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Full text of "Goettingische Gelehrte Anzeigen 1923"

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unter der Aufsicht 

der Königl. Gesellschaft der VVissenschalten 

185. Jahrgang 1923 

Nr. I—III Januar bis März 


Inhalt, 

Adolf von Ilarnack, Marcion: das Evangelium vom fremden Gott. 

Von Walter Bauer . 1—14 

Badhakumud Mookerji, Local Government in ancient India. — 

Rainesh Chandra Majumdar, Corporate Life in ancient India. 

Von R. Fick . . ’.• . . . *.14—22 

Paul Kretschmer, Wortgeographie der hochdeutschen Umgangs¬ 
sprache. Von K. Euling .22—37 

Isidor Scheftelowitz, Die Entstehung der manichäischen Religion 

und des Erlösungsmysteriums. Von R. Reitzenstcin ....... 37—58 

Iians Naumann, Primitive Geraeinschaftskultur. Von J. Schurietmng 58—64 
Vilh. Thomsen, Samlede Afhandlinger. Bd. 2. 3. Von E. Schröder . (55—03 

Bruder Klaus. Die ältesten Quellen über den seligen Nikolaus von 

Fliie. Von G. Meyer van Knonau .. . (>9—75 

Bücherei der Kultur und Geschichte. Bd. 6: Die Kreuzzüge von Albert 
von Ruville. — Bd. 6: Das Zeitalter der Normannen in Sizilien von 

Willy Cohn. Von A. Hessel .75—77 

F. Philippi, Einführung in die Urkundenlehre des deutschen Mittel¬ 
alters. Von A . Hessel. ...78—79 

J o s e p h K r p! 1, Beiträge zum Descenöus ad inferos. Von R. Reitzenstein 80 




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13 e r 1 i ii 1923 

W e i (I m a n n s c h e Buchhandlung 

SW. Zimmerstraßc 94. 


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Eigenmächtiger Abdruck von Artikeln der Gott. geh Anz. ist verboten. 


Kür die Redaktion verantwortlich: l)r. .1. Joachim. 




Rezensionsexemplare, die für die Gött. geh Anz. bestimmt sind, 
wolle man entweder an Dr. J. Joachim, Göttingen, Wilhelm Weber¬ 
straße 17, oder an die Weidmannsche Buchhandlung, Berlin SW 68, 
Zimmerstr. 94, senden. 


Entgegnungen werden nach altem Brauch in die Anzeigen nicht 
aufgenommen, soweit es nicht das Preßgesetz verlangt. 



















Göttingische 

gelehrte Anzeigen 

Unter der Aufsicht 


der 


Königl. Gesellschaft der Wissenschaften 


185. Jahrgang 





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Berlin 

Weidmannsche Buchhandlung 
1923 





















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185. Jahrgang (1923). 


Verzeichnis der Mitarbeiter. 

Adler, A., in Kopenhagen 124 

Baehrens, W., in Göttingen 199 

Bauer, W., in Göttingen 1 

Baur, A., in Cannstadt 136 

Behrens, H., in Münster 218 

Br an di, K, in Göttingen 187 

Euling, K., in Wiesbaden 22 

Fick, R., in Göttingen 14 142 

Friederici, G., in Ahrensburg 145 149 

Hessel, A., in Göttingen 75 78 

Kneser, H., in Göttingen 232 

Landau, E., in Göttingen 234 

Lörcher, A., in Halle 81 

Loofs, F., in Halle 223 

Meyer v. Knonau, G, in Zürich 69 

Philippi, F., in Münster 212 

Pohlenz, M., in Göttingen 151 161 173 182 

Reitzenstein, R., in Göttingen 37 80 

Schröder, E., in Göttingen 65 154 156 159 230 

Schwietering, J., in Hamburg 58 

Sethe, K., in Göttingen 106 227 

Stimming, M., in Breslau 205 


Verzeichnis der besprochenen Schriften. 

Bark er, E.: Greek political Theory: Plato and his predecessors [Pohlenz] 
Behrens, H. : Untersuchungen über das anonyme Buch de viris illustribus 
[Baehrens] 

Blaschke, W. : Vorlesungen über Differential-Geometrie und geometrische 
Grundlagen von Einsteins Relativitätstheorie 1 [Kneser] 

Bloomfield, M. s. Studies . . . 

Bücherei der Kultur u. Geschichte Bd. 3 s. Philippi. — Bd. 5 s. Ru* 


ville. — Bd. 6 s. Cohn 

Büchner, G : Sämtliche Werke und Briefe. (Hrsg. v. Fr. Bergemann) 
[Schröder] 

Burdach, K.: Vom Mittelalter zur Reformation s. Rienzo 
Cohn, W.: Das Zeitalter der Normannen in Sizilien [Hessel] 



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Verzeichnis der besprochenen Schriften III 

Dahlgren, E. W.: Were tlie Hawaiian Islands visited by the Spaniards 
before their discovery by Captain Cook? [Friederici] 145 

Deetjen, W. s. Dingelstedt. 156 

Dickson, L. E., History of the theory of numbers. Vol. 3 [Landau] 234 

Dingelstedt, Fr., und Julius Hartmann. Eine Jugendfreundschaft. Hrsg. 

von W. Deetjen [Schröder] 156 

Dop sch, A.: Die Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit. 2. Autl. 

[Philippi] 212 

Ernst, V.: Die Entstehung des niederen Adels. — Ders.: Mittelfreie [Stim- 
ming] % 205* 

Goethes Briefwechsel mit Marianne v. Willemer. Hrsg, von M. Hecker 
[Schröder] 159 

Handlingar, Kgl. Svenska Vetenskapsakademiens. Bd. 57 s. Dahlgren 145 
Harnack, A. v.: Marcion: Das Evangelium vom fremden Gott [Bauer] 1 

Hecker, M. s. Goethe 159 ' 

Horneffer, E.: Der junge Platon. T. 1 [Pohlenz] 182 

Kalkoff, P.: Der Wormser Reichstag von 1521 [Baur] 136 

Klaus, Bruder. Die ältesten Quellen über den seligen Nikolaus v. Flüe 
[Meyer v. Knonau] 69 

Kretschmer, P.: Wortgeographie der hochdeutschen Umgangssprache 
[Euling] 22 

Lectures, Sather classical. Vol. 1. s. Scott. ' 81 

Lehmann-Nitsche, R. s. Staden 149 

Majumdar, Ramesh Chandra: Corporative Life in ancient India. 2<* cd. 

’ [Fick] 14 

Mookerji, Radhakumud : Local Government of ancient India [Fick] 14 

Naumann, H. : Primitive Gemeinschaftskultur [Schwietering] 58 

Nikolaus v. Flüe, s. Klaus, Bruder 69 

Narwood, G.: Greek Tragedy [Pohlenz] 151 

Philippi, F. : Atlas zur weltlichen Altertumskunde des deutschen Mittel- 
Alters. Lfg. 1 [Schröder] 154 

Philippi, F.: Einführung in die Urkundenlehre des deutschen Mittel¬ 
alters. [Hessel] 78 

Philologus. Suppl. 15, H. 1 s. Rupprecht 124 

Preisigke, Fr.: Namenbuch, enthaltend alle griechischen (usw.) Menscheu- 

( namen ... in griechischen Urkunden Ägyptens [Sethe] 227 

Rienzo, Cola di: Briefwechsel. Hrsg, von K. Burdach u. P. Piur. ßd. 1, i. 

3, 4. [Brandi] 187 

Ritter, C.: Platon. Sein Leben, seine Schriften, seine Lehre. Bd. 2 [Pohlenz] *173 
Rupprecht, K. : Apostolis, Eudem und Suidas [Adler] 124 

Ruville, A. von: Die Kreuzzüge [Hessel] 75 

Scheftelowitz, J.: Die Entstehung der manichäischen Religion und des 
Erlösungsmysteriums [Reitzenstein] 37 

Scott, J. A.: The Unity of Homer [Lörcher] 81 

S out er, A.: Pelagius’ Expositions of thirteen Epistles of St. Paul. Intro- 
duction [Loofs] 223 

Staden, H.: Wahrhaftige Historia und Beschreibung einer Landschaft der 
wilden ... Menschenfresser Leuten ... in Amerika. Hrsg. v. R. Lehmann- 
Nitsche. [Friederici] 149 












Nr. 1-3 


Januar bis März 1923 


Adolf von Haruack, Marcion: das Evangelium vom fremden Oott. 

Eine Monographie zur Geschichte der Grundlegung der katholischen Kirche 

(Texte und Untersuchungen, herausgegeben von A. v Harnack und C. 

Schmidt 45). Leipzig 1921, J. C. Hinrichs. V u. 265 und 357 S. 

A. v. Harnack hat das Jahr, in dem er seinen 70. Geburtstag 
feierte, zu einem Ereignis für alle die gemacht, denen die Erforschung 
des Urchristentums am Herzen liegt Hat er doch dem alten Ketzer 
Marcion eine umfangreiche Untersuchung gewidmet, die mit Recht 
den weiteren Titel führt: eine Monographie zur Geschichte der Grund¬ 
legung der katholischen Kirche. Das Buch zerfällt in zwei Hälften, 
deren erste eine umfassende Darstellung und Würdigung der Person 
und des Werkes des M. enthält, während die zweite Beilagen bringt, 
gelehrte Erörterungen und Textherstellungen, die in den ersten Teil 
aufgenommen den Rahmen der Darstellung gesprengt haben würden. 
Diese Beilagen führen zunächst die Ueberlieferung über M.s Person 
und Lebensgeschichte vor (I), handeln dann von M. und seinem Lehrer 
Cerdo (II), stellen das Apostolikon (HI) und das Evangelium M.s 
(IV) wieder her und untersuchen beide, tragen ferner zusammen, was 
man in alter Zeit von der Lehre M.s gewußt und gehalten hat, wo¬ 
bei in erster Linie die altkirchliche Polemik gegen M. vorgeführt 
wird (V). VI und VII handeln von den Schülern M.s, Lukanus und 
Apelles, VHI von dem Neu-Marcioniten, gegen den sich Augustin in 
seinem Traktat contra adversarium legis et prophetarum wendet. IX 
setzt sich mit Boussets Auffassung der Prinzipienlehre M.s ausein¬ 
ander, und X macht einige Bemerkungen zur Entstehungsgeschichte 
des NT.s 

Die Ergebnisse der Untersuchungen bilden die Grundlage für die 
Erörterungen und Betrachtungen des ersten Teils. Dieser geht aus 
von einer Beschreibung der religionsgeschichtlichen Voraussetzungen 
für die christliche Verkündigung M.s und einer Darlegung des inneren 

GÖtt. (fei. An». 1923. Nr. 1-3 1 











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Zustandes ’ der Christenheit be: seinem Auftreten (I). Dann schildert 
er kurz M.s Leben und Wirksamkeit (II) und findet den Ausgangs¬ 
punkt für seine eigenartige Lehre in dem Gegensatz von Gesetz und 
Evangelium. Letzteres verkündigt die Erlösung von der Welt, dem 
Gesetz und dem Schöpfer (III). Die Verwerfung des AT.s bedeutet 
für M. nun aber die Notwendigkeit, seiner Verkündigung eine neue 
Basis zu geben. Und so baut er sich in kritischem Verfahren seine 
heilige Schrift auf (IV). Dem einzigen Originalwerk M.s, den Anti¬ 
thesen, ist V gewidmet. So reich auch die Quellen sind, so ist doch 
eine Rekonstruktion unmöglich, weil die Disposition im Dunkeln bleibt, 
v. H. gelangt über die spärlichen Vorarbeiten, die es hier nur gibt, 
weit hinaus, ohne doch ein ihn selbst völlig befriedigendes Ergebnis 
zu gewinnen. VI handelt von dem Christentum M.s und seiner Ver¬ 
kündigung. VII beschreibt die hl. Kirche der Erlösten und ihre Lebens¬ 
ordnung (Kult. Organisation. Ethik). VIII gibt die innere und äußere 
Geschichte der Marcionitischen Kirche, spricht von den theologischen 
Schulen in ihrer Mitte und der Sekte des Apelles. Die beiden letzten 
Abschnitte werten M.s geschichtliche Stellung und seine Bedeutung 
für die Entstehung der katholischen Kirche (IX) und beleuchten sein 
Christentum geschichtlich und religionsphilosophisch (X). 

Niemand wird von dem stattlichen Band Abschied nehmen, ohne 
sich dem Verfasser aufs wärmste verpflichtet zu fühlen für eine große 
Vertiefung und Vermehrung seines Wissens, für vielseitige Anregung 
und reichen Genuß. Und zum Dank tritt die Bewunderung, wenn 
wir vernehmen, wie v. H. das Buch in halben und ganzen Stunden, 
die er drei Hauptberufen hat abstehlen müssen, geschrieben hat. 
Demgegenüber sollte jedes Verlangen, an Kleinigkeiten zu mäkeln, 
beschämt verstummen. Die Verdienste des Werkes liegen einmal in 
der Fülle der Einzelheiten, die es enthält. An vielen Punkten ist die 
bisherige Forschung gewiß bis zu der heute erreichbaren Grenze ge¬ 
führt. Die vorhandenen Quellen, deren Kreis sich schwerlich noch 
nennenswert erweitern wird, sind zum ersten Mal völlig ausgebeutet. 
Soviel ich sehe, fehlt nichts, oder doch nichts Erhebliches 1 ). Und 
eine Betrachtungsweise, die derjenigen v. H.s gleich oder ähnlich ist, 
wird der Ueberlieferung kaum mehr Bemerkenswertes abgewinnen. 
Die mühevolle und ergebnisreiche Herstellung der Antithesen ist ein 
solider Untergrund für alle kommende Marcionforschung. Die Re¬ 
il Der Versuch, Nachlese zu halten, wird sich auf dergleichen beschränken 
müssen, wie den Hinweis auf Tertullian, de bapt. 12, wo die zweifelsüchtigen und 
verwegenen Geister, die aus der Tatsache, daß nur Paulus, nicht jedoch die Zwölf 
getauft sind, schließen, nur jenem, nicht aber diesen sei das Heil zuteil geworden, 
gewiß Marcioniten sind. 


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von Harnack, Marcion: das Evangelium vom fremden Gott 


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konstruktion von Apostolikon und Evangelium M.s ergibt einen sicht¬ 
baren Fortschritt gegenüber der Arbeit Zahns. Die Geschichte der 
Mafcionitischen Kirche und die Zusammenstellung der Tradition darüber 
verraten peinliche Sauberkeit. Und wenigstens für mich ist der Be¬ 
weis erbracht, daß Tertullian eine lateinische Uebersetzung des Mar- 
cionitischen Kanons benutzt hat. 

Jedoch die Aufzählung von Einzelheiten kann kein rechtes Bild 
von der besonderen Art des v. H.schen Werkes machen. Was den 
stärksten Eindruck bei dem Leser hervorruft, ist die Wertung der 
Gesamtpersönlichkeit des M., die sich hier findet. Von der mit gro߬ 
zügiger Begeisterung, von einem beherrschenden Gesichtspunkt aus 
erfaßten und glanzvoll beschriebenen Gestalt des Helden geht ein 
unerbittlicher Zwang aus, zu ihm und seinem Schilderer Stellung zu 
nehmen. Kaum ein Ausdruck scheint v. H. zu hoch gegriffen, die 
umfassende Bedeutung M.s genügend zu kennzeichnen. >M. reicht 
uns den Schlüssel, um die Mehrzahl der schwierigen Probleme zu 
erschließen, die der Uebergang der Kirche aus dem nachapostolischen 
in das altkatholische Zeitalter bietet« (S. III f.). Denn >die altkatho¬ 
lische Kirche muß als ein (antithetisches und synthetisches) Produkt 
der Einwirkung M.s auf das nachapostolische Christentum erscheinen« 
(247,1). »Die große Christenheit hat alles von M. rezipieren müssen 
und rezipiert, was er geschaffen hat mit Ausnahme des religiösen 
Grundgedankens. Sie selbst hat nun erst auch ein schriftliches 
NT hervorgebracht sie hat alsbald von M. gelernt, daß man die 
Lehre gegen ihr Zerfließen und gegen Einflüsse von außen sicher¬ 
stellen müsse, indem man sie als Theologie des NT zu fassen habe, 
und sie hat ebenfalls von ihm‘zu lernen begonnen, daß die Sote- 
riologie der Kosmologie überzuordnen sei« (244). Vor dem Katho¬ 
lizismus hat M. über die ganze Welt zerstreute Gemeinden in einer 
Kirche Verbunden. Dagegen »muß der Gnostizismus neben M. kirchen¬ 
geschichtlich (anders ideengeschichtlich) einen bescheidenen Platz 
erhalten« (247,1). Wir wundern uns nicht, daß eine solche Größe 
der Geistes- und Religionsgeschichte in eine Reihe eingestellt wird, 
die vor ihm die Propheten, Jesus und Paulus und nach ihm Augustin 
und Luther nennt (261. 264 u. ö.). Eine derartige Persönlichkeit muß 
auch noch der Gegenwart etwas zu sagen haben. So lassen sich denn 
die »zeitgeschichtlichen Gerüste« des Marcionitismus leicht abbrechen. 
Und in der Tat sehen wir M. mit Semler und den Tübingern, mit 
Tolstoi und Gorki in enge Beziehung gesetzt, gipfelt das Buch in 
dem Wunsche, »daß in dem Chor der Gottsucher sich auch heute 
wieder Marcioniten fänden« (265). 

M. ist v. H.s erste Liebe gewesen. Und diese alte Liebe ist 

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Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 1—3 




nicht gerostet, sondern hat im Laufe von fünf Jahrzehnten immer 
stärkere Glut gewonnen. Das ist verständlich; v. H. i$t in vielem 
seinem Helden gleichgeartet, vor allem in der Unerbittlichkeit der 
Konsequenz, die äuch ihn vor letzten Schritten nicht zurückschrecken 
und die Forderung erheben läßt, die protestantische Christenheit möge 
dem AT den kanonischen Charakter, der ihm nicht gebühre, wieder 
aberkennen. Es ist beinahe vermessen, den Ergebnissen des Gelehrten¬ 
lebens eines v. H. eine in manchen Punkten abweichende Auffassung 
gegenüberzustellen. Aber vielleicht ergibt die minder intensive Be¬ 
schäftigung dafür den Vorteil größeren Abstandes, v. H. umfängt 
seinen Gegenstand mit dem ihm eigenen Enthusiasmus, der ihn auch 
für den Geschichtschreiber Lukas so begeistert eintreten ließ. Er 
scheint mir seinen Helden zu erhöhen, zu verklären, zu idealisieren. 
Es ist, als ob das Pendel, das der Haß und die Ungerechtigkeit der 
alten Ketzerpolemik allzu weit nach links fliegen ließ, von v. H.s 
mächtiger Hand zu energisch nach der anderen Seite getrieben würde. 
Sein Buch gehört, will mich bedünken, zu jenen Werken, die gerade 
durch eine gewisse Einseitigkeit groß sind, die aber deshalb eben der 
Ermäßigung bedürfen. 

Wenn v. H. von dem gründlichsten antiken Kenner M.s, von 
Tertullian erklärt, er hätte die Grundzüge der religiösen Denkweise 
seines Gegners gar nicht begriffen und unter dem vielen, was er über 
ihn sage, nur beiläufig und fast widerwillig die Hauptsache gestreift 
(253*), so gesteht er damit ein, daß die Quellen einigermaßen der 
Nachhilfe bedürfen, um das Bild herzugeben, das er gewinnt. Gewiß 
wird dem Historiker niemand zumuten, sich bei den Aussagen der 
Zeugen einfach zu beruhigen. Er hat das Recht, die Pflicht, ihre 
Mitteilungen kritisch zu prüfen und darf sich glücklichen Eingebungen 
überlassen. Nur, je weiter er sich dabei von den gegebenen Grund¬ 
lagen entfernt, um so lauter fordert er die Nachprüfung heraus. 

v. H. ist der Ansicht, daß der Ausgangspunkt für die eigen¬ 
tümliche Gestaltung des Christentums bei M. unmöglich verfehlt werden 
könne. Es ist der »paulinische Gegensatz von Gesetz und Evangelium, 
übelwollender Strafgerechtigkeit einerseits und barmherziger Liebe 
andererseits« (27 f.). Der Gott als der Gesetzgeber ist ihm der eigent¬ 
liche Feind (147). M. versenkt sich in die Grundgedanken des Ga¬ 
later- und Römerbriefes, und das gibt ihm die volle Aufklärung über 
das Wesen der christlichen Religion, das AT und die Welt. Er erlebt 
unter dem Einfluß des Paulus das Evangelium, d. h. Christus so, daß 
er schlechthin jede religiöse Offenbarung und Erweckung außer ihm 
als falsch und feindlich beurteilt (17 ff., 27 ff., 256 ff., 35* u. ö.). Die 
Anknüpfung an Paulus beschließt alles weitere in sich. Einflüsse von 


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von Harnack, Marcion: das Evangelium vom fremden Gott 


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anderer Seite werden für M. nicht direkt in Abrede gestellt, jedoch 
wird ihnen keine erhebliche Bedeutung beigemessen. »Seine Lehre 
fordert weniger als die irgend eines anderen Häretikers dazu auf, 
nach besonderen Quellen zu spüren« (35*). Hier scheint mir v. H. im 
Interesse der Originalität seinesHelden zu weit zu gehen. Und ebenso 
überschätzt er andererseits den Einfluß des Paulus. 

v. H. spricht von dem »Tag voll Lichts«, an dem M., diese aus¬ 
geprägte religiöse Natur (30 u. ö.), erkannte, daß Christus einen ganz 
neuen Gott darstellt und verkündet, den der Gnade (28; vgl. 260 f.). 
Aber er versucht es leider nicht, klar zu machen, wie es bei M. zu 
einem derartigen grundlegenden Erlebnis kommen konnte. Paulus 
hatte das alttestamentliche Gesetz verworfen. In dessen Ketten hatte 
er gelegen; und wir begreifen, wie ihm der Tag von Damaskus zur 
Befreiung von ihnen zu werden vermochte. Zu einer entsprechenden 
Erfahrung war M., der als pontischer Bischofssohn und Glied einer 
heidenchristlichen Gemeinde nie unter dem Druck des mosaischen Ge¬ 
setzes gestanden hat, keineswegs vorbereitet. Wie sollte sich bei ihm 
eine Spannung erklären, die ein religiöses Erlebnis gebiert, indem sie 
ihre Lösung in der befreienden, Paulus Recht gebenden Einsicht 
findet: Gott ist nicht die fordernde und strafende Gerechtigkeit des 
Gesetzes, sondern reine Gnade? v. H. läßt denn auch M. sich gar 
nicht eigentlich von dem alttestamentlichen Gesetz abkehren, sondern 
von der moralischen Vorschrift als solcher mit ihren für das religiöse 
Leben so verhängnisvollen Wirkungen (148 f., 170, 258). Das mo¬ 
saische Gesetz wirkt auf M. mehr nur als ein Typus, als eine Er¬ 
scheinungsform. Im Kampf mit ihm will er das »schwerste Hemmnis 
der Erlösung« beseitigen, das Bewußtsein sittlicher Leistung, das dem 
Verlangen nach der göttlichen Gnade hindernd in den Weg tritt. Sein 
Gott erhebt demgemäß schlechthin keine Forderungen, sondern ist 
ganz und gar spendende Liebe. 

Jedoch von diesem tiefsten, durch v. H. ans Licht gestellten Grund 
für M.s Widei’stand gegen das mosaische Gesetz lassen die Quellen nichts 
verlauten. Nach ihnen verwirft M. das Gesetz eben als das alt¬ 
testamentliche Gesetz und nur als das. — Sodann kann einen 
Gott, der nichts fordert, doch nur ein solcher Mensch finden, der zu¬ 
vor einen Gott verehrt hat, der allzuviel verlangt und durch seine 
Maßlosigkeit die Seele niederdrückt, ein Mensch also, der sich in ver¬ 
geblichen Anstrengungen, die Zufriedenheit Gottes zu erregen, auf¬ 
gerieben hat. So müßte M. in jener heiligen Stunde eines verzehrenden 
Sündengefühls und eines starken Schuldbewußtseins ledig geworden 
sein. Derartige Empfindungen stehen jedoch wahrlich nicht im Vorder¬ 
grund, wenn sich M. das Elend vergegenwärtigt, von dem uns der 













6 Gott. gel. Anz. 1923. Nr. 1—3 

« 

Erlöser befreit. Daß er den Menschen durch sein Gesetz der inneren 
Vernichtung ausliefere, empfindet er keineswegs als das eigentlich 
Störende und Widerwärtige an dem Demiurgen. Ein Vergleich mit 
Luther würde hier ganz entschieden fehlgreifen. — Ferner, wenn M. 
wirklich in einem fundamentalen Augenblick den Gott erlebt hätte, 
der nur Liebe und Güte ist, wie hätte er dann noch den Gedanken 
ertragen sollen, daß Gott die Mehrzahl der Menschen der Vernichtung 
preisgibt, indem er sie dem Feuer des Weltschöpfers überantwortet 
(178; vgl. 262). — Weiter ist die Frömmigkeit M.s ihrer ganzen Art 
nach wohl absolut antimosaisch, jedoch keineswegs so antigesetzlich 
gerichtet, wie v. H. will. Ein Gott, in dessen Dienst man nur durch 
völlige Ertötung seines Menschtums aufgehen kann, bleibt letzten 
Endes doch ein fordernder Gott. — Und schließlich begreift man, 
wenn im Grunde das alttestamentliche Gesetz als solches gar nicht 
gemeint ist, noch weniger wie im anderen Fall die Verwerfung des 
gesamten AT; dann besonders nicht, wenn v. H. die Empfindungen, 
die M. bei der Preisgabe der ihm ehrwürdigen Urkunde beseelt haben, 
richtig schildert, seine »tiefste Erschütterung« und seine »heißesten 
Schmerzen« (28). 

Die erstaunliche Größe dieses Radikalismus wird überhaupt nicht 
hinreichend gewürdigt, wenn man meint, daß die Ablehnung des Ge¬ 
setzes den Rest des AT mit zu Fall gebracht hätte. Vielmehr muß 
M. sich veranlaßt gesehen haben, das AT als Ganzes zu verabscheuen 
und in und mit ihm auch das Gesetz. Wenn M.s Gott neben anderen 
Eigenschaften besonders Liebe und Güte offenbart, so tut er das nicht, 
weil M. in einem feierlichen Moment erlebt hätte, daß Gott nicht 
anders sein könne, sondern weil er die Antithese zum alttestament- 
lichen Gott bildet. Der jedoch zeigt neben seinem Gesetzesfanatismus 
auch die Züge des erbarmungslosen Despoten, des rachsüchtigen Eiferers, 
des blutbefleckten Kriegsherrn. Der liebevolle Gott M.s ist das Gegen¬ 
stück zu alledem. 

Man versteht übrigens auch nicht, wie sich bei dem durch v. H. 
festgelegten Ausgangspunkt gewisse Einzelheiten, wichtigste Bestand¬ 
teile der Auffassung M.s zu ergeben vermochten, seine doketische 
Christologie und seine überasketischen Neigungen, besonders der ra¬ 
biate Haß gegen das Geschlechtsleben, der doch unmöglich das Re¬ 
sultat eines Kettenschlusses sein kann, der in vielen Gliedern endlich 
bei diesem Ziel anlangt, v. H. selbst erklärt, daß die hier zutage 
tretende Beurteilung des Fleisches ein Element in M.s religiösem 
Denken darstellt, das in dem leitenden Gegensatz von gut und ge¬ 
recht nicht enthalten sei. Er denkt daher an Einfuhr aus der Fremde, 
eine Anleihe bei dem syrischen Gnostizismus. Geholfen ist damit 


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von Ilarnack, Marcion: das Evangelium vom fremden Gott 


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nichts. Ob M. sie nun anderen verdankt oder nicht, jedenfalls sind 
diese Ideen für ihn von maßgebendster Bedeutung. Und wenn sie 
dem Gegensatz von gut und gerecht fremd gegenüberstehen, so muß 
man eben wieder fragen, ob diesem Gegensatz wirklich die beherr¬ 
schende Stellung zukommt, die v. H. ihm anweist. 

Ich glaube nicht, daß M. seinen guten Gott in den Paulusbriefen 
gefunden und daß er sich an ihnen in seinen Widerspruch gegen 
das AT und seinen Gott hineingeleäen hat. Seine Gedanken müssen 
dem Heidenapostel zu gewaltsam aufgezwungen werden, als daß sie 
von diesem stammen könnten. M.s eigentümliche Gedankenwelt baut 
sich auf breiterer Basis auf, als v. H. annimmt. Am Anfang stehen, 
wie mir scheint, für M. einmal ein ausgeprägter Widerwille gegen 
das Judentum, eine streng antisemitische Einstellung des inneren 
Menschen und sodann eine zum Ekel gewordene Abneigung gegen¬ 
über der materiellen, fleischlichen Welt, beides zusammenlaufend in 
der Feindschaft gegen den Judengott, der zugleich der Weltschöpfer 
ist. Mit solchen Voraussetzungen tritt er an das Evangelium und den 
Heidenapostel heran und freut sich, in ihnen Bundesgenossen zu finden, 
die über die nächstliegende Hilfeleistung hinaus seine Gedankenwelt 
und Ausdrucksweise bereichern und bestimmen. 

Aus jenen beiden zig: Einheit verschmolzenen Haßgefühlen, die 
in der damaligen Welt keineswegs vereinzelt waren, wenn sie sich 
auch nicht überall wie bei dieser ungebrochenen Natur zum Fanatismus 
steigerten, empfing sein Erlösungsglaube seine besondere Richtung. 
Mit ihnen war für den überzeugten Christen M. das übrige gegeben, 
wobei Anregungen von außen ihr gewichtiges Wort mitreden: die 
restlose Preisgabe des AT; das Nebeneinander zweier Götter, von 
denen der eine der Herr der Welt ist, der andere der Befreier von 
dem durch jenen hervorgerufenen Jammer; die Gewißheit, daß der 
Erlöser der endlichen Welt absolut fremd gegenüberstehen muß; der 
Glaube an die völlige Neuheit des Christentums; der Doketismus; die 
asketische Lebensführung. 

Daß M. nicht von der Erfahrung Gottes als der Gnade ausge¬ 
gangen ist, legen auch die folgenden Erwägungen nahe. Einmal er¬ 
klärt v. H. mit Recht, daß wir, wenn die Gottesliebe der Mittelpunkt 
der Frömmigkeit M.s war, zu der Erwartung berechtigt seien, er 
hätte das positive Gebot der Liebe energisch in den Vordergrund ge¬ 
rückt, muß jedoch gleichzeitig feststellen, daß unsere Quellen nichts 
davon verraten (189). Sollte das nicht gegen die Richtigkeit der Voraus¬ 
setzung bedenklich stimmen? — Sodann macht v. H. (145) darauf 
aufmerksam, daß der »durch Ueberlegung und Ruhe sich auszeich¬ 
nende Mann« doch bei zwei Gelegenheiten in tiefe Erregung geriet. 




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8 Gott, geh Anz. 1923. Nr. 1—3 

Einmal, als er sich die unvergleichliche Neuheit des Evangeliums vor¬ 
stellte und in die Worte ausbrach: >o Wunder über Wunder, Ver¬ 
zückung, Macht und Staunen ist, daß man gar nichts über das Evan¬ 
gelium sagen, noch über dasselbe denken, noch es mit irgend etwas 
vergleichen kann«. Dieser Satz, der immer wieder auftaucht und von 
dem v. H. einen außerordentlich vielgestaltigen, mir zu weit gehenden 
Gebrauch macht (z. B. 137, 260, 262), preist, die Antithesen einleitend, 
in überschwänglichen Ausdrücken den absoluten Wert des Evangeliums 
verglichen mit dem AT. Der andere Fall betrifft M.s Urteil über das 
Fleisch, vor allem über seine Zeugung und Geburt. Hier ergeht er 
sich, von Abscheu geschüttelt, in den bittersten Schmähungen. Das 
von v. H. behauptete religiöse Erlebnis, das für ihn doch von einzig¬ 
artiger Bedeutung gewesen sein muß, hat offenbar keine entsprechende 
enthusiastische Schilderung gefunden. Den Schwung der Einleitung 
der Antithesen von ihm aus erklären wollen, würde ja bedeuten, die 
Hauptsache in die Worte erst hineinzulesen (260). 

Der Zweifel an der Wirklichkeit jenes Tages voll Licht wird aber 
noch weiter verstärkt durch die Beobachtung, daß von den beiden 
Stellen, die in den Antithesen zur Grundlegung der Lehre M.s ver¬ 
wendet worden (VHI, 85), keine den gnädigen Gott preist, für den die 
Ansprüche des Gesetzes nicht bestehen. Vielmehr betont Lk. 5,36 
das Doppelgleichnis von Wein und Schläuchen sowie Kleid und Lappen 
die völlige Unverträglichkeit des Christentums mit dem Judentum, 
während Lk. 6,43 das Wort von den Bäumen und ihren Früchten 
der Lehre von den beiden Göttern zur Unterlage dient. Von ihnen 
aber ist nicht der eine gut im Sinne von gütig, gnädig und der an¬ 
dere gerecht als Förderer moralischer Leistungen; sondern der eine 
ist unbedingt vollkommen, der andere schlechthin verdorben, und ent¬ 
sprechend sind ihre Taten. 

v. H. meint freilich, man dürfe im Sinne M.s den Weltschöpfer 
nicht schlecht nennen; denn als die wesentliche Eigenschaft des Demi- 
urgen habe er die Gerechtigkeit bezeichnet (141). Dafür kann sich 
v. H. auf zahlreiche Stellen berufen (86). Aber ich weiß nicht, ob 
nicht seine Grundvoraussetzung von dem M., der sich an der Hand 
des Paulus von dem gerechten Gott zum guten durchfindet, ihn ver¬ 
anlaßt, den Ausdrücken auf Kosten der Sache zu großes Gewicht bei¬ 
zulegen. Auch, wenn man von der fundamentalen Schriftstelle Lk. 6,43 
absieht, läuft die Beschreibung, die M. von dem Gott des AT ent¬ 
wirft, darauf hinaus, daß er in demselben Umfang schlecht ist, wie 
der Vater Jesu Christi gut. Schon die Alten haben respektable Listen 
der Sünden des Marcionitischen Demiurgen angelegt (Ps.-Clemens, 
Horn. 1143; v. H. 102). Und daß nicht noch viel mehr und krassere 


Go gle 







ron Harnack, Marcion: das Evangelium vom fremden Gott 


Mängel auf ihn gehäuft sind, hat seinen Grund lediglich in den ganz 
bestimmten Schranken, die dem Antithesenschreiber durch das AT 
gesetzt sind. v. H. unternimmt es wohl (141 f.), die schlechten Eigen¬ 
schaften als Ausflüsse der Gerechtigkeit des Weltschöpfers, einer 
despotischen Gerechtigkeit eben, aufzufassen. Jedoch, sein Versuch 
überzeugt nicht sehr, bringt übrigens nur einen Teil der groben Un¬ 
zulänglichkeiten unter. Eins ist freilich daran richtig, daß Gerechtig¬ 
keit, wie sie dem Schöpfergott zuerkannt wird, eine schlimme Eigen¬ 
schaft ist, übelwollende Strafgerechtigkeit (150, 152 f.). Aber eben 
nur eine solche neben vielen anderen. Daß M. gerade diesen Zug 
so oft hervorhebt, hat seinen Anlaß, wenn ich eine Vermutung äußern 
darf, darin, daß es ihm eine innere Genugtuung bereitet, ein Wort, 
das sonst etwas Gutes bezeichnet, durch Einschließung in Anführungs¬ 
zeichen zu einem Schimpf für den Demiurgen zu machen. Ich ver¬ 
spüre etwas wie ätzenden Hohn in der immer wiederkehrenden Rede 
vom »gerechten« Gott. Das war eine besonders passende Bezeichnung . 

für den verhaßten Gott der Juden und des Gesetzes, wie nichts an¬ 
deres geeignet, ihn absprechend zu kennzeichnen und der Verachtung 
preiszugeben. M. redet von dem »gerechten» Gott, wie wir von 
einem »sauberen« Herrn und einem »netten« Menschen sprechen. 

Wohl hat man den giftigen Spott M.s schon früh nicht mehr ver¬ 
standen. Ptolemaeus z. B. bemüht sich in sprachlich kaum haltbarer 
Weise, Slxaio? zu einem neutralen Ausdruck mitten zwischen gut und 
schlecht zu machen (ad Flor. 5,4). Vgl. Clemens Al., Strom. II8,39. 

Für M. aber stellen gut und »gex*echt< eine vollendete Antithese 
dar. Und die Polemik, die sich um den Nachweis müht, daß gut und 
gerecht zusammengehören, schießt einfach am Ziel vorbei, weil sie 
nicht berücksichtigt, was letzteres Wort auf den Demiurgen ange¬ 
wandt für M. bedeutet. M. unterscheidet zwei Sorten von Gerechtig¬ 
keit (150), von denen nur die eine den Anspruch hat, eine Tugend 
zu sein. Diese ziert den oberen Gott. M.s »Gerechtigkeit« dagegen 
gehört in das Register der Sünden des Weltschöpfers hinein und will 
denselben ebenso zum Schlechten stempeln, wie die anderen Prädi¬ 
kate, die ihm beigelegt werden. Die Stimmen, die aus dem Altertum 
zu uns dringen und die nicht nur von der malitia creatoris reden 
und den Schöpfer als malorum factor bezeichnen (Irenaeus 127,2, 

Tertullian), sondern den Demiurgen im Sinne M.s direkt als schlecht 
ausgeben (Irenaeus 11112,12. Celsus b. Origenes, c. Cels. VI52. 

Hippolyt, d. Marcionit Markus bei Adamantius), scheinen mir von 
einem richtigen Empfinden zu zeugen. 

Davon will v. H. allerdings nichts wissen, und er setzt sich 
temperamentvoll mit Boussets These auseinander, daß >M., genau 


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v \ 

10 Gott. gel. Anz. 1923. Nr. 1—3 

genommen, den absoluten orientalisch-persischen Dualismus und den 
Gegensatz des guten und des bösen Gottes auf den Gegensatz zwischen 
dem höchsten unbekannten Gott, dem Vater Jesu Christi, und zwischen 
dem Gott des AT Übertrages habe (350* f.). Nun läßt sich zweifellos 
Erhebliches gegen Bousset sagen. Unsere Quellen erlauben uns weder 
den gerechten Gott für M. zu streichen, noch für ihn selbst den 
Gegensatz: Gott des Lichtes und Gott der Finsternis einzuführen. 
Auch die schlechte Materie scheint durch Clemens Al. und Tertullian 
dem M. gesichert und der Teufel ist für ihn nicht mit dem Welt¬ 
schöpfer zusammengefallen. Aber alle diese Zugeständnisse geben 
dem alttestamentlichen Gott keinen Auftrieb, der ihn über das Niveau 
des Schlechten erhöbe. Lehnt man die Uebernahme des persischen 
Dualismus mit seinen Göttern des Lichts und der Finsternis ab, so 
ist damit der Gegensatz des guten Gottes und des schlechten Demi- 
urgen noch nicht gefallen, auch dann nicht, wenn M. diesen mit Vor¬ 
liebe den »gerechten« nennt. Die schlechte Materie vermag den 
Weltschöpfer ebensowenig zu entlasten. Findet es doch v. H. selbst 
mit Recht außerordentlich auffallend, daß M. von seiner. Annahme 
einer schlechten Materie »weder bei seinen Exegesen noch bei seinen 
sonstigen Aussagen irgend welchen Gebrauch gemacht, ja daß er 
außer bei der Schöpfung sonst die Materie nirgendwo auch nur ge¬ 
nannt hat« (140). Bei der Schöpfung aber »hat M. die Hinzuziehung 
der Materie deshalb begrüßt, weil sie lehrt, daß der Weltschöpfer 
ohne einen Stoff 1 nicht schaffen kann (anders der andere Gott). Das 
führt auf ein Interesse, welches mit der Schlechtigkeit der Materie 
nichts zu tun hat« (140,3). Jesus heilt, ohne einen Stoff zu brauchen 
(150, 168). Es ist lediglich mangelnde Folgerichtigkeit, wenn sich 
M. von irgend einer Seite die schlechte Materie aufreden läßt. 
Was soll sie denn eigentlich noch, wenn Sätze wie der folgende 
gelten: »Da der Mensch in jeder Hinsicht, nach seiner Konstitution 
und seinen Taten, die Schöpfung des Demiurgen ist, so trägt dieser 
die volle Verantwoi’tung für ihn; ja, da die Seele der Hauch Gottes 
und auch das sündigende Subjekt ist, so ist Gott direkt der Sünder« 
(97). Nein, das Schlechte bleibt auf dem Demiurgen sitzen. Und er 
vermag auch nichts davon auf den Teufel abzuschieben; denn dieser 
ist sein Produkt (Tertullian, adv. Marc. 1110,28) und Werkzeug (V16 
angelus creatoris), entlastet ihn daher nicht von der Verantwortung. 
Satan ist im Grunde ebenso entbehrlich, unorganisches Anhängsel, 
wie die schlechte Materie. M. hat ihn angesichts seiner Stellung im 
Evangelium und den paulinischen Briefen beibehalten. Er zeigt ja 
keineswegs nur hier, daß er mehr kühn und gewaltsam als klar und 
logisch dachte. Es ist aber durchaus in der Sache begründet, wenn 




Go gle 














von Harnack, Marcion: das Evangelium vom fremden Gott 


11 



die Lehre M.s in seiner Kirche auch die Richtung auf den Manichäisraus 
nimmt. 

Die Berücksichtigung der späteren Entwicklung hätte doch viel¬ 
leicht mancherlei auch für das Verständnis des M. und seiner Motive 
ergeben. Und ebenso würde sich gewiß die Hineinstellung M.s in 
einen größeren religionsgeschichtlichen Zusammenhang fruchtbar er¬ 
wiesen haben, v. H. freilich sieht in dem System M.s wesentlich die 
originale Schöpfung dieses religiösen Heros, entsprungen aus dem 
Quellpunkt eines Erlebnisses des gnädigen Gottes, zu dem ihn Paulus 
geführt hatte. So empfindet er begreiflicherweise nur in geringem 
Maße das Bedürfnis, die Elemente der Marcionitischen Auffassung auf 
ihre auswärtigen Beziehungen zu prüfen. Aber, wie groß auch immer 
die Selbständigkeit M.s gewesen sein mag, eine allen Bedürfnissen 
genügende Untersuchung kann nicht umhin, Parallelerscheinungen zu 
berücksichtigen und die Frage zu stellen, inwieweit sich das auf¬ 
tretende Neue in erborgte Formen kleide. Ich allerdings würde meinen, 
daß eine solche Betrachtung eine erhebliche Abhängigkeit M.s er¬ 
geben würde, und daß dabei die vielgestaltige und weitverzweigte 
Erscheinung der Gnosis trotz unleugbarer, von v. H. nachdrücklichst 
hervorgehobener Unterschiede von nicht zu unterschätzender Bedeu¬ 
tung gewesen ist. Hat M. auch den Weltschöpfer völlig vom oberen 
Gott getrennt, so ist doch die Vorstellung von den beiden Göttern, 
deren einer, der untergeordnete, der Demiurg ist, nicht von ihm er¬ 
zeugt. Der >fremde < Gott wird nur auf dem Hintergrund der so weit 
verbreiteten Idee vom >unbekannten< Gott richtig geschaut und scheint 
auch als der >fremde« nicht ganz originale Schöpfung M.s zu sein 
(vgl. Reitzenstein, Historische Zeitschr. 126, 1922, S. 40). Die anti¬ 
jüdische Orientierung, die im Christentum der nachpaulinischen Zeit 
an Hebr. Barn. Ign. Joh. verschiedenartige Vertreter hat (235 f.), findet 
sich in der Gnosis, mit besonderer Stärke bei den Mandäern und zeigt 
M. weniger im Banne des Paulus als von einer Zeitströmung ergriffen. 
Und ebenso ist der dualistische Einschlag in seine Frömmigkeit, der 
Haß gegen die Welt mit den daraus sich ergebenden praktischen 
Folgerungen als Zeiterscheinung aufzufassen. Auch den großen Erfolg 
M.s lehrt uns die Religionsgeschichte bis zu einem gewissen Grad 
verstehen, wenn wir aus ihr erfahren, wie der Dualismus verbunden 
mit strenger Askese im Mithraskult und dann im Manichäismus von 
stärkster Wirkung war. Bei M. kam noch eine Persönlichkeit hinzu, 
die offenbar das eigene Leben schonungslos in den Dienst seiner 
Ideale stellte und so den Eindruck eines Heiligen hervorrief und dem 
daneben die Gaben des Missionars wie des Organisators in hohem 
Maße geschenkt waren. 


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12 


Gott. gel. Anz. 1923. Nr. 1—3 






Wie M. seinen bestimmten Platz innerhalb der allgemeinen Be¬ 
wegung der Religion einnimmt, so hat er besondere Bedeutung für 
die Geschichte des neutestamentlichen Kanons und Textes gehabt. In 
ersterer Hinsicht scheint mir v. H. M.s Einfluß zu überschätzen, in 
letzterer ihm nicht ganz gerecht zu werden. Er betont stark, es habe 
vor M. kein NT gegeben (78), und bezweifelt, daß >ohne die Mar- 
cionitische Bewegung die innere kirchliche Entwicklung zur Schöpfung 
des NT geführt hätte« (245,1). Hier sei M. ganz bahnbrechend voran¬ 
gegangen (189, 242). v. H. fühlt sich zu diesem Urteil vor allem 
bechtigt durch die Beobachtung, daß >M. von zwei Offenbarungs¬ 
urkunden der großen Kirche, einer alten und einer neuen, schlechter¬ 
dings nichts weiß« (78 vgl. 243, 154*). Jedoch die Unterscheidung 
zweier Testamente als zweier Büchersammlungen war überhaupt noch 
für längere Zeit nach M. nicht christlicher Sprachgebrauch. Anderer¬ 
seits gibt v. H. zu, daß >die vier Evangelien als autoritative Samm¬ 
lung damals schon existierten« (73, 243, 245,1, 230* ff., 243, l*) 1 ). 
Freilich nur sie meint er. Aber mit den Schreiben des Heiden- 

1) Bezüglich des Johannesev^ngeliums ist mir für die Gemeinde, bei der M. 
die Evangelien kennen lernte oder in deren Mitte er seine kritische Arbeit tat, 
die Zugehörigkeit zu jener maßgebenden Sammlung zweifelhaft. Wohl gilt sie 
dem Irenaeus und Tertullian als selbstverständlich. Aber daß damit das letzte 
Wort nicht gesprochen ist, weiß auch v. H. (243,1*). Mein Bedenken entspringt 
der, zuerst von Eichhorn angestellten Erwägung, daß es unbegreiflich bleibt, 
weshalb sich M. nicht das Johannesevangelium erwählt hat, wenn er sich in den 
Kreisen, in denen er lebte und auf die er zunächst wirken wollte, der gleichen 
Geltung erfreute wie die anderen Evangelien. Auf den Inhalt gesehen mußte 
M. das Johannesevangelium am willkommensten sein. Ihm fehlte eine Geburts¬ 
geschichte ; es zog das AT vergleichsweise selten heran, war scharf judenfeindlich 
und kam der doketischen Christusauffassung weit entgegen. Auf andere Berüh¬ 
rungen w r eist v. H. 236 f. hin. Der Prolog mit dem störenden Vers 11 (S. 38) war 
leichter zu entfernen als die Einleitung des Lukasevangeliums. Es ist mir daher 
das Wahrscheinlichste, daß das vierte Evangelium damals mindestens noch nicht 
überall die volle Konkurrenz mit den Synoptikern aufzunehmen vermochte, wofür 
ja auch Justin spricht. Das Johannesevangelium hinkte ebenso hinter den Synop¬ 
tikern drein, wie beim Pauluskanon die Pastoralbriefe hinter den übrigen Schreiben. 
Was unter den drei ersten Evangelien dem Lukas den Vorrang in den Augen 
M.s verschafft hat, bedarf keiner w eiteren Erörterung. Aber sicher hat dabei auch 
der Umstand mitgesprochen, daß durch Lukas eine Beziehung zu Paulus her- 
gestellt wurde. Es muß doch seine bestimmte Veranlassung haben, wenn M. dem 
Lukas das Ehrenprädikat 6 lax po; 6 djaTzrjxfc Col. 4,14 entzieht. Fragen wir aber, 
was dem M. an Lukas so zuwider gewesen sein kann, so ist doch die nächst- 
liegende Antwort, daß er in ihm einen der Verfälscher des echten Evangeliums 
erblickte. Lukas hat das von Paulus seiner Verkündigung zugrunde gelegte Evan¬ 
gelium durch seine verständnislosen Zutaten und den darauf basierten Anspruch, 
der Autor zu sein, verdorben. Gelang es, seine Abänderungen wieder rückgängig 
zu machen, so war das ursprüngliche Evangelium zurückgewonnen. 




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von Harnack, Marcion: das Evangelium vom fremden Gott 13 

apostels kann es nicht viel anders gestanden haben. Der erfolgreiche 
Versuch, Evangelium und Paulusbriefe gegen das AT auszuspielen 
und auf ihrer Grundlage für die Ideen M.s Propaganda zu machen, 
hat doch zur Voraussetzung, daß man in der Christenheit mit einem 
ganz gewaltigen Respekt gegenüber jenen Schriften rechnen durfte, 
einer Hochachtung, wie sie eben kanonischen Büchern, oder doch an¬ 
nähernd kanonischen entgegengebracht wird. Mag also M. hier einen 
allerletzten Schritt getan haben. Die Zeit war schon ohne sein Zutun 
dafür reif geworden. 

Ueber M.s Stellung in der neutestamentlichen Textgeschichte ver¬ 
danken wir v. H. eindringliche Untersuchungen, die mit zu dem Wert¬ 
vollsten in seinem neuen Buche gehören. In einem Punkte sind seine 
Ausführungen nicht ganz ausgeglichen. S. 245 redet er von einer 
starken Einwirkung des Marcionitischen Bibeltextes auf den katholi¬ 
schen (vgl. 140,3*, 253*). Dagegen spricht er an anderen Stellen 
von >nur wenigen« Marcionitischen Lesarten, die in den katholischen 
Text gelangt wären, und von »sehr geringem« Einfluß (146* f.; vgl. 
129*, 229* f.). 

Lediglich fünf Stellen bei Paulus und acht im Evangelium kommen 
in Frage. Mir scheint, damit ist die Bedeutung M.s für den Kirchen¬ 
text noch nicht vollständig dargelegt. Auch ist es nicht allein der 
W-Text, der eine Einwirkung verspüren läßt. Der eigentümliche Tat¬ 
bestand in der Ueberlieferung von Luk. 22,15—20 findet m. E. durch 
Rückgang auf M. eine annehmbare Erklärung. Noch immer ist ja die 
Frage unerledigt, ob in der Lukanischen Abendmahlsperikope Vers 
19 b. 20 mit xBACL u. a. für ursprünglich zu halten sei oder mit D 
und einer Anzahl von Italacodices zu verwerfen wäre. Für beide Auf¬ 
fassungen haben sich klangvolle Namen eingesetzt. Doch fehlt bisher 
eine einleuchtende Motivierung dafür, wie 19b. 20, wenn es ur¬ 
sprünglich war, in Fortfall kommen konnte, und ebenso anderenfalls 
eine Erklärung für den nachträglichen Zuwachs. Daß die Worte aus 
1. Cor. 11,24.25 stammen und in ihrem Befehl, die Feier zu wieder¬ 
holen, dem Empfinden und Bedürfnis der Gemeinde entsprachen, macht 
noch nicht verständlich, weshalb sie nur dem Lukasevangelium und 
nicht den Parallelperikopen bei Matthaeus und Markus zugefügt wor¬ 
den sind. Ich möchte den von D und seinen Begleitern bezeugten 
Text für Lukanisch halten. Mit ihm hatte es M. zu tun, was ja durch¬ 
aus der Ansicht v. H. entspricht. M. konnte jedoch mit dem größten 
Teil des Stückes nichts anfangen. V. 16—18 werden von Tertullian 
(IV 40) völlig übergangen. Sie haben gewiß bei M. gefehlt. VonV. 16 
bezeugt es Epiphanius, Schol. 63 ausdrücklich. 18 kann M. bei seinem 
Abscheu vor dem Wein nicht dulden. Damit fällt auch der aufs 












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14 Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 1—3 

engste damit verknüpfte V. 17. Da nun aber der Gottesdienst der 
Marcioniten ein heiliges Mahl kannte, also die Geschichte von der 
»Einsetzung« unentbehrlich war, mußte an die Stelle des Ueberlieferten 
etwas anderes treten. Was lag da für M. näher als die Ausfüllung 
der Lücke aus 1. Cor. 11,24. 25. Luk. 22,19 a konnte ruhig stehen 
bleiben. Es war unanstößig und kehrte außerdem fast wörtlich 1. Cor 
11,24 wieder. So ergibt sich als Marcionitisch die Lesart 22,15 (ohne 
toöto), 19.20. Der lange, V. 15—20 umfassende, Wortlaut erklärt 
sich dann wohl als Vereinigung des gesamten in den Lukasexemplaren 
sich findenden auf unsere Perikope bezüglichen Stoffes. Ist diese Ver¬ 
mutung richtig, so wäre eine Beeinflussung auch des nicht-»abend- 
ländischen« Textes durch M. zu behaupten. Einer das gesamte Ma¬ 
terial aufarbeitenden Untersuchung sind vielleicht noch andere Ent¬ 
deckungen in dieser Hinsicht beschieden. 

Doch ich breche ab. Nur auf einige Punkte vermochte ich ein¬ 
zugehen. Und begreiflicherweise sind das gerade diejenigen gewesen, 
die mich bedenklich stimmten und zum Widerspruch reizten. Einen 
Eindruck von dem quellenden Reichtum des Buches hätte ich doch 
nicht geben können. Ihn gewinnt nur eigene Lektüre, zu der hiermit 
dringend eingeladen sein soll. Der verehrte Verfasser wird sich selbst 
keinen besseren Dank wünschen, als den, der in der Weiterarbeit auf 
dem von ihm gelegten festen Fundament seinen Ausdruck findet. Da¬ 
bei wird zweifellos der Ergänzung und Berichtigung die kleinere Rolle 
zufallen gegenüber der Bestätigung. 

Göttingen. Walter Bauer. 


Mookerji, Radliakumud: Local Government in ancient India. With foreword 
by the Marquess of C'rewe. 2. ed., rev. and cnl. Oxford 1920: Clarendon Press. 
XXV, 338 S. 8°. 

Majumdar, Ramesh Chandra: Corporate Life in ancient India. 2. ed., rev. 
and enl. Calcutta 1922: K. Majumder & Co. XI, 424 S. 8°. 16 sh. 

Unter den Vertretern der Wissenschaft, die sich im heutigen 
Indien auf allen Gebieten der theoretischen und exakten Forschung 
in so lebhafter, man kann sagen enthusiastischer Weise betätigen, 
nennt Benoy Kumar Sarkar in seinem Artikel: »Die soziale Philo¬ 
sophie Jung-Indiens« (Deutsche Rundschau. April 1922) auch die Ver¬ 
fasser obiger Bücher. Beide Werke legen ein sehr erfreuliches Zeugnis 
ab von dem Eifer und Ernst, womit sich die einheimischen Gelehrten 
den mannigfachen Problemen der indischen Literatur- und Kultur¬ 
geschichte zuwenden. Das gilt namentlich von der Arbeit Majumdars, 
der die benutzten Quellen nicht bloß im Original gelesen, sondern 




Go gle 










Mookerji, Local Government usw. 


15 


auch zu verstehen sich bemüht hat und sich nicht auf bloßes Zitieren 
von Uebersetzungen beschränkt. Freilich, mit den Ergebnissen ihrer 
Untersuchungen wird man nicht immer einverstanden sein, zumal nicht 
bei Mookerji, der sich anscheinend mit voller Absicht den Einwänden 
verschließt, die sich aus der Chronologie der indischen Literatur¬ 
geschichte gegen seine Schlußfolgerungen erheben. Mookerji wirft in 
der Vorrede zu dieser zweiten Auflage seines Buches den Kritikern 
der ersten, 1918 erschienenen Ausgabe vor, daß sie »befangen in den 
Pedanterien der alten Philologie und den Trockenheiten einer nüch¬ 
ternen und unfruchtbaren Chronologie« die für den Geschichtsforscher 
wichtigste Tatsache, die Bewegungen und Wanderungen der Kultur, 
außer Acht ließen. Selbst wenn man zugibt, daß die Verbreitung der 
arischen Zivilisation vom Nordwesten Indiens aus allmählich zu einer 
ziemlich einheitlichen, als Hinduismus zu bezeichnenden Gleichförmig¬ 
keit der kulturellen und politischen Einrichtungen geführt hat, und 
wenn man der gegenseitigen Beeinflussung des nordindischen Brah¬ 
manismus und des südindischen Aboriginertums auch einen weiten 
Spielraum zuzugestehen geneigt ist, so braucht man doch kein Pedant 
zu sein, um es abzulehnen, daß unter den Begriff des »alten Indien« 
unterschiedslos die Zustände der vedischen Zeit, der klassischen Pe¬ 
riode, des Buddhismus und der mittelalterlichen Inschriften des Nordens 
wie des Südens zusammengeworfen werden. 

Ein anderes Moment, das die Anerkennung der gewonnenen Er¬ 
gebnisse erschwert, liegt in dem Bestreben, politische Begriffe, die 
der Verfassung und Verwaltung moderner europäischer Staaten ent¬ 
nommen sind, auf die Verhältnisse des alten Indien zu übertragen. 
Die fortwährende Verwendung von Ausdrücken wie »demokratisch, 
nichtmonarchisch, republikanisch, Imperialismus, Kabinetsystem, ört¬ 
liche und Selbstverwaltung« u. a. sowie der Wunsch, Spuren solcher 
Verfassungsformen in den benutzten Quellen zu entdecken, führen 
leicht dazu, aus den Texten Dinge herauszulesen, die nicht darin 
stehen. 

Sieht man von diesen grundsätzlichen Bedenken ab, so kann man 
beide Bücher als brauchbare Materialsammlungen zur Geschichte der 
indischen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Körperschaften 
bezeichnen. Gerade der Umstand, daß die Verfasser nicht bloß vedi- 
sche und klassische Sanskrittexte, sondern auch die Pali- und Prakrit- 
literatur und die nordindischen wie die südindischen Inschriften ver¬ 
wertet haben, trägt dazu bei, unsere Kenntnis von dem Wesen der 
Vereinigungen, die in den literarischen und epigraphischen Quellen 
unter den verschiedensten Bezeichnungen als sabhä, sangha, gana, 
püga, greni, jäti und kula auftreten, zu bereichern. Im Vergleich mit 


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dem, was sich in Jollys »Recht und Sitte< oder bei Hopkins: »An- 
cient and modern Hindu guilds (India old and new. 1901, S. 169 ff.) 
findet, bedeuten beide Arbeiten zweifellos eine Fortführung und Er¬ 
weiterung der bisherigen Anschauungen. 

Die neuen Gesichtspunkte, die sich für die Geschichte und Be¬ 
deutung der indischen Körperschaften namentlich aus den mittelalter¬ 
lichen Inschriften ergeben, lassen sich auf die vedische Zeit am wenigsten 
anwenden. Die Versuche der Verfasser, die eine oder andere Veda¬ 
stelle so auszulegen, daß sie zu dem von ihnen gewünschten Gesamt¬ 
bild paßt, scheinen mir nicht geglückt. Majuindar schließt z. B. (S. 218) 
aus einer Stelle des Aitareya Brähmana — sie steht VIII, 3.14, nicht 
VII, 3.14 — auf das Vorkommen demokratischer Regierungsformen 
in vedischer Zeit. Es werden dort verschiedene Formen der könig¬ 
lichen Herrschaft (sämräjya, bhaujya, svaräjya und viräjya) aufgeführt 
und der letztgenannte Ausdruck wird auf die jenseits des Himälaya 
wohnenden Völkerschaften (janapadä) der Uttarakurus und Uttara- 
madras angewandt, von denen gesagt wird, daß ihre Könige die 
Bezeichnung viräj tragen. So erklärt auch Säyana die Stelle und von 
»königlosen< Stämmen ist schlechterdings keine Rede. 

Nicht viel haltbarer ist die Stütze, die der Annahme von nicht¬ 
monarchischen Staaten durch Atharvaveda V, 18.10 gegeben wird. 
Nach Majumdar sollen hier die Vaitahavyas als ein republikanischer 
Stamm charakterisiert werden. Mit den Worten: ye sahasram aräjan 
wird aber doch nur die große Zahl der Vaitahavyas gekennzeichnet: 
»sie, die über tausend (damit können ebenso wohl Dörfer, Kühe wie 
Menschen gemeint sein) herrschten, und selbst zehn hundert (an Zahl) 
waren, gingen zugrunde, weil sie die Kuh eines Brahmanen gegessen 
hatten.« 

Für die Existenz von Gilden in der späteren vedischen Zeit zieht 
Majumdar die Stelle I, 4.12 der Brhadäranyakopani$ad als Beweis¬ 
material heran. An sich besagt der Ausdruck ganasas doch nur, daß' 
dieVaisyas in Analogie zu den Göttern in Scharen wie die Rudras, 
Adityas usw., nicht einzeln wie Indra, Varuna usw. geschaffen wurden. 
Wenn der dem 9. Jhdt. n. Chr. angehörende Kommentator Sankara 
ganaSas so erklärt, daß die Vaiäyas gapapräyä sind, d. h. vorwiegend 
als Mehrheit, nicht einzeln auftreten, und hinzusetzt: »denn zu einer 
Körperschaft verbunden sind sie imstande, Reichtum zu erwerben, 
nicht einzeln«, so kann man daraus wohl für die ZeitSankaras, nicht 
aber für die vorchristliche Periode der Upanischaden auf das Vor¬ 
kommen von kaufmännischen Körperschaften, schließen. 

An Sanskrittexten stand den Verfassern als besonders ergiebige, 
bisher noch wenig ausgeschöpfte Quelle das Kautiliyam Arthasästram 


* 1 


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Mookerji, Lokal Government usw. 


17 


zur Verfügung. Aber gerade bei der Verwertung dieses Textes ist 
besondere Vorsicht geboten: die Unsicherheit der Textüberlieferung 
und die Dunkelheit der Interpretation mancher Stellen muß von einer 
zu bestimmten Formulierung der gewonnenen Schlüsse zurückhalten. 
Als Beispiel sei auf Kaut. XI, 1 hingewiesen, wo von den sanghas ge¬ 
handelt und gesagt wird: >Kämbhoja-Surästra-ksatriya-ärenyädayo 
värtä-6astropajIvinah,Licchivika-Vrjika-Mallaka-Madraka-Kukura-Kuru- 
Päncälädayo räja-äabdopajlvinah <. Majumdar sagt selbst (S. 250 Anm.): 
>The word ,räja-£abdopajivinah* is one of considerable difficulty<, aber 
die Stelle soll nach ihm beweisen, daß die Licchavis zu Kautilyas Zeit 
eine demokratische Verfassung gehabt hätten. Läßt sich das wirklich 
aus der Stelle folgern? Zunächst ist doch keineswegs sicher, was 
hier unter sangha zu verstehen ist: »berufliche Körperschaft, Dorf¬ 
gemeinschaft, Familienverband, Stamm, Völkerschaft ? Majumdar sagt, 
die sanghas zerfielen nach Kautilya in zwei Klassen, von denen die 
erste aus Ksatriya-Gilden bestand, die sich dem Handel, Ackerbau 
und kriegerischen Beruf widmeten, während die andere Klasse von 
Korporationen die der Licchivikas usw. war, die von dem Titel räja 
Gebrauch machten. Nun ist schon die Uebersetzung des Kompositums 
Kämbhoja-SuräRtra-ksatriya-Srenyädayas, die Shamasastry gibt (The cor- 
porations of warriors of Kämbhoja, and Suräshtra, and other countries 
live by agriculture, trade and wielding weapons) nicht so selbst¬ 
verständlich wie Majumdar anzunehmen scheint. Es kann doch auch 
heißen: »die Kämbhojas, die Suräsfras, die ksatriya-srenis u. a. leben 
von Ackerbau und vom Kriege«. Was heißt aber räjasabdopajivinah? 
Man könnte analog dem vorhergehenden värtäsastra ein Dvandva als 
vorliegend annehmen und übersetzen: »vom Könige und vom sabda 
(Wissenschaft?) lebend«. Dagegen spricht aber der im selben Kapitel 
vorkommende Ausdruck räjasabdin, der auf räjaäabda als einen Be¬ 
griff schließen läßt. Faßt man räjaäabda als Tatpurusa, so kann man 
entweder übersetzen: »die vom Wort, d. i. vom Gebot des Königs 
Lebenden« oder, indem man sich Shamasastry anschließt: »die vom 
Titel eines Räja lebenden«. In letzterem Fall würde man vielleicht 
in den räjasabdopajivinah und räjasabdinah die mit dem Titel »König« 
ausgezeichneten grundherrlichen Adelsgeschlechter zu sehen haben im 
Gegensatz zu dem mit wirklicher politischer Macht begabten Herrscher. 
Alles das sind Möglichkeiten, die ich nicht zu entscheiden wage, nur 
soviel scheint mir sicher zu sein, daß die Stelle nicht zum Beweis 
einer demokratischen Verfassung der Licchavis herangezogen werden 
kann. 

Majumdar hat zweifellos recht, wenn er für die buddhistische Zeit 
auf Grund der Palitexte und der griechischen Quellen das Bestehen 

G6tt. gel. Anz. 1923. Nr. 1—3 2 












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Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 1—3 











von Staaten oder Stämmen annimmt, die anders regiert wurden als 
z. B. das Königreich der Mauryadynastie, aber ich kann ihm nicht 
darin folgen, wenn er bei den Licchavis, Öäkyas u. a. demokratische 
Regierungsformen annimmt oder gar von einem »ultra-demokratischen 
Geist ihrer Verwaltungsgrundsätze« spricht (S. 232). Weder aus dem 
Kapitel des Kautiliya über die sanghas noch aus dem mit Recht von 
Majumdar als wichtig für die Bedeutung der ganas bezeichneten Ab¬ 
schnitt 107 des Säntiparva scheint mir etwas anderes hervorzugehen, 
als daß einerseits der König sich der ganas — mögen darunter nun 
Völkerstämme wie die Licchavis oder kriegerische Vereinigungen oder 
sonstige Körperschaften zu verstehen sein — bedienen und, damit sie 
nicht zu mächtig und gefährlich für ihn werden, sie gegeneinander 
ausspielen und Uneinigkeit in ihren Reihen hervorrufen soll; daß an¬ 
dererseits die ganas nur blühen, wenn sie einig sind und wenn, wie 
es im Kautiliya heißt, »das Haupt der Körperschaft (sanghamukhya) 
ein tüchtiger Mann ist, bei den Körperschaften beliebt als ein recht¬ 
schaffenem Wandel ergebener, der seine Leidenschaften bezähmt und 
die Meinung aller achtet.« 

Für die politische Selbständigkeit einzelner von ganas regierter 
Stämme führt Majumdar auch eine interessante Stelle aus dem Ava- 
dänasataka 88 an: es heißt dort, daß aus Zentralindien (MadhyadeSa) 
Kaufleute nach dem Dekkan kamen und, als sie vom Könige gefragt 
wurden, wer dort (in Madhyadeäa) herrsche, erwiderten: »deva, kecid 
deää ganädhlnäh kecid räjädhinä iti (o König, einige Länder sind 
einem gana, einige sind einem Könige untertan)«. Nun darf man 
weder vergessen, daß das AvadänaSataka dem zweiten nachchristlichen 
Jahrhundert angehört, noch bei seiner Verwertung den legendären 
Charakter der Quelle außer Acht lassen. Das gleiche gilt von den 
Jätakas, deren Alter Majumdar m. E. überschätzt, wenn er sie als 
Ganzes — einige Bestandteile mögen sehr alt sein — in das 7. oder 
6. Jhdt. v. Chr. verlegt; es geht nicht an, aus einer märchenhaften 
Schilderung der Stadt Vesali und der Licchavi-Herrschaft, wie sie 
sich noch dazu nicht im Ekapanna-Jätaka (1,504) selbst, sondern im 
Kommentar dazu findet, Schlüsse zu ziehen auf die wirkliche Re- 
gierungsforra der Licchavis (Majumdar S. 227, 229 f.). 

Im übrigen liefern allerdings die Jätakas zahlreiche Belegstellen 
für das Vorkommen und die wirtschaftliche Bedeutung der senis in 
buddhistischer Zeit. Der 6. Band der Fausböllschen Ausgabe, der mir 
1896 bei meiner Arbeit über die Kasten noch nicht vorlag, gibt 
(VI, 22.427) die Zahl der Gilden auf 18 an. Es ist bemerkenswert, 
daß die Smrticandrikä diese Ziffer bestätigt; m. E. nicht so sehr ein 
Beweis dafür, daß es wirklich gerade 18 Gilden — nicht mehr und 





















Mookerji, Local Government usw. 


19 


nicht weniger — gegeben hat, als daß solche Zahlen, einmal durch 
die brahmanische Theorie festgelegt, im Volksleben Indiens eine an¬ 
erkannte Rolle spielten und deshalb auch in die volkstümliche Lite¬ 
ratur übergingen. Das scheint mir auf die 18 Gilden ebenso an¬ 
wendbar wie auf die Vierzahl der Kasten, deren realer Geltung ich 
auch heute noch skeptisch gegenüberstehe (vgl. Oldenberg, Zur Ge¬ 
schichte des indischen Kastenwesens. ZDMG. 51. 1897, S. 283). 

Im Gegensatz zu Majumdar macht Mookerji nirgends den Ver¬ 
such, sich mit dem Problem der indischen Kaste und ihres Verhält¬ 
nisses zur Gilde auseinanderzusetzen. Die wenigen Bemerkungen, die 
er der Kaste widmet, scheinen mir anfechtbar. Auf Grund der An¬ 
gaben bei Närada stellt Mookerji fest, daß Rücksichten auf die Kaste 
die Zulassung von Lehrlingen zu einem Handwerk nicht beeinflußten. 
»Dies zeigte — so folgert Mookerji —, »daß die Schranken zwischen 
den Berufen nicht so fest und starr waren wie die zwischen den 
Kasten«. M. E. lag die Sache so, daß die Kastentheorie der brahma- 
nischen Gesetzgeber nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmte und 
daß deshalb das Gesetz dem praktischen Leben Zugeständnisse machen 
mußte. Aus der Paliliteratur, die Mookerji zum Beweis dafür, daß 
den Kasten alle Berufe offenstanden, heranzieht (p. 61), geht meiner 
Ansicht nach mit aller Deutlichkeit hervor, daß die Kaufmanns- und 
Handwerkergilden jener alten Zeit die Vorläufer der modernen Kasten 
waren und daß Gewerbe und Handwerk im wesentlichen auf erblicher 
Basis ruhten, auf der technischen Fertigkeit, die sich vom Vater auf 
den Sohn vererbte. Mookerji gibt selbst zu (S. 64), daß nach dem 
Beweismaterial der Palitexte die Vorstellung von der Starrheit der 
Kastenschranken für jene Zeit nicht aufrecht zu halten sei, findet sich 
aber mit dieser Tatsache durch den Satz ab, daß »in der Anerkennung 
der Würde jeder Arbeit ein nivellierender Einfluß gelegen habe, der 
eine soziale Gleichheit und Brüderlichkeit herbeiführte, die den Kasten¬ 
stolz überwand.« Das klingt sehr schön, steht aber leider im Wider¬ 
spruch zu der auch in den Palitexten belegten hochmütigen Verach¬ 
tung, mit der die »zweimal Geborenen« auf den dunkelfarbigen Abori- 
giner herabsahen. Auch die Behauptung Mookerjis, daß die Behand¬ 
lung der Sklaven besser gewesen sei als die der »Mietlinge«, steht 
auf recht schwachen Füßen. Er spricht von einem einzigen Fall, den 
er in den Jätakas (1,401) gefunden habe, wo von einer Sklavin die 
Rede ist, die keinen Lohn mit nach Hause bringt und deshalb ge¬ 
schlagen wird. Jät. 1,451 lesen wir von Schlagen, Fesseln, Brand¬ 
marken und Sklavenkost, Dingen, die freilich zu der von Mookerji 
behaupteten »sozialen Gleichheit und Brüderlichkeit« schlecht passen. 

Beide Verfasser nehmen die Existenz von »priesterlichen Gilden« 

2 * 



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20 Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 1—3 

an und Majumdar gründet darauf seine Theorie von der Entstehung 
der Brahmanenkaste. Während Mookerji die priesterlichen Gilden aus 
einzelnen Stellen der Rechtsliteratur (z. B. Manu VIII, 206 ff. und Nä- 
rada III, 8) folgert, die vorschreiben, daß der Opferlohn unter die zehn 
amtierenden Priester zu verteilen ist, daß ein Priester, der an einem 
Opfer nicht teilnehmen kann, seinen Stellvertreter zu bezahlen hat, 
und daß, wer sein Amt ohne genügenden Grund im Stich läßt, be¬ 
straft wird, weist Majumdar (S. 335) auf die Vorschriften der Bräh- 
manas über das Benehmen eines Brahmanen, auf die Strafen, die für 
die Verletzung dieser Regeln angedroht werden, und auf die Aus¬ 
schließung aus dem Brahmanenstande hin. Das Wissen und Benehmen 
— sagt Majumdar — ist es, das den Brahmanen ausmacht und für 
seine Tätigkeit als Priester nötig ist; die Weihe, nicht die Geburt, 
begründe das wahre Anrecht auf Brahmanenschaft. Die Analogie mit 
der Gilde kann nach Majumdar noch einen Schritt weiter geführt 
werden: wie viele von den Handwerkergilden sich schließlich zu Kasten 
entwickelten, so verwandelte sich auch die > Priestergilde < in die Brah¬ 
manenkaste. 

Majumdars Hypothese ist nicht so einzigartig, wie er (S. 5) meint. 
Schon Joseph Dahlmann hatte 1899 in seinem Buch: »Altindisches 
Volkstum« (S. 133) auf die »geistlichen Gilden« hingewiesen und auf 
das »Genossenschaftswesen der religiösen Sekten und Schulen«; sie 
ist aber m. E. nicht haltbar. In den Brähmanas wie in der Pali¬ 
literatur — ganz zu schweigen von den Dharmasütras — erscheint 
die Brahmanenkaste als ein »auf der Geburt beruhendes soziales Ge¬ 
bilde« (Oldenberg a. a. 0. S. 280). Anders als bei den Handwerkern 
und Kaufleuten ist bei den Brahmanen die Kaste das Primäre: die 
Priester bildeten schon in alter (spätvedischer) Zeit eine Kaste, und 
zwar d i e Kaste, die einzige, die schon damals gewisse Merkmale der 
modernen Kaste, vor allem das Vorhandensein einer Strafgewalt über 
ihre Mitglieder, aufwies. 

Eher als die »priesterlichen Gilden« kann man die »militärischen 
Gilden«, die ihre eigenen Gesetze hatten, schon für die Zeit des 
Kautilya gelten lassen, da dort (XI, 1), wie schon erwähnt, der Aus¬ 
druck ksatriya-sreni vorkommt, und auch unter ärenibala (Kaut- VII, 16; 
IX, 2) sind vermutlich den italienischen Söldnerscharen des 14. und 
15. Jahrhunderts ähnliche Körperschaften zu verstehen. Gewagt scheint 
es mir nur, aus gesetzlichen Festsetzungen des Anteils an Beutezügen 
auf eine gildenähnliche Organisation auch bei den ksatriyas zu schließen; 
vielmehr wollen die herangezogenen Stellen nur das Verhältnis des 
Beuteanteils regeln, der dem König und den von ihm zu Expeditionen 
benutzten »kriegerischen Stämmen« nach dem Gesetz zufiel. 


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Mookerji, Local Government usw. 21 

Am meisten neues Licht wirft das von beiden Verfassern ver¬ 
wertete epigraphische Beweismaterial auf die Organisation der Kauf¬ 
manns- und Handwerkergilden. Das Bild eines hochentwickelten Gilden¬ 
wesens, das wir uns auf Grund der Dharmasästras entwerfen können, 
wird vervollständigt z. B. durch fünf von Majumdar angeführte In¬ 
schriften, die in die ersten nachchristlichen Jahrhunderte fallen und 
aus denen hervorgeht, daß die Gilden damals Deposita von öffentlichen 
Geldern erhielten und regelmäßige Zinsen dafür zahlten, daß sie, kurz 
gesagt, die Funktionen moderner Banken ausübten. 

Bedenklich ist bei der Verwertung der Inschriften, namentlich 
der südindischen, nur der Umstand, daß sie zum Teil dem späten 
Mittelalter (12. Jhdt.) angehören, und man wird Mookerji schwerlich 
beistimmen, wenn er die Heranziehung damit begründet, daß »die 
zeitliche Neuheit des südlichen Materials aufgewogen werde durch 
seinen Umfang und die Mannigfaltigkeit seiner Einzelheiten.« 

Daß auf die Gebräuche und Vorschriften der Gilden ebenso wie 
auf das Gewohnheitsrecht der Länder, Kasten und Familien in den 
Smrtis die weitestgehende Rücksichtnahme gefordert wird, ist bekannt 
und auch im KautilTya (11,7) heißt es, daß der (vom König beauf¬ 
tragte) Aufseher in seine Bücher die Gesetze, Sitten und Gebräuche 
von Ländern, Dörfern, Kasten, Familien und Gilden eintragen solle. 
Durch die Inschriften wird bestätigt, daß die Körperschaften große 
Autorität besaßen und im allgemeinen, wie Majumdar (S. 179) sagt, 
in der innern Verwaltung ungestört blieben. Andererseits waren sie 
aber auch verantwortlich für die vom Dorf geschuldeten Steuern und 
es wird ein Fall berichtet, wo, die Mitglieder einer Dorfgemeinde fest¬ 
genommen und eingekerkert wurden wegen unbezahlter Restschuld an 
Steuern (Government Epigraphist’s Report 1913, S. 109). Nach der 
Tiruvallam-Inschrift überwachten königliche Beamte die Rechnungen 
der Dorfgemeinden von Zeit zu Zeit und die Inschriften von Ukkal 
zeigen, daß die Dorfgemeinden einer Buße unterworfen waren wegen 
Vernachlässigung ihrer Pflicht. Diese von Majumdar erwähnten Fälle, 
die gegen ein Local Government sprechen, werden von Mookerji nicht 
herangezogen. Infolgedessen scheint mir der Beweiß, daß die lokalen 
Körperschaften schon im alten Indien eine von der zentralen, in der 
Person des Königs verkörperten Regierung unabhängige Selbstverwal¬ 
tung ausgeübt hätten, von Mookerji nicht erbracht zu sein, und ich 
möchte Sir W. Hunters Satz: »Im alten Indien gab es nichts, was 
einer politischen Zwischeninstanz zwischen Dorf und Zentralregierung 
ähnlich sah« noch für unerschüttert halten. Damit fällt dann freilich 
der ganze schöne, von Mookerji konstruierte Bau des altindischen 
Local Government in sich zusammen. Zustimmen wird man dem Ver- 









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Original from 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



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Kretschmer, Wortgeographie der hochdeutschen Umgangssprache 23 


Hessen-Nassau, Regierungsbezirk Wiesbaden, Kreis Biedenkopf. Wie 
zu erwarten, fehlt es bei genauerer Untersuchung an Grenzberichti¬ 
gungen nicht; so konnte Ricker in seiner Dissertation über die land¬ 
schaftliche Synonymik der d. Handwerkernamen S. 138 die Grenzen 
für Handwerksbezeichnungen, Bahder DWB 13,2785 die nördliche 
Rheingrenze für Weck (vgl. dazu Tonnar, Evers und Altenburg, Wb. 
der Eupener Sprache S. 223), Kuhn in der Festschrift für Braune 
S. 352 ff. die Behandlung von Murmel berichtigen, und so ist von 
künftiger Einzelarbeit noch viel Förderliches zu erhoffen. Ausschöpfung 
der Quellen liefert manchen Nachtrag. S. 459 wird dem Süden Sieb 
nur in der Bedeutung Küchensieb und Sieb für trockne Gegenstände 
(Mehl u. dgl.) zugewiesen, während für Flüssigkeiten der Seiher diene; 
das schweizerische Idiotikon 7,42 ff., 590 ff. scheint dagegen zu sprechen, 
wobei in Rechnung gestellt wird, daß U. und Mundart in der Schweiz 
(K. S. 13f.) anders abgegrenzt sind als im Hauptgebiete. Es kann 
auch angesichts des Idiot. 3,953 f. nicht zutreffen, daß Laib in der 
Schweiz fehle (S. 151). Das S. 435 für die Schweiz als >hochdeutsch< 
angegebene Schuhband, -bändel bezeichnet in der Mundart nach Staub- 
Tobler 4,1322 eine Bandschleife an Schuhen. Zieche, S. 35 den Ber¬ 
linern abgesprochen, bucht Brendicke S. 127. Schaffen in der Bedeu¬ 
tung arbeiten (S. 92) ist nicht nur südwestdeutsch, sondern übers 
Mitteldeutsche ( Schaffstube für Werkstätte, Hertel, Thüring. 204; 
schaffig Kehrein, Nassau 1,339; Schafferin, tüchtige Arbeiterin, schaffen 
wie ein Feind oder Brunnenputzer, sich abschaffen, ein abgeschaffter 
Mann, verschaffte Münde Wiesbaden) in der Tat, wie das Wb. der Luxem¬ 
burg. Mundart S. 372 angibt, bis nach Niederdeutschland gedrungen 
(Woeste, Westfäl. Wb. 226 a, 2). Gebildete Obersachsen gebrauchen in 
Erinnerung an den Sommeraufenthalt in Oberbayern anschaffen (S. 93) 
für bestellen (Müller-Fraureuth 2,402 a), was auch sonst wohl im Scherz 
geschieht. Aufmucken (S. 93) ist ebenfalls im obersächs. Wb. 1,38 b 
vermerkt, Schwalm (S. 382) bei Fischer 5,1233. Aufnehmer (S. 321) 
ist nl. opnemer »Aufwischhader, grob und gesäumtes (wohl ‘unge¬ 
säumtes’) Feg- oder W'ischtuch, den Boden zu reinigen« Kramer- 
Moerbeek 1,347 b; Opnemsdoch Müller-Weitz, Aachener Mundart 173. 
Daß Boden (S. 133) nicht nur ostdeutsch ist, zeigt das Schweiz. Id. 
4,1026 ff. (Heu-, Kleb-, Blocker-, Machbrett-, Rechen-, Schütt-, Tili-, 
Trämboden). Sich verkühlen (S. 191) ist auch nd. (Schambach 263 b; 
Schumann Lübeck 189; Dähnert 522 b); Stielers verhalten entspricht 
DWB 12,615,1. Zur Verbreitung von Senft (S. 339, Anm. 3) s. DWB 
10 ‘, 580 f. Schauern (S. 409) bezeugen für Coblenz Wegeier 67, für 
den Westerwald Schmid 176, schüren für Eupen Tonnar-Evers 179. 
Die schwäb. Entsprechung für Schrubber (S. 447) ist nach Fischer 5, 





e 














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Gött. gcl. Anz. 1923. Nr. 1—3 




1886 Strupfer 2 . KirchenkiU (Zylinder) ist auch schweizerisch (Id. 2, 
1788), Spint auch bremisch und im Solling üblich (DWB10 1 , 2493). 
Und wer könnte nicht fast Seite für Seite zustimmend oder ergänzend 
aus eigner Kenntnis beisteuern? Ich nenne aus der Hildesheimer U. 
zu S. 419 Anm. 1: Mir ist beim Strichen ein Auge gefallen; ebenso 
die ebenda im Texte erwähnte Form Schleufe, Stichen (S. 51), Tubben 
(S. 71, Anm. 3), Machs gut! (S. 79, Anm. 2), Bachpfeife (S. 103) im 
Munde händelsuchender Jungen, während Ohrfeige vornehmer klingt, 
Gest (S. 105, 2), Franzbrod (S.156), Märchen (S. 199), Zirene (S. 202), 
brauner Kohl (S. 221), Peijatz (S. 231), die Klingel (den Klingelzug) 
abreißen, zerschneiden (S. 289), Albaster , Boss (S. 344), Nebelkappe 
(S. 346), Prillhe (S. 361), verlorene Eier (S. 398), deren Eiform nicht 
mehr zu sehen ist (Lexer, Handwb. 1,515; vgl. verlorener Zapfen 
DWB 12,812), die Schurre (S. 423; vgl. die Schurre im Bodetal), sich 
schnupfen (S. 432), sich die Nase putzen (S. 433), Seiher (S. 459), 
Spuchhasten (S. 482), die halte Pracht , gute Stube (S. 508), Streu¬ 
zucker (S. 301), Untersatz (S. 522), Giintje (S. 541), Schweinevesper 
(S. 549), M<fl, Fax (S. 591). Aus der U. des nördlichen Oberrheins 
(Worms, Wiesbaden) führe ich an Gutsei (S. 139) in dem von H. 
Fischer (S. 603) vermerkten Gebrauch, Rippspeer (S. 266, Wiesbaden), 
Pothämel (S. 341, Worms), Strümpfe fliehen (S. 370; DWB 3,1774), 
Federweiße (S. 514), das ist kein Haferhäs (S. 562, Hafenkäs), Ge¬ 
schwister (S. 24) auch für Schwager und Schwägerin; aus Ostpreußen 
sich behobern (S. 24), Schnepper für Drücker (S. 290); aus dem NW. 
der Provinz Westfalen und dem anschließenden Teile von Hannover 
Ungel für Unschlitt (S. 513). Es wäre das Beste gewesen, Ungel mit 
in den Fragebogen aufzunehmen. K. hat es ganz ausgelassen, obwohl 
es im NW. bis nach Kassel hin der Hauptwettbewerber von Unschlitt 
ist *); ml. ungu(entu)lum wurde mit Entlehnung der Kerzenfabrikation 
im ags. ungel herübergenommen, verbreitete sich durch mnl., mnd., 
md. Gebiete und ist bis heute lebendig (Bosworth-Toller 1108 b, mnl. 
Wb. 5, 578; nl. Wb. 10,1604; Molema 303b; Doornkaat-Kolman 3,470b; 
Diefenbach Gloss. 528 c; Apherdianus, Tirocinium 95; mnd. Wb. 5,46; 
Strodtmann 264; Bauer-Collitz 107,179; Vilmar 424). Wo es mit 
dem von Süden andringenden Konkurrenzwort zusammenstößt, ergibt 
sich die Kontamination üngsel = ungel + ünzel (als nrh. bei Tonnar- 
Evers 11a), im Kölnischen ünhsels (Honig 158). Unschlitt reicht bis 
ins Nd. (mnd. unslet, unselt; Diefenbach N. gloss. 336 a; üntsel 
Schottel, Haubtsprache 1438; der Nomenclator latino-germ. in usum 
scholarum Hamburg. 1634 stellt S. 169 Unschlitt vor Fällig und 
schreibt Nierenunschlitt, geschmaltsen Unschlitt vor. Brendicke be- 
1) Inwieweit die U. daran teilnimmt, müßte die Umfrage ergeben. 


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Kretschmer, Wortgeographie der hochdeutschen Umgangssprache 

zeugt S. 187 a Unschlitt für Berlin in einer Redensart, die mit einer 
Goethestelle 8, 39, 810 W. gemeinsame Grundlage hat). Ueber das Ver¬ 
hältnis von Unschlitt und Inschlitt, Unschlitt und Unschlicht ist K. 
nicht im Klaren; was wohl begreiflich, wenn man bedenkt, wie ver¬ 
fahren die Geschichte dieses Wortes sein mußte, seitdem man ein 
ags. Unwort unslit unter seine Ahnen aufgenommen hatte; das ags. 
Partizipialadj. unsilt = ungesilt (Bosworth-Toller 1113 b, 1129 a, 888 b) 
hat mit Unschlitt gar nichts zu tun. Das Ags. gehört zum Ungel¬ 
gebiete. Im übrigen sei auf Unschlitt im DWB ll 3 , Lieferung 9 ver¬ 
wiesen. Beim Festlegen der Grenzen hat der Verf. auf Karten ver¬ 
zichtet; sie hätten jedenfalls zahlreich ausfallen müssen und wären 
heute unerschwinglich teuer. 

Die Darstellung der wortgeographischen Unterschiede ist oft sehr 
geschickt; Wörter und Sachen werden in fruchtbare Beziehung zu 
einander gesetzt, wodurch mancher Artikel vorbildliche Klarheit und 
Ueberzeugungskraft erhält. Bei Abendbrod ist nicht darauf hinge¬ 
wiesen, daß sich das Abendbrodgebiet ungefähr mit denjenigen Land¬ 
schaften deckt, die von der römischen und romanischen Sitte der 
abendlichen Hauptmahlzeit (Staub-Tobler 1,36) nicht beeinflußt 
sind. Für Tuchent gaben Unger-Khull 180 b mitteilenswerte sachliche 
Erläuterungen. Zu den gelungensten Artikeln rechne ich manche über 
unsre Küchen- und Nahrungspflanzen, über Speisen, Gebrauchsgegen¬ 
stände, Spiele, Hausrat, Kleidung, Grußformeln, über Sonnabend, Straße, 
Stube. Die Aufhammer ( uphamer , oppkamer, nl. opkamer ) des ems¬ 
ländischen Bauernhauses (Peßler, Das altsächs. Bauernhaus 232; Sanders 
Erg. Wb. 292 c) wird allerdings S. 133 verkannt, wenn sie unter den 
Entsprechungen des Dachbodens erscheint. Das Verhältnis umgangs¬ 
sprachlicher Begriffe zu Gegenständen des klassischen Altertums oder 
unsrer östlichen Nachbarn ist eifrig verfolgt. Schriftsteller, Werke 
und Inschriften des Altertums werden bis zu den entlegensten gründ¬ 
lich verwertet; auf diesem Gebiete würde es dem verdienten Verf. 
kaum begegnen, daß er gelegentlich das Opfer einer Verwechslung 
würde oder sich mit halber Quellenkenntnis begnügte, wie es vor¬ 
kommt, wenn es sich um deutsche Literatur handelt. So verwechselt 
er S. 151 den Willehalm Ulrichs von Türheim mit dem Ulrichs von 
Türlin. S. 56 f. wird Herders »Idee zum ersten patriotischen Institut 
für den Allgemeingeist Deutschlands« (Suphan 16,604) zum Aufkommen 
des Ausdrucks Gesellschaftssprache in Beziehung gebracht, mit der 
Angabe, der Aufsatz sei 1788 veröffentlicht. Veröffentlicht ist er nun 
freilich im sechsten Bande der Adrastea erst 1803 nach Herders Tode 
von seinem Sohne, der in der Anmerkung als Entstehungsjahr 1788 
angab; der Aufsatz wurde 1787 auf Anregung des Markgrafen Karl 






Digitizecf 




















Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 1—3 





Friedrich von Baden verfaßt (Suphan 18,527; 23, VI). Und was den 
Ausdruck Gesellschaftssprache betrifft, so findet er sich z. B. schon 
1782 in Adelungs Magazin 1 4 ,83 ff. wie bei Wieland 38,24 Hempel 
(vgl. Sprache des gesellschaftlichen Umgangs 38,34). Aehnlich steht 
es mit Erwähnung des Wortes Sommerfrische; man gewinnt aus der 
Darstellung S. 44, 52 den Eindruck, als habe etwa Nicolai 1781 das 
Wort auf der Reise kennen gelernt, während er es nur seiner Quelle 
entnahm, der Abhandlung des Innsbrucker Professors de Lucca »Von 
den Mundarten in Tyrol< (Adelungs Magazin 2 1 ,100 ff. 1783), die N. 
übrigens in seiner Reise 5,312 unter seinen Quellen selbst anführt. 
> Sommerfrischen, ein sehr übliches Wort, bedeutet die Wohnung (Ni¬ 
colai : 'um die Wohnung ...zu bezeichnen'), die man zur Sommerszeit 
auf dem Lande bezieht. Es ist sittlich (Nicolai: 'gewöhnlich'), daß die 
meisten Einwohner der Stadt Bozen in den Monaten Julius und August 
die Wohnungen auf den Bergen beziehen, um da von einer Seite (Ni¬ 
colai läßt diese drei Worte weg, ebenso unten: ‘von der andern') der 
unerträglichen Hitze, welcher um diese Zeit die Stadt ausgesetzet (N. 
‘ausgesetzt') ist, zu entgehen, und von der andern der reinsten und 
gesundesten (N. ‘ dir reinen') Luft zu genießen < de Lucca 115. Also 
ist Nicolai auch nicht, wie oft behauptet, der erste Zeuge für Sommer¬ 
frische, noch weniger Klein, wie im DWB 10 x , 1526 und bei Weigand- 
Hirt 2,887 steht. Im übrigen läßt sich die U. nur auf dem festen 
Unter- und Hintergründe der allgemeinen Sprachentwicklung l ) richtig 
darstellen; fehlt dieser oder erweist er sich als unsicher, so stehen 
auch die wortgeographischen Darlegungen mehr oder weniger in der 
Luft, die Beurteilung gerät ins Trügerische und es kommt Unfertiges 
heraus. Solchen Gefahren ist der Verf. nicht immer entgangen. Schief 
sind die Bemerkungen über Baselman (S. 76 Anm. 4, S. 600, Register 
S. 617). Die Verbreitung und Durchbildung dieses Volkswortes gehen 
über die von K. und von Schramm, Schlagwörter der Alamodezeit 
S. 86 gegebenen Grenzen hinaus; es ist mnd., nnd., frühnhd. ver¬ 
zeichnet (Lübben-Walther 27b; Götze, Glossar* 21b; Dentzler führt 
es 1677 und 1716 auf) und wird in den schweizerischen Formen 
Baselima, Baseli volksetymologisch an Mann, Base , baselen gelehnt 
(Staub-Tobler 4,1662 f.); ähnliche Verschmelzungen zeigt Baselmancs, 
in., ein unbeständiger Mensch, Sonderling (Tonnar-Evers, Eupen 16 b), 
ein Komplimentenschneider (Müller-Weitz, Aachen 10), unstäter, un- 

1) Ricker erbebt S. 137 auch mit Recht die Forderung, eine wirklich um¬ 
fassende, möglichst alle Seiten des Problems berührende Wortgeographie der 
deutschen Sprache sollte vor allem von der Mundart als dem ursprünglicheren, 
für alle sprachliche Forschung wertvolleren und bedeutsameren Bestandteil unsrer 
Sprache ausgehen. 


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Kretschmer, Wortgeographie der hochdeutschen Umgangssprache 27 

gelenkiger Mensch, Windbeutel, Faselhans, Schmeichler (Zeitschr. f. 
rhein. westf. Volkskunde 2,14); vgl. Baselmannesche Wegeier, Coblenz 7; 
Honig, Cöln (1877) 41 f.; baselemans malten Zeitschr. f. rhein. westf. 
Volksk. a. a. 0. Kegelmäßig ist nicht etwa span, besalamano in die 
deutsche Volkssprache übergegangen, wie man aus der Anra. 4 S. 76 
bei K. herauslesen muß, sondern die französische Gebrauchsform, die 
S. 638 mit ins Register gehört. Sich auskennen, das S. 595 behandelt 
wird, konnte allerdings J. Grimm in seine ersten Lieferungen des 
DWB noch nicht aufnehmen, weil der auf guter alter Grundlage be¬ 
ruhende mundartliche Ausdruck erst nach der Mitte des 19. Jhs. in 
der Schriftsprache durchdringt, wie die von Sanders 1,895 a und Erg. 
Wb. 299 a gesammelten Belege ergeben; dafür hat sich auskennen 
aber eine K. leider unbekannte 1 ), ausgezeichnete Erläuterung von 
Hildebrand unter kennen 10c erhalten. »Fehlt im DWB« besagt ja 
meist sachlich ebensowenig wie »fehlt im Goedeke«. Dort war schon 
zu ersehen, daß der Ausdruck sich aufs Oberdeutsche nicht be¬ 
schränkt; Schullerus 1,323 verzeichnet ihn für die gehobene Sprache 
Siebenbürgens, Müller-Fraureuth gebraucht ihn im obersächs. Wb. 
1,83 b, und in hiesiger U. und in rheinischen Zeitungen ist er nicht 
selten. Man hat das Präfix aus mit er zusammengestellt ( sich erkennen 
Staub-Tobler 3,314,8 a); vielleicht ist die Bedeutung des gründlichen, 
nach allen Gesichtspunkten Rennens (Schmeller 1,1255) erst sekundär. 
Der als gleichbedeutend behandelte Ausdruck im Bilde sein ist schwer¬ 
lich recht beurteilt, wenn man nur mit Vermischung zweier Wendungen 
(ein Bild von einer Sache haben und im klaren darüber sein) rechnet. 
Beachtet man die sinnliche Ausgangsvorstellung, so wird jene ganz 
äußerliche Kontamination unwahrscheinlich. Mathematische Lehrer 
(in Ostpreußen) fragen regelmäßig, wenn sie ohne Zeichnung eine 
geometrische Aufgabe aus dem Kopfe wollen lösen lassen und die 
nötigsten Angaben gemacht haben: sind Sie im Bilde? »haben Sie 
die Figur im Kopfe?« Aehnlicher Art sind die Wendungen des kriegs¬ 
wissenschaftlichen Unterrichts, in denen man einseitig den Ursprung 
des Ausdrucks gesucht hat. Auch wer im Vexierbilde die gesuchte 
Gestalt entdeckt, wer auf dem Blatt der Schiffsrose den Kurs richtig 
abliest, in einem futuristischen Gemälde den dargestellten Gegenstand 
errät, ist im Bilde, wie jemand im Gebetbuche (DWB 4 2 ,2090,b), ganz 
in einer Sache, Darstellung, Vorstellung drin ist (ursprünglicher ist 
natürlich noch »bist du drin in deinem Rocke?« bei der Anprobe; 
»im Fahrwasser sein« u. dgl.). Jemanden ins Bild setzen findet sich 
in Kronprinz Wilhelms Erinnerungen 272. Es ist möglich, daß die 

1) Auch Hildebrands Ausführungen über Gais und Ziege (DWB 5,2796 ff.) 
sind nicht berücksichtigt; vgl. unten das Junge von der Gans. 


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28 Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 1—3 

-< * 

Wendung im Bilde sein durch bevorzugten Gebrauch in Fachkreisen 
der U. zugeführt und dann literarisch geworden ist. Die Terminologie 
der bildenden Künste scheint dabei eine geringere Rolle gespielt zu 
haben, als man vermuten sollte; > nicht im Bildet, -»ganz im Bildet 
sind in der Zeitschrift Kunst und Künstler 19,412 im gemeinsprach¬ 
lichen Sinne verwandt. Mir sind als früheste Belege nur die Stellen 
S. 22, 63 und 122 in Fr. A. Beyerleins Zapfenstreich (1903) zur Hand. 
In der von K. S. 595 angeführten Stelle Gunter Plüschows (1916) 
kann ich auch kein Mißverständnis des Ausdrucks finden. Ein anderer 
Fall, der zur Vorsicht mahnt, liegt bei der Beurteilung von glocken¬ 
hell S. 234 Anm. 3 vor 1 ); ein glockenheller Himmel (Spieß, Henne¬ 
berg. 99) soll den Bedeutungsübergang aus dem Kreise der Gehörs¬ 
empfindungen in den der Gesichtsempfindungen veranschaulichen; aber 
der Sprachgebrauch ( der Mond scheint ivie eine Glocke Müller Frau¬ 
reuth 1,426 a; der M. scheint glockenhell Schmeller 1,972) beweist, 
daß die sprachliche Vorstellung die Gehörssphäre schon verlassen hat 
und glocken in diesen Zusammensetzungen die Funktion einer ziem¬ 
lich allgemeinen Steigerung erhalten hat (glockenhell, ganz hell Staub- 
Tobler 2,1140, glockenganz, ganz wie eine Gl., ohne Riß 387, ein 
Mann wie eine Gl., grundbrav 609). Bei ausverschümt und unverschämt 
(S. 99) tritt zunächst die regelmäßige Erscheinung zutage, daß heute 
die der Mundart nahestehende Bezeichnung ausverschämt (mnd. üt- 
wrschamet, Dähnert 515, Müller, Fr. Reuter-Lexikon 150) haupt¬ 
sächlich dem sinnlichen Gebrauchskreise zufällt oder als komische 
Schelte, auch als gesteigertes unverschämt (obersächs. Wb. 1,49a) 
differenziert wird, während das Schrift- und umgangssprachliche Wort 
unverschämt (das mnd. auch vorhanden) dem allgemeinen, insbesondere 
dem abstrakten Gebrauche ^dient. Campe hatte ganz recht, im Ein¬ 
verständnis mit Adelung und Heynatz ausverschämt als >verwerflich< 
zu bezeichnen. >Bei Adelung fehlt das Wort noch« heißt es bei K. 
S. 100; Adelung hat es aber 4,1328 als niedersächsisch verzeichnet. 
Unter Gänseklein wird S. 214 für den Ausdruck das Junge, Junges 
von der Gans, Gansjung, die junge Gans mit willkommener Aus¬ 
führlichkeit das Verbreitungsgebiet abgesteckt; dann aber fährt K. 
fort: »Ich kenne für diese merkwürdige Benennung keine Erklärung. 
Vielleicht beruht sie auf falscher Uebersetzung von Gänseklein (vgl. 
frz . petite-oie !), in dem klein als jung verstanden wurde. Doch erscheint 
auch sonst jung als Synonymon von klein, nämlich in obersächs. Junge¬ 
magd = nordd. Kleinmädchen, in verjüngtem Maßstahe = in ver¬ 
kleinertem M., sich verjüngen = schmaler werden als architektonischer 
Ausdruck.« Die alte sprachliche Erscheinung war längst erklärt; z. B. 

1) Natürlich sind Verbindungen wie eine glockmlielle Stimme nicht gemeint. 


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von Schmeller l,1207f., Höfler, Krankheitsnamenbuch 252 a ( '»Jung, 
n., Eingeweide bei Hausvögeln, Entenjung, Gänseklein, Gänsegekrös, 
der kleine gleichsam unentwickelte, junge, unansehnliche Abfall«), von 
Hildebrand (DWB 4\ 1,1263 unter Gans II2 cs), der auf ml. gantulae 
beim Uebersetzer des Alexander Iatrosophista (Diefenbach, Origines 


nung) verweist. Ebenso unschuldig ist das DWB, wenn der Verf. 
S. 530 kolben, Kolbe nicht gefunden hat; Hildebrand erläutert das 
Subst. unter Kolbe II 9 b (vgl. Kolpe, Kulpe, Kolm, Kulm, Tolle, Haar¬ 
tolle, Hollen, Tost, Haarschopf, Vorderschopf, Balzer, Künstlerlocke, 
Krause crispatura, Haar-, Stirnlocke usw.), das Verbum unter kolben 2 
(vgl. tollen 2, Tollschere); für Kolbe, kolben wechselt wie für Tolle, 
tollen nur der Stoff. 

In der Frage nach dem synonymen Verhältnis der in Begriffs¬ 
gruppen zusammengefaßten Wörter verfährt die Darstellung etwas 
ungleich. Synonym scheint überwiegend als »gleichbedeutend« ver¬ 
standen zu werden (S. 22, 93, 152,' 432, 446), was für keine Sprache 
weniger zutrifft als für die unsre *)• >Les esprits mediocres ne trouvent 
point l’unique expression, et se servent de synonymes« konnte wohl 
La Bruyere mit Bezug aufs Französische sagen; für eine unver- 
knöcherte, universale Sprache wie die deutsche paßt diese Anschauungs¬ 
weise nicht. Fast jeder Ausdruck hat hier seinen noch heute zu findenden 
besondem Ausgangspunkt, und der Begriff stellt in meist noch erkenn¬ 
barer Weise nur eine (in der Regel mangelhafte) Verallgemeinerung 
dar, eine Fiktion, wie sie Vaihinger, Als ob 2 399 ff. darlegt. In der 
Erkenntnis, daß es ebensowenig unter den Wörtern wie in der Natur 
völlig gleiche Individuen gibt, daß die Individualität des Wortes letzten 
Endes eben etwas Unvergleichbares, Unauflösliches ist, hat man bei 
uns seit Ende des 18. Jhs. synonym hauptsächlich als sinnverwandt 
aufgefaßt (in den frühnhd. Quellen heißt »gleichbedeuten« in der Regel 
»ähnlich bedeuten«). Die fast nie ganz fehlenden synonymen Unter¬ 
schiede sind in manchen Fällen, z. B. bei Gasse und Straße, Pome¬ 
ranze und Apfelsine, Scheune, Stadel, Schuppen trefflich herausge¬ 
arbeitet und wo es anging, wie billig, geschichtlich begründet; in an¬ 
dern Fällen sind sie nicht oder wenig beachtet. So braucht Herings¬ 
sauce (S. 318) nicht dasselbe wie Heringslake zu sein; es kann die 
genießbare Sauce des marinierten Herings bezeichnen. Der Unter¬ 
schied von Bonbon und Gutsei (S. 139) wurde schon von Fischer (S. 603) 
hervorgehoben. Aufmucken (S. 93 ff.) geht ursprünglich auf Laut¬ 
äußerungen, auf begehren klärlich auf den tätlichen Widerstand des 

1) »Was heute gleichbedeutend scheint, war ursprünglich nur nahe ver¬ 
wandt, nicht identisch* zeigt Rickcr S. 8 an Handwerksbezeichnungen. 










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geworfenen Gegners; vgl. auf belangen Staub-Tobler 1,120, auf kommen, 
auf keilen ebenda 3,203, sich üppern Hertel, Thüring. 250. Die Puts¬ 
frau (S. 97) wird in Wiesbaden neben der Monatsfrau für den außer¬ 
gewöhnlichen Putz, die gründlichere Reinigung genommen. Gangweib 
und Botenfrau (S. 237) decken sich schwerlich ganz mit Hökerin; 
unter Gemüsefrau (S. 238) versteht man in Königsberg hauptsächlich 
eine wandernde Händlerin, die das Gemüse in den Wohnungen der 
Käufer feilbietet. Lecker (S. 331) ist, wer immer nur Gutes essen 
will, mäklig (bei Goethe mäklig), wer immer, nicht nur beim Essen, 
etwas auszusetzen hat. In Hildesheim wird gelber Senf vom Mostrich 
(S. 338) unterschieden, der Fußboden feucht aufgerieben oder aufge - 
wischt, naß gescheuert und bei grober Verschmutzung tüchtig geschruppt 
(S. 406). Kneifen und zwicken (S. 297) werden von Weigand, Syno¬ 
nymik 2,229 und Eberhard-Lyon 16 81, Advokaten und Fürsprecher 
(S. 387) im Schweiz. Idiot. 1,89 auseinandergehalten. 

Etymologische Exkurse beleben und vertiefen anregend manchen 
Aitikel. JRibisl (S. 606 f.), Riebsel (DWB8,909), die Johannisbeere, 
und Jause (S. 551 f.) sind gut erläutert; für Kukuruz (S. 330) wird 
Lautnachahmung wahrscheinlich gemacht, Lungenbrat (S. 197) als 
Kontamination mit Lümmel, Lümmel (DWB 6,1289, 1291) erkannt, 
wobei Lumpelmuß < Lungenmuß, Lumpeisucht (Abr. a. S. Clara bei 
Höfler, Krankheitsnamenbuch 710 b) < Lungensucht und Weinholds 
bair. Gramm. 143 den lautlichen Vorgang klarmachen. In den Erörte¬ 
rungen über Kneipe (S. 297, 609) wird man kaum wesentliche Fort¬ 
schritte über die von Hildebrand erwogenen Möglichkeiten sehen; nl. 
in de knijp sijn, in de knijpers zitten, Kneipe 1 b (DWB 5,1404) führt 
nicht so leicht zu Kneipe 3 als nd., ostfries. knippe, »Vogelbauer, 
Bordell, Wirtshaus« (Falk-Torp 548); übrigens ist hier einmal wieder 
die Wortgeschichte wichtiger als Häufung entfernter Ableitungsmöglich¬ 
keiten. Kuppelweib (S. 237), kuppeln, »Kleinhandel treiben«, hat aller¬ 
dings mit lat. copulare nichts zu tun (s. Hildebrand DWB 5,2778 
kuppeln)-, die Anknüpfung an poln. kupla erübrigt sich. Scliarutten- 
feger (S. 441), Schornsteinfeger, ist von Ricker (Zeitschr. f. d. Mund¬ 
arten 1920, 109, 111) aufgeklärt, Allstag (S. 584 Anra. 1) unter Wirkung 
der starkbetonten ersten Silbe aus Altjahrestag (Staub-Tobler 7,863; 
3,58; vgl. Altjahrabend 1,204 und zur Verkürzung Fälle wie Bier¬ 
stadt < Birgittenstadt- DWB 14 *, 705) entstanden. Unterbrod (S. 550) 
ist nicht nur mit Untern »zu vergleichen«, sondern dasselbe wie 
Unternbrod (Fischer, Schwab. Wb. 6,227; 240ff.) und aus diesem 
geworden. Vom Standpunkte der Wortgeschichte aus bleibt es immer 
eine Hauptschwäche des Etymologisierens, daß von womöglich einem 
Ausgangspunkte eine gradlinige rationale Entwicklung angestrebt 


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Kretschmer, Wortgeographie der hochdeutschen Umgangssprache 31 

wird, während ein Blick auf die Sprache der Kulturarmen (Boas, Kultur 
und Rasse 2 220), ja, schon einige Selbstbeobachtung lehrt, daß die 
gefühlsmäßige, subjektive Ableitung und Weiterbildung früher und 
allgemeiner als logische (objektive) Etymologie geübt wird. Diese sub¬ 
jektive Etymologie, meist zu schwer durchdringlichen Kontaminationen 
führend, ist dann für die Wortgeschichte oft ebenso wichtig geworden 
als das Etymon. Der irrationale Faktor in der Psychologie des Sprechens 
wird leicht übersehen; ich habe selbst in der Erläuterung von Unke- 
punz (DWB 11 3 , 1087) zum Nachteil der Sache die halbspielerischen 
Bildungen Aenzepänz, Hänzepänz , >Kobold< (siebenbürg.-sächs. Wb. 

I, 163 b), Henkepenk (Tonnar-Evers, Eupen 64), Hinkebink, Hinkeperz 
(DWB 4 2 ,1444; 1447) u. dgl. ausgeschaltet. Bei Lungenbraten ist 
von K. dem Gesichtspunkte der Kontamination Rechnung getragen, 
in andern Fällen vermißt man Ausnutzung solcher Möglichkeiten, z. B. 
bei Qualm (S. 382), wo Twalm sichtlich eingewirkt hat, bei kucken 
(S. 456; vgl. Falk-Torp unter kaage), bei Lebkuchen, Lebzelten (S. 363 f.), 
wo das Wortspiel Keisersbergs, das aus dem Lebkuchen den Kuchen 
des ewigen Lebens macht, unwahrscheinlicherweise zur Grundbedeutung 
führen soll; die Bedeutung »Gesundheitskuchen« für lebekuochen, lebe- 
zelte klingt wenig mhd., die hier in Betracht kommenden mlat. Bil¬ 
dungen leba, lebelum werden meist übersehen und die älteste Form 
wie die älteste Bedeutung von Lebkuchen, -zelten harren noch der 
Feststellung. 

An der Hand der U. geschichtlichen Veränderungen und kultur¬ 
historischen Verschiebungen nachzugehen, hat großen Reiz. Abendbrod 
ist bis ins 18. Jh. auch in der Schweiz die Bezeichnung für ein fru¬ 
gales Abendessen gewesen, meist bestehend aus Wein und Brot (Staub- 
Tobler 5,952), und im Sprichwort lebt dort Abendbrot noch heute 
fort, während es sonst nicht mehr volkstümlich ist. Hat sich etwa die 
einfache Sitte geändert? Wer die rheinische Schnakenplage am 
eignen Leibe verspürt hat, wird sich über die aus dem elsäss. Wb. 
2,497 b in Kretschmers Darstellung S. 341 übergegangene Behauptung 
wundern, daß die Rheinschnaken 1 ) nicht stächen und mit Rhein¬ 
schnake Tipula oleracea, nicht Culex annulatus gemeint sei. Haben 
nicht allein »die entsetzlichen Rheinschnaken« Goethe, wie er im 

II. B. von Dichtung und Wahrheit erzählt, von dem Gedanken ab¬ 
bringen können, als habe ein guter und weiser Gott die Welt ge¬ 
schaffen ! Trug Goethe nicht in Straßburg fein lederne Unterstrümpfe, 
um sich gegen die Rheinschnaken zu sichern! Bei Jean Paul treten 

1) Während K. S. 342 Schnake aus dem Adj. schnack hcrleitef, halt Fischer, 
Schwab. Wb. 5,1024 Verwandtschaft von schnagger mit Schnake des Vokals wegen 

für unwahrscheinlich. 












32 Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 1—3 

Rheinschnaken der Soldateska (DWB 8,859,2) auf, die gegen die 
Bauern losstechen, in Mainz (Sanders, Erg. Wb. 456 c) und Worms 
heißen Flößer, Schiffer, Gepäckträger und ähnliche Bedienstete von 
einem gewissen zufahrenden Witze Rheinschnaken 1 ); lokale Witz¬ 
blätter wählen den Namen als Titelbezeichnung. Ist man von einer 
Schnake tüchtig gestochen, so heißt es am nördlichen Oberrhein: >das 
war eine rechte Rheinschnake<. Da in diesem Falle eine geschicht¬ 
liche Veränderung'ausgeschlossen ist, bleibt nur die Annahme übrig, 
daß die Angabe des elsässischen Wbs. irrtümlich ist. Für die Um¬ 
wandlung von Gasse in Straße hat Hildebrand als Grund die Aende- 
rung der Bauweise angegeben; was aber den umgekehrten Vorgang 
in Wien veranlaßt hat, bleibt noch zu untersuchen. Während ge- 
schichtliche Vorgänge, Aenderung der Lebenshaltung, Mode und dgl. 
in K.s Darstellung aufmerksam beobachtet sind, hat er sich durch 
grundsätzlichen Ausschluß der gefühlsbetonten sprachlichen Bildungen 
der Möglichkeit beraubt, der Aenderung des Lebensgefühls, der psy¬ 
chologischen Einfühlung, der Gesellschaftspsychologie gerecht zu werden. 

Anderes, worüber man mit dem Verf. weniger leicht ins Reine 
kommt, möge an die Einleitung anknüpfen, die Grundlegendes erörtert. 
Die schon im Buchtitel angewandte Bezeichnung »hochdeutsch < macht 
den Wunsch rege, daß dies Wort in die Fragebogen aufgenommen 
werden möge ; denn es fehlt auch in der U. bei diesem Ausdruck nicht an 
lehrreichen Verschiedenheiten. Die Mehrdeutigkeit des Begriffs spricht 
eigentlich gegen die axiologische (Jellinek, Gesch. d. d. Grammatik 
1,216) Verwendung zu wissenschaftlichen Zwecken. Die wertende Be¬ 
zeichnung hochdeutsch wird, von Leser, Fachwörter zur d. Gramm. 
S. 10 auf Opitz (1635) zurückgeführt, im 18. Jh. beim Kampf um die 
Festsetzung der klassischen Schriftsprache zum Losungswort und be¬ 
hält nach Festlegung der neueren grammatischen Terminologie nur 
schwankenden Begriffsgehalt, was man dann wieder durch die zweifel¬ 
hafte, auch von K. S. 65 angewandte, Bildung Hochsprache zu um¬ 
gehen sucht. Die Entscheidungen darüber, was als »hochdeutsch« in 
K.s Sinne zu gelten habe, fallen bisweilen mehr normativ als historisch 
aus. So fürchte ich, daß die Empfehlung der als »hochdeutsch« be- 
zeichneten Konstruktion auf etwas vergessen (S. 7) und des (S. 6 für 
nicht »fehlerhaft« erklärten) Femininums die Kunde für der Kunde 
unwirksam bleiben muß, weil die entgegenstehenden Tatsachen des 
sprachlichen Gebrauchs zu wenig erwogen sind. Für vergessen auf 
fehlt die Zustimmung der nicht oberdeutschen Sprachgebiete, und für 
die Kunde kenne ich überhaupt nur spärliche Bezeugung und Belege; 
außer dem von K. selbst Angeführten: Campe, Wb. 2,1084 b (auf nd. 

1) Aehnlich Eheinmucken in der Schweiz; Staub-Tobler 4,130. 


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Kretschmer, Wortgeographie der hochdeutschen Umgangssprache 33 

Gebiet vielleicht erträglich, aber ungut), fürs Obersächsische Müller- 
Fraureuth 2,121b, Wb. der luxemburgischen Mundart 239 a, außer 
der von Hildebrand angeführten Klingerstelle eine solche von Bode, 
die Paul in der Zeitschr. f. d. Wortforschung 11,83 beigebracht hat, 
und die Femininform Chunden Staub-Tobler 3,352; vgl. Konclen, m., 
Leihener, Cronenberger Wb. 66 b. Umlaute wie farbig werden S. 5 
als unrichtig bezeichnet, mit der Erläuterung: >Die Sprachunrichtig- 
keit läßt sich damit begründen, daß der Umlaut hier eine auf einen 
Teil des d. Sprachgebiets (gemeint ist die Bukowina) beschränkte 
Neuerung ist< Anm. 3; das trifft für färbig nicht zu. Abvär hat 
Schmeller 1,750 schon aus Cgm 317 belegt, färbig ist siebenbürgisch 
2,310 und schwäbisch (Fischer 2,948); in Zusammensetzungen greift 
der Umlaut noch viel weiter um sich (D WB 11 3 , 530). Am Land, 
am Tisch, mundartlich bis in die U. hinein für schriftdeutsches auf 
dem Lande, auf dem Tische üblich (S. 8), lehnt sich, die Naglsche 
Erklärung als richtig vorausgesetzt, auch an zahlreiche Fälle der 
älteren Sprache und der Mundarten, in denen an für neueres auf ge¬ 
bräuchlich war und ist (DWB 1,607; Staub-Tobler 1,250; Schmeller 
1,81); von einem Sprachfehler kann man nicht reden. Solche Er¬ 
scheinungen sind organisch, nicht bloß geographisch zu verstehen. Die 
Entscheidungen über Obacht geben, Spagat (S. 18) dürften ebensowenig 
unanfechtbar sein. Wenn K. sodann in seiner Begriffsbestimmung der 
U. S. 10 zur Bedingung macht, daß sie nur im mündlichen Ge¬ 
brauche lebt, wird ihm jeder sofort die Jugend, den Simplicissimus, 
die Fliegenden Blätter und dgl. Schriften entgegenhalten, in denen 
die U. eben auch geschrieben oder gedruckt wird; Roethe zog in 
seinem Vortrage über die Deutsche Kommission (Neue Jahrbücher 
131,69) unbedenklich gedrucktes Material, Briefe, Zeitungen, Lokal¬ 
blätter und dgl. für die U. heran, Ricker (S. 9) schließt das Schrift¬ 
tum des Tages in die U. ein, Wunderlich benutzte bei seiner Dar¬ 
stellung nur gedruckte Quellen; und sollten nicht aus Luthers Tisch¬ 
reden und Goethes Gesprächen nach Abzug der schriftsprachlich¬ 
literarischen Formung noch Wesenszüge der U. beider zu gewinnen 
sein? Uebrigens benutzt K. selbst schriftsprachliche Belege, um den 
»hochdeutschen« Charakter eines Wortes zu ermitteln (S. 19 f.); die 
Heranziehung der sog. Heimatromane verdient Dank. Sollte er bei 
der Begriffsbestimmung nur gemeint haben, die U. müsse jedenfalls 
erst gesprochene Sprache gewesen sein, bevor sie geschrieben oder 
gedruckt worden sei? S. V wird mit U. die Bezeichnung »Verkehrs¬ 
sprache« gleichgesetzt, während S. 10 diese Bezeichnung für die an¬ 
genommene zweite Stufe der U., die Sprachform des geschäftlichen 
und gesellschaftlichen Verkehrs, dient; wobei daran zu erinnern wäre, 

06U. gcl. Am. 1023. Nr. 1—3 3 













34 Gott. gel. Anz. 1923. Nr. 1—3 


daß die Geschäftssprache doch wieder als Sondersprache der Rechts¬ 
sprache am nächsten steht. Bei allen drei Bezeichnungen Umgangs 
Verkehrs-, Gesellschaftssprache ist das Verhalten zu dem französischen 
Ausdruck langae de la conversation zu prüfen. Unter den Gebieten, 
die hinsichtlich der gebildeten Gemeinsprache eine Sonderstellung ein¬ 
nehmen (S. 11 ff.), fehlen Siebenbürgen, worüber Schullerus im Wb. 

1, XI ff. eingehend gehandelt hat, und die Vereinigten Staaten von 
Nordamerika, wo sich Millionen Deutsche auf ihre Muttersprache be¬ 
sinnen und aus guten Gründen von der bequemen Uebung der Mund¬ 
art und Halbmundart zur Gemeinsprache wenden. 

Begrenzung des Stoffes, wie sie S. 21 ff. versucht wird, ist na¬ 
türlich jedes Autors Recht und seine selbstverständliche Pflicht; sie 
kann logisch einwandfrei, und doch wenig fruchtbar sein, wenn sie 
lebendige, notwendige Zusammenhänge durchschneidet. Man vergleiche 
z. B. die Behandlung des Böttchers bei K. S. 142 ff. und bei Ricker 
S. 54 ff., um zu ermessen, wie viel ergebnisreicher die auf breiterer 
Grundlage fußende Darstellung Rickers sich erweist. Winzer wird 
ausgeschlossen, >weil (nach K.) es ortsübliche Bezeichnungen für diesen 
Beruf nur in Gegenden mit Weinbau gibt; in andern wird er in der 
U. so selten erwähnt, daß von einem selbständigen Ausdruck nicht 
die Rede sein kann«, S. 21, Anm. 1. Um sich von der Erfolglosigkeit 
dieser Begründung zu überzeugen, braucht man sich nur an die heute 
fast in keiner größeren Stadt fehlende Winzerstube, an die parla¬ 
mentarischen Verhandlungen über Winzerelend, Winzerstreik, die Be¬ 
stechung durch den Winzerverein, an die französischen Winzerunruhen , 
an den Winzertag, das Winzerlied, den Winzergesang (J. H. Voß), 
Goethes Winzerin, die Winzerei, das Winzervolk, -fest zu erinnern. 
Mag Säugling in Wien wie in Berlin der U. abgehn (S. 18), so fehlt 
doch fast nirgends der Begriff des gelehrten oder politischen Säug¬ 
lings oder das Säuglingsheim. Es ist schon richtig, daß der Rechts¬ 
anwalt den Advokaten verdrängt; aber damit wird die Verwendung 
von Zusammensetzungen und Ableitungen wie Advokatenkniff, advoka- 
torische Beredsamkeit noch nicht aus der U. verbannt. Obwohl laben 
(S. 27) in nordwestd. U. wenig lebendig ist, sagt man unbedenklich: 
>Das ist ja eine wahre Labung <. Das Wort aus seinen Verbindungen 
loszulösen und fast auf seine Funktion als Stichwort zu beschränken, 
muß erhebliche Nachteile bringen, weil das Leben des Wortes, sein 
Wachsen, Gedeihen und Verkümmern gerade in seinen mannigfaltigen 
stilistischen Verbindungen und in der ungeminderten Beweglichkeit 
der Funktion zu finden ist. Die gefühlsbetonten Wörter werden »wegen 
mangelnder Entsprechung« (S. 22) grundsätzlich ausgeschlossen. Albern 
ist doch wohl zu Unrecht darunter geraten; auf albern, Albernheit 


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Kretschmer, Wortgeographie der hochdeutschen Umgangssprache 35 

im Sinne der nhd. schriftsprachlichen Hauptbedeutung dieser Wörter 
(Weigand, Synonymik l,42f.; der Artikel J. Grimms im 1. Bande des 
DWB genügt heute nicht) kann auch die U. unmöglich verzichten; 
Eberhard-Lyons synonym. Handw. 16 55 weist es gerade der U. zu. 
Die Anmerkung S. 23,7 erweckt den Anschein, als fehle das Wort 
vielfach auch in den Mundarten, während auch da nichts gewöhnlicher 
ist als alber, alwer, alvern, alfsch usw. in den verschiedensten Be¬ 
deutungen (z. B. Staub-Tobler 1,210f.; Martin-Lienhart 1,35 a; Fischer 
1,126; Müller-Fraureuth 1,13; Schullerus 1,64ff.; Dähnert 7a; Scham¬ 
bach 8a; Bauer-Collitz 4a; Liesenberg 104; Leihener3b). Jedenfalls 
hätte albern vor triezen ( sekkieren ) Aufnahme verdient. Diesem gegen 
die gefühlsbetonten Wörter gerichteten Grundsätze fallen dann be¬ 
greiflicherweise die Partikeln gelt, halt, so zum Opfer, geradezu Leit¬ 
wörter für die Wortgeographie, ebenso die Kraftwörter, fast die ganze 
Phraseologie. Man könnte aber fragen, welches Wort gelegentlich, 
selbst in der U., nicht gefühlsbetont ist, wenn man auch Sperbers 
Theorie des auf Gefühlsbetontheit beruhenden Bedeutungswandels nicht 
als erschöpfend betrachtet. Gottlob, daß mit den Grußformeln eine 
Ausnahme gemacht ist; warum nicht auch mit den Formeln bei der 
Bitte um Entschuldigung? Popowitsch hatte auch Wörter wie Geiz¬ 
hals aufgenommen. Für die Erkenntnis des sprachlichen Lebens ist 
es wichtig, zu wissen, was die U. wählt, was sie nicht wählt; bei 
engherziger Begrenzung des Stoffes wird es fast unmöglich, die nega¬ 
tiven Instanzen zu würdigen. Nach welchen Grundsätzen die Adjektiva 
rein, sauber, tadellos, über deren umgangssprachliches Leben Gaupp, 
Zur Gesch. des Wortes rein S. 71 so Lehrreiches vorträgt, ausge¬ 
schlossen werden, habe ich nicht ersehen können. Während Zylinder 
aufgenommen ist, fehlt der LeibrocJc, der ostdeutsch den Frack be¬ 
zeichnet, sonst die verschiedensten Bedeutungen hat. Oertliche Idiotismen 
sind nur in beschränktem Umfange berücksichtigt; von den S. 24 er¬ 
wähnten Ausdrücken ist das ostpreußische zu Maße kommen nur ein 
veralteter Ausdruck (DWB 6,1737), ins Fettnäpfchen treten (S. 24), 
auf Sachsen (Müller-Fraureuth 1,325 a) nicht beschränkt und schwer¬ 
lich allein durch erzgebirgische Sitte zu erklären; heißt doch der 
Tolpatsch schweizerisch Trittinnapf (Staub-Tobler 4,776), sagt man 
doch in das Hasenfett treten (obers. Wb. 1,480 b; DWB 4 2 , 538). Daß 
der Wortschatz der Berufs- und Sondersprachen wie die Termini 
technici nicht von der U. aus untersucht werden können, ist selbst¬ 
verständlich (S. 25 ff.). Doch ist nichts natürlicher, als daß die U. 
sich auch aus dem Kreise dieser Wörter und Wendungen zu be¬ 
reichern sucht. Wie in der Schriftsprache das Ergebnis der gesamten 
kulturellen Entwicklung ihren Niederschlag findet, so hat die U., die 

3* 


Co gif 












langsameren Schrittes der Einheit sich nähert, einen unverkennbaren 
Zug zum Ganzen, Umfassenden. Mit Recht ist bei K. viel aufge¬ 
nommen, was selbst der Gebildete nicht alles kennt. Jede Engherzig¬ 
keit wäre vom Uebel. Anderseits ließe sich keine vernichtendere Kritik 
an der deutschen Bildung üben, als wenn man aus der Beschränkung 
auf die S. 38 ff. aufgezählten Begriffe schließen wollte, Vorstellungsleben 
und Sprachschatz des gebildeten Deutschen bewegte sich nur im Kreise 
von Essen, Trinken, Hausgerät und des Lebens Notdurft. Der wech¬ 
selnde, von gesellschaftlichen Veränderungen nicht unberührte Begriff 
des > Gebildeten < bringt viel Schwankendes in den Begriff der ge¬ 
bildeten U. Am besten sind diejenigen Abschnitte gelungen, in denen 
K., unbekümmert um die Fallstricke seiner Definition ins Volle greift 
und auch den allgemeinen Hintergrund behandelt, auf dem die U. 
sich ausgebildet hat; z. B. Schlittern. Wortgeographie ist zwar keine 
Wortgeschichte, strebt aber unausweichlich dem großen Zusammen¬ 
hänge und der pragmatischen Begründung zu. Im vierten Abschnitte 
der Einleitung wird über Sammlung und Verwertung des Materials 
erwünschte Rechenschaft abgelegt, im fünften, der Historisches zur 
deutschen Wortgeographie enthält, ist die Heranziehung auch unge¬ 
druckter Werke von Popowitsch beachtenswert. Im allgemeinen macht 
sich da der Uebelstand fühlbar, daß es an Vorarbeiten fehlt, die über 
Wesen und Geschichte der U. auf klärten. In der Deutschen Literatur¬ 
zeitung 22,1053 hatte K. noch in der U. die gesprochene Schrift¬ 
sprache gesehen; jetzt tritt er erfreulicherweise S. 9 für die schon 
von J. Möser 9,154 erkannte selbständige Bedeutung der U. ein, 
ohne freilich immer daraus sich ergebende Folgerungen zu ziehen. 
Man hätte gesprochene und geschriebene U. zu scheiden, den wort¬ 
geographisch abweichenden Rhythmus der U. zu belauschen, wofür 
Behaghel, Geschriebenes und gesprochenes Deutsch S. 228 f. ein so 
lehrreiches Beispiel gibt, wortgeographische Unterschiede aus dem 
Flüchtigen und Unfesten der U., als zu ihrem Wesen gehörig, zu 
verstehen; es gibt erkennbare Kreise der U., die der häuslichen Ge¬ 
selligkeit, der Wirtshausgeselligkeit, des Balles, des Theaters, des 
musikalischen Tees, des Verkehrs mit Gleichgestellten, mit Vor¬ 
gesetzten usf. Der Niederschlag, den geschichtliche Entwicklungen, 
die höfische Gesellschaftssprache, die Alamodesprache, Sturm und 
Drang, die U. der romantischen Geselligkeit, Schwabingertum, der 
Reserveleutnant in der U. zurückgelassen, könnte sichtbar werden; 
der Einfluß des Hausdeutschen, der Rechts- und Geschäftssprache hat 
der U. wesentliche Charakterzüge aufgeprägt. 

Die großen Städte zu bevorzugen, wie bei Auswahl der Orte 
(S. 28) geschehen ist, und den Berliner Ausdruck voranzustellen, hat 






" v ' , r » 

9 

Kretschmer, Wortgeographie der hochdeutschen Umgangssprache 37 

sich wenig ersprießlich erwiesen. Von sprachpolitischen Gesichtspunkten 
(S. V, 57 ff.) sehen wir ab, wenn wir feststellen, daß der Berliner auch 
für die U. nirgend als vorbildlich anerkannt wird; die ablehnende 
Beurteilung des sprachlichen Berlinertums bleibt fast überall die¬ 
selbe, vielleicht den Nordosten ausgenommen; und zwar liegen die 
Gründe dafür auf der Hand. Berlin ist sprachlich zu weit an die öst¬ 
liche Peripherie vorgeschoben; der ungemilderte Einfluß des Nieder¬ 
deutschen versetzt die U. mit idiomatischen Wörtern wie Wrasen 
(S. 382) oder unfeinen Bildungen wie ausverschämt für gemeinsprach¬ 
liches unverschämt, Reinfall, reinfallen (S. 386) für Hineinfall (Sanders, 
Erg. Wb. 186 c), hineinfällen (DWB 4 2 ,1417). Ferner scheint die 
Berliner U. zu unselbständig, um die zahlreichen fremden Einflüsse 
genügend und schöpferisch verarbeiten zu können. >Der deutsche 
Mensch<, läßt W. Raabe den russischen Staatsrat im Wunnigel (H 5,159 
der Gesamtausgabe) sagen, »macht alles vor in Petersburg; er macht 
alles nach in Berlin; er ist hier (in der deutschen Mittelstadt) er 
selbsti. Die Gegenüberstellung des Berliner und des Wiener Aus¬ 
drucks gibt im allgemeinen doch ein den Sachverhalt der Uneinheit¬ 
lichkeit übertreibendes Bild. Wenn man die deutsche Mittelstadt zum 
Ausgangspunkte nähme, gliche sich mancher scheinbare Gegensatz 
aus. Ueber Uniformität freilich (»Einigung und Uniformität ist zweierlei 
W. H. Riehl, Naturgeschichte des Volkes 1,111) setzt sich der selbst 
in der U. nicht erlöschende schöpferische Sprachtrieb des Deutschen 
und die unbegrenzte Allseitigkeit der deutschen Sprache hinweg; es 
ist ein Zuviel, nicht ein Zuwenig an sprachschöpferischer Begabung, 
was uns die äußerliche Einheit der U. versagt. 

Wiesbaden. K. Euling. 



Isidor Scheftelowitz, Die Entstehung der manichäischen Religion 
und des Erlösungsmysteriums. Gießen 1922, A. Töpelmann. 8°. 86 S. 

Die kleine Schrift ist ganz gegen mein Buch »Das iranische Er¬ 
lösungsmysterium < geschrieben und stellt eine etwas ausgewachsene 
Rezension dar; aber sie behandelt ein für die Religionsgeschichte sehr 
wichtiges Problem und berührt eine methodische Frage, die für sie 
geradezu entscheidende Bedeutung hat. Ich gehe darum etwas näher 
auf sie ein. 

Vor zwei Jahren war ein'Buch von Scheftelowitz »Die altpersische 
Religion und das Judentum, Unterschiede, Uebereinstimmungen und 
gegenseitige Beeinflussungen« erschienen, und ich mußte in meinem 
»Iranischen Erlösungsmysterium«, das dem Abschluß entgegenging, 
begründen, warum ich nicht mehr auf es einginge (S. 115). Verfehlt 






:Co gle 

















38 


Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 1—3 






erschien mir damals schon, daß ohne jede Berücksichtigung der Eigen¬ 
art der einzelnen Schriftwerke, der Zeitverhältnisse, der Häufigkeit 
der einzelnen Bilder und Vorstellungen ein einheitlicher >jüdischer< 
Glaube erschlossen werde, in dem dann die Fortexistenz einer Art Seele 
im Grabe oder im Totenreich und die Heimkehr einer von Gott aus- 

b 

gegangenen Seele zu Gott in dem gleichen Begriff Unsterblichkeit zu¬ 
sammengefaßt werde, verfehlt das Pulverisieren einer organisch in 
sich zusammenhängenden großen Lehre in lauter kleinste Einzelheiten, 
zu denen dann aus fernen Weltteilen aus ihrem Zusammenhang ge¬ 
rissene andere zum Vergleich herangezogen werden, verfehlt die 
Voraussetzung, jede noch so begreifliche Nüance der Färbung schließe 
Einwirkung der einen Beligion auf die andere aus, als ob nicht jede 
religiöse Uebemahme zugleich eine Umbildung wäre. Die notwendige 
und für unsere Wissenschaft verhängnisvolle Folge scheint mir noch 
jetzt die volle Willkür in der Annahme oder Ablehnung wirklicher 
Entlehnungen, bei der dann leicht unbewußt die dogmatische Ueber- 
zeugung des einzelnen den Ausschlag gibt. Die Beweisbarkeit wird 
— von wenigen, besonders deutlichen Fällen abgesehen — erst bei 
dem Vergleich größerer Zusammenhänge beginnen. Da ich nun nicht 
eine Einzelreligion analysieren, sondern den Gang einer großen und 
in sich geschlossenen Lehre von der Heimkehr der Seele zu Gott, 
also der Erlösung, von Osten nach Westen verfolgen wollte, einer 
Lehre, die im frühsten Zarathustrismus schon voll ausgebildet, aber 
nicht auf ihn beschränkt ist 1 ), glaubte ich, meine eigenen Wege gehen 
und für die Entscheidung über die Beeinflussung des Judentums von 
den Formen ausgehen zu dürfen, welche diese Lehre in Babylonien 
und Syrien angenommen hat; für sie boten die mandäische und die 
manichäische Religion das Hauptmaterial (dargelegt S. V, S. 1 und 115). 
Daß dabei von dem, was ich iranisch nannte, manches babylonische 
oder syrische Zutat sein würde, hob ich überall hervor, ja gebrauchte 
ein fast paradoxes Beispiel: das Ergreifen der Rechten eines Gottes 
ist als Kultbrauch in Babylon uralt; im Mandäischen und Mani- 
chäischen ist diese Vorstellung Symbol der Erlösung; da die 
heilige Handlung auf dem Grabdenkmal des Antiochos IV. von Komma¬ 
gene dargestellt ist — der König betont, daß seine Darstellungen 
den uralten Lehren der Hellenen und Perser entsprechen —, müsse 
ich sie nach meiner Terminologie iranisch nennen (S. 12). Schefte- 

1) Den letzten Ursprung oder die Anregung in Indien zu suchen, lag mir 
damals noch fern; ich glaube auch, daß es die Untersuchung zunächst nur ver¬ 
wirrt hätte. An sich ist jede derartige Entwicklungsreihe eines Gedankens un¬ 
endlich, d. h. anfangslos. So muß man gewaltsam einen Anfang machen, und ich 
machte ihn da, wo der ethisch orientierte Erlösungsglaube beginnt. 


Go 









Scheftelowitz, Die Entstehung der manichäischen Religion 39 

lowitz nennt das »sehr gewagt und der Wissenschaft nicht förderliche 
Das scheint mir unklar gedacht. Eine derartig erklärte Terminologie 
ist keine wissenschaftliche Feststellung, sondern dient dem praktischen 
Bedürfnis, wie die Bezeichnung Spiritus auch für den mit Wasser ver¬ 
setzten Alkohol. Sch. polemisiert nun gegen mich, indem er meine 
eigenen Beispiele samt dem Verweis auf Zimmern als seine Wider¬ 
legung gibt und nur folgert: >R. irrt also, wenn er dies iranisch 
nennt.< Fast die ganze Polemik seines Buches — es handelt sich um 
viele Dutzende von Stellen — schiebt in der gleichen Weise, wenn 
ich iranisch sage, mir seinen Begriff »iranisch« unter und bekämpft 
dann das Resultat. Sch. fühlt sich als Vertreter der reinen Wissen¬ 
schaft; unter iranisch will er »nur die aus urarischen Ideen ent¬ 
wickelten Vorstellungen der Iranier nebst den aus ihnen hervorge¬ 
gangenen jüngeren Sekten sowie auch diejenigen Entlehnungen aus 
fremden Kulturen verstehen, welche bereits in altiranischer Zeit sich 
der iranischen Geisteswelt völlig angeglichen haben, sodaß sie nicht 
mehr als Fremdkörper empfunden werden.« Ich beneide ihn um den 
Optimismus, wenn er meint, eine derart gewissermaßen neunzig- 
prozentig iranische Religion hersteilen zu können; von mir sehr verehrte 
Forscher wie Zimmern, Andreas, Cumont u. a. werden ihn nicht teilen. 
Was vor Zarathustra, was neben ihm, ja nach ihm durch die wohl 
fast tausendjährige Entwicklung bis zu Mani auch nur bei dem einen 
der vielen iranischen Stämme möglich war, gestehe ich nicht be¬ 
stimmen zu können. So läuft jene theoretisch kaum anfechtbare De¬ 
finition in der Praxis meist auf den viel verwendeten Satz heraus: 
»Iranisch ist, was im Avesta steht«, und dieser schon an sich nicht 
ganz einwandsfreie Satz empfängt dann trotz der von Geldner nach¬ 
gewiesenen Trümmerhaftigkeit des Avesta den Sinn: »Was nicht im 
Avesta steht, ist nicht iranisch«, ja bei Sch. manchmal: »Was nur 
einmal oder selten im Avesta steht, wenn auch in dem anerkannt 
ältesten Teil, ist ‘nicht iranisch’.« Das scheint mir noch gewagter, 
zumal Sch. bei dem Begriff Jüdisch ganz anders verfährt und oft mit 
einer, wenn auch noch so späten Stelle zufrieden ist, um eine Vor¬ 
stellung für das Judentum zu reklamieren 1 ), ferner neben Iranisch 
und Babylonisch als gleichberechtigt Begriffe wie Mandäisch oder 



1) Wenn im mandäischen Schrifttum der eigentliche Ausdruck für Gott nur 
für die bekämpften Heidengötter verwendet, der eigene Gott aber als »die Leben« 
oder »das große Leben« bezeichnet wird, so erklärt Sch. S. 24 A. 5 das: »der 
mandäische Ausdruck Leben für Gott kommt aus dem Judentum, vgl. Aböt di 
R. Nätän 34: ‘Zehn tragen die Bezeichnung Leben: Gott, Torä, Israel, der 
Fromme, das Paradies, das Land Israel, Jerusalem, die werktätige Nächstenliebe, 
der Weise, das Wasser’.« 


Go gle 
















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Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 1—3 


Essäisch stellt (wiewohl er z. B. den Mandäismus beweislos erst nach 
der Zerstörung Jerusalems entstanden sein läßt), dafür aber alles, 
was sich nicht mit einer derartigen Etikette versehen läßt, vollkommen 
ignoriert. Das führt äußerlich zu dem Anschein einer exakten Ana¬ 
lyse *), innerlich zu beständigen Widersprüchen und heilloser Verwirrung. 
Was für die Wissenschaft förderlich ist, beurteile ich nach der Auf¬ 
gabe. Wollte ich eine Geschichte der griechischen Religion schreiben, 
müßte ich fragen, ob Apollo und Dionysos, Athene und Hephaistos 
»griechische« d. h. urgriechische Götter sind, will ich den Einfluß der 
griechischen Religion auf - die römische schildern, halte ich diese Frage 
für nicht nötig 2 ). Da ist Griechisch für mich etwas anderes. Sch. 
behauptet S. 1, ich erklärte die manichäische R e 1 i g i o n für iranisch, 
weil sie im persischen Reich entstanden sei. Ich habe ausdrücklich 
erklärt, nur die manichäische Erlösungslehre zu betrachten; daß 
sie iranisch sei, gibt Sch. im Schluß selbst zu und behauptet nur, sie 
sei durch andere Vermittlung zu Mani gekommen; er bezeichnet sie 
daher in der Regel nicht als iranisch. Die anderen Teile dieser Reli¬ 
gion berücksichtigt er nicht. 

Er geht davon aus, daß Mani 3 ), der aus altpersischem Geschlecht 
stammt, in Babylonien geboren sei und persisch und aramäisch seine 
Lehren geschrieben habe. Dabei ist ihm von entscheidender Bedeutung, 
daß ein Lied über Zarathustra ursprünglich aramäisch verfaßt sei 4 ); 
es ist also nicht »iranisch«. Aber Mani selbst hat doch nicht in 
seinen aramäischen Schriften babylonische und in den persischen 
Schriften iranische Religion gelehrt, und gerade das Zarathustralied 
rechnet diesen zu den uranfänglichen Vätern, spricht also zu persisch 
empfindenden Hörern. Die Sprache besagt hier gar nichts. Nun gilt 
es für Sch. — neuerdings auch für R. Eisler — als ausgemacht, daß 
die Angabe des Fihrist, Manis Vater und Mani selbst nach seiner 
eigenen Angabe bis nach seinem zwölften Jahre habe einer Täufersekte 
angehört, sich auf die Mandäer beziehe, die ursprünglich in der Nähe 
des Jordan wohnten, seit einer für uns unbestimmbaren Zeit aber am 
unteren Euphrat nachweisbar sind. Daß die Angaben, die der Fihrist 
dabei über die Mugtasila, wie er die Sekte nennt, macht, dazu gar 
nicht stimmen (sexuelle Askese, Götzen Verehrung), daß er vielmehr 

1) Etwa wie die chemische Analyse eines Mineralbrunnens. 

2) Wenn ich dann gar nach der Heimat jener nicht urgriechischen Götter 
von thrakischeD, altkretischen und sonstigen Elementen der römischen Religion 
reden wollte, würde ich das nur für schädlich halten. 

3) Sch. faßt die Bezeichnung der Hymnen Mari Mani als zwei Namen (S. 2). 

4) Das ist möglich, wenn auch der Beweis sehr viel schwächer als der für 
ein anderes Lied von Lidzbarski gegebene ist und Sch. bezüglich des Metrums 
seinen Gewährsmann arg mißverstanden hat. 


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Scheftelowitz, Die Entstehung der manichäischen Religion 41 

die Harraniter mit dem Namen bezeichnet und daß Flügel sich gegen 
die Identifikation mit den Mandäern ausspricht, kümmert Sch. nicht. 
Weil nach Brandt ich erwiesen habe, daß die mandäische Erlösungs¬ 
lehre von der iranischen abhängig ist, und weil Mani, wie ich er¬ 
wiesen habe, in der seinigen in vielem — durchaus nicht in allem — 
mit der mandäischen übereinstimmt, muß Mani das Iranische von den 
Mandäern übernommen haben, also Mandäer gewesen sein. Nun be¬ 
kämpfen aber die Mandäer trotz aller Abhängigkeit in der Erlösungs¬ 
lehre den persischen Glauben sogar heftig. Das Wasser 1 ), nicht das 
Feuer ist ihnen das göttliche Element; Sonne und Mond sind teuf¬ 
lische Gewalten. Mani dagegen übernimmt nicht nur die Erlösungs¬ 
lehre, sondern einfach den ganzen Götterhimmel des Avesta, und dies 
war der Grund, daß H. Lüders, den Sch. überhaupt nicht erwähnt, 
schon in der Internationalen Wochenschrift 1911 Sp. 1456 ff. und 
später in den Sitzungsberichten der Berliner Akademie 1914 S. 95 
nachdrücklich für den iranischen Grundcharakter seiner Religion ein¬ 
getreten ist *). Sonne und Mond sind ihm die göttlichen Gesandten und 
Mittler, er verehrt Zarathustra als seinen gottgesendeten Vorgänger 
und will dessen Lehre in ihrer ursprünglichen Reinheit wiederherstellen, 
endlich er wird nach einem schönen Funde Lidzbarskis auf den frühsten 
Münzen als der Eingesetzte (Stellvertreter) des Gottes Mithra 3 ), also 
des von ihm besonders gefeierten »dritten Gesandten« bezeichnet. 
Nun weiß Sch. freilich, Mani habe die iranischen Götternamen nur 
angenommen, um seine Lehre den Persern annehmbar zu machen, 
und möchte Unterschiede in der Auffassung der Götter und der Re¬ 
ligion finden. Aber diese Unterschiede, soweit sie wirklich vorhanden 
sind, könnten sich ja auch schon innerhalb der persischen Religion 
entwickelt haben, zumal wir ihre Spuren in anderen persischen Sekten¬ 
bildungen wiederfinden, und wenn ein Mann von persischer Abkunft 
der persischen Religion die Götternamen und die Verehrung des Zara¬ 
thustra entnommen hat, könnte er ihr vielleicht auch das »Iranische« 
entnommen haben. 

1) Da es durch den Jordan repräsentiert wird, muß diese Gegensatzbildung 
schon in der ursprünglichen Heimat vollzogen sein. 

2) »Wenigstens die unmittelbare Grundlage des Manichäismus ist der Zoroa- 
strismus.« Dasselbe habe ich, ohne L.s Aufsatz zu kennen, für die Seclenlehre 

behauptet. 

3) Zeitschr. f. Numismatik XXXUI 1921 S. 83 ff. Seltsam, daß es gerade 
in der Euphratniederung, also an dem Punkte geschieht, wo wir später die Man¬ 
däer erwarten. Waren sie damals noch nicht da? Oder haben sie sich zuerst zu 
Mani bekehrt und sind später von ihm wieder abgefallen, ohne daß ihre reiche 
Literatur davon eine Spur bewahrt hätte? Oder sind jene Mugtasila, denen Mani 
als Kind angehört hat, von den Mandäern ganz verschieden? 


















Gott. gel. Anz. 1923. Nr. 1—3 

Noch zweifelhafter ist mir die zweite Quelle des »Iranischen« 
bei Mani, das Christentum 1 ). Was Sch. hier als »iranisch« faßt, ge¬ 
hört doch, wie er weiß, zu seinem Urbestand, und da das Judentum 
von aller wesentlichen iranischen Einwirkung frei sein soll, dürfte man 
vielleicht fragen, wie es hierher kam. Ist doch 'gerade dies das 
Problem der ganzen Untersuchung. Für Sch. besteht es nicht, und 
auch gegenüber der ersten Mittelquelle ändert er plötzlich den Stand¬ 
punkt. Die Mandäer haben in ihrer Frühzeit ihre Seelenlehre (also 
den Erlösungsgedanken) von den vielumstrittenen Essäern empfangen 
— Josephos, der in seinem Erstlingswerk die drei jüdischen Religions¬ 
richtungen ins Philosophische umsetzt und idealisiert, wird als in 
jedem Einzelausdruck maßgebende Quelle anerkannt — und was 
essäisch ist, ist echt jüdisch 2 ). Das Iranische ist wie durch Zauber 
entschwunden, um am Schluß freilich dann fröhliche Urständ zu feiern. 
Eine unendliche Fülle mit apodiktischer Sicherheit gebotener Quellen¬ 
gaben, die sich beständig widersprechen, nicht aber eine auf irgend¬ 
welcher Anschauung beruhende Konstruktion, nirgends ein Erfassen 
eines Zusammenhanges! 

Aber ist das (von den W idersprüchen abgesehen) nicht grade ein 
erstrebter Vorzug des Buches? Immer wieder empfinden wir andern 
ja schmerzlich, daß jede solche Konstruktion auf einer Art »Vor¬ 
vermutung« beruht, die uns leicht den Blick für andere Möglichkeiten 
trübt. Kommt nicht da jene isolierende Betrachtung trotz aller Schön¬ 
heitsfehler dem Ideal der voraussetzungslosen Wissenschaft schließlich 

1) Wohl hat Mani für die Mission unter den Christen selbst ein Evangelium 
aus den Synoptikern zusammengestellt; Betrachtungen über dasselbe linden sich 
(z. B. Müller II11). Darf man sie einfach als Einwirkungen des Christentums 
auf ihn buchen und, was von Jesus darin gesagt wird, auf Mani übertragen, ihn 
zum Menschensohn oder leidenden Messias (S. 35) machen u. dgl. ? Dann würde 
aus einem noch unveröffentlichten Text über die Kreuzigung wohl auch folgen, daß 
Mani eine solche für sich erwartete. Gerade in diesen scharf sich von dem Haupt¬ 
teil ablösenden Schichten (Lüders S. 96) finde ich nichts Iranisches. Wenn dagegen 
Jesus-Ziwa und die Lichtjungfrau um des ersten Menschenpaares willen zur Welt herab¬ 
steigen, sehe ich wohl den Namen Jesus als eine Konzession an das Christentum, 
nicht aber die Vorstellung als christlich und als Quelle für Mani an (Sch. S. 37). 
Freilich für Sch. (S. 8) genügt ja die Erwähnung von sieben Planeten, um den 
babylonischen Einfluß auf Mani sicher zu stellen, und daß »der Glaube an die 
Astrologie, deren Ursprungsland Babylonien ist, bei den Manichäern feststand«, 
folgt aus einer einzigen Stelle (Müller II 79), in der von dem »Leiter der mazda- 
yasnischen Religion, dem neuen Lehrer (?) Chorasans« (vielleicht also von Mani) 
gesagt wird: »geboren bist du unter einem leuchtenden Gestirn im Geschlechte 
der Herrscher.« Wie viel bedeutet das, besonders in jener Zeit? 

2) Daneben muß (S. 19) auch das Judenchristentum auf die Mandäer wirken. 
Den Haß der Mandäer gegen beide zu erwähnen meidet Sch. sorglich (vgl. S. 21 
das Zitat aus Lidzbarskis Johannesbuch S. XVIII mit dem Text Lidzbarskis). 


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Scheftelowitz, Die Entstehung der manichäischen Religion 43 

näher, da schon jede Herstellung eines Zusammenhanges auf einer Art 
»Vorvermutung« beruht? Ich möchte antworten, daß sie, wenn sie 
bloß katalogisiert, wertlos bleibt, wenn sie analysieren will, noch mehr 
von der »Vorvermutung« abhängig ist, weil sie sich freiwillig der 
wichtigsten Kriterien entäußert hat. Ein Beispiel: Daß Gott in einer 
Religion als stark oder als weise gepriesen oder ihm Kraft und Weis¬ 
heit zugeschrieben wird, würde ich nie zur Bestimmung ihres Ur¬ 
sprungs benutzen; wohl aber habe ich das eigentümliche Bild Prov. 9,1, 
daß »die Weisheit« sich ihr Haus auf sieben Pfeilern erbaut, und die 
hieraus entwickelte Vorstellung von den sieben Säulen der ewigen 
Stadt Jerusalem auf einen bestimmten nichtjüdischen Ursprung zurück¬ 
zuführen versucht. Sch. (S. 5 A. 4) wendet zunächst ein, auch im 
jüdischen Altertum habe es Häuser mit Säulen gegeben, geht dann 
zur Zahl Sieben über und führt an, sieben Räumlichkeiten habe der 
altindische Palast, sieben Mauern Ekbatana, mit sieben Kleinodien sei 
ein andrer Bau verziert, sieben Farben habe einmal ein Vorhang, sieben 
Säulen gebe es nach mandäischer Vorstellung in Jerusalem, von denen 
alle Verkehrtheit und Lüge ausgegangen sei. Bei den Manichäern 
ruhe die Erde auf sieben Säulen. »Diese Vorstellung stammt aus dem 
Judentum: Die Erde, unter der die endlosen Wasser sind, ruht auf 
zwölf Säulen, jedoch nach der Ansicht einiger Gelehrter auf sieben 
Säulen, weil es Prov. 9,1 von der Weisheit, mittels der Gott die Welt 
erschaffen (Tanhumä Beres. § 15), heißt, daß sie ihr Haus (d. h. die 
Welt) erbaut und ihre sieben Säulen ausgehauen hat (Hagigä 12b).< 
Das scheint mir ein Zirkelschluß. Aber weiter! Prov. c. 9 ist poetisch 
gehalten; die Weisheit ist eine Hypostase Gottes, wie Hiob 28,12 
(in einem echten Weisheitsliede) und Jer. 10,12 (wo Gott mit seiner 
Kraft und Weisheit die Welt geschaffen hat). Das sei also echt 
jüdisch. Kurz danach (S. 22) lese ich: »Die manichäischen Gottes- 
namen ‘Kraft’ und ‘Weisheit’ kommen auch im Christentum vor.... 
Gemäß I. Kor. 2,5. 7 soll der Glaube beruhen auf ‘Gottes Kraft’ und 
auf der ‘heimlichen, verborgenen Weisheit Gottes’, vgl. auch Hirt 
des Herrnas 13,4 »Siehe der Gott der Kräfte, der mit seiner unsicht¬ 
baren Kraft und mit seiner großen Weisheit die Welt geschaffen.« 
Ich setze den griechischen Wortlaut her: Paulus sagt: xai 6 XÖ70? 
p.oo ... ot>x sv jrsiffoi ao^ia? Xö^ot?, aXX’ h azooslisi jrvs6|iaxo? xal 
SovajJL£«i>c, iva T) 21(0x1? öfiwv p.Tj tq sv ao'fioi. avffpmjrmv, aXX’ sv Su¬ 
va p. st ffeoö 1 ), die Worte des Hermas lauten: ISoö 6 ff so? x<J>v Suva- 
|tsa)V 6 aopAxcp 8ovap.st xai xpaxatqj. xai fjj p.sYdX^ aov£asi aotoö 
xxioa? töv xöop.ov xai rjj Iv8ö$<p ßouX-fl rcspiffsi? rijv eoJtp£;t£iav rjj xxiast 

1) Auch v. 7, wo die Otoö aocpta erscheint, ist sie, wie v. 8 zeigt, rein säch¬ 
lich gemeint, nicht einmal als Hypostase. Was hat Sch. für einen Text gelesen? 






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Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 1—3 






aütoö, xai i<p io/uptp pijp.au ir>j£ac töv oopavöv xai ds[j.eXtwaa? rfjv y^v 
sjti üSätcuv, xai rj) 1 tSta ao<pi'a xai jrpovotct xtisa? rrjv aviav ixxXr;aiav 
aotoö. Das beweist den Gottesnamen Weisheit im Christentum 


allerdings schlagend. Ich füge einen weiteren Beleg für diese Inter 


pretationskunst beiläufig hinzu. Ich hatte den Prozeß des Paulus 
(Apostelgesch. 22—26) als Beweis dafür angeführt, wie wenig noch 
damals der Auferstehungsglaube im Judentum durchgedrungen sei. 
Sch. antwortet, grade diese Stelle beweise, daß im offiziellen Juden¬ 
tum jener Zeit der Auferstehungsglaube als ein Dogma angesehen 
wurde. »Denn Paulus, dem die Leugnung dieser Lehre von seiten 
des jüdischen Gerichts vorgeworfen wurde, beteuert, daß er an die 
Auferstehung glaube, wie sie das jüdische Gesetz lehre.« Er beruft 
sich dafür auf 26,6 ff. und hat den griechischen Text rcepl ifc IXiuSo? 
eY*aXoöp.ai ojtö ’looSaimv, ßaaiXeö. u aiuotov xpivstat irap’ 6p.iv, si 6 
ds6<; vcxpooc nach seiner Sprachkenntnis gedeutet, natürlich 

ohne von dem Zusammenhang und den Ereignissen eine Ahnung zu 
haben: die Juden klagen Paulus an, die Auferstehung (Jesu?) ge¬ 
leugnet zu haben. 

Dies Verfahren überträgt er nun auf die orientalischen Texte. 
Er behauptet (S. 52) »nach dem Manichäismus ist die geistige Seele 
( giyän ) aus folgenden fünf himmlischen Elementen gebildet, Aether, 
Wind, Licht, Wasser, Feuer« und beruft sich dafür auf Müller 1199 und 
Flügel, Mani 87, daneben auf meine Mitteilungen aus dem unveröffent¬ 
lichten Fragment T. II D 178; aber bei Müller finde ich nur eine Auf¬ 
zählung jener fünf Elemente (ebenso 1198), bei Flügel die Angabe, 
daß der Urmensch sich mit ihnen bewaffnete, um gegen den Urteufel 
zu streiten, bei mir nur eine Erwähnung der »Kräfte«, wie man denn 
überhaupt beim Nachschlagen seiner Zitate in der Regel das nicht, 
oft aber das Gegenteil von dem findet, was man nach seinen Worten 
erwarten mußte. Uebersehen ist, daß giyän nach Andreas’ schöner 
Darlegung (in meiner »Psyche« S. 5 A. 4) gar nicht die geistige, son¬ 
dern nur die physische Seele bedeuten könnte, mein Zusatz über die 
Acta Archelai 10 ist nicht gelesen. Dieser »manichäischen« Seelen¬ 
teilung stellt Sch. nun die »iranische« gegenüber (Yasn. 26,4), nach 
der die Seele in Lebenskraft, Ich, Vernunft, Seele und fravaSi zer¬ 
falle. Nun hoffe ich in den Nachrichten der Gesellsch. der Wissen¬ 
schaften 1922 S. 249 ff. aus dem Zusammenhang der Avestastelle gezeigt 
zu haben, daß grade diese Stelle Manis volle Abhängigkeit vom alt¬ 
iranischen Glauben zeigt und für das Urteil über den Ursprung der 
Gnosis entscheidende Bedeutung hat, und gehe darauf hier nicht mehr 
ein. Aber mußte nicht schon der Widerspruch in der angeblichen 
Definition der Seele Sch. veranlassen, den Zusammenhang im Avesta 






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«I 




Scheftelowitz, Die Entstehung der manichäischen Religion 


45 




anzusehen und zu erklären? Von einer Definition der Seele kann 
nämlich dort überhaupt nicht die Rede sein: Ahura Mazda, die AmeSa- 
Spentas und eine dritte Gottheit wird aufgezählt, die in der gleichen 
Reihenfolge und einer ähnlichen Fünfteilung bei Mani angeführt wird. 
Aber weiter: die dortgenannte fravasi (den schützenden Ahnengeist) 
will Sch., gegen Andreas polemisierend, in dem nicht ganz seltenen 
Wort monuhmcd (nach ihm müttvahmed) wiederfinden und deutet das 
Wort »verehrungswürdiger Geist<. Auf das Sprachliche gehe ich be¬ 
greiflicherweise nicht ein; seine Behauptung, die große montihmed in 
M. 583 entspreche dem obersten Gott der Mandäer, ist natürlich bei 
ihrer bescheidenen Stellung am Schluß der Theogonie von M. 583 
vollkommen gegenstandslos, die ganze Hypothese aber wird durch die 
Stelle der Uebersetzung des Hirten des Hermas genügend widerlegt, 
die er in einer späteren Anmerkung beiläufig nachträgt, während 
Prof. Andreas und ich sie immer als Ausgangspunkt bezeichnet haben. 
Das Wort 8b}>ox ot wird dort übersetzt »die in zwei tnonuhmeS stehen.« 
Die Zweifler stehen nicht in zwei fravasi oder zwei verehrungswürdigen 
Geistern. Das Wort muß eine neutrale Bedeutung wenigstens annehmen 
können, die a ^ s Denken, Gesinnung. 

Damit hat Sch. nun die fravasi für den Manichäismus, und da 
dieser aus dem Mandäismus stammen soll, auch für den Mandäismus 
entdeckt. Anhaltslos, ja, wie mir scheint, gegen allen Sinn wird sie 
hier im Mänä und in dem »Abbild«, dort im grev wiedergefunden 1 ). 
Und noch mehr, aus dem ihm im Wortlaut ganz unbekannten Frag¬ 
ment T. II D 178 erschließt Sch. nun (S. 73) durch weitere Kombi¬ 
nationen, in dem Zarathustraliede sei »der wahrhaftige Zarahust« — 
die fravasi. Und dabei versichert er doch, der Name Zarahust sei das 
einzige Iranische in ihm; Zarahu§t werde als rein manichäische Wesen¬ 
heit charakterisiert. Er beruft sich dabei auf seinen Nachweis, daß 
auch Mani Zarahust genannt worden sei (S. 46). In dem Fragment 
M. 16 (Müller II93.94) gibt nämlich Mani oder ein führender Manichäer 
Vorschriften über heilige Tage und Fasttage und zitiert zweimal darin 
Schriften eines Vorgängers, das zweite Mal mit den Worten »und in 
einem andern Buch der Zarathustrier schreibt er so.« Hieraus macht 
Sch. »das manichäische Ritualwerk, das auch die Fasttage angibt, 
heißt Zardüstagän nibeg »das Buch der Zarathustrier«, sodaß Mani 

1) Prof. Andreas übersetzt das Wort jetzt nicht mehr als Geist, sondern 
mit Chavannes als »Selbst*; M. 5 (bei mir Psyche S. 5, bei Sch. 55), ist einfach 
zu übersetzen »für Lebenshauch und Seele«: giyän monuhmeS). Da in den mani¬ 
chäischen Liedern so oft vom gefesselten grev die Rede ist und der mandäische 
Mänä in jedem Liede des zweiten Buches des linken Genzä aus dem schweren 
Schlummer in der Materie erwacht, muß ich annehmen, daß Sch. eine mir un¬ 
bekannte /rai'tm-Lehre kennt oder die beiden Religionen nicht kennt. 






















demnach dem Zarathustra gleichgestellt (lies: gleichgesetzt) worden 
ist.« Ich fürchte, kein Manichäer hätte bei gesunden Sinnen eine 
Schrift seines Meisters so zitieren können, erkenne hier eine Neben¬ 
einanderstellung zweier streitenden Sekten, Zarathustrier und Mani¬ 
chäer, die das gradezu ausschließt, und finde bei dem Manichäer die¬ 
selbe Berufung auf Zarathustra wie in dem Eingang des Zarathustra¬ 
liedes. Aber das mag an meiner mangelhaften Interpretationskunst 
liegen. Wir hören weiter: Zarathustra heißt auch Srö§ (der Götter¬ 
bote). Sch. faßt nämlich alle Worte, die Prof. Andreas in dem Zara¬ 
thustraliede des Metrums halber als Glosseme beseitigt hatte, als echt 
und verwendet dabei doch' das von Andreas hergestellte Metrum zum 
Beweis, daß das Lied ursprünglich aramäisch verfaßt, also nicht iranisch 
sei. Selbstverständlich muß nun auch Mani den Namen dieses Gottes 
führen; auch dafür gibt es einen Beweis, Müller 1175. Prof. Müller 
übersetzt dort >[Ihr] Thronhalter, [ihr] zwei Leuchten, starker, mächtiger 
Srös-haray Erlöser der Seelen Mani Herr.< Daß er an zwei Götter 
denkt, ist klar und ist, wie Prof. Andreas mir bestätigt, einzig mög¬ 
lich. Prof. Müller setzt in der Uebersetzung Wort unter Wort und 
schreibt für Leser, die wissen, daß man zwischen zwei neben einander 
gestellten Begriffen >und< ergänzen kann. Schlimmer scheint mir, daß 
Sch. auch abgerissene Bruchstücke kleinsten Umfangs oder Worte, die 
Prof. Müller oder v. Le Coq ausdrücklich als ganz unsicher bezeichnet 
haben, ohne dies anzugeben, als Beweise benutzt, und ein herbes 
Wort fordert es heraus, wenn er S. 63 (später benutzt 74 A. 2) für 
Prof. Müllers Uebersetzung (1120) >und zum Wesen des Gottes 
Ormuzd des göttlichen wird er werden« auf Grund eigener Theorien 
stillschweigend einsetzt: >die erlöste Seele 1 ) wird als ‘Nach¬ 
komme des Gottes Ormuzd’ (cihr i Ormisd be) zum Paradies ein- 
gehen (Müller, Handschr. II20).< Nach Prof. Andreas ist diese Deutung 
sprachlich unmöglich. Nicht genug, daß wir jedes Zitat erst nach¬ 
schlagen müssen, ob es wirklich das enthält, was behauptet wird, die 
Bezeichnungen christlich, jüdisch, gnostisch, mandäisch, persisch sind 
mit derartiger Willkür gewählt, daß die ganze »Analyse« nach meinem 
Empfinden wissenschaftlich vollkommen wertlos ist. 

Mir scheint, selbst bei etwas sorgfältigerer Durchführung würde 
Sch. doch gerade durch seine Definition von Iranisch an jedem festen 
Resultat verhindert. Bliebe doch immer die Frage unerledigt, wie 
sich die religiösen Vorstellungen im Persertum selbst bis zu Manis 
Zeit ausgestaltet haben, und sie durfte von dem, der die Entstehung der 
manichäischen Religion zu erklären verheißt, nicht völlig ignoriert 

1) Soweit ich sehe, handelt es sich nicht um die Einzelseele, sondern um 
die Gesamtseele oder ihren Vertreter; zur Anschauung vgl. Yast 22. 






Scheftelowitz, Die Entstehung der manichäischen Religion 


47 




werden. Ein paar Beispiele! Während wir bisher wohl alle — am 
weitgehendsten Brandt — die >Lichttheologie« nach Persien verlegt 
und angenommen haben, daß sie im Judentum relativ jung sei, über¬ 
rascht uns Sch. durch die Beobachtung, daß sie von diesem ausgeht, 
da Licht im Zarathustrismus niemals in der abstrakten Bedeutung 
»Gott« oder »Heiland« vorkomme. Schon da würde also Porphyrios, 
der ja die Lehren der Magier gut kennt, mit seiner Angabe, daß 
Pythagoras von den Magiern gehört habe, das Licht sei der Leib, die 
Wahrheit aber die Seele des Orrauzd (Vit. Pyth. 41; die Stelle ver¬ 
diente Besprechung bei Clemen, Die griechischen und lateinischen Nach¬ 
richten über die persische Religion) eine gewisse Wichtigkeit haben; 
ähnlich scheidet ja Mani (Flügel S. 86) geistige und gewissermaßen 
leibliche Glieder des Gottes und bezeichnet ihn selbst als das Licht. 
Wenn ferner im Avesta selbst der Zarvan Akarana, die unendliche 
Zeit, beträchtlich häufiger als »die Zeit der langen Herrschaft« vor¬ 
kommt, der Schüler des Aristoteles, Eudemos von Rhodos ersteren 
Gottesbegriff ausdrücklich bezeugt, die jüngere persische Theologie 
spitzfindig rechtfertigt, wie die unendliche Zeit doch von Ormuzd ge¬ 
schaffen sei, während eine ihrer Schriften (Minokhiret) den Zarvan 
vor Ormuzd setzt und hierin mit den später als Sektierer geltenden 
Zarvanisten übereinstimmt, so werde ich unsicher, mit welchem Recht 
Sch. dem Zarathustra den Begriff der unendlichen Zeit abspricht J ) und 
die Stelle der ältesten Gathas, die mit den uranfänglichen Zwillingen 
Ormuzd und Ahriman auf die zarvanistische Lehre hinweist, ignoriert, 
wiewohl ich sie angeführt hatte. Ebenso unklar ist mir, warum er 
Mani, der diese Lehre von den Zwillingen als die größte Ketzerei 
betrachtete, allein vom Zarvanismus ausgehen läßt, indem er die Frag¬ 
mente, die nur von einem Lichtkönig reden, stillschweigend alle für 
Zarvan in Anspruch nimmt. Ich glaube gern, daß Mani die allgemeine 
Bezeichnung verwendet, um den beiden streitenden Sekten den An¬ 
schluß an seine Lehre möglich zu machen, und so gefährlich es ist, 
jetzt, wo noch so wenige von den Fragmenten bekannt sind, schon 
etwas festzustellen, möchte ich doch darauf hinweisen, daß Zarvan am 
Anfang der Götterreihe und ganz in der Rolle des Ormuzd uns aus¬ 
schließlich oder doch besonders oft in den soghdischen, türkischen und 
chinesischen Bruchstücken begegnet. Das legt die Vermutung nahe, 
daß es sich hier um alte Gegensätze zwischen einzelnen Stämmen 
handelt, die im Zarathustrismus wie im Manichäismus weiter wirken. 
Die Anfänge des Zarvanismus ins erste Jahrhundert nach Christus zu 



1) Der Vortrag Prof. Junkers in der Warburgbibliotkek (Vorträge der B.W. 
1921. 22 Leipzig 1923) wird ihn inzwischen belehrt haben, daß mit der einen 
Stelle, auf die er sich S. 83 beruft, gar nichts erreicht ist. 


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Gott. gel. Anz. 1923. Nr. 1—3 


verlegen, lag für Sch. nicht der Schatten eines Anhalts vor. Er sieht 
(S. 83) darin »Einwirkung der jüdischen Definition des höchsten Gottes¬ 
namens Jehova als ‘er war, er ist und er wird sein’ (vgl. Semöt Rabbä 
P. 3)< und wird durch die Bezeichnung Gottes als Unendlichkeit in 
der Kabbaläh darin bestätigt. Da ist also Jüdisches schon im Avesta 
erwiesen und Eudem ist eben ein Pseudo-Eudem. Da nun jene Prädi¬ 
kation Gottes oder des Aion sich schon in Platos Timaios findet (37 D ff.), 
werden wir wohl nach altem Muster auch Plato vom Judentum be¬ 
einflußt sein lassen, und nicht ihn allein; die jüngere hellenistische 
Philosophie und die späten Orakel und Inschriften nehmen diese 
Prädikation ja auf (Weinreich, Archiv f. Religionswissensch. XIX 177 f.). 
Die von Sch. überall befolgte Methode zeigt hier wohl am deutlichsten 
ihre Schwäche. Daß die im Zauber so oft bezeugte hellenistische An¬ 
gleichung des Judengottes an den Altbv und Kronos Anlaß gewesen 
ist, die Aionprädikation auf ihn zu übertragen, führe ich nicht noch 
einmal aus. Wie leicht Sch. hier mit den Zeugnissen des Avesta und 
des ältesten griechischen Religionshistorikers fertig wird und wie Cu- 
monts bekannte Herleitung aus Babylonien, die von mir erwiesenen 
auffälligen Uebereinstimmungen in Bild und Vorstellung mit Indien 
ihm nicht einmal der Erwähnung wert erscheinen, sobald eine Stelle 
der mittelalterlichen, synkretistisch-jüdischen Kabbalah in Frage kommt, 
finde ich charakteristisch. Eingehen möchte ich nur • auf ein recht 
junges Stück aus der griechisch abgefaßten heiligen Schrift einer uns 
unbekannten Religionsgemeinschaft, das ich in der Abhandlung über 
die Göttin Psyche S. 23 ff. näher besprochen habe. Es bietet einen 
Katalog der Götterschöpfungen wie Basilides und wie das soghdisch- 
manichäische Fragment M. 583. Siebenmal schafft der erste Gott 
durch sein Lachen eine jüngere Gottheit, an sechster Stelle den Zeit¬ 
gott Kpövos bezeichnet als Kcupöc') (genaue Deutung des Zarvan), der 
das Königszepter trägt; er gibt es dem ersten erschaffenen Gott, und 
dieser dafür ihm das Lichtdiadem, das hvareno : herrschen soll er über 
Vergangenheit und Zukunft 2 ). Mit ihm verbunden ist eine Götter¬ 
königin, die manichäische Mutter der Lebendigen, die auch in den 
Thomasakten Kap. 27 erscheint. An sich ist diese Theogonie nicht 
manichäisch; selbst eine Einwirkung Manis wird bestreiten, wer über¬ 
denkt, wie viel Stadien die Ueberlieferung bis zur Aufnahme in den 
Papyrus durchgemacht hat, der ins dritte oder den Anfang des vierten 
Jahrhunderts fallen soll. Und dennoch die starken Uebereinstimmungen: 
die Göttin Psyche wie in M. 583, das Aufbäumen der Materie gegen 
Gott, der Drache, die Erscheinung des Gewaffneten, endlich der Zar- 

1) So Preisendanz richtig. 

2) Ueber die Zweizeitenformel siehe Weinreich a. a. 0. 


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Scheftelowitz, Die Entstehung der manichäischen Religion 


49 


van! Den unklaren Spekulationen der späteren persischen Priester¬ 
theologie entsprechen die mythologischen Andeutungen des Papyrus: 
dieser Zeitgott und Ormuzd, beide sind Könige, beide unendlich; und 
doch ist nach jenen Zarvan geschaffen, nach diesen Ormuzd selbst 
der > Erstgeschaffene <. Man sollte denken, wer über die Ingredienzien 
des Manichäismus handeln oder den Mandäismus, dessen Gott Abatur 
hier erscheint, aus dem Essäismus oder Judenchristentura herleiten 
will, könnte diese Theogonie nicht mit Stillschweigen übergehen. Aber 
freilich > iranisch < im Sinne von Sch. ist sie nicht und kommt darum 
nicht in Frage. 

Dagegen werden griechische Elemente bei Mani festgestellt. Die 
seltsam kindliche und sinnliche Vorstellung, daß der Mond und die 
Sonne die lichte Seelensubstanz sammeln und der Mond zunimmt, 
wenn er mehr Seelen in sich aufnimmt, und abnimmt, wenn er, weil 
sein Schiff voll ist, die Seelen zum weiteren Aufstieg wieder entsendet, 
geht im letzten Grunde auf die kosmogone Vorstellung der Griechen 
zurück (S. 50). Nach Plutarch De facie in orbe lunae 28 stammt ja 
der menschliche Körper von der Erde, die Psyche vom Mond, der 
voüc von der Sonne. Das ist nun nicht dasselbe, und die Rede des 
Sulla wird bei Plutarch ausdrücklich als nichthellenische Weisheit ein¬ 
geführt; sie berührt sich mit jüngerer Philosophie, aber merkwürdig 
auch mit Gedanken und Formeln hellenisierter orientalischer Mystik 
(z. B. der Naassenerpredigt); eine Analyse wage ich nicht. Diese ganze 
Art, Religionen zu zergliedern und aus einander abzuleiten, ohne auch 
nur zu fragen, wo die ursprünglicheren Vorstellungen vorliegen, scheint 
mir müssiges Spiel. Doch Plutarch führt uns weiter. Er gibt De Is. 
. et Os. 46 nach literarischen Quellen (vgl. Cumont, Textes et Monuments 
II33, vgl. auch Clemen a. a. 0.) einen Bericht über den persischen 
Glauben, der mit einem Zitat aus Theopomp schließt: Zoroaster habe 
einen guten und einen bösen Gott, Ormuzd und Ahriman, Licht und 
Finsternis, geschieden, piaov S’ ajupoiv xöv Mtdpijv etvat, 8iö xai MiOprjv 
ot Ilepaai xöv p.sot xtjv 6vo|taCoooiv. Nach Sch. (S. 68) ist das nicht 
>zarathustrisch<; der iranische Lichtgott Mithra habe sich nie mit 
der finsteren Materie Ahrimans vermengt. Aber das könnte ja auch 
pioo? oder p.eotxrj? sprachlich nie bedeuten. Sch. hat Harnacks Werk 
über Marcion angeblättert und, da er die Angaben des Fihrist und 
Schahrastanis über die späten und mit innerasiatischen Sekten ver¬ 
schmolzenen Marcioniten mit Harnacks Darlegung der Lehre Marcions 
zu einem unentwirrbaren Mischmasch verbindet 1 ), einen Zusammen¬ 
hang mit Plutarch erschlossen, der rund zwanzig Jahre vor der Gründung 

1) Es ist hier besonders lehrreich, die Verweisungen auf Ilarnack mit dessen 
eigenem Text zu vergleichen. 

Ufitt. jrel. Am. 1(>23 Sr. 1-8 4 



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der marcionitischen Kirche gestorben sein wird. Daß Marcion allein 
aus Paulus zu erklären ist, entnimmt er dabei Harnack, also hat hier 
das Christentum die persische Religion beeinflußt; Plutarch muß das 
bezeugen. Wir folgern also aus dem Satz der Schüler Marcions, daß 
zwischen dem guten und dem bösen Gott ein nur gerechter (der 
Judengott) als mittlerer, d. h. dem Charakter nach zwischen Gut und 
Böse, steht: Plutarch hatte kleinasiatische Zarathustrier im Auge, die 
von dem Christen Marcion bestimmt nicht etwa selbst Christen wurden, 
sondern in Zarathustras Lehre etwas ganz anderes hineintrugen, ein 
neues System schufen und Mithra zu dem Prinzip der Vermischung 
des Himmlischen und der Materie machten. Auch dann wäre Plutarch 
für die Beurteilung Manis wichtig, doch gehe ich darauf nicht ein. 
Plutarchs Bericht aus dem Avesta zu erklären hat man sich bisher 
vergeblich bemüht; vergleichen wir ihn mit dem Manichäismus, ist er 
sofort klar. Er bezeugt die Bezeichnung 6 (iescn)? für Mithra und 
erklärt das Wort durch piooc (dem Raume nach und als Vermittler): 
Mithras als Sonnengott steht lokal zwischen Lichtwelt und Materie, 
vermittelt zwischen Gott und den in der Materie weilenden Seelen 
und heißt >der Gesandte« (bei Mani allerdings der dritte Gesandte) 
oder nach anderem Gebrauch der Dragoman 1 ). Die Quelle Plutarchs 
fällt zwischen 300 v. Chr. und 100 n. Chr., also sicher vor Mani. 

Als Quelle für eine Religion benutzt jeder Forscher die theo- 
phoren Namen; zu ihnen gehören im Persischen Mithrobuzanes, der 
von Mithra Erlöste und Maibuzanes, der vom Mond Erlöste. Von 
Mithras ist eben gesprochen; auch der Mondgott erscheint als Be¬ 
leber der Toten und wird deshalb von den Manichäern mit Jesus, der 
den Urmenschen zurückholt, identifiziert. Aus diesem Namen auf ein 
Mysterium in der persischen Religion zu schließen, will Sch. uns ver¬ 
bieten (S. 49 A. 2), sagt aber leider nicht, was sie nach ihm für Sinn 
haben 2 ). Aber in der iranischen Urkunde von Auroman (vgl. Journal 

1) So beißt Mani bei Müller II80, aber auch Jesus heißt in dem Evangelium, 
das Mani für seine Sendboten an die Christen znsammenstellte, offenbar kurzweg 
tarkümän (Müller 1136). Ebenso Mithras mit Jesus und Mani zusammen tarkü- 
mane der Religion (II 77). 

2) Der Hinweis auf den Namen Satrabuzanes, der von der Herrschaft Be¬ 
freite (bei Esra 6,3; 7; 26; 7,1 Sweete) genügt ihm. Den Namen hatte bereits 
1896 Prof. Andreas in Martis Grammatik der biblisch-aramäischen Sprache S. 87* 
berücksichtigt und mit leichtester Aenderung eines Buchstabens in Mithrobuzanes 
umgestaltet, und diese Konjektur, die uns Mysterien des Mithras schon in der 
Zeit des Darius belegen würde, hat bei namhaften Forschern Annahme oder An¬ 
zweiflung gefunden. Aber auch wenn die Form Satrabuzanes richtig wäre, müßten 
wir doch zunächst fragen, ob der Name wirklich als theophor gedacht ist. Zur 
Widerlegung der Deutung auf Mysterien bei den anderen Namen würde er nie¬ 
mals genügen. Ueber das Sprachliche wird Prof. Andreas selbst handeln. 


♦ 

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Scheftelowitz, Die Entstehung der manichäischen Religion 


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cf Hellcnic Studies 35,22) erscheint, wie Prof. Andreas mir zeigt, unter 
einer Anzahl von Mysteriennamen der Name Mätbö? »die Erlösung 
durch die Mutter habendi (wohl Mitte des ersten Jahrhunderts n. Chr.), 
und im Manichäismus reicht die Mutter der Lebendigen dem aus der 
Hölle aufsteigenden Ormuzd an der Grenze des Himmels die Rechte 
und erlöst ihn dadurch, wie der Ausfluß des Glanzes oder ein an¬ 
deres Gottwesen im Mandäischen die bis zu den Wasserbächen (der 
Himmelsgrenze) gelangte Seele (Iran. Erlösungsmyst. S. 8. 45,1. 69); 
im manichäischen Kult geht an die Gläubigen die Mahnung, die Rechte 
des Erlösers zu ergreifen (ebendaS. 12), wie Johannes der Täufer die 
Rechte des Mandä d’Haije ergreift und dadurch der Materie entrückt 
wird. Und haben wir denn nicht wirkliche Mysterien des Mithras, die mit der 
persischen Religion oder doch mit iranischen Kulten Zusammenhängen 
müssen, mag auch die Organisation als Geheimbund sich erst in der 
Diaspora vollzogen und mancherlei Umgestaltungen mit sich gebracht 
haben? Daß die vorletzte Weihe zum Perser macht, ist charakte¬ 
ristisch; daß der persische Gott als Stifter gilt, zeigt noch das im 
Zauber erhaltene freie Gegenbild mit den Schlußworten: xopte, izä\ tv 
Yevö{tsvoc äxoYLYvopai (entferne ich mich), ao£ö|j.evoc <iv^p7jiat> xai 
sic tsXsoiw, aitö Ysvdosws C^ofövou ysvöjjlsvos sic arcofevsotav ava- 
Xodsic itopsöop.at, ux; oi> exTiaac, ü>c ab evopLodiojoa«; xai IjcotTjaai; jiu- 
onfctov l ). Eine Weihe ferner finden wir noch jetzt im manichäischen 


1) Er ist wirklich der fieoixr,?, wie Moses Gal. 3,19 kurzweg heißt, der 
tarkümän der Religion. Müller II77.55 ist er zugleich der Erlöser. Im Eingang der 
Liturgie finden wir die von mir (Nachr. 1922 S. 249) von Herodot bis zu Mani 
herunter verfolgte vorzarathustrische Elementenreligion leicht umgestaltet wieder: 
sechs Götter, ipyjfi, (Sonne, Mond?), irveüfia, r.üp, Gotup, dazu als Ganzes 

Stupa x&eiov £p.oü xoü öetva xijs oetva Sta-E-Xcrsuivov uzo ßpa^fovos Ivripiou xai oe;täc 
■/Etpi; dqpfia'pTO’j atpiuifstip xai oiaoyet xöspiu» ev xe xat tyuxwfUvq». Die 

eigenartige Vorstellung ist von Mani übernommen, vgl. Le Coq, Türk. Man. aus 
Chotscho III S. 7: »Wegen uns hat er (nach Le Coq Zarvan, nach Andreas Mani 
als »lebendiges Selbst«; Mani ist das als der bei der Himmelfahrt geleitende Weise 
und trägt in Hymnen oft diesen Titel) die Lehre gegeben für die Majestät der 
Religion. Begriffen haben wir unsere lichte (?) Erde; verstanden und gewußt haben 
wir, daß unsere Körper und unsere Seelen Oben und Unten, im Liebt und in der 
Finsternis <geschaffen sind ?>. Er hat leuchten lassen für uns das lichte... lieb¬ 
liche Gesetz ... auf der ganzen Erde ...«. Dieselbe Vorstellung eines vollkommenen 
Selbst als Gottwesen finden wir in dem hennetischen Zaubertext, der dem Poi- 
mandres entspricht (H. Ritter, Pieatrix, ein arabisches Handbuch hellenistischer 
Magie, Vorträge der Bibliothek Warburg 1921/22, Sonderdruck S. 27). Der offen¬ 
barende Gott sagt »ich bin deine vollkommene Natur«, und in demselben Text 
begegnet die Nachr. 1922 S. 249 vom Avesta bis zu Mani herab verfolgte Fünfer¬ 
reihe der intellektuellen Kräfte, die schon um Beginn unserer Zeitrechnung aus 
der aramäischen Fassung ins Griechische übersetzt war: Weisheit, Klugheit, Auf¬ 
merksamkeit, Einsicht, Verständnis, hier freilich als x a Pisp-axa oder Stufen. Die 

4* 











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Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 1—3 






Kult nachgebildet, in zwölf heiligen Handlungen soll sie sich voll¬ 
ziehen und zwölf heilige Gewänder soll der Vorstellung nach der 
Myste bei dem Aufstieg zu Gott empfangen, wie der Isismyste bei 
Apuleius, nur daß der Manichäer das nicht mehr sinnlich darstellt; 
es soll innerlich erlebt werden (Iran. Erlösungsmyst. S. 96, vgl. 153,167). 
Den Text haben wir zum kleinen Teil wirklich, den größeren in Inhalts¬ 
angaben 1 ). Beide zeigen, daß es sich um die Erlösung (Befreiung) 
handelt. Und dies eigenartige Dokument erwähnt Sch. nicht einmal, 
wenn er über den Manichäismus und das iranische Erlösungsmysterium 
ein Buch schreibt! Er knüpft den Namen Erlösungsmysterium will¬ 
kürlich nur an das Fragment eines Zarathustraliedes, das allerdings 
zeigen soll, daß schon Zarathustra diese Erlösungsvorstellung gehabt 
hat. Weil dies Lied nach Sch. ursprünglich aramäisch gedichtet ist, 
soll es eine Fälschung der Manichäer sein (siehe oben S. 40). Nun 
steht es gewiß nicht in den uns erhaltenen Trümmern des Avesta, 
und daß es bis in Zarathustras Zeit zurückgeht, wird niemand be¬ 
weisen können oder wollen. Aber daß es im ersten Jahrhundert nach 
Christus schon bekannt ist, zeigt die Nachbildung in dem jüdischen 
oder frühchristlichen anonymen Zitat des Epheserbriefes 2 ), das in 
Folgerungen sind wichtig: die sogenannte Mithrasliturgie ist wirklich iranisch, die 
iranischen Bestandteile im Poimandres sind gegen Ed. Meyers Anzweiflungen ge¬ 
sichert (Mithrasmysterien sind in Aegypten schon um 260 v. Chr. bezeugt, aber 
natürlich viel älter). Aber irre ich nicht, so ist auch der Grundcharakter des 
Manichäismus aufgehellt, da wir nun wissen, daß die Mutter der Lebendigen als 
Erlösungsgottheit altiranischem Volksglauben angehört. Noch in Ezniks Bericht 
(Schmid, Eznik von Kolb wider die Sekten, Wien 1900 S. 91) wird ausdrücklich 
wie Prof. Andreas mir zeigte, die Mutter genannt (anders 107.109). Der Zarvanismus, 
für den auch Bousset, Hauptprobleme der Gnosis S. 44, und Nöldeke, Festgruß an 
R. v. Roth S. 35. 37, zu vergleichen sind, erweist sich als alt, Eudemos als echt. 

1) Von letzteren bemerkt Sch. S. 70 A. 2 »Ich halte die in Müller, Hand- 
schr. 53 zusammengestellten Anfangsworte von Texten für ein Inhaltsverzeichnis 
von gewissen Liturgien Manis, die sich auf die Seele beziehen.« Ich auch und 
habe diese Liturgie hergestellt und erklärt. Sch. stellt wieder mir entgegen, was 
er aus mir entnommen hat. Den Zusammenhang der Lieder ignoriert er gänzlich. 

2) Da wir auch auf den Charakter der einzelnen Schriftwerke achten müssen, 
erwähne ich eine andere iranische Parallele zu ihm aus dem Minokhiret, die ich 
dem Vortrag Prof. Junkers danke: man kann der Hölle und ihrem Gebieter 
entrinnen, wenn man den Geist der Weisheit zum Rückenschutz nimmt, den Geist 
der Zufriedenheit auf dem Leibe trägt als Waffe, Panzer und Wehr, wenn man 
den Geist der Wahrheit als Schild, den der Dankbarkeit als Keule, der voll¬ 
ständigen Geistigkeit als Bogen, der Freigebigkeit als Pfeil, des Ausgleichs als 
Speer, der Beharrlichkeit als Handschuh (?) und den Geist des Schicksals als 
Schutz nimmt. Mit Recht sucht Junker das gleiche Motiv bei Mani und erklärt 
es sogar für vorzarathustrisch. Hiernach ist Ephes. 6,13 zu beurteilen. Die 
Folgerungen, die sich für Paulus, den a-pa-uuTTjS 3eo5 und I. Thess. 6,8 ergeben, 
habe ich Nachr. 1922 S. 256 angedeutet. 


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Scheftelowitz, Die Entstehung der manichäischen Religion 


53 


alchemistischen Traktaten nachgebildete heidnische Mysterium, der 
Baruchtext der jüdisch-christlichen Gnosis. Endlich sagt in einer der 
ältesten Gathas Zarathustra, daß er dafür sorge, daß die Seele wach 
sei. Hier wendet nun Sch. ein, das Bild des Schlummers und der 
Trunkenheit der in der finsteren Materie weilenden Lichtseele sei 
mandäisch und widerspreche vollständig dem iranischen Geiste, 
gemäß dem die Erfüllung der zarathustrischen Glaubenslehren die 
Seele wach erhielte. Der Widerspruch ist erst durch seine Deutung 
entstanden. Unzählig oft findet sich grade im Mandäischen die Mah¬ 
nung auch an die auf Erden weilende Seele, nicht zu schlafen, ja wo 
das Bild von dem trunkenen Schlummer der Seele erscheint, im In¬ 
dischen, in der Hermetik, bei den Mandäern, bei den Manichäern, in 
der frühchristlichen Literatur, in der Gnosis, wird immer dabei voraus¬ 
gesetzt, daß die Seele oder das Gottwesen sich von der Materie frei¬ 
machen und wachbleiben kann; nur ist in den Erlösungsreligionen 
die Voraussetzung, daß der himmlische Bote sie vorher einmal er¬ 
weckt hat oder, wie in einzelnen mandäischen Texten, sie täglich 
wieder erweckt. Gewiß stehen Erweckung und Heimberufung durch 
den Tod in vielem einander gleich, aber daß die Seele inzwischen 
wach bleiben und sich von der Verstrickung durch die Materie frei 
halten soll, wird überall verlangt. Grade hierin zeigt sich die voll¬ 
kommene Einheit und das Alter der Vorstellung. Hier gibt uns Sch. 
das volle Gegenbild seiner S. 44 erwähnten Interpretation der Apostel¬ 
geschichte. 

Das Problem, vor das die Aufdeckung des religiösen Grund¬ 
gedankens des Manichäismus uns stellt, ist nicht: kann er noch ira¬ 
nisch genannt werden 1 )? Selbst Argumente wie »bei Mani ist der 
Körper eine Schöpfung des Teufels, im Iranischen geht auch er in 
die zukünftige Götterwelt ein; also ist der Manichäismus nicht ira- 
nisch< treffen den Kern der Sache nicht. Wichtig ist nur die Frage: 
kann der religiöse Grundgedanke sich aus dem Iranischen entwickelt 
haben, oder müssen wir eine ganz neue Quelle für ihn annehmen? 
Wie ich oft betont habe, ist die Auffassung, daß alles Weltgeschehen 
nur der Kampf des Guten und des Lichtes gegen das Böse und die 
Finsternis ist, daß der Mensch als Träger eines Lichtteiles Mitkämpfer 
und Helfer des Lichtes sein soll, und daß der Streit endlich zum Siege 

1) Es bleibt jedem Iranistin unbenommen, zu sagen: mein Fach ist groß 
genug; für mich ist iranisch nur, was im Avesta steht. Als sachlich not¬ 
wendig dürfte er diese Begrenzung allerdings meiner Ansicht nach nicht hin- 
stellcn. Wohl ist der Abstand vom Avesta selbst in der Erlösungslehre groß, 
vielleicht größer als der, welcher die Brahmanaspekulation von den Veden trennt, 
aber die gleiche Grundanschauung liegt doch noch vor; sie muß entscheiden. Eine 
lebendige Religion ist in beständigem Werden. 













54 Gött. ge). Anz. 1923. Nr. 1—3 


des Lichtes und einer Wiedervereinigung des Menschen mit Gott 
führen wird, beiden gemeinsam 1 ). Diese Kampfstimmung, die sich 
selbst in der Bezeichnung der Anhänger der Religion als die Kämpfen¬ 
den ausdrückt, finde ich in dieser Weise weder im Mandäismus 
noch im sonstigen Gnostizismus, noch weniger natürlich im Indischen 
oder Griechischen. So habe ich zunächst zu fragen: läßt sich jene 
Verdüsterung der Weltanschauung, die dabei niemand bestreitet, aus 
der Verschiedenheit des Empfindens in einem aufstrebenden und einem 
hinsiechenden Volke, aus der politischen Entwicklung, endlich aus 
hinzutretenden fremden Einflüssen erklären? Daß er das wissen¬ 
schaftliche Problem überhaupt nicht erkannt, ja es nach Kräften ver¬ 
dunkelt hat, mache ich Sch. zum Vorwurf. Freilich nicht das allein. 
Er ist ein eifriger Notizensammler, aber kein gewissenhafter und darum 
kein wissenschaftlicher Arbeiter. 

Solch herben Vorwurf darf man nicht mit ein paar aus dem Buch 
herausgebrochenen Proben begründen. Ich analysiere daher zum Schluß 
eine Druckseite. 

Unter der vielverheißenden Ueberschrift »Beurteilung der mani- 
chäischen Quellen< lesen wir S. 7: »Die aufgefundenen Texte sind 
nicht gleichwertig zu benutzen, sie enthalten teils sehr alte, teils aber 
ganz junge Schichten der manichäischen Religionsentwicklung. So 
werden bekanntlich im Sündenbekenntnis Chuastuanift vier Arten Götter 
aufgezählt, von denen der Gottvater 2 ) Zarvan dem Menschen das Siegel 
der Liebe auf drückt, der Sonnen- und Mondgott das des Glaubens, 
der fünffältige Gott das Siegel der Gottesfurcht und die Götter Burchan 
das des Wissens. Jedoch in einem anderen türkisch-manichäischen 
Texte, der sich schon dadurch als jung erweist, daß Buddha Sakya- 
muni dort als ein Heiliger aufgezählt wird, vereinigt Zarvan »der 
fürstliche Götterkönig< in sich den fünffältigen Gott: »Zarvan ist aller 
Götter des Götterhimmels älterer Bruder und ältere Schwester, die 

1) Sch. findet dafür überhaupt kein Wort; er berücksichtigt beim Vergleich 
des Manichäismus mit dem Iranischen nur die Unterschiede und setzt voraus: was 
übereinstimmt, muß aus andern Quellen stammen. 

2) Das Wort ist von Sch. interpoliert und steht nicht im Text. Aus dieser 
Angabe gewinnt Sch. sich später die Behauptung, der Manichäismus sei die Re¬ 
ligion der Liebe, die er als Menschenliebe faßt, und stehe dadurch im Gegensatz 
zum Zarathustrismus, während doch grade an den Manichäern die völlige Teil- 
nahmlosigkeit gegen alle, die nicht zu ihrer Sekte gehören, oft betont wird (z. B. 
Keßler, Mani S. 363, Augustin C. Faustum VI5; XII47; XV 7; In mores Man. 
II63. 58), also dasselbe, was Sch. den Zarathustriern so verübelt. Auch geben die 
vier Siegel sicher nicht auf Mani zurück. Daß er nur die drei bekannten Siegel 
(oris, manuum, sinus) anerkannte, die in demselben Chuastuanift erwähnt werden 
und ältester persischer Anschauung entsprechen, bezeugen alle indirekten Quellen. 
Sch. hätte das in meinem Buche S. 203 lesen können. 


Go gle 








Scheftelowitz, Die Entstehung der manichäischen Religion 55 

lautere Majestät.... Der leise Aether, der Wind, das Licht ...*), das 
Wasser ..., das Feuer, alle diese fünf Götter sind dem Gott 
Zarvan als Kleider angezogen und mit ihm vereinigt, dieser Fünf- 
lichtgötter-Körper< 2 ). — Hierbei ist das Unglück passiert, daß Sch. 
die Reste zweier ganz verschiedener Bücher und Fragmente (T. II 
K2a und T. II D171, Le Coq S. 21 und 23) als Einheit gefaßt und 
außerdem die Subskription des ersten in das von ihm hergestellte 
Konglomerat aufgenommen hat, wiewohl sie für Zeit und Ansicht des 
Urtextes nicht mehr ergibt als finito libro gratia sit Christo am Ende 
einer Vergilhandschrift. Die angebliche Erwähnung oder vielmehr 
Aufzählung des Buddha Sakyamuni als Heiliger endlich ist 
einer weit entfernt stehenden dritten Schrift (T. U Dl73a, Le Coq 
S. 11) entnommen. Ueber einem Seiten paar steht dort, wieder als 
Schreiberzusatz: »das Buch vom Kommen des Burchan Sakya Muni 
ist geschrieben worden. < Der Text schildert Buddhas Kommen in der 
Hölle; die Subskription nennt das Jahr 795. Sch. hat Le Coqs Publi¬ 
kation angeblättert, aber nicht gelesen oder auch nur die Tafeln an¬ 
gesehen und daher geglaubt, sie biete ein einheitliches Werk. Aus 
ein paar Zettelnotizen hat er vermutlich dann mit freier Phantasie 
einen Text gemacht und in der Quellengabe der Anmerkung aus Ver¬ 
sehen die Seitenzahl 11 ausgelassen 3 ). Doch nun der Widerspruch 

1) Sch. hält das Interpunktionszeichen der Handschrift für Zeichen einer , 
Lücke; die von mir kursiv gedruckten Worte geben erklärende Bemerkungen Le 
Coqs, die Sch., weil er sie nicht versteht, mit leichten Aenderungen aufnimmt 

2) Ich würde das nicht verstehen, aber es ist auch nicht überliefert, sondern 
als neuer Satzanfang »dieser fünf Lichtgötter Körper alle« (Fortsetzung zer¬ 
stört): also alle Körper dieser fünf leuchtenden Götter. Grade dies Fragment 
scheint mir sehr alt. 

3) Als anderes Beispiel, das ich nur so mir erklären kann, führe ich aus 
einer Polemik gegen mich S. 69 A. 1 an : »Insofern als Jesus der erste, Mani der 
zweite Mithra ist, trägt der endgiltige dritte Messias den Namen ‘Mithra, der 
dritte Gesandte’ (Andreas bei Reitzenstein Psyche 4)«. — Der Sachverhalt ist: 
ich habe dort aus dem soghdischen Fragment M 583 in indirekter Rede kurz den 
Inhalt angegeben. Drei Schöpfungen würden aufgezählt, in die erste gehöre der 
oberste Gott usw., in die zweite der Freund des Lichtes usw., »in die dritte 
Mithras (soghd. Mise), der hierdurch als der dritte Gesandte erwiesen wird« 
usw. Hieraus macht Sch. sein Zitat und dichtet, da er die Worte »dritte« und 
»Mithras« neben einander fand und an einen dritten Mithras dachte, hinzu, der 
erste Mithras sei Jesus, der zweite Mani gewiesen, w'as dann zu der Behauptung 
im Text führt, Mithra sei im Manichäismus eine Bezeichnung für den Heiland 
geworden (die Stellen Müllers und Le Coqs, die Sch. anführt, besagen das na¬ 
türlich nicht). Als erster und zweiter Gesandter kommen wohl der lebende Geist 
und die Mutter der Lebenden in Frage, vgl. Journ. As. 1911 S. 510. Jesus und 
Mani sind M. 583 nicht erwähnt und konnten nicht erwähnt werden. Den Wort¬ 
laut »Mithras, der dritte Gesandte« konnte niemand aus meinen Worten heraus- 


Co gle 


















zwischen den beiden Texten, den ja das Wort »jedoch« erwarten läßt. 
Soll er zwischen der Bezeichnung »Gottvater« und »Götterkönig« oder 
»aller Götter älterer Bruder« bestehen, so hat ihn erst Sch. durch Inter¬ 
polation hereingebracht. Soll er darin liegen, daß der fünffältige Gott 
(türkisch: fünf Götter) das erste Mal selbständig aufgezählt, das zweite 
Mal als Hülle des Zarvan und mit ihm vereinigt bezeichnet ist, so 
bemerke ich, daß dies ganz regelmäßig geschieht, auch wenn Ormuzd 
dem Fünfgott entgegengestellt wird; der Gott und sein Selbst oder seine 
Seele und sein Leib werden beliebig getrennt oder verbunden gedacht 
(auch im Fihrist). Das geschieht nicht einmal erst bei Mani, sondern 
schon bei den Zarathustriern, vgl. oben S. 47 das Zeugnis des Por- 
phyrios. — Wahrscheinlich im Gegensatz zu diesen Anführungen soll 
stehen, was nunmehr bei Sch. folgt: »In einem aus der Frühzeit des 
Manichäismus stammenden Texte wendet sich diese Religion gegen die 
Anbetung des Feuers: ‘Ferner auch diese, die das brennende Feuer 
anbeten, können hieraus selbst erkennen, daß ihr Ende im Feuer sein 
wird’. In den türkisch-manichäiscken Texten wird aber das Feuer als 
eine Gottheit verehrt.« Die Stelle (Müller H94) ist für Sch. später 
von entscheidender Bedeutung, denn natürlich kann dann der Mani¬ 
chäismus nicht iranisch sein. Leider aber hat Sch. übersehen, daß 
nicht nur in den türkisch-manichäischen Texten, sondern überhaupt 
in allen Arten manichäischer Texte, ja in allen arabischen, syrischen, 
griechischen, lateinischen Berichten die Manichäer das Feuer als 
göttlich verehren, ist es doch ein Gotteselement, ein Teil des Ur¬ 
menschen und selbst Gott; so hat Mani nach absolut sicheren Zeug¬ 
nissen selbst gelehrt. Ein Widerspruch oder eine Schwierigkeit ist 
aber auch überhaupt nicht vorhanden; kännte Sch. die indirekte Ueber- 
lieferung, so wüßte er, daß die Manichäer das brennende Feuer als 
teuflisch von dem nur leuchtenden und daher göttlichen trennen 
(z. B. Alexander von Lykopolis 26 vö jröp tö r.aoouxtfv) ’). Der unbe¬ 
kannte Autor bekämpfte also wohl die kultliche Darstellung des gött¬ 
lichen Feuers durch das Altarfeuer, das doch auch »brennendes«, also 
teuflisches Feuer sei 2 ), falls er nicht gar den gleich danach erwähnten 
Zarvaniten, welche Ormuzd und Ahriman als Brüder bezeichnen, vor¬ 
warf, sie verehrten nicht Gott, sondern den Teufel, den sie ja zu 

lesen. Ich schrieb freilich für Leser, die so viel von den Quellen wissen, daß 
die Bezeichnung im Lateinischen nur »der dritte Gesandte« ist und dies zu einer 
Art Göttername geworden ist. 

1) Auch die direkte Ueberlieferuug kennt die Scheidung, vgl. Müller 1153: 
Lust, Gier, brennendes Feuer. 

2) Das wäre also eine Frage des Kultus. Luther ändert den Kult der katho¬ 
lischen Kirche z. B. in der Sakramentlehre, und ist doch von ihr ausgegangen. 























Scheftelowitz, Die Entstehung der manichäischen Religion 


57 



seinem Bruder machen (man denke an den frühchristlichen Vorwurf 
gegen Sektierer: sie verehren nicht Christus, sondern Belial). Doch 
weiter! Sch. fährt fort: »Wo eine von nicht-manichäischer Seite her¬ 
rührende Angabe über den Manichäismus abweicht von den in den 
manichäischen Originalen enthaltenen Vorstellungen, ist erstere als 
zweifelhaft anzusehen. So wird die Untersuchung zeigen, daß nach 
den echt manichäischen Texten Ormizd nicht als göttlicher »Urmensch« 
hingestellt ist, wohl aber in einer von dem Syrer Theodor bar Khoni 
überlieferten manichäischen Legende. Nun weichen Theodor bar Khonis 
Angaben zuweilen von dem in den Fragmenten bezeugten Manichäismus 
ab. So gibt es nach ersterem elf Himmel (vgl. H. Pognon, Inscriptions 
Mandaites 1898/99 p. 188), während die Fragmente nur zehn nennen. 
Gemäß einem Fragment (Müller, Handschr. 1119) leitet der windhinauf- 
leitende Gott Wind (väd), Wasser und Feuer zum Lichtort; hingegen 
steigen nach Fihrist (Flügel, Mani 100) die im Körper befindlichen 
Kräfte ‘Wasser, Feuer und der sanfte Lufthauch ( fravdhar )’ in die 
Lichtwelt. Solche wichtigen Gesichtspunkte sind leider Reitzenstein 
entgangen.« — Ich bemerke zunächst, daß die Angaben, die z. B. 
Augustin aus bestimmten Lehrschriften Manis oft wörtlich macht, mir 
wichtiger sind als irgend ein beliebiges Fragment eines unbekannten 
Manichäers aus unbekannter Zeit. Sch. scheint sie überhaupt nicht 
zu kennen. Ferner, daß bei Theodor bar Khoni der befreite Gott 
grade nicht Ormuzd, sondern der Urmensch ist, ebenso im Fihrist 
und bei Augustin, daß aber in dem manichäischen Fragment Le Coq 
Türk. Man. aus Chotscho 112 ff., das Sch. an anderem Ort selbst 
benutzt, der von ChroStag und Padvahtag befreite Gott ausdrücklich 
Ormuzd genannt wird. Weiter handelt es sich bei Theodor nicht um 
eine manichäische Legende — die Tora nennen wir wohl auch nicht 
eine jüdische Legende —, sondern um die grundlegende Glaubens¬ 
schrift Manis *). Sch. hat die für alle spätere Forschung grundlegende 
Arbeit Cumonts Recherches sur le manicheisme I zwar an anderen 
Stellen angeführt, aber nicht gelesen. Die Zahl der Himmel ist bei 
Theodor in der Tat verdorben; nicht nur die Fragmente, sondern 
auch die christlichen Referate geben zehn an; aber das Schwanken 
der Handschriften Theodors, das Sch. aus Cumont hätte kennen müssen, 
zeigt, daß der Fehler der Ueberlieferung zur Last fällt. Der angeb¬ 
liche Widerspruch zwischen dem Fragment Müller II19 und der An¬ 
gabe des Fihrist S. 100 ist wohl begreiflich: dort handelt es sich um 
drei materielle Elemente, welche der Windgott in die Höhe trägt, 
hier um drei göttliche Seelensubstanzen, welche die Lichtgötter an 

1) Etwas richtiger S. 63. 64, doch zeigen dort neue Verwirrungen, daß Sch. 
von dem Sinne des Mythos überhaupt keine Vorstellung hat. 














58 


Götting. gel. Anz. 1923. Nr. 1—3 


sich ziehen. Den Wert der direkten Ueberlieferung gegenüber der in¬ 
direkten habe ich selbst nachdrücklich hervorgehoben (S. 94 A. 3); 
Regeln, wie sie Sch. im Widerspruch mit sich selbst bietet, habe ich 
freilich nicht aufgestellt und würde es auch jetzt nicht tun — die 
Beurteilung der Ueberlieferung muß sich nach der Art der ein¬ 
zelnen Quellen richten —, aber einen Verstoß gegen seine Regeln 
hat Sch. mir nicht nachgewiesen. Wenn Sch. endlich schließt, um zu 
gesicherten Ergebnissen zu gelangen, bedürfe jede einzelne mani- 
chäische Vorstellung einer besonderen Untersuchung, so habe ich 
den Eindruck, daß gerade sein Buch die Gefahren dieser Methode 
genügend gezeigt hat. Ich wünsche von Herzen, daß unserer noch 
jungen Wissenschaft derartige »Förderungen« in Zukunft erspart 
bleiben. 

Göttingen. # R. Reitzenstein. 


Primitive Gemeinschaftskaitur. Beiträge zur Volkskunde und Mytho¬ 



logie von Hans Naumann. Jena 1921, Eugen Diederichs. 195 S. 8°. 

Diese Sammlung volkskundlicher Aufsätze will literarisch oder archäo¬ 


logisch überliefertes oder im lebendigen Volksglauben erhaltenes Ge¬ 
meinschaftsgut germanischer Völker im Lichte ethnologischer Forschung 
deuten. Den jedwede volkskundliche Stoffmasse fruchtbar gliedernden 
Doppelgesichtspunkt primitiven Gemeinschaftsgutes einerseits und ge¬ 
sunkenen Kunstgutes andrerseits erläutert die Einleitung am Wesen 
des Volkslieds: mit der Trennung von Volks- und Gemeinschaftslied 
wird auch den letzten Anhängern der Hypothese eines dem Minne¬ 
sang vorausgehenden Volksliedes der Boden entzogen, wie andrerseits 
die Auffassung gesunkenen Kunstgutes als Stil-, nicht als Stoffbegriff 
die immer wieder aufgenommene Unterscheidung volkentstandener 
Lieder von volkläufig gewordenen Kunstliedern wohl endgültig über¬ 
windet. Daß der mit der Kunstpoesie des 18. Jh.’s in enger Wechsel¬ 
wirkung stehende, in seiner moralisierenden Tendenz auf die von 
Geistlichen verfaßten Relationen der fliegenden Blätter des 16. Jh.s 
rückweisende Bänkelgesang in einem eignen Aufsatz als selbständige 
Erscheinung gefaßt und so vom Volkslied abgespalten wird, ist ein 
besonderes Verdienst des Verfassers. 

Nur in dieser letztem lose angefügten Studie spielt der Begriff 
des Kunstgutes eine größere Rolle, während sonst der Problemstellung 
des Buches entsprechend von den beiden Komponenten des Volks¬ 
gutes im allgemeinen nur diejenige des primitiven Gemeinschaftsgutes 
Beachtung findet. Allerdings sind vom Standpunkte primitiver Ge- 


Go gle 














Naumann, Primitive Gemeinschaftskultur 


59 


meinschaftskultur die drei letzten Aufsätze, die in erster Fassung be¬ 
reits an anderer Stelle erschienen: >Stetit puella«, »Bauernhaus und 
Kornkammer in Litauen« und »Studien über den Bänkelgesang« we¬ 
niger belangreich. Die Studie über Primitive Gemeinschaftsdramatik, 
deren Hauptteil über das Schwertfechterspiel ebenfalls schon früher 
veröffentlicht wurde, bildet den Uebergang zu den recht eigentlich das 
Schwergewicht des Buches bildenden drei neuen Aufsätzen: »Primitiver 
Toten glaube«, »Märchenparallelen« und »Zum Schutzgeisterglauben«, 
von denen der letztere von Ida Naumann beigesteuert wurde. 

In der Studie üb§r Primitiven Totenglauben gibt der Verfasser der 
von Hans Schreuer und Gustav Neckel für den germanischen Volks¬ 
glauben selbständig postulierten Vorstellung vom lebenden Leichnam 
durch Verknüpfung mit dem Begriff des Präanimismus den weiteren 
Horizont einer frühen religionsgeschichtlichen Stufe aller Völker. Nach 
primitiver Anschauung sind Tod und Leben keine Gegensätze, son¬ 
dern aufeinanderfolgende Phasen eines Kreislaufs, den der Mensch 
von seiner ersten Geburt bis zur Reinkarnation zu durchlaufen hat. 
Zwischen seinem ersten und dem durch völlige Entfleischung herbei¬ 
geführten zweiten Tod ist der körperhafte Tote noch ganz und gar 
abhängig von seinen bisherigen irdischen Bedürfnissen und Nei¬ 
gungen, er bekommt seinen toten und lebenden Besitz, damit er in 
seinem Einsamkeitsgefühl nicht zum Wiedergänger wird, ihn selbst zu 
holen. Dabei darf der für brasilianische Stämme bezeugte Glaube, 
daß der Tod der Racheakt eines Getöteten sei (S. 51), nicht verall¬ 
gemeinert werden, denn das Gewalttätige, das der Primitive im Tode 
eines jeden Menschen sieht, wird ebenso oft auf die magische Kraft 
eines Lebenden wie eines Toten zurückgeführt. 

Der wichtige Gesichtspunkt, daß das Eigentum des Verstorbenen 
für die Ueberlebenden Tabu ist, wird S. 28 dadurch zu entkräften 
oder zu beseitigen gesucht, daß dem Toten nicht nur seine alten Ge¬ 
brauchsgegenstände, sondern auch neue »Reiseutensilien« mit auf den 
Weg gegeben werden. Mag man auch nicht zugeben, daß die Vor¬ 
stellung einer Reise ins Jenseits und der damit verbundenen sorg¬ 
fältigen Ausrüstung erst einer fortgeschrittenen Stufe religionsgeschicht¬ 
licher Entwicklung angehört, so wird doch andrerseits die Tatsache, 
daß wilde Stämme Haus und Habe des Toten verbrennen, obwohl die 
Angehörigen durch diesen Akt völlig arm und obdachlos werden, nur 
aus der strengen Unverletzbarkeit des Eigentums eines Toten erklärt 
werden können. 

Die tiefere Bedeutung der engen Zusammengehörigkeit von Be¬ 
sitz und Besitzer erschließt sich uns erst auf Grund intimerer Kenntnis 
vom Wesen primitiver Geistesart, von der sich der Verfasser leider keine 











60 


Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 1—3 


Gesamtanschauung erworben hat, bevor er zur Einzeldeutung der sich 
in Ritus oder Glauben offenbarenden religiösen Vorstellungen und 
Empfindungen überging. Denn das im Kampf gegen die bei uns vor 
allem durch Wundt und E. Rohde populär gewordene These Tylors ge¬ 
prägte Schlagwort Präanimismus enthält doch eine zu einseitige, außer¬ 
dem rein negative Charakteristik, um von der Geistesart der Primi¬ 
tiven eine irgendwie erschöpfende Vorstellung zu geben. Wenn sich 
der Verfasser diese Aufgabe auch garnicht gestellt hat, so war er 
doch verpflichtet, in notwendiger Vorarbeit seine eigene Anschauung 
zu klären 1 ). 

Formulierungen wie (S. 8): >Das primitive Denken ist in gewisser 
Hinsicht immer religiös und .wissenschaftlich’ zugleich«, zeugen 
von völliger Verkennung primitiver Geistesart, für die unmittelbar 
sinnlich wahrnehmbare Symptome und ursächliche Zusammenhänge 
nur eine untergeordnete Rolle spielen. Und ich halte es auch auf 
fortgeschrittenerer Stufe nicht für berechtigt, einen derartig gewich¬ 
tigen Fortschritt in der religiösen Entwicklung, den doch der Ani¬ 
mismus bedeutet, unter Ausschaltung religiöser Gefühlsmächte »ledig¬ 
lich als einen logischen Schluß aus einem vergeblichen Abwehr¬ 
ritus« (S. 60) zu erklären. Auch die systematische Gruppierung der 
Vorstellungen vom endgültig toten Leichnam, vom noch lebenden Ge¬ 
rippe und schließlich solcher Vorstellungen, die sich aus dem Syn¬ 
kretismus von Animismus und Präanimismus erklären sollen (S. 29 f.), 
entspricht sehr wenig der prälogischen Geistesart des Primitiven, 
für die das Gesetz des Widerspruchs keine Geltung hat. 

Aber auch »prälogisch« enthält nur eine Negation, aus der wir 
erfahren, daß die undifferenzierte Geistesart des Primitiven noch nicht 
einseitig intellektualistisch gerichtet ist. Vielmehr sind, wie uns Levy- 
Brühl gezeigt hat — und damit kommen wir zu einem positiven 
Merkmal — die Kollektivvorstellungen Primitiver ganz und gar my¬ 
stischer Art: hinter jeder natürlichen, nur scheinbaren Ursache 
steht als wahrer und wirklicher Grund eine geheimnisvolle mystische 
Kraft. Die für unsere Vorstellung verschiedensten Wesen, Dinge und 
Erscheinungen haben durch mystische Beziehungen teil an ein¬ 
ander und erlangen dadurch eine Art von Identität, soweit wir die 
unserer logischen Denkweise angepaßte Terminologie überhaupt zur 

1) Ueber das Wesen der Kollektiv Vorstellungen Primitiver gab uns reichen 
Aufschluß die von Dürckheim geleitete Soziologenschule, von deren Arbeiten 
für uns besonders das im Jahre 1910 erschienene Buch: Levy-Brühl, Les 
fonctions mentales dans les societds iuferieures in Frage kommt, das nunmehr 
durch die von Jerusalem herausgegebenc Uebersetzung »Das Denken der Natur¬ 
völker« (1921) bequem zugänglich ist. 


Go gle 





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Naumann, Primitive Gemeinschaftskultur 61 

Umschreibung primitiver Denkoperationen verwenden dürfen. Primitive 
Geistesart untersteht nach Levy-Brühls Formulierung dem Gesetz 
derPartizipation. Partizipation wird gefühlt und erlebt in mysti¬ 
scher Symbiose, und mystische Kommunion erfüllt mit höherer Ge¬ 
wißheit als es irgend eine logische Beweisformel vermöchte. »Erst 
wenn die mystischen Partizipationen nicht mehr gefühlt werden, 
lassen sie als Niederschlag Assoziationen zurück« (Levy-Brühl S. 184). 
Dadurch bleibt der in der Gefolgschaft Tylors und Frazers von der 
Volkskunde allgemein übernommenen Hypothese assoziativer Denk¬ 
form schon wegen ihrer abgeleiteten äußerlichen Art nur noch be¬ 
schränkte Geltung. 

Aus dem Gesetz der Partizipation erklärt sich nunmehr die enge 
Vereinigung des Toten mit seinem Besitz, der körperhaft zu ihm ge¬ 
hört und gleichsam ein leibhaftes, untrennbares Stück seiner selbst 
bedeutet, wie denn überhaupt der strenge, noch in späten Rechts¬ 
gewohnheiten offenbare Eigentumsbegriff des Primitiven von dieser 
Anschauung beherrscht wird. 

Der Primitive fühlt sich also nicht nur mit dem Toten sondern 
auch mit anderen Wesen, Dingen und Erscheinungen in mystischer 
Verbindung, so daß wir Naumanns Versuch, all und jede religiöse 
Erscheinung der primitiven Gemeinschaft auf Totenglauben und 
Totenkult zurückzuführen, nicht zustimmen können. Muß es doch 
schon a priori höchst bedenklich erscheinen, ein geistiges Phänomen 
von so weittragender Bedeutung auf eine einheitliche Wurzel zurück¬ 
führen zu wollen, übrigens eine volkskundliche Krankheit, gegen die 
außer R. M. Meyer u. a. auch Baesecke (Deutsche Philologie S. 82 f.) 
protestiert. Mit dem Vf. glaube auch ich, daß wir den Glauben an 
Dämonen bereits auf präanimistischer Stufe anzusetzen haben. Aber 
schon präanimistische Dämonen konnten sich aus anderen Partizi¬ 
pationen als denjenigen zum Toten entwickeln. Auch zu Naturphäno¬ 
menen sind unmittelbare mystische Beziehungen vorhanden, so daß 
die Naturerscheinungen auch auf dieser frühen Stufe nicht auf dem 
Umwege über den Totenglauben apperzipiert zu sein brauchen und 
Vegetationsdämonen keineswegs immer verkappte Totendämone sein 
müssen. Uebrigens hätte der Verfasser in diesem Zusammenhang 
die in Vegetationsriten wurzelnden Bräuche des Perchtenlaufs heran¬ 
ziehen können, da Perchta ebenso wie ihre md. Entsprechung Frau 
Holle ursprünglich Totendämonin war, die Güntert (Kalypso S. 91 ff.), 
der ihre Namen aus den germanischen Wurzeln borg und hei ableitet, 
als Verhüllerinnen deutet. 

Allerdings basieren die auf präanimistischer Stufe möglichen un¬ 
mittelbaren Apperzeptionen von Naturerscheinungen auf gänzlich an- 


Go gle 

* • 












62 


Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 1—3 


dern Voraussetzungen als wir nach der abstrahierenden Denkweise 
fortgeschrittenerer Zeiten anzunehmen gewohnt sind. Von einem mit 
den Sinnen wahrgenommenen, zum Symbol verklärten Naturphänomen 
ist natürlich noch keine Rede: die mystische Partizipation steht noch 
ganz im Vordergründe, möglicherweise innerhalb eines totemistischen 
Rahmens, wenn z. B. »bei Australiern die Sonne eine Frau Panunga 
ist, die zu einer bestimmten Unterklasse gehört und die infolgedessen 
mit den anderen Unterabteilungen des Stammes in gewissen Ver¬ 
wandtschaftsverhältnissen steht« (Levy-Brühl S. 332). Von hier aus 
wird die Erklärung der ältesten Naturmythen, deren erzählendes Ele¬ 
ment sich erst allmählich aus einer ganz untergeordneten Rolle in 
den Vordergrund drängt, eine völlig veränderte Einstellung erfahren 
müssen und vorläufig auf unüberwindliche Schwierigkeiten stoßen (Levy- 
Brühl S. 333). 

Vor Ueberspannung der Theorie Schönings, die Riesen aus Leichen¬ 
dämonen abzuleiten (Naumann S. 45), haben schon R. M. Meyer (Alt¬ 
german. Religionsgeschichte S. 630) und Helm (Altgerman. Religions¬ 
geschichte S. 210) gewarnt. — Daß auch freundliche, verführerisch 
schöne Dämonen auf präanimistische Vorstellungen vom lebenden Leich¬ 
nam zurückgehen können, läßt sich aus tieferer Einsicht in das Wesen 
der mal. Allegorie der Frau Welt (S. 46 f.), die die Kirche aus einer 
Totendämonin in ein teuflisches Wesen wandelte, noch weiter stützen, 
insofern dem Mittelalter Frau Venus und Frau Welt in eigentümlich 
atavistischer Brechung verchristlichter Antike identisch sind und auf 
tiefer erschaute Zusammenhänge von Tod und Liebe weisen, die sich 
sowohl im germanischen wie im antiken Mythus -spiegeln (s. Güntert 
S. 102 und 180). 

Der dem Gesetz der Partizipation unterstehenden prälogischen 
Geistesart hat die uns so widerspruchsvolle Identifizierung eines ein¬ 
zelnen Menschen mit einer Vielheit oder irgend einem andern leben¬ 
den Wesen, sei es Mensch oder Tier, nichts Befremdliches. Das sind 
die Anschauungen, aus denen heraus Ida Naumann den nordischen 
Glauben an Sympathietiere deutet. Aber ihre Ausdrucksweise (S. 100) 
»Wie später im Animismus der Lebende natürlich auch schon seine 
Seele hat, so hat auch der Lebende schon sein Sympathiewesen, nicht 
erst der Tote« kommt animistischer Anschauung bedenklich nahe. 
Mensch und Tier fühlen sich identisch, weil sie mit ein- und derselben 
Lebenskraft erfüllt sind, so daß die spätere Formulierung »Auf Island 
wird oder besser ist der Vornehme ein Eisbär« usw. primitiver 
Glaubensvorstellung sicherlich besser gerecht wird. 

Werden uns so durch Naumanns Buch eine große Anzahl Fossilien 
chronologisch älterer oder typologisch unentwickelterer Glaubensvor- 


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Naumann, Primitive Gemeinschaftskultur 


63 


Stellungen durch ethuologische Parallelen verständlich, so erweist sich 
die Methode als verhängnisvoll, sobald es sich um typische Erscheinungen 
fortgeschrittener Perioden handelt. Im richtigen Gefühl dieser drohenden 
Gefahr hatte Neckel seinem sonst auf Naumann so einflußreichen 
Buche Walhall ein Wort Gronbechs vorangestellt: »Der Weg zum 
Verständnis des Menschenwesens geht durch ein Studium der ein¬ 
zelnen Kultur in ihrer Sonderart. Die ethnologische Methode hat 
nachgerade lange genug alle Probleme verflacht, indem sie einen 
rohen Durchschnitt aus verschiedenen kulturfernen Menschen auf¬ 
stellte als höchste Lösung psychologischer Probleme.« Trotzdem ver¬ 
sucht der Vf. in den »Märchenparallelen« das schwierige Problem 
der einer späten Sonderentwicklung angehörenden, nicht autochthonen 
Baldersage auf ethnologischem Wege zu lösen. Balder und Frigg 
werden auf das Motiv von Mutter und Sühnekind zurückgeführt, und die 
Mistel als eine sich nicht an der Rettung des Helden beteiligende 
Pflanze gedeutet, die wir z. B. auch im mikronesischen Tailemärchen 
finden. Demgegenüber halte ich an der Auffassung fest, die neuerdings 
wieder durch Neckel eingehend begründet wurde, daß das im Balder¬ 
kult wurzelnde Mistelmotiv im Mittelpunkt der Sage steht, die Neckel 
geradezu eine Dichtung von der Mistel nennt. Und da ich andrer¬ 
seits in dem menschenfressenden Unhold des Südseemärchens, der die 
schöne Königstochter raubt, weder einen Toten- noch Vegetations¬ 
dämon sehe, wie mir P. Hambruch, der Herausgeber der Südsee¬ 
märchen, bestätigt, so kann ich auch von dieser Seite dem Versuch, 
zwischen Baldermythus und Tailemärchen Uebereinstimmungen nach¬ 
zuweisen, nicht zustimmen. Derartige Uebergriffe ethnologischer Pa¬ 
rallelisierung müssen, wie K. Burdach (Deutsche Renaissance S. 23) 
sagt, notwendig zu einer Auflösung aller historisch genetischen Be¬ 
trachtungsweise führen. 

Unterliegen die Formen primitiver Gemeinschaftskultur, die sich 
auf tierische Stufe zurückführen lassen, biologischer Deutung, so 
handelt es sich dabei doch immer nur um äußere sichtbare Formen, 
die der Mensch auf noch so primitiver Stufe mit neuem menschlichen 
Inhalt füllte. Tanzbewegungen des Menschen, auch ohne jede Mimik, 
zeugen trotz etwaiger hergebrachter vormenschlicher Form von mensch¬ 
lichen Gefühlsregungen. Und unter Umständen ist schon Tanzrausch 
ganz für sich, durch Tanz bewirkte Ekstase allein rituelle Handlung 
lebendigster mystischer Vereinigung mit dem kultisch verehrten Wesen 
(dagegen Naumann S. 9 und 118). 

Mit der materiellen Gemeinschaftskultur beschäftigt sich nur 
der höchst problematische Aufsatz über das Bauernhaus in Litauen, 
der Konstruktion und Herdanlage unberücksichtigt läßt und lediglich 











t ' \ 1 w 4 

64 Gott. gel. Anz. 1923. Nr. 1—3 

an der Hand von Grundrissen den hoffnungslosen Versuch unternimmt, 
das oberdeutsche und niederdeutsche Haus auf einen gemeingerma¬ 
nischen Urtypus zurückzuführen. Das offenbare Streben, auch die Er¬ 
forschung der materiellen Kultur durch Erweiterung der Gesichts¬ 
punkte zu heben und zu vergeistigen, wird man freudig begrüßen, aber 
es darf doch nicht auf Kosten der auf dem Gebiete der Hausforschung 
bis in alle Einzelheiten ausgebildeten Methode geschehen. 

Gaben die verschiedenartigen Einwände von der Vielseitigkeit 
der Probleme, die hier mit kühnem Wagemut angeschnitten werden, 
Zeugnis, so verdient schließlich noch ein ganz besonderer Vorzug un¬ 
seres Buches vor vielen anderen volkskundlichen Arbeiten der letzten 
Jahre rühmend hervorgehoben zu werden, daß wir nämlich trotz er¬ 
freulicher Ausweitung in allgemeine Religionswissenschaft und Ethno¬ 
logie die zentripetale Kraft der germanischen Philologie über¬ 
all lebendig fühlen. Sagt doch der Verfasser gelegentlich (S. 168 ) 
selbst, daß wirklich fruchtbare volkskundliche Arbeit nur im engsten 
Zusammenhang mit der Philologie geleistet werden könne. Daß dieser 
Zusammenhang unbedingtes Erfordernis wird, sobald es sich um ge¬ 
sunkenes literarisches Kunstgut handelt, ist selbstverständlich. Erst 
die historische Einsicht in Sprache und literarische Ueberlieferung 
weist den Blick für Probleme, die lebendiges Volksgut der Forschung 
stellt. Volkskunde ist Geschichtswissenschaft und darf schon 
aus diesem Grunde niemals der Völkerkunde eingegliedert werden, auf 
volkskundlichem Terrain dürfen Völkerpsychologie, Ethnologie, Anthropo- 
geographie usw. der Philologie nie den Vorrang streitig machen. Und 
die Sachphilologie muß sich damit abfinden, daß die Realien als solche 
zur Ergründung der Volksseele doch nur mittelbar beitragen. 

Wird aber die Denkform des »Volkes« in erster Linie durch das 
Gesetz der Partizipation, nicht aber der Assoziation bestimmt, so fällt 
damit die innere Berechtigung, volkstümliche Glaubensvorstellungen 
und Bräuche unter Sachbegriffen — z. B. Pferd, Ei, Dach usw. — 
deskriptiv zusammenzustellen und Dinge von oft entgegengesetzter 
Deutungsmöglichkeit unter einem Dache friedlich zu vereinen. Baesecke 
(Deutsche Philologie S. 80 ) spottet über das mechanische Aneinander¬ 
reihen von Volksbräuchen mittels der Formel »aber nicht nur so — 
sondern auch noch anders«. Die Kenntnis vom mystischen Zusammen¬ 
hang der Dinge wird auch hier Wandel schaffen, daß nicht die mit der 
seelischen Empfindung in äußerlichem Zusammenhang stehende Sache, 
sondern der Sinn der Lebensäußerung selbst den Stoff allein organisch 
bindet und ihn gliedernd beherrscht. 


Hamburg. 


J. Schwietering. 


Go gle 








Thomsen, Samlede Afhandlinger 


65 



Yilh. Thomsen, Samlede Afhandlinger. *11. UI. bind. Kabenhavn og 
Kristiania, Gyldendalske boghandel 1920, 1922. 500 u. 516 SS. 8°. 

Nachdem ich im Jahrg. 1921 S. 59 ff. den ersten Band von Vilhelm 
Thomsens gesammelten Abhandlungen zur Anzeige gebracht, hab ich 
das Erscheinen des dritten und letzten Bandes abgewartet: ehrlich 
gesagt deshalb, weil ich zu einer Sonderanzeige der für diesen an¬ 
gekündigten Abhandlungen zur alttürkischen Schrift- und Sprach¬ 
geschichte keinerlei Beruf habe, und es mir doch nicht entgehen lassen 
wollte, den greisen Gelehrten zum Abschluß der wahrhaft monu¬ 
mentalen Sammlung zu beglückwünschen. 

Ich schicke also voraus, was über den Inhalt des III. Bandes zu 
berichten mir Aufgabe und Pflicht ist. 

Der Band bringt zunächst die beiden berühmt gewordenen Ab¬ 
handlungen (I) »Dechiffrement des inscriptions de l’Orkhon et de 
l’Iünissei. Notice pr61iminaire< (1893. S. 3 — 19) und (II) »L’alphabet 
runiforme turc< (1894—96 S. 27 — 82), die den Namen ihres Verfassers 
an die Seite der großen Schriftdeuter Grotefend und Champollion-Figeac 
gestellt haben. Dnrch Beschaffung eines ausreichenden Letternbestandes 
konnte die Zahl der alttürkischen Zitate für die erste Abhandlung 
vermehrt werden, und auch sonst hat Th., der diese Studien nun 
durch genau ein Menschenalter pflegt, allerlei nachgebessert und nach¬ 
getragen. Es schließen sich weitere Arbeiten aus dem letzten Jahr¬ 
zehnt an (S. 83 — 198). Für jeden Philologen und besonders für jeden 
Freund der Schriftgeschichte lesenswert und lesbar sind die altern 
»Remarques sur Torigine de l’alphabet< (S. 70—82) und das »Post- 
scriptum< zu I vom Jahre 1920 (S. 20 — 26), welches mit wunder¬ 
voller Klarheit den Gang der Untersuchung darlegt und den Leser 
den ganzen Reiz der Arbeit wie die Entdeckerfreude nachempfinden 
läßt. Wir glauben es gern, daß für Th. der 25. November (1893) zu 
einem Festtag für alle Zeit geworden ist. 

Es ist Thomsen die Freude beschert gewesen, durch die Turfan- 
Funde A. von Le Coqs und M. A. Steins diesen Inschrift-Studien un¬ 
geahntes handschriftliches Material Zuwachsen zu sehen: ihm gelten 
die beiden Aufsätze S. 199—268. Für einen weitern Leserkreis hat 
er dann die Früchte seiner gelehrten Mühen erschlossen in dem Auf¬ 
satz »Fra Ost-Turkestans Fortid< (1914 — 15, S. 293—324) und in 
einem bisher ungedruckten: » Gammel-tyrkiske indskrifter fra Mongoliet 
i overssettelse og med indledning< (S. 463—516). 

Die Abhandlung »Sur le Systeme des consonnes dans la langue 
ouigoure< (1901. S. 269—291) liegt den Entdeckungen v. Le Coqs 
voraus, auf dessen Neugestaltung der uigurischen Schriftkunde sie 
nur in zusätzlichen Anmerkungen Bezug nimmt. 

üfitt. gel. Anz. 1923. Nr. 1-3 5 













. A » i 


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6 (> 


Gott. gel. Anz. 1923. Nr. 1—3 






>Une inscription de la trouvaille d’or de Nagy-Szent-Miklös« 
(1917. S. 325—354) interessiert uns Germanisten doppelt und dreifach: 
F. Dietrich, Germania 11,177 ff. hatte die Inschrift als gotisch ange¬ 
sprochen und gedeutet, J. Hampel noch hat sie anfangs mit den Ge- 
piden in Verbindung gebracht, später den Avaren oder Bulgaren zu¬ 
geschrieben — Thomsen entscheidet sich für die türkischen Bulgaren 
des neunten Jahrhunderts und spricht diesen auch die Eigennamen 
Bouila und Boutaoul zu, an deren germanischem Charakter Hampel 
festhielt; dabei bleibt die Herkunft des hier zum ersten Male auf¬ 
tauchenden Titels zoapan (slav. zupan , mag. ispdn »Gespan«) unent¬ 
schieden (S. 340). Schließlich interessiert uns die Becherinschrift und 
ihre Deutung auch inhaltlich und methodisch: denn man sieht deut¬ 
lich den Zusammenhang zwischen dieser Abhandlung Thomsens und 
der älteren über das goldene Horn von Gallehus. 

Ein äußerlicher Anlaß, das Erscheinen einer Geschichte der nordi¬ 
schen Santhalmission (1867—1892), hat den stets beweglichen Ge¬ 
lehrten zur Beschäftigung mit der khervarischen Sprache in Südindien 
und ihrem wichtigsten Gliede, dem Santali, geführt: ihrer Charakte¬ 
ristik und ihrer verwandschaftlichen Stellung zu einer Gruppe hinter¬ 
indischer Sprachen sind die beiden Aufsätze S. 443—461 gewidmet. 

Und wieder ein neues Gebiet der alten Sprachkunde, und zwar 
ein recht schwieriges, nehmen die »Etudes lyciennes« (1899, S.355—441) 
in Angriff: ein Gebiet das recht eigentlich eine Domäne nordischer 
Forscher geworden ist (H. Pedersen, S. Bugge, A. Torp). Da diese 
Studien Th.s anch jetzt wieder mit der Ziffer I hinausgehn, dürfen 
diejenigen, deren Interessen sich näher als die meinen damit berühren, 
wohl hoffen, daß der greise Gelehrte ihnen auch die »Etudes ly¬ 
ciennes II« schenken wird. 

Dieser dritte Band wendet sich naturgemäß an einen engeren 
Gelehrtenkreis. Es wäre aber schade, wenn sich alle diejenigen, welchen 
das Alttürkische, die kleinasiatischen und südindischen Sprachen fern 
liegen, seine nähere Bekanntschaft entgehen ließen — und darum hab 
ich mich nicht gescheut, auch diesen Bericht zu schreiben; an Thomsens 
Hand lohnt sich für jeden nach methodischer Fortbildung strebenden 
Gelehrten auch die Wanderung zu den Ufern des Orkhon und Je¬ 
nissei! — 

Und nun wend ich mich mit freierem Blick zum zweiten Bande 
— nicht als wenn ich mich hier kritisch gerüstet fühlte: wer unter 
den Lebenden dürfte das einem Forscher wie diesem gegenüber sein?! 
Gerüstet bin ich hier nur besser zum Lernen, und bereit aus solchem 
Lernen heraus mich dankbar zu bekennen. 

In diesem Bande begrüßen wir zunächst die seither ungedruckt 


Go gle 







Thomsen, Samlcde Afbandlinger 


67 


gebliebene Abhandlung >Der arische a*Laut und die Palatale« (S. 303 
bis 327); sie erscheint hier genau so weit fertig resp. unfertig, wie 
sie im Sommer 1877 war, als sie der Kuhnschen Zeitschrift angeboten 
und dann auf eine zögernde Antwort des Herausgebers hin zurück¬ 
gehalten wurde. Da die Entdeckung damals in der Luft lag (auch 
Thomsens Freund Es. Tegner in Lund war auf der gleichen Bahn), 
so widerstrebte es Th.s vornehmer Art, sich in die vorauszusehenden 
Prioritätsstreitigkeiten hineingezogen zu sehen. Die Geschichte der 
Wissenschaft wird jetzt als zweifellose Tatsache zu buchen haben, daß 
Thomsen der erste gewesen ist, der (im Frühjahr 1875) das »Palatal¬ 
gesetz« auf dem Katheder vorgetragen hat, und auch heute noch 
darf man beklagen, daß er nicht schon 1877 damit hervorgetreten ist. 
Interessant ist vor allem Th.s Ausgangspunkt: die Beobachtung ver¬ 
wandter Erscheinungen in den romanischen Sprachen, was uns jetzt 
so natürlich erscheinen will. 

Wie eingehend sich Th. auch mit der Lautlehre und Wortgeschichte 
eben der romanischen Sprachen beschäftigt hat, zeigt eine Gruppe 
von 5 (6) kurzen Aufsätzen (S. 346—425), denen ein populärer Artikel 
über Lateinisch: »Latin« (S. 331—345) aus Salomonsens Konversations¬ 
lexikon vorangestellt ist. — Derselben Quelle entstammt der Artikel 
»Finsk-ugriske sprog« (S. 33—48), während der Aufsatz »Det ma- 
gyariske sprog og dets stammeslaegtskab« (1867. S. 285—297) eine 
wissenschaftliche Früharbeit ist; ihr sind hier »Kleine Bemerkungen 
zur objektiven Konjugation des ungarischen Verbums« (1911. S. 298 
bis 302) angeschlossen. 

Mit der kurzen Note »De kypriske indskrifter« (1875. S. 459—470) 
hat Th. zum einzigen Male das Gebiet des Griechischen betreten: wohl 
mehr angelockt durch den paläographischen Reiz als durch die Dialekt¬ 
studien, denen er auch weiterhin ferngeblieben ist. — Dagegen werden 
die »Remarques sur la parentä de la langue ötrusque« (1899. S. 471 
bis 500), in denen die vielfachen Aehnlichkeiten des Etruskischen mit 
den Sprachen des nordöstlichen Kaukasus aufgedeckt werden, in der 
Diskussion über die damit nicht gelöste Frage der Verwandtschaft 
wohl auch weiterhin eine Rolle spielen. 

Die gehaltvolle Festrede »Videnskabens Fsellessprog« (1902. S. 427 
bis 458) gibt eine eigenster Beobachtungen nicht ermangelnde Skizze 
der Herrschaft des Lateins, prüft besonnen die Versuche eine künst¬ 
liche Gemeinsprache zu schaffen, spricht dem Englischen die meiste 
Aussicht zu, zur »Weltsprache« zu werden, und schließt mit einem 
warmherzigen Bekenntnis zur dänischen Muttersprache. 

Dieser selbst sind nur zwei Stücke gewidmet: die kleine Notiz 
»Hvad betyder guldhornets taivido?< (1897. S. 3—8), welche den Streit 









68 Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 1—3 

der Archäologen und Linguisten über das Alter der frühesten Runen¬ 
inschriften zu schlichten geeignet scheint, und eine Untersuchung >Om 
oprindelsen til nogle ejendommeligheder i den danske retskrivning 
(Id og nd)c (1902. S. 9—31). 

Den Hauptinhalt und das Kernstück dieses zweiten Bandes aber 
bildet die Doktorschrift, die 1869 in Buchform herauskam und mit 
einem Schlage Thomsens Ansehen begründete und sein Charakterbild in 
der Wissenschaft festlegte: >Den gotiske sprogklasses indflydelse pä 
den finske. En sproghistorisk undersogelse« (S. 49 —238). Sie erscheint 
hier zunächst mit stillschweigender Aufnahme der Aenderungen, welche 
der Autor der deutschen Uebersetzung (von E. Sievers, 1870) mit¬ 
gegeben hatte, sonst nur mit wenigen Zusätzen, meist Anmerkungen 
mit Fragezeichen in eckigen Klammern. Dann aber folgt (S. 239—264) 
eine »Efterskrift 1919«, also zum 50jährigen Jubiläum, aus der wir 
sehen, daß Thomsen dem Erstlingswerk die alte Liebe und den Problemen 
gegenüber die es behandelt die alte Kraft bewahrt, auch die Fähig¬ 
keit zur Selbstkritik nicht eingebüßt hat. Er ist sich vollständig da¬ 
rüber klar, was heute einer Arbeit fehlt, die geschrieben wurde, als 
die Schleichersche Auffassung des indogerm. Vokalismus herrschend 
war und die ugro-finnischen Studien noch im Kindesalter standen. 
Er darf sich der mächtigen Wirkung freuen, welche von ihr aus¬ 
gegangen ist, und darauf hinweisen, daß er selbst in den »Beröringer 
mellem de finske og de baltiske sprog« (1890) nicht nur mit vielen 
Einzelerkenntnissen, sondern auch methodisch darüber hinausgewachsen 
ist. Aber er betont nachdrücklich die eminente Schwierigkeit des Ar- 
beitens auf einem Gebiete, wo es wie hier für das Finnische an einer 
älteren Ueberlieferung so gut wie ganz fehlt, und er fordert mit 
ernster Warnung, daß man nur Schritt für Schritt von den noch immer 
nicht genügend festgelegten jüngsten Entlehnungsschichten rückwärts 
Vordringen solle. 

Diese Warnung richtet sich in erster Linie gegen die Schriften 
von T. E. Karsten, namentlich gegen dessen »Germanisch-finnische 
Lehnwortstudien« (Helsingfors 1915), die nach Th. in der wilden Jagd nach 
altem und ältestem Lehngut am weitesten gehen und Hypothesen auf 
Hypothesen häufend schließlich jeden festen Grund und Boden zu 
verlieren drohen. Daß Karsten in der Tat höchst unvorsichtig ver¬ 
fährt und gelegentlich recht unsauber arbeitet, weist Thomsen an 
einem ungemein drastischen Beispiel nach: finnisch leivisM »lispund« 
soll eine urgermanische oder gar vorgermanische Bildung sein — und 
ist tatsächlich und zweifellos ein hansischer Import, der kaum über das 
16. Jahrhundert hinaufreicht! 

So lehnt denn Thomsen den Versuch Karstens, eine älteste Schicht 








Thomsen, Samlede Afhandlinger 


69 


germanischer Lehnwörter im Finnischen nachzuweisen, welche über 
die Zeit der Lautverschiebung zurückgehe, als völlig mißlungen ab, 
und was die lautgeschichtliche Seite angeht, wird man ihm Recht 
geben müssen: Karsten hat da nichts bewiesen! Aber damit ist das 
Problem, ein sehr schwieriges aber sehr wichtiges Problem, nicht er¬ 
ledigt. Thomsen hat nicht alle von Karsten beigebrachten Gründe für 
eine prähistorische Beeinflussung der Finnen durch die Germanen ge¬ 
prüft, gegenüber den Ortsnamen zeigt er eine uns vorläufig immerhin 
verständliche Skepsis. Und inzwischen ist sein Gegner mit neuen Hilfs¬ 
truppen auf dem Plan erschienen: 1921 hat er »Fragen aus dem Ge¬ 
biete der germanisch-finnischen Berührungen« und soeben (1922) Er¬ 
gänzungen dazu: »Zum Anfangsterminus der germ.-finnischen Berüh¬ 
rungen« drucken lassen. Er spielt die Frage mehr und mehr auf 
das siedelungsgeschichtliche Gebiet hinüber und bringt zuletzt gar 
eindrucksvolle Beobachtungen der Geologen (und »Thalassologen«!) 
in Verbindung mit den ältesten Ortsnamen germanischer Herkunft. 
Ich bin auch jetzt noch nicht ganz überzeugt, aber ich gesteh: hier 
öffnet sich ein neues Feld der Diskussion, während in sprachlichen 
Dingen vorläufig Thomsen seine alte Autorität gewahrt hat. 

Der erste und zweite Band dieser »Gesammelten Abhandlungen« 
weist keine Widmung auf — vor dem dritten steht »Til min Hus- 
tru«. Wer einmal die Freude gehabt hat, das Ehepaar Thomsen 
kennen zu lernen, glaubt das Dank- und Glücksbekenntnis zu ver¬ 
stehen das in diesen Worten liegt, und so möge es mir ausnahms¬ 
weise gestattet sein, auch Frau Thomsen zum Abschluß der schönen 
und eindrucksvollen Sammlung zu beglückwünschen. 

Göttingen. Edward Schröder. 


Bruder Klaus. Die ältesten Quellen über den seligen Nikolaus 
von Flüe, sein Leben und seinen Einfluß. Sarnen 1917—1921, Buch- 
und Kunstdruckerei Louis Ekrli. XLIX und 1300 S., XXXVIII Tafeln, Quart. 

Im Jahre 1917 wurde zu Ehren des Bruders Klaus, der als »der 
eigentliche Nationalheilige des Schweizerlandes« angesehen wird, zu 
Sächseln im Kanton Obwalden die Feier des fünfhundertjährigen Ge¬ 
burtstages begangen und dabei die Edition eines monumentalen Werkes 
beschlossen, das »gesammelt und erläutert und im Auftrag 
der h. Regierung des Kantons Unterwalden ob dem Kern¬ 
wald auf die fünfhundertste Wiederkehr seiner Geburt« 
herausgegeben werden sollte. Die große Arbeit wurde einem Ange¬ 
hörigen des Landes nid dem Kemwald anvertraut, der sich als gründ- 












V 










licher Kenner schon länger bewährt hatte, besondere durch die Studie 
»Die Einheit Unterwaldens< (Gott. gel. Anz. 1911, Nr. 7), und sich 
so in jeder Weise für die große Aufgabe empfahl: Archivar Dr. 
Robert Dürrer. Aus der hingebenden Arbeit desselben ist das 
Werk hervorgegangen, das nunmehr, 1921, vollendet vorliegt. Der 
Herausgeber hat in der Einleitung selbst in einer ganz mustergiltigen 
Weise die Grundsätze dargelegt, von denen er bei der Durchführung 
ausgegangen ist. 

Er bezeichnet hier sein Buch als eine Quellensammlung, bei der 
aber die einzelnen Stücke durch einen umrahmenden Kommentar, mit 
Beifügung der Uebersetzung fremdsprachlicher Abschnitte und durch 
stete Verweisungen zu einem innerlichen Ganzen verbunden erscheinen. 
Eine Biographie im wörtlichen Sinne wollte er aber damit nicht ge¬ 
geben haben. Denn Bruder Klaus hatte schon bei Lebzeiten den Ruf 
eines Heiligen gewonnen und ist so in den zeitgenössischen Aufzeich¬ 
nungen in ein Licht gestellt, wo Geschichte und Legende in einander 
überfließen. So hat denn der Herausgeber diese beiden Elernen*“ ~~ 
nahe sie sich berühren, prinzipiell von einander zu scheiden, um 
eigentlichen Aufgabe als Historiker nachzukommen. Dieser Dua' 
tritt schon gleich von Anfang an hervor. 

Allein vor dem Eintritt in das geistliche Leben liegen noc 
Bruder Klaus Betätigungen vor, die durch den Sammler der 
nisse zu beurteilen sind und in Nr. 2 bis 5 vorgeführt werden. 

Im Alter von vierzig Jahren tritt Klaus von Flüe 1457 
hervor, als der erste Vertrauensmann seiner Mitbürger von Sa 
in einem Prozeß mit dem Kirchherrn seiner Gemeinde um r i 
anforderungen. Dann aber erscheint er in folgenden Jahren i 
Erfüllung kriegerischer Aufgaben, wobei freilich die später gesch 
traditionelle Ausführung einer verdienstlichen Tat, daß er das 
gauische Kloster Katharinathal durch sein Eintreten als Führe 
schwerer Schädigung errettet habe, mit dem wahren histori 
Zeugnis nicht zusammenstimmt. Dann wirkte Klaus 1462 bei 
Entscheide mit, der allerdings einen Uebergriff der weltlichen G 
in die Sphäre des kirchlichen Rechts, gegenüber dem Kloster I 
berg, in sich schloß. Aber 1467 sagt sich nun Klaus vom weit 
Leben los, indem er von seiner Familie hinweg sich in die Ei 
keit begibt. Damit beginnt nun jener Gegensatz in der Auffa 
der Zeitgenossen. 

Schon in Nr. 7, von 1469, in dem ersten Ineditum in der li 
Reihe der hier gesammelten und bearbeiteten Quellenzeugnisse i 
sich das geltend: der Bischof von Konstanz erteilt seinem Weihb 
den Auftrag, die als wunderbar aufgefaßte Enthaltsamkeit des Br 




V 

















Bruder Klaus 


71 






Klaus zu prüfen. 1471 dann ist als Beweis dafür, daß die Verehrung 
für den Bruder Klaus schon in weiterem Umkreis galt, das in Nr. 11 
gegebene Zeugnis anzusehen: ein wegen Beleidigung des Einsiedlers 
in Bern gefangen gesetzter Schwabe muß Urfehde schwören. Mit 
Nr. 15 kommen wir zu dem erstmaligen schriftstellerischen Bericht 
über Bruder Klaus, der 1474 durch den aus Norddeutschland stammen¬ 
den Pilger erstattet wurde: es ist die anschauliche Erzählung des Hans 
von Waldheim. Im weiteren bildet Nr. 19 den Anfang der Zeugnisse 
über den offiziellen Verkehr einer Regierung mit dem Eremiten: der 
Rat von Luzern sendet 1478 in der Angelegenheit des Streites über 
das Burgrecht, das die Ursache heftiger Aufregungen zwischen den 
Städten und den Ländern in der Eidgenossenschaft geworden ist, Boten 
an Bruder Klaus in den Ranft, um dessen Rat zu erlangen. Im Zu¬ 
sammenhang dieser Dinge steht nun vollends Nr. 31: auf nicht we¬ 
niger als 56 Druckseiten bringt der Herausgeber die vollständige 
Untersuchung übel* die mit den obschwebenden Streitfragen im Gange 
befindlichen Erörterungen auf dem so wichtigen Tag zu Stans 1481, 
wo nun die vermittelnde Tätigkeit des Einsiedlers zum ersten Male 
ausschlaggebend sich herausstellt. Doch auch schon über die Grenzen 
der Eidgenossenschaft hinaus gingen Beziehungen des Bruders Klaus 
zu hohen Persönlichkeiten, 1482 zu Herzog Sigmund von Oesterreich 
und nach Mailand zu Lodovico Moro (Nr. 34, 39). In das Jahr 1483 
fällt die theologische Untersuchung, ein Werk scholastischer Methodik, 
das den aus Trier stammenden, in Basel gestorbenen Petrus Numagen 
zum Verfasser hat (Dürrer empfing die beinahe hundert Druckseiten 
füllende Uebersetzung — Nr. 47 — und theologische Kommentierung 
des schwierigen Textes von Dr. Th. Mathis). Hierauf folgt das um 
1487 entstandene älteste Druckwerk über Bruder Klaus (Nr. 54) und 
weiterhin 1488, im Jahre nach dem Tode des Bruders, in Nr. 65 die 
überhaupt hier erstmals zum Abdruck gebrachte älteste Bruder Klausen- 
Biographie des Heinrich Gundelfingen. 

Im 16. Jahrhundert nimmt das Quellenmaterial mehrfach eine 
andere Gestalt an. Erstlich gab jetzt der Auftrag der Obwaldner Re¬ 
gierung den Anstoß zu einer authentischen Lebensbeschreibung an 
einen sehr befähigten Mann, den Leiter der Schule in Bern, Magister 
Heinrich Wölflin, von dem auch der junge Zwingli große Anregungen 
empfing. Die Originalhandschrift des Werkes (Nr. 83) ist freilich ver¬ 
loren; allein das Werk ist als Grundlage weiterer ähnlicher Beschrei¬ 
bungen von hoher Wichtigkeit geworden. Ferner nimmt nunmehr in 
der an verschiedenen Orten der Schweiz sich entwickelnden Geschicht¬ 
schreibung der Eidgenossenschaft Bruder Klaus rasch eine nachdrück¬ 
liche Stellung ein, wobei neben schlichter Erzählung jene oben ge- 



Go gle 











Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 1—3 

kennzeichnete legendarisch gefärbte Richtung immer mehr hervortritt. 
Aber daneben ist nun 1513 auch »Ein hüpsch lied von Bruder Clausen< 
(Nr. 96) gedichtet, und der gekrönte Dichter Glareanus widmet in 
einem Lobgedicht eine Strophe dem Unterwaldner Eremiten (Nr. 98). 
Doch die Wirkung der konfessionellen Spaltung innerhalb der Eid¬ 
genossenschaft mußte nun notwendiger Weise in dieser gesamten Lite¬ 
ratur auch auf das stärkste hervortreten. Zwar steht Zwingli in seiner 
Bekämpfung der Reisläuferei und der damit verbundenen politischen 
Korruption noch in Uebereinstimmung mit Bruder Klaus (Nr. 109), 
oder der lutherische Heißsporn Flatius Illyricus führt sogar den Ein¬ 
siedler als einen Glaubenszeugen im Kampfe gegen den Papst auf 
(Nr. 132), aber immer mehr steht nun mit der Verschärfung des 
Gegensatzes auch die Gestalt des Bruders Klaus als eines Vorkämpfers 
für den katholischen Glauben im Mittelpunkte des geistigen Ringens. 

Das nimmt den Anfang in den 1535 und 1537 erschienenen Ver¬ 
öffentlichungen des Hans Salat, der als Gerichtschreiber in Luzern, 
als Wortführer seiner Glaubenspartei auch vor pamphletarisch ge¬ 
färbten Kundgebungen nicht zurückschrak. Seine »Chronik vom An¬ 
fang des neuen Unglaubens« kam nicht zum Druck, und die 1536 
verfaßte BruderKlausen-Legende, die dann die erste gedruckte Lebens¬ 
beschreibung wurde, ist eher als eine Erbauungsschrift (Nr. 119) an¬ 
zusehen; dagegen ist die 1571 gedruckte Biographie des Ulrich Wit- 
wyler (Nr. 146) wieder völlig, obschon ein keineswegs bedeutendes 
Werk, ausgeprägt eine gegenreformatorische Aeußerung. In bemerkens¬ 
werter Weise beteiligte sich auch der berühmte Jesuit Petrus Cani- 
sius in der Veröffentlichung von Betrachtungen und Gebeten des 
Bruders Klaus (Nr. 157) an dieser Literatur. Bezeichnend war auch, 
daß, als 1586 das den Riß innerhalb der Eidgenossenschaft bestäti¬ 
gende Bündnis der katholischen Gebiete mit Spanien abgeschlossen 
wurde, der Jesuit Gretser eiu den Bruder Klaus verherrlichendes Fest¬ 
spiel dichtete (Nr. 159). 

Zwar wurde noch jetzt geflissentlich die politische Seite des Bruders 
Klaus, als Mann des Friedens, innerhalb der reformierten Eidgenossen¬ 
schaft grundsätzlich betont. Doch um so mehr bemühte sich die 
Gegenpartei, im Gegensatz hierzu, den Friedensstifter von Stans als 
Führer des kirchlichen Kampfes hervorzuheben. Die Jahrhundertfeier 
des Todes des Bruders Klaus ließ das greifbar hervortreten. Denn 
im Jahre 1587 wurden die ersten Schritte zur Heiligsprechung des 
als Seliger verehrten Bruders vom Ranft ins Werk gesetzt. 1591 fand 
ein erster Kanonisationsprozeß statt: Nr. 166 bringt das Protokoll des¬ 
selben: allein man mußte sich in Unterwalden damit begnügen, bis 
1669 und 1671 durch päpstliche Breven die Genehmigung der alt- 


Go gle 








hergebrachten Verehrung des Landespatrons zu erzielen (Nr. 176). 
Immerhin hatten diese eifrigen fortgesetzten Bemühungen das Re¬ 
sultat, daß der Herausgeber einen Markstein in der ganzen ein¬ 
schlägigen Literatur, als Abschluß der volkstümlichen Legendenbildung 
durch autoritäre Redaktion hinstellen kann. Der hier am Ende stehende 
Name ist Johann Joachim Eichorn, ein süddeutscher Konvertit, der 
nach verschiedenem Wechsel des Aufenthaltes schließlich endgültig 
nach Unterwalden kam und hier 1658 in hohem Alter starb. Seine 
literarische Tätigkeit war ganz Bruder Klaus gewidmet, und in meh¬ 
reren, teils lateinisch, teils deutsch verfaßten Schriften, die alsbald 
gedruckt verbreitet wurden, hat er der ganzen nachherigen Literatur 
bis in die neuere Zeit seinen Stempel aufgedrückt. 

Eine sehr erwünschte Beigabe ist das höchst einläßliche Orts-, 
Personen- und Sachverzeichnis. Außerdem aber fällt noch ein »An¬ 
hang« von 200 Seiten in Betracht, der verschiedenartige Ergänzungen 
und weitere Ausführungen zu dem Hauptwerke bringt 1 ). 

In diesem Anhang ist Nr. I einem ergänzten Stammbaum des 
Bruders Klaus gewidmet. Während nämlich die väterliche Ahnenreihe 
schon längst durchaus feststand, ist erst jetzt die mütterliche Ab¬ 
stammung nachgewiesen, von den beiden Familien Rubert und Under 
der Linden aus der Gemeinde Wolfenschießen. Von besonderer Wichtig¬ 
keit ist dann unter II die Ausführung über die geistige Entwickelung 
des Bruders Klaus. Es steht fest, daß in Unterwalden schon vor 
seiner Zeit eine mystisch-asketische Richtung vorhanden war, die sich 
in Ansiedlungen von Waldbrüdern kund gab, und zwar liegen Beweise 
dafür aus dem 14. Jahrhundert vor. Aber außerdem war das in Engel¬ 
berg bestehende Frauenkloster solch eine Pflegestätte der Mystik, wie 
sich das besonders aus dessen Beziehungen zu frommen Kreisen zu 
Straßburg und zu ähnlichen Verbindungen in der inneren Schweiz 
ergibt. 

Eine große Zahl anderer Stücke des Anhangs steht in engen Be¬ 
ziehungen zu den zahlreichen Abbildungen, die dem Werke einen ganz 
besonderen Wert verleihen. Es sind 39 große Tafeln und sehr viele 
weitere in den Text gestellte Illustrationen, deren Verzeichnis einen 
Raum von reichlich zwei Seiten einnimmt. Die im höchsten Grade 
mühevolle Sammlung und Beurteilung dieser Abbildungen ist ein nament- 

1) Neben dem großen Werke steht die gleichfalls von Dr. Dürrer ausge¬ 
führte Arbeit: »Die Kunst- und Arcbitekturdenkmäler Unterwaldens«, in der 
»Statistik schweizerischer Kunstdenkmäler« (von dem 1912 verstorbenen Prof. R. 
Rahn in Zürich). Von dieser gleichfalls sehr verdienstlichen Arbeit ist jedoch 
über Bogen 44 hinaus seit längerer Zeit nichts mehr erschienen, was bei der 
Ausdehnung des hier besprochenen Hauptwerkes begreiflich erscheint. 










liches Verdienst des Herausgebers, der dabei Beweise seiner eigenen 
Kunstfertigkeit darbietet. 

Die erste Abteilung behandelt hier die äußere Gestalt des Bruders 
Klaus (unter Nr. HI). Keine der erhaltenen Porträtdarstellungen geht 
über das Todesdatum des Bruders Klaus zurück, und die ältesten 
Originale stammen aus den Jahren 1504 und 1518. Hieran sich an¬ 
schließende Ausführungen sind den Stätten der Erinnerung an den 
Eremiten gewidmet und besitzen durch die Fülle des Materials ganz 
besondere Bedeutung. Die verwickelte Baugeschichte des sogenannten 
Geburtshauses bot Dürrer den Anlaß zu einer geradezu vernichtenden 
Kritik der bisherigen Forschungen über das schweizerische Bauern¬ 
haus, und dann folgt die Schilderung der Bruder Klausenzelle im 
Ranft, wobei ganz bestimmt ausgesprochen wird, daß diese Einsiedelei 
noch heute so erhalten sei, wie ßie 1468 entstanden ist. Für die 
Kenntnis der Grabstätten des Bruders und deren sukzessive Entwicke¬ 
lung kommen die drei auf S. 1164 mitgeteilten Grundrißskizzen in Be¬ 
tracht. Ein ausgedehnter Abschnitt ist am Schlüsse den zahlreichen 
mannigfaltigen Reliquien des Einsiedlers gewidmet. Die noch heute 
in Sächseln aufbewahrte Kutte des Bruders, sein Rosenkranz, Stöcke, 
der Bußgürtel, ihm zugeschriebene Trinkgeschirre, sein Degen werden 
hier nacheinander nach ihrer Echtheit erledigt. 

Indessen ist auch noch die vielfachen Erörterungen unterworfene 
Frage zu erwähnen, die an den Hauptvorgang der politischen Be¬ 
tätigung des Bruders sich anknüpft. Bekanntlich weiß die älteste und 
allein gültige Darstellung der Vermittelung des Bruders Klaus im 
Jahre 1481 durchaus nichts von einer persönlichen Anwesenheit des¬ 
selben im Rathaus zu Stans. Die zu den wichtigsten gleichzeitigen 
Bilderchroniken zählende Chronik des Luzerners Schilling ist in der 
Darstellung der Vermittlung des Bruders Klaus (auf Tafel III) die 
gänzliche Widerlegung jeglicher Behauptung einer persönlichen Be¬ 
teiligung des Einsiedlers an der so wichtigen Tagsatzung. Es war 
nun zwar naheliegend, daß in einer folgenden Zeit nicht mehr be¬ 
griffen wurde, daß die Tatsache der Friedensstiftung ohne unmittel¬ 
bare Beteiligung des Bruders Klaus sich habe vollziehen lassen. 
Immerhin hat es längere Zeit gedauert, bis die vollkommen un¬ 
historische Annahme Wurzel geschlagen hat. Es ist, wie Dun 
S. 165 darlegt, das sehr wahrscheinlich 1578 geschehen, als in de 
Zyklus von Gemälden in der unteren Ranftkapelle der Selige in solcli 
Weise in die Mitte der versammelten Gesandten gestellt wurde. Die 
Willkürlichkeit steht sehr wahrscheinlich mit einem völlig wertlos 
literarischen Produkt des Jahres 1577 in Zusammenhang. Doch faf 
dann diese jeder Grundlage entbehrende Erzählung so feste Wurz 




Go gle 












Bruder Klaus 


/ 




75 



daß bekanntlich noch im 19. Jahrhundert ein eifriger Verteidiger in 
einem vierbändigen Werke für die Sache eintrat. 

Dr. Dürrer denkt am Schluß seiner Einleitung dankbar 4er viel¬ 
fachen Hilfeleistungen bei seiner Arbeit. Allein zn allermeist hebt er 
>die selbstlose Mitarbeit« eines Freundes, des Dr. P. Emmanuel Scherer, 
O.S.B., Professor in Sarnen, hervor, der auch auf einem anderen Feld, 
als Verfasser der Publikation: >Die vorgeschichtlichen und frühge¬ 
schichtlichen Altertümer der Urschweiz« (Mitteilungen der Antiquari¬ 
schen Gesellschaft in Zürich, Bd. XXVII, 1916) sich ein Verdienst er¬ 
worben hat. 

Im richtigen Verhältnis zu dem hohen wissenschaftlichen Wert 
der Arbeit Durrers steht die schöne Ausstattung des Werkes in der 
wahrhaft vollkommenen Ausführung von Druck und Illustrationen. 


G. Meyer von Knonau. 


Bücherei der Kultur und Geschichte, her. von Seb. Hausmann. Band 5: 
Die Kreuzzüge von Albert von Ruville. VIII und 370 S., und Band 6: 
Das Zeitalter der Normannen in Sizilien von Willy Colin. Bonn 
und Leipzig 1920, Kurt Schröder. 212 S. 

Die Geschichte der Kreuzzüge, eine der internationalen Aufgaben 
unserer Wissenschaft, wurde im neunzehnten Jahrhundert besonders 
von deutschen und französischen Gelehrten gefördert. Während in 
Frankreich die bedeutende Quellenpublikation, Recueil des historiens 
des croisades, in stattlichen Foliobänden erschien, erwarben sich deut¬ 
sche Historiker bleibende Verdienste um die kritische Auswertung 
des Materials. Ihre Reihe eröffnete Rankes bester Schüler, Heinrich 
von Sybel, sie beschloß Reinhold Röhricht mit Werken von aner¬ 
kannter Solidität und Gründlichkeit 1 ). Seitdem hat der Eifer nicht 
nachgelassen — ich erinnere nur an die Untersuchungen und Editionen 
Hagenmeyers —, aber eine größere zusammenfassende Darstellung ist 
nicht wieder unternommen worden. Hat sie uns v. R.s hier vorliegendes 
Buch beschert? 

Im Vorwort bemerkt der Vf., daß er speziell eine Geschichte der 
Züge geben will. Dementsprechend werden die Assisen von Jerusalem 
nirgends eingehend besprochen (Dodu’s Pariser These nicht einmal im 
Literaturverzeichnis aufgeführt), sind die Ritterorden und die Handels¬ 
organisationen der Seestädte auf je einer Seite (125 und 126) abge- 

1) Vgl. z. B. die Besprechungen von Lamarche in der Revue de l’Orient 
latin 6,294; 7,604; 8,554. 















76 


Gött. ge). Anz. 1923. Nr. 1—3 


[' * 





handelt, bleiben endlich die Kulturprobleme des Zeitalters fast un¬ 
berücksichtigt. Das ganze Interesse konzentriert sich eben auf die 
politischen und besonders auf die militärischen Ereignisse. 

Ohne Zweifel erzählt v. R. viel lebendiger und anschaulicher als 
sein Vorgänger Röhricht. Und schöpft er auch meist nur aus zweiter 
Hand, so spürt man doch überall seine in Vorlesungen gewonnene 
Vertrautheit mit dem Gegenstand. Er verteilt die Stoffmasse auf drei 
große Abschnitte: »Zeit der Gründungen, des Strebens nach dem 
Hinterland und der Beschränkung auf das Vorland.« Der tiefe Ein¬ 
schnitt nach dem dritten Kreuzzug findet sich schon bei Ranke l )i 
immerhin wäre zu erwägen, ob die Cäsur nicht hinter Heinrichs VJ. 
Tode zu verlegen sei, d. h. ob die damalige Katastrophe des Im¬ 
periums nicht auch für die Kreuzzüge einen Wendepunkt bedeutete. 
Ueberhaupt ist meines Erachtens das Ineinandergreifen der morgen- 
und abendländischen Vorgänge nicht immer scharf genug beleuchtet, 
so bei dem vierten Kreuzzuge (hier wird auch die neuere Literatur 
über Venedig, Kretschraayr und Lenel, sowie über Innocenz IH., Lu- 
chaire, vernachlässigt), und besonders bei den Anfängen der Bewegung. 
Nirgends erfahren wir, daß sie ursprünglich in den romanischen Ländern, 
vor allem in Frankreich sich entwickelte, um erst später auf die 
übrigen Nationen des katholischen Kulturkreises überzugreifen. 

Die ganze Darstellung ist von zwei leitenden Gesichtspunkten 
beherrscht, zunächst von dem, was v. R. »die Prinzipien der histo¬ 
rischen Gestaltung«, die Entwicklung der »Zusammenhänge aus trans¬ 
zendentalen Tiefen« nennt, was in der Behauptung gipfelt, daß »kraft 
höherer Fügung der Fehlschlag« der Kreuzzüge »erfolgte«, und nun 
Schritt um Schritt bei jedem Einzelfaktum nachgewiesen wird. Solch’ 
ein aus dem ganz persönlichen religiösen Erlebnis geschöpftes Urteil 
entzieht sich natürlich jeder wissenschaftlichen Diskussion. Der zweite 
ist die Auffassung der Kreuzzüge als das Werk »mittelalterlicher Ko¬ 
lonialpolitik« (S. 29). Der Verfasser unterscheidet eine »päpstlich 
abendländische« (S. 124) und eine »kaiserlich-abendländische« (S. 205, 
289), betont ihren notwendigen Mißerfolg bei der damaligen Gestaltung 
der europäischen Welt (S. 339) und hebt schließlich ihre Beziehung 
zur »nächsten großen kolonialen Bewegung, dem Entdeckungszeitalter« 
hervor (S. 345). Er bleibt aber die Antwort auf die Frage schuldig, 
wie weit sich die kolonialen Ziele aus den zeitgenössischen Aeuße- 
rungen, an denen es ja nicht fehlt, nachweisen lassen. Und davon 
abgesehen — dieser eine Gesichtspunkt, so in den Vordergrund ge¬ 
drängt und mit den Ereignissen späterer Jahrhunderte verknüpft, tut 
den Dingen Gewalt an. Er läßt v. R., ähnlich wie sein religiöses Be- 

1) Weltgesch. 8,261. 


[' * 














T 


Bücherei der Kultur und Geschichte 


77 


kenntnis, nur die .negativen Ergebnisse der Kreuzzüge bemerken und 
verhüllt ihm ihre ungeheure, positive Wirkung 1 ). 

In der gleichen Sammlung erschien die Geschichte der Normannen 
von W. Cohn. Die Art, wie der Verfasser sich der Darstellung Cha- 
landons bedient, ist schon bei seiner Dissertation gerügt worden 2 ). 
Auch die um die Gestalt Rogers U. gruppierten Abschnitte erinnern 
doch zu sehr an die entsprechenden Kapitel von Caspars Biographie. 
Und die eigenen Gedanken des Verfassers? — S. 66: »Primitivste 
Religionsauffassung spricht aus< der Reliquienverehrung. S. 98: »Darin, 
daß« Roger von der Toleranz »abwich, liegt das Geheimnis, warum 
das Reich von der Blüte, die es unter ihm so rasch erstiegen hatte, 
ebenso rasch herabsank.« S. 81: »Fast überall bedeutete sonst eine 
germanische Eroberung eine Vernichtung alter Kulturwerte.« S. 122: 
»Es ist eine in der Weltgeschichte sich immer wiederholende Tat¬ 
sache, daß Adelsverschwörungen sich ein monarchistisches Mäntelchen 
umzuhängen versuchen.« — S. 38: Großadmiral Georg von Antiochia 
zuerst mit Bismarck, unmittelbar darauf mit Alkibiades verglichen. — 
Diese Auslese ließe sich leicht vermehren. 

Ich habe den Eindruck, daß C. seine Arbeit zu rasch zusammen¬ 
geschrieben hat. Das verrät wohl auch der Stil des Buches. Einmal 
(S. 22) läßt es den siegestrunkenen Blick seiner Helden über Sizilien 
schweifen, dreimal (20, 53, 187) frägt er nach den Gefühlen, die ihre 
Brust erfüllen, aber mehr als zwanzig Mal lehnt er solche Einzel¬ 
heiten ab mit einer Phrase wie: Es würde zu weit führen, wollten 


wir 


A. Hessel. 


Göttingen. 

1) Natürlich ist auch im einzelnen mancherlei einzuwenden. Ich greife will- 
' kürlich zwei Beispiele heraus: S. 52 wird das Heer des ersten Kreuzzuges auf 

300000 Mann geschätzt, S. 95 von einem »fast Halbmillionenheer« gesprochen, 
während Hellmann (Das Mittelalter 1920 S. 214) noch 100000 als zu hoch erklärt. 

— S. 268 findet sich der Satz: »1217 bestiegen Friesen, Rheinanwohner aus 
Worms, Mannheim, Lüttich und Köln, Holländer, Engländer ... ihre Schiffe.« 

— Aber Lüttich liegt an der Maas. Und die Parallelstellung von Engländern mit 
den Bewohnern des Dorfes Mannheim will mir nicht einleuchten. Oder sollte da¬ 
mit das Monnheim der Gesta Crucigerorum Rhenan. — gemeint sein, das der 
Herausgeber jener Chronik aber mit dem modernen Mühlheim identifiziert?. 

2) Vgl. Palmarocchi im Archivio stör. Italiano V, 48 S. 423. 



Co gk 















F. Philipp!, Einführung in die Urkundenlehre des deutschen 

Mittelalters (Bücherei der Kultur und Geschichte, her. von S. Hausmann. 

Bd. 3). Bonn und Leipzig 1920, Kurt Schroeder. VIII und 256 S. 

Ein Veteran der diplomatischen Wissenschaft und der archivali- 
schen Praxis schenkt uns dieses Buch. Wir nehmen es dankbar ent¬ 
gegen, denn es ist flüssig und anregend geschrieben; auch bringen 
manche der die Darstellung belebenden Beispiele bisher unbekanntes 
Material ! ). 

Auf einleitende Bemerkungen zum Begriff der Urkunde folgt ein 
kurzer Abriß der Geschichte der Diplomatik. Hier wird das epoche¬ 
machende Wirken Sickels und Fickers wohl gewürdigt, dann aber 2 ) 
»eine von innen heraus angefaßte Darlegung der allmählichen Ent¬ 
stehung« der Urkunden als ein bisher noch nicht erreichtes Ideal hin¬ 
gestellt. Solche Aeußerungen können leicht zu Mißdeutungen Anlaß 
geben. Gerade die von Sickel und Ficker geschaffene, von seinen 
Nachfolgern ausgebaute Methode erfüllt die von Ph. erhobenen Forde¬ 
rungen. Nur fehlt bis jetzt die befriedigende Antwort auf die Frage, 
ob und inwieweit dieselbe zur Bewältigung der großen Masse der 
sogenannten Privaturkunden, besonders des ausgehenden Mittelalters 
modifiziert werden muß. — Der erste Abschnitt beschäftigt sich mit 
dem »Aeußeren der Urkunden«, dabei auch mit dem, was nach der 
sonst heute üblichen Terminologie zu den inneren Merkmalen ge¬ 
rechnet wird. Selbst die neuerdings zwischen Paläographie und Diplo¬ 
matik gezogene Grenze respektiert der Vf. nicht und handelt breit 
von Schreibstoffen und -geräten. Um so auffallender wirkt die Kürze 
der Uebersicht über die Schriftentwicklung, zumal sie die Arbeiten 
Traubes unberücksichtigt läßt 8 ). In dem Kapitel »Formeln« tritt der 
Wesensunterschied zwischen Kontext und Protokoll nicht hervor, in 
dem der »Datierung« gewidmeten wäre ein Hinweis auf die Rechen¬ 
fehler, die für das frühere Mittelalter so charakteristisch sind, wohl 
am Platze gewesen. — Der folgende Abschnitt will über die Formen 
der »Beglaubigung« unterrichten. Mit Recht wird bei den antiken 
Verhältnissen lange verweilt. Nur hätte der Vf. seine Stellung zur 
Kontroverse Brunner-Freundt schärfer präzisieren und die Fülle neuer 
Erkenntnisse, die wir der Papyros-Forschung verdanken, vollständiger 
ausnützen können. Sonst aber gehört das vom »Siegel« handelnde 




1) Zum bellum diplomaticum zwischen Abtei und Stadt Lindau vgl. jetzt 


noch Erben in Hist. Zeitscbr. 125,97. 

2) Vgl. auch S. 202. 

3) Auch sonst weisen die Literaturangaben Lücken auf. Steinacker und 
Brandi z. B. finde ich nicht zitiert. 






















Philippi, Einführung in die Urkundenlehre des deutschen Mittelalters 79 

Kapitel, wie zu erwarten war, zu den besten des Buches. — Der 
dritte und letzte Abschnitt bespricht leider viel zu kursorisch die 
einzelnen Urkundenarten. Das macht sich besonders bei den Papst- 
und Privaturkunden geltend. So erfährt der Leser fast nichts von 
der großartigsten Organisation, die das Mittelalter auf diesem Gebiete 
kennt, der römischen Kanzlei, zu wenig ferner von dem Kampfe der 
germanischen und antiken Rechtsgewohnheiten und dem Sieg der 
ersteren im Zeitalter der Traditionsbücher. — Die Anhänge enthalten 
wertvolle Ratschläge zur Pflege und Edition von Urkunden. Auch hier 
vermißt man mancherlei; z. B. die Erfolge des Beuron-Laboratoriums 
oder das in jüngster Zeit viel erörterte Problem der Regestentechnik. 

Ph. betont selbst zum Schlüsse: »Die Darstellung wird mit Recht 
vielen ungleich erscheinen. Sie behandelt einzelne Punkte ausführlich und 
geht über andere kurz oder ganz hinweg.< Widerspricht ein solches 
Verfahren aber nicht gerade dem Zweck des Buches, das »den jugend¬ 
lichen Hochschüler< und »die weite Masse der Gebildeten« in die 
Urkundenlehre einführen will 1 )? 

Göttingen. • A. Hessel. 

1) Die Darstellung hält sich nicht frei von Druckfehlern und Unrichtigkeiten 
im einzelnen. Hier seien nur ein paar Beispiele angemerkt. Zu S. 25: es gibt 
echte Papsturkunden auf Pergament vor 1000; z. B. Joh. XIII. J.-L. 3714. — Zu 
62: »lautliche Wiedergabe deutscher Wörter« wurde nicht erst im 13. Jahrh. 
versucht. — Zu 65 und 85: Tironische Noten waren keine Geheimschrift. — Zu 
89: feria sexta = Sonnabend (!). — Zu 110: Von eigenhändiger Unterschrift in 
St. Galler Urkunden darf nur mit Vorbehalt gesprochen werden. — Zu 160: über 
die verlängerte Schrift in D. D. unterrichtet besser Brandi (im A. f. Uf. 1, 79). 
— Zu 170: Sieg der Minuskel über die Kuriale um 1000 (!). — Heinrich III. um 
die Mitte des 12. (!) Jahrh. — Zu 187* die ältesten Register waren nicht auf 
Pergament geschrieben. 


Go gle 

















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80 


Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 1—3 


Joseph Kroll, Beiträge zum Descensus ad inferos, Verzeichnis der Vor¬ 
lesungen Braunsberg 22/23. 56 S. 

Die kleine Schrift, die noch eine Fortsetzung erhalten soll, schon 
hier anzuzeigen, bestimmt mich ihr Eingreifen in die durch Boussets 
frühen Tod abgebrochene Auseinandersetzung zwischen diesem und C. 
Schmidt (Texte und Untersuchungen Bd. 43), da des letzteren Ver¬ 
such, wie ich aus einer Angabe Krolls ersehe, von theologischer Seite 
wieder aufgenommen werden soll. Mit feinem, an seinen hymnolo- 
gischen Arbeiten geschulten Stilempfinden, eindringender Interpretation 
und reicher Belesenheit Boussets Gedanken fortführend verfolgt Kroll 
die Auffassung der Hadesfahrt Jesu als Ueberwindung des Todes und 
des Höllenfürsten und erweist ihr Alter und ihre Verbreitung, sowie 
die literarische Ausgestaltung der einzelnen tönoi. Den Ursprung 
sucht er mit Recht in der ältesten Gemeindefrömmigkeit, und Wetters 
reiches Buch »Altchristliche Liturgien« findet warme Anerkennung und 
glänzende Bestätigung. Ich stimme gern zu; nur in der ersten Epoche 
des Christentums scheint mir die Uebernahme dieser Vorstellung über¬ 
haupt denkbar, da sie einen integrierenden Bestandteil seiner ältesten 
Eschatologie bildet; unmittelbar nach der Vernichtung dieser Gegner 
erwartete man die Wiederkunft; schon die nächste Zeit mußte durch 
erkünstelte Erklärungen den Widerspruch dieser Anschauung und der 
Wirklichkeit verdecken. Einzelne Beiträge, Trümmer halbliturgischer 
oder märchenhafter Literatur, hoffe ich an anderem Orte in größerem 
Zusammenhang bieten zu können — wenn wir in Deutschland dann 
noch drucken können. 

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Göttingen. R. Reitzenstein. 


Für die Redaktion verantwortlich: Dr. J. Joachim in Göttingen. 


Go gle 














Nr. 4-6 


April bis Juni 1923 


John A. Scott, The unity of Homer (Sather classical Lectures. Vol. 1). Uni- 
versity of California Press. Berkeley 1921, 275 S. geb. 3,25 sh. 

Unsere Besprechung des von dem amerikanischen Homerforscher 
liebenswürdiger Weise übersandten Buches darf mit der Tatsache 
rechnen, daß in den Neuen Jahrbüchern 1922, Heft 4 bereits eine 
ausführliche Inhaltsübersicht davon erschienen ist, auf die wir aus¬ 
drücklich verweisen. Wir haben dadurch die Möglichkeit gewonnen, 
in die Kritik einzutreten und im allgemeinen aus dem Inhalt nur die 
Punkte herauszugreifen, auf die es uns zu seiner Beurteilung haupt¬ 
sächlich anzukommen scheint. Es trifft sich sozusagen von selber, daß 
jene Besprechung sich genauer mit der ersten, vorzugsweise defensiven 
Hälfte befaßte, während uns vor allem daran liegt, zu erfahren, wie 
der Verf. selbst positiv seine These beweist. Naturgemäß war der 
amerikanische Unitarier dem treuen Anhänger Karl Rothes (F. Stürmer) 
vor allem darum willkommen, weil er in ihm einen Bundesgenossen 
erkennt im Kampf gegen die >Feinde« Homers, die Homerkritiker 
von Wolf bis Wilamowitz, während ein Anhänger gerade dieser kriti¬ 
schen Homerbetrachtung, dem die Einheit eines jeden der beiden Epen 
und die Identität ihrer Verfasser ein Problem ist, darauf gespannt 
sein muß, wie ein Unitarier mit diesen Fragen fertig wird, in denen 
es sich ja nicht mehr nur um lokale Anstöße und Widersprüche, son¬ 
dern um durchlaufende Schwierigkeiten und grundsätzliche Dinge 
handelt; denn daß die Homerkritik vielfach in der Irre gegangen und 
auch mit den neuesten Arbeiten nicht am Ziel ist, gibt er von vorn¬ 
herein zu. In der Tat macht uns der Gelehrte die Freude, ein solches 
zentrales Problem, wie es ihm in der griechischen Literaturgeschichte 
von Mahaffy gestellt war, die Erklärung des Widerspruchs in Hektors 
Verhalten, anzupacken: da können sich also unitarische und kritische 
Methode messen (denn wenn auch weder Scott noch ich uns in erster 
Linie als methodische Personifikationen fühlen, so wohnen doch jedem 
Verfahren prinzipielle Grundtendenzen inne, die für die Arbeitsweise 
und die Resultate bestimmend sind). Auf das Methodische, das sei 

GStt. gol. An:. 1623. Nr. 4-6 6 


Go gl: 


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82 



ausdrücklich hervorgehoben, kommt es uns in der Tat sehr an, nicht 
weil wir die Methode für die Mutter der Wissenschaft hielten, wohl 
aber für eine Maschine, die man möglichst oft nachsehen und bei der 
man auch wissen muß, mit was für Voraussetzungen sie geheizt wird. 
Dabei sind wir uns durchaus darüber klar, daß die dogmatisierende 
Einstellung der Unitarier und die kritische Behandlung Homers in 
ihrem Kern und Wesen unvereinbare Gegensätze sind. Was sie ein¬ 
ander leisten können, guten Willen vorausgesetzt, ergibt sich aus der 
Situation ihres Gegensatzes, und es darf als Tatsache hingestellt 
werden, daß z. B. die Einwände Rothes und 0. Jägers in der Fest¬ 
stellung und Bewertung der Widersprüche von der Kritik weitgehend 
als berechtigt anerkannt und benutzt worden sind. Ob auch umge¬ 
kehrt, weiß ich nicht und ist mir wenig wahrscheinlich, weil die uni¬ 
tarische Methode ein starres System ist, <n dem es zwar technische 
Vervollkommnung, aber keine Umstellung geben kann. 

Jedenfalls gilt das von dem vorliegenden Buch, das in seiner 
Verständnislosigkeit und Zugeschlossenheit gegen die von der andern 
Seite kommenden Gedanken eine Rekordleistung aufstellt und, diese 
Bemerkung sei nicht unterdrückt, allzuhäufig den einzelnen deutschen 
(nur diesen!) Kritikern gegenüber in einen Ton verfällt, der in einem 
Pamphlet üblich sein mag, aber (trotzdem die exempla gerade in der 
philologischen Diskussion nicht fehlen) schwerlich, wenn so schon in 
der Sache der Gegensatz scharf genug ist, zur Klärung der wissen¬ 
schaftlichen Lage beitragen kann. Vor allem scheint dem Verf. Wila- 
mowitz auf die Nerven gefallen zu sein, dem er z. B. seine auf 
S. 160—170 gebrauchten tadelnden Aeußerungen über die Ilias wie 
ein Sündenregister vorhält, um ihn the last and the mightiest of the 
revilers of the Iliad zu nennen; aber Wolf, Bergk, Fick, Mülder u. a. 
kommen nicht besser weg. Daß das Motiv bei allen, jedenfalls den großen 
Kritikern, die Gewinnung der Schönheit Homers ist, sollte doch nicht 
übersehen werden können, so willkürlich und gewaltsam, ja gewalt¬ 
tätig die angewandten Mittel sein mögen. Schließlich sind es doch 
nicht nur Blindheit und Dummheit, die die Homerkritik ins Leben 
gerufen haben. Sagt doch der Verf. S. 152 wörtlich: »Die wissen¬ 
schaftliche Bedeutung und der ästhetische Wert der deutschen Ge¬ 
lehrsamkeit ist, daran besteht kein Zweifel, gewaltig in Mißkredit ge¬ 
bracht worden durch die Anwälte der höheren Kritik, besonders in¬ 
folge der Tatsache, daß diese Theorie gerade in Deutschland ihre 
sogenannte wissenschaftliche Geburt (l) 1 ) und ihre meisten Stützen 

1) Dem Verfasser des Buches Un mensonge de la science allemande (Pohlenz 
N. J. 1Ü19) paßte es für den gleichen Zweck besser, Wolf als Plagiator hinzu¬ 
stellen. Wie’s trefft! 


Go gle 





Scott, The unity of Homer 


83 


erhielt. Wolf, Laclimann, Kirchhoff, Wilamowitz und eine lange Liste 
bekannter Namen haben viel getan, die Welt zu überzeugen, daß die 
deutsche Wissenschaft blind und dumm ist, darauf versessen, falsche 
Tatsachen zu schaffen in der Absicht, damit eine falsche Theorie zu 
stützen (bent on making false facts in order to Support a false theory). 
Aber Goethe und Schiller gewannen ihr ehrliches Gesicht (honeste 
Vision) wieder oder bewahrten es und verteidigten die dichterische 
Einheit Homers<. Und Schliemann, Dörpfeld, Ludwich, Rothe, Stürmer 
und Drerup hätten dafür gesorgt, daß wenn man das große Fazit 
ziehe und »Debet gegen Kredit verrechne, man aufrichtig zugeben 
müsse, die Welt der Homerforschung stehe in der überwältigenden 
Schuld Deutschlands«. An anderen Stellen erscheinen die Homer¬ 
kritiker als Sonntagsjäger, die Homer als Jagdgebiet betrachten, auf 
dem sie am mühelosesten zu Ruhm und Ansehen zu gelangen meinen, 
weil man sich da weder um den Text noch um wirkliche Kenntnisse 
zu bekümmern brauche, sondern frei schweifend seiner Phantasie und 
den Eingebungen einer Creative and productive scholarship folgen 
dürfe. Oder es wird von Fick, Robert, Mülder, Bethe, Wilamowitz 
gesagt, daß sie »nicht bezüglich eines einzigen Verses der Rias über¬ 
einstimmten, daß jede Zeile mindestens von zweien von ihnen ver¬ 
worfen sei. Da kann es keine Homerforschung, keine literarische 
Würdigung geben, unter solcher Führung, denn Homer hört auf ein 
Dichter und sein Werk Poesie zu sein und wird lediglich eine Theorie 
von Fick usw. Sie hat sich selbst von Wissenschaft ebenso weit ent¬ 
fernt als von Poesie und ist einfach ein Blindekuhspiel in einem 
Sumpf geworden, in welchem niemand imstand ist etwas zu fangen 
und der Spieler keine Vorstellung von dem hat, was er fangen will. 
Homer in solchen Händen wird zu keiner Dichtung mehr begeistern. 
Mehr als 100 Jahre lang hat die Homerforschung sich selber dem 
Geschäft verschrieben, Irrtümer, Widersprüche und seltsame Erschei¬ 
nungen in beiden Gedichten zu finden«. ... Wir wiederholen, daß es 
uns gerade einer so komplizierten Aufgabe gegenüber, wie die home¬ 
rische Frage sie darstellt, untunlich erscheint, sie mit solchen teils 
individuellen, teils generellen Stimmungen noch weiter zu belasten. 
Ganz abgesehen von den Verirrungen und Entgleisungen, auf die zu 
entgegnen wir uns versagen, gerade wer die Kritik, daß die kon¬ 
struktive Phantasie in der Homerforschung eine gefährliche Rolle ge¬ 
spielt habe, für zutreffend hält, wird diese maßlosen Uebertreibungen 
bedauern. So ist es wohl zu erklären, daß der Verf. aus den letzten 
Untersuchungen von Wilamowitz und Bethe zwar Einzelheiten, Ma¬ 
terial für sein Sündenregister und für seine Apologie, herausgeholt, 
aber offenbar gar nicht bemerkt hat, daß beide sich in der Würdi- 

6 * 

















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84 


Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 4—6 


gung des Aufbaus der Epen und in der Schätzung des Autors und 
auch in der Frage der gemeinsamen Verfasserschaft dem unitarischen 
Standpunkt wesentlich genähert haben, daß also die Problemstellung 
sich seit K. Rothe doch stark verschoben hat. Freilich dem Unitarier 
geht es ums Ganze, er ist nicht mit der Einheit zufrieden, solange 
daran irgend welche Abstriche gemacht werden (vgl. den Eingang 
der Rez. in den Neuen Jahrbüchern), ob diese nun in der Annahme 
von Einzelgedichten oder ob sie in Kritik gegen die Qualität und 
Selbständigkeit der dichterischen Leistungen bestehen, er will die 
Einzigkeit Homers, the single Homer, oder mit den letzten Worten 
des Verf. the belief of one divine Homer, and only one. Das und 
nichts anderes ist ja eben der letzte Zweck und Grund der Ver¬ 
werfung aller und jeglicher Homerkritik. Und wirklich ist die Ein¬ 
heit jeder von der kritischen Betrachtungsweise herkommenden Alt, 
auch wenn sie die letzten Lachmannschen Nachwirkungen, wie die 
Kleinepen Bethes, ablehnt, deswegen von derjenigen der Unitarier total 
verschieden, weil ihr Homer ein ganz anderer wird, nicht jener vor¬ 
kritische einzigartig originale, nur aus der Fülle der eigenen Gesichte 
schöpfende, an Stelle der farblosen, schemenhaften Namen, die ihm 
die allgemeine Sage gab, neue Gestalten voll unübertroffenen Lebens 
schaffende, aus dem Dunkel der grauen Vorzeit wie eine poetische 
Offenbarung vorbrechende, im Staub zu verehrende Genius, sondern 
eine geschichtliche Erscheinung, deren Arbeitsweise und -bedingungen 
wir noch erschließen können, ein Autor, der nicht bloß im allgemeinen 
Vorgänger hatte, sondern Vorlagen, um es recht prosaisch auszu¬ 
drücken, literarische Quellen, und der von ihnen einen Gebrauch 
machte, daß wir lieber möchten, wir hätten sie ohne seine Ent¬ 
stellungen, also eine ihrem Wesen und ihrer geschichtlichen Bedeu¬ 
tung nach sekundäre, nicht primäre Erscheinung. Und zwar erscheinen 
uns die Beweise für diese literarische Beurteilung so eindringlich, 
daß uns Schiller und Goethe und Macaulay und was für Autoritäten 
man sonst noch aufbieten mag, nicht beirren können, weil wir nicht 
Schönheit um den Preis der Wahrheit, sondern zuerst Wahrheit, dann 
Schönheit wollen und nur so ihrer innerlich froh werden können, aber 
es auch wirklich werden, weil wir mit unseren Augen sehen, nicht 
mit denen vergangener Zeiten, deren Vorurteile wir ablegen mußten. 
Hier handelt es sich eben zuerst um eine wissenschaftliche Frage, nicht 
»schließlich lediglich um einen Gegenstand der Poesie, worin niemand 
in Deutschland ein so kompetenter Richter war wie Deutschlands 
größter Dichter<, wo man, wie Scott versichert, »sich nicht leicht 
plagen läßt von Mängeln, welche die Grammatiker entdeckten, wenn 
Goethe und Schiller sie nicht finden konnten.« Da, an dieser Stelle, 













Scott, The unity of Homer 


85 


in dem Willen und der Fähigkeit zu vorurteilsfreiem, sich von der 
noch immer übermächtigen Homersuggestion lösenden selbständigen 
Denken liegen die tiefsten Wurzeln der Divergenzen, nicht in dem 
Verhältnis zur Poesie. 

Von den acht Kapiteln des anzuzeigenden Buches, um nun zum 
Einzelnen überzugehen, beschäftigen sich vier (2—5) mit der Homer¬ 
kritik und vier geben das, was der Verf. selber zum Beweis der Ein¬ 
heit der beiden Epen und der Identität ihres Autors zu sagen hat. 
Wir besprechen sie in chronologischer Reihenfolge, das Einleitungs¬ 
kapitel zuletzt. Aus den Verweisungen ist zu ersehen, daß den wissen¬ 
schaftlichen Kern jener hauptsächlich apologetischen Kapitel einzelne 
Aufsätze bilden, die bereits früher, zum Teil vor zehn und mehr 
Jahren, in den amerikanischen Fachzeitschriften erschienen sind. Um 
sie in sein Buch einzufügen, hat der Verf. sie abgerundet und er¬ 
gänzt. So liegen dem zweiten Kapitel über die Argumente Wolfs 
zwei Aufsätze über die attischen Interpolationen zu Grund (Klass. 
Phil. VI und IX), in denen der Verf. wertvolle Bemerkungen gegen 
die Annahme macht, daß ein Athener diese eingefügt habe: freilich, 
das halte ich nicht für erwiesen, daß es überhaupt keine Interpola¬ 
tionen seien, kann aber, da die Erörterung in die Untersuchung der 
Entstehung vor allem der Ilias und des, Schiffskatalogs ausgreifen 
müßte, hier nicht darauf eingehen, um nachzuweisen, daß im Epos 
solche Tendenzen in maiorem gloriam singularum civitatium Grae- 
carum, allerdings nicht allein Athens, nachweisbar sind. Die Ab¬ 
rundung geschah einmal nach der oben charakterisierten allgemeinen 
Einstellung auf eine denkbar schroffe Bekämpfung der Homerkritik 
und besonders ihrer deutschen Hauptvertreter — wäre unsere Auf¬ 
gabe historisch-psychologisch, nicht philologisch, so würde es inter¬ 
essant sein, zu untersuchen, inwiefern mans früher anders las — und 
andrerseits dahin, daß Wolf nun als der verantwortliche 
charakterisiert und brüskiert wurde, so daß man zunächst verwundert 
ist über die ausdrückliche Bekämpfung lange erledigter Dinge, zu 
denen ich auch die pisistratische Rezension rechne, in einem syste¬ 
matisch , nicht geschichtlich angelegten Zusammenhang. Daraus 
erklärt es sich, daß die Bedeutung von Lachmanns Betrachtungen 
überhaupt nicht erwähnt und die >Volkspoesie« bei Wolf abgetan 
wird, indem das Erscheinungsjahr der Prolegomena den Verf. darauf 
leitet, einen Zusammenhang mit den Ideen der französischen Revo¬ 
lution, »ihrem allgemeinen Skeptizismus und ihrem Mißtrauen gegen 
ererbte Anschauungen und bestehende Institutionen — everything 
vent into the caldron of doubt« — anzunehmen und weiterhin (wie 
modern!) über den Gegensatz von Masse und Genie, common man 





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86 


Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 4—6 


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and superman, Verbindungslinien zu Marx herzustellen! Die Ueber- 
gehung Lachmanns — nur eine im Sinn des Verf. blamable Aeuße- 
rung wird aus Philol. 30,43 aufgegriffen — ist darum zu bedauern, 
weil ein Unitarier der Homerkritik hier einen großen Dienst hätte 
leisten können: herrscht doch bis auf den heutigen Tag ganz all¬ 
gemein die dorther stammende Selbstverständlichkeit, mit der man 
bei auftauchenden Schwierigkeiten sofort an verschiedene Autoren 
denkt, dagegen die Lösung unter Beibehaltung desselben Autors irgend¬ 
welche zeitlichen Abstände, eine Veränderung seines Aufbaus usw. 
zur Erklärung zu verwenden, überhaupt nicht diskutiert oder ohne 
Angabe von Gründen ablehnt. Diese Theorie ist noch bei Bethe und 
Wilamowitz der eigentliche Grund, warum sie Ilias und Odyssee nicht 
wie ein anderes ähnliches Kunstwerk in die Hand nehmen, und das 
ist die eine starke Wurzel ihrer Konstruktionen, welche ein Unitarier 
bloßlegen konnte, während er allerdings ihre andere nicht minder 
starke zu sehen außer stände war, weil er (welche Verwandtschaft!) 
an derselben Wurzel hängt, die Idee von dem unfehlbaren Homer. 
Der wertvollste Beitrag, den m. E. Scott zur Homerforschung ge¬ 
leistet hat, steckt in dem (dritten) Kapitel über die sprachlichen 
Argumente. Durch genaue Zählungen hat er festgestellt, daß die 
Behauptung sprachlicher Unterschiede zwischen Ilias und Odyssee auf 
unbrauchbaren und ungenauen Zahlen beruht. Einen Teil davon hat 
bereits K. Rothe in seinem Iliasbuch (19 ff.) verwendet. Die Aner¬ 
kennung, die der Verf. dafür gefnnden hat, ist offenbar der Grund, 
warum dieses Kapitel von besonders überlegenen Ausfällen strotzt. 
>Der bestmögliche Beweis, daß die höheren Kritiker keine wirklichen 
Homerstudien getrieben haben, ist durch die Tatsache geliefert, daß 
nicht ein einziger von ihnen jemals unabhängig irgend einen von den 
oben berührten Rechenfehlern entdeckt hat.< Von dem (vierten) Ka¬ 
pitel über Altertümer und Verwandtes ist die Studie über »ange¬ 
nommene Widersprüche in den Jahreszeiten der Odyssee«, gegen 
Wilamowitz gerichtet, wiederholt aus Class. Phil. XI. Für das 
Uebrige, besonders die an Drerup sich lehnende Widerlegung, die 
gegen Bethes Auslegung und chronologische Auswertung von Z 303 
versucht wird, verweisen wir auf den Bericht Stürmers. Dem (fünften) 
Kapitel über die Widersprüche, das Lieblingsthema der Unitarier, 
liegt eine Einteilung zugrunde, die für sich selber spricht und jeden¬ 
falls ebenso wenig wie der ganze Abschnitt verrät, daß auf den Grund¬ 
lagen K. Rothes weitergebaut worden ist; denn wenn neben Thake- 
rays Newcomes zum Beweis, daß derselbe Autor in Widerspruch mit 
seinen eigenen früheren Angaben geraten könne, der Don Quixote 
angeführt wird, so dürfte das nicht als ein Fortschritt, sondern eben 












Scott, The unity of Homer 


87 


als eine Donquixoterie zu bewerten sein. Scott teilt also ein in 1. tat¬ 
sächliche Widersprüche (einziges Beispiel E 576 gegen N 658): 2. durch 
falsche Uebersetzungen oder Mißverständnisse und sonstige Fehler der 
Kritiker entstandene Widersprüche (Beispiele von Bergk, Bethe, Ma- 
haffy, Wilamowitz, Fick), 3. Widersprüche oder Unstimmigkeiten (contra- 
dictions or inconsistencies) als Folgen der eigentümlichen poetischen 
Darstellungsform, d. h. vor allem sog. Augenblicksmotivierungen (Bei¬ 
spiel: Hektors Weggang aus der Schlacht am Beginn von Z). In 
einer nicht auf aggressive Apologetik eingeschränkten Betrachtungs¬ 
weise hätte vermutlich die Logik stärker mitgewirkt, zumal die klare 
Unterscheidung der englischen Sprache zwischen contradictions und 
inconsistencies eine vortreffliche Basis liefert, von wo aus die Trag¬ 
weite beider Arten abzuschätzen war. Dabei hätte es vor allem einer 
Auswahl von einwandfreien Beispielen bedurft, zu denen m. E. der 
Anfang von Z nicht gehört; vielleicht blieben so als problematisch, 
d. h. nicht aus der immer wieder zu beobachtenden Art oder Manier 
des Dichters zu erklären, nur eine nicht allzu große Zahl contra¬ 
dictions übrig. Aber zu diesen nur den toten und wieder erstandenen 
Pylaemenes zu rechnen und z. B. Z129 gegen E, A84 gegen 11775 
usw. einfach mit Hilfe einer Theorie vom getrennten Vortrag der 
Teile des Epos töten — da sollte man wenigstens nicht just daneben 
(S. 152) Ausfälle gegen die Homerkritik setzen, wie die oben zuerst 
zitierten! Es ist wahr, Z129 beweist, die spielerische Behandlung der 
Götter und die Ausschaltung religiöser Motive vorausgesetzt, nicht 
soviel, als man gemeint, zumal es in einer lose sitzenden Partie steht, 
wo die Annahme leicht ist, daß sie nicht in einem Zug mit ihrer 
Umgebung ausgearbeitet ist; aber man soll doch auch nicht zuviel 
bestreiten: verschiedene Verfasser — das ist unter den eben be- 
zeichneten Umständen vielleicht, ja wahrscheinlich zu viel gefolgert, 
aber zeitlicher Unterschied, das ist doch selbstverständlich, die Stelle 
also ein unverächtliches Kriterium neben den andern. Und so auch 
mit dem anerkannten Pylaemenes: also besteht eben, normaler Weise, 
zwischen der Abfassung beider Stellen ein vielleicht größerer zeit¬ 
licher Abstand, es fragt sich, ob noch andere Anzeichen dafür sprechen, 
was m. E. zutrifft. Nicht minder die alte crux A84 gegen n 775: der 
Schlachttag war erst nicht so lang, das folgt natürlich nicht aus 
diesem Widerspruch, er ist nur ein Ausrufezeichen und ein hinzu¬ 
tretendes Argument. Genug, gerade die von unitarischer Seite immer 
wieder vorgebrachten Beispiele, z. B. Schillers Don Carlos, sollten 
doch zu denken geben: man denke doch an seine Entstehungsge¬ 
schichte, oder an die Wandlungen und Umgestaltungen, die auch 
Shakespeares, Goethes und anderer Werke durchgemacht haben. Ich 


• i? i 


• > 























glaube, es gibt nicht leicht ein Gebiet literargeschichtlicher For 
schung, auf dem so unvorsichtig und willkürlich mit Widersprüchen 
um gesprungen wurde wie in den anonymen homerischen Epen. Wes¬ 
halb? Weil Lachmann auf der einen und der »einzigartige Homer« 
auf der anderen Seite den Blick trübten und zu extravaganten Folge¬ 
rungen führten, die eine ebenso überspannte Reaktion, für alles und 
jedes plausible Ausreden zu linden, hervorriefen. Proben dafür aus 
Scott haben wir bereits mitgeteilt. Er geht sogar soweit zu erklären: 
»Diese Widersprüche bei Homer sind ein Beweis, daß sie von einem 
originalen Genius kommen, von einem der er selbst ist«, während 
ein mittelmäßiger Interpolator vor allem darauf Acht gehabt hätte, 
daß alles paßte und er nicht entdeckt wurde, und z. B. selbst 
n 259 ff. alles in Ordnung zu finden. Mit Scott halte auch ich die 
Interpolationstheorie und ihre Benutzung als Heckenschere zum Aus-* 
putzen des Textes und zur Wiederherstellung des ursprünglichen, 
von allen Wucherungen freien Homer — ich denke z. B. an die Be¬ 
arbeitung des n durch Wilamowitz, oder an E. Schwartz’ Schrift zur 
Entstehung der Ilias — für etwas ganz Unmögliches. Das sind Ver¬ 
gewaltigungen, eine Art der Textbehandlung, die den Maßstab nicht 
dem Schriftsteller und seinem Gesamtbestand, sondern eigenen mit¬ 
gebrachten Vorstellungen entnimmt; während man aber sonst kon¬ 
servativer geworden ist, hält man bei Homer noch daran fest, statt 
altererbte Vorstellungen einmal gründlich nachzuprüfen. Der Fehler 
dieses Verfahrens, dem wir in dieser methodischen Untersuchung mit 
zu Leibe gehen müssen, liegt außer in der unbewiesenen Voraus¬ 
setzung von »Schichten« im Epos darin, daß man nur von Fall zu Fall 
Anstöße beobachtete und durch vereinzelte Beseitigung sich half, wo¬ 
bei denn, darin hat Scott ganz recht, der eine dies, der andere das 
anstößig fand, ohne auf die großen Zusammenhänge zu achten und 
zu fragen, ob denn nicht etwa System darin sei, ein Plan, den es 
doch erst einmal wieder zu erkennen gelte. Was wir meinen, werden 
wir im Folgenden noch durch Beispiele deutlich machen. Soviel als 
Ergänzung der Kritik des Verf. zur Feststellung der Fehlerquellen. 

Den positiven Nachweis »der Einheit Homers« im zweiten Teil 
des Buches, dem wir uns jetzt zuwenden wollen, gründet der Verf. 
auf die Individualisierung der Götter und Helden (Kap. 6), die Cha¬ 
rakteristik Hektors (Kap. 7) und eine Anzahl stilistischer und tech¬ 
nischer Besonderheiten, die beiden Epen gemeinsam sind (Kap. 8). 
Wir stellen die Besprechung des Hektorkapitels voran, weil dieses 
es nur mit dem einen der beiden Epen zu tun hat, und weil der 
Inhalt der beiden anderen sich teilweise deckt. Es ist vielleicht der 
anziehendste Abschnitt des Buches, weil darin ein besonders wichtiges 







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© 










89 







Scott, The unity of Homer 


und schwieriges Problem der Ilias vorgenommen und in eigenartiger, 
man möchte sagen moderner Weise mit inniger persönlicher Hingabe 
zu lösen versucht ist. Die Charakteristik Hektors enthält einen 
klaffenden Widerspruch. Er ist der gewaltige Führer der Trojaner, 
von dem Achill, nachdem er sich vom Kampfe zurückzieht, die Nieder¬ 
lage des Achäerheeres erwartet, in dem Agamemnon das Haupt¬ 
hindernis der Eroberung Trojas sieht und um dessen Fall er des¬ 
wegen vor der Schlacht zu Zeus betet. Auch die Trojaner sehen in 
ihm den maßgebenden, führenden Mann. Sie gewinnen schließlich 
durch ihn einen großen Sieg und nur der wiedererscheinende Achill 
vermag die Gefahr zu wenden. Aber trotzdem werden wir seines 
Heldentums nicht froh. Als er zum ersten Mal selbst handelnd auf- 
tritt (A505), da flieht er, und nicht das einzige Mal mit den andern 
Trojanern, anders als Aias. Vom Führer der Bundesgenossen bekommt 
er, nicht ohne Grund, die schwersten Vorwürfe. Als er sich schlie߬ 
lich vorwagt, tut er es unter einer kugelsicheren Bedeckung, um 
bald darauf im Moment höchster Gefahr das eigene Heer zu ver¬ 
lassen mit einem Zweck, der auch durch Sendung eines andern er¬ 
füllt werden konnte. Und so weiter bis zu seinem Versagen in der 
Hauptprobe seines Mutes und seiner Tapferkeit, wo nur wieder das 
direkte Eingreifen einer Gottheit (und was für eines!) ihn unter 
Zittern und Beben dazu bringt, sich dem Feind zu stellen: Mann 
gegen Mann ist Hektor jedem großen Griechen unterlegen. 

In seiner Lösung geht Scott aus von dem Gegensatz dieses 
schwächlichen Verhaltens in der Schlacht zu den Familienszenen, in¬ 
dem er folgendermaßen zusammenfaßt: »Nur als Mann, Sohn und 
Vater gewinnt H. unsere Achtung. ... Warum ist er so groß als 
Mensch, so sekundär als Soldat?« Antwort: Hektor durfte keinen 
großen Achäerhelden erschlagen, weil deren Schicksal durch die Sage 
festgelegt war — Aias mußte durch Selbstmord, Agamemnom durch 
sein eigenes Weib und ihren Buhlen, Achill durch Paris enden usw. — 
und weil es durch die feststehende Tradition gänzlich ausgeschlossen 
war, einen neuen großen Griechenführer dafür zu schaffen, ganz anders 
als auf trojanischer Seite. Nur einen solchen zweiten Ranges konnte 
der Dichter erfinden, Patroklos — dessen Erwähnung in den Kyprien 
erst durch die Ilias bewirkt ist. »Darum also konnte Hektors Größe nur 
eine menschliche, keine militärische« sein. Denn Hektor ist eine vom 
Dichter der Ilias neugeschaffene Figur: das beweist sein griechischer 
Name, das Fehlen von schmückenden Beiwörtern, die aus der Ilias 
nicht erklärlich sind (wie Achills Schnellfüßigkeit, von der doch z. B. 
in X rein gar nichts zu merken ist), deren Paris eine Menge hat 
zusamt seinem orientalischen Namen, endlich Hektors Nichterwähnung 












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Original from 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 







Scott, The unity of Homer 


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Daß sie unmöglich ist, lehrt der Augenschein, darum hat sie der 
Rezensent der N.J. gar nicht erwähnt; warum sie falsch, mit den 
Tatsachen des Textes unvereinbar ist, wird vielleicht am einleuch¬ 
tendsten klar, wenn wir ihr die Lösung gegenüberstellen, die sich 
aus einer kritisch-genetischen Auffassung ergibt. 

Unsere Ansicht ist kurz gesagt die: der Widerspruch in Hektors 
Charakterbild ist nicht dichterische Absicht, sondern die Folge der 
Abhängigkeit des Autors von einer Vorlage, von welcher er den 
Grundriß des Verlaufs der Handlung und damit auch die Haupt¬ 
figuren, darunter den in vorderster Linie stehenden Hektor über¬ 
nahm. Er brachte aber von sich aus die Tendenz mit, überall und 
zu allererst und auf jede Weise den Ruhm der Griechen zu ver¬ 
herrlichen. Unter der Auswirkung dieser ersten und wichtigsten Ab¬ 
sicht des Autors unserer Ilias hatte natürlicherweise am meisten der 
gewaltige Anführer der Feinde der Achäer zu leiden. Den Sieg in 
der Schlacht konnte er ihm nicht nehmen, damit hätte er ja die 
ganze Handlung auf den Kopf gestellt, ebensowenig die Erlegung des 
Patroklos. Was er tun konnte, war die Zerstörung oder wenigstens 
Kürzung seines Ruhms durch Schmälerung seines Verdienstes am 
Sieg und Herabdrückung seiner Leistungen, indem er überall sagen 
wir, ein Minuszeichen anbrachte, vor allem den Zeus über dem Ganzen, 
ferner Apollo in n und Athena in X, aber daneben noch viele ein¬ 
zelne Minuszeichen an ungezählten Einzelstellen, mit am wirksamsten 
die Scheltreden der bundesgenössischen Anführer. Nur ein Stück hat 
er unverändert aus der Vorlage beibehalten, weil es seine eigenen 
Absichten nicht zu tangieren oder nicht zu stören schien, die Ab¬ 
schiedsszene zwischen Hektor und Andromache. Wir erklären also 
den Widerspruch als das Ergebnis eines von dem Willen des Dichters 
nicht bestimmten (oder wenn man will nicht bezwungenen) Prozesses, 
während Scott darin eine bewußte und beabsichtigte Tat sieht, deren 
künstlerischen Sinn er zu erraten sucht. Dagegen sind wir darin mit 
Scott einig, daß die einheitliche Behandlung Hektors in der ganzen 
Lias, wie wir sagen das Vorhandensein jenes Minuszeichens in allen 
ihren Teilen (auch in AE), der stärkste und grundlegendste Beweis 
für die Einheit der Lias in [dem Sinn ist, daß diese Tatsache sich 
nur befriedigend und natürlich erklären läßt durch die Annahme, daß 
sie in allen ihren wesentlichen Teilen von einem und demselben Autor 
stammt, also z. B. nicht ganze Bücher aus selbständigen Einzel¬ 
gedichten in sich aufgenommen hat. Es sei indes ausdrücklich be¬ 
tont, daß wir dieses Argument der einheitlichen Behandlung Hektors 
nur darum für so beweiskräftig halten, weil es durch die von uns 
aufgezeigte Bedingtheit und Bestimmtheit und nur durch sie Indivi- 


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92 


Gott, geh Anz. 1923. Nr. 4—6 


dualität, d. h. den Charakter der Einzigartigkeit oder Eindeutigkeit, 
eines nur als Tat eines einzelnen begreiflichen Faktums erhält; das 
Zusammentreffen mehrerer und gerade dieser Faktoren ist dafür kon¬ 
stitutiv. Ohne Zweifel ist dieser Beweisgang diffiziler und weniger 
eindrucksvoll aufs Gemüt, und alles wäre viel einfacher, wenn es 

solche Individualitäten wie den Hektor Scotts — denn er fühlte, daß 
hier individuelle Züge verlangt werden — bei Homer gäbe. Da nun 
aber Homers Charaktere allgemein gehaltene Typen (so differenziert 
sie unter einander auch sind), nicht moderne, die Hand und den 

Geist ihres Erzeugers offenbarende Psychen sind, da jedenfalls zu¬ 
nächst einmal Hektor die ihm von Scott zugeschriebene ganz be¬ 
sondere Art nicht hat, so sind wir schlechterdings gezwungen, die 

für unseren Beweis unentbehrliche Individualität oder Eindeutigkeit 
auf dem Wege zu gewinnen, daß wir das Zusammentreffen einer An¬ 
zahl bei der Entstehung mitwirkender Faktoren festzustellen suchen, 
sozusagen als geometrischer Oerter. 

Für unseren Beweis müssen wir uns natürlich mit der Andeutung 
der Grundlinien begnügen. Also zuerst von den eigenen Absichten 
des Dichters der Ilias, von seiner Tendenz (das Wort im eigentlichen 
Sinn gemeint, daß er sich damit auf äußere Zwecke, den Beifall des 
Publikums einstellte, nicht den Eingebungen seiner künstlerischen 
Phantasie folgt). Wenn Scott seine Untersuchung über Hektor ein¬ 
leitet mit der Bemerkung, es sei eine griechische Eigentümlichkeit, 
den Ruhm ihrer Feinde nicht minder zu wahren als den ihrer Lands¬ 
leute, und Thukydides und Herodot als Beispiele nennt, so verdient 
doch unter den Aelteren nur Thukydides dieses Lob, im übrigen ist 
das Griechenromantik. So ist auch die Ilias der Beweis für das strik¬ 
teste Gegenteil, schließlich wird ja Isokrates über ihre Wirkung Be¬ 
scheid gewußt haben (paneg. 158 f.). Die Behandlung der Trojaner 
und ihrer Führer durch den Dichter hat, wenn wir ein bekanntes 
Beispiel aus dem Altertum anführen sollen, ihre Parallele in der 
chauvinistischen Darstellung Hannibals und der Punier durch die 
römische Geschichtschreibung, wie sie bei Livius vorliegt. Auf ein¬ 
zelne Züge wie den Anfang des P hat man immer schon geachtet. 
Auch das ist erkannt, daß der innerste Grund dafür, daß erst in A 
die Niederlage der Achäer eintritt, im Widerspruch mit den durch 
A erzeugten Erwartungen, die Absicht des Dichters ist, zuerst einmal, 
durch den vorangestellten Sieg des Diomedes, die Griechen siegen zu 
lassen, damit die Reihenfolge Sieg, Niederlage, Sieg entsteht. Aber 
das sind nicht zufällige Einzelheiten, sondern die Feigheit des Paris, 
der Eidbruch, die schwächliche oft feige und drückebergerische Hal¬ 
tung des Hektor, das kopflose Fliehen und das Versagen aller troja- 


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Scott, The unity of Homer 93 

nischen Führer und des Heeres und all die Einschränkungen ihres 
Verdienstes an den Erfolgen durch die göttliche Motivierung sind 
übereinstimmende, zusammenwirkende Aeußerungen desselben Be¬ 
strebens, noch deutlicher hervortretend durch den jedesmaligen Gegen¬ 
satz in dem Verhalten der Griechen. Die Auswirkung nun dieser das 
ganze Epos durchziehenden Gesamttendenz erkennen wir in dem nie 
ausbleibenden Minuszeichen vor den Leistungen Hektors. Es ist evi¬ 
dent, daß eine solche Grundstimmung außer stände ist, einen großen 
feindlichen Führer zu erfinden, daß der Wert Hektor, der trotz aller 
Abstriche nicht eliminiert wird, sondern immer wieder ungeschwächt 
dasteht, — der Vorgang in MS ist typisch — schon allein durch sein 
Vorhandensein und seine äußere Problematik die oben gegebene Er¬ 
klärung fordert. Es ist der Grundfehler Scotts, daß er aus der 
äußeren eine innere, seelische Problematik gemacht hat, wofür nicht 
der mindeste Anhalt im Text gegeben ist, und die ja auch, das darf 
man mit voller Sicherheit behaupten, gänzlich jenseits der homerischen 
Welt liegt. Lägen die Hemmnisse in Hektors Seele, so käme er zu 
keinen Taten, keinem Sieg. Er tut sie aber und siegt gewaltig, er 
weicht auch dem Kampf mit Achill nicht aus, nur die Art und Weise, 
wie alles zustande kommt, die näheren Umstände sind so gestaltet, daß 
von seinem Ruhm kaum noch etwas übrig bleibt. (Umso größer und 
herrlicher ist die Wirkung aus der Entfernung, wie bei schlechten 
Kopien, und es verlohnt sich, auf diesen Vorgang zu achten.) Cha¬ 
rakteristisch, aber gewiß nicht schlimmer als der Anfang von X ist 
die Schilderung der Besiegung und Tötung des Patroklos. Es ist 
offenkundig, die Fakta sind gegeben, daran mag oder kann der Ver¬ 
fasser nichts ändern; so bringt er seine Tendenz wenigstens in Ab¬ 
strichen an der Leistung das heißt am Ruhm oder in böswilligen 
Verzerrungen der Motive (X gegen Z!) zur Anwendung. — Uebrigens, 
die Athetese, mit der man sich in H 784 ff. hat helfen wollen (sogar 
unter halber unitarischer Billigung), die eben nur große technische 
Schwierigkeiten bereitet, während man in X noch immer meist nicht 
fertig bringt, sich von der traditionellen Bewunderung zu befreien, 
zeigt so recht die bequeme Manier lokaler Abhilfen, eines Verfahrens, 
das einzelne Symptome heilen will, ohne nach ihren Ursachen zu 
fragen; man darf doch nicht in n athetieren und X, sei's ganz sei’s 
im großen Ganzen, unbeanstandet lassen! 

Ist also Hektor gewiß keine vom Dichter der Ilias mit diesem 
Widerspruche erfundene, sondern eine überkommene Gestalt, so be¬ 
steht nun an sich durchaus die Möglichkeit, daß die einmal von 
einem einzelnen Dichter geformte, aber danach Allgemeingut gewor¬ 
dene Sagentradition nur das Faktum des starken, siegenden und dann 


fr Go gle 















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Gott. gel. Anz. 1923. Nr. 4—6 


fallenden Führers der Trojaner bot, und daß eine spätere Zeit sein 
Bild neu gestaltete, unter dem selbsttätig wirkenden Einfluß eines die 
ganze Generation erfüllenden starken Nationalgefühls. Dagegen ist 
dreierlei zu sagen. Erstens und das ist trotz seiner Allgemeinheit 
ein Argument von schwerstem Gewicht, erklärt sich die Wucht, mit 
der jenes frühere Bild, den eigenen Tendenzen ihres Verfassers zum 
Trotz, in die Ilias hereinragt, am ehesten durch die Annahme einer 
bestimmten Vorlage, deren übermächtige Energie auf den Benutzer 
persönlich eindrang und der er sich nicht zu entziehen vermochte. 
Zu diesem psychologischen Grund tritt ein zweiter, logischer. Die 
Tatsache, daß die Erlegung des Patroklos durch Hektor gegeben war, 
läßt nach vorwärts und rückwärts Schlüsse zu auf das Vorhandensein 
einer Folge von Vorgängen, wie sie der Ilias zugrunde liegen in Ge¬ 
stalt des Grolles des Achill und seiner Wirkungen. Daß diese Folge 
von Ereignissen Troja zum Hintergmnd hat und andererseits sich 
doch auf die Schicksale dieser Menschen konzentriert, daß aus dem 
Krieg um Troja dieses Stück, diese Episode herausgegriffen (man 
kann’s auch umgekehrt ausdrücken), gestaltet ist, zwingt zur An¬ 
nahme einer Dichtung, die ein einzelner, wie man sagen muß, großer 
Künstler geschaffen hat. Damit ist natürlich noch nicht gesagt, daß 
der Autor der Ilias sie direkt benutzte. Aber das scheint mir aller¬ 
dings sicher, daß diese beiden Argumente zusammen genommen da¬ 
für schon eine große Wahrscheinlichkeit ergeben. Das will sagen, 
daß wenn nun noch im Text der Ilias selber sich Stellen finden, die 
in dieser Richtung gedeutet werden können oder gar müssen, der 
Ring des Beweises geschlossen ist. Solche Stellen sind in der Tat 
vorhanden, in II, A, Z und A (kaum in X), deren Behandlung hier 
zu weit führen würde 1 ), während wir auf den Abschied Hektors von 
Andromache näher eingehen müssen, da ihn Scott mehrfach berührt; 
es dürfte für den Beweis, den wir führen wollen, genügen. Die Be¬ 
weiskraft der Stelle liegt in zweierlei, in ihrem Inhalt, dem Gegensatz 
zwischen der Behandlung Hektors hier und sonst, und in ihrer Ein¬ 
ordnung an einer falschen Stelle. Es ist gut, daß die Stellung des 
Dichters dieser Szene zu Hektor derjenigen, die wir als dem Ver¬ 
fasser der Ilias eigentümlich festgestellt haben, so unbestreitbar ent¬ 
gegengesetzt ist; erfunden hat sie der Verfasser der Ilias unmöglich. 
Wir mußten das zuerst nochmals konstatieren, weil nun auch Scott 
wieder leugnet, daß der Anstoß an ihrer Einordnung so lange vor 
der Katastrophe berechtigt sei, mit dem Hinweis auf Gen. 27,1, wo 
Isaak auch Abschied nehme und doch nachher noch recht lange lebe, 

1) Darüber wie über andere hier nur kurz angedeutete Gedanken wolle 
man zur Ergänzung mein »Wie wo wann ist die Ilias entstanden?« binzuziehen. 


Go gle 







Scott, The unity of Homer 


95 



daß auch der Abschied zwischen Kalypso und Odysseus nicht am Ende 
stehe und daß es überhaupt nicht auf unser, der Zuschauer Emp¬ 


finden ankomme, sondern auf dasjenige der Akteure. Als wenn der 
Dichter für sie dichtete! Von dent Vergleich mit der Odyssee ist nicht 
zu reden. Und die Genesis wird man schwerlich in dem Sinn für ein 




Kunstwerk halten, wie wir es von einem Epos annehmen, dessen Auf¬ 


gabe doch nicht sein kann, eine Photographie des Alltags zu sein, 
wo das gewiß oft vorkommt, sondern nach künstlerischen Zwecken 
aufzubauen. Es ist eine bare Unmöglichkeit, daß der Dichter nach 
diesem Abschied mit seinen gewissen Todesahnungen und seinem un¬ 
erschütterlichen Todesmut Hektor noch öfter nach Hause zurückkehren 
lassen konnte. Warum der Verfasser der Ilias sie an diesen Platz 
gerückt hat, wird sich aus dem Folgenden von selbst ergeben; daß 
er die Szene an ihrem eigentlichen Orte nicht mehr brauchen konnte, 
hängt mit den Erweiterungen zusammen, die er in den Rahmen seiner 
Vorlage" eingeschoben hatte (Versöhnungsaktion), und mit der Um¬ 
wandlung des Endkampfes in ein mit allem technischen Raffinement 
aufgebautes Effektstück. Beibehalten hat er die Szene wegöh ihrer 
Schönheit, aber wohl noch mehr, weil sie zu seinen Absichten, die 
wir aus dem übrigen Inhalt des Z erschließen, gut paßte, beibehalten 
konnte er sie, weil sie, fern von der Konkurrenz des Schlachtfeldes, 
dem Renommee der Griechen keinen Eintrag zu tun vermochte, also 
mit seiner Gesamttendenz nicht in Konflikt kam: im Kreis der Fa¬ 
milie mochte Hektor seine Größe behalten. Wir möchten daran er¬ 
innern, daß, und zwar . erst in einer nachträglichen Abänderung des 
ursprünglich brutalen Ausgangs, der Verfasser der Ilias dem toten 
Hektor gegenüber Milde walten ließ. 

Wie man sieht, kommen wir zu dem Schluß, daß die Vorlage 
nicht nur den ganzen Grundriß der Handlung der Ilias, sondern auch 
speziell die wesentlichen Teile der Abschiedsszene enthalten habe. Wir 
müssen deshalb zu der Annahme von Wilamowitz Stellung nehmen, 
die Familienszenen des Z seien aus einem besonderen >Hektorgedicht< 
herübergenommen, dessen »Stimmung in dem Verteidiger der heimi¬ 


schen Stadt den edelsten Helden sah, dessen Herz in llios war, nicht 




bei den Achäern«, das die späteren und früheren Teile der Ilias nicht 
behandelt habe. In der Ablehnung dieses Einzelgedichts gehen wir 
mit Scott gegen Wilamowitz zusammen, halten aber seine Gründe 
noch nicht für durchschlagend, das Vorkommen Hektors in allen Ge¬ 
sängen der Ilias, was nicht einmal bei Agamemnon und Achill der 
Fall sei, und den sehr beachtlichen Hinweis, daß das Entsprechende 
die Annahme einer spanischen Dichtung zur Verherrlichung Drakes 
oder einer französischen zu Ehren des deutschen Kronprinzen wäre. 














.✓ 




96 


Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 4—6 








Vor allem besteht kein Hindernis mehr, den Endkampf nicht in der¬ 
selben Vorlage behandelt zu denken, da X vom Dichter der Ilias 
seiner Grundtendenz entsprechend ganz besonders stark verändert 
sein muß. Positiv aber ist zu sagen, daß die Maße der Abschieds¬ 
szene für ein Einzelgedicht zu groß sind: der zweite Brennpunkt ist 
auch in dieser Familienszene ergreifend deutlich sichtbar und die 
Katastrophe ragt sozusagen wie ein hoher Berg mit ihrem gewaltigen 
Schatten herein. Und sie unterscheidet sich durch ihre Tragik in 
ihrem allerinnersten Wesen von den vorangegangenen beiden echt 
familiären Bildern, so verschieden die beiden unter sich sind. Sie 
passen aufs beste an ihren Platz, einmal als dem Bedürfnis nach Ab¬ 
wechslung dienende Gegenstücke zu der großen Schlacht des Dio- 
medes, und zweitens als Teile der Milieuschilderung des trojanischen 
Hintergrundes, die in T beginnt und nachher sich fortsetzt. Nicht die 
geringste Schwierigkeit stellt sich der Vermutung entgegen, daß die 
Helena-Parisszene nach dem Prinzip des Gegensatzes aus der Hektor- 
Andromacheszene entstanden sei, deren Einreihung an dieser Stelle 
sie zugleich vorbereiten sollte. Wenn nun Wilamowitz seine Hypo¬ 
these auf zwei Beobachtungen im Text glaubt stützen zu können, so 
kann deren Tragkraft ohne Anstrengung erschüttert werden. Die eine 
ist die, daß das Fehlen von Bruchstellen, der durch die Interpretation 
des einzelnen festgestellte glatte Fortgang der Darstellung von einer 
der drei Erzählungen zur andern dafür entscheide, daß sie zusammen¬ 
gehörten, wie es >von vornherein wenig wahrscheinlich sei, daß dieses 
kurze Stück noch zusammengefllickt sei«. Ja, soll man gegen ein 
solches Verfahren überhaupt etwas sagen, ist es darum besser, weil 
es für die ganze Analyse, die Wilamowitz gibt, fundamental und des¬ 
wegen am Schluß seiner Einleitung programmatisch ausgesprochen ist? 
Kommt nicht dem Inhalt als Ganzem und seiner Verknüpfung mit dem 
näheren und weiteren Zusammenhang, kurz all den oben geltend ge¬ 
machten inhaltlichen Indizien ein ganz anderes Gewicht zu als diesem 
argumentum ex silentio, dem außerdem der inzwischen verabschiedete 
tiefstehende Flickpoet doch noch gar zu deutlich anzumerken ist? 
Das zweite sind die Ratsherren, die Hektor in seinen Worten an das 
Heer mit zur Motivierung seines höchst auffälligen Entschlusses ver¬ 
wendet, während in der Aufforderung des Helenos nichts davon steht 
und Hektor auch gar nicht daran denkt, mehr zu tun als was Helenos 
ihm empfohlen hatte. Den Helenos rechnet Wilamowitz zum Ueber- 
gang, er ist nur dazu da, daß Hektor wegkoramt, damit die folgenden 
Szenen angefügt werden können. Das ist zweifellos richtig. Damit 
aber ist das Urteil über die ganze Partie gesprochen, deren außer¬ 
ordentliche Flüchtigkeit doch niemand übersehen kann. Aus diesem 


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Scott, The unity of Homer 

Füllsel wird nun Helenos als das behandelt, was er ist, und die Stelle 
von den Ratsherren in Hektors Rede als Grund- und Eckstein für 
ein > Einzelgedicht < verwendet, das diese Szene enthalten habe, deren 
Weglassung — weshalb denn? — nur so zu erklären sei, obwohl der 
Gedanke nahe genug liegt, in dem Zusatz Hektors eine, doch gewiß 
in dieser Lage sehr begreifliche Augenblicksmotivierung zu sehen. 
Muß man da nicht bei Wilamowitz denselben Fehler konstatieren, den 
er an Lachmann so richtig erkannte: >er bringt seine Liedertheorie 
fertig mit?« Was aber Wilamowitz von seinem »Hektorgedicht« sagt: 
>die Geschichte von Ilios gab ihm nur den Hintergrund und Namen«, 
wird man von dem umfassenderen, das noch Patroklos, Achill und 
seinen Streit mit Agamemnon als der Ursache dieses Ablaufs persön¬ 
licher Schicksale enthielt, ebensogut sagen können und müssen. 

Wir glauben also die Benutzung einer bestimmten literarischen 
Vorlage in der Ilias nachgewiesen zu haben und erklären den Wider¬ 
spruch in Hektors Charakterzeichnung daraus, daß der Verfasser un¬ 
serer Ilias zwar eigene Absichten, jene nationale oder wenn man 
lieber will nationalistische Tendenz, mitbrachte, aber für diese nun 
nicht eine neue Handlung erfand, sondern eine gegebene übernahm, 
deren Verlauf jedoch zu seinem Bestreben so schlecht paßte, daß er 
in der Schlacht des Diomedes erst einmal einen großen Sieg vor den 
in jener Vorlage gebotenen einbauen mußte. Am wenigsten damit 
vereinbar schien ihm das Heldentum Hektors, auf dem allein jener 
Sieg beruhte. In dem Kampf mit dieser Gestalt, die er nicht aus¬ 
schalten oder degradieren konnte, wenn er den Rahmen oder Grund¬ 
riß der Vorlage festhalten wollte, kulminierten seine eigenen Ab¬ 
sichten, man möchte sagen, er konnte sich gar nicht genug darin 
tun, seinen Ruhm zu schmälern und sein Heldentum zu schänden, 
man kann ihn sozusagen (besonders in A und II) bei seiner hämi¬ 
schen Arbeit beobachten. Wir sehen also, daß dieselbe Absicht (Idee) 
sich auswirkt im Aufbau des Epos und in der Einzelbehandlung 
Hektors. Dafür nun eine Mehrzahl von Dichtern anzusetzen und die 
Dias unter den erschlossenen Entstehungsbedingungen noch als Werk 
mehrerer anzusehen, scheint uns nur dann möglich, wenn man etwa 
die Legende von der Entstehung der Septuaginta auf sie übertragen 
will. Soll aber schon Hektor, wie Scott meint, der Spiegel des Vaters 
der Ilias sein, dann gewiß nicht für seine Liebe, sondern für seine 
Feindschaft. Was hat er aus ihm gemacht! Und auch in dem Sinn 
soll dieses Bild gelten, daß dem Epigonen die Hünengestalt des 
großen Dichters ebenso über die Schultern sieht, wie hinter dem 
Hektor der Ilias der gewaltige Schatten des ebenbürtigen wenn auch 
unterlegenen Gegners des Achilleus ragend steht. 

G4tt. geI.*Anz. 1828. Nr. 4— 6 7 






o gle 














98 Gott. gel. Anz. 1923. Nr. 4—6 

Der Einheit der Odyssee hat der Yerf. kein besonderes Kapitel 
gewidmet. Natürlich findet er sie in der Gestalt des Odysseus ebenso 
verbürgt, wie dort durch Hektor. Auch wir haben deshalb keinen 
Anlaß, darauf näher einzugehen; die Lösung der Frage ist im Folgen¬ 
den implizite enthalten und in gewissem Sinn, wie man sehen wird, 
in der Ilias mitentschieden. Vielmehr ist der Hauptzweck der beiden 

r Kapitel über die Individualisierung der Götter und Helden und über 

Ilias und Odyssee, die Identität ihres Verfassers nachzuweisen. Scott 
sieht also in der beiden Epen gemeinsamen oft burlesken, religiöse 
und moralische Gesichtspunkte ausschaltenden Behandlung und tech¬ 
nischen Verwendung der Götter, die sich von anderen älteren griechi¬ 
schen Dichtungen so stark abhebt, einen Beweis für seine These. Ins¬ 
besondere weist er darauf hin, daß Athene in beiden Epen zu Odysseus 
in näherem Verhältnis steht. Man wird nicht bestreiten, daß die 
Uebereinstimmung recht weit geht, besonders in der Verwendung der 
Athene, man wird beide Epen in dieselbe Zeit setzen — indes schwer¬ 
lich (Z130 ff.) um 900 oder früher, sondern erheblich später — aber 
etwas Individuelles, nur einem Dichter Zuzutrauendes ist das nicht. 
Anders würde die Sache auch hier, wenn sich noch in beiden Epen 
Spuren fänden, daß dieser Götterapparat erst nachträglich in die Er¬ 
zählungen eingebaut ist, wie man von Poseidon für die Irrfahrten des 
Odysseus schon längst vermutet hat, daß er dazu dienen müsse, die 
vorher unverbunden neben einander stehenden Geschichten in einen 
Zusammenhang zu bringen, wie Wilamowitz in der Ilias von dem Plan 
des Zeus annimmt, wie sich meiner Ansicht nach von den Göttern in 
der Ilias allgemein gegenüber der natürlich-kausalen Motivierung ihrer 
Vorlage zeigen läßt. Ist das der Fall, hat auch die Heimkehr des 
Odysseus die Athene nicht enthalten und ist diese erst mit der Tele- 
machie zusammen (in der sie fest sitzt) hereingekommen, so entsteht 
dadurch der Eindruck einer gleichartigen Behandlung eines vorhan¬ 
denen Stoffs, und wenn auch so Imitation nicht ganz ausgeschlossen 
ist, wächst doch der Eindruck der individuellen Leistung. Völlig ab¬ 
lehnen müssen wir dagegen die Behauptung des Verf., die Charaktere 
der Helena und des Odysseus seien so individuell und in beiden Epen 
so übereinstimmend, im Unterschied vom Kyklos und anderem ge¬ 
zeichnet, daß sich daraus sein Schluß ergebe. Helena ist die schöne 
Frau, gewiß von Andromache stark verschieden, aber doch vor allem 
durch ihre Vergangenheit, nicht durch seelische Differenzierung, d. h. 
durch Züge, die ganz wohl Gemeingut sein konnten. Will man schon 
feinere Details finden, so unterscheidet sich die Helena der Ilias von 
derjenigen der Odyssee, für mein Gefühl, nicht zu ihren Gunsten: sie 
ist, besonders in Z, eine Katze mit nicht dem feinsten Takt, was sie 


Go gle 









Scott, The unity of Homer 


99 


allerdings in der Situation der Odyssee nicht nötig hat. Odysseus ist 
7 coXup]t'.;, dazu in besonderem Grad Ausdruck und Liebling griechi¬ 
schen Empfindens, mehr als irgend eines Typus, nicht Individualität, 
gewiß kein Aias, aber diese Differenzierung ist durchaus eine typi¬ 
sche. Wenn ich ehrlich mein Gefühl sprechen lasse, ganz im ein¬ 
zelnen nachzuweisen ist es nicht leicht, so ist der Held der Odyssee 
dem der Ilias doch nicht ganz kongruent, freilich sein Verhalten gegen 
Aias in *F ein Uebergang. Allein auf verschiedene Verfasser braucht 
das auch noch nicht zu deuten, ein Typ paßt sich an: so Helena, so 
noch deutlicher Odysseus. Es dürfte darum schwer halten, aus den 
knappen Berichten über den Kyklos das Material dafür zu gewinnen, 
daß dort ein anderes Bild von Odysseus vorausgesetzt sei, wie Scott 
meint. Von Helena weiß man, daß sie zu verschiedenen Zeiten mit 
verschiedenen Augen betrachtet wurde — auch heute gehen die Emp¬ 
findungen der gefährlichen schönen Frau gegenüber auseinander; Scott 
hat für sie recht viel übrig, so daß er die Entschuldigungsgründe 

Homers noch vermehrt durch den Hinweis, der gewiß biedere und 

gute, aber doch herzlich unbedeutende und langweilige Menelaos und 
das hinterwäldlerische Sparta ohne Komfort und Abwechslung sei für 
die junge lebenslustige und geistvolle schöne Frau doch eine gar zu 
reizlose Umgebung gewesen, kein Wunder also usw. —, aber das 

hängt vielleicht (man denke an Euripides) mit Kultur- bezw. Zeit¬ 

stimmungen zusammen. Wenn ich recht sehe, hat derVerf. der Ilias 
an einem überkommenen ungünstigeren Bild zu ihren Gunsten (um¬ 
gekehrt wie bei Hektor) retouchiert — was, wie ich vermute, damit 
zusammenhängt, daß er in ihr die Ahnfrau des spartanischen Königs¬ 
hauses sah; wäre das richtig, so ergäben sich daraus individuelle Be¬ 
weismomente, so daß man wohl sagen könnte, derselbe Verfasser 
habe mit berechneter Absicht der unliebenswürdig abweisenden He¬ 
lena im Hause des Paris die glücklich zufriedene Gattin in Sparta 
gegenübergestellt. Im übrigen, das sei doch ausdrücklich gesagt, ist 
unsere Bewunderung für die außerordentliche Lebendigkeit und die 
unerschöpfliche Mannigfaltigkeit der homerischen Gestalten nicht we¬ 
niger groß als die des Verf. Sie sind uns aber, auch abgesehen von 
den aus der Analyse beider Epen abzulesenden Tatsachen, nicht im 
selben Maße wie ihm nur individuelle Schöpfungen. Gewiß hat die 
Romantik die Bedeutung des formenden einzelnen Künstlerwillens 
unterschätzt; aber das Bestehen einer viel engeren Gemeinschaft 
zwischen Publikum und Dichter im Zeitalter des Epos, das raschere 
und intensivere Eingehen der Lieder und Gestalten in das Volk, die 
Abhängigkeit des Volksdichters von dem, was im Volk an Vorstellungen 
und Empfindungen lebte und als Besitz vorhanden war, hat sie rich- 

7* 








,Co gle 













100 


Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 4—6 




tiger gesehen als das Zeitalter des Individualismus und Intellektualismus, 
und so werden uns ihre Begriffe Volkssage, Volkslied, Volksepos doch 
jedenfalls soviel zu sagen haben, daß wir die Gestalten der home¬ 
rischen Epen nicht ohne weiteres für individuelle Schöpfungen in dem 
Sinn halten dürfen, wie wir es in einem modernen Roman täten, wie 
es auch, aufs Grundsätzliche gesehen, die Gestalten eines Vergil, Milton 
oder Klopstock sind, und daß wir etwa folgern: je lebendiger, runder, 
reicher, schöner die homerischen Gestalten sind gegenüber dem lang¬ 
weiligen, schematischen, nur aus einer Summe von Eigenschaften zu¬ 
sammengenähten Aeneas und seinen Genossen, umso gewisser sind sie 
das Produkt eines einzigartigen Genius, folglich stammen Ilias und 
Odyssee vom selben Dichter. So einfach liegen die Dinge im Zeit¬ 
alter des Volksepos (im Gegensatz zum Kunstepos) doch — zumal 
bei einem Odysseus, der dem >Volksgeist< so nahe steht — nicht 
und darum, weil sie nicht eindeutig in dem vom Verf. ange¬ 
nommenen Sinn sind, kann man darauf auch keine zwingenden Be¬ 
weise bauen. Auch alles, was Scott über die Kurzlebigkeit eines 
Stils, über literarischen Urheberstolz usw. im epischen Zeitalter sagt, 
zeigt denselben Fehler, daß er moderne Begriffe unbesehen über¬ 
trägt, unbekümmert um die Angaben der Odyssee über Wesen und 
Stellung der Sänger (SrjfuospYot!). 

Noch weniger als die Gestalten der Götter und Menschen lassen 
sich die Uebereinstimmungen in technischen und stilistischen Dar¬ 
stellungsmitteln zum Nachweis verwenden, daß sie Produkt und Eigen¬ 
tümlichkeit eines besonderen einzelnen Dichters seien, weder der hohe 
Prozentsatz der Reden, noch die Charakteristik durch Nennung der 
Wirkung anstatt der Beschreibung, die ja auch bei Homer die Regel 
ist, noch die häufige Verwendung der Retardation der Handlung usw. 
(die Gleichnisse fehlen hier merkwürdiger Weise). Der Hinweis auf 
die Verschiedenheit Hesiods und des Kyklos bedeutet nichts: Hesiod 
ist ein anderes fevoc, von den Kyklikern wissen wir viel zu wenig, 
um über solche Dinge wie ihren Stil urteilen zu können. Die Ver¬ 
schiedenartigkeit ihrer Eingangsverse gegenüber Ilias und Odyssee 
steht, da doch nur diejenigen der Ilias original und uneingeschränkt 
schön sind, m. E. nicht fest trotz Horaz. Anders zu werten sind dagegen 
die Uebereinstimmungen im Aufbau, nur daß da Nachahmung doch 
nicht so völlig ausgeschlossen ist, wie Scott meint. In der Tat sind 
beide Epen einander auffallend ähnlich in folgendem: beide drängen 
die Handlung auf eine geringe Anzahl von Tagen am Ende der be¬ 
handelten Stoffe zusammen, ein Kunstgriff, dessen Bewußtheit an der 
Icherzählung der Odyssee unzweifelhaft festzustellen ist und der so¬ 
zusagen vor unseren Augen eingeführt wird, beide bereiten den Höhe- 


Go gle 













Scott, The unity of Homer 


101 


puakt ungewöhnlich lang und in überaus kunstreichem Crescendo vor 
— Scott rechnet jedes Mal 2200 Verse — beide steigen dann kurz 
herab und klingen in dieselbe Versöhnungsstimmung aus. Gewiß, das 
ist nicht Zufall, sondern Absicht. Aber wenn Scott meint, das habe 
nur ein genialer Dichter machen können, so frage ich dagegen: 
wiederholt sich ein genialer Dichter dermaßen selbst? Die Zweifel, 
die, alles vom unitarischen Standpunkt aus betrachtet, nicht völlig 
behoben werden können, dürften sich für den Anhänger der kritischen 
Betrachtungsweise auf Grund des folgenden Gedankengangs erledigen, 
weil so die Uebereinstimmung nicht mehr im selben Maß als Kopie 
und zugleich die Selbstiraitation nicht mehr als irgendwie unwahr¬ 
scheinlich sich darstellt. Ist die Ilias errichtet über dem Grundriß des 
Gedichts vom Groll des Achill, dem Tod des Patroklos und dem Fall 
Hektors, dem die Eroberung Trojas in nicht allzugroßem Abstand 
folgen mußte, so war die Verlegung ins letzte Kriegsjahr eine ge¬ 
botene Selbstverständlichkeit; natürlich mußte derVerfassar der Ilias 
diese Notwendigkeit bemerken und anerkennen, aber sie war die 
zwangsläufige Folge der Verwendung jener Vorlage. Wie ich glaube, 
hat er zunächst die Versöhnungsaktion (das Motiv der Meleagersage 
entlehnend, Mülder), hereingenommen und dann erst den Plan gefaßt, 
eine Ilias daraus zu machen, so daß also eine schrittweise Entwick¬ 
lung vorläge. Wie dem aber sei, die Bewunderung für das große 
technische Geschick, mit dem er die Aufgabe der Ueberführung in 
ein Epos vom Schicksal Trojas gelöst hat, kann die Reibungen der 
beiden inkongruenten Pläne nicht übersehen: so dankbar wir ihm 
sind, daß er das wunderbare Portal der Vorlage an seiner Stelle be¬ 
lassen hat, es ist keine Exposition einer Ilias, und so mußte er sich 
auf andere Weise zu helfen suchen und hat das in T und A und auch 
noch später in der wohl ebenso oft getadelten wie bewunderten Weise 
nachgeholt. Daß auch sein Schluß nicht der einer Ilias ist, sei nicht 
übergangen. Wir müssen uns mit diesen Andeutungen begnügen. Im 
Stoff der Odyssee, das ist ohne weiteres klar, lag eine solche Nöti¬ 
gung nicht; die Anwendung des Kunstgriffs erscheint fast wie Raffine¬ 
ment (denn daß die Odyssee das zweite, die Ilias das Vorbild ist, ist 
evident), zumal wenn derselbe Dichter die Umsetzung in die Ichform 
vorgenommen hätte, gleichzeitig und im Einklang mit der Telemachie, 
ohne welche diese ganze Anlage unmöglich ist. Die Telemachie hat, 
besonders in 7 und 8 , ihren eigenen Inhalt, aber sie hat doch unver¬ 
kennbar vor allem diesen kompositorischen Zweck, sie ist dazu er¬ 
funden, den Kunstgriff, der an der Ilias erprobt war, auf die Odyssee 
zu übertragen. Mit dieser hängt auch ihr jetziger Schluß zusammen, 
und wenn es nun richtig ist, wie ich glaube, daß sowohl Ilias als 









Goggl 


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Digitiz« 

















Gitt. gel. Anz. 1923. Nr. 4—6 


•. 4—6 





Odyssee in einer, besonders in der Ilias noch einwandfrei festzu¬ 
stellenden, früheren Passung schroff abgeschlossen und ihren ver¬ 
söhnenden Ausgang erst nachträglich erhalten haben, so wäre es doch 
mehr als seltsam, wenn ein Nachahmer das Vorbild erst im einen, 
dann im andern kopiert hätte, d. h. die Identität des Verfassers ist 
zwingend erwiesen. Es ist aber damit noch nicht gesagt, wie Scott 
meint, daß ihr Autor dasselbe Mittel überall anwenden und überall 
solche Umbauten und Erweiterungen vornehmen mußte, so daß die 
annalistische Form, die Aristoteles für die Kykliker bezeugt, und die 
übereinstimmende Länge von Ilias und Odyssee, denen kein anderes 
Gedicht auch nur nahe kam, keine durchschlagenden Gründe dagegen 
sind, dem Dichter dieser beiden auch noch weitere Epen zuzuschreiben. 
Wir hatten oben die Repetitionsverse, die der Verf. mit unter den 
Besonderheiten von Ilias und Odysse und nur von ihnen aufzählt, 
übergangen, wollen aber seine Feststellung ungeprüft übernehmen, 
daß von den 27853 Versen beider Epen 9253 Repetitionsverse sind, 
d. h. 33 Prozent, daß o> unter 548 etwas weniger als ein Drittel 
nämlich deren 180 enthält, und daß unter diesem Gesichtspunkt ge¬ 
sehen ein Unterschied zwischen den Gesängen nicht statt hat. Ein 
Urteil über diese doch allem naturhaft künstlerischen Empfinden im 
höchsten Grad anstößige Tatsache gibt er nicht ab. Dagegen baut er 
auf eine weitere Zahlenbeobachtung hochfliegende Folgerungen, ja ge¬ 
winnt mit ihrer Hilfe die Höhe eines hymnischen Schlusses. »Nicht 
ein Trojaner tritt handelnd auf bis V. 1419 der Ilias, und obwohl es 
ein Kriegsgedicht ist, vergehen nicht weniger als 2400 Verse, bis der 
erste Tropfen Blut fließt. Die Odyssee ist die Geschichte von Odysseus, 
aber dieser Held erscheint nicht bis weit hinein ins fünfte Buch. Alles 
einzelne ist in so weitausholenden Umrissen gedacht und entworfen. 
Es ist dieses gewaltige Ausmaß (massive scale), auf dem beide Ge¬ 
dichte errichtet sind, welche die Theorie unmöglich machen, daß sie 
aus kleineren Liedern gebildet seien. Man mag einen hohen Sand¬ 
haufen machen, indem man viele kleine Sandhaufen zusammen tut, 
aber man kann das Aussehen einer Eiche nicht irgend einer Menge 
von Zweigen geben, so viele man auch nehmen mag. Die Größe eines 
Organismus tritt so deutlich in den Teilen als im Ganzen in die Er¬ 
scheinung.« ... Solche Zahlen, das ist gewiß, kann man nicht wider¬ 
legen; aber belehren können sie uns doch schließlich weniger über 
das Ausmaß einer Dichtung als über dasjenige des Zählenden. Aller¬ 
dings scheint uns das auch von Wichtigkeit, zumal in der Homer¬ 
forschung. Viel interessanter noch ist uns dieser Beleg für die Herr¬ 
schaft der Homersuggestion im allgemeinen und im besonderen; wie 
wäre sonst, man verzeihe das Wort, solcher Tiefsinn möglich, der 









Scott, The unity of Homer 


103 




nur darum so ungeniert heraustritt, weil er sich — soll man sagen 
zugunsten oder auf Kosten Homers? — in einen dichten Dunstkreis 
rhetorischer Phrasen hüllen kann, denn alles was hier von grand out- 
lines, massive scale, massiveness gesagt wird, ist ja nicht der Aus¬ 
druck des vom Dichter entzündeten wahren und tiefen Empfindens, 
sondern Uebersteigerung unter dem Stimulus einer gloriosen Sug¬ 
gestion, im innersten unfreie Knechtschaft unter der Phrase. Und so 
werden dann neue Dogmen, große termini erzeugt, wie Scott uns 
selbst verrät, daß seine grand outlines das Seitenstück zum grand 
style Mathew Arnolds seien. Wer aber die Dinge sehen muß, wie sie 
sind, und das auszusprechen wagt, wird wie ein Unheiliger verketzert. 

Indem wir das erste, einleitende Kapitel des Buchs, Homer 
unter den alten Griechen, an den Schluß rücken, zerstören wir aller¬ 
dings seinen wohlberechneten Aufbau. Der Leser soll zuerst über¬ 
zeugt werden, daß schon die alten Griechen, »einig waren in dem 
Glauben an den einen göttlichen Homer, und nur an einen«. Waren 
Isokrates, Xenophon, Platon und Aristoteles als Kronzeugen der Uni¬ 
tarier hingestellt, dann mochte Wolf und die ganze Horde der Homer¬ 
kritiker kommen, die Burg war uneinnehmbar. Mit welchen Waffen 
die Verteidigung geführt wird, sei an ein paar Proben gezeigt. Die 
wichtigste Stelle für die Frage, ob ursprünglich auch kyklische Epen 
dem Homer zugeschrieben wurden, ist Herodot H117, wo dieser in¬ 
haltliche Differenzen zwischen Ilias und Kyprien zum Beweis anführt, 
daß die Kyprien nicht von Homer sein könnten. Daraus hatte Wila- 
mowitz den selbstverständlichen Schluß gezogen, daß also bis dahin 
die Kyprien als homerisch gegolten hätten und Herodot hier eine 
allgemein verbreitete Ansicht bekämpfe. Keine Spur, entgegnet Scott, 
sondern man muß sich erinnern, daß Herodots Leben genau in die¬ 
selbe Zeit fällt wie das erste Auftreten der Sophisten, man muß an 
Gorgias und Antiphon denken, dann »ist es kein Zweifel, daß ein ge¬ 
wöhnliches Thema für diese sophistischen Uebungen (pro und contra 
zu reden) die Frage der Urheberschaft von Gedichten zweifelhaften 
oder unbekannten Ursprungs sein mußte. Das mußte besonders reich¬ 
liche Gelegenheit bieten, seine Geschicklichkeit in paradoxer Argu¬ 
mentation zu zeigen«. Dagegen habe sich Herodot gewandt, eine Pa¬ 
rallele aus der Neuzeit liefere der Fall Shakespeare-Bacon! Umge¬ 
kehrt führt der Verf. Xenoph. symp. 3,5 und Isocr. paneg. 159 als 
ausschlaggebende Beweise dafür an, daß die Autoren so unmöglich 
hätten sprechen können, wenn sie auch noch andere Epen, z. B. die 
Thebais (einen Krieg zwischen Griechen) dem Homer zugeschrieben 
hätten. Der Gedanke, daß bis zu Aristoteles Zeit bereits eine Ent¬ 
wicklung in Richtung auf die Isolierung von Ilias und Odyssee statt- 








Go gl. 



















■\> . 












gefunden habe, also Aristoteles ein Glied in dieser Entwicklung sei 
und nicht ein Zeuge für die alte vorkritische (d. h. vorsophistische) 
Anschauung, kommt ihm natürlich ebenso wenig wie ihn die Zeug¬ 
nisse irritieren, daß auch bei späteren Schriftstellern noch Kenntnis 
über die Anschauung der älteren Zeit erhalten sind. Warum ver¬ 
schließt sich der Verf. dermaßen dem geschichtlichen Tatbestand, 
warum kommt er nicht wenigstens zu einem non liquet? Zumal doch 
mit jenen Zeugnissen noch gar nichts darüber entschieden ist, ob 
denn diese ältere Meinung richtiger ist als die später durch kritische 
Arbeit erlangte. Offenbar deswegen, damit die Absolutheit seines 
Homer nicht bloß eine ästhetische, sondern auch eine historische sei; 
es ist die Projektion >des einen, göttlichen Homer« in die Geschichte, 
oder eigentlich besser gesagt seine Herauslösung aus der Geschichte 
und ihren Bedingtheiten. Die Homerkritik hat nicht nur die besten 
Gründe, sondern auch allen Anlaß, sich darauf zu berufen und sich 
dessen zu erinnern, daß die Einschränkung »Homers« auf Ilias und 
Odyssee eine fable convenue, daß der Weg zur Wiederherstellung der 
Zusammenhänge mit dem Kyklos frei ist. Sie soll es laut sagen, da¬ 
mit der unnatürliche Bann endlich weiche, daß nicht bloß die vielen 
Repetitionsverse und die flüchtigen Ueberleitungspartien, sondern mehr 
als die Hälfte des Inhalts beider Epen alle Kennzeichen der ebenso 
gewandten als raschen Massenproduktion an sich trägt. Sie soll fest¬ 
stellen, daß unsere Homerbegeisterung, soweit sie original, aus eigenem 
Erleben des Kunstwerks entsprungen ist, sich an einzelnen bestimmten 
Stellen entzündet, Perlen von unvergänglicher und unübertroffener 
Schönheit, die überall da wiedergenannt werden, wo der Ruhm Homers 
verkündet wird, daß sie aber nicht allem und jedem gilt, daß neben 
Höchstwertigem Minder-, ja Unterwertiges, neben Erzeugnissen einer 
aus dem tiefsten Born künstlerischer Produktivität sprudelnden Ge¬ 
nialität handwerksmäßig banausische Verwendung überkommener 
Formeln und Formen steht, und zwar nicht nur ausnahmsweise und 
vereinzelt, sondern so zahlreich und regelmäßig in allen Teilen, daß 
es methodisch falsch ist, die Interpretation und das Urteil grund¬ 
sätzlich auf den panegyrischen Ton einzustellen, der für einen Philo¬ 
logen, jedenfalls wenn er lehrt, schreibt oder spricht, sozusagen offi¬ 
ziell ist: sonst wehrt sich das gesunde künstlerische Empfinden und 
bringt Mißgeburten wie den Flickpoeten zur Welt, der in seinem 
inneren Wesen doch derselbe geblieben ist, auch nachdem er sich 
einige Qualitäten zugelegt hat. Es liegt mir (man wird ja gern mi߬ 
verstanden) sehr fern, einer faden Tadelsucht und altklugen Schul¬ 
meisterei das Wort zu reden, die den heiteren schimmernden Glanz 
nicht sieht, der über der homerischen Welt liegt, und der das Be- 








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Scott, The unity of Homer % 


106 


hagen fehlt, den unerschöpflichen Reichtum an Einfällen und Ge 


schichten einzuschlürfen, und daß ich die großen Linien des Aufbaus 
empfinde, glaube ich bewiesen zu haben. 

Scotts allgemeines Urteil über die Ergebnisse der einzelnen Homer¬ 
kritiker, daß hier Homer lediglich zu einer Theorie des jedesmaligen 
Gelehrten werde, ist von demjenigen Fischls in seiner Gegenüber¬ 
stellung Bethes und v. Wilamowitz’ nicht sehr verschieden, so anders¬ 
artig Begründung und Art des Urteils ist. Folgt daraus Rückkehr 
zur unitarischen Betrachtungsweise — Scott selbst begann als über¬ 
zeugter Anhänger einer Ur-Ilias (S. 82) — oder Skepsis? Ich glaube 
nicht. Die Unsicherheit der kritischen Resultate hat ihren Grund in metho¬ 
dischen Unklarheiten und Halbheiten. Von der immer noch herrschen¬ 
den Abhängigkeit von Lachmann ist bereits die Rede gewesen. Hier 
zum Schluß noch ein paar Worte über die von den Alexandrinern. 
Wer aus ästhetischen Gründen athetiert und dann konstruiert, er mag 
dabei im einzelnen noch so weit von ihnen abweichen, vorsichtiger 
oder unvorsichtiger verfahren, der arbeitet noch mit ihrer Voraus¬ 
setzung des einen, großen, unfehlbaren Homer als eines Orakels 
mindestens in Sachen der Dichtkunst, und es ließen sich recht viele 
Parallelen zwischen dieser Art den Homer zu behandeln und den 
Unitariern nachweisen. Es gilt eine klare Scheidung zu vollziehen, 
von der dogmatischen Kanonisierung und Isolierung Homers prinzi¬ 
piell zur kritischen oder richtiger historisch-genetischen Behandlung 
fortzuschreiten; denn über die Verwandtschaft der ungeschichtlich¬ 
statischen Methode des späteren Altertums mit der scholastischen des 
Mittelalters, wie sie heute noch in der orthodoxen Schriftauslegung 
gehandhabt wird, brauchen wir kein Wort zu verlieren. Darin sind 
die Unitarier konsequent, das muß man ihnen lassen, wie ja auch die 
Einwände und die Kampfweise der unitarischen Homerapologetik genau 
jener theologischen entsprechen. 

Wir kommen also, wie man sieht, in der Hauptthese zum selben Er¬ 
gebnis wie der unitarische Verfasser, freilich auf ganz anderem Weg. 
Darum ist auch nur die Form des Urteils gleich, sein Inhalt direkt 
entgegengesetzt, und es ist kaum zu erwarten, daß mir gelungen wäre, 
was schon so viele vergeblich versucht haben, die unentwegten Unitarier 
mit der Homerkritik auszusöhnen. Wir sind auch weitgehend mit der 
Ablehnung der Endresultate und Rekonstruktionen einzelner Kritiker 
durch den Verf. einverstanden, vermissen aber bei ihm eine tiefere 
und an die Wurzeln der gemachten Fehler greifende Widerlegung. 
Was er selbst zur positiven Begründung seiner These beibringt, scheint 
uns nicht ausreichend und mit recht vielen Irrtümern durchsetzt, deren 
Hauptursache das Hereintragen moderner Empfindungen und Anschau- 




















Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 4—6 


ungen in die homerische Welt und ihre Menschen ist. Ob unsere Dar¬ 
legungen dazu beitragen können, den Verf. zur Zurücknahme seiner 
sachlich nicht berechtigten Invektiven auf die deutsche Homerkritik 
zu veranlassen, müssen wir ab warten. 

Halle. A. Lörchdr. 




Ulrich Wilckeu, Urkunden der Ptolemäerzeit (ältere Funde). I. Band. 

Papyri aus Unterägypten. 1. Lieferung. Berlin u. Leipzig 1922. Preis: im Dez. 

1922: 4500 Mk. gr. 4°. III und 146 Seiten. 

Ein altes Versprechen wird hier ein gelöst. Seit vielen Jahren 
werden die UPZ, auf die Wilcken so oft schon in seinen Schriften 
verwiesen hat, in den Kreisen, die sich für das hellenistische Aegypten 
interessieren, mit Sehnsucht erwartet. Nach dem ursprünglichen Plan 
des Werkes, wie er vor 36 Jahren auf Mommsens Rat gefaßt 
wurde, sollte es eine Neuedition aller uns überkommenen griechischen 
Papyrusurkunden der Ptolemäerzeit umfassen, die sich damals auf das 
in den alten Publikationen von Letronne, Forshall, Mai, B. 
Peyron, Leemans veröffentlichte Material beschränkten. Inzwischen 
ist im Lauf der Zeit durch die Ausgrabungen und Funde, zuletzt 
noch durch den großen Fund der Zenonpapyri, eine so reiche Fülle 
anderer Urkunden der gleichen Zeit zu Tage getreten, daß an eine 
erschöpfende Gesamtausgabe der Ptolemäerpapyri nicht mehr gedacht 
werden konnte. So hat sich denn W. auf die Sammlung der alten, 
bis 1890 bekannten Bestände beschränkt. Sie sollen in zwei Bänden 
erscheinen, von denen der erste die unterägyptischen (aus Memphis), 
der zweite die oberägyptischen (aus Theben) enthalten soll. 

Die 150 Stücke des ersten Bandes entstammen fast alle dem 
großen Serapeuin von Memphis und den zu diesem gehörigen oder 
in seiner Nachbarschaft liegenden Heiligtümern der memphitischen 
Astarte und des Anubis. In ihrer überwiegenden Mehrzahl sind es 
Papiere, die von einigen im Serapeum unter Ptolemaios Philometor 
>in Haft< (£v xatoxtj) lebenden Personen herrühren oder sie betreffen. 
Diese »Serapeumspapyru sind der Gegenstand einer Arbeit gewesen, 
die ich 1913, ausgehend von gewissen demotischen Papyri, die der 
gleichen Zeit entstammen, z. T. die gleichen Personen betreffen und 
gleichfalls von >Haften< handeln, unter dem Titel »Sarapis und die 
sogen, xitc/ot des Sarapis« (Abh. Gött. Ges. d. Wiss. N. F. XIV 5) 
veröffentlichte und die der Anlaß zu einer Kontroverse zwischen W. 
und mir gewesen sind (Arch. f. Pap.-Forsch. VI184 ff., Gött. gel. Anz. 
1914, 385 ff., Janus 1921, 207 ff.). Diese Kontroverse wird auch in 


Go gle 












WilckeD, Urkunden der Ptolemäerzeit 


107 


dem vorliegenden ersten Hefte fortgesetzt in der zwei Drittel des¬ 
selben (95 Seiten) füllenden allgemeinen Einleitung, die der Behand¬ 
lung der Texte vorangeschickt ist und die in breitester Form noch 
einmal alle Fragen, die mit dem betr. Funde Zusammenhängen, mit 
großer Gelehi’samkeit und vielem Scharfsinn erörtert. Dabei werden 
nicht wenige neue Gesichtspunkte gewonnen, z. T., wie ich mit Ge¬ 
nugtuung feststellen darf, eben durch jene Kontroverse hervorgelockt. 

Daß die Texte, um die es sich handelt, einem einzigen Funde 
angehören müssen, scheint klar. Es wäre ein ganz unbegreifliches 
Spiel des Zufalles, wenn uns an drei verschiedenen Stellen der alten 
Riesenstadt Memphis und ihrer Umgebung aus der unendlichen Masse 
von Schriftstücken aller Zeiten gerade immer die Stücke erhalten ge¬ 
blieben wären, die sich auf dieselben Personen und Dinge eines eng 
umgrenzten Zeitraumes von zirka 20 Jahren bezogen 1 ). Man wird 
daher W. keinesfalls zustimmen, wenn er die Einheitlichkeit des Fundes 
im wesentlichen nur deshalb bestreitet, weil sich unter den ihm vor¬ 
liegenden Papyri auch einige befinden, die, obwohl auch aus der Um¬ 
gebung des Serapeums stammend, doch nicht zu diesen Papieren der 
e-porcoxoi des Serapeums gehören (Verwünschung der Artemisia, Pa¬ 
piere der Archentaphiasten des Osorapis). W. nimmt einesteils bei 
vier Stücken, die nach ihrem Inhalt zu dem >Privatarchiv< des e?- 
xdtoxo? Ptolemaios, wie W. es selbst nennt, gehören, an, daß sie im 
Bureau des memphitischen Strategen in der Stadt Memphis selbst 
aufgefunden sein müßten, — darunter auch ein Schriftstück, das* 
dieser Stratege an seinen Bevollmächtigten im Anubieion (Vat. B = 
UPZ 7) adressiert hat und von dem W. glauben möchte, daß es 
uneröffnet und unbefördert in dem Bureau des Absenders liegen 
geblieben sei. Andererseits läßt W. das Gros der Papiere aus dem 
Astartieion im Bezirke des Serapeums, woselbst jener Ptolemaios 
wohnte, kommen, — darunter wieder ein Stück, das an den ejctotAnj«; 
des Anubieions adressiert ist (Par. 45 = UPZ 69). Aus demselben 
Anubieion, das hier zweimal urkundlich als Bestimmungsort für Ur¬ 
kunden auftrat, die W. an anderen Stellen gefunden sehen will, stammt 
endlich, auch von W. unbezweifelt, eine dritte Gruppe von Schrift¬ 
stücken. Ich hatte es eben um dieses Tatbestandes willen als das 
Wahrscheinlichste bezeichnet, daß das Anubieion, die Polizeistation 
für das Serapeum und seine Umgebung, die Stelle gewesen sei, an 
der sich der ganze Fund im Altertum zusammengefunden habe. W. 
weist das als »unbegründet« zurück, ohne doch selbst auch nur einen 

1) Das war der Grund, weshalb ich die Frage aufwarf, ob die xa-co/r) der 
griechischen nnd die Haft (<W&) der demotischen Papyri des Fundes zusammen- 
hinge. Damit ist denn auch W.s Frage auf S. 61 beantwortet. 


Go gle 








ernstlichen Grund dagegen geltend machen zu können 1 ). Er glaubt 
meinen Vorschlag (mehr war es nicht) damit abtun zu können, daß 
er behauptet, er beruhe auf meinen falschen Vorstellungen von den 
xitoxot (die W. im Sinne seiner Auffassung natürlich nur sehr un¬ 
gern mit der Polizeistation des Anubieion in Zusammenhang treten 
ließe) und auch auf unklaren Vorstellungen von der Topographie der 
Serapeumsgegend. 

Damit kommen wir zu W.s erstem Hauptkapitel, das er »Zur 
Topographie< überschrieben hat und in dem er die Ergebnisse seiner 
im Jahrb. des Archäol. Inst. 32,149 niedergelegten Forschungen mit 
manchen Zusätzen noch einmal vorträgt. Mangelhafte Kenntnis der 
Topographie hat W. mir bereits in dieser Untersuchung vorgeworfen 
und als Quelle meiner >Irrtümer< angesprochen. Ich bekenne dem¬ 
gegenüber freimütig, daß ich mir meine topographischen Vorstellungen 
nicht, wie er meint, auf Grund von Mariettes Ausgrabungen oder 
besser dessen Deutungen des Ausgrabungsbefundes gebildet habe, 
sondern lediglich nach den Angaben der griechischen Papyri. Diese 
sind tatsächlich auch heute noch für uns die einzige Quelle für die 


im übrigen willig anerkenne, helfen uns für die Fragen, die die Pa¬ 
pyri stellen, so gut wie garnichts. Wir könnten danach auch heute 
noch nicht sagen, in welchem Verhältnis der von Mariette ausge¬ 
grabene Ostkomplex, den er das »Serapöum grec< nannte, zu dem 
Westkomplex, seinem »Sörapöum ögyptien<, den Anlagen bei den 
Apisgrüften selbst, stand. Daß man mit W. in oder bei jenem Ost¬ 
komplex am Wüstenrande das Anubieion der Papyri zu suchen hat, 
scheint unbezweifelbar, nicht nur weil sich in der Nähe Hundegräber 
gefunden haben, sondern auch weil es nach Vat. B (= UPZ 7) unter¬ 
halb des eigentlichen Serapeums lag 2 ), das mit W. im Westkomplex 
zu suchen ist. Wenn W T . aber aus derselben Stelle schließen will 
(S. 16), daß das von Ptolemaios während seiner xatox»] bewohnte 
Astartieion, weil es >im großen Serapeum< gelegen haben soll, eben¬ 
falls dort im Westkomplex gesucht werden müsse, so wird man ihm 

1) In einer Anmerkung (S. 3) gibt er vielmehr zu, daß an sich die Papyri 
vom Serapeum dorthin verschleppt sein könnten. Warum also nicht? 

2) Zu W.s Bemerkungen über die Lage des Spdpo; dieses Tempels ( 
ist festzustellen, daß er diesen Ausdruck wohl nicht ganz richtig versteht, 
er darin eine Art Allee sucht. Nach dem Aequivalent, das die ägyptischen 
für opöjxo; gebrauchen (z. B. das Dekret von Kanopus und die demotische 
künden), bft-br, dürfte es sich vielmehr um einen freien Platz vor dem Ti 
handeln. 






Go gle 










Wilcken, Urkunden der Ptolemäerzeit 


109 


hierin nicht folgen können. Die Erwähnung der Tatsache, daß die 
im Serapeum Dienst tuenden Reiniger auch zum Anubieion hinab¬ 
zusteigen pflegten (xataßatvövtwv 81 xai sic tö ’Avooßieiov), hat an 
der betreffenden Stelle nur Sinn, wenn damit erklärt werden soll, wie 
es kam, daß diese Leute dem Ptolemaios im Astartieion einen un¬ 
willkommenen Besuch abstatteten 1 ). Sie kamen offenbar auf dem 
Wege zum Anubieion dort vorbei. Das Astartieion wird also ent¬ 
weder dicht beim Anubieion oder zwischen dem eigentlichen Serapeum 
(dem Westkomplex) und dem Anubieion gelegen haben. Darauf führt 
auch die Behauptung des Ptolemaios in Lond. 41,5 (= UPZ57), daß 
der Asklepios »oben im Serapeum« (avco iv t<j> Sapamsitp) Opfer¬ 
schalen (s. u.) habe, an denen die Zwillinge Dienst tun sollten. Unter 
diesen Umständen gewinnt die Kombination der von Quibell im 
Ostkomplex aufgedeckten merkwürdigen Zimmer, deren Wände ero¬ 
tische Darstellungen (Bes und nackte Frauen) tragen, mit dem Astar¬ 
tieion unserer Papyri, einem Filialtempel der memphitischen Astarte 
oder £eivr) ’AcppoSi-nj (S. 37), doch eine viel stärkere Wahrscheinlich¬ 
keit, als W. t der dieses Heiligtum wie selbstverständlich im West¬ 
komplex suchte, zugeben will (S. 43). Das »große Serapeum«, zu 
dem es gehörte, kann sich eben doch nicht bloß auf den Westkomplex 
beschränkt haben. Borchardts Vorschlag, in dem Ostkomplex den 
»Torbau« des ganzen Serapeums zu sehen (S. 18), mag doch viel¬ 
leicht richtig gewesen sein und das Anubieion nicht in ihm, sondern 
in seiner Nähe zu suchen sein. 

In dem zweiten Hauptkapitel, das von den Göttern und Kulten 
des Serapeums handelt (S. 18 ff.), ist naturgemäß der Teil der be¬ 
deutsamste, in welchem der Apis und die Verbindung dieses heiligen 
Tieres mit dem Osiris zur Besprechung gelangt, sei es in der Form 
Osiris-Apis, die dem griechischen Eaparct«; zugrunde liegt, sei es als 
Apis-Osiris. W. bemüht sich, einen Unterschied zwischen beiden Be¬ 
nennungen zu ermitteln, die beide auf den ägyptischen Denkmälern 
des Serapeums beständig, anscheinend mit einander wechselnd, Vor¬ 
kommen. Er will den ersteren Namen auf den Kult des ägyptischen 
Sarapis, der »Abstraktion« der toten Apisstiere in ihrem gemeinsamen 
oberirdischen Totentempel bezogen sehen, den letzteren auf den Kult 

1) W. hat eine andere, wie mir scheint, sehr viel weniger wahrscheinliche 
Erklärung dafür. Er meint, das Ilerabsteigen zum Anubieion sei deshalb hervor¬ 
gehoben, weil nachher der Stratege gebeten wird, seine im Anubieion sitzen¬ 
den Vertreter mit der Bestrafung der Schuldigen zu beauftragen (S. 139). Für 
die abseits des eigentlichen Serapeums anzunehmende Lage des Astartieions be¬ 
achte man auch die Bezeichnung derselben Personen als xü>v ix toj Upoö xaXXov- 
täv in Lond. 44 (= UPZ 8), d. i. »die aus dem Heiligtum kommenden Reiniger«, 
nicht, wie W. (S. 141) farblos übersetzt, »die zum Tempel gehörigen Reiniger«. 




Digi 



Go gle 







* 






















110 


Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 4—6 


des jeweilig lebenden Apis, wie /er insbesondere in den unterirdischen 
Grüften stattfand, wenn diese vorübergehend während der Arbeit an 
seinem Grabe geöffnet waren. Jedenfalls stellt sich die Entwicklung 
der Gleichung von Osiris und Apis jetzt nach den zwischen W. und 
mir geführten Auseinandersetzungen so dar, daß 1. zunächst der ver¬ 
storbene Apis wie alle verstorbenen Aegypter ein »Osiris Apise (’Oao- 
parct? u. Varr.) wurde, daß 2. daraus sich dann die Gestalt des bei 
den Apisgrüften verehrten Unterweltsgottes Osiris-Apis (W.s Abstrak¬ 
tion), des Prototyps des späteren Sarapis, entwickelte, und daß 
3. schließlich von da aus eine allgemeine Gleichsetzung des Apis, und 
zwar auch des lebenden, mit Osiris erfolgte, mit dem er ursprünglich 
so wenig zu tun gehabt hat wie mit dem eigentlichen Lokalgott von 
Memphis Ptah. Dieser letzten, dritten Entwicklungsstufe würde dann 
nach W.s Vermutung der Ausdruck Apis-Osiris geeignet haben. 

Für die Frage, wie der Osiris-Apis der zweiten Entwicklungs¬ 
stufe, also der ägyptische Sarapis, bildlich dargestellt wurde, glaubt 
W. (S. 24) einen wertvollen Fingerzeig in den Redewendungen des 
Artemisiagebetes ’Ocepcms xai ol [teta toü ’Oospdirioi; xa\b][j.svoi bezw. 
xal ot deol iv Iloasparct xatb](j.evo: zu finden. Das hier gebrauchte 
xarbjfjievoi will er dahin deuten, daß die Kultbilder des Gottes und 
seiner oövvaoi Sitzgestalten gewesen seien, mithin auch der Ose- 
rapis selbst nicht als Stier, sondern als Mensch mit Stierkopf darge¬ 
stellt gewesen sei. Das letztere ist ohnehin anzunehraen, aber aus 
jenen Worten ist es gewiß nicht zu entnehmen. Wie ich bereits früher 
bemerkt habe (Sarapis S. 5), ist der ganze Ausdruck »Oserapis und 
die Götter, die mit ihm sitzen« eine wörtliche Uebersetzung der ägyp¬ 
tischen Formel »Gott NN und die Götter, die mit ihm wohnen«. Das 
mit »wohnen« übersetzte Wort ist htp »ruhen«, die Zustandsform 
(Qualitativ) des Tätigkeitsverbums htp »sich niederlassen«, welches 
der Terminus technicus für die Aufstellung der Götterbilder im Aller¬ 
heiligsten ist *), vgl. z. B. die Dekrete von Kanopus und Rosette, in 
denen der davon gebildete Kausativausdruck rdj.t htp »ruhen lassen« 
dem griechischen xafkSpöoat entspricht, Ros. gr. 42 (von einem Naos). 
Kanop. gr. 49 (xafhopöaat rijv dsav p.Etd toö ’Oatpioc). ib. 59 (von dem 
Bilde der kleinen Prinzessin, das der Priester bei der Prozession »in 
den Armen« tragen soll). So wenig hier in xafhSpöoat noch an ein 
Sitzen im eigentlichen Sinne gedacht ist, so wenig gewiß auch in 
jenem xadr^evot und seinem ägyptischen Aequivalent, das übrigens 
auch in der von W. (S. 26) zitierten Bilingue Brugsch Thes. V917 

1) Aber auch von der Bettung der Leiche in Grab oder Sarg (z. B. auch ge¬ 
rade von dem toten Apis Brugsch, Thes. V965/6) gebraucht. 


Go gle 






LIFORNIA 





Wilcken, Urkunden der Ptolemäerzcit 


111 


dem'griechischen ouvvaot entspricht. Das Sitzen hat vielmehr gewiß 
keine andere Bedeutung als eben des Wohnens (Wohnsitz). 

Was W. über die Unterscheidung von ’Ooopajnc und Eaparctc in 
den Serapeumspapyri sagt (S. 25/6), ist in meinen Augen die stärkste 
Bestätigung für die Richtigkeit dessen, was ich (Sarapis S. 9 und 
Janus 1921, S. 211) zu der Stelle Par. 22,3 (= UPZ 19) gesagt habe. 
Dort steht nach Boreuxs Faksimile twt Soparcsi (nicht twv Sopajrst, 
wie W. mit Unrecht mich sagen läßt) da, wo nach Par. 29,33 twt 
Eaparcet zn erwarten ist. Wenn W.s Lesung tüa ’OaopaTrst richtig 
wäre, würde dies die einzige Stelle in den Serapeumspapyri sein, wo 
der Gott Sarapis noch mit seiner ägyptischen Bezeichnung genannt 
wäre, die dort sonst überall nur auf den letztverstorbenen Apis be¬ 
schränkt zu sein scheint (s. u.). Tatsächlich ist das störende o vor 
Eoparcst aber nicht erhalten, sondern es klafft nach Ausweis des ge¬ 
nannten Faksimiles da, wo W. es gesehen haben will, heute noch 
ebenso wie zu Letronnes Zeit eine Lücke im Papyrus, die aller¬ 
dings einst ein o enthalten haben könnte, nach dem Abstand zwischen 
den benachbarten Buchstaben i und n aber nichts enthalten zu haben 
braucht. Doch wird auf diese Stelle weiter unten noch einmal zurück¬ 
zukommen sein. 

Neben dem Osorapis, dem verstorbenen heiligen Stier von Memphis, 
wird in den Papyri auch der Osormnewis, d. i. der verstorbene heilige 
Stier von Heliopolis, genannt. Beiden diente ein und derselbe ap/evta- 
«piaotTji;, der sowohl die Beisetzung beider Stiere zu leiten hatte als 
auch in ihrem augenscheinlich vereinigten Totenkult noch lange nach 
ihrem Hinscheiden beschäftigt war (S. 41/2). Dieser Dienst spielte 
sich im Serapeum ab, also an der Stätte, wo zwar der Apis, nicht 
aber, so viel wir wissen, der Mnewis, bestattet war. Das hat W. viel 
Kopfzerbrechen gemacht, es erklärt sich aber gewiß einerseits aus 
der überragenden Bedeutung des Apis, andererseits daher, daß das 
Anubieion in der Nachbarschaft wie auch das gleichfalls nicht weit 
entfernte Asklepieion (vgl. Wilcken S. 48) die eigentliche Zentrale 
für die Kunst der Leichenbesorgung (Balsamierung) war, die in den 
gleichzeitigen ägyptischen Grabinschriften ständig als »Arbeit des Anubis« 
bezeichnet wird. Deshalb ist auch die Annahme von Reuvens, daß 
jene Archentaphiasten im Anubieion gesessen hätten, vielleicht doch 
nicht so ganz von der Hand zu weisen. Jedenfalls verbieten die Be¬ 
ziehungen zum Begräbnis, die hier bei der Nennung des Osorapis und 
des Osormnewis hervortreten, doch wohl entschieden, mit W. an den 
Kult von »abstrahierten« Unterweltsgöttern nach Art des Sarapis 
(Nr. 2 der oben S. 110 unterschiedenen drei Entwicklungsstufen) zu 














denken; es muß sich vielmehr um die mit ihrem Tode osirianisierten 
Stiere (Nr. 1 jener drei Stufen) handeln. 

Auch in dem ßooxtfXoc toö ’OoopdiJtioc, der im Serapeum diente, 
kann ich im Gegensatz zu W. (S. 48) nicht einen Priester des Unter¬ 
weltsgottes Sarapis sehen, sondern nur den Wärter des verstorbenen 
Apisstieres, der seinem Pflegebefohlenen auch nach dessen Tode weiter 
diente, bis er selbst zur letzten Ruhe einging, wie ein treuer Diener, 
der seinen Herrn nicht verläßt. Andererseits dienten aber die 6i'8o[iac, 
d. h. die beiden Zwillingsschwestern, die beim Begräbnis der ver¬ 
storbenen Stiere als Klageweiber in der Rolle der Isis und der Neph- 
thys (die beiden dr.t oder d.t genannten Personen des alten Toten¬ 
rituals) fungierten, bei der amy <&•(■)] toö ’Ooopajcto«; (S. 47) und bei 
dem jt£vOo<; toö Mvtjysio? (S. 42), nach Erledigung dieses ihres Amtes 
wirklich dem Unterweltsgotte, der aber Sarapis heißt, und seiner Ge¬ 
nossin Isis. Wie dem Sarapis (Par. 29,23) hatten sie im Serapeum 
auch dem Asklepios Libationen (/oat) zu spenden. Daß diese not¬ 
wendig Totenopfer gewesen sein müssen, leuchtet mir nicht ein, em¬ 
pfingen doch die ägyptischen Götter ebenso gut Libationen wie die 
Toten. Immerhin mögen es im Falle des Asklepios in der Tat Toten¬ 
opfer gewesen sein, denn dieser Gott, der ägyptische Imuthes, war 
ja wirklich ein vergötterter Mensch 1 ), also ein Toter, der göttlich 
verehrt wurde. Die genannten Libationen wurden ihm alltäglich (xa(P 
Tjjjipav) auf eigenen Xtftetva ajrovSija dargebracht, die er im Serapeum 
hatte (S. 40). W. übersetzt das mit Opferschalen; es wird sich aber 
wohl um die ägyptischen Opfersteine (htp) mit schalenartigen Ver¬ 
tiefungen für flüssige Spenden handeln, wie solche zu gleichem Zwecke 
auf dem Abaton bei Philae und bei Abydos beim Grabe des Osiris 
und zwar in der Zahl von 365, für jeden Tag des Jahres einer, auf¬ 
gestellt waren, bei Diod. 122,3 genannt; vergl. Junker, Das 
Götterdekret über das Abaton (Abh. Wien. Akad. 56, Nr. 4), S. 18. 
74. 85. 

Wenn es sich bei jenen ypai, die die Zwillinge im Serapeum 
dem Asklepios spendeten, um Totenopfer handelte, so könnte das für 
die umstrittene Stelle Par. 22,3 = UPZ 19 (s. ob. S. 111) die Möglich¬ 
keit eröffnen, daß es sich auch dort, wenn W.s Lesung zm f’Ojoo- 
paitsi richtig ist, im Unterschied zu Par. 29,23 nicht um Opfer für 
den Gott Sarapis, sondern um Totenopfer für den verstorbenen Apis 
handele. 


Was W. als Fazit seiner Erörterungen über das Tempelpersonal 

1) Yergl. jetzt auch das merkwürdige Denkmal Bullet. Inst, frang. d ? archeol. 
Orient, du Caire 14,37, das sechs Gedenktage aus dem Leben des Mannes als 
Daten seiner Feste nennt. 









Wilcken, Urkunden der Ptolemäerzeit 


113 




des Serapeums ziehen kann (S. 50), daß es auch in hellenischer Zeit 
ausschließlich aus Aegyptern bestanden hat und der Tempeldienst 
ganz nach ägyptischer Weise organisiert war, gilt ihm mit Recht für 
eine starke Bestätigung seiner These, daß es ein vom ägyptischen 
Serapeum räumlich geschiedenes besonderes griechisches Serapeum 
nicht gegeben hat. 

Einen breiten Raum nimmt bei W. natürlich wieder die Erörte¬ 
rung über die xato yi\ >Haft< im Serapeum ein. Er verfolgt eingehend 
die Geschichte dieser Frage, die er durch den von mir in den Schriften 
des Heidelberger Papyrusinstitutes (Heft 2) veröffentlichten demoti¬ 
schen Papyrus (UPZ 6a) für endgiltig im Sinne seiner Auffassung be¬ 
antwortet hält, nämlich dahin, daß es eine rein religiöse Erscheinung 
sei, eine > Gotteshaft< (so übersetzt er), die auf einem Entschluß der 
sie ertragenden Person auf Grund eines religiösen Erlebnisses (Befehl 
des Gottes im Traum?) beruhte und die erst durch ein entsprechen¬ 
des zweites Erlebnis beendigt werden konnte, bevor dies geschah, 
aber den e^xatoxo? so fest an den Tempel band, daß er ihn auch zu 
dringendsten Geschäften nicht verlassen konnte. W. spricht seine Ver¬ 
wunderung darüber aus, daß ich, wiewohl mir der Bedeutung des ge¬ 
nannten demotischen Textes durchaus bewußt, der meine »Auffassung« ’) 
ad absurdum führe, doch nicht klipp und klar das zugestanden hätte. 
Demgegenüber kann ich nur wiederholen: der betreffende Text scheint 
zwar, wie ich ohne Einschränkung eingeräumt habe, in der Tat da¬ 
für zu sprechen, daß der %a.zoyji wenigstens in dem betreffenden Falle 
(für den e^xato*/oc und Tttw/ö? Harmais) ein religiöses Moment nicht 
fehlte, ja vielleicht zugrunde lag, das eigentliche Wesen der xaTox?) 
und die Art, wie sie zustande kam und beendigt wurde, bleibt nach 
wie vor ein Rätsel *). Für mich sind die beiden Briefe an Hephaistion 
(Lond. 42. Vat. A. = UPZ 59. 60) noch immer der Angelpunkt, um 
den sich die ganze Frage dreht. Aus ihnen geht klar hervor, daß 
eine große Zahl von Leuten, die im Serapeum festgenommen waren 
(a7cetX7]|itJivoi), zu gleicher Zeit aus der xatox^ entlassen wurden. Wie 
das mit einer rein religiösen Haft im Sinne der W.schen Auffassung 
zu vereinigen sein soll, wird uns sein Kommentar zu diesen Stücken 
zeigen müssen. Bis dahin kann ich meine Skepsis nicht aufgeben. 

Nach W. soll es der Sarapis selbst sein, der den syxätox 0 « in 
seinem Heiligtum zurückhält. Was W. früher für das Zustandekommen 

1) In Wahrheit meine Frage, ob jene xa-co'/J] mit einer in demotischen Pa¬ 
pyri desselben Fundes erwähnten weltlichen Haft identisch sein könne. 

2) Dieses Rätsel scheint inzwischen durch das Buch von W o e ß »Das Asyl¬ 
wesen Aegyptens in der Ptolemäerzeit« (München 1923) gelöst zu sein, das ich 
später an dieser Stelle zu besprechen die Ehre haben werde. 

Gölt. gel. An*. 1923. Nr. 4—6 








8 




114 Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 4—6 

der ■x.a.zoyfi durch einen Traumbefehl des Sarapis anführte, läßt er 
jetzt, indem er zugibt, daß dies nur eine Vermutung gewesen sei, 
in den Hintergrund treten und nur noch als Beweise für einen Ver¬ 
kehr der eixatoxoi mit dem Gotte gelten (S. 66). Als direkte Er¬ 
wähnungen des Sarapis als des Festhaltenden führt W. jetzt vier 
Stellen an (S. 55). Davon betreffen zwei nicht das memphitische Sera- 
peum und können schon deshalb nicht als wirkliche Beweise gelten. 
Die eine ist die Inschrift von Priene, die unter den Angestellten des 
dortigen Sarapistempels auch ot xatexöjuvot orcö toü tlsoö anführt. 
Mit den i^xAzoyoi des memphitischen Serapeums, von denen es stets 
nur heißt, daß sie >in dem Serapeum« bezw. >in dem im Serapeum 
gelegenen Astartieion< gefangen gehalten sind, wird dieser Ausdruck 
nur dann in Parallele gestellt werden können, wenn W.s These be¬ 
wiesen wäre; nie und nimmer wird sie als Beweis dafür angenommen 
werden können. Die andere Stelle ist die Inschrift von Smyrna vom 
J. 212 n. Chr. (fast 400 Jahre jünger als unsere Serapeumspapyri), 
in der sich ein Philosoph als ifxato'/ipai; tq> xopup SapamSt Jtapa 
tat? Nepiasoiv bezeichnet. Sie steht unserer Frage in der Tat schon 
dadurch näher, daß sie ein Derivat des Ausdrucks s^xaioxoc gebraucht, 
das doch wohl nur so verstanden werden kann, daß jener Philosoph 
sich selbst zum sfxdto'/oi; bei dem Gotte Sarapis gemacht hatte. Ge¬ 
rade darin liegt aber auch wieder, daß der Sarapis nicht selbst der 
xats/wv war. Man könnte sich danach z. B. sehr wohl denken, daß 
der sfxdtoxo«;, der den Nspioei? eine Kapelle baute, ein Büßer ge¬ 
wesen sei, der sich zur Ablegung seiner Buße den Tempel des Sa¬ 
rapis ausgesucht, sich gewissermaßen unter die Obhut oder Aufsicht 
des Gottes gestellt habe, eine Erklärung, die unter Umständen auch 
für die syxitoxot des Serapeums passen würde 1 ). 

Von den beiden andern Beweisstellen, die W. den Serapeums¬ 
papyri selbst entnommen hat, ist die eine die viel erörterte Stelle 
Lond. 44 (= UPZ8), 18 ff. Dort erwähnt der £yxätoxo<; Ptolemaios, 
der sich im Präskript (Z. 3) wie im Tenor seiner Eingabe (Z. 10) wie 
üblich als einen von denen, die im großen Serapeum h xatoxfj sind, 
bezeichnet, daß die Terapelreiniger nicht nur ihn selbst in seiner 
Wohnung im Astartieion belästigt, sondern auch AtytXov xiva xwv 
zapaxatexopivwv oxö toö Zapaxio? deparcetrrwv , der sich über ihr 
Treiben empörte, angegriffen hätten. W. übersetzt das geradezu 
(S. 141): »Diphilos aber, der zu den vom Sarapis neben mir fest¬ 
gehaltenen Therapeuten gehört« und schließt aus dieser Stelle, daß 

1) Ich habe bei der xccroyr) der Serapeumspapiere auch schon an die Sitte 
der merovingischen Könige und der russischen Zaren, politisch unbequeme Per¬ 
sonen in ein Kloster zu schicken, gedacht. 


Go gle 









Wilcken, Urkunden der Ptolemäerzeit 


115 




auch Ptoleroaios nicht nur ebenfalls vom Sarapis festgehalten, sondern 
auch zu den O-epaxeuTat des Tempels gerechnet worden sei. Warum, 
frage ich darauf, wenden Ptolemaios und die andern k-cmxojoi nie¬ 
mals entsprechende Ausdrücke auf sich an und warum wendet er in 
unserem Falle jene ungewöhnliche Bezeichnung, die er für sich nie 
gebraucht, auf jenen Diphilos an, warum nennt er ihn nicht einfach 
aotöv xat iv ovta [iet’ i[ioü? Ich kann aus der Verschieden¬ 

heit der Bezeichnungen hinsichtlich der Form und des Inhaltes (Ptole¬ 
maios £v xatcr/7] iv t(j) ’Aoraptisiq), . Diphilos Ttapaxats/öpsvo? öxö toö 
Eapaxto< ;) nur auf eine Verschiedenheit der bezeichneten Objekte 
schließen. Ob man dem Kompositionselement xapa-, das inW.s Aus¬ 
legung einen Vergleich zwischen beiden Teilen herstellt, wirklich eine 
solche Bedeutung zuzuerkennen hat, ist, wie auch W. selbst zugiebt, 
zweifelhaft, dient es doch in den von verschiedenen Gelehrten für 
irapaxotd/siv angezogenen Parallelstellen überall nur zur Verstärkung 
des xax§x etv * Damit fällt aber die Beweiskraft der Stelle ganz dahin, 
die sich eben doch trotz W. der Stelle von Priene durchaus an die 
Seite stellt. Aber selbst wenn das xapa- bei uns wirklich die Be¬ 
deutung >neben< hätte, so würde sich der Vergleich mit der xato/Tj 
des Ptolemaios doch noch nicht auf den Urheber der Haft zu er- 
strecken brauchen; es könnte damit [nur die Gleichzeitigkeit des 
xatexsofrat der beiden Leute in demselben Tempel ausgedrückt sein. 

Es bleibt schließlich von W.s Beweisstellen für die Urheber¬ 
schaft des Sarapis bei der xato -/yi im memphitischen Serapeum noch 
eine übrig, die bisher noch nicht zur Diskussion gestanden hat, aus 
dem einfachen Grunde, weil sie auf einer Ergänzung W.s in der bis¬ 
her inediert gewesenen Urkunde Par. 24 V. = UPZ4 beruht: [toö 
8k xatpö]? p.[ou] et? •freooc p.etsXS'övtoi;, [Ifioö de y v äp]tv [to]ö Eapaxtoc 
Xtüpiadfjva- [oü> öovapivojo (unsichere Zeichen unterstrichen) >als [mein 
Vater] starb [und ich um] des Sarapis will]en [nicht] fortgehen 
[konnte] <• Ich überlasse es dem Urteil des Lesers, ob eine soweit 
gehende Ergänzung eines zerstörten Wortlautes in zerstörtem Zu¬ 
sammenhänge irgend eine Beweiskraft haben kann. »Vernichtend für 
Sethes Theorie von der weltlichen Strafhaft < nennt sie W. und ver¬ 
gißt dabei wieder einmal, daß ich eine solche Theorie gar nicht auf¬ 
gestellt, sondern mir nur eine Frage aufzuwerfen erlaubt habe (s. ob. 
S. 107, Anm.). 

Gegen die Rolle, die W. dem Sarapis bei der xatoxvj zuerteilt, 
scheint mir aber sehr vernehmlich auch der schon erwähnte, von mir 
neu herausgegebene demotische Papyrus (UPZ 6a) zu sprechen. Seine 
Eingangsworte »ich habe mich gegeben an ... und sein Heiligtum, 
in dem ich die Göttin anbete(te)< würden, selbst wenn der nicht ge- 














116 Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 4—6 

lesene Name ein Epitheton des Sarapis gewesen sein sollte, wie W. 
glauben möchte, doch diesen Gott nur sehr indirekt als den Fest¬ 
haltenden bezeichnen. Inzwischen ist es mir aber fast zur Gewißheit 
geworden, daß Revillout mit seiner Uebersetzung >je me suis donne 
ä Astarte et ä son temple« doch Recht gehabt haben wird, wenn 
auch, wie mir H. Sottas freundlichst mitteilte, wirklich pij-f >sein< 
statt pij-s >ihr< dasteht und wenn auch der Name Astarte sonst an¬ 
ders aussieht, als der hier von Revillout faksimilierte Name, der 
im übrigen genau so determiniert ist wie Astarte in dem »antigraphe 
des luminaires« Louvre 2423 (Mitt. von Sottas). Entscheidend 
scheint mir das »indem ich die Göttin anbete(te)<, das nach demoti- 
schem Sprachgebrauche keinesfalls zum Folgenden gezogen werden 
darf*), und das im übrigen, wie man es auch nimmt, die vorherige 
Nennung der Göttin verlangt. Es handelt sich also gewiß um Jemand, 
der sich der Göttin Astarte ergeben hat, um einen rj) 

xopiof ’Aotäprfl in der Ausdrucksweise der smyrnäischen Inschrift. 
Daß auch das Astartieion als >Heiligtum< (griech. tepöv, äg. irpj) be¬ 
zeichnet werden konnte wie das Serapeum, lehrt z. B. Vat. B, 10 
(= UPZ 7). Handelt es sich aber wirklich um eine Hingabe an die 
Astarte, in deren Heiligtum ja auch der Ptolemaios wohnt, 

so muß nun auch Reitzensteins Gedanke, daß auch Apulejus ein 
solcher 6 y x “ T 0 X°? der Isis, der er sich ergeben hatte, gewesen sei, in 
anderem Lichte erscheinen, als ihn W. (S. 75) erscheinen läßt. Und 
man wird sich weiter fragen müssen, ob nicht etwa die xatoxifj im 
Astartieion (bezw. im Tempel einer anderen Göttin) überhaupt ein 
asiatisches Gewächs (mit erotischem Hintergründe?, vgl. die Bes- 
Zimmer ob. S. 109) gewesen ist. Es ist bemerkenswert, daß W. schlie߬ 
lich unter dem Eindruck unserer demotischen Stelle auch zu einem 
solchen Gedanken kommt (S. 77). Aber wo bleibt dann der Sarapis? 

In dem Streit über die Freiheitsbeschränkung der in xatox^j 
lebenden Leute spielte das Fenster, durch das der bpLfaoyips Ptole¬ 
maios wiederholentlich seine Eingaben überreichte, eine Rolle. W. 
wollte darin ein Audienzfenster sehen, obwohl in einer der in Be¬ 
tracht kommenden Urkunden daneben der gleiche Ausdruck Sta njc 

1) Es ist unrichtig, daß ich »das nötige Präteritum (‘betete’) erst mit Frage¬ 
zeichen hineinkorrigieren mußte« (S. 6G). Die äg. Satzform drückt das relative 
Präsens, die Gleichzeitigkeit, aus; sie kann je nach der Bedeutung des Haupt¬ 
satzes »indem ich bete« und »indem ich betete« bedeuten. Es kommt also darauf 
an, ob man den Zustandssatz als gleichzeitig mit dem Redenden bezw. mit dem 
als Resultat der vergangenen Handlung bestehenden Zustand nimmt oder als 
gleichzeitig mit dieser vergangenen Handlung. Das letztere ist an sich das 
Korrektere; die präsentische Uebersetzung war im Grunde nur eine Konzession 
an W., die \ielleicht zu weit ging. 


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Wilcken, Urkunden der Ptolemäerzeit 


117 


ftoptöoc in unzweifelhafter Anwendung auf das Fenster im Wohnraum 
des Ptolemaios vorkommt (sie bewarfen mich mit Steinen durch das 
Fenster) und obwohl die Begründung, die einmal Für diesen, eben 
doch wohl nicht gewöhnlichen Weg der Uebergabe von Schriftstücken 
gegeben wird (8ta tö (tt) SövaoO-at Jtpooxataßfjvat), bei W.s Deutung 
völlig sinnlos würde. Denn wenn es ein solches Audienzfenster im 
Serapeum für derartige Zwecke gab und wenn dessen Benutzung 
durch die Bewohner des Serapeums so selbstverständlich gewesen 
wäre, wie W. es darstellt ‘), so bedurfte es keiner solchen Entschuldi¬ 
gung des Bittstellers, wie immer man das rcpooxataßijvai auch fassen 
möge. Ich kann dazu nur auf meine Ausführungen GGA 1914, 391 ff. 
hinweisen, die durchaus noch ihre ganze Kraft behalten haben, auch 
gegenüber den Bemerkungen vonW. Otto, derW. im Arcli. f. Pap.- 
Forsch. VI303 ff. mit einem Aufsatz über das Audienzfenster im Sera¬ 
peum sekundiert hat 2 ). Inzwischen glauben W. und Otto durch eine 
neue Interpretation der Worte oot rJjv icapä zoü ßaotXsm? Stä 

nj<; fh)pt§o<; laypaYtO(t£v/jv Ttepl twv SiSojicöv in Lond. 35, 6 (= UPZ 53) 
eine ganz wesentliche Aenderung der Sachlage zu Gunsten der W.- 
schen Auffassung erzielt zu haben. Sie übersetzen sie jetzt so: »ich 
übergab dir die vom König durch das Fenster gesiegelte (Eingabe) 
wegen der Zwillinge«. Damit ergibt sich ihnen, daß die Benutzung 
des umstrittenen Fensters in diesem Falle nicht mit dem Gespräche 
zusammenfiel, das Ptolemaios mit dem Hypodioiketen l'voxt tot» Eapam 3 ) 
geführt haben will, sondern stattfand, als die Zwillinge ihre eigene 
Eingabe in ihrer Angelegenheit Leid. B (= UPZ 20) dem Könige 
überreichten. Die Folge davon wäre, daß W. der durchaus unwahr¬ 
scheinlichen Ansetzung seines Audienzfensters im Allerheiligsten (»an¬ 
gesichts« des Gottes) überhoben würde und daß hier einmal auch 
andere Personen als Ptolemaios als Benutzer dieses Fensters er- 

1) Daß es das nicht war, ist auch daraus zu entnehmen, daß die Worte 
Stä tt)c ßup(5o{ in zwei von den drei Fällen, wo sie so Vorkommen, in dem ersten 
Entwurf der betr. Eingabe fehlen und erst als ein wesentlicher Zusatz dem ver¬ 
besserten Text eingefügt sind. 

2) Die Schlußbemerkung dieses Aufsatzes (a. a. 0. 323 Anm.) würde be¬ 
rechtigt sein, wenn ich so töricht gewesen wäre, die gleichzeitige Existenz ver¬ 
schiedener Fenster im Serapeum überhaupt zu bestreiten. Woran ich Anstoß 
nahm und woran jeder Unbefangene Anstoß nehmen muß, ist, daß der gleiche 
Ausdruck ota trj{ 8up(5o; in einunddemselben Schriftstück kurz hinter einander 
einmal die und das andere Mal jene Bedeutung haben soll. 

3) Wenn Otto a. a. 0. 304 behauptet, ich habe GGA 1914, 391. 305 gegen 
W.s Deutung der dafür in den Parallelstellen Lond. 33, 18 = Par. 33,13. Vat. 
C. 18 eintretenden Worte lv ?<p iepu» »nur mit Redensarten ankämpfen können«, 
so ist das sachlich durchaus unberechtigt, nach seiner Form aber nur als unge¬ 
hörig zu bezeichnen, um nicht stärkere Ausdrücke zu gebrauchen. 







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schienen. Wenn auch der ungewöhnliche Gebrauch von Trapd statt 
öjtö, wie W. und 0. ihn annehmen, durch Lond. 21,4 belegt ist, so 
scheint mir doch das Siegeln durch das Fenster eine ganz ungeheuer¬ 
liche Vorstellung zu sein, und die Worte srepl twv StSojuüv scheinen 
mir doch stark dafür zu sprechen, daß es sich bei dem durch das 
Fenster übergebenen Schriftstück, das die Getreide- und Broteinkünfte 
der Zwillinge betrifft, nicht um die bewußte Eingabe der Zwillinge, 
die nur ihre Oeleinkünfte betraf, handeln kann, sondern um eine Ein¬ 
gabe des Ptolemaios (bezw. um einen ihm erteilten königlichen Be¬ 
scheid?) wegen der Zwillinge handeln muß 1 ). Aber man wird auch 
hier, um sicher zu urteilen, W.s Kommentar abwarten müssen. Wenn 
W. und 0. der gläubigen Hoffnung leben, daß Ausgrabungen dermal¬ 
einst ihr Audienzfenster im Serapeum zutage fördern werden, so kann 
man vom ägyptologischen Standpunkt aus nur erwarten, daß sich das 
als eine Illusion erweisen wird 2 ). Der Zufall will es übrigens, daß in 
den hieroglyphischen Grabinschriften der memphitischen Hohenpriester 
der Ptolemäerzeit wirklich ein >Erscheinungsfenster« (s$A n &'), also 
ein Fenster, wie es W. postuliert, vorkommt in den von diesen 
Priestern geführten Titeln »Prophet des Horus (bezw. ‘der Götter’) 
des Erscheinungsfensters« (Sharpe, Egypt. inscr. 13; Brugsch, 
Thes. V 904. 914. 915. 928. 930), aber die Schreibung des Wortes 
»Erscheinung« in einem Falle (Thes. V 928) läßt keinen Zweifel da¬ 
ran, daß es sich um ein Requisit der Königskrönung handelt, die ja 
seit alten Zeiten in Memphis, der Stätte der »Vereinigung der beiden 
Länder« durch Menes, vorgenommen (s. m. Unters. III135; vergl. 
Letronne, Oeuvres choisies II289) und offiziell als »die Erschei¬ 
nung des Königs von Ober- und des Königs von Unterägypten« be¬ 
zeichnet wurde. Dieses wirklich bezeugte »Erscheinungsfenster« wird 
sich im Ptahtempel von Memphis befunden haben; man könnte es 
etwa in den neuerdings ausgegrabenen Teilen dieses Heiligtums, bei 
dem Thronsaal des Menephthah suchen 3 ). 

1) Die ungeschickte Stellung des oid rf^ O’jptöoc, die zu der neuen Aus¬ 
legung der Stelle veranlaßt hat, könnte sich daraus erklären, daß es erst sekundär 
in den fertigen Wortlaut der Eingabe eingefügt worden ist (s. ob. S. 117 Anm. 1). 
Dabei ist es an die falsche Stelle geraten. 

2) So hat sich jetzt auch B o r c h a r d t W. gegenüber geäußert (S. 65), nach¬ 
dem er ihn zuerst in seiner Annahme des Audienzfensters bestärkt hatte. 

3) Zu beachten ist, daß das augenscheinlich als etwas Hochheiliges behan¬ 
delte »Erscheinungsfenster« in den zitierten Inschriften überall mit dem bestimmten 
Artikel p\ versehen ist, ein Zeichen, daß seine Existenz nicht über die 19. Dyn. 
zurückreichte, was ja auch durchaus zu den Ergebnissen von Schäfer stimmt, 
der nachgewiesen hat, daß das »Erscheinungsfenster« erst unter Amenophis IV. 
aufgekommen ist. 












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Wilcken, Urkunden der Ptolemäerzeit 


119 


Was die Tätigkeit der in der xatoyv] lebenden Leute anlangt, so 
nimmt W. für sie auf Grund des von ihm Arch. f. Pap.-Forsch. 
VI197ff. erbrachten Nachweises, daß die Brüder Ptolemaios und 
Apollonios während ihrer xato/ij gewisse, wenn auch geringfügige 
Einnahmen aus dem Tempel bezogen, an, daß sie zu gewissen Kult¬ 
handlungen herangezogen wurden. Darauf führt ja auch seine Aus¬ 
legung der oben S. 115 erörterten Bezeichnung des Diphilos als eines 
der Ttapaxats'/Ofjivcüv o~b toö Sapamo? {fepaiteuT&v. Außerdem will W. 
auf Grund von Par. 47 (= UPZ 70), wo Apollonios in seinem Ver¬ 
trauen auf die Träume getäuscht seinen Bruder mit Bitterkeit zu den 
toö? aXijftecav Xsyovtok; rechnet, den efxdtcr/oi des Serapeums Wahr¬ 
sagen und Traumdeuten als berufsmäßige Beschäftigung vindizieren. 
Das will mir, bis wir die von W.s Kommentar zu erwartende weitere 
Belehrung erhalten haben, als etwas rasch verallgemeinert scheinen. 
Die »intermittierende Ekstase<, dieW. früher, immer noch im Banne 
der Doppelbedeutung von xoctoxtj, für die e?xdto*/ot annehmen wollte, 
gibt er jetzt endlich preis (S. 69, Anm. 5). 

Das dritte Hauptkapitel (S. 77 ff.) endlich gilt dem alexandrini- 
schen Sarapis und seinen Beziehungen zu Memphis. Hier kommen 
die eigentlichen Probleme der hellenistischen Sarapisreligion zur Be¬ 
sprechung. W. hat sich bekanntlich jetzt zu der Ableitung des Gottes 
und seines Kultes vom memphitischen Osiris-Apis bekehrt; er steht 
jetzt auch der Herkunft des alexandrinischen Götterbildes aus Sinope 
mehr abwartend als ablehnend gegenüber, nachdem sich sein aus der 
Gestalt des Kerberos gezogenes Argument dagegen als unhaltbar er¬ 
wiesen hat und Thiersch vom archäologischen Standpunkt für die 
kleinasiatische Herkunft dieses Kerberos eingetreten ist. An dem 
durch Steph. Byz. als Name eines öpoc M£p/fi8o<; bezeugten Stvomov, 
das Stephanos neben dem pontischen Sinope für die Erklärung der 
Benennung des alexandrinischen Sarapis als Zs6? bei Eusta- 

thios zur Wahl stellt, hält W. .fest, indem er darin eine dem äg.- 
griech. Sprachgebrauch durchaus gemäße Bezeichnung für das Gebiet 
des memphitischen Serapeums findet ‘). Der von mir benutzten Lesart 
tö aopatov toö Stvioxioo »das Unsichtbare (Allerheiligste) des Sinopiers« 
bei Pseudo-Kallisthenes zieht er, wohl mit Recht, die mir leider un¬ 
bekannt gebliebene Lesart töv döpatov toö Eivamoo »den Unsichtbaren 
(Gott) des Sinopions« vor. In äußerst scharfsinniger Beweisführung 
sucht W. dann weiter zu beweisen, daß diese Benennung Sinopion 
nicht auf den Namen der pontischen Stadt Sinope zurückgehen könne 
und also auch nicht als Beweis für das Alter der Legende von der 

1) Auch heute würde man von dem Gebel d. i. Gebirge von Memphis 

reden. 












120 


Gott. gel. Anz. 1923. Nr. 4—6 


Herkunft des alexandrinischen Sarapisbildes angesehen werden dürfe. 
Ich halte den Gedankengang dieser Beweisführung für ganz richtig, 
das Ergebnis aber, daß der Name nicht von Sinope abzuleiten, son¬ 
dern eher die Sinopelegende aus ihm erwachsen sein könne, dennoch 
für falsch. Die Wahrheit wird wieder einmal in der Mitte liegen. Wir 
werden es wohl mit einer jener bei den Griechen so beliebten Er¬ 
setzungen für fremde Namen zu tun haben, wie Ofjßai, Tpöta, BaßoXwv, 
v Aßo8o?, die W. nicht übel als Aequivalente bezeichnet hat. Weil der 
Sarapis durch sein alexandrinisches Kultbild, dessen Abbild doch ge¬ 
wiß auch im memphitischen Serapeum nicht gefehlt haben wird, mit 
Sinope in Beziehung stand, wird eine ähnlich klingende äg. Bezeich¬ 
nung seiner memphitischen Kultheimat (meinethalben das von Brugsch 
vorgeschlagene Is'.t n hp »Stätte des Apis«) im Munde der Griechen 
zum Eivwjctov, d. h. eben doch »das Sinopische«, geworden sein. 

Die Frage, wie die Erwähnung des Sarapis in Berichten über 
den Tod Alexanders d. Gr. zu erklären ist, bringt W. noch einmal 
eingehend zur Sprache (S. 79) und beantwortet sie, ganz in meinem 
Sinne, damit, daß es sich dabei nur um eine interpretatio graeca eines 
babylonischen Gottes handeln kann, in dem W. mit Winckler den 
zum äg. Osiris-Apis passenden Stiergott Marduk vermuten möchte. 

Hinsichtlich der Ableitung der griech. Namensform Eapam« aus 
der äg. Grundform wehrt sich W. (S. 85 ff.) noch immer gegen die 
von Chämpollion aufgestellte, von mir erneuerte Erklärung, daß 
das Mißverständnis von ’OoapaTu? zu 6 Sapaiti? die Ursache für ihre 
Entstehung gewesen sein könne, und zwar tut er das deswegen, weil 
die Griechen nicht von ’Ooapaitic, sondern von 6 5 Ooapcm<; und in 
den Casus obliqui von xoö ’Ooapamo« gesprochen haben müßten. Ein 
Schluß, der mir unverständlich ist. Denn wenn die Griechen in dem 
Osorapi, das sie von den Aegyptern hörten, den griechischen Artikel 
8 bereits enthalten glaubten, wie die Araber ihren Artikel al in 
Alexandria, das sie deshalb al-Iskanderija nannten, jetzt Iskenderlje, 
so bildeten sie zu 6 Eapairi? eben ein toö Saparcioc usw. W. will jetzt 
die Form Xapamc vielmehr daraus erklären, daß die Griechen an der 
Kakophonie 6 ’Ooapajri<; Anstoß genommen und deshalb auf das zweite 
o verzichtet hätten. Er übersieht dabei, daß auch diese Erklärung 
nur für den Nominativ paßt. Der Befund im Artesimisiagebet, den er 
im Sinne dieser seiner Erklärung deuten will, nämlich daß dort ’Oos- 
parctc ohne Artikel neben tot» ’Oaspärcioi; und töv ’Oaeparctv steht, scheint 
mir eher für unsere als für seine Erklärung zu sprechen, muß doch 
auch W. annehmen, daß hier der Artikel 6 und nicht, wie es seine 
Erklärung von Saparct«; forderte, das o von 'Ooeparci? unterdrückt ist. 
Als Stütze für seine Erklärung will W\ auch die herodoteische Form 




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Wilcken, Urkunden der Ptolemäerzeit 


’Ajcpujc für den vierten König der 26. Dynastie heranziehen, der bei 
Manethos und in der LXX die Formen Obcuppn; und Oüa<ppij gegen¬ 
überstehen. Auch diese Form sei in gleicherweise aus euphonischen 
Gründen aus dem äg. Wih-lb-r mit Unterdrückung des anlautenden 
w hervorgegangen, und hier sei es ausgeschlossen, daß dieses io für 
den griech. Artikel b gehalten sein könne, weil dieser vor Königs¬ 
namen in der Regel nicht gebräuchlich gewesen sei. Da frage ich: 
ja was in aller Welt soll hier denn den Wegfall des io verursacht 
haben ? Denn mit der Ausschließung des Artikels ist ja auch die Ge¬ 
legenheit zu der Kakophonie beseitigt. Tatsächlich gilt die Regel, 
auf die sich W. beruft, aber wohl erst für die hellenistische Zeit; 
für Herodot gilt sie augenscheinlich noch nicht, denn bei ihm lesen 
wir II161 ff. wiederholentlich 6 ’Ajrplrj?, töv ’Arcptrjv usw. So scheint 
auch dieses Beispiel, wenn es überhaupt etwas beweisen kann *), eher 
gegen als für W. zu sprechen. 

Wertvolle Bestätigungen für den Zusammenhang des Sarapis mit 
dem Osiris-Apis von Memphis bringt W. schließlich (S. 89) bei, indem 
er einerseits die Familie des Osiris, andererseits auch den Apisstier 
als Kultgenossen des Sarapis vielfach belegt. Er kommt zu dem Schluß, 
daß sämtliche ägyptischen Götter, die in der griechischen Welt, na¬ 
mentlich auch auf Delos, mit Sarapis verbunden auftreten, sich auch 
im memphitischen Serapeum nachweisen lassen. 

Von den Texten selbst, die der erste Band des Werkes enthalten 
soll, bringt das vorliegende Heft nur die ersten elf, an der Spitze 
das berühmte Gebet der Artemisia. In der Anklage, die diese »Helleno- 
memphitin< bei Oserapis und seinen oövvaoi tteot gegen den Vater 
ihrer Tochter erhebt, und in der Strafe, die sie auf ihn herabwünscht, 
hat W. scharfsinnig und sehr ansprechend eine Spur der ägyptischen 
Rechtsgewohnheit, die Mumien von Angehörigen zu verpfänden, er¬ 
kannt. — Es folgt dann die lange Reihe der Papiere, die den ky- 
xdtcxot des Serapeums gehörten oder auf sie zurückgingen, und die 
das >Privatarchiv< des Ptolemaios, Sohnes des Glaukias, und seiner 
Gefährten bildeten. Vorangeht auch hier wieder eine längere Ein¬ 
leitung (S. 104—116), die über die in Betracht kommenden Personen 
und ihre Verhältnisse orientiert. Nachdem ich bereits oben in der Be¬ 
sprechung der allgemeinen Einleitung zu verschiedenen wichtigen 

1) Auch die Namensform, unter der derselbe König im AT auftritt, tfophra 
(jtsh) hat ja das anlautende w nicht, und der Wegfall des w in dem äg. Wort¬ 
stamme idb ist auch sonst nicht beispiellos, vgl. Ä. Z. 52,115. Ueberdies ist es 
aber auch noch garnicht gesagt, daß A^phr^ wirklich den Namen WM}-lb-r wieder¬ 
gibt, und nicht vielmehr den Re r -Namen desselben Königs lf f -lb-r K (wie Mtacppr)?, 
tlaufxav&ua;, Map7);), eine Möglichkeit, die bei Hophra r freilich wegen des Fehlens 
der beiden 'Ajin hinter dem b ausgeschlossen ist. 






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Stellen mich geäußert habe, kann ich mich hier kurz fassen. Nur ein 
Punkt aus den griechischen Stücken bedarf noch einiger Bemerkungen; 
es ist die Auslegung, die W. (S. 131) jetzt den Worten oox kie\-q- 
Xoftox; tö rcaotoipöpiov £v <p eYxdxXstjiat £ük rijc OTjpispov UPZ 5, 4 = 6,4 
(Par. 37. 35) gibt, nachdem er seine frühere Auffassung, sie gehörten 
nicht zum Präskript (wogegen ich mich GGA 1914, 403 wandte), 
nunmehr aufgegeben hat. In dem e-yx£xXetp.ai will er jetzt wegen des 
im >Petitum< 5,47 vorkommenden p.7] orcsptSeiv p.e -i)vop.T]p,evov xai Sy - 
xsxXeipivov einen wiederholten feindseligen Akt der Widersacher des 
Ptolemaios sehen, dessen Abstellung er begehre. Die oben angeführten 
Worte des Präskriptes, die gegen eine Bewegungsfreiheit des Ptole¬ 
maios im Tempel zu sprechen schienen, sollen daher nicht mit der 
unmittelbar vorhergehenden Nennung der v.azoyji (Sv tip p^aXip Sapa- 
jueup Sv xaro/Yj <5>v Sr»] SSxa) in Zusammenhang gesetzt werden, wie 
es, das gibt auch W. ohne weiteres zu, an sich zu erwarten wäre, 
denn die xatcr/vj sei niemals als Unrecht bezeichnet, um dessen Ab¬ 
stellung gebeten werde, wie die S'YxXstot? unseres Falles. In Wahrheit 
ist das aber bei dieser ebenso wenig der Fall, und dem p/J) oirspiösiv 
p.e . . . iYxexXetpivov der oben zitierten Stelle des Petitums läßt sich 
das p.7] örtsptSsiv p.e Sv xatoyfl övta im Petitum von Vat. E. F. (= UPZ 
15/16) gegenüberstellen, eine Stelle, aus der ich trotz W. noch immer 
heraushören muß, daß die xato-/^ als ein unangenehmer Zustand 
empfunden wurde (vgl. GGA 1914, 397/8). Mir scheint im übrigen 
aber bei W.s Auslegung unserer Stelle weder das oox SleXvjXodü)? 
noch das ewc tijc cn]p.epov eine befriedigende Erklärung zu finden. Ich 
muß auch auf das nachdrücklichste wiederholen, was ich GGA 1914, 403 
gesagt habe, daß das tö Sv t<p p.eY<*X(p Sapajrieup ’Aotaptietov oo xai 
SYxatS)(op.ai w? xai Syi(jv piypt toötoo UPZ 6,8 = tö Sv ttp p.ey. Sap. 
’Aat. oö xai Sv xatoyjj e’tp.i p.eypc t7)c oijp.spov 5,8/9 im eigentlichen 
Text der Eingabe die Identität oder wenigstens den engen Zusammen¬ 
hang der xatoyT] mit der ^vXeiai<; des Präskriptes gewährleistet. Und 
in der Tat: liest man W.s Uebersetzung des Präskriptes, so wird 
man sich geradezu Gewalt an tun müssen, um diesen Zusammenhang 
zu verkennen. 

Des weiteren darf ich wohl noch zu dem oben (S. 113) bereits er¬ 
wähnten demotischen Papyrus, den W. unter 6a behandelt, einiges 
sagen. Das von Brunet de Presle abgebildete Stück ist von H. 
Sottas eingesehen worden, der leider das nur von Re villout publi¬ 
zierte Stück bisher im Louvre nicht auffinden konnte. Aus Sottas’ 
sehr dankenswerten Bemerkungen sei hier Folgendes mitgeteilt: Z. 2: 
sicher 8, nicht 6. — Z. 3: der Ortsname (von mir Prj-kws gelesen) 
sehr undeutlich. — Z. 4: Lesung pi hmo >das Innere« nicht richtig. 







Wilcken, Urkunden der Ptolemäerzeit 


123 


— Z. 5: fast ganz unleserlich. — Z. 10: Spiegelbergs Verbesse¬ 
rung bestätigt sich vollkommen. — Z. 13: Revillouts Lesung »fan- 
taisiste«. Anstelle der Worte >ich sage Zeugnis, nachdem ich es be¬ 
reits gegeben habe« liest S. etwas ganz anderes: zunächst ein nicht 
zu deutendes Wort, dann »der 0 TpaTtii>n]c< (ich würde oTpanftdc vor¬ 
ziehen, das auch paläographisch nicht unmöglich erscheint) mit un¬ 
regelmäßiger Wiedergabe des or durch st statt, wie es sonst üblich, 
durch s. Dann folgt unmittelbar der Ortsname, in dem ich eine Ueber- 
setzung von Alexandria (»Haus des Alexandros«) vermutete. Dies 
bestätigt sich nicht; der Name ist nach S. ganz deutlich, er beginnt 
mit prj hnt und endigt mit ntr »Gott«. Vielleicht ist zu lesen: Prj- 
frnt-b.toj- ntr.iv »das Haus derer, die vor den beiden Hörnern der 
Götter ist«, das wäre die im Gebiete von Memphis belegene Kult¬ 
stätte der Göttin Mut. Diese Göttin kommt eben so benannt oft in 
den Grabinschriften der memphitischen Hohenpriester der Ptolemäer¬ 
zeit vor, die ihr als »Propheten« dienten (demotische Schreibungen 
bei Brugsch, Thes. V888. 890. 892), aber auch in älterer Zeit auf 
dem Boden der memphitischen Nekropole (z. B. auf einem Denkstein 
des Neuen Reiches, bei der Chephrenpyramide gefunden, Hölscher, 
Chephren S. 109). Der Zusammenhang der Stelle ist durch diese Be¬ 
richtigungen dunkler geworden, als er vorher schien. — Was W. zu 
Z. 6, gestützt auf Aeußerungen von Spiegelberg, sagt, kann nur 
auf einem Mißverständnis beruhen. Die im Papyrus vorliegende Schrei¬ 
bung paßt durchaus zu meiner Uebersetzung der Stelle (vgl. z. B. 
Ryl. 36,11), doch ist auch die von W. vorgeschlagene Ergänzung 
möglich, gerade weil nicht der Infinitiv (Ij = kopt. «) vorliegt, der 
dabei nicht am Platze wäre. Uebrigens hat Sottas vor Pr-i »König« 
noch ein Zeichen (aussehend wie bn »nicht«) gelesen, mit dem aber 
vorläufig nichts anzufangen ist. 

Ich will diese Zeilen nicht schließen, ohne den Gefühlen des Dankes 
für die reiche Belehrung, die ich aus W.s Werk gezogen habe, und 
der Bewunderung für die darin geleistete Arbeit Ausdruck zu geben, 
Gefühle, die auch durch die stellenweise etwas gereizt klingende und 
vielfach überflüssige Polemik nicht gemindert werden können. Nur 
mit größter Spannung kann man dem Erscheinen der weiteren Hefte 
der UPZ entgegensehen. 


































124 


Gott. gel. Anz. 1923. Nr. 4—6 


Karl Rupprecht, Apostolis, Eudem und Suidas. Studien zur Geschichte 
der griechischen Lexica mit einem Anhang: Fragment eines griechischen Lexi¬ 
kons (Codex Monacensis gr. 263 Fol. 416 r—420v) = Philologus Suppl. XV 
Heft 1. Leipzig 1922, Dieterichsche Verlagsbuchhandlung. 2 -f- 160 + 2 S. 

Es ist zwar nicht üblich, im vorliegenden Fall aber zweckmäßig, 
die Rezension mit einer Darlegung der Bedingungen einzuleiten, die 
mir eine gewisse Kompetenz zur Beurteilung der obengenannten Ar¬ 
beit geben. Seit zehn Jahren bin ich mit Vorbereitungen für eine 
kritische Ausgabe des Suidas beschäftigt, und die Arbeit nähert sich 
jetzt dem Ziel. Sie geht nach zwei Richtungen, der Einsammlung und 
Beurteilung des handschriftlichen Materials und der Durcharbeitung 
der Quellenstudien, die über Suidas erschienen sind und für die Pa¬ 
rallelstellen unentbehrlich und auch oft für die Textgestaltung von 
Bedeutung sind. 

Der Text Gaisfords, von dem der Bernhardys fast immer nur ein 
Abdruck ist 1 ), wird im ganzen stehen bleiben, weil die führende 
Stellung der Handschrift A von ihm (wie schon von Küster) ganz 
richtig beurteilt ist. Die Kollationen Gaisfords sind für seine Zeit 
nicht schlecht, am besten für die wichtigen Realartikel, die sich allein 
bei Suidas finden. Im ersten Teile (A—0) gehen die Handschriften 
weiter von einander ab als im letzten, auch ist für den ersten Teil 
mehr neues Material hinzugekommen. Das Verhältnis der Hand¬ 
schriften ist nämlich in den beiden Teilen ein ganz verschiedenes 2 ). 
Im ersten Teile kommt nach dem führenden A eine Klasse, deren 
bester Vertreter Paris. 2623 (G) ist; V (suppliert durch S) und Marcian. 
448 (M) bedeuten weniger. Im zweiten Teile stehen A 3 ) V und die 
gute Tradition des von Doppellesarten wimmelnden M zusammen, 
während G und die damit verwandte schlechte Tradition in M be¬ 
deutungslos sind. Für die kurzen Artikel ist zuweilen die Epitome 
Laurent 55,1 (F) wichtig. Wer vereinzelte Stellen behandelt, kann 
also leicht auf schwankenden Boden geraten, dagegen haben breit 
angelegte und methodisch durchgeführte Untersuchungen wie die de 
Boors über die Historikerzitate (Byzant. Zt. XXI—XXH1) und die 

1) Der Anfang bis dxpdwj ist vor dem Erscheinen der Gaisfordschen Aus¬ 
gabe gedruckt und ganz unzuverlässig; die von Rupprecht behandelten Glossen 
fallen meist in dieses Stück. 

2) Die Andeutungen in der verdienstvollen Abhandlung von Bidez (SB. Preuß. 
Ak. ph.—h. CI. 1912 850 ff.) sind für den zweiten Teil zutreffender als für den 
ersten. 

3) A ist eine andre Hs. ajs im ersten Teile ; stellenweise fehlt die alte Hand 
und wird durch ein Exzerpt ersetzt. So mehrmals im Anfang des 11, was mehrere 
Glossen der Abh. berührt. 


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IFORNIA 






Rupprecht, Apostolis, Eudem und Suidas 


125 



Wentzels über das Verhältnis zu Photius durch die neuen Kollationen 
vielfach Bestätigung gefunden. 

Im Hauptproblem der Quellenforschung, dem Verhältnis zum 
Lexikon des Photius, hat G. Wentzel, SB. Preuß. Ak. 1895 477 ff., 
die wahre Betrachtung durchgeführt. Wentzel gab aber nur ganz 
kurz seine Resultate in statistischer Form, und daher hat seine Ab¬ 
handlung, ohne eigentlichem Widerspruch zu begegnen, nicht die 
durchgreifende Wirkung geübt, die sie verdiente. Die äußerst weit¬ 
läufigen Untersuchungen, die sich in der zugrunde liegenden ge¬ 
krönten Abhandlung finden, sind ungedruckt geblieben (ausgenommen 
einige kleine Artikel, die gerade für Suidas wenig ergeben). Dieses 
Manuskript wurde dem lexikographischen Apparat auf der Universitäts¬ 
bibliothek in Kopenhagen überlassen, und ich habe es zweimal ganz 
durchgearbeitet. Hierdurch wie auch durch die Arbeit mit den ver¬ 
schiedenen Quellen bin ich zur Ueberzeugung gelangt, daß Wentzels 
Anschauung die denkbar beste Arbeitshypothese ist, und es bedürfte 
der schlagendsten Beweise, um sie umzustoßen, wie es die vorliegende 
Abhandlung versucht. 

Wentzel hat erstens die schon von Roellig, Dissertation es Ha- 
lenses VIII, 1 bewiesene Auffassung, S(uidas) sei von P(hotius) unab¬ 
hängig, weiter ausgebaut, und diese hat sich jetzt völlig durchgesetzt. 
Weniger beachtet blieb seine Darlegung des Verhältnisses der zwei 
Lexica. Der gemeinsame Stoff erklärt sich daraus, daß beide eine 
Hauptquelle benutzen, eine S(ovaYO)f^) = Bachmanns Lexikon, mit 
Erweiterungen. Daß auch diese der gemeinsamen Quelle angehören, 
wird in der ungedruckten Abhandlung dadurch bewiesen, daß sie bei 
beiden in derselben Weise mit der E und mit einander kontaminiert 
sind. Die Erweiterungen sind 1. die Epitome des Harpokration, 2. Atti- 
zistenglossen, 3. Platoglossen aus Boethos, 4. Timaios’ Platolexikon, 
5—6. das vierte und fünfte Bekkersehe Lexikon, 7. Apollonios’ Homer¬ 
lexikon. Diese erweiterte E war aus nur drei Büchern entstanden, 
einer dem Coislinianus 345 ähnlichen Handschrift, einer Attizisten- 
handschrift, Photius’ Bibliothek cod. 151—154 entsprechend, und 
drittens aus Harpokration. Außerdem benutzt Photius selbständig 
eine der beiden Hauptquellen des fünften Bekkerschen Lex. und die 
Attizisten, Suidas allein die andere Hauptquelle des fünften Lexikons. 
Wentzel operiert also meist mit frühbyzantinischen Quellen, und seine 
Zurückweisung der unmethodischen älteren Quellenforschung, die diese 
Glossare mit antiken Lexicis identifizierte, ist heilsam gewesen. Seine 
Untersuchungen ruhten auf Kollationen von S, Kyrillos etc. Das Ver¬ 
hältnis zwischen Suidas und dem Glossar des Eudemos, ein Haupt¬ 
problem der vorliegenden Abhandlung, hat Wentzel in dieser Zeit- 

















schrift 1893, 30 f. behandelt. Es wird erwiesen, daß dieses an sich 
wertlose Glossar auch in seiner kürzeren (florentinischen) Form den 
Suidas benutzt, weil es oft dieselben Kontaminationen von Quellen, 
die Suidas eigentümlich sind, darbietet. An anderen Stellen jedoch 
hat Eudemos selbst eine £ benutzt. Wentzels Untersuchungen waren 
vor der Auffindung des Anfangs des Photius abgeschlossen. Das neue 
Material hat seine Theorien schön bestätigt. Z. B. zeigte es sich, daß 
kein einziges Wort, das er bei der Quellenanalyse des Eudemos als 
eigenen Zusatz des Suidas bezeichnet hatte, sich bei Photius wieder¬ 
fand. Dieselben Anschauungen vertritt Reitzenstein, sowohl in der 
Rezension von Boysens Sovafürpj (Berliner phil. Woch. 1893, 137) als 
in der Ausgabe des Anfangs des Photius. Seine Annahme (in der 
Ausgabe), daß Photius zwei verschiedene Exemplare der £ benutzte, 
kommt mir sehr wahrscheinlich vor. Von Wentzel scheidet er sich 
nur darin, daß er Phrynichos einen Hauptteil der attizistischen Glossen 
zuweist, und daß er die Anschauung aufgibt, daß im Etymologicum 
genuinum Photios benutzt wäre; beides ist hier ohne Interesse. Es 
scheint mir, daß Rupprecht nicht bemerkt hat, daß Reitzensteins An¬ 
schauungen in Hauptpunkten mit denen Wentzels identisch sind. 

Das bleibende und wertvolle im Buche findet sich im Anfang, in 
Kap. 3 und 4. Es wird erwiesen (S. 10—24), daß Ap(ostolis) zwischen 
VIII84 und X 37, von @e bis Ende des K keine Berührung mit 
P(hotius) und S(uidas) darbietet. Hiermit wird (S. 51) treffend kom- 
biniei t, daß der Eudemus Parisinus, Ep genannt, nach Boysen in dem¬ 
selben Stücke eine Lücke in seiner Vorlage vorfand; auch andere 
Berührungen zwischen Ap. und Ep werden aufgezeigt. Der nahe¬ 
liegende Schluß, daß Ap. einen Vorfahren des Ep benutzt hat, wird 
(S. 50) mit unzulänglicher Begründung zurückgewiesen. Ap. VH 96 
hat richtig ’AptototsXTfjc, Ep falsch ’ApiotstSr]«;; als ob Apostolis nicht 
’Apt« richtig auflösen könnte! Bei dem vorliegenden Material spricht 
nichts gegen die Annahme, Ap habe einen Eudem benutzt. Dies 
Problem ist übrigens für die weiteren Ausführungen von geringer 
Bedeutung. 

Sehr wichtig ist der Nachweis (24 ff.), daß Ap. in den attizisti¬ 
schen Sprichwörtern, die er mit S und P gemeinsam hat, von beiden 
unabhängig ist. Die Beobachtung war schon früher gemacht, und die 
meisten entscheidenden Stellen sind von Hiller (Philol. 34,226 ff.) ge¬ 
sammelt, der aber nicht weiter kommen konnte, weil er glaubte, S 
benutze P. Rupprecht hat neue schlagende Beweise meist aus dem 
Anfang des Photios hervorgezogen, und wenn auch einiges durch un¬ 
genügende Suida8überlieferung fortfällt, ist der Beweis dennoch voll- 





gültig. Dieselben Sprichwörter finden sich bei Eudem (S. 47 f.). Aus 















der Zusammenstellung von Eudem mit den verschiedenen £-Hand- 
schriften geht hervor, daß Eudem eine £ unabhängig von S benutzt 
hat. Dadurch wird aber nicht völlige Unabhängigkeit von S erwiesen, 
wie Rupprecht glaubt, s. u. Es fragt sich: ist das jetzt gewonnene 
Resultat, daß Eudem eine mit attizistischen Sprichwörtern erweiterte 
£ unabhängig von S benutzt, für Wentzels Hypothesen vernichtend? 
Ich glaube nicht, denn vorläufig hindert nichts anzunehmen, daß diese 
£ mit der von Wentzel beschriebenen gemeinsamen Quelle des S und 
P sehr nahe verwandt war. Dagegen stehen die Schlüsse, die Rupp¬ 
recht aus diesen Resultaten zieht, und seine nähere Ausführung über 
das Verhältnis zwischen Eudem und Suidas zu Wentzels Anschauungen 
in vollständigem Widerstreit; sie sind indessen auch unhaltbar. 

Verhängnisvoll ist vor allem die verkehrte Bestimmung des 
Verhältnisses zwischen der Vorlage des Ap., Y genannt (Eudem) 
und Suidas. S. 40: >Y als Abkömmling der P und S gemeinsamen 
Vorlage X aufzufassen, scheitert an dem folgenden Grund: unter 
dieser Voraussetzung läßt sich nicht erklären, warum Y nur solche 
P-Sprichwörter abschreibt, die bei S stehen, besonders wenn P zwei 
Erklärungen gibt.« Der Fehlschluß ist ja handgreiflich; P hat ja 
attizistische Quellen neben der erweiterten £ benutzt. Folgt das Re¬ 
sultat: >S benutzte ein korrigiertes Exemplar von Y; Apostolis gibt 
es getreu wieder; oder — S verbesserte selbst sein Y-Exemplar.< 
Wirkliche Beweise für diese verblüffende Behauptung bekommen wir 
nicht; eine Widerlegung ist nicht notwendig. 

Gesetzt, dies wäre richtig: S, nicht aber P benutzt einen >Eu- 
demos«, so muß Wentzels Hypothese modifiziert werden. Eine wirk¬ 
liche Widerlegung von Wentzels Darstellung gibt Rupprecht nicht, 
was verzeihlich ist, weil die entscheidenden Beweise nicht veröffent¬ 
licht sind. Die einzelnen Punkte, die Rupprecht herausgreift, genügen 
aber, um ein Resultat zu erlangen. Für Eudem war Wentzels Thesis 
(GGA 1893, 31): »Der Hauptbeweis liegt darin, daß, wenn S eine 
Glosse von £ mit anderen Quellen kontaminiert, die er notorisch nicht 
durch eine Mittelquelle, sondern selbständig benutzt, in solchen Fällen 
der Florentiner Eudem (der Pariser also erst recht) nicht nur die 
Glosse des £, sondern auch die anderen Quellen des S wiedergibt.« 
Die wichtigsten Beispiele sind aus Scholien zu Aristophanes, Homer 
und Sophokles und aus Herodotglossen genommen; außerdem kommen 
Historikerzitate, die für mich den besten Beweis abgeben 1 ), und eine 

1) Rupprecbts kleiner Exkurs II, S. 102 bringt ein gutes Beispiel. Aus 
Eudem äfxuytti' tet^iüpta oopa-a r.api <I>pdy7 0t » wird geschlossen: »Somit ist unser 
Ep-Kodex im Orient geschrieben.« Ob damit die Vorlage oder der Parisinus 2685 
selbst bezeichnet wird, ist mir nicht klar. Die Glosse kehrt aber in Suidas, nur 





















128 Gott. gel. Anz. 1923. Nr. 4—6 

Anthologieglosse in Betracht. Daß Wentzel unwiderleglich bewiesen 
hat, daß diese Kontaminationen nicht von S und von Eudem unab¬ 
hängig vorgenommen sein können, muß Rupprecht zugeben (S. 96,2). 
Seine Lösung ist folgende. Erstens wirft er Wentzel vor (S. 57), daß 
er nicht beweisen kann, daß S diese Quellen selbst verarbeitet hat. 
Die Beweislast fällt aber bei S immer auf den, der indirekte Be¬ 
nutzung erweisen will, denn die direkte Benutzung läßt sich nie >be¬ 
weisen <. Durch fortgesetzte Beschäftigung mit S bekommt man Ein¬ 
sicht in seine Art; gerade wo die Quelle nicht angegeben wird, liegt 
oft direkte Benutzung vor. Zweitens wird Rupprecht durch Wentzels 
Erweis gezwungen, die Scholien zu Aristoplianes, Homer, Sophokles, 
Herodot >usw.< (S. 97; sind das die Historikerzitate?) in sein Y auf¬ 
zunehmen. Nur für die Aristophanesscholien wird ein Beweis versucht 
(S. 95 f.), und zwar durch drei Glossen. ’A^xo^/eiXoc fällt fort, denn 
Suidas hat gar nicht toö xeikooc, das Bernhardy aus der Vulgata bei¬ 
behalten hat; aus rcaXtfxoToc kann nichts geschlossen werden, hier 
stimmt übrigens ein Eudemos, Coislin 177 mit S: it. ö'pfiXo?, otoyvöc, 
(foßspö?. — Von Belang ist nur rcaioat, welches der nicht genannte 
Roellig (S. 62 der Dissertation) hervorgezogen hat; Ep. und die Scholien 
schließen mit ’Attixwc, das bei S. fehlt. An dieser Stelle haben wir 
aber nicht die alte Hand der Haupthandschrift A, und gegen das 
eine Beispiel möchte ich ein anderes stellen: naXX-rjvtxöv ßXsireiv, das 
Rupprecht S. 93,1 aus Schol. Arist. Ach. 234 herleitet; die Glosse ist 
mit S identisch, weicht aber ganz von dem Scholion ab. Das eine 
Wort ’Atuxmc reicht wirklich nicht aus zum Beweis, daß S die Ari¬ 
stophanesscholien aus Y hat. Für die anderen Zusätze zu Y wird 
kein Beweis geführt, und somit sind wir nicht genötigt, in Y Quellen 
anzunehmen, die nicht bei Photius Vorkommen. 

Natürlich muß Rupprecht in Y dieselben Quellen (Harpokration 
ausgenommen, wovon, später) aufnehmen, die Wentzel der gemein¬ 
samen Quelle von S und P zuschrieb, nämlich außer 2 Attizisten, die 
Platoglossen des Boethos und Timaios, »vielleicht auch< das vierte 
und fünfte Bekkersche Lexikon und Apollonios Sophistes. Daß Eudem 
attizistische Sprichwörter unabhängig von S hat, ist schon behandelt. 
Ein Beweis wird sonst nur für Timaios versucht. Ep. hat vier Glossen 
(S. 85): jtaiSoopYta = PS; in apoc hat Ep. zuletzt nach bekannter 
Sitte xaXoüoiv ausgelassen; in rcatavioai stimmt er völlig mit PS, denn 
diese geben ip^oo, nicht £p?ov (xai fehlt wie im Ep. auch in der Hs. 
F des Suidas). In der vierten d-jfadoepTfot hat Ep. die sinnlose Lesart 

in der Form Sjymvee wieder und ist schon seit langem als Agathiasglosse er¬ 
kannt, vgl. Byzant. Zeitschr. XXIII35. Der Coislinianus 177, den ja auch Rupprecht 
den Eudemen zurechnet, enthält viele aus Suidas geschöpfte Historikerzitate. 


Go gle 







Ilupprecht, Apostolis, Eudem und Suidas 


129 


des S: aipetol ix twv ifpöpwv, für mich ein guter Beweis der Ab¬ 
hängigkeit von S, denn P = Timaios; Rupprecht verlegt die Kor¬ 
rektur in sein Y. Eine bessere Stütze für Rupprechts Anschauung wäre 
die von Roellig (36 f.) hervorgezogene Glosse jrsXdnjc (cf. Rupprecht 
S. 88,24), wo der Florentiner-Eudem (und auch Ep. nach gütiger 
Mitteilung Prof. Heibergs) zwar mit S 6 avuatpeipwv hat, aber auch 
den von S fortgelassenen Schluß: xal jrpoaireXäCcov. Hier haben wir 
aber in Suidas nur eine jüngere Hand im Hauptkodex A und dürfen 
damit rechnen, in Eudem einen besseren Suidastext zu finden. Wenn 
Eudemos auch Timaios in seiner £ vorgefunden hätte, wäre diese 
Annahme nicht notwendig. Umgekehrt dürfen nach Rupprechts Auf¬ 
fassung P und S nicht Timaios in ihrer gemeinsamen Quelle haben. 
S. 88 : >P und S schöpfen aus einer Tim.-Handschrift, die ihnen in 
zwei verschiedenen Rezensionen (vgl. 13 und 24) vorlag« (eine Re¬ 
zension — zwei Hss. wäre verständlicher). Die zwei Beispiele sind 
zeXaTnjc, das ohne Beweiskraft für das Verhältnis zwischen S und P 
ist, und xäta'rp.a, wo ipioo bei S vielleicht durch Kontamination mit 
anderer Quelle (cf. Hesych.) eingekommen ist. Ein viel besserer Be¬ 
weis ist in der Anmerkung versteckt; er stammt von Roellig (S. 36), 
der nicht zitiert wird, und ist hier Hauptbeweis für die Unabhängig¬ 
keit des S von P. Photius hat vweiv ot tot? fcivotc j^oup^voi o 8 ot, ein 
sinnloses Konglomerat aus zwei Timaiosglossen: vwiv 75 p. 1 v und SevayoD 
ot toi« xtX. Diese folgen in Timaios auf einander, während selbst¬ 
verständlich bei P viele Glossen dazwischen stehen sollten. Suidas 
hat nur das richtige vdkv Y 5 p. 1 v (mit einem Aristophanesscholion ver¬ 
bunden); Sevafot läßt S fort, nicht wie Rupprecht vorschlägt, weil 
es ihm korrupt erschien, sondern weil er eine Thukydidesglosse auf¬ 
nahm. Roellig schloß hieraus, daß P selbst den Timaios benutzte. Und 
damit wäre ein Hauptschlag gegen das ganze Gebäude Wentzels 1 ) 
gerichtet. Die Schwierigkeit löst sich dadurch, daß vwtv* 75 p. 1 v bei 
Suidas gar nicht aus Timaios stammt, sondern aus Schol. Homer D 2 ) 
zu 0217, einer Hauptquelle des S. Dann fällt der Fehler in P schon 
der I zu Last; S hat die Glosse wie viele andere ausgelassen. Wentzels 
Behandlung der Timaiosglossen ist einer der »gesichertsten Teile seiner 
Theorie; schon die Statistik (S. B. preuß. Ab. 480) ist wichtig. Von 
244 Timaiosglossen sind 99 gemeinsam, 6 finden sich nur in S, 18 
nur in P, 121 fehlen beiden. Der entscheidende Beweis aber findet 






1) Wentzel hat leider die Photiusglosse übersehen; in seinen Listen, die 
alle Timaiosglossen umfassen, auch die bei S und P fehlenden, vermißt man vüuv; 
fcvayot steht in der Liste der fehlenden. 

2) Fehlt bei Bekker, steht in den Ausgaben Cantabrig., 1689 und 1711; 
vgl. Maaß in Hermes XIX, 541,1; 555. 

UÖM. gel. Anz. 1923. Nr. 4-6 ‘ 9 






gle 




















' 


sich nur in der ungedruckten Abhandlung. In Wentzels Verzeichnis 
der Glossen, wo P und S dieselben Kontaminationen von £ und den 
Erweiterungen, oder von diesen unter einander darbieten, spielen die 
Timaiosglossen die Hauptrolle. Als Beispiele nenne ich: [istaXaY* 
Xavatv (von Ru pp recht 89,1 ganz richtig erklärt), 6p.otepjj.ova, «d- 
rcava, ateji^uXov; S und P würden nicht immer jeder für sich dieselbe 
Kontamination machen. 

Eine Sonderstellung nehmen die Harpokrationglossen ein; Rupp- 
recht nimmt sie in Y nicht auf, weil S (und P) die Epitome, Apo- 
stolis die ausführliche Fassung gibt, und Eudem keine Harpokration¬ 
glossen aufnimmt. Der Grund für Apostolis’ Wahl ist einleuchtend; 
er besaß eine Hs. der ausführlichen Redaktion (Paulys Realenzykl. 
VII2413), wovon er Auszüge gemacht hat in Laur. 58,4; davon steht 
kein Wort bei Rupprecht. Die Abwesenheit von Harp.-Glossen in 
Eudem war immer ein Hauptbeweis der Unabhängigkeit von Suidas. 
Ich gebe gerne zu, daß die bisher einzige aYutäc nichts beweist. 
Rupprecht findet in dem Stück, wo wir Ep. kennen, sieben Fälle, wo 
S Doppelglossen hat, wovon Harp. die eine bildet. Ep. hat immer 
die andere. Der Beweis, an sich methodischer als die anderen in der 
Abh., ist nicht zwingend, denn Eudem nimmt fast immer die kurze 
Glosse, sonst die erste 1 ); Gelehrsamkeit, wie sie Harpokration dar¬ 
bietet, ist ihm zuwider. Derartige Beweise e silentio müssen bei den 
Lexikographen auf viel größerem Material ruhen. Nach Rupprechts 
Aufstellung darf Harpokration nicht in der gemeinsamen Quelle des 
S und P auftreten, denn diese, offenbar eine einfache E, sei ein 
Stammvater des Eudemos. Ein Beweis hierfür wird nicht versucht, 
ich habe aber bei der Durcharbeitung des Buches den Anstoß be¬ 
kommen, Wentzels Theorie in einem Punkt zu modifizieren. Die 
Haupthypothese steht und fällt nicht damit, daß die gemeinsame Quelle 
des S und P Harpokration enthalten hätte. Ist dies nicht der Fall, 
so wird die erweiterte £ um eine Quelle entlastet, indem alle anderen 
Erweiterungen auf zwei Handschriften zurückgeführt sind. Schon die 
Tatsache, daß beide, P und S, den Harpokration vollständig (SB 480) 
aufgenommen haben, ist merkwürdig. In den anderen Erweiterungen 
liegt die Sache anders,. so haben sie aus Apollonios’ Homerlexikon 
von über 1000 Glossen (Wentzels Ms.) nur dieselben neun. Harpo¬ 
kration findet sich fast nicht in den kontaminierten Glossen; Wentzels 

1) Auch von der Doppelglosse Tewr^ctt hat Ep. die erste, eine Platonglosse, 
rieht Harpokration. Coislin. 177 aber hat beide, außerdem die Harpokration¬ 
glossen ßo7jop<$(jtia, yetocpctviov, ^epatet, yr)7i£öü)v genau = Suidas; diese vier fehlen in 
Ep. Prof. H. Lebegue hat mir den großen Dienst erwiesen, diese Glossen, die ich 
schon aus dem Coislin. notiert hatte, in den Ilss. nachzusehen. 











* 



* 










Rupprecht, Apostolis, Eudem und Saidas 


131 


einziges Beispiel ist <paoxd>X iov. Die schon von Roellig bemerkte Sonder¬ 
stellung der Harpokrationglossen, daß sie die alphabetischen Reihen 
in P durchbrechen, erklärte Wentzel so, daß sie später als die Atti- 
zisten und die rhetorischen Lexica in die Vorlage hineingekommen waren. 
Das Problem hat sich verschoben durch das Erscheinen des Anfangs 
des Photius. Die kombinierten Glossen wie v Aßapis, äßioc, aTv»p.öv<o<; 
deuten darauf hin, daß S und P den Harpokration jeder für sich ein¬ 
gelegt haben. Wentzel hat sich, soviel ich weiß, nicht darüber aus¬ 
gesprochen. Schon Roellig (S. 46) hat diesen Schluß daraus gezogen, 
daß P die zwei Glossen afwvuüv und a*f<tmävtec kontaminierte, S die 
letzte mit a-fornd) verbindet. 

Die Frage drängt sich auf, warum ein Forscher, der so viel 
Scharfsinn besitzt und vor den schwierigsten Problemen nicht zurück¬ 
schreckt, aus gutem Anfang zu unhaltbaren Resultaten gelangt. Der 
Ursachen sind mehrere. Erstens ist die Untersuchung mit zu wenig 
Stoff geführt, worüber sich der Verfasser selbst im klaren ist; von 
Eudem kennen wir nur zwei größere Stücke aus einer sehr jungen 
Handschrift; aus den anderen Handschriften haben wir nur kleine 
Proben, die nicht behandelt werden. Zweitens baut Rupprecht auf 
einen schlechten Suidastext, indem Bernhardy, namentlich im Anfang, 
für solche Untersuchungen unbrauchbar ist, und auch Gaisford nicht 
immer den besten Handschriften folgt. Außerdem sind die Unter¬ 
suchungen nicht mit der peinlichen Sorgfalt ausgearbeitet, die für 
solche Arbeiten erforderlich ist. Oft wirken diese zwei Faktoren, 
Flüchtigkeiten und schlechter Text zusammen, wodurch viele Beweise 
vereitelt werden. Vor allem fehlt dem Verfasser die Vertrautheit mit 
der Arbeitsweise der byzantinischen Lexikographen und eine tiefer 
gehende Kenntnis der Ueberlieferungsgeschichte. 

Es würde zu viel Platz beanspruchen, alle die groben und sinn¬ 
störenden Fehler zu berichtigen, um von den vielen falschen Zahlen, 
namentlich in den Rückverweisungen, ganz zu schweigen. Folgendes 
mag genügen. 62,2 wird es Schneck zum Vorwurf gemacht, daß er 
Roelligs Argument, die Abhängigkeit des Eudem von Suidas müßte 
sich durch antistoichische Störungen verraten, solche kommen aber 
nicht vor, nicht beachtet hat. Schneck hat aber in seinen verdienst¬ 
lichen Quaestiones Paroemiographicae S. 7 f. solche Störungen im Cois- 
linianus 177 erwiesen. 

S. 55 wird in Krumbachers Datierung für die Bibliothek des 
Photius >nach< statt >vor< 858 gesetzt. S. 77, n. 17 steht bei S 
Tttavmv für IVfdvToov (richtig S. 80). S. 79 n. 6: sO(j.ETaßXn]Toc Ep., da¬ 
gegen in derselben Glosse S. 72, 24 richtig 6&(t6t4ßoXo<;. S. 65 n. 36: 
S und B stimmen tatsächlich hier ganz, aber für B wird so statt ev 

9* 




Co gle 







' , 

132 Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 4—6 

‘ 

gegeben, für S nach Bernhardy mit der Hs. A athetiert, obgleich ge¬ 
rade hier der späte Exzerptor in A vorliegt; zu P wird A = Coisl. 347 
gestellt, es hätte jedoch gesagt werden müssen, daß die Lesart aus 
Roellig S. 65 entnommen ist, weil wir ja sonst nur im Buchstaben 
A eine Ausgabe des Coisl. 347 besitzen. Sieben Zeilen nachher wird 
n. 36 zu den Glossen gesetzt, wo B Ep. P! S gegen A stimmen. Zu¬ 
weilen werden die Buchstaben P und S vertauscht (oder S falsch an¬ 
gebracht), wodurch der ganze Beweis hinfällig wird, so 43, A. 1 und 
namentlich in der Liste S. 69 ff. Diese gibt die Beweise, daß Eudem 
von S unabhängig sei. Nr. 1, 3, 4 fallen auf diese Weise fort. Die 
meisten anderen Stellen sind ungültig, weil meine Kollationen eine 
nähere Uebereinstimmung zwischen P und S ergeben haben. Nr. 2: 
<piXo<ppöv7joiv die Hs. A = P (ytXo^ppoo&vnjv rell. = Phot, b e corr.). 
Nr. 9: avarcovurrpov AS = P. 23) Die besten Hss. ASF = P. 24) AFSM 
= P und Ep. 25) Ep. stimmt genau mit der Hs. F des Suidas (auch 
S. 77,16, wo Suidas = Photius, hat F jraXi{ntpaxTo<; = Ep.). Die 
Testierenden Beweise sind fast alle bedeutungslos; in N. 10 avexa- 
Xsoato sind durch ein Homoioteleuton zwei Glossen in S zusammen¬ 
geflossen. Also ein Hauptbeweis Rupprechts ruht auf unrevidierten 
Zetteln und schlechter Ueberlieferung. Auch sonst fallen Beweise 
durch meine Kollationen fort, so der einzige Beleg S. 8, wo die Hss. 
GM atpijostc = Ap. bieten. Auch S. 36, die Beweise, daß S öfters 
von P und Ap. abweicht, fällt mehreres fort. N. 1 beruht auf Bern- 
hardys Text, Gaisford und die Handschriften stimmen mit P. N. 2 
• streitet gegen den Text S. 25. N. 3: die Suidashss. AG haben e^x 51 ' 
poövtwv = Ap. P. S. 25 Anfang (woraus S. 39 Schluß viel Wesen 
gemacht wird) hat S zwar den Fehler dYvartötatos, die Glosse steht 
aber in den Hss. nach avpa oder am Rande. S. 70 Anm. (= 77,14, 
so schon Roellig 61 f.) wird die Glosse rcaXeüoat als entscheidende In¬ 
stanz gegen die Abhängigkeit Ep.s von S aufgezeigt, weil S in der 
Mitte: xai 7rapot[uor naXeösi xaXä>c rrjv aXwjrexa zufügt. Dies sonst 
unbekannte Sprichwort ist aber nicht gut überliefert; die Hs. S stellt 
es vor die Glosse, F läßt es fort (die junge Hand in A läßt noch , 
mehr fort); wahrscheinlich ist es eine Randglosse. Viele andere 
falsche Lesarten bespreche ich nicht, weil sie keinen Schaden stiften. 

Die mangelhafte Kenntnis der Arbeitsweise der byzantinischen 
Lexikographen und der griechischen Kompilatoren in der Renaissance 
zeigt sich namentlich darin, daß Rupprecht sich nicht vorstellen kann, 
daß sie denselben Stoff in verschiedenen Brechungen benutzen. Alles 
soll nämlich in Stammbäumen aufgestellt werden, eine für diese Lite¬ 
raturart gar nicht passende Veranschaulichung, die viele Seiten ein¬ 
nimmt. Daß Eudem oft unabhängig von S ist, läßt sich sehr wohl 


Go gle 







Rupprecht, Apostolis, Eudem und Suidas 133 

mit der Tatsache vereinigen, daß er in anderen Glossen S benutzt; 
diese Möglichkeit wird schlechthin abgewiesen (S. 57, 95). Auch Suidas 
hat ja so gearbeitet, daher die unzähligen Dubletten, ja Tripletten. 
Dasselbe gilt für Apostolis; daß er im ganzen unabhängiger von S 
ist als bisher angenommen, ist das Hauptergebnis des Buches. Einige 
Berührungen im attizistischen Stoff" können durch die Benutzung von 
Eudem erklärt werden, es gibt aber auch Stellen, wo Apostolis den 
Suidas selbst aufgeschlagen haben muß, weil Eudem solchen Stoff gar 
nicht darbietet. Leutsch, Paroemiogr. gr. II S. XIX1 hat u. a. auf 
Ap. III1 hingewiesen, was Rupprecht (S. 5,1) unbegreiflicherweise 
als Erfindung des Ap. beansprucht. Der Artikel stimmt mit v. ’Av- 
ttöTTT] bei Suidas, und dies stammt aus einer byzantinischen Chronik 
(vgl. Byzant. Zeitschr. 1X362). Woher hätte Apostolis HI 68 das 
Aelianfragment bekommen sollen 1 )? Es gibt keine Spur davon, daß 
Ap. sonst solche Quellen kennt, dagegen besaß er ja einen Suidas, 
E. Legrand, Bibliographie Hellen. II Ep. 8; er zitiert auch den Artikel 
Eopößatoc (Noiret, Bibi, öcole fran<}. 54, S. 161). Diese Biographien 
werden zitiert S. 1,1; anstatt aber daraus die wichtigen Nachrichten 
über die Bibliothek des Apostolis zu verwerten, holt Rupprecht gleich- 
giltige Notizen über seinen Schwiegervater und ähnl. herauf 2 ). Auch 
sonst wird es versäumt, die Tätigkeit des Apostolis auf grammatischem 
Gebiet zu beleuchten. Aus Reitzensteins Geschichte der gr. Etymolo- 
gika S. 75 ff. bekommt man das Bild eines Schwindlers vom Schlage 
der Darmarius und Palaiokappa. Dieser recht verdächtige Fakrikant 
von Handschriften soll also »getreu wiedergeben« (S. 40), während 
Suidas konjiziert. S. 73 hören wir noch merkwürdigeres über Suidas; 
er »ist entweder ein hervorragend tüchtiger, divinatorisch veranlagter 
Philologe oder ein scharfsinniger Kritiker, der mit gründlichem sprach¬ 
lichen Wissen und Kritik begabt aus dem Wust verschiedener Ueber- 
lieferungen das Richtige herauszufinden weiß.« Dagegen nur die eine 
Beobachtung, daß die großen Fortschritte in der suidanischen Quellen¬ 
forschung, z. B. in den Hesychbiographien, auf der Erkenntnis be¬ 
ruhen, daß Suidas seine oft ausgezeichneten Vorlagen mechanisch ab¬ 
schreibt. Es ist verhängnisvoll, daß Rupprecht sich Moritz Schmidt 
zum Führer erwählt hat. Er hat bei ihm das Goldkom aufgesammelt, 
daß Apostolis Eudem benutzt, leider aber auch die Idee, daß Suidas 

1) Auch einige andere Beispiele der Liste bei Maria Petzold, Quaest. 
paroemiogr. 1904, S. 65 sind beweisend. 

2) Auch hätte Rupprecht aus Legrand II246 Anm. ersehen können, daß 
das Todesjahr des Laurus Quirinus später als 1466 fällt, wie S. 3 (wohl nach 
Leutsch Paroem. gr. II S. XI) steht. Segarizzi, Mem. Acad. Torino ser. II T. LIV 
(1904) lff. setzt es c. 1480. 




















Go gle 






' 134 Gott. gel. Anz. 1923. Nr. 4-6 

auf Eudem zurückgehe. Es muß also noch einmal gesagt werden, daß 
Schmidts Beiträge zur griechischen Lexikographie, ganz vereinzelte 
Details ausgenommen, einen Irrweg bezeichnen. Sie sind eigentlich 
schon durch Boysens und Roelligs Arbeiten eliminiert, diese aber haben 
sich leider in ihren Resultaten von Schmidt nicht ganz losmachen 
können. Nach den Arbeiten Wentzels, Reitzensteins und Cohns, auf denen 
ja auch Rupprecht baut, zu Schmidt zurückzukehren, ist auch wissen¬ 
schaftlich ein Rückschritt. Rupprecht folgt ihm sogar darin, daß der 
Index auctorum des Suidas jedenfalls für den Namen Eudem echt 
sei! Die Echtheit des Namens Eudemos für das Glossar wird S. 98 
damit gestützt, daß sowohl Apostolis VIII6 als Suidas s. v. süfevi- 
atspo? KöSpoo statt des richtigen Au]p.<i>v EoStjp.oc haben. Der Fehler ' 
ist bei Suidas erklärlich, weil im Schluß des Artikels EoStjploc vor- 
koramt, und somit ein starkes Indicium, daß Ap. auch hier S. ab¬ 
schreibt. 

Zum Schluß will ich den Exkurs I (S. 99 ff.) über das Lexikon 
des >Zonaras< besprechen. Rupprecht gibt kleine Listen, in allem 
20 Glossen, die Uebereinstimmung zwischen den Eudemen und Z. 
gegen Suidas aufzeigen. >So glaube ich sagen zu dürfen, daß Z nicht 
mit S und den Kyrillen, sondern mit den Eudemen zusammenhängt. < 
Und dabei kennt er keinen Kyrill! Ich habe mir die Mühe gegeben, 
in einige der auf unserer Universitätsbibliothek deponierten Ab¬ 
schriften der Kyrille einen Blick zu werfen. Und damit fallen schon 
mehrere Beweise. In äXsa wird sXXap.tfits auch im Vallicellianus E37 
und Coislin. 394 fortgelassen; in arcaatoc hat Cryptoferrat. dieselbe 
Auslassung. Boysen XXVI (nicht XXIV) 5: vgl. Vallic. aoffatpstw« * 
aotoßoöXto?. In hat dieselbe Hs.: a. ioöjrsSov, Ix®'* 

t-jjv 6p.aXöTY]ta. In #p.7romc gehen Vallic. und Coisl. bis oSwp und haben 
also mehr als S P. Auch auf andere Weise wird die Liste reduziert. 
In stimmt S vollkommen mit Ep. Z nach Gaisford und den 

Hss., Bernhardy hat zwei Glossen zusammengezogen. In afxoXif) hat 
Ep. gar nicht, was in der Liste steht. Nicht beweisend sind die 
Stellen, wo Eudem und Z mit Hesych, der ja Kyrill benutzt, stimmen, 
so aoXXet, apaic; desgleichen hat in apiaopä das Stephanosglossar in 
Coisl. 394 (Boysens G war aus Coisl. 347 genommen) die kurze Form. 
Uebereinstimmung im Casus wie in ap.a£ttov, äp.aopöv, ärtoxpaxsTji; ist 
bei diesen Glossaren ohne Beweiskraft. Es Testieren acht meist längere 
Glossen, und dies deutet allerdings darauf, daß Eudemos und Zonaras 
auf eine besondere Form des Kyrillglossars zurückgehen. Boysen in 
seiner Ausgabe der X p. VI vermutete, daß Z die Quelle Eudems 
wäre; hiergegen wendet Rupprecht ein, daß ap.7ru>Ti<; dagegen streite. 
Hiermit müssen die Worte irXTjfipApa gemeint sein, die bei Z und 













Rupprecht, Apostolis, Eudem und Suidas 

den Kyrillen fehlen. Diese hat Ep. natürlich aus der E, die Art der 
Einfügung ist die bei diesen Glossaren geläufige. Uebrigens scheint 
mir Boysens Gedanke ganz unannehmbar. 

Daß aber >Zonaras< den Suidas benutzt, steht außer Frage. Für 
dies Problem habe ich mich nicht auf die elende Ausgabe Tittmanns 
verlassen, sondern eine Reihe von Hss. des XIII. und XIV. Jahr¬ 
hunderts im Vatikan, British Museum und Paris untersucht. In allen, 
so weit sie auch auseinander gehen, fanden sich die für Suidas eigen¬ 
tümlichen Glossen: Hesychs Biographien, Historikerzitate, Pisides, 
taktisches Lexikon, Aristophanesscholien in derselben Redaktion (s. 
Bünger, De Aristoph. apud S. P. 74—76), Theodorets Psalmen¬ 
kommentar in derselben Form etc. Auch Interpolationen des Suidas- 
textes wie die syntaktischen Glossen sind vertreten. 

Im Vorwort wird erklärt, daß die Untersuchungen nur stark ge¬ 
kürzt gedruckt sind. Wenn die Kürzungen die Hauptthesis, z. B. die 
Beweise für die Zusammensetzung der E betroflen hätten, wäre es 
schade. Es steht nämlich viel Ueberflüssiges in der Abhandlung, wohl 
als specimina eruditionis. Wer liest solche Untersuchungen als Spezial¬ 
forscher? Bedürfen sie Belege dafür, daß Suvatat = bedeutet (S. 73,1)? 
Eine willkommene Zugabe dagegen ist die Veröffentlichung eines 
Münchener Fragments und einer Probe der Handschrift C der E. 
Auch ist es sehr praktisch, daß die Eudemproben mit Boysens Er¬ 
laubnis beigegeben sind. 

Das. Buch ist auch für den, der sich mit diesen nicht immer 
amüsanten Problemen lange beschäftigt hat, äußerst schwierig zu 
lesen, geschweige denn zu verstehen. Die Disposition im einzelnen ist 
oft recht unklar; so wird Bachmanns Ausgabe der E erst S. 117 ge¬ 
nannt, obgleich sie schon von S. 58 ab benutzt ist. Ein wirkliches 
Register, auch über die behandelten Glossen, vermißt man schmerzlich. 
Wenn man so viele Zitate und Anmerkungen mitgibt, sollte man den 
Urheber der entscheidenden Beobachtungen nennen, was meistens, 
besonders wenn es Roellig gilt, nicht geschieht. 

Ich kann also nicht umhin, die Abhandlung im ganzen für ver¬ 
fehlt zu erklären, obgleich sie stellenweise gezeigt hat, daß auch die 
solidesten bisherigen Untersuchungen wichtige Beziehungen übersehen 
haben. Der unleugbare Scharfsinn und Fleiß des Verfassers ist auf 
einen Stoff verwendet, der für Anfänger zu spröde ist. Man kann 
über die verwickelten Probleme, die die byzantinische Lexikographie 
darbietet, nicht urteilen ohne die eingehende Vertrautheit mit ihren 
Handschriften, die man nur durch Kollationen erwirbt. 

Kopenhagen. Ada Adler. 









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136 Gott. gel. Anz. 1923. Nr. 4—6 

Paul Kalkoff, Der Wormser Reichstag von 1521. Biographische und 
quellenkritische Studien zur Reformationsgeschichte. München und Berlin, R. 
Oldenbourg, 1922. VII und 436 S. gr. 8°. Geheftet 85 Mk., geh. 103 Mk. 

Das vorliegende neueste Werk des auf dem Gebiete der ältesten 
Reformationsgeschichte unermüdlichen Forschers ist im Vergleich mit 
den früheren größeren zusammenfassenden Veröffentlichungen des Verf. 
als das älteste zu bezeichnen. Denn nicht nur weist der Verf. in 
seinen früher, nach der »Entstehung des Wormser Edikts« (1913) 
erschienenen Schriften, wie in der Schrift: »Das Wormser Edikt 
und die Erlasse des Reichsregiments und der einzelnen 
Reichsfürsten« (1917) und in dem Buche »Luther und die 
Entscheidungsjahre der Reformation« (1917), sowie in der 
Broschüre Erasmus, Luther und Friedrich der Weise« (1919), 
ferner in dem großen, von dem Unterzeichneten in diesen Blättern 
besprochenen Werke »Ulrich von Hutten und die Reformation« 
(1920) und endlich in der Festschrift »Der große Wormser Reichs¬ 
tag von 1521« (1921) auf die nun endlich erschienene, längst 
druckfertig hergestellte Schrift hin, sondern er hat auch im 
»Archiv für Reformationsgeschichte« Bd. XIII, S. 246 Anm. 2 
sich über Zweck und seitheriges Geschick seines Werkes in den Worten 
ausgesprochen: »Außer kritischen Einzeluntersuchungen handelt es sich 

— in den weiteren Beiträgen zur Geschichte des Reichstags zu Worms — 
um biographische Skizzen über hervorragend beteiligte Personen, wie 
den Erzbischof von Trier, den Bischof von Lüttich und einige kaiser¬ 
liche Räte u. a., nachdem diese Methode einer schärferen Belichtung 
der Charaktere in jenem Wendepunkte der Geschichte sich bei meinen 
Untersuchungen über Erasmus, Cajetan, Hutten, Hermann von dem 
Busche u. a. bewährt hatte. Seit Beginn des Weltkrieges ruht das 
Manuskript im Gewahrsam einer landesgeschichtlichen Kommission, 
die erst nach Friedensschluß die Drucklegung in Angriff nehmen kann.« 
Mit welchen Schwierigkeiten der Herr Verf. nach dem Friedensschluß 
und nach der Revolution noch zu kämpfen hatte, und wie es ihm end¬ 
lich gelungen ist, mit Hilfe der hessischen Kommission für Landes¬ 
geschichte, durch das verständnisvolle Entgegenkommen des Oberbürger¬ 
meisters und der Bürgervertretung von Worms, weiter durch die Unter¬ 
stützung der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft, mit Unter¬ 
stützung der Schlesischen Gesellschaft zur Förderung der evangelischen 
theologischen Wissenschaft und endlich unter der selbstlosen und 
uneigennützigen Uebernahme des Verlags durch Herrn Dr. Olden¬ 
bourg sein so lange vorbereitetes Werk zur Veröffentlichung zu bringen. 

— Das alles erzählt uns der Verf. in seinem überaus lesenswerten Vor¬ 
wort und ich weise ausdrücklich darauf hin, als auf ein bleibendes Zeugnis 


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138 Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 4—6 

* 

hervor, das im ersten Teil die allgemeinen Verhältnisse des Reichs¬ 
tags, sofern er der erste (Huldigungs-)Reichstag mit dem proces 
primariae des neugewählten Kaisers Karls V. war, und sodann die 
verschiedenen Ausschüsse zunächst in ihrer Zusammensetzung und Ge¬ 
schäftsführung an und für sich und sodann in ihrer besonderen Be¬ 
ziehung auf die Angelegenheit Luthers und die Stellung zu den römischen 
Mißbräuchen behandelt. Im zweiten Kapitel, welches von der papisti¬ 
schen Aktionspartei unter den Reichsfürsten redet, wird in besonderen 
Abschnitten die Person und die Stellung des Churfürsten Joachim I. 
von Brandenburg, sodann die des Erzbischofs Richard (Greiffen- 
klau) von Trier besprochen und dann zur Schilderung der Verhält¬ 
nisse im Fürstenrate übergegangen. Einen Hauptgegenstand dieser 
Darstellung bildet hier die Stellung der verschiedenen Fürsten zur 
Kirche, d. h. die Abhändigkeit dieses Standes von der Kirche, die bei 
den einzelnen Fürstenhäusern statistisch dargelegt und in ihrer für 
die Reformation ebenso ungünstigen, wie für Rom und seine Politik 
ebenso vorteilhaften Bedeutung nachgewiesen wird. Daran schließt 
sich als ein besonderer Abschnitt die Schilderung des Charakters und 
Wirkens eines Hauptfeindes der lutherischen Bewegung an, des 
Bischofs von Lüttich, Eberhard von der Marek und der Me¬ 
diatisierung des Bistums Lüttich, wodurch dieses vollends ganz unter 
die politische und kirchliche Botmäßigkeit Karls V. fiel. Das 3. Kapitel 
beschäftigt sich mit den Mitarbeitern Aleanders am Wormser Edikt 
und zwar zuerst mit denen aus dem sog. deutschen Hofrate, den aus 
der Regierung Kaiser Maximilians I. übernommenen, aber unter Karl V. 
hinter die burgundisch-spanischen Berater fast völlig zurückgedrängten 
kaiserlichen Räte, die nun im einzelnen genau geschildert werden, be¬ 
sonders auch nach ihren schlimmen Eigenschaften der Habsucht und 
Bestechlichkeit, um deren willen sie den allgemeinen Haß in Deutsch¬ 
land sich zugezogen hatten. Weiterhin gehört in diese Reihe der 
einflußreiche humanistisch gebildete Humanist Jakopo Bannissio, 
den aber, so wenig wie die anderen Humanisten aus diesen im engeren 
und weiteren Sinne zur kaiserlichen Regierung zu rechnenden Räten, 
die humanistische Bildung an einer feindlichen Stellung zu der luthe¬ 
rischen Bewegung, der sie meist völlig verständnislos gegenüberstanden, 
hinderte. Der 3. Abschnitt schildert hierauf die bedeutendsten Mit¬ 
glieder der burgundisch-spanischen Regierung, nämlich den Bischof von 
Tuy, Luigi Morliano r und den Bischof von Valencia Pedro Ruiz 
delaMota. Der ganze Abschnitt schließt mit einer trefflichen, aber 
für die Einzelpersönlichkeiten in ihrem Verhältnis zum Humanismus 
und besonders in ihrer Stellung zu der lutherischen Bewegung überaus 











Kalkoff, Der Wormser Reichstag von 1521 





139 


ungünstigen Schilderung. Und diesen Leuten war unter Karl V. das 
Geschick Deutschlands in seiner bedeutsamsten Zeit anvertraut! 

Der zweite Teil des Werkes, der vorzugsweise die quellenkritische 
Ergänzung zu den früheren Arbeiten Kalkoffs zur Reformationsge¬ 
schichte liefert, beginnt im vierten Kapitel mit der Vorgeschichte der 
Berufung Luthers vor den Reichstag und wird eingeleitet durch eine 
reichs- und rechtsgeschichtliche Eröterung der Frage über die Be- 
strafbarkeit der Ketzerei im deutschen Reiche. Hierbei wird zum 
voraus die Anwendung der mittelalterlichen Anschauung vom Ver¬ 
hältnis des imperium zum sacerdotium auf die Zeit der Reformation 
als nicht mehr gütig ausdrücklich abgelehnt. An dieses Kapitel mit 
seiner großen Reihe von Einzeluntersuchungen, unter denen besonders 
hervorzuheben ist die Erörterung der Frage, ob und wieweit ein Gut¬ 
achten der Universität Wittenberg auf die Berufung Luthers nach 
Worms von Einfluß gewesen ist, die aber im entscheidenden Punkte 
ablehnend beantwortet wird, schließt sich genau das fünfte Kapitel an, 
welches auf grund der Darstellung der gegenreformatorischen Politik 
des päpstlichen Vizekanzlers Medici den letzten Versuch der Beein¬ 
flussung des Kurfürsten Friedrich des Weisen behufs Aus¬ 
schaltung der Reichsstände bei den Verhandlungen über Luther be¬ 
spricht. Diese Versuche wurden gemacht einmal in dem Projekt einer 
kaiserlichen Gesandtschaft an Friedrich den Weisen, die ihn auf grund 
einer von Aleander ausgearbeiteten und von Kalkoff im Auszug genau 
mitgeteilten Instruktion vor seiner Ankunft in Worms bearbeiten und 
zur Preisgebung Luthers bewegen sollte, und sodann in den Ver¬ 
handlungen zwischen dem kaiserlichen Beichtvater Jean Glapion 
und dem kursächsischen Kanzler Brück, durch welche von seiten 
der kaiserlichen Regierung und durch den Beichtvater dasselbe Ziel 
erreicht werden sollte. Beide Versuche sind freilich völlig gescheitert, 
der erste daran, daß der Kurfürst unerwartet früh in Worms eintraf 
und sodann die ganze Sache ablehnte; der andere sowohl an dem 
Verhalten des durchaus dem hinterlistigen Beichtvater überlegenen 
kursächsischen Kanzlers, wie auch an dem treuen Festhalten des Kur¬ 
fürsten an dem von ihm eingeschlagenen Wege. Das sechste Kapitel 
betrifft die Verhandlungen über Luther und bespricht hier das Ver¬ 
halten, welches die verschiedenen Kreise zu Luther eingenommen 
haben, die fürstlichen Räte, der Adel, die Humanisten, die Städte¬ 
boten, wobei wieder eine Fülle von Einzelforschungen über Personen 
und Verhältnissen zur Darstellung kommt. Das Kapitel schließt mit 
einer genaueren Berichterstattung über die ständischen Verhandlungen 
vom 15. Februar nach Ablehnung des ersten, dem Reichstag vorge¬ 
legten Entwurfs eines Ketzermandats bis zum fünften März, nachdem 










140 Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 4—6 

der Kurfürst es abgelehnt hatte, Luther auf seine eigne Verantwortung 
hin nach Worms einzuladen. Das siebente Kapitel »Luther vor Kaiser 
und Reich« erzählt nicht die Verhandlungen selber, deren Darstellung 
ja in der Festschrift von Kalkoff gegeben ist, wie in den »Entscheidungs¬ 
jahren«, sondern behandelt hauptsächlich drei Punkte, die für die ge¬ 
schichtliche Forschung in Betracht kommen, einmal die Frage nach dem 
Verfasser der acta et res gestae zu Worms, als welcher auf grund scharf¬ 
sinniger Untersuchung Kalkhoffs allein Justus Jonas in Betracht 
kommt, weiterhin die Fragestellung an Luther am 17. und 
18. April, ferner den Sinn der »unumwundenen« und »unanstößigen« 
Antwort Luthers am 18. April und endlich den lutherfeindlichen An¬ 
schlag am 20. April, der dem Frankfurter Dechanten Joh. Cochlaeus zu 
geschrieben wird. Die zwei letzten Kapitel beschäftigen sich dann mit 
der Entstehung des Wormser Edikts und geben damit eine Ergänzung 
und Erläuterung zu den letzten fünf Kapiteln der Schrift: »Die Ent¬ 
stehung des Wormser Edikts«, sowie zum dreizehnten Abschnitt der 
»Entscheidungsjahre«. Das elfte, Schlußkapitel endlich schildert den 
Anteil Friedrichs des Weisen an dem Gelingen des Reformationswerks 
und bringt damit die früheren Ausführungen Kalkoffs über die persön¬ 
liche Teilnahme des Kurfürsten an dem Werke Luthers auf grund 
eigenster früh erworbener Glaubensüberzeugung, über seine ebenso 
kluge, wie tatkräftige und überaus aufopferungsfähige und -willige 
Hingabe an das Werk der Reformation zu einem ebenso eindring- 
, liehen, wie ergreifenden Abschluß. 

Es ist selbstverständlich, daß diese Uebersicht dem überaus 
reichen Inhalt des Werkes so wenig gerecht werden kann und ge¬ 
recht werden will, wie dem bewundernswerten Fleiße, mit dem der 
Verf. seinen Stoff gesammelt, der Sicherheit der Methode, mit der 
er ihn geordnet und durchdrungen und zu einem überaus einheitlichen 
Ganzen, sowohl in den einzelnen Kapiteln für sich, als auch in dem 
Verhältnis der einzelnen Teile zum Gesamtwerk zu organisieren und 
zu verschmelzen verstanden hat. Die hochbedeutsamen Entdeckungen, 
die der Verf. durch seine Forschungen herausgestellt hat, die Stellung 
des kurfürsten zu Luther und zu dessen Werk, das Verhältnis Karls V. 
und seines Hofes zur Reformation, besonders auch die Unrichtigkeit 
der Annahme einer durch Glapion vertretenen Mittelpartei an diesem 
Hofe, das Verhältnis des Erasmus zur Reformation bis zu seiner Ab¬ 
wendung von Luther am 12. Nov. 1520, dem kritischen Tage, an 
welchem er auf aktive Teilnahme an dem Kampfe für Luther ver¬ 
zichtete, usw. erhalten hier durch eine Menge von Einzeluntersuchungen 
in reichem Umfang ihre Bestätigung und neue Beleuchtung. Es kann 
bei einem Werke, wie es hier vorliegt, gar nicht anders sein, als 









W3? 


Kalkoff, Der Wormser Reichstag von 1521 



daß der Verf. gegen eine Reihe anderer Autoren seine Anschauung 
zu verteidigen hat. Ich nenne unter denselben den sonst von Kalkoff 
als Historiker anerkannten N. Paulus, der aber in seinen S. 361 ff. 
zurückgewiesenen Behauptungen ebensosehr die Grenzlinie objektiver 
Quellendarstellung überschritten hat, wie in der Beurteilung der be¬ 
kannten Aeußerung Aleanders (Hutten und die Reformation S. 347 f. 
und 588);* ich nenne aber auch W. Köhler, der, wie schon im 
A. R. G. XIII S. 244, so in dem neuen Werke S. 367 Anm. 2 eine, 
m. E. wohlverdiente, Abfertigung erhalten hat. 

Die protestantische Geschichtsforschung hat allen Grund, Kalkoff 
dafür dankbar zu sein, daß er nach einer festen und sicheren Me¬ 
thode, die er von Ranke erlernt hat, seinen gradenWeg geht, ohne 
sich durch irgend ein anderes Interesse als das der Wahrheit leiten 
zu lassen. Und wer dem Worte Rankes beipflichtet, das Kalkoff an 
die Spitze seines Werkes gestellt hat, »nur kritisch erforschte Ge¬ 
schichte kann als Geschichte gelten«, der wird mit größter Befriedi¬ 
gung den Untersuchungen des Verf. folgen und von Herzen wünschen, 
daß, wenn nun auch seine Forschung einen gewissen Abschluß erreicht 
hat, ihm doch die Kraft gegeben werde, an dem Werke der Re¬ 
formationsgeschichte auch künftig weiterzubauen, wenn es auch viel¬ 
leicht nicht mehr dazu reicht, ein solches weiteres großes Werk zu 
schaffen, wie das vorliegende, mit dem der Verf. seinen Dank für die 
ihm von der evang.-theol. Fakultät zu Breslau verliehene theologische 
Doktorwürde abgestattet hat. 

Cannstatt. August Baur. 

I 

Studies in honor of Maurice Bloomfield, Professor of Sanskrit and 
comparative philology in the Johns Hopkins University Baltimore, Maryland. 
By a group of bis pupils. New Haven 1920: Yale University Press. XXXI, 
312 S. 8°. 

Die Arbeiten Bloomfields, dem diese Festgabe zu seinem vierzigsten 
Doktorjubiläum von seinen Schülern dargebracht worden ist, haben 
sich hauptsächlich auf drei Gebieten bewegt: auf dem des Veda, ins¬ 
besondere des Atharvaveda, der vergleichenden Philologie und der 
Religionswissenschaft; in letzter Zeit hat er sich auch der indischen 
Volks- und Märchenkunde zugewandt. 

Bei dem großen Einfluß, den Bloomfield gerade als Lehrer aus¬ 
geübt hat — die dem Bande vorausgeschickte biographische Skizze 
hebt diese Seite seiner wissenschaftlichen Tätigkeit besonders her¬ 
vor — ist es natürlich, daß die Beiträge zur Festschrift im wesent¬ 
lichen den gleichen Gebieten angehören, auf denen Bloomfield zu¬ 
hause ist: von den vierzehn Arbeiten beschäftigen sich vier mit dem 








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Studies in honor of Maurice Bloomfield 


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Geräte Mörser und Keule vertreten. Daneben muß aber noch eine 
andere Presse im Gebrauch gewesen sein, von der wir im Äpastamba 
Srauta Sütra eine genaue Beschreibung finden, und die aus fünf Steinen 
— vier oberen und einem unteren — bestanden hat. 

Von den sprachwissenschaftlichen Arbeiten beschäftigt sich H. H. 
Bend ers Aufsatz mit dem Wortschatz des Litauischen. An der indo¬ 
germanischen Wurzel *dheüb(p) zeigt B., daß die kleine Gruppe von 
litauischen Wörtern, die Leskien damit in Verbindung brachte, und 
die wenigen Zusätze, die Brugmann und Berneker hinzugefügt haben, 
bei weitem nicht alles erschöpfen, was das Litauische über idg. *dheub(p) 
zu sagen hat. 

F. R. Blake untersucht in seinem Aufsatz: »Crtngeneric assimi- 
lation as a cause of the development of new roots in Semitic« die 
von Bloomfield schon 1891 aufgestellte Theorie, daß in den indo¬ 
germanischen Sprachen Wörter, die ihrer Bedeutung nach verwandt 
sind, sich auch morphologisch zu beeinflussen und Neubildungen her¬ 
vorzurufen geneigt sind, in Bezug auf ihre Richtigkeit für das Se¬ 
mitische. Er kommt zu dem Schluß, daß die bedeutungsverwandtschaft¬ 
liche Assimilation eins der wichtigsten Prinzipien ist, von denen im 
Semitischen die Entwickelung neuer aus ursprünglicheren Wurzeln be¬ 
herrscht wird, mag nun die neue Wurzel dieselbe Zahl von Konso¬ 
nanten aufweisen wie die, aus der oder aus denen sie hervorgegangen 
ist, oder mag ihr ein weiterer Konsonant hinzugefügt sein. 

Wie die oben erwähnte Theorie der Assimilation ist auch das 
Prinzip der Anpassung (irradiation) und der Vermischung (biending), 
womit sich der Aufsatz des 1920 verstorbenen E. W. Fay beschäftigt, 
zuerst von Bloomfield aufgestellt worden. Fay weist die Wirkung 
dieser Lautgesetze nach an indogermanischen Namen von Körper¬ 
teilen, an mythologischen Namen und an den indo-iranischen nasalen 
Verben der siebenten (Sanskrit-)Klasse. 

Den sprachwissenschaftlichen Aufsätzen mag hier der Beitrag von 
R. S. Radford angereiht werden, der sich mit erlaubten Versfüßen im 
Lateinischen beschäftigt und das Prinzip der ausnahmsweise zuge¬ 
lassenen Kürzung, das der Diäresis und das kurzer Vokale im Hiatus 
untersucht. • 

Die beiden folkloristisclien Arbeiten von W. N. Brown und Ruth 
Norton setzen die Untersuchungen fort, die Bloomfield dem Vor¬ 
kommen bestimmter geistiger Motive in der indischen Märchenliteratur 
gewidmet hat, und die als Endziel die Schaffung einer »Encyclopaedia 
of Hindu fiction motifs« ins Auge fassen. Brown weist an einigen 
Märchen als Ausnahmen von der Regel: >das Schicksal ist unab¬ 
wendbar« die Vorstellung nach, daß man seinem durch das karma 


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144 Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 4—6 


des früheren Lebens bestimmten Schicksal entrinnen könne, und Norton 
unterscheidet in ihrer Untersuchung über den Talisman (Lebensbild 

I oder -Zeichen, Life-Index) im indischen Märchen zwischen der aktiven 
Form des Motivs, die vorliegt, wenn zugleich mit der Verletzung des 
Talismans die mit ihm verknüpfte Person gefährdet ist, und der 
passiven Form, bei der von der Beschaffenheit eines Zeichens oder 
Bildes auf die Lage des betreffenden Individuums geschlossen wird. 
Die dritte folkloristische Arbeit rührt her von E. W. Burlingame, 
dem Uebersetzer des Dhammapadakommentars (1921); er stellt die 
Erzählung von den sieben wunderbaren Errettungen eines Jünglings 
vom Tode in ihren buddhistischen Versionen der entsprechenden Le¬ 
gende, die sich im Pahlavi und Persischen an die Geburt Zoroasters 
anknüpft, gegenüber und macht es wahrscheinlich, daß die zoroastrische 
Legende aus der buddhistischen und zwar aus der Fassung des Dhamma¬ 
padakommentars abgeleitet ist. 

Von den drei noch übrigen Beiträgen gehören zwei der Sanskrit¬ 
philologie im engeren Sinne an. G. M. Bölling will seinen Aufsatz: 
>The recension of Cäpakya used by Galanos for bis ex Stayopüv 7toaj- 
td>v< als eine Vorarbeit zur Rekonstruktion des Urcänakya angesehen 
wissen. Er sucht aus der 1845 in dem ’Iv§ix<*>v Meta^paoewv IIpö- 
öpop.os des Galanos erschienenen Uebersetzung, die Boehtlingk, Klatt 
und Kreßler als Anthologie aufgefaßt hatten, die von Galanos be¬ 
nutzte Rezension abzuleiten, muß aber bei 49 von 330 Versen und 
bei zwei Halbversen, die sich vorläufig nicht identifizieren lassen, das 
Griechische beibehalten. . 

H. M. Johnson gibt eine Uebersetzung des Rauhipeyacaritra, eines 
von Weber der frühen Jaina-Erzählungsliteratur zugerechneten Textes, 
und zwar auf Grund einer 1908 in Jamanagara veröffentlichten Aus¬ 
gabe. Endlich bemüht sich G. W. Brown in seinem Beitrag »Sources 
of Indian Philosophy« den Nachweis zu führen, daß in nachvedischer 
Zeit dravidische Einflüsse der indischen Philosophie den Stempel auf¬ 
gedrückt hätten: wie schon in den Upanischaden der Animismus den 
vedischen Theismus zu verdrängen beginne, so beherrsche er die 
ganzen späteren philosophischen Systeme einschließlich des Buddhismus 
und Jainismus. - » 

Ein Index der Veda- und Avestastellen sowie ein Index der Wörter, 
Stämme und Wurzeln schließt den Band ab und macht ihn, namentlich 
für den Indologen und Iranisten, zu einem Nachschlagewerk von dauern¬ 
dem Wert. 

Göttingen. Fick. 


Go gle 









Dablgren, Were the Hawaiian Islands etc. 


145 


Kungl. Svenska Vetenskapsakademiens Handlingar. Bd. 57. No. 4. E. W. Dahl« 
gren, Were the Hawaiian Islands visited by the Spaniards be- 
fore their discovery by Captain Cook in 1778? Stockholm 1916. 
gr. 4 °. 222 S. mit 27 Kartenbildern im Text und 6 Karten. 

Es ist behauptet und von allen maßgebenden Sachverständigen 
aufrecht erhalten worden, daß die Gruppe der Hawaii-Inseln vor Cook 
von den Spaniern entdeckt und von ihnen auch auf ihren Karten fest¬ 
gelegt worden sei. Man hat die Vermutung hinzugefügt, die Spanier 
hätten nach karthagischer Art diese ihre Entdeckung geheim gehalten, 
um nicht feindlichen Mächten die Möglichkeit einer Angriffsstellung 
in der Flanke des Kurses ihrer Manilagaleonen zu geben (Skogman: 
»Erdumseglung der Eugenie«, S. 266). Es kann in dieser Anzeige, 
die nur ganz kurz sein darf, nicht verfolgt werden, mit welcher 
Gründlichkeit, Sach- und Quellenkenntnis der Verfasser fast alles zu¬ 
rückgewiesen hat, was zur Stütze dieser Behauptung vorgebracht 
worden ist und an der Hand des bisher bekannten Materials angeführt 
werden kann. Als unaufgeklärter Rest bleiben übrig: nach des Ver¬ 
fassers Ansicht die in Messerform in hölzernem Heft gefaßten beiden 
Eisenstücke, die Cook bereits im Archipel vorfand (S. 148), und außer¬ 
dem nach des Referenten Ansicht Dahlgrens unerledigte Abrechnung 
mit Adolf Bastian (S. 149). Denn im Berliner Museum für Völker¬ 
kunde befindet sich tatsächlich ein Bildwerk »aus basaltartiger Lava, 
gefunden auf der Insel Oahu<, das einen »alten Europäer mit Perücke, 
Zopf und Halskrause« darstellt; H. Schurtz hat es in seiner »Ur¬ 
geschichte der Kultur« abgebildet (Tafel zwischen S. 548 und 549). 
Ist es echt? Stammt es aus der Zeit vor Cook? 

Es muß nach des Referenten Ansicht ferner noch auf folgendes 
nachdrücklicher der Finger gelegt werden, als es der Verfasser getan 
hat: er verfolgt auf das peinlichste, Jahr für Jahr, den Schiffsverkehr 
zwischen Acapulco und Manila; eine sorgfältige, naturgemäß öde Auf¬ 
zählung, viel Schiffsunglück und Stürme, hier und da die Eintönigkeit 
der Darstellung durch kleine Episoden erhellt, so S. 88, 89, 91, die, 
wenn sie auch nicht zur Sache gehören (so S. 92, 93, 94, 102 und 
passim), doch in ihrer Art willkommen sind. Aber es sind Lücken da, 
wie der Verfasser wohl weiß: es fehlen die Jahre 1622, 1623, 1624, 
1634, 1657, 1658, 1659, dazu längere Zeiträume, die auf S. 104 und 
127 angeführt sind. Es ist ferner eine ganze Reihe von Schiffen da 
(S. 44, 47, 54, 139), von deren Geschick man nichts weiß. Aber diese 
vielen Unglücksfälle und das Verschwinden und Verschlagensein vieler 
Schiffe können gar nicht verwundern, wenn man weiß, welche Zustände 
im 17. und 18. Jahrhundert in großem Umfange in der spanischen 
Marine herrschten. Man sehe nur die Bilder von Unordnung, Gleich¬ 
giltigkeit, Gewissenlosigkeit, Unkenntnis, Mangel an nautischen In- 




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G«tt. gel. Am. 1923. Nr. 4—6. 


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140 


Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 4—6 


strumenten, die uns zwei Fachleute, D. Jorge Juan und D. Antonio 
de Ulloa, vom Bord der spanischen Schiffe im Pazifik geben (»Noticias 
•Secretas de America« S. 98—101, 119—121, 123—124, 128). Außer 
diesen Lücken sind noch andere da; denn einige Schiffe sind dem 
Verfasser entgangen, was den Verdacht berechtigt erscheinen läßt, 
daß ihm und dem Referenten noch weitere Fahrten und Verluste ent¬ 
gangen sein mögen: 1571 langten zwei Schiffe in den Philippinen an 
(Züniga: »Estadismo«, 11,223*). Außer dem Schiff von 1581 schickte 
Gouverneur Ronquillo 1582 zwei Schiffe nach Panama und Neu-Spanien 
(de Morga, edic. Retana, S. 399), und die Bitte von Luis Pörez 
Dasmarinas an den König, 1596, direkt ein Schiff mit chinesischer 
Seide von den Philippinen nach Peru schicken zu dürfen, könnte 
dahin deuten, daß so etwas auch sonst in Ausnahmefällen geschah 
(ebenda, S. 427). 

Unter diesen Umständen gewinnen die Ueberlieferungen der Hawaii- 
Insulaner von dem Landen Fremder vor Cook und die beiden Eisen¬ 
messer an Bedeutung, wennschon das einheimische Wort für >Eisen« 
(meki, das alte, hao das neue Wort; Andrews, >Dict.< S. 388, 134) 
eher auf Wrackfund als auf Ueberbringung durch Spanier schließen 
läßt. Für die Treue polynesischer Ueberlieferung treten heute fast alle 
Sachkenner ein; ich nenne in diesem Zusammenhang Förster, Gill, 
Stair, Percy Smith, selbst Dibble. Das Gedächtnis primitiver und 
barbarischer Völker ist unter Umständen ganz ungeheuer (z. B. Züniga: 
>Estad.<, 11,504*; Dubois: >Moeurs«, 1899, 11,98), Las Casas spricht 
von der inmortal memoria aller Indianer (»Hist. d. 1. lndias«, V, 114), 
und Stair nennt das Gedächtnis der Samoaner »phenomenal« (»Old 
Samoa«, S. 291). Man hat in vielen Fällen das Fortleben geschicht¬ 
licher Ereignisse in der Ueberlieferung der Naturvölker nachprüfen 
können: die Fahrten von Cartier und Hudson, die Züge von Marcos 
de Niza und de Soto sind noch nach 100 bis 200 Jahren jder länger 
in ihren wesentlichen Zügen bei den Indianern bekannt gewesen. Eine 
frühere Entdeckung der Pribylow-Inseln ist durch Funde und eine 
gute Ueberlieferung der Eingeborenen erwiesen worden (Holmberg: 
»Ethnographische Skizzen«, 11,50—51). 

Im Gebiet der Malaio-Polynesier erscheint es zwar zweifelhaft, 
ob noch Erinnerungen an Mendana vorhanden waren (Palmer: »Kid¬ 
napping in the South Seas«, S. 29), aber Tasmans Besuch auf Neu¬ 
seeland war höchstwahrscheinlich, der auf Tonga mit Sicherheit nach 
mehr als 100 Jahren noch unter den Insulanern bekannt (Lasch im 
»Globus«, XCIII, 288); auf Tahiti bewahrte man z. Z. von Förster 
noch die Erinnerung an Roggeveen, der auf Makatea gewesen war 
(Förster: »Bemerk.« S.445, 447); aufMangaia hatte man noch lange 
eine in Einzelheiten gehende Ueberlieferung über den Besuch von 

















Daklgren, Were tlie Hawaiian Islands etc. 


147 


Cook — allerdings redet sie nur von einem einzigen Schiff — (Gill: 
»Life in the Southern Isles<, S. 87—88), und den Entdecker von 
Rarotonga, Captain Goodenough, hat uns lediglich die Tradition der 
Insel zu wissen getan; nie wäre wahrscheinlich dieses historische Er¬ 
eignis sonst bekannt geworden (Gill: >Life<, S. 11; — ders. »Gems 
from the Coral Islands« II5 — 7, 20—22). Von der großen Zahl der 
in den Zeitaltern der Entdeckungen durch Schiffbruch oder Ver¬ 
schlagungen an fremde Küsten geworfenen und dort einsam unter 
Barbaren verstorbenen Europäern kann einen ungefähren Begriff nur 
die recht erhebliche Zahl derer geben, die man durch Zufall wieder¬ 
gefunden hat. Was war es für ein Schiff, das mit zwei zunächst noch 
überlebenden Matrosen im Fidschi-Archipel scheiterte? (Mariner [franz. 
Uebers.] 1,341). Wie merkwürdig und abenteuerlich ist die Geschichte 
der auf Madagaskar gestrandeten Portugiesen, von denen Nuno da 
Cunha zufällig einen Matrosen traf! (Tiele: »De Portugeezen in het 
Oosten; Nuno da Cunha«, S. 239). Daß Japaner, wenigstens später, 
in den Hawaii-Archipel verschlagen wurden, steht fest (Dibble: »Hi- 
story«, 1909, S. 6 — 7). Noch ein Punkt ist zu erwähnen, den Dahlgren, 
soweit ich sehe, nicht beachtet, den er sicherlich nicht gewürdigt 
hat. Auf dem hawaiischen Archipel bestand vor Cooks Ankunft eine 
Weissagung, die das Eintreffen von weißen Leuten ankündigte, welche 
auf Hunden mit sehr langen Ohren ritten (Fornander, 11,169). Das 
Auftreten der Pferde macht diese Weissagung keineswegs verdächtig; 
denn tatsächlich wurden trotz der für Pferde so ungünstigen langen 
Reisezeit Pferde von Acapulco nach Manila ausgeführt (Züniga, II, 423*), 
wennschon die Spanier ihre ersten Pferde auf den Philippinen von 
1574 an aus China, und 1586 auch aus Japan erhielten (de Morga, 
S. 8*, 387, 412). Manche Weissagung wird erst nach vollendeter Tat¬ 
sache gemacht, aber die vorliegende hat von vornherein nichts Un¬ 
wahrscheinliches an sich. Die Zahl der Weissagungen über Kommen 
der Europäer sind sehr zahlreich unter der Bevölkerung der Länder, 
welche die beiden Entdeckungszeitalter der alten Weltbekannt machten. 
Sie haben nichts Ueberirdisches an sich, sind von ihren Verkündern 
nicht aus der Luft gegriffen, sondern können in den meisten Fällen 
von uns auf die Grundlage ihrer Entstehung zurückgeführt werden. 
Schon der alte Jens Kraft hat sehr richtig die historische Grundlage 
dieser Art von Weissagungen erkannt (»Die Sitten der Wilden«, 
Kopenhagen 1766; S. 275—276; s. auch »Compte-Rendu Congres 
Amöricanistes, Nancy 1875«, 1,383—86). Eine solche geschichtliche 
Grundlage in Gestalt eines spanischen Schiffes mag auch der Seher¬ 
spruch von Hawaii haben. 

Hier nur einige wenige Beispiele, deren Bedeutung für den vor¬ 
liegenden Fall einleuchtet: als Jean de Bethencourt vor der Insel 

10 * 






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Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 4—6 




Ferro erschien, hatte man dort eine Weissagung, die sein Kommen 
ankündigte. Kein Wunder! Denn schon seit längerer Zeit waren 
Europäer im Kanarischen Archipel tätig (Juan de Abreu Galindo, in 
Glas, 1. Aull. S. 23—24). Als Columbus die Antillen entdeckte, fand 
sich dort bereits eine Ueberlieferung, welche die Ankunft weißer 
Männer ankündigte (Petrus Martyr, ed. Torres Asensio, 1,202, 413 
— A. von Humboldt: >Krit. Unters.«, 1836, 11,208, Anm. — Schu¬ 
macher: »Petrus Martyr«, S. 47). Sie ging aller Wahrscheinlichkeit 
nach auf europäische Schiffe, Wracks oder Wrackstücke zurück, die 
fast mit Notwendigkeit die Strömung hin und wieder anschwemmen 
mußte (Ferdinando Colombo: »Vita«, 1867, S. 139—140; — Las Casas: 
»Historia«, 1,104; 11,6; — v. Humboldt, loc. cit. 11,71). In den 
Molukken sagte eine Weissagung das Kommen der Portugiesen voraus, 
die ja schon längst die benachbarten Meere unsicher machten (Argen- 
sola: »Conquista«, 1891, S. 4, 7, 8). Die auf Tahiti bestehende Prophe¬ 
zeiung ging höchstwahrscheinlich auf Roggeveen zurück (Ellis: »Poly- 
nesian Researches«, 1829; 11,53—54, 55, 56) und die von Mangareva 
auf die »Swallow« von Carteret (Friederici: »Tuamotu-Inseln«, in 
»Mitt. Vereins Erdk. Leipzig für 1910«, S. 153). 

Während alles dies sehr geeignet ist, des Verfassers Behauptung 
als Endergebnis seines Buches: »nor is there any sort of probability, 
that the Hawaiian Islands were ever visited, or even seen, by the 
Spaniards before their discovery by Captain Cook in 1778« zu er¬ 
schüttern, ist ihm ein Gesichtspunkt entgangen, der für seine Auf¬ 
fassung spricht. Zu den schönen Gaben, mit denen jene schwimmende 
Pandorabüchse, ein europäisches Entdeckerschiff, ein bisher unberührtes 
Land zu bescheren pflegte, gehörte neben Pulver und Blei, Schnaps, 
Geschlechtskrankheiten und Blattern, Kleiderläusen und Flöhen, Lüge 
und Heuchelei auch unser unholdes Haustier, die Stubenfliege. Diese 
hat nun nach der Ueberlieferung der Insulaner zuerst der Engländer 
Kapitän Cook dem Hawaii-Archipel geschenkt (Fornander H, 199). 
Die Sprache bestätigt in gewisserWeise diese Angabe: das allgemeine 
M.P.-Wort lango fehlt in Hawaii (»Ergänzungsheft 7, d. Mitt. a. d. 
deutschen Schutzgeb.«, S. 90—91, mit genauem Quellenhinweis); das 
Wort nalo, Fliege, im Hawaiischen bedeutet auch zugleich: »jedes 
Insekt mit Flügeln«, konnte also ohne weiteres auf den neuen An¬ 
kömmling angewendet werden (Andrews, S. 410). Das im Maori noch 
vorkommende ngaro »Fliege« ist offenbar das noch im East Cape- 
Dialekt erhaltene M.P. rango mit Silbenumsetzung (Williams: »Dict.« 
S. 92, 137; — Tregear, S. 394—95). Auch über die Einführung der 
ersten Flöhe von außen her auf Waimea, dem Landungsplatz von 
Kapitän Cook, haben die Hawaii-Insulaner eine Ueberlieferung (Jarves: 
»Scenes«, S. 130); die Sprache bestätigt die Wahrscheinlichkeit ihrer 




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Dalilgren, Wer» the Hawaiiau Islands etc. 


149 


Echtheit: ukulele, der Floh. Die allgemein M.P. kutu-Haarlaus ist 
in Hawaiiform durch Anfügung des Worts für »springenc, leie, als 
»springende Kopfläuse charakterisiert (Andrews, S. 119). 

Ergebnis: die von Dahlgren zum Titel seiner Arbeit gemachte 
Frage kann weder mit einem reinlichen »Nein« noch mit einem rein¬ 
lichen >Ja< beantwortet werden. Einen Beweis für die Entdeckung 
der Hawaiigruppe durch die Spanier gibt es nicht, aber sie ist auch 
nicht durchaus unwahrscheinlich. 

Ahrensburg, Holstein. Friederici. 


Wahrhaftige Historia und Beschreibung einer Landschaft der 
wilden, nacketen, grimmigen Menschenfresser Leuten, in der 
neuen Welt Amerika gelegen von Hans Staden von Homberg. 
Herausgegeben von Robert Lelimann-Nitsche in Zeitschrift des Deutschen 
Wissenschaftlichen Vereins zu Buenos Aires, VI (1920) S. 167—295, gr. 8°, 
Buenos Aires 1921. 

Seit einer Reihe von Jahren entfaltet in Buenos Aires der »Deutsche 
Wissenschaftliche Verein zur Kultur- und Landeskunde Argentiniens < 
eine höchst verdienstvolle erzieherische und wissenschaftliche Tätig¬ 
keit. Die Aufsätze und größeren Beiträge seiner Zeitschrift, soweit sie 
dem Referenten zugänglich wurden, sind lehrreich, zum Teil rouster- 
giltig. Dr. Robert Lehmann-Nitsche, Professor für Anthropologie an 
den Universitäten zu La Plata und Buenos Aires, ein Führer und 
eines der eifrigsten Mitglieder des Deutschen Wissenschaftlichen Vereins, 
beschenkt uns in vorliegender Arbeit mit einer Neuausgabe von 
Hans Staden, in der Rechtschreibung der Gegenwart, unter Ordnung 
der häufig verworrenen Satzzeichen und Ausmerzung der offensicht¬ 
lichen Druckfehler der alten Ausgabe, aber sonst ohne jegliche Text¬ 
veränderung. Beigefügt sind frühere, sonst nicht leicht zugängliche 
kleine Abhandlungen über Staden von Julius Pistor, Viktor Hantzsch 
und Klaudius Bode. Eine Einleitung des Herausgebers geht voraus. 
Diese Neuausgabe ist vortrefflich und verdienstvoll, eine Ehre für 
den gut beratenen deutschen Verein; sie bezeugt den Sinn der ge¬ 
bildeten Deutschen für ehrliche wissenschaftliche Arbeit, wo immer 
auf Erden sie Zusammentreffen. 

Wir verdanken dem Herausgeber bereits eine hübsche kleine Arbeit 
über Ulrich Schmidel. Neben den Welser und Fugger gehören Schmidel 
und Staden, Ambrosius Ehinger, Georg Hohermuth, Philipp von Hutten 
und Nikolaus Federmann in erster Linie zu den Männern, die im 
Zeitalter der Conquista dem deutschen Namen im lateinischen Amerika 
Ehre gemacht haben. Federmann, wenn auch energisch und verdienst¬ 
voll und keineswegs schlechter als die Masse der Conquistadoren, war 
zwar kein guter Charakter; aber an Schmidel und Staden hat sich 






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Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 4—6 


die Schmähung nicht herangewagt, und wenn Ehinger, Hohermuth und 
Hutten durch Uebertreiber, Verleumder und ihre kritiklosen Nach¬ 
sprecher — von Las Casas über Oviedo y Banos bis zu Nuix, Helps 
und Bandelier — beworfen worden sind, so haben Oviedo y Valdds 
(»Historia General«, II270, 271 ff., 295, 302, 304, 311, 312, 323; 
IV137) und Pater Simon (>Noticias<, 141, 49) schon im voraus ihre 
Lügen und Uebertreibungen richtig gestellt. Georg Hohermuth ist 
eine der edelsten Erscheinungen der spanischen Eroberung Amerikas. 
Zur Würdigung Stadens und Beurteilung seines Werks hat Friedrich 
Ratzel die richtigen Worte gefunden (>Allgem. Deutsche Biographie« 
Bd. 35, S. 366; s. auch »Globus« Bd. 89, S. 59ff. (1906) oder »Re- 
vista Inst. Archeol. e Geogr. Pernambucano«, XII120). 

Als einziger dem Referenten aufgefallener erheblicher Irrtum in 
der Veröffentlichung — für den der Herausgeber nicht verantwortlich 
ist — muß die Angabe von Bode richtig gestellt werden, daß die 
Tupi den Feuerbohrer nicht gekannt zu haben scheinen. Der Inhalt 
der Anm. 2 auf Seite 202 ist überhaupt irreführend. Zwar hatten die 
Indianer der atlantischen Küstenzone Brasiliens mehrere Arten von 
Feuerhölzern, von denen das Reiben zweier kleiner Hölzer gegenein¬ 
ander den Nicht-Tupi eigen gewesen zu sein scheint (Joäo Daniel in 
»Revista Trimensal« H347—348). Aber die Tupi-Stämme besaßen 
zweifellos den Feuerquirl. Das bestätigen unserem Hans Staden, der 
seine Angabe durch eine Zeichnung erläutert (Ausg. Säo Paulo, 1900, 
S. 126), die alten Quellen über die Tupi (z. B. Löry, Ausgabe 1594, 
E. Vignon, S. 287—88, mit Abb.). Selbst unklare, für sich allein 
schwer verständliche oder verwirrende Angaben lassen sich durch ver¬ 
gleichende Kenntnis klären (Simäo de Vasconcellos: »Chronica«, I 
S. LXXVII; Soares de Souza: »Tratado Descriptivo« [Rio 1851], 
S. 345, wo zu »com flechas fendidas« E. Nordenskiöld: »Analyse«, 
S. 69). Der Feuerbohrer ist über ganz Amerika durchaus der am 
weitesten verbreitete Feuerapparat. 

Zum Schluß muß bemerkt werden, daß trotz allem, was von 
Klüpfel, Ratzel, Hantzsch, Pistor, Löfgren und Lehmann-Nitsche über 
deutsche Ausgaben und Uebersetzungen von Hans Staden gesagt worden 
ist, weder Vollständigkeit noch ein klarer befriedigender Abschluß er¬ 
reicht ist. Selbst darüber, welches die editio princips ist, herrschen 
die größten Widersprüche, und ungern vermißt man Angaben darüber, 
welche Ausgaben die völkerkundlich wertvollen Abbildungen enthalten. 
Eine solche Untersuchung hatte sich der Herausgeber aber nicht zur 
Aufgabe gestellt; sie wäre auch in Argentinien kaum zu lösen ge¬ 
wesen. 

Ahrensburg. Friederici. 


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Norwood, Greek Tragedy 


151 


Gilbert Norwood, Greek Tragedy. London 1920, Methuen a. Co. VII, 394 S. 8. 

>This book covers the whole domain of Greek Tragedy - literary 
history, theatrical buildings and conditions of performance, dramatic 
and literary criticism, and metre. The discoveries at Oxyrhynchus, 
ai\d the latest archeological, historical and critical theories, are dis- 
cussed>. Berechnet ist das Werk nicht nur für Fachleute, sondern 
auch für die »general readers«, die wenig oder gar kein Griechisch 
können und doch ein Interesse für die griechische Tragödie haben. 
Notwendig trägt die Darstellung deshalb populären Charakter. Aber 
man ist doch etwas enttäuscht, wenn man gleich am Eingang einfach 
liest: »Das griechische Drama stammt aus dem Dionysosdienst, dem 
Dithyrambus, der von einem Chor in Satyrkostüm vorgetragen wurde 
und Legenden aus dem Erdenleben des Gottes besang. The celebrated 
Arion streute Sprechverse ein; it seems that these verses consisted 
of a dialogue between the Chorus and the chorus-leader, who mounted 
upon the sacrificial table. Daraus entwickelte sich die Tragödie. 
Thespis führte statt des Chorführers den persönlichen Schauspieler 
ein. Vielleicht erst später wurden auch Stoffe, die nichts mit Dionysos 
zu tun hatten, zugelassen«. Das wird als Tatsachenbericht ohne Frage¬ 
zeichen und Belege gegeben und nur in einer Anmerkung dahin ein¬ 
geschränkt, dies sei the view almost universally held. Aristoteles’ 
Bericht wird erst nachher ohne weiteren Kommentar gegeben. In 
einer Anmerkung weist der Verfasser Ridgeways Ansicht kurz ab, der 
1910 die Tragödie aus dem Totenkult ableitete. Von allen sonstigen 
Problemen und modernen Theorien erfährt der Leser trotz den Ver¬ 
sprechungen des Prospekts nichts. Wilamowitz’ Einleitung heißt zwar 
in der Vorrede ein unrivalled work, aber von seiner Benutzung spürt 
man wenig. Auf dieser Ebene bewegen sich auch die folgenden Unter¬ 
suchungen über die Geschichte der Tragödie. In dem Abschnitt über 
das Theater wird allerdings Dörpfelds Ansicht ausführlich vorgetragen 
und gegennüber der entgegengesetzten, als deren Vertreter Haigh zu 
Worte kommt, bevorzugt. Aber der Kothurn hat ruhig seine unge¬ 
heuer dicke Sohle, so daß die Schauspieler wie auf Stelzen einher¬ 
gehen, und nur schüchtern wagt N. die Vei'mutung, Euripides könnte 
sich gelegentlich von ihm emanzipiert haben. In der Metrik wundert 
man sich etwas, daß ein Landsmann von Murray und Hunt den Dialog- 
vers so charakterisiert: »The iambic line consists of six feets«, ihn 
bisweilen direkt Senar nennt und den Begriff Trimeter so wenig kennt 
wie den des iambischen oder trochäischen Metrons. In der Erklärung 
der lyrischen Masse leben Logaöden, Anakrusis, kyklische Daktylen 
usw. fröhlich fort. So können diese Abschnitte ohne Schaden unge¬ 
lesen bleiben. Wichtiger ist der Hauptteil, der die drei großen Tra¬ 
giker und ihre Stücke behandelt. Das Ziel ist hier, dem Leser zu 













einer persönlichen Schätzung der Tragödien zu verhelfen. So ist 
nichts dagegen zu sagen, wenn die eigentlich historisch-philologischen 
Probleme zurücktreten. Aber ein griechisches Drama ist nun einmal 
in einer bestimmten Zeit für ein bestimmtes Publikum und Fest ge¬ 
dichtet und läßt sich nicht wie wohl ein modernes Gedicht ohne 
Kenntnis der Entstehungsbedingungen nachempfinden. Wer sich nicht 
klarmacht, daß Euripides in seinen Herakliden mit der am Schlüsse 
gegebenen Warnung an die Spartaner ein ganz aktuelles Ziel vor 
Augen hat, verschließt sich den Einblick in die Entstehung des Stückes, 
und wer gar mit der modernen Anschauung von der Tragödie an 
seine Hiketiden herantritt, wird mit ihnen nichts anzufangen wissen. 
Das athenische Publikum bringt eine ganz bestimmte Vorstellung vom 
Stoff des Dramas mit. Grade darum ist die Frage, wie sich der 
Dichter zu diesem gestellt, was er aus ihm gemacht hat, für das 
Verständnis von entscheidender Wichtigkeit. N. glaubt selbst bei 
Euripides’ Helena auskommen zu können, ohne auch nur ein Wort 
davon zu sagen, ob Euripides die hier zugrunde gelegte Fabel er¬ 
funden oder übernommen hat. Bei der Besprechung der einzelnen 
Stücke legt N. besonderen Wert auf die Charakteristik der Personen. 
Aber ist dies wirklich für den Dichter des fünften Jahrhunderts so 
sicher das Primäre, und hat nicht N. selbst mehr recht, wenn er ge¬ 
legentlich mahnt, zuerst nach dem eigentlichen Zentrum des Stückes, 
der ganzen Einstellung des Dichters zu dem Problem zu fragen? 

Bei Aischylos verfährt N. wirklich nach diesem Grundsatz. Aber 
gerade auch wieder bei Euripides’ Helena zeigt seine Besprechung nur zu 
deutlich, daß nur die Frage nach dem innersten Motiv, das den 
Dichter zu dieser Gestaltung des Stoffes gedrängt hat, vor den argen 
Mißdeutungen bewahren kann, die sich hier freilich nicht bloß N. zu 
schulden kommen läßt. 


Uns ist diese Art der Betrachtung aus unserer modernen Lite¬ 
ratur zur Selbstverständlichkeit geworden. Bei N. merkt man leider 
nirgends, daß er Wilamowitz’ Kommentare oder die Einleitungen zu 
seinen Uebersetzungen hat auf sich wirken lassen, ganz zu schweigen 
von neueren Werken wie Tycho v. Wilamowitz’ Sophokles oder Ro¬ 
berts Oedipus. Seine Autorität ist Verrall, dessen »glänzende Theo¬ 
rien« er zumeist im wesentlichen annimmt. Ihm glaubt er so brav 
rationalistische Entdeckungen wie die, daß Alkestis nur einen Ohn¬ 
machtsanfall erlitten hat, oder daß Ion eigentlich ein Sohn der Pythia 
war, und seine Kenntnis des Griechischen erlaubt ihm auch in der 
Hypothesis der Andromache die Uebersetzung von tö Sfe öpäjia td»v 
Ssotipwv durch »this play is one of the sequels« hinzunehmen, mit 
der Verrall seine Phantasien über eine Urform der Andromache- 
fabel stützt. 
















Norwood, Greek Tragedy 


153 


Das ist schade, zumal N., wo er sich auf sein eigenes Gefühl 
verläßt, eher etwas zu sagen hat. Die Auswahl der Stellen, auf die 
er seine Leser besonders hinweist, zeugt von eigenem Geschmack. 
Für die Klangwirkung des Verses, für Sprache und Stil hat er Emp¬ 
finden und bringt nicht selten eine hübsche Formulierung (>For 
Aeschylus, metaphor seems the natural speech, unmetaphorical lan- 
guage a subtlety which requires practice<). Auch über Gedanken¬ 
gehalt und Stimmung der einzelnen Stücke finden sich gute Be¬ 
merkungen. So zeigt er bei den Persern gut, daß die Verlegung in 
die lokale Ferne auf die Stimmung ähnlich wirkt wie die Perspektive 
der Heroenzeit, und arbeitet beim Philoktet richtig die Züge heraus, 
die den Zuschauer die völlige Verlassenheit und Einsamkeit des 
Helden miterleben lassen. Den Oedipus auf Kolonos nennt er treffend 
>the novitiate of a superhuman Power« und läßt nachfühlen, wie dem 
Helden von Anfang an etwas seltsam Unirdisches anhaftet und wir 
schließlich durch den Botenbericht über Oedipus’ Entrückung ganz 
in eine Jenseitssphäre versetzt werden. Er bringt dem Leser aber 
auch gut zum Bewußtsein, daß der unheimlich harte Greis der Poly- 
neikesszene erst voll verständlich wird, wenn wir an den grollenden 
furchtbaren Dämon denken, als der er fortleben soll. Bei den Bakchen 
ist die Anschauung, daß der Einsturz des Palastes nur in der Ein¬ 
bildung des vom Hierophanten in Ekstase versetzten Chores erfolgt, 
schon deshalb undurchführbar, weil ja Dionysos tatsächlich wunderbar 
befreit wird’; aber richtig scheidet N. zwischen dem Dionysos des 
Volksglaubens, der sicher am Schluß — und nicht nur da — ver¬ 
worfen wird, und der Religion, die den Gläubigen in der Ekstase 
über sich selber hinaushebt und für die Menge, insbesondere die 
Frauen, wohl Läuterung und Seligkeit bedeuten mag. Bei der allge¬ 
meinen Charakteristik des Sophokles betont N. mit Recht, wie alle 
Personen des Dichters von einem starken Gefühl geleitet werden, das 
bestimmte Willensregungen auslöst und den instinktiv beschrittenen 
Weg unbekümmert um äußere Widerstände und logische Ein wände 
bis zum Ende verfolgt. Euripides ist ihm der Mann mit den zwei 
. Seelen, heimisch in der Welt des Fühlens wie des Denkens, mit roman¬ 
tischem Sinn für die Schönheit der Welt und zugleich mit bittrem 
Gefühl für die Unzulänglichkeiten der Menschen, der Dichter, der das 
Interesse für alles natürliche Leben mit dem instinktiven Drang zur 
Kritik aller Konvention verbindet und dadurch zum Lehrer seines Volkes 
wird. Von den allgemeinen Problemen der euripideischen Technik be¬ 
handelt N. besonders den deus ex machina. Mit erfreulicher Ent¬ 
schiedenheit wendet er sich gegen die Auffassung, daß dieser der Un¬ 
fähigkeit des Dichters zur Lösung des Problems sein Dasein danke. 
Richtig sucht er auch die Erklärung in dem Verhältnis der drama- 









‘ ff yz 












154 


Gott. gel. Anz. 1923. Nr. 4—6 



tischen Fabel zur Gesamtsage. Aber wenn er meint, Euripides wolle 
diese ad absurdum führen, indem er zeige, sie lasse sich nur durch 
ein Wunder mit dem von ihm selbst geschilderten natürlichen Ge¬ 
schehen in Einklang bringen, so widerlegt sich das schon durch Stücke 
wie die taurische Iphigenie oder die Helena, wo keineswegs ein Wunder 
als Abschluß nötig war. Noch mehr durch die von N. unberechtigter¬ 
weise abgetrennten Fälle, wo der deus einfach die weitere Entwick¬ 
lung prophezeit. Hier ist es ganz klar, daß dieser als Kunstmittel 
genau die Funktionen des Prologes hat. Beide dienen in gleicher Weise 
dazu, die Fäden nach der Vergangenheit und Zukunft zu knüpfen 
und das Verhältnis der dramatischen Fabel zur Gesamtsage klarzu¬ 
stellen, damit grade dadurch der Dichter volle Freiheit in der eignen 
Behandlung des Stoffes erhält. Geht doch Euripides in den Troerinnen 
sogar so weit, daß er den Hinweis auf die künftige Vernichtung der 
Griechenflotte, um das grandiose Schlußbild nicht zu beeinträchtigen, 
an den Anfang rückt (66 ff.), also den deus ex machina in den Prolog 
verlegt. Vielfach verbindet sich damit aber noch die Tendenz, durch 
eine Ursprungslegende oder ein ähnliches Motiv die rein menschlich 
behandelte Geschichte in die kultische Sphäre zu rücken, die das 
Dionysosfest nun einmal bedingt. Hoffentlich wird eine Göttinger 
Dissertation die allmähliche Ausbildung des Kunstmittels veranschau¬ 
lichen. f 

Göttingen. Max Pohlenz. 


F. Philippi, Atlas zur weltlichen Altertumskunde des deutschen 
Mittelalters, etwa 80 Tafeln in Lichtdruck, 40 in Steindruck (in sechs 
Lieferungen erscheinend). Lieferung I. Inhalt: Vorwort, Einleitung, Tafeln 
Nr. 1—15, 63, 71, 95, 110, 111. Bonn u. Leipzig 1923, Kurt Schroeder. Folio. 

Dieser Atlas will ein wirkliches Quellenwerk, kein kulturgeschicht¬ 
liches Handbuch und kein Bilderbuch zur Ergänzung geschichtlicher 
Darstellung sein, er will »zuverlässige Zeugnisse der Vergangenheit 
in zuverlässiger Wiedergabe dem Forscher für seine Studien an die 
Hand geben. < Er konkurriert also mit keinerlei Publikation der letzten 
Jahrzehnte, nicht mit Moriz Heynes »Deutschen Hausaltertümem<, 
nicht mit den beiden großen Werken von Alwin Schultz, nicht mit 
Heinrich Bergners »Handbuch der bürgerlichen Kunstaltertümer in 
Deutschland^ denen allen Philippi ihr Verdienst läßt — wohl aber 
verspricht er uns einen Ersatz zu bieten für Essenweins »Kultur¬ 
historischen Atlas <, dem er von vorn herein durch die moderne Technik 
der Wiedergabe überlegen ist, und über den der Historiker Philippi 
da hinausgreift, wo der Architekt und Museumsbeamte Essenwein seine 
Grenze fand. Wer die höchst vielseitige literarische Betätigung Phi- 
lippis, seine intime Quellenkenntnis und sein sachkundiges Interesse 


Go gle 



FORNIA 











Philipp!, Atlas zur weltlichen Altertumskunde des deutschen Mittelalters 155 

für alle Seiten des mittelalterlichen Lebens kennt, wird nicht be¬ 
zweifeln, daß er für ein solches Unternehmen berufen und gerüstet ist. 

Was aus den Museen für die Kenntnis der mittelalterlichen Realien 
herauszuholen war, haben nach Viollet le Duc Jac.v. Falke, Essenwein, 
M. Heyne (der doch nicht nur »Sprachforscher« war!) und Bergner 
zusammengestellt, was die deutsche Sprache hergibt, hat wiederum 
Heyne unvergleichlich eindrucksvoll gesammelt, aus der Literatur hat 
Alwin Schultz ein ungeheuer reiches Material, aber freilich bei be¬ 
quemer und nützlicher Anordnung doch völlig kritiklos zusammen¬ 
getragen — ich möchte den Germanisten sehen, der seine Werke als 
»klassisch« bezeichnen wollte! Und trotz allem kann Philippi seine 
Einleitung mit gutem Grunde beginnen: »Sehr übel ist es mit un¬ 
serer Kenntnis der Realien des deutschen Mittelalters bestellt!« Er 
versucht uns auch nicht vorzutäuschen, daß dies mit seinem eigenen 
»Atlas« wesentlich anders werden könnte; nirgends verschweigt er 
die Schwierigkeiten, die sich der Ausnutzung desjenigen Materials ent¬ 
gegenstellen, dem er, im Gegensatz zu den literarischen Quellen und 
den dürftigen und naturgemäß höchst lückenhaften Beständen unserer 
Sammlungen (sobald wir von kirchlichen Altertümern absehen), seine 
eigene Arbeit zugewendet hat: den Darstellungen in Bilderhand¬ 
schriften vor allem, neben denen die Ueberlieferung von Tracht und 
Bewaffnung auf Siegeln, Grabdenkmälern usw. ungemein zuverlässiger 
ist. Immer wieder regt er in den Erläuterungen zu den einzelnen 
Tafeln die Kritik, nährt er die Skepsis, während seine Vorgänger dies 
Bildmaterial oft allzu eifrig und allzu gläubig aufgenommen und vor¬ 
eilig ausgeschöpft haben. 

Auch die Vorstellung, daß er viel Neues entdeckt habe und dar¬ 
bieten könne, wehrt Philippi von vornherein ab; und in der Tat sehen 
wir uns in dieser ersten Lieferung zumeist guten alten Bekannten 
gegenüber: vor allem Taf. 3—8 dem Teppich von Bayeux (dessen 
Hereinziehung in eine Darstellung der deutschen Kultur keiner Recht¬ 
fertigung bedarf) und Taf. 9—15 dem »Hortus Deliciarum« der Herrad 
von Landsberg. Aber gerade in der Art wie hier, ohne jede Rücksicht 
auf eine ästhetische Wirkung der Einheit oder der Gruppe, allein das 
Instruktive ausgewählt, ausgeschnitten und mit erdenklicher Raumsparung 
gruppiert wird, zeigt die Eigenart des Herausgebers, der eben ein Quellen¬ 
buch und nichts anderes liefern will, der jede Versuchung in die Kunst¬ 
geschichte abzuirren oder den Leser bildmäßig zu erbauen von sich 
weist. Mit reinem künstlerischen Genuß kann man nur eine Tafel 
aufnehmen, die prächtige Siegeltafel Nr. 71. Was diese erste Liefe¬ 
rung sonst noch bietet, ist buntgemischt, um Proben von dem weitern 
Inhalt zu geben: ich erwähne die neun Holzschnitte aus dem »Ritter 
vom Turn« (Taf. 63), deren kulturgeschichtlichen Wert Ph. über- 


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Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 4—6 




raschend hoch einschätzt, die Königspfalzen (Aachen, Nimwegen, Goslar 
Taf. 95), die Dorfaltertümer (Taf. 110), die westfälischen Einzelhöfe 
(auf Grundlage von Meitzen, aber in eigener recensio, Taf. 111). Die 
Herstellung aller Tafeln hat Ph. bis in Technische hinein selbst über¬ 
wacht. 

Ein vollständiger Prospekt liegt nicht vor, und die »Einleitung« 
versucht ihn nicht zu ersetzen: wieweit das Ganze ein geschlossenes 
Programm verwirklicht, wird man also erst später sagen können. Ich 
denke auf das Werk zurückzukommen, wenn es glücklich zu Ende 
geführt ist. — Die Angaben cHeidelberger Rolandslied, Taf. 13> und 
cHerrad von Landsberg, Taf. 16ff.> auf S. 3 b der Einleitung ent¬ 
sprechen nicht der tatsächlichen Nummerierung der Tafeln — so dürfen 
wir auch wohl hoffen, daß sich die unglückliche Bezeichnung <Marien- 
lieder des Wernher von Tegernsee, Taf. 23> noch ändern läßt, die 
trotz allen Protesten der Philologen bisher unausrottbar scheint: die 
»driu liet von der maget« sind ein streng episches Werk, das man 
mit »Marienlieder« von vorn herein falsch einordnet — und ihr Ver¬ 
fasser, der Priester Wernher (wahrscheinlich ein Augsburger) hat mit 
Wernher von Tegernsee nichts zu tun! 

Göttingen. Edward Schröder. 




Franz Dingelstedt und Julius IIartmann. Eine Jugendfreundscliaft in 

Briefen. Herausgegeben von Werner Deetjen. Leipzig, Insel-Verlag, 1922. 

198 S. 8®. 

Um Franz Dingelstedt hat sich die Literaturgeschichte bisher 
so gut wie gar nicht bekümmert, obwohl anziehende Bücher auto¬ 
biographischen Charakters, andere die indirekt für seine Lebens¬ 
geschichte und seinen Entwicklungsgang Zeugnis ablegen, von ihm 
selbst mehrfach zum Druck gebracht, weitere Dokumente namentlich 
durch seinen Landsmann Julius Rodenberg ans Licht gezogen worden 
sind. Jetzt verspricht uns Werner Deetjen eine Studie über die schrift¬ 
stellerischen Anfänge des Dichters und legt zunächst die wichtigste 
Quelle vor, die sich ihm für diese seine Frühzeit erschlossen hat: die 
Briefe an Julius Hartmann aus den Jahren 1834 bis 1841. Hart¬ 
mann, 1841 noch kurze Zeit D.s Kollege am Fuldaer Gymnasium, ist 
dem Schul- und Universitätsfreund im weiteren Leben bald fern ge¬ 
rückt: er wirkte von 1841 bis 1849 als Lehrer der Mathematik in 
Marburg, von da ab bis 1874 am Gymnasium zu RinteJn, wo er bald 
nach seiner Pensionierung gestorben ist. In jenen Jahren des Sturms 
und Drangs aber hat niemand (auch Fr. Oetker nicht) dem jungen 
Dichter so nahe gestanden wie er: der ernsthafte und strebsam 
tüchtige Julius hat den leichtsinnigen Franz herzlich geliebt, und 


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Deetjen, Franz Dingelstedt und Julius Hartmann 157 

dieser hat die Freundesliebe aufrichtig vergolten: nicht zum wenigsten 
durch die unbeschränkte Offenheit seiner Bekenntnisse. 

Dingelstedts zum Teil recht umfangreiche und mit gereimten Bei¬ 
gaben überreich ausgestattete Briefe an Hartmann: aus den Ferien 
nach Marburg und aus Marburg in die Heimat, aus Ricklingen bei 
Hannover, aus Kassel, Fulda und zuletzt aus Paris, bilden den Haupt¬ 
inhalt des Büchleins, wenige Briefstücke Hartmanns sind in den ver¬ 
bindenden Text eingeschaltet, mehrfach aber Briefe D.s an andere 
Freunde herangezogen. Neue Aufschlüsse erhalten wir besonders für 
die bisher fast unbekannte Ricklinger Episode: Dingelstedt als Lehrer 
an einem englischen Ihstitut vor den Toren Hannovers (1835/36). 
Dieser Zeit verdankt der verunglückte Kandidat der Theologie die 
Kenntnis der neuern Sprachen und Literaturen, einen guten Teil seines 
Weltschliffs, seine ersten literarischen Anknüpfungen und Erfolge 
— und schließlich das Liebesverhältnis zu der schönen, aber als Schau¬ 
spielerin offenbar herzlich unbedeutenden Karoline Collet, das auch 
für seine poetische Produktion fruchtbar wurde. Dingelstedts Briefe 
an Hartmann sind höchst unmittelbare Lebensurkunden und zugleich 
interessante Zeitdokumente aus den Tagen des jungen Deutschlands 
und der Vorrevolutionszeit. Persönlich anziehend sind sie mir nicht 
erschienen: so viel Eitelkeit, Selbstbespiegelung, Blasiertheit, so wenig 
Lebensernst! Der Leser atmet auf, als dem Dichter endlich die Frei¬ 
heit winkt, als er, von Schulamt und Schulstaub befreit, Fulda mit 
Paris vertauschen darf, um als Korrespondent der Allgemeinen Zeitung 
in die neue Laufbahn einzutreten, in der er, sicher aufsteigend, alles 
was in ihm an Tüchtigkeit verborgen lag, frei entfalten durfte. 

Was wir aus diesen ungemein offenherzigen Briefen von der 
Lebensauffassung und dem Lebenswandel des jungen Dingelstedt er¬ 
fahren, läßt es durchaus begreiflich erscheinen, daß sich das Rinteler 
Konsistorium weigerte, ihn in die Liste der Predigtamtskandidaten 
aufzunehmen, daß ihn die Marburger Fakultät im Doktorexamen durch¬ 
fallen ließ und K. F. Herrmann ihm (schon vorher) einige höchst ernst¬ 
hafte Ratschläge zu erteilen nötig fand, daß ihm ferner die Braut 
den Laufpaß gab und daß ihn schließlich die kurfürstliche Oberschul¬ 
behörde von Kassel nach Fulda versetzte, wo er übrigens in dem 
hochgebildeten Nikolaus Bach einen humanen und vorurteilsfreien 
Direktor fand. Unrecht, schweres Unrecht ist unserm Dingelstedt 
einzig und allein durch seinen Vater geschehen, der ihn zum theo¬ 
logischen Studium drängte und ihn starrsinnig dabei festhielt. Daß 
es der vielverschriene Reaktionär Ludwig Hassenpflug war (so hieß der 
Schwager der Brüder Grimm und nicht Daniel, wie ihn Deetjen wieder 
nennt S. 143), der den Poeten ohne Prüfungszeugnis als Lehrer der 
neueren Sprachen am Lyceum Fridericianum anstellte, zeigt wieder 


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Gott. gel. Anz. 1923. Nr. 4—6 


158 

einmal, wie wenig dieser Mann ein Philister war. Er hat ja auch als 
erster den Schelmuffsky neu herausgegeben! 

Das Arrangement des Büchleins ist sorgfältig — vielleicht werden 
es manchem der Verse zu viel sein: von den vierzehn langen Strophen 
eines Geburtstagsgedichtes (S. 176 ff.) wären m. E. die zwei oder drei 
welche den Dichter und seinen Freund sehr gut kontrastieren, aus¬ 
reichend gewesen. 

Der Satz hätte wohl etwas besser überwacht werden können: 
S. 123. 139. 140 stören Druckfehler in lateinischen, englischen, franzö¬ 
sischen Wörtern, S. 78 Mitte ist gerade das gesperrte Wort »neue« 
verdruckt für »neun«! Auch auf Schreibversehen D.s hätte mehr 
geachtet werden sollen: S. 25 Z. 11 ist einmal der Name Emma aus¬ 
gefallen: »Sie war es <,Emma>! Emma schwebte neckend«, S. 100 
Z. 5 1. »Dich« st. »mich«, S. 149 Z. 11 »Hellwig und Henkel waren 
resp. <sind> hier«. 

Eine schwache Seite sind auch hier wieder die Anmerkungen. 
Was ein »Wampum-Gürtel« (S. 140) und was »Lumpacivagabundus« 
sei (S. 175), daß Müllners »Schuld« 1813 aufgeführt, 1814 erschienen 
(S. 43), Chamissos »Peter Schlemihl« ebenso 1813 entstanden, 1814 
gedruckt ist (S. 53), daß wir in der rasenden Lenore die Heldin einer 
Bürgerschen Ballade vor uns haben (S. 43), woher ferner die Zitate 
»Heiß mich nicht reden, heiß mich schweigen« (S. 53) und »Vorüber, 
ihr Schafe, vorüber« (S. 156) stammen, alles dies und noch mancherlei 
andere nützliche Kenntnisse werden den Lesern dieser Briefe unter 
dem Texte mitgegeben — was mögen das wohl für Leser sein? Die 
einen werden sie nicht brauchen und die andern werden sie nicht 
lesen. 

Dagegen bleiben allerlei lokale und persönliche Anspielungen 
unerklärt: daß man S. 22 Z. 4 v. o. im »Rappen« ein Gießer Hotel, 
S. 32 Z. 9 v. u. in Klosterhaina die hessische Landesirrenanstalt zu 
verstehn habe, werden nur eben die Hessen wissen. Daß S. 38 »der 
alte Lips« »Gymnasiallehrer in Rinteln« war (vgl. 132. 139), führt 
mindestens irre, der Mann hieß nämlich nicht Lips (auch nicht etwa Philipp 
mit Vornamen), sondern gemeint ist doch wohl der Direktor Wiß. 
—S. 39 unten ist »von dem lieben Blau und Gold und Grün des aka¬ 
demischen Lebens« die Rede — eine Anmerkung sagt, das seien die 
Farben der Schaumburgia gewesen. Aber die Farben des kurzlebigen 
Marburger Korps Schaumburgia waren blau-rot-schwarz, wie übrigens 
S. 95. 178 deutlich zu lesen steht. — Da der Roman »Die neuen 
Argonauten« erst 1839 (in Fulda!) erschien, kann er natürlich auf 
Dingelstedts Strafversetzung im Herbst 1838 (S. 162) keinen Einfluß 
gehabt haben. — S. 101 hätte der Titel »Nesselblatt« für ein von 


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Dingelstedt und dem Hinteler »jungen Deutschland« 1835 geplantes 
belletristisches Organ doch wohl einer Erläuterung bedurft: das Nessel¬ 
blatt ist das Wappenbild der Grafen von Schaumburg und von ihnen 
auch der Stadt Rinteln, ihrer Gründung, verliehen. 

Göttingen. Edward Schröder. 


Goethes Briefwechsel mit Marianne von Willemer, herausgegeben 
yon Max Hecker. Leipzig, Insel-Verlag 1922. LVI u. 43G S. 8°. 

Der Briefwechsel Goethes mit Marianne von Willemer ist, leb¬ 
haft ersehnt von den Freunden des Dichters, seit Herman Grimm 
1869 den Schleier gelüftet und den dichterischen Anteil der Frank¬ 
furter Suleika am Westöstlichen Divan enthüllt hatte, zum ersten 
Male 1877 ans Licht getreten, und hat ein Interesse erregt, das zu 
der uns heute unfaßbaren Kühle, mit der das deutsche Publikum 
dreißig Jahre früher das kostbare Geschenk der Briefe an Frau von 
Stein aufgenommen hatte, im erfreulichsten Gegensätze stand. Wir 
Alten und besonders wir Schüler des damals ganz hingerissenen Wilhelm 
Scherer (vgl. seinen Aufsatz »Eine österreichische Dichterin« aus der 
Neuen Fr. Presse vom 19. Juli 1877, in den »Aufsätzen über Goethe« 
S. 275 ff.) erinnern uns noch lebhaft des literarischen Ereignisses. 
Der sorgsamen Erstausgabe Theodor Creizenachs konnte dessen Sohn 
Wilhelm schon 1878 eine zweite, um sieben Briefe Goethes an Rosine 
Städel geb. Willemer vermehrte Auflage und noch im gleichen Jahre 
einen Neudruck dieser folgen lassen. Seit 1908 ist der wertvolle 
Briefwechsel in die Obhut des Insel-Verlags übergegangen: auf Philipp 
Stein ist hier Max Hecker gefolgt, der unmittelbar nach der ersten 
von ihm besorgten Ausgabe im zweiten Bande des »Jahrbuchs der 
Goethe-Gesellschaft« (1915) diejenigen Briefe Mariannens publizieren 
durfte, welche das Goethe- und Schiller-Archiv aufbewahrt: 13 an 
Goethe und 2 an dessen Sohn, die einzigen welche im Original er¬ 
halten sind, denn die an die Schreiberin zurückgelieferte Mehrzahl be¬ 
sitzen wir nur in einer Abschrift von fremder Hand, die Marianne in 
den 50er Jahren hersteilen ließ. 

In der vorliegenden Ausgabe, der zweiten welche wir Hecker 
verdanken, erscheinen die neugefundenen Briefe an ihrer Stelle ein¬ 
gereiht, der alte Bestand hat eine gründliche Revision und vielfache 
Textbesserungen erfahren; bei Goethes Anteil mußte und durfte man 
sich wieder auf die Weimarer Ausgabe der Briefe verlassen, für 
welche sie s. Z. kollationiert worden sind. Alles in allem ist die 
Korrespondenz von 151 Nummern der ersten Ausgabe auf 191 ange¬ 
wachsen — die kleinen Lücken welche verbleiben können nur allen¬ 
falls durch glückliche Zufallsfunde noch ausgefüllt werden. 


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Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 4—6 




Mit gutem Fug blieben auch diesmal die Briefe des Gatten Willemer 
ausgeschlossen; was daraus irgend von Wert ist für den Zusammen¬ 
hang und das Verständnis im einzelnen, findet man in den Anmerkungen, 
welche zuverlässig und reichhaltig, aber ohne lästiges Zuviel die Seiten 
250 bis 402 füllen. Auf die Anmerkungen und die Einleitung verteilt 
sind auch die — völlig ausreichenden — Mitteilungen aus den »Chiffre- 
briefen<. Zwischen die Anmerkungen und das sorgfältige Register 
(S. 409—435) ist noch eine Uebersicht über Willemers schriftstelle¬ 
rische Produktion eingeschoben (S. 403—408), die nahezu 50 Nummern 
umfaßt und die vielseitige Betätigung des Theaterfreundes und Philan¬ 
thropen, Volkswirts und Patrioten überblicken läßt. So kommt auch 
er zum Schlüsse noch zu seinem Rechte. 

Max Hecker hat sich schon wiederholt, so zuletzt in der Ausgabe 
des Briefwechsels zwischen Goethe und Heinrich Meyer als einen 
ebenso gewissenhaften wie taktvollen Editor erwiesen. Auch an dem 
vorliegenden Buche hat der Genießende reine Freude und der Kritiker 
nur Anlaß zum Lobe. Die Grundsätze nach denen H. die Orthographie, 
dem verschiedenen Zustand der Ueberlieferung entsprechend, behandelt, 
die Entschiedenheit mit der er die notwendige Regelung der Inter¬ 
punktion vornimmt, finden meinen vollen Beifall. 

An dem vom Verleger mit sichtbarer Fürsorge ausgestatteten 
Bande werden alle ihre Freude haben: die Goethefreunde, welche sich 
dem reinen Genuß dieses Briefwechsels und besonders der unvergleich¬ 
lichen Frauenbriefe hingeben und nur hin und wieder einmal in den 
Anmerkungen nachschlagen, und die Goethephilologen, welche an dem 
Texte der Briefe wie der Gedichte mit gutem Grunde allerlei Inter¬ 
pretationsschwierigkeiten finden und zwar durch die Anmerkungen fast 
immer gefördert werden, aber doch die Genugtuung erleben, daß auch 
des Herausgebers Wohlbeschlagenheit und Akribie in dieser westöst¬ 
lichen Welt nicht alle Dunkelheiten aufzuhellen vermochte. 

Göttingen. Edward Schröder. 




Für die Redaktion verantwortlich: Dr. J. Joachim in Göttingen. 


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Nr. 7—12 


Juli bis Dezember 1923 


Gustay Strolim, Demos und Monarch. Untersuchungen über die Auflösung 
der Demokratie. Stuttgart 1922, Kohlhammer. 221 S. 8. 

Fritz Täger, Die Archäologie des Polybios. Stuttgart 1922, Kohlhammer. 
164 S. 8. 

Ernest ^Parker, Greek Political Theory. Plato and his Prede- 
cessors. London 1918, Methuen & Co. 403 S. 8. 

Die Bücher von Strohm und Täger gleichen sich äußerlich, 
sind beide mit Unterstützung der Tübinger philosophischen Fakultät 
in vortrefflicher Ausstattung gedruckt; sie gehen beide auf Anregungen 
des Historikers Wilhelm Weber zurück. Und doch ist Arbeitsweise 
und Wert recht verschieden. 

Strohm bekennt sich im Vorwort zu der Ueberzeugung, >daß die 
Altertumswissenschaft nur als pragmatische Geschichtswissenschaft ihre 
Bedeutung behalten kann«, indem sie sich in den Dienst der Gegen¬ 
wart stellt und gesetzmäßig ablaufende Entwicklungen nachweist, die 
sich bei gleichen Voraussetzungen jederzeit in der gleichen Weise 
wiederholen werden« (S. 3). So will er den typischen Zug, daß die 
Demokratie, nachdem sich der Machtwille der Massen auf dem Wege 
der Gleichheitsforderung Geltung verschafft hat, notwendig den indi¬ 
viduellen Machtwillen und damit monarchistische Bestrebungen ent¬ 
fesselt, an der politischen Entwicklung des Griechentums erweisen. 
Er geht zu diesem Zweck von der bekannten Tatsache aus, daß der 
Individualismus den alten Staatsgedanken untergräbt und die Polis 
zersetzt, und formuliert dann sein Thema so (S. 24): »Ist der indi¬ 
vidualistische Machtwille des fünften Jahrhunderts, der sich gegen die 
demokratische Gleichheitsforderung aufbäumt, wirklich so stark, daß 
aus ihm ein griechischer monarchischer Gedanke organisch abgeleitet 
werden kann?« 

Wenn Strohm diese Frage unbedenklich bejahen wollte, so war 
seine erste Aufgabe, sich über Werden und Wesen dieses Individualismus 
völlig klar zu werden. Vielleicht wäre er schon da zu der Erkenntnis 
gekommen, daß es sich um eine Erscheinung des geistigen Lebens 




Gott. gel. Anz. 1923. Nr. 7—12. 


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Gott. gei. Anz. 1923. Nr. 7—12 




handelt, die nicht einfach typisch ist, sondern jedenfalls in dieser Aus¬ 
prägung sich nur im Griechentum und nur im Athen des fünften 
Jahrhunderts entwickeln konnte. Dazu gehört gleich noch eins: Ich 
begrüße es durchaus, daß Strohm dem Denken und Fühlen der Masse 
ganz andere Beachtung schenkt, als es gemeinhin geschieht, gehöre 
auch gewiß nicht zu denen, die in den Sophisten die Schöpfer statt 
der Exponenten des Zeitgeistes sehen. Aber einen Alkibiades kann 
man doch hur verstehen, wenn man nicht bloß an die Aeußerungen 
der Massenpsyche denkt, sondern auch an die theoretischen Dis¬ 
kussionen der Oberschicht, namentlich an die Debatten über das Recht 
des Individuums. Individualismus ist auch nicht einfach »Wille zur 
Macht<. Es genügt doch an Aristipp und Demokrit zu erinnern, um 
zu sehen, daß es sich um eine viel weiter reichende Strömung handelt, 
die nach den verschiedensten Richtungen wirkt. Schon darum ist es 
einseitig, wenn Strohm im ersten Hauptteil als die »historisch wirk¬ 
same Form des Individualismus« teils Ehrsucht und Neid, teils Streben 
nach Besitz zu erweisen sucht. Aber wichtiger ist das andere. Sind 
denn das Erscheinungen, die für das Griechentum charakteristisch 
sind, und ist bei diesen selber die Klage xpifiP'**’ äv^p erst 

in der Demokratie laut geworden? Strohm geht so vor, weil er auf 
die typischen Züge hinaus will, aber gerade seine Darstellung zeigt, 
daß diese Art von »pragmatischer Geschichtswissenschaft« nur ein 
ganz farbloses verschwommenes Bild ergeben kann, daß die Geschichte 
auch für die Gegenwart nur fruchtbar wird, wenn man sich vor Augen 
stellt, in welcher konkreten Form die allgemein menschlichen Trieb¬ 
federn auf bestimmtem Boden wirken. Statt eine Menge von Stellen 
zu häufen, die ebensogut aus ganz andrer Sphäre stammen konnten, 
galt es zu zeigen, in welcher Weise Ruhmsucht und Habgier in der 
athenischen Demokratie zersetzend wirken. Strohm spricht von dem 
fünften Jahrhundert wie von einer konstanten Größe, für deren Cha¬ 
rakteristik er Aischylos und Lysias nebeneinander verwertet, und 
nur gelegentlich denkt er an den gewaltigen Wandel, der sich in 
dieser Zeit im ganzen geistigen Leben und besonders im Staats¬ 
empfinden vollzieht und aus der perikleischen Demokratie etwas völlig 
anderes macht. Gerade in diesem Wandel und seinen Ursachen liegt 
aber das historisch Wichtige und auch für uns Lehrreiche. Mag für 
das ausgehende fünfte Jahrhundert das Wort von der »morbiden 
Volkspsyche« gelten, so mußte doch daneben gesagt werden, daß das 
Geschlecht, das zur Zeit von Salamis heranwächst — man denke an 
Sophokles — kerngesund war. Ist das ganze fünfte Jahrhundert von 
mammonistischem Geiste beherrscht, und was beweisen dafür Lysias' 
Klagen über die neuen Reichen? Was beweist es überhaupt, daß der 








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Strohm, Demos und Monarch 

Anonymus Jamblichs — wie Aristoteles! — neben Seele und Körper 
den Besitz als Gut anerkennt? Wer die Verinnerlichung der Ethik 
durch Sokrates würdigen will, darf gewiß nicht daran Vorbeigehen, 
daß in der Tragödie der Gedanke an den soxXstjc {►avatos oft als 
Motiv an die Stelle der Pflichterfüllung tritt. Aber wie konnte Strohm 
(39) Makaria, die »ruhmvoll für ihre Brüder, für ihr Land stirbt«, 
anführen, wo es sich um die zersetzende Wirkung des Individualismus 
handelt? Das ist eben der große Wandel, daß die <ptXoti[ua in Perikles’ 
Zeit im Dienste des Ganzen steht und ihm Gut und Blut opfert und 
dann allmählich die Staatsgesinnung durch den Individualismus erstickt 
wird. Aber selbst für die Zeit des peloponnesischen Krieges darf ein 
gerechter Historiker den ungeheuren Opfermut, das zähe Durchhalten 
der Athener nicht verschweigen. Hinzu kommt noch, daß Strohm sein 
Zettelmaterial nicht selten ausschüttet, ohne an den ursprünglichen 
Zusammenhang zu denken, oder gar den Sinn einer Stelle verkehrt. 
So soll Herodot VII236 den Neid ausdrücklich als den griechischen 
Nationalfehler bezeichnen (S. 52); aber dort gibt Herodot nur die 
Worte eines Griechenfeindes wieder, der den nur zu gut ratenden 
Demarat verdächtigen will. Wenn Thukydides als moralische Wirkung 
der würgenden Pest das Indentaghineinleben schildert, sieht er darin 
doch einen Ausnahmezustand, nicht einen allgemeinen Zug seiner Zeit 
(65). Im Nikokles 14 ff. feiert Isokrates die Monarchie als die Staats¬ 
form, in der die wahre (proportionale) Gleichheit, das Suum cuique 
Prinzip ist. Strohm macht S. 24 daraus, daß dem Redner die Mo¬ 
narchie »den reinsten Ausdruck der Ungleichheit darstellt«, was für 
dieses monarchistische Programm wohl kaum die passende Einleitung 
gewesen wäre. 

Im zweiten Hauptteil will Strohm zunächst zeigen, wie sich das 
Streben nach Macht und Besitz zum Streben nach der Alleinherrschaft 
verdichtet, die sich diese Güter im höchsten Maße zu sichern vermag. 
Auch hier häuft er unnötig die Belege dafür, daß die Griechen mit 
dem Begriff der Monarchie die Vorstellung von Genuß und Glanz und 
Wohlleben verbanden — als ob das nicht in unserm Märchen ebenso 
wäre. Wirkliche Probleme schneidet er dagegen in dem Abschnitt über 
die »demagogische Alleinherrschaft« an. Es ist ja tatsächlich höchst 
interessant, daß nicht bloß Thukydides die Stellung des Perikies als 
Monarchie auffaßt, sondern ganz allgemein das Volksempfinden einen 
spootatTjc toü 8r][too verlangt, den die Komödie unbefangen wie einen 
wirklichen Herrscher schildert. Es ist verdienstvoll, daß Strohm diese 
Dinge zusammenfassend betrachtet. Aber unhaltbar ist seine Ansicht, 
daß »für diese ungewöhnliche Stellung auch eine gesetzliche Formu¬ 
lierung gefunden oder doch gesucht wurde« (162). Er findet sie bei 

11 * 




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Thukydides in den Worten über Perikies (1165,4) ootepov S’ owffte 
... atpaujYÖv stXovto xai navta za izpi^axa IjtlTps^av. Damit sei der 
Akt bezeichnet, durch den das Volk Perikies seine Souveränität über¬ 
tragen und ihn zum wpootanj? oder izizpozof gemacht habe. Das Ent¬ 
scheidende ist hier, ob dies Begriffe des attischen Staatsrechts waren. 
Das wud einfach widerlegt durch die von dem Historiker Strohm 
merkwürdigerweise überhaupt nicht beachteten Urkunden, auf denen 
Ijritpoito? in der hier vorausgesetzten Bedeutung, soviel ich sehe, über¬ 
haupt nicht, npoazdzyji; als Amtsbezeichnung erst seit dem dritten Jahr¬ 
hundert und auch nur in Arkadien (Tegea, Stymphalos) und auf Tenos 
vorkommt. An sich ist doch auch ein Volksbeschluß, der itj» Sstvi rcdvta 
ta TrpaYtiata empteei, undenkbar. So spricht der Historiker, und auch 
der Kedner mag in der Debatte empfehlen tpiäxovta dvSpdaiv m- 
Tpe<J»at ri]v iröXiv (Lys. XII73); der formulierte Antrag mußte die 
Kompetenz genau bestimmen und, wie längst bekannt ist (Strohm 
selbst 179), läßt sich die Formel, durch die Perikies seine außer¬ 
ordentliche Vollmacht erhielt, noch bestimmen; er wurde zum otpa- 
tTjfö? atkoxpdtwp erwählt. Aber diese stets zeitlich befristete Ueber- 
tragung hat mit dem Begriff des icpoaxaxrji; nichts zu tun. Als solcher 
galt Perikies längst, ehe der Krieg besondere Vollmachten nötig 
machte. Kleon war rcpootanjc auch ohne festes Amt. Gerade das 
zeigt den Geist der perikleischen Demokratie, wo das souveräne Volk 
entscheidet, aber Initiative und Leitung der inneren und äußeren 
Politik in der Hand des Politikers liegt, dem das Volk sein Vertrauen 
schenkt. Perikies verband mit dieser Vertrauensstellung noch ein 
verantwortliches Amt; Isokrates (de pace 54) empfindet als charakte¬ 
ristisch für seine Zeit, daß die npoazäzai zi je TröXew? nur noch Berufs¬ 
politiker sind, und das Gleiche gilt schon für Leute wie Kleon. Grade 
der Widerstreit zwischen Verfassungsform und tatsächlicher politischer 
Macht ist das Charakteristische, lehrreich nicht nur für den römischen 
princeps, sondern auch für die Gegenwart. 

Man mag daraufhin von demagogischem Absolutismus reden; aber 
dann soll man eins nicht vergessen: seit Perikles’ Tode fehlte diesen 
Demagogen so gut wie C. Gracchus das Wichtigste, die militärische 
Macht. Gefahr droht der Republik nur von Generalen wie Alkibiades 
oder Dionysios. Vom Ttpootan)? zum Monarchen führt nicht eine ge¬ 
rade Linie, sondern der Umweg mindestens über die Bildung einer 
Leibwache. In Athen hat selbst der gewiß von individualistischem 
Machtwillen erfüllte Alkibiades den Griff nach der Krone nicht ge¬ 
wagt, weil er die Stärke der antiinonarchiscfien Stimmung kannte. 
Kann man dann aber wirklich aus der attischen Geschichte das Er¬ 
gebnis ziehen, daß der demagogische Absolutismus zum dynastischen 


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Strohm, Demos und Monarch 


überleitet? Und dürfen wir das ganze vierte Jahrhundert ignorieren? 
Daß der monarchische Gedanke bei den Griechen seine Wurzeln im 
fünften Jahrhundert hat, habe ich selbst kürzlich in meinem »Staats¬ 
gedanken < ausgeführt. Aber in Athen hat sich aus der Demokratie 
keine Monarchie entwickelt. Darüber helfen auch Paradoxa wie das 
vom monarchischen fünften Jahrhundert nicht hinweg. 

Auch Strohms Ausführungen sind von echtem Empfinden für die 
Not der Gegenwart getragen. Gerade darum tut es mir leid, daß er 
die Dinge so einseitig sieht. Und gerade wer selber in der Demo¬ 
kratie nichts weniger als die alleinseligmachende Staatsform findet, 
wird es bedauern, wenn hier der perikleische Idealismus und das Große 
seiner Demokratie überhaupt nicht erwähnt wird und womöglich nach 
der Karikatur der Komödie das ganze Volk wie seine Leiter zu Spitz¬ 
buben gemacht werden. Damit wird auch einer guten Sache schlecht 
gedient. 


Taeger schwebt nicht in den Höhen typischer Betrachtung, son¬ 
dern bleibt hübsch auf dem Boden der konkreten Tatsachen und 
kommt darum zu viel festeren und wirklich wertvollen Ergebnissen. 
Sein Ziel ist, die Anschauung von der Entwicklung der römischen 
Verfassung, die Polybios in seiner Archäologie niedergelegt hat, wieder¬ 
zugewinnen und ihre Einwirkung auf die späteren zu verfolgen. Ge¬ 
sund ist hier gleich sein Gesamturteil über Polybios und sein Ver¬ 
hältnis zu Panaitios. Wie Reitzenstein und Heinemann hält er sich 
von der Verirrung frei, die Polybios zu einem Stoiker machte. Dem 
nüchternen Praktiker lag die spekulative Philosophie überhaupt ganz 
fern. Durch die thukydideische Frage nach den letzten Gründen des 
historischen Geschehens wird er zu geschichtsphilosophischen Betrach¬ 
tungen geführt. Aber was er über die Entstehung des Staates und 
der sittlichen Begriffe vorträgt, ist rein naturalistisch und so unstoisch 
gedacht, daß wir bei Cicero Rep. 139.40 eine scharfe Polemik gegen 
ihn finden, die nur auf Panaitios zurückgehen kann. Der ist durch 
den Nachweis des Historikers, daß die Stärke Roms auf seiner ge¬ 
mischten Verfassung beruhe, zur Zeichnung eines neuen Idealstaates 
angeregt worden, geht aber durchaus selbständig vor. Nicht nur durch 
die Schaffung eines stoischen Unterbaues. Seine Politeia war ja noch 
viel weniger als die platonische eine Utopia. Wenn durch die politische 
Entwicklung die Gefahr immer drohender wurde, daß die richtige 
Mischung in Roms Verfassung nicht aufrecht erhalten werden könnte, 
so suchte Scipios Freund ihr dadurch zu begegnen, daß er mit dem 
polybianischen System den alten sokratischen Gedanken von der Herr¬ 
schaft des besten Mannes und die praktische griechische Vorstellung vom 


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Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 7—12 


ftpootanjc verband und das neue Element des Princeps, des unge¬ 
krönten Königs einführte, der durch seine ideale Persönlichkeit ohne 









Amt den maßgebenden Einfluß ausüben und für das Gleichgewicht 
der politischen Kräfte sorgen sollte. Polybios selber dankt seine 
Staatsauffassung eigenem Denken und eigener Lebenserfahrung. Aber 
das steht doch fest, daß schon Cato den Gedanken der organischen 
Entwicklung Roms wie auch den der gemischten Verfassung, die er 
nicht bloß in Karthago gefunden haben kann (Serv. zu Aen. IV 682), 
gehabt hat, und es geht zu weit, wenn Taeger hier jeden Einfluß 
leugnet (S. 14). 

Die Grundlage für die Wiedergewinnung der Archäologie gibt 
natürlich das zweite Buch von Ciceros Staat. Es ist selbstverständlich, 
daß der mitten im politischen Leben stehende Römer die Gedanken 
des Griechen nicht einfach übernimmt, zumal er mit seinem ganzen 
Werke das ganz aktuelle Ziel vor Augen hat, mit Hilfe des Prinzi¬ 
pats den drohenden Niedergang der jrdtpios rcoXitela aufzuhalten. Aber 
gerade weil diese Tendenz an einzelnen Punkten deutlich hervortritt 
und sich von der übrigen Darstellung abhebt (bes. § 51), läßt sich 
Grundanschauung und Aufbau von Polybios’ Darstellung im ganzen 
wiederherstellen, und mit feinem historischen wie literarischen Ver¬ 
ständnis zeigt T., wie Polybius zielbewußt und mit scharfen Strichen, 
gelegentlich auch nicht ohne Gewaltsamkeit, aus der römischen Ueber- 
lieferung das Bild einer organischen Entwicklung des römischen Staats¬ 
wesens herausarbeitet. Wir verfolgen, wie zuerst das monarchische 
Element ganz überwiegt, aber bald der Senat, allmählich auch das 
Volk Rechte erhält und Einfluß gewinnt, wie das »gemischte König¬ 
tum < seine Blüte und höchste Machtstellung unter Servius Tullius 
erreicht, dann in die Tyrannis umschlägt, die den Sturz zur Folge 
hat. Ganz parallel hat nach Taeger Polybios auch die weitere Ent¬ 
wicklung geschildert. Zunächst überwiegt das aristokratische Element, 
und die Vorherrschaft des Senates gelangt sogar noch nach der Er¬ 
richtung des Tribunats, die einen demokratischen Erfolg bedeutet, zu 
voller Höhe im Dezemvirat. Hier aber schlägt sie in Oligarchie um, 
und die Reaktion gegen diese führt zu einem Kompromiß, das den 
gerechten Ausgleich zwischen den drei Machtfaktoren schafft und da¬ 
mit die Mischverfassung begründet. Das ergibt ein geschlossenes, voll 
befriedigendes Bild, das zweifellos zu Polybios’ Staatstheorie paßt. 
Gewisse Zweifel bleiben nur bei der Darstellung des Dezemvirats, 
wo Cicero lückenhaft ist und Taeger sich deshalb besonders auf Diodor 
XH 23—6 stützt. In scharfem Gegensatz zur gewöhnlichen Anschauung 
nimmt nämlich Taeger an, daß Diodor nicht einem älteren Annalisten 
folgt sondern Polybios, den er »mit einer jüngeren annalistischen Dar- 











Go gle 


ORNIA 





Täger, Die Archäologie des Polybios 


167 






Stellung und einer Sammlung aus der Schule des Poseidonios kon¬ 
taminiert*. Das stimmt freilich nicht recht zur sonstigen Arbeitsweise 
des Verfassers der B'ßXiotbjxtj, und speziell die Darstellung des Dezem- 
virats aus Polybios ganz abzuleiten widerrät schon die Ausführlich¬ 
keit. Von den übrigen Stellen macht aber gerade die, bei der tat¬ 
sächlich auffallende wörtliche Uebereinstimmungen mit Polybios vor¬ 
liegen, Schwierigkeiten. Tarquinius’ Uebersiedlung nach Rom und sein 
Aufstieg zum Throne werden bei Polybios selber VI11 a, Cicero Rep. 
1135 und DiodorVIU31 sehr ähnlich erzählt. Während aber Cicero 
und Diodor eine ganz objektive Charakteristik des Mannes geben, der 
sich ohne sein Zutun durch seine Tüchtigkeit, Leutseligkeit und Frei¬ 
gebigkeit die Herzen erobert, sieht Polybios, wie Täger selbst S..56 
gut hervorhebt, in ihm den hellenistischen Abenteurer, der sich mit 
kluger Berechnung den Weg zum Throne bahnt (ähnlich Liv. 134,12). 
Man hat durchaus den Eindruck, daß Polybios ein gegebenes Cha¬ 
rakterbild übermalt. Wie kommt es dann, daß sowohl Cicero wie 
Diodor diese Färbung wieder tilgen und beide einen so bezeichnenden 
Zug wie Tarquinius’ Unterstützung durch sein gleichgesinntes Weib 
weglassen? Bei Cicero verstehen wir leicht, daß er das ihm bekannte 
günstigere Bild seines Königs einsetzte. Bei Diodor könnte gerade 
dieser Sachverhalt für einen älteren Annalisten als Vorlage sprechen. 
Aber dagegen hat Taeger tatsächlich beachtenswerte Gründe geltend 
gemacht, und die wörtlichen Anklänge an Polybios weisen eher auf 
eine Mittelquelle, die ebenso wie Cicero Polybios und die ältere 
Zeichnung kannte. Bei dieser Annahme könnte man den polybianischen 
Einfluß auf die Erzählung vom Dezemvirat sehr wohl anerkennen, 
und daß die dort vertretene staatsrechtliche Auffassung sich vor¬ 
trefflich in die Archäologie einfügen würde, muß man, wie schon ge¬ 
sagt, unbedingt zugeben x ). 

Durch Tägers Untersuchungen fällt auf Polybios’ ganze Staats¬ 
auffassung ein neues Licht. Bekanntlich hat man im sechsten Buche 
einen unüberbrückbaren Widerspruch gefunden zwischen Kap. 10, wo 
die Misch Verfassung dem Kreislauf der reinen Verfassungen gegenüber¬ 
gestellt wird, und anderen Stellen, die doch gerade für Rom den 
naturgemäßen Ablauf der Verfassung, Aufstieg und Niedergang voraus- 

1) Zu dem von Täger Ausgeführten füge ich noch eins hinzu: nach Aristoteles 
tritt eine Milderung der Oligarchie ein, wenn nicht die Geburt allein entscheidet 
sondern der Zensus (1292 a 39 ff.). Insofern bedeutet Servius Tullius’ Zenturien 
Ordnung einen Schritt zur jmxttj und erhält bei Cic. Rep. II39. 40 ihr volles Lob 
Aber sie wurde unwirksam, wenn es später doch wieder dahin kam, daß die Pa 
trizier vermöge des Geburtsadels uxref m« xopioi xfj; ttoXeiu; öirijpyov (Diod. XII25,3) 
und die Beseitigung ihres Uebergewichtes war nötig, wenn die wahre Misch 
Verfassung eintreten sollte. 




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168 


Gott. gel. Anz. 1923. Nr. 7—12 


setzen. Mit Recht folgert aber Täger aus der Archäologie, daß auch 
die Mischverfassung kein starres statisches Gebilde ist, da in ihr die 
einzelnen Verfassungselemente eine Entwicklung durchmachen, die dem 
Kreislauf der reinen Verfassungen parallel geht, zur Ueberspannung 
des einzelnen Prinzips und zur Reaktion führt. Und für die organisch 
gewordene Mischverfassung Roms gilt das schon von Thukydides aus¬ 
gesprochene (II64,3) und durch Polybios an Cicero (Tu. II5) weiter¬ 
gegebene Naturgesetz, daß alles Wachstum in einer Kurve verläuft 
bis zur &x[U] aufwärts und dann wieder abwärts steigt. Dieses Gesetz 
ist unverbrüchlich; aber der Ablauf im einzelnen ist zeitlich nicht 
festgelegt. Darum braucht auch der Politiker nicht die Hände in den 
Schoß zu legen. Als nach der Errichtung des Tribunats der normale 
Verlauf die Demokratie bringen mußte, bewirkte doch die sittliche 
Tüchtigkeit der Aristokratie, die ihre Vorherrschaft nicht durch Genu߬ 
sucht und Habgier mißbrauchte, daß die Entwicklung aufgehalten 
wurde und gerade jetzt erst die Aristokratie sich voll ausbildete (Cic. 
H59). Diese Schilderung der Archäologie ist das Gegenbild zum 
theoretischen Nachweis, daß ein gegenteiliges Verhalten der Oligarchie 
notwendig den Sturz nach sich zieht (VI57). Beide Stellen sollen 
offenbar als Mahnung wirken, die natürlich nur Zweck hat, so lange 
sich der Autor einen Erfolg verspricht. Nach 146 war das kaum 
mehr der Fall, aber vorher ist es durchaus möglich. Täger über¬ 
treibt, wenn er Polybios schlechthin zum fatalistischen Pessimisten 
macht*). 

Im nächsten Kapitel verfolgt Täger Polybios’ Einfluß auf Dionys 
von Halikarnass. In Frage kommt hier vor allem der Abschnitt über 
die römische Verfassung 117—29. Daß dieser als Ganzes nicht aus 
Polybios stammen kann, erkennt Täger ausdrücklich an, will aber 
außer Kap. 17 und Teilen von 16, wenigstens Kap. 14, die Verteilung 
der Befugnisse auf Monarch, Senat und Volk aus Pol. VI12—14 her¬ 
leiten. Tatsächlich bietet aber Dionys zum Teil mehr, und die Ueber- 
einstimmungen ergeben sich zum Teil aus der Natur der Sache, teils 
sind sie künstlich konstruiert. Wie kann man z. B. die Angaben über 
die allgemeine richterliche Kompetenz des Königs aus Pol. VI12,7 ab¬ 
leiten, wo nur von der Disziplinargewalt des Konsuls im Felde die Rede 
ist! Grade das für Polybios entscheidende Moment, das Gleichgewicht 
der Kräfte, wird von Dionys, der nur die Funktionen aufzählt, über¬ 
haupt nicht berührt. Vor allen Dingen durfte Täger aber nicht an der 
Frage Vorbeigehen, ob überhaupt das Kapitel bei Dionys aus seiner 
Umgebung gelöst werden kann. Er hebt selbst den einheitlichen und 

1) Panaitios erkennt wohl überhaupt eine strenge Anakyklosis im Sinne des 
Polybios nicht an, aber die Einlage Cic. Rep. 165—8 hat mit ihm nichts zu tun. 


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CALIFORNIA 







Täger, Die Archäologie des Polybios 


169 


geschlossenen Aufbau des ganzen Abschnittes hervor (127). Aber wie 
konnte dann ein Abriß des römischen Staatswesens darauf verzichten, 
die Funktionen der Träger der Staatsgewalt zu erwähnen? Ganz be¬ 
wußt beschränkt sich Dionys’ Vorlage in Kap. 12 auf die Zusammen¬ 
setzung des Senates, offenbar weil die Befugnisse nachher in anderm 
Zusammenhang, eben in 14, erörtert werden sollten. Ebensowenig läßt 
sich die zweite Stelle, die aus Polybios eingefügt sein soll, Kap. 16.7, 
aus dem Zusammenhänge lösen; denn Roms kluge Politik gegenüber 
den Unterworfenen ist dort in ganz bewußter Tendenz in Verbindung 
mit seiner gesamten Bevölkerungspolitik gebracht, die in 15—7 als 
vorbildlich geschildert wird. Und wenn sie in 17 mit der Unzulänglich¬ 
keit der griechischen Hegemoniebestrebungen kontrastiert wird, so hat 
dazu nicht, wie Täger meint, Polybios’ Vergleich der Römer und Kar¬ 
thager VI52,5 den Ausgangspunkt geboten. Denn genau wie Dionys hat 
Aristides in seiner von Täger nicht genügend herangezogenen Rom¬ 
rede Roms Herrscherkunst durch den Vergleich mit dem aus dem 
Trikaranos wohlbekannten Dreigestirn Athen, Sparta, Theben be¬ 
leuchtet (§ 40 — 50, vgl. besonders p. 105,17 K.). Aristides hängt aber 
' nicht von Dionys ab, sondern behandelt nur denselben Topos, der 
nicht von Polybios ausgebildet ist. Nur im letzten Teile von Kap. 17, 
besonders in dem Hinweis auf Roms Bewährung nach Cannä, spüren 
wir bei Dionys dessen Einfluß. 

Der Aufbau des Abschnittes, zu dem wir also auch 14 und 17 
rechnen müssen, ist so geschlossen, daß Täger an der einheitlichen 
Herkunft nicht zweifelt (127). Ein höchst interessantes Problem er¬ 
gibt hier das Verhältnis dieser Vorlage zu Polybios. Seltsamerweise 
hat das Täger gar nicht gesehen, weil er den Blick nur auf die 
Einzelheiten gerichtet hat. Ich werde es deshalb demnächst im Hermes 
behandeln*). 

Die Mischverfassung, deren Nennung in diesem Abschnitt bewußt 
vermieden ist, begegnet uns später bei Dionys mehrfach. Auch hier 
übertreibt Täger die Uebereinstimmungen mit Polybios. Wenn z. B. 
VH 55,5 die Beschränkung der monarchischen Gewalt durch Kolle¬ 
gialität, Annuität und Senatsbefugnisse erwähnt wird und Täger auf 
Polyb. VI15 verweist, so finde ich in dieser ganz anders angelegten 
Stelle von den beiden ersten Punkten überhaupt nichts, während 
Täger selber später (S. 158) sehr richtig von der römischen Annalistik 
und ihrem Freiheitsbegriff sagt: »Die Angelpunkte sind die Annuität 
und Kollegialität der Magistraturen<• Auch von der »großen Ver¬ 
gangenheit des Senates< lese ich dort nichts; im Gegenteil wird die 
Kürze des Senatsregiments betont (§ 6), und wenn dort damit ge- 
1) Dabei wird auch auf 113 einzugehen sein. 


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X 







rechnet wird, daß sich aus der Oligarchie die Tyrannis entwickelt, so 
stimmt das nicht zu Polybios’ Anakyklosis. Wenn Mettus Fufetius die 
Römer 11110,6 darauf hinweist, ihr aus vielen Stämmen zusammen¬ 
gewürfelter Staat bedürfe langer Zeit zur Konsolidierung, so finden 
wir die Parallelen nicht bloß bei Polybios, sondern auch in der Anna- 
listik (Liv. II1,5) x ). Das ist gewiß richtig, daß sich mehrfach Reminis¬ 
zenzen an Polybios’ Grundanschauung finden. Aber da muß man sich 
gegenwärtig halten, was Täger selber erkennt, aber noch stärker 
würdigen mußte. Es handelt sich dabei um lumina, die der Rhetor 
Dionys in seinen Reden aufsetzt. Auf seine Erzählung hat Polybios 
keinen Einfluß geübt. Aber auch seine ganze Auffassung der Ver¬ 
fassungskämpfe ist von anderer, von oligarchisch-römischer Seite be¬ 
stimmt s ). Bezeichnend z. B., wie bei ihm VII65 die demokratische Ent¬ 
wicklung vom Coriolanprozeß her datiert — xöpioc ?ap &v 6 S^p.o? 
rijc «Jrtfyoo xöptoc ftvetai tffi TroXtreia? sagt Aristoteles —, während 
Polybios diesen, soviel wir sehen, gar nicht berücksichtigt. So kreuzten 
sich verschiedene Einflüsse, und wirkliche Geschichtsphilosophie konnte 
in den Rhetorenschädel überhaupt nicht eingehen. 

Wie es kommt, daß gerade damals der Gedanke der Mischver- 
fassung dem Gebildeten vertraut sein mußte, das hat Täger selber 
vortrefflich im Schlußkapitel gezeigt. Polybios’ Einfluß hängt nicht 
von literarischen Strömungen, sondern von politischen Stimmungen ab. 
Die radikal republikanische Annalistik ist ihm so abgewandt wie die 
Cäsarianer. Lebendig ist er, wo man mit ihm den Gedanken des 
Prinzipats in Ciceros und Augustus’ Sinn verbindet. Sobald Tacitus 
(Ann. IV 33) kühl aussprechen kann, daß dieses Staatsideal nur die 
Fassade der Monarchie ist, hat auch die Stunde für Polybios’ Einfluß 
geschlagen. 

Ich benutze die Gelegenheit, um kurz auf ein Buch hinzuweisen, 
das zwar schon 1918 erschienen, aber in Deutschland noch viel zu 
wenig bekannt ist. Bark er hat sein 1906 veröffentlichtes Erstlings¬ 
werk The Political Thought of Plato and Aristotle vollkommen um¬ 
gearbeitet und gibt in seiner jetzigen Darstellung durch eine Ver¬ 
bindung von scharfer philologischer Interpretation und selbständigem 
Denken mit dem politischen Sinn des Engländers das Beste, was wir 
zur Zeit auf diesem Gebiete haben. 

Wie der Untertitel des vorliegenden Bandes Plato and his Prede- 

1) Auch daß die Aristokratie Tarquinius stürzt too 6V)jj.ou aufxcppov^aavro; 
(IV 63, 3), braucht nicht mit Täger aus Polybios abgeleitet zu werden, vgl Liv. 
159,11. 

2) Bux, Das Probuleuma bei Dionys von Halikarnass. Leipzig 1915. 






X 












Barker, Grcek Political Theory 


171 


cessors zeigt, steht ihm Plato im Mittelpunkt. Aber Barker macht es 
natürlich nicht wie unsere modernen Gegner des Historismus, die 
Platos Staat nur verstehen können, wenn sie ihn als »strahlige Kugel< 
im Luftraum aufhängen, die man nur von ihrer »inneren Mitte« aus 
begreifen könne. Er fragt nach dem Nährboden, auf dem dieses Ge¬ 
bilde erwachsen ist, und gibt deshalb zunächst eine feinsinnige Cha¬ 
rakteristik des griechischen Stadtstaates, der Staatsform, die — das 
hält B. bei aller Anerkennung von Wilamowitz’ Standpunkt fest — 
für das griechische politische Leben wie insbesondere für die Staats¬ 
theorie bestimmend gewesen ist. Schon die Polis ist a tnanner of 
life, an ethical society in der sich civil and Inoral law decken, so daß 
die politische Theorie notwendig eine Trilogie wird, theory of the 
State, of morals und of law, und die positiven Aufgaben des Staates 
treten schon in der Polis scharf hervor im Gegensatz zum modernen 
Denken, das vom Staat nur >the removal of hindrances to the moral 
life< verlangt (!) Besonders wichtig für die Theorie wurde weiter der 
Gegensatz von Athen und Sparta. The ideal city must reconcile the 
expression which the individual attained in Athens with the Order and 
the unity which the State enforced in Sparta. 

B. verfolgt dann die Entwicklung des politischen Denkens und 
verweilt natürlich besonders bei den Sophisten. Mit Recht stellt er 
hier dem jüngeren individualistischen Radikalismus der Vertragstheorie 
Protagoras und Prodikos als sound conservaiives gegenüber. Eine 
strenge chronologische Scheidung zweier Richtungen läßt sich freilich 
nicht durchführen. Gerade die radikale Lehre vom Uebermenschentum 
hat beim Anonymus Iamblichi eine scharfe Reaktion hervorgerufen. 
Andrerseits ist auch Protagoras’ Denken individualistisch, so sehr er 
die Bedeutung der sozialen Organisation anerkennt, und sein Sub¬ 
jektivismus mußte von Sokrates überwunden werden, damit auch in 
politischer Hinsicht neue Bahnen beschritten werden konnten. Die 
Zeichnung des Sokrates hat leider bei Barker etwas Unsicheres, weil 
er sich trotz richtiger Einsicht (98) doch nicht von der Autorität 
Burnets völlig frei zu machen vermag, der Platos ganzes früheres 
Schrifttum als historische Wiedergabe des Sokrates ansieht. 

Bei Plato kommt der Zusammenhang seiner Staatstheorie mit 
seiner gesamten Weltanschauung zu kurz. Um so klarer treten die 
in den konkreten Verhältnissen wurzelnden Denkmotive hervor. Zwei 
Faktoren treiben Plato in entgegengesetzte Richtung, die TtoXuirpaT- 
liooövf) der athenischen Demokratie und der Egoismus des Individuums, 
der theoretisch von den jüngeren Sophisten begründet wurde. Darum 
kämpft Plato, das wird sehr hübsch herausgearbeitet, gegen den Tra- 
ditionalismus (Kephalos), Radikalismus (Thrasymachos) und Prag- 











172 


Gott. gel. Anz. 1923. Nr. 7—12 


matismus (Glaukon) und stellt dem die naturbegründete soziale Ge¬ 
rechtigkeit gegenüber, die in einer differenzierten, aber durch einen 
gemeinsamen Lebenszweck geeinten Gesellschaft dem einzelnen die 
Beschränkung auf die ihm naturgemäße Sphäre und die Einordnung 
in das Ganze gebietet, freilich ein moral , kein legal principle. Erreicht 
soll diese Gerechtigkeit im Staate werden durch die Erziehung, die 
zur höchsten Erkenntnis wie zur wahren sozialen Gesinnung führt, 
und durch den Kommunismus, der nicht etwa Selbstzweck ist. >The 
Guild Socialist of to-day teaches that, for the realisation of democracy, 
economic power must precede and control political. Plato teaches that 
for the realisation of artstocracy, in his scnse of the term, economic 
power must he dbsolutely divorced front politicah (210). Wenn Barker 
die Beseitigung der Ehe als sekundäre Folge des wirtschaftlichen 
Kommunismus betrachtet, kann ich nicht zustimmen. Aber sehr treffend 
führt er aus, wie die Aufhebung von Privatbesitz und Privatfamilie 
die Basis der individuellen Persönlichkeit zerstört, die Plato, something 
of a political mysiic, seiner Gemeinschaftsidee opfert. Stark empfindet 
er auch Platos Gegensatz zum liberalen Persönlichkeitsideal des Pe¬ 
rikies, und des Engländers Herz hängt natürlich an der Verbindung 
dieses Ideals mit sozialer Gesinnung. Aber wenn er behauptet, Plato 
hasse nur die Demagogen, und zufügt: >it is an error to regard Plato 
as in actual life an aristocrat and an enemy of Athenian democracy ; 
it is equally an error to regard him as in theory the absolute enemy 
of populär government< (258), so ist hier einmal der historische Blick 
durch die subjektive Einstellung getrübt. 

Platos Staat ist keine Utopie. >If he was a political Idealist, he 
was, in Intention , an actual politiciam (240). Das zeigen namentlich 
seine sizilischen Reisen. Die Wirkung der dortigen Erfahrungen sieht 
Barker namentlich in der neuen Wertung des früher verächtlich bei¬ 
seite geschobenen Gesetzes, die in seinen keineswegs senilen — die 
letzten vier Bücher are among the finest of all the writings of Plato — 
Nomoi zutage tritt. Sehr fein spricht er hier über den Geist der platoni¬ 
schen Gesetze im allgemeinen und über die Art, wie Plato die Starr¬ 
heit des Gesetzes zu mildern sucht, indem er es mit philosophischem 
Geiste durchdringt, den Einzelfällen Rechnung zu tragen sucht, in 
den Proömien theoretische Unterweisung und Imperativ ähnlich wie 
später Bentham verbindet. Im übrigen sieht Barker den Hauptunter¬ 
schied des Gesetzesstaates vom Idealstaat darin, daß er nicht auf dem 
Prinzip der differenzierenden Gerechtigkeit, sondern auf dem der 
ow'fpooövi], der sclf-control, aufgebaut ist. Dabei läßt er sich wohl zu 
sehr davon leiten, daß literarisch in den ersten Büchern der Nomoi 
die Sophrosyne besonders hervortritt. Aber richtig ist, daß Plato 



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% 

Barker, Greek Political Theory 


173 


jetzt nicht mehr die differenzierende Arbeitsteilung, sondern die Ver¬ 
einigung und Mischung der verschiedenen Elemente in den Vorder¬ 
grund stellt. Einen völlig neuen Ton spürt Barker im zwölften Buche, 
das er deshalb für einen späteren Nachtrag erklärt. Aber mit dem 
nächtlichen Rate würde dem Staate der Kopf genommen, und Barker 
hebt selbst gelegentlich S. 352 hervor, daß jedenfalls die religiöse 
Stimmung dort genau dieselbe ist wie vorher. Auf Einzelheiten gehe 
ich nicht weiter ein; allenthalben stößt man auf selbständige, an¬ 
regende Bemerkungen. 

Wertvoll sind auch die modernen Parallelen, die Barker nicht selten 
beibringt. In einem freilich etwas mager ausgefallenen Schlußkapitel 
verfolgt er dann Platos Einfluß auf die Nachwelt. Nicht ohne Neid 
liest man den letzten Abschnitt, der so beginnt: >The philosophy of 
Plato has been, in the last forty years, one of the chief inspirations 
of a school of English political thought — the school represented, in 
different ways, by Green and Bradley and Bosanquet. Perhaps it is 
under the influence of teachers trained in this school that Plato has 
found a new circle of disciples. You may come across English working- 
men to-day, if you talk with students from the tutorial classes in 
our towns, who have read and learned to love the Republic.« 

Hoffentlich vermag uns Barker trotz seiner Berufstätigkeit — er 
ist jetzt Leader des King’s College in London — bald den zweiten 
Band seines Werkes vorzulegen. 

Göttingen. Max Pohlenz. 



Constantia Ritter, Platon, sein Leben, seine Schriften, seine Lehre. 

Zweiter Band. München 1923, C. H. Becker. IX und 910 S. 8. 

Unter den Lebenden ist keiner, der das Platostudium so aus¬ 
schließlich zum Inhalt seiner wissenschaftlichen Arbeit, ja den Plato¬ 
nismus so zum Zentrum seines Lebens gemacht hat wie Constantin 
Ritter. Fünfunddreißig Jahre sind es her, daß er mit seinen Unter¬ 
suchungen zu Plato hervortrat, und seitdem hat er unablässig durch 
Abhandlungen und Rezensionen und vor allem durch seine recht 
brauchbaren Inhaltsdarstellungen das Verständnis der Platonischen 
Werke zu fördern gesucht. Er darf die Genugtuung haben, daß nicht 
bloß die Bedeutung der Sprachstatistik, für die er sich vor allem ein¬ 
gesetzt hat, allmählich gerade in den Grenzen, die er ihr gesteckt 
hat, anerkannt worden ist, sondern daß auch in allen sachlichen Fragen 
sein besonnenes, stets auf volle Kenntnis des Materials gegründetes 
Urteil schwer in die Wagschale fällt. So ist ihm jetzt, wo er nach 


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174 






Gott. gel. Anz. 1923. Nr. 7—12 



dreizehn Jahren auf den ersten Band seines Platon den zweiten folgen 
läßt und damit sein Lebenswerk zu einem gewissen Abschluß bringt, 
Glückwunsch und Dank der Mitforscher gewiß. 

Die Aufrichtigkeit des Dankes wird nicht geschmälert, wenn auch 
gegenüber einem solchen Buche die Kritik sich ihr Recht wahrt. Ge¬ 
rade wenn man Ritters Werk liest, kommt einem zum Bewußtsein, 
wie schwer, ja vielleicht wie unmöglich eine ideale Platodarstellung 
ist. Ist es schon an sich höchste Gnade, ein Genie wie Plato nach¬ 
zuerleben, so kommt hier die ungeheure Vielseitigkeit des Mannes 
hinzu, der Philosoph und Dichter, Forscher und gestaltender Künstler, 
Mann der Wissenschaft wie des Glaubens, der Intuition wie der scharfen 
Dialektik, Metaphysiker und politischer Reformator ist und in uner¬ 
hörter Synthese all diese Züge in einer harmonischen Persönlichkeit 
darstellt. Wo wäre die kongeniale Natur, die dem voll gerecht werden 
könnte! Dazu dann noch die Schwierigkeit, die literarhistorischen 
Untersuchungen, die als Grundlage der Darstellung dienen sollen, mit 
dieser selbst zu einer Einheit zu verschmelzen. 

Ritter spricht im ersten Bande zunächst über Platos Leben und 
Persönlichkeit und bahnt sich dann durch eine Erörterung der chrono¬ 
logischen und Echtheitsfragen den Weg zur Darstellung der Philo¬ 
sophie. Während er aber bei Platos erster Periode die einzelnen 
Schriften der Reihe nach durchspricht, geht er im zweiten Bande zu 
einer systematischen Darstellung über, die nur in den Einzelabschnitten 
die Schriftenfolge berücksichtigt. Das Motiv ist der alte Hermann- 
sche Gedanke, daß etwa seit den achtziger Jahren Platos Welt¬ 
anschauung im wesentlichen festliegt und eine zusammenfassende Dar¬ 
stellung nach sachlichen Gesichtspunkten zuläßt. Aber schriftstellerisch 
kommt auf diese Weise doch eine Disharmonie in das Werk. Die 
kurzen Inhaltsangaben, die R. auch bei den späteren Schriften für 
notwendig hält, finden unorganisch aus äußeren Gründen, die der 
Politeia z. B. bei der Seins- und Erkenntnislehre, die zuerst behandelt 
ist, ihren Platz. Ein Versuch, die großen Werke als literarische Kunst¬ 
werke zu würdigen und aus den inneren und äußeren Erlebnissen des 
Autors zu verstehen, kann nicht gemacht werden. Die systematische 
Darstellung macht eine scharfe Gliederung nach sachlichen Gesichts¬ 
punkten notwendig. Aber das hat zur Folge, daß Zusammengehöriges 
auseinandergerissen wird. Die Theologie wird von der Kosmogonie 
und der Frage nach der letzten Ursache abgetrennt. So Wichtiges 
wie die Aufstellung des wissenschaftlichen Bildungsideales im Phaidros 
findet überhaupt keinen Platz. Vor allem kommen bei diesem Ver¬ 
fahren die Synthese, die Einheit der Persönlichkeit, die zentralen Mo¬ 
tive des platonischen Denkens nicht voll zur Geltung. Ritter will 


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Ritter, Platon, sein Leben, seine Schriften, seine Lehre 


175 


nach der Ueberschrift des zweiten Bandes Platos Philosophie nach den 
Schriften der zweiten und dritten Periode darstellen. Aber daß diese 
Perioden nicht nur die Sprache angehen, daß wir vom Parraenides an 
auch sachlich eine ganz neue Einstellung zu den Weltproblemen wahr¬ 
nehmen, die sich in der Metaphysik ebenso wie in Psychologie und 
Logik, aber auch in der Staatslehre durch stärkere Rücksichtnahme 
auf das Empirische auswirkt, das kommt dem Leser nur durch Einzel¬ 
bemerkungen zum Bewußtsein. Bei Wilamowitz’ Platobuch sind die 
Philosophen nicht auf ihre Rechnung gekommen; bei R. wird un¬ 
befriedigt sein, wer hinter den philosophischen Lehren immer nach 
dem Menschen fragt, dessen Wesen sie exponieren. Und so aufmerksam 
man überall in den philosophischen Fragen R. hören wird, so hat 
man doch die Empfindung, daß ihm für manche Seiten Platos das 
rechte Organ fehlt. Gewiß darf man die Mythen nicht mit der wissen¬ 
schaftlichen Darlegung auf eine Stufe stellen; aber wenn Plato nur 
an dem dürftigen sachlichen Kern gelegen hätte, den R. mehrfach 
herausschält, so hätte er sie gewiß nicht geschrieben. 

Gern hört man dem Verfasser zu, wenn er Platos Lehren mit 
modernen oder denen des Christentums vergleicht, wenn er z. B. die 
eudämonistische Begründung der Ethik grundsätzlich gegenüber Kants 
Pflichtenlehre verteidigt. Aber gelegentlich führt diese Tendenz doch 
zu einer Verwischung der Eigenart, die es erst einmal historisch zu 
erfassen gilt. Gewiß verbietet auch Plato Unrecht zu vergelten und 
würde auch dem Worte »Tut wohl denen, die euch hassen«! seine 
Anerkennung nicht versagen. Aber doch bleibt er in Denken und 
Stimmung weit entfernt von einer bs[ä. inj, die grade zu den Aermsten 
im Geiste sich hingezogen fühlt. Kann sich R. Plato im Kreise von 
Zöllnern und Sündern vorstellen? Und wenn R. die Frage, ob der 
platonische Gott deutlich unterscheidbar sei von dem, den der Christ 
als den seinigen verehrt, verneinen will (776), so dürfen wir doch 
nicht vergessen, daß das religiöse Gefühl des Griechen, dem die ganze 
Natur etwas Göttliches enthält, von dem christlichen ganz ver¬ 
schieden ist. 

Schließlich noch eins. R. hatte sein Manuskript wohl schon bei 
Beginn des Weltkrieges in der Hauptsache vollendet; 1918 war es 
druckfertig. So kommt es, daß das frische Leben, das im letzten 
Jahrzehnt in der Platoforschung sich regt und vielfach gerade auch 
für die philosophische Auffassung ganz neue Probleme stellt, noch 
keinen Einfluß geübt hat. Der alte Zeller ist es, mit dem sich aus¬ 
einanderzusetzen R. immer wieder das Bedürfnis hat. Von einem Ein¬ 
fluß etwa der Stenzelschen Arbeiten ist nichts zu spüren. 

Doch genug der Ausstellungen, die, wie gesagt, ihren Grund 


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176 


Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 7—12 




mehr in der Schwierigkeit der Aufgabe und in den äußeren Um¬ 
ständen als in der persönlichen Leistung des Verfassers haben. Um 
so lieber erkenne ich an, daß das Positive, das Gute, das R. bringt, 
weit überwiegt. 

Ein besonderes Verdienst hat sich R. dadurch erworben, daß er 
als einer der ersten sich gegen die herrschende Auffassung auflehnte, 
die Platos Ideen mit den Augen des Aristoteles betrachtete und in 
ihnen eine Art Verdoppelung der Sinnendinge sah, von denen sie 
scharf getrennt seien. Die unbefangene Interpretation der Platonischen 
Dialoge führte ihn aber auch im Gegensatz zu den Marburgem zu 
der Ueberzeugung, daß die Ideen nicht etwa Denkgesetze sind, sondern 
etwas objektiv Gegebenes, das vom Subjekt erkannt wird. Gewiß 
dürfen wir bei der Beurteilung der Ideen von der Beziehung zu unsrer 
psychischen Organisation nicht absehen, aber ihrem Wesen nach ist 
die Idee >der objektive Halt unsrer richtigen Vorstellungen«, >die 
Wirklichkeit, die von unserm Denken ergriffen werden kann und ihm 
als wahrem, richtigen Denken den sicheren Halt gibt« (180). Im 
ganzen kann ich hier durchaus zustimmen und namentlich halte auch 
ich es für eine Verkennung der Platonischen Denkrichtung, wenn man 
den von Idee und Erscheinung im Sinne des Aristoteles 

auffaßt. Wie der Phaidon zeigt, will ja doch Plato ursprünglich nur 
das Wesenhafte, wissenschaftlich Erkennbare in der Erscheinungswelt 
erfassen. Das zwingt zu einer scharfen Sonderung vom Standpunkte 
der subjektiven Erkenntnis aus; aber eine Aussage über das objektive 
Verhältnis von Idee und Einzelding lehnt er ausdrücklich ab, kann 
also auch keinen objektiven x<*>p’.a|iö<; statuiert haben. Gegenüber R. 
wird man aber mit Stenzei betonen müssen, daß Plato bei der Kon¬ 
zeption der Ideenlehre nicht etwa in erster Linie von logischen Mo¬ 
tiven geleitet wird, nicht vom Begriff ausgeht und für diesen einen 
Halt sucht, sondern gegenständlich denkt und in der sinnlichen Er¬ 
scheinung das Wesenhafte, die Urform, das Eidos erfaßt. 

An den einzelnen Ideen liegt Plato weniger als an der allum¬ 
fassenden Idee des Guten. Daß auf diese schon der Phaidon hin¬ 
deutet, hebt R. richtig hervor. Aber was sie für Plato bedeutet, das 
empfindet man voll erst, wenn man sich das zentrale Motiv seines 
Denkens klar macht. Es ist das Aufdecken eines Prinzipes, das alles 
natürliche Geschehen wie auch das menschliche Handeln bestimmt und 
hier wie dort es bedingt, daß die volle Entfaltung des Wesens zum 
bestmöglichen Zustande, beim Menschen also das aus der Herrschaft 
der Vernunft fließende sittliche Handeln zur Eudämonie führen muß. 
Damit wurzelt Plato in der echt griechischen Anschauung, daß jedes 


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Ritter, Platon, sein Leben, seine Schriften, seine Lehre 


177 


Ding zu etwas gut ist, seine eigentümliche apsrij hat, die voll zu 
entwickeln seine Bestimmung ist. 

Die Neuorientierung in der Ideenlehre zeigt der Parmenides. Plato 
hält unbedingt daran fest, daß ohne die Annahme einer realen Existenz 
der Ideen wissenschaftliche Arbeit undenkbar ist, erkennt aber jetzt, 
daß sie zur Unfruchtbarkeit des Eleatismus verurteilt ist, wenn man 
die empirische Welt als unerkennbar beiseite schiebt und wenn es 
nicht gelingt, das Verhältnis der Ideen zueinander und zur sinnlichen 
Erscheinung zu klären. Sehr richtig stellt R. heraus, daß Plato die 
Einwände gegen die Ideen nur formuliert, weil er schon den Weg 
zur Lösung sieht. Wie die vom Eleatismus geforderte völlige Isolierung 
von Begriffen wie Eins und Sein tatsächlich unvollziehbar ist, so 
können auch die Ideen nicht als starre, isolierte Wesenheiten gedacht 
werden, sie müssen nicht bloß untereinander, sondern mindestens zu 
uns als dem empirisch erkennenden Individuum, aber weiter über¬ 
haupt zur sinnlichen Erscheinung in Beziehung stehen. Daraus ergibt 
sich für Plato als nächste Aufgabe, den Erkenntniswert der aXafhpie 
neu zu prüfen. Das führt zu den psychologischen Untersuchungen 
des Theätet, die aber den Satz bestätigen, daß jedenfalls auf die sinn¬ 
liche Wahrnehmung und die von ihr abhängige Vorstellung allein kein 
Wissen zu gründen ist 1 )* 

Die Wendung zur logischen Fassung des Begriffs bringen Sophist 
und Politikos. Aber die Beziehungen der Begriffe in Ueber- und 
Unterordnung müssen wieder ihren objektiven Grund haben in realen 
Beziehungen, die zwischen den Gattungseinheiten, den el&q, bestehen. 
Schade ist, daß hier sich R. Stenzeis Nachweis nicht zu nutze ge¬ 
macht hat, wonach Plato das Fächerwerk des Seins herabführt bis 
zum &ro[iov etSoc, dem Wesenhaften, das in der individuellen Er¬ 
scheinung hervortritt, und gerade damit die Brücke von den etSvj zur 
Erscheinungswelt schlägt. Gut schildert er dagegen die Schwierig¬ 
keiten, die sich für Plato jetzt daraus ergeben, daß neben den alten 
siStj als Gattungseinheiten die Seinskategorien wie Identität usw. Be¬ 
deutung gewinnen, und erklärt aus der neuen Problemstellung auch 
die Tatsache, daß in der Altersperiode der Begriff der Ideen äußer¬ 
lich zurückzutreten beginnt. >So lang Platon noch die Ueberzeugung 
zu begründen hat, daß es eine nicht sinnliche, nicht individuelle Wirk¬ 
lichkeit gibt, bedarf er für sie einer besonderen Wortbezeichnung, 
einer Formel. ... Wo er aber versucht, nach Feststellung des Be¬ 
griffes der Ideen die W T eise zu beschreiben, in der diese mit den 

1) Die Lehre der xopuM, daß die Wahrnehmung das Produkt zweier, vom 
Subjekt nnd vom Objekt ausgehender Bewegungen sei, dürfen wir nicht mit R. 
ohne weiteres für Plato selbst in Anspruch nehmen. 

G6tt. gel. Am. 1923. Nr. 7—! 8 



12 















178 Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 










sinnlichen Dingen und mit einander verknüpft sind, da zeigt sich 
bald, daß die unsinnliche Wirklichkeit selber nicht von einheitlicher 
Art ist, und nun nimmt der Nachweis der innerhalb ihres Gebiets 
bestehenden Verschiedenheiten alle Aufmerksamkeit in Anspruch« (273). 


Für die positive Bestimmung des Seins legt R. wie früher be¬ 


sonderen Wert auf die Worte Soph. 247 d: fap opov ta Svta 

ui? e'oxtv oox äXXo tt TcXijV Suva[u?. Nun haben Wilamowitz II 241 und 
Apelt in seiner Uebersetzung mit Recht eingewendet, daß Plato dort 
nicht von sich aus eine Definition des Seins geben will, sondern nur 
eine Basis zur Verständigung mit den Materialisten und »Ideen¬ 
freunden« J ) braucht. Aber soviel gebe ich doch R. zu, daß zum Sein 
für Plato eine S6vap.cc gehört, und wenn in diesem Wort auch zu¬ 
nächst nicht mehr liegt, als daß jedes ov eine aktive oder passive Be¬ 
deutung für andere ö'via hat (rrjv toö opaadm S6vap.iv Rep. 509 b), 
so neigt doch Plato tatsächlich jedenfalls im Timaios dazu, den Ideen 
als Trägern des Seins eine Kraftwirkung beizulegen 2 ). 

Für das Verständnis des Timaios ist, wie ich schon in meiner 
Besprechung von W T ilamowitz’ Platobuch (GGA. 1921 S. 26) ausgeführt 
habe, von entscheidender Wichtigkeit die Klarheit darüber, wie sich 
für Plato das Problem stellt. So wenig wie in früherer Zeit will er 
etwa im Sinne der ionischen Naturphilosophie eine genetische Er¬ 
klärung der Welt aus irgend welchen stofflichen ap/ai geben; er denkt 
aber auch nicht daran, etwa das Entstehen der Einzeldinge aus den 
eidrj zu erklären. Er nimmt die Wirklichkeit als gegeben hin und 
will sie verstehen, indem er die zu ihrem Verständnis notwendig an¬ 
zunehmenden Faktoren aufzeigt, die konkrete Einzelerscheinung, ihr 
ewiges immaterielles Urbild, das man sich etwa als eine die Entwick¬ 
lung bestimmende Kraft denken mag, drittens ein nur durch Abstraktion 
faßbares Substrat, das irgendwie bedingt, daß die Idee materialisiert 
wird und in Raum und Zeit sinnlich für uns in Erscheinung tritt, 
endlich die letzte Ursache, die unser Denken braucht, um Vorhanden¬ 
sein und Wirksamkeit dieser Faktoren zu begreifen. Sobald man sich 
das vor Augen hält, erledigt sich mancher Irrtum wie z. B. die auch 
von R. abgelehnte Ansicht, Plato habe Raum und Stoff »gleichgesetzt«, 
von selber. Es folgt auch ohne weiteres, daß Plato eine Idee der 
Räumlichkeit (R. 271) garnicht in Erwägung ziehen konnte. Aber auch 
Fragen der Kosmogonie, z. B. die Erklärung der Elemente und die 

1) Einfache Bezeichnung für die Vertreter einer radikalen Ideenlehre, die 
Plato hier als Gegenfüßler des Materialismus braucht. 

2) Die Stoiker knüpfen an diese Stelle an, wenn sie erkläreü, daß to d$u>- 
p.axGv oj-e TTotctv Tt zecpuxev <me -rir/z iv (St. v. fr. 11363), und es deshalb aus der 
Reihe der ov-a streichen. 


















Ritter, Platon, sein Leben, seine Schriften, seine Lehre 


179 


Stellung zu Demokrit finden, wie ich a. a. 0. angedeutet habe, auf 
diese Weise ihre Beantwortung. Von hier aus versteht man auch am 
ehesten, wie Plato in den Gesetzen dazu kam, neben der »besten« 
Weltseele, die überall gute, geordnete, zweckmäßige Bewegungen 
hervorruft, eine entgegengesetzte Bewegungstendenz anzunehmen. Daß 
er dabei nicht eine positiv böse Weltseele voraussetzt, darin stimme 
ich R. zu. 

Als letzte Ursache alles Seins wird im Timaios die Gottheit ein¬ 
geführt. Aber diese ist ja von der a’ttla des Philebos 1 ) und von der 
Idee des Guten sicher nicht zu trennen. Freilich ist es nicht leicht, 
aus der Timaiosdichtung eine klare Vorstellung von dem Verhältnis, 
in dem sie zu den einzelnen Ideen steht, wie von ihrem eignen Wesen 
zu gewinnen. Im ganzen stimme ich auch hier R. bei, wenn er 746 
seine Ansicht dahin zusammenfaßt: Gott ist die Ursache alles Seins, 
die in der Welt wirkende geistige Macht, Träger alles Geistigen in 
der Welt. Die Ideen, »nach deren Vorbild er schafft«, sind keine von 
ihm unabhängige objektive Wirklichkeit, aber auch nicht bloße Zweck¬ 
gedanken, sondern Bildungsgesetze und Kräfte, die nur als Teil des 
Immateriellen, des Göttlichen zu denken sind. Gottes Wesen selber 
aber, das nach der Politeia jenseits des Seins und damit auch des 
Erkennens liegt, ganz zu erfassen oder gar zu schildern reicht unsere 
Unzulänglichkeit nicht aus. Auch die modernen Kategorien von Tran¬ 
szendenz und Immanenz genügen nicht. Am ehesten möchte R. den 
Ausdruck Panentheismus anwenden. 

Den wichtigen Abschnitt des siebenten Briefes über die Schwierig¬ 
keit der Erkenntnis scheidet R. ganz aus seiner Betrachtung aus. Er 
hält also offenbar an der Annahme einer Interpolation fest, an die 
freilich außer ihm selber heute wohl niemand mehr glauben wird. 
Auch auf die nur durch Aristoteles bezeugte letzte Phase der Ideen¬ 
lehre geht er leider gar nicht ein. 

Bei der Logik Platos arbeitet R. schön heraus, d^ß schon Plato 
diese Wissenschaft begründet hat, nicht erst Aristoteles, dessen syste¬ 
matisierende Leistung er allerdings zu gering einschätzt. Auch die 
Verdienste um die Mathematik und die Naturwissenschaften kommen 
scharf heraus. Das ist besonders im Hinblick auf Howalds Auffassung 
von Platos antiwissenschaftlicher Tendenz willkommen, wenn man sich 
auch gegenwärtig halten muß, daß Plato nicht wie der moderne Natur¬ 
forscher darauf ausgeht, das Wirken der in der Natur wirksamen 

1) Plato betrachtet Phil. 23 c 7iavTot xd vuv ovxa t<j> ttcxvtI die vier Kate¬ 
gorien von andrem Gesichtspunkt aus als im Timaios; aber sachlich sind die vier 
Prinzipien, die beide Male angenommen werden, nicht unabhängig voneinander. 

12 * 


Go gle 













180 


Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 7—12 








Kräfte im einzelnen zu verfolgen, sondern die immateriellen Kräfte 
als denknotwendig zu erweisen. 

Ueber die Einzelfragen der Anthropologie und Kosmogonie, auch 
über Platos Anschauungen von der Kunst äußert sich R. mit ge¬ 
wohnter Sachkenntnis und Besonnenheit, so daß man sein Urteil auch 
da stets beachten wird, wo man von ihm abweicht. In der Psychologie 
weiß er die Aufmerksamkeit gerade auf bisher weniger beachtete 
Dinge zu lenken. Sonst ist hier der Punkt, wo es R. am wenigsten 
gelingt, sich in Platos Wesen einzufühlen. Nicht bloß Anamnesis und 
Seelenwanderung bleiben trotz Stellen wie Phaid. 72 e für ihn mythische 
Züge, die man bei der Darstellung von Platos Weltanschauung zu 
streichen hat. Auch die individuelle Unsterblichkeit ist für Plato nach 

R. wohl ein ernstes Problem gewesen, aber nicht etwa ein fester 
Glaubenssatz oder gar eine wissenschaftlich begründbare Lehre. Ich 
will mich demgegenüber nicht auf das Gefühl des unbefangenen Phaidon- 
lesers berufen, auch nicht fragen, warum wohl Plato in den verschie¬ 
densten Schriften immer wieder von dieser Unsterblichkeit im Tone 
der Ueberzeugung gesprochen hat, sondern dem in meinem Platobuche 

S. 321 Gesagten nur weniges hinzufügen. Ritters Hauptargument ist 

(4S2): >Was schließlich als Ergebnis im Phaidon übrig blieb, war 
nichts weiter als jene Erklärung: Gott jedenfalls und die Idee des 
Lebens müssen unsterblich sein (I S. 557). < Das ist einfach unrichtig. 
Plato führt im Phaidon aus: »Nach dem Satze vom mittelbaren Wider¬ 
spruch kann die Seele als Trägerin des Lebens nicht an der Idee des 
Todes teilhaben: aOdvatov apa un d läßt sich ausdrücklich be¬ 

stätigen, daß der Beweis dafür xal p.aXa fe ixavtoc gegeben sei (105 e). 
Da aber Kebes vorher eingewendet hat, auch wenn die Seele den Tod 
überdauere, brauche sie noch nicht für alle Zeit dem o'Xedpoc ent¬ 
zogen zu sein (88b), so erhält der Beweis noch eine Fortsetzung. »Es 
kann aber auch nicht etwa bei der Seele sein wie beim Schnee, der 
durch das Hinzutreten der entgegengesetzten Idee, der Wärme, in 
seinem Wesen aufgehoben und durch Wasser ersetzt wird; denn die 
Seele ist eben ein aftavatov und dafür ist kein besonderer Beweis 
nötig, daß das aO-avatov seinem Begriff nach an der Idee der Un¬ 
vergänglichkeit teil hat. Wie die Gottheit und das Leben selber xal 
ei tt aXXo aOävatöv iattv nicht untergehen kann, so muß auch die 
Seele unvergänglich sein und beim Tode des Menschen in unversehrter 
Wesenheit entweichen, iravtö? uäXXov apa, w Ksßr)?, äftavatov 

xal avwXeO’pov« (106e). Wir mögen von unserm Standpunkt den Be¬ 
weis noch so unzulänglich finden — es ist bezeichnend, wie sich bei 
R. diese Betrachtungsweise immer wieder einmischt, z. B. 486 ff. —; 
das gibt uns kein Recht, aus diesem apodiktischen Satz etwas von 








* m 

mm 






Ritter, Platon, sein Leben, seine Schriften, seine Lehre 


181 


Problematik herauszulesen. Und wenn sich R. darauf beruft, daß 
Sokrates zu weiterer Prüfung des Beweises auffordert, so erklärt jeden¬ 
falls Kebes, der vorher (77 a, vgl. Ritter selbst 1557) xapteptotatos 
avdpd)7t(i>v 7rp6<; tö amotstv toi<; Xö'foic heißt, jetzt: ooxoov a> Ew- 

xpate?, 8/co rcapa taöta aXXo ti Xefeiv ooSe itiq <mateiv tot? Xöfots. Und 
sicher nimmt ja doch Plato auf diese Beweise Bezug, wenn er im 
Staate (X611b) sagt: o« {tsv rotvov aO-dvatov <Jmyrj *), xai 6 apu Xöfoc 
xat ot aXXoi avafxaosiav av. Durfte R., wenn er Plato ohne Vor¬ 
eingenommenheit interpretieren wollte, diese Stelle übergehen? Und 
wenn R. sich immer noch darauf beruft, nach dem Symposion gebe 
es kein individuelles Fortleben, das Unsterblichkeitsverlangen könne 
nur durch Zeugung befriedigt werden, so habe ich längst in meinem 
Platobuche S. 388 nachgewiesen, daß es sich dort nur um die Teil¬ 
nahme des aus Seele und Leib bestehenden sterblichen Gesamtwesens 
an der Unsterblichkeit handelt. Mit der Unsterblichkeit der Seele hat 
das garnichts zu tun. 

Auf die ausführliche Darstellung der Staatslehre brauche ich nicht 
genauer einzugehen, da ich über dieselben Fragen kürzlich in meinem 
Büchlein »Staatsgedanke und Staatslehre der Griechen« gehandelt 
habe und sich daraus ohne weiteres ergibt, inwiefern ich die Probleme 
anders sehe und in Einzelheiten ab weiche. Nur weniges sei berührt. 
Wenn R. stark betont, Plato habe an die Entwicklungsfähigkeit seines 
Idealstaates geglaubt und die Fortbildung durch die Philosophen¬ 
herrscher erwartet, so trifft das höchstens für Einzelzüge zu. Im 
ganzen ist Plato überzeugt, in seinem Idealstaat die Gemeinschafts¬ 
form aufgezeigt zu haben, die aus dem Wesen des Menschen selber 
entspringt und deshalb absolute Geltung beanspruchen darf. Wenn 
R. 596 ff. behauptet, Plato habe in seinem Idealstaate die Sklaverei 
grundsätzlich aufgehoben, so denkt er wohl nicht daran, was dies für 
eine Umwälzung des griechischen Lebens bedeutet hätte, die Plato 
unmöglich stillschweigend vornehmen konnte. Wer sollte denn auch 
für die Philosophen die häuslichen Dienste verrichten? Freie Bürger 
als Dienstboten kamen gewiß für Plato so wenig wie für Aristoteles 
in Betracht. Und wenn Plato ausdrücklich 469 c anordnet, im Ideal¬ 
staate dürfe kein Grieche als Sklave gehalten werden, so ist die 
Sklaverei doch eben der Normalzustand, der nur in bestimmter Be¬ 
ziehung eingeschränkt wird. Die Atheistenprozesse der Gesetze ver¬ 
ursachen auch R. Mißbehagen. Aber er tröstet sich damit, daß die 
Entscheidung in den Händen der geistig freiesten Männer liegen wird, 
die unmöglich die naturwissenschaftlichen Forschungen als Verbrechen 

1) Vorher 608 d dftavato; r^tuhv ^ xat ouMitoxc dic&Xotai. 


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Gütt. gel. Anz. 1923. Nr. 7—12 

auslegen werden. Glaubt er, daß in Platos Staat Demokrit unbehelligt 
geblieben wäre? 

Die Apologetik, die in solchen Ausführungen zu Worte kommt, 
muß man ablehnen. Aber gerade hier tritt einem die Persönlichkeit 
des Verfassers menschlich nahe. Nirgends aber mehr als in dem von 
tiefem Ethos getragenen Vorwort, das in dem Wunsche gipfelt, durch 
sein Buch in der heutigen Not unseres Volkes für Platos politische 
Ideen zu wirken, damit auch bei uns »gegenseitige Freundschaft unter 
allen Bürgern herrsche, Einsicht bei der Regierung, Freiheitsgefühl 
auch bei den Regierten, die willig und vertrauensvoll bewährter Lei¬ 
tung folgten.« Schon aus diesem Grunde wünscht man dem Buche 
Verbreitung. Der Kreis der Leser wird nicht so groß sein wie bei 
Wilamowitz’ Werk. Aber doch werden es hoffentlich nicht nur die 
Mitforscher, sondern auch philosophisch interessierte Laien in die 
Hand nehmen und durcharbeiten. Namentlich wird es auch in den 
Einzelfragen als Nachschlagebuch gute Dienste leisten. Dafür sorgt 
schon das ausführliche, mit großer Sorgfalt ausgearbeitete Schlu߬ 
register. Es weckt den Wunsch nach der Platokonkordanz, für die 
Ritter, wie er im Vorwort sagt, seit Jahren den Stoff gesammelt hat. 
Möge es dem Verfasser trotz seiner eigenen Bedenken, sei es mit 
Hilfe der Notgemeinschaft, sei es auf anderem Wege, ermöglicht 
werden, den Ertrag auch dieser Arbeiten der Wissenschaft zugäng¬ 
lich zu machen! Zweifellos würde sie großen Gewinn daraus ziehen. 

Göttingen. M. Pohlenz. 


Ernst llorneffer, Der junge Platon. Erster Teil: Sokrates und die Apologie. 
Mit einem Beitrag: Das delphische Orakel als ethischer Preisrichter, von 
Rudolf Herzog. Gießen 1922, A. Töpelmann. IV und 170 S. Grdz. 2,80 M. 

In der Frage der Echtheit und Chronologie der platonischen 
Schriften ist die Forschung allmählich zu gesicherten Ergebnissen ge¬ 
langt. Um so mehr ist noch für das Verständnis des Mannes und 
seines Werkes zu tun, und es ist sehr zu begrüßen, wenn auch Philo¬ 
sophen der verschiedensten Richtungen sich darum bemühen, am 
meisten, wenn es ein Mann wie Horneffer tut, der in seiner mit hin¬ 
reißender Wärme geschriebenen Programmschrift »Der Platonismus 
und die Gegenwart« (Kassel 1920) die Erneuerung des Platonismus 
als seine Lebensaufgabe bezeichnet hat. Wer ein so starkes inneres 
Verhältnis zu Plato hat, muß dazu befähigt sein, von den Gegen¬ 
wartsproblemen aus mit eigenen neuen Gesichtspunkten an seine 


Go gle 










Horneffer, Der junge Platon 


183 




Schriften heranzutreten. Ganz besondere pei-sönliche Bedeutung hat 
für Horneffer der junge Plato. Er selbst ist von Nietzsche ausge¬ 
gangen und will dessen Individualismus überwinden, ohne das Große, 
das dieser gebracht hat, aufzugeben. Vor ähnlichen Problemen hat 
der junge Plato gestanden, als er, an Sokrates anknüpfend, den Indi¬ 
vidualismus des fünften Jahrhunderts durch seine objektiv-sittliche 
Weltanschauung ersetzte. So sucht Horneffer vor allen Dingen die 
Entwicklung des jungen Plato zu verstehen und verstehen zu lehren, 
und man merkt es jeder Seite seines Buches an, wie sehr ihm diese 
Untersuchungen Herzenssache sind. Grade von da aus wird ihm auch 
das Verhältnis Platos zu seinem Lehrer zum wichtigsten Problem, 
und das führt weiter zur Frage nach der Persönlichkeit des Sokrates. 
Um aber diese kennen zu lernen, gilt es nach Horneffer zuerst die 
Irrtümer der modernen Forschung zu beseitigen, die sich den Zu¬ 
gang zum Verständnis des Sokrates verschlossen hat, indem sie das 
Hauptzeugnis, Platos Apologie, nicht genügend würdigte und für eine 
freie Schöpfung des Jüngers erklärte. So ist das nächste Ziel der 
Nachweis, daß die Apologie in Wirklichkeit die im ganzen getreue 
Wiedergabe der eigenen Rede des Sokrates ist. 

Die Anlage des Buches ist nicht glücklich. Schon die Beschrän¬ 
kung auf die Apologie verhindert, daß ein allseitig geschautes Bild 
des Sokrates gezeichnet wird, wie es doch H. selber in festen Linien 
vorschwebt. Und wenn er die historische Treue der Apologie in der 
Weise zu erweisen sucht, daß er die Gegengründe der modernen 
Forscher entkräftet, kommt er zu einer oft unnötig breiten Polemik, 
die sich von den Gegnern den Weg vorzeichnen läßt und darauf ver¬ 
zichtet, aus dem Stoffe heraus organisch die Sokratesgestalt erwachsen 
zu lassen. Ich habe aber auch ein sachliches Bedenken. H. geht 
offenbar von der Voraussetzung aus, die Apologie müsse so lange 
als historisch treu gelten, als nicht das Gegenteil erwiesen sei. Das 
ist die naiv-moderne Auffassung. Aber im Altertum hat doch die 
Apologie stets als die ganz persönliche Leistung Platos gegolten so 
gut wie seine Dialoge, und Wilamowitz hat recht, daß das Publikum 
grundsätzlich Platos Apologie des Sokrates nicht anders ansehen 
konnte als die des Lysias. Gewiß macht es sachlich einen großen 
Unterschied, daß sie wahrscheinlich bald nach dem Prozeß und von 
einem Jünger des Sokrates geschrieben ist, aber wenn H. erklärt, 
Plato sei zwar Dichter gewesen, aber hier müsse die übermächtige 
Wirklichkeit einen so suggestiven Zwang ausgeübt haben, daß er 
garnicht anders konnte als diese einfach wiedergeben, so gilt das wohl 
für die Persönlichkeit des Meisters; bei der Rede ist es ein subjek¬ 
tives Postulat, dem sich jedenfalls mit gleichem Rechte die Erwägung 











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184 


Gott. gel. Anz. 1923. Nr. 7—12 


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gegenüberstellen läßt, daß die Tatsache der Verurteilung eine ganz 
neue Sachlage geschaffen hatte, die notwendig in der literarischen 
Veröffentlichung des Jüngers sich ausprägen mußte. So kommen wir 
nicht weiter. Die einzige methodische Fragestellung ist die: führt 
eine unbefangene Interpretation zu dem Ergebnis, daß wir die wirk¬ 
liche Rede des angeklagten Sokrates lesen oder die — natürlich an 
diese sich anlehnende — Schöpfung des Jüngers, der nach der Ver¬ 
urteilung an die besser zu unterrichtende Oeffentlichkeit appelliert? 

Ausgehen wird man dabei immer müssen von der Ansprache, die 
bei Plato Sokrates nach seiner Verurteilung an die Richter hält. Wie 
H. behaupten kann, die besten Kenner des griechischen Gerichts¬ 
wesens urteilten über die Möglichkeit einer solchen Rede verschieden, 
weiß ich nicht. Ich kenne keinen Forscher, auf den sich H. berufen 
könnte, und eine Autorität wie Lipsius zieht die Möglichkeit über¬ 
haupt nicht in Betracht, so wenig wie etwa Wilamowitz. Nirgends 
gibt es ein Anzeichen dafür, daß in Athen jemals 500 Philister am 
Schlüsse einer vielstündigen Gerichtsverhandlung noch Lust und Geduld 
gehabt hätten, lange Vorwürfe und Mahnungen des Verurteilten anzu¬ 
hören. Darüber helfen auch alle Betrachtungen über den Ausnahme¬ 
fall nicht hinweg. Dagegen war es für den Jünger ganz selbst¬ 
verständlich, daß er seine Apologie des Sokrates nicht mit dessen 
Antrag auf eine kleine Geldstrafe schließen konnte, und wir werden 
Plato bewundern, daß er sich einen wundervollen künstlerischen Ab¬ 
schluß mit Hilfe einer Fiktion schuf, die er ausdrücklich zu motivieren 
für notwendig hielt (39 e). 

Liegt aber hier eine freie Schöpfung Platos vor, so ist es ganz 
unwahrscheinlich, daß er vorher auf jede eigne Gestaltung verzichtet 
haben sollte. Nun sehen wir, daß der erste Teil auf dem Nachweis 
aufgebaut ist, wie ohne Schuld des Sokrates die Mißstimmung gegen 
Sokrates entstanden ist, die zu seiner Verurteilung führen kann und 
wird (28 a). Gewiß ist die Möglichkeit, daß Sokrates selber so ge¬ 
sprochen hat, nicht zu leugnen. Aber methodisch müssen wir ebenso¬ 
gut den andern Fall in Betracht ziehen, daß diese Anlage von dem 
Jünger herrührt, der die Tatsache des Justizmordes erklären wollte *), 
und diese Annahme erscheint mir auch heute noch natürlicher, zu¬ 
mal sich grade von da aus die eigentümliche Beleuchtung erklärt, in 
die hier das delphische Orakel über Sokrates 1 Weisheit gerückt wird. 
Dieser Spruch ist gewiß historisch und, wie Herzog in einem Anhang 
zu Ilorneffers Buch zeigt, aus den Tendenzen Delphis sehr wohl zu 
verstehen. Aber er setzt doch eben Sokrates schon als weisen Mann 

1) Nur darauf kam es mir in meinem Platobuche S. 21 an. Leider hat H., 
wie seine Polemik S. 107 zeigt, sich nicht die Mühe gegeben, dies zu verstehen. 


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Horneffer, Der junge Platon 


185 


voraus, während in Platos Apologie er erst den Anlaß dazu gibt, daß 
Sokrates seine Menschenprüfung beginnt. Um trotzdem auch hier die 
historische Treue von Platos Darstellung zu retten, schlägt H. wie 
ähnlich schon Busse den Ausweg ein: Wir haben einen Bruch in So¬ 
krates’ Entwicklung anzunehraen. Sokrates hat zwar früh einen Schüler¬ 
kreis gehabt, mit dem er vielleicht über naturphilosophische, sicher 
über moralische Fragen debattierte und die Dichter interpretierte, 
etwa in der Art, wie es Aristophanes’ Wolken schildern. Aber erst 
durch das Orakel erlebte er die für jeden religiösen Propheten ent¬ 
scheidende Stunde der »Berufung«. Erst jetzt ging er an die breite 
Oeffentlichkeit, wurde zu dem Sokrates, den Plato kannte, nicht bloß 
zum Elenktiker, sondern auch zum Bußprediger, der sich an das Volk 
auf dem Markte wendet. Er wurde, der erste Vertreter der populären 
Predigt, der Diatribe. 

Das letzte ist völlig falsch. Wenn H. sich S. 89 auf Platos Worte 
tä? £[ta? oiatpißa? (37 c) beruft, so ist er ein Opfer von Useners un¬ 
glücklichem Einfall geworden, die Moralpredigt des späteren Griechen¬ 
tums Diatribe zu taufen, obwohl dieses Wort für die Griechen jede 
Art, wie man die Zeit hinbringt, jede Schulunterweisung und jedes 
Gespräch bezeichnen kann und namentlich in Sokrates’ Zeit gar nichts 
von »Predigt« an sich hat (ausführlich dargetan von Haibauer, De 
diatribis Epicteti, Leipzig 1911) 1 ). Oder soll wirklich Sokrates nach 
seiner Rückkehr von Potidaea froh in die Gymnasien gehen, um seine 
gewohnten Predigten zu halten (etri ta? aov^dstc Siatpißa«; Charm. 
Anf.)? Die ganze Vorstellung eines vor einer Corona predigenden 
Sokrates steht in schärfstem Gegensatz zu dem Bilde, das uns die 
Sokratiker geben — vom Kleitophon darf ich wohl absehen —, be¬ 
sonders auch gerade zur Apologie, wo Sokrates immer wieder sagt, 
daß er sich an den einzelnen wendet und ihn persönlich zur Selbst¬ 
besinnung erweckt (29dff-, 30e, 31b, 33a, 36c). Ganz klar wird uns 
dabei auch geschildert, wie er vorgeht. Es ist die Elenktik, das dia¬ 
lektische Gespräch, durch das er den Partner zur Klarheit über das 
eine was not tut bringt und damit von selbst auf den rechten Weg 
führt (besonders 29 e). So verfuhr Sokrates in Platos Zeit, so muß er 
aber auch schon den Weg zu Alkibiades gefunden haben, längst vor 
der Zeit, wo Aristophanes seine Wolken aufführte und Chairephon in 
Delphi den Orakelspruch erhielt. Schon damals war Sokrates der 

1) Aus den Worten cppa'Csxe ouv dXXV)Xot{ ei zujnoxe t) fitxpöv r ( fiif» 
zt{ üjjlcüv ijxo'j zEpi täv TotouTov SiaXefouivou (19 d) liest H. die Scheidung von Ge¬ 
spräch und zusammenhängender Rede heraus. Vor einem solchen Verkennen der 
polaren Ausdrucksweise hätte auch den Nichtphilologen das unmittelbar vorher¬ 
gehende <Lv ifiu o’jSlv o’jxe piy a ojze puxpov ~£pt ezaitu behüten können (vgl. 21 b). 




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* 

186 Gott, geh Anz. 1923. Nr. 7—12 

sittliche Erwecken Naturphilosophie hat er nie getrieben. Das sagt 
er uns selber Apol. 19d. Aristophanes hat also sein Stück auf einer 
Fiktion aufgebaut, und diese Fiktion führte zusammen mit dem Streben 
nach dichterischer Konzentration von selbst zur Erfindung einer ge¬ 
schlossenen Schule, so daß der Schluß, Sokrates sei damals noch nicht 
in der Oeffentlichkeit aufgetreten, unberechtigt ist. Auch >Lehrer< 
ist Sokrates damals so wenig gewesen wie zu Platos Zeit. Anderer¬ 
seits nötigt nichts zu der unwahrscheinlichen Annahme, der Stein¬ 
metzensohn habe es je verschmäht, auf Leute seines Standes sittlich 
einzuwirken *). Das glaube ich freilich auch, daß Sokrates das Orakel 
durchaus ernst genommen und hier ein Problem empfunden hat, das 
ihn veranlaßte, Menschen der verschiedensten Berufe auf ihr Wissen 
zu prüfen. 

Aber das Neue war dann nur, daß er seine Elenktik jetzt nicht 
bloß zur sittlichen Einwirkung übte, sondern daneben die Absicht ver¬ 
folgte, sich über Sinn und Berechtigung des Orakels klar zu werden. 
Mehr braucht man auch aus dem Anfang der platonischen Darstellung 
Apol. 21 ff. zunächst nicht herauszulesen. Aber weiterhin soll man doch 
den Eindruck gewinnen, als sei schlechthin die Xazpsia zoö deoö, also 
Sokrates 1 gesamte göttliche Mission, seine sittliche Arbeit an den 
Mitbürgern erst durch das Orakel des Gottes angeregt (vgl. 23 b mit 
30 e, 31b). Das ist historisch unrichtig und Sokrates selbst nicht zu¬ 
zutrauen. 

Daran zweifle ich aber natürlich nicht, daß Plato soviel wie 
möglich Sokrates 1 eigne Rede verwertet hat. Ganz sicher hat er so 
gut wie in den Dialogen die ganze Persönlichkeit des Sokrates und 
die Art seines Auftretens getreu wiederzugeben gesucht. Nicht nur 
die aufrechte Haltung, die jede Konzession an die Richter verschmäht 
und den herausfordernden Antrag auf Speisung im Prytaneion nicht 
scheut, auch die religiöse Note, der Glaube an die göttliche Mission, 
die er zu erfüllen hat, an den göttlichen Charakter seiner inneren 
Stimme ist echt sokratisch. So haben wir es früher auch schon emp¬ 
funden; aber ich betrachte es als ein großes Verdienst von H., daß 
er mit allem Nachdruck verlangt, diesen Zug auch für die Gesamt¬ 
beurteilung von Sokrates 1 Persönlichkeit ganz anders zu werten, als 
es vielfach geschieht. Sokrates ist mit der Formel Rationalist nicht 
abgetan. Er ist ein religiöser Mensch, tief durchdrungen von dem 
Glauben, daß.über dem einzelnen Menschen eine objektive Macht, die 
Gottheit steht, die seine Geschicke lenkt. Grade darauf beruht die 

1) v. 361.2 erinnert Aristophanes doch nur an den gravitätischen Gang und 
den eigentümlichen Blick des Sokrates, ebenso wie Plato Sy. 221b Phaidon 117 b. 
Davon, daß Sokrates die Menschen »über die Achsel ansieht«, steht kein Wort da. 


Go gle 










Burdach, Vom Mittelalter zur Reformation 


187 


selbstverständliche Sicherheit, mit der er in einer schwankenden zwei¬ 
felnden Welt seinen Weg geht. Diese Grundstimmimg weist auch 
sein Denken in eine Richtung, die der Zeitströmung zuwiderläuft und 
ihn dazu befähigt, auch auf dem Gebiete der Ethik und Erkenntnis 
der Welt die objektiven Maßstäbe wiederzugeben, die ihr verloren zu 
gehen drohen. H. übertreibt stark, wenn er den Mann, der nie anders 
als auf rationalem Wege auf seine Mitmenschen einzuwirken versucht 
hat, zum Mystiker macht. Aber das ist gewiß, daß auch das Irra¬ 
tionale, der Instinkt, der Glaube in diesem Manne mächtig sind, und 
auch das ist richtig, daß grade auf dieser Doppelnatur die Bedeutung 
beruht, die Sokrates für das griechische Geistesleben in seiner schwersten 
Krisis gewonnen hat. 

Göttingen. Max Pohlenz. 


Konrad Burdach, Vom Mittelalter zur Reformation. Forschungen zur 
Geschichte der deutschen Bildung. Im Aufträge der K. preuß. Akademie der 
Wissenschaften herausgegeben. II. Band: Briefwechsel des Cola di 
Rienzo, herausgegeben von Konrad Burdach und PaulPiur. 1. Rienzo 
und die geistige Wandlung seiner Zeit, 1. Hälfte. Berlin 1913 (VIII,368). 
2. Hälfte [steht noch aus]. 2. (Beschreibung der Handschriften [steht noch 
aus]). 3. Kritischer Text. Mit Lesarten und Anmerkungen. Berlin 1912 
(XIX, 471). 4. Anhang, Urkundliche Quellen zur Geschichte Rienzos. Oraculum 
angelicum Cyrilli und Kommentare des Pseudojoachim. Berlin 1912 (XVI, 354). 
5. [steht noch aus]. Weidmannsche Buchh. 

Die innere Aehnlichkeit, die das echt Fragmentarische mit un¬ 
seren Erlebnissen wie mit unseren Wissensmöglichkeiten hat, recht¬ 
fertigt auch die entsprechende literarische Form. Sie widerstrebt dem 
System und der Vollendung. Handelte es sich nicht um die planvolle 
Veröffentlichung einer großen Akademie, so dürfte in der Tat der 
Verfasser dieses Werkes sich darauf berufen und mit ihm der Rezen¬ 
sent, der nach langem Warten nun endlich auch seinerseits das Wort 
nimmt. 

Was hier zur Besprechung steht, ist eine Reihe von Stücken aus 
weit angelegten Untersuchungen, die vor vielen Jahren (1895) durch 
einen ersten Band eingeleitet wurden, der selbst wieder die Erweite¬ 
rung eines Aufsatzes im Zentralblatt für Bibliothekswesen war (1891).' 
Ich erinnere mich noch lebhaft, mit welcher Erregung wir Jüngeren 
uns damals auf diese Untersuchungen stürzten, die der gestaltlosen 
und zerfließenden Kulturgeschichte den festen Halt philologischer Me¬ 
thode versprachen. Nie zuvor war so reizvoll und präzis aus der Ge¬ 
schichte von Handschriften und literarischen Beziehungen die Ver- 


Go gle 
















zweigung des geistigen Lebens und seine wechs 


188 Gott. gel. Anz. 1923. Nr. 7—12 



Intensität aufgezeigt worden; dazu hatte die Weite des Gesichts¬ 
kreises, der zugleich Avignon und Rom, alte englisch-französische und 
junge deutsche Kolonialkultur umfaßte, etwas Befreiendes; endlich lag 
auch etwas Großartiges darin, daß alles dieses doch nur dienen sollte 
der tieferen Erfassung deutscher Bildung in einer bestimmten grade 
für Sprache und Stilbildung ungemein wichtigen, aber augenscheinlich 
vernachlässigten Periode. . . 

Dieser Eindruck mußte sich mit dem Fortgang, der einer völligen 
Neugestaltung des Werkes gleichsah, noch verstärken. Nun ging der 
Verf. von der durch ihn weithin aufgehellten böhmisch-ostdeutschen 
Kultur am Hofe Karls IV. zu ihrer noch halb dunklen Vorgeschichte 
über, insbesondere zur Untersuchung einer ihrer vornehmsten Voraus¬ 
setzungen, der Anfänge italienischer Renaissance. Eben hier aber 
erschien dem Verf. neben Dante und Petrarca fast visionär als über¬ 
lebensgroße Figur der Volkstribun von Rom, Cola Rienzo. Die Ent¬ 
deckung wurde zur Huldigung und an dem neuen Bilde ist als Weihe¬ 
gabe diese Prachtausgabe seiner Briefe niedergelegt. 

Nach den 46 Handschriften, die im zweiten Teil eingehend be¬ 
handelt werden sollen, sind die insgesamt 80 Briefe neu ediert. Sie 
sind gerichtet an den römischen Senat, an den Papst, an Karl IV., 
an Viterbo, Florenz, Mantua, Lucca, Todi und andere Städte Italiens 
und >derWelt<, an Sizilien, an den Abt von S. Alexius, den Kanzler 
von Rom, an den Vizekönig von Sizilien (mit Facs. nach Or.), an 
Johann von Neumarkt und den Erzbischof von Prag, an Frater Michael 
von Monte Sant’ Angelo, an Rienzos Sohn, an römische Kardinäle, 
wie Guido von Boulogne, und an Andrea Dandolo von Venedig. Um¬ 
gekehrt stammen die Briefe an Cola Rienzo von den Päpsten Cle¬ 
mens VI. und Innocenz VI., von Karl IV., von Ltfcca und Florenz, von 
Petrarca und Johann von Neumarkt. Angeschlossen sind zweifelhafte 
oder unechte Stücke, Register und Faksimilebeilagen. Fünfzehn Briefei 
oder Aktenstücke sind bisher ungedruckt. Die Ausgabe beruht auf 
dem subtilsten textkritischen Apparat und ist begleitet von reichen, 
sehr genauen sachlichen Anmerkungen. 

Der vierte (und der geplante fünfte) Teil dienen den Beilagen, 
weiteren urkundlichen Quellen, Verträgen und Reden. Die Päpste 
Clemens VI. und Innocenz nehmen darin einstweilen den Hauptplatz 
ein. Dem von Rienzo selbst im Briefe 58 zitierten Oraculum angeli- 
cum Cyrilli ist der Kommentar des Pseudojoachim kapitelweise ein¬ 
gefügt. ' 

Also eine erschöpfende Ausgabe der Briefe »Rienzos, die zwar zur 
damaligen böhmisch-ostdeutschen Kultur nur eine sehr mittelbare Be- 








Burdach, Vom Mittelalter zur Reformation 


189 


ziehung haben, aber soviel Eigenwert besitzen dürften, daß man sich 
der verschwenderischen Gabe auch dann noch freuen wird, wenn der 
eine oder andere neue Brief sich als minderwertig erweisen sollte. 

Nicht genug damit. Im ersten Teil (der einstweilen mitten im 
Text abbricht) wird die geistesgeschichtliche Stellung Rienzos bis in’ 
die feinsten Beziehungen durchforscht. Es wird versucht, die »geistige 
Wandlung der Zeit« mit ihm in sehr nahe Beziehung zu bringen, 
teils durch neue universalhistorische Gedankenreihen, teils aus den 
eigenen Schlagworten und Lieblingsbildern Rienzos und seiner Zeit. 
Was im ersten Bande mit der gröberen aber ganz überzeugenden 
Methode der Handschriftengeschichte geleistet war, wird hier mit der 
feineren, aber auch gefährlicheren Kunst weitgespannter Wort- und 
Begriffsgleichungen unternommen. 

Im Dienste dieser zwar vom ursprünglichen Plan etwas abseits 
liegenden, aber an sich um nichts weniger wichtigen und aktuellen 
Untersuchungen steht noch eine Anzahl weiterer Arbeiten Burdachs 
aus denselben Jahren und später, die hier notwendig mit in die Be¬ 
trachtung gezogen werden müssen und damit freilich auch unsere Er¬ 
örterungen etwas belasten. Man kann bei Burdach von der »An¬ 
kündigung einer zweiten Auflage« des ersten Bandes an (1898) ver-1 
folgen, wie erst Cola Rienzo, dann die Worte »Renaissance« und 
»Humanismus« nicht ohne Wechselwirkung mit den gleichzeitig auch] 
von anderer Seite lebhaft erörterten entsprechenden Periodenbegriffen 
immer mehr Eigenwert gewonnen haben. 1910 setzte Burdach un¬ 
mittelbar nach den Arbeiten von Goetz über Mittelalter und Re¬ 
naissance und von mir über das »Werden der Renaissance« (1908, 
2. Aufl. 1910) mit einer umfassenden Untersuchung ein über »Sinn 
und Ursprung der Worte Renaissance und Reformation« (Sitzungs-I 
berichte der Berliner Akademie 1910. XXXII). Ich legte meinerseits 
entscheidenden Wert darauf, den Periodenbegriff aus seiner Geschichte» 
zu verstehen und in seinem Werden aufzulösen. Burdach dagegen 
und nach ihm andere fassen das Problem doch wieder in dem Sinne 
der Realität eines, wenn ich recht verstehe, einheitlichen Vorganges ' 
»Renaissance«’). Ja, nach der äußeren Verwandtschaft von Begriff* 
und Wort setzt er damit die »Reformation« in eine organische Be¬ 
ziehung, während unsere gestaltende Betrachtung bis dahin umgekehrt 

1) In den gleich zu erwähnenden Aufsätzen der Deutschen Rundschau ist, 
zumal in den ersten Abschnitten, die (ich möchte sagen) nominalistische Auf¬ 
fassung der Worte Renaissance und Humanismus glücklich zum Ausdruck ge¬ 
bracht; aber diese kritische Haltung beherrscht meines Erachtens die übrigen 
Darlegungen nicht immer in dem erforderlichen Maße. Es wird schließlich doch 
wieder mehr objektive Realität in diesen Ideen gesehen und damit ihre historische 
Kontinuität überschätzt. 



Co gle 













190 


Gott. gel. Anz. 1923. Nr. 7—12 





aus der Fülle der Tendenzen jener Jahrhunderte die beiden vielfach 
entgegengesetzten und doch auch wieder unvergleichbaren Erschei¬ 
nungskomplexe möglichst klar gegen einander abzusetzen bemüht war. 
Denn daß die Begriffe als solche, ohne Anwendung auf die vorwiegende 
Tendenz einer bestimmten Zeit älter und allgemeiner waren, durfte, 
auch von den Kritikern, nicht als etwas Neues angesprochen werden, 
nachdem die Theologen sich über irakiy-fevsaia und renovatio, über 
Wiedergeburt und Reformatio wiederholt geäußert und Robert 
IVischer den ganz weiten Begriff »Neues Leben< zum Gegenstand 
einer feinsinnigen Rede gemacht hatte (1895). Ich habe das Gefühl, 

( daß die Methode einer äußerlichen Wort- und Begriffsgeschichte hier 
ihre Gefahren besonders deutlich erkennen läßt. Denn jene Begriffe 
sind doch ganz offenbar in zahlreichen synonymen Worten auf unendlich" 7 
verschiedene Vorgänge angewandt worden: bald politisch (wie schon 
die renovatio regni Francorum auf den Bullen Karls III.), bald kirchen¬ 
politisch, bald allgemein geistig, bald nur auf das individuell religiös^ 
Innenleben oder den objektiven Vorgang der Rechtfertigung. Ange¬ 
sichts der Tatsache naheliegender Vorbilder in der sich täglk 
jährlich verjüngenden Natur fällt deshalb die Zurückführui 
Bildes von der religiösen Erneuerung auf Lactanz Gedicht von I 
(S. 627) weder für den Zusammenhang der Bewegungen no 
die Begriffsgeschichte sonderlich ins Gewicht. Indessen, nie 
Nützlichkeit und das Verdienst dieser sehr gelehrten Aufspü 
! bestreite ich, sondern ihre Bedeutung für das Verständnis c 
engeren Sinne damit bezeichneten Perioden. Nur diese s 
für uns Historiker zur Diskussion. Deshalb kam uns alles a 
Nachweis des möglichst eindeutigen Gebrauchs dieser Worte ai 
eigenen Lebensgefühl ganzer Generationen an oder auf ihn 
Wendung für die nachträgliche Bezeichnung einer ganzen Periode 
, die Nachwelt. Für die >Reformationszeit< ist diese Untersi 
noch zu führen; für die »Gegenreformation« liegt eine gute 
vor (Elkan, Hist. Zs. 114). 

Die durch Burdach einmal gewonnenen Grundanschauung 
herrschen nun alle seine weiteren Forschungen, zunächst die A 
»Ueber den Ursprung des Humanismus« (I—III. Deutsche Rum 
Febr.—April 1914), dann die sehr weit ausgedehnten Betrach 
»Deutsche Renaissance. Betrachtungen über unsere künftige Bi 
(Deutsche Abende im Zentralinstitut für Erziehung und Unt( 

Berlin 1916). Mitten darin steht unser Band 1 ). 

1) Von neuerer Literatur zu den oben berührten Fragen verzeichne i 
meine Besprechung des Buches von Philippi, Der Begriff der Renaissan 
Zentralblatt 1912, Sp. 1152—54), sodann E. Heyfelder, Die Ausdrü 












Burdach, Vom Mittelalter zur Reformation 


191 


Das Gesamtwerk selbst nimmt inzwischen mit weiteren Bänden 
seinen Fortgang. Erschienen ist bereits Band III mit der Ausgabe 
des Ackermanns aus Böhmen durch Alois Bernt und Ivonrad 
Bur dach. Es sollen folgen Briefe Petrarcas und anderes. Doch be¬ 
schränke ich mich auf die oben angekündigten und im Text be¬ 
sprochenen Bände und Aufsätze. Der gelehrte Verfasser möge es als 
Dank für vielfache‘Anregungen hinnehmen, wenn ich dabei noch zu 
bestimmten Einzelfragen kritisch Stellung nehme. 

Ich gehe gleich mitten in die Sache. Zu den ebenso auffallenden 
wie gefährlichen Thesen Burdachs gehört »die Trias Dante, Petrarca, 
Rienzo.< Das 15. Jahrhundert kannte nur die Dreiheit Dante, Pe¬ 
trarca, Boccaccio. So standen sie neben einander in Lionardo 
Brunis Dialog, Be trilus vatibus Florentinis (1401, ed. Wotke, Wien 
1889. Auszug in meiner Renaissance in Florenz 5 1921). Man betrach¬ 
tete sie als die großen nationalen Dichter und erwies zugleich in dem 
eben durchdringenden Geschmack der Zeit ihre humanitas. Hier ging 
also alles zusammen: das Nationale, das Literarische, das Gelehrte.! 
Burdach setzt an die Stelle Boccaccios den Cola Rienzo und findet 
demgemäß das Verbindende seiner drei Bahnbrecher nicht im Volgare 
(von Rienzo haben wir nur Lateinisches), sondern im Humanistischen 
— wie er es versteht —, in einem neuen Lebensgefühl und dem be¬ 
wußten Streben nach geistiger Erneuerung. Selbstverständlich ist nun 
jene Anschauung des 15. Jahrhunderts für uns kein Evangelium; aber 
sie war gut begründet. Bei allem Abstand insbesondere des Boccaccio 
von Dante, bleiben seine Stellung in der italienischen Literatur und 
seine Verdienste um die humanistische Mode nach den entscheidenden 
Anregungen Petrarcas unbestreitbar. Daß für den Fortgang und die 
innere Richtweisung der humanistischen Bewegung vor allem erst^ 
Leonardo Aretino und die Erneuerung der griechischen Studien ma߬ 
gebend wurde, glaube ich nachgewiesen zu haben; im einzelnen ist 
unser Wissen mittlerweile durch die Arbeiten von A. v. Martin und 
Walser weitergefördert, die von mir selbst und besonders von P. 
Joachimsen an anderer Stelle angezeigt worden sind (Hist. Zs. 
121, 189—233). 

Demgegenüber erscheint es doch als ein starkes Wagnis, den 
neuen Kanon Dante, Petrarca, Rienzo einzuführen. Burdach tut das 
ohne alle Einschränkung. Sie sind »die drei großen Befreier der 

naissance und Humanismus (Deutsche Lit.-Ztg. 1013, N. 36), Rud. Wölkau, 
Ueber den Ursprung des Humanismus (Zeitschrift für die österr. Gymnasien 1916, 
Heft 4 und 5) und jetzt auch P. Joachimsen, Vom Mittelalter zur Reformation 
(Historische Vierteljahrschrift 1921 Heft 4), wo das Problem ebenfalls im An¬ 
schluß an Burdach eingehend erörtert wird. • 


Go gle 


















Phantasie< (II 1 ,51 und 95), »die drei großen Erneuerer der Welt¬ 
kultur: Dante, Petrarca, Rienzo« (II 1 ,94) »die ersten Pioniere der 
Renaissance« (II 1 ,320) »Die großen Wegbahner der hereindringenden 
Renaissance: Dante, Petrarca, Rienzo« (II l , 356). Er mißt ihnen durch¬ 
aus die entscheidenden Wirkungen bei: »die Saat der Trias Dante, 
Petrarca, Rienzo ging auf« (II 1 ,117). Sie sind auch im besonderen 
»die drei großen Bahnbrecher des Humanismus«, die zugleich »alle 
, in nahen Beziehungen zu den reformatorischen Ideen der franziskani¬ 
schen Spiritualen standen« (Deutsche Rundschau 40,372); es ist ge¬ 
radezu von dem »Zeitalter Dantes, Petrarcas, Rienzos« die Rede 
(II 1 ,257). Ihre seelische Richtung trieb die Blüten, aus denen Bur- 
i dach vor allem den »Ackermann aus Böhmen« des Johann [Pflug von 
Rabenstein] aus Saaz wieder dargeboten hat, zu denen vorher schon 
des William Langland »Peter der Pflüger« gehörte, 
r Es liegt auf der Hand, daß, von allem andern abgesehen, diese 
Auffassung sich mit jener Uebermalung des Renaissancebegriffs deckt, 
die zwar (wie schon bei Thode) den Glänz der Burckhardtschen Prä¬ 
gung nicht missen wollte, auch das Ausmaß der Periode im wesent¬ 
lichen beibehielt, aber die vorherrschende Tendenz der Zeit nicht in 
dem »Aufleuchten von Verstandesklarheit und Willenskraft, sondern 
in der Oeffnung der schönen Seele und der neuen Reizbarkeit des 
L Gefühls< erblickte (mein »Werden der Ren.« 17f.), Nun habe ich 
zwar selbst an verschiedenen Stellen betont, daß der Burckhardtsche 
Renaissancebegriff einer gewissen Einseitigkeit zu zeihen und deshalb 
zu bereichern wäre, aber ich habe doch immer mit ihm das Entschei¬ 
dende in der Abwendung von jener universal hierarchischen Gesell¬ 
schaftsordnung früherer Jahrhunderte und in der Hinwendung zu den 
neuen Erkenntnisquellen der unverhüllten Natur und der kritisch er¬ 
faßten Ueberlieferung erblickt. Wenn nun die Uebergänge gegen das 
Mittelalter verwischt werden, so mindern sich gewiß die Gefahren der 
allzu starren Periodenbegriffe; indessen, wenn gleichzeitig lediglich 
wegen des ewig neuen Drängens nach Umformung die Renaissance und 
die Reformation einander und dem Mittelalter innerlich immer näher 
gerückt werden, so tritt doch wohl die entgegengesetzte Gefahr ein, 
nämlich, die tiefen Abwandlungen der Zeiten zu verkennen. Heißt es 
nicht, sich in ganz vagen Ideen verlieren, wenn der »Kern beider 
Bewegungen (der Renaissance und des Humanismus) das Streben nach 
neuen Menschheitswerten, nach dem idealen Typus des Menschen« sein 
soll und wenn behauptet wird, daß Dantes höchst individuelle Werke 
vor allem »den großen Gedanken der Epoche gestalten: die Wieder¬ 
geburt, die ideale Umformung, d. h. die Renaissance und die 















Burdach. Vom Mittelalter zur Reformation 

♦ 


193 




Reformation der Individuen wie der Gemeinschaft« (Deutsche Rund¬ 
schau 40,5,201, Febr. 1914)? 

Es liegt natürlich etwas Richtiges darin, wenn Burdach behauptet, 
daß die »Stimmung der Renaissance, die grenzenlose Sehnsucht nach 
neuem Leben durch die aufwühlende franziskanische Strömung und| 
gerade auch durch die zelantische der Spiritualen zwar nicht hervor¬ 
gebracht, aber mächtig gefördert« wurde. Allein es ist doch wieder 
eine ungeheure und einseitige Uebertreibung, wenn es gleich darnach 
heißt: »Aus der Trunkenheit des Gefühls, das die heilige Elisabeth 
an die Betten der von Todesangst gefolterten Aussätzigen trieb und • 
ihr Kraft verlieh, — stammt der innerste Impuls der Renaissance.« 
Ueber den Gebeinen dieser Heiligen wölbt sich bekanntlich die erste 
rein gotische Kirche in Deutschland, und alle Verkündiger des 
»gotischen Menschen« könnten genau so argumentieren und mit mehr 
Recht. Wie schroff aber wandten sich Humanismus und Renaissance 
ab von aller jener Phantastik in Stil, Schrift, Denken und Fühlen 
der »Gotik«! 

Nun geht bei B. jene Ueberschätzung des Cola Rienzo zusammen 
mit diesem zeitenvermengenden Begriffsspiel, wenn er, für die Zeiten¬ 
prägung selbst Dante und Petrarca durch Rienzo in den Schatten stellen 
läßt: »am durchschlagendsten hat Cola di Rienzo — das Bild der 
Wiedergeburt — immer und immer wiederholt, um die Erneuerung 
der Freiheit und Größe Roms und seine eigene Erneuerung auszu¬ 
drücken« (ib. 203 f.). »Sein Bad in der Taufwanne des Kaisers Kon¬ 
stantin — erscheint uns leicht als eine phantastische Komödie. Aber 
sie war viel mehr. Sie entsprach dem Geist eines Zeitalters, das in 
der Befreiung der Phantasie Rettung suchte« (204). Ja sie war 
(»man hat das unbegreiflicherweise bisher nie erkannt«) zusammen 
mit der »wenige Wochen später folgenden Lorbeerbekränzung« die 
weithin sichtbare Erfüllung von Dantes Sehnsucht. Burdach meint die 
Stelle Par. 25,8: 

ritornerö poeta, et in snl fonte 
del mio battcsmo prenderb il cappello. 

Allein, das ist doch etwas völlig anderes und schwerlich geeignet, 
Rienzo in die erlauchte Genealogie einzuordnen. Denn daß das 14. Jahr¬ 
hundert Symbole und Bilder liebte, braucht nicht erst bewiesen zul 
werden, auch nicht, daß die Renaissance dies Erbe mit sich trug; ihr 
charakteristischer Zug lag eben deshalb nicht darin. 

Und nun mustern wir genauer das Einzelne. »Der gefangene 
Rienzo nennt [unterschreibt] sich in seinen Briefen [N. 56, an Joh. 
v. Neumarkt] halb feierlich ernsthaft, halb im Scherz, den im Grabe! 
Schlafenden: Dormiens in sepulcro< (II 1 ,21). Aber rechtfertigen alle 


G«tt. eol. Am. 1923. Kr. 7—12 


Go gle 


13 











H 


v, : 









Gott. gel. Anz. 1923. Nr. 7—12 


die vielen Zitate von Kerkern, Höhlen, Gräbern, die zu allen Zeiten 
der dichterischen Diktion nahe liegen, die allgemeine Bemerkung: 
»Der Höhlenkultus im Zeitalter Petrarcas und Rienzos ist ein Ferment 
des werdenden neuen Menschen« (II, 29 f.)? Waren nicht »Wüsten- 
und Höhlenszenerie« (v. Bezold, Selbstbiographie, 6) uralte Requi¬ 
siten der Legenden, bald schauerlich, bald friedlich? Oder sollen wir 
den Faden weiter spinnen und alle Felsen- und Höhlenbilder der 
Eremiten oder der Versuchungen des hl. Antonius anreihen? Bur¬ 
dach selbst greift auf Elias und Moses zurück! Ich meine, über¬ 
wältigender als in dumpfen Höhlen überkam das Gefühl seiner selbst 
den Petrarca auf der luftigen Höhe des Mont Ventoux! Die neue 
Zeit strebte ins Freie. 

Das Bild des »Schlafenden im Grabe« beschwört noch eine ganze 
Gallerie irgendwie verwandter Bilder herauf, denen der Verf. wie in 
Träumen nachwandelt. Es ist gewiß nicht bedeutungslos, daß Petrarca 
von Rienzo rühmt, er habe etwas belebt, was Jahrhunderte lang von 
Schlaf betäubt, ja begraben gewesen sei: quaestionem magnam atque 
utilem mundo, multis sopitam ac sepultam seculis, suscitavit, quae una 
ad reformationem status publici atque ad aurei sectdi initium via est 
[1352]; allein Burdach bemerkt selbst ganz richtig, daß hier weder 
vom römischen noch vom griechischen Altertum die Rede sei, schwächt 
diese sehr dringende Kritik aber wieder ab durch den Hinweis da¬ 
rauf, daß doch die »Vorstellung der Ausgrabung gestreift« werde 
(81/2). 

Die Auferstehung aus Gräbern, die Osterhoffnung, das Pfingst- 
geheimnis des hl. Geistes, Spiritus et vivificatoris, die bewußte An¬ 
knüpfung Rienzos an die kirchliche Liturgie, das sind alles nur weitere 
Auszahlungen. Was Wunder, daß das Bild des Phoenix (II 1 ,61 ff) immer 
wieder aus seiner Asche aufsteigt. Und doch ist es offenbar eine neue 
Spielart des unerschöpflichen Bildes, wenn es von Petrarca angewandt 
wird auf den alten Stefano Colonna; erat ex einer ibus veterum renatus 
phoenix unicus senex Ule (H 1 ,84/1). Burdach hält sich nur an das 
allgemeinste, wenn er die bekannten Worte Picos della Mirandola 
anschließt, die Gott zu Adam sprach: poteris in superiora quae sunt 
divina ex tui animi sententia regenerari »zur Gottähnlichkeit« (B. 
zitiert ein entsprechendes Gedicht Michelangelos an die Schönheit seiner 
Freunde!) — »sich wieder gebären« — »da haben wir wieder das 
Stichwort der rinascita, lange vor Vasari«, — mit Verlaub, das Wort 
haben wir nicht; über den uralten Begriff brauche ich nicht noch¬ 
mals zu sprechen. 

Das Bild Adams ist dann wieder durch alle Zeiten in sehr ver¬ 
schiedenem Sinne ausgedeutet; nicht der Aufstieg zu Gott, sondern 




Go gle 











Burdacli, Vom Mittelalter zur Reformation 


/ 


195 








mit offenbar entgegengesetzter Blickrichtung: Herstellung des Ur¬ 
zustandes. Herstellung der Sündlosigkeit führt in die religiöse Sphäre, 
Herstellung des Urzustandes von ihr weg zur Natur (U \ 29: Rück¬ 
kehr in die unberührte Naturlandschaft, vgl. auch D. Rundschau 
40,7,67 zu Adam und Augustinus). Welche Rolle spielt in allen 
diesen Jahrhunderten das ritornare al segno, das ritornare al suo prin- 
cipio! Dante Convito IV, 12 heißt es: weil Gott sagte: >Facciamo Vuomo 
ad immagine e simigliansa nostra<, — essa anima dcsidera tornare a 
quello; aber selbst in Dantes Bild gehen zwei Vorstellungen durch¬ 
einander, wenn er einige Zeilen später sagt lo buono camminatore 
giugnc a lermine! 

So konnte denn auch das Wort >Reformation< in überaus ver¬ 
schiedenem Sinn gebraucht werden, so gut wie Höhle, Grab, Asche 
oder Erneuerung. »Der Lebensgeist der italienischen Renaissance! 
quillt, wie gesagt, aus der religiösen Tiefe« (II 1 ,57) — ich kann nur 
wiederholen, daß diese Quelle vielleicht früher nicht genügend be¬ 
achtet war, daß sie in der Tat wirklich strömt, von Dante bis auf n 
Michelangelo; daß aber anderseits die charakteristischsten Renaissance¬ 
erscheinungen : der Signore und der Tyrann, der mediceische Papst und 
der Nepot, der glänzende Condottiere und der Literat bis auf Pietro 
Aretino, daß die philologische Kritik des Lorenzo Valla und die tech¬ 
nische Konstruktion des Leonardo da Vinci, die Anatomie und das 
Modell, der politische Realismus und Rationalismus, daß alles dieses, 
jedenfalls nicht daraus abzuleiten ist. 

So weit der Adam Augustins und Luthers entfernt ist von dem ! 
Vorstellungskreis, den man an den Adam des Pico della Mirandola an¬ 
schließt (»daß aus dem dogmatischen Adamsbild ein verheißungsvoller 
Typus des reinen freien Menschentums aufstieg«, Rundschau 40.7,67), 
— so weit sind das franziskanische Drängen zur Perfceione und die 
kirchenpolitische Reformatio in capite et membris von der wirklichen 
deutschen Reformation verschieden. Das tertium comparationis ist hier* 
wirklich nur, daß irgend etwas geändert wird; — ich muß mich hier . 
schon ganz trivial ausdrücken. 

Vollends gefährlich bleibt die Anwendung aller dieser Ausdrücke 
der religiösen Sphäre auf die politischen Ideen Roms, Italiens und 
des Kaisertums, die um gewisse Achsen schwirren, aber, wenn ich 
mich nicht täusche, alle Spielarten des entlehnten Bildes, der An¬ 
lehnung an die heidnische oder christliche Tradition und die wirklich 
empfundene Metapher widerspiegeln. Ich bin weit entfernt zu leugnen, 
daß gewisse Ideen ganz folgerichtig durch die Jahrhunderte hinab- 
wanderten, gleichsinnig aufgenommen wurden und das Leben mitbe¬ 
stimmten, aber ihrer sind unzählige und die »römische Idee« ist in 

13* 








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196 


Gott. gel. Anz. 1923. Nr. 7—12 


immer neuen Wandlungen und sehr individuellen Ausprägungen nur 
eine von vielen. So berechtigt es war, auch die deutsche Kaisersage 
in solchejn Zusammenhänge aufzufassen, so lehrreich sind auch Bur¬ 
dachs überreiche Materialien über Dantes und Petrarcas Kaiser- und 
Reichsgedanken und ihren Zusammenhang mit den anderen Zeitideen: 
Mystische Theogonie (41, 48), Hoheslied, Brautschaft und Witwen¬ 
schaft, Rom, Babel und Jerusalem, Bonifaz VIII. (201), Augustin 
(1,89), Friedrich II. und Constantin (373). Nur erscheint mir Rienzo 
inmitten dieser Ideen durchweg viel zu zentral und »grandios« (34. 
98. 99). 

. Wichtiger für das Problem der Renaissance ist unzweifelhaft der 
Nationalgedanke, der nur eben als das Neue verhüllt oder noch un¬ 
klar hervortritt. Das Tasten danach bleibt denkwürdig. Kommt etwa 
hierbei dem Rienzo eine besondere Bedeutung zu? »Das Umbiegen 
des alten kirchlich-religiösen Bildes von der Brautschaft oder Ehe 
der Roma in das Realistische gelingt Rienzo am glücklichsten 
und eindrucksvollsten, als er auf dem Höhepunkte seines Tribunats 
das große italienische Verbrüderungsfest feiert. Am Tage nach seiner 
Weihe zum Ritter und Kandidaten des heiligen Geistes ließ er Fahnen 
und über zweihundert goldene Ringe weihen. — Der Sinn dieser 
Zeremonie [ähnlich der älteren Vermählung des Dogen mit dem 
Meere] war: Roma, die Trägerin des Imperiums, die Witwe, vermählt 
sich nun aufs neue mit ganz Italien, — indem sie mit jedem Teile 
des Landes symbolisch den Ehebund schließt. — Alles, wohl gemerkt, 
sub flde reverencia et honore sancte matris ecclesie. So ist das alte 
Bild völlig in die staatsrechtliche Sphäre gezogen« (II', 99). Die Ver¬ 
teidigung ist dazu die beste Kritik; denn einige Seiten weiter heißt 
es: »mochte Clemens VI. Rienzo verhöhnen wegen seiner Bekränzung 
mit Krone und Lorbeerzweigen nach heidnisch-antiker Sitte und weil 
er den Brauch der römischen Cäsaren nachäffend närrische Gesetze 
für den Erdkreis zu verkündigen sich erdreistete, — in seinem dunkjen 

• Drange hatte der ,Narr‘ im Tribunenkleid, der .phantastische* Ritter 
von Gnaden des heiligen Geistes doch Recht: er fühlte in tiefster 
Seele das Aufgehen eines neuen Reiches von heiliger Größe« (104). — 
Geworden ist aus diesen Spielereien bekanntlich nichts. Meint der 
Verf. das geistige Reich der Renaissance oder die politische Einheit 
der Nation, — von »Realismus« ist man in jedem Falle gleich weit 
entfernt. Wenn es S. 101 heißt: »er hat behauptet, diese römische 
Kirche und die Stadt Rom seien identisch«, — »das war der große 
Schritt in die Zukunft, den Rienzo tat«, — so war erstens diese 
Identifizierung sehr alt (man denke an das achte Jahrhundert), und 
zweitens hatte sie keine Zukunft. 


Go gle 












Burdach, Vom Mittelalter zur Reformation 


197 


Richtiger ist schon die Formulierung (D. Rundschau 40,373): 
>Das lateinische Nationalbewußtsein, das den Humanismus schuf, war 
noch eingekapselt in den ererbten mittelalterlichen Humanismus«; — 
in der Tat, auch für Italien könnte man ein Buch von »Weltbürger-! 
tum und Nationalidee« schreiben, nur nicht vom Nationalstaat; dazu 
ist es so recht nicht einmal bei Macchiavelli gekommen. Aber der 
Verf. verliert sich wieder vollends in das Mystische, wenn er das 
neue, geistige Imperium, das der Humanismus errichtet, das Apolli¬ 
nische nennt (ib. 373), »das neue dritte Imperium, das so Dante, 
Petrarca, Rienzo und ihre Mitkämpfer heraufführten«; — »sein Symbol 
war in der Tat ein Bestandteil des antiken Apollodienstes, zugleich 
aber auch des antiken Caesarenkults: der Lorbeer« (377). 

Retten wir uns auf den Boden der Wirklichkeit zurück, so war 
es ein glücklicher Gedanke Burdachs, für den Durchbruch national- J 
romantischer, also antiker Neigungen die »Emigrantenstimmung« stark 
zu betonen. »Im Exil des römischen Imperiums, des Papsttums, das 
nach Avignon, des Kaisertums, das in die Scheinexistenz verbannt war, 
erwuchs dem alten Bilde von der doppelten heiligen Brautschaft Roms 
der neue lebenweckende Sinn. Die Renaissance ist geboren aus Emi-1 
grantenstimmung« (II 1 ,124). Wie richtig diese Beobachtung ist, er¬ 
härtet nicht nur das aus der Geschichte Petrarcas und der Colonna 
beigebrachte Material sowie Salutatis »restitutio Romae«, sondern 
ebenso deutlich noch die berühmte Vorrede des Leone Battista Alberti 
zu seinem Traktat della pittura in Betreff der jüngeren Florentiner 
Renaissance. 

Aeußerst gezwungen ist dagegen wieder Rienzo »als Rächer Bo- 
nifaz’ VIII.« und eben dieser Papst (der ganz gewiß von jenen Stim¬ 
mungen der Sehnsucht auch nicht die leiseste Spur empfand) in seiner 
fernen Beziehung zu seinem Vorgänger Bonifaz IV. (608—15!), der! 
das Pantheon zur christlichen Kirche weihte. »Diese Weihe war in 
mancher Hinsicht wirklich der Anfang des nationalen italienischen Be¬ 
wußtseins« [im 7. Jahrhundert!]. »Dieser Rundbau war in der Tat 
nicht bloß ein Wegweiser zur politischen Befreiung des Vaterlandes. 
Er war der Leuchtturm auf den Bahnen der Renaissance« (156). Das 
geht denn doch über das Erlaubte geistreicher Verknüpfungen hinaus! 1 

Kehren wir zu Cola Rienzo zurück und zu der genauen Kenntnis, 
die uns grade Burdach von ihm verschafft hat. Es ist sehr milde, 
wenn er gesteht: »ich leugne nicht, daß er in seinen Briefen einige 
Male den Tatbestand bewußt oder unbewußt verschoben hat« (II 1 ,135). 
\Der Brief [73] an den Erzbischof von Prag windet sich zwischen Ein-\ 
geständnissen und Furcht vor dem Bekanntwerden früherer Anschau¬ 
ungen. Temperament und Leben entsprachen einander in jähem Wechsel. 






Go gle 



















Dabei bleiben starke Qualitäten einer hochgespannten Phantasie und 
eines glänzenden Prunkstils. Auf Petrarca übten Gedanken und Reden 
Rienzos zeitweilig einen tieferen -Eindruck aus; noch stärkeren auf 
die naive* und empfängliche Seele Johanns von Neumarkt (II 1 ,19), 
obwohl es doch wohl kaum verantwortet werden kann zu sagen, daß 
ihn die böhmischen Kreise als »Herold der politischen, religiösen, 
sozialen Umwandlung und Wiedergeburt, den Herold der geistigen 
Reformation und Renaissance betrachteten« (ib. 20). Geschaffen und 
| geblieben ist jedenfalls von ihm kaum etwas, und neue Ideen vermag 
ich nicht zu entdecken. 


Es ist ja der Hauptinhalt unendlich ausführlicher und in die 


letzten Verknüpfungen verfolgter Gedankengänge des darstellenden 
Bandes, daß es eben immer alte, zum Teil verbrauchte Bilder sind, 
die Rienzo beherrschten. 


Zweifel, dieser Mann in allem was er schrieb und tat, war der voll 


befangen. 

Grade in der Ablösung von dem, was Rienzo erfüllte, liegen die 
Anfänge der Renaissance im eigentlichen und engeren Sinne, d. h. 
der Periode, die Jakob Burckhardt unter diesem Namen prägte und 
deren einheitliche Züge im Bilde des 15. und 16. Jahrhunderts nicht 
zu verkennen sind. Nicht was Rienzo mit Dante und Petrarca ver- 1 
band, sondern was diese über ihn so hoch erhob: das Schöpferische 
in Sprache und Gedanke war das Entscheidende. Rienzo hat nichts 
von dieser wunderbaren Kraft des Volgare, nichts von diesem Zauber 
wahrer Dichter, nichts von dieser philologischen Kritik, von dieser 
Fähigkeit der Einfühlung in den Text als Kunstwerk. Höchstens daß 
er sammelt, wie viele nach ihm. Aber er hat nichts von der Ent¬ 
deckerfreude dieser Reisenden, von dieser Anschaulichkeit des Petrarca 
und Enea Silvio, von dem Mute des Columbus. Er sieht weder die 
politischen und kirchlichen Dinge, noch die Menschen und die Städtej 
und die große Natur mit neuen Augen. 

Vielleicht darf man sagen, daß wir den Forschungen Burdachs 
vor allem die Einsicht darein verdanken, wie mittelalterlich und klein' 
Cola Rienzo war. Indem er das Gegenteil beweisen wollte, erschöpfte 
er das Material bis zum Letzten und erwies nur die Richtigkeit alter 
vorschnell erschütterter Anschauungen von dem Wesen der Renaissance. 

Göttingen. Brandi. 




















Behrens, Untersuchungen über das anonyme Buch de viris illustribus 199 

II. Behrens, Untersuchungen über das anonyme Buch de viris illus¬ 
tribus. Heidelberg 1923, C. Winter. 71 S. 

Verf. versucht den Nachweis zu bringen, daß das auf Aurelius 
Victors Namen überlieferte Buch de viris illustribus aus einer älteren 
Vorlage exzerpiert worden sei, welche als Hauptquelle den Livius, 
daneben stark von Livius abweichende Berichte benutzt habe. Als 
Verfasser der Vorlage glaubt er Sueton erweisen zu können, dessen 
>Viri illustres< nicht nur literarische Berühmtheiten, sondern auch 
hervorragende Persönlichkeiten der römischen Geschichte behandelt 
haben sollen. Von Sueton ist nach Verf. auch eine Liviusepitome ab¬ 
hängig, aus der Ampelius, Florus, Eutropius und die Periochae Livianae 
geschöpft hätten. 

Schon rein chronologisch betrachtet ist die Suetonhypothese äußerst 
unwahrscheinlich, da Florus seinen Zeitgenossen Sueton erst aus zweiter 
Hand benutzt haben müßte. Außerdem berechtigen die sehr schwachen 
Uebereinstimmungen zwischen Ps.-Victor und Suetons Kaiserbiogra¬ 
phien keineswegs, in Widerspruch mit der antiken Ueberlieferung an¬ 
zunehmen, daß Suetons Schrift de viris illustribus auch historische 
Größen feierte. Die von beiden über Cäsar erzählten Geschichten sind 
auch sonst bezeugt; und die hübsche Anekdote von der keuschen 
Vestalin Claudia steht bei Ps.-Victor c. 46 in einer Form, welche nicht 
mit Suet. Tib. c. 2, 3, sondern, wie Bickel, Diatribe in Senecae Frag- 
menta (1915), 227 nachgewiesen hat, mit Seneca de matrim. frg. So 
und Lactanz div. inst. 117,12 enger zusammenhängt; die gemeinsame 
Vorlage aller war, wie Lactanz: Claudia ... proponitur in exemplum 
miraculi und Sueton: exstant et feminarum exempla verraten, ein Bei¬ 
spiel aus einer der Exemplasammlungen, welche uns auch fernerhin 
beschäftigen werden. Aber mit Sueton hat unsere Schrift nichts 
zu tun. 

Mit Recht hat Verf. auf die enge Verwandtschaft mit Livius einer¬ 
seits, mit Florus, Ampelius, Eutropius und den Periochae andererseits 
hingewiesen, denen noch Orosius [Augustin de civit. Dei], die Scholien 
zu Lucan, Juvenal, Vergil hinzuzufügen sind. Aber mit Unrecht wird 
die Uebereinstimmung durch die Annahme erklärt, daß die Vorlage 
unserer Schrift auch durch eine Liviusepitome ausgeschrieben worden 
sei, welche Florus, Eutropius usw. zugrunde liege. Vielmehr benutzte, 
wie sich zeigen wird, auch Ps.-Victor jene Liviusepitome, aus der 
Florus, Eutropius und die anderen späteren Historiker schöpften; die 
zweite Hauptquelle ward aber für ihn eine oder mehrere Exempla¬ 
sammlungen, wie sie z. B. Nepos und Hygin verfaßten und Valerius 
Maximus benutzte und welche durch A. Klotz Hermes 44 (1909) und 
Bickel a. a. 0. wieder zu Ehren gebracht worden sind. Nur die erste 









200 


Gütt. gel. Anz. 1923. Nr. 7-12 




Quelle, die Liviusepitome, ist schon als eine Hauptvorlage Ps.-Victors 
wirklich erkannt worden, vgl. (G. Ay de Livii epit. deperd., Diss. 
Leipzig 1894); H. A. Sanders, Die Quellenkontamination im 21. und 
22. B. des Livius, Diss. München 1897, 33; G. Reinhold, Progr. 
Berlin 1898; F. Drescher, Diss. Erlangen 1900; Wölfflin ALL 11,1 ff.; 
13,83. Verf. hat diese Literatur nicht berücksichtigt; sie fehlt aller¬ 
dings auch bei Teuffel-Kroll III § 414 und wird auch von Schanz nur 
unter der Epitome Liviana, nicht unter Aurelius Victor (IV § 70) auf¬ 
gezählt. Die erwähnten Gelehrten haben gezeigt, daß der in der Epi¬ 
tome gekürzte und gelegentlich umgearbeitete Livius auch in unserer 
Schrift vorliegt. Während Livius 14,2 Mars als Vater des Remus 
und Romulus indirekt ablehnt, erkennen ihn Ps.-Victor 1,1 und die 
späteren Historiker als solchen an. — Während Livius 1,10 und Dion. 
1133,34 den Namen des von Romulus besiegten Königs der Caeni- 
nenser noch nicht kennen, nennen ihn Ps.-Victor 2,4 und die Be¬ 
nutzer der Epitome Acro (so zuerst Properz IV10,7). — Livius 111,6 
berichtet, daß Tatius die Tarpeia mit Gold bestochen habe, und nur 
nebenbei ( additur fabula), daß nach einer Ueberlieferung Tarpeia als 
Belohnung dasjenige verlangte, was die Sabiner in ihren linken Händen 
trügen; nur die geschmücktere Erzählung bieten Ps.-Victor und die 
ihm nahestehenden Historiker. — P. Valerius, der erste Konsul, wird 
sowohl von Ps.-Victor wie in der Periocha 2 (mit Unrecht schreibt 
Roßbach P. Valerius ) und von Eutrop 111,4 (bei Florus und Orosius 
fehlt der Name) L. Valerius genannt. — Bei Livius (II20,10) läßt 
der Diktator Postumius selbst die Reiter von ihren Pferden absteigen, 
bei Ps.-Victor und Florus tritt der magister equitum an seine Stelle, 
der den Pferden die Zügel nimmt; nach Livius soll der Diktator 
nach der Schlacht nur dem Castor einen Tempel geweiht haben; nach 
Ps.-Victor und Florus weiht er ihn Castor und Pollux, welche sich 
während des Kampfes auf weißen Pferden gezeigt hätten. — Obwohl 
Livius 9,5,1 ausdrücklich bezeugt, daß an den Caudinischen Pässen 
kein focdus abgeschlossen wurde und nur nach Claudius Quadrigarius 
ein solches zustande gekommen sei, sprechen Ps.-Victor 30,4, Perioch. 9, 
Eutrop. 2,9, August c. d. 3,17, Oros. 3,15,7 (Flor. 1,16,12) dennoch 
von einem foedus. Es ist hervorzuheben, daß diese und viele andere 
Abweichungen bei sämtlichen Autoren in einem im übrigen rein Livi- 
anischen Zusammenhang stehen. — Für stilistische Uebereinstiramungen 
ist charakteristisch, daß im Gegensatz zuLiv. 2,7,4: maironae annum 
luxerunt (sc. Brutum) bei Ps.-Victor 10,7 und in Perioch. 2 der Ab¬ 
lativ anno steht. Ps.-Victor c. 11,1: Horatius Codes ... solus susti- 
nerit gibt das Verbum sustinere in Uebereinstimmung mit Livius, aber 


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Bebrens, Untersuchungen über das anonyme Buch de viris illustribus 201 

i ♦ • ^ 

solns, das auch Perioch. 2, Serv. ad Aen. 8,646 und Florus bieten, 
fehlt bei ihm. 

Mit Unrecht hat also neuerdings A. Klotz (Herrn. 48 [1913], 542) 
die Existenz jener Epitome wieder in Abrede gestellt. Weder schließt 
das Fortleben des vollständigen Livius die frühe Existenz einer Livius- 
epitome aus noch mußte in den Papyrusrollen der Epitome die ur¬ 
sprüngliche Bücherzahl unbedingt gekürzt werden: die Periochae 
können sehr wohl aus einer die alte Bücherzahl beibehaltenden Epi¬ 
tome geschöpft haben. Ferner geht es keineswegs an, auf Grund 
einer einzigen Stelle der Periocha 44, an der übrigens nur der Wort¬ 
laut, nicht der Inhalt, mit Valerius Maximus, 10,2 übereinstimmt, 
die Exempla, eine Hauptvorlage des Valerius, nicht nur für diesen 
Teil der einen Periocha, sondern für sämtliche Periochae als Quelle 
anzunehmen, und sie überhaupt an die Stelle der durch so viele Tat¬ 
sachen erwiesenen Epitome Liviana zu setzen. Uebrigens weichen ge¬ 
rade in jener Erzählung über Aemilius Paulus (Perioch. 44, Val. Max. 
V, 10,2) Ps.-Victor c. 56,2 und Ampelius 8,13 von der Periocha ab, 
sodaß die Stelle für die Beurteilung der Liviusepitome überhaupt nicht 
in Betracht kommen darf. Wie könnten schließlich mehrere spätere 
" Historiker in gleicher Weise ein meistens mit Livius übereinstimmen¬ 
des, nur hier und dort von ihm abweichendes Kompendium der ganzen 
römischen Geschichte bieten, wenn sie nicht eine Epitome Liviana, 
sondern Exempla benutzt hätten, welche nur ganz vereinzelte Bilder 
aus der römischen Geschichte zufällig herausgriffen? Die Epitome 
Liviana ist eine feststehende Größe und es fragt sich nur, ob auch 
schon Valerius Maximus, wie Sanders und Wölfflin wollen, die Epi¬ 
tome benutzt hat, oder ihre Entstehung erst später (vor Florus) an¬ 
zusetzen ist; für uns hat diese Frage momentan keine Bedeutung. 

Wichtiger ist aber die weniger beachtete Tatsache — nur einige 
Belege bei Hildesheimer, de libro qui inscribitur de viris illustribus 
urbis Romae qu. hist. (1880) 340 ff. —, daß eine besonders große 
Uebereinstimmung zwischen Valerius Maximus und Ps.-Victor an sol¬ 
chen Stellen sich zeigt, welche bei Livius und den Benutzern der 
Epitome fehlen, weil ihr Inhalt weniger für den Verlauf der Ge¬ 
schichte als für die Charakteristik einzelner Personen geeignet war. 
Daß Valerius Maximus neben anderen Quellen, wie Cicero, Livius u. a., 
besonders auch die ältere Exemplaliteratur benutzt hat, hoben Traube, 
Vorles. und Abhandl. III17 und Klotz Herrn. 44 (1909), 198 her¬ 
vor. Die Exemplasammlungen sind nach letzterem besonders aus Va¬ 
lerius Maximus und Seneca, dann aber aus Frontin und Ps.-Frontin 
(= Frontin B. IV) herzustellen; auch der Auctor de viris illustribus 
wird S. 213 im Vorübergehen erwähnt. Die tatsächliche Benutzung 


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202 


Gott. gel. Anz. 1923. Nr. 7—12 




der Exempla seitens Ps.-Victor wurde schon oben bei der Behandlung 
der Claudialegende hervorgehoben. Die c. 19,1 erzählte Anekdote 
über Coriolanus: ob egregia militiae facinora a Postumio optionem 
tnunerum accipiens eqnum tantum et hospitem sumpsit, virtutis et pie- 
tatis exemplum fehlt bei Livius und den Benutzern der Epitome 
und steht nur bei Val. Max. IV, 3,4 unter den Beispielen für absti- 
nentia und continentia. Das Wort exemplum scheint auch hier 
die Quelle zu verraten; vgl. oben und Sen. dial. 12,12,4, wo den 
Worten quotiens ad antiqua exempla respexi die Geschichte des 
Menenius Agrippa folgt, welche mit Val. Max. 4,4,2 übereinstimmt; 
dieser schließt aber die dortige Reihe seiner Beispiele für Armut mit 
der Bemerkung: haec igitur exempla respicere debemus (Klotz 203). 
— Weiter führt Ps.-Victor c. 24,1—2; während Livius (6,20,7 f.) 
von ungefähr 40 dona militaria des Manlius Capitolinus spricht und 
nur im allgemeinen von dessen Verwundungen erzählt, erwähnt Ps.- 
Victor [37] dona militaria, und 23 Narben am Körper des Manlius. 
Diese genauen Angaben kehren nur bei Plin. n. h. 7,103 wieder und 
zwar in einem Abschnitt (7,85—146 [?]), welcher aus Exemplasamm- 
lungen stammt und auf den die Autorennamen Nepos und Hygin im 
Index sich beziehen, vgl. § 85: oculorum acies vel maxime fidem ex- 
cedentia invenit exempla, § 121: pietatis exempla infmita ... exi¬ 
st er e, § 134: exempla fortunae, § 142: rara felicitatis humanae 
exempla numerantur. Auf die Exempla als Quelle weist vor allem 
die dauernde Uebereinstimmung des Plinius mit Valerius Maximus hin. 
In dieser Plinianischen Reihe finden sich nun auch andere Beispiele, 
welche bei Ps.-Victor und, was von wesentlicher Bedeutung ist, z. T. 
gleichfalls bei Valerius Maximus belegt sind. Daß Mithridates 22 
Sprachen gelernt habe, erzählen außer Plin. 7,88 (Quint. 11,2,50) 
auch Ps.-Victor 76,1, der übertreibend von 50 Sprachen redet, und 
Val. Max. VIII, 7, Ext. 16.— Die fromme Tat des Tib. Gracchus 
Pater, der seine Frau rettete und sich selbst zugrunde richtete, in¬ 
dem er die in seinem Hause gefundenen männlichen Schlangen tötete 
und die Weibchen leben ließ, erzählen, außer Cicero div. 1,36, 2,62, 
Plut. Tib. /Gr. 1, sowohl Plin. 7,121 wie Val. Max. IV 6,1 und Ps.- 
Victor 57,4. Letzterer schreibt keinen der lateinischen Schriftsteller 
aus, da nur bei ihm und Plutarch die Schlangen aus dem torus 
genialis hervorkriechen, während die übrigen von angues prehensi in 
domo reden. — Q. Metellus Macedonicus, den vier Söhne auf den 
Scheiterhaufen trugen, feiern als Beispiel höchsten Glückes außer Cic. 
fin. 5,82 (Veil. 1,11,6. 7,) Plinius 7,142, Val. Max. VII1,1 und Ps.- 
Victor 61,6. Die beiden letzteren gehören auch dem Wortlaut nach 
(filios consulares ... humeris suis ... lat um rogo imposuerunt <-v 


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LIFORNIA 











Behrens, Untersuchungen über das anonyme Buch de viris illustribus 203 

humeris eorunt ... latus est, ex quibus tres consulares ) enger 
zusammen und gehen sicher, wie Plinius, auf ein Exemplum zurück. 
In dem zuletzt erwähnten Kapitel Ps.-Victors geht nun aber unmittel¬ 
bar vorher (c. 61,5), wie Metellus in Spanien einem ihn nach seinen 
Plänen fragenden Freunde antwortete: tunicam ... meam exurerem, si 
eam consilium meutn scire existimarem. Die Anekdote ist nur noch bei 
Val. Max. VII, 4,5 (unter Strategemata) und bei Frontin 1,1,12 (fälsch¬ 
lich auf Q. Caec. Metellus Pius bezogen) zu lesen, d. h. gerade bei 
denjenigen Schriftstellern, deren Konsensus nach Klotzs entschieden 
richtiger Ansicht auf die Exemplasammlungen als gemeinsame Quelle 
hinweist. Wir werden also nicht nur Ps.-Victor c. 61,6, sondern auch 
61,5 aus der Exemplaliteratur herleiten dürfen; vielleicht auch 61,3: 
post duas repulsas consul aegre factus, obwohl Val. Max. VII5,4 an¬ 
scheinend nur eine repulsa kennt. In diesem de rcpulsis überschrie- 
benen Kapitel erwähnt Val. Max. § 3 auch die vergeblichen Bemü¬ 
hungen des L. Aemilius Paulus um das Konsulat; auch diese Angabe 
kehrt bei Ps.-Victor c. 56,1 wieder. 

Auch in der Biographie des Fabius Cunctator (c. 43) ist der In¬ 
halt von §5: Marium (so) Statiliim transfugere ad hostes volentem 
equo et armis retinuit et Lucano cuidatn fortissimo ob amorem mulieris 
infrequenti eandem emptam dedit, dem bei Livius nichts entspricht 
(vgl. aber Plut. Fab. 20), der Exemplaliteratur entnommen, da beide 
Erzählungen bei Val. Max. VII3,7 (mit geringen Abweichungen) und 
die erstere mit teilweise buchstäblicher Uebereinstimmung {transfugere 
ad hostem volentem Stabilium ) auch bei Ps.-Frontin IV 7,36 belegt ist. 
Auch c. 43,7 = Val. Max. IV 8,1 {quod pactum cum a senatu impro- 
baretur, fundutn suttm ... vendidit et fidei satisfecit) enthält ein Exemplum. 
— Die Bescheidenheit des Curius Dentatus, der die ihm angebotenen 
Morgen Land ablehnt (c. 33,5,6), erwähnen gleichfalls nur Val. Max. 
IV 3,5 und Ps.-Frontin. IV 3,12; es trifft sich gut, daß wir auch das 
bei Val. Max. IV 3,4 vorangehende Beispiel = Ps.-Victor 19,1 auf 
die Exempla zurückführten, s. oben. Von T. Manlius Torquatus 
erzählt Ps.-Victor 28,5 seine Ablehnung des Konsulates, quod diceret 
neque se populi vitia neque illtm severitatem suam posse suffere; die 
Uebereinstimmung mit Val. Max. 6,4,1 weist auf die Exempla hin; 
verwandt ist c. 32,2: Herum censor fieri noluit (sc. Fabius Rullus) 
dicens non esse ex usu reipublicae eosdern censores saepius fieri ; ähn¬ 
liches erzählt Val. Max. IV, 1,3 (de moderatione) von Rutilus Censo- 
rinus. — Daß die Frau und Kinder des Regulus während dessen Ge¬ 
fangenschaft auf Staatskosten unterhalten wurden, erzählen nur Ps.- 
Victor 40,2, Val. Max. III4,6, Ps.-Frontin. IV 3,3 und Seneca Dial. 
XII12,6—7. Da Seneca in diesem Kapitel die Exempla ausschreibt 


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Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



Behrens, Untersuchungen über das anonyme Buch de viris illustribus 205 


Caes. 4, Veil. 2,43); c. 78,3 = Val. Max. VI6,15 (Plut. Caes. i. f., 

Suet. a. a. 0., Veil. 2,42); c. 80,1 = Val. Max. 113,2; c. 81,6 = Val. 

Max. 14,6). — Vielleicht gehören auch c. 59,2, 62,4, 66,2 — 3, 72,6, . , 

82,3—4, 83,6 der Exemplaliteratur an. — Die anonyme Schrift de 
viris illustribus , welche z. T. auf der Epitome Liviana aufgebaut ist 
und dementsprechend wie ein kurzer Abriß der römischen Geschichte 
wirkt, bekommt durch die Einstreuung anderer, aus der zweiten Haupt¬ 
quelle, den Exempla, herrührender Notizen einen mehr biographi¬ 
schen Charakter. Außer diesen beiden Hauptvorlagen kommen an¬ 
dere Gewährsmänner nur für wenige Einzelangaben in Betracht: für 
c. 2,10.14; 5,2; 6,7 kamt Ciceros de republica, für c. 24,6 de domo, 
für c. 73 pro Rabirio, für c. 33,10, 34,3 Brutus 55, für c. 35,2 de 
divinatione zugrunde liegen; c. 3,2 a. E. = Cass. Hemina und Cal- 
purnius Piso bei Plin. n. h. 13,84 ff. und = Varro bei Augustin, c. d. 

8,34; c. 6, 9 = Macrob. 1,6,8; c. 43,6 = Plin. n. h. 34,40; c. 78,1 
= Suet. Caes. 2; c. 45,8 = Plut. Marc. 30; c. 75‘, 11= Plut. Süll. 36, 

Plin. n. h. 7,138 usw.; c. 1,4 vgl. Ovid Fast. 4,837; c. 2,2 vgl. Plut. 

Qu. Rom. 31. Aus den Acta triumphalia stammen (mittelbar?) einige 
Angaben über Triumphe. Einige nur von Ps.-Victor überlieferte An¬ 
gaben bleiben ihrer Herkunft nach dunkel. — Aber die zwei Haupt¬ 
quellen, welche sich wie rote Faden durch die ganze Schrift hindurch- * 
ziehen, sind die Epitome Liviana und die Exempla. Diese langen 
Ausführungen waren notwendig, um einige Klarheit zu bringen in 
einem Problem, das die vorliegende Arbeit von H. Behrens leider 
nicht gefördert hat. 

Göttingen. Wilhelm Baehrens. 


Viktor Ernst, Die Entstehung des niederen Adels. Stuttgart 1916, W. 
Koblhammer. 96 S. — Ders.: Mittelfreie. Ein Beitrag zifr schwäbischen 
Standesgeschichte. Stuttgart 1920, W. Kohlhamer. 119 S. 

Die sozialen Verhältnisse des deutschen Volkes im Mittelalter 

« 

waren in einer fortlaufenden Entwicklung begriffen, indem unter der 
Einwirkung politischer und wirtschaftlicher Momente einzelne Stände 
abstarben und verkümmerten und andere, neue emporstiegen, und indem 
sich durch Spaltung oder Verschmelzung neue Schichten bildeten. Nach 
der herrschenden Meinung stellte sich die ständische Gliederung im 
früheren Mittelalter folgendermaßen dar: die Hauptmasse des Volkes 
bildeten die Unfreien und Halbfreien verschiedener Abstufung, die 
keine politischen Rechte besaßen und in Abhängigkeit von den Grund¬ 
herrschaften lebten. Weniger zahlreich waren die Freien; sie zerfielen 


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in zwei Gruppen: den Herrenstand der Edelfreien, welcher der eigent¬ 
liche Träger des politischen Lebens und der höheren Kultur war, und 
die Gemeinfreien, die nur eine bescheidene Rolle im öffentlichen Leben 
spielten. Während sich im 12. Jahrhundert von den Edelfreien die 
Oberschicht der Fürsten absonderte, schob sich im 13. Jahrhundert 
zwischen die beiden Stände der Freien ein neuer niederer Adel ein. 

Ueber die Herkunft dieses niederen Adels gab es bisher keinerlei 
Meinungsverschiedenheiten. Es war seit langem ein feststehendes 
Dogma, daß er aus der Ministerialität hervorgegangen sei. Um so 
mehr wurde freilich über Ursprung, Wesen und Entwicklung der 
Dienstmannschaft gestritten: ob sie freier oder unfreier Herkunft ge¬ 
wesen, ob sie durch den Reiterdienst, durch die Hofämter oder durch 
die lokalen Aemter der Grundherrschaften emporgekommen sei, und 
was dergleichen Streitfragen mehr sind. Dagegen galt es als eine 
ausgemachte Sache, daß die Ahnen des niederen Adels unfreie Dienst¬ 
mannen und Hintersassen der Grundherrschaften gewesen seien, die 
aus den unteren Klassen der Bevölkerung hervorgegangen, zu ge¬ 
steigerter sozialer Geltung emporstiegen. 

Zu allen diesen Anschauungen setzt sich nun Viktor Ernst in 
Widerspruch. Statt einer Zweigliederung nimmt er eine Dreigliederung 
des Standes der Freien an und will das Vorhandersein von drei land¬ 
rechtlich geschiedenen Ständen, der Hochfreien, Mittelfreien und Ge¬ 
meinfreien, bereits für die ältesten Zeiten nachweisen. Der niedere 
Adel sei als ortsangesessener Adel schon in fränkischer Zeit vorhanden 
gewesen .und habe von jeher einen besonderen Stand zwischen den 
Edelfreien und Gemeinfreien gebildet. 

Zum Beweise seiner These schlägt Ernst neue Wege der Forschung 
ein; er geht von den Beziehungen von Adel und Grundeigentum aus: 
die Beschaffenheit des Adelsguts im späteren Mittelalter bildet die 
Grundlage seiner Untersuchung. Er stellt eine weitgehende Ueberein- 
stimmmung in Anlage, Ausmaß und Rechtsstellung zwischen den Adels¬ 
gütern und den Meierhöfen in den grundherrlichen Dörfern fest. Beide 
waren befestigt, sie überragten an Areal die gewöhnlichen Dorfgüter, 
sie waren mit Aeckern, Wiesen und Wäldern ausgestattet. Obwohl 
nur ein Teil des Dorfes zum Grundeigentum der Adelsburg oder des 
Meierhofes gehörte, standen den Rittern und Meiern doch Gericht und 
Bannrechte über den ganzen Ort zu. Beide besaßen ferner Einfluß 
auf die Gemeindeverwaltung, auf .die Nutzung der Allmende und auf 
die Ernennung der Gemeindebeamten und des Pfarrers. Beide waren 
lastenfrei, beide hatten Anspruch auf die Frondienste der Dorfgenossen, 
ohne Rücksicht darauf, ob deren Hofstellen zur Grundherrschaft ge¬ 
hörten oder nicht. 













Ernst, Die Entstehung des niederen Adels 207 

Diese Beobachtungen sind zweifellos wertvoll und zutreffend. Aber 
aus dieser Verwandtschaft von Adelsgut und Meierhof leitet Ernst 
weitgehende Schlüsse hinsichtlich der Inhaber ab. Er spricht den 
adeligen Burgherrn und den grundherrlichen Meier als Zwillingsbrüder 
an; beide sind nach seiner Ansicht die Rechtsnachfolger des alt¬ 
germanischen Dorfvorstehers, nur daß der eine zum selbständigen 
Dorfherren, der andere zum Stellvertreter und Beamten des Grund¬ 
herrn geworden sei. Indem nämlich an vielen Orten die gemeinde¬ 
obrigkeitlichen Funktionen sich allmählich in herrschaftliche Rechte, 
welche an den Hof des Sippenältesten und ersten Dorfvorstehers ge¬ 
bunden waren, verwandelten, sei aus den erblichen Inhabern dieses 
Hofes eine gehobene Schicht von Freien, ein festgefügter Adelsstand 
mit althergebrachten Rechten, entstanden. 

Die Beweisführung der frisch und anschaulich geschriebenen und 
geschickt aufgebauten Arbeiten des Verfassers hat auf den ersten 
Blick viel Bestechendes; bei näherem Zusehen aber zeigen sich doch 
sehr erhebliche Schwächen und Lücken. Ernst geht von der Voraus¬ 
setzung aus, daß die schwäbischen Dörfer genossenschaftliche Sippen¬ 
siedlungen freier Volksgenossen unter Leitung des Sippenoberhauptes, 
dessen Name sich vielfach in den patronymen Ortsnamen auf -ingen 
erhalten habe, gewesen seien. Aber der genossenschaftliche Ursprung 
der Dorfverfassung ist keineswegs über jeden Zweifel erhaben. Gerade 
neuerdings hat Dopsch *) wiederum mit allem Nachdruck die ma߬ 
gebende Bedeutung der,Grundherrschaft verfochten. Die Voraussetzung, 
von der Ernst ausgeht, ist also unsicher und strittig. 

Außerdem scheint mir Ernst eine irrige Vorstellung von dem 
Wesen und der Entwicklung der Dorfobrigkeit zu haben, wenn er 
annimmt, daß Stellung und Rechte des Gemeindeoberhauptes materiell 
von den ältesten Zeiten an dieselben geblieben seien. Durch das 
Umsichgreifen der Grundherrschaften und durch die Zersetzung der 
alten Gerichts- und Verwaltungsordnung traten im Laufe der Zeit 
erhebliche Wandlungen ein. Man darf daher die Zwing- und Bann¬ 
herrschaft des späteren Mittelalters nicht als eine von altersher fertig 
ausgebildete Einrichtung ansehen, sondern sie war das Produkt einer 
langen Entwicklung. 

Deutliche Spuren für das Vorhandensein eines niederen Adels 
glaubt Ernst zuerst in der fränkischen Zeit nachweisen zu können. 
Er will in den >mediani< des Pactus Alamannorum und der schwäbi¬ 
schen, bairischen und burgundischen Volksrechte eine besondere, ge¬ 
hobene Freienschicht erblicken, während man jene bisher als kleinere 

1) Wirtschaftliche und soziale Grundlagen der europäischen Kulturentwicklung 
I (1918) S. 231 etc. 


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208 


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Gott. gel. Anz. 1923. Nr. 7—12 



Grundeigentümer edelfreien Standes angesprochen hatte. Es mag zu¬ 
gegeben werden, daß diese »mediani< noch keine vollbefriedigende 
Erklärung gefunden haben; aber auch was Ernst zum Beweise für 
seine These beibringt, ist durchaus unzureichend. 

Weiter mußte es die Aufgabe von Ernst sein, die Kontinuität 
des angeblichen niederen Adels vom 8. bis in das 13. Jahrhundert 
nachzuweisen. Während die erste Abhandlung über >Die Entstehung 
des niederen Adelst in dieser Hinsicht viel zu wünschen übrig ließ, 
dient das zweite Büchlein >Die Mittelfreien < hauptsächlich dem Zweck, 
das Vorhandensein einer gehobenen Freienschicht im früheren Mittel- 
alter festzustellen. Ernst will die mediani der alten Volksrechte in 
den Schöffenbarfreien des Sachsenspiegels und in den Mittelfreien, die 
im Schwabenspiegel zwischen den Freiherren und Dienstmannen ein¬ 
geschoben sind, wiederfinden. Es ist schon von anderer Seite darauf 
aufmerksam gemacht worden, daß die lehnsrechtliche Heerschildordnung 
nicht mit der alten ständischen Gliederung nach Landrecht in Parallele 
gesetzt werden darf. Was vollends Ernst für die Zwischenzeit vom 
8.—13. Jahrhundert an Beweismaterial vorbringt, ist sehr proble¬ 
matisch. Die Erwähnung von mediocres, primates, primores etc. in 
den urkundlichen und historiographischen Quellen des 9., 10. und 11. 
Jahrhunderts beweist noch nicht das Vorhandensein eines besonderen 
Standes; es können damit minderbegüterte Edelfreie gemeint sein, die 
sich zwar über die Gemeinfreien erhoben, aber doch hinter die großen 
adeligen Grundherren zurücktraten. Wie vorsichtig man sein muß, 
wenn man die Terminologie der mittelalterlichen Quellen zur Darstellung 
ständischer Verhältnisse verwerten will, zeigen die neuesten Forschungen 
Keutgens *) über den Reichsfürstenstand. Sie haben ergeben, daß 
princeps vor dem Ende des 12. Jahrhunderts keineswegs der terminus 
technicus eines abgeschlossenen Standes, sondern nur die Bezeichnung 
für die durch Reichtum und politischen Einfluß hervorragenden Mit¬ 
glieder des Hochadels innerhalb der einzelnen Stämme gewesen sei. 

Auch ist es Ernst nicht gelungen, das Wesen des mittelfreien 
Standes aufzuzeigen und die Merkmale, die ihn vom hohen Adel unter¬ 
scheiden, einwandfrei zu bestimmen; er komhit über unsichere Hypo¬ 
thesen nicht hinaus. 

Weitere Schwierigkeiten türmen sich auf, wenn man sich darüber 
Rechenschaft abzulegen sucht, wie sich der angebliche Ortsadel im 
Besitz der obrigkeitlichen Rechte behauptet haben soll. Mag man 
über die Dorfsiedlung und den Ursprnng der Dorfverfassung denken 
wie man will, so viel ist sicher, daß später die überwältigende Mehr¬ 
heit der Gemeinden in Abhängigkeit von einem Grundherren stand, 

1) Der deutsche Staat des Mittelalters (1918) S. 57 ff. 


Go gle 





ORNIA 











Ernst, Die Entstehung des niederen Adels 209 

daß die Dorfvorsteher fast überall grundherrliche Ministeriale und 
Beamte waren. Es ist unter diesen Verhältnissen kaum vorstellbar, 
daß sich die Mittelfreien in größerer Zahl im Besitze ihrer alten 
Rechte und Standesprivilegien gehalten haben. An diesen Schwierig¬ 
keiten konnte auch Ernst nicht vorübergehen. Um ihrer Herr zu 
werden, greift er zu einer höchst bedenklichen Hypothese. Er nimmt 
an, daß die freien Ritter Ministeriale und Beamte der Grundherren 
geworden seien, ohne dadurch in ihren Rechten und Vorzügen wesent¬ 
lich beeinträchtigt worden zu sein. Er nähert sich damit den An¬ 
schauungen von G. Caro [Nova Turicensia 1911], der die Dienst¬ 
mannen in ihrer Hauptzahl aus Freien hervorgehen läßt, und denen 
von Oppermann [Westdeutsche Zeitsch. 30 (1911)], der annimmt, daß 
die Ministerialität durch einen Verschmelzungsprozeß von freien Rittern 
und unfreien Beamten entstanden sei. Aber während die beiden ge¬ 
nannten Autoren die Unfreiheit der Ministerialen zum mindesten als 
ein Durchgangsstadium nicht in Abrede stellen, glaubt Ernst zwei 
Arten von Ministerialen unterscheiden zu müssen: die alten Mittel¬ 
freien und die unfreien ritterlichen Dienstmannen, die aus der Familia 
hervorgegangen seien. Zwischen beiden Klassen habe zeitweise eine 
gewisse Angleichung stattgefunden; aber schon im 13. und 14. Jahr¬ 
hundert habe sich die Auffassung von der Unfreiheit des ritterlichen 
Adels wieder verflüchtigt. Aehnliches hat auch Philippi behauptet 
[Deutsche Literaturzeitung 1917 Nr. 8], beweisen läßt es sich nicht. 
Es handelt sich vielmehr um einen untauglichen Versuch, über die 
Schwierigkeit der durch zahlreiche Quellenbelege erwiesenen Tatsache 
von der Unfreiheit der Ministerialität hinwegzukommen. 

Ein Fehler ist es ferner, daß sich der Verfasser nur wenig mit 
der herrschenden Lehre über die Entstehung des niederen Adels aus¬ 
einandersetzt. Er macht nicht den ernstlichen Versuch, sie zu wider¬ 
legen, sondern geht mit kurzen absprechenden Ausführungen darüber 
hinweg und meint, daß der »Wust von Kontroversen« bisher keine 
befriedigende Lösung gebracht habe. Er stellt seine neue Theorie 
neben die bereits vorhandenen und überläßt es dem Leser, zu wählen. 
Ganz so unfruchtbar, wie Ernst uns glauben machen will, ist die bis¬ 
herige Forschung über die Ministerialität und den niederen Adel 
denn doch nicht gewesen. Gewiß, einem großen Teile der zahlreichen 
Dissertationen, welche nach einem bestimmten Schema die Dienst¬ 
mannschaft einzelner Kirchen oder Landschaften behandeln, kommt 
kein allzubedeutender wissenschaftlicher Wert zu. Es muß auch zu¬ 
gegeben werden, daß die Ansichten über den Ursprung und den 
Werdegang der Ministerialität weit auseinandergehen. Das ist jedoch 
nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, daß sich die meisten 

lifltt. gel. Am. 1923. Nr. 7-12 14 



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210 


G6tt. cel. Anz. 1923. Nr. 7—12 



Arbeiten auf ein eng begrenztes Gebiet beschränken, und wie dürftig 
oft die Quellen sind. Man hat in der letzten Zeit mit Recht von ver¬ 
schiedenen Seiten darauf hingewiesen, daß politische und soziale Neu¬ 
bildungen des Mittelalters, die später einen einheitlichen Charakter 
trugen, keineswegs ursprünglich überall aus derselben Wurzel erwachsen 
sind, sondern daß sie in ihrer Herkunft und Entwicklung nicht selten 
landschaftliche Unterschiede zeigen. Ich brauche nur an den viel¬ 
gestaltigen Entwicklungsprozeß der deutschen Territorien zu erinnern. 
So mag auch die Entstehung und Ausbildung der Ministerialität in 
den einzelnen Gegenden Deutschlands je nach den Voraussetzungen 
und bedingenden Faktoren eine verschiedenartige gewesen sein. Nicht 
selten sind auch aus den spärlichen und in zufälliger Auswahl über¬ 
lieferten Quellen einseitige und schiefe Folgerungen abgeleitet worden. 
So erklärt es sich, daß die Anschauungen über die Ministerialität in 
verschiedenen Farben schillern. 

Trotzdem lassen sich aus den zahlreichen, in den Resultaten 
mannigfach von einander abweichenden Arbeiten über die Ministerialität 
und den niederen Adel übereinstimmende Züge feststellen, die als 
wissenschaftlich wohlbegründet angesehen werden dürfen. Vor allem 
kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die Ministerialen im 11. und 
12. Jahrhundert unfrei waren, das geht aus zahlreichen Nachrichten 
über Verkauf, Vertauschung und sonstige Verfügungen über Dienst¬ 
mannen mit Sicherheit hervor. Mit Recht hat man daraus den Schluß 
gezogen, daß die Ministerialität in ihrem Kern aus dem unfreien 
Stande herstammen müsse, wenn auch in einzelnen Gegenden bereits 
frühzeitig mehr oder minder zahlreiche freie Elemente eingeströmt, 
sein mögen. Als gesichert darf ferner gelten, daß die Ministerialität 
in den Grundherrschaften hochgekommen ist. Hier brauchte man viele 
militärische Kräfte und Beamte, die man der Zahl der unfreien Hinter¬ 
sassen entnahm, weil man sich dieser am bequemsten bedienen konnte. 
Die Aemter und Dienste aber wurden wie im Mittelalter allgemein in 
den Familien der Inhaber erblich und mit ihnen die als Besoldung 
oder Entschädigung übertragenen Güter und Einkünfte, die als Dienst¬ 
lehen aufgefaßt wurden. Die Verwaltung selbständiger und verant¬ 
wortungsvoller Posten im Zentrum und in den einzelnen Teilen der 
Grundherrschaft verlieh den Inhabern eine gehobene Stellung und 
sonderte sie von den übrigen unfreien Hintersassen ab. Es entstand 
ein neuer Berufsstand mit besonderem Recht. 

Die häufigen Reichsheereszüge und Fehden brachten eine ge¬ 
steigerte Nachfrage nach berittenen militärischen Kräften. So kam es, 
daß die Ministerialen in immer stärkerem Maße zum Reiterdienst, der 
ursprünglich dem Adel Vorbehalten war, herangezogen wurden und 






Emst, Die Entstehung des niederen Adels 


211 


näher an die Edelfreien heranrückten. Sie erlangten die Ritterwürde, 
sie erhielten echte Lehen und auch freies Eigen. Das geschah bereits 
in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts. Ich erinnere in diesem 
Zusammenhänge an die bemerkenswerte Stelle in der Urkunde des 
Klosters Roth von 1073, wo es heißt: Offeruntur [monasterio Rotensi 
ab conditore] viri militares, qui dicuntur ministeriales, cum praediis 
et possessionibus, quos domi forisque custodes lateris habebat, quibus 
etiam iura statuit; traduntur diversae familiae ... [Meichelbeck, Hi- 
storia Frisingensis I (1717) p. 264]. So hoben sich die Ministerialen 
immer höher über ihre ehemaligen Standesgenossen empor; sie be¬ 
gannen die Merkmale der Unfreiheit abzustreifen. Die Grenzen zwischen 
ihnen und dem alten Adel verwischten sich. 

Nun soll keineswegs behauptet werden, daß alle Ministerialen in 
den Adelsstand aufstiegen; viele sanken in die niederen Schichten zu¬ 
rück, andere gingen in das städtische Bürgertum auf. Aber in nicht 
wenigen Fällen läßt sich der genealogische Nachweis einwandfrei er¬ 
bringen, daß Adelsgeschlechter aus der Ministerialität herstammten. 
Der neue niedere Adel setzte sich wohl vornehmlich aus denjenigen 
Dienstmannengeschlechtern zusammen, die in den Besitz allodialer oder 
feudaler Grundherrschaften gelangt waren, denn ritterliche Lebens¬ 
haltung und die Ausübung grundherrlicher Rechte bildeten im späteren 
Mittelalter die hauptsächlichsten und unerläßlichen Merkmale des Adels. 
Die Erwerbung einer Grundherrschaft konnte auf zweierlei Weise er¬ 
folgen: entweder indem die Ministerialen diese als fertiges Ganzes 
aus edelfreier oder geistlicher Hand durch Kauf oder Lehnsübertragung 
erlangten, oder indem sie nach und nach in einem und demselben 
Dorfe immer mehr obrigkeitliche und private Rechte und Besitztitel 
neben ihrem ursprünglichen Besitz erwarben und so allmählich in die 
Stellung von Grundherren einrückten, wie ja auch die fürstlichen 
Territorien in einem langen Entwicklungsprozeß durch Häufung und 
Verschmelzung von mannigfaltigen allodialen und feudalen Besitzungen 
und Hoheitsrechten entstanden sind. Im ostdeutschen Koloniallande 
läßt es sich mit Deutlichkeit verfolgen, wie die ritterlichen Ministerialen 
zuerst neben den freien bäuerlichen Hufenbesitzer angesiedelt wurden, 
wie sie dann im Laufe der Zeit eine größere Anzahl von Bauernhufen 
in ihre Hand brachten und immer mehr Rechte im Dorfe aus der 
Hand des Landesherren erwarben, sodaß Herrschaften mit weitgehenden 
Rechten im Dorfe und über die einzelnen Einwohner entstanden. 
Gelegentlich mag auch einmal ein Rittergut aus der Erbscholtisei 
hervorgegangen sein 1 ). Die Regel war es sicher nicht. Auch im alten 

1) Ygl. R. Leonhard, Urgemeinde und Urfeudalitat. Archiv f. Sozial¬ 
wissenschaft 44 (1918), 730. 


14 * 











anders vollzogen haben als später im Slavenlande. Nicht aus den 
Rechten und Besitzungen der altgermanischen Dorfvorsteher sind die 
Adelsgüter erwachsen, sondern sie waren entweder Teile alter Grund¬ 
herrschaften oder Neuschöpfungen, die dem Wesen der bestehenden 
Grundherrschaften nachgebildet waren. So erklärt sich ohne Schwierig¬ 
keiten die Aehnlichkeit der Meierhöfe und Adelsgüter. 

Breslau. Manfred Stimming. 


Alfons Dopsch, Die Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit 
vornehmlich in Deutschland. Zweite veränderte und erweiterte Auf¬ 
lage. Weimar 1921, 1922, Hermann Böhlaus Nachfolger. XIV u. 402, VI u. 440. 

Wenn schon neun Jahre nach dem Erscheinen der ersten Auf¬ 
lage des Dopschen Werkes eine Neuausgabe auf den wissenschaftlichen 
Markt gebracht werden konnte und mußte, so ist das ein unumstö߬ 
licher Beweis, wie sehr das Buch den Bedürfnissen der Gelehrten¬ 
welt entgegenkam, sie förderte, ja befriedigte. Verfasser und Ver¬ 
leger sind zu beglückwünschen, daß sie trotz der sich solchen Unter- 
, nehmen gegenüber heutzutage auftürmenden Hindernisse die Tat ge¬ 
wagt und vollbracht haben. 

Ich habe mich über das Buch in seiner Urgestalt in dieser Zeit¬ 
schrift (1913 Nr. 4 S. 227 — 244 und 1914 Nr. 9 und 10 S. 624—632) 
eingehend ausgesprochen, sodaß ein erneutes Eingehen auf das Ge- 
samtwerk um so mehr erübrigt, als der Verfasser im Vorworte er¬ 
klärt, daß er die in der ersten Ausgabe aufgestellten Ansichten im 
allgemeinen durchaus aufrecht zu erhalten in der Lage gewesen ist, 
und daß die vielfach gegen einzelne derselben erhobenen Einwände 
ihn nur zu einer nochmaligen Nachprüfung derselben aber kaum zu 
einer Abänderung veranlaßt hätten. Daher ist, obwohl man überall 
die bessernde Hand des Verfassers spürt und er deutlich mit Erfolg 
bestrebt gewesen ist, nicht nur die neuerschienene Literatur, sondern 
auch ältere, bei der ersten Ausgabe übersehene Arbeiten ergänzend 
heranzuziehen, der Umfang der beiden Bände nicht wesentlich ge¬ 
wachsen : Band I umfaßt statt 369 in der ersten Auflage in der zweiten 
deren 402 und der Text des zweiten Bandes statt 360 nur 374. Aber 
dieser zweite Band hat erfreulicherweise durch ein nach der Buch¬ 
stabenfolge geordnetes Register von 64 Seiten sehr an Umfang ge¬ 
wonnen; dadurch wurde die Brauchbarkeit des Buches gefördert und 
erleichtert. Ferner ist im zweiten Bande insofern eine grundlegende 
Aenderung vorgenommen, als der Verfasser seinen neunten Para- 











Dopsch, Die Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit usw. 213 

graphen ganz neugestaltet hat, indem er darin statt der »Grund- 
herrlichkeit (Immunität und Vogtei)< nunmehr das »Städtewesen« be¬ 
spricht, welches in der ersten Auflage, wie den meisten Mitforschenden 
wohl selbstverständlich erschienen war, keine abgesonderte Behandlung 
gefunden hatte. Ich halte es daher für meine Pflicht, darauf an dieser 
Stelle genauer einzugehen. 

Zuvor aber muß ich bemerken, daß es dem Verfasser wohl nicht 
mehr möglich war, meine in der Besprechung seiner »Grundlagen« 
hervorgehobenen Bedenken gegen das Fortbestehen der Römerstädte 
als Wirtschaftskörper am Rhein und gegen die einheitliche Behand¬ 
lung der deutschen Marken zu berücksichtigen (in dieser Zeitschrift 
1920 Nr. 1—3). Er beruft sich bei der Darstellung der Markverhält¬ 
nisse daher nur auf die Arbeit von H. Schotte, hat aber die später 
in den Gierkeschen Untersuchungen als Heft 130 erschienene Münste- 
rische Dissertation von D. Philippi über die »Erlexen« noch nicht 
benutzt. Vielleicht würde er doch durch diese Anregungen eine an¬ 
dere Ansicht von den Markverhältnissen der Karolingerzeit gewonnen 
haben und, womit ich zu dem neu eingestellten Kapitel über Städte¬ 
wesen übergehe, zu einer anderen Bewertung der wirtschaftlichen 
Rolle der Römerstädte am Rheine gelangt sein. 

Die Darlegungen über das Städtewesen zeigen ebenso wie die 
daran anschließenden beiden Paragraphen (10) das Gewerbe und (11) 
Handel und Verkehr, die alle unter einander in engem Zusammen¬ 
hänge stehen, eine erstaunliche Belesenheit in den Quellen und ein 
glänzendes Vermögen, den Anschauungen anderer Forscher gerecht 
zu werden und sich nötigenfalls mit ihnen auseinanderzusetzen; es 
läßt sich aber nicht verkennen, daß die dabei notwendige Klein¬ 
arbeit manchmal die leitenden größeren Gesichtspunkte überwuchert hat. 
Dasselbe Verhältnis hat es auch wohl verschuldet, daß die Begriffe 
Stadt und Markt nicht scharf genug begrifflich Umrissen und für die 
lange Reihe der Jahrhunderte (8.—12.) gleichwertig eingestellt sind. 
Vor allem aber erscheint nicht genügend berücksichtigt, daß die wirt¬ 
schaftlichen und Kulturverhältnisse in dem weiten Karolingerreiche 
nicht einheitliche waren, ja, in Innerdeutschland, besonders in dem neu¬ 
errungenen Sachsenlande geradezu in einem vollen Gegensätze zu den 
noch von der Mittelmeerkultur beeinflußten Zuständen in Frankreich 
standen und auch von den ebenfalls durch die Nachwirkung der An¬ 
tike berührten süddeutschen Verhältnissen ganz wesentlich verschieden 
waren. 

Für die zur Besprechung stehenden Zeiten kommt das Wort 
»Stadt« in dreifacher Bedeutung in Frage 1. Umfangreichere An¬ 
sammlung von Wohnstätten, 2. Wirtschaftskörper, 3. Verfassungs- 


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Gott. gel. Anz. 1923. Nr. 7—12 


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körper. Wenn nun Dopscli behauptet, daß es zur Karolingerzeit in 
Deutschland zahlreiche Städte gegeben habe, so kann man ihm das 
in Berücksichtigung der ersten Bedeutung unbeanstandet zugeben und 
auch für die Römerstädte im Rhein- und Donaugebiete bejahen, wäh¬ 
rend man für die vom Verfasser auch herangezogenen > Bischofstädte < 
Bedenken erheben muß. Dagegen ist die Ansicht, zu welcher Dopsch 
neigt, daß die umfangreichen Wohnplätze auch wirtschaftlich sich 
wesentlich von 'den kleineren Wohnplätzen auf dem Lande unter¬ 
schieden hätten, unbedingt zu verneinen: es ist auch Dopsch nicht 
gelungen, für irgend eine deutsche Stadt selbständiges städtisches 
Gewerbe und einen selbständigen Handel oder gar einen Markt im 
Sinne des Mittelalters — ich komme gleich darauf zurück — nach¬ 
zuweisen; dagegen habe ich in der oben angezogenen Stelle darge¬ 
legt, daß die Bevölkerung von Mainz, der einzigen Stadt, über welche 
wir für jene Frühzeit einige Nachrichten besitzen, im achten Jahr¬ 
hunderte im wesentlichen Ackerbau und Viehzucht getrieben hat; 
selbst die Schiffahrt, zu welcher die Lage der Stadt geradezu zwang, 
war nur mangelhaft entwickelt. Diesem Ergebnisse gegenüber kommen 
die zudem noch nicht vollgeklärten, sehr dankenswerten Hinweise 
(S. 172) des Verfassers auf officinae und ähnliches nicht in Betracht. 
Es ist ein grundlegender Irrtum zu glauben, daß sich in den Rhein- 
und Donaustädten einschließlich Triers und Augsburgs römisches Leben 
erhalten habe, wie ich das auch a. a. 0. dargetan habe. Darüber aber, 
daß von der Munizipalverfassung der Römerstädte keinerlei Spur 
sich ins Mittelalter gerettet hat, besteht wohl kaum eine Meinungs¬ 
verschiedenheit. Man kann daher die Behauptung Dopschs, daß zur 
Karolingerzeit zahlreiche Städte in Deutschland vorhanden gewesen 
seien, nur in dem oben eingeschränkten Sinne gelten lassen, muß sie 
aber in dem Umfange, in welchem sie der Verfasser aufgefaßt sehen 
will, mit der ganzen älteren Forschung nach wie vor verneinen. 

Wie es dagegen in den alten westfränkischen Städten, die Bischof¬ 
städte und alte Völkerschaftsmittelpunkte waren, ausgesehen hat, weiß 
ich nicht zu sagen, soviel jedoch steht fest, daß in ihnen der Handels¬ 
verkehr nie ganz aufgehört hat; denn auf sie beziehen sich die zahl¬ 
reichen Bestimmungen über Märkte, Zölle und Schiffahrtsabgaben auf 
den großen Flüssen, besonders auf der Loire, die in den Capitularien 
begegnen, in erster Linie. Ebensowenig kann bei dem jetzigen Stande 
der Forschung gesagt werden, was der Ausdruck Markt (mercatus) im 
einzelnen für sie bedeutet, d. h. wie auf diesen Märkten der Verkehr 
organisiert und lokalisiert war. Alle diese Dinge kommen jedoch für 
das innere Deutschland kaum in Betracht, d. h. für Sachsen gar nicht 
und für Franken, Alemannien, Schwaben, Bayern und Thüringen, wenn 




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1 


Dopsch, Die Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit usw. 215 


überhaupt, nur in ihren tastenden Anfängen. Man muß sich wundern, 
wenn derselbe Gelehrte, der mit Recht das capitulare de villis nach 
Aquitanien verwiesen hat, aus gelegentlichen Bemerkungen darin über 
Märkte Schlüsse für das ganze weite Karolingerreich, auch für Deutsch¬ 
land, ziehen will. Und wie beim capitulare de villis liegen die Ver¬ 
hältnisse mehr oder weniger bei allen diesen Verordnungen und Ge¬ 
setzen: sie haben die entwickelte westfränkische Wirtschaft im Auge, 
passen aber nicht auf die einfachen Verhältnisse des alten Deutsch¬ 
lands. Denn daß in diesen Gegenden im neunten geschweige denn im 
achten Jahrhundert Märkte im Sinne der Capitulargesetzgebung nicht 
bestanden haben, geht doch auch aus Dopschs eigenen Darlegungen 
S. 114 ff. klar hervor. Nur Corvey, das Sachsenkloster nach fränki¬ 
schem Vorbilde, hatte sich allerdings 833 eine Münzberechtigung mit 
Rücksicht auf einen zu begründenden Markt verleihen lassen, und dem 
fränkischen Kloster St. Denis war die Gründung eines Marktes auf 
einer seiner deutschen Besitzungen (Eßlingen) gestattet worden. Das 
sind die deutschen Märkte der Karolingerzeit; sie sind Ausnahmen, 
welche die oben aufgestellte Regel glänzend bestätigen und Jahr¬ 
zehnte lang ohne Nachfolge blieben. Diesem klaren Ergebnisse der 
zu Gebote stehenden Quellen können Behauptungen (S. 116) >In der 
Regel werden auch bei diesen befestigten Orten (castella) Märkte 
sich gebildet haben« Beweiskraft kaum haben. Es kann zugegeben 
werden, daß bei diesen Orten gelegentlich ein Handelsverkehr sich 
entwickelt haben kann, von einem Markt im Rechtssinne — ich 
komme gleich darauf — findet sich aber nirgend eine Spur; wenigstens 
finde ich von dem so belesenen und umsichtigen Verfasser keine Be¬ 
weise dafür beigebracht. Daher sieht er sich auch gezwungen, sich 
so vorsichtig auszudrücken. Ueber die eigentliche Zeit der Markt¬ 
gründungen nach italienischem Muster im eigentlichen Deutschland 
unter den letzten Ottonen ist hier nicht zu reden; ich verweise dazu 
auf meine Darlegungen in der deutschen Literaturzeitung 1 ). Ebenso 
muß ich darauf verzichten, an dieser Stelle den mittelalterlichen Markt 
in den Städten zu charakterisieren; nur soviel 6ei gesagt, daß man 
nie ein richtiges Bild davon gewinnen wird, solange man mit neuzeit¬ 
lichen Vorstellungen an die Quellen heran tritt und nicht von der 
richtigen alten Anschauung ausgeht, daß nur die auf den obrigkeitlich 
beaufsichtigten Märkten getätigten Verkaufsverträge auch von der 
Obrigkeit geschützt worden sind, d. h. mit anderen Worten als Rechts¬ 
geschäfte anerkannt wurden, gegenüber anderen Handelsabkommen, 

1) Ich habe mich eingehend über diese Entwicklungen in der deutschen Lite¬ 
raturzeitung 1916 Nr. 32/33 und 1917 31/33 ausgesprochen. Diese Darlegungen 
sind offenbar Dopsch entgangen. Dort auch die nötigen Belege. 


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216 


Gott. gel. Anz. 1923. Nr. 7—12 

die als reine Privatabmachungen galten und nicht einklagbar waren. 
Von einem Handel im Rechtssinne konnte also nur an Orten die 
Rede sein, an welchen Märkte abgehalten wurden. Diese Auffassung 
ergibt sich z. B. auch klar aus den Anschauungen der Wickinger, die 
je nach Lage der Sache Kaufleute oder Seeräuber waren. Es kann 
also von einem rechtlich gesicherten Handelsverkehr im Innern Deutsch¬ 
lands für die Zeit, in welcher noch keine Märkte bestanden, nicht wohl 
gesprochen werden. Diese Tatsache bestätigen auch die von Dopsch 
mit Recht immer wieder herangezogenen Verordnungen, welche den 
Handelsverkehr an der deutschen Ostgrenze regelten. Nur der Kauf¬ 
verträge, welche an den in ihnen namhaft gemachten Orten abgeschlossen 
wurden, nahmen sich die deutschen Behörden an; was die Kaufleute 
an anderen Orten unternahmen, unternahmen sie auf eigene Gefahr. 
Daß in der Fassung die Capitularien die fiskalische Seite der Sache 
hervorheben, ändert an der oben betonten Tatsache nichts. 

Es ist nun zwar sehr schwer, sich von der Bedeutung, welche 
die von Dopsch nach gewiesenen Handelsgeschäfte für die Regelung 
des Volkshaushaltes besaßen, Rechenschaft zu geben, aber es ist doch 
wohl nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, daß sie auf das ge¬ 
samte Wirtschaftsleben nur einen sehr geringen Einfluß geübt haben 
können. Das beweisen schon die Gegenstände, die gehandelt wurden. 
Die Bedürfnisse des täglichen Lebens, der breiten Schichten des Volkes 
an Kleidung, Nahrungsmitteln und Geräten spielen darunter kaum 
eine Rolle und für sie bleibt die Aufstellung Karl Büchers zu Recht 
bestehen, daß sie keinen Umlauf als Handelsgüter gehabt haben, son¬ 
dern vom Verbraucher oder seiner nächsten Umgebung ihm beige¬ 
schafft worden sind. Mir ist daher die wiederholte Polemik gegen 
diesen Gelehrten nicht ganz verständlich. Er hat meines Erachtens 
den Stand der Wirtschaft jener Zeit durchaus richtig in seinen großen 
Zügen gezeichnet, wenn er auch im Bestreben, das Kennzeichnende 
klar zu betonen, im einzelnen zu weit gegangen ist. 

Dasselbe, was ich vom Handel gesagt habe, gilt im allgemeinen 
auch von Dopschs Darlegungen über das Gewerbe der von ihm be¬ 
handelten Zeit. So lehrreich alle die mit bewunderungswürdigem 
Spürsinn zusammengebrachten Einzelheiten über gewerbliche Betäti¬ 
gung wirken, so können sie dennoch nicht darüber wegtäuschen, daß 
es sich dabei wesentlich um Beschaffung von Luxusgegenständen und 
Bedürfnissen der oberen Schichten des Volkes handelt, nicht aber um 
die Lebenserfordernisse des gemeinen Mannes, der wesentlich für sich 
selber sorgte, wenn er auch gelegentlich vielleicht einen friesischen 
Mantel und ein rheinisches Messer von einem hausierenden Händler 
eingehandelt hat. Die Versuche Dopschs aber, für jene Frühzeit schon 


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Dopsch, Die Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit usw. 217 

die Keime der späteren Handwerkerzusammenschlüsse nachzuweisen 
(S. 136, 177), kann ich schon aus dem Grunde nicht als gelungen 
anerkennen, weil den von ihm namhaft gemachten Organisationen das 
bedeutsamste Merkmal der mittelalterlichen Handwerkervereine ab¬ 
geht, die Beziehung zum Markthandel; denn es kann nicht oft und 
scharf genug betont werden: der organisierte mittelalterliche Hand¬ 
werker ist ebenso Kaufmann oder Händler wie Gewerbetreibender. 

Ich möchte jedoch mit diesen Widersprüchen meine Besprechung 
nicht schließen, um nicht den Schein zu erwecken, als wenn ich die 
außergewöhnliche Bedeutung des Dopsch’schen Buches nicht erkennen 
oder anerkennen wolle. Daher möchte ich zum Schlüsse noch auf eine 
wieder einmal glänzende Feststellung des Verfassers hinweisen, welche 
richtig verfolgt meines Erachtens die ganzen mittelalterlichen An¬ 
schauungen vom Wesen des Kaufmanns klarer wird erkennen lassen: 
ich meine sein entschlossenes Anfassen der Frage nach dem Kauf¬ 
mannsrecht des frühen Mittelalters. Er weist mit Recht auf die ganz 
persönliche Seite dieses Rechtes hin (S. 132 ff.). 

Es sei mir gestattet, hier zu diesen Verhältnissen unter Heran¬ 
ziehung späterer klarer Analogien Stellung zu nehmen. Ich fasse die 
Rechtsverhältnisse in den Kaufstädten, den mercatus oder fora der 
Karolingerzeit so auf, daß die Stadtherren diese Siedlungen einer 
Gruppe von Unternehmern (locatores, dann possessores) mit der Auf¬ 
lage übertragen haben, in der betreffenden Oertlichkeit die für den 
Marktverkehr notwendigen Einrichtungen zu treffen, d. h. also Stände 
(stationes) zum Auslegen und Häuser oder Schuppen zum Niederlegen 
der Waren anzuordnen. Diese, so wertvolle Güter bergenden Anlagen 
mußten außerdem selbstverständlich einigermaßen gegen räuberische 
Ueberfälle etwa durch Wall und Graben oder wenigstens ein Verhau 
geschützt werden. Zur Verteidigung werden die Einwohner selbst in 
den meisten Fällen ausgereicht haben. Einen solchen Gründungs¬ 
vorgang haben wir noch bei Lübeck anzunehmen, wie die überzeugenden 
Darlegungen Fritz Rörigs (Der Markt zu Lübeck) erkennen lassen, 
und auch die Gründungsurkunde von Freiburg im Breisgau ist offenbar 
ähnlich zu erklären. Den Plan einer solchen Gründung aus der zweiten 
Hälfte des zehnten Jahrhunderts glaubt J. P. Meier mit Recht in 
dem Kerne des Städtchens Gittelde gefunden zu haben (Niedersäch¬ 
sischer Städteatlas Tafel I S. 5). Die Unternehmer solcher Siede¬ 
lungen möchte ich also als die negotiatores, die privilegierten Kauf¬ 
leute, welche am Orte allein das Handelsrecht besaßen, ansehen. Die 
gratia emendi et vendendi erscheinen sie allerdings weiter zu ver¬ 
leihen berechtigt und zwar an diejenigen, welchen sie den Zutritt 
zu ihrer Einung, zu ihrer Hansa gegen Erlegung der »Innungen« oder 






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218 Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 7—12 

der > Hansa < gestatteten. Die so verliehenen Rechte konnten selbst¬ 
verständlich abgestuft werden. So haben gelegentlich die alten Voll¬ 
bürger (Patrizier) zwar das Verkaufsrecht weiteren Kreisen (Hand¬ 
werkern) verliehen, aber das Einkaufsrecht sich Vorbehalten (Brakei 
im Paderbornschen). Auf diese Weise glaube ich, können die lehr¬ 
reichen Hinweise Dopschs der Forschung weiter dienstbar gemacht 
werden. 

So nehme ich von der zweiten Auflage des grundlegenden Werkes 
mit demselben Wunsche Abschied, wie von der ersten: dem Wunsche, 
daß es dem Verfasser, nachdem er auch noch in seinen »Grundlagen 
weiter zurückgegriffen und seine Grundmauern tiefer verankert hat, 
bald beschieden sein möge, der gelehrten Welt eine Darstellung 
der in seinen Untersuchungen geklärten Wirtschaftsverhältnisse jener 
frühen Zeiten, wenn vielleicht zunächst auch nur in großen Zügen, zu 
schenken. 

Münster i. W. Dr. phil. et jur. F. Philippi. 


E. Täubler, Die Vorgeschichte des zweiten punischen Kriegs. 

Berlin 1921, Schwetschke und Sohn. 

Täubler sucht zu zeigen, daß die strittige Liste von 241 kartha¬ 
gischem Vertragsbrauche entsprach und der Ebrovertrag aus den 
Verhandlungen von 219 in die des Jahres 218 verschoben wurde. 
Nach karthagischer Auffassung habe der Frieden von 241 den Kreis 
der Bundesgenossen ein für allemal festgelegt. Da Sagunt 241 noch 
nicht mit Rom verbündet gewesen sei, falle es nicht unter diesen 
Vertrag. Hannibal habe geschickt Römer wie Karthager vor eine un¬ 
lösbare — weil aus verschiedenen Rechtssphären erwachsene Frage 
gestellt, um seinen Zweck zu erreichen. — Da aber in sämtlichen 
Verträgen der Kreis der Bundesgenossen erweiterungsfähig ist, können 
wir meines Erachtens auch Karthago eine andere Auslegung nicht 
Zutrauen. Nach meiner Ansicht läßt sich die saguntische Frage nur 
folgendermaßen lösen: Sagunt gehörte zur Eparchie Karthagos, 
vgl. Polybios III30,2: ZaxavOaiot oo KapxtjSovtois eiritps^av, xaittep 
. kyyix; ovtüjv autwv xai ti xata xrjv ’lßrjpiav yj 8 7) Jtpattövtwv, 
aXXa Tttpalotc. Diese Worte können nicht mit Täubler auf die Früh¬ 
zeit der kolonialen Tätigkeit der Karthager in Spanien gedeutet wer¬ 
den, da diese bereits vor den Beginn des ersten punischen Krieges 
fällt (Polyb. 110,5. Hl, 6: avextäto ta xata trjv ’lßiqptav jrpA?p.ata 
tot? KapxijSovfotc). Die Worte können nur besagen, daß Spanien 
Eparchie Karthagos war. Rom verstieß also aufs schärfste gegen 
den Vertrag von 241, als es mit Sagunt ein Bündnis schloß (Polyb. 


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LIFORNIA 











— 


Täubler, Die Vorgeschichte des zweiten punischen Kriegs 


219 


11127,4 [UjSstdpooi; lv taic aXXrjXoiv ixap^tat? p.r|8sv ixitaTteiv. x. x. X.). 
Eine offensichtliche Herausforderung Karthagos war dann die Ein¬ 
mischung Roms in den saguntischen Bürgerzwist. Hasdrubal ist em¬ 
pört, die römischen Gesandten suchen ihn zu besänftigen, da Rom 
ein Losschlagen Hasdrubals damals sehr unwillkommen gewesen 
wäre. Des Polybios Worte II13, 6 xata^aavts? 8k xai xpaovavtsc xöv 
’AoSpoüßav zwingen zur Ansetzung des Bürgerzwistes kurz vor den 
Ebrovertrag. Der gutmütige Hasdrubal läßt sich zum Ebroab¬ 
kommen herbei; diese Tatsache schon schlägt alle ihm kriegerische 
Absichten zuschreibenden Angaben zu Boden. Zur Revanche hätte er 
gerade 226 die beste Gelegenheit gehabt. 

Im Gegensätze zu Täubler bin ich der Ansicht, daß uns von 
Polybios der Ebrovertrag nicht vollständig überliefert worden ist. Das 
ergeben für mich die Worte 1113,7 StaTrpeoßsooÄpLsvoi jcpö? xöv ’Aa- 
Spoößav xonqoaodat oovfbjxas, iv af? ttjv p.sv aXXvjv IßTjpiav xa- 
peoitaxtov x öv 8e xaXou[isvov Hßtjpa xoxajiöv oox l'Ssi KapyyjSovi'ooc 
exl iroXiftip Siaßatvsiv. Das andere Spanien kann nur im Gegensätze 
zu einem Gebiete, einer Stadt genannt gewesen sein, nicht zu einem 
Flusse! Um welches Gebiet es sich gehandelt, sagen die Worte 
III 15,5 8is{iapxopovxo Zaxavdouwv airex E0 ^ at — xsiadat yap ao- 
tot><; kv xrj a-pstEpct xiaxet —, xai xöv v lßrjpa xoxafjibv {fr) ötaßaivstv xaxa 
xa<; ix’ ’Aoöpoößou ojioXoYias. Hier überliefert uns Polybios 

den ganzen Vertrag, allerdings unwissentlich; vgl. Livius XXI2,7 
cum hoc Hasdrubale foedus renovaverat populus Romanus, ut finis 
utriusque imperii esset amnis Hiberus Saguntinisque mediis inter im- 
peria duorum populorum libertas servaretur. 18,9 eo foedere, quod 
cum Hasdrubale ictum est, Saguntini excipiuntur. 44,5 (Rede Hanni- 
bals) »circumscribit includitque nos terminis montium fluminumque, 
quos non excedamus > ne transieris Hiberum! (so ist zu trennen!) 
ne quid rei tibi sit cum Saguntinis!« 

Entscheidend ist, daß Karthago den Ebrovertrag 218 ablehnte. 
Das wäre unverständlich, wenn nur die Ebrogrenze erwähnt gewesen 
wäre. Den Ebro hatte Hannibal noch nicht überschritten. Wir müssen 
also auch hieraus schließen, daß Sagunt im Ebrovertrage ausdrück¬ 
lich erwähnt war. Täublers Ansicht, bei Livius und Dio-Zonaras liege 
eine Erweiterung des Ebrovertrages vor, ist also abzulehnen. Für 
unrichtig halte ich ferner Täublers Meinung, nach der Hannibal den 
Römern 219 vorgeworfen haben soll, den römisch-saguntischen 
Vertrag verletzt, im saguntischen Bürgerzwiste ein ungerechtes Urteil 
gefällt zu haben. Nein, Hannibal hielt ihnen die Verletzung des Ver¬ 
trages von 241 vor! Wie Rom kurz vor 226 widerrechtlich das 
Karthago zustehende Schiedsrichteramt angenommen hatte, so bean- 


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•Vp : 


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an«... 


220 


Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 7—12 




sprucht Hannibal dieses jetzt für sich, obwohl Hasdrubal sich dieses 
im Ebrovertrage begeben hatte. Hannibal greift also mit Recht auf 
den Friedensschluß von 241 zurück. Hannibals Antwort bei Polybios 
paßt ausgezeichnet! — Täubler irrt, wenn er 219 an Zerwürfnisse 
zwischen Saguntinern und Torboleten denkt (Appian Ib. 10 ). Denn 
es heißt bei Polybios III 15,8, Hannibal habe nach Karthago ge¬ 
schickt, weil die Saguntiner tivä? tü>v u<p’ aoToö? Tattopivtüv aSi- 
xoöat. Es müßten demnach mindestens zwei Völkerschaften sein! Wir 
haben wie auch kurz vor 226 einen Bürg er zwist anzunehmen. Daß 
es sich um eine karthagische und eine römische Partei gehandelt 
haben muß, folgere ich aus Polyb. III15,7, wo wir hören, daß Rom 
einige führende Männer in Sagunt (nva? tüv irposatamöv) beseitigt 
hat. Diese werden konservativ gewesen sein und die Interessen Kar¬ 
thagos vertreten haben, zu dessen Eparchie sie gehörten. 

Täubler glaubt, daß die Ablehnung der Bestimmungen des Ebro¬ 
vertrages seitens Karthagos nach Sagunts Fall 218 ins Jahr 219 zu 
rücken sei. Mit nichten! 219 lag ja kein Grund zur Diskussion über 
dessen Gültigkeit vor; denn Hannibal hatte noch nicht dagegen ver¬ 
stoßen, wohl aber 218, als Sagunt gefallen war. Jetzt mußte Kar¬ 
thago prinzipiell Stellung zu ihm nehmen und seine Hinfälligkeit zu 
erweisen suchen. Mit Recht beruft sich Karthago auf den Staats¬ 
vertrag von 241, gegen den Rom in schärfsterWeise verstoßen hatte. 
Hasdrubal war nicht befugt zur Abschließung des Ebroabkommens 
(Pol. 11121,3 (ot Kapyirjoovtoi) ijcteCov Se xai TrpoaajnjpeiSovto itap 5 oXtjv 
tfjV SixatoXo^lav eiri ta? teXsiyraia? oovtbjxa? ta? Ysyopiva? iv Ttj> irspi 
EixeXia? xoXspup. 4. iv ai? irept piv ’lßtjptac oüx lipaaav örcäpyetv iYfpa- 
90 V ooSsv, Ttepi 8 e xoö tot? Ixatspwv aoppayoi? rijv irap’ aütä>v acvfd- 
Xeiav elvai pTjTüx; xaratstdyö'at. 5. Zaxavüaioo? 8 s JtapeSsixvoov oox 
ö'vta? töte 'Pü){iai(ov aup.p.äyoo?, xai jrapavsi’qveooxov xpö? toöto jtXso- 
vaxt? ta«; oov 0 "» 3 xa?. Sagunt wurde 241 nicht ausgenommen, daher die 
genaue Verlesung der Bestimmungen. 

Ich kann Täubler nicht beipflichten darin, daß Hamilkar und 
Hanno sich nach Niederwerfung des Söldneraufstandes um die Strategie 
Libyens gestritten hätten; denn Diodor XV. fragm. 8 (Exc. de virt.) 
sagt, Hamilkar habe die Strategie ganz Libyens erstrebt £aot<j> 
xapaSoövai rijv arpatr^tav 0 Xt] ? rrj? Aißörj? et? oXqiotov. Wir müssen 
also mehrere Strategien in Libyen unterscheiden! Gegen Täubler 
halte ich daran fest, daß der Parteizwist in Karthago den römischen 
Gesandten bereits 220/19 deutlich geworden sein muß, sonst hätten 
sie ihre unverschämte Forderung nicht stellen können! — Daß Rom 
erst nach Sagunts Fall an Karthago herantritt, erkläre ich aus Be¬ 
stimmungen, wie wir sie bei Polyb. III 22 , 12 . 24,5 finden, wo es 


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FORNIA 


















Täubler, Die Vorgeschichte des zweiten punischen Kriegs 221 

heißt, daß Karthago etwa eroberte latinische Städte Rom überliefern 
solle. Nach Art solcher Verträge hatte Rom gehofft, Hannibal werde 
nach Schlichtung der Streitigkeiten Sagunt zum mindesten seine Frei¬ 
heit lassen. — Abzulehnen ist die Ansicht, Hannibal habe von An¬ 
fang an den Krieg gewollt. Nein, Rom drängt ihn dazu. Er hat zu¬ 
nächst nicht einmal an den Zug nach Italien gedacht. Nur für den 
Fall, daß er weggerufen werde, soll Hasdrubal das Kommando in 
Spanien übernehmen iav aütöc x<opiCi]Tat ttoo (Pol. III33, 6). Nicht e r 
wiegelt die Kelten auf, sondern sie rufen ihn (Pol. III34,1—3.4). 
Als ihr Befreier tritt er stets auf (III77, 4.6). Hannibal wußte, daß 
Rom es auf Karthagos Vernichtung abgesehen hatte. Im Gegensätze 
zu Täubler bin ich Theodor Mommsens Ansicht, daß Rom seit 264 
eine antikarthagische Politik trieb. Täubler sieht in dem anfänglichen 
Zögern Roms 219/18 und dem plötzlichen Umschwung nach Sagunts 
Fall ein Heranreifen und einen Durchbruch eines neuen politischen 
Gedankens. Das politische System in Rom soll viermal (264/41 41/38 
38/19 19/18) verändert worden sein. Die Römer hätten 264 noch 
nicht an ganz Sizilien gedacht! 219/18 sei die Genesis der römischen 
Mittelmeerpolitik! 241—238 habe Rom Verständnis für seinen geo- 
politischen Ausbau gewonnen. 264 seien Roms Absichten nicht über 
Messana hinausgegangen; nach dem Falle von Akragas 262 (Pol. 120) 
habe Rom seine Ansprüche auf ganz Sizilien ausgedehnt. Dem ist 
entgegenzuhalten, daß Rom nach Einnahme Messanas Sizilien nicht 
verließ. Die den Mamertinern zugesicherte Hülfeleistung war erledigt. 
Der Uebergang nach Sizilien war ein schlimmer Vertragsbruch; nach 
Philinos Buch II (Pol. III26,3) durfte Rom nicht nach Sizilien, wie 
auch Karthago das Landen auf italischem Boden verboten war. Täublers 
Begründung, Messana habe kein karthagischer Brückenkopf werden 
dürfen, hält nicht stich, da ja anfangs Karthago mit Syrakus im Bunde 
stand. Auch vermag ich nicht mit Täubler im Ebrovertrage die Ge¬ 
winnung eines Brückenkopfes für Rom am Ebro zu erblicken; denn 
die dazwischenliegende spätere Gallia Narbonensis war ja noch frei! 
Täubler überzeugt nicht, wenn er meint, Rom würde 241 Sardinien 
gefordert haben, wenn ihm die Bedeutung dieser Insel damals klar 
gewesen wäre. Ich stimme durchaus Mommsen bei, daß Rom be¬ 
fürchtete, durch Stellung dieser Forderung die Karthager zur Fort¬ 
führung des Krieges zu veranlassen. Rom war auch am Ende seiner 
Kräfte. 259 hatte C. Sulpicius einige Erfolge auf Sardinien, mußte 
es aber wieder aufgeben. Als Karthago im Söldnerkriege um seine 
Existenz rang, wollte Rom den Schein des Rechts wahren und lehnte 
das Angebot der Sarden ab; denn es hoffte, Karthago werde erliegen. 
Als diese Hoffnung zuschanden ward, ergriff Rom rücksichtslos Besitz 


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222 


Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 7—12 









von Sardinien; es hatte ja jetzt eine Verteidigung des ermatteten 
Gegners nicht zu befürchten. So erklären sich auch die ungemein 
harten Zusatzbedingungen zum Vertrage von 241. Mithin erblicke ich 
im Gegensätze zu Täubler in Livius XXI40,5 (Scipios Rede am Po) 
capta belli praemia Siciliam ac Sardiniam habetis und 41,14 non 
de possessione Siciliae ac Sardiniae, de quibus quondam agebatur 
eine gute Ueberlieferung. Mit Recht wird auch XXII54 ,11 Sardinien 
als römisches Kriegsziel hingestellt (clade ad Aegatis) fracti Sicilia ac 
Sardinia cessere. Bedeutsam endlich ist die Angabe des Polybios 
(1171,7), Rom habe im ersten punischen Kriege mit Karthago um 
das Meer gestritten! — Näheres führe ich in meinem >Hannibal< aus. 

Daß die Nachrichten über karthagische Umtriebe auf Sardinien 
in den Jahren 235—233 gefälscht sind, hat Täubler einwandfrei nach¬ 
gewiesen, desgleichen, daß der Zusammenhang bei Zonaras und mit 
dem Janus clausus eine Fälschung ist. Ebenso hat er gezeigt, daß 
die livianisch-zonarische Tradition, nach der Karthago 272 wegen 
Tarents interveniert habe, erfunden ist. Ennius hat die Fälschung 
über den Konflikt von 235 nicht enthalten. 

Dagegen muß ich Täubler widersprechen, wenn er meint, wahr¬ 
scheinlich habe die ganze römische Annalistik, einschließlich Fabios, 
übereingestimmt mit der von Polybios III 20 ,5 gegeißelten Darstellung 
des Chaireas und Sosylos, nach der im römischen Senat noch heftige 
Debatten stattfanden, obwohl Sagunt bereits gefallen war. Für die 
Glaubwürdigkeit der Nachricht bürgen die Namen der beiden ausge¬ 
zeichneten Historiker. Die Einsichtigen in Rom werden an den Ver¬ 
trag von 241 erinnert und auf den Bruch dieses Vertrages (kurz vor 
226) hingewiesen haben. Die römische Annalistik hatte guten Grund 
dies zu verschweigen; der Rationalist Polybios hält eine Debatte nach 
Sagunts Fall für unsinnig. Uebrigens würde er gegen Fabios nicht 
so scharf polemisiert haben! Ferner müßten sich bei Livius Spuren 
dieser Ueberlieferung finden! Cassius Dio hat die Nachricht der 
griechischen Historiker übernommen, aber natürlich mit umgebogener 
Tendenz; er will die Engelsgeduld Roms, selbst nach Sagunts Fall, 
vor Augen führen. 

An Druckfehlern sind mir aufgefallen: S. 31 Z. 6 secundum (statt 
primum), S. 37 Z. 14 zweiten (statt ersten), S. 70 Anmerkung 119 
5 rpoa{b)oö[j.ovot (statt Ttpoorr^oöp.svot), S. 71 Anmerkung 125 otpatlYÖv, 
qnae, S. 79 Z. 19 ist zu lesen: >daß die Römer die Karthager usw.<, 
S. 108 oovSßiq, S. 110 Z. 8 Vertragsblidung, S. 111 Ixaotoo, S. 112 
geschlosenen. 

Münster i. W. Hugo Behrens. 









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Souter, Pelagius’ expositions of tbirteen epistles of St. Paul 


223 


A. Souter, Pelagius’ expositions of thirteen epistles of St. Paul. 
Introduction (Texts and studies. Contributions to biblical and patristic Lite- 
rature edited by J. A. Robinson. Vol. IX, Nr. 1). Cambridge 1922, University- 
Press. XVI, 360. 40 s. 

Dies Buch bringt noch nicht die »sehnsüchtig erwarteten Texte 
des Pelagiuskomraentars< (A. Jülicher, Protest. Monatshefte 1921, 
S. 73), an denen A. Souter, der gelehrte Latinist der Universität 
Aberdeen, seit 1904 arbeitet; aber es ist ihr Vorläufer: es gibt die 
Prolegomena. Die Texte mit ihrem Apparat und den Indices sind im 
Druck und sollten in Vol. II, ungefähr ein Jahr nach diesem ersten, 
also etwa im Mai 1923, erscheinen. Beabsichtigt war zunächst auch 
noch ein dritter Band, der die Interpolationen des ursprünglichen 
Pelagiuskommentars und damit die urkundliche Grundlage für dessen 
Geschichte in den nächsten Jahrhunderten nach Pelagius bieten sollte; 
Souter hat die Arbeit, die hier nötig war, auch schon getan. Aber 
ihre Drucklegung ist aufgeschoben, bis günstigere wirtschaftliche Ver¬ 
hältnisse eintreten. Der vorliegende Band ist also in Rücksicht auf 
das Ganze etwas Unvollkommenes. Für sich allein betrachtet aber 
ist er ein Muster einer in ihrer Art vollkommenen »Introduction«. 
Gleich umfangreiche Vorarbeiten, gleichen Fleiß und gleiche Sorgfalt, 
wie der Pelagiuskommentar sie erforderte, wird selten ein Heraus¬ 
geber aufzuwenden haben. Neun Reisen nach dem Kontinent sind 
nötig gewesen, über 200 Handschriften sind mehr oder minder genau 
studiert und den unmittelbar für den Pelagiuskommentar wichtigen 
ist eine peinlich genaue paläographische und philologische Sorgfalt 
gewidmet worden, deren in Tabellen und Uebersichten niedergelegten 
Resultate die viele Arbeit, die hinter ihnen liegt, nur dem Kundigen 
verraten. 

Wie weit die durch den Berliner Keltologen H. Zimmer (f 1910) 
angeregte, durch E. Riggenbach, Hellmann und seine eigenen 
glücklichen Bemühungen weitergeführte Forschung über den seit Jahr¬ 
hunderten vernachlässigten Pelagiuskommentar bis Ende 1906 ge¬ 
kommen war, legte Souter am 12. Dez. 1906 in einem Akademie- 
vortrage dar (Proceedings of the British Academy II, 1907, S. 409—439). 
Die Resultate, die hier verzeichnet werden konnten, und diejenigen 
der bis 1912 an sie sich anschließenden Arbeiten von Mercati, de 
Bruyne und Souter selbst sind bei uns schon in die Lexikon¬ 
tradition übergegangen (vgl. meinen Artikel in der Prot. Real-En- 
cyklopädie, 3. Aufl., 24,310—12). Ich erinnere nur daran, daß die 
gedruckte Gestalt des Pelagiuskommentars, der sog. Pseudo-Hiero¬ 
nymus, d. h. der früh unter die Werke des Hieronymus geratene 
Kommentar zu den 13 Paulinen, den Erasmus (bezw. B. Amorbach) 

R Go gle 















224 Gott. gel. Anz. 1923. Nr. 7—12 

1516 zuerst herausgab (nach Vallarsi bei Migne, lat., 30,531—902), 
trotz der Auslassung in der durch Augustin bekannten Pelagianischen 
Erklärung von Rö. 5,15 als ein erweiterter Pelagius sich erwies, 
daß aber auch der von Zimmer gefundene und für eine Handschrift 
des ursprünglichen Pelagius angesehene cod. Sangall. 73 (G) und 
ebenso der erst durch Souter in die Debatte gezogene cod. Paris. 653 
(V) als interpolierte Exemplare erkannt wurden, während Souter schon 
im Juli 1906 einen wirklichen Pelagius in der Reichenauer Hand¬ 
schrift CXIX in Karlsruhe (A) entdeckt hatte und für diese Entdeckung 
eine willkommene Bestätigung erhielt durch zwei Blätter aus einer 
Handschrift des sechsten Jahrhunderts, die Mercati in der Vaticana 
fand (91), endlich daß als der von Cassiodor und seinen Schülern be¬ 
arbeitete Text des Pelagiuskommentars anstatt des Pseudohieronymus, 
wie man früher gemeint hatte, der sog. Pseudoprimasius (Migne, 
lat., 68,409—793) sich ergab. Ueber den weiteren Fortschritt seiner 
Forschungen hat Souter in einem zweiten Akademievortrage vom 
15. März 1916 berichtet. Aber die Proceedings of the British Academy 
der Kriegszeit sind nicht in unseren Bibliotheken, und nur wenigen 
Deutschen wird der (nach dem Kriege vom Verf. mir gütigst gesandte) 
Separatabzug (36 S. aus Proceedings VII) zugänglich sein. Ich muß 
deshalb von dieser Abhandlung, die drei Handschriftenproben (A, B 
und E) sowie ein Stemma vor der jetzt vorliegenden >Introduction< 
voraus hat und daher nicht nur für die Geschichte der Forschung 
bedeutsam ist, absehen. Das wichtigste Ergebnis der weiteren For¬ 
schung Souters war gewesen, daß er, der in Frankreich, Deutschland, 
der Schweiz und Italien nach alten Handschriften des Pelagius¬ 
kommentars gesucht hatte, im Jahre 1913 in zwei jungen und deshalb 
von ihm zunächst nicht untersuchten >Pseudohieronymushandschriften< 
(dem Titel nach) seiner nächsten Nähe, einer Handschrift des Balliol 
College in Oxford (saec. XV med.; B) und einer wenig jüngeren Ab¬ 
schrift derselben im dortigen Merton College (0), einen weiteren 
Zeugen für den ursprünglichen Pelagiustext gefunden hatte und nun 
mit auch sonst erweiterten Hilfsmitteln den sicheren Beweis dafür 
führen konnte, daß der ursprüngliche Pelagiuskoinmentar als erhalten 
gelten darf. — Das gesamte Material legt nun diese >Introduction< 
vor. Sie beginnt (Kap. I, S. 1—33) nach kurzen Bemerkungen über 
den Namen und die Herkunft des Pelagius (ob er Brite, oder Ire 
war, will Souter nicht entscheiden, obwohl er die erstere Meinung be¬ 
günstigt) sowie über sein Kommertarwerk mit einer Geschichte der 
Beurteilung des gedruckten Textes, des Pseudohieronymus, bis hin zu 
Zimmer, Riggenbach und Hellmann. Kap. H (S. 35—63), bringt 
dann den zwingenden Beweis dafür, daß in den Handschriften A und 












Souter, Pelagius’ expositions of thirteen epistles of St. Pani 225 

B der ursprüngliche Pelagiuskommentar vorliegt. Die Zitate bei Augustin 
und Marius Mercator, die Fragmenta Vaticana (s. o.), die aus dem 
Pelagiuskommentar stammende Interpolation bei 1 . Kor. 15,44—2. Kor. 
1,6 in den meisten Ambrosiasterhandschriften, schon dem cod. Casin. 
des sechsten Jahrhunderts, der Cassiodorsche Pseudoprimasius, dem 
der ursprüngliche Pelagiuskommentar vorlag, und die Zitate bei Sma- 
ragdus und Sedulius ermöglichen diesen Beweis; auch die von Morin 
nachgewiesenen Exzerpte des »Johannes diaconus< ( 6 . Jahrh.) stammen 
wohl aus dem ursprünglichen Pelagiuskommentar, und nicht aus dem 
(die fraglichen Stellen fast ebenso bietenden) Pseudohieronymus. Kap. III 
(S. 64—115) erweist nicht minder zwingend die Einheit des Verfassers 
für die Erklärung aller dreizehn Briefe sowie für die Prologe und die / 
»argumenta«; Kap.V (S. 116—173) behandelt den Bibeltext, den Pe¬ 
lagius benutzte, Kap. VI (S. 174—200) im Anschluß an Untersuchungen 
von A. J. Smith in den infolge des Krieges uns nicht bekannt ge¬ 
wordenen vols XIX und XX des Journal of theological studies die 
Quellen des Pelagius (Ambrosiaster, Hieronymus, Augustin, Origenes- 
Rufin, Chrysostomus und Theodor von Mopsueste) sowie — kurz und 
eigentliche Benutzung schwerlich beweisend — zwei andere »Entleh¬ 
nungen« und einige Anklänge an lateinische Klassiker. Das letzte, 
sechste Kapitel (S. 201 —345) endlich, dem (S. 346—360) nur noch 
fünf Register folgen, bespricht die Hülfsmittel für die Rekonstruktion 
des Textes: 1 . die Handschriften, bezw. Handschriftenfragmente, des 
ursprünglichen Textes: ABO, 91 und K, d. i. zwei aus dem neunten 
Jahrhundert stammende Blätter des Stadtarchivs in Freiburg i. B., 
2 . die interpolierten Handschriften Sangall. 73 und Paris. 653, sowie 
die Handschriften der beiden Formen des Pseudohieronymus, d. i. der 
kürzeren (H i; ohne Hebr., die Briefe in der Reihenfolge des Pelagius 
bietend: Phil., Thess., Col.), die u. a. im cod. Paris. 9525 (E), der 
Grundlage des Erasmischen Textes, vorliegt, und der längeren Form 
(H s; mit Hebr. und der gewöhnlichen Anordnung der Briefe), 3. den 
Pseudoprimasius (für den neben der editio princeps nur ein Cartu- 
sianus in Grenoble zur Verfügung steht), die schon von Zimmer 
benutzten Würzburger Glossen (Wb) und andere derart, Claudius von 
Turin, Smaragdus, Sedulius, Haymo von Auxerre — alle vier mit 
Handschriftennachweisung — und Isidor von Sevilla, bei dem auch 
einige Pelagiuszitate sich finden. Die Beschreibung der wichtigsten 
Handschriften zeichnet sich nicht nur durch ihre Genauigkeit, sondern 
vornehmlich auch dadurch aus, daß ihrer Herkunft und ihrem Arche¬ 
typus mit Hülfe orthographischer und paläographischer Argumente in 
sorgfältigster Weise nachgegangen wird. Die auf dem letzten Blatte 
von E (saec. VHI) sich findende, nur unvollkommen entzifferte Notiz 

0«tt. EOl. An*. 1923. Nr. 7-12 15 


Co gle 














226 


Gott. sei. Anz. 1923. Nr. 7—12 



aus dem vierzehnten (?) Jahrhundert, die aus der deutschen Geschichte 
zu deuten, Souter (S. 274) uns Deutschen überläßt, bezieht sich auf 
ein in der continuatio I der Gesta Trevirorum (c. 9, Monum. Germ. 
SS. VIII, 182,21—38) erzähltes Ereignis der Trierer Bistumsgeschichte: 
Nach dem Tode des Erzbischofs Eberhard (f 15.4.1066) erwirkte 
Anno von Cöln, der bis 29.3.1065 mit Adalbert von Bremen die 
Regentschaft geführt hatte, bei dem damals sechzehnjährigen, aber 
schon für mündig erklärten Heinrich IV., daß unter Nichtachtung der 
Trierer Wünsche sein Neffe Kuno zum Erzbischof bestellt ward. Doch 
die Trierer überfielen diesen, als er anrückte, und Kuno wurde (am 
1 . Juni 1066) ermordet, bevor er in Trier hatte einziehen können. 


Der interessanteste dieser Abschnitte ist in gewisser Weise der 
über den Bibeltext des Pelagius. Denn er entwurzelt eine Hypothese, 
die begreifliches Aufsehen erregt hat. Erst nach dem Kriege haben 
wir erfahren, welch überraschende Folgerung der gelehrte Maredsolaner 
Dom de Bruyne aus der von Souter in seinem ersten Akademie- 


vortrage bekannt gemachten Tatsache gezogen hatte, daß der in der 
Reichenauer Handschrift (A) fortlaufend zitierte Text der Paulinen der 
der Vulgata ist. Die These deBruynes, daß der offizielle Bibeltext 
der römischen Kirche in diesen Briefen die Uebersetzung des Pelagius 
sei, konnte von Jülich er zugleich mit dem, was während des Krieges 
über den Messalianischen Ursprung der Ilomilien des Makarius durch 
die Benediktiner Villecourt und Wilmart festgestellt ist, unter 
dem Titel »Geheiligte Ketzer< besprochen werden (Protest. Monats¬ 
hefte 1921, S. 65—75). Aber die Grundlage der de Bruyne sehen 


klärungen waren, ursprünglich nach rechts eingerückt, je nach (unter) 
den (z. T. sehr kleinen) Textabschnitten gegeben, die er behufs der 
Erklärung abgrenzte —, so auch in dem fortlaufend zitierten Texte 
nicht die Vulgata, sondern einen >altlateinischen< (>Itala-<)text benutzt 
hat. Die Reichenauer Handschrift gibt das älteste Beispiel dafür, daß 
in späteren Abschriften der fortlaufend zitierte Bibeltext des Pelagius 
durch den der Vulgata ersetzt wurde. Wir sind also, obwohl die Vul¬ 
gata der Paulusbriefe ihre von de Bruyne hervorgehobenen Rätsel 
behält, um eine Sensation ärmer geworden. Aber zugleich reicher um 
einen (mit dem Pelagiuskommentar uns erhaltenen) vollständigen Itala- 
text der Paulinen, der 150 Jahr älter ist als der codex Fuldensis. 

Wertvolle Ausstellungen kann ich diesen vortrefflichen Prolegomenis 
gegenüber nicht machen. Die »Mängel«, deren Souter sich bewußt ist 
(p. IX) — Irrtümer und Ungenauigkeiten im einzelnen sind bei solch 










Souter, Pelagius’ expositions of thirteen epistles of St. Paul 


227 


tionen ja unvermeidlich —, wird höchstens die im einzelnen nach¬ 
arbeitende Forschung bemerken. Und Fragezeichen zu einigen allzu 
kühnen Schlüssen Souters zu setzen, wäre kleinlich. — Die Gleichheit 
internationalen Empfindens und die über die nationalen Grenzen hinaus¬ 
greifende Bereitwilligkeit zur Anerkennung des Anerkennenswerten 
hat durch den Weltkrieg einen argen Stoß erlitten — es ist kein 
Gespenstersehen, wenn bei uns noch von dem Andauem eines »Boy¬ 
kotts der deutschen Wissenschaft« gesprochen wird —; aber der 
Herausgeber des Pelagiuskommentars kann davon überzeugt sein, daß 
seine ebenso rastlose und mühsame wie erfolgreiche Arbeit grade in 
unserm übelbehandelten Deutschland besonders dankbarer Anerkennung 
und Benutzung sicher ist. 

Halle a. S. Loofs. 


Friedrich Preisigke, Namenbuch, enthaltend alle griechischen, lateinischen, 
ägyptischen, hebräischen, arabischen und sonstigen semitischen und nichtsemi¬ 
tischen Menschennamen, soweit sie in griechischen Urkunden (Papyri, Ostraka, 
Inschriften, Mumienschildern usw.) Aegyptens sich vorfinden. Mit einem An¬ 
hänge von Prof. Dr. Enno Littmann, enthaltend die in diesem Namenbuche 
vorkommenden abessinischen, arabischen, aramäischen, kanaanäischen und persi¬ 
schen Namen. Heidelberg, im Selbstverläge des Verfassers (Prof. Preisigke, 
Gaisbergstr. 101). 8 S., 528 halbseitige Spalten. Preis: Gegenwert von 7 Dollar; 
deutsche öffentliche Büchereien und Lehranstalten, sowie deutsche Gelehrte er¬ 
halten einen erheblichen Preisnachlaß. 

Der um die Papyrologie, die Wissenschaft von den griechischen 
Papyri aus Aegypten, hochverdiente Verfasser hat mit diesem Werke 
wiederum ein wichtiges Hülfsmittel für seine Wissenschaft geschaffen, 
das sich seinem (auch für den Aegyptologen mit nicht allzu engen 
Interessen) geradezu unschätzbaren, soeben vollendeten »Sammelbuche 
griechischer Urkunden aus Aegypten« (Berlin, Vereinigung wissen¬ 
schaftlicher Verleger) rühmlichst an die Seite stellt. Im Hinblick 
darauf, daß die in den Papyri vorkommenden geographischen Namen 
und Götternamen schon von anderer Seite gesammelt werden, hat 
sich Preisigke darauf beschränkt, hier nur die Personennamen zusammen¬ 
zutragen, die, wie der Titel angibt, allen möglichen Sprachen ent¬ 
stammend, uns in griechischer Form in den Urkunden der griechisch- 
römischen Zeit in Aegypten entgegentreten. Es sind also die lite¬ 
rarisch bei griechischen und lateinischen Schriftstellern erwähnten 
Namen von Aegyptern oder in Aegypten lebenden Personen anderer 
Herkunft von vornherein ausgeschlossen. Darin unterscheidet sich das 
Buch von dem kleinen Büchlein von G. Parthey »Aegyptische Per- 

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Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 7—12 




sonennaraen bei den Klassikern, in Papyrusrollen, auf Inschriften« 
Berlin 1864 127 S. K1.-8 0 ), das für den Aegyptologen bis dahin das 
einzige Hülfsmittel dieser Art bildete. Ein Vergleich zwischen beiden 
Büchern zeigt recht deutlich den ungeheuren Zuwachs, den das Ma¬ 
terial in den verflossenen sechs Jahrzehnten erfahren hat. Preisigkes 
Werk enthält, wie er in der Vorrede sagt, 17245 Namen, von denen 
zirka 7000 als ägyptisch anzusprechen sind, während 920 römisch, 
zirka 700 arabisch, 250 kanaanäisch (hauptsächlich jüdisch), 90 ara¬ 
mäisch, 30 persisch und 3 germanisch (Aye^oovSoc, PiYtp.ep, BaXoo- 
ßoapy) sind. Der Rest von zirka 8000 Namen ist griechisch oder un¬ 
bestimmbarer Herkunft. Das Uebergewicht der griechischen Namen 
ist sehr bemerkenswert und kaum aus der Tatsache, daß es sich um 
Urkunden in griechischer Sprache handelt, allein zu erklären. Es legt 
doch wohl ein beredtes Zeugnis von der Hellenisierung der Aegypter 
ab, die auch in ihrer frühzeitigen Bekehrung zum Christentum starke 
Nahrung erhalten haben wird; ist doch das Griechische ebenso die 
Sprache des Christentums gewesen wie das Arabische die des Islams 
(koptische Schrift!). Diesen Anteil des Christentums bei der Namen¬ 
gebung der ägyptischen Bevölkerung in den ersten Jahrhunderten 
unserer Zeitrechnung festzustellen und ebenso später das Vordringen 
des Islams an den Eigennamen zu verfolgen, wird zu den mannig¬ 
fachen Aufgaben gehören, denen man auf Grund des Preisigke’schen 
Buches einmal wird nähertreten können. Für diese und andere der¬ 
artige Untersuchungen wäre es freilich ideal gewesen, wenn bei jedem 
Namen nicht nur Zeit und Ort seines Auftretens, sondern auch die 
gesellschaftliche Stellung bezw. der Beruf, Religion und Nationalität 
seines Trägers hätte angegeben werden können. Die Rücksicht auf 
die Kosten verbot dem Verf., derartigen Wünschen, deren Berechtigung 
er keineswegs verkannte, entgegenzukommen. Er hat sich auf das 
Allernötigste, eine kurze Angabe des Jahrhunderts beschränken müssen. 
Mit Recht sagt er, die Ortsangabe erübrige sich meist schon durch 
die Angabe der Publikation. Eine Angabe der Nationalität wäre da¬ 
gegen m. E. in manchen Fällen doch dringend nötig gewesen, wie 
z. B. bei den Blemyernamen XapaTrat/oop, Xapayvjv, IXe (bei dem 
gleichartigen n<oas steht in der Tat eine solche Angabe). 

In die größten Gewissensnöte kommt jeder, der sich mit griechi¬ 
schen Wiedergaben fremder Namen zu beschäftigen hat, wenn er sie 
mit den im Griechischen üblichen Akzenten und Spiritus versehen 
will. Es ist daher in den letzten Jahren in den Papyruseditionen, 
namentlich der Engländer, mehr und mehr üblich geworden, diesen 
Gewissensnöteu aus dem Wege zu gehen, indem man auf die Setzung 
solcher Zeichen verzichtet. Ich halte diese Zurückhaltung, die auch 


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Preisigke, Namenbuch 


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E. Littmann in seiner dem Buche angehängten Zusammenstellung 
der nichtägyptischen Namen orientalischer Herkunft geübt hat, für 
sehr weise. Ich kann Preisigke, der >aus rein praktischem Grunde« 
anders verfahren ist, in sehr vielen Fällen, wo er ägyptische Namen 
mit den betreffenden Zeichen versehen hat, nicht zustimmen. So ist 
z. B. die Behandlung des a als langer Vokal in ’A^äoi«, rhxäp-i? 
(neben nxap.ijc und Hxapi!; es ist das kopt. nK*.*ie »der Schwarze«), 
iapöwrts sehr fragwürdig, da im Aegyptischen das a stets kurz ist. 
Und ebenso ist die Setzung eines Trema in Taffatms, nafjoipu;, Taüoo- 
powtis 1 ) kaum zu billigen, da das halbvokalische w, wie es hier vor¬ 
liegt, auch im Aegyptischen mit dem vorangehenden Vokal eine diph¬ 
thongische Verbindung eingeht (vgl. z. B. kopt. *-T con ausön für 
^-cvycon a-\tsön). Das so entstandene au wechselt dann unter Um¬ 
ständen mit o (s. m. Verbum I § 45. 164), wie das auch in der von 
Preisigke notierten Variante Taffwmjc für den zuerst genannten Namen 
der Fall ist. Dagegen ist das Trema berechtigt in Namen wie Ilaövi 
(der zehnte Monat, kopt n*.uine), Ilaöpi? (äg. Pa-hür »der des Horus«, 
jüngere Nebenform Ilaoop), Tetsöpn; (äg. Tedle-hür »die welche Horus 
gab«, jüngere Nebenform Tetscapic), wo das v den reinen Vokal ü 
darstellte, der später zu ö geworden ist (s. m. Verbum I §44,2); 
angebracht ist es auch wohl in Fällen wie naoyjptc, Taorjtt«; (Var. 
TaooTjuc), wo das durch v wiedergegebene äg. iv ebenso wie in Me- 
ffosp (äg. Meht-weret ), ApDwrrjc (äg. Har-wod ) die rein konsonantische 
Funktion hat, in der es griechisch sonst meist mit oo oder o (Apovjptc), 
seltener auch durch ? (n^pi? = noTjpi«;, nouTjpu;; neTsapYYjpi«; = 
nsteapoTjpt«:, SqTQptc = Eioivrjpi«;, Ta^tjc; vgl. PtaiYetoo für den äg. 
Titel hri-si-wetu »Seeoberst des Meeres), im bohair. Dialekte des Kopt. 
aber durch oy oder & (p^ofui = vgl. Verbum I § 162) wieder¬ 

gegeben wird. Ganz besonders problematisch ist aber die Setzung des 
Spiritus asper bei Worten, die im Aegyptischen mit einem Ä-Laut 
anfingen, wie in Athp (äg. Hathür , kopt.-sahid. ^ dU1 P). Eptso? (äg. 
Eerje), Apa^ot? (äg. Har-si-ese »Horus, der Sohn der Isis«), App.ou?, 
ApiroxpätTjc (äg. Har-pecliröd »Horus, das Kind«), tlpcjivT]? (»von 
Horus erschaffen«); hier sollten die kopt.-bohair. Form *<»iup, das 
analoge Athribis, Zusammensetzungsformen wie neiapxoxpatY]i; (nicht 
neffapxoxpar»]?) und das lateinische Origenes zur Vorsicht mahnen, 
wie auch die heute üblichen Namensformen Adrian und Adrianopel 
vor der bei Papyrologen vielfach gebräuchlichen und auch bei Preisigke 
anzutreffenden Akzentuierung 'ASptavö? im Namen des Kaisers Hadrian 
warnen sollten. Ich fürchte in der Tat, man ist dabei nicht nur 
ägyptischer als die Griechen, die doch die semitischen Namen Hanni- 
1) Auch Tejujpt;, äg. Tewhöret »die Hündin«, gehört hierher. 






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UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



Büchners Sämtliche Werke und Briefe 231 

Arbeiten und seiner Briefe gesichert, wobei vor allem die Einordnung 
der Novelle »Lenz< zwischen »Dantons Tod< und »Leonce und Lena« 
von Wichtigkeit ist, und er gibt die Texte so zuverlässig wie sie bei 
der z. T. recht schwierigen Ueberlieferung hergerichtet werden konnten: 
mit einem umfangreichen kritischen Apparat (S. 659—777), den sich 
Niemand entgehen lassen darf, zumal er mehrfach wichtige Korrek¬ 
turen der Textfassung bietet. Bei der Novelle wie bei den akademi¬ 
schen Vorträgen über Cartesius und Spinoza (es handelt sich um 
Kollegpräparationen) hat es die Heranziehung der Quellen (dort 
Stöber resp. Oberlin, hier Tennemanns Geschichte der Philosophie) 
ermöglicht, den Wortlaut vielfach sicher zu stellen und zu ergänzen; 
für die Züricher Probevorlesung >Ueber Schädelnerven< hat fach¬ 
kundige Mitarbeit Aehnliches geleistet. 

Schwierige Aufgaben stellen dem Herausgeber das Lustspiel »Leonce 
und Lena« (S. 109—142. 686—698), für das neben ein paar hsl. 
Stücken des Entwurfs zwei posthume Druckfassungen vorliegen: die 
fragmentarische Mitteilung, welche Gutzkow im »Telegraph« (1838) 
brachte, und die von Ludwig Büchner im »Nachlaß« (1850) gegebene 
vollständigere, die zu Grunde gelegt werden mußte, obwohl sie im ein¬ 
zelnen wenig zuverlässig ist; ferner die sehr komplizierte handschrift¬ 
liche Ueberlieferung des »Woyzeck« (S. 143—161. 699—732), dessen 
Apparat weit über den Text hinauswächst, und schließlich der »Hessi¬ 
sche Ländbote« (S. 163—177. 733—738), wq der Herausgeber seine 
Arbeit fast ganz in den Text selbst verlegen mußte. 

Mit dem »Woyzeck«, der in wahrhaft verblüffender Weise den 
Naturalismus der zweitfolgenden Generation vorausnimmt und so be¬ 
greiflich für Büchners neuere Einstellung in die Literatur noch stärker 
ins Gewicht fällt als der »Danton«, hat sich schon Witkowski in seiner 
Sonderausgabe ehrlich zu schaffen gemacht; unsere Ausgabe kommt 
in einigen Punkten einleuchtend darüber hinaus, ohne freilich alle 
Zweifel zu lösen. 

Daß die leidenschaftliche Revolutionsschrift, welche Weidig nicht 
nur von sich aus »Der Hessische Landbote« betitelt, sondern auch, 
zu Büchners stärkstem Mißfallen, mit eigenem Eingang und Schluß 
versehen und höchst widerwärtig zugleich pastorenhaft und noch 
mehr ins Gehässige umgestaltet hat, nicht ohne einen energischen 
Versuch der höheren Kritik als Büchners Werk aufgenommen werden 
dürfe, war schon Franzos klar gewesen; Ed. David hat dann (1896) 
durch Anwendung verschiedener Drucktypen das Eigentum Beider 
zu scheiden versucht, und Bergemann geht darin noch weiter, vermag 
uns aber doch nicht völlig zu beruhigen, daß wir nun zu dem echten 
Eigentum Büchners vorgedrungen seien. Weidig hat offenbar nicht 
nur zugesetzt, sondern auch gestrichen! 


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Gotting, gel. Anz. 1923. Nr. 7—12 

Der handliche, auf Dünnpapier gedruckte Band enthält nach den 
poetischen, politischen, wissenschaftlichen Schriften Büchners (S. 5—367) 
auch die Uebersetzung zweier Dramen Victor Hugos (321—520), 
und die Briefe (521—569), wobei leider nur in einem Falle die Hand¬ 
schrift vorliegt; sodann >Miszellen<, d. h. Jugendarbeiten (571—608) 
und einen »Anhang« (609—657): 16 Briefe an Büchner 1 ) (13 von 
Gutzkow) und allerlei Zeugnisse von Jugendfreunden u. AA. über ihn. 
So hat man alles erreichbare Material für Büchners literarische Würdi¬ 
gung und seine Biographie zusammen. — Auf die Lesarten und einen 
Schlußbericht (mit einem unbedeutenden Poem als Nachtrag) folgt ein 
sehr gewissenhaftes Kegister, das zugleich die Stelle sachlicher An¬ 
merkungen vertritt (802—831). 

Göttingen. Edward Schröder. 


W. Bluschke, Vorlesungen über Differentialgeometrie und geo¬ 
metrische Grundlagen von Einsteins Relativitätstheorie. I. Ele¬ 
mentare Differentialgeometrie. Berlin 1921, Springer. 224 § S. 8°. 

Der erste Band der Blaschkeschen Vorlesungen über Diffe¬ 
rentialgeometrie vereinigt Vorzüge verschiedener Art in sich. Er führt 
als Lehrbuch ein in die Theorie der ebenen und Raumkurven und 
der Oberflächen (unter Zugrundelegung der Bewegungsgruppe, da die 
affine Differentialgeometrie dem zweiten Bande Vorbehalten ist) und 
hat als solcher Anwartschaft darauf, allen vorhandenen Leitfäden den 
Rang abzulaufen; er ist eine Monographie über die Fragen, die man 
unter dem Namen »Differentialgeometrie im Großen« zusammenfaßt 
und wird in dieser Eigenschaft von jedem Geometer mit Liebe ge¬ 
lesen werden und lebhafte Anregungen bieten. 

Das Buch ist in sieben Kapitel eingeteilt: Kurventheorie; Extreme 
bei Kurven; Anfangsgründe der Flächentheorie; Geometrie auf einer 
Fläche; Fragen der Flächentheorie im großen; Extreme bei Flächen; 
Liniengeometrie. Schon in den ersten Kapiteln, die die einfacheren 
Gegenstände behandeln, stößt man auf neue und reizvolle Einzelheiten, 
wie z. B. einen neuen, von Her glotz angegebenen Beweis des Vier¬ 
scheitelsatzes für Eilinien oder die an J. Radon anschießende Be¬ 
handlung einer Klasse von Variationsproblemen. Aber auch die Ab¬ 
schnitte, deren Inhalt in jeder Vorlesung vorkommt, überraschen viel¬ 
fach durch Feinheiten der Darstellung. Man staunt, wie mühelos und 

1) schro im Brief der Mutter S. 624 Z. 15 ist guthessisch: = mhd. schrach, 
schroch »trocken, rauh, harte, Vilmar, Idiotikon von Kurhessen S. 369; Crecelius, 
Oberhess. Wb. II760. — Ob der Herausgeber S. 625 Z. 13 v. u. bis Himmlies 
verstanden hat? — bi’s Himly's. 





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Blaschke, Vorlesungen über Differentialgeometrie usw. 


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anschaulich die folgerichtige Anwendung der Vektorschreibweise Dinge 
liefert, zu denen man sich sonst durch erhebliche Rechnungen hin¬ 
durchwinden muß, z. B. Gaußens theorema egregium. Die Lehre von 
den Minimalkurven und -flächen — um nur noch einen Gegenstand 
herauszugreifen — wird besonders übersichtlich mit Hülfe des natür¬ 
lichen Parameters von VessiotundStudy. Auch hier führt Blaschke 
die Rechnung möglichst weit in vektorieller Bezeichnung, die man 
dann freilich aufspalten muß, um zu den Darstellungen durch den 
rationalen Parameter des Kugelkreises zu gelangen. Abgesehen ist 
von den Entwicklungen, die die formale Theorie der partiellen Diffe¬ 
rentialgleichungen benutzen oder geometrische Deutungen derselben 
sind; so ist auch der grundlegende Satz nur genannt, nicht bewiesen, 
daß zu jedem Paar von Fundamentalformen, das den Mainardi- 
Codazzischen Bedingungen genügt, bis auf Bewegungen genau eine 
Fläche gehört. 

Die »Differentialgeometrie im großen< findet sich meist in den 
Kapiteln 2, 5 und 6. Man steht hier vor einer Ueberfülle von Er¬ 
gebnissen und Fragestellungen; kaum ein Gegenstand ist übergangen, 
der bisher mit Erfolg angegriffen worden ist oder einem solchen An¬ 
griff zugänglich erscheint. Das Gebiet ist ja gerade deswegen be¬ 
sonders anziehend, weil die Sätze, die man längst vermutet oder über¬ 
raschenderweise findet, ein eigentümliches Gepräge von Eleganz und 


umfassender Allgemeinheit tragen. Von dem Inhalt dieser Abschnitte 


nenne ich nur einiges: die Sätze von H. A. Schwarz und anderen 
über Raumkurven mit fester oder beschränkter Krümmung; Poin- 
cards Satz von der Existenz dreier einfach geschlossener geodätischer 
Linien auf Eiflächen; die Frage nach den Flächen, auf denen konju¬ 
gierte Punkte festen geodätischen Abstand haben; die Starrheit der 
Eiflächen; schließlich und ganz besonders die isoperimetrische Eigen¬ 
schaft der Kugel, die schon im Mittelpunkte des früheren Blasehke- 
schen Buches über »Kreis und Kugel< stand, hier aber mittels des 
Konvergenzsatzes von Groß erwiesen wird. 

Im letzten Kapitel gibt Blaschke einen Ueberblick über die 
differentielle Liniengeometrie, wie man ihn bisher nur aus Hand¬ 
büchern herausdestillieren oder aus Abhandlungen zusammensuchen 
konnte. Die Study sehe Darstellung der Linienkoordinaten als »dualer< 
Einheitsvektoren erweist sich als eine Zauberformel, die man fast nur 
auszusprechen braucht, um den Regelflächen und Kongruenzen ihre 
Eigenschaften und Beziehungen zu entlocken. 

Am Schlüsse jedes Kapitels steht eine Anzahl von Aufgaben und 
Lehrsätzen, die zum Teil als Uebungsbeispiele dienen mögen, zum 
anderen aber auch zum Studium anschließender Fragen anregen und 
durch sorgfältige Literaturnachweise anleiten. 














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Gött. gel. Anz. 1923. Nr. 7—12 


Die Ausstattung des Buches befriedigt, der Druck ist bis auf 
Kleinigkeiten tadellos, die Figuren schön und klar. 

Ein kleines Versehen: die Fußnote 19 ) auf S. 142 erfüllt ihren 
Zweck nicht. Es genügt aber, daß eine geschlossene Kurve mit ge¬ 
nügend kleiner Länge innerhalb einer entsprechend kleinen Fläche 
verläuft, und daher sicher nicht f'j'Kdo — 2 je werden kann. 

Göttingen. H. Kneser. 


Leonard Eugen Dlckson, History of the theory ofnumbers (Carnegie 
Institution of Washington, Publication No. 256). Vol. III (tjuadratic and higher 
forms, with a chapter on the dass number by G. II. Cresse), 1923, IV + 313 S. 

Der Verf. hat nunmehr den wichtigsten Band seines Werkes (vgl. 
GGA. 1921 S. 191) veröffentlicht. Derselbe enthält im Gegensatz zu 
den beiden ersten mehr allgemeine Theorien als spezielle Probleme 
und Sätze. Er gelangt in die höchsten Teile der Zahlentheorie, und 
der Bericht geht bis in die neueste Zeit. 

Die Ueberschriften der Kapitel sind: 1. Reduktion und Aequi- 
valenz binärer quadratischer Formen, Darstellung ganzer Zahlen. 
2 . Explizite Werte von x,y in x' + by i = g. 3. Komposition binärer 
quadratischer Formen. 4. Ordnungen und Geschlechter, ihre Kompo¬ 
sition. 5. Irreguläre Determinanten. 6. Klassenzahl binärer quadra¬ 
tischer Formen mit ganzen Koeffizienten. 7. Binäre quadratische 
Formen, deren Koeffizienten ganze komplexe Zahlen oder ganze Zahlen 
eines Körpers sind. 8. Klassenzahl binärer quadratischer Formen mit 
ganzen komplexen Koeffizienten. 9. Ternäre quadratische Formen. 
10 . Quaternäre quadratische Formen. 11. Quadratische Formen in n 
Veränderlichen. 12. Binäre kubische Formen. 13. Kubische Formen 
in drei oder mehr Veränderlichen. 14. Formen vom Grad n>4 :. 
15. Binäre Hermitesche Formen. 16. Hermitesche Formen in 
n Veränderlichen und ihren Konjugierten. 17. Bilineare Formen, Ma¬ 
trizen, lineare Substitutionen. 18. Darstellung durch Polynome mo- 
dulo p. 19. Theorie der Formenkongruenzen. 

Das Kap. 6, welches ein Drittel des Bandes füllt, rührt von Herrn 
Cresse her und ist die Frucht fünfjähriger Bemühungen dieses Mit¬ 
arbeiters; es greift tief in viele Gebiete der Mathematik ein, indem 
u. a. Kroneckers Klassenzahlrelationen ausführlich behandelt werden. 

Wie bei den bisherigen Bänden machen ein Autorenverzeichnis 
(zu jedem Kapitel) und ein Sachregister den Schluß. 

Die mathematische Welt ist Herrn Dickson für dies Werk, das 
er ihr geschenkt hat, zu dauerndem Dank verpflichtet. 

Göttingen. Edmund Landau. 

Für die Redaktion verantwortlich: Dr. J. Joachim in Göttingen. 






















































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WILL BE ASSESSED FOR FAILURE TO RETURN 

THIS BOOK ON THE DATE DUE. THE PENALTY 

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DAY AND TO $1.00 ON THE SEVENTH DAY 
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MAY 9 1939 






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JUN 9 1960 











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