständig
unterbrochen worden. Er hatte die Mikroskopiker
und Physiologen geradezu als Dilettanten bezeichnet,
und so kommt es, daß bis gegen Ende des 18. Jahr-
hunderts das Interesse der damaligen Botaniker sich
fast ausschließlich der Systematik zuwandte. Linne
brachte die Bestrebungen seiner Vorgänger, zu einer
brauchbaren Einteilung des gesamten Pflanzenreichs
zu kommen, zu einem vorläufigen Abschluß. Sein
System gehört zu den sogenannten künstlichen, d. h.
es wird das gesamte Pflanzenreich nach einzelnen
äußeren Merkmalen eingeteilt. Linn^ benutzte dazu
die Anordnung und Zahl der Staubwerkzeuge und
Griffel und gelangte auf diese Weise dazu, ein bis
Magnus, Goethe als Naturforscher. 4
50 Dritte Vorlesung.
ins feinste durchgearbeitetes System zu liefern, in
das sich alle Pflanzenformen ohne großen Zwang
einreihen ließen. Linne selber, und seine nächsten
Nachfolger sahen nun die Anwendung und Durch-
führung dieses Systems als die Hauptaufgabe der
wissenschaftlichen Botanik an. Linn^ erklärte ge-
radezu denjenigen für den besten Botaniker, der die
meisten Arten kennen und unterscheiden gelernt habe.
Das war der Zustand der Botanik, als Goethe
sich mit ihr zu beschäftigen begann. Wie schon
erzählt wurde, hatte er als Student botanische Vor-
lesungen gehört, aber sein eigentliches Interesse für
die Pflanzenwelt wurde erst in Weimar wach, als
er auf der Jagd in nähere Berührung mit Wäldern
und Wiesen kam und sich als leitender Minister
unter der Mitwirkung von Skell und v. Wedel mit
Forstkultur zu beschäftigen hatte. So studierte er
das Wachstum der Bäume, Moose und Wurzeln in
der freien Natur, wie immer die praktischen Bedürf-
nisse zum Ausgang nehmend. Er hat uns über-
liefert, daß das Geschlecht der Enziane deshalb sein
besonderes Interesse erregt hat, weil aus seinen
Wurzeln sich so heilsame und so wohlschmeckende
Tränke bereiten ließen. Praktische Erfahrungen
sammelte er auch, als er im eigenen Garten, den
ihm 1776 der Herzog schenkte, selbst eifrig zu
pflanzen begann. Weitere Fortschritte in der Botanik
brachte der Verkehr mit Buchholz, der in seinem
Die botanischen Arbeiten I. 51
Apothekergarten die offizinellen Gewächse und neue
seltene Pflanzen zog. Sobald Karl Augusts natur-
wissenschaftliche Interessen wach geworden waren,
äußerten sie sich unter andrem auch in der Anlage
größerer Gärten bei Weimar und Jena. Alle diese
botanischen Studien wurden unter den Gesichts-
punkten Linnes vorgenommen. Goethe führte die
Linneschen Schriften auf seinen Exkursionen bei
sich und bemühte sich redlich, alles was er fand,
mit größter Gewissenhaftigkeit nach dem Linneschen
System zu bestimmen. Dabei fand er Unterstützung
durch die Botaniker in Jena, mit denen er in näheren
Verkehr trat. So kam er auch in Berührung mit
einer interessanten Familie in der Nähe von Jena.
Die Dietrichs in Ziegenhain hatten schon seit
mehreren Generationen das Privileg ausgeübt, für
die botanischen Vorlesungen das Demonstrations-
material zu besorgen, die Studenten mit den in der
Vorlesung zu besprechenden Pflanzen zu versehen.
In jenen Jahren, wo Goethes botanische Neigungen
erwachten, war besonders ein junger Sohn hierbei
tätig und dieser hatte sich im Laufe der Jahre eine
ganz umfassende Kenntnis der Flora des Jenenser
Gebietes zugelegt. Das ging so weit, daß der ein-
fache Bauernjunge schließlich alle Pflanzen nicht
nur mit ihren deutschen, sondern auch mit ihren
lateinischen Namen nach dem Linneschen System
zu bezeichnen wußte. Goethe nahm nun diesen
4*
52 Dritte Vorlesung.
jungen Dietrich mit sich nach Karlsbad. Er schil-
dert uns aufs Anschaulichste, wie er in seinem
Reisewagen durch die Landschaft fährt und der
junge Mann, nebenher gehend, alle interessanten
Pflanzen und Blumen am Wege sammelt und ihm
mit der richtigen lateinischen Bezeichnung in den
Wagen reicht In Karlsbad wird diese Tätigkeit
fortgesetzt Des Morgens, wenn die Kurgäste sich
am Brunnen versammeln, hat Dietrich gewöhn-
lich schon einen ganzen Strauß von Pflanzen ge-
sucht Nach kurzer Zeit nimmt die ganze Brunnen-
gesellschaft an Goethes Bestrebungen teil, und es
wird nun eifrig von allen Seiten botanisiert, Diet-
rich hat nachher den Doktorgrad erworben und ist
als großherzoglicher Gartendirektor in Eisenach
gestorben.
Kam so Goethe allmählich in die praktische An-
wendung des botanischen Systems hinein, so blieben
ihm auch theoretische Arbeiten nicht fremd. Das
Linn^sche System war wie erwähnt ein künstliches,
in dem ein einzelnes Merkmal der Pflanzen zur
Unterscheidung benutzt wurde. Schon Linn^ hatte
demgegenüber die Notwendigkeit eines natürlichen
Systems betont, in welchem die Gruppierung der
Pflanzen nach der Gesamtheit ihrer Eigenschaften
vorgenommen wird, wobei also die Gruppen des
Systems den natürlichen Pflanzengruppen möglichst
entsprechen. Diese Bestrebungen waren von fran-
Die botanischen Arbeiten I. 53
zösischen Botanikern zunächst fortgesetzt Von
Goethes Bekannten bemühte sich Doktor Batsch
ein solches natürliches Pflanzensystem aufzustellen.
Ähnliche Versuche machte damals Hofrat Büttner
in Jena, ein Sonderling und Polyhistor, mit dem
Goethe noch in vielfache Berührung kam. An diesen
Arbeiten nahm unser Dichter nun den allerlebhaf-
testen Anteil und konnte sich so ein eigenes Urteil
über Wert oder Unwert dieser und andrer Systeme
bilden. In diesen Jahren las er auch die bota-
nischen Schriften eines andern Dichters, Jean
Jacques Rousseaus, der bei seinem Bestreben, sich
an die Natur anzuschließen, auf das Studium der
Pflanzenwelt gekommen war. Auch diesen Schrif-
ten verdankt Goethe nach seiner Angabe manche
Anregungen.
Je weiter er nun in der Kenntnis der Botanik
fortschritt, desto größere Bedenken kamen ihm gegen
die Anwendung des Linneschen Systems. Zunächst
eine technische Schwierigkeit. Es erwies sich für
ihn als vollkommen unmöglich, die komplizierte
Terminologie vollständig zu beherrschen. Es ist
bekannt, welches vorzügliche Gedächtnis Goethe
besessen hat, und welche Fülle von Tatsachen er
in seinem Geiste bewahrte, um sie im Bedarfsfall
hervorholen zu können. Das waren aber alles
Dinge, die irgend welchen Bezug für ihn hatten.
Dagegen die einfach äußerliche Terminologie des
54 Dritte Vorlesung.
Systems, bei der sich nichts denken und vorstellen
ließ, hat er nicht auswendig lernen können. So
war er denn im Linneschen Sinne kein guter Bota-
niker. Dazu kam aber noch ein schwerwiegender
sachlicher Einwand. Linn^ hatte gelehrt und alle
folgenden hatten ihm darin beigepflichtet, daß die
verschiedenen Arten seines Systems unabänderlich
seit der Schöpfung bestehende, in sich abgeschlossene
und durch keine Übergänge vermittelte Gruppen
von Pflanzen seien. Goethe wurde durch seine
Beobachtungen dagegen zu andren Anschauungen
geführt. Er konnte allerdings feststellen und er hat
das späterhin noch des Näheren ausgeführt, daß es
einzelne Geschlechter, wie die Gentianen, gibt, bei denen
jedes Pflanzenindividuum immer wieder genau die-
selben äußeren Merkmale besitzt, so daß über seine
Zugehörigkeit zu einer der Linneschen Arten kein
Zweifel bestehen kann. Daneben aber gibt es
Pflanzengruppen, wie z. B. die Rosen, die man nach
Goethe als charakterlose bezeichnen kann, weil die
einzelnen Individuen bei ihnen außerordentlich
große Abweichungen zum Teil auch in den ent-
scheidenden Merkmalen voneinander zeigen, so daß
es ganz unmöglich ist, festzustellen, zu welcher
Art gerade dieses Einzelindividuum gehört. Goethe
findet also schon damals, daß zwischen den ab-
geschlossenen Linni^schen Arten alle möglichen
Obergänge vorkommen können. Er findet eine
Die botanischen Arbeiten I. 55
außerordentlich große Variabilität bei einzelnen
Pflanzenspezies. Dadurch mußte natürlich sein
Glaube an die Möglichkeit erschüttert werden, über-
haupt fest begrenzte, unveränderliche Arten bei den
Pflanzen unterscheiden zu können.
Dazu kam nun noch etwas Weiteres. Während
die damaligen Botaniker in der Mehrzahl eine Wissen-
schaft des Herbariums trieben, d. h. die Pflanzen los-
gelöst von der Natur bestimmten und aufbewahrten,
studierte Goethe ihr Wachstum unter freiem Himmel.
Hier drängte sich ihm immer mehr die Erkenntnis
auf, daß die Ausbildung der äußeren Form einer be-
stimmten Pflanze wesentlich mit bedingt werde durch
äußere Einflüsse. Er fand, daß ein und dieselbe Art
im Tiefland und auf der Höhe des Gebirges, des
Harzes, Thüringer Waldes oder der Alpen, ein ganz
verschiedenes Aussehen hatte. Er beobachtete, daß
eine Pflanze wesentlich andere Wuchsformen zeigte,
je nachdem sie im Schatten oder an einer sonnigen
Stelle stand. Er fand eine starke Abhängigkeit des
Pflanzenwachstums von der Bewässerung, von der
Wärme, dem Klima, von Frostschäden u. v. a. Durch
fortgesetzte Beobachtung wurde es ihm allmählich
klar, daß durch diesen Wechsel der äußeren Be-
dingungen sich Varietäten der einzelnen Pflanzen-
arten schaffen ließen. Er wurde also immer mehr
dazu gedrängt, die Unveränderlichkeit der Linneschen
Pflanzenspezies nicht mehr anzuerkennen.
56 Dritte Vorlesung.
Das war der Stand seiner botanischen Studien,
als er den engen Verhältnissen in Weimar entfloh
und sich südwärts nach Italien wandte. Wenn er
nun in diesem Lande die endgültigen Fortschritte
seiner Erkenntnis des Pflanzenwachstums gewann,
so ist dabei nicht zu vergessen, daß ein zehnjähriges
genaues Studium in der Heimat vorherging, durch
das er die Pflanzenwelt kennen gelernt hatte und
durch das er schon seit längerer Zeit den Linn^schen
Lehren allmählich entfremdet worden war. „Das
Gewahrwerden der wesentlichen Form, mit
der die Natur gleichsam nur immer spielt und spielend
das mannigfaltige Leben hervorbringt," wie er kurz
vor der Reise an Frau von Stein schreibt, sollte ihm
nun gelingen.
Wie Goethe nun über den Brenner nach Nord-
Italien herabsteigt, tut sich in überwältigender Fülle
eine ganz neuartige Vegetation vor seinen Augen
auf; er selbst schildert uns, daß dieser Eindruck
am gewaltigsten beim Besuch des botanischen Gar-
tens in Padua auf ihn gewirkt habe. Hier sah er
eine Pflanzenpracht und einen Blumenflor, wie er
ihn in der Heimat niemals erblickt hatte, und es
gewann so der schon Im Norden, wie wir wissen,
allmählich entstandene Gedanke, daß das Pflanzen-
wachstum von äußeren Einflüssen abhängig sei,
in Padua die endgültige Gewißheit. Hier war unter
den veränderten Bedingungen des Klimas, der süd-
Die botanischen Arbeiten I. 57
liehen Sonne und der milderen Winter eine ganz
andere Flora entstanden, als sie im rauhen Norden
wuchs. Dazu kam nun noch eine zweite Beobach-
tung, die er in Padua machte. An einer Fächer-
palme, die im botanischen Garten stand, konnte
er sehen, daß die Blätter von verschiedener Aus-
bildung ihrer Form waren. Von der einfachsten
Blattgestalt bis zum vollentwickelten komplizierten
Fächerblatt waren eine ganze Reihe von Übergängen
vorhanden. Goethe ließ sie sich vom Gärtner ab-
schneiden und bewahrte sie auf als Beweisstücke
für die allmähliche Entwicklung der komplizierten
Blattform bei ein und derselben Pflanze. Die Palme
stand gleichzeitig in Blüte. Aber daß sich auch die
Blume ebenso in den Kreis dieser Betrachtungen
einbeziehen ließ, war ein Gedanke, der Goethe hier
noch nicht gekommen ist. So gewann er gleich bei
seinem Eintritt in Italien die sichere Erkenntnis, daß
die Pflanzenteile sich unter verschiedenen äußeren
Bedingungen verschieden ausbilden können, und daß
es auf diese Weise zur Entstehung verschiedener For-
men kommen könne. Er gewann aber gleichzeitig die
Einsicht, daß es möglich sein müsse, auch die aller-
verschiedensten Pflanzenarten untereinander zu ver-
gleichen und dadurch zu einer einheitlichen Auf-
fassung der Pflanzengestalt zu gelangen. Um dies
durchzuführen, suchte Goethe zunächst eine mög-
lichst einfache Pflanzenform zu finden, die so ele-
58 Dritte Vorlesung.
mentar gebaut sei, daß man alle andern Wuchsformen
auf sie zurücicführen könne. Er suciite eine „Ur-
pflanze". Da uns dieser Ausdruck hier zum ersten
Male entgegentritt, wollen wir uns klar machen, was
Goethe darunter verstanden hat. Er suchte nämlich
nicht eine Pflanze, von der alle andern abstammen
sollten, in dem Sinne, wie man heute davon spricht,
daß der Mensch vom Affen abstamme, sondern er
suchte nur eine möglichst übersichtliche, einfache
und primitiv konstruierte Pflanze, bei der sich die
Art ihres Aufbaues durch die bloße Anschauung ohne
weiteres erkennen ließ, und auf die er dann die
Bauart aller übrigen Pflanzen, mochte sie auch
noch so kompliziert und unübersichtlich sein,
schließlich durch Vergleichung zurückführen konnte.
Diese Idee begleitete ihn nun auf seiner Wanderung
durch die italienische Halbinsel und sie tauchte in
konkreter Gestalt wieder auf, als er auf dem süd-
lichsten Punkt seiner Reise, in Palermo, angelangt
war. Hier suchte er den Plan einer Nausikaa, zu der
uns einzelne ausgearbeitete Szenen erhalten sind,
weiter auszuführen und ging zu diesem Zwecke in
den öffentlichen Garten: „Die vielen Pflanzen, die
ich sonst nur in Kübeln und Töpfen, ja die größte
Zeit des Jahres nur hinter Glasfenstern zu sehen
gewohnt war, stehen hier froh und frisch unter
freiem Himmel, und indem sie ihre Bestimmung
vollkommen erfüllen, werden sie uns deutlicher. Im
Die botanischen Arbeiten I. 59
Angesicht so vielerlei neuen und erneuten Gebildes,
fiel mir die alte Grille wieder ein, ob ich nicht unter
dieser Schar die Urpflanze entdecken könnte? Eine
solche muß es denn doch geben: woran würde
ich sonst erkennen, daß dieses oder jenes Gebilde
eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach Einem
Muster gebildet wären? — Ich bemühte mich, zu unter-
suchen, worin denn die vielen abweichenden Ge-
stalten voneinander unterschieden seien. Und ich
fand sie immer mehr ähnlich als verschieden, und
wollte ich meine botanische Terminologie anbringen,
so ging das wohl, aber es fruchtete nicht, es machte
mich unruhig, ohne daß es mir weiter half. Gestört
war mein guter poetischer Vorsatz; der Garten des
Alcinous war verschwunden, ein Weltgarten hatte
sich aufgethan. Warum sind wir Neueren doch so
zerstreut! Warum gereizt zu Forderungen, die wir
nicht erreichen noch erfüllen können!" Von nun
an lassen ihn die botanischen Gedanken nicht
mehr los. Noch in Sizilien findet er, daß man das
Rätsel dadurch lösen könne, daß man alle Pflanzen-
teile als ursprünglich identisch ansieht. Nun sucht
er die Urpflanze nicht mehr in der Natur, sondern
sie ist ihm jetzt nur noch ein Schema, auf das er
alle in der Natur vorkommenden Pflanzenformen
ohne Zwang beziehen kann. Vier Wochen später,
am 17. Mai 1787, ist er bereits so weit, daß er von
Neapel an Herder schreibt: „Die Urpflanze wird das
60 Dritte Vorlesung.
wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches
mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem
Modell und dem Schlüssel dazu kann man alsdann
noch Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konse-
quent sein müssen, das heißt, die, wenn sie auch
nicht existieren, doch existieren könnten, und nicht
etwa mahlerische oder dichterische Schatten und
Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und
Nothwendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird sich
auf alles übrige Lebendige anwenden lassen." Jetzt
glaubt er also, die endgültige Verallgemeinerung
gefunden zu haben, und ist sich darüber klar, daß
sich dieselbe dann auch auf das Tierreich übertragen
lassen müsse. In der Weimarer Goetheausgabe sind
zum ersten Male die botanischen Notizen und Be-
obachtungen abgedruckt, welche Goethe auf der
italienischen Reise gesammelt hat. Hier findet sich
mitten unter einer Reihe andrer Notizen plötzlich
bemerkt: „Hypothese Alles ist Blat. und durch diese
Einfachheit wird die größte Mannigfaltigkeit mög-
lich." Das ist die entscheidende Konzeption und
alles fernere, was Goethe noch in Italien und Deutsch-
land zur Pflanzenmetamorphose geforscht hat, ist nur
Ausführung dieses einen Gedankens.
Man bezeichnet diejenige Stelle, wo ein Blatt
aus der Achse (dem Stamm, dem Zweig oder dem
Stengel) der Pflanze hervorsprießt, als Knoten, und
wenn Goethe nun alle Seitenteile der Pflanze mit
Die botanischen Arbeiten I. 61
Ausnahme der Achse als Blatt oder blattähnliches
Gebilde ansieht, so kann er diese Regel auch mit
den Worten zusammenfassen: „von Knoten zu Knoten
ist der ganze Kreis der Pflanze im wesentlichen ge-
endet". Er betrachtet von nun an die Pflanze als
aufgebaut aus lauter Teilstücken, welche ein Stück
der Achse von einem Knoten bis zum nächsten, und
die aus diesem Knoten entspringenden blattähnlichen
Gebilde tragen. So ist für ihn das entscheidende
Gesetz jetzt klar geworden und er kann schreiben:
„Ferner glaubte ich (in Italien) der Natur abgemerkt
zu haben, wie sie gesetzlich zu Werke gehe, um
lebendiges Gebild als Muster alles künstlichen
hervorzubringen." Sein „Versuch, die Metamorphose
der Pflanzen zu erklären", beruht für ihn darauf,
„die mannigfaltigen Erscheinungen des herrlichen
Weltgartens auf ein allgemeines einfaches Prinzip
zurückzuführen".
Aus dem Süden Italiens kehrt er nach Rom
zurück und benutzt seinen zweiten Aufenthalt in
der ewigen Stadt, um die gewonnene Erkenntnis
nach Möglichkeit zu vertiefen. Es ist Goethe be-
sonders von Botanikern zum Vorwurf gemacht wor-
den, daß seine Lehre von der Pflanzenmetamorphose
im wesentlichen auf die Betrachtung der fertigen
Pflanze basiert sei und nicht die Entstehung der
Pflanzenform berücksichtige. Das ist insofern richtig,
als er allerdings nur wenige mikroskopische Unter-
62 Dritte Vorlesung.
suchungen angestellt hat, aber die jetzt veröffent-
lichten Papiere aus Italien und der nachfolgenden
Weimarer Zeit beweisen aufs schlagendste, daß er
der Entwicklung der Pflanzenform aus den einfach-
sten Anfängen eingehende Aufmerksamkeit geschenkt
hat Schon in Rom sehen wir ihn zahlreiche Be-
obachtungen über das Keimen von Samen machen,
und er verfolgt das Auswachsen der kleinen Pflänz-
chen bis zur Ausbildung ihrer entschiedenen Form.
In Rom und Weimar hat er Notizen und Zeichnungen
gemacht von der Keimung des Mais, der Bohne, des
Kürbis, der Wicke, des Nasturtium, der Pinie, Dattel-
palme, ja selbst des Kaktus, und gewann so einen
umfassenden Einblick nicht nur in die endgültige
Pflanzenform, sondern auch in deren allmähliche
Entstehung. Diese entwicklungsgeschichtlichen Stu-
dien sind auch für seine spätere Darstellung der
Pflanzenmetamorphose mit maßgebend gewesen. Auf
andere Untersuchungen wurde er von dem in Rom
lebenden Deutschen Reiffenstein hingewiesen. Dieser
verfocht die These, daß eigentlich jeder abgeschnittene
Pflanzenteil, in die Erde gesteckt, Wurzel schlage
und weiter wachse. Er und Goethe stellten außer-
ordentlich zahlreiche Versuche hierüber an und
konnten sich in der Tat von der Möglichkeit über-
zeugen, sehr viele Pflanzen durch Stecklinge weiter
zu züchten. Für Qoethc resultierte daraus eine er-
weiterte Kenntnis von der Wachstumsfähigkeit der
Die botanischen Arbeiten I. 63
einzelnen Teile. Auch abnorm ausgebildete Pflanzen
wurden studiert und gezeichnet. Die Beobachtung
der später zu erwähnenden durchgewachsenen Nelken
fällt in diese Zeit. So gewinnen seine Anschauungen
an Umfang und Tiefe. Sein „Pflanzensystem" rundet
sich immer mehr ab. Im Anschluß an den Versuch,
seinem Freunde Moritz die neuen Ideen zu dozieren,
werden die ersten zusammenhängenden Aufzeich-
nungen in Rom gemacht.
Dann kehrte Goethe nach Deutschland zurück.
Aber es dauerte noch über zwei Jahre, bis die bota-
nischen Entdeckungen, die er in Italien gemacht
hatte, so weit gereift waren, daß er sie für
publikationsfähig hielt. Es wurden noch vielfach
Einzelbeobachtungen angestellt, Notizen gesammelt,
Zeichnungen angefertigt und das Ganze immer und
immer wieder durchdacht bis zur ausführlicheren
schriftlichen Formulierung geschritten wurde. Aber
auch hier blieb es nicht bei der ersten Form, mannig-
fach wurde umgeschrieben, Hypothesen wurden auf-
gestellt und verworfen, bis endlich die Pflanzen-
metamorphose die uns heute überlieferte Gestalt
erhielt. 1790 erschien dann: „J. W. v. Goethe Her-
zoglich Sachsen-Weimarischen Geheimrats Versuch,
die Metamorphose der Pflanzen zu erklären"; ein
Heft von 86 Seiten, das die Resultate von Goethes
Forschungen enthielt. Wir sehen aus der Vorgeschichte
dieses Werkchens, daß Goethe recht hatte, wenn er
64 Dritte Vorlesung.
schrieb: „Nicht also durch eine außerordentliche
Gabe des Geistes, nicht durch eine momentane In-
spiration, noch unvermutet und auf einmal, sondern
durch ein folgerechtes Bemühen bin ich endlich zu
einem so erfreulichen Resultate gelangt."
Wir wollen jetzt den Inhalt von Goethes Ab-
handlung kurz entwickeln, um dann später ihre Be-
deutung besser würdigen zu können. Die These,
welche bewiesen werden soll, ist, daß alle Pflanzen-
teile außer dem Stamm (der Achse) als umgewandelte
Blätter anzusehen sind. Der Gegenstand, auf den
sich dieser Goethesche Satz bezieht, sind nicht die
niedern Pflanzen (Kryptogamen), sondern nur die
Phanerogamen, also die Blütenpflanzen im eigent-
lichen Sinn, und auch bei diesen handelt es sich
für Goethe im wesentlichen nur um die oberirdischen
Pflanzenteile. Die Wurzel fällt fast ganz aus dem
Kreis seiner Betrachtungen heraus. Die Methode,
mit der er nun alle Seitenorgane der Pflanze als
umgewandelte Blätter nachweist, beruht darauf, daß
er überall Übergänge zwischen den ausgebildeteren
Laubblättern und den andern Seitenorganen auf-
deckt, und zwar findet er solche Übergangsformen
zunächst bei normalen Pflanzen (normale Metamor-
phose), dann aber auch zweitens bei abnormen, ja
sogar bei pathologischen Wuchsformen, wie sie in
der Natur vorkommen, oder durch künstliche Züch-
tung erzielt werden, (unregelmäßige oder regressive
Die botanischen Arbeiten I. 65
Metamorphose) und drittens bei Pflanzen, die durch
äußere Ursachen, z. B. Insektenstiche, verändert wor-
den sind (zufällige Metamorphose).
Goethes Darstellung beginnt mit den Keim-
blättern, den Kotyledonen. Er findet diese in der
Ein- oder Zweizahl von den verschiedensten Formen,
kann sie aber alle in eine Reihe ordnen, so daß
von der ungestaltetsten abenteuerlichsten Form bis
zur einfachen blattähnlichen alle Übergänge vor-
handen sind. Er findet weiter, daß die Keimblätter
beim weiteren Wachsen der Pflanze allmählich
immer mehr eine blattähnliche Form und grüne
Farbe gewinnen; sie bleiben aber stets einfacher
gestaltet wie die vollausgebildeten Blätter. Diesen
wendet sich nun der Autor zu und weist darauf
hin, daß beim Wachstum vieler Pflanzen zuerst
nach den Kotyledonen Blätter hervorsprossen, welche
noch relativ einfach gebaut sind, keinen Stiel haben,
einen ungezackten Rand besitzen usw. |e mehr die
Pflanze wächst, desto mehr Blätter werden produ-
ziert und diese werden bei zahlreichen Pflanzen nun
stufenweise immer komplizierter, bis die endgültige
Blattform erreicht ist. Die Mittelrippen werden all-
mählich länger, Nebenrippen werden ausgebildet, der
Blattrand gekerbt oder eingeschnitten, der Blattstiel
immer mehr entwickelt. Goethe weist an dieser Stelle
auf das Beispiel der Dattelpalme hin. Im Goethe-
hause fand sich eine Folge von Aquarellen, welche
Magnus, Goethe als Naturforscher. 5
66 Dritte Vorlesung.
die allmähliche Ausbildung der komplizierten Blatt-
form veranschaulicht und von Goethe wahrschein-
lich zur Illustration seines „zweiten Versuchs über
die Metamorphose der Pflanzen" bestimmt war.
Fig. 1 gibt die Abbildungen in verkleinertem Maß-
stabe wieder. Von Wichtigkeit für die Gestaltung
der Blattform sind ferner äußere Bedingungen, Be-
lichtung, Luftzug, Höhe des Standortes. Ein Bei-
spiel sind die Ranunkelblätter, welche verschieden
gebildet werden, je nachdem sie unter Wasser oder
in freier Luft auswachsen. So gelangt Goethe
stufenweise zu der voll ausgebildeten Blattform.
Daran schließt sich die Erörterung des Blüten-
standes, der entweder unvermittelt von der Pflanze
hervorgebracht wird oder durch Übergänge mit
den Laubblättern verbunden ist. Diese letzteren
werden nun ausführlich dargelegt. Zwischen Kelch-
blättern und Laubblättern finden sich zahlreiche
Zwischenformen; bei einzelnen Pflanzen werden
unterhalb des Kelches die Laubblätter kleiner und
vermitteln so den Übergang; der Kelch kann aus
einzelnen getrennten Blättern bestehen oder ringsum
verwachsen. Danach wird die Blumenkrone be-
sprochen. Von dieser zu den Kelchblättern werden
ebenfalls Zwischenformen beobachtet, z. B. bei der
Nelke, wo noch grün gefärbte Kronenblätter vor-
kommen. Bei einzelnen Blumen fehlt der Kelch ganz
und es kommen dann direkte Übergänge zwischen
Flg.Z
Tulpe. Da« mit a bezeichnete Blatt ist zur Htilltc Lniil>-
bUtt und grün, zur Hallte Blumenblatt und violett (Pllanzcn-
melamorphoie § 44). Verkleinerte Nnchbildung des im
Ooethehausc bcllndllchen Originalaquarells.
Fig. 1.
Allmähliche Entwicklung einer komplizierten Blattform (9) aus einer ein-
fachen (1). — Verkleinerte Nachbildung der im Goethehaus befindlichen
Originalaquarelle.
Die botanischen Arbeiten I. 67
Stengelblättern und Kronenblättern vor, wie z. B.
bei der Tulpe, wo manchmal ein Blumenblatt noch
zur Hälfte grün sein und die Form eines richtigen
Stengelblattes zeigen kann (siehe Fig. 2 nach einem im
Goethehaus befindlichen Aquarell). Das nächste Glied
in der Reihe bilden die Staubwerkzeuge. Auch bei
diesen kommen normale und unregelmäßige Über-
gangsformen vor. Normale z. B. bei der Canna,
wo ein Blumenblatt direkt den Staubbeutel trägt.
Unregelmäßige lassen sich zahlreich bei gefüllten
Blumen, z. B. Rosen auffinden; bei halbgefüllten
Rosen sieht man einerseits ausgebildete Blumen-
blätter, andrerseits richtige Staubgefäße, dazwischen
aber Blumenblätter, welche in der Mitte einen
Staubbeutel tragen , oder Gebilde , welche zur
einen Hälfte die Gestalt eines halben Rosenblattes,
zur andern die eines halben Staubbeutels haben.
Hieran schließt Goethe die Besprechung der Nek-
tarien, derjenigen Blütenorgane, die den Honigsaft
produzieren, welcher die Insekten anlockt. Er gibt
auch bei diesen zahlreiche Beispiele, welche deren
Blattähnlichkeit illustrieren. Danach folgt die Be-
sprechung des Griffels. Normale Übergänge zu den
Blumenblättern sind zahlreich. Bei gefüllten Blumen
kann der Griffel geradezu durch solche ersetzt wer-
den.' Auch die Frucht führt Goethe auf die Blatt-
form zurück. Er findet Übergänge zwischen den
Samenkapseln und kelchähnlichen Blättern bei der
5*
68 Dritte Voriesung.
Nelke; er demonstriert die Zusammensetzung aus
blattähnlichen Gebilden bei Hülsen, Schoten und
Kapseln, bei denen dies besonders deutlich wird,
wenn sie aufspringen und so selbst in ihre natür-
lichen Bestandteile zerfallen. Durch schrittweise
Stufenfolge der Darstellung gelangt Goethe dazu,
auch schließlich die eigenartig geformten Früchte,
wie den Apfel oder die Kastanie, mit der Blattform
zu vergleichen. Daran schließt sich dann noch eine
Besprechung der Samenhüllen.
Die bisherige Darstellung bezog sich haupt-
sächlich auf einfach gebaute einjährige krautartige
Pflanzen, bei denen Blätter und Blüte im wesent-
lichen nur um eine Achse geordnet sind. Das Ver-
ständnis des Baues bei den vielfach verzweigten
Sträuchern und Bäumen ergibt sich für Goethe aus
der Betrachtung der Augen. In vielen Fällen sitzt
in dem Winkel, in welchem der Blattstiel von der
Achse entspringt, ein Auge, d. h. ein Vegetations-
punkt, der im günstigen Falle zu einem neuen Zweig
auswächst. Diesen betrachtet der Autor einfach als
eine neue kleine Pflanze, welche auf dem alten
Stamm wächst und nun ihrerseits wieder Laub-
biätter, Blume und Frucht produzieren kann. Auf
diese Weise gelingt es ihm, auch die kompliziertest
verzweigten Gewächse auf sein einfaches Schema
zurückzuführen. Es werden dann noch kurz die
zusammengesetzten Blütenstände diskutiert Dann
Die botanischen Arbeiten I. 69
weist Goethe noch auf zwei abnorme Beispiele hin,
welche er zu beobachten Gelegenheit hatte: eine
durchgewachsene Rose und eine ebensolche Nelke.
Es waren das Blüten, welche nicht den Abschluß des
sie tragenden Stengels bildeten, sondern aus denen
wieder ein Stengel herauswuchs, der bei der Rose
zuerst noch gefärbte, dann grüne Blätter trug und
schließlich an seinem Ende eine zweite Rose ent-
stehen ließ. Aus der Nelke waren sogar mehrere
weitere Blüten hervorgesproßt. Diese Fälle sind
für Goethe ein Beweis dafür, daß der Blütenstand
nicht notwendigerweise das Ende des Wachstums
der Achse bedeutet, sondern daß diese wenigstens
die Möglichkeit besitzt, weiter zu wachsen und wieder
Blüten hervorzubringen.
Den ganzen Kreis der Erscheinungen, die im vor-
stehenden kurz skizziert worden sind, faßt Goethe
nun in eine einfache Regel zusammen, indem er
von einem dreifachen Auseinander- und Wieder-
zusammenziehen spricht. Den kleinen und unschein-
baren Keimblättern folgen zunächst durch Ausein-
anderziehen der Form die ausgebildeten Laubblätter,
dann findet ein Zusammenziehen zum Kelch, eine
Wiederentfaltung zur Blumenkrone, ein drittes Zu-
sammenziehen zu Staubgefäßen und Griffel und eine
endliche letzte Entfaltung in der Frucht statt. Im
Anschluß hieran legt sich nun der Dichter die Frage
vor, durch welche Ursachen ein derartiges ab-
70 Dritte Voriesung.
wechselndes vollständiges Ausbilden der Seiten-
organe und Zusammenziehen ihrer Form veranlaßt
werde, und gibt zur Erklärung dieser Erscheinung
eine Hypothese, welche für Goethes ganze Auf-
fassungsweise von größtem Interesse ist. Er nimmt
an, daß mit dem Wachstum der Pflanze die Säfte
auch in ihre höheren Teile eindringen und dabei in
den Saftbahnen allmählich immer feiner filtriert und
verändert werden. Durch diese veränderten Säfte
werde dann die Ausbildung der Blattform modifi-
ziert und deshalb käme es zur Produktion von
Blumenblättern, Staubwerkzeugen usw. Die fort-
schreitende Kenntnis der Pflanzenphysiologie hat
allerdings gezeigt, daß die Stoffwechselvorgänge
lange nicht so einfach liegen, wie Goethe vor über
100 Jahren noch voraussetzen konnte. Es ist aber
von größter Wichtigkeit, daß er schon damals an-
genommen hat, daß die Formbildungsprozesse bei
der Pflanze abhängig seien von Stoffwechselvor-
gängen und daß ein veränderter Chemismus im
Pflanzeninnern die Ursache sein könne von ver-
änderter Ausbildung der Blattform. Wir werden das
prinzipiell Wichtige dieser Annahme noch weiter
unten zu erörtern haben.
Das ist in Kürze der Inhalt von Goethes Ver-
such, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären.
Er hat später daran gedacht, das dem Werke zu-
grunde liegende Tatsachenmaterial zu einem Teil
Die botanischen Arbeiten I. 71
wenigstens zur Anschauung zu bringen, und ließ
kolorierte Tafeln anfertigen, welche zahlreiche Bei-
spiele für seine Behauptungen brachten. Die Ver-
öffentlichung ist aber bis jetzt unterblieben. Die
Tafeln ruhen heute noch im Goethemuseum. Zwei
von ihnen konnten zur Illustration dieses Vortrages
verwendet werden. Wie Prof. Hansen im Goethe-
jahrbuch mitteilt, wird er demnächst diese Ab-
bildungen veröffentlichen.
Vierte Vorlesung.
Die botanischen Arbeiten II.
Meine Herren! Wenn ich Ihnen zu Beginn dieser
Vorlesung den Inhalt der Pflanzenmetamorphose
wieder kurz ins Gedächtnis zurückrufen soll, so
kann ich nichts Besseres tun, als dazu die schönen
Verse zu benutzen, in denen Goethe selbst dem
Kreis seiner Freundinnen und speziell Christiane
Vulpius den Inhalt seiner Forschungen in anschau-
licher und poetischer Form zu vermitteln ver-
sucht hat
Dich verwirret, Geliebte, die tausendfältige Mischung
Dieses BlumengewUhls Ober dem Garten umher;
Viele Namen hörest du an und immer verdränget,
Mit barbarischem Klang, einer den andern im Ohr.
Alle Gestalten sind ähnlich, und keine gleichet der ändern;
Und So deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz,
Auf ein heiliges Rätsel. O, könnt' ich dir, liebliche Freundin,
Überliefern sogleich glücklich das lösende Wort!
Werdend betrachte sie nun, wie nach und nach sich die Pflanze,
Stufenweise geführt, bildet zu Blüten und Frucht.
Aus dem Samen entwickelt sie sich, sobald ihn der Frde
Stille befruchtender Schoß hold in das Leben entläßt.
Und dem Reize des Lichts, des heiligen, ewig bewegten,
Oleich den zartesten Bau keimender BläUer empfiehlt.
Die botanischen Arbeiten IL 73
Einfach schlief in dem Samen die Kraft; ein beginnendes
Vorbild
Lag, verschlossen in sich, unter die Hülle gebeugt,
Blatt und Wurzel und Keim, nur halb geformet und farblos;
Trocken erhält so der Kern ruhiges Leben bewahrt,
Quillet strebend empor, sich milder Feuchte vertrauend,
Und erhebt sich sogleich aus der umgebenden Nacht.
Aber einfach bleibt die Gestalt der ersten Erscheinung;
Und so bezeichnet sich auch unter den Pflanzen das Kind.
Gleich darauf ein folgender Trieb, sich erhebend, erneuet,
Knoten auf Knoten getürmt, immer das erste Gebild.
Zwar nicht immer das gleiche; denn mannichfaltig erzeugt sich.
Ausgebildet, du siehsfs, immer das folgende Blatt,
Ausgedehnter, gekerbter, getrennter in Spitzen und Teile,
Die verwachsen vorher ruhten im untern Organ.
Und so erreicht es zuerst die höchst bestimmte Vollendung,
Die bei manchem Geschlecht dich zum Erstaunen bewegt.
Viel gerippt und gezackt, auf mastig strotzender Fläche,
Scheinet die Fülle des Triebs frei und unendlich zu sein.
Doch hier hält die Natur, mit mächtigen Händen, die Bildung
An und lenket sie sanft in das Vollkommnere hin.
Mäßiger leitet sie nun den Saft, verengt die Gefäße,
Und gleich zeigt die Gestalt zartere Wirkungen an.
Stille zieht sich der Trieb der strebenden Ränder zurücke.
Und die Rippe des Stiels bildet sich völliger aus.
Blattlos aber und schnell erhebt sich der zartere Stengel,
Und ein Wundergebild zieht den Betrachtenden an.
Rings im Kreise stellet sich nun, gezählet und ohne
Zahl, das kleinere Blatt neben dem ähnlichen hin.
Um die Achse gedrängt entscheidet der bergende Kelch sich,
Der zur höchsten Gestalt farbige Kronen entläßt.
Also prangt die Natur in hoher voller Erscheinung,
Und sie zeiget, gereiht, Glieder an Glieder gestuft.
Immer staunst du aufs neue, sobald sich am Stengel die Blume
Über dem schlanken Gerüst wechselnder Blätter bewegt.
Aber die Herrlichkeit wird des neuen Schaffens Verkündung,
Ja, das farbige Blatt fühlet die göttliche Hand.
Und zusammen zieht es sich schnell; die zartesten Formen,
Zwiefach streben sie vor, sich zu vereinen bestimmt.
74 Vierte Vorlesung.
Traulich stehen sie nun, die holden Paare, beisammen.
Zahlreich ordnen sie sich um den geweihten Altar
Hymen schwebet herbei und herrliche Düfte, gewaltig,
Strömen süßen Geruch, alles belebend, umher.
Nun vereinzelt schwellen sogleich unzählige Keime,
Hold in den Mutterschoß schwellender Früchte gehüllt.
Und hier schUeßt die Natur den Ring der ewigen Kräfte;
Doch ein neuer sogleich fasset den vorigen an.
Daß die Kette sich fort durch alle Zelten verlange,
Und das Ganze belebt, so wie das Einzelne, sei.
Wende nun, o Geliebte, den Blick zum bunten Gewimmel,
Das verwirrend nicht mehr sich vor dem Geiste bewegt.
Jede Pflanze verkündet dir nun die ew'gen Gesetze,
Jede Blume, sie spricht lauter und lauter mit dir.
Aber entzifferst du hier der Göttin heilige Lettern,
Oberall siehst du sie dann, auch in verändertem Zug.
Kriechend zaudre die Raupe, der Schmetterling eile geschäftig.
Bildsam andre der Mensch selbst die bestimmte Gestalt!
Ol gedenke denn auch, wie aus dem Keim der Bekanntschaft
Nach und nach in uns holde Gewohnheit entsproß,
Freundschaft sich mit Macht in unserm Innern enthüllte,
Und wie Amor zuletzt Blüten und Früchte gezeugt.
Denke, wie mannigfach bald die, bald jene Gestalten,
Still entfaltend, Natur unsern Gefühlen geliehn!
Freue dich auch des heutigen Tags! Die heilige Liebe
Strebt zu der höchsten Frucht gleicher Gesinnungen auf.
Gleicher Ansicht der Dinge, damit in harmonischem Anschaun
Sich verbinde das Paar, finde die höhere Welt.
Und nun wollen wir versuchen, gleich an dieser
Stelle, nachdem wir zum ersten Male eine wissen-
schaftliche Arbeit Goethes näher kennen gelernt
haben, uns darüber klar zu werden, welches die
Stellung und die ihrer Zeit vorauseilende Bedeutung
dieser Schrift ist und wollen sogleich hier die ersten
Konsequenzen zur Beurteilung von Goethes wissen-
Die botanischen Arbeiten II, 75
schaftlicher Methode ziehen, um diese Kenntnis dann
später schrittweise erweitern und vertiefen zu können.
Während Linne und seine Schule versucht hatten,
die Gesamtheit der pflanzlichen Formenwelt dadurch
für den menschlichen Geist zu bemeistern, daß sie
möglichst viel einzelne verschiedene Formen und
Arten aufstellten, daß sie also möglichst bis ins
kleinste unterschieden und sonderten, beschritt
Goethe den umgekehrten Weg. Er unternahm es,
das allen Pflanzenformen Gemeinsame heraus-
zuschälen und dadurch eine einheitliche Betrach-
tung der unendlichen Mannigfaltigkeit des Pflanzen-
wachstums zu ermöglichen. Die Methode, deren er
sich hierbei bediente, ist im letzten Vortrag schon
kurz angedeutet worden. Er stellte sich zunächst
aus alle den verschiedenen Erscheinungen, die er
untersuchen wollte, eine kontinuierliche Reihe
her, die er so anordnete, daß sie vom Einfachen
bis zum Kompliziertesten stufenweise fortschritt Er
suchte und fand in der Natur zwischen den
einzelnen Gliedern dieser Reihe dann zahlreiche
vermittelnde Übergänge, so daß er direkt die kompli-
zierteren Formen schrittweise auf die einfacheren p
zurückführen konnte. In diesem Verfahren, sich •
zunächst aus den zu untersuchenden Phänomenen
eine kontinuierliche Reihe zu bilden, besteht eigent-
lich Goethes allerpersönlichste Methode. Er hat
sie fast bei allen seinen naturwissenschaftlichen
76 * Vierte Vorlesung.
Untersuchungen angewendet, bei den botanischen
und zoologischen nicht nur, sondern auch bei den
mineralogischen und den optischen. Während er
auf diese Weise in der Morphologie der Pflanzen
und Tiere die wichtigsten Resultate zeitigte, werden
wir sehen, daß der Versuch, diese Betrachtungsweise
auch für die Farbenlehre anzuwenden, einen der
wesentlichsten Gründe für Goethes Irrtum in der
physikalischen Optik darstellt. Für die botanische
Forschung erwies sie sich dagegen als außerordent-
lich fruchtbar. Goethe hat hier zwei verschiedene
Reihen aufgestellt. Einmal versuchte er die Formen
der verschiedenen Pflanzenarten nebeneinander zu
stellen und sie durch zahlreiche Obergänge und
Varietäten zueinander in Beziehung zu setzen. So
gewann er eine Übersicht über die verschiedenen
in der Natur vorkommenden Pflanzenformen vom
einfachsten Kraut bis zum kompliziert gebauten
Baumriesen. Die zweite Reihe bestand aus der
Stufenfolge der einzelnen Seitenorgane ein und der-
selben Pflanze: vom Keimblatt bis zum voll ausge-
bildeten Laubblatt, von diesem bis zur ausgebildeten
Blumenkrone und Frucht Sobald nun Goethe diese
beiden Reihen vor sich hatte, machte er den nächsten
Schritt und suchte in das Verständnis dieser fort-
laufenden Formenkette durch die Anwendung der
vergleichenden Methode einzudringen. Durch Ver-
gleichung war festzustellen, welche Unterschiede
Die botanischen Arbeiten II. 77
zwischen den einzelnen Gliedern der Reihe be-
standen, welche Ähnlichkeiten sich finden ließen
und welche einzelnen Teile in den zu vergleichenden
Objekten unmittelbar aufeinander zu beziehen waren.
Dabei wird nun von Goethe selbst darauf hin-
gewiesen, daß man bei Anwendung der vergleichen-
den Betrachtungsweise vorsichtig darauf achten
müsse, daß die Gebilde, welche man miteinander
vergleicht, auch vergleichbar seien. Dieser Hin-
weis war um so notwendiger, als in der damaligen
Zeit oft die wildesten Kombinationen gemacht und
die heterogensten Dinge miteinander in Beziehung
gesetzt wurden. Linn^ selbst hatte gemeint, den
Pflanzenkeimling mit dem tierischen Embryo, die
Keimblätter mit der Plazenta vergleichen zu können,
und es ließen sich noch zahllose Beispiele derar-
tiger Phantastereien finden. Dem gegenüber behielt
Goethe bei seinen Untersuchungen den festen Boden
stets unter den Füßen, denn er schritt zur Ver-
gleichung immer erst dann, wenn er sich vorher
nach dem Prinzip der „Stetigkeit" eine vollständige
kontinuierliche Reihe gebildet hatte. Dann konnte
er ohne weitere Spekulation durch direkte An-
schauung erkennen, welches die vergleichbaren
Elemente waren, und blieb so vor allen Trug-
schlüssen bewahrt. So wird es deutlich, wie Goethe
das sorgfältigste Detailstudium zur Voraussetzung
seiner schließlichen Verallgemeinerungen nehmen
78 Vierte Vorlesung.
mußte, und wie er schrittweise um den Erfolg
rang.
An dieser Stelle wollen wir auch gleich eine
Betrachtungsweise erwähnen, durch welche Goethe
seiner Zeit um viele Jahrzehnte vorausgeeilt ist.
Er zog nämlich für die Ergründung der Formbil-
dung nicht nur die normalen Formen heran, sondern
stützte sich ganz bewußt und eingehend auch auf
die abnormen und pathologischen Gebilde. Dieses
Vorgehen, welches uns heute so selbstverständlich
erscheint, war für jene Zeit durchaus ungewöhn-
lich. Man nahm damals noch an, daß die krank-
haften Zustände gar nichts mit den normalen zu
tun hätten, daß die Krankheit etwas sei, was den
normalen Körper von außen befalle, und daß man
daher die krankhaften Prozesse nicht mit den nor-
malen in Verbindung setzen könne. Erst der Ver-
einigung von Medizin und Naturwissenschaft in der
ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ist es zu
danken, daß diese Anschauungen beseitigt worden
sind. Vor allem war es Rudolf Virchow, der die
neue Erkenntnis begründete. Wir sehen heute die
krankhaften Prozesse als Lebensäußerungen des
Patienten an. Wir wissen, daß sie in vielen Fällen
die Reaktion des Organismus auf abnorme Be-
dingungen darstellen, welche in seinem Innern ent-
stehen, oder von außen, wie die Bakterien, in ihn
eindringen. Es Ist längst Gemeingut der medi-
Die botanischen Arbeiten II. 79
zinischen Forschung geworden, daß man in den
krankhaften Prozessen sehr oft wichtige Lebens-
äußerungen des Organismus studieren kann, welche
im gesunden Zustand nur schwer zu fassen und zu
ergründen sind. Der gesunde Körper zeigt uns die
normalen Leistungen, der kranke Körper in vielen
Fällen dagegen das, was der Organismus außerdem
noch zu leisten befähigt ist, und so ergänzen sich
die Kenntnis des normalen und des pathologischen
erst zu dem vollen Bilde der gesamten Lebens-
äußerungen. Wir sehen nun Goethe genau dieselben
Überlegungen für seine Pflanzenmetamorphose an-
stellen. Auch er ist von der Überzeugung durch-
drungen, daß man in jedem Abnormen die normale
Grundlage erkennen müsse, und so zieht er die
natürlich vorkommenden und die durch Züchtung
erzielten Abnormitäten in den Kreis seiner Betrach-
tungen mit hinein. Sie erinnern sich, daß er die
gefüllten Blumen, die durchgewachsene Rose und
Nelke und anderes hierher gehörige als vollwertige
Beweisstücke in die Entwicklungsreihe der Pflanzen-
form eingefügt hat. Das, was Goethe als regressive
und als zufällige Metamorphose bezeichnet, sind
derartige abnorme und pathologische Zustände.
Er betrachtet auf diese Weise das Normale und
das Pathologische gleichzeitig und ergänzt die
Kenntnis des einen durch die des andern. Er hat
später, als er diese Studien eingehender fortsetzte,
80 Vierte Vorlesung.
wiederholt betont, daß man aus den Mißbildungen
der Pflanzen die normalen Grundlagen oft aufs
allerschönste erkennen könne. So hat er auf einem
scheinbar weit abliegenden Gebiete grundlegende An-
schauungen auch über die Pathologie gewonnen.
Goethes Schrift nennt sich einen Versuch, die
Metamorphose der Pflanze zu erklären, und wir
wollen gleich hier bei den botanischen Studien
erörtern, was Goethe darunter verstanden hat. Das
ist um so nötiger, als wir heutzutage den Begriff
der Metamorphose sehr viel enger fassen, als es
damals geschah. Der Dichter hat seine zoologischen
und botanischen Studien unter dem Sammelbegriff
der Morphologie, den er schuf, zusammengefaßt, und
er definierte die Morphologie als die Lehre von der
Bildung und Umbildung organischer Naturen. Wir
können sagen, daß Goethe unter Metamorphose
alles das verstanden hat, was sich auf Umbildung
organischer Naturen bezieht. Diese Bezeichnung
war der damaligen Zeit durchaus geläufig, sie
war besonders schon von Linn^ für die Beobach-
tung der Pflanzenform angewendet worden. Linnö
wollte nämlich das Verständnis der Pflanze dadurch
fordern, daß er ihr Wachstum mit der Metamorphose
der Insekten verglich. Es sollte die Blüte aus ihrer
Hülle hervorbrechen, wie der Schmetterling aus der
Puppe, und demgemäß hat Linn^ die Rinde der
Pflanze direkt mit der Larvenhülle der Insekten ver-
Die botanischen Arbeiten II. 81
glichen. Die Blüten sollten nach ihm aus der Rinde,
speziell die Blumenkrone aus dem Bast, die Staub-
beutel aus dem Holz, die Narbe aus dem Mark des
Stammes hervorgehen. Erst wenn man sich diese
wilden Phantasien vergegenwärtigt, sieht man, wel-
chen großen Fortschritt Goethes uns heute so selbst-
verständlich erscheinende Metamorphosenlehre be-
deutet. Statt unbegründeter Vergleiche ist jetzt ein
auf zahlreiche Einzelbeobachtungen gestütztes Ver-
ständnis möglich. Auch das Ei des Columbus
schien nachher den Zuschauern ein selbstverständ-
liches Experiment.
Goethe unterscheidet nun verschiedene Formen
der Metamorphose und stellt als erste die succes-
sive Metamorphose auf. So bezeichnet er diejenige
Art der Umbildung, die wir auch heute noch Meta-
morphose nennen: die Metamorphose der Insekten,
der Amphibien u. dgl. Wenn sich die Raupe zur
Puppe, die Puppe zum Schmetterling umbildet, wenn
aus dem Froschei die Kaulquappe und aus dieser
der ausgebildete Frosch entsteht, so sehen wir, wie
successive ein und dasselbe Individuum als Ganzes
sich verwandelt und verschiedenartige Gestalten an-
nimmt. Demgegenüber unterscheidet Goethe eine
zweite Gruppe von Umbildungen als simultane Meta-
morphose und begreift darunter Dinge, welche wir
heute nicht mehr mit diesem Ausdruck bezeichnen.
Er gibt in seinen Aufzeichnungen dafür die Defini-
Magnus, Goethe als Naturforscher. 6
82 Vierte Vorlesung.
tion: „Simultane Metamorphose, indem die Teile
sich voneinander unterscheiden." Was darunter ver-
standen wird, möchte ich Ihnen an einem einfachen
Beispiel klar machen. Betrachten wir einen einfach
gebauten Wurm, wie z. B. den Regenwurm, und sehen
wir dabei zunächst von Kopf und Schwanzende ab,
so finden wir den Körper zusammengesetzt aus einer
Reihe von Ringen, welche aufeinander folgend den
Wurmkörper bilden und welche bei der näheren
Untersuchung einander so gut wie vollkommen
gleichen. Jedes einzelne Teilstück oder, nach der
heutigen Ausdrucksweise, Metamere besteht aus
einem Muskelring, in dessen Innerem sich das zu-
gehörige Nervensystem und die übrigen Organe be-
finden. Der Regenwurm ist also dadurch ein ein-
fach gebautes Tier, daß er aus einer fortlaufenden
Reihe durchaus gleichartig zusammengesetzter Teil-
stücke besteht. Ganz anders liegen die Verhältnisse,
wenn wir zu höheren Tieren fortschreiten. Wir
wollen als Beispiel an dieser Stelle ein auch von
Goethe mehrfach angeführtes und studiertes be-
nutzen, nämlich das Rückgrat, die Wirbelsäule eines
Säugetieres. Betrachten wir die Wirbelsäule eines
Hundes, Rindes oder Menschen, so finden wir, daß
dieses Organ aus einer Reihe von gleichwertigen
Teiistücken besteht, welche alle annähernd nach
demselben Plan gebaut sind. Sie enthalten einen
Wirbelkörper, Wirbelbogen und Wirbelfortsätze,
Vertebrae — die Wirbelbeine.
Atlas
Epislropheus
des Halses
des Rückens
der Lenden «
HK. 3.
Wirbel des Menschen. Talcl aus der Mappe: .Qoethes
anatomische Studien in Jena hei Lodcr 1781', imOoethc-
haus. Vermutlich benutzt zu Goethes anatomischen
VortrttKcn an der Zcichcnakndcmic in Weimar. Dazu
Kchörl ein Blatt UmrIUzcichnunKcn mit schriftlichen
ErldutcrunKcn.
Die botanischen Arbeiten II. 83
welche zusammen den Rückenmarkskanal um-
schließen. Auch hier also wie beim Regenwurm
ein Gebilde, welches aus einer fortlaufenden Reihe
von Metameren besteht. Wenn wir aber die Teil-
stücke genauer betrachten, so finden wir, daß sie
im einzelnen außerordentlich große Verschieden-
heiten aufweisen, wie ein Blick auf nebenstehende
Tafel 3 zeigt, auf der Goethe selbst diese Ver-
hältnisse verdeutlicht hat. Die zierlichen Halswirbel
sehen vollständig anders aus wie die plumpen Lenden-
wirbel. Die Brustwirbel mit ihren charakteristisch
ausgebildeten Dornfortsätzen haben eine ganz andere
Form als die einfache Knochenspange des Atlas, des
ersten Halswirbels. Diese Unterschiede gehen fort
bis ins einzelne. Goethe selbst hat das für die
Halswirbel genauer durchgeführt und eingehend die
Formunterschiede vom 1. bis zum 7. beschrieben
Wir sehen also, daß bei einem Organ, welches aus
gleichwertigen Teilstücken besteht, diese einzelnen
Teile sich sehr stark voneinander unterscheiden.
Diese Formunterschiede oder diese Umbildung der
Wirbelform von einem Metameren zum andern be-
zeichnet Goethe als simultane Metamorphose.
Wir benutzen heute hierfür den Ausdruck Differen-
zierung.
Welche Stellung nimmt nun die Metamorphose
der Pflanzen in dieser Einteilung ein? Goethe selbst
weist ihr eine Mittelstellung zwischen der succes-
6*
84 Vierte Vorlesung.
siven und simultanen Metamorphose zu. Betrachtet
man die ausgebildete Pflanzenform, so findet man
die einzelnen Seitenorgane der Pflanze, Blätter, Blüte,
Frucht usw., voneinander unterschieden: simultane
Metamorphose. Wenn man aber die Pflanze wachsen
sieht, so entsteht Knoten für Knoten der Reihe nach,
und jeder Knoten läßt ein oder mehrere Seitenorgane
hervorsprießen, welche in immer wechselnder und
immer vollkommenerer Weise ausgebildet werden.
Die einzelnen Wirbel der Wirbelsäule sind gleich-
zeitig da. Die einzelnen Knoten der Pflanze mit
ihren Seitenorganen werden nacheinander ge-
bildet. So steht die Metamorphose der Pflanzen
in der Mitte zwischen der successiven und simul-
tanen Metamorphose und enthält die Elemente von
beiden.
Damit ist aber der Kreis dessen, was Goethe
unter Umbildung organischer Naturen zusammen-
faßte, noch nicht erschöpft. Es kommt als drittes
hinzu die Verschiedenheit der Form, welche sich bei
vergleichender Betrachtung der einzelnen Pflanzen-
und Tierarten ergibt. Oben wurde auseinander-
gesetzt, daß Goethe die Verschiedenheit der Pflanzen-
und Tierwelt dadurch anschaulich und untersuchbar
machte, daß er die verschiedenen Einzelformen der
Pflanzen- und Tierspezies in eine vollständige und
kontinuierliche Reihe einordnete. Der Vergleich ein-
zelner charakteristischer Vertreter dieser Reihe ergibt
Die botanischen Arbeiten II. 85
dann natürlich wesentliche Formunterschiede, eine
Metamorphose innerhalb des ganzen Tier- und
Pflanzenreiches. Die Wissenschaft von diesen Form-
änderungen ist die vergleichende Anatomie.
Goethe hat als das eigentliche Ziel dieser Wissen-
schaft die Aufstellung einer Grundform angesehen,
auf welche sich alle Einzelformen zurückführen lassen
müssen. Für die Pflanzenwelt hat Goethe zunächst
nach einer solchen Urpflanze wirklich in der Natur
gesucht, dann aber erkannt, daß es sich nur um
ein Schema handeln könne, welche man kon-
struieren, aber nicht tatsächlich auffinden müsse.
Er hat danach für Pflanzen- und Tierreich das ge-
sucht, was er einen Typus nannte, eine einfachste
Grundform, auf die sich alle tatsächlich vorhandenen
Formen zurückführen ließen, und er redet später
direkt von der Aufgabe, einen solchen Typus zu
konstruieren. Diese dritte Form der Metamor-
phose von Art zu Art ist also eine Betrachtungs-
weise, welche schließlich den großen Formenkreis
der Tier- und Pflanzenwelt in den Bereich ihrer
Forschung zieht, und stellt so die höchste Verallge-
meinerung von Goethes morphologischen Forschun-
gen dar.
Diese kurze Einteilung der Metamorphosenlehre
enthält in nuce das ganze Programm von Goethes
morphologischen Forschungen. Wir haben sie an-
geknüpft an eine Diskussion der Pflanzenmeta-
i
86 Vierte Vorlesung.
morphose und werden bei den folgenden Be-
sprechungen sehen, wie Goethe dieses Programm
der Reihe nach selbst erfüllt hat und wie er so die
Gesamtheit des organischen Formenwesens Schritt
für Schritt in den Kreis seiner wissenschaftlichen
Bemühungen zog.
Die rein morphologischen Studien bildeten aber
nur einen, wenn auch den wesentlichsten Teil von
Goethes biologischen Interessen. Er stellte sich nicht
nur die Aufgabe, in das Verständnis der Form orga-
nisierter Gebilde einzudringen, sondern legte sich
auch die Frage nach den Ursachen der Form-
bildung vor. Diese Forschungen haben nach Goethes
Tod lange Zeit geruht, und erst in den letzten Jahr-
zehnten wendet sich ihnen das Interesse der Natur-
forscher wieder zu. Die ganze Wissenschaft der Ent-
wicklungsmechanik und Entwicklungsphysiologie ist
jüngsten Datums und deshalb muten Goethes Aus-
einandersetzungen über diese Fragen den Leser als
ganz besonders modern an. Er unterscheidet in seinen
botanischen Studien zwei verschiedene Gruppen von
Ursachen der Formbildung. Die einen sind äußere.
Wir haben in der letzten Vorlesung schon erfahren,
daß Goethe den äußeren Bedingungen, wie Licht,
Luft, Klima, Wärme, Standort, Bewässerung und vielen
anderen, einen enpchiedenen Einfluß auf die Aus-
bildung der Pflanzenform zuschrieb. Er stellte dieses
durch Beobachtung an frei in der Natur wachsenden
Die botanischen Arbeiten II. 87
Pflanzen und durch die verschiedenartigsten Experi-
mente fest, welche in der Folgezeit noch vielfach
fortgesetzt wurden, und kam so zu seiner Über-
zeugung, daß die Pflanzenformen von diesen äußeren
Umständen besonders in der Weise abhängig seien,
daß die Ausbildung der ganzen Pflanze durch sie
bedingt wäre. Er nahm also die Wirksamkeit
äußerer formativer Reize an. Demgegenüber fand
er nun noch eine zweite Gruppe von Faktoren von
entschiedenem Einfluß auf die Pflanzenform. Er
bezog die verschiedene Gestaltung der Seitenorgane
bei ein und derselben Pflanze auf innere Ursachen;
wenn ein Gewächs zuerst unvollkommene, dann immer
vollkommenere Laubblätter hervorbringt, wenn dann
nach diesen die zarteren Kelch- und Blumenblätter
und darauf die Befruchtungswerkzeuge entstehen,
so nahm Goethe, wie Sie sich erinnern, an, daß
mit dem Pflanzenwachstum die Säfte allmählich in
den Gefäßen des Stammes immer feiner destilliert
würden, und daß diese verfeinerten Säfte in den
höheren Pflanzenteilen Ursache für die Bildung der
zarteren Seitenorgane (Blüte und Frucht) seien. Diese
Hypothese ist von prinzipieller und fundamentaler
Wichtigkeit, denn sie enthält die Vorstellung, daß
im Stoffwechsel der Pflanzen chemische Substanzen
gebildet werden können, welche an den Ort ge-
langen, wo die Seitenorgane ausgebildet werden und
welche hier deren Formgebung in entscheidender
88 Vierte Vorlesung.
Weise beeinflussen. Es werden also den äußeren
formativen Reizen innere, und zwar chemische gegen-
übergestellt; die äußeren Reize beeinflussen die Ge-
samtform der Pflanze, die inneren bedingen die
spezielle Ausbildung ihrer Organe. Durch diese An-
schauung entwicklungsphysiologischer Art hat Goethe
sich zu Problemen erhoben, welche fast 100 Jahre
später erst wieder aufgenommen worden sind. Es
ist dabei von Interesse, daß ungefähr gleichzeitig und
wahrscheinlich unabhängig der Göttinger Anatom
Blumenbach, wie von Driesch in letzter Zeit betont
worden ist, ebenfalls entwicklungsphysiologische Be-
trachtungen und Experimente angestellt hat. Hier-
mit wollen wir diesen Gegenstand verlassen und
weitere formphysiologische Ermittlungen Goethes erst
berühren, wenn wir die zoologischen Arbeiten näher
gewürdigt haben.
Wir müssen aber an dieser Stelle noch eine
andre Frage streifen, welche von Goethe selbst auf-
geworfen und zu verschiedenen Zeiten seines Lebens
verschieden beantwortet worden ist Es handelt
sich um die erkenntnistheoretische Grundlage der
Metamorphosenlehre. Wir werden auf diesem Wege
auch gleich einen tiefen Einblick in die persönliche
Denkweise des Naturforschers Goethe tun. Als
Ausgang benutzen wir die viel citierte Scene
seines ersten näheren Zusammentreffens mit Schiller.
Er hat auf diesen Moment seines Lebens selbst
Die botanischen Arbeiten II. 89
solchen Wert gelegt, daß er ihn uns an mehreren
Stellen seiner Werke und auch in seinen natur-
wissenschaftlichen Schriften schildert. Er erwähnt,
daß Schiller ihm anfangs durchaus unsympatisch ge-
wesen und daß er einer Berührung mit ihm sorg-
fältig aus dem Wege gegangen sei. Schillers Dramen,
die Räuber, Fiesko, selbst noch Don Carlos, vom
Publikum mit Begeisterung aufgenommen, schienen
Goethes abgeklärter Denkart nur ein Rückfall in
Stadien zu sein, die er selbst in der Götz- und
Wertherepoche überwunden hatte. Schiller hatte sich
dann weiter dem Studium der Kantschen Philosophie
zugewendet und in seinem Aufsatz über Anmut und
Würde auch die Stellung des Menschen zur Natur
berührt. Bei dieser Gegenüberstellung war nun die
Natur nicht gerade gut weggekommen und für Goethe,
der die Stellung des Menschen in der Natur be-
tonte, war die Schillersche Betrachtungsweise keines-
wegs anziehend. „Gewisse harte Stellen sogar konnte
ich", so schreibt Goethe später, „direkt auf mich
deuten, sie zeigten mein Glaubensbekenntnis in einem
falschen Lichte; dabei fühlte ich, es sei noch schlimmer,
wenn es ohne Beziehung auf mich gesagt worden;
denn die ungeheuere Kluft zwischen unseren Denk-
weisen klaffte nur desto entschiedener. — An keine
Vereinigung war zu denken. . . . Niemand konnte
leugnen, daß zwischen zwei Geistesantipoden mehr
als Ein Erddiameter die Scheidung mache, da sie
90 Vierte Vorlnsung.
denn beiderseits als Pole gelten mögen, aber eben
deswegen in Eins nicht zusammenfallen können. Daß
aber doch ein Bezug unter ihnen stattfinde, erhellt
aus Folgendem. Schiller zog nach Jena, wo ich ihn
ebenfalls nicht sah. Zu gleicher Zeit hatte Batsch
durch unglaubliche Regsamkeit eine naturforschende
Gesellschaft in Tätigkeit gesetzt, auf schöne Samm-
lungen, auf bedeutenden Apparat gegründet. Ihren
periodischen Sitzungen wohnte ich gewöhnlich bei;
einstmals fand ich Schillern daselbst, wir gingen zu-
fällig beide zugleich heraus, ein Gespräch knüpfte
sich an, er schien an dem Vorgetragenen teilzu-
nehmen, bemerkte aber sehr verständig und einsich-
tig und mir sehr willkommen, wie eine so zerstückelte
Art, die Natur zu behandeln, den Laien, der sich gern
darauf einließe, keineswegs anmuten könne. — Ich
erwiderte darauf, daß sie den Eingeweihten selbst
vielleicht unheimlich bleibe, und daß es doch wohl
noch eine andre Weise geben könne, die Natur nicht
gesondert und vereinzelt vorzunehmen, sondern sie
wirkend und lebendig, aus dem Ganzen in die Teile
strebend, darzustellen. Er wünschte hierüber auf-
geklärt zu sein, verbarg aber seine Zweifel nicht;
er konnte nicht eingestehen, daß ein solches, wie
ich behauptete, schon aus der Erfahrung hervor-
gehe. — Wir gelangten zu seinem Hause, das Ge-
spräch lockte mich hinein; da trug ich die Meta-
moiphose der Pflanzen lebhaft vor, und ließ, mit
I
Die botanischen Arbeiten II. 91
manchen charakteristischen Federstrichen, eine sym-
bolische Pflanze vor seinen Augen entstehen. Er
vernahm und schaute das alles mit großer Teilnahme,
mit entschiedener Fassungskraft; als ich aber ge-
endet, schüttelte er den Kopf und sagte: „Das ist
keine Erfahrung, das ist eine Idee." Ich stutzte,
verdrießlich einigermaßen; denn der Punkt, der uns
trennte, war dadurch aufs strengste bezeichnet. Die
Behauptung aus Anmut und Würde fiel mir wieder
ein, der alte Groll wollte sich regen; ich nahm mich
aber zusammen und versetzte: „Das kann mir sehr
lieb sein, daß ich Ideen habe, ohne es zu wissen,
und sie sogar mit Augen sehe"."
Schärfer konnte der Gegensatz der beiden Männer
nicht veranschaulicht werden als in diesen drama-
tischen Sätzen, und Goethe konnte in der Tat auch
nicht schärfer getroffen werden, als durch Schillers
kurzen Einwand, durch den er beinahe zu sofortigem
Abbruch des Gesprächs veranlaßt wurde. Goethe
hatte bis dahin seine Naturstudien tatsächlich „mit
unbewußter Naivetät" betrieben, vertraute auf seine
gesunden fünf Sinne, glaubte, daß alle seine Re-
sultate durch reine Erfahrung gewonnen worden
seien und unterschätzte die Denkoperationen, die
zu ihrer Erreichung notwendig gewesen waren. Sein
Realismus war ja noch vor wenigen Jahren so weit
gegangen, daß er versucht hatte, die Urpflanze als
tatsächlich vorhanden in der Natur aufzufinden. Hier
92 • Vierte Vorlesung.
wurde er durch Schiller aus seiner Betrachtungs-
weise unsanft aufgerüttelt. Um was es sich dabei
handelt, werden Sie gleich noch deutlicher verstehen
lernen, wenn Sie sich klar machen, wie überhaupt
menschliche Erkenntnisse zustande kommen. Be-
denken Sie, wie ein kleines Kind zuerst Sinnes-
eindrücke empfängt und danach Erfahrungen sam-
melt Sobald es überhaupt einigermaßen bewußt
sehen gelernt hat, bemächtigt es sich der Objekte
der Außenwelt mit lebhaftestem Interesse. Jeder
Gegenstand, den es sieht, ist eine neue Erscheinung.
Der blattlose Baum im Winter, derselbe Baum im
Laubschmuck des Sommers, eine blühende Kastanie,
eine aufragende Fichte, ein Baum, der vor dem
blauen Himmel steht, ein andrer im Dickicht des
Gebüschs, alle diese Bäume werden zunächst für
unser Kind ebensoviele unzusammenhängende Einzel-
erscheinungen sein. Jedesmal, wenn es einen neuen
Baum sieht, macht es eine neue Erfahrung. Nach
kurzer Zeit aber wird das Kind, natürlich völlig
unbewußt, beginnen, alle diese verschiedenen Ein-
drflcke einheitlich zusammenzufassen. Durch fort-
gesetzte äußere Einflüsse und belehrt durch den
Zwang der begriffsbildcnden Sprache wird es schließ-
lich das allen diesen Formen Gemeinsame erkennen
und 80 den Begriff Baum bilden. In der Er-
scheinung sind dem Kind nur die einzelnen Elemente
jedes einzelnen Baumes gegeben. Um aus diesen
Die botanischen Arbeiten II. 93
den zusammenfassenden Begriff Baum zu bilden
und unter diesem Begriff (Idee) nun alle Einzel-
erscheinungen der Bäume zu subsummieren, dazu
bedarf es der Denkoperation des Kindes. Ganz
dasselbe vollführt nun Goethe bei seinem Studium
der Pflanzenform. Auch er müht sich redlich 10 Jahre
lang, die Einzelerscheinungen der verschiedenen Pflan-
zen zu studieren. Dann erst beginnt der Versuch, alle
diese Erfahrungen einheitlich zusammenzufassen. Daß
dieses letztere eine reine Denkoperation sei, warGoethe
damals noch nicht klar und auch, nachdem er die Ur-
pflanze nicht mehr in der Natur suchte, glaubte er,
die Pflanzenmetamorphose mit Augen sehen und mit
Händen greifen zu können. Er wurde erst jetzt durch
Schiller darauf hingewiesen und erkannte es allmäh-
lich immer klarer, daß sein Gesetz der Pflanzen-
metamorphose allerdings von der Erfahrung ausgehe,
daß aber der Begriff der Urpflanze daraus durch eine
Denkoperation abstrahiert, daß der von ihm ermittelte
Zusammenhang aller Pflanzen daher ein ideeller
sei. So liegt die Wahrheit auch in diesem Fall in der
Mitte. Erst durch das Zusammenwirken der von
Goethe allein betonten Erfahrung und der von Schiller
in den Vordergrund gestellten Idee ist ein Resultat
von solcher wissenschaftlichen Tragweite wie Goethes
Metamorphosenlehre möglich geworden. Er fand
allerdings immer noch „die Schwierigkeit, Idee und
Erfahrung miteinander zu verbinden, sehr hinderlich
94 Vierte Vorlesung.
bei aller Naturforschung: die Idee ist unabhängig
von Raum und Zeit, die Naturforschung ist in Raum
und Zeit beschränkt; daher ist in der Idee Simul-
tanes und Successives innigst verbunden, auf dem
Standpunkt der Erfahrung hingegen immer getrennt,
und eine Naturwirkung, die wir der Idee gemäß als
simultan und successiv zugleich denken sollen, scheint
uns in eine Art Wahnsinn zu versetzen. Der Verstand
kann nicht vereinigt denken, was die Sinnlichkeit
ihm gesondert überliefert, und so bleibt der Wider-
streit zwischen Aufgefaßtem und Ideirtem immer-
fort unaufgelöst*. Daß Goethe sich später selbst rück-
haltlos auf Schillers Standpunkt gestellt hat, sieht
man aus den Worten, die er 1817 in der Einleitung
zu seinen morphologischen Heften schrieb: „Daß
das, was der Idee nach gleich ist, in der Erfahrung
entweder als gleich oder als ähnlich, ja sogar als
völlig ungleich oder unähnlich erscheinen kann,
darin besteht eigentlich das bewegliche Leben der
Natur, das wir in unsern Blättern zu entwerfen ge-
denken." Die Urpflanze ist jetzt für Goethe das
Schema oder, wie er es später nannte, der Typus
geworden, auf den sich alle Pflanzenformen durch
Vergleichung zurückführen lassen. Sie ist der allen
Pflanzen gemeinsame Bauplan.
Gleich nach Vollendung des Manuskripts über
die Pfianzenmetamorphosc traten Goethe Schwierig-
Die botanischen Arbeiten II. 95
keiten entgegen. Sein Verleger Göschen, bei dem
die früheren Werke erschienen waren, lehnte den
Verlag ab, und erst nach Überwindung mehrfacher
Hemmnisse konnte das Werk bei Ettinger in Gotha
erscheinen. Das war nur das Vorspiel für die Auf-
nahme, welche die Arbeit im Publikum fand. Daß
ein Dichter etwas anderes veröffentlichen könne, wie
seine poetischen Werke, wollte der damaligen ge-
bildeten Welt nicht in den Kopf. Man stellte sich
dem Versuche Goethes gegenüber auf den Stand-
punkt „Schuster, bleibe bei deinem Leisten", und
so hatte er fast nur Ärger. Dazu kam nun die
ziemlich einmütige Ablehnung, die seine Metamor-
phosenlehre bei den Fachgelehrten fand. Diese
standen damals fast allgemein auf dem Standpunkt
der sog. Präformationslehre. Es wurde alles Wachs-
tum und alle Entwicklung dadurch verständlich zu
machen gesucht, daß man annahm, jeder Keim
enthalte alle Organe und Formen, die aus ihm
später hervorwüchsen, schon im kleinsten Maß-
stabe in sich eingeschlossen. Die ganze spätere
Pflanze sollte schon in dem Samen stecken und
bei der Keimung weiter nichts stattfinden, als ein
Auswachsen dieser kleinen Anlage. Auch die Ei-
zelle sollte das ganze spätere Tier mit allen seinen
Organen gewissermaßen eingeschachtelt enthalten.
Dieses damals herrschende Dogma trat ihm besonders
1792 bei dem schon geschilderten Besuche auf
96 Vierte Vorlesung.
dem Jacobischen Gute in Pempelfort entgegen, wo
er der starren Vorstellungsart begegnete: „Nichts
könne werden, als was schon sei" oder wie Albrecht
V. Haller dieses Dogma formuliert hatte: „nil noviter
generari". Goethes Metamorphosenlehre stand natür-
lich in schneidendem Gegensatz zu einer solchen
Anschauung, da sie die Umbildung organischer Teile
zum Gesetz erhob, während die Präformationstheorie
die Unveränderlichkeit der sich entwickelnden Ge-
bilde lehrte. So dauerte es Jahre und Jahrzehnte,
bis die langersehnte Anerkennung wissenschaftlicher
Kreise unserm Dichter zu Teil wurde.
In den folgenden Jahren sammelte nun Goethe
weiteres wissenschaftliches Material zu einem zweiten
Aufsatz über die Pflanzenmetamorphose. Von diesem
ist aber nur der Anfang erhalten. Veröffentlicht
wurde er nie. Dagegen begann Goethe in der Mitte
der 90 er Jahre wieder in ausgedehnterem Maße an
Pflanzen zu experimentieren. Wieder sind es die
Bedingungen, welche die Formbildung der Pflanzen
beeinflussen und verursachen können, die ihn inter-
essieren. So läßt er Kressen- und Bohnensamen
im Licht, im Dunkeln, unter gelben, blauen und vio-
letten Gläsern keimen und führt täglich genaue uns
erhaltene Versuchsprotokolle, in denen er die Länge
der Wurzeln, der Stengel usw. nach sorgfältigen
Messungen registriert. Er beschäftigt sich dabei unter
anderm auch mit einem Vorgang, der bis in die
Die botanischen Arbeiten IL 97
jüngste Zeit hinein das Interesse der Pflanzenphysio-
logen erregt: das Etiolement. Darunter versteht man
die Erscheinungen, welche an Pflanzen auftreten, wenn
sie im Dunkeln auskeimen. Es wird dann der grüne
Farbstoff nicht gebildet und die blassen Keimlinge
zeigen ein ganz exzessives Längenwachstum, gleich-
sam als wollte die Pflanze möglichst in die Höhe
streben, um der Dunkelheit zu entrinnen. Dieser Vor-
gang ist nun keineswegs etwa von Goethe entdeckt
worden; schon 1700 hat Senebier Untersuchungen
darüber angestellt. Aber das Studium hatte unter
dem Druck von Linnes Autorität geruht und erst
10 Jahre nach den geschilderten Goetheschen Ver-
suchen hat der berühmte französische Botaniker
de Candolle wieder eine Arbeit über den Gegen-
stand veröffentlicht. Goethe machte dann ferner an
einer Pflanze, die ihn auch in andrer Hinsicht inter-
essierte, Bryophyllum calycinum, Beobachtungen über
den Vorgang, den man heute als Heliotropismus be-
zeichnet. Er stellte fest, daß diese Pflanze, wenn sie
im Zimmer gezogen wird, sich immer gegen das
Licht hin krümmt, und machte nun den Versuch,
diese heliotropische Reaktion dadurch zu über-
winden, daß er jedes Mal, wenn die Pflanze anfing,
sich zu krümmen, den Blumentopf drehte. Auf diese
Weise gelang es ihm, ein gerades Wachstum
zu erzielen. In dieselbe Zeit fallen auch Versuche
festzustellen, wie weit Pflanzen nach Verletzungen
Magnus, Goethe als Naturforscher. 7
gß Vierte Vorlesung.
noch wachstumsfähig bleiben. Er beobachtete, ob
nach Entfernung der Keimblätter noch eine weitere
Entwicklung möglich sei, wie die Pflanzen es ver-
tragen, wenn alle Laubblätter entfernt werden, und
was aus Blüten wird, die des Kelches beraubt sind.
Auch der Einfluß der Ernährung auf die Blüten-
bildung der Gewächse wird von neuem wieder
studiert und es gelingt ihm, durch Überernährung
das Blühen seiner Versuchspflanzen zu verhindern.
An diese Versuche schließt sich nun der Plan,
eine Pflanzenphysiologie zu schreiben. Auch von
diesen Bemühungen sind nur die Entwürfe vor-
handen, aus denen sich aber wenigstens so viel er-
sehen läßt, daß Goethe allerdings die sämtlichen
Lebensäußerungen der Pflanze mit berücksichtigen
wollte, daß aber das, was ihn am meisten dabei
interessierte, die Physiologie der Formbildung ge-
wesen ist. So stellt sich die Pflanzenphysiologie
seinen morphologischen Bestrebungen parallel gegen-
über, und es ist als ein großer Verlust zu bezeich-
nen, daß er nie etwas Zusammenfassendes über
seine pflanzenphysiologischen Vorstellungen publi-
ziert hat.
Im Jahre 1812 veröffentlichte der Hallenser Ana-
tom und Physiologe Meckel die deutsche Über-
setzung einer zu ihrer Zeit völlig unbeachtet ge-
bliebenen lateinischen Abhandlung von Caspar
Friedrich Wolff aus dem Jahre 1768: „De formatione
Die botanischen Arbeiten II. 99
intestinorum". Diese Schrift, ebenso wie die berühmte
„Theoria generationis" von 1759 war in bezug auf
das Pflanzenwachstum zu ganz identischen Resul-
taten wie Goethe gekommen. Letzterer, der auf
Wolffs Schriften schon bald nach Veröffentlichung
seiner eigenen Pflanzenmetamorphose durch den
Philologen F. A. Wolf aufmerksam gemacht wurde
und sie besonders 1807 genauer studiert hatte, er-
kannte die Wichtigkeit dieser Abhandlung sofort
und unumwunden an und nahm in seine morpho-
logischen Hefte ein eigenes Kapitel „Entdeckung
eines trefflichen Vorarbeiters" auf, in welchem er
die einschlägigen Stellen aus Wolffs Arbeit z. T.
wörtlich abdruckte. Daraus ergibt sich nun, daß
Wolff tatsächlich fast genau dieselben Vorstellungen
entwickelt hatte. Auch er führt alle Seitenorgane
der Pflanze auf das Blatt zurück. Bei der Beweis-
führung für diesen Satz ist Wolff aber noch einen
Schritt weiter gegangen als Goethe. Er studierte
nämlich die Form und Entwicklung der ersten An-
lage aller Blätter und Seitenorgane mikroskopisch
und konnte so feststellen, daß alle diese Gebilde
tatsächlich ursprünglich aus gleichen Anlagen her-
vorgehen. Nur in einem Punkt wich Goethe von
Wolff ab. Dieser hatte die Blüte als eine Verküm-
merung der Blattbildung aufgefaßt. Das mußte Goethe
durchaus unsympathisch sein. Er sah in der Blüte
vielmehr die höchste Entfaltung des Pflanzenwachs-
7*
100 Vierte Voiiesung.
tums. Dagegen waren beide darin Gesinnungs-
genossen, daß sie aufs schärfste die Präformations-
iehre bekämpften.
In diesen und den folgenden Jahren begann nun
Goethes Metamorphosenlehre allmählich immer mehr
durchzudringen. Es kamen eine Reihe von günstigen
Rezensionen in wissenschaftlichen Zeitschriften. Die
Lehre wurde mehr und mehr von den Fachleuten
citiert Schließlich gelangte sie zu völliger An-
erkennung und ging in den festen Besitzstand der
wissenschaftlichen Botanik über. Goethe selbst ver-
folgte in diesen Jahren hauptsächlich die laufende
Literatur und machte sich sorgfältige Auszüge von
allem, was auf seine Metamorphosenlehre Bezug
hatte. Alle diese Bestätigungen und Fortbildungen
hat er dann anhangsweise seiner eigenen Abhand-
lung über die Pflanzenmetamorphose beigefügt und
so sind sie in die Ausgabe letzter Hand über-
gegangen. Besonders eingehend studiert und be-
rücksichtigt er dabei Jägers Werk über die Miß-
bildungen der Gewächse. Seinen Exzerpten fügt
er hier zahlreiche eigene Beobachtungen bei und
betont dabei nochmals nachdrücklichst die normale
Grundlage alles Pathologischen. Dabei wird die
Frage diskutiert, wie weit diese Abnormitäten auf
veranlassende Außenbedingungen zurückgeführt wer-
den können.
So kommt es schließlich zum endgültigen Sieg
Die botanischen Arbeiten II. 101
von Goethes Ideen. Die führenden Botaniker der
damaligen Zeit ericennen ihn rückhaltlos an. Mit
Alexander v. Humboldt werden Gedanken und
Werke ausgetauscht. Der damals höchst geschätzte
Nees van Esenbeck in Bonn, Präsident der Leopol-
dinisch-karolinischen Akademie der Naturforscher,
dem man heute wegen zahlreicher naturphiloso-
phischer Verirrungen keine so hervorragende Stel-
lung mehr einräumt, steht in engstem brieflichen
Verkehr mit Weimar, und ebenso ist der Münchner
Botaniker v. Martins mit Goethe in wissenschaft-
lichem Briefwechsel und persönlichem Gedanken-
austausch. Kurz vor Goethes Tode legt dann
Geoffroy St. Hilaire der französischen Akademie eine
von Soret gefertigte Übersetzung der Pflanzenmeta-
morphose vor und setzt in schönen Worten die
grundlegende Bedeutung dieses Werkes an der da-
maligen wissenschaftlichen Zentralstelle auseinander.
Nur ein Irrtum liege der Abhandlung zugrunde, daß
sie fast ein halbes Jahrhundert zu früh erschienen
sei, ehe es noch Botaniker gab, die sie zu studieren
und verstehen fähig waren.
Im Auslande fielen Goethes Ideen überhaupt
auf fruchtbaren Boden. Jussieu, de Candolle, Robert
Brown entwickelten zum Teil ganz ähnliche Vorstel-
lungen. Die deutschen Botaniker ergaben sich da-
gegen vielfach naturphilosophischen Spekulationen.
Als nun Schieiden, Sachs und andere mit diesen
102 Vierte Vorlesung.
Lehren gründlich aufräumten, ziehen sie auch Goethe
solcher Verirrungen und machten ihn für die Fehler
seiner Nachfolger verantwortlich. Erst in der letzten
Zeit dringt auch in den Kreisen der Botaniker die
volle Würdigung von Goethes wissenschaftlicher
Leistung immer mehr durch.
Goethe selbst hat in den späteren Jahren seines
Lebens nur noch kleinere botanische Aufsätze ver-
faßt Er schrieb Recensionen über Humboldts Ideen
zu einer Physiognomie der Gewächse, über eine
graphische Darstellung der Verteilung organischen
Lebens in der Natur vonWilbrand und Ritgen u.a. Er
veröffentlichte einen Aufsatz über den hamburgischen
Rektor Joachim Jungius, 1587 — 1657, der nicht, wie
behauptet wurde, die Metamorphose entdeckt hat,
sondern vielmehr ein Vorläufer Linn^s gewesen ist
Er übersetzte einige wichtige Stellen aus dem Werke
des berühmten de Candolle: „Von dem Gesetzlichen
der Pflanzenbildung", und schrieb einen Aufsatz über
den Weinbau, in dem er, im Anschluß an ein Buch
von Kecht, den Knoten des Weinstockes mit Blatt,
Blüte, Traube und Ranke vom Standpunkt seiner
Metamorphose aus betrachtet
Die letzte botanische Schrift Goethes ist die
viel umstrittene Abhandlung über die Spiraltcndenz
der Vegetation, welche er 1829 — 31 verfaßt hat
Damals hatten der Botaniker Schimper und weiter
v. Martius in München und dessen Schüler Alexander
Die botanischen Arbeiten II. 103
Braun eine Reihe von Arbeiten veröffentlicht, in
denen einfache Gesetze über die Blattstellung der
Pflanze aufgestellt wurden. Man fand, daß bei ein-
zelnen Pflanzen die Blätter in spiraliger Anordnung
um den Stamm oder Stengel gestellt sind, gerade
so wie auch die Schuppen eines Tannzapfens eine
durchaus regelmäßige Spirale zeigen. Auch die
Stellung der Blütenblätter zeigt ähnliche Gesetz-
mäßigkeiten, und besonders Alexander Braun machte
den Versuch, diese Anordnungen auf eine Reihe ganz
einfacher mathematischer Gesetze zurückzuführen.
Darüber hatte Martins auf den Versammlungen
deutscher Naturforscher und Ärzte vom Jahre 1828
und 1829 berichtet, und Goethe griff diese Vorstel-
lungen auf, um sie mit seiner Metamorphosenlehre
in Verbindung zu bringen. Hatte er selbst die ein-
heitliche Auffassung aller Seitenorgane der Pflanze
angebahnt, so schien ihm jetzt die Möglichkeit ge-
geben, die Verteilung dieser Seitenorgane an und
um die Pflanze ebenfalls auf eine einfache Regel
zu reduzieren. Er leitet daher die genannten Er-
scheinungen alle ab von einer Spiraltendenz, die
im Pflanzenreich verbreitet sein soll, und der die
Vertikaltendenz des senkrecht in die Höhe wachsen-
den Stammes gegenübergestellt wird. Um nun die
allgemeine Gültigkeit dieser Spiraltendenz zu er-
weisen, wird eine Reihe von Vorgängen herangezogen,
welche offenbar tatsächlich gar nichts miteinander
104 Vierte Vorlesung.
gemein haben: die Stellung der Blätter um die
Achse, das Winden des Hopfens und anderer
Pflanzen um die Stange, das Herumschlingen von
Ranken um feste Gegenstände, die Anordnung der
Spiralgefäße und noch manches andere. Goethe
ist hier offenbar viel zu weit gegangen und hat
heterogene Dinge zueinander in Beziehung gesetzt.
Der alte, kurz vor seinem Tode stehende Dichter
hatte nicht mehr die Zeit gefunden, seine Theorien
durch ausgedehnte eigene Beobachtungen und Ver-
suche zu prüfen.
Damit schließen wir unsere Betrachtung von
Goethes botanischen Studien. Wir haben durch
die eingehende Bekanntschaft mit seinem Forschen
und Denken über das Pflanzenwachstum schon
ein gutes Teil von der Persönlichkeit des Natur-
forschers erfahren. Wir haben seine Gründlichkeit,
seinen Ernst, die umfassende Breite seiner Ver-
allgemeinerung und manche seiner grundlegenden
Vorstellungen kennen gelernt, auf denen sich seine
Auffassung des Naturganzen aufbaut. Aufgabe der
ferneren Betrachtung wird es sein, dieses Bild bei
der Besprechung der anderen Forschungsgebiete zu
vervollständigen, bis uns schließlich ein volles Ver-
ständnis für Goethes wissenschaftliche Denkweise
möglich sein wird.
Fünfte Vorlesung.
Die osteologischen und vergleichend anatomischen
Arbeiten I.
Meine Herren! Wir wenden uns jetzt zur Be-
sprechung von Goethes anatomischen und ver-
gleichend anatomischen Studien. In einer der letzten
Vorlesungen haben wir schon gehört, wie Goethe an-
fing, sich mit Anatomie zu beschäftigen, wie er auf
der Universität bei Lobstein in Straßburg hörte, wie
er durch Bekanntschaft mit Lavater und durch seine
Teilnahme an den physiognomischen Fragmenten
auf die Schädellehre und deren Bedeutung für die
Physiognomik hingewiesen wurde, wie er in den
Fragmenten schon eine Reihe von Tierschädeln
kommentierte, wie er diese Anregung in seiner
Korrespondenz mit Merck vertiefte und wie er dann
bei Loder in Jena seine Kenntnis der menschlichen
Anatomie in kurzer Zeit so weit auffrischte und er-
weiterte, daß er in Weimar Vorträge für Kunst-
schüler halten konnte. Von 1781 an werden nun
diese anatomischen Beschäftigungen, welche sich
damals überwiegend auf die Knochenlehre, die
Osteologie, beschränken, mit Loder eifrigst fort-
106 Fünfte Vorlesung.
gesetzt Er studiert und zeichnet besonders Schädel
der allerverschiedensten Tiere. Viele Jahre später
hat Goethe über diese Studien angegeben, daß er
schon damals auf einen allgemeinen Typus hin-
gearbeitet habe; so schreibt er in den Annalen:
„Ich war völlig überzeugt, ein allgemeiner durch
Metamorphose sich erhebender Typus gehe durch
die sämtlichen organischen Geschöpfe durch, lasse
sich in allen seinen Teilen auf gewissen mittleren
Stufen gar wohl beachten und müsse auch noch da
anerkannt werden, wenn er sich auf der höchsten
Stufe der Menschheit ins Verborgene bescheiden
zurückzieht." Diese Angabe ist jedoch nur „cum
grano salis** zu nehmen. Goethe hat tatsächlich
in diesen Jahren immer mehr die Vorstellung in sich
befestigt, daß der Mensch und die Säugetiere in
ihrem Aufbau einander im Prinzip ähnlich seien. Die
Idee der Metamorphose hat er jedoch erst in
Italien gewonnen, ihre Anwendung auf die ver-
gleichende Anatomie und die Entwicklung der Lehre
vom Typus läßt sich erst nach der Rückkehr nach
Deutschland nachweisen und erfährt ihre erste Aus-
gestaltung in den Schriften seit 1790. Bei seinen
Studien zur Schädellehre gelang es nun Goethe im
März 1784, den Fund zu tun, der für sein ganzes
wissenschaftliches Arbeiten und Denken entscheidend
werden sollte. Er berichtet darüber an Herder:
„Nach Anleitung des Evangelii muß ich Dich auf
Osteologische und veigleichend anatomische Arbeiten I. 107
das eiligste mit einem Glück bekannt machen, das
mir zugestoßen ist. Ich habe gefunden — weder
Gold noch Silber, aber was mir unsägliche Freude
macht, das Os intermaxillare beim Menschen. Ich
verglich mit Lodern Menschen- und Tierschädel,
kam auf die Spur, und siehe da ist es ... . es ist
wie der Schlußstein, fehlt nicht, ist auch da! Aber
wie! Ich habe mir's auch in Verbindung mit Deinem
Ganzen gedacht, wie schön es da ist!" Der
Zwischenkiefer, os intermaxillare, ist ein Knochen,
der in den Oberkiefer eingelassen ist, und die
Schneidezähne trägt. Er war damals bei der größten
Mehrzahl der Säugetiere nachgewiesen und anerkannt,
wurde von dem berühmtesten Anatomen der dama-
ligen Zeit, dem Holländer Camper und von Blumen-
bach in Göttingen auch dem Affen zugeschrieben,
dagegen sein Vorkommen beim Menschen geleugnet.
Es sollte gerade das Fehlen dieses Knochens das
charakteristische Unterscheidungsmerkmal zwischen
Mensch und Affe abgeben. Diese Vorstellung er-
schien Goethe schon von vorne herein unwahr-
scheinlich. Er konnte nicht glauben, daß der Mensch
in einem einzigen wichtigen Punkt so von der Bau-
art der Säugetiere abwich. Entscheidend war die
Überlegung, daß der Mensch doch Schneidezähne
besitze, während ihm der Knochen fehlen sollte, der
diese Zähne trägt.
Nachdem Goethe seinen Fund gemacht hatte.
108 Fünfte Vorlesung,
begnügte er sich nicht mit der Registrierung dieser
Tatsache, sondern ging sofort daran, ihn auf das
breiteste wissenschaftliche Fundament zu gründen.
Zu diesem Zwecice machte er, und darin liegt das
Bahnbrechende seiner Arbeit, in ausgedehntestem
Maße von der vergleichenden Methode Gebrauch.
Er verfolgte Lage und Form des Zwischenkiefers
bei allen Tierschädeln, die er erreichen konnte.
Selbst Sömmering in Kassel mußte ihm Schädel
schicken, darunter den eines jungen indischen Ele-
fanten, nach welchem genaue Zeichnungen gefertigt
wurden (S. u. Fig. 5).
So entstand Goethes erste wissenschaftliche Ab-
handlung: „Versuch aus der vergleichenden Knochen-
lehre, daß der Zwischenknochen der oberen Kinn-
lade dem Menschen mit den übrigen Tieren gemein
sei — Jena 1784." Die Bedeutung dieser Abhand-
lung geht weit darüber hinaus, daß in ihr der
Zwischenknochen beim Menschen nachgewiesen
und dadurch der vermeintliche Unterschied in der
Bauart des Menschen und der Säugetiere beseitigt
wird. Wir haben in ihr vielmehr zugleich die erste
eigentliche vergleichend anatomische Abhandlung
zu sehen, die geschrieben worden ist, und somit
bildet sie einen Markstein in der Geschichte dieser
Wissenschaft. Im allgemeinen wird Cuvier als der
Begründer der vergleichenden Anatomie angesehen,
und das mit vollem Recht, denn er vor allen hat in
Osteologische und vergleichend anatomische Arbeiten I. 109
seinem langen arbeitsreichen Leben die ganze riesige
Masse der Grundtatsachen dieser Wissenschaft fest-
gelegt. Als aber Goethe seine Arbeit über den
Zwischenknochen vollendete, war Cuvier, der, in
Mömpelgart geboren, auf der Karlsschule bei Stutt-
gart studierte, erst 15 Jahre alt, und hat erst später
die Anregungen, die er auf der Karlsschule von
seinem Lehrer Kielmeier empfing, in so großartiger
Weise zu seinen zoologischen Studien in Paris ver-
wendet.
Wir wollen nun den Inhalt von Goethes Schrift
in aller Kürze kennen lernen. Der Autor geht aus
von der Beschreibung des Zwischenknochens beim
Pferd, wo er besonders gut ausgebildet ist und
leicht erkannt werden kann. Im Anschluß hieran
wird dann eine ausführliche lateinische Terminologie
des Knochens gegeben, welche im wesentlichen von
Loder entworfen worden ist. Jede Kante, jede
Fläche, jede Öffnung im Knochen erhält ihren Namen,
so daß es möglich ist, bei vergleichender Betrach-
tung der verschiedensten Tiere sich sofort an diesem
Knochen zu orientieren. Die folgende Darstellung
schließt sich dann ganz eng an die beigegebenen
Abbildungen an. In der ursprünglichen Arbeit waren
von Waiz gezeichnete Abbildungen vom Pferd,
Ochsen, Fuchs, Löwen, dem jungen Walroß, Affen
und Menschen beigegeben. Später sind dann noch
Stiche nach dem Schädel des Rehs, Kamels, des auf
110 Fünfte Vorlesung.
Celebes lebenden Schweines Babirussa, des Eis-
bären, Wolfs und erwachsenen Walrosses beigefügt
worden. Goethe weist nun auf die Formänderungen
hin, die der Knochen bei diesen verschiedenen
Säugetieren erleidet. Bei den Wiederkäuern, die das
Gras abraufen, fehlen die oberen Schneidezähne und
der Knochen bildet vorn eine flache Platte, gegen
die die Zähne des Unterkiefers sich legen; bei den
Raubtieren, welche zur Nahrungsaufnahme von ihren
Schneidezähnen kräftig Gebrauch machen, ist der
Zwischenknochen stark entwickelt und an der Vor-
derseite des Gesichts gut entfaltet. Den Weg zum
Menschen gewinnt nun Goethe durch die Betrach-
tung des jungen Walroßschädels. Bei diesem Tier
ist das OS intermaxillare in den Oberkiefer fast genau
in der gleichen Weise eingelassen wie beim Men-
schen, nur daß es noch nicht mit dem Oberkiefer-
knochen verwachsen ist. Die Gegenüberstellung des
senkrecht durchschnittenen Oberkiefers vom Walroß
und vom Menschen dient zur anschaulichen Illustrie-
rung der Verhältnisse bei letzterem. In dem ur-
sprünglichen Manuskript sind dabei diezum Zwischen-
kiefer gehörigen Knochenteile der größeren Deut-
lichkeit halber durch rote Färbung hervorgehoben.
Goethe zeigt nun, daß ein kleiner Kanal, der den
knöchernen Gaumen in der Mitte durchbohrt und
durch den Gefäße und Nerven hindurchtreten, auch
beim Menschen die Grenze zwischen Oberkiefer und
AbbilduHK des menschlichen Oberkieferknochens
von innen. Aus Goethe, Über den Zwischcn-
klefer des Menschen und der Tiere. Vcrh. der
K. Lcopold.-Karol. Akademie der Naturforscher
Bd. 15. ItUI.
Osteologische und vergleichend anatomische Arbeiten I. 1 1 1
Zwischenkiefer abgibt. (Fig. 4*) zeigt die rechte
Hälfte des menschlichen Oberkiefers von innen ge-
sehen. A ist der Zwischenkiefer, dessen hintere
Grenze durch den erwähnten Kanal gebildet wird.
Die Schneidezähne fehlen.) In vielen Fällen sieht
man von der unteren Öffnung dieses Kanals eine
feine Naht verlaufen, welche zwischen dem Eckzahn
und dem äußeren Schneidezahn endet. Dagegen
läßt sich an der Außenseite des Oberkiefers die
Grenze nicht mehr feststellen. Hier findet in nor-
malen Fällen schon in sehr frühen embryonalen
Stadien die völlige Verwachsung statt, und Goethe
nimmt an, daß der Grund hierfür darin zu suchen
sei, daß die auf engem Raum entstehenden kräftigen
Zahnbildungen nur auf diese Weise sicher zusammen
gefaßt werden können. So findet er die Grenzen
des Zwischenknochens auf der Unter- und Hinter-
seite desselben und zeigt durch den Vergleich mit
dem Walroß, daß es sich hier tatsächlich um das-
selbe Gebilde handeln müsse. Daß der Knochen
an der Vorderseite verwächst, ist nichts mit seiner
Sonderstellung Unvereinbares, weil auch bei Tieren
gelegentlich Verwachsungen vorkommen. Der Schä-
del des Kasseler Elefanten (Fig. 5) zeigte den
^) In der Weimarer Goethe-Ausgabe sind die Abbildungen
zur Zwischenkieferabhandlung in verkleinertem Maßstabe
wiedergegeben. Am menschlichen Oberkiefer sind die wich-
tigsten Details dabei unkenntlich geworden. Es ist deshalb
diese Figur hier in Originalgröße noch einmal abgedruckt.
112 Fünfte Voriesung.
Zwischenkiefer auf der einen Seite frei, auf der
anderen verwachsen. Goethe begnügt sich aber
nicht damit, seinen Knochen durch die Säugetier-
reihe zu verfolgen, sondern führt weiter an, daß er
ihn auch bei Fischen, Amphibien, bei der Schild-
kröte und den Vögeln habe nachweisen können.
Durch die ganze Reihe der Wirbeltiere hindurch ist
er also, wenn auch in verschiedenster Ausbildung,
vorhanden. „Welch eine Kluft zwischen dem os
intermaxillare der Schildkröte und des Elefanten!
Und doch läßt sich eine Reihe von Formen da-
zwischen stellen, die beide verbindet." Durch den
Nachweis, daß der Zwischenknochen allen Säuge-
tieren zukommt, gelangt Goethe auch zu einer bes-
seren Definition der Schneidezähne. Obere Schneide-
zähne sind eben diejenigen, welche im Zwischen-
knochen sitzen. Dadurch kommt er dazu, auch dem
Kamel und dem Walroß Schneidezähne zuzuschreiben,
die bisher geleugnet worden waren. Schließlich
wird dann noch darauf hingewiesen, daß die Aus-
bildung dieses Knochens für die Nahrungsaufnahme
entscheidend ist, und daß auf diese Weise ein naher
Zusammenhang zwischen seiner Form und seiner
Funktion sich erkennen lasse.
Das ist der Inhalt von Goethes erster wissen-
schaftlicher Arbeit Sie wurde sauber geschrieben,
eine lateinische Obersetzung aus Loders Feder bei-
gefügt, und dann wurde sie zusammen mit den
Fig. 5.
Schädel des jungen Kasseler Elefanten von vorne. Aus Goethe, Zur ver-
gleichenden Osteologie (mit Zusätzen und Bemerkungen von Dr. Ed. d'Alton).
Verhandl. der K. Leopold.-Karol. Akademie der Naturforscher Bd. 12. 1824.
Osteologische und vergleichend anatomische Arbeiten I. 113
Zeichnungen am 19. Dez. 1784 an Merck nach
Darmstadt geschickt. Dieser sandte sie nach Cassel
zu Sömmering und von da ging sie zu Camper nach
Stavoren in Holland, wo sie aber erst nach ^4 Jahren
eintraf. Das Manuskript und die Tafeln blieben nach
Campers Tode in Holland und gelangten von dort
erst 1894 durch Schenkung ins Goethearchiv zurück.
Sömmering war keineswegs von der Richtigkeit von
Goethes Ansicht zu überzeugen. Dieser berichtet
an Merck: „Von Sömmering habe ich einen sehr
leichten Brief; er will mir gar ausreden, ohe!" Sehr
viel ernster nahm Camper die Angelegenheit. Er
prüfte das Behauptete sofort sorgfältig nach, er-
kannte, wie er an Merck berichtete, die Anwesenheit
des Knochens beim Walroß, wo er noch nicht be-
kannt war, rückhaltlos an, erklärte aber nach wie
vor, beim Menschen sei kein Zwischenknochen vor-
handen. Goethe hat damals schwer unter diesen
Enttäuschungen gelitten. Es ist dies der Grund,
weshalb er lange Jahre nichts Anatomisches wieder
publiziert hat und die Abhandlung über den Zwischen-
knochen auch zunächst nicht drucken ließ. Es war
die erste derartige Erfahrung, die Goethe noch so
oft machen sollte. Später schreibt er hierüber: „Nun
zeugt es freilich von einer besonderen Unbekannt-
schaft mit der Welt, von einem jugendlichen Selbst-
sinn, wenn ein laienhafter Schüler den Gildemeistern
zu widersprechen wagt, ja was noch thöriger ist, sie
Magnus, Goethe als Naturforscher. 8
114 Fünfte Vorlesung.
zu überzeugen gedenkt. Fortgesetzte vieljährige Ver-
suche haben mich eines andern belehrt, mich belehrt:
daß immerfort wiederholte Phrasen sich zuletzt zur
Überzeugung verknöchern und die Organe des An-
schauens völlig verstumpfen. Indessen ist es heil-
sam, daß man dergleichen nicht allzu zeitig erfährt,
weil sonst jugendlicher Frei- und Wahrheitssinn durch
Mißmut gelähmt würde."
Trotzdem konnten sich aber auch die Fach-
gelehrten dem schließlichen Durchdringen der Goethe-
schen Anschauungen nicht entgegenstellen. Daß
Loder den Befund im Jahre 1788 in sein anatomi-
sches Handbuch aufnahm, ist selbstverständlich.
Aber auch Sömmering erwähnte das Vorhandensein
des Zwischenkiefers 1791 in seinem Buch vom
Bau des Menschen. Blumenbach stemmte sich viel
länger gegen Goethes Entdeckung. Erst nachdem
er selbst in einigen abnormen Fällen sich von dem
isolierten Vorkommen des os intermaxillare auch
beim Menschen überzeugt hatte, bekannte er sich
zu Goethes Anschauung. Er hatte bei einem wasser-
köpfigen Kind den Zwischenkiefer gesondert ge-
funden, studierte dann besonders die Fälle von
doppelseitiger Hasenscharte und Wolfsrachen, bei
denen der Zwischenkiefer nicht mit dem Oberkiefer
verwächst und durch breite Spalten, welche zwischen
Eckzahn und seitlichem Schneidezahn hindurch-
gehen, vom Oberkiefer getrennt bleibt. Besonders
Osteologische und vergleichend anatomische Arbeiten I. 115
instruktiv war ihm ein von Langenbeck operierter
Athlet, bei welchem der Zwischenkiefer stark aus
dem Gesicht heraustrat. Blumenbach schickte Zeich-
nungen dieses Mannes vor und nach der Operation
als interessanten Beitrag zur Zwischenknochenfrage
an Goethe. So konnte schließlich an der Richtig-
keit des Befundes ein Zweifel nicht mehr obwalten.
In den zwei nachfolgenden Jahren hat Goethe
seine Zwischenkieferstudien noch fortgesetzt und
genaue Beschreibungen dieses Knochens bei den
verschiedensten Säugetieren aufgezeichnet. Besonders
der Casseler Elefant wurde noch eingehend unter-
sucht. Dabei fand sich, daß der Eckzahn (Stoß-
zahn), welcher scheinbar im Zwischenknochen sitzt,
in Wirklichkeit, wie es der osteologischen Regel
entspricht, dem Oberkiefer angehört, denn eine feine
Knochenlamelle schlingt sich von diesem um die
Wurzel des Stoßzahnes herum.
Goethe hat, wie wir gehört haben, seine Abhand-
lung zunächst nicht veröffentlicht. Das Resultat
wurde hauptsächlich durch die Citate in Loders und
Sömmerings Werken der ganzen Welt bekannt. Ge-
druckt wurde die Schrift erst 1820, als Goethe sie
in erweiterter Form in seinen Heften zur Morpho-
logie erscheinen ließ. Doch war auch diese Publi-
kation unvollständig, da die Abbildungen fehlten.
Diese erschienen erst sehr viel später in den Ver-
handlungen der Kaiserl. Leopoldinisch-Carolinischen
8*
116 Fünfte Vorlesung.
Akademie der Naturforscher. Im Jahre 1824 ließ
Goethe dort die vier Abbildungen vom Schädel des
jungen Casseler indischen Elefanten ^) und gleichzeitig
zwei Schädelbilder eines erwachsenen afrikanischen
Elefanten aus der Jenaer Sammlung abdrucken;
d'Alton schrieb den begleitenden Text hierzu. Erst
1831 wurde dann die Zwischenkieferabhandlung mit
den dazu gehörigen Figuren im 15. Band dieser
Zeitschrift veröffentlicht. Jetzt sind die Abbildungen
mit Ausnahme der Elefantenschädel in der Wei-
marer Ausgabe in verkleinerter Form reproduziert.
Auch in der Folgezeit, vor und nach der italie-
nischen Reise hören wir von fortgesetzten Einzel-
untersuchungen Goethes. Er studierte unter anderm
die Anatomie der Halswirbel durch die Säugetier-
reihe von den einfachsten und gedrungensten Bil-
dungen beim Walfisch, wo sie zu einem einzigen
Knochen verwachsen, bis zu ihrer mächtigsten Ent-
faltung im Halse der Giraffe. Um nun bei diesen
und ähnlichen Studien die Resultate stets übersicht-
lich zur Hand zu haben, legte er sich eine Tabelle
an, für die mehrfache Entwürfe erhalten sind. Die
Anordnung war derart, daß er vertikal untereinander
die verschiedenen Knochen vom Schädel und den
Halswirbeln herunter bis zu den Schwanzwirbeln
und den Extremitätenknochen der Reihe nach schrieb
*) Die erste dieser Abbildungen ist oben S. 111 als Fig. 5
wieder abgedruckt.
Osteologische und vergleichend anatomische Arbeiten I. 117
und horizontal die Namen der verschiedenen von
ihm studierten Tiere (Löwe, Biber, Dromedar, Büffel,
Bär, Schwein, Elend) anordnete. Dann fügte er
seine Einzelbefunde jedesmal an der richtigen Stelle
ein. So war ihm die Übersicht über den Knochen-
bau der Säugetiere außerordentlich erleichtert. In
jeder Horizontalreihe fand sich die Form irgend eines
Knochens, z. B. des Zwischenkiefers, des 7. Hals-
wirbels oder des Oberschenkelknochens durch die
ganze Säugetierreihe hindurch mit allen ihren Ab-
wandlungen angegeben (vergleichend anatomische
Betrachtung), in jeder Vertikalreihe fanden sich alle
Knochen ein und desselben Tieres, so daß man
z. B. die Formänderung der Wirbel an der Wirbel-
säule des Büffels mit einem Blick übersehen konnte
(simultane Metamorphose). Diese systematischen
Untersuchungen wurden höchst wahrscheinlich im
Anschluß an die Idee der Pflanzenmetamorphose
ausgeführt. Sie bilden die Vorarbeiten für die
seit 1790 verfaßten vergleichend anatomischen
Schriften.
Bevor wir jedoch zur Besprechung dieser Arbeiten
übergehen, müssen wir noch eines Forschungsergeb-
nisses gedenken, zu dem Goethe in diesen Jahren
im Anschluß an seine Studien über die Wirbelsäule
gelangte. Ebenso wie er auf botanischem Gebiete
die komplizierten und zusammengedrängten Formen
von Blüte und Frucht auf die einfacheren Metameren,
118 Fünfte Vorlesung.
die Blätter, zurückführen konnte, so gewann er bei
Betrachtung des kompliziert gebauten und zusammen-
gedrängten Schädels die Anschauung, daß derselbe,
da er die Fortsetzung der Wirbelsäule nach vorne
bildet und, wie diese das Rückenmark, so das
mächtig ausgebildete Gehirn umschließt, auch ent-
sprechend der Wirbelsäule aus metamorphosierten
Wirbeln zusammengesetzt sei. Es hatte sich in ihm
allmählich die Überzeugung befestigt, daß man in
dem hinteren Teil des Schädels, wo er sich an die
Wirbelsäule anschließt, zunächst drei solcher Wirbel
unterscheiden könne: das Hinterhauptsbein, das hin-
tere und das vordere Keilbein. Als er dann im
Jahre 1790 auf den Dünen des Lido, welche die
venezianischen Lagunen von dem Adriatischen Meer
sondern, sich oftmals erging, fand er einen so glück-
lich geborstenen Schafschädel, bei dessen Betrach-
tung ihm intuitiv durch einfache Anschauung die
Erkenntnis aufging, daß noch drei weitere Wirbel
im Schädel enthalten seien, das Gaumenbein, der
Oberkiefer und der Zwischenknochen. Er konnte
gleichzeitig an diesem Schöpsenschädel besonders
deutlich erkennen, wie die charakteristische Gestalts-
änderung dieser metamorphosierten Wirbelmassen
durch die am Kopf zu so mächtiger Entwicklung
gelangten höheren Sinneswerkzeuge, die Organe
des Gesichts, Gehörs und Geruchs beeinflußt
wird. Es befestigte sich damit zugleich sein alter
Osteologische und vergleichend anatomische Arbeiten I. 119
durch Erfahrung bestärkter Glauben, „welcher sich
fest darauf begründet, daß die Natur kein Geheim-
nis habe, was sie nicht irgendwo dem aufmerk-
samen Beobachter nackt vor Augen stellt". Das ist
die berühmte Wirbeltheorie des Schädels, nach
welcher also dieser Skeletteil ursprünglich ebenso
wie die Wirbelsäule aus Metameren zusammen-
gesetzt sein soll; und zwar glaubte Goethe sechs
metamorphosierte Wirbel im Schädel erkennen zu
können.
Trotzdem er in den folgenden Jahren die ver-
gleichende Anatomie der Schädelknochen beson-
ders bearbeitete, hat er die Wirbeltheorie des
Schädels zunächst nicht weiter gefördert und ließ
sie schließlich liegen, weil ihre Durchführung im
einzelnen sehr erhebliche Schwierigkeiten bot. Als
nun im Jahre 1807 der Anatom Oken von Göttingen
nach Jena berufen wurde, entwickelte er in seiner
akademischen Antrittsrede ebenfalls eine Theorie
des Schädels, welche der Goetheschen außerordent-
lich nahe kam. Es war der Vortrag aber derartig
mit naturphilosophischen Spekulationen gewürzt,
daß Goethe später das Okensche Programm als
tumultuarisch und vollständig unreif bezeichnen
konnte. Oken hat diesen Vortrag an Goethe geschickt,
beiden Männer haben sogar mündlich darüber ver-
handelt. Aber auch jetzt veröffentlichte Goethe
nichts über seine Wirbeltheorie. Erst als er 1817
120
Fünfte Vorlesung.
bis 1820 seine morphologischen Hefte herausgab, er-
wähnte er ganz kurz seine 20 Jahre zurückliegenden
Ideen. In der Folge kam er noch gelegentlich darauf
zurück. Es entwickelte sich daraus eine Art von
Polemik, die aber erst nach Goethes Tode gehässige
Formen annahm. Schelling zieh Oken direkt des
Plagiats und dieser wies in seiner Antwort nicht nur
eine solche Unterstellung zurück, sondern beschul-
digte seinerseits wieder Goethe, daß er die Wirbel-
theorie von ihm entlehnt habe. Heute kann über
den Tatbesland ein Zweifel nicht mehr obwalten.
Goethe hat, wie aus gleichzeitigen Briefen an seine
Freunde hervorgeht, im Jahre 1790 die Wirbeltheorie
des Schädels konzipiert. Ihm gebührt daher die
Priorität. Es ist aber auch Oken völlig selbständig
zu dieser Anschauung gelangt und ihm gebührt das
Verdienst, sie zuerst in wissenschaftlicher Form
publiziert zu haben.
Die Wirbeltheorie des Schädels hat sich in der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als eine Arbeits-
hypothese von allerhöchstem Wert erwiesen. Fast
alle die zahlreichen Forschungen, welche über die
Anatomie des Kopfes ausgeführt wurden, gingen
von dieser Theorie aus oder suchten sie zu wider-
legen. Schon 1824 konnte Carus an Goethe ein
vollständiges Schema dazu übersenden. Die letzte
eingehende Begründung lieferte 1847 Richard Owen.
Es muß hier aber daran erinnert werden, daß Goethe
Osteologische und vergleichend anatomische Arbeiten I. 121
selbst in späteren Jahren sich sehr vorsichtig über
diese seine Schädeltheorie ausgesprochen hat. Er
fand sie schon 1820 sehr schwierig und nicht im
einzelnen durchzuführen: „Im Ganzen läßt sich's
aussprechen, aber nicht beweisen, im Einzelnen läßt
sich's wohl vorzeigen, doch bringt man es nicht
rund und fertig." Diese Skepsis hat sich in der
Folgezeit als berechtigt erwiesen. 1858 wurde
die Theorie von Huxley aufs schärfte bekämpft
und es ist heute ein Zweifel nicht mehr möglich,
daß sie in der von Goethe aufgestellten Form in
keiner Weise haltbar ist. Die Verhältnisse des
Schädelbaues liegen so kompliziert, daß man an
ihm eine ursprüngliche Gliederung in einzelne Wirbel
nicht mehr nachweisen kann. Dagegen scheint
allerdings der Goethesche Grundgedanke, daß man
nämlich den Kopf als aus einzelnen Metameren
zusammengesetzt sich vorstellen könne, zu Recht
zu bestehen. Gegenbaurs Segmenttheorie des Schä-
dels ist der erste Versuch, diese Anschauung ver-
gleichend anatomisch zu begründen, und es scheint,
als ob man sowohl an der Muskulatur wie am
Nervensystem des Kopfes noch Reste einer ur-
sprünglichen Gliederung erkennen könne. Speziell
bei niedern Fischen läßt sich dieses nachweisen.
Doch wird über all diese Dinge bis auf die
neueste Zeit unter den Anatomen noch lebhaft po-
lemisiert.
122
Fünfte Vorlesung.
Dieser kurze Exkurs sollte zeigen, daß die
Goethesche Wirbeltheorie des Schädels, wenn sie
sich auch in den Einzelheiten, wie ihr Schöpfer
selber erkannte, nicht hat durchführen lassen, doch
die Forschung tiber die Anatomie des Schädels und
des Kopfes in vielfältiger Weise beeinflußt und be-
fruchtet hat, und daß die grundlegende Auffassung,
welche in ihr enthalten ist, auch heute noch wissen-
schaftliche Gültigkeit besitzt.
Damit verlassen wir dieses spezielle Gebiet und
wenden uns nun wieder Goethes allgemeineren ver-
gleichend anatomischen Arbeiten zu.
In ihnen überträgt er die Fortschritte der Er-
kenntnis, die er bei der Ausbildung der Lehre von
der Pflanzenmetamorphose gemacht hat, auf das Stu-
dium der tierischen Form, und in demselben Jahre
1790, in welchem er seine botanische Abhandlung
veröffentlicht, entwirft er im schlesischen Lager,
inmitten des militärischen Trubels, wohin er seinen
Herzog begleitete, den „Versuch über die Ge-
stalt der Tiere", der nur ein Fragment geblieben
ist, aber trotzdem den großen Fortschritt erkennen
läßt, den Goethes morphologische Anschauungen
in den letzten Jahren gemacht haben. Er beschränkt
sich in diesem Aufsatz auf das Studium des Säuge-
tierskeletts, dessen vergleichende Anatomie darin
begründet wird. Er geht davon aus, daß die Ske-
lette der Säugetiere und auch das des Menschen
Osteologische und vergleichend anatomische Arbeiten I. 123
sehr große Ähnlichkeiten miteinander zeigen. Wenn
man aber mit Erfolg Vergleichungen vornehmen
will, so muß zunächst eine einheitliche Nomen-
klatur geschaffen werden und es dürfen nicht mehr,
wie es vielfach geschieht, ganz verschiedene Ske-
letteile mit gleichen Namen belegt werden. Man
darf z. B. nicht das Gelenk zwischen Vorderarm und
Handwurzel beim Pferd als Kniegelenk bezeichnen.
Wenn man nun eine einheitliche Nomenklatur be-
sitzt, auf Grund deren man die vergleichende
Methode anwenden will, so fragt sich's, was denn
als tertium comparationis benutzt werden soll.
Goethe spricht in diesem Aufsatz die Ansicht aus,
daß man dazu nicht irgend ein willkürlich gewähltes,
ein in der Natur vorkommendes Säugetierskelett
nehmen dürfe, sondern daß man ein möglichst ein-
faches Schema des Knochengerüsts der Säugetiere
ausbilden müsse, auf das sich alle in der Natur
vorkommenden Formen zwanglos zurückführen lassen.
Ein solches Schema nennt Goethe den Typus. Wir
sehen ihn also hier dieselben Überlegungen an-
stellen, wie beim Studium der Pflanzenform, wo er
auch nicht eine in der Natur vorkommende, son-
dern eine schematische Urpflanze seinen Betrach-
tungen zugrunde legt. Es soll also ein osteolo-
gischer Typus konstruiert werden, eine Aufgabe, die
natürlich nicht leicht zu lösen ist. Goethe selbst
spricht von der großen „Schwierigkeit, den Typus
124
Fünfte Vorlesung.
einer ganzen Klasse im Allgemeinen festzusetzen, so
daß er auf jedes Geschlecht und jede Species paßt;
da die Natur eben nur dadurch ihre genera und
Spezies hervorbringen kann, weil der Typus, welcher
ihr von der ewigen Notwendigi<eit vorgeschrieben
ist, ein solcher Proteus ist, daß er einem schärfsten
vergleichenden Sinne entwischt und kaum teilweise
und doch nur immer gleichsam in Widersprüchen ge-
hascht werden kann." Die Konstruktion des Typus
ist aber trotzdem durchführbar, weil eben alle
Säugetiere tatsächlich nach einem einheitlichen
Schema gebaut sind. Goethe selbst hatte ja früher
nachgewiesen, daß der Zwischenkiefer entgegen der
herrschenden Lehre auch beim Walroß und beim
Menschen vorhanden ist. Er macht jetzt darauf
aufmerksam, daß auch Tränen- und Nasenbein sich
beim Elefanten, wo man sie vermißt hatte, auffinden
lassen, und führt einige scheinbare Ausnahmen von
dem gemeinsamen Bauplan der Säugetiere auf ihre
wahre Bedeutung zurück. Hat man nun nach diesen
Gesichtspunkten einen Typus konstruiert, so ist
durch Vergleichung in jedem einzelnen Fall zu er-
mitteln, welche Veränderungen irgend ein beliebiges
Säugetierskelett gegenüber dem Typus aufweist.
Mit Beispielen für diese allgemeinen Erörterungen
bricht das Fragment ab, und Goethe hat erst
4 Jahre später wieder etwas Zusammenfassendes
auf diesem Gebiete geschrieben, wenn auch seine
Osteologische und vergleichend anatomische Arbeiten I. 125
osteologischen Detailstudien fortgesetzt wurden. Im
Jahre 1794 entstand dann der „Versuch einer all-
gemeinen Knochenlehre", in welchem Goethe
beginnt, die in dem „Versuch über die Gestalt der
Tiere" dargelegten allgemeinen Grundsätze im ein-
zelnen auszuführen. Anknüpfend an die Tabelle,
welche er sich schon vorher für die vergleichende
Untersuchung der einzelnen Knochen verschiede-
ner Säugetiere angelegt hatte, liefert er zunächst
eine genaue vergleichend anatomische Beschreibung
fast sämtlicher Schädelknochen, indem er mit dem
Zwischenkiefer beginnend ihre Formänderungen
durch die ganze Säugetierreihe hindurch genau dar-
legt. Hierbei erweist sich ihm ein Prinzip als
fruchtbringend, das er schon bei den Zwischen-
kieferforschungen angewendet hatte. Ebenso, wie
er den scheinbar einheitlichen Oberkiefer des
Menschen in den Oberkiefer und den Zwischen-
kiefer zerlegte, so betrachtet er jetzt auch das
Keilbein als aus zwei, das Schläfenbein als aus
drei Teilstücken bestehend, von denen jedes seine
eigene vergleichend anatomische Beschreibung finden
muß. Goethe hat die vergleichende Anatomie des
Skeletts zunächst nicht weiter durchgeführt, hat aber
später noch Aufsätze über „Ulna und Radius" (Elle
und Speiche des Vorderarmes) und über „Tibia
und Fibula" (Schienbein und Wadenbein des
Unterschenkels) geschrieben, in denen er diese
126
Fünfte Vorlesung.
Knochen in ihren Formwandlungen bei den Säuge-
tieren verfolgt Er findet, daß bei den verschiedenen
Tieren diese Knochen sehr verschieden entwickelt
sind, je nach den Funictionen, zu denen sie dienen.
Wird große Beweglichkeit von ihnen verlangt, so
finden sie sich in vollendeter Ausbildung und mit
entsprechenden Gelenken versehen. Dienen sie aber
hauptsächlich der Stützfunktion, so können sie sogar
zu einer einzigen feststehenden Säule verwachsen.
Dieser Zusammenhang zwischen Form und Funktion
erweist sich für Goethe überhaupt als ein sehr
brauchbarer leitender Gedanke zum Verständnis der
tierischen Formverschiedenheiten.
Das folgende Jahr bringt uns dann den um-
fassendsten Aufsatz Goethes zur tierischen Morpho-
logie, in dem er seine ganze Auffassung in über-
sichtlicher Form dargelegt hat. Die Entstehungs-
geschichte dieses Werkes wurde schon kurz erwähnt.
Goethe hörte im Januar 1795 mit Humboldt und
Meyer bei Loder anatomische Demonstrationen und
entwickelte im Anschluß daran den Freunden die
Vorstellungen, die er sich selbst über tierische Form
und Formbildung gemacht hatte. Diese Ausführungen
schienen nun Alexander v. Humboldt von solcher
Bedeutung zu sein, daß er in Goethe drang, sie
aufzuzeichnen und so diktierte dieser dem jungen
Jacob! den „Ersten Entwurf einer allgemeinen
Einleitung in die vergleichende Anatomie,
Osteologische und vergleichend anatomische Arbeiten I. 127
ausgehend von der Osteologie". Im folgenden
Jahre hat er die ersten drei Vorträge dieses Entwurfs
näher ausgeführt.
Als Goethe 1820 in seinen Heften zur Morpho-
logie diese Vorträge zuerst abdruckte, setzte er ihnen
folgende Verse als Motto voran:
Freudig war, vor vielen Jahren,
Eifrig so der Geist bestrebt.
Zu erforschen, zu erfahren.
Wie Natur im Schaffen lebt.
Und es ist das ewig Eine,
Das sich vielfach offenbart;
Klein das Große, groß das Kleine,
Alles nach der eignen Art.
Immer wechselnd, fest sich haltend,
Nah und fern und fern und nah;
So gestaltend, umgestaltend. —
Zum Erstaunen bin ich da.
Wir haben es hier mit Goethes bedeutendstem
morphologischen Werk zu tun, welches alles vor-
herige in vertiefter Form enthält. Ich brauche Ihnen
daher nicht alles zu wiederholen, was hier nochmals
ausgeführt ist, sondern nur einige Hauptpunkte heraus-
zugreifen, Goethe geht davon aus, daß alle Natur-
geschichte auf Vergleichung beruhen müsse, und daß
man die kompliziertesten tierischen Gestalten wie die
des Menschen nur dann verstehen könne, wenn man
sie auf einfachere Formen zurückführt. Zum Zwecke
solcher Vergleichung muß zunächst ein Typus kon-
struiert werden, indem die Erfahrung uns vorerst
128 Fünfte Vorlesung.
die Teile lehren muß, die allen Tieren gemein sind,
und wenn man dann weiß, welche Organe und Teil-
stücke sich durch die ganze Tierreihe vorfinden,
muß man zusehen, worin diese Teile untereinander
und bei den verschiedenen Arten verschieden sind.
„Die Idee muß über dem Ganzen walten und auf
eine genetische Weise das ganze Bild abziehen."
Während Camper und Buffon immer nur einzelne
Tiere und Tierklassen miteinander verglichen haben,
will Goethe die Gesamtheit der tierischen Formen in
den Kreis seiner Betrachtungen ziehen, indem er aus
ihnen allen zunächst eine kontinuierliche Reihe bildet,
welche von den einfachsten bis zu den komplizier-
testen Formen aufsteigt. Mit Hilfe dieser Reihe und
unter steter Benutzung des konstruierten Typus ist
dann eine rationelle Vergleichung möglich. Man
kann die einzelnen Tierarten und den Menschen
untereinander vergleichen, man kann innerhalb ein
und derselben Art die beiden Geschlechter mitein-
ander vergleichen und so ihre Geschlechtsunter-
schiede ermitteln, man kann drittens bei ein und
demselben Individuum die einander entsprechenden
Körperteile, wie Ober- und Unterextremitäten, ver-
schiedene Wirbel usw., nach der vergleichenden
Methode studieren. Bevor nun Goethe an die
Konstruktion seines Typus geht, entwickelt er ein
ganz allgemeines Schema der tierischen Form, das
zunächst für alle Wirbeltiere gilt, aber sich auch
Osteologische und vergleichend anatomische Arbeiten I. 129
auf die höheren Wirbellosen, Insekten, Crustaceen,
Würmer mitbezieht. Er zerlegt den tierischen Kör-
per in drei Teile. Der Kopf ist das Vorderende
des Tieres; seine Entwicklung ist dadurch be-
dingt, daß hier die wichtigsten Sinnesorgane sich
vorfinden: Auge, Ohr, Geruchs- und Geschmacks-
organ. Durch die Ausbildung dieser Sinneswerk-
zeuge wird nun das Zentralnervensystem an dieser
Stelle besonders mächtig entfaltet; es kommt zur
Ausbildung des Gehirns. Zum Schutz für die Sinnes-
organe und das Gehirn wird auch das Skelett
des Kopfes in besonderer Weise modifiziert; es
funktioniert als Schutz- und Stützorgan und wird
zum Schädel. Der mittlere Teil des tierischen
Körpers enthält die „Organe des inneren Lebens-
antriebes", des Kreislaufes und der Atmung. So
liegen beim Säugetier das Herz und die Lunge im
Brustkorb. In dem hinteren Teil des Tieres be-
finden sich die Organe der Nahrung, also Darm,
Magen, Leber usw., und der Fortpflanzung. Dieses
allgemeine Tierschema wird nun noch ergänzt durch
Hilfsorgane zur Bewegung, welche aber nach Goethe
nur im mittleren und im hinteren Teil angegliedert
werden. Im Anschluß an diese ganz allgemeine Ein-
teilung löst nun Goethe endlich die Aufgabe, die er
sich seit Jahren vorgenommen hat; er gibt eine ganz
genaue Aufstellung des Typus für das ganze Skelett,
liefert also hiermit die tatsächliche Grundlage für
Magnus Goethe als Naturforscher. 9
130 Fünfte Vorlesung.
eine vergleichende Knochenlehre. Daran schließt
er eine Erörterung der Abweichungen, welche im
Einzelfalle von diesem Typus vorkommen können;
es können bei bestimmten Tieren Gebilde verknöchert
sein, welche bei andern nur im knorpeligen oder
bindegewebigen Zustand vorhanden sind; es können
in einzelnen Fällen Knochen miteinander verwachsen
sein, welche bei andern noch getrennt vorkommen;
es können, wie z. B. im Schädel, Knochen, welche
bei einigen Tieren aneinander grenzen, bei andern
durch den Fortsatz eines dritten Knochens ausein-
andergedrängt werden; es können alle möglichen
Verschiedenheiten in der Zahl der Knochen vor-
kommen, wie z. B. die Zahl der Schwanzwirbel bei
den verschiedenen Tieren eine außerordentlich wech-
selnde ist; es können sehr weitgehende Unterschiede
in der Größe und in der Form der Knochen auf-
treten. Im Einzelfalle sind also die größten Ände-
rungen möglich, und es ist oft außerordentlich
schwierig, ihn auf den Typus zurückzuführen. Da
weist nun Goethe darauf hin, daß das sicherste
Kriterium zur Erkennung eines Knochens sein Platz
sei, daß die Knochen in der Tierreihe wohl Form,
Größe und ihre andern Eigenschaften ändern, den
Platz im Skelett aber mit großer Zähigkeit festhalten.
So ist es möglich, im Zweifelsfalle Klarheit über die
Bedeutung eines bestimmten Knochen zu bekommen.
Bei der Vergleichung findet man gelegentlich auch
Osteologische und vergleichend anatomische Arbeiten I, 131
Teile im Zustand hochgradigster Rückbildung, rudi-
mentäre Organe, welche eine Funktion nicht mehr
besitzen. Auch über deren Bedeutung spricht sich
Goethe aus. Er rügt an Buffon, daß er unnütze
Teile im Tier passieren läßt: „unnütz nach außen,
ja, aber notwendig nach innen". Die rudimentären
Organe haben allerdings keine äußere Funktion mehr,
wie z. B. der Blinddarm der Fleischfresser und die
Schwanzwirbel des Menschen. Sie sind aber not-
wendig bedingt dadurch, daß sie zum Typus ge-
hören, daß sie, wenn auch in verkümmerter Form,
da sein müssen, weil kein Tier die Schranken seines
Typus durchbrechen kann.
Das ist im wesentlichen der Inhalt von Goethes
größeren vergleichend-anatomischen Schriften. Wir
wollen nun, gerade wie bei Besprechung der bota-
nischen Werke, uns in der nächsten Vorlesung die
Frage vorlegen, welches die in diesen Werken ent-
haltenen grundlegenden Gesichtspunkte sind und
welche für Goethe charakteristischen Anschauungen
sich in ihnen finden lassen.
Sechsie Vorlesung.
Die osteologischen und vergleichend anatomischen
Arbeiten IL
Meine Herren! Die Methode, nach der Goethe
auf vergleichend -anatomischem Gebiet zu Werke
geht, ist, wie schon mehrfach betont, derjenigen ganz
ähnlich, die er zu seinen botanischen Studien ver-
wendete. Er stellt sich zunächst aus den Einzel-
erscheinungen eine kontinuierliche Reihe her, welche
von den einfachsten bis zu den kompliziertesten
Formen fortschreitet, und erst wenn er diese hat,
wendet er das Mittel der Vergleichung an, da sich
erst dann mit Sicherheit erkennen läßt, welche Dinge
tatsächlich miteinander verglichen werden können.
Bei den Formänderungen, die er so durch Ver-
gleichung bei den verschiedenen Tieren und bei den
verschiedenen Teilstücken desselben Tieres feststellen
kann, ergibt sich nun als leitender Gesichtspunkt, der
durch alle seine einschlägigen Arbeiten hindurchgeht,
der Zusammenhang zwischen Form und Funktion.
Schon beim Zwischenkiefer hatte Goethe gefunden,
daß die Ausbildung dieses Knochens aufs engste
mit den Nahrungsgewohnheiten des Tieres verknüpft
Osteologische und vergleichend anatomische Arbeiten II. 1 33
ist, und er sah, wie wir gehört haben, ähnliche Be-
ziehungen auch bei andern Skeletteilen obwalten.
Um aber eine ganz einheitliche Betrachtung in
dieses Gebiet der Gestaltenlehre zu bringen und
um aus ihr die Wissenschaft der Morphologie zu
schaffen, bedurfte es einer gemeinsamen Grundlage
für die Vergleichung, und diese ist für Goethe der
Typus, den er nach sorgfältiger Erforschung der in
der Natur vorkommenden Einzelformen aus diesen
konstruiert und den er für alle weiteren Vergleichungen
zum Ausgang nimmt. Diese vergleichende Form-
betrachtung unter Zugrundelegung eines schema-
tischen Typus ist der wesentliche Inhalt von Goethes
Morphologie. Bei der Betrachtung der tierischen
Form gliedert sich diese zunächst in vergleichende
Anatomie, d. h. das Studium der Formwandlung von
einer Tierart zur andern, und in das Studium der
simultanen Metamorphose, d. h. der Formänderung
bei ein und demselben Tiere von einem Metameren
zum andern.
Zunächst geht also Goethe so vor, daß er das
allen Tieren Gemeinsame festzustellen sucht; wenn
er dies hat, schlägt er den umgekehrten Weg ein
und sieht zu, welche Formänderung nun diese ge-
meinsamen Bestandteile in den verschiedenen Einzel-
fällen erleiden. Diese Anschauung des Naturforschers
ist auch für den bildenden Künstler von größter
Wichtigkeit. Nach Goethes Ansicht kann der Künstler
134 Sechste Vorlesung.
nur dann mit der Natur wetteifern, wenn er die Art,
wie sie bei Bildung ihrer Werke verfährt, ihr wenig-
stens einigermaßen ablernt. Auch er muß den Typus
zugrunde legen und dann die Abweichungen suchen,
wodurch Charaktere entstehen. Die Bildwerke der
Antike stehen deshalb so unerreicht da, weil die
alten Künstler auf Grund genauen Naturstudiums
immer das Typische zur Grundlage ihrer so charakte-
ristischen Figuren genommen haben.
Goethe ist aber nicht dabei stehen geblieben, die
unendliche in der Natur vorkommende Formver-
schiedenheit nur dadurch meistern zu wollen, daß
er sie auf den Typus zurückführte. Er hat sich auch
die weitere Frage vorgelegt, wie es denn komme, daß
die einzelnen Tiere jedes für sich so vollkommen
harmonisch ausgebildet seien. Um dies zu erklären,
stellte er sein Gesetz von der Korrelation der Teile
auf, das von ihm herrührt und sich als außerordent-
lich fruchtbringend für die Fortentwicklung der
Wissenschaft erwiesen hat. Er betrachtet den Orga-
nismus nicht nur als ein Konglomerat seiner einzelnen
Teilstücke, sondern nimmt gesetzmäßige Wechsel-
beziehungen zwischen ihnen an, zunächst in phy-
siologischer Hinsicht. Hier wissen wir heute, daß die
Tätigkeit der verschiedenen Organe in engster Ab-
hängigkeit voneinander steht, daß für ein gutes
Funktionieren des Gehirns oder der Leber notwen-
digerweise das Herz eine kräftige Blutzirkulation
Osteologische und vergleichend anatomische Arbeiten 11. 135
bewirken muß, daß die chemische Tätigkeit der
Leber in entscheidender Weise die Nierenfunktion
beeinflußt, und daß Erkrankungen der Niere wieder
zu bestimmten Änderungen im Herzen Anlaß geben.
Goethe beschränkte aber sein Gesetz von der Korre-
lation der Teile nicht allein auf die physiologischen
Wechselbeziehungen; er gab ihm vielmehr auch einen
entwicklungsphysiologischen Sinn. Er nahm nämlich
an, daß jedes Tier bei seiner Entwicklung eine be-
stimmte unveränderliche Summe von Entwicklungs-
möglichkeiten mitbekomme, daß, wenn irgend ein
Organsystem besonders mächtig ausgebildet wird,
dafür an irgend einer andern Stelle des Körpers
gespart werden müsse, und „daß keinem Teil etwas
zugelegt werden könne, ohne daß einem andern da-
gegen etwas abgezogen werde, und umgekehrt".
Jedes Tier bekommt von vornherein einen bestimmten
Etat, mit dem es haushalten muß, den es aber im
einzelnen auf die verschiedenen Körperteile und
Organsysteme nach Bedarf verteilen kann. „Um nun
jene Idee eines haushälterischen Gebens und Nehmens
anschaulich zu machen, führen wir einige Beispiele
an. Die Schlange steht in der Organisation weit
oben. Sie hat ein entschiedenes Haupt mit einem
vollkommenen Hilfsorgan, einer vorne verbundenen
unteren Kinnlade. Allein ihr Körper ist gleichsam
unendlich, und er kann es deswegen sein, weil er
weder Materie noch Kraft auf Hilfsorgane zu ver-
136 Sechste Vorlesung.
wenden hat. Sobald nun diese in einer andern
Bildung hervortreten, wie z. B. bei der Eidechse nur
kurze Arme und Füße hervorgebracht werden, so
muß die unbedingte Länge sogleich sich zusammen-
ziehen und ein kürzerer Körper stattfinden. Die
langen Beine des Frosches nötigen den Körper
dieser Kreatur in eine sehr kurze Form, und die
ungestaltete Kröte ist nach eben diesem Gesetze in
die Breite gezogen." So sorgt das Gesetz von der
Korrelation der Teile dafür, daß keine Monstra ent-
stehen können.
Welches sind nun aber die treibenden Kräfte für die
Formänderungen in der Tierreihe? Hier nahm Goethe
gerade wie auf botanischem Gebiet zwei Reihen von
Faktoren an, innere und äußere. Einen inneren Drang
nämlich, der dem Typus innewohnen soll und dazu
führt, daß dieser sich in möglichst viel verschiedenen
Formen verkörpere, eine Versalität des Typus, ein
inneres Bestreben, möglichst viel verschiedene Varie-
täten hervorzubringen. Zweitens aber sieht er auch
äußere Ursachen am Werke. Dieser Teil seiner
Formbildungsiehre ist für Goethes ganze Vorstel-
lungsweise außerordentlich charakteristisch. Er zeigt
uns, wie der Poet in jedem Falle, auch wenn das
Wissen der Zeit nur sehr kärgliches Material darbot,
auf eine greifbare und anschauliche Vorstellung hin-
drflngte, und wie er auf seine Weise sich die Lösung
eines Problems zurecht legte, das auch heute noch
Osteologische und vergleichend anatomische Arbeiten II. 1 37
zu den dunkelsten Gebieten der Biologie gehört.
Sie erinnern sich von der Besprechung der botani-
schen Studien her, daß Goethe die Ausbildung der
Pflanzenform in engster Abhängigkeit von äußeren
Bedingungen, wie Licht, Luft, Sonne und Boden,
gefunden hatte. Genau dieselbe Überlegung stellte
er auch für die tierische Formbildung an. Er spricht
den äußeren Bedingungen, dem Milieu, in dem das
Tier lebt, einen wichtigen Anteil an dessen Form-
gestaltung zu. Seiner Ausdrucksweise nach erfolgt
die Bildung der Tiere „durch Umstände für
Umstände". Um was es sich dabei handelt, geht
am klarsten aus Goethes eigener Darstellung her-
vor: „Das Wasser schwellt die Körper, die es um-
gibt, berührt, in die es mehr oder weniger hinein-
dringt, entschieden auf. So wird der Rumpf des
Fisches, besonders das Fleisch desselben aufge-
schwellt, nach den Gesetzen des Elements. Nun
muß nach den Gesetzen des organischen Typus auf
diese Aufschwellung des Rumpfes das Zusammen-
ziehen der Extremitäten oder Hilfsorgane folgen,
ohne was noch weiter für Bestimmungen der übrigen
Organe daraus entstehen, die sich später zeigen
werden. — Die Luft, indem sie das Wasser in sich
aufnimmt, trocknet aus. Der Typus also, der sich
in der Luft entwickelt, wird, je reiner, je weniger
feucht sie ist, desto trockener inwendig werden,
und es wird ein mehr oder weniger magerer Vogel
138 Sechste Vorlesung.
entstehen, dessen Fleisch und Knochengerippe reich-
lich zu bekleiden, dessen Hilfsorgane hinlänglich zu
versorgen, für die bildende Kraft noch Stoff genug
übrig bleibt. Was bei dem Fische auf das Fleisch
gewandt wird, bleibt hier für die Federn übrig. So
bildet sich der Adler durch die Luft zur Luft, durch
die Berghöhe zur Berghöhe. Der Schwan, die Ente,
als eine Art von Amphibien, verraten ihre Neigung
zum Wasser schon durch ihre Gestalt. Wie wunder-
sam der Storch, der Strandläufer ihre Nähe zum
Wasser und ihre Neigung zur Luft bezeichnen, ist
anhaltender Betrachtung werth. — So wird man die
Wirkung des Klimas, der Berghöhe, der Wärme und
Kälte, nebst den Wirkungen des Wassers und der
gemeinen Luft, auch zur Bildung der Säugetiere sehr
mächtig finden. Wärme und Feuchtigkeit schwellt
auf und bringt selbst innerhalb der Gränzen des
Typus unerklärlich scheinende Ungeheuer hervor,
indessen Hitze und Trockenheit die vollkommensten
und ausgebildetsten Geschöpfe, so sehr sie auch
der Natur und Gestalt nach dem Menschen ent-
gegenstehen, z. B. den Löwen und Tiger, hervor-
bringen, und so ist das heiße Klima allein im Stande,
selbst der unvollkommenen Organisation etwas
Menschenähnliches zu erteilen, wie z. B. im Affen
und Papageien geschieht" Es handelt sich, wie Sie
sehen, hier um sehr primitive, aber darum nicht
minder anschauliche Vorstellungen. Die äußeren
Osteologische und vergleichend anatomische Arbeiten II. 139
Umstände schaffen vollkommen blind und wirken
rein nach physikaUschen und chemischen Gesetzen
auf die verschiedenen Organismen ein, sie in ener-
gischer Weise umgestaltend. Trotzdem entstehen
keine widersinnigen Gestalten, sondern das Gesetz
von der Korrelation der Teile greift regulierend ein
und sorgt dafür, daß das Tier als Ganzes harmonisch
gebildet wird. Das ist Goethes Lösung des Problems
vom Zusammenhang zwischen Form und Funktion.
Die Lebensweise und das Milieu eines Tieres ändern
rein mechanisch seine Gestalt und die inneren Orga-
nisationsgesetze sorgen dafür, daß diese Gestalt einen
organischen Zusammenhang behält.
So beantwortet sich auch die Frage nach der
inneren Zweckmäßigkeit der Organismen. Goethe
selbst hat dieses Problem des öftern diskutiert und
nimmt dabei jedesmal in schärfster Weise Stellung
gegen jede teleologische Betrachtungsweise. Für ihn
ist die Frage sinnlos, wozu der Eber die Hauer hat,
man darf nur fragen, warum er sie besitzt. Der Ochse
hat nicht Hörner, um sich zu wehren, sondern er
wehrt sich, weil er Hörner hat. In der damaligen Zeit
war es noch eine geläufige Betrachtungsweise, anzu-
nehmen, daß die Tiere des Waldes und die Fische
des Meeres deshalb geschaffen seien, damit der
Mensch sie esse. Diese Anschauungsweise gilt für
Goethe als unnaturwissenschaftlich. „Die Vorstel-
lungsart, daß ein lebendiges Wesen zu gewissen
140 Sechste Vorlesung.
Zwecken nach außen hervorgebracht und seine Ge-
stalt durch eine absichtliche Urkraft dazu determi-
niert werde, hat uns in der philosophischen Be-
trachtung der natürlichen Dinge schon mehrere
Jahrhunderte aufgehalten und hält uns noch auf. . . .
Der Mensch ist gewohnt, die Dinge nur in dem
Maße zu schätzen, als sie ihm nützlich sind, und da
er, seiner Natur und seiner Lage nach, sich für das
Letzte der Schöpfung halten muß: warum sollte er
auch nicht denken, daß er ihr letzter Endzweck sei.
Warum soll sich seine Eitelkeit nicht den kleinen
Trugschluß erlauben? Weil er die Sachen braucht
und brauchen kann, so folgert er daraus: sie seien
hervorgebracht, daß er sie brauche. ... Da er nun
femer an sich und an andern mit Recht diejenigen
Handlungen und Wirkungen am meisten schätzt,
welche absichtlich und zweckmäßig sind, so folgt
daraus, daß er der Natur, von der er ohnmöglich
einen größern Begriff als von sich selbst haben
kann, auch Absichten und Zwecke zuschreiben wird."
Diese Betrachtungsweise wird von Grund aus ab-
gelehnt und Goethe kommt so dazu, alle End-
ursachen zur Erklärung der Naturerscheinungen zu-
rückzuweisen. Für ihn ist nur eine rein causale
Betrachtungsweise auch in den organischen Natur-
gebieten möglich.
Um also nochmals zu rekapitulieren, so Ist
Goethes Anschauung von der tierischen Formbildung
Osteologische und aergleichend anatomische Arbeiten II. 141
in Kürze diese: Der Typus ist von vornherein ge-
geben. Die äußeren Umstände bedingen seine spe-
ziellen Ausbildungen. Durch das Gesetz von der
Korrelation wird das Ganze harmonisch gestaltet.
Also entsteht die zweckmäßige Ausbildung des
tierischen Körpers. Die Tierform ist die Resultante
zweier Komponenten, äußerer und innerer.
Wenn in dieser Weise die Ausbildung des Tier-
körpers in konstanter Abhängigkeit vom Milieu steht,
in dem das Tier lebt, so müssen alle äußeren Dinge,
auch die Pflanzenwelt und die niedere Tierwelt die
Organisation irgend eines Tieres gesetzmäßig beein-
flussen. „Das ganze Pflanzenreich z. E. wird uns
wieder als ein ungeheures Meer erscheinen, welches
ebensogut zur bedingten Existenz der Insekten nötig
ist als das Weltmeer und die Flüsse zur bedingten
Existenz der Fische, und wir werden sehen, daß
eine ungeheure Zahl lebender Geschöpfe in diesem
Pflanzen-Ocean geboren und ernährt werde, ja wir
werden zuletzt die ganze tierische Welt wieder nur
als ein großes Element ansehen, wo ein Geschlecht
auf dem andern und durch das andere, wo nicht
entsteht, doch sich erhält." Auf diese Weise erhebt
sich Goethe zu einer grandiosen Anschauung der
Gesamtheit des organischen Lebens, das sich gegen-
seitig bedingt und durchdringt und dessen Aus-
gestaltung durchaus gesetzmäßig erfolgt, eine Kon-
zeption von einer Großartigkeit, die des Dichters
142 Sechste Vorlesung.
würdig ist und für die erst ein halbes Jahrhundert
später durch Liebig und andere einige tatsächliche
Grundlagen geliefert worden sind^).
Von dieser einheitlichen Betrachtung der ganzen
Lebewelt ist es nur ein Schritt, wenn Goethe über-
haupt die gesamte Natur als einen großen
Organismus auffaßt, der Tier- und Pflanzenreich
als seine Kinder hervorbringt. Diesen Gedanken
hatte Kant (Kritik der Urteilskraft, § 80) als ein ge-
wagtes Abenteuer der Vernunft 2) bezeichnet, das
vielen Naturforschern wohl schon durch den Kopf
gegangen sei. Goethe bekennt sich ausdrücklich
*) Die allgemeinen morphologischen und formphysiologi-
schen Ideen Goethes, die im Vorhergehenden entwickelt
worden sind, zeigen eine auffallende Verwandtschaft mit
den Anschauungen, zu denen kurze Zeit später die großen
französischen Forscher Cuvier und Geoffroy St. Hilaire ge-
kommen sind. Cuvier gilt bekanntlich sogar als der Be-
gründer der vergleichenden Anatomie. Auch er betonte den
Zusammenhang zwischen Form und Funktion der Organe. Er
und Geoffroy St. Hilaire sprechen von einer Korrelation der
Organe und Letzterer sah als das wichtigste Kriterium für
die Homologie verschiedener Organe in der Tierreihe die
Konstanz ihres Platzes an. Wenn wir so die leitenden Vor-
stellungen, zu denen Goethe gelangt ist, kurze Zeit darauf
bei den hervorragendsten und anerkanntesten Fachgelehrten
wiederfinden, so wird uns erst recht die überragende Be-
deutung klar, die er als Naturforscher im Verhältnis zu seinen
Zeitgnossen eingenommen hat.
*) Das ist der zweifellose Sinn jener vielfach mißdeuteten
Stelle (.Anschauende Urteilskraft'. Weim. Ausg. II. Abt.
Bd. 11. S. 55), der man sogar eine descendcnztheoretische
Bedeutung unterlegen wollte.
Osteologische und vergleichend anatomische Arbeiten II. 143
zu dieser Vorstellungsart des „Alten vom Königs-
berge", um sich ^ durch das Anschauen einer immer
schaffenden Natur zur geistigen Teilnahme an ihren
Produktionen würdig zu machen".
Durchaus auf naturwissenschaftlichem Boden steht
Goethe, wenn er aufs entschiedenste alle theolo-
gischen Erklärungsarten der Tierentstehung und
Tierverwandlung ablehnt. In der wissenschaftlichen
Morphologie hat für ihn „das fromme Streben, die
Organismen zur Ehre Gottes deuten zu wollen"
nichts zu suchen. Bei den zeitgenössischen Natur-
forschern spielte der Bibelglaube fortwährend in
ihre wissenschaftlichen Theorien hinein. Linne
führte alle einzelnen Arten seines Systems direkt
auf den Schöpfungsakt zurück, und Cuvier hat be-
kanntlich angenommen, daß nach jeder Erdkata-
strophe, welche wie die Sintflut zum Untergang des
gesamten organischen Lebens auf der Erde geführt
haben sollte, eine neue Tierwelt neu geschaffen
worden sei. Derartige Anschauungen sind Goethes
naturwissenschaftlicher Denkweise durchaus ent-
gegen. Für ihn, der in spinozistischen Ideen groß
geworden war, ist Gott und Natur dasselbe. Er
sucht das höchste Wesen nicht über, sondern in
der Natur und ihm scheint es eine würdige Aufgabe
des Naturforschers, Gott -Natur bei ihrer Bildungs-
tätigkeit zu beobachten. „Wir treten", schreibt er,
„weder der Urkraft der Natur, noch der Weisheit
144 Sechste Vorlesung.
und Macht eines Schöpfers zu nahe, wenn wir an-
nehmen, daß jene mittelbar zu Werke gehe, dieser
mittelbar im Anfang der Dinge zu Werke gegangen
sei.** Nicht ein einmaliger Schöpfungsakt erklärt ihm
die Vielfältigkeit der tierischen und pflanzlichen
Form, sondern das mittelbare Wirken und fort-
dauernde Wirksambleiben aller oben genannten Na-
turfaktoren hat die tierische Form gebildet und
bildet sie noch fortdauernd um.
Bezeichnend für Goethes vorurteilslose Denkweise
ist die einfache Selbstverständlichkeit, mit der er
ohne weiteres den Menschen vergleichend anatomisch
den Säugetieren zuzählt. Wenn man bedenkt, welchen
Sturm noch vor wenigen Jahrzehnten Darwins Lehre
von der Abstammung des Menschen hervorgerufen
hat und wie noch unmittelbar vor Goethe die her-
vorragendsten Anatomen sich bemühten, den Men-
schen prinzipiell von den Säugetieren zu unter-
scheiden, so wird man auch in diesem Punkte die
ruhige Sicherheit bewundern, mit der Goethe sich
in allen Dingen auf den Boden des Tatsächlichen
gestellt hat.
Von großem Interesse ist, daß uns eine kurze,
mehr gelegentliche Bemerkung erlaubt, auch über
seine Stellung zu einer Frage etwas auszusagen,
welche gerade in der letzten Zeit wieder vielfach von
Naturforschern ventiliert worden ist, die Frage nach
der Tierseele. Eine Reihe von Physiologen steht jetzt
Osteologische und vergleichend anatomische Arbeiten II. 145
auf dem besonders durch v. Uexküll vertretenen Stand-
punkt, daß wir kein Mittel besitzen, um diese Frage
überhaupt zu lösen und daß sie deshalb nicht Aufgabe
der physiologischen Forschung sein könne. Man kann
feststellen, auf welche äußeren Reize ein Tier reagiert,
man kann die nervösen Erregungsvorgänge in seinem
Nervensystem untersuchen, man kann die Bewe-
gung&n, welche das Tier auf irgend einen Reiz oder
„spontan" ausführt, beobachten; aber es gibt keine
Möglichkeit, zu entscheiden, ob das Tier dabei eine
bewußte Empfindung hat oder nicht. Diejenigen,
welche geneigt sind, den höheren Tieren solche be-
wußten Empfindungen zuzuschreiben, mögen sich
die Frage vorlegen, wo sie in der Tierreihe die
Grenze ziehen wollen, unterhalb derer sie kein Be-
wußtsein mehr annehmen. Wer die Entwicklung
kleiner Kinder beobachtet hat, weiß, daß es voll-
ständig unmöglich ist, den Zeitpunkt anzugeben,
wann in ihrem Leben zuerst bewußte Empfindungen
auftreten. Wir können also die Frage nach einer
Tierseele mit naturwissenschaftlichen Methoden
nicht lösen, und es ist für diejenigen, welche diesen
Standpunkt einnehmen, von besonderem Interesse,
daß Goethe in seiner allgemeinen Einleitung in die
vergleichende Anatomie die Frage nach der Tier-
seele als eine leere Spekulation bezeichnet hat, da
wir durch die Erfahrung nichts darüber feststellen
können.
Magnus, Goethe als Naturforscher. 10
146 Sechste Vorlesung.
Das sind einige der wichtigsten Gesichtspunkte
und Gesetze, welche Goethe in seinen morpho-
logischen Arbeiten über tierische Form und Form-
bildung entwickelt hat. Wollen wir das Gesagte
uns noch einmal kurz vergegenwärtigen, so können
wir nichts besseres tun, als das schöne Gedicht zu
lesen, in welchem Goethe zehn Jahre später (1806)
seine Anschauungen in klarster Weise zusammen-
gefaßt hat
Wagt ihr, also bej-'eitet, die letzte Stufe zu steigen,
Dieses Gipfels, so reicht niir die Hand üird Öffnet den ffele'fii
Bück in's weite Feld der Natur. Sie spendet die reichen
Lebensgaben umher, die Göttin; aber empfindet
Keine Sorge wie sterbliche Fraun um ihrer Gebornen
Sichere Nahrung; ihr ziemet es nicht: denn zwiefach be-
stimmte
Sie das höchste Gesetz, beschränkte jegliches Leben,
Gab ihm gemess'nes Bedürfnis, und ungemessene Gaben,
Leicht zu finden, streute sie aus, und ruhig begünstigt
Sie das muntre BemUhn der vielfach bedürftigen Kinder;
Unerzogen schwärmen sie fort nach ihrer Bestimmung.
Zweck sein selbst ist jegliches Tier, vollkommen entspringt es
Aus dem Schoos der Natur und zeugt vollkommene Kinder.
Alle Glieder bilden sich aus nach ew'gen Gesetzen,
Und die seltenste Form bewahrt im Geheimen das Urbild.
So ist jeglicher Mund geschickt die Speise zu fassen,
Welche dem Körper gebührt, es sei nun schwächlich und
zahnlos
Oder mächtig der Kiefer gezähnt, in jeglichem Falle
Fördert ein schicklich Organ den übrigen Gliedern die Nahrung.
Auch bewegt sich jeglicher Fuß, der lange, der kurze,
Oanz harmonisch zum Sinne des Tiers und seinem Bedürfnis.
So ist jedem der Kinder die volle reine Gesundheit
Von der Mutter bestimmt: denn alle lebendigen Glieder
Widersprechen sich nie und wirken alle zum Leben.
Osteologische und vergleichend anatomische Arbeiten II. 147
Also bestimmt die Gestalt die Lebensweise des Tieres,
Und die Weise zu leben, sie wirkt auf alle Gestalten
Mächtig zurück. So zeiget sich fest die geordnete Bildung,
Welche zum Wechsel sich neigt durch äußerlich wirkende Wesen.
Doch im Innern befindet die Kraft der edlern Geschöpfe
Sich im heiligen Kreise lebendiger Bildung beschlossen.
Diese Gränzen erweitert kein Gott, es ehrt die Natur sie:
Denn nur also beschränkt war je das Vollkommene möglich.
Doch im Inneren scheint ein Geist gewaltig zu ringen,
Wie er durchbräche den Kreis, Willkür zu schaffen den Formen
Wie dem Wollen; doch was er beginnt, beginnt er vergebens.
Denn zwar drängt er sich vor zu diesen Gliedern, zu jenen,
Stattet mächtig sie aus, jedoch schon darben dagegen
Andere Glieder, die Last des Übergewichtes vernichtet
Alle Schöne der Form und alle reine Bewegung.
Siehst du also dem einen Geschöpf besonderen Vorzug
Irgend gegönnt, so frage nur gleich, wo leidet es etwa
Mangel anderswo, und suche mit forschendem Geiste,
Finden wirst du sogleich zu aller Bildung den Schlüssel.
Denn so hat kein Tier, dem sämmtliche Zähne den obem
Kiefer umzäunen, ein Hörn auf seiner Stirne getragen.
Und daher ist den Löwen gehörnt der ewigen Mutter
Ganz unmöglich zu bilden und böte sie alle Gewalt auf:
Denn sie hat nicht Masse genug, die Reihen der Zähne
Völlig zu pflanzen und auch Geweih und Hörner zu treiben.
Dieser schöne Begriff von Macht und Schranken, von Willkür
Und Gesetz, von Freiheit und Maß, von beweglicher Ordnung,
Vorzug und Mangel erfreue dich hoch; die heilige Muse
Bringt harmonisch ihn dir mit sanftem Zwange belehrend.
Keinen höhern Begriff erringt der sittliche Denker,
Keinen der thätige Mann, der dichtende Künstler; der Herrscher
Der verdient es zu sein, erfreut nur durch ihn sich der Krone.
Freue dich, höchstes Geschöpf der Natur, du fühlest dich fähig,
Ihr den höchsten Gedanken, zu dem sie schaffend sich auf-
schwang,
Nachzudenken. Hier stehe nun still und wende die Blicke
Rückwärts, prüfe, vergleiche und nimm vom Munde der Muse,
Daß du schauest, nicht schwärmst, die liebliche volle Gewißheit
10*
148 Sechste Vorlesung.
In den zwei letzten Jahrzehnten seines Lebens be-
schränkte sich Goethe darauf, die Fortentwicklung
der zoologischen und vergleichend anatomischen
Literatur zu verfolgen, zahlreiche Notizen zu sammeln
und gelegentlich kleinere Aufsätze zu veröffentlichen.
Eingehendere selbständige Forschungen hat er nicht
mehr angestellt. Von bleibendem Werte sind vor
allem einige Recensionen, die er zu den Arbeiten
seiner Freunde Carus und d'Alton, welche ihn be-
sonders interessierten, geschrieben hat Er berichtet
in den Annalen: „In der Zoologie förderte mich Carus
von den Urteilen des Schalen- und Knochengerüstes,
nicht weniger eine Tabelle, in welcher die Filiation
sämtlicher Wirbelverwandlungen anschaulich ver-
zeichnet war. Hier empfing ich nun erst den Lohn
für meine früheren allgemeinen Bemühungen, indem
ich die von mir nur geahnte Ausführung bis ins
Einzelne vor Augen sah. Ein gleiches ward mir,
indem ich d'Altons frühere Arbeit über die Pferde
wieder durchnahm und sodann durch dessen Werk
Dber die Faultiere und Dickhäutigen belehrt und
erfreut wurde." So entstanden im Anschluß an Carus
der Aufsatz „Die Lepaden", im Anschluß an d'Alton
die Recensionen „Die Faultiere und die Dickhäuti-
gen" und „Die Skelette der Nagetiere". Diese Ar-
tikel gehen weit über das hinaus, was man gewöhn-
lich von einer Recension erwartet. Sie enthalten
vielmehr Goethes eigene Gedanken, die er an die
Osteologische und vergleichend anatomische Arbeiten II. 149
Befunde seiner Freunde anknüpfte, und haben da-
durch auf die Zeitgenossen einen tiefen Eindruck
gemacht. Johannes Müller, der vergleichende Ana-
tom und Physiologe, schrieb 1826 in seiner Unter-
suchung über die phantastischen Gesichtserschei-
nungen: „Wer davon (von der Einbildungskraft des
Künstlers und Naturforschers) sich einen deutlichen
Begriff machen will, lese Goethes meisterhafte
Schilderung des Nagetiers und seiner geselligen
Beziehungen zu andern Tieren in der Morphologie.
Nichts Ähnliches ist aufzuweisen, was dieser aus
dem Mittelpunkt der Organisation entworfenen Pro-
jektion gleichkommt. Irre ich nicht, so liegt in dieser
Andeutung die Ahndung eines fernen Ideals der
Naturgeschichte." Goethe benutzt hier das d'Altonsche
Werk, um an einer einzelnen, in sich abgeschlossenen
Gruppe von Säugetieren noch einmal seine eigenen
Anschauungen über tierische Form zusammenfassend
zu verdeutlichen. Die Gruppe der Nagetiere ist des-
halb für ihn ein so gutes Beispiel, weil ihre Knochen-
gestalt „zwar generisch von innen determiniert
(nicht genetisch; Goethe meint, daß dem Nagetier-
skelett ein gemeinsamer Bauplan zugrunde liegt)
und festgehalten sei, nach außen aber zügellos sich
ergehend durch Um- und Umgestaltung sich spezifi-
.zierend auf das allervielfältigste verändert werde.**
Diese Formwandlung leitet Goethe von den Ein-
flüssen des Milieus ab, in dem die Tiere leben.
150 Sechste Vorlesung.
„Eine innere und ursprüngliche Gemeinschaft aller
Organisation liegt zum Grunde; die Verschiedenheit
der Gestalten dagegen entspringt aus den notwen-
digen Beziehungsverhältnissen zur Außenwelt, und
man darf daher eine ursprüngliche, gleichzeitige
Verschiedenheit und eine unaufhaltsam fortschrei-
tende Umbildung mit Recht annehmen, um die
ebenso constanten als abweichenden Erscheinungen
begreifen zu können.** Um nämlich zu verstehen,
wie bei dieser schier unendlichen Umbildungsfähig-
keit doch bestimmte Arten sich als feste Formen
herausbilden können, greift er auf einen Gedanken-
gang zurück, der auch bei botanischen Überlegungen
eine Rolle gespielt hat Es gibt Arten, die sich
schrankenlos ergehen wie die Rosen, bestimmte Ge-
schlechter wie die Gentianen halten aber in jedem
Einzelindividum hartnäckig ihre Form fest, und so
wird auch bei den einzelnen Formen der Nager,
wenn sie einmal individualisiert sind, die Gestalt
viele Generationen hindurch mit großer Zähigkeit
festgehalten. Goethe führt nun im einzelnen aus,
wie die Beziehungen zur Außenwelt die tierische
Form beeinflussen, wie das Leben im Wasser, das
Eingraben in den Boden, das Herumspringen auf
der Erde zu ganz verschiedenen Tierformen führt,
ja wie sogar fliegende Arten sich ausbilden können.
Wichtig ist besonders die Ernährungsweise. Das
Ergreifen und Benagen der Nahrung beeinflußt die
Osteologische und vergleichend anatomische Arbeiten II. 151
Ausbildung der Extremitäten und vor allen Dingen
das Gebiß, dem Goethe einen wichtigen Platz in
der Gesamtorganisation des Tieres zuspricht. So
wird noch einmal der ganze Goethesche Ideen-
kreis an diesem einen Beispiel anschaulich ent-
wickelt.
In den Jahren von 1819—1823 wurden in ver-
schiedenen Gegenden Deutschlands eine Reihe von
fossilen Knochen gefunden, die auch Goethes Inter-
esse aufs lebhafteste in Anspruch nahmen. Er kor-
respondiert darüber mit Dr. Jäger in Stuttgart, Söm-
mering, d'Alton u. a., erhält Abgüsse und Knochen
zugeschickt und sendet diese weiter an seine Freunde.
Bei Stuttgart werden Zähne vom Mammut und Nas-
horn und Knochen eines Stieres entdeckt. Später
finden sich mehrere vollständige Skelette des fossilen
Stieres in Mitteldeutschland. Goethe läßt eines der-
selben in den Jenaer Sammlungen aufstellen. In den
morphologischen Heften wird der Urstier eingehend
gewürdigt, und bei dieser Gelegenheit macht Goethe
die folgende Bemerkung: „Auf allen Fall läßt sich
der alte Stier als eine weit verbreitete untergegangene
Stamm-Race betrachten, wovon der gemeine und der
indische Stier als Abkömmlinge gelten dürften." Es
ist dies eine der wenigen Bemerkungen Goethes,
in welcher descendenztheoretische Anschauungen ge-
äußert werden. — Man hat in Goethe vielfach einen
Vorläufer Darwins sehen wollen. Besonders hat
152 Sechste Vorlesung.
Häckel diese Ansicht zu begründen versucht. Daran
ist jedenfalls richtig, daß Goethe als einer der Mit-
begründer der vergleichenden Anatomie die Grund-
lagen schuf, auf denen Darwin weiter gearbeitet hat.
Dagegen finden sich in Goethes morphologischen
Hauptwerken aus den 80er und 90er Jahren des
18. Jahrhunderts, deren Inhalt im vorstehenden aus-
führlich dargelegt wurde, keine Anschauungen, welche
als darwinistisch im engeren Sinne bezeichnet wer-
den können. Goethe betrachtete damals als Aus-
gangspunkt der wissenschaftlichen Forschung den
Typus, dessen verschiedene Abwandlungen in der
Natur verwirklicht sind. Erst in den späteren Jahren,
nach 1820, tauchen gelegentlich Andeutungen einer
Descendenzlehre auf. Goethe, der die zeitgenössische
Literatur genau verfolgte, kannte die Schriften von
Geoffroy St. Hilaire u. a.; ob er Lamarck gelesen
hat, ist mir nicht bekannt; aber sein naher Verkehr
mit d'Alton, Carus u. a. mußte ihn über alle wissen-
schaftlichen Zeitströmungen auf dem Laufenden er-
halten. Trotzdem ist die genannte Stelle fast die
einzige wirklich unzweideutige, und wir dürfen dar-
aus schließen, daß der ganze Vorstellungskreis der
Descendenzlehre keineswegs für Goethe im Mittel-
punkt des Interesses gestanden hat. Nur in diesem
einen konkreten Fall, wo ihm die Vergangenheit
durch eine ihrer typischen prähistorischen Arten
entgegentrat, knüpfte er an das Tatsächliche an und
Osteologische und vergleichend anatomische Arbeiten II. 1 53
betrachtete jetzt lebende Formen als Abkömmlinge
fossiler Tiere. In dem Aufsatz: „Die Faultiere und
die Dickhäutigen" versuchte er dann, wahrscheinlich
im Anschluß an Kant, zu schildern, wie aus einem
großen walfischartigen Meertier, das aufs Land
übersiedelt, durch allmähliche Umbildung ein Faul-
tier entstehen könne. Aber hier bezeichnet er seine
Darstellung selbst schon als poetisch, „da überhaupt
Prose wohl nicht hinreichen möchte". Und in der
klassischen Walpurgisnacht läßt er den Homunkulus,
der gerne entstehen möchte, im Meere anfangen:
„Da regst du dich nach ewgen Normen
„Durch tausend, abertausend Formen,
„Und bis zum Menschen hast du Zeit."
Zu einem durchgreifenden wissenschaftlichen Prin-
cip, von welchem aus der Formenbau des ganzen
Tierreiches zu begreifen wäre, hat er aber den Des-
cendenzgedanken nicht gemacht. Man kann deshalb
Goethe als Vorläufer Darwins ansehen oder nicht.
Die Wissenschaft selbst entwickelt sich kontinuier-
lich und jeder Spätere steht auf den Schultern seiner
.Vordermänner, jeder Frühere ist als Vorläufer der
Nachfolgenden zu betrachten. Goethes Anschauungs-
weise von der tierischen Formenwelt war eine in
sich abgeschlossene und abgerundete. Darwinistische
Gedanken sind in ihr erst in späteren Jahren, und
auch dann nur als sekundäre Elemente aufge-
treten.
154 Sechste Vorlesung.
In seinem letzten Lebensjahrzehnt hat sich Goethe
tiberhaupt für die Frage interessiert, wie neue
Tierarten entstehen könnten, und er notierte sich
beispielsweise 1824 die Mitteilung des Dr. Sturm,
daß Rassen, welche durch Kreuzung entstanden
sind, konstant bestehen können. Das scheint ihm
ein Faktum von größter Wichtigkeit Er bemerkt
aber sogleich dazu: „Freilich muß die Umwandlung
eine Gränze haben, und nur die Vollkommenheit
des Geschöpfs kann sie bestimmen."
Auch die plötzliche Entstehung neuer Formen
bei der Aussaat von Gewächsen, die heute unter
dem Namen Mutation durch die Forschungen von
de Vries eine so große Bedeutung gewonnen
haben, scheint Goethe beachtet zu haben, doch
ist die betreffende Stelle nicht eindeutig genug,
um hierin ganz sicher zu gehen: „Dagegen ent-
wickeln sich aus den Samen immer abweichende,
die Verhältnisse ihrer Theile zu einander verändert
bestimmende Pflanzen, wovon uns treue sorgfältige
Beobachter schon manches mitgeteilt und gewiß
nach und nach mehr zu Kenntnis bringen werden".
Goethes letzter Aufsatz „Princlpes de Philo-
sophie Zoologique", den er kurz vor seinem Tode
abschloß, behandelt, wie schon erwähnt wurde, den
Streit zwischen Cuvier und Geoffroy St Hilaire.
Dieses bedeutende wissenschaftliche Ereignis inter-
essierte den alten Forscher aufs lebhafteste. Er be-
Osteologische und vergleichend anatomische Arbeiten II. 155
richtet seinen Lesern zunächst historisch die Ent-
wicklung der Kontroverse und gibt im Anschluß
daran, um seine Parteinahme für Geoffroy St. Hilaire
zu begründen und um zu zeigen, daß gleichsam
seine eigenen Ideen hier kämpfend auftreten, noch-
mals einen gedrängten Überblick über seine ver-
gleichend anatomischen Untersuchungen. Er selbst
hält den Streit für unschlichtbar, weil hier zwei ganz
verschiedene, seiner Meinung nach unvereinbare
Anschauungsweisen miteinander kämpfen. Er weist
darauf hin, wie er selbst 50 Jahre früher gegen
Linnes Lehrmeinung aufgetreten ist. Cuvier sowohl
wie Linne sehen die Aufgabe der Naturforschung
darin, die Einzelerscheinungen der Natur zu be-
schreiben und nach Möglichkeit zu unterscheiden,
während Goethe und Geoffroy St. Hilaire das Haupt-
augenmerk darauf richten, die Analogien und Ver-
wandtschaften zwischen den einzelnen Formen
aufzufinden. Sowohl die trennenden wie die zu-
sammenfassenden Naturforscher sind im Interesse
der Wissenschaft notwendig, aber ihre Methoden
sind zu verschieden, als daß ein Streit sich ver-
hindern ließe.
Bis hierher haben wir die Gesamtheit von Goethes
morphologischen Anschauungen im Zusammenhang
dargestellt. Die meisten seiner Arbeiten fügen sich
zwanglos diesem großen Ganzen ein. Es ist aber
156 Sechste Vorlesung.
natürlich, daß dabei eine Reihe von Einzelheiten
welche nicht in unmittelbarer Berührung zu diesen
wichtigsten Grund Vorstellungen stehen, unberück-
sichtigt gelassen wurden. Wir müssen daher Nach-
lese halten und noch einzelnes nachtragen.
Goethe hat in allem, womit er sich beschäftigte,
gesucht, sich zu einer anschaulichen Vorstellung
durchzuringen. Auch seine zoologischen Ideen waren
immer auf Anschaulichkeit gerichtet. Da war es
denn auch sein Bestreben, das von ihm Erkannte
sich und andern in anschaulicher Form vor Augen
zu stellen. Er selbst fertigte sich eine große Wand-
tafel an, um sich Humboldts Ideen zu einer Geo-
graphie der Pflanzen klar zu machen, und ließ sie
1813 im Druck erscheinen. Ein ähnliches „Gemälde
der organischen Natur" von Wilbrand und Ritgen
wurde von ihm aufs freundlichste recensiert. Bekannt
ist, welchen großen Wert er auf Deutlichkeit natur-
wissenschaftlicher Abbildungen legte. Besonders mit
d'Alton wurde hierüber eifrig korrespondiert und ein
Aufsatz von diesem in die morphologischen Hefte
aufgenommen. Seine Fürsorge für Ausgestaltung
naturwissenschaftlicher Sammlungen und Museen in
Jena wurde schon eingehend gewürdigt. Interessant
ist sein Vorschlag, besondere Museen für ver-
gleichende Anatomie zu gründen; diese sollten so
angeordnet sein, daß man auf einen Blick die Form-
wandlung irgend eines beliebigen Organs oder
Osteologische und vergleichend anatomische Arbeiten II. 1 57
Knochens durch die Tierreihe hindurch anschaulich
vor Augen hat. In einem Schrank sollten z. B. die
Halswirbel sämtlicher Tiere von den größten bis zu
den kleinsten, von den einfachsten bis zu den dif-
ferenciertesten vereinigt werden, in einem andern
beispielsweise die Vorderarmknochen von den be-
weglichsten und zierlichsten bis zu den plumpsten
und kräftigsten Stützorganen. Wie weit sein Inter-
esse für diese Dinge im einzelnen ging, zeigt sein
Bestreben, die Technik, anatomische Präparate in
Wachs nachzubilden, nach Deutschland zu ver-
pflanzen. Er hatte auf der italienischen Reise in
Florenz die schöne Sammlung der dortigen Moulagen
(Wachsnachbildungen in natürlichen Farben) gesehen,
die ihm einen tiefen Eindruck machte. In Wilhelm
Meisters Wanderjahren kam er später hierauf zurück.
Es schien ihm notwendig, bei der zunehmenden
Schwierigkeit, Leichen für den anatomischen Unter-
richt zu bekommen, an den Universitäten anatomische
Moulagensammlungen anzulegen. Unter seiner Mit-
wirkung wurde ein junger Arzt, Franz Heinrich
Martens, der solche Präparate anfertigen konnte,
nach Jena berufen und die von dessen Hand her-
rührenden Moulagen menschlicher Mißbildungen,
sämtlich Kunstwerke, zieren noch heute die dortige
Sammlung. Noch kurz vor seinem Tode kommt
Goethe in einem Schreiben an Geheimrat Beuth in
Berlin auf die Angelegenheit zurück und regt an,
158 Sechste Vorlesung.
daß in Berlin aus Staatsmitteln ein Moulagenmuseum
gegründet werde und daß zur Erlernung der Technik
ein Anatom, ein Plastiker und ein Gipsgießer nach
Florenz gesendet werden sollen. Goethes Anregung
hat damals keine praktischen Folgen gehabt, aber
heute bilden die Moulagen eine wichtige Ergänzung
medizinischer Sammlungen, wenn es sich darum
handelt, seltene Krankheitsfälle, die zu Unterrichts-
zwecken nicht jederzeit verfügbar sind, zu ver-
ewigen.
Studien über Regeneration bei Tieren wurden zu
Goethes Zeiten besonders von Blumenbach angestellt.
Unter Regeneration versteht man das Vermögen der
Tiere, verlorene Körperteile neu zu bilden, wie z. B.
die Eidechse den Schwanz. Daß Goethe auch für
diesen Zweig biologischer Forschung sich interes-
sierte, geht aus seiner Bemerkung hervor, daß ein
Tier, das zur Regeneration eines abgelösten Teiles
geschickt sein soll, ein unvollkommenes Tier sein
müsse. Tatsächlich ist bei den höheren Wirbeltieren
die Regeneration eine beschränkte.
Kurz vor der italienischen Reise hat Goethe das
Leben der kleinsten Lebewesen, besonders in Heu-
infusen, studiert. Wirft man trockenes Heu in
Wasser und läßt es einige Tage stehen, so ent-
wickelt sich aus Keimen, welche an dem Heu an-
getrocknet sind, eine reiche Fauna, besonders von
einzelligen Protozoen und Infusorien. Goethe hat
Osteologische und vergleichend anatomische Arbeiten II. 1 59
diese, wie aus seinen Protokollen hervorgeht, unter
dem Mikroskop beobachtet und es sind sauber aus-
geführte Zeichnungen erhalten, auf denen man ohne
Schwierigkeit Paramäcien und Vorticellen erkennen
kann. Bei den Vorticellen hat er auch die Flimmer-
bewegung beobachtet und die Richtung des Wimper-
strudels untersucht.
Mit der Anatomie der Muscheln, Schnecken und
Würmer hat er sich durch eigene Präparation ver-
traut gemacht, die innere Anatomie des Frosches
genau untersucht und Männchen und Weibchen mit-
einander verglichen. Sehr umfassend sind schließ-
lich seine Studien über Anatomie, Physiologie
und Umwandlung der Insekten gewesen, welche
hauptsächlich in die Jahre 1796—98 fallen. Das
Problem, das ihn hier interessierte, war die succes-
sive Metamorphose, die Umwandlung ein- und des-
selben Individuums während seines Lebens. Das
war die einzige Form der Metamorphose, welche er
bisher nicht eingehend studiert hatte. Es ist auch
bei der experimentellen Durcharbeitung des Gebietes
geblieben. Notizen und Versuchsprotokolle sind zahl-
reich erhalten, eine zusammenfassende Arbeit hat
Goethe aber nicht geschrieben. Er studierte zu-
nächst die Anatomie der Raupen und Puppen z. T.
nach Injektionspräparaten, beobachtete dann die
Entwicklung verschiedener Arten, des Ligusterspin-
ners, der Wolfsmilchraupe, der Hummel, und ver-
160 Sechste Vorlesung.
folgte in einzelnen Fällen die Metamorphose vom
Ei bis zum Schmetterling. Der Einfluß von Hitze
und Kälte auf diese Vorgänge wurde untersucht. Er
beobachtete die Bewegungen der Raupe, sah die
mehrfache Häutung dieser Tiere, stellte fest, was
sie fressen und was sie ausscheiden, experimentierte
über ihr Verhalten bei Belichtung und Verdunkelung,
machte genaue Notizen über das Einspinnen und
die Verpuppung und studierte das Ausschlüpfen der
Schmetterlinge. Besonders interessierte ihn die Er-
scheinung, daß die ausgeschlüpften Schmetterlinge
ganz kleine und weiche Flügel haben, die erst im
Verlauf von etwa einer halben Stunde sich ent-
falten und hart werden. Goethe führte dies auf
Einströmen von Säften aus dem Innern des Tieres
in die Gefäße der Flügel zurück und sah seine
Ansicht bestätigt, als er dem Schmetterling nach
dem Ausschlüpfen den Kopf abschnitt und die
Flügelentfaltung nun ausblieb; nach Eröffnung des
Tieres konnte eben keine Flüssigkeit mehr in die
Flügel hineingepreßt werden. Die innere Ana-
tomie der Schmetterlinge wurde genau untersucht,
ihre Fortpflanzung beobachtet. Seinem Streben
nach Veranschaulichung, seinem „Museumstriebe"
ist es zuzuschreiben, daß er zehn verschiedene
Stadien von der Puppe bis zum Schmetterling
konservierte und zwischen Glasplatten aufhob. Be-
obachtet wurde ferner die Entwicklung von Schlupf-
Osteologische und vergleichend anatomische Arbeiteu II. 161
wespeneiern im Innern von Raupen und Puppen.
Wichtig sind weiter in dieser Versuchsreihe eine
Anzahl von physiologischen Beobachtungen. Da
die Raupe während des Verpuppens keine Nahrung
nimmt, so fragt es sich, wovon sie lebt Genaue
Wägungen der Tiere ergaben einen fortschreiten-
den Gewichtsverlust; das Tier zehrt also von sei-
nem Körpermaterial. Goethe registriert ferner die
Beobachtung, daß der Saft einer Raupe an der
Luft schwarz wird und untersucht das Verhalten
dieses Saftes gegen Wasser, Säuren und Laugen.
Wir wissen heute, daß die Erscheinung auf der
Anwesenheit eines oxydierenden Fermentes im Safte
beruht, dem man in jüngster Zeit wieder größeres
Interesse entgegengebracht hat. Die Reaktion der
Raupen auf Berührung an verschiedenen Stellen
ihres Körpers wird untersucht. Die Bewegung der
Flügelmuskeln wird auch nach dem Tode noch
fortdauernd gefunden. Auch die Tätigkeit des über-
lebenden Herzens beobachtet Goethe und macht
darüber folgende Notiz: „Langes durchsichtiges Ge-
fäß bei der Hummel, das den ganzen Rücken hinunter-
geht (Ist das sogenannte Herz der Inseckten) und
sehr lebhaft pulsiert; es geht unten durch ein durch-
sichtiges häutiges Gewebe durch, das sehr mit Luft-
gefäßen durchwebt ist. Es pulsierte 3 bis 4 Stunden,
so lange bis alle Feuchtigkeit vertrocknet war; wenn
man es anhauchte, pulsierte es viel schneller. Es
Magnus, Goethe als Naturforscher 11
162 Sechste Vorlesung.
ist der Versuch zu machen, wie lange es schlägt,
wenn man es feucht erhält und ob es etwa in der
Kälte gleich erstarrt. In einer aufgeschnittenen
Puppe in anderthalb Sekunden pulsierte es einmal."
Auch sonst enthalten diese Aufzeichnungen zur
Insektenkunde noch viele feine Beobachtungen.
Überhaupt gewähren gerade diese Protokolle einen
interessanten Einblick in Goethes Art zu arbeiten.
Man sieht, mit welcher Sorgfalt das ganze Tat-
sachenmaterial schematisch geordnet wird und wie
außerordentlich genau seine Einzelbeobachtungen
gewesen sind.
Damit schließen wir die Darstellung von Goethes
morphologischen Arbeiten. Wir haben gesehen,
wie er sich durch eigenes Studium einen Über-
blick über die unendliche Fülle der pflanzlichen
und tierischen Formen verschafft hat und wie er
jahrelang sich bemühte, die zahlreichen Einzeltat-
sachen zu einem Gesamtbilde zu verschmelzen.
20 Jahre Arbeit ist dazu nötig gewesen. Schließ-
lich aber bildete sich bei Goethe eine umfassende
Anschauung von der Gesamtheit der Organismen
heraus, die in ihrer Großartigkeit ihresgleichen sucht
und die uns zeigt, daß der Naturforscher dem Dichter
in keinen Stücken nachgab.
Jetzt erst verstehen wir die Verbitterung, die
Goethe erfaßte, als seine Ideen anfangs gar nicht
durchdringen wollten und auf den passiven Wider-
Osteologische und vergleichend anatomische Arbeiten II. 1 63
stand der Gelehrten stießen. Aber er hat es noch
erlebt, daß sie zum Siege kamen. Durch die Be-
gründung der vergleichenden Anatomie und der
Morphologie pflanzlicher und tierischer Formen
wirkt Goethes wissenschaftliche Arbeit bis auf den
heutigen Tag fruchtbringend fort.
!!•
Siebente Vorlesung.
Die Farbenlehre I. — Physiologische Optik.
Meine Herren! „Die Geschichte der Wissenschaft
nimmt immer auf dem Punkte wo man steht ein
gar vornehmes Ansehen; man schätzt wohl seine
Vorgänger und dankt ihnen gewissermaßen für das
Verdienst das sie sich um uns erworben; aber es
ist doch immer, als wenn wir mit einem gewissen
Achselzucken die Gränzen bedauerten worin sie oft
unnütz, ja rückschreitend sich abgequält; niemand
sieht sie leicht als Märtyrer an die ein unwieder-
bringlicher Trieb in gefährliche, kaum zu überwin-
dende I-agen geführt, und doch ist oft, ja gewöhn-
lich, mehr Ernst in den Altvätem die unser Dasein
gegründet, als unter den genießenden, meistenteils
vergeudenden Nachkommen." Dieses Goethesche
Wort wollen wir als Motto über unsere Besprechung
der Farbenlehre setzen, denn was Schiller von
Wallenstein sagte, gilt für kein Buch mehr als für
dieses:
»Von der Parteien Ounst und Haß verwirrt,
Schwankt sein Charakterbild in der Geschichte. *
Die Farbenlehre I. — Physiologische Optik. 165
Gleich nach seinem Erscheinen von den Phy-
sikern vollständig abgelehnt und aufs heftigste ver-
urteilt, von einigen der bedeutendsten zeitgenössi-
schen Physiologen, wie Purkinje und Johannes
Mtiller, außerordentlich geschätzt, wurde es in der
Mitte des Jahrhunderts fast vergessen und selbst
Helmholtz wird seiner Bedeutung keineswegs ge-
recht. Erst in den letzten Jahrzehnten erweckt es
wieder das Interesse der Gelehrten. Während die
Physiker auf ihrem ablehnenden Standpunkt ver-
harren müssen, finden die Physiologen hier zahl-
reiche Tatsachen und Anschauungen niedergelegt,
welche in der letzten Zeit zu den Grundlagen der
physiologischen Optik geworden sind.
Die Würdigung des Inhalts der Farbenlehre ist
daher eine schwierige Aufgabe, und wir wollen den
Gang der Darstellung, den wir bei den früheren
wissenschaftlichen Werken Goethes gewählt haben,
hier verlassen. Ich will Ihnen nicht zuerst den
Inhalt von Goethes Schriften mitteilen und danach
entwickeln, welches die allgemeinen leitenden Ge-
danken und die gewichtigen, wissenschaftlichen
Resultate sind, sondern ich möchte Ihnen zunächst
in dieser Vorlesung eine kurze sinnes-physio-
logische Einleitung geben, damit Sie in den
Stand gesetzt werden, aus eigener Kenntnis die
Probleme, um deren Lösung Goethe sich bemühte,
zu begreifen. Denn die Farbenlehre gründet sich
166 Siebente Vorlesung.
nicht nur auf physikalische Tatsachen, sie gehört
vielmehr zu einem wesentlichen Teil der Sinnes-
physiologie an. Durch unser Auge empfangen wir
erst optische Eindrücke, Licht und Farbe. Zu Be-
ginn muß nun gleich bemerkt werden, daß alle die
Tatsachen und Erwägungen, die ich Ihnen jetzt
vortragen werde, zu Goethes Zeiten noch so gut
wie unbekannt waren. Während wir heute mit ver-
hältnismäßiger Leichtigkeit die Probleme beurteilen
können, legten Goethe und seine sämtlichen Vor-
gänger und Zeitgenossen sich derartige sinnesphysio-
logische Fragen überhaupt noch nicht vor. Wir
haben es jetzt leicht, in Goethes Werk das Gold
von den Schlacken zu sondern. Der damaligen Zeit
war dies keineswegs geläufig.
Goethes Farbenlehre enthält zunächst einmal eine
genaue und ganz mustergültige Darstellung
der Tatsachen. Die verschiedenen Arten der
Farbenerscheinungen und die Methoden, sie her-
vorzurufen, werden mit unerreichter klassischer An-
schaulichkeit geschildert, mit einer Treue, daß jeder
mit Leichtigkeit alle Versuche selber anstellen kann.
Erst auf Grund dieser Goetheschen Schilderung der
Erscheinungen und in bewußter Anlehnung an Kants
Kritik der reinen Vernunft hat zunächst Schopen-
hauer die Farbenlehre für die Physiologie in An-
spruch genommen, und danach Johannes Müller die
wissenschaftliche physiologische Optik begründet;
Die Farbenlehre I. — Physiologische Optik. 167
von deren Fortentwicklung durch Helmholtz und
Hering werden wir noch später zu sprechen haben.
Wir dürfen es also Goethe nicht zum Vorwurf
machen, daß er die Kenntnis, die sich erst später
auf Grund seiner eigenen Farbenlehre entwickeln
konnte, selbst noch nicht besessen hat.
Licht- und Farbenempfindung werden uns ver-
mittelt durch ein Sinnesorgan, das Auge. Wir
legen uns zunächst die Frage vor, worin denn im
allgemeinen die Bedeutung unserer Sinnesorgane
liegt? Die Antwort lautet: daß von der Art und
von der Funktion unserer Sinnesorgane ganz eigent-
lich die Beschaffenheit unserer Außenwelt, unseres
Milieus abhängig ist. Ein Beispiel wird die Richtig-
keit dieses scheinbaren Paradoxons schneller ver-
deutlichen als alle Auseinandersetzungen. Denken
Sie sich einen tiefstehenden Wurm, der auf dem
Grunde des Meeres lebt und der nur eine einzige
Art von Sinnesorganen besitzt, die tastempfinden-
den Apparate seiner Haut. Die Außenwelt eines
solchen Tieres wird sich nur aus denjenigen Teilen
des Meeresgrundes zusammensetzen, welche mit
seiner Hautoberfläche in direkte Berührung geraten.
Zu allen anderen Körpern hat der Wurm über-
haupt keine Beziehungen, sie existieren also nicht
für ihn. Er ist nur imstande, den Kreis seiner
Außenwelt zu erweitern, wenn er mit seinem Körper
Ortsbewegungen ausführt und so immer neue Teile
168 Siebente Vorlesung.
des Meeresgrundes mit seiner Haut in direkte Be-
rührung bringt Ein beschränkteres Milieu läßt sich
wohl kaum vorstellen als in diesem Fall. — Wir
betrachten jetzt einen anderen Wurm, der etwas
höher steht und der außer den Tastorganen noch
ein zweites Sinnesorgan haben möge, ein Auge am
Vorderende des Kopfes. Ohne weiteres wird Ihnen
klar, wie durch den Gewinn dieses Organs sich
das Milieu des Tieres mit einem Schlage ausdehnen
muß. Es kann jetzt von einer ganzen Reihe von
Gegenständen beeinflußt werden, welche weit von
ihm entfernt liegen, sofern nur von ihnen Licht
zum Auge gelangen kann. So wird durch das Auf-
treten neuer Sinnesorgane der Kreis der Körper,
welche auf ein gegebenes Tier einwirken können,
um ein Beträchtliches erweitert. Nun machen wir
gleich einen großen Sprung und gehen über zu uns
selber. Wir haben optische Sinnesorgane in unseren
Augen, akustische in unseren Ohren, chemische für
die Ferne in unserer Nase, für die Nähe in den
Qeschmacksapparaten, die Sinnesorgane in unserer
Haut vermitteln uns Druck-, Schmerz- und Tem-
peraturempfindungen. Aus den Elementen, welche
uns diese Sinnesorgane liefern, setzt sich unsere
so außerordentlich reichhaltige und komplizierte
Außenweit zusammen. Sie bestimmen das Milieu,
in dem wir leben. Sie stellen aber keineswegs das
Maximum dessen dar, was überhaupt erreichbar
Die Farbenlehre I. — Physiologische Optik. 169
wäre. Würde unser Auge für Lichtwellen von
größerer Länge als die des äußersten Rot empfind-
lich sein, so würden wir den wärmenden Kachelofen
Licht in einer Farbe ausstrahlen sehen, die wir uns
natürlich nicht vorstellen können. Besäßen wir eine
ganz neue Gruppe von Sinnesorganen, welche direkt
für elektrische Veränderungen unserer Umgebung
empfindlich wären, so würden wir beim Vorbei-
fahren eines elektrischen Trambahnwagens eine
ganze Fülle von Erscheinungen in den Drähten und
der umgebenden Luft wahrnehmen, die uns jetzt
völlig entgehen; bei jedem telephonischen Gespräch,
bei jedem Druck auf die elektrische Klingel würde
eine ganze Reihe von Empfindungen in uns aus-
gelöst werden. Wie sehr wir von unseren Sinnes-
organen abhängig sind, sehen wir daraus, daß es
uns völlig unmöglich ist, uns vorzustellen, wie die
Welt einem der sogenannten Farbenblinden, welche
meist Rot und Grün nicht unterscheiden können, er-
scheint, und umgekehrt haben solche Farbenblinden
keine Möglichkeit, sich die Außenwelt eines normal-
sichtigen Menschen zu vergegenwärtigen. So sehen
wir, daß die Sinnesorgane Tyrannen sind, welche
uns einzwängen in einen ganz bestimmten Kreis von
Vorstellungen von der Außenwelt, aus dem wir nicht
herauskönnen.
Welches sind nun die Gesetze, nach denen diese
Sinnesorgane arbeiten? Die leitende Regel, welche
170 Siebente Vorlesung.
für alle Sinnestätigkeit gilt, ist von Johannes Müller
in dem Gesetz von der spezifischen Sinnes-
energie aufgestellt worden. Dieses besagt, daß
unsere Sinnesempfindungen allein abhängig sind
von der Art des Sinnesnervenapparates, welcher in
Erregung gerät. Es mag dies zuerst selbstverständ-
lich klingen, ist es aber keineswegs, wie Sie sofort
sehen werden, wenn wir die Kehrseite dieses Satzes
betrachten. Die Sinnesempfindung ist nämlich nicht
abhängig von der Art des äußeren Reizes, der unser
Sinnesorgan trifft. Auch hier ein Beispiel statt vieler
Worte. Der Arzt kommt gelegentlich in die Lage,
an unglücklichen Patienten, um sie vor schwererem
Unglück zu bewahren, ein Auge herausnehmen zu
müssen. Das Auge ist durch den Sehnerv mit dem
Gehirn verbunden, und dieser muß bei der Opera-
tion durchtrennt werden. In früheren Zeiten, wo die
Narkose noch unbekannt war, hat man nun fest-
gestellt, daß in dem Moment, wo die Schere des
Chirurgen den Sehnerv des Patienten durchtrennt,
dieser nicht eine Schmerzempfindung, sondern eine
Lichterscheinung hat. Diese Tatsache illustriert das
Gesagte, denn trotzdem der Sehnerv keineswegs
optisch durch das Licht gereizt worden ist, sondern
mechanisch durch den Scherenschiag, hat der Patient
eine optische Empfindung, und diese optische
Empfindung beruht gesetzmäßig darauf, daß der
Sehnerv erregt worden ist, ist aber unabhängig
Die Farbenlehre I. — Physiologische Optik. 171
davon, durch welche Art von Reiz die Erregung
des optischen Nerven bewirkt wurde. Wenn wir
einen galvanischen Strom quer durch unseren
Kopf in der Augengegend schicken, so haben wir
beim öffnen und beim Schluß desselben ebenfalls
eine Lichtempfindung. Wenn wir unseren Augapfel
drücken, resultiert daraus in gleicher Weise eine
Lichtempfindung. Unsere Sinnesorgane sagen uns
also gar nichts aus über die Art des Reizes, der
von außen auf unseren Sinnesapparat einwirkt,
sondern sie vermitteln uns nur die Kunde davon,
daß überhaupt das betreffende Sinnesorgan erregt
worden ist. Wie kommt es nun, daß wir trotz
dieser Unzuverlässigkeit doch so wenigen Sinnes-
täuschungen unterliegen, daß wir trotzdem so richtige
Nachrichten von der Außenwelt erhalten; d. h. daß,
wenn wir auf Grund unserer Sinneswahrnehmungen
handeln, wir so selten mit den Gegenständen der
Außenwelt in Konflikt geraten? Die Lösung dieser
schwierigen Aufgabe wird ermöglicht wiederum
durch die Anordnung unserer Sinneswerkzeuge. So
liegt z. B. unser inneres Ohr, in welchem sich die
Endigungen des Hörnerven befinden, tief eingebettet
im Innern des Kopfes, eingeschlossen in den kom-
paktesten elfenbeinharten Knochen des Felsenbeins,
in dem sich kleine Hohlräume befinden, die mit
Flüssigkeit erfüllt sind; in dieser Flüssigkeit liegen
die Endapparate des inneren Ohres aufs sorgfältigste
172 Siebente Vorlesung.
geschützt vor allen Einflüssen der Außenwelt, welche
etwa den Hömerven erregen können. Nur einzig
und allein die Schallwellen der Luft vermögen sich
in diese Tiefe den Weg zu bahnen. Durch den
Gehörgang setzen sie das Trommelfell und dahinter
die Gehörknöchelchen in Schwingungen, welche sich
auf die Flüssigkeit des inneren Ohres übertragen
und so den Hörnerven erregen können. Die Sinnes-
organe sind also so angeordnet, daß alle anderen,
wie man sagt, nicht adäquaten Reize nach Mög-
lichkeit fern gehalten werden und nur die adäquaten
Reize, z. B. die Schallwellen zum Ohr, die Licht-
wellen zum Auge hingelangen können. Und noch
etwas weiteres: der Hörnerv selber, welcher die
Verbindung des inneren Ohres mit dem Gehirn
vermittelt, ist für die Schallschwingungen der Luft
völlig unempfindlich. Nur seine Endigungen im
inneren Ohr werden durch Schallwellen erregt. Es
besitzen also die Sinnesorgane die wichtige Auf-
gabe, Vorgänge der Außenwelt, welche an sich aufs
Nervensystem nicht wirken, aufzunehmen und in
Nervenerregungen umzusetzen. Dasselbe gilt fürs
Auge. Der Augapfel ist eingebettet in die Augen-
höhle, wohlbeschützt durch die Lider und die
knöchernen Augenbrauenbogen. Er besteht aus einer
derben fibrösen Kapsel, die mit einer durchsichtigen
Gallerte gefüllt ist, und nur auf dem Grund dieser
Kapsel breitet sich der nervöse Endapparat aus, die
Die Farbenlehre I. — Physiologische Optik. 173
Netzhaut, welche für Licht empfindlich ist, während
der Sehnerv selber durch Lichtschwingungen nicht
erregt werden kann. Wir besitzen in Ausnahme-
fällen die Möglichkeit, Druck oder Elektrizität auf
unser Auge einwirken zu lassen, aber im allgemeinen
ist die Netzhaut vor diesen Eingriffen geschützt und
nur die Lichtstrahlen gelangen durch die brechenden
Medien des Auges zu ihr. So kommt es, daß wir
gewöhnlich keinen Trugschluß machen, wenn wir
unseren Gesichts- und Gehörwahrnehmungen trauen,
denn nur in Ausnahmefällen werden diese durch
andere äußere Ursachen hervorgerufen als durch
Licht- bzw. Schallschwingungen.
Aus dem Material, welches so die Sinnesorgane
dem Geiste liefern, setzt dieser seine Vorstellung
von der Außenwelt zusammen. Wir treten z. B.
aus dem Hause in den Garten und nehmen mit
unserem Auge eine blaue Fläche wahr, in deren
Mitte sich etwas Grünes befindet, unterhalb dessen
wir etwas Braunes sehen. Das Ohr hört gleich-
zeitig ein leises Rauschen, und wenn wir uns nach
dem Orte hinbewegen, von dem diese Empfindungen
auszugehen scheinen und mit der Hand das ge-
sehene braune Gebilde berühren, so bekommen wir
das Gefühl des Harten, Rauhen; gleichzeitig riechen
wir einen angenehmen Duft, oder, wenn unsere
Hand ein rundes Gebilde, welches wir sehen, nimmt
und zum Munde führt, so bekommen wir einen
174 Siebente Vorlesung.
Süßen Geschmack. Aus diesen rein objektiv ge-
schilderten, ganz heterogenen Sinnesempfindungen,
welche uns unsere verschiedenen Sinnesorgane
liefern, baut der Verstand zwangsmäßig und unbe-
wußt einen Gegenstand auf. In diesem Fall einen
grünen Baum, der vor dem blauen Himmel steht
und Blüte oder Frucht trägt Was nun das Merk-
würdigste von allem ist, dieser Gegenstand, der in
unserem Innern durch das Zusammentreffen so ganz
verschiedener Sinneseindrücke gebildet wird, wird,
ohne daß wir uns dessen bewußt werden, zwangs-
mäßig nach außen verlegt und erscheint uns als
ein außerhalb unseres Körpers befindlicher Baum.
Jetzt sind wir so weit gelangt, daß wir uns die
Frage vorlegen können, was denn geschieht, wenn
jemand einen Gegenstand, sagen wir eine brennende
Kerze, sieht. Die Prozesse, die hierbei mitspielen,
können wir wie folgt beschreiben: In der brennen-
den Kerze findet eine Oxydation des Stearins oder
Paraffins zu Kohlensäure und Wasser statt, und
dieser Prozeß geht bei so hoher Temperatur vor
sich, daß dadurch einzelne Kohlenteilchen in der
Flamme zum „Glühen" kommen, d. h. sie werden
nach der Annahme der Physiker in so lebhafte
Schwingungen versetzt, daß sie diese Bewegung
ihrer Umgebung und speziell dem hypothetischen
Äther mitteilen. Von den glühenden Kohlenteilchen
der Flamme pflanzen sich also Bewegungsvorgänge
Die Farbenlehre I. — Physiologische Optik. 175
mit großer Geschwindigkeit nach allen Seiten durch
den Äther fort. Ein Teil von ihnen trifft auf das
Auge des Beobachters und dringt durch dessen
Pupille ins Innere bis zur Netzhaut. Unter dem
Einfluß dieser Ätherschwingungen entstehen nun in
der Netzhaut auf noch nicht näher aufgeklärte Weise
nervöse Erregungen und diese werden ähnlich wie
durch einen telegraphischen Draht auf dem Wege
des Sehnerven zum Gehirn unserer Versuchsperson
fortgeleitet. Hier treten darauf eine Reihe von kom-
plizierten nervösen Erregungsvorgängen auf, über
deren feineres Ineinandergreifen wir nur unvoll-
kommen unterrichtet sind. Und nun kommt das
Wunder! Gleichzeitig mit den nervösen Erregungen
im Gehirn, welche vom Sehnerven aus veranlaßt
worden sind, hat die Person eine Empfindung, und
zwar eine Lichtempfindung. Über den Zusammen-
hang der nervösen Erregungen mit den Empfin-
dungen besitzen wir keine Kenntnis, es ist dies
ein unlösbares Rätsel. Aber die Lichtempfindung
tritt gesetzmäßig im Anschluß an die optische Er-
regung auf und wird zwangsmäßig nach außen ver-
legt und lokalisiert. Die Versuchsperson sieht die
Kerze an ihrem Orte im Raum. Jetzt wollen wir
eine einfache Frage der Nomenklatur stellen; wir
wollen fragen, wie man die einzelnen Teile dieses
ganzen eben geschilderten Vorgangs benennt. Die
brennende Kerze nennen wir Licht, den Schwin-
176 Siebente Vorlesung.
gungsvorgang des Äthers, der von der Kerze aus
nach allen Seiten sich verbreitet, nennen die Physiker
wieder Licht, und die Empfindung, welche im
Geiste unserer Versuchsperson dadurch hervor-
gerufen wird, nennen die Physiologen und Psycho-
logen ebenfalls Licht (eine Lichtempfindung). Ja es
ist sogar der Erregungsvorgang in der Netzhaut von
Helmholtz und anderen als Lichtempfindung be-
zeichnet worden; wir wollen von dieser Benennung
hier absehen. Wenn wir statt der weißbrennenden
Kerze ein rotleuchtendes bengalisches Zündholz zu
unserem Versuche nehmen, so schreiben wir der
roten Flamme eine Farbe zu. Die Lichtstrahlen,
die von ihr ausgehen, nennen die Physiker wiederum
farbiges Licht oder Farbe, und die Empfindung,
die der Beobachter dadurch bekommt, ist wieder
Farbe. So sehen Sie, daß bei diesem kompli-
zierten Vorgang, den wir eben in seine Kompo-
nenten aufgelöst haben, eine heillose Verwirrung
der Nomenklatur besteht, und daß jeder mit dem
Worte Licht oder Farbe eigentlich etwas ganz
anderes bezeichnet Daher ist es so schwer ge-
wesen, und auch heute noch so schwierig, sich über
die Natur der Farbe und des Lichts zu verständigen.
Hier liegt der Hauptgrund, weshalb auch Goethe in
seiner Farbenlehre heterogene Dinge miteinander
vereinigen wollte. Denn wir müssen daran denken,
daß, wie oben betont wurde, »die Aufklärung des
Die Farbenlehre I. — Physiologische Optik. 177
ganzen Sehprozesses erst in die nachgoethesche
Zeit fällt. Goethe hat allerdings einen sehr wich-
tigen Schritt vorwärts getan dadurch, daß er alle
Farbenerscheinungen in drei große Gruppen son-
derte, in die physiologischen, in die physischen
und die chemischen Farben. Die physiologischen
Farben sind nach Goethe diejenigen, welche durch
die Zustände und Tätigkeit unseres Auges bedingt
sind. Die physischen sind die, welche nach unserer
heutigen Nomenklatur durch Beeinflussung der Licht-
strahlen und Ätherschwingungen entstehen, also die
prismatischen Farben, die Farben bei der Brechung
und Beugung des Lichtes, die Farbenerscheinung
bei der Doppelbrechung durch Kalkspat u. a. m.
Die chemischen Farben endlich sind die Körper-
farben, die Farben der Steine, Wände, Kleidung,
Papiere usf.^). Diese Goethesche Einteilung lehnt
sich also eng an das Schema an, das wir oben
vom Sehprozeß gegeben haben. Hierbei würde der
Kerze die chemische, den Ätherwellen die physische
und den Erregungen in der Netzhaut und im Gehirn
die physiologische Farbe entsprechen. Goethe hat
aber dadurch einen fundamentalen Irrtum begangen,
0 Heute würden wir den Gegensatz zwischen den physio-
logischen und den andern Farben so definieren, daß in dem
einen Fall eine Farbenempfindung ohne äußeren Reiz ent-
steht, in dem andern Fall durch äußeren Reiz hervorgerufen
wird.
Magnus, Goethe als Naturfosrcher. 12
178 Siebente Vorlesung.
daß er versucht hat, diejenige Methode auch auf
die sinnesphysiologischen Probleme zu übertragen,
welche sich ihm bei seinen morphologischen Studien
so glänzend bewährt hatte, die Methode der kon-
tinuierlichen Reihe. Er hat versucht die physio-
logischen, physischen und chemischen Farben so
zu schildern, daß er, ausgehend von den physio-
logischen, die physischen und die chemischen all-
mählich schrittweise entwickeln wollte. Er hat wohl
gesehen, daß in dem Gegensatz zwischen Objekt
und Subjekt ein großes, schwieriges Problem ver-
borgen liegt: „Hier ist es, wo sich der Praktiker
in der Erfahrung, der Denker in der Speculation
abmüdet und einen Kampf zu bestehen aufgefordert
ist, der durch keinen Frieden und keine Ent-
scheidung geschlossen werden kann." Aber
er hat ebenso wie alle seine Zeitgenossen, außer Kant,
versucht, den prinzipiellen Unterschied zwischen der
physiologischen und der objektiven Seite des Seh-
prozesses außer acht zu lassen bzw. zu überbrücken,
und daher schreibt sich der Irrtum in Goethes
Farbenlehre. In diesem Irrtum aber ist Goethe das
Kind seiner Zeit; und sein fundamentales Verdienst
ist, daß er als einer der ersten auf die physio-
logischen Gesichtserscheinungen im Zusammenhang
aufmerksam geworden ist und sie in ihrer Gesamt-
heit in klassischer und mustergültiger Weise dar-
gestellt hat Der Teil der Farbenlehre, welcher die
Die Farbenlehre I. — Physiologische Optik. 179
physiologischen Farben schildert, ist daher bis auf
den heutigen Tag als bahnbrechend und wissen-
schaftlich grundlegend anzusehen. Ihm werden wir
in unserer Besprechung die erste und wesentliche
Stellung einräumen. Doch auch die anderen Teile
von Goethes optischem Werk entbehren der Be-
deutung nicht, weil sie eine vollständige Zusammen-
fassung und genaue tatsächliche Schilderung der
Phänomene und Experimente darbieten, so daß
selbst ein so genauer Kenner wie Helmholtz an-
gibt, daß über die tatsächliche Richtigkeit irgend
eines von Goethe geschilderten objektiven Vor-
ganges und Experimentes niemals ein Zweifel habe
obwalten können.
Jetzt haben wir die Grundlage gewonnen, von
der aus das Goethesche Werk zu beurteilen sein
wird. Eine genauere Kenntnis der Farbenlehre wird
uns vor allem mit dem äußerst exakten Vorgehen
des Naturforschers bekannt machen.
Goethe selbst hat uns am Schluß seiner Ge-
schichte der Farbenlehre überliefert, wie er zu seinen
optischen Studien gekommen ist. Schon als Student
in Leipzig sah er in Winklers physikalischen Vor-
lesungen die optischen Versuche, welche in großer
Zahl im Anschluß an Newtons Lehre angestellt
wurden, und er behielt sie von daher bis in sein
Alter wohl im Gedächtnis. Er berichtet aber, daß
12*
180 Siebente Vorlesung.
er selbst nicht von der physikalischen Seite zur
Farbenlehre gekommen sei, sondern von der künstle-
rischen. In den Jahren vor der italienischen Reise
versuchte er vielfach sich als Maler und als Zeichner
zu betätigen und gewann erst in Italien die Erkennt-
nis, daß ihm das eigentliche Talent hierzu mangele.
Daher bemühte er sich auch vor allem um die
technische Seite der Malerei, um ihre Regeln. In
Italien studierte er von diesem Gesichtspunkte aus
die Gesetze der Farbengebung an den Meisterwerken
der Malerei und suchte sich vielfach auch bei
Künstlern Rat zu erholen. Diese aber konnten ihm
gewöhnlich nur ganz allgemeine Anhaltspunkte geben,
sie unterschieden kalte und warme Farben und
wußten, daß einzelne Farben sich gegenseitig in
ihrer Leuchtkraft heben. Bestimmte Gesetze er-
fuhr aber Goethe von ihnen nicht. Angelika Kauff-
mann, mit der er in Rom nah verkehrte, wurde nun
von ihm zu verschiedenen koloristischen Versuchen
veranlaßt. Sie malte ein Bild zunächst grau in grau,
das erst zum Schluß mit Farbe lasiert wurde; sie
entwarf eine Landschaft, in der alle blauen Töne
fehlten, und dergleichen mehr. Neben diesen male-
rischen Studien hielt Goethe auch in der freien
Natur seine Augen offen und beobachtete eifrigst
die atmosphärischen Farbenerscheinungen: grüne
Schatten bei purpurnem Sonnenuntergang, die blaue
Färbung entfernter Berge, die Farben naher Schat-
Die Farbenlehre I. — Physiologische Optik. 181
ten und manches andere. So wurden ihm die
Farbenphänomene in Natur und Kunst vertraut.
Nach der Rückkehr auf deutschen Boden trat die
optische Beschäftigung zunächst zurück. Als aber
Hofrat Büttner von Göttingen nach Jena übersiedelte
und einen reichhaltigen optischen Apparat mit-
brachte, lieh er einiges davon aus und beabsichtigte
damit zu experimentieren. Es blieb aber bei dieser
Absicht und Büttners Prismen blieben unberührt
liegen, bis ihr Eigentümer ungeduldig wurde und
sie immer energischer zurückverlangte. Schließlich
wurde sogar ein Bote nach Weimar geschickt, um
sie zu holen. So gedrängt, wollte sie Goethe ge-
rade aushändigen, als er noch rasch einen Blick
durch ein Prisma warf. Dieser Moment ist für
Goethes ganze späteren optischen Studien entschei-
dend. Ihm war von der Studienzeit her im Ge-
dächtnis geblieben, daß durch ein Prisma weißes
Licht in farbiges zerlegt werde, und als er durch
Büttners Prisma die weiße Wand seines Zimmers
betrachtete, erwartete er fälschlich die ganze Wand
in Regenbogenfarben schillern zu sehen. Das war nun
natürlich nicht der Fall. Die Wand erschien weiß,
nur ihre Ränder und die Stäbe des Fensterkreuzes
zeigten die prismatischen Farben. Goethe stutzt, und
es fällt ihm ein, die Newtonsche Theorie des Lichts
müsse falsch sein. Er behält die Prismen zurück und
beginnt nun 1790 aufs eifrigste zu experimentieren.
182 Siebente Vorlesung.
Mehr und mehr befestigt sich in ihm die Überzeu-
gung von der Unrichtigkeit der Newtonschen Lehre,
aber alle Bemühungen, diese Überzeugung auch
andern Leuten zu vermitteln, scheitern, besonders
die Physiker verhalten sich Goethes immer dringen-
der werdenden Demonstrationen gegenüber völlig
ablehnend. Doch immer tiefer versenkt er sich in
seine Überzeugung. Er läßt sich schließlich Newtons
Werke kommen und macht seine Versuche in allen
Einzelheiten aufs sorgfältigste nach. Diese Experi-
mente scheinen ihm nun absichtlich kompliziert zu
sein, um den wahren Sachverhalt zu verdecken, und
er geht jetzt daran, selbst die einfachen grundlegen-
den Versuche anzustellen und zu schildern. Von
den physikalischen Forschungen gelangt Goethe
dann wieder zurück zu den physiologischen. Er
studiert die Phänomene der farbigen Schatten, er
vertieft sich schließlich von Jahr zu Jahr immer mehr
in die Farbenlehre, bis schließlich nach mehr als
zwanzigjähriger Tätigkeit das gesamte Werk abge-
schlossen wird und 1810 erscheint
Wie rasch aber Goethe besonders am Anfang
arbeitete, ist daraus zu ersehen, daß er schon im
Jahre 1791 das erste Stück seiner Beiträge zur Optik
erscheinen ließ, mit Abbildungen, die in Spielkarten-
format in einer Kartenfabrik gedruckt waren. Diese
wurden «niit schlechtem Dank und hohlen Redens-
arten der Schule beiseite geschoben." Das zweite
Die Farbenlehre I. — Physiologische Optik. 183
Stück der Beiträge erschien 1792; in demselben
Jahre schrieb er den ersten Aufsatz über die farbigen
Schatten, der das dritte Stück seiner Beiträge bil-
den sollte und das höchste Interesse des Physikers
und Satyrikers Lichtenberg in Göttingen erregte.
Im Jahre 1793 wurde im Lager von Marienborn
ein kleiner Aufsatz, „einige allgemeine chroma-
tische Sätze", geschrieben. In demselben Jahre
verfaßte er höchst wahrscheinlich noch den „Ver-
such die Elemente der Farbenlehre zu entdecken",
den Aufsatz „über Newtons Hypothese der diver-
sen Refrangibilität" und „über Farbenerscheinungen
bei der Refraktion". Das endgültige Hauptwerk:
„Zur Farbenlehre" erschien in zwei Bänden mit
einem Tafelheft. Der erste Band enthält: „Ent-
wurf einer Farbenlehre. Des Ersten Bandes Erster,
didaktischer Teil" und „Enthüllung der Theorie
Newtons. Des Ersten Bandes Zweiter, polemischer
Teil". Der zweite Band besteht fast ganz aus den
„Materialien zur Geschichte der Farbenlehre. Des
Zweiten Bandes Erster, historischer Teil". Ein be-
absichtigter zweiter supplementärer Teil ist nie er-
schienen. „Statt des versprochenen supplementären
Teils" läßt Goethe einen Aufsatz von Seebeck
„Wirkung farbiger Beleuchtung" abdrucken. Seine
späteren optischen Aufsätze sind in den Heften
„Zur Naturwissenschaft" erschienen. So weit die
bibliographischen Notizen. Lassen Sie uns jetzt zur
184 Siebente Vorlesung.
Sache, zum Inhalt von Goethes Farbenlehre über-
gehen.
Goethe geht in dei Einleitung davon aus, daß wir
durch unser Sinnesorgan über das eigentliche Wesen
des Lichtes nichts Direktes wahrnehmen können, son-
dern nur seine Wirkung erfahren. Die wichtigsten
Wirkungen sind die Farben. „Die Farben sind Thaten
des Lichts, Thaten und Leiden." Für die Erkenntnis
unserer sichtbaren Welt sind nun die Farben von
wesentlicher Bedeutung. „Die ganze Natur offenbart
sich durch die Farbe dem Sinn des Auges." Er
spricht von der Welt des Auges, die durch Gestalt und
Farbe erschöpft wird, und fragt: „Gehören die Farben
nicht ganz eigentlich dem Gesicht an?" Die Emp-
findungen Schwarz, Weiß und die Farben sind nach
unserer heutigen Bezeichnungsweise die Qualitäten,
d. h. die verschiedenen Empfindungsarten des Auges.
Unser Auge vermittelt uns nur solche Qualitäten.
Diese Erkenntnis spricht Goethe schon mit aller
Deutlichkeit aus, wenn er sagt: „Hell, dunkel und
Farben zusammen machen allein dasjenige aus, was
den Gegenstand vom Gegenstand, die Teile des
Gegenstands voneinander fürs Auge unterscheidet,
und so erbauen wir aus diesen dreien die sicht-
bare Welt" Wie entsteht nun ein Auge? Goethe
beantwortet diese Frage von demselben Standpunkte,
von dem aus er die tierische Formbildung überhaupt
Die Farbenlehre I. — Physiologische Optik. 185
betrachtet. Das Auge soll durchs Licht fürs Licht
gebildet sein; aus gleichgültigen tierischen Hilfs-
organen soll unter dem Einfluß des Lichts ein so
zweckmäßiges Sinnesorgan entstanden sein. Wir er-
innern uns, daß Goethe dieselbe Vorstellungsart ent-
wickelte, als er die Fische durchs Wasser fürs
Wasser, die Vögel durch die Luft für die Luft ge-
bildet sein ließ. Es wird dann in der Einleitung
weiter darauf hingewiesen, daß die alten ionischen
Philosophen lehrten, es könne nur Gleiches von
Gleichem erkannt werden, und welche daher dem
Auge auch Licht zuschrieben. „War' nicht das Auge
sonnenhaft, wie könnten wir das Licht erblicken?"
Er meint nun von seinem Standpunkte aus dies
etwa so ausdrücken zu können: „Im Auge wohnt
ein ruhendes Licht, das bei der mindesten Ver-
anlassung von innen oder von außen erregt wird."
Dieses ruhende Licht bezeichnen wir heute als Licht-
empfindung, die durch innere oder äußere Ursachen
hervorgerufen werden kann. Goethe ist hier also
der Erkenntnis, daß Licht und Farbe nur unsere
Empfindungen sind, ganz außerordentlich nahe ge-
kommen, hat aber trotzdem diese Konsequenz nicht
gezogen und spricht kurz darauf von der Farbe als
einem Naturphänomen für den Sinn des Auges.
Der erste Abschnitt von Goethes Farbenlehre
behandelt die physiologischen Farben. Es ist
schon eine große wissenschaftliche Tat, diesen Ab-
186 Siebente Vorlesung.
schnitt an die Spitze zu stellen und als das Funda-
ment der ganzen Lehre zu bezeichnen. Diese Farben-
erscheinungen, welche man früher nur für zufällig,
täuschend oder krankhaft gehalten hatte, beruhen
nach Goethe auf der Tätigkeit des gesunden Auges,
über dessen Eigenschaften wir durch sie Sicheres er-
fahren. Sehr scharf wendet sich Goethe gegen die An-
schauung, daß es sich hier um Gesichtstäuschungen
handle. „Gesichtstäuschungen sind Gesichtswahr-
heiten**, und „es ist eine Gotteslästerung zu sagen,
daß es einen optischen Betrug gibt". Gerade aus
den Fällen, in denen unser Auge uns Empfindungen
vermittelt, die den Vorgängen in der Außenwelt ent-
sprechen, können wir nichts über die normale Tätigkeit
dieses Organs erfahren; die physiologischen Farben-
erscheinungen lehren uns dagegen die Eigenschaften
des Auges kennen. Goethe hat hier in aller Kürze,
aber doch eingehend genug ein Lehrbuch der physio-
logischen Optik geschrieben. Hier liegen auch nach
ihm die Ursachen der chromatischen Harmonie
begründet Da er in seinen Studien von der Unter-
suchung des malerischen Kolorits ausgegangen war, so
mußte ihn die Frage, worauf denn die Farbenharmonie
beruhe, lebhaft interessieren. Seine Studien haben ihn
zu der Erkenntnis geführt, daß sie durch die physio-
logischen Eigenschaften unseres Auges bedingt sei.
Der erste Abschnitt „Licht und Finsternis zum
Auge" setzt das Verhalten des Auges zur Beiich-
Die Farbenlehre I. — Physiologische Optik. 187
tung und Verdunkelung auseinander. Die Netzhaut
befindet sich nach Goethe bei Belichtung und Ver-
dunkelung in zwei verschiedenen, und zwar ent-
gegengesetzten Zuständen. Trotzdem bezeichnet er
das Schwarz nicht als eine eigentliche Empfindung,
wie es heute geschieht, sondern als einen Mangel
an Empfindung. Die Erregbarkeit des Auges zeigt
nun im Dunkeln und im Hellen sehr starke Ver-
änderungen. Diese Zustände, die wir als Adaption
bezeichnen, sind Ihnen allen aus Erfahrung bekannt.
Wenn wir in ein dunkles Zimmer treten, so sehen wir
zunächst gar nichts; erst nach einiger Zeit gewöhnt
sich unser Auge an die geringe hier herrschende
Helligkeit, und wir beginnen allmählich die Gegen-
stände immer besser zu unterscheiden. Goethe
hat die zur Dunkeladaption erforderliche Zeit zu ein
bis acht Minuten bestimmt. Umgekehrt werden wir,
wenn wir aus dem Dunklen ins Helle treten, ge-
blendet und können erst nach einiger Zeit die Gegen-
stände wieder gut unterscheiden. Im Dunkeln wird
die Empfindlichkeit unseres Auges gesteigert, im
Hellen herabgesetzt. Darauf beruht es nach Goethe,
daß wir am Tage die Sterne nicht sehen, obwohl
sie am Himmel stehen und dieselbe Lichtmenge wie
des Nachts zu uns herunter schicken. Wir sehen
auch faulendes Holz im hellen Tageslicht aus diesem
Grunde nicht leuchten, nicht aber weil die Erschei-
nung nur des Nachts tatsächlich eintritt.
188 Siebente Vorlesung.
Der nächste Abschnitt „Schwarze und weiße
Bilder zum Auge" handelt zunächst von den Irra-
diationserscheinungen. Sie sehen auf der oberen
Hälfte von Fig. 6, daß eine weiße Scheibe auf
schwarzem Grunde größer aussieht als eine schwarze
Scheibe von gleichem Umfang auf weißem Grunde.
So scheint auch die leuchtende Mondsichel einem
größeren Kreis anzugehören als die dunkle Mond-
scheibe, die man an klaren Nächten gleichzeitig sieht.
Schwarze Kleider machen schlank, weiße dick. Ein
Lineal, das man quer vor eine leuchtende Kerze
hält, scheint an der Stelle, wo es die Flamme
schneidet, durch diese eingekerbt zu sein. Ich möchte
hier nicht die heutige Theorie der Irradiationserschei-
nung auseinandersetzen, welche etwas kompliziert
ist, sondern nur die interessante Deutung erwähnen,
die Goethe diesen Phänomenen wenn auch mit aller
Vorsicht und nur hypothetisch gibt. Er stellt sich
vor, daß im Dunkeln die Netzhaut in sich zusammen-
gezogen ist und sich bei Belichtung flächenhaft
ausbreitet Dasselbe tritt ein, wenn die Netzhaut
gleichzeitig das Bild schwarzer und weißer Gegen-
stände empfängt. Dann bleibt sie an den Stellen,
die nicht vom Licht getroffen werden, zusammen-
gezogen und breitet sich an den belichteten aus.
So beruht also nach Goethe die Vergrößerung des
weißen Bildes auf einer objektiven Größenzunahme
und Ausdehnung der belichteten Netzhautstelle. Be-
Die Farbenlehre I. — Physiologische Optik. 189
Wegungserscheinungen der Netzhaut haben sich in
dieser Form nicht nachweisen lassen. Die Hypo-
these muß daher aufgegeben werden. Sie ist aber
deshalb von größtem Interesse, weil Goethe hier
schon überhaupt Bewegungserscheinungen der Netz-
haut durch Belichtung angenommen hat. Solche
Phänomene sind in der Folgezeit verschiedentlich be-
kannt geworden, und wir wissen jetzt, daß durch Be-
lichtung Verlängerungen und Verkürzungen der Stäb-
chen und Zapfen in der Netzhaut eintreten können,
und daß ganz gesetzmäßige Wanderungen schwarzen
Pigments zu beobachten sind.
Es werden sodann die positiven Nachbilder
geschildert. Fixieren wir mit wohl ausgeruhtem
Auge kurze Zeit das Fensterkreuz und schließen
sodann die Lider, so bleibt das Bild noch einige
Zeit lang bestehen. Die Erscheinung ist allbe-
kannt, daß, wenn man zufällig in die strahlende
Sonne gesehen hat und darauf geblendet das Auge
schließt, das leuchtende Sonnenbild noch eine Zeit
im Auge bleiben kann. Auch hier hat Goethe die
zeitliche Dauer der Nachbilder bestimmt. Er findet
sie abhängig von der Intensität der Beleuchtung und
vor allem von der Empfindlichkeit, vom Adaptions-
zustande des Auges. Bei Augenkranken können sie
eine Viertelstunde und länger dauern.
Genau das Umgekehrte tritt auf, wenn man nach
Fixierung z. B. des Fensterkreuzes nicht ins Dunkle,
190 Siebente Vorlesung.
sondern ins Helle, auf eine graue oder weiße Wand
sieht Dann erblickt man das umgekehrte, nega-
tive Nachbild, nach Goethes Ausdrucksweise „das
geforderte Bild". Wenn Sie z. B. eine weiße
Scheibe auf schwarzem Grunde (Fig. 6) längere Zeit
fixieren und danach auf eine weiße Fläche blicken,
so sehen Sie einen dunklen Kreis auf hellem Grunde.
Goethe gibt gleich die richtige Erklärung. Starren
wir längere Zeit auf eine schwarze und weiße
Fläche, so bleiben die Teile der Netzhaut, auf die
das schwarze Bild fällt, ausgeruht (dunkeladaptiert),
während die Teile, auf die das weiße Bild fällt, er-
müdet, in ihrer Empfindlichkeit herabgesetzt (hell-
adaptiert) werden. Fällt nun nachher das Bild einer
gleichmäßig grauen Fläche ins Auge, so trifft dies
verschiedene Teile der Netzhaut in verschiedenem
Erregungszustande. Die Teile, auf die vorher das
dunkle Bild gefallen war, sind erregbarer und sehen
daher das graue Papier an den entsprechenden
Stellen heller. Sehr zahlreich sind die Fälle, in
denen sich dies Phänomen beobachten läßt. Z. B.
sehen wir um dunkel gekleidete Personen auf hellem
Grunde eine Gloriole, einen Heiligenschein, der be-
sonders deutlich wird, wenn z. B. Menschen im Ge-
birge sich gegen den grauen Himmel abheben. Es
ist „das geforderte Bild", das bei kleinen Augen-
bewegungen über die Konturen der dunkeln Personen
herObergrelft. Diese Erscheinung bezeichnet man als
Fig. 6.
Die Farbenlehre I. — Physiologische Optik. 191
Successivkontrast. Im Gegensatz hierzu unter-
scheidet man einen Simultankontrast, zu dessen
Schilderung Goethe in dem nächsten Abschnitt
„Graue Flächen und Bilder** übergeht. Sie sehen
auf der unteren Hälfte von Fig. 6 zwei graue Recht-
ecke. Das auf weißem Grunde erscheint dunkler,
das auf schwarzem Grunde heller. In Wirklichkeit
sind sie aber genau gleich hell. Goethe deutet
dieses Phänomen physiologisch, es beruht nach ihm
auf einer Lebensäußerung der Netzhaut. Wenn irgend
welche Teile der Retina durch Licht getroffen wer-
den, so ändert sich nicht nur ihre eigene Empfind-
lichkeit, sondern auch die der umliegenden Netz-
hautpartien. Diejenigen Stellen der Retina, auf
welche die beiden gleichgrauen Bilder fallen, haben
eine verschiedene Empfindlichkeit, weil die um-
liegenden Netzhautteile das eine Mal von weißem
Licht, das andere Mal von keinem Licht getroffen
werden. Einige andere hierher gehörige Beispiele
führt Goethe des weiteren noch an. In der Deutung
des Simultankontrastes nimmt er einen ganz modernen
Standpunkt ein. Noch Helmholtz hatte den Simultan-
kontrast auf psychologische Ursachen bezogen; es
sollte ihm eine Urteilstäuschung zugrunde liegen.
Die neuere Forschung hat aber immer mehr Fälle
bekannt gemacht, in denen solche Urteilstäuschungen
ausgeschlossen sind, und bekennt sich daher mehr
und mehr zu dem Goetheschen Standpunkt. Wir
192 Siebente Vorlesung.
haben im Simultankontrast ein physiologisches Phä-
nomen zu sehen, eine „Induktion" von einem Teil
der Netzhaut auf einen anderen, wodurch dessen
Erregbarkeit geändert wird.
Goethe geht nun zu den Farbenerscheinungen
über und bespricht zunächst solche Fälle, in denen
Farbenempfindungen nach Belichtung mit weißem
Licht auftreten; das beste Beispiel liefert das farbige
Abklingen der Blendungsbilder, wie wir es von der
Sonne oder im Dunkelzimmer von stark belichtetem
weißen Papier empfangen. Sehen wir danach ins
Dunkle, so wird das ursprüngliche gelbe Sonnen-
bild allmählich farbig. Für Goethes Augen war die
Reihenfolge so, daß zuerst das Bild purpur, dann
blau, dann grau gefärbt wurde. Er bestimmte die
zeitliche Dauer der verschiedenen Farbenerschei-
nungen und fand sie sehr wechselnd, meinte aber,
daß sich vielleicht ein konstantes Verhältnis zwischen
der Dauer der einzelnen Phasen finden lasse. Hieran
hat dann später Purkinje in seinen „Beiträgen zur
Kenntnis des Sehens in subjektiver Hinsicht" an-
geknüpft. Ganz anders wurden nun die Farben, wenn
Goethe das Biendungsbild nicht auf dunklem, son-
dern auf hellem Grund abklingen ließ. Sah er auf
ein weißes Blatt Papier, so erschien ihm das Nach-
bild der Sonne nicht gelb, sondern blau, die nächste
Phase war nicht purpur, sondern grün, die dritte
gelb statt blau. Schließlich ging das Bild ebenfalls
Die Farbenlehre I. — Physiologische Optik. 193
in grau über. Sehr schön läßt sich dieses gegen-
sätzliche Verhalten erkennen, wenn man das Nach-
bild auf ein Blatt Papier fallen läßt, das zur Hälfte
schwarz, zur Hälfte weiß gefärbt ist; dann sieht man
gleichzeitig in der einen Hälfte die Folge gelb,
purpur, blau, während in der andern Hälfte blau,
grün, gelb erscheint. So können Farbenempfindungen
in einem Auge entstehen, in welches vorher nur
weißes Licht gefallen war. Diese Farben sind ver-
schieden, je nachdem die Netzhaut in Ruhe bleibt
oder gleichzeitig durch weißes Licht gereizt wird.
In letzterem Falle erscheint die Komplementär-
farbe, nach Goethes Ausdruck die „geforderte"
Farbe. Ein schönes Beispiel, welches gleichzeitig
lehrt, wie Goethe in der Natur seine Augen offen
hielt und zu beobachten pflegte, findet sich in der
Farbenlehre. „Ich befand mich gegen Abend in
einer Eisenschmiede, als eben die glühende Masse
unter den Hammer gebracht wurde. Ich hatte scharf
darauf gesehen, wendete mich um und blickte zu-
fällig in einen offenstehenden Kohlenschoppen. Ein
ungeheures purpurfarbnes Bild schwebte nun vor
meinen Augen, und als ich den Blick von der dunklen
Öffnung weg, nach dem hellen Bretterverschlag wen-
dete, so erschien mir das Phänomen halb grün, halb
purpurfarben, je nachdem es einen dunklem oder
hellem Grund hinter sich hatte." Ebenso wird von
Goethe das Purpursehen der Schneeblinden, welche
Magnus, Goethe als Naturforscher. 13
194 Siebente Vorlesung.
längere Zeit ohne Schutzbrillen über Gletscher ge-
wandert sind, als solche Blendungsfarbe gedeutet.
Nach dieser Vorbereitung erörtert Goethe die
Erscheinungen, welche bei Betrachtung farbiger
Bilder auftreten, und schildert zunächst die nega-
tiven farbigen Nachbilder. Wenn man auf einer
weißen Papiertafel ein rotes Papierstückchen (z. B.
eine Zehnpfennigmarke) befestigt und dieses längere
Zeit fixiert, so sieht man nachher, wenn das Auge
auf einen gleichmäßig weißen Grund gerichtet wird,
ein grünes Nachbild. War das Papier vorher grün
(eine Fünf pfennigmarke), so ist das Nachbild rot,
nach orange ist es blau, nach gelb violett, und um-
gekehrt Dieses Auftreten der geforderten Farbe
nennen wir Successivkontrast, und Goethe gibt auch
hierfür die noch heute gültige physiologische Deu-
tung. Es erscheint uns bei diesem Versuch „die
zur Opposition aufgeforderte und durch den Gegen-
satz eine Totalität hervorbringende Lebendigkeit
der Netzhaut". Der Sinn dieses nicht leicht zu ver-
stehenden Satzes ist, daß es sich bei dem Phänomen
um eine Lebensäußerung, um eine Reaktion der
Netzhaut handelt, welche unter dem Einfluß des
Reizlichtes ihre Erregbarkeit so ändert, daß sie für
die Gegenfarbe erregbarer (zur Opposition aufgefor-
dert) wird. Da nun, wie wir gleich sehen werden,
Reizlicht und Gegenfarbe sich ergänzen und auf-
heben, 80 wird durch diesen Gegensatz eine Totali-
Die Farbenlehre I. — Physiologische Optik. 195
tat hervorgebracht. Goethe hat an einer andern
Stelle sich folgendermaßen ausgedrückt: „Wenn das
Auge die Farbe erblickt, so wird es gleich in Thätig-
keit gesetzt, und es ist seiner Natur gemäß, auf der
Stelle eine andere, so unbewußt als notwendig,
hervorzubringen, welche mit der gegebenen die
Totalität des ganzen Farbenkreises enthält. Eine
einzelne Farbe erregt in dem Auge, durch eine
spezifische Empfindung, das Streben nach Allge-
meinheit." Daß es sich bei
diesen negativen Nachbildern
um tatsächliche farbige Er-
regungen in der Netzhaut han-
delt (Successivinduktion), da-
für gibt Goethe einen schönen
Beweis. Er zeigt an einer spä-
teren Stelle der Farbenlehre, ^'^•'•
daß man die Farbe des negativen Nachbildes mit
der Farbe irgend eines objektiven Papierstückes
mischen könne, und daß dabei die gesetzmäßige
Mischfarbe auftritt. Auf Grund dieser Tatsachen
hat nun Goethe einen Farbenkreis konstruiert, aus
dem sich die geschilderten Erscheinungen sofort
ableiten lassen.
In diesem Kreis (Fig. 7) stehen sich die Farben
gerade gegenüber, welche sich gegenseitig fordern.
Er enthält nach Goethes Ansicht, der in dem Grün
keine einheitliche, sondern eine Mischfarbe sah, drei
13*
196 Siebente Vorlesung.
einfache Farben: blau, gelb und purpur (rot), und
drei Mischfarben: grün, orange und violett. Es
stehen sich immer eine einfache und eine Misch-
farbe gegenüber. Da die geforderte Mischfarbe
(orange, violett, grün) immer aus den zwei andern
Farben zusammengesetzt ist, als das einfache Reiz-
licht (blau, gelb, purpur), so sehen wir, wie nach
Goethe das Reizlicht und die geforderten Farben
zusammen immer eine Totalität liefern müssen, in-
dem sie immer aus den drei Grundfarben zusammen-
gesetzt sind. Das ist die physiologische Dreifarben-
theorie, wie sie Goethe gegeben hat. Sie hat mit
der Young-Helmholtzschen Dreifarbentheorie gar
nichts zu tun, zeigt vielmehr eine nähere Verwandt-
schaft mit der Heringschen Theorie der Gegenfarben,
weil sie ebenfalls von den Empfindungen ausgeht.
Der Farbenkreis, wie er sich in neuern physio-
logisch-optischen Lehrbüchern findet, hat ein anderes
Aussehen. Hier stehen sich grün und rot, blau und
gelb gegenüber. Wir dürfen daraus aber nicht
schließen, daß Goethes Farbenkreis etwa fehlerhaft
konstruiert sei. Es ist nur ein anderes Konstruktions-
prinzip verwendet worden. Hering z. B. konstruiert
seinen Farbenkreis so, daß immer zwei gegenüber-
stehende Farben bei der Mischung grau oder weiß
ergeben, während Goethe die physiologischen Kon-
trastfarben einander gegenüberstellt. Das ist aus
Gründen, deren Erörterung hier zu weit führen
Die Farbenlehre I. — Physiologische Optik. 197
würde, nicht ganz dasselbe. Goethes Farbenkreis
beruht auf außerordentlich genauen Beobachtungen.
So gelangt er zu dem Schluß, daß die Farben-
empfindungen unseres Auges einen in sich abge-
schlossenen Ring bilden, der aus drei Grundfarben
und den dazwischenliegenden Übergängen besteht.
Dadurch scheidet sich das Farbensystem unseres
Auges scharf vom objektiven Farbensystem, wie es
im Spektrum vorhanden ist. Dieses bildet eine ein-
fache lineare Reihe vom Rot über Gelb, Grün, Blau
zum Violett; das Auge erst schließt diese Reihe zum
Kreis dadurch, daß es eine Farbenempfindung be-
sitzt, für welche im Spektrum das entsprechende
Reizlicht nicht vertreten ist, und welche erst bei
Mischung des äußersten spektralen Rots und Violetts
auftritt, den Purpur. Dieser Goethesche Purpur stellt
nach seiner Ansicht das reinste Rot dar, welches
keine Spur von Blau oder Gelb beigemischt enthält.
Von dem modernen Heringschen Farbensystem unter-
scheidet das Goethesche sich dadurch, daß Grün als
eine Mischfarbe betrachtet wird. Goethe war hier
durch die Erfahrung irregeleitet, daß man bei der
Malerei Grün aus Gelb und Blau mischen kann. Das
liegt aber nur an der Unreinheit der verwendeten
Pigmente. Reines spektrales Blau und Gelb ge-
mischt geben grau oder weiß. Aus diesem Irrtum
ist aber Goethe kein Vorwurf zu machen, denn die
Erkenntnis der Mischungsverhältnisse von Blau und
198 Siebente Vorlesung.
Gelb ist erst fünfzig Jahre nach Goethe durch die
Untersuchungen von Helmholtz ermöglicht worden.
Es ist interessant, daß bei Goethe ebenso wie bei
dem Physiker Brewster die Gewißheit, Grün sei eine
Mischfarbe, so weit ging, daß sie im Grün den
gelben und den blauen Anteil zu erkennen glaubten,
während es doch tatsächlich unmöglich ist, sich ein
gelbliches Blau oder bläuliches Gelb vorzustellen^).
Abgesehen von diesem einen Punkte entspricht
Goethes Dreifarbentheorie, soweit es das Wissen der
Zeit erlaubte, in den wesentlichen Zügen der späteren
Vierfarbentheorie Herings.
Sehr anschaulich sind wieder die Beispiele, die
Goethe für den Successivkontrast anführt. „Als ich
gegen Abend in ein Wirtshaus eintrat und ein wohl-
gewachsenes Mädchen mit blendendweißem Gesicht,
schwarzen Haaren und einem scharlachroten Mieder
zu mir ins Zimmer trat, blickte ich sie, die in
einiger Entfernung vor mir stand, in der Halbdäm-
merung scharf an. Indem sie sich nun darauf hin-
wegbewegte, sah ich auf der mir entgegenstehenden
weißen Wand ein schwarzes Gesicht, mit einem
*) Ooethe hat allerdings beachtet, daß Grün uns nicht
80 deutlich als Mischfarbe erscheint, wie z. B. Orange oder
Violett. So sagt er: .Die Mischung OrUn hat etwas Spezi-
fisches für das Auge" und bemerkt, daß „das Auge und das
Gemüt auf diesem Gemischten wie auf einem Ein-
fachen" ruhe. Den Schluß, daß Grün eine einheitliche
Grundempfindung sei, hat er aber nicht gezogen.
Die Farbenlehre I. — Physiologische Optik. 199
hellen Schein umgeben, und die Übrige Bekleidung
der völlig deutlichen Figur erschien von einem
schönen Meergrün." Dieses Eriebnis muß einen
tiefen Eindruck auf ihn gemacht haben, denn unter
den optischen Papieren im Goethehaus befindet sich
noch heute das Bild eines Mädchens in den Kon-
trastfarben (s. unten S. 240, Fig. 9, Nr. 6). Hat man
dieses längere Zeit fixiert, so sieht man nachher auf
weißem Grunde ein deutliches Frauenbild.
Das nächste hierher gehörige Phänomen hat
Goethe längere Zeit beschäftigt und wird auch
in seiner Korrespondenz mehrfach erwähnt. „Man
erzählt, daß gewisse Blumen im Sommer bei Abend-
zeit gleichsam blitzen, phosphorescieren oder ein
augenblickliches Licht ausströmen. Einige Beobach-
ter geben diese Erfahrungen genauer an. . . . Am
19. Jun. 1799, als ich zu später Abendzeit, bei
der in eine klare Nacht übergehenden Dämmerung,
mit einem Freunde im Garten auf- und abging, be-
merkten wir sehr deutlich an den Blumen des
orientalischen Mohns, die vor allen andern eine sehr
mächtig rote Farbe haben, etwas Flammenähnliches,
das sich in ihrer Nähe zeigte. Wir stellten uns vor
die Stauden hin, sahen aufmerksam darauf, konnten
aber nichts weiter bemerken, bis uns endlich, bei
abermaligem Hin- und Wiedergehen, gelang, indem
wir seitwärts darauf blickten, die Erscheinung so
oft zu wiederholen, als uns beliebte. Es zeigte sich,
200 Siebente Vorlesung.
daß es ein physiologisches Farbenphänomen, und
der scheinbare Blitz eigentlich das Scheinbild der
Blume in der geforderten blaugrünen Farbe sei
Die Dämmerung ist Ursache, daß das Auge völlig
ausgeruht und empfänglich ist, und die Farbe des
Mohns ist mächtig genug, bei einer Sommer-
dämmerung der längsten Tage, noch vollkommen zu
wirken und ein gefordertes Bild hervorzurufen. . . .
Will man indessen sich auf die Erfahrung in der
Natur vorbereiten, so gewöhne man sich, indem
man durch den Garten geht, die farbigen Blumen
scharf anzusehen und sogleich auf den Sandweg
hinzublicken; man wird diesen alsdann mit Flecken
der entgegengesetzten Farbe bestreut sehen. Diese
Erfahrung glückt bei bedecktem Himmel, aber auch
selbst beim hellsten Sonnenschein, der, indem er
die Farbe der Blume erhöht, sie fähig macht die
geforderte Farbe mächtig genug hervorzubringen,
daß sie selbst bei einem blendenden Lichte noch
bemerkt werden kann. So bringen die Päonien
schön grüne, die Calendeln lebhaft blaue Spectra')
hervor.*
Eine farbige Belichtung, welche eine Stelle der
Netzhaut trifft, ändert aber nicht nur die „chroma-
tische Stimmung" an dieser selben Stelle, sondern
vermag auch auf die umliegenden Netzhautbezirke
') Spectra *-• Nachbilder.
Die Farbenlehre I. — Physiologische Optik. 201
eine ähnliche Wirkung auszuüben. Wir kommen
damit zur Besprechung der Fälle, welche heute als
farbiger Simultankontrast bezeichnet werden. Goethe
hat sie in besonders eingehender Weise studiert
und ihnen die physiologische Deutung gegeben.
Wird an einer gelben Wand ein Stückchen weißes
Papier befestigt, so bekommt dieses, aus der Ent-
fernung gesehen, einen violetten Schein. Legt man
geblümten Musselin auf ein lebhaft grün gefärbtes
Papier, so scheint die Unterlage durch die durch-
sichtigen Stellen des Musselins grünlich hindurch,
die undurchsichtigen weißen Blumen erscheinen in
der geforderten Komplementärfarbe rötlich. Sieht
man durch die Zwischenräume des herabgelassenen
grünen Fensterladens aus dem Zimmer auf ein gegen-
überliegendes graues Haus, so sehen dessen Wände
ebenfalls rötlich aus. Am Meeresstrand sieht man
die grünen Wellen lebhafte purpurne Schatten werfen.
„Siehst auf und ab lichtgrüne schwanke Wellen,
Mit Purpursaum, zu schönster Wohnung schwellen"
(Faust).
Alle diese Fälle haben das Gemeinsame, daß eine
Netzhautstelle farbig erregt wird und dadurch andere
Netzhautstellen disponiert werden, die Komplemen-
tärfarben erscheinen zu lassen. Diesen Vorgang
physiologisch gedeutet zu haben ist Goethes Ver-
dienst „Mahlt sich auf einem Theile der Netzhaut ein
farbiges Bild, so findet sich der übrige Theil so-
202 Siebente Vorlesung.
gleich in einer Disposition, die bemerkten correspon-
direnden Farben hervorzubringen.** Diese physio-
logische Deutung Goethes, die sich eng an seine
Auffassung des farblosen Simultankontrastes an-
schließt, ist keineswegs die einzig mögliche. Helm-
holtz hat auch den farbigen Simultankontrast auf
psychische Ursachen zurückzuführen und als Urteils-
täuschungen zu deuten versucht. Neuerdings ist
man aber mehr und mehr wieder zu der Goetheschen
Ansicht gekommen. Man sieht im Simultankontrast
den Ausdruck für eine „farbige Induktion", die ein
Netzhautbezirk auf den andern auszuüben imstande
ist, in dem Sinne, daß bei Belichtung eines Netz-
hautteiles die chromatische Stimmung der Umgebung
gegen die geforderte Farbe hin verschoben wird.
Dafür, daß es sich tatsächlich beim Simultankontrast
um farbige Erregungen der Netzhaut handelt, hat
Goethe einen sehr schönen experimentellen Beweis
angegeben. Fixiert man längere Zeit ein orange
Viereck auf weißem Grund, so bekommt man nach-
her, wenn der Blick auf eine gleichmäßig weiße
Fläche fällt, ein lebhaft blau-grünes Nachbild; ist
dieses kräftig genug, so sieht man die Umgebung
dieses Nachbildes nicht weiß, sondern deutlich orange.
Hier tritt also in der Umgebung des farbig gereizten
Netzhautbezirks an Stellen, welche während des
ganzen Versuchs nur von weißem Lichte getroffen
worden sind, eine Farbenerscheinung auf. Dieser
Die Farbenlehre I. — Physiologische Optik. 203
Simultankontrast gegen ein farbiges Nachbild ist
vielleicht der Versuch Goethes, der am schlagend-
sten die physiologische Natur dieser Phänomene
beweist Aber damit nicht genug. Goethe zeigt
an einer andern Stelle der Farbenlehre weiter, daß
man die Farben, welche durch Simultankontrast er-
scheinen, mit objektiv dargebotenen Reizlichtern
mischen kann, wenn man auf eine farbige Fläche
blickt. Goethes Beispiel bezieht sich allerdings
auf den nicht ganz reinen Fall der Mischung von
subjektivem Blau und objektivem Gelb zu Grün,
aber er gibt ausdrücklich an, daß auch alle übri-
gen Mischungen in typischer Weise zu erzielen
sind. So wird die farbige Erregung nicht gereiz-
ter Netzhautpartien durch Induktion von ihm nicht
nur behauptet, sondern auch bewiesen. Die den
Malern bekannte Tatsache, daß nebeneinanderge-
stellte Komplementärfarben sich auf Bildern gegen-
seitig „heben", d. h. in ihrer Leuchtkraft verstärken,
wird von Goethe mit Recht ebenfalls auf Simultan-
kontrast bezogen.
Die größten Triumphe feierte diese neue Er-
kenntnis, als sie zur Aufklärung einer Erscheinung
verwendet wurde, welche schon früher vielfach be-
kannt, aber falsch gedeutet war. Goethe hat die
farbigen Schatten auf den Simultankontrast zurück-
geführt. Schon früh hatte er dieselben in der Natur
mit aufmerksamem Auge beobachtet, auf seinen Reisen
204 Siebente Vorlesung.
im Harz, in der Schweiz und Italien drängten sie sich ihm
immer von neuem auf, und schon im Jahre 1792 ver-
öffentlichte er einen kleinen Aufsatz „Über die farbigen
Schatten*, in dem die Bedingungen ihres Auftretens
auf das Sorgfältigste experimentell dargelegt werden.
Die richtige Deutung findet sich jedoch in diesem
Aufsatze noch nicht. Sie wird erst 18 Jahre später
in dem Hauptwerk gegeben. Die Erscheinung selbst
ist allbekannt. Stellt
Jüsrzenlieht Tageslicht ., .
(acib)^ l,iweirs) man gegen Abend,
wenn das Tageslicht
gedämpft ins Zimmer
dringt, eine brennende
Kerze so auf, daß ein
weißes Blatt Papier,
das auf dem Tische
liegt, vom Tageslicht
und Kerzenlicht gleichzeitig getroffen wird, und läßt
nun von einem senkrecht gestellten Bleistift oder Lineal
zwei Schatten auf das Papier fallen (s. Fig. 8), der
eine vom Kerzenlicht geworfen und vom Tageslicht
erhellt, der andere umgekehrt vom Tageslicht ge-
worfen und vom Kerzenlicht erhellt, so sieht man
den einen Schatten gelb, den andern in lebhaftem
Blau erscheinen. Dieses Blau ist oft so kräftig, daß
die früheren Beobachter die Farbe für objektiv hielten
und viele sie als Reflex vom blauen Himmel her
erklärten. Um was es sich tatsächlich dabei han-
Fig.a
Die Farbenlehre I. — Physiologische Optik, 205
delt, wird klar, wenn man sich überlegt, welches
Licht die einzelnen Partien des weißen Papiers bei
diesem Versuche bekommen. Der weiße Grund A
(siehe Figur 8) erhält weißes Licht vom Fenster und
gelbes Licht von der Kerze, der eine Schatten B er-
hält nur gelbes Kerzenlicht, der andere C nur weißes
Tageslicht; dieser letztere erscheint blau, und zwar,
wie Goethe gezeigt hat, deshalb, weil die Um-
gebung A dieses Schattens, welche uns bei ober-
flächlicher Betrachtung einfach weiß erscheint, in
Wirklichkeit durch das Gemisch von Tages- und
Kerzenlicht gelblich erleuchtet ist. Die blaue Farbe
des Schattens erscheint durch Simultankontrast gegen
den gelblichen Grund. Daß dieses die richtige
Deutung ist, dafür gibt Goethe eine ganze Reihe
von verschiedenen Versuchen an. Erzeugt man sich
die Schatten zunächst mit zwei ganz gleichen Kerzen,
so sehen beide schwarz aus; färbt man aber das
Licht der einen Kerze mit farbigen Gläsern, so er-
scheinen beide Schatten farbig, der eine in der
Farbe des Glases, der zweite in der „geforderten"
Kontrastfarbe. Ein besonders elementares Beispiel
dafür, daß die Farbe des Schattens unabhängig ist
von der Farbe des zweiten Lichts, findet sich in
Goethes erster Abhandlung. Hier wird das gleich-
mäßig graue Licht, das von einer weißen Hauswand
reflektiert wird, benützt, um einmal gegenüber dem
Kerzenlicht, das andere Mal gegenüber dem Sonnen-
206 Siebente Vorlesung.
licht zu wirken. Trotzdem der zweite Schatten in
beiden Fällen von dem gleichen Licht erhellt wird,
sieht er das eine Mal gelb, das andere Mal blau aus.
Besonders schön erscheinen die farbigen Schatten,
wenn Kerzenlicht und Mondlicht gegeneinander
wirken. Zahllos ist ihr Auftreten in der Natur. Nach-
stehende schöne Schilderung zeigt, wie Goethe hier
zu beobachten verstand. „Auf einer Harzreise im
Winter stieg ich gegen Abend vom Brocken her-
unter, die weiten Flächen auf- und abwärts waren
beschneit, die Heide von Schnee bedeckt, alle zer-
streut stehenden Bäume und vorragenden Klippen,
auch alle Baum- und Felsenmassen völlig bereift,
die Sonne senkte sich eben gegen die Oderteiche
hinunter. — Waren den Tag über, bei dem gelblichen
Ton des Schnees, schon leise violette Schatten be-
merklich gewesen, so mußte man sie nun für hoch-
blau ansprechen, als ein gesteigertes Gelb von den
beleuchteten Teilen widerschien. — Als aber die Sonne
sich endlich ihrem Niedergang näherte, und ihr durch
die stärkeren Dünste höchst gemäßigter Strahl die
ganze mich umgebende Welt mit der schönsten
Purpurfarbe überzog, da verwandelte sich die Schatten-
farbe in ein Grün, das nach seiner Klarheit einem
Meergrün, nach seiner Schönheit einem Schmaragd-
grfln verglichen werden konnte. Die Erscheinung
ward immer lebhafter, man glaubte sich in einer
Feenwelt zu befinden, denn alles hatte sich in die
Die Farbenlehre 1. — Physiologische Optik. 207
zwei lebhaften und so schön übereinstimmenden
Farben gekleidet, bis endlich mit dem Sonnen-
untergang die Prachterscheinung sich in eine graue
Dämmerung, und nach und nach in eine mond-
und sternhelle Nacht verlor.** — Auch die farbigen
Schatten in der Taucherglocke, welche von Newton
für objektiv angesehen waren, erklärt Goethe als
physiologisch bedingt. Bei Sonnenschein sehen die
Taucher den Meeresgrund purpurfarbig, die Schat-
ten im lebhaftesten Grün. Alle Schilderung der
farbigen Schatten vermag aber nicht das Vergnügen
zu ersetzen, welches die Nachahmung der von
Goethe angegebenen Versuche gewährt. Man wird
erstaunt sein über die Schönheit der auftretenden
Farben.
Gelegentliche Bemerkungen, welche Goethe an
anderer Stelle der Farbenlehre macht, zeigen, daß er
auch über die Brechungsverhältnisse des Auges nach-
gedacht hat. Er erwähnt, daß eine Öffnung im Fenster-
laden der Dunkelkammer ihm beim Geradeaussehen
mit farblosen Rändern erscheine, daß er dagegen
bei starkem Neigen des Kopfes nach vorn oder
hinten gelbe und blaue Ränder wahrnehme. Er be-
zieht das darauf, daß die Kristallinse im Auge in
ihren mittleren Partien ein guter achromatischer
optischer Apparat sei, daß dagegen ihre seitlichen
Teile nicht genügend chromatisch korrigiert wären,
so daß beim Durchtritt der Lichtstrahlen durch die
208 Siebente Vorlesung.
Seitenteile ebensolche farbigen Ränder entstehen wie
bei schlechten Ferngläsern. Goethe bemerkt also
die ungentigende chromatische Korrektion unserer
Linse unter bestimmten Bedingungen, die später von
Helmholtz auch für ihre mittleren Teile exakt nach-
gewiesen worden ist
Daß Goethe die Erscheinung der Doppelbilder
auch wohl vertraut war, und daß er über das Zu-
standekommen der Tiefenwahrnehmung nachgedacht
hat, ergibt sich aus gelegentlichen Bemerkungen.
Nach einem kurzen Kapitel über subjektive und
objektive Höfe, wie sie um Kerzenflammen, um
Sonne und Mond erscheinen, folgt dann im didak-
tischen Teil der Farbenlehre der kurze, aber inhalt-
reiche Abschnitt: „Pathologische Farben". Auch
gegenüber den Krankheitszuständen des Auges ver-
tritt Goethe denselben Standpunkt, den wir schon
früher anläßlich der Mißbildungen von Tier und
Pflanzen kennen gelernt haben. Er sieht im Ab-
normen ebenfalls Lebensäußerungen, deren normale
Grundlage erforscht werden kann. „Die krankhaften
Phänomene deuten ebenfalls auf organische und
physische Gesetze." Die interessanteste Beobachtung
dieses Abschnitts bezieht sich auf die sogenannte
Farbenblindheit, im Jahre 1794 hat der englische
Chemiker Dalton diesen Zustand, an dem er selber
litt und der nach ihm „Daltonismus" genannt wurde,
zuerst wissenschaftlich geschildert. Seine Mitteilung
Die Farbeniehre I. — Physiologische Optik. 209
erschien 1798 im Druck und in demselben Jahre hat
Goethe unabhängig von Dalton ebenfalls an zwei
Fällen genaue Untersuchungen angestellt. Beson-
ders bot sich ein junger Gildemeister, der eben in
Jena studierte, freundlich zu allen Hin- und Wieder-
versuchen, und Goethe lieferte eine so klare Be-
schreibung dessen, was sich an den Versuchs-
personen feststellen ließ, daß wir heute die Art der
Farbenblindheit noch nachträglich diagnosticieren
können. Er beschränkte sich aber keineswegs wie
Dalton auf einfache Schilderung der Symptome,
sondern gab als der erste eine theoretische Deu-
tung. Nach seiner Meinung beruht „das wunder-
bare Schwanken, daß gewisse Menschen die Farben
verwechseln", darauf, daß sie einige Farben sehen,
andere nicht sehen, daß sie also für bestimmte
Farben blind sind. Die von Goethe untersuchten
Fälle gehören dem häufigsten Typus der Farben-
blinden an, welche nach Hering als rot-grtinblind
bezeichnet werden. Goethe aber deutet diese Fälle
als Blaublindheit. Interessanterweise rührt diese letz-
tere Ansicht von Schiller her, und es ist lehrreich,
sich den Grund klar zu machen, aus dem die beiden
Dichter zu ihrem Irrtum kamen. Sie stellten fest, daß
Grün nicht gesehen wurde; da aber Grün nach
Goethes Meinung eine gemischte Empfindung aus
Blau und Gelb ist, und da Gelb von den unter-
suchten Personen sehr gut unterschieden werden
Magnus, Goethe als Naturforscher. 14
210 Siebente Vorlesung.
konnte, wurde per exciusionem geschlossen, daß
die blaue Empfindung fehlen müsse. Wenn es sich
also tatsächlich auch nicht um Blau-, sondern um
Rotgrünblindheit gehandelt hat, so ist wichtig ge-
nug, daß Goethe als der erste in dem Fehlen einer
Gruppe von Farbenempfindungen die Ursache dieses
Zustands gesehen hat. Um zu veranschaulichen,
wie solchen Personen die Welt erscheint, bildete er
in den Tafeln zur Farbenlehre eine Landschaft ab,
auf der alles Blau fehlt, der Himmel rosa und die
Bäume rot und gelb aussehen.
Erwähnt wird in dem Abschnitt über patholo-
gische Farben noch die Lichterscheinung, welche
bei galvanischer Durchströmung des Kopfes ein-
tritt, das Funkensehen, welches bei einem Schlag
aufs Auge erfolgt, die Lichtempfindung, die durch
seitlichen Druck auf den Augapfel hervorgerufen
wird, u. a. m. Eine sehr gute Beschreibung gibt
Goethe von den sogenannten „mouches volantes",
den fliegenden Mücken, welche durch das Ge-
sichtsfeld huschen, wenn man längere Zeit mit
gesenktem Kopf, z. B. am Mikroskop, gearbeitet
hat, und die hauptsächlich auf kleinen Trübungen
beruhen, welche im Glaskörper des Auges auf-
gewirbelt werden. Erwähnt wird ferner, daß in
krankhaften Zuständen des Auges die Nachbilder
oft abnorm lang andauern, Blendungsbilder manch-
mal tagelang von Patienten gesehen werden. Noch
Die Farbenlehre I. — Physiologische Optik. 211
vieles Interessante ist in diesem Abschnitt ent-
halten.
Fragt man nun, worin die Bedeutung dieses ersten
Teiles der Farbenlehre liegt, der zweifellos als der
wichtigste und wissenschaftlich bahnbrechendste des
ganzen Goetheschen Werkes bezeichnet werden muß,
so läßt sich zusammenfassend etwa folgendes sagen.
Ein Teil der Tatsachen, die hier geschildert werden,
war schon früher bekannt, so die Irradiationserschei-
nungen, die farbigen Nachbilder und die farbigen
Schatten. Aber sie waren teilweise nicht als sub-
jektiv angesprochen worden, teilweise hatte man sie
für nebensächliche oder pathologische Phänomene
gehalten. Goethe war der erste, welcher alle diese
Dinge unter dem gemeinsamen Gesichtspunkte zu-
sammenfaßte, daß sie ein Kennzeichen für die normale
Tätigkeit unseres Auges sind, und er hat auf diese
Weise die erste Darstellung von der Physiologie des
Licht- und Farbensinns gegeben, eine Darstellung,
welche den heutigen Leser noch durchaus modern
anmutet. Nimmt man irgend eines der jüngsten
Lehrbücher der physiologischen Optik zur Hand,
z. B. die neu erschienene Darstellung Herings, und
liest nachher Goethes Farbenlehre, so ist man er-
staunt, in diesem Werke in den Grundzügen die
heutigen Anschauungen bereits niedergelegt zu finden.
Goethes wichtigste Entdeckungen sind, daß er die
Kontrastfarben auf die physiologische Tätigkeit der
14*
212 Siebente Vorlesung.
Netzhaut bezog; sowohl der Successivkontrast wie
der Simultankontrast sind so von ihm in modernster
Weise gedeutet worden ; die Lehre von den farbigen
Schatten hat von ihm die feste physiologische Basis
erhalten; für die Erscheinung der Farbenblindheit
hat er zuerst eine physiologische Theorie gegeben;
auch die Anordnung des Farbensystems in einen
Farbenkreis nach physiologischen Gesichtspunkten
ist Goethes originelles Werk, das von ihm auf die Er-
scheinung der Kontrastfarben gegründet wurde. So
sehen wir in diesem Abschnitt von den physiologi-
schen Farben wichtige wissenschaftlicheEntdeckungen
und Anschauungen in großer Zahl niedergelegt.
Goethe läßt hierauf die Darstellung der physischen
und chemischen Farben folgen. Wir wollen diesen
Gang hier aber unterbrechen und gleich das letzte
Kapitel des didaktischen Teils besprechen, das von
der „sinnlich-sittlichen Wirkung der Farben" handelt.
In diesem Abschnitt hat Goethe seine Farben-
ästhetik niedergelegt. Wie Sie wissen, gingen ja
die optischen Untersuchungen von Fragen des male-
rischen Kolorits aus, und hier am Schluß kehrt Goethe
zu diesem Ausgangspunkt zurück. Auch hierin be-
währt er sich als durchaus originell. Er nimmt
nämlich die von ihm ermittelten physiologisch-opti-
schen Gesetze zur Grundlage für die ästhetische
Betrachtung der Farbenzusammenstellungen. „Das
Grundgesetz der Farbenharmonic ist physiologisch."
Die Farbenlehre I. — Physiologische Optik. 213
So sehen wir Goethe auf Wegen, die später Helm-
holtz in seinem Vortrag: „Optisches über Malerei"
betrat. Dadurch, daß er die Lehre von der Farben-
harmonie so auf physiologische Basis stellte, ist er
ebenfalls ein Bahnbrecher geworden, dessen Aus-
führungen von vielen der zeitgenössischen Maler
freudig aufgenommen worden sind,
Goethe geht aus von seinem Farbensystem, von
dem Farbenkreis (s. o. S. 195, Fig. 7), dessen Konstruk-
tion ja auf den Kontrastempfindungen des Auges be-
ruht. Hier stehen sich Rot (Purpur) und Grün, Orange
und Blau, Gelb und Violett gegenüber. Diese drei
Paare von Kontrastfarben („geforderten Farben")
bilden nun nach Goethe diejenigen Farbenzusammen-
stellungen, welche harmonisch wirken. Die harmo-
nische Ergänzung jeder Farbe ist ihre Kontrastfarbe.
Bei Betrachtung des Farbenkreises ergibt sich dann
weiter, daß noch eine Reihe von andern Farben-
zusammenstellungen möglich ist. Zunächst kann man
zwei Farben nebeneinander stellen, welche im Farben-
kreis nur durch eine zwischenliegende Farbe getrennt
sind. SolcheZusammenstellungnenntGoethe charak-
teristisch. Es sind z. B. Blau und Gelb, Gelb und
Purpur, Purpur und Blau, Orange und Violett. Dann
kann man aber auch Farbenpaare bilden aus Pig-
menten, welche im Farbenkreis direkt benachbart
sind. Das sind charakterlose Zusammenstellungen:
Gelb — Orange, Orange —Purpur, Purpur — Violett,
214 Siebente Vorlesung.
Violett — Blau, Blau — Grün, Grün — Gelb. Durch
diese Einteilung schafft Goethe in der unendlichen
Mannigfaltigkeit der möglichen Zusammenstellungen
zunächst einmal durch die Aufstellung weniger charak-
teristischer Gruppen Ordnung. In Wirklichkeit wer-
den alle Möglichkeiten durch die angeführten Bei-
spiele nicht erschöpft; es gibt erstens viel mehr
Farbennüancen als die sechs des Goetheschen Kreises,
und diese Farben können in allen Abstufungen der
Sättigung und Reinheit erscheinen; aber immer wer-
den sie sich bei der Zusammenstellung mehr oder
weniger in eine der drei Goetheschen Gruppen
einfügen lassen. — Es wird dann weiter noch die
Definition des Bunten gegeben. Bunt wirken alle
Zusammenstellungen, in denen die Pigmente in ihrer
höchsten Energie und Leuchtkraft erscheinen, die
aber nicht in harmonischem Gleichgewicht sind.
Darauf analysiert Goethe die verschiedenen Kom-
ponenten, aus denen sich das Kolorit eines Ge-
mäldes zusammensetzt. Zunächst erscheinen in einem
Bilde die Unterschiede zwischen Hell und Dunkel.
Alle Obergänge vom höchsten Licht durch das
Halblicht zu dem tiefsten Schatten sind möglich,
und diese letzteren können wieder durch zahlreiche
Reflexe aufgehellt werden. Um sich den Anteil
dieser „Schwarz-weiß-Komponente" an der Bild-
wirkung klar zu machen, hatte Qoethe, wie erwähnt,
Angelika Kaufmann veranlaßt, ein Ölbild grau in
Die Farbenlehre I. — Physiologische Optik. 215
grau auszuführen und dann erst nachträglich mit
Lasurfarben zu überziehen. Auf dieses „Helldunkel"
superponieren sich nun die Farbenwirkungen. Zu-
nächst hat jeder Gegenstand im Gemälde seine ihm
eigentümliche Körperfarbe, die Lokalfarbe: der Baum
sein Grün, der Stamm sein Braun, das Dach sein
Rot. Auf einem guten ölbilde werden aber diese
ursprünglichen Körperfarben durch die mannigfal-
tigsten Umstände modifiziert. Vor allem kommt die
lokale Beleuchtung hinzu. Wird diese durch das
Sonnen- oder Tageslicht gegeben und trifft sie
Gegenstände des Vordergrundes, so werden die
Körperfarben dadurch ins Gelbliche oder Rötliche
hinübergezogen. Demgegenüber unterliegen die ent-
fernten Gegenstände des Hintergrundes der Ein-
wirkung der Luftperspektive. Sie erscheinen da-
durch, aus Gründen, welche im Abschnitt über die
physischen Farben auseinandergesetzt werden, bläu-
licher, als der Körperfarbe entspricht. Zu diesen
Abwandlungen der Körperfarben gesellen sich dann
weiter solche, die durch physiologische Vorgänge
bedingt sind. Der aufmerksame Naturbeobachter
sieht in einer Landschaft, besonders in den Schatten,
vielfach die „geforderten" Farben. Vor einer grünen
Wiese erscheinen die braunen Baumstämme im röt-
lichen Ton, die Schatten einer Schneelandschaft sind
blau, usw. Auch dieses hat der Maler wiederzugeben,
v^renn er auch, wie Goethe bemerkt, von Unkundigen
216 Siebente Vorlesung.
sich den Vorwurf der Unnatürlichkeit zuzieht. Man
glaubt hier einen Beurteiler der modernsten Malerei
reden zu hören. Aber auch die Farben des Bildes
selbst, so wie sie der Maler nebeneinandersetzt, be-
einflussen sich gegenseitig. Schon die Farbe des
Rahmens vermag die Stimmung eines Gemäldes
vollkommen zu ändern. So gehen in das farbige
Kolorit die verschiedenartigsten Elemente ein. Die
Körperfarbe wird durch Beleuchtung und Luft-
perspektive und durch Simultankontrast sehr wesent-
lich geändert. Alle diese oft widerstreitenden Ele-
mente, alle diese verschiedenen Färbungen muß nun
der Maler zu einer einheitlichen Gesamtwirkung zu-
sammenfassen. Hier lassen sich allgemeine Regeln
nur schwer aufstellen. Die Farbenzusammenstellung
muß vielmehr nach rein künstlerischen Gesichts-
punkten geschehen. Trotzdem greift Goethe einige
charakteristische Arten des Kolorits heraus. Mäch-
tig wirken nach seiner Ansicht Bilder, auf denen
die aktiven Farben gelb, orange, purpur überwiegen,
dagegen wenig violett und blau und fast gar kein
grOn enthalten ist. Sanft wirken Gemälde, in denen
die passiven Farben blau, violett und purpur vor-
herrschen, dagegen wenig grün und kein gelb vor-
handen ist. Einen glänzenden Eindruck machen
dagegen solche Kunstwerke, welche die Gesamtheit
des Farbenkreises In sich enthalten. Die höchste
Aufgabe des Künstlers liegt darin, auf seinen Bil-
Die Farbenlehre I. — Physiologische Optik. 217
dern die Gesamtheit der Farben in harmoni-
scher We i s e zueinander in Einklang zu bringen, d. h.
in einer Weise, wie sie durch die physiologischen
Eigenschaften des Auges gefordert wird.
Verwerflich aber ist es, die Farben dadurch zu-
sammen zu stimmen, daß das ganze Bild mit einem
gleichmäßigen Ton überzogen wird. Besonders
energisch spricht sich Goethe über die Mode der
Maler aus, ihre Bilder mit dem gelbbraunen Ton
zu überziehen, wie ihn die nachgedunkelten Werke
der alten Meister zeigen; gerade wie viele moderne
Maler macht auch Goethe energisch gegen die
„braune Sauce" Front. Eine derartige Malweise stört
ihm die Totalität.
Das ist in Kürze der Inhalt von Goethes Farben-
ästhetik. Ihr Wert liegt darin, daß sie auf die physio-
logischen Eigenschaften unseres Auges gegründet
wird. So hat sich Goethe durch wissenschaft-
liche Studien einen Einblick in das Zustande-
kommen malerischer Wirkungen errungen. Der Un-
befangene sieht, daß sein künstlerischer Geschmack
und sein Urteil in vielen Fällen sich mit den Be-
strebungen der modernen Malerei decken. Goethe
stand auch über diese Dinge in brieflichem Ge-
dankenaustausch mit einem Maler, dem die neuere
Kunstgeschichte einen der ersten Vorkämpferposten
für die Begründung der neueren Malerei angewiesen
hat, mit Philipp Otto Runge. Dieser Künstler, dessen
218 Siebente Vorlesung,
Bilder heute durch die Schwere des Kolorits einen
so merkwürdigen Eindruck machen, war ein großer
Farbentheoretiker. Auch er hatte ein Farbensystem
ausgebaut, das er auf eine Kugel auftrug, und Regeln
über harmonische und unharmonische Farbenzusam-
menstellungen entwickelt Ein Brief Runges findet
sich am Schluß der Farbenlehre abgedruckt, und
umgekehrt nimmt der Maler in seinem 1810 er-
schienenen Werk „Farbenkugel oder Konstruktion
des Verhältnisses aller Mischungen der Farben zu-
einander, und ihrer vollständigen Affinität, mit an-
gehängtem Versuch einer Ableitung der Harmonie
in den Zusammenstellungen der Farben" auf Goethes
Anschauungen dauernd Bezug.
So sehen wir die Fäden von Goethes optischen
Studien sich hinüberschlingen zu den Anfängen der
neuen farbenfreudigen Malerei des 19. Jahrhunderts.
Achte Vorlesung.
Die Farbenlehre II. — Physikalische Optik.
Meine Herren! Wenn wir jetzt an die Bespre-
cliung des Abschnittes von den physiologischen
Farben, der Goethes grundlegende Leistungen auf
optischem Gebiete birgt, die des Kapitels über die
physischen Farben anschließen, in dem seine
optischen Irrtümer enthalten sind, so wollen wir
ein Selbstbekenntnis von ihm an die Spitze stellen.
„Meine Absicht bei meinen optischen Bemühungen
ist: alle Erfahrungen in diesem Fache zu sammeln,
alle Versuche selbst anzustellen und sie durch ihre
größte Mannigfaltigkeit durchzuführen, wodurch sie
denn auch leichter nachzumachen und nicht aus
dem Gesichtskreis so vieler Menschen hinausgerückt
sind. Sodann die Sätze, in welchen sich die Er-
fahrungen von der höheren Gattung aussprechen
lassen, aufzustellen und abzuwarten, inwiefern sich
auch diese unter ein höheres Prinzip rangieren."
Den ersten Teil dieser selbstgestellten Aufgabe hat
Goethe, darin sind alle Beurteiler einig, auf das
Glänzendste gelöst. Seine Schilderung der Experi-
mente ist mustergültig. Es ist kein Zweifel, daß
220 Achte Vorlesung.
die Versuchsergebnisse, soweit er sie tatsäclilich
schildert, vollkommen richtig sind. Ein so genauer
Kenner der Farbenerscheinungen wie Johannes Müller
sagt in seinem grundlegenden Werke „zur verglei-
chenden Physiologie des Gesichtssinnes": „Insbe-
sonders scheue ich mich nicht zu bekennen, daß
ich der Goethe'schen Farbenlehre überall dort ver-
traue, wo sie einfach die Phänomene darlegt und
in keine Erklärungen sich einläßt, wo es auf die
Beurteilung der Hauptkontroverse ankommt." In
demselben Sinne hat sich mehrfach Helmholtz aus-
gesprochen. Die von Goethe geschilderten Tat-
sachen und Experimente bestehen also zu Recht.
Im Goethehaus sind noch heute die optischen In-
strumente, mit denen die Versuche angestellt wurden,
vollständig erhalten. Goethe hat unter Aufwendung
großer Kosten „nach und nach einen Apparat zu-
sammengebracht, wie er wohl noch nicht beisammen
gewesen ist". Auf Fig. 9 ist einiges davon abge-
bildet. Bei einem Aufenthalt in Weimar konnte ich
durch die Liebenswürdigkeit von Herrn Geh. Hofrat
Ruiand dieses Instrumentarium ans Licht ziehen und
eine große Reihe von Goethes Experimenten mit
seinen eigenen Apparaten wiederholen. Es waren
eigentümlich weihevolle Stunden, in denen das
Handwerkszeug des großen Meisters aus der Tiefe
der Schränke hervorgeholt wurde und nun alle
die vielfältigen Farbencrschcinungcn wieder ent-
Die Farbenlehre II. — Physikalische Optik. 221
stehen ließ, die in der Farbenlehre geschildert sind.
Goethe hat durchweg mit den einfachsten Mitteln
gearbeitet, aber diese waren so ausgewählt, daß
die Farben in wundervoller Klarheit und Schön-
heit unter den geschilderten Versuchsbedingungen
sich hervorrufen ließen. So sind auch heute noch
dieselben Phänomene, die Goethe gesehen hat, mit
denselben Mitteln und an demselben Orte wieder
in voller Deutlichkeit zu reproduzieren.
Anders steht es mit dem zweiten Teil der Auf-
gabe, die sich Goethe stellte. Die theoretische Ver-
wertung seiner Experimente führte ihn zu einer An-
sicht über die Entstehung der Farben, mit welcher
er schon bei seinen Zeitgenossen mit wenig Aus-
nahmen keine Anerkennung fand und die heute
völlig verlassen ist. Sie führte ihn weiter zu einer
Polemik gegen Newtons Farbentheorie, deren Ge-
dankengang wir weiter unten zu würdigen haben.
Will man aber in diesem Punkte völlig gerecht
urteilen, so darf man nicht vergessen, daß zu Goethes
Zeiten die physikalische Theorie des Lichtes und
der Farben keineswegs so geklärt war wie heute.
Damals kämpften die alte Newtonsche Emissions-
theorie, welche annahm, daß das Licht aus kleinsten
körperlichen Teilen bestehe, die von der Licht-
quelle geradlinig fortgeschleudert werden, und die
Huyghens'sche Undulationstheorie miteinander, welche
im Licht die Wellenbewegung eines hypothetischen
222 Achte Vorlesung.
Lichtäthers sieht Gerade in jenen Zeiten wurden
nun eine Reihe optischer Phänomene entdeckt,
welche sich den herrschenden Theorien nicht ohne
weiteres einfügen wollen (die Achromasie, die Er-
scheinungen des polarisierten Lichtes u. a.). Zu ihrer
Erklärung mußten die Vertreter beider Theorien ihre
Ansichten wechseln. Es herrschte ein lebhaftes Hin
und Wider der Meinungen, und Goethe gewann
daraus die Überzeugung von der Wertlosigkeit jeder
Theorie überhaupt. So bildete er sich seine selbst-
ständige Ansicht, der man jedenfalls zubilligen muß,
daß sie erstens anschaulich und zweitens in sich
konsequent war.
Die physischen Farben sind nach Goethe solche,
zu deren Hervorbringung das farblose Licht mit
materiellen, selbst ungefärbten Medien in Beziehung
treten muß. Wenn also Licht durch ein farbloses
Glasprisma hindurchfällt und danach die Farben-
erscheinung des Spektrums gibt, so ist das phy-
sische Farbe im Goetheschen Sinne. Diese schließen
sich nun „unmittelbar an die physiologischen an und
scheinen nur um einen geringen Grad mehr Realität
zu haben". In diesem Satz ist, wie Sie sich er-
innern, Goethes Grundirrtum enthalten; er war sich
nicht klar darüber, daß zwischen der Sinnesempfin-
dung und dem diese Empfindung auslösenden Reiz
eine unüberbrückbare Kluft besteht, daß es sich um
zwei völlig unvergleichbare Dinge handelt.
Die Farbenlehre II. — Physikalische Optik. 223
Die physischen Farben sind entweder objektiv
oder subjektiv darstellbar; wenn Licht durch ein
Prisma fällt und auf der gegenüberliegenden Wand
ein farbiges Spektrum erscheint, so sind die Farben
objektiv dargestellt; sieht dagegen der Experimen-
tator durch das Prisma hindurch nach einer Öffnung
im Fensterladen, so erscheint diese von farbigen
Rändern umsäumt; das ist die subjektive Darstel-
lungsweise. Diese subjektiven Versuche hat Goethe
unter anderem deshalb in den Vordergrund gestellt,
weil sie es nach seiner Meinung sind, die sich
unmittelbar an die physiologischen anschließen; der
Unterschied ist nur, daß das zu Studierende in
diesem Falle nicht die Eigenschaften des Auges,
sondern die Eigenschaften des äußeren Mediums,
des Prismas, sind.
Das erste Kapitel dieses Abschnittes handelt von
den dioptrischen Farben, welche entstehen, wenn
Licht durch durchsichtige Körper hindurchtritt. Als
Ausgang benutzt Goethe die Farbenerscheinungen,
welche durch trübe Mittel hervorgerufen werden.
Die Lehre von den trüben Mitteln ist für Goethe die
Grundlage seiner ganzen physikalischen Farbenlehre.
Gießt man in ein Glas Wasser etwas Seifen-
spiritus oder trübt man es mit einem anderen an
sich farblosen Zusatz, so erscheint die Flüssigkeit
im durchfallenden Licht gelb; betrachtet man da-
gegen das getrübte Wasser vor einem dunkeln
224 Achte Vorlesung.
Hintergrund, also im auffallenden Licht, so sieht
es blau aus. Bei zunehmender Trübung des Wassers
erscheint es im durchfallenden Licht gelbrot und
schließlich rot, im auffallenden Lichte immer weiß-
licher. Wenn die Trübung dagegen nur sehr zart
ist, so entsteht bei auffallendem Licht ein schönes
Violett. Dieses Phänomen ist nach Goethe so un-
mittelbar anschaulich, daß es jedem Menschen ohne
weitere Erklärung demonstriert werden kann. Es ist
eine absolut einfache Erscheinung, und Goethe sieht
in ihr das „Urphänomen" der Farbenlehre. „Da
wir alle Farben nur durch Mittel und an Mitteln
sehen, so ist die Lehre vom Trüben, als dem aller-
zartesten und reinsten Materiellen, derjenige Begriff,
woraus die ganze Chromatik sich entwickelt."
Goethe stellt die Farben der trüben Medien des-
halb in den Vordergrund, weil sie so außerordent-
lich einfach erscheinen. „Man soll keine abge-
leiteten Phänomene an die erste Stelle setzen." Er
macht gerade Newton zum Vorwurf, daß die Experi-
mente, aus denen er seine Farbenlehre entwickelt,
schon so abgeleitet und kompliziert sind, daß
man ihre Bedingungen nicht ohne weiteres über-
schauen kann. Das ist bei den Farben der trüben
Mittel dagegen ohne Schwierigkeit möglich. Diese
waren, wie gesagt, für Goethe das „Urphänomen",
d. h. eine Erscheinung, die an sich schon so an-
schaulich ist, daß sie keiner weiteren Erklärung
Die Farbenlehre II. — Physikalische Optik. 225
bedarf. Goethe hat niemals versucht, die Frage zu
beantworten, warum denn die trüben Medien im
durchfallenden Licht gelb und im auffallenden blau
erscheinen. Er gibt überhaupt keine Theorie des
Lichtes, aus der er diese Farbenerscheinung ableiten
könnte, sondern das „Urphänomen** wird als ge-
geben vorausgesetzt, und Goethes physikalische
Farbenlehre besteht darin, daß er alle Phänomene
aus diesem einen zu entwickeln versucht, daß er
alle Farbenerscheinungen auf trübe Medien zurück-
führt. An einer Stelle seiner Notizen findet sich
die Bemerkung „Von dem Werte des Was. Die
Fragen Wie? Warum? Wozu? abgelehnt." So leitet
Goethe seine physikalische Optik ohne jede Theorie
aus einem einfachen, ohne weiteres anschaulichen
Phänomen ab.
An zahlreichen Beispielen wird nun die Lehre
von den trüben Mitteln illustriert. Besonders er-
giebig sind hier die atmosphärischen Farbenerschei-
nungen. Wenn die Sonne durch Dunst hindurch-
scheint, wird sie gelblich bis gelbrot, wenn sie am
dunstigen Horizont untergeht, steigert sich diese
Farbe zum leuchtendsten Purpur. Morgen- und
Abendrot werden auf denselben Vorgang zurück-
geführt. Die blaue Farbe des Himmels bezieht
Goethe ebenfalls in diese Erscheinungen mit ein;
die Luft wirkt als ein trübes Mittel vor dem dunkeln
Hintergrund des Weltenraumes. Er ist sehr erfreut,
Magnus, Goethe als Naturforscher. 15
226 Achte Vorlesung.
als er findet, daß diese noch heute gültige Erklärung
schon von Lionardo da Vinci gegeben worden ist,
während zu Goethes Zeiten vielfach andere kom-
pliziertere Meinungen aufgestellt waren. Auch die
Luftperspektive, die blaue Farbe entfernter Berge,
gehört hierher. Diese letzteren wirken als dunkler
Hintergrund, vor dem die Luft als trübes Mittel
blau erscheint.
„Wenn der Blick an heitern Tagen
Sich zur Himmelsbläue lenkt,
Beim Siroc der Sonnenwagen
Purpurrot sich niedersenkt,
Da gebt der Natur die Ehre
Froh, an Aug' und Herz gesund
Und erkennt der Farbenlehre
Allgemeinen, ew'gen Grund."
Sehr schön lassen sich die Farbenerscheinungen
trüber Mittel an dem sogenannten Opalglas beob-
achten. Goethe hat sich für dessen Fabrikation
aufs lebhafteste interessiert, selbst alte Vorschriften
aus mittelalterlichen Büchern (Kunckels Glasmacher-
kunst) hervorgesucht und durch verschiedene Glas-
hütten derartige Gläser anfertigen lassen. Noch
heute finden sich im Goethehaus zahlreiche Scher-
ben von Opalglas, die in der Durchsicht gelb bis
gelbrot, in der Aufsicht blauweiß, blau oder violett
aussehen. Ein humoristisches Beispiel erzählt Goethe
von einem Maler, dem das Ölbild eines schwarz-
gekleideten Mannes zum Reinigen übergeben war.
Die Farbenlehre II. — Physikalische Optik. 227
Er wusch es zunächst mit einem nassen Schwamm
ab und sah zu seinem Erstaunen, daß das schwarze
Gewand darauf im schönsten Hellblau erstrahlte.
Goethe, dem dies mitgeteilt wurde, gab die richtige
Deutung; die oberflächliche Firnisschicht hatte sich
bei der Behandlung mit Wasser getrübt und erschien
nun auf dem schwarzen Hintergrunde der Ölfarbe
hellblau. Am folgenden Morgen, als das Wasser
verdunstet war, war auch die blaue Farbe ver-
schwunden. Aufgüsse von nephritischem Holz
(Sandelholz), von Quassia und von der Rinde der
Roßkastanie zeigen ebenfalls in der Durchsicht eine
gelbe, in der Aufsicht eine blaue Färbung. Goethe
bezog auch dieses auf das Phänomen der trüben
Medien; es wurde aber später von Herschel, Brewster
und Stokes nachgewiesen, daß es sich hier um die
zu Goethes Zeit noch unbekannten Fluoreszenz-
erscheinungen handelt.
An die Lehre von den trüben Mitteln reiht Goethe
als wichtigsten Abschnitt des Kapitels von den
physischen Farben die Lehre von der Refraktion,
von den Farbenerscheinungen bei der Lichtbrechung.
Wir wollen hier nicht dem ganzen weitverzweigten
Darstellungsgang Goethes folgen, sondern gleich
zum wichtigsten Abschnitt, den prismatischen Far-
ben, übergehen. Da ist nun einer der Haupt-
punkte, der immer wieder betont wird, der, daß
es unstatthaft sei, bei der Schilderung solcher
15*
228 Achte Vorlesung.
prismatischer Versuche von Lichtstrahlen und
deren Brechung zu reden. Das seien nur Abstrak-
tionen des Mathematikers. Was man tatsächlich be-
obachtet, wenn Licht durch eine enge Öffnung
des Fensterladens in die dunkle Kammer fällt, ist
ein Bild der Sonne bzw. andrer außen befindlicher
Gegenstände, das nach ähnlichen Gesetzen entsteht
wie das Bild auf der Mattscheibe einer photogra-
phischen Kamera. Dieses Bild der Sonne ist, wie
Goethe richtig bemerkt, begrenzt, und die Grund-
bedingung für die Farbenerscheinung bei der Re-
fraktion sieht Goethe darin, daß solche Bilder bei
der Brechung verrückt werden und daß nur des-
halb an ihren Grenzen die Farbenerscheinungen
auftreten können. Von diesem Gedanken ausgehend,
hat Goethe auch die subjektiven prismatischen Ver-
suche an die Spitze gestellt. Er hatte sich eine
Reihe von schwarzen, weißen und farbigen Bildern
auf geeigneten Tafeln aufgeklebt und betrachtete
diese durch das Prisma. Dann erschienen sie an
einem andern Orte, und gleichzeitig mit dieser Ver-
rOckung traten farbige Säume an ihren Rändern auf.
FQr die Darstellung der objektiven Versuche, bei
denen ein Lichtstrahl in der dunklen Kammer auf
ein Prisma fiel, hat Goethe es nun stets vermieden,
enge Offnungen im Fcnsteriaden zu benutzen. Er
glaubte, daß hierdurch das Licht in seiner Unmittel-
barkeit gestört würde, wenn es durch enge Löcher
Die Farbenlehre II. — Physikalische Optik. 229
sich hindurchzwängen müßte. Auf der Anwendung
breiter Lichtbündel beruht ein großer Teil von
Goethes Versuchsresultaten. Es wird dann ferner
die prismatische Farbenerscheinung auf die Lehre
von den trüben Mitteln zurückgeführt. Das gelingt
auf folgende Weise. Goethe nimmt an, daß, wenn
auf der weißen Wand durch das Prisma das Bild
der Sonne oder der Öffnung im Fensterladen ent-
worfen wird, dieses Bild eigentlich aus zweien be-
stände: aus einem Hauptbild und einem Nebenbild,
geradeso wie ein schlechter Spiegel die Gegen-
stände zweifach zurückwirft, ein Bild von der Hinter-
fläche und eines von der Vorderfläche des Glases,
von welchen das eine schattenhaft über dem andern
zu schweben scheint. Es sollte auch bei der pris-
matischen Brechung ein Haupt- und ein Nebenbild
entstehen und das Nebenbild vor dem Hauptbilde
schweben. Wir haben gesehen, daß Goethe bei
der prismatischen Brechung ein Bild verrückt wer-
den läßt. Dabei soll das Nebenbild immer weiter
verrückt werden als das Hauptbild, es soll dem
Hauptbild gleichsam immer voraneilen. Die ganzen
Farbenerscheinungen lassen sich nun dadurch ab-
leiten, daß Goethe das Nebenbild als ein trübes
Mittel betrachtet, durch welches hindurch man das
Hauptbild sieht. Umstehende Zeichnung (Fig. 10),
in welcher das Hauptbild durch die ungebrochene,
das Nebenbild durch die punktierte Linie angedeutet
230 Achte Vorlesung.
wird, möge das Folgende verdeutlichen. Oben
sehen wir die scharfe Begrenzung des Hauptbildes,
das wir uns weiß auf dunklem Grunde denken
wollen. Davor schwebt der dunkle Teil des Neben-
bildes. Dieser wirkt wie ein trübes Mittel, das
vor hellem Hintergrunde gelb erscheint. Nach dem
Rande zu wird die Trübung stärker angenommen,
und deshalb geht der gelbe Rand allmählich in
Rot über. Unten sehen wir da-
gegen das Nebenbild über den
dunklen Teil des Hauptbildes
herübergreifen. Das trübe Neben-
bild vor dem dunklen Grunde
erscheint daher blau, und nach
dem Rande zu, wo das Neben-
bild sich verflüchtigt und die
*■ Trübung feiner wird, entsteht
Violett. So ist es Goethe gelungen, auf Grund seiner
Hilfsannahme vom Haupt- und vom Nebenbild zu-
nächst einmal das Auftreten von Gelb und Blau bei
der prismatischen Brechung zu erklären und daraus
durch „Steigerung" Rot und Violett abzuleiten. Je
weiter sich nun das Prisma von der Wand entfernt,
oder je stärker der brechende Winkel des Prismas
wird, um so mehr läßt Goethe das Nebenbild dem
Hauptbiid bei der Brechung voraneilen. Dadurch
müssen sich die farbigen Ränder verbreitern, und
schließlich wird es so weit kommen, daß sich
Die Farbenlehre II. — Physikalische Optik. 231
Gelb und Blau in der Mitte treffen. Es entsteht
dann durch Vermischung dieser beiden Farben das
Grün. Goethe läßt also die grüne Farbe auch hier
keine einfache sein, sondern erklärt sie durch
Mischung. Wir haben schon gehört, daß das falsch
ist, daß durch Mischung von spektralem Blau und
Gelb nur Grau oder Weiß entsteht, und daß die
Mischung Grün, welche die Maler aus blauen und
gelben Pigmenten erhalten, nur darauf beruht, daß
diese Farbstoffe nicht im physikalischen Sinne reine
Farben bilden. Goethe läßt also das Grün nicht
nur eine gemischte Empfindung sein, sondern auch
das objektive spektrale Grün durch Mischung ent-
stehen, während wir heute wissen, daß das Grün
des Spektrums eine unzerlegbare einfache Farbe ist.
Zu diesem Irrtum konnte Goethe aber deshalb
kommen, weil die Mischungsverhältnisse des Grün
damals noch nicht physikalisch erklärt waren. Erst
später hat, wie schon oben erwähnt wurde, Helm-
holtz diese verwickelten Beziehungen vollkommen
aufgedeckt — Anders verlaufen die prismatischen
Erscheinungen, wenn ein schwarzes Bild auf weißem
Grunde verrückt wird. Dann entstehen ebenfalls
gelbe und blaue Ränder, die gegen das Schwarz
hin in Rot bzw. Violett übergehen. Nimmt die
Brechung zu, so treffen sich Rot und Violett in der
Mitte des schwarzen Streifens und bilden durch
Vermischung den Purpur. Diese Feststellung Goethes
232 Achte Vorlesung.
trifft das Richtige. Purpur ist tatsächlich eine Farbe,
die als einfache im Spektrum nicht vorkommt, son-
dern erst durch Mischung von Rot und Violett ent-
steht. So ist Irrtum und Wahrheit in Goethes System
zu einem in sich abgeschlossenen und in sich konse-
quenten Ganzen verflochten. Aus dem bisher Ge-
sagten ergibt sich, daß nach Goethes Auffassung
die Farben nur dann auftreten, wenn das prisma-
tische Bild entweder ins Auge oder auf eine weiße
Wand fällt. Sonst sind die Bedingungen zu ihrer
Entstehung nicht gegeben. Er weist daher mit
größter Entschiedenheit immer wieder darauf hin,
daß nach seiner Darstellung die prismatischen Farben-
erscheinungen keineswegs fertige sind, sondern
immer nur als werdende beobachtet werden können;
es sei deshalb vollständig falsch, wenn Newton
behauptet, daß die Farben im weißen Licht enthalten
seien, im weißen Licht drin steckten, vielmehr sei
das weiße Licht etwas durchaus Einheitliches; die
Farben entstehen immer nur an den Rändern von
Bildern, welche durch Refraktion verrückt werden.
In dem ersten Hauptteil von Goethes optischem
Werk, dem didaktischen Teil, werden die Phäno-
mene und Experimente nur einfach der Reihe nach
geschildert und in der Weise angeordnet, daß sich
die theoretische Ansicht dadurch gewissermaßen von
selbst ergibt Die Auseinandersetzung mit der
Newtonschen Farbenlehre ist davon vollständig los-
Die Farbenlehre II. — Physikalische Optik. 233
gelöst. Sie findet sich in dem zweiten, polemischen
Teil. Hier nimmt Goethe das optische Hauptwerk
Newtons Abschnitt für Abschnitt und Satz für Satz
durch und weist bis ins einzelnste jeden Punkt
nach, in dem Newton seiner Meinung nach etwas
Falsches behauptet hat. Er geht hier streng ins
Gericht, wird stellenweise sogar sehr grob, wirft
seinem Gegner Advokatenkniffe, captiöse Methode
und bewußten Schwindel vor. Nur in dem Schluß-
abschnitt entschuldigt er dieses Verfahren mit der
polemischen Natur der Schrift und verspricht im
historischen Teil Newtons Persönlichkeit besser ge-
recht zu werden. Die Haupteinwände, welche Goethe
gegen Newton richtet, sind in Kürze folgende:
Zunächst der schon erwähnte, daß bei den Ver-
suchen in der dunklen Kammer Newton immer von
Strahlen redet, während doch tatsächlich Bilder
entworfen und durch Brechung verändert würden.
Weiter tadelt Goethe, daß Newton an die Spitze
seiner Farbenlehre einen verwickelten und abgelei-
teten Versuch gesetzt habe, dessen Bedingungen
absichtlich kompliziert worden seien, daß also die
ganze Darstellung von einem beschränkten Einzel-
falle ausgehe, nicht von einem allgemein gültigen
Naturphänomen. Von diesem Standpunkt aus wird
nun die ganze Reihe der Newtonschen Versuche
durchkritisiert, und Goethe geht so weit, daß er
selbst die kurz vorher entdeckten Fraunhoferschen
234 Achte Vorlesung.
Linien des Sonnenspektrums nicht anerkennen will,
da sie nur auftreten, wenn man das Licht durch
einen engen Spalt fallen läßt.
„Freunde, flieht die dunkle Kammer,
„Wo man Euch das Licht verzwickt
,Und im kümmerlichsten Jammer
„Sich verschrobnen Bildern bückt.
„Abergläubische Verehrer
„Gab's die Jahre her genug
„In den Köpfen Eurer Lehrer
„Laßt Gespenst und Wahn und Trug."
Sehr wichtig ist der folgende Punkt, weil er sich
auf experimentelle Beobachtungen stützt. Newton
hatte angegeben, daß, wenn man aus dem Sonnen-
spektrum eine einzelne Farbe isoliert und diese
durch ein zweites Prisma einer zweiten Brechung
unterwirft, dann die Farbe unverändert bleibe und
daß keine neuen farbigen Säume erscheinen. Goethe
bestreitet das aufs entschiedenste. Er findet die
Angabe allerdings beim Rot zutreffend, nicht aber
beim Blau und beim Violett. Dieses abweichende
Ergebnis ist zur Charakteristik der beiden streitenden
Parteien sehr wichtig. Newton hat seine richtige
Behauptung aufgestellt, weil er bei seinen Versuchen
das Wesentliche sah und die unwesentlichen
schwachen Farbenränder vernachlässigte. Goethe
dagegen hat durchaus richtig beobachtet. Bei der
Newtonschcn Versuchsanordnung gelingt es tatsäch-
lich nicht, ganz reines spektrales Licht zu bekommen;
Die Farbenlehre II. — Physikalische Optik. 235
es treten bei der zweiten Brechung immer, wenn
auch schwache Farbensäume auf. Das, was Newton
behauptet hatte und was Goethe nicht experimentell
bestätigen konnte, ist erst Helmholtz gelungen,
welcher durch mehrfache Brechung und die Ver-
wendung enger Spalten wirklich einfaches Licht
aus dem Spektrum isolierte. Newton hat also den
richtigen Schluß aus seinen unvollkommenen Ver-
suchen gezogen, Goethes gegenteilige Behauptung
beruht aber auf genauer und feiner Beobachtung.
— Ein weiterer Punkt, bei dem es sich um ab-
weichende tatsächliche Befunde handelt, bezieht
sich auf die verschiedene Brechbarkeit verschieden-
farbigen Lichtes. Newton hatte gefunden, daß
das violette Licht stärker gebrochen wird als das
rote, und zu diesem Zwecke verschiedene Ver-
suche angegeben. Goethe hat diese nachgeprüft
(die optische Bank, die er dazu benutzte, ist im
Goethehaus vorhanden, s. Fig. 9, Nr. 2) und konnte
Newtons Angabe nicht bestätigen. Dieses merk-
würdige Ergebnis beruht wahrscheinlich darauf, daß
Goethe mit farbigen Papieren gearbeitet hat, welche
keine im physikalischen Sinne reine Farben besaßen.
Zur Beurteilung dieses Befundes ist aber zu be-
merken, daß ein so geschickter physikalischer Ex-
perimentator wie Goethes Freund und Mitarbeiter
Seebeck ebenfalls nicht imstande gewesen ist,
Newtons Angabe zu bestätigen. Seebeck arbeitete
236 Achte Vorlesung.
mit farbigen Gläsern, welche vermutlich ebenfalls
keine reinen Lichter gaben. Ein weiteres Argument
Goethes gegen Newton bezieht sich auf die
Achromasie und die Möglichkeit, die dioptrischen
Femgläser zu verbessern. Newton hatte die Farben-
zerstreuung bei der Brechung durch Linsen unter-
sucht und daraufhin behauptet, die Fernrohre wären
nicht zu verbessern, weil bei jeder Lichtbrechung
eine Farbenzerstreuung eintrete. Es ist Ihnen be-
kannt, daß man durch schlechte Fernrohre oder
Operngläser alle Gegenstände mit farbigen Rändern
umsäumt sieht. Nun hatte aber in der Mitte des
18. Jahrhunderts Dollond die achromatischen Linsen-
kombinationen aus Crown- und Flintglas entdeckt, bei
denen durch Vereinigung zweier Gläser mit verschie-
denem Farbenzerstreuungsvermögen das Zustande-
kommen dieser farbigen Ränder verhindert war^).
Dadurch war bewiesen, daß nicht, wie Newton an-
genommen hatte, die Farbenzerstreuung von der
Refraktion direkt abhängig sei, sondern daß, je nach
den chemischen Eigenschaften der Gläser, verschie-
dene Farbenzerstreuung bei gleicher Refraktion auf-
treten könne. Die damals kämpfenden optischen
Theorien mußten sich diesen neuen Vorstellungen
anpassen. Goethe aber zog daraus, daß diese
Theorien auf Grund einer neuen Tatsache ad hoc
') Den von Ooethe benutzten achromatischen Prismen-
satz sieht man auf Fig. 9 Nr. 1.
Die Farbenlehre II, — Physikalische Optik. 237
modifiziert wurden, den Schluß, daß sie über-
haupt falsch wären. Seiner Meinung nach wider-
legten die achromatischen Fernrohre die Newtonsche
Theorie vollständig. — Einer der wichtigsten Punkte,
in denen Goethe von Newton abwich, war nun
schließlich folgender: Newton hatte die Farben aus
dem weißen Lichte gesondert; es ergab sich also
für ihn die Aufgabe, das weiße Licht aus den Farben
wieder zusammenzusetzen, und tatsächlich gibt New-
ton an, daß durch Mischung der spektralen Lichter
Weiß entstände. Dieser Angabe widerspricht Goethe
entschieden. Seiner Meinung nach haben alle Farben
etwas Schattiges, oxiegöv, und wenn man mehrere
Farben miteinander mischt, nimmt dieses Schattige
zu; das Resultat kann also niemals Weiß, sondern
nur Grau sein, und „hundert graue Pferde machen
nicht einen einzigen Schimmel". Tatsächlich kann
man aus reinen spektralen Farben von genügender
Intensität Weiß mischen, wie schon Schopenhauer
gegen Goethe geltend machte. Aber trotzdem liegt
dem Goetheschen Einwand eine richtige Beobachtung
zugrunde. Wenn man mehrere Farben so mischt,
daß das Gemisch farblos wird, so ist die Helligkeit
tatsächlich geringer als die Helligkeit der ursprüng-
lichen Komponenten zusammengenommen. Hering
hat diesen Versuch mit zum Ausgangspunkt seiner
Theorie der Gegenfarben gemacht. Wenn man also
farbige Pulver oder die Farben pigmentierten Papiers
238 Achte Vorlesung.
durch geeignete Mittel (Farbenkreisel usw.) mischt,
so tritt tatsächlich Grau auf, und nur bei Benutzung
sehr lichtstarker prismatischer Farben wird Weiß
erhalten.
So sehen wir, daß alle Einwände Goethes gegen
die Newtonsche Lehre auf unmittelbarer richtiger
Beobachtung beruhen und daß sie konsequent zum
System von Goethes Farbenlehre passen. Er hat
seine Polemik gegen Newton noch in der Geschichte
der Farbenlehre fortgesetzt. Hier entwickelt er, wie
diese seiner Meinung nach falsche Theorie entstehen
konnte. Heute hat Newtons Ansicht in allen wesent-
lichen Punkten den unzweifelhaften Sieg errungen.
Goethes Farbenlehre ist in diesem Streite völlig
unterlegen; es ist aber interessant, zu verfolgen, wie
ihr Urheber auf Grund möglichst anschaulicher Ver-
suche und Phänomene unter Ausschaltung jeder
Theorie über das Wesen des Lichtes imstande war,
aus dem einfachen Urphänomen der trüben Mittel
die Gesamtheit der physikalischen Farbenerschei-
nungen sich klar zu machen.
An die dioptrischen Farben schließt Goethe die
katoptrischen an, welche durch Spiegelung an einer
farblosen Fläche entstehen. Denen folgen die par-
optischen, welche auftreten, wenn das Licht an
einem Rande erscheint (Beugungserscheinungen),
und weiter folgen die epoptischen Farben. Diese
entstehen nach Goethe an glatten Flächen; die
Die Farbenlehre II. — Physikalische Optik. 239
Hauchbilder, die Farben der Seifenblasen, die New-
tonschen Ringe gehören hierher. Goethe hat wenig-
stens andeutungsweise versucht, auch diese Farben
aus der Lehre von den trüben Mitteln herzuleiten.
Damit schließt die Abteilung von den physischen
Farben. Goethe hat aber später noch ein weiteres
Kapitel bearbeitet, das an dieser Stelle eingefügt
werden sollte, die Lehre von den „entoptischen
Farben". Im Jahre 1809 hatte Malus endeckt, daß
das Licht durch Spiegelung veränderte Eigenschaften
bekommt, was wir heute als die Erscheinung des
polarisierten Lichtes bezeichnen. Seebeck hatte
dann 1812 das Verhalten von Glas in derartigem
Lichte untersucht und 1813 das Auftreten von sehr
merkwürdigen Figuren, schwarzen Kreuzen auf
weißem Grunde und weißen Kreuzen auf schwarzem
Grunde, bei verschiedenen Gläsern gefunden. Diese
Figuren bezeichnete man damals als „entoptische".
Er untersuchte nun die Bedingungen dieser Er-
scheinung und fand, daß nur schnell gekühltes Glas
sie zeigt. Er erhielt 1816 die Hälfte eines Preises
vom Institut de France, die andere erhielt der Phy-
siker Brewster. Goethe hatte von Anfang an leb-
haftestes Interesse für diese Seebeckschen Unter-
suchungen und er übernahm es, das Auftreten der
Farbenerscheinungen hierbei durchzuexperimen-
tieren. Im Jahre 1813 schrieb er schon einen Brief
über die Doppelbilder des Kalkspats, 1817 die Ele-
240 Achte Vorlesung.
mente der entoptischen Farben und 1820 den zu-
sammenhängenden Aufsatz „Entoptische Farben",
der in den didaktischen Teil der Farbenlehre ein-
geschoben werden sollte. Dieser Aufsatz enthält
nun eine geradezu musterhafte Sc.iilderung der
Phänomene, die Goethe von den allereinfachsten
schrittweise bis zu den kompliziertesten entwickelt.
Er experimentiert auch hier wieder mit den ein-
fachsten Mitteln, wenigen Spiegeln und Glaswürfeln,
und man kann sich eigentlich kein schöneres Ex-
perimentierbuch für Knaben denken als diese klare
Schilderung der entoptischen Versuche. Im Goethe-
haus finden sich noch zahllose Proben rasch ge-
kühlten Glases, Glaswürfel, Glasplatten, Kalkspat-
kristalle, Glimmerscheiben, Bernsteinknöpfe und alle
die einzelnen Stücke, die in Goethes Aufsatz er-
wähnt werden. Der Polarisationsapparat, mit dem
Goethe zumeist arbeitete, war der denkbar einfachste
(Fig. 9, Nr. 3): zwei schwarz hinterlegte Glasspiegel
an einem einfachen Holzgestell so befestigt, daß
zwischen ihnen Glasplatten, Würfel (Nr. 4) usw. an-
gebracht werden konnten. Einen sehr vollkommenen
Apparat des Mechanikers Niggl in München (Fig. 9,
Nr. 5), den ihm Professor Schweigger 1818 zu seinem
Geburtstage geschickt hatte, benutzte er nur ungern,
weil ihm die Bedingungen hier schwieriger über-
sehbar zu sein schienen als bei seinem einfachen
Instrument Goethe glaubte in diesen entoptischen
Fig. 9.
Einige von Goethes optischen Apparaten. 1. Achromatischer Prismensatz
(Farbenlehre, didakt. Teil § 298). — 2. Optische Bank aus Holz. — 3. Einfacher
Polarisationsapparat zum Studium der entoptischen Farben mit zwei schwarzen
Spiegeln (Entoptische Farben, Kap. XVII). — 4. Zwischen den Spiegeln entop^
tischer Würfel aus übereinander gelegten Glasplatten in Metallrahmen (Entop=
tische Farben, Kap. XVI). — 5. Nigglscher Polarisationsapparat, Geschenk
Prof. Schweiggers an Goethe (Entoptische Farben, Kap. XXVI). — 6. Negatives
Bild eines Mädchens zu Nachbildversuchen (Grund rot, Kopftuch gelb, Backen:
flecken grün) vgl. Farbenlehre, didakt. Teil § 52 u. 53.
Die Farbenlehre II. — Physikalische Optik. 241
Farben das „Tüpfelchen auf dem i" seiner Farben-
lehre gefunden zu haben und machte sich weidlich
über die Bemühungen der Physiker lustig, ihre
optischen Theorien mit diesen ganz neuen Phäno-
menen in Einklang zu bringen.
„Möget ihr das Licht zerstückeln,
„Färb' um Farbe draus entwickeln,
„Oder andere Schwanke führen,
„Kügelchen polarisiren,
„Daß der Hörer ganz erschrocken
„Fühlet Sinn und Sinne stocken.
„Nein! es soll euch nicht gelingen,
„Sollt uns nicht beiseite bringen,
„Kräftig wie wir's angefangen,
„Wollen wir zum Ziel gelangen.*
Die Folge hat allerdings Goethe unrecht gegeben.
An der Hand der entoptischen Phänomene und der
Polarisationserscheinungen ist die Undulationstheorie
des Lichtes ausgebaut worden zu der Vollendung,
mit der sie heute die Gesamtheit der optischen
Erscheinungen umfaßt. Die Richtigkeit von Goethes
tatsächlichen Beobachtungen aber bleibt auch auf
diesem Gebiete unbeschränkt bestehen. Er zog
es auch hier wieder vor, die dunkle Kammer zu
fliehen und möglichst unter freiem Himmel zu
arbeiten. Dieses Mal wurde ihm dadurch eine
wichtige Erfahrung ermöglicht. Er fand nämlich, daß
die entoptischen Figuren sich ganz verschieden ver-
hielten, je nachdem er seine Spiegel nach verschie-
Magnus, Goethe als Naturforscher. 16
242 Achte Vorlesung.
denen Teilen des Himmels richtete, und es gelang
ihm, die Gesetzmäßigkeit dieses Verhaltens nachzu-
weisen und von der jeweiligen Stellung der Sonne
abzuleiten. Nach Goethes Meinung war damit der
atmosphärische Ursprung der entoptischen Phäno-
mene nachgewiesen. Nach unserer heutigen Aus-
drucksweise hat er gefunden, daß das Licht, das
von verschiedenen Teilen des Himmels reflektiert
wird, teilweise und in gesetzmäßiger Weise polari-
siert ist. Hierauf führt er nun die allen Malern be-
kannte Tatsache zurück, daß in den Ateliers die
Beleuchtung zu den verschiedenen Tageszeiten ver-
schieden gut ist. Er geht mit seinem entoptischen
Apparat in die Malerateliers und stellt fest, daß die
entoptischen Eigenschaften des Lichtes mit dieser
Beleuchtung gleichmäßig wechseln und macht darauf-
hin den Vorschlag, ein gutes Maleratelier müsse
zwei Fenster haben, eines nach Norden, eines nach
Westen, damit zu verschiedenen Tageszeiten Licht
aus verschiedenen Himmelsgegenden einfallen könne.
Vorschläge zu Beobachtungen auf Reisen und zu
Demonstrationen in der Vorlesung schließen diesen
Aufsatz, in dem die mustergültige Darstellung und
die klare Schilderung der Experimente bewunderungs-
wert sind. Auch hier bildet Goethe aus den Phäno-
menen eine kontinuierliche Reihe, die von den ein-
fachsten bis zu den kompliziertesten fortschreitet,
und versucht, alles auf die Lehre von den trüben
Die Farbenlehre II. — Physikalische Optik. 243
Mitteln zurückzuführen. Hierher gehört auch das
schöne Gedicht an Julie v. Egloff stein:
Entoptische Farben.
„Laß Dir von den Spiegeleien
»Unsier Physiker erzählen,
„Die am Phänomen sich freuen,
»Mehr sich mit Gedanken quälen.
„Spiegel hüben, Spiegel drüben,
„Doppelstellung, auserlesen;
„Und dazwischen ruht im Trüben
„Als Kristall das Erdewesen*).
„Dieses zeigt, wenn Jene blicken,
„Allerschönste Farbenspiele,
„Dämmerlicht, das beide schicken,
„Offenbart sich dem Gefühle.
„Schwarz wie Kreuze wirst du sehen,
„Pfauenaugen kann man finden,
„Tag und Abendlicht vergehen,
„Bis zusammen beide schwinden.
„Und der Name wird ein Zeichen,
„Tief ist der Kristall durchdrungen:
„Aug' im Auge sieht dergleichen
„Wundersame Spiegelungen.
„Laß den Makrokosmus gelten,
„Seine spenstischen Gestalten!
„Da die lieben kleinen Welten
„Wirklich Herrlichstes enthalten.*
Goethe beabsichtigte ursprünglich am Schluß der
Farbenlehre noch einen supplementären Teil folgen
zu lassen, in dem besonders ein Aufsatz über Ver-
0 Vergleiche hierzu den Apparat Fig. 9 Nr. 3 und 4.
16*
244 Achte Vorlesung.
suche sich finden sollte, bei denen Prismen und
Linsen miteinander vereinigt werden. Goethe ver-
weist oftmals auf diese Arbeit, hat sie aber niemals
veröffentlicht. Ferner sollte im supplementären Teil
der zu den optischen Versuchen nötige Apparat ein-
gehend geschildert werden und auch ein Aufsatz
über den Regenbogen folgen. Statt dessen bringt
Goethe am Schluß seiner Farbenlehre „statt des
versprochenen supplementären Teils" nur einige
Aufsätze Seebecks über die Wirkung farbiger Be-
leuchtung. Der erste derselben knüpft an eine ältere
Entdeckung Goethes an. Dieser hatte schon im
Jahre 1792 Untersuchungen über das Verhalten des
bononischen Leuchtsteins (Schwefelbaryum), eines
phosphoreszierenden Minerals, das nach vorheriger
Belichtung im Dunkeln weiter leuchtet, angestellt
und gefunden, daß nur die blauen und violetten,
nicht dagegen die gelben und roten Strahlen des
Sonnenspektrums die Phosphoreszenz hervorzurufen
imstande sind. Diese Entdeckung ist also nicht,
wie in einer neuern Arbeit zn lesen steht, 1849
von Becquerel, sondern 57 Jahre früher von Goethe
gemacht worden. Seebecks Artikel befaßt sich mit
der Wirkung des Lichtes auf Leuchtsteine, auf
Schwärzung des Chlorsilbers und auf das Wachs-
tum der Pflanzen.
Es bleibt uns nun noch übrig, ganz kurz auf
den dritten Hauptteil von Goethes Farbensystem
Die Farbenlehre II. — Physikalische Optik. 245
einzugehen, auf die Lehre von den chemischen
Farben, den Körperfarben. Auch hier versucht
Goethe das Prinzip der trüben Medien zur Erklärung
heranzuziehen. Ein Körper, der gar kein Licht
zurückwirft, erscheint schwarz; ein Körper, dessen
Oberfläche „die vollendete Trübe" besitzt, erscheint
weiß; die Farben entstehen dadurch, daß nach
Goethes Ansicht die Oberflächenschicht gefärbter
Körper durchsichtig ist und wie ein trübes Mittel
wirkt. Das Licht dringt also eine kleine Strecke in
den Körper ein und wird erst dann reflektiert. Wenn
die Oberflächenschicht eines weißen Körpers leicht
getrübt ist, so ergibt sich ein trübes Mittel vor
weißem Hintergrunde, und die Farbe des Körpers
wird gelb; nimmt die Trübung zu, so steigert sich
das Gelb zu Orange und Rot. Trübt sich dagegen
die Oberflächenschicht eines schwarzen Körpers, so
erblicken wir ein trübes Medium vor dunklem
Hintergrunde, und der Körper erscheint blau; ist
die Trübung eine besonders zarte, so entsteht
Violett. Durch Mischung der gelben und der blauen
Farbe ergeben sich dann grüne, durch Mischung
der roten und der violetten Farbe purpurgefärbte
Körper. So gelingt es Goethe in der Tat durch
konsequente Anwendung der Lehre vom Trüben
eine anschauliche Hypothese über das Auftreten der
Körperfarbe zu gewinnen.
Goethe sucht in diesem Abschnitt noch eine
246 Achte Vorlesung.
zweite Aufgabe zu lösen, nämlich die Frage zu be-
antworten, wie die Farbe chemischer Körper von
ihrer chemischen Zusammensetzung abhängt. Das
Problem selbst ist ein altes; schon Paracelsus hatte
die Farbe der Körper auf ihren mehr oder minder
großen Gehalt an Schwefel zurückgeführt. Es be-
schäftigt aber die Chemiker noch bis auf den
heutigen Tag, und erst die Anfänge zu einer Lösung
sind getan. Nur auf dem Gebiete der Teerfarb-
stoffe ist es bisher gelungen, zu bestimmten Ge-
setzmäßigkeiten zu gelangen. Entsprechend der
damaligen Entwicklung der Chemie ist nun auch
Goethes Ableitung der Farben von der chemischen
Zusammensetzung noch durchaus unvollkommen.
Er sucht allerdings die Farben der „Metallkalke",
d. h. der Oxyde, von dem Grade ihrer „Oxydation
und Desoxydation" abzuleiten. Ziemlich vollständig
hat er die Farben der Pflanzen extrakte und ihren
Farbenwechsel in saurer und alkalischer Lösung,
die sogenannten Indikatoren, untersucht, worüber
besonders seine Versuchsprotokolle Aufschluß geben.
Ist ihm die Lösung der chemischen Aufgabe auch
keineswegs gelungen, so ist es doch wichtig zu
sehen, daß Goethe sich mit diesem Problem über-
haupt genauer beschäftigt hat. Es finden sich in
diesem Abschnitt ferner Ausführungen über Färberei
und über die Methoden, Körper zu entfärben (Bleich-
kunst), wobei Goethe in interessanter Weise das
Die Farbenlehre II. — Physikalische Optik. 247
Zustandekommen der Bleichung erörtert und Ex-
perimente zur Erklärung vorschlägt. Dann wird
noch das Vorkommen der Farben in der Natur bei
Pflanzen, Würmern, Insekten, Fischen, Vögeln und
Säugetieren geschildert. Diese wenigen Bemerkungen
mögen genügen, um über den Inhalt des an Tat-
sachen reichen Kapitels von den chemischen Farben
zu orientieren.
Es folgen nun noch Auseinandersetzungen über
allgemeine Eigenschaften der Farben, und Goethe
versucht dann weiter das Gebiet der Farbenlehre
gegen die Grenzgebiete Philosophie, Mathematik,
Physiologie, Naturgeschichte, allgemeine Physik und
Tonlehre abzugrenzen. Dabei kommt manches zur
Sprache, was im Vorhergehenden schon berück-
sichtigt wurde, manches, auf das wir in allge-
meinem Zusammenhange noch zu sprechen kommen
werden.
Das ist der Inhalt des didaktischen Teils, der
das gesamte zu Goethes Zeiten vorhandene Tat-
sachenmaterial nach einheitlichen Gesichtspunkten
geordnet und zusammengefaßt enthält. Von dem
polemischen Teil, der hierauf folgt, war schon
weiter oben die Rede, und wir müssen dem-
nach nur noch des letzten Teiles gedenken, der
„Materialien zur Geschichte der Farbenlehre". Ma-
terialien deshalb, weil Goethe ursprünglich beab-
sichtigte, den gesamten historischen Stoff, den er
248 Achte Vorlesung.
durch emsige Studien, besonders 1801 auf der Göt-
tinger Bibliotheic, gesammelt hatte, zu einer einheit-
lichen Darstellung zu verschmelzen. Als er aber
in den Jahren 1807—1810 endlich mit seinen opti-
schen Studien zum Abschluß kommen wollte, unter-
blieb diese letzte Überarbeitung und er faßte alles,
was er zu sagen hatte, in einer Reihe von Einzel-
darstellungen zusammen, aus denen sich jetzt dieses
Werk zusammensetzt. Trotz oder vielleicht gerade
wegen dieser lockeren Form der Darstellung besitzt
der historische Teil einen ganz besonderen Zauber
und ist von jeher als eines von Goethes Meister-
werken angesehen worden. Er unternimmt es
nämlich, die Geschichte der Farbenlehre von den
ältesten Uranfängen bis auf seine Zeit als ein Sym-
bol für die Geschichte aller Wissenschaften über-
haupt darzustellen. Diese Aufgabe gelingt ihm auf
folgende Weise. Er läßt die Erkenntnis vom Wesen
der Farben, deren historische Entwicklung er gibt,
vor unsern Augen entstehen auf dem großen und
allgemeinen Hintergrunde einer Geschichte der ge-
samten Naturwissenschaften. Aber auch hiermit
nicht genug zeichnet er wieder die Naturwissen-
schaften auf dem breiteren Hintergrunde einer Ent-
wicklungsgeschichte des menschlichen Geistes. Zu
diesem Zwecke unterbricht Goethe oftmals die Dar-
stellungen von den Leistungen einzelner Natur-
forscher durch allgemeinere Betrachtungen über
Die Farbenlehre II. — Physikalische Optik. 249
Naturwissenschaft, über Philosophie, Malerei und
vieles andere. Besonders setzt er den jeweiligen
Stand der Farbenlehre immer in Bezug zu den Fort-
schritten der Technik auf der einen und zu denen
der Philosophie auf der andern Seite. So gelingt
es ihm bei der historischen Entwicklung einer
Einzeldisziplin die allgemeinsten Gesichtspunkte
darzulegen, und deshalb ist die Lektüre dieses
SpezialWerkes ein so besonderer Genuß. Überall
findet man eingestreute Perlen, Betrachtungen von
höchstem allgemeinen Werte.
Die Geschichte der Farbenlehre zerfällt in zwei
Teile. Der erste geht vom Altertum bis zum Ende
des 17. Jahrhunderts, der zweite von Newton bis
auf Goethes Zeit. Der erste Teil ist es besonders,
der die allgemeinen Betrachtungen enthält. Zuerst
wird die geistige Eigentümlichkeit des Altertums
geschildert und dabei Theophrasts Buch von den
Farben in Übersetzung eingeschaltet. Auch eine
hypothetische Geschichte des Kolorits bei den Alten
aus der Feder Heinrich Meyers ist mit aufgenommen.
Schließlich wird das Wesen des Altertums zusammen-
gefaßt und die drei großen Stämme der Überliefe-
rung, die von hier aus in das Mittelalter hinüber-
reichen, die Bibel, Plato und Aristoteles, in wunder-
baren Sätzen charakterisiert. Die Frühzeit des
Mittelalters ließ die Naturforschung brach liegen.
Goethe füllt diese „Lücke" wieder durch Betrach-
250 Achte Vorlesung.
tungen allgemeinen Inhaltes und stellt an den Be-
ginn der neuen Entwicklung die Persönlichkeit jenes
englischen Mönches Roger Bacon, der die Natur-
wissenschaft auf mathematische Grundlage zu setzen
unternahm. Dann wird die Entwicklung der Natur-
forschung im Mittelalter geschildert und an die
Grenze gegen die neue Zeit der andere Bacon von
Verulam gesetzt, der im Gegensatz zu aller Scholastik
die Naturforschung ganz allein auf den Boden ein-
fachster Empirie beschränkt sehen wollte. Daran
schließt sich dann die Darstellung des 17. Jahr-
hunderts, beginnend mit Galilei und Keppler, in
welchem die Farbenlehre die wichtigsten Fortschritte
zu verzeichnen hat. Den Schluß bildet eine „Ge-
schichte des Colorits seit Wiederherstellung der
Kunst" von Heinrich Meyer, in welcher die Ent-
wicklung der Malerei nach der von Goethe auf-
gestellten Farbenästhetik geschildert wird.
Der zweite Teil beschäftigt sich mit der Ent-
stehung und der Fortentwicklung von Newtons Lehre.
Zunächst wird die Gründung der Royal Society
und damit das Milieu geschildert, in dem Newton
seine Entdeckungen vortrug, dann gibt Goethe eine
wDrdlge Charakteristik von der Persönlichkeit seines
großen Gegners, den er im polemischen Teil so heftig
angegriffen hatte, und beschreibt dann in allen Einzel-
heiten das Bekanntwerden, den Siegeszug und die
ersten Kämpfe der Newtonschen Theorie. Dabei
Die Farbenlehre II. — Physikalische Optik. 251
verzeichnet er natürlich besonders genau alle'Ein-
wendungen, die schon von der frühesten Zeit an
gegen diese Lehre gemacht wurden, und stellt auch
deshalb die Entdeckung der achromatischen Fern-
rohre durch Dollond in den Mittelpunkt seiner Dar-
stellung, da hierdurch die Ansicht Newtons," daß
Farbenzerstreuung und -brechung dasselbe sei, wider-
legt wird. Goethe nahm, wie wir wissen, an, daß
durch Dollonds Befund die Newtonsche Optik über-
haupt gestürzt sei, und er setzt nun auseinander,
wie die Zunftgelehrten diese vermeintliche Irrlehre
immer nur weiter wiederholten und befestigten,
während ihre Gegner nicht beachtet und totge-
schwiegen wurden. Das Ende des historischen
Teiles bildet die „Confession des Verfassers", in
der Goethe die Entstehung seiner eigenen optischen
Studien erzählt.
Während er im didaktischen Teil die Phänomene
und Experimente einfach so schildert, wie er sie
selbst angestellt hat, ist im historischen Teil die
Entdeckungsgeschichte jeder einzelnen Tatsache der
Farbenlehre verzeichnet. Goethe wird hier also
allen seinen Vorgängern gerecht. Um so klarer aber
sieht man, wie selbständig er bei der wissenschaft-
lichen Durcharbeitung des gesamten Materials vor-
gegangen ist.
Am Schluß der Betrachtung von Goethes opti-
schem Gesamtwerk müssen wir uns noch einmal
252 Achte Vorlesung.
die Frage vorlegen, wie es denn möglich gewesen
ist, daß er in so unüberbrückbaren Gegensatz zu
Newton kommen konnte. Wir haben die einzelnen
Argumente, die er gegen ihn vorbringt, der Reihe
nach gewürdigt Der wahre Grund aber für seine
Stellungnahme liegt tiefer. Goethe hat nicht umsonst
die physiologischen Farben an die Spitze seiner Lehre
gestellt. Er ging bei der Betrachtung des ganzen
Farbenwesens durchaus von subjektiven Gesichts-
punkten aus. Da es für ihn ohne weiteres evi-
dent war, daß Weiß eine einheitliche Emp-
findung ist, so hielt er es auch für absurd,
daß das objektive weiße Licht aus farbigen
Lichtstrahlen gemischt sein sollte. Ich bitte
Sie, sich ins Gedächtnis zurückzurufen, was wir in
unserer sinnesphysiologischen Betrachtung ausein-
andergesetzt haben: die scharfe Scheidung, welche
zwischen den Empfindungen auf der einen und den
diese Empfindungen auslösenden objektiven Vor-
gängen der Außenwelt auf der andern Seite besteht
Goethe war sich, wie wir wissen, über diesen Gegen-
satz noch nicht im Klaren und schloß deshalb als
naiver Sinnesmensch von der Einheitlichkeit der
Weißempfindung auf die Einheitlichkeit des weißen
Lichtes, während der Physiker Newton sich um die
Empfindungen überhaupt nicht gekümmert und nur
die Vorgänge der Außenwelt studiert hatte. So kam
Ooethe zu seiner Stellungnahme in der Farbenlehre
Die Farbenlehre II. — Physikalische Optik. 253
dadurch, daß er von einer ganz neuen Seite das
Problem anpackte, und daß er, durch seine Erfolge
auf physiologischem Gebiete verleitet, die physika-
lischen Fragen von demselben Standpunkte aus
lösen wollte.
Es bleibt nur noch kurz zu schildern, wie sich
die Farbenlehre nach Goethe und im Anschluß an
ihn weiter entwickelt hat. Von Seiten der Physiker
wurde er, wie wir wissen, gleich von Anfang an
aufs heftigste bekämpft. Wirklich rückhaltlose An-
hänger hatte er wohl überhaupt nur zwei. Der eine
war der Staatsrat Schultz, ein merkwürdiger Mann,
der schon im Jahre 1806 sich mit der Fabrikation
von Flintglas beschäftigte, 1812 einen Aufsatz „über
die farbigen Ränder und die verkleinerten Bilder
nach Goethe* schrieb, 1814 seinen Briefwechsel mit
Goethe begann, der bis zu dessen Tode fortgeführt
wurde, und 1816 eine Arbeit „über physiologe Ge-
sichts- und Farbenerscheinungen** in Schweiggers
Journal erscheinen ließ. Derselbe Mann war es aber
auch, der 1820 die Karlsbader Beschlüsse an der
Berliner Universität durchführte und ein Hauptver-
folger der deutschen Burschenschaften gewesen ist.
Später fiel er in Ungnade. Er hat sich auch noch
mit geographischen Fragen beschäftigt und war einer
der ersten, der die alten römischen Kastelle auf
deutschem Boden studierte. Außer Schultz kann
eigentlich nur noch der junge Berliner Dozent
254 Achte Vorlesung.
V. Henning, ein Schüler Hegels, als treuer Anhänger
gerechnet werden. Er las vom Jahre 1822 ab über
Goethes Farbenlehre und zeigte die dazu gehörigen
Experimente seinen Hörern.
Wir haben gesehen, daß Goethe von der physio-
logischen Seite her die Farbenlehre in Angriff ge-
nommen, aber die scharfe Scheidung zwischen Sinnes-
empfindungen und äußeren Reizen nicht gemacht hatte.
Während er selbst über diese Frage noch im Finstern
irrte, war im Norden Deutschlands schon das Licht
aufgegangen, das dieses Dunkel erhellen sollte. Kant
hat in seiner Kritik der reinen Vernunft für immer die
Gesichtspunkte festgelegt, nach denen wir unser Ver-
hältnis zur Außenwelt zu beurteilen haben. Goethe
hatte Kants Schriften gelesen und war durch Schiller
nachdrücklichst auf ihren Inhalt hingewiesen worden.
Aber er war von Jugend auf in spinozistischen Bahnen
zu denken gewohnt und hat die Kantsche Vorstellungs-
art nicht mehr so in sich aufgenommen, daß er sie
für die wissenschaftlichen Grundfragen anwendete.
Dagegen beruhen die Fortschritte, welche die Sinnes-
physiologie noch zu Goethes Zeiten über ihn hinaus
machte, auf einer folgerichtigen Anwendung der
Kantschen Lehre. Den ersten Schritt auf dieser Bahn
tat Arthur Schopenhauer. Goethe lernte den jungen
Philosophen 1813 im Hause von dessen Mutter in
Weimar kennen und gewann solches Interesse an
ihm, daß er ihm seine optischen Versuche und Appa-
Die Farbenlehre II. — Physikalische Optik. 255
rate demonstrierte. Diese Unterweisung fiel auf frucht-
baren Boden. Schopenhauer setzte die Beschäftigung
mit der Farbenlehre fort und sandte schon 1815 das
Manuskript seines Aufsatzes „über das Sehen und
die Farben" an Goethe. Dieser las die Arbeit, war
aber keineswegs mit ihr einverstanden, und es be-
durfte mehrerer brieflicher Mahnungen, bis Schopen-
hauer nach Monaten seine Schrift zurückerhielt,
welche 1816 im Druck erschien. In diesem Aufsatz
zeigt Schopenhauer zunächst, daß man im Gegensatz
zu Goethes Angabe durch Vermischung spektraler
Lichter tatsächlich weißes Licht erhalten kann, eine.
Abweichung, die Goethe seinem Schüler nie ver-
ziehen hat. Weiter aber ist Schopenhauer der erste,
der als bewußter Schüler Kants die scharfe Schei-
dung zwischen Sinnesempfindung und Sinnesreizen
macht. Er teilt nicht mehr die Farben wie Goethe
in physiologische, physische und chemische, sondern
erklärt ohne weiteres alle Farben als unsere Emp-
findungen, hervorgerufen durch Affektion unseres
Auges. Solche Farbenempfindungen können ohne
äußere Reize entstehen (physiologische) oder durch
Vorgänge in der Außenwelt, durch Lichtstrahlen
erzeugt sein (physische und chemische Farben). Da-
durch war das physiologische Gebiet scharf von
dem physischen gesondert.
Den nächsten großen Fortschritt der Sinnesphysio-
logie hat Goethe ebenfalls noch erlebt. 1826 ver-
256 Achte Vorlesung.
öffentlichte Johannes Müller in Bonn sein Buch „zur
vergleichenden Physiologie des Gesichtsinnes des
Menschen und der Tiere", in welchem das Ge-
setz von der spezifischen Sinnesenergie aufgestellt
wurde. Johannes Müller zeigte, daß die Art unserer
Sinnesempfindungen überhaupt nicht abhängt von
der Art der äußeren Reize, sondern nur von der
Art des Sinnesorgans oder Sinnesnerven, der er-
regt wird. Auch hierbei handelt es sich um eine
Anwendung Kantscher Ideen auf physiologische
Probleme.
Diese beiden großen Fortschritte knüpfen nun
unmittelbar an Goethes Optik an; Schopenhauer war,
wie gesagt, Goethes direkter Schüler, Johannes Müller
bekennt selbst, daß „ohne mehrjährige Studien der
Ooetheschen Farbenlehre in Verbindung mit der An-
schauung der Phänomene selbst seine Untersuchungen
wohl nicht entstanden wären". Es ist aber notwendig,
festzustellen, daß Goethe selbst die große Bedeutung
dieser beiden Arbeiten nicht erkannt hat Für ihn
war das System seiner Farbenlehre so abgeschlossen,
daß er nicht mehr imstande war, umzudenken. Da-
bei ist allerdings zu berücksichtigen, daß er zur Zeit
der Schopenhauerschen Arbeit 66, des Johannes
Müllerschen Buches schon 77 Jahre alt war, und
daß es eine bekannte Tatsache ist, daß es in natur-
wtottnschaftlichen Fragen den meisten Forschem
schwer fällt, von einem gewissen Alter an neue
Die Farbenlehre II. — Physikalische Optik. 257
Ideen aufzunehmen. Auf Schopenhauer beziehen sich
die Verse:
„Trüge gern noch länger des Lehrers Bürden,
Wenn Schüler nur nicht gleich Lehrer würden."
Und ferner:
„Dein Gutgedachtes, in fremden Adern,
Wird sogleich mit dir selber hadern."
Dem Philosophen selber schrieb er: „Komm' ich
aber an das, wo Sie von mir differiren, so fühle
ich nur allzu sehr, daß ich jenen Gegenständen der-
gestalt entfremdet bin und daß es mir schwer ja
unmöglich fällt, einen Widerspruch in mich aufzu-
nehmen, denselben zu lösen, oder mich ihm zu be-
quemen. Ich darf daher an diese strittigen Punkte
nicht rühren"; und in seinem Dankschreiben an Jo-
hannes Müller für Übersendung seines Buches sagt
er: „Freilich ist die Region, in der w uns umtun,
so weit und breit, daß von einem gemeinsamen
Wege die Rede nicht sein kann; und gerade die,
welche vom Zentrum nach der Peripherie gehen,
können, obgleich nach einem Ziele strebend, un-
möglich parallelen Schritt halten." — Dagegen hat
Goethe an dem Werke eines andern Physiologen,
das sich ebenfalls an seine Farbenlehre anschloß,
an Purkinjes „Beiträgen zur Kenntnis des Sehens in
subjektiver Hinsicht" eine uneingeschränkte Freude
gehabt. Das erste Heft wird von ihm mit größtem
Lobe recensiert, das zweite ist ihm gewidmet. Hier
Magnus, Goethe als Naturforscher. 17
258 Achte Vorlesung.
entwickelt Purkinje auf Grund sehr zahlreicher und
subtiler Versuche, die zum Teil Goethes Experimente
direkt weiterführen, die Lehre von den subjektiven
Licht- und Farbenerscheinungen. Die Phänomene
werden klar und einfach geschildert und Goethe
erkannte diese Darstellungsart rückhaltlos an. So
sehen wir die drei größten Sinnesphysiologen der
Zeit unmittelbar an Goethes Werk anknüpfen. Die
physiologische Optik des 19. Jahrhunderts geht in
ihren Wurzeln direkt auf seine Farbenlehre zu-
rück. In der Mitte des Jahrhunderts hat dann
Helmholtz in seinem klassischen Handbuch der
physiologischen Optik das gesamte Wissen der Zeit,
das von ihm selbst in Vielem erweitert war, zu-
sammenfassend dargestellt. Erst Helmholtz war es,
der viele der Punkte, in denen Goethe von Newton
abwich, klar gestellt hat; er klärte die Mischungs-
gesetze von Blau und Gelb auf, er erzielte zuerst
wirklich reine spektrale Lichter, die durch weitere
Brechung nicht verändert werden können. Durch
Helmholtz sind also Goethes Irrtümer auf physika-
lisch-optischem Gebiete als endgültig widerlegt an-
zusehen. Dagegen lebt der alte Gegensatz zwischen
der Goetheschen und derNewtonschen Betrachtungs-
weise bis auf den heutigen Tag auf dem Gebiete der
physiologischen Optik unvermittelt fort. Ebenso
wie Goethe die Farbenlehre von der Seite der Emp-
findung und Newton von der Seite der objektiven Reize
Die Farbenlehre IL — Physikalische Optik. 259
aus anfaßte, so wird auch jetzt noch die physio-
logische Optik durch die Schüler von Hering und
die von Helmholtz-v. Kries in verschiedener Weise
bearbeitet. Hering geht ebenso wie Goethe von der
Betrachtung unserer Empfindungen aus, die er als
Schwarz -Weiß-, Rot- Grün-, Blau-Gelbempfindung
beschreibt, v. Kries dagegen lehrt, daß man über
die Farbenempfindung irgend einer Versuchsperson
gar nichts wissenschaftlich Sicheres aussagen kann,
daß diese uns vielmehr nur angeben kann, wann
ihr zwei Farben völlig gleich erscheinen. Mit Hilfe
solcher „Farbengleichungen" untersucht v. Kries den
Farbensinn normalsichtiger Menschen und findet,
daß alle überhaupt möglichen Farbenempfindungen
sich durch Mischung von drei einfachen spektralen
Lichtern hervorrufen lassen. Es führt also die Ana-
lyse der Empfindungen auf die Annahme von
vier Grundfarben (außer Schwarz und Weiß), die
Analyse der objektiven Reize dagegen auf die
Tatsache, daß durch Kombination dreier Reizarten
alle verschiedenen Farbenempfindungen ausgelöst
werden können. Diese beiden Ergebnisse stehen
sich völlig unvermittelt gegenüber. Warum durch
drei Reizarten vier verschiedene Farbenempfin-
dungen hervorgerufen werden, ist bis heute völlig
dunkel. Der Gegensatz zwischen den beiden Be-
trachtungsarten Goethes und Newtons besteht un-
überbrückt weiter. ^
17 •
260 Achte Vorlesung.
Wir sehen aus dieser Darstellung, daß Goethes
Farbenlehre in ihrem physiologischen Teile ein
grundlegendes Werk ist, daß die physiologische
Optik in unmittelbarem Anschluß an sie sich fort-
entwickelt hat, und daß die Goethesche Lehre und
Anschauungsweise von der einen der heute herrschen-
den physiologisch-optischen Schulen im wesentlichen
auch jetzt noch vertreten wird. So hat Goethe recht
behalten, wenn er von seiner Farbenlehre sagte:
„Mir aber können sie nichts zerstören, denn ich habe
nicht gebaut; aber gesäet habe ich und so weit in
die Welt hinaus, daß sie die Saat nicht verderben
können, und wenn sie noch so viel Unkraut unter
den Weizen säen."
Neunte Vorlesung.
Mineralogie, Geologie, Meteorologie.
Meine Herren! „Ich fürchte den Vorwurf nicht,
daß es ein Geist des Widerspruchs sein müsse, der
mich von Betrachtung und Schilderung des mensch-
lichen Herzens, des jüngsten, mannigfaltigsten, beweg-
lichsten, veränderlichsten, erschütterlichsten Theiles
der Schöpfung zu der Beobachtung des ältesten,
festesten, tiefsten, unerschütterlichsten Sohnes der
Natur geführt hat." So schreibt Goethe im Jahre
1784 bei seinen Studien über den Granit und wir
finden den Dichter mehr als 50 Jahre hindurch mit
dem eifrigsten Studium der Erdrinde, ihres Aufbaus
und ihrer Entstehung beschäftigt. Es würde den
Rahmen dieser Vorträge überschreiten, wenn wir
ihm auch auf diesem Gebiete in alle Einzelheiten
der fachwissenschaftlichen Forschung folgen wollten.
Es soll hier nur ein allgemeiner Überblick über
seine Untersuchungen und seine Ansichten gegeben
werden. ^) Wie wir schon wissen, ist Goethe aus
*) Eine eingehendere Darstellung und Würdigung dieses
Zweiges von Goethes Tätigkeit findet sich in der diesjährigen
lenaer Prorektoratsrede des dortigen Mineralogen G. Linck:
262 Neunte Vorlesung.
praktischen Gründen zur Beschäftigung mit der
Mineralogie veranlaßt worden. Es handelte sich
seit 1776 um die Wiederbelebung des seit langem
daniederliegenden Ilmenauer Bergbaues, die Goethe
als leitender Minister 1777 in die Hand nahm. Er
fand aber in Thüringen bereits den Boden für geo-
logische Studien geebnet, denn durch die Nähe der
Freiberger Bergakademie und besonders durch das
Wirken des berühmtesten Geologen seiner Zeit,
Werners, war das Interesse ein reges geworden.
Der Ilmenauer Bergbau war ein Flötzbergbau, und
es erwuchs dadurch die Aufgabe, bei der berg-
männischen Gewinnung der Erze immer ganz be-
stimmte Schichten und Plötze wieder zu erkennen.
Dabei wurde Goethe auf die große Regelmäßigkeit,
mit der die Schichten der Erdrinde gerade in Thü-
ringen angeordnet sind, aufmerksam gemacht, und
es wurde das für ihn eine wichtige Stütze der
Wernerschen Lehre, der als ein Neptunist die Ent-
stehung der Erdrinde auf das Wirken des Wassers
zurückführte.
Schon in dieser ersten Zeit hatte Goethe Ge-
legenheit, auch in anderm Sinne sich praktisch zu
betätigen. Auf seine Veranlassung wurde 1779 vom
Ooethet Verhiltnis zur Mineralogie und Oeognosle (Jena 1906,
Oustav Fischer). Auf diese Schrift sei hier besonders hin-
gewtefco. Sie liegt auch der nachstehenden Darstellung teil-
wtiM sugrunde.
Mineralogie, Geologie, Meteorologie. 263
Herzog das Walchsche Naturalienkabinet mit einer
großen Sammlung von Mineralien erworben und
unter der Leitung von Lenz, der nachmals der erste
Professor der Mineralogie in Jena wurde, im dor-
tigen Schlosse aufgestellt. Sie wurde nach Werners
System geordnet und gab den Grundstock für das
später so berühmte mineralogische Museum. Um
aber auch für das Bergwesen einen geeigneten
Fachmann zu gewinnen, veranlaßte Goethe, daß
der Herzog den später berühmten J. C. W. Voigt
auf die Bergakademie zum Studium schickte und
arbeitete 1780 für diesen eine genaue Instruktion
zu einer geologischen Reise durch das Herzog-
tum aus.
Goethes geologische Anschauungen, die in Thü-
ringen wurzelten, erweiterten sich auf zahlreichen
Reisen um ein Beträchtliches. Schon auf der ersten
und zweiten Harzreise hatte er geologische Beobach-
tungen gemacht und die Bergwerke von Goslar und
Klausthal besucht. Die dritte Reise, die er im
August und September 1784 mit dem Zeichner
Kraus unternahm, war ganz mit diesen Studien ausge-
füllt. Das geognostische Tagebuch aus diesen Wochen
ist erhalten und gibt Zeugnis von dem Ernst, mit
dem die Untersuchungen angestellt wurden, und im
Goethehaus befinden sich noch heute die schönen
Zeichnungen, welche Kraus von den merkwürdig-
sten und bedeutendsten Granitformationen der Harz-
264 Neunte Vorlesung.
kuppen angefertigt hat, denn dem Studium des
Granits war diese Reise hauptsächlich gewidmet.
Die zahlreichen Aufenthalte in den böhmischen Bädern
gaben Goethe Gelegenheit, auch hier geologische
und mineralogische Erfahrungen zu sammeln. Er
lernte allmählich diesen Teil Böhmens gründlich
kennen, beobachtete die Entstehung der heißen
Mineralquellen, befestigte seine neptunistischen An-
schauungen und sah die Ausbreitung und den Ein-
fluß der großen Kohlenlager. In der Schweiz und
Tirol studierte er Form, Ausbreitung und frühere
Wirkungen der Gletscher. In Italien lernte er bei
der Besteigung des Ätna und Vesuv, beim Besuch
der phlegräischen Felder Bau und Wirksamkeit der
Vulkane beurteilen und selbst während der Cam-
pagne in Frankreich trieb er mineralogische For-
schungen. So war das Anschauungsmaterial be-
schaffen, das Goethe seinen Erdstudien zugrunde
legen konnte. Es ist das wichtig, weil sich durch
die Betrachtung dieser Landschaften die durch
Werner begründeten neptunistischen Anschauungen
mehr und mehr in ihm befestigen mußten. Goethe
weist darauf hin, daß er vermutlich nicht ein solcher
Anhänger dieser Lehren geworden wäre, wenn er
seine ersten Studien z. B. in der vulkanischen
Auvergne hätte anstellen können.
Von diesen Reisen brachte er große Samm«
lungcn mit nach Hause, die er ordnete und auf-
Mineralogie, Geologie, Meteorologie. 265
stellte. Durch Voigt war er in die mineralogische
Nomenclatur und Systematik eingeführt worden und
so entstand jene große, mehr als 18000 Nummern
umfassende Kollektion, die durch ihre Reichhaltig-
keit und die Schönheit der Einzelstücke noch heute
die Bewunderung der Besucher des Goethehauses
erregt. Der größte Teil setzt sich aus Fundstücken
von Thüringen, dem Harz und Böhmen zusammen,
aber auch die andern Teile Deutschlands, Italien
und viele andere Länder sind vertreten. Außerdem
werden Verzeichnisse angelegt z. B. von sämtlichen
in Thüringen aufgefundenen Fossilien.
Von besonderer Bedeutung wurde die Sammlung
des Steinschneiders Joseph Müller in Karlsbad.
Derselbe hatte zunächst für sein Gewerbe viele
Mineralien bei Karlsbad gesammelt, seine Kollektion
immer mehr erweitert und legte sie 1806 Goethe
vor. Dieser ordnete die Mineralien, indem er, vom
Granit ausgehend, eine kontinuierliche Reihe der
verschiedenen Vorkommnisse aufstellte, und fertigte
einen genauen wissenschaftlichen Katalog an. Er
veranlaßte nun Müller, diese Mineralien in größerer
Anzahl zu sammeln und in gleichartiger Anordnung
in den Handel zu bringen. Schon 1806 zeigte
Goethe im Intelligenzblatt der Jenaischen Literatur-
zeitung die Kollektion an und veröffentlichte
1808 den Katalog in v. Leonhards mineralogischem
Taschenbuch. Auf diese Weise wurde eine mine-
266 Neunte Vorlesung,
ralogische Mustersammlung allen Gelehrten in
gleichmäßiger Weise zugänglich gemacht und der
Bonner Mineraloge Noeggerath bezeichnete sie für
Unterrichtszwecke geradezu als die beste. Goethe
gab dann an ihrer Hand eine genaue mineralogische
Beschreibung der Karlsbader Gegend und ließ 1821
eine ebensolche der Umgebung von Marienbad
folgen, der eine entsprechende Sammlung zugrunde
lag. Er hat auch später der Karlsbader Sammlung
sein Interesse bewahrt und noch 1832 eine Folge von
verschiedenen Sprudelsintern, die Müllers Nachfolger
KnoU in den Handel brachte, ebenfalls angezeigt
Als Sammler und Forscher stand Goethe in
regem Verkehr mit vielen Fachgenossen. Minera-
logische Korrespondenz wurde gepflogen mit den
Freunden Merck und v. Knebel, mit v.Trebra, v. Leon-
hard, Aug. v. Herder, Cramer, dem Grafen Stem-
berg, Grüner und besonders mit Lenz. Ein leb-
hafter Tauschverkehr mit diesen Fachgenossen und
mit den fernsten und fremdesten entwickelte sich.
Vielfach vermittelte auch Goethe den Mineralien-
austausch, erweiterte so seine und die Jenaische
Sammlung und als der Erwerb des bedeutenden
Cramerschen Kabinettes für Jena aus Mangel an
Mitteln unterbleiben mußte, sorgte er dafür, daß
es nach Heidelberg kam.
In den Jahren 1796—98 wurde durch Lenz die
mineralogische Gesellschaft In Jena gestiftet, die
Mineralogie, Geologie, Meteorologie. 267
Goethe zu ihrem ersten Ehrenmitglied ernannte.
Lenz entfaltete eine außerordentlich große Rührigkeit,
neue Mitglieder für die Sozietät zu gewinnen und
durch deren Vermittlung die Jenaische Sammlung zu
vergrößern. Dadurch wurde diese zu einer der
bedeutendsten ihrer Zeit und die auswärtigen Ge-
lehrten strömten herbei, um ihre Schätze zu bewundern.
In der damaligen Zeit gewann die Mineralogie
zwei wichtige Hilfswissenschaften in der analy-
tischen Chemie und Kristallographie. Auf die Ini-
tiative des großen nordischen Chemikers Berzelius
hatte man begonnen, die Gesteine auf ihren Gehalt
und ihre chemische Zusammensetzung zu analy-
sieren. Goethe selbst hat solche Analysen nicht
ausgeführt, wohl aber die Fortschritte der neuen
Wissenschaft mit großem Interesse verfolgt. Zuerst
durch Göttling, später durch Döbereiner ließ er
sich über die Entwicklung der neueren Chemie auf
dem Laufenden halten. Für sein reges Interesse
legt die große Sammlung chemischer Hand- und
Lehrbücher Zeugnis ab, welche in seiner Bücherei
zu finden ist. Weniger hat er sich mit Kristallo-
graphie beschäftigt, deren Kenntnis ihm vor allem
durch Soret vermittelt wurde. Doch stellte er auch
gelegentlich Beobachtungen über das Entstehen, das
Wachstum und die Größe der Kristalle an.
Wenn Goethes mineralogische und geologische
Forschungen auch keinen Markstein in der Ge-
268 Neunte Vorlesung.
schichte dieser Wissenschaften bilden, so hat er
doch „den Besten seiner Zeit genug getan". Seine
Beobachtungen wurden wenigstens in den späteren
Jahren von den Fachgenossen höchlich geschätzt.
Er war Mitarbeiter von v. Leonhards mineralogi-
schem Taschenbuch, seine fachwissenschaftlichen
Schriften wurden von Noeggerath in der Jenaischen
Literaturzeitung einer höchst anerkennenden Kritik
unterzogen; er wurde 1822 wegen seiner Forschungen
in Nordböhmen zum Ehrenmitglied der unter dem
Präsidium des Grafen K. Sternberg gegründeten
Gesellschaft des vaterländischen Museums in Böhmen
ernannt und die Wernerische naturforschende Ge-
sellschaft in Edinburgh wählte ihn ebenfalls zum
Ehrenmitglied.
So weit der äußere Gang von Goethes Studien;
lassen Sie uns jetzt den Inhalt kennen lernen.
Goethe hat eine Reihe von sorgfältigen Be-
schreibungen der verschiedensten Mineralien und
Gesteine geliefert, zunächst des Granits und seiner
verschiedenen Abarten. Die Schilderung der Feld-
spatzwillinge des Karlsbader Granits wird von Linck
geradezu als mustergültig bezeichnet. Sein Verdienst
ist auch die Entdeckung eines zweiten grünlich
verwitternden Feldspats in diesem Granit Ein-
gehende Studien widmete er dem Vorkommen des
Zinns, das er besonders bei Zinnwalde und Alten-
burg untersuchte. Er schildert genau das granit-
Mineralogie, Geologie, Meteorologie. 269
ähnliche Gestein „Greissen", in dem das Zinn ent-
halten ist, und untersucht die Übergänge vom Granit
zu den zinnhaltigen Gesteinen. Die verschiedenen
Porphyrarten werden genau untersucht und die
Konglomeratsteine und Breccien damit, wenn auch
irrtümlicherweise, verglichen. Auch das Vorkommen
der böhmischen Granaten ist von Goethe studiert
worden.
Der Granit war für ihn ebenso wie für seine
Zeitgenossen das eigentHche Urgestein, die Unter-
lage aller geologischen Bildung. Ihm hat er jenen
herrlichen hymnusartigen poetischen Aufsatz (1784)
gewidmet, dem das Zitat am Anfang dieses Vortrags
entnommen ist und dessen Lektüre keiner versäumen
sollte. Im Granit sieht er die tiefste Schale unsrer
Erdrinde, und vom Granit aus untersucht er die
ersten Differenzierungen der Gesteinsarten. Im Harz
wie bei Marienbad und in den übrigen Gebirgen
findet er im Granit das eigentliche Knochengerüst
der Gebirgsbildung. Er ist für ihn das letzte An-
schauliche, zu dem die Forschung vordringen kann,
das geologische „Urphänomen". „Mein Geist hat
keine Flügel, um sich in die Uranfänge empor-
zuschwingen. Ich stehe auf dem Granit fest und
frage ihn, ob er uns einigen Anlaß geben wolle, zu
denken, wie die Masse, woraus er entstanden, be-
schaffen gewesen." Nach Goethes Vorstellung hat
sich aus dem ursprünglichen feuerflüssigen Zustand
270 Neunte Vorlesung.
der Erde zunächst ein Kern herauskristallisiert, über
dessen innere Beschaffenheit wir nichts wissen,
dessen äußere Schale aber der Granit ist. Schon
bei der ersten Kristallisation und nicht erst bei der
späteren Abkühlung sind in diesem die noch heute
vorhandenen Risse und Spalten aufgetreten. Über
diesem Kern befand sich eine Hülle von Wasser
als großer Ozean, aus dem sich nun zunächst Gneis
und Glimmer (-schiefer) niedergeschlagen und den
Granit bedeckt haben. Daran schloß sich eine Ab-
lagerung von Tonschiefer und den übrigen Ge-
steinsarten, die Goethe als Übergangsgebirge be-
zeichnet. Aus den Wassern fand dann eine weitere
Sedimentierung statt, deren Ergebnis die Flötzgebirge
sind (Sandstein, Kalk, Gips, Kohle usw.). Zu diesen
gesellt sich als jüngste Formation das unter dem
Einfluß der fließenden Gewässer gebildete auf- und
angeschwemmte Land.
Um sich die Formbildung bei der ersten Kristalli-
sation des Granits zu veranschaulichen, zieht Goethe
die noch heute vor sich gehenden Gestaltungen der
großen Schnee- und Gletschermassen heran. Die
Bildung der Granitklippen im Harze wird direkt mit
der Bildung der Eistürme und Seracs in den
OIctschcrabbrüchen verglichen. Die schon bei der
ersten Bildung auftretenden Risse und Spalten
sollten eine gewisse Tendenz haben, in bestimmten
Richtungen (nord-sUdlich) zu verlaufen. Dazwischen
Mineralogie, Geologie, Meteorologie. 271
sollten sekundäre Spalten entstanden sein (ost-
westlich), aber nicht rechtwinklig, sondern schräg
zu jenen ersten Spalten. So sollten die ursprüng-
lichen Formen der Granitmassen rhombisch aus-
gebildet gewesen sein. Für diese Spaltenbildung
führt Goethe als noch heute zu beobachtende Bei-
spiele die Risse an, die sich in erweichtem Lehm
beim Trocknen oder in zu stark geglühten Ziegelsteinen
bilden. Den Grund für das Auftreten dieser Spalten
gleichzeitig mit der ersten Kristallisation sieht er
darin, daß jede Solideszenz wie auch die des Eises
mit einer Erschütterung verbunden sei, und diese
letztere dient ihm dazu, manche heute gewaltsam
scheinenden Formen zu erklären. Die Entstehung
der Klüfte und im Zusammenhang damit der Ur-
sprung der Gänge, z. B. der erzhaltigen Gänge und
Adern im Gestein war für Goethe ein Problem,
über dessen Lösung er vielfach nachdachte. Im
ganzen neigte er dabei zu der Ansicht, daß die-
selben gleichzeitig mit den umgebenden Gesteinen
bei deren erster Gestaltung und Solideszenz ent-
standen seien. Er hielt überhaupt manches, wie er
an V. Leonhard schreibt, für simultan entstanden, was
andere auf verschiedene Bildungsepochen zurück-
führen wollten. Er versuchte geradezu, vom Granit,
dessen verschiedene Bestandteile so eng miteinander
verbunden sind, daß man keine Kontinens und kein
Kontentum unterscheiden kann, alle Übergänge bis
272 Neunte Vorlesung.
zu den porphyrartigen Bildungen aufzufinden, bei
denen die Teile einer Gesteinsart gleichsam in eine
andere eingeschmolzen erscheinen, und schloß hieran
die Konglomerate und Breccien, bei denen Ge-
steinstrümmer in eine gemeinsame Bindemasse ein-
gelagert sind. Auch diese letzteren sollten nach Goethe
simultan entstandene Gesteine darstellen, eine An-
sicht, die heute als widerlegt angesehen werden kann.
Die Phänomene der Ablagerung und Sedimen-
tierung studierte Goethe an den gleichmäßig ge-
lagerten Schichten Thüringens und an dem geolo-
gischen Aufbau Böhmens, das er als einen uralten
Binnensee ansah. Als noch heute fortdauerndes
Beispiel solchen Absetzens von Gesteinen betrachtete
er die Bildung des Sprudelsteins und Sinters aus
den Karlsbader Quellen. Für die Beurteilung des
Alters der verschiedenen abgesetzten Schichten und
Flötze benutzte er die in ihnen eingeschlossenen
Versteinerungen. Er ist höchstwahrscheinlich der
erste gewesen, der die Bedeutung der Versteinerungen
zu diesem Zweck erkannt hat, denn schon 1782
schreibt er an Merck: „Es wird bald die Zelt
kommen, wo man Versteinerungen nicht mehr durch-
einanderwerfen, sondern verhältnismäßig zu den
Epochen der Welt rangieren wird." Er selbst hat
dieses Kriterium gelegentlich verwendet und z. B.
einen Schiefer als späte Formation angesprochen,
weil sich Larven von Wasserinsekten In ihm fanden.
Mineralogie, Geologie, Meteorologie. 273
Die ursprünglich gebildeten Schichten und Ge-
birgsformen werden nun fortwährend umgebildet
und umgestaltet durch die langsam wirkenden Ein-
flüsse des Wassers und der Atmosphäre. Vor
allem studiert Goethe den Einfluß der Verwitterung
auf die einzelnen Mineralien im kleinen und auf
die Gebirgsform im großen und schreibt diesem
Faktor die allerwichtigste Bedeutung zu. Er schil-
dert, wie man die groteskesten Bildungen aus
Granit, wie sie z, B. an der Luisenburg bei Alexan-
dersbad vorkommen, auch ohne die Mitwirkung
vulkanischer Kräfte begreifen könne, wenn man an-
nimmt, daß einzelne Teile des ursprünglichen Granit-
massivs verwittert und die widerstandsfähigeren
Blöcke dann übereinandergestürzt seien. Er zeigt,
daß unter dem Einfluß der Ausdünstung der Marien-
bader Quellen die umliegenden Gesteine zu Gebilden
verwittern, welche vulkanischen Mineralien ganz
ähnlich sehen.
Besonderes Interesse widmete er dem Auftreten
der Findlinge und erratischen Blöcke in den Alpen
und der norddeutschen Tiefebene. Er führt dieses
auf verschiedene Ursachen zurück. Die Granitblöcke
des Rhonetales sind seiner Meinung nach in früheren
Zeiten durch Gletscher dahin transportiert worden.
Viele Blöcke in Norddeutschland betrachtet er aber
als Reste einer alten Urgebirgsreihe, die der Ver-
witterung entgangen seien, und führt als deren
Magnus, Goethe als Naturforscher. 18
274 Neunte Vorlesung.
wichtigstes Beispiel den Heiligendamm an. Außer-
dem aber läßt er eine Reihe dieser Findlinge auf
Eisschollen und Eisbergen von Skandinavien her
übers Meer angeschwemmt sein und schließt sich
damit einer Hypothese Voigts an, besonders als
tatsächlich das Anschwemmen skandinavischer Ge-
steinsarten auf Eisschollen an der Ostseeküste durch
Preen beobachtet wurde. Im Anschluß an diese
Betrachtung entwickelt nun Goethe die Vorstellung
einer Eiszeit, und es scheint, daß er tatsächlich der
erste gewesen ist, der eine solche Epoche ange-
nommen hat. „Ich habe eine Vermutung, daß eine
Epoche großer Kälte wenigstens über ganz Europa
gegangen sei." Damals habe sich das Meer noch
bis auf 1000 Fuß Höhe über den Kontinent erstreckt,
der Genfer See sei mit dem Ozean in Zusammenhang
gewesen, und die Gletscher seien von den Alpen
bis zum Genfer See heruntergegangen. Auch in
Wilhelm Meisters Wanderjahren kehrt diese An-
schauung wieder. Überhaupt hat Goethe bei seinen
geologischen Studien eine Reihe von Vorstellungen
entwickelt, welche erst später zu allgemeiner An-
erkennung gelangt sind. Außer seiner Ansicht über
die historische Bedeutung der Versteinerungen und
seiner Annahme einer Eiszeit war es besonders die
Überzeugung, daß die bei der Erd- und Gebirgs-
bildung wirksamen Kräfte dieselben seien, wie wir
sie jeden Tag, nur modifiziert, gewahr werden.
Mineralogie, Geologie, Meteorologie. 275
Daher auch sein Bestreben, für die geologischen
Prozesse in unserer heutigen Umgebung anschau-
liche Beispiele, wie z. B. die Gestaltung des Gletscher-
eises, zu finden. „Was mich betrifft, so traue ich
der Natur zu, daß sie noch am heutigen Tage Edel-
steine uns unbekannter Art bilden könne." Ja, er
dehnt diese Vorstellung sogar auf das Gestein aus,
das für ihn die Grundlage bildet, auf den Granit:
„Es ist sehr möglich, daß Granit mehrmals vor-
kommt." Da für die Erdgestaltung seiner Ansicht
nach die noch heute spielenden Kräfte genügen
und die Umbildung der Erdoberfläche in unsern
Tagen nur eine sehr langsame ist, so mußte schon
Goethe zu der jetzt allgemein angenommenen Über-
zeugung kommen, daß die Perioden der Erdbildung
von ganz außerordentlich langer Dauer gewesen
seien, und er legt diese seine Überzeugung im
2. Teile des Faust dem Thaies in den Mund:
„Nie war Natur und ihr lebendiges Fließen
Auf Tag und Nacht und Stunden angewiesen;
Sie bildet regelnd jegliche Gestalt,
Und selbst im Großen ist es nicht Gewalt."
So sehen wir, wie Goethe durch seine geologischen
Studien zu ganz modernen Anschauungen über die
Erdbildung geführt wird.
Die Zeit, in welche seine Beschäftigung mit der
Geologie fiel, wurde beherrscht durch den Streit
zwischen Neptunisten und Vulkanisten, zwischen
18»
276 Neunte Vorlesung.
denjenigen, welche dem Wasser, und denjenigen,
welche den vulkanischen Kräften den Hauptanteil
an der Gestaltung unserer Erde zuschrieben. Der
alte Gegensatz ist heute längst ausgeglichen. Man
hat dem Wasser und dem Feuer beiden ihren ge-
bührenden Anteil an dem geologischen Geschehen
zugewiesen. In der damaligen Zeit aber tobte der
Streit mit der größten Heftigkeit. Goethe hat sich
im großen und ganzen von den Übertreibungen der
beiden Lehren fern zu halten gewußt. Dem ganzen
Gange seiner Ausbildung nach neigte er mehr zu
den neptunistischen Anschauungen Werners und
klagte in den „Zahmen Xenien":
„Kaum wendet der edle Werner den Rücken,
Zerstört man das Poseidaonische Reich;
Wenn alle sich vor Hephästos bücken,
Ich kann es nicht sogleich:
Ich weiß nur in der Folge zu schätzen,
Schon hab' ich manches Credo verpaßt.
Mir sind sie alle gleich verhaßt
Neue Götter und Götzen."
Die großartigste Darstellung dieses wissenschaft-
lichen Streites aber hat er im 2. Teil des Faust
gegeben. In der klassischen Walpurgisnacht läßt er
Thaies als Neptunist und Anaxagoras als Vulkanist
über Gebirge und Meere wandern und stellt ihre
Ansichten in scharfen Gegensatz. Auch hier läßt er
ahnen, daß er selbst auf Seite des Thaies steht und
verspottet die Lehren der ungestümen Vulkanisten,
Mineralogie, Geologie, Meteorologie. 277
die sich nicht scheuen würden, selbst Steine vom
Monde herabfallen zu lassen. Trotzdem wird auch
im Faust eine endgültige Entscheidung über den
Streit nicht gegeben, vielmehr die Bergentstehung
nach vulkanistischer Ansicht durch Seismos (Erd-
beben) anschaulich vorgeführt:
„Das hab' ich ganz allein vermittelt.
Man wird mir's endlich zugestehn:
Und hätt' ich nicht geschüttelt und gerüttelt,
Wie wäre diese Welt so schön?"
Demgegenüber aber bleibt Thaies auf seinem
neptunistischen Standpunkt, den er in den herrlichen
Versen ausspricht:
„Alles ist aus dem Wasser entsprungen!!
Alles wird durch das Wasser erhalten!
Ocean, gönn' uns Dein ewiges Walten.
Wenn Du nicht Wolken sendetest,
Nicht reiche Bäche spendetest,
Hin und her nicht Flüsse wendetest.
Die Ströme nicht vollendetest,
Was wären Gebirge, was Ebnen und Welt?
Du bist's, der das frischeste Leben erhält."
Goethes eigene Stellung zu der Wirksamkeit und
Bedeutung vulkanischer Kräfte ist im Laufe seiner
Forschungen eine wechselnde gewesen. Er hat sich
ihrer Bedeutung wohl niemals verschließen können,
schreckte aber vor den Übertreibungen der damali-
gen Schule zurück. Er versuchte vieles, was als
Produkt vulkanischer Eruptionen auftrat, im Anschluß
an Werner auf unterirdische Erdbrände zurückzu-
führen, als deren Träger man besonders die großen
278 Neunte Vorlesung.
Steinkohlenlager betrachtete. Vor allem glaubte er
solche Vorkommnisse in Böhmen zu finden. Das
Brennen der Gesteine sollte durch die eingelagerten
vegetabilischen Reste erleichtert werden. So fand
er z. B. bei Grünlaß einen Brandschiefer, der an
der Flamme entzündet werden konnte. Von diesem
Gesichtspunkte aus studierte er den Einfluß des
Brennens und Glühens auf eine ganz beträchtliche
Anzahl von Gesteinsarten, und es ist uns noch ein
Verzeichnis von 38 verschiedenen Mineralien er-
halten, die er 1820 in Zwetzen dem Feuer des
Töpferofens aussetzen ließ, um die Wirkung des
Glühens zu ermitteln. Solche Versuche hat er noch
mehrfach angestellt, und sie waren für die Beurtei-
lung des in der Natur Vorkommenden für ihn von
großer Bedeutung. So fand er „uralte neuentdeckte
Naturfeuer- und Glutspuren" 1824 bei Pograd in
Böhmen und studierte bei Karlsbad den Einfluß
solcher Erdbrände auf schieferigen Ton und Quarz,
wodurch sich schließlich Erdschlacken bilden. Sol-
chen Prozessen schrieb er einen sehr großen Einfluß
zu, verschloß sich aber doch nicht der Erkenntnis,
daß auch vulkanische Kräfte angenommen werden
müßten. So hat er selbst 1808 den Kammerbühl
bei Eger, dessen vulkanische Gesteinsarten er sam-
melte und genau beschrieb, als einen alten sub-
marinen Vulkan angesprochen und 1822 den Vor-
schlag gemacht, zur Befestigung dieser Meinung von
Mineralogie, Geologie, Meteorologie. 279
der Seite her einen Stollen in den Berg einzutreiben,
um seinen Aufbau studieren zu können, ein Projekt,
das nach seinem Tode vom Grafen Sternberg tatsäch-
lich ausgeführt worden ist. 1824 aber glaubte er doch
wieder auch pseudovulkanische Prozesse hier zu er-
kennen und ließ den Basalt des Kammerberges durch
Brand eines darüberliegenden Gemenges von Ton-
schiefer und Steinkohle nachträglich verändert sein.
Seiner Meinung nach sind die Vulkane nicht
gemeinsamen Ursprungs aus einem feuerflüssigen
Kern der Erde, sondern entstehen rein lokal, wenn
Wasser an Stellen in die Tiefe dringt, wo unter-
irdische Brände stattfinden. Daher liegen die Vul-
kane auch meist in der Nähe des Meeres; bei den
feuerspeienden Bergen der höchsten Anden Süd-
amerikas wird das Wasser vom schmelzenden Schnee
geliefert. Eines der Probleme, das Goethe und seine
Zeitgenossen beschäftigte, war die Entstehung des
Basalts, der für eine sehr junge Formation gehalten
wurde und einen Hauptstreitpunkt zwischen Neptu-
nisten und Vulkanisten bildete. Auch Goethe hat über
diese Streitfrage geforscht und geschrieben und Ver-
gleichsvorschläge für die widerstrebenden Meinungen
gemacht, ohne zu einem endgültigen Ergebnis zu ge-
langen. Daher sein Stoßseufzer:
„Amerika, du hast es besser
Als unser Continent, das alte,
Hast keine verfallenen Schlösser
Und keine Basalte."
280 Neunte Vorlesung.
In einem Punkte war aber Goethes Stellungs-
nahme gegen die Vulkanisten eine durchaus ent-
schiedene und klare. Er lehnte grundsätzlich die
Annahme ab, daß unsere Erdoberfläche nach ihrer
ersten Gestaltung noch nachträglich durch Heben
und Senken, durch Faltungen, durch Risse und Ver-
werfungen umgestaltet worden sei. Die damaligen
Vulkanisten ließen diese Vorgänge, für welche man
heute Zeiträume von langer Dauer annimmt, kata-
strophenähnlich ganz plötzlich eintreten und ganze
Gebirge auf einmal sich zu ihrer vollen Höhe er-
heben. Dagegen hat Goethe immer wieder aufs
energischste Front gemacht. „Die Sache mag sein
wie sie will, so muß geschrieben stehen, daß ich
diese vermaledeite Polterkammer der Weltschöpfung
verfluche." Wir haben schon gehört, daß Goethe die
Gebirge in ihren Hauptformen schon bei der ersten
Entstehung des Granits in allen wesentlichen Zügen
ausgebildet sein ließ und keine spätere Gebirgsbil-
dung mehr annahm. In diesem Sinne spricht Faust:
«Oebirgesmasse bleibt mir edel — stumm,
Ich frage nicht woher und nicht warum?
Als die Natur sich in sich selbst gegründet,
Da hat sie rein den Erdball abgerundet,
Der Gipfel sich, der Schluchten sich erfreut
Und Fels an Fels und Berg an Berg gereiht;
Die Hügel dann bequem hinabgcbildet,
Mit sanftem Zug sie in das Thal gcmildct,
Da grünt's und wächst's, und um sich zu erfreuen
Bedarf sie nicht der tollen Strudclcien."
Mineralogie, Geologie, Meteorologie. 281
Die Ansicht seiner Gegner aber persifliert die
Erzählung Mephistos, wie die Teufel im Innern der
Erde eingeschlossen husten und pusten und durch
die so produzierten Gase die Erdoberfläche um-
gestalten. Der Hauptgrund für Goethe, diese nach-
träglichen Formänderungen der Erdoberfläche zu
verwerfen, war die in Mitteldeutschland schon im
Anfang seines geologischen Studiums gemachte Er-
fahrung, daß die Schichten und Plötze mit größter
Regelmäßigkeit angeordnet sind. Was er hier vor
Augen sah, übertrug er auch auf andere Gebiete.
An Stellen, wo die geologischen Schichten nicht
horizontal, sondern mehr oder weniger geneigt ge-
stellt sind, glaubte er sogar hypothetisch annehmen
zu dürfen, daß auch solche Ablagerungen ursprüng-
lich seien. Ein Hauptbeweisstück für Höhenver-
änderung der Erde in historischen Zeiten war der
Serapistempel in Pozzuoli, dessen noch aufrechte
Säulen in der Mitte des Schaftes von Bohrmuscheln
angefressen sind, jetzt ^ber wieder in freier Luft
stehen, v. Hoff sah hierin, in Übereinstimmung mit
der heute allgemein angenommenen Meinung, den
Beweis, daß das Meer im Mittelalter diesen Küsten-
strich überflutet und dieser sich später wieder ge-
hoben habe. Goethe aber setzt an der Hand von
Zeichnungen auseinander, daß bei der Verschüttung
des Tempels sich höchstwahrscheinlich in der Mitte
eine Vertiefung und ein See gebildet habe, in dem
282 Neunte Voriesung.
die Bohrmuscheln leben konnten, ohne daß man
solche nachträgliche Hebungen annehmen müsse.
Ebenso wie die Vulkane, so ließ Goethe auch
die heißen Quellen rein lokalen Ursprungs sein
und leitete sie von dem Oberflächenwasser ab, das
in die Tiefe dringt Er war überzeugt, daß die
Karlsbader Thermen aufhören würden zu sprudeln,
wenn man die Tepel aus ihrem Bette ableiten würde.
Das Oberflächenwasser, in die Tiefe dringend, sollte
seiner Ansicht nach das feste Gestein durch die
Benetzung wie eine galvanische Säule in Tätigkeit
und Hitze bringen und so die Entstehung der
Thermen veranlassen. Diese Meinung behielt er
auch später noch bei, gegenüber der allgemein an-
genommenen Ansicht, daß die Quellen „aus dem
siedenden Abgrund unserer Erdkruste hervordringen"
Auch praktisch hat sich Goethe einmal mit Balneo-
logie beschäftigt und 1812 ein eingehendes Gut-
achten darüber verfaßt, ob die Schwefelquellen
bei Berka durch die Anlage eines Badeortes nutz-
bar gemacht werden sollten. Diese durch ihre
OrQndiichkeit mustergültige Schrift, die auf einer
Analyse Döbereiners fußt, enthält genaue Angaben
über die voraussichtliche Ergiebigkeit der Quellen,
Ober Anlagen zur Erwärmung des Wassers, zu
Dampf- und Schlammbädern, über den Versand des
Wassers und über die praktische Einrichtung des
Badeortes.
Mineralogie, Geologie, Meteorologie.
283
Es werden wohl wenige Geologen, wenn sie eine
ihrer schön und deutlich kolorierten Karten [zur
Hand nehmen, sich dessen bewußt sein, daß diese
Farbengebung auf Goethe zurückgeht. Als Käfer-
steins geognostisch-geologische Karte von Deutsch-
land 1821 erschien, wurde die Kolorierung, die in
den wesentlichsten Zügen noch die heute maß-
gebende ist, nach Goethes Vorschlägen ausgeführt,
der dabei von zwei Gesichtspunkten ausging: ein-
mal die einzelnen geologischen Schichten so zu
färben, daß sie sich möglichst voneinander unter-
scheiden, und zweitens, die Färbung der gesamten
Karte harmonisch zu gestalten. So spielen Goethes
Studien zur Farbenlehre hinüber bis in die prak-
tische Geologie der neuen Zeit.
Dieser kurze Überblick über Goethes minera-
logische und geologische Tätigkeit läßt erkennen,
daß er auch hier gründlich geforscht und sein
Wissen in die Tiefe und die Breite ausgedehnt hat.
Im Gegensatz zu den optischen Studien, in denen
er stets mit der größten Entschiedenheit und dem
ausgesprochendsten Selbstgefühl auftritt, ist er in
seinen geologischen Schriften viel zurückhaltender
und bescheidener. Er war sich wohl bewußt, daß
das ihm zugängliche Tatsachenmaterial nur eine
unzureichende Grundlage abgab, die Entstehung des
Erdballs zu erklären, und deshalb hat er auf geo-
logischem Gebiete die Notwendigkeit, Hypothesen
284 Neunte Vorlesung.
zu Hilfe zu nehmen, stets anerkannt. Charakteristisch
aber für seine Forschungsweise ist, daß er auch hier
immer das Tatsächliche und das Hypothetische sorg-
fältig auseinander hält, die Tatsachen möglichst genau
sammelt, sichtet und registriert, in den Hypothesen
sich selbst aber eine Meinungsänderung vorbehält.
An die Besprechung der mineralogischen Arbeiten
schließen wir die von Goethes meteorologischen
Untersuchungen an. Ebenso wie er die Phänomene
auf und unter der Erde zu ergründen suchte, so
entgingen die zahlreichen Erscheinungen in dem
Luftmeer seiner Beobachtung nicht. Dazu wurde
er schon durch Erfahrungen am eigenen Körper
veranlaßt, denn es ist bekannt, daß er gegen Witte-
rungsumschläge sehr empfindlich war und unter
dem trüben Klima Weimars litt Es ist dies einer
der Gründe für seine dauernde Sehnsucht nach
den südlichen Lüften Italiens. So wurde er schon
früh zu Beobachtungen über die Witterung ver-
anlaßt und lernte regelmäßig auf die Änderungen
des Barometerstandes achten. Bereits auf der ersten
Schweizerreise und auf der italienischen Reise
machte er Notizen über Wind und Wolkenformen.
Es blieben aber alle diese Beobachtungen nur ver-
einzelt, weil es ihm zunächst nicht möglich war,
In die schier unendliche Fülle der wechselnden Er-
scheinungen, wie sie besonders die Wolkenbildung
zeigte, irgend welche Regelmäßigkeit zu bringen.
Mineralogie, Geologie, Meteorologie.
285
Da wurde die Terminologie der Wolkenform, welche
Luke Howard 1803 veröffentlichte und die 1815 zu
Goethes Kenntnis kam, für ihn der Ausgangspunkt
zu neuen Untersuchungen. Er ergriff diese Ein-
teilung „mit Freuden, weil sie ihm einen Faden
darreichte, den er bisher vermißt hatte". Jetzt konnte
er seine Beobachtungen über Wolkenform und Be-
wölkung in ein festes Schema bringen und so
wissenschaftlicher Bearbeitung zugänglich machen.
Er gewöhnt sich, „die Bezüge der atmosphärischen
und irdischen Erscheinungen mit Barometer und
Thermometer in Einklang zu setzen". Die Howard-
schen Wolkenbezeichnungen Stratus, Cumulus, Cirrus
und Nimbus, von Goethe noch durch die der Wolken-
wand Paries vermehrt, werden auch heute noch
in der Meteorologie verwendet. Goethe schreibt
schon 1817 einen Aufsatz „Wolkengestaltungen nach
Howard" und macht bei seinen Reisen in die böh-
mischen Bäder 1820—23 genaue tagebuchartige Auf-
zeichnungen über Wolken und Wetter. Durch die
einfache Howardsche Nomenklatur war ihm plötz-
lich die Möglichkeit geworden, sich in den Wirr-
salen der atmosphärischen Erscheinungen zurecht
zu finden, daher auch seine große Verehrung für
den englischen Forscher:
„Dich im Unendlichen zu finden,
Mußt unterscheiden und dann verbinden;
Drum danket mein beflügelt Lied
Dem Manne, der Wolken unterschied."
286 Neunte Vorlesung.
Zu Howards Ehre und zur Erläuterung seiner
Lehre schreibt er das schöne Gedicht „Howards
Ehrengedächtnis" und läßt sich von ihm eine Auto-
biographie schicken, der Howard 1822 sein Werk
„Das Klima von London" folgen ließ.
Schon 1822 sind Goethes Beobachtungen und
Überlegungen so weit gediehen, daß er einen Auf-
satz „Über die Ursachen der Barometerschwan-
kungen" schreibt und 1825 den „Versuch einer
Witterungslehre" verfaßt. Er geht dabei von der
Tatsache aus, daß das Barometer an verschiedenen
Orten im Laufe eines Monats völlig gleichartige
Schwankungen ausführt. Vom Meer bis zur Höhe
von 2000 Fuß, von Boston bis Karlsruhe, von
London bis Wien hatten z. B. im Dezember 1822,
wie eine graphische Aufzeichnung des Jenenser
meteorologischen Beobachters Schrön zeigte, die
Kurven der Barometerschwankungen völlig parallelen
Verlauf. Daraus folgerte Goethe, daß die Ursache
der Barometerschwankungen nicht in irgend welchen
lokalen Veränderungen gesucht werden dürfte, und
er macht weiter energisch Front gegen die damals
verbreitete Lehre, daß der Mond oder die Planeten
die Barometerschwankungen nach Art einer Ebbe
und Flut der Atmosphäre verursachen könnten. So
kam er dazu, die periodischen Änderungen des Luft-
drucks, wie sie das Barometer anzeigt, auf eine
periodi8^,j^g Veränderung der ;Schwerkraft zurück-
Mineralogie, Geologie, Meteorologie. 287
zuführen. Die Erde sollte ihren Dunstkreis zeit-
weise mehr und zeitweise weniger anziehen. Diese
Hypothese, welche er schon 1816 in der italienischen
Reise angedeutet hatte, versuchte er des weiteren
auszuführen und zu begründen, war sich allerdings
völlig darüber klar, daß es eben nur eine Hypothese
war. „Ob ich gleich mir nicht einbilde, daß hier-
mit alles gefunden und abgetan sei, so bin ich
doch überzeugt: wenn man auf diesem Wege die
Forschungen fortsetzt und die sich hervortuenden
näheren Bedingungen und Bestimmungen genau be-
achtet, so wird man auf etwas kommen, was ich
selbst weder denke noch denken kann, was aber
sowohl die Auflösung dieses Problems als mehrerer
verwandter mit sich führen wird." Goethe hat mit
dieser Prophezeiung recht behalten. Seine Hypo-
these hat sich als unrichtig erwiesen, weil das
Beobachtungsmaterial, auf dem er fußte, noch zu
klein war. Ausgedehnte Untersuchungen haben ge-
zeigt, daß die Barometerschwankungen auf der ganzen
Erde durchaus nicht immer gleichsinnig verlaufen.
Aber die von Goethe angestrebte und veranlaßte
Reihe fortgesetzter meteorologischer Beobachtungen
hat tatsächlich im Laufe der Zeit zur Aufklärung
der schwierigen Witterungsprobleme geführt
Goethe beobachtet weiterhin den Zusammen-
hang zwischen Barometerstand und Wolkenbildung,
macht auf den Einfluß der Gebirge auf die Wolken-
288 Neunte Vorlesung.
bildung aufmerksam, erörtert den Zusammenhang
der Windrichtungen mit dem Barometerstand und
findet, daß zwischen den Schwankungen des Thermo-
meters und des Barometers keine direkte Ab-
hängigkeit bestehen könne. Er sammelt zahlreiche
Einzelbeobachtungen über seltenere atmospärische
Erscheinungen, Nordlicht, Nebensonnen usw. und
sieht die Atmosphäre als in mehrere aufeinander
folgende Schichten gegliedert an, in denen gleich-
zeitig verschiedene Witterungsphänomene eintreten
können.
So gewinnt Goethe eine genaue Kenntnis der
Vorgänge, die sich im Luftmeer abspielen, und sucht,
wenn auch ohne großen tatsächlichen Erfolg, in die
Gesetzmäßigkeit dieser Phänomene einzudringen.
Sehr viel größere Bedeutung als seine theoretischen
Studien zur Meteorologie besitzen seine praktischen
Anregungen. Ihm ist vor allem die Gründung zahl-
reicher meteorologischer Stationen, zunächst im
Herzogtum Weimar, dann auch im weiteren Deutsch-
land zuzuschreiben. Er selbst arbeitet mit Hilfe der
Jenenser Meteorologen 1817 eine ganz genaue In-
struktion für die Beobachter auf den verschiedenen
Stationen aus, welche durch Zweckmäßigkeit und
Obersichtiichkeit noch heute Bewunderung verdient,
und sorgt dafür, daß das Material wissenschaftlich
verarbeitet wird. Er dringt darauf, daß das Netz der
meteorologischen Stationen bis auf die höchsten
Mineralogie, Geologie, Meteorologie. 289
Berge ausgedehnt wird, verschafft sich Beobachtungen
vom großen St. Bernhardt, regt an, daß auch auf der
Höhe des Meeres solche Untersuchungen angestellt
werden. Die Gründung der meteorologischen Station
auf der Schneekoppe ist ebenfalls auf seine Anregung
zurückzuführen. So legte er den Grund für das dichte
Netz von Beobachtungsstationen, die heute alle zivi-
lisierten Länder überziehen, und wenn uns heute der
Telegraph von diesen Stationen relativ zuverlässige
Wetterprognosen übermittelt und wenn wir heute
über die Ursache der Winde, über die Gesetze der
Barometerschwankungen besser unterrichtet sind als
vor hundert Jahren, so haben dazu nicht zum kleinsten
Teil die praktischen Anregungen beigetragen, die
Goethe zur Beförderung meteorologischer Unter-
suchungen gegeben hat.
Magnus, Goethe als Naturforscher. 19
Zehnte Vorlesung.
Goethe als Naturforscher.
Meine Herren! Wir haben in den vorhergehen-
den Vorlesungen den Inhalt und die Bedeutung von
Goethes wissenschaftlichen Studien auf den ver-
schiedensten Gebieten kennen gelernt, und es erübrigt
noch zum Schluß zusammenfassend zu erörtern,
welches seine naturwissenschaftliche Arbeitsweise
im allgemeinen gewesen ist, wie er über die Mög-
lichkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnis gedacht
hat, welche Bedeutung seine Forschungen für die
Beurteilung seiner Persönlichkeit besitzen und wie
Dichter und Naturforscher sich bei ihm ständig
durchdringen. Die Lösung dieser Aufgabe wird da-
durch erleichtert, daß wir außerordentlich zahlreiche
Zeugnisse in Goethes Werken besitzen, aus denen
hervorgeht, wie er selbst über diese Fragen gedacht
hat Wir sind ja kaum über das Leben und Denken
eines andern Menschen so eingehend unterrichtet,
weil wohl niemand alles, was er dachte und was
ihn beschäftigte, so klar formuliert und aufgezeichnet
hat wie er.
Goethe als Naturforscher. 291
Nach Besprechung von Goethes botanischen und
zoologischen Werken haben wir schon kurz über
seine Forschungsmethode in diesen Wissenszweigen
gesprochen, und Sie werden sich erinnern, daß er
stets in der Weise vorging, daß er aus den Einzel-
erscheinungen, wie die Natur sie ihm darbot, sich
eine kontinuierliche Reihe herstellte, welche vom
einfachsten zum kompliziertesten fortschritt. Die An-
wendung dieses Verfahrens beruht auf dem Prinzip
der Stetigkeit, das Goethe auf allen Gebieten der
Naturwissenschaft anwendbar findet. Die Natur macht
keine Sprünge, überall finden sich Übergänge, und so
ist eine Ordnung der Naturphänomene möglich. Ist
die kontinuierliche Reihe gebildet, dann kann man
ihre einzelnen Glieder miteinander vergleichen und
auf diese Weise das allen Formen Gemeinsame, das
Gesetzliche feststellen. So gelangte Goethe in der
Botanik zur Urpflanze, in der vergleichenden Ana-
tomie zum Typus.
Das prinzipiell gleiche Verfahren verwendet er
bei dem Studium der anorganischen Naturerschei-
nungen; aber hier wird die Beobachtung der Phäno-
mene unterstützt und ergänzt durch willkürlich vom
Forscher angestellte Versuche. Wieder und wieder
betont nun Goethe, daß ein Phänomen allein, ein
Versuch für sich nichts beweisen kann. „Es ist das
Glied einer großen Kette, das erst im Zusammen-
hange gilt. Wer eine Perlenschnur verdecken und
19*
292 Zehnte Vorlesung.
nur die schönste einzeln vorzeigen wollte, verlan-
gend, wir sollten ihm glauben, die übrigen seien
alle so, schwerlich würde sich jemand auf den
Handel einlassen." Auch hier also muß aus den Be-
obachtungen die kontinuierliche Reihe gebildet wer-
den. „Ein Versuch erhält doch nur seinen Wert
durch Vereinigung und Verbindung mit andern." Bei
dieser Ordnung der Versuche kommt aber natürlich
ein willkürliches Element in die Wissenschaft hinein.
Die Verknüpfung der Phänomene in der richtigen
Weise vorzunehmen, ist eine schwierige Aufgabe
des Naturforschers. Besonders ist aber davor zu
warnen, eine zu kleine Anzahl von Beobachtungen
den wissenschaftlichen Schlüssen zugrunde zu legen.
Es entstehen dann Theorien, die zu eng begrenzt
sind und nach einiger Zeit ein ernstes Hindernis für
den Fortschritt werden. Man muß also stets bei der
Untersuchung eines Phänomens alle Nachbarerschei-
nungen mit erforschen und jeden Versuch ins End-
lose vermannigfaltigen, wie das Goethe selbst in
der Farbenlehre getan hat. Die so gewonnene Er-
fahrung ist dann höherer Art und die Sätze, die
sich daraus ergeben, lassen sich zu höherer Er-
kenntnis verknüpfen. Goethe geht also stets von
möglichst vermannlgfaltigtcn Versuchen zur Erfah-
rung über. Dagegen ist seiner Meinung nach nichts
gefährlicher, als den umgekehrten Weg einzuschlagen
und irgend einen vorher aufgestellten Wissenschaft-
Goethe als Naturforscher. 293
liehen Satz unmittelbar durch Versuche beweisen zu
wollen. Dadurch, daß ein Versuch mit einer vor-
gefaßten Hypothese stimmt, wird keineswegs be-
wiesen, daß dieselbe auch richtig sei.
Man muß also zuerst die Konsequenz und Kon-
stanz der Phänomene in möglichst vielen Fällen
beobachten, dann kann man diese Ergebnisse vor-
läufig zu einem empirischen Gesetz zusammenfassen.
Dieses muß dann aber in der Erfahrung an einer
ganzen Reihe von andern Versuchen geprüft, even-
tuell berichtigt und erweitert werden. Nur so ist
die größtmögliche Annäherung des menschlichen
Geistes an die Gegenstände zu erreichen. „Kein
Phänomen erklärt sich an und aus sich selbst; nur
viele zusammen überschaut, methodisch geordnet,
geben zuletzt etwas, was für Theorie gelten könnte."
Die schwierigste Frage aber ist die, welches
Phänomen an den Anfang der kontinuierlichen Reihe
gestellt werden soll. Goethe bezeichnet diejenigen
einfachsten Fälle, welche eine Erscheinung in mög-
lichst klarer Weise zeigen und von denen sich alle
übrigen Phänomene ableiten lassen, als Urphäno-
men. „Wer nicht gewahr werden kann, daß ein
Fall oft Tausende wert ist, und sie alle in sich
schließt, wer das nicht zu fassen und zu ehren
imstande ist, was wir Urphänomen genannt haben,
der wird weder sich noch andern jemals etwas zur
Freude und zum Nutzen fördern können." Für die
294 Zehnte Vorlesung.
Farbenlehre war ihm ein solches Urphänomen die
Farbenerscheinung der trüben Mittel, und der physi-
kalische Teil seiner Optik stellt den konsequenten
Versuch dar, alle Farben von diesem einen Ur-
phänomen abzuleiten. Nichts in der Erscheinung
liegt über den Urphänomenen, „sie dagegen sind
völlig geeignet, daß man stufenweise von ihnen
herab bis zum gemeinsten Falle der täglichen Er-
fahrung niedersteigen kann". Für Goethe ist die
Aufgabe der Naturforschung mit der Auffindung der
Urphänomene im wesentlichen erschöpft. Er macht
nicht den Versuch, diese selbst wieder erklären zu
wollen. Den Grund hierfür gibt er selber an. Man
soll nicht „hinter ihnen und über ihnen noch etwas
Weiteres aufsuchen, da wir doch hier die Grenze
des Schauens eingestehen sollten". Es sind also
die Urphänomene das letzte unmittelbar Anschau-
liche, zu dem wir gelangen können, und die Natur-
forschung soll sich streng in den Grenzen des An-
schaulichen halten. Wir sehen hier wieder, wie sehr
Goethe ein Mann des Auges gewesen ist und wie
für ihn Anschaulichkeit die erste Voraussetzung jeder
Naturkenntnis war. Er sucht die Phänomene „bis
zu ihren Quellen zu verfolgen, bis dorthin, wo sie
bloß erscheinen und sind, und wo sich nichts
weiter an ihnen erklären läßt". „Man suche nur nichts
hinter den Phänomenen, sie selbst sind die Lehre."
Goethe sieht also die Aufgabe der Naturforschung
Goethe als Naturforscher. 295
nur darin, eine möglichst vollständige und einfache
Beschreibung der Naturvorgänge zu geben, und
berührt sich in dieser Forderung aufs engste mit
einem der hervorragendsten theoretischen Physiicer
des verflossenen Jahrhunderts, mit Alfred Kirchhoff.
Dieser stellte als Aufgabe der Mechanik hin, die
Naturvorgänge vollständig und auf die einfachste
Weise zu beschreiben. Der Unterschied liegt nur
darin, daß der theoretische Physiker zur Beschrei-
bung das Unanschaulichste, die mathematische For-
mel, benutzt, während für Goethe die unmittelbare
Anschaulichkeit notwendige Voraussetzung jeder
Naturerkenntnis gewesen ist. Er fragt also bei seinen
Forschungen nicht nach den Ursachen der Phäno-
mene, sondern er will nur ihre Bedingungen unter-
suchen, nur feststellen, welche Vorgänge in der
Natur notwendigerweise zum Zustandekommen einer
bestimmten Erscheinung erforderlich sind. Sehr gut
läßt sich Goethes Ansicht aus einer Stelle der Farben-
lehre erkennen, die sich gegen Newton richtet. „Die
Phänomene lassen sich sehr genau beobachten, die
Versuche lassen sich reinlich anstellen, man kann
Erfahrungen und Versuche in einer gewissen Ord-
nung aufführen, man kann eine Erscheinung aus der
andern ableiten, man kann einen gewissen Kreis
des Wissens darstellen, man kann seine Anschauungen
zur Gewißheit und Vollständigkeit erheben, und das,
dächte ich, wäre schon genug. Folgerungen hin-
296 Zehnte Vorlesung.
gegen zieht jeder für sich daraus, beweisen läßt
sich nichts dadurch, besonders keine Ibilitäten und
Keiten. Alles, was Meinungen über die Dinge sind,
gehört dem Individuum an, und wir wissen nur zu
sehr, daß die Überzeugung nicht von der Einsicht,
sondern von dem Willen abhängt, daß niemand
etwas begreift, als was ihm gemäß ist und was
er deswegen zugeben mag. Im Wissen wie im
Handeln entscheidet das Vorurteil alles es ist
ein freudiger Trieb unseres lebendigen Wesens nach
dem Wahren wie nach dem Falschen, nach allem,
was wir mit uns im Einklang fühlen." Hier wird
scharf zwischen der eigentlichen Beobachtung, die
uns Sicherheit gibt, und allen daraus gezogenen
theoretischen Folgerungen, welche immer nur sub-
jektive Bedeutung besitzen, unterschieden, denn:
„beim Übergang von der Erfahrung zum Urteil ge-
rät der Forscher in die größte Gefahr des Irrtums."
Aus diesem Grunde ist die naturwissenschaftliche
Weltanschauung jedes einzelnen Forschers etwas,
worüber sich gar nicht streiten läßt, da sie von
dessen Persönlichkeit abhängt „Was bleibt dem
Naturforschenden, ja einem jeden Betrachtenden
endlich übrig, als die Erscheinungen der Außenwelt
mit sich in Harmonie zu setzen. Und werden wir
nicht alle jeden Tag überzeugt, daß dasjenige, was
dem einen Menschen gemäß und angenehm ist, dem
andern widerwärtig und unlustig erscheine." Dieses
Goethe als Naturforscher. 297
subjektive Moment muß aber jeder einzelne nach
Möglichlceit auszuschalten suchen, indem er bei der
Naturforschung völlig im Rahmen des Anschau-
lichen bleibt.
Goethe steht also der Natur durchaus als ein
Fragender gegenüber. Seine „Anfragen an die Natur"
sind die Versuche. Der Versuch wird als Vermittler
zwischen Objekt und Subjekt, zwischen Naturforscher
und Außenwelt betrachtet. „Diese Vorstellungsart",
schreibt er in den Annalen, „wurde nun auf die
ganze Physik angewendet; das Subjekt in ge-
nauer Erwägung seiner auffassenden und
erkennenden Organe, das Objekt als ein allen-
falls erkennbares gegenüber, die Erscheinung durch
Versuche wiederholt und vermannigfaltigt in der
Mitte, wodurch eine ganz eigene Art von Forschung
bereitet wurde."
Wenn Goethe so alles Theoretisieren verwirft,
so ist die Beantwortung der Frage, woran wir denn
eigentlich ein Urphänomen als solches erkennen
sollen, eine schwierige. Für ihn ist es die Aufgabe
des Genies, welches auf den ersten Blick wahr-
nimmt, daß hier die Wurzel der Erscheinungen vor-
liegt „Alles kommt in der Wissenschaft auf das
an, was man ein Apercu nennt, auf ein Gewahr-
werden dessen, was eigentlich den Erscheinungen
zum Grunde liegt, und ein solches Gewahrwerden
ist ins Unendliche fruchtbar." Wer nicht an der
298 Zehnte Vorlesung.
richtigen Stelle zu erstaunen imstande ist, dem fehlt
das Zeug zum Naturforscher. „Alles, was wir Er-
finden, Entdecken im höheren Sinne nennen, ist die
bedeutende Ausübung, Betätigung eines originellen
Wahrheitsgefühles, das, im Stillen längst ausgebildet,
unversehens mit Blitzesschnelle zu einer frucht-
baren Erkenntnis führt. Es ist eine aus dem Innern
am Äußern sich entwickelnde Offenbarung, die
den Menschen seine Gottähnlichkeit vorahnen läßt."
Ist das Urphänomen gefunden, so lassen sich alle
andern Phänomene von ihm aus zur kontinuierlichen
Reihe -ordnen. Man soll sich aber hüten, die Er-
scheinungen nach Kausalitätsgesetzen verknüpfen zu
wollen, denn das ist schon willkürliches Theoretisieren.
Immer und immer wieder wird vor dem voreiligen
Aufstellen von Theorien gewarnt. „Theorien sind
gewöhnlich Übereilungen eines ungeduldigen Ver-
standes, der an die Stelle des Phänomens Bilder,
Begriffe, ja oft nur Worte einschiebt." „Das bloße
Anblicken einer Sache kann uns nicht fördern. Jedes
Ansehen geht über in ein Betrachten, jedes Betrachten
in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknüpfen, und
80 kann man sagen, daß wir schon bei jedem auf-
merksamen Blick in die Welt theoretisieren. Dieses
aber mit Bewußtsein, mit Selbstkenntnis, mit Frei-
heit und, um uns eines gewagten Wortes zu bedienen,
mit Ironie zu tun und vorzunehmen, eine solche
Gewandtheit ist nötig, wenn die Abstraktion, vor der
Goethe als Naturforscher. 299
wir uns fürchten, unschädlich und das Erfahrungs-
resultat, das wir hoffen, recht lebendig und nützlich
werden soll."
Goethe ist sich natürlich vollständig darüber im
Klaren, daß man, um überhaupt Versuche anstellen
zu können, Hypothesen braucht. Er will sie aber
nur als Arbeitshypothesen gelten lassen, als bequeme
Bilder, um sich die Vorstellung des Ganzen zu er-
leichtern. Die Aufstellung der Hypothesen bildet gar
nicht den naturwissenschaftlichen Teil der Forschung,
sondern den philosophischen. Die Physik hört beim
Urphänomen auf, der Philosoph fängt bei ihm an.
Haben die Hypothesen aber ihre Aufgabe erfüllt, zu
Versuchen von großer Anschaulichkeit und Klarheit
geführt zu haben, so soll man sie verlassen. „Hypo-
thesen sind Gerüste, die man vor dem Gebäude
aufführt, und die man abträgt, wenn das Gebäude
fertig ist. Sie sind dem Arbeiter unentbehrlich, nur
muß er das Gerüst nicht für das Gebäude ansehen."
So wird es verständlich, wenn Goethe in der Farben-
lehre alle Hypothesen über die Natur des Lichtes
vermeidet, in der Geologie aber hypothetische An-
nahmen für unvermeidlich hält
Goethe hat einmal die verschiedenen Arten der
Naturbetrachtung in übersichtlicher Weise eingeteilt.
Die tiefste Stufe sind die Nutzenden, die Nutzen-
Suchenden, die das, was die Natur bietet, für ihre
praktischen Zwecke verwenden; die zweite Stufe
300 Zehnte Vorlesung.
bilden die Wißbegierigen, die nur das wissen-
schaftlich verarbeiten, was sie vorfinden; zu der
dritten Stufe, den Anschauenden, rechnet sich
Goethe selbst: sie suchen die Imagination nach
Möglichkeit zu vermeiden und führen alles auf An-
schaulichkeit zurück; die vierte Gruppe, die Um-
fassenden, schlagen den umgekehrten Weg ein,
sie gehen von Ideen aus und suchen deren Ver-
wirklichung in der Natur. Hier geht der Verstand,
nach Kants Darlegung, „von der Anschauung eines
Ganzen als eines solchen, zum Besonderen, das
ist, von dem Ganzen zu den Teilen." Auch diesen
letzteren Weg sucht Goethe vielfach zu beschreiten,
wenn er vom Typischen (z. B. in Botanik und ver-
gleichender Anatomie) zum Einzelfalle vordringt und
sich so „durch das Anschauen einer immer schaffen-
den Natur zur geistigen Teilnahme an ihren Pro-
duktionen würdig macht."
Bei der umfassenden Betrachtung aller Gebiete
der Naturwissenschaft, wie sie Goethe während
seines langen arbeitsreichen Lebens vorgenommen
hat, war es natürlich, daß er schließlich zu einigen
wenigen ganz durchgreifenden Verallgemeinerungen
gelangen mußte, auf die sich alle Naturvorgänge
zurückführen lassen. Wohl alle großen Naturforscher
stellen derartige allgemeinste Prinzipien auf. Für
Goethe waren die zwei großen Triebräder der Natur
der Begriff von Polarität und von Steigerung.
Goethe als Naturforscher. 301
Wenn wir uns kurz klar machen wollen, was er
darunter verstanden hat, so gehen wir von dem
zweiten Begriff, dem Prinzip der Steigerung, aus.
Goethe ordnete, wie wir wissen, alle Naturphäno-
mene, die ihm bei seiner Forschung entgegentraten,
in eine kontinuierliche Reihe, die vom einfachsten
bis zum kompliziertesten aufstieg und deren einzelne
Glieder durch fließende Übergänge verbunden waren.
So verfuhr er in der Botanik und vergleichenden
Anatomie, so auch in der Farbenlehre. Auf diese
Weise ergab sich für ihn ein Bild des Naturganzen,
das sich in aufsteigender Linie entwickelte, wobei
wir uns erinnern müssen', daß diese Entwicklung
nicht im Darwinschen Sinne zu nehmen ist, sondern
vielmehr so verstanden werden muß, daß sich die
Natur als eine solche kontinuierlich aufsteigende
Reihe darstellen läßt. Diese Reihe ist für Goethe
der Ausdruck der Steigerung. Aus den einfachsten
Phänomenen werden durch Steigerung die kompli-
zierteren und zusammengesetzten abgeleitet. Sie
knüpft an die Urphänomene an und führt so schließ-
lich zu den verwickelten Erscheinungen der täg-
lichen Erfahrung.
Das Prinzip der Steigerung hat Goethe schon
relativ früh bei seinen botanischen und vergleichend
anatomischen Studien im Ausgang der achziger Jahre
gewonnen. Später erst hat sich dazu der Begriff
der Polarität gesellt, den er durch die Beschäftigung
302 Zehnte Vorlesung.
mit der Physik gewann und im Anschluß an diese
Studien in aligemeinster Weise angewendet hat.
Der Begriff der Polarität knüpft sich an die
Lehre vom Magnetismus an. In ein und demselben
Eisenstück finden sich vereinigt und doch getrennt
die beiden Pole als Gegensatz, die sich anzuziehen
streben. Dieses Phänomen dient nun Goethe zur
Veranschaulichung eines allgemeinen Naturprinzips:
„Der Magnet ist ein Urphänomen, das man nur
aussprechen darf, um es erklärt zu haben: dadurch
wird es denn auch ein Symbol für alles übrige,
wofür wir keine Worte noch Namen zu suchen
brauchen." Zunächst findet sich das gleiche in
der Elektrizitätslehre. Die positive und negative
Elektrizität, ihr Anziehen und Abstoßen „zusammen
deutet auf eine Scheidung, auf ein Entzweien, das
wie beim Magnet sein Entgegengesetztes, seine
Totalität, sein Ganzes wieder sucht" In der Chemie
findet Goethe die polaren Gegensätze in der Oxy-
dation und Desoxydation, in der Optik ist es der
Gegensatz von Licht und Finsternis, deren Ver-
einigung die Farben erzeugt. Bei letzteren findet
er die Polarität in dem Gegensatz von Gelb und
Blau, dem trüben Medium vor hellem und vor
dunklem Grund; aus beiden leitet er wie wir wissen
durch Steigerung Rot und Violett ab, und durch
Verknüpfung entstehen Grün und Purpur. So er-
gibt sich durch Vereinigung der polaren Gegensätze
Goethe als Naturforscher. 303
schließlich die Totalität des ganzen Farbenkreises.
Ähnliche Betrachtungen werden nun für alle Natur-
gebiete angestellt. „Treue Beobachter der Natur,
wenn sie auch sonst noch so verschieden denken,
werden doch darin übereinkommen, daß alles, was
erscheinen, was uns als Phänomen begegnen solle,
müsse entweder eine ursprüngliche Entzweiung, die
einer Vereinigung fähig ist, oder eine ursprüngliche
Einheit, die zur Entzweiung gelangen könne, an-
deuten und sich auf eine solche Weise darstellen.
Das Geeinte zu entzweien, das Entzweite zu einigen
ist das Leben der Natur; dies ist die ewige
Systole undDiastole, die ewigeSynkrisis und
Diakrisis, das Ein- und Ausatmen der Welt,
in der wir leben, weben und sind." Wir besitzen von
seiner Hand eine kurze Aufzeichnung, wie weit er
den Begriff der Polarität auf Körperliches und be-
sonders auf Geistiges ausdehnen wollte. Er ver-
zeichnet hier die Antithesen: „Wir und die Gegen-
stände, Licht und Finsternis, Leib und Seele, zwei
Seelen, Geist und Materie, Gott und die Welt, Ge-
danke und Ausdehnung, Ideales und Reales, Sinn-
lichkeit und Vernunft, Phantasie und Verstand, Sein
und Sehnsucht, — zwei Körperhälften, Rechts und
Links, Atemholen, Physische Erfahrung: Magnet"
So leitet sich von dem einfachen Phänomen des
Magneten für Goethe jeder Zwiespalt ab, den er
in der Natur findet:
304 Zehnte Vorlesung.
„Magnets Geheimnis, erkläre mir das!
Kein größres Geheimnis als Liebe und Haß".
Das sind die beiden letzten Verallgemeinerungen,
zu denen Goethe bei seiner Naturbetrachtung ge-
langt ist, einfachste Sätze, die er auf allen Natur-
gebieten bestätigt fand. Aber auch hier handelt es
sich bei ihm nicht um Abstraktes. Dadurch, daß
er den Begriff der Polarität vom Magnet als einem
Urphänomen ableitet, gewinnt er auch ftlr diese all-
gemeinen Gesichtspunkte eine Anschaulichkeit
Das durchgehende Streben Goethes, alle Natur-
forschung ganz rein auf Anschaulichkeit zu grün-
den, bestimmt auch sein Verhältnis zu zwei Nach-
bargebieten der Naturwissenschaft, zur Mathematik
und zur Philosophie. Die mathematische Betrach-
tungsweise besonders der Physik, welche die Natur-
vorgänge mit Hilfe einfacher Formeln darstellen will,
um zu rechnerischen Ergebnissen zu gelangen, sucht
sich nach Möglichkeit von jeder Anschaulichkeit zu
entfernen. Sie schlägt also gerade den umgekehrten
Weg ein wie Goethe. Daher dessen oft scharfe
Stellungnahme gegen die mathematische Behand-
lung der Physik. Er sieht in der Mathematik nur
ein Verfahren, um mit komplizierten Mitteln ein-
fache Zwecke zu erreichen. Dabei verführt sie nach
seiner Meinung zur Unredlichkeit, weil sie eine
scheinbare Sicherheit der Ergebnisse vortäuscht.
In den mathematischen Resultaten steckt nämlich
Goethe als Naturforscher. 305
schließlich nicht mehr drin als schon in den ersten
Propositionen, von denen die Rechnung ausging.
Das Resultat kann also auch nicht mehr lehren als
die ursprünglichen Propositionen. Die Fehlerquelle
liegt in diesen letzteren. Die Naturvorgänge sind
oft so kompliziert, daß sie sich durch eine einfache
mathematische Formel nicht vollständig darstellen
lassen, und besonders Newtons Optik ist für Goethe
ein trauriges Beispiel, wie durch mathematische Be-
handlung die Naturwissenschaft verwirrt worden ist.
Die Entwicklung der Physik im 19. Jahrhundert hat
Goethe unrecht gegeben. Der Anwendung mathe-
matischer Berechnungen verdanken wir die wich-
tigen Fortschritte der Erkenntnis und der Technik,
die unser ganzes äußeres Leben umgestaltet haben.
Dagegen gilt in vielen Zweigen der Physiologie auch
heute noch Goethes Lehre. Die Lebensvorgänge sind
tatsächlich meist so verwickelt, daß sie sich vielfach
noch nicht in mathematischen Formeln haben darstel-
len lassen. Hier ist die Unsicherheit bei der Aufstel-
lung der ersten Propositionen noch so groß, daß auch
die Resultate vielfach noch wenig Vertrauen finden.
Es ist Goethe von den zeitgenössischen Phy-
sikern oft zum Vorwurf gemacht worden, daß seine
Farbenlehre der mathematischen Behandlung ent-
behre, und es wurde ihm von Freunden nahegelegt,
sie noch nachträglich durchführen zu lassen. Er
aber ärgerte sich nur, daß die Mathematiker dünkel-
Magnus, Goethe als Naturforscher. 20
306 Zehnte Vorlesung.
haft alles für nichtig und unexakt erklären, was sich
nicht dem Kalkül unterwerfen läßt. Für ihn war
nicht die Rechnung, sondern die Anschaulichkeit
höchstes Ziel der Naturforschung, und deshalb war
es seiner Meinung nach „die große Aufgabe, die
mathematisch -philosophischen Theorien aus den
Teilen der Physik zu verbannen, in welchen sie
Erkenntnis, anstatt sie zu fördern, nur verhindern,
und in welchen die mathematische Behandlung durch
die Einseitigkeit der Entwicklung der neueren wissen-
schaftlichen Bildung eine so verkehrte Anwendung
gefunden hat." „Als getrennt muß sich darstellen:
Physik von Mathematik. Jene muß in einer ent-
schiedenen Unabhängigkeit bestehen und mit allen
liebenden, verehrenden, frommen Kräften in die
Natur und das heilige Leben derselben einzudringen
suchen, ganz unbekümmert, was die Mathematik von
ihrer Seite leistet und tut. Diese muß sich dagegen
unabhängig von allem Äußeren erklären, ihren eigenen
großen Geistesgang gehen und sich selber reiner
ausbilden als es geschehen kann, wenn sie, wie
bisher, sich mit dem Vorhandenen abgibt und diesem
etwas abzugewinnen oder anzupassen trachtet." Vor
der reinen Mathematik hatte Goethe stets die höchste
Achtung und war daher auch ein warmer Verehrer
eines der größten Mathematikers seiner Zeit, La-
granges. Nur gegen die Anwendung der Mathe-
matik auf physikalische Probleme glaubte er an-
Goethe als Naturforscher. 307
kämpfen zu müssen. „Die Farbenlehre besonders hat
sehr viel gelitten und ihre Fortschritte sind äußerst
gehindert worden." „Die Mathematiker sind Fran-
zosen: redet man zu ihnen, so übersetzen sie es
in ihre Sprache und dann ist es alsbald etwas ganz
anderes." Poetischen Ausdruck hat Goethe diesem
Standpunkt in dem launigen Gedichte: „Katzen-
pastete" verliehen, von dem hier nur die beiden
ersten Strophen Platz finden mögen:
„Bewährt den Forscher der Natur
„Ein frei und ruhig Schauen,
„So folge Meßkunst seiner Spur,
„Mit Vorsicht und Vertrauen.
„Zwar mag bei einem Menschenkind
„Sich beides auch vereinen,
„Doch daß es zwei Gewerbe sind,
„Das läßt sich nicht verneinen."
Auch Goethes Stellung zur Philosophie läßt sich
daraus am leichtesten verstehen, daß für ihn stets
die Anschaulichkeit das letzte und höchste Ziel ge-
wesen ist. „Für Philosophie im eigentlichsten Sinne
hatte ich kein Organ." Als junger Mensch hatte er
wesentlich die philosophischen Lehren Giordano
Brunos und Spinozas in sich aufgenommen, welche
die Alleinheit der Natur lehren und einen Pantheis-
mus, eine Allbeseelung der Natur predigen. Diese
Auffassung war Goethes Wesen am gemäßesten;
daher hat er das Selbst und die Außenwelt auch
bei der Naturbetrachtung nie scharf gesondert und
20*
308 Zehnte Vorlesung.
mit Naivität geglaubt, er „sehe seine Meinungen
vor Augen." Er war so von der Realität seiner
Wahrnehmungen überzeugt, daß ihn erst Schiller
in dem ersten Gespräch über die Pflanzenmeta-
morphose aus seinem unkritischen Schlummer er-
wecken mußte. Er hatte Kants „Kritik der reinen
Vernunft" und „Kritik der Urteilskraft" schon 1788
und 1790 studiert, wurde aber erst durch Schiller
nachdrücklicher auf sie hingewiesen. Er machte
sich nun sorgfältige Auszüge, beschäftigte sich in
seinen Gedanken vielfach mit diesen Fragen und
es gingen ihm dabei die neuen Probleme, wie über-
haupt unsere Erfahrung und Erkenntnis von der
Außenwelt zustande kommt, allerdings auf. Er stand
aber, als er mit Kants Lehre bekannt wurde, schon
in den vierziger Jahren. Die Grundlinien seiner
Denkweise waren also bereits unverrücklich fest-
gelegt. So hat er wohl die Fragen der Erkenntnis-
kritik in seinem Geiste aufgeworfen und diskutiert,
sie aber nicht mehr zur Grundlage seines Denkens
gemacht. Die Farbenlehre ist ein Zeugnis dafür,
daß er auch nach dem Studium Kants zwischen
seinen Sinnesempfindungen und den diese Empfin-
dung auslosenden Reizen nicht scharf unterschied,
sondern fließende Übergänge zwischen beiden auf-
stellen wollte. Erst durch Schopenhauer ist, wie
wir wissen, die Kantische Lehre für die Farben-
lehre nutzbar gemacht worden. Wir finden viel-
Goethe als Naturforscher. 309
fache Erörterungen zur Erkenntnistheorie bei Goethe.
„Bei Betrachtung der Natur im Großen wie im
Kleinen habe ich unausgesetzt die Frage gestellt:
Ist es der Gegenstand oder bist Du es, der sich
hier ausspricht?' „Die Erscheinung ist vom
Beobachter nicht losgelöst, vielmehr in die In-
dividualität desselben verschlungen und verwickelt."
„Wir können eine organische Natur nicht lange als
Einheit betrachten, wir können uns selbst nicht
lange als Einheit denken, so finden wir uns zu
zwei Ansichten genötigt, und wir betrachten uns
einmal als ein Wesen, das in die Sinne fällt, ein
andermal als ein anderes, das nur durch den inne-
ren Sinn erkannt oder durch seine Wirkung be-
merkt werden kann. — Die Zoonomie zerfällt daher
in zwei nicht leicht voneinander zu trennende Teile,
nämlich in die körperliche und in die geistige.
Beide können zwar nicht voneinander getrennt wer-
den, aber der Bearbeiter dieses Faches kann von
der einen oder der andern Seite ausgehen und so
einer oder der andern das Übergewicht verschaffen."
Diese Kantischen Probleme sind aber für ihn stets
nur Probleme geblieben. Bei seinem Streben nach
unmittelbarster Anschaulichkeit setzte er doch immer
wieder seine Sinnesempfindung als unmittelbare
Wirklichkeit voraus.
Ebensowenig hat ihn bis in sein spätestes Alter
sein pantheistischer Glaube verlassen. „Wir können
310 Zehnte Vorlesung.
bei Betrachtung des Weltgebäudes in seiner wei-
testen Ausdehnung, in seiner letzten Teilbarkeit, uns
der Vorstellung nicht erwehren, daß dem Ganzen
eine Idee zum Grunde liege, wonach Gott in der
Natur, die Natur in Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit
schaffen und wirken möge." Dieser Allbeseelung
der gesamten Natur entnahm Goethe die Aufforde-
rung, in der Natur nach den Ideen zu suchen, die
all dem Naturgeschehen zugrunde liegen, nach denen
die Natur bei Ausbildung anorganischen und orga-
nischen Wesens zu Werke geht. Die Wirksamkeit
dieser Ideen setzt der Naturforscher Goethe voraus;
die Harmonie des Naturganzen ist ihr Ausdruck.
„Was war* ein Gott, der nur von außen stieße,
„Im Kreis das All am Finger laufen ließe.
„Ihm ziemt's, die Welt im Innern zu bewegen,
„Natur in Sich, Sich in Natur zu hegen,
„So daß, was in Ihm lebt und webt und ist,
„Nie Seine Kraft, nie Seinen Geist vermißt."
Auf diese Weise glaubt Goethe durch die Natur-
forschung in das Innerste der Natur einzudringen.
Für ihn ist der Spruch Albrecht von Hallers ein
Greuel, des Physiologen, der an der Kompliziert-
heit der Lebenserscheinungen verzweifelnd ausge-
rufen hatte:
„Ins Innere der Natur dringt kein erschaffener Geist,
»Glückselig, wem sie nur die flußcre Schale weist*
Diese Resignation wird von Goethe aufs schärfste
zurückgewiesen.
Goethe als Naturforscher. 311
„Ins Innere der Natur* —
0 du Philister! —
„Dringt kein erschaffner Geist."
Mich und Geschwister
Mögt ihr an solches Wort
Nur nicht erinnern:
Wir denken: Ort für Ort
Sind wir im Innern.
„Glückselig! wem sie nur
Die äußre Schale weist."
Das hör' ich sechzig Jahre wiederholen,
Ich fluche drauf, aber verstohlen;
Sage mir tausend tausendmale:
Alles giebt sie reichlich und gern;
Natur hat weder Kern
Noch Schale,
Alles ist sie mit einemmale;
Dich prüfe du nur allermeist,
Ob du Kern oder Schale seist."
Da Goethe auf der einen Seite sich die Natur
forschend anschaulich zu machen strebte, auf der
andern aber in der Natur wirkende (göttliche) Ideen
annahm, so mußte sich ihm die Frage erheben, mit
der sich jeder Naturforscher einmal auseinander-
setzen muß, ob denn die Natur überhaupt begreif-
lich sei, ob wir annehmen dürfen, durch Natur-
forschung in das Wesen der Außenwelt vollständig
eindringen zu können. Schon Kant hatte diese
Frage aufgeworfen und dahin beantwortet, daß die
Wissenschaft, deren Aufgabe es sei, die Natur zu
begreifen, die Begreiflichkeit der Natur voraussetzen
müsse. Ebenso lehrt auch Goethe, „der Mensch
muß bei dem Glauben verharren, daß das Unbe-
312 Zehnte Vorlesung.
greifliche begreiflich sei; er würde sonst nicht for-
schen." Trotzdem hat er ein Unbegreifliches in
der Natur zugegeben. Die Ideen, nach denen Gott-
Natur alle Dinge gestaltet, sind für die Natur-
forschungzu erkennen unmöglich. Wenn man
aber auch ein solches Unbegreifliches voraussetzt,
so soll doch der Mensch seinem Forschen keine
Schranken setzen und so weit in der Erkenntnis zu
gelangen streben, als ihm möglich ist. In seinem
Aufsatz „über Noses mineralogische Arbeiten" er-
örtert er diese wichtigste Frage: „in wiefern wir ein
Unerforschtes für unerforschlich erklären dürfen, und
wieweit es dem Menschen vorwärts zu gehen er-
laubt sei, ehe er Ursache habe, vor dem Unbegreif-
lichen zurückzutreten oder davor stille zu stehen.
Unsere Meinung ist: daß es dem Menschen gar
wohl gezieme, ein Unerforschliches anzunehmen,
daß er dagegen aber seinem Forschen keine Gren-
zen zu setzen habe; denn wenn auch die Natur
gegen den Menschen im Vorteil steht und ihm
manches zu verheimlichen scheint, so steht er wie-
der gegen sie im Vorteil, daß er, wenn auch nicht
durch sie durch, doch Ober sie hinaus denken kann.
Wir sind aber schon weit genug gegen sie vorge-
drungen, wenn wir zu den Urphänomcnen gelangen,
welche wir in ihrer unerforschlichen Herrlichkeit
von Angesicht zu Angesicht anschaun und uns
sodann wieder rückwärts in die Welt der Erschei-
k
Goethe als Naturforscher. 313
nungen wenden, wo das in seiner Einfalt Unbe-
greifliche sich in tausend und aber tausend mannig-
faltigen Erscheinungen bei aller Veränderlichkeit
unverändert offenbart." — Hier wird Goethes Stand-
punlct aufs klarste ausgesprochen. Die Naturfor-
schung kann nur so weit dringen, als die Möglichkeit
der Anschauung reicht, d. h. bis zu den Urphäno-
menen. Über diese hinaus geht Goethes Naturfor-
schung niemals. Das zu tun ist vielmehr die Aufgabe
der Philosophie. Wie weit diese zur Erklärung der
Urphänomene und zur Erkenntnis der der Natur
zugrunde liegenden Ideen beitragen könne, bleibt
ungewiß. Der menschliche Geist muß aber in das
dunkle Land, soweit es ihm möglich ist, vorzudringen
suchen „und wenn es gleich scheint, daß die mensch-
liche Natur weder die unendliche Mannigfaltigkeit der
Organisation fassen, noch das Gesetz, wonach sie
wirkt, deutlich begreifen kann, so ist's doch schön, alle
Kräfte aufzubieten, um von beiden Seiten sowohl durch
Erfahrung als durch Nachdenken dieses Bild zu er-
weitern." Es liegt also in Goethes Auffassung vom
Begreiflichen und Unbegreiflichen ein Stück Resigna-
tion, aber zur Beruhigung dient ihm die Erkenntnis,
daß nur das Erforschliche praktischen Wert hat.
Deshalb kann er das Unerforschliche ruhig verehren.
Die Stellung eines Jüngers, der die große Mutter
Natur verehrt, hat Goethe sein ganzes Leben lang
beibehalten. Für ihn war die Beschäftigung mit
314 Zehnte Vorlesung.
der Natur eine Art Gottesdienst Der Verkehr mit
ihr ist deshalb so glüclcbringend, weil sie keine
menschlichen Schwächen besitzt: „Warum ich zuletzt
am Liebsten mit der Natur verkehre, ist, weil sie
immer recht hat und der Irrtum bloß auf meiner
Seite sein kann. Verhandle ich hingegen mit Men-
schen, so irren sie, dann ich, auch sie wieder, und so
fort, da kommt nichts aufs Reine; weiß ich mich aber
in die Natur zu schicken, so ist alles gethan.** —
„Die Natur bekümmert sich nicht um irgend einen
Irrtum; sie selbst kann nicht anders als ewig recht
handeln, unbekümmert was daraus erfolgen möge."
Haben wir bisher Goethes Verhältnis zur Natur
erörtert, so bleibt uns nur noch als letzte Auf-
gabe, uns klar zu machen, welch Aufschlüsse
Ober Goethes Persönlichkeit wir aus der Kennt-
nis seines Naturforschens erhalten. Man kann die
Menschen im allgemeinen in zwei große Gruppen
sondern, in solche, die auf Grund von optischen
Vorstellungen zu denken gewohnt sind, und solche,
welche mit Hilfe akustischer Eindrücke und Erinne-
rungsbilder ihre geistige Tätigkeit ausüben. Zur
ersteren Gruppe gehören viele der Naturforscher
und Techniker, zur letzteren die Geisteswissen-
schaftler, Philosophen und Philologen. Bei vielen
Menschen ist eine oder die andere Denkweise an-
geboren. Sie kann aber auch durch Erziehung ab-
Goethe als Naturforscher. 315
geändert werden, wie denn tatsächlich viele Knaben
das humanistische Gymnasium als anschauend be-
treten und als anhörend verlassen. Diese Ausein-
andersetzung ist deshalb hier von Wichtigkeit, weil
Goethe vielleicht das typischte Beispiel für diejenige
Menschenklasse ist, die auf Grund von Gesichts-
vorstellungen denkt. Goethe ist ein reines opti-
sches Genie, daher hat er auch die Farbenlehre
vollendet und die Tonlehre im ersten Entwurf liegen
lassen. „Gegen das Auge betrachtet ist das Ohr
ein stummer Sinn." Goethe war wirklich „zum Sehen
geboren, zum Schauen bestellt" und konnte, als er
als Greis den Schlußakt des Faust dichtete, wohl
mit Fug und Recht sagen:
„Ihr glücklichen Augen,
Was je ihr gesehn,
Es sei, wie es wolle,
Es war doch so schön!"
Er selbst ist über diese seine Geistesart be-
sonders durch die treffende Bemerkung des Arztes
Heinroth aufgeklärt worden, der ihm gegenständ-
liches Denkvermögen zuschrieb, und hat im
Anschluß daran in seinem Aufsatz: „Bedeutendes
Fordernis durch ein geistreiches Wort" Anlaß ge-
nommen, sich über seine Denkweise auszusprechen.
Er weist hierbei darauf hin, daß sein Dichten
und sein Naturforschen beide auf dieser selben
Grundlage ruhen, daß er so zu dichten pflege,
daß er die Stoffe oft jahrelang mit sich herumtrage
316 Zehnte Vorlesung,
und von Zeit zu Zeit in plastischer Form vor seinem
geistigen Auge reproduziere. Diese fortwährende
Erneuerung durch die Einbildungskraft führt dann
schließlich zur endgültigen Gestaltung, und so schreibt
er oft Dichtungen, die Jahrzehnte in ihm gereift sind,
schließlich in wenigen Tagen nieder. Auch die
Neigung zu Gelegenheitsgedichten hängt mit diesem
gegenständlichen Denken zusammen. Wie sehr Goethe
bei seiner Naturforschung sein gegenständliches
Denken betätigte, braucht hier nur angedeutet zu
werden. Alles Vorhergehende ist die beste Illustra-
tion dafür. In Farbenlehre und Physik strebte er
ebenso nach Anschaulichkeit, wie er bei Betrachtung
des Schöpsenschädels am Lido mit einem Blick
den Aufbau des Schädels aus Wirbelkörpern erkannte,
und wie er seine Idee des Pflanzenbaues so tatsäch-
lich vor Augen zu sehen glaubte, daß ihm Schillers
Einwurf, sie sei nur eine Idee, als eine Beleidigung
erschien. So sehen wir, daß das Auge tatsächlich
Goethes Hauptsinn ist, daß die optischen Eindrücke
dauernd sein Denken bestimmen und in seinen Vor-
stellungskrels eingehen. Wenn man so auf Grund
seiner Sinneseindrücke Dichter, Künstler und Natur-
forscher ist, so ist allerdings diese Fähigkeit zur
Sinnlichkeit notwendige Voraussetzung. „Dichter
und Künstler müssen geboren sein." Goethe selbst
schildert uns an mehreren Steilen seiner Werke, wie
es ihm ein Leichtes gewesen ist, Bilder, Menschen
Goethe als Naturforscher. 317
und Handlungen sich jederzeit so vorzustellen, daß
er sie mit Augen zu sehen glaubte.
Mit der Fähigkeit des gegenständlichen Denkens
verknüpft sich bei Goethe naturgemäß ein zweites,
die schöpferische Phantasie. Wir brauchen hier
nicht näher auszuführen, daß Goethe diese Grund-
lage jeder dichterischen Tätigkeit in höchstem Maße
besessen hat. Wir wollen nur das in der Einleitung
Gesagte uns in das Gedächtnis zurückrufen, daß
auch jeder Naturforscher, der zu umfassenden Vor-
stellungen gelangen will, nach Helmholtz' Zeugnis
etwas von der Phantasie des Dichters nötig habe.
Diese schöpferische Einbildungskraft äußert sich in
allen Zweigen von Goethes Naturforschung, in der
Pflanzenmetamorphose, in der Konstruktion des
tierischen Typus ebensowohl wie in der Farben-
lehre und den geologischen Theorien. Kein Gerin-
gerer als Johannes Müller hat noch zu Goethes
Lebzeiten auf diese gemeinsame psychologische
Grundlage von Goethes Dichtung und Natur-
forschung hingewiesen. Er schreibt in seinem Auf-
satz „über die phantastischen Gesichtserscheinungen":
„Hier zeigt sich denn, wo das Phantasieleben des
Künstlers und des vergleichenden Naturforschers in
gemeinsamem Gebiet sich berühren und auch aus-
einandergehen. In beiden bewegt sich das plastische
Phantasieleben nur innerhalb der Sphäre des Begriffs.
Der Naturforscher spricht das Gesetz der Formen-
318 Zehnte Vorlesung.
bildung und Verwandlung aus, er sieht es nur in
dem Wirklichen und Natürlichen verwirklicht. Die
Phantasie des Künstlers ist auch nur in diesem
Gesetze tätig, aber sie verläßt seine Verwirklichung
im Wirklichen und Natürlichen, und erhebt sich, in
denselben Gesetzen sich bewegend und fortschrei-
tend, ohne den Begriff zu verlassen, über das Wirk-
liche zur idealen Form, die Selbstzweck und nicht
mehr ein Ausdruck innerer Funktionen und als
solcher immerhin durch diese beschränkt ist. Wun-
dern wir uns darum nicht, wenn einer und derselbe
das Größte in beiden Richtungen erreicht hat. Nur
durch eine nach der erkannten Idee des lebendigen
Wechsels wirkende plastische Imagination entdeckte
Goethe die Metamorphose der Pflanzen, eben darauf
beruhen seine Fortschritte in der vergleichenden Ana-
tomie und seine höchst geistige, ja künstlerische
Auffassung dieser Wissenschaft"
Wir haben in der sinnesphysiologischen Ein-
leitung zur Farbenlehre auseinandergesetzt, daß von
der Art und Funktion der Sinnesorgane das ab-
hängt, was wir als Milieu eines Lebewesens be-
zeichnen. Wenn Sie nun versuchen, sich einmal
zu vergegenwärtigen, in welch umfassender Weise
Goethe seine Sinnesorgane und vor allem sein Auge
zum Studium seiner Außenwelt benutzt hat, so wird
Ihnen ohne weiteres klar werden, wie unendlich
reichhaltig das Milieu dieses Mannes gewesen sein
Goethe als Naturforscher. 319
muß. Alle Zweige des großen Baumes der Natur
hat er selbst in eigener Arbeit kennen gelernt; die
Tier- und Pflanzenwelt, die Oberfläche unserer Erde
und die Atmosphäre, der gestirnte Himmel, die physi-
kalischen Vorgänge in unserer Umgebung, das Wir-
ken des Lichts und der Farbe waren ihm vertraut
und so bekannt, daß er sie jeden Augenblick vor
seinem geistigen Auge reproduzieren konnte. Daher
auch die Fülle anschaulicher Bilder aus der Natur,
die dem Dichter zur Verfügung stehen: „Ich habe
niemals die Natur poetischer Zwecke wegen be-
trachtet. Aber weil mein früheres Landschaftszeich-
nen und dann mein späteres Naturforschen mich zu
einem beständigen genauen Ansehen der natürlichen
Gegenstände trieb, so habe ich die Natur bis in
ihre kleinsten Details nach und nach auswendig
gelernt, dergestalt daß, wenn ich als Poet etwas
brauche, es mir zu Gebote steht und ich nicht leicht
gegen die Wahrheit fehle." Es ist nicht meine Auf-
gabe, in eine Analyse von Goethes Dichtungen ein-
zutreten, und alle die zahlreichen naturwissenschaft-
lichen Dinge, die hier anklingen, herauszuschälen.
Aber ich bin überzeugt, daß jeder von Ihnen, wenn
er jetzt eines jener Meisterwerke wieder in die
Hand nimmt, mit um so größerer Freude auch auf
diese Grundlage von Goethes Dichten achten und
mit um so größerem Genüsse die vielen aus der
Natur genommenen Gleichnisse, Bilder und Schil-
320 Zehnte Vorlesung.
derungen auf sich wirken lassen wird, die dem
Dichter in so überwältigender Fülle zur Verfügung
standen. ^ /
„Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vöglein schweigen im Walde." . . .
Hier wird nur geschildert und dieses einfachste
Naturgemälde gilt als unmittelbares Symbol der ge-
heimsten Stimmung des Dichterherzens. So ist es
in hunderten und aber hunderten von Goethes
Schöpfungen.
„Die naturwissenschaftlichen Arbeiten haben mich
genötigt, meinen Geist zu prüfen und zu üben.
Wenn auch für die Wissenschaft gar kein Vorteil
daraus entspränge, so würde der Vorteil, den ich
daraus ziehe, mir immer unschätzbar sein." Den
Einfluß der Naturwissenschaft auf Goethes Geist
haben wir kurz angedeutet Daß aber auch für die
Wissenschaft bedeutender Vorteil durch Goethes
Forschung erwachsen ist, das hoffe ich Ihnen in
diesen Vorlesungen zur Genüge gezeigt zu haben.
Goethe war ein Geist, der aus jedem Felsen, an
den er anschlug, lebendiges Wasser hervorsprudeln
lassen konnte.
Meine Herren! Wir sind am Schluß. Indem ich
diese Vorträge beende, lassen Sie mich noch auf
Goethe als Naturforscher. 321
einen Grundzug Goetheschen Wesens hinweisen,
das ist die völlige Reinheit seines naturwissen-
schaftlichen Strebens, das nur von dem Drange
nach Erkenntnis geleitet wurde. Es ist eine alte,
aber immer wieder vergessene Erfahrung, daß die
wichtigsten auch praktisch brauchbarsten Ergebnisse
durch rein theoretische zunächst nicht auf praktische
Ziele gerichtete Forschung erreicht werden. „Man
wird sich durch die Erfahrung überzeugen, wie es
bisher der Fortschritt der Wissenschaft bewiesen
hat, daß der reellste und ausgebreitetste Nutzen für
die Menschen nur das Resultat großer und un-
eigennütziger Bemühungen sei, welche weder tag-
löhnermäßig ihren Lohn am Ende der Woche fordern
dürfen, aber auch dagegen ein nützliches Resultat
für die Menschheit weder am Ende eines Jahres noch
Jahrzehnts noch Jahrhunderts vorzulegen brauchen."
Für Goethe war das höchste Glück, bei seiner
Naturforschung sich mit der Natur eins zu wissen,
in der Natur aufzugehen und erst aus dem großen
Naturganzen seine Persönlichkeit wieder heraus-
Zugewinnen.
„Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde 1
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde."
Lassen Sie uns zum Schluß noch jene gewal-
tigen Verse, in denen der Dichter das Aufgehen in
Magnus, Goethe als Naturforscher. 21
322 Zehnte Vorlesung.
der Natur predigt, in denen er zugleich das um-
fassendste Bild eines vorwärtsstrebenden, in stetem
Wechsel befindlichen Naturganzen entwirft, anhören.
Eins und Alles.
Im Gränzenlosen sich zu finden
Wird gern der Einzelne verschwinden,
Da löst sich aller Überdruß;
Statt heißem Wünschen, wildem Wollen,
Statt läst'gem Fordern, strengem Sollen,
Sich aufzugeben ist Genuß.
Weltseele komm uns zu durchdringen!
Dann mit dem Weltgeist selbst zu ringen,
Wird unsrer Kräfte Hochberuf.
Teilnehmend führen gute Geister,
Gelinde leitend, höchste Meister,
Zu dem, der alles schafft und schuf.
Und umzuschaffen das Geschaffne,
Damit sich's nicht zum Starren waffne.
Wirkt ewiges, lebendiges Tun.
Und was nicht war, nun will es werden,
Zu reinen Sonnen, farbigen Erden,
In keinem Falle darf es ruhn.
Es soll sich regen, schaffend handeln.
Erst sich gestalten, dann verwandeln;
Nur scheinbar steht's Momente still.
Das Ewige regt sich fort in allen!
Denn alles muß in Nichts zerfallen,
Wenn es im Sein beharren will.
Literatur.
1. Goethes Werke. Weimarer Ausgabe. 11. Abteilung. Goethes
naturwissenschaftliche Schriften. Bd. 1 — 13,
2. J. W. von Goethe Herzoglich Sachsen-Weimarischen Ge-
heimenraths Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu
erklären. — Gotha bey Cari Wilhelm Ettinger 1790.
3. Tafeln zu Goethes Farbenlehre.
4. Zur vergleichenden Osteologie, von Goethe, mit Zusätzen
und Bemerkungen von Dr. Ed. d'Alton. — Verhandl.
d. Kaiserlich leopold. -Carolin. Akademie der Natur-
forscher. Bd. XIl. 1. S. 324. 1824. (Tab. XXXIII—
XXXV.)
5. Über den Zwischenknochen des Menschen und der Tiere
von Goethe.— Ibid. Bd. XV. 1. S. 1. 1831. (Tab. I-V.)
6. Briefwechsel zwischen Goethe und Staatsrath Schultz.
Ed. Düntzer. Leipzig.
7. Goethes naturwissenschaftliche Correspondenz (1812 —
1832). Ed. Bratranek. 2 Bde. Leipzig 1874.
8. Goethes Briefwechsel mit den Gebrüdern v. Humboldt
(1795—1832). Ed. Bratranek. Leipzig 1876,
9. Goethes Gespräche. Herausgegeben von W. v. Bieder-
mann. Leipzig 1890.
10. Einleitungen und Anmerkungen zu Goethes naturwissen-
schaftlichen Arbeiten von Dr. S. Kalischer, in der Hempel-
schen Goetheausgabe. 1877—1879.
11. Einleitungen und Anmerkungen zu Goethes naturwissen-
schaftlichen Arbeiten von Rudolf Steiner, in Kürschners
Deutscher Nationalliteratur Bd. 114—117.
12. Bielschowski. Goethe. Sein Leben und seine Werke.
München 1902—1904. — Besonders: Goethe als Natur-
forscher von Dr. S. Kalischer.
21*
324 Literatur.
13. Recension von Nees von Esenbeck und Noeggerath über:
Goethe. Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders
zur Morphologie Bd. I. — Jenaische Allg. Litteratur-
zeitung. 1823. Bd. 2. S. 321 ff.
14. AI. V. Humboldt und Aime Bonpland's Reise. I. Abt.
Bd. 1. Einleitung, oder Ideen zu einer Geographie der
Pflanzen, nebst einem Naturgemälde der Tropenländer.
— Tübingen 1807. (Widmungsblatt „An Goethe").
15. Rudolf Virchow. Goethe als Naturforscher und in be-
sonderer Beziehung auf Schiller. Berlin 1864.
16. Herman v. Helmholtz. Über Goethes naturwissenschaft-
liche Arbeiten. — Reden und Vorträge. Bd. I. S. 1.
17. — Goethes Vorahnungen kommender naturwissenschaft-
licher Ideen. — Deutsche Rundschau Juli 1892.
18. J. Sachs. Geschichte der Botanik vom 16. Jahrh. bis
1860. München 1875.
19. M. Büsgen. Über Goethes botanische Studien. — Goethe-
lahrb. XI. S. 145. 1890.
20. A. Hansen. Die angebliche Abhängigkeit der Goethe-
schen Metamorphosenlehre von Linnä. — Goethe-
Jahrb. XXV. S. 128. 1904.
21. — Goethes Metamorphose der Pflanzen. — Goethe-Jahrb.
XXVIII. S. 207. 1906.
22. H. S. Chamberlain. Immanuel Kant. Die Persönlichkeit
als Einführung in das Werk. München 1905.
23. W. v. Wasielewski. Goethe und die Deszendenzlehre.
Frankfurt 1904.
24. K. V. Bardelcbcn. Goethe als Anatom. — Goethe-Jahrb.
XIII. S. 163. 1892.
25. J. Schwalbe. Zur Geschichte der plastischen Anatomie.
— K. V. Bardelcben. Franz Heinrich Martens. In me-
moriam. — Deutsche mcdlzin. Wochenschrift. 1896.
Nr. 47.
20. H. Braus. Die Morphologie als historische Wissenschaft.
— Exper. Beiträge zur Morphologie. I. 1. 1906.
27. H. Dricsch. Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre.
Uipzig 1905.
28. Philipp Otto Runge, Mahlcr. Farbcnkugcl oder Con-
ttruktion des Verhältnisses aller Mischungen der Farben
Literatur. 325
zu einander, und ihrer vollständigen Affinität, mit an-
gehängtem Versuch einer Ableitung der Harmonie in
den Zusammenstellungen der Farben. Nebst einer Ab-
handlung über die Bedeutung der Farben in der Natur,
von Hrn. Prof. Henrik Steffens in Halle. — Hamburg,
bey Friedrich Perthes. 1810.
29. Johann Purkinje. Beobachtungen und Versuche zur Phy-
siologie der Sinne. 2. Bändchen. Neue Beiträge zur
Kenntnis des Sehens in subjectiver Hinsicht. — Berlin
1825.
30. Johannes Müller. Zur vergleichenden Physiologie des
Gesichtssinnes des Menschen und der Tiere, nebst
einem Versuch über die Bewegungen der Augen und
über den menschlichen Blick. — Leipzig 1826.
31. — Über die phantastischen Gesichtserscheinungen etc.
— Coblenz 1826.
32. Arthur Schopenhauer. Über das Sehen und die Farben.
— S.'s Werke herausg. v. Grisebach. Bd. VL Leipzig.
Reclam.
33. Paul Schultz. A. Schopenhauer in seinen Beziehungen
zu den Naturwissenschaften. Deutsche Rundschau.
November 1899.
34. — A. Schopenhauers Abhandlung über das Sehen und
die Farben. — Engelmanns Archiv für Physiologie.
1899. Supplement S. 510.
35. A. Leitzmann. Briefwechsel zwischen Goethe und Lich-
tenberg. — Goethe-Jahrb. XVIII. S. 32. 1897.
36. C. Ruland. Zu Goethes naturwissenschaftlichen For-
schungen. — Goethe-Jahrb. Xll. S. 152. 1891.
37. G. Linck. Goelhes Verhältnis zur Mineralogie und Geogno-
sie. Akademische Rede. — Jena 1906.
38. H. V. Helmholtz. Handbuch der physiologischen Optik.
2. Auflage. Hamburg 1896.
39. J. V. Kries. Die Gesichtsempfindungen. Nagels Handb.
d. Physiologie. Braunschweig 1904.
40. E. Hering. Grundzüge der Lehre vom Lichtsinn. Graefe-
Saemisch's Handbuch der ges. Augenheilkunde. —
2. Aufl. Leipzig 1905.
326 Literatur.
41. R. Steiner. Goethes Beziehungen zur Versammlung deut-
scher Naturforscher u. Ärzte in Berlin 1828. — Goethe-
Jahrb. XVI. S. 52. 1895.
42. Kant. Kritik der Urteilskraft. — Edid. Kehrbach. —
Leipzig. Reclam.
43. A. Tschermak. Kontrast und Irradiation. — Ergebnisse
der Physiologie. Bd. II. 2. — Wiesbaden 1903.
44. J. V. Uexküll. Physiologie und Biologie in ihrer Stellung
zur Tierseele. — Ergebnisse der Physiologie. Bd. I. 2.
— Wiesbaden 1902.
Register.
A.
Abenteuer der Vernunft 142.
Abklingen, farbiges — der
Blendungsbilder 192.
Achromasie 222, 236.
Achromasie der Linse 207.
Ackermann 33.
Acta Leopoldina 42, 115 f.
Adaptation des Auges 187, 190.
Affen, Zwischenkiefer beim
107.
Alchimie 19.
Alexandersbad 273.
d' Alton 6, 41, 116,148, 151 f.,
156.
Anatomie 105 f.
Anatomie, vergleichende,
siehe vergl. A.
Anaxagoras 276.
Anschaulichkeit 294 ff., 313.
Apparate, Goethes 16, 32, 199,
220 f., 235, 240, 243.
Archiv, Goethe -Schiller 14,
113.
Aristoteles 249.
Arten, Konstanz und Varia-
bilität der 54, 150.
Arten, Entstehung der 152, 154.
Ästhetik der Farben 212.
Astronomie 31.
Ätna 264.
Atmosphärische Farbener-
scheinungen 225.
Auges, Entstehung des 184 f.
Ausgabe, Weimarer Goethe-
14.
Auvergne 264.
B.
Bacon Roger 250.
Bacon v. Verulam 250.
Barometerschwankungen, Ur-
sachen der 39, 286.
Barometerstand, Änderungen
des 284.
Basalt 279.
Batsch 53, 90.
Becquerel 244.
Begreiflichkeit der Natur 311.
Begriffsbildung 92.
Beleuchtung, lokale 215.
Beleuchtung in Malerateliers
242.
Berka, Schwefelquellen in 282.
Berzelius 6, 267.
Beuth 157.
Bewegungsvorgänge in de
Netzhaut 188 f.
Bibel 249.
Bibliothek Goethes 17, 267.
Bild, bei der prismatischen
Brechung 228, 233.
Blaublindheit 209.
Blaue Farbe des Himmels 225.
Bleichkunst 246.
Blumenbach 88, 107, 1 14f., 158.
Boerhave 19.
Böhmen 264, 272.
328
Register.
Bononischer Leuchtstein 244.
Botanische Arbeiten 48 ff.
Botanischer Garten in Jena
26, 33.
Braun, Alexander 44, 103.
Braunschweig, Herzog von 27.
Breccien 269, 271.
Brechung des Lichtes 227 ff.
Brechung im Auge 207.
Brewster 198, 227.
Brown R. 101.
Bruno Giordano 307.
Bryophylium calycinum 97.
Buchholz 22, 32, 50.
Buffon 128.
Büttner 53, 181.
Bunte Farbenzusammenstel-
lungen 214.
C.
Campagne in Frankreich 27,
264.
Camper 107, 113, 128.
Carl, August 21, 51, 263.
Carus 6, 41, 43, 120, 148, 152.
CausaleBctrachtung8weisel40i
Chamisso 9.
Candolle, de 97, 101, 102.
Charakteristische Farbenzu-
sammenstellungen 213.
Charakterlose Farbenzusam-
mcnstcUungcn 213.
Chemie 32, 246, 267, 302.
Chemische Konstitution und
Farbe, Zusammenhang von
246.
Chemische Farben 177, 245.
Chemische Körper als for-
mative Reize 87.
Christiane Vulpius 72.
Chromatische Korrektion der
Linse 207.
Chromatische Sätze, über
einige allgemeine 183.
Cramer 266.
Cuvier 45, 108, 142, 143, 154.
D.
Dalton 208.
Darwinismus 151jf., 301.
Denken, gegenständliches 12,
315.
Deszendenztheorie 142, 151 f.
Dietrich 51.
Differenzierung 83.
Dioptrisclie Farben 223.
Döbereiner 6, 38, 267, 282.
Dollond 236, 251.
Doppelbilder 208.
Dreifarbentheoric 196, 198,259.
E.
Eger 35, 278.
Egloffslein, Julie v. 243.
Ehrmann 20.
Einleitung in die vergleichende
Anatomie 29, 126.
Eins und Alles 322.
Eiszeit 274.
Elefantenschüdcl 108, 115,
116, 124.
Elektrizität 302.
Elfenbeins, Sammlung krank-
haften 33.
Emissionstheoric des Lichts
221.
Endursachen 140.
Entoptische Farben 37, 239 ff.
Register.
329
Entwicklungsmechanik und
-Physiologie 86.
Epoptische Farben 238.
Erdbrände 277 ff.
Erde, Bildung der 270, 275.
Erfahrung und Idee 91 f.
Erratische Blöcke 273.
Erxlebens Naturlehre 46.
Etiolement 97,
Ettinger 95.
F.
Fächerpalme in Padua 57, 65.
Färberei 246.
Farbe 176, 184.
Farbenblindheit 169, 208 f.
Farben, entoptische 37, 239 f.
Farbenerscheinungen bei der
Refraktion 183.
Farbenkreis 195 f., 213.
Farbenkugel von Runge 218,
Farbenlehre 26, 36, 42, 164 ff.,
183.
Farbenmischung, physiolo-
gische 195, 203, 209.
Farbiger Beleuchtung, Wir-
kung 244.
Faultiere und die Dickhäu-
tigen, die 148, 153.
Feldspat 268.
Fernrohre, dioptrische 236.
Findlinge 273.
Flimmerbewegung 159.
Flötze, Konsequenz der 262,
281.
Flötzgebirge 270.
Florenz, Moulagensammlung
in 157.
Formative Reize 87.
Formbildung beiden? flanzen
Ursachen der 70, 86, 96.
Formbildung bei den Tieren,
Ursachen der 136 f., 149 f.
Form und Funktion, Zusam-
menhang zwischen 112, 126,
132, 139, 142.
Fossilien 40, 151, 265, 272.
Fraunhofer 233.
Freiberger Bergakademie
262 f.
Frosch 159.
G.
Gänge 271.
Galilei 250.
Gall 6, 34.
Gebirge, Einfluß der — auf
die Wolkenbildung 287.
Geforderte Farben 193, 196.
Gegenbaur 121.
Gegenfarbentheorie 196, 198,
259.
Gegenständliches Denken 12,
315.
Gehirn 34, 129.
Gehlers Physikalisches Lexi-
kon 27.
Gemälde der organischen
Natur 156.
Genfer See 274.
Geoffroy St. Hilaire 45, 101,
142, 152, 154.
Geognostisches Tagebuch
der Harzreise 263.
Geologie 261 ff.
Geschichte der Farbenlehre
238, 247.
Gesichtstäuschungen 186.
390
Register.
Gildemeister 209.
Giraffe, Halswirbel der 116.
Gletscher 270, 273, 275.
Glimmer 270.
Gneis 270.
Göschen 95.
Göttling 32, 267.
Gott und Natur 143, 309 f.
Granaten 269.
Granit 261, 263 f., 265, 268 f.,
271, 275.
Grau 237.
Greissen 269.
Grenze, Bedeutung der — für
die Farbenentstehung 228.
Grün 195, 197 f., 209, 231.
Grüner 36, 266.
Grundfarben 196, 197.
H.
Haeckel 152.
Hailer, Albrecht v. 9, 96, 310.
Halswirbel 83, 116.
Harmonie, chromatische 186,
213.
Harmonie in der tierischen
Form 134, 139.
Harmonie, musikalische 36.
Harzreise 22, 24, 204, 206, 263,
269
Hasenscharte, Zwischenkiefer
bei 114.
Haus,Ooethc- 1 5f. ,32,66,71 , 199,
220, 226, 235, 240, 263, 265.
Hegel 253.
Heiligendamm 274.
Heinroth 12, 315.
HeUotropiBmus 97.
Helldunkel 215.
Helmholtz 13, 36, 165, 167,
179, 191, 196, 198, 202, 213,
220, 231, 235, 258.
V. Henning 253.
Herder, August v. 266.
Herder, Johann Gottfried v.
59, 106.
Hering 167, 196, 198, 209,211,
237, 259.
Herrschel 227.
Herz, überlebendes — der
Hummel 161.
Hirnanatomie 34.
V. Hoff 281.
Homunculus 153.
Howard 39, 285 f.
Humboldt, Alexander v. 5, 29,
43, 101, 102, 126, 156.
Huxley 121.
Huyghens 221.
Hypothesen, Naturwissen-
schaftliche 299.
I.
Jacobi 27, 29, 90, 126.
Jäger 40, 100, 151.
Idee und Erfahrung 91 f.
Jenaer Sammlungen 22, 26,
33, 151, 266.
Jenaer Sternwarte 34.
Jenaer Universität 33.
Ilmcnaucr Bergbau 21, 262f.
Indikatoren 39, 246.
Induktion in der Netzhaut
192. 195, 202 f.
Infusionsticrc 158.
Insekten 31, 80, 159.
Instruktion für meteorologi-
sche Beobachter 288.
Register.
331
Intermaxillare 107 ff.
Irradiation 188, 211.
Italienische Reise 24, 56, 106,
180, 204, 264, 284.
Jungius, Joacliim 102.
Jussieu 101.
K.
Kalkspat, Doppelbilder des
239.
Kammerbühl 278.
Kant 30, 89, 142, 153, 166,
178, 254 ff., 300, 308, 311.
Kapp, Erhard 19.
Karlsbad 24, 35, 52, 265 ff.,
272, 282.
Karten, geologische 283.
Kasseler Elefant 108, 111, 115 f.
Katoptrische Farben 238.
Kauffmann, Angelika 180, 214.
Keilbein 118, 125.
Keimung von Samen 62.
Kepler 250.
Kielmeier 109.
Kirchhoff 295.
Klettenberg, Fräulein v. 119.
V. Knebel 266.
Knochenlehre, vergleichende
130.
Knoll 266.
Körner 22.
Kohlenlager 264, 278.
Kolorit 180, 186, 212f., 216.
Kolorits, Geschichte des 249,
250.
Komplementärfarben 193, 196.
201 f., 205.
Konfession des Verfassers 251 .
Konglomeratsteine 269, 271.
Kontinuierliche Reihe 75, 84.
128, 132, 178, 222 f., 242,
291 ff., 298, 301.
Kontrast 191 ff.
Kontrastfarben 213, 215.
Korrelation der Teile 134, 139.
142.
Korrespondenz, naturwissen-
schaftliche 14, 43, 266.
Kraus 263.
V. Kries 259.
Kristallographie 267.
Kritik der reinen Vernunft
166, 254, 308.
Kritik der Urteilskraft 142, 308.
Kryptogamen 32.
Kügelgen, W. v. 38.
Kunckels Glasmacherkunst
226.
L.
Lagrange 306.
Lamarck 152.
Langenbeck 115.
Lavater 20. 105.
Leipzig 18.
Leitungsbahnen im Rücken-
mark 35.
Lenz 263, 266.
V. Leonhard 6, 265.f., 268, 271.
Lepaden 148.
Leuchtstein, bononischer 244.
Licht 174 f.
Lichtenberg 183.
Liebig 142.
Linne 49 f., 75, 77, 80, 97, 155,
Linse des Auges 207.
Lido 26, 118.
Lionardo da Vinci 9 f., 226.
332
Register.
Literaturzeitung, Jenaische 41,
265.
Lobstein 20, 105.
Loder 5, 23, 29, 33f., 105, 107.
109, 112, 114, 126.
Lokalfarbe 215.
Ludwig 19.
Luftballons 46.
Luftperspektive 215, 226.
Luisenburg bei Alexanders-
bad 273.
M.
Magnetismus 302.
Mainz, Belagerung von 27.
Malus 239.
Mammut 40, 151.
Marienbad 35, 266, 269, 273.
Martens 157.
Martius 6, 44, 101 f.
Mathematik 228, 304.
Meckel 98.
Menschen, Stellung des 106f.,
144.
Merck 21, 105, 113, 266.
Metamere 82, 133.
Metamcrie des Kopfes 121.
Metamorphose 80 ff., 106.
Metamorphose der Insekten
159.
Metamorphose der Pflanzen
25, 56 ff., 63 ff. 83.
Metamorphose, simultane 81 f.,
133.
Metamorphose^successive 1 59.
Meteorolosie 284.
MeteorologischcStationen288.
Methode der Naturforschung
291 ff.
Meyer, Heinrich 29, 126, 249 f.
Michelangelo 9, 11, 25.
Milieu 167f., 318.
Mineraliensammlung 16, 265.
Mineralogie 261 ff.
Mineralogische Gesellschaft
266.
Mineralquellen 264.
Mischfarben 196f., 231, 237,
255, 258.
Mißbildungen der Gewächse
40, 80, 100.
Mohns, Blitzen des 199.
Monstra 136.
Moritz 63.
Morphologie 48, 80, 133 ff.
Morphologie, pflanzliche 56f.
Morphologie, tierische 105f.
Morphologie, Zur 40, 48.
Mouches volantes 210.
Moulagen 157.
Müller, Johannes 31, 42, 149,
165f., 170, 220, 256ff., 317.
Müller, Steinschneider 35, 265.
Muscheln 159.
Mutation 154.
N.
Nachbilder, Dauer der 189.
Nachbilder, farbige 194.
Nachbilder, positive 189.
Nachbilder, negative 190, 194,
202.
Nagetiere 149.
Nasenbein des Elefanten 124.
Nashorn 151.
Naturwissenschaft, Zur 40.
Nebenbild bei der prisma-
tischen Brechung 229f.
Register.
333
Nees van Esenbeck 41, 101.
Nelke, durchgewachsene 63,
69, 79.
Nephritisches Holz 227.
Neptunismus 262, 264, 275 ff.
Netzhaut 173, 188f., 190ff.,
194 ff., 200ff., 211.
Newton 26, 179, 181 ff., 207,
221, 224, 232 ff., 250, 252,
258 f., 295, 305.
Niggl 240.
Noeggerath 41, 266, 268.
Nose 312.
Nordlicht 288.
0.
Objekt und Subjekt 178, 252.
297, 309.
Öffnung, Enge — bei opti-
schen Versuchen 228f.
Oken 119f.
Opalglas 226.
Optik, Beiträge zur 182 f.
Optisches Genie , Goethe
als — 315.
Osteologie 105 f.
Owen 120.
Oxydationsferment 161.
P.
Padua, botanischer Garten in
56.
Palermo, Garten in 58.
Pantheismus 309.
Paracelsus 19, 246.
Paramäcien 159.
Paroptische Farben 238.
Pathologie 78, 100, 208.
Pathologische Farben 189, 208.
Pempelfort 27, 96.
Pflanzenentwicklung 62.
Pflanzenextrakten , Färbung
von 39, 246.
Pflanzenphysiologie 98.
Pflanzenwachstum, Experi-
mente über 33, 96 ff.
Phantasie, dichterische 13, 317.
Philosophie 91, 307, 313.
Phlegräische Felder 264.
Phosphoreszenz 187, 244.
Physiognomik 21, 105.
Physiologie der Formbildung
86f., 98, 136f.
— der Insekten 160.
Physiologische Farben 177,
179, 185 f.
Physiologie des Ohres 36.
— der Pflanzen 98.
Physische Farben 177, 219ff.
Plato 249.
Platz eines Knochen im Ske-
lett 130. 142.
Pograd 278.
Polarisation des Lichts 37, 222,
239 ff., 242.
Polarität 300, 302 ff.
Polemischer Teil der Farben-
lehre 233.
Porphyr 269, 271.
Pozzuoli, Tempel in 281.
Präformationslehre 95. 100.
Preen 274.
Principes de Philosophie Zoo-
logique 154.
Prisma 181, 222 ff., 227 ff.
Pseudovulkanismus 277 ff.
Purkinje 42, 165, 192, 257.
Purpur 197 f., 231 f.
334
Register.
Q.
Qualitäten des Auges 184.
Quassia 227.
R.
Rassenkreuzung 154.
Refraktion 227.
Refrangibilität, Ober Newtons
Hypothese der diversen 183.
Regenbogen 244.
Regeneration 158.
Regenwurm 82.
Reiffenstein 62.
Reuß, Prinz von 27.
Rhönetal 273.
Ritgen 102. 156.
Rom 61.
Rose, durchgewachsene 69, 79.
Rot-Grün-Blindheit 209.
Rousseau 53.
Royal Society 250.
Rudimentäre Organe 131.
Runge, P. O. 21 7f.
S.
Sachs 101.
Säfte der Pflanze als Ursache
der Formbildung 87.
Sandelholz 227.
Schädellehre 106, 129.
Schädels, Vergl. Anatomie des
125.
Schädels, Wirbelthcorie des
118 f.
Schafschfidel, geborstener 1 18.
Schatten, farbige 180, 182,
203f., 211.
Schelling 120.
Scbelver 33.
Schema der tierischen Form
128 f.
Schiller 22, 29, 209, 254, 308.
Schiller, Erstes Gespräch mit
88.
Schimper 102.
Schläfenbein 125.
Schieiden 101.
Schlesien 26.
Schnecken 159.
Schneeblindheit 193.
Schneekoppe, Station auf der
288.
Schneidezähne 107, 110, 112.
Schopenhauer 166, 237, 254 ff.
308.
Schrön 286.
Schultz, Staatsrat 253.
Schwarz 187.
Schwefelquellen in Berka 282.
Schweigger 240, 253.
Schweizerreise 22, 204, 264,
284.
Schwerkraft, Änderungen der
286.
Sckell 50.
Seebeck 37, 40 f., 183, 235,
239, 244.
Seismos 277.
Senebier 97.
Simultane Metamorphose 81 f.,
133.
Simultankontrast 91,201,203,
205, 216.
Sinnesorgane 129, 167.
Sinnesorgane, Einfluß der — -
auf die Schädclform 118.
Sinnesphysiologische Einlei-
tung 165.
Register.
335
Sinnlich-sittliche Wirkung der
Farben 212 ff.
Skeletts, Vergl. Anatomie des
122 ff.
Skelette der Nagetiere 148.
Sömmering 6, 108, 1131, 151.
Soret 101, 267.
Spaltenbildung, geologische
270 f.
Spezifische Sinnesenergie 170,
256.
Spektrum 197, 229 f., 234 f.
Spielmann 20.
Spinoza 31, 143, 254, 307.
Spiraltendenz der Vegetation
44, 102.
Stecklinge 62.
Steigerung 230, 300.
Stein, Frau v. 56.
Sternberg, Graf 6, 36. 43, 266,
268, 279.
Stetigkeit 77, 291.
Stier, fossiler 151.
Stöchiometrie 38.
Stokes 227.
Stoßzahn des Elefanten 115.
Straßburg 19 f.
Sturm 154.
Successive Metamorphose 81,
159.
Successivkontrast 191. 194.
T.
Tabelle des Knochengerüstes
116 f.
Teleologie 139.
Teleskop 31.
Thaies 275 ff.
Theologische Betrachtung der
Natur 143.
Theophrast 249.
Theoria generationis,Wolffs 99
Thermen 282.
Thorwaldsen 43.
Tibia und Fibula 125.
Tiefenwahrnehmung 208.
Tierseele 144.
Töpferofen, Glühversuche im
278.
Ton, gelbbrauner — der Ge-
mälde 117.
Tonlehre 36.
Totalität des Farbenkreises
194 ff., 303.
Tränenbein des Elefanten 124.
V. Trebra 266.
Trübe Mittel 223 ff., 229 f.,
239, 242, 245.
Tulpe, abnorme 67.
Typus 85, 106, 123, 127 f.,
133 f., 291.
Typus des Skeletts 129.
Typus in der Kunst 25, 134.
U.
Überernährung der Pflanzen
98.
Übergangsgebirge 270.
V. Uexküll 145.
Ulna und Radius 125.
Undulationstheorie des Lichts
221, 241.
Urpflanze 58, 85, 91, 123, 291.
Urphänomen 224, 269, 293,
297 ff., 302.
Urstier 151.
Urteilskraft, anschauende 142.
336
Register.
V.
Variabilität der Pflanzenarten
54 f.
Vergleichende Anatomie 85,
105 f., 108 f., 133 f.
Vergleichende Anatomie, Ein-
leitung in die 126 f.
Vergleichung 76.
Verletzungen bei Pflanzen 97.
Versammlung deutscher Na-
turforscherundÄrzte44, 103.
Versatilität des Typus 136.
Versteinerungen 172.
Versuch, die Elemente der Far-
benlehre zu entdecken 183.
Versuch über die Gestalt der
Tiere 26, 122.
Versuch einer allgemeinen
Knochenlehre 125.
Verwitterung 273.
Vesal 11.
Vesuv 264.
Vierfarbentheorie 196, 198.
Virchow 46, 78.
Voigt, J. C. W. 263, 265, 274.
Vorticellen 159.
Vorträge für Damen 3Z
Vorträge an der Zeichen-
schule 23, 105.
de Vrics 154.
Vulkanismus 264, 273, 275 ff.,
279 ff.
W.
Wahlverwandtschaft 39.
Waiz la).
Walchschcs Nalurallcn-
kabinctt 263.
Walfisch, Halswirbel des 116.
Walroß 110, 113.
Wasserkopf, Zwischenkiefer
bei 114.
V. Wedel 50.
Weinbau, über den 102.
Weißes Licht 237.
Weiß als einheitliche Empfin-
dung 252.
Werner 262, 276.
Wilbrand 102, 156.
Wilhelm Meister 157, 274.
Willemer, Marianne von 37.
Winkler 19, 179.
Wirbelsäule 82.
Wirbeltheorie des Schädels
26, 118 f.
Witterungskunde 39, 284 ff.
Witterungslehre, Versuch einer
286.
Wolf, F. A. 34, 99.
Wolff, C. F. 98 f.
Wolfsrachen, Zwischenkiefer
bei 114.
Wolkenformen 39, 284 ff.
Würmer 159.
Voung 196.
Y.
Z.
Zeichnungen, Goethes 17,66,
67, 71, 199, 263.
Zinn 268.
Zwätzcn, Versuche in 278.
Zweckmäßigkeit der Organis-
men 139.
Zwischenkiefer 23, 42, 107 ff.,
132.
Zwischcnklcfcr-Abblldungcn
109, 111, 116.
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