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Full text of "Goethe"

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GEORG  SIMMEL 


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JNKHAItDT«  BIERMANNVERLAG/LEIFZIO 

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GOETH  E 

VON 

GEORG  SIMMEL 


LEIPZIG  1913 
VERLAG  VON  KLINKHARDT  &  BIERMANN 


Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf,  G.  m.  b.  H.,  Leipzig. 


FRAU  MARIANNE  WEBER 

ZUGEEIGNET 


Vorwort. 

Die  Absicht  dieser  Schrift  ist  weder  eine  biographische,  noch 
geht  sie  auf  Deutung  und  Würdigung  der  Goetheschen 
Dichtung.  Sondern  ich  frage:  was  ist  der  geistige  Sinn  der 
Goetheschen  Existenz  überhaupt?  Unter  geistigem  Sinn 
verstehe  ich  das  Verhältnis  von  Goethes  Daseinsart  und  Äuße- 
rungen zu  den  großen  Kategorien  von  Kunst  und  Intellekt,  von 
Praxis  und  Metaphysik,  von  Natur  und  Seele  —  und  die  Ent- 
wicklungen, die  diese  Kategorien  durch  ihn  erfahren  haben. 
Es  handelt  sich  um  die  letzten  Beschaffenheiten  und  Beweg- 
gründe seiner  Geistigkeit,  die  seine  Dichtung  und  sein  Forschen, 
sein  Handeln  und  seine  Weltanschauung  gestalten  —  um  das 
,,Urphänomen"  Goethe,  das  sich  kaum  in  irgend  einer  einzelnen 
Äußerung  ganz  rein  ausspricht,  vielmehr  in  all  seinen  wider- 
spruchsvollen, andeutenden,  höchst  mannigfaltig  distanzierten 
Sätzen  und  Intentionen  hundertfach  gebrochen  ist.  Was  er 
selbst  von  seinen  Bemühungen  der  Natur  gegenüber  sagt:  sie 
gelten  dem  Gesetz,  von  dem  in  der  Erscheinung  nur  Aus- 
nahmen aufzuweisen  sind  —  das  bezeichnet  vielleicht  auch  das 
Verhältnis  der  hier  gesuchten  Bedeutung  seiner  Existenz  zu 
deren  Phänomenen. 

Es  ist  der  völlige  Gegensatz  zu  einer  Darstellung,  die  den 
Titel :  Goethes  Leben  und  Werke  —  führen  könnte.  Denn  es  steht 
ein  Drittes  in  Frage:  der  reine  Sinn,  die  Rhythmik  und  Bedeut- 
samkeit des  Wesens,  die  sich  einerseits  an  dem  zeitlich  gelebten 
persönlichen  Leben,   andrerseits   an   den   objektiven   Leistungen 

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VI  Vorwort 

ausformen,  wie  sich  ein  Begriff  sowohl  in  der  Seele  realisiert, 
die  ihn  denkt,  wie  an  dem  Ding,  dessen  Inhalt  er  bestimmt. 
Wenn  irgendwo,  so  muß  bei  ihm  dieses  Dritte,  diese  „Idee 
Goethe"  aufzufinden  sein,  weil  ihre  Darstellung  in  der  sub- 
jektiven Seelenhaftigkeit  und  die  in  dem  geleisteten  Werke 
einander  hier  in  ganz  einziger  Unmittelbarkeit  und  Vollständig- 
keit entsprechen.  Ich  kann  meine  Absicht  auch  damit  aus- 
drücken, daß  das  Goethesche  Leben,  diese  Rastlosigkeit  von 
Selbstentwicklung  und  Produktivität,  auf  die  Ebene  des  zeitlos 
bedeutsamen  Gedankens  projiziert  werden  soll.  Dazu  müssen 
freilich  die  Linien  allenthalben  über  die  Grenzen  seines  Denkens 
und  Schaffens  selbst  hinaus  verlängert  werden,  weil  nur  so  Art 
und  Weite  ihrer  Bedeutung  ermessen  werden  kann.  Wie  bei 
jeder  Darstellung  einer  geistigen  Persönlichkeit,  für  die  nicht 
erst  Kenntnis,  sondern  Verständnis  gesucht  wird,  d.  h.  nicht 
Einzelheiten,  sondern  ihr  Zusammenhang,  steht  im  Mittelpunkt 
eine  gewisse  Anschauung  der  Individualität;  diese  kann,  als 
Anschauung,  nicht  unmittelbar  ausgesprochen  werden,  sondern 
man  kann  nur  zu  ihrer  Nachbildung  durch  eine  Summe  partieller 
Bilder  auffordern,  deren  jeweilige  Motive  durch  die  großen 
geistesgeschichtlichen  Begriffe  unserer  Welt-  und  Lebensdeutung 
bestimmt  sind.  Ich  würde  es  deshalb  für  das  Gegenteil  eines 
Vorwurfs  gegen  dies  Buch  halten,  wenn  man  in  jedem  seiner 
Kapitel  eigentlich  dasselbe  wie  in  jedem  andern  zu  lesen  meinte. 
Worauf  es  eigentlich  ankommt,  ist,  daß  diese  Aufgabe  über- 
haupt und  prinzipiell  gestellt  werde.  Die  inhaltlichen  und 
fragmentarischen  Bestimmungen,  die  ich  hier  als  ihre  Lösung 
vorlege,  mögen  von  andern  anders  gefaßt  werden;  Goethes 
unaufhörliches  Versuchen  und  Umformen  möglicher  Standpunkte, 
die  durch  alle  Gegensätze  hindurchführende  Entwicklung  seines 
langen  Lebens  geben  einer  schwer  übersehlichen  Zahl  von 
Deutungen  jener  Einheit  und  Ganzheit  Raum.  Eine  von  ihnen 
dokumentarisch   so   festgelegt  zu  meinen,   daß  sie  alle  andern 


Vorwort  VII 

ausschließt,  würde  ich  nach  der  Natur  der  Sache,  der  Person 
und  der  Beweismöglichkeiten  immer  für  eine  Selbsttäuschung 
halten.  Die  fließende  Einheit  des  Goetheschen  Lebens  ist  nicht 
in  die  logische  Einheit  irgendwelcher  Inhalte  zu  bannen.  Darum 
kann  man  eine  Auffassung  dieses  Lebens  nicht  aus  Zitaten 
(denen  sich  immer  umgekehrt  gerichtete  entgegensetzen  lassen) 
,, beweisen".  Die  Gesamtdeutung  Goethes,  der  alles,  was  er 
geschaffen  hat,  als  eine  große  Konfession  bezeichnet,  wird, 
zugegeben  oder  nicht,  immer  auch  eine  Konfession  des 
Deutenden  sein. 


Inhalt 

Seh« 

I.    Leben  und  Schaffen i —  19 

II.    Wahrheit 20 —  49 

III.  Einheit  der  Weltelemente 50 —  96 

IV.  Getrenntheit  der  Weltelemente 97 — 141 

V.    Individualismus 142 — 170 

VI.    Rechenschaft  und  Überwindung 171— 192 

VII.    Liebe 193 — 209 

VIII.    Entwicklung 210 — 264 


Erstes  Kapitel. 

Leben  und  Schaffen. 

Wenn  das  Leben  des  Geistes  sich  von  dem  des  nur  körper- 
lichen Organismus  dadurch  abhebt,  daß  dieses  ein  bloßer 
Prozeß  ist,  jenes  aber  außerdem  noch  einen  Inhalt  hat,  so 
setzt  sich  dies  im  Gebiete  der  Praxis  dahin  fort,  daß  auch 
das  Handeln  zunächst  ein  bloßer  Vorgang  ist,  eine  Szene  des 
kontinuierlichen,  selbstgenugsamen  Lebensverlaufes,  auf  der 
eigentlich  menschlichen  Stufe  aber  ein  Resultat  wirkt.  Hier 
verwebt  sich  die  Folge  des  Handelns  nicht  mehr  ganz  unmittel- 
bar in  die  Lebensreihe,  aus  der  seine  Zeugungskräfte  stammen, 
sondern  sie  besteht  als  ein  irgendwie  außerhalb  dieser  beharren- 
des, wenn  auch  in  sie  wieder  hineingezogenes  Gebilde.  Damit 
verliert  das  Leben  seine  bloße  Subjektivität;  denn  diese  aus  ihm 
hervorgehenden  Produkte  haben  eigene  Normen  und  verflechten 
ihre  Bedeutungen  und  Folgen  in  rein  sachliche  Ordnungen. 
Diese  Möglichkeit,  die  Ergebnisse  der  Lebensenergien  aus  dem 
Leben  heraus  und  jedenfalls  irgendwie  jenseits  des  Subjektes  zu 
versetzen,  stellt  den  kulturellen  Menschen  in  einen  Dualismus, 
den  er  in  einer  ziemlich  einseitigen  Weise  zu  entscheiden  pflegt. 
Der  eine  Typus  der  Durchschnittsnaturen  lebt  ein  nur  subjektives 
Leben,  der  Inhalt  jedes  Momentes  ist  nichts  anderes  als  die 
Brücke  zwischen  dem  vorangehenden  und  dem  nachfolgenden 
Moment  des  Lebensprozesses  und  bleibt  in  diesem  befangen ;  in 
wirtschaftlichem  Ausdruck  ist  dies  das  Schicksal  der  Menschen, 
die  heute  arbeiten,  ausschließlich  um  morgen  leben  zu  können. 
Der  andere  Typus  will  gerade  nur  Objektives  leisten,  gleichgültig 
um  welchen  Preis  des  eignen  Lebens  und  mit  welchem  Ertrage 
dafür;  aller  Wertakzent  ihrer  Arbeit  verbleibt  für  sie  in  deren 
rein  sachlichen  Normierungen.    Jene  kommen,  in  der  Intention 

Simmel,  Goethe.  X 


2  Genie 

ihres  Lebens,  nie  über  sich  hinaus,  diese  nie  zu  sich  zurück, 
sie  schaffen  sozusagen  nicht  aus  sich,  sondern  aus  einer  un- 
persönlichen Ordnung  der  Dinge  heraus. 

Es  ist  nun  das  Wesen  des  Genies,  die  organische  Einheit 
dieser  sozusagen  mechanisch  auseinanderliegenden  Elemente 
darzustellen.  Der  Lebensprozeß  des  Genies  vollzieht  sich  nach 
dessen  innersten,  ihm  allein  eigenen  Notwendigkeiten  —  aber  die 
Inhalte  und  Ergebnisse,  die  er  erzeugt,  sind  von  der  sachlichen 
Bedeutung,  als  hätten  die  Normen  der  objektiven  Ordnungen, 
die  ideellen  Forderungen  der  Sachgehalte  der  Dinge  sie  hervor- 
gebracht. Der  Eindruck  des  Exzeptionellen,  der  für  das 
Genie  wesentlich  ist,  stammt  daher,  daß  die  sonst  nicht  oder 
nur  zufällig  zusammengehenden  Reihen  des  Lebens  und  der 
Sachwerte  in  ihm  eine  einzige  bilden.  Daher  kommt  es,  daß  das 
Genie,  je  nach  der  Seite,  von  der  her  man  es  sieht,  bald  als  der 
eigengesetzlichste,  die  Welt  ablehnende,  nur  auf  sich  gestellte 
Mensch  erscheint,  bald  als  das  bloße,  reine  Gefäß  der  objektiven 
Notwendigkeit,  des  Gottes.  Dadurch  wird  Goethe  zum  Typus 
des  Genies,  daß  in  ihm,  vielleicht  mehr  als  in  irgend  einem 
andern  Menschen,  das  subjektive  Leben  wie  selbstverständlich  in 
der  objektiv  wertvollen  Produktion  in  Kunst,  Erkennen,  prak- 
tischem Verhalten  ausmündete.  Diese  Erzeugung  von  an  sich 
wertvollen  Inhalten  des  Lebens  aus  dem  unmittelbaren,  nur 
sich  selbst  gehorsamen  Prozeß  des  Lebens  selbst  begründet  die 
fundamentale  Abneigung  Goethes  gegen  allen  Rationalismus; 
denn  dessen  eigentliches  Absehen  ist,  umgekehrt  das  Leben  aus 
den  Inhalten  zu  entwickeln,  erst  aus  ihnen  ihm  Kraft  und 
Recht  zuzuleiten  —  weil  er  dem  Leben  selbst  nicht  traut.  Das 
tiefe  Zutrauen  zum  Leben,  das  überall  in  Goethe  zu  Worte 
kommt,  ist  nur  der  Ausdruck  jener  genialischen  Grundformel 
seiner  Existenz. 

Gewiß  war  er  einer  der  ,, sachlichsten"  Menschen,  die  es  je 
gegeben  hat.  Allein  dies  war  die  Bestimmung  seiner  Natur 
selbst  und  durchaus  damit  verträglich,  daß  ihm  bei  seinem 
Schaffen  die  teleologische  Überlegung  der  ,, Sachmenschen": 
was  dabei  herauskommen  werde?  —  ganz  fern  war.     Noch  in 


Entwicklung  der  Lebensinhalte  3 

seinem  37.  Jahr  spricht  er  davon,  „der  Betrachtung  der  Dinge" 
„sein  ganzes  Leben  zu  widmen"  —  „ohne  mich  im  mindesten 
zu  bekümmern,  wie  weit  ich  kommen  werde  und  was  mir  zu- 
geschnitten ist".  Dies  eben  bezeichnet  den  Menschen,  dessen 
Leben  eine  Entwicklung  aus  dem  inneren  Zentrum  heraus  ist, 
nur  bestimmt  durch  die  Kräfte  und  Notwendigkeiten  seiner 
selbst  und  bei  dem  das  fertige  Werk  nur  das  von  selbst  sich 
ergebende  Produkt,  aber  nicht  der  Zweck  ist,  der  das  Tun  von 
sich  abhängig  machte.  Dies  bleibt  ihm  als  die  wesentliche 
Lebensform  bestehen,  auch  als  die  Subjektivität  der  Jugend, 
ihre  Gerichtetheit  auf  die  Vollendung  des  persönlichen  Seins, 
längst  einer  rein  objektivischen  Lebensbetrachtung,  der  Richtung, 
auf  Wissen  und  Behandlung  der  Dinge  Platz  gemacht  hatte. 
Der  eigne  Lebensprozeß  stand  ihm,  in  innerlicher,  instinktiver 
Sicherheit,  sozusagen  jenseits  des  Gegensatzes  von  Subjekt  und 
Objekt,  und  er  konnte  sich  ihm  mit  dieser  Einfachheit  und 
Selbstgenügsamkeit  überlassen,  weil  sein  Sein  die  Überzeugung 
in  sich  trug,  daß  er  eben  damit  das  objektiv  Rechte  und  Wert- 
volle erzeugte.  Dieses  Sein  entsprach  am  meisten  der  Leibnizi- 
schen  Monade:  der  vollkommene  Spiegel  der  Welt,  der  seine 
Bilder  doch  als  die  Entwicklung  seiner  eignen  Kräfte  hervorbringt. 
Aus  dem  Bewußtsein  dieser  Reihung  der  Elemente  schreibt  er 
über  den  Meister  an  Schiller:  „Unendlich  viel  ist  mir  Ihr  Zeug- 
nis wert,  daß  ich  im  Ganzen,  was  meiner  Natur  gemäß  ist, 
auch  hier  der  Natur  des  Werkes  gemäß  hervorgebracht  habe." 
Diese  Einheit  von  Leben  und  Idee  liegt  der  Äußerung  zum 
Grunde:  ,, Meine  Idee  vom  Vortrefflichen  war  auf  jeder  meiner 
Lebens-  und  Entwicklungsstufen  nie  viel  größer,  als  was  ich 
auf  jeder  Stufe  zu  machen  imstande  war."  Gewiß  wider- 
spricht dies  der  üblichen  Vorstellung  von  dem  idealistischen 
Dichter,  der  einem  absolut  Hohen  und  ewig  Unerreichbaren 
nachhängen  muß;  aber  es  drückt  höchst  treffend  aus,  daß 
hier  die  Inhalte  des  Lebens  von  dem  Charakter  seines 
Prozesses  her  ihre  Idealität  besitzen,  und  nicht  von  einem  wie 
auch  wertvollen  Außerhalb  her.  Deshalb  spannt  sich,  wo  er 
auf  einen  grundsätzlichen  Abstand  des  Werkes  gegen  das,  was 


4  Werk  und  Zweck 

CS  sein  sollte,   hinzeigt,  dieser  nicht  zwischen  dem  Werk  und 
seiner    „Idee",    sondern    zwischen    ihm    und    dem    innerlichen 
Leben,    das    sich   mit    ihm    auswirken  will:    ,,Kindergelall  und 
Gerassel  ist  der  Werther  und  all  das  Gezeug  gegen  das  innere 
Zeugnis  meiner  Seele!"     Jene  Zweckhaftigkeit,   wie  die  Sach- 
menschen   sie    als    ihren    Ruhm    empfinden    und   mit    der    der 
Lebensprozeß  ein  Gezogenwerden  vom  Ziel  her  statt  ein  Wachsen 
von  der  Wurzel  her  ist,  lag  ihm  ganz  fern,  und  gewiß  gehört 
dies    zu    den    letzten  Motiven,    aus    denen    er    auch    der  Natur 
gegenüber  alle  teleologische  Betrachtung  vermied.    Wenn  er  von 
der  Natur  sagt,  sie  ,,wäre  zu  groß,  um  auf  Zwecke  auszugehen 
und  hätte    es  auch   nicht  nötig",   so   gilt  dies   in  weitem  Um- 
fang für   ihn  selbst.     Auch  sein  Werk  war  ihm  nicht  in  dem 
gewöhnlichen  Sinne  das  Ziel  seiner  Arbeit,   sondern  vielmehr 
ihr  Ergebnis  —  welches  alles  natürlich  nur  ganz  prinzipiell  und 
übersingulär  verstanden  werden  will.     Aber  mehr  als  ein  Zug, 
mit   dem  er  sein  Wesen  selbst  charakterisiert,   wird  erst  durch 
diese  Gerichtetheit  seiner  Lebensströmung  ganz  in  sie  eingefügt. 
So  seine  oftmals  wiederholte  Bemerkung,  daß  von  allen  Lastern, 
gegen    deren    viele    er    seiner  Natur   nach  keineswegs  gesichert 
wäre,    ihm    nur    der   Neid    absolut    undenkbar    sei.      Wer    auf 
das  Werk  allein  sieht  und  aus  ihm  die  Bewegkraft  seines  Tuns 
gewinnt,    kann    leicht    neidisch    werden,    weil    ihm    sein   Werk 
neben    andern    steht,    was    den    Vergleich    herausfordert;    wem 
aber  die   tätige  Entwicklung   der  eignen  Kraft  Selbstzweck  ist, 
der    steht  von  vornherein  im  Unvergleichbaren;    in  ihm,    dem 
das  Objekt  des  möglichen  Neides,  das  Werk,  sozusagen  nur  ein 
Akzidenz  des  aktiven  Daseins   ist,   findet  der  Neid   gar  keinen 
Ansatzpunkt.     Eben  deshalb  lag  ihm  an  der  Anerkennung  der 
Menschen  nicht  viel,   die  sich  immer  an  das  Werk  knüpft,   da 
er  im  Wirken  selbst,  nicht  im  Werk  seinen  Lohn  fand  —  ein 
reinstes  Beispiel  jener  Spinozischen  beatitudo,  die  nicht  virtutis 
praemium,  sondern  virtus  ipsa  ist.    Darum  sind  ihm  auch  alle 
Vergleiche  von  Persönlichkeiten,  die  nur  auf  die  Wertdifferenzen 
der  Werke  gehen,   offenbar  etwas  Unbehagliches,   darum  lehnt 
er  die  Vergleichung  seiner  selbst  mit  Schiller  so  energisch  ab. 


Liebhabertum  5 

und  wenn  er  sich  mit  Shakespeare  konfrontiert,  stellt  er  nicht 
dessen  Werke  über  die  seinen  (was  er  übrigens,  den  Sach- 
standpunkt einnehmend,  sicher  getan  hätte),  sondern  spricht 
▼on  Shakespeares  Natur,  und  daß  er  ein  ,,Wesen  höherer  Art 
ist,  das  ich  zu  verehren  habe".  Und,  richtig  verstanden; 
ist  wohl  das  reinste  Phänomen  dieser  entscheidenden  Lebens- 
intention in  den  merkwürdigen  Äußerungen  über  Beruf  und 
Liebhabertum  zu  finden.  ,,Nur  nichts  als  Profession  getrieben! 
das  ist  mir  zuwider,"  äußert  er  sich  als  fast  Sechzig  jähriger. 
„Ich  will  alles,  was  ich  kann,  spielend  treiben,  was  mir  eben 
kommt  und  so  lange  die  Lust  daran  währt.  So  hab'  ich  in 
meiner  Jugend  gespielt,  unbewußt;  so  will  ich's  bewußt  fort- 
setzen durch  mein  übriges  Leben."  Noch  in  seinem  letzten 
Lebensjahre  tadelt  er  ein  Dichtwerk  damit,  es  hätte  ,, keine 
eigentliche  Facilität;  es  sieht  immer  aus  wie  ein  Errungenes." 

.,Was  willst  du,  daß  von  deiner  Gesinnung 
Man  dir  nach  ins  Ewige  sende? 
Er  gehörte  zu  keiner  Innung. 
Blieb  Liebhaber  bis  ans  Ende." 

Nichts  kann  paradoxer  scheinen,  als  dieses  Sich  -  Einstellen 
auf  Liebhaberei  und  Spiel  bei  dem  Menschen,  der  den  Dilettan- 
tismus mit  leidenschaftlichem  Haß  verfolgt  und  dauernd  betont, 
wie  sauer  er  sich 's  im  Leben  habe  werden  lassen,  wie  er  ge- 
arbeitet habe,  wo  man  sonst  jedem  zu  ruhen  vergönnt,  wie 
ihm  z.  B.  in  den  fünfzig  Jahren  seines  geognostischen  Studiums 
kein  Berg  zu  hoch,  kein  Schacht  zu  tief,  kein  Stollen  zu 
niedrig  gewesen  wäre.  An  dem  Schnittpunkte  dieser  gegen- 
einanderstehenden  Bekenntnisse  muß  Goethes  Wesen  ergriffen 
werden.  Die  Abneigung  gegen  Profession  und  ,, Innung"  ist 
nichts  weniger  als  ein  extremer  Individualismus  (da  er 
im  Gegenteil  auf  Zusammenwirksamkeiten  drängt  und  das 
,, Monologisieren"  der  Forscher  beklagt);  sie  gilt  vielmehr  dem 
Bestimmtsein  der  Lebensarbeit  von  einem  fixierten,  ideell  vor- 
bestehenden Inhalte  her.  Das  Liebhabertum  und  das  Spielen 
bedeutet  nichts  anderes,  als  daß  die  Lebensenergien  sich  in 
voller  Unabhängigkeit  von  all  solchem  Äußern  auswirken  sollen, 


6  Spiel  und  Mühe 

das,  wie  wertvoll  es  an  sich  sei,  dem  Leben  ein  ihm  im 
Prinzip  Fremdes  als  Direktive  vorsetzte.  Ja,  er  löst  sogar 
das  inhaltliche  Ergebnis  als  das  Unwesentliche  von  dem  Lebens- 
prozeß los,  aus  dem  es  kommt  und  aus  dem  es  fließt:  ,, Nicht 
insofern  der  Mensch  etwas  zurückläßt,  sagt  er,  sondern  insofern 
er  wirkt  und  genießt  und  andere  zu  wirken  und  zu  genießen 
anregt,  bleibt  er  von  Bedeutung."  Und  noch  monumen- 
taler: ,,Es  kommt  offenbar  im  Leben  aufs  Leben  und  nicht 
auf  ein  Resultat  desselben  an."  Es  ist  im  Sinne  Schillers:  der 
Mensch  sei  erst  da  ganz  Mensch,  wo  er  spielt  —  d.  h.  im 
Spiel,  als  formalem  Prinzip,  habe  der  Mensch  alle  von  der 
Sache  als  solcher  herkommenden  Determinierungen  abgetan, 
nur  die  Energien  seines  We§ens  wollen  sich  auswirken,  es 
drängt  ihn  nicht  mehr  die  schwere  Fremdheit  sachlicher  Ord- 
nungen, sondern  wohin  er  gelangt,  wird  durch  sein  ausschließ- 
lich eignes  Wollen  und  Können  bestimmt.  Solches  Spiel  aber 
schließt  die  äußerste  Anstrengung,  ja,  die  äußerste  Gefahr  nicht 
aus.  In  diesem  Sinne  also  war  die  ununterbrochene  mühselige 
Arbeit  Goethes  ein  Spielen ;  der  tiefe  Ernst  seines  Wirkens,  die 
Hingegebenheit  an  den  Gegenstand,  das  Überwinden  fort- 
währender Schwierigkeiten  —  alles  wohnt  seinem  Lebensprozeß 
selbst  ein,  wie  er  sich  aus  sich  selbst  und  durch  seine  eignen 
Wurzelkräfte  vorwärtsgedrängt,  entwickelt.  All  die  vielfältige 
Mühsal,  die  den  meisten  Menschen  aus  einer  ihnen  erst  gegen- 
übertretenden, ihrem  eigensten  Leben  heterogenen  Ordnung  der 
Sachen  heraus  auferlegt  wird,  gehörte  bei  ihm  zu  der  Selbst- 
verständlichkeit und  Innerlichkeit  des  Lebens  selbst ;  gerade  wie 
die  Vollendung  des  Werkes,  die  die  meisten  Menschen  nur  um 
den  Preis  einer  Entselbstung,  an  der  Hand  einer  von  jenseits 
ihres  Lebens  herkommenden  Regulative  erreichen,  für  ihn 
das  selbstverständliche,  keiner  Antizipation  bedürftige  Frucht- 
bringen eines  Reifeprozesses  war,  der  nur  in  sich  vollkommen 
zu  sein  brauchte^  damit  auch  die  Frucht  es  sei. 

Daraus  erklärt  sich  auch  das  ungeheure  Quantum  seiner 
Arbeitsleistung,  das  ihn  doch,  wenn  ich  nicht  irre,  niemals  über 
eigentliche  Überarbeitung  klagen  läßt  —  obgleich  er  Beschwer- 


Innere  Notwendigkeit  7 

den  über  solche  relativ  äußerliche  Leiden  keineswegs  prinzipiell 
unterdrückt.  Weil  er  sich  seine  Aufgaben  in  allen  Hauptsachen 
aus  seiner  inneren  Notwendigkeit  und  Entwicklung  heraus  stellte, 
waren  auch  die  Kräfte  für  sie  immer  verfügbar,  und  umgekehrt, 
er  konnte  sich  für  jede  verfügbare  Kraft  eine  Aufgabe  stellen. 
Dem  modernen  Menschen  reißt  jene  von  Goethe  so  gehaßte 
,, Professionsmäßigkeit"  unzählige  Male  die  Aufgabe  und  die 
Kraftrichtung  auseinander.  Die  steigende  Objektivierung  des 
Lebens  fordert  Leistungen  von  uns,  deren  Maß  und  Folge  eine 
eigne,  dem  Subjekt  jenseitige  Logik  besitzt,  und  damit  wird 
diesem  ein  mühseliger,  subjektiv  unzweckmäßiger  Kraftaufwand 
abverlangt.  Das  Gefühl  des  modernen  Menschen  wird  begreif- 
lich: er  habe  nicht  genug  gearbeitet,  wenn  er  nicht  zu  viel 
gearbeitet  hätte  —  denn  tatsächlich  arbeitet  er  bei  dieser 
Konstellation  subjektiv  zu  viel,  weil  er  die  Lücken  seiner 
Spontaneität  mit  bewußter  Anstrengung  füllen  muß,  um  der 
anders  orientierten  Objektivität  zu  genügen;  während  andrer- 
seits manche  seiner  Möglichkeiten  und  Kräfte  kein  Auswirkungs- 
bereich finden.  Daß  in  den  Lebensintentionen  so  vieler  gegen- 
wärtiger Menschen  eine  rationalistische,  ja  bürokratische 
Reguliertheit  und  eine  anarchische  Formlosigkeit  unorganisch 
verwachsen,  geht,  als  auf  seinen  letzten  Grund,  auf  diese  Ent- 
zweiung zwischen  der  subjektiven  und  der  objektiven  Bedingtheit 
des  Tuns  zurück  —  während  aus  ihrer  Einheit  heraus  Goethe 
eine  sozusagen  pausenlose  und  intensivste  Arbeit  , »spielend" 
vollbrachte. 

Nun  verläuft  die  Wirklichkeit  natürlich  nie  in  der  Absolut- 
heit und  Reinlichkeit  des  Schematismus,  mit  dem  eine  Per- 
sönlichkeit dargestellt  werden  muß,  insofern  sie  als  Verwirk- 
lichung einer  Idee  erscheint ;  die  Annäherung  an  diese,  die  auch 
dem  vollkommensten  Naturell  nur  beschieden  ist,  muß  in  der 
eigentümlichen  Umbildung,  die  der  Mensch  in  der  Ordnung  der 
Idee  erfährt,  als  restlose  Erreichtheit  auftreten;  denn  in  dieser 
Ordnung  kommt  es  nicht  auf  ein  Mehr  oder  Weniger,  sondern 
nur  auf  die  qualitative  Bestimmung,  auf  den  Begriff  überhaupt 
an.     In  unserm  Fall  verwirklicht  sich   dieses  allgemeine  Ver- 


8  Minderwertige  Leistungen 

halten  an  gewissen  Bestandteilen  der  Goetheschen  Produktion, 
die  die  behauptete  Harmonie  der  beiden  Ordnungen  gänzlich 
zu  unterbrechen  scheinen.  Goethe  hat  eine  große  Anzahl  von 
unbestreitbar  völlig  minderwertigen  Produkten  hinterlassen, 
Künstlerisches  von  radikalem  ästhetischem  Unwert,  Theore- 
tisches von  der  erstaunlichsten  Flachheit  und  Falschheit.  Aber 
so  sind  sie  nur  innerhalb  der  Skala  reiner  Inhaltsbedeutungen 
abzuschätzen.  Daneben  fühlen  wir  sie  als  notwendige  Durch- 
gangspunkte einer  als  ganzer  unermeßlich  wertvollen  Entwick- 
lung, als  Ruhe-  und  Haltestellen,  als  Umwege  durch  das  Leere, 
als  Wunderlichkeiten,  die  in  einer  geheimnisvollen  Weise  zu 
den  tatsächlichen  (nichtfMhhaltlich-logischen)  Bedingungen  des 
Ganzen  gehören.  Ihre  vitale  Innenseite  hat  eine  ganz  andre 
Bedeutung,  als  ihre  Objektivation  in  deren  eigenen  Ordnungen. 
Man  kann  ganz  allgemein  bemerken,  daß  große  Künstler  oft 
so  schwache  Leistungen  hinterlassen,  wie  sie  von  mittelguten 
epigonenhaften  Künstlern  überhaupt  nicht  begegnen.  Diese 
nämlich  schaffen  von  einem  gegebenen,  irgendwie  wertvollen 
Begriff  aus,  der  ihnen  als  Muster  und  Kriterium  feststeht  und 
immer  gegenwärtig  ist.  Wer  aber  mit  originaler  Produktivität, 
aus  der  letzten  und  eigensten  Lebensquelle  heraus  schafft,  dessen 
Werk  unterliegt  den  Schwankungen  des  Lebens,  bei  ihm  ist  die 
Idee  zwar  mit  dem  Lebensprozeß  identisch,  während  sie  bei  jenen 
äußerlich  zu  diesem  hinzutritt,  aber  dafür  muß  sie  das  Leben 
auch  durch  seine  Tiefstände  und  unvermeidlichen  Mattheiten 
hindurch  begleiten.  Gerade  was  Goethes  Werk  so  unvergleich- 
lich macht :  daß  es  in  jedem  Augenblick  der  unmittelbare  Puls- 
schlag seines  Lebens  ist,  macht  es  in  vielen  dieser  Augenblicke 
schwächer,  als  das  Werk  des  sekundären  Künstlers,  das  von 
einer  dem  Leben  bereits  gegenüberstehenden  Norm  reguliert  ist. 
Damit  liegt  aber  auch  hier  eine  objektive  Bedeutung  vor, 
die  diese  Äußerungen  jenseits  der  bloßen  Tatsache  ihres  momen- 
tanen seelischen  Erzeugtwerdens  besitzen :  innerhalb  des  Daseins 
Goethes,  innerhalb  der  Ordnung,  die  von  der  Kategorie  Goethe 
objektiv  normiert  wird,  sind  sie  genau  so  an  ihrer  Stelle  und  genau 
so  legitimiert,  wie  Tasso  und  die  Wahlverwandtschaften  in  den 


Aufbau  des  Ich  9 

Ordnungen,  die  unter  den  objektiven  Kategorien  der  Ästhetik 
stehen.  Dies  ist  keineswegs  bei  allen  Äußerungen  eines  Indivi- 
duums überhaupt  der  Fall,  deren  unzählige  vielmehr  in  dieser  Hin- 
sicht ein  eigentümliches  Verhalten,  gewissermaßen  ein  Gegen- 
bild der  ,, Verantwortungslosigkeit"  zeigen.  Vielerlei  Akte  voll- 
bringen wir,  für  die  wir,  als  ihre  zweifellosen  Subjekte,  die 
rolle  äußere  Verantwortung  tragen,  von  denen  wir  aber  dennoch 
empfinden,  daß  sie  sich  mindestens  teilweise  aus  Quellen  nähren, 
die  nicht  in  uns  entspringen,  sondern  nur  durch  uns  hindurch- 
fließen: aus  sozialem  Zwang,  aus  Traditionen,  aus  physischen 
Angelegtheiten.  Solche  Akte  gehören  sozusagen  von  ihrem 
terminus  a  quo  her  nicht  zu  uns,  sie  gehen  nicht  von  uns 
allein  aus.  Nun  aber  gibt  es  gewisse  andere  Akte  unseres  Ver- 
standes und-  unseres  Willens,  die  vielleicht  völlig  in  uns  ent- 
springen, aber  sich  der  Entwicklung  und  dem  zusammenhängen- 
den Bilde  unserer  Persönlichkeit  nicht  anfügen,  sie  liegen  wie 
zufällig  und  unverbunden  in  dem  seelischen  Räume  um  unser 
eigentliches  Ich  herum,  dieses  ist  nicht  ihr  terminus  ad  quem, 
sie  gehen  nicht  auf  uns  zu.  Dabei  mögen  sie  einer  außerhalb 
unser  gelegenen  objektiven  Ordnung  wertvoll  und  bedeutend 
zugehören  und  mögen  sie  erbauen  helfen  —  nur  zu  der  Ord- 
nung und  dem  Sinn  unseres  Ich  sind  sie  keine  Bausteine. 
Schließlich  ist  unser  Ich  doch  auch  ein  objektives  Gebilde  und 
was  in  der  bloßen  Tatsächlichkeit  unserer  Seele  entspringt,  kann 
an  diesem  Gebilde  vorbeigleiten  und  für  seinen  Aufbau,  für 
die  allmähliche  Veranschaulichung  seines  Sinnes  genau  so 
wirkungslos  bleiben,  wie  für  das  wissenschaftliche  oder  das  künst- 
lerische oder  das  soziale  Wertsystem.  Sie  können  aber  auch, 
wie  gesagt,  für  diese  von  erheblicher  Bedeutung  sein,  ohne 
noch  dadurch  der  Idee  und  dem  Aufbau  unseres  Ich,  als  einem 
einheitlichen  Wertzusammenhang,  einen  Beitrag  zu  leisten. 
Hier  steht  also  eine  besondre  Bedeutungskategorie  unserer  Akte 
in  Frage,  deren  Erreichtheit  oder  Verfehltheit  durchaus  nicht  da- 
von abgelesen  werden  kann,  ob  sie,  an  den  im  gewöhnlichen 
Sinne  objektiven  Wertskalen  gemessen,  klug  oder  töricht,  zu- 
länglich oder  schwächlich,  gut  oder  böse  sind.    Die  Zufälligkeit 


10  Eigengesetzlichkeit  und  sachliches  Ergebnis 

des  Verhältnisses,  das  zwischen  unsern  Akten  als  bloßen  seelischen 
Tatsachen  und  als  Werten  innerhalb  sachlicher  Reihen  besteht, 
findet  demnach  eine  Fortsetzung  zwischen  jenen  ersteren  und 
der  Bedeutung  ihres  Inhalts  für  den  Aufbau  unser  selbst  als  einer 
objektiven  Persönlichkeit,  eines  geschlossenen  Lebensgebildes. 
Diese  Zufälligkeit  nun  ist  es,  die  gerade  wie  die  erstere,  mehr 
als  wir  es  sonst  von  Menschen  wissen,  in  Goethes  Existenz 
überwunden  scheint.  Wo  den  Äußerungen  seines  inneren 
Lebens  die  Sachbedeutung  in  intellektueller,  ästhetischer,  ja 
vielleicht  in  moralischer  Hinsicht  abgeht,  da  ersetzen  sie  diese 
durch  ihre  Bedeutung  für  den  Sinn,  die  Notwendigkeit,  die 
Totalität  seiner  Persönlichkeit,  die  doch  eine  objektive  Idee 
und  Gestaltung  ist.  Und  hierin  liegt  allerdings  das  — 
von  jenem  ersteren  Standpunkte  aus  sehr  anfechtbare  — 
Recht,  auch  das  Mißlungene,  sachlich  Unbegreifliche,  scheinbar 
Zufällige  seiner  Äußerungen  als  ein  irgendwie  Wertvolles  und 
von  einer  Idee  Geleitetes  zu  bewahren  und  zu  schätzen.  Sein 
Bild  bietet  einen,  vielleicht  bei  keiner  geschichtlichen  Persön- 
lichkeit so  hohen  Grad  von  Kultiviertheit  eben  dadurch: 
jedes  Objektive,  das  er  schuf,  kam  aus  seinem  Ganzen,  jedes, 
das  er  aufnahm,  ging  in  sein  Ganzes. 

Dies  alles  eingerechnet,  besteht  hierin  das  —  dem  Maße  nach 
—  Einzige  dieser  Existenz :  daß  die  Inhalte  ihres  Wirkens  an 
jedem  Punkt  ein  Einheitliches  sind,  mag  man  sie  von  der  Seite 
des  Lebensprozesses  und  als  dessen  natürliche  Ergebnisse  be- 
trachten oder  von  der  ideellen  Ordnung  her,  unter  die  sie  als 
Sachgehalte  gehören  und  als  hätten  diese  Normen  sie  gebildet, 
wie  gleichgültig  gegen  die  lebendig -persönliche  Vermittlung. 
Es  war  die  große  Wahrscheinlichkeit  gewesen,  daß  eine 
Natur,  die  so  ausschließlich  dem  eigenen  Gesetz  folgte,  gerade^ 
die  Gesetze  der  Dinge  in  den  zufälligsten  Winkeln  querte.  Die 
Chance  der  Spannung  war  ungeheuer,  und  um  so  ungeheurer 
das  Glück  und  das  Wunder  der  Harmonie,  oder:  um  so 
ungeheurer  das  Glück  des  Gefühles,  daß  es  kein  Wunder  war. 
Mit  völliger  Deutlichkeit  und  Selbstverständlichkeit  spricht  er 
es  einmal  am  Anfang  der  italienischen  Reise  aus :  „Manchmal 


Schöpfertum  1 1 

macht's  mich  fürchten,  daß  so  viel  auf  mich  gleichsam  ein- 
dringt, dessen  ich  mich  nicht  erwehren  kann  —  und  doch 
entwickelt  sich  alles  von  innen  heraus."  Sind  diese  beiden 
Bedeutungen  der  geistigen  Inhalte  nach  Wert  und  Sinn  ihrer 
Intention  getrennt,  so  bekommt  ihre  Produktion  leicht  etwas 
Unorganisches,  ja  Mechanisches,  weil  sie  sich  aus  einem  dem 
Leben  entgegengesetzten  Prinzip  zu  entwickeln  und  damit  mehr 
ein  aus  vorbestehenden  Teilen  Zusammengesetztes,  als  ein  lebendig 
Gewachsenes  zu  sein  scheint.  Goethe  selbst  hat  diesen  Unterschied, 
und  zwar  ersichtlich  in  lebhaftem  Selbstbewußtsein,  empfunden. 
,, —  —  was  es  heißen  wolle,  daß  der  Dichter  und  alle  eigent- 
lichen Künstler  geboren  sein  müssen.  Es  muß  nämlich  ihre  innre 
produktive  Kraft  jene  Nachbilder,  die  im  Organ,  in  der  Erinnerung, 
in  der  Einbildungskraft  zurückgebliebnen  Idole  freiwillig,  ohne 
Vorsatz  und  Wollen,  lebendig  hervortun,  sie  müssen  sich  ent- 
falten, wachsen,  sich  ausdehnen  und  zusammenziehen,  um  aus 
flüchtigen  Schemen  wahrhaft  gegenständliche  Wesen  zu  werden. 
Je  größer  das  Talent,  desto  entschiedener  bildet  sich  gleich  an- 
fangs das  zu  produzierende  Bild.  Man  sehe  Zeichnungen  von 
Rafael,  Michelangelo,  wo  auf  der  Stelle  ein  strenger  Umriß  das, 
was  dargestellt  werden  soll,  vom  Grunde  loslöst  und  körperlich 
einfaßt.  Dagegen  werden  spätere  obgleich  treffliche  Künstler  auf 
einer  Art  von  Tasten  ertappt;  es  ist  öfter,  als  wenn  sie  erst 
durch  leichte,  aber  gleichgültige  Züge  aufs  Papier  ein  Element 
schaffen  wollen,  woraus  nachher  Kopf  und  Haar,  Gestalt  und 
Gewand  sich  bilden  solle."  Er  charakterisiert  damit  sehr  gut 
den  Mangel  jener  Einheit,  in  der  die  Elemente  der  Produktion 
ihre  Sonderwirklichkeit  gegenüber  dem  von  innen  quellenden 
Schöpfertum  aufgeben.  Wer  herumprobiert,  ob  sich  die  Sache 
aus  der  Skizze  bilden  wolle,  ob  diese  von  selbst  allmählich  ein 
Bild  hergibt,  der  erwartet  das  Produkt  von  einer  äußeren,  wenn 
auch  ideellen  Fügung  her,  es  ist  nicht  in  demselben  Sinn  und 
Maß  sein  Gebilde,  wie  das  des  eigentlichen  Schöpfers,  in  dem 
es  sich  nach  dem  Gesetz  und  durch  die  selbstverantwortlichen 
Kräfte  des  reinen  Innern  erbaut.  Es  wird  sich  auch  sonst  noch 
als  ein  bedeutungsvoller  Zug  dieser,  mit  der  Objektivität  der  Dinge 


12  Gleichwertigkeit  der  Gegenstände 

geheimnisvoller  und  zugleich  deutlicher,  als  andere  Menschen, 
verbundenen  Natur  zeigen,  daß  ihre  physisch-sinnlichen  Eigen- 
heiten sich  schon  zu  Symbolen  ihrer  geistig-höchsten  Bewährungen 
bieten.  So  ist  diese  Lebensformel :  daß  er  seine  Energien  gleichsam 
nur  sich  selbst  zu  überlassen  brauchte,  damit  ein  an  der  objektiv 
ideellen  Norm  Zulängliches  entstehe,  in  folgendem  sinnlich  prä- 
formiert. Johannes  Müller  erzählt  einmal  von  dem  seltenen  Ver- 
mögen mancher  Menschen,  vor  dem  Einschlafen  völlig  klare 
und  plastische  Gegenstandsbilder  bei  geschlossenen  Augen  zu  er- 
blicken. ,,Ich  erklärte,  daß  ich  durchaus  keinen  Einfluß  auf  Her- 
vorrufung und  Verwandlung  derselben  habe,  und  daß  bei  mir  nie- 
mals eine  Spur  von  symmetrischer  und  vegetativer  Entwicklung 
vorkomme.  Goethe  hingegen  konnte  das  Thema  willkürlich  an- 
geben, und  dann  erfolgte  allerdings  scheinbar  unwillkürlich, 
aber  gesetzmäßig  und  symmetrisch  das  Umgestalten." 

Diese  geschilderte  Konstellation,  mit  der  die  seelische  und 
die  sachliche  Reihe  ihre  metaphysische  Einheit  erfahrbar  machen, 
wird  natürlich  von  der  ersteren  her  erlebt;  und  solche  Kraft 
hatte  das  Goethesche  Erleben,  daß  es  ihm  sozusagen  auf 
dessen  Gegenstand  nicht  ankam.  Natürlich  nicht  so,  als  ob 
der  behandelte  Gegenstand  nicht  die  höchste  und  heiligste  Wich- 
tigkeit für  ihn  gehabt  hätte;  sondern  in  dem  Sinne,  daß  es 
eigentlich  gleichviel  war,  welchen  Gegenstand  sein  Wirken  er- 
griff. Wer  seiner  Lebenseinheit  mit  der  Idee  der  Dinge  sicher 
ist,  dem  wird  leicht  jeder  Inhalt  seines  Wirkens  jedem  andern 
äquivalent  sein,  da  das  im  Tiefsten  Wesentliche:  daß  der 
Ausdruck  des  Seins  sich  in  dem  Ausleben  des  Ich  realisiert  — 
an  einem  jeden  gelingt.  Darum  kann  er  zu  Eckermann 
äußern:  ,,Ich  habe  all  mein  Wirken  und  Leisten  immer  nur 
symbolisch  angesehn  und  es  ist  mir  im  Grunde  ziemlich  gleich- 
gültig gewesen,  ob  ich  Töpfe  machte  oder  Schüsseln."  Aber 
in  welchem  Sinne  symbolisch?  Was  wird  durch  sein  Wirken 
und  Leisten  symbolisiert?  Gewiß  ein  letzter,  unaussprechlicher 
Sinn  der  Dinge;  aber  ebenso  auch  das  Persönlich-Innerlichste, 
die  reine  Dynamik  seines  Lebens.  Das  Werk,  wie  es  als  kon- 
kreter Inhalt  dasteht,  ist  nur  ein  Zeichen  dieser  tiefsten  Leben- 


Symbolik  der  Leistung  13 

digkeit,  ihres  Rhythmus  und  ihrer  Schicksale.  Eine  Äußerung 
Werthers  kann  wohl,  trotz  des  dazwischenliegenden  halben 
Jahrhunderts,  wegen  der  merkwürdigen  Gleichheit  des  Ausdrucks, 
die  Deutung  jener  Worte  bestätigen:  ,, Meine  Mutter  möchte 
mich  gern  in  Aktivität  haben.  Bin  ich  jetzt  nicht  auch  aktiv? 
Und  ist's  im  Grunde  nicht  einerlei,  ob  ich  Erbsen 
zähle  oder  Linsen?  —  Ein  Mensch,  der  um  andrer  willen, 
ohne  daß  es  sein  eignes  Bedürfnis  ist,  sich  um  Geld  oder 
Ehre  oder  sonst  was  abarbeitet,  ist  immer  ein  Tor." 

Nun  ist  freilich  jeglichem  menschlichen  Werkinhalt  diese 
Doppelbestimmung  eigen:  was  als  unser  Werk  dasteht,  kann 
auf  der  einen  Seite  als  Gleichnis  höherer,  geahnter  Werte  und 
ihrer  Zusammenhänge  gelten  und  hierin  sein  eigentliches  Wesen 
und  Recht  finden ;  auf  der  andern  Seite  ist  es  Zeichen  und  Erweis 
des  inneren  Lebens,  zwar  vielleicht  nur  wie  wir  die  Kontinuität 
eines  Laufes  mit  den  Punkten  markieren,  an  denen  wir  sein 
jeweiliges  Vorgedrungensein  gleichsam  erstarren  lassen,  oder 
wie  das  Meer  seinen  Schaum  am  Ufer  ablegt,  Erzeugnis  und 
Zeugnis  seiner  Wellen,  deren  Form  und  Kraft  es  freilich  in 
sich  zurücknimmt.  Aber  diese  beiden  Richtungen,  nach  denen 
hin  der  Inhalt  unseres  Tuns  symbolisch  ist,  setzen  sich  in  Wirk- 
lichkeit nicht  an  einen  jeden  gleichmäßig  an.  In  der  Regel  wird 
zugunsten  der  einen  die  andre  atrophisch,  und  auch,  wer  sein 
Wirken  und  Leisten  nach  den  beiden  Seiten  hin  symbolisch  an- 
sieht, wird  sie  meistens  als  untereinander  ungleich,  verschieden 
verteilt,  in  ihren  Maßen  unharmonisch  empfinden.  Dennoch  ist 
auch  in  dieser  Hinsicht  das  Exzeptionelle  an  Goethe  nicht  von 
quantitativer  Absolutheit.  Er  hat  nur  die  Symbolik,  die  alles  Men- 
schenwerk umgibt  und  trägt,  vollkommner  und  reiner  offenbart, 
als  es  andern  gelingen  will,  weil  in  seinem  Sein  und  Tun  deren 
beide,  sonst  gegeneinander  als  zufällig  erscheinende  Seiten  wie 
in  einer  notwendigen  Proportion  und  inneren  Einheit  erwachsen. 

Daß  die  Produktivität  nach  dem  eigenen  Gesetz  und  Trieb 
bei  Goethe  so  die  vollkommenste  Angemessenheit  zur  Welt 
zeigt,  ist  zwar  in  der  letzten  metaphysischen  Beschaffenheit 
seines    Naturells    verankert ;     innerhalb    der    bezeichenbareren 


14  Benutzung  der  Wirklichkeit 

Schichten  aber  wird  es  von  der  ungeheuren  Assimilations- 
kraft seines  Wesens  gegenüber  allem  Gegebenen  getragen. 
Diese  Schaffenskraft,  die  ununterbrochen  aus  dem  einheitlichen 
Quell  der  Persönlichkeit  zeugte,  nährte  sich  ebenso  ununter- 
brochen aus  der  Wirklichkeit  um  sie  herum.  Seine  Geistigkeit 
muß  eine  Analogie  zu  dem  Vermögen  des  ganz  gesunden  phy- 
sischen Organismus  gehabt  haben,  die  Nahrungsmittel  bis  ins 
Letzte  auszunutzen,  das  Unverwendbare  störungslos  auszu- 
scheiden, das  Zurückbehaltne  dem  Lebenskreislauf  so  selbst- 
verständlich einzuverleiben,  als  bildeten  beide  schon  von  vorn- 
herein eine  organische  Einheit.  Darum  gehören  bei  ihm  die 
polaren  Erscheinungen  durchaus  zusammen:  daß  er  einerseits 
Dingen  und  Ideen,  aus  denen  er  das  ihm  Gemäße  gezogen 
hatte,  auch  mit  großer  Entschiedenheit  aus  seinem  Leben  ent- 
ließ —  ,, sobald  ich  eine  Sache  einmal  durchgesprochen  habe, 
schreibt  er  an  Schiller,  ist  sie  auf  eine  ganze  Zeit  für  mich 
wie  abgetan" ;  daß  er  sich  aber  andrerseits  bewußt  war,  all 
sein  Schaffen  sei  gleichsam  nur  ein  Hindurchgehen  der  Dinge 
durch  seinen  Geist,  ihr  Eingehen  in  dessen  Form.  In  dieser 
Tiefe  wurzelt  seine  bekannte  Äußerung  über  seine  Gedichte, 
sie  alle  seien  Gelegenheitsgedichte,  sie  seien  durch  die  Wirklich- 
keit angeregt  und  hätten  darin  Grund  und  Boden ;  von  Gedichten, 
aus  der  Luft  gegriffen,  halte  er  nichts.  In  dieser  Eckermann- 
schen  Überlieferung  klingt  der  Satz  etwas  philiströs  und  nicht 
eben  tief.  Aber  er  offenbart  nun  doch  jene  letzte  Wesens- 
einheit und  Angemessenheit  zwischen  der  Wirklichkeit  und 
seinem  produktiven  Leben,  das  Erleben  der  Welt  setzte  sich 
ihm  gleichsam  ohne  Energieverlust  in  Schaffen  um,  es  gehörte 
ihm  nach  dem  Gleichnis,  das  er  so  gern  gebrauchte,  zusammen, 
wie  Einatmen  und  Ausatmen.  Bei  den  so  begnadeten  Menschen 
wird  sozusagen  der  göttliche  Schöpfungsprozeß  rückläufig: 
wie  in  ihm  die  Schöpferkraft  zur  Welt  wird,  so  wird  bei  jenen 
die  Welt  zur  Schöpferkraft.  Da  er  bei  der  Gesundheit  und  In- 
stinktsicherheit seiner  Organe  nur  das  aufnahm  —  von  äußerem 
und,  so  paradox  es  klingt,  auch  von  innerlichem  Erleben  — , 
was  ihm  angemessen  war,  da  Aufnehmen  und  Schaffen  sofort 


Die  Modelltheorie  15 

zur  Einheit  seines  Lebensprozesses  wurde,  so  erschien  ihm  be- 
greiflich sein  Schöpfertum  durch  das  Erleben  der  Wirklichkeit 
bedingt.  Liebesgedichte,  sagt  er,  machte  ich  nur,  wenn  ich 
liebte.  Die  Einheit  von  Wirklichkeit  und  geistigem  Wirken 
ließ  ihn  den  Grund  dieser  Bedingtheit  darin  finden,  daß  die 
Wirklichkeit  den  Geist  enthielt  und  man  ihn  nur  herauszuholen 
brauchte.  Von  den  vielen,  dahin  gerichteten  Äußerungen  nenne 
ich  nur  die  besonders  entschiedene:  ,,Das  Benutzen  der  Erleb- 
nisse ist  mir  immer  alles  gewesen;  das  Erfinden  aus  der  Luft 
war  nie  meine  Sache,  ich  habe  die  Welt  stets  für  geni- 
aler gehalten,  als  mein  Genie."  Und  nur  daß  alledem 
jenes  Einheitsgefühl  zugrunde  lag,  macht  genau  gegenteilige 
Äußerungen  begreiflich,  die  tatsächlich  nur  die  gleiche  Einheit 
von  der  andern  Seite  sehen,  mit  denen  er  nur  den  Akzent  auf 
ihr  anderes  Element  rückte  —  was  er  konnte,  weil  sie  ihm  als 
Einheit  eben  fraglos  war:  ,,Die  Kunst,  wie  sie  sich  im  höchsten 
Künstler  darstellt,  erschafft  eine  so  gewaltsame  lebendige  Form, 
daß  sie  jeden  Stoff  veredelt  und  verwandelt.  Ja,  es  ist  daher 
dem  vortrefflichen  Künstler  ein  würdiges  Substrat  gewisser- 
maßen im  Wege,  weil  es  ihm  die  Hände  bindet  und  ihm  die 
Freiheit  verkümmert,  in  der  er  sich  als  Bildner  und  als  Indi- 
viduum zu  ergehn  Lust  hat." 

Er  leistet  also  der  naturalistischen  Modelltheorie  keinen  Vor- 
schub, in  deren  Nähe  die  Erlebnistheorie  leicht  und  bedenklich 
rückt.  Es  ist  ein  Irrtum  ersten  Ranges,  zu  meinen,  daß  nur 
das  Geringste  für  das  Verständnis  einer  dichterischen  Gestalt 
damit  gewonnen  wäre,  wenn  man  ihr  Modell  aufzeigt  —  das 
bestenfalls  nur  das  eine  benennbare  Erfahrungselement  aus  den 
tausenden  ist,  die  zu  der  Gestalt  beigetragen  haben  und  die, 
auch  wenn  man  sie  alle  aufzählen  könnte,  die  dichterische 
Gestaltung  als  solche,  um  derentwillen  man  sich  überhaupt 
auch  um  jene  kümmert,  mit  keinem  Atom  berühren  würden. 
Das  Aufgraben  des  Modells  als  der  vor-künstlerischen  Gegeben- 
heit hebt  gerade  das  hervor,  was  ja  mit  dem  Kunstwerk,  das 
als  Kunstwerk  in  Frage  steht,  überhaupt  nichts  zu  tun  hat. 
Diese,  durch   die  ganze  populäre  und  wissenschaftliche  Kunst- 


16  Die  Erlebnistheorie 

betrachtung  gehende,  übertriebene  Wertung  des  Modells  ist  nichts 
Zufälliges.  Sie  entstammt  vielmehr  der  mechanistisch-mathe- 
matisierenden  Weltanschauung,  die  alle  Wirklichkeit  dann  und 
erst  dann  verstanden  glaubt,  wenn  sie  in  Gleichungen  aufgelöst 
ist.  Indem  man  in  der  Wirklichkeit  dasjenige  gefunden  hat, 
womit  das  Kunstwerk  anscheinende  ,, Gleichheit"  besitzt,  meint 
man  dies  ,, erklärt"  zu  haben  —  und  fügt  damit  jener  Inthroni- 
sierung der  Gleichung  noch  ihre  äußerste  Vergröberung  hinzu: 
daß  zwischen  Ursache  und  Wirkung  eine  Gleichheit  bestehen 
müßte.  Schließlich  ist  es  die  Milieutheorie,  mit  all  ihrer  Grob- 
heit und  Äußerlichkeit,  die  in  der  Überschätzung  des  Modells  als 
Erklärungsgrundes  des  Kunstwerks  zu  Worte  kommt.  Es  ist 
immer  das  von  Außen  kommende  und  sich  mechanisch  in  das 
Innere  Übertragende,  wodurch  die  Produktivität  dieses  Inneren 
begriffen  oder  vielmehr  ersetzt  werden  soll  —  während  es  doch 
durch  solches  Äußere  höchstens  zu  seinem  Eigenleben,  also 
zu  einer,  jenen  Elementen  durchaus  heterogenen  Formung  ver- 
anlaßt werden  kann.  Wenn  man  nun  neuerdings  in  dem  ,, Er- 
lebnis" die  Quelle  des  Kunstwerks  findet,  so  ist  damit  die  Ge- 
nesis aus  Milieu  und  Modell  keineswegs  grundsätzlich  verlassen, 
sondern  nur  subjektivisch  verfeinert.  Denn  auch  aus  dem  Er- 
lebnis wächst  unmittelbar  keine  Überleitung  zu  der  künstlerischen 
Spontaneität.  Im  Verhältnis  zu  ihr  ist  auch  das  Erlebnis  etwas 
Äußeres  —  niag  sich  auch  beides  im  Umfang  des  Ich  abspielen. 
Man  muß  diesen  ganz  allgemeinen  Begriff  erheblich  bestimmter 
und  lebendiger  fassen,  um  dem  genetischen  Begreifen  des  Kunst- 
werks aus  Gegebenheit  und  Erlebnis  das  Recht,  das  Goethe  ihm 
gibt,  zu  vindizieren. 

Die  Möglichkeit  der  Verbindung  liegt  darin,  daß  der  Lebens- 
prozeß mit  seinem  beharrenden  Charakter,  Intention  und  Rhyth- 
mus als  die  gemeinsame  Voraussetzung  und  Formgebung  so- 
wohl für  das  Erleben  wie  für  das  Schaffen  wirkt.  Es  gibt 
vielleicht  eine  —  für  jedes  Individuum  andere  —  allgemeinste, 
nicht  in  Begriffe  zu  fassende  Wesensformel,  nach  der  seine 
seelischen  Vorgänge  sich  bestimmen,  ebenso  das  Hineinnehmen 
der  Welt  in  das  Ich  im  Erlebnis,  wie  das  Hinausgeben  des  Ich 


Formgesetz  des  Lebens  17 

in  die  Welt  im  Schöpfertum.  Daß  ein  solches  typisches  Gesetz 
des  individuellen  Lebens  dessen  gesamte  Phänomene  beherrsche, 
scheint  Goethe  sehr  früh  bemerkt  zu  haben;  er  schreibt  1780 
in  sein  Tagebuch:  ,,Ich  muß  den  Zirkel,  der  sich  in  mir  um- 
dreht, von  guten  und  bösen  Tagen  näher  bemerken,  Leiden- 
schaften, Anhänglichkeit,  Trieb,  dies  oder  jenes  zu  tun.  Er- 
findung, Ausführung,  Ordnung,  alles  wechselt  und  hält  einen 
regelmäßigen  Kreis,  Heiterkeit,  Trübe,  Stärke,  Elastizität, 
Schwäche,  Gelassenheit,  Begier  ebenso."  In  dem  Maße  nun, 
in  dem  diese  fundamentale  Wesensbewegtheit  selbst  schon  den 
Charakter  überwiegender  Spontaneität  und  künstlerischen  Ge- 
staltens  trägt  —  in  eben  dem  wird  auch  schon  das  Erlebnis 
von  vornherein  und  in  der  Art  eben  seines  Erlebtwerdens  die 
Züge  des  Schöpfertums  und  der  künstlerischen  Werte  an  sich 
tragen.  Wo  die  Wurzelsäfte  der  Persönlichkeit,  von  denen  das 
Wirklichkeit  assimiliert  und  zum  Erlebnis  gestaltet  wird,  künst- 
lerisch tingiert  sind,  da  ist  das  Erlebnis  sozusagen  schon  ein 
artistisches  Halbprodukt  und  seine  prinzipielle  Fremdheit  gegen 
das  Kunstwerk  aufgehoben.  Dies  ist  in  irgend  einem  Maße 
bei  jeder  wirklich  artistischen  Natur  der  Fall  und  ist  der  Grund, 
weshalb  so  viele  Künstler  von  größter  Stilisierungskraft  und 
souveränster  Umgestaltung  des  Wirklichen  aufrichtig  über- 
zeugt sind,  nur  treue  Abschriften  des  Natureindrucks,  der  un- 
mittelbaren Erlebtheit,  zu  schaffen.  Der  gewöhnliche  Mensch 
erlebt  die  Welt,  —  d.  h.  setzt  das  objektive  Geschehen  in  ein 
subjektives  um —  vermöge  der  Kategorien,  die  für  das  praktische 
Handeln  zweckmäßig  sind ;  diese  bilden  das  Handwerkszeug,  mit 
dem  er  aus  der  Totalität  des  Seins  das  herausschneidet  und  zu- 
sammenfügt, was  für  ihn  die  Welt  ist :  jene  letzte  Einheits- 
formel des  Gesamtwesens  ist  bei  ihm  praktisch  gefärbt.  Und 
da  nicht  nur  dieser  Typus  Mensch  die  ungeheure  Majorität 
bildet,  sondern  auch  die  anders  gerichteten  in  einem  sehr  großen 
Abschnitt  ihrer  Interessen  und  Notwendigkeiten  auf  dem  gleichen 
Boden  der  praktischen  Existenzführung  stehen,  so  nennen  wir 
das  in  dieser  Formung  erlebte  Weltbild  die  Wirklichkeit  schlecht- 
hin; tatsächlich  aber  ist  es  nur  eine  Wirklichkeit,  nur  das  Er- 

Simmel,  Goethe.  2 


18  Durchdringung  mit  der  künstlerischen   Grundform 

lebnis,  geformt  durch  die  Kategorien,  die  von  der  durchschnitt- 
lich-praktischen Interessiertheit  ausstrahlen.  Eine  ganz  andre 
„WirkHchkeit"  sieht  etwa  der  religiöse  Mensch  sich  gegenüber; 
denn  gemäß  der  Formel  seiner  Wesenseinheit  erlebt  er  die  Ein- 
flüsse des  Objektes  sogleich  so,  daß  sie  ihm  der  Ort  und  die 
Bestätigung  seiner  religiösen  Inhalte  sind;  er  kann  sie  gar  nicht 
anders  erleben,  weil  sie  eben  nur  in  ursprünglicher  Formung 
durch  die  religiösen  Kategorien  zu  seinen  Erlebnissen  werden. 
Wie  nun  —  um  ein  etwas  grobes  Beispiel  zu  wählen  —  der 
Gläubige  überall  den  ,, Finger  Gottes"  sieht,  weil  sein  Sehen  die 
Dinge  a  priori  so  ordnet,  daß  sie  für  ihn  in  einen  göttlichen  Welt- 
plan hineinpassen  und  mögliche  Beweise  eines  solchen  hergeben, 
so  sieht  der  Künstler  die  Dinge  der  Welt  von  vornherein  als 
mögliche  Kunstwerke,  sie  werden  ihm  von  denselben  Kategorien 
aus  zum  Erlebnis,  durch  deren  noch  aktivere,  noch  selbst- 
herrlichere Funktionierung  sie  zum  Kunstwerk  werden. 

Aber  der  Künstler  ist  nicht  nur  Künstler,  In  unendlichen 
quantitativen  Abstufungen  erfüllt  die  hier  angedeutete  Erlebnis- 
gestaltung seine  Lebenstotalität.  Jene  Einheit  des  individuellen 
Ganzen  deckt  sich  in  ihrem  Charakter  natürlich  niemals  mit  dem 
bloßen,  reinen  Begriff  des  Künstlerischen,  so  wenig  wie  mit  dem 
des  Religiösen  oder  des  Praktischen.  Durch  diese  festgeschlossenen 
und  exklusiven  Begriffe  geht  die  lebendige  Wirklichkeit  viel- 
mehr mit  sehr  ungleichmäßigen  und  wechselnden  Berührungen 
hindurch  und  auch  wo  ihr  Kern  sich  auf  eine  von  jenen  fixiert, 
läßt  ihre  Peripherie  sich  noch  immer  in  mannigfaltigen  Maßen 
an  andere  aufteilen.  Daß  nun  für  Goethe  die  Beziehung  zwischen 
Erlebnis  und  Kunstwerk  von  so  unbedingter  Enge  war,  daß  er, 
auf  den  ersten  Blick  schwer  begreiflich,  einen  förmlich  deskrip- 
tiven Naturalismus  der  Poesie  verkündete,  geht  einfach  aus  dem 
unvergleichlich  hohen  Maße  hervor,  in  dem  die  künstlerische 
Grundform  die  Tatsachen  seines  Lebens  durchdrungen  hat.  In 
einem  gewissen  Grade  ist  dies,  wie  gesagt,  bei  jedem  wirklichen 
Künstler  der  Fall  und  unterscheidet  ihn  von  demjenigen,  der 
nur  ,, Kunst  macht" ;  denn  dieser  bringt  an  den  ursprünglich 
unter  ganz  anderen  Kategorien  erlebten  Inhalt  eine  ihm  irgend- 


Die  Art  der  Einheit  von  Leben  und  Schaffen  19 

wie  gegebene  Kunstform  heran  und  gestaltet  mechanisch  jenen 
nach  dieser,  während  dort  der  künstlerische  Organismus  das 
Gebilde  einheitlich-innerlich  erwachsen  läßt.  Bei  Goethe  aber 
scheint  dieser  Prozeß  sich  mit  einer  so  selbstverständlichen  Un- 
mittelbarkeit, einer  souveränen  Ungestörtheit  durch  Kategorien 
anderer  Richtung  vollzogen  zu  haben,  und  vor  allem  über  eine 
so  weite  Gesamtheit  einer  höchst  differenzierten  Existenz  hin, 
wie  bei  keiner  uns  sonst  bekannten  Erscheinung.  Sogar  die 
Hingabe  an  das  Erkennen  und  an  reine  Wissenschaft  war  nicht 
imstande,  die  Herrschaft  seiner  künstlerischen  Kategorien  in 
Weltbild  und  Erlebnis  zu  durchbrechen.  Und  all  seine  eigen- 
artigen Äußerungen  eines  Realismus  der  Kunst  sind  nichts 
anderes  als  die  Objektivierungen  dieser  Wesensbeschaffenheit.  In 
dem  funktionellen  Sinn  der  künstlerischen  Natur  ist  er 
vielleicht  die  größte,  von  der  wir  wissen.  Gewiß,  wer  seinen  ein- 
zelnen Werken  gegenüber  behaupten  wollte:  keines  reiche  an 
Wucht  und  Vollkommenheit  an  die  Orestie  oder  den  Lear,  an 
die  Mediceergräber  oder  Rembrandts  religiöse  Bilder,  an  die 
H-moll-Messe  oder  die  Neunte  Symphonie  —  den  wird  man  nicht 
gerade  widerlegen  können.  Aber  bei  keinem  andern  Künstler 
reichte  die  organisierende  Kraft  des  Künstlertums  mit  solcher 
Breite  und  so  unbedingt  formgebend  in  die  Einheit  der  Per- 
sönlichkeit hinab,  daß  ein  so  weiter  Kreis  von  Welt  und  Er- 
lebnis durch  sie  gleichsam  zu  potenziellen  Kunstwerken  ge- 
schaut und  erlebt  wurde.  Daß  die  innere  Dynamik,  durch  die 
überhaupt  Vorstellungen  und  Leben  zu  seinen  Vorstellungen  und 
seinem  Leben  wurden,  eine  künstlerische  Apriorität  war  — 
dafür  ist  es  nur  der  theoretische  Ausdruck,  wenn  er  in  seinen 
Kunstwerken  nichts  anderes  als  die  gegebene  Realität  auszu- 
sprechen meinte.  Sein  Schaffen  machte  nur  anschaulich,  was 
sein  Lebensprozeß  schon  bei  der  Empfängnis  der  Lebensinhalte 
geformt  hatte  —  vielleicht  das  größte  und  höchste  Beispiel,  daß 
wir,  nicht  nur  erkennend  und  genießend,  sondern  auch  schaffend 
aus  dem  Leben  nur  nehmen,  was  wir  selbst  hineingelegt  haben ; 
sein  Schaffen  schien  ihm  von  dem  Erleben  nicht  getrennt,  weil 
schon  sein  Erleben  ein  Schaffen  war. 


G 


Zweites  Kapitel. 

Wahrheit. 

oethe  ist  ohne  jeden  Vorbehalt  davon  durchdrungen,  daß 
die  theoretischen  Überzeugungen  des  Individuums  in  un- 
bedingter Abhängigkeit  von  der  Beschaffenheit  und  Richtung 
seines  Seins  stünden.  Die  alte  Annahme,  daß  der  Mensch  so 
handle,  wie  sein  Sein  es  mit  sich  bringt,  setzt  sich  hier  dahin 
fort,  daß  auch  das  Erkennen  seine  Bestimmung  eben  daher 
bezöge.  Die  gewöhnliche  wissenschaftliche  Meinung  erkennt 
jedem  Objekt  gegenüber  eine  einzige,  sozusagen  ideell  prä- 
existierende Wahrheit  an,  die  der  einzelne  Geist  auffinden  muß. 
Was  er  von  sich  aus  produziert,  ist  nur  die  seelische  Energie, 
die  Funktion,  mit  der  sich  der  Inhalt  der  Wahrheit  für  das 
Bewußtsein  verwirklicht.  Zwar  wird  auch  dieser  Inhalt  ja  nicht 
\tkt  von  außen  in  das  Objekt  hineingeschüttet,  sondern  auch  eij  wird 
irgendwie  von  letzterem  erzeugt  und  das  Verhältnis  dieser  Er- 
zeugung zu  der  Gegebenheit  oder  bloßen  Auffindung  des  Wahren 
wird  von  der  Erkenntnistheorie  und  der  Metaphysik  in  den 
mannigfachsten  Hypothesen  dargestellt.  Gemeinsam  aber  ist 
.  ihnen  allen  die  Einzigkeit  der  Wahrheit  gegenüber  jedem  Ob- 
jekt und  ihre  Unabhängigkeit  von  der  sonstigen  Differenzierung 
der  Subjekte.  Und  da  das  Einzige,  auch  seinem  Wesen  nach 
Spontane:  der  psychische  Prozeß,  das  Dynamische  an  der  Er- 
kenntnisvorstellung —  diese  Vorstellung  nur  tragen,  aber  sie 
als  wahre  nicht  modifizieren  kann,  so  ist  auch  diese  Spontaneität 
in  allen  Fällen,  wo  wirklich  Wahrheit  erkannt  wird,  genau  so 
unindividuell,  genau  so  beziehungslos  zu  der  Sonderbeschaffen- 
heit des  einen  oder  des  andern  erkennenden  Subjekts,  wie  der 
objektive  Inhalt  selbst  es  ist.  Insofern  wir  Wahres  erkennen, 
sind  wir  alle  gleich,  und  nur  in  den  grenzenlos  möglichen  Irr- 


Förderung  durch  den  Gedanken  21 

tümern  kommt  die  Unterschiedenheit  der  Individualitäten  zu 
Worte  und  zu  Folge.  Für  diese  typische  Vorstellung  vom  Er- 
kennen ist  der  Erkenntnisprozeß  als  eine  Lebendigkeit  der  in- 
dividuellen Seele  sozusagen  ausgeschaltet,  da  allein  der  Inhalt 
durch  seine  objektive  Qualität  bestimmt,  welches  Vorstellen  wirk- 
lich Erkennen,  Wahrheit  ist. 

Alles  diesem  Prinzip  Entgegengesetzte,  das  Goethes  Erkenntnis- 
begriff enthält,  ist  virtuell  in  der  bekannten  Zeile  gesammelt: 
Was  fruchtbar  ist,  allein  ist  wahr.  Der  rein  in  sich  zentrieren- 
den, in  den  bloßen  Verhältnissen  realer  oder  ideeller  Inhalte 
bestehenden  Wahrheit  des  allgemein  angenommenen  Wissens- 
ideales stellt  er  —  übrigens  ohne  jede  Polemik  und  als  bemerkte 
er  eigentlich  die  fundamentale  Differenz  gar  nicht  —  in  immer 
wiederholten  Aussprüchen  den  andern  Wahrheitsbegriff  gegen- 
über: wahr  sei  für  den  Menschen  derjenige  Gedanke,  der  ihm 
nützlich  sei.  ,,Ich  habe  bemerkt,  schreibt  er  im  hohen  Alter, 
daß  ich  den  Gedanken  für  wahr  halte,  der  für  mich  fruchtbar 
ist,  sich  an  mein  übriges  Denken  anschließt  und  zugleich  mich 
fördert.  Nun  ist  es  nicht  allein  möglich,  sondern  natürlich,  daß 
sich  ein  solcher  Gedanke  dem  Sinn  des  anderen  nicht  anschließe, 
ihn  nicht  fördere,  wohl  gar  hindere,  und  so  wird  er  ihn  für 
falsch  halten."  DerEinzigkeitderWahrheit,  ihrer  Unabhängigkeit 
von  ihrem  individuellen  Vorgestelltwerden  kann  nicht  schärfer 
widersprochen  werden :  es  gibt  so  viele  verschiedene  Wahrheiten, 
wie  es  individuell  verschiedene  Möglichkeiten  gibt,  durch  das 
Denken  der  Dinge  gefördert  zu  werden !  Damit  scheint  es,  als 
dürften  die  rohesten  Formen  des  Pragmatismus  sich  auf  Goethe 
berufen;  was  indes  angesichts  der  Grundgesinnung  Goethes  von 
vornherein  sehr  unwahrscheinlich  ist. 

Machen  wir  uns  zunächst  klar,  was  er  denn  eigentlich  unter 
der  „Förderung"  versteht,  die  zu  leisten  einer  Vorstellung  die 
Wahrheitsqualität  verschafft.  Moderne  teleologische  Theorien 
der  Erkenntnis  gründen  sich  darauf,  daß  die  richtigen  Vorstellungen 
von  der  Umwelt  ein  zweckmäßiges,  uns  nützliches  Handeln  zur 
Folge  haben ;  die  allgemeine  Anpassung  des  organischen  Lebens 
überhaupt  bewirke  deshalb,  daß  wir  die  richtigen  Vorstellungen 


22  Pragmatismus 

von  den  Dingen  hätten.  Oder  auch,  sie  verwandeln  diese  syn- 
thetische Beziehung  zwischen  Wahrheit  und  Nützlichkeit  in  eine 
analytische:  als  das  wahre  Vorstellen  der  Dinge  bezeichneten 
wir  eben  dasjenige,  auf  das  hin  wir  zweckmäßig  verfahren.  In 
beiden  Fällen  ist  es  der  Inhalt  der  bestimmten  einzelnen  Vor- 
stellung, der  die  intellektuelle  Bedingung  des  bestimmten  ein- 
zelnen Handelns  bildet:  wie  wir  etwa  einen  Gegenstand  im  Raum 
nur  ergreifen  können,  wenn  wir  die  Distanz  zu  ihm  richtig  ein- 
schätzen, oder  einen  Menschen  nur  für  unsere  Zwecke  gewinnen 
können,  wenn  wir  ein  richtiges  Bild  von  seiner  seelischen  Ver- 
fassung haben.  Mit  alledem  ist  das  theoretische  Bild  der  Dinge 
von  dem  darauf  gebauten  praktischen  Verhalten  prinzipiell  ge- 
trennt. Das  Vorstellungsbild,  gleichviel  in  welcher  Weise  und 
wozu  entstanden,  steht  da  und  wird  zu  einer  integrierenden 
Voraussetzung  unsres  Handelns,  welches  nützlich  verläuft,  wenn 
der  Inhalt  dieser  Vorstellung  zu  der  Realität,  dem  Orte  jenes 
Handelns,  ein  bestimmtes  Verhältnis  hat;  ändert  sich  dieses 
Verhältnis,  so  verläuft  das  Handeln  verderblich.  Das  Entscheidende 
bleibt  dabei  immer  die  Beziehung,  die  das  Vorstellungsbild  seinem 
Inhalte  nach  einerseits  zu  dem  Inhalt  unsrer  Zwecke,  anderer- 
seits zu  dem  Inhalt  der  Wirklichkeit  hat,  da  es  eben  zwischen 
diesen  beiden  zu  vermitteln,  die  Wirklichkeit  für  die  Zwecke 
auszunutzen  hat.  Nicht  darauf,  daß  der  Mensch  die  Vorstellung 
als  ein  inneres  Element  seines  Lebens  habe,  kommt  es  an,  sondern 
daß  sie  das  geeignete  Mittel,  die  zweckdienliche  Voraussetzung 
dazu  sei,  daß  das  auf  die  Einzelheiten  der  Welt  gerichtete  Handeln 
diese  zu  der  erwünschten  Reaktion  auf  uns  bewege.  Was  immer 
man  unter  Wahrheit  verstehe  und  ob  man  sie  auch  im  letzten 
Grunde  durch  das  praktische  Bedürfnis  bestimmen  lasse  — 
immer  bleibt  die  Tatsache,  daß  sie  eben  Wahrheit  ist,  daß  sie 
die  Realität  in  der  Form  der  Vorstellung  irgendwie  unserm 
Handeln  darbietet,  der  Grund  und  Inhalt  ihrer  Förderlichkeit. 
An  ihrem  Gegensatz  zu  dieser  Beziehungsrichtung  zwischen 
Wahrheit  und  Nützlichkeit  offenbart  die  Goethesche  Lehre  ihren 
entscheidenden  Sinn.  Nicht  auf  die  dem  Objekt  zugewandte 
Seite  der  Vorstellung,  nicht  auf  den  ideellen  Inhalt  der  Wahr- 


Die  Vorstellung  als  Element  des  Lebens  23 

heit,  mit  dem  übereinstimmend  oder  nicht  übereinstimmend 
unser  Handeln  förderlich  oder  verderblich  ist,  kommt  es  an, 
sondern  auf  die  Bedeutung,  die  das  Dasein  der  Vorstellung 
in  unserm  Bewußtsein  für  unser  Leben  besitzt.  Der  Pragma- 
tismus, weil  er  auf  das  Ausnutzen  der  Welt  vermöge  ihrer 
Erkenntnis  geht,  knüpft  deren  Wahrheitskriterium  an  die  realen 
Wirkungen,  die  der  Mensch  von  den  Dingen  erfährt,  und  die 
durch  die  Vorstellungen  nur  vermittelt  werden.  Diese  utili- 
tarische  Beziehung  zwischen  Ding  und  Leben,  in  die  sich  die 
Vorstellung  nur  als  eine,  nachher  sozusagen  wieder  auszu- 
scheidende Vermittlung  einstellt,  geht  Goethe  hier  gar  nichts 
an;  sondern  die  Vorstellung  als  Element  des  Lebens  selbst, 
nicht  durch  das,  was  sie  diesem  erst  vermittelt,  steht  in  ihrer 
Förderlichkeit  oder  Abträglichkeit  für  die  Ganzheit  dieses  Lebens 
in  Frage.  Mit  der  theoretischen  Schärfe  ausgedrückt,  zu  der 
Goethe  selbst  sich  nicht  veranlaßt  sah:  für  die  vorliegenden 
teleologischen  Wahrheitsbegriffe,  besonders  den  Pragmatismus, 
ist  es  der  Inhalt  der  Vorstellung,  dessen  Förderlichkeit  ihr  den 
Wahrheitswert  gibt,  für  Goethe  ist  es  der  Prozeß  ihres  Vor- 
stellens,  die  lebendige  Funktion,  die  sie  im  Zusammenhange 
der  seelischen  Entwicklung  ausübt.  Der  Mensch  muß  dadurch 
gefördert  werden,  daß  er  diese  Vorstellung  denkt,  sie  muß  sich 
dem  einheitlichen  Totalsinne  seiner  inneren  Existenz  anschließen, 
und  die  Energie,  die  sie  innerhalb  dieser  einsetzt,  muß  ein 
Moment  dieser  fortschreitenden  Existenz  selbst  werden:  dann 
heißt  der  Inhalt  dieses  dynamisch  und  personal  bedeutsamen 
Vorstellens  wahr.  Man  muß  diesen  Gedanken  nur  in  seiner 
ganzen  Spannweite  und  seinem  fundamentalen  Charakter  fassen, 
um  auch  die  Äußerung,  die  all  jenen  andern  über  das  Förder- 
liche als  das  Wahre  zu  widersprechen  scheint,  aus  ihm  zu 
begreifen:  ,,Wie  der  menschliche  Geist  vorschreitet,  fühlt  er 
immer  mehr,  wie  er  bedingt  sei,  daß  er  verlieren  müsse,  indem 
er  gewinnt:  denn  ans  Wahre,  wie  ans  Falsche  sind  not- 
wendige Bedingungen  des  Daseins  gebunden."  Und  dies 
ist  nicht  die  einzige  Äußerung,  mit  der  er  die  tiefe,  integrierende 
Notwendigkeit  des  Irrtums  für  das  Lebensganze  verkündet.  Nicht 


24  Das  ,, Passende" 

etwa  in  dem  Kassandrasinne,  als  wäre  nur  der  Irrtum  das 
Leben  und  das  Wissen  der  Tod.  Es  handelt  sich  vielmehr  um 
einen  so  hoch  gehobenen,  so  weit  umfangenden  Begriff  des 
Wahren,  sozusagen  um  dessen  so  absoluten  Sinn,  daß  er  das 
Wahre  und  das  Falsche  im  Sinn  ihres  relativen  Gegensatzes 
gleichmäßig  einschließt;  man  möchte  es,  um  den  Unterschied, 
an  dessen  begrifflicher  Fixierung  Goethe  kein  Interesse  hatte, 
zu  markieren,  etwa  ,,das  Richtige"  nennen.  In  dieser  Bedeu- 
tung mißt  sich  der  Wert  des  Vorstellungsinhaltes  am  Leben,  in 
dessen  Ganzheit  der  Vorstellungsprozeß  tragend  und  getragen 
sich  verwebt;  hier  findet  das  Vorstellen  eine  letzte  Instanz,  der 
gegenüber  das  Objekt  mit  seiner  Bestimmungskraft  über  das 
Wahr  und  Falsch  gedanklicher  Inhalte  nur  eine  niedere  ist. 
Dieses  Wahre  oder  Richtige  in  dem  absoluten,  weil  dem  Abso- 
luten des  Lebens  zugehörigen  Begriffe,  hat  durchaus  die  logische 
und  metaphysische  Struktur  jenes  ,, Passenden",  das  Goethe  in 
dem  merkwürdigen  aus  Hippokrates  übernommenen  Satze 
bestimmt:  ,,Was  die  Menschen  gesetzt  haben,  das  will  nicht 
passen,  es  mag  recht  oder  unrecht  sein;  was  aber  die  Götter 
setzen,  das  ist  immer  am  Platz,  recht  oder  unrecht."  Das 
,, Passende"  ist  hier  etwas  Absolutes,  das  das  Moralische  hinter 
sich  läßt,  indem  es  die  ethische  Relativität:  recht  und  unrecht 
—  unter  sich  begreift.  Die  gleiche  Aufgipfelung  eines  um- 
fassenden Wertes  über  den  relativen  Sinn  seiner  selbst  und 
seines  Gegenteiles  vollzieht  sich  in  dieser  Äußerung:  ,,Man 
kann  keineswegs  zu  vollständiger  Anschauung  gelangen,  wenn 
man  nicht  Normales  und  Abnormes  immer  zugleich  gegen 
einander  schwankend  und  wirkend  betrachtet."  Es  gibt  für 
ihn  ein  höchstes  Normales,  das  Normales  und  Abnormes  ein- 
schließt —  die  ,, Metamorphose  der  Tiere"  lehrt  eine  höchste 
Gesetzlichkeit,  die  Willkür  und  Gesetz,  Vorzug  und  Mangel 
einschließt.  ,,Im  organischen  Leben",  sagt  er,  ,,wird  selbst  das 
Unnütze,  ja  das  Schädliche  selbst  in  den  notwendigen  Kreis  des 
Daseins  aufgenommen,  ins  Ganze  zu  wirken  und  als  wesent- 
liches Bindemittel  disparater  Einzelheiten".  Darum  warnt  er 
auch,  bei  den  Pflanzen  von  Mißbildung  und  Verkümmerung  in 


Der  Vitalsinn  der  Wahrheit  25 

einem  scharfen  Sinne  zu  sprechen,  da  doch  „sowohl  das 
Geregelte  wie  das  Regellose  von  einem  Geiste  belebt  ist".  Wie 
hier  ein  höchstes  „Regelmäßiges"  gemeint  ist,  das  die  relative 
Regel  und  die  Abweichung  von  ihr  zu  seinen  Elementen  macht, 
wie  sein  absoluter  ,,Natur"-Begriff  seine  eigene  relative  Bedeu- 
tung einschließt  (,,Auch  das  Unnatürlichste  ist  Natur"!),  wie 
vorhin  das  schlechthin  , »Passende"  —  genau  so  verhält  sich 
dort  das  Wahre  in  dem  Sinne,  in  dem  es  das  Leben  fördert, 
sich  dem  Ganzen  anschließt  und  jene  notwendige  Bedingung 
des  Daseins  ist,  die  das  Wahre  und  das  Falsche,  in  ihrem 
gewöhnlichen  Sinne,  gleichmäßig  übergreift.  Und  nur  der 
Stimmungsakzent,  nicht  die  metaphysische  Gültigkeit  des  Ver- 
hältnisses zwischen  dem  Leben  und  der  Gegensätzlichkeit  seiner 
relativen  Einzelwerte  verschiebt  sich  in  der  Äußerung:  ,, Glück- 
liche Beschränkung  der  Jugend,  ja  der  Menschen  überhaupt, 
daß  sie  sich  in  jedem  Augenblicke  ihres  Daseins  für  vollendet 
halten  können  und  weder  nach  Wahrem  noch  nach  Falschem, 
weder  nach  Hohem  noch  Tiefem  fragen,  sondern  bloß  nach 
dem,  was  ihnen  gemäß  ist."  Und  so  erst  wird  das  Wahre 
ganz  verständlich,  das  ein  solches  nur  ist,  insofern  es  fruchtbar 
ist.  Nicht  die  Fruchtbarkeit  ist  gemeint,  die  in  der  Sphäre  des 
bloßen  Erkennens  besteht  —  wo  eine  Erkenntnis  dann  fruchtbar 
heißt,  wenn  ihr  Inhalt  andere  Inhalte  aus  sich  entwickeln  läßt, 
zu  der  Bildung  neuer  logisch -sachlich  anregt;  sondern  die 
sozusagen  dynamische  Fruchtbarkeit,  mit  der  Vorstellungen, 
jetzt  selbst  als  Leben  betrachtet,  in  dem  Leben  ihres  Trägers 
wirken.  Diese  sind  in  dem  Goetheschen,  dem  vitalen  Sinne 
wahr,  sie  können  überhaupt  gar  nicht  falsch  sein,  obgleich 
ihre  Inhalte,  als  solche  und  vom  Objekte  her  betrachtet,  wahr 
oder  falsch  sein  mögen.  Nur  in  dieser  Bedeutung  gibt  es  einen 
Sinn,  wenn  Goethe  sagt:  ,, Der  Irrtum  gehört  den  Bibliotheken 
an,  das  Wahre  dem  menschlichen  Geiste"  —  denn  in  jener 
anderen  Bedeutung  der  Begriffe  gibt  es  doch  auch  Wahres  in 
den  Bibliotheken  und  Irrtum  im  menschlichen  Geiste.  Und 
noch  einmal  findet  er  einen  besonderen  Ausdruck  für  dieses 
Lebenskriterium,  das  sich  mit  dem  theoretischen  über  Wahrheit 


26  Relation  zwischen  Mensch  und  Welt 

und  Irrtum  nicht  deckt.  Man  könnte,  so  sagt  er,  von  diesen 
beiden  ausgehend,  ,,ein  drittes  Wort  im  zarteren  Sinne  hinzu- 
fügen, nämlich  Eigenheiten.  Denn  es  gibt  gewisse  Phänomene 
der  Menschheit,  die  man  mit  dieser  Benennung  am  besten  aus- 
drückt; sie  sind  irrtümlich  nach  außen,  wahrhaft  nach 
innen,  sie  sind  das,  was  das  Individuum  konstituiert;  das 
Allgemeine  wird  dadurch  spezifiziert  und  in  dem  Allerwunder- 
lichsten  blickt  noch  immer  etwas  Verstand,  Vernunft  und  Wohl- 
wollen hindurch,  das  uns  anzieht.  —  Man  kann  sie  sich  vor- 
stellen als  Formen  des  lebendigen  Daseins  und  Handelns  einzelner, 
abgeschlossener,  beschränkter  Wesen,  Individuen  wie  Nationen. 
—  Eine  Eigenheit  könne  an  sich,  wo  nicht  lobenswert,  doch 
wenigstens  duldbar  sein,  indem  sie  eine  Art  zu  sein  ausdrückt, 
welche  man  als  Bezeichnung  eines  Teils  des  Mannigfaltigen 
gar  wohl  müßte  gelten  lassen."  Vollkommener  ist  wohl  nicht 
aufzeigbar,  wie  ihm  ein  über  dem  theoretischen  Gegensatz  von 
Wahrheit  und  Irrtum  stehender  Begriff  von  Wahrheit  vor- 
schwebte —  die  Wahrheit,  in  der  die  Art  des  Menschen,  über- 
haupt und  dieser  bestimmte  zu  sein,  ihren  Ausdruck  findet. 

So  also  ist  Wahrheit  gewissermaßen  die  Relation  zwischen 
dem  Leben  des  Menschen  und  der  Totalität  der  Welt,  in  die 
es  sich  einordnet;  sie  ist  Wahrheit  nicht  um  ihres  logischen 
und  nur  logisch  nachprüfbaren  Inhaltes  willen  (der  vielmehr  erst 
so  seine  metaphysische  Fundierung  erhalten  wird),  sondern  weil 
der  Gedanke,  nicht  anders  als  unsere  physiologische  Beschaffen- 
heit oder  unser  Gefühl,  ein  Sein  des  Menschen  ist,  das  seine 
Richtigkeit  oder  Nicht-Richtigkeit  als  reale  Qualität,  Ursache 
oder  Folge  seines  gesamten  Weltverhältnisses  besitzt.  ,, Kenne 
ich  mein  Verhältnis  zu  mir  selbst  und  zur  Außenwelt,  so  heiß' 
ich's  Wahrheit."  Schon  hiernach  kann  nicht  zweifelhaft  sein, 
daß  das  Subjekt,  das  die  so  verstandene  Wahrheit  trägt  und 
bestimmt,  der  ganze  Mensch  ist,  nicht  etwa  ein  isoliertes 
,,Verstandes"-Vermögen,  sondern  seine  Totalität,  mit  der  er 
eben  der  Totalität  des  Daseins  verwebt  ist.  Ebensowenig  aber 
auch  ist  Kraft  und  Kriterium  dieses  Erkennens  auf  die  Sinn- 
lichkeit beschränkt.     Hier  hat  man  Goethe  auf  Grund  unpräziser 


Sinnlichkeit  27 

und  nur  a  potiori  gültiger  Äußerungen  und  in  etwas  ober- 
flächlicher Auffassung  seines  ,,Künstlertums"  durchaus  miß- 
verstanden, indem  man  als  den  Grundirrtumj^  seines  Weltbildes 
gelten  ließ,  daß  er  dessen  Prinzipien,  z.  B.  die  ,,Urphänomene", 
noch  innerhalb  der  sinnlichen  Gegebenheiten  —  wenngleich 
nicht  schwankungslos  —  festhielt.  Die  sachliche  Kritik  dieser 
Prinzipien  bleibt  dahingestellt.  Aber  ihre  Bestimmtheit  durch 
die  ,, Sinnlichkeit  des  Künstlertums"  ist  ganz  mißverständlich, 
weil  diese  Sinnlichkeit  gerade  im  Unterschied  gegen  die  des 
Durchschnittsmenschen  oder  der  philosophischen  Abstraktion, 
schon  von  vornherein  und  in  sich  selbst  von  Verstandes-  und 
vernunftmäßigen  Kräften  und  Normierungen  durchdrungen  ist. 
Die  Bezeichnung  des  Künstlers  als  des  ,, Sinnenmenschen"  hat 
gerade  den  Sinn,  daß  bei  ihm  die  Sinnlichkeit  nicht  von  dem 
übrigen  Menschentum  so  abgetrennt  ist,  wie  sie  sonst  in  Theorie 
und  Praxis  erscheint.  Die  Abstraktion,  die  dem  Künstler  fern- 
liegt, betrifft  nicht  nur  das  durch  logische  Begrifflichkeit  aus 
dem  Leben  Abtrennbare,  sondern  ebenso  die  Isolierung  des 
Sinnlichen  aus  dem  Gesamtkomplex  des  Lebens  heraus.  Nur 
daß  bei  ihm  die  Sinnlichkeit  der  Kanal  ist,  durch  den  dieses 
Gesamtleben  in  Produktivität  mündet  —  wie  dem  Philosophen 
das  begriffliche  Denken,  dem  Praktiker  die  Handlungsenergien 
eben  diesen  Dienst  leisten :  sein  Sein  sich  in  sein  Werk  umsetzen 
zu  lassen.  Goethe  hat  dies  unzählige  Male  ausgesprochen  und 
angedeutet.  ,,Dem  bloß  sinnlichen  Menschen  verbirgt  die  Natur 
Vieles". 

„Den  Sinnen  hast  du  dann  zu  trauen, 
Kein  Falsches  lassen  sie  dich  schauen. 
Wenn  dein  Verstand  dich  wach  erhält." 

Wie  hätte  ein  Sinnenmensch,  in  jener  ebenso  abstrakten  wie 
trivialen  Bedeutung  des  Wortes,  in  einer  höchst  ernsten,  sein 
ganzes  Leben  charakterisierenden  Konfession,  von  der  in  ihm 
,, obwaltenden  Verachtung  des  Augenblicks"  sprechen  können? 
Von  der  Jugend  bis  zum  Alter  revoltiert  ihn  ,,die  Lehre 
von  den  unteren  und  oberen  Seelenkräften".  ,,In  dem 
menschlichen    Geiste,    so    wie    im  Universum,    ist    nichts    oben 


28  Der  Erkennende  als  menschliche  Totalität 

noch  unten;  alles  fordert  gleiche  Rechte  an  einen  gemein- 
samen Mittelpunkt,  der  sein  geheimes  Dasein  eben  durch  das 
harmonische  Verhältnis  aller  Teile  zu  ihm  manifestiert.  — 
Wer  nicht  überzeugt  ist,  daß  er  alle  Manifestationen  des  mensch- 
lichen Wesens,  Sinnlichkeit  und  Vernunft,  Einbildungskraft  und 
Verstand,  zu  einer  entschiedenen  Einheit  ausbilden  müsse, 
welche  von  diesen  Eigenschaften  auch  bei  ihm  die 
vorwaltende  sei,  der  wird  sich  in  einer  unerfreulichen 
Beschränkung  immerfort  abquälen."  Das  also  ist  kein  Zweifel: 
die  Vorherrschaft  des  Sinnlichen,  der  unmittelbaren  Wahr- 
nehmung ist  es  nicht,  von  der  seinem  Erkennen  und  seinen 
Theorien  des  Erkennens  eine  Eingeschränktheit  käme.  Vielmehr, 
dessen  sensueller,  ,, augenmäßiger"  Charakter  bedeutet  gerade, 
daß  in  das  Aufnehmen,  wie  in  das  erkennende  und  produktive 
Gestalten  der  Welt  die  Ganzheit  des  Menschen  einzutreten  hat. 
Die  Sinnlichkeit  des  Künstlers  ist  keine  abstrakte,  sondern 
gleichsam  nur  der  Vorname  jener  Ganzheit.  Der  scheinbare 
Tiefsinn,  der  irgendwelche  Mängel  des  Goetheschen  Weltbildes 
aus  seinem  Künstlertum  und  einer  damit  gegebenen  einseitigen 
Akzentuierung  des  bloß  sinnlich  Gegebenen  herleitet,  mußte 
hier  widerlegt  werden,  wo  das  Erkennen  in  Goethes  Sinne 
gerade  in  der  Beziehung  des  Lebens  überhaupt  zu  der  Welt 
überhaupt  aufgezeigt  wurde ;  wenn  es  deshalb  schon  den  Gegen- 
satz des  singulären  Wahren  und  Falschen  übergriff,  wieviel 
mehr  mußte  es  sich  dazu  über  den  zwischen  Sinnlichkeit  und 
Verstand  erheben! 

Die  so  erreichte  Deutung  nun  erstreckt  ihre  Voraussetzungen 
und  ihre  Folgen  nach  zwei  Seiten  hin. 

Wenn  Goethe  jenes  funktionell  Richtige,  in  die  Lebenstotalität 
förderlich  Eingefügte,  das  sich  über  die  gewöhnliche  Relation: 
wahr  und  falsch,  erhebt,  schlechthin  als  das  Wahre  bezeichnet, 
so  muß  sich  dies  in  tieferen  Bedingtheiten  gründen.  Der  Sinn 
des  Wahren,  der  in  der  Beziehung  zum  Objekt  besteht,  ist  tat- 
sächlich auch  hier  nicht  ausgeschaltet;  nur  greift  diese  Be- 
ziehung gewissermaßen  über  die  singulären  Erweislichkeiten 
hinweg  ins  Metaphysische.     Denn    sie    beruht    auf  dem  funda- 


Das  Wahre  als  Fruchtbares  29 

mentalen  Glauben  Goethes,  daß  der  innere  Weg  des  persönlichen 
Geistes  seiner  Bestimmung  nach  derselbe  ist,  wie  der  der  natür- 
lichen Objektivität  —  nicht  aus  zufälliger  Parallelität  oder 
nachträglicher  Zuordnung,  sondern  weil  die  Einheit  des  Daseins 
das  eine  wie  das  andere  aus  sich  erzeugt,  oder  genauer,  weil 
eines  wie  das  andere  ,, Natur"  im  weitesten  und  metaphysischen 
Sinne  ist;  es  bedarf  dafür  keiner  besonderen  Erweise  aus  dem 
Kreise  der  Goetheschen  Äußerungen,  der  das:  Ist  nicht  der 
Kern  der  Natur  —  Menschen  im  Herzen?  —  umgibt.  An 
einzelnen  herausgeschnittenen  Stücken  aus  der  Natur  und  dem 
Geiste  mag  ihre  Harmonie  nicht  aufzeigbar  sein;  faßt  man 
aber  die  Totalität  des  geistigen  Lebens,  so  wie  ich  sie  andeutete, 
bezieht  sich  die  Wahrheit  auf  den  vollkommenen  Prozeß  dieser 
Totalität,  so  muß  sie  zugleich  Wahrheit  in  Hinsicht  des  Ob- 
jekts sein,  weil  das  Subjekt  und  das  Objekt  als  ganze,  als 
Kinder  des  einen  physisch-metaphysischen  Seins,  nicht  aus- 
einanderklaffen können.  Diese  Überzeugung  war  für  Goethe 
erst  in  zweiter  Linie  Theorie ;  sie  war  sozusagen  der  Charakter 
und  Sinn  seiner  Existenz  selbst,  und  die  Selbstverständlichkeit, 
mit  der  sie  seine  Gedankenwelt  unterbaute  —  viel  breiter  als 
in  seinen  abstrakten  Äußerungen  zutage  tritt  —  macht  seine 
Sätze  oft  lässig  und  ungenau.  Denn  Ausdrücke,  die  an  sich 
wohl  Verschiedenes  bedeuten,  werden  für  ihn  gleichmäßig  zu 
Gefäßen  dieses  einen,  alles  durchflutenden  Lebensprinzips.  Und  weil 
die  mit  ihm  ausgesprochene  Einheit  ihn  unbedingt  beherrschte, 
war  es  eigentlich  gleichgültig,  von  welcher  der  Seiten  her,  die 
in  ihr  harmonierten,  er  sie  aussprach.  Wenn  nur  das  Frucht- 
bare ihm  wahr  ist,  so  konnte  er  ebensogut  sagen,  nur  das 
Wahre  sei  ihm  fruchtbar.  Und  tatsächlich  klingt  dies  in  all 
den  Äußerungen  an,  wo  er  von  der  wahren  Erkenntnis  sagt, 
daß  sie  ,, Folge  hat".  Sein  Geist  war  gewissermaßen  die  Leben- 
digkeit dieses  Prinzips,  er  war  so  glücklich  konstruiert  und  ein 
so  reiner  Spiegel  des  Daseins,  daß  ihm  —  prinzipiell  und  im 
weitesten  Sinne  —  nur  das  Wahre  fruchtbar  wurde,  woraus  er 
freilich  schließen  durfte,  daß  das  Fruchtbare  auch  wahr  wäre. 
Darum    konnte    er    sich   die  Realität   in   der  Absonderung   von 


30  Das  Einfache 

dem  subjektiven  Leben  gar  nicht  als  etwas  Objektives  denken; 
und  andererseits,  wenn  er  es  in  seinen  späteren  Jahren  immer 
wieder  als  die  Krankheit  der  Zeit  bezeichnet,  daß  sie  subjektiv 
sei,  so  meint  er  damit  die  von  jener  Einheit  gelöste,  nicht 
mehr  fruchtbare  Subjektivität,  die  also  mit  der  Wahrheit  weder 
zeugend,  noch  erzeugt  verbunden  ist.  Darum  ist  ihm  die  Sub- 
jektivität, die  prinzipiell  in  sich  zentriert,  ebenso  prinzipiell  der 
Sitz  des  Irrtums:  also  zum  Beispiel  diejenige,  die  nur  ,, ihren 
Scharfsinn  zeigen  will" :  und  der  er  es  ausdrücklich  vorwirft, 
daß  sie  deshalb  ,,sich  am  Irrtum  freut".  Aber  entsprechend 
verwirft  er  auch  das,  was  man  im  allgemeinen  Objektivität 
nennt,  die  unter  demselben,  nur  umgekehrt  gerichteten  Zeichen 
steht:  ,, Der  Mensch  an  sich  selbst,  sagt  er  in  dieser  Gesinnung, 
insofern  er  sich  seiner  gesunden  Sinne  bedient,  ist  der  größte 
und  genaueste  physikalische  Apparat,  den  es  geben  kann,  und 
das  ist  eben  das  größte  Unheil  der  neueren  Physik,  daß  man 
die  Experimente  gleichsam  vom  Menschen  abgesondert  hat  und 
bloß  in  dem,  was  künstliche  Instrumente  zeigen,  die  Natur  er- 
kennen will".  Und  weiterhin  endlich  begründet  dieser  Zu- 
sammenhang Goethes  Vorliebe  für  das,  was  er  das  Einfache 
nennt,  seine  Abneigung  gegen  komplizierte  und  umwegreiche 
Erkenntnismethoden.  Wäre  das  Erkennen  ein  in  rein  ideeller 
Existenz  bestehendes  Gebilde,  so  würde  Einfachheit  und  Kom- 
pliziertheit demgegenüber  gar  kein  maßgebender  Gesichtspunkt 
sein.  Dies  sind  in  ihrem  quantitativen  Unterschiede  ganz  rela- 
tive Begriffe,  die  für  die  ideell-selbständige  Objektivität  des  Er- 
kennens  keinen  Wertunterschied  bedeuten  könnten.  Um  einen 
solchen  zwischen  ihnen  zu  stiften,  bedarf  es  eines  anderen 
Kriteriums,  und  dies  ist  für  ihn  eben  das  natürliche  Dasein 
und  Beschaffensein  des  Menschen,  der  mit  seinen  Organen  so 
in  die  Welt  gesetzt  ist,  daß  das  Verhältnis  dieser  Organe,  wie 
sie  sind,  zu  der  Welt,  wie  sie  ist,  das  Maximum  von  Förde- 
rung, von  ,, richtiger"  Attitüde  enthalten  kann.  Das  Leben 
aber  ist  das  Einfachste,  nicht  trotzdem,  sondern  gerade  weil  es 
seinen  Organen  nach  ,,ein  Vieles"  ist  —  denn  gerade  an  deren 
einheitlicher  Zusammenwirksamkeit  offenbart  es  seine  Einfach- 


Das   „Unerläßliche"  31 

heit.  Und  es  ist  das  Einfachste,  weil  es  das  Fundamentale 
und  Selbstverständliche  ist,  das,  was  sozusagen  nur  ,,ist"; 
darum  ruft  er  angesichts  von  Seetieren  aus:  ,,Was  ist  doch 
ein  Lebendiges  für  ein  köstlich  herrliches  Ding!  Wie  abgemessen 
zu  seinem  Zustande,  wie  wahr!  wie  seiend!"  Weil  seiner 
Weltanschauung  alles  Sein  Leben  ist,  darum  ist  ihm  alles  Leben 
schlechthin  ,,Sein"  —  und  wie  könnte  es  Einfacheres  geben 
als  das  Sein?  Daher  sein  Haß  gegen  die  ,, beschränkten  Köpfe, 
die  sich  mit  der  Natur  gewissermaßen  im  Widerspruch  fühlen, 
und  deswegen  (!)  das  komplizierte  Paradoxe  mehr  lieben,  als 
das  einfache  Wahre".  Das  sind  die,  die  jene  Einheit  nicht  er- 
leben können,  deren  Denken  nicht  einfach  sein  kann,  weil  es 
sozusagen  das  Selbstverständlichste  und  Objektivste,  das  Leben 
selbst,  nicht  erlebt. 

Noch  von  einer  anderen  Richtung  letzter  Tiefe  her  begegnet 
eine  Goethesche  Antwort  der  schweren  Frage,  worin  denn 
eigentlich  die  Förderung  bestehe,  die  die  Vorstellung  als  wahre 
legitimiert,  was  der  Inhalt  sei,  den  das  Handeln,  durch  die 
Vorstellung  geleitet,  erreichen  muß,  damit  es  als  ,, Förderliches" 
gelte.  Das  Genie,  sagt  er,  ,, bequemt  sich  zum  Respekt  sogar 
vor  dem,  was  man  konventionell  nennen  könnte :  denn  was  ist 
dieses  anders,  als  daß  die  vorzüglichsten  Menschen  übereinkamen, 
das  Notwendige,  das  Unerläßliche,  für  das  Beste  zu  halten". 
Diese  Äußerung,  die  einer  weitgehenden  Deutung  bedarf,  um 
nicht  als  eine  Goethesche  ,, Konnivenz",  ja  als  eine  Sanktionie- 
rung des  Banalen  zu  erscheinen,  —  kreiert  das  , »Unerläßliche" 
als  eine,  wie  mir  scheint,  durchaus  originelle  Kategorie  der 
Lebensauffassung.  Die  Freiheit,  mit  der  das  Leben  sich  ge- 
staltet, hat  eine  sehr  bestimmte  Grenze;  an  ihr  beginnen  Not- 
wendigkeiten, die  es  aus  sich  selbst  erzeugt  und  denen  es  aus 
sich  selbst  genügt.  Sie  sind  nicht  um  ihres  Wertes,  um  ihrer 
Wünschbarkeit  willen  gesetzt,  sondern  sind  bloß  ,, unerläßlich"; 
aber  sie  bedeuten,  da  sie  geistig-vitaler  Natur  sind,  nicht  etwa  ein- 
fache Kausalitäten,  wie  mechanisch  erzeugte  Tatsächlichkeiten. 
Macht  man  alles  Teleologische  als  solches  von  einem  Wert  ab- 
hängig, von  der  bewußten  Setzung  eines  Gutes    als  Zieles,   so 


32  Das  Unerläßliche  als  das  Beste 

steht  also  die  Kategorie  des  ,, Unerläßlichen",  wie  Goethe  sie 
hier  andeutet,  an  und  für  sich  jenseits  der  Alternative  von 
Kausalität  und  Teleologie :  es  ist  das,  was  das  Leben  zu  seinem 
Bestände  fordert,  was  es  nicht  von  selbst,  sondern  nur  durch 
unsern  Willen  realisieren  kann  (deshalb  immerhin  auch  ver- 
fehlen kann),  und  was,  von  Sachwerten  und  Ideen  aus  gesehen, 
sehr  wohl  gut  wie  böse,  schön  wie  häßlich,  erhaben  wie  all- 
täglich sein  kann.  Ich  glaube,  daß  Goethe  mit  dem  Begriff 
des  Unerläßlichen  auf  jene  besondere  Schicht  hingezeigt  hat, 
die  oberhalb  von  Ursache  und  Zweck,  von  bloßer  Wirklichkeit 
und  gewolltem  Wert  liegt  und  in  der  das  Leben  als  solches 
verläuft.  Und  nun  kommt  zu  dieser  bloß  beschreibenden  Fest- 
stellung, dieser  analytischen  Entdeckung  einer  neuen  Kategorie 
die  metaphysische  Synthesis:  dieses  Unerläßliche,  das  von  sich 
aus  gegen  allen  Wert  gleichgültig  ist,  wird  nun  doch  als  ,,das 
Beste"  erkannt.  Das  ist  keineswegs  selbstverständlich.  Das, 
was  die  Tatsache  des  Lebens  als  ihr  Unerläßliches  fordert, 
könnte  in  Hinsicht  des  Wertes  ein  bald  so,  bald  so  gefärbtes 
sein,  oder  ein  Adiaphoron,  oder,  für  den  Pessimisten,  gleich 
dem  Leben  selbst  ein  negativer  Wert.  Die  ,, vorzüglichsten 
Menschen"  aber  vollziehen  oder  erkennen  die  Einheit  des  für 
das  Leben  Erforderlichen  und  des  an  sich  Wertvollen ;  denn  sie 
stehen  gleichsam  an  dem  Wurzelpunkt,  an  dem  die  Lebens- 
wirklichkeit und  der  Lebenswert  sich  noch  nicht  getrennt  haben, 
und  darum  ergreifen  sie  in  allen  Entfaltungen  des  Lebens  das 
„Unerläßliche",  d.  h.  dasjenige,  was  seinen  Bestand  überhaupt 
und  zentral  sichert  —  und  nicht  etwa  seinen  schönen  Luxus 
oder  das  von  anderen  Kategorien  her  Wünschenswerte  —  als 
,,das  Beste".  Für  den  Philister  ist  diese  Verbindung  eine  sub- 
jektiv selbstverständliche,  weil  er  gar  nicht  daran  denkt,  daß 
man  dem  Unerläßlichen  gegenüber  dennoch  eine  Freiheit,  einen 
andersartigen  Wertbegriff  aufrufen  könnte ;  dem  ,, Vorzüglichsten" 
ist  sie  eine  objektiv  selbstverständliche,  aus  der  Wertabsolutheit 
des  Lebens  geschöpfte,  eine  synthetische,  deren  soziale  Erschei- 
nungen anzuerkennen  das  Genie  sich  erst  ,, bequemen"  muß. 
Der  Begriff  des  Unerläßlichen  schlechthin  ist  tiefer,   gleichsam 


Einheit  der  Werte  33 

von  größerem  kategorialem  Gewicht,  als  der  des  Förderlichen 
schlechthin,  er  ist  in  gewissem  Sinn  dessen  Fundierung.  Und 
damit  hilft  er  den  Sinn  dieses  Förderlichen  deuten.  Hat  man 
den  Zusammenhang  des  Lebens  in  sich  und  mit  dem  Dasein 
überhaupt  und  dem  Wert  überhaupt  ergriffen,  so  hat  das  Förder- 
liche ebenso  wie  das  Unerläßliche  einen  absoluten  Sinn,  mit 
dem  es  über  seinen  relativen,  der  Angabe  eines  Wozu  bedürf- 
tigen, hinausreicht.  Die  Vorstellung,  die  sich  in  die  Ganzheit 
des  fortschreitenden  Lebens  verwebt,  hat  deshalb  allen  Wert, 
den  sie  haben  kann,  d.  h.  die  volle  Wahrheit,  und  es  ist  eine 
schiefe  Frage,  zu  welchem  einzelnen  Ziele  sie  das  Individuum 
„fördere'S  da  gerade  nur  ihr  Ertrag  für  das  Dasein  überhaupt, 
nicht  für  diesen  oder  jenen  einzelnen  Inhalt,  ihr  diesen  Wert 
verleiht. 

Dieser  Begriff  des  Unerläßlichen,  der  das  ,, Förderliche**  erst 
richtig  deutet:  als  ein  nicht  Singular- Teleologisches,  sondern 
als  harmonisches  Element  der  ganzen  lebendigen  Wirklichkeit 
—  findet  nun  seinerseits  eine  klärende  Analogie  in  jenem  Be- 
griff des  ,, Passenden** ;  ich  komme  hier  noch  einmal  auf  ihn 
zurück,  weil  sich  erst  von  einer  Mehrheit  solcher  Begriffe  aus  die 
Höhenlage  ermißt,  in  der  die  Entscheidungen  über  Goethes  Welt- 
verständnis fallen.  Man  begreift  ihn  überhaupt  nicht,  wenn 
man  nicht  den  Worten,  die  er  schließlich  dem  Empirisch-Ein- 
zelnen entlehnen  muß,  ihre  oft  sehr  verschiedenen  Abstände  von 
eben  diesem  richtig  anweist.  Wie  sich  der  Goethesche  Wahr- 
heitsbegriff über  den  Gegensatz  des  Wahren  und  Falschen  im 
Sinne  der  einseitig-unvollständigen  Objektivität,  die  das  Subjekt 
nicht  einschließt,  erhebt,  so  der  des  ,, Passenden*'  oder  des 
höchsten  Wertes  überhaupt  über  den  Gegensatz  des  Guten  und 
Bösen  im  Sinne  der  in  den  Relationen  der  Einzelheiten  wohnen- 
den Moral.  Ein  dunkles  Drängen  auf  diesen  Punkt  zeigt  schon 
seine  jugendliche  Abneigung  gegen  die  scharfe  Polarität  von 
Gut  und  Böse.  „Ist  denn  das  Gute  nicht  bös  und  das  Böse 
nicht  gut?**  Hier  hebt  die  Entwicklungsreihe  an,  die  mit  den 
geheimnisvollen  Hinweisen  der  Wander  jähre  schließt  über  „jene 
letzte  Religion,  die  aus  der  Ehrfurcht  vor  dem,  was  unter  uns 

Simmel,  Goethe.  3 


34  Moral  und  Vollkommenheit 

ist,  entspringt,  jene  Verehrung  des  Widerwärtigen,  Verhaßten, 
Fliehenswerten."  Und  hier  preist  er  es  am  Christentum,  daß 
,, Niedrigkeit  und  Armut,  Spott  und  Verachtung,  Schmach  und 
Elend,  Leiden  und  Tod  als  göttlich  anerkannt,  ja  Sünde  selbst 
und  Verbrechen  nicht  als  Hindernisse,  sondern  als  Fördernisse 
des  Heiligen  verehrt  und  liebgewonnen"  werden.  In  alledem 
lebt  das  große  Motiv,  zu  dem  sich  jene  frühe  Identität  des 
Guten  und  des  Bösen  hinaufgeklärt  hat:  Gutes  und  Böses  stehen 
jetzt  zwar  polar  in  einer  Ebene,  allein  über  sie  erhebt  sich  ein 
Höheres,  eine  —  seelische  und  kosmische  —  Vollkommenheit 
der  Seinstotalität,  die  der  nüchterne  Begriff  des  ,, Fassens"  an- 
deutet. In  derselben  Richtung  spricht  er  einmal  davon,  wie 
viele  junge  Leute  daran  zugrunde  gehen,  daß  sie  zuviel  von 
sich  fordern.  ,, Niemand  bedenkt  leicht,  daß  uns  Vernunft  und 
ein  tapferes  Wollen  gegeben  sind,  damit  wir  uns  nicht  allein 
vom  Bösen,  sondern  auch  vom  Übermaß  des  Guten  zurückhalten." 
Es  kam  ihm  eben  auf  die  Vollkommenheit  des  Lebens  an,  die 
weder  durch  bloße  Steigerung  einer  noch  so  lobenswerten  Per- 
fektion zu  erringen  ist,  noch  auch  nur  jede  beliebige  Steigerung 
einer  solchen,  einseitigen,  vertragen  kann.  Das  Ideal  der  Exi- 
stenz, nicht  nur  des  Wollens,  steht  in  Frage,  wie  es  durch  den 
harmonischen  Zusammenhang  des  Menschen  mit  der  Ganzheit 
der  Welt  bestimmt  ist.  Es  ist  nur  eine  Ausgestaltung  oder  ein 
Symbol  davon,  wenn  Goethe  die  moralischen  Gegensätze,  die 
von  sich  aus  unsere  Existenz  zu  spalten  scheinen,  sich  so  voll- 
kommen durchdringen  läßt,  daß  die  Wertung  des  Edelsten  und 
Besten  auch  dem  Sündhaften  und  Niedrigen  zukomme,  und  wenn 
vor  dem  Begriff  des  Maßes  —  gleichsam  dem  quantitativen 
Ausdruck  jenes  ,, Passenden"  —  das  Gute  wie  das  Böse  ganz 
gleichmäßige  Einschränkung  erfahren.  Gewiß  berührt  es  sich 
mit  dem  hier  Gemeinten  nur  ganz  partiell,  wenn  er  über  Jacobi 
sagt:  ,,Ihm  haben  die  Naturwissenschaften  gemangelt,  und  mit 
dem  bißchen  Moral  allein  läßt  sich  doch  keine  große  Weltansicht 
fassen" ;  bedenkt  man  aber,  welche  metaphysische,  sozusagen 
absolute  Bedeutung  die  ,, Naturwissenschaften"  für  Goethe  hatten, 
so  spricht  doch  auch  hieraus  das  Entscheidende :  daß  die  Moral» 


Subjektivität  und  Objektivität  der  Wahrheit  35 

festgelegt  auf  den  Gegensätzen  des  Guten  und  des  Bösen,  ein 
definitiveres  Ideal  menschlicher  Stellungnahme  über  sich  hat, 
gleichsam  ein  Richtigsein  des  Lebens,  das  sein  Kriterium  nicht 
mehr  von  einzelnen  Inhalten  gewinnt,  sondern  von  seinem  Sich- 
Einordnen,  Einpassen  in  das  große  Ganze  der  metaphysisch  und 
religiös  aufgefaßten  Natur. 

Von  dieser  Analogie  und  der  Fixierung  der  Höhenschicht  nun 
auf  das  theoretische  Ideal  zurückblickend,  gilt  es  in  allem  bisher 
Gesagten  das  Grundmotiv  festzuhalten :  ein  übergreifender  Wahr- 
heitsbegriff,  der  zunächst  gar  nicht  an  einem  Gegensatz  zu 
theoretischem  Irrtum  orientiert  ist,  sondern  seinen  Sinn  in  seiner 
Seins-  und  Funktionsbedeutung  hat,  darin,  daß  er  als  Daseiendes 
das  daseiende  Leben,  wie  es  sich  im  persönlichen  Geiste  dar- 
stellt, fördert.  Da  nun  aber  das  Leben  dieses  Geistes  allem 
Natursein  in  harmonischer  Einheit  verknüpft  ist,  so  muß  jene 
sozusagen  vitale  Wahrheit  zugleich  auch  die  theoretische  sein, 
das  heißt  diejenige,  die  den  Inhalt  des  Denkens  an  dem  Inhalt 
der  Objektivität  mißt.  Dieser  hier  vorweggenommene,  nachher 
noch  zu  begründende  Gedanke  macht  es  verständlich,  daß  er 
mit  größter  Leidenschaft  auf  die  Objektivität  des  Erkennens 
drängt,  auf  die  selbstlos  treue  Beobachtung,  auf  die  Ausschaltung 
aller  bloßen  Subjektivität  —  und  zugleich,  ohne  sich  des  ge- 
ringsten Widerspruchs  bewußt  zu  sein,  nur  das  als  wahr  an- 
erkennen will,  was  anzuerkennen  ihn  fördert  und  sich  dem  be- 
stehenden Status  seines  Geistes  anfügt. 

Durch  eine  verhältnismäßig  einfache  metaphysische  Vertiefung 
also  zeigt  sich  der  scheinbare  Subjektivismus  des  Goetheschen 
Wahrheitsbegriffes  nur  als  der  eine  Aspekt  einer  Einheit,  deren 
anderer  durchaus  objektivischen  Wesens  ist.  Aber  damit  ist 
die  Problematik  des  andern,  diesem  Begriff  einwohnenden  Ele- 
mentes nicht  aufgelöst :  die  Verschiedenheiten  der  Wahrheiten, 
die  der  Ursprung  aus  ,, Förderlichkeit"  ihnen  als  Konsequenz 
der  Verschiedenheit  der  Individuen  auferlegt.  Eine  entscheidende 
Stelle  ist  oben  mitgeteilt  und  es  gibt  deren  viele.  ,,Die  ver- 
schiedenen Denkweisen  sind  in  der  Verschiedenheit  der  Menschen 
gegründet  und  eben  deshalb  ist  eine  durchgehende  gleichförmige 

3* 


36  Individualisierung  der  Wahrheit 

Überzeugung  unmöglich."  Von  sich  selbst  gesteht  er  im  höchsten 
Alter,  mehr  als  einmal  habe  er  in  seine  Fassungskraft  nicht 
aufnehmen  können,  was  anderen  denkbar  sei  —  womit  nicht 
bloßes  Denkenkönnen,  sondern  wissenschaftliches  Überzeugtsein 
gemeint  ist;  und  mehr  als  zehn  Jahre  vorher  hatte  er  schon 
in  diesem  ganz  individualistischen  Sinne  geschrieben:  ,, Jeder 
spricht  nur  sich  selbst  aus,  indem  er  von  der  Natur  spricht." 
An  dieser  Konsequenz  scheint  nun  freilich  jene  metaphysisch 
schon  gelungene  Ineinsbringung  der  subjektiven  und  der  ob- 
jektiven Wahrheit  doch  wieder  logisch  zu  scheitern.  Man  mag 
zugeben :  der  menschliche  Geist  erzeuge  Erkenntnisvorstellungen 
in  sich,  die  seinem  Leben  notwendig,  integrierend,  förderlich 
sind,  und  vermöge  der  organisch-metaphysischen  Einheit,  in  der 
er  dem  Dasein  überhaupt  verwachsen  ist,  besitzen  die  Inhalte 
dieser  Vorstellungen  die  volle  Harmonie  zu  diesem  Dasein,  den 
objektiven  Wahrheitswert.  Allein  dies  gilt  insoweit  für  das 
,, Leben  überhaupt",  das  in  jedem  Individuum  dasselbe  ist  und 
deshalb  mit  der  Einzigkeit  und  Eindeutigkeit  der  Wahrheit  über 
jedes  Objekt  verträglich  bleibt.  Diese  aber  wird  doch  in  dem 
Augenblick  zersplittert  und  hinfällig,  in  dem  gerade  das,  was 
das  eine  Leben  von  dem  anderen  unterscheidet,  über  die  Be- 
stimmung: was  Wahrheit  ist  — ^entscheiden  soll.  Kein  Zweifel, 
daß  die  gewöhnliche  Folgerung  aus  solcher  Individualisierung 
der  Erkenntnis :  daß  für  den  einen  Wahrheit  ist,  was  es  für  den 
anderen  nicht  ist,  —  nämlich  der  Skeptizismus,  die  Verzweiflung 
an  der  Objektivität  des  Wahrheitsbegriffes  überhaupt,  Goethe 
völlig  fern  lag;  so  fern,  daß  er,  wenn  ich  mich  nicht  täusche, 
der  Gefahr  dieses  Schlusses  mit  keiner  unmittelbaren  und  defen- 
siven Äußerung  begegnet.  Wohl  aber  treten  positive  Motive 
bei  ihm  auf,  die  sie  aus  seinem  Weltbild  ausschließen. 

Es  ist  vor  allem  der  Gedanke,  daß  all  diese  individualistischen 
Erkenntnisbilder  nicht  mit  ihrer  Zerfällung  in  atomistische  Selbst- 
genügsamkeiten abschließen,  sondern  eine  ideelle  Zusammen- 
gehörigkeit in  dem  Sinne  besitzen,  daß  sie  sich  alle  unter  ein- 
ander zu  einer  einheitlichen  Totalität  des  Erkennens  überhaupt 
ergänzen.    „Die  Natur  ist  deswegen  unergründlich,  schreibt  er, 


Die  Menschheit  als  Träger  der  Erkenntnis  37 

weil  sie  nicht  ein  Mensch  begreifen  kann,  obgleich  die  ganze 
Menschheit  sie  wohl  begreifen  könnte.  Weil  aber  die  liebe 
Menschheit  niemals  beisammen  ist,  so  hat  die  Natur  gut  Spiel, 
sich  vor  unseren  Augen  zu  verstecken."  Der  leichte  Ton  dieser 
Äußerung  läßt  die  Vermutung  mindestens  nicht  ausschließen, 
daß  dieser  Inbegriff  des  individuellen  Wissens  doch  wohl  nicht 
als  so  mechanische  Addition  gemeint  sein  wird,  wie  er  in  dem 
bloßen  ,, beisammen"  erscheint.  Sondern  eher  in  dem  sublimen 
Sinne,  in  dem  er  im  Alter  von  dem  Ideal  eines  Einheitslebens 
der  Menschheit  überhaupt  spricht,  von  der  ,, Weltliteratur",  von 
der  ,, sittlich -freisinnigen  Übereinstimmung  durch  die  Welt". 
Man  möchte  etwa  an  die  Arbeitsteilung  unter  den  Gliedern  eines 
einheitlichen  Organismus  denken.  Hier  erhebt  sich  der  Wahr- 
heitsbegriff noch  einmal  in  die  gleiche  Höhe,  in  der  er  vorhin 
über  dem  relativen  Gegensatz  von  Wahr  und  Irrig  gestanden 
hatte.  Jetzt  steht  —  so  darf  man  Goethes  Intention  wohl 
deuten  —  ein  Erkennen  in  Frage,  das  absolut  ist,  weil  ,,die 
Menschheit"  sein  Subjekt  ist,  und  das  sich  aus  den  relativen 
Differenzen  der  erkennenden  Individuen  zusammenbaut,  oder 
auch:  sie  überbaut,  wie  dort  die  Differenz  von  Wahr  und  Irrig. 
Er  verkündet  in  einem  Aphorismus  die  Individualität  des  Er- 
kennens,  die  dessen  Objekt  völlig  durchdringt :  ,,Die  Erscheinung 
ist  vom  Beobachter  nicht  losgelöst,  vielmehr  in  dessen  Indivi- 
dualität verschlungen  und  verwickelt."  Und  nun  lautet  der 
nächste  Spruch:  ,,Was  heißt  auch  Erfinden  und  wer  kann 
sagen,  daß  er  dies  oder  jenes  erfunden  habe  ?  —  Es  ist  nur  be- 
wußtloser Dünkel,  wenn  man  sich  nicht  endlich  als  Plagiarier 
bekennen  will."  Hier  stellt  sich  also  die  Totalität  der  Mensch- 
heit, statt  im  Beisammen,  im  Nacheinander  ihrer  Arbeit  dar; 
es  ist  hier  die  historische  Bedingtheit  jedes  Vorstellens  und 
Leistens,  die  jenes  selbe  Motiv  trägt:  die  Legitimierung  von 
dessen  noch  so  individuellem  Charakter  durch  die  gliedmäßige  Ein- 
ordnung des  Individuums  in  das  Einheitsleben  der  Menschheit. 
Von  einem  solchen  Einheitsbegriff  aus  erst  werden  die  Zusätze 
zu  jener  entscheidenden  Stelle  begreiflich,  in  der  er  den  Ge- 
danken als  den  für  ihn  wahren  verkündet,  der  ihn  fördert  und 


38  Gegenseitige  Ergänzung  der  Überzeugungen 

sich  seinem  Denken  anschließt,  während  eben  derselbe  einem 
Anderen,  für  den  diese  Folgen  nicht  zutreffen,  falsch  sein  müsse. 
„Ist  man  hiervon,  so  fährt  er  fort,  recht  gründlich  überzeugt, 
so  wird  man  niemals  kontro vertieren."  Selbstverständlich  handelt 
es  sich  bei  Goethe,  dem  Menschen  strengster  Sachlichkeit  und 
leidenschaftlichsten  Wahrheitssinnes,  nicht  um  die  Schlaffheit 
bloßer  ,, Toleranz",  die  immer  nur  ein  negatives  Verhalten  gegen- 
über dem  Phänomen  ist,  während  hier  ein  Positives  zu  dem 
Grund  des  Phänomens  in  Frage  steht.  Er  will  mit  dem  Ent- 
gegengesetzt-denkenden nicht  streiten,  weil  diese  Entgegengesetzt- 
heit, wenn  sie  nur  wirklich  auf  dem  Naturgrunde  der  Persön- 
lichkeit gewachsen  ist,  in  der  Einheit  des  lebendigen,  viel- 
gliedrigen  Gesamtverhältnisses  zwischen  Menschheit  und  Welt 
einbegriffen  ist.  Das  Erkennen  als  ein  kosmisches  Ereignis 
bricht  hier  wie  ein  Strom  aus  einer  Quelle,  in  so  viele  Gefäße 
er  auch  gefaßt  werde,  deren  mannigfaltige  Formen  annehmend ; 
es  ist  immer  der  eine  menschheitliche  Lebensprozeß  des  Er- 
kennens,  der  eine  Fülle  logisch  unvereinbarer  Inhalte  trägt. 
Darum  kann  eine  Stelle,  deren  Anfang  ich  vorhin  anführte, 
vollständig  so  lauten:  ,, Kenne  ich  mein  Verhältnis  zu  mir  selbst 
und  zur  Außenwelt,  so  heiß'  ich's  Wahrheit.  Und  so  kann  jeder 
seine  eigne  Wahrheit  haben  und  es  ist  doch  immer  dieselbige." 
—  Als  die  genauere  Form  dieser  gegenseitigen  Ergänzung  er- 
scheint ihm  gelegentlich  sogar  der  unmittelbare  logische  Gegen- 
satz. Er  schreibt  über  Jacobi:  ,,Nach  seiner  Natur  muß  sein 
Gott  sich  immer  mehr  von  der  Welt  absondern,  da  der  meinige 
sich  immer  mehr  in  sie  verschlingt.  Beides  ist  auch  ganz  recht : 
denn  gerade  dadurch  wird  es  eine  Menschheit,  daß,  wie  so 
manches  andere  sich  entgegensteht,  es  auch  Antinomien  der 
Überzeugung  gibt."  Hier  wird  also  das  bloße  Beisammen  zu 
der  Lebendigkeit  einer  Polarität  gesteigert,  die  Verschiedenheiten 
der  Denkweisen  bilden  nicht  nur  neben  einanderstehend  ein 
Ganzes,  sondern  die  eine  verlangt  von  sich  aus  die  andere. 
Das  uralte  Motiv,  daß  auch  der  Kampf  eine  Art  und  ein  Mittel 
der  Einheit  sei,  tritt  hier  hervor,  läßt  alle  Passivität  der  Toleranz 
für  das  Entgegengesetzte  hinter  sich,  sondern  fordert  gerade  das 


Einheit  mit  sich  und  mit  andern  39 

Entgegengesetzte,  damit  die  „Antinomie"  sich  als  die  Form  ent- 
hülle, in  der  die  Einheit  der  erkennenden  Menschheit  gegenüber 
dem  Objekt,  nicht  nur  trotz,  sondern  mittels  ihrer  Gespaltenheit 
in  polare  Individualitäten  sich  vollzieht.  Und  endlich  rücken 
die  Gegensätze  in  den  Inhalten  der  Überzeugung  so  zusammen, 
daß  sie  als  gleichzeitige  sogar  ein  einzelnes  Individuum  charak- 
terisieren und  in  ihm  ihre  Einheit  finden.  Er  spricht  einmal 
aus  —  was  schon  an  und  für  sich  unserm  Zusammenhange  zu- 
gute kommt  — ,  daß  Philosophien  nur  die  Lebensstimmung  ihres 
Schöpfers  bedeuten,  das  heißt  die  Art,  wie  seine  individuelle  Dis- 
position mit  der  Welt  fertig  wird;  auf  diese  Weise  stellten  sie 
Lebensformen  dar,  unter  denen  wir  als  Adepten  wieder  zu  wählen 
hätten,  was  ,, unserer  Natur  oder  unseren  Anlagen  nach*'  für 
uns  passe.  Und  nun  fährt  er  fort:  „Ich  behaupte,  daß  sogar 
Eklektiker  in  der  Philosophie  geboren  werden,  und  wo  der  Ek- 
lektizismus aus  der  inneren  Natur  des  Menschen  hervorgeht,  ist 
er  ebenfalls  gut.  Wie  oft  gibt  es  Menschen,  die  ihren  ange- 
borenen Neigungen  nach  halb  Stoiker  und  halb  Epikuräer  sind ! 
Es  wird  mich  daher  auch  keineswegs  befremden,  wenn  diese  die 
Grundsätze  beider  Systeme  aufnehmen,  ja  sie  möglichst  mit  ein- 
ander zu  vereinigen  suchen.** 

In  vielleicht  noch  ahnungsreichere  Tiefen  führt  die  Ein- 
leitung jenes  zentralen  Satzes:  ,,Wenn  man  mit  sich  selbst 
einig  ist,  ist  man  es  auch  mit  andern".  Sieht  man  auf  die 
isolierten  Inhalte  dieses  ,,mit  sich  Selbst -Einigseins",  auf  die 
einzelnen,  logisch  ausdrückbaren  Überzeugungen,  in  denen  jeder 
jeweils  mit  sich  einig  ist,  —  so  ist  diese  Behauptung  gar  nicht 
verständlich.  Anders  aber,  sobald  unter  Erkennen  ein  Total- 
verhalten  des  Menschen  verstanden  wird:  jene  Befruchtung  und 
Förderung  des  Ganzen  durch  einen  Gedanken,  jenes  Sichan- 
schließen und  Sichzusammenschließen  zwischen  früheren  und 
neuen  Vorstellungen.  Ist  so  das  Mit-sich-einig-sein  nicht  ein 
logisches,  systematisches  Verbundensein  von  Inhalten,  sondern 
eine  Lebensfunktion  des  Menschen,  eine,  die  ihn  vereinheit- 
licht und  ihn  dem  Sinne  seiner  Existenz  näherbringt,  so  tritt 
sofort  die  Beziehung  des  Menschen  als   Ganze^    zum  Dasein 


40  Persönliche  Einheit  und  Welteinheit 

als  Ganzem  daran  oder  darin  hervor.  An  das  richtige  Funk- 
tionieren des  Geistes  ist  das  harmonische  Verhältnis  zum  Objekt 
gebunden.  Goethe  spricht  gelegentlich  davon,  daß  das  fort- 
während sich  wandelnde  und  in  scheinbaren  Widersprüchen 
sich  bewegende  Objekt  nur  von  einem  ebenso  beweglichen  Geist 
erkannt  werden  könne:  wie  der  morphologische  Forscher  ,,die 
Organe  bildsam  sieht,  so  müsse  er  auch  die  Art  zu  sehen  bild- 
sam erhalten".  So  liegt  es  in  dem  Fundamente  der  ganzen 
Goetheschen  Weltansicht  beschlossen,  daß  der  Mensch  erst, 
indem  er  sich  in  sich  vereinheitlicht,  ,,mit  sich  selbst  einig" 
ist,  das  geistige  Gegenbild  der  in  sich  einheitlichen  Welt  dar- 
stellt. Dann  aber  hat  jedes  so  einheitliche  Individuum  das 
gleiche,  in  diesem  Sinne  auch  gleich  aufgenommene  Objekt. 
„Jedes  Individuum,  sagt  er  einmal,  hat  vermittelst  seiner  Nei- 
gungen ein  Recht  zu  Grundsätzen,  die  es  als  Individuum  nicht 
aufheben".  Es  wäre  bei  seiner  Denkart  völlig  ausgeschlossen,  dem 
Subjekt  das  Recht  zu  Grundsätzen  zuzugestehen,  die  nicht  auch 
von  der  objektiven  Ordnung  der  Dinge  her  berechtigt  sind.  Aber 
es  sind  eben  ,,die  Neigungen"  selbst  objektive  Tatsachen,  die  sich 
mikrokosmisch  dem  individuellen  Ganzen  zuordnen  —  Neigungen, 
mit  denen  er  selbstverständlich  nicht  flatternde  Willkürlichkeiten, 
sondern  die  organischen  Tendenzen  des  Wesenskernes  meint. 
Indem  das  ,,mit  sich  einige"  Subjekt,  sozusagen  durch  seine 
Formgleichheit  mit  der  selbst  einheitlichen  Welt,  dieser  ein 
harmonisch  angemessenes  Gegenbild  in  sich  bereitet,  müssen  all 
solche  Individuen  doch  irgendwie  auch  miteinander  harmonieren, 
so  verschieden  die  Punkte  inhaltlich  seien,  um  die  herum  die 
Vereinheitlichung  eines  jeden  stattfindet.  Denn  sie  verhalten 
sich,  wie  das  Leibnitzsche  Gleichnis  es  von  den  unendlich  ver- 
schiedenen Monaden  sagt,  deren  jede  die  Welt  irgendwie  anders 
vorstellt  und  die  doch  in  absoluter  Harmonie  stehen  —  wie 
Spiegel,  die  um  einen  Marktplatz  herum  aufgestellt  sind:  ein 
jeder  zeigt  zwar  ein  anderes  Bild  als  der  andere,  aber  wider- 
sprechen können  sie  sich  nie,  da  sie  damit  ein  und  dasselbe 
Objekt  wiedergeben.  Erst  aus  einer  letzten  Überzeugung  heraus 
also  wird  es  verständlich,  daß  der  mit  sich  einige  Mensch  auch 


Das  Glück  des  Einzelnen  41 

mit  den  andern  einig  sei;  die  metaphysische  Beziehung,  die 
der  so  sich  formende  Mensch  zu  der  Objektivität  des  Daseins 
gewinnt  und  nur  so  gewinnt,  ist  der  Zusammenhalt,  der  diese 
Menschen  auch  unter  sich  vereinheitlicht  und  es  ganz  grundlos 
macht,  daß  sie  ,,kontro vertieren". 

Es  ist  nur  die  praktische  Wendung  dieses  Zusammenhanges 
und  deshalb  seine  Bestätigung,  wenn  er  den  Saint-Simonisten 
gegenüber  bemerkt,  es  solle  doch  ein  jeder  bei  sich  anfangen 
und  sein  eigenes  Glück  machen,  woraus  dann  unfehlbar  das 
Glück  des  Ganzen  entstehen  müßte.  Unmöglich  kann  dies  auf 
der  trivial-liberalen  ,, Harmonie  der  Interessen"  gegründet  sein, 
die  sich  nur  auf  die  Einzelphänomene  der  Oberfläche  bezieht. 
Er  kann  nur  meinen,  daß  das  „Glück"  des  Einzelnen  —  ganz 
entsprechend  jenen  ,, Neigungen"  —  in  einem  bestimmten  har- 
monischen Verhältnis  zum  Weltsein  überhaupt  wurzle  oder 
bestehe.  Wo  er  vom  Glück  in  einem  so  prinzipiellen  Sinne 
spricht,  ist  es  nie  der  atomistische  Zufall  eines  isolierten  Wohl- 
befindens, sondern  immer  die  Totalstimmung  der  Persönlichkeit, 
die  nur  in  der  Relation  mit  der  Totalität  des  objektiven  Daseins 
möglich  ist.  Diese  Weltbeziehung  jeder  einzelnen  Individualität 
—  die  wirklich  ,,mit  sich  einig  ist",  ihren  wahren  Neigungen 
folgt,  ihr  wirkliches  ,, Glück  macht"  —  ist  es,  die  das  Band 
zwischen  allen  einzelnen  knüpft,  die  die  inhaltlich  und  dem 
singulären  Objekt  gegenüber  noch  so  divergenten  Überzeugungen, 
die  noch  so  heftig  sich  bekämpfenden  Glücksbestrebungen  als 
Einheit  und  Ganzheit  offenbart. 

Dies  also  scheinen  mir  die  Motive  zu  sein,  durch  die  Goethe 
die  Individualisation  des  Erkennens  davor  bewahrt,  in  einen 
verantwortungslosen  Subjektivismus  oder  in  eine  Verzweiflung 
an  der  Erkenntnismöglichkeit  auszugehen.  Die  Verknüpf theit  des 
Erkennens  mit  dem  Leben,  durch  die  es  an  die  einzelnen  Träger 
dieses  Lebens,  mit  ihren  besonderen  Charakteren  und  Bedürf- 
nissen gewiesen  wurde,  ist  ihm  gerade  zum  Mittel  geworden, 
die  gar  nicht  wegzuleugnende  Mannigfaltigkeit  der  Überzeu- 
gungen in  die  zugleich  weiteste  und  engste  Verbindung  mit  dem 
objektiven  Dasein,  seiner  Ganzheit  und  seiner  Einheit,  zu  setzen. 


42  Erkenntnis  und  Wesensgleichheit 

Der  Ausgangspunkt  dieser  Darlegungen:  die  Abhängigkeit 
des  Erkennens  vom  Sein  des  Menschen,  die  Goethe  all  unsern 
theoretischen  Überzeugungen  zusprach  und  die  nur  von  der 
andern  Seite  gesehen  ist,  wenn  ihm  alle  Belehrung  ,, verhaßt" 
ist,  die  nicht  zugleich  seine  Tätigkeit  befördert  —  ist  mit  einer 
weiteren  höchst  charakteristischen  Tendenz  verbunden,  die  man 
entweder  als  jenen  unterbauend  ansehen  kann,  oder  als  ihm 
benachbart  und  auf  ein  gemeinsames  geistiges  Fundament  von 
letzter  Tiefe  hinweisend.  Es  ist  das  Motiv:  daß  jegliches 
Begreifen  nur  durch  eine  Wesensgleichheit  mit  dem  Begriffenen 
möglich  ist;  und  dieses  Motiv  durchzieht  sein  ganzes  Leben, 
von  dem  enthusiastischen  Ausruf  des  Einundzwanzigjährigen: 
,,Über  große  Leute  sollte  niemand  reden,  als  wer  so  groß  ist 
wie  sie",  bis  zu  der  geheimnisvollen  Mahnung  des  Greises: 
,, Bedenkt:  der  Teufel,  der  ist  alt.  So  werdet  alt,  ihn  zu  verstehen" 
—  und  der  noch  tiefer  greifenden  Äußerung  des  Einundsiebzig- 
jährigen:  , .Verstehen  heißt:  dasjenige,  was  ein  anderer  aus- 
gesprochen hat,  aus  sich  selbst  entwickeln".  Im  Zentrum  steht 
hier,  nach  der  psychologischen  Seite  hin:  ,,Du  gleichst  dem 
Geist,  den  du  begreifst"  —  was  doch  bedeutet,  daß  man  nur 
den  Geist  begreift,  dem  man  gleicht;  und  nach  der  metaphysisch 
weiteren : 

,,Wär'  nicht  das  Auge  sonnenhaft, 

Die  Sonne  könnt'  es  nie  erblicken; 

Lag'  nicht  in  uns  des  Gottes  eigne  Kraft, 

Wie  könnt'  uns  Göttliches  entzücken?" 

Es  ist  in  formaler  Hinsicht  die  alte  Empedokleische  Weisheit: 
daß  wir  Gleiches  durch  Gleiches  erkennen,  sogar  die  Elemente 
der  physischen  Natur  um  uns  nur  dadurch,  daß  diese  in  uns  selbst 
vorhanden  sind.  Und  dieser  Zusammenhang  stärkt  sich,  indem 
er  auch  in  der  umgekehrten  Richtung  gilt.  Daß  im  Subjekt 
und  Objekt  ein  identischer  Seinsinhalt  besteht,  führt  unsere 
Erkenntnis  nicht  nur  über  das  Subjekt  zum  Objekt,  sondern 
auch  über  das  Objekt  zum  Subjekt :  das  Glück  des  Entdeckens 
und  Erfindens  bestünde  darin,  daß  man  ,,beim  Anlaß  einer 
äußeren  Erscheinung  sich  in  seinem  Innern  selbst  gewahr  wird" 


Das  Erkennen  als   Lebens  Wirklichkeit  43 

und:   MÖer  Mensch  erlangt  die  Gewißheit  seines  eignen  Wesens 
dadurch,  daß  er  das  Wesen  außer  ihm  als  seinesgleichen,  als  ge- 
setzlich anerkennt".  NundasMotiv:  das  individuelle  Sein  bestimmt 
die  Erkenntnis  der  äußeren  Realität  —  Gegenbild  und  Stütze  an 
dem  anderen  findet:    die  äußere  Realität  bestimmt  die  Selbster- 
kenntnis des  Individuums,  offenbart  sich  als  die  tiefere  Begründung 
des  ersteren,  daß  Subjekt  und  Objekt  gemeinsam  in  einem  defini- 
tiveren Sein,  einer  letzten  Gesetzlichkeit  vs^urzeln ;  indem  auch  das 
individuelle  Sein  von  diesem  getragen  und  durchwachsen    ist, 
begreifen  wir,  daß  es  die  Erkenntnis  ganz  nach  sich  bestimmen 
und  damit  doch  dem  Objekt  volle  Treue  halten  kann.    Gerade 
hier  wird  ein  letzter  Knotenpunkt  aller  Goetheschen  Geisteswege, 
seines  ganzen  auf  diesen  Seiten  zusammengebrachten  Bildes  von 
Wahrheit   sichtbar.     Das    menschliche   Erkennen    ist   ihm  kein 
freischwebendes    ideelles    Gebilde,    das    in    einem    'zor^oq    octotcoc; 
seine   Heimat,    oder    vielmehr    überhaupt    keine   Heimat    hätte. 
Sondern  es  ist  selbst  Realität,  es  wächst  aus   dem  Ganzen  des 
Seins  und  bleibt  in  dessen  Bezirke  wohnen.    Daß  es  als  Prozeß, 
als    Teil   alles   Geschehens   überhaupt  so   dem  Dasein  verhaftet 
ist,  das  trägt  die  Wahrheitsqualität  seiner  Inhalte,  ermöglicht 
freilich  auch  Irrtum,  da  manches  Stück  seiner  Wirklichkeit  sich 
nicht  aus  der  zentralen  Quelle   des   Ganzen  speist,  sondern  ins 
Peripherische    abschweift    und    verkümmert;     ermöglicht    aber 
auch,  daß  manches,  nach  einseitigen  Kriterien  Irrige,  vom  Zen- 
tralen her  eine  Wahrheit  höheren  Sinnes  ist.     Daß  die  Indivi- 
dualität des  erkennenden  Geistes  sein  jeweilig  Wahres  bestimmt, 
will  nur  sagen,  daß  sie  die  besondere  Form  des  Seins  überhaupt 
ist,  die  gerade  in  Frage  steht;    denn   das  Sein   lebt  an   und   in 
einzelnen  Ausgestaltungen,  und  wenn  das  Erkennen  nicht  jenes 
Unhaftende,  heimatlos  Schweifende  ist,  sondern  ein  Seinshaftes, 
Naturverbundenes,    so    muß    es    deshalb    ein   individuelles  sein. 
Dies  trennt  es  nicht  von  der  Wahrheit  über  das  Sein,  sondern 
verbindet   es   ihm.     Solcher  Seinscharakter   des   Geistes,   solche 
tiefe    Quelleneinheit    aller  Natur,    der  er   mitsamt  seinen  theo- 
retischen Werten  angehört,  muß  folgerichtiger  Weise  auch  schon 
die  Fragen  beherrschen,  die  er  stellt.     Dies  ist   der  Sinn  von 


44  Das  Wollen  als  Lebenswirklichkeit 

Goethes  Ausspruch :  „Man  kann  sich  sagen,  daß  niemand  eine 
Frage  an  die  Natur  tue,  die  er  nicht  beantworten  könne;,  denn 
in  der  Frage  liegt  die  Antwort,  das  Gefühl,  das  sich  über  einen 
solchen  Punkt  etwas  denken,  etwas  ahnen  lasse."  Es  ist  be- 
deutsam, festzustellen,  daß  eben  dieses  Motiv  in  einem  öfters 
angedeuteten  Goetheschen  Gedanken  aus  ganz  untheoretischem 
Gebiet  lebt.  ,, Unser  Wollen,  sagt  er,  ist  ein  Vorausverkünden 
dessen,  was  wir  unter  allen  Umständen  tun  werden."  ,, Unsere 
Wünsche  sind  Vorgefühle  der  Fähigkeiten,  die  in  uns  liegen, 
Vorboten  desjenigen,  was  wir  zu  leisten  imstande  sein  werden." 
Das  heißt  also,  daß  auch  unsere  Willensvorstellungen  —  nicht 
nur  die  unmittelbar  praktischen,  sondern  auch  die  ganz  ideellen, 
als  bloße  Wünsche  aufsteigenden  —  in  unserm  realen  Sein 
Substanz  haben.  Auch  die  flüchtigen,  huschenden  Begehrungen 
sind  so  wenig  wie  unsere  Erkenntnisvorstellungen  freifliegende, 
wurzellose  Gebilde,  die  Notwendigkeit  ihres  Aufsteigens  ist  nicht 
einfach  psychologische  Verkettung,  sondern  unser  Sein,  die  reale 
Dynamik  unsres  sich  vorbereitenden  Handelns  und  Ergreifens 
bildet  ihren  Inhalt.  Eine  ganz  besondere  Beziehung  zwischen 
unsern  Wünschen  und  unsrer  Realität  kommt  damit  auf.  Jene 
schweben  nicht  nur  über  dieser  wie  der  Geist  über  den  Wassern, 
bald  auf  sie  einwirkend,  bald  sie  nicht  berührend;  sondern  sie 
sind  Stationen  unserer  Seinsentwicklung  selbst,  und  tragen 
deshalb  die  Sicherheit,  ihren  Inhalt  auf  späteren  Stationen 
wiederzufinden,  ihn  zu  bewähren,  ebenso  in  sich,  wie  unsere 
Erkenntnisvorstellungen  Wahrheit  in  sich  tragen,  weil  sie,  durch 
den  Prozeß  unsrer  Individualität  hindurchgeleitet,  aus  dem 
Ganzen  des  Seins  kommen,  auf  das  sich  ihr  Inhalt  bezieht. 

An  diesem  Punkte  treffen  sich  weitgreifende  Gedanken- 
verkettungen. Wenn  die  Existenz  von  so  etwas  wie  Wahrnehmen 
oder  Verstehen  Goethe  nur  dadurch  möglich  scheint,  daß  jede 
Wirklichkeit,  die  des  Subjekts  wie  des  Objekts,  von  der  einen 
und  gleichen  Strömung  des  ,,so  natürlichen  wie  göttlichen" 
Seins  erzeugt  ist  und  getragen  bleibt  —  so  ist  doch  daraufhin 
nicht  alles  von  allem  durchdrungen,  nicht  jedes  jedem  ver- 
ständlich und  genießbar.     Und    dies    begründet   sich    aus   dem 


Die  lebendige  Einheit  des  Daseins  45 

Lebendigkeitscharakter  der  Goetheschen  Welteinheit.  Die 
abstrakte,  unterschiedslose  Einheit  des  rationalen  Pantheismus 
verwirft  er,  warnt  davor,  das  göttliche  Prinzip  ,,in  eine  vor 
unserm  äußern  und  innern  Sinne  verschwindende  Einheit  zu- 
rückdrängen" zu  lassen.  Die  Einheit  des  Alls  bedeutet  keines- 
wegs Allgleichheit,  Allverschwommenheit,  sondern  die  dyna- 
mische Einheit  des  Lebens,  das  alle  noch  so  mannigfaltigen 
Glieder  durchströmt  und  in  unzähligen  Maßen  und  Arten  funk- 
tionell zusammenhält;  sie  ist  durch  den  Reichtum,  nicht,  wie 
meistens  die  philosophische,  durch  die  Resignation  gewonnen. 
Ohne  es  durch  Anführungen  belegen  zu  können,  möchte  ich  in 
Goethes  Sinne  das  ,, Begreifen"  als  ein  ,,Urphänomen"  an- 
sprechen; denn  indem  es  nur  auf  Grund  der  Seinsgleichheit 
stattfindet,  kommt  in  ihm  die  allgemeine  Verbundenheit  der 
Dinge  zum  prägnantesten  Ausdruck,  die  funktionelle  Beziehung 
zur  reinsten  Anschaulichkeit,  —  da  sie  hier  bis  zur  Gleichheit 
vorschreitet,  diese  Gleichheit  aber  nicht  ein  totes  mathematisches 
Sich-Decken  bedeutet,  sondern  die  geistige  Bereicherung  des 
einen  durch  das  andere,  das  Aufnehmen  in  den  Lebensprozeß. 
Gewiß  hat  die  Einheit  des  Daseins  nicht  überall  dieses  Sich-Auf- 
nehmen  und  Begreifen  zur  Folge;  wo  solches  aber  stattfindet, 
weist  es  auf  jene  Einheit,  als  seinen  metaphysischen  Grund 
zurück,  ist  dessen  vielleicht  stärkstes  und  entschiedenstes  Phä- 
nomen. 

Die  in  dem  Vers  vom  sonnenhaften  Auge  ausgesprochene 
Abhängigkeit  alles  Begreifens  vom  Sein  —  insofern  der  In- 
halt des  Begriffenen  irgendwie  dem  Begreifenden  einwohnen 
muß  —  ist  in  einer  anderen  Äußerung  weitergeführt:  , »Hätte 
ich  nicht  die  Welt  durch  Antizipation  bereits  in  mir  ge- 
tragen, ich  wäre  mit  sehenden  Augen  blind  geblieben,  und 
alle  Erforschung  und  Erfahrung  wäre  nichts  gewesen  als  ein 
ganz  totes  und  vergebliches  Bemühen",  —  was  sich  dann  nach 
der  ethischen  Seite  hin  mit  dem  Satze  wendet:  ,,Von  Verdiensten, 
die  wir  zu  schätzen  wissen,  haben  wir  den  Keim  in  uns." 
Goethe  schätzt  im  allgemeinen  das  Angeborene  des  Menschen 
überhaupt  als  sein  Wesentliches  und  Bestimmendes   (und    eine 


46  Angeborenes  und  Aufgenommenes 

Äußerung  wie  die:    „Nicht  nur  das  Angeborene,  sondern  auch 
das  Erworbene  ist  der  Mensch"  bestätigt  dies  dadurch,   daß  er 
solche  Erweiterung  auszusprechen  für  nötig  hält) ;  hier  aber  ist 
nun  das  Angeborene  nicht  nur   für   das  Persönliche  und  Sub- 
jektive   des    Lebensverlaufes    entscheidend,    sondern  es  enthält 
als  ein  reales  Daseiendes  alles   andere  Dasein  in   ideeller  Form 
in    sich.     In    höchst    eigentümlicher  Vermittlung  zwischen   der 
Theorie  der  angeborenen   Ideen  und   dem   Kantischen    Apriori 
bewegt  sich  dieser  Begriff.     Jene  legt   in   den   Geist  bestimmte 
Wissensinhalte,  die  in  dessen  reiner  Eigenentwicklung  und  von 
aller  Erfahrung,  aller  erworbenen  Erkenntnis  unabhängig  her- 
vortreten; für  den  Apriorismus  seinerseits   muß  aller  Wissens- 
stoff   dem  an  sich   völlig  inhaltlosen  Geiste  gegeben  werden, 
dieser  ist  nichts  als  die  funktionelle  Form,   die  jenen  Stoff  zu 
der    —    allein    gültigen    —    empirischen    Erkenntnis    gestaltet. 
Für  Goethes  Überzeugung  nun  wohnt  auch  der  Wissensstoff  von 
vornherein    unserm    Dasein    ein,    in    einer    Art,    die   er  freilich 
nicht    näher    gedeutet    hat;    aber    dennoch   wird   er   nur  durch 
,, Erforschung    und    Erfahrung"    zum    Wissen.     Alles,   was   der 
Einzelne  von  der  Welt  wissen  kann,  was  ihm  Welt  werden  wird, 
ist  ihm  angeboren  —  aber  nun  muß  er  die  Welt  erst  aufnehmen, 
erst    erfahren,    damit    dieses   Vor-Wissen    zum   Wissen    werde. 
Er  drückt   dies  einmal   für   ,, besonders   begabte  Menschen"   so 
aus,  daß  sie  ,,zu  allem,  was  die  Natur  in  sie  gelegt  hat,  noch 
in  der  äußern  Welt  die  antwortenden  Gegenbilder  suchen  und 
dadurch  das  Innere  völlig  zum  Ganzen  und  Gewissen  steigern". 
Damit  offenbart  sich  die  Abhängigkeit  des  Erkennens  vom  Sein 
des  Menschen  als  der  fundamentalen  und  unbedingten  Einheit 
entsprossen,   die  für  Goethe  zwischen  Geist  und  Welt  besteht. 
Der  Geist  enthält  alles  in  sich,  was  für  ihn  ,,Welt"  sein  kann, 
er  ist  Mikrokosmos;  aber  das  wird  nicht  zu  solipsistischer  Be- 
ziehungslosigkeit    und    Unabhängigkeit     der    Welt    gegenüber» 
sondern    sie    muß    nun    noch    erforscht    und    erfahren  werden, 
damit  jene  Vorzeichnung   in   die  Form  der  Realität  übertrete: 
die  Welt  ,, antwortet",  d.  h.  sie  gibt  dem  Geiste  von  sich  nur  den 
Gehalt  hin,  der  ihr  schon  aus  ihm  entgegenkommt.     ,,In   dem 


Reflexives  und  organisches  Denken  47 

gegenwärtigen  wie  in  den  früheren  Heften  (zur  Morphologie) 
habe  ich  die  Absicht  verfolgt,  auszusprechen,  wie  ich  die  Natur 
anschaue,  zugleich  aber  gewissermaßen  mich  selbst,  mein  Inneres, 
meine  Art  zu  sein,  insofern  es  möglich  wäre,  zu  offenbaren. 
—  Die  Aufgabe :  Erkenne  dich  selbst  —  kam  mir  immer  ver- 
dächtig vor  —  um  den  Menschen  von  der  Tätigkeit  gegen  die 
Außenwelt  zu  einer  inneren  falschen  Beschaulichkeit  zu  ver- 
leiten. Der  Mensch  kennt  nur  sich  selbst,  insofern  er  die  Welt 
kennt,  die  er  nur  in  sich  und  sich  nur  in  ihr  gewahr  wird." 
Das  also  ist  der  tiefste  und  metaphysische  Grund,  aus  dem 
ihm  alle  Beschäftigung  mit  dem  Denken  als  solchem  wider- 
wärtig ist.  Denn  damit  würde  das  Denken  etwas  Freischweben- 
des, in  sich  Kreisendes,  das  von  dem  lebendigen  Sein  des 
Menschen  und  eben  deshalb  auch  von  dem  der  Welt  losgerissen 
und  isoliert  wäre.  Mit  voller  Klarheit  setzt  er  so  den,  ich 
möchte  sagen,  organischen  Ursprung  des  Denkens  an  die  Stelle 
des  logischen: 

Ja,  das  ist  das  rechte  Gleis, 

Daß  man  nicht  weiß,  was  man  denkt, 

Wenn  man  denkt: 

Alles  ist  wie  geschenkt. 

Anderwärts:  ,,Das  Schlimme  ist,  daß  alles  Denken  zum  Denken 
nichts  hilft ;  man  muß  von  Natur  richtig  sein,  so  daß  die  guten 
Einfälle  immer  wie  freie  Kinder  Gottes  vor  uns  dastehn  und 
uns  zurufen:  da  sind  wir."  Und  für  seine  wesentliche  Klugheit, 
die  Bedingung  seiner  Erfolge,  erklärt  er,  ,,nie  über  das  Denken 
gedacht  zu  haben".  Das  Entscheidende  ist  ihm  also,  daß  das 
Denken  sozusagen  nicht  aus  sich  selbst,  nicht  in  der  Reflexion 
auf  sich  selbst  sich  erzeuge,  sondern  ihm  selbst  müssen  seine 
Inhalte  durch  den  Naturprozeß  des  Lebens  ,, geschenkt"  werden. 
Und  eben  insofern  das  Denken  aus  dem  Sein  des  Menschen 
kommt,  erhält  es  auch  seine  logisch-sachliche  Bedeutung,  weil 
es  dadurch  dem  Sein  überhaupt  verbunden  ist.  Es  ist  gewisser- 
maßen nur  eine  gefühlshafte  Steigerung  dieser  genetischen  Be- 
ziehung unsres  Erkennens  zu  unsrem  Sein,  wenn  er  schon  als 
ganz  junger  Mensch   schreibt:    ,,Man   lernt  nichts  kennen   als 


48  Bindung  an  Wesensgleichheit 

was  man  liebt  und  je  tiefer  und  vollständiger  die  Kenntnis 
werden  soll,  desto  stärker,  kräftiger  und  lebendiger  muß  Liebe, 
ja  Leidenschaft  sein."  Alles  Verstehen  ist  ja  ein  Schaffen 
(gelegentlich  des  Begriffes  der  „schaffenden  Kraft"  sagt  er: 
,,der  untätige,  untaugende  Mensch  wird  das  Gute,  das  Edle, 
das  Schöne  weder  an  sich,  noch  an  Andern  gewahr  werden") 
—  und  darum  kann  es  nur  nach  den  Qualitäten  des  Schaffenden 
vor  sich  gehen,  also  nur  da  gelingen,  wo  das  Objekt  diesen 
Beschaffenheiten  adäquat  ist.  ,,Es  war  mir  angeboren,  sagt 
er  gelegentlich  seines  frühen  Verstehens  mannigfaltiger  Verhält- 
nisse, mich  in  die  Zustände  Andrer  zu  finden,  eine  jede  be- 
sondre Art  des  menschlichen  Daseins  zu  fühlen."  Und  weil 
ihm  die  Normen  des  Erkennens  eine  Lebensaktivität  sind,  so 
greift  diese  geforderte  Seinsparallelität  zwischen  dem  lebend 
schaffenden  Subjekt  und  seinem  ,, Gegenstand"  im  weitesten 
Sinne  auch  in  alles  Künstlertum.  Er  sagt,  noch  ganz  jung, 
über  die  Unfähigkeit  der  meisten  Baumeister  zu  ,, Palästen  und 
Monumenten":  ,, Jeder  Bauer  gibt  dem  Zimmermann  die  Idee 
zur  Schöpfung  seiner  Hütte.  Wer  soll  Jupiters  Wohnung  in 
die  Wolken  türmen?  wenn  es  nicht  Vulkan  ist,  ein  Gott  wie 
er.  Der  Künstler  muß  eine  große  Seele  haben,  wie  der  König, 
für  den  er  Säle  wölbte."  Hiermit  schließt  sich  nun  endlich 
dieser  Kreis  und  zeigt  sich  als  mit  dem  weiteren  konzentrisch, 
den  Goethes  Wahrheitsbegriff  angab.  Jedes  Erkennen,  ja  jedes 
geistige  Schaffen,  das  sich  an  einen  gegebenen  Inhalt  knüpft, 
offenbarte  sich  zuletzt  als  an  eine  Wesensgleichheit  gebunden,  die 
zwischen  dem  Subjekt  und  dem  realen  Gegenbild  seines  geistigen 
Tuns  besteht.  Und  damit  ist  das  Zentrum  des  ganzen  An- 
schauungskreises: die  Einsenkung  des  Erkennens  in  das 
Sein  —  erst  gesichert.  Denn  damit  begreifen  wir,  nun  nicht 
mehr  psychologisch,  sondern  metaphysisch,  daß  die  Wahrheit 
von  dem  Sein  des  Subjektes  abhängt:  sie  ist  dazu  legitimiert, 
weil  ihr  reales  Objekt  der  Realität  des  Subjekts  verwandt  oder 
gleich  ist  —  weshalb  wir  denn  auch,  wie  Goethe  so  oft  aus- 
spricht, durch  unsere  jeweilige  Individualität  von  so  und  so 
vielen  Erkenntnissen  ausgeschlossen  sind.     Die  Isolierung  und 


Gott- Natur  49 

Zugesperrtheit,  die  uns  von  dieser  differentiellen  Individualität 
zu  kommen  schien,  ist  damit  grade  nach  der  Seite  der  Wahrheit 
hin  gesprengt.  Konnte  ich  zuerst  zeigen,  daß  es  die  Ver- 
knüpftheit  des  Lebens  ist,  die  den  Individualismus  der 
Wahrheit  aller  subjektivischen  Zweideutigkeit  enthebt  —  indem 
ein  höchster  Lebenssinn  über  die  logische  Wahrheit  eine  vitale 
setzte,  indem  die  Besonderheiten  der  Geister  sich  innerhalb  des 
Menschheitsgedankens  gegenseitig  ergänzten,  indem  die  innere 
Einheit  des  Individuums  es  der  objektiven  Weltform  gleich 
machte  —  so  wird  nun  diese  innere  Verknüpftheit  des  Lebens 
umgriffen,  getragen,  gewissermaßen  gerechtfertigt  durch  seine 
Seinsverknüpftheit  mit  den  Objekten  seiner  Wahrheit.  Denn 
unter  der  Harmonie  des  Geistes  wie  der  Geister  und  unter  der 
Sonnenhaftigkeit  des  Auges  lebt  die  Gott -Natur;  und  nur  als 
einen  Strahl  ihrer  Einheit  hat  Goethe  die  zwischen  Subjekt 
und  Objekt  spielende  Möglichkeit  des  Erkennens  begreifen 
können. 


S  i  m  m  e  1 ,  Goethe. 


Drittes  Kapitel. 

Einheit  der  Weltelemente. 

Von  dem  unmittelbaren  Phänomen  der  Dinge,  wie  es  der  sinn- 
lichen Anschauung  gegeben  ist,  geht  unser  Geist  nach  zwei 
Richtungen  weiter.  Er  zerlegt  einmal  diese  Gegebenheit  in  Ele- 
mente, die  sich  als  die  gleichen  an  noch  so  fremden  und  gegensätz- 
lichen Gesamterscheinungen  finden.  Indem  er  die  Gesetzlichkeiten 
in  Wesen,  Bewegungen  und  Verbindungsarten  dieser  Elemente 
erforscht,  lernt  er,  aus  ihnen  —  die  entweder  überhaupt  nicht  un- 
mittelbar oder  wenigstens  nicht  isoliert  wahrzunehmen  sind  — 
die  Gesamterscheinungen  wieder  zusammenzusetzen  und  sie  so 
zu  ,, begreifen".  Auf  der  andern  Seite  aber  faßt  er  diese  noch  ein- 
mal zu  höheren  Gesamtheiten  zusammen,  die  in  noch  prinzi- 
piellerer Weise  als  jene  Elemente  sich  der  Ebene  der  Erschei- 
nungen entheben  und  in  spekulativer  Weise  die  Begriffe  der 
Dinge  zu  höchsten  Einheiten  steigern:  sei  es  zu  ,, Ideen",  sei 
es  zu  einem  metaphysischen  Bilde  des  Seinsganzen.  Mag  man 
im  ganzen  jene  Richtung  als  die  des  ,, Naturforschers",  diese  als 
die  des  ,, Naturphilosophen"  bezeichnen  —  so  schreibt  Goethe 
1798,  er  habe  sich  diesen  beiden  gegenüber  ,,in  meiner  Quali- 
tät als  Natur  schauer  wieder  aufs  neue  bestätigt  gefunden", 
und  bezeichnet  schon  in  dem  vorhergehenden  Jahre  sehr  scharf 
sein  Verhältnis  zu  jenen  beiden  Erkenntniswegen.  ,,Für  uns, 
die  wir  doch  eigentlich  zu  Künstlern  geboren  sind,  bleiben  doch 
immer  die  Spekulation  sowie  das  Studium  der  elementaren  Natur- 
lehre (d.  h.  Physik  und  Chemie)  falsche  Tendenzen."  Die  posi- 
tive Ergänzung  zu  diesen  Ablehnungen  gibt,  zwei  Jahre  zuvor, 
eine  Äußerung  zu  A.  v.  Humboldt:  „Da  Ihre  Beobachtungen 
vom  Element,  die  meinigen  von  der  Gestalt  aus- 
gehen", usw. 


Element,  Idee,   Gestalt  51 

In  der  größten  Einfachheit  und  Entschiedenheit  ist  damit  das 
Prinzip  festgelegt,  mit  dem  Goethe  sein  Verständnis  der  gesamten 
Natur  aufbaut  und  das  sich  als  ein  völlig  selbständiges  neben 
jene,  in  traditionellem  Sinne  wissenschaftlichen  Methoden  stellt. 
Man  kann  es  als  das  im  eminenten  Sinne  ,, synthetische"  be- 
zeichnen. Auf  der  einen  Seite  steht  die  Erkenntnis  der  ,, Ele- 
mente", die  physikalisch-chemische  Wissenschaft,  die  prinzipiell 
im  Gebiet  der  reinen  Erscheinung  verharrt,  Erscheinung  durch 
Erscheinung  erklärt;  denn  ,, Naturgesetze"  ebenso  wie  ,, Energien" 
sind  hier  nichts  als  die  Formeln  für  die  zwischen  den  Erschei- 
nungen bestehenden  Verknüpfungen,  und  auch  die  letzten  Ele- 
mente der  Analyse,  mag  man  sie  als  Atome  oder  anders  bezeich- 
nen, stehen  prinzipiell  —  wenn  auch  für  unsere  Sinne  nicht 
realisierbar  —  innerhalb  des  Wahrnehmungsgebietes.  Auf  der 
andern  Seite  erhebt  sich  die  ,,Ide9",  die  eben  prinzipiell  nicht 
Erscheinung  ist,  sondern  diese  nur  als  Abfall,  Schattenbild,  sub- 
jektives Phänomen  zuläßt  oder  sie  als  Erscheinung  überhaupt 
aufhebt,  indem  die  sinnlich  gegebene  Gestalt  sozusagen  gar 
keine  solche  ist,  sondern  auch  ihrerseits  in  der  logisch  sich  ent- 
wickelnden Idee  besteht.  Diesen  polaren  Tendenzen  gegenüber 
ist  für  die  Goethesche  Synthese  die  Gestalt  als  solche  die  un- 
mittelbare Offenbarung  der  Idee.  Alles  was  man  mit  dem  Be- 
griff dieser  meint:  Sinn,  Wert,  Bedeutung,  Absolutheit,  Geist, 
Übereinzelheit  —  bildet  für  ihn  nicht  mit  der  sinnlichen  Gestaltung 
jenen  Dualismus,  dessen  verschiedene  Seiten  die  auf  die  ,, Ele- 
mente" gehende  Naturwissenschaft  und  die  auf  ,, Ideen"  gehende 
Spekulation  ergriffen  haben.  Insoweit  die  Gestalt  sichtbar  ge- 
geben ist,  hat  sie  die  volle,  von  keiner  nicht  sichtbaren  Instanz 
erst  zu  entlehnende  Realität;  ebensoweit  aber  ist  für  den 
richtig  eingestellten  Blick  all  jenes  Ideelle  in  ihr  sichtbar.  ,,Vom 
Absoluten  im  theoretischen  Sinne,  so  spricht  er  dies  erschöpfend 
aus,  wag'  ich  nicht  zu  reden;  behaupten  aber  darf  ich:  daß,  wer 
es  in  der  Erscheinung  anerkannt  und  immer  im  Auge 
behalten  hat,  sehr  großen  Gewinn  davon  erfahren  wird."  Und 
nichts  andres  meint  er  mit  dem  mehr  symbolischen  Satz:  ,,Ich 
glaube  einen  Gott;,  0as  ist  ein  schönes  und  löbliches  Wort;  aber 

4* 


52  Künstlerische  Sinnlichkeit 

Gott  anerkennen,  wie  und  wo  er  sich  offenbare,  das  ist 
eigentlich  die  Seligkeit  auf  Erden." 

Hiermit  ist  die  Grundformel  der  künstlerischen  Weltan- 
schauung ausgesprochen.  Es  ist  zu  leicht  mißverständlich, 
wenn  man  den  Künstler  als  den  ,, Sinnenmenschen"  charakteri- 
siert, als  den,  der  ,,mit  den  Sinnen  lebt"  —  denn  es  macht  das 
Entscheidende  nicht  kenntlich:  was  denn  beim  Künstler  über 
das  Passivistische,  nur  Hinnehmende  und  Genießende  dazu- 
käme, welches  die  Sprachkonvention  als  ,, Sinnlichkeit"  versteht. 
Dies  Entscheidende  ist  doch  wohl,  daß  der  Künstler  eben  nicht 
nur  mit  den  Sinnen  wahrnimmt,  nicht  nur  ein  Gefäß  für  jenes 
passive  Aufnehmen  und  Erleben  ist,  sondern  daß  sein  Wahr- 
nehmen sogleich  oder  vielmehr  zugleich  schöpferisch  ist.  Das 
aktiv  bildende  Element,  das  vielleicht  in  jedem  Anschauungs- 
akte überhaupt  vorhanden  ist,  gewinnt  bei  dem  Künstler  eine 
Fülle,  eine  Wirksamkeit,  eine  Freiheit,  von  der  durchdrungen  seine 
,, Sinnlichkeit"  beinahe  zum  Gegenteil  von  dem  wird,  was  man 
beim  Durchschnittsmenschen  unter  ihr  versteht.  Sein  Schöpfer- 
tum nun  ist  Gestalten  von  Weltelementen  nach  einer  Idee 
(und  ist  dies  auch  in  der  naturalistischen  Kunst,  die  sich  darüber 
nur  zu  täuschen  pflegt,  weil  sie  unter  Idee  immer  nur  eine  außer- 
künstlerische oder  wenigstens  außerhalb  des  jeweiligen  Kunst- 
bezirks gelegene  vorstellt,  der  Maler  z.  B,  eine  literarische,  der 
Dichter  eine  moralische  usw.).  Da  sich  aber  dies  Schöpfertum 
untrennbar  mit  den  Akten  seines  Anschauens  und  Erlebens  ent- 
faltet, des  Anschauens  und  Erlebens,  das  Objekte,  Wirklich- 
keiten feststellt  und  in  sich  einzieht  —  so  ist  der  Künstler  un- 
vermeidlich überzeugt,  daß  er  die  Idee  anschaut!  Es 
ist  eine  allbekannte  Tatsache,  daß  fast  alle  bildenden  Künstler 
(bei  den  Dichtern  liegt  es  nur  komplizierter,  aber  nicht  prin- 
zipiell anders)  genau  die  ,, Natur  "  wiederzugeben,  nur  das  zu 
machen  meinen,  was  sie  ,, sehen"  —  auch  wo  sie  für  jedes  andere 
Auge  aufs  freieste  mit  der  Naturvorlage  umgehen,  die  sichtbare 
Wirklichkeit  aufs  selbstherrlichste  stilisieren;  auch  die  reine  Fan- 
tasiekunst scheint  die  Schauung  durch  eine  innere  Sinnlichkeit 
vorauszusetzen,  die  dem  Künstler  nicht  weniger  Gegebenes  und 


Intellektuelle  Anschauung  53 

Bindendes  ist,  als  die  sogenannte  äußere  Sinnlichkeit.  Goethe  hat 
nur  mit  der  souveränen  Intellektualität,  die  ihm  immer  über  sich 
selbst  Rechenschaft  gab,  ausgedrückt,  was  der  Künstler  als 
solcher  tut:  daß  er  ,,die  Ideen  mit  Augen  sieht".  Daß  die  Idee  in 
der  unmittelbaren  Realität  der  Dinge  wohnt  und  wahrnehmbar 
ist,  ist  nichts  andres  als  der  objektivierende  Ausdruck  für  die 
Produktivität  des  Künstlers,  dessen  Anschauen  schon  ein  Ge- 
stalten ist.  Schaute  er  nur  in  der  gewöhnlichen  Bedeutung  der 
Sinnlichkeit  an,  so  wäre  er  nicht  produktiv,  sondern  rezeptiv 
(,,das  Anschauen,  sagt  Goethe,  ist  von  dem  Ansehen 
sehr  zu  unterscheiden").  Indem  er  nun  tatsächlich  produziert, 
d.  h.  aus  der  Idee  heraus  produziert,  dabei  aber  doch  Sinnlich- 
Wirkliches  vor  Augen  hat  und  eben  solches  schafft  —  so  ist  es 
eben  seine,  bewußte  oder  bloß  tatsächlich  wirksame,  Voraus- 
setzung, daß  das  Sinnlich- Wirkliche,  die  ,, Gestalt",  als  solche  die 
unmittelbare  Verkündigung  und  Sichtbarkeit  der  Idee  sei.  Dies 
formgebende,  geistige,  schöpferische  Sehen  war  Goethe  im  höchsten 
Maße  eigen  und  kam  ihm  vielleicht  gerade  darum  zu  besonderem 
Bewußtsein,  weil  er  kein  bildender  Künstler  war,  so  daß  der 
innere  Akt  nicht  wieder  in  ein  sinnliches  Bild  mündete.  Man  mag 
seine  Attitüde  als  intellektuelle  Anschauung  bezeichnen,  das  Wort 
im  Gegensinne  zu  der  zeitgenössischen  Philosophie  verstanden. 
Denn  was  der  philosophische  Idealismus,  insbesondere  Schelling, 
so  benennt,  hieße  besser:  anschauende  Intellektualität.  Hier 
handelt  es  sich  darum,  daß  der  Denker  seinen  Gegenstand  ohne 
sinnliche  Vermittlung,  also  nicht  in  der  durch  die  subjektive  Be- 
sonderheit der  Sinne  bestimmten  Erscheinung,  ergreife.  Das 
Anschauen  in  sinnlicher  Bedeutung  soll  hier  also  gerade  über- 
sprungen werden,  der  Geist  soll  leisten,  was  sonst  nur  die  Sinne 
leisten:  sich  der  Wirklichkeit  des  Seins  und  So-Seins  zu  versichern. 
Während  also  der  Intellekt  hier  sinnliche  Funktion  hat,  besitzt 
beim  Künstler  die  Sinnlichkeit  intellektuelle  Funktion,  und  dies 
macht  seine  Begabung  aus;  der  Philosoph  sieht  das  Ideelle,  weil 
er  es  weiß,  der  Künstler  weiß  es,  weil  er  es  sieht.  Insbesondere 
sein  Verhältnis  zu  allem  Rationalismus  (nicht  als  einer  Theorie, 
sondern  als  einer,  diese  weit  übergreifenden  Wesensbeschaffen- 


54  Gestalt 

heit)  muß  mit  so  scharfer  Umkehrung  bezeichnet  werden:  für 
den  Rationalisten  ist  die  Vernunft  ein  Instinkt,  für  Goethe  ist 
sein  Instinkt  eine  Vernunft. 

Von  etwas  weiterer  Peripherie  her  ausgedrückt,  liegt  das 
Ziel  alles  Wissens  um  die  Welt  da,  wo  —  um  Goethesche  Ter- 
minologie zu  gebrauchen  —  ,, Denkkraft'*  und  ,, Anschauen" 
zusammengefallen  sind;  in  dem  Maße,  in  dem  sie  auseinander- 
oder  gegeneinanderstehen,  besteht  Schwierigkeit,  Ungelöstes, 
Widerspruch;  deshalb  führt  in  das  ganz  Definitive  seiner  Welt- 
anschauung der  Satz:  ,,Alle  Versuche,  die  Probleme  der  Natur 
zu  lösen,  sind  eigentlich  nur  Konflikte  der  Denkkraft  mit  dem 
Anschauen."  Insoweit  also  ihm  eine  Lösung  zu  gelingen  schien, 
lag  sie  an  jenem  Punkt  der  Vereinheitlichung  beider :  an  dem 
künstlerischen,  da,  wo  das  Rezeptive  der  Anschauung  die  Idee, 
die  Forderung  der  ,, Denkkraft",  unmittelbar  ergriff.  Dies  ist 
das  Apriori  des  Künstlers:  die  Sichtbarkeit  der  ,,Idee"  in  der 
,, Gestalt";  und  dies  ist  Anfang  und  Ende  der  Goetheschen  Welt- 
anschauung. 

Es  muß  freilich  mit  Sorgfalt  festgehalten  werden,  was  Goethe 
unter  ,, Gestalt"  versteht  —  dasjenige  nämlich,  was  der  reine,  im 
genauen  Sinne  unvermittelte  Eindruck  der  Sinnlichkeit 
gibt.  Darum  ist  das,  was  er  die  elementare  Naturlehre  nennt,  die 
Erkenntnis  der  entweder  nicht  mehr  wahrzunehmenden  oder  nur 
künstlich  zu  isolierenden  Elemente  des  Seins,  hier  ausgeschlossen, 
obgleich  diese  prinzipiell  gleichfalls  in  der  Ebene  der  sinnlichen 
Wahrnehmung  liegen.  Damit  aber  scheint  in  die  Substanz  oder 
das  Fundament  des  Goetheschen  Weltbildes  etwas  Zufälliges 
zu  kommen.  Denn  welche  Maße,  welche  Formen,  welche  Ge- 
nauigkeitsgrenzen gerade  unsere  unbewaffneten  Sinne  dem  Dasein 
entnehmen  und  zu  Bildern  gestalten  —  das  scheint  zu  diesem 
Dasein  selbst  ein  rein  zufälliges,  durch  dieses  Dasein  selbst 
keineswegs  prinzipiell  determiniertes  Verhältnis  zu  haben.  Durch 
welche  Fügung  sollte  gerade  das  auf  diese  Weise  Gewonnene  die 
Substanz  der  Wahrheit,  der  Träger  der  Idee  sein,  während  die  durch 
künstlich  verschärfte  Sinne  gewonnenen  Bilder,  dem  Seinsganzen 
jedenfalls  nicht  nach  zufälligeren  oder  subjektiveren  Prinzipien 


Kosmische  Eingeordnetheit  der  Anschauung  55 

entlehnt,  nicht  „Gestalt",  nicht  Offenbarungen  der  Idee 
wären?  Aber  gerade  hierin  kommt  Goethes  letzte  Überzeugung 
von  der  Weltstellung  des  Menschen  zu  Worte.  Daß  die  rein 
naturhafte  physisch-psychische  Ausstattung  des  Menschen  ihm 
diejenigen  Bilder  des  Daseins  liefert,  die  für  ihn  die  richtigen 
sind,  die  seine  Welt  zu  bilden  haben,  denen  er  den  ideellen 
Gehalt  der  Wirklichkeit  entnimmt  —  das  ist  keine  teleologisch 
auf  das  Beste  oder  auf  die  Lebenserhaltung  des  Menschen  zielende 
Einrichtung,  sondern  eine  Folge  oder  eine  Seite  der  Einheit 
des  natürlichen  Kosmos.  Innerhalb  und  vermöge  ihrer  steht 
jedes  Wesen  an  einer  ihm  zugewiesenen  Stelle  und  ist  für  sie 
ausgerüstet;  ob  zu  seinem  ,, Nutzen"  oder  nicht,  ob  zu  einem 
irgendwo  realisierten  Wert  oder  Unwert  —  das  kommt  jetzt  nicht 
in  Frage.  So  sehr  seine  Anschauungen  vom  Künstlertum  her  be- 
stimmt werden,  so  geschieht  dies  doch  in  dessen  so  weitem  Sinne, 
daß  er  sich  nicht  einmal  in  künstlerischer  Hinsicht  eine  Teleologie 
der  Naturbetrachtung  gestattet,  da  auch  so  die  große  Einheit 
des  Ganzen  partikularistisch  gestört  wäre;  er  sagt  deshalb  an 
einer  Stelle,  die  gerade  die  Bedeutung  seiner  Naturkenntnis 
für  seine  Dichtung  herausstellen  will:  ,,Ich  habe  niemals  die 
Natur  poetischer  Zwecke  wegen  betrachtet".  Man  könnte 
es  etwa  in  seinem  Sinne  die  Geordnetheit  des  Daseins 
nennen  (die  Natur  läßt  ,, Geordnetes  gedeihen"),  die  dessen  letzter, 
sich  selbst  genügender,  in  keinen  definitiveren  Wert  erst  aus- 
strahlender Sinn  ist.  Hat  die  Natur  dem  Menschen  die  Sinne  ge- 
geben, die  er  an  sich  vorfindet,  so  ordnet  er  sich  eben  mit  diesen 
und  ihrem  normalen,  durch  sie  selbst  vorgezeichneten  Gebrauche 
in  die  Einheit  des  Ganzen  ein.  Wesen,  die  das  Einheitsgebot  des 
Ganzen  mit  andrer  Organisation  erfüllen,  mögen  andres  und 
anders  anschauen;  aber  auch  sie  hätten  sich,  gerade  wie  der 
Mensch,  mit  den  gesunden  Funktionen  eben  dieser  Organisation 
zu  bescheiden  —  was  nicht  den  Verzicht  auf  ein  besseres  Wissen, 
das  man  ersehnen  könnte,  bedeutet,  da  gerade  nur  das  der  je- 
weiligen Wesensart  entsprechende  Anschauungsbild  diesen 
Wesen  den  Zugang  zu  der  kosmischen  Realität  öffnete;  hinüber- 
oder  heruntergreifend  verfehlt  es  die  Stelle,  an  der  es  zum  Ganzen, 


56  Urphänomen 

zum  Sein  außerhalb  seiner  in  Relation  steht.  Die  unmittelbare 
Anschauung,  von  der  naturgegebenen  Sinnlichkeit  allein  und 
rein  bestimmt,  liefert  uns  ,, Gestalten"  —  was  weder  die  kon- 
krete Analytik  der  Elementar  Wissenschaften,  noch  die  abstrakte 
Synthetik  der  Spekulation  tut.  Diese  beiden  müssen  ihm  nicht  nur 
als  irreführend,  sondern  —  das  gleiche  von  der  andern  Seite  gesehen 
—  als  u^piq  erscheinen,  als  unfromm,  weil  jene  Einheit  des 
Weltseins  bedrohend,  in  der  sich  jedes  Wesen  nur  durch  Aus- 
übung der  ihm  natürlichen  Fähigkeiten  erhalten  kann. 
Er  schreibt:  ,,Wie  sehr  mich  die  Howardsche  Wolkenbestimmung 
angezogen,  wie  sehr  mir  die  Formung  des  Formlosen,  ein  gesetz- 
licher Gestaltenwechsel  des  Unbegrenzten  erwünscht  sein  mußte, 
folgt  aus  meinem  ganzen  Bestreben  in  Wissenschaft  und  Kunst." 
Hier  also  beglückt  ihn  offenbar  jene  Gesetzlichkeit,  die  an 
der  unmittelbaren,  sinnlichen,  totalen  Gestalt  aufgezeigt  wurde, 
die  entdeckte  Norm  des  unzerlegt  dargebotenen  Naturbildes, 
die  kein  Zurückgehen  auf  die  unsinnlichen  Elemente  forderte. 
Ich  lasse  dahingestellt,  ob  man  nicht  selbst  unter  Anerkennung 
dieses  Apriori  unsren  natürlichen  Fähigkeiten  einen  weiteren 
Umfang  zusprechen  und  die  Schaffung  sogenannter  künstlicher 
Sinnesschärfungen  zu  ihnen  rechnen  könnte.  Goethe  hat  nun 
einmal  die  Grenze  an  der  ,, Gestalt"  gesetzt  —  an  die  Stelle  also, 
auf  die  sich  das  künstlerische  Interesse  richtet.  Indem  dies 
für  ihn  bedeutet,  daß  sich,  allem  Kleineren  und  allem  Größeren 
gegenüber,  gerade  hier  die  Anschaulichkeit  der  ,,Idee"  bietet, 
war  gewissermaßen  der  Beweis  geliefert,  daß  sich  in  dem  Un- 
mittelbaren der  sinnlichen  Gegebenheit  —  in  der  sich  ihm  freilich 
die  natürliche  Totalität  des  Menschen  äußerte  —  die  Wahrheit 
und  der  Sinn  des  objektiven  Daseins  überhaupt  erschloß.  ■ — 
Mit  wahrhaft  genialer  Synthetik  ist  an  den  Punkt,  wo  diese 
Forderungen  sich  treffen,  der  Begriff  des  ,,Urphänomens"  gesetzt. 
Denn  mit  ihm  ist,  was  man  als  Gesetz,  Sinn,  Absolutes  der 
Daseinsformen  bezeichnen  muß,  innerhalb  der  Ebene  der  Er- 
scheinungen selbst  aufgezeigt.  Das  Urphänomen  —  so  die  Ent- 
stehung der  Farben  aus  Hell  und  Dunkel,  die  rhythmische  Zu- 
und  Abnahme  der  Anziehungskraft  der  Erde  als  Ursache  des 


Das  angeschaute  Gesetz  57 

Witterungswechsels,  die  Entwicklung  der  Pflanzenorgane  aus 
der  Blattform,  der  Typus  der  Wirbeltiere  —  ist  der  reinste, 
schlechthin  typische  Fall  einer  Relation,  einer  Kombination, 
einer  Entwicklung  des  natürlichen  Daseins,  und  insofern 
einerseits  etwas  andres  als  das  gewöhnliche  Phänomen,  das  diese 
Grundform  in  trübenden  Mischungen  und  Ablenkungen  zu 
zeigen  pflegt,  andrerseits  aber  doch  eben  Erscheinung,  wenn 
auch  nur  in  geistiger  Schauung  gegeben,  gelegentlich  aber  doch 
,, irgendwo  dem  aufmerksamen  Beobachter  nackt  vor  die  Augen 
gestellt".  Wir  stellen  gewöhnlich  das  allgemeine  Gesetz  der 
Dinge  als  irgendwie  außerhalb  der  Dinge  gelegen  vor:  teils 
objektiv,  indem  seine  zeit-  und  raumlose  Gültigkeit  es  von  dem 
Zufall  seiner  materialen  Verwirklichung  in  Zeit  und  Raum  un- 
abhängig macht,  teils  subjektiv,  indem  es  ausschließlich  Sache 
des  Denkens  ist  und  unsren  sinnlichen  Energien,  die  immer  nur 
das  Einzelne,  niemals  das  Allgemeine  wahrnehmen  können, 
sich  nicht  darstellt.  Diese  Getrenntheit  will  der  Begriff  des 
Urphänomens  überwinden:  es  ist  das  zeitlose  Gesetz  selbst  in 
zeitlicher  Anschauung,  das  unmittelbar  in  Einzelform  sich 
offenbarende  Allgemeine.  Weil  dies  besteht,  kann  er  sagen: 
,,Das  Höchste  wäre,  zu  begreifen,  daß  alles  Faktische  schon 
Theorie  ist.  Die  Bläue  des  Himmels  offenbart  uns  das  Grund- 
gesetz der  Chromatik.  Man  suche  nur  nichts  hinter  den  Phäno- 
menen; sie  selbst  sind  die  Lehre."  Die  Grundintention  des 
Goetheschen  Geistes  vollzieht  damit  eine  sehr  merkwürdige 
Wendung  des  Erkenntnisproblems.  Während  aller  Realismus 
sonst  von  der  theoretischen  Erkenntnis  als  dem  Ersten  und 
Unmittelbaren  ausgeht  und  ihr  die  Fähigkeit  zuspricht,  das  objek- 
tive Dasein  aufzunehmen,  abzubilden,  getreu  auszudrücken, 
wird  der  Fußpunkt  hier  wirklich  im  Objekt  selbst  genommen; 
das  Ineinander-Aufgegangensein  zwischen  ihm  und  dem  Er- 
kenntnisgedanken ist  keine  erkenntnistheoretische,  sondern  eine 
metaphysische  Tatsache.  Nicht  in  dem  Spinozistischen  Sinne, 
als  wären  das  äußere  Ding  und  sein  theoretisches  Äquivalent  zwei 
Seiten  oder  Qualitäten  eines  einheitlichen  Absoluten;  denn  hier 
haben  beide  Momente  einen  abstrakten,  unsinnlichen  Charakter, 


58  Weltzusammenhang  imd  Erkennen 

während  für  Goethe  die  sinnliche  Gestalt  schon,  in  unmittelbarer 
Einheit,  geistiger  Erkenntnisinhalt  ist.  Diesen  letzteren  für  sich 
stellt  unsre  an  Kant  orientierte  Denkgewohnheit  stets  voran 
und  gewinnt  erst  von  ihm  aus  ein  entweder  einheitliches  oder 
diskrepantes  Verhältnis  zu  den  Dingen;  darum  ist  es  uns  schwer, 
uns  in  die  Goethesche  Attitüde  hineinzudenken,  für  die  nicht 
das  Erkennen,  sondern  der  Weltzusammenhang  das  Erste  und 
Letzte  ist.  Dieser  lebt  unmittelbar  an  den  Phänomenen  und 
alles  ,, Erkenntnisvermögen"  eines  jeweiligen  Subjekts  ist  ihm 
so  an-  und  eingepaßt,  daß  es  keinen  Inhalt  für  sich  jenseits  der 
ihm  gegebenen  Erscheinungen  suchen  kann;  sondern  indem  es  das 
Phänomen  aufnimmt,  das  in  der  Sinnlichkeit,  d.  h.  in  der  un- 
mittelbaren Relation  von  Subjekt  und  Objekt  entsteht,  hat  es 
alles,  was  für  uns  Wahrheit,  Theorie,  Gesetz,  Idee  sein  kann. 
Mit  unsern  gewöhnlichen  erkenntnistheoretischen  Voraus- 
setzungen und  Kategorien  ist  dies  nicht  zu  deuten,  sondern  es 
fordert,  um  begriffen  (gleichviel,  ob  dann  gebilligt  oder  ver- 
worfen) zu  werden,  eine  von  jenen  völlig  abweichende  Grund- 
position. Daß  die  erfahrene  Gestalt,  das  sinnliche  Phänomen, 
wenn  nur  in  seiner  Reinheit  und  Ursprünglichkeit,  zuhöchst  als  Ur- 
phänomen  erfaßt,  an  und  mit  sich  selbst  schon  das  ideelle  Gesetz, 
die  Form  des  Begreifens  und  Erkennens  darbietet  —  das  ist 
selbst  ein  Urphänomen,  über  das  innerhalb  dieser  Weltanschauung 
nicht  hinausgefragt  werden  kann.  Die  Schwierigkeit,  diese  In- 
einsbildung  von  Sinnlichem  und  Intellektuellem  wirklich  von 
innen  her  zu  verstehen,  hat  Goethe  gerade  durch  die  Selbst- 
verständlichkeit gesteigert,  mit  der  er  sie  empfand;  so  daß  er 
den  gleichen  Ausdruck  für  jeden  Teil  dieser  Synthese  ohne  weiteres 
in  dem  gewöhnlichen  Sinne  und  in  seinem  besonderen,  prägnanten 
gebrauchte.  ,,Was  uns  so  sehr  irre  macht,"  sagt  er  einmal, 
,,wenn  wir  die  Idee  in  der  Erscheinung  anerkennen  sollen,  ist, 
daß  sie  oft  und  gewöhnlich  den  Sinnen  widerspricht.  —  Die 
Metamorphose  der  Pflanzen  widerspricht  unsern  Sinnen."  Für 
den  allgemeinen  Sprachgebrauch  ist  doch  die  Erscheinung  das- 
jenige, was  innerhalb  und  vermittels  der  Sinne  besteht;  daß  also 
in  der  Erscheinung  etwas  gesehen  werden  soll,  was  den 


Der  ganze  Mensch  als  Anschauender  59 

Sinnen  widerspricht,  erscheint  ganz  unsinnig.  Und  gerade 
die  Metamorphose  der  Pflanzen  verteidigte  er  gegen  Schiller,  der 
sie  in  das  Ideenreich  verweisen  wollte,  als  das  mit  Augen  Sicht- 
bare. Begreiflich  ist  alles  dies  nur  dadurch,  daß  ihm,  als  dem 
Künstler,  die  Sinnlichkeit  eben  von  vornherein  mehr  war,  als 
sie  dem  Sprachgebrauch  ist,  daß  in  ihr  das  intellektuelle  Vermögen 
wirkte,  daß  er  mit  den  ,, Augen  des  Geistes"  ,, anschaute".  Den 
Sinnen  in  jener  gewöhnlichen  Bedeutung  widerspricht  das 
Ideelle,  es  muß  und  soll  ihnen  widersprechen,  weil  es  auf  die 
Seinstotalität  geht  und  jene  Sinnlichkeit  ein  ganz  partielles,  so- 
zusagen künstlich  isoliertes  Vermögen  ist,  das  also  auch  nur  eine 
Einseitigkeit  und  Abgestücktheit  des  Wirklichen  erfassen  kann. 
Wo  der  ganze  Mensch  anschaut,  jenseits  der  Goethe  so 
verhaßten  Getrenntheit  der  ,, oberen  und  unteren  Seelenver- 
mögen", da  fällt  der  Widerspruch  fort  und  die  volle  Wirklich- 
keit, d.  h.  die  in  der  Erscheinung  offenbarte  Idee  wird  mit  den 
Sinnen  erschaut,  die  jetzt  nur  der  Kanal  für  die  ungeteilte  Le- 
bensströmung sind. 

Daß  auf  diese  Weise  jene  Harmonie  von  Bewußtsein  und  Sein 
erreicht  wird,  ist  Gegenstück  und  Ergänzung  des  früher  darge- 
stellten Grundmotivs  des  Erkennens:  daß  der  Träger  der 
Wahrheit  an  der  ,, wahren"  Vorstellung  im  tiefsten  Grunde  nicht 
der  Inhalt  in  seiner  ideellen  Abstraktheit  und  logischen  Verant- 
wortung ist,  sondern  die  Rolle,  die  diese  Vorstellung  als  Lebens- 
moment, als  Prozeß,  als  tatsächliche  Relation  zwischen  Mensch 
und  Welt  spielt.  Hier  stehen  wir  an  einer  äußersten  Grenze  der 
Goetheschen  Prinzipienbildung,  die  deshalb  so  schwer  darstellbar 
ist,  weil  er  gerade  diese  letzten  Dinge  nur  fragmentarisch,  oft  nur 
andeutend  ausgesprochen  hat  und  in  Sonderfärbung  durch  den  je- 
weiligen Gegenstand,  die  jeweilige  Stimmung,  die  die  Äußerung  her- 
vorriefen. Es  handelt  sich  schließlich  immer  um  das  große  Motiv, 
das  man,  etwas  verschwimmend  und  unzähliger  Modifikationen 
bedürftig,  als  die  Identität  von  Wirklichkeit  und  Wert  bezeichnen 
muß  —  „der  Begriff  vom  Dasein  und  der  Vollkommenheit  ist 
ein  und  eben  derselbe",  heißt  es  in  einer  kleinen  Studie  aus  der 
Mitte  seiner  dreißiger  Jahre.    Auch  der  theoretische  Wert  bat 


60  Wirklichkeit  und  Wert 

seine  letzte,  prinzipielle  Begründung  nicht  in  den  logisch-sach- 
lichen Verhältnissen  der  sozusagen  freischwebenden  Inhalte,  die 
ein  abstraktes  Wahrheitsrecht  unabhängig  von  aller  seelischen 
—  ebenso  wie  physischen  —  Verwirklichung  einschlössen;  son- 
dern gerade  aus  der  Wirklichkeit  ihres  Vorgestelltwerdens  und 
aus  dem  realen  Verhältnis  von  Einheitlichkeit  und  Förderlich- 
keit zwischen  dem  Subjekt  und  der  Welt,  das  sich  durch  sie 
ausdrückt  oder  herstellt,  entsteht  ihr  Wahrheitswert,  oder  viel- 
mehr, das  i  s  t  ihr  Wahrheitswert,  bzw.  sein  Gegenteil.  Wie  es 
also  auf  der  Seite  des  subjektiven  Vorstellens  eine  Wirklichkeit 
ist,  die  unmittelbar  auch  Wahrheitswert  ist  —  so  sind  auf  der 
Seite  des  Objekts  die  Phänomene  selbst  ,,die  Lehre".  Nur  das 
Reine,  das  Urphänomen  an  ihnen  braucht  un verworren  ange- 
schaut zu  werden,  damit  sie  die  Wahrheit  selbst  seien.  Wie  es 
im  Subjekt  der  Lebens  p  r  o  z  e  ß  ist,  der  seine  Inhalte  erzeugt 
und  ihnen  ausschließlich  aus  seiner  Kraft ,  Geordnetheit, 
Weltrelation  heraus  auch  ihre  theoretische  Bedeutung  gibt,  die 
sie  aus  keiner  bloß  ideellen,  lebensfreien  Norm  ziehen  könnten  — 
so  schafft  der  rastlose  Prozeß  des  Daseins,  jene  kontinuierliche 
Dynamik,  die  sich  sogar  als  ,, ewige  Mobilität  aller  (orga- 
nischen) Formen"  äußert,  die  einzelnen  als  Daseinsinhalte  da- 
stehenden Phänomene.  Darum  ist  das  Gesetz,  die  Idee,  die  dem 
abstrahierenden  Verstände  gewissermaßen  jenseits  dieser  zu 
stehen  und  sie  in  das  zufällige  Dasein  zu  entlassen  scheint,  i  n 
ihnen,  a  n  ihnen  selbst  sichtbar.  Jedes  Ding  ist  nur  ein  Puls- 
schlag des  Welt  prozesses,  und  offenbart  deshalb,  richtig 
beschaut,  dessen  Totalität  von  Wirklichkeit  und  Wert,  Sinnen- 
bild und  Idee. 

Dies  hat  die  wichtige  Folge:  wenn  in  der  richtig  aufgefaßten, 
die  Wahrheit  bedeutenden  Sinneserscheinung  oder  Gestalt  die 
Idee  wohnt  und  anschaulich  ist  —  so  ist  also  diejenige  Erscheinung 
nicht  wahr,  sondern  muß  ein  Trugbild  sein,  in  der  die  Idee  nicht 
aufzeigbar  ist,  die  deren  Forderungen  nicht  genügt!  Ist  Wirk- 
lichkeit und  Wert  im  metaphysischen  Grunde  eines,  so  kann 
Wirklichkeit  nicht  sein,  wo  nicht  Wert  ist.  Der  Realismus  des 
Goetheschen  Weltbildes,   auf  den  er  so   entschiednen  Ton  legt, 


Allgemeines  Bild  seiner  Existenz  61 

die  strenge  Treue  gegenüber  dem  gegebenen  Objekt,  die  er  fordert, 
ist  also  dem  ,, Idealismus",  der  Sichtbarkeit  oder,  in  metaphysi- 
schem Bilde,  der  Wirksamkeit  der  Idee  so  wenig  entgegengesetzt, 
daß  vielmehr  die  herauserkannte  Idee  uns  erst  sicher  macht,  die 
objektive  Wahrheit  der  Erscheinung  ergriffen  zu  haben. 

Hier  offenbart  sich  von  neuem,  was  man  das  metaphysische 
Glück  seiner  Existenz  nennen  könnte:  die  Harmonie  oder  Paralleli- 
tät des  bewußten  persönlichen  Daseins  und  Sich- Entwickeins  mit 
dem  sachlichen  Bilde  der  Struktur  der  Dinge.  Wie  wenige  Men- 
schen der  höchsten  geistig-sittlichen  Ordnung  hat  er  sich  der  Ge- 
gebenheit seiner  Kräfte  und  Triebe,  der  Realität  seines  Lebens- 
prozesses überlassen,  in  dem  tiefen  Vertrauen,  daß  gerade  so 
dieser  Prozeß  seine  wertvollsten  Inhalte  erzeugen,  gerade  so  den 
Forderungen  der  Idee  genügt  würde.  Jene  Lebensgestaltung 
aus  der  Realität  der  natürlichen  Kräfte  heraus  schloß  freilich 
genug  Arbeitsmühen,  Selbstüberwindung,  Rechenschaft  über  sich 
ein:  ,,was  andern  Menschen  gemein  und  leicht  ist,  wird  mir 
sauer  gemacht",  schreibt  er  mit  37  Jahren.  Aber  aller  innere 
Kampf,  alles  Sich-über-sich-selbst-Hinausringen  war  eben  von 
vornherein  in  der  übergreifenden  Einheit  dieser  Natur  und  ihrer 
Triebgegebenheit  beschlossen.  Nie  hat  man  bei  ihm  den  Eindruck, 
den  die  individuelle  Existenz  sonst  oft  bietet:  als  wäre  sie  nur  der 
Schauplatz,  auf  dem  das  ,, eigentliche"  Ich  sich  im  Kampf,  Aus- 
gleichung, Über-  und  Unterordnung  mit  Mächten  wertvoller  oder 
gegenwertiger  Art  befindet.  Die  Einheit  seines  Lebensprozesses, 
die  dessen  Spannungen  und  Gegensätzlichkeiten  nicht  eigentlich 
überwand,  sondern  von  vornherein  als  ihre  Elemente  und  Sta- 
dien in  sich  begriff,  war  sich  ihres  Wertes  in  dem  Maße  bewußt, 
in  dem  sie  es  ihrer  Wirklichkeit  war.  Aber  auch  dieser  Wert, 
diese  mit  der  Realität  seines  Lebens  zusammenfallende  Idealität 
war  keineswegs  eine  widerspruchslose  und  schattenfreie  Wert- 
gleichheit aller  Momente.  Sondern  wie  sich  in  die  Einheit  seines 
Lebensprozesses  unzählige  Zweiheiten  und  Widersprüche  ein- 
bauten, so  übergreift  ein  sozusagen  dem  Leben  immanenter  Wert 
alle  seine  wertmäßigen  Zweifelhaftigkeiten  und  Kontraideali- 
täten —  wie  es  etwa  schon  in  der  Tagebuchnotiz  des  Einund- 


62  Über-Wert 

dreißigjährigen  liegt:  ,,Ich  habe  so  manches  getan,  was  ich 
jetzt  nicht  möchte  getan  haben,  und  doch,  wenn's  nicht  ge- 
schehen wäre,  würde  unentbehrliches  Gutes  nicht  entstanden 
sein."  Und  diese  Einheit  subjektiver  Vollendung,  in  die  der 
menschliche  Weg  die  positiven  wie  die  negativen  Wertpunkte 
einbezieht,  spricht  er  ganz  allgemein  ein  Vierteljahrhundert  später 
aus:  ,,Bei  strenger  Prüfung  meines  eigenen  und  fremden  Ganges 
in  Leben  und  Kunst  fand  ich  oft,  daß  das,  was  man  mit  Recht 
ein  falsches  Streben  nennen  kann,  für  das  Individuum  ein  ganz 
unentbehrlicher  Umweg  zum  Ziele  sei.  Jede  Rückkehr  vom  Irr- 
tum bildet  mächtig  den  Menschen  im  einzelnen  und  ganzen  aus." 
Ich  glaube,  daß  eine  viel  mißbrauchte  Wortbildung  diese  ent- 
scheidende Anschauung  seines  eigenen  Lebens  allerdings  begriff- 
lich formuliert:  als  Über-Wert  empfand  er  die  Idee  und 
Wirklichkeit  seines  Daseins  —  d.  h.  als  ein  Wertvolles,  Bedeut- 
sames, Richtiges,  in  einem  absoluten  Sinne,  mit  dem  es  sich 
über  den  Gegensatz  in  den  Relationen  von  Gut  und  Schlecht, 
Hoch  und  Niedrig,  Gelingen  und  Verfehlen  erhebt.  Wie  der 
Prozeß  des  wirklichen  Lebens  durch  alle  diese  Gegensätze 
flutet  und  seine  Einheit  sie  alle  trägt  —  so  hat  ihm  das  Leben 
offenbar  einen  Wert,  der  jenseits  ihrer,  d.  h.  jenseits  aller  In- 
halte steht,  die  nur  durch  Abstand,  Unterschiedenheit,  Rela- 
tivität als  Werte  oder  als  deren  Gegenteile  empfunden  und 
feststellbar  sind.  Wir  verstehen  gewöhnlich  Wert  nur  in  diesem 
relativistischen  Sinne  (worüber  ich,  auch  in  Hinsicht  der  als 
,, absolut"  geltenden  Werte,  an  andrer  Stelle  spreche),  und  zwar 
vielleicht,  weil  wir  ihn  nur  an  die  Inhalte  des  Lebens,  die 
verselbständigten,  gegeneinanderstehenden,  je  als  geschlossene 
Einheiten  behandelten  knüpfen;  einen  ganz  anderen  Sinn  können 
wir  seinem  Begriffe  verbinden,  wenn  wir  ihn  an  den  Prozeß 
des  Lebens  in  seiner  kontinuierlichen  Einheit  wenden,  der  nichts 
Relatives  ist,  weil  er  die  funktionelle  Gesamtheit  des  Ich  ist, 
die  sozusagen  nichts  sich  gegenüber  hat,  sondern  unser  Totales 
und  Absolutes  ist.  Je  mehr  wir  das  Leben  so  empfinden,  desto 
mehr  kommt  ihm  eine  Bedeutung,  ein  ,,Wert"  zu,  den  wir  mit 
unsern,  an  lauter  Relativitäten  großgewordenen  Kategorien  nur 


Idee  und  Ideen  6S 

sehr  unvollkommen  bezeichnen  können;  ich  nannte  ihn  Über- 
wert,  nur  um  sein  Freisein  von  der  Relativitätsbedingtheit  der 
einzelnen  Werte  zu  charakterisieren.  Innerhalb  dieser 
Kategorie  gibt  es  natürlich  sehr  verschiedene  Grade,  die  aber 
eigentlich  keine  Relativität  bedeuten,  da  jeder  an  seiner  Stelle 
etwas  Absolutes  ist.  Nur  die  Unterschiede  der  seelischen  ,,Ente- 
lechien",  von  denen  Goethe  in  geheimnisvoller  Weise  spricht, 
und  auf  die  hin  die  verschiedenen  Seelen  in  verschiedenem  Maße 
unsterblich  sind,  bedeuten  die  Grade  jenes  Überwertes,  der  dem 
individuellen  Leben  als  solchem  und  gelöst  von  allen  Einzel- 
bestimmtheiten seiner  Inhalte  zukommt.  Er  selbst  hatte  offenbar 
das  Selbstgefühl  einer  ,,Entelechie  mächtiger  Art";  die  Einheit 
seiner  Existenz  war  für  ihn,  über  alle  ihre  Zerspaltenheiten 
und  alle  Wertschwankungen  ihrer  Einzelinhalte  hinweg,  mit 
ihrem  Wert  identisch,  und  so  hatte  er  im  Bewußtsein  seiner 
selbst  das  Prototyp  seines  Wertbewußtseins,  das  auf  der  Identität 
von  Wirklichkeit  und  Wert  ruhte.  Was  sich  freilich  dieser  Identität 
als  Hemmung  und  Gegenrichtung  vorbaut,  wird  das  nächste 
Kapitel  behandeln. 

Aus  dieser  höchsten  strukturellen  Voraussetzung  seines  Da- 
seinsbildes v/ar  es  zwar  begreiflich,  daß  er  ,,die  Idee"  als  ,, einzig" 
bezeichnete  und  sich  gegen  den  Gebrauch  des  Plurals  erklärte,  und' 
zwar  gerade  im  Zusammenhang  des  Satzes:  ,, Alles  was  wir  ge- 
wahr werden  und  wovon  wir  reden  können,  sind  nur  Mani- 
festationen der  Idee".  Dennoch  glaube  ich  mich  berechtigt,  den. 
Begriff  in  einem  etwas  weiteren  Sinne  nehmend,  von  einer  Mehr- 
zahl von  Ideen  zu  sprechen,  die  Goethe  als  die  Formbildner  der. 
Wirklichkeit  ansieht.  Es  sind  gleichsam  die  Spezifikationen  der 
,,Idee",  oder  die  von  ihr  ausgehenden  Gestaltungsmöglichkeiten 
des  einzelnen,  die  zwischen  ihr  und  diesem  vermitteln,  dasjenige 
etwa,  was  er  selbst  als  die  ,, großen  Maximen"  der  Naturbetrach- 
tung bezeichnet;  mit  der  schon  erwähnten  Konsequenz,  daß 
ihm  die  Wahrheit  der  Erkenntnis,  die  Realität  der  Erscheinung 
erst  dann  gewährleistet  scheint,  wenn  ihm  diese  Ideen  anschaulich, 
geworden  sind. 

Ich  beginne  mit  der  Idee  der  Schönheit.   Man  hat  jetzt    wahr-. 


64  Schönheit 

scheinlich  gemacht,  daß  Shaftesburys  Satz:  ,,jede  Schönheit 
ist  Wahrheit"  —  von  früh  an  einen  entscheidenden  Einfluß  auf 
Goethe  gehabt  habe;  zugleich  freilich  wird  behauptet,  daß  er 
seit  der  Verbindung  mit  Schiller  davon  wieder  abgerückt  sei. 
Ich  möchte  indes  glauben,  daß  er  jedenfalls  die  Umkehrung 
dieses  Satzes:  jede  Wahrheit  ist  Schönheit  —  in  allen  Perioden, 
wenn  auch  nicht  in  allen  Stunden,  festgehalten  hat  und  daß 
sie  schon  vor  der  Bekanntschaft  mit  Shaftesbury  in  ihm  domi- 
nierte. Wenn  alle  Wahrheit  Schönheit  ist,  so  folgt,  daß,  wo  wir 
keine  Schönheit  mehr  zu  entdecken  vermögen,  wir  jedenfalls  nicht 
auf  dem  Wege  zur  Wahrheit  sind;  und  daß  wir,  wo  unsere  Er- 
kenntnisversuche die  Schönheit  der  Dinge  zerstören ,  uns 
eben  jenen  Weg  selbst  verbauen.  Ein  kleines  Gedicht,  das  noch 
auf  seine  Leipziger  Studentenzeit  zurückgeht,  offenbart  dies 
eigentlich  schon  mit  voller  Deutlichkeit.  Er  entzückt  sich  an 
den  Farben  einer  Libelle,  will  sie  in  der  Nähe  sehen,  verfolgt  und 
faßt  sie  und  sieht  —  ,,ein  traurig,  dunkles  Blau".  ,,So  geht  es 
dir,  Zergliedrer  deiner  Freuden".  Es  ist  ersichtlich  nicht  seine 
Meinung,  daß  jenes  erste  erfreuende  Bild  ein  Schein  und  Trug 
gewesen  sei,  den  die  nun  gewonnene  Wahrheit  zerstört  hätte. 
Sondern  jene  beglückende  Farbigkeit  ist  echt  und  wahr  gewesen  — 
es  ist  nicht  eine  Wahrheit  gewonnen  und  darüber  eine  Schönheit 
verloren,  sondern  eine  Schönheit  zerstört  und  eben  damit  die 
Wahrheit  verloren  worden.  Das  ,, Zergliedern  der  Freuden"  ist 
nicht  die  Zerstörung  einer  Illusion,  sondern  die  Tötung  eines 
real  Lebendigen.  Seine  Polemik  gegen  Newton  wurzelt  mindestens 
zum  Teil  in  der  Aversion  gegen  das  Hindurchquälen  der  Spektra 
durch  viele  enge  Spalten  und  Gläser,  das  deren  unmittelbar 
ästhetisches  Bild  zerreißt  —  während  er  die  Versuche  im  Sonnen- 
schein, unter  blauem  Himmel,  als  besonders  beweisend  preist. 
Die  Ablehnung  der  Naturerkenntnis  mittels  Hebeln  und  Schrau- 
ben entspricht  sicher  nicht  nur  dem  anderwärts  erörterten  er- 
kenntnistheoretischen Motive :  daß  die  der  menschlichen  Natur 
angemessene  Erkenntnis  auch  nur  durch  ihre  natürlichen 
Hilfsmittel  zu  gewinnen  sei,  sondern  auch  der  Scheu  vor  der 
Zerstörung  ihres  ästhetischen  Bildes  durch  solche  Mittel;   wie 


Schönheit  als  Kriteriiun  der  Wirklichkeit  65 

er  sich  denn  auch  die  Anerkennung  der  Geognosie  nur  schwer 
abringt,  da  sie  „doch  den  Eindruck  einer  schönen  ( !)  Erdober- 
fläche vor  dem  Anschauen  des  Geistes  zerstückelt".  Der,, Schleier", 
dessen  sich  Natur  nicht  berauben  läßt,  ist  von  demselben  Gewebe, 
wie  der  Schleier  der  Dichtung,  den  er  ja  ,,aus  der  Hand  der 
Wahrheit"  nimmt.  Sogar  von  dem  Mathematiker  sagt  er, 
er  wäre  (als  solcher)  nur  insofern  vollkommen,  ,,als  er  das 
Schöne  des  Wahren  in  sich  empfindet".  Nur  liegt  in  alledem  nicht, 
wie  man  es  allzu  einfach  gedeutet  hat,  die  bloße  sinnliche  Ver- 
führbarkeit  des  Künstlers,  ein  innerhalb  des  Erkenntnisinteresses 
illegitimer  Eudämonismus,  nicht  die  Beschränkung  auf  den 
,, schönen  Schein",  der,  gegen  alle  Wesenheit  und  Objektivität 
gleichgültig,  seine  Bedeutung  und  Geschlossenheit  nur  nach  den 
Gesetzen  subjektiver  Befriedigung  gewönne,  da  er  doch  die  natur- 
wissenschaftlich ergreifbaren  Elemente  und  Vorgänge  überspränge; 
vielmehr  die  tiefe  metaphysische  Überzeugung,  daß  alle  Wirk- 
lichkeit von  der  Idee  getragen  ist  und  daß  die  Sichtbarkeit  der 
Idee  eben  Schönheit  ist.  Wo  diese  vernichtet  ist,  da  ist  also  die 
Garantie  für  Wirklichkeit  verschwunden,  und  nur  ein  Zerr- 
und Scheinbild  steht  da.  Es  ist  also  nicht  das  Haften  am  Schein, 
das  ihm  die  Schönheit  als  die  für  das  Erkenntnisverfahren  zu 
respektierende  Grenze  setzt;  sondern,  auf  der  Basis  jener  Über- 
zeugung, gerade  das  Bedürfnis  nach  einem  objektiven  Kriterium, 
das  in  der  Fülle  der  möglichen  Aspekte,  Zerlegungen,  Anordnungen 
das  Symptom,  noch  Wirklichkeit  vor  uns  zu  haben,  abgebe.  Die 
Erfassung  der  Dinge  in  der  Schönheit  und  Vollkommenheit  ist 
zugleich  —  nicht  im  Nebeneinander,  sondern  in  unmittelbarer 
Identität  —  das  Begreifen  ihres  tiefsten  Sinnes,  wie  die  künst- 
lerische Formung  der  menschlichen  Erscheinung  im  Porträt, 
vollzogen  nach  den  ästhetischen,  rein  auf  Zusammenhang  und 
Reiz  ihrer  Anschauungselemente  gerichteten  Forderungen,  zu- 
gleich die  wahrhafte,  unzweideutigste  Offenbarung  der  Seele  ist. 
Ganz  erschöpfend  drückt  er  selbst  es  aus:  ,,das  Schöne  ist  eine 
Manifestation  geheimer  Naturgesetze"  (die  für  die  gewöhnliche 
Betrachtung  gerade  mit  jenem,  als  der  Form  der  äußerlich 
resultierenden  Erscheinung,  überhaupt  nichts  zu  tun  haben),  „die 

S  i  m  m  e  1 ,  Goetke.  5 


66  Einheit 

uns  ohne  dessen  Erscheinung  ewig  wären  verborgen  geblieben". 
Das  zeigt  sich  doch  eben  allenthalben  als  das  Einzige  dieser 
Persönlichkeit,  daß  Erkenntnisse,  die  sich  aus  seiner  individuellen 
Eigenart  als  Ergänzung  oder  Ausdruck  seiner  Subjektivität  ent- 
wickeln, damit  den  Charakter  einer  objektiven  Weltgemäßheit 
besitzen.  Aus  dem  tiefen  Wissen  um  sein  eignes  Wesen  heraus 
schreibt  er:  ,,Es  ist  etwas  unbekanntes  Gesetzliches  im  Objekt, 
welches  dem  unbekannten  Gesetzlichen  im  Subjekt  entspricht". 
Nun  mag  der  (einzelne)  Inhalt  solcher  Erkenntnisse  annehmbar 
oder  irrig  sein;  aber  immer  haben  sie  die  Beziehung  zu  einem 
Zentrum,  die  Zusammengeschlossenheit  jedes  in  sich  und  mit 
allen  andern,  die  zum  Bilde  einer  Welt  gehört  und  sich  von 
der  Isoliertheit  und  inneren  Zufälligkeit,  den  Wesenszügen  des 
bloß  Subjektiven,  unbedingt  unterscheidet.  Die  Bestrebung 
seines  Lebens:  sein  Subjekt  zu  objektivieren  —  hat  nur  den 
Objektivitätscharakter  seines  von  innen  her  bestimmten  Daseins- 
bildes, die  Gabe  seines  Genius,  aufgenommen  und  weitergeführt. 
Die  Forderung,  Goethes  Weltbild  auszulegen,  kann  auf  psycho- 
logischem Wege  immer  nur  zur  Hälfte  gedeckt  werden. 

Nach  der  Denkrichtung  seiner  Zeit  wie  nach  seiner  ganz  per- 
sönlichen verband  sich  ihm  mit  der  Idee  der  Schönheit  aufs 
engste  die  der  Einheit.  Hier  ist  zunächst  das  Motiv  wirksam, 
daß  jedes  Kunstwerk,  im  Maße  seiner  Vollendung,  ein  Gegenbild 
des  Naturganzen  ist.  Das  höchste  Schöne  wäre  —  so  hebt  er 
in  einem  Exzerpt  aus  K.  Ph.  Moritz  hervor  —  der  als  Einheit 
umfaßte  Zusammenhang  der  Natur.  Die  Einheit  des  Schönen 
ist  nur  ein  andrer  Ausdruck  für  seine  Selbstgenügsamkeit,  d.  h. 
für  seine  von  Goethe  stets  verfochtene  Unabhängigkeit  von  allen 
,, Zwecken",  von  aller  Verflechtung  in  ein  anderweitiges  Ganzes, 
innerhalb  dessen  es  nur  Träger  oder  Mittel  wäre.  Das  Schöne 
muß  gemäß  seiner  Souveränität,  seiner  Freiheit  von  allem,  was 
außerhalb  seiner  liegt  —  einer  Freiheit,  die  ihr  absolutes  Urbild 
eben  nur  an  der  Totalität  des  Seins  überhaupt  besitzt  — ,  Ein- 
heit sein.  Nur  mit  diesem  Wort  ist  der  in  sich  zentrierende, 
völlig  in  sich  beschlossene  Zusammenhang  der  Teile  zu  bezeich- 
nen, mit  dem  das  Kunstwerk  sich  vollendet.    Gerade  aber    weil 


Sensualistische  Vereinzelung  67 

die  Einheitsidee  unmittelbar  mit  der  ästhetischen  Idee  zusammen- 
hängt, greift  sie,  auf  Grund  der  kosmischen  Bedeutimg  der 
letzteren,  über  sie  hinaus  und  wird  ihrerseits  ein  Kriterium  für 
die  Richtigkeit  der  Erkenntnisbilder.  Darauf  komme  ich  noch  zu 
sprechen  und  deute  jetzt  noch  auf  Verknüpfungen  der  Einheitsidee 
mit  anderen  wesentlichen  Motiven  der  Goetheschen  Geistigkeit  hin. 
Daß  er  die  Totalität  des  Seins  als  Einheit  denkt  und  jedes  Stück 
des  Daseins  gewissermaßen  als  eine  Vertretung  oder  VS/ieder- 
holung  dieser  Einheit  (,,Du  findest  nur  Bekanntes,  das  Ihm 
gleicht"  —  was  dann  seine  häufige  Maxime,  daß  die  Natur  im 
kleinen  genau  dasselbe  täte  wie  im  großen,  nur  aus  dem  Meta- 
physisch-Absoluten in  das  Empirisch-Relative  überträgt)  —  das 
setzt  von  neuem  die  auch  hier  festgehaltene  ,, Anschaulichkeit" 
in  entschiedenen  Gegensatz  zu  allem  Sensualismus.  Denn  aller 
Sensualismus  wird  in  seinem  tiefsten  Wesen  dadurch  bezeichnet, 
daß  er  am  einzelnen  haftet,  daß  er  das  Stück  nur  als  Stück  nimmt 
und  Synthese  nur  als  Zusammenfügung  des  Singulären,  das 
seiner  Natur  nach  auch  immer  ein  Singuläres  bleibt,  anerkennt, 
nicht  aber  als  Symbol  einer  inneren,  aller  Singularisierung  voran- 
gehenden Einheit.  Dies  ist  der  Grund,  aus  dem  die  sensualistische 
Tendenz  sich  gern  mit  praktisch-egoistischer  verbindet.  Denn 
was  wir  Egoismus  nennen  —  ich  habe  dies  an  andrer  Stelle  aus- 
geführt —  ist  immer  eine  Willensbeziehung  zu  irgendwelchen 
Einzelheiten  der  gegebnen  Welt.  Die  Vereinzelung,  in 
die  sich  das  egoistische  Subjekt  begiebt,  findet  —  keineswegs 
zufällig  —  ihr  Korrelat  in  der  Vereinzelung  seiner  Willensziele; 
man  kann  sagen,  daß  der  Egoismus  die  praktische  Welt  atomisiert 
—  gerade  wie  der  Sensualismus  die  theoretische.  Denn  ihm 
erscheint  das  synthetische  Vermögen  des  Geistes  als  etwas  Sub- 
jektives und  Sekundäres,  dem  in  der  objektiven  Ordnung  der 
Dinge  nichts  entspräche.  Dies  ist  der  genaue  Gegensatz  der 
Goetheschen  Geistesrichtung,  die  überall  Ganzheiten  und  Ein- 
heitlichkeiten zu  erfassen  strebt,  deren  pantheistische,  die  Welt- 
einheit irgendwie  in  sich  tragende  Grundstimmung  sich  so  in 
seine  Sinnlichkeit  fortsetzt,  daß  er  allenthalben  Verbundenheit, 
Zusammengehören,    Zusammenstimmen   erblickt.     Ihm   ist 

5* 


68  Einheit  des  Lebendigen 

das  Ganze  vor  den  Teilen,  und  höchst  charakteristisch  bezeichnet 
er  darum  das  In-Übereinstimmung- Bringen  des  Entgegenge- 
setzten einmal  als  ein  ,,W  i  e  d  e  r  vereinigen".  Im  Gegensatz 
zu  der  sensuellen  Anschauung,  die  nur  Einzelheiten  sieht,  war  die 
seine  die  intellektuelle,  die  nur  Einheiten  sieht. 

Ein  weiteres  Motiv,  das  die  Einheit  zum  Range  der  Idee  und 
zum  Wahrheitskriterium  der  erkannten  Gestalt  erhebt,  ist  ihre 
Bedeutung  für  das  Lebendige  als  solches.  Für  das  Organische 
ist  ihm  alle  äußere  Zusammengesetztheit,  die  es  nie  zu  einer  wirk- 
lichen Einheit  bringt,  das  schlechthin  feindliche  Prinzip.  Nur  aus 
Gründen  einer  praktischen  Empirie  sei  uns  ,,der  atomistische  Be- 
griff so  nah  und  bequem  zur  Hand;  deshalb  wir  uns  nicht  scheuen, 
ihn  auch  in  organischen  Fällen  anzuwenden".  ,,Um  mich  zu 
retten,  betrachte  ich  alle  Erscheinungen  als  unabhängig  von- 
einander und  suche  sie  gewaltsam  ( !)  zu  isolieren;  dann  betrachte 
ich  sie  als  Korrelate,  und  sie  verbinden  sich  zu  einem  entschiedenen 
Lebe  n."  Und  nur  dem  Ausdruck  nach  abweichend,  dem  Sinne 
nach  aber  gleich:  ,,Man  kann  das  Lebendige  zwar  in  Elemente 
zerlegen,  aber  aus  diesen  nicht  wieder  zusammenstellen  und  be- 
leben." Von  diesem  ,, wissenschaftlichen  Verlangen",  das  Äußere 
der  lebendigen  Bildungen  ,,im  Zusammenhange  zu  erfassen,  sie 
als  Andeutungen  des  Innern  aufzunehmen  und  so  das  Ganze 
in  der  Anschauung  gewissermaßen  zu  beherrschen",  sagt  er, 
daß  es  mit  dem  Kunsttriebe  ,,nah  zusammenhänge".  Als  eine  Be- 
stätigung des  Rechtes,  bei  der  Betrachtung  der  Organismen  von 
einer  Einheit  auszugehen,  aus  ihr  die  Teile  zu  entwickeln  und 
sie  wieder  auf  sie  zurückzuführen,  erscheint  es  ihm,  ,,daß  wir 
den  vollkommensten  Zustand  der  Gesundheit  nur  dadurch  ge- 
wahr werden,  daß  wir  die  Teile  unsres  Ganzen  nicht,  sondern  nur 
das  Ganze  empfinden".  Darum  muß  er  die  damals  verbreitete 
Zeugungstheorie  der  ,,Einschachtelung"  verwerfen,  da  diese  doch 
schließlich  auf  ein  Nebeneinander,  Außereinander  dessen,  was  in 
und  aus  einem  Lebewesen  entsteht,  herauskommt  —  während  die 
Entwicklung  ein  einheitlicher,  von  einem  einheitlichen  Leben  ge- 
triebener Prozeß  ist.  Diese  Einheit  als  Lebensform  hat  natürlich, 
nicht  den  Sinn  der  numerischen  Eins: 


Einheit  und  Mannigfaltigkeit  69 

„Kein  Lebendiges  ist  Eins 
Immer  ist's  ein  Vieles." 

Die  Einheit  hat  sozusagen  gar  keine  Funktion,  wenn  nicht 
ein  Vieles  da  ist,  das  sie  eben  vereinheitlicht  —  während  in  der 
unorganischen  Natur  (wenigstens  solange  man  nicht  die  Welt- 
totalität, sondern  Stück  für  Stück  betrachtet)  das  eine  einfach 
neben  dem  andern  liegt,  so  daß  hier  das  Dasein  ein  Vieles  ist 
und  bleibt;  wobei  dann  jedes  Stück  für  sich  als  „Eins"  gelten 
kann.  Umgekehrt  ist  der  Organismus  niemals  ein  solches  nu- 
merisches ,,Eins",  dagegen  ist  seine  Vielheit  funktionell  zur 
Einheit  verbunden  und  diese  Verbindung  ist  das  Leben.  Dies  ist 
die  Grundform,  kraft  deren  der  Organismus  für  Goethe  zum 
Symbol  der  Welt,  aber  auch,  wie  man  wohl  sagen  kann,  die  Welt 
zum  Symbol  des  Organismus  wird.  Niemand  ist  mit  größerer 
Gewißheit,  ja  Leidenschaft,  von  der  Einheit  des  Kosmos  über- 
zeugt gewesen;  niemand  aber  hat  sich  entschiedener  von  jenem 
Monismus  abgewendet,  für  den  alles  Mannigfaltig-Bunte,  alles 
differenziell  Gestaltete  und  Bewegte  in  die  dürre  und  starre  Be- 
grifflichkeit des ,  ,Eins*  *  verschwindet.  , ,  Durch  die  Alleinheitslehre" , 
sagt  er,  ,,wird  soviel  gewonnen  als  verloren,  und  zuletzt  bleibt 
das  so  tröstliche  als  untröstliche  Zero  übrig."  Wie  das  Lebendige, 
so  ist  ihm  die  Welt  nicht  Eins,  sondern  immer  ein  Vieles;  und 
wie  das  Lebendige,  so  ist  ihm  die  Welt  die  Einheit  dieses  Vielen. 
Er  hat  die  Welt  organisch  verstanden,  d.  h.  Idee  und  Wirksam- 
keit des  Ganzen  als  einer  Einheit  dominiert  ihm  so  sehr  alles 
Einzelne  und  die  Wechselwirksamkeiten  innerhalb  des  Einzelnen, 
wie  in  dem  Organismus  jeder  Teil  von  dem  Ganzen  bestimmt  wird 
und  das  Leben  jedes  Teiles  nichts  andres  ist,  als  das  in  ihm  sich 
vollziehende  Leben  des  Ganzen.  Tiefer  aber  greift  vielleicht  der 
eben  angedeutete  Ausdruck:  nicht  die  Welt  ist  ihm  wie  ein 
Organismus,  sondern  der  Organismus  ist  ihm  wie  die  Welt. 
An  der  Welt  hat  er  die  Existenzform  gefunden  oder  gefühlt, 
die  für  weniger  umfassende  Anschauungsweisen  nur  am  Organis- 
mus hervortritt;  dieser  erscheint  gewissermaßen  als  ein  Mikro- 
kosmos, als  eine  Analogie  in  engen  Maßen  für  die  Form,  in  der 
die  Welt  als  eine  Einheit  und  sozusagen  von  ihrem  metaphysischen 


70  Organismus  und  Kosmos 

Zentrum  aus  lebt.  Die  organische  Form,  d.  h.  das  Leben  des 
Teiles  aus  dem  Ganzen  heraus,  ist  ihm  der  Sinn  der  Welt  über- 
haupt. —  Es  zeigt  sich  damit  die  ganze  Roheit  und  Oberflächlich- 
keit der  Kritik,  die  die  großen  Denker  der  Vermenschlichung 
der  Welt,  eines  atavistischen  Fetischismus  beschuldigt,  wenn 
sie  die  Gesamtheit  des  Daseins  nach  den  Kategorien  des  Mensch- 
lichen, des  Lebendigen,  des  Seelischen  deuten.  Wenn  Schopen- 
hauer das  Wesen  der  Welt  als  Wille  bezeichnet,  so  macht  er 
damit  nicht  den  kleinen  Weltausschnitt  des  menschlichen  Willens 
zum  Maße  der  Unendlichkeit,  sondern  umgekehrt:  die  ge- 
heimnisvolle Beziehung  des  großen  Philosophen  wie  des  großen 
Künstlers  zur  Ganzheit  des  Seins  gibt  ihm  eine  bestimmte,  seiner 
seelischen  Artung  entsprechende  Empfindung  und  Deutung  dieses 
Ganzen;  und  erst  von  dieser  her  wird  der  Punkt  innerhalb  des 
seelisch-menschlichen  Daseins  ergriffen,  an  dem  solcher  Sinn 
des  Seins  sich  etwa  am  anschaulichsten  und  unzweideutigsten 
für  uns  darstelle.  Und  so  ist  Goethes  Bild  der  organischen  Welt- 
einheit nicht  eine  mythologisierende  Übertragung  der  empirischen 
Vorstellung  vom  Organismus  auf  das  Dasein  überhaupt,  sondern 
ein  Gefühl  oder  Bild  dieses  Daseins,  das  nur  am  Organismus  seine 
Aussprechbarkeit,  vielleicht  auch  nur  sein  Symbol  gewinnt.  Das 
rastlose  Werden,  das  stetige  Gestalten  und  Umgestalten,  wie  das 
Leben  allein  es  in  sich  anschaulich  macht,  ist  die  einzige  Ver- 
mittlung zwischen  den  Polen,  an  denen,  als  Weltprinzipien, 
Goethe  gleichmäßig  festhält:  an  der  Einheit  alles  Seins  und  an 
dem  Bestände  und  Werte  des  Individuellen.  Denn  nur  dadurch, 
daß  das  Eine  ein  Werdendes  ist,  kann  es  ein  Mannigfaltiges 
sein.  Was  das  einzelne  Leben  im  Nacheinander  entfaltet:  die 
kontinuierlich  wechselnde  Fülle  der  Zustände,  äußerlich  ganz 
divergente  Erscheinungen,  die  doch  nur  die  Stadien  einer  einzigen 
Entwicklung  sind  —  das  zeigt  das  Leben  überhaupt,  zeigt  der  Kosmos 
außerdem  im  Nebeneinander.  In  der  Vielheit  der  Erscheinungen, 
deren  jede  ihre  unverminderte  Besonderheit  bewahrt,  erblickt 
Goethe  —  mit  diesem  Paradoxon,  das  später  noch  seine  Ver- 
breiterung finden  wird,  kann  man  seine  Weltanschauung  wohl 
formulieren     —     das    zeitlose    Leben    der    kosmi- 


Einheit  als  Wahrheitsbeweis  71 

schenEinheit;  gibt  er  doch  selbst  dem  Letzten,  „Unschau- 
baren",  uns  für  immer  Problematischen  einmal  den  geheimnis- 
vollen Ausdruck:  ,,das  ewig  tätige  Leben  in  Ruhe  gedacht"! 
Der  Alleinheitslehre  Spinozas  konnte  es  nicht  gelingen,  der  Ein- 
heit und  der  Vielheit  gleichmäßig  und  synthetisch  gerecht  zu 
werden,  weil  ihm  der  Lebensbegriff  fehlte.  Daß  Spinoza  das 
Werden  dem  Sein  opferte,  ist  nur  ein  andrer  Ausdruck  dafür, 
daß  er  das  Viele  dem  Einen  opferte.  Er  fand  die  Brücke  nicht 
vom  Einen  zum  Vielen,  die  für  Goethe  in  dem  stetigen  Werden, 
Entfalten,  Umbilden  des  Lebensprozesses  lag.  Von  hier  aus  ge- 
sehen ist  der  Begriff  der  ,, Metamorphose"  nicht  mehr  ein  Einzel- 
erkenntnis über  die  Organismen,  sondern  die  verdeutlichende 
Steigerung  des  Lebensbegriffes.  „Soviel  getraue  ich  mir  zu  be- 
haupten, daß,  wenn  ein  organisches  Wesen  in  die  Erscheinung 
hervortritt,  Einheit  und  Freiheit  des  Bildungstriebes  ohne  den 
Begriff  der  Metamorphose  nicht  zu  fassen  sei."  Die  Metamor- 
phose erscheint  hier  also  als  ein  Synonymum  des  Lebens  überhaupt, 
das  die  Ausformung  eines  Einen  zum  Vielen,  d.  h.  zu  der  Frei- 
heit mannigfaltigster,  individualisierendster  Gestaltung  bedeutet. 
Dies  also  ist  ungefähr  Sinn  und  Grund,  mit  dem  die  Einheit 
als  fundamentale  Kategorie  des  Goetheschen  Weltbildes  auf- 
tritt, als  eine  Seite  der  ,,Idee",  deren  Manifestation  die  Er- 
scheinungswelt ist.  Und  weil  sie  ihm  der  Formungsgrund  des 
.Seins  ist,  ist  sie  auch  der  Rechtsgrund  der  Erkenntnis;  d.  h.  — 
und  damit  komme  ich  wieder  auf  unsern  Leitgedanken  zurück  — 
wo  das  Erkennen  die  Einheit  seines  Gegenstandes  zerstört,  hat 
es  sich  eben  dadurch  als  unrichtiges  erwiesen.  Die  Zerlegung  der 
Autorschaft  Homers  schien  er  zuerst,  unter  dem  Zwang  der 
Wolfschen  Beweise,  anzuerkennen;  sobald  sich  aber  auch  nur 
die  Möglichkeit  zeigte,  ihre  Einheit  wieder  herzustellen,  nahm 
er  sie  mit  Leidenschaft  auf  und  seine  Äußerungen  machen  es 
ganz  klar,  daß  ihm  die  Zerstückelung,  eben  weil  sie  Zerstückelung 
war,  als  irrig  erschien.  Noch  unter  dem  Eindruck  jener  Unter- 
suchungen Wolfs  formuliert  er  die  Einheit  Homers  zunächst  als 
etwas  ganz  Ideelles,  als  die  innere,  organisch-künstlerische 
Wertform: 


72  Zerstückelung 

Ewig  wird  er  euch  sein  der  Eine,  der  sich  in  Viele 
Teilt  und  einer  jedoch,  ewig  der  Einzige  bleibt. 

Findet  in  Einem  die  Vielen,  empfindet  d;e  Vielen  wie  Einen, 
Und  ihr  habt  den  Beginn,  habet  das  Ende  der  Kirnst. 

Allein  dieser  ästhetischen  Korrelation  von  Einheit  und  Viel- 
heit wird  jedenfalls  innerhalb  der  Realität  eher  durch  Einheit 
als  durch  Vielheit  der  Autorschaft  genügt.  Und  so  wird  ihm  die 
Einheit,  von  der  er  als  von  der  Idee,  der  immanenten  Forderung 
des  Kunstwerks,  nicht  lassen  kann,  zum  Kriterium  über  Wahrheit 
und  Falschheit  der  Wirklichkeitserkenntnis:  die  Wolfsche 
Hypothese  ist  ihm  falsch,  weil  sie  die  Einheit,  die  imperativische 
Kategorie  von  Sein  und  Kunst,  zerreißt.  —  Innerhalb  der  geo- 
logischen Theorien  widerstreben  ihm  vor  allem  die  vulkanistischen, 
die  die  Oberfläche  der  Erde  durch  plötzliche  Eruptionen,  ge- 
walttätige Katastrophen  erklären  wollen;  die  ruhigen  und  lang- 
samen Wirkungen,  von  der  Art,  wie  sie  täglich  zu  beobachten 
sind,  scheinen  ihm  auch  die  außerordentlichsten  Konfigurationen 
zustande  zu  bringen.  Sieht  man  die  Ausdrücke  an,  mit  denen 
er  den  Vulkanismus  charakterisiert:  gewaltsames  Aufregen, 
vermaledeite  Polterkammer  der  neuen  Weltschöpfung  usw.  — 
so  möchte  es  scheinen,  als  wäre  der  Haß  seiner  ,, konzilianten 
Natur"  gegen  alles  Gewalttätige,  Ungeordnete,  Abrupte  das 
letzte  Motiv  der  Polemik.  Dennoch  scheint  mir  etwas  noch 
Allgemeineres  hier  zum  Grunde  zu  liegen.  Goethe  war  keines- 
wegs, trotz  jener  Konzilianz,  eine  so  weichmütige  und  un- 
kräftige Natur,  daß  er  Kampf  und  Aufruhr  der  Elemente  im 
Weltbild  nicht  ertragen  hätte  und  sich  durch  persönliche  Anti- 
pathie dagegen  eine  objektive  Theorie  hätte  aufdrängen  lassen. 
Ich  glaube  vielmehr,  daß  das  entscheidende  Motiv  in  der  Fort- 
setzung jener  vorhin  angeführten  Äußerung  über  die  geognostische 
,, Zerstückelung  der  schönen  Erdoberfläche"  liegt:  jene  Erup- 
tionen und  Katastrophen  durchbrechen  ihm  das  einheit- 
liche Bild  der  Natur,  indem  sie  Kräfte  einführen,  die  gegen- 
über den  beobachtbaren,  alltäglichen,  fremd  und  dualistisch 
sind.  Nicht  die  Gewaltsamkeit  an  und  für  sich  erscheint  ihm  als 
Beweis  gegen  den  Vulkanismus,  sondern  daß  sie  gleichsam  in  der 


Künstlerische  Einheit  73 

Ordnung  der  Natur  nicht  vorgesehen  ist  und  ihre  Einheit  zerreißt. 
Und  zwar  die  Einheit  gemäß  seiner  Naturmetaphysik,  die  mor- 
phologische, an  der  ,, Gestalt"  bestehende.  Gegen  die  Einheit  der 
mechanistischen  Naturgesetzlichkeit  verstößt  der  Vulkanismus 
in  keiner  Weise.  Die  Bewegungen  der  kleinsten  Teile  folgen  der 
allgemeinen  Gesetzlichkeit  genau  so,  wenn  sie  ein  für  die  mensch- 
liche Auffassung  der  Phänomene  ruhiges,  normales,  kontinuier- 
liches Bild,  wie  wenn  sie  ein  uns  gewaltsam  und  durchrissen  vor- 
kommendes ergeben.  Wohl  aber  mochte  Goethe  die  Einheit 
der  anschaulichen  Form,  die  sich  sozusagen  mit  der  Ununter- 
brochenheit gleichmäßiger  Wirkungen  in  das  Nacheinander  über- 
trägt, als  zerstört  empfinden,  wenn  in  die  Konstanz  ruhiger,  uns 
dauernd  vor  Augen  liegender  Umformungen  ein  plötzliches 
Heben  und  Schleudern,  Brechen  und  Beben  hineinfahren  sollte. 
Der  scheinbar  unwesentliche  Unterschied  der  Begründungen  ist 
tatsächlich  von  tiefer  Bedeutung;  denn  er  führt  das  nur  sub- 
jektiv-gefühlsmäßige,  eigentlich  recht  anthropomorphe  Motiv 
der  Aversion  gegen  Gewalttätigkeit  und  Ungestüm  in  der  Natur 
auf  das  weltanschauungsmäßige  der  Einheit  des  Naturbildes 
zurück.  Die  Einheit  der  Natur  für  Goethe  ist  der  Einheit 
zu  vergleichen,  die  der  Maler  oder  Plastiker  unter  den  Ele- 
menten einer  menschlichen  Gestalt  herstellt,  im  Unterschied 
gegen  die  physiologische,  unter  der  Oberfläche  durch  den  Kreis^ 
lauf  und  das  Wechselspiel  der  kleinsten  Teile  hergestellte  Ein- 
heit. Die  künstlerische  Einheit  spielt  sich  rein  innerhalb  der 
Erscheinung  ab,  verbindet  deren  Teile  rein  nach  den  Forderungen 
der  Anschaulichkeit,  hat  nur  das  Interesse,  daß  das  Auge  des 
Beschauers  und  die  auf  dessen  Spuren  sich  in  das  Objekt  ein- 
fühlende Seele  die  Vorstellung  des  Zusammengehörens  der 
Oberflächenelemente  gewinne;  wie  diese  durch  den  realen,  aber 
unsichtbaren  Lebensprozeß  verbunden  sind,  geht  die  künst- 
lerische Einheitsforderung  nichts  an.  Sie  ist  relativ  subjektiv, 
aber  ihr  Gegenstand  ist  die  unmittelbar  empirische  Gegebenheit. 
Umgekehrt  ist  für  die  wissenschaftliche  Erkenntnis  der  Lebens- 
einheit ein  solches  Zusammenfassen  der  zufälligen  Oberflächen- 
teile ganz  bedeutungslos,  sie  ist  relativ  objektiv,  aber  sie  lebt  in 


74  „Erscheinung"  bei  Kant  und  bei  Goethe 

der  Überwindung  des  unmittelbaren  Augenscheines.  Das  Einzig- 
artige und  Entscheidende  der  Goetheschen  Weltanschauung  liegt 
darin,  daß  er  jene  morphologisch-künstlerische  Synthese  des 
Anschaulichen  zu  kosmisch-metaphysischer  Bedeutung  hebt. 
Nun  liegt  die  Oberfläche  der  Dinge  nicht  mehr  wie  eine  ablösbare 
Haut  oder  ein  vom  Subjekt  her  über  sie  hingestreuter  Schein 
ihrem  eigentlichen  Wesen,  ihrer  Wirklichkeitstiefe  auf;  sondern, 
wenn  sie  nur  recht  nach  der  Eigengesetzlichkeit  der  Idee  be- 
schaut wird,  ist  sie  die  volle  Offenbarung  des  Seins: 

,, Nichts  ist  drinnen,  nichts  ist  draußen, 
Denn  was  innen,  das  ist  außen." 

Es  ist  —  natürlich  nicht  mit  systematischer  Symmetrie  —  das 
Gegenstück  zu  der  ,,Kopernikanischen  Tat"  Kants.  An  die 
Stelle  der  herrschenden  philosophischen  Meinung:  die  empirische 
Erscheinung  habe  mit  dem  eigentlich  Wahren  des  Daseins 
nichts  zu  tun,  dieses  vielmehr  stelle  sich  nur  einem  unsinn- 
lichen Vernunftvermögen  —  setzte  Kant  die  Erkenntnis:  die 
Erscheinung  ist  die  volle  Wirklichkeit,  sie  ist  keineswegs  nur  die 
Schale  eines  transphänomenalen  Innern,  welches  vielmehr  ,,eine 
bloße  Grille"  ist;  sie  ist  freilich  auch  nicht  bloße  Sinnesimpression, 
sondern  die  Formgebung  durch  den  Verstand  bringt  sie  auch  als 
Erscheinung  erst  zustande.  Vielleicht  ist  diese  These  im  Grunde 
nicht  weniger  paradox  als  die  Goethesche:  daß  in  der  Erscheinung 
das  letzte  Wesen  der  Dinge  sich  unmittelbar  darstelle  —  sobald 
sie  nicht  bloße  Sinnesimpression  sei,  sondern  gemäß  den 
Forderungen  der  ,,Idee"  angeschaut  würde.  Für  Kant  ist  es  die 
intellektuelle  Formung,  die  der  Sinneserscheinung  die  volle,  von 
aller  transzendenten  Problematik  entlastete  Realität  gibt  —  für 
Goethe  die  künstlerische  Formung;  denn  so  kann  man  es  ja 
wohl  bezeichnen,  daß  die  Erscheinung  dem  klaren  Blick  in  sich 
selbst  die  Idee  entgegenträgt.  Wie  deshalb  für  Kant  diejenige 
Erscheinung  real  ist,  deren  sinnlich  gegebener  Inhalt  den  Kate- 
gorien des  Verstandes  entspricht,  so  erkennt  Goethe  nur  dasjenige 
Bild  als  im  höchsten  und  definitiven  Sinne  richtig  an,  dessen  sinn- 
liche Gegebenheit  den  Forderungen  der  Idee  genügt.  Darum  wird 
ihm  nun  diese  zum  Kriterium  der  Richtigkeit  einer  Vorstellungs- 


Einheit  mit  sich   und  mit  cmdem  75 

weise,  und  darum  erkennt  er,  aus  der  Idee  der  Einheit  heraus, 
weder  die  Vielheit  der  Homeriden  noch  den  Vulkanismus  an  — 
nicht  weil  diese  Bilder  seinem  ästhetischen  Gefühl  unangenehm 
wären,  sondern  weil,  auf  Grund  seiner  metaphysischen  Über- 
zeugung von  der  absoluten  Realität  der  ideengeformten  Erschei- 
nung, die  ästhetische  Unzulänglichkeit  jener  Erscheinungen  ihm 
das  Signal  für  ihre  theoretische,  ja,  mit  dieser  identisch  ist.  In- 
dem die  Erscheinung  in  ihrer  anschaulichen  Wirklichkeit  als 
in  sich  einheitlich  gelten  kann,  ist  sie  auch  mit  der  Idee  einheit- 
lich. Jenes  merkwürdige,  anderwärts  behandelte  Wort:  ,,Wer 
mit  sich  einig  ist,  ist  es  auch  mit  andern"  —  zeigt  sich  damit  als 
ein  Fall  einer  ganz  allgemeinen  metaphysischen  Maxime.  Die 
Einheit  der  Erscheinung  in  sich  selbst  bedeutet  eine  Vollendung 
ihrer,  mit  der  sie  gleichsam  über  sich  hinausgreift  und  ihre  Ein- 
heit mit  den  Realitäten  oder  Idealitäten  außerhalb  ihrer  selbst 
offenbart.  Hier  liegt  eine,  wenn  auch  entfernte  Verwandtschaft 
mit  Goethes  merkwürdiger  Äußerung  vor:  ,, Alles  in  seiner  Art 
Vollkommene  müsse  über  seine  Art  hinausgehen".  So  ist  die  voll- 
kommene innere  Einheit  eines  Stückes  der  Welt  entweder  der 
Erkenntnisgrund  oder  die  Bedingung  oder  die  Folge  davon,  daß 
auch  zv/ischen  ihm  und  dem,  was  jenseits  seiner  ist,  Einheit 
besteht.  — 

Erfaßt  man  die  Idee  der  Einheit  in  ihrer  ganzen  Lebendig- 
keit und  Weite,  mit  der  sie  in  Goethes  Weltanschauung  wirkt, 
so  kann  sie  wohl  als  deren  Fundament  gelten;  alle  übrigen 
Ideen,  deren  Offenbarung  er  in  den  Erscheinungen  sucht  und 
die  ihm  zu  Kriterien  für  deren  richtige  Erkenntnis  werden,  lassen 
sich  als  irgendwie  von  jener  abhängige,  als  ihre  Ausgestaltungen 
oder  Bedingungen  deuten.  Ich  behandle  noch  drei  Formmotive 
dieser  Art:   die  Kontinuität,  die  Polarität,  das  Gleichgewicht. 

Jene  Abneigung  gegen  den  Vulkanismus  ist  ohne  weiteres  als 
Glaube  an  die  Kontinuität  im  Sein  und  Geschehen  der  Natur  anzu- 
sprechen. Ich  führe  eine  entscheidende  Stelle  an:  ,,  Alle  Wirkungen, 
von  welcher  Art  sie  seien,  die  wir  in  der  Erfahrung  bemerken,  hän- 
gen auf  die  stetigste  Weise  zusammen ,  gehen  ineinander  über  —  jene 
Tätigkeiten,  von  der  gemeinsten  bis  zur  höchsten,  vom  Ziegel- 


76  Kontinuität 

stein,  der  dem  Dach  entstürzt,  bis  zum  leuchtendsten  Geistes- 
blick, der  dir  aufgeht  und  den  du  mitteilst,  reihen  sie  sich  an- 
einander." In  ganz  eminentem  Sinne  ist  diese  Maxime  für  die 
Goethesche  Seinsbetrachtung  charakteristisch:  denn  keine  andere 
bindet  Formung,  Ordnung,  Gesetz  so  unbedingt  an  die  Er- 
scheinung der  Dinge,  an  die  morphologische  Wirklichkeit. 
Beschränkt  man  sich  ganz  rein  auf  die  Erscheinungen,  deren 
unabsehliche  Individualisiertheit  man  zugeben  muß,  so  kann 
man  ihre  ,, Einheit",  die  Gestaltung  eines  Ganzen  aus  ihnen  eben 
nur  auf  jene  abgestuften  Ähnlichkeiten  hin  zustande  bringen. 
Die  Betrachtung  der  Wesen  nach  der  ,, Gestalt"  hat  an  und  für 
sich  etwas  Isolierendes  und  es  ist  die  gigantische  Bestrebung  des 
Goetheschen  Naturverstehens,  diese  Umschlossenheit  und  Ver- 
einzelung der  Gestalten  von  einem  einheitlichen,  vibrierenden. 
Alles  mit  Allem  verbindenden  Leben  durchfluten  zu  lassen.  In- 
soweit man  nun  in  dieser  Tendenz  nicht  von  einem  innern  Le- 
bensprinzip ausgeht,  sondern  die  Einheitsform  den  unmittel- 
baren Erscheinungen  abgewinnen  will,  so  müssen  diese,  mögen 
es  Gestalten  des  Ruhenden  oder  des  Bewegten  sein,  in  eine  Reihe 
sich  ordnen  lassen,  in  der  sozusagen  kein  Unterschied  der  kleinste 
ist,  sondern  zwischen  je  zwei  differente  Glieder  noch  immer 
weitere  sich  einstellen  und  die  Vermittlung  durch  morphologische 
Zusammenhänge  ins  Unendliche  geht.  ,, Welch  eine  Kluft,  sagt 
er  in  Hinsicht  einer  ihm  besonders  wichtigen  Reihe,  zwischen 
dem  OS  intermaxillare  der  Schildkröte  und  des  Elefanten,  und 
doch  läßt  sich  eine  Reihe  Formen  dazwischen  stellen,  die  beide 
verbindet."  Zwischen  der  ,, Kontinuität"  im  Sinne  einer  stetig 
fließenden  Bewegtheit  und  der  singulären  Einheitlichkeit  der 
Gestalt  besteht,  wie  ich  oben  sagte,  eine  tiefe  Diskrepanz;  aber 
die  Kontinuität  im  Sinne  der  Aufreihbarkeit  der  Gestalten  nach 
ihrer  morphologischen  Berührung  vermittelt  zwischen  beiden,  sie 
ist  gleichsam  das  statische  Symbol  für  jene  Labilität.  Auf  das 
Gesetz  von  Hervorbringung,  Wachstum,  Entwicklung  soll  gerade 
dies  deuten:  ,,Alle  Gestalten  sind  ähnlich  und  keine  gleichet  der 
andern."  Durch  das  ideelle  Verbundensein  von  Gestalt  mit  Gestalt, 
sei  diese  Ereignis,  sei  sie  substanzielles  Wesen,  wird  die  Verbindung 


Verbundenheit  der  Sinne  77 

jedes  Einzelnen  mit  dem  Ganzen  erreicht,  ohne  die  ,,in  der 
lebendigen  Natur  nichts  geschieht".  Zerlegt  man  den  stetigen 
Fluß  der  Entwicklung  in  einzelne  „Zustände",  so  ist  deren 
Kontinuität  genau  so  wie  die  der  singulären  Gestalten  zu  be- 
trachten. ,,Wie  ein  Wesen  in  seiner  Erscheinung  beginnt,  so 
schreitet  es  fort  und  endigt  auf  gleiche  Weise";  nur  durch  Kon- 
tinuität der  Zustände  kann  sich  diese  Wesenseinheitlichkeit  mit 
der  fortwährenden  Unruhe,  dem  Gestalten  und  Umgestalten, 
Trennen  und  Verbinden  innerhalb  des  Lebendigen  vertragen. 
Eine  Disposition  zu  der  so  angenommenen  Kontinuität  der 
Erscheinung  liegt,  wie  ich  glauben  möchte,  schon  in  einer  sinn- 
lichen Besonderheit  von  Goethes  Naturanlage:  in  dem  Inein- 
ander-Übergehen  der  Eindrücke  ganz  verschiedener  Sinne.  Vor 
der  ungeheuren  Einheitlichkeit  seines  Wesens  verschwindet 
gleichsam  die  Disparität  der  Sinnesgebiete,  ohne  weiteres  reiht 
sich  ein  Stück  des  einen  in  das  andere  ein;  man  hat  das  Gefühl, 
als  verliefe  sein  inneres,  insbesondere  sein  dichterisch  ausge- 
drücktes Leben,  in  seinem  tiefsten  Grunde,  als  ein  eigentlich  nur 
dynamischer  Wechsel,  ein  An-  und  Abschwellen  oder  auch  ein 
polares  Umspringen  einer  Daseinsintensität,  und  als  seien  alle 
qualitativen  Mannigfaltigkeiten,  in  denen  diese  sich  darbietet, 
dadurch  innerlichst  verbunden;  als  übergriffe  die  Einheit  dieses 
Lebens  alle  Abstände,  die  seine  Inhalte  zeigen,  sobald  sie  aus 
dem  Leben  heraus  und  in  bloße  isolierte  Sachlichkeit  gestellt 
werden.  Als  erlebte  lassen  sie  ihre  logische  oder  dinghafte  Dis- 
parität in  eine  Kontinuität  übergleiten,  die  auch  jede  Sinnes- 
impression mit  jeder  verwandt  macht  und  jeden  Stellenwechsel 
unter  ihnen  legitimiert.  Da  diese  Linie  in  seinem  Bilde  vielleicht 
noch  nicht  hinreichend  herausgehoben  ist,  führe  ich  die  Stellen 
an,  die  mir  zur  Hand  sind.  In  einer  symbolischen  Darstellung 
des  Orpheusmythus  äußert  er:  ,, Das  Auge  übernimmt  Funktion, 
Gebühr  und  Pflicht  des  Ohres"  —  in  der  Ausführung  des  Ge- 
dankens, daß  die  Architektur  eine  ,, verstummte  Tonkunst"  ist. 
Es  gilt  für  den  Marmor  wie  für  den  Busen  der  Geliebten:  ,,Sehe 
mit  fühlendem  Aug',  fühle  mit  sehender  Hand";  und  aus  ihren 
Augen  hört  er  ein  ,, lieblichstes  Getön".    Ja,  selbst  „die  Kühle" 


78  Stetigkeit  als  Wirklichkeitskriterium 

schleicht  ihm  „durchs  Auge"  ins  Herz  —  und  Wasser  und  Höhle 
sprechen  Laute,  die  der  „Künstler  blick  vernimmt".  Geruch 
und  Geschmack  sind  nicht  ausgeschlossen :  der  Wasserfall  ver- 
breitet „duftig  kühle  Schauer".  „Von  buntesten  Gefiedern  — 
Der  Himmel  übersät  —  Ein  klingend  Meer  von  Liedern  —  Ge- 
ruchvoll überweht."  „Ich  habe  nichts  dagegen,  wenn  man  die 
Farbe  sogar  zu  fühlen  glaubt;  ihr  eignes  Eigenschaftliche  würde 
nur  dadurch  noch  mehr  bestätigt.  Auch  zu  schmecken  ist  sie. 
Blau  wird  alkalisch,  Gelbrot  sauer  schmecken.  Alle  Manifesta- 
tionen der  Wesenheiten  sind  verwandt."  Gerade  gelegentlich  des 
„Stufenweges  vom  Unvollkommnen  zum  Vollkommnen"  äußert 
er:  ,,Die  wundersame  Erfahrung,  daß  ein  Sinn  an  die  Stelle  des 
andern  einrücken  und  den  entbehrten  vertreten  könne,  wird  uns 
eine  naturgemäße  Erscheinung,  und  das  innigste  Geflecht  der 
verschiedensten  Systeme  hört  auf,  als  Labyrinth  den  Geist  zu 
verwirren."  Und  endlich  klingt  der  Gedanke  des  Ineinander- 
Aufgehens  der  Sinne  in  dem  Vers  des  Divan  an:  ,,Ist  somit  dem 
Fünf  der  Sinne  Vorgesehn  im  Paradiese,  Sicher  ist  es,  ich  gewinne 
Einen  Sinn  für  alle  diese."  Was  im  Empirischen  als  bloße 
Kontinuität  und  Grenzvermischung  der  Sinne  erscheint,  ist  hier  zu 
phantastisch-metaphysischer  Vollendung  geführt. 

Die  Stetigkeit  in  der  Reihe  der  Gestaltungen,  die  an  solchen 
Äußerungen  ihr  persönlich-sinnliches  Symbol  findet,  wird  ihm 
zum  Erkenntniskriterium,  gerade  wie  die  Einheit  und  die  ästhe- 
tische Bedeutsamkeit  der  Einzelgestalt ;  denn  erst  indem  all 
diese  ,, Ideen"  in  der  Wirklichkeit  aufzeigbar  sind,  oder,  von 
der  andern  Seite  gesehen,  nur  das,  was  sie  aufzeigt,  als  Wirk- 
lichkeit anerkannt  wird ,  realisiert  sich  das  entscheidende 
Grundmotiv:  das  Zusammen  von  Wirklichkeit  und  Wert.  So 
folgert  Goethe  weiterhin,  daß  man  sich  in  der  Naturwissen- 
schaft nie  mit  einem  isolierten  Faktum  begnügen  dürfe,  sondern 
durch  Versuche  alles ,  was  irgendwie  daran  grenzt,  er- 
kunden müsse.  Diese  Reihung  und  Folgerung  ,,des  Nächsten 
aus  dem  Nächsten"  hätten  wir  von  der  Mathematik  zu 
lernen,  in  der  sich  ,, jeder  Sprung  in  der  Assertion  offenbart." 
Hier  also  wird  die  Kontinuität  zum  Erkenntnismittel:    wo  sie 


Kontinuität  und  Systematik  79 

nicht  hergestellt  oder  herstellbar  ist,  wird  die  Wirklichkeit  nicht 
erfaßt.  Das  Weltbild,  das  so  gewonnen  —  oder  vielleicht  vor- 
ausgesetzt —  wird,  charakterisiert  sich  durch  seinen  Gegensatz 
zu  aller  ,, Systematik". 

Denn  an  der  Auffassung  des  Daseins  als  eines  Systems  oder 
als  einer  Kontinuität  scheiden  sich  tiefste  geistige  Wesens- 
tendenzen. Der  Systematiker  setzt  die  Dinge  mit  scharfer  be- 
grifflicher Abgrenzung  außereinander  und  gewinnt  Einheit  für 
sie,  indem  er  ihre  begrifflichen  Inhalte  in  ein  symmetrisch  ge- 
bautes Ganzes  einstellt.  Wie  das  einzelne  Element,  so  ist  auch 
das  Ganze  ein  Fertiges,  Abgeschlossenes,  eine  feste  Form  aus 
festen  Formen,  geordnet  nach  architektonisch-einheitlichem  Prin- 
zip, das  jedem  überhaupt  denkbaren  Element  seine  Stelle  gleich- 
sam vorbestimmt.  Gegen  diese  Tendenz  nun  wendet  sich  Goethe 
nach  einer  fast  fünfzigjährigen  naturwissenschaftlichen  Beschäf- 
tigung mit  den  Worten:  ,, Natürlich  System:  ein  widersprechen- 
der Ausdruck.  Die  Natur  hat  kein  System;  sie  hat,  sie  ist  Leben 
und  Folge  aus  einem  unbekannten  Zentrum,  zu  einer  nicht  er- 
kennbaren Grenze.  Naturbetrachtung  ist  daher  endlos,  man  mag 
ins  Einzelnste  teilend  verfahren  oder  im  ganzen  nach  Breite  und 
Höhe  die  Spur  verfolgen."  Von  der  hiermit  angedeuteten  Dynamik 
des  Lebens  abgesehen,  gestattet  ihm  schon  die  Stetigkeit  der  Er- 
scheinungen kein  System.  Denn  wo  Kontinuität  ist,  verbietet 
sich  jene  Abgrenzung  von  Einheit  gegen  Einheit,  die  Unter- 
schiede werden  zu  unmerklich,  um  eine  begriffliche  Hierarchie  zu 
bilden.  Da  es  jetzt  keine  Stelle  gibt,  die  nicht  ein  Crescendo  und 
ein  Diminuendo  neben  sich  hätte,  so  ist  auch  ein  Abschluß  des 
Ganzen  nicht  möglich,  das  Verhältnis  der  Elemente  kann  sich 
nicht  zu  einer  irgendwie  genügsamen  Einheit  zusammenschließen, 
da  zwischen  je  zweien  eine  unübersehliche  Zahl  von  Zwischen- 
stufen sich  drängt,  für  die  das  System  als  ein  Bau  aus  Begriffen 
keinen  Platz  hat.  Am  schönsten  und  reinsten  hat  Goethe  in  den 
Berichten  über  sein  botanisches  Studium  diesen  Gegensatz  ent- 
wickelt, in  dem  Partei  zu  nehmen  ihn  freilich  die  Geltung  des 
Linn6schen  Systems  besonders  aufreizen  mußte.  Dies  ganze 
System   ruht  für  ihn  auf  der  praktischen  Zweckmäßigkeit  des 


80  Abweisung  der  Systemform 

Zählens;  es  setze  also  ein  genaues  Trennen  der  einzelnen  Pflan- 
zenteile gegeneinander  voraus,  die  Feststellung  jeder  Form  als 
eines  von  allen  übrigen,  von  den  vorhergehenden  wie  den  folgen- 
den völlig  verschiedenen  Wesens.  Da  nun  aber  ein  Organ,  eine 
Form  in  die  andre  mit  unfaßbaren  Übergängen  gleitet,  so  muß  das 
System  ,, alles  Wandelbare  als  stationär,  das  Fließende  als  starr, 
das  gesetzlich  rasch  Fortschreitende  als  sprunghaft,  das  aus  sich 
selbst  hervorgestaltete  Leben  als  etwas  Zusammengesetztes" 
ansehen.  Er  gesteht,  angesichts  der  fortwährenden  Umbildungen 
und  Beweglichkeiten  der  Pflanzenorgane  den  Mut  zu  begrifflichen 
Fixierungen  und  Grenzsetzungen  verloren  zu  haben.  ,, Unauflös- 
bar schien  mir  die  Aufgabe,  Genera  mit  Sicherheit  zu  bezeichnen, 
ihnen  die  Spezies  unterzuordnen."  Und  schon  lange  vorher  habe 
das  ,, scharfe  Absondern"  Linnes  in  seinem  Innern  einen  Zwie- 
spalt erzeugt:  ,,Das,  was  er  mit  Gewalt  auseinanderzuhalten 
suchte,  mußte,  nach  dem  innersten  Bedürfnis  meines  Wesens,  zur 
Vereinigung  anstreben."  Der  Systematik  gegenüber,  für  die 
,, alles  fertig"  ist,  die  ,,nur  ein  Versuch  ist,  viele  Gegenstände  in 
ein  gewisses  faßliches  Verhältnis  zu  bringen,  das  sie,  streng  ge- 
nommen, untereinander  nicht  haben"  —  ist  es  seine  Denkweise 
,,das  Ewige  im  Vorübergehenden"  zu  schauen.  Alle 
Pflanzenorgane  sind  ihm  die  in  absatzlosen  Prozessen  vollzogenen 
Umbildungen  eines  einzigen  Grundorgans  —  wie  er  auch  von  allen 
, »vollkommenen  organischen  Naturen",  von  den  Fischen  bis  zum 
Menschen,  behauptet,  daß  sie  nach  einem  ideellen  Urbilde 
geformt  seien,  ,,das  nur  in  seinen  sehr  beständigen  Teilen  mehr 
oder  weniger  hin  und  her  weicht  und  sich  noch  täglich  durch  Fort- 
pflanzung aus-  und  umbildet."  Sehr  früh  schon  scheint  er  die 
Gefahr  der  Systematik  empfunden  haben:  daß  das  System,  wegen 
seiner  logisch  geschlossenen,  bequem  zu  handhabenden,  architek- 
tonisch befriedigenden  Form  sozusagen  um  seiner  selbst  willen 
gesucht  und  namentlich  festgehalten  wird  und  uns  hindert,  dem 
jeweiligen  Verhalten  der  Dinge  vorurteilslos  und  anschmiegsam 
nachzugehen;  so  daß  ihm  das  System  ganz  einfach  zum  Gegenteil 
der  Sachlichkeit  und  selbstlos  gesuchten  Wahrheit  wird  —  der 
Wahrheit,  in  der  sich  alles  in  Einheit  und  Kontinuität  aneinander- 


Gestalt  und  Werden  81 

schließt:  ,, Soviel  Neues  ich  find',"  schreibt  er,  „finde  ich  doch 
nichts  Unerwartetes;  es  paßt  alles  und  schließt  sich  an, 
weil  ich  kein  System  habe  und  nichts  will,  als  die  Wahrheit  um 
ihrer  selbst  willen."  Goethe  hatte  das  stärkste  Gefühl,  die  ent- 
schiedenste Vorstellung  von  dem  unstaubaren  Flusse  alles 
Lebens,  alles  Geschehens;  so  trivial  der  Gedanke  der  unaufhör- 
lichen Bewegtheit  des  Daseins  ist,  so  schwierig  und,  wie  ich  glaube, 
selten  ist  es,  daß  damit  wirklich  und  restlos  Ernst  gemacht  wird. 
Der  relativen  Grobheit  und  Langsamkeit  unserer  Sinne,  vor  allem 
unserm  praktischen  Verhalten  zu  den  Dingen  entspricht  es,  uns 
an  die  Fiktion  fester  Querschnitte  und  beharrender  Zustände  zu 
halten.  Goethe  aber  gehörte  zu  den  heraklitischen  Menschen,  deren 
eigne  innere  Lebendigkeit  und  stillstandslose  Entwicklung  ihnen 
gleichsam  einen  physisch-metaphysischen  Sinn  gibt  für  die  rast- 
losen Pulsationen,  das  stetige  Sterben  und  Werden,  Sich-Ent- 
wickeln  und  Herabsinken  unter  der  Scheinstarrheit  aller  Ober- 
flächen. In  höchst  schwierigem  und  fragwürdigem  Verhältnis  aber 
zu  dieser  Absolutheit  von  Werden  und  Wandel  steht  Goethes 
plastischer  Sinn,  der  auf  die ,, Gestalt"  in  ihrer  klassischen  Ruhe, 
auf  die  Geschlossenheit  und  den  Ewigkeitszug  der  Erscheinungen 
geht.  Mit  wieviel  Vorbehalten  auch  nur  man  derartige  prinzipielle 
Gegensätze  historisch  lokalisieren  darf:  es  ist  der  griechisch- 
italienische Geist,  der  hier  gegen  den  germanischen  steht,  und  man 
hat  schon  lange  hervorgehoben,  daß  Goethes  Lebensarbeit  und 
Lebensintention  im  Antagonismus,  Wechsel,  Vereinheitlichung 
dieser  weltgeschichtlichen  Parteien  verläuft.  Ich  lasse  dahin- 
gestellt, ob  er  selbst  ein  theoretisches  Bewußtsein  über  die  Tiefe 
des  Abgrundes  hatte,  der  sich  zwischen  der  künstlerischen  Um- 
grenztheit  und  Selbstgenügsamkeit  der  ,, Gestalt"  und  der  Unend- 
lichkeit des  Werdens  auftut,  sobald  das  eine  und  das  andere  zur 
Dominante  des  Weltbildes  wird.  Er  bringt  die  Gegensätze  ganz 
nahe  zusammen:  ,, Geprägte  Form,  die  lebend  sich  entwickelt"  — 
darin  liegt  das  ganze  Problem.  Denn  das  ist  ja  eben  die  Frage,  die 
diese  Formulierung  garnicht  als  Frage  anerkennt:  wie  die  Form 
leben  kann,  wie  das  schon  Geprägte  sich  noch  ent- 
wickeln kann,  oder  ob  überhaupt  Geprägtheit  und  Entwick- 

Simmal,  Goethe.  6 


82  Kontinuität  als  Vermittlung 

lung  nicht  eine  Unvereinbarkeit  sind.  Immerhin  spricht  er 
das  seelisch-metaphysische  Problem  als  ein  praktisches 
höchst  deutlich  aus:  ,,Daß  dein  Leben  Gestalt,  dein  Gedanke  Leben 
gewinne,  Laß  die  belebende  Kraft  stets  auch  die  bildende  sein." 
Ja,  einmal  scheint  es,  als  wolle  er  ihm  überhaupt  nur  im  prakti- 
schen Sinne  eine  Stelle  zuerkennen:  ,,Das  Höchste,  das  Vorzüg- 
lichste am  Menschen  ist  gestaltlos  und  man  soll  sich  hüten,  es 
anders  als  in  edler  Tat  zu  gestalten."  Im  theoretischen  Sinne 
indes  liegt  hier  die  letzte  Bedeutung  des  Kontinuitätsprinzips. 
Wenn  die  pausenlose  Umgestaltung,  die  kosmische  Strömung  an 
dem,  was  wir  Ding,  Form,  Gestalt  nennen.  Halt  zu  machen,  und 
die  einzelnen  Erscheinungen  damit  dem  Gesetz  des  allgemeinen 
Lebens  entrissen,  aus  diesem  auskristallisiert  zu  sein  scheinen  —  so 
bieten  sie  jedenfalls  eine  um  so  deutlichere  Spur  jenes  Gesetzes, 
je  näher  sie  nach  ihren  Qualitäten  aneinanderrücken,  je  unmerk- 
licher dem  betrachtenden  Geist  der  Übergang  von  einer  zur  andern 
wird.  Dies  subjektive  kontinuierliche  Gleiten  des  Blickes  ist 
Gegenbild  und  Symbol  der  Stetigkeit  des  objektiven  erzeugenden 
Prozesses,  der  aus  den  so  anzuordnenden  Erscheinungen  ver- 
schwunden ist.  Die  fertigen  Gestalten,  wie  der  praktische  und 
der  künstlerische  Blick  sie  ausschneiden,  gehen  nicht  funktionell 
ineinander  über;  aber  das  Maß  ihrer  Ähnlichkeit,  ihrer  möglichen 
Anordnung  in  Reihen  nach  zu-  und  abnehmenden  Qualitäten  ist 
das  Maß,  in  dem  sich  die  Einheit  der  erschaffenden  Funktion  in 
ihnen  gleichsam  abgelagert  hat  und  sich  an  ihnen  verrät.  Gewiß 
wird  die  tiefe  Fremdheit  zwischen  der  Welt  als  stetig-lebendigem 
Werden  und  der  Welt  als  Summe  von  Gestalten  dadurch  nicht 
verneint,  daß  diese  Gestalten  Reihen  bilden,  in  denen  kein  Unter- 
schied der  kleinste  ist  und  für  die  die  Welt,  um  den  Abstand  je 
zweier  zu  füllen,  jedesmal  eine  Unendlichkeit  abgestufter  Zwi- 
schenerscheinungen anbietet;  Begrenztheit  bleibt  eben  Begrenzt- 
heit und  wird  nicht  Bewegung  über  die  Grenze  hin,  so  nahe  man 
auch  die  Inhalte  der  Begrenztheiten  aneinanderrückt.  Aber 
das  so  entstehende  Bild  gewinnt  allerdings  eine  ins  Unbegrenzte 
wachsende  Beziehung  zu  dem  des  absoluten  Werdens;  eine  von 
dem  letzteren  beherrschte  Welt  muß  allerdings,  zu  Gestalten  ver- 


Polarität  83 

festigt,  diese  in  Reihen  mit  unendlich  kleinem  Abstand  je  zweier 
Nachbarwesen  einstellen  lassen.  Die  Idee  der  Kontinuität,  schein- 
bar nur  das  äußerliche  Nebeneinander  der  Phänomene  ordnend, 
enthüllt  sich  so  als  der  Punkt,  an  dem  die  großen  weltgeschicht- 
lichen Gegensätze  in  Goethes  Wesen  und  Welt  sich  zueinander- 
neigen  —  deshalb  auch  als  ein  regulatives  Prinzip,  wie  Schönheit 
und  Einheit,  nach  dessen  Durchführung  im  Reich  der  Erfahrung 
er  unablässig  strebte,  weil  das  Maß  ihrer  Erfüllung  zugleich 
das  Maß  der  Wahrheit  über  die  Wirklichkeit  war.  — 

Die  Vielheit  der  Erscheinungen,  die  Mannigfaltigkeit  der  Sta- 
dien, an  denen  die  Welt  ebenso  wie  die  Seele  ihre  Einheit  leben, 
ist  aber  noch  einer  anderen  Formung  zugängig,  die  ihre  Inhalte 
der  Zufälligkeit  entkleidet  und  sie,  rein  als  Inhalte,  aufeinander 
anweist.  Es  ist  das  Prinzip  der  Polarität  oder  der  Bewegung  und 
Gegenbewegung,  oder,  mit  dem  Gleichnis,  das  er  so  gern  gebraucht: 
des  Einatmens  und  Ausatmens.  Eigentlich  scheint  dies  in  einer 
gewissen  Fremdheit,  ja  Unverträglichkeit  neben  dem  Prinzip  der 
Kontinuität  zu  stehen.  Aber  wenigstens  andeutungsweise  zeigt 
sich  auch  hier  die  großartige  Fähigkeit  des  Goetheschen  Geistes, 
die  Herrschaft  eines  Prinzips  auch  gerade  an  seinem  Gegensatz 
aufzuweisen,  indem  eine  höhere  Bedeutung  und  Kraft  seiner 
die  Relation  zwischen  ihm  selbst  und  diesem  Gegensatz  übergreift. 
Er  habe  seit  langem  gewünscht,  schreibt  er,  den  Begriff  der 
Polarität  in  die  Farbenlehre  einzuführen.  Denn  dadurch  fühle 
er  sich  imstande,  ,, die  Farbenlehre  an  manches  Benachbarte  anzu- 
schließen und  mit  manchem  Entfernten  in  Reihe  zu  stellen".  Die 
Erscheinungskreise  also,  deren  jeder  in  sich  dem  Gesetze  der 
Polarität  Untertan  ist,  werden  durch  diese  Formgleichheit  ein- 
ander zugeordnet,  so  daß  sie  sich  nach  den  Maßen,  in  denen  sie 
dies  Gesetz  offenbaren,  in  die  Kontinuität  eine  R  e  i  h  e  zu  schlie- 
ßen vermögen. 

Alle  Dinge  also  leben  in  einer  unaufhörlichen  Entzweiung  mit 
sich  selbst  und  mit  anderen,  die  sich  unaufhörlich  versöhnt,  um 
sich  wieder  zu  spalten:  ,,Der  mindeste  Wechsel  einer  Bedingung, 
jeder  Hauch  manifestiert  gleich  in  den  Körpern  Polarität,  die 
eigentlich  in  ihnen  allen  schlummert."  Ein  Inhalt,  ein  Zustand, 

6* 


84  Innere  Gegensätzlichkeit 

ein  Geschehen  fordert  seinen  Gegensatz  und  diese  Spannung  oder 
Altemierung  offenbart  eben  dasselbe  Leben,  das  sich  im  nächsten 
Augenblick  als  Einheit  der  Gegensätze  dokumentiert;  er  be- 
stimmt Polarität  als  die  Erscheinung  „des  Zwiefachen,  ja  Mehr- 
fachen in  einer  entschiedenen  Einheit".  Darum  ist  ihm  der 
Magnetismus  von  größter  Wichtigkeit,  als  ein  ganz  reines  Beispiel 
der  ,, Entzweiung,  die  doch  wieder  nur  eine  Vereinigung  ist". 
Dies  ist  ihm  ,,ein  Urphänomen,  das  unmittelbar  an  der  Idee  steht 
und  nichts  Irdisches  über  sich  erkennt".  ,,Das  Geeinte  zu  ent- 
zweien, das  Entzweite  zu  einigen  ist  das  Leben  der  Natur;  dies 
ist  die  ewige  Systole  und  Diastole,  die  ewige  Synkrisis  und  Dia- 
krisis,  das  Ein-  und  Ausatmen  der  Welt,  in  der  wir  leben,  weben 
und  sind."  Auch  ist  es  ihm  klar,  —  was  für  unsern  Zusammen- 
hang das  wesentliche  ist  —  daß  hiermit  ein  Organisierungs-,  ein 
Lebens  prinzip  für  die  Masse  des  Daseienden  gegeben  sei.  Aus 
Kants  Theorie  der  Anziehung  und  Abstoßung  als  Wesen  der 
Materie,  so  berichtet  er,  sei  ihm  ,,die  Urpolarität  aller  Wesen 
hervorgegangen,  welche  die  unendliche  Mannigfaltigkeit  der 
Erscheinungen  durchdringt  und  belebt".  Als  künstlerisches 
Organisationsprinzip  hat  ihm  die  Polarität  von  vornherein  gedient, 
indem  die  wichtigsten  seiner  Dichtungen  in  je  einem  Paar  von 
Männern  die  Polaritäten  der  menschlichen,  genauer,  der  männ- 
lichen Natur  in  ihr  Zentrum  stellen:  Weislingen-Götz,  Wer- 
ther-Albert,  Clavigo-Carlos,  Faust-Mephisto,  Egmont-Oranien, 
Orest-Pylades,  Tasso- Antonio,  Eduard-  der  Hauptmann,  Epime- 
theus-Prometheus.  Dies  setzt  sich  in  das  Individuum  selbst  fort, 
indem  eine  Äußerung  seines  hohen  Alters  die  Urbestandteile 
unsres  Wesens  ausschließlich  aus  Gegensätzen  bestehen  läßt: 
,, Unser  Geist  scheint  zwei  Seiten  zu  haben,  die  ohne  einander  nicht 
bestehen  können.  Licht  und  Finsternis,  Gutes  und  Böses,  Hohes 
und  Tiefes,  Edles  und  Niedriges  und  noch  so  viele  andere  Gegen- 
sätze scheinen,  nur  in  veränderten  Portionen,  die  Ingredientien 
der  menschlichen  Natur  zu  sein."  Endlich  in  das  ganz  Intime 
hinein  und  in  negativem  Ausdruck:  ,, Wirst  du  deinesgleichen 
kennen  lernen,  So  wirst  du  dich  gleich  wieder  entfernen."  Dieses 
Wirklichkeitsverhältnis  wendet  sich  in  das  Verhalten  der  Be- 


Über-relative  Einheit  85 

trachtung:  „Jedes  Existierende  ist  ein  Analogen  alles  Existieren- 
den; daher  erscheint  uns  das  Dasein  immer  zu  gleicher  Zeit  ge- 
sondert und  verknüpft.  Folgt  man  der  Analogie  zu  sehr,  so  fällt 
alles  identisch  zusammen;  meidet  man  sie,  so  zerstreut  sich  alles 
ins  Unendliche.  In  beiden  Fällen  stagniert  die  Betrachtung, 
einmal  als  überlebendig,  das  andere  Mal  als  getötet."  Und  damit 
zeigt  sich  nun  die  Einheit  gleichsam  in  höherer  Instanz.  Sie  legt 
sich  nicht  nur  in  Gegensätze  und  polare  Getrenntheiten  ausein- 
ander, mit  dieser  Korrelation  sich  in  latentem  Zustand  zeigend 
und  in  der  Wiedervereinigung  sich  aktualisierend;  sondern  Ent- 
zweiung und  Vereinigung  sind  selbst  Pole  und  Pendelschwin- 
gungen der  höchsten,  innigsten  Lebenseinheit!  Antithesis  und 
Synthesis  sind  die  Momente  der  eigentlichen  und  absoluten 
Synthese,  die  absolute  Einheit  von  Dasein,  Leben,  Seele  steht  über 
der  relativen,  die  ihre  Ergänzung,  ihr  Korrelat  in  der  Antithesis 
findet.  Hiermit  erst  ist  Spinoza  wirklich  überwunden  —  nicht  im 
Sinne  von  Abwendung  und  Widerlegung,  sondern  durch  Gewinn 
der  höheren  Stufe.  Solange  Entzweiung  und  Einung  sich  sozu- 
sagen als  Parteien  gegenüberstehen,  zwischen  denen  die  Ent- 
scheidung pendelt,  wird  die  Einung  einen  gewissen  Wertakzent 
haben,  als  wäre  sie  das  eigentlich  Definitive,  zu  dem  das  Außer- 
einander,  die  Differenziertheit  hinstrebt.  Hier  wird  die  Spinozi- 
stische,  auf  das  absolute  Eins  gehende  und  die  Vielheit  im  Letzten 
ausschließende  Tendenz  immer  im  Vorteil  sein.  Anders  aber, 
wenn  Getrenntheit  und  Einheit  selbst  wieder  als  die  differenzierten 
Momente  einer  höheren  Einheit:  des  Lebens  selbst  —  vorgestellt 
werden,  wenn  jene  beiden  selbst  nur  wieder  eine  Vielheit  sind, 
durch  die  oder  in  der  das  Leben  pulsiert,  in  deren  Spannung 
und  Wechsel  es  seine  Einheit  vollzieht. 

Hier  wie  sonst  werden  sich  die  Elemente  seiner  Weltanschauung 
nach  demselben  Gesetz  erwachsen  zeigen,  das  sein  persönliches 
Leben  formt.  Aber  hier  wie  sonst  handelt  es  sich  nicht  um  einen 
Egomorphismus,  bei  dem  das  Phänomen,  das  der  Mensch  sich 
selbst  bietet,  die  Art,  wie  er  sich  subjektiv  anschaut,  ihm  zum 
Modell  seines  Weltvorstellens  wird.  Vielmehr:  die  objektive, 
wesenhafte  Kraft,  die  das  ,, Persönliche"  seines  Charakters  und 


86  Subjektive  Polarität 

seines  Erlebens  in  die  Erscheinung  ruft,  formt  auch  seine  Intellek- 
tualität,  bestimmt  den  Brechungswinkel,  mit  dem  die  Objekte 
in  ihn  einstrahlen  und  zum  Weltbild  zusammengehen.  Die  Ver- 
bindung stellt  sich  also  bei  Goethe  nicht  gleichsam  nachträglich 
und  durch  direkte  Beeinflussung  zwischen  den  gegeneinander 
selbständigen  Faktoren  der  Subjektivität  und  der  objektivischen 
Betrachtungsweise  her,  sondern  beide  sind  analog,  weil  sie 
einer  letzten  Wurzel  entwachsen  sind.  ,,Ist  das  ganze  Dasein", 
sagt  er,  ,,ein  ewiges  Trennen  und  Verbinden,  so  folgt  auch,  daß 
die  Menschen  im  Betrachten  des  ungeheuren  Zustandes  auch 
bald  trennen,  bald  verbinden  werden."  Ganz  zweifellos  meint  er 
damit  nicht  die  Kopie  des  gegebenen  Daseins  in  dem  dazu- 
kommenden menschlichen  Betrachten,  sondern  daß  dieses  Gesetz 
des  ,, ganzen  Daseins",  da  ,,die  Menschen"  ja  in  diesem  befaßt 
sind,  ihre  Betrachtung  ebenso  gestalten  muß,  wie  deren  Gegen- 
stände gestaltet  sind.  So  also  hat  die  Systole  und  Diastole,  deren 
Wechsel  ihm  als  Weltformel  erscheint,  auch  sein  subjektives 
Dasein  rhythmisiert.  Es  lag  in  seinem  Wesen,  wie  er  selbst  und 
andere  es  aussprachen,  von  einem  Extrem  ins  andere  umzu- 
springen: ,,Wie  oft  sah  ich  ihn  schmelzend  und  wütend  in  einer 
Viertelstunde",  berichtet  Stolberg  im  Jahre  76.  In  einer  Äuße- 
rung, mehr  als  zwanzig  Jahre  später,  erscheint  die  Spaltung 
seines  Wesens  sozusagen  mehr  formal  und  ihr  Wechsel  mit 
dessen  Einheitlichkeit  tritt  hervor:  die  Philosophie  lehre  ihn 
mehr  und  mehr,  sich  von  sich  selbst  zu  scheiden,  ,,das  ich  um  so 
mehr  tun  kann,  als  meine  Natur,  wie  getrennte  Quecksilber- 
kügelchen,  sich  so  leicht  und  schnell  wieder  vereinigt".  Ersicht- 
lich aber  werden  nicht  nur  die  Perioden  der  inneren  Getrenntheit 
einfach  von  denen  der  Vereinigtheit  abgelöst,  sondern  Getrennt- 
heit und  Vereinigtheit  bilden  zusammen  wieder  eine  Periode, 
eine  Pendelschwingung  des  tiefsten  Lebens,  zusammengehalten 
von  dem  Gefühl  einer  Lebenseinheit,  die  die  Vielheit  und  die 
Einheit  als  relative  Gegensätze  gleichmäßig  dominiert.  Ja 
sogar  das  Schicksal  half  durch  die  Art  des  Menschen,  mit  denen 
es  ihn  zusammenführte,  diese  Formel  vollstrecken.  Naturen 
wie  Herder,  der  Herzog,  die  Stein  machten  ein  ganz  kontinuier- 


Gleichgewicht  ^  87 

liches,  in  dem  gleichen  Nähemaß  verbleibendes  Verhältnis 
schwer  möglich;  in  all  diesen  Beziehungen  war  zwar  wohl  ein 
,,Urphänomen"  enthalten,  allein  dies  lebt  sich  in  einem  häufigen 
Wechsel  von  Angezogen-  und  Abgestoßenwerden  aus,  von 
Sympathie  und  Verstimmung,  von  Gefühl  des  Zusammen- 
gehörens  und  empfundener  Distanz.  Antithesis  und  Synthesis 
sind  bei  ihm  nicht  definitive  Parteien;  wie  sich  vielmehr  in 
ihnen  nur  eine  höchste  Lebenssynthese  auseinander-  und  wieder 
zusammenlebt,  deutet  schon  eine  jugendliche  Äußerung  über 
Wieland  an:  er  liebe  ihn  und  er  hasse  ihn  —  das  sei  eigent- 
lich eins  —  er  nehme  Anteil  an  ihm.  Jene  höchste  Einheit 
kann  sich  nicht  unmittelbar,  sondern  nur  in  der  Rhythmik 
relativer  Synkrisis  und  relativer  Diakrisis  zeigen  —  wie  der  Rh3rth- 
mus  überhaupt  die  einfachste  Form  ist,  die  Entgegengesetzt- 
heit von  Akzenten  als  Einheit  zu  begreifen  und  sein  Geheimnis 
darin  hat,  daß  in  seiner  Wechselgestalt  ein  Höheres,  in  keinem 
seiner  Elemente  Aufgehendes,  lebt;  was  die  wunderbare  Rhyth- 
mik des  Goetheschen  Lebens  als  ganzen,  mit  seiner  fast  regel- 
mäßigen Periodik  von  Sammlung  und  Zerstreuung  offenbart. 

Die  Polarität  aber  weist  von  sich  aus  endlich  auf  die  Form- 
idee hin,  mit  der  ich  diesen  Umriß  der  Goetheschen  Kategorien 
der  Weltanschauung  beschließe:  auf  das  ,, Gleichgewicht".  Alle 
diese  Ideen  oder  Maximen  finden  ihren  Generalnenner  in  der 
Einheit  und  bilden  (dies  wird  nachher  tiefer  zu  begründen 
sein)  gewissermaßen  deren  Ausstrahlungen  in  die  Welt  der  Be- 
sonderheiten und  des  an  diese  geknüpften  Lebens  —  oder,  in  der 
andern  Richtung  gesehen,  die  ideellen  Kanäle,  durch  die  diese 
Besonderheiten  und  durch-  und  gegeneinander  spielenden  Le- 
bendigkeiten der  Welt  in  deren  geheimnisvoll-göttliche  Einheit 
zurückfließen.  Muß  dieses  nun,  seinem  Begriffe  nach,  als  das 
Absolute,  in  keine  Relation  Hineinziehbare  bezeichnet  werden, 
so  ist  Gleichgewicht  jedes  Wesens  in  sich  das  relativistische 
Symbol  jener  Einheit,  mit  ihm  spricht  sich  diese  in  der  Sprache 
der  in  lauter  Relationen  lebenden  Welt  aus.  Welche  Einzel- 
gestaltungen aber  unter  den  Begriff  des  Gleichgewichtes,  als 
einer  ebenso  wirklichen  wie  idealen  Form  des  lebendigen  Daseins, 


/. 


88  Das  Optimum  der  Existenz 

gehören,  ist  nicht  ganz  einfach  zu  bestimmen;  denn  hier  kann  sein 
Sinn  immer  nur  ein  vermittelter  oder  symbolischer  sein,  da  sein 
anschaulich-unmittelbarer,  als  etwas  rein  Mechanisches,  nicht 
in  Frage  kommt.  Goethe  hat  offenbar  die  Vorstellung  gehabt, 
daß  jedem  Wesen  ein  bestimmtes  Maß  von  Kraft,  Vitalität,  Be- 
deutung, oder  wie  man  die  innere  Lebenssubstanz  nennen  mag, 
zugeteilt  ist,  ein  Maß,  das  eine  gewisse  Schwankungsbreite  und 
innerhalb  dieser  ein  Optimum  besitzt.  Wo  nun  die  Verteilung 
der  Eigenschaften  und  Betätigungen  eines  Wesens  dieses  Op- 
timum, die  für  das  Wesen  ,, richtige"  Lebenssumme  darbietet, 
da  befinden  sich  die  einzelnen  Elemente  im  ,, Gleichgewicht". 
So  faßt  er  das  Wesen  der  Organisation  auf:  ,, Siehst  du  also  dem 
einen  Geschöpf  besonderen  Vorzug  Irgend  gegönnt,  so  frage  nur 
gleich:  wo  leidet  es  etwa  Mangel  anderswo?  —  Finden  wirst  du 
sogleich  Zu  aller  Bildung  den  Schlüssel."  So  ungleich  also  auch  die 
Entwicklung  der  Organe  oder  Kräfte  bei  unmittelbarem  Gegen- 
einanderhalten erscheinen  mag,  so  läßt  sie  doch  das  Wesen  im 
Gleichgewicht,  insofern  dies  nur  die  verschiedene  Verteilung  eines 
konstanten  Vitalitätsquantums  bedeutet  —  während  es  aller- 
dings in  Disharmonie  fällt,  sobald  die  Einheit  dieses  Quantums 
sich  nicht  durch  die  Diskrepanzen  der  Organe  hindurch  verwirk- 
lichen kann.  Es  kommt  nicht  darauf  an,  ob  er  für  dieses  Verhält- 
nis überall  das  Wort  Gleichgewicht  gebraucht;  sondern  darauf, 
daß  der  Sache,  der  innerlich  wirksamen  Realität  nach,  diese 
Kategorie  für  ihn  besteht,  als  gestaltende,  ordnende,  wert- 
bestimmende Form  in  seiner  Weltanschauung.  Daß  zwei  Organe 
oder  Funktionen  sich  im  Gleichgewicht  befinden,  ist  ihnen  un- 
mittelbar nie  anzusehen;  denn  es  gibt  für  sie,  als  lebendige, 
keine  Wage  und  keinen  Meterstab,  an  dem  ihre  Größen  sich 
miteinander  konfrontieren  ließen.  Das  Gleich-Gewichtige  an 
ihnen  ist,  daß  das  eine  in  seinem  bestimmten  Maße  genau  so 
wichtig  für  die  Gesamtexistenz  des  Wesens  ist,  wie  das  andere; 
anders  ausgesprochen:  daß  bei  gegebenem  Maße  des  einen  diese 
Gesamtexistenz  und  ihr  Optimum  entscheidet,  welches  Maß  dem 
andern  zukommt.  Jenes  durch  ,, besondern  Vorzug"  bezeichnete 
Organ  des  Geschöpfes  befindet  sich  mit  dem  ,, Mangel  leidenden" 


Gleichmaß  der  vitalen  Entgegengesetztheiten  89 

dennoch  im  Gleichgewicht,  weil  sie  in  Hinsicht  des  Dienstes,  den 
sie  beide  üben,  gleichmäßig  richtig,  gleichmäßig  wichtig  sind; 
dies  ist  die  innere  Harmonie  des  Organischen.  Sie  ist  der  Aus- 
druck für  die  Maße,  die  die  Elemente  eines  Wesens  bewahren 
müssen,  wenn  aus  ihnen  die  Vollkommenheit  und  Einheit  dieses 
Wesens  erwachsen  soll.  Daß  ein  derartig  sinnvolles  Verhältnis 
zwischen  dem  Ganzen  und  den  Teilen  des  Lebendigen  die  quanti- 
tativen Proportionen  der  letzteren  bestimme,  ist  eine  in  Goethes 
Weltbild  allenthalben  bemerkliche  Idee.  Aber  sie  erscheint  bei 
ihm  allerdings  noch  in  andrer,  von  der  bisherigen  Voraus- 
setzung abweichender  Form. 

Die  einander  entgegengesetzten  Bestimmtheiten  des  Lebendigen, 
so  sagte  ich,  haben  keinen  gemeinsamen  Maßstab,  an  dem  sich 
ihre  Ausgeglichenheit  objektiv  feststellen  ließe;  es  müsse  viel- 
mehr der  Zustand  des  Wesens  als  Einheit  entscheiden,  von 
welchem  Maße  der  einen  das  gegebene  Maß  der  andern  richtig 
balanciert  würde.  Über  diese  gewissermaßen  subjektivische 
Norm  geht  Goethe  aber  zu  einer  objektiveren  Idee  des  Gleich- 
gewichts über:  indem  er  nun  doch  eine  unmittelbare  Meßbar- 
keit für  den  Sachgehalt  jener  Bestimmtheiten  voraussetzt. 
Vielleicht  jedes  Wesen,  mindestens  aber  der  Mensch  (nur  für 
diesen  gelten  die  hier  heranzuziehenden  Äußerungen)  steht  seiner 
Idee  nach  gleichsam  im  Mittelpunkte  vieler  Linien,  deren  jede 
diesseits  und  jenseits  seiner  in  einem  absoluten  Pol  abschließt. 
Er  hat  seine  richtige  Stellung  immer  zwischen  zwei  einander 
entgegengesetzten  Extremen;  und  der  Punkt  dieses  ,, Gleich- 
gewichts" wird  nicht,  wie  es  vorhin  schien,  durch  sein  sonst 
gegebenes  Lebensoptimum  bestimmt,  so  daß  er  bei  den  ver- 
schiedensten Lagen  auf  jenen  Linien  noch  immer  der  richtige  sein 
könnte;  sondern  umgekehrt,  nur  die  objektiv  gleiche  Distanz  von 
dem  einen  und  dem  andern  Pol  bestimmt  seine  Richtigkeit.  So  also : 
„Wiege  zwischen  Kälte 
Und  Überspannung  dich  im  Gleichgewicht." 
Eine  andere  Polarität,  jetzt  in  negativem  Ausdruck: 

,,Unsrer  Krankheit  schwer  Geheimnis 

Schwankt  zwischen  Übereilung 

Und  zwischen  Versäumnis." 


90  Das  „Mittiere" 

Aus  dem  Ethischen  erweitert  sich  dies  zu  allgemeiner  geistiger 
Norm;  „Wie  wir  Menschen  in  allem  Praktischen  auf  ein  gewisses 
Mittleres  angewiesen  sind,  so  ist  es  auch  im  Erkennen.  Die  Mitte, 
von  da  aus  gerechnet,  wo  wir  stehen,  erlaubt  wohl  auf-  und 
abwärts  mit  Blick  und  Handeln  uns  zu  bewegen!  Nur  Anfang 
und  Ende  erreichen  wir  nie,  weder  mit  Gedanken  noch  Tun, 
daher  es  rätlich  ist,  sich  zeitig  davon  loszusagen."  Im  ganz  Per- 
sönlichen (aber  mit  unverkennbarer  Andeutung  eines  Typischen) 
spricht  er  einmal  gelegentlich  des  Verhältnisses  zu  zwei  Freunden 
von  ,,dem  Allgemeinen,  das  mir  gemäß  war"  —  und  charakteri- 
siert dies  als  ein  Mittleres,  da  von  diesem  aus  der  eine  ganz  in 
das  Einzelne  ging,  der  andre  ganz  in  ein  Allgemeinstes,  ,, wohin 
ich  ihm  nicht  folgen  konnte".  Der  Aristotelische  Gedanke,  die 
Tugend  sei  immer  ein  Mittleres  zwischen  einem  Zuviel  und  einem 
Zuwenig,  scheint  hier  in  sehr  vertiefter  Gestalt  aufzuleben.  Denn 
während  Aristoteles  jede  objektive  und  überindividuelle  Be- 
stimmung dieser  ,, Mitte"  ausdrücklich  ablehnt,  steht  offenbar 
vor  Goethes  Augen  ein  ideeller,  geistig-sittlicher  Kosmos,  auf 
dessen  Mittelpunkt  der  Mensch  angewiesen  ist  (um  andre  Wesen 
mag  sich  ein  andrer  bauen)  —  vielleicht  von  dem  Gefühle  aus, 
daß  wir  die  Totalität  des  Daseins  doch  am  weitesten  beherrschen, 
wenn  wir  uns  in  ihrer  Mitte  halten.  In  ein  Extrem  schwingend 
mögen  wir  nach  dieser  einen  Seite  ins  Weite  und  Weiteste  ge- 
langen; aber  dies  muß  mit  so  großer  Einbuße  an  der  entgegen- 
gesetzten Richtung  bezahlt  werden,  daß  in  der  Schlußbilanz  der 
Verlust  den  Gewinn  überwiegt.  Hier  zeigt  sich  der  tiefste  Sinn 
jener  ,, Ausgeglichenheit",  die,  wenn  nicht  die  Wirklichkeit,  so 
doch  die  Norm  des  Goetheschen  Lebens  gewesen  ist,  und  die  dem 
oberflächlichen  Blick  als  Kühle  erschienen  ist,  als  Versicherung 
gegen  die  Gefahr  der  Extreme,  als  die  ,, goldene  Mittelstraße" 
des  Philisteriums,  als  Harmonisierung  um  jeden  Preis  und  aus 
einem  ästhetisierenden  und  wohlweisen  Klassizismus  heraus. 
In  Wahrheit  gibt  das  von  ihm  gepriesene  und  erstrebte  ,, Gleich- 
gewicht", das  ,, Mittlere",  den  Punkt  der  Souveränität  an,  von 
dem  aus  die  Gebiete  des  Lebens  am  weitesten  beherrschbar, 
seine  Kräfte  am  vollkommensten  verfügbar  sind:    ein  Herrscher 


Aufnehmen,  Verarbeiten,   Entladen  91 

pflegt  auch  nicht  an  der  Grenze  seines  Landes,  sondern,  aus  den 
entsprechenden  Gründen,  möglichst  in  seinem  Zentrum  zu 
residieren.  Indem  ihm  das  objektive  und  das  subjektive  Sein 
in  Polaritäten  auseinandergeht  und  dieses  freilich  schon  ein  ideell 
einheitliches  Formprinzip  bezeichnet,  zieht  sich  dies  sozusagen 
praktisch  in  den  beiden  Bedeutungen  des  ,, Gleichgewichts" 
noch  einmal  zu  großen  Maximen  zusammen:  dem  Vitalitäts- 
maß, das  jedem  Wesen  nach  seiner  Grundform,  seinem  Typus 
eignet  und  das  sich  gleichmäßig  durch  alle  Formverschiebung 
seiner  Organe  hindurch  erhält  —  und  der  menschlichen  Ange- 
wiesenheit auf  das  , »Mittlere",  als  auf  die  zentrale  Position, 
von  der  sich  nach  den  jeweils  entgegengesetzten  Polen  des  Lebens 
ein  Maximum  beherrschten  und  bereicherten  Gebietes  spannt. 
Gehen  diese  Formen  und  Normen  des  Lebens  weit  über  allen 
schematischen  und  billigen  Sinn  der  ,, harmonischen  Existenz" 
hinaus,  so  finden  nun  auch  sie  in  der  Gestalt  seines  persönlichen 
Daseins  ihr  Symbol  und  eine  tiefe  Fundamentierung.  Goethes 
Existenz  wird  durch  das  glücklichste  Gleichgewicht  der  drei 
Richtungen  unsrer  Kräfte  charakterisiert,  deren  mannigfaltige 
Proportionen  die  Grundform  jedes  Lebens  abgeben:  der  auf- 
nehmenden, der  verarbeitenden,  der  sich  äußernden.  In  diesem 
dreifachen  Verhältnis  steht  der  Mensch  zur  Welt:  zentripetale 
Strömungen,  das  Äußere  dem  Inneren  vermittelnd,  führen  die 
Welt  als  Stoff  und  Anregung  in  ihn  ein,  zentrale  Bewegungen 
formen  das  so  Erhaltene  zu  einem  geistigen  Leben  und  lassen  das 
Äußere  zu  einem  empirischen,  zu  unsrem  Ich-Besitz  werden,  zen- 
trifugale Tätigkeiten  entladen  die  Kräfte  und  Inhalte  des  Ich  wieder 
in  die  Welt  hinein.  Wahrscheinlich  hat  dieses  dreiteilige  Lebens- 
schema eine  unmittelbare  physiologische  Grundlage,  und  der 
seelischen  Wirklichkeit  seiner  harmonischen  Erfüllung  ent- 
spricht eine  gewisse  Verteilung  der  Nervenkraft  auf  diese  drei 
Wege  ihrer  Betätigung.  Beachtet  man  nun,  wie  sehr  das  Über- 
gewicht eines  derselben  die  anderen  und  die  Gesamtheit  des 
Lebens  irritiert,  so  möchte  man  ihre  wundervolle  Ausgeglichen- 
heit in  Goethes  Natur  als  den  physisch-psychischen  Ausdruck 
für  deren  Schönheit  vmd  Kraft  ansehen.    Er  hat  innerlich  so- 


92*  Gleichgewicht  in  der  Lebenskonfiguration 

zusagen  niemals  vom  Kapital  gezehrt,  sondern  seine  geistige 
Tätigkeit  war  fortwährend  von  der  rezeptiven  Hinwendung  zur 
Wirklichkeit  und  allem,  was  sie  bot,  genährt;  seine  inneren  Be- 
wegungen haben  sich  nie  gegenseitig  aufgerieben,  sondern  seine 
ungeheure  Fähigkeit,  sich  nach  außen  hin  handelnd  und  redend 
auszudrücken,  verschaffte  jeder  die  Entladung,  in  der  sie  sich 
völlig  ausleben  konnte:  in  diesem  Sinne  hat  er  es  so  dankbar 
hervorgehoben,  daß  ihm  ein  Gott  gegeben  hat,  zu  sagen,  was 
er  leidet.  Und  ganz  verallgemeinert  und  in  die  Idee  des  Menschen- 
lebens überhaupt,  von  der  hier  die  Rede  ist,  hinüberweisend: 
,,Der  Mensch  erfährt  und  genießt  nichts,  ohne  sogleich  produktiv 
zu  werden.  Dies  ist  die  innerste  Eigenschaft  der  menschlichen 
Natur.  Ja,  man  kann  ohne  Übertreibung  sagen,  es  sei  die  mensch- 
liche Natur  selbst."  In  den  mannigfaltigsten,  auch  negativen 
Formen,  ist  in  seiner  persönlichen  Lebenskonfiguration  das 
,, Gleichgewicht"  nach  jenen  beiden  Bedeutungen  zu  erkennen, 
als  Verteilung  einer  konstanten  Dynamis  auf  objektiv  sehr  ver- 
schieden entwickelte  Betätigungsweisen  —  und  als  Gewinn 
eines  zentralen  Punktes  von  entschiedenster  Herrschaft  gegen- 
über den  polar  erstreckten  Interessengebieten.  So,  wie  er 
angesichts  der  Lücken  seiner  Begabung  die  Totalität  und  Aus- 
geglichenheit seines  Wesens  wenigstens  ideell  herstellt:  ,,Ich 
hörte  mich  anklagen,  als  sei  ich  ein  Feind  der  Mathematik  über- 
haupt, die  doch  niemand  höher  schätzen  kann  als  ich,  da  sie 
gerade  das  leistet,  was  mir  zu  bewirken  völlig  versagt  worden.** 
,,Je  weniger  mir  eine  natürliche  Anlage  zur  bildenden  Kunst 
geworden  war,  desto  mehr  sah  ich  mich  nach  Gesetzen  und 
Regeln  um;  ja  ich  achtete  weit  mehr  auf  das  Technische  der 
Malerei,  als  auf  das  Technische  der  Dichtkunst;  wie  man  denn 
durch  Verstand  und  Einsicht  dasjenige  auszufüllen  sucht,  was  die 
Natur  Lückenhaftes  an  uns  gelassen  hat."  Und  nach  der  andern 
Seite  hin:  ,,In  den  hundert  Dingen,  die  mich  interessieren, 
konstituiert  sich  immer  eins  in  der  Mitte  als  Hauptplanet  und 
das  übrige  Quodlibet  meines  Lebens  treibt  sich  indessen  in  viel- 
seitiger Mondgestalt  umher,  bis  es  einem  und  dem  andern  auch 
gelingt,  gleichfalls  in  die  Mitte  zu  rücken."    Er  fühlte  sich  sozu- 


Beweglichkeit  und  Balance  93 

sagen  immer  im  Mittelpunkte  seiner  Existenz.  Er  selbst  deutet 
öfters  an,  wie  leicht  sein  Geist  in  die  eine  oder  andre  Tendenz 
oder  Interessiertheit  hineinglitt,  jedesmal  damit  gleichsam  ein 
besonderes  Geistesorgan  ausbildend,  und  wie  leicht  er  von  diesen 
einseitigen  Bewegtheiten  sich  wieder  zu  Zentralität  und  Gleich- 
gewicht zurückfand.  Es  ist  damit  angedeutet,  wie  wenig  dies 
Gleichgewicht  ein  starres  und  irgendwie  mechanisches  war;  es 
war  vielmehr  ein  lebendig  labiles,  aus  fortwährender  Verschiebung 
fortwährend  neu  zu  gewinnendes  —  wie  er  denn  dauernd  und  noch 
einmal  kurz  vor  seinem  Ende  sich  rühmt,  daß  er  ,,sich  leicht  wieder- 
herstellte*', freilich  in  Verbindung  damit  —  und  vielleicht  bedingt 
dadurch — ,  daß  er ,, heiter  entsage".  Gerade  daß  er  sich  dauernd  ent- 
wickelte, sich  stets  auf  dem  Wege  zu  einem  idealen  inneren  Ziel  be- 
fand, ließ  ihn  seinen  Zustand  in  jedem  Augenblick  als  einen  ,, mitt- 
leren" empfinden.  Vielleicht  gilt  dies  sogar  für  die  tiefste  und 
breiteste  Entwicklung  seines  Lebens,  für  den  Übergang  von  der 
subjekti vischen  Jugend  zu  dem  objektivischen  Alter.  Daß  er 
gerade  in  seinen  ganz  späten  Jahren  noch  einmal  von  Shake- 
speare als  von  dem  ,, höheren  Wesen"  spricht,  an  das  er  nicht 
heranreiche,  mag  sich  darauf  gründen,  daß  Shakespeare  die  ab- 
solute, das  Subjekt  ganz  ablösende  Objektivität  besitzt,  zu  der  er 
sich,  in  so  unerhörtem  Maße  er  sie  auch  erworben  hatte,  seinem 
eigenen  Gefühl  nach  immer  erst  auf  dem  Wege  fand.  Damit 
freilich  hatte  er  auch  zu  dieser  Objektivität 
wieder  eine  Distanz,  er  sah  auch  seine  Objektivität 
objektiv  an,  gerade  wie  seine  Subjektivität.  Gerade  mit  der  rast- 
losen evolutiven  Bewegung  von  einem  Pol  zum  andern  gewann 
er  das  stets  verschobene  und  in  dieser  Verschiebung  sich  als 
lebendiges  bewahrende  Gleichgewicht,  das  den  Reichtum  des 
subjektiven  und  den  des  objektiven  Daseins  aufs  harmonischste 
zusammenschloß. 

Diesen  ganzen  Lebensprozeß  dominierte  das  Glück  seiner  Natur 
mit  ihrer  einzigen  Vereinigung  von  Beweglichkeit  und  Balance: 
daß  jene  großen  Richtungen,  in  denen  das  Weltleben  des  Menschen 
steht,  die  zentripetale,  zentrale  und  zentrifugale  —  völlig  gleiche 
Kräfte   in   die  Labilität   seines  Lebens   einzusetzen    hatten.     Er 


94  Die  lebendige  Einheit 

hat  die  Welt  gleichsam  ohne  Stockung  durch  sich  hindurch- 
geleitet, das  Gleichgewicht  seines  inneren  Daseins  war  nichts 
anderes  als  das  Gleichgewicht  in  seiner  aufnehmenden  und  ab- 
gebenden Beziehung  zur  Welt.  Und  so  wird  er  das  Gleichgewicht 
nicht  als  eine  kosmische  Idee  statuiert  haben,  weil  er  es  zufällig 
in  seinem  Subjekt  besaß;  sondern  dieser  Besitz  war  nur  die  Innen- 
seite seines  Lebensverhältnisses  zur  Welt  und  erst  damit 
der  Rechtstitel  dazu,  einen  persönlichen  Zustand  zur  Maxime 
des  Weltverständnisses  zu  machen. 

Betrachtet  man  nun  diese  einzelnen  Kategorien  in  dem  Zu- 
sammenhang der  Weltanschauung,  die  sich  mittels  ihrer  erbaut, 
so  können  sie  alle  als  die  Hülfen  eines  einzigen  strukturellen 
Motivs  gelten.  An  der  Basis  jener  Weltanschauung  steht  die 
Idee  der  Einheit;  Goethe  ist  der  eminent  synthetische  Geist, 
in  dessen  Natur,  wie  er  selbst  sagt,  ,, Trennen  und  Zählen 
nicht  lag".  Diese  Einheit  aber  in  ihrer  logischen  Absolutheit, 
für  die  alle  Unterschiede  und  alle  Mannigfaltigkeit  verschwinden, 
ist  das  Starre  und  Unfruchtbare,  bei  dem  alles  Denken  auf- 
hört; denn  es  hat,  weil  keine  Unterschiede,  auch  keine  Inhalte 
und  ist  das  leere  abstrakte  Sein  überhaupt.  Diese  Bedeutung  und 
Konsequenz  der  ,, Welteinheit"  sieht  Goethe  vor  sich  und  alles 
kommt  für  ihn  darauf  an,  ihr  zu  entgehen;  er  kann  seiner  ganzen 
Natur  nach  mit  einer  starren  und  logischen  Einheit  nichts  anfan- 
gen, sondern  nur  mit  einer  lebendigen  —  nur  daß  das  Lebendige, 
als  ein  Vielfaches,  Bewegliches,  innerlich  Unterschiedenes  nicht 
zugleich  mit  der  absoluten  Einheit  denkbar  scheint!  Alle  jene 
großen  Maximen  oder  formalen  Ideen  sind  nun  die  Mittel,  um  die 
Welt  einheit  als  lebendige  vorstellen  zu  können ;  da- 
mit erweitert  sich  eine  vorherige  Ausführung  zum  Fundament 
der  Weltanschauung  in  ihrer  Gesamtheit.  Es  ist  das  große  Pro- 
blem: wie  kann  die  Welt,  diese  mannigfaltig  reiche,  in  Gegensätze 
differenzierte,  in  unendlichen  Entwicklungen  bewegte  sein  —  und 
doch  Einheit  ?  Welches  sind  die  Arme,  die  sie  ausstreckt,  um  das 
Einzelne  aus  seiner  Buntheit  und  Zerspaltenheit  heraus  in  sich  ein- 
zuziehen, ohne  ihm  doch  diese  Besonderung  und  Bewegtheit  zu 
rauben ,  die  das  Leben  als  solches  bedingen  —  welches  die  allgemeinen. 


Mittler  95 

kategorialen  Formen  der  Weltinhalte,  durch  die  sie  gleichsam 
der  Welteinheit  erlebbar  werden?  Durch  die  ganze  Geschichte 
der  philosophischen  und  der  religiösen  Weltdeutungen  zieht  sich 
dieses  Bedürfnis:  Vermittlungen  aufzufinden  zwischen  dem  Einen, 
das  der  Gedanke  oder  die  religiöse  Sehnsucht  setzte,  und  dem 
unübersehbar  Vielfältigen  der  Einzelheiten.  Als  Ideen  oder  Emana- 
tionsstufen, als  Hierarchie  der  Heiligen  oder  Materialisationen  der 
Gottheit,  als  Kategorien  oder  Schemata  —  immer  scheinen  Gebilde 
vonnöten,  die  sozusagen  mit  ihrer  einen  Seite  dem  Absoluten  und 
Einen,  mit  ihrer  anderen  dem  Besonderen  und  Vielfältigen  zuge- 
wandt sind,  die  als  Mittler  an  beiden  Naturen  Anteil  haben.  Sie 
üben  immer  die  gleiche  Funktion,  mögen  sie  metaphysischen, 
ideellen  oder  erkenntnistheoretischen  Wesens  sein,  mögen  sie  dem 
Einen  noch  unmittelbar  anwohnen  oder  nur  an  den  singulären 
Erscheinungen  aufzeigbar  oder  gleichsam  halbwegs  zwischen 
beide  Pole  gesetzt  sein.  In  diese  Reihe  gehört,  was  ich  hier  als 
Maximen  oder  Ideen  behandle,  die  für  Goethe  ,,die  Idee"  an  den 
Erscheinungen  sichtbar  machen,  den  Zusammenhang  des  Einzel- 
nen mit  der  Welteinheit  gewährleisten  und  eben  damit  die  Richtig- 
keit der  Erkenntnis,  die  sie  an  den  Phänomenen  erschaut.  Nur  daß 
sie  für  Goethe  nicht  nur  zwischen  den  logischen  Gegensätzen  des 
Einen  und  des  Vielen  vermitteln,  sondern  zwischen  der  ruhenden 
Absolutheit  des  Einen  und  dem  Leben,  der  bewegten  Vielfältigkeit 
der  gegebenen  Welt.  Darum  müssen  die  Dinge  schön  sein, 
um  wahr  zu  sein,  müssen  die  Teile  des  einzelnen  in  lebendiger 
Wechselwirkung  zusammengeschlossen  sein,  müssen  die  Erschei- 
nungen in  polarem  Sich-Entsprechen  aufeinander  hinweisen, 
müssen  sie,  mit  aller  Selbständigkeit,  doch  in  kontinuierliche 
Reihen  anzuordnen  sein,  müssen  sie  allenthalben  zum  Gleich- 
gewicht streben  und  erst  mit  seiner  Erreichung  ihr  Sein  vollenden. 
Alles  dies  sind  Formen  der  angeschauten  Erscheinungen,  durch 
die  sie,  unmittelbar  oder  symbolisch,  ihre  Lebendigkeit,  das  Diffe- 
renzierungs-  und  Wechselwirkungsspiel  ihrer  Individualitäten,  als 
in  der  absoluten  Einheit  des  Ganzen  zusammengehalten  zeigen. 
Schönheit  wie  Polarität  und  Gleichgewicht,  Organisiertheit  und 
Kontinuität  bringen  dem  Einzelnen  Erlösung  aus  seiner  Einzelheit. 


96  Das  Leben  und  das  Eine 

ohne  es  doch  in  die  logische  Starrheit  des  bloßen  ununterschiedenen 
Eins  sinken  zu  lassen.  Sie  sind  die  wahren  „Mittler",  indem  sie 
sich  nicht  mit  irgendeiner  metaphysischen  Realität  zwischen 
das  Eine  und  die  Summe  der  Einzelheiten  schieben  und  dadurch, 
wie  so  viele  der  sonst  behaupteten  Träger  der  gleichen  Funktion, 
ebenso  trennen  wie  verbinden  —  sondern  sie  sind  der  an  den 
Einzelheiten  selbst  anschauliche  Beweis,  daß  ,,die  Idee",  das  Gött- 
liche, die  übergreifende  Einheit  in  ihnen  besteht;  sie  sind  die  For- 
men, die  die  Kluft  zwischen  dem  Einen  und  dem  Leben  verschwin- 
den machen,  in  demMaße  ihrer  Verwirklichung  offenbart  sich,  daß 
die  All-Einheit  lebt  und  daß  das  Leben  eine  Einheit  ist. 


Viertes  Kapitel. 

Getrenntheit  der  Weltelemente. 

Die  große  Synthese  der  Goetheschen  Weltanschauung  kann 
man  damit  charakterisieren :  daß  die  Werte,  die  das  Kunst- 
werk als  solches  konstituieren,  mit  der  Welt  des  Wirklichen 
durchgehende,  formale  und  metaphysische  Gleichheiten  und 
Einheitlichkeiten  besitzen.  Ich  hatte  als  die  fundamentale  Über- 
zeugung dieser  Weltanschauung  die  Ungetrenntheit  von  Wirklich- 
keit und  Wert  bezeichnet,  und  dies  als  die  Voraussetzung  des 
Künstlertums  überhaupt.  Ein  Künstler  mag  die  Welt  als  noch  so 
kontraideal  ansehen,  seine  Phantasie  mag  sich  noch  so  gleichgültig 
oder  abstoßend  gegen  alle  Wirklichkeit  verhalten;  seine  Welt- 
anschauung ist  dann  pessimistisch,  chaotisch,  mechanistisch  und 
wird  nicht  von  seinem  Kunst  1er tum  gestaltet.  Wenn  sie  aber 
im  positiven  Sinne  künstlerisch  ist,  so  kann  dies  nur  besagen, 
daß  die  Reize  und  Bedeutsamkeiten  der  künstlerisch  geformten 
Erscheinung  in  irgend  einer  Art,  nach  irgend  einer  Dimension 
hin  schon  in  der  naturhaft  dargebotenen  Erscheinung  bestehen. 
Es  scheint  doch  auch,  als  ob  alle  Künstler  Naturanbeter  wären 
—  in  so  partieller,  auf  einzelne  Gebiete  beschränkter,  durch 
wunderliche  Vorzeichen  bestimmter  Form  dies  sich  auch  offen- 
bare, und  obgleich  manche  Erscheinungen  der  Gegenwart  eine 
Wendung  hierin  vorzubereiten  scheinen,  die  aber  auch,  wenn 
sie  sich  durchsetzte,  die  radikalste  je  dagewesene  Revolution  des 
Kunstwollens  bedeuten  würde.  Goethe  indes  hat  jedenfalls 
jenes  Verhältnis  in  der  umfassendsten  und  reinsten  Konsequenz 
entwickelt,  indem  ihm  die  Schönheit  zum  Kennzeichen  der 
Wahrheit  wird,  die  Idee  in  der  Erscheinung  anschaulich,  ein 
Letztes  und  Absolutes,  das  hinter  der  Kunst  liegt,  auch  das 
Letzte   und  Absolute    der  Wirklichkeit    ist. "   Vielleicht    ist  dies 

Simmel,  Goethe.  7 


98  Wirklichkeit  und  Wert 

das  entscheidende  Motiv  für  ihn,  sich  einen  „dezidierten  Nicht- 
Christen" zu  nennen.  Denn  das  Christentum  hat,  mindestens 
in  seinen  asketisierenden  Richtungen,  Wirklichkeit  und  Wert 
aufs  weiteste  auseinandergerissen,  mehr  selbst  als  die  indische 
Weltanschauung.  Denn  so  radikal  diese  auch  die  Wirklichkeit 
von  jeglichem  Wert  entblößt,  so  wird  dies,  für  unsern  Zusammen- 
hang, dadurch  wieder  aufgehoben,  daß  der  Wirklichkeit  hier 
gar  keine  konkrete  Daseinsbedeutung  zuerkannt  wird:  wo  alle 
Wirklichkeit  nur  Traum  und  Schein,  also  eigentlich  Unwirklich- 
keit  ist,  da  fehlt  genau  genommen  das  Subjekt,  dem  der  Wert 
abgesprochen  werden  könnte.  Erst  die  härtere  Denkart  des 
Christentums  hat  die  Welt  gleichsam  in  ihrer  vollen  Drei- 
dimensionalität  und  Substanz  bestehen  lassen  und  ihr  dennoch 
jeden  Eigenbestand  an  Wert  genommen:  sei  sie  nun  Jammertal 
und  Teufelsdomäne,  seien  ihr  ihre  Werte  durch  Gnade  vom 
Jenseits  her  verliehen,  sei  sie  der  Ort  der  Sehnsucht  und  der 
Vorbereitung  für  das  Überirdische,  den  Ort  der  Werte.  Alle 
drei  Formen  des  christlichen  Verhältnisses  zur  natürlichen 
Wirklichkeit  müssen  Goethe  gleichmäßig  widerstehen  —  ihm, 
dem  die  Natur  ,,die  gute  Mutter"  ist,  der  zwar  oft  genug  von 
göttlicher  Gnade  spricht,  aber  immer  im  Sinne  eines  der  Wirk- 
lichkeit immanenten  Gottes,  ja,  der  die  Gottseligkeit  frommer 
Menschen  als  ,,eine  Gnade  der  Natur",  die  sie  ,,mit  einer 
solchen  Zufriedenheit  versorgt"  habe,  betrachtet.  In  einem 
Grunde  der  Dinge,  zu  dem  von  ihrer  Oberfläche  her  mindestens 
ein  kontinuierlicher  Weg  führt,  ist  ihm,  im  Gegensatz  gerade 
zu  allem  christlichen  Dualismus,  Wirklichkeit  und  Wert  identisch. 
Ist  dies  nun  der  metaphysische  Ausdruck  seines  Künstlertums 
(oder  vielleicht :  der  Ausdruck  einer  letzten  Beschaffenheit  seines 
Daseins,  die  durch  sein  Künstlertum  hindurch  wirkte),  so  ist 
damit  von  der  zeitlichen  Entwicklung,  den  Abweichungen  und 
dem  labilen  Spiel  der  Elemente  abgesehen,  durch  all  welches 
diese  zeitlose  Formel  getragen  und  verwirklicht  wird.  Denn 
diese  Verwirklichung,  als  eine  historisch -psychologische,  ist 
immer  nur  relativ  und  besitzt  in  den  Schicksalen  der  Zeit  nicht 
die  Reinheit  und  Einheit  der  ,,Idee",  als  welche  ich  sie  bisher 


Variierende  Synthesen  99 

hinstellte  —  wofür  sein  kühnes,  immer  zu  wiederholendes  Wort 
von  dem  Gesetze  gilt,  von  dem  die  Erscheinung  nur  Ausnahmen 
zeigt.  Diese  Doppelheit  des  kategorialen  Vorstellens  fordert  jedes 
große  Leben:  die  durchgehende  oder  darüberstehende  Idee, 
die  gewissermaßen  ein  Drittes  jenseits  des  Gegensatzes  von 
abstraktem  Begriff  und  dynamischer  Realität  darstellt,  —  und  das 
in  mannigfaltigem  Abstand  davon,  in  unendlicher  Annäherung 
daran  sich  zeitlich  vollziehende  Leben  und  Wirken.  Vielleicht 
gehört  jedes  Leben  unter  diese  zwei  Gesichtspunkte;  aber  als 
ein  großes  bezeichnen  wir  eben  das,  dessen  Betrachtung  sie 
unvermeidlich  und  entschieden  gegeneinander  spannt,  in  dem 
seine  Idee  und  deren  seelisch -lebendige  Realisierung  je  ein 
Ganzes  sind.  Vielleicht  ist  diese  notwendige  methodische  Sonde- 
rung des  Betrachtens  das  Symbol  für  die  zeitlose,  metaphysische 
Tragödie  der  Größe,  von  der  all  ihre  zeitlichen  Tragödien  nur 
Spiegelungen  in  der  Form  des  Schicksals  sind.  Ich  wende  mich 
nun  jenem  zweiten  Aspekt  seines  geistigen  Weltbildnertums  zu: 
den  variierenden  Synthesen,  den  hin-  und  herspielenden  Relationen 
und  Abständen  der  Elemente,  in  deren  Einheit  uns  bisher  die 
sozusagen  absolute  Idee  seines  Weltdenkens  bestand. 

Fragt  man  so  nach  der  näheren  Formel,  in  der  jenes  schließlich 
einheitliche  ideelle  Verhältnis  zwischen  Kunst  und  Wirklichkeit 
sich  bei  ihm  vollzieht,  so  zeigt  sich  sogleich,  daß  darauf  keine 
eindeutige  Antwort  möglich  ist.  Nicht  nur  in  seinen  ver- 
schiedenen Epochen,  sondern  in  einer  und  derselben  begegnen 
ganz  unvereinbare  Äußerungen  über  jenes  Verhältnis;  ja  daß 
es  seinen  prinzipiellsten  und  letzten  Überzeugungen  nach  ein 
unbedingt  enges,  in  irgend  einer  Wurzel  vereinheitlichtes  war 
—  das  ist  vielleicht,  so  paradox  es  klingt,  der  Grund  für  die 
Divergenz  seiner  Deutungen.  Denn  wie  eine  höchst  enge  Be- 
ziehung zwischen  zwei  Menschen  einen  Wechsel  von  Innigkeit 
und  Verstimmung,  Verlegungen  des  Schwerpunktes,  ja  die 
Chance  von  Bruch  und  Versöhnung  eher  mit  sich  bringen  wird, 
als  ein  fremderes,  das  sich  viel  leichter  in  dem  einmal  gegebenen 
Charakter  und  Temperatur  halten  läßt  —  so  werden  in  einem 
Geist  gerade  zwei  unbedingt  aufeinander  angewiesene  Begriffe 


100  Entwicklung  der  Kunsttheorien 

besonders  dazu  neigen,  eine  Fülle  divergenter  Beziehungs- 
schicksale zu  durchleben.  Drei  prinzipielle  Verhältnisse  zwischen 
Natur  und  Kunst  scheinen  mir  in  Goethes  Äußerungen  abzu- 
wechseln, und  zwar  so,  daß  in  jeder  der  drei  Lebensepochen: 
der  Jugend,  der  von  der  italienischen  Reise  dominierten 
mittleren  Zeit  und  dem  Alter  je  eines  hervortrat.  Es  wird 
sich  zeigen,  daß  seine  jeweilige  Kunsttheorie  zu  den  sonstigen 
Charakterzügen  der  betreffenden  Epoche  durchaus  harmonisch 
ist;  dennoch  gebe  ich  dies  Entwicklungsgeschichtliche  ausdrück- 
lich als  Hypothese,  um  so  mehr,  als  gerade  in  dieser  Frage 
Goethe  gewisse  Erkenntnisse,  die  einer  späten  und  reifen  Zeit 
angehören,  in  einer  viel  früheren,  mit  dieser  fast  zusammen- 
hangslos, aufleuchten  läßt  —  mit  derselben  Unbegreiflichkeit 
und,  sozusagen,  Zeitlosigkeit  des  Genies,  wie  das  gleiche  bei 
Rembrandt  und  bei  Beethoven  geschieht. 

Über  sein  jugendliches  Verhältnis  zu  Kunstwerken  —  in  der 
Leipziger  Zeit  —  berichtet  er  später:  ,,Was  ich  nicht  als  Natur 
ansehn,  an  die  Stelle  der  Natur  setzen,  mit  einem  bekannten 
Gegenstande  vergleichen  konnte,  war  auf  mich  nicht  wirksam." 
Die  natürliche  Wirklichkeit  und  der  künstlerische  Wert  bestehen 
hier  für  ihn  in  einer  naiv  undifferenzierten  Einheit,  die  er  aus- 
schließlich von  der  Seite  der  ersteren  her  sieht.  In  den  Briefen 
aus  der  Schweiz  von  1775  gesteht  er,  an  einem  wundervollen 
Aktbild  weder  Freude  noch  eigentliches  Interesse  fühlen  zu 
können,  da  er  von  der  Wirklichkeit  des  menschlichen  Körpers 
kein  rechtes  anschauliches  Bild  habe.  Die  geistesgeschichtlichen 
Motive,  die  ihn  auch  einem  dichterischen  Naturalismus  zutrieben, 
sind  bekannt  genug.  Die  seelische  Lage  aber,  die  diese  ganze 
Tendenz  unterbaute,  scheint  mir  durch  seine  Charakterisierung 
seiner  Jugendepoche  als  eines  ,, liebevollen  Zustandes"  ange- 
deutet. Das  überquellende  Herz  des  Jünglings,  wie  jede  seiner 
Äußerungen  es  verrät,  wollte  die  ganze  Welt  in  sich  einziehen 
und  sich  der  ganzen  Welt  hingeben.  Es  gab  keine  Wirklich- 
keit, die  er  nicht  mit  Leidenschaft  umfaßte,  mit  einer  Leiden- 
schaft, die  sozusagen  nicht  vom  Gegenstand  entzündet  wurde, 
sondern   wie   spontan   aus   seiner  Lebensfülle  hervorbrach  und 


Jugendliches  Verhältnis  zur  Wirklichkeit  101 

sich  auf  den  Gegenstand  stürzte,  sozusagen  bloß  weil  er  da 
war.  In  seinem  26.  Jahre  schreibt  er,  daß  der  Künstler  nur 
die  Schönheiten,  ,,die  sich  in  der  ganzen  Natur  zeigen",  ,,die 
Gewalt  dieser  Zauberei",  die  um  Wirklichkeit  und  Leben  weht, 
besonders  kräftig  und  wirksam  spüre  und  ausdrücke.  ,,Die 
Welt  liegt  vor  ihm  wie  vor  ihrem  Schöpfer,  der  in  dem  Augen- 
blick, wo  er  sich  des  Geschaffenen  freut,  noch  alle  die  Har- 
monien genießt,  durch  die  er  sie  hervorbrachte  und  in  denen 
sie  besteht."  Es  scheint  mir  unzweifelhaft:  in  dieser 
Epoche  liebt  er  die  Wirklichkeit  nicht,  weil  sie  ihm  Idee  und 
Wert  entgegenträgt,  sondern  er  sieht  dies  in  ihr,  weil  er  sie 
liebt.  Dies  typische  Verhalten  des  Jünglings  gegenüber  der 
geliebten  Frau  wird  von  seinem  Lebensüberschuß  zu  einer 
Welterotik  gesteigert.  Weil  aber  diese  erste  Form  der  Unge- 
trenntheit  von  Wirklichkeit  und  künstlerischem  Wert  —  er 
sagt  später,  daß  seine  Gedichte  vom  Anfang  der  zwanziger 
Jahre  ,,die  Kunstnatur  und  die  Naturkunst  enthusiastisch  ver- 
künden" —  noch  keine  feste  Synthese  bedeutete,  sondern  nur 
vom  Subjekt  herkam,  das  sehnsüchtig  war,  einen  ungeheuren 
Reichtum  zu  verschenken,  so  können  die  Akzente  gelegentlich 
auch  ganz  anders  fallen.  Zwei  Jahre  vor  der  letztangeführten 
Äußerung  liegt  die  ganz  abweichende:  ,,Wenn  die  Kunst  auch 
wirklich  die  Dinge  verschönerte,  so  tue  sie  das  doch  nicht  nach 
dem  Beispiel  der  Natur.  Denn  diese  ist  Kraft,  die  Kraft  ver- 
schlingt ;  tausend  Keime  zertreten ;  schön  und  häßlich,  gut  und 
bös,  alles  mit  gleichem  Rechte  nebeneinander  existierend.  Und 
die  Kunst  ist  gerade  das  Widerspiel;  sie  entspringt  aus  den 
Bemühungen  des  Individuums,  sich  gegen  die  zerstörende  Kraft 
des  Ganzen  zu  erhalten.  Der  Mensch  befestigt  sich  gegen  die 
Natur,  ihre  tausendfachen  Übel  zu  vermeiden  und  nur  das 
Maß  von  Gutem  zu  genießen,  bis  es  ihm  endlich  gelingt,  die 
Zirkulation  aller  seiner  Bedürfnisse  in  einen  Palast  einzuschließen, 
sofern  es  möglich  ist,  alle  zerstreute  (!)  Schönheit  und  Glück- 
seligkeit in  seine  gläsernen  Mauern  zu  bannen."  Aber  mit 
einer  wunderbaren  Antizipation  erhebt  er  sich  noch  in  dem- 
selben Jahre  über  den  ganzen  Gegensatz:  ob  in  der  Kunst  nur 


102  Kunst  als  Bildungstrieb 

die  natürliche  Wirklichkeit,  die  überall  schön  sei,  bestehe  und 
wirke,  oder  ob  sie  eine  Schönheit,  die  die  Natur  nicht  gegeben 
habe,  sich  aus  eignem  Recht  zum  Zweck  setze:  ,,Sie  wollen 
euch  glauben  machen,  die  schönen  Künste  seien  entstanden 
aus  dem  Hang,  den  wir  haben  sollen,  die  Dinge  rings  um  uns 
zu  verschönern.  Das  ist  nicht  wahr!  —  Die  Kunst  ist  lange 
bildend,  eh  sie  schön  ist,  und  doch  so  wahre,  große  Kunst, 
ja,  oft  wahrer  und  größer  als  die  schöne  selbst.  Denn  in  dem 
Menschen  ist  eine  bildende  Natur,  die  gleich  sich  tätig  beweist, 
wann  seine  Existenz  gesichert  ist.  Und  laß  diese  Bildnerei  aus 
den  willkürlichsten  Formen  bestehen,  sie  wird  ohne  Gestalts- 
verhältnisse zusammenstimmen,  denn  eine  Empfindung  schuf 
sie  zum  charakteristischen  Ganzen."  Dies  ist  wohl  eines  der 
tiefsten  Erkenntnisse  über  die  Kunst:  daß  sie  nicht  einem 
eudämonistischen  Triebe  zur  Schönheit  entspringe,  sondern  dem 
Schaffensdrange,  der  ,, bildenden  Natur"  in  uns,  die  gestalten 
will;  verwandt  der  platonischen  Diotima,  die  den  Eros,  ganz 
jenseits  aller  Begierde  des  Genießens,  auf  unsern  Wesenstrieb 
stellt:  zu  erschaffen  und  in  Gebilden  außerhalb  unser  selbst, 
körperlichen  und  seelischen,  unser  Sein  zeugend  zu  erhalten. 
Es  findet  seine  Ergänzung  in  der  Vorstellung,  die  sich  in  den 
Gedichten  dieser  Jahre  —  wenn  auch  nicht  mit  der  gleichen 
Deutlichkeit  —  empordrängt:  daß  es  die  Kraft  der  Natur  und 
ihres  ,, Urquells"  sei,  die  in  den  ,, Fingerspitzen"  des  Künstlers 
• —  gerade  diesen  Ausdruck  liebt  er  jetzt  —  schöpferisch  hervor- 
bricht. Freilich  ist  die  ,, Natur"  in  dieser  frühen  Periode  noch 
im  rein  dynamischen  Sinne  verstanden,  als  ein  Drängendes, 
Quellendes  —  aber  noch  nicht  als  die  Einheit  der  Gestaltungen, 
noch  nicht  als  Ort  der  ,,Idee";  Leben  und  Wirklichkeit  mußte 
sich  erst  stärker  gegeneinander  spannen,  damit  unter  dem  Einfluß 
Italiens  und  der  Klassik  ein  vertiefter  Begriff  von  der  Natur,  als 
dem  eigentlich  Formenden  auftrete  und  auf  dieser  Voraussetzung 
die  Schönheit  des  Kunstwerks  sowohl  die  Vollendung  des 
Menschen  wie  die  der  Wirklichkeit  außer  ihm  offenbare.  Sein 
jugendlicher  Naturalismus  entsprang  dem  Gefühl  einer  Kraft, 
die  etwas  Subjektives  war,   in  das  Gefühl  ihres  ungebrochenen 


Leben  über  der  Schönheit  103 

Könnens  Natur  und  Kunst  einschloß  und  damit  die  Welt  ergriff. 
Diesem  Stande  seines  Künstlertums  entspricht  die  Briefstelle: 
„Sieh,  Lieber,  was  doch  alles  Schreibens  Anfang  und  Ende  ist: 
die  Reproduktion  der  Welt  um  mich,  durch  die  innere  Welt, 
die  alles  packt,  verbindet,  neuschafft,  knetet  und  in  eigener 
Form,  Manier  wieder  hinstellt."  Nirgends  erscheint  hier  die 
Schönheit,  der  spezifisch  ästhetische  Wert,  als  der  für  sich 
bestimmende,  entscheidende  Leitbegriff.  Und  dies  würde  der 
inneren  Attitüde  seiner  Jugend  auch  ganz  widersprechen.  Nicht, 
weil  diese  Kategorie  etwas  zu  Zartes  und  Stilles  wäre,  um  dem 
stürmischen  Draufgängertum  dieser  Periode  genugzutun;  dies 
wäre  gar  zu  äußerlich.  Sondern  weil  seine  Jugend  —  ein 
späteres  Kapitel  wird  dies  ganz  ausführlich  darstellen  —  von 
einem  Ideal  des  persönlichen  Seins  als  ganzen,  der  menschlichen 
Totalität  als  Einheit  erfüllt  war.  Hier  war  die  Schönheit  etwas 
Einseitiges,  Differenziertes,  sie  konnte  nicht  Führerin  und  letzte 
Instanz  für  die  unmittelbare  Ganzheit  dieser  Existenz  und  dieser 
Idealbildung  sein,  die  sozusagen  vor  aller  Synthese  lag,  weil  die 
Elemente,  in  deren  Synthese  sein  späteres  Leben  verfloß,  über- 
haupt noch  nicht  auseinandergetreten  waren.  Es  war  das 
Stadium  der  sozusagen  unkritischen,  subjektiven  Einheit  von 
Wirklichkeit  und  Wert;  denn  die  Strömung  dieses  Lebens  riß 
das  in  ihr  geformte  künstlerische  Ideal  ohne  weiteres  in  ihre 
Einheit  mit,  und  indem  sie  sich  selbst  als  stärkste,  unmittel- 
barste Wirklichkeit  fühlte,  erfüllte  sie  dieses  Ideal  ganz  mit 
Wirklichkeitsgehalt.  Gerade  darum  konnte  die  Idee  der  Schön- 
heit, die  der  Wirklichkeit  gegenüberstände,  zwar  aufkommen, 
aber  nicht  als  gleichberechtigte  Partei  mit  jener  ein  ernsthaftes 
Gegnertum  bilden. 

In  den  Weimarer  Jahren  bis  zur  italienischen  Reise  ver- 
schiebt sich  dieses  Grundverhältnis,  seine  Elemente  werden  gegen- 
einander problematisch  und  drängen  nach  einer  neuen,  prinzi- 
pielleren, fundierteren  Einheit.  In  spätem  Rückblick  bezeichnet 
er  die  entscheidende  Voraussetzung  der  ganzen  Neubildung  des 
Verhältnisses:  er  habe  eine  Reihe  unvollendeter  poetischer  Ar- 
beiten nach  Weimar  mitgebracht,  ohne  an  ihnen  fortfahren  zu 


104  Dissonanz 

können;  „denn  da  der  Dichter  durch  Antizipation  die  Welt 
vorwegnimmt,  so  ist  ihm  die  auf  ihn  losdringende  wirkliche 
Welt  unbequem  und  störend ;  sie  will  ihm  geben,  was  er  schon 
hat,  aber  anders,  daß  er  sichs  zum  zweiten  Mal  zueignen  muß." 
Man  weiß,  welche  ungeheuren  Forderungen,  nur  durch  das  selbst- 
loseste Aufgebot  all  seiner  Kräfte  zu  erfüllen,  durch  die  wei- 
marischen Zustände  an  ihn  gestellt  wurden.  Man  kann  wohl 
sagen,  daß  ihm  erst  hier  die  Wirklichkeit  in  ihrer  ganzen  Sub- 
stanzialität,  ihrer  Härte,  ihrer  Eigengesetzlichkeit  entgegentrat, 
die  Wirklichheit  sowohl  des  menschlichen  Daseins  und  seiner 
Relationen,  wie  die  der  Natur;  denn  jetzt  setzen  auch  gleich 
die  naturwissenschaftlichen  Interessen,  zum  Teil  durch  amtliche 
Pflichten  provoziert,  bei  ihm  ein.  Die  Gestaltungskraft  seines 
Geistes,  bisher  ausreichend,  seine  Welt  zu  schaffen  und  deshalb 
einem  Antagonismus  ihrer  Elemente  keinen  Raum  gebend  (trotz 
aller  subjektiven  Leiden  und  Ungenügsamkeiten),  fand  jetzt  erst 
die  Welt  als  eigentliche  Realität  vor  und  zunächst  ganz  unver- 
meidlich als  ,, unbequeme  und  störende".  Daß  die  Dinge,  deren 
Gehalt  und  Bedeutsamkeit  der  Dichter  freilich  „durch  Antizi- 
pation" in  sich  trägt,  nun  in  der  Form  der  Realität  dastanden, 
das  eben  stellte  an  ihn  jene  Forderung  einer  ganz  neuen  An- 
eignung. Die  Lebensstruktur,  die  sich  daraufhin  zunächst  aus- 
bildete, war:  daß  seine  innerste  Persönlichkeit,  dasjenige,  was 
er  als  den  Träger  der  eigentlichsten  Werte  empfand,  sich  ganz 
in  sich  selbst  zurückzog.  Die  Tagebücher  vom  Ende  der  sieb- 
ziger und  Anfang  der  achtziger  Jahre  sprechen  das  auffallend 
oft  aus,  z.  B. :  ,,Das  Beste  ist  die  tiefe  Stille,  in  der  ich  gegen 
die  Welt  lebe  und  wachse  und  gewinne  — "  ,>War  zugefroren 
gegen  alle  Menschen."  Dazu  die  häufige  Betonung  des  ,, Reinen" 
als  seines  Ideals,  offenbar  in  dem  Sinn,  daß  gegenüber  der  kon- 
fusen Wirklichkeit  um  ihn  herum  die  inneren  Werte  abgesondert 
und  unvermischt  bestehen  sollten.  Die  Beziehung  zu  Frau  von 
Stein  spricht  nicht  dagegen ;  denn  er  sagt  dauernd,  sie  sei  eben 
der  einzige  Mensch,  gegen  den  er  ganz  offen  sein  könne,  er 
hat  sie  gewissermaßen  in  den  Kreis  seines  Ich  mit  hineingezogen. 
Natürlich  hielt  sich  diese  Lebenstendenz  nicht  ohne  Schwankungen 


Sehnsucht  nach  Geinzheit  105 

(wie  eben  überhaupt  keine  seiner  Epochen  in  begrifflich-einheit-  ' 
lichem  Charakter  verläuft);  er  spricht  gelegentlich  von  „einer 
Liebe  und  Vertrauen  ohne  Grenzen,  die  ihm  zur  Gewohnheit 
geworden  sind"  —  aber  er  schreibt  doch:  „Gleichmut  und  Rein- 
heit erhalten  mir  die  Götter  aufs  schönste,  aber  dagegen  welkt 
die  Blüte  des  Vertrauens,  der  Offenheit,  der  hingebenden  Liebe 
täglich  mehr."  Es  kann  kein  Zweifel  sein,  daß  der  wesent- 
lichen Labensstimmung  nach  Wirklichkeit  und  Wert  sich  ihm 
allmählich  immer  weiter  gegeneinander  spannten.  Das  Ver- 
sagen der  poetischen  Produktion  war  hiervon  ebenso  eine  Wir- 
kung wie  eine  Ursache.  Denn  so  lange  jene  bestand  und  dominierte, 
war  er  von  einer  ihm  sicheren  Welt  umgeben,  die  von  den 
inneren  und  künstlerischen  Werten  geformt  war;  sobald  sie 
stockte,  schob  sich  sogleich  die  Wirklichkeit  vor  und  offenbarte 
ihre  Fremdheit  gegen  diese  Werte.  Indem  beides  immer  weiter 
auseinander  trat,  indem  ihm  die  Möglichkeit,  die  tiefsten  Be- 
dürfnisse seiner  Natur  an  irgend  einem  Geschauten,  einem  Wirk- 
lichen, befriedigt  zu  finden,  immer  hoffnungsloser  fernrückte 
—  entstand  jene  fürchterliche  Spannung  seines  ganzen  Wesens, 
zu  deren  Lösung  ihm  sein  glücklicher  Instinkt  die  italienische, 
die  klassische  Welt  anbot ;  diese  Sehnsucht  war  ihm,  v/ie  er 
aus  Rom  schreibt,  ,,die  letzten  Jahre  eine  Art  Krankheit,  von 
der  mich  nur  der  Anblick  und  die  Gegenwart  heilen  konnte." 
Nichts  anderes  als  diese  Zerrissenheit  der  Wesenselemente,  auf 
deren  Einheit  der  letzte  Sinn  seiner  Existenz  gestellt  war,  kann 
er  meinen,  wenn  er  dem  Herzog  in  dem  entscheidenden  Briefe 
über  seine  Reiseabsicht  nur  das  eine  begründende  Motiv  mit- 
teilt: er  wünsche,  ,, seine  Existenz  ganzer  zu  machen".  Und 
dann,  aus  der  Erfüllung,  dreiviertel  Jahre  später:  ,,Ich  habe 
glückliche  Menschen  kennen  lernen,  die  es  nur  sind,  weil  sie 
ganz  sind  —  das  will  und  muß  ich  nun  auch  erlangen,  und 
ich  kann's."  Von  anderer  Seite  gesehen,  war  jener  Lebenssinn, 
war  das  Glück  seines  Daseins  dies,  daß  sein  innerlichst  Er- 
zeugtes, aus  dem  Eigensten  seines  Lebens  Hervordrängendes  und 
Notwendiges  sein  Gegenbild  und  seine  Bestätigung  in  der 
Objektivität  von  Idee,  Anschauung,  Wirklichkeit  fand  —  zum 


106  Erfüllung  in  Italien 

mindesten  so,  daß  seine  künstlerische  Schöpferkraft  eine  Welt, 
die  dies  leistete,  vor  ihn,  um  ihn  herstellte.  Diese  vitale  Har- 
monie hatten  die  Weimarer  Jahre  mit  ihrem  verworrenen  Klein- 
kram, ihren  nordischen  Häßlichkeiten,  ihrer  dichterischen  Steri- 
lität zerrissen;  indem  Italien  sie  wiederherstellen  sollte,  stellte 
es  ihn  wieder  her.  Eine  Notiz  aus  sehr  viel  späterer  Zeit  lautet: 
„Suchet  in  euch,  so  werdet  ihr  alles  finden,  und  erfreuet  euch, 
wenn  da  draußen,  wie  ihr  es  immer  heißen  möget,  eine  Natur 
liegt,  die  Ja  und  Amen  zu  allem  sagt,  was  ihr  in  euch  selbst 
gefunden  habt."  Dies  war  die  ,, Natur",  die  er  in  Italien  suchte, 
die  ihm  die  beruhigende  Gewißheit  gab,  daß  sein  innerstes  Wesen 
kein  vom  Weltwesen  losgerissenes,  auf  metaphysische  Einsam- 
keit angewiesenes  Atom  war.  Und  sie  konnte  ihm  das  leisten, 
weil  er  in  ihr  die  Versöhnung  auch  des  objektiven  Risses : 
zwischen  der  Wirklichkeit  und  der  Idee,  zwischen  dem 
Dasein  und  dem  Werte,  als  eine  anschauliche,  künstlerisch 
vollbrachte  wiederfand.  Goethe  ist  damit  die  reinste  und 
wirkungsvollste  Darstellung  eines  Phänomens  geworden,  das  in 
der  ganzen  Kulturgeschichte  der  Menschheit  einzig  und  unver- 
gleichbar ist :  des  Nordländers  in  Italien.  Der  nordische  Mensch, 
der  seine  Existenz  in  Italien  nicht  auf  die  dort  für  die  Fremden 
zurechtgemachte  Welt  beschränkt  und  durch  das  internationale 
Nivellement  der  großen  Straße  hindurch  zu  dem  wirklichen  ita- 
lienischen Lebensboden  dringt,  fühlt  eine  Lockerung  der  festen 
Kategorien,  der  Schachtelungen  und  Abgestempeltheiten,  aus 
denen  unsrem  Leben  so  viel  Härte  und  Zwang  kommt;  aber 
nicht  im  Sinne  bloßer  Befreiung,  wie  jede  Reise  sie  gibt,  sondern 
das  wunderbare  Geflecht  von  Geschichte,  Landschaft  und  Kunst, 
sowie  die  Mischung  von  Lässigkeit  und  Temperament  im  ita- 
lienischen Volk  bieten  ein  ebenso  reiches  wie  nachgiebiges 
Material  für  jegliche  individuelle  Gestaltung  des  Tages  und  des 
Lebens.  Die  Äußerung  Feuerbachs :  Rom  weist  jedem  diejenige 
Stelle  an,  für  die  er  berufen  ist  —  drückt  dies  nur  in  positiver, 
sozusagen  etwas  gewalttätigerer  Art  aus.  Diese  eigentümliche 
Befreiung,  die  sogleich  an  gegebenen  Werten  aktiv  werden  kann 
imd  die  naturgemäß  nicht  der  Italiener  selbst,  sondern  nur  der 


Ethische  Wirkting  107 

Fremde  in  Italien  gewinnt,  hat  durch  Goethe  ihre  klassische 
Prägung  gefunden.  Jetzt  belehrt  ihn  eine  erfahrene  Wirklich- 
keit und  eine  zur  Kunst  erhobene  Wahrheit,  daß  die  ideellen 
Werte  des  Lebens  nicht  außerhalb  des  Lebens  selbst  zu  stehen 
brauchen,  wie  „der  grauliche  Tag  hinten  im  Norden"  sie  ihm 
schließlich  zu  zeigen  schien  und  wie  es  in  der  Philosophie  Kants 
gewissermaßen  monumentalisiert  wurde. 

Denn  nicht  nur  von  einer  künstlerischen  und  allgemein 
existenziellen,  sondern  insbesondre  noch  von  einer  ,, sittlichen 
Wiedergeburt",  die  Goethe  in  Italien  erlebt  hätte,  ist  die  Rede. 
Dies  an  andrer  Stelle  behandelte  Lebensideal,  das  in  der  Vollendung 
der  naturgegebenen  Individualität  als  solcher  besteht,  erhaben 
über  die  begrifflich  fixierbaren  Gegensätze  von  Gut  und  Böse 
und  die  ganze  Lebensspannung  zwischen  ihnen  einschließend  — 
dieses  Ideal  ist  von  vornherein  in  Goethes  Attitüde  zum  Dasein 
angelegt  und  hat  sicher  in  Italien  nur  Klarheit  und  Festigkeit 
gewonnen;  denn  auch  hierin  liegt  ein  ,, Ganzerwerden"  des 
Menschen.  Allein  die  spezifische  Leistung  Italiens  für  seine 
moralischen  Anschauungen  kann  ich  darin  nicht  sehen  und 
möchte  diese  eher  —  um  mehr  als  eine  hypothetische  Deutung 
kann  es  sich  hier  nicht  handeln  —  in  die  ethische  Wertung 
verlegen,  die  das  Sinnliche  bei  ihm  gewonnen  hat.  Gerade 
die  für  Goethes  Lebensanschauung  charakteristische  Bedeutung 
des  Sinnlichen  überhaupt  ist  eine  Schwierigkeit  für  ihre  Deutung; 
denn  der  zweifältige  Sinn,  in  dem  wir  das  Wort  zu  nehmen 
pflegen :  einmal  als  eine  Rezeptivität,  der  Welt  als  Vorstellung 
angehörig,  eine  den  Dingen  anhaftende  oder  auf  sie  übertragene 
Qualität,  ein  andermal  als  eine  Impulsivität,  der  Welt  als  Wille 
angehörig,  ein  begehrliches,  das  sich  am  Genuß  der  Dinge  be- 
friedigen will  —  diese  beiden  Wortsinne  hält  Goethe  nicht 
getrennt.  Wie  ihm  Einatmen  und  Ausatmen  das  Symbol  der 
Einheit  von  Entgegengerichtetheiten  ist,  so  scheint  er  die  Ein- 
heit des  Wortes  Sinnlichkeit  zu  benutzen,  um  die  innige  Zu- 
sammengehörigkeit von  Anschauen  und  Begehren,  von  Ob- 
jektivem und  Subjektivem  in  unserem  Verhältnis  zum  Dasein 
auszudrücken.     Wie   ihm   nun  die  so  verstandene  Sinnlichkeit 


108  Sinnlichkeit  und  Sittlichkeit 

keinen  Gegensatz  gegen  die  ,, theoretische  Vernunft"  bildete, 
wie  er  vielmehr  diesen  rationalistischen  Wertunterschied  leiden- 
schaftlich bekämpfte,  so  konnte  sie  ihm,  nach  der  andern  Seite, 
sich  nicht  prinzipiell  feindlich  gegen  die  ,, praktische  Vernunft" 
stellen.  Es  entwickelt  sich  daraus  auf  der  andern  Seite  ein 
Begriff  des  Sittlichen,  der  das  Moralische  im  engeren  Sinne 
umfaßt.  Man  könnte  es  etwa  die  im  Gefühl,  seinem  Bleiben- 
den und  seinem  Wechselnden,  zum  Bewußtsein  kommende 
Zuständlichkeit  des  ganzen  inneren  Menschen  nennen. 
Indem  hier  die  Beschränkung  des  Begriffs  auf  jenes  nur  Praktisch- 
Moralische  aufgehoben  ist,  vielmehr  das  auch  aus  sich  nicht 
heraustretende  Sein  die  Kategorie  des  Sittlichen  erfüllt,  gewinnt 
diese  Platz  für  den  Begriff  der  Sinnlichkeit ;  jene  eigentümliche, 
so  bezeichnete  Einheit,  die  für  Goethe  die  gemeinsame  Wurzel 
oder  Substanz  der  objektiv  wahrnehmenden  und  der  subjektiv 
begehrenden  ,, Sinnlichkeit"  ist,  wird  von  dem  weiten  Sinne  des 
Sittlichen  umfaßt;  dafür  ist  das  Kapitel  der  Farbenlehre  :  ,, Sinn- 
lich-sittliche Wirkung  der  Farbe"  —  durchaus  geschieden  von 
dem  andern:  ,, Ästhetische  Wirkung"  —  ein  unvergleichlicher 
Beleg.  Aber  dieses  generelle  Verhältnis  zeigt  in  Goethes  Lebens- 
anschauung noch  eine  gewisse  Zuspitzung,  die  für  das  Aus- 
einander und  Ineinander  von  Wirklichkeiten  und  Werten  sehr 
bedeutsam  ist;  entscheidend  ist  dafür  eine  Stelle  im  Meister: 
„Man  tut  nicht  wohl,  der  sittlichen  Bildung  einsam,  in  sich 
selbst  verschlossen,  nachzuhängen;  vielmehr  wird  man  finden, 
daß  derjenige,  dessen  Geist  nach  einer  moralischen  Kultur 
strebt,  alle  Ursache  hat,  seine  feinere  Sinnlichkeit  mit  auszu- 
bilden, damit  er  nicht  in  Gefahr  komme,  von  seiner  moralischen 
Höhe  herabzugleiten,  indem  er  sich  den  Lockungen  einer  regel- 
losen Phantasie  übergibt."  Anderswo  meint  er  sogar,  zu  den 
,,drei  erhabnen  Ideen :  Gott,  Tugend  und  Unsterblichkeit"  gäbe 
es, »offenbar  drei  ihnen  entsprechende  Forderungen  der  höheren 
Sinnlichkeit:  Gold,  Gesundheit  und  langes  Leben."  In  Dichtung 
und  Wahrheit  tadelt  er  ,,die  Absonderung  des  Sinnlichen  vom 
Sittlichen,  die  die  liebenden  und  begehrenden  Empfindungen 
spaltet."     Mit  alledem  ist  also  die  große  Idee  einer  Steigerung 


Moral  der  Seinstotalität  109 

und  Vollendung  des  Sinnlichen  in  sich  selbst  angedeutet  (offen- 
bar immer  in  jenem  Einheitssinne  seiner  beiden  Bedeutungen), 
die  ethischen  Wertes  ist;  sie  gipfelt  in  dem  späten  Satze:  ,,Nur 
das  Sinnlich-Höchste  ist  das  Element,  worin  sich  das  Sittlich- 
Höchste  verkörpern  kann."  Und  es  widerspricht  dieser  Idee 
nicht,  sondern  bekräftigt  sie,  wenn  er  für  manche  Fälle  das 
Sinnliche  den  Herrschaftsanspruch  des  Sittlichen  entschieden  ab- 
lehnen läßt  —  denn  wenn  die  Sinnlichkeit  schon  durch  Formung 
und  Erhebung  ihrer  selbst  dem  weitesten  Sinn  des  Sittlichen 
zugehört,  so  kann  sie  diesem  nicht  noch  einmal  untergeordnet 
werden.  Den  sinnlichen  Charakter  der  Künste  allenthalben 
hervorhebend,  spricht  er  es  der  Musik  und  allen  Künsten  über- 
haupt ab,  „auf  Moralität  zu  wirken",  und  besonders  über  die 
Bühne  sei  es  ein  großer  Irrtum,  ,, diese  der  höheren  Sinnlichkeit 
eigentlich  nur  gewidmete  Anstalt  für  eine  sittliche  auszugeben 
—  die  lehren  und  bessern  könnte."  Das  ist  das  Originelle  und 
Tiefe  dieses  Standpunktes :  daß  es  dem  Sinnlichen  durch  seine 
sittliche  Selbständigkeit  verboten  oder  erlassen  ist,  zum  bloßen 
Mittel  für  das  Sittliche  zu  werden.  Wie  ihm  im  Objektiv-Meta- 
physischen die  naturgegebene  Wirklichkeit  (im  Gegensatz  zum 
Christentum)  nicht  als  das  an  sich  Wertlose  erscheint,  das  allen- 
falls vom  Werte  her  zu  dessen  Vorstufe  und  Mittel  gemacht 
werden  könnte,  sondern  wie  sie  in  sich,  von  sich  aus,  das 
Wertvolle  ist,  so  ist  ihr  subjektives  Gegenbild,  die  Sinnlichkeit, 
nicht  von  der  Sittlichkeit  her,  die  ihr  an  sich  fremd  sei,  mit 
deren  Werte  zu  erfüllen,  sondern  sie  enthält  an  und  für  sich 
und  von  dem  gleichen  Urquell  her  diesen  Wert.  Und  die  Rein- 
heit dieses  Erkenntnisses  scheint  mir  in  den  Kreis  seiner  ita- 
lienischen Errungenschaften  zu  gehören.  So  wenig  er  ja,  wie 
ich  schon  sagte,  einen  prinzipiellen  Dualismus  zugegeben  hätte, 
so  scheinen  doch  die  letzten  Jahre  vor  Italien  die  sinnlich- 
sittliche Ganzheit  seines  Wesens  mit  mehr  als  einer  Spaltung 
durchschattet  zu  haben.  Vor  allem  wohl  durch  das  Verhältnis 
zu  der  verheirateten  Frau,  in  dem,  wie  es  sich  auch  gestalte, 
immer  nur  eine  Seite  des  Dualismus  zu  ihrem  Rechte  kommen 
konnte  und  das  sich  in  den  letzten  Jahren  durch  die  Eifersucht 


110  Harmonie 

Charlottes  sozusagen  noch  einmal  für  ihn  in  der  gleichen  Richtung 
spaltete.  In  Italien  scheint  sich  dies  alles  nun  geklärt  und  zum 
erstenmal  prinzipiell  zurechtgerückt  zu  haben;  nach  wenigen 
Monaten  schreibt  er:  ,,Wie  moralisch  heilsam  ist  mir  es  dann 
auch,  unter  einem  ganz  sinnlichen  Volke  zu  leben."  Der  Kon- 
flikt löste  sich  wie  alle  inneren  Gegnerschaften  dieses  Lebens: 
nicht  durch  Unterdrückung  einer  Partei  oder  Kompromiß 
zwischen  beiden,  sondern  durch  das  Zurückgreifen  auf  die 
Grundeinheit  seines  Wesens,  deren  Wert  ihm  der  Wert  schlecht- 
hin war  und  die  diesen  in  alle  noch  so  auseinander  strebenden 
Zweige  seines  Weltverhältnisses  einströmen  ließ.  Die  Kantische 
Moral  hat  wohl  das  Schicksal  der  meisten  Menschen  ausge- 
sprochen, wenn  sie  das  Sinnliche  und  Leidenschaftliche  gegen 
die  Forderung  der  Pflicht  kämpfen  läßt  (, »Zwischen  Sinnenglück 
und  Seelenfrieden  Bleibt  dem  Menschen  nur  die  bange  Wahl"), 
was  denn  schließlich  entweder  einen  unbefriedigten  Dualismus 
oder  eine  Verarmung  hinterläßt.  In  Goethe  aber  kämpfte  es 
gegen  die  Forderung  der  Harmonie,  der  ausgeglichenen  Totalität 
des  Lebens  —  wie  er  sich  ja  auch  nicht  scheut,  von  einer 
Übertriebenheit  des  Moralischen  zu  sprechen,  eine  für  Kant  völlig 
unausdenkbare  Vorstellung  —  und  darum  konnte  der  Sieg  hier 
ein  vollkommener  sein,  weil  der  Feind  selbst  in  die  Einheit  der 
schließlich  gewonnenen  Form  einbegriffen  ist;  was  sich  denn 
auch  als  der  Sinn  all  seiner  Entsagungen  und  Selbstüberwindungen 
zeigen  wird.  Vielleicht  gehört  es  zu  dem  Providenziellen  dieses 
Schicksals,  daß  ihm  Sinnlichkeit  und  Sittlichkeit  einmal  aus- 
einander zu  brechen  drohten  —  damit  ihm  Italien  seine  Ganzheit, 
aber  nun  auf  höherer,  bewußterer,  differenzierterer  Stufe  wieder- 
geben konnte,  das  heißt:  daß  er  im  Sinnlichen  dieselbe  Wert- 
strömung der  Lebenseinheit  fließen  fühlte,  die  das  Sittliche  trug. 
Ein  Satz  vom  März  88  faßt  es  zusammen:  ,,In  Rom  hab  ich 
mich  selbst  zuerst  gefunden,  ich  bin  zuerst  übereinstimmend 
mit  mir  selbst,  glücklich  und  vernünftig  geworden." 

Für  die  Entwicklung  des  Verhältnisses  aber  zwischen  dem 
ästhetisch  geformten  Wert  und  der  Wirklichkeit,  die  in  Italien 
ihre  zweite  entschiedene  Periode  erfuhr,  ist  nun  vor  allem  die 


Schönheit  als  Natur  111 

griechische  Kunst  und  nächst  ihr  die  der  Hochrenaissance  be- 
stimmend gewesen.  Goethes  allgemeines  Verhältnis  zur  Antike 
bedarf,  als  jedermann  bekannt,  hier  keiner  Darstellung;  wenn 
uns  heute  die  klassische  Welt  weniger  als  die  durchgehende 
Verwirklichung  eines  einheitlichen  Ideales  erscheint,  dieses 
Ideal  selbst  nicht  mehr  als  absolutes,  sondern  als  historisch 
eingegrenztes,  neben  das  andere  Zeiten  ihre  abweichenden  Be- 
dürfnisse gleichberechtigt  stellen,  wenn  wir  der  griechischen 
Kunst  Mannigfaltigeres  und  wohl  auch  Tieferes  entnehmen, 
als  Goethe,  der  von  Originalen  der  wirklich  hohen  Kunstepoche 
so  gut  wie  nichts  kannte  —  so  sei  darüber  die  ungeheure 
Kulturleistung  seines  ,, Klassizismus"  nicht  vergessen.  Daß  er 
der  deutschen  Bildung  diese  Vorstellung  vom  Griechentum  als 
einen  fast  ein  Jahrhundert  lang  unbestrittenen  und  innerlich 
wirksamen  idealischen  Besitz  einprägte  (und  das  geht  auf  ihn, 
nicht  auf  Lessing  und  Winckelmann  zurück)  —  das  bleibt  eine 
der  erstaunlichsten  kulturellen  Kraftleistungen,  auch  wenn,  und 
vielleicht  gerade  wenn  diese  Vorstellung  historisch  irrig  und 
ästhetisch  einseitig  war.  Die  Leistung  der  Antike  aber  für 
jenes  Wert  t^  Wirklichkeits- Problem  war,  daß  er  in  ihr  eine 
Naturwahrheit  im  höchsten  Sinne  fand,  die  die  künstlerischen 
Werte  unmittelbar  einschloß;  daß  die  Natur,  in  ihrer  vollen 
Wahrheit  —  also  jenseits  aller  zufälligen  Einzelheiten  und  ein- 
seitigen Äußerlichkeiten  —  erfaßt,  schöne  Natur  sei;  daß  also 
in  der  Schönheit  Wirklichkeit  und  Kunst  ihren  realen  Kon- 
vergenzpunkt besäßen.  Von  einer  ,, Nachahmung"  der  Natur 
durch  die  Kunst,  die  nur  von  Oberfläche  zu  Oberfläche  führt, 
ist  jetzt  nicht  mehr  die  Rede;  ausdrücklich  wird  das  Kunst- 
verständnis, das  ihm  durch  die  Griechen  gekommen  sei,  der 
Nachahmung  auch  der  ,, schönen"  Natur  entgegengesetzt.  Er 
sieht  ein,  daß  jene  künstlerischen  Genien  aus  dem  Grunde  der 
Natur  heraus  schaffen,  d.  h.  aus  einer  Wesenstotalität,  die  die- 
selbe ist,  wie  der  ,,Kern  der  Natur",  der  ja  doch  „Menschen 
im  Herzen"  ist.  Die  Technik,  durch  die  dies  sozusagen  aktua- 
lisiert wird,  ist  natürlich  ein  unermüdliches  Studium  der  ge- 
gebenen Natur  in  ihren  Erscheinungen;  und  in  dem  Maße,  in 


112  Die  klassische  Ganzheit 

dem  es  gelingt,  ist  das  Werk  „schön":  ,,Der  bildende  Künstler, 
so  schreibt  er  ganz  spät,  muß  sich  zuerst  an  der  kräftigen 
Wirklichkeit  vollkommen  durchüben,  um  das  Ideale  daraus  (!) 
zu  entwickeln,  ja  zum  Religiösen  endlich  aufzusteigen".  Denn 
das  Schönheitsideal  wohnt  weder  einem  Transzendenten  hinter 
der  Natur  ein,  noch  einem  Singulären  in  Isoliertheit  gegen  das 
ganze  Sein,  sondern  derjenigen  Erscheinung,  in  der  die  einheit- 
liche Ganzheit  des  natürlichen  Seins  zum  Ausdruck  kommt. 
Wie  im  psychologischen  Symbol  drückt  Goethe  diese  tiefste 
Bedeutung  des  Schönen  in  dem  Satze  aus:  ,, Wer  die  Schönheit 
erblickt,  fühlt  sich  mit  sich  selbst  und  mit  der  Welt  in  Über- 
einstimmung". 

Die  drei  Elemente  also :  Natur,  Kunst,  Schönheit  wurden  ihm 
durch  die  Erfahrung  von  der  Klassik  auf  eine  neue  Weise  zu- 
sammengebracht. ,, Indem  der  Mensch,  schreibt  er  später  in 
der  reifsten  Zusammenfassung  seiner  klassisch -künstlerischen 
Bildung,  auf  den  Gipfel  der  Natur  gestellt  ist,  so  sieht  er  sich 
wieder  als  eine  ganze  Natur  an,  die  in  sich  abermals  einen 
Gipfel  hervorzubringen  hat."  Zuhöchst  sei  das  Kunstwerk  ein 
solcher.  ,, Indem  es  aus  den  gesamten  Kräften  sich  entwickelt, 
so  nimmt  es  alles  Herrliche  —  in  sich  auf."  Und  dies  geschehe 
vor  allem  bei  den  Griechen.  Hiermit  und  sonst  oft  bezeichnet 
er  den  zentralen  Punkt:  daß  bei  den  Griechen  sich  ,, sämtliche 
Eigenschaften  gleichmäßig  vereinigten".  Der  Grieche  erschien 
ihm  als  der  ganze  Mensch,  als  die  in  sich  ungebrochene  Natur 
—  worüber  wir  freilich  heute  vielfach  anderer  Meinung  sind; 
aber  die  Idee  der  Ganzheit,  deren  Ersehnung  ihn  nach  Italien 
trieb,  ist  ihm  sozusagen  zum  Apriori  geworden,  nach  dem  er 
die  ihn  beeindruckendste  und  beglückendste  Erscheinung  deuten 
mußte.  Eben  diese  harmonische  Totalität,  mit  der  das  Dasein 
sich  abrundet  und  Schönheit  erzeugt,  weil  jene  eben  selbst 
Schönheit  ist  —  war  es,  was  ihn  an  Rafael  entzückte.  Er 
drückt  diesen  in  Italien  gewonnenen  Eindruck  später  so  aus, 
daß  bei  Rafael  Gemüts-  und  Jatkraft  in  entschiedenem  Gleich- 
gewicht stünden,  die  glücklichsten  inneren  und  äußeren  Um- 
stände in  Harmonie  mit  dem  unmittelbaren  Talent.     „Er  grä- 


Das  Einzelne,  die  „Idee",  die  „Natur"  113 

zisiert  nirgends,  fühlt,  denkt,  handelt  aber  wie  ein  Grieche." 
Die  Griechen  bringen  ihm  den  Gesichtspunkt  der  Totalität  — 
des  Menschen  in  sich  und  seiner  Beziehung  zur  Natur  —  an 
das  Verhältnis  von  Wirklichkeit  und  Kunst  heran  und  damit 
die  Schönheit,  die  von  dieser  Wurzel  her  beiden  gemeinsam 
ist.  Er  spricht  öfters  von  dem  Nutzen  seiner  anatomischen 
Studien  für  das  Verständnis  der  Kunst;  indes  käme  man  so 
doch  nur  dazu,  den  Teil  zu  kennen.  „In  Rom  aber  wollen  die 
Teile  nichts  heißen,  wenn  sie  nicht  zugleich  eine  edle,  schöne 
Form  [d.  h.  ein  Ganzes]  darbieten."  Die  Ganzheit,  die  er  für 
sein  Leben  und  sein  Weltbild  suchte,  war  ja  die  von  Wirklich- 
keit und  Wert.  Und  nun  trat  ihm  eine  Kunst  entgegen,  die 
ihm,  angesichts  all  der  Barockformen  und  der  leeren  Schnörkel, 
die  ihn  bis  dahin  als  das  Ästhetisch-Anschauliche  des  täglichen 
Lebens  umgeben  hatten,  als  wahre,  echte  Natur  erscheinen 
mußte  und  die  die  Schönheit  nicht  als  etwas  sozusagen  Auf- 
geklebtes, Hinzugefügtes  besaß,  sondern  von  derselben  Wurzel- 
tiefe her  ihr  zu  eigen,  in  der  ihre  Naturhaftigkeit  erwuchs. 
So  gering  die  objektive  Stilgleichheit  des  aktuellen  italienischen 
Lebens  und  der  griechischen  Kunst  sein  mochte  —  für  die 
innere  Lage  und  ihre  Bedürfnisse,  die  Goethe  nach  Italien  mit- 
brachte, leisteten  sie  ihm  die  gleiche  Synthese  seiner  auseinander- 
getriebenen Lebenselemente. 

Goethes  Kunstbegriff  wird  durch  dieselbe  „mittlere"  Stellung 
charakterisiert,  die  seinen  geistigen  Weltbegriff  überhaupt  be- 
stimmt: das  Einzelne,  in  seiner  sinnlich-zufälligen  Unmittel- 
barkeit, das  nur  Gelegenheit  zur  Kopie,  zu  mechanischer  Ähn- 
lichkeit gibt,  ist  ihm  kein  Gegenstand  der  Kunst ;  ebensowenig 
aber  die  abstrakte  geistige  Form,  die  dem  natürlichen  Leben 
prinzipiell  fremde  Idee.  Zwischen  beiden  steht  der  allmählich 
sich  entwickelnde  Begriff  der  ,, Natur"  als  des  zugleich  Wirk- 
lichen und  Übereinzelnen,  zugleich  Konkreten  und  Ideellen. 
Man  kann  freilich  seine  frühe  Periode  als  Naturalismus  be- 
zeichnen, wobei  aber  Natur  einen  ganz  andern  Sinn  hat,  als 
in  der  gewöhnlichen  realistischen  Kunsttendenz.  Es  ist  nämlich 
seine  eigene  Natur,  die  Natur  im  subjektiven  Sinne,  die  sich, 

Simmel,  Goethe.  8 


114  Kunst  und  natürliche  Schönheit 

die  realen  und  die  ideellen  Formen  manchmal  gleichmäßig  ver- 
gewaltigend, in  Produktivität  ausströmt:  die  Schöpfungen  bilden 
nicht  die  Natur  der  Gegenstände  nach,  sondern  die  Natur 
des  Schöpfers  bildet  sich  in  sie  ein,  und  wenn  auch  jenes  erstere 
stattfindet,  so  ist  es,  weil  die  leidenschaftliche  Weltaneignung 
der  Jugend  in  ihren  Äußerungen  wieder  zum  Vorschein  kommt. 
Er  objektivierte  das,  indem  ihm  die  Natur  die  große  zeugende 
Einheit  war,  die  Mutter  zu  allen  Kindern,  die  Kraft  in  seiner 
eigenen  Kraft ;  so  daß  er  am  Schluß  des  Hymnus  an  die  Natur 
(c.  1781)  sagt:  ,,Ich  sprach  nicht  von  ihr.  Nein,  was  wahr  ist 
und  was  falsch  ist,  alles  hat  sie  gesprochen."  Hier  ist  also 
Natur,  die  vor  allem  Einzelnen  steht  und  den  Akzent  des 
Künstlertums  deshalb  von  aller  realistischen  ,, Nachbildung" 
wegrückt.  Und  eben  dies  letztere  geschieht  nun,  von  dem 
Eindruck  der  Griechen  aus,  durch  einen  Naturbegriff,  der  gleich- 
sam hinter  dem  Einzelnen  steht.  Jetzt  handelt  es  sich  um 
das  Herausarbeiten  einer  Schönheit,  die  zwar  eine  wirkliche 
und  lebendige  ist  —  aber  diese  Wirklichkeit  und  Lebendigkeit 
ihrer  ist  nicht  mit  dem  sinnlichen  Dasein  eines  singulären, 
empirischen  Stückes  Welt  identisch,  sondern  offenbart  sich  erst 
in  der  Form  der  Kunst.  »'fAus  den  Werken  der  klassischen 
Kunst,  sagt  er,  lernen  wir  die  Schönheit  erst  kennen,  um  sie 
an  den  Gebilden  der  lebendigen  Natur  gewahr  zu  werden  und 
zu  schätzen.**/  Diese  Äußerung  stammt  aus  einer  Zeit,  in  der 
er  die  Ergebnisse  Italiens  in  gesammelter  Reflexion  und  neuem 
Hineinversenken  überschaute.  Seit  jener  Äußerung  von  1775, 
nach  der  er  ein  Kunstwerk  nicht  genießen  könnte,  wenn  er 
nicht  durch  die  Kenntnis  der  entsprechenden  Natur  dazu  an- 
geleitet würde,  hat  sich  also  eine  vollkommene  Drehung  voll- 
zogen: jetzt  wird  ihm  die  Natur  erst  durch  die  Kunst  zur 
Genießbarkeit  interpretiert.  Und  was  er  uns  im  Werther  heftig 
vorwirft:  daß  wir  Kunst  brauchen,  um  Natur  als  vollendet  zu 
fühlen  {,,Muß  es  denn  immer  gebosselt  sein,  wenn  wir  Teil  an 
einer  Naturanschauung  nehmen  sollen?")  —  gerade  das  also 
preist  er  jetzt  als  die  höchste  Leistung  der  Kunst.  Und  nun 
schreibt    er   über    die    griechischen   Plastiker:    „Ich    habe    eine 


Früherer  und   späterer  Naturbegriff  115 

Vermutung,  daß  sie  nach  eben  den  Gesetzen  verfuhren,  nach 
welchen  die  Natur  verfährt.  Nur  ist  noch  etwas  anderes  dabei, 
das  ich  nicht  auszusprechen  wüßte."  Die  Nachahmungstheorie 
ist  hier  überwunden,  indem  der  Künstler  sozusagen  nicht  nach 
dem  fertigen  Naturbild  schafft,  nicht  einfach  Äußeres  in  Äußeres 
überträgt,  sondern  wirklich  schöpferisch,  und  nur  nach  den 
Gesetzen,  die  auch  jenes  Naturbild  erwachsen  ließen.  Das 
,, andere"  aber,  das  noch  ,, dabei"  ist,  scheint  mir  jene  spätere 
Äußerung  herausgebracht  zu  haben:  zum  Kunstwerk  wirken 
jene  Gesetze  in  solcher  Reinheit  und  solcher  Richtung,  daß  sie 
ausschließlich  Schönheit  erzeugen  —  sei  es,  daß  sie  diese  inner- 
halb der  Wirklichkeitsform  nur  verstreut  und  zufällig,  sei  es, 
daß  sie  sie  in  ihr  nur  verborgen,  dem  nicht-künstlerischen  Auge 
unauffindbar,  produziert  haben.  Daß  die  Natur  rein  als  solche 
sozusagen  mehr  ist  als  Natur,  daß  die  Gesetze  der  realen  Er- 
zeugungen wie  durch  rein  immanente  Steigerung  zugleich  die 
der  Schönheit  sind  —  das  ist  das  tiefste  Fundament  seiner 
späteren  Äußerung:  ,,Der  Sinn  und  das  Bestreben  der  Griechen 
(in  der  Kunst)  ist,  den  Menschen  zu  vergöttern,  nicht  die  Gott- 
heit zu  vermenschlichen.  Hier  ist  ein  Theomorphism,  kein 
Anthropomorphisml"  Und  noch  einmal  bricht  in  eben  diesem 
Sinne,  in  einem  zwischen  der  italienischen  Reise  und  diesem 
Worte  gelegenen  Ausspruch  die  tiefe  Fremdheit  gegen  alle 
christliche,  dualistische  Transszendenz  heraus:  ,, Antike  Tempel 
konzentrieren  den  Gott  im  Menschen;  des  Mittelalters  Kirchen 
streben  nach  dem  Gott  in  der  Höhe."  Die  Schönheit,  die  er 
jetzt  auf  eine  neue  Weise  in  der  Natur  sehen  lernte,  weil  sie 
ihm,  wie  in  einer  Sublimierung,  in  der  klassischen  Kunst  ent- 
gegentrat, rückte  den  jetzt  gewonnenen  Naturbegriff  von  dem 
früheren  ab.  Dies  besagt  —  eigentlich  noch  aus  der  Vorahnung 
heraus  —  die  Briefstelle  vom  Anfang  der  italienischen  Reise: 
,,Die  Revolution,  die  ich  voraussah  und  die  jetzt  in  mir  vor- 
geht, ist  die  in  jedem  Künstler  entstand,  der  lange  emsig  der 
Natur  treu  gewesen  und  nun  die  Überbleibsel  des  alten  großen 
Geistes  erblickt,  die  Seele  quoll  auf  und  er  fühlte  eine  innere 
Art  von  Verklärung  sein  selbst,  ein  Gefühl  von  freierem  Leben, 

8» 


116  Naturalismus  und  künstlerische  Einheit 

höherer  Existenz,  Leichtigkeit  und  Grazie."  Und  dann  kann  er, 
wo  der  Prozeß  beinahe  abgeschlossen  ist,  bei  dem  zweiten 
Aufenthalt  in  Rom  schreiben:  ,,Die  Kunst  wird  mir  wie  eine 
zweite  Natur."  Sie  war  ihm  früher  wie  die  erste  gewesen. 
Und  als  das  Auseinanderbrechen  von  Wert  und  Wirklichkeit 
ihm  offenbar  auch  das  Verhältnis  von  Natur  und  Kunst  proble- 
matisch gemacht  hatte,  bedurfte  er  der  Leitung  und  Erleuchtung 
durch  die  Klassik,  die  die  Natur  als  Schönheit  zu  deuten  wußte : 
er  meinte,  die  ,, Ganzheit"  des  griechischen  Wesens  zu  spüren, 
durch  diese  mächtige  Synthese  offenbart  und  ihm  zugeleitet, 
an  der  er  nun  die  Ganzheit  seines  eigenen  Wesens  wieder 
aufbaute.  Damit  ist  erst  sein  Kunst-  und  Schönheitsbegriff 
zu  einer  Höhe  und  Einheit  gelangt,  die  alle  Einzelheiten  als 
solche  dominiert,  ihnen  die  Form  gibt  und  damit  alle  Nach- 
ahmung erst  prinzipiell  überwindet  —  gerade  wie  sein  persön- 
liches Bewußtsein  über  das  Chaos  neben-  und  gegeneinander- 
stehender  Einzelheiten,  das  ihm  schließlich  unerträglich  geworden 
war,  jetzt  seine  beherrschende  Einheit  gewann.  Wenige  Jahre 
nachher  wendet  er  dies  auch  auf  das  Theater  an  und  sagt 
gegen  den  naturalistischen  Individualismus  (der  auch  ein  Ein- 
zelnes in  seiner  besonderen  Wirklichkeit  vorträgt,  also  dem 
Prinzip  nach  dasselbe  ist  wie  die  bloße  Nachahmung  eines 
Gegebenen):  der  Naturton  auf  der  Bühne  ,,ist  zwar  höchst  er- 
freulich, wenn  er  als  vollendete  Kunst,  als  eine  zweite  Natur 
hervortritt,  nicht  aber  wenn  ein  jeder  glaubt,  nur  sein  eigenes 
nacktes  Wesen  bringen  zu  dürfen." 

Das  dritte  Stadium,  in  dem  sich  das  Verhältnis  zur  Natur 
und  Kunst,  weiter  gefaßt :  von  Wirklichkeit  und  Wert  darstellt, 
ist  nicht  mit  derselben  Schärfe  abzugrenzen  und  festzulegen, 
insbesondere  nicht,  weil  die  in  Italien  gewonnene  Attitüde 
ja  nie  ausdrücklich  verleugnet  wird,  auch  nie  verschwindet. 
Aber  es  scheint  mir  unverkennbar:  der  selbständige  Wert  der 
Kunstform,  der  sich,  seiner  ersten  Epoche  gegenüber,  in  Italien 
aufarbeitet,  und  der  ihm  hier  zu  einer  neuen  Deutung  der  Natur 
wird,  an  den  Diskrepanzen  des  Daseins  die  Versöhnungsfunktion 
übt,  eben  damit  in  innigster  Einheit  mit  der  Natur  selbst,   in 


Autonomie  der  Kunst  117 

organischer,  solidarischer  Beziehung  mit  dem  Wirklichen  und 
seiner  Gesetzlichkeit  steht  —  dieser  Wert  wächst  über  die  so 
bestehende  Verwebung  mit  den  Wirklichkeitsinhalten  in  gewissem 
Maße  hinaus !  Goethe  hat,  wie  ich  zeigte,  in  Italien  mit  voller 
Klarheit  das  Unkünstlerische  der  einfachen  Abschrift  des  Wirk- 
lichen durchschaut,  erkannt,  daß  die  Kunst  sozusagen  das  Ge- 
setz der  Dinge,  aber  nicht  die  Singularität  des  Dinges  zum 
Gegenstand  habe.  In  zwei  Äußerungen,  die  etwa  zehn  Jahre  nach 
der  Rückkehr  aus  Italien  liegen,  ist  scheinbar  nur  dies  aus- 
gesprochen, und  doch  spürt  man  darin,  wie  ihm  das  Kunst- 
prinzip noch  weiter  von  der  naturhaften  Unmittelbarkeit  ab- 
gerückt ist:  ,,Die  Kunst  übernimmt  nicht  mit  der  Natur,  in 
ihrer  Breite  und  Tiefe  zu  wetteifern,  sie  hält  sich  an  die  Ober- 
fläche der  natürlichen  Erscheinungen;  aber  sie  hat  ihre  eigne 
Tiefe,  ihre  eigne  Gewalt:  sie  fixiert  die  höchsten  Momente 
dieser  oberflächlichen  Erscheinungen,  indem  sie  das  Gesetzliche 
darin  anerkennt,  die  Vollkommenheit  der  zweckmäßigen  Pro- 
portion, den  Gipfel  der  Schönheit,  die  Würde  der  Bedeutung, 
die  Höhe  der  Leidenschaft".  Der  marmorne  Fuß  ,, verlangt 
nicht  zu  gehn ;  und  so  ist  der  Körper  auch,  er  verlangt  nicht 
zu  leben.  —  Die  törichte  Forderung  des  Künstlers,  seinen  Fuß 
neben  einen  organischen  zu  stellen"  usw.  Und  ein  wenig  früher 
sogar  noch  entschiedener :  ,,Ich  habe  mehr  als  einen  Wagenlenker 
alte  Gemmen  tadeln  hören,  worauf  die  Pferde  ohne  Geschirr 
dennoch  den  Wagen  ziehen  sollten.  Freilich  hatte  der  Wagen- 
lenker recht,  weil  er  das  ganz  unnatürlich  fand;  aber  der 
Künstler  hatte  auch  recht,  die  schöne  Form  seines  Pferdekörpers 
nicht  durch  einen  unglücklichen  Faden  zu  unterbrechen:  diese 
Fiktionen,  diese  Hieroglyphen,  deren  jede  Kunst  bedarf,  werden 
so  übel  von  allen  denen  verstanden,  welche  alles  Wesen  natür- 
lich haben  wollen  und  dadurch  die  Kunst  aus  ihrer  Sphäre 
reißen."  Und  abermals  zwanzig  Jahre  später:  ,,Das  Richtige  — 
in  der  Kunst  —  ist  nicht  sechs  Pfennige  wert,  wenn  es  weiter 
nichts  ist".  Er  wird  gegen  die  Unlauterkeit  des  Wettbewerbes 
zwischen  Kunst  und  Wirklichkeit  immer  empfindlicher.  1825 
spricht  er  von  einer  in  einer  Aula  auszuführenden  malerischen 


118  Naturalismus  des  ,, Effekts" 

Allegorie  und  fragt:  Ist  sie  farbig,  d.  h.  mit  dem  Schein  des 
wirklichen  Lebens  dargestellt  ?  Als  dies  bejaht  wird,  fährt  er 
fort:  ,,Das  würde  mich  stören.  Eine  Marmorgruppe  an  diesem 
Platze  würde  den  Gedanken  aussprechen,  ohne  in  Konflikt  zu 
geraten  mit  der  Gesellschaft  wirklicher  Personen,  die  sie  um- 
geben". Ich  sprach  oben  von  zwei  ganz  verschiednen  Be- 
deutungen des  Naturalismus.  Der  subjektive,  vom  Schöpfer  her 
gemeinte,  ist  das  unmittelbare  Hervorsprudeln  des  persönlichen 
Zustandes,  der  persönlichen  Erregung  und  Impulsivität,  ohne 
daß  ihr  von  einer  Idee  Formung  käme;  der  objektive  dagegen 
möchte  die  Kunsterscheinung  zu  möglichst  ungeänderter  Kopie 
der  Wirklichkeitserscheinung  machen.  Nun  gibt  es  aber  noch 
eine  dritte  Tendenz,  die  man  als  naturalistische  zu  bezeichnen 
berechtigt  ist :  die  den  Zweck  und  Wert  des  Kunstwerks  in  den 
Effekt  legt,  den  es  im  Aufnehmenden  auslöst.  Denn  auch 
hier  wird,  wie  in  den  beiden  andern  Fällen,  eine  Realität  zum 
Maßstab  und  zur  Quelle  des  Sinnes  für  das  Kunstwerk  —  der 
rein  tatsächliche,  als  natürliches  Ereignis  geschehende  Eindruck 
auf  den  Beschauer.  Hat  Goethe  nun  auf  Grund  der  Klassik  die 
beiden  ersten  Formen  des  Naturalismus  überwunden,  so  wendet 
er  sich  später  mit  leidenschaftlicher  Entschiedenheit  auch  gegen 
die  dritte.  Gegen  Ende  der  Lehrjahre  heißt  es:  ,,Wie  schwer 
ist  es,  was  so  natürlich  scheint,  eine  gute  Statue,  ein  treffliches 
Gemälde  an  und  für  sich  zu  beschauen,  den  Gesang  um  des 
Gesanges  willen  zu  vernehmen,  den  Schauspieler  im  Schauspieler 
zu  bewundern,  sich  eines  Gebäudes  um  seiner  eignen  Harmonie 
und  seiner  Dauer  willen  zu  erfreuen.  Nun  sieht  man  aber  meist 
die  Menschen  entschiedne  Werke  der  Kunst  geradezu  behandeln, 
als  ob  es  ein  weicher  Ton  wäre.  Nach  ihren  Neigungen,  Mei- 
nungen und  Grillen  soll  sich  der  gebildete  Marmor  gleich  wieder 
ummodeln,  das  festgemauerte  Gebäude  sich  ausdehnen  oder  zu- 
sammenziehen, ein  Gemälde  soll  lehren,  ein  Schauspiel  bessern. 
Die  meisten  Menschen  —  reduzieren  alles  zuletzt  auf  den  so- 
genannten Effekt."  Auf  dieser  Basis  steht  die  außerordentlich 
tiefe  Kritik  des  Dilettanten  vom  Jahr  99:  ,,Weil  der  Dilettant 
seinen  Beruf    zum  Selbstproduzieren    erst  aus  den  Wirkungen 


Innere  Vollendetheit  der  Kunst  119 

der  Kunstwerke  auf  sich  empfängt,  so  verwechselt  er  diese 
Wirkungen  mit  den  objektiven  Ursachen  und  meint  nun  den 
Empfindungszustand,  in  den  er  versetzt  ist,  auch  produktiv  zu 
machen ;  wie  wenn  man  mit  dem  Geruch  der  Blume  die  Blume 
selbst  hervorzubringen  dächte.  Das  an  das  Gefühl  Sprechende, 
die  letzte  Wirkung  aller  poetischen  Organisationen,  welche  aber 
den  Aufwand  der  ganzen  Kunst  selbst  voraussetzt,  sieht  der 
Dilettant  als  das  Wesen  derselben  an  und  will  damit  selbst  her- 
vorbringen." Und  noch  später  schreibt  er  ganz  prinzipiell: 
,,Die  Vollendung  des  Kunstwerks  in  sich  selbst  ist  die  ewige 
unerläßliche  Forderung.  Aristoteles,  der  das  Vollkommenste 
vor  sich  hatte,  soll  an  den  Effekt  gedacht  haben!  Welch  ein 
Jammer!"  Hat  er  die  Kunst  zuerst  von  jedem  terminus  a  quo 
unabhängig  gemacht,  sowohl  von  dem  subjektiven  wie  von  dem 
objektiven,  um  sie  ganz  auf  sich  selbst  zu  stellen,  so  vollendet 
sich  dies  also  nun  durch  ihre  Unabhängigkeit  von  dem  ter- 
minus ad  quem.  Sie  steht  gleichmäßig  jenseits  des  einen  wie 
des  andern  in  der  vollen  Selbstgenügsamkeit  ihrer  Formen, 
ihrer  Idee.  Am  Anfang  dieser  Entwicklung  war  ihm  die 
Natur  die  Bedingung  und  sozusagen  das  Medium  des  künstleri- 
schen Fühlens  gewesen,  dann  hatte  umgekehrt  die  Kunst  den 
Sinn  und  den  ideellen  Wert  der  Natur  gedeutet  —  jetzt  ist  die  Kunst 
autonom  geworden ;  aber  weil  sie  durch  diese  Stadien  der  Einheit 
durchgegangen  waren,  weil  jenes  innigste  organische  Verhältnis, 
das  ihm  nach  der  drohenden  Zerreißung  der  voritalienischen 
Weimarer  Jahre  die  Klassik  gebracht  hatte,  nicht  mehr  zu 
trennen  war,  sondern  in  tiefster  Wurzelung  weiterlebte  — 
darum  ließ  das  ,,Artistentum"  seiner  späteren  Jahre  die  Natur 
nicht  etwa  als  neuen  Feind  hinter  sich ;  die  Kunst  trug  nun  die 
Versöhnung  mit  der  Natur  in  sich,  ihr  Begriff  war  ihm  so 
groß  und  hoch  geworden,  daß  ihre  Selbständigkeit  nicht  mehr, 
—  was  sonst  so  oft  die  Bedingung,  aber  deshalb  auch  die 
Schranke  der  Selbständigkeit  ist  —  eines  Gegenüber  und  Gegen- 
satzes bedurfte.  Das  ist  es,  was  er  als  Achtzigjähriger  aus- 
spricht: die  höchsten  Kunstwerke  seien  solche,  die  ,,die  höchste 
Wahrheit,    aber   keine   Spur    von   Wirklichkeit"    hätten.     Und 


120  Stellung  der  Kunst 

darum  stehen  in  seinem  Nachlaß  die  beiden  Aphorismen  hinter- 
einander, die  sich  zu  widersprechen  scheinen  könnten,  aber  sich 
in  Wirklichkeit  bedingen:  „Natur  und  Idee  läßt  sich  nicht 
trennen,  ohne  daß  die  Kunst  sowie  das  Leben  gestört  werde" 
—  imd:  ,,Wenn  Künstler  von  Natur  sprechen,  subintelligieren 
sie  immer  die  Idee,  ohne  sich's  deutlich  bewußt  zu  sein."  So 
ganz  also  hat  die  Kunst  ihre  Existenz  in  der  ,,Idee",  daß  sie 
in  dem,  was  der  Künstler  Natur  nennt,  die  Substanz,  das 
eigentlich  Gemeinte  ist;  aber  sie  kann  das,  weil  sie  von  vorn- 
herein mit  der  Natur  Eines  ist,  weil  sie  die  Natur  sozusagen 
aufgesogen  hat  und  weil  das  Leben,  das  der  Schicksalsgenosse  der 
Kunst  ist,  in  dieser  Assimiliertheit  von  Idee  und  Natur  besteht. 
Damit  ist  aber  auch  die  Gefahr  vermieden,  die  die  Selbst- 
herrlichkeit der  Kunst  in  dem,  was  wir  jetzt  eben  Artistentum 
nennen,  leicht  mit  sich  bringt:  daß  ihre  Autonomie  sich  zu 
einer  Despotie  übersteigert,  daß  der  Hochmut  eines  isolierten 
Kunstbegriffes  alle  Wirklichkeit  und  Natur  sozusagen  zu  einer 
Existenz  zweiter  Klasse  herabdrückt.  Jener  Begriff  mag  bei 
Goethe  zu  noch  so  großer  Souveränität  aufwachsen,  er  kann 
das  immer  nur  in  der  Richtung  jenes  ursprünglichen  Wachs- 
tums aus  der  einheitlichen  Verwurzelung  mit  der  Natur  heraus. 
Ja,  weil  die  Kunst,  bei  aller  absoluten  Selbständigkeit  ihrer 
Form,  ihren  Sinn  aus  dem  anschaulichen  und  geistigen  Wesen 
der  Natur  bezieht,  weil  sie  zu  der  Höhe,  in  der  sie  jenseits 
der  Natur  steht,  nur  aus  der  Natur  heraus  und  deren  tiefere 
Wahrheit  als  ihre  eigne  bewahrend  gelangt  ist  —  darum  läßt 
Goethe  ihr  eine  wundervolle  Bescheidenheit,  ein  starkes  Bewußt- 
sein ihrer  angemessenen  Stellung  in  dem  alles  übergreifenden 
Dasein  überhaupt:  ,,Der  Mensch,  sagt  er  zehn  Jahre  nach 
Italien,  verlange  nicht  Gott  gleich  zu  sein,  aber  er  strebe,  sich 
als  Mensch  zu  vollenden.  Der  Künstler  strebe,  nicht  ein  Natur- 
werk, aber  ein  vollendetes  Kunstwerk  hervorzubringen."  Die 
Parallele  spricht  deutlich  genug:  das  Naturwerk  bleibt  das 
unerreichbar  Höchste,  aber  indem  die  Kunst  mit  ihm  nicht 
konkurriert,  weder  im  Sinn  des  Naturalismus  noch  des  stolz 
abstrakten  Artistentums,  kann  sie  in  sich  eine  absolute,  durch 


Gegensatz  zwischen  Idee  und  Erfahrung  121 

jene  Absolutbeit   der   Natur    nicht    herabgedrückte  Vollendung 
haben. 

Dies  steht  nun  in  einer  leicht  fühlbaren  Beziehung  zu  einer  noch 
weitergreifenden  Spannung  der  Grundelemente,  die  in  seinen 
späteren  Jahren  hervortritt.  Daß  die  Idee  der  Erscheinung  inne- 
wohnt und  in  ihr  anschaulich  ist,  daß  die  Natur  ihre  Geheimnisse 
hier  und  da  dem  Beschauer  nackt  vor  Augen  stellt,  daß  nichts 
hinter  den  Phänomenen  liegt,  sondern  sie  selbst,, die  Lehre"  sind  — 
das  ist  das  zeitlos  Prinzipielle  der  Goetheschen  Weltanschauung, 
ihre  ,,Idee"  selbst.  Nun  aber  begegnen,  insbesondere  in  höherem 
Alter,  zunächst  Äußerungen  wie  die:  ,,Kein  organisches  Wesen 
ist  ganz  der  Idee,  die  zugrunde  liegt,  entsprechend."  Ganz  spät 
sagt  er,  daß  er  die  Natur  keineswegs  ,,in  allen  ihren  Äußerungen 
schön"  finde:  sie  habe  eben  nicht  immer  die  Bedingungen,  ihre 
,, Intentionen"  vollkommen  zur  Erscheinung  zu  bringen ;  wofür 
er  die  mannigfaltigen  Verkrüppelungen  anführt,  die  ein  Baum 
durch  Ungunst  des  Standortes  erfahren  kann.  Die  Natur  ist  zwar 
in  Gott  gehegt,  aber  dennoch  ist  das  göttliche  Prinzip  in  der  Er- 
scheinung ,, bedrängt",  dennoch  können  Taten  ,,ohne  Gott"  ge- 
schehen; und  die  Idee  ,, tritt  immer  als  ein  fremder  Gast  in  die  Er- 
scheinung". ,,Die  Idee  ist  in  der  Erfahrung  nicht  darzustellen, 
kaum  nachzuweisen;  wer  sie  nicht  besitzt,  wird  sie  in  der  Er- 
scheinung nirgends  gewahr."  ,, Zwischen  Idee  und  Erfahrung 
scheint  eine  gewisse  Kluft  befestigt,  die  zu  überschreiten  unsere 
ganze  Kraft  sich  vergeblich  bemüht.  Dessenungeachtet  bleibt 
unser  ewiges  Bestreben,  diesen  Hiatus  mit  Vernunft,  Verstand, 
Einbildungskraft,  Glauben,  Gefühl,  Wahn,  und,  wenn  wir  sonst 
nichts  vermögen,  mit  Albernheit  zu  überwinden."  Und  dies  wen- 
det sich  schließlich  auch  ins  Ethische,  wenn  er,  75  Jahre  alt,  über 
Byrons  griechisches  Unternehmen  und  seinen  Tod  sagt:  ,,Es  ist 
aber  das  Unglück,  daß  so  ideenreiche  Geister  ihr  Ideal  durchaus 
rerwirklichen  wollen.  Das  geht  nun  einmal  nicht,  das  Ideal  und 
die  gemeine  Wirklichkeit  müssen  streng  geschieden  bleiben." 
Neben  dem  letzten  und  eigentlich  absoluten  Prinzip  des  Goethe- 
schen Weltbildes:  der  Einheit  der  Pole,  des  ,,ewig  Einen,  das  sich 
vielfach  offenbart",  der  ,,Ruh'   in  Gott  dem  Herrn",  die  alles 


122  Dualismus 

Drängen,  Irren,  Spalten  zusammenschließt,  der  ,, göttlichen 
Kraft,  die  überall  entwickelt,  der  ewigen  Liebe,  die  überall  wirk- 
sam" ist  —  neben  diesem  steht  ein  dualistisches  Prinzip,  das 
jenem  gegenüber  einigermaßen  im  Dunkeln  bleibt  und  sich  nur 
in  solchen  einzelnen  Äußerungen  über  die  Unstimmigkeit  zwischen 
Idee  und  erfahrbarer  Wirklichkeit  verrät.  Die  Empfindung 
dieses  dumpfen  Widerstandes  der  realen  Welt,  der  wir  selbst 
zugehören,  gegen  das  Höhere  und  Absolute,  von  dem  sie  selbst 
doch  ihren  ganzen  Inhalt  und  Wert  zu  Lehen  trägt,  reflektiert 
sich  wohl  in  einem  Gefühl,  das  er  öfters,  z.  B.  in  folgendem  Satz 
ausspricht:  ,,Die  Idee,  wenn  sie  in  die  Erscheinung  tritt,  es  sei 
auf  welche  Art  es  auch  wolle,  erregt  immer  Apprehension,  eine 
Art  Scheu,  Verlegenheit,  Widerwillen,  wogegen  der  Mensch  in 
irgendeiner  Weise  sich  in  Positur  setzt."  Auch  über  die  Ur- 
phänomene,  deren  Auffindung  ihn  doch  ursprünglich  beseligte  — 
wie  er  denn  überhaupt  von  seinen  naturwissenschaftlichen  Ent- 
deckungen mit  einem  so  freudigen  Stolze  spricht,  wie  nie  von 
seinen  Dichtwerken  —  äußert  er  sich  später  in  dem  gleichen 
Sinn:  daß  ihre  Wahrnehmung  mit  einem  gewissen  Schrecken 
und  Angstgefühl  verbunden  sei.  Ich  wüßte  zwar  den  Zusammen- 
hang beider  Phänomene  des  Goetheschen  Geistes  durch  kein 
Zitat  zu  belegen.  Aber  dies  eigentümliche  Gefühl  des  Schreckens 
beim  Hervortreten  der  Idee,  als  überwältigte  uns  dabei  etwas, 
was  mit  unbegreiflicher  Kraft  aus  einer  uns  fremden  Welt 
kommt,  scheint  mir  nur  auf  jene  Konstellation  begründbar:  daß 
dasjenige,  was  erscheinen  zu  lassen  sich  die  Wirklichkeit  sträubt, 
was  sie  nur  wie  in  Andeutungen  und  aus  der  Ferne  zeigt,  nun 
dennoch  auf  einmal  anschaulich  wird;  jederzeit  ist  es  eines  der 
tiefsten  Schrecknisse  der  menschlichen  Seele,  wenn  sie  das  ver- 
wirklicht erblickt,  was  sie  als  logischen  Widerspruch  denken  muß. 
Hier  liegt  eine  der  dunkelsten,  am  wenigsten  auf  einen  einheit- 
lichen Grund  und  einen  durchsichtigen  Ausdruck  gebrachte  Seite 
Goethescher  Weltanschauung  vor.  Es  ist  offenbar  im  Meta- 
physisch-Wertmäßigen die  Schwierigkeit  an  ihn  herangetreten, 
die  ganz  prinzipiell  jeden  Monismus  bedroht:  daß  es  unsem 
Denkkategorien   versagt   ist,  die  differente  Ausgedehntheit  und 


Einheit  des  Seins  und  Gespaltenheit  des  Wertes  123 

Vielheit  des  Daseins  aus  dem  ,, Einen",  dem  schlechthin  ein- 
heitlichen Prinzip  zu  entwickeln.  Wie  unser  Geist  nun  einmal 
angelegt  ist,  bedarf  es  mindestens  einer  Zweiheit  ursprünglicher 
Elemente,  damit  es  zu  einer  Zeugung  komme,  damit,  real  wie 
logisch,  ein  Mehrfaches,  Anderes,  Gewordenes  begreiflich  sei. 
Die  absolute  Einheit  ist  unfruchtbar,  wir  können  nicht  einsehen, 
warum  dieses  Eine,  wenn  außer  ihm  nichts  ist,  ein  Zweites  und 
Drittes,  und  gerade  dieses  und  gerade  in  diesem  Zeitmomente, 
hervorbringen  sollte.  Soweit  nur  das  Sein  in  Frage  kommt,  ent- 
geht der  Goethesche  Pantheismus  dieser  Ratlosigkeit,  indem 
er  die  göttliche  Einheit  als  eine  lebendige  vorstellt.  Das 
Leben,  als  Ganzes  gefaßt,  ist  freilich  das  aus  sich  selbst  zeugende 
Prinzip,  der  Organismus,  einmal  entstanden,  wächst,  formt  und 
entfaltet  sich  aus  rein  innerem  Gesetz,  aus  einer  Triebeinheit, 
die  eines  andern  höchstens  als  Materiales  bedarf.  Weil  Goethe 
die  Welt  als  einen  Organismus  verstand,  überwand  er  die  Klippe 
des  früheren  Pantheismus:  daß  die  absolute  Einheit  ja  etwcis 
schlechthin  Undifferenziertes,  Formloses,  ewig  Unänderbares  ist; 
wie  die  Organvielheit,  die  auseinanderzweigende  Entwicklung 
des  Lebewesens  seiner  Einheit  nicht  widerspricht,  sondern  dieser 
gerade  entsprießt,  so  kann  eine  lebendige  Welt  eine  vielheit- 
lich geformte,  unendlich  differenzierte  und  doch  eine,  in  sich 
ungeteilte  und  unteilbare  sein.  Auf  eine  Kritik  dieser  Vorstellung 
gehe  ich  nicht  ein;  für  Goethe  jedenfalls  scheint  sie  ausgereicht  zu 
haben,  um  seinen  Pantheismus  der  Fragwürdigkeit  des  starren 
SV  Jtai  Tcav  zu  entreißen.  Wo  aber  statt  der  Einheit  des  Seins  die  Ein- 
heit des  Sinnes  in  Frage  steht,  hat  er  keine  entsprechende  Be- 
stimmung der  ,, Gott-Natur"  zur  Verfügung,  und  ihre  Einheit 
versagt  an  der  Unzulänglichkeit,  Dumpfheit,  Ideenfremdheit  der 
tatsächlichen  Phänomene.  Ich  kenne  keine  Äußerung  Goethes, 
die  es  unternähme,  die  göttliche  Einheit,  die  die  Natur  und 
jede  ihrer  Einzelheiten  widerstandslos  durchdringt  —  und  die 
Unfindbarkeit  des  Göttlichen  oder  der  Idee  in  der  Erscheinung, 
den  Widerstand,  den  die  wirkliche  Natur,  all  jenen  Aussprüchen 
gemäß,  diesem  Absoluten  und  Ideellen  leistet  —  auf  einen 
Begriff    zu    bringen,    aus    einem    tieferen    Motiv    abzuleiten. 


124  Fragwürdigkeit  des  Gegenprinzips 

Beides  vielmehr  steht  wie  unvermittelte  Tatsachen  nebenein- 
ander —  während  doch  die  gleichsam  zeitlose  Substanz  seiner 
Weltanschauung,  die  Idee,  die  diese  historisch  zu  verwirklichen 
berufen  war,  in  dem  sichtbaren  Einwohnen  des  Ideellen  in 
der  ,, Gestalt",  in  dem,  wenn  nicht  unmittelbaren,  so  doch  mittel- 
baren und  innerlichen  Sinnlich-Sein  des  Übersinnlichen  beruhte! 
Zu  einem  prinzipiellen  Dualismus,  wie  ihn  manche 
religiöse  und  in  gewissem  Sinn  auch  die  Kantische  Weltan- 
schauung zeigt,  kommt  es  zwar  nicht.  Ich  wüßte  nicht,  daß  für 
jene  Behinderung  der  Idee,  sich  in  der  Erscheinung  zu  zeigen, 
irgendein  positives  metaphysisches  Prinzip  haftbar  gemacht  wird; 
ich  kann  mich  nicht  entschließen,  das  Symbol  eines  solchen  in 
Mephistopheles  zu  sehen  —  auch  wenn  es  ihm  ,, Ehrenpunkt" 
ist,  ,, dabei"  gewesen  zu  sein,  als  die  Natur  entstand.  Denn  Me- 
phisto tritt  —  was  etwas  Frappierendes  hat  —  eigentlich  nicht 
als  kosmische  Potenz  hervor.  Er  geht  ganz  in  dem  singulären 
Unternehmen  auf,  Fausts  Seele  zu  gewinnen,  ohne  daß  dies  aus 
einer  metaphysisch  breiten,  jenseits  des  individuellen  Falles 
sich  erstreckenden  Basis  hervorginge.  Trotz  der  paar  allgemeinen 
nihilistischen  Äußerungen  im  ersten  Teil  ist  seine  Tendenz  hier 
nicht  entschieden  antikosmisch,  antiideell,  sondern  nur  anti- 
ethisch. Es  ist  viel  mehr  der  böse  Zauberer,  der  eine  Seele  ver- 
derben will,  als  das  Symbol  jener  unheimlichen,  die  Welt  als 
Gegengott  durchwaltenden  Tendenz,  die  in  den  großen  dualistischen 
Weltbildern  jeden  Punkt  des  Seins  zum  Kampfplatz  zwischen  Licht 
und  Finsternis,  Ormuzd  und  Ahriman  macht.  Es  ist  doch  nicht 
bedeutungslos,  wenn  Goethe  im  Jahre  1820  von  einer  Fort- 
setzung des  Faust  spricht,  ,,wo  der  Teufel  selbst  Gnade  und  Er- 
barmen vor  Gott  findet"  —  und  noch  weniger,  daß  dies  nach  dem 
,, Prolog  im  Himmel"  nicht  einmal  inkonsequent  ist.  Im  zweiten 
Teil  verschwindet  überhaupt  alles  Prinzipielle  aus  seiner  Rolle, 
er  ist  nur  noch  ein  sozusagen  technisch,  aber  nicht  mehr  innerlich 
notwendiges  Glied  der  Ereignisse.  Die  tiefe  Überzeugtheit  von 
der  Göttlichkeit  und  Einheit  der  Welt  hat  Goethe  eben  doch- 
zurückhalten müssen,  dem  teuflischen  Prinzip  eine  meta- 
physischen Absolutheit,  eine  Wurzelung  im  letzten  Grunde  der 


Anthropomorphismus  125 

Dinge  zu  geben;  darum  also  war  der  oben  gebrauchte  Begriff 
des  Dualismus  nur  ein  vorläufiger.  Genau  ausgedrückt  liegt  es 
so,  daß  die  großen  ideellen  Weltpotenzen,  die  prinzipiell  die  Er- 
scheinung restlos  gestalten,  schließlich  nur  eine  nicht  näher 
bestimmte  Grenze  ihrer  Wirksamkeit  finden  —  nicht  näher  be- 
stimmt, weil  sie  nicht  aus  einem  einheitlichen  Gegenprinzip 
stammt,  aus  der  positiven  Hemmung  durch  eine  feindliche  Kraft, 
sondern  eher  aus  einer  inneren  Schwäche,  aus  einem  Versagen 
von  innen  her. 

Die  Undeutlichkeit ,  die  für  Goethe  selbst  hier  vorzuliegen 
scheint,  ist  wohl  die  Veranlassung  für  die  Vielfachheit,  das 
Tastende,  ja  auch  Widerspruchsvolle,  das  in  seinen  Aus- 
drücken auftritt,  sobald  er  den  Standpunkt  der  einheitlichen, 
in  ihren  Gestaltungen  die  Idee  offenbarenden  Natur  verläßt. 
Er  ist  einesteils  der  radikalste  Feind  alles  Anthropomorphismus. 
Nicht  nur  ,,unfühlend  ist  die  Natur",  sondern  auch  alle  Natur- 
zwecke sind  ihm  vollkommene  Absurdität,  die  fortschreitende 
Lebensreife  erscheint  ihm  als  fortschreitende  Reinigung  des 
Naturbildes  von  subjektiven  Zutaten  und  Hervorstellen  ihres 
Bildes  als  einer  reinen  Objektivität,  eines  Kosmos  ausnahms- 
loser, ewiger  Gesetze.  Andrerseits  aber  begegnen  nun  Äußerungen, 
die  die  Natur  völlig  zu  vermenschlichen  scheinen.  Zunächst  das 
häufig  Wiederholte:  daß  die  Natur  immer  recht  habe,  daß  sie 
sich  niemals  irrte,  daß  sie  sich  selbst  treu  bliebe  usw.  Alles  dies 
hat  aber  doch  nur  einen  Sinn,  wo  ein  Sein  und  ein  davon  mög- 
licherweise unterschiedenes  Sollen  vorliegt;  ein  Wesen,  als 
schlechthin  gesetzmäßige  Natur  angesehen,  steht  jenseits  von 
Recht  und  Unrecht,  von  Wahrheit  und  Irrtum.  Nur  für  den 
menschlichen  Geist  können  diese  Kategorien  gelten,  da  nur  er 
ein  ideales  oder  reales  Objekt  sich  gegenüber  hat,  mit  dem 
er  übereinstimmen  oder  das  er  verfehlen  kann.  Auf  die  Natur, 
die  nur  i  s  t  und  weiter  nichts ,  ist  dies  garnicht  anwendbar. 
Die  für  uns  hier  wichtigste  Wendung  davon  ist,  daß  Goethe  der 
Natur  Bestrebungen  unterlegt,  die  sie  nicht  zu  verwirk- 
lichen vermag,  also  jenes  eigene  Hinausgreifen  über  ihre  eigene 
Wirklichkeit,    das    als    spezifisch    menschlich    und    gerade    der 


126  Die   „Gestalt"  und  die  Teile 

Natur  völlig  fremd  gilt.  Daß  die  Natur  ihre  Intentionen  nicht 
erreicht  (ersichtlich  dasselbe,  wie  das  Zurückbleiben  der  Er- 
scheinung hinter  der  Idee),  scheint  in  einer  wirklich  objektiven 
Vorstellungsart  keinen  Platz  zu  finden;  und  ebensowenig,  daß 
die  Natur  zwar  ,,sich  von  ihren  Grundgesetzen  nicht  entfernen 
kann"  und  man  deshalb  ,,sich  so  spät  als  möglich  negativer  Aus- 
drücke bedienen  soll  (wie  Mißbildung,  Entartung  usw.)  —  und 
daß  er  dennoch  Mißbildungen  gelegentlich  anerkennt:  ,, miß- 
gebildet", sagt  er,  ,,ist  die  durchgewachsene  Rose,  weil  die 
schöne  Rosengestalt  aufgehoben  und  die  gesetzliche  Beschränkt- 
heit ins  Weite  gelassen  ist." 

Goethe  hat,  wie  gesagt,  diese  für  uns  unversöhnlichen 
Widersprüche  offenbar  nicht  als  solche  empfunden  und  des- 
halb auch  kein  Lösungswort  zu  finden  versucht.  Mir  aber 
erscheint  dies  und  die  ganze  Situation  durch  das  Grundmotiv 
Goethescher  Weltanschauung  bedingt,  das  sie  von  dem  als 
eigentlich  wissenschaftlich  geltenden  Prinzip  im  Tiefsten  trennt: 
daß  die  hervorzubringende  Gestalt,  die  typisch  bestimmte 
morphologische  Erscheinung  der  Dinge  die  wirksame  Potenz 
in  allem  Geschehen  ist.  Als  Teleologie  darf  das  zwar  nicht 
angesehen  werden,  und  alle  bei  ihm  dazu  verführenden  Aus- 
drücke sind  entweder  metaphorisch  oder  lässig;  die  schaffende 
oder  —  wie  man  mit  Übertragung  des  hervorstechendsten 
Falles  auf  die  Gesamtheit  sagen  kann  —  die  organisierende 
Kraft  enthält  das  Gestaltbildende,  Formbegrenzende  von  vorn- 
herein in  sich,  sie  ist  vielmehr  ganz  und  gar  dieses  und  be- 
darf zu  ihrer  Dirigierung  keines,  dem  menschlichen  analogen 
Zweckes,  dem  sie  sich  als  bloßes  Mittel  zur  Verfügung  stellte. 
Die  moderne  Naturwissenschaft  nun  konstruiert  das  Geschehen 
ausschließlich  aus  den,  den  Teilen  der  Dinge  einwohnenden 
Energien  und  deren  Wechselspiel,  das  sich  unmittelbar  zwischen 
ihnen  entspinnt;  sie  ist  insofern  im  Prinzip  atomistisch,  auch 
wenn  sie  in  ihrer  Vorstellung  von  der  Materie  nicht  Atomismus, 
auch  wenn  sie  nicht  Mechanismus,  sondern  Energetik,  ja  viel- 
leicht Vitalismus  ist.  Die  Gestalt  des  Ganzen,  die  Idee  der  Form, 
die  sie  sich  aus  den  einzelnen  Teilen  erst  zusammenbaut,  als 


Naturgesetze  und  Freiheitsspielraum  127 

unmittelbar  treibende  Kraft  in  diesen  Teilen  anzusetzen,  liegt 
der  Naturwissenschaft  fern  —  oder  lag  ihr  wenigstens  bis  zu 
einigen  Theorien  der  allerjüngsten  Zeit  fern.  Indem  für  Goethe 
aber  das  , »Gesetz"  des  Geschehens  nicht  die  Formel  für  die  in  den 
isoliert  gedachten  Teilen  wohnenden  Eigenschaften  und  Kräfte 
und  deren  bloße  Relationen  ist,  sondern  in  der  Gestalt  des  Ganzen 
besteht,  die  als  reale  Kraft  —  oder  realer  Kraft  analog  — 
jene  Teile  ihrer  Realisierung  zutreibt,  liegt  die  Möglichkeit 
prinzipiell  nahe,  daß  Hemmungen,  Schwächen,  Durchkreuzun- 
gen dies  Gesetz  nicht  zu  seiner  vollen  Wirksamkeit  kommen 
lassen.  Dadurch  wird  überhaupt  die  Vorstellung  über  die 
Pflanzenwelt  denkbar,  daß  ,,in  diesem  Reiche  die  Natur, 
zwar  mit  höchster  Freiheit  wirkend,  sich  doch  von  ihren  Grund- 
gesetzen nicht  entfernen  kann."  ,, Grundgesetze"  und  um  sie  ein 
Spielraum  der  Freiheit  ist  eine  der  exakten  Wissenschaft  fremde 
Vorstellung.  Naturgesetz  ist  Naturgesetz,  und  jede  Gestalt,  die 
überhaupt  wirklich  ist,  mag  sie  noch  so  untypisch  und  für  uns 
erstaunlich  sein,  ist  nach  Gesetzen  erzeugt,  die  in  genau  dem- 
selben Range  stehen,  wie  die  an  der  normalsten  Erscheinung  be- 
währten. Nur  wo  das  Gesetz  die  Formel  für  die  auf  eine  bestimmte, 
und  zwar  typische  Gestalt  drängende  Energie  ist,  kann  seine 
zentrale  Gerichtetheit  gewissermaßen  nach  rechts  und  links  in 
abgelenkte,  schwächere,  mit  anderen  Motiven  vermischte  Er- 
scheinungen abklingen.  Bei  gewissen  Blüten,  sagt  er,  z.  B.  bei 
den  Zentifolien,  ,, überschreitet  die  Natur  die  Grenze,  die  sie  sich 
selbst  gesetzt  hat",  womit  sie  freilich  gelegentlich  ,,eine  andere 
Vollkommenheit  erreicht",  gelegentlich  aber  auch  ins  schlecht- 
hin mißbildete  ausschlägt  —  während  für  die  exakte  Anschauung 
eine  solche,  eine  bestimmte  Form  bezeichnende  ,, Grenze"  nicht 
existiert,  sondern  diese  immer  nur  das  (genau  gesprochen)  zu- 
fällige Ergebnis  elementarer  Kraftwirkungen  ist.  Es  ist  klar, 
daß,  wie  schon  angedeutet,  diese  Attitüde  Goethes  zu  den  kos- 
mischen Gestaltungen  überhaupt  durch  die  Betrachtung  der 
Organismen  bestimmt  ist.  Denn  in  ihnen  allein  scheinen  Kräfte 
und  Kraftrichtungen  der  Teile  von  der  Form  des  Ganzen  bestimmt 
zu  sein  und  diese  Form  scheint  in  jedem  einzelnen  Fall  ein  Ver- 


128  Das  organische  Formgesetz 

hältnis  zu  einem  „Typus"  zu  haben  —  einem  Typus,  der  nicht 
nur  ein  durch  ein  betrachtendes  Subjekt  nachträglich  ge- 
wonnener Durchschnitt,  sondern  eine  objektiv  gültige  Norm  ist; 
so  daß  das  Normale  und  das  Abnorme,  der  reine  Fall  und  die 
ausnahmsweise  Mißbildung  als  solche  einen  sachlichen,  nicht 
nur  einen  Reflexionssinn  haben.  Weil  Goethe  die  Welt  organisch 
verstanden  hat,  weil  er  den  eben  bezeichneten  Charakter  des 
Organismus  an  jedem  Punkt  der  Welt  empfand,  darum  erschien 
dessen  Werden  ihm  von  einem,  den  Teilen  einwohnenden  Form- 
gesetz des  Ganzen  bestimmt.  Dieses  Formgesetz  hat  seine  Achse 
in  dem  Typus  der  Art,  um  den  die  einzelnen  Erscheinungen  mit 
größerem  oder  geringerem  Abstand  pendeln.  Hier  zeigt  sich  eine 
tiefe  Beziehung  der  Goetheschen  Naturanschauung  zu  seinem 
Klassizismus.  Die  antike  Geistesart,  soweit  sie  auf  Goethe 
wirkte,  fand  das  Wesen  jedes  Stückes  des  Daseins  in  dem  plastisch 
festgeformten  Allgemeinbegriff.  Wie  die  griechische  Kunst  auf 
Typen  ausging,  um  die  die  einzelnen  Gestaltungen  sich  mit  gewissem 
Spielraum  bewegten,  in  der  Reinheit  ihres  Typus  das  Maß  ihrer 
Vollendung  findend,  so  schienen  die  Dinge  in  Klassen  zu  gehören, 
die  für  ein  jedes  die  Vorzeichnung  bildeten,  und  jedes  Ding  war 
es  selbst,  indem  es  seinen  Typus  darstellte  —  was  es  oft  oder 
immer  nur  in  Unvollkommenheit  und  Trübung  konnte.  In  der 
Goetheschen  Vorstellung  des  ,, Gesetzes"  der  natürlichen  Dinge 
trafen,  indem  die  Gestalt  Gesetz  ist,  die  beiden  Momente 
zusammen:  die  ,, Gestalt"  als  das  treibende,  alles  Werden  er- 
klärende Movens  in  allen  Elementen,  wie  es  dem  organischen 
Weltbegriff  entspricht  —  und  diese  Gestalt  als  Verwirklichung 
eines  Typus,  der  sie  zwar  nie  ganz  aus  sich  entläßt,  von  dem  sie 
sich  aber  mit  unabsehbaren  Modifikationen,  Hypertrophien  und 
Atrophien  entfernen  kann:  das  ,, Gesetz,  von  dem  in  der  Er- 
scheinung nur  Ausnahmen  anzutreffen  sind". 

Auf  diese  Weise  also  möchten  jene  dualistischen,  mit 
Goethes  Grundprinzipien  anscheinend  unverträglichen  Äuße- 
rungen erklärlich  werden,  die  mit  steigendem  Alter  die 
Diskrepanz  zwischen  dem  Göttlichen  und  dem  Wirklichen, 
zwischen  Idee  und  Erfahrung  immer  schärfer  herausstellen  — 


Symbolische  Fälle  129 

vielleicht,  weil  sich  das  klassische  Ideal  einigermaßen  aus 
seiner  Unbedingtheit  zurückbildete;  so  daß  er,  28  Jahre  nach  der 
italienischen  Reise,  erklärt,  das  griechische  Wesen  zöge  ihn 
doch  nicht  so  an,  wie  das  römische  mit  seinem  ,, großen  Ver- 
stände", also  mit  seinem  scharfen  Realitätssinn.  Freilich,  wie 
die  Einheitlichkeit  seines  Wesens  und  seines  Weltanschauens, 
die  er  in  Italien  gewann,  sich  als  eine  begründetere,  prinzi- 
piellere, positiver  errungene  von  der  naiven  seiner  frühen  Jugend 
unterscheidet  —  genau  so  unterscheidet  sich  dies  späte  Aus- 
einandertreten des  Ideellen  und  des  Realen  von  demjenigen, 
sozusagen  bloß  empirisch-schicksalsmäßigen,  das  uns  in  der 
Zeit  kurz  vor  Italien  entgegentrat.  So  klar  diese  Standpunkte 
im  sachlich- zeitlosen  oder  geistesgeschichtlichen  Sinne  sind, 
so  verwirrend  gehen  sie  im  rein  goethe-biographischen  durch- 
einander; denn  in  jeder  Periode,  deren  zentrale  Tendenz  ganz  un- 
zweideutig durch  je  einen  von  ihnen  charakterisiert  ist,  klingen 
auch  die  andern  noch  nach  oder  vor.  Es  lag  in  Goethes  Geistes- 
wesen, die  Färbung  auch  momentaner  Erfahrungen  oder  Stim- 
mungen gleich  in  sentenziöser,  verallgemeinerter  Form  auszu- 
sprechen. Mehrfache  Äußerungen  zeigen,  daß  er  über  die 
so  entstehenden  Widersprüche  ganz  klar,  aber  auch  ganz 
beruhigt  war;  denn  er  wußte,  daß  sich  in  ihnen  nur  die  nach 
verschiedenen  Seiten  hin  ausschlagenden  Pendelungen  eines  ein- 
heitlichen Lebens  aussprachen. 

Es  ist  nun  höchst  merkwürdig,  zu  verfolgen,  durch  welche 
Mittel  er  sich  mit  jenem  späteren  Auseinandertreten  der  Ele- 
mente seines  prinzipiell  einheitlichen  Weltbildes  abfindet.  Hier 
wird  zunächst  der  Begriff  des  ,, symbolischen  Falles"  wichtig. 
Er  geht,  in  einer  entscheidenden  Erklärung  vom  Jahre  97, 
davon  aus,  die  ,, unmittelbare  Verbindung  des  Idealen  mit 
dem  Gemeinen"  wäre  unerträglich.  Nun  gebe  es  aber  einzelne 
Erscheinungen  (als  solche  doch  dem  Gebiet  des  ,, Gemeinen" 
angehörend),  die  einen  besonders  tiefen  Eindruck  auf  ihn 
machten  und  von  denen  er  dann  feststellte,  daß  sie  viele  andere 
repräsentieren.  Indem  sie  für  all  diese  symbolisch  wären, 
schlössen  sie  ,,eine  gewisse  Totalität  in  sich".    Das  Wesentliche 

Simmel,  Goethe.  9 


130  Die  Vertretimg  des  Ideellen 

ist  hier  also,  daß  eine  einzelne  Gestaltung  nicht  mehr  in  ihrem 
unmittelbaren  Fürsichsein  die  Idee  offenbart  (was  sie  eben  auch 
nicht  kann),  sondern  durch  die  Vermittlung  hindurch:  daß  sie 
die  Gesamtheit  der  Fälle  in  sich  schließt,  die  das  Erscheinungs- 
gebiet der  Idee  ausmacht.  Daraufhin  sagt  er  von  dieser  Kate- 
gorie des  ,, symbolischen",  ,, eminenten",  ,, bedeutenden"  Falles, 
sie  ,,hebe  den  Widerspruch,  der  zwischen  meiner  Natur  und  der 
unmittelbaren  Erfahrung  lag,  den  in  früherer  Zeit  ich  niemals 
lösen  konnte,  sogleich  auf."  Von  nun  an  hält  er  mit  großer  Be- 
tontheit fest,  daß  ,,ein  Fall  tausend  Fälle  wert"  sein  kann.  Damit 
hat  sich  ihm  eine  Lösungsformel  für  eine  Aufgabe  geboten,  die 
zu  den  allgemeinsten  und  tiefsten  der  Menschheit  gehört:  das 
Unendliche  in  der  Ebene  des  Endlichen  zu  finden.  Zwischen 
Überwelt  und  Welt,  der  Idee  und  der  Erfahrung,  dem  Absoluten 
und  dem  Relativen,  dem  Allgemeinen  und  dem  Einzelnen  spielen 
sich  die  Probleme  der  Weltanschauungen  ab,  auch  wenn  ihre 
Lösung  in  der  völligen  Negation  je  einer  Partei  gesehen  wird. 
Und  es  ist  nun  der  eine  große  Lösungstypus,  daß  alle  Werte  und 
Bedeutungen,  die  man  von  vornherein  nur  an  dem  einen  Pol 
lokalisiert  hat,  unter  völliger  Bewahrung  ihres  Inhaltes  und 
Sinnes  an  dem  andern  entdeckt  werden,  daß  gewisse  Erstreckungen 
und  Betonungen  des  Endlichen,  Welthaften,  Einzelnen  alles  das 
gültig  vertreten,  zu  dessen  Sitz  man  das  Absolute,  Überwirkliche, 
Ideelle  meinte  kreieren  zu  müssen.  Die  knappen  Äußerungen 
Goethes  über  die  symbolischen  Fälle  zeigen,  wie  er  den  ihm 
bewußt  gewordenen  Riß  zwischen  jenen  Polen  in  der  Richtung 
dieses  weltgeschichtlichen  Motives  zu  versöhnen  suchte:  das 
Wirkliche  scheint  ihm  eine  Struktur  zu  haben,  die  einen  ein- 
zelnen Teil  seiner  sich  zum  Vertreter  einer  Gesamtheit  quali- 
fizieren und  ihn  damit  die  Beschränkung  auf  seine  Singularität 
überschreiten  läßt.  Er  bleibt  darum  seinem  Sein  nach  nicht 
weniger  in  den  Dimensionen  des  Endlichen,  Realen,  Empirischen; 
aber  indem  seine  Bedeutung  die  von  unendlich  vielen  Einzelnen 
zu  vertreten  vermag,  ist  das  Zufällige,  Relative,  individuell  Un- 
zulängliche jedes  einzeln  Erfahrbaren  in  ihm  paralysiert;  das 
empirisch  schlechthin  Allgemeingültige  ist  zugleich  das  gültige 


Der  Mittelzustand  131 

Gegenbild  des  Überempirischen,  der  Idee,  des  Absoluten,  und 
wenn  ein  einzelnes  Anschaulich -Wirkliches  jene  Allgemein- 
gültigkeit konkret  zu  machen  weiß,  so  ist  damit  die  Fremdheit 
der  beiden  Welten  versöhnt,  die  Wirklichkeit  zerfällt  nicht  in 
definitiv  isolierte,  der  Idee  gegenüber  hoffnungslose  Stücke, 
sondern  in  der  Form  gewisser  einzelner  dieser  Stücke  bietet  sich 
die  Totalität,  der  Sinn,  das  Gesetz  dar,  das  sonst  allein  im  Über- 
wirklichen zu  wohnen  schien.  Dadurch  ist  ,,das  Ideale  mit  dem 
Gemeinen"  mittelbar  verbunden,  was  es  unmittelbar  nicht  sein 
kann;  und  dies  ist  es,  was  Goethe  ermöglicht,  Realist  zu  sein, 
ohne  darum  Empirist  sein  zu  müssen. 

Von  der  spezieller  subjektiven  Seite  her  sucht  er  durch  einen 
andern  Begriff,  der  uns  schon  im  vorigen  Kapitel  fruchtbar  wurde, 
jene  Gespaltenheit  des  Seins  zu  besänftigen:  durch  den  Begriff  des 
,, Mittelzustandes",  den  die  kosmische  Ordnung  dem  Menschen  zu- 
gewiesen habe.  ,,Der  Mensch",  sagt  er,  ,,ist  in  einen  Mittelzustand 
gesetzt  und  es  ist  ihm  nur  erlaubt,  das  Mittlere  zu  erkennen  und 
zu  ergreifen";  und  im  Zusammenhange  damit:  ,,Die  Idee  kann 
man  keineswegs  ins  Enge  bringen."  Das  heißt  also:  das  Ab- 
solute, Ideelle  ist  an  und  für  sich  nicht  in  die  Form  der  Erfahrung, 
des  einzeln  Wirklichen  überzuführen,  von  ihm  nicht  abzulesen. 
Aber  der  Mensch  steht  zwischen  beiden,  jetzt  nicht  eigentlich  als 
ein  Bürger  beider  Welten  oder  ein  Mischgebilde  aus  ihnen,  sondern 
in  einer  eigenen,  einheitlichen  Stellung;  er  ist  in  dieser  ein  Gegen- 
bild der  kosmischen  Totalität  (indem  er  ihr  zugleich  angehört), 
ein  Mikrokosmos,  der  in  seiner  Geistigkeit  den  Sinn  jener  To- 
talität wiederholt  und  gerade  deshalb  keiner  der  einzelnen  Par- 
teien des  Ganzen,  weder  der  Idee  noch  dem  Empirisch-Realen, 
ganz  zugehören  kann.  ,,Im  Verfolg  wissenschaftlichen  Be- 
strebens", sagt  er  ungefähr  1817,  ,,ist  es  gleich  schädlich,  aus- 
schließlich der  Erfahrung,  wie  unbedingt  der  Idee  zu  gehorchen." 
Und  einige  Jahre  später:  ,,Es  möchte  doch  immer  gleich  schäd- 
lich sein,  sich  von  dem  Unerforschlichen  ganz  abzusondern, 
oder  mit  demselben  eine  allzuenge  Verbindung  sich  anzumaßen." 
Schon  die  negative,  prohibitive  Form  dieser  und  ähnlicher 
Äußerungen  zeigt,  daß  es  sich  nicht  um  eine  Mischung  beider 


132  Selbständigkeit  des  Menschlichen 

Polaritäten  handelt,  sondern  um  ein  Drittes,  um  unsere  Stellung 
zwischen  den  , »Grenzen  der  Menschheit".  Zwischen  Welt  und 
Überwelt,  zwischen  bloßer  Erfahrung  und  bloßer  Idee  haben  wir 
ein  Leben,  dessen  Selbständigkeit,  in  sich  zentrierendes  Sein  uns 
davor  schützt,  uns  zwischen  dem  Gegensatz  jener  beiden  zu  zer- 
reiben oder  haltlos  in  ihm  zu  pendeln.  Wie  der  Künstler  nicht 
,,mit  der  Natur  wetteifern"  soll,  wie  er  weder  die  singulare  Wirk- 
lichkeit nachbilden  noch  sich  in  die  anschauungslose  Idee  ver- 
lieren, sondern  ,, sich  als  Künstler  vollenden"  soll,  so  strebe  der 
Mensch  schlechthin  nur  ,,sich  als  Mensch  zu  vollenden"!  Hier 
kommt,  wie  ich  überzeugt  bin,  einer  jener  tiefsten  und  kühnsten 
Grundbegriffe  seines  Alters  auf,  über  die  er  sich  sozusagen  nur 
gelegentlich  eine  fragmentarische  Andeutung  entschlüpfen  ließ. 
Der  Dualismus  von  Idee  und  Erfahrung,  von  Göttlichem  und 
Singular- Wirklichem  ist  jetzt  sein  dauerndes  Problem;  und 
dessen  anthropologische  Lösung  ist  nicht,  den  Menschen  aus 
beiden  Parteien  zusammenzusetzen  oder  ihn  einfach  in  dem 
Schnittpunkt  beider  Gebiete  zu  beheimaten,  sondern  ihm  eine 
Stelle  anzuweisen,  zwar  gewissermaßen  zwischen  ihnen  beiden, 
in  gleicher  Distanz  von  beiden,  aber  doch  eine  menschheitlich- 
eigene,  menschheitlich-einheitliche  —  den  Gegensatz  jener  nicht 
objektiv  versöhnend,  aber  unsere  kosmische  Stellung  vor  ihm  und 
seinen  dualistischen  Folgen  rettend.  Erst  indem  der  Mensch  so 
als  eine  selbständige,  sozusagen  nicht  weiter  herleitbare  ,, Schöp- 
fungsidee" jenen  Polaritäten  des  Seins  gegenübersteht,  kann  er  — 
ich  deutete  dies  an  —  sich  gewissermaßen  als  der  Pair  eben  dieses 
Gesamtseins  wissen,  kann  für  sich  und  in  sich  denselben  Gesetzen 
Untertan  sein,  die  dieses  als  Ganzes  bewegen,  —  Und  von  hier 
läßt  freilich  die  subjektiv-anthropologische  Art,  sich  jenseits 
jenes  Konfliktes  auf  die  Selbständigkeit  unserer  Natur  zu 
stellen,  auch  über  seinen  objektiven  Bestand  die  Ahnung  seines 
Sich-Versöhnens  gleiten:  ,,Wir  sind",  so  lautet  eine  Notiz 
aus  dem  Nachlaß,  ,, nicht  mehr  in  dem  Falle,  bei  Behandlung  der 
Naturwissenschaften  die  Idee  der  Erfahrung  entgegenzusetzen, 
wir  gewöhnen  uns  vielmehr,  die  Idee  in  der  Erfahrung  aufzu- 
suchen,   überzeugt,    daß    die  Natur  nach    Ideen   verfahre,    i  m- 


Das  Praktische  133 

gleichen  daß  der  Mensch  in  allem,  was  er  beginnt,  eine 
Idee  verfolge."  Durch  die  kategoriale  Form:  ein  ,, Mittelpunkt", 
in  dem  wir  Stellung  nehmen  und  eine  gleichsam  symmetrisch 
distante  Anordnung  der  Erscheinungen  von  diesem  her  —  ge- 
winnen wir  die  Möglichkeit,  uns  das  Chaos  der  Dinge  zu  organi- 
sieren. Jedes  einzelne,  so  sagt  er  einmal,  das  wir  in  der  Natur 
sehen,  ist  immer  von  so  vielem  andern  begleitet  und  durch- 
drungen, an  jedem  Punkt  wirkt  so  vieles  durcheinander,  daß  dar- 
aus für  alle  Theorie  die  große  Schwierigkeit  entsteht,  Ursache  und 
Wirkung,  Krankheit  und  Symptom  auseinander  zu  kennen;  ,,da 
bleibt  nun  für  den  ernst  Betrachtenden  nichts  übrig,  als  irgendwo 
den  Mittelpunkt  hinzusetzen,  und  alsdann  zu  suchen,  wie  er  das 
übrige  peripherisch  behandle."  Die  Technik  also,  mit  der  wir  uns 
in  der  Welt  zurechtfinden  und  ihre  Unterschiedlichkeiten  in  der 
Einheit  des  Erkennens  zusammenbringen,  zeigt  sich  als  die 
theoretische  Ausstrahlung  unserer  metaphysischen  Weltstellung, 
des  seinshaften  ,, Mittelzustandes",  in  dem  wir  den  Gegensatz- 
seiten des  Daseins  in  jeweils  gleicher  Distanz  gegenüberstehen. 
Vielleicht  ist  eine  dritte  Art,  über  die  an  den  Polen  der  geistigen 
Welt  fixierten  Gegensätze  doch  die  Intention  der  Einheit  durch- 
zuführen, nur  eine  Modifikation  dieses  letzten  Motivs.  ,,Wenn 
man  mich  fragt:  wie  ist  Idee  und  Erfahrung  am  besten  zu  ver- 
binden, so  antworte  ich:  praktisch"  —  d.  h.  durch  weiterschrei- 
tende, zweckmäßige  Forschung.  Im  Goetheschen  Alter  begegnet 
durchgehends  der  Hinweis  auf  das  j)^r  aktische  Verhalten, 
auf  die  Tätigkeit,  die  uns  von  Punkt  zu  Punkt  führt  —  wenn 
die  seelischen  und  metaphysischen  Widersprüche  keine  rein 
geistige  Lösung  zuzulassen  scheinen.  Mit  der  Schlußrede  Fausts 
und  der  Gesamttendenz  der  Wanderjahre  hat  diese  Wendung 
ihren  monumentalen  Ausdruck  erhalten.  —  Von  welcher  Kraft 
und  welchem  ethischen  Werte  dies  nun  auch  sei  —  man  kann 
sich  zunächst  dem  Eindruck  kaum  entziehen,  als  wäre  damit 
den  eigentlich  schweren  und  tiefen  Problemen  nur  ausge- 
wichen. Es  wäre  ja  möglich,  diese  Probleme  in  die  Provinz 
des  Praktischen  zu  übertragen,  weil  man  hier  eine  Lösung  für 
sie  findet,  die  zu  entwickeln  gleichsam  die  Bodenbeschaffenheit 


134  Mangelndes  Wertkriterium 

andrer  Provinzen  nicht  gestattet:  so  hat  Kant  den  großen  Prozeß 
zwischen  der  reinen  Vernunft  und  der  Sinnlichkeit  des  Menschen, 
die  auf  dem  theoretischen  Gebiet  im  Dualismus  befangen  blieben, 
in  das  praktische  verfolgt  und  ihn  hier,  wenn  auch  nicht  zur  Ein- 
heit, so  doch  zu  einer  möglichen  Entscheidung  gebracht.  So  aber 
meint  es  Goethe  nicht.  Sondern  das  Handeln  als  solches,  das 
Tun  und  Wirken  an  der  unmittelbaren  Aufgabe  des  praktischen 
Tages  weist  er  dem  Menschen  zu,  an  Stelle  der  Unlösbarkeiten 
prinzipieller  Welt-  und  Lebensfragen,  an  Stelle  der  Problematik 
bloß  gedanklicher  Entscheidungen.  Die  Auswanderung  nach 
Amerika  am  Schluß  der  Wanderjahre  ist  schließlich  nur  hierfür 
das  Symbol.  Dies  kann,  wie  gesagt,  als  ein  Waffenstrecken  vor 
den  letzten  Forderungen  des  Geistes  erscheinen,  als  eine  Rückkehr 
der  seelischen  Energien  zu  der  naiven  Praxis,  von  der  aus  ihr 
Entwicklungsweg  ja  gerade  zu  jenen  Bedürfnissen,  sich  mit  dem 
Leben  in  seinen  tieferen  Schichten  abzufinden,  emporgeführt  hat. 
Die  Aufforderung  zu  unmittelbarem,  ,, nützlichem"  Wirken 
ruht  auf  einer  großen  Anzahl  dunkler,  ungeprüfter  Wertungen 
all  dessen,  w  o  z  u  es  eben  nützlich  ist;  denn  woraufhin  verdiente 
das  Wirken  den  legitimierenden  Namen  des  Nützlichen,  es  sei 
denn  um  des  Wertes  seiner  Ziele  willen,  der  doch  seinerseits 
nicht  wieder  durch  das  Wirken  selbst  begründet  werden  kann? 
Der  Wert  des  Wirkens,  das  ein  bloßes  formales  Mittel  ist, 
bedarf  also  immer  des  Wertes  von  Zwecken,  der  entweder 
instinktiv-trivial  gesetzt  wird  oder  nun  doch  nach  tieferen  Gründen 
drängt.  Wenn  Goethe  als  das  Definitivum  unserer  praktischen 
Werte  ,,die  Forderung  des  Tages"  bezeichnet,  so  muß  unvermeid- 
lich nach  einem  Kriterium  gefragt  werden,  das  die  echte  und 
wesenhafte  von  den  unzähligen  gleichgültigen  und  verwerf- 
lichen unterscheiden  läßt,  die  der  Tag  mit  nicht  geringerer  In- 
tensität an  uns  stellt.  Und  dieses  Kriterium  kann  ersichtlich 
nicht  wieder  aus  dem  ,,Tage"  und  ebensowenig  aus  dem  Begriff 
des  Wirkens  und  der  Tätigkeit  entlehnt  werden,  durch  die  sich 
ja  die  gerechtfertigte  und  die  rechtlose  Forderung  ganz  gleich- 
mäßig realisieren. 

Ungeachtet  solcher  Bedenken  gegen  die  Wertung  der  sozusagen 


Tätigkeit  als  innerer  Lebenswert  135 

undifferenzierten  Tätigkeit,  für  die  der  nächstliegende,  in  den 
Wandlungen  des  Tages  sich  darbietende  Gegenstand  gerade  gut 
ist,  scheint  sie  mir  für  Goethe  zunächst  aus  dem  folgenden,  tiefer- 
gründigen  Motiv  hervorzugehen.  Wie  viele  Äußerungen  zeigen, 
ist  ihm  Tätigkeit  nicht  ein  Inhalt  oder  Bewährung  des  Lebens 
neben  andern,  sondern  sie  ist  ihm  das  Leben  selbst,  die  spezifische 
Energie  des  menschlichen  Daseins.  Und  es  ist  in  seiner  Über- 
zeugung von  der  naturhaften  Harmonie  dieses  Daseins  begründet, 
daß  das  Leben  nur  sich  selbst  überlassen  zu  werden  braucht,  d.  h. 
daß  die  Tätigkeit  in  jedem  Augenblicke  ein  nächstes  Ziel  vor  sich 
habe,  in  dem  alles  für  jetzt  Notwendige  beschlossen  liegt,  während 
vor  dem  nächsten  Augenblick  v/ieder  seine  Notwendigkeit  steht. 
Dies  tiefe  Vertrauen  auf  das  Leben  und  seine  von  Moment  zu 
Moment  fortrückende  Zweckmäßigkeit  —  anders  ausgedrückt: 
auf  die  Tätigkeit,  in  deren  Pulsschlag  ihr  jeweilig  nächstes  Ziel 
vorgezeichnet  ist  oder  dem  die  allgemeinen  Daseinszusammenhänge 
es  unmittelbar  bieten  —  scheint  mir  der  eigentliche  Sinn  davon 
zu  sein,  daß  ,,die  Forderung  des  Tages"  unsere  Pflicht  ist.  Es  ist 
nicht  nötig,  daß  Ziele  von  weiter  Ferne  her  das  Sollen  des  einzelnen 
Augenblicks  bestimmten.  Sondern  das  Leben  entwickelt  sich 
Schritt  für  Schritt,  seine  Wertdirektive  nicht  erst  von  einem 
Gott  weiß  wie  entfernten  Ziele  erwartend  (eines  der  entschiedenen 
Gegenmotive  Goethes  gegen  das  Christentum) ,  und  so  hat  die  mit 
ihm  synonyme  Tätigkeit,  rein  empfunden,  ihren  geforderten  In- 
halt unmittelbar  vor  sich,  das  Wissen  um  den  nächsten  Schritt 
(objektiv:  die  Forderung  des  Tages)  ist  sozusagen  ihre  einge- 
borene Form.  Das  ist  nichts  anderes,  als  der  Triumph  des  Lebens 
als  Kraft,  als  Prozeß,  über  alle  einzelnen  Inhalte,  die  man  ihm 
aus  anderen  Ordnungen  heraus  setzen  könnte;  denn  diese  Ord- 
nungen sind  gegen  die  Zeitordnung  des  Lebens  gleichgültig,  auf 
die  es  hier  ankommt.  Wenn  er  uns  an  das  Einfachste,  Nächst- 
liegende, an  die  für  den  Moment  richtige  Praxis,  an  die  Forde- 
rung des  Tages  ohne  Charakterisierung  bestimmter  Inhalte  weist 
—  so  ist  das  nur  ein  Symbol  dafür,  daß  die  praktischen  Werte  in 
der  Richtung  erstehen,  in  der  die  Lebensquelle  fließt,  und  dieser 
nicht  von  einer  anderen  erst  entgegenkommen;   nur  ein  Symbol 


136  Erfahrung  und  Idee  praktisch  vermittelt 

für  Macht  und  Wert  des  Lebensvorganges  als  solchen,  der  allem, 
was  wir  Tätigkeit  nennen,  deren  Inhalte  in  seiner  eigenen  Form, 
d.  h.  in  dem  fortschreitenden,  sprunglosen  Erzeugen  von  Augen- 
blick zu  Augenblick,  infundiert.  Daß  er  die  Praxis  sozusagen 
auf  das  Minimum  von  Inhalten  beschränkt,  da  ihm  schon  die 
Tätigkeit  als  solche  der  eigentliche  Wert  ist  —  das  ist  der  Erfolg 
davon,  daß  ihm  Tätigkeit  die  Art  ist,  wie  der  Mensch  lebt,  und 
das  Leben  selbst  der  definitive  Wert  des  Lebens*). 

Dies  ist  hier  indes  nur  beiläufig  bemerkt.  Die  Goethesche  Wer- 
tung der  Tätigkeit  hat  für  unser  Problem,  die  Überwindung  des  Zwie- 
spaltes zwischen  Idee  und  empirischer  Realität,  eine  andere  Bedeu- 
tung. Als  das  Höchste  bezeichnet  er  einmal  ,,das  Anschauen  des 
Verschiedenen  als  identisch";  und  dem  setzt  er  ,,die  Tat"  zur  Seite, 
„das  aktive  Verbinden  des  Getrennten  zur  Identität";  hier 
wie  dort  treffe  Erscheinung  und  Leben  zusammen,  die  sich 
,,auf  allen  mittleren  Stufen  trennen",  d.  h.  überall,  wo  weder 
reine,  kosmisch-metaphysische  Schaung,  noch  reine  Tätigkeit 
herrscht.  Die  Tätigkeit  ist  ihm  also  das  reale  Mittel,  von  der  einen 
Seite  jenes  Dualismus  zu  der  andern  zu  gelangen!  Wie  das 
frühere  Zitat  lehrte,  ist  es  auch  in  der  bloß  theoretischen  Be- 
mühung das  praktische  Moment,  das  fortschreitende  Tun, 
das  ,,Idee  und  Erfahrung  verbindet".  Die  Inhalte,  die  die  ideelle 
Reihe  des  Kosmos  bilden,  liegen  als  solche  noch  isoliert  neben- 
einander; erst  die  hindurchflutende  Tätigkeit  führt  wirk- 
lich von  einem  zum  andern,  stellt  auch  im  Denken  die  reale 
Kontinuität  zwischen  den  Polen  her,  wie  die  Bewegung,  die  eine 
Linie  durch  Punkte  zieht,  deren  gegenseitige  Abgeschlossenheit 
in  stetige  Verbindung  überführt.  Die  wirkliche  forschende 
Arbeit  macht  das  Einzelne  und  die  Totalität,  die  Erfahrung 
und  die  Idee  erst  zu  Polen  einer  ununterbrochenen  Linie.  Und 
dies  erweitert  sich  nun  auf  alle,  auch  nicht-theoretische  Gebiete. 
Könnte  man  selbst  die  Inhalte  in  allmählig  aufsteigender  Reihe 
zwischen  der  Wirklichkeit  und  dem  Absoluten,  der  Empirie  und  dem 


*)  Die  Bedeutung  der  reinen  Lebensbewegtheit  als  solcher  wird  das 
Kapitel  über  seinen  Individualismus  noch  einmal  und  von  andrer  Seite 
erörtern. 


„Reine"  Tätigkeit  137 

Überempirischen  ideell  konstatieren,  so  würde  das  noch  nicht 
ausreichen.  Erst  das  Handeln  bringt  sie  in  Fluß,  erst  die  praktisch- 
stetige Bewegtheit  macht  sie  zu  wirklichen  Vermittlungen, 
führt  das  empirisch  Getrennte  in  die  Idealität  der  Idee  über. 
Natürlich  gibt  es  —  Goethe  brauchte  das  gar  nicht  zu  erwähnen 
—  noch  Tätigkeiten  anderer  Richtung,  antiideelle,  gottlose, 
zerfahrene.  Aber  er  würde  diese  nicht  Tätigkeiten  im  vollkom- 
menen Sinne  des  Wortes  nennen.  Wenn  er  so  oft  von  ,, reiner" 
Tätigkeit  spricht,  so  spielt  hier  sicher  die  doppelte  Bedeutung  des 
,, Reinen"  hinein:  daß  es  einmal  das  sittlich  Tadellose,  von  un- 
edlen Motiven  Freie  meint,  dann  aber  auch  das  dem  Begriff 
vollkommen  und  ungemischt  Entsprechende,  wie  wir  auch  von 
,, reinem  Vorwand",  ,, reinem  Unsinn"  reden,  als  von  dem,  was 
absolut  nichts  weiter  als  ein  Vorwand,  als  ein  Unsinn  ist.  Die 
reine  Tätigkeit  ist  diejenige,  in  welche  nichts  anderes  als  der 
Trieb  und  Sinn  des  Tätigseins  als  solchen,  d.  h.  der  zentralen, 
unabgelenkten  Bewegung  des  spezifisch  menschlichen  Lebens 
eintritt.  In  wunderbarem,  eben  diese  Reinheit  der  Tätigkeit 
völlig  symbolisierendem  Ausdruck  läßt  er  das  Bewegtsein  der 
,, Monas",  das  deren  letzte  Lebensform  und  -grundlage  bildet, 
das  ,, Rotieren  um  sich  selbst"  sein.  Und  dies  ist  nun  zugleich 
„reine"  Tätigkeit  im  sittlichen  Sinne,  d.  h.  solche,  die  das  Einzelne, 
Zersplitterte  des  empirisch  gegebenen  Daseins  zur  Idee  empor- 
führt. Die  Praxis  wird  damit  aus  der  etwas  unklaren  Stellung 
gerettet,  die  sie  in  weitanschauungsmäßiger  Hinsicht  selbst  in 
den  ethisch  zentrierten  Geistern  einnimmt.  Wenn  man  hört: 
schließlich  käme  doch  alles  auf  das  Praktische  an,  der  moralische 
Wert  sei  jedem  andern  überlegen  usw.,  so  muß  man  dabei 
nach  dem  Werte  der  Inhalte  dieser  Praxis  fragen,  ohne  doch  ein 
Prinzip  der  Wahl  unter  den  vielen,  sich  anbietenden  zu  erhalten; 
diese  ganz  allgemeine  Prärogative  des  Praktischen  ist  nicht  durch 
eine  bestimmte  Stellung  im  Gesamtzusammenhange  der  Welt- 
faktoren begründet.  Dies  ist  aber  sogleich  ins  Sichere  gestellt, 
wenn  es  einerseits  für  den  Wert  des  Handelns  und  Wirkens 
genügt,  daß  es  ,, reine"  Tätigkeit  sei,  daß  wirklich  nichts  anderes 
als  die  innerste,  eigenste  Natur  der  Menschen,  deren  Wesen  eben 


138  Höchste  Norm 

Tätigkeit  ist,  darin  zu  Äußerung  und  Erfolg  kommt;  und  wenn 
andrerseits  diese  Tätigkeit  als  solche  der  Weg  vom  Gegebenen, 
Singulären  zur  Idee,  zum  Sinn  des  Daseins  ist.  Die  Praxis  ist  für 
all  jene  anderen  Wertungen  ihrer  doch  nur  ein  im  letzten  Grunde 
zufälliges  Mittel,  die  Idee  zu  realisieren,  und  die  Behauptung  dieser 
Leistung  ist  deshalb  für  sie  ein  synthetischer  Satz;  für  Goethes 
Auffassung  ist  es  ein  analytischer,  die  Vermittlung  zwischen  Er- 
scheinung oder  Einzeltatsache  und  Idee  ist  die  Definition  des 
Handelns  und  Wirkens:  Tätigkeit,  so  darf  man  in  Goethes 
Sinne  sagen,  ist  der  Name  für  dasjenige  Verhalten  des  Menschen, 
durch  das  er  seine  kosmisch- metaphysische  ,, Mittelstellung" 
zwischen  jenen  auseinandergetretenen  Weltprinzipien  darlebt. 
So  wenig  für  Goethes  Anschauungsweise  der  Begriff  der  Syste- 
matik angebracht  ist,  so  muß  man  hier  doch  sagen,  daß  der  Sinn 
und  die  Wertung  der  Tätigkeit  auf  diese  Weise  eine  systematisch 
begründetere,  in  die  Totalität  der  großen  Weltkategorien  orga- 
nischer eingefügte  Stellung  gewonnen  haben,  als  in  der  Mehrzahl 
der  sonstigen  Intronisierungen  der  Praxis. 

Über  all  diese  Überbrückungen  des  Spaltes,  den  Goethe  in 
seinen  späteren  Lehren  zwischen  den  mannigfach  benannten 
Polen  des  Daseins  sich  auf  tun  sah:  zwischen  der  Welt  und 
dem  Göttlichen,  der  Idee  und  der  Erfahrung,  dem  Wert  und 
der  Wirklichkeit  —  schwingt  sich  noch  einmal  ein  höchster 
Gedanke  hin.  Etwa  aus  seinem  58.  Jahr  stammt  der  Satz: 
,,Daß  das,  was  der  Idee  nach  gleich  ist,  in  der  Erfahrung 
entweder  als  gleich  oder  ähnlich,  ja  sogar  als  völlig  ungleich 
und  unähnlich  erscheinen  kann,  darin  besteht  eigentlich  das 
bewegliche  Leben  der  Natur".  Hier  wird  also  die  Abweichung 
von  der  ideellen  Norm,  das  von  ihr  unabhängige  freie  Spiel 
der  Wirklichkeit  sozusagen  selbst  zu  einer  Idee.  Es  ist  die  Ge- 
dankenbildung, die  wir  schon  mehr  als  einmal  als  eine  seiner 
großartigsten  kennen  gelernt  haben:  daß  der  Gegensatz  zu  einer 
eigentlich  absoluten  Forderung,  die  Ausnahme  von  einem  eigent- 
lich allgemeinen  Gesetz  nun  doch  wieder  mit  diesem  zusammen 
von  einer  höchsten  Norm  umgriffen  wird.  Er  warnt  davor, 
das  Negative  endgültig  als   Negatives  bestehen  zu  lassen,  man 


Das  bewegliche   Gesetz  139 

müsse  es  vielmehr  als  ein  Positives  anderer  Art  ansehen,  Gesetz  und 
Ausnahme  stünden  sich  nicht  unversöhnt  gegenüber,  sondern  so- 
wenig innerhalb  ihrer  Schicht  ein  flauer  Kompromiß  ihre  Schärfe 
abstumpfen  dürfe,  so  stünde  doch  ein  Gesetz  höherer  Schicht  über 
ihnen  beiden.  Darum  kann  er,  kraß,  aber  nun  doch  nicht  wider- 
spruchsvoll, die  ,, Natur"  sich  selbst  gegenübersetzen,  weil  sie 
engeren  und  weiteren  Sinn  hat:  ,,Die  Knabenliebe",  sagt  er  in 
seinem  höchsten  Alter,  „ist  so  alt  wie  die  Menschheit, 
und  man  kann  daher  sagen,  sie  liege  in  der  Natur,  ob 
sie  gleich  gegen  die  Natur  ist".  In  unserm,  dem  prinzipiellsten 
Falle  wird  der  Begriff  des  ,, beweglichen  Lebens"  der  Diskrepanz 
zwischen  Idee  und  Wirklichkeit  überbaut:  die  Beweglichkeit 
tritt  als  das  so  absolut  Bestimmende  auf,  daß  sogar  das  völlig 
irreguläre  Spiel,  mit  der  die  Erfahrung  sich  bald  der  Idee  nähert, 
bald  von  ihr  entfernt,  eben  wegen  der  darin  offenbarten  Beweglich- 
keit durchaus  in  dem  letzten  Sinne  der  Natur  begründet  ist.  Ja, 
er  spricht  einmal  aus,  daß  das  Leben  der  Natur  sich  ,,Nach  ewigen 
beweglichen  Gesetzen"  vollzöge.  Das  Gesetz  ist  doch  sonst  das  Zeit- 
lose, Unbewegte  da  es  ja  erst  der  Bewegung  ihre  Norm  vorschreibt, 
und  so  tröstet  er  sich  auch  einmal  über  das  Unsichere  und  Irri- 
tierende der  Erscheinungen:  ,, Getrost,  das  Unvergängliche  — 
Es  ist  das  ewige  Gesetz  —  nach  dem  die  Ros'  und  Lilie  blüht". 
Nun  aber  soll  das  Gesetz  selbst  beweglich  sein !  Diese  Beweglich- 
keit bedeutet  nichts  anderes  als  das  Paradoxe  und  unermeßlich 
Tiefsinnige,  daß  die  Abweichungen  der  Erscheinungen  von 
ihrem  Gesetz  in  diesem  Gesetz  selbst  inbegriffen  sind.  Die 
mißbrauchteste  aller  Banalitäten:  daß  die  Ausnahme  die  Regel 
bestätigt  —  kommt  hier  zu  einer  wunderbaren  Richtigkeit; 
und  was  er  einmal  als  ,,die  größte  Schwierigkeit"  bezeichnet: 
daß  man  im  Erkennen  ,, etwas  als  still  und  feststehend  behandeln 
soll,  was  in  der  Natur  immer  in  Bewegung  ist",  löst  sich  hier: 
das  eigentliche  Ziel  desErkennens,  in  dem  dieses  zum,, Feststehen" 
gelangt,  das  Gesetz,  ist  in  die  dauernde  Bewegtheit  seines  Gegen- 
standes, der  Natur,  eingegangen  und  damit  ist  die  Fremdheit 
zwischen  ihnen  gehoben,  die  sich  dort  noch  als  ,, größte  Schwierig- 
keit" erhebt.  Hier  klären  sich  noch  einmal  und  nun  von  dem, 


140  Bewegiongsfreiheit  der  Natur 

so  weit  ich  sehen  kann,  tiefsten  Grunde  her  jene  uns  früher 
frappierenden  Äußerungen  über  den  Spielraum,  die  Freiheit,  die 
Gesetzlosigkeit,  die  Ausnahmehaftigkeit  der  Erscheinungen:  das 
Gesetz  selbst  ist  ,, beweglich",  und  jener  Begriff  seiner,  nach  dem 
es  selbst  starr  und  nur  die  ideelle  Norm  für  das  Fließende  und 
Flexible  der  Erscheinungen  sei,  enthüllt  sich  als  eine  vorläufige 
Scheidung,  die  von  einer  letzten  kategorialen  Einheit  über- 
schmolzen wird.  Da  die  Natur  ein  ,, bewegliches  Leben"  hat  und  nie 
aus  ihren  Gesetzen  heraustritt,  so  sind  eben  die  Gesetze  selbst 
beweglich!  Hier  ist  erst  die  eigentliche  Konsequenz  jener  proble- 
matisch erscheinenden  Bilder  von  der  Bewegungsfreiheit  erreicht, 
die  die  Natur  innerhalb  ihrer  Gesetze  besäße.  Die  Natur,  so  drückt 
er  es  einmal  aus,  hat  ,, einen  großen  Spielraum,  in  welchem  sie 
sich  bewegen  kann,  ohne  aus  den  Schranken  ihres  Gesetzes 
herauszutreten".  Ist  das  Gesetz  hier  noch  eigentlich  eine  bloß 
grenzbestimmende  Umfassungsmauer,  unter  deren  Respek- 
tierung die  individuellen  Phänomene  ihr  willkürliches  Spiel, 
die  Einzelheit  als  solche  gesetzlos  lassend,  aufführen  —  so  hat 
das  Gesetz  als  bewegliches  die  Starrheit  durchbrochen, 
die  ihm  die  Macht  über  das  ganz  Einzelne  entzog :  das  beweg- 
liche Gesetz  ist  die  Synthese  von  ,, Schranke"  und  ,, Spiel- 
raum". Vielleicht  ist  für  unsere,  an  der  mechanistischen  Welt- 
anschauung orientierte  Logik  dieser  Begriff  des  zwar  ewigen, 
aber  dabei  beweglichen  Gesetzes  nicht  mit  detaillierender  Klar- 
heit auszudenken.  Aber  er  weist,  wenn  auch  aus  der  Ferne  und 
einem  noch  nicht  zu  zerstreuenden  Nebel  heraus,  auf  die  Art  hin, 
in  der  jene  uns  anthropomorph  erscheinende  Scheidung  zwischen 
Gesetz  und  Ausnahme,  Typus  und  Freiheit  sich  zu  dem  modernen 
Begriff  des  Naturgesetzes  hinbrückt,  der  auf  keine  bestimmte 
Gestalt  und  Ergebnis  losgeht  und  der  deshalb  der  ,, Ausnahme" 
keinen  Sinn  läßt.  Goethes  ,, Gesetze"  sind  nicht  die  der  kleinsten 
Teile,  sondern  enthalten,  als  ihr  eigentliches  Movens,  die  ,, Ge- 
stalt", den  ,, Typus"  in  sich.  Aber  indem  dieser  nun  sich  tat- 
sächlich nicht  immer,  ja  vielleicht  niemals  realisiert  und  dadurch 
der  Erscheinung  nach  die  ,, Ausnahme"  entsteht,  kommt  das 
Gesetz,  als  bewegliches  gedacht,  dem  nach,  holt  das  Phä- 


Überwindung  der  letzten  Starrheit  141 

nomen,  das  sich  ihm  zu  entziehen  schien,  gleichsam  wieder  ein 
und  beides  schmiegt  sich,  in  wiedergewonnener  Einheit  von 
Idee  und  WirkHchkeit,  aneinander.  Ich  möchte  es  für  dieselbe 
letzte  Gedankenabsicht  halten,  wenn  schließlich  die  Festigkeit  des 
Typus,  der  als  die  Anschaulichkeitsseite  des  Gesetzes  gelten  kann, 
gleichfalls  in  eine  Art  Bewegung  gerät.  In  dieser  Schicht  seiner 
tief  sten  Weltdeutungen  lautet  eine  Äußerung:  ,,  Alles  Vollkommene 
in  seiner  Art  muß  über  seine  Art  hinausgehen,  es  muß  etwas 
anderes,  unvergleichbares  werden.  In  manchen  Tönen  ist  die 
Nachtigall  noch  Vogel;  dann  steigt  sie  über  ihre  Klasse  hinüber 
und  scheint  jedem  Gefiederten  andeuten  zu  wollen,  was  eigent- 
lich Singen  heiße.  —  Wer  weiß,  ob  nicht  der  ganze  Mensch  wieder 
nur  ein  Wurf  nach  einem  höheren  Ziele  ist?"  Hier  ist  also  die 
Bewegung,  mindestens  nach  einer  Seite  hin,  in  den  Typus  selbst 
hineingelegt:  indem  er  in  sich  vollendet  ist,  geht  er  selbst  über 
sich  hinaus,  die  höchste  Stufe  innerhalb  seiner  ist  zugleich 
die  Stufe  jenseits  seiner.  Wie  die  Beweglichkeit  des  Gesetzes 
auf  eine  metaphysische  Einheit  zwischen  dem  Goetheschen  Ge- 
staltmotiv und  dem  Naturgesetz  des  Mechanismus  hinweist,  so 
diese  Beweglichkeit  des  Typus  zwischen  dem  gleichen  Motiv  und 
der  modernen  Entwicklungslehre.  Und  wie  mit  dem  wunderbaren 
Gedanken,  daß  das  Vollkommene  der  Art  mehr  ist  als  die  Art, 
der  Typusbegriff  die  Überwindung  seiner  Starrheit  in  sich  selbst 
aufgenommen  hat,  so  ist  in  das  Gesetz,  das  seine  eigene  Flexi- 
bilität, das  ,, Gestalten  und  Umgestalten",  die  Freiheit  von  jeder 
aktuellen  Verfestigung  nun  sub  specie  aeternitatis  enthält,  der 
freie,  die  starre  Norm  umspielende  Charakter  der  natürlichen  Er- 
scheinung restlos  aufgenommen;  und  es  scheint  mir,  als  ob  alle 
anderen  Begriffe,  mit  denen  Goethe  die  Diskrepanz  von  Idee  und 
Wirklichkeit  zu  versöhnen  versucht,  zu  eben  diesem  als  zu 
ihrem  Schlußstein  aufstrebten. 


Fünftes  Kapitel. 

Individualismus. 

Die  geistesgeschichtliche  Entwicklung  der  Individualität 
setzt  sich  an  zwei  Motive  an.  Jede  Existenz:  ein  Stein 
oder  ein  Baum,  ein  Gestirn  oder  ein  Mensch,  ist  zunächst 
individuell,  indem  sie  irgendeine  Art  von  geschlossenem  Umfang 
besitzt,  innerhalb  dessen  sie  ein  Selbständiges  und  Einheitliches  ist. 
Hier  kommt  die  von  andern  etwa  unterschiedene  Beschaffenheit 
des  Wesens  nicht  in  Betracht,  sondern  nur,  daß  dieses  Stück  des 
Daseins  ein  in  sich  zentriertes  und  —  in  welchem  Maß  auch  immer 
—  für  sich  bestehendes  ist;  gleichviel,  ob  es  mit  diesem  Eigen- 
bestande dann  in  Abhängigkeiten  und  weitere  Gesamtheiten  ver- 
flochten ist.  Bestünde  etv/a  die  Welt  aus  lauter  absolut  gleich- 
artigen Atomen,  so  würde  ein  jedes  von  ihnen,  von  jedem  andern 
qualitativ  ununterscheidbar,  dennoch  in  diesem  Sinne  ein  Indivi- 
duum sein.  Dieser  Begriff  aber  erfährt  sozusagen  eine  Steigerung, 
sobald  das  Anders-Sein  sich  auf  die  Eigenschaften  des  daseienden 
Subjektes  erstreckt.  Nun  kommt  es  —  in  Anwendung  auf  den 
Menschen  —  nicht  mehr  nur  darauf  an,  ein  andrer  zu  sein, 
sondern  ein  anderes  zu  sein,  als  andere;  nicht  nur  im  Sein, 
sondern  auch  im  So-Sein  sich  von  ihnen  zu  unterscheiden. 

Diese  Kategorien  haben  gewissermaßen  als  reale  Kräfte  von 
jeher  die  Inhalte  von  Welt  und  Leben  gestaltet;  sie  gewinnen  nun 
in  der  Entwicklung  des  modernen  Geistes  ein  über  ihre  reale 
Wirksamkeit  hinausgehendes  Bewußtsein.  Und  zwar  in  der 
doppelten  Form:  einmal  als  rein  abstrakte  Begriffe,  mit  denen 
die  Erkenntnis  die  Struktur  der  Wirklichkeit  deutet,  und  dann  als 
Ideale,  zu  deren  immer  vollkommenerer  Ausprägung  der  Mensch 
die  eigene  und  die  fremde  Wirklichkeit  zu  entwickeln  hätte. 
In  der  Ideenwelt  des  i8.  Jahrhunderts  dominiert  die  differentielle 


Zwei  Formen  des  Individualismus  143 

Existenz  des  Menschen,  das  Gesammeltsein  in  dem  selbstän- 
digen Punkt  des  Ich,  die  Gelöstheit  eines  für  sich  selbst  verant- 
wortlichen Daseins  aus  den  Verschmelzungen,  Bindungen,  Ver- 
gewaltigungen von  Geschichte  und  Gesellschaft.  Der  Mensch, 
ein  schlechthin  individuelles  Dasein,  ist  als  solches  metaphysisch 
ebenso  absolut  frei,  wie  er  es  moralisch,  politisch,  intellektuell, 
religiös  sein  soll.  Indem  er  so  seine  eigene  eigentliche  Natur 
dokumentiert,  taucht  er  damit  in  den  Grund  der  Natur  überhaupt 
zurück,  von  der  die  geschichtlich-gesellschaftlichen  Mächte  ihn 
losgerissen  haben,  weil  sie  ihm  die  Freiheit  seines  individuellen, 
nur  in  seinem  eigenen  Umfange  wohnenden  Fürsichseins  genom- 
men haben.  Die  Natur  aber  ist  der  Ort  der  absoluten  Gleichheit 
vor  dem  Gesetz:  so  sind  denn  alle  Individuen  in  ihrem  letzten 
Seinsgrunde  gleich,  wie  die  Atome  der  konsequentesten  Atomistik. 
Die  Beschaffenheitsunterschiede  reichen  in  den  entscheidenden 
Punkt  der  Individualität  nicht  hinüber.  Vielleicht  war  es  das 
Gefühl,  daß  das  schlechthin  auf  sich  gestellte,  nur  aus  den  Kräften 
des  eigenen  Seins  gespeiste  Individuum  seine  Vereinsamung  und 
seine  Verantwortung  nicht  tragen  könnte,  was  diesen  Indivi- 
dualismus einen  Halt  in  der  Zugehörigkeit  zu  der  Natur  über- 
haupt und  in  der  Gleichheit  aller  solcher  Individuen  unterein- 
ander suchen  ließ. 

Die  andere  Form  des  Individualismus,  gegen  Ende  des  i8.  Jahr- 
hunderts und  namentlich  bei  den  Romantikern  rein  ausgebildet, 
sieht  die  Bedeutung  der  Individualität  nicht  darin,  daß  sich  der 
Kreis  ihrer  Existenz  um  ein  selbständiges  Ich  legt,  eine  in  sich 
geschlossene  Welt  ist  —  sondern  daß  der  Inhalt  dieser  Welt,  die 
Qualitäten  der  Wesenskräfte  und  -äußerungen,  von  Individuum 
zu  Individuum  unterschieden  sind.  Man  könnte  ihn,  im  Gegensatz 
zu  jenem  formalen,  den  qualitativen  Individualismus  nennen; 
nicht  die  Selbständigkeit  des  Seins  prinzipiell  gleicher  Wesen, 
sondern  die  Unverwechselbarkeit  des  So-Seins  von  prinzipiell  un- 
gleichen ist  ihm  ebenso  die  tiefste  Wirklichkeit  wie  die 
ideale  Forderung  des  Kosmos  und  zuhöchst  der  Menschen- 
welt. Dort  ist  es  der  Lebensprozeß,  dessen  Formung  —  nämlich 
sein  Ablauf  um  gegeneinander  isolierte  und  freie,  aber  homogene 


144  Das  Leben  „von  innen  heraus" 

Zentren  herum  —  in  Frage  steht,  hier  der  Inhalt  dieses  Prozesses, 
den  keiner  seiner  Träger  mit  dem  andern  teilt  und  teilen  soll. 

Zu  dieser  großen  Entwicklung  des  Individualismus,  deren 
reinste  Aussprachen  zu  Goethes  Lebzeiten  stattfanden,  hat  er  nun 
keineswegs  ein  einseitig  entschiedenes  Verhältnis.  Soweit  über- 
haupt nach  einem  der  parteimäßigen  und  also  rohen  Schlagworte 
gefragt  wird,  muß  seine  Lebensanschauung  eine  individualistische 
heißen;  es  verleugnet  sich  nicht,  daß  den  Geist  seiner  Zeit  die 
angedeuteten  Tendenzen  leiteten.  ,,Wenn  ich  aussprechen  soll, 
sagt  er  kurz  vor  seinem  Tode,  was  ich  den  Deutschen  überhaupt, 
besonders  den  jungen  Dichtern  geworden  bin,  so  darf  ich  mich 
wohl  ihren  Befreier  nennen:  denn  sie  sind  an  mir  gewahr 
geworden,  daß,  wie  der  Mensch  von  innen  heraus  leben, 
der  Künstler  von  innen  heraus  wirken  müsse,  indem  er,  gebärde 
er  sich,  wie  er  will,  immer  nur  sein  Individuum  zutage  fördern 
wird."  Was  als  individuelles  Leben  erscheint,  hat  seine  letzte 
Wurzel  im  Individuum  selbst;  dieses  Verhältnis  zum  Leben  setzt 
sich  einer  Dreiheit  anderer  Möglichkeiten  entgegen. 

Für  gewisse  theologische  Denkarten  strömen  dem  Individuum 
seine  Energien,  nach  Maß  und  Richtung,  von  einer  transzendenten 
Macht  zu,  die  Inhalte  seiner  Existenz  sind  ihm  ebenso  wie  diese 
Existenz  selbst  als  bloße  Teile  eines  eigentlich  außerhalb  seiner 
gelegenen  Weltplanes  verliehen.  Der  extreme  Soziologismus 
ferner  macht  das  Individuum  zum  bloßen  Schnittpunkt  von  Fäden, 
die  die  Gesellschaft  vor  ihm  und  neben  ihm  gesponnen  hat,  zum 
Gefäß  sozialer  Einflüsse,  aus  deren  wechselnden  Mischungen  die 
Inhalte  und  die  Färbung  seiner  Existenz  restlos  herzuleiten  sind. 
Die  naturalistische  Weltanschauung  endlich  setzt  an  die  Stelle 
des  sozialen  Ursprungs  des  Individuums  den  kosmisch-kausalen. 
Auch  hier  ist  das  Individuum  sozusagen  eine  Illusion,  seine  viel- 
leicht unvergleichbare  Form  entsteht  nur  in  einem  Zusammen- 
strömen ebenderselben  Stoffe  und  Energien,  die  auch  das  Gestirn 
und  das  Sandkorn  bauen,  ohne  daß  diese  Form  ein  eigener  Ur- 
sprung von  Inhalten  und  Betätigungen  seines  Lebens  wäre.  In 
all  diesen  Fällen  kann  der  Mensch  nicht  ,,von  innen  heraus  leben", 
weil  sein  ,, Inneres"  als  solches  eben  keine  Produktivkräfte  ent- 


Individuelles  Leben  und  typischer  Inhalt  145 

faltet;  was  er  , .zutage  fördert"  ist  nicht  sein  „Individuum",  weil 
dieses  überhaupt  keine  Substanz  ist,  sondern  irgend  etwas  andres, 
Metaphysisches,  Soziales,  Naturhaftes,  das  nur  die  zufällige  Form 
freier  Individualität  passiert  hat;  diese  selbst  kann  nichts  Produk- 
tives sein,  und  also  nichts  urtümlich  Eigenes,  sozusagen  nicht 
sich  selbst  hervorbringen.  Die  Kardinalfrage  der  Lebensanschau- 
ung: ist  das  Individuum  ein  letzter  Quellpunkt  des  Weltgeschehens, 
ist  es  seinem  Wesen  als  Individuum  nach  schöpferisch;  oder  ist 
es  ein  Durchgangspunkt  für  Mächte  und  Strömungen  überindivi- 
dueller Provenienz;  ist  es  die  Substanz,  aus  der  die  Formungen 
des  geistigen  Daseins  quellen  oder  die  Formung,  die  andere  Sub- 
stanzen dieses  Daseins  annehmen  —  diese  Frage  ist  für  Goethe  in 
dem  ersteren  Sinne  entschieden.  Dies  ist  ein  metaphysisches 
Grundgefühl  Goethes,  das  freilich  sein  Verhältnis  zum  Problem 
der  Individualität  keineswegs  abschließt,  mit  dem  er  aber  jener 
ersten  Form  des  Individualismus  sich  zubekennt. 

Nun  enthält  aber  diese  Eigenproduktion  des  Individuums  noch 
eine  Zweiheit,  die  die  eben  getroffene  Entscheidung  noch  einmal 
differenziert.  All  jene  ihr  entgegengesetzten  Theorien  waren  im 
Sinne  einer  dynamischen  Einwirkung  auf  das  Individuum  ge- 
meint; sein  Leben  war  durch  die  realen  Kräfte  bestimmt  oder 
sogar  konstituiert,  die  von  außerhalb  seiner  gelegenen  Instanzen 
her  flössen  und  an  denen  dieses  Leben,  als  ein  ablaufender  Prozeß, 
seine  richtunggebenden  Kausalitäten  fand;  und  diese  bestimmten 
unvermeidlich  auch  die  Inhalte  eben  des  Lebensprozesses. 
Wenn  nun  aber  dieser  Prozeß  sozusagen  aus  sich  selbst,  von  innen 
her,  abläuft,  wenn  er  schöpferisch  ist  —  so  braucht  darum  sein 
Inhalt  noch  keineswegs  einzig,  originell,  unvergleichbar  zu 
sein;  dieser  vielmehr  kann  durchaus  ein  typischer,  vorbestehender, 
allgemeingültiger  sein.  Und  damit  scheint  allerdings  mindestens 
eine  Richtung  in  Goethes  vielverwebten  Verhältnissen  zum 
Problem  des  Individualismus  bezeichnet.  In  ureigner  Dynamik 
erzeugt  sich  der  Prozeß  eines  jeden  Lebens,  ihm  verbleibt  das 
eigentlich  Persönliche,  das  aus  keiner  transzendenten,  mechani- 
schen, historischen  Instanz  stammt;  und  was  er  erzeugt,  ist  des- 
halb durchaus  der  echte  Ausdruck  eben  dieser  Persönlichkeit. 

Simmel,  Goethe.  '° 


146  Haben  und  Sein 

Dies  bedarf  zuerst  der  Festlegung.  Es  gehören  hierhin  Aussprüche 
wie  die,  daß  poetischer  Gehalt  Gehalt  des  eignen  Lebens  ist; 
hierhin  die  bedeutsamen  Worte:  „Man  gibt  zu,  daß  Poeten  geboren 
werden,  man  gibt  es  bei  allen  Künsten  zu,  weil  man  muß.  Aber 
wenn  man  es  genau  betrachtet,  wird  jede,  auch  die  geringste 
Fähigkeit,  uns  angeboren,  und  es  gibt  keine  unbestimmte  Fähig- 
keit. Nur  unsere  zweideutige,  zerstreute  Erziehung  macht  die 
Menschen  ungewiß ;  sie  erregt  Wünsche,  statt 
Triebe  zu  beleben,  und  statt  den  wirklichen  Anlagen 
aufzuhelfen,  richtet  sie  das  Streben  nach  Gegenständen,  die  so  oft 
mit  der  Natur,  die  sich  nach  ihnen  bemüht,  nicht  übereinstimmen.** 
Deutlicher  kann  nicht  die  Individualität  als  die  allein  zu  Recht 
bestehende  Quelle  des  Lebens  bezeichnet,  entschiedener  nicht 
dessen  Gestaltung  aus  dem  heraus  abgelehnt  werden,  was  uns  als 
der  Individualität  Äußerliches  und  deshalb  Zufälliges  umgibt. 
Das  gehört  auch  in  den  allgemeinen  Sinn  der  unmittelbar  ganz 
anders  orientierten  Äußerung  über  die  ,, unverhältnismäßigen** 
Organe  von  Tieren:  Hörner,  lange  Schweife,  Mähnen,  zu  denen 
im  Gegensatz  der  Mensch  alles  in  die  genaue  Harmonie  seiner 
Gestalt  einbezieht  und  ,, alles  was  er  hat,  auch  ist".  Auch  im 
Geistigen  hängt  so  nichts  am  Menschen  als  ein  Fremdes,  so  daß 
man  diesen  Satz  in  Goethes  Sinn  durchaus  dahin  variieren  kann, 
daß  der  Mensch  alles,  was  er  erzeugt,  auch  ist.  Es  ist  sein  eigenes 
Leben,  das  das  so  gleichsam  statisch  Ausgedrückte  in  voller  Be- 
wegtheitsform zeigt.  Er  war  schon  ein  älterer  Mann,  als  Personen 
seines  näheren  Umganges  sich  darüber  äußerten,  wie  bildsam 
seine  Ansichten  wären,  wie  sie  sich  mit  den  Entwicklungen  und 
Wandlungen  seiner  Lebendigkeit  dauernd  umbildeten.  Im  Unter- 
schied gegen  Schiller,  bei  dem  ,, immer  alles  fertig  war'*,  bemerkte 
eine  dieser  Personen,  daß  bei  Goethe  alles  im  Gespräch  würde; 
eine  zweite,  daß  seine  Ansichten  keineswegs  stabil  gewesen  wären, 
und  daß  er,  wenn  man  ihn  gefaßt  zu  haben  glaubte,  das  nächste 
Mal,  ,,in  einer  anderen  Stimmung",  andere  Meinungen  geäußert 
hätte.  Der  Inhalt  seines  Lebens  lag  eben  seinem  Prozesse  an,  wie 
einem  lebendigen  Körper  seine  Haut,  die  aufs  genaueste  von 
seinen  inneren  Vorgängen  jeweilig  modifiziert  wird.    Vielleicht 


Organische  Verbindung  von  Prozeß  und  Inhalt  147 

erklärt  es  sich  von  hier  aus  auch,  daß  er  so  oft  von  der  Tatsache 
und  Notwendigkeit  des  Wirkens  und  Tuns,  von  der  rastlosen 
Tätigkeit  spricht,  in  der  die  ,, Monas"  der  Persönlichkeit  sich 
erhalten  müsse,  ohne  doch  anzugeben,  wofür  man  wirken, 
wohin  man  diese  Tätigkeit  richten  solle.  Fast  möchte  man  glau- 
ben, daß  das  Leben  eben  nur  lebt  und  leben  soll,  daß  die  formale 
Ausübung  seiner  Bewegtheit  der  Wert  seines  Daseins  ist,  daß 
alle  Inhalte  und  Zwecke  in  letzter  Instanz  nur  insoweit  Wert 
besitzen,  wie  sie  die  Bewegtheit  des  Lebens  steigern;  hat  er  doch 
unumwunden  ausgesprochen:  ,,der  Zweck  des  Lebens  ist  das 
Leben  selbst".  Dennoch  glaube  ich  nicht,  daß  dies  seine  eigentliche 
Gesinnung  ist.  Vielmehr  nur,  daß  ihm  die  Erzeugung  des  wertvollen 
Inhalts  in  dem  Maße,  in  dem  das  Leben  immer  mehr  Leben,  immer 
mehr  Bewegtheit  ist,  etwas  ganz  Sejbstverständliches  ist.  Darum 
braucht  er  allerdings  nicht  zu  sagen,  was  denn  eigentlich  Objekt 
und  Zielwert  der  sich  bewegenden  Monas  wäre.  Man  hat  manchmal 
gegenüber  Goethes  Äußerungen  über  die  Tätigkeit  als  letzte  Forde- 
rung, über  die  Notwendigkeit  des  rastlosen  Wirkens  ein  beinah 
peinliches  Gefühl,  mit  alledem  im  Leeren  zu  stehen;  denn  man  findet 
den  wertvollen  Inhalt  nicht  angegeben,  als  dessen  Träger  all  jenes 
Wirken  und  Sichbewähren  doch  erst  selbst  ein  Wert  wird,  während 
es  sonst  ein  bloß  Formales  bleibt,  dem  Positiven  und  dem  Negativen 
des  Wertes  gleichmäßig  offen.  Anders  aber,  wenn  man  erfaßt,  wie 
organisch  Goethe  das  Verhältnis  zwischen  Prozeß  und  Inhalt  meint, 
daß  das  Leben  prinzipiell  nicht  einen  ihm  fremden  Wert  als  In- 
halt aufnimmt,  an  dessen  Stelle  es  auch  einen  Unwert  akzeptieren 
könnte,  daß  vielmehr,  wenn  es  seinen  reinen  Sinn  erfüllt,  mit  dem 
Vollzuge  seines  Prozesses  den  ihm  angemessenen  Inhalt  aus  sich 
heraus  erzeugt.  Dieser  Inhalt  liegt  nicht  als  ein  Objekt  und  Zweck 
außerhalb  seiner,  sondern  ist  die  Produktivität  des  Lebens,  von 
ihm  nicht  anders  unterschieden,  als  das  gesprochene  Wort  von  dem 
Sprechen  des  Wortes.  Eben  diese  Kraft  des  Lebens,  das  Rechte 
und  Wertvolle  nicht  erst  zu  bekommen,  sondern  mit  seiner  Be- 
wegung selbst  zu  erzeugen,  wendet  jene  Äußerung  nur  praktisch: 
man  solle  doch  nicht ,, Wünsche  erregen",  sondern ,, Triebe  beleben", 
und  es  sei  das  Wesen  des  Lebens,  das  zu  ,,sein",  was  es  ,,hat". 

10* 


148  Standpunkt  der  reinen  Inhaltlichkeit 

Und  daneben,  daß  das  Leben  seine  Inhalte  so  unmittelbar  an 
seinen  individuellen  Verlauf  angeschlossen  hat,  steht  nun  die 
vorhin  angedeutete  Möglichkeit,  daß  diese  Inhalte  in  ihrer  logi- 
schen, bezeichenbaren  Bedeutung  keineswegs  singulär  und  nur 
für  dieses  Individuum  gültig,  sondern  mit  vielen  geteilt  und  für 
viele  gültig  seien.  Mindestens  eine  Richtung  von  Goethes  Über- 
zeugungen wird  damit  angegeben.  Alles  Gescheite,  so  meint  er, 
wäre  schon  einmal  gedacht  worden,  es  käme  nur  darauf  an,  es 
noch  einmal  zu  denken  —  womit  er  denn  die  Individualität  des 
Prozesses  und  die  Überindividualität  des  Inhaltes  deutlich  bezeich- 
net: er  ermahnt:  ,,das  alteWahre,  faß  es  an!"  —  und  ist 
überzeugt,  daß  im  großen  und  ganzen  die  Lebensinhalte  sich  immer 
wiederholen.  Noch  bedeutsamer  aber  sind  die  an  sich  nicht  so 
deutlichen  Stellen,  an  denen  er  von  der  Geringfügigkeit  der  Unter- 
schiede zwischen  den  Menschen  spricht:  nicht  einmal  zwischen 
dem  Genie  und  dem  ganz  simplen  Menschen  sieht  er  eine  wirklich 
wesentliche  Kluft;  ,,wir  sind  eben  alle  von  Adams  Kindern"  — 
womit  er  zur  Duldung  für  einzelne  widerwärtige  Äußerungen 
mahnt  —  und  ,,in  jedem  Besondern"  sieht  er,  durch  die  ,, Persön- 
lichkeit hindurch  das  Allgemeine  immer  mehr  durchleuchten". 
Unterschiede  des  Lebensprozesses  selbst  nach  seiner  Dynamik, 
seinem  Vitalitätsmaße  erkennt  er  dabei  in  voller  Schärfe  an,  so 
sehr,  daß  er  daraufhin  sogar  verschiedene  Maße  von  Unsterblich- 
keit voraussetzt.  Aber  —  so  kann  man  diese  Konstellation  wohl 
ausdrücken  —  die  den  verschiedenen  Lebensmaßen  entsprechen- 
den, weil  von  ihnen  erzeugten  Lebensinhalte  zeigen,  vonandern 
Standpunkten  aus  gesehen,  keineswegs  gleich 
große  Unterschiede,  ja  vielleicht  gar  keine:  vom  ethischen, 
intellektuellen,  ästhetischen  oder  welchem  Standpunkte  aus  immer 
können  sie  sehr  ähnlich  oder  ganz  allgemein  sein;  werden  sie  so 
oder  gewissermaßen  isoliert  betrachtet,  so  gelöst  von  der  Unmittel- 
barkeit des  Lebens  selbst,  wie  wir  sie  allerdings  meistens  oder 
unvermeidlich  zu  werten  gewohnt  sind  —  so  verschwinden  die 
Individualisiertheiten,  die  sie  als  unmittelbare  Ausdrücke  der 
einzelnen  Lebensintensitäten  und  nur  als  solche  besitzen  müssen. 

So  gedeutet  erst  scheinen  mir  die  Widersprüche  zwischen  den 


Individuelles  und  Allgemeines  149 

angeführten  Gruppen  der  Goetheschen  Äußerungen  aufgehoben. 
Was  der  Mensch  denkt,  leistet,  darbietet,  ist  bei  Einstellung  in 
sachliche  Ordnungen,  als  rein  inhaltliche  Qualität,  etwas  ganz 
andres  als  innerhalb  des  schöpferischen  Lebens  selbst  —  etwas 
andres  die  Farben  des  Regenbogens  als  bloß  optische  Erschei- 
nungen und  innerhalb  der  farbentheoretischen  Anordnung  und 
Diskussion,  etwas  anderes  ebendieselben  in  dem  sprühenden  Spiel 
des  Wasserfalls.  Der  Lebensinhalt  steht  unter  diesen  beiden  Kate- 
gorien: er  ist  gleichsam  als  die  Kristallisation  des  Lebensprozesses, 
als  die  Formung  der  individuellen  Bewegtheit,  selbst  schlechthin 
individuell;  und  er  kann  dabei,  als  selbständiger  und  sozusagen 
nach  außen  hin  gespiegelter,  durchaus  allgemein,  ein  ganz  durch- 
gehender sein,  er  ist  das  gerade,  sobald  er  aus  dem  echten  Leben 
kommt,  und  er  soll  es  sein.  Darum  kann  Goethe,  ganz  nahe  jenem 
Ausspruch,  daß  poetischer  Gehalt  Gehalt  des  eigenen  Lebens  sei 
und  daß  ein  jeder  doch  nur  sein  Individuum  zutage  fördere,  ver* 
künden:  ,,der  Dichter  soll  das  Einzelne  —  das  heißt  hier  doch  wohl: 
das  einzelne  eigne  Erlebnis  —  so  zum  Allgemeinen  erheben,  daß  die 
Hörer  es  wiederum  ihrer  eigenen  Individualität  anzueignen  ver- 
mögen" —  so  daß  bei  diesen  die  allgemeine  Bedeutung  der  indivi- 
duellen Produktion  wieder  aus  ihrer  Allgemeinheit  zurücktritt 
und  als  Individuelles  erlebt  wird.  Mit  dieser  Deutung  hat  der 
typische  Individualismus  des  i8.  Jahrhunderts  eine  besondere 
Gestaltung  gewonnen.  In  diesem  war  das  Individuum  ganz  auf 
sich  gestellt,  seine  Kräfte  aus  dem  rätselhaften  Punkte  unbe- 
dingter Spontaneität  hergeleitet,  das  Leben  eines  jeden  ausschließ- 
lich die  Entwicklung  seiner  selbst.  Daß  aber  dabei  die  Menschheit 
nicht  in  atomisierte  Splitter  auseinanderfällt  und  auseinander- 
fallen soll,  weiß  diese  Anschauung  nur  durch  die  behauptete 
Gleichheit  all  dieser  Einzelnen  in  ihrem  eigentlichen  Kern  und 
Wesen  zu  erweisen:  die  libert6  wird  durch  die  egalit6  ergänzt. 
Das  Fundament  der  Goetheschen  Äußerungen  läßt  sich  als  eine 
tiefere  und  lebendigere  Auffassung  des  Problems  auslegen:  durch 
die  zweifache  Bedeutung  der  vom  Leben  gezeugten  Inhalte.  Wenn 
er  einmal  von  den  ,, Eigenheiten"  des  geistigen  Wesens  spricht 
und  daß  ihre  Phänomene  ,, irrtümlich  nach  außen,  wahrhaft  nach 


150  Quantitative  Unterschiedenheit 

innen"  seien  —  so  offenbart  er  damit  dies  Prinzip  der  Zweiheit, 
wenn  auch  in  anderer  als  in  der  hier  fraglichen  Richtung.  Die 
Eigenwurzelung,  das  individuell  schöpferische  Leben  der  Einzelnen 
ist  ihm  nicht  mit  deren  metaphysischer  Gleichheit  verbunden; 
vielmehr,  eine  grenzenlose  Unterschiedenheit  trennt  ihre  Lebens- 
intensitäten, trennt  den  Sinn  ihres  Daseins.  Die  Inhalte  aber, 
die  der  Prozeß  dieses  Daseins  unmittelbar  und  aus  sich  allein 
zeugte,  die  in  ihm  zentrieren  und  die  Unvergleichbarkeit  seiner 
jeweiligen  Gestalt  zeigen,  haben  zugleich  eine  Bedeutung  ,,nach 
außen",  sie  fügen  sich  einer  sachlichen  Ordnung  und  Deutbarkeit, 
einem  menschlichen  Gesamtleben  ein;  und  hier  nun,  ganz  andren 
Wert-  und  Ordnungskriterien  unterstellt,  können  sie  eine  prinzi- 
pielle Verwandtschaft  oder  Gleichheit  zeigen,  die  für  sie,  insoweit 
sie  dem  individuellen  schöpferischen  Leben  anliegen,  gar  nicht  in 
Frage  kommt.  Wie  sie  , .wahrhaft  nach  innen,  irrtümlich  nach 
außen"  sein  können,  ebenso  individuell  nach  innen,  allgemein 
nach  außen. 

Die  bisher  fragliche  Unterschiedenheit  zwischen  Individuum 
und  Individuum  scheint  nach  manchen  seiner  Äußerungen  nicht 
eigentlich  in  der  qualitativen  Färbung,  sondern  in  dem  Maße  ihrer 
Lebensintensität  zu  beruhen:  in  der  Fülle  der  Bewegtheit,  in  der 
Kraft  des  Sichbewährens  und  Sichbehauptens,  in  gewissermaßen 
quantitativen  Unterschieden.  In  dieser  Richtung  meint  er  mit 
62  Jahren:  , »Größere  Menschen  haben  nur  ein  größeres  Volumen; 
Tugenden  und  Fehler  haben  sie  mit  den  mindesten  gemein,  nur 
in  größerer  Quantität."  Und  quantitative  Unterschiede  geben  sich 
ja  auch  am  ehesten  dazu  her,  die  Einzelexistenzen  voneinander 
zu  differenzieren,  ohne  die  Allgemeinheit  ihrer  Inhalte  aufheben 
zu  müssen.  Und  ganz  entschieden  äußert  er  sich,  fast  ein  Acht- 
ziger: ,,Man  spricht  immer  von  Originalität,  allein  was  will  das 
heißen!  —  Wenn  ich  sagen  könnte,  was  ich  alles  großen  Vor- 
gängern und  Mitlebenden  schuldig  geworden  bin,  so  bliebe  nicht 
viel  übrig.  —  Was  können  wir  denn  unser  Eigenes 
nennen,  als  die  Energie,  die  Kraft,  das  Wollen!" 
Dies  gehört  zu  den  prinzipiellen  Möglichkeiten,  das  menschliche 
Wesen  aufzufassen,  und   imter  den  großen  Menschengestaltern 


Wertung  der  individuellen  Qualität  151 

scheint  mir  noch  Velasquez  ihr  nahezustehen.  Auch  an  seinen  Ge- 
stalten empfinden  wir  vor  allen  Dingen  ihr  bestimmtes,  individuelles 
Maß  von  Vitalität,  von  Dynamik  der  Existenz;  als  liefe  eine  Skala 
bloßer  Lebensintensitäten  von  seinem  Grafen  Olivarez  und  dem 
Dresdner  Jägermeister,  die  wie  kontinuierlich  mit  Lebenskraft  aus- 
gefüllt scheinen,  bis  zu  den  ausgelaugten  Habsburgern,  in  denen  das 
Leben  überhaupt  keine  Realität,  sondern  nur  noch  ein  Schemen 
ist;  und  als  habe  jede  seiner  Figuren  auf  dieser  Skala  der  Lebens- 
quantitäten eine  unzweideutige  Stelle,  an  der  die  Auffassung  des 
Künstlers  sie  festlegt.  Aber  neben  dieser  Gestaltung  des  Indivi- 
dualismus, wie  sie  bei  Goethe  anklingt,  entwickelte  sich  bei  ihm 
die  spätere,  die  ich  als  den  qualitativen  Individualismus  bezeich- 
nete und  für  die  Wesen  und  Wert  des  Menschen  in  der  Besonder- 
heit oder  Einzigkeit  seines  Beschaffenseins,  seiner 
Eigenschaften  besteht.  Mit  achtzehn  Jahren  schreibt  er  förmlich 
rabiat:  ,, Hätte  ich  Kinder  und  einer  sagte  mir:  sie  sehen  diesem 
oder  jenem  ähnlich,  ich  setzte  sie  aus,  wenn's  wahr  wäre."  Und 
ganz  wenig  später  setzt  sich  diese  Leidenschaft  für  das  unbedingt 
Eigene,  diese  Wertung  des  Unerhörten  in  die  einzelnen  Momente 
des  persönlichen  Lebens  selbst  fort:  , »Macht  mich  was  empfinden, 
was  ich  nicht  gefühlt,  was  denken,  was  ich  nicht  gedacht  habe!" 
Und  dann  läßt  er  im  Meister  den  Abbe  offenbar  seine  eigene 
Meinung  aussprechen:  „Ein  Kind,  ein  junger  Mensch,  die  auf 
ihrem  eigenen  Wege  irre  gehen,  sind  mir  lieber  als  manche,  die 
auf  fremdem  Wege  recht  wandeln."  Für  diesen  ganzen,  in  der 
Romantik  aufgegipfelten  Typus  des  Individualismus  und  seine 
geistesgeschichtliche  Bedeutung  zeigen  wohl  überhaupt  die 
Lehrjahre  den  entscheidenden  Durchbruch.  Sehen  wir  zunächst 
von  Shakespeare  ab,  so  ist  wohl  hier  zum  ersten  Male  in  der 
Literatur  eine  Welt  gezeichnet  (wenn  es  auch  nur  die  kleine 
,,Welt"  bestimmter  gesellschaftlicher  Kreise  ist),  die  völlig  auf 
die  individuelle  Eigenheit  ihrer  Elemente  gestellt  ist  und  sich  durch 
eben  diese  Eigenheiten  in  ihrer  Weise  organisiert  und  entwickelt. 
Man  denkt  hier  natürlich  an  das  größte  dichterische  Beispiel  eines 
Weltbildes  aus  scharf  individualisierten  Einzelerscheinungen,  an 
die  Divina  Commedia.    Allein  so  wenig  sich  die  Menschen  im 


152  Allgemeine  Natur  und  persönlicher  Schöpfer 

Meister  an  Intensität  ihres  Daseins  und  Gewalt  des  Umrisses  mit 
den  Danteschen  messen  können,  so  besteht  für  diese  doch  nicht 
das  Problem,  das  der  Individualistik  jener  erst  ihr  eigentliches 
Cachet  gibt:  durch  ihre  Wechselwirkung  eine  Lebenswelt  er- 
wachsen zu  lassen.  Dantes  Gestalten  stehen  isoliert  nebenein- 
ander, nur  aufgereiht  an  der  transzendenten  Wanderung  des 
Dichters  und  ihre  Einheit  nicht  durch  eigene  Beziehungen  findend, 
sondern  durch  die  übergreifende,  allumfassende  göttliche  Ord- 
nung, die  jener  Individualisationen  sozusagen  gar  nicht  als  ihrer 
inneren  Bedingung  bedarf. 

In  der  Konfrontierung  mit  der  Individualistik  Shakespeares 
rückt  die  Goethesche  wieder  unter  ganz  andere  Kategorien,  die 
den  letzten  Fundamenten  ihrer  gegensätzlichen  Produktionsarten 
zugehören.  Shakespeares  Schaffen,  seiner  reinen  Idee  nach, 
findet  sein  Symbol  an  dem  göttlichen  Schöpfertum.  In  der  gestal- 
teten Welt  ist  das  Etwas,  woraus  sie  gestaltet  wurde,  das  Chaos 
oder  das  unbenennbare  Sein,  nun  verschwunden,  in  die  Summe 
der  einzelnen  Gestaltungen  aufgegangen;  ebenso  ist,  gleichsam 
von  der  anderen  Seite,  der  Schöpfer  selbst  von  diesen  zurück- 
getreten, und  überläßt  sie  sich  selbst  und  den  ihnen  eingeprägten 
Gesetzen  und  steht  nicht  mehr  als  ein  Greifbares  und  eindeutig 
Auffindbares  hinter  ihnen.  Zu  diesem  Absoluten  und  Metaphysi- 
schen zeigen  Shakespeares  Figuren  die  künstlerische  Analogie. 
Alle  ihre  ,,Naturhaftigkeit"  besagt  nicht,  daß  eine  allgemeine, 
einheitliche  ,, Natur  überhaupt"  noch  unter  der  einzelnen  fühlbar 
wäre,  keine  solche  verbindet  als  ein  gemeinsamer  Wurzelboden 
die  einzelnen,  sondern  jede  von  diesen  hat  das  Sein  wie  bis  zum 
letzten  Tropfen  in  sich  eingetrunken  und  es  restlos  in  eben  diese 
individuelle  Form  übergeführt.  Und  auf  der  anderen  Seite:  der 
Schöpfer  selbst  hat  sich  hinter  seinem  Werk  unsichtbar  gemacht, 
seine  einzelnen  Produkte  weisen  nicht  auf  ihn  als  Ergänzung  oder 
Deutung,  als  Hintergrund  oder  ideellen  Brennpunkt  hin.  Es  ist 
mindestens  ein  sehr  symbolischer  Zufall,  daß  wir  von  Shake- 
speares Persönlichkeit  außer  einigen  Äußerlichkeiten  nichts  wissen. 
Seine  Produktionen  und  Gestalten  haben  sich  von  ihm  abgelöst 
und  —  cum  grano  salis  zu  verstehen  —  es  würde  dem  Verständnis 


Das  Naturganze  und  die  Individuen  153 

und  dem  Genuß  keines  seiner  Werke  etwas  abbrechen,  wenn  ein 
jedes  einen  anderen  Schöpfer  hätte.  Das  Dasein,  das  jede  seiner 
tragischen  Gestalten  darstellt,  geht  bis  in  deren  letzte  Wurzel- 
spitzen als  individuelles  hinunter  und  löst  sie  in  unerhörter 
Selbständigkeit  und  geschlossener  Plastik  sowohl  von  der  objek- 
tiven Zusammengehörigkeit  aller  Wesen  wie  von  der  Zugehörig- 
keit zu  der  dahinterstehenden  Subjektivität  des  Dichters,  die  sie 
zusammenbinden  könnte,  los.  In  beiden  Hinsichten  sind  die  Werke 
und  die  einzelnen  Gestalten  Goethes  anders  orientiert.  Goethes 
dichterische  Produktion  steht  auf  dem  Gefühl  eben  derselben 
Natur,  deren  Begriff  sein  theoretisches  Weltbild  funda- 
mentiert.  Die  Welt  ist  ihm  Ausgestaltung  eines  universellen 
einheitlichen  Seins,  das  die  Gestalten  aus  sich  entläßt  und  in  sich 
zurücknimmt  (,, Geburt  und  Grab  Ein  ewiges  Meer"),  aber  sie  in 
keinem  Augenblick  aus  dieser  physisch-metaphysischen  Grund- 
substanz sich  völlig  lösen  läßt  (,,Das  Ewige  regt  sich  fort  in  allen"). 
Die  Verwandtschaft  aller  Gestalten,  die  bei  Shakespeare  höchstens  in 
einer  gewissen  Gleichheit  ihrer  künstlerischen  Formung,  ihres  Stils 
und  ihrer  Umrißgröße  besteht,  ist  bei  Goethe  durch  die  Fundierung 
in  der  Natureinheit  gegeben,  aus  der  sich  die  einzelne  nur  hebt, 
wie  aus  dem  Meere  die  einzelne  Welle  in  ihrer  vielleicht  nie  wieder- 
holten Form.  Die  ,, Natur",  unter  deren  Bilde  oder  als  deren 
Erzeugnis  Goethe  die  Erscheinungen  sah,  war  sehr  viel  weiter, 
metaphysischer,  den  Zusammenhang  der  Individuen  lückenloser 
unterbauend,  als  die  ,, Natur",  die  die  Shakespeareschen  Erschei- 
nungen hervortreibt.  Aber  darum  war  sie  auch  nicht  so  in  die 
einzelne  konzentriert,  nicht  mit  so  vulkanischer  Stoßkraft  die 
einzelne  schaffend.  Bei  Shakespeare  handelt  es  sich  um  die 
Natur  der  einzelnen  Erscheinung,  bei  Goethe  um  die  Natur 
überhaupt,  die  als  die  immer  gleiche  jeder  einzelnen  zugrunde 
liegt.  Was  er  von  sich  selbst  sagt:  ,,Und  so  teil'  ich  mich,  ihr 
Lieben,  Und  bin  immerfort  der  Eine"  —  gilt  auch  für  die  Natur 
und  ihre  individuellen  Erscheinungen.  Wir  sind  alle  Kinder  der 
einen  göttlichen  Natur,  deren  ,, Genie"  auch  in  der  ,, plumpsten 
Philisterei"  lebt  und  die  so  alle  Einzigkeiten  der  Individualitäten 
wie  in  einem  einzigen,  wenn  auch  unaussprechbaren  Grundgesetz 


154  Der  Dichter  und  seine  Gestalten 

wurzeln  läßt.  Wie  die  typischen  großen  Menschen  der  Renaissance, 
haben  sich  die  Shakespeareschen  Individuen  sozusagen  von  Gott 
losgerissen,  das  Metaphysische  ihrer  Existenz  findet  Platz  zwischen 
ihrem  Scheitel  und  ihrer  Sohle,  während  die  Goetheschen  als 
Glieder  eines  metaphysischen  Organismus  wirken,  als  Früchte 
eines  Baumes  —  ohne  daß  diese  irgendwie  in  ihnen  beharrende 
und  sie  wieder  in  sich  zurücknehmende  ,, Natur"  etwa  eine  quali- 
tative Gleichartigkeit  unter  ihnen  bewirkte.  Und  nun  sind  diese 
Gestalten,  gleichsam  nach  der  anderen  Seite,  mit  der  Einheit  der 
dichterischen  Persönlichkeit  verwachsen  geblieben,  sie  sind  als 
Äußerungen  einer  schöpferischen  Subjektivität  miteinander 
verbunden  —  was  auch  seinerseits  nicht  die  Einzigkeit  ihres  Be- 
schaffenseins alteriert.  Bei  Shakespeare  liegt  der  dichterisch- 
schöpferische Persönlichkeitspunkt,  in  dem  sich  die  Lebenslinien 
seiner  Gestalten  treffen,  sozusagen  im  Unendlichen,  bei  Goethe 
rückt  er  nie  ganz  außer  Sehweite.  Nicht  so,  als  hätten  sie  alle,  als 
beschreibbare  Phänomene,  eine  Familienähnlichkeit  mit  ihrem 
Erzeuger,  als  wären  in  jeder  Züge  des  Goetheschen  Wesens  fest- 
stellbar oder  als  wären  sie  aus  diesen,  als  aus  fertigen  Stücken 
seiner  selbst,  die  er  in  der  Hand  hatte,  zusammengefügt.  Zwar, 
dieses  Sich-selbst-Modellstehen,  diese  Projizierung  des  eigenen, 
schon  angebbar  geformten  Seins  in  die  Phantasiegestalt  kommt 
bei  Goethe  oft  genug  vor,  und  ist  oft  genug  hervorgehoben  worden. 
Allein  statt  dieses  einigermaßen  Naturalistisch-Mechanischen 
meine  ich  hier  etwas  reiner  Funktionelles  und  einer  tieferen 
Schicht  Zugehöriges:  nicht  das  Übertragensein  von  Inhalten, 
sondern  das  dynamische  Getragensein  oder  genauer:  Vorgetragen- 
sein der  Gestalt  durch  den  Gestalter,  durch  den  Schöpfer,  steht  in 
Frage.  Die  Figur  steht  nicht  in  demselben  Sinne  wie  bei  Shake- 
speare für  sich,  sondern  sie  ist  das  vom  Dichter  dargebotene 
Kunstwerk,  sie  ist  zwar  ebenso  ,, gewachsen"  wie  jene,  aber  nicht 
ebenso  gleichsam  aus  sich  selbst,  sondern  aus  der  Lebendigkeit, 
dem  Welt-  und  Kunstwollen  Goethes:  bei  aller  qualitativen 
Eigenheit  und  Differenziertheit  bleiben  Mephisto  und  Ottilie, 
Gretchen  und  Tasso,  Orest  und  Makarie  innerhalb  der  schöpfe- 
rischen Lebenssphäre  des  Dichters  und  der  Lebenssaft,  der  diese 


Erzählung  und  Erzählender  155 

aus  einheitlicher  Quelle  tränkt,  bleibt  in  allen  fühlbar  —  eine 
Rückbeziehung  der  Geschöpfe  auf  den  Schöpfer  nicht  auf  Grund 
des  Inhaltes,  sondern  des  lebendigen,  seine  Kontinuität  von  diesem 
zu  jenen  nicht  lösenden  Schöpfungsprozesses.  Am  deutlichsten 
offenbaren  dies  die  Romane.  Im  Werther  wird  es  von  vornherein 
dadurch  gedeckt  und  vielleicht  überdeckt,  daß  hier  jene  inhalt- 
liche Identität  von  Erlebnis  und  Werk  besteht.  Aber  im  Meister 
und  in  den  Wahlverwandtschaften  wird  der  künstlerische  Stil 
durchaus  dadurch  bestimmt,  daß  wir  überall  den  Erzähler  fühlen. 
Es  fehlt  hier  der  formal-künstlerische  Realismus  (von  der  Ent- 
scheidung zwischen  inhaltlichem  Naturalismus  und  Stilisierung 
noch  völlig  unabhängig) ,  der  die  Ereignisse  und  Menschen  auf  sich 
selber  stellt,  so  daß  sie,  wie  von  der  Bühne,  nur  als  ein  unmittel- 
bares Dasein  wirken;  vielmehr,  sie  sind  wirklich  eine  ,, Erzählung", 
die  von  dem  dahinterstehenden,  fühlbaren  Erzähler  getragen  wird; 
bei  aller  Selbständigkeit  der  Personen  und  all  der  Zerpflücktheit 
der  Komposition,  die  etwa  die  Wanderjahre  zeigen,  bleibt  doch 
der  Dichter  die  ,, Einheit  der  Apperzeption",  die  freilich  hier  einen 
eigenen  Sinn  hat.  Nicht  den  Kantischen,  dem  sie  die  ideelle, 
objektive  Beziehung  von  Erkenntnisinhalten  bedeutet,  unter  Aus- 
schaltung des  seelischen  Lebensprozesses;  nicht  den  subjektiven 
Sinn,  für  den  der  einzelne  Bewußtseinsinhalt  eben  nur  als  Lebens- 
äußerung dieses  bestimmten  Subjektes  von  Bedeutung  ist;  son- 
dern in  dem  besonderen  Sinn,  der  vielleicht  nur  zwischen  der 
Erzählung  und  dem  Erzähler  besteht.  Das  Erzählte  hat  eine 
objektive  Einheit,  einen  für  sich  verständlichen  Zusammenhang 
seiner  Elemente;  der  Erzählende  hat  in  sich  die  Einheit  seiner 
Person,  die  den  psychologischen  Zusammenhang  seiner  Vor- 
stellungen, seines  Schaffens  bedeutet  oder  trägt.  Bleibt  nun  aber 
dieses  Subjekt  in  seiner  schöpferischen  Aktivität  in  oder  hinter 
jenem  objektiven  Gebilde  spürbar,  so  schiebt  sich  (und  das  eben 
will  diese  ,, Spürbarkeit"  besagen)  die  zweite  Einheit  in  die  erste 
hinein,  das  Gebilde  bekommt  einen  neuen  einheitlichen  Schöpfungs- 
punkt; und  es  ist  mit  unserer,  immer  räumlich  orientierten  Be- 
griffssprache gar  nicht  recht  möglich  auszudrücken,  daß  dieser 
mit  der  objektiven  Einheit  des  Erzählten  weder  zusammenfällt 


156  Subjektivität  und  Objektivität 

noch  auseinanderfällt.  Aber  ausdrückbar  oder  nicht,  die  Goethe- 
schen  Romane  laufen  innerhalb  der  Kategorien  des  „Er- 
zählers" ab  und  offenbaren  damit  die  merkwürdige  Kategorie 
der  objektiv  gewordenen,  aber  in  dieser  Objektivität  sich  nicht 
verlierenden  Subjektivität,  die  Goethes  Geisteswesen  durch- 
gängig bezeichnet. 

Sieht  man  von  hier  noch  einmal  auf  Shakespeare  hin,  so  er- 
scheint Goethe  auch  in  seinen  Dramen,  von  Iphigenie  an,  sozu- 
sagen als  der  Berichtende,  Erzählende.  Wenn  Macbeth  und 
Othello,  Cordelia  und  Porzia  reden,  so  ist  in  der  ideellen  Welt 
dieses  Geschehens  und  Sprechens  absolut  nichts  außer  ihnen  selbst 
vorhanden  und  spürbar,  es  gibt  keinen  Shakespeare,  der  sie  als 
ihr  heimlicher  König  bewegte,  er  ist  völlig  in  ihr  Eigenleben  auf- 
gelöst. Aber  bei  allen  Nuancierungen  zwischen  der  Redeweise 
Antonios  und  der  Prinzessin,  Fausts  und  Wagners,  Pylades'  und 
Orests,  haben  sie,  gegen  jene  gehalten,  einen  relativ  gleichen 
Grundrhythmus,  denn  schließlich  ist  es  immer  Goethe,  der  sie 
reden  läßt.  Vielleicht  ist  diese  Unmittelbarkeit,  mit  der  Goethes 
Gestalten  ihr  Leben  aus  ihm  selbst  bezogen,  die  Ununterbrochen- 
heit der  Säfteströmung  zwischen  ihnen,  als  wäre  die  Nabelschnur 
nicht  gelöst  —  vielleicht  ist  diese  der  Grund,  weshalb  Goethe  vor 
dem  Unternehmen  einer  ,, eigentlichen  Tragödie"  zurückscheute 
und  meinte,  daß  ,,der  bloße  Versuch  ihn  zerstören  würde".  Aus 
eben  diesem  Zusammenhang  ist  die  Spannung  zwischen  Subjek- 
tivität und  Objektivität  für  Shakespeare  etwas  ganz  anderes  als  für 
Goethe:  dort  besteht  sie  sozusagen  überhaupt  nicht,  das  Problem 
ist  gar  nicht  auf  sie  eingestellt,  hier  ist  sie  überwunden,  die  Pole 
sind  fühlbar,  die  Distanz  zwischen  ihnen  meßbar  und  zwar  gerade 
dadurch,  daß  die  lebendige  Funktion  sie  einheitlich  verbindet. 
Niemals  hätte  Shakespeare  daran  gedacht,  sein  Schaffen  als 
,, gegenständlich"  zu  bezeichnen,  wie  Goethe,  der  sich  offenbar 
durch  diese  Formulierung  wie  erlöst  gefühlt  hat.  Shakespeares 
Lebensfülle  ergießt  sich  im  Augenblick  ihres  Aufquellens  selbst 
wie  an  seinem  Subjekt  vorbei  in  die  Selbständigkeit  der  Umrisse 
seiner  Gestalten.  Sie  sind  gegenständlich  —  eben  in  dem  absoluten 
Sinne  des  Wortes,  der  nicht  erst  durch  ein  Gegenüber- vom-Subjekt 


Die  Welt  des  Individuums  157 

bezeichnet  wird.  Endlich  muß  mit  diesen  Strukturverhältnissen 
der  Goetheschen  Gestalten  ein  Moment  in  Beziehung  stehen,  das 
wieder  auf  unsere  ursprüngliche  Problemstellung  des  Individualis- 
mus zurückleitet.  Fast  jede  Gestalt  in  Goethes  großen  Werken 
stellt  eine  Möglichkeit  dar,  die  Welt  anzuschauen,  oder,  anders 
ausgedrückt,  von  ihrem  besonderen  Sein  her  ein  inneres  Weltbild 
zu  erbauen.  Diese  Welt  mag  klein  genug  sein;  aber  sie  trägt  doch 
den  Charakter  einer  „Welt":  einen  bestimmten  Charakter  des 
Sehens  und  Fühlens,  der  nicht  nur  die  vorgeführten  Daseinsinhalte 
färbt,  sondern  auch  an  allem  Dazwischenliegenden  eine  eindeutig 
gestaltende  Kraft  ausüben  würde,  eine  zentrale  Wesensart,  um 
die  das  Bild  einer  lückenlosen  und  durch  sie  in  Aufbau  und  Tönung 
bestimmten  Daseinstotalität  erwachsen  könnte.  Dies  ist,  soweit 
ich  sehe,  unter  allen  Shakespeareschen  Gestalten  nur  auf  Hamlet 
ohne  weiteres  anwendbar.  Weder  nach  Romeo  noch  nach  Lear, 
weder  nach  Othello  noch  nach  Antonius  läßt  sich  eine  Welt  auf- 
bauen; wohl  aber  auf  Faustische  oder  Mephistophelische  Art,  auf 
die  des  Tasso  oder  Antonio,  auch  auf  die  von  Charlotte  oder  Ottilie; 
der  Meister  ist  in  diesem  Sinne  eine  Welt  aus  Welten.  Jede  dieser 
hauptsächlichen  Gestalten  ist  das  Apriori  für  eine  Welt  —  der 
Anschauung  wie  der  Lebensgestaltung  — ,  während  Shakespeares 
Gestalten  die  weltbildende  Kraft  ganz  in  ihr  Leben  eingeschlossen 
haben.  Um  sie  alle  ist  wohl  die  Atmosphäre  des  Lebens  und  ihres 
individuellen  Lebens,  aber  nicht  so,  daß  sie  sich  zu  einem  in  ihr 
nur  zentrierten  Bilde  des  Daseins  überhaupt,  auch  außerhalb  ihres 
Schicksals  und  Willens,  objektivierte.  Goethe  hat  seinen  ersten 
Vorgänger  in  der  Leistung,  den  Mikrokosmos  eines  Kunstwerkes 
aus  Gestalten  erwachsen  zu  lassen,  deren  jede  das  Zentrum  einer 
individuellen  geistigen  Welt  ist,  in  Raffael.  Täusche  ich  mich 
nicht,  so  zeigt  zum  ersten  Male  die  Schule  von  Athen  eine  künstle- 
rische, die  Welt  des  Geistes  überhaupt  symbolisierende  Zusam- 
menfassung von  Persönlichkeiten,  deren  jede  die  besondere  Tonart 
für  je  eine  Weltsymphonie  darstellen  soll.  Damit  eben  bestimmt 
sich  für  Goethe  das  Verhältnis,  das  die  dargebotenen  Äußerungen 
der  Figuren  zu  ihrem  Gesamtsein  besitzen.  Dies  Verhältnis  ist  für 
alle  Kunststile  von  großer   Bedeutung.     Mit  dem   Lebens-   und 


158  Umfang  der  Persönlichkeit 

Kunstprinzip  der  Antike  hing  es  durchaus  zusammen,  daß  die 
Figur  im  Drama  der  genau  umschriebene  Träger  eines  bestimmten 
Handelns  und  Leidens,  eines  bestimmten  Schicksals  und  der  Art, 
es  zu  tragen,  ist;  der  Mensch  mit  all  seinen  Beschaffenheiten  und 
Kräften  ist  in  die  von  dem  Thema  des  Kunstwerks  gegebene  Form 
hineingegangen  —  wie  die  Parthenonskulpturen  genau  das  Leben 
haben,  das  der  Gegenstand  und  die  Gestaltung  des  künstlerischen 
Momentes  verlangen;  das  Leben  erfüllt  diese  Form  genau,  aber  es 
ist  kein  darunterweg  in  breiterem,  vielleicht  transartistischem 
Strome  sich  Ergießendes.  Erst  im  Hellenismus  empfinden  wir  den 
dargestellten  Moment  als  herausgehoben  aus  einem  weiten,  fluten- 
den Leben  der  Persönlichkeit  oder  dieses  in  sich  sammelnd,  indem 
es  aber  doch  nicht  in  diesem  Augenblick  aufgeht,  sondern  nur 
von  ihm  aus  sichtbar  wird.  Den  Geschöpfen  aller  großen  Men- 
schenschilderer  ist  es  eigen  —  in  so  verschiedenen  Formen  ihre 
verschiedenen  Stile  dies  zum  Vortrag  bringen  —  daß  alles,  was 
sie  sagen  und  tun,  nur  als  der  zufällig  beleuchtete,  zu  Worte 
kommende,  dem  Beschauer  zugewandte  Teil  einer  ganzen, 
gerundeten,  eine  Unendlichkeit  andrer  möglicher  Äußerungen 
einschließenden  Persönlichkeit  erscheint.  Was  uns  an  Schiller- 
schen  Figuren  so  oft  unerträglich  theatralisch  und  papieren  vor- 
kommt, ist  eben  dies:  daß  sie  keine  seelische  Innerlichkeit  und 
Leben  haben,  außer  dem,  das  sie  in  den  Worten  ihrer  Rolle  aus- 
sprechen. Die  Grenzen  ihres  seelischen  Umfanges  fallen  genau 
mit  denen  ihrer  schauspielerischen  Realität  zusammen,  sie  sind 
wie  der  Schauspieler  selbst,  der  vor  und  nach  seinem  Auftreten 
sozusagen  nichts  ist,  nicht  ist,  und  in  dem  von  dem  Leben  der  dar- 
gestellten Figuren  nichts  ist,  außer  dem,  was  er  auf  der  Bühne  sagt. 
Vielleicht  hat  von  allen  seinen  Gestalten  nur  Wallenstein  jene  ge- 
heimnisvolle, über  alle  einzelnen  Äußerungen  hinausreichende 
Sphäre  um  sich,  oder,  anders  ausgedrückt,  diese  Energie  des  alle 
Äußerungen  erzeugenden  Persönhchkeitspunktes,  die  fühlbar 
macht,  zu  wieviel  mehr  als  eben  diesen  sie  zureicht.  Goethes  Ge- 
stalten aber  sind  von  diesem  Mehr  an  jeder  Stelle  ihres  erscheinen- 
den Lebens  erfüllt.  Was  sind  nicht  Iphigenie  und  Tasso,  Faust 
und  Natalie  noch  außer  dem,  was  man  von  ihnen  hört!    Was  sie 


Intellektualismus  und  Weltbildung  159 

sagen,  ist  jedesmal  nur  der  Strahl  eines  unendlich  reichen,  inneren 
Gesamtlebens,  während  Schillers  Figuren  immer  nur  aus  diesem 
jeweiligen  Strahl  bestehen.  Die  Figuren  aus  Goethes  Reifezeit 
haben  das  Einzige,  daß  sie  die  volle  klassische  Rundung  besitzen 
und  dennoch  zugleich  alles,  was  sie  darstellen,  nur  der  sammelnde 
und  entscheidende  Abschnitt  einer  unermeßlichen  Lebenstotalität 
ist,  auch  ein  farbiger  Abglanz,  an  dem  wir  ihr  Leben  haben. 
Goethes  Gestalten  gleichen  ihm  selbst  in  der  nicht  weiter  ausein- 
anderzulegenden Qualität,  mit  jeder  noch  so  objektiven  oder  zu- 
fälligen Äußerung  die  Ganzheit  eines  einheitlichen,  unmittelbar 
nicht  ausgesprochenen  und  nicht  auszusprechenden  Lebens  mit- 
klingen zu  lassen.  —  Daß  aber  dies  Leben  seiner  Gestalten,  jede 
ihrer  Einzeläußerungen  unterbauend  und  übergreifend,  sich  zu 
je  einer  ,, Weltanschauung"  objektivierte  oder  objektivieren  läßt 
—  das  scheint  mir  mit  seinem,  Shakespeare  gegenüber,  immerhin 
intellektualistischeren  Wesen  zusammenzuhängen.  Vergleicht  man 
seine  Menschen,  die  ich  oben  anführte,  mit  den  zuvor  genannten 
Shakespeares,  so  haben  sie  alle  einen  Hauch  von  Theoretischem, 
von  einer  Geistigkeit  jenseits  des  naturhaften  Seins.  Und  während 
das  letztere  in  sich  beschlossen  bleibt  oder  sich  nur  mit  realen 
Wirkungen  gleichsam  strahlenförmig  in  die  Umwelt  erstreckt, 
wirft  das  ideelle  Schöpfertum  des  theoretischen  Menschen  leicht 
den  Kreis  einer  ganzen  Welt  aus  sich  heraus.  Oder,  um  die  Be- 
ziehung zwischen  dem  Erwachsen  individuell  bestimmter  ,, Wel- 
ten" und  dem  theoretischen  Charakter  der  Individuen  in  deren 
Zentrum  noch  in  einer  tieferen  Schicht  zu  fassen:  die  inneren 
Elemente  des  theoretischen  Menschen  haben  von  vornherein  eine, 
mindestens  potenziell,  logische  Struktur.  Sie  sind  so  geformt,  daß 
sich  aus  den  einzelnen  leicht  andere  ergeben,  daß  ein  Zusammen- 
hang unausgesprochener,  ja  ungedachter  aus  den  geäußerten  sich 
bündig  erschließen  läßt.  An  dem  Seins-  Charakter  der  Shake- 
speareschen  Gestalten  dagegen  macht  es  sich  geltend,  daß  das  Sein 
als  solches  nichts  Logisches  ist  und  nicht  logisch  konstruierbar;  nur 
seine  qualitativen  Bestimmungen  mag  man  begrifflich  aus  einander 
entwickeln,  das  Sein  selbst  fordert  eine  ursprüngliche  Setzung,  es 
ist  Sache  des  Erfahrens  und  Erlebens,  und  je  mehr  in  einem  Wesen 


160  Einzigkeit  der  Individualität 

die  alogische  Tatsache  seines  Seins  dominiert,  desto  weniger 
darf  man  es,  Gegebenes  und  Nicht-Gegebenes  aus  einander  folgernd, 
gleichsam  zu  der  Ganzheit  einer  Weltanschauung  erweitern.  Es 
ist  vielleicht  nur  der  psychologische  Ausdruck  hiervon,  daß  die 
Shakespeareschen  Menschen  Willens  naturen  sind  und  daß 
deshalb  jene  Unberechenbar keit  und  Spontaneität  in  ihnen  ist, 
mit  der  der  Wille  sich  von  der  intellektuellen  Tendenz  zum  Zu- 
sammenhängenden, Teil  nach  Teil  berechenbar  und  kontinuier- 
lich Erzeugenden  unterscheidet.  Es  ist  kein  Zufall,  daß  die  eigent- 
lich einzige  Gestalt  Shakespeares,  deren  Wesensart  einer  Welt- 
anschauung Bildungsgesetz  und  individuelle  Färbung  geben 
könnte:  Hamlet  —  eben  kein  Willensmensch,  sondern  eine 
intellektualistische  Natur  ist. 

Dieses  Bezeichnende  Goethescher  Gestalten:  daß  man  auf  ihre 
Namen  ein  Weltbild  taufen  kann,  daß  ihre  einzelnen  Äußerungen 
nur  Bruchstücke  eines  ideell  geschlossenen  Gesamtanschauens, 
Gesamtfühlens  sind  —  zeigt  nun  erst  den  ganzen  Sinn,  in  dem 
Goethes  Menschengestaltung  jener  zweiten  Form  des  Individualis- 
mus, die  ich  den  qualitativen  nannte,  angehört.  Sie  bedeutete 
doch,  daß  das  Anderssein  zwischen  Mensch  und  Mensch  als 
entscheidender  Wert  gilt;  während  Fichte  die  erste  Form  des 
Individualismus  damit  festgelegt  hat,  daß  ,,ein  Vernunftwesen 
schlechthin  ein  Individuum  sein  müsse,  aber  nicht  eben  dieses 
oder  jenes  bestimmte"  —  rückt  der  Akzent  nun  gerade  auf  das 
Bestimmtsein  des  Individuums,  darauf,  daß  ein  jedes  jedem 
anderen  gegenüber  ein  Unverwechselbares,  Einziges  ist.  Gleichviel, 
ob  die  einzelne  Figur  als  Typus  gemeint  ist  und  ob  die  Zufälle 
der  Wirklichkeit  noch  ein  oder  viele  genau  gleiche  Wesen  erzeu- 
gen; der  Sinn  einer  jeden  ist  doch,  daß  sie  unterschieden  ist,  daß 
sie  das  Dasein  auf  eine  nur  ihr  zukommende  Weise  ausdrückt, 
daß  sie  in  dem  Zusammenhange  der  Weltinhalte  an  einer  Stelle 
steht,  die  nur  sie  erfüllen  kann.  Die  metaphysische  Auffassung 
der  Individualität  aber  erreicht  ihre  ganze  anschauliche  Fülle 
und  lebendige  Ausgestaltung  dann,  wenn  die  Grundfärbung,  die 
das  Individuum  in  seiner  Einzigkeit  ausmacht,  die  Ganzheit  des 
Daseins  um  das  Individuum  herum  durchströmen  und  auf  sich 


Das  Allgemein-Menschliche  161 

abstimmen  kann.  Das  menschliche  Wesen  ist  erst  dann  wirklich 
ganz  Individuum,  wenn  es  nicht  nur  ein  Punkt  in  der  Welt, 
sondern  selbst  eine  Welt  ist,  und  daß  es  sie  ist,  kann  es  nur  damit 
beweisen,  daß  seine  Qualität  sich  als  Bestimmung  eines  möglichen 
Weltbildes  zeigt,  als  der  Kern  eines  geistigen  Kosmos,  von  dessen 
ideeller  Totalität  all  seine  einzelnen  Äußerungen  nur  ganz  partielle 
Verwirklichungen  sind.  Und  von  der  anderen  Seite  gesehen: 
wird  der  Mensch  so  als  der  Quell  einer  Welt,  gleichsam  als  der 
Name  einer  Weltanschauung  aufgefaßt,  wie  es  der  Sinn  der 
Goetheschen  Gestalten  ist,  so  muß  jeder  von  jedem  im  Tiefsten 
individuell  verschieden  sein.  Die  Gleichheit  all  dieser  Welten 
wäre  bedeutungslos;  denn  dann  genügte  es  sozusagen,  wenn  es 
nur  eine  einzige  gäbe  und  jeder  Mensch  eine  punktuelle  Existenz 
in  ihr  darstellte.  Die  Unendlichkeit  möglicher  Weltbilder  und  daß 
jeder  Mensch  das  Zentrum  und  das  Gesetz  eines  solchen  ist,  hat 
nur  einen  Sinn,  wenn  keines  von  ihnen  durch  ein  andres  ersetzlich 
ist  und  ein  jedes  den  Reichtum  der  Tonarten  vermehrt,  in  die 
der  Geist  das  Dasein  als  Ganzes  transponieren  kann.  Indem  jede 
der  großen  Goetheschen  Figuren  eine  Art  darstellt,  wie  nicht  nur 
ein  einzelnes  Schicksal  oder  eine  einzelne  Aufgabe,  sondern  eine 
Welt  begriffen,  erlebt,  gestaltet  werden  kann,  offenbart  sich  erst 
ganz  seine  Auffassung  des  Individuums  als  des  qualitativ  Einzigen, 
das  niemandem  ,, ähnlich  ist". 

In  einem  eigentümlichen  Verhältnis  von  Getrenntheit  und  Ver- 
bundenheit zu  diesem  Individualismus  steht  nun  Goethes  Schätzung 
des  ,, Allgemein-Menschlichen"  —  und  zwar  in  dem  doppelten 
Sinne,  daß  dies  Allgemeine  die  eigentliche  und  tiefste  Realität 
auch  des  Individuellen  ist  (so  daß  eine  vervollkommnete  Einsicht 
es  ,, durch  Nationalität  und  Persönlichkeit  immer  mehr  durch- 
leuchten" sehen  würde)  —  und  daß  es  zugleich  der  Wert  der 
Existenzen  ist,  dem  durch  entgegenstehende  Instanzen  hindurch 
zur  Verwirklichung  zu  verhelfen  ist  (,,Sinn  und  Bedeutung  meiner 
Schriften*  * ,  sagt  er  im  hohen  Alter, ,  ,ist  der  Triumph  des  Reinmensch- 
lichen"). Es  ist  zunächst  sicher,  daß  das  Allgemein-Menschliche 
für  Goethe  nicht  die  gemeinsamen  Züge  der  individuellen  Er- 
scheinungen bedeuten  kann,  die  von  den  jeweils  besonderen  oder 

Simmel,  Goethe.  '^ 


162  Die  Vielheit  als  Existenzform  der  Einheit 

einzigartigen  abgesondert  und  zu  dem  abstrakten  Begriff  des 
„allgemeinen  Menschen"  zusammengefaßt  würden.  Dies  Ver- 
fahren, eine  nachträgliche  mechanische  Zerlegung  des  fertigen 
Phänomens  und  ebenso  mechanische  Synthese  seiner  Elemente, 
war  das  der  rationalistischen  Aufklärung.  Goethe  kann,  im 
Gegensatz  dazu,  gerade  nur  den  Grund  der  Erscheinungen 
meinen,  der  diese  in  all  ihrer  Mannigfaltigkeit  erzeugt  und  trägt. 
Die  Individualität  erscheint  ihm  als  die  Darstellung  eines  Typus 
oder  einer  Idee,  deren  Leben  nun  doch  in  ihrer  Ausgestaltung  in 
unzählige  besondere  Formen  besteht.  Die  Einheit  und  die  Viel- 
heit widersprechen  sich  weder  ihrer  Wirklichkeit  noch  ihrem 
Werte  nach,  da  die  Vielheit  die  Existenzart  der  Einheit  ist,  und 
zwar  auf  den  verschiedensten  Stufen  des  Seins:  die  Einheit  der 
Natur  überhaupt  und  die  Mannigfaltigkeit  aller  Erscheinungen 
überhaupt;  die  Einheit  des  organischen  Typus  und  die  Besonderung 
der  Individuen;  die  Einheit  der  Persönlichkeit  und  der  Reichtum 
ihrer  differenten  und  gegensätzlichen  Äußerungen.  Daß  diese 
Einheit  sich  innerhalb  der  Erscheinungen  als  etwas  Allgemeines, 
als  Gemeinbesitz  gewisser  Merkmale  zeigt,  ist  sozusagen  etwas 
Akzidentelles,  mindestens  etwas  Äußerliches;  das  Wesentliche  ist, 
daß  sie  die  Individuen  trägt  und  in  diesen  besonderen  Gestaltungen 
lebt,  als  reale  Wurzel  oder  metaphysische  Idee,  in  vollkommenem 
Sichausdrücken  im  Individuellen  oder  in  zufälliger  UnvoUkommen- 
heit  und  Abgebogenheit.  Von  untermenschlichen  Wesen  spricht 
er  hier  in  der  typischen  Art,  wie  es  ihm  auch  für  menschliche 
Individuen  gilt;  so  über  zwei  Muschelarten,  die  bei  ganz  ab- 
weichenden Formen  doch  die  Identität  gewisser  hauptsächlicher 
Züge  verraten:  „Da  ich  nach  meiner  Art  zu  forschen,  zu  wissen 
und  zu  genießen  mich  nur  an  Symbole  halten  darf,  so  gehören 
diese  Geschöpfe  zu  den  Heiligtümern,  welche  die  nach  dem 
Regellosen  strebende,  sich  selbst  immer  regelnde,  und  so  im 
kleinsten  wie  im  größten  durchaus  gott-  und  menschenähnliche 
Natur  sinnlich  vergegenwärtigen."  Ja,  die  partielle  Gleichheit 
von  Erscheinungskomplexen  ist  eigentlich  und  prinzipiell  gar 
nicht  die  Bedingung,  unter  der  diese  einem  gemeinsamen  All- 
gemeinen zugehören: 


Das  historische  Individuum  163 

Und  es  ist  das  ewig  Eine, 
Das  sich  vielfach  offenbart; 
Klein  der  Große,  groß  der  Kleine, 
Alles  nach  der  eignen  Art. 

„Die  höchste  und  einzige  Operation  der  Natur  und  Kunst  ist 
die  Gestaltung  und  in  der  Gestaltung  die  Spezifikation,  damit  ein 
jedes  ein  Besonderes,  Bedeutendes  werde,  sei  und  bleibe."  Wie 
er  keinen  Augenblick  daran  zweifelt,  daß  die  sittliche  Forderung 
als  Idee  eine  einzige,  schlechthin  allgemeine  ist  und  dabei  doch 
überzeugt  ist,  daß  sie  sich  schlechthin  individuell  ausgestaltet  und 
jedem  ein  für  i  h  n  und  vielleicht  für  niemand  sonst  gültiges  Ver- 
halten auferlegt  —  so  verliert  für  ihn  das  Allgemein-Menschliche 
in  keiner  Weise  seine  Einheit  und  fundamentale  Identität  dadurch, 
daß  die  Art  seiner  Existenz  eine  in  beliebig  verschiedene,  ja  polar 
entgegengesetzte  Erscheinungen  auseinandergehende  ist.  Hier 
leuchtet  ein  Punkt  auf,  von  dem  aus  das,  was  an  Goethes  angeblich 
negativer  Stellung  zur  , »Geschichte"  nicht  völlig  sinnloses 
Gerede  ist,  Licht  erhält.  Goethe  begriff  die  Individualität  als 
Modifikation  des  Allgemein-Menschlichen,  das  in  einer  jeden 
gleichsam  als  ihre  Substanz  oder  Lebensdynamik  besteht,  völlig 
unabhängig  von  Gleichheit  oder  Ungleichheit  zwischen  den 
Individuen.  Gegenüber  diesem  Aufsteigen  der  Individualität  aus 
dem  Seinsgrunde  des  Menschlichen  überhaupt,  verlor  sie  als 
historisches  Zufallsprodukt  allerdings  für  ihn  an  Interesse.  Den- 
ken wir  an  jene  erste  Form  des  Individualismus  zurück,  mit  der 
der  Rationalismus  die  formale  Freiheit  und  Selbständigkeit  aller 
Menschen  und  ihre  natürliche  Gleichheit  logisch  entwickelte:  so 
hatte  von  dorther  Goethe  das  tiefe  Gefühl  behalten,  daß  die  Ge- 
staltung der  Erscheinungen  aus  einer  innerenNotwendig- 
k  e  i  t  quille,  während  die  „Geschichte"  nur  eine  äußerliche  Kau- 
salität für  diese  Gestaltung  anzuführen  weiß.  Aber  diese  Selb- 
ständigkeit des  Prinzips  band  der  Rationalismus  eben  noch  ängst- 
lich an  einen  homogenen  Inhalt,  er  konnte  sich  den  innern  Natur- 
grund, der  die  einzelnen  Erscheinungen  hervortreibt,  nur  an  der 
wesentlichen  Gleichheit  ihrer  aller  herstellen.  Für  Goethe  aber, 
der  den  Rationalismus  überwand,  äußerte  sich  dieser  gemeinsame 

XI» 


164  Innere  Mannigfaltigkeit  des  Einzelnen 

Grund  nicht  weniger  an  der  Verschiedenheit  der  Erschei- 
nungen. Die  Macht  dieses  Grundes  erstreckte  sich  nun  lebendig 
und  zeugend  auch  in  diese  Verschiedenheiten,  die  der  Rationalis- 
mus nur  dem  historischen  Zufall  zuzuschreiben  wußte. 

Endlich  erstreckt  sich  dies  Motiv  der  aus  der  Einheit  heraus- 
wachsenden, das  Leben  der  Einheit  darstellenden  individuellen 
Mannigfaltigkeit  in  die  Einzelpersönlichkeit  hinein.  Niemals  ist 
Goethe  an  der  Einheit  des  Typus  Mensch  und  an  der  Einheit  des 
einzelnen  Menschen  irre  geworden.  Offenbar  aber  hat  sich  schon 
in  seinen  zwanziger  Jahren  bei  ihm  die  Anschauung  ausgebildet, 
daß  diese  Einheit  in  sich  differenziert  sei,  daß  sie  sich  in  einer 
Polarität  von  Eigenschaften  oder  Seiten  der  Persönlichkeit  dar- 
stelle, daß  der  Mensch  sozusagen  zugleich  groß  und  klein,  gut  und 
böse,  bewunderungswert  und  verächtlich  sei.  So  sagt  Prometheus 
über  seine  sehr  unzulänglichen  Menschen: 

Ihr  seid  nicht  ausgeartet,  meine  Kinder, 

Seid  arbeitsam  und  faul, 

Und  grausam  mild 

Freigebig  geizig 

Gleichet  den  Tieren  und  den  Göttern. 

Und  ersichtlich  in  demselben,  nur  auf  den  Menschen  bezüglichen 
Sinn  heißt  es  im  Ewigen  Juden: 

O  Welt  voll  wunderbarer  Wirrung, 
Voll  Geist  der  Ordnung,   träger  Irrung, 
Du  Kettenring  von  Wonn'  und  Wehe. 

Das  Prinzipielle  dieser  Anschauung  muß  durch  sein  eigenes 
Lebensgefühl  getragen  sein.  Denn  wir  wissen  kaum  von  sonst 
jemandem,  der  sich  so  einheitlich,  so  fraglos  als  ein  beharrendes 
Ich  gefühlt  hätte  und  doch,  auch  für  sein  eigenes  Bewußtsein,  in  so 
viele  Widersprüche  und  entgegengesetzte  Tendenzen,  objektiv  in 
so  viele  ganz  verschiedene  Beanlagungen  und  Betätigungen  aus- 
einandergezogen wäre,  deren  jede  er  als  existenzberechtigt  und 
in  ihrer  Besonderheit  wesentlich  empfand.  In  jener  fundamentalen 
Einheit  des  Typus  Mensch  —  von  der  dahingestellt  bleibe,  ob  sie 
als  ideeller  Hilfsbegriff,  als  biologische  Realität,  als  metaphysi- 
scher Glaubensartikel  zu  fassen  ist  — ,  liegt  das   ,, Allgemein- 


Wert  und  Wertunterschied  165 

Menschliche";  also  sozusagen  in  dem  Leben  selbst,  das  sich  in 
unzählige  und  mannigfaltigste  Phänomene  verzweigt,  in  jedem 
von  ihnen  als  das  immer  identische  beharrend  —  nicht  aber  in 
einzelnen  Gleichheiten,  die  etwa  in  diesen  Phänomenen  selbst 
durch  Zerlegung  und  Abstraktion  feststellbar  wären. 

Indem  aber  dies  Allgemein-Menschliche  nicht  nur  ein  Sein, 
sondern  auch  ein  Seinsollendes  ist,  nicht  nur  das  eigentlich 
Lebendige  in  aller  Individualität,  sondern  auch  der  Wert  in  ihr, 
gehört  es  einer  der  tiefsten,  am  meisten  grundlegenden  Formen 
in  der  Begriffswelt  Goethescher  Weltanschauung  zu.  Wie  kann 
eigentlich  das  schlechthin  Allgemeine  wertvoll  sein  ?  Mag  es  auch 
einen  absoluten  Wert  haben,  also  einen  solchen,  der  seinem  Be- 
griffe nach  nicht  von  irgendeiner  Bedingung  und  einem  über  ihn 
hinaus  liegenden  Zwecke  abhängig  ist,  so  ist  doch  schwer  begreif- 
lich, wie  das  damit  ausgestattete  Stück  des  Daseins  seine  Wert- 
bedeutung auch  dann  bewahren  soll,  wenn  jedes  andere  Stück 
eben  dieselbe  in  eben  demselben  Maße  besitzt.  Dann  fällt  ja  diese 
Qualität  mit  dem  Dasein  überhaupt  zusammen,  und  die  Betonung 
und  Auszeichnung,  die  jenem  durch  das  Prädikat  des  ,, Wert- 
vollen" zukam,  wird  von  der  absoluten  Nivellierung  mit  allen 
andern  verschlungen.  Welche  Bedeutung  auch  ein  Wert  an  und 
für  sich  hat  —  sein  Träger  muß  sich  durch  seinen  Besitz  irgend- 
wie von  anderen  abheben,  damit  er  als  ein  wertvoller  empfindbar 
werde;  für  unsern  Geist,  dessen  Funktionen  an  Unterschiede 
seiner  Inhalte  geknüpft  sind,  scheint  nur  das  irgendwie  nach  Maß 
oder  Art  Individuelle,  nicht  aber  das  aller  Unterschiedlichkeit 
Enthobene  das  Subjekt  eines  Wertes  sein  zu  können.  Diese 
psychologische  Relativität,  an  die  unsere  Wertungen  nicht  minder 
geknüpft  sind  als  unsere  Sinneswahrnehmungen  und  unsere  Ge- 
danken, hat  dem  Kantischen  Denken  —  wenn  auch  nicht 
in  dieser  Formulierung  —  seine  Richtung  vorgezeichnet.  Daß  der 
vernünftige  Wille  sich  von  dem  eudämonistisch  bestimmten  ab- 
hebt, gibt  ihm  für  Kant  seinen  spezifischen  Wert;  die  erfahrung- 
bildenden Energien  des  Geistes  haben  nicht  nur  einen  höheren 
sondern  auch  einen  ganz  andersartigen  Wert  als  die  spekulierende 
Vernunft:  der  ästhetische  Genuß  ist  seinem  Wesen  und  seinem 


166  Wert  der  Totalität 

Wert  nach  dadurch  bestimmt,  daß  er  sich  von  dem  sinnlichen 
unterscheidet  usw.  Die  ,, Grenzsetzung",  die  die  Kantische 
Geistesarbeit  vollzieht,  hat  mit  dieser  Anknüpfung  der  Wert- 
setzung an  Unterschiede  und  Gegensätze  eine  weitere  Provinz 
erobert,  es  offenbart  sich  darin  die  Weltanschauung,  die  den  Sinn 
und  Inhalt  jedes  Einen  nicht  ohne  seine  Differenz  gegen  ein 
Anderes  zu  denken  vermag.  Hat  damit  die  psychologische  Erfah- 
rung der  ,, Unterschiedsempfindlichkeit"  dem  Kosmos  der  Werte 
überhaupt  seine  Form  gegeben,  so  ist  die  Attitüde  des  Goetheschen 
Geistes  zu  diesem  Wertproblem  sozusagen  eine  viel  mehr  meta- 
physische: er  empfindet  tatsächlich  die  Einheit  und  Ganzheit  des 
Seins  als  einen  Wert,  als  das  schlechthin  Wertvolle,  das  zu  diesem 
Charakter  keiner  Vergleichung  bedarf.  Hier  gibt  es  kein  So  und 
Anderes,  kein  Mehr  oder  Minder.  Gewiß  meldet  sich  damit  die 
Schwierigkeit,  die  den  Pantheismus  bei  jeder  Entwicklung  über 
seinen  Grundbegriff  hinaus  bedroht  und  die  unsere  Untersuchung 
in  mehr  als  einem  Zusammenhange  hervorzuheben  hat.  Wie 
die  absolute  Einheit  des  Seins  auch  nur  zu  der  erscheinenden 
oder  scheinbaren  Mannigfaltigkeit  der  Dinge  kommen,  wie  sie 
wechselnde  Zustände  aus  sich  hervorbringen  soll,  ist  schwer  zu 
begreifen.  Denn  unser  Verstand  ist  so  eingerichtet,  daß  er  Er- 
zeugung und  Änderung  immer  nur  aus  der  Einwirkung  je  eines 
Elementes  auf  ein  anderes  verstehen  kann;  an  dem  schlechthin 
Einen,  das  kein  Anderes  neben  sich  hat,  finden  wir  keinen  Grund, 
weshalb  es  aus  seiner  einmal  gegebenen  Form  und  Zustand  heraus- 
gehen sollte,  es  bleibt  in  sich  in  ewiger  Starrheit,  da  nichts  da  ist, 
wodurch  es  zu  einer  Änderung  motiviert  werden  könnte.  Diese 
Schwierigkeit,  so  zeigte  ich,  überwindet  der  Pantheismus  Goethes, 
indem  ihm  das  Sein,  in  seiner  Ganzheit,  von  vornherein  ein 
Lebensprozeß  ist,  ein  ewiges  Keimen  und  Gebären,  Sterben  und 
Werden  aus  der  Einheit  heraus,  oder  vielmehr:  als  die  Existenz- 
form dieser  Einheit  des  Seins  selbst.  Allein  der  Wert  dieses  Seins 
findet  nicht  auf  dem  gleichen  Weg  seine  Möglichkeit,  er  bedarf 
dazu  einer  noch  radikaleren  Wendung,  die  unseren  empirischen 
Wertungsweisen  ganz  absagt.  Denn  diese  sind  daran  gebunden, 
daß  jenseits  des  gewerteten  Dinges  ein  anderes  einen  andern  oder 


Ästhetische  Lösung  167 

mehr  oder  weniger  oder  keinen  Wert  hat,  und  nur  aus  einem  ganz 
neuen,  logisch  gar  nicht  begründbaren  Grundgefühl  hervor  kann 
das  ganze  Sein,  in  seiner  alles  Neben-ihm  und  alle  Vergleichung 
ausschließenden  Einheit,  seiner  Indifferenz  enthoben  werden, 
kann  es  als  Ganzes  den  Akzent  des  Wertes  bekommen,  der  sonst 
nur  aus  dem  Verhältnis  seiner  Teile  untereinander  erwächst.  Der 
Wert  des  Gesamtseins  ist  sozusagen  ein  Dekret  der  Seele,  für  das 
es  weder  Beweis  noch  Widerlegung  gibt,  der  Ausdruck  einer 
Lebensstimmung,  die  selbst  ein  Sein  ist  und  als  solches  weder 
richtig  noch  falsch.  Vielleicht  kann  man  sagen,  daß  die  künstle- 
rische Naturanlage  Goethes  ihn  zu  diesem  Wertgefühl  disponierte. 
Die  intellektualistische  kann  vielleicht  zu  der  Vorstellung  einer 
Welteinheit,  eines  sv  Y,at  Ttav  führen,  in  dem  alle  Differenzen  der 
Einzelheiten  untergegangen  sind  —  aber  sie  wird  nicht  zu  dem 
Gefühl  eines  absoluten  Wertes  dieses  Ganzen  vordringen;  die 
moralische  kann  andererseits  wohl  zu  einem  absoluten  Wert 
kommen,  etwa  zu  Kants  ,, gutem  Willen",  aber  sie  kann  der 
Wertdifferenzen  nicht  entbehren,  ja,  jener  absolute  Wert  ist  für 
sie  weniger  eine  Realität,  als  ein  Ideal,  hat  also  seine  wesentliche 
Bedeutung  als  der  Maßstab,  an  dem  sich  die  relativen  Werte  der 
Realität  in  ihrer  Unterschiedenheit  markieren.  Nur  die  ästhetische 
Geistesart,  die  der  moralischen  gegenüber  eine  größere  Breite  und 
sozusagen  größere  Toleranz  besitzt,  der  intellektuellen  gegenüber 
die  Leidenschaft  des  Wertens,  mag  diese  auch  dem  Seinsganzen 
gegenüber  bewähren;  sie  reagiert  auf  jeden  Eindruck  mit  Gefühlen 
von  Wert  und  Bedeutung  —  während  das  Wertgebiet  der  ethischen 
Natur  sich  immer  nur  mit  einem  Ausschnitt  der  Wirklichkeit 
decken  kann  —  und  wo  sie,  wie  es  bei  Goethe  geschah,  jene  ge- 
heimnisvolle Beziehung  zur  Welttotalität  besitzt,  jene  Fähigkeit, 
das  Ganze  als  Ganzes  auf  sich  wirken  zu  lassen,  da  wird  sie  eben 
mit  der  Wert  reaktion,  die  sozusagen  ihre  natürliche  Sprache 
ist,  auch  auf  dieses  antworten.  Mehr  als  einmal  kommt  dieser 
übergreifende  Wertbegriff  bei  ihm  zu  Worte,  die  Absage  an 
dessen  relativistische  Bindung,  die  ihn  innerhalb  der  empiri- 
schen Welt  eigentlich  immer  nur  je  einer  ihrer  Parteien 
zukommen  läßt: 


168  Religiöser  Wertbegriff 

„Wie  es  auch  sei,  das  Leben,  es  ist  gut!" 

„Ihr  glücklichen  Augen 
Was  je  ihr  gesehn 
Es  sei  wie  es  wolle 
Es  war  doch  so  schön." 

Vielleicht  ist  das  zutiefst  Religiöse  in  Goethe  und  der  Charakter 
seiner  Religiosität  überhaupt  damit  ausgesprochen:  daß  ihm  das 
Absolute  ein  Wert  ist,  daß  ihm  Wert  nicht  an  Unterschiede  ge- 
knüpft ist.  Alle  Religionen  der  Massen  sind  irgendwie  durch  die 
psychologisch-empirische  Tatsache  der  Unterschiedsempfindung 
bedingt.  Gott  mag  ihnen  noch  so  sehr  als  das  Absolute,  das  ens 
realissimum,  der  alleinige  Quell  oder  Sitz  des  Seienden  und  des 
Guten  gelten  —  sie  brauchen  doch  für  ihn  ein  Gegenüber;  sie  kom- 
men nicht  hinaus  über  den  Dualismus  zwischen  dem  erlösungs- 
bedürftigen Menschen  und  dem  Erlösung  gewährenden  Gotte, 
zwischen  der  Häßlichkeit  der  Sünde  und  der  Seligkeit  des  Heiligen, 
zwischen  den  gottverlassenen  und  den  gotterfüllten  Stücken  des 
Daseins.  Goethes  religiöser  ,,Natur"-Begriff,  in  dem  das  ewig 
Allgesetzliche,  das  Absolute  des  Daseins  schon  an  sich  selbst 
das  zu  Verehrende  ist,  das  schlechthin  Gütige,  Vollkommene, 
Schöne  —  ist  offenbar  seinem  formalen  Prinzip  nach  von  allen 
kirchenbildenden  Religionen  ausgeschlossen.  Sie  können 
nicht  das  ganze  Dasein,  ,,es  sei  wie  es  wolle",  anerkennen.  Der 
Dualismus  all  solcher  Religionen  (selbst  der  buddhistischen,  in 
der  doch  mindestens  Leiden  und  Erlösung  in  absoluter  Antinomie 
stehen)  ist  unversöhnlich  von  der  Goetheschen  Religiosität  ge- 
schieden, in  der  die  künstlerische  Lebensstimmung  am  deutlichsten 
entfaltet,  was  sie  an  religiöser  Bedeutung  besitzt.  Man  kann  die 
Goethesche  Weltanschauung  als  den  gigantischsten  Versuch  be- 
zeichnen, die  Einheit  des  Gesamtseins  unmittelbar  und  in  sich 
selbst  als  wertvoll  zu  begreifen:  wenn  er  Gott  so  weit  reichen  läßt 
wie  die  Natur  und  die  Natur  so  weit  wie  Gott,  beides  sich  gegen- 
seitig durchdringend  und  ineinander  hegend  —  so  ist  ihm  Gott 
der  Name  für  das  Wertmoment  des  Seins,  das  mit  seinem  Wirk- 
lichkeitsmomente, der  Natur,  in  eines  zusammenlebt.  In  der 
produktiven  Lebensanschauung  des  Künstlers  sind  Pantheismus 


Versöhnung  des  Allgemeinen  und  des  Individuellen  169 

und  Individualismus  nicht  mehr  sich  ausschließende  Gegensätze, 
sondern  die  beiden  Aspekte  eines  und  desselben  Wertverhältnisses. 
Er  ist  der  Mensch  der  zartesten  Unterschiedsempfindlichkeit,  des 
sichersten  Wissens  um  die  Einzigkeit  und  die  unvergleichliche 
Bedeutung  jedes  Daseinsstückes;  das  ethische  Prinzip:  jeden 
Menschen  als  Selbstzweck  anzusehen,  erstreckt  er  —  innerhalb 
der  ästhetischen  Wertungssphäre  —  auf  jedes  Ding  überhaupt. 
Aber  eben  damit  wird  sein  Weltbild  pantheistisch,  der  individuelle 
Wert  jeder  Einzelheit,  die  Möglichkeit,  einer  jeden  eine  ästhetische 
Bedeutung,  ebenso  in  ihr  wurzelnd  wie  über  sie  hinausreichend,  zu 
entlocken  —  deutet  sich  als  die  jeweilige  Ausgestaltung  einer 
Schönheit,  die  aus  einheitlicher  Quelle  oder  als  einheitliche  Quelle 
das  ganze  Dasein  durchflutet. 

Damit  ist  nun  endlich  das  formale  Prinzip  gegeben,  das  für 
Goethe  den  Widerspruch  zwischen  seinem  qualitativen  Indivi- 
dualismus, der  leidenschaftlichen  Schätzung  dessen,  worin  jeder 
einzig  und  anders  als  der  andere  ist  —  und  der  ebenso  leidenschaft- 
lichen Schätzung  aufhebt,  die  er  für  das  ,, Allgemein-Menschliche" 
empfindet.  Dieses  letztere  gehört  der  Kategorie  der  wurzelhaften 
Einheiten  zu,  die  keines  Unterschiedes  gegen  Anderes  bedürfen, 
um  Werte  zu  sein  ;  sein  Verhältnis  zu  den  menschlichen  Indivi- 
duen wiederholt  in  kleinerem  Maßstabe  dasjenige,  das  zwischen 
der  Gott- Natur  überhaupt  und  allen  Daseinseinzelheiten  über- 
haupt besteht.  Damit  aber  wird  der  Wert  des  Individuellen  nicht 
applaniert,  sondern  er  besteht  als  solcher  weiter,  weil  die  Spezi- 
fikation ins  Unendliche  die  Art  ist,  wie  das  unge- 
brochene Eine,  der  Typus,  lebt;  so  daß  die  Schätzung  des  Indivi- 
duellen und  die  des  Allgemeinen  die  Schätzung  eines  Lebens- 
prozesses ist.  Nur  die  mechanistische  Auffassung  trennt  beides, 
weil  für  sie  das  Allgemeine  ein  Abstraktum  ist,  gewonnen  durch 
die  Aussonderung  der  gleichen  Merkmale  —  als  ob  diese  wie  ato- 
mistisch  und  abspaltbar  neben  den  andern  liegen.  Dies  erst 
erschließt  den  wirklichen  Sinn  von  Goethes  immer  wiederholter 
Forderung,  im  Individuellen  das  Allgemeine  zu  sehen.  ,,Wer  nicht 
gewahr  werden  kann,  daß  e  i  n  Fall  oft  Tausende  wert  ist  und 
sie  alle  in  sich  schließt,  der  wird  weder  sich  noch  andern  jemals 


170  Lebensteilung  und  Lebenseinheit 

etwas  zur  Freude  und  zum  Nutzen  fördern  können."  Es  handelt 
sich  hier  nicht  darum,  daß  viele  Erscheinungen,  die  ein  äußeres 
Merkmal  teilen,  durch  eine  von  ihnen  vertreten  werden,  sondern 
um  die  Gleichheit  des  Lebens,  das  in  ihnen  allen  fließt;  um  die 
schöpferische  Einheit,  die  ein  jedes  zum  Symbol  des  Ganzen  und 
also  auch  jedes  andern  macht,  nicht  um  die  einzelnen  Züge,  die 
erst  unsere  nachträgliche  Betrachtung  voneinander  trennt  und 
in  gleiche  und  ungleiche  ordnet.  Und  dies  war  eben  möglich,  weil 
er  das  Dasein  unter  der  Kategorie  des  Lebens  erfaßte  und  durch 
diesen  Aspekt  als  objektiven  das  Recht  gewann,  das  Verhältnis 
zwischen  dem  Individuellen  und  dem  Allgemeinen  ohne  Anthropo- 
morphismus  nach  der  Formel  seiner  eigenen  Existenz  zu  deuten, 
wie  jene  Stelle  sie  ausspricht:  ,,Und  so  teil  ich  mich,  ihr  Lieben  — 
Und  bin  immerfort  der  Eine." 


Sechstes  Kapitel. 

Rechenschaft  und  Überwindung. 

Er  war  ein  Deutscher,"  sagt  Goethe  von  Serlo,  „und  diese 
Nation  gibt  sich  gern  Rechenschaft  von  dem,  was  sie  tut." 
Er  spricht  damit  die  Erfahrung  über  eine  entscheidende  Tendenz 
seines  eigenen  Lebens  aus.  Vielleicht  keinem  zweiten  unter  den 
im  großen  Stile  schöpferischen  Menschen  war  es  so  natürliches 
Bedürfnis,  mit  sich  selbst  abzurechnen,  sich  des  Lebens  in  einer 
Periodik  bewußt  zu  sein,  deren  klare  Überschau  keinen  seiner 
Inhalte  ausließ.  Mit  sehr  mannigfaltigen  Äußerungen  tritt  dies  in 
die  Erscheinung.  In  der  Jugend  begeht  er  von  Zeit  zu  Zeit  ein 
,,Hauptautodafe",  vernichtet  mit  leidenschaftlicher  Selbstkritik 
eine  Unzahl  von  Produkten  des  letzten  Zeitabschnitts;  dann  wieder 
geschieht  es  in  der  Form  geistigen  Einrangierens,  er  sucht  die 
Kategorien  auf,  unter  die  seine  Lebensinhalte  gehören:  „Ich 
muß  nur",  schreibt  er  an  Schiller,  „Altes  und  Neues,  was  mir  in 
Sinn  und  Herzen  liegt,  wieder  einmal  schematisieren."  In  einem 
Überblick,  der  alle  personalen  Hauptmotive  seines  Lebens  zu- 
sammenfaßt, bezeichnet  er  sein  Bestreben  als:  ,,Nie  geschlossen, 
oft  gerundet";  was  sich  in  dem  so  besonders  Charsikteristischen 
symbolisiert,  daß  er  seine  Tage  bücher  noch  einmal  zu  ,,A  n  - 
n  a  1  e  n"  zusammenfaßt.  In  ebendieser  Tendenz  liebt  er  es  von 
Jugend  auf,  Kunstwerke  zu  beschreiben  und  zu  analysieren:  er 
muß  sich  über  alles,  was  ihn  beeindruckt  und  von  irgendwelcher 
Bedeutung  für  seine  Entwicklung  ist,  Rechenschaft  ablegen.  Ein 
merkwürdiges  Beispiel  ist  es,  wenn  er  über  200  Gedichte  aus  ,,Des 
Knaben  Wunderhorn"  einzeln  charakterisiert,  jedes  nach  seiner 
ideellen  Bedeutung  und  seiner  Zugehörigkeit  zu  allgemeinen 
ästhetischen  Begriffen  —  immer  aber  im  Stile  jemandes,  der  sich 
über  die  Nuancen  seines  persönlichen  Eindrucks  Rechenschaft 


172  Objektivierung  des  Subjekts 

ablegen  will.  In  den  späteren  Jahren  endlich  sind  es  die  immer 
neu  begonnenen  Gesamtausgaben  seiner  Werke,  die  gleichsam 
als  Haltepunkte  dienen,  um  die  bisherige  Entwicklung  zu  über- 
schauen und  mit  Auswählen,  Anordnen,  Weglassen  die  Wert- 
rechnung über  diese  zu  schließen.  —  Welches  ist  nun  der  Zusam- 
menhang mit  weiteren  und  tieferen  Wesenszügen,  in  die  sich  diese 
Neigung  verständlich  einfügt? 

Täusche  ich  mich  nicht,  so  kommt  auch  in  ihr  die  eine  große 
Idee  zu  Worte,  die  sozusagen  die  schöpferische  Existenz  Goethes 
formt,  und  die  ich  als  die  ,, Objektivierung  des  Subjekts"  bezeichne. 
Gewiß  ist  jede  künstlerische  Produktivität  schließlich  unter  diese 
Formel  zu  bringen;  allein  wir  wissen  von  niemandem,  der  ein  so 
reiches  subjektives  Leben  dauernd  als  eine  so  objektive  Gegeben- 
heit und  unter  so  objektiven  Kategorien  gelebt  und  ausgeformt 
hätte.  Sonst  fällt  in  der  Regel  der  Akzent  entweder  auf  die 
subjektive  Seite,  auch  das  abgelöste  Erzeugnis  ist  ein  unmittel- 
bares Sichausströmen  des  Ichs,  es  tritt  sozusagen  für  den  Schöpfer 
nicht  aus  dem  Stadium  des  Innenerlebnisses  heraus;  oder  umge- 
kehrt, es  schwingt  sich  über  das  Subjekt  wie  über  ein  bloßes 
Sprungbrett  hinaus,  und  als  wäre  es  dem  Innenerlebnis  fremd, 
zieht  es  Sinn  und  Inhalt  aus  einer  selbstgenugsamen  Objektivität. 
In  der  bildenden  Kunst,  in  der  Poesie,  in  der  Musik,  ja  man  kann 
sagen:  in  allen  Lebensäußerungen  überhaupt  scheiden  sich  die 
spezifisch  lyrischen  Naturen  von  den  spezifisch  dramatischen. 
Goethes  Leben,  als  Ganzes  angesehen,  hat  diesen  Gegensatz  mehr 
als  irgend  ein  anderes  überwunden,  und  zwar  nicht  durch  ein  von 
vornherein  festes  Verhältnis  der  Elemente,  sondern  in  einer 
lebendigen  Entwicklung,  die  von  der  dämonischen  Subjektivität 
seiner  Jugend  zu  der  nicht  weniger  dämonischen  Objektivität 
seines  Alters  führte.  Es  ist  aber  sehr  merkwürdig,  wie  schon  in 
der  Jugend,  in  der  doch  die  Fülle  und  Bewegtheit  seines  Inneren 
mit  einer  ganz  einzigen  Unmittelbarkeit  und  Unabgelenktheit  in 
Äußerungen  und  Lebensgestaltung  ausfloß  —  wie  schon  in  ihr  die 
Objektivierung  des  Subjekts  sich  anzeigt.  In  all  dem  leidenschaft- 
lichen Gestammel  der  Leipziger  Briefe  an  Behrisch  zeichnet  sich 
doch  die  Form  des  Werther  vor,  in  dem  die  unbedingte  Subjek- 


Seelische  Intimitäten  173 

tivität  sich  durch  Formung  zu  einem  objektiven  Gebilde  von  sich 
selbst  erlöst.  Mitten  in  der  heftigsten  Liebesraserei  schreibt  er  an 
Behrisch:  „Dieses  heftige  Begehren  und  dieses  ebenso  heftige 
Verabscheuen,  dieses  Rasen  und  diese  Wollust  werden  Dir  den 
Jüngling  kenntlich  machen."  Und:  ,,Es  ist  wahr,  ich  bin  ein 
großer  Narr,  aber  auch  ein  guter  Junge."  Wenig  später,  mit 
zwanzig  Jahren:  ,,Das  habe  ich  mit  allen  tragischen  Helden  ge- 
mein, daß  meine  Leidenschaft  sich  gern  in  Tiraden  ergeht."  In 
all  dieser  jugendlichen  wichtigtuerischen  Selbstbespiegelung  kün- 
digt sich  doch  schon  die  große  Maxime  an,  alle  Subjektivität  des 
Daseins  als  eine  objektive,  in  die  Kategorien  übersubjektiver  Welt 
eingeordnete  Wirklichkeit  anzuschauen  und  zu  erleben.  Auch  in 
seiner  leidenschaftlichsten  Zeit  hat  er  nie  den  typischen  Fehler 
der  Jugend  gehabt:  sein  Wesen  und  seinen  Weg  für  den  einzig 
richtigen  zu  halten.  Daß  er  jeden  für  sich  und  in  seine  reigenen 
Richtung  gelten  ließ,  das  ist  der  Zug,  der  ihm  im  Tiefsten  immer 
Eitelkeit  und  Neid  fernhielt.  Mit  21  Jahren  tadelte  er  aufs  stärkste 
,,die  Vorliebe  für  unsere  eigenen  Empfindungen  und  Neigungen, 
die  Eitelkeit,  eines  jeden  Nase  dahin  drehen  zu  wollen,  wohin 
unsere  gewachsen  ist".  Die  Objektivität,  die  das  andere  Selbst  in 
dem  gleichen  Rechtsstand  wie  das  eigene  erblickte,  ist  ebenso  die 
Veranlassung  einer  fortwährenden  Rechenschaftslegung  über  uns 
selbst,  wie  sie  deren  Folge  ist. 

Er  hat  damit  nicht  nur  aus  einer  geistigen  Form,  die  die  Mensch- 
heit freilich  oft  genug  fragmentarisch  verwirklicht  hatte,  eine  Art 
gemacht  und  anschaulich  gemacht,  auf  die  ein  ganzes,  einheit- 
liches Leben  großen  Stiles  möglich  ist;  sondern  zugleich  der  theo- 
retischen und  der  künstlerischen  Kultur  neue  Provinzen  erschlos- 
sen. Durch  Goethe  hat  man  —  mindestens  in  Deutschland  — 
erst  gelernt,  die  letzten  seelischen  Intimitäten  in  abstrakte  wie  in 
dichterische  Allgemeinheit  und  Objektivität  zu  erheben.  Es  be- 
stand, und  besteht  allerdings  zum  Teil  noch  die  Vorstellung,  daß 
seelische  Vorgänge,  die  einen  gewissen  Grad  von  Zartheit, 
Komplikation,  Differenziertheit  zeigen,  eben  dadurch  für  immer 
,in  den  Bezirk  der  Subjektivität  gebannt  blieben;  sie  könnten  eben 
nur  erlebt,  allenfalls  rein  persönlich  geäußert  werden,  seien  aber 


174  Überpsychologischer  Sinn 

gewissermaßen  zu  gebrechlicher  Natur,  um  die  Formung  zum 
objektivierten  Geist  zu  ertragen.  Goethe  nun  hat  die  Möglichkeits- 
schwelle dieser  Formung  weit  in  jenes  Gebiet  hineingerückt.  Ein 
Gedicht  wie:  „Warum  gabst  du  uns  die  tiefen  Blicke"  —  ist  ein 
absolutes  Novum  in  der  Geschichte  des  menschlichen  Ausdrucks; 
daß  derartig  letzte  Intimitäten  des  Gefühls  dichterisch  und  darum 
ohne  jede  Verletzung  der  Scham  herausgestellt  werden,  zeigt  mit 
eins  ungeahnte  Möglichkeiten  der  Objektivierung  dessen,  was  man 
bisher  nur  für  subjektiv  möglich  hielt.  Nicht  anders  ist  es  mit  einer 
Reihe  von  Sentenzen  über  das  innerste  Leben,  die  vom  Werther 
an  seine  Schriften  durchziehen.  Hier  scheinen  freilich  die  fran- 
zösischen Moralisten,  besonders  Larochefoucauld,  ihm  voran- 
gegangen zu  sein.  Genau  angesehen  aber  halten  diese  sich 
in  der  Sphäre  des  Geistreichen,  es  ist,  trotz  aller  treffenden  Wahr- 
heit, nicht  soviel  Realität  darin,  weil  man  fühlt,  daß  nicht  eine 
Tiefe  und  Breite,  aus  der  es  geholt  ist,  sondern  die  Pointe,  zu  der 
es  sich  erhoben  hat,  den  eigentlichen  Interessenpunkt  des  Denkers 
bildet.  In  äußerstem  Gegensatz  hierzu  kommt  es  Goethe  allein 
auf  den  Erlebnisinhalt  an,  und  daß  dieser  zu  der  Form  der  Sentenz 
kristallisiert,  geschieht  sozusagen  von  selbst,  durch  ein  organisches 
Wachstum  des  Vorgangs  innerhalb  der  Seele.  Die  Hauptsache 
aber  ist,  daß  bei  jenen  Franzosen  alles  nur  psychologisch  gemeint 
ist,  allenfalls  einer,  nicht  besonders  tiefen,  ethischen  Wertung 
unterliegt.  Bei  Goethe  aber  spürt  man  stets  den  großen  Zusammen- 
hang, den  das  Seelische  nicht  nur  psychologisch,  d.  h.  als  die  Ver- 
knüpftheit  der  Inhalte  des  Bewußtseins  besitzt,  sondern  als  Da- 
seiendes und  Geschehendes  mit  allem  Dasein  und  Geschehen,  als 
Weltelement  mit  der  Welt.  Auch  wo  er  über  die  verwickeltsten 
und  zartesten  seelischen  Dinge  Allgemeinheiten  ausspricht,  sind 
das  nicht  nur  psychologische  Generalisationen,  sondern  sie  gehen 
auf  das  Leben  überhaupt  und  auf  die  tiefere,  kosmische  oder 
metaphysische  Bedeutung,  die  das  Seelische  umfaßt  oder  sich  in 
ihm  offenbart.  Hier  imd  da  mag  eine  analoge  Einzelheit  vorher 
auffindbar  sein;  aber  niemand  vor  ihm  hat  den  intimsten  Fein- 
heiten und  Tiefen  diese  Form  allgemeingültigen  Ausdrucks  ge- 
wonnen, erst  seit  ihm  ist  es  ein  Zug  unserer  geistigen  Attitüde  ge- 


Leben  und  Kunstwerk  175 

worden,  daß  wir  die  seelisch  wertvollen  Erlebnisse  sich  einem 
ganzen  Kosmos  überindividueller  Wahrheit  und  Weisheit 
zuentwickeln  lassen.  Hier  betrifft  die  Objektivierung  des  Sub- 
jektiven nicht  nur  die  geistige  Formung,  sondern  das  Subjektiv- 
Seelische  wird  dadurch  ein  Objektives,  daß  es  als  Existenz,  als  Be- 
stimmung unseres  Daseins,  einen  Weltsinn  hat,  sich  als  ein  Stück, 
ein  Schicksal  oder  ein  Träger  des  Lebens  überhaupt  dem  realen 
oder  ideellen,  aber  immer  objektiven  Allsein  einfügt.  Es  bedarf 
keiner  Ausführung,  welche  sublime  ,, Rechenschaft"  nun  auch  für 
unser  Intimstes  und  Persönlichstes  in  diesem  Verallgemeinern  und 
Objektivieren  liegt.  Denn  es  hat  damit  ein  Gesetz  über  sich  ge- 
stellt, vor  dem  es  sich  um  so  strenger  zu  verantworten  hat,  je 
mehr  dies  Gesetz  aus  ihm  selbst  hervorgegangen  ist,  nur  für  es 
selbst  und  seine  Beziehung  zu  der  Totalität  von  Sein  und  Idee 
gilt.  Man  hat  das  Goethesche  Leben  oft  genug  als  ,,ein  Kunst- 
werk" bezeichnet.  Daß  man  diesem  Leben  damit  den  höchsten 
Wert  zuzusprechen  meinte,  gehört  zu  dem  Größenwahn  modernen 
Artistentums.  Das  Leben  wächst  aus  eigner  Wurzel  und  seine 
Normen  sind  autonom,  nicht  aus  denen  anderer  Gebilde  herleitbar, 
die  vielleicht  erst  aus  ihm  entsprungen  sind:  das  Leben  kann  und 
soll  so  wenig  ein  Kunstwerk  sein,  wie  es  ein  logisches  Schlußver- 
fahren oder  eine  mathematische  Rechnung  sein  kann  und  soll. 
Er  spricht  es  selbst,  etwa  1825,  aus,  er  achte  das  Leben  höher  als 
die  Kunst,  die  es  nur  verschönere.  Mag  dieses  ,, Verschönern"  ein 
etwas  flüchtig  gesprächsmäßiger  Ausdruck  sein,  so  ist  jedenfalls 
die  Einstellung  des  Lebens  in  das  Ideal  des  Kunstwerks  als  in  ein 
übergreifendes  entschieden  abgelehnt.  Nun  mögen  gewisse  norma- 
tive Formen  dem  Leben  und  der  Kunst  gemeinsam  sein  und  nur 
so  kommt  jenem  Ausdruck  ein  partielles  Recht:  es  ist  dem  Goethe- 
schen  Leben  analog,  wenn  im  Kunstwerk  ein  innerlicher,  im 
persönlichsten  Leben  gezeugter  Vorgang  eine  Form  anschaulichen 
Daseins  gewinnt,  als  wäre  diese  Erscheinung  seiner  nach  objek- 
tiven Normen,  dem  Gesetz  und  der  Idee  der  Sache  allein  gehorsam, 
erwachsen.  In  diesem  Objektivieren  des  Subjekts  vollzieht  sich 
die  Arbeit  Goethes  an  seiner  eigenen  ,, Bildung".  Es  ist  häufig  aus- 
gesprochen worden,  daß  Goethes  ganze  Entwicklung  ein  fort- 


176  Bildung  und  Gebilde 

währender  Prozeß  des  „Sichbildens"  war.  „Ich  habe  Natur  und 
Kunst",  so  gesteht  er  im  höchsten  Alter,  ,, eigentlich  immer  nur 
egoistisch  studiert,  um  mich  zu  unterrichten.  Ich  schrieb  auch 
nur  darüber,  um  mich  weiterzubilden.  Was  die  Leute  daraus 
machen,  ist  mir  einerlei."  Schon  48  Jahre  vorher  ist  er  sich  darüber 
ganz  klar:  ,, Meine  Sachen  gehen  ordentlich  und  gut,"  schreibt  er 
an  Frau  von  Stein,  ,,es  ist  freilich  nichts  Wichtiges,  noch  Schweres, 
indessen  da  ich,  wie  Du  weißt,  alles  als  Übung  behandle,  so  hat 
auch  dies  Reiz  genug  für  mich."  Alle  Inhalte  des  Daseins  leitete 
er  in  sich  hinein,  um  sein  Ich  an  ihnen  aufwärts  zu  bilden.  Allein 
an  diesem  ,, Egoismus"  haftete  nichts  sittlich  Fragwürdiges,  denn 
die  Vollendung  seiner  Person  war  ihm  eine  objektive  sittliche  Auf- 
gabe, so  gut  wie  eine  auf  andere  Personen  gerichtete  es  sein  konnte. 
Die  eigene  Bildung  bedeutete  für  ihn  keineswegs  nur  die  wachsende 
Aufnahme  an  Stoffen  des  Wissens  und  Könnens,  sondern  be- 
deutete, daß  er  mit  deren  Hilfe  immer  mehr  zum  ,, Gebilde"  wurde, 
das  heißt,  zu  einer  Existenz,  die,  wie  anderen,  so  auch  sich  selbst 
als  ein  objektives  Weltelement  gegenüberstand.  Er  wußte  sehr 
wohl,  daß  der  Mensch  als  subjektives,  auf  sich  selbst  gerichtetes 
Wesen,  nicht  gleichsam  aus  sich  selbst  zu  dieser  objektiven  Be- 
deutsamkeit, sich  selbst  als  Weltelement  zu  wissen,  gelangen  kann; 
daß  er  sich  dazu  vielmehr  erst  zum  Gefäß  der  Welt,  das  aufnimmt 
und  abgibt,  machen  muß.  Darum  mußte  er  rastlos  lernen  und 
rastlos  schaffen,  mußte  gleichsam  das  Dasein  durch  sich  hindurch- 
leiten, um  an  seiner  Objektivität  teilzuhaben.  Je  mehr  sein  Sub- 
jekt sich  mit  Weltstoff  erfüllte,  je  reicher  und  treuer  sich  das 
Dasein  in  ihm  spiegelte,  um  so  mehr  wurde  es  selbst  zum  Objekt, 
desto  verwandter,  desto  zugeordneter  wurde  es  diesem  objektiven 
Dasein  selbst.  Der  Doppelsinn  von  ,, Bildung"  kam  hier  zu  seinem 
Rechte:  dadurch,  daß  er  lernend,  forschend,  produzierend  sich 
selbst  bildete,  ,, bildete"  er  sich,  das  heißt,  formte  er  sein  Subjekt 
zu  einer  objektiven  Gestaltung,  die  er  nicht  nur  war,  sondern  die 
er  als  geformten  Inhalt  sich  gegenüber  sah.  Dieses  sublime  Be- 
wußtsein gestattete  ihm  in  demselben  Sinne,  in  dem  er  vorhin  von 
seinem  ,, egoistischen"  Lernen  gesprochen  hatte,  seine  Werke  als 
eine  bloß  persönliche  Konfession  zu  bezeichnen.   ,, Meine  Arbeiten 


Werke  als  Lebensspuren  177 

sind  immer  nur  die  aufbewahrten  Freuden  und  Leiden  meines 
Lebens",  schreibt  er  in  seinem  26.  Jahre  —  und  40  Jahre  später: 
„Meine  ernstliche  Betrachtung  ist  jetzt  die  neueste  Ausgabe 
meiner  Lebensspuren,  welche  man,  damit  das  Kind  einen  Namen 
habe,  Werke  zu  nennen  pflegt."  Nur  wer  sein  Subjekt  als  etwas 
so  Objektives  weiß,  wird  seine  objektive  Leistung  als  etwas  so 
Subjektives  ansprechen.  Und  darum  ist  es  nicht  der  geringste 
Widerspruch  gegen  die  letzte  Äußerung,  wenn  er,  gleichfalls  im 
hohen  Alter,  das  scheinbar  Entgegengesetzte  ausspricht:  ,,Was 
bin  ich  selbst?  Was  habe  ich  getan?  Ich  habe  alles,  was  ich  ge- 
sehen, gehört,  beobachtet  habe,  gesammelt  und  benutzt.  Meine 
Werke  sind  von  tausend  verschiedenen  Individuen  genährt;  Un- 
wissende und  Weise,  Geistreiche  und  Dummköpfe,  die  Kindheit, 
das  reife  Alter,  das  Greisentum  haben  mir  ihre  Gedanken,  ihre 
Fähigkeiten,  ihre  Hoffnung,  ihre  Seinsart  dargeboten;  ich  habe 
oft  die  Ernte  gesammelt,  die  andere  gesät  haben.  Mein  Werk  ist 
das  eines  Kollektivwesens  und  trägt  den  Namen  Goethe." 

In  höherem  Alter  erreicht  die  Einheit  von  Subjekt  und  Objekt, 
die  zu  leben  und  zu  verkünden  den  metaphysischen  Sinn  seiner 
Existenz  ausmacht,  ihre  höchste  und  reinste  Reife.  Nachdem  der 
Akzent  in  all  seinem  Denken  und  Verhalten  ganz  auf  die  Objekt- 
seite der  Gleichung  gerückt  war,  kann  nun  von  da  aus  wieder  das 
Subjekt  die  umfassendste  Bedeutung  erhalten,  können  nun,  wie 
man  weiß,  selbst  seine  Berichte  über  die  sachlichsten  naturwissen- 
schaftlichen Studien  autobiographische  Form  erhalten.  In  der 
Jugend  wäre  das  eine  Subjektivierung  gewesen;  jetzt  ist  davon 
keine  Rede,  sein  Subjekt  ist  nur  der  Sammelpunkt  von  Sachlich- 
keiten, er,  inbegriffen  alle  Inhalte,  alle  Schicksale,  alle  Erfahrun- 
gen, ist  sich  ein  Gegenstand  objektiven  Beobachtens  und  Erlebens 
—  und  ebendamit  auch  objektiven  Wertens.  So  spricht  er  z.  B. 
über  die  ,,der  Natur  des  Menschen  gemäße"  Neigung,  Erscheinun- 
gen für  verwandter  zu  halten,  als  ihre  tatsächliche  Ähnlichkeit 
es  rechtfertigt:  ,,Ich  habe  an  mir  selbst  bemerkt,  daß  ich  diesen 
Fehler  oft  begehe."  Ein  anderes  Mal  von  der  Richtung  des  Natur- 
betrachtens,  die  von  dem  Eindruck  des  Ganzen  zu  der  Beobachtung 
der  Teile  fortschreitet:    ,,Ich  bin  mir  dabei  recht  wohl  bewußt, 

Simtnel,  Goethe.  ^2 


178  Objektives  Erleben  seiner  selbst 

daß  diese  Art  der  Naturforschung,  so  gut  wie  die  entgegengesetzte, 
gewissen  Eigenheiten,  ja  wohl  gewissen  Vorurteilen  unterworfen 
sei."  So  gibt  er  in  höheren  Jahren  die  Subjektivität  seines  Er- 
kennens  oft  spontan  zu  —  auch  sie  war  ihm  ein  objektives  Phä- 
nomen geworden.  Jener  autobiographische  Ton  des  Goetheschen 
Alters  ist  eine  besondere  Form  der  Konfession,  zu  der  das  Alter 
der  Künstler  überhaupt  zu  neigen  scheint;  ich  brauche  keine 
Beispiele  dafür  zu  nennen,  wie  oft  die  späten  Werke  der  großen 
Künstler  Beichten  sind,  ein  Herausstellen  des  subjektivsten  Seelen- 
kernes, um  den  keine  Hülle  und  Scham  mehr  ist,  weil  das  Subjekt 
sich  seiner  Subjektivität  enthoben  und  schon  einer  höheren  ge- 
ahnten oder  innerlich  geschauten  Ordnung  zugehörig  fühlt. 
,, Alter",  sagt  Goethe  einmal,  ,,ist  stufenweises  Zurücktreten  aus 
der  Erscheinung"  —  und  das  kann  ebenso  bedeuten,  daß  das 
Wesen  die  Hülle  fallen  läßt,  v/ie  daß  es  sich  aus  allem  Offenbar- 
sein in  ein  letztes  Geheimnis  zurückzieht;  und  vielleicht  kann  das 
erste  gelten,  da  doch  das  zv/eite  gilt.  In  so  tiefer  und  sich  mit  den 
Jahren  immer  vertiefender  Einheit  empfindet  Goethe  seine  persön- 
liche Existenz  mit  der  Natur  und  Idee  der  Dinge,  daß  jede  Mit- 
teilung natur-  oder  kunstwissenschaftlicher  Art  den  Stil  und  Ton 
eines  erzählten  persönlichen  Erlebnisses  annimmt,  als  sei  jeder 
Sachverhalt,  der  sich  ihm  neu  aufschließt,  eine  neue  Stufe  seiner 
innerlichsten  Entwicklung.  ,,Der  Mensch",  sagt  er  in  dieser  späten 
Zeit,  ,,wird  die  Welt  nur  in  sich  und  sich  nur  in  der  Welt  gewahr. 
Jeder  neue  Gegenstand,  wohl  beschaut,  schließt  ein  neues  Organ 
in  uns  auf."  Und  nur  von  der  anderen  Seite  her  offenbart  sich 
diese  höchste  Einheit  darin,  daß  die  Art,  wie  Goethe  seinem  eigenen 
Leben  im  Alter  gegenüberstand,  die  großartigste  Objektivierung 
des  Subjekts  ist,  von  der  wir  wissen.  Denn  nicht  nur  die  Ver- 
gangenheit, die  er  als  abgeschlossen  ansehen  konnte,  war  ihm 
ein  reines  Bild  geworden.  Sondern  der  eben  erlebte  Tag  war  ein 
solches,  ja,  der  Moment  des  Erlebens  selbst  war  ihm  ein  objek- 
tives Geschehen  —  nicht  nur  im  Sinne  der  gleichzeitigen  Selbst- 
beobachtung, der  Spaltung  des  Bewußtseins,  die  sicher  oft  gar 
nicht  bestand,  wenigstens  nicht  mehr  als  bei  vielen  anderen  Men- 
schen auch;  vielmehr,  der  innere  Ton  des  Erlebens,  die  Art,  wie  es 


Resignation  179 

subjektiv  unmittelbar  vorging,  hatte  den  Charakter  der  Objektivi- 
tät. Was  er  dachte  und  fühlte,  war  ihm  Ereignis,  wie  Sonnenauf- 
gang oder  das  Reifen  der  Früchte,  er  stellte  das  Ich  nicht  nur  als 
ein  wissendes  den  Erlebnissen  als  dem  Gewußten  gegenüber,  son- 
dern von  vornherein  war  das  Erleben  dem  kosmischen  Geschehen 
eingeordnet;  was  vielleicht  die  Gestalt  Makariens  in  absoluter 
Vollendung  symbolisiert.  Nicht  nur  einzelne  Lebensinhalte  waren 
ihm  objektiv  geworden,  sondern  sozusagen  der  Lebensprozeß  selbst 
—  er  bedurfte  für  diese  Objektivität  nicht  mehr  der  Form  des 
Gegenüber.  Diese  Gegensatzschärfe  war  der  Kategorie  genommen, 
unter  der  er  sich  erlebte,  als  eben  derselben,  unter  der  die  Ereig- 
nisse des  Kosmos  selbstgenugsam  abrollen. 

Diese  Einheit  aber  enthält  ein  Element  oder  eine  Voraus- 
setzung, die  auf  den  ersten  Blick  gerade  der  Tiefe  ihrer  Wurzelung 
widerstreitet.  Durch  das  Goethesche  Leben  geht  von  sehr  früh 
an  ein  Zug  von  Resignation,  dem  er  oft  Ausdruck  und  Nachdruck 
gibt.  Die  Eingeordnetheit  in  Wirklichkeit  und  Idee  des  Seins- 
ganzen, das  unmittelbare  Sich-hingeben  und  -ausgeben  des  Lebens, 
sicher,  daß  damit  der  Norm  der  sachlichen  Ordnungen  genügt 
werde  —  diese  Grundformel  der  Goetheschen  Existenz  scheint 
durch  das  Gefühl  fortwährend  nötigen  Verzichtes,  Zurückhaltens 
und  Beherrschens  seiner  selbst  durchbrochen  zu  sein.  Eine  Äuße- 
rung aus  seinem  33.  Jahre  weist  vielleicht,  wenn  auch  nicht  in 
gerader  Linie,  auf  die  Lösung  des  Widerspruchs  hin:  ,,So  viel  kann 
ich  Sie  versichern,  daß  ich  mitten  im  Glück  in  einem  anhaltenden 
Entsagen  lebe  und  täglich  bei  aller  Mühe  und  Arbeit  sehe,  daß 
nicht  mein  Wille,  sondern  der  Wille  einer  höheren  Macht  geschieht, 
deren  Gedanken  nicht  meine  Gedanken  sind."  Hier  liegen  die 
Elemente  freilich  noch  in  ungelöster  Problematik  zusammen: 
lein  subjektives  Wollen  und  Fühlen,  das  sich  zur  Einfügung  in  eine 
jenseits  seiner  gelegene,  objektiv  höhere  Ordnung  aufgerufen 
fühlt  und  dies  nur  in  der  Form  des  Verzichts  erreicht.  Der  Sinn 
aber  dieses  Verzichtens  in  dem  allgemeinsten,  sein  Leben  durch- 
ziehenden Sinne  scheint  mir  kein  anderer  zu  sein,  als  daß  ihm 
nur  auf  diesem  Wege  jene  Objektivierung  seines  Subjekts  gelang. 
Er  mußte  sich  dauernd  überwinden,  damit  die  Intensität,  die  un- 

12* 


180  Entsagung  als  Lebensformung 

mittelbare,  selig-unselige  Strömung  seines  Lebens  gegenständlich 
werden  konnte.  Die  Selbstüberwindung  und  die  Vergegenständ- 
lichung waren  nicht  ein  Nacheinander  zweier  Akte,  sondern  einer 
und  derselbe,  von  zwei  Seiten  gesehen.  All  dem  Glühen  und  Drän- 
gen seiner  Seele  war  die  Selbstüberwindung  sehr  früh  zugewachsen, 
damit  es  Form  werden  konnte.  Für  seine  Seele  war  es  die  Voll- 
endung, daß  sie  über  die  bloße  subjektive  Lebendigkeit  hinaus 
sich  selbst  zum  Objekt,  ja  sozusagen  an  und  für  sich  zum 
Objekt  wurde;  und  dies  errang  sie  in  der  Form  eines  dauern- 
den Sichselbstüberwindens,  einer  immer  bewußteren  Herrschaft 
über  sich  selbst.  Dies  ist  keine  Zerreißung  seines  Lebens,  sondern 
dessen  ganz  einheitlicher  Charakter.  Wenn  er  jene  vorhin  be- 
rührte , »Bildung",  das  ,,zum  Gebilde  Werden",  dadurch  gewann, 
daß  er  immer  mehr  objektiven  Weltstoff  seiner  persönlichen  Ent- 
wicklung an-  und  einbildete,  so  weiß  er  später  sehr  wohl,  wieviel 
strenge  Begrenzung  dies  fordert:  die  Bildung  ist  der  geistige 
Reflex  des  Geheimnisses  des  Organismus,  sich  mit  seinem 
Wachstum  zugleich  seine  Form,  d.  h.  seine  Grenze  zu  geben. 
,,Jede  Bildung",  sagt  er  als  Siebziger,  ,,ist  ein  Gefängnis,  an 
dessen  Eisengitter  Vorübergehende  Ärgernis  nehmen,  an  dessen 
Mauern  sie  sich  stoßen  können;  der  sich  Bildende,  darin  Einge- 
sperrte, stößt  sich  selbst,  aber  das  Resultat  ist  eine  wirklich  ge- 
wonnene Freiheit."  Auch  sein  Verhältnis  zur  Natur,  mit  seinem 
treuen  Eifer  und  enthusiastischen  Eindringen  und  dem  gleich- 
zeitigen Haltmachen  vor  den  letzten  Geheimnissen,  der  Über- 
zeugung, daß  ein  Unerforschliches  da  sei,  das  sich  uns  versage, 
—  ist  die  Lebenseinheit  von  Hingebung  und  Resignation.  Das 
Von-sich- Wegtreten,  mit  dem  er  sein  eigenes  Objektsein  gewann, 
war  zugleich  ein  Von-sich- Absehen,  ein  Verzicht  auf  das,  was  das 
Subjekt,  solange  es  in  sich  selbst  verbleibt,  zu  sein  und  zu  ge- 
nießen begehrte.  Vielleicht  aber  sind  diese  Lebenswerte  innerlich 
in  umgekehrter  Richtung  verbunden.  Vielleicht  —  dies  läßt  sich 
nur  wie  aus  der  Ferne  andeuten  —  ist  ihm  Selbstüberwindung  und 
Entsagung  das  Urphänomen  seiner  sittlichen  Menschlichkeit  und 
alles,  was  ich  die  Objektivierung  seines  Subjekts  nannte,  nur  eine 
Folge,  eine  Erscheinung,  ein  anschaulich  Positives  zu  diesem  Letz- 


Begrenzung  181 

ten  —  ein  Positives,  in  dem  sich  die  besondere  Wertart  dieser 
Resignation  äußern  mußte,  da  sie  doch  nicht  Askese  war.  Wir 
pflegen  in  der  Resignation  vor  allem  das  Moment  des  Leidens  zu 
betonen  und  zu  empfinden.  Aber  dieser  Gefühlsreflex  ist  für 
Goethe  ganz  unwesentlich.  Der  ,, Entsagende"  ist  der  Mensch,  der 
seinem  subjektiven  Dasein  die  Form  gibt,  mit  der  es  sich  der 
objektiven  Ordnung  der  Gesellschaft  oder  des  Kosmos  überhaupt 
einfügen  kann;  oder,  in  der  anderen  Richtung  gesehen,  sobald  der 
Mensch  sich  über  das  bloße  Ausströmen  seiner  Existenz  hinaus 
eine  Form  geben  will,  in  der  er  sich  selbst  als  Objekt,  als  ein  Welt- 
element anschaut,  —  so  muß  er  entsagen.  Jede  Form  ist  Begren- 
zung, ist  Verzicht  auf  das,  was  jenseits  der  Grenze  ist;  und  nur 
durch  Formung  entsteht  jedes  feste,  weltmäßige  Sein,  das  dem 
Subjekt  gegenübersteht,  und  zu  dem  es  sich  selbst  zu  gestalten  hat. 
Das  Sich-selbst-Beherrschen  und  Entsagen,  das  ohne  Beziehung  auf 
dies  oder  jenes  Bestimmte  und  ohne  jede  Leidseligkeit,  sondern  als 
eine  allgemeine  Bestimmung  der  Existenz  Goethes  Lebensent- 
wicklung durchzieht,  enthüllt  sich  so  als  die  ethische  Basis  oder 
die  ethische  Seite  jener  allgemeinsten  Formel  seiner  Entwicklung. 
Vielleicht  ist  dies  noch  von  einer  breiteren  Allgemeinheit  des 
Lebenssinnes,  als  gerade  von  dem  ethischen  Gesichtspunkte  her, 
auszudrücken.  Die  ,, Harmonie  der  Existenz",  unter  deren 
Ägide  sich  das  Goethesche  Lebensideal  bildete,  ist  etwas  keines- 
wegs eindeutiges.  Sie  setzt,  für  die  häufigste  Auffassung,  eine 
Idee  voraus,  praktischer,  religiöser,  theoretischer,  gefühlshafter 
Art,  zu  der  nun  die  einzelnen  Energien  und  Inhalte  der  Per- 
sönlichkeit sich  passend,  fördernd  verhalten,  so  daß  das  Leben 
als  Ganzes  auf  einen  ideellen  oder  realen  Ton  abgestimmt  ist. 
Das  verlangt  Selbstbeherrschung  und  Verzicht,  da  die  nach 
allen  Seiten  hin  gestreckten  Kräfte  und  Bedürfnisse  des  Indi- 
viduums nicht  von  selbst  die  von  einer  differenziellen  Idee  her  ge- 
forderte Form  haben.  Doch  sind  solche  Versagungen  und  Verkür- 
zungen unsres  übrigen  Wesens  sozusagen  keine  ganz  organischen, 
weil  sie  nicht  aus  den  eigen-innerlichsten  Wachstumsbedingungen 
hervorgingen,  weil  die  Gestaltung  nicht  ganz  und  gar  von  der 
gegebenen  Individualität  her  harmonisch  ist,  sondern  von  einer 


182  Ich -Werdung 

Idee  her,  die  dieser  irgendwie  äußerlich  ist  —  so  wenig  dieser  Sinn 
des  ,, Äußerlichen"  ein  tiefstes  inneres  Verbundensein  und  Ver- 
wachsensein ausschließt.  Die  Harmonie  der  Persönlichkeit  nach 
Goethescher  Norm  aber  hat  ersichtlich  einen  andern  Grundton. 
Für  seinen  metaphysischen  Optimismus  wird  sie  von  den  An- 
lagen des  Individuums  her  bestimmt,  d.  h.  Harmonie  ist  der 
Name  für  deren  völlige  Entwickeltheit,  das  Unharmonische  ist 
ihm  das  —  von  der  Gegebenheit  des  Menschen  aus  gesehen  — 
Verkümmerte,  Einseitige,  nicht  völlig  Entwickelte,  eine  ünvoll- 
kommenheit  der  ,,Entelechie".  Auch  dies  aber  bedeutet  Be- 
schränkung in  mehr  als  einem  Sinne.  Zunächst  nicht,  wie  dort, 
irgendeine  Beschränkung  des  Selbst,  sondern  eine  Beschränkung 
auf  das  Selbst.  Denn  dieses  wird  von  allerhand  Ansprüchen, 
Illusionen,  Nicht-dazu-Gehörigkeiten  umgeben,  die  mit  dem,  was 
wir  von  innen  her  sind,  gleichsam  an  dessen  Peripherie  ver- 
schmolzen sind;  das  eigentliche  Ich,  das  sich  ursprünglich  durch 
alles  dieses  mitzuerstrecken  schien,  muß  es  oft  erst  lernen,  sich 
auf  seinen  eigenen  Umfang  zu  beschränken,  auf  die  Allum- 
fassung zu  verzichten  und  erst  durch  diesen  Verzicht  zu  seinem 
Selbst  zu  gelangen.  Mehr  als  einmal  spricht  Goethe  aus,  daß 
,,die  meisten"  Künstler  ,,gar  zu  gern  über  den  Kreis  hinausgehen, 
den  die  Natur  ihrem  Talente  gesetzt  hat"  und  daß  sich  selten 
einer  auf  das  ,,b  e  s  c  h  r  ä  n  k  e",  was  er  vermag.  Und  ganz 
entscheidend:  ,,Wer  allgemein  sein  will,  wird  nichts;  die  Ein- 
schränkung ist  dem  Künstler  so  notwendig  als  jedem,  der  aus 
sich  (!)  was  Bedeutendes  bilden  will."  Wer  wie  Goethe  die 
Norm  des  Lebens  aus  dem  Leben  selbst  entnimmt,  kann  auch 
die  beschränkende  Linie,  die  diese  Norm  und  die  innere  Har- 
monie verlangen,  nur  von  dem  Leben  selbst  ziehen  lassen:  es 
ist  garnicht  das  Selbstverständliche  und  Erste,  daß  wir  wir  selbst 
sind,  tun,  was  nur  aus  uns  kommt,  sondern  auch  dies  und  gerade 
dies  ist  nur  durch  Beschränkung  und  Entsagung  möglich.  Nun 
will  aber  ferner  jene  Forderung,  für  die  mit  der  vollkommenen 
Entwicklung  aller  gegebenen  Kräfte  sich  die  Harmonie  des  per- 
sönlichen Daseins  ergibt,  keineswegs  ein  wildes  Auswachsen- 
lassen jedes  Triebes  beseigen.   Es  hat  vielmehr  ein  jeder  diejenige 


Organischer  Charakter  der  Selbstbeschränkung  183 

Beschränkung  in  sich,  die  das  Zusammenstimmen  der  vielen 
zur  Einheit  einer  organischen  Selbstentwicklung  ihm  auferlegt. 
Hier  liegt  noch  einmal  ein  tiefster  Zusammenhang  des  Beschrän- 
kungsmotives  mit  der  entscheidenden  Goetheschen  Lebensform. 
Wer  sich  zu  einer  bestimmten  Leistung  erziehen  will,  vollzieht 
die  Einschränkung  von  Trieben  und  Kräften,  die  dazu  etwa  er- 
fordert ist,  sozusagen  von  außen  her,  denn  nicht  das  Leben  selbst, 
sondern  die  herantretende  Idee,  wie  adäquat  sie  auch  jenem  sei, 
stellt  die  Forderung.  Wer  aber  sein  Sein  erzieht,  wie  Goethe, 
der  beschränkt  all  jene  Kräfte  und  Triebe  nur  auf  das  Maß  und 
die  Form,  die  sie  sozusagen  ganz  von  selbst  gewinnen  oder  ge- 
winnen würden,  wenn  sie  sich  durch  ihre  Stellung  im  Ganzen 
dieser  Persönlichkeit,  durch  ihr  Verhältnis  zu  ihrem  Zentrum 
bestimmen  lassen.  Die  Selbstbeschränkung  kommt  hier  zu  ihrem 
reinsten  Sinn.  Nicht  um  eines  Zweckes  willen,  sondern  um  der 
Einheit  und  Vollkommenheit  des  ganzen,  sie  tragenden  Seins, 
und  also  schließlich  um  ihrer  selbst  willen  verzichtet  jede  Energie, 
jede  Tendenz  auf  jenes  Übermaß,  zu  dem  sozusagen  ihr  Egois- 
mus, ihrem  eigentlichen  Sinne  dennoch  fremd,  sie  führen  will. 
So  stammt  ihre  Beschränkung  aus  eben  der  Kraft  und  Zentralität 
des  Gesamtwesens,  aus  der  ihr  Wachstum  kam.  Deshalb  also, 
weil  Goethe  nicht  dies  und  jenes  ,, werden"  wollte,  sondern  nur 
die  Vollkommenheit  erreichen,  die  gerade  nur  die  seine  war  und 
mit  seiner  Realität  vorgezeichnet  war,  war  seine  Selbstbeschrän- 
kung ein  organischer,  rein  von  innen  her  bestimmter  Prozeß, 
seine  Selbsterziehung  genau  so  naturhaft  seiner  Selbstentwicklung 
zugehörig  wie  irgendeine  Leidenschaft  oder  eine  Produktivität. 
,,Wer  Bedingung  früh  erfährt,"  sagt  er,  ,, gelangt  bequem  zur 
Freiheit;  wem  Bedingung  sich  spät  aufdrängt,  gewinnt  nur 
bittre  Freiheit"  —  denn  Bedingung,  Beschränkung,  Verzicht 
muß  von  vornherein  der  Lebensentwicklung  einwohnen,  die  den 
Menschen  zu  reinem  Er-selbst-Sein,  d.  h.  zur  ,, Freiheit"  führt; 
ist  der  Organismus  schon  fertig,  wenn  sie  sich  ,, aufdrängt",  so 
kann  sie  ihm  nicht  mehr  einwachsen,  sondern  verbleibt  ihm  in 
Fremdheit,    Disharmonie,  ,, Bitterkeit". 

Nun  scheint  aber  auch  seine  Selbstüberwindung  einen  sehr 


184  Sehnsucht  und  ihre  Bestimmung 

durchgängigen  Gegenstand  gehabt  zu  haben,  der  gleichfalls  nicht 
nur  als  ein  bestimmter  Inhalt  auftrat,  sondern  den  er  als  einen 
allgemeinen,  formalen,  gleichsam  aus  der  Seele  als  solcher  sich 
entwickelnden  Zustand  fühlte:  die  Sehnsucht.  Er  hat  vielleicht 
zuerst  gewußt,  daß  die  Sehnsucht  eine  mit  unserm  Wesen  über- 
haupt verbundene  Funktion  ist,  die  wir  ,,nun  einmal  nicht  los- 
werden sollen";  von  diesem  Sehnsüchtigen  lag,  nach  seinem 
eigenen  Geständnis,  ursprünglich  zuviel  in  seiner  Natur,  und  er 
suchte  es  mit  vorschreitendem  Alter  „kräftig  zu  bekämpfen". 
Die  Art  aber,  wie  er  diesen  Kampf  führte,  hängt  aufs  genaueste 
mit  seiner  gesamten  Lebenstendenz  zusammen.  Die  oben 
zitierte  Stelle  lautet  vollständig:  ,,Da  der  Mensch  doch  einmal 
die  Sehnsucht  nicht  loswerden  soll,  so  ist  es  heilsam,  wenn  sie 
sich  nach  einem  bestimmten  Objekt  hin  richtet."  Damit  meint 
er  nicht  etwa,  daß  sie  nur  auf  ein  Erreichbares  gehen  solle.  Er 
weiß  vielmehr  sehr  wohl,  daß  ihr  Wesen  als  Sehnsucht  damit 
negiert  würde,  daß  sie  dann  einfach  ein  Stück  willensmäßig-teleo-|^ 
gischer  Vernünftigkeit  wäre.  So  heißt  es  in  einem  Entwurf  zu 
Dichtung  und  Wahrheit:  ,, Niemand,  wenn  er  auch  noch  so  viel  be- 
sitzt, kann  ohne  Sehnsucht  bestehen ;  die  wahre  Sehnsucht  aber  muß 
gegen  ein  Unerreichbares  gerichtet  sein,  die  meinige  war  es  gegen 
die  bildende  Kunst."  Also  nicht  das  rationalistische  Beschränken 
der  Sehnsucht,  die  gerade,  weil  er  sie  als  eine  typisch-formale 
Funktion  der  Seele  entdeckt  hat,  jede  mögliche  materiale  Be- 
friedigung überleben  muß,  empfiehlt  er,  sondern  nur  ihre  je- 
weilige Anknüpfung  an  ein  ,, bestimmtes  Objekt".  Sein  großes 
Lebensmotiv:  keine  seelische  Energie  rein,  gleichsam  leer- 
gehend, in  sich  schwingen  zu  lassen,  sondern  für  eine  jede  An- 
knüpfung, Gegenbild  und  Halt  in  der  objektiven  Welt  zu  suchen, 
dieses  Motiv,  auf  dem  das  ganze  Gleichgewicht,  das  ganze  har- 
monische und  fruchtbare  Verhältnis  seiner  Subjektivität  zum 
Dasein  überhaupt  beruhte,  ist  auch  hier  entscheidend  geworden. 
Selbst  wo  ein  Affekt,  wie  die  Sehnsucht,  aus  dem  Innersten  des 
Subjekts  selbst  hervorbricht  und  als  elementare  Funktion  seines 
Lebens  in  ihm  beharrt,  würde  er  dies  Subjekt  selbst  zerstören, 
wenn  ihm  nicht  aus  dem  objektiven  Dasein  ein  Ziel  —  obgleich 


Wesen  der  Romantik  185 

ein  nie  erreichbares  —  käme.  „Falsche  sinnliche  Tendenzen", 
sagt  er  deshalb  höchst  bezeichnend,  ,,sind  eine  Art  realer  Sehn- 
sucht, immer  noch  vorteilhafter  als  die  falsche  Tendenz,  die 
sich  als  ideelle  Sehnsucht  ausdrückt."  Die  reale  Sehnsucht, 
obgleich  auch  sie  die  Welt  nicht  stillen  kann,  verbindet  uns  den- 
noch irgendwie  der  Welt;  die  ideelle  reißt  uns  von  der  Welt  los, 
weil  sie  eine  bloß  subjektive  Zuständlichkeit  bleibt  und  gerade 
dies  natürlich  als  ein  Streben  ins  Absolute,  gleichsam  mit  Über- 
springung der  als  objektiv  gegebenen  Welt,  empfindet  und  darstellt. 
Hier  liegt  vielleicht  der  tiefste  Grund  für  Goethes  Abneigung 
gegen  die  Romantik.  Es  ist  jetzt  vielfach  an  der  Tagesordnung, 
sein  Verhältnis  zu  dieser  als  ein  möglichst  positives  darzustellen, 
ihn  von  der  Romantik  entscheidende  Einflüsse  erhalten  zu 
lassen.  Die  Dokumente  scheinen  mir  diese  Tendenz  keineswegs 
zu  rechtfertigen.  Was  er  von  der  Romantik  empfing,  war  mit 
dieser  nur  akzidentell  verbunden,  der  spezifische  Lebensakzent, 
mit  dem  sie  die  Geschichte  des  Geistes  bereicherte,  mußte  ihm 
durchaus  eine  ,, falsche  Tendenz"  sein.  Ich  drücke  den  Punkt, 
an  den  mir  dieser  Akzent  sich  anzusetzen  scheint,  zunächst 
ganz  allgemein  und  scheinbar  wenig  besagend  aus:  die  Romantik 
will  das  Leben  und  seine  Gesamtheit,  ja  die  erlebte  Welt  über- 
haupt, auf  die  Seele  stellen;  sie  ist  die  Lyrisierung  des  Kantischen 
Idealismus  und  damit  freilich  die  Umkehrung  seiner  Tendenz. 
Die  romantische  Seele  will  in  alle  individuellen  Mannigfaltig- 
keiten der  Dinge  gleichsam  hineinkriechen  und  raubt  damit  dem 
Wirklichen  sein  Eigenrecht;  so  wird  es  einerseits  zu  ihrem  bloßen 
Mittel  —  was  sich  in  ihrer  starken  Gerichtetheit  auf  Genuß  aus- 
spricht — ,  andrerseits  zu  ihrem  bloßen  Gegensatz  —  was  das 
Wesen  ihrer  spezifischen  ,, Ironie"  ausmacht.  Gerade  aber  die 
Stärke,  mit  der  hier  die  Seele  in  sich  selbst  schwingt,  führt  ihre 
Bewegung  aus  sich  selbst  heraus  und  zwar,  ohne  weiteres  be- 
greiflich, nicht  zu  dem  oder  jenem  Einzelnen  als  etwas  Defini- 
tivem, sondern  zu  dem  Unendlichen  oder  Absoluten.  Daß  die 
Seele  selbst  ein  Unendliches  ist  —  weil  sie  das  Apriori  alles  End- 
lichen ist  —  drückt  sich  darin  aus,  daß  sie  an  dem  Unendlichen, 
mag  sie  es  religiös  oder  anders  fassen,  ihren  einzigen  wirklichen 


186  Das  Unendliche  und  die  Form 

Gegenpart  empfindet.  Zu  diesem  Unendlichen  nun  sucht  sie  ein 
unmittelbares  Verhältnis  und  dies  scheint  mir  der  eigentliche 
Kernpunkt  ihres  Lebensgefühles  zu  sein,  der  zwei  Folgen  aus 
sich  entläßt,  beide  gleichmäßig  den  Goetheschen  Wertbetonungen 
entgegengesetzt.  Es  geht  daraus  einerseits  eine  ganz  tiefe,  innere 
Formlosigkeit  hervor.  Alle  Form  ist  Grenze  und  damit  Endlich- 
keit, sie  steht  zwischen  dem  an  sich  formlosen  Subjekt  und  dem 
ebenso  formlosen  Unendlichen,  und  darum  ist  sie,  wo  sie  voll- 
kommen ist:  in  der  großen  Kunst,  in  dem  zur  Wahrheit  geworde- 
nen Denken,  in  dem  sittlich  gestalteten  Handeln  —  der  eigent- 
liche Vermittler  zwischen  dem  Subjekt  und  dem  Absoluten. 
Goethe  war  durch  das  Leben  belehrt  worden  —  oder  glaubte 
mindestens  seit  dem  Einfluß  der  Klassik  und  der  Wissenschaft 
belehrt  zu  sein  — ,  daß  das  unmittelbare  Verhältnis  jener  beiden 
ein  täuschendes  Ideal  ist,  daß  Wissen  und  Wirken,  die  in  dem 
Endlich-Geformten  leben,  zwischen  beide  treten  muß.  Die  roman- 
tische Seele  aber  mochte  äußerlich  noch  so  sehr  an  vollendeten 
Formen  hängen,  die  souveräne  Subjektivität,  aus  der  heraus  sie 
lebte,  konnte  ein  letztes,  innerlichstes  Verhältnis  überhaupt 
nur  zum  Unendlichen  haben  und  mußte  deshalb  die  Zwischen- 
instanz der  begrenzten,  d.  h.  geformten  Einzelheiten,  den 
Respekt  vor  ihnen  und  die  Arbeit  an  ihnen,  überspringen.  Sie 
siedelte  sich  gerade  an  den  Punkten  diesseits  und  jenseits  des 
Gebietes  an,  in  dem  Goethe  schließlich  den  entscheidenden  Wert- 
sinn seiner  Existenz  gefunden  hatte. 

Dazu  kommt  ein  zweites,  für  uns  jetzt  wichtigeres.  Jenevermitt- 
limgslose  Beziehung  zum  Unendlichen  oder  Absoluten  bedeutet  für 
die  Romantik  nicht,  wie  in  der  religiösen  Mystik,  einen  gewonnenen 
Besitz,  ein  unterschiedsloses  Verschmelzen  jener  mit  diesem,  son- 
dern bleibt  in  dem  Stadium  der  Sehnsucht  gleichsam  stecken; 
und  zwar  nicht  einfach  deshalb,  weil  jenes  Ziel  überhaupt  nur  in 
Annäherungen  erreichbar  wäre,  sondern  weil  dieses  Stadium  als 
etwas  Definitives,  so  paradox  es  klingt:  als  etwas  Befriedigendes, 
als  der  natürliche  Dauerzustand  der  romantischen  Seele  emp- 
funden wird.  ,, Sehnsucht"  erscheint  mir  als  der  spezifische 
Affekt  der  Romantik  —  und  zwar,  wegen  der  bezeichneten  Rieh- 


Überwindung  der  Sehnsucht  187 

tung  ihrer,  die  „ideelle  Sehnsucht";  wo  die  Seele  nur  in  sich  selbst 
kreist,  und  dennoch  ein  Unendliches  außer  sich  weiß,  das  sie 
erfassen  möchte,  da  ist  Sehnsucht  der  unvermeidliche  und  zentrale 
Ausdruck  ihrer  Gesamtlage.  Am  reinsten  und  unüberbietbarsten 
vielleicht  verrät  Robert  Schumann,  der  letzte  große  Romantiker, 
es  im  Stil  seiner  Musik,  daß  für  die  romantische  Seele  Sehnsucht 
der  Affekt  schlechthin  ist.  Solche  gleichsam  unsubstanziierte 
Sehnsucht  eben  war  es,  die  Goethe  in  langer  Arbeit  überwunden 
hatte;  sie  gerade  ist  es,  in  der  die  Seele  hängen  bleibt,  wenn  ihr 
nicht  Wissen  und  Wirken  die  Brücken  zum  Unendlichen  schlagen. 
Gewiß  kannte  Goethe  die  Sehnsucht,  wie  wohl  wenige  Menschen 
sie  kennen  —  er  wäre  vor  Italien  beinahe  daran  zugrunde  ge- 
gangen. Aber  hier  rettete  ihn  nun  gerade  Italien  —  das  nachher 
nur  in  sentimentalen  Mißverständnissen  ein  Nährboden  roman- 
tischer Gefühle  werden  konnte.  Scheinbar  hat  Italien  genug 
Elemente  für  die  Romantik:  die  efeuumwachsenen  Burg- 
ruinen, die  Villen  in  dunkeln  Zypressenhainen,  die  Trümmer 
vergangener  Herrlichkeiten.  Goethe  aber  hat  richtig  verstanden, 
daß  in  alledem  nichts  Romantisches  liegt,  weil  es  auf  diesem 
Boden  keine  Sehnsucht  ausatmet,  sondern,  wie  es  nun  ein- 
mal ist,  Wirklichkeit,  Form,  Gegenwart  ist,  die  sich  nicht  erst 
nach  der  Idee  oder  nach  sonst  irgendetwas  ,, sehnt".  Das  Innerste 
von  Goethes  Leben  ist  offenbar  zum  großen  Teil  eine  Überwindung 
der  Sehnsucht,  eine  an  Italien  angeknüpfte  Selbstrettung  aus 
ihr,  eine  Formung  auch  dieses  gefährlichen  Lebenselementes, 
das  uns  mit  Formlosigkeit  und  sterilem  Hinstarren  auf  ein 
problematisches  Absolutes  bedroht:  jene  ,, bestimmten  Objekte", 
auf  die  er  die  Sehnsucht  gerichtet  haben  wollte,  erlösten  ihn  aus 
solcher  Problematik,  ordneten  auch  diesen  Affekt  dem  auf 
Handeln  und  Erkennen  zugehenden  Entwicklungsgesetz  seines 
Lebens  unter  —  ohne  daß  doch  die  in  ihm  gelegene  Kraft  paraly- 
siert und  verloren  wurde.  Damit  wird  die  Sehnsucht  zu  gleicher 
Zeit  überwunden  und  fruchtbar  gemacht  —  und  darum  war 
ihm  die  Romantik  so  zuwider,  die  in  der  Sehnsucht  wohnen  blieb 
und  eben  darum  nichts  Rechtes  aus  ihr  zu  machen  wußte.  Die 
Seele  darf  eben  nicht  bloß  in  sich  kreisen;  dies  v/eist  sie  —  und 


188  Die  Sehnsucht  und  die  Lebensharmonie 

hier  sind  wir  an  einem  tiefen  und  dunkeln,  von  Goethe  selbst 
nur  von  fern  angedeuteten  Zusammenhang  —  unmittelbar  dem 
formlosen  Absoluten  zu,  in  das  sich  die  Sehnsucht  verlieren,  aus 
dem  sie  aber  nichts  zurückgewinnen  kann,  eine  Situation,  in 
der  sich  schließlich  nur  noch  der  Katholizismus  den  Romantikern 
bot,  an  dem  sie  sich  halten  konnten,  weil  er  in  einzigartiger  Weise 
das  unmittelbare  und  das  vermittelte  Verhältnis  zum  Unend- 
lichen vereinte.  Goethe  wußte  ja,  daß  ,, niemand  ohne  Sehnsucht 
bestehen  kann";  aber  sie  ist  jenen  Naturkräften  zu  vergleichen, 
die  der  Mensch  nicht  unmittelbar,  sondern  nur  in  Umsetzungen 
in  den  Bau  seiner  Werte  einfügen  kann.  Darum  faßt  er  kurz  vor 
seinem  Tode  noch  einmal,  zwar  nicht  mit  ausdrücklicher  Be- 
ziehung auf  die  Romantik,  aber  im  Hinblick  auf  die  von  ihr 
erzogene,  kümmerliche  und  deprimierte  Jugend,  sein  Ver- 
werfungsurteil dahin  zusammen:  von  dieser  Jugend  werde 
,,die  Sehnsucht  durchaus  als  das  letzte  aller  Dinge  gepriesen". 
Das  ist  das  Entscheidende.  Die  Sehnsucht  darf  nicht  ,,das  Letzte" 
sein,  d.  h.  die  Seele  darf  nicht  nur  so  in  sich  schwingen,  daß  sie 
nur  noch  jenes  unmittelbare  Verhältnis  zum  Absoluten  kennt. 
Weil  sie  dem  Dasein  als  ganzem,  zugehört,  muß  sie,  erkennend 
und  handelnd,  zu  diesem  ein  Verhältnis  gewinnen,  und  es  ist  das 
letzte  Geheimnis  ihres  Lebens,  daß  sie  nur  in  solcher  begrenzen- 
den, formenden  ,, Bestimmtheit"  auf  dem  wahren  Wege  sowohl 
zu  sich  selbst  wie  zu  dem  Unendlichen  ist.  Hier  liegt  eine  der 
letzten,  von  Goethe  gelebten  Lösungen  des  Lebensproblems:  es 
gilt,  die  Sehnsucht  als  bloße,  mit  dem  Leben  gegebene,  aber  in 
sich  noch  leere  Kraft  zu  überwinden,  indem  man  sie  ,, bestimmt", 
und  indem  dies  vielleicht  die  tiefste  Selbstüberwindung  seines 
Lebens  war,  zeigte  sie  zugleich  dessen  vorbildliche  Harmonie; 
denn  indem  diese  Selbstüberwindung  sich  vermittels  der  Arbeit 
an  der  Welt  der  Dinge  und  Formen,  der  Gedanken  und  Leistungen 
vollzog,  fand  seine  Seele  gerade  dadurch  immer  zu  sich  selbst 
I  zurück. 

Goethes  Leben  war  im  höchsten,  man  möchte  sagen,  im  meta- 
physischen Sinne:  Gegenwart.  Wie  er  im  Hier  lebte,  in  dem 
allein  der  Mensch  ,,sich  umsehen"  solle,  so  im  Jetzt;  das  Hier 


Erinnerung  1 89 

und  das  Jetzt  sind  sein  Fruchtboden.  Und  an  welchem  andern 
als  dem  Punkte  der  Gegenwart  sollte  ein  Mensch  wohnen,  der 
so  rastlose  Entwicklung  war,  daß  er,  auf  einen  Widerspruch 
gegen  früher  Gesagtes  aufmerksam  gemacht,  erwiderte,  er  sei 
nicht  achtzig  Jahre  alt  geworden,  um  jeden  Tag  dasselbe  zu 
sagen,  wie  am  vorhergehenden!  —  Hatte  nun  sein  Über- 
windungsverhältnis zur  Zukunft  die  Sehnsucht  zum  seelischen 
Gegenstand,  so  das  zur  Vergangenheit  die  Erinnerung.  Es  ist 
zwar  die  allgemeine  Meinung,  daß  Goethe  ein  großer  Vergesser 
war:  mit  dem  Vergangenen  abgefunden,  ruhig  alle  Schwierig- 
keiten abstreifend,  zu  denen  die  Konsequenzen  unsrer  Taten 
werden,  alles  Nachrückwärtssehen,  Nachrückwärtsempfinden 
vermeidend,  sobald  es  den  Blick  und  Schritt  nach  vorwärts 
hemmen  wollte.  Daß  man  ihn  so  von  dem  frei  glaubt,  was  man 
gern  die  überflüssigen  Schmerzen  nennt  —  weil  sie  freilich  für 
die  Lebenszwecke  der  meisten  Menschen  nicht  notwendig  sind,  — 
das  ist  wohl  das  wesentliche  Ingrediens  der  Bewunderung  einer- 
seits, der  moralischen  Reserve  andrerseits,  denen  die  ,, Lebens- 
kunst" Goethes  begegnet.  Dennoch  glaube  ich,  daß  man  damit 
in  Goethe  eine  Oberflächlichkeit  hineingedeutet  hat,  die  vielmehr 
auf  der  Seite  dieser  Deutung  zu  suchen  ist;  daß  ganz  umgekehrt 
Goethe  so  tief  und  schwer  an  Vergangenheiten  gelitten,  die  Folgen 
seines  Tuns  so  bannend  und  lastend  empfunden  hat,  wie  es  wenigen 
auferlegt  ist.  Durch  seine  Gedankenwelt  geht  dauernd  das  Motiv 
von  den  Geistern,  die  man  nicht  los  wird,  wenn  man  sie  einmal 
gerufen  hat;  von  dem  Zweiten,  bei  dem  wir  Knechte  sind,  wenn 
uns  auch  das  Erste  freigestanden  hat;  von  den  Dämonen,  die 
man  ,, schwerlich  los  wird":  ,,das  geistig  strenge  Band  ist  nicht 
zu  trennen".  ,, Es  ist  entsetzlich,"  schreibt  er  aus  Rom,  ,, was  mich 
oft  Erinnerungen  zerreißen",  und  über  vierzig  Jahre  später:  ,,Was 
einem  angehört,  wird  man  nicht  los,  und  wenn  man  es  wegwürfe." 
Und  an  einer  Stelle  in  den  ,, Maskenzügen"  spricht  er  von  Geistern: 
,, —  wenn  man  sie  nicht  stracks  vertreibt,         " 

Sie  ziehen  fort,  ein  und  der  andre  bleibt 

In  irgendeinem  Winkel  hängen, 

Und  hat  er  noch  so  still  getan, 

Er  kommt  hervor  in  wunderlichen  Fällen." 


190  Leiden  an  der  Vergangenheit 

Das  preist  er  ja  —  diese  Stimmung  ins  Überindividuell-Historische 
streckend  —  vor  allem  an  den  Vereinigten  Staaten,  daß  ihnen 
das  „unnütze  Erinnern"  erspart  bliebe  und  ihren  künftigen 
Dichtern  wünscht  er,  vor  „Gespenstergeschichten"  bewahrt  zu 
sein.  Und  derselbe  Ton  klingt,  wenn  er  einmal  ganz  aphoristisch, 
ohne  jede  Begründung  oder  Folgerung  schreibt:  ,,Wir  leben 
alle  vom  Vergangenen  und  gehen  am  Vergangenen  zugrunde"; 
so  daß  die  ,, Lebensregel":  ,, Willst  du  dir  ein  hübsch  Leben 
zimmern,  mußt  dich  um's  Vergangene  nicht  bekümmern"  — 
wie  die  meisten  Lebensregeln  aus  der  bitteren  Erfahrung  des 
Gegenteils  gequollen  sind.  Oder  glaubt  man  im  Ernst,  daß  Goethe 
seine  eigene  Existenz  so  ohne  weiteres  als  ,,ein  hübsch  Leben"  be- 
zeichnen wollte?  Die  Zahl  solcher  Äußerungen  kann  nicht 
Zufall  sein.  Auch  wo  sie  in  Dichtwerken  enthalten  sind,  haben 
sie  vielmehr  alle  innerhalb  ihrer  Umgebungen  den  eigentüm- 
lichen Charakter,  den  man  an  manchen  Harmonien  oder  Takten 
bei  Beethoven  findet:  jeder  gehört  völlig  in  den  sozusagen  ob- 
jektiven Zusammenhang  des  Stückes  hinein,  ist  durch  dessen  rein 
musikalische  Logik  völlig  begreiflich  und  notwendig  —  zugleich 
aber  weist  er  noch  in  eine  ganz  andere  Dimension,  in  die  des 
Subjekts;  während  er  nur  um  seines  Vorher  und  seines  Nachher 
willen  dazustehen  scheint,  schreit  doch  wie  von  unten  und  von 
innen  her  gerade  in  ihm  die  See!e  auf,  in  die  rein  künstlerisch- 
musikalische Kontinuität,  die  sich  auch  durch  ihn  hindurch 
knüpft,  reißt  er  zugleich  ein  Loch,  durch  das  man  unmittelbar 
in  die  Qual  der  darunter  lebenden  Seele  hinabblickt.  So  wirken 
bei  Goethe  diese  Stellen,  deren  jede  freilich  ihre  notwendige  Rolle 
in  dem  ganzen  Kunstwerk  spielt,  in  denen  aber  zugleich  ein  Er- 
leben jenseits  der  Kunst  hervorbricht.  Und  wie  er  nun  fort- 
während gegen  die  Schlingen  und  Fußangeln  anrang,  mit  denen 
ihn  die  Zukunft  in  der  Form  der  Sehnsucht  fangen  wollte,  so 
gegen  die  entsprechenden  Gefahren,  die  von  der  Vergangenheit 
her  drohten.  Hier  scheint  nun  sein  glücklicher  Instinkt  die  Ver- 
gangenheit vor  allem  durch  Vergegenwärtigung  zu  übervv'inden.  Er 
hatte  den  eigentümlichen  Trieb,  lange  nach  dem  Bruch  mit  ge- 
liebten  Frauen   sie   wiedersehen   zu   wollen:     so   Friederike,   so 


Befreiung  191 

Lili;  und  genau  entspricht  dem  die  Äußerung:  ,,Wie  sehr  die 
Gegenwart  eines  geliebten  Gegenstandes  der  Einbildungskraft 
ihre  zerstörende  Gewalt  nimmt  und  die  Sehnsucht  in  ein  ruhiges 
Schauen  verwandelt,  davon  habe  ich  die  wichtigsten  Beispiele." 
Für  diesen  Menschen  einer  unvergleichlich  anschaulichen  Phan- 
tasie, deren  Grenze  gegen  die  Halluzination  manchmal  zu  ver- 
schwimmen scheint,  lebte  das  Gewesene  in  der  Form  der  ,, Dä- 
monen", der  ,, Geister",  deren  quälende  Gegenwart  man  nicht 
los  wird.  Gegen  Geister  aber  gibt  es  kein  Mittel  als  V/irklichkeit. 
Von  dem,  was  uns  in  der  Form  des  Gespenstes  ängstet,  erlöst 
uns  oft  eben  dasselbe,  sobald  wir  ihm  in  der  Form  der  Wirklich- 
keit begegnen.  ,,Das  Wirkliche",  schreibt  er  schon  als  Siebenund- 
zwanzig jähriger,  ,,kann  ich  so  ziemlich  meist  tragen;  Träume 
können  mich  weich  machen,  wenn's  ihnen  beliebt."  Das  fort- 
währende Drängen  auf  Anschauung,  das  Goethes  seelisches 
Leben  durchzieht,  ist  nicht  nur  der  Ausdruck  seines  Künstler- 
tums,  das  im  Anschauen  der  Welt  noch  einmal  die  Einheit  mit 
ihr  sozusagen  physisch  vollzieht,  die  das  metaphysische  Wesen 
des  Genies  ausmacht;  sondern  es  war  zugleich  das  Gegengewicht 
gegen  die  dunkeln  Mächte  des  Innern,  das  Gegenwartslicht,  das 
die  Schatten  der  Vergangenheit  auflöste.  Abgesehen  von  dieser 
besonderen  Art,  Erinnerung  durch  Gegenwart  zu  heilen,  hat 
er  freilich  in  manchen,  vielleicht  in  vielen  Fällen,  einfach  von 
der  Vergangenheit  gewaltsam  weggesehen,  sich  rücksichtslos 
und  scheinbar  gefühllos  von  ihr  befreit:  er  hatte  es  nötig. 
Mit  steigenden  Jahren  wurde  ihm  dies  sozusagen  zu  einer  or- 
ganischen Funktion,  und  so  kann  er  im  hohen  Alter  in  scheinbar 
leichtem  Ton  davon  sprechen:  ,,Man  bedenke,  daß  mit  jedem 
Atemzug  ein  ätherischer  Lethestrom  unser  ganzes  Wesen  durch- 
dringt, so  daß  v/ir  uns  der  Freuden  nur  mäßig,  der  Leiden  kaum 
erinnern.  Diese  hohe  Gottesgabe  habe  ich  von 
jeher  zu  schätzen,  zu  nützen  und  zu  stei- 
gern gewußt.  Wenn  also  von  Schlägen  und  Püffen  die 
Rede  ist,  womit  uns  das  Schicksal,  womit  uns  Liebchen,  Freunde, 
Gegner  geprüft  haben,  so  ist  das  Andenken  derselben,  beim  reso- 
luten, guten  Menschen,  längst  hinweggehaucht."    Dies  für  eine 


192  Rechenschaft  und  Lebensgestaltung 

kalte,  eudämonistische  Selbstsucht  zu  erklären,  ist  die  größte 
Oberflächlichkeit;  den  Druck,  unter  den  die  Erschütterungen 
seines  Erlebens  auch  noch  dessen  Erinnerungen  und  Weiter- 
wirksamkeiten  stellten,  hat  man  übersehen,  weil  man  nur  die 
ungeheuere  Gegenkraft  bemerkte,  die  freilich  in  seinem  Schaffen, 
in  dem  sichtbaren  Ausgang  des  Kampfes,  den  Sieg  behielt. 
Dieses  Leben,  stillstandslos  zu  neuem  objektivem  Wirken, 
neuer  subjektiver  Selbstgestaltung  fortschreitend,  mußte  in 
jedem  Augenblick  ganz  es  selbst,  ganz  seine  Gegenwart  sein. 
Daß  er  Sehnsucht  und  Erinnerung  —  in  ihm  bewegender  und  ver- 
lockender, als  wohl  in  den  meisten  von  uns,  —  abtat,  war  die 
großartigste  Selbstüberwindung,  der  Triumph  über  das  eigene 
Selbst  in  der  Form  der  Zukunft  und  der  Vergangenheit  zugunsten 
dieses  Selbst  in  der  Form  seines  eigentlichen,  höchsten  und 
schöpferischen  Lebens. 

Die  Selbstbegrenzung,  Selbstüberwindung  seiner  Existenz,  die 
an  der  Erinnerung  und  der  Sehnsucht  nur  ihre  kontinuierlichsten 
Aufgaben  fand,  ist  —  es  bedarf  darüber  nur  eines  andeutenden 
Wortes  —  seiner  dauernden  Rechenschaft  über  sich  selbst  un- 
trennbar verwachsen.  Kein  anderer  Begriff  verknüpft  so  unmittel- 
bar wie  dieser  das  theoretisch-objektive  Bild  mit  der  sittlichen 
Wertung;  Sichrechenschaftgeben  heißt:  die  Einheit  von  Sich- 
wissen und  Sichbeurteilen  verwirklichen,  und  heißt,  sich  von  der 
Grenze  aus  sehen  diesseits  derer  wir  uns  zu  bescheiden  haben 
und  jenseits  derer  der  Verzicht  liegt.  Der  metaphysische  Grund- 
wille, sein  Subjekt  als  ein  objektives  anzuschauen  und  zu  er- 
leben, konnte  seine  ethische  Spannung  nicht  tiefer  und  voll- 
kommener spiegeln,  als  in  der  Rechenschaft  über  sich  selbst, 
in  der  sein  Bewußtsein  der  eigenen  Wirklichkeit  und  das  der 
Grenze,  deren  strenge  Bescheidung  dem  Leben  Wert  und  Form 
bestimmte,  sich  in  einem  lebenslangen  Akte  vollzog. 


Siebentes  Kapitel. 

Liebe. 

Goethe  gehört  zu  dem  Typus  von  Männern,  die  aus  dem  Grunde 
ihrer  Natur  heraus  ein  Verhältnis  zu  den  Frauen  haben. 
Keineswegs  besagt  das  von  sich  aus  schon  eine  besondere  Aus- 
dehnung erotischer  Leidenschaften  und  Erfahrungen.  Gerade  den 
beiden  Typen,  für  die  die  realen  Verhältnisse  zu  Frauen  im  Vorder- 
grund des  Erlebens  stehen:  dem  Frauenknecht  und  dem  Don  Juan 
—  stand  Goethe  fern.  Es  war  immer  nur  ein  Faden,  den  die  Frau 
in  das  Gewebe  seiner  Existenz  knüpfte,  wenn  dieser  Faden  auch 
kaum  je  ganz  abriß.  Aber  mit  der  stärksten  Betonung  verwirft 
er  es,  daß  ein  Leben  sich  ganz  mit  den  Beziehungen  zu  Frauen 
erfülle:  dies  führe  ,,zu  gar  zu  viel  Verwicklungen  und  Qualen, 
die  uns  aufreiben,  oder  zu  vollkommener  Leere".  Von  diesen 
Wirklichkeitsbeziehungen  also  unabhängig  besteht  bei  gewissen 
Männern  ein  eigentümliches  Wissen  um  die  Frauen,  ein  Bild 
und  eine  Bedeutsamkeit  des  weiblichen  Wesens  für  sie  ist  ge- 
wissermaßen ein  Element  ihrer  eigenen  Natur.  Nietzsche,  der, 
soviel  man  weiß,  nie  ein  erotisches  Verhältnis  hatte,  der  nach 
seinem  eigenen  Geständnis  ,,sich  nie  um  Weiber  bemüht  hat", 
sagt  doch  an  derselben  Stelle:  ,,Darf  ich  die  Vermutung  wagen, 
daß  ich  die  Weiblein  kenne?  Das  gehört  zu  meiner  dionysischen 
Mitgift"!  Und  wohl  von  der  gleichen  Grundlage  her  hat  Raffael 
auf  die  Frage,  wo  er  denn  die  Modelle  zu  all  seinen  schönen 
Frauengestalten  hernähme,  geantwortet:  er  nähme  sie  gar  nicht 
von  Modellen,  sondern  bediene  sich  ,, einer  gewissen  Idee,  die  in 
seinem  Geiste  entsteht".  Und  so  gesteht  Goethe  im  höchsten 
Alter:  ,, Meine  Idee  von  den  Frauen  ist  nicht  von  den  Erschei- 
nungen der  Wirklichkeit  abstrahiert,  sondern  sie  ist  mir  ange- 
boren oder  in  mir  entstanden,  Gott  weiß  wie."    Daß  Goethe  den 

Simmel,  Goethe.  '3 


194  Ideelles  Wissen  um  die  Frau 

Frauen  gegenüber,  die  er  in  der  Wirklichkeit  vor  sich  hatte, 
ein  Kenner  im  Sinne  praktischer  Psychologie  war,  scheint  mir 
keineswegs  sicher.  Auf  Lotte  Buff,  deren  künstlerisches 
Bild  er  mit  aller  Tiefe  und  erschütternden  Wahrheit  gezeichnet 
hat,  gesteht  er,  niemals  ,,acht  gehabt  zu  haben"  —  dazu  habe  er 
sie  zu  sehr  geliebt.  Und  daß  er,  mehr  als  vierzig  Jahre  später, 
sich  Ottilie  von  Pogwisch  zur  Schwiegertochter  wählte,  scheint 
einen  merkwürdigen  Mangel  an  psychologischem  Blick  zu  ver- 
raten. Wenn  dieser  begnadetste  und  fast  dauernd  erotisch  be- 
wegte Mensch  dennoch  so  wenig  eigentliches  Glück  in  der  Liebe 
genossen  hat  —  in  jenem  Rückblick  auf  achtzigjähriges  Leben 
spricht  er  von  ,, Schlägen  und  Püffen",  mit  denen  Schicksal  und 
,, Liebchen  uns  geprüft  haben"  —  so  mag  dies,  außer  in  anderen 
Tiefen  seines  Wesens,  in  die  wir  nachher  zu  blicken  versuchen,  sich 
auch  in  dieser  praktischen  Täuschbarkeit  seiner  Frauenkenntnis 
gründen.  Männer  dieser  Art  pflegen  in  der  Tat  kein  erhebliches 
Beobachtungswissen  um  die  Frauen  zu  haben;  vielmehr  die 
,,I  d  e  e"  der  Frau  ist  ihnen  irgendwie  ,, angeboren",  die  Kenntnis 
des  ,, Urbildes",  das  Goethe  in  jedem  organischen  Wesen  erblickt 
und  beschreibt  als  ,,das  Gesetz,  von  dem  in  der  Erscheinung  nur 
Ausnahmen  aufzuweisen  sind". 

Darum  ist  für  die  dichterische,  die  einzelne  Erscheinung  über- 
fliegende Darstellung  gerade  dieses  Wissen  um  die  Frauen  ge- 
wissermaßen prädestiniert,  und  darum  konnte  gerade  mit  ihm 
Goethe  es  begründen,  daß  seine  Frauengestalten  ,,alle  besser 
wären,  als  sie  in  der  Wirklichkeit  anzutreffen  sind".  Es  ist  aller- 
dings in  vielen  Goetheschen  Frauen  eine  Art  von  Fertiggeworden- 
sein, die  sich  an  keiner  seiner  männlichen  Gestalten  findet,  eine 
seinshafte  Vollkommenheit  jenseits  singulärer  Äußerungen  und 
Eigenschaften.  An  all  diesen  Frauen,  an  Lotte  und  Klärchen,  an 
Iphigenie  und  der  Prinzessin,  an  Dorothea  und  Natalie  und 
manchen  anderen  noch  spüren  wir  diesen  unzerlegbaren  und  im 
einzelnen  gar  nicht  greifbaren  Zug  von  Vollkommenheit-in-sich, 
der  zugleich  eine  Beziehung  zum  Ewigen  bedeutet  und  der  in 
dem  Ewig-Weiblichen,  das  uns  hinanzieht,  sozusagen  begriff- 
lichen Ausdruck  gefunden  hat. 


Seelische  Einheit  195 

Es  ist  deshalb  gar  kein  Widerspruch,  wenn  er  immer  an  den 
Frauen  tadelt,  daß  sie  ,, keiner  Ideen  fähig"  wären  und  zugleich, 
daß  er  das  Ideelle  nur  in  weiblicher  Gestalt  darstellen  könne,  daß 
die  Frauen  ,,das  einzige  Gefäß"  wären,  in  das  er  seine  Idealität 
hineingießen  könne.  Daß  sie  keine  Ideen  ,, haben",  verhindert 
nicht,  daß  sie  ihm  Idee  ,,sind".  Offenbar  vermißt  er  den  Idealis- 
mus an  den  einzelnen  empirischen  Frauen;  aber  der  Typus  Frau, 
wie  er  in  ihm  lebt  und  freilich  den  letzten  Sinn  und  die  Norm 
auch  jener  wirklichen  und  unvollkommenen  ausmacht  —  kann 
durchaus,  wie  er  es  einmal  ausdrückt,  die  silberne  Schale  sein, 
in  die  wir  die  goldenen  Äpfel  legen.  Und  dies  Gleichnis  symboli- 
siert, was  der  Kern  seiner  Intuition  über  die  Frauen  zu  sein 
scheint:  daß  die  Frauen  etwas  Geschlosseneres,  in  sich  Einheit- 
licheres, sozusagen  Totaleres  sind,  als  die  um  Sonderinteressen 
zentrierenden  Männer,  deren  jeder  bestenfalls  in  sich  die  Viel- 
fältigkeit des  ganzen  Geschlechtes  wiederholt.  Darum  sind  sie 
zu  jener  ,, Vollkommenheit"  sozusagen  nach  ihrer  formalen 
Struktur  disponierter.  Darum  meint  er  die  Frauen  am  besten 
so  zu  loben:  ,,Eure  Neigungen  sind  immer  lebendig  und 
tätig  und  ihr  könnt  nicht  lieben  und  vernachlässigen."  Für 
alle  seine  Frauengestalten,  von  denen  des  Götz  über  Iphigenie 
und  Nata?i3  bis  zu  Makarie,  gilt  gleichsam  diese  Grundform, 
die  sie  mit  niannigf altigstem  Inhalt  füllen:  die  innere  Versöhnt- 
heit  und  Wesenseinheit  der  Elemente,  die  die  männliche  Art 
in  Besonderung  und  oft  im  Kampfe  zeigt.  Deshalb  bezeichnet 
Ottilie  ihre  Schuld,  die  sie  aus  dem  Leben  treibt,  nicht  mit  ihrem 
unmittelbaren  Inhalt,  sondern  nur:  ,,Ich  bin  aus  meiner  Bahn 
geschritten."  Und  im  weitesten  Abstand  des  Inhaltes  begründet 
eben  dies  seine  Erklärung  der  weiblichen  Eifersucht:  ,,Jede 
Frau  schließt  die  andere  aus,  ihrer  Natur  nach;  denn  von  jeder 
wird  alles  gefordert,  was  dem  ganzen  Geschlecht  zu  leisten  ob- 
liegt." 

Begreiflich  also  wechselt  seine  geistige  Attitüde  zu  den 
Frauen  nach  dem  Verhältnis,  das  seine  jeweilige  Entwicklungs- 
epoche gerade  zu  der  E  i  n  h  e  i  t  s  form  hat,  in  der  die  weibliche 
Existenz  sich  vollzieht.    Als  er  nach  Weimar  kam,  ein  Chaos 

13* 


196  Änderung  der  Beziehung  zum  weiblichen  Prinzip 

durcheinander-  und  auseinanderflutender  Strebungen  in  der 
Seele,  offenbar  leidenschaftlich  verlangend,  seine  Kraft  zu  organi- 
sieren und  in  e  i  n  e  Stromrichtung  zu  leiten  —  da  war,  was  die 
letzte  Tiefe  seiner  Beziehung  zu  Frau  v.  Stein  ihm  an  Glück  und 
Reichtum  bot,  doch  wohl  gerade  an  die  harmonische  Einheit 
dieser  Natur  gebunden,  an  die  ruhig  feste  Form,  in  die  diese 
Frau  alle  exzentrischen  und  dissonierenden  Lebenselemente 
versöhnt  hatte.  Dieses  Bild  geschlossener  Ganzheit,  das  sie  bot, 
?eigte  allem  Wilden  und  Divergierenden  seiner  Natur  den  Er- 
l^ungsweg.  Ausdrücklich  spricht  er  dies  aus:  er  brauche  sie, 
uj^cftin  selbständiges,  ein  ganzes  Wesen  zu  werden.  Sie  war  ihm 
^j§gSjgibol  der  Ganzheit  und  Einheit,  wie  Michelangelo  es  in 
^^^IS©  ßplonna  gefunden  hatte.  ,,Du  Einzige,"  schreibt  er 
9^z^o1{0i9M^  ich  nichts  zu  legen  brauche,  um  alles  in  ihr  zu 
ij^^nf;^j  E^um  preist  er  als  das  Glück,  das  sie  ihm  bot,  daß 
^ozöfiijirri^pljytg  offen  sein  könne,  während  bei  den  anderen 
5*feQSfiH^p  ii^^i  Milteltöne  fehlen,  die  bei  dir  alle  anschlagen". 
Mi^§9#rn9ls  iiüs-tfefste  Wesenheit  der  Frauen  empfand,  schien 
gfflS  hjiMi^j)ei|^f::yiDlißndung  jenseits  ihrer  sonstigen  fragmen- 
^jr^ch^n^e^äKiffeliehö^gien  entgegenzutreten,  und  in  einer  Epoche, 
«In^f  rr{^5in§fi&igea€  Eatwicklung  des  Haltes  und  Vorbildes  an 
^5etbrlieÖ^n^l9fijnrrbedurft?.  ::Sein  Alter  aber  verändert  dies 
i9BflefeiV^^bä|itm$  «Ji*  demi^übUcken  Prinzip.  In  seinen  höheren 
Jftfer^jlJiegfignenc.VielQdeiokafitischiabsprechende  Urteile  über  die 
FfÄMfftsim  elteöiSinejirjosieiliitT^caan  diese  genauer  an,  so  laufen 
9tffe-fflLp%iftilerlstii  ,d€fft5:Sog©rlafinteji)  -weibHGhen  Mangel  an  Objek- 
^yfi^if  ^yfi&ttg.  2iJlid  Jäie!ö:b,4i^gt-jrieHeichtjS0  zusammen:  Goethes 
JsgßO^grf-  äÄhsrtdim^bhlÄr^Ref^ltatie:  lies  letzten  Kapitels  vorweg 
•^si^.t  vQgif{§ijie^ilef.iJildöffln;ä?ßig3aji  Jdeatbeiierrscht,  es  scheint 
i}^9^iJn©inerng8ei;(rfjSÄmiumWe^äeri?yfG6lleridung  des  persönlichen 
Söin*i^0i4{Sß8ieilci6friwhÖti:isand|»ngÄh,  äderen  Bewußtsein  nicht 
ein  Wissen  oder  ein  Handeln,  sondern  ein  Gefühl  ist.  Diese 
fc^ben&len^öozitgfeht-s später,  ganz  eintsclii^en  nach  der  italie- 
n||?h^QSjrRfiiSfe,3;:;iläch:[  Z3Kei7  Seiteiriaüseiriahder  :  in  die  Hin- 
gfibtt6g»vatfei^tasönsicl;«rftlich«a  Erkenöen:  und:  die  Bewährung  in 
SsfeAtfeBi,4w>d^ü5riribcnis\©aitu4r«vaär  sein  Lfebenvom  Subjektiven 


Subjektivismus  197 

weg  ins  Objektive  gewandt.  Während  dies  aber  sonst  die  spezifisch 
männliche  Zerspaltung  mit  sich  bringt,  die  Lösung  des  einzelnen 
Interesses  und  Tuns  von  dem  Zentrum  und  der  Einheit  der 
inneren  Existenz  —  war  es  Goethe  beschieden,  daß  all  das  Objek- 
tive seines  Denkens  und  Tuns  ein  völlig  Persönliches  blieb,  Puls- 
schläge eines  einheitlich  innersten  Lebens.  Aus  dieser  in  ihrer 
Vollendetheit  einzigen  Daseinsform  heraus  zeigen  seine  späteren 
Jahre  jene  heftige  Abneigung  gegen  allen  bloßen  Subjektivismus, 
die  wir  so  oft  gegen  eigene  überwundene  Entwicklungsstadien 
richten.  Die  ursprüngliche  und  doch  erst  errungene  Einheit  seiner 
inneren  Existenz  hatte  sich  nun  mit  einem  Sachgehalt  von  Welt- 
wissen und  Weltwirken  erfüllt,  dem  gegenüber  ihm  alles  bloß 
subjektive,  in  sich  selbst  kreisende,  die  objektiven  Normen  ab- 
lehnende Dasein  gewissermaßen  als  das  böse  Prinzip  erschien. 
Der  Typus  Frau  hatte  ihm  geleistet,  was  er  ihm  leisten  konnte, 
vor  allem  seit  er  ihm  in  der  Gestalt  der  Frau  v.  Stein  in  an- 
schaulicher Reinheit  begegnet  war.  Nun  aber  war  ihm  die  sub- 
jektive Einheit  und  Ganzheit  der  selbstverständliche  Zustand, 
und  von  diesem  forderte  nun  die  große  Wendung  zum  Objekt, 
sich  mit  neuen  Inhalten,  neuen  Spannungen  zu  erfüllen.  Hier 
konnte  ihn  der  Typus  Frau  nicht  mehr  fördern,  ja,  er  mußte 
von  ihm,  als  dem  Symbol  einer  überschrittenen  Epoche,  ent- 
schieden abrücken,  und  darum  rügte  er  immer  wieder  an  den 
Frauen  den  Mangel  an  der  Objektivität,  die  ihm  die  neue  Epoche 
gewonnen  hatte;  so,  daß  es  ihnen  vollkommen  genüge,  wenn 
ihnen  etwas  ,, gefällt",  ohne  daß  sie  die  Motivierungen  des  Ge- 
fallens unterschieden  und  werteten;  daß  sie  verlangen,  in  be- 
sonderen Weisen  verstanden  zu  werden,  ohne  an  andere  das- 
selbe Verständnis  zu  wenden;  daß  sie  leicht  von  einem  Standpunkt 
auf  den  andern  zu  verlocken  sind  und,  wenn  sie  leiden,  eher  die 
Objekte  als  sich  selbst  darum  schelten  —  und  daß  sie  als  not- 
wendige Ergänzung  dieser  Subjektivitäten  dem  Dogmatiker  zum 
Opfer  fallen  und  sich  der  bloßen  Konvention  verschreiben. 

Daß  seine  geistige  Beziehung  und  Wertung  den  Frauen 
gegenüber  in  ihren  Wandlungen  so  der  großen  Linie  seiner  Ent- 
wicklung genau  folgt,  mag  ebenso  Wirkung  wie  Ursache  davon 


198  Scheinbare  Gefahren 

sein,  daß  ihm  das  Bild  der  Frau  kein  aus  empirischen  Zufällig- 
keiten abstrahiertes  war,  sondern  ein  überindividueiles ,  seinen 
letzten  Wesensgründen  verhaftetes.  Aber  da  dies  eben  den  Typus, 
die  Idee  Frau  angeht,  hängt  es  keineswegs  feststellbar  oder  durch- 
gehend mit  seinen  einzelnen,  realen  Erlebnissen  mit  Frauen  zu- 
sammen, die,  wie  ich  vermuten  möchte,  viel  weniger  von  jener 
geistig-apriorischen  Beziehung  zu  dem  weiblichen  Prinzip,  als 
rein  von  seinem  erotischen  Temperament  ausgingen.  Das  Maß 
freilich,  in  dem  sie  sich  aus  diesem  erhoben,  schien  so  manchem 
gerade  mit  der  Geistigkeit  seines  Lebens    kaum  vereinbar. 

Mehr  als  einmal  nämlich  habe  ich  von  geistig  durchgebildeten  und 
banaler  Prüderie  ganz  fernen  Persönlichkeiten  die  Rolle  bedauern 
hören,  die  das  erotische  Element  in  Goethes  Leben  gespielt  hätte. 
Nicht  eigentlich  in  dem  Sinn  einer  moralischen  Bedenklichkeit, 
sondern  nur  so,  als  wäre  damit  das  Gleichgewicht  dieses  Lebens, 
wie  seine  zentrale  Idee  es  bestimmen  müßte,  durch  ein  über- 
triebenes Maß  erotischen  Interessiertseins  und  Erlebens  gestört. 
Unleugbar  äußert  sich  darin  der  Instinkt  für  die  Gefahr,  die  jedem 
im  großen  Stile  einheitlichen  und  produktiven  Leben  von  den 
erotischen  Mächten  her  droht.  Denn  entweder  verweben  sich 
die  Sehnsüchte  und  Erfüllungen  dieses  Gebietes  in  den  innersten 
Verlauf  des  Lebens  —  dann  kommen  diesem  letzteren  fast  un- 
vermeidlich Störungen,  Ablenkungen,  Depressionen;  und  zwar 
vor  allem  durch  den  tiefen  inneren  Formgegensatz:  daß  die 
Liebe  ein  rastloser  Prozeß  ist,  eine  pulsierende  Dynamik  des 
Lebens,  ein  Hineingerissensein  in  die  kontinuierliche  Strömung 
der  Gattungserhaltung  —  während  das  geistige  Dasein  auf  dem 
in  irgendeinem  Sinne  Zeitlosen  steht,  auf  den  Inhalten  des 
Lebensprozesses,  nicht  auf  dem  Prozeß  selbst.  Oder  man  diffe- 
renziert von  den  übrigen  Lebensgebieten  das  erotische  als  eine 
besondere  Provinz,  in  die  sich  begebend  man  gewissermaßen 
,,ein  anderer  Mensch"  ist.  Damit  sind  zwar  jene  Hemmungen 
und  Alterationen  beseitigt,  aber  die  Lebenstotalität  ist  zu  einem 
harten  Dualismus  verurteilt,  der  Wechseltausch  aller  Kräfte, 
in  dem  ihre  Einheit  besteht,  ist  zerschnitten  und  wenigstens  zum 
Teil  sterilisiert. 


Bestimmung  aus  dem  eignen  Innern  199 

Dies  alles  aber  ist  ersichtlich  bei  Goethe  nicht  eingetroffen. 
Weder  der  Größe  seines  Werkes,  noch  der  Unvergleichlichkeit 
seines  Lebens  als  ganzen  gegenüber,  kann  die  Kritik  jener  Be- 
denklichen Fuß  fassen.  Das  Problem  für  den  Aufbau  des  Bildes 
von  Goethe  liegt  also  gerade  darin:  wie  kommt  es,  daß  an  ihm 
jene  Folgen  eben  nicht  aufgetreten  sind  ?  Und  die  Antwort  hier- 
auf allerdings  ist  nur  von  der  fundamentalen  Schicht  des  Goethe- 
schen  Lebens  überhaupt  her  zu  gewinnen. 

Die  Wesensformel,  die  an  Goethe  ihre  reinste  und  stärkste 
historische  Verwirklichung  findet,  war  doch  immer  diese:  daß  ein 
Leben,  ganz  dem  eigenen  Gesetz  gehorchend,  wie  in  einheitlich 
naturhaftem  Triebe  sich  entwickelnd,  eben  damit  dem  Gesetz 
der  Dinge  entspricht,  d.  h.  daß  seine  Erkenntnisse  und  Werke, 
reine  Ausdrücke  jener  innerlichen,  aus  sich  selbst  wachsenden 
Notwendigkeit,  doch  wie  von  den  Forderungen  des  Objekts 
und  denen  der  Idee  her  gebildet  sind.  Er  hat  jeden  eigengesetz- 
lichen Sachgehalt  durch  die  Tatsache,  daß  er  ihn  erlebte,  so  von 
innen  her  geformt,  als  wäre  er  aus  der  Einheit  dieses  Lebens 
selbst  geboren.  Gemäß  diesem  Gesamtsinn  seiner  Existenz  scheinen 
sich  auch  deren  erotische  Inhalte  zu  entwickeln.  Auch  diese  — 
wie  sie  sich  in  seinen  Briefen  und  vertrauten  Äußerungen,  in 
Dichtung  und  Wahrheit  und  seiner  Lyrik  darstellen  —  treten 
auf,  als  wären  sie  von  seinem  Innern  und  dessen  Entwicklungs- 
notwendigkeiten bestimmt,  wie  sich  eine  Blüte  an  den  Zweig 
ansetzt,  in  dem  Augenblick  und  in  der  Form,  wie  dessen  eigenste 
Triebkraft  es  erfordert  und  entwickelt.  Nirgends,  selbst  in  so 
extremen  Fällen,  wie  in  der  Leidenschaft  für  Lotte  und  für  Ulrike 
von  Levetzow,  spüren  wir  jenes  Preisgegebensein,  das  dem 
erotischen  Erlebnis  das  Symbol  des  Liebestranks  verschafft 
hat  und  oft  den  Gefühlston,  als  wäre  es  viel  eher  etwas, 
das  mit  uns  oder  an  uns  vorgeht,  als  eine  Äußerung  eines  sich 
selbst  gehörenden  Lebens.  Wir  hören,  daß  er  mit  all  seinen 
sinnlichen  Hingerissenheiten  doch  immer  Herr  seiner  selbst  ge- 
blieben ist.  Über  eine  schöne  Frau,  deren  Eindruck  ihm  sehr 
nahe  ging,  schreibt  er  an  Herder:  ,,Ich  möchte  mir  solch  ein  Bild 
nicht  durch  die  Gemeinschaft  einer  flüchtigen  Begierde  besudeln." 


200  Übergewicht  des  Ganzen  über  das  Einzelne 

Dazu,  außer  manchem  andern,  die  Äußerung  zu  Eckermann 
über  seine  Reserve  gegen  die  schönen  Schauspielerinnen,  die  ihn 
äußerst  anzogen  und  ,,ihm  auf  halbem  Wege  entgegen  kamen". 
Aber  diese  Bestimmtheit  und  Formung  des  erotischen  Erlebnisses 
durch  seinen  Willen  ist  doch  nur  das  äußere  und  nicht  einmal 
entscheidend  wichtige  Phänomen  der  tieferen  Tatsache,  daß  es 
durch  sein  Sein  bestimmt  war,  durch  die  Regel  und  den  Sinn 
einer  Entwicklung,  die  ausschließlich  der  Strömung  ihrer  eigensten 
Wurzelsäfte  folgte.  Und  darum  war,  wie  seine  lebenslang  ge- 
übte und  verkündete  ,, Entsagung"  überhaupt  nichts  weniger 
als  eine  Verarmung,  sondern  ein  durchaus  positives  Form- 
prinzip seines  Lebens  war,  auch  diese  Zurückhaltung  im  Ero- 
tischen kein  Subtrahendum,  sondern  die  seiner  Liebe  von  deren 
individueller  Lebensquelle  her  eingeborene  Gestaltung.  Es  war 
das  Glück  seiner  Natur,  daß  ihn,  im  Ganzen,  die  Dinge  der  Welt 
nicht  mehr  anreizten  als  sich  ihnen  hinzugeben  in  seinem  Willen 
und  seiner  Vernunft  —  im  höchsten  Sinne  des  Wortes  —  lag; 
das  macht  seine  Liebe  zu  all  diesen  Dingen  begreiflich:  er  brauchte 
sie  nicht  zu  fürchten.  Dies  ist  auch  so  aussprechbar.  So  viel 
Subjektives,  Momentanes,  Launisches  man  in  seinem  Leben,  ja 
in  seinem  Werk  finden  mag  —  man  hat  doch  immer  das  Gefühl, 
daß  das  ganze  Leben  nie  sein  Übergewicht  über  den  gerade  an 
der  Oberfläche  befindlichen  Teil  verloren  hat.  Daß  er  in  jedem 
Augenblick  als  Ganzer  in  seiner  Äußerung  lebt,  das  gibt  dieser 
die  wundervolle  Temperierung.  Was  man  als  seine  Kühle  ange- 
sehen hat,  ist  nichts  als  dieses  Aufwiegen  des  Einzelnen  durch 
die  Ganzheit  des  Lebens  (und  deshalb  mußte  es  mit  dem  Mehr- 
Werden  dieses  Lebens  immer  zunehmen).  In  diese  Form  ordnen 
sich  auch  die  Ereignisse  seiner  Liebe  ein  und  sie  ergibt  bei  ihm 
die  unvergleichliche  Vereinigung,  daß  der  ganze  Mensch  sich  in 
das  Gefühl  hingibt,  und  daß  er  eben  weil  es  der  ganze  ist,  immer 
Herr  über  das  Gefühl  als  ein  einzelnes  bleibt;  daß  dieses  nie 
als  eine  abgelöste  Wesenheit,  wie  das  erotische  Erlebnis  so  oft  beim 
Manne  auftritt,  sondern  als  ein  lebendiges  Glied  dieses  Organismus 
wirkt,  das  immer  von  dessen  Gesamtleben  Kraft  und  Norm  — 
freilich  darum  noch  nicht  Glück  —  bezieht.     Im  großen  und 


Solipsismus  und  Hingabe  201 

ganzen  mindestens  besaß  er  diese  menschliche  Vollendung: 
er  konnte  sich  ganz  hingeben,  ganz  hingerissen  werden,  ohne 
damit  aus  seinem  Zentrum  gerückt  zu  werden.  Diese  Versöhnt- 
heit  sonst  getrennter  und  sich  gegenseitig  aufhebender  Lebens- 
punkte oder  Tendenzen  ist  dem  Goetheschen  Leben  überhaupt 
eigen.  Das  praktische  Ideal,  das  er  im  Epimenides  ausspricht: 
„Nachgiebigkeit  bei  großem  Willen"  —  hat  er  in  unzähligen 
Beziehungen  zu  Menschen  selbst  verwirklicht.  Die  Fähigkeit 
sich  hinzugeben  und  sich  dabei  zu  bewahren,  die  äußerste  Energie 
und  vollkommenes  Nachgeben  —  die  absolute  Fähigkeit  und 
Sinnsicherheit  seines  tiefsten  Lebens  und  die  ,,Proteusnatur", 
die  sich  täglich  wandelte  —  unter  diesen  Synthesen  spürt  man 
eine  gemeinsame  große  Lebensformel,  die  sich  nicht  unmittelbar, 
sondern  nur  in  derartig  partiellen  oder  gleichsam  provinziellen 
Äußerungen  ergreifen  läßt. 

Solcher  Charakter  des  Gefühles  als  Lebensprozesses  bedroht 
freilich  das  Verhältnis  zu  seinem  Gegenstand  mit  einer  gewissen 
Problematik.  Im  allgemeinen  wird  die  Liebe,  auch  als  bloßes 
Binnenereignis  in  der  einzelnen  Seele,  wie  eine  Wechselwirkung 
empfunden;  der  Andere,  sie  erwiedernd  oder  nicht,  ja,  um  sie 
wissend  oder  nicht,  ist  ein  aktiver  Faktor  in  ihr,  und  unter  seiner, 
wenn  auch  sozusagen  nur  ideellen  Mitwirkung  entsteht  im  Lieben- 
den sein  Gefühl.  Aber  wie  in  einem  Gegensatz  hierzu  empfindet 
man  Goethes  Erotik  als  ein  rein  immanentes  Ereignis  und  als 
habe  seine  Innerlichkeit  dessen  Kosten  gleichsam  allein  zu  tragen; 
und  es  ist  wundervoll,  wie  das  Reservierte,  Selbstsüchtige,  ja 
Rücksichtslose,  das  mit  solchem  solipsistischen  Erleben  der  Liebe 
sich  zu  verbinden  pflegt,  bei  ihm  nie  spürbar  wird.  ,,Bis  ins 
Innerste  der  Existenz**,  schreibt  er  als  Siebenunddreißigjähriger, 
müßten  Verhältnisse  gehen,  wenn  ,, etwas  Kluges  daraus  werden 
solle".  Und:  ,,Wenn  man  nicht  unbedingt  lieben  darf,  sieht  es 
mit  der  Liebe  schon  mißlich  aus".  ,,Zu  der  Zeit  liebt  sich's  am 
besten,"  sagt  er  mit  62  Jahren,  ,,wenn  man  noch  denkt,  daß  man 
allein  liebt  und  noch  kein  Mensch  so  geliebt  hat  und  lieben  werde". 
Die  Liebe  sei  ,,ein  Geschenk,  das  man  nicht  zurücknehmen  kann, 
und  es  würde  unmöglich  sein,  ein  ehemals  geliebtes  Wesen  zu 


202  Wesensgesetz  und  Liebe 

beschädigen  oder  ungeschützt  zu  lassen".  Hierin  offenbart  sich 
nun  endlich  jene  glückselige,  die  Goethesche  Existenz  im  Tiefsten 
bestimmende  Harmonie:  der  ganz  freien,  gleichsam  nur  von  sich 
selbst  wissenden,  auf  sich  selbst  hörenden  Wesensentwicklung 
und  der  Forderungen,  die  von  den  Dingen  und  den  Ideen  her- 
kommen. In  Philines  Wort:  ,,wenn  ich  dich  liebe,  was  geht's 
dich  an?"  —  ist  die  Einheit  der  beiden  Werte,  des  idealen  und 
des  personalen,  auf  das  vollkommenste  ausgedrückt.  Auf  der 
einen  Seite  eine  höchste  Zartheit  und  selbstlose  Hingabe,  gegen  die 
Piatos  Vorstellung  von  der  Liebe  als  dem  Mittleren  zwischen 
Haben  und  Nichthaben  als  etwas  Egoistisches  und  Veräußer- 
lichtes erscheint.  Er  hat  viele  Jahre  vorher  diese  reinste  Ge- 
staltung der  Erotik  durch  die  Tat  erwiesen:  die  Frankfurter  Briefe 
an  Kestners,  in  denen  er  dauernd  und  ohne  jeden  Vorbehalt  von 
seiner  Leidenschaft  für  Lotte  spricht,  gehören  zu  den  allervoll- 
kommensten  Zeugnissen,  die  die  Welt  überhaupt  von  Reinheit, 
Adel  der  Gesinnung,  sittlich  sicherem  Vertrauen  zu  sich  und  an- 
deren besitzt.  Es  ist  als  ob  die  Idee  der  Liebe  hier  in  ihrer  Auto- 
nomie, frei  von  allem  Habenwollen  und  von  allem  Zufälligen 
im  Menschen  zu  Worte  käme.  So  kann  er  selbst  die  Äußerung 
Philines  auf  Spinozas  ganz  überpersönliches  Wort:  Wer  Gott 
liebt,  könne  nicht  wollen,  daß  Gott  ihn  wieder  liebe  —  zurück- 
leiten. Aber  andrerseits  offenbart  sich  damit  doch  eine  Liebe, 
die  gerade  aus  dem  Eigensten  der  Person,  aus  ihrem  absoluten 
Selbstsein  quillt.  Wie  er  sein  Schaffen  als  ,, Liebhaber"  und  ohne 
Zweckrücksicht  auf  das,  was  dabei  herauskäme,  vollbrachte, 
so  war  ihm  auch  die  Liebe  eine  Funktion  des  Lebens,  normiert 
von  dessen  organischer  Rhythmik,  aber  nicht  von  einer  Idee,  — 
mit  der  sie  nun  dennoch  wie  durch  ein  tiefes  ursprüngliches 
Einssein  harmonierte. 

Damit  war  auch  das  eigentümlich  gefärbte  Verhältnis  zu  den 
Gegenständen  seiner  Liebe  gegeben.  In  all  seinen  Beziehungen 
zu  Menschen  war  ein  bestimmender  Zug,  den  man  vielleicht 
als  souveräne  Zartheit  bezeichnen  kann  —  eine  innere  Attitüde, 
da  entstehend,  wo  die  einheitliche  Ganzheit  des  Menschen  für 
jedes  seiner  Verhältnisse  dauernd  Quelle  und  Dominante  bleibt; 


Wechsel  der  Neigungen  203 

denn  damit  sind  Hingebung  und  Distanznahme,  das  tiefste  Ein- 
gehen auf  den  andern  und  die  beherrschende  Sicherheit,  sich 
nie  darüber  zu  verlieren,  nur  die  Seiten  eines  einzigen  Verhaltens. 
Und  so  verschlingt  sich  in  seinen  Beziehungen  zu  den  geliebten 
Frauen  jenes  Leidenschaftliche,  Selbstlose,  Ritterliche  —  mit 
einem  eigentümlichen  Cachet:  als  wären  sie  doch  eigentlich  nur 
die  Gelegenheitsursachen,  an  denen  sich  ein  gerade  jetzt  notwen- 
diges Stadium  seiner  inneren  Entwicklung  verwirklichte,  und  als 
wäre  das  jeweilige  erotische  Verhältnis  die  Blüte  aus  seinen 
eigenen  Triebkräften,  für  die  die  Frau  nur  Frühlingsluft  und 
Frühlingsregen  war.  Wenn  Carl  August  einmal  sagt,  Goethe 
hätte  immer  alles  in  die  Frauen  gelegt  und  nur  seine  Ideen  in 
ihnen  geliebt,  so  liegt  diesem  wohl  etwas  plumpen  Ausdruck 
doch  schließlich  dasselbe  zugrunde,  wie  der  vorhin  angeführten 
Äußerung  zu  Kestner,  als  jemand  eine  vorteilhafte  Schilderung 
von  Lotte  entworfen  hatte:  ,,Ich  wußte  wahrlich  nicht,  daß  das 
all  in  ihr  war,  denn  ich  habe  sie  viel  zu  lieb  von  jeher  gehabt, 
um  auf  sie  acht  zu  haben."  Das  Entscheidende  ist,  daß  jene 
Wechselwirkung  zwischen  dem  Subjekt  und  dem  Objekt  der  Liebe, 
die  sich  selbst  in  der  unglücklichen  Liebe  innerhalb  des  liebenden 
Individuums  abspielt,  für  ihn  zurücktrat,  und  in  höherem  Maße 
seine  Liebe  ein  in  sich  kreisendes  Gefühl,  eine  je  von  seiner 
individuellen  Entwicklung  gesetzte  Epoche  war.  Und  obgleich 
dies,  durch  die  wunderbare  Einheit  von  subjektivem  Trieb  und 
objektiver  Forderung  in  seinem  Existenzbild,  das  geliebte  Wesen 
nichts  von  hingebender  Leidenschaft  und  selbstloser  Zartheit 
entbehren  ließ  —  so  erklärt  sich  daraus  doch  der  häufige  Wechsel 
der  Gegenstände  seiner  Neigung.  Er  hat  in  bezug  auf  sein  Werk 
in  vielen  Formen  und  zu  vielen  Zeiten  ausgesprochen,  es  wäre 
eigentlich  gleichgültig,  an  welchem  Gegenstand  man  tätig  sei: 
nur  darauf,  daß  die  Kraft  sich  bewähre,  daß  ein  Maximum  von 
Wirksamkeit  erreicht  werde,  komme  es  an.  So  paradox  es  scheint, 
auch  diese  Grundmaxime  seiner  Existenz  wiederholt  sich  an 
seinem  Verhältnis  zu  der  Pluralität  der  Frauen.  Wie  es  ihm  gleich- 
gültig war,  ob  er  ,, Töpfe  machte  oder  Schüsseln",  so  war  es  in 
diesem  Sinne  gleichviel,  ob  er  Friederike  liebte  oder  Lili,  Frau 


204  Treue 

V.  Stein  oder  Ulrike.  Gewiß  war  seine  Liebe  jedesmal  eine  andere, 
die  Frau  war  ihm  nicht  etwa,  wie  dem  Manne  von  roher  Sinn- 
lichkeit, die  Frau  schlechthin,  gleichgültig  gegen  ihre  Indivi- 
dualität. Aber  daß  die  Liebe  in  diesem  Augenblick  eintrat,  daß 
sie  in  ihm  dieses  unverwechselbare  Cachet  hatte  —  das  war  so- 
zusagen nicht  von  jener  erotischen  Wechselwirkung  her,  sondern 
von  dem  Periodencharakter  bestimmt,  den  das  Gesetz  seiner  Ent- 
wicklung eben  jetzt  heraufführte.  Er  war  den  Frauen  untreu, 
weil  er  sich  selbst  treu  war.  Er  tut  einmal  eine  sehr  merkwürdige 
Äußerung  über  die  ,, sogenannte  größere  Treue  der  Frauen". 
Diese  entstünde  nur  daher,  daß  die  Frauen  ,,sich  selbst  nicht 
überwinden  können,  und  sie  können  es  nicht,  weil  sie  abhängiger 
sind  als  die  Männer".  Damit  will  er  doch  der  Treue  den  Wert 
absprechen,  die  durch  die  Abhängigkeit  vom  Andern  entsteht, 
die  nicht  aus  der  vollen  Freiheit  des  Individuums  stammt;  die 
jeweilige  Empfindung  muß  vielmehr  dem  eigenen  Lebensprozeß 
entfließen,  der,  wie  er  ihn  auffaßt,  eine  fortwährende  Selbstüber- 
windung ist,  das  Aufbauen  eines  höheren,  vollkommeneren 
Seins,  gleichsam  über  den  Trümmern  des  vergangenen.  Wer  ab- 
hängig ist,  kann  sich  nicht  überwinden,  das  heißt,  ihm  entwickelt 
nicht  eigenste  innerste  Notwendigkeit  immer  neue  Inhalte,  neue 
Wendungen,  gleichgültig  dagegen  ob  die  Empfindung  an  ihrem 
früheren  Gegenstand  festwurzelt  und  sich  nur  unter  Schmerzen 
von  ihm  löst:  wir  haben  genug  Beweise  für  die  Leiden,  unter 
denen  Goethe  auch  seine  freiwilligsten  Trennungen  von  den 
Frauen,  die  er  liebte,  vollzog;  seine  Untreuen  waren  Selbst- 
überwindungen, das  heißt  der  Gehorsam  gegen  das  Gesetz  seines 
sich  immer  höher  entwickelnden,  jede  Vergangenheit  über- 
bauenden Lebens.  Wir  sehen  diese  erotische  Rhythmik  in  Goethes 
tiefstes  Lebensgefühl  eingesenkt,  indem  wir  sie  noch  mit  einer 
seiner  wunderbarsten  Äußerungen  verbinden,  die  der  Kanzler 
Müller  aus  seinem  75.  Jahre  mitteilt:  ,,Als  unter  mancherlei  aus- 
gebrachten Toasten  auch  einer  der  Erinnerung  galt,  brach  Goethe 
mit  Heftigkeit  in  die  Worte  aus:  ,,Ich  statuiere  keine  Erinnerung 
in  eurem  Sinne.  Was  uns  irgend  Großes,  Schönes,  Bedeutendes 
begegnet,  muß  nicht  erst  von  außen  her  wieder  erinnert,  gleich- 


Die  Entwicklung  des  Ich  und  seine  Gegenstände  205 

sam  erjagt  werden.  Es  muß  sich  vielmehr  gleich  von  Anfang  her 
in  unser  Inneres  verweben,  mit  ihm  eins  werden,  ein  neues 
besseres  Ich  in  uns  erzeugen  und  so  ewig  bildend  in  uns  fortleben 
und  schaffen.  Es  gibt  kein  Vergangenes,  das  man  zurücksehnen 
dürfte,  es  gibt  nur  ein  ewig  Neues,  das  sich  aus  den  erweiterten 
Elementen  des  Vergangenen  gestaltet."  In  dieser  Auffassung  hat 
das  Leben  seine  letzte  Starrheit  überwunden.  Auch  unsere  leiden- 
schaftlichen Erlebnisse  sind  nun  nicht  an  einer  Stelle  der  Ver- 
gangenheit, an  der  wir  sie  in  ihrem  unveränderlichen  So-Gewesen- 
sein wieder  zu  suchen  hätten,  angenagelt  —  und  wir  mit  ihnen; 
sondern  sie  sind  die  selbst  bildsamen  Elemente  der  Lebensge- 
staltung, die  mit  jedem  Augenblick  neu  einsetzt.  Gut,  wenn  diese 
Gestaltung  jene  ungeändert  weiter  bestehen  macht  und  so  die 
Erscheinung  der  Treue  gegen  ihren  Inhalt  erzeugt;  und  Goethes 
Leben  hat  dies  in  seinen  Beziehungen  zu  Frau  von  Stein  und  zu 
Christiane  erwiesen.  Aber  auch  wo  die  Entwicklung  entschiedene 
Wendungen  fordert,  ist  die  Untreue  nun  nicht  eine  bloße  tote 
Diskontinuität  im  Leben,  sein  Verlaufen  wie  in  eine  leere  Sack- 
gasse; sondern  der  tiefste  Zusammenhang  des  Lebensprozesses 
setzt  sich  gerade  durch  diesen  Bruch  seiner  Inhalte  fort,  der 
frühere  ist  nicht  einfach  dementiert,  wie  es  sein  müßte,  wenn  er 
jenes  nur  erinnerbare  Vergangene  wäre,  sondern  —  weil  er  selbst 
ganz  aus  der  Lebendigkeit  des  Ich  bestimmt  war  —  kann  er  ewig 
umgestaltet  und  umgestaltend  das  ,,neue,  bessere  Ich  in  uns  er- 
zeugen" helfen.  Die  Frauen  waren  ihm  Gegenstände  jenes  schein- 
baren Egoismus,  dessen  Ich  in  Wirklichkeit  kein  Genußsubjekt, 
sondern  eine  organisch  gesetzliche  und  deshalb  auf  ihren  Wert 
vertrauende  Entwicklung  ist;  wie  er  es  einmal  in  die  kurze 
Maxime  zusammenfaßt:  der  Künstler  solle  ,, höchst  selbstsüchtig" 
verfahren.  Sein  eigenes,  immer  produktives  Lernen  und  Arbeiten 
hat  er  als  ,, eigentlich  immer  nur  egoistisch"  bezeichnet:  sich 
selbst  habe  er  daran  bilden  wollen.  Einen  erhabenen  Begriff 
von  ,, Selbstsucht"  bringt  er  damit  auf.  Mehr  vielleicht  als  irgend- 
einem Menschen,  mit  Ausnahme  Lionardos,  waren  alle  Reiche 
der  Welt  seine  Speise;  man  möchte  auch  an  Leibniz  denken  — 
aber    dessen    Intellektualität,    die    zwar    alles    Ergreifbare    ver- 


206  Menschen  als  Gegenstände 

schluckte  und  verdaute,  scheint  deren  Stoffe  und  Kräfte  nur  zu 
ihrer  eigenen  Sonderernährung,  nicht  aber  zum  Aufbau  einer 
vollkommenen  Gesamtpersönlichkeit  verwandt  zu  haben.  Aber 
Goethes  großartiger  Objektivität  war  das  eigene  Ich  ein  dem 
Gesamtsein  verhaftetes  Element,  dessen  Vervollkommnung  ihm 
Pflicht  und  Lebenssinn  war.  Wie  er  als  Lernender,  als  Welt- 
aufnehmender, wie  er  als  Künstler  ,, höchst  egoistisch"  war,  so 
war  er  es  den  Frauen  gegenüber;  wie  aber  dieser  Egoismus  einer- 
seits die  völlige  Hingabe  an  den  Gegenstand  einschloß,  andrer- 
seits nur  auf  jene  eigene  Vollendung  zielte,  die  ein  objektiver 
Wert  ist  und  mit  dessen  Steigerung  sich  der  Wert  des  all-einen  Da- 
seins überhaupt  hebt  —  so  war  auch  der  Egoismus  seiner  Liebe. 
Dennoch  besteht  ein  Unterschied.  Ein  menschliches  Indi- 
viduum, die  Strömung  des  Daseins  in  eine  irgendwie  unvergleich- 
liche Kurve  leitend  und  sich  als  Selbstzweck  fühlend,  will  sich 
nicht  und,  vor  allem,  kann  sich  nicht  in  die  harmonische  Existenz 
eines  anderen  so  einfügen  lassen,  wie  das  unpersönliche  Dasein. 
Goethe  ist  sich  darüber  prinzipiell  —  wenn  auch  in  ganz  anders 
gewendetem  Ausdruck  —  durchaus  klar  gewesen:  er  verkehre 
am  liebsten  mit  der  Natur,  denn  in  der  Verhandlung  mit  Men- 
schen irre  bald  der  eine,  bald  der  andere  in  fortwährender  Ab- 
wechslung, und  damit  ,, kommt  nichts  aufs  reine".  Jene  Grund- 
formel seiner  Existenz :  daß  die  Entwicklung  seines  Denkens 
und  Schaffens,  dem  eigenen  Gesetz  allein  folgsam,  zugleich 
den  Forderungen  der  Gegenstände  dieses  Denkens  und  Schaf- 
fens entsprach  —  diese  Formel  galt  nicht  vorbehaltlos,  wo 
jene  Gegenstände  Menschen  waren;  Menschen,  mit  ihrem  schließ- 
lichen Fürsichsein,  mit  zuletzt  doch  unbiegbaren  Umrissen 
ihres  Wesens  und  ihrer  Schicksale,  die  sich  mit  denen  eines 
andern,  so  ungeheuer  dessen  eigne  Harmonie  und  Harmoni- 
sierungskraft sei,  nicht  notwendig  decken.  Gewiß  hat  Goethe, 
aus  dem  innersten  Triebe  seiner  Natur  heraus  und  ohne  dazu 
eines  moralischen  Imperativs  zu  bedürfen,  in  seine  Liebesbe- 
ziehungen alle  Rücksicht  und  alle  Selbstüberwindung,  alle  Zart- 
heit und  alle  hingebende  und  beglückende  Leidenschaft  eingesetzt. 
Und  doch  ging  damit  die  Rechnung  nicht  auf.   Fast  allen  Frauen, 


Unvermeidliche   Dissonanz  207 

die  Goethe  geliebt  hat,  endete  dies  Glück  in  Mißklang  und  Leiden: 
für  Ännchen  wie  für  Friederike,  für  Lotte  wie  für  Lili  und  für 
Frau  von  Stein.  Gewiß  war  die  Ursache  solchen  Ausgangs  in 
jedem  Fall  eine  besondere.  Allein  es  scheint  mir  zu  den  typischen 
Formen  des  Menschenschicksals  zu  gehören:  daß  eine  Reihe 
von  inhaltlich  irgendwie  verwandten  Ereignissen  jedesmal  in 
einen  gleichen  Effekt  auslaufen,  jedesmal  aber  aus  einem  neuen 
und  von  den  früheren  Fällen  ganz  unabhängigen  Grunde,  der  den 
jeweiligen  Fall  auch  ganz  zureichend  erklärt  —  und  daß  doch 
ihnen  allen  eine  gemeinsame  Ursache,  wie  aus  einer  tieferen, 
die  unmittelbare  Kausalität  nicht  berührenden  Schicht  zugrunde 
liegt.  Daß  Goethe  eben  jenes  ,, höchst  selbstsüchtige"  Leben  lebte 
—  in  wie  erhabenem  Sinne  immer,  wie  fern  immer  von  der  Enge 
und  Rücksichtslosigkeit  der  Genußsucht,  in  wie  einzigartiger 
Harmonie  immer  mit  der  Ganzheit  des  Seins  und  den  Gesetzen 
der  Dinge  und  Ideen  —  das  war  doch  wohl  die  tiefste  metaphysische 
Ursache  davon,  daß  er  keiner  Frau  ein  dauerndes  Glück  bereiten 
konnte,  selbst  in  dem  bescheideneren  Sinne,  in  dem  uns  das 
erfahrene  Leben  schließlich  den  Begriff  des  dauernden  Glückes 
verstehen  lehrt.  An  dem  definitiven  Selbstsein  der  menschlichen 
Individualität  versagte,  mit  sozusagen  formaler  Notwendigkeit, 
die  unvergleichliche  Gunst,  um  die  er  sich  wohl  selbst  den  ,, Lieb- 
ling der  Götter"  nennen  durfte:  die  Entwicklung  nach  dem  eigenen 
Gesetz  in  Einheit  mit  dem  Gesetz  alles  anderen  Daseins  zu  voll- 
ziehen. 

Aber  noch  einmal  schlug  diese  Formel  gleichsam  zurück, 
ihre  Herrschaft  noch  über  ihre  eigene  Verneinung  erstreckend: 
er  selbst  teilt  das  schmerzensreiche  Schicksal  seiner  Geliebten, 
ihm  selbst,  von  den  Frauen  geliebt  wie  wohl  wenige  Männer, 
scheint  die  Liebe  kein  Glück,  außer  auf  rasch  herabsinkenden 
Höhen  des  Rausches,  gebracht  zu  haben.  Er  selbst  bezeichnet 
einmal  die  jugendliche  Verfassung  seines  Innern  als  ,, liebe- 
vollen Zustand"  und  daß  er  ,,das  Sehnsüchtige,  das  in  mir  lag, 
in  früheren  Jahren  vielleicht  zu  sehr  gehegt"  habe.  Mit  fort- 
schreitender Männlichkeit  aber  habe  er  statt  dessen  ,,die  volle 
endliche  Befriedigung  gesucht".    Diese  Befriedigung  jedoch  fand 


208  Die  Marienbader  Elegie 

er  ersichtlich  nicht  in  der  Fortentwicklung  jenes  „liebevollen 
Zustandes",  sondern  zunächst  in  Italien  (worauf  sich  jene  Stelle 
bezieht),  allgemeiner  aber  im  Forschen  und  Wirken.  Aber  mit 
so  ungeheurer  Kraft  er  die  Bedürfnisse  seiner  Natur  in  diese  Wert- 
richtungen leitete  —  es  blieb  irgendetwas  wie  ein  Bruch  und 
Rest,  den  er  sich,  wie  er  mehr  als  einmal  andeutet,  sozusagen 
gewalttätig  zu  vergessen  zwang.  Er  ist  ein  Siebziger,  als  er  schreibt: 
,, Jeder  Mensch  ist  ein  Adam;  denn  jeder  wird  einmal  aus  dem 
Paradiese  —  der  warmen  Gefühle  vertrieben."  Selbst  in  dem 
Verhältnis  zu  Frau  von  Stein  wird  die  Epoche  des  wirklichen 
Glückes  erschreckend  kurz,  wenn  man  die  Briefe  nicht  nur  auf 
ihre  Oberfläche  hin  liest.  Und  was  er  ihr  auch  an  Glück  verdankt, 
wird  reichlich  durch  die  fürchterliche  Erfahrung  aufgewogen, 
die  er  während  und  nach  der  italienischen  Reise  mit  ihr  machen 
mußte  —  gleichviel,  wie  sich  die  sogenannte  ,, Schuld"  auf  beide 
Parteien  verteilt.  An  das  Leiden  dieser  Erfahrung  hat  sich  —  so- 
weit man  solche  Unbeweisbarkeiten  aussprechen  darf  —  eine,  viel- 
leicht die  große  Wendung  seines  Lebens  geknüpft;  damit  erstarrte 
etwas  in  ihm,  was  nicht  wieder  geschmolzen  ist.  Der  ganze  Fall 
Christiane  erscheint  mir  als  Ergebnis  der  Ermüdung  und  Resig- 
nation gegenüber  dem  so  oft  gesuchten  und  nie  gewonnenen 
Liebesglück,  als  die  Flucht  in  die  bescheidene  Sicherheit  des  Halb- 
glücks. Es  ist  eine  eigentümliche  soziale  Ironie,  daß  der  Philister 
unter  allen  erotischen  Erlebnissen  Goethes  den  meisten  Anstoß 
gerade  an  diesem  zu  nehmen  pflegt,  das  seiner  inneren  Struktur 
nach  sicher  das  philiströseste  von  allen  war.  Und  nun  rächt  sich 
noch  einmal  die  zurückgeschobene,  auf  das  tote  Gleis  geratene 
Liebe  in  dem  Marienbader  Erlebnis.  Das  Erschütternde  der  Elegie, 
das  ihr  eine  vielleicht  einzige  Stellung  in  der  Weltliteratur  gibt, 
ist  dies:  daß  ein  ganz  unmittelbares,  in  voller  Lebendigkeit 
strömendes  Fühlen  sich  ausdrücken  will  und  dafür  nur  die  schon 
erstarrten,  resultathaften,  sentenziösen  Formen  vorfindet,  die 
aus  einem  ganzen  langen  Leben  auskristallisiert  sind  und  es  ver- 
weigern, sich  noch  einmal  zurückschmelzen  und  in  jenen  Fluß 
eines  aus  der  ersten  Quelle  hervorstürzenden,  keiner  Formfestig- 
keit Untertanen  Prozesses  von  Leben  und  Liebe  hinabziehen  zu 


Wesensgesetz  und  Leiden  209 

lassen.  Dies  leidenschaftlich  Gegenwärtige  ging  nicht  in  die  ihm 
allein  noch  gebotene  Form  der  Zeitlosigkeit  hinein,  hinter  der 
abgeklärten,  weise  gewordenen  Form  fühlt  man  die  Sehnsucht 
klopfen,  wie  einen  Gefangenen  an  die  Mauern,  die  ihn  ersticken 
wollen.  Nie  vielleicht  hat  ein  anderes  Gedicht  rein  in  seinem 
Stil  den  tragischen  Kampf  des  Jünglings  mit  dem  Greise  zum  Aus- 
druck gebracht.  In  diesem  Verhängnis  des  Ausdrucks,  daß  grade 
das  Höchste  des  Stils,  in  dem  alle  Weite  und  Tiefe  seines  Lebens 
sich  gesammelt  hatte,  ihm  die  Möglichkeit  entzog,  seine  Liebe 
wie  er  sie  wirklich  liebte,  auszusagen  —  spiegelt  sich  das  Verhäng- 
nis seiner  Wirklichkeit:  daß  in  der  Form  dieses  Lebens  offenbar 
das  Glück  der  Liebe  keine  dauernde  Heimat  finden  konnte.  — 
Ich  sagte,  daß  sogar  mit  dem  Glücksmangel  seiner  Liebe  die  Grund- 
gestaltung seines  Daseins,  wenn  auch  jetzt  in  der  Ebene  der 
Negativität,  sich  bestätigte.  Ihm  war  gegeben,  daß  er  für  alles 
Denken  und  Leben,  wie  es  sich  aus  seiner  eigensten,  innnersten 
Notwendigkeit  entfaltete,  an  den  Gegenständen  dieses  Denkens  und 
Lebens  die  —  wie  er  selbst  sich  ausdrückte  —  ,, antwortenden 
Gegenbilder"  fand.  Wie  sein  Geist  sich  großartig  und  beglückend 
abrundete,  Geschwister  und  Gegenbild  der  einheitlichen  Totalität 
des  Kosmos  und  seiner  Seligkeit,  die  unseren  tiefsten  Ahnungen, 
von  den  Griechen  her,  vorschwebt  —  so  ist  das  Leiden,  das  seine 
Liebe  den  Gegenständen  dieser  Liebe  brachte,  nur  das  ,, ant- 
wortende Gegenbild"  seines  eignen  Leidens  gewesen,  als  stiege, 
wie  alles  Helle  seines  Lebens  und  seiner  Welt,  auch  dieses  Dunkle 
in  ihm  und  in  dem,  was  um  ihn  und  ihm  gegenüber  war,  Hand  in 
Hand  aus  der  metaphysischen  Einheit  alles  Seins  empor. 


Simmel,  Goethe.  '4 


Achtes  Kapitel. 

Entwicklung. 

Unter  den  Wertunterschieden  der  Individuen,  die  sich  in  der 
Form  ihrer  Existenz  ausdrücken,  scheint  mir  einer  obenan 
zu  stehen:  ob  der  Mensch  dies  oder  jenes  leisten  soll,  eine 
Summe  einzelner  Forderungen  mit  seinem  Tun  und  Sein  zu 
erfüllen  bestimmt  oder  willens  ist;  oder  ob  er  als  ganzer,  mit 
der  Totalität  seiner  Existenz,  etwas  tun  oder  etwas  sein  soll. 
Dieses  Etwas  braucht  kein  angebbares  Ziel  oder  Werk  zu  sein; 
sondern  nur  dies,  daß  die  Lebenseinheit,  über  all  diesem  Einzelnen 
stehend  und  es  tragend  —  wie  sich  ein  lebendiger  Körper  als 
Einheit  zu  seinen  einzelnen  Gliedern  verhält  —  etwas  für  sich 
Bedeutsames  sei,  einem  ihr  als  ganzer  gesetzten  Ideale  Untertan, 
in  einer  einheitlichen  Strömung  fließend,  die  alle  singulären 
Eigenschaften  und  Taten  in  sich  einzieht  und  sie  übergreift,  aus 
deren  Summe  nicht  zusammensetzbar.  Die  als  moralisch  an- 
gesprochene Wertung  pflegt  sich  hierauf  nicht  zu  richten.  Für 
sie  vielmehr  rinnt  der  Wert  eines  Individuums  aus  den  Werten 
seiner  einzelnen  Charakterzüge  und  einzelnen  Entschlüsse  zu- 
sammen, während  bei  jenen  Menschen  umgekehrt  die  vielleicht 
unbenennbare  Intention  und  Bedeutung,  das  Sollen  ihrer  Lebens- 
einheit, den  Sinn  und  die  Rolle  jeder  Lebenseinzelheit  bestimmt. 
Wenn  für  Goethes  Existenzbild  irgend  eine  Charakteristik 
unzweideutig  ist,  so  ist  es  seine  Zugehörigkeit  zu  dieser  Seite 
der  Alternative.  Als  Ganzes  hatte  sein  Leben  ein  So-Sein- 
und  Sich-so-Verhalten-Sollen  über  sich,  dem  auch  seine  objek- 
tivste Leistung  ebenso  diente,  wie  sie  aus  ihm  kam.  Und  dies 
um  so  vollkommener,  als  kein  bestimmter  Inhalt,  den  sein 
Leben  überhaupt  realisieren  sollte,  hingestellt  werden  kann. 
Denn    wo    dies    der  Fall  ist,    wie    bei  den  spezifisch  religiösen, 


Ideal  des  Lebens  als  ganzen  211 

wissenschaftlichen,  künstlerischen  Menschen,  läßt  selbst  die 
völligste  Konzentration  auf  dies  Eine  dennoch  eine  Anzahl  von 
Energien  unergriffen;  unser  Wesen  ist  zu  differenziert,  um 
wirklich  all  seine  Seiten,  auch  die  peripherischen,  in  den  Dienst 
eines  einzigen  Sollens  stellen  zu  können.  Nur  wo  dieses  Wesen 
schlechthin  soll,  wo  sozusagen  ,,die  Aufgabe  überhaupt"  über 
ihm  steht,  wo  die  Pflicht  etwas  Funktionelles  ist,  wie  das  Leben, 
dem  sie  gewöhnlich  als  das  Feste,  Substanziell-Unbewegte  ent- 
gegengestellt wird  —  nur  da  kann  es  sich  mit  unendlicher 
Flexibilität  in  die  Aufgaben  jedes  Tages  ergießen,  nur  da  ist 
kein  Teil  seiner  Ganzheit  im  genauen  Sinne  dem  Sollen  seines 
Wesens  entzogen.  Darum  ist  es  keine  Widerlegung,  sondern 
ein  Beweis  für  jene  Struktur  der  Goetheschen  Existenz,  daß  man 
für  die  ideale  Forderung,  die  man  deutlich  über  ihr  stehen 
fühlt,  keinen  bestimmten  Inhalt  angeben  kann;  seine  heftige 
Abneigung  gegen  alle  ,, Profession"  hat  zutiefst  vielleicht  dies 
zur  Ursache.  Wenn  irgend  ein  Leben,  so  hat  das  seine  als 
Ganzes  etwas  gesollt;  nicht  Dramen  dichten  oder  Naturwissen- 
schaften treiben  oder  praktisch  wirken  —  dies  alles  ist  das 
jeweilige  Sollen  einzelner  Begabungen  seiner  Natur.  Sondern 
dies  Leben  war  von  seiner  Wurzel  so  einheitlich  und  entschieden 
zusammengefaßt,  daß  man  seine  Ungetrenntheit  wie  durch  ein, 
freilich  unbenennbares  Sollen,  ein  Ideal  seiner  Ganzheit,  normiert 
empfindet,  das  sich  in  jene  einzelnen  Forderungen  nur  ebenso 
auseinanderlegt,  wie  die  Wirklichkeit  seines  Lebens  in  einzelne 
wirkliche  Leistungen.  Die  Arten,  auf  die  sich  diese  Forderung 
an  die  Lebenstotalität  in  den  Intentionen  seiner  Lebensepochen 
verwirklicht,  gibt  diesen  ihren  unterscheidenden  Charakter. 

In  unmittelbarer,  wenn  auch  ihm  selbst  nicht  formulierbar 
bewußter  Form  ist  seine  Jugend,  zuhöchst  bis  zur  Rückkehr 
aus  Italien,  diesem  Ideal  Untertan.  So  treu  und  hingegeben 
sein  Schaffen,  Handeln,  Forschen  auch  von  vornherein  war, 
man  fühlt  deutlich,  daß  die  Vollendung  seiner  Existenz  das 
letzte  treibende  Motiv  in  alledem  ist;  er  ist  hier  der  subjektive 
Lyriker,  dem  diese  Lebensform  nicht  nur  Wirklichkeit,  sondern 
ihr  zentrales  Ideal  und  dadurch  freilich  auch  etwas  Objektives 

14* 


212  Jugendliche  Formung 

ist.  Auf  der  Höhe  dieser  Epoche  sagt  er  im  Jahre  1780: 
„Diese  Begierde,  die  Pyramide  meines  Daseins,  deren  Basis  mir 
angegeben  und  gegründet  ist,  so  hoch  als  möglich  in  die  Luft 
zu  spitzen,  überwiegt  alles  andere  und  läßt  kein  augenblick- 
liches Vergessen  zu.  Ich  darf  mich  nicht  säumen,  ich  bin 
schon  weit  in  Jahren  vor  und  vielleicht  bricht  mich  das  Schick- 
sal in  der  Mitte  und  der  babylonische  Turm  bleibt  unvollendet. 
Wenigstens  soll  man  sagen :  er  war  kühn  entworfen,  und  wenn 
ich  lebe,  sollen  will's  Gott  die  Kräfte  bis  hinauf  reichen."  In 
demselben  Jahre  schreibt  er  (und  oft  in  dem  gleichen  Sinne) 
an  die  Stein:  ,,Sie  sehen,  ich  erzähle  immer  vom  Ich.  Von 
andern  weiß  ich  nichts,  denn  mir  inwendig  ist  zu  tun  genug, 
von  Dingen,  die  einzeln  vorkommen,  kann  ich  nichts  sagen." 
Und  sicherlich  ist  es  die  gleiche  Basis,  von  der  aus  er  als 
fünfundzwanzigjähriger  Mensch  sagt,  da  doch  ein  unerhörter 
Reichtum  von  Liebe  und  Freundschaft,  von  sachlichen  Interessen 
und  Hoffnung  auf  sachliche  Leistungen  um  ihn  war:  ,,Die 
beste  Freude  ist  das  Wohnen  in  sich  selbst."  Dies  war  die 
Zeit,  in  der  die  Kraft  des  Lebens  als  solchen,  die  reißende 
Strömung  seines  Prozesses  selbst  alle  angebbaren  Inhalte,  so 
wertvoll  und  bedeutsam  sie  in  einer  Oberschicht  für  ihn  sein 
mochten,  in  sich  einschlang.  Freilich  ist  das  nur  die  typische 
Stimmung  und  Gerichtetheit  der  Jugend  überhaupt.  Denn 
wenn  es,  an  den  großen  Lebenskategorien  gemessen,  überhaupt 
eine  polare  Entgegengesetztheit  zwischen  Jugend  und  Alter  gibt, 
so  ist  es  diese:  daß  in  der  Jugend  der  Prozeß  des  Lebens  das 
Übergewicht  über  dessen  Inhalte  hat,  im  Alter  die  Inhalte  über 
den  Prozeß.  Die  Jugend  will  vor  allen  Dingen  ihr  Dasein 
bewähren  und  fühlen,  der  Gegenstand  ist  —  in  der  Hauptsache 
—  nur  wesentlich,  insofern  an  ihm  dies  geschieht,  und  was 
man  ,,die  Treulosigkeit  der  Jugend"  genannt  hat,  besagt  nur, 
daß  ihr  die  Lebensinhalte  noch  nicht  recht  eigenwertig  sind  und 
deshalb  leicht  gewechselt  werden,  sobald  das  dominierende 
Interesse  es  fordert:  die  Äußerung  der  drängenden  Kräfte,  die 
Intensität  des  Lebensprozesses,  die  Empfindung  des  subjektiven 
Daseins,   das  die  Welt  gleichmäßig  zu  seinem  Material  macht, 


Objektivität  des  Alters  213 

wenn  es  sie  in  sich  einschlürft,  wie  wenn  es  sich  ihr  opfert. 
Indem  das  Alter  diese  Strömung  verlangsamt,  die  Lebensfunktion 
als  solche  herabsetzt,  steigert  sich  ihm  die  übersubjektive  Be- 
deutung des  Sachgehaltes  der  Welt ;  wie  die  Dinge  ohne  Rück- 
sicht auf  das  eigne  Leben  sind,  bekommt  ihm  einen  definitiveren 
Ton  —  eine  Entwicklung,  die  auf  ihrem  Höhepunkt  das  eigne 
Subjekt  in  ihre  Formel  zieht;  sei  es,  daß  der  Mensch  nun  im 
Erkennen  wie  im  Handeln  das  eigne  Dasein  nach  den  Normen 
objektiver  Inhalte  lebt,  dieses  Leben  selbst  aber  als  subjektive 
Funktion  ganz  aus  Bewußtsein  und  Intention  ausschaltet;  sei 
es  in  den  Alterswerken  des  großen  Künstlers,  in  denen  sozu- 
sagen der  transzendente,  durch  die  Schwebungen  des  empirischen 
Lebens  hindurchgewachsene  Kern  der  Persönlichkeit  sich  in 
ganz  neuen,  über  die  Polarität  des  Subjektiven  und  des  Objektiven 
triumphierenden  Formen  ausspricht.  Daß  Goethe  selbst  den 
Gegensatz  so  empfunden  hat,  gibt  einer  zunächst  flach  und 
wunderlich  aussehenden  Bemerkung  der  späteren  Zeit  erst  ihre 
begründende  Tiefe:  ,,Der  Irrtum  ist  recht  gut,  so  lange  wir 
jung  sind;  man  muß  ihn  nur  nicht  mit  ins  Alter  schleppen." 
Der  Irrtum  ist  für  die  Jugend  ,,gut**,  weil  es  für  sie  überhaupt 
nicht  auf  Erkenntnis  in  ihrem  sachlichen  Wert  ankommt,  sondern 
auf  Werden,  Wissen,  Sein;  was  diesen  dient,  ist  gut,  mag  es 
als  Inhalt,  der  in  der  Gegenhaltung  gegen  die  Objekte  sein 
Kriterium  findet,  richtig  oder  falsch  sein.  Das  Alter  aber  ist 
dem  Objektiven  zugewendet  und  der  Irrtum  geht  deshalb  gegen 
die  spezifische  Intention  der  Altersepoche,  wie  Goethe  sie  faßt : 
als  das  Auseinandergehen  des  Lebensprozesses  in  Erkennen 
und  Handeln,  —  während  die  Jugend  der  Gewalt  dieses  Prozesses 
Untertan  ist  und  ihm  das  Wahre  und  das  Irrige  gleichmäßig 
zum  Material  macht.  Und  wie  mit  dem  Wahren  und  Irrigen, 
so  steht  es  mit  dem  Guten  und  Bösen.  In  der  Jugend  erscheinen 
ihm  die  moralischen  Satzungen  oft  nichtig  gegenüber  der  über- 
wältigenden Macht  des  Natürlichen.  Der  Begriff  des  einheit- 
lichen, dynamischen  Lebens,  der  ihn  beherrscht,  ist  einerseits 
unabhängig  von  Gut  und  Böse,  andrerseits  sind  diese  selbst  ein 
Sein,  sind  dessen  bloße  qualitative  Bestimmtheiten.    In  seinem 


214      Lebensbestimmung  durch  das  Sein  und  durch  die  Inhalte 

Alter  wächst  diesen  Normen  eine  immer  größere  Bedeutung  zu, 
und  wenn  er  sie  auch  in  das  natürliche  Leben  der  geschicht- 
lichen Menschheit  einstellt  und  sie  sich  ineinander  verwurzeln 
und  verzweigen  läßt,  so  werden  sie  doch  als  ,, Tugend  und 
Laster"  entschieden  getrennt.  Dem  Jüngling  erscheinen  gut 
und  böse  oft  als  Eines,  weil  es  ihm  nicht  auf  die  Inhalte, 
sondern  auf  den  Lebensprozeß  ankommt,  der  zu  jener,  von 
objektiven  Normen  herkommenden  Einteilung  gar  kein  prin- 
zipielles Verhältnis  hat:  allenfalls  sind  ,,gut  und  böse"  etwas, 
was  wir  sind,  während  die  Altersbegriffe  ,, Tugend  und  Laster" 
etwas  sind,  was  wir  haben,  was  sich  von  der  Lebensgrundlage 
ideell  in  höherem  Maße  gelöst  hat.  —  Goethes  Lebensarbeit  ist 
nun  —  so  verschieden  in  ihm  verteilte  Akzente  uns  die  weitere 
Entwicklung  zeigen  wird  —  einerseits  nie  von  dem  Streben 
nach  Objektivierung  seines  Subjekts,  andrerseits  nie  von  dem 
freien,  in  sich  selbst  zentrierten  und  auf  die  eigene  Vollendung 
gehenden  Sich-Darleben  des  Ichs  verlassen.  Was  ich  eben  als 
das  Charakteristikum  seiner  Jugend  ansprach :  die  Bestimmtheit 
durch  das  Ideal  des  persönlichen  Seins,  geht  mit  später  auf- 
zuweisenden Wendungen  und  Differenzierungen  durch  sein 
ganzes  Leben  und  trennt  dies  sehr  entschieden  von  andern 
Existenzen,  die  von  vornherein  auf  Herausarbeitung  und  Be- 
arbeitung von  Inhalten  des  Lebens  eingestellt  sind.  Im 
eminenten  Sinne  war  Kant  eine  solche.  ,,Ich  bin  selbst  aus 
Neigung  ein  Forscher",  lautet  eine  in  seinem  Nachlasse  gefundene 
Notiz.  ,,Ich  fühle  den  ganzen  Durst  nach  Erkenntnis  und  die 
begierige  Unruhe,  darin  weiter  zu  kommen  oder  auch  die  Zu- 
friedenheit bei  jedem  Fortschritte.  Es  war  eine  Zeit,  da  ich 
glaubte,  dieses  alles  könnte  die  Ehre  der  Menschheit  machen 
und  ich  verachtete  den  Pöbel,  der  von  nichts  weiß.  Rousseau 
hat  mich  zurecht  gebracht.  Dieser  verblendete  Vorzug  ver- 
schwindet: ich  lerne  die  Menschen  ehren  und  würde  mich  viel 
unnützer  finden,  als  die  gemeinen  Arbeiter,  wenn  ich  nicht 
glaubte,  daß  diese  Betrachtung  allen  übrigen  einen  Wert  geben 
könnte,  die  Rechte  der  Menschheit  herzustellen."  So  echt  und 
fundamental  diese  Leidenschaft  des  Erkennens  ist,  so  ist  damit 


„Gefühl  ist  Alles"  215 

der  Wert  des  subjektiven  Lebens  von  einem  Kriterium  abhängig, 
das  gegen  dieses  Leben  prinzipiell  ganz  gleichgültig  ist:  Kant 
will  das  Gefäß  der  Erkenntnis  werden,  die  sich  aus  ihrer 
ideellen  Existenz  heraus  in  ihm  realisiert.  Und  die  Wendung,  zu 
der  ihn  Rousseau  veranlaßt,  richtet  seine  Wertbetonungen  von 
dem  ab,  was  er  ,,aus  Neigung"  ist,  unterstellt  sein  Tun  einer 
Ordnung,  die  völlig  jenseits  seiner  selbst  steht.  Es  sind  immer 
die  objektiven  Inhalte  seines  geistig-innerlichen  Lebensprozesses, 
von  denen  diesem  Form,  Bewegung,  Wert  kommt  —  während 
bei  Goethe  der  Lebensprozeß  das  erste  ist  und  von  ihm,  seinen 
Normen  und  Kräften  aus,  erst  die  Inhalte  nach  Art,  Schicksal 
und  Bedeutung  bestimmt  werden.  Die  Einheit  des  Daseins, 
das  sich  in  Prozeß  und  Inhalt  erschöpft,  wurde  so  bei  beiden 
von  entgegengesetzten  Seiten  her  gewonnen.  Weil  aber,  wie 
gesagt,  in  der  Jugend  der  Prozeß  des  Lebens  das  Übergewicht 
über  seine  Inhalte  hat,  im  Alter  die  Inhalte  über  den  Prozeß, 
darum  ist  in  Goethe  etwas  von  ewiger  Jugend,  während  Kant 
von  vornherein  etwas  Altes  hat. 

Die  besondere  Unbedingtheit  und  Unmittelbarkeit,  mit  der 
Goethes  Jugend  diesen  Zug  zuspitzt,  offenbart  sich  in  der  Vor- 
herrschaft derjenigen  seelischen  Energie,  die  gleichsam  die  psycho- 
logische Vertretung  oder  Bewußtheit  der  so  gerichteten  Lebens- 
realität ist:  des  Gefühles.  Seine  Jugend  steht  durchaus  unter 
dem  Zeichen:  ,, Gefühl  ist  Alles."  Ich  führe  nur  einige  Stellen 
vom  Anfang  seiner  zwanziger  Jahre  an.  Von  einem  Freunde 
schreibt  Werther :  ,,Auch  schätzt  er  meinen  Verstand  und  meine 
Talente  mehr  als  dies  Herz,  das  doch  mein  einziger  Stolz  ist, 
das  ganz  allein  die  Quelle  von  Allem  ist,  aller  Kraft,  aller 
Seligkeit  und  alles  Elends.  Was  ich  weiß,  kann  jeder  wissen 
—  mein  Herz  habe  ich  allein."  Unmittelbar,  ohne  dichterische 
Verlegung,  an  einen  Freund,  der  ihn  religiös  beeinflussen  will: 
„Daß  du  mich  immer  mit  Zeugnissen  packen  willst!  Wozu  die? 
Brauch'  ich  Zeugnis,  daß  ich  bin?  Zeugnis,  daß  ich  fühle? 
Nur  so  schätz',  lieb',  bete  ich  Zeugnisse  an,  die  mir  darlegen, 
wie  Tausende  oder  einer  vor  mir  eben  das  gefühlt  hat,  das  mich 
kräftiget  und   stärket."     Über   den  Götz  bald  nach  seinem  Er- 


216  Tragik  der  Herrschaft  des  Gefühls 

scheinen:    „Es    ist    alles  nur  gedacht,    das  ärgert  mich  genug. 

Wenn  Schönheit   und  Größe   sich    mehr   in   dein    (d.  h. 

mein)  Gefühl  webt,  wirst  du  Gutes  und  Schönes  tun,  reden 
und  schreiben,  ohne  daß  du  weißt  warum.''  Kestner  urteilt 
über  ihn  als  Dreiundzwanzigjährigen:  ,,Er  strebt  nach  Wahrheit, 
hält  jedoch  mehr  von  dem  Gefühl  derselben,  als  von  ihrer 
Demonstration."  Alles,  was  die  ursprüngliche,  im  Gefühl  sich 
ausdrückende  Seinseinheit  auseinanderzieht  und  in  Stücke  zer- 
legt, ist  ihm  jetzt  verhaßt,  so  daß  er  sich  über  eine  ihm  zuge- 
mutete Kritik  so  äußert:  Was  er  sagen  könne,  müsse  der 
Autor  in  sein  Gefühl  übertragen,  und  aus  dem  so  geschaffenen 
Gefühl  erst  heraus  könne  er  etwas  ändern.  „Ich  hasse  alle 
Spezialkritik  von  Stellen  und  Worten.  Ich  kann  leiden,  wenn 
meine  Freunde  eine  Arbeit  von  mir  zu  Feuer  verdammen, 
umgegossen  oder  verbrannt  zu  werden;  aber  sie  sollen  mir 
keine  Worte  rücken,  keine  Buchstaben  versetzen."  Seine 
Produktion  selbst  leitet  er,  mit  24  Jahren,  ganz  unmittelbar 
und  gleichsam  unter  Ausschluß  objektivischer  Motive,  aus  dem 
Leben  und  dem  Fühlen  ab:  ,, Meine  Ideale  wachsen  täglich  aus 
an  Schönheit  und  Größe  und  wenn  mich  meine  Lebhaftigkeit 
nicht  verläßt  und  meine  Liebe,  so  soll's  noch  viel  geben." 
Und  mit  fast  70  Jahren  beurteilt  er  den  Gegensatz,  der  sich 
als  der  Träger  der  weiteren  Entwicklung  zeigen  wird,  in  ent- 
scheidender Weise:  ,, Meine  ersten  ins  Publikum  gebrachten 
Produktionen  sind  im  eigentlichsten  Sinne  gewaltsame  Aus- 
brüche eines  gemütlichen  (d.  h.  gefühlsmäßigen)  Talents,  das 
sich  aber  weder  zu  raten  noch  zu  helfen  weiß."  Er  setzt  also 
—  worauf  wir  alles  ankommen  sehen  werden  —  das  Gemüt  in 
den  Gegensatz  zum  Theoretischen,  mit  dem  man  sich  zu  „raten" 
weiß,  und  zum  Praktischen,  mit  dem  man  sich  zu  , »helfen  "  weiß. 
Diese  Eingestelltheit  seines  jugendlichen  Lebens  auf  die  Herr- 
schaft des  Gefühls  erweist  sich  nicht  minder  an  der  tragischen 
Konsequenz,  die  sie  im  Werther  gewinnt.  Das  wunderbar 
Schöne  und  Charakteristische  dieser  Jugend,  die  Existenz  aus 
der  unbegrenzten  Fülle  des  Gefühles  heraus,  zeigt  sich  hier, 
eine  echte  Tragik,  in  seinem  Selbstwiderspruch  und  seiner  Ver- 


Rettung  217 

nichtungsnotwendigkeit,  die  ihm  gerade  im  Augenblick  seines 
Absolutwerdens  kommt.  Gewiß  ist  Werthers  Gefühl  eine  äußerste 
Steigerung  des  Lebens;  aber  indem  es  in  sich  selbst  verbleibt, 
nur  von  sich  selbst  zehrt,  muß  es  sich  zerstören  —  wie  später 
Aurelie  und  Mignon  aus  derselben  Ursache  zugrunde  gehn,  aus 
dem  ausschließlichen  Leben  im  Gefühl,  das,  trotz  seiner  imma- 
nenten Unendlichkeit,  doch  das  Leben  sich  in  eine  Sackgasse 
verrennen,  ,,alle  andern  Kräfte  in  mir  ungenützt  vermodern" 
läßt.  „Ich  bin  so  glücklich,  schreibt  Werther,  so  ganz  in  dem 
Gefühl  vom  ruhigen  Dasein  versunken,  daß  meine  Kunst 
darunter  leidet.  —  Aber  ich  gehe  darüber  zugrunde,  ich  unter- 
liege unter  der  Gewalt  der  Herrlichkeit  dieser  Erscheinungen." 
Vielleicht  hängt  dies  auch  so  zusammen,  daß  das  Gefühl,  so 
weitgehend  seine  Vollmacht  zur  psychologischen  Vertretung  der 
Gesamtexistenz  ist,  eben  doch  nur  deren  Reflex  in  der  Sub- 
jektivität ist.  Die  Idealbildung  der  Goetheschen  Jugend  ging 
auf  die  Vollendung  des  Seins  als  solchen,  in  allem,  was  er 
dachte  und  tat,  war  es  das  unmittelbare,  alles  tragende  und 
treibende  Leben  der  Persönlichkeit,  auf  dessen  Intensität  und 
innere  Ausbildung  es  ihm  ankam.  Indem  damit  aber  unvermeid- 
lich das  Gefühl  zur  Dominante  des  Lebens  wird,  entsteht  die 
Gefahr,  daß  dieses,  das  doch  nur  die  subjektive  Spiegelung  und 
Symbolisierung  unsres  realen  Seins  ist,  sich  von  diesem  ablöst 
und  sich  als  Substanz  des  Lebens  auftut.  Dieser  Gefahr  unter- 
liegt Werther  und  zehrt  damit  die  tatsächliche  Existenz  selbst 
auf.  Goethe  aber  rettete  sich  von  dieser  Konsequenz,  indem 
er  den  Werther  schuf,  d.  h.  indem  Objektivierung  und  Pro- 
duktivität an  die  Stelle  des  bloßen,  in  sich  schwingenden  Ge- 
fühlszustandes trat,  die  große  Akzentverlegung  seines  Lebens, 
die  wir  gleich  kennen  lernen  werden,  andeutend. 

Ich  sagte,  daß  diese,  das  persönlich-lebendige  Sein  und  das 
Gefühl  zur  Grundlage  wie  zum  Ideal  nehmende  Existenz  nur 
den  Typus  der  Jugendlichkeit  überhaupt  besonders  rein  heraus- 
arbeitete. Allein  daß  dies  der  Fall  ist,  geht  doch  wohl  auf  die 
phylogenetische  Stellung  des  Gefühls  zurück.  Je  undifferen- 
zierter sich  unsere  Existenz  als  Gesamtzustand,  Gesamtsinn  und 


218  Wesenswert  der  Jugend 

-wert  spiegeln  will,  desto  mehr  gelingt  ihr  dies  in  den  Formen 
des  Gefühls,  gegenüber  den  gespalteneren,  vermitteiteren  des 
Denkens  und  des  Wollens.  Die  ersten  Zustände  der  Seele  sind 
doch  wohl  Gefühle,  und  ,, Wille  und  Vorstellung"  erst  sekun- 
däre, vielleicht  pari  passu  ausgebildete.  Aber  dieses  so  aus  der 
Lebenstiefe  hervorbrechende  Ideal  einer  einheitlich -subjektiven 
Seinsvollendung,  wie  es  sich  im  ersten  Faustmonolog  als  meta- 
physisches, im  Spaziergang  mit  Wagner  als  sozusagen  vitali- 
stisches  ausspricht,  alle  Sehnsucht  der  gefühlten  Fülle  und 
Vollendung  des  Erlebens  zudrängend  —  dieses  Ideal  gibt  dem 
Bilde  des  jungen  Goethe  einen  Zauber,  eine  Ahnung  mensch- 
heitlicher Vollendung,  ein  unerhörtes  Versprechen,  dem  gegen- 
über alle  Wunder  seines  späteren  Seins  und  Leistens,  obgleich 
sie  die  Kraft  der  Wirklichkeit  gegenüber  der  bloßen  Möglich- 
keit besitzen,  ein  leises  Abblassen  bedeuten.  Vielleicht  liegt 
hier  ein  allgemeines  Schicksal  der  Menschheit,  das  sich  nur  an 
ihren  höchsten  Exemplaren  besonders  verdeutlicht,  weil  wir  sie 
als  die  ,, höchsten"  eben  auf  Grund  von  Leistungen  zu  nennen 
pflegen,  die  meistens  der  Zeit  nach,  mindestens  aber  dem 
Sinne  nach  jenseits  der  Jugendlichkeit  liegen;  daher  stammt 
wohl  das  seltsam  Ergreifende,  das  so  oft  die  Jugendbildnisse 
der  großen  Menschen  für  uns  haben.  Sie  mögen  sich  nachher 
zu  dem  unerhörtesten  Schaffen  und  Wirken  erhoben  haben  — 
mit  irgend  einer  Einbuße,  irgend  einer  Vereinseitigung,  irgend 
einer  Temperatursenkung  ist  es  erkauft,  obgleich  sie  das,  was 
sie  verloren  haben  und  um  ihrer  Leistungen  willen  verlieren 
mußten,  eigentlich  gar  nicht  als  Wirklichkeit  besaßen,  aber 
doch  auch  nicht  als  bloße  abstrakte  Möglichkeit;  sondern  unter 
jener,  logisch  so  schlecht  greifbaren  Kategorie,  in  der  das 
lebendige  Wesen  seine  Zukunft  schon  als  Gegenwart  besitzt,  in 
der  seine  ungelösten,  vielleicht  nie  zu  lösenden  Spannkräfte  es 
schon  als  eine  Wirklichkeit  besonderer  Art  umschweben.  Auch 
ist  in  dieser  ahnungsvollen  Darbietung  eines  Gesamtseins,  gegen 
die  alle  spätere  konkrete  Leistung  Zerlegtheit  und  Einseitigkeit 
ist,  die  spezifische  ,, Liebenswürdigkeit"  der  Jugend  begründet; 
denn  Liebe    richtet   sich    eben  auf  die  Ganzheit  des  Menschen 


Auseianderlegung  in  Handeln  und  Erkennen  219 

und  nicht  auf  noch  so  wertvolle  einzelne  Perfektionen  und 
Taten,  die  höchstens  als  Brücke  für  das  Verhältnis  zu  jener 
Ganzheit  dienen  können.  Der  Zauber  von  Goethes  Jugend,  der 
ihm  die  Liebe  aller  Herzen  gewann,  scheint  in  dieser  vorbehalt- 
losen Darlebung  und  Offenbarung  seiner  gleichsam  in  sich  un- 
geteilten Persönlichkeit  gelegen  zu  haben,  seiner  Existenz,  die 
noch  nicht  in  differenzielle  Kanäle  geleitet  war. 

Das  Ideal  der  Vollendung  des  persönlichen  Seins  geht  ihm 
in  die  des  Handelns  (als  Schaffen  und  als  Wirken)  und  des 
Erkennens  auseinander  —  in  vereinzelten  Ansätzen  schon  in 
der  frühen  Weimarer  Zeit  anklingend,  entschieden  aber  nach 
der  Rückkehr  aus  Italien.  Und  es  ist  das  ganz  Unvergleich- 
liche seines  Bildes,  daß  jener  damit  geschehende  Abbruch  an 
Schönheit  und  Kraft  seines  Lebens  nur  das  schlechthin,  ich 
möchte  sagen:  logisch  unvermeidliche  Minimum  war.  Und 
zwar,  weil  diese  Wandlung  ein  rein  inneres  Entwicklungsschicksal, 
eine  von  vornherein  in  dem  organischen  Gesetz  seines  Wesens 
vorgezeichnete  Periodik  war.  Wo  die  Kraft  aus  der  Form  der 
Gesammeltheit,  die  sie  nur  als  jugendhafte  Möglichkeit  besitzt, 
in  Bewährungen  übertritt,  aus  dem  sich  selbst  genügenden 
Lebensvorgang  in  einzelne  Inhalte  geleitet  wird,  da  büßt  sie 
natürlich  den  Glanz  und  Reiz  ein,  der  nun  einmal,  unvergleich- 
bar, gerade  an  jener  Form  haftet.  Aber  in  den  meisten 
Lebensläufen  wird  damit  auch  ein  Teil  der  Kraft  selbst  lahm- 
gelegt, der  Strom  der  Vitalität,  in  eine  Mehrheit  von  Adern 
auseinandergeführt,  nun  mehr  von  bestimmten  Zielen  gezogen, 
statt  von  der  Einheit  seiner  Quelle  getrieben,  verliert  dabei  an 
Macht  und  Gedrängtheit.  Diese  weitergehende,  weiter  verlierende 
Konsequenz  ist  bei  Goethe  nicht  eingetreten;  als  er  aus  dem 
Idealismus  der  subjektiven  Lebendigkeit  zu  dem  des  objektiven 
Wirkens  und  Erkennens  überging,  war  freilich  die  Jugend  mit 
ihren  spezifischen  Werten  verloren,  aber  weiter  auch  nichts. 
Jenes  dynamische  intensive  Sein  bleibt  in  der  Theorie  und  in 
der  Praxis,  in  die  es  auseinandergeht,  als  deren  Substanz  er- 
halten, es  fällt  nicht,  wie  in  der  Mehrzahl  solcher  Entwick- 
lungen, zwischen  ihnen  durch  oder  wird  zwischen  sie  aufgeteilt. 


220  „Wort  und  Tat" 

Aus  der  Einheit  des  ursprünglichen  Lebenstriebes,  der  sich  in 
diese  beiden  hineingelebt,  wird  die  Zusammengehörigkeit  ver- 
ständlich, in  der  er  sie  beide  fortwährend  erblickt.  Wenn  er 
alles  Wissen  haßte,  das  seine  Tätigkeit  nicht  belebte,  keinen 
Eindruck  anerkannte,  der  ihn  nicht  produktiv  machte,  an  der 
Praxis  das  Kriterium  des  theoretisch  Wahren  fand  —  so  wirkt 
in  all  dem  die  Gemeinsamkeit  der  Wurzel,  die  die  seines  Lebens 
von  Anfang  an  war.  Nachdem  sie  sich  in  Erkennen  und 
Handeln  auseinandergezweigt  hatte,  blieben  dieser  beiden  soli- 
darische Beziehungen  als  Folge  und  Symbol  jener  Wurzelung 
zurück. 

Das  klare  und  prinzipielle  Bewußtsein  dieser  entscheidenden 
Wendung  spricht  sich  z.  B.  in  einer  Äußerung  vom  Jahre  1805 
aus,  in  der  er  die  Erinnerung  an  bedeutende  Gegenstände,  be- 
sonders an  charakteristische  Naturszenen,  mit  ihrem  Eindruck 
nach  langer  Zwischenzeit  vergleicht.  ,,Da  werden  wir  denn 
bemerken,  daß  das  Objekt  immer  mehr  hervortritt,  daß,  wenn 
wir  uns  früher  an  den  Gegenständen  empfanden,  Freud  und 
Leid,  Heiterkeit  und  Verwirrung  auf  sie  übertrugen,  wir  nun- 
mehr, bei  gebändigter  Selbstigkeit,  ihnen  das  gebührende  Recht 
widerfahren  lassen,  ihre  Eigenheiten  zu  erkennen  wissen."  Dazu 
erinnere  man  sich  an  alle  die  Äußerungen  über  den  Wert  des 
praktischen  Verhaltens  als  solchen,  die  in  unsren  früheren 
Zusammenhängen  hervortraten  und  mit  seinem  steigenden  Alter 
immer  entschiednere  Form  annehmen.  Er  ist  noch  keineswegs 
ein  alter  Mann,  als  er  sagt,  in  seinem  Alter  gebe  es  für  ihn 
nur  noch  Wort  und  Tat,  das  sogenannte  beredte  Schweigen 
habe  er  schon  lange  der  lieben  und  verliebten  Jugend  über- 
lassen —  eine  Absage  also  an  die  gefühlshafte  Lebensepoche 
zugunsten  der  theoretisch-praktischen.  Er  selbst  zwar  kon- 
struiert als  den  Gegensatz  gegen  diese  letztere  meistens  die  des 
dichterischen  Schaffens  —  sowohl  im  Verfolg  jener  Äußerung 
von  1805  wie  zwanzig  Jahre  später  sagt  er  ausdrücklich,  daß 
die  Fähigkeit  für  das  Künstlerische,  Ästhetische,  die  ihm  ur- 
sprünglich eignete,  ihn  verlassen  habe  und  daß  an  dessen  Stelle 
die  Naturstudien  getreten  wären.     Dies    sind    indes    ersichtlich 


Die  beiden  Teile  des  Meister  221 

Stimmungen  aus  dichterisch  sterilen  Monaten  oder  Jahren.  Die 
Tatsachen  zeigen,  daß  ihm  das  Alter  die  dichterische  Fähigkeit 
keineswegs  geraubt  hat,  aber  auch  ihr  gab  er  freilich  das  Cachet 
der  Objektivität;  auch  sie  bewahrend  wurde  er  nun  der  ,, Er- 
zählende", der  das  eigne  Leben  und  seine  Inhalte  gegeneinander 
differenziert  hat,  und  sie  nun  in  der  Form  des  Kunstwerks 
ebenso  wieder  zusammenbringt,  wie  in  der  des  Forschens  und 
des  praktischen  Handelns. 

Das  Verhältnis  der  beiden  Teile  des  Meister  bildet  die  bisher 
skizzierte  Entwicklung  nach.  Die  Lehrjahre  stehen  unter  dem 
Ideal,  die  Persönlichkeit  auszubilden  und  auszuleben.  Der 
Selbstwert  objektiver  Leistungen  kommt  kaum  in  Frage,  außer 
etwa  bei  Therese,  die  aber  auch  nach  dieser  Richtung  hin 
eigentlich  schon  in  die  Wanderjahre  überdeutet.  Daß  gerade 
der  Schauspieler  und  der  Edelmann  besondre  Schätzung  erfahren, 
ist  hierfür  außerordentlich  bezeichnend.  Denn  für  beide  ruht 
diese  Schätzung,  wenn  auch  in  ganz  verschiedener  Motivierung, 
keineswegs  auf  den  spezifischen  Inhalten  und  substanziellen 
Resultaten  ihrer  Existenz.  Die  Leistung  des  einen  ist  die 
schlechthin  verfließende,  rein  funktionelle,  deren  überindividuelle 
Wirkung  auch  nur  wieder  auf  die  funktionelle  Bildung  und 
Seinserhöhung  des  Publikums  geht,  die  Leistung  des  andern 
wird  überhaupt  nicht  substanziiert.  Worauf  es  für  beide  an- 
kommt, ist  gerade  die  Befreitheit  von  Lebensinhalten,  die  die 
sich  selbst  gehörende,  aus  dem  Seinsideal  folgende  Entwicklung 
der  Persönlichkeit  in  einer  sachlichen  und  äußeren  Ordnung 
festlegen  könnten.  Zu  solcher  unsachlichen  und  undifferenzierten, 
auf  das  Leben  als  solches  gerichteten  Existenz  und  Existenz- 
wertung sind  die  Frauen  von  vornherein  disponierter  und  gerade 
dies  spezifisch  Weibliche  ist  in  fast  all  seinen  möglichen  Ver- 
wirklichungstypen in  den  Lehrjahren  durchgeführt,  in  Marianne 
wie  in  Mignon,  in  Philine  wie  in  der  Gräfin,  in  Aurelie  wie  in 
Natalie.  In  der  letzteren  am  reinsten  und  vollkommensten, 
und  es  spricht  deshalb  den  tiefsten  Sinn  von  Wilhelms  Lebens- 
intention aus,  daß  er  in  ihr  die  Erfüllung  all  seiner  Sehnsucht 
findet,    nachdem    die    erotischen    Beziehungen    zu  den  anderen 


222  Individualität  und  Menschheit 

Frauen  schon  die  Parallelität  gezeigt  haben,  die  zwischen  dem 
Dominieren  des  Gefühls  und  dem  Ideal  des  gesamten  Seins, 
das  ihn  leitet,  besteht.  In  der  ganzen  Breite  dieser  Wertrich- 
tung des  Lebens  bilden  die  Wanderjahre  das  genaue,  ja  eigent- 
lich krasse  Gegenteil.  Hier  liegt  aller  Ton  auf  dem  objektiven 
Wirken,  den  sozialen  Institutionen,  der  überindividuellen  Ver- 
nunft. Die  Menschen  sind  nur  die  eigentlich  anonymen 
Träger  bestimmter,  durch  ihren  Inhalt  festgelegter  Funktionen, 
an  die  Stelle  der  auf  sie  selbst  bezüglichen,  für  sie  selbst  wert- 
vollen Ausbildung  tritt  die  für  die  Ausübung  von  Tätigkeiten, 
die  sich  in  ein  objektives  Ganzes  einordnen.  Während  die  Luft 
der  Lehrjahre  so  kontinuierlich  von  Lebenswellen  erfüllt  ist, 
wie  es  nur  geschehen  kann,  wo  das  Leben  um  seiner  Absolut- 
heit willen,  das  Sein  um  seiner  eignen  Vollendung  willen  ge- 
sucht wird,  atmet  man  in  den  Wanderjahren  dünne  Luft,  weil 
die  Lebensstrahlen  auf  je  einzelne  Ziele  festgelegt,  gleichsam 
linear  differenzierte  sind  und  dadurch  leere  Zwischenräume 
zwischen  ihnen  bleiben  müssen.  Die  Spannung  der  Atmosphäre 
zwischen  dem  männlichen  und  dem  weiblichen  Pol  ist  fort- 
gefallen, Männer  und  Frauen  sind  dem  gleichen  objektiven 
Gesetz  unterstellt,  das  nicht  mehr  ein  Gesetz  des  Seins,  sondern 
des  Wirkens  und  Leistens  ist,  und  an  die  Stelle  des  Gefühls 
ist  die  Weisheit  getreten.  Das  bedeutet  einen  Begriff  der  In- 
dividualität, der  sich  gegen  dessen  frühere  Formung  antagonistisch 
abhebt  und  sich  nach  dem  Begriff  der  Menschheit  orientiert 
zeigt.  Je  älter  Goethe  wird,  desto  mehr  tritt  ihm  sozusagen 
an  die  Stelle  des  Menschen  die  Menschheit.  Das  Leben  hat 
ihn  überzeugt,  daß  der  Einzelne  sich  zu  jener  wirklichen  indi- 
viduellen Vollkommenheit,  die  seiner  Jugend  vorschwebte,  nicht 
ausbilden  kann  —  so  soll  es  denn  die  Menschheit:  ,,Das  Jahr- 
hundert ist  vorgeschritten,  aber  der  Einzelne  fängt  doch  immer 
von  vorn  an."  Diese  Vollkommenheit  aber  gewinnt  die  Mensch- 
heit nicht  durch  eine  qualitativ  gleiche,  sondern  —  indem  er 
auch  dieser  Abstraktion  das  Prinzip  des  Organismus  bewahrt 
—  durch  die  arbeitsteiligste  Ausbildung  ihrer  Glieder.  ,,Narrens- 
possen  sind  eure  allgemeine  Bildung  und  alle  Anstalten  dazu. 


Objektivierung  des  Subjekts  223 

heißt  es  in  den  Wander  jähren.  Daß  ein  Mensch  etwas  ganz 
entschieden  verstehe,  vorzüglich  leiste,  wie  nicht  leicht  ein 
Andrer  in  der  nächsten  Umgebung,  darauf  kommt  es  an." 
Während  in  den  Lehrjahren  das  persönliche  Leben  als  solches 
differenziert  wird  und,  weil  jedes  Individuum  eine  Welt  ist, 
nun  ein  jedes  auch  eine  differenzierte  Welt  ist,  wird  in  den 
Wanderjahren  eine  einheitliche  Welt  erstrebt,  innerhalb  deren 
also  nicht  die  Personen,  sondern  nur  die  Leistungen,  die  ob- 
jektiven Bestandteile  dieser  Welt,  differenziert  sein  müssen. 
Hier  liegt  eine  der  tiefsten  Beziehungen  und  Begründungen 
von  Goethes  Altersideal  des  Praktischen.  Erst  das  Handeln, 
insofern  es  von  seinem  Inhalt  bestimmt  und  nach  seinem 
Resultat  gemessen  wird,  stellt  sich  als  Teil  in  die  objektive 
und  gesellschaftliche  Welt  ein,  die  Menschheit  in  diesem  letzteren 
Sinne  fordert  für  Goethe  nicht  die  Differenzierung  des  selbst- 
genugsamen,  seine  eigene  Vollendung  suchenden  Menschen, 
nicht  sein  Sein  und  sein  Fühlen,  sondern  sein  Tun,  sein  sach- 
gemäßes Wirken ;  die  Wendung  vom  Menschen  zur  Menschheit 
bedeutet  zugleich  die  vom  Individuum  als  dem  Träger  eines 
individuellen  Seins  zum  Individuum  als  dem  Träger  einer  in- 
dividuellen Leistung  und  besiegelte  Goethes  große  Wendung  vom 
Wert  des  personalen  Lebens  zu  dem  der  objektiven  Inhalte  des 
Lebens. 

Wenn  man  die  ,,Idee**  der  Goetheschen  Lebensintention  for- 
mulieren, seinem  einheitlich-totalen  Sollen  einen  Inhalt  bestimmen 
soll,  so  ist  es  doch:  die  Objektivierung  des  Subjekts.  In  einer 
kaum  überschaubaren  Arbeit  hat  er  das  vielleicht  reichste,  ge- 
drängteste, bewegteste  subjektive  Leben,  das  wir  kennen,  derart 
zu  objektiver  Geistigkeit  gebildet,  daß  man  den  ganzen  Umfang 
und  die  unzähligen  Ausschlagspole  dieses  rastlosen  innerlichen 
Werdens,  dieser  immer  schwingenden,  immer  empfangenden  und 
immer  zeugenden  Ichfunktion  wie  lückenlos  an  dem  zeitlos  aus- 
gebreiteten Werk  ablesen  kann.  Die  wechselnden  Gefahren  des- 
jenigen, der  wie  Goethe  sein  Werk  als  eine  Konfession  bezeichnet: 
entweder  in  ein  naturalistisches  Herausbrodeln  zu  verfallen  oder 
die  Lebensinhalte  so  fest  zu  verformen,  daß  ihre  Verbundenheit 


224  Differenzienmg  als  Versachlichung 

mit  dem  Subjekt  nicht  mehr  fühlbar  bleibt  —  diese  Gefahren 
bestanden  für  Goethe  nicht.  Was  er  von  den  Wahlverwandt- 
schaften sagt:  es  wäre  keine  Zeile  darin,  die  er  nicht  erlebt 
hätte,  aber  auch  keine  so,  wie  er  sie  erlebt  hätte,  drückt,  wenn 
auch  negativ  und  vielleicht  etwas  äußerlich,  das  Entscheidende 
aus:  das  rein  Subjektive,  das  er  in  sein  Werk  hineingab  und  das 
rein  Objektive,  als  das  es  in  diesem  erstand.  Die  anderen 
höchsten  Künstler,  deren  Werk  gleichfalls  als  Objektivierung 
des  Subjekts  empfunden  wird:  Michelangelo,  Rembrandt  und 
Beethoven,  konnten  in  den,  den  sprachlichen  Mitteln  gegenüber 
spezialistischeren  Ausdrucksmöglichkeiten  ihrer  Kunst  das  innere 
Dasein  als  Geist,  Gefühl  und  Ethos  nicht  in  dem  gleich  lücken- 
losen Umfang  ausbreiten.  Diese  große  menschheitliche  Leistung 
wird  eigentlich  nur  in  andrer  Wendung  durch  das  hier  oft  Wieder- 
holte ausgedrückt:  vermöge  der  tiefen  Einwurzelung  seiner  in- 
dividuellen Realität  in  das  Kosmische  und  Ideelle  habe  er  nur 
der  Triebhaftigkeit,  dem  aus  sich  selbst  wachsenden  Prozeß 
seines  subjektiven  Lebens  zu  folgen  brauchen,  um  das  objektiv 
Rechte  und  Tiefe,  das  künstlerisch  Vollendete,  das  ethisch 
Geforderte  zu  leisten;  und  so  umfassend  war  diese  Einheit,  daß 
alle  Selbstbeherrschung,  Selbsterziehung  und  Resignation,  deren 
es  zur  Herausbildung  dieses  Ergebnisses  bedurfte,  zum  Charakter 
und  Rhythmus  seines  unmittelbaren,  subjektiven  Lebens  selbst 
gehörte.  Aber  in  seinen  verschiednen  Epochen  geht  diese  sub- 
jektiv-objektive Einheit  verschiedene  Verwirklichungswege.  Sie 
zeigt  sich  in  seiner  Jugend  mit  einer  gewissen  naiven  Reinheit, 
indem  er  die  Ideale  des  Lebens  auf  das  Leben  selbst  sammelt 
und  die  zentrale  Triebkraft  auf  die  Vollendung  des  persönlichen 
Seins  richtet.  Die  Entwicklung  über  diese  Stufe  hinaus  mag 
man  als  Differenzierung  oder  als  Objektivierung  bezeichnen. 
Auf  sehr  klare  Art  erweist  sie  die  Wechselbedeutung  dieser 
beiden  Begriffe.  Überall,  wo  die  Einheit  des  subjektiven  Lebens 
sich  in  Sonderbetätigungen,  Sonderinteressen  zerlegt,  bedeutet 
es,  daß  von  dem  einheitlichen  Persönlichkeitspunkt  Radien  sich 
strecken,  die  in  außerpersonale,  objektive  Gebiete  hineinreichen 
oder  von  diesen  gewissermaßen  aus  jenem  herausgelockt,  heraus- 


Differenzierung  in  sich  und  gegen  die  Welt  225 

gezogen  werden.  Die  ganze  geistige  und  soziale  Geschichte  der 
Menschheit  zeigt  —  als  einen  ihrer  wenigen,  annähernd  als  ge- 
setzlich anzusprechenden  Züge  — ,  daß  jede  Arbeitsteilung  ein 
Schritt  zum  Objektivwerden  der  Interessen  und  Einrichtungen 
ist;  je  differenzierter  eine  Gesellschaft  ist,  desto  sachlichere,  un- 
persönlichere Normen  bildet  sie  aus,  je  geteilter  die  Funktionen, 
desto  mehr  ist  das  schließliche  Resultat,  weil  es  nicht  mehr  einer 
einheitlichen  Person  genetisch  verbunden  ist,  ein  bloß  objektives 
Ganzes,  das  die  subjektiven  Teilbeiträge  sozusagen  in  sich  ein- 
geschluckt hat  und  jedem  dieser  einzelnen  als  ein  Neues  und 
Fremdes  gegenübersteht.  In  dem  Maße  also,  in  dem  jene  ein- 
heitliche Lebensvollendung  ihre  Stelle  in  Goethes  Idealbildung 
an  das  Tun  und  das  Erkennen  abgab,  in  eben  dem  wurde  sein 
Denken  und  seine  Seinsintention  objektiver,  bis  zu  dem  Grade, 
daß  schließlich  jede  Unmittelbarkeit  seines  eigenen  Erlebens 
ihm  ein  objektiv  zu  registrierendes,  objektiv  zu  begreifendes 
Ereignis  war.  Indem  er  sich  in  sich  differenzierte,  differenzierte 
er  auch  sich  und  die  Welt  gegeneinander,  jene  unmittelbare,  ge- 
fühlsmäßige Einheit  zwischen  dem  Ich  und  der  Welt  machte 
dem  Bilde  einer  objektiven  Welt  Platz,  die  praktisch  zu  be- 
arbeiten und  theoretisch  zu  erkennen  ist  —  woneben  jene  Ein- 
heit freilich  irgendwie  erhalten  und  außerdem  doch  das  auf  diesen 
getrennten  Wegen  zu  erarbeitende  Ziel  bleibt.  Während  er  also 
in  der  Jugend  die  Totalität  des  Daseins  in  der  Totalität  seines 
Subjekts  empfindet,  legt  sich  ihm  später  das  letztere  gleichsam 
in  eine  Mehrzahl  von  Armen  auseinander,  mit  denen  ein  Gegen- 
überstehendes ergriffen  wird.  In  jenem  ersten  Sinne  ruft  Faust 
aus:  ,,Was  der  ganzen  Menschheit  zugeteilt  ist.  Will  ich  in 
meinem  innern  Selbst  genießen"  —  und  schon  am  Ende  der 
Lehrjahre  verkündet  eine  merkwürdige  Sentenz  das  andere : 
,, Sobald  der  Mensch  an  mannigfaltigen  Genuß  Anspruch  macht, 
so  muß  er  auch  fähig  sein,  mannigfaltige  Organe  an  sich,  gleich- 
sam unabhängig  von  einander,  auszubilden.  Wer  alles  und 
jedes  in  seiner  ganzen  Menschheit  genießen  will,  wer  alles  außer 
sich  zu  einer  solchen  Art  von  Genuß  verknüpfen  will,  der  wird 
seine  Zeit  nur  mit  einem  ewig  unbefriedigten  Streben  hinbringen." 

Simmel,  Goethe.  'S 


226  Liebe  und  Welt 

Jene  Äußerung  Fausts  enthält  den  Pantheismus  sozusagen  in 
der  Form  eines  Pananthropismus  und  gerade  diese  benutzt  er, 
fast  achtzig  Jahre  alt,  um  die  Abwendung  von  seinem  Jugendweg 
zu  charakterisieren.  Der  Faust,  sagt  er,  ,,hält  die  Entwicklungs- 
periode eines  Menschengeistes  fest,  der  von  allem,  was  die 
Menschheit  peinigt,  auch  gequält,  von  allem  was  sie  beunruhigt 
auch  ergriffen,  in  dem  was  sie  verabscheut  gleichfalls  befangen, 
und  durch  das,  was  sie  wünscht,  auch  beseligt  worden.  Sehr 
entfernt  sind  solche  Zustände  gegenwärtig  von  dem  Dichter." 
Viele  Jahrzehnte  hindurch  hat  er  als  Aufgabe,  eine  mit  jenen 
gesonderten  Organen  zu  lösende,  vor  sich  gesehen,  was  seine 
Jugend  zu  besitzen  meinte,  und  dies  eben  besagt,  daß  die  große 
Wendung  seines  Lebens  keinen  Verlust,  sondern  nur  eine  Meta- 
morphose darstellt,  und  daß  so  manches,  was  nur  in  der  Form 
des  jugendlichen  Lebensganzen,  des  jugendlichen  Fühlens  existenz- 
möglich schien,  doch  dem  Alter  in  der  Form  der  Objektivität 
erhalten  blieb.  ,,Mir  kommt  immer  vor,  schreibt  er  einmal  in 
späteren  Jahren,  wenn  man  von  Schriften  wie  von  Handlungen 
nicht  mit  einer  liebevollen  Teilnahme,  nicht  mit  einem  gewissen 
parteiischen  Enthusiasmus  spricht,  so  bleibt  so  wenig  daran, 
daß  es  der  Rede  gar  nicht  wert  ist.  Lust,  Freude,  Teilnahme 
an  den  Dingen  ist  das  einzig  Reelle,  und  was  wieder  Realität 
hervorbringt ;  alles  andre  ist  eitel  und  vereitelt  nur."  Mit  diesem 
Satz  scheint  mir  jener  ,, liebevolle  Zustand",  durch  den  er  seine 
Jugendjahre  charakterisierte,  gleichsam  objektiv  geworden  zu 
sein.  Man  kann  ihm,  als  Gegenstück  des  Prinzips :  die  Welt 
ist  meine  Vorstellung  —  wohl  den  Satz  unterstellen:  die  Welt 
ist  meine  Liebe;  aber  er  hätte  für  seine  Jugend  und  für  sein 
Alter  charakteristisch  verschiedenen  Sinn.  Dem  jugendlichen 
Herzen,  das  sozusagen  nur  sich  selbst  empfinden,  nur  seine 
Liebeskräfte  entfalten  wollte,  war  dazu  das  ganze  Dasein  gerade 
groß  genug,'  wie  es  das  Ganze  umfaßte,  so  gab  es  sich  dem 
Ganzen  hin,  ein  Liebespantheismus,  der  sich  etwa  im  Ganymed 
herrlich  ausspricht.  Dann  aber,  indem  diese  Einheit  entschiedener 
in  Subjekt  und  Objekt  auseinander  geht,  empfindet  sich  die 
Liebe  mehr  als  hervorbringend,   das  Dasein  wird  jetzt  in  dem 


Reserviertheit  des  Alters  227 

Sinne  ihr  Objekt,  daß  sie  die  Kraft  im  Subjekt  ist,  vermöge  deren 
für  eben  dieses  das  Dasein  überhaupt  da  ist,  wie  in  jenem  Kantisch- 
Schopenhauerischen  Satz  die  Welt  gerade  dadurch  das  Objekt 
für  uns  ist,  daß  unser  Vorstellen  sie  erzeugt.  Jetzt  ist  die  ,, liebe- 
volle Teilnahme  das  Einzige,  was  Realität  hervorbringt",  sonst 
ist  alles  eitel.  Bis  in  diesen  innerlichsten  Affekt  hinein  also 
zeigt  sich  die  Entwicklung,  die  den  subjektivisch-einheitlichen 
Zustand  seiner  Jugend  in  die  mannigfach  sich  formende  Aus- 
einanderlegung von  Subjekt  und  Objekt  überführt  und  diese 
voraussetzend  von  neuem,  wie  auf  höherer  Stufe,  der  Einheit 
entgegenv/ächst. 

Aber  noch  schärfer  bezeichnet  es  den  Epochenwandel,  daß  neben 
dieser  tiefen  Bedeutung  von  Liebe  und  Teilnahme  in  bezug  auf 
ihre  nach  innen  gewandte  Seite  eine  direkt  gegenteilige  Wer- 
tung (nicht  nur  eine  objektivierende)  einhergeht.  Man  halte 
sich  die  rückhaltlosen  Hingebungen  seiner  jungen  Jahre,  die 
Seligkeiten  am  Gefühl  als  solchen,  die  Leidenschaft  ,,der  Erde 
Weh,  der  Erde  Glück  zu  tragen"  vor  Augen  —  und  vergleiche 
damit  eine  Reihe  von  Aussprüchen,  die  alle  aus  dem  Jahre 
1810  stammen.  Er  sagt  zu  Knebel,  er  lebe  ,,wie  die  unsterb- 
lichen Götter  und  habe  weder  Freud  noch  Leid."  Und:  ,,Es 
kommt  mir  nichts  so  teuer  vor,  als  das,  wofür  ich  mich  selbst 
hingeben  muß."  Und:  ,, Lieben  heißt  Leiden.  Man  kann  sich 
nur  gezwungen  dazu  entschließen,  d.  h.  man  muß  es  nur,  man 
will  es  nicht."  All  jene  frühen  Äußerungen,  nach  denen  ihm 
Lust  und  Leid  eigentlich  eines  und  dasselbe,  ein  substanziell 
Gleiches  und  Gleichwertiges  sind,  ruhen  darauf,  daß  ihm  das 
Fühlen  als  innere  Bewegtheit,  als  Pulsieren  und  Auslodern  der 
Lebensenergie  das  allein  Wesentliche  war ;  mit  welchem  beson- 
deren Inhalt  es  sich  füllte,  darauf  kam  es  ihm  so  wenig  oder 
eigentlich  noch  weniger  an,  als  später  darauf,  welchen  Inhalt 
die  nachher  inthronisierte  Praxis  ergreift.  Wie  sich  ihm  nun, 
so  sahen  wir,  Tugend  und  Laster  schärfer  auseinanderlegen,  so 
Lust  und  Leid;  weil  die  Liebe  Leiden  bringt,  erscheint  sie  ihm 
als  ein  nur  zwangsmäßig  Ertragenes,  und  höchstens  stellt  er 
sich  jenseits  jenes  Gegensatzes,  wie  er  sich  früher  gleichsam 

IS* 


228  Bewußtsein  des  Entwicklungsgegensatzes 

diesseits  seiner  gestellt  hatte,  auch  hier  das  Entwicklungsschema 
der  undifferenzierten  Einheit  durch  die  Trennung  hindurch  zur 
Überwindung  der  Differenzierung  wiederholend.     Jetzt  steht  er 
den  Dingen  gegenüber  und  seine  Hingebung  muß  also  einen 
längeren,   kostspieligeren,   überlegteren  Weg  durchmachen,   als 
damals,  wo  die  gefühlsmäßig-ursprüngliche  Einheit  von  Subjekt 
und  Objekt    in  der    Hingebung    nur    ihren    selbstverständlichen 
empirischen  Ausdruck  fand.    Und  endlich  verrät  die  Äußerung 
über    den  Zwangscharakter  der  Liebe  wieder  jenen  Ersatz  des 
Gefühls  und  Seinsideals  durch  das  Willensmäßige  und  Verstandes- 
mäßige seines  Alters.    Weil  das  Leben  jetzt  auf  den  bewußten 
Willen   gestellt   ist,    kann   ihm  als   Zwang  erscheinen,   was   in 
der  Jugend    ein    einheitliches  Ausströmen  gewesen   war:   aller 
Zwang  steht  auf  einem  dualistischen  Gegenüber.    Und  daß  man 
das  mit  Leiden  Verknüpfte  nur  unfreiwillig  auf  sich  nimmt,  ist 
ein   Rationalismus   des  Alters,   eine   begriffliche  Folgerung,   die 
seiner  Jugend,  alle  logischen  und  eudämonistischen  Gegensätzlich- 
keiten in  die  Einheit  seines  Seins  verschmelzend,  ganz  fern  lag. 
Daß  in  diesem  Anderswerden  seiner  Wirklichkeit  und  seines 
Ideals    nicht    nur    das    gleiche  Energiequantum  sich   umformt, 
sondern    daß    hier,    bei    aller    inhaltlichen    Entgegengesetztheit, 
organisch  notwendige,  gewissermaßen  ideell  präformierte  Stufen 
eines  unerhört  einheitlichen  Lebens  vorliegen  —  eines  Lebens, 
das  als  solches,  als  Funktion,   als  Entwicklung,   so  einheitlich 
war,  daß  es  der  Einheit  besonderer  Inhalte  gar  nicht  bedurfte  — , 
das  ist  ihm  selbst   freilich  nicht  immer  bewußt  gewesen.     Er 
sagt   als   Siebziger,    mit  deutlicher  Beziehung  auf  sich  selbst: 
,, Selbst    das    größte    Talent,    welches    in    seiner    Bildung    einen 
Zwiespalt  erfuhr,  indem  es  sich  zweimal,  und  zwar  nach   ent- 
gegengesetzten  Seiten,    auszubilden   Anlaß    und   Antrieb    fand, 
ist  kaum  vermögend,   diesen  Widerspruch  ganz  auszugleichen, 
das  Entgegengesetzte  völlig  zu  vereinigen."    Begreiflich  genug; 
im  unmittelbaren    Erleben    einer  Periode    füllen  natürlich   ihre 
Inhalte  unser  Bewußtsein,  und  damit  gerade  das,  was  sie  den 
anderen  Perioden  entgegensetzt.    Das  Goethesche  Alter  hat  von 
dem  Rhythmus  und  den  Überzeugungen  seiner  Jugend  nichts 


Periodik  und  Einheit  des  Lebens  229 

mehr  wissen  wollen,  hat  sie  so  und  so  oft  ausdrücklich  dementiert ; 
es  wäre  nicht  die  volle  Kraft  der  einen  in  das  andere  über- 
gegangen, wenn  es  anders  gewesen  wäre.  Diese  Selbsterhaltung 
der  einzelnen  Lebensperiode  ist  ihm  sehr  wohl  bekannt,  aber 
weil  er  weiß,  wie  sehr  das  Spezifische  seines  Lebens:  die  volle 
Hinleitung  seiner  Einheit  in  die  jeweilige  epochale  Intention 
von  ihr  abhängt  —  deshalb  besteht  er  um  so  energischer  auf 
ihr.  Er  spricht  das  einmal  ergreifend  aus,  als  er  die  alt- 
deutschen Bilder  der  Boissereeschen  Sammlung  kennen  lernt: 
,,Da  hat  man  nun  auf  seine  alten  Tage  sich  mühsam  von  der 
Jugend,  welche  das  Alter  zu  stürzen  kommt,  seines  eignen  Be- 
stehens wegen  abgesperrt,  und  hat  sich,  um  sich  gleichmäßig 
zu  erhalten,  vor  allen  Eindrücken  neuer  und  störender  Art  zu 
hüten  gesucht,  und  nun  tritt  da  mit  einem  Male  vor  mich  hin 
eine  ganz  neue  und  bisher  mir  ganz  unbekannte  Welt  von 
Farben  und  Gestalten,  die  mich  aus  dem  alten  Gleise  meiner 
Anschauungen  und  Empfindungen  herauszwingt  —  eine  neue, 
ewige  Jugend;  und  wollte  ich  auch  hier  etwas  sagen,  es  würde 
diese  oder  jene  Hand  aus  dem  Bilde  herausgreifen,  um  mir 
einen  Schlag  ins  Gesicht  zu  versetzen  und  der  wäre  mir  wohl 
gebührend.  * '  Unterschieden  von  den  Entwicklungen  der  Menschen, 
in  denen  sich  der  geistige  Prozeß  von  seiner  Seinsgrundlage 
abgehoben  hat  und  gewissermaßen  ein  autonomes  Leben,  auf  die 
vitale  Beschaffenheit  des  Individuums  keinen  Schluß  zulassend, 
führt  —  ist  Goethes  Bewußtsein  immer  unmittelbar  von  seinem 
Sein  gespeist  und  wenn  sich  seine  bewußten  und  idealen  Rich- 
tungen wendeten,  so  bedeutet  das  stets  eine  Entwicklung  seines 
ganzen,  substanziellen  Persönlichkeitslebens.  Darum  sind  diese 
Entwicklungen  einerseits  so  radikal,  andrerseits  von  und  zu 
einer  so  tiefen  Einheit  und  unabreißbaren  Kontinuität  zu- 
sammengehalten; darum  erlebt  er  die  jeweilige  Epoche  in  einer 
gegen  alles  Frühere  rücksichtslosen  Hingabe,  während  unser  über- 
schauender Blick  doch  allenthalben  die  —  niemals  starren, 
sondern  immer  funktionellen  —  Züge  entdeckt,  die  diese  Wechsel- 
formen durchleben. 

Soweit  derartige  Metamorphosen  von  Jugendgestaltungen  in  die 


230  Das  Element  der  Altersstufe 

ganz  entgegengesetzte  Altersform,  unter  Bewahrung  eines  tief- 
sten Wesenskernes,  biographischen  Sinn  haben,  ruhen  sie  auf 
einer  selten  bewußten  Voraussetzung.  Wir  können  sehr  oft 
solches  Kontinuierende  unmittelbar  und  rein  kaum  ausdrücken, 
weil  wir  das  individuelle  Leben  eben  nur  jeweils  unter  irgend- 
welchen Alterskategorien  kennen  —  wie  wir  die  Ideen,  die  reinen 
Inhalte  des  Daseins,  immer  nur  in  der  Formung  als  theoretische 
oder  praktische,  künstlerische  oder  religiöse,  erlebte  oder  ge- 
dachte ergreifen  können.  Was  diese  in  ihrer  für  sich  seienden 
Inhaltlichkeit  sind,  können  wir  nur  in  einer  eigentümlichen, 
nie  bis  zu  Ende  vollziehbaren  Abstraktion  ahnen,  da  nur  jene 
Kategorien  gleichsam  die  Hände  sind,  mit  denen  wir  die  reinen 
Inhalte  des  Seins  fassen  können,  durch  dieses  Fassen  sie  aber 
unvermeidlich  formend  und,  wenn  wir  dies  nicht  wollen,  uns 
jeder  Beziehung  zu  ihnen  beraubend.  Dies  wiederholt  sich  an 
der  Betrachtung  des  Lebens.  Wir  kennen, keinen  Lebensvor- 
gang, keinen  verwirklichten  Lebensgehalt,  der  nicht  der  eines 
bestimmten  Altersmomentes  wäre  und  unter  dessen  Bedingt- 
heiten stünde.  Gewiß  können  wir  solche  Inhalte  der  Kategorie 
des  Erlebtwerdens  überhaupt  entrücken  und  unter  irgend  einer 
bloß  sachlichen,  poetischen,  zeitlosen  usw.  betrachten.  Gelten 
sie  aber  als  erlebte,  so  sind  sie  damit  zugleich  der  Färbung, 
den  Relationen  zwischen  Stück  und  Ganzem,  der  Bewegtheits- 
form Untertan,  wie  sie  eben  den  Altersabschnitt  charakterisieren, 
an  den  ihr  Erleben  gebunden  war.  Es  ist  äußerst  schwierig, 
die  unbedingte  Einheit,  als  die  sie  so  gefärbt  auftreten,  in  die 
Elemente  des  bloßen  Inhalts  und  des  Cachets  der  betreffenden 
Altersstufe  zu  zerlegen,  bedenklich  deshalb,  das  Hindurchleben 
eines  und  desselben  seelischen  Zustandes,  Zieles,  Inhaltes  durch 
die  gewandelten  Gesamterscheinungen  verschiedener  Lebensstufen 
hindurch  zu  behaupten.  Diese  Schwierigkeit  greift  tief  in  jeg- 
liche geschichtliche  Nachzeichnung  eines  individuellen  Lebens 
ein,  aber  unser  tatsächliches  Verfahren  überwindet  sie,  zwar 
nicht  mit  kontrollierbarer  Methode,  aber  durch  einen  gewissen 
Instinkt,  der  in  sehr  verschiedenen  und  je  in  sich  einheitlichen 
Phänomenen    eines    ablaufenden    Lebens   ein   Identisches,   Sich- 


Jugendliche  Stimmungswechsel  231 

Erhaltendes  herauszuerkennen  glaubt.  Diese  Möglichkeit  be- 
dingt es,  daß  wir  bei  Goethe  von  gewissen  Beschaffenheiten 
und  Intentionen  des  Lebens  sprechen  können,  die  in  Erschei- 
nungen seiner  Jugend  und  davon  sehr  verschiedenen  seines 
Alters  als  ein  Ungeändertes  beharrt  haben  und  gerade  daran 
die  entgegengesetzten  Lebensformationen  von  Jugend  und  Alter 
rein  und  deutlich  offenbaren  —  wie  die  beharrende  Substanz 
an  dem  Wechsel  ihrer  Ausgestaltungen  und  dieser  Wechsel  an 
dem  Beharren  der  Substanz  kenntlich  wird.  Unter  dieser  Voraus- 
setzung also  belege  ich  den  Charakter  der  Umsetzungen  inner- 
halb der  Goetheschen  Lebensstufen  noch  mit  einem  letzten 
Beispiel.  Ich  erwähnte  früher  die  ungeheure  Gegensätzlichkeit 
der  Stimmungen,  zwischen  denen  ihn  sein  jugendliches  Tem- 
perament hin-  und  herwarf;  das  Himmelhoch  jauchzend,  Zum 
Tode  betrübt  —  war  nach  seinen  eigenen  Geständnissen  und 
den  Zeugnissen  anderer  die  Formel  seiner  Jugend.  Dies  war 
natürlich  nicht  Launenhaftigkeit  der  Schwäche,  die  von  einer 
inneren  Richtung  in  die  andere  umspringt,  weil  ihr  die  Kraft, 
auf  einer  zu  beharren,  fehlt  und  sie  des  fortwährenden  Wechsels 
und  krassen  Gegensatzes  der  Reize  bedarf,  um  jeden  einzelnen  und 
das  Leben  überhaupt  zu  fühlen.  Ganz  umgekehrt  war  es  hier  die 
mächtige  Vitalität,  die  drängende  Dynamik  der  Existenz,  die  ihre 
Inhaltspole  so  weit  ausspannen,  sich  so  rastlos  zwischen  ihnen 
hin  und  her  bewegen  mußte,  um  Raum  für  ihre  Bewegung  zu 
haben,  um  ihre  Energien  nur  überhaupt  unterzubringen.  Das 
Maß  des  Lebens,  als  bloßer  Kraft,  die  sich  entladen  will,  war 
in  seiner  Jugend  ein  so  ungeheures,  daß  es  nur  in  fortwähren- 
dem Umspringen  zwischen  den  weitesten  Stimmungsgegensätzen 
sich  austoben  konnte,  vor  dem  Vernunftinhalt  des  damit  Er- 
griffenen natürlich  oft  ratlos,  widerspruchsvoll  und  töricht; 
aber  gerade  von  hier  aus  verstehen  wir  noch  einmal  das 
damals  oft  ausgesprochene  Gefühl,  daß  eigentlich  Liebe  und 
Haß,  Gut  und  Böse,  Glück  und  Leid  eins  und  dasselbe  wären. 
Es  war  es  auch  tatsächlich  für  ihn,  weil  alle  diese  logisch  sich 
ausschließenden  Empfindungen  gerade  in  ihrer  Gegensätzlichkeit 
dazu  dienten,    dem    einheitlich    mächtigen  Fluß  seiner  Lebens- 


232  Widersprüche  der  Maximen 

funktion  ein  hinreichend  breites  Strombett  zu  bieten.  Diese 
Vitalbestimmung  seiner  Jugend  nun  scheint  mir  in  seinem 
höheren  Alter  in  eine  eigentümliche  Intellektualbestimmung 
transformiert  zu  sein:  in  die  auffallenden  Widersprüche, 
logischer  wie  sachlicher  Art,  in  denen  sich  seine  späteren  Sen- 
tenzen bewegen.  Jene  funktionellen  Polaritäten,  zwischen  denen 
sein  Jugendleben  schwang,  sind  damit  auf  die  zeitlos-theoretische 
Inhaltlichkeit  übergewachsen,  jene  gefühlshafte  Spannungsweite 
des  oszillierenden  Lebens  ist  zur  Spannung  zwischen  einander 
ausschließenden  Theoremen  kristallisiert.  Er  ist  sich  über  die 
Tatsache  dieser  Widersprüche  auch  ganz  klar,  sucht  sie  objektiv 
in  den  Wanderjahren  ziemlich  umständlich  zu  rechtfertigen, 
erwidert,  auf  sie  aufmerksam  gemacht,  das  schon  Angeführte:  er 
sei  nicht  achtzig  Jahre  alt  geworden,  um  an  jedem  Tag  dasselbe  zu 
sagen  wie  am  andern;  jemand,  der  viel  mit  ihm  verkehrt,  bemerkt 
verwundert,  daß  man  ihn  nie  auf  eine  Ansicht  der  Dinge  fest- 
legen könne,  ehe  man  es  dächte,  wäre  er  schon  an  einer  ganz 
verschiedenen.  Er  war  sich  freilich  einer  höchsten  formalen, 
individual-apriorischen  Einheit  seines  Denkens  so  bewußt,  daß 
die  Widersprüche  im  relativ  Einzelnen  (das  freilich  noch  immer 
von  ganz  hoher  Allgemeinheit  war)  dagegen  nicht  aufkamen; 
andrerseits  erschienen  ihm  wohl  diese  Widersprüche,  bei  fest- 
gehaltener höchster  Attitüde,  als  der  adäquate  Ausdruck  des 
Verhältnisses  von  Mensch  und  Welt.  Auch  deshalb  ging  er  in 
seiner  Ideenbildung  immer  bis  zum  Radikalismus  und  reserve- 
loser Allgemeinheit,  weil  ihm  Einwürfe  und  Gegeninstanzen, 
die  solche  Absolutheit  hätten  eingrenzen  können,  im  Moment 
der  Produktion  als  Negatives  erscheinen  mußten,  gegen  das 
seine  immer  am  Positiven  hängende  Natur  sich  wehrte.  Zwischen 
der  mit  dem  Alter  immer  unbedingteren  Wertung  des  Positiven 
und  Abwehr  aller  bloßen  Kritik,  alles  bloßen  Einwandes  — 
und  der  Unbedingtheit  und  Generalisation  jeder  Denkrichtung, 
die  unvermeidlich  zu  Widersprüchen  zwischen  seinen  Aus- 
sprüchen führte,  besteht  ein  tiefer  Zusammenhang.  Wert  und 
Leben  sind  nicht  darauf  eingerichtet  (in  abstrakter  Weise  hat 
er  das  auch  sehr  gut  gewußt),  von  einem  einzigen,  geradlinig 


Lebenskontinuität  233 

ins  Unendliche  laufenden  Gedanken  bezwungen  zu  werden.  Er 
genügte  dem  nicht  durch  Einschränkung  der  einzelnen  Maxime, 
sondern  indem  er  der  unbeschränkten  Allgemeinheit  der  einen 
eine  ebensolche  einer  andren  im  entgegengesetzten  Sinne  ge- 
sellte. Daß  seine  Geistigkeit  aber  diese  Gestalt  annahm,  ist 
die  höchste  und  allgemeinste  Erfüllung  jener  großen  Evolutions- 
formel, nach  der  alles,  was  seine  Jugend  als  Leben,  Lebens- 
ideal, Gefühl  besaß,  sich  in  sein  Alter  überrettete,  um  hier  in 
der  Form  theoretischer  oder  auch  praktischer  Inhalte  an  einer 
objektiven  Welt  zu  bauen. 

Diese  Wendung  zeitlich  zu  fixieren,  ist  eigentlich  ein  nur 
biographisches  und  deshalb  meiner  Aufgabe  fremderes  Interesse ; 
um  so  mehr,  als  —  wie  es  schon  mehrfach  an  Goethes  geistigem 
Charakterbild  hervortrat  —  entscheidende  Motive  sich  bei  ihm 
lange  vor  ihrer  eigentlichen  Herrschaft  vorbereiten  und,  auch 
nachdem  sie  diese  gewonnen  haben,  die  Motive  der  vorange- 
gangenen Epoche  noch  keineswegs  tot  sind,  sondern  immer  noch 
gelegentlich  nachklingen.  Dies  ist  gleichsam  das  Mittel,  durch 
das  seine  Natur  durch  all  ihre  ungeheuren  Wandlungen  ihre 
ebenso  ungeheure  Kontinuität  hindurchlebte.  Was  er  im  hohen 
Alter  als  die  ,, wiederholte  Pubertät"  bezeichnete,  das  Auftauchen 
erneuter  jugendlicher  Fruchtbarkeiten,  ist  nichts  als  eine  be- 
sonders gedrängte  Erscheinung  dieser  Kategorie,  nur  aus  dem 
Inhaltlichen  in  das  Funktionelle  übertragen:  aus  der  Wieder- 
kehr der  Inhalte  früherer  Zeiten  in  die  ihrer  Kräfte  und 
Rhythmen,  ohne  deren  Weiterleben  doch  übrigens  auch  jene 
nicht  wiederkehren  könnten.  Insofern  steht  eigentlich  sein 
ganzes  Leben  im  Zeichen  der  ,, wiederholten  Pubertät",  die 
manchmal  nur  aus  dem  chronischen  Zustand  in  den  akut 
bemerkbaren  übergeht.  Und  sie  hat  ein  nach  der  andern  Zeit- 
dimension erstrecktes  Gegenstück,  für  das  es  nur  keinen  gleich 
treffenden  Einzelausdruck  gibt :  ein  Vorwegnehmen  der  Zustände 
und  Gedanken,  die  ihrem  Inhalte  nach  erst  in  den  Zusammen- 
hang späterer  Epochen  gehören.  Wie  es  überhaupt  das  Wesen 
des  Lebens  ist,  daß  seine  Gegenwart  auch  seine  Vergangenheit 
und    seine  Zukunft  in    einer,    mit  allem  Mechanischen  unver- 


234  „Unsterblichkeit"  in  Jugend  und  Alter 

gleichlichen  Weise  in  sich  enthält,  so  streckte  sich  bei  ihm,  der 
das  reinste  Leben  als  solches  gelebt  hat,  der  Gegenwarts- 
moment in  Vergangenheit  und  Zukunft  hinein  —  eine  Form 
seines  Prozesses,  seiner  Dynamik,  für  die  jenes  Weiterleben  des 
eigentlich  Vergangenen  und  Vorwegnehmen  des  eigentlich 
Künftigen  nur  der  an  seinen  Inhalten  aufzeigbare  Ausdruck 
war  und  die  vielleicht  eine  Basis  seines  Unsterblichkeitsglaubens 
war.  Auch  an  diesem  freilich  offenbart  sich,  höchst  charak- 
teristisch, der  große,  hier  behandelte  Richtungswandel  seines 
Lebens.  Er  hat  in  einer  berühmten,  nachher  noch  einmal  zu 
betrachtenden  Äußerung  ,,die  Überzeugung  unserer  Fortdauer" 
aus  dem  ,, Begriff  der  Tätigkeit"  entspringen  lassen:  ,,wenn  ich 
bis  an  mein  Ende  rastlos  wirke,  so  ist  die  Natur  verpflichtet,  mir 
eine  andere  Form  des  Daseins  anzuweisen"  usw.  Aber  mehr 
als  ein  halbes  Jahrhundert  früher  schreibt  er:  ,,Daß  in  den 
Menschen  so  viele  geistige  Anlagen  sind,  die  sie  im  Leben  nicht 
entwickeln  können,  die  auf  eine  bessere  Zukunft,  auf  ein 
harmonisches  Dasein  deuten,  darin  sind  wir  einig,  mein  Freund." 
In  beiden  Äußerungen  das  gleiche  Motiv:  es  wird  eine  Zukunft 
gefordert,  damit  die  Gegenwart  das,  was  in  ihr  selbst  vor- 
handen, aber  unerlöst  und  unverwirklicht  ist,  in  sie  hinein 
aktualisieren  kann.  In  der  Jugend  aber  ist  es  ein  ,, harmonisches 
Dasein",  eine  Vollendung  der  Existenz,  ein  gefühlshaft 
„Besseres",  womit  die  Zukunft  die  Gegenwart  fortsetzen  soll  — 
im  Alter  ist  es  die  Tätigkeit,  die  Wirkung,  vor  der  hier  ihre 
Seinsgrundlage  sozusagen  verschwindet  und  die  ebensowenig 
nach  ihren  qualitativen  Gefühlsfolgen  fragt. 

Um  dieser  Kontinuität,  dieses  Vor-  und  Zurückgreifens  des 
Lebens  willen  ist  für  eine  nur  auf  den  geistigen  Gehalt  gerichtete 
Betrachtung  Goethes  die  genaue  Chronologie  an  vielen  Punkten 
weder  nötig  noch  möglich,  ja,  der  eigentlichen  Intention  gegen- 
über sogar  irreführend.  Dennoch  wäre  es  ganz  verständnislos, 
damit  die  ungeheure  Bedeutung  des  Nacheinander  seiner  großen 
Entwicklungsstadien  verneint  zu  meinen.  Gerade  darum  handelt 
es  sich  ja  in  den  jetzigen  Erwägungen,  daß  Goethe  —  und  in 
dieser  Reinheit  vielleicht  kein  andrer  der  großen  Menschen  — 


Die  orgcinisch  gelebte  Idee  235 

die  Idee  seines  Seins  in  einer  organisch  gelebten  Entwicklungs- 
folge verwirklicht  hat ;  oder  vielmehr,  seine  Idee  war  von  vorn- 
herein keine  begrifflich  stationäre,  sondern  die  Idee  eines 
Lebens.  In  der  Zeitfolge  seiner  Lebensepochen,  nicht  etwa 
nur  seiner  Überzeugungen,  drückt  sich  eine  zeitlose,  nur  sinn- 
hafte Ordnung  aus.  Für  uns  ist  es  hier  nicht  im  biographischen 
Interesse,  sondern  für  die  sachliche  Struktur  seiner  Geistigkeit 
wichtig,  das  oben  Gesagte  zu  bekräftigen,  daß  die  jetzt  be- 
sprochene Wendung,  zu  der  leise  Ansätze  schon  in  den  ersten 
Weimarer  Jahren  sichtbar  werden,  im  ganzen  nach  der 
italienischen  Reise  entschieden  ist.  Man  pflegt  diese  als  den 
Ausgangspunkt  einer  neuen  Lebensepoche  anzusehn,  eigentlich 
als  die  entscheidende  Direktive  für  den  ganzen  Rest  des  Goethe- 
schen  Lebens.  Dies  scheint  mir  nur  in  einem  besonderen, 
genau  genommen,  in  einem  negativen  Sinne  richtig  zu  sein. 
Ungeachtet  aller  Befruchtungen,  neuer  Perspektiven,  Material- 
gewinnsten  dieser  Reise,  war  sie  doch  in  erster  Linie  der  Ab- 
schluß einer  Lebensepoche  und  nur  insofern  der  Beginn  einer 
neuen.  Italien  war  ihm  —  ich  habe  das  früher  ausgeführt  — 
die  Sättigung  eines  Durstes,  die  Lösung  unerträglich  gewordener 
Widersprüche,  die  Bestätigung  seines  tiefsten  Lebenssinnes  durch 
die  Anschauung  dieser  Natur  und  dieser  Kunst.  Sieht  man  aber 
seine  späteren  Dichterwerke  und  Produktionen  außer  den  in 
unmittelbarer  Nachwirkung  entstandenen,  wie  den  Römischen 
Elegien,  an,  so  findet  man  von  seiner  italienischen  Existenz,  in 
ihrer  unvergleichlichen  Art  und  Schönheit,  recht  wenig  Spuren ; 
schon  die  Venetianischen  Epigramme  atmen  nicht  recht 
italienische  Luft.  Die  neue,  differenzielle,  auf  Erkennen  und 
Handeln  gerichtete  Epoche  setzt  zeitlich  allerdings  nach  Italien 
sehr  bestimmt  ein,  allein  innerlich  ist  sie  doch  eine  Evolutions- 
stufe, die  die  organischen  Kräfte,  von  äußerem  Erleben  relativ 
unabhängig,  emportrieben.  Es  gehört  zu  dem  ungeheuren  Glück 
dieses  Lebens,  daß  seine  erste  große  Periode  einen  so  vollendenden, 
erfüllenden  Abschluß  fand.  Deshalb  bildet  es  keinen  Widerspruch, 
sondern  ist  gerade  ein  bedeutsamer  Beweis  dieser  Auffassung, 
wenn    er,    etwa    ein  Vierteljahrhundert    später,    mit    tiefer    Er- 


236  Abschluß  durch  Italien 

schütterung  bekennt,  seit  er  über  Ponte  Molle  nach  Hause 
gefahren,  habe  er  keinen  rein  glücklichen  Tag  mehr  erlebt  — 
und  doch,  schon  ein  Jahr  nach  Rom,  seinen  zweiten  Aufent- 
halt in  Italien  abbricht,  mit  der  krassen  Erklärung,  Italien  wäre 
nichts  mehr  für  ihn.  Jene  ,, Pyramide  seines  Daseins"  hatte 
in  Rom  einen  Gipfel  gefunden  und  der  Weiterbau  erfolgte  auf 
einer  neuen,  daneben  gelegenen  Basis.  Der  junge  Goethe  starb 
in  Rom  und  es  ist  begreiflich,  daß  er  sich  selbst  als  Revenant 
vorkam,  als  er  ^eder  italienischen  Boden  betrat.  Das  wäre 
nicht  möglich  gewesen,  wenn  das  dort  Gewonnene  der  Eingang 
zu  seinem  neuen  Leben  gewesen  wäre  —  es  war  nur  der  Aus- 
gang seines  alten.  Er  mochte  dort  eine  Reihe  fruchtbarer,  in 
den  späteren  Entwicklungen  nachweisbarer  Inhalte  erworben 
haben;  aber  in  bezug  auf  den  Prozeß  des  Lebens  war  Italien 
der  Höhepunkt  seiner  bisherigen,  durch  die  Hemmnisse  und 
Widersprüche  der  letzten  Weimarer  Jahre  zu  äußerster  Selbst- 
bejahung gereizten  Lebensintention,  wie  ich  sie  an  einer 
früheren  Stelle  darlegte;  es  ging  in  der  gleichen  Richtung 
nicht  weiter,  das  Leben  mußte  zu  neuen  Formungen  umbiegen 
und  konnte  das  nun  um  so  freier  und  entschiedener,  als  die 
frühere  Epoche  sich  zu  dieser  harmonischen,  in  ihrer  innerlich- 
äußerlichen Vollendung  nicht  mehr  zu  übertreffenden  Auf- 
gipfelung  erhoben  hatte.  Er  schreibt  aus  Rom:  ,, Glücklich  wäre 
ich,  wenn  ich  jemand  liebes  bei  mir  hätte,  mit  dem  ich  wachsen, 
dem  ich  meine  wachsenden  Kenntnisse  unterwegs  mitteilen 
könnte,  denn  zuletzt  verschlingt  das  Resultat  die  Annehmlich- 
keiten des  Werdens,  wie  die  Herberge  abends  die  Mühe  und 
die  Freude  des  Wegs  verschlingt."  Hier  ist  also  noch  einmal 
die  Formel  seiner  Jugend :  der  überwiegende  Wert  des  Prozesses, 
des  persönlichen  Werdens,  der  Dynamik  sich  entwickelnder 
Existenz  gegenüber  allem  bloßen  Resultat,  allem  schließlich 
fertig  darzubietenden  Inhalt  ausgesprochen.  Dieser  Ton  des 
gefühlswarmen,  subjektivischen  Idealismus  ist  in  Rom  für  immer 
verhallt.  Aber  wie  es  als  das  typische  Glück  seines  Schicksals 
gelten  konnte,  daß  in  dem  Augenblick,  wo  die  Richtung  und 
die  Spannungen  seiner  Jugendepoche  zu  einer  höchsten  Lösung 


Bedeutung  der  Rückkehr  237 

und  Vollendung  drängten,  sich  ihm  Italien  zu  dieser  Ausformung 
der  „Idee"  seiner  Jugend  darbot  —  so  war  auch  das  Leiden, 
das  ihn  bei  seiner  Rückkehr  erwartete,  eine  nicht  geringere 
Begünstigung  solchen  Abschlusses.  Man  kennt  die  Ent- 
täuschungen, die  ihm  Weimar  jetzt  bereitete,  die  leidenschaft- 
lichen Klagen  über  den  kalten  Empfang  durch  die  Freunde, 
über  den  totalen  Mangel  an  Verständnis  für  sein  jetziges  Sein 
und  Wollen.  Er  kam  noch  mit  der  ganzen  Fülle  und  Schwung 
seiner  Jugend  an  —  und  mußte  vor  verschlossenen  Herzens- 
türen umkehren.  Es  ist  kein  Zweifel:  damals  sprang  eine 
Saite  in  ihm,  für  die  es  keine  Wiederknüpfung  gab  und  auch 
das  Herzlichste  und  Beweglichste,  was  er  seitdem  äußerte,  hatte 
den  Ton  einer  gewissen  Reserve,  Sachlichkeit,  ja  Rationalisierung. 
Aber  welche  Schmerzen  ihm  auch  diese  Erfahrung  brachte  — 
auch  mit  ihnen  wurde  das  Schicksal  zum  Geburtshelfer  der 
neuen  Epoche,  auf  die  sein  Leben  aus  seiner  inneren  Rhythmik 
und  ideellen  Notwendigkeit  heraus  drängte.  Diese  Epoche,  die 
das  Ideal  des  subjektiven  Seins  durch  das  des  objektiven  Wirkens 
und  Erkennens  ersetzte,  konnte  ihre  Leitung  und  seelische 
Basierung  nicht  mehr  dem  Gefühl  anvertrauen  —  was  hätte  er 
da  noch  mit  dem  ungeänderten  Ton  jener  Beziehungen  anfangen 
sollen,  der  ganz  vom  Gefühl,  von  der  bedingungslosen  Hingabe 
bestimmt  war?  Es  ist  eine  erschütternde  Entwicklung  von  der 
Straßburger  Zeit  an,  von  der  er  sagt:  ,, Ich  war  überhaupt  sehr 
zutraulicher  Natur",  bis  zu  dem  Geständnis  des  Greises:  ,,Ich 
spüre  immer  mehr  Neigung,  das  Beste,  was  ich  gemacht  und 
machen  kann,  zu  sekretieren."  Die  Peripetie  dieses  langen 
Dramas  lag  in  der  Rückkehr  nach  Weimar  —  aber  auch  damit 
hat  ihm  das  Schicksal,  wenn  auch  mit  rauhen  Händen,  von 
außen  her  den  Weg  gebahnt,  den  er  von  innen  her  gehen 
mußte.  Er  selbst  schiebt,  was  eine  geheimnisvolle  Teleologie 
seines  Geschicks  war,  einer  bloßen  und  äußeren  Kausalität  zu, 
indem  er,  die  Leiden  und  Verdüsterungen  nach  seiner  Rückkehr 
andeutend,  sagt:  ,, Die  Entbehrung  war  zu  groß,  an  welche  sich 
der  äußere  Sinn  gewöhnen  sollte;  der  Geist  erwachte  sonach 
und   suchte    sich    schadlos    zu    halten"    —   worauf    dann    eine 


238  Die  dritte  Stufe 

Schilderung  seiner  wissenschaftlichen  Bemühungen  folgt.  Gleich- 
viel ,  ob  er  das  eigentlich  Entscheidende :  die  Evolution 
seines  Lebens,  die  etwas  Positiveres  als  eine  bloße  ., Schadlos- 
haltung" war,  hier  übersah  oder  verschwieg  —  es  wiederholt 
sich  in  seinem  Verhältnis  zum  Schicksal  die  Formel  seines 
Verhältnisses  zur  Welt  überhaupt.  Wie  dieses  es  mit  sich 
brachte,  daß  er  nur  seinen  inneren  Trieben  zu  folgen  brauchte, 
um  an  der  Welt  die  ,, antwortenden  Gegenbilder"  zu  finden, 
wie  sein  autonomer  Gedanke  sozusagen  seine  eigne  Richtigkeit 
und  Bewährtheit  mit  sich  brachte  —  so  war  auch  für  seine 
reale  Lebensentwicklung  das  Schicksal  da,  um  jeder  seiner 
organisch  notwendig  werdenden  Epochen  die  ,, antwortenden 
Gegenbilder"  zu  gewähren,  d.  h.  jetzt,  eine  jede  schon  rein 
durch  äußere  Notwenigkeit,  äußere  Anregung  und  Darbietung 
so  verlaufen  zu  lassen,  wie  sie  so  wie  so  von  innen  her  ver- 
laufen mußte.  Italien  und  die  Weimarer  Enttäuschungen  gaben 
ihm  die  Mittel  an  die  Hand,  seine  Jugendepoche  so  reinlich, 
so  anschaulich  abzuschließen,  wie  die  rückblickfreie  Entschieden- 
heit seines  neuen  Weges  es  erforderte. 

Über  die  bisherige  Entwicklung  nun  erheben  sich  in  Goethes 
Greisenzeit  Symptome  einer  dritten  Stufe.  Die  geistige  Reihe, 
die  mit  ihr  abschließt,  läßt  sich  vielleicht  am  besten  an  den  Be- 
deutungen darstellen,  die  der  Begriff  der  Form  in  dieser  ge- 
samten Entwicklung  annimmt.  Ich  kam  schon  früher  auf  das 
ungeheure  Problem  zu  sprechen,  in  dessen  Lösungsgeschichte  die 
Existenz  und  die  Produktivität  des  Goetheschen  Wesens  eine 
individuelle  Stelle  einnimmt:  wie  kann  das  Unendliche  Form  ge- 
winnen ?  Nicht  nur  die  typische  menschliche  Sehnsucht 
geht  auf  das  Überschreiten  jeder  gegebenen,  verendlichenden 
Grenze:  in  der  Leidenschaft  der  Gefühle,  nach  der  Vervoll- 
kommnung des  Sittlichen,  dem  Genießenwollen,  der  Bewährung 
von  Kräften,  der  Beziehung  zum  Transzendenten;  sondern 
schon  tatsächlich  fühlen  wir  uns  einem  Unendlichen  ver- 
haftet: um  uns  ein  Weltprozeß,  der  nach  jeder  Dimension  hin 
ins  Grenzenlose  geht  und  dem  wir  in  einer  rätselhaften  Weise 
und  mit  keineswegs  scharfer  Begrenzung    unseres  persönlichen 


Orientierung  am  Formproblem  239 

Seins  einwohnen;  in  uns  ein  durch  unendlich  viele  Glieder  uns 
zugeleiteter  Lebensprozeß,  dessen  momentane  Träger  wir  sind 
und  dessen  Weiterströmen  ins  Unendliche  durch  unser  Leben 
hindurchgeführt  wird.  Diese  doppelte  Unendlichkeit,  der  Sehn- 
sucht und  der  Wirklichkeit,  findet  einen  gleichfalls  doppelt  ge- 
formten Gegensatz.  Mit  all  jener  Verflechtung  in  unendliche 
Reihen  und  aller  Grenzverschwommenheit  gegen  ihre  Konti- 
nuität sind  wir  eben  doch  Individuen,  d.  h.  wir  empfinden,  daß 
jene  unsichere  Peripherie  unseres  Wesens  von  einem  sozusagen 
unverrückbaren,  unverwechselbaren,  in  seinen  Wandlungen  nur 
sich  selbst  gehorsamen  Zentrum  zusammengehalten  wird ;  aus  dem 
unendlichen  und  fluktuierenden  Material  des  Daseins  ist  unser 
Ich  als  eine,  wenn  auch  nicht  substanzielle  und  plastische,  so 
doch  als  eine  funktionelle  und  charakterologische  Form  gebildet. 
Darüber  hinaus  aber  strebt  unser  Bedürfnis  noch  nach  festen, 
unzweideutigen,  anschaulichen  Formen  der  Dinge,  der  Gedanken, 
der  Daseinsinhalte  überhaupt;  wir  sehnen  uns  nach  ihnen  als 
der  Rettung  vor  der  Auflösung  des  Daseins  in  jene  immer  weiter- 
gehenden Unendlichkeiten,  als  Haltepunkten  für  unseren  inneren 
und  äußeren  Blick,  für  die  Ermüdbarkeiten  unserer  Auffassungen 
und  unserer  Tätigkeiten.  Diese  beiden  Kategorien,  als  Wirklich- 
keiten und  als  Ideale,  stehen  in  dauerndem  Kampf.  Denn  alle  Form 
bedeutet  Verendlichung,  Abschluß,  Grenze  gegen  alles  andere; 
darum  geht  Kraft  und  Leidenschaft  des  Lebens  fortwährend  über 
seine  Formungen  hinaus,  verlöscht  ihre  Grenzstriche,  wirft  uns 
über  sie,  die  relativen  und  vorläufigen,  nach  außen  wie  nach 
innen  hin  ins  Unendliche,  ins  Grenzenfreie,  d.  h.  ins  Formlose. 
Wie  wir  nun,  dieses  logischen  Widerspruchs  ungeachtet,  die  Mit- 
gift des  Unendlichen  in  die  uns  unentbehrliche  Geformtheit 
unser  selbst  und  unserer  Welt  hineinleiten  und  dabei  doch  den 
Reichtum  und  die  Macht  jener  bewahren  könnten;  andererseits 
die  Form  in  ihrer  Ruhe  und  Strenge  behaupten  könnten,  ohne  daß 
sie  Starrheit  und  Enge  und  nichts  als  bloße  Endlichkeit  werde  — 
das  ist  wohl  eine  der  Formulierungen  des  tiefsten  Lebensproblemes 
überhaupt.  Jedes  Kunstwerk,  das  die  ganze,  aber  doch  weiter- 
flutende  Lebensintensität   seines    Schöpfers   in   sich    aufnimmt, 


240  Jugend  und  Lebensunendlichkeit 

jedes  Dogma  einer  irgendwie  vertiefteren  Religion,  jede  sittliche 
Norm,  die  unseren  praktischen  Kräften  ein  umfassendstes  und 
höchstes  Ziel  gibt,  jeder  echte  philosophische  Grundbegriff  ist 
je  eine  Art,  die  Unendlichkeit  von  Welt  und  Leben  in  eine  Form 
zu  fassen,  den  Widerspruch  zwischen  dem  ewig  Weiterschreitenden 
und  Unerschöpflichen  des  Daseins  auf  der  einen  Seite  und  dem 
Festen,  Anschaulichen,  zur  Form  Verendlichten  auf  der  anderen 
irgendwie  zu  lösen.  Die  Goethesche  Jugend  nun  legt  —  ihrer 
Grundintention  nach  —  allen  Ton  auf  die  strömende  Unendlich- 
keit des  Lebens  und  wird  darüber  so  und  so  oft  formlos,  zu- 
gegeben selbst,  daß  Selbstbeherrschung,  Zusammengefaßtheit, 
Anschaulichkeit  bei  ihm  von  vornherein  stark  genug  waren,  um 
es  zu  der  Alleinherrschaft  des  ungeformten  Seins,  wie  in  Sturm 
und  Drang,  nicht  kommen  zu  lassen.  Aber  die  unruhigen 
Pendelungen  seines  Lebens,  seine  eigene  Charakterisierung 
dieser  Epoche  als  einer  ,, sehnsüchtigen",  die  Gedichte  vom  Typus 
,, Wandrers  Sturmlied",  die  Leidenschaft  für  Shakespeare,  der 
Stil  der  Briefe  an  Kestners  und  Auguste  v.  Stolberg,  die  Opposition 
gegen  alle  Schematik  und  einengende  Überlieferung  —  alles 
dies  zeigt,  wie  der  Rhythmus  seiner  Innerlichkeit  ein  fort- 
währendes Überschreiten  von  Grenzen,  Zerbrechen  von  Formen, 
Sich-Hingeben  an  das  als  unendlich  empfundene  Leben  war. 
Um  die  Mitte  des  ersten  Weimarer  Jahrzehnts  sind  die  ersten 
Schatten  der  Grenze  in  diese  innere  Unendlichkeit  gefallen: 
,,Ach  Lotte,"  schreibt  er,  ,,was  kann  der  Mensch!  Und  was 
könnte  der  Mensch!"  Und  wenn  er,  wenige  Monate  vorher, 
schreibt,  daß  er  ,, immer  noch  im  Unmöglichen  eine  Laufbahn 
vor  sich  sieht,"  so  geschieht  es  mit  einem  gewissen  Ton  von  Ver- 
wunderung. Wer  nur  aus  dem  subjektiv  Wirklichen  heraus  lebt, 
wie  die  Jugend,  der  kommt  leicht  in  das  objektiv  Unmögliche. 
Vom  Subjekt  von  sich  aus  gibt  es  keine  Grenze  im  Objektiven, 
es  fühlt  sich  eigentlich  allmächtig  und  nur  zufällig  begrenzt. 
Und  wenn  dann  sein  hohes  Alter,  als  Resultat  lebenslanger  Ver- 
senkung in  das  Objektive,  die  Lebensintention,  vom  Metaphysischen 
bis  in  das  Äußerlichst-Praktische  hin,  auf  das  ,, Mögliche"  be- 
schränkt —  so  sind  jene  Äußerungen,  in  denen  das  Unmöglich- 


Von  Iphigenie  zu  Tasso  241 

Unendliche  noch  in  einer  Art  ideeller  Wirklichkeit  schwebt,  doch 
schon  das  Präludium  dazu.  —  Gilt  jenes  Unendliche  nun,  wie 
wir  es  wollten,  als  das  Ungeformte,  Gestaltlose,  so  schob  zunächst 
die  neue,  im  Zeichen  der  Klassik  stehende  Periode  den  Akzent 
auf  die  Form;  in  Italien  noch  nicht  so,  daß  irgendein  Übergewicht 
dieser  oder  eine  Feindseligkeit  der  Prinzipien  bemerkbar  wäre. 
Dazu  läßt  es  der  unmittelbare,  über  alle  Grenzen  hin  mächtige 
Lebensstrom,  den  seine  Jugend  genährt  hatte,  nicht  kommen. 
Goethes  italienische  Zeit  gehört  zu  den  letzten  Vollkommen- 
heiten, zu  denen  es  die  Menschheit  gebracht  hat,  weil  sie  einen 
Gleichungs-  oder  Einheitspunkt  jener  großen  Antinomie  dar- 
stellt: hier  fing  sich  die  gefühlte  Unendlichkeit,  Grenzunbewußt- 
heit  eines  Lebens  in  Formen,  anschauliche  und  dichterische 
Festigkeiten  und  plastische  Gestalten,  dauernde  und  geschlossene 
Maximen;  und  das  Leben  wurde,  wenn  der  paradoxe  Ausdruck 
gestattet  ist,  nicht  weniger  unendlich,  weil  es  in  Formen,  d.  h. 
in  Endlichkeiten  Platz  fand,  und  die  Formen  wurden  dadurch 
nicht  gelockerter,  nicht  unplastischer,  dem  spezifischen  Wert  der 
Form  als  solcher  nicht  untreuer,  weil  sie  jene  Flutung  des  Lebens, 
die  immer  Überflutung  war,  in  sich  aufnahmen.  Von  hier  ge- 
sehen ist  der  italienische  Aufenthalt  noch  einmal  ein  Zenith  des 
Goetheschen  Lebens.  Vielleicht  ist  Iphigenie  hiervon  der  voll- 
kommenste Ausdruck.  Hier  ist,  zumindest  in  den  beiden  Haupt- 
figuren, die  grenzenlose  Fülle  des  Lebens,  des  Gefühles,  der 
Leidenschaft;  und  sie  wird  von  einer  Schönheit  und  Geschlossen- 
heit innerer  und  äußerer  Form  aufgenommen,  ohne  sich  in  ihr 
zu  verlieren,  so  daß  man  die  tiefe,  vitale  Gegnerschaft  beider  Prin- 
zipien —  in  der  Jugend  und  Alter  Goethes  zusammenstoßen  — 
wie  selbstverständlich  als  Harmonie  hört.  In  mehr  als  einer  Hin- 
sicht bezeichnet  der  Tasso  den  Schritt,  der  über  diesen  Gleichungs- 
punkt hinaus  zum  Übergewicht  der  Form  führt.  In  Tasso  selbst 
zwar  ist  noch  das  Leben  in  seiner  ganzen  Unendlichkeit,  in  dem 
an  sich  formlosen  Drängen  seiner  Dynamik.  Aber  die  Welt  bietet 
ihm  jetzt  keine  Form,  in  die  es  sich  fassen,  an  der  es  sich  be- 
ruhigen könnte,  sondern  Tasso  steht  der  fest  geformten  Welt 
gegenüber,  mag  diese  Formung  in  dem  Palastgesetz  von 

Simmel,  Goethe.  '^ 


242  Zur  Natürlichen  Tochter 

Belriguardo,  in  der  starren  Gefügtheit  des  Antonio-Charakters, 
oder  in  dem  „Geziemenden"  bestehen,  das  die  Prinzessin  allein 
für  erlaubt  hält.  Tasso  ist  tatsächlich  nur  ,,die  sturmbewegte 
Welle"  und  muß  an  der  Unnachgiebigkeit  der  Formen  scheitern. 
Schon  der  künstlerisch-stilistische  Ausdruck  symbolisiert  dies:  was 
soll  er,  in  und  unter  dessen  Rede  eine  ins  Unendliche,  Maßlose 
drängende  Leidenschaft  flutet,  mit  diesen  Menschen  anfangen, 
die  fortwährend  in  geschlossenen  Sentenzen  reden?  Es  fehlt  ja 
auch  in  der  Iphigenie  schon  nicht  an  der  scharfen  Dialektik 
logischer  Gegenreden;  aber  noch  hält  die  Herzenswärme,  die 
das  Ganze  überströmt  und  sich  in  den  Hauptfiguren  sammelt, 
die  Gegensätze  zusammen,  noch  ist  das  Gefühl  mit  dem 
Praktisch-Ethischen  und  dem  Sentenziösen  in  Gleichgewicht 
und  Einheit,  während  es  im  Tasso  auseinanderbricht.  Die  große 
Krisis  von  Goethes  Leben  setzt  hier  noch  einmal  die  Gegensätze 
hart  gegeneinander,  aber  die  Ohnmacht  der  bloßen  Lebens- 
intensität, des  alle  Grenzen  überspülenden,  in  seiner  Geschmolzen- 
heit ungeformten  Fühlens  ist  entschieden :  das  Praktisch- 
Normative,  wie  es  von  Antonio  repräsentiert  ist,  und  das 
Weisheitshafte,  das  in  dem  sentenziösen  Wesen  der  anderen 
Gestalten  dominiert,  hat  den  Sieg  davongetragen,  und  dieser 
Sieg  wird  schließlich  auch  von  Tasso  selbst  als  der  gerechte 
anerkannt.  Immerhin,  es  war  doch  noch  ein  Kampf,  die  jugend- 
hafte Lebensintention  (gerade  die  Jugend  Tassos  wird  so  oft 
betont!)  steht  immerhin  nicht  ohne  Kraft  und  Recht,  wenn  auch 
nicht  mit  dem  entscheidenden,  dem  andern  großen  Lebens- 
prinzip gegenüber.  In  der  Natürlichen  Tochter  aber  ist  der  Sieg 
der  Form  von  vornherein  festgestellt,  mag  man  den  Inhalt  des 
Stückes  in  subjektiver  oder  in  objektiver  Hinsicht  betrachten. 
Nicht  als  ob  es  ihm  an  innerem  Leben  fehlte,  wie  man  es  ihm 
oft  zu  Unrecht  vorgeworfen  hat.  Aber  das  Leben  führt  hier  nicht 
mehr  sein  autonomes  Dasein  als  Gefühl,  dem  sich  die  Formen 
möglicher  Existenz  durch  eine  glückliche  Harmonie  fügen,  wie 
in  der  Iphigenie,  oder  das  mächtig  und  doch  ohnmächtig  sie 
überschwillt,  wie  im  Tasso.  Sondern  das  Leben  will  überhaupt 
nicht  anders  als  in  den  festen  sozialen  Geprägtheiten  verlaufen 


Gefühl  und  Form  243 

und  die  ganze  Frage  ist  nur,  ob  in  dieser  oder  in  jener.  Hier  ist 
nichts  von  einer  Unendlichkeit  um  die  Menschen  herum  (wie  es 
wundervoll  in  der  tief  religiösen,  stets  auf  das  Göttliche  hin 
gerichteten  Wesensart  Iphigenies  und  in  dem  von  sich  aus  zu 
ewiger  Unbefriedigtheit  verurteilten  Charakter  Tassos  angedeutet 
ist),  und  die  tiefen  Gegensätze  der  Unendlichkeit  und  der 
Form  können  deshalb  weder  das  unbegreifliche  Glück  ihrer  Ver- 
söhnung feiern,  noch  ihre  Macht  und  ihren  Aneinanderprall 
zeigen;  die  Tragödie  liegt  nur  darin,  daß  die  von  den  objektiven, 
sozusagen  historischen  Schicksalsmächten  der  Heldin  auferlegte 
Lebensform  der  von  ihr  ersehnten  —  die  aber  nicht  weniger  eine 
objektive,  historisch  geprägte  ist  —  entgegengesetzt  ist.  Auch 
die  Kunstform  selbst  läßt  diese  Wendung  erkennen:  während  in 
Iphigenie  und  Tasso  noch  lyrische  Töne  von  subjektiver  Unmittel- 
barkeit klingen,  ist  die  Natürliche  Tochter  vielmehr  bildhaft,  an 
die  Stelle  der  Farbigkeit,  die  in  sich  immer  etwas  Grenzunbe- 
stimmtes, weil  rein  Intensives  hat,  ist  der  lineare  Stil  getreten. 
Ersichtlich  ist  dieser  Prozeß  zwischen  dem  Unendlichen  und  der 
Form  nur  ein  sozusagen  abstrakterer  Ausdruck  für  jene  Ent- 
wicklung, in  der  der  Lebensakzent  des  Gefühles  von  dem  des  Er- 
kennens  und  des  Handelns  abgelöst  wurde.  Denn  das  Gefühl 
untersteht  an  und  für  sich  nicht  dem  Prinzip  der  Form,  sondern 
eher  dem  der  Farbe  und  der  Intensität,  es  hat  sozusagen  eine 
immanente  Maßlosigkeit,  der  vielleicht  nur  durch  ein  Versagen 
der  Kraft  oder  durch  Hemmungen  von  andren  Seiten  her  die 
Grenzen  kommen.  Alles  Erkennen  und  alles  Handeln  dagegen 
ist  von  vornherein  auf  Formen  gestellt,  auf  eine  Geprägtheit  und 
Festigkeit,  die  mit  dem  Sinne,  wenn  auch  nicht  immer  mit  der 
Wirklichkeit  dieser  Energien  gegeben  ist.  Goethe  war  zu  der  Zeit, 
als  ihm  alles  auf  den  Gewinn  einer  Form  für  Leben  und  Anschauen 
ankam,  die  Klassik  als  das  Muster  aller  Form  entgegengetreten. 
Kein  Wunder,  wenn  er  in  dem  Rausch  dieser  Entdeckung  nicht 
gewahr  wurde,  daß  es  Inhalte  gibt,  die  sich  diesem  Stil  nicht 
fügen.  Aber  die  geistesgeschichtliche  Folge  dieser  Irrung  Goethes 
ist,  daß  es  vielen  von  uns  noch  heute  scheint,  als  hätte,  was  nicht 
in  den  klassischen  Stil  eingeht,  eigentlich  überhaupt  keine  Form. 

i6* 


244  Ordnung 

Mit  dem  steigenden  Alter  tritt  Goethes  Verehrung  der  „Form" 
immer  entschiedener  hervor,  bis  zur  Formalistik  hin.  Immer 
wichtiger  werden  ihm,  über  die  Individuen  hinweg,  ihre  Ver- 
bindungen untereinander,  die  doch  einerseits  nur  Formungen 
aus  dem  Menschen-  und  Interessenmaterial  sind,  andrerseits 
dem  Einzelnen  durch  seine  Begrenzung  gegen  andere  und  An- 
weisung einer  bestimmten  Stelle  eine  sonst  unerreichbare  Form 
geben;  immer  höher  schätzt  er  die  ,, Zweckmäßigkeit",  und 
zwar  als  eine  formale  Struktur  der  praktischen  Welt,  da  er  oft 
nicht  angibt,  zu  welchem  Zv/eck  denn  das  in  dieser  Form 
verlaufende  Handeln  dienen  soll;  immer  unbedingter  notwendig 
erscheint  ihm  die  ,, Ordnung",  so  daß  er  geradezu  verkündet,  er 
wolle  lieber  eine  Ungerechtigkeit,  als  eine  Unordnung  dulden! 
Und  die  Natur  selbst  geht  jetzt  —  für  ihn  selbstverständlich  — 
dem  parallel: 

,,Wenn  ihr  Bäume  pflanzt,  so  sei's  in  Reihen, 
Denn  sie  läßt  Geordnetes  gedeihen." 

Was  an  seinen  späteren  Aussprüchen  über  politische  und  soziale 
Dinge  so  oft  hart  konservativ,  ja  reaktionär  ist,  hat  mit  Klassen- 
egoismus nichts  zu  tun.  Es  ruht  einerseits  auf  der  Tendenz, 
dem  Positiven  des  Lebens  Raum  zu  machen.  In  allem  Revo- 
lutionären, Anarchistischen,  Übereilten  sah  er  Hemmungen, 
Negativitäten,  Kräfteverbrauch,  der  nur  an  das  Zerstören  ge- 
wandt würde.  Er  glaubte  die  Ordnung  als  Bedingung  der  posi- 
tiven Lebensleistungen  zu  brauchen.  Denn,  andrerseits  nun, 
ist  es  in  jenen  Äußerungen  das  kosmische  Prinzip  der  Ordnung 
und  formalen  Gefugtheit,  das  er  in  die  menschlichen  Verhältnisse 
fortsetzt.  Daß  er  dies  nur  durch  eine  streng  hierarchische  und 
aristokratisierende  Technik  für  herstellbar  hält,  das  ist  freilich 
diskutabel  und  zeitgeschichtlich  bedingt,  aber  es  trifft  nicht  das 
letzte  gesinnungsmäßige  Motiv.  So  gilt  auch  jetzt  seine  Polemik 
der  rein  geistigen  Ungeformtheit,  Ungeordnetheit,  sowohl  nach 
der  Vergangenheit  (auch  der  eigenen)  hin,  wie  für  die  Gegenwart; 
das  Chaotische  ist  ihm  der  Feind  schlechthin.  In  seinen  sechziger 
Jahren  bezeichnet  er  es  als  die  ,, Hauptkrankheit"  der  Rousseau- 
periode,  daß    ,, Staat   und   Sitte,    Kunst   und   Talent   mit   einem 


Kunstinhalt  und  Fomiprinzip  245 

namenlosen  Wesen,  das  man  aber  ( !)  Natur  nannte,  in  einen 
Brei  gerührt  werden  sollte".  Aber  er  kennt  sehr  wohl  die  Bedeutung 
dieser  Epoche  für  sich  selbst,  denn  er  fährt  fort:  ,,Ward  ich  nicht 
auch  von  dieser  Epidemie  ergriffen,  und  war  sie  nicht  wohltätig 
schuld  an  der  Entwicklung  meines  Wesens,  die  mir  jetzt  auf 
keine  andere  Weise  denkbar  ist?"  Und  ungefähr  gleichzeitig 
spricht  er  sich  über  die  im  Geistesleben  herrschende  Phan- 
tastik  aus:  ,,Das  will  Alles  umfassen  und  verliert  sich  darüber 
immer  ins  Elementarische,  doch  noch  mit  unendlichen  Schön- 
heiten im  Einzelnen  [was  fehlt,  ist  also  die  Formung  des 
Ganzen].  Für  uns  alte  Leute  ist  es  zum  Toll  wer  den,  wenn  wir 
da  um  uns  herum  die  Welt  müssen  vermodern  und  in  die  Ele- 
mente müssen  zurückkehren  sehen,  daß,  weiß  Gott  wann,  ein 
Neues  daraus  entstehe."  Diese  ethisch- vitale  Wertung  der  Form 
steht  ersichtlich  in  tiefem  Zusammenhang  mit  dem  früher 
besprochenen  Übergewicht,  das  seine  höheren  Jahre  der  Kunst- 
form gegenüber  dem  Kunstinhalt  beilegen  —  bis  zu  dem  Grade, 
daß  ihm  die  Bedeutsamkeit  des  Gegenstandes  sogar  als  Hindernis 
für  die  Vollendung  des  Kunstwerks  als  solchen  erschien.  Der 
Eigenwert  des  Gegenstandes  schlägt  gewissermaßen  über  die 
Grenzen  hinaus,  die  ihm  die  artistische  Formung  auferlegt; 
nach  ihrer  eigenen  Bedeutung  stehen  die  Gegenstände  in  den 
kontinuierlichen,  unendlichen  Zusammenhängen  der  Realität, 
die  Kunst  schneidet  sie  heraus  zu  einem  eingerahmten  Bilde, 
formt  sie,  indem  sie  ihnen  Grenzen  gibt,  die  ihrem  natürlichen 
Sein  und  seiner  Werterstreckung  fehlen.  Auch  die  Reinheit 
seines  späteren  Artistentums  hat  so  in  der  Metaphysik  seiner 
Altersperiode  ihre  Grundlage. 

Auch  hierin  zeigt  er  sich  gewissermaßen  als  der  typische 
Mensch;  nur  daß  solche  Wendungen,  die  sonst  einem  Sinken 
der  Kraft  parallel  gehen,  bei  ihm  etwas  durchaus  Positives  sind, 
Stadien,  die  nicht  aus  einem  Verlust,  sondern  aus  der,  nur  ihre 
Äußerungen  wechselnden  organischen  Entwicklung  der  Energie 
hervorgehen.  Im  allgemeinen  fragt  die  Jugend  nicht  viel  nach 
Formen,  weil  sie  aus  ihrem  bloßen  Kraftvorrat  heraus  jeder  auf- 
tretenden Situation  und  Forderung  meint  genügen  zu  können; 


246  Struktur  der  Lebensalter 

das  Alter  sucht  festgeprägte,  ideell  oder  historisch  vorbestehende 
Formen,  weil  sie  ihm  den  Aufwand  immer  neuen  Einsetzens  der 
Kräfte,  zweifelhafter  Versuche,  absolut  eigner  Verantwortungen 
ersparen.  Für  Goethe  aber  ist  es  nur  eine  neue  prinzipielle  Ge- 
staltung, in  der  seine  Kraft  auftritt  —  ungefähr  wie  die  Hin- 
geljung und  Demut  gegen  das  Göttliche,  die  bei  Unzähligen  nur 
aus  eigener  Schwäche  und  Haltlosigkeit  hervorgeht,  bei  dem 
wahrhaft  religiösen  Menschen  gerade  die  Ausformung  seiner 
höchsten  und  zentralsten  Kräfte  ist.  —  Diese  Verteilung  der 
kategorialen  Akzente  an  Unendlichkeit  und  Form  auf  Jugend 
und  Alter  geht  neben  anderem  auch  auf  die  Verschiedenheit  des 
Verhältnisses  zurück,  das  die  Einzelheiten  des  Lebens  in  diesem 
und  in  jenem  Stadium  zu  seinem  Gesamtquantum  besitzen. 
Was  die  Jugend  auch  erlebe  —  im  Hinblick  auf  die  Zukunfts- 
fülle, die  sie  noch  vor  sich  hat,  ist  sein  Maß  garnicht  abzuschätzen, 
das  Leben  ist  so  unabsehlich,  wird  noch  so  unendlich  Vieles 
bringen,  daß  die  Bedeutung  der  einzelnen  Leistung  oder  Er- 
fahrung eigentlich  quantite  negligeable  wird,  wie  jede  noch  so 
große  endliche  Größe  im  Verhältnis  zum  Unendlichen  sich  der 
Null  nähert.  Indem  das  Alter  aber  den  abgeschlossenen  Horizont 
vor  sich  hat,  den  Grenzstrich  des  Lebens  mit  annähernder  Sicher- 
heit setzt,  wird  der  Nenner  des  Bruches,  dessen  Zähler  das  einzelne, 
in  seiner  Bedeutung  zu  fixierende  Erlebnis  bildet,  eine  endliche 
Größe  und  mit  ihm  der  Bruch,  das  Erlebnis  selbst.  Lust  und 
Leid,  Leistung  und  Versagen  der  Leistung  ist  jetzt  ein  angebbarer, 
aliquoter  Teil  des  Lebensganzen,  man  hat  damit  soundso  vieles 
definitiv  hinter  sich  gebracht,  während  eben  derselbe  in  dem 
Unendlichen,  das  noch  vor  der  Jugend  liegt,  als  ein  gar  nicht 
recht  bestimmbarer  Teil  verschwindet.  Auf  diese  unterschiedenen 
Relationen  zwischen  dem  Einzelnen  und  dem  Ganzen  des  Lebens 
braucht  nur  hingewiesen  zu  werden,  damit  sofort  hervorleuchte, 
daß  auch  auf  sie  die  funktionelle  Unendlichkeit  als  Lebens- 
prinzip der  Jugend  und  die  feste,  zur  Anordnung  drängende  Ge- 
formtheit  als  das  des  Alters  zurückgeht.  Aber  ebenso  wird  gerade 
an  diesem  Moment  klar,  wie  hier  nur  ein  Gestaltwechsel  des 
Lebens    vorzuliegen    braucht,    der    keineswegs    auf    einer 


Minderwertige  Leistungen  247 

Änderung  des  Kraftmaßes,   sondern  nur  des  Blickes  über  das 
Kraftmaß  beruht. 

Dennoch  liegt  vielleicht  hier  die  Erklärung  für  einen 
eigentümlichen  negativen  Zug  in  Goethes  Gesamtbild.  Ich 
habe  es  in  diesen  Blättern  oft  genug  als  die  umfassendste 
Formel  seiner  Produktion  hingestellt,  daß  zwischen  seinem 
natürlichen,  vom  terminus  a  quo  her  wirkenden  Triebe  zum 
Schaffen,  Bilden,  Handeln  —  und  den  wertentscheidenden  Nor- 
men für  das  Geschaffene  und  Erwirkte  eine  tiefere,  selbstver- 
ständlichere Harmonie  herrschte,  als  die  Menschen  sie  sonst  zu 
besitzen  pflegen,  daß  er  mehr  als  andere  nur  seinen  unmittelbaren 
Impulsen,  dem,  was  seiner  Natur  gemäß  war,  zu  folgen  brauchte, 
damit  das  theoretisch,  dichterisch,  sittlich  Normgemäße  sich 
ergäbe.  Dieses:  daß  er  auch  sein  Schwierigstes  und  Vollkom- 
menstes, nach  seinem  eigenen  Ausdruck,  ,, spielend'*  und  als 
,, Liebhaber"  geschaffen  habe  —  gilt  sicher  für  den  Goethe,  auf 
den  es  ankommt,  für  die  ,,Idee  Goethe".  Allein  der  Schluß  aus 
dieser  Harmonie  zwischen  der  subjektiven  Lebensäußerung  und 
der  Objektivität  der  Dinge  und  Normen:  daß  all  sein  Geschaffenes 
objektiv  vollendet  wäre  —  ist  durch  die  Tatsachen  keineswegs 
bestätigt.  Wir  wissen  sogar  von  keinem  der  großen  Schöpfer, 
daß  sein  Werk  soviel  Minderwertiges,  soviel  theoretisch  und 
künstlerisch  Unzulängliches,  in  seiner  Unzulänglichkeit  kaum 
Begreifliches  enthielte.  Die  bildenden  Künstler  höchsten  Ranges 
scheiden  hier  für  die  Vergleichung  von  vornherein  aus,  weil  bei 
ihnen,  gemäß  der  Sonderart  ihrer  Kunst,  schon  auf  den  bloßen 
Duktus  der  Hand  ein  solches  Maß  ihrer  Genialität  entfällt,  daß 
hier  das  schlechthin  Wertlose  und  ,, Gottverlassene"  sozu- 
sagen a  priori  ausgeschlossen  ist,  jedenfalls  nur  sehr  selten 
vorkommen  kann.  Aber  obgleich  Dante  und  Shakespeare, 
Bach  und  Beethoven  die  Höhe  derjenigen  Leistungen,  die  ihren 
künstlerischen  Rang  überhaupt  bestimmen,  keineswegs  mit  jedem 
Werk  und  Werkteil  erreichen,  so  ist  doch  das  Maß  der  dahinter 
zurückbleibenden  bei  keinem  annähernd  so  groß  wie  bei  Goethe. 
Das  Quantum  von  Unpoesie  und  fahriger  Banalität,  das  er  etwa 
nur  in  den  Theaterreden,  den  Gedichten  an  Personen,  den  Re- 


248  Erklärung  durch  die  Wertung  der  Form 

volutionsdramen  geleistet  hat,  gehört  zu  den  erstaunlichsten 
Vorkommnissen  aller  Geistesgeschichte.  Gewiß  leidet  der  Rang, 
den  er  als  Einheit  und  Ganzheit  einnimmt,  darunter  nicht,  denn 
dieser  wird  bei  dem  Künstler  nicht  von  einem  Durchschnitt 
seiner  Leistungen,  sondern  —  mit  leicht  ersichtlichen  Vorbe- 
halten —  ausschließlich  durch  die  Höhe  seiner  höchsten 
bestimmt;  alles,  was  erheblich  unter  dieser  bleibt,  ist  dafür  so 
gleichgültig,  wie  wenn  es  überhaupt  nicht  produziert  wäre  (es 
sei  denn,  daß  es  als  , .schlechtes  Beispiel"  wirkte).  Immerhin 
stellen  diese  Wertausfalls-Erscheinungen  bei  Goethe  ein  Rätsel, 
für  das  mir  eine  ganz  befriedigende  Lösung  fehlt.  Der  Gesichts- 
punkt, unter  den  ich  es  am  Anfang  dieser  Blätter  rückte,  gibt 
wohl  jenen  negativen  Werten  sozusagen  als  Lebenstatsachen 
eine  mögliche  Stelle.  Allein  Goethe  lebte  doch  nicht  nur  den 
subjektiven  Lebensprozeß,  der  solche  Tiefstände  durchmachen 
mochte,  sondern  er  stand  dessen  Erzeugnissen  zugleich  oder 
wenigstens  nachher  als  Urteilender  gegenüber;  und  das  Ver- 
sagen dieser  Hemmung,  mit  der  der  Mensch  sich  gleichsam 
über  sein  eignes  Leben  stellt,  wird  durch  die  Schwankungen 
dieses  Lebens  selbst  nicht  hinreichend  erklärt.  Man  könnte  allen- 
falls an  eine  Art  von  souveräner  Lässigkeit  denken,  die  auf  be- 
liebige Anregung  hin  irgendetwas  hinstellt,  bloß  um  sich  mit  dieser 
abzufinden,  allenfalls  mit  einer  gewissen  Ironie  gegen  das  Pu- 
blikum und  gegen  sich  selbst.  Allein  eine  solche  Begründung 
mag  hier  und  da  zutreffen,  daß  sie  für  den  ganzen  Kreis  der 
fraglichen  Produktionen  gelte,  wird  schon  durch  dessen  außer- 
ordentlichen Umfang  ausgeschlossen.  Dagegen  gibt  die  hoch- 
gestiegene Wertung  der  Form  als  solcher  vielleicht  einen  Hin- 
weis, insbesondere  da  jene  eigentümlich  leeren,  gewichtslosen 
Erzeugnisse  sich  fast  nur  in  seinem  höheren  Alter  finden — während 
gleichzeitige  bedeutsame  Betätigungen  die  Begründung  aus  bloßer 
Senilität  nicht  aufkommen  lassen.  Er  hatte  schließlich  ein  so 
starkes  Bedürfnis,  dem  subjektiven  Leben  und  den  objektiven 
Daseinsinhalten  überhaupt  Form  zu  geben,  jedes  einzelne  in 
einen  bestimmenden  Zusammenhang  ästhetisch-formaler  oder 
theoretisch-allgemeiner   Art   einzustellen,   auch   das   Minimalste 


Intoleranz  gegen  die  Unendlichkeitstendenz  249 

irgendwie  zu  gestalten,  daß  darüber  die  überformale  Bedeutung 
der  Inhalte  so  und  so  oft  seinem  Interesse  entschwand.  Man 
bedenke  dazu  das  durchaus  Hierhergehörige,  an  sich  nicht  weniger 
Rätselhafte:  die  unsägliche  Toleranz,  die  er  im  Alter  für  ganz 
minderwertige  Literatur  bewies.  Ein  großer  französischer  Dichter 
unserer  Zeit  sagte  einmal  gegenüber  mittelmäßigen  Gedichten: 
Faire  des  vers,  c'est  toujours  tres  bien  —  und  dies  war  keineswegs 
ironisch  gemeint.  Sondern  es  ist  das  Interesse,  das  der  schöpfe- 
rische Mensch  oft  an  der  Gestaltung  der  Weltmaterie  nach  seinen 
Schöpfungsformen,  nur  als  Formen,  besitzt,  und  das  der  bloß 
Genießende  nicht  leicht  nachfühlen  kann.  Es  scheint  mir  nun 
höchst  bezeichnend,  daß  Goethes  Interesse  an  künstlerischer  und 
geistiger  Formung  sogleich  zum  Gegenteil  von  Toleranz  führt, 
wenn  er  jene  andere  Vitalidee  wittert,  von  der  aus  er  sich 
zu  der  der  Form  und  Ordnung  hinüberentwickelt  hatte:  Prinzip 
und  Intention  des  Unendlichen.  In  durchaus  verschiedenen, 
offenen  und  versteckteren  Modifikationen  herrscht  dies  in  Jean 
Paul,  in  Kleist,  in  Hölderlin.  Mag  das  Maßlose,  Grenzenüber- 
springende bei  dem  einen  äußerlich  sichtbar,  bei  dem  andern 
nur  innerste  Lebensbestrebung  sein:  von  Goethes  Altersposition 
aus  gesehen  fiel  die  Wesensentscheidung  dieser  drei  auf  die 
Seite  des  Unendlichen,  statt  auf  die  der  Formen,  und  gerade  ihre 
Bedeutung  mußte  Goethes  Abneigung  noch  entschiedener  machen 
—  während  die  inhaltliche  Unbedeutendheit  aller  möglichen 
kleinen  Schriftsteller  gerade  das  sozusagen  Formale  der  geistigen 
Lebensformung  relativ  stark  hervortreten  ließ.  Eben  die  Toleranz, 
die  Goethe  gegen  diese  zeigte,  hatte  er  auch  gegen  sich  selbst. 
Er  war  zufrieden,  mit  jeder  von  jenen  zahllosen  Gelegenheits- 
produktionen immer  einen  Moment  dem  ins  Unendliche  fließenden, 
in  diese  Unendlichkeit  alle  Grenzbestimmtheit  der  Inhalte  auf- 
lösenden Leben  zu  entreißen.  Man  mag  das  immerhin  als  eine 
Hypertrophie  des  Formungssinnes  bezeichnen,  da  es  fraglich 
bleibt,  ob  die  Form  einen  andern  definitiven  Sinn  haben  kann, 
als  die  Vollendung  jener  Lebenssubstanz,  die  in  letzter  Instanz 
doch  als  unendliche  wird  gelten  müssen.  Dies  steht  für  uns  nicht 
zur  sachlichen  Entscheidung.  Aber  wie  er  lieber  eine  Ungerechtig- 


250  Alterskunst 

keit  als  eine  Unordnung  ertragen  wollte  —  während  es  doch 
nicht  weniger  fraglich  ist,  ob  nicht  alle  Ordnung  ihren  schließlichen 
Zweck  in  der  Gerechtigkeit  hat  —  so  wollte  er,  so  paradox  dies 
klingen  mag,  von  einem  gewissen  Alter  an  lieber  ein  unbedeutendes 
Gedicht  machen  als  gar  keines,  wenn  ein  Moment  des  Lebens  sich 
solcher  Formungsmöglichkeit  bot  —  und  es  ist  nicht  unmöglich, 
daß  auch  sein  fortwährendes  Betonen,  daß  gehandelt,  gewirkt 
werden  muß,  ohne  daß  er  doch  immer  den  Endwert  und  Inhalts- 
sinn solcher  Tätigkeitsforderung  angäbe,  dem  gleichen  Streben 
nach  einer  begrenzenden,  irgendwie  ordnenden,  formenden  Be- 
arbeitung des  unendlichen  Weltstoffes  zugehört. 

Und  nun  endlich  komme  ich  auf  den  von  vielen  Seiten  ange- 
deuteten Punkt,  auf  den  die  Einstellung  der  Goetheschen  Ent- 
wicklungsperioden unter  die  Kategorie  der  Form  führen  sollte. 
Neben  aller  Herrschaft  dieser  Kategorie  nämlich  zeigen  sich  in 
seinem  hohen  Alter  Spuren  eines  weiteren  geistigen  Entwicklungs- 
stadiums, das  ganz  fragmentarisch  geblieben  ist,  das  aber  nur  als 
ein  Durchbrechen  und  Überwinden  des  Formprinzips  zu  bezeichnen 
ist.  Das  entschiedenste  Symptom  dafür  sind  die  Vergewaltigungen 
des  sprachgebräuchlichen  Gefüges,  insbesondere  im  zweiten  Teil 
des  Faust.  Dahin  gehören  schon  die  Wortzusammenziehungen: 
Glanzgewimmel,  Lebestrahlen,  Pappelzitterzweige,  Gemeindrang. 
Noch  entschiedener,  wo  die  einzelnen  Ausdrücke  nur  asyndetisch 
hingeworfen  scheinen:  Worte  die  wahren,  Äther  im  klaren, 
ewigen  Scharen,  überall  Tag.  In  noch  weiterem  Bezirk:  das 
logisch  gar  nicht  organisierbare  Chaos  der  klassischen  Wal- 
purgisnacht. In  diesen  Erscheinungen  tritt  das  Spezifische  der 
Alterskunst  hervor,  mit  der  manche  der  allergrößten 
Künstler  eine  mit  allem  früheren  unvergleichbare  Ausdrucks- 
stufe gewinnen:  Michelangelo  vor  allem  mit  der  Pietä  Rondanini 
und  den  späten  Gedichten  und  Frans  Hals  mit  den  Regen- 
tinnen des  Waisenhauses,  sogar  Tizian  in  den  Greisenwerken, 
am  unzweideutigsten  Rembrandt  mit  den  späten  Radierungen 
und  Porträts,  Beethoven  mit  den  letzten  Sonaten  (insbesondere 
den  beiden  Cellosonaten)  und  Quartetten  —  bis  zum  Parsifal 
und  „Wenn  wir  Toten  erwachen".    Ich  versuche,  dem  Gemein- 


Form  und  Objektivität  251 

Samen,  in  alledem  Fühlbaren,  begrifflichen  Ausdruck  zu  geben. 
Man  hat  diesen  Altersstil  als  Impressionismus  bezeichnet,  als 
sei  den  Greisen  die  Kraft,  ein  Ganzes  einheitlich  formend  zu- 
sammenzuhalten, verlorengegangen  und  als  hätte  es  nur  zu 
den  Aufgipfelungen  einzelner  Momente  zugereicht,  die  sub- 
jektiv blieben;  denn  sie  wären  eben  nicht  zu  einer  für  sich 
bestehenden  Form  gelangt,  die  nur  als  eine  ununterbrochene, 
wechselwirkende  Verbundenheit  der  einzelnen  Impulse,  Ideen, 
Schauungen  zustande  käme.  Dies  erscheint  mir  ganz  oberfläch- 
lich. Die  Tatsache  selbst  ist  ja  unbestreitbar:  in  all  solchen 
Werken  fühlen  wir  einen  in  starken  Flutwellen  hervorbrechenden 
Subjektivismus  und  ein  Zerbrechen  synthetischer  Ganzheits- 
formen. Die  Frage  ist  nur,  in  welchem  Sinn  hier  das  Subjekt  und 
in  welchem  die  Form  verstanden  werden  muß.  Zunächst:  die 
Formen,  die  die  Alterskunst  vernachlässigt,  sind  die  historisch 
geprägten.  Welche  malerischen  Mittel,  welcher  musikalische 
Satzbau  und  welche  Harmonik,  welche  Relation  zwischen 
poetischem  Ausdruck  und  gemeintem  Inhalt,  welche  syntaktische 
Struktur  und  welcher  logische  Zusammenhang  sonst  als  der 
normative  anerkannt  ist  —  darum  ist  die  Alterskunst  der  großen 
Künstler  sehr  unbekümmert.  Unleugbar  aber  geht  sie  noch 
weiter  und  läßt  nicht  nur  gegen  die  in  der  bisherigen  Entwicklung 
vorliegenden  Formimperative,  sondern  allerdings  auch  gegen  das 
Prinzip  der  Form  überhaupt  eine  gewisse  Sorglosigkeit,  ja  vielleicht 
Verneinung  und  Gegnerschaft  in  sich  aufkommen.  Was  sie  im 
letzten  Grunde  will,  entzieht  sich  nicht  nur  dieser  und  jener 
Form,  sondern  vielleicht  dem  Ausdruck,  sozusagen,  in  der  Form 
der  Form.  Nun  ist  Form,  insoweit  vom  Geist  Aufgefaßtes, 
vom  Geist  Gestaltetes  in  Frage  steht,  immer  ein  Prinzip  der 
Objektivität  und  darin  liegt  ihre  metaphysische  Bedeutung  in 
der  Ethik  wie  in  der  Kunst.  Wo  wir  einem  Inhalt  eine  Form 
zusprechen  oder  verleihen,  hat  sie,  jenseits  dieser  Verwirklichung, 
eine  ideelle,  mindestens  zeitlose  Präexistenz;  indem  sie  ,, ge- 
schaffen" wird,  folgt  der  Schöpfer  einem  in  innerer  Anschauung, 
innerem  Gegebensein  Vorgezeichneten  —  v/ie  schon  der  griechische 
metaphysische  Mythus  den  Weltschöpfer  auf  die  ewigen  Ideen 


252  Überwindung  des  Gegensatzes 

oder  Formen  hinblicken  ließ,  um  nach  ihnen  den  Dingen  ihre 
Gestalten  zu  geben.  Jedes  Inhaltsstück  des  Deiseins,  inbegriffen 
die  seelischen  Vorgänge  als  Realitäten,  ist  einzig,  eben  dieses 
kann  nicht  zweimal  existieren,  es  ist  schlechthin  nur  es  selbst 
an  dieser  Stelle  von  Raum  und  Zeit  und  darum  kann  man  jedem 
realen  Inhalte  metaphysische  Subjektivität  zusprechen:  er  kann 
über  dieses,  in  seinen  Grenzen  beschlossene  Für-sich-sein  nicht 
hinaus.  Der  Stoff  des  Daseins,  das  seinem  Begriffe  nach  Formlose 
und  deshalb  ein  Indefinitum  und  Infinitum,  kann  sowohl  als 
Ganzes  wie  in  jedem  Stück  schlechthin  nur  einmal  da  sein;  die 
Form  umgekehrt,  das  Begrenzte  und  Begrenzende,  ist  unbe- 
grenzte Male  zu  realisieren.  Daher  ist  sie  das  Objektive,  weil  sie 
über  jede  einzelne  ihrer  Verwirklichungen,  auch  wenn  sie  zum 
ersten  und  zum  letzten  Male  nur  an  dieser  aufträte,  dennoch 
hinausgreift,  weil  es  für  sie  in  ihrem  ideellen  Bestände  gleich- 
gültig ist,  ob  sie  an  diesem  oder  an  jenem,  an  einem  oder  an 
tausend  Stücken  des  Stoffes  verwirklicht  wird.  Dies  ist  ihre 
Objektivität,  dies  macht  jede  konkrete  Existenz  ihr  gegenüber  zu 
etwas  Zufälligem  und  auf  sich  selbst  Angewiesenem,  Subjek- 
tivem; und  solche  Existenz  wird  in  dem  Maße  objektiv,  in  dem 
man  eben  an  ihr  die  Form  spürt.  Je  mehr  unser  Handeln,  Denken, 
Gestalten  sich  der  gegebenen  Unmittelbarkeit,  der  bloßen 
Stofflichkeit  entringt,  um  von  Form  durchdrungen  zu  werden, 
desto  objektiver  steht  es  da,  desto  mehr  teilhabend  an  jener 
ideellen  Freiheit  des  Formprinzips  von  der  verfließenden  Ein- 
maligkeit subjektiven  Daseins.  Dies  ist  der  Grund,  weshalb  die 
Alterskunst,  in  deren  Souveränität  gegenüber  den  historisch 
geprägten  Formen  sich  eine  Abweisung  des  Formprinzips  über- 
haupt versteckt,  der  bloßen  Subjektivität  anheimzufallen  schien. 
Aber  vielleicht  steht  hier  eine  Überwindung  des  ganzen  Gegen- 
satzes in  Frage;  vielleicht  ist  das  Subjekt,  das  hier  heraustritt, 
gar  nicht  mehr  das  zufällige,  vereinzelte,  erst  durch  Formung  zu 
erlösende,  wie  es  in  der  Jugend  der  Fall  ist.  In  ihr  bedarf  die  sub- 
jektivische  Formlosigkeit  der  Aufnahme  in  eine  historisch  oder 
ideell  vorbestehende  Form,  durch  die  sie  zugunsten  einer  Ob- 
jektivität entwickelt  wird.    Im  Alter  aber  hat  der  große  gestaltende 


Das  Subjekt  als  Welt  253 

Mensch  —  ich  spreche  hier  natürlich  von  dem  reinen  Prinzip 
und  Ideal  —  die  Form  in  sich  und  an  sich,  die  Form,  d  i  e  j  e  t  2  t 
schlechthin  nur  seine  eigene  ist;  mit  der  Ver- 
gleichgültigung  alles  dessen,  was  die  Bestimmtheiten  in  Zeit  und 
Raum  uns  innerlich  und  äußerlich  anhängen,  hat  sein  Subjekt 
sozusagen  seine  Subjektivität  abgestreift  —  das  ,, stufenweise 
Zurücktreten  aus  der  Erscheinung",  Goethes  schon  einmal  an- 
geführte Definition  des  Alters.  Jetzt  braucht  der  Mensch  keinen 
umfassenden  Rahmen  mehr  um  die  Einzelheiten  seiner  Äuße- 
rungen und  Betätigungen  zu  spannen,  weil  jede  einzelne  schon 
die  ganze  Lebensweite,  die  in  diesem  Menschen  wirklich  und  ihm 
möglich  ist,  unmittelbar  darstellt.  Es  ist  also  gerade  das  Gegenteil 
von  Impressionismus,  da  dieser  ein  Erlebnis,  eine  Relation 
zwischen  dem  Subjekt  und  dem,  was  in  irgendeinem  Sinne 
außerhalb  seiner  ist,  nur  von  der  Einseitigkeit  des  Subjekts 
selbst  her  vorträgt  —  während  hier  die  absolute  Verinner- 
lichung  vorliegt,  mit  der  das  Subjekt  reine,  objektiv  geistige 
Existenz  wird,  so  daß  ein  Äußeres  ihm  sozusagen  gar  nicht  mehr 
existiert.  Da  nun  aber  auch  der  alte  Mensch  schließlich  in  der 
Welt  lebt,  so  fern  ihm  auch  ihre  Einzelheiten  und  Äußerlichkeiten 
rücken  mögen,  da  er  als  Künstler  schließlich  von  ihr  und  den 
Dingen  in  ihr  reden  muß  —  so  ist  begreiflich,  daß  seine  Rede, 
ja  sein  ganzes  geistiges  Dasein  symbolisch  wird;  d.  h.  daß  er 
die  Dinge  nicht  mehr  in  ihrer  Unmittelbarkeit,  ihrer  Eigen- 
existenz ergreifen  und  benennen  will,  sondern  nur  insoweit  die 
Pulsschläge  seines  mit  sich  allein  lebenden,  sich  selbst  Welt 
seienden  Innern  Zeichen  für  sie  sein  können,  oder  sie  selbst  Ver- 
tretungen und  Gleichnisse  jener.  Goethe  spricht,  wie  ich  schon  an- 
führte, im  hohen  Alter  einmal  von  der  Äquivalenz  verschiedenster 
Lebensinhalte  und  begründet  das  damit,  daß  er  ,,all  sein  Wirken 
und  Leisten  immer  nur  symbolisch  angesehen"  habe.  Aber  darin 
offenbart  sich  sein,  mit  dem  Alter  immer  steigender,  oft  um 
hohe  Preise  durchgesetzter  Wille  zur  Einheit  des  Lebens.  Denn 
vielleicht  ist  jenes  symbolische  Erfassen  der  Lebensinhalte  über- 
haupt unser  einziges  Mittel,  das  Leben  einigermaßen  als  eine  Einheit 
vorzustellen.    Unser  ,, Wirken  und  Leisten"  ist  in  seinen  Zielen 


254  Symbolik  des  Alters 

und  Werten,  seinen  Zufälligkeiten  und  Notwendigkeiten,  seinem 
Erreichen  und  Verfehlen  etwas  so  unendlich  Zersplittertes,  Zu- 
sammenhangloses, in  sich  Divergentes,  daß  das  Leben,  auf  seine 
unmittelbaren  Inhalte  hin  angesehn ,  als  eine  wüste  Vielheit 
erscheint;  erst  wenn  man  sich  entschließt,  alles  einzelne  Tun 
nur  als  ein  Gleichnis  anzusehen,  unsere  praktische  Existenz, 
wie  sie  sich  empirisch  bietet,  als  ein  bloßes  Symbol  einer  tieferen, 
eigentlich  wirksamen  Realität  —  so  ist  darin  die  Möglichkeit 
einer  Einheit  gewonnen,  einer  verborgenen,  ungespaltenen  Wurzel 
des  Lebens,  die  all  jene  auseinanderstrebenden  Einzelbewäh- 
rungen aus  sich  entläßt.  Eben  damit  aber  ist  der  mystische 
Charakter  dieser  Alterssymbolik  dargetan.  Goethe  hat  einmal, 
mit  deutlicher  Beziehung  auf  sich  selbst,  ,,Quietismus"  und 
,, Mystik"  als  die  Wesenszüge  des  Greisenalters  bezeichnet. 
Unter  Mystik  versteht  er  hier  sicherlich  das,  was  ich  das  Sym- 
bolische nannte;  er  ist  der  Chorus  m  y  s  t  i  c  u  s  ,  der  den  Sym- 
bolcharakter aller  gegebenen  Welt  verkündet:  ,, Alles  Vergäng- 
liche ist  nur  ein  Gleichnis".  Goethe  hat  mit  jener  Doppel- 
qualität die  Altersperiode  —  insofern  sich  eben  Elemente  ihrer 
spezifisch  von  seinen  früheren  Existenzformen  abheben  —  un- 
zweideutig bezeichnet.  Dieser  ,,Quietismus"  ist  nichts  anderes 
als  jenes  ,, Zurückgetretensein  aus  der  Erscheinung",  die  In-sich- 
Existenz  des  Subjekts,  das  jetzt  einen  ganz  anderen  und  nicht 
mehr  den  relativen  Sinn  hat,  als  da  es  noch  ein  Objekt  sich  gegen- 
über hatte.  Er  ist  jetzt  selbst  alles,  was  er  von  Welt  sein  und  was 
er  von  Welt  wissen  kann  und  hat  deshalb  zu  der  sogenannten 
Welt  nur  noch  das  Verhältnis  des  , »Symbolischen".  Zwischen 
diesem  Subjekt  und  der  objektiven  ,,Form"  entfällt  damit  der 
ganze  Gegensatz.  Denn  die  Objektivierung,  die  sonst  die  irgend- 
wie präexistierende,  jenseits  des  Subjekts,  wenn  auch  in  seinen 
eigenen  Schöpfungen  bestehende  Form  diesem  Subjekt  zutrug, 
die  hat  es,  nun  von  sich  selbst  und  zu  sich  selbst  erlöst,  in  der 
Unmittelbarkeit  seines  Lebens  und  Sich-Äußerns.  Es  ist  fast 
schon  zu  viel,  hier  von  der  , »eigenen  Form"  zu  sprechen,  die 
die  vollendete  Altersexistenz  und  Alterskunst  zeigte.  Ihrer 
reinen,   wenngleich   ersichtlich   nie   empirisch   ganz   realisierten 


Überwindung  der  Formgrenze  255 

Idee  und  Intention  nach  hat  dieses  Leben  überhaupt  keine 
„Form"  mehr,  die  von  dem  Stoff  seiner  Subjektivität  zu  scheiden 
wäre:  das  ganze  Prinzip  der  Form  ist  gegenüber  diesem,  schlecht- 
hin objektives  Selbstsein  gewordenen  Subjekt  belanglos.  In 
diesem  Sinn  kann  man  sagen,  daß  jene  Formlosigkeiten,  jener 
Zerfall  der  Synthese  in  Goethes  hohem  Alter  das  Anzeichen  davon 
ist,  daß  seine  große  Lebensbestrebung:  die  Objektivation  des 
Subjekts,  sich  in  seinem  höchsten  Alter  vor,  wenn  auch  viel- 
leicht nicht  in  einer  neuen,  geheimnisvoll  absoluten  Vollendungs- 
stufe gesehen  hat. 

Ist  hierdurch  der  Nerv  der  letzten  Epoche  Goetheschen  Lebens, 
insoweit  sie  sich  von  den  anderen  unterscheidet,  getroffen  — 
obgleich  sie  ihr  Unvergleichliches  nur  mit  Andeutungen  und 
Ansätzen  in  das  Weiterleben  dieser  früheren  mischt  — ,  so  ver- 
bindet sich  gerade  damit  ein  Aspekt  für  die  Totalität  dieses 
Lebens.  Es  ist  vielfach  ausgesprochen  worden,  daß  auch  die 
wissenschaftlichen  Theorien  Goethes  ebenso  wie  seine  ganze 
Lebensauffassung,  beides  sowohl  in  dem  Großen  und  Bedeutenden 
wie  in  dem  Zweifelhaften  und  Unwirksamen,  von  seinem  Künstler- 
tum  bestimmt  seien.  ,,Für's  Ästhetische",  schreibt  er  in  späterem 
Überblick,  ,,bin  ich  eigentlich  geboren".  Seine  Art  der  Natur- 
verehrung, die  Überzeugtheit  von  dem  sichtbaren  Einwohnen  der 
Idee  in  der  Erscheinung,  die  ,, Anschaulichkeit"  seines  Denkens, 
die  Bedeutung  der  ,,Form"  in  seinem  Weltbild,  die  Leidenschaft 
für  Harmonie  und  Abgerundetheit  des  theoretischen  wie  des 
praktischen  Daseins  —  alles  dies  sind,  namentlich  in  ihrem  Zu- 
sammenkommen, Bestimmtheiten  der  seelischen  Existenz  nach 
dem  Apriori  des  Künstlertums ;  es  ist  das  ,,Urphänomen"  zu 
seinen  Lebensphänomenen,  daß  er  Künstler  ist.  Nun  aber  hat 
er  selbst  angedeutet,  daß  hinter  den  Urphänomenen,  dem  letzten 
für  uns  Ergreifbaren  und  Erforschlichen,  noch  irgendein  Aller- 
letztes steht,  das  sich  allem  Blick  und  Bezeichnung  entzieht. 
Und  so  nun  hat  das  artistische  Fundament  und  Funktionsgesetz 
seines  Wesens  noch  etwas  Tieferes  hinter  sich,  eine  nicht  benenn- 
bare Wesenheit,  die  auch  seine  ganze  künstlerisch  bestimmte 
Erscheinung  noch  trägt  und  umgreift.     Natürlich  ist  dies  nicht 


256  Künstlertum  und  Mehr- als -Künstiertum 

sein  Privileg,  sondern  in  eben  diese  Schicht  streckt  sich  die  letzte 
Realität  jeder  menschlichen  Existenz.  Nur  ist  sie  bei  Goethe 
in  besonderer  Weise  fühlbar,  weil  eben  die  Einzelheiten,  die 
primären  Phänomene  seines  Wesens  schon  zu  einer  Einheit, 
zu  einem  anschaulichen,  sie  alle  tragenden  oder  durchdringenden 
Urphänomen,  —  dem  künstlerischen  —  zusammengehen,  wie  es  bei 
den  wenigsten  anderen  Menschen  der  Fall  ist.  Er  hat  —  gerade 
in  und  mittels  der  Spannung  sowohl  der  gleichzeitigen  wie  der 
Entwicklungsgegensätze  seiner  Persönlichkeit  —  schon  eine 
Einheit  innerhalb  des  Empirischen,  wie  wir  andern  sie  erst  in 
der  dunkeln  Vorstellung  jenes  noumenalen  Absoluten  in  uns 
suchen  müssen.  Dadurch  hebt  sich  bei  ihm  dasjenige,  was 
überhaupt  empirisch  und  aussagbar  ist,  von  dem  andern,  das 
Geheimnis  bleiben  muß,  reinlicher  ab,  als  wo  die  unmittelbaren 
Einzelheiten  schon  in  diesem  zu  konvergieren  scheinen.  Die 
ganze  Weite  seiner  Existenz,  auch  insoweit  sie  von  dem  Ur- 
phänomen des  Künstlertums  beherrscht  scheint,  wäre  gar  nicht 
möglich,  wenn  dieses  selbst  nicht  die  Ausstrahlung  oder  die 
Handhabe  eines  Höheren,  Allgemeineren  oder,  wenn  man  will, 
tiefer  Persönlichen  gewesen  wäre ;  innerhalb  einer  mehr  empirischen 
und  psychologischen  Schicht  mag  man  das  so  ausdrücken,  daß 
der  Künstler  eine  gewisse  letzte  Größe  auch  rein  als  Künst- 
ler nicht  erreicht,  wenn  er  nicht  mehr  als  bloß  Künstler  ist. 
Zweifellos  vertieft  es  das  Goethesche  Bild  in  der  richtigen  Rich- 
tung, wenn  man  alle  Äußerungen  seines  Lebens,  auch  die  in- 
tellektuellen, die  ethischen,  die  rein  personalen,  auf  den  General- 
nenner des  Künstlertums  zurückführt  —  aber  die  letzte  Instanz 
ist  damit  noch  nicht  erreicht.  Nur  daß  diese  freilich  nicht  in 
Begriffen  zu  fixieren,  sondern  nur  in  einer  inneren,  gefühls- 
mäßigen Anschauung  zu  vergegenwärtigen  ist.  Und  zwar  nicht 
nur  wegen  der  transzendentalen  Tiefe,  in  der  dies  Letzte  der 
Persönlichkeit  bei  Goethe,  wie  bei  allen  Menschen  überhaupt 
wohnt,  sondern  weil  es  sich  bei  ihm,  dem  unspezialistischsten 
aller  Menschen,  noch  mehr  als  bei  allen  anderen  gegen  jede  Be- 
nennung seiner  Färbung  wehrt,  die  unvermeidlich  etwas  Ein- 
seitiges und  Exklusives  wäre.    Deutlicher  als  gegenüber  irgend- 


Das  Personal- Allgemeine  257 

welcher  sonstigen  historischen  Gestalt  fühlen  wir  hier  diese  eigen- 
tümliche, noch  wenig  betrachtete  Kategorie,  die  uns  für  jeden 
Lebenden,  sobald  wir  ihn  einigermaßen  kennen,  bestimmend  ist: 
das  Allgemeine  seiner  Persönlichkeit,  das  aber  nicht  als  Abstraktum 
aus  seinen  einzelnen  Zügen  und  Betätigungen  zu  gewinnen  ist, 
sondern  eine  Einheit,  die  nur  einem  unmittelbaren  seelischen 
Kennen  zugängig  ist.  Es  ist  eine  andere  Wegerichtung,  das 
Allgemeine  über  Einzelnem  zu  erfassen,  als  sie  der  Begriffe- 
bildende Verstand  geht.  Auch  diesem  versagen  sich  ja  jene  singu- 
lären  Phänomene  des  Individuums  nicht,  und  er  führt  z.  B.  bei 
Goethe  zu  dem  Künstlerhaften,  das  wir  als  den  gemeinsamen  Zug 
aus  seinen  empirischen  Mannigfaltigkeiten  abstrahieren  können. 
Wie  wir  nun  aber  jeden  uns  näherstehenden  Menschen  jenseits 
solcher,  noch  so  umfassender  Angebbarkeiten  ,, kennen",  in 
einer  besonderen,  nicht  verstandesmäßigen,  nur  erlebbaren  Kate- 
gorie, gleich  der  Unverwechselbarkeit  und  gleichzeitigen  Un- 
beschreibbarkeit  seiner  Gesichtszüge  —  so  haben  wir  von  Goethe, 
als  dem  größten  historischen  Beispiel  dieser  Möglichkeit,  eine 
Wesensanschauung,  die  nicht  in  seinen  einzelnen  Qualitäten 
und  Leistungen  aufgeht,  auch  nicht  in  ihrer  Summe  oder  dem 
Allgemeinen,  das  wir  aus  ihnen  begrifflich  gewinnen  könnten; 
und  nun  wirkt  diese  gerade  in  dem  Eindruck  jeder  solchen 
Einzelheit  mit,  wie  für  den  metaphysischen  Menschen  alle 
Einzelheiten  des  Gegebenen  von  der  absoluten  Seinseinheit  be- 
gründet und  durchdrungen  sind,  die  nicht  durch  eine  von  ihnen 
benennbar  oder  durch  Abstraktion  aus  ihnen  gewinnbar  ist. 
Wer  nicht  hinter  und  in  Goethe  dem  Dichter,  Goethe  dem  soundso 
Lebenden,  Goethe  dem  Forscher,  Goethe  dem  Liebenden,  Goethe 
dem  Kulturschöpfer  —  dieses  Personal-Allgemeine,  dessen  Ein- 
heit nicht  eine  aus  Vielem  zusammengesetzte  ist,  spürt,  diese 
sozusagen  formale  Rhythmik  und  Dynamik,  die  nicht  in  der 
Relation  zu  der  Welt  des  Vielfachen,  sondern  zu  der  ,, schweigend 
zu  verehrenden"  Einheit  des  Seins  ihr  Wesen  hat  —  wer  dieses 
nicht  spürt,  für  den  leistet  Goethe  nicht,  was  nur  e  r  leisten  kann. 
Ich  glaube,  von  jeder  Idolatrie  für  ihn  frei  zu  sein;  es  mag  stärkere, 
tiefere,  anbetungswürdigere  Existenzen  und  Leistungen  gegeben 

Simmel,  Goethe.  '7 


258  Die  Kraft  und  die  Talente 

haben,  als  die  seinige.  Aber  in  jenem  ist  er,  dem  Grade  nach, 
einzig:  ich  weiß  von  keinem  Menschen,  der  den  Nachlebenden 
mit  dem,  was  doch  schließlich  nur  als  seine  einzelnen  Lebens- 
äußerungen dasteht,  die  Anschauung  einer  so  hoch  über  all  dies 
Einzelne  erhabenen  Einheit  seines  Seins  überhaupt  hinterlassen 
hätte. 

Sucht  man  nun  das,  diesem  Höchsten  und  nur  als  Anschauung 
Erfaßbaren  Nächstgelegene,  eben  noch  Beschreibbare  auf,  so  be- 
gegnet man  vielleicht  einem  noch  Allgemeineren,  die  Persönlich- 
keit noch  mehr  nach  ihrer  Form  Charakterisierenden,  als  dem 
Künstlertum.  Es  erscheint  als  das  vollkommenste  Leben,  wenn 
man  nur  aus  dem  geistigen  Detumeszenztrieb  heraus,  aus  dem 
Bedürfnis,  das  subjektive  Leben  zu  äußern,  existiert  und  sicher 
ist,  damit  das  objektiv  Wertvolle  zu  schaffen,  das  vor  den 
blos  auf  die  Inhalte  gehenden  Kriterien  bestehen  kann.  Ich  habe 
es  oft  ausgesprochen,  daß  ich  hierin  die  durchgehende  Formel  des 
Goetheschen  Lebens  sehe,  und  wenn  diese  letzten  Seiten  zeigten, 
daß  er  in  der  Jugend  den  subjektiven  Prozeß,  im  Alter  die  objek- 
tiven Inhalte  dominieren  ließ,  so  waren  das  doch  nur  Akzent- 
verschiebungen und  Entwicklungsstadien  innerhalb  jener  Ge- 
samtrelation seines  Lebens  zum  Weltsein.  Die  innerpersönlichen 
Faktoren  nun,  deren  Verhältnis  diese  Eudämonie  seiner  Existenz 
trugen,  kann  man  bezeichnen  als:  das  Maß  der  Gesamtkraft  der 
Natur  und  die  Talente.  Wie  sich  beides  sonst  am  Menschen  findet, 
scheint  es  in  erheblichem  Maße  von  einander  unabhängig  zu 
sein.  Wie  viele  sind  in  Unfruchtbarkeit,  in  ein  Mißverhältnis 
gerade  zu  dem  ihnen  äußeren  Dasein  gefallen,  ja,  sind  zugrunde 
gegangen,  weil  ihre  Kraft  nicht  für  ihre  Talente  oder  ihre  Talente 
nicht  für  ihre  Kraft  ausgereicht  haben !  oder  weil  ihre  Begabungen 
so  angeordnet  waren,  daß  die  Kraft  sich  in  ihnen  unwirksam 
verzehrte,  oder  daß  sie  sich  in  einer  Reihenfolge  entwickelten,  die 
der  allmäligen  Entfaltung  der  Kraft  nicht  entsprach!  Die  Ma- 
schine hat  mehr  Dampf,  als  ihre  Konstruktion  vertragen  kann, 
oder  diese  ist  auf  eine  größere  Leistung  angelegt,  als  zu  der  ihr 
Dampf  zureicht.  Aber  von  allen  glücklichen  Harmonien,  die 
man  dem  Goetheschen  Wesen  zugesprochen  hat,  liegt  hier  viel- 


Ausformungen  der  Lebenseinheit  259 

leicht  die  tiefste,  die  sozusagen  von  ihm  selbst  aus  entscheidende. 
Gewiß  hat  auch  seine  Kraft  sich  hier  und  da  in  „falsche  Ten- 
denzen" verrannt,  hat  einen  Auslaß  da  gesucht,  wo  das  Talent 
ihr  keinen  hinreichend  breiten  Kanal  bot.  Sieht  man  aber  genau 
hin,  so  waren  das  immer  nur  Anlaufrückschritte,  nach  denen 
sich  das  Gleichgewicht  zwischen  Kraft  und  Talent  um  so  voll- 
kommener herstellte  —  jene  dem  subjektiv  aus  sich  heraus- 
lebenden Leben  entsprechend,  dieses  das  Mittel,  durch  das  dieses 
Leben  dem  Dasein  außerhalb  seiner  und  den  objektiven  Normen 
gemäß  verlaufen  kann.  Damit  also  wurde  die  Harmonie  seiner 
inneren  Struktur  zum  Träger  jener  Harmonie  ihrer  selbst  mit  allem 
Objektiven.  Diese  formale  Grundsubstanz  seines  Lebens  sahen  v/ir 
nun  sich  in  den  Stilgegensätzen  zwischen  Jugend  und  Alter  entfal- 
ten, wie  sie  so  radikal  unter  den  großen  uns  bekannten  Menschen 
sich  vielleicht  nur  bei  Friedrich  d.  Gr.  spannen  —  abgesehen  von 
den  (unter  besonderen  Bedingungen  stehenden)  religiösen  Innen- 
revolutionen, bei  denen  man  aber  nicht  recht  von  einer  Ent- 
wicklung zwischen  den  Polen,  sondern  von  Umspringen  von 
einem  zum  andern  sprechen  kann.  Hieran  zeigt  sich  nun  die  wei- 
tere große  Gleichgewichtsform  seines  Lebens:  in  dessen  Bilde 
ist  dasjenige  Maß  von  Beharrendem,  Gleichbleibendem,  zu 
fühlen,  das  den  Eindruck  des  sich  Wandelnden,  lebendig  sich 
Umgestaltenden  auf  ein  Maximum  bringt  —  und  dasjenige  Maß 
von  Wechsel,  auf  Grund  dessen  das  Einheitlich- Durchhaltende 
zu  seiner  größten  Eindrucksstärke  gelangt.  Indem  jede  dieser  Vital- 
formen ihren  Gegensatz  und  sich  an  ihrem  Gegensatz  aufs  voll- 
kommenste entfaltete,  realisiert  sich  der  spezifisch  organische 
Charakter  dieses  Daseins,  da  uns  der  Organismus  doch  als  das 
Wesen  erscheint,  das,  im  Unterschied  gegen  allen  Mechanismus, 
den  Fluß  unaufhörlichen  Wandels  mit  einem  beharrend  iden- 
tischen, nur  mit  dem  Wesen  selbst  zerstörbaren  Selbstsein  in 
Eins  faßt.  An  Friedrich  d.  Gr.  ist  dieser  durchhaltende  Faden, 
der  sich  in  Jugend  und  Alter  zu  so  anders  aussehenden  Geweben 
verspinnt,  viel  v/eniger  zu  fühlen.  Nun  muß  man  freilich  auch 
bei  Goethe  nicht  nach  einem  durch  Jugend  und  Alter  hindurch 
konservierten  Inhalt  von  Leben  und  Geist  suchen;  wäre  dieser 

17* 


260  Die  Wertgleichheit  der  Lebensmomente 

auch  zu  finden  (etwa  in  dem  Künstlertum  oder  der  pantheistischen 
Tendenz),  so  würde  er  doch  nicht  das  hier  Entscheidende  sein. 
Ein  beharrender  Inhalt  ist  als  solcher  immer  etwas  Starres,  ganz 
genau  gesehen  ist  er  nicht  dasjenige  Bleibende,  das  dem  Leben 
den  Dienst  leistet,  seine  Wandlungen  zusammenzuhalten;  viel 
enger  vielmehr  ist  jenes  Bleibende  diesen  Veränderungen  verbunden, 
als  ein  begreiflich  fixierbarer  Inhalt  es  könnte.  Es  ist  vielmehr 
ein  Funktionelles  oder  ein  Gesetz,  das  nur  von  und  in  Ver- 
änderungen existiert  oder  —  bildlich  gesprochen  —  ein  Anstoß, 
der  die  individuelle  Existenz  von  Anfang  bis  Ende  trägt  und  sie 
als  der  reine  und  gleiche  durch  alle  ihre  Richtungen  und  Win- 
dungen hindurchträgt.  Für  Goethes  Überzeugung  selbst  lebt 
der  Charakter  des  Menschen  nur  an  seinen  Handlungen:  ,,die 
Quelle",  sagt  er  inbezug  darauf,  ,, kann  nur  gedacht  werden,  in- 
sofern sie  fließt";  und:  ,,die  Geschichte  des  Menschen  ist  sein 
Charakter".  Mit  alledem  sei  nur  ausgedrückt,  daß  die  Einheit 
und  Permanenz  in  den  Entwicklungswandlungen  des  Lebens, 
davon  das  Goethesche  vielleicht  das  anschaulichste  Beispiel  ist, 
nichts  irgendwie  außerhalb  dieser  Wandlungen  Stehendes 
ist;  vielleicht  ist  sogar  der  Gegensatz  des  Bleibenden  und  des  Sich- 
Verändernden  nur  eine  nachträgliche  Zerlegung,  durch  die  wir 
die  an  sich  unbegreifliche  Tatsache  des  Lebens  in  unsere  Auf- 
fassung überführen.  Für  die  Art  nun,  wie  sehr  entgegengesetzte 
Entwicklungsmomente  die  durchhaltende,  geformte  Einheit 
in  sich  tragen,  gibt  Goethe  einen,  gerade  inbezug  auf  sich  selbst 
höchst  bedeutsamen  Hinweis.  Es  gehört  nämlich  zu  seinen 
großen  Geistesmotiven,  daß  das  Leben  in  jedem  Augenblick, 
an  jeder  seiner  Entwicklungsstellen  ein  in  sich  vollkommenes, 
selbständig  und  nicht  erst  als  Vorbereitung  auf  ein  Endstadium 
oder  als  Vollendung  eines  vorangegangenen  wertvolles  wäre 
oder  jedenfalls  sein  kann.  ,,Der  Mensch  wird  in  seinen  verschie- 
denen Lebensstufen  wohl  ein  anderer,  aber  er  kann  nicht  sagen, 
daß  er  ein  besserer  werde."  Dann  beschreibt  er  die  Anforderungen, 
die  ein  Schriftsteller  auf  allen  Stufen  seines  Schaffens  erfüllen 
soll  und  fährt  fort:  ,,Dann  wird  sein  Geschriebenes,  wenn  es  auf 
der  Stufe  recht  war,  wo  es  entstanden,  auch  ferner  recht  bleiben, 


Die  Wandlungen  und  die  Ganzheit  261 

der  Autor  mag  sich  auch  später  entwickeln  und  verändern  wie 
er  wolle."  Im  Tiefsten  diesem  Motiv  zugehörig  ist  die  Bemerkung, 
das  Werk  eines  großen  Künstlers  sei  in  jedem  Stadium  seines 
Vollendetwerdens  ein  Fertiges. 

Diese  Selbstgenügsamkeit  jedes  Lebensmomentes,  als  welche 
sich  die  Fundamentalwertigkeit  des  Lebens  überhaupt  ausspricht, 
liegt  nicht  nur  in  der  Unabhängigkeit  von  der  Zukunft,  sondern 
auch  in  der  von  der  Vergangenheit.  Ich  verweise  auf  die  wun- 
derbare Äußerung  von  der  ,, Erinnerung",  die  er  , .nicht  statu- 
iert", weil  das  Leben  dauernde  Entwicklung  und  Höherbildung 
wäre  und  sich  nicht  an  ein  Starres,  als  vergangen  Gegebenes 
binden  könne,  sondern  dies  nur  als  dynamische  Wirkung  in  die 
dadurch  erhöhte  Gegenwart  aufnehmen  dürfe.  Er  ist  82  Jahre 
alt,  als  er  sagt:  ,,Da  ich  immer  vorwärts  strebe,  so  vergesse  ich, 
was  ich  geschrieben  habe,  wo  ich  dann  sehr  bald  in  den  Fall  komme, 
meine  Sachen  als  etwas  durchaus  Fremdes  anzusehen".  Seine 
tiefe  Abneigung  gegen  alle  teleologische  Betrachtung  muß  damit 
zusammenhängen:  seiner  Überzeugtheit  von  dem  in  sich  zu- 
länglichen Sinn  jedes  Existenzmomentes  widersprach  es,  daß 
irgend  ein  solcher  erst  von  einem  über  ihn  hinausliegenden  End- 
zweck seine  Bedeutung  entlehnen  sollte.  Wenn  man  will,  kann 
man  auch  die  pantheistische  Tendenz,  für  die  jedem  Daseinsstück 
die  Totalität  des  Daseins  überhaupt  innewohnt,  keines  also  über 
sich  hinaus  kann  und  hinaus  braucht,  hier  auf  den  Zeitverlauf 
des  Lebens  übertragen  sehen.  Jede  Lebensperiode  enthält  die 
Ganzheit  des  Lebens  in  sich,  nur  jedesmal  in  anderer  Form, 
und  es  liegt  kein  Grund  vor,  ihre  Bedeutung  aus  einer  Relation 
zu  einem  Vorher  oder  Nachher  zu  schöpfen;  jede  also  hat  ihre 
eigene  Möglichkeit  der  Schönheit  und  Vollendung,  der  jeder 
anderen  unvergleichbar,  aber  als  Schönheit  und  Vollendung 
gleich.  Dies  ist  die  Art,  wie  er  von  der  Kategorie  des  Wertes 
aus  und  von  der  unmittelbaren  Wertempfindung  seines  Lebens 
her,  die  Unaufhörlichkeit  der  Wandlung  und  die  schroffe  Ent- 
gegengesetztheit der  Lebensperioden  mit  einem  durch  sie  alle  hin- 
durchgelebten  Einen  und  Gleichen  zusammenfühlen  konnte. 

Weil  aber  jede  dieser  Perioden  —  wenigstens  der  Idee  und 


262  Sich-Ausleben 

Annäherung  nach  —  in  sich  vollendet  war,  darum  hat  er  sich 
auch  wirklich  ausgelebt.  War  es  der  große  Zauber  dieses  Lebens, 
seine  rastlose  Entwicklung  mit  eben  dieser  Vollendung  und  Selbst- 
genügsamkeit seiner  Abschnitte  zu  vereinen,  so  hatte  nun  auch 
das  Greisenalter  seine  Perfektion  in  sich.  Es  war  nicht,  wie  bei 
vielen  andern,  nur  der  Abschluß  der  Vergangenheit,  der  nur  von 
dieser  sozusagen  formalen  Würde  und  im  übrigen  nur  von  dem 
Inhalte  dessen,  was  war,  getragen  war  und  seinen  Sinn  bezog, 
wie  die  abendlichen  Wolken  noch  von  der  untergegangenen  Sonne 
mit  ihren  Farben  gekrönt  werden.  Sondern  seine  Bedeutung 
verdankte  es  sich  allein,  unvergleichbar  mit  allem  Früheren, 
mit  dem  es  dennoch  durch  eine  kontinuierliche  Entwicklung 
verbunden  war.  Aber  eben  um  dieser  geschlossenen  Positivität 
willen  wies  es  auch  nicht  auf  ein  überirdisches  Weitergehen  hin, 
sondern  es  war  dem  Hier  verhaftet,  wie  die  ganze  Goethesche 
Existenz,  und  nur  soweit  in  ein  Transzendentes  hinüberreichend, 
wie  diese  ganze  Existenz  an  jedem  ihrer  Punkte  es  war.  Dagegen 
scheint  sich  natürlich  sofort  die  Äußerung  zu  Eckermann  zu 
wenden,  die  Natur  sei  verpflichtet,  ihm  eine  weitere  Existenz- 
form anzuweisen,  wenn  die  jetzige  seinen  Kräften  nicht  mehr 
aushielte.  Ich  sehe  hier  von  seinem  Unsterblichkeitsglauben  über- 
haupt ab,  dessen  spekulative  Mystik  mit  den  Entwicklungsstadien 
des  empirischen  Lebens  nichts  zu  tun  hat.  Nur  die  Begründung 
aus  der  unausgelebten  Kraft,  den  unausgeschöpften  Möglich- 
keiten geht  uns  an.  Und  ich  kann  nicht  leugnen,  daß  ich  hier 
an  eine  Selbsttäuschung  Goethes  glaube  —  eine  Unbeweisbarkeit 
natürlich,  die  sich  nur  auf  einen  aus  vielen  Imponderabilien 
unkontrollierbar  erwachsenen  ,, Eindruck"  gründet.  Der  Reich- 
tum seiner  Natur  gab  seiner  Gesamtkraft  nur  außerordent- 
lich viele  Ausform.ungsmöglichkeiten  und  v/eil  er  jeweils  nur 
eine  von  ihnen  ergreifen  konnte,  in  die  dann  auch  seine  ganze 
Kraft  ging,  so  blieben  alle  die  statt  dieser  möglichen  natürlich 
unrealisiert  —  und  im  Gefühl  davon  meinte  er,  daß  er  auch 
zu  all  diesen  die  Kraft  gehabt  hätte.  Weil  er  allerdings 
Töpfe  oder  Schüsseln  machen  konnte,  schien  es  ihm,  er  hätte 
Töpfe  und  Schüsseln  machen  können.     Ich   glaube  vielmehr, 


„Das  ist  fürwahr  ein  Mensch  gewesen"  263 

daß  er  seine  Kraft  wirklich  zu  Ende  gelebt  hat;  und  das  ist 
kein  Manko,  sondern  gehört  gerade  zu  den  Wundern  seiner 
Existenz;  er  gehörte  zu  denen,  die  wirklich  zu  Ende  kamen  und 
keinen  Rest  hinterließen.  Hier  kommt  ersichtlich  dasjenige  zu 
seiner  letzten  Formulierung,  was  ich  vorhin  über  die  Harmonie 
zwischen  seiner  Kraft  und  seinen  Talenten  sagte:  nicht  nur  haben 
sich  seine  Talente  in  seiner  Kraft  ohne  Rückstand  entfaltet,  sondern 
auch  seine  Kraft  hat  sich  in  seinen  Talenten  erschöpft.  Soweit  wir 
überhaupt  in  solchen  Dingen  urteilen  dürfen,  sind  nur  abstrakte 
Möglichkeiten  seines  Wesens  unrealisiert  geblieben  (was  sozu- 
sagen nur  ein  logischer,  aber  kein  vitaler  oder  metaphysischer  Aus- 
fall ist) ,  seine  konkreten  Möglichkeiten  aber  hat  er  ausgeschöpft 
und  brauchte  ihretwegen  nicht  ,,in  die  Ewigkeit  zu  schweifen". 
All  diese  in  seiner  ,,Idee"  angelegten  und  näher  zu  ihr,  als 
irgend  sonst,  anschaubar  gewordenen  Vollendungen  kann  man 
nun  endlich  als  die  der  reinen,  durch  keinen  speziellen  Inhalt 
differenzierten  Menschlichkeit  überhaupt  ansprechen.  Wir  emp- 
finden seine  Entwicklung  als  die  typisch  menschliche  —  ,,auf 
deinem  Grabstein  wird  man  lesen:  Das  ist  fürwahr  ein  Mensch 
gewesen",  in  gesteigerteren  Maßen  und  klarerer  Form  zeichnet 
sich  an  ihm,  in  und  unter  all  seinen  Unvergleichlichkeiten,  die 
Linie,  der  eigentlich  jeder  folgen  würde,  wenn  er  sozusagen 
seinem  Menschentum  rein  überlassen  wäre.  Auch  daß  er  in  Vielem 
ein  Kind  seiner  Zeit  war  und  historisch  überwunden  ist,  gehört 
dazu:  denn  der  Mensch  als  solcher  ist  ein  historisches  Wesen,  und 
sein  allen  andern  Wesen  gegenüber  Einziges  ist,  daß  er  zugleich 
ein  Träger  des  Überhistorischen  in  der  Form  der  Seelenhaftigkeit 
ist.  Gewiß  ist  Unklarheit  und  Mißbrauch  genug  an  den  Begriff 
des  ,, Allgemein-Menschlichen"  gebunden  worden.  Es  ist  auch 
vergebens,  ihn  analytisch  aus  den  Individuen  heraus  abstrahieren 
zu  wollen.  Er  geht  vielmehr  auf  eine  noch  wenig  unter- 
suchte und  auch  hier  nicht  näher  zu  untersuchende,  praktisch 
aber  fortwährend  ausgeübte  Fähigkeit  unsres  Geistes  zurück: 
in  einer  vorliegenden,  insbesondere  seelischen  Erscheinung  un- 
mittelbar zu  unterscheiden,  was  ihr  rein  Individuelles  und  was 
ihr  Typisches,  aus  ihrer  Art  oder  Gattung  ihr  Zukommendes  ist; 


264  Das  Allgemein-Menschliche  als  individuelles  Leben 

durch  einen  intellektuellen  Instinkt  oder  durch  die  Wirksamkeit 
einer  Kategorie  spüren  wir  an  gewissen  Seiten  einer  mensch- 
lichen Erscheinung  ein  Schwergewicht,  ein  breiteres  Hinaus- 
greifen über  dies  einmalige  Vorkommen,  das  wir  als  das  Allge- 
mein-Menschliche bezeichnen  und  mit  dem  wir  ein  dauerndes 
Besitztum  oder  Entwicklungsgesetz  der  Gattung  Mensch,  einen 
zentralen  Nerv,  der  ihr  Leben  trägt,  meinen.  Und  dies  ist  nun 
das  unsäglich  Tröstende  und  Erhebende  der  Erscheinung  Goethe: 
daß  einer  der  größten  und  exzeptionellsten  Menschen  aller  Zeiten 
genau  den  Weg  dieses  Allgemein-Menschlichen  gegangen  ist. 
In  seiner  Entwicklung  ist  nichts  von  dem  sozusagen  Monströsen, 
qualitativ  Einsamen,  mit  nichts  in  Parallele  zu  Stellenden,  das 
der  Weg  des  großen  Genies  so  oft  zeigt,  mit  ihm  hat  das  schlecht- 
hin Normale  erwiesen,  daß  es  die  Dimensionen  des  ganz  Großen  aus- 
füllen kann,  das  ganz  Allgemeine,  daß  es,  ohne  sich  selbst  zu 
verlassen,  zu  einer  Erscheinung  von  höchster  Individualität 
werden  kann.  Alles  untergeistige  Wesen  steht  jenseits  der  Frage 
von  Wert  und  Recht,  es  i  s  t  schlechthin.  Höhe  aber  und  Be- 
drängnis des  Menschen  preßt  sich  in  die  Formel  zusammen,  daß 
er  sein  Sein  rechtfertigen  muß.  Er  glaubt  das  dadurch  vollbracht, 
daß  er,  über  das  Allgemeine  der  menschlichen  Existenz  überhaupt 
hinaus  einen  einzelnen  Inhalt  ihrer  zu  einer  Vollendung  bringt, 
die  sich  an  einer  sachlichen,  nur  für  diesen  Inhalt  geltenden 
Skala  mißt :  einen  intellektuellen  oder  religiösen ,  einen  dy- 
namischen oder  gefühlshaften,  einen  praktischen  oder  künst- 
lerischen. Goethe  aber  hat  —  das  höchste  Beispiel  einer  unend- 
lichen Annäherungsreihe  —  in  der  Summe  und  Einheit  seiner 
Leistungen,  in  deren  Verhältnis  zu  seinem  Leben,  in  dem  Rhyth- 
mus, der  Xönung,  der  Entwicklungsperiodik  dieses  Lebens,  das 
allgemein  und  absolut  Menschliche  jenseits  oder  über  all 
jenen  einzelnen  Perfektionen  nicht  nur  als  Wert  gefordert, 
sondern  als  Wert  gelebt:  er  ist  die  große  Rechtfertigung  des 
bloßen  Menschentums  aus  sich  selbst  heraus.  Er  be- 
zeichnet einmal  als  den  Sinn  aller  seiner  Schriften  ,,den 
Triumph  des  Rein-Menschlichen";  es  ist  der  Gesamtsinn  seiner 
Existenz  gewesen. 


Druckfehlerverzeichnis. 


Statt : 

S.  2  Z.  13  V.  o.  Reihen  des  Lebens  und  der 

Sachwerte 

S.  8    Z,   12    V.  o.    nicht   inhaltlich-logischen 

S.  9  Z.  7  V.  u.  Aufbau 

S.  17  Z.   15  V.  o.  das 

S.  18  Z.  15  V.  o.  deren  noch 

S.  20  Z.   16  V.  u.  Objekt 

S.  51  Z.   I   V.  u.  Gott,  das 

S.  87  Z.  3  V.  o.  lebt 

S.  107  Z.   7  V.  u.  begehrliches 
S.  III  Z.  17  V.  u.  Wert  —  Wirklichkeit 

S.  120  Z.  7  V.  o.  sie 

S.  122  Z.  5  V.  u.  Seite 

S.  124  Z.  15  V.  u.  Es 

S.  136  Z.   17  V.  o.  Schaung 

S.  150  Z.   II  V.  o.  menschlichen 

S.  173  Z.   15  V.  o.  seine  reigenen 

S.  190  Z.   II   V.  o.  sind 

S.  201  Z.   10  V.  o.  Fähigkeit 

S.  241  Z.  I  V.  o.  Unendliche  noch 

S.  242  Z.   I  V.  o.  Gefügtheit 

S.  242  Z.   4  V.  o.  scheitern 

S.  243  Z.  8  V.  o.  und  ihren 

S.  256  Z.   15  V.  o.  schon 


Lies: 
Reihen:    des   Lebens    und    der 

Sachwerte  — 
nicht   den    inhaltlich-logischen 
Aufwachsen 
die 

deren  nur  noch 
Subjekt 
Gott.     Das 
lebte 

Begehrliches 
Wert-Wirklichkeit 
diese 
Seiten 
Er 

Schauung 
menschheitlichen 
seiner  eigenen 
ist 

Festigkeit 

Unendliche  nur  noch 
Gefügtheit 
zerschellen 
in  ihrem 
grade 


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