Full text of "Goethe"
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GEORG SIMMEL
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JNKHAItDT« BIERMANNVERLAG/LEIFZIO
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GOETH E
VON
GEORG SIMMEL
LEIPZIG 1913
VERLAG VON KLINKHARDT & BIERMANN
Druck von Ernst Hedrich Nachf, G. m. b. H., Leipzig.
FRAU MARIANNE WEBER
ZUGEEIGNET
Vorwort.
Die Absicht dieser Schrift ist weder eine biographische, noch
geht sie auf Deutung und Würdigung der Goetheschen
Dichtung. Sondern ich frage: was ist der geistige Sinn der
Goetheschen Existenz überhaupt? Unter geistigem Sinn
verstehe ich das Verhältnis von Goethes Daseinsart und Äuße-
rungen zu den großen Kategorien von Kunst und Intellekt, von
Praxis und Metaphysik, von Natur und Seele — und die Ent-
wicklungen, die diese Kategorien durch ihn erfahren haben.
Es handelt sich um die letzten Beschaffenheiten und Beweg-
gründe seiner Geistigkeit, die seine Dichtung und sein Forschen,
sein Handeln und seine Weltanschauung gestalten — um das
,,Urphänomen" Goethe, das sich kaum in irgend einer einzelnen
Äußerung ganz rein ausspricht, vielmehr in all seinen wider-
spruchsvollen, andeutenden, höchst mannigfaltig distanzierten
Sätzen und Intentionen hundertfach gebrochen ist. Was er
selbst von seinen Bemühungen der Natur gegenüber sagt: sie
gelten dem Gesetz, von dem in der Erscheinung nur Aus-
nahmen aufzuweisen sind — das bezeichnet vielleicht auch das
Verhältnis der hier gesuchten Bedeutung seiner Existenz zu
deren Phänomenen.
Es ist der völlige Gegensatz zu einer Darstellung, die den
Titel : Goethes Leben und Werke — führen könnte. Denn es steht
ein Drittes in Frage: der reine Sinn, die Rhythmik und Bedeut-
samkeit des Wesens, die sich einerseits an dem zeitlich gelebten
persönlichen Leben, andrerseits an den objektiven Leistungen
* ^' ' i>, '
VI Vorwort
ausformen, wie sich ein Begriff sowohl in der Seele realisiert,
die ihn denkt, wie an dem Ding, dessen Inhalt er bestimmt.
Wenn irgendwo, so muß bei ihm dieses Dritte, diese „Idee
Goethe" aufzufinden sein, weil ihre Darstellung in der sub-
jektiven Seelenhaftigkeit und die in dem geleisteten Werke
einander hier in ganz einziger Unmittelbarkeit und Vollständig-
keit entsprechen. Ich kann meine Absicht auch damit aus-
drücken, daß das Goethesche Leben, diese Rastlosigkeit von
Selbstentwicklung und Produktivität, auf die Ebene des zeitlos
bedeutsamen Gedankens projiziert werden soll. Dazu müssen
freilich die Linien allenthalben über die Grenzen seines Denkens
und Schaffens selbst hinaus verlängert werden, weil nur so Art
und Weite ihrer Bedeutung ermessen werden kann. Wie bei
jeder Darstellung einer geistigen Persönlichkeit, für die nicht
erst Kenntnis, sondern Verständnis gesucht wird, d. h. nicht
Einzelheiten, sondern ihr Zusammenhang, steht im Mittelpunkt
eine gewisse Anschauung der Individualität; diese kann, als
Anschauung, nicht unmittelbar ausgesprochen werden, sondern
man kann nur zu ihrer Nachbildung durch eine Summe partieller
Bilder auffordern, deren jeweilige Motive durch die großen
geistesgeschichtlichen Begriffe unserer Welt- und Lebensdeutung
bestimmt sind. Ich würde es deshalb für das Gegenteil eines
Vorwurfs gegen dies Buch halten, wenn man in jedem seiner
Kapitel eigentlich dasselbe wie in jedem andern zu lesen meinte.
Worauf es eigentlich ankommt, ist, daß diese Aufgabe über-
haupt und prinzipiell gestellt werde. Die inhaltlichen und
fragmentarischen Bestimmungen, die ich hier als ihre Lösung
vorlege, mögen von andern anders gefaßt werden; Goethes
unaufhörliches Versuchen und Umformen möglicher Standpunkte,
die durch alle Gegensätze hindurchführende Entwicklung seines
langen Lebens geben einer schwer übersehlichen Zahl von
Deutungen jener Einheit und Ganzheit Raum. Eine von ihnen
dokumentarisch so festgelegt zu meinen, daß sie alle andern
Vorwort VII
ausschließt, würde ich nach der Natur der Sache, der Person
und der Beweismöglichkeiten immer für eine Selbsttäuschung
halten. Die fließende Einheit des Goetheschen Lebens ist nicht
in die logische Einheit irgendwelcher Inhalte zu bannen. Darum
kann man eine Auffassung dieses Lebens nicht aus Zitaten
(denen sich immer umgekehrt gerichtete entgegensetzen lassen)
,, beweisen". Die Gesamtdeutung Goethes, der alles, was er
geschaffen hat, als eine große Konfession bezeichnet, wird,
zugegeben oder nicht, immer auch eine Konfession des
Deutenden sein.
Inhalt
Seh«
I. Leben und Schaffen i — 19
II. Wahrheit 20 — 49
III. Einheit der Weltelemente 50 — 96
IV. Getrenntheit der Weltelemente 97 — 141
V. Individualismus 142 — 170
VI. Rechenschaft und Überwindung 171— 192
VII. Liebe 193 — 209
VIII. Entwicklung 210 — 264
Erstes Kapitel.
Leben und Schaffen.
Wenn das Leben des Geistes sich von dem des nur körper-
lichen Organismus dadurch abhebt, daß dieses ein bloßer
Prozeß ist, jenes aber außerdem noch einen Inhalt hat, so
setzt sich dies im Gebiete der Praxis dahin fort, daß auch
das Handeln zunächst ein bloßer Vorgang ist, eine Szene des
kontinuierlichen, selbstgenugsamen Lebensverlaufes, auf der
eigentlich menschlichen Stufe aber ein Resultat wirkt. Hier
verwebt sich die Folge des Handelns nicht mehr ganz unmittel-
bar in die Lebensreihe, aus der seine Zeugungskräfte stammen,
sondern sie besteht als ein irgendwie außerhalb dieser beharren-
des, wenn auch in sie wieder hineingezogenes Gebilde. Damit
verliert das Leben seine bloße Subjektivität; denn diese aus ihm
hervorgehenden Produkte haben eigene Normen und verflechten
ihre Bedeutungen und Folgen in rein sachliche Ordnungen.
Diese Möglichkeit, die Ergebnisse der Lebensenergien aus dem
Leben heraus und jedenfalls irgendwie jenseits des Subjektes zu
versetzen, stellt den kulturellen Menschen in einen Dualismus,
den er in einer ziemlich einseitigen Weise zu entscheiden pflegt.
Der eine Typus der Durchschnittsnaturen lebt ein nur subjektives
Leben, der Inhalt jedes Momentes ist nichts anderes als die
Brücke zwischen dem vorangehenden und dem nachfolgenden
Moment des Lebensprozesses und bleibt in diesem befangen ; in
wirtschaftlichem Ausdruck ist dies das Schicksal der Menschen,
die heute arbeiten, ausschließlich um morgen leben zu können.
Der andere Typus will gerade nur Objektives leisten, gleichgültig
um welchen Preis des eignen Lebens und mit welchem Ertrage
dafür; aller Wertakzent ihrer Arbeit verbleibt für sie in deren
rein sachlichen Normierungen. Jene kommen, in der Intention
Simmel, Goethe. X
2 Genie
ihres Lebens, nie über sich hinaus, diese nie zu sich zurück,
sie schaffen sozusagen nicht aus sich, sondern aus einer un-
persönlichen Ordnung der Dinge heraus.
Es ist nun das Wesen des Genies, die organische Einheit
dieser sozusagen mechanisch auseinanderliegenden Elemente
darzustellen. Der Lebensprozeß des Genies vollzieht sich nach
dessen innersten, ihm allein eigenen Notwendigkeiten — aber die
Inhalte und Ergebnisse, die er erzeugt, sind von der sachlichen
Bedeutung, als hätten die Normen der objektiven Ordnungen,
die ideellen Forderungen der Sachgehalte der Dinge sie hervor-
gebracht. Der Eindruck des Exzeptionellen, der für das
Genie wesentlich ist, stammt daher, daß die sonst nicht oder
nur zufällig zusammengehenden Reihen des Lebens und der
Sachwerte in ihm eine einzige bilden. Daher kommt es, daß das
Genie, je nach der Seite, von der her man es sieht, bald als der
eigengesetzlichste, die Welt ablehnende, nur auf sich gestellte
Mensch erscheint, bald als das bloße, reine Gefäß der objektiven
Notwendigkeit, des Gottes. Dadurch wird Goethe zum Typus
des Genies, daß in ihm, vielleicht mehr als in irgend einem
andern Menschen, das subjektive Leben wie selbstverständlich in
der objektiv wertvollen Produktion in Kunst, Erkennen, prak-
tischem Verhalten ausmündete. Diese Erzeugung von an sich
wertvollen Inhalten des Lebens aus dem unmittelbaren, nur
sich selbst gehorsamen Prozeß des Lebens selbst begründet die
fundamentale Abneigung Goethes gegen allen Rationalismus;
denn dessen eigentliches Absehen ist, umgekehrt das Leben aus
den Inhalten zu entwickeln, erst aus ihnen ihm Kraft und
Recht zuzuleiten — weil er dem Leben selbst nicht traut. Das
tiefe Zutrauen zum Leben, das überall in Goethe zu Worte
kommt, ist nur der Ausdruck jener genialischen Grundformel
seiner Existenz.
Gewiß war er einer der ,, sachlichsten" Menschen, die es je
gegeben hat. Allein dies war die Bestimmung seiner Natur
selbst und durchaus damit verträglich, daß ihm bei seinem
Schaffen die teleologische Überlegung der ,, Sachmenschen":
was dabei herauskommen werde? — ganz fern war. Noch in
Entwicklung der Lebensinhalte 3
seinem 37. Jahr spricht er davon, „der Betrachtung der Dinge"
„sein ganzes Leben zu widmen" — „ohne mich im mindesten
zu bekümmern, wie weit ich kommen werde und was mir zu-
geschnitten ist". Dies eben bezeichnet den Menschen, dessen
Leben eine Entwicklung aus dem inneren Zentrum heraus ist,
nur bestimmt durch die Kräfte und Notwendigkeiten seiner
selbst und bei dem das fertige Werk nur das von selbst sich
ergebende Produkt, aber nicht der Zweck ist, der das Tun von
sich abhängig machte. Dies bleibt ihm als die wesentliche
Lebensform bestehen, auch als die Subjektivität der Jugend,
ihre Gerichtetheit auf die Vollendung des persönlichen Seins,
längst einer rein objektivischen Lebensbetrachtung, der Richtung,
auf Wissen und Behandlung der Dinge Platz gemacht hatte.
Der eigne Lebensprozeß stand ihm, in innerlicher, instinktiver
Sicherheit, sozusagen jenseits des Gegensatzes von Subjekt und
Objekt, und er konnte sich ihm mit dieser Einfachheit und
Selbstgenügsamkeit überlassen, weil sein Sein die Überzeugung
in sich trug, daß er eben damit das objektiv Rechte und Wert-
volle erzeugte. Dieses Sein entsprach am meisten der Leibnizi-
schen Monade: der vollkommene Spiegel der Welt, der seine
Bilder doch als die Entwicklung seiner eignen Kräfte hervorbringt.
Aus dem Bewußtsein dieser Reihung der Elemente schreibt er
über den Meister an Schiller: „Unendlich viel ist mir Ihr Zeug-
nis wert, daß ich im Ganzen, was meiner Natur gemäß ist,
auch hier der Natur des Werkes gemäß hervorgebracht habe."
Diese Einheit von Leben und Idee liegt der Äußerung zum
Grunde: ,, Meine Idee vom Vortrefflichen war auf jeder meiner
Lebens- und Entwicklungsstufen nie viel größer, als was ich
auf jeder Stufe zu machen imstande war." Gewiß wider-
spricht dies der üblichen Vorstellung von dem idealistischen
Dichter, der einem absolut Hohen und ewig Unerreichbaren
nachhängen muß; aber es drückt höchst treffend aus, daß
hier die Inhalte des Lebens von dem Charakter seines
Prozesses her ihre Idealität besitzen, und nicht von einem wie
auch wertvollen Außerhalb her. Deshalb spannt sich, wo er
auf einen grundsätzlichen Abstand des Werkes gegen das, was
4 Werk und Zweck
CS sein sollte, hinzeigt, dieser nicht zwischen dem Werk und
seiner „Idee", sondern zwischen ihm und dem innerlichen
Leben, das sich mit ihm auswirken will: ,,Kindergelall und
Gerassel ist der Werther und all das Gezeug gegen das innere
Zeugnis meiner Seele!" Jene Zweckhaftigkeit, wie die Sach-
menschen sie als ihren Ruhm empfinden und mit der der
Lebensprozeß ein Gezogenwerden vom Ziel her statt ein Wachsen
von der Wurzel her ist, lag ihm ganz fern, und gewiß gehört
dies zu den letzten Motiven, aus denen er auch der Natur
gegenüber alle teleologische Betrachtung vermied. Wenn er von
der Natur sagt, sie ,,wäre zu groß, um auf Zwecke auszugehen
und hätte es auch nicht nötig", so gilt dies in weitem Um-
fang für ihn selbst. Auch sein Werk war ihm nicht in dem
gewöhnlichen Sinne das Ziel seiner Arbeit, sondern vielmehr
ihr Ergebnis — welches alles natürlich nur ganz prinzipiell und
übersingulär verstanden werden will. Aber mehr als ein Zug,
mit dem er sein Wesen selbst charakterisiert, wird erst durch
diese Gerichtetheit seiner Lebensströmung ganz in sie eingefügt.
So seine oftmals wiederholte Bemerkung, daß von allen Lastern,
gegen deren viele er seiner Natur nach keineswegs gesichert
wäre, ihm nur der Neid absolut undenkbar sei. Wer auf
das Werk allein sieht und aus ihm die Bewegkraft seines Tuns
gewinnt, kann leicht neidisch werden, weil ihm sein Werk
neben andern steht, was den Vergleich herausfordert; wem
aber die tätige Entwicklung der eignen Kraft Selbstzweck ist,
der steht von vornherein im Unvergleichbaren; in ihm, dem
das Objekt des möglichen Neides, das Werk, sozusagen nur ein
Akzidenz des aktiven Daseins ist, findet der Neid gar keinen
Ansatzpunkt. Eben deshalb lag ihm an der Anerkennung der
Menschen nicht viel, die sich immer an das Werk knüpft, da
er im Wirken selbst, nicht im Werk seinen Lohn fand — ein
reinstes Beispiel jener Spinozischen beatitudo, die nicht virtutis
praemium, sondern virtus ipsa ist. Darum sind ihm auch alle
Vergleiche von Persönlichkeiten, die nur auf die Wertdifferenzen
der Werke gehen, offenbar etwas Unbehagliches, darum lehnt
er die Vergleichung seiner selbst mit Schiller so energisch ab.
Liebhabertum 5
und wenn er sich mit Shakespeare konfrontiert, stellt er nicht
dessen Werke über die seinen (was er übrigens, den Sach-
standpunkt einnehmend, sicher getan hätte), sondern spricht
▼on Shakespeares Natur, und daß er ein ,,Wesen höherer Art
ist, das ich zu verehren habe". Und, richtig verstanden;
ist wohl das reinste Phänomen dieser entscheidenden Lebens-
intention in den merkwürdigen Äußerungen über Beruf und
Liebhabertum zu finden. ,,Nur nichts als Profession getrieben!
das ist mir zuwider," äußert er sich als fast Sechzig jähriger.
„Ich will alles, was ich kann, spielend treiben, was mir eben
kommt und so lange die Lust daran währt. So hab' ich in
meiner Jugend gespielt, unbewußt; so will ich's bewußt fort-
setzen durch mein übriges Leben." Noch in seinem letzten
Lebensjahre tadelt er ein Dichtwerk damit, es hätte ,, keine
eigentliche Facilität; es sieht immer aus wie ein Errungenes."
.,Was willst du, daß von deiner Gesinnung
Man dir nach ins Ewige sende?
Er gehörte zu keiner Innung.
Blieb Liebhaber bis ans Ende."
Nichts kann paradoxer scheinen, als dieses Sich - Einstellen
auf Liebhaberei und Spiel bei dem Menschen, der den Dilettan-
tismus mit leidenschaftlichem Haß verfolgt und dauernd betont,
wie sauer er sich 's im Leben habe werden lassen, wie er ge-
arbeitet habe, wo man sonst jedem zu ruhen vergönnt, wie
ihm z. B. in den fünfzig Jahren seines geognostischen Studiums
kein Berg zu hoch, kein Schacht zu tief, kein Stollen zu
niedrig gewesen wäre. An dem Schnittpunkte dieser gegen-
einanderstehenden Bekenntnisse muß Goethes Wesen ergriffen
werden. Die Abneigung gegen Profession und ,, Innung" ist
nichts weniger als ein extremer Individualismus (da er
im Gegenteil auf Zusammenwirksamkeiten drängt und das
,, Monologisieren" der Forscher beklagt); sie gilt vielmehr dem
Bestimmtsein der Lebensarbeit von einem fixierten, ideell vor-
bestehenden Inhalte her. Das Liebhabertum und das Spielen
bedeutet nichts anderes, als daß die Lebensenergien sich in
voller Unabhängigkeit von all solchem Äußern auswirken sollen,
6 Spiel und Mühe
das, wie wertvoll es an sich sei, dem Leben ein ihm im
Prinzip Fremdes als Direktive vorsetzte. Ja, er löst sogar
das inhaltliche Ergebnis als das Unwesentliche von dem Lebens-
prozeß los, aus dem es kommt und aus dem es fließt: ,, Nicht
insofern der Mensch etwas zurückläßt, sagt er, sondern insofern
er wirkt und genießt und andere zu wirken und zu genießen
anregt, bleibt er von Bedeutung." Und noch monumen-
taler: ,,Es kommt offenbar im Leben aufs Leben und nicht
auf ein Resultat desselben an." Es ist im Sinne Schillers: der
Mensch sei erst da ganz Mensch, wo er spielt — d. h. im
Spiel, als formalem Prinzip, habe der Mensch alle von der
Sache als solcher herkommenden Determinierungen abgetan,
nur die Energien seines We§ens wollen sich auswirken, es
drängt ihn nicht mehr die schwere Fremdheit sachlicher Ord-
nungen, sondern wohin er gelangt, wird durch sein ausschließ-
lich eignes Wollen und Können bestimmt. Solches Spiel aber
schließt die äußerste Anstrengung, ja, die äußerste Gefahr nicht
aus. In diesem Sinne also war die ununterbrochene mühselige
Arbeit Goethes ein Spielen ; der tiefe Ernst seines Wirkens, die
Hingegebenheit an den Gegenstand, das Überwinden fort-
währender Schwierigkeiten — alles wohnt seinem Lebensprozeß
selbst ein, wie er sich aus sich selbst und durch seine eignen
Wurzelkräfte vorwärtsgedrängt, entwickelt. All die vielfältige
Mühsal, die den meisten Menschen aus einer ihnen erst gegen-
übertretenden, ihrem eigensten Leben heterogenen Ordnung der
Sachen heraus auferlegt wird, gehörte bei ihm zu der Selbst-
verständlichkeit und Innerlichkeit des Lebens selbst ; gerade wie
die Vollendung des Werkes, die die meisten Menschen nur um
den Preis einer Entselbstung, an der Hand einer von jenseits
ihres Lebens herkommenden Regulative erreichen, für ihn
das selbstverständliche, keiner Antizipation bedürftige Frucht-
bringen eines Reifeprozesses war, der nur in sich vollkommen
zu sein brauchte^ damit auch die Frucht es sei.
Daraus erklärt sich auch das ungeheure Quantum seiner
Arbeitsleistung, das ihn doch, wenn ich nicht irre, niemals über
eigentliche Überarbeitung klagen läßt — obgleich er Beschwer-
Innere Notwendigkeit 7
den über solche relativ äußerliche Leiden keineswegs prinzipiell
unterdrückt. Weil er sich seine Aufgaben in allen Hauptsachen
aus seiner inneren Notwendigkeit und Entwicklung heraus stellte,
waren auch die Kräfte für sie immer verfügbar, und umgekehrt,
er konnte sich für jede verfügbare Kraft eine Aufgabe stellen.
Dem modernen Menschen reißt jene von Goethe so gehaßte
,, Professionsmäßigkeit" unzählige Male die Aufgabe und die
Kraftrichtung auseinander. Die steigende Objektivierung des
Lebens fordert Leistungen von uns, deren Maß und Folge eine
eigne, dem Subjekt jenseitige Logik besitzt, und damit wird
diesem ein mühseliger, subjektiv unzweckmäßiger Kraftaufwand
abverlangt. Das Gefühl des modernen Menschen wird begreif-
lich: er habe nicht genug gearbeitet, wenn er nicht zu viel
gearbeitet hätte — denn tatsächlich arbeitet er bei dieser
Konstellation subjektiv zu viel, weil er die Lücken seiner
Spontaneität mit bewußter Anstrengung füllen muß, um der
anders orientierten Objektivität zu genügen; während andrer-
seits manche seiner Möglichkeiten und Kräfte kein Auswirkungs-
bereich finden. Daß in den Lebensintentionen so vieler gegen-
wärtiger Menschen eine rationalistische, ja bürokratische
Reguliertheit und eine anarchische Formlosigkeit unorganisch
verwachsen, geht, als auf seinen letzten Grund, auf diese Ent-
zweiung zwischen der subjektiven und der objektiven Bedingtheit
des Tuns zurück — während aus ihrer Einheit heraus Goethe
eine sozusagen pausenlose und intensivste Arbeit , »spielend"
vollbrachte.
Nun verläuft die Wirklichkeit natürlich nie in der Absolut-
heit und Reinlichkeit des Schematismus, mit dem eine Per-
sönlichkeit dargestellt werden muß, insofern sie als Verwirk-
lichung einer Idee erscheint ; die Annäherung an diese, die auch
dem vollkommensten Naturell nur beschieden ist, muß in der
eigentümlichen Umbildung, die der Mensch in der Ordnung der
Idee erfährt, als restlose Erreichtheit auftreten; denn in dieser
Ordnung kommt es nicht auf ein Mehr oder Weniger, sondern
nur auf die qualitative Bestimmung, auf den Begriff überhaupt
an. In unserm Fall verwirklicht sich dieses allgemeine Ver-
8 Minderwertige Leistungen
halten an gewissen Bestandteilen der Goetheschen Produktion,
die die behauptete Harmonie der beiden Ordnungen gänzlich
zu unterbrechen scheinen. Goethe hat eine große Anzahl von
unbestreitbar völlig minderwertigen Produkten hinterlassen,
Künstlerisches von radikalem ästhetischem Unwert, Theore-
tisches von der erstaunlichsten Flachheit und Falschheit. Aber
so sind sie nur innerhalb der Skala reiner Inhaltsbedeutungen
abzuschätzen. Daneben fühlen wir sie als notwendige Durch-
gangspunkte einer als ganzer unermeßlich wertvollen Entwick-
lung, als Ruhe- und Haltestellen, als Umwege durch das Leere,
als Wunderlichkeiten, die in einer geheimnisvollen Weise zu
den tatsächlichen (nichtfMhhaltlich-logischen) Bedingungen des
Ganzen gehören. Ihre vitale Innenseite hat eine ganz andre
Bedeutung, als ihre Objektivation in deren eigenen Ordnungen.
Man kann ganz allgemein bemerken, daß große Künstler oft
so schwache Leistungen hinterlassen, wie sie von mittelguten
epigonenhaften Künstlern überhaupt nicht begegnen. Diese
nämlich schaffen von einem gegebenen, irgendwie wertvollen
Begriff aus, der ihnen als Muster und Kriterium feststeht und
immer gegenwärtig ist. Wer aber mit originaler Produktivität,
aus der letzten und eigensten Lebensquelle heraus schafft, dessen
Werk unterliegt den Schwankungen des Lebens, bei ihm ist die
Idee zwar mit dem Lebensprozeß identisch, während sie bei jenen
äußerlich zu diesem hinzutritt, aber dafür muß sie das Leben
auch durch seine Tiefstände und unvermeidlichen Mattheiten
hindurch begleiten. Gerade was Goethes Werk so unvergleich-
lich macht : daß es in jedem Augenblick der unmittelbare Puls-
schlag seines Lebens ist, macht es in vielen dieser Augenblicke
schwächer, als das Werk des sekundären Künstlers, das von
einer dem Leben bereits gegenüberstehenden Norm reguliert ist.
Damit liegt aber auch hier eine objektive Bedeutung vor,
die diese Äußerungen jenseits der bloßen Tatsache ihres momen-
tanen seelischen Erzeugtwerdens besitzen : innerhalb des Daseins
Goethes, innerhalb der Ordnung, die von der Kategorie Goethe
objektiv normiert wird, sind sie genau so an ihrer Stelle und genau
so legitimiert, wie Tasso und die Wahlverwandtschaften in den
Aufbau des Ich 9
Ordnungen, die unter den objektiven Kategorien der Ästhetik
stehen. Dies ist keineswegs bei allen Äußerungen eines Indivi-
duums überhaupt der Fall, deren unzählige vielmehr in dieser Hin-
sicht ein eigentümliches Verhalten, gewissermaßen ein Gegen-
bild der ,, Verantwortungslosigkeit" zeigen. Vielerlei Akte voll-
bringen wir, für die wir, als ihre zweifellosen Subjekte, die
rolle äußere Verantwortung tragen, von denen wir aber dennoch
empfinden, daß sie sich mindestens teilweise aus Quellen nähren,
die nicht in uns entspringen, sondern nur durch uns hindurch-
fließen: aus sozialem Zwang, aus Traditionen, aus physischen
Angelegtheiten. Solche Akte gehören sozusagen von ihrem
terminus a quo her nicht zu uns, sie gehen nicht von uns
allein aus. Nun aber gibt es gewisse andere Akte unseres Ver-
standes und- unseres Willens, die vielleicht völlig in uns ent-
springen, aber sich der Entwicklung und dem zusammenhängen-
den Bilde unserer Persönlichkeit nicht anfügen, sie liegen wie
zufällig und unverbunden in dem seelischen Räume um unser
eigentliches Ich herum, dieses ist nicht ihr terminus ad quem,
sie gehen nicht auf uns zu. Dabei mögen sie einer außerhalb
unser gelegenen objektiven Ordnung wertvoll und bedeutend
zugehören und mögen sie erbauen helfen — nur zu der Ord-
nung und dem Sinn unseres Ich sind sie keine Bausteine.
Schließlich ist unser Ich doch auch ein objektives Gebilde und
was in der bloßen Tatsächlichkeit unserer Seele entspringt, kann
an diesem Gebilde vorbeigleiten und für seinen Aufbau, für
die allmähliche Veranschaulichung seines Sinnes genau so
wirkungslos bleiben, wie für das wissenschaftliche oder das künst-
lerische oder das soziale Wertsystem. Sie können aber auch,
wie gesagt, für diese von erheblicher Bedeutung sein, ohne
noch dadurch der Idee und dem Aufbau unseres Ich, als einem
einheitlichen Wertzusammenhang, einen Beitrag zu leisten.
Hier steht also eine besondre Bedeutungskategorie unserer Akte
in Frage, deren Erreichtheit oder Verfehltheit durchaus nicht da-
von abgelesen werden kann, ob sie, an den im gewöhnlichen
Sinne objektiven Wertskalen gemessen, klug oder töricht, zu-
länglich oder schwächlich, gut oder böse sind. Die Zufälligkeit
10 Eigengesetzlichkeit und sachliches Ergebnis
des Verhältnisses, das zwischen unsern Akten als bloßen seelischen
Tatsachen und als Werten innerhalb sachlicher Reihen besteht,
findet demnach eine Fortsetzung zwischen jenen ersteren und
der Bedeutung ihres Inhalts für den Aufbau unser selbst als einer
objektiven Persönlichkeit, eines geschlossenen Lebensgebildes.
Diese Zufälligkeit nun ist es, die gerade wie die erstere, mehr
als wir es sonst von Menschen wissen, in Goethes Existenz
überwunden scheint. Wo den Äußerungen seines inneren
Lebens die Sachbedeutung in intellektueller, ästhetischer, ja
vielleicht in moralischer Hinsicht abgeht, da ersetzen sie diese
durch ihre Bedeutung für den Sinn, die Notwendigkeit, die
Totalität seiner Persönlichkeit, die doch eine objektive Idee
und Gestaltung ist. Und hierin liegt allerdings das —
von jenem ersteren Standpunkte aus sehr anfechtbare —
Recht, auch das Mißlungene, sachlich Unbegreifliche, scheinbar
Zufällige seiner Äußerungen als ein irgendwie Wertvolles und
von einer Idee Geleitetes zu bewahren und zu schätzen. Sein
Bild bietet einen, vielleicht bei keiner geschichtlichen Persön-
lichkeit so hohen Grad von Kultiviertheit eben dadurch:
jedes Objektive, das er schuf, kam aus seinem Ganzen, jedes,
das er aufnahm, ging in sein Ganzes.
Dies alles eingerechnet, besteht hierin das — dem Maße nach
— Einzige dieser Existenz : daß die Inhalte ihres Wirkens an
jedem Punkt ein Einheitliches sind, mag man sie von der Seite
des Lebensprozesses und als dessen natürliche Ergebnisse be-
trachten oder von der ideellen Ordnung her, unter die sie als
Sachgehalte gehören und als hätten diese Normen sie gebildet,
wie gleichgültig gegen die lebendig -persönliche Vermittlung.
Es war die große Wahrscheinlichkeit gewesen, daß eine
Natur, die so ausschließlich dem eigenen Gesetz folgte, gerade^
die Gesetze der Dinge in den zufälligsten Winkeln querte. Die
Chance der Spannung war ungeheuer, und um so ungeheurer
das Glück und das Wunder der Harmonie, oder: um so
ungeheurer das Glück des Gefühles, daß es kein Wunder war.
Mit völliger Deutlichkeit und Selbstverständlichkeit spricht er
es einmal am Anfang der italienischen Reise aus : „Manchmal
Schöpfertum 1 1
macht's mich fürchten, daß so viel auf mich gleichsam ein-
dringt, dessen ich mich nicht erwehren kann — und doch
entwickelt sich alles von innen heraus." Sind diese beiden
Bedeutungen der geistigen Inhalte nach Wert und Sinn ihrer
Intention getrennt, so bekommt ihre Produktion leicht etwas
Unorganisches, ja Mechanisches, weil sie sich aus einem dem
Leben entgegengesetzten Prinzip zu entwickeln und damit mehr
ein aus vorbestehenden Teilen Zusammengesetztes, als ein lebendig
Gewachsenes zu sein scheint. Goethe selbst hat diesen Unterschied,
und zwar ersichtlich in lebhaftem Selbstbewußtsein, empfunden.
,, — — was es heißen wolle, daß der Dichter und alle eigent-
lichen Künstler geboren sein müssen. Es muß nämlich ihre innre
produktive Kraft jene Nachbilder, die im Organ, in der Erinnerung,
in der Einbildungskraft zurückgebliebnen Idole freiwillig, ohne
Vorsatz und Wollen, lebendig hervortun, sie müssen sich ent-
falten, wachsen, sich ausdehnen und zusammenziehen, um aus
flüchtigen Schemen wahrhaft gegenständliche Wesen zu werden.
Je größer das Talent, desto entschiedener bildet sich gleich an-
fangs das zu produzierende Bild. Man sehe Zeichnungen von
Rafael, Michelangelo, wo auf der Stelle ein strenger Umriß das,
was dargestellt werden soll, vom Grunde loslöst und körperlich
einfaßt. Dagegen werden spätere obgleich treffliche Künstler auf
einer Art von Tasten ertappt; es ist öfter, als wenn sie erst
durch leichte, aber gleichgültige Züge aufs Papier ein Element
schaffen wollen, woraus nachher Kopf und Haar, Gestalt und
Gewand sich bilden solle." Er charakterisiert damit sehr gut
den Mangel jener Einheit, in der die Elemente der Produktion
ihre Sonderwirklichkeit gegenüber dem von innen quellenden
Schöpfertum aufgeben. Wer herumprobiert, ob sich die Sache
aus der Skizze bilden wolle, ob diese von selbst allmählich ein
Bild hergibt, der erwartet das Produkt von einer äußeren, wenn
auch ideellen Fügung her, es ist nicht in demselben Sinn und
Maß sein Gebilde, wie das des eigentlichen Schöpfers, in dem
es sich nach dem Gesetz und durch die selbstverantwortlichen
Kräfte des reinen Innern erbaut. Es wird sich auch sonst noch
als ein bedeutungsvoller Zug dieser, mit der Objektivität der Dinge
12 Gleichwertigkeit der Gegenstände
geheimnisvoller und zugleich deutlicher, als andere Menschen,
verbundenen Natur zeigen, daß ihre physisch-sinnlichen Eigen-
heiten sich schon zu Symbolen ihrer geistig-höchsten Bewährungen
bieten. So ist diese Lebensformel : daß er seine Energien gleichsam
nur sich selbst zu überlassen brauchte, damit ein an der objektiv
ideellen Norm Zulängliches entstehe, in folgendem sinnlich prä-
formiert. Johannes Müller erzählt einmal von dem seltenen Ver-
mögen mancher Menschen, vor dem Einschlafen völlig klare
und plastische Gegenstandsbilder bei geschlossenen Augen zu er-
blicken. ,,Ich erklärte, daß ich durchaus keinen Einfluß auf Her-
vorrufung und Verwandlung derselben habe, und daß bei mir nie-
mals eine Spur von symmetrischer und vegetativer Entwicklung
vorkomme. Goethe hingegen konnte das Thema willkürlich an-
geben, und dann erfolgte allerdings scheinbar unwillkürlich,
aber gesetzmäßig und symmetrisch das Umgestalten."
Diese geschilderte Konstellation, mit der die seelische und
die sachliche Reihe ihre metaphysische Einheit erfahrbar machen,
wird natürlich von der ersteren her erlebt; und solche Kraft
hatte das Goethesche Erleben, daß es ihm sozusagen auf
dessen Gegenstand nicht ankam. Natürlich nicht so, als ob
der behandelte Gegenstand nicht die höchste und heiligste Wich-
tigkeit für ihn gehabt hätte; sondern in dem Sinne, daß es
eigentlich gleichviel war, welchen Gegenstand sein Wirken er-
griff. Wer seiner Lebenseinheit mit der Idee der Dinge sicher
ist, dem wird leicht jeder Inhalt seines Wirkens jedem andern
äquivalent sein, da das im Tiefsten Wesentliche: daß der
Ausdruck des Seins sich in dem Ausleben des Ich realisiert —
an einem jeden gelingt. Darum kann er zu Eckermann
äußern: ,,Ich habe all mein Wirken und Leisten immer nur
symbolisch angesehn und es ist mir im Grunde ziemlich gleich-
gültig gewesen, ob ich Töpfe machte oder Schüsseln." Aber
in welchem Sinne symbolisch? Was wird durch sein Wirken
und Leisten symbolisiert? Gewiß ein letzter, unaussprechlicher
Sinn der Dinge; aber ebenso auch das Persönlich-Innerlichste,
die reine Dynamik seines Lebens. Das Werk, wie es als kon-
kreter Inhalt dasteht, ist nur ein Zeichen dieser tiefsten Leben-
Symbolik der Leistung 13
digkeit, ihres Rhythmus und ihrer Schicksale. Eine Äußerung
Werthers kann wohl, trotz des dazwischenliegenden halben
Jahrhunderts, wegen der merkwürdigen Gleichheit des Ausdrucks,
die Deutung jener Worte bestätigen: ,, Meine Mutter möchte
mich gern in Aktivität haben. Bin ich jetzt nicht auch aktiv?
Und ist's im Grunde nicht einerlei, ob ich Erbsen
zähle oder Linsen? — Ein Mensch, der um andrer willen,
ohne daß es sein eignes Bedürfnis ist, sich um Geld oder
Ehre oder sonst was abarbeitet, ist immer ein Tor."
Nun ist freilich jeglichem menschlichen Werkinhalt diese
Doppelbestimmung eigen: was als unser Werk dasteht, kann
auf der einen Seite als Gleichnis höherer, geahnter Werte und
ihrer Zusammenhänge gelten und hierin sein eigentliches Wesen
und Recht finden ; auf der andern Seite ist es Zeichen und Erweis
des inneren Lebens, zwar vielleicht nur wie wir die Kontinuität
eines Laufes mit den Punkten markieren, an denen wir sein
jeweiliges Vorgedrungensein gleichsam erstarren lassen, oder
wie das Meer seinen Schaum am Ufer ablegt, Erzeugnis und
Zeugnis seiner Wellen, deren Form und Kraft es freilich in
sich zurücknimmt. Aber diese beiden Richtungen, nach denen
hin der Inhalt unseres Tuns symbolisch ist, setzen sich in Wirk-
lichkeit nicht an einen jeden gleichmäßig an. In der Regel wird
zugunsten der einen die andre atrophisch, und auch, wer sein
Wirken und Leisten nach den beiden Seiten hin symbolisch an-
sieht, wird sie meistens als untereinander ungleich, verschieden
verteilt, in ihren Maßen unharmonisch empfinden. Dennoch ist
auch in dieser Hinsicht das Exzeptionelle an Goethe nicht von
quantitativer Absolutheit. Er hat nur die Symbolik, die alles Men-
schenwerk umgibt und trägt, vollkommner und reiner offenbart,
als es andern gelingen will, weil in seinem Sein und Tun deren
beide, sonst gegeneinander als zufällig erscheinende Seiten wie
in einer notwendigen Proportion und inneren Einheit erwachsen.
Daß die Produktivität nach dem eigenen Gesetz und Trieb
bei Goethe so die vollkommenste Angemessenheit zur Welt
zeigt, ist zwar in der letzten metaphysischen Beschaffenheit
seines Naturells verankert ; innerhalb der bezeichenbareren
14 Benutzung der Wirklichkeit
Schichten aber wird es von der ungeheuren Assimilations-
kraft seines Wesens gegenüber allem Gegebenen getragen.
Diese Schaffenskraft, die ununterbrochen aus dem einheitlichen
Quell der Persönlichkeit zeugte, nährte sich ebenso ununter-
brochen aus der Wirklichkeit um sie herum. Seine Geistigkeit
muß eine Analogie zu dem Vermögen des ganz gesunden phy-
sischen Organismus gehabt haben, die Nahrungsmittel bis ins
Letzte auszunutzen, das Unverwendbare störungslos auszu-
scheiden, das Zurückbehaltne dem Lebenskreislauf so selbst-
verständlich einzuverleiben, als bildeten beide schon von vorn-
herein eine organische Einheit. Darum gehören bei ihm die
polaren Erscheinungen durchaus zusammen: daß er einerseits
Dingen und Ideen, aus denen er das ihm Gemäße gezogen
hatte, auch mit großer Entschiedenheit aus seinem Leben ent-
ließ — ,, sobald ich eine Sache einmal durchgesprochen habe,
schreibt er an Schiller, ist sie auf eine ganze Zeit für mich
wie abgetan" ; daß er sich aber andrerseits bewußt war, all
sein Schaffen sei gleichsam nur ein Hindurchgehen der Dinge
durch seinen Geist, ihr Eingehen in dessen Form. In dieser
Tiefe wurzelt seine bekannte Äußerung über seine Gedichte,
sie alle seien Gelegenheitsgedichte, sie seien durch die Wirklich-
keit angeregt und hätten darin Grund und Boden ; von Gedichten,
aus der Luft gegriffen, halte er nichts. In dieser Eckermann-
schen Überlieferung klingt der Satz etwas philiströs und nicht
eben tief. Aber er offenbart nun doch jene letzte Wesens-
einheit und Angemessenheit zwischen der Wirklichkeit und
seinem produktiven Leben, das Erleben der Welt setzte sich
ihm gleichsam ohne Energieverlust in Schaffen um, es gehörte
ihm nach dem Gleichnis, das er so gern gebrauchte, zusammen,
wie Einatmen und Ausatmen. Bei den so begnadeten Menschen
wird sozusagen der göttliche Schöpfungsprozeß rückläufig:
wie in ihm die Schöpferkraft zur Welt wird, so wird bei jenen
die Welt zur Schöpferkraft. Da er bei der Gesundheit und In-
stinktsicherheit seiner Organe nur das aufnahm — von äußerem
und, so paradox es klingt, auch von innerlichem Erleben — ,
was ihm angemessen war, da Aufnehmen und Schaffen sofort
Die Modelltheorie 15
zur Einheit seines Lebensprozesses wurde, so erschien ihm be-
greiflich sein Schöpfertum durch das Erleben der Wirklichkeit
bedingt. Liebesgedichte, sagt er, machte ich nur, wenn ich
liebte. Die Einheit von Wirklichkeit und geistigem Wirken
ließ ihn den Grund dieser Bedingtheit darin finden, daß die
Wirklichkeit den Geist enthielt und man ihn nur herauszuholen
brauchte. Von den vielen, dahin gerichteten Äußerungen nenne
ich nur die besonders entschiedene: ,,Das Benutzen der Erleb-
nisse ist mir immer alles gewesen; das Erfinden aus der Luft
war nie meine Sache, ich habe die Welt stets für geni-
aler gehalten, als mein Genie." Und nur daß alledem
jenes Einheitsgefühl zugrunde lag, macht genau gegenteilige
Äußerungen begreiflich, die tatsächlich nur die gleiche Einheit
von der andern Seite sehen, mit denen er nur den Akzent auf
ihr anderes Element rückte — was er konnte, weil sie ihm als
Einheit eben fraglos war: ,,Die Kunst, wie sie sich im höchsten
Künstler darstellt, erschafft eine so gewaltsame lebendige Form,
daß sie jeden Stoff veredelt und verwandelt. Ja, es ist daher
dem vortrefflichen Künstler ein würdiges Substrat gewisser-
maßen im Wege, weil es ihm die Hände bindet und ihm die
Freiheit verkümmert, in der er sich als Bildner und als Indi-
viduum zu ergehn Lust hat."
Er leistet also der naturalistischen Modelltheorie keinen Vor-
schub, in deren Nähe die Erlebnistheorie leicht und bedenklich
rückt. Es ist ein Irrtum ersten Ranges, zu meinen, daß nur
das Geringste für das Verständnis einer dichterischen Gestalt
damit gewonnen wäre, wenn man ihr Modell aufzeigt — das
bestenfalls nur das eine benennbare Erfahrungselement aus den
tausenden ist, die zu der Gestalt beigetragen haben und die,
auch wenn man sie alle aufzählen könnte, die dichterische
Gestaltung als solche, um derentwillen man sich überhaupt
auch um jene kümmert, mit keinem Atom berühren würden.
Das Aufgraben des Modells als der vor-künstlerischen Gegeben-
heit hebt gerade das hervor, was ja mit dem Kunstwerk, das
als Kunstwerk in Frage steht, überhaupt nichts zu tun hat.
Diese, durch die ganze populäre und wissenschaftliche Kunst-
16 Die Erlebnistheorie
betrachtung gehende, übertriebene Wertung des Modells ist nichts
Zufälliges. Sie entstammt vielmehr der mechanistisch-mathe-
matisierenden Weltanschauung, die alle Wirklichkeit dann und
erst dann verstanden glaubt, wenn sie in Gleichungen aufgelöst
ist. Indem man in der Wirklichkeit dasjenige gefunden hat,
womit das Kunstwerk anscheinende ,, Gleichheit" besitzt, meint
man dies ,, erklärt" zu haben — und fügt damit jener Inthroni-
sierung der Gleichung noch ihre äußerste Vergröberung hinzu:
daß zwischen Ursache und Wirkung eine Gleichheit bestehen
müßte. Schließlich ist es die Milieutheorie, mit all ihrer Grob-
heit und Äußerlichkeit, die in der Überschätzung des Modells als
Erklärungsgrundes des Kunstwerks zu Worte kommt. Es ist
immer das von Außen kommende und sich mechanisch in das
Innere Übertragende, wodurch die Produktivität dieses Inneren
begriffen oder vielmehr ersetzt werden soll — während es doch
durch solches Äußere höchstens zu seinem Eigenleben, also
zu einer, jenen Elementen durchaus heterogenen Formung ver-
anlaßt werden kann. Wenn man nun neuerdings in dem ,, Er-
lebnis" die Quelle des Kunstwerks findet, so ist damit die Ge-
nesis aus Milieu und Modell keineswegs grundsätzlich verlassen,
sondern nur subjektivisch verfeinert. Denn auch aus dem Er-
lebnis wächst unmittelbar keine Überleitung zu der künstlerischen
Spontaneität. Im Verhältnis zu ihr ist auch das Erlebnis etwas
Äußeres — niag sich auch beides im Umfang des Ich abspielen.
Man muß diesen ganz allgemeinen Begriff erheblich bestimmter
und lebendiger fassen, um dem genetischen Begreifen des Kunst-
werks aus Gegebenheit und Erlebnis das Recht, das Goethe ihm
gibt, zu vindizieren.
Die Möglichkeit der Verbindung liegt darin, daß der Lebens-
prozeß mit seinem beharrenden Charakter, Intention und Rhyth-
mus als die gemeinsame Voraussetzung und Formgebung so-
wohl für das Erleben wie für das Schaffen wirkt. Es gibt
vielleicht eine — für jedes Individuum andere — allgemeinste,
nicht in Begriffe zu fassende Wesensformel, nach der seine
seelischen Vorgänge sich bestimmen, ebenso das Hineinnehmen
der Welt in das Ich im Erlebnis, wie das Hinausgeben des Ich
Formgesetz des Lebens 17
in die Welt im Schöpfertum. Daß ein solches typisches Gesetz
des individuellen Lebens dessen gesamte Phänomene beherrsche,
scheint Goethe sehr früh bemerkt zu haben; er schreibt 1780
in sein Tagebuch: ,,Ich muß den Zirkel, der sich in mir um-
dreht, von guten und bösen Tagen näher bemerken, Leiden-
schaften, Anhänglichkeit, Trieb, dies oder jenes zu tun. Er-
findung, Ausführung, Ordnung, alles wechselt und hält einen
regelmäßigen Kreis, Heiterkeit, Trübe, Stärke, Elastizität,
Schwäche, Gelassenheit, Begier ebenso." In dem Maße nun,
in dem diese fundamentale Wesensbewegtheit selbst schon den
Charakter überwiegender Spontaneität und künstlerischen Ge-
staltens trägt — in eben dem wird auch schon das Erlebnis
von vornherein und in der Art eben seines Erlebtwerdens die
Züge des Schöpfertums und der künstlerischen Werte an sich
tragen. Wo die Wurzelsäfte der Persönlichkeit, von denen das
Wirklichkeit assimiliert und zum Erlebnis gestaltet wird, künst-
lerisch tingiert sind, da ist das Erlebnis sozusagen schon ein
artistisches Halbprodukt und seine prinzipielle Fremdheit gegen
das Kunstwerk aufgehoben. Dies ist in irgend einem Maße
bei jeder wirklich artistischen Natur der Fall und ist der Grund,
weshalb so viele Künstler von größter Stilisierungskraft und
souveränster Umgestaltung des Wirklichen aufrichtig über-
zeugt sind, nur treue Abschriften des Natureindrucks, der un-
mittelbaren Erlebtheit, zu schaffen. Der gewöhnliche Mensch
erlebt die Welt, — d. h. setzt das objektive Geschehen in ein
subjektives um — vermöge der Kategorien, die für das praktische
Handeln zweckmäßig sind ; diese bilden das Handwerkszeug, mit
dem er aus der Totalität des Seins das herausschneidet und zu-
sammenfügt, was für ihn die Welt ist : jene letzte Einheits-
formel des Gesamtwesens ist bei ihm praktisch gefärbt. Und
da nicht nur dieser Typus Mensch die ungeheure Majorität
bildet, sondern auch die anders gerichteten in einem sehr großen
Abschnitt ihrer Interessen und Notwendigkeiten auf dem gleichen
Boden der praktischen Existenzführung stehen, so nennen wir
das in dieser Formung erlebte Weltbild die Wirklichkeit schlecht-
hin; tatsächlich aber ist es nur eine Wirklichkeit, nur das Er-
Simmel, Goethe. 2
18 Durchdringung mit der künstlerischen Grundform
lebnis, geformt durch die Kategorien, die von der durchschnitt-
lich-praktischen Interessiertheit ausstrahlen. Eine ganz andre
„WirkHchkeit" sieht etwa der religiöse Mensch sich gegenüber;
denn gemäß der Formel seiner Wesenseinheit erlebt er die Ein-
flüsse des Objektes sogleich so, daß sie ihm der Ort und die
Bestätigung seiner religiösen Inhalte sind; er kann sie gar nicht
anders erleben, weil sie eben nur in ursprünglicher Formung
durch die religiösen Kategorien zu seinen Erlebnissen werden.
Wie nun — um ein etwas grobes Beispiel zu wählen — der
Gläubige überall den ,, Finger Gottes" sieht, weil sein Sehen die
Dinge a priori so ordnet, daß sie für ihn in einen göttlichen Welt-
plan hineinpassen und mögliche Beweise eines solchen hergeben,
so sieht der Künstler die Dinge der Welt von vornherein als
mögliche Kunstwerke, sie werden ihm von denselben Kategorien
aus zum Erlebnis, durch deren noch aktivere, noch selbst-
herrlichere Funktionierung sie zum Kunstwerk werden.
Aber der Künstler ist nicht nur Künstler, In unendlichen
quantitativen Abstufungen erfüllt die hier angedeutete Erlebnis-
gestaltung seine Lebenstotalität. Jene Einheit des individuellen
Ganzen deckt sich in ihrem Charakter natürlich niemals mit dem
bloßen, reinen Begriff des Künstlerischen, so wenig wie mit dem
des Religiösen oder des Praktischen. Durch diese festgeschlossenen
und exklusiven Begriffe geht die lebendige Wirklichkeit viel-
mehr mit sehr ungleichmäßigen und wechselnden Berührungen
hindurch und auch wo ihr Kern sich auf eine von jenen fixiert,
läßt ihre Peripherie sich noch immer in mannigfaltigen Maßen
an andere aufteilen. Daß nun für Goethe die Beziehung zwischen
Erlebnis und Kunstwerk von so unbedingter Enge war, daß er,
auf den ersten Blick schwer begreiflich, einen förmlich deskrip-
tiven Naturalismus der Poesie verkündete, geht einfach aus dem
unvergleichlich hohen Maße hervor, in dem die künstlerische
Grundform die Tatsachen seines Lebens durchdrungen hat. In
einem gewissen Grade ist dies, wie gesagt, bei jedem wirklichen
Künstler der Fall und unterscheidet ihn von demjenigen, der
nur ,, Kunst macht" ; denn dieser bringt an den ursprünglich
unter ganz anderen Kategorien erlebten Inhalt eine ihm irgend-
Die Art der Einheit von Leben und Schaffen 19
wie gegebene Kunstform heran und gestaltet mechanisch jenen
nach dieser, während dort der künstlerische Organismus das
Gebilde einheitlich-innerlich erwachsen läßt. Bei Goethe aber
scheint dieser Prozeß sich mit einer so selbstverständlichen Un-
mittelbarkeit, einer souveränen Ungestörtheit durch Kategorien
anderer Richtung vollzogen zu haben, und vor allem über eine
so weite Gesamtheit einer höchst differenzierten Existenz hin,
wie bei keiner uns sonst bekannten Erscheinung. Sogar die
Hingabe an das Erkennen und an reine Wissenschaft war nicht
imstande, die Herrschaft seiner künstlerischen Kategorien in
Weltbild und Erlebnis zu durchbrechen. Und all seine eigen-
artigen Äußerungen eines Realismus der Kunst sind nichts
anderes als die Objektivierungen dieser Wesensbeschaffenheit. In
dem funktionellen Sinn der künstlerischen Natur ist er
vielleicht die größte, von der wir wissen. Gewiß, wer seinen ein-
zelnen Werken gegenüber behaupten wollte: keines reiche an
Wucht und Vollkommenheit an die Orestie oder den Lear, an
die Mediceergräber oder Rembrandts religiöse Bilder, an die
H-moll-Messe oder die Neunte Symphonie — den wird man nicht
gerade widerlegen können. Aber bei keinem andern Künstler
reichte die organisierende Kraft des Künstlertums mit solcher
Breite und so unbedingt formgebend in die Einheit der Per-
sönlichkeit hinab, daß ein so weiter Kreis von Welt und Er-
lebnis durch sie gleichsam zu potenziellen Kunstwerken ge-
schaut und erlebt wurde. Daß die innere Dynamik, durch die
überhaupt Vorstellungen und Leben zu seinen Vorstellungen und
seinem Leben wurden, eine künstlerische Apriorität war —
dafür ist es nur der theoretische Ausdruck, wenn er in seinen
Kunstwerken nichts anderes als die gegebene Realität auszu-
sprechen meinte. Sein Schaffen machte nur anschaulich, was
sein Lebensprozeß schon bei der Empfängnis der Lebensinhalte
geformt hatte — vielleicht das größte und höchste Beispiel, daß
wir, nicht nur erkennend und genießend, sondern auch schaffend
aus dem Leben nur nehmen, was wir selbst hineingelegt haben ;
sein Schaffen schien ihm von dem Erleben nicht getrennt, weil
schon sein Erleben ein Schaffen war.
G
Zweites Kapitel.
Wahrheit.
oethe ist ohne jeden Vorbehalt davon durchdrungen, daß
die theoretischen Überzeugungen des Individuums in un-
bedingter Abhängigkeit von der Beschaffenheit und Richtung
seines Seins stünden. Die alte Annahme, daß der Mensch so
handle, wie sein Sein es mit sich bringt, setzt sich hier dahin
fort, daß auch das Erkennen seine Bestimmung eben daher
bezöge. Die gewöhnliche wissenschaftliche Meinung erkennt
jedem Objekt gegenüber eine einzige, sozusagen ideell prä-
existierende Wahrheit an, die der einzelne Geist auffinden muß.
Was er von sich aus produziert, ist nur die seelische Energie,
die Funktion, mit der sich der Inhalt der Wahrheit für das
Bewußtsein verwirklicht. Zwar wird auch dieser Inhalt ja nicht
\tkt von außen in das Objekt hineingeschüttet, sondern auch eij wird
irgendwie von letzterem erzeugt und das Verhältnis dieser Er-
zeugung zu der Gegebenheit oder bloßen Auffindung des Wahren
wird von der Erkenntnistheorie und der Metaphysik in den
mannigfachsten Hypothesen dargestellt. Gemeinsam aber ist
. ihnen allen die Einzigkeit der Wahrheit gegenüber jedem Ob-
jekt und ihre Unabhängigkeit von der sonstigen Differenzierung
der Subjekte. Und da das Einzige, auch seinem Wesen nach
Spontane: der psychische Prozeß, das Dynamische an der Er-
kenntnisvorstellung — diese Vorstellung nur tragen, aber sie
als wahre nicht modifizieren kann, so ist auch diese Spontaneität
in allen Fällen, wo wirklich Wahrheit erkannt wird, genau so
unindividuell, genau so beziehungslos zu der Sonderbeschaffen-
heit des einen oder des andern erkennenden Subjekts, wie der
objektive Inhalt selbst es ist. Insofern wir Wahres erkennen,
sind wir alle gleich, und nur in den grenzenlos möglichen Irr-
Förderung durch den Gedanken 21
tümern kommt die Unterschiedenheit der Individualitäten zu
Worte und zu Folge. Für diese typische Vorstellung vom Er-
kennen ist der Erkenntnisprozeß als eine Lebendigkeit der in-
dividuellen Seele sozusagen ausgeschaltet, da allein der Inhalt
durch seine objektive Qualität bestimmt, welches Vorstellen wirk-
lich Erkennen, Wahrheit ist.
Alles diesem Prinzip Entgegengesetzte, das Goethes Erkenntnis-
begriff enthält, ist virtuell in der bekannten Zeile gesammelt:
Was fruchtbar ist, allein ist wahr. Der rein in sich zentrieren-
den, in den bloßen Verhältnissen realer oder ideeller Inhalte
bestehenden Wahrheit des allgemein angenommenen Wissens-
ideales stellt er — übrigens ohne jede Polemik und als bemerkte
er eigentlich die fundamentale Differenz gar nicht — in immer
wiederholten Aussprüchen den andern Wahrheitsbegriff gegen-
über: wahr sei für den Menschen derjenige Gedanke, der ihm
nützlich sei. ,,Ich habe bemerkt, schreibt er im hohen Alter,
daß ich den Gedanken für wahr halte, der für mich fruchtbar
ist, sich an mein übriges Denken anschließt und zugleich mich
fördert. Nun ist es nicht allein möglich, sondern natürlich, daß
sich ein solcher Gedanke dem Sinn des anderen nicht anschließe,
ihn nicht fördere, wohl gar hindere, und so wird er ihn für
falsch halten." DerEinzigkeitderWahrheit, ihrer Unabhängigkeit
von ihrem individuellen Vorgestelltwerden kann nicht schärfer
widersprochen werden : es gibt so viele verschiedene Wahrheiten,
wie es individuell verschiedene Möglichkeiten gibt, durch das
Denken der Dinge gefördert zu werden ! Damit scheint es, als
dürften die rohesten Formen des Pragmatismus sich auf Goethe
berufen; was indes angesichts der Grundgesinnung Goethes von
vornherein sehr unwahrscheinlich ist.
Machen wir uns zunächst klar, was er denn eigentlich unter
der „Förderung" versteht, die zu leisten einer Vorstellung die
Wahrheitsqualität verschafft. Moderne teleologische Theorien
der Erkenntnis gründen sich darauf, daß die richtigen Vorstellungen
von der Umwelt ein zweckmäßiges, uns nützliches Handeln zur
Folge haben ; die allgemeine Anpassung des organischen Lebens
überhaupt bewirke deshalb, daß wir die richtigen Vorstellungen
22 Pragmatismus
von den Dingen hätten. Oder auch, sie verwandeln diese syn-
thetische Beziehung zwischen Wahrheit und Nützlichkeit in eine
analytische: als das wahre Vorstellen der Dinge bezeichneten
wir eben dasjenige, auf das hin wir zweckmäßig verfahren. In
beiden Fällen ist es der Inhalt der bestimmten einzelnen Vor-
stellung, der die intellektuelle Bedingung des bestimmten ein-
zelnen Handelns bildet: wie wir etwa einen Gegenstand im Raum
nur ergreifen können, wenn wir die Distanz zu ihm richtig ein-
schätzen, oder einen Menschen nur für unsere Zwecke gewinnen
können, wenn wir ein richtiges Bild von seiner seelischen Ver-
fassung haben. Mit alledem ist das theoretische Bild der Dinge
von dem darauf gebauten praktischen Verhalten prinzipiell ge-
trennt. Das Vorstellungsbild, gleichviel in welcher Weise und
wozu entstanden, steht da und wird zu einer integrierenden
Voraussetzung unsres Handelns, welches nützlich verläuft, wenn
der Inhalt dieser Vorstellung zu der Realität, dem Orte jenes
Handelns, ein bestimmtes Verhältnis hat; ändert sich dieses
Verhältnis, so verläuft das Handeln verderblich. Das Entscheidende
bleibt dabei immer die Beziehung, die das Vorstellungsbild seinem
Inhalte nach einerseits zu dem Inhalt unsrer Zwecke, anderer-
seits zu dem Inhalt der Wirklichkeit hat, da es eben zwischen
diesen beiden zu vermitteln, die Wirklichkeit für die Zwecke
auszunutzen hat. Nicht darauf, daß der Mensch die Vorstellung
als ein inneres Element seines Lebens habe, kommt es an, sondern
daß sie das geeignete Mittel, die zweckdienliche Voraussetzung
dazu sei, daß das auf die Einzelheiten der Welt gerichtete Handeln
diese zu der erwünschten Reaktion auf uns bewege. Was immer
man unter Wahrheit verstehe und ob man sie auch im letzten
Grunde durch das praktische Bedürfnis bestimmen lasse —
immer bleibt die Tatsache, daß sie eben Wahrheit ist, daß sie
die Realität in der Form der Vorstellung irgendwie unserm
Handeln darbietet, der Grund und Inhalt ihrer Förderlichkeit.
An ihrem Gegensatz zu dieser Beziehungsrichtung zwischen
Wahrheit und Nützlichkeit offenbart die Goethesche Lehre ihren
entscheidenden Sinn. Nicht auf die dem Objekt zugewandte
Seite der Vorstellung, nicht auf den ideellen Inhalt der Wahr-
Die Vorstellung als Element des Lebens 23
heit, mit dem übereinstimmend oder nicht übereinstimmend
unser Handeln förderlich oder verderblich ist, kommt es an,
sondern auf die Bedeutung, die das Dasein der Vorstellung
in unserm Bewußtsein für unser Leben besitzt. Der Pragma-
tismus, weil er auf das Ausnutzen der Welt vermöge ihrer
Erkenntnis geht, knüpft deren Wahrheitskriterium an die realen
Wirkungen, die der Mensch von den Dingen erfährt, und die
durch die Vorstellungen nur vermittelt werden. Diese utili-
tarische Beziehung zwischen Ding und Leben, in die sich die
Vorstellung nur als eine, nachher sozusagen wieder auszu-
scheidende Vermittlung einstellt, geht Goethe hier gar nichts
an; sondern die Vorstellung als Element des Lebens selbst,
nicht durch das, was sie diesem erst vermittelt, steht in ihrer
Förderlichkeit oder Abträglichkeit für die Ganzheit dieses Lebens
in Frage. Mit der theoretischen Schärfe ausgedrückt, zu der
Goethe selbst sich nicht veranlaßt sah: für die vorliegenden
teleologischen Wahrheitsbegriffe, besonders den Pragmatismus,
ist es der Inhalt der Vorstellung, dessen Förderlichkeit ihr den
Wahrheitswert gibt, für Goethe ist es der Prozeß ihres Vor-
stellens, die lebendige Funktion, die sie im Zusammenhange
der seelischen Entwicklung ausübt. Der Mensch muß dadurch
gefördert werden, daß er diese Vorstellung denkt, sie muß sich
dem einheitlichen Totalsinne seiner inneren Existenz anschließen,
und die Energie, die sie innerhalb dieser einsetzt, muß ein
Moment dieser fortschreitenden Existenz selbst werden: dann
heißt der Inhalt dieses dynamisch und personal bedeutsamen
Vorstellens wahr. Man muß diesen Gedanken nur in seiner
ganzen Spannweite und seinem fundamentalen Charakter fassen,
um auch die Äußerung, die all jenen andern über das Förder-
liche als das Wahre zu widersprechen scheint, aus ihm zu
begreifen: ,,Wie der menschliche Geist vorschreitet, fühlt er
immer mehr, wie er bedingt sei, daß er verlieren müsse, indem
er gewinnt: denn ans Wahre, wie ans Falsche sind not-
wendige Bedingungen des Daseins gebunden." Und dies
ist nicht die einzige Äußerung, mit der er die tiefe, integrierende
Notwendigkeit des Irrtums für das Lebensganze verkündet. Nicht
24 Das ,, Passende"
etwa in dem Kassandrasinne, als wäre nur der Irrtum das
Leben und das Wissen der Tod. Es handelt sich vielmehr um
einen so hoch gehobenen, so weit umfangenden Begriff des
Wahren, sozusagen um dessen so absoluten Sinn, daß er das
Wahre und das Falsche im Sinn ihres relativen Gegensatzes
gleichmäßig einschließt; man möchte es, um den Unterschied,
an dessen begrifflicher Fixierung Goethe kein Interesse hatte,
zu markieren, etwa ,,das Richtige" nennen. In dieser Bedeu-
tung mißt sich der Wert des Vorstellungsinhaltes am Leben, in
dessen Ganzheit der Vorstellungsprozeß tragend und getragen
sich verwebt; hier findet das Vorstellen eine letzte Instanz, der
gegenüber das Objekt mit seiner Bestimmungskraft über das
Wahr und Falsch gedanklicher Inhalte nur eine niedere ist.
Dieses Wahre oder Richtige in dem absoluten, weil dem Abso-
luten des Lebens zugehörigen Begriffe, hat durchaus die logische
und metaphysische Struktur jenes ,, Passenden", das Goethe in
dem merkwürdigen aus Hippokrates übernommenen Satze
bestimmt: ,,Was die Menschen gesetzt haben, das will nicht
passen, es mag recht oder unrecht sein; was aber die Götter
setzen, das ist immer am Platz, recht oder unrecht." Das
,, Passende" ist hier etwas Absolutes, das das Moralische hinter
sich läßt, indem es die ethische Relativität: recht und unrecht
— unter sich begreift. Die gleiche Aufgipfelung eines um-
fassenden Wertes über den relativen Sinn seiner selbst und
seines Gegenteiles vollzieht sich in dieser Äußerung: ,,Man
kann keineswegs zu vollständiger Anschauung gelangen, wenn
man nicht Normales und Abnormes immer zugleich gegen
einander schwankend und wirkend betrachtet." Es gibt für
ihn ein höchstes Normales, das Normales und Abnormes ein-
schließt — die ,, Metamorphose der Tiere" lehrt eine höchste
Gesetzlichkeit, die Willkür und Gesetz, Vorzug und Mangel
einschließt. ,,Im organischen Leben", sagt er, ,,wird selbst das
Unnütze, ja das Schädliche selbst in den notwendigen Kreis des
Daseins aufgenommen, ins Ganze zu wirken und als wesent-
liches Bindemittel disparater Einzelheiten". Darum warnt er
auch, bei den Pflanzen von Mißbildung und Verkümmerung in
Der Vitalsinn der Wahrheit 25
einem scharfen Sinne zu sprechen, da doch „sowohl das
Geregelte wie das Regellose von einem Geiste belebt ist". Wie
hier ein höchstes „Regelmäßiges" gemeint ist, das die relative
Regel und die Abweichung von ihr zu seinen Elementen macht,
wie sein absoluter ,,Natur"-Begriff seine eigene relative Bedeu-
tung einschließt (,,Auch das Unnatürlichste ist Natur"!), wie
vorhin das schlechthin , »Passende" — genau so verhält sich
dort das Wahre in dem Sinne, in dem es das Leben fördert,
sich dem Ganzen anschließt und jene notwendige Bedingung
des Daseins ist, die das Wahre und das Falsche, in ihrem
gewöhnlichen Sinne, gleichmäßig übergreift. Und nur der
Stimmungsakzent, nicht die metaphysische Gültigkeit des Ver-
hältnisses zwischen dem Leben und der Gegensätzlichkeit seiner
relativen Einzelwerte verschiebt sich in der Äußerung: ,, Glück-
liche Beschränkung der Jugend, ja der Menschen überhaupt,
daß sie sich in jedem Augenblicke ihres Daseins für vollendet
halten können und weder nach Wahrem noch nach Falschem,
weder nach Hohem noch Tiefem fragen, sondern bloß nach
dem, was ihnen gemäß ist." Und so erst wird das Wahre
ganz verständlich, das ein solches nur ist, insofern es fruchtbar
ist. Nicht die Fruchtbarkeit ist gemeint, die in der Sphäre des
bloßen Erkennens besteht — wo eine Erkenntnis dann fruchtbar
heißt, wenn ihr Inhalt andere Inhalte aus sich entwickeln läßt,
zu der Bildung neuer logisch -sachlich anregt; sondern die
sozusagen dynamische Fruchtbarkeit, mit der Vorstellungen,
jetzt selbst als Leben betrachtet, in dem Leben ihres Trägers
wirken. Diese sind in dem Goetheschen, dem vitalen Sinne
wahr, sie können überhaupt gar nicht falsch sein, obgleich
ihre Inhalte, als solche und vom Objekte her betrachtet, wahr
oder falsch sein mögen. Nur in dieser Bedeutung gibt es einen
Sinn, wenn Goethe sagt: ,, Der Irrtum gehört den Bibliotheken
an, das Wahre dem menschlichen Geiste" — denn in jener
anderen Bedeutung der Begriffe gibt es doch auch Wahres in
den Bibliotheken und Irrtum im menschlichen Geiste. Und
noch einmal findet er einen besonderen Ausdruck für dieses
Lebenskriterium, das sich mit dem theoretischen über Wahrheit
26 Relation zwischen Mensch und Welt
und Irrtum nicht deckt. Man könnte, so sagt er, von diesen
beiden ausgehend, ,,ein drittes Wort im zarteren Sinne hinzu-
fügen, nämlich Eigenheiten. Denn es gibt gewisse Phänomene
der Menschheit, die man mit dieser Benennung am besten aus-
drückt; sie sind irrtümlich nach außen, wahrhaft nach
innen, sie sind das, was das Individuum konstituiert; das
Allgemeine wird dadurch spezifiziert und in dem Allerwunder-
lichsten blickt noch immer etwas Verstand, Vernunft und Wohl-
wollen hindurch, das uns anzieht. — Man kann sie sich vor-
stellen als Formen des lebendigen Daseins und Handelns einzelner,
abgeschlossener, beschränkter Wesen, Individuen wie Nationen.
— Eine Eigenheit könne an sich, wo nicht lobenswert, doch
wenigstens duldbar sein, indem sie eine Art zu sein ausdrückt,
welche man als Bezeichnung eines Teils des Mannigfaltigen
gar wohl müßte gelten lassen." Vollkommener ist wohl nicht
aufzeigbar, wie ihm ein über dem theoretischen Gegensatz von
Wahrheit und Irrtum stehender Begriff von Wahrheit vor-
schwebte — die Wahrheit, in der die Art des Menschen, über-
haupt und dieser bestimmte zu sein, ihren Ausdruck findet.
So also ist Wahrheit gewissermaßen die Relation zwischen
dem Leben des Menschen und der Totalität der Welt, in die
es sich einordnet; sie ist Wahrheit nicht um ihres logischen
und nur logisch nachprüfbaren Inhaltes willen (der vielmehr erst
so seine metaphysische Fundierung erhalten wird), sondern weil
der Gedanke, nicht anders als unsere physiologische Beschaffen-
heit oder unser Gefühl, ein Sein des Menschen ist, das seine
Richtigkeit oder Nicht-Richtigkeit als reale Qualität, Ursache
oder Folge seines gesamten Weltverhältnisses besitzt. ,, Kenne
ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiß'
ich's Wahrheit." Schon hiernach kann nicht zweifelhaft sein,
daß das Subjekt, das die so verstandene Wahrheit trägt und
bestimmt, der ganze Mensch ist, nicht etwa ein isoliertes
,,Verstandes"-Vermögen, sondern seine Totalität, mit der er
eben der Totalität des Daseins verwebt ist. Ebensowenig aber
auch ist Kraft und Kriterium dieses Erkennens auf die Sinn-
lichkeit beschränkt. Hier hat man Goethe auf Grund unpräziser
Sinnlichkeit 27
und nur a potiori gültiger Äußerungen und in etwas ober-
flächlicher Auffassung seines ,,Künstlertums" durchaus miß-
verstanden, indem man als den Grundirrtumj^ seines Weltbildes
gelten ließ, daß er dessen Prinzipien, z. B. die ,,Urphänomene",
noch innerhalb der sinnlichen Gegebenheiten — wenngleich
nicht schwankungslos — festhielt. Die sachliche Kritik dieser
Prinzipien bleibt dahingestellt. Aber ihre Bestimmtheit durch
die ,, Sinnlichkeit des Künstlertums" ist ganz mißverständlich,
weil diese Sinnlichkeit gerade im Unterschied gegen die des
Durchschnittsmenschen oder der philosophischen Abstraktion,
schon von vornherein und in sich selbst von Verstandes- und
vernunftmäßigen Kräften und Normierungen durchdrungen ist.
Die Bezeichnung des Künstlers als des ,, Sinnenmenschen" hat
gerade den Sinn, daß bei ihm die Sinnlichkeit nicht von dem
übrigen Menschentum so abgetrennt ist, wie sie sonst in Theorie
und Praxis erscheint. Die Abstraktion, die dem Künstler fern-
liegt, betrifft nicht nur das durch logische Begrifflichkeit aus
dem Leben Abtrennbare, sondern ebenso die Isolierung des
Sinnlichen aus dem Gesamtkomplex des Lebens heraus. Nur
daß bei ihm die Sinnlichkeit der Kanal ist, durch den dieses
Gesamtleben in Produktivität mündet — wie dem Philosophen
das begriffliche Denken, dem Praktiker die Handlungsenergien
eben diesen Dienst leisten : sein Sein sich in sein Werk umsetzen
zu lassen. Goethe hat dies unzählige Male ausgesprochen und
angedeutet. ,,Dem bloß sinnlichen Menschen verbirgt die Natur
Vieles".
„Den Sinnen hast du dann zu trauen,
Kein Falsches lassen sie dich schauen.
Wenn dein Verstand dich wach erhält."
Wie hätte ein Sinnenmensch, in jener ebenso abstrakten wie
trivialen Bedeutung des Wortes, in einer höchst ernsten, sein
ganzes Leben charakterisierenden Konfession, von der in ihm
,, obwaltenden Verachtung des Augenblicks" sprechen können?
Von der Jugend bis zum Alter revoltiert ihn ,,die Lehre
von den unteren und oberen Seelenkräften". ,,In dem
menschlichen Geiste, so wie im Universum, ist nichts oben
28 Der Erkennende als menschliche Totalität
noch unten; alles fordert gleiche Rechte an einen gemein-
samen Mittelpunkt, der sein geheimes Dasein eben durch das
harmonische Verhältnis aller Teile zu ihm manifestiert. —
Wer nicht überzeugt ist, daß er alle Manifestationen des mensch-
lichen Wesens, Sinnlichkeit und Vernunft, Einbildungskraft und
Verstand, zu einer entschiedenen Einheit ausbilden müsse,
welche von diesen Eigenschaften auch bei ihm die
vorwaltende sei, der wird sich in einer unerfreulichen
Beschränkung immerfort abquälen." Das also ist kein Zweifel:
die Vorherrschaft des Sinnlichen, der unmittelbaren Wahr-
nehmung ist es nicht, von der seinem Erkennen und seinen
Theorien des Erkennens eine Eingeschränktheit käme. Vielmehr,
dessen sensueller, ,, augenmäßiger" Charakter bedeutet gerade,
daß in das Aufnehmen, wie in das erkennende und produktive
Gestalten der Welt die Ganzheit des Menschen einzutreten hat.
Die Sinnlichkeit des Künstlers ist keine abstrakte, sondern
gleichsam nur der Vorname jener Ganzheit. Der scheinbare
Tiefsinn, der irgendwelche Mängel des Goetheschen Weltbildes
aus seinem Künstlertum und einer damit gegebenen einseitigen
Akzentuierung des bloß sinnlich Gegebenen herleitet, mußte
hier widerlegt werden, wo das Erkennen in Goethes Sinne
gerade in der Beziehung des Lebens überhaupt zu der Welt
überhaupt aufgezeigt wurde ; wenn es deshalb schon den Gegen-
satz des singulären Wahren und Falschen übergriff, wieviel
mehr mußte es sich dazu über den zwischen Sinnlichkeit und
Verstand erheben!
Die so erreichte Deutung nun erstreckt ihre Voraussetzungen
und ihre Folgen nach zwei Seiten hin.
Wenn Goethe jenes funktionell Richtige, in die Lebenstotalität
förderlich Eingefügte, das sich über die gewöhnliche Relation:
wahr und falsch, erhebt, schlechthin als das Wahre bezeichnet,
so muß sich dies in tieferen Bedingtheiten gründen. Der Sinn
des Wahren, der in der Beziehung zum Objekt besteht, ist tat-
sächlich auch hier nicht ausgeschaltet; nur greift diese Be-
ziehung gewissermaßen über die singulären Erweislichkeiten
hinweg ins Metaphysische. Denn sie beruht auf dem funda-
Das Wahre als Fruchtbares 29
mentalen Glauben Goethes, daß der innere Weg des persönlichen
Geistes seiner Bestimmung nach derselbe ist, wie der der natür-
lichen Objektivität — nicht aus zufälliger Parallelität oder
nachträglicher Zuordnung, sondern weil die Einheit des Daseins
das eine wie das andere aus sich erzeugt, oder genauer, weil
eines wie das andere ,, Natur" im weitesten und metaphysischen
Sinne ist; es bedarf dafür keiner besonderen Erweise aus dem
Kreise der Goetheschen Äußerungen, der das: Ist nicht der
Kern der Natur — Menschen im Herzen? — umgibt. An
einzelnen herausgeschnittenen Stücken aus der Natur und dem
Geiste mag ihre Harmonie nicht aufzeigbar sein; faßt man
aber die Totalität des geistigen Lebens, so wie ich sie andeutete,
bezieht sich die Wahrheit auf den vollkommenen Prozeß dieser
Totalität, so muß sie zugleich Wahrheit in Hinsicht des Ob-
jekts sein, weil das Subjekt und das Objekt als ganze, als
Kinder des einen physisch-metaphysischen Seins, nicht aus-
einanderklaffen können. Diese Überzeugung war für Goethe
erst in zweiter Linie Theorie ; sie war sozusagen der Charakter
und Sinn seiner Existenz selbst, und die Selbstverständlichkeit,
mit der sie seine Gedankenwelt unterbaute — viel breiter als
in seinen abstrakten Äußerungen zutage tritt — macht seine
Sätze oft lässig und ungenau. Denn Ausdrücke, die an sich
wohl Verschiedenes bedeuten, werden für ihn gleichmäßig zu
Gefäßen dieses einen, alles durchflutenden Lebensprinzips. Und weil
die mit ihm ausgesprochene Einheit ihn unbedingt beherrschte,
war es eigentlich gleichgültig, von welcher der Seiten her, die
in ihr harmonierten, er sie aussprach. Wenn nur das Frucht-
bare ihm wahr ist, so konnte er ebensogut sagen, nur das
Wahre sei ihm fruchtbar. Und tatsächlich klingt dies in all
den Äußerungen an, wo er von der wahren Erkenntnis sagt,
daß sie ,, Folge hat". Sein Geist war gewissermaßen die Leben-
digkeit dieses Prinzips, er war so glücklich konstruiert und ein
so reiner Spiegel des Daseins, daß ihm — prinzipiell und im
weitesten Sinne — nur das Wahre fruchtbar wurde, woraus er
freilich schließen durfte, daß das Fruchtbare auch wahr wäre.
Darum konnte er sich die Realität in der Absonderung von
30 Das Einfache
dem subjektiven Leben gar nicht als etwas Objektives denken;
und andererseits, wenn er es in seinen späteren Jahren immer
wieder als die Krankheit der Zeit bezeichnet, daß sie subjektiv
sei, so meint er damit die von jener Einheit gelöste, nicht
mehr fruchtbare Subjektivität, die also mit der Wahrheit weder
zeugend, noch erzeugt verbunden ist. Darum ist ihm die Sub-
jektivität, die prinzipiell in sich zentriert, ebenso prinzipiell der
Sitz des Irrtums: also zum Beispiel diejenige, die nur ,, ihren
Scharfsinn zeigen will" : und der er es ausdrücklich vorwirft,
daß sie deshalb ,,sich am Irrtum freut". Aber entsprechend
verwirft er auch das, was man im allgemeinen Objektivität
nennt, die unter demselben, nur umgekehrt gerichteten Zeichen
steht: ,, Der Mensch an sich selbst, sagt er in dieser Gesinnung,
insofern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte
und genaueste physikalische Apparat, den es geben kann, und
das ist eben das größte Unheil der neueren Physik, daß man
die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat und
bloß in dem, was künstliche Instrumente zeigen, die Natur er-
kennen will". Und weiterhin endlich begründet dieser Zu-
sammenhang Goethes Vorliebe für das, was er das Einfache
nennt, seine Abneigung gegen komplizierte und umwegreiche
Erkenntnismethoden. Wäre das Erkennen ein in rein ideeller
Existenz bestehendes Gebilde, so würde Einfachheit und Kom-
pliziertheit demgegenüber gar kein maßgebender Gesichtspunkt
sein. Dies sind in ihrem quantitativen Unterschiede ganz rela-
tive Begriffe, die für die ideell-selbständige Objektivität des Er-
kennens keinen Wertunterschied bedeuten könnten. Um einen
solchen zwischen ihnen zu stiften, bedarf es eines anderen
Kriteriums, und dies ist für ihn eben das natürliche Dasein
und Beschaffensein des Menschen, der mit seinen Organen so
in die Welt gesetzt ist, daß das Verhältnis dieser Organe, wie
sie sind, zu der Welt, wie sie ist, das Maximum von Förde-
rung, von ,, richtiger" Attitüde enthalten kann. Das Leben
aber ist das Einfachste, nicht trotzdem, sondern gerade weil es
seinen Organen nach ,,ein Vieles" ist — denn gerade an deren
einheitlicher Zusammenwirksamkeit offenbart es seine Einfach-
Das „Unerläßliche" 31
heit. Und es ist das Einfachste, weil es das Fundamentale
und Selbstverständliche ist, das, was sozusagen nur ,,ist";
darum ruft er angesichts von Seetieren aus: ,,Was ist doch
ein Lebendiges für ein köstlich herrliches Ding! Wie abgemessen
zu seinem Zustande, wie wahr! wie seiend!" Weil seiner
Weltanschauung alles Sein Leben ist, darum ist ihm alles Leben
schlechthin ,,Sein" — und wie könnte es Einfacheres geben
als das Sein? Daher sein Haß gegen die ,, beschränkten Köpfe,
die sich mit der Natur gewissermaßen im Widerspruch fühlen,
und deswegen (!) das komplizierte Paradoxe mehr lieben, als
das einfache Wahre". Das sind die, die jene Einheit nicht er-
leben können, deren Denken nicht einfach sein kann, weil es
sozusagen das Selbstverständlichste und Objektivste, das Leben
selbst, nicht erlebt.
Noch von einer anderen Richtung letzter Tiefe her begegnet
eine Goethesche Antwort der schweren Frage, worin denn
eigentlich die Förderung bestehe, die die Vorstellung als wahre
legitimiert, was der Inhalt sei, den das Handeln, durch die
Vorstellung geleitet, erreichen muß, damit es als ,, Förderliches"
gelte. Das Genie, sagt er, ,, bequemt sich zum Respekt sogar
vor dem, was man konventionell nennen könnte : denn was ist
dieses anders, als daß die vorzüglichsten Menschen übereinkamen,
das Notwendige, das Unerläßliche, für das Beste zu halten".
Diese Äußerung, die einer weitgehenden Deutung bedarf, um
nicht als eine Goethesche ,, Konnivenz", ja als eine Sanktionie-
rung des Banalen zu erscheinen, — kreiert das , »Unerläßliche"
als eine, wie mir scheint, durchaus originelle Kategorie der
Lebensauffassung. Die Freiheit, mit der das Leben sich ge-
staltet, hat eine sehr bestimmte Grenze; an ihr beginnen Not-
wendigkeiten, die es aus sich selbst erzeugt und denen es aus
sich selbst genügt. Sie sind nicht um ihres Wertes, um ihrer
Wünschbarkeit willen gesetzt, sondern sind bloß ,, unerläßlich";
aber sie bedeuten, da sie geistig-vitaler Natur sind, nicht etwa ein-
fache Kausalitäten, wie mechanisch erzeugte Tatsächlichkeiten.
Macht man alles Teleologische als solches von einem Wert ab-
hängig, von der bewußten Setzung eines Gutes als Zieles, so
32 Das Unerläßliche als das Beste
steht also die Kategorie des ,, Unerläßlichen", wie Goethe sie
hier andeutet, an und für sich jenseits der Alternative von
Kausalität und Teleologie : es ist das, was das Leben zu seinem
Bestände fordert, was es nicht von selbst, sondern nur durch
unsern Willen realisieren kann (deshalb immerhin auch ver-
fehlen kann), und was, von Sachwerten und Ideen aus gesehen,
sehr wohl gut wie böse, schön wie häßlich, erhaben wie all-
täglich sein kann. Ich glaube, daß Goethe mit dem Begriff
des Unerläßlichen auf jene besondere Schicht hingezeigt hat,
die oberhalb von Ursache und Zweck, von bloßer Wirklichkeit
und gewolltem Wert liegt und in der das Leben als solches
verläuft. Und nun kommt zu dieser bloß beschreibenden Fest-
stellung, dieser analytischen Entdeckung einer neuen Kategorie
die metaphysische Synthesis: dieses Unerläßliche, das von sich
aus gegen allen Wert gleichgültig ist, wird nun doch als ,,das
Beste" erkannt. Das ist keineswegs selbstverständlich. Das,
was die Tatsache des Lebens als ihr Unerläßliches fordert,
könnte in Hinsicht des Wertes ein bald so, bald so gefärbtes
sein, oder ein Adiaphoron, oder, für den Pessimisten, gleich
dem Leben selbst ein negativer Wert. Die ,, vorzüglichsten
Menschen" aber vollziehen oder erkennen die Einheit des für
das Leben Erforderlichen und des an sich Wertvollen ; denn sie
stehen gleichsam an dem Wurzelpunkt, an dem die Lebens-
wirklichkeit und der Lebenswert sich noch nicht getrennt haben,
und darum ergreifen sie in allen Entfaltungen des Lebens das
„Unerläßliche", d. h. dasjenige, was seinen Bestand überhaupt
und zentral sichert — und nicht etwa seinen schönen Luxus
oder das von anderen Kategorien her Wünschenswerte — als
,,das Beste". Für den Philister ist diese Verbindung eine sub-
jektiv selbstverständliche, weil er gar nicht daran denkt, daß
man dem Unerläßlichen gegenüber dennoch eine Freiheit, einen
andersartigen Wertbegriff aufrufen könnte ; dem ,, Vorzüglichsten"
ist sie eine objektiv selbstverständliche, aus der Wertabsolutheit
des Lebens geschöpfte, eine synthetische, deren soziale Erschei-
nungen anzuerkennen das Genie sich erst ,, bequemen" muß.
Der Begriff des Unerläßlichen schlechthin ist tiefer, gleichsam
Einheit der Werte 33
von größerem kategorialem Gewicht, als der des Förderlichen
schlechthin, er ist in gewissem Sinn dessen Fundierung. Und
damit hilft er den Sinn dieses Förderlichen deuten. Hat man
den Zusammenhang des Lebens in sich und mit dem Dasein
überhaupt und dem Wert überhaupt ergriffen, so hat das Förder-
liche ebenso wie das Unerläßliche einen absoluten Sinn, mit
dem es über seinen relativen, der Angabe eines Wozu bedürf-
tigen, hinausreicht. Die Vorstellung, die sich in die Ganzheit
des fortschreitenden Lebens verwebt, hat deshalb allen Wert,
den sie haben kann, d. h. die volle Wahrheit, und es ist eine
schiefe Frage, zu welchem einzelnen Ziele sie das Individuum
„fördere'S da gerade nur ihr Ertrag für das Dasein überhaupt,
nicht für diesen oder jenen einzelnen Inhalt, ihr diesen Wert
verleiht.
Dieser Begriff des Unerläßlichen, der das ,, Förderliche** erst
richtig deutet: als ein nicht Singular- Teleologisches, sondern
als harmonisches Element der ganzen lebendigen Wirklichkeit
— findet nun seinerseits eine klärende Analogie in jenem Be-
griff des ,, Passenden** ; ich komme hier noch einmal auf ihn
zurück, weil sich erst von einer Mehrheit solcher Begriffe aus die
Höhenlage ermißt, in der die Entscheidungen über Goethes Welt-
verständnis fallen. Man begreift ihn überhaupt nicht, wenn
man nicht den Worten, die er schließlich dem Empirisch-Ein-
zelnen entlehnen muß, ihre oft sehr verschiedenen Abstände von
eben diesem richtig anweist. Wie sich der Goethesche Wahr-
heitsbegriff über den Gegensatz des Wahren und Falschen im
Sinne der einseitig-unvollständigen Objektivität, die das Subjekt
nicht einschließt, erhebt, so der des ,, Passenden*' oder des
höchsten Wertes überhaupt über den Gegensatz des Guten und
Bösen im Sinne der in den Relationen der Einzelheiten wohnen-
den Moral. Ein dunkles Drängen auf diesen Punkt zeigt schon
seine jugendliche Abneigung gegen die scharfe Polarität von
Gut und Böse. „Ist denn das Gute nicht bös und das Böse
nicht gut?** Hier hebt die Entwicklungsreihe an, die mit den
geheimnisvollen Hinweisen der Wander jähre schließt über „jene
letzte Religion, die aus der Ehrfurcht vor dem, was unter uns
Simmel, Goethe. 3
34 Moral und Vollkommenheit
ist, entspringt, jene Verehrung des Widerwärtigen, Verhaßten,
Fliehenswerten." Und hier preist er es am Christentum, daß
,, Niedrigkeit und Armut, Spott und Verachtung, Schmach und
Elend, Leiden und Tod als göttlich anerkannt, ja Sünde selbst
und Verbrechen nicht als Hindernisse, sondern als Fördernisse
des Heiligen verehrt und liebgewonnen" werden. In alledem
lebt das große Motiv, zu dem sich jene frühe Identität des
Guten und des Bösen hinaufgeklärt hat: Gutes und Böses stehen
jetzt zwar polar in einer Ebene, allein über sie erhebt sich ein
Höheres, eine — seelische und kosmische — Vollkommenheit
der Seinstotalität, die der nüchterne Begriff des ,, Fassens" an-
deutet. In derselben Richtung spricht er einmal davon, wie
viele junge Leute daran zugrunde gehen, daß sie zuviel von
sich fordern. ,, Niemand bedenkt leicht, daß uns Vernunft und
ein tapferes Wollen gegeben sind, damit wir uns nicht allein
vom Bösen, sondern auch vom Übermaß des Guten zurückhalten."
Es kam ihm eben auf die Vollkommenheit des Lebens an, die
weder durch bloße Steigerung einer noch so lobenswerten Per-
fektion zu erringen ist, noch auch nur jede beliebige Steigerung
einer solchen, einseitigen, vertragen kann. Das Ideal der Exi-
stenz, nicht nur des Wollens, steht in Frage, wie es durch den
harmonischen Zusammenhang des Menschen mit der Ganzheit
der Welt bestimmt ist. Es ist nur eine Ausgestaltung oder ein
Symbol davon, wenn Goethe die moralischen Gegensätze, die
von sich aus unsere Existenz zu spalten scheinen, sich so voll-
kommen durchdringen läßt, daß die Wertung des Edelsten und
Besten auch dem Sündhaften und Niedrigen zukomme, und wenn
vor dem Begriff des Maßes — gleichsam dem quantitativen
Ausdruck jenes ,, Passenden" — das Gute wie das Böse ganz
gleichmäßige Einschränkung erfahren. Gewiß berührt es sich
mit dem hier Gemeinten nur ganz partiell, wenn er über Jacobi
sagt: ,,Ihm haben die Naturwissenschaften gemangelt, und mit
dem bißchen Moral allein läßt sich doch keine große Weltansicht
fassen" ; bedenkt man aber, welche metaphysische, sozusagen
absolute Bedeutung die ,, Naturwissenschaften" für Goethe hatten,
so spricht doch auch hieraus das Entscheidende : daß die Moral»
Subjektivität und Objektivität der Wahrheit 35
festgelegt auf den Gegensätzen des Guten und des Bösen, ein
definitiveres Ideal menschlicher Stellungnahme über sich hat,
gleichsam ein Richtigsein des Lebens, das sein Kriterium nicht
mehr von einzelnen Inhalten gewinnt, sondern von seinem Sich-
Einordnen, Einpassen in das große Ganze der metaphysisch und
religiös aufgefaßten Natur.
Von dieser Analogie und der Fixierung der Höhenschicht nun
auf das theoretische Ideal zurückblickend, gilt es in allem bisher
Gesagten das Grundmotiv festzuhalten : ein übergreifender Wahr-
heitsbegriff, der zunächst gar nicht an einem Gegensatz zu
theoretischem Irrtum orientiert ist, sondern seinen Sinn in seiner
Seins- und Funktionsbedeutung hat, darin, daß er als Daseiendes
das daseiende Leben, wie es sich im persönlichen Geiste dar-
stellt, fördert. Da nun aber das Leben dieses Geistes allem
Natursein in harmonischer Einheit verknüpft ist, so muß jene
sozusagen vitale Wahrheit zugleich auch die theoretische sein,
das heißt diejenige, die den Inhalt des Denkens an dem Inhalt
der Objektivität mißt. Dieser hier vorweggenommene, nachher
noch zu begründende Gedanke macht es verständlich, daß er
mit größter Leidenschaft auf die Objektivität des Erkennens
drängt, auf die selbstlos treue Beobachtung, auf die Ausschaltung
aller bloßen Subjektivität — und zugleich, ohne sich des ge-
ringsten Widerspruchs bewußt zu sein, nur das als wahr an-
erkennen will, was anzuerkennen ihn fördert und sich dem be-
stehenden Status seines Geistes anfügt.
Durch eine verhältnismäßig einfache metaphysische Vertiefung
also zeigt sich der scheinbare Subjektivismus des Goetheschen
Wahrheitsbegriffes nur als der eine Aspekt einer Einheit, deren
anderer durchaus objektivischen Wesens ist. Aber damit ist
die Problematik des andern, diesem Begriff einwohnenden Ele-
mentes nicht aufgelöst : die Verschiedenheiten der Wahrheiten,
die der Ursprung aus ,, Förderlichkeit" ihnen als Konsequenz
der Verschiedenheit der Individuen auferlegt. Eine entscheidende
Stelle ist oben mitgeteilt und es gibt deren viele. ,,Die ver-
schiedenen Denkweisen sind in der Verschiedenheit der Menschen
gegründet und eben deshalb ist eine durchgehende gleichförmige
3*
36 Individualisierung der Wahrheit
Überzeugung unmöglich." Von sich selbst gesteht er im höchsten
Alter, mehr als einmal habe er in seine Fassungskraft nicht
aufnehmen können, was anderen denkbar sei — womit nicht
bloßes Denkenkönnen, sondern wissenschaftliches Überzeugtsein
gemeint ist; und mehr als zehn Jahre vorher hatte er schon
in diesem ganz individualistischen Sinne geschrieben: ,, Jeder
spricht nur sich selbst aus, indem er von der Natur spricht."
An dieser Konsequenz scheint nun freilich jene metaphysisch
schon gelungene Ineinsbringung der subjektiven und der ob-
jektiven Wahrheit doch wieder logisch zu scheitern. Man mag
zugeben : der menschliche Geist erzeuge Erkenntnisvorstellungen
in sich, die seinem Leben notwendig, integrierend, förderlich
sind, und vermöge der organisch-metaphysischen Einheit, in der
er dem Dasein überhaupt verwachsen ist, besitzen die Inhalte
dieser Vorstellungen die volle Harmonie zu diesem Dasein, den
objektiven Wahrheitswert. Allein dies gilt insoweit für das
,, Leben überhaupt", das in jedem Individuum dasselbe ist und
deshalb mit der Einzigkeit und Eindeutigkeit der Wahrheit über
jedes Objekt verträglich bleibt. Diese aber wird doch in dem
Augenblick zersplittert und hinfällig, in dem gerade das, was
das eine Leben von dem anderen unterscheidet, über die Be-
stimmung: was Wahrheit ist — ^entscheiden soll. Kein Zweifel,
daß die gewöhnliche Folgerung aus solcher Individualisierung
der Erkenntnis : daß für den einen Wahrheit ist, was es für den
anderen nicht ist, — nämlich der Skeptizismus, die Verzweiflung
an der Objektivität des Wahrheitsbegriffes überhaupt, Goethe
völlig fern lag; so fern, daß er, wenn ich mich nicht täusche,
der Gefahr dieses Schlusses mit keiner unmittelbaren und defen-
siven Äußerung begegnet. Wohl aber treten positive Motive
bei ihm auf, die sie aus seinem Weltbild ausschließen.
Es ist vor allem der Gedanke, daß all diese individualistischen
Erkenntnisbilder nicht mit ihrer Zerfällung in atomistische Selbst-
genügsamkeiten abschließen, sondern eine ideelle Zusammen-
gehörigkeit in dem Sinne besitzen, daß sie sich alle unter ein-
ander zu einer einheitlichen Totalität des Erkennens überhaupt
ergänzen. „Die Natur ist deswegen unergründlich, schreibt er,
Die Menschheit als Träger der Erkenntnis 37
weil sie nicht ein Mensch begreifen kann, obgleich die ganze
Menschheit sie wohl begreifen könnte. Weil aber die liebe
Menschheit niemals beisammen ist, so hat die Natur gut Spiel,
sich vor unseren Augen zu verstecken." Der leichte Ton dieser
Äußerung läßt die Vermutung mindestens nicht ausschließen,
daß dieser Inbegriff des individuellen Wissens doch wohl nicht
als so mechanische Addition gemeint sein wird, wie er in dem
bloßen ,, beisammen" erscheint. Sondern eher in dem sublimen
Sinne, in dem er im Alter von dem Ideal eines Einheitslebens
der Menschheit überhaupt spricht, von der ,, Weltliteratur", von
der ,, sittlich -freisinnigen Übereinstimmung durch die Welt".
Man möchte etwa an die Arbeitsteilung unter den Gliedern eines
einheitlichen Organismus denken. Hier erhebt sich der Wahr-
heitsbegriff noch einmal in die gleiche Höhe, in der er vorhin
über dem relativen Gegensatz von Wahr und Irrig gestanden
hatte. Jetzt steht — so darf man Goethes Intention wohl
deuten — ein Erkennen in Frage, das absolut ist, weil ,,die
Menschheit" sein Subjekt ist, und das sich aus den relativen
Differenzen der erkennenden Individuen zusammenbaut, oder
auch: sie überbaut, wie dort die Differenz von Wahr und Irrig.
Er verkündet in einem Aphorismus die Individualität des Er-
kennens, die dessen Objekt völlig durchdringt : ,,Die Erscheinung
ist vom Beobachter nicht losgelöst, vielmehr in dessen Indivi-
dualität verschlungen und verwickelt." Und nun lautet der
nächste Spruch: ,,Was heißt auch Erfinden und wer kann
sagen, daß er dies oder jenes erfunden habe ? — Es ist nur be-
wußtloser Dünkel, wenn man sich nicht endlich als Plagiarier
bekennen will." Hier stellt sich also die Totalität der Mensch-
heit, statt im Beisammen, im Nacheinander ihrer Arbeit dar;
es ist hier die historische Bedingtheit jedes Vorstellens und
Leistens, die jenes selbe Motiv trägt: die Legitimierung von
dessen noch so individuellem Charakter durch die gliedmäßige Ein-
ordnung des Individuums in das Einheitsleben der Menschheit.
Von einem solchen Einheitsbegriff aus erst werden die Zusätze
zu jener entscheidenden Stelle begreiflich, in der er den Ge-
danken als den für ihn wahren verkündet, der ihn fördert und
38 Gegenseitige Ergänzung der Überzeugungen
sich seinem Denken anschließt, während eben derselbe einem
Anderen, für den diese Folgen nicht zutreffen, falsch sein müsse.
„Ist man hiervon, so fährt er fort, recht gründlich überzeugt,
so wird man niemals kontro vertieren." Selbstverständlich handelt
es sich bei Goethe, dem Menschen strengster Sachlichkeit und
leidenschaftlichsten Wahrheitssinnes, nicht um die Schlaffheit
bloßer ,, Toleranz", die immer nur ein negatives Verhalten gegen-
über dem Phänomen ist, während hier ein Positives zu dem
Grund des Phänomens in Frage steht. Er will mit dem Ent-
gegengesetzt-denkenden nicht streiten, weil diese Entgegengesetzt-
heit, wenn sie nur wirklich auf dem Naturgrunde der Persön-
lichkeit gewachsen ist, in der Einheit des lebendigen, viel-
gliedrigen Gesamtverhältnisses zwischen Menschheit und Welt
einbegriffen ist. Das Erkennen als ein kosmisches Ereignis
bricht hier wie ein Strom aus einer Quelle, in so viele Gefäße
er auch gefaßt werde, deren mannigfaltige Formen annehmend ;
es ist immer der eine menschheitliche Lebensprozeß des Er-
kennens, der eine Fülle logisch unvereinbarer Inhalte trägt.
Darum kann eine Stelle, deren Anfang ich vorhin anführte,
vollständig so lauten: ,, Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst
und zur Außenwelt, so heiß' ich's Wahrheit. Und so kann jeder
seine eigne Wahrheit haben und es ist doch immer dieselbige."
— Als die genauere Form dieser gegenseitigen Ergänzung er-
scheint ihm gelegentlich sogar der unmittelbare logische Gegen-
satz. Er schreibt über Jacobi: ,,Nach seiner Natur muß sein
Gott sich immer mehr von der Welt absondern, da der meinige
sich immer mehr in sie verschlingt. Beides ist auch ganz recht :
denn gerade dadurch wird es eine Menschheit, daß, wie so
manches andere sich entgegensteht, es auch Antinomien der
Überzeugung gibt." Hier wird also das bloße Beisammen zu
der Lebendigkeit einer Polarität gesteigert, die Verschiedenheiten
der Denkweisen bilden nicht nur neben einanderstehend ein
Ganzes, sondern die eine verlangt von sich aus die andere.
Das uralte Motiv, daß auch der Kampf eine Art und ein Mittel
der Einheit sei, tritt hier hervor, läßt alle Passivität der Toleranz
für das Entgegengesetzte hinter sich, sondern fordert gerade das
Einheit mit sich und mit andern 39
Entgegengesetzte, damit die „Antinomie" sich als die Form ent-
hülle, in der die Einheit der erkennenden Menschheit gegenüber
dem Objekt, nicht nur trotz, sondern mittels ihrer Gespaltenheit
in polare Individualitäten sich vollzieht. Und endlich rücken
die Gegensätze in den Inhalten der Überzeugung so zusammen,
daß sie als gleichzeitige sogar ein einzelnes Individuum charak-
terisieren und in ihm ihre Einheit finden. Er spricht einmal
aus — was schon an und für sich unserm Zusammenhange zu-
gute kommt — , daß Philosophien nur die Lebensstimmung ihres
Schöpfers bedeuten, das heißt die Art, wie seine individuelle Dis-
position mit der Welt fertig wird; auf diese Weise stellten sie
Lebensformen dar, unter denen wir als Adepten wieder zu wählen
hätten, was ,, unserer Natur oder unseren Anlagen nach*' für
uns passe. Und nun fährt er fort: „Ich behaupte, daß sogar
Eklektiker in der Philosophie geboren werden, und wo der Ek-
lektizismus aus der inneren Natur des Menschen hervorgeht, ist
er ebenfalls gut. Wie oft gibt es Menschen, die ihren ange-
borenen Neigungen nach halb Stoiker und halb Epikuräer sind !
Es wird mich daher auch keineswegs befremden, wenn diese die
Grundsätze beider Systeme aufnehmen, ja sie möglichst mit ein-
ander zu vereinigen suchen.**
In vielleicht noch ahnungsreichere Tiefen führt die Ein-
leitung jenes zentralen Satzes: ,,Wenn man mit sich selbst
einig ist, ist man es auch mit andern". Sieht man auf die
isolierten Inhalte dieses ,,mit sich Selbst -Einigseins", auf die
einzelnen, logisch ausdrückbaren Überzeugungen, in denen jeder
jeweils mit sich einig ist, — so ist diese Behauptung gar nicht
verständlich. Anders aber, sobald unter Erkennen ein Total-
verhalten des Menschen verstanden wird: jene Befruchtung und
Förderung des Ganzen durch einen Gedanken, jenes Sichan-
schließen und Sichzusammenschließen zwischen früheren und
neuen Vorstellungen. Ist so das Mit-sich-einig-sein nicht ein
logisches, systematisches Verbundensein von Inhalten, sondern
eine Lebensfunktion des Menschen, eine, die ihn vereinheit-
licht und ihn dem Sinne seiner Existenz näherbringt, so tritt
sofort die Beziehung des Menschen als Ganze^ zum Dasein
40 Persönliche Einheit und Welteinheit
als Ganzem daran oder darin hervor. An das richtige Funk-
tionieren des Geistes ist das harmonische Verhältnis zum Objekt
gebunden. Goethe spricht gelegentlich davon, daß das fort-
während sich wandelnde und in scheinbaren Widersprüchen
sich bewegende Objekt nur von einem ebenso beweglichen Geist
erkannt werden könne: wie der morphologische Forscher ,,die
Organe bildsam sieht, so müsse er auch die Art zu sehen bild-
sam erhalten". So liegt es in dem Fundamente der ganzen
Goetheschen Weltansicht beschlossen, daß der Mensch erst,
indem er sich in sich vereinheitlicht, ,,mit sich selbst einig"
ist, das geistige Gegenbild der in sich einheitlichen Welt dar-
stellt. Dann aber hat jedes so einheitliche Individuum das
gleiche, in diesem Sinne auch gleich aufgenommene Objekt.
„Jedes Individuum, sagt er einmal, hat vermittelst seiner Nei-
gungen ein Recht zu Grundsätzen, die es als Individuum nicht
aufheben". Es wäre bei seiner Denkart völlig ausgeschlossen, dem
Subjekt das Recht zu Grundsätzen zuzugestehen, die nicht auch
von der objektiven Ordnung der Dinge her berechtigt sind. Aber
es sind eben ,,die Neigungen" selbst objektive Tatsachen, die sich
mikrokosmisch dem individuellen Ganzen zuordnen — Neigungen,
mit denen er selbstverständlich nicht flatternde Willkürlichkeiten,
sondern die organischen Tendenzen des Wesenskernes meint.
Indem das ,,mit sich einige" Subjekt, sozusagen durch seine
Formgleichheit mit der selbst einheitlichen Welt, dieser ein
harmonisch angemessenes Gegenbild in sich bereitet, müssen all
solche Individuen doch irgendwie auch miteinander harmonieren,
so verschieden die Punkte inhaltlich seien, um die herum die
Vereinheitlichung eines jeden stattfindet. Denn sie verhalten
sich, wie das Leibnitzsche Gleichnis es von den unendlich ver-
schiedenen Monaden sagt, deren jede die Welt irgendwie anders
vorstellt und die doch in absoluter Harmonie stehen — wie
Spiegel, die um einen Marktplatz herum aufgestellt sind: ein
jeder zeigt zwar ein anderes Bild als der andere, aber wider-
sprechen können sie sich nie, da sie damit ein und dasselbe
Objekt wiedergeben. Erst aus einer letzten Überzeugung heraus
also wird es verständlich, daß der mit sich einige Mensch auch
Das Glück des Einzelnen 41
mit den andern einig sei; die metaphysische Beziehung, die
der so sich formende Mensch zu der Objektivität des Daseins
gewinnt und nur so gewinnt, ist der Zusammenhalt, der diese
Menschen auch unter sich vereinheitlicht und es ganz grundlos
macht, daß sie ,,kontro vertieren".
Es ist nur die praktische Wendung dieses Zusammenhanges
und deshalb seine Bestätigung, wenn er den Saint-Simonisten
gegenüber bemerkt, es solle doch ein jeder bei sich anfangen
und sein eigenes Glück machen, woraus dann unfehlbar das
Glück des Ganzen entstehen müßte. Unmöglich kann dies auf
der trivial-liberalen ,, Harmonie der Interessen" gegründet sein,
die sich nur auf die Einzelphänomene der Oberfläche bezieht.
Er kann nur meinen, daß das „Glück" des Einzelnen — ganz
entsprechend jenen ,, Neigungen" — in einem bestimmten har-
monischen Verhältnis zum Weltsein überhaupt wurzle oder
bestehe. Wo er vom Glück in einem so prinzipiellen Sinne
spricht, ist es nie der atomistische Zufall eines isolierten Wohl-
befindens, sondern immer die Totalstimmung der Persönlichkeit,
die nur in der Relation mit der Totalität des objektiven Daseins
möglich ist. Diese Weltbeziehung jeder einzelnen Individualität
— die wirklich ,,mit sich einig ist", ihren wahren Neigungen
folgt, ihr wirkliches ,, Glück macht" — ist es, die das Band
zwischen allen einzelnen knüpft, die die inhaltlich und dem
singulären Objekt gegenüber noch so divergenten Überzeugungen,
die noch so heftig sich bekämpfenden Glücksbestrebungen als
Einheit und Ganzheit offenbart.
Dies also scheinen mir die Motive zu sein, durch die Goethe
die Individualisation des Erkennens davor bewahrt, in einen
verantwortungslosen Subjektivismus oder in eine Verzweiflung
an der Erkenntnismöglichkeit auszugehen. Die Verknüpf theit des
Erkennens mit dem Leben, durch die es an die einzelnen Träger
dieses Lebens, mit ihren besonderen Charakteren und Bedürf-
nissen gewiesen wurde, ist ihm gerade zum Mittel geworden,
die gar nicht wegzuleugnende Mannigfaltigkeit der Überzeu-
gungen in die zugleich weiteste und engste Verbindung mit dem
objektiven Dasein, seiner Ganzheit und seiner Einheit, zu setzen.
42 Erkenntnis und Wesensgleichheit
Der Ausgangspunkt dieser Darlegungen: die Abhängigkeit
des Erkennens vom Sein des Menschen, die Goethe all unsern
theoretischen Überzeugungen zusprach und die nur von der
andern Seite gesehen ist, wenn ihm alle Belehrung ,, verhaßt"
ist, die nicht zugleich seine Tätigkeit befördert — ist mit einer
weiteren höchst charakteristischen Tendenz verbunden, die man
entweder als jenen unterbauend ansehen kann, oder als ihm
benachbart und auf ein gemeinsames geistiges Fundament von
letzter Tiefe hinweisend. Es ist das Motiv: daß jegliches
Begreifen nur durch eine Wesensgleichheit mit dem Begriffenen
möglich ist; und dieses Motiv durchzieht sein ganzes Leben,
von dem enthusiastischen Ausruf des Einundzwanzigjährigen:
,,Über große Leute sollte niemand reden, als wer so groß ist
wie sie", bis zu der geheimnisvollen Mahnung des Greises:
,, Bedenkt: der Teufel, der ist alt. So werdet alt, ihn zu verstehen"
— und der noch tiefer greifenden Äußerung des Einundsiebzig-
jährigen: , .Verstehen heißt: dasjenige, was ein anderer aus-
gesprochen hat, aus sich selbst entwickeln". Im Zentrum steht
hier, nach der psychologischen Seite hin: ,,Du gleichst dem
Geist, den du begreifst" — was doch bedeutet, daß man nur
den Geist begreift, dem man gleicht; und nach der metaphysisch
weiteren :
,,Wär' nicht das Auge sonnenhaft,
Die Sonne könnt' es nie erblicken;
Lag' nicht in uns des Gottes eigne Kraft,
Wie könnt' uns Göttliches entzücken?"
Es ist in formaler Hinsicht die alte Empedokleische Weisheit:
daß wir Gleiches durch Gleiches erkennen, sogar die Elemente
der physischen Natur um uns nur dadurch, daß diese in uns selbst
vorhanden sind. Und dieser Zusammenhang stärkt sich, indem
er auch in der umgekehrten Richtung gilt. Daß im Subjekt
und Objekt ein identischer Seinsinhalt besteht, führt unsere
Erkenntnis nicht nur über das Subjekt zum Objekt, sondern
auch über das Objekt zum Subjekt : das Glück des Entdeckens
und Erfindens bestünde darin, daß man ,,beim Anlaß einer
äußeren Erscheinung sich in seinem Innern selbst gewahr wird"
Das Erkennen als Lebens Wirklichkeit 43
und: MÖer Mensch erlangt die Gewißheit seines eignen Wesens
dadurch, daß er das Wesen außer ihm als seinesgleichen, als ge-
setzlich anerkennt". NundasMotiv: das individuelle Sein bestimmt
die Erkenntnis der äußeren Realität — Gegenbild und Stütze an
dem anderen findet: die äußere Realität bestimmt die Selbster-
kenntnis des Individuums, offenbart sich als die tiefere Begründung
des ersteren, daß Subjekt und Objekt gemeinsam in einem defini-
tiveren Sein, einer letzten Gesetzlichkeit vs^urzeln ; indem auch das
individuelle Sein von diesem getragen und durchwachsen ist,
begreifen wir, daß es die Erkenntnis ganz nach sich bestimmen
und damit doch dem Objekt volle Treue halten kann. Gerade
hier wird ein letzter Knotenpunkt aller Goetheschen Geisteswege,
seines ganzen auf diesen Seiten zusammengebrachten Bildes von
Wahrheit sichtbar. Das menschliche Erkennen ist ihm kein
freischwebendes ideelles Gebilde, das in einem 'zor^oq octotcoc;
seine Heimat, oder vielmehr überhaupt keine Heimat hätte.
Sondern es ist selbst Realität, es wächst aus dem Ganzen des
Seins und bleibt in dessen Bezirke wohnen. Daß es als Prozeß,
als Teil alles Geschehens überhaupt so dem Dasein verhaftet
ist, das trägt die Wahrheitsqualität seiner Inhalte, ermöglicht
freilich auch Irrtum, da manches Stück seiner Wirklichkeit sich
nicht aus der zentralen Quelle des Ganzen speist, sondern ins
Peripherische abschweift und verkümmert; ermöglicht aber
auch, daß manches, nach einseitigen Kriterien Irrige, vom Zen-
tralen her eine Wahrheit höheren Sinnes ist. Daß die Indivi-
dualität des erkennenden Geistes sein jeweilig Wahres bestimmt,
will nur sagen, daß sie die besondere Form des Seins überhaupt
ist, die gerade in Frage steht; denn das Sein lebt an und in
einzelnen Ausgestaltungen, und wenn das Erkennen nicht jenes
Unhaftende, heimatlos Schweifende ist, sondern ein Seinshaftes,
Naturverbundenes, so muß es deshalb ein individuelles sein.
Dies trennt es nicht von der Wahrheit über das Sein, sondern
verbindet es ihm. Solcher Seinscharakter des Geistes, solche
tiefe Quelleneinheit aller Natur, der er mitsamt seinen theo-
retischen Werten angehört, muß folgerichtiger Weise auch schon
die Fragen beherrschen, die er stellt. Dies ist der Sinn von
44 Das Wollen als Lebenswirklichkeit
Goethes Ausspruch : „Man kann sich sagen, daß niemand eine
Frage an die Natur tue, die er nicht beantworten könne;, denn
in der Frage liegt die Antwort, das Gefühl, das sich über einen
solchen Punkt etwas denken, etwas ahnen lasse." Es ist be-
deutsam, festzustellen, daß eben dieses Motiv in einem öfters
angedeuteten Goetheschen Gedanken aus ganz untheoretischem
Gebiet lebt. ,, Unser Wollen, sagt er, ist ein Vorausverkünden
dessen, was wir unter allen Umständen tun werden." ,, Unsere
Wünsche sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen,
Vorboten desjenigen, was wir zu leisten imstande sein werden."
Das heißt also, daß auch unsere Willensvorstellungen — nicht
nur die unmittelbar praktischen, sondern auch die ganz ideellen,
als bloße Wünsche aufsteigenden — in unserm realen Sein
Substanz haben. Auch die flüchtigen, huschenden Begehrungen
sind so wenig wie unsere Erkenntnisvorstellungen freifliegende,
wurzellose Gebilde, die Notwendigkeit ihres Aufsteigens ist nicht
einfach psychologische Verkettung, sondern unser Sein, die reale
Dynamik unsres sich vorbereitenden Handelns und Ergreifens
bildet ihren Inhalt. Eine ganz besondere Beziehung zwischen
unsern Wünschen und unsrer Realität kommt damit auf. Jene
schweben nicht nur über dieser wie der Geist über den Wassern,
bald auf sie einwirkend, bald sie nicht berührend; sondern sie
sind Stationen unserer Seinsentwicklung selbst, und tragen
deshalb die Sicherheit, ihren Inhalt auf späteren Stationen
wiederzufinden, ihn zu bewähren, ebenso in sich, wie unsere
Erkenntnisvorstellungen Wahrheit in sich tragen, weil sie, durch
den Prozeß unsrer Individualität hindurchgeleitet, aus dem
Ganzen des Seins kommen, auf das sich ihr Inhalt bezieht.
An diesem Punkte treffen sich weitgreifende Gedanken-
verkettungen. Wenn die Existenz von so etwas wie Wahrnehmen
oder Verstehen Goethe nur dadurch möglich scheint, daß jede
Wirklichkeit, die des Subjekts wie des Objekts, von der einen
und gleichen Strömung des ,,so natürlichen wie göttlichen"
Seins erzeugt ist und getragen bleibt — so ist doch daraufhin
nicht alles von allem durchdrungen, nicht jedes jedem ver-
ständlich und genießbar. Und dies begründet sich aus dem
Die lebendige Einheit des Daseins 45
Lebendigkeitscharakter der Goetheschen Welteinheit. Die
abstrakte, unterschiedslose Einheit des rationalen Pantheismus
verwirft er, warnt davor, das göttliche Prinzip ,,in eine vor
unserm äußern und innern Sinne verschwindende Einheit zu-
rückdrängen" zu lassen. Die Einheit des Alls bedeutet keines-
wegs Allgleichheit, Allverschwommenheit, sondern die dyna-
mische Einheit des Lebens, das alle noch so mannigfaltigen
Glieder durchströmt und in unzähligen Maßen und Arten funk-
tionell zusammenhält; sie ist durch den Reichtum, nicht, wie
meistens die philosophische, durch die Resignation gewonnen.
Ohne es durch Anführungen belegen zu können, möchte ich in
Goethes Sinne das ,, Begreifen" als ein ,,Urphänomen" an-
sprechen; denn indem es nur auf Grund der Seinsgleichheit
stattfindet, kommt in ihm die allgemeine Verbundenheit der
Dinge zum prägnantesten Ausdruck, die funktionelle Beziehung
zur reinsten Anschaulichkeit, — da sie hier bis zur Gleichheit
vorschreitet, diese Gleichheit aber nicht ein totes mathematisches
Sich-Decken bedeutet, sondern die geistige Bereicherung des
einen durch das andere, das Aufnehmen in den Lebensprozeß.
Gewiß hat die Einheit des Daseins nicht überall dieses Sich-Auf-
nehmen und Begreifen zur Folge; wo solches aber stattfindet,
weist es auf jene Einheit, als seinen metaphysischen Grund
zurück, ist dessen vielleicht stärkstes und entschiedenstes Phä-
nomen.
Die in dem Vers vom sonnenhaften Auge ausgesprochene
Abhängigkeit alles Begreifens vom Sein — insofern der In-
halt des Begriffenen irgendwie dem Begreifenden einwohnen
muß — ist in einer anderen Äußerung weitergeführt: , »Hätte
ich nicht die Welt durch Antizipation bereits in mir ge-
tragen, ich wäre mit sehenden Augen blind geblieben, und
alle Erforschung und Erfahrung wäre nichts gewesen als ein
ganz totes und vergebliches Bemühen", — was sich dann nach
der ethischen Seite hin mit dem Satze wendet: ,,Von Verdiensten,
die wir zu schätzen wissen, haben wir den Keim in uns."
Goethe schätzt im allgemeinen das Angeborene des Menschen
überhaupt als sein Wesentliches und Bestimmendes (und eine
46 Angeborenes und Aufgenommenes
Äußerung wie die: „Nicht nur das Angeborene, sondern auch
das Erworbene ist der Mensch" bestätigt dies dadurch, daß er
solche Erweiterung auszusprechen für nötig hält) ; hier aber ist
nun das Angeborene nicht nur für das Persönliche und Sub-
jektive des Lebensverlaufes entscheidend, sondern es enthält
als ein reales Daseiendes alles andere Dasein in ideeller Form
in sich. In höchst eigentümlicher Vermittlung zwischen der
Theorie der angeborenen Ideen und dem Kantischen Apriori
bewegt sich dieser Begriff. Jene legt in den Geist bestimmte
Wissensinhalte, die in dessen reiner Eigenentwicklung und von
aller Erfahrung, aller erworbenen Erkenntnis unabhängig her-
vortreten; für den Apriorismus seinerseits muß aller Wissens-
stoff dem an sich völlig inhaltlosen Geiste gegeben werden,
dieser ist nichts als die funktionelle Form, die jenen Stoff zu
der — allein gültigen — empirischen Erkenntnis gestaltet.
Für Goethes Überzeugung nun wohnt auch der Wissensstoff von
vornherein unserm Dasein ein, in einer Art, die er freilich
nicht näher gedeutet hat; aber dennoch wird er nur durch
,, Erforschung und Erfahrung" zum Wissen. Alles, was der
Einzelne von der Welt wissen kann, was ihm Welt werden wird,
ist ihm angeboren — aber nun muß er die Welt erst aufnehmen,
erst erfahren, damit dieses Vor-Wissen zum Wissen werde.
Er drückt dies einmal für ,, besonders begabte Menschen" so
aus, daß sie ,,zu allem, was die Natur in sie gelegt hat, noch
in der äußern Welt die antwortenden Gegenbilder suchen und
dadurch das Innere völlig zum Ganzen und Gewissen steigern".
Damit offenbart sich die Abhängigkeit des Erkennens vom Sein
des Menschen als der fundamentalen und unbedingten Einheit
entsprossen, die für Goethe zwischen Geist und Welt besteht.
Der Geist enthält alles in sich, was für ihn ,,Welt" sein kann,
er ist Mikrokosmos; aber das wird nicht zu solipsistischer Be-
ziehungslosigkeit und Unabhängigkeit der Welt gegenüber»
sondern sie muß nun noch erforscht und erfahren werden,
damit jene Vorzeichnung in die Form der Realität übertrete:
die Welt ,, antwortet", d. h. sie gibt dem Geiste von sich nur den
Gehalt hin, der ihr schon aus ihm entgegenkommt. ,,In dem
Reflexives und organisches Denken 47
gegenwärtigen wie in den früheren Heften (zur Morphologie)
habe ich die Absicht verfolgt, auszusprechen, wie ich die Natur
anschaue, zugleich aber gewissermaßen mich selbst, mein Inneres,
meine Art zu sein, insofern es möglich wäre, zu offenbaren.
— Die Aufgabe : Erkenne dich selbst — kam mir immer ver-
dächtig vor — um den Menschen von der Tätigkeit gegen die
Außenwelt zu einer inneren falschen Beschaulichkeit zu ver-
leiten. Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt
kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird."
Das also ist der tiefste und metaphysische Grund, aus dem
ihm alle Beschäftigung mit dem Denken als solchem wider-
wärtig ist. Denn damit würde das Denken etwas Freischweben-
des, in sich Kreisendes, das von dem lebendigen Sein des
Menschen und eben deshalb auch von dem der Welt losgerissen
und isoliert wäre. Mit voller Klarheit setzt er so den, ich
möchte sagen, organischen Ursprung des Denkens an die Stelle
des logischen:
Ja, das ist das rechte Gleis,
Daß man nicht weiß, was man denkt,
Wenn man denkt:
Alles ist wie geschenkt.
Anderwärts: ,,Das Schlimme ist, daß alles Denken zum Denken
nichts hilft ; man muß von Natur richtig sein, so daß die guten
Einfälle immer wie freie Kinder Gottes vor uns dastehn und
uns zurufen: da sind wir." Und für seine wesentliche Klugheit,
die Bedingung seiner Erfolge, erklärt er, ,,nie über das Denken
gedacht zu haben". Das Entscheidende ist ihm also, daß das
Denken sozusagen nicht aus sich selbst, nicht in der Reflexion
auf sich selbst sich erzeuge, sondern ihm selbst müssen seine
Inhalte durch den Naturprozeß des Lebens ,, geschenkt" werden.
Und eben insofern das Denken aus dem Sein des Menschen
kommt, erhält es auch seine logisch-sachliche Bedeutung, weil
es dadurch dem Sein überhaupt verbunden ist. Es ist gewisser-
maßen nur eine gefühlshafte Steigerung dieser genetischen Be-
ziehung unsres Erkennens zu unsrem Sein, wenn er schon als
ganz junger Mensch schreibt: ,,Man lernt nichts kennen als
48 Bindung an Wesensgleichheit
was man liebt und je tiefer und vollständiger die Kenntnis
werden soll, desto stärker, kräftiger und lebendiger muß Liebe,
ja Leidenschaft sein." Alles Verstehen ist ja ein Schaffen
(gelegentlich des Begriffes der „schaffenden Kraft" sagt er:
,,der untätige, untaugende Mensch wird das Gute, das Edle,
das Schöne weder an sich, noch an Andern gewahr werden")
— und darum kann es nur nach den Qualitäten des Schaffenden
vor sich gehen, also nur da gelingen, wo das Objekt diesen
Beschaffenheiten adäquat ist. ,,Es war mir angeboren, sagt
er gelegentlich seines frühen Verstehens mannigfaltiger Verhält-
nisse, mich in die Zustände Andrer zu finden, eine jede be-
sondre Art des menschlichen Daseins zu fühlen." Und weil
ihm die Normen des Erkennens eine Lebensaktivität sind, so
greift diese geforderte Seinsparallelität zwischen dem lebend
schaffenden Subjekt und seinem ,, Gegenstand" im weitesten
Sinne auch in alles Künstlertum. Er sagt, noch ganz jung,
über die Unfähigkeit der meisten Baumeister zu ,, Palästen und
Monumenten": ,, Jeder Bauer gibt dem Zimmermann die Idee
zur Schöpfung seiner Hütte. Wer soll Jupiters Wohnung in
die Wolken türmen? wenn es nicht Vulkan ist, ein Gott wie
er. Der Künstler muß eine große Seele haben, wie der König,
für den er Säle wölbte." Hiermit schließt sich nun endlich
dieser Kreis und zeigt sich als mit dem weiteren konzentrisch,
den Goethes Wahrheitsbegriff angab. Jedes Erkennen, ja jedes
geistige Schaffen, das sich an einen gegebenen Inhalt knüpft,
offenbarte sich zuletzt als an eine Wesensgleichheit gebunden, die
zwischen dem Subjekt und dem realen Gegenbild seines geistigen
Tuns besteht. Und damit ist das Zentrum des ganzen An-
schauungskreises: die Einsenkung des Erkennens in das
Sein — erst gesichert. Denn damit begreifen wir, nun nicht
mehr psychologisch, sondern metaphysisch, daß die Wahrheit
von dem Sein des Subjektes abhängt: sie ist dazu legitimiert,
weil ihr reales Objekt der Realität des Subjekts verwandt oder
gleich ist — weshalb wir denn auch, wie Goethe so oft aus-
spricht, durch unsere jeweilige Individualität von so und so
vielen Erkenntnissen ausgeschlossen sind. Die Isolierung und
Gott- Natur 49
Zugesperrtheit, die uns von dieser differentiellen Individualität
zu kommen schien, ist damit grade nach der Seite der Wahrheit
hin gesprengt. Konnte ich zuerst zeigen, daß es die Ver-
knüpftheit des Lebens ist, die den Individualismus der
Wahrheit aller subjektivischen Zweideutigkeit enthebt — indem
ein höchster Lebenssinn über die logische Wahrheit eine vitale
setzte, indem die Besonderheiten der Geister sich innerhalb des
Menschheitsgedankens gegenseitig ergänzten, indem die innere
Einheit des Individuums es der objektiven Weltform gleich
machte — so wird nun diese innere Verknüpftheit des Lebens
umgriffen, getragen, gewissermaßen gerechtfertigt durch seine
Seinsverknüpftheit mit den Objekten seiner Wahrheit. Denn
unter der Harmonie des Geistes wie der Geister und unter der
Sonnenhaftigkeit des Auges lebt die Gott -Natur; und nur als
einen Strahl ihrer Einheit hat Goethe die zwischen Subjekt
und Objekt spielende Möglichkeit des Erkennens begreifen
können.
S i m m e 1 , Goethe.
Drittes Kapitel.
Einheit der Weltelemente.
Von dem unmittelbaren Phänomen der Dinge, wie es der sinn-
lichen Anschauung gegeben ist, geht unser Geist nach zwei
Richtungen weiter. Er zerlegt einmal diese Gegebenheit in Ele-
mente, die sich als die gleichen an noch so fremden und gegensätz-
lichen Gesamterscheinungen finden. Indem er die Gesetzlichkeiten
in Wesen, Bewegungen und Verbindungsarten dieser Elemente
erforscht, lernt er, aus ihnen — die entweder überhaupt nicht un-
mittelbar oder wenigstens nicht isoliert wahrzunehmen sind —
die Gesamterscheinungen wieder zusammenzusetzen und sie so
zu ,, begreifen". Auf der andern Seite aber faßt er diese noch ein-
mal zu höheren Gesamtheiten zusammen, die in noch prinzi-
piellerer Weise als jene Elemente sich der Ebene der Erschei-
nungen entheben und in spekulativer Weise die Begriffe der
Dinge zu höchsten Einheiten steigern: sei es zu ,, Ideen", sei
es zu einem metaphysischen Bilde des Seinsganzen. Mag man
im ganzen jene Richtung als die des ,, Naturforschers", diese als
die des ,, Naturphilosophen" bezeichnen — so schreibt Goethe
1798, er habe sich diesen beiden gegenüber ,,in meiner Quali-
tät als Natur schauer wieder aufs neue bestätigt gefunden",
und bezeichnet schon in dem vorhergehenden Jahre sehr scharf
sein Verhältnis zu jenen beiden Erkenntniswegen. ,,Für uns,
die wir doch eigentlich zu Künstlern geboren sind, bleiben doch
immer die Spekulation sowie das Studium der elementaren Natur-
lehre (d. h. Physik und Chemie) falsche Tendenzen." Die posi-
tive Ergänzung zu diesen Ablehnungen gibt, zwei Jahre zuvor,
eine Äußerung zu A. v. Humboldt: „Da Ihre Beobachtungen
vom Element, die meinigen von der Gestalt aus-
gehen", usw.
Element, Idee, Gestalt 51
In der größten Einfachheit und Entschiedenheit ist damit das
Prinzip festgelegt, mit dem Goethe sein Verständnis der gesamten
Natur aufbaut und das sich als ein völlig selbständiges neben
jene, in traditionellem Sinne wissenschaftlichen Methoden stellt.
Man kann es als das im eminenten Sinne ,, synthetische" be-
zeichnen. Auf der einen Seite steht die Erkenntnis der ,, Ele-
mente", die physikalisch-chemische Wissenschaft, die prinzipiell
im Gebiet der reinen Erscheinung verharrt, Erscheinung durch
Erscheinung erklärt; denn ,, Naturgesetze" ebenso wie ,, Energien"
sind hier nichts als die Formeln für die zwischen den Erschei-
nungen bestehenden Verknüpfungen, und auch die letzten Ele-
mente der Analyse, mag man sie als Atome oder anders bezeich-
nen, stehen prinzipiell — wenn auch für unsere Sinne nicht
realisierbar — innerhalb des Wahrnehmungsgebietes. Auf der
andern Seite erhebt sich die ,,Ide9", die eben prinzipiell nicht
Erscheinung ist, sondern diese nur als Abfall, Schattenbild, sub-
jektives Phänomen zuläßt oder sie als Erscheinung überhaupt
aufhebt, indem die sinnlich gegebene Gestalt sozusagen gar
keine solche ist, sondern auch ihrerseits in der logisch sich ent-
wickelnden Idee besteht. Diesen polaren Tendenzen gegenüber
ist für die Goethesche Synthese die Gestalt als solche die un-
mittelbare Offenbarung der Idee. Alles was man mit dem Be-
griff dieser meint: Sinn, Wert, Bedeutung, Absolutheit, Geist,
Übereinzelheit — bildet für ihn nicht mit der sinnlichen Gestaltung
jenen Dualismus, dessen verschiedene Seiten die auf die ,, Ele-
mente" gehende Naturwissenschaft und die auf ,, Ideen" gehende
Spekulation ergriffen haben. Insoweit die Gestalt sichtbar ge-
geben ist, hat sie die volle, von keiner nicht sichtbaren Instanz
erst zu entlehnende Realität; ebensoweit aber ist für den
richtig eingestellten Blick all jenes Ideelle in ihr sichtbar. ,,Vom
Absoluten im theoretischen Sinne, so spricht er dies erschöpfend
aus, wag' ich nicht zu reden; behaupten aber darf ich: daß, wer
es in der Erscheinung anerkannt und immer im Auge
behalten hat, sehr großen Gewinn davon erfahren wird." Und
nichts andres meint er mit dem mehr symbolischen Satz: ,,Ich
glaube einen Gott;, 0as ist ein schönes und löbliches Wort; aber
4*
52 Künstlerische Sinnlichkeit
Gott anerkennen, wie und wo er sich offenbare, das ist
eigentlich die Seligkeit auf Erden."
Hiermit ist die Grundformel der künstlerischen Weltan-
schauung ausgesprochen. Es ist zu leicht mißverständlich,
wenn man den Künstler als den ,, Sinnenmenschen" charakteri-
siert, als den, der ,,mit den Sinnen lebt" — denn es macht das
Entscheidende nicht kenntlich: was denn beim Künstler über
das Passivistische, nur Hinnehmende und Genießende dazu-
käme, welches die Sprachkonvention als ,, Sinnlichkeit" versteht.
Dies Entscheidende ist doch wohl, daß der Künstler eben nicht
nur mit den Sinnen wahrnimmt, nicht nur ein Gefäß für jenes
passive Aufnehmen und Erleben ist, sondern daß sein Wahr-
nehmen sogleich oder vielmehr zugleich schöpferisch ist. Das
aktiv bildende Element, das vielleicht in jedem Anschauungs-
akte überhaupt vorhanden ist, gewinnt bei dem Künstler eine
Fülle, eine Wirksamkeit, eine Freiheit, von der durchdrungen seine
,, Sinnlichkeit" beinahe zum Gegenteil von dem wird, was man
beim Durchschnittsmenschen unter ihr versteht. Sein Schöpfer-
tum nun ist Gestalten von Weltelementen nach einer Idee
(und ist dies auch in der naturalistischen Kunst, die sich darüber
nur zu täuschen pflegt, weil sie unter Idee immer nur eine außer-
künstlerische oder wenigstens außerhalb des jeweiligen Kunst-
bezirks gelegene vorstellt, der Maler z. B, eine literarische, der
Dichter eine moralische usw.). Da sich aber dies Schöpfertum
untrennbar mit den Akten seines Anschauens und Erlebens ent-
faltet, des Anschauens und Erlebens, das Objekte, Wirklich-
keiten feststellt und in sich einzieht — so ist der Künstler un-
vermeidlich überzeugt, daß er die Idee anschaut! Es
ist eine allbekannte Tatsache, daß fast alle bildenden Künstler
(bei den Dichtern liegt es nur komplizierter, aber nicht prin-
zipiell anders) genau die ,, Natur " wiederzugeben, nur das zu
machen meinen, was sie ,, sehen" — auch wo sie für jedes andere
Auge aufs freieste mit der Naturvorlage umgehen, die sichtbare
Wirklichkeit aufs selbstherrlichste stilisieren; auch die reine Fan-
tasiekunst scheint die Schauung durch eine innere Sinnlichkeit
vorauszusetzen, die dem Künstler nicht weniger Gegebenes und
Intellektuelle Anschauung 53
Bindendes ist, als die sogenannte äußere Sinnlichkeit. Goethe hat
nur mit der souveränen Intellektualität, die ihm immer über sich
selbst Rechenschaft gab, ausgedrückt, was der Künstler als
solcher tut: daß er ,,die Ideen mit Augen sieht". Daß die Idee in
der unmittelbaren Realität der Dinge wohnt und wahrnehmbar
ist, ist nichts andres als der objektivierende Ausdruck für die
Produktivität des Künstlers, dessen Anschauen schon ein Ge-
stalten ist. Schaute er nur in der gewöhnlichen Bedeutung der
Sinnlichkeit an, so wäre er nicht produktiv, sondern rezeptiv
(,,das Anschauen, sagt Goethe, ist von dem Ansehen
sehr zu unterscheiden"). Indem er nun tatsächlich produziert,
d. h. aus der Idee heraus produziert, dabei aber doch Sinnlich-
Wirkliches vor Augen hat und eben solches schafft — so ist es
eben seine, bewußte oder bloß tatsächlich wirksame, Voraus-
setzung, daß das Sinnlich- Wirkliche, die ,, Gestalt", als solche die
unmittelbare Verkündigung und Sichtbarkeit der Idee sei. Dies
formgebende, geistige, schöpferische Sehen war Goethe im höchsten
Maße eigen und kam ihm vielleicht gerade darum zu besonderem
Bewußtsein, weil er kein bildender Künstler war, so daß der
innere Akt nicht wieder in ein sinnliches Bild mündete. Man mag
seine Attitüde als intellektuelle Anschauung bezeichnen, das Wort
im Gegensinne zu der zeitgenössischen Philosophie verstanden.
Denn was der philosophische Idealismus, insbesondere Schelling,
so benennt, hieße besser: anschauende Intellektualität. Hier
handelt es sich darum, daß der Denker seinen Gegenstand ohne
sinnliche Vermittlung, also nicht in der durch die subjektive Be-
sonderheit der Sinne bestimmten Erscheinung, ergreife. Das
Anschauen in sinnlicher Bedeutung soll hier also gerade über-
sprungen werden, der Geist soll leisten, was sonst nur die Sinne
leisten: sich der Wirklichkeit des Seins und So-Seins zu versichern.
Während also der Intellekt hier sinnliche Funktion hat, besitzt
beim Künstler die Sinnlichkeit intellektuelle Funktion, und dies
macht seine Begabung aus; der Philosoph sieht das Ideelle, weil
er es weiß, der Künstler weiß es, weil er es sieht. Insbesondere
sein Verhältnis zu allem Rationalismus (nicht als einer Theorie,
sondern als einer, diese weit übergreifenden Wesensbeschaffen-
54 Gestalt
heit) muß mit so scharfer Umkehrung bezeichnet werden: für
den Rationalisten ist die Vernunft ein Instinkt, für Goethe ist
sein Instinkt eine Vernunft.
Von etwas weiterer Peripherie her ausgedrückt, liegt das
Ziel alles Wissens um die Welt da, wo — um Goethesche Ter-
minologie zu gebrauchen — ,, Denkkraft'* und ,, Anschauen"
zusammengefallen sind; in dem Maße, in dem sie auseinander-
oder gegeneinanderstehen, besteht Schwierigkeit, Ungelöstes,
Widerspruch; deshalb führt in das ganz Definitive seiner Welt-
anschauung der Satz: ,,Alle Versuche, die Probleme der Natur
zu lösen, sind eigentlich nur Konflikte der Denkkraft mit dem
Anschauen." Insoweit also ihm eine Lösung zu gelingen schien,
lag sie an jenem Punkt der Vereinheitlichung beider : an dem
künstlerischen, da, wo das Rezeptive der Anschauung die Idee,
die Forderung der ,, Denkkraft", unmittelbar ergriff. Dies ist
das Apriori des Künstlers: die Sichtbarkeit der ,,Idee" in der
,, Gestalt"; und dies ist Anfang und Ende der Goetheschen Welt-
anschauung.
Es muß freilich mit Sorgfalt festgehalten werden, was Goethe
unter ,, Gestalt" versteht — dasjenige nämlich, was der reine, im
genauen Sinne unvermittelte Eindruck der Sinnlichkeit
gibt. Darum ist das, was er die elementare Naturlehre nennt, die
Erkenntnis der entweder nicht mehr wahrzunehmenden oder nur
künstlich zu isolierenden Elemente des Seins, hier ausgeschlossen,
obgleich diese prinzipiell gleichfalls in der Ebene der sinnlichen
Wahrnehmung liegen. Damit aber scheint in die Substanz oder
das Fundament des Goetheschen Weltbildes etwas Zufälliges
zu kommen. Denn welche Maße, welche Formen, welche Ge-
nauigkeitsgrenzen gerade unsere unbewaffneten Sinne dem Dasein
entnehmen und zu Bildern gestalten — das scheint zu diesem
Dasein selbst ein rein zufälliges, durch dieses Dasein selbst
keineswegs prinzipiell determiniertes Verhältnis zu haben. Durch
welche Fügung sollte gerade das auf diese Weise Gewonnene die
Substanz der Wahrheit, der Träger der Idee sein, während die durch
künstlich verschärfte Sinne gewonnenen Bilder, dem Seinsganzen
jedenfalls nicht nach zufälligeren oder subjektiveren Prinzipien
Kosmische Eingeordnetheit der Anschauung 55
entlehnt, nicht „Gestalt", nicht Offenbarungen der Idee
wären? Aber gerade hierin kommt Goethes letzte Überzeugung
von der Weltstellung des Menschen zu Worte. Daß die rein
naturhafte physisch-psychische Ausstattung des Menschen ihm
diejenigen Bilder des Daseins liefert, die für ihn die richtigen
sind, die seine Welt zu bilden haben, denen er den ideellen
Gehalt der Wirklichkeit entnimmt — das ist keine teleologisch
auf das Beste oder auf die Lebenserhaltung des Menschen zielende
Einrichtung, sondern eine Folge oder eine Seite der Einheit
des natürlichen Kosmos. Innerhalb und vermöge ihrer steht
jedes Wesen an einer ihm zugewiesenen Stelle und ist für sie
ausgerüstet; ob zu seinem ,, Nutzen" oder nicht, ob zu einem
irgendwo realisierten Wert oder Unwert — das kommt jetzt nicht
in Frage. So sehr seine Anschauungen vom Künstlertum her be-
stimmt werden, so geschieht dies doch in dessen so weitem Sinne,
daß er sich nicht einmal in künstlerischer Hinsicht eine Teleologie
der Naturbetrachtung gestattet, da auch so die große Einheit
des Ganzen partikularistisch gestört wäre; er sagt deshalb an
einer Stelle, die gerade die Bedeutung seiner Naturkenntnis
für seine Dichtung herausstellen will: ,,Ich habe niemals die
Natur poetischer Zwecke wegen betrachtet". Man könnte
es etwa in seinem Sinne die Geordnetheit des Daseins
nennen (die Natur läßt ,, Geordnetes gedeihen"), die dessen letzter,
sich selbst genügender, in keinen definitiveren Wert erst aus-
strahlender Sinn ist. Hat die Natur dem Menschen die Sinne ge-
geben, die er an sich vorfindet, so ordnet er sich eben mit diesen
und ihrem normalen, durch sie selbst vorgezeichneten Gebrauche
in die Einheit des Ganzen ein. Wesen, die das Einheitsgebot des
Ganzen mit andrer Organisation erfüllen, mögen andres und
anders anschauen; aber auch sie hätten sich, gerade wie der
Mensch, mit den gesunden Funktionen eben dieser Organisation
zu bescheiden — was nicht den Verzicht auf ein besseres Wissen,
das man ersehnen könnte, bedeutet, da gerade nur das der je-
weiligen Wesensart entsprechende Anschauungsbild diesen
Wesen den Zugang zu der kosmischen Realität öffnete; hinüber-
oder heruntergreifend verfehlt es die Stelle, an der es zum Ganzen,
56 Urphänomen
zum Sein außerhalb seiner in Relation steht. Die unmittelbare
Anschauung, von der naturgegebenen Sinnlichkeit allein und
rein bestimmt, liefert uns ,, Gestalten" — was weder die kon-
krete Analytik der Elementar Wissenschaften, noch die abstrakte
Synthetik der Spekulation tut. Diese beiden müssen ihm nicht nur
als irreführend, sondern — das gleiche von der andern Seite gesehen
— als u^piq erscheinen, als unfromm, weil jene Einheit des
Weltseins bedrohend, in der sich jedes Wesen nur durch Aus-
übung der ihm natürlichen Fähigkeiten erhalten kann.
Er schreibt: ,,Wie sehr mich die Howardsche Wolkenbestimmung
angezogen, wie sehr mir die Formung des Formlosen, ein gesetz-
licher Gestaltenwechsel des Unbegrenzten erwünscht sein mußte,
folgt aus meinem ganzen Bestreben in Wissenschaft und Kunst."
Hier also beglückt ihn offenbar jene Gesetzlichkeit, die an
der unmittelbaren, sinnlichen, totalen Gestalt aufgezeigt wurde,
die entdeckte Norm des unzerlegt dargebotenen Naturbildes,
die kein Zurückgehen auf die unsinnlichen Elemente forderte.
Ich lasse dahingestellt, ob man nicht selbst unter Anerkennung
dieses Apriori unsren natürlichen Fähigkeiten einen weiteren
Umfang zusprechen und die Schaffung sogenannter künstlicher
Sinnesschärfungen zu ihnen rechnen könnte. Goethe hat nun
einmal die Grenze an der ,, Gestalt" gesetzt — an die Stelle also,
auf die sich das künstlerische Interesse richtet. Indem dies
für ihn bedeutet, daß sich, allem Kleineren und allem Größeren
gegenüber, gerade hier die Anschaulichkeit der ,,Idee" bietet,
war gewissermaßen der Beweis geliefert, daß sich in dem Un-
mittelbaren der sinnlichen Gegebenheit — in der sich ihm freilich
die natürliche Totalität des Menschen äußerte — die Wahrheit
und der Sinn des objektiven Daseins überhaupt erschloß. ■ —
Mit wahrhaft genialer Synthetik ist an den Punkt, wo diese
Forderungen sich treffen, der Begriff des ,,Urphänomens" gesetzt.
Denn mit ihm ist, was man als Gesetz, Sinn, Absolutes der
Daseinsformen bezeichnen muß, innerhalb der Ebene der Er-
scheinungen selbst aufgezeigt. Das Urphänomen — so die Ent-
stehung der Farben aus Hell und Dunkel, die rhythmische Zu-
und Abnahme der Anziehungskraft der Erde als Ursache des
Das angeschaute Gesetz 57
Witterungswechsels, die Entwicklung der Pflanzenorgane aus
der Blattform, der Typus der Wirbeltiere — ist der reinste,
schlechthin typische Fall einer Relation, einer Kombination,
einer Entwicklung des natürlichen Daseins, und insofern
einerseits etwas andres als das gewöhnliche Phänomen, das diese
Grundform in trübenden Mischungen und Ablenkungen zu
zeigen pflegt, andrerseits aber doch eben Erscheinung, wenn
auch nur in geistiger Schauung gegeben, gelegentlich aber doch
,, irgendwo dem aufmerksamen Beobachter nackt vor die Augen
gestellt". Wir stellen gewöhnlich das allgemeine Gesetz der
Dinge als irgendwie außerhalb der Dinge gelegen vor: teils
objektiv, indem seine zeit- und raumlose Gültigkeit es von dem
Zufall seiner materialen Verwirklichung in Zeit und Raum un-
abhängig macht, teils subjektiv, indem es ausschließlich Sache
des Denkens ist und unsren sinnlichen Energien, die immer nur
das Einzelne, niemals das Allgemeine wahrnehmen können,
sich nicht darstellt. Diese Getrenntheit will der Begriff des
Urphänomens überwinden: es ist das zeitlose Gesetz selbst in
zeitlicher Anschauung, das unmittelbar in Einzelform sich
offenbarende Allgemeine. Weil dies besteht, kann er sagen:
,,Das Höchste wäre, zu begreifen, daß alles Faktische schon
Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns das Grund-
gesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phäno-
menen; sie selbst sind die Lehre." Die Grundintention des
Goetheschen Geistes vollzieht damit eine sehr merkwürdige
Wendung des Erkenntnisproblems. Während aller Realismus
sonst von der theoretischen Erkenntnis als dem Ersten und
Unmittelbaren ausgeht und ihr die Fähigkeit zuspricht, das objek-
tive Dasein aufzunehmen, abzubilden, getreu auszudrücken,
wird der Fußpunkt hier wirklich im Objekt selbst genommen;
das Ineinander-Aufgegangensein zwischen ihm und dem Er-
kenntnisgedanken ist keine erkenntnistheoretische, sondern eine
metaphysische Tatsache. Nicht in dem Spinozistischen Sinne,
als wären das äußere Ding und sein theoretisches Äquivalent zwei
Seiten oder Qualitäten eines einheitlichen Absoluten; denn hier
haben beide Momente einen abstrakten, unsinnlichen Charakter,
58 Weltzusammenhang imd Erkennen
während für Goethe die sinnliche Gestalt schon, in unmittelbarer
Einheit, geistiger Erkenntnisinhalt ist. Diesen letzteren für sich
stellt unsre an Kant orientierte Denkgewohnheit stets voran
und gewinnt erst von ihm aus ein entweder einheitliches oder
diskrepantes Verhältnis zu den Dingen; darum ist es uns schwer,
uns in die Goethesche Attitüde hineinzudenken, für die nicht
das Erkennen, sondern der Weltzusammenhang das Erste und
Letzte ist. Dieser lebt unmittelbar an den Phänomenen und
alles ,, Erkenntnisvermögen" eines jeweiligen Subjekts ist ihm
so an- und eingepaßt, daß es keinen Inhalt für sich jenseits der
ihm gegebenen Erscheinungen suchen kann; sondern indem es das
Phänomen aufnimmt, das in der Sinnlichkeit, d. h. in der un-
mittelbaren Relation von Subjekt und Objekt entsteht, hat es
alles, was für uns Wahrheit, Theorie, Gesetz, Idee sein kann.
Mit unsern gewöhnlichen erkenntnistheoretischen Voraus-
setzungen und Kategorien ist dies nicht zu deuten, sondern es
fordert, um begriffen (gleichviel, ob dann gebilligt oder ver-
worfen) zu werden, eine von jenen völlig abweichende Grund-
position. Daß die erfahrene Gestalt, das sinnliche Phänomen,
wenn nur in seiner Reinheit und Ursprünglichkeit, zuhöchst als Ur-
phänomen erfaßt, an und mit sich selbst schon das ideelle Gesetz,
die Form des Begreifens und Erkennens darbietet — das ist
selbst ein Urphänomen, über das innerhalb dieser Weltanschauung
nicht hinausgefragt werden kann. Die Schwierigkeit, diese In-
einsbildung von Sinnlichem und Intellektuellem wirklich von
innen her zu verstehen, hat Goethe gerade durch die Selbst-
verständlichkeit gesteigert, mit der er sie empfand; so daß er
den gleichen Ausdruck für jeden Teil dieser Synthese ohne weiteres
in dem gewöhnlichen Sinne und in seinem besonderen, prägnanten
gebrauchte. ,,Was uns so sehr irre macht," sagt er einmal,
,,wenn wir die Idee in der Erscheinung anerkennen sollen, ist,
daß sie oft und gewöhnlich den Sinnen widerspricht. — Die
Metamorphose der Pflanzen widerspricht unsern Sinnen." Für
den allgemeinen Sprachgebrauch ist doch die Erscheinung das-
jenige, was innerhalb und vermittels der Sinne besteht; daß also
in der Erscheinung etwas gesehen werden soll, was den
Der ganze Mensch als Anschauender 59
Sinnen widerspricht, erscheint ganz unsinnig. Und gerade
die Metamorphose der Pflanzen verteidigte er gegen Schiller, der
sie in das Ideenreich verweisen wollte, als das mit Augen Sicht-
bare. Begreiflich ist alles dies nur dadurch, daß ihm, als dem
Künstler, die Sinnlichkeit eben von vornherein mehr war, als
sie dem Sprachgebrauch ist, daß in ihr das intellektuelle Vermögen
wirkte, daß er mit den ,, Augen des Geistes" ,, anschaute". Den
Sinnen in jener gewöhnlichen Bedeutung widerspricht das
Ideelle, es muß und soll ihnen widersprechen, weil es auf die
Seinstotalität geht und jene Sinnlichkeit ein ganz partielles, so-
zusagen künstlich isoliertes Vermögen ist, das also auch nur eine
Einseitigkeit und Abgestücktheit des Wirklichen erfassen kann.
Wo der ganze Mensch anschaut, jenseits der Goethe so
verhaßten Getrenntheit der ,, oberen und unteren Seelenver-
mögen", da fällt der Widerspruch fort und die volle Wirklich-
keit, d. h. die in der Erscheinung offenbarte Idee wird mit den
Sinnen erschaut, die jetzt nur der Kanal für die ungeteilte Le-
bensströmung sind.
Daß auf diese Weise jene Harmonie von Bewußtsein und Sein
erreicht wird, ist Gegenstück und Ergänzung des früher darge-
stellten Grundmotivs des Erkennens: daß der Träger der
Wahrheit an der ,, wahren" Vorstellung im tiefsten Grunde nicht
der Inhalt in seiner ideellen Abstraktheit und logischen Verant-
wortung ist, sondern die Rolle, die diese Vorstellung als Lebens-
moment, als Prozeß, als tatsächliche Relation zwischen Mensch
und Welt spielt. Hier stehen wir an einer äußersten Grenze der
Goetheschen Prinzipienbildung, die deshalb so schwer darstellbar
ist, weil er gerade diese letzten Dinge nur fragmentarisch, oft nur
andeutend ausgesprochen hat und in Sonderfärbung durch den je-
weiligen Gegenstand, die jeweilige Stimmung, die die Äußerung her-
vorriefen. Es handelt sich schließlich immer um das große Motiv,
das man, etwas verschwimmend und unzähliger Modifikationen
bedürftig, als die Identität von Wirklichkeit und Wert bezeichnen
muß — „der Begriff vom Dasein und der Vollkommenheit ist
ein und eben derselbe", heißt es in einer kleinen Studie aus der
Mitte seiner dreißiger Jahre. Auch der theoretische Wert bat
60 Wirklichkeit und Wert
seine letzte, prinzipielle Begründung nicht in den logisch-sach-
lichen Verhältnissen der sozusagen freischwebenden Inhalte, die
ein abstraktes Wahrheitsrecht unabhängig von aller seelischen
— ebenso wie physischen — Verwirklichung einschlössen; son-
dern gerade aus der Wirklichkeit ihres Vorgestelltwerdens und
aus dem realen Verhältnis von Einheitlichkeit und Förderlich-
keit zwischen dem Subjekt und der Welt, das sich durch sie
ausdrückt oder herstellt, entsteht ihr Wahrheitswert, oder viel-
mehr, das i s t ihr Wahrheitswert, bzw. sein Gegenteil. Wie es
also auf der Seite des subjektiven Vorstellens eine Wirklichkeit
ist, die unmittelbar auch Wahrheitswert ist — so sind auf der
Seite des Objekts die Phänomene selbst ,,die Lehre". Nur das
Reine, das Urphänomen an ihnen braucht un verworren ange-
schaut zu werden, damit sie die Wahrheit selbst seien. Wie es
im Subjekt der Lebens p r o z e ß ist, der seine Inhalte erzeugt
und ihnen ausschließlich aus seiner Kraft , Geordnetheit,
Weltrelation heraus auch ihre theoretische Bedeutung gibt, die
sie aus keiner bloß ideellen, lebensfreien Norm ziehen könnten —
so schafft der rastlose Prozeß des Daseins, jene kontinuierliche
Dynamik, die sich sogar als ,, ewige Mobilität aller (orga-
nischen) Formen" äußert, die einzelnen als Daseinsinhalte da-
stehenden Phänomene. Darum ist das Gesetz, die Idee, die dem
abstrahierenden Verstände gewissermaßen jenseits dieser zu
stehen und sie in das zufällige Dasein zu entlassen scheint, i n
ihnen, a n ihnen selbst sichtbar. Jedes Ding ist nur ein Puls-
schlag des Welt prozesses, und offenbart deshalb, richtig
beschaut, dessen Totalität von Wirklichkeit und Wert, Sinnen-
bild und Idee.
Dies hat die wichtige Folge: wenn in der richtig aufgefaßten,
die Wahrheit bedeutenden Sinneserscheinung oder Gestalt die
Idee wohnt und anschaulich ist — so ist also diejenige Erscheinung
nicht wahr, sondern muß ein Trugbild sein, in der die Idee nicht
aufzeigbar ist, die deren Forderungen nicht genügt! Ist Wirk-
lichkeit und Wert im metaphysischen Grunde eines, so kann
Wirklichkeit nicht sein, wo nicht Wert ist. Der Realismus des
Goetheschen Weltbildes, auf den er so entschiednen Ton legt,
Allgemeines Bild seiner Existenz 61
die strenge Treue gegenüber dem gegebenen Objekt, die er fordert,
ist also dem ,, Idealismus", der Sichtbarkeit oder, in metaphysi-
schem Bilde, der Wirksamkeit der Idee so wenig entgegengesetzt,
daß vielmehr die herauserkannte Idee uns erst sicher macht, die
objektive Wahrheit der Erscheinung ergriffen zu haben.
Hier offenbart sich von neuem, was man das metaphysische
Glück seiner Existenz nennen könnte: die Harmonie oder Paralleli-
tät des bewußten persönlichen Daseins und Sich- Entwickeins mit
dem sachlichen Bilde der Struktur der Dinge. Wie wenige Men-
schen der höchsten geistig-sittlichen Ordnung hat er sich der Ge-
gebenheit seiner Kräfte und Triebe, der Realität seines Lebens-
prozesses überlassen, in dem tiefen Vertrauen, daß gerade so
dieser Prozeß seine wertvollsten Inhalte erzeugen, gerade so den
Forderungen der Idee genügt würde. Jene Lebensgestaltung
aus der Realität der natürlichen Kräfte heraus schloß freilich
genug Arbeitsmühen, Selbstüberwindung, Rechenschaft über sich
ein: ,,was andern Menschen gemein und leicht ist, wird mir
sauer gemacht", schreibt er mit 37 Jahren. Aber aller innere
Kampf, alles Sich-über-sich-selbst-Hinausringen war eben von
vornherein in der übergreifenden Einheit dieser Natur und ihrer
Triebgegebenheit beschlossen. Nie hat man bei ihm den Eindruck,
den die individuelle Existenz sonst oft bietet: als wäre sie nur der
Schauplatz, auf dem das ,, eigentliche" Ich sich im Kampf, Aus-
gleichung, Über- und Unterordnung mit Mächten wertvoller oder
gegenwertiger Art befindet. Die Einheit seines Lebensprozesses,
die dessen Spannungen und Gegensätzlichkeiten nicht eigentlich
überwand, sondern von vornherein als ihre Elemente und Sta-
dien in sich begriff, war sich ihres Wertes in dem Maße bewußt,
in dem sie es ihrer Wirklichkeit war. Aber auch dieser Wert,
diese mit der Realität seines Lebens zusammenfallende Idealität
war keineswegs eine widerspruchslose und schattenfreie Wert-
gleichheit aller Momente. Sondern wie sich in die Einheit seines
Lebensprozesses unzählige Zweiheiten und Widersprüche ein-
bauten, so übergreift ein sozusagen dem Leben immanenter Wert
alle seine wertmäßigen Zweifelhaftigkeiten und Kontraideali-
täten — wie es etwa schon in der Tagebuchnotiz des Einund-
62 Über-Wert
dreißigjährigen liegt: ,,Ich habe so manches getan, was ich
jetzt nicht möchte getan haben, und doch, wenn's nicht ge-
schehen wäre, würde unentbehrliches Gutes nicht entstanden
sein." Und diese Einheit subjektiver Vollendung, in die der
menschliche Weg die positiven wie die negativen Wertpunkte
einbezieht, spricht er ganz allgemein ein Vierteljahrhundert später
aus: ,,Bei strenger Prüfung meines eigenen und fremden Ganges
in Leben und Kunst fand ich oft, daß das, was man mit Recht
ein falsches Streben nennen kann, für das Individuum ein ganz
unentbehrlicher Umweg zum Ziele sei. Jede Rückkehr vom Irr-
tum bildet mächtig den Menschen im einzelnen und ganzen aus."
Ich glaube, daß eine viel mißbrauchte Wortbildung diese ent-
scheidende Anschauung seines eigenen Lebens allerdings begriff-
lich formuliert: als Über-Wert empfand er die Idee und
Wirklichkeit seines Daseins — d. h. als ein Wertvolles, Bedeut-
sames, Richtiges, in einem absoluten Sinne, mit dem es sich
über den Gegensatz in den Relationen von Gut und Schlecht,
Hoch und Niedrig, Gelingen und Verfehlen erhebt. Wie der
Prozeß des wirklichen Lebens durch alle diese Gegensätze
flutet und seine Einheit sie alle trägt — so hat ihm das Leben
offenbar einen Wert, der jenseits ihrer, d. h. jenseits aller In-
halte steht, die nur durch Abstand, Unterschiedenheit, Rela-
tivität als Werte oder als deren Gegenteile empfunden und
feststellbar sind. Wir verstehen gewöhnlich Wert nur in diesem
relativistischen Sinne (worüber ich, auch in Hinsicht der als
,, absolut" geltenden Werte, an andrer Stelle spreche), und zwar
vielleicht, weil wir ihn nur an die Inhalte des Lebens, die
verselbständigten, gegeneinanderstehenden, je als geschlossene
Einheiten behandelten knüpfen; einen ganz anderen Sinn können
wir seinem Begriffe verbinden, wenn wir ihn an den Prozeß
des Lebens in seiner kontinuierlichen Einheit wenden, der nichts
Relatives ist, weil er die funktionelle Gesamtheit des Ich ist,
die sozusagen nichts sich gegenüber hat, sondern unser Totales
und Absolutes ist. Je mehr wir das Leben so empfinden, desto
mehr kommt ihm eine Bedeutung, ein ,,Wert" zu, den wir mit
unsern, an lauter Relativitäten großgewordenen Kategorien nur
Idee und Ideen 6S
sehr unvollkommen bezeichnen können; ich nannte ihn Über-
wert, nur um sein Freisein von der Relativitätsbedingtheit der
einzelnen Werte zu charakterisieren. Innerhalb dieser
Kategorie gibt es natürlich sehr verschiedene Grade, die aber
eigentlich keine Relativität bedeuten, da jeder an seiner Stelle
etwas Absolutes ist. Nur die Unterschiede der seelischen ,,Ente-
lechien", von denen Goethe in geheimnisvoller Weise spricht,
und auf die hin die verschiedenen Seelen in verschiedenem Maße
unsterblich sind, bedeuten die Grade jenes Überwertes, der dem
individuellen Leben als solchem und gelöst von allen Einzel-
bestimmtheiten seiner Inhalte zukommt. Er selbst hatte offenbar
das Selbstgefühl einer ,,Entelechie mächtiger Art"; die Einheit
seiner Existenz war für ihn, über alle ihre Zerspaltenheiten
und alle Wertschwankungen ihrer Einzelinhalte hinweg, mit
ihrem Wert identisch, und so hatte er im Bewußtsein seiner
selbst das Prototyp seines Wertbewußtseins, das auf der Identität
von Wirklichkeit und Wert ruhte. Was sich freilich dieser Identität
als Hemmung und Gegenrichtung vorbaut, wird das nächste
Kapitel behandeln.
Aus dieser höchsten strukturellen Voraussetzung seines Da-
seinsbildes v/ar es zwar begreiflich, daß er ,,die Idee" als ,, einzig"
bezeichnete und sich gegen den Gebrauch des Plurals erklärte, und'
zwar gerade im Zusammenhang des Satzes: ,, Alles was wir ge-
wahr werden und wovon wir reden können, sind nur Mani-
festationen der Idee". Dennoch glaube ich mich berechtigt, den.
Begriff in einem etwas weiteren Sinne nehmend, von einer Mehr-
zahl von Ideen zu sprechen, die Goethe als die Formbildner der.
Wirklichkeit ansieht. Es sind gleichsam die Spezifikationen der
,,Idee", oder die von ihr ausgehenden Gestaltungsmöglichkeiten
des einzelnen, die zwischen ihr und diesem vermitteln, dasjenige
etwa, was er selbst als die ,, großen Maximen" der Naturbetrach-
tung bezeichnet; mit der schon erwähnten Konsequenz, daß
ihm die Wahrheit der Erkenntnis, die Realität der Erscheinung
erst dann gewährleistet scheint, wenn ihm diese Ideen anschaulich,
geworden sind.
Ich beginne mit der Idee der Schönheit. Man hat jetzt wahr-.
64 Schönheit
scheinlich gemacht, daß Shaftesburys Satz: ,,jede Schönheit
ist Wahrheit" — von früh an einen entscheidenden Einfluß auf
Goethe gehabt habe; zugleich freilich wird behauptet, daß er
seit der Verbindung mit Schiller davon wieder abgerückt sei.
Ich möchte indes glauben, daß er jedenfalls die Umkehrung
dieses Satzes: jede Wahrheit ist Schönheit — in allen Perioden,
wenn auch nicht in allen Stunden, festgehalten hat und daß
sie schon vor der Bekanntschaft mit Shaftesbury in ihm domi-
nierte. Wenn alle Wahrheit Schönheit ist, so folgt, daß, wo wir
keine Schönheit mehr zu entdecken vermögen, wir jedenfalls nicht
auf dem Wege zur Wahrheit sind; und daß wir, wo unsere Er-
kenntnisversuche die Schönheit der Dinge zerstören , uns
eben jenen Weg selbst verbauen. Ein kleines Gedicht, das noch
auf seine Leipziger Studentenzeit zurückgeht, offenbart dies
eigentlich schon mit voller Deutlichkeit. Er entzückt sich an
den Farben einer Libelle, will sie in der Nähe sehen, verfolgt und
faßt sie und sieht — ,,ein traurig, dunkles Blau". ,,So geht es
dir, Zergliedrer deiner Freuden". Es ist ersichtlich nicht seine
Meinung, daß jenes erste erfreuende Bild ein Schein und Trug
gewesen sei, den die nun gewonnene Wahrheit zerstört hätte.
Sondern jene beglückende Farbigkeit ist echt und wahr gewesen —
es ist nicht eine Wahrheit gewonnen und darüber eine Schönheit
verloren, sondern eine Schönheit zerstört und eben damit die
Wahrheit verloren worden. Das ,, Zergliedern der Freuden" ist
nicht die Zerstörung einer Illusion, sondern die Tötung eines
real Lebendigen. Seine Polemik gegen Newton wurzelt mindestens
zum Teil in der Aversion gegen das Hindurchquälen der Spektra
durch viele enge Spalten und Gläser, das deren unmittelbar
ästhetisches Bild zerreißt — während er die Versuche im Sonnen-
schein, unter blauem Himmel, als besonders beweisend preist.
Die Ablehnung der Naturerkenntnis mittels Hebeln und Schrau-
ben entspricht sicher nicht nur dem anderwärts erörterten er-
kenntnistheoretischen Motive : daß die der menschlichen Natur
angemessene Erkenntnis auch nur durch ihre natürlichen
Hilfsmittel zu gewinnen sei, sondern auch der Scheu vor der
Zerstörung ihres ästhetischen Bildes durch solche Mittel; wie
Schönheit als Kriteriiun der Wirklichkeit 65
er sich denn auch die Anerkennung der Geognosie nur schwer
abringt, da sie „doch den Eindruck einer schönen ( !) Erdober-
fläche vor dem Anschauen des Geistes zerstückelt". Der,, Schleier",
dessen sich Natur nicht berauben läßt, ist von demselben Gewebe,
wie der Schleier der Dichtung, den er ja ,,aus der Hand der
Wahrheit" nimmt. Sogar von dem Mathematiker sagt er,
er wäre (als solcher) nur insofern vollkommen, ,,als er das
Schöne des Wahren in sich empfindet". Nur liegt in alledem nicht,
wie man es allzu einfach gedeutet hat, die bloße sinnliche Ver-
führbarkeit des Künstlers, ein innerhalb des Erkenntnisinteresses
illegitimer Eudämonismus, nicht die Beschränkung auf den
,, schönen Schein", der, gegen alle Wesenheit und Objektivität
gleichgültig, seine Bedeutung und Geschlossenheit nur nach den
Gesetzen subjektiver Befriedigung gewönne, da er doch die natur-
wissenschaftlich ergreifbaren Elemente und Vorgänge überspränge;
vielmehr die tiefe metaphysische Überzeugung, daß alle Wirk-
lichkeit von der Idee getragen ist und daß die Sichtbarkeit der
Idee eben Schönheit ist. Wo diese vernichtet ist, da ist also die
Garantie für Wirklichkeit verschwunden, und nur ein Zerr-
und Scheinbild steht da. Es ist also nicht das Haften am Schein,
das ihm die Schönheit als die für das Erkenntnisverfahren zu
respektierende Grenze setzt; sondern, auf der Basis jener Über-
zeugung, gerade das Bedürfnis nach einem objektiven Kriterium,
das in der Fülle der möglichen Aspekte, Zerlegungen, Anordnungen
das Symptom, noch Wirklichkeit vor uns zu haben, abgebe. Die
Erfassung der Dinge in der Schönheit und Vollkommenheit ist
zugleich — nicht im Nebeneinander, sondern in unmittelbarer
Identität — das Begreifen ihres tiefsten Sinnes, wie die künst-
lerische Formung der menschlichen Erscheinung im Porträt,
vollzogen nach den ästhetischen, rein auf Zusammenhang und
Reiz ihrer Anschauungselemente gerichteten Forderungen, zu-
gleich die wahrhafte, unzweideutigste Offenbarung der Seele ist.
Ganz erschöpfend drückt er selbst es aus: ,,das Schöne ist eine
Manifestation geheimer Naturgesetze" (die für die gewöhnliche
Betrachtung gerade mit jenem, als der Form der äußerlich
resultierenden Erscheinung, überhaupt nichts zu tun haben), „die
S i m m e 1 , Goetke. 5
66 Einheit
uns ohne dessen Erscheinung ewig wären verborgen geblieben".
Das zeigt sich doch eben allenthalben als das Einzige dieser
Persönlichkeit, daß Erkenntnisse, die sich aus seiner individuellen
Eigenart als Ergänzung oder Ausdruck seiner Subjektivität ent-
wickeln, damit den Charakter einer objektiven Weltgemäßheit
besitzen. Aus dem tiefen Wissen um sein eignes Wesen heraus
schreibt er: ,,Es ist etwas unbekanntes Gesetzliches im Objekt,
welches dem unbekannten Gesetzlichen im Subjekt entspricht".
Nun mag der (einzelne) Inhalt solcher Erkenntnisse annehmbar
oder irrig sein; aber immer haben sie die Beziehung zu einem
Zentrum, die Zusammengeschlossenheit jedes in sich und mit
allen andern, die zum Bilde einer Welt gehört und sich von
der Isoliertheit und inneren Zufälligkeit, den Wesenszügen des
bloß Subjektiven, unbedingt unterscheidet. Die Bestrebung
seines Lebens: sein Subjekt zu objektivieren — hat nur den
Objektivitätscharakter seines von innen her bestimmten Daseins-
bildes, die Gabe seines Genius, aufgenommen und weitergeführt.
Die Forderung, Goethes Weltbild auszulegen, kann auf psycho-
logischem Wege immer nur zur Hälfte gedeckt werden.
Nach der Denkrichtung seiner Zeit wie nach seiner ganz per-
sönlichen verband sich ihm mit der Idee der Schönheit aufs
engste die der Einheit. Hier ist zunächst das Motiv wirksam,
daß jedes Kunstwerk, im Maße seiner Vollendung, ein Gegenbild
des Naturganzen ist. Das höchste Schöne wäre — so hebt er
in einem Exzerpt aus K. Ph. Moritz hervor — der als Einheit
umfaßte Zusammenhang der Natur. Die Einheit des Schönen
ist nur ein andrer Ausdruck für seine Selbstgenügsamkeit, d. h.
für seine von Goethe stets verfochtene Unabhängigkeit von allen
,, Zwecken", von aller Verflechtung in ein anderweitiges Ganzes,
innerhalb dessen es nur Träger oder Mittel wäre. Das Schöne
muß gemäß seiner Souveränität, seiner Freiheit von allem, was
außerhalb seiner liegt — einer Freiheit, die ihr absolutes Urbild
eben nur an der Totalität des Seins überhaupt besitzt — , Ein-
heit sein. Nur mit diesem Wort ist der in sich zentrierende,
völlig in sich beschlossene Zusammenhang der Teile zu bezeich-
nen, mit dem das Kunstwerk sich vollendet. Gerade aber weil
Sensualistische Vereinzelung 67
die Einheitsidee unmittelbar mit der ästhetischen Idee zusammen-
hängt, greift sie, auf Grund der kosmischen Bedeutimg der
letzteren, über sie hinaus und wird ihrerseits ein Kriterium für
die Richtigkeit der Erkenntnisbilder. Darauf komme ich noch zu
sprechen und deute jetzt noch auf Verknüpfungen der Einheitsidee
mit anderen wesentlichen Motiven der Goetheschen Geistigkeit hin.
Daß er die Totalität des Seins als Einheit denkt und jedes Stück
des Daseins gewissermaßen als eine Vertretung oder VS/ieder-
holung dieser Einheit (,,Du findest nur Bekanntes, das Ihm
gleicht" — was dann seine häufige Maxime, daß die Natur im
kleinen genau dasselbe täte wie im großen, nur aus dem Meta-
physisch-Absoluten in das Empirisch-Relative überträgt) — das
setzt von neuem die auch hier festgehaltene ,, Anschaulichkeit"
in entschiedenen Gegensatz zu allem Sensualismus. Denn aller
Sensualismus wird in seinem tiefsten Wesen dadurch bezeichnet,
daß er am einzelnen haftet, daß er das Stück nur als Stück nimmt
und Synthese nur als Zusammenfügung des Singulären, das
seiner Natur nach auch immer ein Singuläres bleibt, anerkennt,
nicht aber als Symbol einer inneren, aller Singularisierung voran-
gehenden Einheit. Dies ist der Grund, aus dem die sensualistische
Tendenz sich gern mit praktisch-egoistischer verbindet. Denn
was wir Egoismus nennen — ich habe dies an andrer Stelle aus-
geführt — ist immer eine Willensbeziehung zu irgendwelchen
Einzelheiten der gegebnen Welt. Die Vereinzelung, in
die sich das egoistische Subjekt begiebt, findet — keineswegs
zufällig — ihr Korrelat in der Vereinzelung seiner Willensziele;
man kann sagen, daß der Egoismus die praktische Welt atomisiert
— gerade wie der Sensualismus die theoretische. Denn ihm
erscheint das synthetische Vermögen des Geistes als etwas Sub-
jektives und Sekundäres, dem in der objektiven Ordnung der
Dinge nichts entspräche. Dies ist der genaue Gegensatz der
Goetheschen Geistesrichtung, die überall Ganzheiten und Ein-
heitlichkeiten zu erfassen strebt, deren pantheistische, die Welt-
einheit irgendwie in sich tragende Grundstimmung sich so in
seine Sinnlichkeit fortsetzt, daß er allenthalben Verbundenheit,
Zusammengehören, Zusammenstimmen erblickt. Ihm ist
5*
68 Einheit des Lebendigen
das Ganze vor den Teilen, und höchst charakteristisch bezeichnet
er darum das In-Übereinstimmung- Bringen des Entgegenge-
setzten einmal als ein ,,W i e d e r vereinigen". Im Gegensatz
zu der sensuellen Anschauung, die nur Einzelheiten sieht, war die
seine die intellektuelle, die nur Einheiten sieht.
Ein weiteres Motiv, das die Einheit zum Range der Idee und
zum Wahrheitskriterium der erkannten Gestalt erhebt, ist ihre
Bedeutung für das Lebendige als solches. Für das Organische
ist ihm alle äußere Zusammengesetztheit, die es nie zu einer wirk-
lichen Einheit bringt, das schlechthin feindliche Prinzip. Nur aus
Gründen einer praktischen Empirie sei uns ,,der atomistische Be-
griff so nah und bequem zur Hand; deshalb wir uns nicht scheuen,
ihn auch in organischen Fällen anzuwenden". ,,Um mich zu
retten, betrachte ich alle Erscheinungen als unabhängig von-
einander und suche sie gewaltsam ( !) zu isolieren; dann betrachte
ich sie als Korrelate, und sie verbinden sich zu einem entschiedenen
Lebe n." Und nur dem Ausdruck nach abweichend, dem Sinne
nach aber gleich: ,,Man kann das Lebendige zwar in Elemente
zerlegen, aber aus diesen nicht wieder zusammenstellen und be-
leben." Von diesem ,, wissenschaftlichen Verlangen", das Äußere
der lebendigen Bildungen ,,im Zusammenhange zu erfassen, sie
als Andeutungen des Innern aufzunehmen und so das Ganze
in der Anschauung gewissermaßen zu beherrschen", sagt er,
daß es mit dem Kunsttriebe ,,nah zusammenhänge". Als eine Be-
stätigung des Rechtes, bei der Betrachtung der Organismen von
einer Einheit auszugehen, aus ihr die Teile zu entwickeln und
sie wieder auf sie zurückzuführen, erscheint es ihm, ,,daß wir
den vollkommensten Zustand der Gesundheit nur dadurch ge-
wahr werden, daß wir die Teile unsres Ganzen nicht, sondern nur
das Ganze empfinden". Darum muß er die damals verbreitete
Zeugungstheorie der ,,Einschachtelung" verwerfen, da diese doch
schließlich auf ein Nebeneinander, Außereinander dessen, was in
und aus einem Lebewesen entsteht, herauskommt — während die
Entwicklung ein einheitlicher, von einem einheitlichen Leben ge-
triebener Prozeß ist. Diese Einheit als Lebensform hat natürlich,
nicht den Sinn der numerischen Eins:
Einheit und Mannigfaltigkeit 69
„Kein Lebendiges ist Eins
Immer ist's ein Vieles."
Die Einheit hat sozusagen gar keine Funktion, wenn nicht
ein Vieles da ist, das sie eben vereinheitlicht — während in der
unorganischen Natur (wenigstens solange man nicht die Welt-
totalität, sondern Stück für Stück betrachtet) das eine einfach
neben dem andern liegt, so daß hier das Dasein ein Vieles ist
und bleibt; wobei dann jedes Stück für sich als „Eins" gelten
kann. Umgekehrt ist der Organismus niemals ein solches nu-
merisches ,,Eins", dagegen ist seine Vielheit funktionell zur
Einheit verbunden und diese Verbindung ist das Leben. Dies ist
die Grundform, kraft deren der Organismus für Goethe zum
Symbol der Welt, aber auch, wie man wohl sagen kann, die Welt
zum Symbol des Organismus wird. Niemand ist mit größerer
Gewißheit, ja Leidenschaft, von der Einheit des Kosmos über-
zeugt gewesen; niemand aber hat sich entschiedener von jenem
Monismus abgewendet, für den alles Mannigfaltig-Bunte, alles
differenziell Gestaltete und Bewegte in die dürre und starre Be-
grifflichkeit des , ,Eins* * verschwindet. , , Durch die Alleinheitslehre" ,
sagt er, ,,wird soviel gewonnen als verloren, und zuletzt bleibt
das so tröstliche als untröstliche Zero übrig." Wie das Lebendige,
so ist ihm die Welt nicht Eins, sondern immer ein Vieles; und
wie das Lebendige, so ist ihm die Welt die Einheit dieses Vielen.
Er hat die Welt organisch verstanden, d. h. Idee und Wirksam-
keit des Ganzen als einer Einheit dominiert ihm so sehr alles
Einzelne und die Wechselwirksamkeiten innerhalb des Einzelnen,
wie in dem Organismus jeder Teil von dem Ganzen bestimmt wird
und das Leben jedes Teiles nichts andres ist, als das in ihm sich
vollziehende Leben des Ganzen. Tiefer aber greift vielleicht der
eben angedeutete Ausdruck: nicht die Welt ist ihm wie ein
Organismus, sondern der Organismus ist ihm wie die Welt.
An der Welt hat er die Existenzform gefunden oder gefühlt,
die für weniger umfassende Anschauungsweisen nur am Organis-
mus hervortritt; dieser erscheint gewissermaßen als ein Mikro-
kosmos, als eine Analogie in engen Maßen für die Form, in der
die Welt als eine Einheit und sozusagen von ihrem metaphysischen
70 Organismus und Kosmos
Zentrum aus lebt. Die organische Form, d. h. das Leben des
Teiles aus dem Ganzen heraus, ist ihm der Sinn der Welt über-
haupt. — Es zeigt sich damit die ganze Roheit und Oberflächlich-
keit der Kritik, die die großen Denker der Vermenschlichung
der Welt, eines atavistischen Fetischismus beschuldigt, wenn
sie die Gesamtheit des Daseins nach den Kategorien des Mensch-
lichen, des Lebendigen, des Seelischen deuten. Wenn Schopen-
hauer das Wesen der Welt als Wille bezeichnet, so macht er
damit nicht den kleinen Weltausschnitt des menschlichen Willens
zum Maße der Unendlichkeit, sondern umgekehrt: die ge-
heimnisvolle Beziehung des großen Philosophen wie des großen
Künstlers zur Ganzheit des Seins gibt ihm eine bestimmte, seiner
seelischen Artung entsprechende Empfindung und Deutung dieses
Ganzen; und erst von dieser her wird der Punkt innerhalb des
seelisch-menschlichen Daseins ergriffen, an dem solcher Sinn
des Seins sich etwa am anschaulichsten und unzweideutigsten
für uns darstelle. Und so ist Goethes Bild der organischen Welt-
einheit nicht eine mythologisierende Übertragung der empirischen
Vorstellung vom Organismus auf das Dasein überhaupt, sondern
ein Gefühl oder Bild dieses Daseins, das nur am Organismus seine
Aussprechbarkeit, vielleicht auch nur sein Symbol gewinnt. Das
rastlose Werden, das stetige Gestalten und Umgestalten, wie das
Leben allein es in sich anschaulich macht, ist die einzige Ver-
mittlung zwischen den Polen, an denen, als Weltprinzipien,
Goethe gleichmäßig festhält: an der Einheit alles Seins und an
dem Bestände und Werte des Individuellen. Denn nur dadurch,
daß das Eine ein Werdendes ist, kann es ein Mannigfaltiges
sein. Was das einzelne Leben im Nacheinander entfaltet: die
kontinuierlich wechselnde Fülle der Zustände, äußerlich ganz
divergente Erscheinungen, die doch nur die Stadien einer einzigen
Entwicklung sind — das zeigt das Leben überhaupt, zeigt der Kosmos
außerdem im Nebeneinander. In der Vielheit der Erscheinungen,
deren jede ihre unverminderte Besonderheit bewahrt, erblickt
Goethe — mit diesem Paradoxon, das später noch seine Ver-
breiterung finden wird, kann man seine Weltanschauung wohl
formulieren — das zeitlose Leben der kosmi-
Einheit als Wahrheitsbeweis 71
schenEinheit; gibt er doch selbst dem Letzten, „Unschau-
baren", uns für immer Problematischen einmal den geheimnis-
vollen Ausdruck: ,,das ewig tätige Leben in Ruhe gedacht"!
Der Alleinheitslehre Spinozas konnte es nicht gelingen, der Ein-
heit und der Vielheit gleichmäßig und synthetisch gerecht zu
werden, weil ihm der Lebensbegriff fehlte. Daß Spinoza das
Werden dem Sein opferte, ist nur ein andrer Ausdruck dafür,
daß er das Viele dem Einen opferte. Er fand die Brücke nicht
vom Einen zum Vielen, die für Goethe in dem stetigen Werden,
Entfalten, Umbilden des Lebensprozesses lag. Von hier aus ge-
sehen ist der Begriff der ,, Metamorphose" nicht mehr ein Einzel-
erkenntnis über die Organismen, sondern die verdeutlichende
Steigerung des Lebensbegriffes. „Soviel getraue ich mir zu be-
haupten, daß, wenn ein organisches Wesen in die Erscheinung
hervortritt, Einheit und Freiheit des Bildungstriebes ohne den
Begriff der Metamorphose nicht zu fassen sei." Die Metamor-
phose erscheint hier also als ein Synonymum des Lebens überhaupt,
das die Ausformung eines Einen zum Vielen, d. h. zu der Frei-
heit mannigfaltigster, individualisierendster Gestaltung bedeutet.
Dies also ist ungefähr Sinn und Grund, mit dem die Einheit
als fundamentale Kategorie des Goetheschen Weltbildes auf-
tritt, als eine Seite der ,,Idee", deren Manifestation die Er-
scheinungswelt ist. Und weil sie ihm der Formungsgrund des
.Seins ist, ist sie auch der Rechtsgrund der Erkenntnis; d. h. —
und damit komme ich wieder auf unsern Leitgedanken zurück —
wo das Erkennen die Einheit seines Gegenstandes zerstört, hat
es sich eben dadurch als unrichtiges erwiesen. Die Zerlegung der
Autorschaft Homers schien er zuerst, unter dem Zwang der
Wolfschen Beweise, anzuerkennen; sobald sich aber auch nur
die Möglichkeit zeigte, ihre Einheit wieder herzustellen, nahm
er sie mit Leidenschaft auf und seine Äußerungen machen es
ganz klar, daß ihm die Zerstückelung, eben weil sie Zerstückelung
war, als irrig erschien. Noch unter dem Eindruck jener Unter-
suchungen Wolfs formuliert er die Einheit Homers zunächst als
etwas ganz Ideelles, als die innere, organisch-künstlerische
Wertform:
72 Zerstückelung
Ewig wird er euch sein der Eine, der sich in Viele
Teilt und einer jedoch, ewig der Einzige bleibt.
Findet in Einem die Vielen, empfindet d;e Vielen wie Einen,
Und ihr habt den Beginn, habet das Ende der Kirnst.
Allein dieser ästhetischen Korrelation von Einheit und Viel-
heit wird jedenfalls innerhalb der Realität eher durch Einheit
als durch Vielheit der Autorschaft genügt. Und so wird ihm die
Einheit, von der er als von der Idee, der immanenten Forderung
des Kunstwerks, nicht lassen kann, zum Kriterium über Wahrheit
und Falschheit der Wirklichkeitserkenntnis: die Wolfsche
Hypothese ist ihm falsch, weil sie die Einheit, die imperativische
Kategorie von Sein und Kunst, zerreißt. — Innerhalb der geo-
logischen Theorien widerstreben ihm vor allem die vulkanistischen,
die die Oberfläche der Erde durch plötzliche Eruptionen, ge-
walttätige Katastrophen erklären wollen; die ruhigen und lang-
samen Wirkungen, von der Art, wie sie täglich zu beobachten
sind, scheinen ihm auch die außerordentlichsten Konfigurationen
zustande zu bringen. Sieht man die Ausdrücke an, mit denen
er den Vulkanismus charakterisiert: gewaltsames Aufregen,
vermaledeite Polterkammer der neuen Weltschöpfung usw. —
so möchte es scheinen, als wäre der Haß seiner ,, konzilianten
Natur" gegen alles Gewalttätige, Ungeordnete, Abrupte das
letzte Motiv der Polemik. Dennoch scheint mir etwas noch
Allgemeineres hier zum Grunde zu liegen. Goethe war keines-
wegs, trotz jener Konzilianz, eine so weichmütige und un-
kräftige Natur, daß er Kampf und Aufruhr der Elemente im
Weltbild nicht ertragen hätte und sich durch persönliche Anti-
pathie dagegen eine objektive Theorie hätte aufdrängen lassen.
Ich glaube vielmehr, daß das entscheidende Motiv in der Fort-
setzung jener vorhin angeführten Äußerung über die geognostische
,, Zerstückelung der schönen Erdoberfläche" liegt: jene Erup-
tionen und Katastrophen durchbrechen ihm das einheit-
liche Bild der Natur, indem sie Kräfte einführen, die gegen-
über den beobachtbaren, alltäglichen, fremd und dualistisch
sind. Nicht die Gewaltsamkeit an und für sich erscheint ihm als
Beweis gegen den Vulkanismus, sondern daß sie gleichsam in der
Künstlerische Einheit 73
Ordnung der Natur nicht vorgesehen ist und ihre Einheit zerreißt.
Und zwar die Einheit gemäß seiner Naturmetaphysik, die mor-
phologische, an der ,, Gestalt" bestehende. Gegen die Einheit der
mechanistischen Naturgesetzlichkeit verstößt der Vulkanismus
in keiner Weise. Die Bewegungen der kleinsten Teile folgen der
allgemeinen Gesetzlichkeit genau so, wenn sie ein für die mensch-
liche Auffassung der Phänomene ruhiges, normales, kontinuier-
liches Bild, wie wenn sie ein uns gewaltsam und durchrissen vor-
kommendes ergeben. Wohl aber mochte Goethe die Einheit
der anschaulichen Form, die sich sozusagen mit der Ununter-
brochenheit gleichmäßiger Wirkungen in das Nacheinander über-
trägt, als zerstört empfinden, wenn in die Konstanz ruhiger, uns
dauernd vor Augen liegender Umformungen ein plötzliches
Heben und Schleudern, Brechen und Beben hineinfahren sollte.
Der scheinbar unwesentliche Unterschied der Begründungen ist
tatsächlich von tiefer Bedeutung; denn er führt das nur sub-
jektiv-gefühlsmäßige, eigentlich recht anthropomorphe Motiv
der Aversion gegen Gewalttätigkeit und Ungestüm in der Natur
auf das weltanschauungsmäßige der Einheit des Naturbildes
zurück. Die Einheit der Natur für Goethe ist der Einheit
zu vergleichen, die der Maler oder Plastiker unter den Ele-
menten einer menschlichen Gestalt herstellt, im Unterschied
gegen die physiologische, unter der Oberfläche durch den Kreis^
lauf und das Wechselspiel der kleinsten Teile hergestellte Ein-
heit. Die künstlerische Einheit spielt sich rein innerhalb der
Erscheinung ab, verbindet deren Teile rein nach den Forderungen
der Anschaulichkeit, hat nur das Interesse, daß das Auge des
Beschauers und die auf dessen Spuren sich in das Objekt ein-
fühlende Seele die Vorstellung des Zusammengehörens der
Oberflächenelemente gewinne; wie diese durch den realen, aber
unsichtbaren Lebensprozeß verbunden sind, geht die künst-
lerische Einheitsforderung nichts an. Sie ist relativ subjektiv,
aber ihr Gegenstand ist die unmittelbar empirische Gegebenheit.
Umgekehrt ist für die wissenschaftliche Erkenntnis der Lebens-
einheit ein solches Zusammenfassen der zufälligen Oberflächen-
teile ganz bedeutungslos, sie ist relativ objektiv, aber sie lebt in
74 „Erscheinung" bei Kant und bei Goethe
der Überwindung des unmittelbaren Augenscheines. Das Einzig-
artige und Entscheidende der Goetheschen Weltanschauung liegt
darin, daß er jene morphologisch-künstlerische Synthese des
Anschaulichen zu kosmisch-metaphysischer Bedeutung hebt.
Nun liegt die Oberfläche der Dinge nicht mehr wie eine ablösbare
Haut oder ein vom Subjekt her über sie hingestreuter Schein
ihrem eigentlichen Wesen, ihrer Wirklichkeitstiefe auf; sondern,
wenn sie nur recht nach der Eigengesetzlichkeit der Idee be-
schaut wird, ist sie die volle Offenbarung des Seins:
,, Nichts ist drinnen, nichts ist draußen,
Denn was innen, das ist außen."
Es ist — natürlich nicht mit systematischer Symmetrie — das
Gegenstück zu der ,,Kopernikanischen Tat" Kants. An die
Stelle der herrschenden philosophischen Meinung: die empirische
Erscheinung habe mit dem eigentlich Wahren des Daseins
nichts zu tun, dieses vielmehr stelle sich nur einem unsinn-
lichen Vernunftvermögen — setzte Kant die Erkenntnis: die
Erscheinung ist die volle Wirklichkeit, sie ist keineswegs nur die
Schale eines transphänomenalen Innern, welches vielmehr ,,eine
bloße Grille" ist; sie ist freilich auch nicht bloße Sinnesimpression,
sondern die Formgebung durch den Verstand bringt sie auch als
Erscheinung erst zustande. Vielleicht ist diese These im Grunde
nicht weniger paradox als die Goethesche: daß in der Erscheinung
das letzte Wesen der Dinge sich unmittelbar darstelle — sobald
sie nicht bloße Sinnesimpression sei, sondern gemäß den
Forderungen der ,,Idee" angeschaut würde. Für Kant ist es die
intellektuelle Formung, die der Sinneserscheinung die volle, von
aller transzendenten Problematik entlastete Realität gibt — für
Goethe die künstlerische Formung; denn so kann man es ja
wohl bezeichnen, daß die Erscheinung dem klaren Blick in sich
selbst die Idee entgegenträgt. Wie deshalb für Kant diejenige
Erscheinung real ist, deren sinnlich gegebener Inhalt den Kate-
gorien des Verstandes entspricht, so erkennt Goethe nur dasjenige
Bild als im höchsten und definitiven Sinne richtig an, dessen sinn-
liche Gegebenheit den Forderungen der Idee genügt. Darum wird
ihm nun diese zum Kriterium der Richtigkeit einer Vorstellungs-
Einheit mit sich und mit cmdem 75
weise, und darum erkennt er, aus der Idee der Einheit heraus,
weder die Vielheit der Homeriden noch den Vulkanismus an —
nicht weil diese Bilder seinem ästhetischen Gefühl unangenehm
wären, sondern weil, auf Grund seiner metaphysischen Über-
zeugung von der absoluten Realität der ideengeformten Erschei-
nung, die ästhetische Unzulänglichkeit jener Erscheinungen ihm
das Signal für ihre theoretische, ja, mit dieser identisch ist. In-
dem die Erscheinung in ihrer anschaulichen Wirklichkeit als
in sich einheitlich gelten kann, ist sie auch mit der Idee einheit-
lich. Jenes merkwürdige, anderwärts behandelte Wort: ,,Wer
mit sich einig ist, ist es auch mit andern" — zeigt sich damit als
ein Fall einer ganz allgemeinen metaphysischen Maxime. Die
Einheit der Erscheinung in sich selbst bedeutet eine Vollendung
ihrer, mit der sie gleichsam über sich hinausgreift und ihre Ein-
heit mit den Realitäten oder Idealitäten außerhalb ihrer selbst
offenbart. Hier liegt eine, wenn auch entfernte Verwandtschaft
mit Goethes merkwürdiger Äußerung vor: ,, Alles in seiner Art
Vollkommene müsse über seine Art hinausgehen". So ist die voll-
kommene innere Einheit eines Stückes der Welt entweder der
Erkenntnisgrund oder die Bedingung oder die Folge davon, daß
auch zv/ischen ihm und dem, was jenseits seiner ist, Einheit
besteht. —
Erfaßt man die Idee der Einheit in ihrer ganzen Lebendig-
keit und Weite, mit der sie in Goethes Weltanschauung wirkt,
so kann sie wohl als deren Fundament gelten; alle übrigen
Ideen, deren Offenbarung er in den Erscheinungen sucht und
die ihm zu Kriterien für deren richtige Erkenntnis werden, lassen
sich als irgendwie von jener abhängige, als ihre Ausgestaltungen
oder Bedingungen deuten. Ich behandle noch drei Formmotive
dieser Art: die Kontinuität, die Polarität, das Gleichgewicht.
Jene Abneigung gegen den Vulkanismus ist ohne weiteres als
Glaube an die Kontinuität im Sein und Geschehen der Natur anzu-
sprechen. Ich führe eine entscheidende Stelle an: ,, Alle Wirkungen,
von welcher Art sie seien, die wir in der Erfahrung bemerken, hän-
gen auf die stetigste Weise zusammen , gehen ineinander über — jene
Tätigkeiten, von der gemeinsten bis zur höchsten, vom Ziegel-
76 Kontinuität
stein, der dem Dach entstürzt, bis zum leuchtendsten Geistes-
blick, der dir aufgeht und den du mitteilst, reihen sie sich an-
einander." In ganz eminentem Sinne ist diese Maxime für die
Goethesche Seinsbetrachtung charakteristisch: denn keine andere
bindet Formung, Ordnung, Gesetz so unbedingt an die Er-
scheinung der Dinge, an die morphologische Wirklichkeit.
Beschränkt man sich ganz rein auf die Erscheinungen, deren
unabsehliche Individualisiertheit man zugeben muß, so kann
man ihre ,, Einheit", die Gestaltung eines Ganzen aus ihnen eben
nur auf jene abgestuften Ähnlichkeiten hin zustande bringen.
Die Betrachtung der Wesen nach der ,, Gestalt" hat an und für
sich etwas Isolierendes und es ist die gigantische Bestrebung des
Goetheschen Naturverstehens, diese Umschlossenheit und Ver-
einzelung der Gestalten von einem einheitlichen, vibrierenden.
Alles mit Allem verbindenden Leben durchfluten zu lassen. In-
soweit man nun in dieser Tendenz nicht von einem innern Le-
bensprinzip ausgeht, sondern die Einheitsform den unmittel-
baren Erscheinungen abgewinnen will, so müssen diese, mögen
es Gestalten des Ruhenden oder des Bewegten sein, in eine Reihe
sich ordnen lassen, in der sozusagen kein Unterschied der kleinste
ist, sondern zwischen je zwei differente Glieder noch immer
weitere sich einstellen und die Vermittlung durch morphologische
Zusammenhänge ins Unendliche geht. ,, Welch eine Kluft, sagt
er in Hinsicht einer ihm besonders wichtigen Reihe, zwischen
dem OS intermaxillare der Schildkröte und des Elefanten, und
doch läßt sich eine Reihe Formen dazwischen stellen, die beide
verbindet." Zwischen der ,, Kontinuität" im Sinne einer stetig
fließenden Bewegtheit und der singulären Einheitlichkeit der
Gestalt besteht, wie ich oben sagte, eine tiefe Diskrepanz; aber
die Kontinuität im Sinne der Aufreihbarkeit der Gestalten nach
ihrer morphologischen Berührung vermittelt zwischen beiden, sie
ist gleichsam das statische Symbol für jene Labilität. Auf das
Gesetz von Hervorbringung, Wachstum, Entwicklung soll gerade
dies deuten: ,,Alle Gestalten sind ähnlich und keine gleichet der
andern." Durch das ideelle Verbundensein von Gestalt mit Gestalt,
sei diese Ereignis, sei sie substanzielles Wesen, wird die Verbindung
Verbundenheit der Sinne 77
jedes Einzelnen mit dem Ganzen erreicht, ohne die ,,in der
lebendigen Natur nichts geschieht". Zerlegt man den stetigen
Fluß der Entwicklung in einzelne „Zustände", so ist deren
Kontinuität genau so wie die der singulären Gestalten zu be-
trachten. ,,Wie ein Wesen in seiner Erscheinung beginnt, so
schreitet es fort und endigt auf gleiche Weise"; nur durch Kon-
tinuität der Zustände kann sich diese Wesenseinheitlichkeit mit
der fortwährenden Unruhe, dem Gestalten und Umgestalten,
Trennen und Verbinden innerhalb des Lebendigen vertragen.
Eine Disposition zu der so angenommenen Kontinuität der
Erscheinung liegt, wie ich glauben möchte, schon in einer sinn-
lichen Besonderheit von Goethes Naturanlage: in dem Inein-
ander-Übergehen der Eindrücke ganz verschiedener Sinne. Vor
der ungeheuren Einheitlichkeit seines Wesens verschwindet
gleichsam die Disparität der Sinnesgebiete, ohne weiteres reiht
sich ein Stück des einen in das andere ein; man hat das Gefühl,
als verliefe sein inneres, insbesondere sein dichterisch ausge-
drücktes Leben, in seinem tiefsten Grunde, als ein eigentlich nur
dynamischer Wechsel, ein An- und Abschwellen oder auch ein
polares Umspringen einer Daseinsintensität, und als seien alle
qualitativen Mannigfaltigkeiten, in denen diese sich darbietet,
dadurch innerlichst verbunden; als übergriffe die Einheit dieses
Lebens alle Abstände, die seine Inhalte zeigen, sobald sie aus
dem Leben heraus und in bloße isolierte Sachlichkeit gestellt
werden. Als erlebte lassen sie ihre logische oder dinghafte Dis-
parität in eine Kontinuität übergleiten, die auch jede Sinnes-
impression mit jeder verwandt macht und jeden Stellenwechsel
unter ihnen legitimiert. Da diese Linie in seinem Bilde vielleicht
noch nicht hinreichend herausgehoben ist, führe ich die Stellen
an, die mir zur Hand sind. In einer symbolischen Darstellung
des Orpheusmythus äußert er: ,, Das Auge übernimmt Funktion,
Gebühr und Pflicht des Ohres" — in der Ausführung des Ge-
dankens, daß die Architektur eine ,, verstummte Tonkunst" ist.
Es gilt für den Marmor wie für den Busen der Geliebten: ,,Sehe
mit fühlendem Aug', fühle mit sehender Hand"; und aus ihren
Augen hört er ein ,, lieblichstes Getön". Ja, selbst „die Kühle"
78 Stetigkeit als Wirklichkeitskriterium
schleicht ihm „durchs Auge" ins Herz — und Wasser und Höhle
sprechen Laute, die der „Künstler blick vernimmt". Geruch
und Geschmack sind nicht ausgeschlossen : der Wasserfall ver-
breitet „duftig kühle Schauer". „Von buntesten Gefiedern —
Der Himmel übersät — Ein klingend Meer von Liedern — Ge-
ruchvoll überweht." „Ich habe nichts dagegen, wenn man die
Farbe sogar zu fühlen glaubt; ihr eignes Eigenschaftliche würde
nur dadurch noch mehr bestätigt. Auch zu schmecken ist sie.
Blau wird alkalisch, Gelbrot sauer schmecken. Alle Manifesta-
tionen der Wesenheiten sind verwandt." Gerade gelegentlich des
„Stufenweges vom Unvollkommnen zum Vollkommnen" äußert
er: ,,Die wundersame Erfahrung, daß ein Sinn an die Stelle des
andern einrücken und den entbehrten vertreten könne, wird uns
eine naturgemäße Erscheinung, und das innigste Geflecht der
verschiedensten Systeme hört auf, als Labyrinth den Geist zu
verwirren." Und endlich klingt der Gedanke des Ineinander-
Aufgehens der Sinne in dem Vers des Divan an: ,,Ist somit dem
Fünf der Sinne Vorgesehn im Paradiese, Sicher ist es, ich gewinne
Einen Sinn für alle diese." Was im Empirischen als bloße
Kontinuität und Grenzvermischung der Sinne erscheint, ist hier zu
phantastisch-metaphysischer Vollendung geführt.
Die Stetigkeit in der Reihe der Gestaltungen, die an solchen
Äußerungen ihr persönlich-sinnliches Symbol findet, wird ihm
zum Erkenntniskriterium, gerade wie die Einheit und die ästhe-
tische Bedeutsamkeit der Einzelgestalt ; denn erst indem all
diese ,, Ideen" in der Wirklichkeit aufzeigbar sind, oder, von
der andern Seite gesehen, nur das, was sie aufzeigt, als Wirk-
lichkeit anerkannt wird , realisiert sich das entscheidende
Grundmotiv: das Zusammen von Wirklichkeit und Wert. So
folgert Goethe weiterhin, daß man sich in der Naturwissen-
schaft nie mit einem isolierten Faktum begnügen dürfe, sondern
durch Versuche alles , was irgendwie daran grenzt, er-
kunden müsse. Diese Reihung und Folgerung ,,des Nächsten
aus dem Nächsten" hätten wir von der Mathematik zu
lernen, in der sich ,, jeder Sprung in der Assertion offenbart."
Hier also wird die Kontinuität zum Erkenntnismittel: wo sie
Kontinuität und Systematik 79
nicht hergestellt oder herstellbar ist, wird die Wirklichkeit nicht
erfaßt. Das Weltbild, das so gewonnen — oder vielleicht vor-
ausgesetzt — wird, charakterisiert sich durch seinen Gegensatz
zu aller ,, Systematik".
Denn an der Auffassung des Daseins als eines Systems oder
als einer Kontinuität scheiden sich tiefste geistige Wesens-
tendenzen. Der Systematiker setzt die Dinge mit scharfer be-
grifflicher Abgrenzung außereinander und gewinnt Einheit für
sie, indem er ihre begrifflichen Inhalte in ein symmetrisch ge-
bautes Ganzes einstellt. Wie das einzelne Element, so ist auch
das Ganze ein Fertiges, Abgeschlossenes, eine feste Form aus
festen Formen, geordnet nach architektonisch-einheitlichem Prin-
zip, das jedem überhaupt denkbaren Element seine Stelle gleich-
sam vorbestimmt. Gegen diese Tendenz nun wendet sich Goethe
nach einer fast fünfzigjährigen naturwissenschaftlichen Beschäf-
tigung mit den Worten: ,, Natürlich System: ein widersprechen-
der Ausdruck. Die Natur hat kein System; sie hat, sie ist Leben
und Folge aus einem unbekannten Zentrum, zu einer nicht er-
kennbaren Grenze. Naturbetrachtung ist daher endlos, man mag
ins Einzelnste teilend verfahren oder im ganzen nach Breite und
Höhe die Spur verfolgen." Von der hiermit angedeuteten Dynamik
des Lebens abgesehen, gestattet ihm schon die Stetigkeit der Er-
scheinungen kein System. Denn wo Kontinuität ist, verbietet
sich jene Abgrenzung von Einheit gegen Einheit, die Unter-
schiede werden zu unmerklich, um eine begriffliche Hierarchie zu
bilden. Da es jetzt keine Stelle gibt, die nicht ein Crescendo und
ein Diminuendo neben sich hätte, so ist auch ein Abschluß des
Ganzen nicht möglich, das Verhältnis der Elemente kann sich
nicht zu einer irgendwie genügsamen Einheit zusammenschließen,
da zwischen je zweien eine unübersehliche Zahl von Zwischen-
stufen sich drängt, für die das System als ein Bau aus Begriffen
keinen Platz hat. Am schönsten und reinsten hat Goethe in den
Berichten über sein botanisches Studium diesen Gegensatz ent-
wickelt, in dem Partei zu nehmen ihn freilich die Geltung des
Linn6schen Systems besonders aufreizen mußte. Dies ganze
System ruht für ihn auf der praktischen Zweckmäßigkeit des
80 Abweisung der Systemform
Zählens; es setze also ein genaues Trennen der einzelnen Pflan-
zenteile gegeneinander voraus, die Feststellung jeder Form als
eines von allen übrigen, von den vorhergehenden wie den folgen-
den völlig verschiedenen Wesens. Da nun aber ein Organ, eine
Form in die andre mit unfaßbaren Übergängen gleitet, so muß das
System ,, alles Wandelbare als stationär, das Fließende als starr,
das gesetzlich rasch Fortschreitende als sprunghaft, das aus sich
selbst hervorgestaltete Leben als etwas Zusammengesetztes"
ansehen. Er gesteht, angesichts der fortwährenden Umbildungen
und Beweglichkeiten der Pflanzenorgane den Mut zu begrifflichen
Fixierungen und Grenzsetzungen verloren zu haben. ,, Unauflös-
bar schien mir die Aufgabe, Genera mit Sicherheit zu bezeichnen,
ihnen die Spezies unterzuordnen." Und schon lange vorher habe
das ,, scharfe Absondern" Linnes in seinem Innern einen Zwie-
spalt erzeugt: ,,Das, was er mit Gewalt auseinanderzuhalten
suchte, mußte, nach dem innersten Bedürfnis meines Wesens, zur
Vereinigung anstreben." Der Systematik gegenüber, für die
,, alles fertig" ist, die ,,nur ein Versuch ist, viele Gegenstände in
ein gewisses faßliches Verhältnis zu bringen, das sie, streng ge-
nommen, untereinander nicht haben" — ist es seine Denkweise
,,das Ewige im Vorübergehenden" zu schauen. Alle
Pflanzenorgane sind ihm die in absatzlosen Prozessen vollzogenen
Umbildungen eines einzigen Grundorgans — wie er auch von allen
, »vollkommenen organischen Naturen", von den Fischen bis zum
Menschen, behauptet, daß sie nach einem ideellen Urbilde
geformt seien, ,,das nur in seinen sehr beständigen Teilen mehr
oder weniger hin und her weicht und sich noch täglich durch Fort-
pflanzung aus- und umbildet." Sehr früh schon scheint er die
Gefahr der Systematik empfunden haben: daß das System, wegen
seiner logisch geschlossenen, bequem zu handhabenden, architek-
tonisch befriedigenden Form sozusagen um seiner selbst willen
gesucht und namentlich festgehalten wird und uns hindert, dem
jeweiligen Verhalten der Dinge vorurteilslos und anschmiegsam
nachzugehen; so daß ihm das System ganz einfach zum Gegenteil
der Sachlichkeit und selbstlos gesuchten Wahrheit wird — der
Wahrheit, in der sich alles in Einheit und Kontinuität aneinander-
Gestalt und Werden 81
schließt: ,, Soviel Neues ich find'," schreibt er, „finde ich doch
nichts Unerwartetes; es paßt alles und schließt sich an,
weil ich kein System habe und nichts will, als die Wahrheit um
ihrer selbst willen." Goethe hatte das stärkste Gefühl, die ent-
schiedenste Vorstellung von dem unstaubaren Flusse alles
Lebens, alles Geschehens; so trivial der Gedanke der unaufhör-
lichen Bewegtheit des Daseins ist, so schwierig und, wie ich glaube,
selten ist es, daß damit wirklich und restlos Ernst gemacht wird.
Der relativen Grobheit und Langsamkeit unserer Sinne, vor allem
unserm praktischen Verhalten zu den Dingen entspricht es, uns
an die Fiktion fester Querschnitte und beharrender Zustände zu
halten. Goethe aber gehörte zu den heraklitischen Menschen, deren
eigne innere Lebendigkeit und stillstandslose Entwicklung ihnen
gleichsam einen physisch-metaphysischen Sinn gibt für die rast-
losen Pulsationen, das stetige Sterben und Werden, Sich-Ent-
wickeln und Herabsinken unter der Scheinstarrheit aller Ober-
flächen. In höchst schwierigem und fragwürdigem Verhältnis aber
zu dieser Absolutheit von Werden und Wandel steht Goethes
plastischer Sinn, der auf die ,, Gestalt" in ihrer klassischen Ruhe,
auf die Geschlossenheit und den Ewigkeitszug der Erscheinungen
geht. Mit wieviel Vorbehalten auch nur man derartige prinzipielle
Gegensätze historisch lokalisieren darf: es ist der griechisch-
italienische Geist, der hier gegen den germanischen steht, und man
hat schon lange hervorgehoben, daß Goethes Lebensarbeit und
Lebensintention im Antagonismus, Wechsel, Vereinheitlichung
dieser weltgeschichtlichen Parteien verläuft. Ich lasse dahin-
gestellt, ob er selbst ein theoretisches Bewußtsein über die Tiefe
des Abgrundes hatte, der sich zwischen der künstlerischen Um-
grenztheit und Selbstgenügsamkeit der ,, Gestalt" und der Unend-
lichkeit des Werdens auftut, sobald das eine und das andere zur
Dominante des Weltbildes wird. Er bringt die Gegensätze ganz
nahe zusammen: ,, Geprägte Form, die lebend sich entwickelt" —
darin liegt das ganze Problem. Denn das ist ja eben die Frage, die
diese Formulierung garnicht als Frage anerkennt: wie die Form
leben kann, wie das schon Geprägte sich noch ent-
wickeln kann, oder ob überhaupt Geprägtheit und Entwick-
Simmal, Goethe. 6
82 Kontinuität als Vermittlung
lung nicht eine Unvereinbarkeit sind. Immerhin spricht er
das seelisch-metaphysische Problem als ein praktisches
höchst deutlich aus: ,,Daß dein Leben Gestalt, dein Gedanke Leben
gewinne, Laß die belebende Kraft stets auch die bildende sein."
Ja, einmal scheint es, als wolle er ihm überhaupt nur im prakti-
schen Sinne eine Stelle zuerkennen: ,,Das Höchste, das Vorzüg-
lichste am Menschen ist gestaltlos und man soll sich hüten, es
anders als in edler Tat zu gestalten." Im theoretischen Sinne
indes liegt hier die letzte Bedeutung des Kontinuitätsprinzips.
Wenn die pausenlose Umgestaltung, die kosmische Strömung an
dem, was wir Ding, Form, Gestalt nennen. Halt zu machen, und
die einzelnen Erscheinungen damit dem Gesetz des allgemeinen
Lebens entrissen, aus diesem auskristallisiert zu sein scheinen — so
bieten sie jedenfalls eine um so deutlichere Spur jenes Gesetzes,
je näher sie nach ihren Qualitäten aneinanderrücken, je unmerk-
licher dem betrachtenden Geist der Übergang von einer zur andern
wird. Dies subjektive kontinuierliche Gleiten des Blickes ist
Gegenbild und Symbol der Stetigkeit des objektiven erzeugenden
Prozesses, der aus den so anzuordnenden Erscheinungen ver-
schwunden ist. Die fertigen Gestalten, wie der praktische und
der künstlerische Blick sie ausschneiden, gehen nicht funktionell
ineinander über; aber das Maß ihrer Ähnlichkeit, ihrer möglichen
Anordnung in Reihen nach zu- und abnehmenden Qualitäten ist
das Maß, in dem sich die Einheit der erschaffenden Funktion in
ihnen gleichsam abgelagert hat und sich an ihnen verrät. Gewiß
wird die tiefe Fremdheit zwischen der Welt als stetig-lebendigem
Werden und der Welt als Summe von Gestalten dadurch nicht
verneint, daß diese Gestalten Reihen bilden, in denen kein Unter-
schied der kleinste ist und für die die Welt, um den Abstand je
zweier zu füllen, jedesmal eine Unendlichkeit abgestufter Zwi-
schenerscheinungen anbietet; Begrenztheit bleibt eben Begrenzt-
heit und wird nicht Bewegung über die Grenze hin, so nahe man
auch die Inhalte der Begrenztheiten aneinanderrückt. Aber
das so entstehende Bild gewinnt allerdings eine ins Unbegrenzte
wachsende Beziehung zu dem des absoluten Werdens; eine von
dem letzteren beherrschte Welt muß allerdings, zu Gestalten ver-
Polarität 83
festigt, diese in Reihen mit unendlich kleinem Abstand je zweier
Nachbarwesen einstellen lassen. Die Idee der Kontinuität, schein-
bar nur das äußerliche Nebeneinander der Phänomene ordnend,
enthüllt sich so als der Punkt, an dem die großen weltgeschicht-
lichen Gegensätze in Goethes Wesen und Welt sich zueinander-
neigen — deshalb auch als ein regulatives Prinzip, wie Schönheit
und Einheit, nach dessen Durchführung im Reich der Erfahrung
er unablässig strebte, weil das Maß ihrer Erfüllung zugleich
das Maß der Wahrheit über die Wirklichkeit war. —
Die Vielheit der Erscheinungen, die Mannigfaltigkeit der Sta-
dien, an denen die Welt ebenso wie die Seele ihre Einheit leben,
ist aber noch einer anderen Formung zugängig, die ihre Inhalte
der Zufälligkeit entkleidet und sie, rein als Inhalte, aufeinander
anweist. Es ist das Prinzip der Polarität oder der Bewegung und
Gegenbewegung, oder, mit dem Gleichnis, das er so gern gebraucht:
des Einatmens und Ausatmens. Eigentlich scheint dies in einer
gewissen Fremdheit, ja Unverträglichkeit neben dem Prinzip der
Kontinuität zu stehen. Aber wenigstens andeutungsweise zeigt
sich auch hier die großartige Fähigkeit des Goetheschen Geistes,
die Herrschaft eines Prinzips auch gerade an seinem Gegensatz
aufzuweisen, indem eine höhere Bedeutung und Kraft seiner
die Relation zwischen ihm selbst und diesem Gegensatz übergreift.
Er habe seit langem gewünscht, schreibt er, den Begriff der
Polarität in die Farbenlehre einzuführen. Denn dadurch fühle
er sich imstande, ,, die Farbenlehre an manches Benachbarte anzu-
schließen und mit manchem Entfernten in Reihe zu stellen". Die
Erscheinungskreise also, deren jeder in sich dem Gesetze der
Polarität Untertan ist, werden durch diese Formgleichheit ein-
ander zugeordnet, so daß sie sich nach den Maßen, in denen sie
dies Gesetz offenbaren, in die Kontinuität eine R e i h e zu schlie-
ßen vermögen.
Alle Dinge also leben in einer unaufhörlichen Entzweiung mit
sich selbst und mit anderen, die sich unaufhörlich versöhnt, um
sich wieder zu spalten: ,,Der mindeste Wechsel einer Bedingung,
jeder Hauch manifestiert gleich in den Körpern Polarität, die
eigentlich in ihnen allen schlummert." Ein Inhalt, ein Zustand,
6*
84 Innere Gegensätzlichkeit
ein Geschehen fordert seinen Gegensatz und diese Spannung oder
Altemierung offenbart eben dasselbe Leben, das sich im nächsten
Augenblick als Einheit der Gegensätze dokumentiert; er be-
stimmt Polarität als die Erscheinung „des Zwiefachen, ja Mehr-
fachen in einer entschiedenen Einheit". Darum ist ihm der
Magnetismus von größter Wichtigkeit, als ein ganz reines Beispiel
der ,, Entzweiung, die doch wieder nur eine Vereinigung ist".
Dies ist ihm ,,ein Urphänomen, das unmittelbar an der Idee steht
und nichts Irdisches über sich erkennt". ,,Das Geeinte zu ent-
zweien, das Entzweite zu einigen ist das Leben der Natur; dies
ist die ewige Systole und Diastole, die ewige Synkrisis und Dia-
krisis, das Ein- und Ausatmen der Welt, in der wir leben, weben
und sind." Auch ist es ihm klar, — was für unsern Zusammen-
hang das wesentliche ist — daß hiermit ein Organisierungs-, ein
Lebens prinzip für die Masse des Daseienden gegeben sei. Aus
Kants Theorie der Anziehung und Abstoßung als Wesen der
Materie, so berichtet er, sei ihm ,,die Urpolarität aller Wesen
hervorgegangen, welche die unendliche Mannigfaltigkeit der
Erscheinungen durchdringt und belebt". Als künstlerisches
Organisationsprinzip hat ihm die Polarität von vornherein gedient,
indem die wichtigsten seiner Dichtungen in je einem Paar von
Männern die Polaritäten der menschlichen, genauer, der männ-
lichen Natur in ihr Zentrum stellen: Weislingen-Götz, Wer-
ther-Albert, Clavigo-Carlos, Faust-Mephisto, Egmont-Oranien,
Orest-Pylades, Tasso- Antonio, Eduard- der Hauptmann, Epime-
theus-Prometheus. Dies setzt sich in das Individuum selbst fort,
indem eine Äußerung seines hohen Alters die Urbestandteile
unsres Wesens ausschließlich aus Gegensätzen bestehen läßt:
,, Unser Geist scheint zwei Seiten zu haben, die ohne einander nicht
bestehen können. Licht und Finsternis, Gutes und Böses, Hohes
und Tiefes, Edles und Niedriges und noch so viele andere Gegen-
sätze scheinen, nur in veränderten Portionen, die Ingredientien
der menschlichen Natur zu sein." Endlich in das ganz Intime
hinein und in negativem Ausdruck: ,, Wirst du deinesgleichen
kennen lernen, So wirst du dich gleich wieder entfernen." Dieses
Wirklichkeitsverhältnis wendet sich in das Verhalten der Be-
Über-relative Einheit 85
trachtung: „Jedes Existierende ist ein Analogen alles Existieren-
den; daher erscheint uns das Dasein immer zu gleicher Zeit ge-
sondert und verknüpft. Folgt man der Analogie zu sehr, so fällt
alles identisch zusammen; meidet man sie, so zerstreut sich alles
ins Unendliche. In beiden Fällen stagniert die Betrachtung,
einmal als überlebendig, das andere Mal als getötet." Und damit
zeigt sich nun die Einheit gleichsam in höherer Instanz. Sie legt
sich nicht nur in Gegensätze und polare Getrenntheiten ausein-
ander, mit dieser Korrelation sich in latentem Zustand zeigend
und in der Wiedervereinigung sich aktualisierend; sondern Ent-
zweiung und Vereinigung sind selbst Pole und Pendelschwin-
gungen der höchsten, innigsten Lebenseinheit! Antithesis und
Synthesis sind die Momente der eigentlichen und absoluten
Synthese, die absolute Einheit von Dasein, Leben, Seele steht über
der relativen, die ihre Ergänzung, ihr Korrelat in der Antithesis
findet. Hiermit erst ist Spinoza wirklich überwunden — nicht im
Sinne von Abwendung und Widerlegung, sondern durch Gewinn
der höheren Stufe. Solange Entzweiung und Einung sich sozu-
sagen als Parteien gegenüberstehen, zwischen denen die Ent-
scheidung pendelt, wird die Einung einen gewissen Wertakzent
haben, als wäre sie das eigentlich Definitive, zu dem das Außer-
einander, die Differenziertheit hinstrebt. Hier wird die Spinozi-
stische, auf das absolute Eins gehende und die Vielheit im Letzten
ausschließende Tendenz immer im Vorteil sein. Anders aber,
wenn Getrenntheit und Einheit selbst wieder als die differenzierten
Momente einer höheren Einheit: des Lebens selbst — vorgestellt
werden, wenn jene beiden selbst nur wieder eine Vielheit sind,
durch die oder in der das Leben pulsiert, in deren Spannung
und Wechsel es seine Einheit vollzieht.
Hier wie sonst werden sich die Elemente seiner Weltanschauung
nach demselben Gesetz erwachsen zeigen, das sein persönliches
Leben formt. Aber hier wie sonst handelt es sich nicht um einen
Egomorphismus, bei dem das Phänomen, das der Mensch sich
selbst bietet, die Art, wie er sich subjektiv anschaut, ihm zum
Modell seines Weltvorstellens wird. Vielmehr: die objektive,
wesenhafte Kraft, die das ,, Persönliche" seines Charakters und
86 Subjektive Polarität
seines Erlebens in die Erscheinung ruft, formt auch seine Intellek-
tualität, bestimmt den Brechungswinkel, mit dem die Objekte
in ihn einstrahlen und zum Weltbild zusammengehen. Die Ver-
bindung stellt sich also bei Goethe nicht gleichsam nachträglich
und durch direkte Beeinflussung zwischen den gegeneinander
selbständigen Faktoren der Subjektivität und der objektivischen
Betrachtungsweise her, sondern beide sind analog, weil sie
einer letzten Wurzel entwachsen sind. ,,Ist das ganze Dasein",
sagt er, ,,ein ewiges Trennen und Verbinden, so folgt auch, daß
die Menschen im Betrachten des ungeheuren Zustandes auch
bald trennen, bald verbinden werden." Ganz zweifellos meint er
damit nicht die Kopie des gegebenen Daseins in dem dazu-
kommenden menschlichen Betrachten, sondern daß dieses Gesetz
des ,, ganzen Daseins", da ,,die Menschen" ja in diesem befaßt
sind, ihre Betrachtung ebenso gestalten muß, wie deren Gegen-
stände gestaltet sind. So also hat die Systole und Diastole, deren
Wechsel ihm als Weltformel erscheint, auch sein subjektives
Dasein rhythmisiert. Es lag in seinem Wesen, wie er selbst und
andere es aussprachen, von einem Extrem ins andere umzu-
springen: ,,Wie oft sah ich ihn schmelzend und wütend in einer
Viertelstunde", berichtet Stolberg im Jahre 76. In einer Äuße-
rung, mehr als zwanzig Jahre später, erscheint die Spaltung
seines Wesens sozusagen mehr formal und ihr Wechsel mit
dessen Einheitlichkeit tritt hervor: die Philosophie lehre ihn
mehr und mehr, sich von sich selbst zu scheiden, ,,das ich um so
mehr tun kann, als meine Natur, wie getrennte Quecksilber-
kügelchen, sich so leicht und schnell wieder vereinigt". Ersicht-
lich aber werden nicht nur die Perioden der inneren Getrenntheit
einfach von denen der Vereinigtheit abgelöst, sondern Getrennt-
heit und Vereinigtheit bilden zusammen wieder eine Periode,
eine Pendelschwingung des tiefsten Lebens, zusammengehalten
von dem Gefühl einer Lebenseinheit, die die Vielheit und die
Einheit als relative Gegensätze gleichmäßig dominiert. Ja
sogar das Schicksal half durch die Art des Menschen, mit denen
es ihn zusammenführte, diese Formel vollstrecken. Naturen
wie Herder, der Herzog, die Stein machten ein ganz kontinuier-
Gleichgewicht ^ 87
liches, in dem gleichen Nähemaß verbleibendes Verhältnis
schwer möglich; in all diesen Beziehungen war zwar wohl ein
,,Urphänomen" enthalten, allein dies lebt sich in einem häufigen
Wechsel von Angezogen- und Abgestoßenwerden aus, von
Sympathie und Verstimmung, von Gefühl des Zusammen-
gehörens und empfundener Distanz. Antithesis und Synthesis
sind bei ihm nicht definitive Parteien; wie sich vielmehr in
ihnen nur eine höchste Lebenssynthese auseinander- und wieder
zusammenlebt, deutet schon eine jugendliche Äußerung über
Wieland an: er liebe ihn und er hasse ihn — das sei eigent-
lich eins — er nehme Anteil an ihm. Jene höchste Einheit
kann sich nicht unmittelbar, sondern nur in der Rhythmik
relativer Synkrisis und relativer Diakrisis zeigen — wie der Rh3rth-
mus überhaupt die einfachste Form ist, die Entgegengesetzt-
heit von Akzenten als Einheit zu begreifen und sein Geheimnis
darin hat, daß in seiner Wechselgestalt ein Höheres, in keinem
seiner Elemente Aufgehendes, lebt; was die wunderbare Rhyth-
mik des Goetheschen Lebens als ganzen, mit seiner fast regel-
mäßigen Periodik von Sammlung und Zerstreuung offenbart.
Die Polarität aber weist von sich aus endlich auf die Form-
idee hin, mit der ich diesen Umriß der Goetheschen Kategorien
der Weltanschauung beschließe: auf das ,, Gleichgewicht". Alle
diese Ideen oder Maximen finden ihren Generalnenner in der
Einheit und bilden (dies wird nachher tiefer zu begründen
sein) gewissermaßen deren Ausstrahlungen in die Welt der Be-
sonderheiten und des an diese geknüpften Lebens — oder, in der
andern Richtung gesehen, die ideellen Kanäle, durch die diese
Besonderheiten und durch- und gegeneinander spielenden Le-
bendigkeiten der Welt in deren geheimnisvoll-göttliche Einheit
zurückfließen. Muß dieses nun, seinem Begriffe nach, als das
Absolute, in keine Relation Hineinziehbare bezeichnet werden,
so ist Gleichgewicht jedes Wesens in sich das relativistische
Symbol jener Einheit, mit ihm spricht sich diese in der Sprache
der in lauter Relationen lebenden Welt aus. Welche Einzel-
gestaltungen aber unter den Begriff des Gleichgewichtes, als
einer ebenso wirklichen wie idealen Form des lebendigen Daseins,
/.
88 Das Optimum der Existenz
gehören, ist nicht ganz einfach zu bestimmen; denn hier kann sein
Sinn immer nur ein vermittelter oder symbolischer sein, da sein
anschaulich-unmittelbarer, als etwas rein Mechanisches, nicht
in Frage kommt. Goethe hat offenbar die Vorstellung gehabt,
daß jedem Wesen ein bestimmtes Maß von Kraft, Vitalität, Be-
deutung, oder wie man die innere Lebenssubstanz nennen mag,
zugeteilt ist, ein Maß, das eine gewisse Schwankungsbreite und
innerhalb dieser ein Optimum besitzt. Wo nun die Verteilung
der Eigenschaften und Betätigungen eines Wesens dieses Op-
timum, die für das Wesen ,, richtige" Lebenssumme darbietet,
da befinden sich die einzelnen Elemente im ,, Gleichgewicht".
So faßt er das Wesen der Organisation auf: ,, Siehst du also dem
einen Geschöpf besonderen Vorzug Irgend gegönnt, so frage nur
gleich: wo leidet es etwa Mangel anderswo? — Finden wirst du
sogleich Zu aller Bildung den Schlüssel." So ungleich also auch die
Entwicklung der Organe oder Kräfte bei unmittelbarem Gegen-
einanderhalten erscheinen mag, so läßt sie doch das Wesen im
Gleichgewicht, insofern dies nur die verschiedene Verteilung eines
konstanten Vitalitätsquantums bedeutet — während es aller-
dings in Disharmonie fällt, sobald die Einheit dieses Quantums
sich nicht durch die Diskrepanzen der Organe hindurch verwirk-
lichen kann. Es kommt nicht darauf an, ob er für dieses Verhält-
nis überall das Wort Gleichgewicht gebraucht; sondern darauf,
daß der Sache, der innerlich wirksamen Realität nach, diese
Kategorie für ihn besteht, als gestaltende, ordnende, wert-
bestimmende Form in seiner Weltanschauung. Daß zwei Organe
oder Funktionen sich im Gleichgewicht befinden, ist ihnen un-
mittelbar nie anzusehen; denn es gibt für sie, als lebendige,
keine Wage und keinen Meterstab, an dem ihre Größen sich
miteinander konfrontieren ließen. Das Gleich-Gewichtige an
ihnen ist, daß das eine in seinem bestimmten Maße genau so
wichtig für die Gesamtexistenz des Wesens ist, wie das andere;
anders ausgesprochen: daß bei gegebenem Maße des einen diese
Gesamtexistenz und ihr Optimum entscheidet, welches Maß dem
andern zukommt. Jenes durch ,, besondern Vorzug" bezeichnete
Organ des Geschöpfes befindet sich mit dem ,, Mangel leidenden"
Gleichmaß der vitalen Entgegengesetztheiten 89
dennoch im Gleichgewicht, weil sie in Hinsicht des Dienstes, den
sie beide üben, gleichmäßig richtig, gleichmäßig wichtig sind;
dies ist die innere Harmonie des Organischen. Sie ist der Aus-
druck für die Maße, die die Elemente eines Wesens bewahren
müssen, wenn aus ihnen die Vollkommenheit und Einheit dieses
Wesens erwachsen soll. Daß ein derartig sinnvolles Verhältnis
zwischen dem Ganzen und den Teilen des Lebendigen die quanti-
tativen Proportionen der letzteren bestimme, ist eine in Goethes
Weltbild allenthalben bemerkliche Idee. Aber sie erscheint bei
ihm allerdings noch in andrer, von der bisherigen Voraus-
setzung abweichender Form.
Die einander entgegengesetzten Bestimmtheiten des Lebendigen,
so sagte ich, haben keinen gemeinsamen Maßstab, an dem sich
ihre Ausgeglichenheit objektiv feststellen ließe; es müsse viel-
mehr der Zustand des Wesens als Einheit entscheiden, von
welchem Maße der einen das gegebene Maß der andern richtig
balanciert würde. Über diese gewissermaßen subjektivische
Norm geht Goethe aber zu einer objektiveren Idee des Gleich-
gewichts über: indem er nun doch eine unmittelbare Meßbar-
keit für den Sachgehalt jener Bestimmtheiten voraussetzt.
Vielleicht jedes Wesen, mindestens aber der Mensch (nur für
diesen gelten die hier heranzuziehenden Äußerungen) steht seiner
Idee nach gleichsam im Mittelpunkte vieler Linien, deren jede
diesseits und jenseits seiner in einem absoluten Pol abschließt.
Er hat seine richtige Stellung immer zwischen zwei einander
entgegengesetzten Extremen; und der Punkt dieses ,, Gleich-
gewichts" wird nicht, wie es vorhin schien, durch sein sonst
gegebenes Lebensoptimum bestimmt, so daß er bei den ver-
schiedensten Lagen auf jenen Linien noch immer der richtige sein
könnte; sondern umgekehrt, nur die objektiv gleiche Distanz von
dem einen und dem andern Pol bestimmt seine Richtigkeit. So also :
„Wiege zwischen Kälte
Und Überspannung dich im Gleichgewicht."
Eine andere Polarität, jetzt in negativem Ausdruck:
,,Unsrer Krankheit schwer Geheimnis
Schwankt zwischen Übereilung
Und zwischen Versäumnis."
90 Das „Mittiere"
Aus dem Ethischen erweitert sich dies zu allgemeiner geistiger
Norm; „Wie wir Menschen in allem Praktischen auf ein gewisses
Mittleres angewiesen sind, so ist es auch im Erkennen. Die Mitte,
von da aus gerechnet, wo wir stehen, erlaubt wohl auf- und
abwärts mit Blick und Handeln uns zu bewegen! Nur Anfang
und Ende erreichen wir nie, weder mit Gedanken noch Tun,
daher es rätlich ist, sich zeitig davon loszusagen." Im ganz Per-
sönlichen (aber mit unverkennbarer Andeutung eines Typischen)
spricht er einmal gelegentlich des Verhältnisses zu zwei Freunden
von ,,dem Allgemeinen, das mir gemäß war" — und charakteri-
siert dies als ein Mittleres, da von diesem aus der eine ganz in
das Einzelne ging, der andre ganz in ein Allgemeinstes, ,, wohin
ich ihm nicht folgen konnte". Der Aristotelische Gedanke, die
Tugend sei immer ein Mittleres zwischen einem Zuviel und einem
Zuwenig, scheint hier in sehr vertiefter Gestalt aufzuleben. Denn
während Aristoteles jede objektive und überindividuelle Be-
stimmung dieser ,, Mitte" ausdrücklich ablehnt, steht offenbar
vor Goethes Augen ein ideeller, geistig-sittlicher Kosmos, auf
dessen Mittelpunkt der Mensch angewiesen ist (um andre Wesen
mag sich ein andrer bauen) — vielleicht von dem Gefühle aus,
daß wir die Totalität des Daseins doch am weitesten beherrschen,
wenn wir uns in ihrer Mitte halten. In ein Extrem schwingend
mögen wir nach dieser einen Seite ins Weite und Weiteste ge-
langen; aber dies muß mit so großer Einbuße an der entgegen-
gesetzten Richtung bezahlt werden, daß in der Schlußbilanz der
Verlust den Gewinn überwiegt. Hier zeigt sich der tiefste Sinn
jener ,, Ausgeglichenheit", die, wenn nicht die Wirklichkeit, so
doch die Norm des Goetheschen Lebens gewesen ist, und die dem
oberflächlichen Blick als Kühle erschienen ist, als Versicherung
gegen die Gefahr der Extreme, als die ,, goldene Mittelstraße"
des Philisteriums, als Harmonisierung um jeden Preis und aus
einem ästhetisierenden und wohlweisen Klassizismus heraus.
In Wahrheit gibt das von ihm gepriesene und erstrebte ,, Gleich-
gewicht", das ,, Mittlere", den Punkt der Souveränität an, von
dem aus die Gebiete des Lebens am weitesten beherrschbar,
seine Kräfte am vollkommensten verfügbar sind: ein Herrscher
Aufnehmen, Verarbeiten, Entladen 91
pflegt auch nicht an der Grenze seines Landes, sondern, aus den
entsprechenden Gründen, möglichst in seinem Zentrum zu
residieren. Indem ihm das objektive und das subjektive Sein
in Polaritäten auseinandergeht und dieses freilich schon ein ideell
einheitliches Formprinzip bezeichnet, zieht sich dies sozusagen
praktisch in den beiden Bedeutungen des ,, Gleichgewichts"
noch einmal zu großen Maximen zusammen: dem Vitalitäts-
maß, das jedem Wesen nach seiner Grundform, seinem Typus
eignet und das sich gleichmäßig durch alle Formverschiebung
seiner Organe hindurch erhält — und der menschlichen Ange-
wiesenheit auf das , »Mittlere", als auf die zentrale Position,
von der sich nach den jeweils entgegengesetzten Polen des Lebens
ein Maximum beherrschten und bereicherten Gebietes spannt.
Gehen diese Formen und Normen des Lebens weit über allen
schematischen und billigen Sinn der ,, harmonischen Existenz"
hinaus, so finden nun auch sie in der Gestalt seines persönlichen
Daseins ihr Symbol und eine tiefe Fundamentierung. Goethes
Existenz wird durch das glücklichste Gleichgewicht der drei
Richtungen unsrer Kräfte charakterisiert, deren mannigfaltige
Proportionen die Grundform jedes Lebens abgeben: der auf-
nehmenden, der verarbeitenden, der sich äußernden. In diesem
dreifachen Verhältnis steht der Mensch zur Welt: zentripetale
Strömungen, das Äußere dem Inneren vermittelnd, führen die
Welt als Stoff und Anregung in ihn ein, zentrale Bewegungen
formen das so Erhaltene zu einem geistigen Leben und lassen das
Äußere zu einem empirischen, zu unsrem Ich-Besitz werden, zen-
trifugale Tätigkeiten entladen die Kräfte und Inhalte des Ich wieder
in die Welt hinein. Wahrscheinlich hat dieses dreiteilige Lebens-
schema eine unmittelbare physiologische Grundlage, und der
seelischen Wirklichkeit seiner harmonischen Erfüllung ent-
spricht eine gewisse Verteilung der Nervenkraft auf diese drei
Wege ihrer Betätigung. Beachtet man nun, wie sehr das Über-
gewicht eines derselben die anderen und die Gesamtheit des
Lebens irritiert, so möchte man ihre wundervolle Ausgeglichen-
heit in Goethes Natur als den physisch-psychischen Ausdruck
für deren Schönheit vmd Kraft ansehen. Er hat innerlich so-
92* Gleichgewicht in der Lebenskonfiguration
zusagen niemals vom Kapital gezehrt, sondern seine geistige
Tätigkeit war fortwährend von der rezeptiven Hinwendung zur
Wirklichkeit und allem, was sie bot, genährt; seine inneren Be-
wegungen haben sich nie gegenseitig aufgerieben, sondern seine
ungeheure Fähigkeit, sich nach außen hin handelnd und redend
auszudrücken, verschaffte jeder die Entladung, in der sie sich
völlig ausleben konnte: in diesem Sinne hat er es so dankbar
hervorgehoben, daß ihm ein Gott gegeben hat, zu sagen, was
er leidet. Und ganz verallgemeinert und in die Idee des Menschen-
lebens überhaupt, von der hier die Rede ist, hinüberweisend:
,,Der Mensch erfährt und genießt nichts, ohne sogleich produktiv
zu werden. Dies ist die innerste Eigenschaft der menschlichen
Natur. Ja, man kann ohne Übertreibung sagen, es sei die mensch-
liche Natur selbst." In den mannigfaltigsten, auch negativen
Formen, ist in seiner persönlichen Lebenskonfiguration das
,, Gleichgewicht" nach jenen beiden Bedeutungen zu erkennen,
als Verteilung einer konstanten Dynamis auf objektiv sehr ver-
schieden entwickelte Betätigungsweisen — und als Gewinn
eines zentralen Punktes von entschiedenster Herrschaft gegen-
über den polar erstreckten Interessengebieten. So, wie er
angesichts der Lücken seiner Begabung die Totalität und Aus-
geglichenheit seines Wesens wenigstens ideell herstellt: ,,Ich
hörte mich anklagen, als sei ich ein Feind der Mathematik über-
haupt, die doch niemand höher schätzen kann als ich, da sie
gerade das leistet, was mir zu bewirken völlig versagt worden.**
,,Je weniger mir eine natürliche Anlage zur bildenden Kunst
geworden war, desto mehr sah ich mich nach Gesetzen und
Regeln um; ja ich achtete weit mehr auf das Technische der
Malerei, als auf das Technische der Dichtkunst; wie man denn
durch Verstand und Einsicht dasjenige auszufüllen sucht, was die
Natur Lückenhaftes an uns gelassen hat." Und nach der andern
Seite hin: ,,In den hundert Dingen, die mich interessieren,
konstituiert sich immer eins in der Mitte als Hauptplanet und
das übrige Quodlibet meines Lebens treibt sich indessen in viel-
seitiger Mondgestalt umher, bis es einem und dem andern auch
gelingt, gleichfalls in die Mitte zu rücken." Er fühlte sich sozu-
Beweglichkeit und Balance 93
sagen immer im Mittelpunkte seiner Existenz. Er selbst deutet
öfters an, wie leicht sein Geist in die eine oder andre Tendenz
oder Interessiertheit hineinglitt, jedesmal damit gleichsam ein
besonderes Geistesorgan ausbildend, und wie leicht er von diesen
einseitigen Bewegtheiten sich wieder zu Zentralität und Gleich-
gewicht zurückfand. Es ist damit angedeutet, wie wenig dies
Gleichgewicht ein starres und irgendwie mechanisches war; es
war vielmehr ein lebendig labiles, aus fortwährender Verschiebung
fortwährend neu zu gewinnendes — wie er denn dauernd und noch
einmal kurz vor seinem Ende sich rühmt, daß er ,,sich leicht wieder-
herstellte*', freilich in Verbindung damit — und vielleicht bedingt
dadurch — , daß er ,, heiter entsage". Gerade daß er sich dauernd ent-
wickelte, sich stets auf dem Wege zu einem idealen inneren Ziel be-
fand, ließ ihn seinen Zustand in jedem Augenblick als einen ,, mitt-
leren" empfinden. Vielleicht gilt dies sogar für die tiefste und
breiteste Entwicklung seines Lebens, für den Übergang von der
subjekti vischen Jugend zu dem objektivischen Alter. Daß er
gerade in seinen ganz späten Jahren noch einmal von Shake-
speare als von dem ,, höheren Wesen" spricht, an das er nicht
heranreiche, mag sich darauf gründen, daß Shakespeare die ab-
solute, das Subjekt ganz ablösende Objektivität besitzt, zu der er
sich, in so unerhörtem Maße er sie auch erworben hatte, seinem
eigenen Gefühl nach immer erst auf dem Wege fand. Damit
freilich hatte er auch zu dieser Objektivität
wieder eine Distanz, er sah auch seine Objektivität
objektiv an, gerade wie seine Subjektivität. Gerade mit der rast-
losen evolutiven Bewegung von einem Pol zum andern gewann
er das stets verschobene und in dieser Verschiebung sich als
lebendiges bewahrende Gleichgewicht, das den Reichtum des
subjektiven und den des objektiven Daseins aufs harmonischste
zusammenschloß.
Diesen ganzen Lebensprozeß dominierte das Glück seiner Natur
mit ihrer einzigen Vereinigung von Beweglichkeit und Balance:
daß jene großen Richtungen, in denen das Weltleben des Menschen
steht, die zentripetale, zentrale und zentrifugale — völlig gleiche
Kräfte in die Labilität seines Lebens einzusetzen hatten. Er
94 Die lebendige Einheit
hat die Welt gleichsam ohne Stockung durch sich hindurch-
geleitet, das Gleichgewicht seines inneren Daseins war nichts
anderes als das Gleichgewicht in seiner aufnehmenden und ab-
gebenden Beziehung zur Welt. Und so wird er das Gleichgewicht
nicht als eine kosmische Idee statuiert haben, weil er es zufällig
in seinem Subjekt besaß; sondern dieser Besitz war nur die Innen-
seite seines Lebensverhältnisses zur Welt und erst damit
der Rechtstitel dazu, einen persönlichen Zustand zur Maxime
des Weltverständnisses zu machen.
Betrachtet man nun diese einzelnen Kategorien in dem Zu-
sammenhang der Weltanschauung, die sich mittels ihrer erbaut,
so können sie alle als die Hülfen eines einzigen strukturellen
Motivs gelten. An der Basis jener Weltanschauung steht die
Idee der Einheit; Goethe ist der eminent synthetische Geist,
in dessen Natur, wie er selbst sagt, ,, Trennen und Zählen
nicht lag". Diese Einheit aber in ihrer logischen Absolutheit,
für die alle Unterschiede und alle Mannigfaltigkeit verschwinden,
ist das Starre und Unfruchtbare, bei dem alles Denken auf-
hört; denn es hat, weil keine Unterschiede, auch keine Inhalte
und ist das leere abstrakte Sein überhaupt. Diese Bedeutung und
Konsequenz der ,, Welteinheit" sieht Goethe vor sich und alles
kommt für ihn darauf an, ihr zu entgehen; er kann seiner ganzen
Natur nach mit einer starren und logischen Einheit nichts anfan-
gen, sondern nur mit einer lebendigen — nur daß das Lebendige,
als ein Vielfaches, Bewegliches, innerlich Unterschiedenes nicht
zugleich mit der absoluten Einheit denkbar scheint! Alle jene
großen Maximen oder formalen Ideen sind nun die Mittel, um die
Welt einheit als lebendige vorstellen zu können ; da-
mit erweitert sich eine vorherige Ausführung zum Fundament
der Weltanschauung in ihrer Gesamtheit. Es ist das große Pro-
blem: wie kann die Welt, diese mannigfaltig reiche, in Gegensätze
differenzierte, in unendlichen Entwicklungen bewegte sein — und
doch Einheit ? Welches sind die Arme, die sie ausstreckt, um das
Einzelne aus seiner Buntheit und Zerspaltenheit heraus in sich ein-
zuziehen, ohne ihm doch diese Besonderung und Bewegtheit zu
rauben , die das Leben als solches bedingen — welches die allgemeinen.
Mittler 95
kategorialen Formen der Weltinhalte, durch die sie gleichsam
der Welteinheit erlebbar werden? Durch die ganze Geschichte
der philosophischen und der religiösen Weltdeutungen zieht sich
dieses Bedürfnis: Vermittlungen aufzufinden zwischen dem Einen,
das der Gedanke oder die religiöse Sehnsucht setzte, und dem
unübersehbar Vielfältigen der Einzelheiten. Als Ideen oder Emana-
tionsstufen, als Hierarchie der Heiligen oder Materialisationen der
Gottheit, als Kategorien oder Schemata — immer scheinen Gebilde
vonnöten, die sozusagen mit ihrer einen Seite dem Absoluten und
Einen, mit ihrer anderen dem Besonderen und Vielfältigen zuge-
wandt sind, die als Mittler an beiden Naturen Anteil haben. Sie
üben immer die gleiche Funktion, mögen sie metaphysischen,
ideellen oder erkenntnistheoretischen Wesens sein, mögen sie dem
Einen noch unmittelbar anwohnen oder nur an den singulären
Erscheinungen aufzeigbar oder gleichsam halbwegs zwischen
beide Pole gesetzt sein. In diese Reihe gehört, was ich hier als
Maximen oder Ideen behandle, die für Goethe ,,die Idee" an den
Erscheinungen sichtbar machen, den Zusammenhang des Einzel-
nen mit der Welteinheit gewährleisten und eben damit die Richtig-
keit der Erkenntnis, die sie an den Phänomenen erschaut. Nur daß
sie für Goethe nicht nur zwischen den logischen Gegensätzen des
Einen und des Vielen vermitteln, sondern zwischen der ruhenden
Absolutheit des Einen und dem Leben, der bewegten Vielfältigkeit
der gegebenen Welt. Darum müssen die Dinge schön sein,
um wahr zu sein, müssen die Teile des einzelnen in lebendiger
Wechselwirkung zusammengeschlossen sein, müssen die Erschei-
nungen in polarem Sich-Entsprechen aufeinander hinweisen,
müssen sie, mit aller Selbständigkeit, doch in kontinuierliche
Reihen anzuordnen sein, müssen sie allenthalben zum Gleich-
gewicht streben und erst mit seiner Erreichung ihr Sein vollenden.
Alles dies sind Formen der angeschauten Erscheinungen, durch
die sie, unmittelbar oder symbolisch, ihre Lebendigkeit, das Diffe-
renzierungs- und Wechselwirkungsspiel ihrer Individualitäten, als
in der absoluten Einheit des Ganzen zusammengehalten zeigen.
Schönheit wie Polarität und Gleichgewicht, Organisiertheit und
Kontinuität bringen dem Einzelnen Erlösung aus seiner Einzelheit.
96 Das Leben und das Eine
ohne es doch in die logische Starrheit des bloßen ununterschiedenen
Eins sinken zu lassen. Sie sind die wahren „Mittler", indem sie
sich nicht mit irgendeiner metaphysischen Realität zwischen
das Eine und die Summe der Einzelheiten schieben und dadurch,
wie so viele der sonst behaupteten Träger der gleichen Funktion,
ebenso trennen wie verbinden — sondern sie sind der an den
Einzelheiten selbst anschauliche Beweis, daß ,,die Idee", das Gött-
liche, die übergreifende Einheit in ihnen besteht; sie sind die For-
men, die die Kluft zwischen dem Einen und dem Leben verschwin-
den machen, in demMaße ihrer Verwirklichung offenbart sich, daß
die All-Einheit lebt und daß das Leben eine Einheit ist.
Viertes Kapitel.
Getrenntheit der Weltelemente.
Die große Synthese der Goetheschen Weltanschauung kann
man damit charakterisieren : daß die Werte, die das Kunst-
werk als solches konstituieren, mit der Welt des Wirklichen
durchgehende, formale und metaphysische Gleichheiten und
Einheitlichkeiten besitzen. Ich hatte als die fundamentale Über-
zeugung dieser Weltanschauung die Ungetrenntheit von Wirklich-
keit und Wert bezeichnet, und dies als die Voraussetzung des
Künstlertums überhaupt. Ein Künstler mag die Welt als noch so
kontraideal ansehen, seine Phantasie mag sich noch so gleichgültig
oder abstoßend gegen alle Wirklichkeit verhalten; seine Welt-
anschauung ist dann pessimistisch, chaotisch, mechanistisch und
wird nicht von seinem Kunst 1er tum gestaltet. Wenn sie aber
im positiven Sinne künstlerisch ist, so kann dies nur besagen,
daß die Reize und Bedeutsamkeiten der künstlerisch geformten
Erscheinung in irgend einer Art, nach irgend einer Dimension
hin schon in der naturhaft dargebotenen Erscheinung bestehen.
Es scheint doch auch, als ob alle Künstler Naturanbeter wären
— in so partieller, auf einzelne Gebiete beschränkter, durch
wunderliche Vorzeichen bestimmter Form dies sich auch offen-
bare, und obgleich manche Erscheinungen der Gegenwart eine
Wendung hierin vorzubereiten scheinen, die aber auch, wenn
sie sich durchsetzte, die radikalste je dagewesene Revolution des
Kunstwollens bedeuten würde. Goethe indes hat jedenfalls
jenes Verhältnis in der umfassendsten und reinsten Konsequenz
entwickelt, indem ihm die Schönheit zum Kennzeichen der
Wahrheit wird, die Idee in der Erscheinung anschaulich, ein
Letztes und Absolutes, das hinter der Kunst liegt, auch das
Letzte und Absolute der Wirklichkeit ist. " Vielleicht ist dies
Simmel, Goethe. 7
98 Wirklichkeit und Wert
das entscheidende Motiv für ihn, sich einen „dezidierten Nicht-
Christen" zu nennen. Denn das Christentum hat, mindestens
in seinen asketisierenden Richtungen, Wirklichkeit und Wert
aufs weiteste auseinandergerissen, mehr selbst als die indische
Weltanschauung. Denn so radikal diese auch die Wirklichkeit
von jeglichem Wert entblößt, so wird dies, für unsern Zusammen-
hang, dadurch wieder aufgehoben, daß der Wirklichkeit hier
gar keine konkrete Daseinsbedeutung zuerkannt wird: wo alle
Wirklichkeit nur Traum und Schein, also eigentlich Unwirklich-
keit ist, da fehlt genau genommen das Subjekt, dem der Wert
abgesprochen werden könnte. Erst die härtere Denkart des
Christentums hat die Welt gleichsam in ihrer vollen Drei-
dimensionalität und Substanz bestehen lassen und ihr dennoch
jeden Eigenbestand an Wert genommen: sei sie nun Jammertal
und Teufelsdomäne, seien ihr ihre Werte durch Gnade vom
Jenseits her verliehen, sei sie der Ort der Sehnsucht und der
Vorbereitung für das Überirdische, den Ort der Werte. Alle
drei Formen des christlichen Verhältnisses zur natürlichen
Wirklichkeit müssen Goethe gleichmäßig widerstehen — ihm,
dem die Natur ,,die gute Mutter" ist, der zwar oft genug von
göttlicher Gnade spricht, aber immer im Sinne eines der Wirk-
lichkeit immanenten Gottes, ja, der die Gottseligkeit frommer
Menschen als ,,eine Gnade der Natur", die sie ,,mit einer
solchen Zufriedenheit versorgt" habe, betrachtet. In einem
Grunde der Dinge, zu dem von ihrer Oberfläche her mindestens
ein kontinuierlicher Weg führt, ist ihm, im Gegensatz gerade
zu allem christlichen Dualismus, Wirklichkeit und Wert identisch.
Ist dies nun der metaphysische Ausdruck seines Künstlertums
(oder vielleicht : der Ausdruck einer letzten Beschaffenheit seines
Daseins, die durch sein Künstlertum hindurch wirkte), so ist
damit von der zeitlichen Entwicklung, den Abweichungen und
dem labilen Spiel der Elemente abgesehen, durch all welches
diese zeitlose Formel getragen und verwirklicht wird. Denn
diese Verwirklichung, als eine historisch -psychologische, ist
immer nur relativ und besitzt in den Schicksalen der Zeit nicht
die Reinheit und Einheit der ,,Idee", als welche ich sie bisher
Variierende Synthesen 99
hinstellte — wofür sein kühnes, immer zu wiederholendes Wort
von dem Gesetze gilt, von dem die Erscheinung nur Ausnahmen
zeigt. Diese Doppelheit des kategorialen Vorstellens fordert jedes
große Leben: die durchgehende oder darüberstehende Idee,
die gewissermaßen ein Drittes jenseits des Gegensatzes von
abstraktem Begriff und dynamischer Realität darstellt, — und das
in mannigfaltigem Abstand davon, in unendlicher Annäherung
daran sich zeitlich vollziehende Leben und Wirken. Vielleicht
gehört jedes Leben unter diese zwei Gesichtspunkte; aber als
ein großes bezeichnen wir eben das, dessen Betrachtung sie
unvermeidlich und entschieden gegeneinander spannt, in dem
seine Idee und deren seelisch -lebendige Realisierung je ein
Ganzes sind. Vielleicht ist diese notwendige methodische Sonde-
rung des Betrachtens das Symbol für die zeitlose, metaphysische
Tragödie der Größe, von der all ihre zeitlichen Tragödien nur
Spiegelungen in der Form des Schicksals sind. Ich wende mich
nun jenem zweiten Aspekt seines geistigen Weltbildnertums zu:
den variierenden Synthesen, den hin- und herspielenden Relationen
und Abständen der Elemente, in deren Einheit uns bisher die
sozusagen absolute Idee seines Weltdenkens bestand.
Fragt man so nach der näheren Formel, in der jenes schließlich
einheitliche ideelle Verhältnis zwischen Kunst und Wirklichkeit
sich bei ihm vollzieht, so zeigt sich sogleich, daß darauf keine
eindeutige Antwort möglich ist. Nicht nur in seinen ver-
schiedenen Epochen, sondern in einer und derselben begegnen
ganz unvereinbare Äußerungen über jenes Verhältnis; ja daß
es seinen prinzipiellsten und letzten Überzeugungen nach ein
unbedingt enges, in irgend einer Wurzel vereinheitlichtes war
— das ist vielleicht, so paradox es klingt, der Grund für die
Divergenz seiner Deutungen. Denn wie eine höchst enge Be-
ziehung zwischen zwei Menschen einen Wechsel von Innigkeit
und Verstimmung, Verlegungen des Schwerpunktes, ja die
Chance von Bruch und Versöhnung eher mit sich bringen wird,
als ein fremderes, das sich viel leichter in dem einmal gegebenen
Charakter und Temperatur halten läßt — so werden in einem
Geist gerade zwei unbedingt aufeinander angewiesene Begriffe
100 Entwicklung der Kunsttheorien
besonders dazu neigen, eine Fülle divergenter Beziehungs-
schicksale zu durchleben. Drei prinzipielle Verhältnisse zwischen
Natur und Kunst scheinen mir in Goethes Äußerungen abzu-
wechseln, und zwar so, daß in jeder der drei Lebensepochen:
der Jugend, der von der italienischen Reise dominierten
mittleren Zeit und dem Alter je eines hervortrat. Es wird
sich zeigen, daß seine jeweilige Kunsttheorie zu den sonstigen
Charakterzügen der betreffenden Epoche durchaus harmonisch
ist; dennoch gebe ich dies Entwicklungsgeschichtliche ausdrück-
lich als Hypothese, um so mehr, als gerade in dieser Frage
Goethe gewisse Erkenntnisse, die einer späten und reifen Zeit
angehören, in einer viel früheren, mit dieser fast zusammen-
hangslos, aufleuchten läßt — mit derselben Unbegreiflichkeit
und, sozusagen, Zeitlosigkeit des Genies, wie das gleiche bei
Rembrandt und bei Beethoven geschieht.
Über sein jugendliches Verhältnis zu Kunstwerken — in der
Leipziger Zeit — berichtet er später: ,,Was ich nicht als Natur
ansehn, an die Stelle der Natur setzen, mit einem bekannten
Gegenstande vergleichen konnte, war auf mich nicht wirksam."
Die natürliche Wirklichkeit und der künstlerische Wert bestehen
hier für ihn in einer naiv undifferenzierten Einheit, die er aus-
schließlich von der Seite der ersteren her sieht. In den Briefen
aus der Schweiz von 1775 gesteht er, an einem wundervollen
Aktbild weder Freude noch eigentliches Interesse fühlen zu
können, da er von der Wirklichkeit des menschlichen Körpers
kein rechtes anschauliches Bild habe. Die geistesgeschichtlichen
Motive, die ihn auch einem dichterischen Naturalismus zutrieben,
sind bekannt genug. Die seelische Lage aber, die diese ganze
Tendenz unterbaute, scheint mir durch seine Charakterisierung
seiner Jugendepoche als eines ,, liebevollen Zustandes" ange-
deutet. Das überquellende Herz des Jünglings, wie jede seiner
Äußerungen es verrät, wollte die ganze Welt in sich einziehen
und sich der ganzen Welt hingeben. Es gab keine Wirklich-
keit, die er nicht mit Leidenschaft umfaßte, mit einer Leiden-
schaft, die sozusagen nicht vom Gegenstand entzündet wurde,
sondern wie spontan aus seiner Lebensfülle hervorbrach und
Jugendliches Verhältnis zur Wirklichkeit 101
sich auf den Gegenstand stürzte, sozusagen bloß weil er da
war. In seinem 26. Jahre schreibt er, daß der Künstler nur
die Schönheiten, ,,die sich in der ganzen Natur zeigen", ,,die
Gewalt dieser Zauberei", die um Wirklichkeit und Leben weht,
besonders kräftig und wirksam spüre und ausdrücke. ,,Die
Welt liegt vor ihm wie vor ihrem Schöpfer, der in dem Augen-
blick, wo er sich des Geschaffenen freut, noch alle die Har-
monien genießt, durch die er sie hervorbrachte und in denen
sie besteht." Es scheint mir unzweifelhaft: in dieser
Epoche liebt er die Wirklichkeit nicht, weil sie ihm Idee und
Wert entgegenträgt, sondern er sieht dies in ihr, weil er sie
liebt. Dies typische Verhalten des Jünglings gegenüber der
geliebten Frau wird von seinem Lebensüberschuß zu einer
Welterotik gesteigert. Weil aber diese erste Form der Unge-
trenntheit von Wirklichkeit und künstlerischem Wert — er
sagt später, daß seine Gedichte vom Anfang der zwanziger
Jahre ,,die Kunstnatur und die Naturkunst enthusiastisch ver-
künden" — noch keine feste Synthese bedeutete, sondern nur
vom Subjekt herkam, das sehnsüchtig war, einen ungeheuren
Reichtum zu verschenken, so können die Akzente gelegentlich
auch ganz anders fallen. Zwei Jahre vor der letztangeführten
Äußerung liegt die ganz abweichende: ,,Wenn die Kunst auch
wirklich die Dinge verschönerte, so tue sie das doch nicht nach
dem Beispiel der Natur. Denn diese ist Kraft, die Kraft ver-
schlingt ; tausend Keime zertreten ; schön und häßlich, gut und
bös, alles mit gleichem Rechte nebeneinander existierend. Und
die Kunst ist gerade das Widerspiel; sie entspringt aus den
Bemühungen des Individuums, sich gegen die zerstörende Kraft
des Ganzen zu erhalten. Der Mensch befestigt sich gegen die
Natur, ihre tausendfachen Übel zu vermeiden und nur das
Maß von Gutem zu genießen, bis es ihm endlich gelingt, die
Zirkulation aller seiner Bedürfnisse in einen Palast einzuschließen,
sofern es möglich ist, alle zerstreute (!) Schönheit und Glück-
seligkeit in seine gläsernen Mauern zu bannen." Aber mit
einer wunderbaren Antizipation erhebt er sich noch in dem-
selben Jahre über den ganzen Gegensatz: ob in der Kunst nur
102 Kunst als Bildungstrieb
die natürliche Wirklichkeit, die überall schön sei, bestehe und
wirke, oder ob sie eine Schönheit, die die Natur nicht gegeben
habe, sich aus eignem Recht zum Zweck setze: ,,Sie wollen
euch glauben machen, die schönen Künste seien entstanden
aus dem Hang, den wir haben sollen, die Dinge rings um uns
zu verschönern. Das ist nicht wahr! — Die Kunst ist lange
bildend, eh sie schön ist, und doch so wahre, große Kunst,
ja, oft wahrer und größer als die schöne selbst. Denn in dem
Menschen ist eine bildende Natur, die gleich sich tätig beweist,
wann seine Existenz gesichert ist. Und laß diese Bildnerei aus
den willkürlichsten Formen bestehen, sie wird ohne Gestalts-
verhältnisse zusammenstimmen, denn eine Empfindung schuf
sie zum charakteristischen Ganzen." Dies ist wohl eines der
tiefsten Erkenntnisse über die Kunst: daß sie nicht einem
eudämonistischen Triebe zur Schönheit entspringe, sondern dem
Schaffensdrange, der ,, bildenden Natur" in uns, die gestalten
will; verwandt der platonischen Diotima, die den Eros, ganz
jenseits aller Begierde des Genießens, auf unsern Wesenstrieb
stellt: zu erschaffen und in Gebilden außerhalb unser selbst,
körperlichen und seelischen, unser Sein zeugend zu erhalten.
Es findet seine Ergänzung in der Vorstellung, die sich in den
Gedichten dieser Jahre — wenn auch nicht mit der gleichen
Deutlichkeit — empordrängt: daß es die Kraft der Natur und
ihres ,, Urquells" sei, die in den ,, Fingerspitzen" des Künstlers
• — gerade diesen Ausdruck liebt er jetzt — schöpferisch hervor-
bricht. Freilich ist die ,, Natur" in dieser frühen Periode noch
im rein dynamischen Sinne verstanden, als ein Drängendes,
Quellendes — aber noch nicht als die Einheit der Gestaltungen,
noch nicht als Ort der ,,Idee"; Leben und Wirklichkeit mußte
sich erst stärker gegeneinander spannen, damit unter dem Einfluß
Italiens und der Klassik ein vertiefter Begriff von der Natur, als
dem eigentlich Formenden auftrete und auf dieser Voraussetzung
die Schönheit des Kunstwerks sowohl die Vollendung des
Menschen wie die der Wirklichkeit außer ihm offenbare. Sein
jugendlicher Naturalismus entsprang dem Gefühl einer Kraft,
die etwas Subjektives war, in das Gefühl ihres ungebrochenen
Leben über der Schönheit 103
Könnens Natur und Kunst einschloß und damit die Welt ergriff.
Diesem Stande seines Künstlertums entspricht die Briefstelle:
„Sieh, Lieber, was doch alles Schreibens Anfang und Ende ist:
die Reproduktion der Welt um mich, durch die innere Welt,
die alles packt, verbindet, neuschafft, knetet und in eigener
Form, Manier wieder hinstellt." Nirgends erscheint hier die
Schönheit, der spezifisch ästhetische Wert, als der für sich
bestimmende, entscheidende Leitbegriff. Und dies würde der
inneren Attitüde seiner Jugend auch ganz widersprechen. Nicht,
weil diese Kategorie etwas zu Zartes und Stilles wäre, um dem
stürmischen Draufgängertum dieser Periode genugzutun; dies
wäre gar zu äußerlich. Sondern weil seine Jugend — ein
späteres Kapitel wird dies ganz ausführlich darstellen — von
einem Ideal des persönlichen Seins als ganzen, der menschlichen
Totalität als Einheit erfüllt war. Hier war die Schönheit etwas
Einseitiges, Differenziertes, sie konnte nicht Führerin und letzte
Instanz für die unmittelbare Ganzheit dieser Existenz und dieser
Idealbildung sein, die sozusagen vor aller Synthese lag, weil die
Elemente, in deren Synthese sein späteres Leben verfloß, über-
haupt noch nicht auseinandergetreten waren. Es war das
Stadium der sozusagen unkritischen, subjektiven Einheit von
Wirklichkeit und Wert; denn die Strömung dieses Lebens riß
das in ihr geformte künstlerische Ideal ohne weiteres in ihre
Einheit mit, und indem sie sich selbst als stärkste, unmittel-
barste Wirklichkeit fühlte, erfüllte sie dieses Ideal ganz mit
Wirklichkeitsgehalt. Gerade darum konnte die Idee der Schön-
heit, die der Wirklichkeit gegenüberstände, zwar aufkommen,
aber nicht als gleichberechtigte Partei mit jener ein ernsthaftes
Gegnertum bilden.
In den Weimarer Jahren bis zur italienischen Reise ver-
schiebt sich dieses Grundverhältnis, seine Elemente werden gegen-
einander problematisch und drängen nach einer neuen, prinzi-
pielleren, fundierteren Einheit. In spätem Rückblick bezeichnet
er die entscheidende Voraussetzung der ganzen Neubildung des
Verhältnisses: er habe eine Reihe unvollendeter poetischer Ar-
beiten nach Weimar mitgebracht, ohne an ihnen fortfahren zu
104 Dissonanz
können; „denn da der Dichter durch Antizipation die Welt
vorwegnimmt, so ist ihm die auf ihn losdringende wirkliche
Welt unbequem und störend ; sie will ihm geben, was er schon
hat, aber anders, daß er sichs zum zweiten Mal zueignen muß."
Man weiß, welche ungeheuren Forderungen, nur durch das selbst-
loseste Aufgebot all seiner Kräfte zu erfüllen, durch die wei-
marischen Zustände an ihn gestellt wurden. Man kann wohl
sagen, daß ihm erst hier die Wirklichkeit in ihrer ganzen Sub-
stanzialität, ihrer Härte, ihrer Eigengesetzlichkeit entgegentrat,
die Wirklichheit sowohl des menschlichen Daseins und seiner
Relationen, wie die der Natur; denn jetzt setzen auch gleich
die naturwissenschaftlichen Interessen, zum Teil durch amtliche
Pflichten provoziert, bei ihm ein. Die Gestaltungskraft seines
Geistes, bisher ausreichend, seine Welt zu schaffen und deshalb
einem Antagonismus ihrer Elemente keinen Raum gebend (trotz
aller subjektiven Leiden und Ungenügsamkeiten), fand jetzt erst
die Welt als eigentliche Realität vor und zunächst ganz unver-
meidlich als ,, unbequeme und störende". Daß die Dinge, deren
Gehalt und Bedeutsamkeit der Dichter freilich „durch Antizi-
pation" in sich trägt, nun in der Form der Realität dastanden,
das eben stellte an ihn jene Forderung einer ganz neuen An-
eignung. Die Lebensstruktur, die sich daraufhin zunächst aus-
bildete, war: daß seine innerste Persönlichkeit, dasjenige, was
er als den Träger der eigentlichsten Werte empfand, sich ganz
in sich selbst zurückzog. Die Tagebücher vom Ende der sieb-
ziger und Anfang der achtziger Jahre sprechen das auffallend
oft aus, z. B. : ,,Das Beste ist die tiefe Stille, in der ich gegen
die Welt lebe und wachse und gewinne — " ,>War zugefroren
gegen alle Menschen." Dazu die häufige Betonung des ,, Reinen"
als seines Ideals, offenbar in dem Sinn, daß gegenüber der kon-
fusen Wirklichkeit um ihn herum die inneren Werte abgesondert
und unvermischt bestehen sollten. Die Beziehung zu Frau von
Stein spricht nicht dagegen ; denn er sagt dauernd, sie sei eben
der einzige Mensch, gegen den er ganz offen sein könne, er
hat sie gewissermaßen in den Kreis seines Ich mit hineingezogen.
Natürlich hielt sich diese Lebenstendenz nicht ohne Schwankungen
Sehnsucht nach Geinzheit 105
(wie eben überhaupt keine seiner Epochen in begrifflich-einheit- '
lichem Charakter verläuft); er spricht gelegentlich von „einer
Liebe und Vertrauen ohne Grenzen, die ihm zur Gewohnheit
geworden sind" — aber er schreibt doch: „Gleichmut und Rein-
heit erhalten mir die Götter aufs schönste, aber dagegen welkt
die Blüte des Vertrauens, der Offenheit, der hingebenden Liebe
täglich mehr." Es kann kein Zweifel sein, daß der wesent-
lichen Labensstimmung nach Wirklichkeit und Wert sich ihm
allmählich immer weiter gegeneinander spannten. Das Ver-
sagen der poetischen Produktion war hiervon ebenso eine Wir-
kung wie eine Ursache. Denn so lange jene bestand und dominierte,
war er von einer ihm sicheren Welt umgeben, die von den
inneren und künstlerischen Werten geformt war; sobald sie
stockte, schob sich sogleich die Wirklichkeit vor und offenbarte
ihre Fremdheit gegen diese Werte. Indem beides immer weiter
auseinander trat, indem ihm die Möglichkeit, die tiefsten Be-
dürfnisse seiner Natur an irgend einem Geschauten, einem Wirk-
lichen, befriedigt zu finden, immer hoffnungsloser fernrückte
— entstand jene fürchterliche Spannung seines ganzen Wesens,
zu deren Lösung ihm sein glücklicher Instinkt die italienische,
die klassische Welt anbot ; diese Sehnsucht war ihm, v/ie er
aus Rom schreibt, ,,die letzten Jahre eine Art Krankheit, von
der mich nur der Anblick und die Gegenwart heilen konnte."
Nichts anderes als diese Zerrissenheit der Wesenselemente, auf
deren Einheit der letzte Sinn seiner Existenz gestellt war, kann
er meinen, wenn er dem Herzog in dem entscheidenden Briefe
über seine Reiseabsicht nur das eine begründende Motiv mit-
teilt: er wünsche, ,, seine Existenz ganzer zu machen". Und
dann, aus der Erfüllung, dreiviertel Jahre später: ,,Ich habe
glückliche Menschen kennen lernen, die es nur sind, weil sie
ganz sind — das will und muß ich nun auch erlangen, und
ich kann's." Von anderer Seite gesehen, war jener Lebenssinn,
war das Glück seines Daseins dies, daß sein innerlichst Er-
zeugtes, aus dem Eigensten seines Lebens Hervordrängendes und
Notwendiges sein Gegenbild und seine Bestätigung in der
Objektivität von Idee, Anschauung, Wirklichkeit fand — zum
106 Erfüllung in Italien
mindesten so, daß seine künstlerische Schöpferkraft eine Welt,
die dies leistete, vor ihn, um ihn herstellte. Diese vitale Har-
monie hatten die Weimarer Jahre mit ihrem verworrenen Klein-
kram, ihren nordischen Häßlichkeiten, ihrer dichterischen Steri-
lität zerrissen; indem Italien sie wiederherstellen sollte, stellte
es ihn wieder her. Eine Notiz aus sehr viel späterer Zeit lautet:
„Suchet in euch, so werdet ihr alles finden, und erfreuet euch,
wenn da draußen, wie ihr es immer heißen möget, eine Natur
liegt, die Ja und Amen zu allem sagt, was ihr in euch selbst
gefunden habt." Dies war die ,, Natur", die er in Italien suchte,
die ihm die beruhigende Gewißheit gab, daß sein innerstes Wesen
kein vom Weltwesen losgerissenes, auf metaphysische Einsam-
keit angewiesenes Atom war. Und sie konnte ihm das leisten,
weil er in ihr die Versöhnung auch des objektiven Risses :
zwischen der Wirklichkeit und der Idee, zwischen dem
Dasein und dem Werte, als eine anschauliche, künstlerisch
vollbrachte wiederfand. Goethe ist damit die reinste und
wirkungsvollste Darstellung eines Phänomens geworden, das in
der ganzen Kulturgeschichte der Menschheit einzig und unver-
gleichbar ist : des Nordländers in Italien. Der nordische Mensch,
der seine Existenz in Italien nicht auf die dort für die Fremden
zurechtgemachte Welt beschränkt und durch das internationale
Nivellement der großen Straße hindurch zu dem wirklichen ita-
lienischen Lebensboden dringt, fühlt eine Lockerung der festen
Kategorien, der Schachtelungen und Abgestempeltheiten, aus
denen unsrem Leben so viel Härte und Zwang kommt; aber
nicht im Sinne bloßer Befreiung, wie jede Reise sie gibt, sondern
das wunderbare Geflecht von Geschichte, Landschaft und Kunst,
sowie die Mischung von Lässigkeit und Temperament im ita-
lienischen Volk bieten ein ebenso reiches wie nachgiebiges
Material für jegliche individuelle Gestaltung des Tages und des
Lebens. Die Äußerung Feuerbachs : Rom weist jedem diejenige
Stelle an, für die er berufen ist — drückt dies nur in positiver,
sozusagen etwas gewalttätigerer Art aus. Diese eigentümliche
Befreiung, die sogleich an gegebenen Werten aktiv werden kann
imd die naturgemäß nicht der Italiener selbst, sondern nur der
Ethische Wirkting 107
Fremde in Italien gewinnt, hat durch Goethe ihre klassische
Prägung gefunden. Jetzt belehrt ihn eine erfahrene Wirklich-
keit und eine zur Kunst erhobene Wahrheit, daß die ideellen
Werte des Lebens nicht außerhalb des Lebens selbst zu stehen
brauchen, wie „der grauliche Tag hinten im Norden" sie ihm
schließlich zu zeigen schien und wie es in der Philosophie Kants
gewissermaßen monumentalisiert wurde.
Denn nicht nur von einer künstlerischen und allgemein
existenziellen, sondern insbesondre noch von einer ,, sittlichen
Wiedergeburt", die Goethe in Italien erlebt hätte, ist die Rede.
Dies an andrer Stelle behandelte Lebensideal, das in der Vollendung
der naturgegebenen Individualität als solcher besteht, erhaben
über die begrifflich fixierbaren Gegensätze von Gut und Böse
und die ganze Lebensspannung zwischen ihnen einschließend —
dieses Ideal ist von vornherein in Goethes Attitüde zum Dasein
angelegt und hat sicher in Italien nur Klarheit und Festigkeit
gewonnen; denn auch hierin liegt ein ,, Ganzerwerden" des
Menschen. Allein die spezifische Leistung Italiens für seine
moralischen Anschauungen kann ich darin nicht sehen und
möchte diese eher — um mehr als eine hypothetische Deutung
kann es sich hier nicht handeln — in die ethische Wertung
verlegen, die das Sinnliche bei ihm gewonnen hat. Gerade
die für Goethes Lebensanschauung charakteristische Bedeutung
des Sinnlichen überhaupt ist eine Schwierigkeit für ihre Deutung;
denn der zweifältige Sinn, in dem wir das Wort zu nehmen
pflegen : einmal als eine Rezeptivität, der Welt als Vorstellung
angehörig, eine den Dingen anhaftende oder auf sie übertragene
Qualität, ein andermal als eine Impulsivität, der Welt als Wille
angehörig, ein begehrliches, das sich am Genuß der Dinge be-
friedigen will — diese beiden Wortsinne hält Goethe nicht
getrennt. Wie ihm Einatmen und Ausatmen das Symbol der
Einheit von Entgegengerichtetheiten ist, so scheint er die Ein-
heit des Wortes Sinnlichkeit zu benutzen, um die innige Zu-
sammengehörigkeit von Anschauen und Begehren, von Ob-
jektivem und Subjektivem in unserem Verhältnis zum Dasein
auszudrücken. Wie ihm nun die so verstandene Sinnlichkeit
108 Sinnlichkeit und Sittlichkeit
keinen Gegensatz gegen die ,, theoretische Vernunft" bildete,
wie er vielmehr diesen rationalistischen Wertunterschied leiden-
schaftlich bekämpfte, so konnte sie ihm, nach der andern Seite,
sich nicht prinzipiell feindlich gegen die ,, praktische Vernunft"
stellen. Es entwickelt sich daraus auf der andern Seite ein
Begriff des Sittlichen, der das Moralische im engeren Sinne
umfaßt. Man könnte es etwa die im Gefühl, seinem Bleiben-
den und seinem Wechselnden, zum Bewußtsein kommende
Zuständlichkeit des ganzen inneren Menschen nennen.
Indem hier die Beschränkung des Begriffs auf jenes nur Praktisch-
Moralische aufgehoben ist, vielmehr das auch aus sich nicht
heraustretende Sein die Kategorie des Sittlichen erfüllt, gewinnt
diese Platz für den Begriff der Sinnlichkeit ; jene eigentümliche,
so bezeichnete Einheit, die für Goethe die gemeinsame Wurzel
oder Substanz der objektiv wahrnehmenden und der subjektiv
begehrenden ,, Sinnlichkeit" ist, wird von dem weiten Sinne des
Sittlichen umfaßt; dafür ist das Kapitel der Farbenlehre : ,, Sinn-
lich-sittliche Wirkung der Farbe" — durchaus geschieden von
dem andern: ,, Ästhetische Wirkung" — ein unvergleichlicher
Beleg. Aber dieses generelle Verhältnis zeigt in Goethes Lebens-
anschauung noch eine gewisse Zuspitzung, die für das Aus-
einander und Ineinander von Wirklichkeiten und Werten sehr
bedeutsam ist; entscheidend ist dafür eine Stelle im Meister:
„Man tut nicht wohl, der sittlichen Bildung einsam, in sich
selbst verschlossen, nachzuhängen; vielmehr wird man finden,
daß derjenige, dessen Geist nach einer moralischen Kultur
strebt, alle Ursache hat, seine feinere Sinnlichkeit mit auszu-
bilden, damit er nicht in Gefahr komme, von seiner moralischen
Höhe herabzugleiten, indem er sich den Lockungen einer regel-
losen Phantasie übergibt." Anderswo meint er sogar, zu den
,,drei erhabnen Ideen : Gott, Tugend und Unsterblichkeit" gäbe
es, »offenbar drei ihnen entsprechende Forderungen der höheren
Sinnlichkeit: Gold, Gesundheit und langes Leben." In Dichtung
und Wahrheit tadelt er ,,die Absonderung des Sinnlichen vom
Sittlichen, die die liebenden und begehrenden Empfindungen
spaltet." Mit alledem ist also die große Idee einer Steigerung
Moral der Seinstotalität 109
und Vollendung des Sinnlichen in sich selbst angedeutet (offen-
bar immer in jenem Einheitssinne seiner beiden Bedeutungen),
die ethischen Wertes ist; sie gipfelt in dem späten Satze: ,,Nur
das Sinnlich-Höchste ist das Element, worin sich das Sittlich-
Höchste verkörpern kann." Und es widerspricht dieser Idee
nicht, sondern bekräftigt sie, wenn er für manche Fälle das
Sinnliche den Herrschaftsanspruch des Sittlichen entschieden ab-
lehnen läßt — denn wenn die Sinnlichkeit schon durch Formung
und Erhebung ihrer selbst dem weitesten Sinn des Sittlichen
zugehört, so kann sie diesem nicht noch einmal untergeordnet
werden. Den sinnlichen Charakter der Künste allenthalben
hervorhebend, spricht er es der Musik und allen Künsten über-
haupt ab, „auf Moralität zu wirken", und besonders über die
Bühne sei es ein großer Irrtum, ,, diese der höheren Sinnlichkeit
eigentlich nur gewidmete Anstalt für eine sittliche auszugeben
— die lehren und bessern könnte." Das ist das Originelle und
Tiefe dieses Standpunktes : daß es dem Sinnlichen durch seine
sittliche Selbständigkeit verboten oder erlassen ist, zum bloßen
Mittel für das Sittliche zu werden. Wie ihm im Objektiv-Meta-
physischen die naturgegebene Wirklichkeit (im Gegensatz zum
Christentum) nicht als das an sich Wertlose erscheint, das allen-
falls vom Werte her zu dessen Vorstufe und Mittel gemacht
werden könnte, sondern wie sie in sich, von sich aus, das
Wertvolle ist, so ist ihr subjektives Gegenbild, die Sinnlichkeit,
nicht von der Sittlichkeit her, die ihr an sich fremd sei, mit
deren Werte zu erfüllen, sondern sie enthält an und für sich
und von dem gleichen Urquell her diesen Wert. Und die Rein-
heit dieses Erkenntnisses scheint mir in den Kreis seiner ita-
lienischen Errungenschaften zu gehören. So wenig er ja, wie
ich schon sagte, einen prinzipiellen Dualismus zugegeben hätte,
so scheinen doch die letzten Jahre vor Italien die sinnlich-
sittliche Ganzheit seines Wesens mit mehr als einer Spaltung
durchschattet zu haben. Vor allem wohl durch das Verhältnis
zu der verheirateten Frau, in dem, wie es sich auch gestalte,
immer nur eine Seite des Dualismus zu ihrem Rechte kommen
konnte und das sich in den letzten Jahren durch die Eifersucht
110 Harmonie
Charlottes sozusagen noch einmal für ihn in der gleichen Richtung
spaltete. In Italien scheint sich dies alles nun geklärt und zum
erstenmal prinzipiell zurechtgerückt zu haben; nach wenigen
Monaten schreibt er: ,,Wie moralisch heilsam ist mir es dann
auch, unter einem ganz sinnlichen Volke zu leben." Der Kon-
flikt löste sich wie alle inneren Gegnerschaften dieses Lebens:
nicht durch Unterdrückung einer Partei oder Kompromiß
zwischen beiden, sondern durch das Zurückgreifen auf die
Grundeinheit seines Wesens, deren Wert ihm der Wert schlecht-
hin war und die diesen in alle noch so auseinander strebenden
Zweige seines Weltverhältnisses einströmen ließ. Die Kantische
Moral hat wohl das Schicksal der meisten Menschen ausge-
sprochen, wenn sie das Sinnliche und Leidenschaftliche gegen
die Forderung der Pflicht kämpfen läßt (, »Zwischen Sinnenglück
und Seelenfrieden Bleibt dem Menschen nur die bange Wahl"),
was denn schließlich entweder einen unbefriedigten Dualismus
oder eine Verarmung hinterläßt. In Goethe aber kämpfte es
gegen die Forderung der Harmonie, der ausgeglichenen Totalität
des Lebens — wie er sich ja auch nicht scheut, von einer
Übertriebenheit des Moralischen zu sprechen, eine für Kant völlig
unausdenkbare Vorstellung — und darum konnte der Sieg hier
ein vollkommener sein, weil der Feind selbst in die Einheit der
schließlich gewonnenen Form einbegriffen ist; was sich denn
auch als der Sinn all seiner Entsagungen und Selbstüberwindungen
zeigen wird. Vielleicht gehört es zu dem Providenziellen dieses
Schicksals, daß ihm Sinnlichkeit und Sittlichkeit einmal aus-
einander zu brechen drohten — damit ihm Italien seine Ganzheit,
aber nun auf höherer, bewußterer, differenzierterer Stufe wieder-
geben konnte, das heißt: daß er im Sinnlichen dieselbe Wert-
strömung der Lebenseinheit fließen fühlte, die das Sittliche trug.
Ein Satz vom März 88 faßt es zusammen: ,,In Rom hab ich
mich selbst zuerst gefunden, ich bin zuerst übereinstimmend
mit mir selbst, glücklich und vernünftig geworden."
Für die Entwicklung des Verhältnisses aber zwischen dem
ästhetisch geformten Wert und der Wirklichkeit, die in Italien
ihre zweite entschiedene Periode erfuhr, ist nun vor allem die
Schönheit als Natur 111
griechische Kunst und nächst ihr die der Hochrenaissance be-
stimmend gewesen. Goethes allgemeines Verhältnis zur Antike
bedarf, als jedermann bekannt, hier keiner Darstellung; wenn
uns heute die klassische Welt weniger als die durchgehende
Verwirklichung eines einheitlichen Ideales erscheint, dieses
Ideal selbst nicht mehr als absolutes, sondern als historisch
eingegrenztes, neben das andere Zeiten ihre abweichenden Be-
dürfnisse gleichberechtigt stellen, wenn wir der griechischen
Kunst Mannigfaltigeres und wohl auch Tieferes entnehmen,
als Goethe, der von Originalen der wirklich hohen Kunstepoche
so gut wie nichts kannte — so sei darüber die ungeheure
Kulturleistung seines ,, Klassizismus" nicht vergessen. Daß er
der deutschen Bildung diese Vorstellung vom Griechentum als
einen fast ein Jahrhundert lang unbestrittenen und innerlich
wirksamen idealischen Besitz einprägte (und das geht auf ihn,
nicht auf Lessing und Winckelmann zurück) — das bleibt eine
der erstaunlichsten kulturellen Kraftleistungen, auch wenn, und
vielleicht gerade wenn diese Vorstellung historisch irrig und
ästhetisch einseitig war. Die Leistung der Antike aber für
jenes Wert t^ Wirklichkeits- Problem war, daß er in ihr eine
Naturwahrheit im höchsten Sinne fand, die die künstlerischen
Werte unmittelbar einschloß; daß die Natur, in ihrer vollen
Wahrheit — also jenseits aller zufälligen Einzelheiten und ein-
seitigen Äußerlichkeiten — erfaßt, schöne Natur sei; daß also
in der Schönheit Wirklichkeit und Kunst ihren realen Kon-
vergenzpunkt besäßen. Von einer ,, Nachahmung" der Natur
durch die Kunst, die nur von Oberfläche zu Oberfläche führt,
ist jetzt nicht mehr die Rede; ausdrücklich wird das Kunst-
verständnis, das ihm durch die Griechen gekommen sei, der
Nachahmung auch der ,, schönen" Natur entgegengesetzt. Er
sieht ein, daß jene künstlerischen Genien aus dem Grunde der
Natur heraus schaffen, d. h. aus einer Wesenstotalität, die die-
selbe ist, wie der ,,Kern der Natur", der ja doch „Menschen
im Herzen" ist. Die Technik, durch die dies sozusagen aktua-
lisiert wird, ist natürlich ein unermüdliches Studium der ge-
gebenen Natur in ihren Erscheinungen; und in dem Maße, in
112 Die klassische Ganzheit
dem es gelingt, ist das Werk „schön": ,,Der bildende Künstler,
so schreibt er ganz spät, muß sich zuerst an der kräftigen
Wirklichkeit vollkommen durchüben, um das Ideale daraus (!)
zu entwickeln, ja zum Religiösen endlich aufzusteigen". Denn
das Schönheitsideal wohnt weder einem Transzendenten hinter
der Natur ein, noch einem Singulären in Isoliertheit gegen das
ganze Sein, sondern derjenigen Erscheinung, in der die einheit-
liche Ganzheit des natürlichen Seins zum Ausdruck kommt.
Wie im psychologischen Symbol drückt Goethe diese tiefste
Bedeutung des Schönen in dem Satze aus: ,, Wer die Schönheit
erblickt, fühlt sich mit sich selbst und mit der Welt in Über-
einstimmung".
Die drei Elemente also : Natur, Kunst, Schönheit wurden ihm
durch die Erfahrung von der Klassik auf eine neue Weise zu-
sammengebracht. ,, Indem der Mensch, schreibt er später in
der reifsten Zusammenfassung seiner klassisch -künstlerischen
Bildung, auf den Gipfel der Natur gestellt ist, so sieht er sich
wieder als eine ganze Natur an, die in sich abermals einen
Gipfel hervorzubringen hat." Zuhöchst sei das Kunstwerk ein
solcher. ,, Indem es aus den gesamten Kräften sich entwickelt,
so nimmt es alles Herrliche — in sich auf." Und dies geschehe
vor allem bei den Griechen. Hiermit und sonst oft bezeichnet
er den zentralen Punkt: daß bei den Griechen sich ,, sämtliche
Eigenschaften gleichmäßig vereinigten". Der Grieche erschien
ihm als der ganze Mensch, als die in sich ungebrochene Natur
— worüber wir freilich heute vielfach anderer Meinung sind;
aber die Idee der Ganzheit, deren Ersehnung ihn nach Italien
trieb, ist ihm sozusagen zum Apriori geworden, nach dem er
die ihn beeindruckendste und beglückendste Erscheinung deuten
mußte. Eben diese harmonische Totalität, mit der das Dasein
sich abrundet und Schönheit erzeugt, weil jene eben selbst
Schönheit ist — war es, was ihn an Rafael entzückte. Er
drückt diesen in Italien gewonnenen Eindruck später so aus,
daß bei Rafael Gemüts- und Jatkraft in entschiedenem Gleich-
gewicht stünden, die glücklichsten inneren und äußeren Um-
stände in Harmonie mit dem unmittelbaren Talent. „Er grä-
Das Einzelne, die „Idee", die „Natur" 113
zisiert nirgends, fühlt, denkt, handelt aber wie ein Grieche."
Die Griechen bringen ihm den Gesichtspunkt der Totalität —
des Menschen in sich und seiner Beziehung zur Natur — an
das Verhältnis von Wirklichkeit und Kunst heran und damit
die Schönheit, die von dieser Wurzel her beiden gemeinsam
ist. Er spricht öfters von dem Nutzen seiner anatomischen
Studien für das Verständnis der Kunst; indes käme man so
doch nur dazu, den Teil zu kennen. „In Rom aber wollen die
Teile nichts heißen, wenn sie nicht zugleich eine edle, schöne
Form [d. h. ein Ganzes] darbieten." Die Ganzheit, die er für
sein Leben und sein Weltbild suchte, war ja die von Wirklich-
keit und Wert. Und nun trat ihm eine Kunst entgegen, die
ihm, angesichts all der Barockformen und der leeren Schnörkel,
die ihn bis dahin als das Ästhetisch-Anschauliche des täglichen
Lebens umgeben hatten, als wahre, echte Natur erscheinen
mußte und die die Schönheit nicht als etwas sozusagen Auf-
geklebtes, Hinzugefügtes besaß, sondern von derselben Wurzel-
tiefe her ihr zu eigen, in der ihre Naturhaftigkeit erwuchs.
So gering die objektive Stilgleichheit des aktuellen italienischen
Lebens und der griechischen Kunst sein mochte — für die
innere Lage und ihre Bedürfnisse, die Goethe nach Italien mit-
brachte, leisteten sie ihm die gleiche Synthese seiner auseinander-
getriebenen Lebenselemente.
Goethes Kunstbegriff wird durch dieselbe „mittlere" Stellung
charakterisiert, die seinen geistigen Weltbegriff überhaupt be-
stimmt: das Einzelne, in seiner sinnlich-zufälligen Unmittel-
barkeit, das nur Gelegenheit zur Kopie, zu mechanischer Ähn-
lichkeit gibt, ist ihm kein Gegenstand der Kunst ; ebensowenig
aber die abstrakte geistige Form, die dem natürlichen Leben
prinzipiell fremde Idee. Zwischen beiden steht der allmählich
sich entwickelnde Begriff der ,, Natur" als des zugleich Wirk-
lichen und Übereinzelnen, zugleich Konkreten und Ideellen.
Man kann freilich seine frühe Periode als Naturalismus be-
zeichnen, wobei aber Natur einen ganz andern Sinn hat, als
in der gewöhnlichen realistischen Kunsttendenz. Es ist nämlich
seine eigene Natur, die Natur im subjektiven Sinne, die sich,
Simmel, Goethe. 8
114 Kunst und natürliche Schönheit
die realen und die ideellen Formen manchmal gleichmäßig ver-
gewaltigend, in Produktivität ausströmt: die Schöpfungen bilden
nicht die Natur der Gegenstände nach, sondern die Natur
des Schöpfers bildet sich in sie ein, und wenn auch jenes erstere
stattfindet, so ist es, weil die leidenschaftliche Weltaneignung
der Jugend in ihren Äußerungen wieder zum Vorschein kommt.
Er objektivierte das, indem ihm die Natur die große zeugende
Einheit war, die Mutter zu allen Kindern, die Kraft in seiner
eigenen Kraft ; so daß er am Schluß des Hymnus an die Natur
(c. 1781) sagt: ,,Ich sprach nicht von ihr. Nein, was wahr ist
und was falsch ist, alles hat sie gesprochen." Hier ist also
Natur, die vor allem Einzelnen steht und den Akzent des
Künstlertums deshalb von aller realistischen ,, Nachbildung"
wegrückt. Und eben dies letztere geschieht nun, von dem
Eindruck der Griechen aus, durch einen Naturbegriff, der gleich-
sam hinter dem Einzelnen steht. Jetzt handelt es sich um
das Herausarbeiten einer Schönheit, die zwar eine wirkliche
und lebendige ist — aber diese Wirklichkeit und Lebendigkeit
ihrer ist nicht mit dem sinnlichen Dasein eines singulären,
empirischen Stückes Welt identisch, sondern offenbart sich erst
in der Form der Kunst. »'fAus den Werken der klassischen
Kunst, sagt er, lernen wir die Schönheit erst kennen, um sie
an den Gebilden der lebendigen Natur gewahr zu werden und
zu schätzen.**/ Diese Äußerung stammt aus einer Zeit, in der
er die Ergebnisse Italiens in gesammelter Reflexion und neuem
Hineinversenken überschaute. Seit jener Äußerung von 1775,
nach der er ein Kunstwerk nicht genießen könnte, wenn er
nicht durch die Kenntnis der entsprechenden Natur dazu an-
geleitet würde, hat sich also eine vollkommene Drehung voll-
zogen: jetzt wird ihm die Natur erst durch die Kunst zur
Genießbarkeit interpretiert. Und was er uns im Werther heftig
vorwirft: daß wir Kunst brauchen, um Natur als vollendet zu
fühlen {,,Muß es denn immer gebosselt sein, wenn wir Teil an
einer Naturanschauung nehmen sollen?") — gerade das also
preist er jetzt als die höchste Leistung der Kunst. Und nun
schreibt er über die griechischen Plastiker: „Ich habe eine
Früherer und späterer Naturbegriff 115
Vermutung, daß sie nach eben den Gesetzen verfuhren, nach
welchen die Natur verfährt. Nur ist noch etwas anderes dabei,
das ich nicht auszusprechen wüßte." Die Nachahmungstheorie
ist hier überwunden, indem der Künstler sozusagen nicht nach
dem fertigen Naturbild schafft, nicht einfach Äußeres in Äußeres
überträgt, sondern wirklich schöpferisch, und nur nach den
Gesetzen, die auch jenes Naturbild erwachsen ließen. Das
,, andere" aber, das noch ,, dabei" ist, scheint mir jene spätere
Äußerung herausgebracht zu haben: zum Kunstwerk wirken
jene Gesetze in solcher Reinheit und solcher Richtung, daß sie
ausschließlich Schönheit erzeugen — sei es, daß sie diese inner-
halb der Wirklichkeitsform nur verstreut und zufällig, sei es,
daß sie sie in ihr nur verborgen, dem nicht-künstlerischen Auge
unauffindbar, produziert haben. Daß die Natur rein als solche
sozusagen mehr ist als Natur, daß die Gesetze der realen Er-
zeugungen wie durch rein immanente Steigerung zugleich die
der Schönheit sind — das ist das tiefste Fundament seiner
späteren Äußerung: ,,Der Sinn und das Bestreben der Griechen
(in der Kunst) ist, den Menschen zu vergöttern, nicht die Gott-
heit zu vermenschlichen. Hier ist ein Theomorphism, kein
Anthropomorphisml" Und noch einmal bricht in eben diesem
Sinne, in einem zwischen der italienischen Reise und diesem
Worte gelegenen Ausspruch die tiefe Fremdheit gegen alle
christliche, dualistische Transszendenz heraus: ,, Antike Tempel
konzentrieren den Gott im Menschen; des Mittelalters Kirchen
streben nach dem Gott in der Höhe." Die Schönheit, die er
jetzt auf eine neue Weise in der Natur sehen lernte, weil sie
ihm, wie in einer Sublimierung, in der klassischen Kunst ent-
gegentrat, rückte den jetzt gewonnenen Naturbegriff von dem
früheren ab. Dies besagt — eigentlich noch aus der Vorahnung
heraus — die Briefstelle vom Anfang der italienischen Reise:
,,Die Revolution, die ich voraussah und die jetzt in mir vor-
geht, ist die in jedem Künstler entstand, der lange emsig der
Natur treu gewesen und nun die Überbleibsel des alten großen
Geistes erblickt, die Seele quoll auf und er fühlte eine innere
Art von Verklärung sein selbst, ein Gefühl von freierem Leben,
8»
116 Naturalismus und künstlerische Einheit
höherer Existenz, Leichtigkeit und Grazie." Und dann kann er,
wo der Prozeß beinahe abgeschlossen ist, bei dem zweiten
Aufenthalt in Rom schreiben: ,,Die Kunst wird mir wie eine
zweite Natur." Sie war ihm früher wie die erste gewesen.
Und als das Auseinanderbrechen von Wert und Wirklichkeit
ihm offenbar auch das Verhältnis von Natur und Kunst proble-
matisch gemacht hatte, bedurfte er der Leitung und Erleuchtung
durch die Klassik, die die Natur als Schönheit zu deuten wußte :
er meinte, die ,, Ganzheit" des griechischen Wesens zu spüren,
durch diese mächtige Synthese offenbart und ihm zugeleitet,
an der er nun die Ganzheit seines eigenen Wesens wieder
aufbaute. Damit ist erst sein Kunst- und Schönheitsbegriff
zu einer Höhe und Einheit gelangt, die alle Einzelheiten als
solche dominiert, ihnen die Form gibt und damit alle Nach-
ahmung erst prinzipiell überwindet — gerade wie sein persön-
liches Bewußtsein über das Chaos neben- und gegeneinander-
stehender Einzelheiten, das ihm schließlich unerträglich geworden
war, jetzt seine beherrschende Einheit gewann. Wenige Jahre
nachher wendet er dies auch auf das Theater an und sagt
gegen den naturalistischen Individualismus (der auch ein Ein-
zelnes in seiner besonderen Wirklichkeit vorträgt, also dem
Prinzip nach dasselbe ist wie die bloße Nachahmung eines
Gegebenen): der Naturton auf der Bühne ,,ist zwar höchst er-
freulich, wenn er als vollendete Kunst, als eine zweite Natur
hervortritt, nicht aber wenn ein jeder glaubt, nur sein eigenes
nacktes Wesen bringen zu dürfen."
Das dritte Stadium, in dem sich das Verhältnis zur Natur
und Kunst, weiter gefaßt : von Wirklichkeit und Wert darstellt,
ist nicht mit derselben Schärfe abzugrenzen und festzulegen,
insbesondere nicht, weil die in Italien gewonnene Attitüde
ja nie ausdrücklich verleugnet wird, auch nie verschwindet.
Aber es scheint mir unverkennbar: der selbständige Wert der
Kunstform, der sich, seiner ersten Epoche gegenüber, in Italien
aufarbeitet, und der ihm hier zu einer neuen Deutung der Natur
wird, an den Diskrepanzen des Daseins die Versöhnungsfunktion
übt, eben damit in innigster Einheit mit der Natur selbst, in
Autonomie der Kunst 117
organischer, solidarischer Beziehung mit dem Wirklichen und
seiner Gesetzlichkeit steht — dieser Wert wächst über die so
bestehende Verwebung mit den Wirklichkeitsinhalten in gewissem
Maße hinaus ! Goethe hat, wie ich zeigte, in Italien mit voller
Klarheit das Unkünstlerische der einfachen Abschrift des Wirk-
lichen durchschaut, erkannt, daß die Kunst sozusagen das Ge-
setz der Dinge, aber nicht die Singularität des Dinges zum
Gegenstand habe. In zwei Äußerungen, die etwa zehn Jahre nach
der Rückkehr aus Italien liegen, ist scheinbar nur dies aus-
gesprochen, und doch spürt man darin, wie ihm das Kunst-
prinzip noch weiter von der naturhaften Unmittelbarkeit ab-
gerückt ist: ,,Die Kunst übernimmt nicht mit der Natur, in
ihrer Breite und Tiefe zu wetteifern, sie hält sich an die Ober-
fläche der natürlichen Erscheinungen; aber sie hat ihre eigne
Tiefe, ihre eigne Gewalt: sie fixiert die höchsten Momente
dieser oberflächlichen Erscheinungen, indem sie das Gesetzliche
darin anerkennt, die Vollkommenheit der zweckmäßigen Pro-
portion, den Gipfel der Schönheit, die Würde der Bedeutung,
die Höhe der Leidenschaft". Der marmorne Fuß ,, verlangt
nicht zu gehn ; und so ist der Körper auch, er verlangt nicht
zu leben. — Die törichte Forderung des Künstlers, seinen Fuß
neben einen organischen zu stellen" usw. Und ein wenig früher
sogar noch entschiedener : ,,Ich habe mehr als einen Wagenlenker
alte Gemmen tadeln hören, worauf die Pferde ohne Geschirr
dennoch den Wagen ziehen sollten. Freilich hatte der Wagen-
lenker recht, weil er das ganz unnatürlich fand; aber der
Künstler hatte auch recht, die schöne Form seines Pferdekörpers
nicht durch einen unglücklichen Faden zu unterbrechen: diese
Fiktionen, diese Hieroglyphen, deren jede Kunst bedarf, werden
so übel von allen denen verstanden, welche alles Wesen natür-
lich haben wollen und dadurch die Kunst aus ihrer Sphäre
reißen." Und abermals zwanzig Jahre später: ,,Das Richtige —
in der Kunst — ist nicht sechs Pfennige wert, wenn es weiter
nichts ist". Er wird gegen die Unlauterkeit des Wettbewerbes
zwischen Kunst und Wirklichkeit immer empfindlicher. 1825
spricht er von einer in einer Aula auszuführenden malerischen
118 Naturalismus des ,, Effekts"
Allegorie und fragt: Ist sie farbig, d. h. mit dem Schein des
wirklichen Lebens dargestellt ? Als dies bejaht wird, fährt er
fort: ,,Das würde mich stören. Eine Marmorgruppe an diesem
Platze würde den Gedanken aussprechen, ohne in Konflikt zu
geraten mit der Gesellschaft wirklicher Personen, die sie um-
geben". Ich sprach oben von zwei ganz verschiednen Be-
deutungen des Naturalismus. Der subjektive, vom Schöpfer her
gemeinte, ist das unmittelbare Hervorsprudeln des persönlichen
Zustandes, der persönlichen Erregung und Impulsivität, ohne
daß ihr von einer Idee Formung käme; der objektive dagegen
möchte die Kunsterscheinung zu möglichst ungeänderter Kopie
der Wirklichkeitserscheinung machen. Nun gibt es aber noch
eine dritte Tendenz, die man als naturalistische zu bezeichnen
berechtigt ist : die den Zweck und Wert des Kunstwerks in den
Effekt legt, den es im Aufnehmenden auslöst. Denn auch
hier wird, wie in den beiden andern Fällen, eine Realität zum
Maßstab und zur Quelle des Sinnes für das Kunstwerk — der
rein tatsächliche, als natürliches Ereignis geschehende Eindruck
auf den Beschauer. Hat Goethe nun auf Grund der Klassik die
beiden ersten Formen des Naturalismus überwunden, so wendet
er sich später mit leidenschaftlicher Entschiedenheit auch gegen
die dritte. Gegen Ende der Lehrjahre heißt es: ,,Wie schwer
ist es, was so natürlich scheint, eine gute Statue, ein treffliches
Gemälde an und für sich zu beschauen, den Gesang um des
Gesanges willen zu vernehmen, den Schauspieler im Schauspieler
zu bewundern, sich eines Gebäudes um seiner eignen Harmonie
und seiner Dauer willen zu erfreuen. Nun sieht man aber meist
die Menschen entschiedne Werke der Kunst geradezu behandeln,
als ob es ein weicher Ton wäre. Nach ihren Neigungen, Mei-
nungen und Grillen soll sich der gebildete Marmor gleich wieder
ummodeln, das festgemauerte Gebäude sich ausdehnen oder zu-
sammenziehen, ein Gemälde soll lehren, ein Schauspiel bessern.
Die meisten Menschen — reduzieren alles zuletzt auf den so-
genannten Effekt." Auf dieser Basis steht die außerordentlich
tiefe Kritik des Dilettanten vom Jahr 99: ,,Weil der Dilettant
seinen Beruf zum Selbstproduzieren erst aus den Wirkungen
Innere Vollendetheit der Kunst 119
der Kunstwerke auf sich empfängt, so verwechselt er diese
Wirkungen mit den objektiven Ursachen und meint nun den
Empfindungszustand, in den er versetzt ist, auch produktiv zu
machen ; wie wenn man mit dem Geruch der Blume die Blume
selbst hervorzubringen dächte. Das an das Gefühl Sprechende,
die letzte Wirkung aller poetischen Organisationen, welche aber
den Aufwand der ganzen Kunst selbst voraussetzt, sieht der
Dilettant als das Wesen derselben an und will damit selbst her-
vorbringen." Und noch später schreibt er ganz prinzipiell:
,,Die Vollendung des Kunstwerks in sich selbst ist die ewige
unerläßliche Forderung. Aristoteles, der das Vollkommenste
vor sich hatte, soll an den Effekt gedacht haben! Welch ein
Jammer!" Hat er die Kunst zuerst von jedem terminus a quo
unabhängig gemacht, sowohl von dem subjektiven wie von dem
objektiven, um sie ganz auf sich selbst zu stellen, so vollendet
sich dies also nun durch ihre Unabhängigkeit von dem ter-
minus ad quem. Sie steht gleichmäßig jenseits des einen wie
des andern in der vollen Selbstgenügsamkeit ihrer Formen,
ihrer Idee. Am Anfang dieser Entwicklung war ihm die
Natur die Bedingung und sozusagen das Medium des künstleri-
schen Fühlens gewesen, dann hatte umgekehrt die Kunst den
Sinn und den ideellen Wert der Natur gedeutet — jetzt ist die Kunst
autonom geworden ; aber weil sie durch diese Stadien der Einheit
durchgegangen waren, weil jenes innigste organische Verhältnis,
das ihm nach der drohenden Zerreißung der voritalienischen
Weimarer Jahre die Klassik gebracht hatte, nicht mehr zu
trennen war, sondern in tiefster Wurzelung weiterlebte —
darum ließ das ,,Artistentum" seiner späteren Jahre die Natur
nicht etwa als neuen Feind hinter sich ; die Kunst trug nun die
Versöhnung mit der Natur in sich, ihr Begriff war ihm so
groß und hoch geworden, daß ihre Selbständigkeit nicht mehr,
— was sonst so oft die Bedingung, aber deshalb auch die
Schranke der Selbständigkeit ist — eines Gegenüber und Gegen-
satzes bedurfte. Das ist es, was er als Achtzigjähriger aus-
spricht: die höchsten Kunstwerke seien solche, die ,,die höchste
Wahrheit, aber keine Spur von Wirklichkeit" hätten. Und
120 Stellung der Kunst
darum stehen in seinem Nachlaß die beiden Aphorismen hinter-
einander, die sich zu widersprechen scheinen könnten, aber sich
in Wirklichkeit bedingen: „Natur und Idee läßt sich nicht
trennen, ohne daß die Kunst sowie das Leben gestört werde"
— imd: ,,Wenn Künstler von Natur sprechen, subintelligieren
sie immer die Idee, ohne sich's deutlich bewußt zu sein." So
ganz also hat die Kunst ihre Existenz in der ,,Idee", daß sie
in dem, was der Künstler Natur nennt, die Substanz, das
eigentlich Gemeinte ist; aber sie kann das, weil sie von vorn-
herein mit der Natur Eines ist, weil sie die Natur sozusagen
aufgesogen hat und weil das Leben, das der Schicksalsgenosse der
Kunst ist, in dieser Assimiliertheit von Idee und Natur besteht.
Damit ist aber auch die Gefahr vermieden, die die Selbst-
herrlichkeit der Kunst in dem, was wir jetzt eben Artistentum
nennen, leicht mit sich bringt: daß ihre Autonomie sich zu
einer Despotie übersteigert, daß der Hochmut eines isolierten
Kunstbegriffes alle Wirklichkeit und Natur sozusagen zu einer
Existenz zweiter Klasse herabdrückt. Jener Begriff mag bei
Goethe zu noch so großer Souveränität aufwachsen, er kann
das immer nur in der Richtung jenes ursprünglichen Wachs-
tums aus der einheitlichen Verwurzelung mit der Natur heraus.
Ja, weil die Kunst, bei aller absoluten Selbständigkeit ihrer
Form, ihren Sinn aus dem anschaulichen und geistigen Wesen
der Natur bezieht, weil sie zu der Höhe, in der sie jenseits
der Natur steht, nur aus der Natur heraus und deren tiefere
Wahrheit als ihre eigne bewahrend gelangt ist — darum läßt
Goethe ihr eine wundervolle Bescheidenheit, ein starkes Bewußt-
sein ihrer angemessenen Stellung in dem alles übergreifenden
Dasein überhaupt: ,,Der Mensch, sagt er zehn Jahre nach
Italien, verlange nicht Gott gleich zu sein, aber er strebe, sich
als Mensch zu vollenden. Der Künstler strebe, nicht ein Natur-
werk, aber ein vollendetes Kunstwerk hervorzubringen." Die
Parallele spricht deutlich genug: das Naturwerk bleibt das
unerreichbar Höchste, aber indem die Kunst mit ihm nicht
konkurriert, weder im Sinn des Naturalismus noch des stolz
abstrakten Artistentums, kann sie in sich eine absolute, durch
Gegensatz zwischen Idee und Erfahrung 121
jene Absolutbeit der Natur nicht herabgedrückte Vollendung
haben.
Dies steht nun in einer leicht fühlbaren Beziehung zu einer noch
weitergreifenden Spannung der Grundelemente, die in seinen
späteren Jahren hervortritt. Daß die Idee der Erscheinung inne-
wohnt und in ihr anschaulich ist, daß die Natur ihre Geheimnisse
hier und da dem Beschauer nackt vor Augen stellt, daß nichts
hinter den Phänomenen liegt, sondern sie selbst,, die Lehre" sind —
das ist das zeitlos Prinzipielle der Goetheschen Weltanschauung,
ihre ,,Idee" selbst. Nun aber begegnen, insbesondere in höherem
Alter, zunächst Äußerungen wie die: ,,Kein organisches Wesen
ist ganz der Idee, die zugrunde liegt, entsprechend." Ganz spät
sagt er, daß er die Natur keineswegs ,,in allen ihren Äußerungen
schön" finde: sie habe eben nicht immer die Bedingungen, ihre
,, Intentionen" vollkommen zur Erscheinung zu bringen ; wofür
er die mannigfaltigen Verkrüppelungen anführt, die ein Baum
durch Ungunst des Standortes erfahren kann. Die Natur ist zwar
in Gott gehegt, aber dennoch ist das göttliche Prinzip in der Er-
scheinung ,, bedrängt", dennoch können Taten ,,ohne Gott" ge-
schehen; und die Idee ,, tritt immer als ein fremder Gast in die Er-
scheinung". ,,Die Idee ist in der Erfahrung nicht darzustellen,
kaum nachzuweisen; wer sie nicht besitzt, wird sie in der Er-
scheinung nirgends gewahr." ,, Zwischen Idee und Erfahrung
scheint eine gewisse Kluft befestigt, die zu überschreiten unsere
ganze Kraft sich vergeblich bemüht. Dessenungeachtet bleibt
unser ewiges Bestreben, diesen Hiatus mit Vernunft, Verstand,
Einbildungskraft, Glauben, Gefühl, Wahn, und, wenn wir sonst
nichts vermögen, mit Albernheit zu überwinden." Und dies wen-
det sich schließlich auch ins Ethische, wenn er, 75 Jahre alt, über
Byrons griechisches Unternehmen und seinen Tod sagt: ,,Es ist
aber das Unglück, daß so ideenreiche Geister ihr Ideal durchaus
rerwirklichen wollen. Das geht nun einmal nicht, das Ideal und
die gemeine Wirklichkeit müssen streng geschieden bleiben."
Neben dem letzten und eigentlich absoluten Prinzip des Goethe-
schen Weltbildes: der Einheit der Pole, des ,,ewig Einen, das sich
vielfach offenbart", der ,,Ruh' in Gott dem Herrn", die alles
122 Dualismus
Drängen, Irren, Spalten zusammenschließt, der ,, göttlichen
Kraft, die überall entwickelt, der ewigen Liebe, die überall wirk-
sam" ist — neben diesem steht ein dualistisches Prinzip, das
jenem gegenüber einigermaßen im Dunkeln bleibt und sich nur
in solchen einzelnen Äußerungen über die Unstimmigkeit zwischen
Idee und erfahrbarer Wirklichkeit verrät. Die Empfindung
dieses dumpfen Widerstandes der realen Welt, der wir selbst
zugehören, gegen das Höhere und Absolute, von dem sie selbst
doch ihren ganzen Inhalt und Wert zu Lehen trägt, reflektiert
sich wohl in einem Gefühl, das er öfters, z. B. in folgendem Satz
ausspricht: ,,Die Idee, wenn sie in die Erscheinung tritt, es sei
auf welche Art es auch wolle, erregt immer Apprehension, eine
Art Scheu, Verlegenheit, Widerwillen, wogegen der Mensch in
irgendeiner Weise sich in Positur setzt." Auch über die Ur-
phänomene, deren Auffindung ihn doch ursprünglich beseligte —
wie er denn überhaupt von seinen naturwissenschaftlichen Ent-
deckungen mit einem so freudigen Stolze spricht, wie nie von
seinen Dichtwerken — äußert er sich später in dem gleichen
Sinn: daß ihre Wahrnehmung mit einem gewissen Schrecken
und Angstgefühl verbunden sei. Ich wüßte zwar den Zusammen-
hang beider Phänomene des Goetheschen Geistes durch kein
Zitat zu belegen. Aber dies eigentümliche Gefühl des Schreckens
beim Hervortreten der Idee, als überwältigte uns dabei etwas,
was mit unbegreiflicher Kraft aus einer uns fremden Welt
kommt, scheint mir nur auf jene Konstellation begründbar: daß
dasjenige, was erscheinen zu lassen sich die Wirklichkeit sträubt,
was sie nur wie in Andeutungen und aus der Ferne zeigt, nun
dennoch auf einmal anschaulich wird; jederzeit ist es eines der
tiefsten Schrecknisse der menschlichen Seele, wenn sie das ver-
wirklicht erblickt, was sie als logischen Widerspruch denken muß.
Hier liegt eine der dunkelsten, am wenigsten auf einen einheit-
lichen Grund und einen durchsichtigen Ausdruck gebrachte Seite
Goethescher Weltanschauung vor. Es ist offenbar im Meta-
physisch-Wertmäßigen die Schwierigkeit an ihn herangetreten,
die ganz prinzipiell jeden Monismus bedroht: daß es unsem
Denkkategorien versagt ist, die differente Ausgedehntheit und
Einheit des Seins und Gespaltenheit des Wertes 123
Vielheit des Daseins aus dem ,, Einen", dem schlechthin ein-
heitlichen Prinzip zu entwickeln. Wie unser Geist nun einmal
angelegt ist, bedarf es mindestens einer Zweiheit ursprünglicher
Elemente, damit es zu einer Zeugung komme, damit, real wie
logisch, ein Mehrfaches, Anderes, Gewordenes begreiflich sei.
Die absolute Einheit ist unfruchtbar, wir können nicht einsehen,
warum dieses Eine, wenn außer ihm nichts ist, ein Zweites und
Drittes, und gerade dieses und gerade in diesem Zeitmomente,
hervorbringen sollte. Soweit nur das Sein in Frage kommt, ent-
geht der Goethesche Pantheismus dieser Ratlosigkeit, indem
er die göttliche Einheit als eine lebendige vorstellt. Das
Leben, als Ganzes gefaßt, ist freilich das aus sich selbst zeugende
Prinzip, der Organismus, einmal entstanden, wächst, formt und
entfaltet sich aus rein innerem Gesetz, aus einer Triebeinheit,
die eines andern höchstens als Materiales bedarf. Weil Goethe
die Welt als einen Organismus verstand, überwand er die Klippe
des früheren Pantheismus: daß die absolute Einheit ja etwcis
schlechthin Undifferenziertes, Formloses, ewig Unänderbares ist;
wie die Organvielheit, die auseinanderzweigende Entwicklung
des Lebewesens seiner Einheit nicht widerspricht, sondern dieser
gerade entsprießt, so kann eine lebendige Welt eine vielheit-
lich geformte, unendlich differenzierte und doch eine, in sich
ungeteilte und unteilbare sein. Auf eine Kritik dieser Vorstellung
gehe ich nicht ein; für Goethe jedenfalls scheint sie ausgereicht zu
haben, um seinen Pantheismus der Fragwürdigkeit des starren
SV Jtai Tcav zu entreißen. Wo aber statt der Einheit des Seins die Ein-
heit des Sinnes in Frage steht, hat er keine entsprechende Be-
stimmung der ,, Gott-Natur" zur Verfügung, und ihre Einheit
versagt an der Unzulänglichkeit, Dumpfheit, Ideenfremdheit der
tatsächlichen Phänomene. Ich kenne keine Äußerung Goethes,
die es unternähme, die göttliche Einheit, die die Natur und
jede ihrer Einzelheiten widerstandslos durchdringt — und die
Unfindbarkeit des Göttlichen oder der Idee in der Erscheinung,
den Widerstand, den die wirkliche Natur, all jenen Aussprüchen
gemäß, diesem Absoluten und Ideellen leistet — auf einen
Begriff zu bringen, aus einem tieferen Motiv abzuleiten.
124 Fragwürdigkeit des Gegenprinzips
Beides vielmehr steht wie unvermittelte Tatsachen nebenein-
ander — während doch die gleichsam zeitlose Substanz seiner
Weltanschauung, die Idee, die diese historisch zu verwirklichen
berufen war, in dem sichtbaren Einwohnen des Ideellen in
der ,, Gestalt", in dem, wenn nicht unmittelbaren, so doch mittel-
baren und innerlichen Sinnlich-Sein des Übersinnlichen beruhte!
Zu einem prinzipiellen Dualismus, wie ihn manche
religiöse und in gewissem Sinn auch die Kantische Weltan-
schauung zeigt, kommt es zwar nicht. Ich wüßte nicht, daß für
jene Behinderung der Idee, sich in der Erscheinung zu zeigen,
irgendein positives metaphysisches Prinzip haftbar gemacht wird;
ich kann mich nicht entschließen, das Symbol eines solchen in
Mephistopheles zu sehen — auch wenn es ihm ,, Ehrenpunkt"
ist, ,, dabei" gewesen zu sein, als die Natur entstand. Denn Me-
phisto tritt — was etwas Frappierendes hat — eigentlich nicht
als kosmische Potenz hervor. Er geht ganz in dem singulären
Unternehmen auf, Fausts Seele zu gewinnen, ohne daß dies aus
einer metaphysisch breiten, jenseits des individuellen Falles
sich erstreckenden Basis hervorginge. Trotz der paar allgemeinen
nihilistischen Äußerungen im ersten Teil ist seine Tendenz hier
nicht entschieden antikosmisch, antiideell, sondern nur anti-
ethisch. Es ist viel mehr der böse Zauberer, der eine Seele ver-
derben will, als das Symbol jener unheimlichen, die Welt als
Gegengott durchwaltenden Tendenz, die in den großen dualistischen
Weltbildern jeden Punkt des Seins zum Kampfplatz zwischen Licht
und Finsternis, Ormuzd und Ahriman macht. Es ist doch nicht
bedeutungslos, wenn Goethe im Jahre 1820 von einer Fort-
setzung des Faust spricht, ,,wo der Teufel selbst Gnade und Er-
barmen vor Gott findet" — und noch weniger, daß dies nach dem
,, Prolog im Himmel" nicht einmal inkonsequent ist. Im zweiten
Teil verschwindet überhaupt alles Prinzipielle aus seiner Rolle,
er ist nur noch ein sozusagen technisch, aber nicht mehr innerlich
notwendiges Glied der Ereignisse. Die tiefe Überzeugtheit von
der Göttlichkeit und Einheit der Welt hat Goethe eben doch-
zurückhalten müssen, dem teuflischen Prinzip eine meta-
physischen Absolutheit, eine Wurzelung im letzten Grunde der
Anthropomorphismus 125
Dinge zu geben; darum also war der oben gebrauchte Begriff
des Dualismus nur ein vorläufiger. Genau ausgedrückt liegt es
so, daß die großen ideellen Weltpotenzen, die prinzipiell die Er-
scheinung restlos gestalten, schließlich nur eine nicht näher
bestimmte Grenze ihrer Wirksamkeit finden — nicht näher be-
stimmt, weil sie nicht aus einem einheitlichen Gegenprinzip
stammt, aus der positiven Hemmung durch eine feindliche Kraft,
sondern eher aus einer inneren Schwäche, aus einem Versagen
von innen her.
Die Undeutlichkeit , die für Goethe selbst hier vorzuliegen
scheint, ist wohl die Veranlassung für die Vielfachheit, das
Tastende, ja auch Widerspruchsvolle, das in seinen Aus-
drücken auftritt, sobald er den Standpunkt der einheitlichen,
in ihren Gestaltungen die Idee offenbarenden Natur verläßt.
Er ist einesteils der radikalste Feind alles Anthropomorphismus.
Nicht nur ,,unfühlend ist die Natur", sondern auch alle Natur-
zwecke sind ihm vollkommene Absurdität, die fortschreitende
Lebensreife erscheint ihm als fortschreitende Reinigung des
Naturbildes von subjektiven Zutaten und Hervorstellen ihres
Bildes als einer reinen Objektivität, eines Kosmos ausnahms-
loser, ewiger Gesetze. Andrerseits aber begegnen nun Äußerungen,
die die Natur völlig zu vermenschlichen scheinen. Zunächst das
häufig Wiederholte: daß die Natur immer recht habe, daß sie
sich niemals irrte, daß sie sich selbst treu bliebe usw. Alles dies
hat aber doch nur einen Sinn, wo ein Sein und ein davon mög-
licherweise unterschiedenes Sollen vorliegt; ein Wesen, als
schlechthin gesetzmäßige Natur angesehen, steht jenseits von
Recht und Unrecht, von Wahrheit und Irrtum. Nur für den
menschlichen Geist können diese Kategorien gelten, da nur er
ein ideales oder reales Objekt sich gegenüber hat, mit dem
er übereinstimmen oder das er verfehlen kann. Auf die Natur,
die nur i s t und weiter nichts , ist dies garnicht anwendbar.
Die für uns hier wichtigste Wendung davon ist, daß Goethe der
Natur Bestrebungen unterlegt, die sie nicht zu verwirk-
lichen vermag, also jenes eigene Hinausgreifen über ihre eigene
Wirklichkeit, das als spezifisch menschlich und gerade der
126 Die „Gestalt" und die Teile
Natur völlig fremd gilt. Daß die Natur ihre Intentionen nicht
erreicht (ersichtlich dasselbe, wie das Zurückbleiben der Er-
scheinung hinter der Idee), scheint in einer wirklich objektiven
Vorstellungsart keinen Platz zu finden; und ebensowenig, daß
die Natur zwar ,,sich von ihren Grundgesetzen nicht entfernen
kann" und man deshalb ,,sich so spät als möglich negativer Aus-
drücke bedienen soll (wie Mißbildung, Entartung usw.) — und
daß er dennoch Mißbildungen gelegentlich anerkennt: ,, miß-
gebildet", sagt er, ,,ist die durchgewachsene Rose, weil die
schöne Rosengestalt aufgehoben und die gesetzliche Beschränkt-
heit ins Weite gelassen ist."
Goethe hat, wie gesagt, diese für uns unversöhnlichen
Widersprüche offenbar nicht als solche empfunden und des-
halb auch kein Lösungswort zu finden versucht. Mir aber
erscheint dies und die ganze Situation durch das Grundmotiv
Goethescher Weltanschauung bedingt, das sie von dem als
eigentlich wissenschaftlich geltenden Prinzip im Tiefsten trennt:
daß die hervorzubringende Gestalt, die typisch bestimmte
morphologische Erscheinung der Dinge die wirksame Potenz
in allem Geschehen ist. Als Teleologie darf das zwar nicht
angesehen werden, und alle bei ihm dazu verführenden Aus-
drücke sind entweder metaphorisch oder lässig; die schaffende
oder — wie man mit Übertragung des hervorstechendsten
Falles auf die Gesamtheit sagen kann — die organisierende
Kraft enthält das Gestaltbildende, Formbegrenzende von vorn-
herein in sich, sie ist vielmehr ganz und gar dieses und be-
darf zu ihrer Dirigierung keines, dem menschlichen analogen
Zweckes, dem sie sich als bloßes Mittel zur Verfügung stellte.
Die moderne Naturwissenschaft nun konstruiert das Geschehen
ausschließlich aus den, den Teilen der Dinge einwohnenden
Energien und deren Wechselspiel, das sich unmittelbar zwischen
ihnen entspinnt; sie ist insofern im Prinzip atomistisch, auch
wenn sie in ihrer Vorstellung von der Materie nicht Atomismus,
auch wenn sie nicht Mechanismus, sondern Energetik, ja viel-
leicht Vitalismus ist. Die Gestalt des Ganzen, die Idee der Form,
die sie sich aus den einzelnen Teilen erst zusammenbaut, als
Naturgesetze und Freiheitsspielraum 127
unmittelbar treibende Kraft in diesen Teilen anzusetzen, liegt
der Naturwissenschaft fern — oder lag ihr wenigstens bis zu
einigen Theorien der allerjüngsten Zeit fern. Indem für Goethe
aber das , »Gesetz" des Geschehens nicht die Formel für die in den
isoliert gedachten Teilen wohnenden Eigenschaften und Kräfte
und deren bloße Relationen ist, sondern in der Gestalt des Ganzen
besteht, die als reale Kraft — oder realer Kraft analog —
jene Teile ihrer Realisierung zutreibt, liegt die Möglichkeit
prinzipiell nahe, daß Hemmungen, Schwächen, Durchkreuzun-
gen dies Gesetz nicht zu seiner vollen Wirksamkeit kommen
lassen. Dadurch wird überhaupt die Vorstellung über die
Pflanzenwelt denkbar, daß ,,in diesem Reiche die Natur,
zwar mit höchster Freiheit wirkend, sich doch von ihren Grund-
gesetzen nicht entfernen kann." ,, Grundgesetze" und um sie ein
Spielraum der Freiheit ist eine der exakten Wissenschaft fremde
Vorstellung. Naturgesetz ist Naturgesetz, und jede Gestalt, die
überhaupt wirklich ist, mag sie noch so untypisch und für uns
erstaunlich sein, ist nach Gesetzen erzeugt, die in genau dem-
selben Range stehen, wie die an der normalsten Erscheinung be-
währten. Nur wo das Gesetz die Formel für die auf eine bestimmte,
und zwar typische Gestalt drängende Energie ist, kann seine
zentrale Gerichtetheit gewissermaßen nach rechts und links in
abgelenkte, schwächere, mit anderen Motiven vermischte Er-
scheinungen abklingen. Bei gewissen Blüten, sagt er, z. B. bei
den Zentifolien, ,, überschreitet die Natur die Grenze, die sie sich
selbst gesetzt hat", womit sie freilich gelegentlich ,,eine andere
Vollkommenheit erreicht", gelegentlich aber auch ins schlecht-
hin mißbildete ausschlägt — während für die exakte Anschauung
eine solche, eine bestimmte Form bezeichnende ,, Grenze" nicht
existiert, sondern diese immer nur das (genau gesprochen) zu-
fällige Ergebnis elementarer Kraftwirkungen ist. Es ist klar,
daß, wie schon angedeutet, diese Attitüde Goethes zu den kos-
mischen Gestaltungen überhaupt durch die Betrachtung der
Organismen bestimmt ist. Denn in ihnen allein scheinen Kräfte
und Kraftrichtungen der Teile von der Form des Ganzen bestimmt
zu sein und diese Form scheint in jedem einzelnen Fall ein Ver-
128 Das organische Formgesetz
hältnis zu einem „Typus" zu haben — einem Typus, der nicht
nur ein durch ein betrachtendes Subjekt nachträglich ge-
wonnener Durchschnitt, sondern eine objektiv gültige Norm ist;
so daß das Normale und das Abnorme, der reine Fall und die
ausnahmsweise Mißbildung als solche einen sachlichen, nicht
nur einen Reflexionssinn haben. Weil Goethe die Welt organisch
verstanden hat, weil er den eben bezeichneten Charakter des
Organismus an jedem Punkt der Welt empfand, darum erschien
dessen Werden ihm von einem, den Teilen einwohnenden Form-
gesetz des Ganzen bestimmt. Dieses Formgesetz hat seine Achse
in dem Typus der Art, um den die einzelnen Erscheinungen mit
größerem oder geringerem Abstand pendeln. Hier zeigt sich eine
tiefe Beziehung der Goetheschen Naturanschauung zu seinem
Klassizismus. Die antike Geistesart, soweit sie auf Goethe
wirkte, fand das Wesen jedes Stückes des Daseins in dem plastisch
festgeformten Allgemeinbegriff. Wie die griechische Kunst auf
Typen ausging, um die die einzelnen Gestaltungen sich mit gewissem
Spielraum bewegten, in der Reinheit ihres Typus das Maß ihrer
Vollendung findend, so schienen die Dinge in Klassen zu gehören,
die für ein jedes die Vorzeichnung bildeten, und jedes Ding war
es selbst, indem es seinen Typus darstellte — was es oft oder
immer nur in Unvollkommenheit und Trübung konnte. In der
Goetheschen Vorstellung des ,, Gesetzes" der natürlichen Dinge
trafen, indem die Gestalt Gesetz ist, die beiden Momente
zusammen: die ,, Gestalt" als das treibende, alles Werden er-
klärende Movens in allen Elementen, wie es dem organischen
Weltbegriff entspricht — und diese Gestalt als Verwirklichung
eines Typus, der sie zwar nie ganz aus sich entläßt, von dem sie
sich aber mit unabsehbaren Modifikationen, Hypertrophien und
Atrophien entfernen kann: das ,, Gesetz, von dem in der Er-
scheinung nur Ausnahmen anzutreffen sind".
Auf diese Weise also möchten jene dualistischen, mit
Goethes Grundprinzipien anscheinend unverträglichen Äuße-
rungen erklärlich werden, die mit steigendem Alter die
Diskrepanz zwischen dem Göttlichen und dem Wirklichen,
zwischen Idee und Erfahrung immer schärfer herausstellen —
Symbolische Fälle 129
vielleicht, weil sich das klassische Ideal einigermaßen aus
seiner Unbedingtheit zurückbildete; so daß er, 28 Jahre nach der
italienischen Reise, erklärt, das griechische Wesen zöge ihn
doch nicht so an, wie das römische mit seinem ,, großen Ver-
stände", also mit seinem scharfen Realitätssinn. Freilich, wie
die Einheitlichkeit seines Wesens und seines Weltanschauens,
die er in Italien gewann, sich als eine begründetere, prinzi-
piellere, positiver errungene von der naiven seiner frühen Jugend
unterscheidet — genau so unterscheidet sich dies späte Aus-
einandertreten des Ideellen und des Realen von demjenigen,
sozusagen bloß empirisch-schicksalsmäßigen, das uns in der
Zeit kurz vor Italien entgegentrat. So klar diese Standpunkte
im sachlich- zeitlosen oder geistesgeschichtlichen Sinne sind,
so verwirrend gehen sie im rein goethe-biographischen durch-
einander; denn in jeder Periode, deren zentrale Tendenz ganz un-
zweideutig durch je einen von ihnen charakterisiert ist, klingen
auch die andern noch nach oder vor. Es lag in Goethes Geistes-
wesen, die Färbung auch momentaner Erfahrungen oder Stim-
mungen gleich in sentenziöser, verallgemeinerter Form auszu-
sprechen. Mehrfache Äußerungen zeigen, daß er über die
so entstehenden Widersprüche ganz klar, aber auch ganz
beruhigt war; denn er wußte, daß sich in ihnen nur die nach
verschiedenen Seiten hin ausschlagenden Pendelungen eines ein-
heitlichen Lebens aussprachen.
Es ist nun höchst merkwürdig, zu verfolgen, durch welche
Mittel er sich mit jenem späteren Auseinandertreten der Ele-
mente seines prinzipiell einheitlichen Weltbildes abfindet. Hier
wird zunächst der Begriff des ,, symbolischen Falles" wichtig.
Er geht, in einer entscheidenden Erklärung vom Jahre 97,
davon aus, die ,, unmittelbare Verbindung des Idealen mit
dem Gemeinen" wäre unerträglich. Nun gebe es aber einzelne
Erscheinungen (als solche doch dem Gebiet des ,, Gemeinen"
angehörend), die einen besonders tiefen Eindruck auf ihn
machten und von denen er dann feststellte, daß sie viele andere
repräsentieren. Indem sie für all diese symbolisch wären,
schlössen sie ,,eine gewisse Totalität in sich". Das Wesentliche
Simmel, Goethe. 9
130 Die Vertretimg des Ideellen
ist hier also, daß eine einzelne Gestaltung nicht mehr in ihrem
unmittelbaren Fürsichsein die Idee offenbart (was sie eben auch
nicht kann), sondern durch die Vermittlung hindurch: daß sie
die Gesamtheit der Fälle in sich schließt, die das Erscheinungs-
gebiet der Idee ausmacht. Daraufhin sagt er von dieser Kate-
gorie des ,, symbolischen", ,, eminenten", ,, bedeutenden" Falles,
sie ,,hebe den Widerspruch, der zwischen meiner Natur und der
unmittelbaren Erfahrung lag, den in früherer Zeit ich niemals
lösen konnte, sogleich auf." Von nun an hält er mit großer Be-
tontheit fest, daß ,,ein Fall tausend Fälle wert" sein kann. Damit
hat sich ihm eine Lösungsformel für eine Aufgabe geboten, die
zu den allgemeinsten und tiefsten der Menschheit gehört: das
Unendliche in der Ebene des Endlichen zu finden. Zwischen
Überwelt und Welt, der Idee und der Erfahrung, dem Absoluten
und dem Relativen, dem Allgemeinen und dem Einzelnen spielen
sich die Probleme der Weltanschauungen ab, auch wenn ihre
Lösung in der völligen Negation je einer Partei gesehen wird.
Und es ist nun der eine große Lösungstypus, daß alle Werte und
Bedeutungen, die man von vornherein nur an dem einen Pol
lokalisiert hat, unter völliger Bewahrung ihres Inhaltes und
Sinnes an dem andern entdeckt werden, daß gewisse Erstreckungen
und Betonungen des Endlichen, Welthaften, Einzelnen alles das
gültig vertreten, zu dessen Sitz man das Absolute, Überwirkliche,
Ideelle meinte kreieren zu müssen. Die knappen Äußerungen
Goethes über die symbolischen Fälle zeigen, wie er den ihm
bewußt gewordenen Riß zwischen jenen Polen in der Richtung
dieses weltgeschichtlichen Motives zu versöhnen suchte: das
Wirkliche scheint ihm eine Struktur zu haben, die einen ein-
zelnen Teil seiner sich zum Vertreter einer Gesamtheit quali-
fizieren und ihn damit die Beschränkung auf seine Singularität
überschreiten läßt. Er bleibt darum seinem Sein nach nicht
weniger in den Dimensionen des Endlichen, Realen, Empirischen;
aber indem seine Bedeutung die von unendlich vielen Einzelnen
zu vertreten vermag, ist das Zufällige, Relative, individuell Un-
zulängliche jedes einzeln Erfahrbaren in ihm paralysiert; das
empirisch schlechthin Allgemeingültige ist zugleich das gültige
Der Mittelzustand 131
Gegenbild des Überempirischen, der Idee, des Absoluten, und
wenn ein einzelnes Anschaulich -Wirkliches jene Allgemein-
gültigkeit konkret zu machen weiß, so ist damit die Fremdheit
der beiden Welten versöhnt, die Wirklichkeit zerfällt nicht in
definitiv isolierte, der Idee gegenüber hoffnungslose Stücke,
sondern in der Form gewisser einzelner dieser Stücke bietet sich
die Totalität, der Sinn, das Gesetz dar, das sonst allein im Über-
wirklichen zu wohnen schien. Dadurch ist ,,das Ideale mit dem
Gemeinen" mittelbar verbunden, was es unmittelbar nicht sein
kann; und dies ist es, was Goethe ermöglicht, Realist zu sein,
ohne darum Empirist sein zu müssen.
Von der spezieller subjektiven Seite her sucht er durch einen
andern Begriff, der uns schon im vorigen Kapitel fruchtbar wurde,
jene Gespaltenheit des Seins zu besänftigen: durch den Begriff des
,, Mittelzustandes", den die kosmische Ordnung dem Menschen zu-
gewiesen habe. ,,Der Mensch", sagt er, ,,ist in einen Mittelzustand
gesetzt und es ist ihm nur erlaubt, das Mittlere zu erkennen und
zu ergreifen"; und im Zusammenhange damit: ,,Die Idee kann
man keineswegs ins Enge bringen." Das heißt also: das Ab-
solute, Ideelle ist an und für sich nicht in die Form der Erfahrung,
des einzeln Wirklichen überzuführen, von ihm nicht abzulesen.
Aber der Mensch steht zwischen beiden, jetzt nicht eigentlich als
ein Bürger beider Welten oder ein Mischgebilde aus ihnen, sondern
in einer eigenen, einheitlichen Stellung; er ist in dieser ein Gegen-
bild der kosmischen Totalität (indem er ihr zugleich angehört),
ein Mikrokosmos, der in seiner Geistigkeit den Sinn jener To-
talität wiederholt und gerade deshalb keiner der einzelnen Par-
teien des Ganzen, weder der Idee noch dem Empirisch-Realen,
ganz zugehören kann. ,,Im Verfolg wissenschaftlichen Be-
strebens", sagt er ungefähr 1817, ,,ist es gleich schädlich, aus-
schließlich der Erfahrung, wie unbedingt der Idee zu gehorchen."
Und einige Jahre später: ,,Es möchte doch immer gleich schäd-
lich sein, sich von dem Unerforschlichen ganz abzusondern,
oder mit demselben eine allzuenge Verbindung sich anzumaßen."
Schon die negative, prohibitive Form dieser und ähnlicher
Äußerungen zeigt, daß es sich nicht um eine Mischung beider
132 Selbständigkeit des Menschlichen
Polaritäten handelt, sondern um ein Drittes, um unsere Stellung
zwischen den , »Grenzen der Menschheit". Zwischen Welt und
Überwelt, zwischen bloßer Erfahrung und bloßer Idee haben wir
ein Leben, dessen Selbständigkeit, in sich zentrierendes Sein uns
davor schützt, uns zwischen dem Gegensatz jener beiden zu zer-
reiben oder haltlos in ihm zu pendeln. Wie der Künstler nicht
,,mit der Natur wetteifern" soll, wie er weder die singulare Wirk-
lichkeit nachbilden noch sich in die anschauungslose Idee ver-
lieren, sondern ,, sich als Künstler vollenden" soll, so strebe der
Mensch schlechthin nur ,,sich als Mensch zu vollenden"! Hier
kommt, wie ich überzeugt bin, einer jener tiefsten und kühnsten
Grundbegriffe seines Alters auf, über die er sich sozusagen nur
gelegentlich eine fragmentarische Andeutung entschlüpfen ließ.
Der Dualismus von Idee und Erfahrung, von Göttlichem und
Singular- Wirklichem ist jetzt sein dauerndes Problem; und
dessen anthropologische Lösung ist nicht, den Menschen aus
beiden Parteien zusammenzusetzen oder ihn einfach in dem
Schnittpunkt beider Gebiete zu beheimaten, sondern ihm eine
Stelle anzuweisen, zwar gewissermaßen zwischen ihnen beiden,
in gleicher Distanz von beiden, aber doch eine menschheitlich-
eigene, menschheitlich-einheitliche — den Gegensatz jener nicht
objektiv versöhnend, aber unsere kosmische Stellung vor ihm und
seinen dualistischen Folgen rettend. Erst indem der Mensch so
als eine selbständige, sozusagen nicht weiter herleitbare ,, Schöp-
fungsidee" jenen Polaritäten des Seins gegenübersteht, kann er —
ich deutete dies an — sich gewissermaßen als der Pair eben dieses
Gesamtseins wissen, kann für sich und in sich denselben Gesetzen
Untertan sein, die dieses als Ganzes bewegen, — Und von hier
läßt freilich die subjektiv-anthropologische Art, sich jenseits
jenes Konfliktes auf die Selbständigkeit unserer Natur zu
stellen, auch über seinen objektiven Bestand die Ahnung seines
Sich-Versöhnens gleiten: ,,Wir sind", so lautet eine Notiz
aus dem Nachlaß, ,, nicht mehr in dem Falle, bei Behandlung der
Naturwissenschaften die Idee der Erfahrung entgegenzusetzen,
wir gewöhnen uns vielmehr, die Idee in der Erfahrung aufzu-
suchen, überzeugt, daß die Natur nach Ideen verfahre, i m-
Das Praktische 133
gleichen daß der Mensch in allem, was er beginnt, eine
Idee verfolge." Durch die kategoriale Form: ein ,, Mittelpunkt",
in dem wir Stellung nehmen und eine gleichsam symmetrisch
distante Anordnung der Erscheinungen von diesem her — ge-
winnen wir die Möglichkeit, uns das Chaos der Dinge zu organi-
sieren. Jedes einzelne, so sagt er einmal, das wir in der Natur
sehen, ist immer von so vielem andern begleitet und durch-
drungen, an jedem Punkt wirkt so vieles durcheinander, daß dar-
aus für alle Theorie die große Schwierigkeit entsteht, Ursache und
Wirkung, Krankheit und Symptom auseinander zu kennen; ,,da
bleibt nun für den ernst Betrachtenden nichts übrig, als irgendwo
den Mittelpunkt hinzusetzen, und alsdann zu suchen, wie er das
übrige peripherisch behandle." Die Technik also, mit der wir uns
in der Welt zurechtfinden und ihre Unterschiedlichkeiten in der
Einheit des Erkennens zusammenbringen, zeigt sich als die
theoretische Ausstrahlung unserer metaphysischen Weltstellung,
des seinshaften ,, Mittelzustandes", in dem wir den Gegensatz-
seiten des Daseins in jeweils gleicher Distanz gegenüberstehen.
Vielleicht ist eine dritte Art, über die an den Polen der geistigen
Welt fixierten Gegensätze doch die Intention der Einheit durch-
zuführen, nur eine Modifikation dieses letzten Motivs. ,,Wenn
man mich fragt: wie ist Idee und Erfahrung am besten zu ver-
binden, so antworte ich: praktisch" — d. h. durch weiterschrei-
tende, zweckmäßige Forschung. Im Goetheschen Alter begegnet
durchgehends der Hinweis auf das j)^r aktische Verhalten,
auf die Tätigkeit, die uns von Punkt zu Punkt führt — wenn
die seelischen und metaphysischen Widersprüche keine rein
geistige Lösung zuzulassen scheinen. Mit der Schlußrede Fausts
und der Gesamttendenz der Wanderjahre hat diese Wendung
ihren monumentalen Ausdruck erhalten. — Von welcher Kraft
und welchem ethischen Werte dies nun auch sei — man kann
sich zunächst dem Eindruck kaum entziehen, als wäre damit
den eigentlich schweren und tiefen Problemen nur ausge-
wichen. Es wäre ja möglich, diese Probleme in die Provinz
des Praktischen zu übertragen, weil man hier eine Lösung für
sie findet, die zu entwickeln gleichsam die Bodenbeschaffenheit
134 Mangelndes Wertkriterium
andrer Provinzen nicht gestattet: so hat Kant den großen Prozeß
zwischen der reinen Vernunft und der Sinnlichkeit des Menschen,
die auf dem theoretischen Gebiet im Dualismus befangen blieben,
in das praktische verfolgt und ihn hier, wenn auch nicht zur Ein-
heit, so doch zu einer möglichen Entscheidung gebracht. So aber
meint es Goethe nicht. Sondern das Handeln als solches, das
Tun und Wirken an der unmittelbaren Aufgabe des praktischen
Tages weist er dem Menschen zu, an Stelle der Unlösbarkeiten
prinzipieller Welt- und Lebensfragen, an Stelle der Problematik
bloß gedanklicher Entscheidungen. Die Auswanderung nach
Amerika am Schluß der Wanderjahre ist schließlich nur hierfür
das Symbol. Dies kann, wie gesagt, als ein Waffenstrecken vor
den letzten Forderungen des Geistes erscheinen, als eine Rückkehr
der seelischen Energien zu der naiven Praxis, von der aus ihr
Entwicklungsweg ja gerade zu jenen Bedürfnissen, sich mit dem
Leben in seinen tieferen Schichten abzufinden, emporgeführt hat.
Die Aufforderung zu unmittelbarem, ,, nützlichem" Wirken
ruht auf einer großen Anzahl dunkler, ungeprüfter Wertungen
all dessen, w o z u es eben nützlich ist; denn woraufhin verdiente
das Wirken den legitimierenden Namen des Nützlichen, es sei
denn um des Wertes seiner Ziele willen, der doch seinerseits
nicht wieder durch das Wirken selbst begründet werden kann?
Der Wert des Wirkens, das ein bloßes formales Mittel ist,
bedarf also immer des Wertes von Zwecken, der entweder
instinktiv-trivial gesetzt wird oder nun doch nach tieferen Gründen
drängt. Wenn Goethe als das Definitivum unserer praktischen
Werte ,,die Forderung des Tages" bezeichnet, so muß unvermeid-
lich nach einem Kriterium gefragt werden, das die echte und
wesenhafte von den unzähligen gleichgültigen und verwerf-
lichen unterscheiden läßt, die der Tag mit nicht geringerer In-
tensität an uns stellt. Und dieses Kriterium kann ersichtlich
nicht wieder aus dem ,,Tage" und ebensowenig aus dem Begriff
des Wirkens und der Tätigkeit entlehnt werden, durch die sich
ja die gerechtfertigte und die rechtlose Forderung ganz gleich-
mäßig realisieren.
Ungeachtet solcher Bedenken gegen die Wertung der sozusagen
Tätigkeit als innerer Lebenswert 135
undifferenzierten Tätigkeit, für die der nächstliegende, in den
Wandlungen des Tages sich darbietende Gegenstand gerade gut
ist, scheint sie mir für Goethe zunächst aus dem folgenden, tiefer-
gründigen Motiv hervorzugehen. Wie viele Äußerungen zeigen,
ist ihm Tätigkeit nicht ein Inhalt oder Bewährung des Lebens
neben andern, sondern sie ist ihm das Leben selbst, die spezifische
Energie des menschlichen Daseins. Und es ist in seiner Über-
zeugung von der naturhaften Harmonie dieses Daseins begründet,
daß das Leben nur sich selbst überlassen zu werden braucht, d. h.
daß die Tätigkeit in jedem Augenblicke ein nächstes Ziel vor sich
habe, in dem alles für jetzt Notwendige beschlossen liegt, während
vor dem nächsten Augenblick v/ieder seine Notwendigkeit steht.
Dies tiefe Vertrauen auf das Leben und seine von Moment zu
Moment fortrückende Zweckmäßigkeit — anders ausgedrückt:
auf die Tätigkeit, in deren Pulsschlag ihr jeweilig nächstes Ziel
vorgezeichnet ist oder dem die allgemeinen Daseinszusammenhänge
es unmittelbar bieten — scheint mir der eigentliche Sinn davon
zu sein, daß ,,die Forderung des Tages" unsere Pflicht ist. Es ist
nicht nötig, daß Ziele von weiter Ferne her das Sollen des einzelnen
Augenblicks bestimmten. Sondern das Leben entwickelt sich
Schritt für Schritt, seine Wertdirektive nicht erst von einem
Gott weiß wie entfernten Ziele erwartend (eines der entschiedenen
Gegenmotive Goethes gegen das Christentum) , und so hat die mit
ihm synonyme Tätigkeit, rein empfunden, ihren geforderten In-
halt unmittelbar vor sich, das Wissen um den nächsten Schritt
(objektiv: die Forderung des Tages) ist sozusagen ihre einge-
borene Form. Das ist nichts anderes, als der Triumph des Lebens
als Kraft, als Prozeß, über alle einzelnen Inhalte, die man ihm
aus anderen Ordnungen heraus setzen könnte; denn diese Ord-
nungen sind gegen die Zeitordnung des Lebens gleichgültig, auf
die es hier ankommt. Wenn er uns an das Einfachste, Nächst-
liegende, an die für den Moment richtige Praxis, an die Forde-
rung des Tages ohne Charakterisierung bestimmter Inhalte weist
— so ist das nur ein Symbol dafür, daß die praktischen Werte in
der Richtung erstehen, in der die Lebensquelle fließt, und dieser
nicht von einer anderen erst entgegenkommen; nur ein Symbol
136 Erfahrung und Idee praktisch vermittelt
für Macht und Wert des Lebensvorganges als solchen, der allem,
was wir Tätigkeit nennen, deren Inhalte in seiner eigenen Form,
d. h. in dem fortschreitenden, sprunglosen Erzeugen von Augen-
blick zu Augenblick, infundiert. Daß er die Praxis sozusagen
auf das Minimum von Inhalten beschränkt, da ihm schon die
Tätigkeit als solche der eigentliche Wert ist — das ist der Erfolg
davon, daß ihm Tätigkeit die Art ist, wie der Mensch lebt, und
das Leben selbst der definitive Wert des Lebens*).
Dies ist hier indes nur beiläufig bemerkt. Die Goethesche Wer-
tung der Tätigkeit hat für unser Problem, die Überwindung des Zwie-
spaltes zwischen Idee und empirischer Realität, eine andere Bedeu-
tung. Als das Höchste bezeichnet er einmal ,,das Anschauen des
Verschiedenen als identisch"; und dem setzt er ,,die Tat" zur Seite,
„das aktive Verbinden des Getrennten zur Identität"; hier
wie dort treffe Erscheinung und Leben zusammen, die sich
,,auf allen mittleren Stufen trennen", d. h. überall, wo weder
reine, kosmisch-metaphysische Schaung, noch reine Tätigkeit
herrscht. Die Tätigkeit ist ihm also das reale Mittel, von der einen
Seite jenes Dualismus zu der andern zu gelangen! Wie das
frühere Zitat lehrte, ist es auch in der bloß theoretischen Be-
mühung das praktische Moment, das fortschreitende Tun,
das ,,Idee und Erfahrung verbindet". Die Inhalte, die die ideelle
Reihe des Kosmos bilden, liegen als solche noch isoliert neben-
einander; erst die hindurchflutende Tätigkeit führt wirk-
lich von einem zum andern, stellt auch im Denken die reale
Kontinuität zwischen den Polen her, wie die Bewegung, die eine
Linie durch Punkte zieht, deren gegenseitige Abgeschlossenheit
in stetige Verbindung überführt. Die wirkliche forschende
Arbeit macht das Einzelne und die Totalität, die Erfahrung
und die Idee erst zu Polen einer ununterbrochenen Linie. Und
dies erweitert sich nun auf alle, auch nicht-theoretische Gebiete.
Könnte man selbst die Inhalte in allmählig aufsteigender Reihe
zwischen der Wirklichkeit und dem Absoluten, der Empirie und dem
*) Die Bedeutung der reinen Lebensbewegtheit als solcher wird das
Kapitel über seinen Individualismus noch einmal und von andrer Seite
erörtern.
„Reine" Tätigkeit 137
Überempirischen ideell konstatieren, so würde das noch nicht
ausreichen. Erst das Handeln bringt sie in Fluß, erst die praktisch-
stetige Bewegtheit macht sie zu wirklichen Vermittlungen,
führt das empirisch Getrennte in die Idealität der Idee über.
Natürlich gibt es — Goethe brauchte das gar nicht zu erwähnen
— noch Tätigkeiten anderer Richtung, antiideelle, gottlose,
zerfahrene. Aber er würde diese nicht Tätigkeiten im vollkom-
menen Sinne des Wortes nennen. Wenn er so oft von ,, reiner"
Tätigkeit spricht, so spielt hier sicher die doppelte Bedeutung des
,, Reinen" hinein: daß es einmal das sittlich Tadellose, von un-
edlen Motiven Freie meint, dann aber auch das dem Begriff
vollkommen und ungemischt Entsprechende, wie wir auch von
,, reinem Vorwand", ,, reinem Unsinn" reden, als von dem, was
absolut nichts weiter als ein Vorwand, als ein Unsinn ist. Die
reine Tätigkeit ist diejenige, in welche nichts anderes als der
Trieb und Sinn des Tätigseins als solchen, d. h. der zentralen,
unabgelenkten Bewegung des spezifisch menschlichen Lebens
eintritt. In wunderbarem, eben diese Reinheit der Tätigkeit
völlig symbolisierendem Ausdruck läßt er das Bewegtsein der
,, Monas", das deren letzte Lebensform und -grundlage bildet,
das ,, Rotieren um sich selbst" sein. Und dies ist nun zugleich
„reine" Tätigkeit im sittlichen Sinne, d. h. solche, die das Einzelne,
Zersplitterte des empirisch gegebenen Daseins zur Idee empor-
führt. Die Praxis wird damit aus der etwas unklaren Stellung
gerettet, die sie in weitanschauungsmäßiger Hinsicht selbst in
den ethisch zentrierten Geistern einnimmt. Wenn man hört:
schließlich käme doch alles auf das Praktische an, der moralische
Wert sei jedem andern überlegen usw., so muß man dabei
nach dem Werte der Inhalte dieser Praxis fragen, ohne doch ein
Prinzip der Wahl unter den vielen, sich anbietenden zu erhalten;
diese ganz allgemeine Prärogative des Praktischen ist nicht durch
eine bestimmte Stellung im Gesamtzusammenhange der Welt-
faktoren begründet. Dies ist aber sogleich ins Sichere gestellt,
wenn es einerseits für den Wert des Handelns und Wirkens
genügt, daß es ,, reine" Tätigkeit sei, daß wirklich nichts anderes
als die innerste, eigenste Natur der Menschen, deren Wesen eben
138 Höchste Norm
Tätigkeit ist, darin zu Äußerung und Erfolg kommt; und wenn
andrerseits diese Tätigkeit als solche der Weg vom Gegebenen,
Singulären zur Idee, zum Sinn des Daseins ist. Die Praxis ist für
all jene anderen Wertungen ihrer doch nur ein im letzten Grunde
zufälliges Mittel, die Idee zu realisieren, und die Behauptung dieser
Leistung ist deshalb für sie ein synthetischer Satz; für Goethes
Auffassung ist es ein analytischer, die Vermittlung zwischen Er-
scheinung oder Einzeltatsache und Idee ist die Definition des
Handelns und Wirkens: Tätigkeit, so darf man in Goethes
Sinne sagen, ist der Name für dasjenige Verhalten des Menschen,
durch das er seine kosmisch- metaphysische ,, Mittelstellung"
zwischen jenen auseinandergetretenen Weltprinzipien darlebt.
So wenig für Goethes Anschauungsweise der Begriff der Syste-
matik angebracht ist, so muß man hier doch sagen, daß der Sinn
und die Wertung der Tätigkeit auf diese Weise eine systematisch
begründetere, in die Totalität der großen Weltkategorien orga-
nischer eingefügte Stellung gewonnen haben, als in der Mehrzahl
der sonstigen Intronisierungen der Praxis.
Über all diese Überbrückungen des Spaltes, den Goethe in
seinen späteren Lehren zwischen den mannigfach benannten
Polen des Daseins sich auf tun sah: zwischen der Welt und
dem Göttlichen, der Idee und der Erfahrung, dem Wert und
der Wirklichkeit — schwingt sich noch einmal ein höchster
Gedanke hin. Etwa aus seinem 58. Jahr stammt der Satz:
,,Daß das, was der Idee nach gleich ist, in der Erfahrung
entweder als gleich oder ähnlich, ja sogar als völlig ungleich
und unähnlich erscheinen kann, darin besteht eigentlich das
bewegliche Leben der Natur". Hier wird also die Abweichung
von der ideellen Norm, das von ihr unabhängige freie Spiel
der Wirklichkeit sozusagen selbst zu einer Idee. Es ist die Ge-
dankenbildung, die wir schon mehr als einmal als eine seiner
großartigsten kennen gelernt haben: daß der Gegensatz zu einer
eigentlich absoluten Forderung, die Ausnahme von einem eigent-
lich allgemeinen Gesetz nun doch wieder mit diesem zusammen
von einer höchsten Norm umgriffen wird. Er warnt davor,
das Negative endgültig als Negatives bestehen zu lassen, man
Das bewegliche Gesetz 139
müsse es vielmehr als ein Positives anderer Art ansehen, Gesetz und
Ausnahme stünden sich nicht unversöhnt gegenüber, sondern so-
wenig innerhalb ihrer Schicht ein flauer Kompromiß ihre Schärfe
abstumpfen dürfe, so stünde doch ein Gesetz höherer Schicht über
ihnen beiden. Darum kann er, kraß, aber nun doch nicht wider-
spruchsvoll, die ,, Natur" sich selbst gegenübersetzen, weil sie
engeren und weiteren Sinn hat: ,,Die Knabenliebe", sagt er in
seinem höchsten Alter, „ist so alt wie die Menschheit,
und man kann daher sagen, sie liege in der Natur, ob
sie gleich gegen die Natur ist". In unserm, dem prinzipiellsten
Falle wird der Begriff des ,, beweglichen Lebens" der Diskrepanz
zwischen Idee und Wirklichkeit überbaut: die Beweglichkeit
tritt als das so absolut Bestimmende auf, daß sogar das völlig
irreguläre Spiel, mit der die Erfahrung sich bald der Idee nähert,
bald von ihr entfernt, eben wegen der darin offenbarten Beweglich-
keit durchaus in dem letzten Sinne der Natur begründet ist. Ja,
er spricht einmal aus, daß das Leben der Natur sich ,,Nach ewigen
beweglichen Gesetzen" vollzöge. Das Gesetz ist doch sonst das Zeit-
lose, Unbewegte da es ja erst der Bewegung ihre Norm vorschreibt,
und so tröstet er sich auch einmal über das Unsichere und Irri-
tierende der Erscheinungen: ,, Getrost, das Unvergängliche —
Es ist das ewige Gesetz — nach dem die Ros' und Lilie blüht".
Nun aber soll das Gesetz selbst beweglich sein ! Diese Beweglich-
keit bedeutet nichts anderes als das Paradoxe und unermeßlich
Tiefsinnige, daß die Abweichungen der Erscheinungen von
ihrem Gesetz in diesem Gesetz selbst inbegriffen sind. Die
mißbrauchteste aller Banalitäten: daß die Ausnahme die Regel
bestätigt — kommt hier zu einer wunderbaren Richtigkeit;
und was er einmal als ,,die größte Schwierigkeit" bezeichnet:
daß man im Erkennen ,, etwas als still und feststehend behandeln
soll, was in der Natur immer in Bewegung ist", löst sich hier:
das eigentliche Ziel desErkennens, in dem dieses zum,, Feststehen"
gelangt, das Gesetz, ist in die dauernde Bewegtheit seines Gegen-
standes, der Natur, eingegangen und damit ist die Fremdheit
zwischen ihnen gehoben, die sich dort noch als ,, größte Schwierig-
keit" erhebt. Hier klären sich noch einmal und nun von dem,
140 Bewegiongsfreiheit der Natur
so weit ich sehen kann, tiefsten Grunde her jene uns früher
frappierenden Äußerungen über den Spielraum, die Freiheit, die
Gesetzlosigkeit, die Ausnahmehaftigkeit der Erscheinungen: das
Gesetz selbst ist ,, beweglich", und jener Begriff seiner, nach dem
es selbst starr und nur die ideelle Norm für das Fließende und
Flexible der Erscheinungen sei, enthüllt sich als eine vorläufige
Scheidung, die von einer letzten kategorialen Einheit über-
schmolzen wird. Da die Natur ein ,, bewegliches Leben" hat und nie
aus ihren Gesetzen heraustritt, so sind eben die Gesetze selbst
beweglich! Hier ist erst die eigentliche Konsequenz jener proble-
matisch erscheinenden Bilder von der Bewegungsfreiheit erreicht,
die die Natur innerhalb ihrer Gesetze besäße. Die Natur, so drückt
er es einmal aus, hat ,, einen großen Spielraum, in welchem sie
sich bewegen kann, ohne aus den Schranken ihres Gesetzes
herauszutreten". Ist das Gesetz hier noch eigentlich eine bloß
grenzbestimmende Umfassungsmauer, unter deren Respek-
tierung die individuellen Phänomene ihr willkürliches Spiel,
die Einzelheit als solche gesetzlos lassend, aufführen — so hat
das Gesetz als bewegliches die Starrheit durchbrochen,
die ihm die Macht über das ganz Einzelne entzog : das beweg-
liche Gesetz ist die Synthese von ,, Schranke" und ,, Spiel-
raum". Vielleicht ist für unsere, an der mechanistischen Welt-
anschauung orientierte Logik dieser Begriff des zwar ewigen,
aber dabei beweglichen Gesetzes nicht mit detaillierender Klar-
heit auszudenken. Aber er weist, wenn auch aus der Ferne und
einem noch nicht zu zerstreuenden Nebel heraus, auf die Art hin,
in der jene uns anthropomorph erscheinende Scheidung zwischen
Gesetz und Ausnahme, Typus und Freiheit sich zu dem modernen
Begriff des Naturgesetzes hinbrückt, der auf keine bestimmte
Gestalt und Ergebnis losgeht und der deshalb der ,, Ausnahme"
keinen Sinn läßt. Goethes ,, Gesetze" sind nicht die der kleinsten
Teile, sondern enthalten, als ihr eigentliches Movens, die ,, Ge-
stalt", den ,, Typus" in sich. Aber indem dieser nun sich tat-
sächlich nicht immer, ja vielleicht niemals realisiert und dadurch
der Erscheinung nach die ,, Ausnahme" entsteht, kommt das
Gesetz, als bewegliches gedacht, dem nach, holt das Phä-
Überwindung der letzten Starrheit 141
nomen, das sich ihm zu entziehen schien, gleichsam wieder ein
und beides schmiegt sich, in wiedergewonnener Einheit von
Idee und WirkHchkeit, aneinander. Ich möchte es für dieselbe
letzte Gedankenabsicht halten, wenn schließlich die Festigkeit des
Typus, der als die Anschaulichkeitsseite des Gesetzes gelten kann,
gleichfalls in eine Art Bewegung gerät. In dieser Schicht seiner
tief sten Weltdeutungen lautet eine Äußerung: ,, Alles Vollkommene
in seiner Art muß über seine Art hinausgehen, es muß etwas
anderes, unvergleichbares werden. In manchen Tönen ist die
Nachtigall noch Vogel; dann steigt sie über ihre Klasse hinüber
und scheint jedem Gefiederten andeuten zu wollen, was eigent-
lich Singen heiße. — Wer weiß, ob nicht der ganze Mensch wieder
nur ein Wurf nach einem höheren Ziele ist?" Hier ist also die
Bewegung, mindestens nach einer Seite hin, in den Typus selbst
hineingelegt: indem er in sich vollendet ist, geht er selbst über
sich hinaus, die höchste Stufe innerhalb seiner ist zugleich
die Stufe jenseits seiner. Wie die Beweglichkeit des Gesetzes
auf eine metaphysische Einheit zwischen dem Goetheschen Ge-
staltmotiv und dem Naturgesetz des Mechanismus hinweist, so
diese Beweglichkeit des Typus zwischen dem gleichen Motiv und
der modernen Entwicklungslehre. Und wie mit dem wunderbaren
Gedanken, daß das Vollkommene der Art mehr ist als die Art,
der Typusbegriff die Überwindung seiner Starrheit in sich selbst
aufgenommen hat, so ist in das Gesetz, das seine eigene Flexi-
bilität, das ,, Gestalten und Umgestalten", die Freiheit von jeder
aktuellen Verfestigung nun sub specie aeternitatis enthält, der
freie, die starre Norm umspielende Charakter der natürlichen Er-
scheinung restlos aufgenommen; und es scheint mir, als ob alle
anderen Begriffe, mit denen Goethe die Diskrepanz von Idee und
Wirklichkeit zu versöhnen versucht, zu eben diesem als zu
ihrem Schlußstein aufstrebten.
Fünftes Kapitel.
Individualismus.
Die geistesgeschichtliche Entwicklung der Individualität
setzt sich an zwei Motive an. Jede Existenz: ein Stein
oder ein Baum, ein Gestirn oder ein Mensch, ist zunächst
individuell, indem sie irgendeine Art von geschlossenem Umfang
besitzt, innerhalb dessen sie ein Selbständiges und Einheitliches ist.
Hier kommt die von andern etwa unterschiedene Beschaffenheit
des Wesens nicht in Betracht, sondern nur, daß dieses Stück des
Daseins ein in sich zentriertes und — in welchem Maß auch immer
— für sich bestehendes ist; gleichviel, ob es mit diesem Eigen-
bestande dann in Abhängigkeiten und weitere Gesamtheiten ver-
flochten ist. Bestünde etv/a die Welt aus lauter absolut gleich-
artigen Atomen, so würde ein jedes von ihnen, von jedem andern
qualitativ ununterscheidbar, dennoch in diesem Sinne ein Indivi-
duum sein. Dieser Begriff aber erfährt sozusagen eine Steigerung,
sobald das Anders-Sein sich auf die Eigenschaften des daseienden
Subjektes erstreckt. Nun kommt es — in Anwendung auf den
Menschen — nicht mehr nur darauf an, ein andrer zu sein,
sondern ein anderes zu sein, als andere; nicht nur im Sein,
sondern auch im So-Sein sich von ihnen zu unterscheiden.
Diese Kategorien haben gewissermaßen als reale Kräfte von
jeher die Inhalte von Welt und Leben gestaltet; sie gewinnen nun
in der Entwicklung des modernen Geistes ein über ihre reale
Wirksamkeit hinausgehendes Bewußtsein. Und zwar in der
doppelten Form: einmal als rein abstrakte Begriffe, mit denen
die Erkenntnis die Struktur der Wirklichkeit deutet, und dann als
Ideale, zu deren immer vollkommenerer Ausprägung der Mensch
die eigene und die fremde Wirklichkeit zu entwickeln hätte.
In der Ideenwelt des i8. Jahrhunderts dominiert die differentielle
Zwei Formen des Individualismus 143
Existenz des Menschen, das Gesammeltsein in dem selbstän-
digen Punkt des Ich, die Gelöstheit eines für sich selbst verant-
wortlichen Daseins aus den Verschmelzungen, Bindungen, Ver-
gewaltigungen von Geschichte und Gesellschaft. Der Mensch,
ein schlechthin individuelles Dasein, ist als solches metaphysisch
ebenso absolut frei, wie er es moralisch, politisch, intellektuell,
religiös sein soll. Indem er so seine eigene eigentliche Natur
dokumentiert, taucht er damit in den Grund der Natur überhaupt
zurück, von der die geschichtlich-gesellschaftlichen Mächte ihn
losgerissen haben, weil sie ihm die Freiheit seines individuellen,
nur in seinem eigenen Umfange wohnenden Fürsichseins genom-
men haben. Die Natur aber ist der Ort der absoluten Gleichheit
vor dem Gesetz: so sind denn alle Individuen in ihrem letzten
Seinsgrunde gleich, wie die Atome der konsequentesten Atomistik.
Die Beschaffenheitsunterschiede reichen in den entscheidenden
Punkt der Individualität nicht hinüber. Vielleicht war es das
Gefühl, daß das schlechthin auf sich gestellte, nur aus den Kräften
des eigenen Seins gespeiste Individuum seine Vereinsamung und
seine Verantwortung nicht tragen könnte, was diesen Indivi-
dualismus einen Halt in der Zugehörigkeit zu der Natur über-
haupt und in der Gleichheit aller solcher Individuen unterein-
ander suchen ließ.
Die andere Form des Individualismus, gegen Ende des i8. Jahr-
hunderts und namentlich bei den Romantikern rein ausgebildet,
sieht die Bedeutung der Individualität nicht darin, daß sich der
Kreis ihrer Existenz um ein selbständiges Ich legt, eine in sich
geschlossene Welt ist — sondern daß der Inhalt dieser Welt, die
Qualitäten der Wesenskräfte und -äußerungen, von Individuum
zu Individuum unterschieden sind. Man könnte ihn, im Gegensatz
zu jenem formalen, den qualitativen Individualismus nennen;
nicht die Selbständigkeit des Seins prinzipiell gleicher Wesen,
sondern die Unverwechselbarkeit des So-Seins von prinzipiell un-
gleichen ist ihm ebenso die tiefste Wirklichkeit wie die
ideale Forderung des Kosmos und zuhöchst der Menschen-
welt. Dort ist es der Lebensprozeß, dessen Formung — nämlich
sein Ablauf um gegeneinander isolierte und freie, aber homogene
144 Das Leben „von innen heraus"
Zentren herum — in Frage steht, hier der Inhalt dieses Prozesses,
den keiner seiner Träger mit dem andern teilt und teilen soll.
Zu dieser großen Entwicklung des Individualismus, deren
reinste Aussprachen zu Goethes Lebzeiten stattfanden, hat er nun
keineswegs ein einseitig entschiedenes Verhältnis. Soweit über-
haupt nach einem der parteimäßigen und also rohen Schlagworte
gefragt wird, muß seine Lebensanschauung eine individualistische
heißen; es verleugnet sich nicht, daß den Geist seiner Zeit die
angedeuteten Tendenzen leiteten. ,,Wenn ich aussprechen soll,
sagt er kurz vor seinem Tode, was ich den Deutschen überhaupt,
besonders den jungen Dichtern geworden bin, so darf ich mich
wohl ihren Befreier nennen: denn sie sind an mir gewahr
geworden, daß, wie der Mensch von innen heraus leben,
der Künstler von innen heraus wirken müsse, indem er, gebärde
er sich, wie er will, immer nur sein Individuum zutage fördern
wird." Was als individuelles Leben erscheint, hat seine letzte
Wurzel im Individuum selbst; dieses Verhältnis zum Leben setzt
sich einer Dreiheit anderer Möglichkeiten entgegen.
Für gewisse theologische Denkarten strömen dem Individuum
seine Energien, nach Maß und Richtung, von einer transzendenten
Macht zu, die Inhalte seiner Existenz sind ihm ebenso wie diese
Existenz selbst als bloße Teile eines eigentlich außerhalb seiner
gelegenen Weltplanes verliehen. Der extreme Soziologismus
ferner macht das Individuum zum bloßen Schnittpunkt von Fäden,
die die Gesellschaft vor ihm und neben ihm gesponnen hat, zum
Gefäß sozialer Einflüsse, aus deren wechselnden Mischungen die
Inhalte und die Färbung seiner Existenz restlos herzuleiten sind.
Die naturalistische Weltanschauung endlich setzt an die Stelle
des sozialen Ursprungs des Individuums den kosmisch-kausalen.
Auch hier ist das Individuum sozusagen eine Illusion, seine viel-
leicht unvergleichbare Form entsteht nur in einem Zusammen-
strömen ebenderselben Stoffe und Energien, die auch das Gestirn
und das Sandkorn bauen, ohne daß diese Form ein eigener Ur-
sprung von Inhalten und Betätigungen seines Lebens wäre. In
all diesen Fällen kann der Mensch nicht ,,von innen heraus leben",
weil sein ,, Inneres" als solches eben keine Produktivkräfte ent-
Individuelles Leben und typischer Inhalt 145
faltet; was er , .zutage fördert" ist nicht sein „Individuum", weil
dieses überhaupt keine Substanz ist, sondern irgend etwas andres,
Metaphysisches, Soziales, Naturhaftes, das nur die zufällige Form
freier Individualität passiert hat; diese selbst kann nichts Produk-
tives sein, und also nichts urtümlich Eigenes, sozusagen nicht
sich selbst hervorbringen. Die Kardinalfrage der Lebensanschau-
ung: ist das Individuum ein letzter Quellpunkt des Weltgeschehens,
ist es seinem Wesen als Individuum nach schöpferisch; oder ist
es ein Durchgangspunkt für Mächte und Strömungen überindivi-
dueller Provenienz; ist es die Substanz, aus der die Formungen
des geistigen Daseins quellen oder die Formung, die andere Sub-
stanzen dieses Daseins annehmen — diese Frage ist für Goethe in
dem ersteren Sinne entschieden. Dies ist ein metaphysisches
Grundgefühl Goethes, das freilich sein Verhältnis zum Problem
der Individualität keineswegs abschließt, mit dem er aber jener
ersten Form des Individualismus sich zubekennt.
Nun enthält aber diese Eigenproduktion des Individuums noch
eine Zweiheit, die die eben getroffene Entscheidung noch einmal
differenziert. All jene ihr entgegengesetzten Theorien waren im
Sinne einer dynamischen Einwirkung auf das Individuum ge-
meint; sein Leben war durch die realen Kräfte bestimmt oder
sogar konstituiert, die von außerhalb seiner gelegenen Instanzen
her flössen und an denen dieses Leben, als ein ablaufender Prozeß,
seine richtunggebenden Kausalitäten fand; und diese bestimmten
unvermeidlich auch die Inhalte eben des Lebensprozesses.
Wenn nun aber dieser Prozeß sozusagen aus sich selbst, von innen
her, abläuft, wenn er schöpferisch ist — so braucht darum sein
Inhalt noch keineswegs einzig, originell, unvergleichbar zu
sein; dieser vielmehr kann durchaus ein typischer, vorbestehender,
allgemeingültiger sein. Und damit scheint allerdings mindestens
eine Richtung in Goethes vielverwebten Verhältnissen zum
Problem des Individualismus bezeichnet. In ureigner Dynamik
erzeugt sich der Prozeß eines jeden Lebens, ihm verbleibt das
eigentlich Persönliche, das aus keiner transzendenten, mechani-
schen, historischen Instanz stammt; und was er erzeugt, ist des-
halb durchaus der echte Ausdruck eben dieser Persönlichkeit.
Simmel, Goethe. '°
146 Haben und Sein
Dies bedarf zuerst der Festlegung. Es gehören hierhin Aussprüche
wie die, daß poetischer Gehalt Gehalt des eignen Lebens ist;
hierhin die bedeutsamen Worte: „Man gibt zu, daß Poeten geboren
werden, man gibt es bei allen Künsten zu, weil man muß. Aber
wenn man es genau betrachtet, wird jede, auch die geringste
Fähigkeit, uns angeboren, und es gibt keine unbestimmte Fähig-
keit. Nur unsere zweideutige, zerstreute Erziehung macht die
Menschen ungewiß ; sie erregt Wünsche, statt
Triebe zu beleben, und statt den wirklichen Anlagen
aufzuhelfen, richtet sie das Streben nach Gegenständen, die so oft
mit der Natur, die sich nach ihnen bemüht, nicht übereinstimmen.**
Deutlicher kann nicht die Individualität als die allein zu Recht
bestehende Quelle des Lebens bezeichnet, entschiedener nicht
dessen Gestaltung aus dem heraus abgelehnt werden, was uns als
der Individualität Äußerliches und deshalb Zufälliges umgibt.
Das gehört auch in den allgemeinen Sinn der unmittelbar ganz
anders orientierten Äußerung über die ,, unverhältnismäßigen**
Organe von Tieren: Hörner, lange Schweife, Mähnen, zu denen
im Gegensatz der Mensch alles in die genaue Harmonie seiner
Gestalt einbezieht und ,, alles was er hat, auch ist". Auch im
Geistigen hängt so nichts am Menschen als ein Fremdes, so daß
man diesen Satz in Goethes Sinn durchaus dahin variieren kann,
daß der Mensch alles, was er erzeugt, auch ist. Es ist sein eigenes
Leben, das das so gleichsam statisch Ausgedrückte in voller Be-
wegtheitsform zeigt. Er war schon ein älterer Mann, als Personen
seines näheren Umganges sich darüber äußerten, wie bildsam
seine Ansichten wären, wie sie sich mit den Entwicklungen und
Wandlungen seiner Lebendigkeit dauernd umbildeten. Im Unter-
schied gegen Schiller, bei dem ,, immer alles fertig war'*, bemerkte
eine dieser Personen, daß bei Goethe alles im Gespräch würde;
eine zweite, daß seine Ansichten keineswegs stabil gewesen wären,
und daß er, wenn man ihn gefaßt zu haben glaubte, das nächste
Mal, ,,in einer anderen Stimmung", andere Meinungen geäußert
hätte. Der Inhalt seines Lebens lag eben seinem Prozesse an, wie
einem lebendigen Körper seine Haut, die aufs genaueste von
seinen inneren Vorgängen jeweilig modifiziert wird. Vielleicht
Organische Verbindung von Prozeß und Inhalt 147
erklärt es sich von hier aus auch, daß er so oft von der Tatsache
und Notwendigkeit des Wirkens und Tuns, von der rastlosen
Tätigkeit spricht, in der die ,, Monas" der Persönlichkeit sich
erhalten müsse, ohne doch anzugeben, wofür man wirken,
wohin man diese Tätigkeit richten solle. Fast möchte man glau-
ben, daß das Leben eben nur lebt und leben soll, daß die formale
Ausübung seiner Bewegtheit der Wert seines Daseins ist, daß
alle Inhalte und Zwecke in letzter Instanz nur insoweit Wert
besitzen, wie sie die Bewegtheit des Lebens steigern; hat er doch
unumwunden ausgesprochen: ,,der Zweck des Lebens ist das
Leben selbst". Dennoch glaube ich nicht, daß dies seine eigentliche
Gesinnung ist. Vielmehr nur, daß ihm die Erzeugung des wertvollen
Inhalts in dem Maße, in dem das Leben immer mehr Leben, immer
mehr Bewegtheit ist, etwas ganz Sejbstverständliches ist. Darum
braucht er allerdings nicht zu sagen, was denn eigentlich Objekt
und Zielwert der sich bewegenden Monas wäre. Man hat manchmal
gegenüber Goethes Äußerungen über die Tätigkeit als letzte Forde-
rung, über die Notwendigkeit des rastlosen Wirkens ein beinah
peinliches Gefühl, mit alledem im Leeren zu stehen; denn man findet
den wertvollen Inhalt nicht angegeben, als dessen Träger all jenes
Wirken und Sichbewähren doch erst selbst ein Wert wird, während
es sonst ein bloß Formales bleibt, dem Positiven und dem Negativen
des Wertes gleichmäßig offen. Anders aber, wenn man erfaßt, wie
organisch Goethe das Verhältnis zwischen Prozeß und Inhalt meint,
daß das Leben prinzipiell nicht einen ihm fremden Wert als In-
halt aufnimmt, an dessen Stelle es auch einen Unwert akzeptieren
könnte, daß vielmehr, wenn es seinen reinen Sinn erfüllt, mit dem
Vollzuge seines Prozesses den ihm angemessenen Inhalt aus sich
heraus erzeugt. Dieser Inhalt liegt nicht als ein Objekt und Zweck
außerhalb seiner, sondern ist die Produktivität des Lebens, von
ihm nicht anders unterschieden, als das gesprochene Wort von dem
Sprechen des Wortes. Eben diese Kraft des Lebens, das Rechte
und Wertvolle nicht erst zu bekommen, sondern mit seiner Be-
wegung selbst zu erzeugen, wendet jene Äußerung nur praktisch:
man solle doch nicht ,, Wünsche erregen", sondern ,, Triebe beleben",
und es sei das Wesen des Lebens, das zu ,,sein", was es ,,hat".
10*
148 Standpunkt der reinen Inhaltlichkeit
Und daneben, daß das Leben seine Inhalte so unmittelbar an
seinen individuellen Verlauf angeschlossen hat, steht nun die
vorhin angedeutete Möglichkeit, daß diese Inhalte in ihrer logi-
schen, bezeichenbaren Bedeutung keineswegs singulär und nur
für dieses Individuum gültig, sondern mit vielen geteilt und für
viele gültig seien. Mindestens eine Richtung von Goethes Über-
zeugungen wird damit angegeben. Alles Gescheite, so meint er,
wäre schon einmal gedacht worden, es käme nur darauf an, es
noch einmal zu denken — womit er denn die Individualität des
Prozesses und die Überindividualität des Inhaltes deutlich bezeich-
net: er ermahnt: ,,das alteWahre, faß es an!" — und ist
überzeugt, daß im großen und ganzen die Lebensinhalte sich immer
wiederholen. Noch bedeutsamer aber sind die an sich nicht so
deutlichen Stellen, an denen er von der Geringfügigkeit der Unter-
schiede zwischen den Menschen spricht: nicht einmal zwischen
dem Genie und dem ganz simplen Menschen sieht er eine wirklich
wesentliche Kluft; ,,wir sind eben alle von Adams Kindern" —
womit er zur Duldung für einzelne widerwärtige Äußerungen
mahnt — und ,,in jedem Besondern" sieht er, durch die ,, Persön-
lichkeit hindurch das Allgemeine immer mehr durchleuchten".
Unterschiede des Lebensprozesses selbst nach seiner Dynamik,
seinem Vitalitätsmaße erkennt er dabei in voller Schärfe an, so
sehr, daß er daraufhin sogar verschiedene Maße von Unsterblich-
keit voraussetzt. Aber — so kann man diese Konstellation wohl
ausdrücken — die den verschiedenen Lebensmaßen entsprechen-
den, weil von ihnen erzeugten Lebensinhalte zeigen, vonandern
Standpunkten aus gesehen, keineswegs gleich
große Unterschiede, ja vielleicht gar keine: vom ethischen,
intellektuellen, ästhetischen oder welchem Standpunkte aus immer
können sie sehr ähnlich oder ganz allgemein sein; werden sie so
oder gewissermaßen isoliert betrachtet, so gelöst von der Unmittel-
barkeit des Lebens selbst, wie wir sie allerdings meistens oder
unvermeidlich zu werten gewohnt sind — so verschwinden die
Individualisiertheiten, die sie als unmittelbare Ausdrücke der
einzelnen Lebensintensitäten und nur als solche besitzen müssen.
So gedeutet erst scheinen mir die Widersprüche zwischen den
Individuelles und Allgemeines 149
angeführten Gruppen der Goetheschen Äußerungen aufgehoben.
Was der Mensch denkt, leistet, darbietet, ist bei Einstellung in
sachliche Ordnungen, als rein inhaltliche Qualität, etwas ganz
andres als innerhalb des schöpferischen Lebens selbst — etwas
andres die Farben des Regenbogens als bloß optische Erschei-
nungen und innerhalb der farbentheoretischen Anordnung und
Diskussion, etwas anderes ebendieselben in dem sprühenden Spiel
des Wasserfalls. Der Lebensinhalt steht unter diesen beiden Kate-
gorien: er ist gleichsam als die Kristallisation des Lebensprozesses,
als die Formung der individuellen Bewegtheit, selbst schlechthin
individuell; und er kann dabei, als selbständiger und sozusagen
nach außen hin gespiegelter, durchaus allgemein, ein ganz durch-
gehender sein, er ist das gerade, sobald er aus dem echten Leben
kommt, und er soll es sein. Darum kann Goethe, ganz nahe jenem
Ausspruch, daß poetischer Gehalt Gehalt des eigenen Lebens sei
und daß ein jeder doch nur sein Individuum zutage fördere, ver*
künden: ,,der Dichter soll das Einzelne — das heißt hier doch wohl:
das einzelne eigne Erlebnis — so zum Allgemeinen erheben, daß die
Hörer es wiederum ihrer eigenen Individualität anzueignen ver-
mögen" — so daß bei diesen die allgemeine Bedeutung der indivi-
duellen Produktion wieder aus ihrer Allgemeinheit zurücktritt
und als Individuelles erlebt wird. Mit dieser Deutung hat der
typische Individualismus des i8. Jahrhunderts eine besondere
Gestaltung gewonnen. In diesem war das Individuum ganz auf
sich gestellt, seine Kräfte aus dem rätselhaften Punkte unbe-
dingter Spontaneität hergeleitet, das Leben eines jeden ausschließ-
lich die Entwicklung seiner selbst. Daß aber dabei die Menschheit
nicht in atomisierte Splitter auseinanderfällt und auseinander-
fallen soll, weiß diese Anschauung nur durch die behauptete
Gleichheit all dieser Einzelnen in ihrem eigentlichen Kern und
Wesen zu erweisen: die libert6 wird durch die egalit6 ergänzt.
Das Fundament der Goetheschen Äußerungen läßt sich als eine
tiefere und lebendigere Auffassung des Problems auslegen: durch
die zweifache Bedeutung der vom Leben gezeugten Inhalte. Wenn
er einmal von den ,, Eigenheiten" des geistigen Wesens spricht
und daß ihre Phänomene ,, irrtümlich nach außen, wahrhaft nach
150 Quantitative Unterschiedenheit
innen" seien — so offenbart er damit dies Prinzip der Zweiheit,
wenn auch in anderer als in der hier fraglichen Richtung. Die
Eigenwurzelung, das individuell schöpferische Leben der Einzelnen
ist ihm nicht mit deren metaphysischer Gleichheit verbunden;
vielmehr, eine grenzenlose Unterschiedenheit trennt ihre Lebens-
intensitäten, trennt den Sinn ihres Daseins. Die Inhalte aber,
die der Prozeß dieses Daseins unmittelbar und aus sich allein
zeugte, die in ihm zentrieren und die Unvergleichbarkeit seiner
jeweiligen Gestalt zeigen, haben zugleich eine Bedeutung ,,nach
außen", sie fügen sich einer sachlichen Ordnung und Deutbarkeit,
einem menschlichen Gesamtleben ein; und hier nun, ganz andren
Wert- und Ordnungskriterien unterstellt, können sie eine prinzi-
pielle Verwandtschaft oder Gleichheit zeigen, die für sie, insoweit
sie dem individuellen schöpferischen Leben anliegen, gar nicht in
Frage kommt. Wie sie , .wahrhaft nach innen, irrtümlich nach
außen" sein können, ebenso individuell nach innen, allgemein
nach außen.
Die bisher fragliche Unterschiedenheit zwischen Individuum
und Individuum scheint nach manchen seiner Äußerungen nicht
eigentlich in der qualitativen Färbung, sondern in dem Maße ihrer
Lebensintensität zu beruhen: in der Fülle der Bewegtheit, in der
Kraft des Sichbewährens und Sichbehauptens, in gewissermaßen
quantitativen Unterschieden. In dieser Richtung meint er mit
62 Jahren: , »Größere Menschen haben nur ein größeres Volumen;
Tugenden und Fehler haben sie mit den mindesten gemein, nur
in größerer Quantität." Und quantitative Unterschiede geben sich
ja auch am ehesten dazu her, die Einzelexistenzen voneinander
zu differenzieren, ohne die Allgemeinheit ihrer Inhalte aufheben
zu müssen. Und ganz entschieden äußert er sich, fast ein Acht-
ziger: ,,Man spricht immer von Originalität, allein was will das
heißen! — Wenn ich sagen könnte, was ich alles großen Vor-
gängern und Mitlebenden schuldig geworden bin, so bliebe nicht
viel übrig. — Was können wir denn unser Eigenes
nennen, als die Energie, die Kraft, das Wollen!"
Dies gehört zu den prinzipiellen Möglichkeiten, das menschliche
Wesen aufzufassen, und imter den großen Menschengestaltern
Wertung der individuellen Qualität 151
scheint mir noch Velasquez ihr nahezustehen. Auch an seinen Ge-
stalten empfinden wir vor allen Dingen ihr bestimmtes, individuelles
Maß von Vitalität, von Dynamik der Existenz; als liefe eine Skala
bloßer Lebensintensitäten von seinem Grafen Olivarez und dem
Dresdner Jägermeister, die wie kontinuierlich mit Lebenskraft aus-
gefüllt scheinen, bis zu den ausgelaugten Habsburgern, in denen das
Leben überhaupt keine Realität, sondern nur noch ein Schemen
ist; und als habe jede seiner Figuren auf dieser Skala der Lebens-
quantitäten eine unzweideutige Stelle, an der die Auffassung des
Künstlers sie festlegt. Aber neben dieser Gestaltung des Indivi-
dualismus, wie sie bei Goethe anklingt, entwickelte sich bei ihm
die spätere, die ich als den qualitativen Individualismus bezeich-
nete und für die Wesen und Wert des Menschen in der Besonder-
heit oder Einzigkeit seines Beschaffenseins, seiner
Eigenschaften besteht. Mit achtzehn Jahren schreibt er förmlich
rabiat: ,, Hätte ich Kinder und einer sagte mir: sie sehen diesem
oder jenem ähnlich, ich setzte sie aus, wenn's wahr wäre." Und
ganz wenig später setzt sich diese Leidenschaft für das unbedingt
Eigene, diese Wertung des Unerhörten in die einzelnen Momente
des persönlichen Lebens selbst fort: , »Macht mich was empfinden,
was ich nicht gefühlt, was denken, was ich nicht gedacht habe!"
Und dann läßt er im Meister den Abbe offenbar seine eigene
Meinung aussprechen: „Ein Kind, ein junger Mensch, die auf
ihrem eigenen Wege irre gehen, sind mir lieber als manche, die
auf fremdem Wege recht wandeln." Für diesen ganzen, in der
Romantik aufgegipfelten Typus des Individualismus und seine
geistesgeschichtliche Bedeutung zeigen wohl überhaupt die
Lehrjahre den entscheidenden Durchbruch. Sehen wir zunächst
von Shakespeare ab, so ist wohl hier zum ersten Male in der
Literatur eine Welt gezeichnet (wenn es auch nur die kleine
,,Welt" bestimmter gesellschaftlicher Kreise ist), die völlig auf
die individuelle Eigenheit ihrer Elemente gestellt ist und sich durch
eben diese Eigenheiten in ihrer Weise organisiert und entwickelt.
Man denkt hier natürlich an das größte dichterische Beispiel eines
Weltbildes aus scharf individualisierten Einzelerscheinungen, an
die Divina Commedia. Allein so wenig sich die Menschen im
152 Allgemeine Natur und persönlicher Schöpfer
Meister an Intensität ihres Daseins und Gewalt des Umrisses mit
den Danteschen messen können, so besteht für diese doch nicht
das Problem, das der Individualistik jener erst ihr eigentliches
Cachet gibt: durch ihre Wechselwirkung eine Lebenswelt er-
wachsen zu lassen. Dantes Gestalten stehen isoliert nebenein-
ander, nur aufgereiht an der transzendenten Wanderung des
Dichters und ihre Einheit nicht durch eigene Beziehungen findend,
sondern durch die übergreifende, allumfassende göttliche Ord-
nung, die jener Individualisationen sozusagen gar nicht als ihrer
inneren Bedingung bedarf.
In der Konfrontierung mit der Individualistik Shakespeares
rückt die Goethesche wieder unter ganz andere Kategorien, die
den letzten Fundamenten ihrer gegensätzlichen Produktionsarten
zugehören. Shakespeares Schaffen, seiner reinen Idee nach,
findet sein Symbol an dem göttlichen Schöpfertum. In der gestal-
teten Welt ist das Etwas, woraus sie gestaltet wurde, das Chaos
oder das unbenennbare Sein, nun verschwunden, in die Summe
der einzelnen Gestaltungen aufgegangen; ebenso ist, gleichsam
von der anderen Seite, der Schöpfer selbst von diesen zurück-
getreten, und überläßt sie sich selbst und den ihnen eingeprägten
Gesetzen und steht nicht mehr als ein Greifbares und eindeutig
Auffindbares hinter ihnen. Zu diesem Absoluten und Metaphysi-
schen zeigen Shakespeares Figuren die künstlerische Analogie.
Alle ihre ,,Naturhaftigkeit" besagt nicht, daß eine allgemeine,
einheitliche ,, Natur überhaupt" noch unter der einzelnen fühlbar
wäre, keine solche verbindet als ein gemeinsamer Wurzelboden
die einzelnen, sondern jede von diesen hat das Sein wie bis zum
letzten Tropfen in sich eingetrunken und es restlos in eben diese
individuelle Form übergeführt. Und auf der anderen Seite: der
Schöpfer selbst hat sich hinter seinem Werk unsichtbar gemacht,
seine einzelnen Produkte weisen nicht auf ihn als Ergänzung oder
Deutung, als Hintergrund oder ideellen Brennpunkt hin. Es ist
mindestens ein sehr symbolischer Zufall, daß wir von Shake-
speares Persönlichkeit außer einigen Äußerlichkeiten nichts wissen.
Seine Produktionen und Gestalten haben sich von ihm abgelöst
und — cum grano salis zu verstehen — es würde dem Verständnis
Das Naturganze und die Individuen 153
und dem Genuß keines seiner Werke etwas abbrechen, wenn ein
jedes einen anderen Schöpfer hätte. Das Dasein, das jede seiner
tragischen Gestalten darstellt, geht bis in deren letzte Wurzel-
spitzen als individuelles hinunter und löst sie in unerhörter
Selbständigkeit und geschlossener Plastik sowohl von der objek-
tiven Zusammengehörigkeit aller Wesen wie von der Zugehörig-
keit zu der dahinterstehenden Subjektivität des Dichters, die sie
zusammenbinden könnte, los. In beiden Hinsichten sind die Werke
und die einzelnen Gestalten Goethes anders orientiert. Goethes
dichterische Produktion steht auf dem Gefühl eben derselben
Natur, deren Begriff sein theoretisches Weltbild funda-
mentiert. Die Welt ist ihm Ausgestaltung eines universellen
einheitlichen Seins, das die Gestalten aus sich entläßt und in sich
zurücknimmt (,, Geburt und Grab Ein ewiges Meer"), aber sie in
keinem Augenblick aus dieser physisch-metaphysischen Grund-
substanz sich völlig lösen läßt (,,Das Ewige regt sich fort in allen").
Die Verwandtschaft aller Gestalten, die bei Shakespeare höchstens in
einer gewissen Gleichheit ihrer künstlerischen Formung, ihres Stils
und ihrer Umrißgröße besteht, ist bei Goethe durch die Fundierung
in der Natureinheit gegeben, aus der sich die einzelne nur hebt,
wie aus dem Meere die einzelne Welle in ihrer vielleicht nie wieder-
holten Form. Die ,, Natur", unter deren Bilde oder als deren
Erzeugnis Goethe die Erscheinungen sah, war sehr viel weiter,
metaphysischer, den Zusammenhang der Individuen lückenloser
unterbauend, als die ,, Natur", die die Shakespeareschen Erschei-
nungen hervortreibt. Aber darum war sie auch nicht so in die
einzelne konzentriert, nicht mit so vulkanischer Stoßkraft die
einzelne schaffend. Bei Shakespeare handelt es sich um die
Natur der einzelnen Erscheinung, bei Goethe um die Natur
überhaupt, die als die immer gleiche jeder einzelnen zugrunde
liegt. Was er von sich selbst sagt: ,,Und so teil' ich mich, ihr
Lieben, Und bin immerfort der Eine" — gilt auch für die Natur
und ihre individuellen Erscheinungen. Wir sind alle Kinder der
einen göttlichen Natur, deren ,, Genie" auch in der ,, plumpsten
Philisterei" lebt und die so alle Einzigkeiten der Individualitäten
wie in einem einzigen, wenn auch unaussprechbaren Grundgesetz
154 Der Dichter und seine Gestalten
wurzeln läßt. Wie die typischen großen Menschen der Renaissance,
haben sich die Shakespeareschen Individuen sozusagen von Gott
losgerissen, das Metaphysische ihrer Existenz findet Platz zwischen
ihrem Scheitel und ihrer Sohle, während die Goetheschen als
Glieder eines metaphysischen Organismus wirken, als Früchte
eines Baumes — ohne daß diese irgendwie in ihnen beharrende
und sie wieder in sich zurücknehmende ,, Natur" etwa eine quali-
tative Gleichartigkeit unter ihnen bewirkte. Und nun sind diese
Gestalten, gleichsam nach der anderen Seite, mit der Einheit der
dichterischen Persönlichkeit verwachsen geblieben, sie sind als
Äußerungen einer schöpferischen Subjektivität miteinander
verbunden — was auch seinerseits nicht die Einzigkeit ihres Be-
schaffenseins alteriert. Bei Shakespeare liegt der dichterisch-
schöpferische Persönlichkeitspunkt, in dem sich die Lebenslinien
seiner Gestalten treffen, sozusagen im Unendlichen, bei Goethe
rückt er nie ganz außer Sehweite. Nicht so, als hätten sie alle, als
beschreibbare Phänomene, eine Familienähnlichkeit mit ihrem
Erzeuger, als wären in jeder Züge des Goetheschen Wesens fest-
stellbar oder als wären sie aus diesen, als aus fertigen Stücken
seiner selbst, die er in der Hand hatte, zusammengefügt. Zwar,
dieses Sich-selbst-Modellstehen, diese Projizierung des eigenen,
schon angebbar geformten Seins in die Phantasiegestalt kommt
bei Goethe oft genug vor, und ist oft genug hervorgehoben worden.
Allein statt dieses einigermaßen Naturalistisch-Mechanischen
meine ich hier etwas reiner Funktionelles und einer tieferen
Schicht Zugehöriges: nicht das Übertragensein von Inhalten,
sondern das dynamische Getragensein oder genauer: Vorgetragen-
sein der Gestalt durch den Gestalter, durch den Schöpfer, steht in
Frage. Die Figur steht nicht in demselben Sinne wie bei Shake-
speare für sich, sondern sie ist das vom Dichter dargebotene
Kunstwerk, sie ist zwar ebenso ,, gewachsen" wie jene, aber nicht
ebenso gleichsam aus sich selbst, sondern aus der Lebendigkeit,
dem Welt- und Kunstwollen Goethes: bei aller qualitativen
Eigenheit und Differenziertheit bleiben Mephisto und Ottilie,
Gretchen und Tasso, Orest und Makarie innerhalb der schöpfe-
rischen Lebenssphäre des Dichters und der Lebenssaft, der diese
Erzählung und Erzählender 155
aus einheitlicher Quelle tränkt, bleibt in allen fühlbar — eine
Rückbeziehung der Geschöpfe auf den Schöpfer nicht auf Grund
des Inhaltes, sondern des lebendigen, seine Kontinuität von diesem
zu jenen nicht lösenden Schöpfungsprozesses. Am deutlichsten
offenbaren dies die Romane. Im Werther wird es von vornherein
dadurch gedeckt und vielleicht überdeckt, daß hier jene inhalt-
liche Identität von Erlebnis und Werk besteht. Aber im Meister
und in den Wahlverwandtschaften wird der künstlerische Stil
durchaus dadurch bestimmt, daß wir überall den Erzähler fühlen.
Es fehlt hier der formal-künstlerische Realismus (von der Ent-
scheidung zwischen inhaltlichem Naturalismus und Stilisierung
noch völlig unabhängig) , der die Ereignisse und Menschen auf sich
selber stellt, so daß sie, wie von der Bühne, nur als ein unmittel-
bares Dasein wirken; vielmehr, sie sind wirklich eine ,, Erzählung",
die von dem dahinterstehenden, fühlbaren Erzähler getragen wird;
bei aller Selbständigkeit der Personen und all der Zerpflücktheit
der Komposition, die etwa die Wanderjahre zeigen, bleibt doch
der Dichter die ,, Einheit der Apperzeption", die freilich hier einen
eigenen Sinn hat. Nicht den Kantischen, dem sie die ideelle,
objektive Beziehung von Erkenntnisinhalten bedeutet, unter Aus-
schaltung des seelischen Lebensprozesses; nicht den subjektiven
Sinn, für den der einzelne Bewußtseinsinhalt eben nur als Lebens-
äußerung dieses bestimmten Subjektes von Bedeutung ist; son-
dern in dem besonderen Sinn, der vielleicht nur zwischen der
Erzählung und dem Erzähler besteht. Das Erzählte hat eine
objektive Einheit, einen für sich verständlichen Zusammenhang
seiner Elemente; der Erzählende hat in sich die Einheit seiner
Person, die den psychologischen Zusammenhang seiner Vor-
stellungen, seines Schaffens bedeutet oder trägt. Bleibt nun aber
dieses Subjekt in seiner schöpferischen Aktivität in oder hinter
jenem objektiven Gebilde spürbar, so schiebt sich (und das eben
will diese ,, Spürbarkeit" besagen) die zweite Einheit in die erste
hinein, das Gebilde bekommt einen neuen einheitlichen Schöpfungs-
punkt; und es ist mit unserer, immer räumlich orientierten Be-
griffssprache gar nicht recht möglich auszudrücken, daß dieser
mit der objektiven Einheit des Erzählten weder zusammenfällt
156 Subjektivität und Objektivität
noch auseinanderfällt. Aber ausdrückbar oder nicht, die Goethe-
schen Romane laufen innerhalb der Kategorien des „Er-
zählers" ab und offenbaren damit die merkwürdige Kategorie
der objektiv gewordenen, aber in dieser Objektivität sich nicht
verlierenden Subjektivität, die Goethes Geisteswesen durch-
gängig bezeichnet.
Sieht man von hier noch einmal auf Shakespeare hin, so er-
scheint Goethe auch in seinen Dramen, von Iphigenie an, sozu-
sagen als der Berichtende, Erzählende. Wenn Macbeth und
Othello, Cordelia und Porzia reden, so ist in der ideellen Welt
dieses Geschehens und Sprechens absolut nichts außer ihnen selbst
vorhanden und spürbar, es gibt keinen Shakespeare, der sie als
ihr heimlicher König bewegte, er ist völlig in ihr Eigenleben auf-
gelöst. Aber bei allen Nuancierungen zwischen der Redeweise
Antonios und der Prinzessin, Fausts und Wagners, Pylades' und
Orests, haben sie, gegen jene gehalten, einen relativ gleichen
Grundrhythmus, denn schließlich ist es immer Goethe, der sie
reden läßt. Vielleicht ist diese Unmittelbarkeit, mit der Goethes
Gestalten ihr Leben aus ihm selbst bezogen, die Ununterbrochen-
heit der Säfteströmung zwischen ihnen, als wäre die Nabelschnur
nicht gelöst — vielleicht ist diese der Grund, weshalb Goethe vor
dem Unternehmen einer ,, eigentlichen Tragödie" zurückscheute
und meinte, daß ,,der bloße Versuch ihn zerstören würde". Aus
eben diesem Zusammenhang ist die Spannung zwischen Subjek-
tivität und Objektivität für Shakespeare etwas ganz anderes als für
Goethe: dort besteht sie sozusagen überhaupt nicht, das Problem
ist gar nicht auf sie eingestellt, hier ist sie überwunden, die Pole
sind fühlbar, die Distanz zwischen ihnen meßbar und zwar gerade
dadurch, daß die lebendige Funktion sie einheitlich verbindet.
Niemals hätte Shakespeare daran gedacht, sein Schaffen als
,, gegenständlich" zu bezeichnen, wie Goethe, der sich offenbar
durch diese Formulierung wie erlöst gefühlt hat. Shakespeares
Lebensfülle ergießt sich im Augenblick ihres Aufquellens selbst
wie an seinem Subjekt vorbei in die Selbständigkeit der Umrisse
seiner Gestalten. Sie sind gegenständlich — eben in dem absoluten
Sinne des Wortes, der nicht erst durch ein Gegenüber- vom-Subjekt
Die Welt des Individuums 157
bezeichnet wird. Endlich muß mit diesen Strukturverhältnissen
der Goetheschen Gestalten ein Moment in Beziehung stehen, das
wieder auf unsere ursprüngliche Problemstellung des Individualis-
mus zurückleitet. Fast jede Gestalt in Goethes großen Werken
stellt eine Möglichkeit dar, die Welt anzuschauen, oder, anders
ausgedrückt, von ihrem besonderen Sein her ein inneres Weltbild
zu erbauen. Diese Welt mag klein genug sein; aber sie trägt doch
den Charakter einer „Welt": einen bestimmten Charakter des
Sehens und Fühlens, der nicht nur die vorgeführten Daseinsinhalte
färbt, sondern auch an allem Dazwischenliegenden eine eindeutig
gestaltende Kraft ausüben würde, eine zentrale Wesensart, um
die das Bild einer lückenlosen und durch sie in Aufbau und Tönung
bestimmten Daseinstotalität erwachsen könnte. Dies ist, soweit
ich sehe, unter allen Shakespeareschen Gestalten nur auf Hamlet
ohne weiteres anwendbar. Weder nach Romeo noch nach Lear,
weder nach Othello noch nach Antonius läßt sich eine Welt auf-
bauen; wohl aber auf Faustische oder Mephistophelische Art, auf
die des Tasso oder Antonio, auch auf die von Charlotte oder Ottilie;
der Meister ist in diesem Sinne eine Welt aus Welten. Jede dieser
hauptsächlichen Gestalten ist das Apriori für eine Welt — der
Anschauung wie der Lebensgestaltung — , während Shakespeares
Gestalten die weltbildende Kraft ganz in ihr Leben eingeschlossen
haben. Um sie alle ist wohl die Atmosphäre des Lebens und ihres
individuellen Lebens, aber nicht so, daß sie sich zu einem in ihr
nur zentrierten Bilde des Daseins überhaupt, auch außerhalb ihres
Schicksals und Willens, objektivierte. Goethe hat seinen ersten
Vorgänger in der Leistung, den Mikrokosmos eines Kunstwerkes
aus Gestalten erwachsen zu lassen, deren jede das Zentrum einer
individuellen geistigen Welt ist, in Raffael. Täusche ich mich
nicht, so zeigt zum ersten Male die Schule von Athen eine künstle-
rische, die Welt des Geistes überhaupt symbolisierende Zusam-
menfassung von Persönlichkeiten, deren jede die besondere Tonart
für je eine Weltsymphonie darstellen soll. Damit eben bestimmt
sich für Goethe das Verhältnis, das die dargebotenen Äußerungen
der Figuren zu ihrem Gesamtsein besitzen. Dies Verhältnis ist für
alle Kunststile von großer Bedeutung. Mit dem Lebens- und
158 Umfang der Persönlichkeit
Kunstprinzip der Antike hing es durchaus zusammen, daß die
Figur im Drama der genau umschriebene Träger eines bestimmten
Handelns und Leidens, eines bestimmten Schicksals und der Art,
es zu tragen, ist; der Mensch mit all seinen Beschaffenheiten und
Kräften ist in die von dem Thema des Kunstwerks gegebene Form
hineingegangen — wie die Parthenonskulpturen genau das Leben
haben, das der Gegenstand und die Gestaltung des künstlerischen
Momentes verlangen; das Leben erfüllt diese Form genau, aber es
ist kein darunterweg in breiterem, vielleicht transartistischem
Strome sich Ergießendes. Erst im Hellenismus empfinden wir den
dargestellten Moment als herausgehoben aus einem weiten, fluten-
den Leben der Persönlichkeit oder dieses in sich sammelnd, indem
es aber doch nicht in diesem Augenblick aufgeht, sondern nur
von ihm aus sichtbar wird. Den Geschöpfen aller großen Men-
schenschilderer ist es eigen — in so verschiedenen Formen ihre
verschiedenen Stile dies zum Vortrag bringen — daß alles, was
sie sagen und tun, nur als der zufällig beleuchtete, zu Worte
kommende, dem Beschauer zugewandte Teil einer ganzen,
gerundeten, eine Unendlichkeit andrer möglicher Äußerungen
einschließenden Persönlichkeit erscheint. Was uns an Schiller-
schen Figuren so oft unerträglich theatralisch und papieren vor-
kommt, ist eben dies: daß sie keine seelische Innerlichkeit und
Leben haben, außer dem, das sie in den Worten ihrer Rolle aus-
sprechen. Die Grenzen ihres seelischen Umfanges fallen genau
mit denen ihrer schauspielerischen Realität zusammen, sie sind
wie der Schauspieler selbst, der vor und nach seinem Auftreten
sozusagen nichts ist, nicht ist, und in dem von dem Leben der dar-
gestellten Figuren nichts ist, außer dem, was er auf der Bühne sagt.
Vielleicht hat von allen seinen Gestalten nur Wallenstein jene ge-
heimnisvolle, über alle einzelnen Äußerungen hinausreichende
Sphäre um sich, oder, anders ausgedrückt, diese Energie des alle
Äußerungen erzeugenden Persönhchkeitspunktes, die fühlbar
macht, zu wieviel mehr als eben diesen sie zureicht. Goethes Ge-
stalten aber sind von diesem Mehr an jeder Stelle ihres erscheinen-
den Lebens erfüllt. Was sind nicht Iphigenie und Tasso, Faust
und Natalie noch außer dem, was man von ihnen hört! Was sie
Intellektualismus und Weltbildung 159
sagen, ist jedesmal nur der Strahl eines unendlich reichen, inneren
Gesamtlebens, während Schillers Figuren immer nur aus diesem
jeweiligen Strahl bestehen. Die Figuren aus Goethes Reifezeit
haben das Einzige, daß sie die volle klassische Rundung besitzen
und dennoch zugleich alles, was sie darstellen, nur der sammelnde
und entscheidende Abschnitt einer unermeßlichen Lebenstotalität
ist, auch ein farbiger Abglanz, an dem wir ihr Leben haben.
Goethes Gestalten gleichen ihm selbst in der nicht weiter ausein-
anderzulegenden Qualität, mit jeder noch so objektiven oder zu-
fälligen Äußerung die Ganzheit eines einheitlichen, unmittelbar
nicht ausgesprochenen und nicht auszusprechenden Lebens mit-
klingen zu lassen. — Daß aber dies Leben seiner Gestalten, jede
ihrer Einzeläußerungen unterbauend und übergreifend, sich zu
je einer ,, Weltanschauung" objektivierte oder objektivieren läßt
— das scheint mir mit seinem, Shakespeare gegenüber, immerhin
intellektualistischeren Wesen zusammenzuhängen. Vergleicht man
seine Menschen, die ich oben anführte, mit den zuvor genannten
Shakespeares, so haben sie alle einen Hauch von Theoretischem,
von einer Geistigkeit jenseits des naturhaften Seins. Und während
das letztere in sich beschlossen bleibt oder sich nur mit realen
Wirkungen gleichsam strahlenförmig in die Umwelt erstreckt,
wirft das ideelle Schöpfertum des theoretischen Menschen leicht
den Kreis einer ganzen Welt aus sich heraus. Oder, um die Be-
ziehung zwischen dem Erwachsen individuell bestimmter ,, Wel-
ten" und dem theoretischen Charakter der Individuen in deren
Zentrum noch in einer tieferen Schicht zu fassen: die inneren
Elemente des theoretischen Menschen haben von vornherein eine,
mindestens potenziell, logische Struktur. Sie sind so geformt, daß
sich aus den einzelnen leicht andere ergeben, daß ein Zusammen-
hang unausgesprochener, ja ungedachter aus den geäußerten sich
bündig erschließen läßt. An dem Seins- Charakter der Shake-
speareschen Gestalten dagegen macht es sich geltend, daß das Sein
als solches nichts Logisches ist und nicht logisch konstruierbar; nur
seine qualitativen Bestimmungen mag man begrifflich aus einander
entwickeln, das Sein selbst fordert eine ursprüngliche Setzung, es
ist Sache des Erfahrens und Erlebens, und je mehr in einem Wesen
160 Einzigkeit der Individualität
die alogische Tatsache seines Seins dominiert, desto weniger
darf man es, Gegebenes und Nicht-Gegebenes aus einander folgernd,
gleichsam zu der Ganzheit einer Weltanschauung erweitern. Es
ist vielleicht nur der psychologische Ausdruck hiervon, daß die
Shakespeareschen Menschen Willens naturen sind und daß
deshalb jene Unberechenbar keit und Spontaneität in ihnen ist,
mit der der Wille sich von der intellektuellen Tendenz zum Zu-
sammenhängenden, Teil nach Teil berechenbar und kontinuier-
lich Erzeugenden unterscheidet. Es ist kein Zufall, daß die eigent-
lich einzige Gestalt Shakespeares, deren Wesensart einer Welt-
anschauung Bildungsgesetz und individuelle Färbung geben
könnte: Hamlet — eben kein Willensmensch, sondern eine
intellektualistische Natur ist.
Dieses Bezeichnende Goethescher Gestalten: daß man auf ihre
Namen ein Weltbild taufen kann, daß ihre einzelnen Äußerungen
nur Bruchstücke eines ideell geschlossenen Gesamtanschauens,
Gesamtfühlens sind — zeigt nun erst den ganzen Sinn, in dem
Goethes Menschengestaltung jener zweiten Form des Individualis-
mus, die ich den qualitativen nannte, angehört. Sie bedeutete
doch, daß das Anderssein zwischen Mensch und Mensch als
entscheidender Wert gilt; während Fichte die erste Form des
Individualismus damit festgelegt hat, daß ,,ein Vernunftwesen
schlechthin ein Individuum sein müsse, aber nicht eben dieses
oder jenes bestimmte" — rückt der Akzent nun gerade auf das
Bestimmtsein des Individuums, darauf, daß ein jedes jedem
anderen gegenüber ein Unverwechselbares, Einziges ist. Gleichviel,
ob die einzelne Figur als Typus gemeint ist und ob die Zufälle
der Wirklichkeit noch ein oder viele genau gleiche Wesen erzeu-
gen; der Sinn einer jeden ist doch, daß sie unterschieden ist, daß
sie das Dasein auf eine nur ihr zukommende Weise ausdrückt,
daß sie in dem Zusammenhange der Weltinhalte an einer Stelle
steht, die nur sie erfüllen kann. Die metaphysische Auffassung
der Individualität aber erreicht ihre ganze anschauliche Fülle
und lebendige Ausgestaltung dann, wenn die Grundfärbung, die
das Individuum in seiner Einzigkeit ausmacht, die Ganzheit des
Daseins um das Individuum herum durchströmen und auf sich
Das Allgemein-Menschliche 161
abstimmen kann. Das menschliche Wesen ist erst dann wirklich
ganz Individuum, wenn es nicht nur ein Punkt in der Welt,
sondern selbst eine Welt ist, und daß es sie ist, kann es nur damit
beweisen, daß seine Qualität sich als Bestimmung eines möglichen
Weltbildes zeigt, als der Kern eines geistigen Kosmos, von dessen
ideeller Totalität all seine einzelnen Äußerungen nur ganz partielle
Verwirklichungen sind. Und von der anderen Seite gesehen:
wird der Mensch so als der Quell einer Welt, gleichsam als der
Name einer Weltanschauung aufgefaßt, wie es der Sinn der
Goetheschen Gestalten ist, so muß jeder von jedem im Tiefsten
individuell verschieden sein. Die Gleichheit all dieser Welten
wäre bedeutungslos; denn dann genügte es sozusagen, wenn es
nur eine einzige gäbe und jeder Mensch eine punktuelle Existenz
in ihr darstellte. Die Unendlichkeit möglicher Weltbilder und daß
jeder Mensch das Zentrum und das Gesetz eines solchen ist, hat
nur einen Sinn, wenn keines von ihnen durch ein andres ersetzlich
ist und ein jedes den Reichtum der Tonarten vermehrt, in die
der Geist das Dasein als Ganzes transponieren kann. Indem jede
der großen Goetheschen Figuren eine Art darstellt, wie nicht nur
ein einzelnes Schicksal oder eine einzelne Aufgabe, sondern eine
Welt begriffen, erlebt, gestaltet werden kann, offenbart sich erst
ganz seine Auffassung des Individuums als des qualitativ Einzigen,
das niemandem ,, ähnlich ist".
In einem eigentümlichen Verhältnis von Getrenntheit und Ver-
bundenheit zu diesem Individualismus steht nun Goethes Schätzung
des ,, Allgemein-Menschlichen" — und zwar in dem doppelten
Sinne, daß dies Allgemeine die eigentliche und tiefste Realität
auch des Individuellen ist (so daß eine vervollkommnete Einsicht
es ,, durch Nationalität und Persönlichkeit immer mehr durch-
leuchten" sehen würde) — und daß es zugleich der Wert der
Existenzen ist, dem durch entgegenstehende Instanzen hindurch
zur Verwirklichung zu verhelfen ist (,,Sinn und Bedeutung meiner
Schriften* * , sagt er im hohen Alter, , ,ist der Triumph des Reinmensch-
lichen"). Es ist zunächst sicher, daß das Allgemein-Menschliche
für Goethe nicht die gemeinsamen Züge der individuellen Er-
scheinungen bedeuten kann, die von den jeweils besonderen oder
Simmel, Goethe. '^
162 Die Vielheit als Existenzform der Einheit
einzigartigen abgesondert und zu dem abstrakten Begriff des
„allgemeinen Menschen" zusammengefaßt würden. Dies Ver-
fahren, eine nachträgliche mechanische Zerlegung des fertigen
Phänomens und ebenso mechanische Synthese seiner Elemente,
war das der rationalistischen Aufklärung. Goethe kann, im
Gegensatz dazu, gerade nur den Grund der Erscheinungen
meinen, der diese in all ihrer Mannigfaltigkeit erzeugt und trägt.
Die Individualität erscheint ihm als die Darstellung eines Typus
oder einer Idee, deren Leben nun doch in ihrer Ausgestaltung in
unzählige besondere Formen besteht. Die Einheit und die Viel-
heit widersprechen sich weder ihrer Wirklichkeit noch ihrem
Werte nach, da die Vielheit die Existenzart der Einheit ist, und
zwar auf den verschiedensten Stufen des Seins: die Einheit der
Natur überhaupt und die Mannigfaltigkeit aller Erscheinungen
überhaupt; die Einheit des organischen Typus und die Besonderung
der Individuen; die Einheit der Persönlichkeit und der Reichtum
ihrer differenten und gegensätzlichen Äußerungen. Daß diese
Einheit sich innerhalb der Erscheinungen als etwas Allgemeines,
als Gemeinbesitz gewisser Merkmale zeigt, ist sozusagen etwas
Akzidentelles, mindestens etwas Äußerliches; das Wesentliche ist,
daß sie die Individuen trägt und in diesen besonderen Gestaltungen
lebt, als reale Wurzel oder metaphysische Idee, in vollkommenem
Sichausdrücken im Individuellen oder in zufälliger UnvoUkommen-
heit und Abgebogenheit. Von untermenschlichen Wesen spricht
er hier in der typischen Art, wie es ihm auch für menschliche
Individuen gilt; so über zwei Muschelarten, die bei ganz ab-
weichenden Formen doch die Identität gewisser hauptsächlicher
Züge verraten: „Da ich nach meiner Art zu forschen, zu wissen
und zu genießen mich nur an Symbole halten darf, so gehören
diese Geschöpfe zu den Heiligtümern, welche die nach dem
Regellosen strebende, sich selbst immer regelnde, und so im
kleinsten wie im größten durchaus gott- und menschenähnliche
Natur sinnlich vergegenwärtigen." Ja, die partielle Gleichheit
von Erscheinungskomplexen ist eigentlich und prinzipiell gar
nicht die Bedingung, unter der diese einem gemeinsamen All-
gemeinen zugehören:
Das historische Individuum 163
Und es ist das ewig Eine,
Das sich vielfach offenbart;
Klein der Große, groß der Kleine,
Alles nach der eignen Art.
„Die höchste und einzige Operation der Natur und Kunst ist
die Gestaltung und in der Gestaltung die Spezifikation, damit ein
jedes ein Besonderes, Bedeutendes werde, sei und bleibe." Wie
er keinen Augenblick daran zweifelt, daß die sittliche Forderung
als Idee eine einzige, schlechthin allgemeine ist und dabei doch
überzeugt ist, daß sie sich schlechthin individuell ausgestaltet und
jedem ein für i h n und vielleicht für niemand sonst gültiges Ver-
halten auferlegt — so verliert für ihn das Allgemein-Menschliche
in keiner Weise seine Einheit und fundamentale Identität dadurch,
daß die Art seiner Existenz eine in beliebig verschiedene, ja polar
entgegengesetzte Erscheinungen auseinandergehende ist. Hier
leuchtet ein Punkt auf, von dem aus das, was an Goethes angeblich
negativer Stellung zur , »Geschichte" nicht völlig sinnloses
Gerede ist, Licht erhält. Goethe begriff die Individualität als
Modifikation des Allgemein-Menschlichen, das in einer jeden
gleichsam als ihre Substanz oder Lebensdynamik besteht, völlig
unabhängig von Gleichheit oder Ungleichheit zwischen den
Individuen. Gegenüber diesem Aufsteigen der Individualität aus
dem Seinsgrunde des Menschlichen überhaupt, verlor sie als
historisches Zufallsprodukt allerdings für ihn an Interesse. Den-
ken wir an jene erste Form des Individualismus zurück, mit der
der Rationalismus die formale Freiheit und Selbständigkeit aller
Menschen und ihre natürliche Gleichheit logisch entwickelte: so
hatte von dorther Goethe das tiefe Gefühl behalten, daß die Ge-
staltung der Erscheinungen aus einer innerenNotwendig-
k e i t quille, während die „Geschichte" nur eine äußerliche Kau-
salität für diese Gestaltung anzuführen weiß. Aber diese Selb-
ständigkeit des Prinzips band der Rationalismus eben noch ängst-
lich an einen homogenen Inhalt, er konnte sich den innern Natur-
grund, der die einzelnen Erscheinungen hervortreibt, nur an der
wesentlichen Gleichheit ihrer aller herstellen. Für Goethe aber,
der den Rationalismus überwand, äußerte sich dieser gemeinsame
XI»
164 Innere Mannigfaltigkeit des Einzelnen
Grund nicht weniger an der Verschiedenheit der Erschei-
nungen. Die Macht dieses Grundes erstreckte sich nun lebendig
und zeugend auch in diese Verschiedenheiten, die der Rationalis-
mus nur dem historischen Zufall zuzuschreiben wußte.
Endlich erstreckt sich dies Motiv der aus der Einheit heraus-
wachsenden, das Leben der Einheit darstellenden individuellen
Mannigfaltigkeit in die Einzelpersönlichkeit hinein. Niemals ist
Goethe an der Einheit des Typus Mensch und an der Einheit des
einzelnen Menschen irre geworden. Offenbar aber hat sich schon
in seinen zwanziger Jahren bei ihm die Anschauung ausgebildet,
daß diese Einheit in sich differenziert sei, daß sie sich in einer
Polarität von Eigenschaften oder Seiten der Persönlichkeit dar-
stelle, daß der Mensch sozusagen zugleich groß und klein, gut und
böse, bewunderungswert und verächtlich sei. So sagt Prometheus
über seine sehr unzulänglichen Menschen:
Ihr seid nicht ausgeartet, meine Kinder,
Seid arbeitsam und faul,
Und grausam mild
Freigebig geizig
Gleichet den Tieren und den Göttern.
Und ersichtlich in demselben, nur auf den Menschen bezüglichen
Sinn heißt es im Ewigen Juden:
O Welt voll wunderbarer Wirrung,
Voll Geist der Ordnung, träger Irrung,
Du Kettenring von Wonn' und Wehe.
Das Prinzipielle dieser Anschauung muß durch sein eigenes
Lebensgefühl getragen sein. Denn wir wissen kaum von sonst
jemandem, der sich so einheitlich, so fraglos als ein beharrendes
Ich gefühlt hätte und doch, auch für sein eigenes Bewußtsein, in so
viele Widersprüche und entgegengesetzte Tendenzen, objektiv in
so viele ganz verschiedene Beanlagungen und Betätigungen aus-
einandergezogen wäre, deren jede er als existenzberechtigt und
in ihrer Besonderheit wesentlich empfand. In jener fundamentalen
Einheit des Typus Mensch — von der dahingestellt bleibe, ob sie
als ideeller Hilfsbegriff, als biologische Realität, als metaphysi-
scher Glaubensartikel zu fassen ist — , liegt das ,, Allgemein-
Wert und Wertunterschied 165
Menschliche"; also sozusagen in dem Leben selbst, das sich in
unzählige und mannigfaltigste Phänomene verzweigt, in jedem
von ihnen als das immer identische beharrend — nicht aber in
einzelnen Gleichheiten, die etwa in diesen Phänomenen selbst
durch Zerlegung und Abstraktion feststellbar wären.
Indem aber dies Allgemein-Menschliche nicht nur ein Sein,
sondern auch ein Seinsollendes ist, nicht nur das eigentlich
Lebendige in aller Individualität, sondern auch der Wert in ihr,
gehört es einer der tiefsten, am meisten grundlegenden Formen
in der Begriffswelt Goethescher Weltanschauung zu. Wie kann
eigentlich das schlechthin Allgemeine wertvoll sein ? Mag es auch
einen absoluten Wert haben, also einen solchen, der seinem Be-
griffe nach nicht von irgendeiner Bedingung und einem über ihn
hinaus liegenden Zwecke abhängig ist, so ist doch schwer begreif-
lich, wie das damit ausgestattete Stück des Daseins seine Wert-
bedeutung auch dann bewahren soll, wenn jedes andere Stück
eben dieselbe in eben demselben Maße besitzt. Dann fällt ja diese
Qualität mit dem Dasein überhaupt zusammen, und die Betonung
und Auszeichnung, die jenem durch das Prädikat des ,, Wert-
vollen" zukam, wird von der absoluten Nivellierung mit allen
andern verschlungen. Welche Bedeutung auch ein Wert an und
für sich hat — sein Träger muß sich durch seinen Besitz irgend-
wie von anderen abheben, damit er als ein wertvoller empfindbar
werde; für unsern Geist, dessen Funktionen an Unterschiede
seiner Inhalte geknüpft sind, scheint nur das irgendwie nach Maß
oder Art Individuelle, nicht aber das aller Unterschiedlichkeit
Enthobene das Subjekt eines Wertes sein zu können. Diese
psychologische Relativität, an die unsere Wertungen nicht minder
geknüpft sind als unsere Sinneswahrnehmungen und unsere Ge-
danken, hat dem Kantischen Denken — wenn auch nicht
in dieser Formulierung — seine Richtung vorgezeichnet. Daß der
vernünftige Wille sich von dem eudämonistisch bestimmten ab-
hebt, gibt ihm für Kant seinen spezifischen Wert; die erfahrung-
bildenden Energien des Geistes haben nicht nur einen höheren
sondern auch einen ganz andersartigen Wert als die spekulierende
Vernunft: der ästhetische Genuß ist seinem Wesen und seinem
166 Wert der Totalität
Wert nach dadurch bestimmt, daß er sich von dem sinnlichen
unterscheidet usw. Die ,, Grenzsetzung", die die Kantische
Geistesarbeit vollzieht, hat mit dieser Anknüpfung der Wert-
setzung an Unterschiede und Gegensätze eine weitere Provinz
erobert, es offenbart sich darin die Weltanschauung, die den Sinn
und Inhalt jedes Einen nicht ohne seine Differenz gegen ein
Anderes zu denken vermag. Hat damit die psychologische Erfah-
rung der ,, Unterschiedsempfindlichkeit" dem Kosmos der Werte
überhaupt seine Form gegeben, so ist die Attitüde des Goetheschen
Geistes zu diesem Wertproblem sozusagen eine viel mehr meta-
physische: er empfindet tatsächlich die Einheit und Ganzheit des
Seins als einen Wert, als das schlechthin Wertvolle, das zu diesem
Charakter keiner Vergleichung bedarf. Hier gibt es kein So und
Anderes, kein Mehr oder Minder. Gewiß meldet sich damit die
Schwierigkeit, die den Pantheismus bei jeder Entwicklung über
seinen Grundbegriff hinaus bedroht und die unsere Untersuchung
in mehr als einem Zusammenhange hervorzuheben hat. Wie
die absolute Einheit des Seins auch nur zu der erscheinenden
oder scheinbaren Mannigfaltigkeit der Dinge kommen, wie sie
wechselnde Zustände aus sich hervorbringen soll, ist schwer zu
begreifen. Denn unser Verstand ist so eingerichtet, daß er Er-
zeugung und Änderung immer nur aus der Einwirkung je eines
Elementes auf ein anderes verstehen kann; an dem schlechthin
Einen, das kein Anderes neben sich hat, finden wir keinen Grund,
weshalb es aus seiner einmal gegebenen Form und Zustand heraus-
gehen sollte, es bleibt in sich in ewiger Starrheit, da nichts da ist,
wodurch es zu einer Änderung motiviert werden könnte. Diese
Schwierigkeit, so zeigte ich, überwindet der Pantheismus Goethes,
indem ihm das Sein, in seiner Ganzheit, von vornherein ein
Lebensprozeß ist, ein ewiges Keimen und Gebären, Sterben und
Werden aus der Einheit heraus, oder vielmehr: als die Existenz-
form dieser Einheit des Seins selbst. Allein der Wert dieses Seins
findet nicht auf dem gleichen Weg seine Möglichkeit, er bedarf
dazu einer noch radikaleren Wendung, die unseren empirischen
Wertungsweisen ganz absagt. Denn diese sind daran gebunden,
daß jenseits des gewerteten Dinges ein anderes einen andern oder
Ästhetische Lösung 167
mehr oder weniger oder keinen Wert hat, und nur aus einem ganz
neuen, logisch gar nicht begründbaren Grundgefühl hervor kann
das ganze Sein, in seiner alles Neben-ihm und alle Vergleichung
ausschließenden Einheit, seiner Indifferenz enthoben werden,
kann es als Ganzes den Akzent des Wertes bekommen, der sonst
nur aus dem Verhältnis seiner Teile untereinander erwächst. Der
Wert des Gesamtseins ist sozusagen ein Dekret der Seele, für das
es weder Beweis noch Widerlegung gibt, der Ausdruck einer
Lebensstimmung, die selbst ein Sein ist und als solches weder
richtig noch falsch. Vielleicht kann man sagen, daß die künstle-
rische Naturanlage Goethes ihn zu diesem Wertgefühl disponierte.
Die intellektualistische kann vielleicht zu der Vorstellung einer
Welteinheit, eines sv Y,at Ttav führen, in dem alle Differenzen der
Einzelheiten untergegangen sind — aber sie wird nicht zu dem
Gefühl eines absoluten Wertes dieses Ganzen vordringen; die
moralische kann andererseits wohl zu einem absoluten Wert
kommen, etwa zu Kants ,, gutem Willen", aber sie kann der
Wertdifferenzen nicht entbehren, ja, jener absolute Wert ist für
sie weniger eine Realität, als ein Ideal, hat also seine wesentliche
Bedeutung als der Maßstab, an dem sich die relativen Werte der
Realität in ihrer Unterschiedenheit markieren. Nur die ästhetische
Geistesart, die der moralischen gegenüber eine größere Breite und
sozusagen größere Toleranz besitzt, der intellektuellen gegenüber
die Leidenschaft des Wertens, mag diese auch dem Seinsganzen
gegenüber bewähren; sie reagiert auf jeden Eindruck mit Gefühlen
von Wert und Bedeutung — während das Wertgebiet der ethischen
Natur sich immer nur mit einem Ausschnitt der Wirklichkeit
decken kann — und wo sie, wie es bei Goethe geschah, jene ge-
heimnisvolle Beziehung zur Welttotalität besitzt, jene Fähigkeit,
das Ganze als Ganzes auf sich wirken zu lassen, da wird sie eben
mit der Wert reaktion, die sozusagen ihre natürliche Sprache
ist, auch auf dieses antworten. Mehr als einmal kommt dieser
übergreifende Wertbegriff bei ihm zu Worte, die Absage an
dessen relativistische Bindung, die ihn innerhalb der empiri-
schen Welt eigentlich immer nur je einer ihrer Parteien
zukommen läßt:
168 Religiöser Wertbegriff
„Wie es auch sei, das Leben, es ist gut!"
„Ihr glücklichen Augen
Was je ihr gesehn
Es sei wie es wolle
Es war doch so schön."
Vielleicht ist das zutiefst Religiöse in Goethe und der Charakter
seiner Religiosität überhaupt damit ausgesprochen: daß ihm das
Absolute ein Wert ist, daß ihm Wert nicht an Unterschiede ge-
knüpft ist. Alle Religionen der Massen sind irgendwie durch die
psychologisch-empirische Tatsache der Unterschiedsempfindung
bedingt. Gott mag ihnen noch so sehr als das Absolute, das ens
realissimum, der alleinige Quell oder Sitz des Seienden und des
Guten gelten — sie brauchen doch für ihn ein Gegenüber; sie kom-
men nicht hinaus über den Dualismus zwischen dem erlösungs-
bedürftigen Menschen und dem Erlösung gewährenden Gotte,
zwischen der Häßlichkeit der Sünde und der Seligkeit des Heiligen,
zwischen den gottverlassenen und den gotterfüllten Stücken des
Daseins. Goethes religiöser ,,Natur"-Begriff, in dem das ewig
Allgesetzliche, das Absolute des Daseins schon an sich selbst
das zu Verehrende ist, das schlechthin Gütige, Vollkommene,
Schöne — ist offenbar seinem formalen Prinzip nach von allen
kirchenbildenden Religionen ausgeschlossen. Sie können
nicht das ganze Dasein, ,,es sei wie es wolle", anerkennen. Der
Dualismus all solcher Religionen (selbst der buddhistischen, in
der doch mindestens Leiden und Erlösung in absoluter Antinomie
stehen) ist unversöhnlich von der Goetheschen Religiosität ge-
schieden, in der die künstlerische Lebensstimmung am deutlichsten
entfaltet, was sie an religiöser Bedeutung besitzt. Man kann die
Goethesche Weltanschauung als den gigantischsten Versuch be-
zeichnen, die Einheit des Gesamtseins unmittelbar und in sich
selbst als wertvoll zu begreifen: wenn er Gott so weit reichen läßt
wie die Natur und die Natur so weit wie Gott, beides sich gegen-
seitig durchdringend und ineinander hegend — so ist ihm Gott
der Name für das Wertmoment des Seins, das mit seinem Wirk-
lichkeitsmomente, der Natur, in eines zusammenlebt. In der
produktiven Lebensanschauung des Künstlers sind Pantheismus
Versöhnung des Allgemeinen und des Individuellen 169
und Individualismus nicht mehr sich ausschließende Gegensätze,
sondern die beiden Aspekte eines und desselben Wertverhältnisses.
Er ist der Mensch der zartesten Unterschiedsempfindlichkeit, des
sichersten Wissens um die Einzigkeit und die unvergleichliche
Bedeutung jedes Daseinsstückes; das ethische Prinzip: jeden
Menschen als Selbstzweck anzusehen, erstreckt er — innerhalb
der ästhetischen Wertungssphäre — auf jedes Ding überhaupt.
Aber eben damit wird sein Weltbild pantheistisch, der individuelle
Wert jeder Einzelheit, die Möglichkeit, einer jeden eine ästhetische
Bedeutung, ebenso in ihr wurzelnd wie über sie hinausreichend, zu
entlocken — deutet sich als die jeweilige Ausgestaltung einer
Schönheit, die aus einheitlicher Quelle oder als einheitliche Quelle
das ganze Dasein durchflutet.
Damit ist nun endlich das formale Prinzip gegeben, das für
Goethe den Widerspruch zwischen seinem qualitativen Indivi-
dualismus, der leidenschaftlichen Schätzung dessen, worin jeder
einzig und anders als der andere ist — und der ebenso leidenschaft-
lichen Schätzung aufhebt, die er für das ,, Allgemein-Menschliche"
empfindet. Dieses letztere gehört der Kategorie der wurzelhaften
Einheiten zu, die keines Unterschiedes gegen Anderes bedürfen,
um Werte zu sein ; sein Verhältnis zu den menschlichen Indivi-
duen wiederholt in kleinerem Maßstabe dasjenige, das zwischen
der Gott- Natur überhaupt und allen Daseinseinzelheiten über-
haupt besteht. Damit aber wird der Wert des Individuellen nicht
applaniert, sondern er besteht als solcher weiter, weil die Spezi-
fikation ins Unendliche die Art ist, wie das unge-
brochene Eine, der Typus, lebt; so daß die Schätzung des Indivi-
duellen und die des Allgemeinen die Schätzung eines Lebens-
prozesses ist. Nur die mechanistische Auffassung trennt beides,
weil für sie das Allgemeine ein Abstraktum ist, gewonnen durch
die Aussonderung der gleichen Merkmale — als ob diese wie ato-
mistisch und abspaltbar neben den andern liegen. Dies erst
erschließt den wirklichen Sinn von Goethes immer wiederholter
Forderung, im Individuellen das Allgemeine zu sehen. ,,Wer nicht
gewahr werden kann, daß e i n Fall oft Tausende wert ist und
sie alle in sich schließt, der wird weder sich noch andern jemals
170 Lebensteilung und Lebenseinheit
etwas zur Freude und zum Nutzen fördern können." Es handelt
sich hier nicht darum, daß viele Erscheinungen, die ein äußeres
Merkmal teilen, durch eine von ihnen vertreten werden, sondern
um die Gleichheit des Lebens, das in ihnen allen fließt; um die
schöpferische Einheit, die ein jedes zum Symbol des Ganzen und
also auch jedes andern macht, nicht um die einzelnen Züge, die
erst unsere nachträgliche Betrachtung voneinander trennt und
in gleiche und ungleiche ordnet. Und dies war eben möglich, weil
er das Dasein unter der Kategorie des Lebens erfaßte und durch
diesen Aspekt als objektiven das Recht gewann, das Verhältnis
zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinen ohne Anthropo-
morphismus nach der Formel seiner eigenen Existenz zu deuten,
wie jene Stelle sie ausspricht: ,,Und so teil ich mich, ihr Lieben —
Und bin immerfort der Eine."
Sechstes Kapitel.
Rechenschaft und Überwindung.
Er war ein Deutscher," sagt Goethe von Serlo, „und diese
Nation gibt sich gern Rechenschaft von dem, was sie tut."
Er spricht damit die Erfahrung über eine entscheidende Tendenz
seines eigenen Lebens aus. Vielleicht keinem zweiten unter den
im großen Stile schöpferischen Menschen war es so natürliches
Bedürfnis, mit sich selbst abzurechnen, sich des Lebens in einer
Periodik bewußt zu sein, deren klare Überschau keinen seiner
Inhalte ausließ. Mit sehr mannigfaltigen Äußerungen tritt dies in
die Erscheinung. In der Jugend begeht er von Zeit zu Zeit ein
,,Hauptautodafe", vernichtet mit leidenschaftlicher Selbstkritik
eine Unzahl von Produkten des letzten Zeitabschnitts; dann wieder
geschieht es in der Form geistigen Einrangierens, er sucht die
Kategorien auf, unter die seine Lebensinhalte gehören: „Ich
muß nur", schreibt er an Schiller, „Altes und Neues, was mir in
Sinn und Herzen liegt, wieder einmal schematisieren." In einem
Überblick, der alle personalen Hauptmotive seines Lebens zu-
sammenfaßt, bezeichnet er sein Bestreben als: ,,Nie geschlossen,
oft gerundet"; was sich in dem so besonders Charsikteristischen
symbolisiert, daß er seine Tage bücher noch einmal zu ,,A n -
n a 1 e n" zusammenfaßt. In ebendieser Tendenz liebt er es von
Jugend auf, Kunstwerke zu beschreiben und zu analysieren: er
muß sich über alles, was ihn beeindruckt und von irgendwelcher
Bedeutung für seine Entwicklung ist, Rechenschaft ablegen. Ein
merkwürdiges Beispiel ist es, wenn er über 200 Gedichte aus ,,Des
Knaben Wunderhorn" einzeln charakterisiert, jedes nach seiner
ideellen Bedeutung und seiner Zugehörigkeit zu allgemeinen
ästhetischen Begriffen — immer aber im Stile jemandes, der sich
über die Nuancen seines persönlichen Eindrucks Rechenschaft
172 Objektivierung des Subjekts
ablegen will. In den späteren Jahren endlich sind es die immer
neu begonnenen Gesamtausgaben seiner Werke, die gleichsam
als Haltepunkte dienen, um die bisherige Entwicklung zu über-
schauen und mit Auswählen, Anordnen, Weglassen die Wert-
rechnung über diese zu schließen. — Welches ist nun der Zusam-
menhang mit weiteren und tieferen Wesenszügen, in die sich diese
Neigung verständlich einfügt?
Täusche ich mich nicht, so kommt auch in ihr die eine große
Idee zu Worte, die sozusagen die schöpferische Existenz Goethes
formt, und die ich als die ,, Objektivierung des Subjekts" bezeichne.
Gewiß ist jede künstlerische Produktivität schließlich unter diese
Formel zu bringen; allein wir wissen von niemandem, der ein so
reiches subjektives Leben dauernd als eine so objektive Gegeben-
heit und unter so objektiven Kategorien gelebt und ausgeformt
hätte. Sonst fällt in der Regel der Akzent entweder auf die
subjektive Seite, auch das abgelöste Erzeugnis ist ein unmittel-
bares Sichausströmen des Ichs, es tritt sozusagen für den Schöpfer
nicht aus dem Stadium des Innenerlebnisses heraus; oder umge-
kehrt, es schwingt sich über das Subjekt wie über ein bloßes
Sprungbrett hinaus, und als wäre es dem Innenerlebnis fremd,
zieht es Sinn und Inhalt aus einer selbstgenugsamen Objektivität.
In der bildenden Kunst, in der Poesie, in der Musik, ja man kann
sagen: in allen Lebensäußerungen überhaupt scheiden sich die
spezifisch lyrischen Naturen von den spezifisch dramatischen.
Goethes Leben, als Ganzes angesehen, hat diesen Gegensatz mehr
als irgend ein anderes überwunden, und zwar nicht durch ein von
vornherein festes Verhältnis der Elemente, sondern in einer
lebendigen Entwicklung, die von der dämonischen Subjektivität
seiner Jugend zu der nicht weniger dämonischen Objektivität
seines Alters führte. Es ist aber sehr merkwürdig, wie schon in
der Jugend, in der doch die Fülle und Bewegtheit seines Inneren
mit einer ganz einzigen Unmittelbarkeit und Unabgelenktheit in
Äußerungen und Lebensgestaltung ausfloß — wie schon in ihr die
Objektivierung des Subjekts sich anzeigt. In all dem leidenschaft-
lichen Gestammel der Leipziger Briefe an Behrisch zeichnet sich
doch die Form des Werther vor, in dem die unbedingte Subjek-
Seelische Intimitäten 173
tivität sich durch Formung zu einem objektiven Gebilde von sich
selbst erlöst. Mitten in der heftigsten Liebesraserei schreibt er an
Behrisch: „Dieses heftige Begehren und dieses ebenso heftige
Verabscheuen, dieses Rasen und diese Wollust werden Dir den
Jüngling kenntlich machen." Und: ,,Es ist wahr, ich bin ein
großer Narr, aber auch ein guter Junge." Wenig später, mit
zwanzig Jahren: ,,Das habe ich mit allen tragischen Helden ge-
mein, daß meine Leidenschaft sich gern in Tiraden ergeht." In
all dieser jugendlichen wichtigtuerischen Selbstbespiegelung kün-
digt sich doch schon die große Maxime an, alle Subjektivität des
Daseins als eine objektive, in die Kategorien übersubjektiver Welt
eingeordnete Wirklichkeit anzuschauen und zu erleben. Auch in
seiner leidenschaftlichsten Zeit hat er nie den typischen Fehler
der Jugend gehabt: sein Wesen und seinen Weg für den einzig
richtigen zu halten. Daß er jeden für sich und in seine reigenen
Richtung gelten ließ, das ist der Zug, der ihm im Tiefsten immer
Eitelkeit und Neid fernhielt. Mit 21 Jahren tadelte er aufs stärkste
,,die Vorliebe für unsere eigenen Empfindungen und Neigungen,
die Eitelkeit, eines jeden Nase dahin drehen zu wollen, wohin
unsere gewachsen ist". Die Objektivität, die das andere Selbst in
dem gleichen Rechtsstand wie das eigene erblickte, ist ebenso die
Veranlassung einer fortwährenden Rechenschaftslegung über uns
selbst, wie sie deren Folge ist.
Er hat damit nicht nur aus einer geistigen Form, die die Mensch-
heit freilich oft genug fragmentarisch verwirklicht hatte, eine Art
gemacht und anschaulich gemacht, auf die ein ganzes, einheit-
liches Leben großen Stiles möglich ist; sondern zugleich der theo-
retischen und der künstlerischen Kultur neue Provinzen erschlos-
sen. Durch Goethe hat man — mindestens in Deutschland —
erst gelernt, die letzten seelischen Intimitäten in abstrakte wie in
dichterische Allgemeinheit und Objektivität zu erheben. Es be-
stand, und besteht allerdings zum Teil noch die Vorstellung, daß
seelische Vorgänge, die einen gewissen Grad von Zartheit,
Komplikation, Differenziertheit zeigen, eben dadurch für immer
,in den Bezirk der Subjektivität gebannt blieben; sie könnten eben
nur erlebt, allenfalls rein persönlich geäußert werden, seien aber
174 Überpsychologischer Sinn
gewissermaßen zu gebrechlicher Natur, um die Formung zum
objektivierten Geist zu ertragen. Goethe nun hat die Möglichkeits-
schwelle dieser Formung weit in jenes Gebiet hineingerückt. Ein
Gedicht wie: „Warum gabst du uns die tiefen Blicke" — ist ein
absolutes Novum in der Geschichte des menschlichen Ausdrucks;
daß derartig letzte Intimitäten des Gefühls dichterisch und darum
ohne jede Verletzung der Scham herausgestellt werden, zeigt mit
eins ungeahnte Möglichkeiten der Objektivierung dessen, was man
bisher nur für subjektiv möglich hielt. Nicht anders ist es mit einer
Reihe von Sentenzen über das innerste Leben, die vom Werther
an seine Schriften durchziehen. Hier scheinen freilich die fran-
zösischen Moralisten, besonders Larochefoucauld, ihm voran-
gegangen zu sein. Genau angesehen aber halten diese sich
in der Sphäre des Geistreichen, es ist, trotz aller treffenden Wahr-
heit, nicht soviel Realität darin, weil man fühlt, daß nicht eine
Tiefe und Breite, aus der es geholt ist, sondern die Pointe, zu der
es sich erhoben hat, den eigentlichen Interessenpunkt des Denkers
bildet. In äußerstem Gegensatz hierzu kommt es Goethe allein
auf den Erlebnisinhalt an, und daß dieser zu der Form der Sentenz
kristallisiert, geschieht sozusagen von selbst, durch ein organisches
Wachstum des Vorgangs innerhalb der Seele. Die Hauptsache
aber ist, daß bei jenen Franzosen alles nur psychologisch gemeint
ist, allenfalls einer, nicht besonders tiefen, ethischen Wertung
unterliegt. Bei Goethe aber spürt man stets den großen Zusammen-
hang, den das Seelische nicht nur psychologisch, d. h. als die Ver-
knüpftheit der Inhalte des Bewußtseins besitzt, sondern als Da-
seiendes und Geschehendes mit allem Dasein und Geschehen, als
Weltelement mit der Welt. Auch wo er über die verwickeltsten
und zartesten seelischen Dinge Allgemeinheiten ausspricht, sind
das nicht nur psychologische Generalisationen, sondern sie gehen
auf das Leben überhaupt und auf die tiefere, kosmische oder
metaphysische Bedeutung, die das Seelische umfaßt oder sich in
ihm offenbart. Hier imd da mag eine analoge Einzelheit vorher
auffindbar sein; aber niemand vor ihm hat den intimsten Fein-
heiten und Tiefen diese Form allgemeingültigen Ausdrucks ge-
wonnen, erst seit ihm ist es ein Zug unserer geistigen Attitüde ge-
Leben und Kunstwerk 175
worden, daß wir die seelisch wertvollen Erlebnisse sich einem
ganzen Kosmos überindividueller Wahrheit und Weisheit
zuentwickeln lassen. Hier betrifft die Objektivierung des Sub-
jektiven nicht nur die geistige Formung, sondern das Subjektiv-
Seelische wird dadurch ein Objektives, daß es als Existenz, als Be-
stimmung unseres Daseins, einen Weltsinn hat, sich als ein Stück,
ein Schicksal oder ein Träger des Lebens überhaupt dem realen
oder ideellen, aber immer objektiven Allsein einfügt. Es bedarf
keiner Ausführung, welche sublime ,, Rechenschaft" nun auch für
unser Intimstes und Persönlichstes in diesem Verallgemeinern und
Objektivieren liegt. Denn es hat damit ein Gesetz über sich ge-
stellt, vor dem es sich um so strenger zu verantworten hat, je
mehr dies Gesetz aus ihm selbst hervorgegangen ist, nur für es
selbst und seine Beziehung zu der Totalität von Sein und Idee
gilt. Man hat das Goethesche Leben oft genug als ,,ein Kunst-
werk" bezeichnet. Daß man diesem Leben damit den höchsten
Wert zuzusprechen meinte, gehört zu dem Größenwahn modernen
Artistentums. Das Leben wächst aus eigner Wurzel und seine
Normen sind autonom, nicht aus denen anderer Gebilde herleitbar,
die vielleicht erst aus ihm entsprungen sind: das Leben kann und
soll so wenig ein Kunstwerk sein, wie es ein logisches Schlußver-
fahren oder eine mathematische Rechnung sein kann und soll.
Er spricht es selbst, etwa 1825, aus, er achte das Leben höher als
die Kunst, die es nur verschönere. Mag dieses ,, Verschönern" ein
etwas flüchtig gesprächsmäßiger Ausdruck sein, so ist jedenfalls
die Einstellung des Lebens in das Ideal des Kunstwerks als in ein
übergreifendes entschieden abgelehnt. Nun mögen gewisse norma-
tive Formen dem Leben und der Kunst gemeinsam sein und nur
so kommt jenem Ausdruck ein partielles Recht: es ist dem Goethe-
schen Leben analog, wenn im Kunstwerk ein innerlicher, im
persönlichsten Leben gezeugter Vorgang eine Form anschaulichen
Daseins gewinnt, als wäre diese Erscheinung seiner nach objek-
tiven Normen, dem Gesetz und der Idee der Sache allein gehorsam,
erwachsen. In diesem Objektivieren des Subjekts vollzieht sich
die Arbeit Goethes an seiner eigenen ,, Bildung". Es ist häufig aus-
gesprochen worden, daß Goethes ganze Entwicklung ein fort-
176 Bildung und Gebilde
währender Prozeß des „Sichbildens" war. „Ich habe Natur und
Kunst", so gesteht er im höchsten Alter, ,, eigentlich immer nur
egoistisch studiert, um mich zu unterrichten. Ich schrieb auch
nur darüber, um mich weiterzubilden. Was die Leute daraus
machen, ist mir einerlei." Schon 48 Jahre vorher ist er sich darüber
ganz klar: ,, Meine Sachen gehen ordentlich und gut," schreibt er
an Frau von Stein, ,,es ist freilich nichts Wichtiges, noch Schweres,
indessen da ich, wie Du weißt, alles als Übung behandle, so hat
auch dies Reiz genug für mich." Alle Inhalte des Daseins leitete
er in sich hinein, um sein Ich an ihnen aufwärts zu bilden. Allein
an diesem ,, Egoismus" haftete nichts sittlich Fragwürdiges, denn
die Vollendung seiner Person war ihm eine objektive sittliche Auf-
gabe, so gut wie eine auf andere Personen gerichtete es sein konnte.
Die eigene Bildung bedeutete für ihn keineswegs nur die wachsende
Aufnahme an Stoffen des Wissens und Könnens, sondern be-
deutete, daß er mit deren Hilfe immer mehr zum ,, Gebilde" wurde,
das heißt, zu einer Existenz, die, wie anderen, so auch sich selbst
als ein objektives Weltelement gegenüberstand. Er wußte sehr
wohl, daß der Mensch als subjektives, auf sich selbst gerichtetes
Wesen, nicht gleichsam aus sich selbst zu dieser objektiven Be-
deutsamkeit, sich selbst als Weltelement zu wissen, gelangen kann;
daß er sich dazu vielmehr erst zum Gefäß der Welt, das aufnimmt
und abgibt, machen muß. Darum mußte er rastlos lernen und
rastlos schaffen, mußte gleichsam das Dasein durch sich hindurch-
leiten, um an seiner Objektivität teilzuhaben. Je mehr sein Sub-
jekt sich mit Weltstoff erfüllte, je reicher und treuer sich das
Dasein in ihm spiegelte, um so mehr wurde es selbst zum Objekt,
desto verwandter, desto zugeordneter wurde es diesem objektiven
Dasein selbst. Der Doppelsinn von ,, Bildung" kam hier zu seinem
Rechte: dadurch, daß er lernend, forschend, produzierend sich
selbst bildete, ,, bildete" er sich, das heißt, formte er sein Subjekt
zu einer objektiven Gestaltung, die er nicht nur war, sondern die
er als geformten Inhalt sich gegenüber sah. Dieses sublime Be-
wußtsein gestattete ihm in demselben Sinne, in dem er vorhin von
seinem ,, egoistischen" Lernen gesprochen hatte, seine Werke als
eine bloß persönliche Konfession zu bezeichnen. ,, Meine Arbeiten
Werke als Lebensspuren 177
sind immer nur die aufbewahrten Freuden und Leiden meines
Lebens", schreibt er in seinem 26. Jahre — und 40 Jahre später:
„Meine ernstliche Betrachtung ist jetzt die neueste Ausgabe
meiner Lebensspuren, welche man, damit das Kind einen Namen
habe, Werke zu nennen pflegt." Nur wer sein Subjekt als etwas
so Objektives weiß, wird seine objektive Leistung als etwas so
Subjektives ansprechen. Und darum ist es nicht der geringste
Widerspruch gegen die letzte Äußerung, wenn er, gleichfalls im
hohen Alter, das scheinbar Entgegengesetzte ausspricht: ,,Was
bin ich selbst? Was habe ich getan? Ich habe alles, was ich ge-
sehen, gehört, beobachtet habe, gesammelt und benutzt. Meine
Werke sind von tausend verschiedenen Individuen genährt; Un-
wissende und Weise, Geistreiche und Dummköpfe, die Kindheit,
das reife Alter, das Greisentum haben mir ihre Gedanken, ihre
Fähigkeiten, ihre Hoffnung, ihre Seinsart dargeboten; ich habe
oft die Ernte gesammelt, die andere gesät haben. Mein Werk ist
das eines Kollektivwesens und trägt den Namen Goethe."
In höherem Alter erreicht die Einheit von Subjekt und Objekt,
die zu leben und zu verkünden den metaphysischen Sinn seiner
Existenz ausmacht, ihre höchste und reinste Reife. Nachdem der
Akzent in all seinem Denken und Verhalten ganz auf die Objekt-
seite der Gleichung gerückt war, kann nun von da aus wieder das
Subjekt die umfassendste Bedeutung erhalten, können nun, wie
man weiß, selbst seine Berichte über die sachlichsten naturwissen-
schaftlichen Studien autobiographische Form erhalten. In der
Jugend wäre das eine Subjektivierung gewesen; jetzt ist davon
keine Rede, sein Subjekt ist nur der Sammelpunkt von Sachlich-
keiten, er, inbegriffen alle Inhalte, alle Schicksale, alle Erfahrun-
gen, ist sich ein Gegenstand objektiven Beobachtens und Erlebens
— und ebendamit auch objektiven Wertens. So spricht er z. B.
über die ,,der Natur des Menschen gemäße" Neigung, Erscheinun-
gen für verwandter zu halten, als ihre tatsächliche Ähnlichkeit
es rechtfertigt: ,,Ich habe an mir selbst bemerkt, daß ich diesen
Fehler oft begehe." Ein anderes Mal von der Richtung des Natur-
betrachtens, die von dem Eindruck des Ganzen zu der Beobachtung
der Teile fortschreitet: ,,Ich bin mir dabei recht wohl bewußt,
Simtnel, Goethe. ^2
178 Objektives Erleben seiner selbst
daß diese Art der Naturforschung, so gut wie die entgegengesetzte,
gewissen Eigenheiten, ja wohl gewissen Vorurteilen unterworfen
sei." So gibt er in höheren Jahren die Subjektivität seines Er-
kennens oft spontan zu — auch sie war ihm ein objektives Phä-
nomen geworden. Jener autobiographische Ton des Goetheschen
Alters ist eine besondere Form der Konfession, zu der das Alter
der Künstler überhaupt zu neigen scheint; ich brauche keine
Beispiele dafür zu nennen, wie oft die späten Werke der großen
Künstler Beichten sind, ein Herausstellen des subjektivsten Seelen-
kernes, um den keine Hülle und Scham mehr ist, weil das Subjekt
sich seiner Subjektivität enthoben und schon einer höheren ge-
ahnten oder innerlich geschauten Ordnung zugehörig fühlt.
,, Alter", sagt Goethe einmal, ,,ist stufenweises Zurücktreten aus
der Erscheinung" — und das kann ebenso bedeuten, daß das
Wesen die Hülle fallen läßt, v/ie daß es sich aus allem Offenbar-
sein in ein letztes Geheimnis zurückzieht; und vielleicht kann das
erste gelten, da doch das zv/eite gilt. In so tiefer und sich mit den
Jahren immer vertiefender Einheit empfindet Goethe seine persön-
liche Existenz mit der Natur und Idee der Dinge, daß jede Mit-
teilung natur- oder kunstwissenschaftlicher Art den Stil und Ton
eines erzählten persönlichen Erlebnisses annimmt, als sei jeder
Sachverhalt, der sich ihm neu aufschließt, eine neue Stufe seiner
innerlichsten Entwicklung. ,,Der Mensch", sagt er in dieser späten
Zeit, ,,wird die Welt nur in sich und sich nur in der Welt gewahr.
Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ
in uns auf." Und nur von der anderen Seite her offenbart sich
diese höchste Einheit darin, daß die Art, wie Goethe seinem eigenen
Leben im Alter gegenüberstand, die großartigste Objektivierung
des Subjekts ist, von der wir wissen. Denn nicht nur die Ver-
gangenheit, die er als abgeschlossen ansehen konnte, war ihm
ein reines Bild geworden. Sondern der eben erlebte Tag war ein
solches, ja, der Moment des Erlebens selbst war ihm ein objek-
tives Geschehen — nicht nur im Sinne der gleichzeitigen Selbst-
beobachtung, der Spaltung des Bewußtseins, die sicher oft gar
nicht bestand, wenigstens nicht mehr als bei vielen anderen Men-
schen auch; vielmehr, der innere Ton des Erlebens, die Art, wie es
Resignation 179
subjektiv unmittelbar vorging, hatte den Charakter der Objektivi-
tät. Was er dachte und fühlte, war ihm Ereignis, wie Sonnenauf-
gang oder das Reifen der Früchte, er stellte das Ich nicht nur als
ein wissendes den Erlebnissen als dem Gewußten gegenüber, son-
dern von vornherein war das Erleben dem kosmischen Geschehen
eingeordnet; was vielleicht die Gestalt Makariens in absoluter
Vollendung symbolisiert. Nicht nur einzelne Lebensinhalte waren
ihm objektiv geworden, sondern sozusagen der Lebensprozeß selbst
— er bedurfte für diese Objektivität nicht mehr der Form des
Gegenüber. Diese Gegensatzschärfe war der Kategorie genommen,
unter der er sich erlebte, als eben derselben, unter der die Ereig-
nisse des Kosmos selbstgenugsam abrollen.
Diese Einheit aber enthält ein Element oder eine Voraus-
setzung, die auf den ersten Blick gerade der Tiefe ihrer Wurzelung
widerstreitet. Durch das Goethesche Leben geht von sehr früh
an ein Zug von Resignation, dem er oft Ausdruck und Nachdruck
gibt. Die Eingeordnetheit in Wirklichkeit und Idee des Seins-
ganzen, das unmittelbare Sich-hingeben und -ausgeben des Lebens,
sicher, daß damit der Norm der sachlichen Ordnungen genügt
werde — diese Grundformel der Goetheschen Existenz scheint
durch das Gefühl fortwährend nötigen Verzichtes, Zurückhaltens
und Beherrschens seiner selbst durchbrochen zu sein. Eine Äuße-
rung aus seinem 33. Jahre weist vielleicht, wenn auch nicht in
gerader Linie, auf die Lösung des Widerspruchs hin: ,,So viel kann
ich Sie versichern, daß ich mitten im Glück in einem anhaltenden
Entsagen lebe und täglich bei aller Mühe und Arbeit sehe, daß
nicht mein Wille, sondern der Wille einer höheren Macht geschieht,
deren Gedanken nicht meine Gedanken sind." Hier liegen die
Elemente freilich noch in ungelöster Problematik zusammen:
lein subjektives Wollen und Fühlen, das sich zur Einfügung in eine
jenseits seiner gelegene, objektiv höhere Ordnung aufgerufen
fühlt und dies nur in der Form des Verzichts erreicht. Der Sinn
aber dieses Verzichtens in dem allgemeinsten, sein Leben durch-
ziehenden Sinne scheint mir kein anderer zu sein, als daß ihm
nur auf diesem Wege jene Objektivierung seines Subjekts gelang.
Er mußte sich dauernd überwinden, damit die Intensität, die un-
12*
180 Entsagung als Lebensformung
mittelbare, selig-unselige Strömung seines Lebens gegenständlich
werden konnte. Die Selbstüberwindung und die Vergegenständ-
lichung waren nicht ein Nacheinander zweier Akte, sondern einer
und derselbe, von zwei Seiten gesehen. All dem Glühen und Drän-
gen seiner Seele war die Selbstüberwindung sehr früh zugewachsen,
damit es Form werden konnte. Für seine Seele war es die Voll-
endung, daß sie über die bloße subjektive Lebendigkeit hinaus
sich selbst zum Objekt, ja sozusagen an und für sich zum
Objekt wurde; und dies errang sie in der Form eines dauern-
den Sichselbstüberwindens, einer immer bewußteren Herrschaft
über sich selbst. Dies ist keine Zerreißung seines Lebens, sondern
dessen ganz einheitlicher Charakter. Wenn er jene vorhin be-
rührte , »Bildung", das ,,zum Gebilde Werden", dadurch gewann,
daß er immer mehr objektiven Weltstoff seiner persönlichen Ent-
wicklung an- und einbildete, so weiß er später sehr wohl, wieviel
strenge Begrenzung dies fordert: die Bildung ist der geistige
Reflex des Geheimnisses des Organismus, sich mit seinem
Wachstum zugleich seine Form, d. h. seine Grenze zu geben.
,,Jede Bildung", sagt er als Siebziger, ,,ist ein Gefängnis, an
dessen Eisengitter Vorübergehende Ärgernis nehmen, an dessen
Mauern sie sich stoßen können; der sich Bildende, darin Einge-
sperrte, stößt sich selbst, aber das Resultat ist eine wirklich ge-
wonnene Freiheit." Auch sein Verhältnis zur Natur, mit seinem
treuen Eifer und enthusiastischen Eindringen und dem gleich-
zeitigen Haltmachen vor den letzten Geheimnissen, der Über-
zeugung, daß ein Unerforschliches da sei, das sich uns versage,
— ist die Lebenseinheit von Hingebung und Resignation. Das
Von-sich- Wegtreten, mit dem er sein eigenes Objektsein gewann,
war zugleich ein Von-sich- Absehen, ein Verzicht auf das, was das
Subjekt, solange es in sich selbst verbleibt, zu sein und zu ge-
nießen begehrte. Vielleicht aber sind diese Lebenswerte innerlich
in umgekehrter Richtung verbunden. Vielleicht — dies läßt sich
nur wie aus der Ferne andeuten — ist ihm Selbstüberwindung und
Entsagung das Urphänomen seiner sittlichen Menschlichkeit und
alles, was ich die Objektivierung seines Subjekts nannte, nur eine
Folge, eine Erscheinung, ein anschaulich Positives zu diesem Letz-
Begrenzung 181
ten — ein Positives, in dem sich die besondere Wertart dieser
Resignation äußern mußte, da sie doch nicht Askese war. Wir
pflegen in der Resignation vor allem das Moment des Leidens zu
betonen und zu empfinden. Aber dieser Gefühlsreflex ist für
Goethe ganz unwesentlich. Der ,, Entsagende" ist der Mensch, der
seinem subjektiven Dasein die Form gibt, mit der es sich der
objektiven Ordnung der Gesellschaft oder des Kosmos überhaupt
einfügen kann; oder, in der anderen Richtung gesehen, sobald der
Mensch sich über das bloße Ausströmen seiner Existenz hinaus
eine Form geben will, in der er sich selbst als Objekt, als ein Welt-
element anschaut, — so muß er entsagen. Jede Form ist Begren-
zung, ist Verzicht auf das, was jenseits der Grenze ist; und nur
durch Formung entsteht jedes feste, weltmäßige Sein, das dem
Subjekt gegenübersteht, und zu dem es sich selbst zu gestalten hat.
Das Sich-selbst-Beherrschen und Entsagen, das ohne Beziehung auf
dies oder jenes Bestimmte und ohne jede Leidseligkeit, sondern als
eine allgemeine Bestimmung der Existenz Goethes Lebensent-
wicklung durchzieht, enthüllt sich so als die ethische Basis oder
die ethische Seite jener allgemeinsten Formel seiner Entwicklung.
Vielleicht ist dies noch von einer breiteren Allgemeinheit des
Lebenssinnes, als gerade von dem ethischen Gesichtspunkte her,
auszudrücken. Die ,, Harmonie der Existenz", unter deren
Ägide sich das Goethesche Lebensideal bildete, ist etwas keines-
wegs eindeutiges. Sie setzt, für die häufigste Auffassung, eine
Idee voraus, praktischer, religiöser, theoretischer, gefühlshafter
Art, zu der nun die einzelnen Energien und Inhalte der Per-
sönlichkeit sich passend, fördernd verhalten, so daß das Leben
als Ganzes auf einen ideellen oder realen Ton abgestimmt ist.
Das verlangt Selbstbeherrschung und Verzicht, da die nach
allen Seiten hin gestreckten Kräfte und Bedürfnisse des Indi-
viduums nicht von selbst die von einer differenziellen Idee her ge-
forderte Form haben. Doch sind solche Versagungen und Verkür-
zungen unsres übrigen Wesens sozusagen keine ganz organischen,
weil sie nicht aus den eigen-innerlichsten Wachstumsbedingungen
hervorgingen, weil die Gestaltung nicht ganz und gar von der
gegebenen Individualität her harmonisch ist, sondern von einer
182 Ich -Werdung
Idee her, die dieser irgendwie äußerlich ist — so wenig dieser Sinn
des ,, Äußerlichen" ein tiefstes inneres Verbundensein und Ver-
wachsensein ausschließt. Die Harmonie der Persönlichkeit nach
Goethescher Norm aber hat ersichtlich einen andern Grundton.
Für seinen metaphysischen Optimismus wird sie von den An-
lagen des Individuums her bestimmt, d. h. Harmonie ist der
Name für deren völlige Entwickeltheit, das Unharmonische ist
ihm das — von der Gegebenheit des Menschen aus gesehen —
Verkümmerte, Einseitige, nicht völlig Entwickelte, eine ünvoll-
kommenheit der ,,Entelechie". Auch dies aber bedeutet Be-
schränkung in mehr als einem Sinne. Zunächst nicht, wie dort,
irgendeine Beschränkung des Selbst, sondern eine Beschränkung
auf das Selbst. Denn dieses wird von allerhand Ansprüchen,
Illusionen, Nicht-dazu-Gehörigkeiten umgeben, die mit dem, was
wir von innen her sind, gleichsam an dessen Peripherie ver-
schmolzen sind; das eigentliche Ich, das sich ursprünglich durch
alles dieses mitzuerstrecken schien, muß es oft erst lernen, sich
auf seinen eigenen Umfang zu beschränken, auf die Allum-
fassung zu verzichten und erst durch diesen Verzicht zu seinem
Selbst zu gelangen. Mehr als einmal spricht Goethe aus, daß
,,die meisten" Künstler ,,gar zu gern über den Kreis hinausgehen,
den die Natur ihrem Talente gesetzt hat" und daß sich selten
einer auf das ,,b e s c h r ä n k e", was er vermag. Und ganz
entscheidend: ,,Wer allgemein sein will, wird nichts; die Ein-
schränkung ist dem Künstler so notwendig als jedem, der aus
sich (!) was Bedeutendes bilden will." Wer wie Goethe die
Norm des Lebens aus dem Leben selbst entnimmt, kann auch
die beschränkende Linie, die diese Norm und die innere Har-
monie verlangen, nur von dem Leben selbst ziehen lassen: es
ist garnicht das Selbstverständliche und Erste, daß wir wir selbst
sind, tun, was nur aus uns kommt, sondern auch dies und gerade
dies ist nur durch Beschränkung und Entsagung möglich. Nun
will aber ferner jene Forderung, für die mit der vollkommenen
Entwicklung aller gegebenen Kräfte sich die Harmonie des per-
sönlichen Daseins ergibt, keineswegs ein wildes Auswachsen-
lassen jedes Triebes beseigen. Es hat vielmehr ein jeder diejenige
Organischer Charakter der Selbstbeschränkung 183
Beschränkung in sich, die das Zusammenstimmen der vielen
zur Einheit einer organischen Selbstentwicklung ihm auferlegt.
Hier liegt noch einmal ein tiefster Zusammenhang des Beschrän-
kungsmotives mit der entscheidenden Goetheschen Lebensform.
Wer sich zu einer bestimmten Leistung erziehen will, vollzieht
die Einschränkung von Trieben und Kräften, die dazu etwa er-
fordert ist, sozusagen von außen her, denn nicht das Leben selbst,
sondern die herantretende Idee, wie adäquat sie auch jenem sei,
stellt die Forderung. Wer aber sein Sein erzieht, wie Goethe,
der beschränkt all jene Kräfte und Triebe nur auf das Maß und
die Form, die sie sozusagen ganz von selbst gewinnen oder ge-
winnen würden, wenn sie sich durch ihre Stellung im Ganzen
dieser Persönlichkeit, durch ihr Verhältnis zu ihrem Zentrum
bestimmen lassen. Die Selbstbeschränkung kommt hier zu ihrem
reinsten Sinn. Nicht um eines Zweckes willen, sondern um der
Einheit und Vollkommenheit des ganzen, sie tragenden Seins,
und also schließlich um ihrer selbst willen verzichtet jede Energie,
jede Tendenz auf jenes Übermaß, zu dem sozusagen ihr Egois-
mus, ihrem eigentlichen Sinne dennoch fremd, sie führen will.
So stammt ihre Beschränkung aus eben der Kraft und Zentralität
des Gesamtwesens, aus der ihr Wachstum kam. Deshalb also,
weil Goethe nicht dies und jenes ,, werden" wollte, sondern nur
die Vollkommenheit erreichen, die gerade nur die seine war und
mit seiner Realität vorgezeichnet war, war seine Selbstbeschrän-
kung ein organischer, rein von innen her bestimmter Prozeß,
seine Selbsterziehung genau so naturhaft seiner Selbstentwicklung
zugehörig wie irgendeine Leidenschaft oder eine Produktivität.
,,Wer Bedingung früh erfährt," sagt er, ,, gelangt bequem zur
Freiheit; wem Bedingung sich spät aufdrängt, gewinnt nur
bittre Freiheit" — denn Bedingung, Beschränkung, Verzicht
muß von vornherein der Lebensentwicklung einwohnen, die den
Menschen zu reinem Er-selbst-Sein, d. h. zur ,, Freiheit" führt;
ist der Organismus schon fertig, wenn sie sich ,, aufdrängt", so
kann sie ihm nicht mehr einwachsen, sondern verbleibt ihm in
Fremdheit, Disharmonie, ,, Bitterkeit".
Nun scheint aber auch seine Selbstüberwindung einen sehr
184 Sehnsucht und ihre Bestimmung
durchgängigen Gegenstand gehabt zu haben, der gleichfalls nicht
nur als ein bestimmter Inhalt auftrat, sondern den er als einen
allgemeinen, formalen, gleichsam aus der Seele als solcher sich
entwickelnden Zustand fühlte: die Sehnsucht. Er hat vielleicht
zuerst gewußt, daß die Sehnsucht eine mit unserm Wesen über-
haupt verbundene Funktion ist, die wir ,,nun einmal nicht los-
werden sollen"; von diesem Sehnsüchtigen lag, nach seinem
eigenen Geständnis, ursprünglich zuviel in seiner Natur, und er
suchte es mit vorschreitendem Alter „kräftig zu bekämpfen".
Die Art aber, wie er diesen Kampf führte, hängt aufs genaueste
mit seiner gesamten Lebenstendenz zusammen. Die oben
zitierte Stelle lautet vollständig: ,,Da der Mensch doch einmal
die Sehnsucht nicht loswerden soll, so ist es heilsam, wenn sie
sich nach einem bestimmten Objekt hin richtet." Damit meint
er nicht etwa, daß sie nur auf ein Erreichbares gehen solle. Er
weiß vielmehr sehr wohl, daß ihr Wesen als Sehnsucht damit
negiert würde, daß sie dann einfach ein Stück willensmäßig-teleo-|^
gischer Vernünftigkeit wäre. So heißt es in einem Entwurf zu
Dichtung und Wahrheit: ,, Niemand, wenn er auch noch so viel be-
sitzt, kann ohne Sehnsucht bestehen ; die wahre Sehnsucht aber muß
gegen ein Unerreichbares gerichtet sein, die meinige war es gegen
die bildende Kunst." Also nicht das rationalistische Beschränken
der Sehnsucht, die gerade, weil er sie als eine typisch-formale
Funktion der Seele entdeckt hat, jede mögliche materiale Be-
friedigung überleben muß, empfiehlt er, sondern nur ihre je-
weilige Anknüpfung an ein ,, bestimmtes Objekt". Sein großes
Lebensmotiv: keine seelische Energie rein, gleichsam leer-
gehend, in sich schwingen zu lassen, sondern für eine jede An-
knüpfung, Gegenbild und Halt in der objektiven Welt zu suchen,
dieses Motiv, auf dem das ganze Gleichgewicht, das ganze har-
monische und fruchtbare Verhältnis seiner Subjektivität zum
Dasein überhaupt beruhte, ist auch hier entscheidend geworden.
Selbst wo ein Affekt, wie die Sehnsucht, aus dem Innersten des
Subjekts selbst hervorbricht und als elementare Funktion seines
Lebens in ihm beharrt, würde er dies Subjekt selbst zerstören,
wenn ihm nicht aus dem objektiven Dasein ein Ziel — obgleich
Wesen der Romantik 185
ein nie erreichbares — käme. „Falsche sinnliche Tendenzen",
sagt er deshalb höchst bezeichnend, ,,sind eine Art realer Sehn-
sucht, immer noch vorteilhafter als die falsche Tendenz, die
sich als ideelle Sehnsucht ausdrückt." Die reale Sehnsucht,
obgleich auch sie die Welt nicht stillen kann, verbindet uns den-
noch irgendwie der Welt; die ideelle reißt uns von der Welt los,
weil sie eine bloß subjektive Zuständlichkeit bleibt und gerade
dies natürlich als ein Streben ins Absolute, gleichsam mit Über-
springung der als objektiv gegebenen Welt, empfindet und darstellt.
Hier liegt vielleicht der tiefste Grund für Goethes Abneigung
gegen die Romantik. Es ist jetzt vielfach an der Tagesordnung,
sein Verhältnis zu dieser als ein möglichst positives darzustellen,
ihn von der Romantik entscheidende Einflüsse erhalten zu
lassen. Die Dokumente scheinen mir diese Tendenz keineswegs
zu rechtfertigen. Was er von der Romantik empfing, war mit
dieser nur akzidentell verbunden, der spezifische Lebensakzent,
mit dem sie die Geschichte des Geistes bereicherte, mußte ihm
durchaus eine ,, falsche Tendenz" sein. Ich drücke den Punkt,
an den mir dieser Akzent sich anzusetzen scheint, zunächst
ganz allgemein und scheinbar wenig besagend aus: die Romantik
will das Leben und seine Gesamtheit, ja die erlebte Welt über-
haupt, auf die Seele stellen; sie ist die Lyrisierung des Kantischen
Idealismus und damit freilich die Umkehrung seiner Tendenz.
Die romantische Seele will in alle individuellen Mannigfaltig-
keiten der Dinge gleichsam hineinkriechen und raubt damit dem
Wirklichen sein Eigenrecht; so wird es einerseits zu ihrem bloßen
Mittel — was sich in ihrer starken Gerichtetheit auf Genuß aus-
spricht — , andrerseits zu ihrem bloßen Gegensatz — was das
Wesen ihrer spezifischen ,, Ironie" ausmacht. Gerade aber die
Stärke, mit der hier die Seele in sich selbst schwingt, führt ihre
Bewegung aus sich selbst heraus und zwar, ohne weiteres be-
greiflich, nicht zu dem oder jenem Einzelnen als etwas Defini-
tivem, sondern zu dem Unendlichen oder Absoluten. Daß die
Seele selbst ein Unendliches ist — weil sie das Apriori alles End-
lichen ist — drückt sich darin aus, daß sie an dem Unendlichen,
mag sie es religiös oder anders fassen, ihren einzigen wirklichen
186 Das Unendliche und die Form
Gegenpart empfindet. Zu diesem Unendlichen nun sucht sie ein
unmittelbares Verhältnis und dies scheint mir der eigentliche
Kernpunkt ihres Lebensgefühles zu sein, der zwei Folgen aus
sich entläßt, beide gleichmäßig den Goetheschen Wertbetonungen
entgegengesetzt. Es geht daraus einerseits eine ganz tiefe, innere
Formlosigkeit hervor. Alle Form ist Grenze und damit Endlich-
keit, sie steht zwischen dem an sich formlosen Subjekt und dem
ebenso formlosen Unendlichen, und darum ist sie, wo sie voll-
kommen ist: in der großen Kunst, in dem zur Wahrheit geworde-
nen Denken, in dem sittlich gestalteten Handeln — der eigent-
liche Vermittler zwischen dem Subjekt und dem Absoluten.
Goethe war durch das Leben belehrt worden — oder glaubte
mindestens seit dem Einfluß der Klassik und der Wissenschaft
belehrt zu sein — , daß das unmittelbare Verhältnis jener beiden
ein täuschendes Ideal ist, daß Wissen und Wirken, die in dem
Endlich-Geformten leben, zwischen beide treten muß. Die roman-
tische Seele aber mochte äußerlich noch so sehr an vollendeten
Formen hängen, die souveräne Subjektivität, aus der heraus sie
lebte, konnte ein letztes, innerlichstes Verhältnis überhaupt
nur zum Unendlichen haben und mußte deshalb die Zwischen-
instanz der begrenzten, d. h. geformten Einzelheiten, den
Respekt vor ihnen und die Arbeit an ihnen, überspringen. Sie
siedelte sich gerade an den Punkten diesseits und jenseits des
Gebietes an, in dem Goethe schließlich den entscheidenden Wert-
sinn seiner Existenz gefunden hatte.
Dazu kommt ein zweites, für uns jetzt wichtigeres. Jenevermitt-
limgslose Beziehung zum Unendlichen oder Absoluten bedeutet für
die Romantik nicht, wie in der religiösen Mystik, einen gewonnenen
Besitz, ein unterschiedsloses Verschmelzen jener mit diesem, son-
dern bleibt in dem Stadium der Sehnsucht gleichsam stecken;
und zwar nicht einfach deshalb, weil jenes Ziel überhaupt nur in
Annäherungen erreichbar wäre, sondern weil dieses Stadium als
etwas Definitives, so paradox es klingt: als etwas Befriedigendes,
als der natürliche Dauerzustand der romantischen Seele emp-
funden wird. ,, Sehnsucht" erscheint mir als der spezifische
Affekt der Romantik — und zwar, wegen der bezeichneten Rieh-
Überwindung der Sehnsucht 187
tung ihrer, die „ideelle Sehnsucht"; wo die Seele nur in sich selbst
kreist, und dennoch ein Unendliches außer sich weiß, das sie
erfassen möchte, da ist Sehnsucht der unvermeidliche und zentrale
Ausdruck ihrer Gesamtlage. Am reinsten und unüberbietbarsten
vielleicht verrät Robert Schumann, der letzte große Romantiker,
es im Stil seiner Musik, daß für die romantische Seele Sehnsucht
der Affekt schlechthin ist. Solche gleichsam unsubstanziierte
Sehnsucht eben war es, die Goethe in langer Arbeit überwunden
hatte; sie gerade ist es, in der die Seele hängen bleibt, wenn ihr
nicht Wissen und Wirken die Brücken zum Unendlichen schlagen.
Gewiß kannte Goethe die Sehnsucht, wie wohl wenige Menschen
sie kennen — er wäre vor Italien beinahe daran zugrunde ge-
gangen. Aber hier rettete ihn nun gerade Italien — das nachher
nur in sentimentalen Mißverständnissen ein Nährboden roman-
tischer Gefühle werden konnte. Scheinbar hat Italien genug
Elemente für die Romantik: die efeuumwachsenen Burg-
ruinen, die Villen in dunkeln Zypressenhainen, die Trümmer
vergangener Herrlichkeiten. Goethe aber hat richtig verstanden,
daß in alledem nichts Romantisches liegt, weil es auf diesem
Boden keine Sehnsucht ausatmet, sondern, wie es nun ein-
mal ist, Wirklichkeit, Form, Gegenwart ist, die sich nicht erst
nach der Idee oder nach sonst irgendetwas ,, sehnt". Das Innerste
von Goethes Leben ist offenbar zum großen Teil eine Überwindung
der Sehnsucht, eine an Italien angeknüpfte Selbstrettung aus
ihr, eine Formung auch dieses gefährlichen Lebenselementes,
das uns mit Formlosigkeit und sterilem Hinstarren auf ein
problematisches Absolutes bedroht: jene ,, bestimmten Objekte",
auf die er die Sehnsucht gerichtet haben wollte, erlösten ihn aus
solcher Problematik, ordneten auch diesen Affekt dem auf
Handeln und Erkennen zugehenden Entwicklungsgesetz seines
Lebens unter — ohne daß doch die in ihm gelegene Kraft paraly-
siert und verloren wurde. Damit wird die Sehnsucht zu gleicher
Zeit überwunden und fruchtbar gemacht — und darum war
ihm die Romantik so zuwider, die in der Sehnsucht wohnen blieb
und eben darum nichts Rechtes aus ihr zu machen wußte. Die
Seele darf eben nicht bloß in sich kreisen; dies v/eist sie — und
188 Die Sehnsucht und die Lebensharmonie
hier sind wir an einem tiefen und dunkeln, von Goethe selbst
nur von fern angedeuteten Zusammenhang — unmittelbar dem
formlosen Absoluten zu, in das sich die Sehnsucht verlieren, aus
dem sie aber nichts zurückgewinnen kann, eine Situation, in
der sich schließlich nur noch der Katholizismus den Romantikern
bot, an dem sie sich halten konnten, weil er in einzigartiger Weise
das unmittelbare und das vermittelte Verhältnis zum Unend-
lichen vereinte. Goethe wußte ja, daß ,, niemand ohne Sehnsucht
bestehen kann"; aber sie ist jenen Naturkräften zu vergleichen,
die der Mensch nicht unmittelbar, sondern nur in Umsetzungen
in den Bau seiner Werte einfügen kann. Darum faßt er kurz vor
seinem Tode noch einmal, zwar nicht mit ausdrücklicher Be-
ziehung auf die Romantik, aber im Hinblick auf die von ihr
erzogene, kümmerliche und deprimierte Jugend, sein Ver-
werfungsurteil dahin zusammen: von dieser Jugend werde
,,die Sehnsucht durchaus als das letzte aller Dinge gepriesen".
Das ist das Entscheidende. Die Sehnsucht darf nicht ,,das Letzte"
sein, d. h. die Seele darf nicht nur so in sich schwingen, daß sie
nur noch jenes unmittelbare Verhältnis zum Absoluten kennt.
Weil sie dem Dasein als ganzem, zugehört, muß sie, erkennend
und handelnd, zu diesem ein Verhältnis gewinnen, und es ist das
letzte Geheimnis ihres Lebens, daß sie nur in solcher begrenzen-
den, formenden ,, Bestimmtheit" auf dem wahren Wege sowohl
zu sich selbst wie zu dem Unendlichen ist. Hier liegt eine der
letzten, von Goethe gelebten Lösungen des Lebensproblems: es
gilt, die Sehnsucht als bloße, mit dem Leben gegebene, aber in
sich noch leere Kraft zu überwinden, indem man sie ,, bestimmt",
und indem dies vielleicht die tiefste Selbstüberwindung seines
Lebens war, zeigte sie zugleich dessen vorbildliche Harmonie;
denn indem diese Selbstüberwindung sich vermittels der Arbeit
an der Welt der Dinge und Formen, der Gedanken und Leistungen
vollzog, fand seine Seele gerade dadurch immer zu sich selbst
I zurück.
Goethes Leben war im höchsten, man möchte sagen, im meta-
physischen Sinne: Gegenwart. Wie er im Hier lebte, in dem
allein der Mensch ,,sich umsehen" solle, so im Jetzt; das Hier
Erinnerung 1 89
und das Jetzt sind sein Fruchtboden. Und an welchem andern
als dem Punkte der Gegenwart sollte ein Mensch wohnen, der
so rastlose Entwicklung war, daß er, auf einen Widerspruch
gegen früher Gesagtes aufmerksam gemacht, erwiderte, er sei
nicht achtzig Jahre alt geworden, um jeden Tag dasselbe zu
sagen, wie am vorhergehenden! — Hatte nun sein Über-
windungsverhältnis zur Zukunft die Sehnsucht zum seelischen
Gegenstand, so das zur Vergangenheit die Erinnerung. Es ist
zwar die allgemeine Meinung, daß Goethe ein großer Vergesser
war: mit dem Vergangenen abgefunden, ruhig alle Schwierig-
keiten abstreifend, zu denen die Konsequenzen unsrer Taten
werden, alles Nachrückwärtssehen, Nachrückwärtsempfinden
vermeidend, sobald es den Blick und Schritt nach vorwärts
hemmen wollte. Daß man ihn so von dem frei glaubt, was man
gern die überflüssigen Schmerzen nennt — weil sie freilich für
die Lebenszwecke der meisten Menschen nicht notwendig sind, —
das ist wohl das wesentliche Ingrediens der Bewunderung einer-
seits, der moralischen Reserve andrerseits, denen die ,, Lebens-
kunst" Goethes begegnet. Dennoch glaube ich, daß man damit
in Goethe eine Oberflächlichkeit hineingedeutet hat, die vielmehr
auf der Seite dieser Deutung zu suchen ist; daß ganz umgekehrt
Goethe so tief und schwer an Vergangenheiten gelitten, die Folgen
seines Tuns so bannend und lastend empfunden hat, wie es wenigen
auferlegt ist. Durch seine Gedankenwelt geht dauernd das Motiv
von den Geistern, die man nicht los wird, wenn man sie einmal
gerufen hat; von dem Zweiten, bei dem wir Knechte sind, wenn
uns auch das Erste freigestanden hat; von den Dämonen, die
man ,, schwerlich los wird": ,,das geistig strenge Band ist nicht
zu trennen". ,, Es ist entsetzlich," schreibt er aus Rom, ,, was mich
oft Erinnerungen zerreißen", und über vierzig Jahre später: ,,Was
einem angehört, wird man nicht los, und wenn man es wegwürfe."
Und an einer Stelle in den ,, Maskenzügen" spricht er von Geistern:
,, — wenn man sie nicht stracks vertreibt, "
Sie ziehen fort, ein und der andre bleibt
In irgendeinem Winkel hängen,
Und hat er noch so still getan,
Er kommt hervor in wunderlichen Fällen."
190 Leiden an der Vergangenheit
Das preist er ja — diese Stimmung ins Überindividuell-Historische
streckend — vor allem an den Vereinigten Staaten, daß ihnen
das „unnütze Erinnern" erspart bliebe und ihren künftigen
Dichtern wünscht er, vor „Gespenstergeschichten" bewahrt zu
sein. Und derselbe Ton klingt, wenn er einmal ganz aphoristisch,
ohne jede Begründung oder Folgerung schreibt: ,,Wir leben
alle vom Vergangenen und gehen am Vergangenen zugrunde";
so daß die ,, Lebensregel": ,, Willst du dir ein hübsch Leben
zimmern, mußt dich um's Vergangene nicht bekümmern" —
wie die meisten Lebensregeln aus der bitteren Erfahrung des
Gegenteils gequollen sind. Oder glaubt man im Ernst, daß Goethe
seine eigene Existenz so ohne weiteres als ,,ein hübsch Leben" be-
zeichnen wollte? Die Zahl solcher Äußerungen kann nicht
Zufall sein. Auch wo sie in Dichtwerken enthalten sind, haben
sie vielmehr alle innerhalb ihrer Umgebungen den eigentüm-
lichen Charakter, den man an manchen Harmonien oder Takten
bei Beethoven findet: jeder gehört völlig in den sozusagen ob-
jektiven Zusammenhang des Stückes hinein, ist durch dessen rein
musikalische Logik völlig begreiflich und notwendig — zugleich
aber weist er noch in eine ganz andere Dimension, in die des
Subjekts; während er nur um seines Vorher und seines Nachher
willen dazustehen scheint, schreit doch wie von unten und von
innen her gerade in ihm die See!e auf, in die rein künstlerisch-
musikalische Kontinuität, die sich auch durch ihn hindurch
knüpft, reißt er zugleich ein Loch, durch das man unmittelbar
in die Qual der darunter lebenden Seele hinabblickt. So wirken
bei Goethe diese Stellen, deren jede freilich ihre notwendige Rolle
in dem ganzen Kunstwerk spielt, in denen aber zugleich ein Er-
leben jenseits der Kunst hervorbricht. Und wie er nun fort-
während gegen die Schlingen und Fußangeln anrang, mit denen
ihn die Zukunft in der Form der Sehnsucht fangen wollte, so
gegen die entsprechenden Gefahren, die von der Vergangenheit
her drohten. Hier scheint nun sein glücklicher Instinkt die Ver-
gangenheit vor allem durch Vergegenwärtigung zu übervv'inden. Er
hatte den eigentümlichen Trieb, lange nach dem Bruch mit ge-
liebten Frauen sie wiedersehen zu wollen: so Friederike, so
Befreiung 191
Lili; und genau entspricht dem die Äußerung: ,,Wie sehr die
Gegenwart eines geliebten Gegenstandes der Einbildungskraft
ihre zerstörende Gewalt nimmt und die Sehnsucht in ein ruhiges
Schauen verwandelt, davon habe ich die wichtigsten Beispiele."
Für diesen Menschen einer unvergleichlich anschaulichen Phan-
tasie, deren Grenze gegen die Halluzination manchmal zu ver-
schwimmen scheint, lebte das Gewesene in der Form der ,, Dä-
monen", der ,, Geister", deren quälende Gegenwart man nicht
los wird. Gegen Geister aber gibt es kein Mittel als V/irklichkeit.
Von dem, was uns in der Form des Gespenstes ängstet, erlöst
uns oft eben dasselbe, sobald wir ihm in der Form der Wirklich-
keit begegnen. ,,Das Wirkliche", schreibt er schon als Siebenund-
zwanzig jähriger, ,,kann ich so ziemlich meist tragen; Träume
können mich weich machen, wenn's ihnen beliebt." Das fort-
währende Drängen auf Anschauung, das Goethes seelisches
Leben durchzieht, ist nicht nur der Ausdruck seines Künstler-
tums, das im Anschauen der Welt noch einmal die Einheit mit
ihr sozusagen physisch vollzieht, die das metaphysische Wesen
des Genies ausmacht; sondern es war zugleich das Gegengewicht
gegen die dunkeln Mächte des Innern, das Gegenwartslicht, das
die Schatten der Vergangenheit auflöste. Abgesehen von dieser
besonderen Art, Erinnerung durch Gegenwart zu heilen, hat
er freilich in manchen, vielleicht in vielen Fällen, einfach von
der Vergangenheit gewaltsam weggesehen, sich rücksichtslos
und scheinbar gefühllos von ihr befreit: er hatte es nötig.
Mit steigenden Jahren wurde ihm dies sozusagen zu einer or-
ganischen Funktion, und so kann er im hohen Alter in scheinbar
leichtem Ton davon sprechen: ,,Man bedenke, daß mit jedem
Atemzug ein ätherischer Lethestrom unser ganzes Wesen durch-
dringt, so daß v/ir uns der Freuden nur mäßig, der Leiden kaum
erinnern. Diese hohe Gottesgabe habe ich von
jeher zu schätzen, zu nützen und zu stei-
gern gewußt. Wenn also von Schlägen und Püffen die
Rede ist, womit uns das Schicksal, womit uns Liebchen, Freunde,
Gegner geprüft haben, so ist das Andenken derselben, beim reso-
luten, guten Menschen, längst hinweggehaucht." Dies für eine
192 Rechenschaft und Lebensgestaltung
kalte, eudämonistische Selbstsucht zu erklären, ist die größte
Oberflächlichkeit; den Druck, unter den die Erschütterungen
seines Erlebens auch noch dessen Erinnerungen und Weiter-
wirksamkeiten stellten, hat man übersehen, weil man nur die
ungeheuere Gegenkraft bemerkte, die freilich in seinem Schaffen,
in dem sichtbaren Ausgang des Kampfes, den Sieg behielt.
Dieses Leben, stillstandslos zu neuem objektivem Wirken,
neuer subjektiver Selbstgestaltung fortschreitend, mußte in
jedem Augenblick ganz es selbst, ganz seine Gegenwart sein.
Daß er Sehnsucht und Erinnerung — in ihm bewegender und ver-
lockender, als wohl in den meisten von uns, — abtat, war die
großartigste Selbstüberwindung, der Triumph über das eigene
Selbst in der Form der Zukunft und der Vergangenheit zugunsten
dieses Selbst in der Form seines eigentlichen, höchsten und
schöpferischen Lebens.
Die Selbstbegrenzung, Selbstüberwindung seiner Existenz, die
an der Erinnerung und der Sehnsucht nur ihre kontinuierlichsten
Aufgaben fand, ist — es bedarf darüber nur eines andeutenden
Wortes — seiner dauernden Rechenschaft über sich selbst un-
trennbar verwachsen. Kein anderer Begriff verknüpft so unmittel-
bar wie dieser das theoretisch-objektive Bild mit der sittlichen
Wertung; Sichrechenschaftgeben heißt: die Einheit von Sich-
wissen und Sichbeurteilen verwirklichen, und heißt, sich von der
Grenze aus sehen diesseits derer wir uns zu bescheiden haben
und jenseits derer der Verzicht liegt. Der metaphysische Grund-
wille, sein Subjekt als ein objektives anzuschauen und zu er-
leben, konnte seine ethische Spannung nicht tiefer und voll-
kommener spiegeln, als in der Rechenschaft über sich selbst,
in der sein Bewußtsein der eigenen Wirklichkeit und das der
Grenze, deren strenge Bescheidung dem Leben Wert und Form
bestimmte, sich in einem lebenslangen Akte vollzog.
Siebentes Kapitel.
Liebe.
Goethe gehört zu dem Typus von Männern, die aus dem Grunde
ihrer Natur heraus ein Verhältnis zu den Frauen haben.
Keineswegs besagt das von sich aus schon eine besondere Aus-
dehnung erotischer Leidenschaften und Erfahrungen. Gerade den
beiden Typen, für die die realen Verhältnisse zu Frauen im Vorder-
grund des Erlebens stehen: dem Frauenknecht und dem Don Juan
— stand Goethe fern. Es war immer nur ein Faden, den die Frau
in das Gewebe seiner Existenz knüpfte, wenn dieser Faden auch
kaum je ganz abriß. Aber mit der stärksten Betonung verwirft
er es, daß ein Leben sich ganz mit den Beziehungen zu Frauen
erfülle: dies führe ,,zu gar zu viel Verwicklungen und Qualen,
die uns aufreiben, oder zu vollkommener Leere". Von diesen
Wirklichkeitsbeziehungen also unabhängig besteht bei gewissen
Männern ein eigentümliches Wissen um die Frauen, ein Bild
und eine Bedeutsamkeit des weiblichen Wesens für sie ist ge-
wissermaßen ein Element ihrer eigenen Natur. Nietzsche, der,
soviel man weiß, nie ein erotisches Verhältnis hatte, der nach
seinem eigenen Geständnis ,,sich nie um Weiber bemüht hat",
sagt doch an derselben Stelle: ,,Darf ich die Vermutung wagen,
daß ich die Weiblein kenne? Das gehört zu meiner dionysischen
Mitgift"! Und wohl von der gleichen Grundlage her hat Raffael
auf die Frage, wo er denn die Modelle zu all seinen schönen
Frauengestalten hernähme, geantwortet: er nähme sie gar nicht
von Modellen, sondern bediene sich ,, einer gewissen Idee, die in
seinem Geiste entsteht". Und so gesteht Goethe im höchsten
Alter: ,, Meine Idee von den Frauen ist nicht von den Erschei-
nungen der Wirklichkeit abstrahiert, sondern sie ist mir ange-
boren oder in mir entstanden, Gott weiß wie." Daß Goethe den
Simmel, Goethe. '3
194 Ideelles Wissen um die Frau
Frauen gegenüber, die er in der Wirklichkeit vor sich hatte,
ein Kenner im Sinne praktischer Psychologie war, scheint mir
keineswegs sicher. Auf Lotte Buff, deren künstlerisches
Bild er mit aller Tiefe und erschütternden Wahrheit gezeichnet
hat, gesteht er, niemals ,,acht gehabt zu haben" — dazu habe er
sie zu sehr geliebt. Und daß er, mehr als vierzig Jahre später,
sich Ottilie von Pogwisch zur Schwiegertochter wählte, scheint
einen merkwürdigen Mangel an psychologischem Blick zu ver-
raten. Wenn dieser begnadetste und fast dauernd erotisch be-
wegte Mensch dennoch so wenig eigentliches Glück in der Liebe
genossen hat — in jenem Rückblick auf achtzigjähriges Leben
spricht er von ,, Schlägen und Püffen", mit denen Schicksal und
,, Liebchen uns geprüft haben" — so mag dies, außer in anderen
Tiefen seines Wesens, in die wir nachher zu blicken versuchen, sich
auch in dieser praktischen Täuschbarkeit seiner Frauenkenntnis
gründen. Männer dieser Art pflegen in der Tat kein erhebliches
Beobachtungswissen um die Frauen zu haben; vielmehr die
,,I d e e" der Frau ist ihnen irgendwie ,, angeboren", die Kenntnis
des ,, Urbildes", das Goethe in jedem organischen Wesen erblickt
und beschreibt als ,,das Gesetz, von dem in der Erscheinung nur
Ausnahmen aufzuweisen sind".
Darum ist für die dichterische, die einzelne Erscheinung über-
fliegende Darstellung gerade dieses Wissen um die Frauen ge-
wissermaßen prädestiniert, und darum konnte gerade mit ihm
Goethe es begründen, daß seine Frauengestalten ,,alle besser
wären, als sie in der Wirklichkeit anzutreffen sind". Es ist aller-
dings in vielen Goetheschen Frauen eine Art von Fertiggeworden-
sein, die sich an keiner seiner männlichen Gestalten findet, eine
seinshafte Vollkommenheit jenseits singulärer Äußerungen und
Eigenschaften. An all diesen Frauen, an Lotte und Klärchen, an
Iphigenie und der Prinzessin, an Dorothea und Natalie und
manchen anderen noch spüren wir diesen unzerlegbaren und im
einzelnen gar nicht greifbaren Zug von Vollkommenheit-in-sich,
der zugleich eine Beziehung zum Ewigen bedeutet und der in
dem Ewig-Weiblichen, das uns hinanzieht, sozusagen begriff-
lichen Ausdruck gefunden hat.
Seelische Einheit 195
Es ist deshalb gar kein Widerspruch, wenn er immer an den
Frauen tadelt, daß sie ,, keiner Ideen fähig" wären und zugleich,
daß er das Ideelle nur in weiblicher Gestalt darstellen könne, daß
die Frauen ,,das einzige Gefäß" wären, in das er seine Idealität
hineingießen könne. Daß sie keine Ideen ,, haben", verhindert
nicht, daß sie ihm Idee ,,sind". Offenbar vermißt er den Idealis-
mus an den einzelnen empirischen Frauen; aber der Typus Frau,
wie er in ihm lebt und freilich den letzten Sinn und die Norm
auch jener wirklichen und unvollkommenen ausmacht — kann
durchaus, wie er es einmal ausdrückt, die silberne Schale sein,
in die wir die goldenen Äpfel legen. Und dies Gleichnis symboli-
siert, was der Kern seiner Intuition über die Frauen zu sein
scheint: daß die Frauen etwas Geschlosseneres, in sich Einheit-
licheres, sozusagen Totaleres sind, als die um Sonderinteressen
zentrierenden Männer, deren jeder bestenfalls in sich die Viel-
fältigkeit des ganzen Geschlechtes wiederholt. Darum sind sie
zu jener ,, Vollkommenheit" sozusagen nach ihrer formalen
Struktur disponierter. Darum meint er die Frauen am besten
so zu loben: ,,Eure Neigungen sind immer lebendig und
tätig und ihr könnt nicht lieben und vernachlässigen." Für
alle seine Frauengestalten, von denen des Götz über Iphigenie
und Nata?i3 bis zu Makarie, gilt gleichsam diese Grundform,
die sie mit niannigf altigstem Inhalt füllen: die innere Versöhnt-
heit und Wesenseinheit der Elemente, die die männliche Art
in Besonderung und oft im Kampfe zeigt. Deshalb bezeichnet
Ottilie ihre Schuld, die sie aus dem Leben treibt, nicht mit ihrem
unmittelbaren Inhalt, sondern nur: ,,Ich bin aus meiner Bahn
geschritten." Und im weitesten Abstand des Inhaltes begründet
eben dies seine Erklärung der weiblichen Eifersucht: ,,Jede
Frau schließt die andere aus, ihrer Natur nach; denn von jeder
wird alles gefordert, was dem ganzen Geschlecht zu leisten ob-
liegt."
Begreiflich also wechselt seine geistige Attitüde zu den
Frauen nach dem Verhältnis, das seine jeweilige Entwicklungs-
epoche gerade zu der E i n h e i t s form hat, in der die weibliche
Existenz sich vollzieht. Als er nach Weimar kam, ein Chaos
13*
196 Änderung der Beziehung zum weiblichen Prinzip
durcheinander- und auseinanderflutender Strebungen in der
Seele, offenbar leidenschaftlich verlangend, seine Kraft zu organi-
sieren und in e i n e Stromrichtung zu leiten — da war, was die
letzte Tiefe seiner Beziehung zu Frau v. Stein ihm an Glück und
Reichtum bot, doch wohl gerade an die harmonische Einheit
dieser Natur gebunden, an die ruhig feste Form, in die diese
Frau alle exzentrischen und dissonierenden Lebenselemente
versöhnt hatte. Dieses Bild geschlossener Ganzheit, das sie bot,
?eigte allem Wilden und Divergierenden seiner Natur den Er-
l^ungsweg. Ausdrücklich spricht er dies aus: er brauche sie,
uj^cftin selbständiges, ein ganzes Wesen zu werden. Sie war ihm
^j§gSjgibol der Ganzheit und Einheit, wie Michelangelo es in
^^^IS© ßplonna gefunden hatte. ,,Du Einzige," schreibt er
9^z^o1{0i9M^ ich nichts zu legen brauche, um alles in ihr zu
ij^^nf;^j E^um preist er als das Glück, das sie ihm bot, daß
^ozöfiijirri^pljytg offen sein könne, während bei den anderen
5*feQSfiH^p ii^^i Milteltöne fehlen, die bei dir alle anschlagen".
Mi^§9#rn9ls iiüs-tfefste Wesenheit der Frauen empfand, schien
gfflS hjiMi^j)ei|^f::yiDlißndung jenseits ihrer sonstigen fragmen-
^jr^ch^n^e^äKiffeliehö^gien entgegenzutreten, und in einer Epoche,
«In^f rr{^5in§fi&igea€ Eatwicklung des Haltes und Vorbildes an
^5etbrlieÖ^n^l9fijnrrbedurft?. ::Sein Alter aber verändert dies
i9BflefeiV^^bä|itm$ «Ji* demi^übUcken Prinzip. In seinen höheren
Jftfer^jlJiegfignenc.VielQdeiokafitischiabsprechende Urteile über die
FfÄMfftsim elteöiSinejirjosieiliitT^caan diese genauer an, so laufen
9tffe-fflLp%iftilerlstii ,d€fft5:Sog©rlafinteji) -weibHGhen Mangel an Objek-
^yfi^if ^yfi&ttg. 2iJlid Jäie!ö:b,4i^gt-jrieHeichtjS0 zusammen: Goethes
JsgßO^grf- äÄhsrtdim^bhlÄr^Ref^ltatie: lies letzten Kapitels vorweg
•^si^.t vQgif{§ijie^ilef.iJildöffln;ä?ßig3aji Jdeatbeiierrscht, es scheint
i}^9^iJn©inerng8ei;(rfjSÄmiumWe^äeri?yfG6lleridung des persönlichen
Söin*i^0i4{Sß8ieilci6friwhÖti:isand|»ngÄh, äderen Bewußtsein nicht
ein Wissen oder ein Handeln, sondern ein Gefühl ist. Diese
fc^ben&len^öozitgfeht-s später, ganz eintsclii^en nach der italie-
n||?h^QSjrRfiiSfe,3;:;iläch:[ Z3Kei7 Seiteiriaüseiriahder : in die Hin-
gfibtt6g»vatfei^tasönsicl;«rftlich«a Erkenöen: und: die Bewährung in
SsfeAtfeBi,4w>d^ü5riribcnis\©aitu4r«vaär sein Lfebenvom Subjektiven
Subjektivismus 197
weg ins Objektive gewandt. Während dies aber sonst die spezifisch
männliche Zerspaltung mit sich bringt, die Lösung des einzelnen
Interesses und Tuns von dem Zentrum und der Einheit der
inneren Existenz — war es Goethe beschieden, daß all das Objek-
tive seines Denkens und Tuns ein völlig Persönliches blieb, Puls-
schläge eines einheitlich innersten Lebens. Aus dieser in ihrer
Vollendetheit einzigen Daseinsform heraus zeigen seine späteren
Jahre jene heftige Abneigung gegen allen bloßen Subjektivismus,
die wir so oft gegen eigene überwundene Entwicklungsstadien
richten. Die ursprüngliche und doch erst errungene Einheit seiner
inneren Existenz hatte sich nun mit einem Sachgehalt von Welt-
wissen und Weltwirken erfüllt, dem gegenüber ihm alles bloß
subjektive, in sich selbst kreisende, die objektiven Normen ab-
lehnende Dasein gewissermaßen als das böse Prinzip erschien.
Der Typus Frau hatte ihm geleistet, was er ihm leisten konnte,
vor allem seit er ihm in der Gestalt der Frau v. Stein in an-
schaulicher Reinheit begegnet war. Nun aber war ihm die sub-
jektive Einheit und Ganzheit der selbstverständliche Zustand,
und von diesem forderte nun die große Wendung zum Objekt,
sich mit neuen Inhalten, neuen Spannungen zu erfüllen. Hier
konnte ihn der Typus Frau nicht mehr fördern, ja, er mußte
von ihm, als dem Symbol einer überschrittenen Epoche, ent-
schieden abrücken, und darum rügte er immer wieder an den
Frauen den Mangel an der Objektivität, die ihm die neue Epoche
gewonnen hatte; so, daß es ihnen vollkommen genüge, wenn
ihnen etwas ,, gefällt", ohne daß sie die Motivierungen des Ge-
fallens unterschieden und werteten; daß sie verlangen, in be-
sonderen Weisen verstanden zu werden, ohne an andere das-
selbe Verständnis zu wenden; daß sie leicht von einem Standpunkt
auf den andern zu verlocken sind und, wenn sie leiden, eher die
Objekte als sich selbst darum schelten — und daß sie als not-
wendige Ergänzung dieser Subjektivitäten dem Dogmatiker zum
Opfer fallen und sich der bloßen Konvention verschreiben.
Daß seine geistige Beziehung und Wertung den Frauen
gegenüber in ihren Wandlungen so der großen Linie seiner Ent-
wicklung genau folgt, mag ebenso Wirkung wie Ursache davon
198 Scheinbare Gefahren
sein, daß ihm das Bild der Frau kein aus empirischen Zufällig-
keiten abstrahiertes war, sondern ein überindividueiles , seinen
letzten Wesensgründen verhaftetes. Aber da dies eben den Typus,
die Idee Frau angeht, hängt es keineswegs feststellbar oder durch-
gehend mit seinen einzelnen, realen Erlebnissen mit Frauen zu-
sammen, die, wie ich vermuten möchte, viel weniger von jener
geistig-apriorischen Beziehung zu dem weiblichen Prinzip, als
rein von seinem erotischen Temperament ausgingen. Das Maß
freilich, in dem sie sich aus diesem erhoben, schien so manchem
gerade mit der Geistigkeit seines Lebens kaum vereinbar.
Mehr als einmal nämlich habe ich von geistig durchgebildeten und
banaler Prüderie ganz fernen Persönlichkeiten die Rolle bedauern
hören, die das erotische Element in Goethes Leben gespielt hätte.
Nicht eigentlich in dem Sinn einer moralischen Bedenklichkeit,
sondern nur so, als wäre damit das Gleichgewicht dieses Lebens,
wie seine zentrale Idee es bestimmen müßte, durch ein über-
triebenes Maß erotischen Interessiertseins und Erlebens gestört.
Unleugbar äußert sich darin der Instinkt für die Gefahr, die jedem
im großen Stile einheitlichen und produktiven Leben von den
erotischen Mächten her droht. Denn entweder verweben sich
die Sehnsüchte und Erfüllungen dieses Gebietes in den innersten
Verlauf des Lebens — dann kommen diesem letzteren fast un-
vermeidlich Störungen, Ablenkungen, Depressionen; und zwar
vor allem durch den tiefen inneren Formgegensatz: daß die
Liebe ein rastloser Prozeß ist, eine pulsierende Dynamik des
Lebens, ein Hineingerissensein in die kontinuierliche Strömung
der Gattungserhaltung — während das geistige Dasein auf dem
in irgendeinem Sinne Zeitlosen steht, auf den Inhalten des
Lebensprozesses, nicht auf dem Prozeß selbst. Oder man diffe-
renziert von den übrigen Lebensgebieten das erotische als eine
besondere Provinz, in die sich begebend man gewissermaßen
,,ein anderer Mensch" ist. Damit sind zwar jene Hemmungen
und Alterationen beseitigt, aber die Lebenstotalität ist zu einem
harten Dualismus verurteilt, der Wechseltausch aller Kräfte,
in dem ihre Einheit besteht, ist zerschnitten und wenigstens zum
Teil sterilisiert.
Bestimmung aus dem eignen Innern 199
Dies alles aber ist ersichtlich bei Goethe nicht eingetroffen.
Weder der Größe seines Werkes, noch der Unvergleichlichkeit
seines Lebens als ganzen gegenüber, kann die Kritik jener Be-
denklichen Fuß fassen. Das Problem für den Aufbau des Bildes
von Goethe liegt also gerade darin: wie kommt es, daß an ihm
jene Folgen eben nicht aufgetreten sind ? Und die Antwort hier-
auf allerdings ist nur von der fundamentalen Schicht des Goethe-
schen Lebens überhaupt her zu gewinnen.
Die Wesensformel, die an Goethe ihre reinste und stärkste
historische Verwirklichung findet, war doch immer diese: daß ein
Leben, ganz dem eigenen Gesetz gehorchend, wie in einheitlich
naturhaftem Triebe sich entwickelnd, eben damit dem Gesetz
der Dinge entspricht, d. h. daß seine Erkenntnisse und Werke,
reine Ausdrücke jener innerlichen, aus sich selbst wachsenden
Notwendigkeit, doch wie von den Forderungen des Objekts
und denen der Idee her gebildet sind. Er hat jeden eigengesetz-
lichen Sachgehalt durch die Tatsache, daß er ihn erlebte, so von
innen her geformt, als wäre er aus der Einheit dieses Lebens
selbst geboren. Gemäß diesem Gesamtsinn seiner Existenz scheinen
sich auch deren erotische Inhalte zu entwickeln. Auch diese —
wie sie sich in seinen Briefen und vertrauten Äußerungen, in
Dichtung und Wahrheit und seiner Lyrik darstellen — treten
auf, als wären sie von seinem Innern und dessen Entwicklungs-
notwendigkeiten bestimmt, wie sich eine Blüte an den Zweig
ansetzt, in dem Augenblick und in der Form, wie dessen eigenste
Triebkraft es erfordert und entwickelt. Nirgends, selbst in so
extremen Fällen, wie in der Leidenschaft für Lotte und für Ulrike
von Levetzow, spüren wir jenes Preisgegebensein, das dem
erotischen Erlebnis das Symbol des Liebestranks verschafft
hat und oft den Gefühlston, als wäre es viel eher etwas,
das mit uns oder an uns vorgeht, als eine Äußerung eines sich
selbst gehörenden Lebens. Wir hören, daß er mit all seinen
sinnlichen Hingerissenheiten doch immer Herr seiner selbst ge-
blieben ist. Über eine schöne Frau, deren Eindruck ihm sehr
nahe ging, schreibt er an Herder: ,,Ich möchte mir solch ein Bild
nicht durch die Gemeinschaft einer flüchtigen Begierde besudeln."
200 Übergewicht des Ganzen über das Einzelne
Dazu, außer manchem andern, die Äußerung zu Eckermann
über seine Reserve gegen die schönen Schauspielerinnen, die ihn
äußerst anzogen und ,,ihm auf halbem Wege entgegen kamen".
Aber diese Bestimmtheit und Formung des erotischen Erlebnisses
durch seinen Willen ist doch nur das äußere und nicht einmal
entscheidend wichtige Phänomen der tieferen Tatsache, daß es
durch sein Sein bestimmt war, durch die Regel und den Sinn
einer Entwicklung, die ausschließlich der Strömung ihrer eigensten
Wurzelsäfte folgte. Und darum war, wie seine lebenslang ge-
übte und verkündete ,, Entsagung" überhaupt nichts weniger
als eine Verarmung, sondern ein durchaus positives Form-
prinzip seines Lebens war, auch diese Zurückhaltung im Ero-
tischen kein Subtrahendum, sondern die seiner Liebe von deren
individueller Lebensquelle her eingeborene Gestaltung. Es war
das Glück seiner Natur, daß ihn, im Ganzen, die Dinge der Welt
nicht mehr anreizten als sich ihnen hinzugeben in seinem Willen
und seiner Vernunft — im höchsten Sinne des Wortes — lag;
das macht seine Liebe zu all diesen Dingen begreiflich: er brauchte
sie nicht zu fürchten. Dies ist auch so aussprechbar. So viel
Subjektives, Momentanes, Launisches man in seinem Leben, ja
in seinem Werk finden mag — man hat doch immer das Gefühl,
daß das ganze Leben nie sein Übergewicht über den gerade an
der Oberfläche befindlichen Teil verloren hat. Daß er in jedem
Augenblick als Ganzer in seiner Äußerung lebt, das gibt dieser
die wundervolle Temperierung. Was man als seine Kühle ange-
sehen hat, ist nichts als dieses Aufwiegen des Einzelnen durch
die Ganzheit des Lebens (und deshalb mußte es mit dem Mehr-
Werden dieses Lebens immer zunehmen). In diese Form ordnen
sich auch die Ereignisse seiner Liebe ein und sie ergibt bei ihm
die unvergleichliche Vereinigung, daß der ganze Mensch sich in
das Gefühl hingibt, und daß er eben weil es der ganze ist, immer
Herr über das Gefühl als ein einzelnes bleibt; daß dieses nie
als eine abgelöste Wesenheit, wie das erotische Erlebnis so oft beim
Manne auftritt, sondern als ein lebendiges Glied dieses Organismus
wirkt, das immer von dessen Gesamtleben Kraft und Norm —
freilich darum noch nicht Glück — bezieht. Im großen und
Solipsismus und Hingabe 201
ganzen mindestens besaß er diese menschliche Vollendung:
er konnte sich ganz hingeben, ganz hingerissen werden, ohne
damit aus seinem Zentrum gerückt zu werden. Diese Versöhnt-
heit sonst getrennter und sich gegenseitig aufhebender Lebens-
punkte oder Tendenzen ist dem Goetheschen Leben überhaupt
eigen. Das praktische Ideal, das er im Epimenides ausspricht:
„Nachgiebigkeit bei großem Willen" — hat er in unzähligen
Beziehungen zu Menschen selbst verwirklicht. Die Fähigkeit
sich hinzugeben und sich dabei zu bewahren, die äußerste Energie
und vollkommenes Nachgeben — die absolute Fähigkeit und
Sinnsicherheit seines tiefsten Lebens und die ,,Proteusnatur",
die sich täglich wandelte — unter diesen Synthesen spürt man
eine gemeinsame große Lebensformel, die sich nicht unmittelbar,
sondern nur in derartig partiellen oder gleichsam provinziellen
Äußerungen ergreifen läßt.
Solcher Charakter des Gefühles als Lebensprozesses bedroht
freilich das Verhältnis zu seinem Gegenstand mit einer gewissen
Problematik. Im allgemeinen wird die Liebe, auch als bloßes
Binnenereignis in der einzelnen Seele, wie eine Wechselwirkung
empfunden; der Andere, sie erwiedernd oder nicht, ja, um sie
wissend oder nicht, ist ein aktiver Faktor in ihr, und unter seiner,
wenn auch sozusagen nur ideellen Mitwirkung entsteht im Lieben-
den sein Gefühl. Aber wie in einem Gegensatz hierzu empfindet
man Goethes Erotik als ein rein immanentes Ereignis und als
habe seine Innerlichkeit dessen Kosten gleichsam allein zu tragen;
und es ist wundervoll, wie das Reservierte, Selbstsüchtige, ja
Rücksichtslose, das mit solchem solipsistischen Erleben der Liebe
sich zu verbinden pflegt, bei ihm nie spürbar wird. ,,Bis ins
Innerste der Existenz**, schreibt er als Siebenunddreißigjähriger,
müßten Verhältnisse gehen, wenn ,, etwas Kluges daraus werden
solle". Und: ,,Wenn man nicht unbedingt lieben darf, sieht es
mit der Liebe schon mißlich aus". ,,Zu der Zeit liebt sich's am
besten," sagt er mit 62 Jahren, ,,wenn man noch denkt, daß man
allein liebt und noch kein Mensch so geliebt hat und lieben werde".
Die Liebe sei ,,ein Geschenk, das man nicht zurücknehmen kann,
und es würde unmöglich sein, ein ehemals geliebtes Wesen zu
202 Wesensgesetz und Liebe
beschädigen oder ungeschützt zu lassen". Hierin offenbart sich
nun endlich jene glückselige, die Goethesche Existenz im Tiefsten
bestimmende Harmonie: der ganz freien, gleichsam nur von sich
selbst wissenden, auf sich selbst hörenden Wesensentwicklung
und der Forderungen, die von den Dingen und den Ideen her-
kommen. In Philines Wort: ,,wenn ich dich liebe, was geht's
dich an?" — ist die Einheit der beiden Werte, des idealen und
des personalen, auf das vollkommenste ausgedrückt. Auf der
einen Seite eine höchste Zartheit und selbstlose Hingabe, gegen die
Piatos Vorstellung von der Liebe als dem Mittleren zwischen
Haben und Nichthaben als etwas Egoistisches und Veräußer-
lichtes erscheint. Er hat viele Jahre vorher diese reinste Ge-
staltung der Erotik durch die Tat erwiesen: die Frankfurter Briefe
an Kestners, in denen er dauernd und ohne jeden Vorbehalt von
seiner Leidenschaft für Lotte spricht, gehören zu den allervoll-
kommensten Zeugnissen, die die Welt überhaupt von Reinheit,
Adel der Gesinnung, sittlich sicherem Vertrauen zu sich und an-
deren besitzt. Es ist als ob die Idee der Liebe hier in ihrer Auto-
nomie, frei von allem Habenwollen und von allem Zufälligen
im Menschen zu Worte käme. So kann er selbst die Äußerung
Philines auf Spinozas ganz überpersönliches Wort: Wer Gott
liebt, könne nicht wollen, daß Gott ihn wieder liebe — zurück-
leiten. Aber andrerseits offenbart sich damit doch eine Liebe,
die gerade aus dem Eigensten der Person, aus ihrem absoluten
Selbstsein quillt. Wie er sein Schaffen als ,, Liebhaber" und ohne
Zweckrücksicht auf das, was dabei herauskäme, vollbrachte,
so war ihm auch die Liebe eine Funktion des Lebens, normiert
von dessen organischer Rhythmik, aber nicht von einer Idee, —
mit der sie nun dennoch wie durch ein tiefes ursprüngliches
Einssein harmonierte.
Damit war auch das eigentümlich gefärbte Verhältnis zu den
Gegenständen seiner Liebe gegeben. In all seinen Beziehungen
zu Menschen war ein bestimmender Zug, den man vielleicht
als souveräne Zartheit bezeichnen kann — eine innere Attitüde,
da entstehend, wo die einheitliche Ganzheit des Menschen für
jedes seiner Verhältnisse dauernd Quelle und Dominante bleibt;
Wechsel der Neigungen 203
denn damit sind Hingebung und Distanznahme, das tiefste Ein-
gehen auf den andern und die beherrschende Sicherheit, sich
nie darüber zu verlieren, nur die Seiten eines einzigen Verhaltens.
Und so verschlingt sich in seinen Beziehungen zu den geliebten
Frauen jenes Leidenschaftliche, Selbstlose, Ritterliche — mit
einem eigentümlichen Cachet: als wären sie doch eigentlich nur
die Gelegenheitsursachen, an denen sich ein gerade jetzt notwen-
diges Stadium seiner inneren Entwicklung verwirklichte, und als
wäre das jeweilige erotische Verhältnis die Blüte aus seinen
eigenen Triebkräften, für die die Frau nur Frühlingsluft und
Frühlingsregen war. Wenn Carl August einmal sagt, Goethe
hätte immer alles in die Frauen gelegt und nur seine Ideen in
ihnen geliebt, so liegt diesem wohl etwas plumpen Ausdruck
doch schließlich dasselbe zugrunde, wie der vorhin angeführten
Äußerung zu Kestner, als jemand eine vorteilhafte Schilderung
von Lotte entworfen hatte: ,,Ich wußte wahrlich nicht, daß das
all in ihr war, denn ich habe sie viel zu lieb von jeher gehabt,
um auf sie acht zu haben." Das Entscheidende ist, daß jene
Wechselwirkung zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Liebe,
die sich selbst in der unglücklichen Liebe innerhalb des liebenden
Individuums abspielt, für ihn zurücktrat, und in höherem Maße
seine Liebe ein in sich kreisendes Gefühl, eine je von seiner
individuellen Entwicklung gesetzte Epoche war. Und obgleich
dies, durch die wunderbare Einheit von subjektivem Trieb und
objektiver Forderung in seinem Existenzbild, das geliebte Wesen
nichts von hingebender Leidenschaft und selbstloser Zartheit
entbehren ließ — so erklärt sich daraus doch der häufige Wechsel
der Gegenstände seiner Neigung. Er hat in bezug auf sein Werk
in vielen Formen und zu vielen Zeiten ausgesprochen, es wäre
eigentlich gleichgültig, an welchem Gegenstand man tätig sei:
nur darauf, daß die Kraft sich bewähre, daß ein Maximum von
Wirksamkeit erreicht werde, komme es an. So paradox es scheint,
auch diese Grundmaxime seiner Existenz wiederholt sich an
seinem Verhältnis zu der Pluralität der Frauen. Wie es ihm gleich-
gültig war, ob er ,, Töpfe machte oder Schüsseln", so war es in
diesem Sinne gleichviel, ob er Friederike liebte oder Lili, Frau
204 Treue
V. Stein oder Ulrike. Gewiß war seine Liebe jedesmal eine andere,
die Frau war ihm nicht etwa, wie dem Manne von roher Sinn-
lichkeit, die Frau schlechthin, gleichgültig gegen ihre Indivi-
dualität. Aber daß die Liebe in diesem Augenblick eintrat, daß
sie in ihm dieses unverwechselbare Cachet hatte — das war so-
zusagen nicht von jener erotischen Wechselwirkung her, sondern
von dem Periodencharakter bestimmt, den das Gesetz seiner Ent-
wicklung eben jetzt heraufführte. Er war den Frauen untreu,
weil er sich selbst treu war. Er tut einmal eine sehr merkwürdige
Äußerung über die ,, sogenannte größere Treue der Frauen".
Diese entstünde nur daher, daß die Frauen ,,sich selbst nicht
überwinden können, und sie können es nicht, weil sie abhängiger
sind als die Männer". Damit will er doch der Treue den Wert
absprechen, die durch die Abhängigkeit vom Andern entsteht,
die nicht aus der vollen Freiheit des Individuums stammt; die
jeweilige Empfindung muß vielmehr dem eigenen Lebensprozeß
entfließen, der, wie er ihn auffaßt, eine fortwährende Selbstüber-
windung ist, das Aufbauen eines höheren, vollkommeneren
Seins, gleichsam über den Trümmern des vergangenen. Wer ab-
hängig ist, kann sich nicht überwinden, das heißt, ihm entwickelt
nicht eigenste innerste Notwendigkeit immer neue Inhalte, neue
Wendungen, gleichgültig dagegen ob die Empfindung an ihrem
früheren Gegenstand festwurzelt und sich nur unter Schmerzen
von ihm löst: wir haben genug Beweise für die Leiden, unter
denen Goethe auch seine freiwilligsten Trennungen von den
Frauen, die er liebte, vollzog; seine Untreuen waren Selbst-
überwindungen, das heißt der Gehorsam gegen das Gesetz seines
sich immer höher entwickelnden, jede Vergangenheit über-
bauenden Lebens. Wir sehen diese erotische Rhythmik in Goethes
tiefstes Lebensgefühl eingesenkt, indem wir sie noch mit einer
seiner wunderbarsten Äußerungen verbinden, die der Kanzler
Müller aus seinem 75. Jahre mitteilt: ,,Als unter mancherlei aus-
gebrachten Toasten auch einer der Erinnerung galt, brach Goethe
mit Heftigkeit in die Worte aus: ,,Ich statuiere keine Erinnerung
in eurem Sinne. Was uns irgend Großes, Schönes, Bedeutendes
begegnet, muß nicht erst von außen her wieder erinnert, gleich-
Die Entwicklung des Ich und seine Gegenstände 205
sam erjagt werden. Es muß sich vielmehr gleich von Anfang her
in unser Inneres verweben, mit ihm eins werden, ein neues
besseres Ich in uns erzeugen und so ewig bildend in uns fortleben
und schaffen. Es gibt kein Vergangenes, das man zurücksehnen
dürfte, es gibt nur ein ewig Neues, das sich aus den erweiterten
Elementen des Vergangenen gestaltet." In dieser Auffassung hat
das Leben seine letzte Starrheit überwunden. Auch unsere leiden-
schaftlichen Erlebnisse sind nun nicht an einer Stelle der Ver-
gangenheit, an der wir sie in ihrem unveränderlichen So-Gewesen-
sein wieder zu suchen hätten, angenagelt — und wir mit ihnen;
sondern sie sind die selbst bildsamen Elemente der Lebensge-
staltung, die mit jedem Augenblick neu einsetzt. Gut, wenn diese
Gestaltung jene ungeändert weiter bestehen macht und so die
Erscheinung der Treue gegen ihren Inhalt erzeugt; und Goethes
Leben hat dies in seinen Beziehungen zu Frau von Stein und zu
Christiane erwiesen. Aber auch wo die Entwicklung entschiedene
Wendungen fordert, ist die Untreue nun nicht eine bloße tote
Diskontinuität im Leben, sein Verlaufen wie in eine leere Sack-
gasse; sondern der tiefste Zusammenhang des Lebensprozesses
setzt sich gerade durch diesen Bruch seiner Inhalte fort, der
frühere ist nicht einfach dementiert, wie es sein müßte, wenn er
jenes nur erinnerbare Vergangene wäre, sondern — weil er selbst
ganz aus der Lebendigkeit des Ich bestimmt war — kann er ewig
umgestaltet und umgestaltend das ,,neue, bessere Ich in uns er-
zeugen" helfen. Die Frauen waren ihm Gegenstände jenes schein-
baren Egoismus, dessen Ich in Wirklichkeit kein Genußsubjekt,
sondern eine organisch gesetzliche und deshalb auf ihren Wert
vertrauende Entwicklung ist; wie er es einmal in die kurze
Maxime zusammenfaßt: der Künstler solle ,, höchst selbstsüchtig"
verfahren. Sein eigenes, immer produktives Lernen und Arbeiten
hat er als ,, eigentlich immer nur egoistisch" bezeichnet: sich
selbst habe er daran bilden wollen. Einen erhabenen Begriff
von ,, Selbstsucht" bringt er damit auf. Mehr vielleicht als irgend-
einem Menschen, mit Ausnahme Lionardos, waren alle Reiche
der Welt seine Speise; man möchte auch an Leibniz denken —
aber dessen Intellektualität, die zwar alles Ergreifbare ver-
206 Menschen als Gegenstände
schluckte und verdaute, scheint deren Stoffe und Kräfte nur zu
ihrer eigenen Sonderernährung, nicht aber zum Aufbau einer
vollkommenen Gesamtpersönlichkeit verwandt zu haben. Aber
Goethes großartiger Objektivität war das eigene Ich ein dem
Gesamtsein verhaftetes Element, dessen Vervollkommnung ihm
Pflicht und Lebenssinn war. Wie er als Lernender, als Welt-
aufnehmender, wie er als Künstler ,, höchst egoistisch" war, so
war er es den Frauen gegenüber; wie aber dieser Egoismus einer-
seits die völlige Hingabe an den Gegenstand einschloß, andrer-
seits nur auf jene eigene Vollendung zielte, die ein objektiver
Wert ist und mit dessen Steigerung sich der Wert des all-einen Da-
seins überhaupt hebt — so war auch der Egoismus seiner Liebe.
Dennoch besteht ein Unterschied. Ein menschliches Indi-
viduum, die Strömung des Daseins in eine irgendwie unvergleich-
liche Kurve leitend und sich als Selbstzweck fühlend, will sich
nicht und, vor allem, kann sich nicht in die harmonische Existenz
eines anderen so einfügen lassen, wie das unpersönliche Dasein.
Goethe ist sich darüber prinzipiell — wenn auch in ganz anders
gewendetem Ausdruck — durchaus klar gewesen: er verkehre
am liebsten mit der Natur, denn in der Verhandlung mit Men-
schen irre bald der eine, bald der andere in fortwährender Ab-
wechslung, und damit ,, kommt nichts aufs reine". Jene Grund-
formel seiner Existenz : daß die Entwicklung seines Denkens
und Schaffens, dem eigenen Gesetz allein folgsam, zugleich
den Forderungen der Gegenstände dieses Denkens und Schaf-
fens entsprach — diese Formel galt nicht vorbehaltlos, wo
jene Gegenstände Menschen waren; Menschen, mit ihrem schließ-
lichen Fürsichsein, mit zuletzt doch unbiegbaren Umrissen
ihres Wesens und ihrer Schicksale, die sich mit denen eines
andern, so ungeheuer dessen eigne Harmonie und Harmoni-
sierungskraft sei, nicht notwendig decken. Gewiß hat Goethe,
aus dem innersten Triebe seiner Natur heraus und ohne dazu
eines moralischen Imperativs zu bedürfen, in seine Liebesbe-
ziehungen alle Rücksicht und alle Selbstüberwindung, alle Zart-
heit und alle hingebende und beglückende Leidenschaft eingesetzt.
Und doch ging damit die Rechnung nicht auf. Fast allen Frauen,
Unvermeidliche Dissonanz 207
die Goethe geliebt hat, endete dies Glück in Mißklang und Leiden:
für Ännchen wie für Friederike, für Lotte wie für Lili und für
Frau von Stein. Gewiß war die Ursache solchen Ausgangs in
jedem Fall eine besondere. Allein es scheint mir zu den typischen
Formen des Menschenschicksals zu gehören: daß eine Reihe
von inhaltlich irgendwie verwandten Ereignissen jedesmal in
einen gleichen Effekt auslaufen, jedesmal aber aus einem neuen
und von den früheren Fällen ganz unabhängigen Grunde, der den
jeweiligen Fall auch ganz zureichend erklärt — und daß doch
ihnen allen eine gemeinsame Ursache, wie aus einer tieferen,
die unmittelbare Kausalität nicht berührenden Schicht zugrunde
liegt. Daß Goethe eben jenes ,, höchst selbstsüchtige" Leben lebte
— in wie erhabenem Sinne immer, wie fern immer von der Enge
und Rücksichtslosigkeit der Genußsucht, in wie einzigartiger
Harmonie immer mit der Ganzheit des Seins und den Gesetzen
der Dinge und Ideen — das war doch wohl die tiefste metaphysische
Ursache davon, daß er keiner Frau ein dauerndes Glück bereiten
konnte, selbst in dem bescheideneren Sinne, in dem uns das
erfahrene Leben schließlich den Begriff des dauernden Glückes
verstehen lehrt. An dem definitiven Selbstsein der menschlichen
Individualität versagte, mit sozusagen formaler Notwendigkeit,
die unvergleichliche Gunst, um die er sich wohl selbst den ,, Lieb-
ling der Götter" nennen durfte: die Entwicklung nach dem eigenen
Gesetz in Einheit mit dem Gesetz alles anderen Daseins zu voll-
ziehen.
Aber noch einmal schlug diese Formel gleichsam zurück,
ihre Herrschaft noch über ihre eigene Verneinung erstreckend:
er selbst teilt das schmerzensreiche Schicksal seiner Geliebten,
ihm selbst, von den Frauen geliebt wie wohl wenige Männer,
scheint die Liebe kein Glück, außer auf rasch herabsinkenden
Höhen des Rausches, gebracht zu haben. Er selbst bezeichnet
einmal die jugendliche Verfassung seines Innern als ,, liebe-
vollen Zustand" und daß er ,,das Sehnsüchtige, das in mir lag,
in früheren Jahren vielleicht zu sehr gehegt" habe. Mit fort-
schreitender Männlichkeit aber habe er statt dessen ,,die volle
endliche Befriedigung gesucht". Diese Befriedigung jedoch fand
208 Die Marienbader Elegie
er ersichtlich nicht in der Fortentwicklung jenes „liebevollen
Zustandes", sondern zunächst in Italien (worauf sich jene Stelle
bezieht), allgemeiner aber im Forschen und Wirken. Aber mit
so ungeheurer Kraft er die Bedürfnisse seiner Natur in diese Wert-
richtungen leitete — es blieb irgendetwas wie ein Bruch und
Rest, den er sich, wie er mehr als einmal andeutet, sozusagen
gewalttätig zu vergessen zwang. Er ist ein Siebziger, als er schreibt:
,, Jeder Mensch ist ein Adam; denn jeder wird einmal aus dem
Paradiese — der warmen Gefühle vertrieben." Selbst in dem
Verhältnis zu Frau von Stein wird die Epoche des wirklichen
Glückes erschreckend kurz, wenn man die Briefe nicht nur auf
ihre Oberfläche hin liest. Und was er ihr auch an Glück verdankt,
wird reichlich durch die fürchterliche Erfahrung aufgewogen,
die er während und nach der italienischen Reise mit ihr machen
mußte — gleichviel, wie sich die sogenannte ,, Schuld" auf beide
Parteien verteilt. An das Leiden dieser Erfahrung hat sich — so-
weit man solche Unbeweisbarkeiten aussprechen darf — eine, viel-
leicht die große Wendung seines Lebens geknüpft; damit erstarrte
etwas in ihm, was nicht wieder geschmolzen ist. Der ganze Fall
Christiane erscheint mir als Ergebnis der Ermüdung und Resig-
nation gegenüber dem so oft gesuchten und nie gewonnenen
Liebesglück, als die Flucht in die bescheidene Sicherheit des Halb-
glücks. Es ist eine eigentümliche soziale Ironie, daß der Philister
unter allen erotischen Erlebnissen Goethes den meisten Anstoß
gerade an diesem zu nehmen pflegt, das seiner inneren Struktur
nach sicher das philiströseste von allen war. Und nun rächt sich
noch einmal die zurückgeschobene, auf das tote Gleis geratene
Liebe in dem Marienbader Erlebnis. Das Erschütternde der Elegie,
das ihr eine vielleicht einzige Stellung in der Weltliteratur gibt,
ist dies: daß ein ganz unmittelbares, in voller Lebendigkeit
strömendes Fühlen sich ausdrücken will und dafür nur die schon
erstarrten, resultathaften, sentenziösen Formen vorfindet, die
aus einem ganzen langen Leben auskristallisiert sind und es ver-
weigern, sich noch einmal zurückschmelzen und in jenen Fluß
eines aus der ersten Quelle hervorstürzenden, keiner Formfestig-
keit Untertanen Prozesses von Leben und Liebe hinabziehen zu
Wesensgesetz und Leiden 209
lassen. Dies leidenschaftlich Gegenwärtige ging nicht in die ihm
allein noch gebotene Form der Zeitlosigkeit hinein, hinter der
abgeklärten, weise gewordenen Form fühlt man die Sehnsucht
klopfen, wie einen Gefangenen an die Mauern, die ihn ersticken
wollen. Nie vielleicht hat ein anderes Gedicht rein in seinem
Stil den tragischen Kampf des Jünglings mit dem Greise zum Aus-
druck gebracht. In diesem Verhängnis des Ausdrucks, daß grade
das Höchste des Stils, in dem alle Weite und Tiefe seines Lebens
sich gesammelt hatte, ihm die Möglichkeit entzog, seine Liebe
wie er sie wirklich liebte, auszusagen — spiegelt sich das Verhäng-
nis seiner Wirklichkeit: daß in der Form dieses Lebens offenbar
das Glück der Liebe keine dauernde Heimat finden konnte. —
Ich sagte, daß sogar mit dem Glücksmangel seiner Liebe die Grund-
gestaltung seines Daseins, wenn auch jetzt in der Ebene der
Negativität, sich bestätigte. Ihm war gegeben, daß er für alles
Denken und Leben, wie es sich aus seiner eigensten, innnersten
Notwendigkeit entfaltete, an den Gegenständen dieses Denkens und
Lebens die — wie er selbst sich ausdrückte — ,, antwortenden
Gegenbilder" fand. Wie sein Geist sich großartig und beglückend
abrundete, Geschwister und Gegenbild der einheitlichen Totalität
des Kosmos und seiner Seligkeit, die unseren tiefsten Ahnungen,
von den Griechen her, vorschwebt — so ist das Leiden, das seine
Liebe den Gegenständen dieser Liebe brachte, nur das ,, ant-
wortende Gegenbild" seines eignen Leidens gewesen, als stiege,
wie alles Helle seines Lebens und seiner Welt, auch dieses Dunkle
in ihm und in dem, was um ihn und ihm gegenüber war, Hand in
Hand aus der metaphysischen Einheit alles Seins empor.
Simmel, Goethe. '4
Achtes Kapitel.
Entwicklung.
Unter den Wertunterschieden der Individuen, die sich in der
Form ihrer Existenz ausdrücken, scheint mir einer obenan
zu stehen: ob der Mensch dies oder jenes leisten soll, eine
Summe einzelner Forderungen mit seinem Tun und Sein zu
erfüllen bestimmt oder willens ist; oder ob er als ganzer, mit
der Totalität seiner Existenz, etwas tun oder etwas sein soll.
Dieses Etwas braucht kein angebbares Ziel oder Werk zu sein;
sondern nur dies, daß die Lebenseinheit, über all diesem Einzelnen
stehend und es tragend — wie sich ein lebendiger Körper als
Einheit zu seinen einzelnen Gliedern verhält — etwas für sich
Bedeutsames sei, einem ihr als ganzer gesetzten Ideale Untertan,
in einer einheitlichen Strömung fließend, die alle singulären
Eigenschaften und Taten in sich einzieht und sie übergreift, aus
deren Summe nicht zusammensetzbar. Die als moralisch an-
gesprochene Wertung pflegt sich hierauf nicht zu richten. Für
sie vielmehr rinnt der Wert eines Individuums aus den Werten
seiner einzelnen Charakterzüge und einzelnen Entschlüsse zu-
sammen, während bei jenen Menschen umgekehrt die vielleicht
unbenennbare Intention und Bedeutung, das Sollen ihrer Lebens-
einheit, den Sinn und die Rolle jeder Lebenseinzelheit bestimmt.
Wenn für Goethes Existenzbild irgend eine Charakteristik
unzweideutig ist, so ist es seine Zugehörigkeit zu dieser Seite
der Alternative. Als Ganzes hatte sein Leben ein So-Sein-
und Sich-so-Verhalten-Sollen über sich, dem auch seine objek-
tivste Leistung ebenso diente, wie sie aus ihm kam. Und dies
um so vollkommener, als kein bestimmter Inhalt, den sein
Leben überhaupt realisieren sollte, hingestellt werden kann.
Denn wo dies der Fall ist, wie bei den spezifisch religiösen,
Ideal des Lebens als ganzen 211
wissenschaftlichen, künstlerischen Menschen, läßt selbst die
völligste Konzentration auf dies Eine dennoch eine Anzahl von
Energien unergriffen; unser Wesen ist zu differenziert, um
wirklich all seine Seiten, auch die peripherischen, in den Dienst
eines einzigen Sollens stellen zu können. Nur wo dieses Wesen
schlechthin soll, wo sozusagen ,,die Aufgabe überhaupt" über
ihm steht, wo die Pflicht etwas Funktionelles ist, wie das Leben,
dem sie gewöhnlich als das Feste, Substanziell-Unbewegte ent-
gegengestellt wird — nur da kann es sich mit unendlicher
Flexibilität in die Aufgaben jedes Tages ergießen, nur da ist
kein Teil seiner Ganzheit im genauen Sinne dem Sollen seines
Wesens entzogen. Darum ist es keine Widerlegung, sondern
ein Beweis für jene Struktur der Goetheschen Existenz, daß man
für die ideale Forderung, die man deutlich über ihr stehen
fühlt, keinen bestimmten Inhalt angeben kann; seine heftige
Abneigung gegen alle ,, Profession" hat zutiefst vielleicht dies
zur Ursache. Wenn irgend ein Leben, so hat das seine als
Ganzes etwas gesollt; nicht Dramen dichten oder Naturwissen-
schaften treiben oder praktisch wirken — dies alles ist das
jeweilige Sollen einzelner Begabungen seiner Natur. Sondern
dies Leben war von seiner Wurzel so einheitlich und entschieden
zusammengefaßt, daß man seine Ungetrenntheit wie durch ein,
freilich unbenennbares Sollen, ein Ideal seiner Ganzheit, normiert
empfindet, das sich in jene einzelnen Forderungen nur ebenso
auseinanderlegt, wie die Wirklichkeit seines Lebens in einzelne
wirkliche Leistungen. Die Arten, auf die sich diese Forderung
an die Lebenstotalität in den Intentionen seiner Lebensepochen
verwirklicht, gibt diesen ihren unterscheidenden Charakter.
In unmittelbarer, wenn auch ihm selbst nicht formulierbar
bewußter Form ist seine Jugend, zuhöchst bis zur Rückkehr
aus Italien, diesem Ideal Untertan. So treu und hingegeben
sein Schaffen, Handeln, Forschen auch von vornherein war,
man fühlt deutlich, daß die Vollendung seiner Existenz das
letzte treibende Motiv in alledem ist; er ist hier der subjektive
Lyriker, dem diese Lebensform nicht nur Wirklichkeit, sondern
ihr zentrales Ideal und dadurch freilich auch etwas Objektives
14*
212 Jugendliche Formung
ist. Auf der Höhe dieser Epoche sagt er im Jahre 1780:
„Diese Begierde, die Pyramide meines Daseins, deren Basis mir
angegeben und gegründet ist, so hoch als möglich in die Luft
zu spitzen, überwiegt alles andere und läßt kein augenblick-
liches Vergessen zu. Ich darf mich nicht säumen, ich bin
schon weit in Jahren vor und vielleicht bricht mich das Schick-
sal in der Mitte und der babylonische Turm bleibt unvollendet.
Wenigstens soll man sagen : er war kühn entworfen, und wenn
ich lebe, sollen will's Gott die Kräfte bis hinauf reichen." In
demselben Jahre schreibt er (und oft in dem gleichen Sinne)
an die Stein: ,,Sie sehen, ich erzähle immer vom Ich. Von
andern weiß ich nichts, denn mir inwendig ist zu tun genug,
von Dingen, die einzeln vorkommen, kann ich nichts sagen."
Und sicherlich ist es die gleiche Basis, von der aus er als
fünfundzwanzigjähriger Mensch sagt, da doch ein unerhörter
Reichtum von Liebe und Freundschaft, von sachlichen Interessen
und Hoffnung auf sachliche Leistungen um ihn war: ,,Die
beste Freude ist das Wohnen in sich selbst." Dies war die
Zeit, in der die Kraft des Lebens als solchen, die reißende
Strömung seines Prozesses selbst alle angebbaren Inhalte, so
wertvoll und bedeutsam sie in einer Oberschicht für ihn sein
mochten, in sich einschlang. Freilich ist das nur die typische
Stimmung und Gerichtetheit der Jugend überhaupt. Denn
wenn es, an den großen Lebenskategorien gemessen, überhaupt
eine polare Entgegengesetztheit zwischen Jugend und Alter gibt,
so ist es diese: daß in der Jugend der Prozeß des Lebens das
Übergewicht über dessen Inhalte hat, im Alter die Inhalte über
den Prozeß. Die Jugend will vor allen Dingen ihr Dasein
bewähren und fühlen, der Gegenstand ist — in der Hauptsache
— nur wesentlich, insofern an ihm dies geschieht, und was
man ,,die Treulosigkeit der Jugend" genannt hat, besagt nur,
daß ihr die Lebensinhalte noch nicht recht eigenwertig sind und
deshalb leicht gewechselt werden, sobald das dominierende
Interesse es fordert: die Äußerung der drängenden Kräfte, die
Intensität des Lebensprozesses, die Empfindung des subjektiven
Daseins, das die Welt gleichmäßig zu seinem Material macht,
Objektivität des Alters 213
wenn es sie in sich einschlürft, wie wenn es sich ihr opfert.
Indem das Alter diese Strömung verlangsamt, die Lebensfunktion
als solche herabsetzt, steigert sich ihm die übersubjektive Be-
deutung des Sachgehaltes der Welt ; wie die Dinge ohne Rück-
sicht auf das eigne Leben sind, bekommt ihm einen definitiveren
Ton — eine Entwicklung, die auf ihrem Höhepunkt das eigne
Subjekt in ihre Formel zieht; sei es, daß der Mensch nun im
Erkennen wie im Handeln das eigne Dasein nach den Normen
objektiver Inhalte lebt, dieses Leben selbst aber als subjektive
Funktion ganz aus Bewußtsein und Intention ausschaltet; sei
es in den Alterswerken des großen Künstlers, in denen sozu-
sagen der transzendente, durch die Schwebungen des empirischen
Lebens hindurchgewachsene Kern der Persönlichkeit sich in
ganz neuen, über die Polarität des Subjektiven und des Objektiven
triumphierenden Formen ausspricht. Daß Goethe selbst den
Gegensatz so empfunden hat, gibt einer zunächst flach und
wunderlich aussehenden Bemerkung der späteren Zeit erst ihre
begründende Tiefe: ,,Der Irrtum ist recht gut, so lange wir
jung sind; man muß ihn nur nicht mit ins Alter schleppen."
Der Irrtum ist für die Jugend ,,gut**, weil es für sie überhaupt
nicht auf Erkenntnis in ihrem sachlichen Wert ankommt, sondern
auf Werden, Wissen, Sein; was diesen dient, ist gut, mag es
als Inhalt, der in der Gegenhaltung gegen die Objekte sein
Kriterium findet, richtig oder falsch sein. Das Alter aber ist
dem Objektiven zugewendet und der Irrtum geht deshalb gegen
die spezifische Intention der Altersepoche, wie Goethe sie faßt :
als das Auseinandergehen des Lebensprozesses in Erkennen
und Handeln, — während die Jugend der Gewalt dieses Prozesses
Untertan ist und ihm das Wahre und das Irrige gleichmäßig
zum Material macht. Und wie mit dem Wahren und Irrigen,
so steht es mit dem Guten und Bösen. In der Jugend erscheinen
ihm die moralischen Satzungen oft nichtig gegenüber der über-
wältigenden Macht des Natürlichen. Der Begriff des einheit-
lichen, dynamischen Lebens, der ihn beherrscht, ist einerseits
unabhängig von Gut und Böse, andrerseits sind diese selbst ein
Sein, sind dessen bloße qualitative Bestimmtheiten. In seinem
214 Lebensbestimmung durch das Sein und durch die Inhalte
Alter wächst diesen Normen eine immer größere Bedeutung zu,
und wenn er sie auch in das natürliche Leben der geschicht-
lichen Menschheit einstellt und sie sich ineinander verwurzeln
und verzweigen läßt, so werden sie doch als ,, Tugend und
Laster" entschieden getrennt. Dem Jüngling erscheinen gut
und böse oft als Eines, weil es ihm nicht auf die Inhalte,
sondern auf den Lebensprozeß ankommt, der zu jener, von
objektiven Normen herkommenden Einteilung gar kein prin-
zipielles Verhältnis hat: allenfalls sind ,,gut und böse" etwas,
was wir sind, während die Altersbegriffe ,, Tugend und Laster"
etwas sind, was wir haben, was sich von der Lebensgrundlage
ideell in höherem Maße gelöst hat. — Goethes Lebensarbeit ist
nun — so verschieden in ihm verteilte Akzente uns die weitere
Entwicklung zeigen wird — einerseits nie von dem Streben
nach Objektivierung seines Subjekts, andrerseits nie von dem
freien, in sich selbst zentrierten und auf die eigene Vollendung
gehenden Sich-Darleben des Ichs verlassen. Was ich eben als
das Charakteristikum seiner Jugend ansprach : die Bestimmtheit
durch das Ideal des persönlichen Seins, geht mit später auf-
zuweisenden Wendungen und Differenzierungen durch sein
ganzes Leben und trennt dies sehr entschieden von andern
Existenzen, die von vornherein auf Herausarbeitung und Be-
arbeitung von Inhalten des Lebens eingestellt sind. Im
eminenten Sinne war Kant eine solche. ,,Ich bin selbst aus
Neigung ein Forscher", lautet eine in seinem Nachlasse gefundene
Notiz. ,,Ich fühle den ganzen Durst nach Erkenntnis und die
begierige Unruhe, darin weiter zu kommen oder auch die Zu-
friedenheit bei jedem Fortschritte. Es war eine Zeit, da ich
glaubte, dieses alles könnte die Ehre der Menschheit machen
und ich verachtete den Pöbel, der von nichts weiß. Rousseau
hat mich zurecht gebracht. Dieser verblendete Vorzug ver-
schwindet: ich lerne die Menschen ehren und würde mich viel
unnützer finden, als die gemeinen Arbeiter, wenn ich nicht
glaubte, daß diese Betrachtung allen übrigen einen Wert geben
könnte, die Rechte der Menschheit herzustellen." So echt und
fundamental diese Leidenschaft des Erkennens ist, so ist damit
„Gefühl ist Alles" 215
der Wert des subjektiven Lebens von einem Kriterium abhängig,
das gegen dieses Leben prinzipiell ganz gleichgültig ist: Kant
will das Gefäß der Erkenntnis werden, die sich aus ihrer
ideellen Existenz heraus in ihm realisiert. Und die Wendung, zu
der ihn Rousseau veranlaßt, richtet seine Wertbetonungen von
dem ab, was er ,,aus Neigung" ist, unterstellt sein Tun einer
Ordnung, die völlig jenseits seiner selbst steht. Es sind immer
die objektiven Inhalte seines geistig-innerlichen Lebensprozesses,
von denen diesem Form, Bewegung, Wert kommt — während
bei Goethe der Lebensprozeß das erste ist und von ihm, seinen
Normen und Kräften aus, erst die Inhalte nach Art, Schicksal
und Bedeutung bestimmt werden. Die Einheit des Daseins,
das sich in Prozeß und Inhalt erschöpft, wurde so bei beiden
von entgegengesetzten Seiten her gewonnen. Weil aber, wie
gesagt, in der Jugend der Prozeß des Lebens das Übergewicht
über seine Inhalte hat, im Alter die Inhalte über den Prozeß,
darum ist in Goethe etwas von ewiger Jugend, während Kant
von vornherein etwas Altes hat.
Die besondere Unbedingtheit und Unmittelbarkeit, mit der
Goethes Jugend diesen Zug zuspitzt, offenbart sich in der Vor-
herrschaft derjenigen seelischen Energie, die gleichsam die psycho-
logische Vertretung oder Bewußtheit der so gerichteten Lebens-
realität ist: des Gefühles. Seine Jugend steht durchaus unter
dem Zeichen: ,, Gefühl ist Alles." Ich führe nur einige Stellen
vom Anfang seiner zwanziger Jahre an. Von einem Freunde
schreibt Werther : ,,Auch schätzt er meinen Verstand und meine
Talente mehr als dies Herz, das doch mein einziger Stolz ist,
das ganz allein die Quelle von Allem ist, aller Kraft, aller
Seligkeit und alles Elends. Was ich weiß, kann jeder wissen
— mein Herz habe ich allein." Unmittelbar, ohne dichterische
Verlegung, an einen Freund, der ihn religiös beeinflussen will:
„Daß du mich immer mit Zeugnissen packen willst! Wozu die?
Brauch' ich Zeugnis, daß ich bin? Zeugnis, daß ich fühle?
Nur so schätz', lieb', bete ich Zeugnisse an, die mir darlegen,
wie Tausende oder einer vor mir eben das gefühlt hat, das mich
kräftiget und stärket." Über den Götz bald nach seinem Er-
216 Tragik der Herrschaft des Gefühls
scheinen: „Es ist alles nur gedacht, das ärgert mich genug.
Wenn Schönheit und Größe sich mehr in dein (d. h.
mein) Gefühl webt, wirst du Gutes und Schönes tun, reden
und schreiben, ohne daß du weißt warum.'' Kestner urteilt
über ihn als Dreiundzwanzigjährigen: ,,Er strebt nach Wahrheit,
hält jedoch mehr von dem Gefühl derselben, als von ihrer
Demonstration." Alles, was die ursprüngliche, im Gefühl sich
ausdrückende Seinseinheit auseinanderzieht und in Stücke zer-
legt, ist ihm jetzt verhaßt, so daß er sich über eine ihm zuge-
mutete Kritik so äußert: Was er sagen könne, müsse der
Autor in sein Gefühl übertragen, und aus dem so geschaffenen
Gefühl erst heraus könne er etwas ändern. „Ich hasse alle
Spezialkritik von Stellen und Worten. Ich kann leiden, wenn
meine Freunde eine Arbeit von mir zu Feuer verdammen,
umgegossen oder verbrannt zu werden; aber sie sollen mir
keine Worte rücken, keine Buchstaben versetzen." Seine
Produktion selbst leitet er, mit 24 Jahren, ganz unmittelbar
und gleichsam unter Ausschluß objektivischer Motive, aus dem
Leben und dem Fühlen ab: ,, Meine Ideale wachsen täglich aus
an Schönheit und Größe und wenn mich meine Lebhaftigkeit
nicht verläßt und meine Liebe, so soll's noch viel geben."
Und mit fast 70 Jahren beurteilt er den Gegensatz, der sich
als der Träger der weiteren Entwicklung zeigen wird, in ent-
scheidender Weise: ,, Meine ersten ins Publikum gebrachten
Produktionen sind im eigentlichsten Sinne gewaltsame Aus-
brüche eines gemütlichen (d. h. gefühlsmäßigen) Talents, das
sich aber weder zu raten noch zu helfen weiß." Er setzt also
— worauf wir alles ankommen sehen werden — das Gemüt in
den Gegensatz zum Theoretischen, mit dem man sich zu „raten"
weiß, und zum Praktischen, mit dem man sich zu , »helfen " weiß.
Diese Eingestelltheit seines jugendlichen Lebens auf die Herr-
schaft des Gefühls erweist sich nicht minder an der tragischen
Konsequenz, die sie im Werther gewinnt. Das wunderbar
Schöne und Charakteristische dieser Jugend, die Existenz aus
der unbegrenzten Fülle des Gefühles heraus, zeigt sich hier,
eine echte Tragik, in seinem Selbstwiderspruch und seiner Ver-
Rettung 217
nichtungsnotwendigkeit, die ihm gerade im Augenblick seines
Absolutwerdens kommt. Gewiß ist Werthers Gefühl eine äußerste
Steigerung des Lebens; aber indem es in sich selbst verbleibt,
nur von sich selbst zehrt, muß es sich zerstören — wie später
Aurelie und Mignon aus derselben Ursache zugrunde gehn, aus
dem ausschließlichen Leben im Gefühl, das, trotz seiner imma-
nenten Unendlichkeit, doch das Leben sich in eine Sackgasse
verrennen, ,,alle andern Kräfte in mir ungenützt vermodern"
läßt. „Ich bin so glücklich, schreibt Werther, so ganz in dem
Gefühl vom ruhigen Dasein versunken, daß meine Kunst
darunter leidet. — Aber ich gehe darüber zugrunde, ich unter-
liege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen."
Vielleicht hängt dies auch so zusammen, daß das Gefühl, so
weitgehend seine Vollmacht zur psychologischen Vertretung der
Gesamtexistenz ist, eben doch nur deren Reflex in der Sub-
jektivität ist. Die Idealbildung der Goetheschen Jugend ging
auf die Vollendung des Seins als solchen, in allem, was er
dachte und tat, war es das unmittelbare, alles tragende und
treibende Leben der Persönlichkeit, auf dessen Intensität und
innere Ausbildung es ihm ankam. Indem damit aber unvermeid-
lich das Gefühl zur Dominante des Lebens wird, entsteht die
Gefahr, daß dieses, das doch nur die subjektive Spiegelung und
Symbolisierung unsres realen Seins ist, sich von diesem ablöst
und sich als Substanz des Lebens auftut. Dieser Gefahr unter-
liegt Werther und zehrt damit die tatsächliche Existenz selbst
auf. Goethe aber rettete sich von dieser Konsequenz, indem
er den Werther schuf, d. h. indem Objektivierung und Pro-
duktivität an die Stelle des bloßen, in sich schwingenden Ge-
fühlszustandes trat, die große Akzentverlegung seines Lebens,
die wir gleich kennen lernen werden, andeutend.
Ich sagte, daß diese, das persönlich-lebendige Sein und das
Gefühl zur Grundlage wie zum Ideal nehmende Existenz nur
den Typus der Jugendlichkeit überhaupt besonders rein heraus-
arbeitete. Allein daß dies der Fall ist, geht doch wohl auf die
phylogenetische Stellung des Gefühls zurück. Je undifferen-
zierter sich unsere Existenz als Gesamtzustand, Gesamtsinn und
218 Wesenswert der Jugend
-wert spiegeln will, desto mehr gelingt ihr dies in den Formen
des Gefühls, gegenüber den gespalteneren, vermitteiteren des
Denkens und des Wollens. Die ersten Zustände der Seele sind
doch wohl Gefühle, und ,, Wille und Vorstellung" erst sekun-
däre, vielleicht pari passu ausgebildete. Aber dieses so aus der
Lebenstiefe hervorbrechende Ideal einer einheitlich -subjektiven
Seinsvollendung, wie es sich im ersten Faustmonolog als meta-
physisches, im Spaziergang mit Wagner als sozusagen vitali-
stisches ausspricht, alle Sehnsucht der gefühlten Fülle und
Vollendung des Erlebens zudrängend — dieses Ideal gibt dem
Bilde des jungen Goethe einen Zauber, eine Ahnung mensch-
heitlicher Vollendung, ein unerhörtes Versprechen, dem gegen-
über alle Wunder seines späteren Seins und Leistens, obgleich
sie die Kraft der Wirklichkeit gegenüber der bloßen Möglich-
keit besitzen, ein leises Abblassen bedeuten. Vielleicht liegt
hier ein allgemeines Schicksal der Menschheit, das sich nur an
ihren höchsten Exemplaren besonders verdeutlicht, weil wir sie
als die ,, höchsten" eben auf Grund von Leistungen zu nennen
pflegen, die meistens der Zeit nach, mindestens aber dem
Sinne nach jenseits der Jugendlichkeit liegen; daher stammt
wohl das seltsam Ergreifende, das so oft die Jugendbildnisse
der großen Menschen für uns haben. Sie mögen sich nachher
zu dem unerhörtesten Schaffen und Wirken erhoben haben —
mit irgend einer Einbuße, irgend einer Vereinseitigung, irgend
einer Temperatursenkung ist es erkauft, obgleich sie das, was
sie verloren haben und um ihrer Leistungen willen verlieren
mußten, eigentlich gar nicht als Wirklichkeit besaßen, aber
doch auch nicht als bloße abstrakte Möglichkeit; sondern unter
jener, logisch so schlecht greifbaren Kategorie, in der das
lebendige Wesen seine Zukunft schon als Gegenwart besitzt, in
der seine ungelösten, vielleicht nie zu lösenden Spannkräfte es
schon als eine Wirklichkeit besonderer Art umschweben. Auch
ist in dieser ahnungsvollen Darbietung eines Gesamtseins, gegen
die alle spätere konkrete Leistung Zerlegtheit und Einseitigkeit
ist, die spezifische ,, Liebenswürdigkeit" der Jugend begründet;
denn Liebe richtet sich eben auf die Ganzheit des Menschen
Auseianderlegung in Handeln und Erkennen 219
und nicht auf noch so wertvolle einzelne Perfektionen und
Taten, die höchstens als Brücke für das Verhältnis zu jener
Ganzheit dienen können. Der Zauber von Goethes Jugend, der
ihm die Liebe aller Herzen gewann, scheint in dieser vorbehalt-
losen Darlebung und Offenbarung seiner gleichsam in sich un-
geteilten Persönlichkeit gelegen zu haben, seiner Existenz, die
noch nicht in differenzielle Kanäle geleitet war.
Das Ideal der Vollendung des persönlichen Seins geht ihm
in die des Handelns (als Schaffen und als Wirken) und des
Erkennens auseinander — in vereinzelten Ansätzen schon in
der frühen Weimarer Zeit anklingend, entschieden aber nach
der Rückkehr aus Italien. Und es ist das ganz Unvergleich-
liche seines Bildes, daß jener damit geschehende Abbruch an
Schönheit und Kraft seines Lebens nur das schlechthin, ich
möchte sagen: logisch unvermeidliche Minimum war. Und
zwar, weil diese Wandlung ein rein inneres Entwicklungsschicksal,
eine von vornherein in dem organischen Gesetz seines Wesens
vorgezeichnete Periodik war. Wo die Kraft aus der Form der
Gesammeltheit, die sie nur als jugendhafte Möglichkeit besitzt,
in Bewährungen übertritt, aus dem sich selbst genügenden
Lebensvorgang in einzelne Inhalte geleitet wird, da büßt sie
natürlich den Glanz und Reiz ein, der nun einmal, unvergleich-
bar, gerade an jener Form haftet. Aber in den meisten
Lebensläufen wird damit auch ein Teil der Kraft selbst lahm-
gelegt, der Strom der Vitalität, in eine Mehrheit von Adern
auseinandergeführt, nun mehr von bestimmten Zielen gezogen,
statt von der Einheit seiner Quelle getrieben, verliert dabei an
Macht und Gedrängtheit. Diese weitergehende, weiter verlierende
Konsequenz ist bei Goethe nicht eingetreten; als er aus dem
Idealismus der subjektiven Lebendigkeit zu dem des objektiven
Wirkens und Erkennens überging, war freilich die Jugend mit
ihren spezifischen Werten verloren, aber weiter auch nichts.
Jenes dynamische intensive Sein bleibt in der Theorie und in
der Praxis, in die es auseinandergeht, als deren Substanz er-
halten, es fällt nicht, wie in der Mehrzahl solcher Entwick-
lungen, zwischen ihnen durch oder wird zwischen sie aufgeteilt.
220 „Wort und Tat"
Aus der Einheit des ursprünglichen Lebenstriebes, der sich in
diese beiden hineingelebt, wird die Zusammengehörigkeit ver-
ständlich, in der er sie beide fortwährend erblickt. Wenn er
alles Wissen haßte, das seine Tätigkeit nicht belebte, keinen
Eindruck anerkannte, der ihn nicht produktiv machte, an der
Praxis das Kriterium des theoretisch Wahren fand — so wirkt
in all dem die Gemeinsamkeit der Wurzel, die die seines Lebens
von Anfang an war. Nachdem sie sich in Erkennen und
Handeln auseinandergezweigt hatte, blieben dieser beiden soli-
darische Beziehungen als Folge und Symbol jener Wurzelung
zurück.
Das klare und prinzipielle Bewußtsein dieser entscheidenden
Wendung spricht sich z. B. in einer Äußerung vom Jahre 1805
aus, in der er die Erinnerung an bedeutende Gegenstände, be-
sonders an charakteristische Naturszenen, mit ihrem Eindruck
nach langer Zwischenzeit vergleicht. ,,Da werden wir denn
bemerken, daß das Objekt immer mehr hervortritt, daß, wenn
wir uns früher an den Gegenständen empfanden, Freud und
Leid, Heiterkeit und Verwirrung auf sie übertrugen, wir nun-
mehr, bei gebändigter Selbstigkeit, ihnen das gebührende Recht
widerfahren lassen, ihre Eigenheiten zu erkennen wissen." Dazu
erinnere man sich an alle die Äußerungen über den Wert des
praktischen Verhaltens als solchen, die in unsren früheren
Zusammenhängen hervortraten und mit seinem steigenden Alter
immer entschiednere Form annehmen. Er ist noch keineswegs
ein alter Mann, als er sagt, in seinem Alter gebe es für ihn
nur noch Wort und Tat, das sogenannte beredte Schweigen
habe er schon lange der lieben und verliebten Jugend über-
lassen — eine Absage also an die gefühlshafte Lebensepoche
zugunsten der theoretisch-praktischen. Er selbst zwar kon-
struiert als den Gegensatz gegen diese letztere meistens die des
dichterischen Schaffens — sowohl im Verfolg jener Äußerung
von 1805 wie zwanzig Jahre später sagt er ausdrücklich, daß
die Fähigkeit für das Künstlerische, Ästhetische, die ihm ur-
sprünglich eignete, ihn verlassen habe und daß an dessen Stelle
die Naturstudien getreten wären. Dies sind indes ersichtlich
Die beiden Teile des Meister 221
Stimmungen aus dichterisch sterilen Monaten oder Jahren. Die
Tatsachen zeigen, daß ihm das Alter die dichterische Fähigkeit
keineswegs geraubt hat, aber auch ihr gab er freilich das Cachet
der Objektivität; auch sie bewahrend wurde er nun der ,, Er-
zählende", der das eigne Leben und seine Inhalte gegeneinander
differenziert hat, und sie nun in der Form des Kunstwerks
ebenso wieder zusammenbringt, wie in der des Forschens und
des praktischen Handelns.
Das Verhältnis der beiden Teile des Meister bildet die bisher
skizzierte Entwicklung nach. Die Lehrjahre stehen unter dem
Ideal, die Persönlichkeit auszubilden und auszuleben. Der
Selbstwert objektiver Leistungen kommt kaum in Frage, außer
etwa bei Therese, die aber auch nach dieser Richtung hin
eigentlich schon in die Wanderjahre überdeutet. Daß gerade
der Schauspieler und der Edelmann besondre Schätzung erfahren,
ist hierfür außerordentlich bezeichnend. Denn für beide ruht
diese Schätzung, wenn auch in ganz verschiedener Motivierung,
keineswegs auf den spezifischen Inhalten und substanziellen
Resultaten ihrer Existenz. Die Leistung des einen ist die
schlechthin verfließende, rein funktionelle, deren überindividuelle
Wirkung auch nur wieder auf die funktionelle Bildung und
Seinserhöhung des Publikums geht, die Leistung des andern
wird überhaupt nicht substanziiert. Worauf es für beide an-
kommt, ist gerade die Befreitheit von Lebensinhalten, die die
sich selbst gehörende, aus dem Seinsideal folgende Entwicklung
der Persönlichkeit in einer sachlichen und äußeren Ordnung
festlegen könnten. Zu solcher unsachlichen und undifferenzierten,
auf das Leben als solches gerichteten Existenz und Existenz-
wertung sind die Frauen von vornherein disponierter und gerade
dies spezifisch Weibliche ist in fast all seinen möglichen Ver-
wirklichungstypen in den Lehrjahren durchgeführt, in Marianne
wie in Mignon, in Philine wie in der Gräfin, in Aurelie wie in
Natalie. In der letzteren am reinsten und vollkommensten,
und es spricht deshalb den tiefsten Sinn von Wilhelms Lebens-
intention aus, daß er in ihr die Erfüllung all seiner Sehnsucht
findet, nachdem die erotischen Beziehungen zu den anderen
222 Individualität und Menschheit
Frauen schon die Parallelität gezeigt haben, die zwischen dem
Dominieren des Gefühls und dem Ideal des gesamten Seins,
das ihn leitet, besteht. In der ganzen Breite dieser Wertrich-
tung des Lebens bilden die Wanderjahre das genaue, ja eigent-
lich krasse Gegenteil. Hier liegt aller Ton auf dem objektiven
Wirken, den sozialen Institutionen, der überindividuellen Ver-
nunft. Die Menschen sind nur die eigentlich anonymen
Träger bestimmter, durch ihren Inhalt festgelegter Funktionen,
an die Stelle der auf sie selbst bezüglichen, für sie selbst wert-
vollen Ausbildung tritt die für die Ausübung von Tätigkeiten,
die sich in ein objektives Ganzes einordnen. Während die Luft
der Lehrjahre so kontinuierlich von Lebenswellen erfüllt ist,
wie es nur geschehen kann, wo das Leben um seiner Absolut-
heit willen, das Sein um seiner eignen Vollendung willen ge-
sucht wird, atmet man in den Wanderjahren dünne Luft, weil
die Lebensstrahlen auf je einzelne Ziele festgelegt, gleichsam
linear differenzierte sind und dadurch leere Zwischenräume
zwischen ihnen bleiben müssen. Die Spannung der Atmosphäre
zwischen dem männlichen und dem weiblichen Pol ist fort-
gefallen, Männer und Frauen sind dem gleichen objektiven
Gesetz unterstellt, das nicht mehr ein Gesetz des Seins, sondern
des Wirkens und Leistens ist, und an die Stelle des Gefühls
ist die Weisheit getreten. Das bedeutet einen Begriff der In-
dividualität, der sich gegen dessen frühere Formung antagonistisch
abhebt und sich nach dem Begriff der Menschheit orientiert
zeigt. Je älter Goethe wird, desto mehr tritt ihm sozusagen
an die Stelle des Menschen die Menschheit. Das Leben hat
ihn überzeugt, daß der Einzelne sich zu jener wirklichen indi-
viduellen Vollkommenheit, die seiner Jugend vorschwebte, nicht
ausbilden kann — so soll es denn die Menschheit: ,,Das Jahr-
hundert ist vorgeschritten, aber der Einzelne fängt doch immer
von vorn an." Diese Vollkommenheit aber gewinnt die Mensch-
heit nicht durch eine qualitativ gleiche, sondern — indem er
auch dieser Abstraktion das Prinzip des Organismus bewahrt
— durch die arbeitsteiligste Ausbildung ihrer Glieder. ,,Narrens-
possen sind eure allgemeine Bildung und alle Anstalten dazu.
Objektivierung des Subjekts 223
heißt es in den Wander jähren. Daß ein Mensch etwas ganz
entschieden verstehe, vorzüglich leiste, wie nicht leicht ein
Andrer in der nächsten Umgebung, darauf kommt es an."
Während in den Lehrjahren das persönliche Leben als solches
differenziert wird und, weil jedes Individuum eine Welt ist,
nun ein jedes auch eine differenzierte Welt ist, wird in den
Wanderjahren eine einheitliche Welt erstrebt, innerhalb deren
also nicht die Personen, sondern nur die Leistungen, die ob-
jektiven Bestandteile dieser Welt, differenziert sein müssen.
Hier liegt eine der tiefsten Beziehungen und Begründungen
von Goethes Altersideal des Praktischen. Erst das Handeln,
insofern es von seinem Inhalt bestimmt und nach seinem
Resultat gemessen wird, stellt sich als Teil in die objektive
und gesellschaftliche Welt ein, die Menschheit in diesem letzteren
Sinne fordert für Goethe nicht die Differenzierung des selbst-
genugsamen, seine eigene Vollendung suchenden Menschen,
nicht sein Sein und sein Fühlen, sondern sein Tun, sein sach-
gemäßes Wirken ; die Wendung vom Menschen zur Menschheit
bedeutet zugleich die vom Individuum als dem Träger eines
individuellen Seins zum Individuum als dem Träger einer in-
dividuellen Leistung und besiegelte Goethes große Wendung vom
Wert des personalen Lebens zu dem der objektiven Inhalte des
Lebens.
Wenn man die ,,Idee** der Goetheschen Lebensintention for-
mulieren, seinem einheitlich-totalen Sollen einen Inhalt bestimmen
soll, so ist es doch: die Objektivierung des Subjekts. In einer
kaum überschaubaren Arbeit hat er das vielleicht reichste, ge-
drängteste, bewegteste subjektive Leben, das wir kennen, derart
zu objektiver Geistigkeit gebildet, daß man den ganzen Umfang
und die unzähligen Ausschlagspole dieses rastlosen innerlichen
Werdens, dieser immer schwingenden, immer empfangenden und
immer zeugenden Ichfunktion wie lückenlos an dem zeitlos aus-
gebreiteten Werk ablesen kann. Die wechselnden Gefahren des-
jenigen, der wie Goethe sein Werk als eine Konfession bezeichnet:
entweder in ein naturalistisches Herausbrodeln zu verfallen oder
die Lebensinhalte so fest zu verformen, daß ihre Verbundenheit
224 Differenzienmg als Versachlichung
mit dem Subjekt nicht mehr fühlbar bleibt — diese Gefahren
bestanden für Goethe nicht. Was er von den Wahlverwandt-
schaften sagt: es wäre keine Zeile darin, die er nicht erlebt
hätte, aber auch keine so, wie er sie erlebt hätte, drückt, wenn
auch negativ und vielleicht etwas äußerlich, das Entscheidende
aus: das rein Subjektive, das er in sein Werk hineingab und das
rein Objektive, als das es in diesem erstand. Die anderen
höchsten Künstler, deren Werk gleichfalls als Objektivierung
des Subjekts empfunden wird: Michelangelo, Rembrandt und
Beethoven, konnten in den, den sprachlichen Mitteln gegenüber
spezialistischeren Ausdrucksmöglichkeiten ihrer Kunst das innere
Dasein als Geist, Gefühl und Ethos nicht in dem gleich lücken-
losen Umfang ausbreiten. Diese große menschheitliche Leistung
wird eigentlich nur in andrer Wendung durch das hier oft Wieder-
holte ausgedrückt: vermöge der tiefen Einwurzelung seiner in-
dividuellen Realität in das Kosmische und Ideelle habe er nur
der Triebhaftigkeit, dem aus sich selbst wachsenden Prozeß
seines subjektiven Lebens zu folgen brauchen, um das objektiv
Rechte und Tiefe, das künstlerisch Vollendete, das ethisch
Geforderte zu leisten; und so umfassend war diese Einheit, daß
alle Selbstbeherrschung, Selbsterziehung und Resignation, deren
es zur Herausbildung dieses Ergebnisses bedurfte, zum Charakter
und Rhythmus seines unmittelbaren, subjektiven Lebens selbst
gehörte. Aber in seinen verschiednen Epochen geht diese sub-
jektiv-objektive Einheit verschiedene Verwirklichungswege. Sie
zeigt sich in seiner Jugend mit einer gewissen naiven Reinheit,
indem er die Ideale des Lebens auf das Leben selbst sammelt
und die zentrale Triebkraft auf die Vollendung des persönlichen
Seins richtet. Die Entwicklung über diese Stufe hinaus mag
man als Differenzierung oder als Objektivierung bezeichnen.
Auf sehr klare Art erweist sie die Wechselbedeutung dieser
beiden Begriffe. Überall, wo die Einheit des subjektiven Lebens
sich in Sonderbetätigungen, Sonderinteressen zerlegt, bedeutet
es, daß von dem einheitlichen Persönlichkeitspunkt Radien sich
strecken, die in außerpersonale, objektive Gebiete hineinreichen
oder von diesen gewissermaßen aus jenem herausgelockt, heraus-
Differenzierung in sich und gegen die Welt 225
gezogen werden. Die ganze geistige und soziale Geschichte der
Menschheit zeigt — als einen ihrer wenigen, annähernd als ge-
setzlich anzusprechenden Züge — , daß jede Arbeitsteilung ein
Schritt zum Objektivwerden der Interessen und Einrichtungen
ist; je differenzierter eine Gesellschaft ist, desto sachlichere, un-
persönlichere Normen bildet sie aus, je geteilter die Funktionen,
desto mehr ist das schließliche Resultat, weil es nicht mehr einer
einheitlichen Person genetisch verbunden ist, ein bloß objektives
Ganzes, das die subjektiven Teilbeiträge sozusagen in sich ein-
geschluckt hat und jedem dieser einzelnen als ein Neues und
Fremdes gegenübersteht. In dem Maße also, in dem jene ein-
heitliche Lebensvollendung ihre Stelle in Goethes Idealbildung
an das Tun und das Erkennen abgab, in eben dem wurde sein
Denken und seine Seinsintention objektiver, bis zu dem Grade,
daß schließlich jede Unmittelbarkeit seines eigenen Erlebens
ihm ein objektiv zu registrierendes, objektiv zu begreifendes
Ereignis war. Indem er sich in sich differenzierte, differenzierte
er auch sich und die Welt gegeneinander, jene unmittelbare, ge-
fühlsmäßige Einheit zwischen dem Ich und der Welt machte
dem Bilde einer objektiven Welt Platz, die praktisch zu be-
arbeiten und theoretisch zu erkennen ist — woneben jene Ein-
heit freilich irgendwie erhalten und außerdem doch das auf diesen
getrennten Wegen zu erarbeitende Ziel bleibt. Während er also
in der Jugend die Totalität des Daseins in der Totalität seines
Subjekts empfindet, legt sich ihm später das letztere gleichsam
in eine Mehrzahl von Armen auseinander, mit denen ein Gegen-
überstehendes ergriffen wird. In jenem ersten Sinne ruft Faust
aus: ,,Was der ganzen Menschheit zugeteilt ist. Will ich in
meinem innern Selbst genießen" — und schon am Ende der
Lehrjahre verkündet eine merkwürdige Sentenz das andere :
,, Sobald der Mensch an mannigfaltigen Genuß Anspruch macht,
so muß er auch fähig sein, mannigfaltige Organe an sich, gleich-
sam unabhängig von einander, auszubilden. Wer alles und
jedes in seiner ganzen Menschheit genießen will, wer alles außer
sich zu einer solchen Art von Genuß verknüpfen will, der wird
seine Zeit nur mit einem ewig unbefriedigten Streben hinbringen."
Simmel, Goethe. 'S
226 Liebe und Welt
Jene Äußerung Fausts enthält den Pantheismus sozusagen in
der Form eines Pananthropismus und gerade diese benutzt er,
fast achtzig Jahre alt, um die Abwendung von seinem Jugendweg
zu charakterisieren. Der Faust, sagt er, ,,hält die Entwicklungs-
periode eines Menschengeistes fest, der von allem, was die
Menschheit peinigt, auch gequält, von allem was sie beunruhigt
auch ergriffen, in dem was sie verabscheut gleichfalls befangen,
und durch das, was sie wünscht, auch beseligt worden. Sehr
entfernt sind solche Zustände gegenwärtig von dem Dichter."
Viele Jahrzehnte hindurch hat er als Aufgabe, eine mit jenen
gesonderten Organen zu lösende, vor sich gesehen, was seine
Jugend zu besitzen meinte, und dies eben besagt, daß die große
Wendung seines Lebens keinen Verlust, sondern nur eine Meta-
morphose darstellt, und daß so manches, was nur in der Form
des jugendlichen Lebensganzen, des jugendlichen Fühlens existenz-
möglich schien, doch dem Alter in der Form der Objektivität
erhalten blieb. ,,Mir kommt immer vor, schreibt er einmal in
späteren Jahren, wenn man von Schriften wie von Handlungen
nicht mit einer liebevollen Teilnahme, nicht mit einem gewissen
parteiischen Enthusiasmus spricht, so bleibt so wenig daran,
daß es der Rede gar nicht wert ist. Lust, Freude, Teilnahme
an den Dingen ist das einzig Reelle, und was wieder Realität
hervorbringt ; alles andre ist eitel und vereitelt nur." Mit diesem
Satz scheint mir jener ,, liebevolle Zustand", durch den er seine
Jugendjahre charakterisierte, gleichsam objektiv geworden zu
sein. Man kann ihm, als Gegenstück des Prinzips : die Welt
ist meine Vorstellung — wohl den Satz unterstellen: die Welt
ist meine Liebe; aber er hätte für seine Jugend und für sein
Alter charakteristisch verschiedenen Sinn. Dem jugendlichen
Herzen, das sozusagen nur sich selbst empfinden, nur seine
Liebeskräfte entfalten wollte, war dazu das ganze Dasein gerade
groß genug,' wie es das Ganze umfaßte, so gab es sich dem
Ganzen hin, ein Liebespantheismus, der sich etwa im Ganymed
herrlich ausspricht. Dann aber, indem diese Einheit entschiedener
in Subjekt und Objekt auseinander geht, empfindet sich die
Liebe mehr als hervorbringend, das Dasein wird jetzt in dem
Reserviertheit des Alters 227
Sinne ihr Objekt, daß sie die Kraft im Subjekt ist, vermöge deren
für eben dieses das Dasein überhaupt da ist, wie in jenem Kantisch-
Schopenhauerischen Satz die Welt gerade dadurch das Objekt
für uns ist, daß unser Vorstellen sie erzeugt. Jetzt ist die ,, liebe-
volle Teilnahme das Einzige, was Realität hervorbringt", sonst
ist alles eitel. Bis in diesen innerlichsten Affekt hinein also
zeigt sich die Entwicklung, die den subjektivisch-einheitlichen
Zustand seiner Jugend in die mannigfach sich formende Aus-
einanderlegung von Subjekt und Objekt überführt und diese
voraussetzend von neuem, wie auf höherer Stufe, der Einheit
entgegenv/ächst.
Aber noch schärfer bezeichnet es den Epochenwandel, daß neben
dieser tiefen Bedeutung von Liebe und Teilnahme in bezug auf
ihre nach innen gewandte Seite eine direkt gegenteilige Wer-
tung (nicht nur eine objektivierende) einhergeht. Man halte
sich die rückhaltlosen Hingebungen seiner jungen Jahre, die
Seligkeiten am Gefühl als solchen, die Leidenschaft ,,der Erde
Weh, der Erde Glück zu tragen" vor Augen — und vergleiche
damit eine Reihe von Aussprüchen, die alle aus dem Jahre
1810 stammen. Er sagt zu Knebel, er lebe ,,wie die unsterb-
lichen Götter und habe weder Freud noch Leid." Und: ,,Es
kommt mir nichts so teuer vor, als das, wofür ich mich selbst
hingeben muß." Und: ,, Lieben heißt Leiden. Man kann sich
nur gezwungen dazu entschließen, d. h. man muß es nur, man
will es nicht." All jene frühen Äußerungen, nach denen ihm
Lust und Leid eigentlich eines und dasselbe, ein substanziell
Gleiches und Gleichwertiges sind, ruhen darauf, daß ihm das
Fühlen als innere Bewegtheit, als Pulsieren und Auslodern der
Lebensenergie das allein Wesentliche war ; mit welchem beson-
deren Inhalt es sich füllte, darauf kam es ihm so wenig oder
eigentlich noch weniger an, als später darauf, welchen Inhalt
die nachher inthronisierte Praxis ergreift. Wie sich ihm nun,
so sahen wir, Tugend und Laster schärfer auseinanderlegen, so
Lust und Leid; weil die Liebe Leiden bringt, erscheint sie ihm
als ein nur zwangsmäßig Ertragenes, und höchstens stellt er
sich jenseits jenes Gegensatzes, wie er sich früher gleichsam
IS*
228 Bewußtsein des Entwicklungsgegensatzes
diesseits seiner gestellt hatte, auch hier das Entwicklungsschema
der undifferenzierten Einheit durch die Trennung hindurch zur
Überwindung der Differenzierung wiederholend. Jetzt steht er
den Dingen gegenüber und seine Hingebung muß also einen
längeren, kostspieligeren, überlegteren Weg durchmachen, als
damals, wo die gefühlsmäßig-ursprüngliche Einheit von Subjekt
und Objekt in der Hingebung nur ihren selbstverständlichen
empirischen Ausdruck fand. Und endlich verrät die Äußerung
über den Zwangscharakter der Liebe wieder jenen Ersatz des
Gefühls und Seinsideals durch das Willensmäßige und Verstandes-
mäßige seines Alters. Weil das Leben jetzt auf den bewußten
Willen gestellt ist, kann ihm als Zwang erscheinen, was in
der Jugend ein einheitliches Ausströmen gewesen war: aller
Zwang steht auf einem dualistischen Gegenüber. Und daß man
das mit Leiden Verknüpfte nur unfreiwillig auf sich nimmt, ist
ein Rationalismus des Alters, eine begriffliche Folgerung, die
seiner Jugend, alle logischen und eudämonistischen Gegensätzlich-
keiten in die Einheit seines Seins verschmelzend, ganz fern lag.
Daß in diesem Anderswerden seiner Wirklichkeit und seines
Ideals nicht nur das gleiche Energiequantum sich umformt,
sondern daß hier, bei aller inhaltlichen Entgegengesetztheit,
organisch notwendige, gewissermaßen ideell präformierte Stufen
eines unerhört einheitlichen Lebens vorliegen — eines Lebens,
das als solches, als Funktion, als Entwicklung, so einheitlich
war, daß es der Einheit besonderer Inhalte gar nicht bedurfte — ,
das ist ihm selbst freilich nicht immer bewußt gewesen. Er
sagt als Siebziger, mit deutlicher Beziehung auf sich selbst:
,, Selbst das größte Talent, welches in seiner Bildung einen
Zwiespalt erfuhr, indem es sich zweimal, und zwar nach ent-
gegengesetzten Seiten, auszubilden Anlaß und Antrieb fand,
ist kaum vermögend, diesen Widerspruch ganz auszugleichen,
das Entgegengesetzte völlig zu vereinigen." Begreiflich genug;
im unmittelbaren Erleben einer Periode füllen natürlich ihre
Inhalte unser Bewußtsein, und damit gerade das, was sie den
anderen Perioden entgegensetzt. Das Goethesche Alter hat von
dem Rhythmus und den Überzeugungen seiner Jugend nichts
Periodik und Einheit des Lebens 229
mehr wissen wollen, hat sie so und so oft ausdrücklich dementiert ;
es wäre nicht die volle Kraft der einen in das andere über-
gegangen, wenn es anders gewesen wäre. Diese Selbsterhaltung
der einzelnen Lebensperiode ist ihm sehr wohl bekannt, aber
weil er weiß, wie sehr das Spezifische seines Lebens: die volle
Hinleitung seiner Einheit in die jeweilige epochale Intention
von ihr abhängt — deshalb besteht er um so energischer auf
ihr. Er spricht das einmal ergreifend aus, als er die alt-
deutschen Bilder der Boissereeschen Sammlung kennen lernt:
,,Da hat man nun auf seine alten Tage sich mühsam von der
Jugend, welche das Alter zu stürzen kommt, seines eignen Be-
stehens wegen abgesperrt, und hat sich, um sich gleichmäßig
zu erhalten, vor allen Eindrücken neuer und störender Art zu
hüten gesucht, und nun tritt da mit einem Male vor mich hin
eine ganz neue und bisher mir ganz unbekannte Welt von
Farben und Gestalten, die mich aus dem alten Gleise meiner
Anschauungen und Empfindungen herauszwingt — eine neue,
ewige Jugend; und wollte ich auch hier etwas sagen, es würde
diese oder jene Hand aus dem Bilde herausgreifen, um mir
einen Schlag ins Gesicht zu versetzen und der wäre mir wohl
gebührend. * ' Unterschieden von den Entwicklungen der Menschen,
in denen sich der geistige Prozeß von seiner Seinsgrundlage
abgehoben hat und gewissermaßen ein autonomes Leben, auf die
vitale Beschaffenheit des Individuums keinen Schluß zulassend,
führt — ist Goethes Bewußtsein immer unmittelbar von seinem
Sein gespeist und wenn sich seine bewußten und idealen Rich-
tungen wendeten, so bedeutet das stets eine Entwicklung seines
ganzen, substanziellen Persönlichkeitslebens. Darum sind diese
Entwicklungen einerseits so radikal, andrerseits von und zu
einer so tiefen Einheit und unabreißbaren Kontinuität zu-
sammengehalten; darum erlebt er die jeweilige Epoche in einer
gegen alles Frühere rücksichtslosen Hingabe, während unser über-
schauender Blick doch allenthalben die — niemals starren,
sondern immer funktionellen — Züge entdeckt, die diese Wechsel-
formen durchleben.
Soweit derartige Metamorphosen von Jugendgestaltungen in die
230 Das Element der Altersstufe
ganz entgegengesetzte Altersform, unter Bewahrung eines tief-
sten Wesenskernes, biographischen Sinn haben, ruhen sie auf
einer selten bewußten Voraussetzung. Wir können sehr oft
solches Kontinuierende unmittelbar und rein kaum ausdrücken,
weil wir das individuelle Leben eben nur jeweils unter irgend-
welchen Alterskategorien kennen — wie wir die Ideen, die reinen
Inhalte des Daseins, immer nur in der Formung als theoretische
oder praktische, künstlerische oder religiöse, erlebte oder ge-
dachte ergreifen können. Was diese in ihrer für sich seienden
Inhaltlichkeit sind, können wir nur in einer eigentümlichen,
nie bis zu Ende vollziehbaren Abstraktion ahnen, da nur jene
Kategorien gleichsam die Hände sind, mit denen wir die reinen
Inhalte des Seins fassen können, durch dieses Fassen sie aber
unvermeidlich formend und, wenn wir dies nicht wollen, uns
jeder Beziehung zu ihnen beraubend. Dies wiederholt sich an
der Betrachtung des Lebens. Wir kennen, keinen Lebensvor-
gang, keinen verwirklichten Lebensgehalt, der nicht der eines
bestimmten Altersmomentes wäre und unter dessen Bedingt-
heiten stünde. Gewiß können wir solche Inhalte der Kategorie
des Erlebtwerdens überhaupt entrücken und unter irgend einer
bloß sachlichen, poetischen, zeitlosen usw. betrachten. Gelten
sie aber als erlebte, so sind sie damit zugleich der Färbung,
den Relationen zwischen Stück und Ganzem, der Bewegtheits-
form Untertan, wie sie eben den Altersabschnitt charakterisieren,
an den ihr Erleben gebunden war. Es ist äußerst schwierig,
die unbedingte Einheit, als die sie so gefärbt auftreten, in die
Elemente des bloßen Inhalts und des Cachets der betreffenden
Altersstufe zu zerlegen, bedenklich deshalb, das Hindurchleben
eines und desselben seelischen Zustandes, Zieles, Inhaltes durch
die gewandelten Gesamterscheinungen verschiedener Lebensstufen
hindurch zu behaupten. Diese Schwierigkeit greift tief in jeg-
liche geschichtliche Nachzeichnung eines individuellen Lebens
ein, aber unser tatsächliches Verfahren überwindet sie, zwar
nicht mit kontrollierbarer Methode, aber durch einen gewissen
Instinkt, der in sehr verschiedenen und je in sich einheitlichen
Phänomenen eines ablaufenden Lebens ein Identisches, Sich-
Jugendliche Stimmungswechsel 231
Erhaltendes herauszuerkennen glaubt. Diese Möglichkeit be-
dingt es, daß wir bei Goethe von gewissen Beschaffenheiten
und Intentionen des Lebens sprechen können, die in Erschei-
nungen seiner Jugend und davon sehr verschiedenen seines
Alters als ein Ungeändertes beharrt haben und gerade daran
die entgegengesetzten Lebensformationen von Jugend und Alter
rein und deutlich offenbaren — wie die beharrende Substanz
an dem Wechsel ihrer Ausgestaltungen und dieser Wechsel an
dem Beharren der Substanz kenntlich wird. Unter dieser Voraus-
setzung also belege ich den Charakter der Umsetzungen inner-
halb der Goetheschen Lebensstufen noch mit einem letzten
Beispiel. Ich erwähnte früher die ungeheure Gegensätzlichkeit
der Stimmungen, zwischen denen ihn sein jugendliches Tem-
perament hin- und herwarf; das Himmelhoch jauchzend, Zum
Tode betrübt — war nach seinen eigenen Geständnissen und
den Zeugnissen anderer die Formel seiner Jugend. Dies war
natürlich nicht Launenhaftigkeit der Schwäche, die von einer
inneren Richtung in die andere umspringt, weil ihr die Kraft,
auf einer zu beharren, fehlt und sie des fortwährenden Wechsels
und krassen Gegensatzes der Reize bedarf, um jeden einzelnen und
das Leben überhaupt zu fühlen. Ganz umgekehrt war es hier die
mächtige Vitalität, die drängende Dynamik der Existenz, die ihre
Inhaltspole so weit ausspannen, sich so rastlos zwischen ihnen
hin und her bewegen mußte, um Raum für ihre Bewegung zu
haben, um ihre Energien nur überhaupt unterzubringen. Das
Maß des Lebens, als bloßer Kraft, die sich entladen will, war
in seiner Jugend ein so ungeheures, daß es nur in fortwähren-
dem Umspringen zwischen den weitesten Stimmungsgegensätzen
sich austoben konnte, vor dem Vernunftinhalt des damit Er-
griffenen natürlich oft ratlos, widerspruchsvoll und töricht;
aber gerade von hier aus verstehen wir noch einmal das
damals oft ausgesprochene Gefühl, daß eigentlich Liebe und
Haß, Gut und Böse, Glück und Leid eins und dasselbe wären.
Es war es auch tatsächlich für ihn, weil alle diese logisch sich
ausschließenden Empfindungen gerade in ihrer Gegensätzlichkeit
dazu dienten, dem einheitlich mächtigen Fluß seiner Lebens-
232 Widersprüche der Maximen
funktion ein hinreichend breites Strombett zu bieten. Diese
Vitalbestimmung seiner Jugend nun scheint mir in seinem
höheren Alter in eine eigentümliche Intellektualbestimmung
transformiert zu sein: in die auffallenden Widersprüche,
logischer wie sachlicher Art, in denen sich seine späteren Sen-
tenzen bewegen. Jene funktionellen Polaritäten, zwischen denen
sein Jugendleben schwang, sind damit auf die zeitlos-theoretische
Inhaltlichkeit übergewachsen, jene gefühlshafte Spannungsweite
des oszillierenden Lebens ist zur Spannung zwischen einander
ausschließenden Theoremen kristallisiert. Er ist sich über die
Tatsache dieser Widersprüche auch ganz klar, sucht sie objektiv
in den Wanderjahren ziemlich umständlich zu rechtfertigen,
erwidert, auf sie aufmerksam gemacht, das schon Angeführte: er
sei nicht achtzig Jahre alt geworden, um an jedem Tag dasselbe zu
sagen wie am andern; jemand, der viel mit ihm verkehrt, bemerkt
verwundert, daß man ihn nie auf eine Ansicht der Dinge fest-
legen könne, ehe man es dächte, wäre er schon an einer ganz
verschiedenen. Er war sich freilich einer höchsten formalen,
individual-apriorischen Einheit seines Denkens so bewußt, daß
die Widersprüche im relativ Einzelnen (das freilich noch immer
von ganz hoher Allgemeinheit war) dagegen nicht aufkamen;
andrerseits erschienen ihm wohl diese Widersprüche, bei fest-
gehaltener höchster Attitüde, als der adäquate Ausdruck des
Verhältnisses von Mensch und Welt. Auch deshalb ging er in
seiner Ideenbildung immer bis zum Radikalismus und reserve-
loser Allgemeinheit, weil ihm Einwürfe und Gegeninstanzen,
die solche Absolutheit hätten eingrenzen können, im Moment
der Produktion als Negatives erscheinen mußten, gegen das
seine immer am Positiven hängende Natur sich wehrte. Zwischen
der mit dem Alter immer unbedingteren Wertung des Positiven
und Abwehr aller bloßen Kritik, alles bloßen Einwandes —
und der Unbedingtheit und Generalisation jeder Denkrichtung,
die unvermeidlich zu Widersprüchen zwischen seinen Aus-
sprüchen führte, besteht ein tiefer Zusammenhang. Wert und
Leben sind nicht darauf eingerichtet (in abstrakter Weise hat
er das auch sehr gut gewußt), von einem einzigen, geradlinig
Lebenskontinuität 233
ins Unendliche laufenden Gedanken bezwungen zu werden. Er
genügte dem nicht durch Einschränkung der einzelnen Maxime,
sondern indem er der unbeschränkten Allgemeinheit der einen
eine ebensolche einer andren im entgegengesetzten Sinne ge-
sellte. Daß seine Geistigkeit aber diese Gestalt annahm, ist
die höchste und allgemeinste Erfüllung jener großen Evolutions-
formel, nach der alles, was seine Jugend als Leben, Lebens-
ideal, Gefühl besaß, sich in sein Alter überrettete, um hier in
der Form theoretischer oder auch praktischer Inhalte an einer
objektiven Welt zu bauen.
Diese Wendung zeitlich zu fixieren, ist eigentlich ein nur
biographisches und deshalb meiner Aufgabe fremderes Interesse ;
um so mehr, als — wie es schon mehrfach an Goethes geistigem
Charakterbild hervortrat — entscheidende Motive sich bei ihm
lange vor ihrer eigentlichen Herrschaft vorbereiten und, auch
nachdem sie diese gewonnen haben, die Motive der vorange-
gangenen Epoche noch keineswegs tot sind, sondern immer noch
gelegentlich nachklingen. Dies ist gleichsam das Mittel, durch
das seine Natur durch all ihre ungeheuren Wandlungen ihre
ebenso ungeheure Kontinuität hindurchlebte. Was er im hohen
Alter als die ,, wiederholte Pubertät" bezeichnete, das Auftauchen
erneuter jugendlicher Fruchtbarkeiten, ist nichts als eine be-
sonders gedrängte Erscheinung dieser Kategorie, nur aus dem
Inhaltlichen in das Funktionelle übertragen: aus der Wieder-
kehr der Inhalte früherer Zeiten in die ihrer Kräfte und
Rhythmen, ohne deren Weiterleben doch übrigens auch jene
nicht wiederkehren könnten. Insofern steht eigentlich sein
ganzes Leben im Zeichen der ,, wiederholten Pubertät", die
manchmal nur aus dem chronischen Zustand in den akut
bemerkbaren übergeht. Und sie hat ein nach der andern Zeit-
dimension erstrecktes Gegenstück, für das es nur keinen gleich
treffenden Einzelausdruck gibt : ein Vorwegnehmen der Zustände
und Gedanken, die ihrem Inhalte nach erst in den Zusammen-
hang späterer Epochen gehören. Wie es überhaupt das Wesen
des Lebens ist, daß seine Gegenwart auch seine Vergangenheit
und seine Zukunft in einer, mit allem Mechanischen unver-
234 „Unsterblichkeit" in Jugend und Alter
gleichlichen Weise in sich enthält, so streckte sich bei ihm, der
das reinste Leben als solches gelebt hat, der Gegenwarts-
moment in Vergangenheit und Zukunft hinein — eine Form
seines Prozesses, seiner Dynamik, für die jenes Weiterleben des
eigentlich Vergangenen und Vorwegnehmen des eigentlich
Künftigen nur der an seinen Inhalten aufzeigbare Ausdruck
war und die vielleicht eine Basis seines Unsterblichkeitsglaubens
war. Auch an diesem freilich offenbart sich, höchst charak-
teristisch, der große, hier behandelte Richtungswandel seines
Lebens. Er hat in einer berühmten, nachher noch einmal zu
betrachtenden Äußerung ,,die Überzeugung unserer Fortdauer"
aus dem ,, Begriff der Tätigkeit" entspringen lassen: ,,wenn ich
bis an mein Ende rastlos wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir
eine andere Form des Daseins anzuweisen" usw. Aber mehr
als ein halbes Jahrhundert früher schreibt er: ,,Daß in den
Menschen so viele geistige Anlagen sind, die sie im Leben nicht
entwickeln können, die auf eine bessere Zukunft, auf ein
harmonisches Dasein deuten, darin sind wir einig, mein Freund."
In beiden Äußerungen das gleiche Motiv: es wird eine Zukunft
gefordert, damit die Gegenwart das, was in ihr selbst vor-
handen, aber unerlöst und unverwirklicht ist, in sie hinein
aktualisieren kann. In der Jugend aber ist es ein ,, harmonisches
Dasein", eine Vollendung der Existenz, ein gefühlshaft
„Besseres", womit die Zukunft die Gegenwart fortsetzen soll —
im Alter ist es die Tätigkeit, die Wirkung, vor der hier ihre
Seinsgrundlage sozusagen verschwindet und die ebensowenig
nach ihren qualitativen Gefühlsfolgen fragt.
Um dieser Kontinuität, dieses Vor- und Zurückgreifens des
Lebens willen ist für eine nur auf den geistigen Gehalt gerichtete
Betrachtung Goethes die genaue Chronologie an vielen Punkten
weder nötig noch möglich, ja, der eigentlichen Intention gegen-
über sogar irreführend. Dennoch wäre es ganz verständnislos,
damit die ungeheure Bedeutung des Nacheinander seiner großen
Entwicklungsstadien verneint zu meinen. Gerade darum handelt
es sich ja in den jetzigen Erwägungen, daß Goethe — und in
dieser Reinheit vielleicht kein andrer der großen Menschen —
Die orgcinisch gelebte Idee 235
die Idee seines Seins in einer organisch gelebten Entwicklungs-
folge verwirklicht hat ; oder vielmehr, seine Idee war von vorn-
herein keine begrifflich stationäre, sondern die Idee eines
Lebens. In der Zeitfolge seiner Lebensepochen, nicht etwa
nur seiner Überzeugungen, drückt sich eine zeitlose, nur sinn-
hafte Ordnung aus. Für uns ist es hier nicht im biographischen
Interesse, sondern für die sachliche Struktur seiner Geistigkeit
wichtig, das oben Gesagte zu bekräftigen, daß die jetzt be-
sprochene Wendung, zu der leise Ansätze schon in den ersten
Weimarer Jahren sichtbar werden, im ganzen nach der
italienischen Reise entschieden ist. Man pflegt diese als den
Ausgangspunkt einer neuen Lebensepoche anzusehn, eigentlich
als die entscheidende Direktive für den ganzen Rest des Goethe-
schen Lebens. Dies scheint mir nur in einem besonderen,
genau genommen, in einem negativen Sinne richtig zu sein.
Ungeachtet aller Befruchtungen, neuer Perspektiven, Material-
gewinnsten dieser Reise, war sie doch in erster Linie der Ab-
schluß einer Lebensepoche und nur insofern der Beginn einer
neuen. Italien war ihm — ich habe das früher ausgeführt —
die Sättigung eines Durstes, die Lösung unerträglich gewordener
Widersprüche, die Bestätigung seines tiefsten Lebenssinnes durch
die Anschauung dieser Natur und dieser Kunst. Sieht man aber
seine späteren Dichterwerke und Produktionen außer den in
unmittelbarer Nachwirkung entstandenen, wie den Römischen
Elegien, an, so findet man von seiner italienischen Existenz, in
ihrer unvergleichlichen Art und Schönheit, recht wenig Spuren ;
schon die Venetianischen Epigramme atmen nicht recht
italienische Luft. Die neue, differenzielle, auf Erkennen und
Handeln gerichtete Epoche setzt zeitlich allerdings nach Italien
sehr bestimmt ein, allein innerlich ist sie doch eine Evolutions-
stufe, die die organischen Kräfte, von äußerem Erleben relativ
unabhängig, emportrieben. Es gehört zu dem ungeheuren Glück
dieses Lebens, daß seine erste große Periode einen so vollendenden,
erfüllenden Abschluß fand. Deshalb bildet es keinen Widerspruch,
sondern ist gerade ein bedeutsamer Beweis dieser Auffassung,
wenn er, etwa ein Vierteljahrhundert später, mit tiefer Er-
236 Abschluß durch Italien
schütterung bekennt, seit er über Ponte Molle nach Hause
gefahren, habe er keinen rein glücklichen Tag mehr erlebt —
und doch, schon ein Jahr nach Rom, seinen zweiten Aufent-
halt in Italien abbricht, mit der krassen Erklärung, Italien wäre
nichts mehr für ihn. Jene ,, Pyramide seines Daseins" hatte
in Rom einen Gipfel gefunden und der Weiterbau erfolgte auf
einer neuen, daneben gelegenen Basis. Der junge Goethe starb
in Rom und es ist begreiflich, daß er sich selbst als Revenant
vorkam, als er ^eder italienischen Boden betrat. Das wäre
nicht möglich gewesen, wenn das dort Gewonnene der Eingang
zu seinem neuen Leben gewesen wäre — es war nur der Aus-
gang seines alten. Er mochte dort eine Reihe fruchtbarer, in
den späteren Entwicklungen nachweisbarer Inhalte erworben
haben; aber in bezug auf den Prozeß des Lebens war Italien
der Höhepunkt seiner bisherigen, durch die Hemmnisse und
Widersprüche der letzten Weimarer Jahre zu äußerster Selbst-
bejahung gereizten Lebensintention, wie ich sie an einer
früheren Stelle darlegte; es ging in der gleichen Richtung
nicht weiter, das Leben mußte zu neuen Formungen umbiegen
und konnte das nun um so freier und entschiedener, als die
frühere Epoche sich zu dieser harmonischen, in ihrer innerlich-
äußerlichen Vollendung nicht mehr zu übertreffenden Auf-
gipfelung erhoben hatte. Er schreibt aus Rom: ,, Glücklich wäre
ich, wenn ich jemand liebes bei mir hätte, mit dem ich wachsen,
dem ich meine wachsenden Kenntnisse unterwegs mitteilen
könnte, denn zuletzt verschlingt das Resultat die Annehmlich-
keiten des Werdens, wie die Herberge abends die Mühe und
die Freude des Wegs verschlingt." Hier ist also noch einmal
die Formel seiner Jugend : der überwiegende Wert des Prozesses,
des persönlichen Werdens, der Dynamik sich entwickelnder
Existenz gegenüber allem bloßen Resultat, allem schließlich
fertig darzubietenden Inhalt ausgesprochen. Dieser Ton des
gefühlswarmen, subjektivischen Idealismus ist in Rom für immer
verhallt. Aber wie es als das typische Glück seines Schicksals
gelten konnte, daß in dem Augenblick, wo die Richtung und
die Spannungen seiner Jugendepoche zu einer höchsten Lösung
Bedeutung der Rückkehr 237
und Vollendung drängten, sich ihm Italien zu dieser Ausformung
der „Idee" seiner Jugend darbot — so war auch das Leiden,
das ihn bei seiner Rückkehr erwartete, eine nicht geringere
Begünstigung solchen Abschlusses. Man kennt die Ent-
täuschungen, die ihm Weimar jetzt bereitete, die leidenschaft-
lichen Klagen über den kalten Empfang durch die Freunde,
über den totalen Mangel an Verständnis für sein jetziges Sein
und Wollen. Er kam noch mit der ganzen Fülle und Schwung
seiner Jugend an — und mußte vor verschlossenen Herzens-
türen umkehren. Es ist kein Zweifel: damals sprang eine
Saite in ihm, für die es keine Wiederknüpfung gab und auch
das Herzlichste und Beweglichste, was er seitdem äußerte, hatte
den Ton einer gewissen Reserve, Sachlichkeit, ja Rationalisierung.
Aber welche Schmerzen ihm auch diese Erfahrung brachte —
auch mit ihnen wurde das Schicksal zum Geburtshelfer der
neuen Epoche, auf die sein Leben aus seiner inneren Rhythmik
und ideellen Notwendigkeit heraus drängte. Diese Epoche, die
das Ideal des subjektiven Seins durch das des objektiven Wirkens
und Erkennens ersetzte, konnte ihre Leitung und seelische
Basierung nicht mehr dem Gefühl anvertrauen — was hätte er
da noch mit dem ungeänderten Ton jener Beziehungen anfangen
sollen, der ganz vom Gefühl, von der bedingungslosen Hingabe
bestimmt war? Es ist eine erschütternde Entwicklung von der
Straßburger Zeit an, von der er sagt: ,, Ich war überhaupt sehr
zutraulicher Natur", bis zu dem Geständnis des Greises: ,,Ich
spüre immer mehr Neigung, das Beste, was ich gemacht und
machen kann, zu sekretieren." Die Peripetie dieses langen
Dramas lag in der Rückkehr nach Weimar — aber auch damit
hat ihm das Schicksal, wenn auch mit rauhen Händen, von
außen her den Weg gebahnt, den er von innen her gehen
mußte. Er selbst schiebt, was eine geheimnisvolle Teleologie
seines Geschicks war, einer bloßen und äußeren Kausalität zu,
indem er, die Leiden und Verdüsterungen nach seiner Rückkehr
andeutend, sagt: ,, Die Entbehrung war zu groß, an welche sich
der äußere Sinn gewöhnen sollte; der Geist erwachte sonach
und suchte sich schadlos zu halten" — worauf dann eine
238 Die dritte Stufe
Schilderung seiner wissenschaftlichen Bemühungen folgt. Gleich-
viel , ob er das eigentlich Entscheidende : die Evolution
seines Lebens, die etwas Positiveres als eine bloße ., Schadlos-
haltung" war, hier übersah oder verschwieg — es wiederholt
sich in seinem Verhältnis zum Schicksal die Formel seines
Verhältnisses zur Welt überhaupt. Wie dieses es mit sich
brachte, daß er nur seinen inneren Trieben zu folgen brauchte,
um an der Welt die ,, antwortenden Gegenbilder" zu finden,
wie sein autonomer Gedanke sozusagen seine eigne Richtigkeit
und Bewährtheit mit sich brachte — so war auch für seine
reale Lebensentwicklung das Schicksal da, um jeder seiner
organisch notwendig werdenden Epochen die ,, antwortenden
Gegenbilder" zu gewähren, d. h. jetzt, eine jede schon rein
durch äußere Notwenigkeit, äußere Anregung und Darbietung
so verlaufen zu lassen, wie sie so wie so von innen her ver-
laufen mußte. Italien und die Weimarer Enttäuschungen gaben
ihm die Mittel an die Hand, seine Jugendepoche so reinlich,
so anschaulich abzuschließen, wie die rückblickfreie Entschieden-
heit seines neuen Weges es erforderte.
Über die bisherige Entwicklung nun erheben sich in Goethes
Greisenzeit Symptome einer dritten Stufe. Die geistige Reihe,
die mit ihr abschließt, läßt sich vielleicht am besten an den Be-
deutungen darstellen, die der Begriff der Form in dieser ge-
samten Entwicklung annimmt. Ich kam schon früher auf das
ungeheure Problem zu sprechen, in dessen Lösungsgeschichte die
Existenz und die Produktivität des Goetheschen Wesens eine
individuelle Stelle einnimmt: wie kann das Unendliche Form ge-
winnen ? Nicht nur die typische menschliche Sehnsucht
geht auf das Überschreiten jeder gegebenen, verendlichenden
Grenze: in der Leidenschaft der Gefühle, nach der Vervoll-
kommnung des Sittlichen, dem Genießenwollen, der Bewährung
von Kräften, der Beziehung zum Transzendenten; sondern
schon tatsächlich fühlen wir uns einem Unendlichen ver-
haftet: um uns ein Weltprozeß, der nach jeder Dimension hin
ins Grenzenlose geht und dem wir in einer rätselhaften Weise
und mit keineswegs scharfer Begrenzung unseres persönlichen
Orientierung am Formproblem 239
Seins einwohnen; in uns ein durch unendlich viele Glieder uns
zugeleiteter Lebensprozeß, dessen momentane Träger wir sind
und dessen Weiterströmen ins Unendliche durch unser Leben
hindurchgeführt wird. Diese doppelte Unendlichkeit, der Sehn-
sucht und der Wirklichkeit, findet einen gleichfalls doppelt ge-
formten Gegensatz. Mit all jener Verflechtung in unendliche
Reihen und aller Grenzverschwommenheit gegen ihre Konti-
nuität sind wir eben doch Individuen, d. h. wir empfinden, daß
jene unsichere Peripherie unseres Wesens von einem sozusagen
unverrückbaren, unverwechselbaren, in seinen Wandlungen nur
sich selbst gehorsamen Zentrum zusammengehalten wird ; aus dem
unendlichen und fluktuierenden Material des Daseins ist unser
Ich als eine, wenn auch nicht substanzielle und plastische, so
doch als eine funktionelle und charakterologische Form gebildet.
Darüber hinaus aber strebt unser Bedürfnis noch nach festen,
unzweideutigen, anschaulichen Formen der Dinge, der Gedanken,
der Daseinsinhalte überhaupt; wir sehnen uns nach ihnen als
der Rettung vor der Auflösung des Daseins in jene immer weiter-
gehenden Unendlichkeiten, als Haltepunkten für unseren inneren
und äußeren Blick, für die Ermüdbarkeiten unserer Auffassungen
und unserer Tätigkeiten. Diese beiden Kategorien, als Wirklich-
keiten und als Ideale, stehen in dauerndem Kampf. Denn alle Form
bedeutet Verendlichung, Abschluß, Grenze gegen alles andere;
darum geht Kraft und Leidenschaft des Lebens fortwährend über
seine Formungen hinaus, verlöscht ihre Grenzstriche, wirft uns
über sie, die relativen und vorläufigen, nach außen wie nach
innen hin ins Unendliche, ins Grenzenfreie, d. h. ins Formlose.
Wie wir nun, dieses logischen Widerspruchs ungeachtet, die Mit-
gift des Unendlichen in die uns unentbehrliche Geformtheit
unser selbst und unserer Welt hineinleiten und dabei doch den
Reichtum und die Macht jener bewahren könnten; andererseits
die Form in ihrer Ruhe und Strenge behaupten könnten, ohne daß
sie Starrheit und Enge und nichts als bloße Endlichkeit werde —
das ist wohl eine der Formulierungen des tiefsten Lebensproblemes
überhaupt. Jedes Kunstwerk, das die ganze, aber doch weiter-
flutende Lebensintensität seines Schöpfers in sich aufnimmt,
240 Jugend und Lebensunendlichkeit
jedes Dogma einer irgendwie vertiefteren Religion, jede sittliche
Norm, die unseren praktischen Kräften ein umfassendstes und
höchstes Ziel gibt, jeder echte philosophische Grundbegriff ist
je eine Art, die Unendlichkeit von Welt und Leben in eine Form
zu fassen, den Widerspruch zwischen dem ewig Weiterschreitenden
und Unerschöpflichen des Daseins auf der einen Seite und dem
Festen, Anschaulichen, zur Form Verendlichten auf der anderen
irgendwie zu lösen. Die Goethesche Jugend nun legt — ihrer
Grundintention nach — allen Ton auf die strömende Unendlich-
keit des Lebens und wird darüber so und so oft formlos, zu-
gegeben selbst, daß Selbstbeherrschung, Zusammengefaßtheit,
Anschaulichkeit bei ihm von vornherein stark genug waren, um
es zu der Alleinherrschaft des ungeformten Seins, wie in Sturm
und Drang, nicht kommen zu lassen. Aber die unruhigen
Pendelungen seines Lebens, seine eigene Charakterisierung
dieser Epoche als einer ,, sehnsüchtigen", die Gedichte vom Typus
,, Wandrers Sturmlied", die Leidenschaft für Shakespeare, der
Stil der Briefe an Kestners und Auguste v. Stolberg, die Opposition
gegen alle Schematik und einengende Überlieferung — alles
dies zeigt, wie der Rhythmus seiner Innerlichkeit ein fort-
währendes Überschreiten von Grenzen, Zerbrechen von Formen,
Sich-Hingeben an das als unendlich empfundene Leben war.
Um die Mitte des ersten Weimarer Jahrzehnts sind die ersten
Schatten der Grenze in diese innere Unendlichkeit gefallen:
,,Ach Lotte," schreibt er, ,,was kann der Mensch! Und was
könnte der Mensch!" Und wenn er, wenige Monate vorher,
schreibt, daß er ,, immer noch im Unmöglichen eine Laufbahn
vor sich sieht," so geschieht es mit einem gewissen Ton von Ver-
wunderung. Wer nur aus dem subjektiv Wirklichen heraus lebt,
wie die Jugend, der kommt leicht in das objektiv Unmögliche.
Vom Subjekt von sich aus gibt es keine Grenze im Objektiven,
es fühlt sich eigentlich allmächtig und nur zufällig begrenzt.
Und wenn dann sein hohes Alter, als Resultat lebenslanger Ver-
senkung in das Objektive, die Lebensintention, vom Metaphysischen
bis in das Äußerlichst-Praktische hin, auf das ,, Mögliche" be-
schränkt — so sind jene Äußerungen, in denen das Unmöglich-
Von Iphigenie zu Tasso 241
Unendliche noch in einer Art ideeller Wirklichkeit schwebt, doch
schon das Präludium dazu. — Gilt jenes Unendliche nun, wie
wir es wollten, als das Ungeformte, Gestaltlose, so schob zunächst
die neue, im Zeichen der Klassik stehende Periode den Akzent
auf die Form; in Italien noch nicht so, daß irgendein Übergewicht
dieser oder eine Feindseligkeit der Prinzipien bemerkbar wäre.
Dazu läßt es der unmittelbare, über alle Grenzen hin mächtige
Lebensstrom, den seine Jugend genährt hatte, nicht kommen.
Goethes italienische Zeit gehört zu den letzten Vollkommen-
heiten, zu denen es die Menschheit gebracht hat, weil sie einen
Gleichungs- oder Einheitspunkt jener großen Antinomie dar-
stellt: hier fing sich die gefühlte Unendlichkeit, Grenzunbewußt-
heit eines Lebens in Formen, anschauliche und dichterische
Festigkeiten und plastische Gestalten, dauernde und geschlossene
Maximen; und das Leben wurde, wenn der paradoxe Ausdruck
gestattet ist, nicht weniger unendlich, weil es in Formen, d. h.
in Endlichkeiten Platz fand, und die Formen wurden dadurch
nicht gelockerter, nicht unplastischer, dem spezifischen Wert der
Form als solcher nicht untreuer, weil sie jene Flutung des Lebens,
die immer Überflutung war, in sich aufnahmen. Von hier ge-
sehen ist der italienische Aufenthalt noch einmal ein Zenith des
Goetheschen Lebens. Vielleicht ist Iphigenie hiervon der voll-
kommenste Ausdruck. Hier ist, zumindest in den beiden Haupt-
figuren, die grenzenlose Fülle des Lebens, des Gefühles, der
Leidenschaft; und sie wird von einer Schönheit und Geschlossen-
heit innerer und äußerer Form aufgenommen, ohne sich in ihr
zu verlieren, so daß man die tiefe, vitale Gegnerschaft beider Prin-
zipien — in der Jugend und Alter Goethes zusammenstoßen —
wie selbstverständlich als Harmonie hört. In mehr als einer Hin-
sicht bezeichnet der Tasso den Schritt, der über diesen Gleichungs-
punkt hinaus zum Übergewicht der Form führt. In Tasso selbst
zwar ist noch das Leben in seiner ganzen Unendlichkeit, in dem
an sich formlosen Drängen seiner Dynamik. Aber die Welt bietet
ihm jetzt keine Form, in die es sich fassen, an der es sich be-
ruhigen könnte, sondern Tasso steht der fest geformten Welt
gegenüber, mag diese Formung in dem Palastgesetz von
Simmel, Goethe. '^
242 Zur Natürlichen Tochter
Belriguardo, in der starren Gefügtheit des Antonio-Charakters,
oder in dem „Geziemenden" bestehen, das die Prinzessin allein
für erlaubt hält. Tasso ist tatsächlich nur ,,die sturmbewegte
Welle" und muß an der Unnachgiebigkeit der Formen scheitern.
Schon der künstlerisch-stilistische Ausdruck symbolisiert dies: was
soll er, in und unter dessen Rede eine ins Unendliche, Maßlose
drängende Leidenschaft flutet, mit diesen Menschen anfangen,
die fortwährend in geschlossenen Sentenzen reden? Es fehlt ja
auch in der Iphigenie schon nicht an der scharfen Dialektik
logischer Gegenreden; aber noch hält die Herzenswärme, die
das Ganze überströmt und sich in den Hauptfiguren sammelt,
die Gegensätze zusammen, noch ist das Gefühl mit dem
Praktisch-Ethischen und dem Sentenziösen in Gleichgewicht
und Einheit, während es im Tasso auseinanderbricht. Die große
Krisis von Goethes Leben setzt hier noch einmal die Gegensätze
hart gegeneinander, aber die Ohnmacht der bloßen Lebens-
intensität, des alle Grenzen überspülenden, in seiner Geschmolzen-
heit ungeformten Fühlens ist entschieden : das Praktisch-
Normative, wie es von Antonio repräsentiert ist, und das
Weisheitshafte, das in dem sentenziösen Wesen der anderen
Gestalten dominiert, hat den Sieg davongetragen, und dieser
Sieg wird schließlich auch von Tasso selbst als der gerechte
anerkannt. Immerhin, es war doch noch ein Kampf, die jugend-
hafte Lebensintention (gerade die Jugend Tassos wird so oft
betont!) steht immerhin nicht ohne Kraft und Recht, wenn auch
nicht mit dem entscheidenden, dem andern großen Lebens-
prinzip gegenüber. In der Natürlichen Tochter aber ist der Sieg
der Form von vornherein festgestellt, mag man den Inhalt des
Stückes in subjektiver oder in objektiver Hinsicht betrachten.
Nicht als ob es ihm an innerem Leben fehlte, wie man es ihm
oft zu Unrecht vorgeworfen hat. Aber das Leben führt hier nicht
mehr sein autonomes Dasein als Gefühl, dem sich die Formen
möglicher Existenz durch eine glückliche Harmonie fügen, wie
in der Iphigenie, oder das mächtig und doch ohnmächtig sie
überschwillt, wie im Tasso. Sondern das Leben will überhaupt
nicht anders als in den festen sozialen Geprägtheiten verlaufen
Gefühl und Form 243
und die ganze Frage ist nur, ob in dieser oder in jener. Hier ist
nichts von einer Unendlichkeit um die Menschen herum (wie es
wundervoll in der tief religiösen, stets auf das Göttliche hin
gerichteten Wesensart Iphigenies und in dem von sich aus zu
ewiger Unbefriedigtheit verurteilten Charakter Tassos angedeutet
ist), und die tiefen Gegensätze der Unendlichkeit und der
Form können deshalb weder das unbegreifliche Glück ihrer Ver-
söhnung feiern, noch ihre Macht und ihren Aneinanderprall
zeigen; die Tragödie liegt nur darin, daß die von den objektiven,
sozusagen historischen Schicksalsmächten der Heldin auferlegte
Lebensform der von ihr ersehnten — die aber nicht weniger eine
objektive, historisch geprägte ist — entgegengesetzt ist. Auch
die Kunstform selbst läßt diese Wendung erkennen: während in
Iphigenie und Tasso noch lyrische Töne von subjektiver Unmittel-
barkeit klingen, ist die Natürliche Tochter vielmehr bildhaft, an
die Stelle der Farbigkeit, die in sich immer etwas Grenzunbe-
stimmtes, weil rein Intensives hat, ist der lineare Stil getreten.
Ersichtlich ist dieser Prozeß zwischen dem Unendlichen und der
Form nur ein sozusagen abstrakterer Ausdruck für jene Ent-
wicklung, in der der Lebensakzent des Gefühles von dem des Er-
kennens und des Handelns abgelöst wurde. Denn das Gefühl
untersteht an und für sich nicht dem Prinzip der Form, sondern
eher dem der Farbe und der Intensität, es hat sozusagen eine
immanente Maßlosigkeit, der vielleicht nur durch ein Versagen
der Kraft oder durch Hemmungen von andren Seiten her die
Grenzen kommen. Alles Erkennen und alles Handeln dagegen
ist von vornherein auf Formen gestellt, auf eine Geprägtheit und
Festigkeit, die mit dem Sinne, wenn auch nicht immer mit der
Wirklichkeit dieser Energien gegeben ist. Goethe war zu der Zeit,
als ihm alles auf den Gewinn einer Form für Leben und Anschauen
ankam, die Klassik als das Muster aller Form entgegengetreten.
Kein Wunder, wenn er in dem Rausch dieser Entdeckung nicht
gewahr wurde, daß es Inhalte gibt, die sich diesem Stil nicht
fügen. Aber die geistesgeschichtliche Folge dieser Irrung Goethes
ist, daß es vielen von uns noch heute scheint, als hätte, was nicht
in den klassischen Stil eingeht, eigentlich überhaupt keine Form.
i6*
244 Ordnung
Mit dem steigenden Alter tritt Goethes Verehrung der „Form"
immer entschiedener hervor, bis zur Formalistik hin. Immer
wichtiger werden ihm, über die Individuen hinweg, ihre Ver-
bindungen untereinander, die doch einerseits nur Formungen
aus dem Menschen- und Interessenmaterial sind, andrerseits
dem Einzelnen durch seine Begrenzung gegen andere und An-
weisung einer bestimmten Stelle eine sonst unerreichbare Form
geben; immer höher schätzt er die ,, Zweckmäßigkeit", und
zwar als eine formale Struktur der praktischen Welt, da er oft
nicht angibt, zu welchem Zv/eck denn das in dieser Form
verlaufende Handeln dienen soll; immer unbedingter notwendig
erscheint ihm die ,, Ordnung", so daß er geradezu verkündet, er
wolle lieber eine Ungerechtigkeit, als eine Unordnung dulden!
Und die Natur selbst geht jetzt — für ihn selbstverständlich —
dem parallel:
,,Wenn ihr Bäume pflanzt, so sei's in Reihen,
Denn sie läßt Geordnetes gedeihen."
Was an seinen späteren Aussprüchen über politische und soziale
Dinge so oft hart konservativ, ja reaktionär ist, hat mit Klassen-
egoismus nichts zu tun. Es ruht einerseits auf der Tendenz,
dem Positiven des Lebens Raum zu machen. In allem Revo-
lutionären, Anarchistischen, Übereilten sah er Hemmungen,
Negativitäten, Kräfteverbrauch, der nur an das Zerstören ge-
wandt würde. Er glaubte die Ordnung als Bedingung der posi-
tiven Lebensleistungen zu brauchen. Denn, andrerseits nun,
ist es in jenen Äußerungen das kosmische Prinzip der Ordnung
und formalen Gefugtheit, das er in die menschlichen Verhältnisse
fortsetzt. Daß er dies nur durch eine streng hierarchische und
aristokratisierende Technik für herstellbar hält, das ist freilich
diskutabel und zeitgeschichtlich bedingt, aber es trifft nicht das
letzte gesinnungsmäßige Motiv. So gilt auch jetzt seine Polemik
der rein geistigen Ungeformtheit, Ungeordnetheit, sowohl nach
der Vergangenheit (auch der eigenen) hin, wie für die Gegenwart;
das Chaotische ist ihm der Feind schlechthin. In seinen sechziger
Jahren bezeichnet er es als die ,, Hauptkrankheit" der Rousseau-
periode, daß ,, Staat und Sitte, Kunst und Talent mit einem
Kunstinhalt und Fomiprinzip 245
namenlosen Wesen, das man aber ( !) Natur nannte, in einen
Brei gerührt werden sollte". Aber er kennt sehr wohl die Bedeutung
dieser Epoche für sich selbst, denn er fährt fort: ,,Ward ich nicht
auch von dieser Epidemie ergriffen, und war sie nicht wohltätig
schuld an der Entwicklung meines Wesens, die mir jetzt auf
keine andere Weise denkbar ist?" Und ungefähr gleichzeitig
spricht er sich über die im Geistesleben herrschende Phan-
tastik aus: ,,Das will Alles umfassen und verliert sich darüber
immer ins Elementarische, doch noch mit unendlichen Schön-
heiten im Einzelnen [was fehlt, ist also die Formung des
Ganzen]. Für uns alte Leute ist es zum Toll wer den, wenn wir
da um uns herum die Welt müssen vermodern und in die Ele-
mente müssen zurückkehren sehen, daß, weiß Gott wann, ein
Neues daraus entstehe." Diese ethisch- vitale Wertung der Form
steht ersichtlich in tiefem Zusammenhang mit dem früher
besprochenen Übergewicht, das seine höheren Jahre der Kunst-
form gegenüber dem Kunstinhalt beilegen — bis zu dem Grade,
daß ihm die Bedeutsamkeit des Gegenstandes sogar als Hindernis
für die Vollendung des Kunstwerks als solchen erschien. Der
Eigenwert des Gegenstandes schlägt gewissermaßen über die
Grenzen hinaus, die ihm die artistische Formung auferlegt;
nach ihrer eigenen Bedeutung stehen die Gegenstände in den
kontinuierlichen, unendlichen Zusammenhängen der Realität,
die Kunst schneidet sie heraus zu einem eingerahmten Bilde,
formt sie, indem sie ihnen Grenzen gibt, die ihrem natürlichen
Sein und seiner Werterstreckung fehlen. Auch die Reinheit
seines späteren Artistentums hat so in der Metaphysik seiner
Altersperiode ihre Grundlage.
Auch hierin zeigt er sich gewissermaßen als der typische
Mensch; nur daß solche Wendungen, die sonst einem Sinken
der Kraft parallel gehen, bei ihm etwas durchaus Positives sind,
Stadien, die nicht aus einem Verlust, sondern aus der, nur ihre
Äußerungen wechselnden organischen Entwicklung der Energie
hervorgehen. Im allgemeinen fragt die Jugend nicht viel nach
Formen, weil sie aus ihrem bloßen Kraftvorrat heraus jeder auf-
tretenden Situation und Forderung meint genügen zu können;
246 Struktur der Lebensalter
das Alter sucht festgeprägte, ideell oder historisch vorbestehende
Formen, weil sie ihm den Aufwand immer neuen Einsetzens der
Kräfte, zweifelhafter Versuche, absolut eigner Verantwortungen
ersparen. Für Goethe aber ist es nur eine neue prinzipielle Ge-
staltung, in der seine Kraft auftritt — ungefähr wie die Hin-
geljung und Demut gegen das Göttliche, die bei Unzähligen nur
aus eigener Schwäche und Haltlosigkeit hervorgeht, bei dem
wahrhaft religiösen Menschen gerade die Ausformung seiner
höchsten und zentralsten Kräfte ist. — Diese Verteilung der
kategorialen Akzente an Unendlichkeit und Form auf Jugend
und Alter geht neben anderem auch auf die Verschiedenheit des
Verhältnisses zurück, das die Einzelheiten des Lebens in diesem
und in jenem Stadium zu seinem Gesamtquantum besitzen.
Was die Jugend auch erlebe — im Hinblick auf die Zukunfts-
fülle, die sie noch vor sich hat, ist sein Maß garnicht abzuschätzen,
das Leben ist so unabsehlich, wird noch so unendlich Vieles
bringen, daß die Bedeutung der einzelnen Leistung oder Er-
fahrung eigentlich quantite negligeable wird, wie jede noch so
große endliche Größe im Verhältnis zum Unendlichen sich der
Null nähert. Indem das Alter aber den abgeschlossenen Horizont
vor sich hat, den Grenzstrich des Lebens mit annähernder Sicher-
heit setzt, wird der Nenner des Bruches, dessen Zähler das einzelne,
in seiner Bedeutung zu fixierende Erlebnis bildet, eine endliche
Größe und mit ihm der Bruch, das Erlebnis selbst. Lust und
Leid, Leistung und Versagen der Leistung ist jetzt ein angebbarer,
aliquoter Teil des Lebensganzen, man hat damit soundso vieles
definitiv hinter sich gebracht, während eben derselbe in dem
Unendlichen, das noch vor der Jugend liegt, als ein gar nicht
recht bestimmbarer Teil verschwindet. Auf diese unterschiedenen
Relationen zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen des Lebens
braucht nur hingewiesen zu werden, damit sofort hervorleuchte,
daß auch auf sie die funktionelle Unendlichkeit als Lebens-
prinzip der Jugend und die feste, zur Anordnung drängende Ge-
formtheit als das des Alters zurückgeht. Aber ebenso wird gerade
an diesem Moment klar, wie hier nur ein Gestaltwechsel des
Lebens vorzuliegen braucht, der keineswegs auf einer
Minderwertige Leistungen 247
Änderung des Kraftmaßes, sondern nur des Blickes über das
Kraftmaß beruht.
Dennoch liegt vielleicht hier die Erklärung für einen
eigentümlichen negativen Zug in Goethes Gesamtbild. Ich
habe es in diesen Blättern oft genug als die umfassendste
Formel seiner Produktion hingestellt, daß zwischen seinem
natürlichen, vom terminus a quo her wirkenden Triebe zum
Schaffen, Bilden, Handeln — und den wertentscheidenden Nor-
men für das Geschaffene und Erwirkte eine tiefere, selbstver-
ständlichere Harmonie herrschte, als die Menschen sie sonst zu
besitzen pflegen, daß er mehr als andere nur seinen unmittelbaren
Impulsen, dem, was seiner Natur gemäß war, zu folgen brauchte,
damit das theoretisch, dichterisch, sittlich Normgemäße sich
ergäbe. Dieses: daß er auch sein Schwierigstes und Vollkom-
menstes, nach seinem eigenen Ausdruck, ,, spielend'* und als
,, Liebhaber" geschaffen habe — gilt sicher für den Goethe, auf
den es ankommt, für die ,,Idee Goethe". Allein der Schluß aus
dieser Harmonie zwischen der subjektiven Lebensäußerung und
der Objektivität der Dinge und Normen: daß all sein Geschaffenes
objektiv vollendet wäre — ist durch die Tatsachen keineswegs
bestätigt. Wir wissen sogar von keinem der großen Schöpfer,
daß sein Werk soviel Minderwertiges, soviel theoretisch und
künstlerisch Unzulängliches, in seiner Unzulänglichkeit kaum
Begreifliches enthielte. Die bildenden Künstler höchsten Ranges
scheiden hier für die Vergleichung von vornherein aus, weil bei
ihnen, gemäß der Sonderart ihrer Kunst, schon auf den bloßen
Duktus der Hand ein solches Maß ihrer Genialität entfällt, daß
hier das schlechthin Wertlose und ,, Gottverlassene" sozu-
sagen a priori ausgeschlossen ist, jedenfalls nur sehr selten
vorkommen kann. Aber obgleich Dante und Shakespeare,
Bach und Beethoven die Höhe derjenigen Leistungen, die ihren
künstlerischen Rang überhaupt bestimmen, keineswegs mit jedem
Werk und Werkteil erreichen, so ist doch das Maß der dahinter
zurückbleibenden bei keinem annähernd so groß wie bei Goethe.
Das Quantum von Unpoesie und fahriger Banalität, das er etwa
nur in den Theaterreden, den Gedichten an Personen, den Re-
248 Erklärung durch die Wertung der Form
volutionsdramen geleistet hat, gehört zu den erstaunlichsten
Vorkommnissen aller Geistesgeschichte. Gewiß leidet der Rang,
den er als Einheit und Ganzheit einnimmt, darunter nicht, denn
dieser wird bei dem Künstler nicht von einem Durchschnitt
seiner Leistungen, sondern — mit leicht ersichtlichen Vorbe-
halten — ausschließlich durch die Höhe seiner höchsten
bestimmt; alles, was erheblich unter dieser bleibt, ist dafür so
gleichgültig, wie wenn es überhaupt nicht produziert wäre (es
sei denn, daß es als , .schlechtes Beispiel" wirkte). Immerhin
stellen diese Wertausfalls-Erscheinungen bei Goethe ein Rätsel,
für das mir eine ganz befriedigende Lösung fehlt. Der Gesichts-
punkt, unter den ich es am Anfang dieser Blätter rückte, gibt
wohl jenen negativen Werten sozusagen als Lebenstatsachen
eine mögliche Stelle. Allein Goethe lebte doch nicht nur den
subjektiven Lebensprozeß, der solche Tiefstände durchmachen
mochte, sondern er stand dessen Erzeugnissen zugleich oder
wenigstens nachher als Urteilender gegenüber; und das Ver-
sagen dieser Hemmung, mit der der Mensch sich gleichsam
über sein eignes Leben stellt, wird durch die Schwankungen
dieses Lebens selbst nicht hinreichend erklärt. Man könnte allen-
falls an eine Art von souveräner Lässigkeit denken, die auf be-
liebige Anregung hin irgendetwas hinstellt, bloß um sich mit dieser
abzufinden, allenfalls mit einer gewissen Ironie gegen das Pu-
blikum und gegen sich selbst. Allein eine solche Begründung
mag hier und da zutreffen, daß sie für den ganzen Kreis der
fraglichen Produktionen gelte, wird schon durch dessen außer-
ordentlichen Umfang ausgeschlossen. Dagegen gibt die hoch-
gestiegene Wertung der Form als solcher vielleicht einen Hin-
weis, insbesondere da jene eigentümlich leeren, gewichtslosen
Erzeugnisse sich fast nur in seinem höheren Alter finden — während
gleichzeitige bedeutsame Betätigungen die Begründung aus bloßer
Senilität nicht aufkommen lassen. Er hatte schließlich ein so
starkes Bedürfnis, dem subjektiven Leben und den objektiven
Daseinsinhalten überhaupt Form zu geben, jedes einzelne in
einen bestimmenden Zusammenhang ästhetisch-formaler oder
theoretisch-allgemeiner Art einzustellen, auch das Minimalste
Intoleranz gegen die Unendlichkeitstendenz 249
irgendwie zu gestalten, daß darüber die überformale Bedeutung
der Inhalte so und so oft seinem Interesse entschwand. Man
bedenke dazu das durchaus Hierhergehörige, an sich nicht weniger
Rätselhafte: die unsägliche Toleranz, die er im Alter für ganz
minderwertige Literatur bewies. Ein großer französischer Dichter
unserer Zeit sagte einmal gegenüber mittelmäßigen Gedichten:
Faire des vers, c'est toujours tres bien — und dies war keineswegs
ironisch gemeint. Sondern es ist das Interesse, das der schöpfe-
rische Mensch oft an der Gestaltung der Weltmaterie nach seinen
Schöpfungsformen, nur als Formen, besitzt, und das der bloß
Genießende nicht leicht nachfühlen kann. Es scheint mir nun
höchst bezeichnend, daß Goethes Interesse an künstlerischer und
geistiger Formung sogleich zum Gegenteil von Toleranz führt,
wenn er jene andere Vitalidee wittert, von der aus er sich
zu der der Form und Ordnung hinüberentwickelt hatte: Prinzip
und Intention des Unendlichen. In durchaus verschiedenen,
offenen und versteckteren Modifikationen herrscht dies in Jean
Paul, in Kleist, in Hölderlin. Mag das Maßlose, Grenzenüber-
springende bei dem einen äußerlich sichtbar, bei dem andern
nur innerste Lebensbestrebung sein: von Goethes Altersposition
aus gesehen fiel die Wesensentscheidung dieser drei auf die
Seite des Unendlichen, statt auf die der Formen, und gerade ihre
Bedeutung mußte Goethes Abneigung noch entschiedener machen
— während die inhaltliche Unbedeutendheit aller möglichen
kleinen Schriftsteller gerade das sozusagen Formale der geistigen
Lebensformung relativ stark hervortreten ließ. Eben die Toleranz,
die Goethe gegen diese zeigte, hatte er auch gegen sich selbst.
Er war zufrieden, mit jeder von jenen zahllosen Gelegenheits-
produktionen immer einen Moment dem ins Unendliche fließenden,
in diese Unendlichkeit alle Grenzbestimmtheit der Inhalte auf-
lösenden Leben zu entreißen. Man mag das immerhin als eine
Hypertrophie des Formungssinnes bezeichnen, da es fraglich
bleibt, ob die Form einen andern definitiven Sinn haben kann,
als die Vollendung jener Lebenssubstanz, die in letzter Instanz
doch als unendliche wird gelten müssen. Dies steht für uns nicht
zur sachlichen Entscheidung. Aber wie er lieber eine Ungerechtig-
250 Alterskunst
keit als eine Unordnung ertragen wollte — während es doch
nicht weniger fraglich ist, ob nicht alle Ordnung ihren schließlichen
Zweck in der Gerechtigkeit hat — so wollte er, so paradox dies
klingen mag, von einem gewissen Alter an lieber ein unbedeutendes
Gedicht machen als gar keines, wenn ein Moment des Lebens sich
solcher Formungsmöglichkeit bot — und es ist nicht unmöglich,
daß auch sein fortwährendes Betonen, daß gehandelt, gewirkt
werden muß, ohne daß er doch immer den Endwert und Inhalts-
sinn solcher Tätigkeitsforderung angäbe, dem gleichen Streben
nach einer begrenzenden, irgendwie ordnenden, formenden Be-
arbeitung des unendlichen Weltstoffes zugehört.
Und nun endlich komme ich auf den von vielen Seiten ange-
deuteten Punkt, auf den die Einstellung der Goetheschen Ent-
wicklungsperioden unter die Kategorie der Form führen sollte.
Neben aller Herrschaft dieser Kategorie nämlich zeigen sich in
seinem hohen Alter Spuren eines weiteren geistigen Entwicklungs-
stadiums, das ganz fragmentarisch geblieben ist, das aber nur als
ein Durchbrechen und Überwinden des Formprinzips zu bezeichnen
ist. Das entschiedenste Symptom dafür sind die Vergewaltigungen
des sprachgebräuchlichen Gefüges, insbesondere im zweiten Teil
des Faust. Dahin gehören schon die Wortzusammenziehungen:
Glanzgewimmel, Lebestrahlen, Pappelzitterzweige, Gemeindrang.
Noch entschiedener, wo die einzelnen Ausdrücke nur asyndetisch
hingeworfen scheinen: Worte die wahren, Äther im klaren,
ewigen Scharen, überall Tag. In noch weiterem Bezirk: das
logisch gar nicht organisierbare Chaos der klassischen Wal-
purgisnacht. In diesen Erscheinungen tritt das Spezifische der
Alterskunst hervor, mit der manche der allergrößten
Künstler eine mit allem früheren unvergleichbare Ausdrucks-
stufe gewinnen: Michelangelo vor allem mit der Pietä Rondanini
und den späten Gedichten und Frans Hals mit den Regen-
tinnen des Waisenhauses, sogar Tizian in den Greisenwerken,
am unzweideutigsten Rembrandt mit den späten Radierungen
und Porträts, Beethoven mit den letzten Sonaten (insbesondere
den beiden Cellosonaten) und Quartetten — bis zum Parsifal
und „Wenn wir Toten erwachen". Ich versuche, dem Gemein-
Form und Objektivität 251
Samen, in alledem Fühlbaren, begrifflichen Ausdruck zu geben.
Man hat diesen Altersstil als Impressionismus bezeichnet, als
sei den Greisen die Kraft, ein Ganzes einheitlich formend zu-
sammenzuhalten, verlorengegangen und als hätte es nur zu
den Aufgipfelungen einzelner Momente zugereicht, die sub-
jektiv blieben; denn sie wären eben nicht zu einer für sich
bestehenden Form gelangt, die nur als eine ununterbrochene,
wechselwirkende Verbundenheit der einzelnen Impulse, Ideen,
Schauungen zustande käme. Dies erscheint mir ganz oberfläch-
lich. Die Tatsache selbst ist ja unbestreitbar: in all solchen
Werken fühlen wir einen in starken Flutwellen hervorbrechenden
Subjektivismus und ein Zerbrechen synthetischer Ganzheits-
formen. Die Frage ist nur, in welchem Sinn hier das Subjekt und
in welchem die Form verstanden werden muß. Zunächst: die
Formen, die die Alterskunst vernachlässigt, sind die historisch
geprägten. Welche malerischen Mittel, welcher musikalische
Satzbau und welche Harmonik, welche Relation zwischen
poetischem Ausdruck und gemeintem Inhalt, welche syntaktische
Struktur und welcher logische Zusammenhang sonst als der
normative anerkannt ist — darum ist die Alterskunst der großen
Künstler sehr unbekümmert. Unleugbar aber geht sie noch
weiter und läßt nicht nur gegen die in der bisherigen Entwicklung
vorliegenden Formimperative, sondern allerdings auch gegen das
Prinzip der Form überhaupt eine gewisse Sorglosigkeit, ja vielleicht
Verneinung und Gegnerschaft in sich aufkommen. Was sie im
letzten Grunde will, entzieht sich nicht nur dieser und jener
Form, sondern vielleicht dem Ausdruck, sozusagen, in der Form
der Form. Nun ist Form, insoweit vom Geist Aufgefaßtes,
vom Geist Gestaltetes in Frage steht, immer ein Prinzip der
Objektivität und darin liegt ihre metaphysische Bedeutung in
der Ethik wie in der Kunst. Wo wir einem Inhalt eine Form
zusprechen oder verleihen, hat sie, jenseits dieser Verwirklichung,
eine ideelle, mindestens zeitlose Präexistenz; indem sie ,, ge-
schaffen" wird, folgt der Schöpfer einem in innerer Anschauung,
innerem Gegebensein Vorgezeichneten — v/ie schon der griechische
metaphysische Mythus den Weltschöpfer auf die ewigen Ideen
252 Überwindung des Gegensatzes
oder Formen hinblicken ließ, um nach ihnen den Dingen ihre
Gestalten zu geben. Jedes Inhaltsstück des Deiseins, inbegriffen
die seelischen Vorgänge als Realitäten, ist einzig, eben dieses
kann nicht zweimal existieren, es ist schlechthin nur es selbst
an dieser Stelle von Raum und Zeit und darum kann man jedem
realen Inhalte metaphysische Subjektivität zusprechen: er kann
über dieses, in seinen Grenzen beschlossene Für-sich-sein nicht
hinaus. Der Stoff des Daseins, das seinem Begriffe nach Formlose
und deshalb ein Indefinitum und Infinitum, kann sowohl als
Ganzes wie in jedem Stück schlechthin nur einmal da sein; die
Form umgekehrt, das Begrenzte und Begrenzende, ist unbe-
grenzte Male zu realisieren. Daher ist sie das Objektive, weil sie
über jede einzelne ihrer Verwirklichungen, auch wenn sie zum
ersten und zum letzten Male nur an dieser aufträte, dennoch
hinausgreift, weil es für sie in ihrem ideellen Bestände gleich-
gültig ist, ob sie an diesem oder an jenem, an einem oder an
tausend Stücken des Stoffes verwirklicht wird. Dies ist ihre
Objektivität, dies macht jede konkrete Existenz ihr gegenüber zu
etwas Zufälligem und auf sich selbst Angewiesenem, Subjek-
tivem; und solche Existenz wird in dem Maße objektiv, in dem
man eben an ihr die Form spürt. Je mehr unser Handeln, Denken,
Gestalten sich der gegebenen Unmittelbarkeit, der bloßen
Stofflichkeit entringt, um von Form durchdrungen zu werden,
desto objektiver steht es da, desto mehr teilhabend an jener
ideellen Freiheit des Formprinzips von der verfließenden Ein-
maligkeit subjektiven Daseins. Dies ist der Grund, weshalb die
Alterskunst, in deren Souveränität gegenüber den historisch
geprägten Formen sich eine Abweisung des Formprinzips über-
haupt versteckt, der bloßen Subjektivität anheimzufallen schien.
Aber vielleicht steht hier eine Überwindung des ganzen Gegen-
satzes in Frage; vielleicht ist das Subjekt, das hier heraustritt,
gar nicht mehr das zufällige, vereinzelte, erst durch Formung zu
erlösende, wie es in der Jugend der Fall ist. In ihr bedarf die sub-
jektivische Formlosigkeit der Aufnahme in eine historisch oder
ideell vorbestehende Form, durch die sie zugunsten einer Ob-
jektivität entwickelt wird. Im Alter aber hat der große gestaltende
Das Subjekt als Welt 253
Mensch — ich spreche hier natürlich von dem reinen Prinzip
und Ideal — die Form in sich und an sich, die Form, d i e j e t 2 t
schlechthin nur seine eigene ist; mit der Ver-
gleichgültigung alles dessen, was die Bestimmtheiten in Zeit und
Raum uns innerlich und äußerlich anhängen, hat sein Subjekt
sozusagen seine Subjektivität abgestreift — das ,, stufenweise
Zurücktreten aus der Erscheinung", Goethes schon einmal an-
geführte Definition des Alters. Jetzt braucht der Mensch keinen
umfassenden Rahmen mehr um die Einzelheiten seiner Äuße-
rungen und Betätigungen zu spannen, weil jede einzelne schon
die ganze Lebensweite, die in diesem Menschen wirklich und ihm
möglich ist, unmittelbar darstellt. Es ist also gerade das Gegenteil
von Impressionismus, da dieser ein Erlebnis, eine Relation
zwischen dem Subjekt und dem, was in irgendeinem Sinne
außerhalb seiner ist, nur von der Einseitigkeit des Subjekts
selbst her vorträgt — während hier die absolute Verinner-
lichung vorliegt, mit der das Subjekt reine, objektiv geistige
Existenz wird, so daß ein Äußeres ihm sozusagen gar nicht mehr
existiert. Da nun aber auch der alte Mensch schließlich in der
Welt lebt, so fern ihm auch ihre Einzelheiten und Äußerlichkeiten
rücken mögen, da er als Künstler schließlich von ihr und den
Dingen in ihr reden muß — so ist begreiflich, daß seine Rede,
ja sein ganzes geistiges Dasein symbolisch wird; d. h. daß er
die Dinge nicht mehr in ihrer Unmittelbarkeit, ihrer Eigen-
existenz ergreifen und benennen will, sondern nur insoweit die
Pulsschläge seines mit sich allein lebenden, sich selbst Welt
seienden Innern Zeichen für sie sein können, oder sie selbst Ver-
tretungen und Gleichnisse jener. Goethe spricht, wie ich schon an-
führte, im hohen Alter einmal von der Äquivalenz verschiedenster
Lebensinhalte und begründet das damit, daß er ,,all sein Wirken
und Leisten immer nur symbolisch angesehen" habe. Aber darin
offenbart sich sein, mit dem Alter immer steigender, oft um
hohe Preise durchgesetzter Wille zur Einheit des Lebens. Denn
vielleicht ist jenes symbolische Erfassen der Lebensinhalte über-
haupt unser einziges Mittel, das Leben einigermaßen als eine Einheit
vorzustellen. Unser ,, Wirken und Leisten" ist in seinen Zielen
254 Symbolik des Alters
und Werten, seinen Zufälligkeiten und Notwendigkeiten, seinem
Erreichen und Verfehlen etwas so unendlich Zersplittertes, Zu-
sammenhangloses, in sich Divergentes, daß das Leben, auf seine
unmittelbaren Inhalte hin angesehn , als eine wüste Vielheit
erscheint; erst wenn man sich entschließt, alles einzelne Tun
nur als ein Gleichnis anzusehen, unsere praktische Existenz,
wie sie sich empirisch bietet, als ein bloßes Symbol einer tieferen,
eigentlich wirksamen Realität — so ist darin die Möglichkeit
einer Einheit gewonnen, einer verborgenen, ungespaltenen Wurzel
des Lebens, die all jene auseinanderstrebenden Einzelbewäh-
rungen aus sich entläßt. Eben damit aber ist der mystische
Charakter dieser Alterssymbolik dargetan. Goethe hat einmal,
mit deutlicher Beziehung auf sich selbst, ,,Quietismus" und
,, Mystik" als die Wesenszüge des Greisenalters bezeichnet.
Unter Mystik versteht er hier sicherlich das, was ich das Sym-
bolische nannte; er ist der Chorus m y s t i c u s , der den Sym-
bolcharakter aller gegebenen Welt verkündet: ,, Alles Vergäng-
liche ist nur ein Gleichnis". Goethe hat mit jener Doppel-
qualität die Altersperiode — insofern sich eben Elemente ihrer
spezifisch von seinen früheren Existenzformen abheben — un-
zweideutig bezeichnet. Dieser ,,Quietismus" ist nichts anderes
als jenes ,, Zurückgetretensein aus der Erscheinung", die In-sich-
Existenz des Subjekts, das jetzt einen ganz anderen und nicht
mehr den relativen Sinn hat, als da es noch ein Objekt sich gegen-
über hatte. Er ist jetzt selbst alles, was er von Welt sein und was
er von Welt wissen kann und hat deshalb zu der sogenannten
Welt nur noch das Verhältnis des , »Symbolischen". Zwischen
diesem Subjekt und der objektiven ,,Form" entfällt damit der
ganze Gegensatz. Denn die Objektivierung, die sonst die irgend-
wie präexistierende, jenseits des Subjekts, wenn auch in seinen
eigenen Schöpfungen bestehende Form diesem Subjekt zutrug,
die hat es, nun von sich selbst und zu sich selbst erlöst, in der
Unmittelbarkeit seines Lebens und Sich-Äußerns. Es ist fast
schon zu viel, hier von der , »eigenen Form" zu sprechen, die
die vollendete Altersexistenz und Alterskunst zeigte. Ihrer
reinen, wenngleich ersichtlich nie empirisch ganz realisierten
Überwindung der Formgrenze 255
Idee und Intention nach hat dieses Leben überhaupt keine
„Form" mehr, die von dem Stoff seiner Subjektivität zu scheiden
wäre: das ganze Prinzip der Form ist gegenüber diesem, schlecht-
hin objektives Selbstsein gewordenen Subjekt belanglos. In
diesem Sinn kann man sagen, daß jene Formlosigkeiten, jener
Zerfall der Synthese in Goethes hohem Alter das Anzeichen davon
ist, daß seine große Lebensbestrebung: die Objektivation des
Subjekts, sich in seinem höchsten Alter vor, wenn auch viel-
leicht nicht in einer neuen, geheimnisvoll absoluten Vollendungs-
stufe gesehen hat.
Ist hierdurch der Nerv der letzten Epoche Goetheschen Lebens,
insoweit sie sich von den anderen unterscheidet, getroffen —
obgleich sie ihr Unvergleichliches nur mit Andeutungen und
Ansätzen in das Weiterleben dieser früheren mischt — , so ver-
bindet sich gerade damit ein Aspekt für die Totalität dieses
Lebens. Es ist vielfach ausgesprochen worden, daß auch die
wissenschaftlichen Theorien Goethes ebenso wie seine ganze
Lebensauffassung, beides sowohl in dem Großen und Bedeutenden
wie in dem Zweifelhaften und Unwirksamen, von seinem Künstler-
tum bestimmt seien. ,,Für's Ästhetische", schreibt er in späterem
Überblick, ,,bin ich eigentlich geboren". Seine Art der Natur-
verehrung, die Überzeugtheit von dem sichtbaren Einwohnen der
Idee in der Erscheinung, die ,, Anschaulichkeit" seines Denkens,
die Bedeutung der ,,Form" in seinem Weltbild, die Leidenschaft
für Harmonie und Abgerundetheit des theoretischen wie des
praktischen Daseins — alles dies sind, namentlich in ihrem Zu-
sammenkommen, Bestimmtheiten der seelischen Existenz nach
dem Apriori des Künstlertums ; es ist das ,,Urphänomen" zu
seinen Lebensphänomenen, daß er Künstler ist. Nun aber hat
er selbst angedeutet, daß hinter den Urphänomenen, dem letzten
für uns Ergreifbaren und Erforschlichen, noch irgendein Aller-
letztes steht, das sich allem Blick und Bezeichnung entzieht.
Und so nun hat das artistische Fundament und Funktionsgesetz
seines Wesens noch etwas Tieferes hinter sich, eine nicht benenn-
bare Wesenheit, die auch seine ganze künstlerisch bestimmte
Erscheinung noch trägt und umgreift. Natürlich ist dies nicht
256 Künstlertum und Mehr- als -Künstiertum
sein Privileg, sondern in eben diese Schicht streckt sich die letzte
Realität jeder menschlichen Existenz. Nur ist sie bei Goethe
in besonderer Weise fühlbar, weil eben die Einzelheiten, die
primären Phänomene seines Wesens schon zu einer Einheit,
zu einem anschaulichen, sie alle tragenden oder durchdringenden
Urphänomen, — dem künstlerischen — zusammengehen, wie es bei
den wenigsten anderen Menschen der Fall ist. Er hat — gerade
in und mittels der Spannung sowohl der gleichzeitigen wie der
Entwicklungsgegensätze seiner Persönlichkeit — schon eine
Einheit innerhalb des Empirischen, wie wir andern sie erst in
der dunkeln Vorstellung jenes noumenalen Absoluten in uns
suchen müssen. Dadurch hebt sich bei ihm dasjenige, was
überhaupt empirisch und aussagbar ist, von dem andern, das
Geheimnis bleiben muß, reinlicher ab, als wo die unmittelbaren
Einzelheiten schon in diesem zu konvergieren scheinen. Die
ganze Weite seiner Existenz, auch insoweit sie von dem Ur-
phänomen des Künstlertums beherrscht scheint, wäre gar nicht
möglich, wenn dieses selbst nicht die Ausstrahlung oder die
Handhabe eines Höheren, Allgemeineren oder, wenn man will,
tiefer Persönlichen gewesen wäre ; innerhalb einer mehr empirischen
und psychologischen Schicht mag man das so ausdrücken, daß
der Künstler eine gewisse letzte Größe auch rein als Künst-
ler nicht erreicht, wenn er nicht mehr als bloß Künstler ist.
Zweifellos vertieft es das Goethesche Bild in der richtigen Rich-
tung, wenn man alle Äußerungen seines Lebens, auch die in-
tellektuellen, die ethischen, die rein personalen, auf den General-
nenner des Künstlertums zurückführt — aber die letzte Instanz
ist damit noch nicht erreicht. Nur daß diese freilich nicht in
Begriffen zu fixieren, sondern nur in einer inneren, gefühls-
mäßigen Anschauung zu vergegenwärtigen ist. Und zwar nicht
nur wegen der transzendentalen Tiefe, in der dies Letzte der
Persönlichkeit bei Goethe, wie bei allen Menschen überhaupt
wohnt, sondern weil es sich bei ihm, dem unspezialistischsten
aller Menschen, noch mehr als bei allen anderen gegen jede Be-
nennung seiner Färbung wehrt, die unvermeidlich etwas Ein-
seitiges und Exklusives wäre. Deutlicher als gegenüber irgend-
Das Personal- Allgemeine 257
welcher sonstigen historischen Gestalt fühlen wir hier diese eigen-
tümliche, noch wenig betrachtete Kategorie, die uns für jeden
Lebenden, sobald wir ihn einigermaßen kennen, bestimmend ist:
das Allgemeine seiner Persönlichkeit, das aber nicht als Abstraktum
aus seinen einzelnen Zügen und Betätigungen zu gewinnen ist,
sondern eine Einheit, die nur einem unmittelbaren seelischen
Kennen zugängig ist. Es ist eine andere Wegerichtung, das
Allgemeine über Einzelnem zu erfassen, als sie der Begriffe-
bildende Verstand geht. Auch diesem versagen sich ja jene singu-
lären Phänomene des Individuums nicht, und er führt z. B. bei
Goethe zu dem Künstlerhaften, das wir als den gemeinsamen Zug
aus seinen empirischen Mannigfaltigkeiten abstrahieren können.
Wie wir nun aber jeden uns näherstehenden Menschen jenseits
solcher, noch so umfassender Angebbarkeiten ,, kennen", in
einer besonderen, nicht verstandesmäßigen, nur erlebbaren Kate-
gorie, gleich der Unverwechselbarkeit und gleichzeitigen Un-
beschreibbarkeit seiner Gesichtszüge — so haben wir von Goethe,
als dem größten historischen Beispiel dieser Möglichkeit, eine
Wesensanschauung, die nicht in seinen einzelnen Qualitäten
und Leistungen aufgeht, auch nicht in ihrer Summe oder dem
Allgemeinen, das wir aus ihnen begrifflich gewinnen könnten;
und nun wirkt diese gerade in dem Eindruck jeder solchen
Einzelheit mit, wie für den metaphysischen Menschen alle
Einzelheiten des Gegebenen von der absoluten Seinseinheit be-
gründet und durchdrungen sind, die nicht durch eine von ihnen
benennbar oder durch Abstraktion aus ihnen gewinnbar ist.
Wer nicht hinter und in Goethe dem Dichter, Goethe dem soundso
Lebenden, Goethe dem Forscher, Goethe dem Liebenden, Goethe
dem Kulturschöpfer — dieses Personal-Allgemeine, dessen Ein-
heit nicht eine aus Vielem zusammengesetzte ist, spürt, diese
sozusagen formale Rhythmik und Dynamik, die nicht in der
Relation zu der Welt des Vielfachen, sondern zu der ,, schweigend
zu verehrenden" Einheit des Seins ihr Wesen hat — wer dieses
nicht spürt, für den leistet Goethe nicht, was nur e r leisten kann.
Ich glaube, von jeder Idolatrie für ihn frei zu sein; es mag stärkere,
tiefere, anbetungswürdigere Existenzen und Leistungen gegeben
Simmel, Goethe. '7
258 Die Kraft und die Talente
haben, als die seinige. Aber in jenem ist er, dem Grade nach,
einzig: ich weiß von keinem Menschen, der den Nachlebenden
mit dem, was doch schließlich nur als seine einzelnen Lebens-
äußerungen dasteht, die Anschauung einer so hoch über all dies
Einzelne erhabenen Einheit seines Seins überhaupt hinterlassen
hätte.
Sucht man nun das, diesem Höchsten und nur als Anschauung
Erfaßbaren Nächstgelegene, eben noch Beschreibbare auf, so be-
gegnet man vielleicht einem noch Allgemeineren, die Persönlich-
keit noch mehr nach ihrer Form Charakterisierenden, als dem
Künstlertum. Es erscheint als das vollkommenste Leben, wenn
man nur aus dem geistigen Detumeszenztrieb heraus, aus dem
Bedürfnis, das subjektive Leben zu äußern, existiert und sicher
ist, damit das objektiv Wertvolle zu schaffen, das vor den
blos auf die Inhalte gehenden Kriterien bestehen kann. Ich habe
es oft ausgesprochen, daß ich hierin die durchgehende Formel des
Goetheschen Lebens sehe, und wenn diese letzten Seiten zeigten,
daß er in der Jugend den subjektiven Prozeß, im Alter die objek-
tiven Inhalte dominieren ließ, so waren das doch nur Akzent-
verschiebungen und Entwicklungsstadien innerhalb jener Ge-
samtrelation seines Lebens zum Weltsein. Die innerpersönlichen
Faktoren nun, deren Verhältnis diese Eudämonie seiner Existenz
trugen, kann man bezeichnen als: das Maß der Gesamtkraft der
Natur und die Talente. Wie sich beides sonst am Menschen findet,
scheint es in erheblichem Maße von einander unabhängig zu
sein. Wie viele sind in Unfruchtbarkeit, in ein Mißverhältnis
gerade zu dem ihnen äußeren Dasein gefallen, ja, sind zugrunde
gegangen, weil ihre Kraft nicht für ihre Talente oder ihre Talente
nicht für ihre Kraft ausgereicht haben ! oder weil ihre Begabungen
so angeordnet waren, daß die Kraft sich in ihnen unwirksam
verzehrte, oder daß sie sich in einer Reihenfolge entwickelten, die
der allmäligen Entfaltung der Kraft nicht entsprach! Die Ma-
schine hat mehr Dampf, als ihre Konstruktion vertragen kann,
oder diese ist auf eine größere Leistung angelegt, als zu der ihr
Dampf zureicht. Aber von allen glücklichen Harmonien, die
man dem Goetheschen Wesen zugesprochen hat, liegt hier viel-
Ausformungen der Lebenseinheit 259
leicht die tiefste, die sozusagen von ihm selbst aus entscheidende.
Gewiß hat auch seine Kraft sich hier und da in „falsche Ten-
denzen" verrannt, hat einen Auslaß da gesucht, wo das Talent
ihr keinen hinreichend breiten Kanal bot. Sieht man aber genau
hin, so waren das immer nur Anlaufrückschritte, nach denen
sich das Gleichgewicht zwischen Kraft und Talent um so voll-
kommener herstellte — jene dem subjektiv aus sich heraus-
lebenden Leben entsprechend, dieses das Mittel, durch das dieses
Leben dem Dasein außerhalb seiner und den objektiven Normen
gemäß verlaufen kann. Damit also wurde die Harmonie seiner
inneren Struktur zum Träger jener Harmonie ihrer selbst mit allem
Objektiven. Diese formale Grundsubstanz seines Lebens sahen v/ir
nun sich in den Stilgegensätzen zwischen Jugend und Alter entfal-
ten, wie sie so radikal unter den großen uns bekannten Menschen
sich vielleicht nur bei Friedrich d. Gr. spannen — abgesehen von
den (unter besonderen Bedingungen stehenden) religiösen Innen-
revolutionen, bei denen man aber nicht recht von einer Ent-
wicklung zwischen den Polen, sondern von Umspringen von
einem zum andern sprechen kann. Hieran zeigt sich nun die wei-
tere große Gleichgewichtsform seines Lebens: in dessen Bilde
ist dasjenige Maß von Beharrendem, Gleichbleibendem, zu
fühlen, das den Eindruck des sich Wandelnden, lebendig sich
Umgestaltenden auf ein Maximum bringt — und dasjenige Maß
von Wechsel, auf Grund dessen das Einheitlich- Durchhaltende
zu seiner größten Eindrucksstärke gelangt. Indem jede dieser Vital-
formen ihren Gegensatz und sich an ihrem Gegensatz aufs voll-
kommenste entfaltete, realisiert sich der spezifisch organische
Charakter dieses Daseins, da uns der Organismus doch als das
Wesen erscheint, das, im Unterschied gegen allen Mechanismus,
den Fluß unaufhörlichen Wandels mit einem beharrend iden-
tischen, nur mit dem Wesen selbst zerstörbaren Selbstsein in
Eins faßt. An Friedrich d. Gr. ist dieser durchhaltende Faden,
der sich in Jugend und Alter zu so anders aussehenden Geweben
verspinnt, viel v/eniger zu fühlen. Nun muß man freilich auch
bei Goethe nicht nach einem durch Jugend und Alter hindurch
konservierten Inhalt von Leben und Geist suchen; wäre dieser
17*
260 Die Wertgleichheit der Lebensmomente
auch zu finden (etwa in dem Künstlertum oder der pantheistischen
Tendenz), so würde er doch nicht das hier Entscheidende sein.
Ein beharrender Inhalt ist als solcher immer etwas Starres, ganz
genau gesehen ist er nicht dasjenige Bleibende, das dem Leben
den Dienst leistet, seine Wandlungen zusammenzuhalten; viel
enger vielmehr ist jenes Bleibende diesen Veränderungen verbunden,
als ein begreiflich fixierbarer Inhalt es könnte. Es ist vielmehr
ein Funktionelles oder ein Gesetz, das nur von und in Ver-
änderungen existiert oder — bildlich gesprochen — ein Anstoß,
der die individuelle Existenz von Anfang bis Ende trägt und sie
als der reine und gleiche durch alle ihre Richtungen und Win-
dungen hindurchträgt. Für Goethes Überzeugung selbst lebt
der Charakter des Menschen nur an seinen Handlungen: ,,die
Quelle", sagt er inbezug darauf, ,, kann nur gedacht werden, in-
sofern sie fließt"; und: ,,die Geschichte des Menschen ist sein
Charakter". Mit alledem sei nur ausgedrückt, daß die Einheit
und Permanenz in den Entwicklungswandlungen des Lebens,
davon das Goethesche vielleicht das anschaulichste Beispiel ist,
nichts irgendwie außerhalb dieser Wandlungen Stehendes
ist; vielleicht ist sogar der Gegensatz des Bleibenden und des Sich-
Verändernden nur eine nachträgliche Zerlegung, durch die wir
die an sich unbegreifliche Tatsache des Lebens in unsere Auf-
fassung überführen. Für die Art nun, wie sehr entgegengesetzte
Entwicklungsmomente die durchhaltende, geformte Einheit
in sich tragen, gibt Goethe einen, gerade inbezug auf sich selbst
höchst bedeutsamen Hinweis. Es gehört nämlich zu seinen
großen Geistesmotiven, daß das Leben in jedem Augenblick,
an jeder seiner Entwicklungsstellen ein in sich vollkommenes,
selbständig und nicht erst als Vorbereitung auf ein Endstadium
oder als Vollendung eines vorangegangenen wertvolles wäre
oder jedenfalls sein kann. ,,Der Mensch wird in seinen verschie-
denen Lebensstufen wohl ein anderer, aber er kann nicht sagen,
daß er ein besserer werde." Dann beschreibt er die Anforderungen,
die ein Schriftsteller auf allen Stufen seines Schaffens erfüllen
soll und fährt fort: ,,Dann wird sein Geschriebenes, wenn es auf
der Stufe recht war, wo es entstanden, auch ferner recht bleiben,
Die Wandlungen und die Ganzheit 261
der Autor mag sich auch später entwickeln und verändern wie
er wolle." Im Tiefsten diesem Motiv zugehörig ist die Bemerkung,
das Werk eines großen Künstlers sei in jedem Stadium seines
Vollendetwerdens ein Fertiges.
Diese Selbstgenügsamkeit jedes Lebensmomentes, als welche
sich die Fundamentalwertigkeit des Lebens überhaupt ausspricht,
liegt nicht nur in der Unabhängigkeit von der Zukunft, sondern
auch in der von der Vergangenheit. Ich verweise auf die wun-
derbare Äußerung von der ,, Erinnerung", die er , .nicht statu-
iert", weil das Leben dauernde Entwicklung und Höherbildung
wäre und sich nicht an ein Starres, als vergangen Gegebenes
binden könne, sondern dies nur als dynamische Wirkung in die
dadurch erhöhte Gegenwart aufnehmen dürfe. Er ist 82 Jahre
alt, als er sagt: ,,Da ich immer vorwärts strebe, so vergesse ich,
was ich geschrieben habe, wo ich dann sehr bald in den Fall komme,
meine Sachen als etwas durchaus Fremdes anzusehen". Seine
tiefe Abneigung gegen alle teleologische Betrachtung muß damit
zusammenhängen: seiner Überzeugtheit von dem in sich zu-
länglichen Sinn jedes Existenzmomentes widersprach es, daß
irgend ein solcher erst von einem über ihn hinausliegenden End-
zweck seine Bedeutung entlehnen sollte. Wenn man will, kann
man auch die pantheistische Tendenz, für die jedem Daseinsstück
die Totalität des Daseins überhaupt innewohnt, keines also über
sich hinaus kann und hinaus braucht, hier auf den Zeitverlauf
des Lebens übertragen sehen. Jede Lebensperiode enthält die
Ganzheit des Lebens in sich, nur jedesmal in anderer Form,
und es liegt kein Grund vor, ihre Bedeutung aus einer Relation
zu einem Vorher oder Nachher zu schöpfen; jede also hat ihre
eigene Möglichkeit der Schönheit und Vollendung, der jeder
anderen unvergleichbar, aber als Schönheit und Vollendung
gleich. Dies ist die Art, wie er von der Kategorie des Wertes
aus und von der unmittelbaren Wertempfindung seines Lebens
her, die Unaufhörlichkeit der Wandlung und die schroffe Ent-
gegengesetztheit der Lebensperioden mit einem durch sie alle hin-
durchgelebten Einen und Gleichen zusammenfühlen konnte.
Weil aber jede dieser Perioden — wenigstens der Idee und
262 Sich-Ausleben
Annäherung nach — in sich vollendet war, darum hat er sich
auch wirklich ausgelebt. War es der große Zauber dieses Lebens,
seine rastlose Entwicklung mit eben dieser Vollendung und Selbst-
genügsamkeit seiner Abschnitte zu vereinen, so hatte nun auch
das Greisenalter seine Perfektion in sich. Es war nicht, wie bei
vielen andern, nur der Abschluß der Vergangenheit, der nur von
dieser sozusagen formalen Würde und im übrigen nur von dem
Inhalte dessen, was war, getragen war und seinen Sinn bezog,
wie die abendlichen Wolken noch von der untergegangenen Sonne
mit ihren Farben gekrönt werden. Sondern seine Bedeutung
verdankte es sich allein, unvergleichbar mit allem Früheren,
mit dem es dennoch durch eine kontinuierliche Entwicklung
verbunden war. Aber eben um dieser geschlossenen Positivität
willen wies es auch nicht auf ein überirdisches Weitergehen hin,
sondern es war dem Hier verhaftet, wie die ganze Goethesche
Existenz, und nur soweit in ein Transzendentes hinüberreichend,
wie diese ganze Existenz an jedem ihrer Punkte es war. Dagegen
scheint sich natürlich sofort die Äußerung zu Eckermann zu
wenden, die Natur sei verpflichtet, ihm eine weitere Existenz-
form anzuweisen, wenn die jetzige seinen Kräften nicht mehr
aushielte. Ich sehe hier von seinem Unsterblichkeitsglauben über-
haupt ab, dessen spekulative Mystik mit den Entwicklungsstadien
des empirischen Lebens nichts zu tun hat. Nur die Begründung
aus der unausgelebten Kraft, den unausgeschöpften Möglich-
keiten geht uns an. Und ich kann nicht leugnen, daß ich hier
an eine Selbsttäuschung Goethes glaube — eine Unbeweisbarkeit
natürlich, die sich nur auf einen aus vielen Imponderabilien
unkontrollierbar erwachsenen ,, Eindruck" gründet. Der Reich-
tum seiner Natur gab seiner Gesamtkraft nur außerordent-
lich viele Ausform.ungsmöglichkeiten und v/eil er jeweils nur
eine von ihnen ergreifen konnte, in die dann auch seine ganze
Kraft ging, so blieben alle die statt dieser möglichen natürlich
unrealisiert — und im Gefühl davon meinte er, daß er auch
zu all diesen die Kraft gehabt hätte. Weil er allerdings
Töpfe oder Schüsseln machen konnte, schien es ihm, er hätte
Töpfe und Schüsseln machen können. Ich glaube vielmehr,
„Das ist fürwahr ein Mensch gewesen" 263
daß er seine Kraft wirklich zu Ende gelebt hat; und das ist
kein Manko, sondern gehört gerade zu den Wundern seiner
Existenz; er gehörte zu denen, die wirklich zu Ende kamen und
keinen Rest hinterließen. Hier kommt ersichtlich dasjenige zu
seiner letzten Formulierung, was ich vorhin über die Harmonie
zwischen seiner Kraft und seinen Talenten sagte: nicht nur haben
sich seine Talente in seiner Kraft ohne Rückstand entfaltet, sondern
auch seine Kraft hat sich in seinen Talenten erschöpft. Soweit wir
überhaupt in solchen Dingen urteilen dürfen, sind nur abstrakte
Möglichkeiten seines Wesens unrealisiert geblieben (was sozu-
sagen nur ein logischer, aber kein vitaler oder metaphysischer Aus-
fall ist) , seine konkreten Möglichkeiten aber hat er ausgeschöpft
und brauchte ihretwegen nicht ,,in die Ewigkeit zu schweifen".
All diese in seiner ,,Idee" angelegten und näher zu ihr, als
irgend sonst, anschaubar gewordenen Vollendungen kann man
nun endlich als die der reinen, durch keinen speziellen Inhalt
differenzierten Menschlichkeit überhaupt ansprechen. Wir emp-
finden seine Entwicklung als die typisch menschliche — ,,auf
deinem Grabstein wird man lesen: Das ist fürwahr ein Mensch
gewesen", in gesteigerteren Maßen und klarerer Form zeichnet
sich an ihm, in und unter all seinen Unvergleichlichkeiten, die
Linie, der eigentlich jeder folgen würde, wenn er sozusagen
seinem Menschentum rein überlassen wäre. Auch daß er in Vielem
ein Kind seiner Zeit war und historisch überwunden ist, gehört
dazu: denn der Mensch als solcher ist ein historisches Wesen, und
sein allen andern Wesen gegenüber Einziges ist, daß er zugleich
ein Träger des Überhistorischen in der Form der Seelenhaftigkeit
ist. Gewiß ist Unklarheit und Mißbrauch genug an den Begriff
des ,, Allgemein-Menschlichen" gebunden worden. Es ist auch
vergebens, ihn analytisch aus den Individuen heraus abstrahieren
zu wollen. Er geht vielmehr auf eine noch wenig unter-
suchte und auch hier nicht näher zu untersuchende, praktisch
aber fortwährend ausgeübte Fähigkeit unsres Geistes zurück:
in einer vorliegenden, insbesondere seelischen Erscheinung un-
mittelbar zu unterscheiden, was ihr rein Individuelles und was
ihr Typisches, aus ihrer Art oder Gattung ihr Zukommendes ist;
264 Das Allgemein-Menschliche als individuelles Leben
durch einen intellektuellen Instinkt oder durch die Wirksamkeit
einer Kategorie spüren wir an gewissen Seiten einer mensch-
lichen Erscheinung ein Schwergewicht, ein breiteres Hinaus-
greifen über dies einmalige Vorkommen, das wir als das Allge-
mein-Menschliche bezeichnen und mit dem wir ein dauerndes
Besitztum oder Entwicklungsgesetz der Gattung Mensch, einen
zentralen Nerv, der ihr Leben trägt, meinen. Und dies ist nun
das unsäglich Tröstende und Erhebende der Erscheinung Goethe:
daß einer der größten und exzeptionellsten Menschen aller Zeiten
genau den Weg dieses Allgemein-Menschlichen gegangen ist.
In seiner Entwicklung ist nichts von dem sozusagen Monströsen,
qualitativ Einsamen, mit nichts in Parallele zu Stellenden, das
der Weg des großen Genies so oft zeigt, mit ihm hat das schlecht-
hin Normale erwiesen, daß es die Dimensionen des ganz Großen aus-
füllen kann, das ganz Allgemeine, daß es, ohne sich selbst zu
verlassen, zu einer Erscheinung von höchster Individualität
werden kann. Alles untergeistige Wesen steht jenseits der Frage
von Wert und Recht, es i s t schlechthin. Höhe aber und Be-
drängnis des Menschen preßt sich in die Formel zusammen, daß
er sein Sein rechtfertigen muß. Er glaubt das dadurch vollbracht,
daß er, über das Allgemeine der menschlichen Existenz überhaupt
hinaus einen einzelnen Inhalt ihrer zu einer Vollendung bringt,
die sich an einer sachlichen, nur für diesen Inhalt geltenden
Skala mißt : einen intellektuellen oder religiösen , einen dy-
namischen oder gefühlshaften, einen praktischen oder künst-
lerischen. Goethe aber hat — das höchste Beispiel einer unend-
lichen Annäherungsreihe — in der Summe und Einheit seiner
Leistungen, in deren Verhältnis zu seinem Leben, in dem Rhyth-
mus, der Xönung, der Entwicklungsperiodik dieses Lebens, das
allgemein und absolut Menschliche jenseits oder über all
jenen einzelnen Perfektionen nicht nur als Wert gefordert,
sondern als Wert gelebt: er ist die große Rechtfertigung des
bloßen Menschentums aus sich selbst heraus. Er be-
zeichnet einmal als den Sinn aller seiner Schriften ,,den
Triumph des Rein-Menschlichen"; es ist der Gesamtsinn seiner
Existenz gewesen.
Druckfehlerverzeichnis.
Statt :
S. 2 Z. 13 V. o. Reihen des Lebens und der
Sachwerte
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S. 9 Z. 7 V. u. Aufbau
S. 17 Z. 15 V. o. das
S. 18 Z. 15 V. o. deren noch
S. 20 Z. 16 V. u. Objekt
S. 51 Z. I V. u. Gott, das
S. 87 Z. 3 V. o. lebt
S. 107 Z. 7 V. u. begehrliches
S. III Z. 17 V. u. Wert — Wirklichkeit
S. 120 Z. 7 V. o. sie
S. 122 Z. 5 V. u. Seite
S. 124 Z. 15 V. u. Es
S. 136 Z. 17 V. o. Schaung
S. 150 Z. II V. o. menschlichen
S. 173 Z. 15 V. o. seine reigenen
S. 190 Z. II V. o. sind
S. 201 Z. 10 V. o. Fähigkeit
S. 241 Z. I V. o. Unendliche noch
S. 242 Z. I V. o. Gefügtheit
S. 242 Z. 4 V. o. scheitern
S. 243 Z. 8 V. o. und ihren
S. 256 Z. 15 V. o. schon
Lies:
Reihen: des Lebens und der
Sachwerte —
nicht den inhaltlich-logischen
Aufwachsen
die
deren nur noch
Subjekt
Gott. Das
lebte
Begehrliches
Wert-Wirklichkeit
diese
Seiten
Er
Schauung
menschheitlichen
seiner eigenen
ist
Festigkeit
Unendliche nur noch
Gefügtheit
zerschellen
in ihrem
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