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Full text of "Grenzfragen der Literatur und Medizin in Einzeldarstellungen"

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y 



Grenzfragen 
der Literatur und Medizin. 



In Einzeldarstellungen 

herausgegeben 
von 

Dr. S. Rahmer. 



MÜNCHEN 1908 
ERNST REINHARDT, Verlagsbuchhandlung. 



Inhalt: 

2^ Heft 1. Dr. S. Rahmer, Aus der Werkstatt des dramatischen 

Genies. (Musik und Dichtkunst.) 
vyHeft 2. Dr. med. Moritz Aisberg, Die Grundlagen des Ge- 

dSchtnisses, der Vererbung und der Instinkte. 
^ Heft 3. Dr. Erich Ebstein, Chr. D. Grabbes Krankheit. Eine 

medizinisch - literarische Studie. Mit Grabbes Bildnis, 

Faksimile und Ungedrucktem. 
y Heft 4. E. von Kupffer, Klima und Dichtung. Ein Beitrag 

zur Psychophysik. 
Heft 5. Dr. Tim. Segaloff, Dostojewskys Krankheit. Mit 

Portrait. 
x^^Heft 6. Dr. S. Rahmer, August Strindberg. Eine pathologische 
Studie. Mit Portrait. 

</ Heft 7. Dr. Alfred Lichtenstein, Der Kriminal-Roman. Mit 

einem Anhang: Sherlock Holmes Ober den Fall Hau. 

_ Heft 8. Dr. H. Probst, Edgar Allan Poe. Ein Beitrag zur 

Alkohol- und Morphiumpoesie. 



GRENZFRAGEN DER LITERATUR UND MEDIZIN 

in Einzeldarstellungen 

herau^egeben von Dr. S. RAHMER, Berlin. 

I. Heft 



Aus der Werkstatt 
des dramatischen Genies. 

(Musik und Dichtkunst) 



Eine psycho-physiologische Studie 

von 

Dr. S. Rahmer. 



MÜNCHEN 1906 
ERNST REINHARDT, Verlagsbuchhandlung 



Zur Einfahrung. 

Die literarische Forschung kann sich darauf beschränken, 
das äussere Leben und den literarischen Charakter des Dichters 
zu schildern, seine Werke nach ästhetischen Gesetzen zu beurteilen, 
ihren Wert und ihre Bedeutung für die Zeitgenossen und für 
kommende Geschlechter klarzulegen; sie kann weiter versuchen, 
aus dem Zusammenwirken einzelner Richtungen die bestimmenden 
Eigenschaften einer bestimmten Periode und die Entwicklung 
der schöpferischen Volkskraft zu erkennen. Die literarische Be- 
trachtung kann aber auf einer fortgeschrittenen Stufe ein intimeres 
Verständnis des Dichters erstreben, wenn sie, in der Arbeitsstube 
des Dichters vervweilend die Eigenart seines Schaffens dariegt und 
von diesem Gesichtspunkte in die geheimen Tiefen einer Dichter- 
seele eindringt. Auf dieser Stufe der Entwicklung ist die Psycho- 
logie eine Hilfswissenschaft der literarischen Forschung geworden. 

Auch das Band, welches den Arzt mit der Psychologie ver- 
bindet, musste mit den Fortschritten der Medizin immer enger 
sich gestalten. Für den Arzt ist die Psychologie nicht bloss 
eine Hilfsdisziplin der Psychiatrie, sondern sie ist ihm unentbehr- 
lich als eine notwendige Ergänzung seines auf körperiiche Vorgänge 
beschränkten Studiums, und sie wird es in immer höheren Masse, je 
mehr er die Tendenz verfolgt, den Kranken individuell zu behandeln, 
d. h. seiner Eigenart, seinem seelischen Befinden entsprechend. 
Für den modernen Arzt ist nicht bloss die Reizbarkeit des Neii- 
rasthenikers, die nervöse Depression des Hypochonders, nicht 
bloss die Wahnidee des Geistesgestörten, sondern jede Störung 
des seelischen Gleichgewichts, wie sie unausbleiblich im Gefolge 
eines köperlichen Leidens auftritt, ein Objekt der Beobachtung und 
der Behandlung. 

Die Psychologie ist nach alledem eine Hilfswissenschaft 
geworden, sowohl der literar-ästhetischen Forschung als der 
medizinischen Wissenschaft, . sie ist das Grenzgebiet, auf dem 



— 2 — 

Literatur und Medizin zusammenstossen. Auf diesem Grenzgebiete 
sollen sich die Arbeiten bewegen, die in freier und unabhängiger 
Form unter dem Gesamttitel: „Grenzfragen der Literatur und 
Medizin" in der vorliegenden Sammlung zusammengefasst werden. 

Die Auswahl unter den zur Behandlung kommenden Fragen 
ist eine unbegrenzte. Das Thema soll in einem gewissen Zu- 
sammenhang stehen zu den beiden Grenzdisziplinen, es soll diesen 
Zusammenhang klarlegen, und es soll vor allen Dingen so bearbeitet 
sein, dass der Medizin ihre exakten naturwissenschaftlichen, hier 
vornehmlich physiologisch-psychologischen Untersuchungsmetho- 
den, der Literatur und den schönen Künsten das reiche in Dichter- 
werken, Memoiren, Briefen, Selbstbekenntniseen etc. niedergelegte 
Material entnommen ist. 

Der Gewinn für beide Wissenschaften, die hier in enge Be- 
rührung kommen, liegt auf der Hand. Die Literaturgeschichte 
bedarf, schon um den Zusammenhang zwischen geistiger Betäti- 
gung und körperlichem Befinden in jedem einzelnen Falle zu durch- 
schauen, der medizinischen Mitarbeit, abgesehen davon, dass sich 
ihr auf Schritt und Tritt rein medizinische, speziell psychiatrische 
Fragen aufdrängen. Das Bedürfnis nach entsprechender Ergänzung 
literarisch-psychologischer Forschung ist von unabhängig denken- 
den Vertretern der Wissenschaft stets empfunden worden und findet 
den treffendsten Ausdruck darin, dass zur Vervollständigung rein 
literarischer Studien von autoritativer Seite auch die psychiatrische 
Ausbildung gefordert wurde. Da psychiatrisches Verständnis ohne 
medizinische Kenntnisse und entsprechende Ausbildung eine Un- 
möglichkeit ist, so müssen wir in dieser Forderung die Anerken- 
nung sehen, dass die medizinisch-psychiatrische Literaturbetrach- 
tung der rein literar-ästhetischen Forschung eine gewisse Förderung 
bringen kann. Wie es ein juridisch-medizinisches Grenzgebiet gibt, 
wie das gerichtliche Forum an das Gutachten ärztlicher Sachver- 
ständiger in geeigneten Fällen appelliert, so wird auch die medi- 
zinisch-literarische Betrachtungsweise an sich nicht auf ernsten 
Widerspruch stossen können. 

Der Mediziner sieht in den Studien, die sich auf der Grenz- 
linie von schönen Wissenschaften und Künsten auf der einen, Medizin 



— 8 — 

und Psychiatrie auf der andern Seite bewegen, nicht nur sein 
gutes Recht, sondern er findet in ihnen auch seinen eigenen, 
grossen und unschätzbaren Vorteil. Wie er die Äusserungen 
körperiicher Kraft, die Funktionen der Muskeln mit Vorliebe am 
Rumpfe des Athleten studieren wird, so wird er als Studienobjekt 
geistiger Betätigung, zur Beobachtung subtiler seelischer Vorgänge 
die Überragenden im Geiste auswählen, jene bis in die Finger- 
spitzen fein organisierten, sensiblen Dichter- und Künstlernaturen« 
die die ganze Skala der Empfindungen durchgemacht, die über 
ein reiches und empfindsames Seelenleben verfügen, die vor allem 
imstande sind sich selbst und ihre Empfindungen zu beobachten 
und wiederzugeben, in einer Weise, wie es die sorgfältigste ärztliche 
Anamnese nicht vermag. 

Sollen die Untersuchungen des Arztes für seine eigene Wissen- 
schaft fruchtbringend sein, so muss er vor allem mit der grössten 
Unbefangenheit und ohne jede Voreingenommenheit und vor- 
gefasste Meinung an sie herantreten; er soll nicht die Bedeutung 
und den Wert der Geistesgrössen an seinen Glaubenssätzen prüfen, 
sondern umgekehrt soll er vor allem sich überzeugen, ob seine 
eigene Wissenschaft vor den geistig Auserlesenen standhält. 

Das Feld, das wir bearbeiten wollen, hat bereits viele Früchte 
getragen; es liegt eine umfangreiche Literatur vor, die sich auf 
dem von uns gezeichnetem Grenzgebiete bewegt, und wohl kaum 
eine markante Persönlichkeit aus Dichtung und Leben hat nicht 
ihren ärztlichen Bearbeiter gefunden. Wenn dabei viele Misgriffe 
vorgekommen sind, wenn namentiich die häufig vertretene Tendenz, 
Krankheitssymptome aufzuspüren und aus degenerativen Zeichen 
und abnormen Zügen Krankheitsbilder zu konstruieren die ganze 
Richtung in Miskredit gebracht hat, so liegt dies zum grossen Teil 
an der ausserordentiich schwierigen Problemstellung. Nur in ver- 
hältnismässig seltenen, unkomplizierten Fällen, bei einfacher 
Fragestellung wird es möglich sein, mit dem fachwissenschafüich 
medizinischen Rüstzeug auszukommen. In den meisten Fällen 
kann die ausschliesslich medizinische Forschung ebensowenig 
Aufklärung und Gewinn bringen als die einseitig literarische. Es 
ist nicht angängig, die Persönlichkeit des Dichters von dem Kunst- 



— 4 — 

werk zu trennen ; das eine müssen wir aus dem andern verstehen 
lernen. Der geistig- sittliche Kern der Dichtung und der geistig- 
sittliche Kern des Dichters sind identisch, die progressive Ent- 
wicklung des Dichters ist das Resultat einer ansteigenden geistigen 
Entwicklung und wachsenden Charakterfestigung des Menschen. 
Wie wir aus der Leistung und der Funktion des Herzens einen 
Schluss ziehen auf die Beschaffenheit des Organs, wie wir aus 
normalen Körperausscheidungen normal secemierende Organe 
diagnostizieren, so müssen wir nach den Qeistesprodukten die 
geistige und seelische Beschaffenheit des Dichters selbst beurteilen. 
Weiter auch wird es notwendig sein, um zu einer gerechten Beurteilung 
zu gelangen, die jeder Handlung und Äusserung zugrunde liegen- 
den Motive abzuwägen und stets die psychologischen Bedingungen 
im Auge zu behalten, um zutreffende Schlüsse daraus zu ziehen. 

Wir ersehen aus alledem, dass die Aufgabe des Arztes in den 
meisten Fällen eine ungemein schwierige und komplizierte ist: er 
kann sich nicht daran genügen lassen, biographisches Material kritik- 
los hinzunehmen und Darstellungen aus zweiter und dritter Hand 
seiner Betrachtung zugrunde zu legen; er muss die Werke des 
Dichters selbst beherrschen, er muss das Material, das die literar- 
historische Forschung bietet, kritisch sondieren, er muss in den 
meisten Fällen auf die literarischen Quellen selbst zurückgehen — 
kurz seine Betrachtung, soll sie zu einem befriedigenden Resultat 
führen, wird ebensowohl literarische und ästhetische als medi- 
zinische und psychologische Studien eriordern. 

Nur auf diesen, zweifellos sehr schwierigen Wegen kann es 
gelingen, das höchste Ziel aller psychologischen Wissenschaft zu 
erringen und eine Einsicht zu gewinnen in den Zusammenhang 
zwischen körperiichem Befinden und geistiger Produktion, in das 
Wesen der Vererbung und natüriichen Anlage, in die Abhängig- 
keit poetischer und künstierischer Leistungen von allen möglichen 
Exzessen und damit die Grundlagen einer seelischen und geistigen 
Diätetik. 

Berlin SW., im März 1906. 

Der Herausgeben 



Aus der Werkstatt des dramatischen Genies. 



Jedes Kunstwerk ist eine mächtige Lebendigkeit, aber für den 
Verstand unfassbar, — um Goethes Wort zu gebrauchen, inkal- 
kulabel. Aber doch gibt es eine Gesetzmässigkeit, mit welcher 
die Einbildungskraft in dem Kunstler wirkt, und mit welcher sie 
das Typische und Idealische hervorbringt. Nachdem die Psycho- 
logie auf dem Wege der Selbstbeobachtung eine Reihe von Be- 
griffen aufgestellt hatte, nachdem man sich zu der Erkenntnis 
durchgerungen, dass alle seelischen Vorgänge in derselben Weise 
wie alle anderen Naturerscheinungen bestimmten Gesetzen unter- 
liegen, versuchte man auch jene kompliziertesten und subtilsten 
Geistesvorgänge zu ergrunden, welche sich in der Werkstatt des 
Genies abspielen, um auf diesem Wege eine durch wissenschaftlich 
begründete Tatsachen gestützte Definition des Begriffes Genie zu 
finden. 

Eine befriedigende Antwort auf die Frage, was das Wesen 
des Genies ausmacht, ist trotz Jahrhunderte langer Versuche nicht 
gegeben worden und wird niemals gegeben werden können. Es 
ist von vornherein ein vergebliches Unterfangen, ein Wort oder 
einen Ausdruck als etwas gewissermassen selbständig Gegebenes 
anzunehmen und nun zu versuchen, aus den Erscheinungen und 
Kennzeichen ausreichendes Material zu gewinnen, um einen diesem 
Worte etwa innewohnenden Begriff zu erklären. Indem man ge- 
wisse äussere Kennzeichen des Genies speziell während seiner 
Schaffensperiode mit ähnlichen Symptomen bei Geisteskranken 
verglich, glaubte man das Rätsel gelöst zu haben, indem man 
das Genie als eine Erscheinung des Irrsinns erklärte. Schopen- 
hauer hatte bereits die Lehre von der pathologischen Ver- 
fassung des Genies aufgestellt, von der Disharmonie seines 
Geistes, ähnlich wie sie auch heute noch Möbius vertritt; in 



— 6 — 

Frankreich war diese Lehre durch Renaudin, L^lut, Moreau 
mit dem Prunk psychiatrischer Theorie ausgestattet worden, und 
schliessh'ch hatte der itah'enische Forscher Lombroso das Genie 
für eine ausgesprochen degenerative Erscheinung erklärt, für ein 
letztes Aufflackern einen Knalleffekt, mit dem eine entartete 
Generationsreihe erlischt. Und nicht genug, dass er und seine 
Nachfolger den Ursprung jeder genialen Offenbarung zwischen 
Tollhaus und Zuchthaus veriegten, hatten sie auch das Bordell 
in Sehweite geruckt, indem sie in einseitiger Betonung das Sexual- 
leben und seine Verirrungen als die Quellen alles dessen ansahen, 
worin wir die herriichsten und stolzesten Betätigungen des mensch- 
lichen Geistes erblicken. 

Wir sehen davon ab, auf diese und ähnliche Erklärungs- 
weisen, deren blendender Schein nicht über ihre innere Hohlheit 
und Kritiklosigkeit hinwegtäuschen kann, näher einzugehen; wir 
wollen versuchen, einen Einblick zu gewinnen in die Schaffens- 
weise des Dichters und Kunstlers, und wollen zu diesem Zwecke 
zunächst in kurzen Zügen eine psychologische Analyse des 
geistigen Vorganges im Genie geben. 

I. 

Die Kunst des Dichters ist in erster Reihe Phantasiekunst, 
d. h. sie besteht in einer Art geistiger Betätigung, die grund- 
verschieden ist von dem gewöhnlichen oder willküriichen Denken, 
bei welchem die Folge der Vorstellungen vom Willen geleitet ist. 
Die Phantasie im engeren Sinne, welche nichts zu tun hat mit 
der Fähigkeit des Schwärmens, des Ersinnens, mit dem blossen 
Färben der Dinge durch das Temperament, ist nach Th. Ribot 
„die geistige Handlung** und als solche die tiefste, ureigenste 
Ausgeburt der Individualität Sie bedeutet nach ihm Bewegung 
der Vorstellungen, Zusammentreten der Vorstellungen zu neuen 
Kombinationen — kurz, die höchste Reaktionsweise des Organis- 
mus auf die Eindrücke der Aussenwelt, die er zunächst mit ein- 
förmigen, immer gleichbleibenden Reflexbewegungen und in auf- 
steigender Entwicklung mit der Sprachbewegung, mit der äusseren 
bewegenden Handlung und schliesslich mit der „geistigen indivi- 



— 7 — 

duellen Handlung eines eigenartig phantasievoll bewegten Vor- 
stellungslaufes** beantwortet. Der „seltsamen Tochter Jovis, seinem 
Schosskinde, der Phantasie'', erteilt Goethe den höchsten Preis 
unter den Unsterblichen. 

Wie sich der Vorgang des echten Phantasierens vollzieht, 
wie das phantastische „Gesichf zustande kommt, davon können 
wir uns eine annähernde Vorstellung bilden, wenn wir die analogen 
Vorgänge in Schlafzuständen, wie sie jedem vertraut sind, wenn 
wir die Träume in Vergleich ziehen. Beim Traume tritt, aller 
hemmenden Verstandeszügel ledig, die eigentümliche Kunst des 
Umbildens aller Dinge zutage, hier handelt es sich, ebenso wie 
bei der Phantasietätigkeit des Dichters, um eine freie Gestaltung 
der Bilder und ihrer Verbindungen, uneingeschränkt von den 
Bedingungen der Wirklichkeit. Träume können vermittelt werden 
durch die Sinne, namentlich durch das Gesicht und das Gehör, 
wir empfinden dann im Traume wohl die jeweiligen Sinnesein- 
drücke, aber nicht wie in ihren normalen Eindrücken, sondern 
in allegorisch veränderter Bedeutung. Wir hören eine Tür in 
der Nähe gehen, und das entstehende Geräusch erweckt in uns 
die Wahrnehmung eines Schusses, eines Donners usw.; wir 
empfinden einen Druck im Magen und einen schlechten Geschmack 
im Munde, und wir quälen uns infolgedessen mit dem Rauchen 
einer schlechten Zigarre. Andere Träume verdanken ihren Ur- 
sprung Erinnerungsbildern, d. h. geistigen Abbildern anschaulicher 
durch den Gesichtssinn vermittelter Vorstellungen und bestehen 
also in einer rein innerlichen Tätigkeit des Gehirns; auch hier 
erscheinen die ohne unser Zutun aus der Tiefe des Unbewussten 
auftauchenden Erinnerungsbilder gewöhnlich in allegorischer Ver- 
wandlung. Kurz: die Elemente des Traumes sind die gleichen wie 
die der Phantasiekunst Nur dass hier ebenso wie beim Irrsinnigen 
und Hypnotisierten der regulierende Apparat fortfällt, welcher die 
Gefühle und die Sinneseindrücke der Wirklichkeit anpasst, und 
dass sich infolgedessen die Bilder in einer regellosen und spielen- 
den Willkür entfalten, verknüpfen und abwickeln. Das plan- 
mässige anschauliche Denken gleicht einem Schiffe, das von kräf- 
tigen Rudern geleitet, alle Fährnisse und alle Gefahren ver- 



— 8 — 

meidet; das Träumen einem steuerlosen Bote, das, ein Spiel der 
Wellen, planlos umherirrt; die Phantasie einem Schiffe, das mit 
aufgeblähten Segeln dahinstürmt, an dem eine treibende und 
steuernde Kraft nicht sichtbar ist, das aber doch einen ziel- 
bewussten und sicheren Kurs erkennen lässt. Im Traume ist 
alles regellos, ungebunden und ohne Kontrolle des Willens; die 
dichterische Phantasie übersteigt in ihren Bildern die Grenzen der 
Wirldichkeit, aber der Wille bleibt tätig, wenn auch mehr passiv 
als aktiv, und alles ist abhängig von der exceptionellen Energie des 
Gefühls, der Affekte und der sinnlichen Organisation. Das Genie 
des Dichters zeigt einen elementaren, unwillküriich und un- 
widerstehlich wirkenden Bautrieb der Phantasie, dabei aber bleibt 
der Zusammenhang des Seelenlebens gewahrt, der Blick für das 
Wesenhafte ausgesprochen. 

Alle Gebilde des Seelenlebens setzen sich aus Wahr- 
nehmungen zusammen. Auch die Phantasie schafft nicht aus 
dem Nichts, sondern alles, was sie produziert, ist abhängig von 
voraufgegangenen Sinneseindrücken. Sie ist nicht fähig, absolut 
neues hervorzubringen, ihre Produkte sind stets nur Kombinationen 
von im Gedächtnis haftenden Residuen früherer Eindrücke 
(Erinnerungsbilder). Die neuen Gedanken, die originellen Ideen, 
mit denen uns der Dichter überrascht, verdankt er seiner reichen 
Phantasie, welche die Sinneseindrücke in ihre kleinsten Bestand- 
teile zeriegt und zu unendlich vielen Neugestaltungen zeriegt, 
seiner leichten Assoziationstätigkeit und dem stark ausgeprägten 
Vorstellungsvermögen. 

Wenn der Dichter auf das Material angewiesen ist, welches 
ihm voraufgegangene Sinneseindrücke darbieten, dann ist seine 
schöpferische Tätigkeit auch abhängig von der ausesrordentiichen 
Macht der sinnlichen Organisation, und je umfassender das 
Wissen des Dichters ist, je mehr er imstande ist, die Eindrücke der 
Aussenwelt in sich aufzunehmen und zu befestigen, je gesunder 
und richtiger sein Urteil über die umgebenden Personen und 
Verhältnisse, je geordneter sein Denken und je zuveriässiger sein 
Gedächtnis ist, desto üppiger kann sich seine Phantasie entfalten, 
und desto mannigfaltiger, origineller und überraschender werden sich 



— 9 — 

seine Schöpfungen gestalten. «Was ist denn Genie anders, sagt 
Goethe, als die Fähigkeit, alles, was uns berfihrt, zu ergreifen und 
zu verwenden; allen Stoff, der sich darbietet, zu ordnen und zu 
beleben; hier Marmor und dort Erz zu nehmen und daraus ein 
dauerndes Monument zu bauen?* 

Zu der ausserordentlichen Energie und Leichtigkeit in 
den Geistesprozessen, zu der Tätigkeit der Phantasie und des 
Verstandes gesellt sich als eine weitere psychische Erscheinung 
des Dichters eine hochgradige Verfeinerung und Ausbildung des 
Gefühlslebens, des Gemütes, der Stimmungen. Auch hierbei 
handelt es sich nicht um etwas Neues, Mystisches, dem Genie 
ausschliesslich Eigenes, sondern um Erscheinungen der Psyche, 
die jedem Menschen eigentumlich, nur in gesteigerter Intensität vor 
und während des dichterischen Schaffensaktes sich geltend machen. 
Wie wir unter normalen Bedingungen unserer Organgefühle nicht 
bewusst sind, so tritt auch das, was wir Stimmung nennen, für 
gewöhnlich nicht in unser Bewusstsein, und wir erkennen nur Ver- 
änderungen und Schwankungen unserer Stimmungen. Stimmungen 
und Vorstellungen stehen fortdauernd in Wechselbeziehung zu 
einander: Der Inhalt der Vorstellungen richtet sich nach den 
jeweiligen Stimmungen, und umgekehrt ist die Stimmung und das 
ganze Gefühlsleben abhängig von bestimmten Vorstellungen. Wie 
wir die mannigfachsten Unterschiede auf dem Gebiete der Sinnes- 
wahrnehmungen kennen, so gibt es unendlich viele qualitative 
Unterschiede der Stimmungen, die sich durch Worte nicht be- 
zeichnen lassen. Wir haben zwar für bestimmte Zustände Bezeich- 
nungen, doch können wir mit ihnen nur die Erinnerung an einen 
entsprechenden früheren Eindruck erwecken. Bei seinem verfeiner- 
ten Gemütsleben nimmt der Dichter auf dem Gebiete der Stim- 
mungen qualitative Unterschiede wahr, welche er mit Worten nicht 
beschreiben kann; er veriügt über Stimmungsgefühle, deren der 
Durchschnittsmensch nicht fähig ist, genau so wie der musikalisch 
begabte Mensch weit mehr Klangfarben unterscheiden kann als 
das unmusikalische Ohr. 

Wie die Werke des Dichters aus dem Gefühl entstanden sind, 
so erregen sie ihrerseits wieder das Gefühl. Auch dem Menschen 



- 10 — 

von nüchterner geistiger Diät ist die Beziehung gegeben eines Innen 
und Aussen: wir beleben äussere Bilder durch innere Zustände 
und umgekehrt versinnlichen wir innere Zustände durch äussere 
Bilder; wir sprechen von einer freundlichen Landschaft, von einem 
heiteren Himmel etc. etc. Kraft seines ausserordentlich verfeinerten 
Nervenlebens in Verbindung mit seiner Phantasie ist beim Dichter 
diese Beziehung zwischen äusseren und inneren Zuständen eine 
besonders ausgesprochene. „Die kernhafte Idealität des Kunst- 
werkes liegt in dieser Symbolisierung eines ergreifenden inneren 
Zustandes durch Aussenbilder, in dieser Belebung äusserer Wirk- 
h*chkeit durch einen hineingesehenen inneren Zustand. *" (Dilthey.) 
Das Spiel der Phantasie, hervorgerufen durch Affekte und Stim- 
mungen, ist poetisch nirgends schöner und treffender geschildert 
worden als in den folgenden Versen Shakespeares (Sommer- 
nachtstraum) : 

Des Dichters Äug* in schönem Wahnsinn rollend, 

Blitzt auf zum Himmel, blitzt zur Erd* hinab, 

Und wie die schwang're Phantasie Gebilde 

Von unbekannten Dingen ausgebiert, 

Gestaltet sie des Dichters Kiel, benennt 

Das luft'ge Nichts und gibt ihm festen Wohnsitz. 

So gaukelt die gewalfge Einbildung; 

Empfindet sie nur irgend eine Freude; 

Und in der Nacht, wenn uns ein Grau'n befällt. 

Wie leicht, dass man den Busch für einen Bären hält. 

Wir haben im vorausgehenden in grossen Zügen eine 
psychologische Analyse des dichterischen Genies versucht und 
haben dabei erfahren, dass nicht neue, fremde, mystische geistige 
Elemente die Schaffenskraft des Genies bedingen, sondern dass es 
sich nur durch die ungewöhnliche Energie, Lebhaftigkeit und 
Leichtigkeit in den Geistesprozessen hervortut. In den folgenden 
Blättern wollen wir versuchen, einen tieferen Einblick zu gewinnen 
in die geistige Werkstatt des Genies, vor allem in die Art der 
Stimmung, welche Voraussetzung des genialen Schaffens ist, in 
den Zusammenhang von Stimmung und dichterischer Produktion. 
Dabei müssen wir an die Stelle des physiologischen Experimentes 
die Beobachtung setzen und müssen uns naturgemäss beschränken 
auf die Beobachtungen, welche eine zweite zuverlässige Person 



— 11 — 

berichtet, oder welche die Dichter selbst an sich angestellt haben. 
An solchen Beobachtungen, die an allen möglichen Dichtern 
und Kfinstlem angestellt und in zusammenhängender Darstellung 
veröffentlicht sind, ist kein Mangel. Indes ist das Ergebnis aller 
dieser vergleichenden Zusammenstellungen ein sehr mangelhaftes, 
fast nur ein äusseriiches. Wir erfahren nicht viel mehr, als dass 
es sich gewissermassen um einen unbewussten Vorgang, um eine 
plötzliche Eingebung beim Dichten oder Komponieren handelt, 
dass das Genie wie in einem nachtwandlerischen Zustand produziert,^) 
fiber den eigentlich psycho- physiologischen Zustand gelingt es 
uns nicht, aus allen diesen Berichten Schlüsse zu ziehen. 

Wir wollen unsere Aufgabe soweit einschränken, dass wir 
versuchen, nur den dramatischen Dichter bei seiner Tätigkeit zu 
belauschen. Diese Einschränkung erscheint insofern erspriesslich 
und verspricht von vornherein ein reicheres Ergebnis, weil wir es bei 
der dramatischen Produktion mit einer länger dauernden geistigen 
Betätigung zu tun haben und damit mit einem weiteren Beobach- 

1) Es ist auffallend, dass in den Arbeiten, soweit sie mir bekannt 
sind, der Bericht von Kosegarten, dem Dichter auf Rügen, fehlt, den er 
über die Art seines Dichtens und seine geistige Verfassung dabei gibt 
Ich führe ihn hier an, weil er mir das vollkommenste Bild zu geben 
scheint von der Verfassung, in der sich der Dichter während seines poe- 
tischen Schaffens befindet Kosegarten schreibt in der Geschichte seines 
fünfzigsten Lebensjahres: (pag. 48): Ich dichtete, weil ich nicht umhin 
konnte, es zu tun, weil die mich treibende Unruhe nicht anders beschwichtigt 
werden konnte als durch Hervorbringung eines Dichterwerkes. Der Ge- 
danke zu einem solchen kam mir nur durch Eingebung; das Ganze stand 
vor mir eines Schlages. Die Personen, wie sie leibten und lebten, die 
Handlung, wie sie stund und ging, die Orte, die Zeiten, die Umgebung, 
es machte sich alles von selbst Einzelne Massen traten hervor aus dem 
Ganzen; Partien, die ihrer Natur nach erst später erscheinen durften, 
drängten sich bisweilen in den Vordergrund und mussten beseitigt sein, 
ehe mir vergönnt war, das Frühere nachzuholen. Da nun auch die Masse 
und Rhythmen sich gar willig fugten, die ganze Reihenfolge von Versen zu- 
gleich mir vor die Seele trat, so hatte ich die äusserste Not, um alles 
niederzuschreiben, was zu verschwinden drohte, ehe ich Zeit gewonnen, 
es festzuhalten. Auch vermochte ich weder zu essen noch zu schlafen in 
solchen Zuständen. Ich war abwesend in der Mitte der Meinigen und der 
uns etwa besuchenden Fremden. Ich fuhr fort zu dichten, wachend und 
träumend, während der Mahlzeiten, während der gesellschaftlichen Unter- 
haltung und selbst während der kirchlichen Verrichtungen.'' 



— 12 - 

tungsfelde. Zudem vermeiden wir bei dieser Einschränkung eine 
Schwierigkeit alier derartigen Untersuchungen, die in der Bewer- 
tung des Genies liegt. Gerade bei den dramatischen Dichtern wird 
kaum ein Zweifel darüber bestehen, und wir können deshalb jedesmal 
die Frage unerörtert lassen, ob wir es wirklich und im wahren 
Sinne des Wortes mit einem Genie zu tun haben oder nicht 

Wir stellen zunächst die Beobachtungen zusammen, die von 
nahestehenden Personen über das Schaffen bestimmter Dichter 
berichtet worden,^) daran reihen wir die eigenen Reflexionen der 
Dichter und wollen dann der Frage näher treten, ob sich gemeinsame 
Symptome finden, die allgemein gültige Schlüsse und Deduktionen 
auf die dichterische Einbildungskraft und das geistige Schaffen des 
dramatischen Genies gestatten. 

II. 

Über Schillers Art zu schaffen, findet sich ein bemerkens- 
werter Bericht in dem Buche seines Freundes Andreas Streicher: 
«Schillers Flucht"*, dessen treuherzig-eindringliche Darstellung von 
der Kritik als authentisch anerkannt ist Über Schillers Tätigkeit 
in Oggersheim äussert sich Streicher wörtlich: 

«Die langen Herbstabende wusste er für sein Nachdenken 
auf eine Art zu benützen, die demselben ebenso förderlich 
als für ihn angenehm war. Denn schon in Stuttgart liess sich 
immer wahrnehmen, dass er durch Anhören trauriger oder 
lebhafter Musik ausser sich selbst versetzt wurde, und 
dass es nichts weniger als viele Kunst erforderte, 
durch passendes Spiel auf dem Klavier alle Affekte 
in ihm aufzureizen. Nun mit einer Arbeit beschäftigt, 
welche das Gefühl auf die schmerzhafteste Art erschüttern 
sollte, konnte Ihm nichts erwünschter sein, als in seiner 



Die Berichte sind im folgenden mit aller Ausführlichkeit und 
Genauigkeit wiedergegeben, auf die Gefahr hin, dass dadurch der Darstellung 
eine Überlastung mit Zitaten nachgesagt wird. Dadurch glaube ich den 
weit berechtigteren Vorwurf zu vermeiden, dass für einen bestimmten Zweck 
Auszüge und Berichte zusammengestellt und in bestimmter Absicht tendenziös 
zugestutzt wurden. 



— 13 — 

Wohnung das Mittel zu besitzen, das seine Begeisterung unter- 
halten oder das Zuströmen von Gedanken erleichtern könne. 
Er machte daher meistens schon bei dem Mittagtische mit 
der bescheidensten Zutraulichkeit die Frage an Streicher: 
,, Werden Sie nicht heute Abend wieder Klavier spielen?" 
Wenn nun die Dämmerung eintrat, wurde sein Wunsch erfüllt, 
während dem er im Zimmer, das oft bloss durch das Mond- 
licht erleuchtet war, mehrere Stunden auf und ab ging und 
nicht selten in unvernehmliche, begeisterte Laute ausbrach.** 
Soweit der Bericht von Schillers Jugendfreunde, dem als 
Musiker der Einfluss der Musik auf den dichterischen Affekt und 
die poetische Schaffenskraft doppelt auffallen musste. Überein- 
stimmend damit wird auch aus Schillers späteren Tagen berichtet, 
dass er es liebte, wenn er bei der Arbeit aus benachbartem 
Zimmer eine leise Musik zu hören bekam. Wir werden unten 
sehen, dass Streichers Beobachtung richtig ist und mit dem über- 
einstimmt, was Schiller aber sich selbst aussagte. 

Über Hebbels Art zu produzieren, berichtet sein Freund 
und Biograph Emil Kuh: 

Den produzierenden Hebbel erblicken, war das Bild 
eines Traumwandelnden sehen. Sein Antlitz hatte alsdann 
den leidenden Ausdruck des Beseligten. Er neigte sein 
Haupt tief herab, wie eine 'dem warmen Sommerregen hin- 
gebogene Pflanze. Die Arme vor der Brust ineinander 
gelegt, hin und wieder das Lächeln oder die Trauer des 
schauenden Menschen um den Mund, so schritt er durch die 
Strassen Wiens, durch das Gehölz des Praters oder durch die 
Laubgänge des Augartens, gleichviel ob das klare Licht des 
Spätherbstes sie vergoldete, oder feuchte Oktobernebel sie ver- 
schatteten oder berieselten. Sogar das Teufelswetter dieser 
Jahreszeit konnte ihm nichts anhaben, wenn er im Bildersegen 
untergetaucht, war. Das Gewühl und Getöse der Grossstadt 
störte den visionären Spaziergänger niemals, und die berüch- 
tigte Windsbraut Wiens, wie sie auch in den Baumkronen der 
gewaltigen Praterbäume wühlte und knirschte, wühlte ihn nicht 
aus seiner Weltvergessenheit auf. Sprach ihn aber jemand an, 



— 14 — 

dann entfuhr ihm der heftigste Laut der Abwehr. Manchmal 

überhörte er die Anrede und schwankte, leise singend, vorbei. 

Das entstehende Gedicht kam ihm nämlich immer mit 

einer Melodie. Ich habe diese seltsamen Summtöne zuweilen 

vernommen, wenn ich zufälligerweise hinter ihm herging. Dann 

und wann trat er in einen Hausflur und notierte rasch das 

Empfangene, meistens jedoch brachte er alles unaufgeschrieben 

heim, einmal hundert Verse, die er frei aus dem Kopf kopierte**. 

Alles, was Hebbel in seinen Tagebüchern und Briefen über 

sich selbst und die Wirkung der Musik auf seine Einbildungskraft 

berichtet, bestätigt diese Beobachtung Kuhs. Wir werden öfters 

Gelegenheit haben, darauf zurückzukommen. 

Heinrich Heine dichtete den Ratdiff, wie er bekennt, in 
einem Zuge und ohne Brouillon; es war ihm während des 
Schreibens, als hörte er über seinem Haupte ein Rauschen, 
wie der Flügelschlag eines Vogels. 
Die Berichte von Zeitgenossen und Freunden, welche Ge- 
legenheit hatten, den dramatischen Dichter bei seiner Produktion 
zu beobachten, können uns nicht viel sagen. Was der Aussenstehende 
im besten Falle beobachten und wahrnehmen kann, sind gewisse auf- 
fällige Äusserungen innerer seelischer Vorgänge während der 
Schaffensperiode. Die angeführten Beobachtungen bedeuten deshalb 
an sich nicht viel; aber doch weisen sie uns darauf hin, dass in dem 
intensiven Erregungsprozesse unter den übrigen Sinneszentren 
auch das akustische Zentrum in besondere Mitleidenschaft gezogen 
wird. Bei Heine scheint es sich um eine reine Gehörshalluzination 
zu handeln, bei Schiller scheint die dichterische Produktion ge- 
fördert durch Erregungen des Gehörzentrums, und die Notiz 
Kuhs, der gewiss die Befähigung und auch die Gelegenheit besass, 
die amabilis insania des produzierenden Hebbel häufig und ein- 
gehend zu beobachten, legt uns die auffallende Tatsache nahe, 
dass nicht bloss eine Melodie die dichterische Produktion begleitete, 
sondern sie auch anregte und einleitete. „Das entstehende Gedicht 
kam ihm immer mit einer Melodie". 

So mangelhaft immer das Beobachtungsmaterial sein mag, 
so wenig es uns berechtigt, bestimmte Schlüsse zu ziehen, es 



— 15 - 

lenkt doch unsere Aufmerksamkeit auf den innigen Zusammen- 
hang zwischen musikalischem Eindruck und dramatischer Pro- 
duktion. Versuchen wir, ob wir diesen Zusammenhang bestätigt 
finden, und ob wir einen tieferen Einblick in seine Gesetzmässigkeit 
gewinnen, wenn wir nunmehr die Dichter selbst befragen und die 
Berichte studieren, die sie selbst über die Art ihres Schaffens geben. 

111. 

In seiner „Selbstbiographie** berichtet Franz Grillparzer 
so eingehend wie kaum ein anderer Dichter über seine Ausbildung 
in der Musik und seine Beziehungen zu dieser Kunst. In den 
Knaben- ja schon Kinderjahren war ihm das Klavier, ähnlich wie 
dem jungen Goethe, durch den Unterricht verieidet worden; die 
Violine spielte er nach dem Urteil seines Lehrers mit grossem Talent, 
und ohne jede Anweisung brachte er mit ihm leichte Duette zustande, 
aber die Eltern verboten ihm die Geige, weil er in der Jugend eine 
Anlage zum Verwachsen zeigte, welche, wie man fürchtete, durch die 
emporgehobene Schulter bei der Behandlung des Instrumentes ver- 
mehrt werden könnte. Als junger Mensch, nachdem er sieben bis 
acht Jahre lang das Klavier nicht mehr berührt hatte, fluchtet er sich 
wieder zu diesem Instrumente, da ihm die Beschäftigung mit der 
Poesie noch fern lag. Er hatte alles vergessen, jede Technik 
war ihm entschwunden, die Noten waren ihm fremd geworden; 
aber in halb kindischer Tändelei hatte ihn sein erster Lehrer be- 
zifferten Bass (Generalbass) spielen lassen und hatte ihm eine 
Kenntnis der Grundakkorde beigebracht. „Ich ergötzte mich an 
dem Zusammenklang der Töne, die Akkorde lösten sich in Be- 
wegungen auf, und diese bildeten sich zu einfachen Melodien. Ich 
gab den Noten den Abschied und spielte aus dem Kopfe. Nach 
und nach erlangte ich darin eine solche Fertigkeit, dass ich stunden- 
lang phantasieren konnte. Oft legte ich einen Kupferstich vor 
mir auf das Notenpult und spielte die darauf dargestellte Be- 
gebenheit, als ob es eine musikalische Komposition wäre". Seine 
Phantasien auf dem Klavier fanden selbst bei kompetenten Beur- 
teilern vielen Beifall. Aber die Fähigkeit des musikalischen Phanta- 
sierens verlor sich, als er später Unterricht im Kontrapunkte nahm, 

Qrenzfragen d. Lit u. Medizin. 1. Heft. 2 



- 16 - 

und er sich gleichzeitig mehr und mehr der Poesie zuwandte. 
„Ich hatte immer das Wunderliche, dass, wenn ich von einem 
Gegenstande auf den andern überging, ich mit der Lust an dem 
früheren auch zugleich alle erlangte Fertigkeit, ja Fähigkeit verlor. ** 
Lange Jahre waren seitdem vergangen, der Dichter war in 
Grillparzer erwacht, die selbständige musikalische Komposition 
— der junge Grillparzer hatte einige Gedichte in Musik gesetzt — 
hatte sich völlig verloren, zwei seiner Dramen waren bereits ver- 
öffentlicht, und Grillparzer hatte mit grossem Eifer den Stoff der 
Medeasage aufgegriffen. Der ganze gewaltige Stoff war gegliedert 
und auch mehr als die Hälfte der Trilogie bereits ausgearbeitet, 
als ihn der plötzliche Tod der Mutter seiner Arbeit entriss. Erst 
mehrere Jahre später kehrte er wieder zu seiner Arbeit zurück, 
aber die Erschütterungen beim Tode der Mutter, die gewaltigen 
Reiseeindrücke in Italien, eine Krankheit, die Widerlichkeiten bei der 
Rückkehr hatten alles, was er für diese Arbeit vorgedacht und vor- 
bereitet, wie weggewischt und seinem Gedächtnisse völlig entrissen. 
„Vor allem den Standpunkt, aber auch alle Einzelheiten 
deckte völliges Dunkel, letzteres um so mehr, als ich mich nie 
entschliessen konnte, derlei aufzuschreiben". — - „Während ich 
in meiner Erinnerung fruchtlos suche, stellte sich etwas Wunder- 
liches ein. Ich hatte in der letzten Zeit mit meiner Mutter häufig 
Kompositionen grosser Meister, für das Klavier eingerichtet, 
vierhändig gespielt. Bei all diesen Symphonien Haydns, Mozarts, 
Beethovens dachte ich fortwährend auf mein Goldenes Vliess, 
und die Gedankenembryonen verschwammen mit den Tönen 
in ein ununterscheidbares Ganzes. Auch diesen Umstand hatte 
ich vergessen und war wenigstens weit entfernt, darin ein Hilfs- 
mittel zu suchen **. 
Es findet sich die Gelegenheit, mit der Tochter der Karoline 
Pichler öfters auf dem Klavier zu vier Händen zu spielen. 

„Da ereignete sich nun, dass, wie wir auf jene 
Symphonien geraten, die ich mit meinerMuttergespielt 
hatte, nun alle Gedanken wieder daraus zurückkamen, 
die ich bei jenem ersten Spielen halb unbewusst hinein- 
gelegt hatte. Ich wusste auf einmal wieder, was ich 



- 17 — 

wollte, und wenn ich auch den eigentlich prägnanten Stand« 
punkt der Anschauung nicht mehr rein gewinnen konnte, so 
hellte sich doch die Absicht und der Gang des Ganzen auf. 
Ich ging an die Arbeit, vollendete die Argonauten und schritt 
zur Medea." 
Die autobiographischen Angaben Grillparzers sind psycho- 
logisch nach mancher Richtung bemerkenswert. In jungen Jahren 
zeigt er eine ausgesprochene musikalische Begabung, die sich darin 
äussert, dass er spielend leicht sich die Technik des Klaviers und 
noch mehr der Geige aneignet, und dass er ohne eigentliche An- 
leitung den Generalbass beherrschte und selbständig komponierte. 
Aber sobald er dichterisch tätig wird, eriischt die musikalische 
Produktionskraft; die dichterische unterdrückt die musikalische 
Inspiration. — Unabhängig davon wirkt die Musik auch in späteren 
Jahren anregend auf seine dichterische Einbildungskraft, ja mehr 
noch, die Musik wirkt offenbar auch auf seine schöpferische Kraft 
(er spricht nicht bloss von Gedanken, sondern von Gedanken- 
embryonen), musikalische und poetische Eindrücke verbinden sich 
miteinander, bleiben in seinem Unterbewusstsein haften, und als 
nach Jahren die Erinnerung völlig erioschen ist, wird sie in voller 
Schärfe wieder hervorgerufen, als die ursprüngliche Melodie 
wieder erklingt. Ein treffendes Beispiel, das geeignet ist, das, 
was von dem Beobachter Hebbels gesagt ist, in ein helleres Licht 
zu rücken und den grossen Einfluss zu beweisen, welchen die 
musikalische Erregung auf die dramatische Produktion ausübt 

Über den gleichen Gegenstand, die Beziehung der Musik zu 
dichterischem Schaffen, spricht der italienische Dramatiker Vittorio 
Alfieri in den Denkwürdigkeiten aus seinem Leben. Mit dem 14. 
Lebensjahre begann seine musikalische Ausbildung. Wie Grill- 
parzer wurde auch ihm der Klavierunterricht verieidet, und zwar, 
wie er berichtet, weil die Musikstunde gleich nach dem Essen 
gelegt war, und weil diese Stunde der Verdauung während seines 
ganzen Lebens jeder geistigen Betätigung sehr ungünstig war; es 
gelang ihm noch nicht einmal, seine Aufmerksamkeit auf das 
Papier und die Noten zu konzentrieren, die fünf engen und 
parallelen Linien schwankten vor seinen Augen, und er war nach 



— 18 - 

einer solchen Stunde für den ganzen übrigen Tag stumpf und 
verdrossen. »Was das Klavier anbelangt, schreibt er, so machte 
ich, obwohl ich eine unendliche Leidenschaft zur Musik hatte 
und nicht ohne naturliche Anlagen war, bei alledem fast gar 
keine Fortschritte, ausser dass meine Hand auf den Tasten viel 
Fertigkeit bekam. Aber die geschriebene Musik wollte mir nicht 
in den Kopf; alles war Ohr und Gedächtnis bei mir und nichts 
weiter." — Ein Jahr, bevor er anfing sich mit der Musik zu 
beschäftigen, hatte Alfieri Gelegenheit, zum ersten Male eine Oper 
zu hören, und er schildert in bewegten Worten den tiefen und 
nachhaltigen Eindruck der Musik auf Herz und Gemüt des 
13jährigen Knaben, wobei er gleichzeitig die Anregungen, die 
er auch später von der Musik empfing, berührt. 

„Die komische Oper, welche ich mittels des Vorwandes 
meines wohlwollenden Onkels, der meinen Vorgesetzten sagen 
liess, dass er mich auf einen Tag und eine Nacht mit sich auf 
ein Landgut nehmen wolle, so glücklich war zu sehen, führte 
den Titel: il Mercanto di Malmartile; die besten Komiker Italiens, 
Carratoli, Baglioni und ihre Töchter sangen darin, und die Musik 
war von einem der berühmtesten Meister. Der Reichtum und 
die Mannigfaltigkeit dieser göttiichen Musik machten den tiefsten 
Eindruck auf mich, indem sie gleichsam einen Nachklang von 
Harmonie in meinen Ohren und meiner Phantasie zurückhess 
und jede innerste Faser bewegte, dergestalt, dass ich in mehreren 
Wochen in eine ausserordenliche, aber nicht unangenehme 
Melancholie versunken blieb, aus welcher ein gänzlicher Über- 
druss und Ekel an allen meinen gewohnten Studien, zugleich 
aber eine höchst sonderbare Gährung phantastischer Ideen 
entstand, mit welchen ich, wenn ich es verstanden, Verse 
machen und die lebheftesten Leidenschaften hätte ausdrücken 
können; allein ich kannte mich noch nicht, und diejenigen, 
die mich zu erziehen vorgaben, ebenso wenig. Und dies war 
das erstemal, dass ich eine solche von der Musik in mir hervor- 
gebrachte Wirkung betrachten konnte; sie blieb mir lange ins 
Gedächtnis geprägt, denn sie war viel heftiger als jedes andere 
Gefühl vorher. Wenn ich aber meine Karnevale und die 



— 19 - 

wenigen Vorstellungen der grossen Oper, denen ich beigewohnt 
hatte, in mein Gedächtnis zurückrufe und die Wirkung der- 
selben mit derjenigen vergleiche, die ich noch gegenwärtig 
empfinde, so oft ich nach einiger Entfremdung vom Theater 
nach einer gewissen Zeit dahin zurückkehre, so finde ich 
immer, dass mein Geist, mein Herz und mein Verstand 
durch nichts so heftig und unermesslich angeregt 
werden als durch Töne überhaupt und insbesondere durch 
die Stimmen der Altisten und Sängerinnen. Nichts weckt in 
mir mehr und mannigfaltigere und schrecklichere Leiden- 
schaften; fast alle meine Trauerspiele sind entweder 
unter dem Anhören der Musik oder wenige Stunden 
nachher von mir aufgefasst worden." 
Kein anderer Dichter und speziell Dramatiker hat in so 
unzweideutiger und klarer Weise den Einfluss und die nachhaltige 
Wirkung der Musik d. h. des akustischen Eindrucks auf die Er- 
regung der Grosshirnrinde geschildert. Die dramatische Konzeption 
kam Alfieri unter dem Anhören oder unter der Nachwirkung der 
Musik. Im einzelnen schildert er diesen psychologischen Vorgang, 
indem er rückschauend die Stimmung wiedergibt, in die ihn als 
Knaben, noch bevor er sein dichterisches Talent entdeckt, während 
er ganz naiv und ohne tieferes Verständnis die Musik in sich auf- 
nimmt, diese auf ihn ausübt. Die musikalische Harmonie wirkt 
durch Wochen hindurch in seiner Phantasie fort und versetzt ihn 
allmählich in jenen weltabgeschlossenen, traumhaften Zustand, der 
den somnambulen Eindruck des produzierenden Dichters hervorruft; 
auf dem Boden der musikalischen Harmonie entwickeln sich 
phantastische Ideen, die nach entsprechendem Ausdruck ringen 
und sich bis zur höchsten Leidenschaftlichkeit steigern. Was wir bei 
Hebbel und Grillparzer nur angedeutet finden, nach ihrer Schilderung 
aber ahnen können, hier lesen wir es klar bestätigt: aus dem 
musikalischen Eindruck entwickelt sich die dichterische Idee, oder 
physiologisch ausgedrückt, unter allen Erregungen subcortikaler 
Zentren ist es gerade die Erregung des Gehörszentrums, welche 
auf der Bahn assoziativer Fasern sich am frühesten und inten- 
sivsten auf die Hirnrinde überträgt. 



— 20 — 

Wie hier Alfieri den Eindruck der ersten Musik auf sein 
empfängliches Kindergemüt schildert, wie er als gereifter Dichter 
die Überzeugung ausspricht, dass er hier zum erstenmal die Stim- 
mung empfand, die er nach seiner späteren Erfahrung als dichte- 
rische erkannte, so erzählt uns auch Hebbel den entsprechenden 
Eindruck der Musik während des Sonntagsgottesdienstes in der 
Dorfkirche auf sein Kindergemüt. Am 17. November 1843 trägt 
er gelegentlich eines Berichtes über ein Berlioz-Konzert in Paris 
in sein Tagebuch das Folgende ein: 

„Wenn ich mich jener Empfindungen in der Dorfkirche jetzt 
erinnere, so muss ich sagen: ich schwamm im Element der 
Poesie, wo die Dinge nicht sind, was sie scheinen, und nicht 
scheinen, was sie sind, das Wunder der weltlichen Transsub- 
stantion vollbrachte sich in meinem Gemüt, und alle Welten 
flössen durcheinander." 
Auch von Schiller haben wir eine zwar nur kurze, doch 
vielsagende Notiz über die Wirkung der Musik auf sein drama- 
tisches Schaffen ; er äussert sich darüber in einem Briefe an Goethe : 
„Bei mir ist die Empfindung anfangs ohne bestimmten 
und klaren Gegenstand, dieser bildet sich erst später. Eine 
gewisse musikalische Gemütsstimmung geht vorher, 
und auf diese folgt bei mir erst die poetische Idee.** 
Schiller drückt hier klar und unzweideutig aus, dass die un- 
bestimmten und verschwommenen Bilder seiner Phantasie unter 
dem Einfluss einer durch die Musik hervorgrufenen Gemüts- 
stimmung feste Umrisse und eine deutliche Gestaltung annehmen. 

IV. 

Wenn wir tiefer eindringen wollen in das Verständnis der 
Beziehungen von Musik und dichterischer Schöpfungskraft, so 
werden wir uns mit besonderem Interesse dem Studium der Dichter 
und Dramatiker zuwenden müssen, die über die natüriiche musi- 
kalische Veranlagung und das dilettantische Verständnis hinaus, 
sich ernsthaft dem Studium der Musik hingaben, die bis zu einem 
gewissen Grade wenigstens ein musikalisches Instrument beherrsch- 
ten und sich zeitlebens mit musik-theoretischen Fragen beschäf- 



— 21 — 

tigten. Es liegt zwar ein entscheidendes Kriterium für die musi- 
kalische Veranlagung und für das musikalische Verständnis nicht 
gerade darin, ob es ein Dichter zu einer mehr oder weniger vir- 
tuosen Beherrschung eines Instrumentes gebracht hat. Goethe war 
nicht ausübender Künstler oder Dilettant, und doch verraten seine 
musiktheoretischen Auslassungen, besonders in der Korrespondenz 
mit Zelter eine Vertiefung des Urteils und ein Verständnis, das 
entschieden über das seines Freundes und Musikers von Fach 
hinausging. Heine liebte es, sich gelegentlich als Musikbanausen 
aufzuspielen, und doch besass er eine seltene Empfindlichkeit, 
Anfnahmefähigkeit und Ansprechbarkeit für Musik und bei vielen 
Gelegenheiten ein über den Zeitgeschmack hinausgehendes kriti- 
sches Urteil für musikalische Leistungen; Grillparzer und Alfieri 
sprechen selbst von ihrer musikalischen Anlage und Begabung. 
Wenn wir doch die ausübenden Musiker unter den Dramatikern 
besonders aufmerksam betrachten, so geschieht es, weil wir vor- 
aussetzen können, dass sich ihnen in der praktischen Betätigung 
von selbst das psychologische Phänomen aufdrängte, mit dem wir 
es hier zu tun haben, dass sie darüber nachdachten und eine 
Erklärung hierfür suchten. In diesem Sinne sind für uns beson- 
ders zwei Dramatiker bemerkenswert, deren intime Beziehung zur 
Musik so wenig Beachtung gefunden hat, dass sich in zusammen- 
fassenden Abhandlungen über Deutsche Dichter und die Musik 
noch nicht einmal ihr Namen erwähnt findet. 

Otto Ludwig hielt zunächst sein Talent für ein musikali- 
sches und veriebte einige Jahre sehr zurückgezogen in Leipzig, 
wo er ernsthaft Musik trieb. Erst später, als er in Dresden mit 
Eduard Devrient und der Bühne in Verbindung trat, warf er sich 
völlig der Poesie in die Arme. Dabei blieb er aber stets, was 
wir einen dionysischen Dichter nennen. Ein Jahr nach des Dich- 
ters Tode hat Gustav Freitag in dem Grenzboten (1866 Nr. 2) 
einen Aufsatz über ihn veröffentlicht, in dem er, der dem Dichter 
persönlich nahegestanden, seine Schaffensweise darzulegen und 
in die geheimen Tiefen der Dichterseele einzudringen versucht. 
In der feinen Charakterstudie betont er besonders die musikalische 
Veranlagung des Dichters, aus der er die Eigenart seines Schaffens 



— 22 - 

und vor allem auch die Mängel seiner Qeistesprodukte erklären 
zu dürfen glaubt. Über die Art seines Schaffens berichtet er: 
„Noch auffallender wurde er, wenn man die Methode seiner 
poetischen Arbeit beobachtete: in seinem Innern eine leiden- 
schaftliche Bewegung, der eines Inspirierten gleich; seine Emp- 
findungen und Anschauungen nicht bloss poetisch, sondern zu 
gleicher Zeit sowohl musikalisch als malerisch, und zwar in 
so hohem Grade, dass sein poetisches Schaffen dadurch ge- 
hemmt wurde. In eigentümlichen Kämpfen rangen sich die 
Gebilde aus seiner Seele los. Während sie in ihm lebten, 
hörte er Klänge, sah er die Gestalten in Gruppen farbig vor 
sich ... Er wusste, dass dergleichen nur gaukelnde Täuschung 
des erregten Sinnes war . . . ." 
Die Angaben und Beobachtungen Freitags sind nach mancher 
Richtung ungenau; das ergibt sich ohne weiteres, wenn wir mit 
ihnen die Aufzeichnungen vergleichen, die Otto Ludwig selbst 
über sein poetisches Schaffen hinterlassen hat. 

Mein Verfahren, bekennt er, ist dies: Es geht eine 
Stimmung voraus, eine musikalische, die wird mir zur 
Farbe, dann sehe ich Gestalten, eine oder mehrere in irgend- 
einer Stellung und Gebärdung für sich oder gegeneinander . . . 
Diese Farbenerscheinung habe ich auch, wenn ich ein Dichtungs- 
werk gelesen, das mich ergriffen hat; versetz ich mich in eine 
Stimmung, wie sie Goethes Gedichte geben, so hab* ich ein 
gesättigt Goldgelb ins Goldbraune spielend; wie Schillers, so 
hab* ich ein strahlendes Karmoisin; bei Shakespeare ist jede 
Szene eine Nuance der besonderen Farbe, die das ganze 
Stück hat. Wunderlicherweise ist jenes Bild oder jene Gruppe 
gewöhnlich nicht nur das Bild der Katastrophe, manchmal 
nur eine charakteristische Figur in irgend einer pathetischen 
Stellung .... 
Ich habe die Bekenntnisse des Dichters hier nur soweit 
wiedergegeben, als sie an dieser Stelle für uns von Interesse sind. 
Wir sehen daraus, dass die Angabe Freitags, der Dichter habe 
in seiner poetischen Stimmung sowohl musikalisch als malerisch 
empfunden, er habe während seines Schaffens sowohl Klänge 



- 23 — 

gehört, als Gestalten farbig vor sich gesehen, nicht ganz dem 
psychologischen Vorgange entspricht. In der Phantasie Ludwigs 
erweckten poetische Stimmungen und Bilder, ob sie nun im 
eigenen Hirn entsprangen oder durch die Lektüre angeregt wurden, 
Farbeneindrücke; etwas ähnliches wissen wir von Goethe, der ja 
alle Gedanken über seine Kunst auf Farben bezogen hat und auch 
von Modernen (Herm. Bahr u. a). Aber ganz unabhängig von 
diesen Farben- und plastischen Vorstellungen, die ihrerseits natürlich 
wieder auf die Intensität der poetischen Bilder und ihrer Verbin- 
dungen befruchtend wirkten, wurde bei Ludwigdie poetische Stimmung 
als solche, die erste poetische Konzeption zunächst hervorgerufen 
oder doch eingeleitet durch eine musikalische Stimmung. Gerade 
die Bekenntnisse Ludwigs lassen deutlich erkennen, wie verschieden 
die Erregungen sensorieller Zentren auf die Werkstätte poetischer 
Gedanken einwirken. Der Dichter versinnlicht oder deutet innere 
Zustände durch äussere Bilder. Die Erregungszustände des aku- 
stischen Zentrums werden zunächst auf den Bahnen der Assoziations- 
fasem auf die grosse Gehirnrinde projiziert, und von hier aus erst 
geht auf den entsprechenden Bahnen der Erregungsprozess auf 
das Sehzentrum über. Die musikalische Stimmung geht dem 
poetischen Schaffen Ludwigs voraus — das ist genau der gleiche 
psychologische Vorgang, wie wir ihn bei Alfieri, Schiller und 
anderen Dramatikern kennen gelernt haben. Im Anfang war der 
Ton und die Harmonie, die Quelle des poetischen und drama- 
tischen Schaffens ist das innere Gehör. 

Das poetische, von musikalischen Eindrücken eingeleitete und 
von Klangvorstellungen begleitete Schaffen Ludwigs erscheint seinem 
Biographen, Gustav Freitag, einzigartig und rätselhaft, wie er sich 
ausdrückt, ganz fremdartig gegenüber der regelvollen, innerlichen 
und mit Absicht stärker verfolgten Dichterarbeit unserer Tage. Er 
vergleicht ihn deshalb mit den alten epischen Dichtern, die nicht 
nur ihre Gebilde leibhaftig vor sich sahen, sondern dabei auch 
musikalischen Klang hörten, und die ihre Beschreibungen und ihre 
Reden in rhythmischem Takt und melodischem Tonfall empfinden. 
Für ihn ist Ludwigs Schaffen gewissermassen ein atavistischer 
Rückschlag, und er will in seinen Bekenntnissen den Beweis sehen. 



— 24 — 

dass in einem Deutschen des neunzehnten Jahrhunderts einmal die 
uralte und für uns seltsamste Arbeit eines Dichtergemütes aus 
grauer Vorzeit wieder lebendig geworden ist. Aber die psycho- 
logischen Gesetze des geistigen Schaffens sind unabänderlich, und 
das Studium anderer Dramatiker hat uns belehrt und soll uns 
weiter belehren, dass der Dichter des Erbförsters in seinem Geistes- 
leben nichts Abnormes, nichts Eigenartiges darbietet 

Es ist eine auffallende Erscheinung, dass derjenige unter 
unseren Dichtern, dem wir heute die unmittelbarste dramatische 
Begabung zuerkennen, gleichzeitig auch den ausgesprochensten 
Sinn für Musik, das feinste musikalische Empfinden und neben 
der praktischen Betätigung ein weitgehendes Verständnis für musik- 
theoretische Fragen erkennen lässt Wir meinen Heinrich von 
Kleist, über dessen Leben wir, nachdem endlich mit alten ent- 
stellten Legenden und unkontrollierbaren Gerüchten gründlich aufge- 
räumt worden ist, zwar sehr wenig Sichergestelltes nur wissen, doch 
genug, um neben der dichterischen seine musikalische Veranlagung 
und seine musikalische Ausbildung behaupten zu können. Schon 
in der ersten, von Tieck verfassten biographischen Skizze über 
Kleist findet sich kurz erwähnt, dass Kleist früh zur Musik ein 
schönes Talent entwickelte und verschiedene Instrumente spielte, 
und sein folgender Biograph, Eduard von Bülow, fügt hinzu, dass 
er in Potsdam als Leutnant in einer von Offizieren zusammen- 
gesetzten Musikkapelle die Klarinette spielte; Brahm spricht später 
von einem aus Offizieren zusammengesetzten Liebhaberorchester. 
Ich habe diese kurzen Daten nach zeitgenössischen Zeugnissen 
ergänzt resp. richtiggestellt.^) Es handelte sich in Wirklichkeit, 
nicht um eine Musikkapelle oder ein Orchester, sondern um ein 
Quartett befreundeter Offiziere, unter ihnen Kleist, die in einer 
oberflächlichen und in Äusserlichkeiten aufgehenden Umgebung 
ernsthaft die Musik pflegten, und die auch später noch, als sie 
zum Teil nach Beriin versetzt, zum Teil sich dort ins Privatleben 
zurückgezogen hatten, zusammenhielten und ihre Übungen fleissig 
fortsetzten. Ohrenzeugen bekunden ausdrücklich, dass die Leistungen 



■) Vergl. Nationalzeitung 1904, Sonntagsbeilage Nr. 20. 



- 25 — 

des Quartetts ausgezeichnete waren, und dass ihre Darbietungen 
noch heute (1847) den Zuhörern lebendig im Gedächtnis sind. 
Auch eine kleine, von seinem Biographen entstellt berichtete Episode 
aus Kleists Leben, die mit dieser frühzeitigen musikalischen Be- 
tätigung im Zusammenhang steht, habe ich richtig gestellt Wie 
der rechte Ernst niemals den Sinn für Scherz und Heiterkeit aus- 
schliesst, so genossen die vier Freunde auch mit dem leichten 
Flug dieser Stimmung die vergängliche Zeit. Einst kam das Quartett 
auf die Idee, als reisende Musikanten einen Ausflug in den Harz 
zu^ machen. Ohne einen Kreuzer mitzunehmen, wurde in Dörfern 
und in Städten gespielt, und nur vom Ertrage der Kunst gelebt. 
Der Erfolg war glänzend; man kehrte von der genialen Reise neu 
erfrischt und geistig belebt wieder heim, und der Eindruck dieser 
Harzreise speziell auf Kleist blieb ein nachhaltiger und anregender. 
Damals stand Kleist im 20. Lebensjahre. Wir erfahren in der 
Folge nichts weiter über seine musikalische Ausbildung und musi- 
kalischen Studien. Hingegen aber lassen uns zahlreiche ganz kurze 
Äusserungen und Andeutungen in seinen Briefen erraten, dass das 
Interesse an der Musik niemals erioschen ist. Seine Verwandten 
sucht er anzuregen, er verschafft ihnen Musikalien, er transponiert 
für sie Musikstücke. Im Verkehr mit Mädchen und Frauen ist es 
namentlich ihr Musikverständnis und ihr musikalischer Sinn, der 
ihn anzieht und fesselt. Das gilt für Julie Kunze, deren vorzüg- 
licher Gesang ihn bezaubert, das scheint das feste Band zu er- 
klären zwischen ihm und der Stiefschwester Ulrike, von der neuer- 
dings wenigstens bekannt geworden ist, dass sie bis an ihr Lebens- 
ende an dem Musikleben ihrer Vaterstadt sich beteiligte, und das 
gilt schliesslich für seine Beziehung zu seiner Todesgefährtin 
Adolphine Vogel, mit der ihn die „gleiche Stimmung in musika- 
lischen Dingen** so eng und bis in den Tod zusammenhielt. In 
„musikalische Einsicht** betitelten Epigrammen besingt er die ver- 
lockende Gewalt, das Erhebende und sinnlich Berauschende der 
Musik, und wir wissen von ihm selbst, dass die produktive 
Stimmung bei ihm einsetzte mit üppigen Gehörshalluzinationen, 
die ein ganzes Konzert mit allen Instrumenten darstellten, von 
der zärtlichen Flöte bis zum rauschenden Kontraviolon. Endlich 



— 26 — 

besitzen wir gewissermassen als die Quintessenz kunstästhetischer 
Anschauung eine Äusserung des Dichters, die er wenige Monate 
vor seinem Tode an eine Freundin *) richtete, und die den folgen- 
den Wortlaut hat: 

„In diesem Falle (nämlich, wenn er sich von dem Drange 
widerwärtiger und verstimmender Verhältnisse befreien könnte) 
wurde ich die Kunst vielleicht auf ein Jahr oder länger ganz 
ruhen lassen, und mich, ausser einigen Wissenschaften, in 
denen ich noch nachzuholen habe, mit nichts als Musik be- 
schäftigen. Denn ich betrachte diese Kunst als die Wurzel, 
oder vielmehr, um mich schulgerecht auszudrücken, als die alge- 
braische Formel aller übrigen, und so wie wir schon einen 
Dichter haben — mit dem ich mich übrigens auf keine Weise 
zu vergleichen wage — der alle seine Gedanken über die Kunst, 
die er übt, auf Farben bezogen hat, so habe ich von meiner 
frühesten Jugend an, alles Allgemeine, was ich über die Dicht- 
kunst gedacht habe, auf Töne bezogen. Ich glaube, dass im 
Generalbass die wichtigsten Aufschlüsse über die Dichtkunst 
enthalten sind.** 
Es konnte nicht fehlen, dass das grosse und ausgesprochene 
musikalische Temperament des Dramatikers Kleist die Aufmerk- 
samkeit der Forscher auf sich zog, wenigstens nachdem man es 
aufgegeben hatte, in seiner Eigenart etwas Pathologisches zu sehen 
und seine Äusserungen namentlich aus dem letzten Lebensjahre 
als Emanationen eines verwirrten, dem Wahnsinn verfallenen Geistes 
zu betrachten. So haben namentiich Helene Zimpel^) und S. 
Lublinski') in speziellen Untersuchungen wichtige Beiträge zu 
einer Kleist-Ästhetik geliefert, denen mir nur wenig nachzu- 
tragen übrig bleibt. Wollen wir ein Verständnis gewinnen für die 



Der Herausgeber der gesammelten Kleistbriefe hat die Frage offen 
gelassen, an wen dieser für das Verständnis des Dichters so wichtige 
Brief gerichtet ist. Diese, wie viele andere Lücken der Ausgabe, lassen der 
Forschung ein weites Feld übrig. Ich behalte mir vor, an anderer Stelle 
die Frage zu untersuchen, wer der Empfänger des Briefes sein kann. 

>) Helene Zimpel : Kleist der Dionysische in Nord und Süd, Heft 323. 

') S. Lublinski ; Eine Kleist-Biographie in Nation, XXII. Jahrg. No. 31. 



— 27 — 

zitierte Briefstelle, so wird es nötig sein, auf eine frühere Lebens- 
periode des Dichters näher einzugehen, die etwa in sein 23. - 27. 
Lebensjahr fällt, und die ich bei anderer Gelegenheit schon als 
die Sturm- und Drangperiode des Dichters bezeichnet habe. 

Während Kleist in den vorausgehenden Lebensjahren als 
Soldat und Student uns imponiert durch sein klares, konsequentes 
Denken, durch seinen ausgesprochenen Drang nach Wahrheit und 
Erkenntnis, durch einen Geist, der frei von jeder phantastischen 
Überschwänglichkeit hauptsächlich Gefallen findet am Studium der 
strengen Logik und Mathematik, zeigt er ganz unerwartet (etwa seit 
1800) eine ausgesprochene Störung in seiner gemütlichen und ner- 
vösen Verfassung: sein seejisches Gleichmass schwankt, seine Stim- 
mung ist im fortwährenden Wechsel, wir erleben heftigste Selbst- 
vorwürfe, tiefste Depression, Todesahnungen und Beängstigungen. 
Ich habe versucht, an anderer Stelle diese Störungen des see- 
lischen Gleichgewichts auf ihre wahren Ursachen zurückzuführen; 
mittelbar oder unmittelbar spielen dabei seine Kämpfe und sein 
Ringen mit dem Guiskard-Stoffe eine ebenso entscheidende als 
verhängnisvolle Rolle. 

In diese Zeit fällt auch Kleists für uns verlorener Aufsatz: „Ge- 
schichte meiner Seele**. Der Dichter, der sich so scharf beobachtete, 
der so viel über sich nachdachte, hat auch in dieser peinlichsten Periode 
seines Lebens über sein seelisches Befinden und seine seelischen 
Bedrängnisse offen Zeugnis abgelegt, besonders in den Briefen 
an seine Braut. Darüber hinaus aber muss die Geschichte seiner 
Seele zweifellos Bekenntnisse enthalten, welche auf sein dichterisches 
Schaffen ein Licht werfen, welche uns einführen in die Werkstatt 
seiner dramatischen Produktion, denn nicht anders ist es zu ver- 
stehen, wenn eine Freundin, fünf Jahre nach des Dichters Tode 
über das Werk schreibt, dass ohne dieses, wenigstens für diejenigen, 
die Kleist ganz kennen und würdigen wollen, seine ganzen Schriften 
nur ein Fragment bleiben. Kleists Briefe können nicht, wie ihr 
letzter Herausgeber behauptet, als Ersatz für die Geschichte seiner 
Seele gelten, denn der feinfühlige Dichter eröffnet sich in seinen 
Briefen nur dort, wo er mit Verständnis rechnen kann, und unter 
allen Adressaten ist der Briefempfänger, dem die zitierte Briefstelle 



- 28 — 

gilt, der einzige, dem gegenüber er sich gelegentlich über sein 
poetisches Schaffen auslässt. Die zitierte Briefstelle kann deshalb 
auch seiner Seelengeschichte entnommen sein, und wie sie auf seine 
dichterischen Absichten ein Licht wirft, so müssen wir annehmen, 
dass die verloren gegangene Schrift uns aufzuklären geeignet wäre 
über des Dichters Pläne und Kämpfe um den Quiskard. Das 
Rätsel des Guiskard - Dramas ist aber auch das Geheimnis von 
Kleists Künstlertum, und wohl auch das Geheimnis seiner tief 
verschlossenen, äusserlich so exzentrischen Natur. 

Kleist, der in seinem Guiskard auf die Antike zurückging, 
empfand, wie Lublinski es ausdrückt, nicht nur das Apollinische, 
sondern auch das Dionysische der Antike d. h. nicht nur ihre 
Architektur und Plastik, sondern auch fhr wirres Chaos und ihre 
dumpfe grollende Musik. Beides zu einem gemeinsamen Kunst- 
werke zu vereinigen, und wie die hellenische Tragödie im Sinne 
Nietzsches aus dem Dionysischen Chorlied geboren wurde, so 
sein modernes Drama aus dem Geiste der Musik entstehen zu lassen 
— das war die grosse Aufgabe, die sich Kleist gestellt hatte, und 
die er aufgeben musste, als er fühlte, dass sie seine Kräfte über- 
schritt. Immerhin müssen wir Lublinski recht geben, wenn er 
Kleist im gewissen Sinne nicht blos einen Voriäufer, sondern auch 
einen Überwinder Richard Wagners nennt, indem er schon mit 
seinem Guiskard-Fragment durch die Tat bewiesen hat, dass ein 
^musikalisches** Drama auch im schlichten Dichterwort sehr wohl 
möglich ist. 

Die Beweise für die poetisch-musikalischen Intentionen Kleists 
finden wir in dem Aufbau des Guiskard, soweit das Dramas uns er- 
halten ist. Wieland, dem der Dichter einige Szenen seines Dramas 
vorgelesen hatte, war der Meinung, dass, wenn die Geister des 
Aschylus, Sophokles und Shakespeare sich vereinigten, eine Tragödie 
zu schaffen, sie eben das sein würde, was das neue Drama zu 
werden versprach. Gerade aber Wieland war, wie wir später 
zeigen werden, wie kein anderer geeignet die Musik ohne Noten 
und Instrumente herauszuhören, die zwischen den Zeilen des Dichter- 
wortes zittert und rauscht. In einer verständnisvollen Analyse 
hat neuerdings Servaes diesen Gedanken weiter ausgeführt. Das 



— 29 — 

Volk im Guiskard stellt ein ganzes Orchester dar mit einzelnen 
individualisierten Stimmen : nämlich die Krieger und der Greis, die 
das Volk beschwichtigen. Dann stellen sich in Robert, Abälard, 
Helena und in Guiskard selbst dem Orchester die menschlichen 
Stimmen gegenüber, und das alles in kontrastierendem Wechsel 
und wohlschattiertem Gegensatz, zielt durchaus auf eine grosse 
Harmonie hin, die die gesonderten Teile zu verbinden hat. Mag 
der Dichter auch bei seiner nachträglichen Veröffentlichung vieles 
von seiner ursprünglichen Absicht aufgegeben haben, wir ahnen im 
Fragment das Drama, das sich auf einer musikalischen Grund- 
empfindung aufbauen sollte. Noch nach einer andern Richtung scheint 
mir das Guiskard-Fragment für die Bestrebungen des Dichters zu 
sprechen. Auch die späteren Dramen Kleists verraten einen starken 
musikalischen Gehalt, und es ist begreiflich, dass besonders die Pen- 
thesilea auf Musiker wie Hugo Wolf einen grossen Zauber aus- 
übte. Und das musikaliche Temperament, das hier wie auch 
in einigen Scenen der Hermannschlacht zum Durchbruch kommt, 
erscheint mir viel natürlicher und ungezwungener als im Guis- 
kard, wo der Dichter in bestimmter Tendenz seinem musikalischen 
Empfinden Gewalt anzutun scheint. 

Was wir aus Kleists Drama herauslesen, das finden wir bestä- 
tigt in seiner Korrespodenz. Kleist, der seiner Schwester mit 
Bezug auf den Guiskard mitgeteilt hatte, dass er sich mit einer 
„Entdeckung im Gebiete der Kunst" beschäftige, schreibt ihr aus 
Genf (5. X. 03), dass er seine Arbeit aufgibt dass er vor Einem 
zurücktritt, der noch nicht da ist und sich, ein Jahrtausend im 
voraus, vor seinem Geiste beugt. Er grollt dem Schicksal, das 
sich herablässt „ein so hilfloses Ding, wie der Mensch ist, an der 
Nase herumzuführen**. Und nun sagt er wörtlich; „Die Hölle gab 
mir meine halben Talente. '^ Kleists Sätze sind stets wörtlich 
zu nehmen, auch niemals, wie sie oft gedeutet wurden, in über- 
tragenem Sinne oder in einer Bedeutung, die wir ihnen im moder- 
nen Sprachgebrauch unterlegen. Besonders wenn wir den Zusatz 
berücksichtigen: „der Himmel schenkt dem Menschen ein ganzes 
(Talent) oder gar keins", so liegt es klar auf der Hand, dass er von 
seinem musikalischen und poetischem Talente spricht, die erforderlich 



— 30 - 

sind zu seiner grossen „menschlichen Erfindung*", die aber bei 
ihm nicht stark genug entwickelt sind, um ihm den heissersehnten 
Platz in den Sternen zu sichern. 

Mir scheint es schliesslich auch nicht ein Zufall, dass gerade 
Wieland sich mit so grossem Interesse und voller Begeisterung 
der Arbeit seines jungen Freundes zuwandte. Wieland selbst war 
eine sehr musikalische Natur, hatte frühzeitig gründlich die ita- 
lienischen und deutschen Meister der Musik studiert, er spielte das 
Klavier fertig und mit Ausdruck, er hatte als einer der ersten 
die Bedeutung Glucks für die deutsche Oper erkannt und hatte 
schon 80 Jahre, bevor Wagner mit seinem „Oper und 
Drama** an die Öffentlichkeit trat, Gedanken über die Oper aus- 
gesprochen, die sich mit Wagners Forderungen und Anschau- 
ungen decken. 

Wie Kleist sich im einzelnen die Durchführung des Musik- 
dramas gedacht hat, das zu erörtern erscheint mir ein ebenso 
vergebliches als überflüssiges Bemühen. Nur eine kongeniale Natur 
wäre imstande, darauf eine Antwort zu finden, und wir können 
nur mit dem Dichter hoffen, dass „irgendwo ein Stein wächst 
für den, der sie einst ausspricht." Wenn ein frühzeitiger Tod 
den Schöpfer des Musikdramas fortgerissen hätte, zu einer Zeit, 
in der er uns nichts hinterlassen konnte, als seine Opern bis zum 
Lohengrin und einige flüchtige Äusserungen über seine Zukunfts- 
ideen, wer wäre dann imstande gewesen, sich auch nur eine Vor- 
stellung zu bilden von den Bühnenschöpfungen seiner letzten 
Schaffensperiode? Und wenn wir auch aus den Symphonien 
Schuberts die Überzeugung gewinnen, dass er zweifellos der 
absoluten Musik neue Wege gewiesen hätte, wer will sagen, welche 
Entwickelung sie unter seiner schöpferischen Kraft durchgemacht 
hätte? So können wir lediglich die Behauptung aufstellen, dass 
der Dichter, der wie kein anderer von frühester Jugend an, über 
seine eigenen Seelenzustände nachdachte und grübelte, dem früh- 
zeitig der Zusammenhang zwischen Musik und Poesie aufgehen 
musste, der in einer theoretischen Schrift die Gesetze seines 
poetischen Schaffens klargelegt hatte, nach einer höheren Kunst- 
form rang, in der er den dramatischen Vorgang auf eine musika- 



— 31 — 

lische Unterlage stellen und die Musik, die in jeder Poesie ent- 
halten ist, nach bestimmten Regeln gestalten wollte. Seine Be- 
mühungen waren vergebens. 

Wir haben zu Kleist und seinem Guiskard-Fragment ein 
analoges Beispiel in der deutschen Literaturgeschichte, und das ist: 
Hebbel und sein Moloch-Fragment Auch hier ein langjähriges 
Ringen um eine neue Kunstform, auch hier im Fragment der 
musikalische Untergrund wahrnehmbar, auch hier die Resignation. 
Was für uns bemerkenswert, ist, dass Hebbel sich deutlicher 
über seine Absichten ausdrückte, und dass wir daher aus dieser 
Analogie Rückschlüsse ziehen können auf das, was Kleist vor- 
schwebte. Hebbel schreibt am 10. Mai 1853 an Robert Schumann : 

Vieles hätte ich Ihnen über Poesie und Musik mitzuteilen, 
gehörte nur nicht leider eine Reihe von Gesprächen oder eine 
ganze Abhandlung dazu. Ohne Richard Wagner im ganzen 
oder einzelnen irgend akzeptieren zu können, schwebt doch 
auch mir, und zwar von meinem ersten Auftreten an, die Möglich- 
keit einer Verschmelzung von Oper und Drama in ganz 
speziellen Fällen vor, und meinen Moloch, an dem ich seit 
zehn Jahren arbeite, habe ich mir immer in Bezug auf die 
Musik gedacht. Aber freilich lässt sich das Wie nicht in 
kurzem auseinandersetzen. 

Und einige Monate später (am 30. November 1853): 

Was würden Sie zu einem Drama sagen, das sich, seines 
ungeheuren Umfangs wegen, bis auf wenige Partien ganz im 
allgemeinen hielte und deshalb durchgehend von der Musik 
so zu begleiten wäre, wie z. B. die Ballade, die Sie melo- 
dramatisch behandelten? Ein solches Werk wird mein Moloch 
werden, an dem ich nun schon zehn Jahre arbeite. 

Wir wissen, dass Hebbels wie Kleists Bemühungen vergebliche 
waren, und dass der Moloch wie der Guiskard Fragmente ge- 
blieben sind. Woran sind Kleists Bemühungen gescheitert, und 
hat er für immer die Pläne und Tendenzen seiner Jugend auf- 
gegeben? Nach Lublinski versagte bei dem Guiskard-Fiasko nicht 
die dichterische Kraft Kleists, sondern der Fehler steckte von 

Grenzfra^en d. Lit u. Medizin. 1. Heft. 3 



- 32 - 

Anfang her im Geistigen, in der starr einseitigen Auffassung seines 
Schicksalsgedanken. Ich lese aus des Dichters Korrespondenz 
eine andere Erklärung für seinen Misserfolg heraus. Wenige 
Monate vor seinem Tode, im August 1811, schreibt er zwei offen- 
bar an dieselbe Adresse gerichtete kurze Briefe, von denen der 
erste die oben zitierten Stellen über seine Auffassung der Musik 
enthält, die ich als eine Reminiszenz an die Geschichte seiner 
Seele auffaste, der zweite^) folgendermassen anhebt: 

Sobald ich mit dieser Angelegenheit fertig bin, will ich einmal 
wieder etwas recht Phantastisches vornehmen. Es weht mich 
zuweilen bei einer Lektüre oder im Theater wie ein Luftzug 
aus meiner allerfrühesten Jugend an. Das Leben, das 
vor mir ganz öde liegt, gewinnt mit einem Male eine wunder- 
bare herrliche Aussicht, und es regen sich Kräfte in mir, 
die ich ganz erstorben glaubte. 
Es unterliegt wohl keinem Zweifel nach diesen Briefstellen, 
dass der Dichter in seinem letzten Jahre sich mit der Absicht 
trug, auf dramatische Pläne zurückzukommen und Ideen wieder 
aufzugreifen, die ihn schon früher beschäftigt hatten, und wenn 
wir die unmittelbar vorher (oder nachher?) ausgedrückte Absicht 
hinzufügen, alles auf ein Jahr oder länger ruhen zu lassen und 
sich mit nichts als mit Musik zu beschäftigen, so ist es klar, dass seine 
Pläne darauf hinausgingen, dort wieder anzuknüpfen, wo er mit 
der Vernichtung des Guiskard geendet hatte. Von neuem 
schwebte ihm das musikalische Drama vor. Als gereifter Mensch und 
Dichter kommt er auf seine Jugendpläne zurück, er fühlt sich im 
Vollbesitz der dramatischen Kraft, aber er ist sich auch bewusst, 
dass sein musikalisches Können nicht ausreicht, und er besitzt 
Selbstkritik genug, um die Notwendigkeit jahrelanger musikalischer 
Studien zu erkennen. Wir sehen aus den beiden Briefen, dass der 
Dichter ein Vierteljahr vor seinem Tode nicht entfernt an sein Ende 
dachte, dass er sich mit ganz bestimmten Zukunftsplänen trug, und 
dass nach seinem eigenen Bekenntnis das Guiskardfiasko auf sein 
unzureichendes musikalisches Können zurückzuführen ist. 



^} Ich würde nicht Anstand nehmen, diesen zweiten Brief dem voraus- 
gehenden voranzustellen. 



— 83 — 

Die Bedeutung von Kleists Aussprüchen über die Musik 
(s. o.) ergibt sich aus dem, was wir über seine und anderer 
Dramatiker Produktionsweise erfahren haben. Die dramatische 
Einbildungskraft entspringt aus einer musikalischen Stimmung; 
die Musik ist es, an der sich gewissermassen die dichterische 
Phantasie entzündet; die musikalische befruchtet die dichterische 
Phantasie. Darum betrachtet Kleist diese Kunst als die Wurzel 
aller übrigen. 

Schwer verständlich ist Kleists Behauptung, dass die Musik 
die algebraische Formel der anderen Künste darstellt Wir werden 
erinnert an Pythagoras* Bemühungen, die Harmonie aus dem 
Zahlenverhältnis zu erklären, und an Leibnitz* Definition der Musik 
als: exercitium arithmeticae occultum nescientis se numerare 
animi. Kleist, der neben philosophischen, hauptsächlich mathe- 
matisch-physikalische Studien betrieb, hat frühzeitig, wie uns auch 
diese Briefstelle beweist, über die algebraische Analyse der 
Sprache, der Poesie und über ihr Verhältnis zur Melodie nach- 
gedacht. Wir wissen aus Aufsätzen und Briefen des Dichters, 
dass er in dem intimen Verhältnisse eines Freundes und Lehrers 
zu dem jüngeren Rühle von Lilienstem stand; wir wissen auch, 
dass er seinen Arbeiten das grösste Interesse entgegenbrachte, 
dass sie unter seinen Augen entstanden sind, und es ist kein 
Zweifel, dass nach vieler Richtung die Arbeiten Rühles Geist von 
Kleists Geiste sind und einen Rückschluss auf seine Ansichten 
gestatten. In einer 1808 erschienenen Abhandlung Rühles findet 
sich ein Passus, der auf diese mysteriöse Briefstelle einiges Licht 
wirft. Rühle vertritt hier die für seine Zeit sehr fortgeschrittene 
Anschauung, dass der Mathematik in der Wissenschaft nicht der 
gebührende Rang eingeräumt ist, und betrachtet sie als erste und 
Grundwissenschaft. Ist nicht, so schreibt er, jede Lehre in der 
Physik, in der Astronomie, in der Musik etc. eine mathematische? 
Und schliesslich stellt er die Frage auf: „Lässt sich vermittelst 
der analytischen Geo- und Trigonometrie und vermittelst der 
algebraischen und combinatorischen Analysis nicht das Gesetz und 
die Anomalität und der innere Bau jeder Sprache und jedes Ge- 
dfchtes nachbilden und darstellen, nicht jede mögliche Melodie 

3* 



- 84 — 

und Harmonie, jeder erfundene oder noch zu erfindende hörbare 
Laut hinschreiben und angeben?** 

Die Behauptung Rabies werden wir kühn finden, aber sie 
gibt uns einen Anhaltspunkt fär Kleists Gedankengang, wenn er 
versucht, die Musik und andere Künste auf einfache algebraische 
Formeln zurfitkzufuhren. 

Die Ansicht Kleists, mit der er seine Ausführungen beendigt, 
dass im Generalbass die wichtigsten Aufschlüsse über die Dicht- 
kunst enthalten sind, bedeutet, dass das Studium der musikalischen 
Harmonie dem Dichter eine tiefere Einsicht und ein besseres 
Verständnis für den Klang und Ryhthmus in der Poesie eröffnet, 
und dass dadurch wiederum die dichterische Phantasie angeregt 
und befruchtet werde. 

V. 

Unsere Betrachtungen haben uns darüber belehrt, dass ein 
Zusammenhang besteht zwischen musikalischer Empfindung und 
dramatischem Schaffen. Die dichterische Phantasie wird, wie wir 
es vorläufig ganz allgemein ausdrücken wollen, angeregt durch eine 
musikalische Stimmung. Das haben wir beobachtet bei Schiller, 
Alfieri, bei Grillparzer, Hebbel, Ludwig und Kleist. Handelt es 
sich um ein durchgehendes Gesetz und können wir den gleichen 
Zusammenhang bei jedem Dramatiker und bei jedem dramatischen 
Schaffen ausnahmslos nachweisen? 

Grabbe habe ich nicht in den Kreis der Betrachtungen 
hineingezogen, weil seine Persönlichkeit pathologische Züge auf- 
weist, die Regeln für den normalen Ablauf psychischer und 
geistiger Prozesse nicht gestatten. Bei dem jungverstorbenen 
Dichter von Dantons Tode, Ludwig Büchner, habe ich weder in 
seinen Werken und Briefen noch in Franzos' Biographie eine 
Angabe über dichterische Inspiration und den Schaffensvorgang 
gefunden. Auch dafür finde ich keinen bestimmten Anhaltspunkt, 
dass Goethe in seinem dramatischen Schaffen durch die Musik 
beeinflusst wurde. Doch unterliegt es keinem Zweifel, dass ein 
solcher Einfluss tatsächlich vorhanden war. Goethe stand in 
seinem Verhältnis zur Musik ^eichsam über ihr als einer Kunst- 



~ 36 - 

form, die ihn ausserordentlich interessierte und lebenslänglich 
beschäftigte, ganz besonders nach der Periode, in welcher er 
seine Farbenlehre abgeschlossen hatte. Wir lesen mit Staunen, 
mit welcher wunderbaren Überlegenheit er, der Dilettant, in 
gewissen schwierigsten Fragen des Musikwesens, dem Fachmanne, 
seinem Freunde Zelter gegenubertrat Wie tief zugleich sein 
Bewusstsein von der Bedeutung der Musik für die Poesie gewesen 
und zwar in dem Sinne, dass diese von jener nicht nur das 
Kleid allein, sondern auch Inhalt und Seele gewinnen könnte, 
darüber belehrt uns die von ihm selbst (an Zelter) erzählte Ent- 
stehungsgeschichte des zu Ehren der russischen Kaiserwittwe 
Maria Feodorowna gedichteten Festzuges (Brief am 4. I. 19). 
„Bei dieser Gelegenheit muss ich erzählen, dass ich, um 
die Gedichte zum Festzug zu schreiben, drei Wochen anhal« 
tend in Berka zubrachte, wo mir dann der Inspektor täglich 
drei bis vier Stunden vorspielte, und zwar auf mein Ersuchen 
nach historischer Reihe: von Sebastian Bach bis zu Beethoven 
durch Philipp Emanuel, Händel, Mozart, Haydn durch, auch 
Dussek und dgl. mehr.** 
Diese und manche andere Stellen bei Goethe, in denen auch 
seine grosse Vorliebe für musikalische Genüsse, der Einfluss, 
den die Musik auf das Befinden seines Körpers und seiner Seele 
ausübte, zum Ausdruck kommen, lassen es zweifellos erscheinen, 
dass auch sein dichterisches Schaffen stark durch musikalische 
Eindrücke gehoben wurde, wenngleich ich zugeben muss, dass 
mir jede bestimmte Nachricht darüber abgeht, dass Goethes drama- 
tische Konzeptionen durch eine musikalische Stimmung eingeleitet, 
von musikalischem Unterbewusstsein begleitet war. 

Von lebenden Dramatikern hat sich auf eine Anfrage Ernst 
von Wildenbruch sehr eingehend über sein Verhältnis zur Musik 
und über ihren Einfluss auf seine dichterische Einbildungskraft 
ausgesprochen. Er schreibt von seiner grossen Vorliebe für Musik 
und bestimmte Meister, von ihrer allgemein anregenden Wirkung; 
aber die Anregung, die von der Musik auf ihn ausgeht, ist nur 
allgemeiner Art; sie erregt die Phantansie im allgemeinen, weckt 
aber keine bestimmten Bilder, Vorstellungen oder Kombinationen. 



- Ö6 - 

,»Ich mfisste Ifigen, schreibt der Dichter, wenn ich sagen wollte, 
dass mir jemals eine dramatische Konzeption unter dem direkten 
Eindruck, oder unter der Nachwirkung irgend eines Musikwerks 

enstanden wäre; Meine dramatischen Konzeptionen sind 

ausnahmslos in der Art entstanden, dass mir ein Konflikt vor die 
Seele kommt. Entweder ein Konflikt von Persönlichkeit zu 
Persönlichkeit, oder von Persönlichkeit zu umgebenden Verhält- 
nissen, oder Konflikt in der Persönlichkeit mit sich selbst« und 
endlich Kombination dieser verschiedenen Möglichkeiten. Ein 
Konflikt aber, und nur ein solcher war immer die treibende 
Wurzel, aus der alle meine Dramen herausgewachsen sind.** 

Wenn wir nunmehr an die Aufgabe herantreten, aus den 
Beobachtungen, die wir angestellt haben, allgemein gültige Schlüsse 
zu ziehen, so werden wir zunächst die beiden letztgenannten 
Dramatiker von den übrigen sondern müssen. Wildenbruch kon- 
statierte wohl einen mächtigen Einfluss der Musik, eine starke 
Anregung, die von ihr auf seine Phantasie ausgeübt wird, aber 
er erwähnt nichts davon, dass die Musik im direkten Zusammen- 
hang steht mit seinem dichterischen Schaffen, und aus seinen 
Angaben geht hervor, dass die dramatische Konzeption bei ihm 
im wesentlichen das Resultat der Verstandestätigkeit und der Über- 
legung ist. Bei Goethe können wir wohl einen Einfluss der 
Musik, die er die produktivste aller Künste nennt, auf seine 
dichterische Betätigung aus manchen Äusserungen annehmen, 
aber wir haben keinen Anhaltspunkt, der bei ihm auf regel- 
mässige musikalische Stimmungen oder Illusionen hinwiese. Jede 
Stimmung, jede äussere Beeinflussung bei der Produktion des 
Dichters und Künstlers lässt er unberücksichtigt, wenn er schreibt: 
„man sieht deutiicher, was es heissen wolle, dass Dichter und 
alle einzelnen Künstler geboren sein müssen. Es muss nämlich 
die innere produktive Kraft jene in der Erinnerung zurück- 
gebliebenen Idole freiwillig, ohne Vorsatz und Wollen lebendig 
hervortun, sie müssen sich entfalten.** 

Unter den übrigen von uns besprochenen Dichtern, den zweifel- 
los stärksten dramatischen Kräften, finden wir ausnahmslos Erschei- 
nungen, die auf Beziehungen zwischen dichterischer Produktion und 



- 37 — 

musikalischem oder Gehörseindruck hinweisen. Welcher Art ist diese 
Beziehung, und wie können wir sie psycho - physiologisch deuten? 
Wiederholt findet sich das Bekenntnis (Schiller, Ludwig), dass eine 
„musikalische Stimmung*' der Produktion vorausgeht. Der Ausdruck 
„musikalische Stimmung", der sicherlich nicht aus der Luft ge- 
griffen ist, da er sich ja wiederholt findet, hat an sich für den 
Durchschnittsmenschen etwas Befremdendes. Es gibt unendlich 
viele qualitative Unterschiede der Stimmungen, die sich durch 
Worte nicht beschreiben lassen, und wie wir schon oben (S. 9) 
erwähnt haben, haben wir wohl für bestimmte Zustände Bezeich- 
nungen, doch können sie, ebenso wie die Namen für Ton- und 
Klangfarben nur die Erinnerung an einen früheren Eindruck in 
uns erwecken. Wir können mit Worten nicht die Empfindung 
und Stimmung der Reue, Rührung, Sehnsucht, Furcht, Schrecken, 
Angst, Hoffnung schildern und werden kaum jemandem, der nicht 
die Stimmung der Rührung kennt, eine Vorstellung davon bei- 
bringen können. „Musikalische Stimmung" werden wir von 
vornherein als diejenige Gemütsverfassung definieren, welche zur 
musikalischen Komposition besonders geeignet ist Wenn drama- 
tische Dichter von einer musikalischen Stimmung sprechen, die 
regelmässig ihr Schaffen einleitete, und wie wir gleich vorwegnehmen 
wollen, auch begleitete (vergl. Schiller, Alfieri, Hebbel, Ludwig, Kleist) 
so können wir nur annehmen, dass sie durch musikalische Gehörs- 
eindrücke in eine nicht näher zu definierende Gemütsverfassung 
versetzt und darin erhalten wurden, aus der sich ihre dichterische 
Einbildung^- und Gestaltungskraft und die Gebilde ihrer Phantasie 
entwickelten. An sich ist dies nichts neues; wir wissen, dass 
Gefühle und Affekte auf die „Werke der Begeisterung" einen 
mächtigen Einfluss ausüben, sie erteilen ihnen eine triebartige 
Energie, sie verwandeln die Bilder der Phantasie, ändern ihre Ver- 
bindungen und fügen ihrem innersten Kern neue Bestandteile und 
Verbindungen hinzu ; genau so, wie die Traumbilder des Phantasie- 
armen (s. o.) sich unter dem Einflüsse der Affekte und Empfin- 
dungen entwickeln und entfalten. Aber was uns unsere Beob- 
achtungen lehren, geht doch darüber noch weit hinaus. Es 
berechtigt uns zu dem Schlüsse, dass nicht bloss die Poesie des 



— 88 — 

lyrischen und epischen Dichters, dessen musikah'sche Empfindung 
Klang und Rhythmus des Verses bedingen, sondern auch die Kon- 
zeption und Gestaltung dramatischer Vorgänge geweckt, hervor- 
gerufen und unterhalten wird von musikalischen Empfindungen 
und Gemfitsaffekten. Die musikalische Stimmung leitet eine neue 
Schaffensperiode des Dramatikers ein, und indem sie anhält wirkt 
sie befruchtend auf die Tätigkeit der Phantasie. Wie der alte 
epische Dichter und Seher nicht nur seine Gebilde leibhaftig vor 
sich erblickt, sondern dabei auch musikalischen Klang hört, wie 
er seine Beschreibungen von ihnen und ihren Reden in rhyth- 
mischem Takt und in melodischem Tonfall empfindet, so ringt 
auch die produktive Kunst des Dramatikers zunächst nach Melodie, 
und sie erst bedingt das erste Aufsteigen neuer Kunstbilder. Dabei 
ist es natürlich ganz gleichgültig, ob es sich um Gehörseindrücke 
handelt, die von aussen durch das Ohr vermittelt werden, oder 
um Gehörsillusionen die interzentral entstehen. Zur Erklärung 
müssen wir annehmen, dass die Musik eine viel weitgehendere 
Wirkung auf den mit starker Phantasie begabten Dichter ausübt, 
als auf den phantasiearmen, musikalischen oder nicht musikalischen 
Menschen. Bei dem nüchternen Geistesmenschen erregt die Musik 
vor allem die Gefühlssphären, und je höher sein musikalisches 
Verständnis reicht, desto stärker wird sich ihm der innere Gehalt 
des Musikstückes und seine Tendenz aufdrängen. In dem musi- 
kalischen und dabei phantasievollen Zuhörer werden darüber hinaus 
durch die Musik noch weit entfernte Seelenzustände hervorgerufen, 
Phantasiebilder, die wohl mit dem Inhalt der Musik zusammen- 
hängen, an die der Komponist aber selbst nicht gedacht hat 
Natürlich werden die Phantasiebilder nur dann sich weiter ent- 
wickeln, feste Gestalt annehmen und zur dramatischen Konzeption 
führen können, wenn sie an Erinnerungsbilder anknüpfen resp. 
solche wachrufen, die im Unterbewusstsein schlummern und auf 
Erlebnisse, Erfahrungen, Beobachtungen, Taten etc. etc. zurück- 
zuführen sind. Ebenso wie der Dichter den unwillkürlichen 
passiven Ablauf der Vorstellungen (Phantasie) als unbewussten 
Vorgang empfindet und schildert, so können auch die Erinne- 
rungsbilder seinem Gedächtnis und Bewusstsein so völlig ent- 



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schwunden sein, dass sie gleichsam aus dem Nichts entstanden 
scheinen, und dass er zu der Ansicht kommt, die Musik sei die 
produktivste Kunst, oder sie sei die Wurzel aller anderen Künste. 

Die Vorstellung, dass unter dem Einflüsse von Gehörsein- 
drficken Bilder der Phantasie, Ideen, Vorstellungen und schliesslich 
eine dramatische Konzeption zu stände kommt, wirkt auf unser 
verstandesgemässes Denken sehr eigenartig und befremdend. 
Psychologisch verständlich ist für uns ja nur das, was wir 
innerlich nacherleben können. Fremde seelische Vorgänge können 
wir nur soweit verstehen, als sie eine Analogisierung mit unserem 
eigenen Innern zulassen. Dem Taubgeborenen wird immer der 
Ton und die Stimme, dem Blindgeborenen das Licht und die 
Farbe etwas Fremdes und Unverstandenes bleiben. Die einzige, 
psychologische Methode, die wir üben, ist die, dass wir alle 
Äusserungen fremden Seelenlebens auf unser eigenes Innere be- 
ziehen, in der stillen Voraussetzung, dass die Seele unseres Neben- 
menschen im wesentlichen die gleiche ist, wie unsere eigene. 
Wenn auch die Elemente, die den geschilderten seelischen Vorgang 
bedingen (Gehörseindruck — ^Ausdrucksillusion) bei allen Menschen 
vorhanden sind, so ist der Vorgang an sich, selbst für den Musiker 
und Komponisten, wie ich mich überzeugte, ganz unfasslich. Wir 
begreifen es, wenn irgend ein sinnlicher Vorgang einen musika- 
lischen Gedanken auslöst, aber für das umgekehrte Verhältnis fehlt 
uns das Verständnis. Wir wollen uns deswegen nach Analogien 
und anderweitigen, ausser uns gelegenen Beweisen umsehen. 

In einer „die Musik als Eindruck" betitelten Abhandlung^) 
hat der Musikschriftsteller Dr. F. Rosenthal Betrachtungen an- 
gestellt über die psychische Wirkung der Musik; seine Ergebnisse 
decken sich ungefähr mit dem, was wir in der Schaffensperiode des 
Dramatikers beobachtet haben. Seine Ausführungen, soweit sie für 
uns von Interesse sind, geben wir in den wesentlichen Zügen wieder. 

Wir müssen uns nach Rosenthal vorstellen, dass es abseits 
von unserem sonstigen psychischen Leben ein besonderes Reich 
eigenartiger Bewusstseinsvorgänge gibt, die durch Musik irgend- 

') Zeitschrift der internationalen Musikgesellschaft Jahrg. 11, Heft 7, 
April 1901. 



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welcher Art in uns direkt hervorgerufen werden, und die sich am 
besten als musikalische Eindrücke bezeichnen lassen. Dem ob- 
jektiven, ausser uns gelegenen Reiche der Töne entspricht die innere 
Musik unseres Seelenlebens; die hier sich abspielenden musi- 
kalischen Gemütsbewegungen unterscheiden sich ganz wesentlich 
von unseren sonstigen nicht musikalischen Gemütsbewegungen 
oder Gefühlen. Zwischen den musikalischen und aussermusi- 
kalischen Gemütsbewegungen bestehen auf Grund dynamischer 
Ähnlichkeiten vielfache und enge Beziehungen. Auch die ein- 
fachsten musikalischen Eindrücke sind mehr als blosse Gemüts- 
wahrnehmung, sie sind nicht allen Menschen zugänglich und 
setzen mehr voraus als einen wohlkonstruierten Gehörapparat. 
Unmusikalische Personen werden Musikausdrücke als solche 
überhaupt nicht erfassen; ihre Aufmerksamkeit und ihr Gedächtnis 
ist bei der Aufnahme der Musik allein in Anspruch genommen 
durch assoziierte Vorstellungen, Gedanken, Anschauungen und 
vor allem durch Gefühle. Je höher die musikalische Entwicklungs- 
stufe des Hörers, umsomehr wird sich das rein Musikalische 
selbst in inneren Vorgängen des Hörers geltend machen. Dem 
musikalisch empfindlichen Hörer muss sich der innere Gehalt 
der Musik, die Tendenz des Musikstückes, ob mit ob ohne be- 
gleitenden Text, sofern die Tendenz wirklich durch Erfindung und 
Durchführung zum prägnantem Ausdruck kommt, mit voller 
Gewalt aufdrängen; er wird den unmittelbaren Eindrucksgehalt 
der Musik rein und unverändert aufnehmen und auffassen. Neben 
dieser Wirkung der Musik auf den unmusikalischen und den 
musikalischen Hörer kann es zu weitergehenden Einflüssen kommen 
bei Hörern, die mit der musikalischen Aufnahmefähigkeit eine 
stark ausgebildete Phantasie verbinden. Bei phantasierenden 
Personen rufen die musikalischen Eindrücke mit 
zwingender Gewalt weit entfernte Seelenzustände hervor, 
Phantasiebilder, an die der Komponist selbst nie ge- 
dacht hat, die aber immer doch nur aus den durch die 
Musik wirklich gegebenen und vom Hörer wirklich emp- 
fangenen Eindrücken hervorgehen. Solche vom Kompo- 
nisten nicht direkt beabsichtigte psychische Wirkungen bezeichnet 



— 41 — 

Rosenthal sehr treffend als Ausdrucks-Illusionen. Es sind Phantasie- 
bilder, die in folgerechter Verknüpfung sich über den unmittelbaren 
Eindrucksgehalt der Musik hinaus entwickeln, und die als solche 
nichts zu tun haben mit dem, was wir Gehörshalluzinationen 
nennen, was, wenigstens bei stärkerer Ausbildung, bereits in das 
Gebiet des Pathologischen gehört 

Wir ersehen aus den Ausfuhrungen Rosenthals, dass hier 
der Musikästhetiker auf Grund theoretischer Betrachtungen zu 
Schlüssen gekommen ist, die sich völlig decken mit dem, was 
wir bei der psychischen Analyse der hervorragendsten Dramatiker 
erfahren haben. Aber über die kunstästhetischen Betrachtungen 
hinaus bietet uns die Kunstgeschichte und die Literatur Belege 
und Analogien für die von uns behaupteten psychologischen 
Vorgänge. 

Richard Wagner, der Schöpfer des Musikdramas, ist das 
einzigartige Beispiel eines Komponisten, bei dem die Gehirnzentren 
für das poetische und musikalische Schaffen so eng miteinander 
durch Assoziations-Fasem verknüpft sind, dass beide gemeinsam 
das höchste Kunstwerk der Welt schenkten, wogegen eines ohne 
das andere nur eine mangelhafte Produktivität an den Tag legte. 
Die Schriften Wagners verraten einen schwulstigen, oft unver- 
standlichen Stil, strotzen von Wiederholungen und scheinbaren 
Widersprüchen und scheinen an vielen Stellen, das was der Schrift- 
steller eigentlich mitteilen wollte, durchaus nicht zum Ausdruck 
zu bringen. Wagner selbst war sich dieses Unvermögens voll- 
ständig bewusst. Ebenso versagt die Schaffensfähigkeit dieses 
Riesen an musikalischer Kraft, wenn es sich um absolute Musik 
handelt, und selbst der „Kaisermarsch", dem immerhin noch ein 
gewisses Programm zugrunde liegt, hält nicht entfernt den Ver- 
gleich aus mit der Musik seiner Bühnenwerke. Wagners Musik 
bedurfte zu ihrer Enfaltung der Poesie, des dramatischen Vorganges; 
die dichterische Phantasie rief bei ihm den musikalischen Gedanken 
hervor. Da aber physologisch die Leitungsbahnen des Zentral- 
nervensystems nach beiden Richtungen von einem Zentrum zum 
andern den Erregungsprozess leiten können, so können wir in 
Wagners Leistungen den Beweis sehen auch für den umgekehrten 



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psychologischen Vorgang, den wir bei den Hauptvertretern der 
dramatischen Kunst konstatiert haben. 

Gestattet Richard Wagners Konipositionsvermögen nur einen 
Analogieschluss auf den psychologischen Vorgang, mit dem wir 
es zu tun haben, so liefern uns die Bekenntnisse eines anderen 
Dichters den direkten Beweis dafür, dass die Musik in der Phantasie 
plastische, dramatische Gesichte hervorrufen kann. Heinrich Heines 
Beziehung zur Musik haben wir bereits kurz berührt und auch 
en^ähnt, dass er während der Arbeit an seinem Ratcliff ständig 
Gehörsillusionen hatte. In den „Florentinische Nächte" erzählt 
er von sich selbst gelegentiich einer Unterhaltung mit Maria über 
Paganini und sein Violinspiel: 

„Was mich betrifft, so kennen Sie ja mein musikalisches 
zweites Gesicht, meine Begabnis, bei jedem Tone, den ich 
erklingen höre, auch die adaequate Klangfigur zu sehen, und so 
kam es, dass mir Paganini mit jedem Striche seines Bogens 
auch sichtbare Gestalten und Situationen vor die Augen brachte, 
dass er mir in tönender Bilderschrift allerlei grelle Geschichten 
erzählte, dass er vor mir gleichsam ein farbiges Schattenspiel 
hingaukeln liess, worin er selber immer mit seinem Violinspiel 
als die Hauptperson agierte." 
Und nun beschreibt Heine in eingehender Schilderung die 
Bilder, die während Paganinis Spiel vor seinen Augen aufstiegen, 
schildert die Szenerie in minutiöser Ausführung, dazu agierende 
Personen in einem dramatisch bewegten Vorgange. Wir haben hier 
gewissermassen den experimentellen Nachweis für die dem Ver- 
standesmenschen schwer begreifliche Wirkung der Musik auf die 
dichterische Phantasie. 

Die physiologische Erklärung der geschilderten psychischen 
Vorgänge gestaltet sich nach dem heutigen Stande der Gehirn- 
physiologie in der folgenden Weise: Alle Eindrücke, welche wir 
von der Aussenwelt und von uns selbst haben, werden uns durch 
die Sinnesnerven zugeführt. Die Reizung eines Sinnesnerven hat 
eine Sinnesempfindung zur Folge, welche in dem zentralen Ende 
der peripherischen Sinnesnerven, dem Gehirn, vor sich geht. 
Von hier aus setzt sich der Reiz fort bis zur Gehirnrinde, in 



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welcher das Ende der Sinnesbahn oder das sensorische Sinnes- 
zentrum gelegen ist, und wo die Sinnesempfindung durch die Ver- 
schmelzung mit Residuen früherer Eindrücke zur Wahrnehmung 
wird. Die Bewegungserscheinungen der Aussenwelt einschliesslich 
derjenigen des eigenen Körpers erfahren eine erste Transformierung 
in chemische Prozesse innerhalb der Nervensubstanz mit ihrem 
Eintritt in die letztere, weitere nach ihrem psychischen Werte uns 
bisher unbekannte Transformierungen gehen in den unterhalb des 
Grosshirns liegenden Zusammenfassungen der grauen Hirnsubstanz 
vor sich, und erst die aus so vielfachen Veränderungen hervor- 
gegangenen Produkte der niederen psychischen Tätigkeit werden 
auf die Gehirnrinde projiziert und zwar, soweit sie durch 
Schallwellen vermittelt werden, auf den grösseren Teil des Schläfen- 
lappens, um dort als Vorstellungen zum Bewusstsein zu kommen. 

Jede bewusste Vorstellung gibt den Grund ab zu Lust- oder 
Unlustempfindungen, die, je nachdem sie sich mehr oder minder 
stark über den Indifferenzpunkt erheben, mehr oder minder deut- 
h'ch in das Bewusstsein als Gefühle oder affektive Gemütsbewe- 
gungen eintreten. Aber schon bei der Transformation in den 
niederen Zentren werden Lust- und Unlustempfindungen ausgelöst» 
die zwar bei gesteigerter Intensität mit den sinnlichen Empfin- 
dungen verknüpft in das Bewusstsein treten, aber bei geringerer 
Intensität auch unter dessen Schwelle veriaufen können. Ihre 
Existenz wird auch in letzterem Falle durch den Einfluss bewiesen, 
den einfache, inhaltlose, wiederholte rhythmische Gesichts- oder 
Gehörseindrücke auf die Atmung, das Herz und die Blutgefässe 
ausüben. 

Unsere Beobachtungen haben uns gezeigt, dass Gehörsein- 
drücke bei disponierten Personen besonders starke Gemüts- 
bewegungen und Gefühle hervorzurufen imstande sind, und dass 
die Erregung der subkortikalen und vor allem auch des Rinden- 
zentrums sich mit besonderer Intensität auf assoziativen Bahnen 
dem übrigen Rindengrau, dem Sitze der Phantasie mitteilt, von 
wo aus es dann auch weiter zur Erregung anderer Sinneszentren, 
zu Gesichtsillusionen, Farbenempfindungen etc. kommen kann. 
Jedenfalls handelt es sich bei dem geistigen Vorgange, welcher zu 



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dramatischer Produktion führt, um einen sehr komplizierten, mit 
gewisser Gesetzmässigkeit verlaufenden Erregungszustand ver- 
schiedener unterer und höherer Gehirnzentren und nicht, wie man 
neuerdings im Sinne der alten Galischen Schädellehre wieder 
anzunehmen geneigt ist, um Hirnprozesse, die in ganz bestimmten 
und eng begrenzten Rindenpartien lokalisiert sind. 



Druck von M. Malier k Sohn, München V. 



ORENZFRAOEN DER LITERATUR UND MEDIZIN 

in Einzeldarstellungen 

Jierausgegeben von Dr. S. RAHMER, Berlin. 

2. Heft. 



Die Grundlagen 

des Gedächtnisses, der Vererbung 

und der Instinkte. 



Von 
Dr. med. Moritz Alsbcrg. 



MÜNCHEN 1906 
ERNST REINHARDT, Verlagsbuchhandlung 



Vorwort. 



Die geheimnisvollen Vorgänge bei der Vererbung typischer 
Eigenschaften, bei der Entstehung eigenartiger Talente und Fertig- 
keiten, bei dem Auftreten angeborener Instinkte, sind heute nicht 
ausschliesslich mehr ein Objekt der ins Bodenlose und Unergründliche 
sich vertiefenden reinen Metaphysik und des Spiritistentums, sondern 
die exakte naturwissenschaftliche Beobachtung und Forschung ist 
allen den Problemen nachgegangen, die mit dem Gedächtnis, dem 
Erinnern, den Fähigkeiten und Eigenschaften — kurz dem „Denken 
der Materie** zusammenhängen. Es sind hier besonders die Er- 
fahrungen bei der Tier- und Pflanzenzucht, auf die sich die biologische 
Forschung stützt. Der Gärtner bringt, der Naturzusammenstellung 
folgend, in der Geschlechtergruppierung die Wunderkinder unter 
den Pflanzen nach Belieben hervor, in einer Weise, dass auch uns 
dadurch manches aus der Naturbildung des Menschengeistes näher 
gerückt werden kann, was wir bisher mit Schlagworten und nichts- 
sagenden Phrasen, wie Instinkt, Wundergabe etc. abfertigen mussten. 
Auf einem anderen Wege hat die pathologische Anatomie neue 
Einblicke in die geheimnisvollen Vorgänge innerhalb der tierischen 
Zelle gewonnen, Vorgänge, die sich nicht bloss auf einzelne 
Generationen, sondern auf ganze Generationsreihen einer Keimsorte 
beziehen, indem sie mikroskopisch feine Schnitte von eben dem 
Lebenden entnommenen Geschwulstteilen studierte, die noch 
lebenswarm im Weiterwachsen begriffen waren und deshalb Kern- 
teilungen, Zellteilungen, also den Entstehungsvorgang bei den ersten 
Anfängen tierischer Gebilde deutlich erkennen Hessen. 

Es kann uns nicht darauf ankommen, auf die einzelnen 
Versuchsergebnisse Hansemanns, die mit den an einem reichen 



zoologischen Material gewonnenen Beobachtungen WeismannS 
übereinstimmen, hier einzugehen; wir wollten nur auf die Bedeutung 
aller dieser biologischen Forschungen auch für die literar-ästhetische 
Betrachtung hinweisen, für welche die Begriffe: Vererbung, Instinkt, 
Talent, geniale Veranlagung, von grösster Bedeutung sind. Deshalb 
haben wir auch die folgende Abhandlung, welche die moderne 
naturwissenschaftliche Auffassung über die Grundlagen des Ge- 
dächtnisses, der Vererbung, Veranlagung und der Instinkte wieder- 
gibt, in unsere Sammlung aufgenommen. 

Der Herausgeben 



Während George Brown In der Oper: „Die weisse Dame" 
das Schloss seiner Väter, das er als Kind verlassen hat, von 
neuem durchwandert, steigen beim Anblicke der wohlbekannten 
Räume auch die Klänge der Lieder, die ihm einst an der 
Wiege gesungen wurden, in seinem Geiste wieder empor. 
Ähnlicher Vorkommnisse, wobei eine Sinnesempfindung eine 
zweite, von der ersten wesentlich verschiedene auslöst, werden 
sich manche unserer Leser aus dem eigenen Leben erinnern. So 
berichtet z. B. ein deutscher Naturforscher darüber, dass, als er 
vor Jahren, an einem Tage, an dem ihm gerade ungewohnter 
Stiefeldruck Fussschmerzen bereitete, unweit Neapel am Meeres- 
strande stehend, seine Blicke auf das gegenüberliegende Capri 
gerichtet hielt, gleichzeitig aus einer benachbarten italienischen 
Schenke der Duft ranzigen siedenden Öles in seine Nase stieg. 
Dieses Vorkommnis bietet eine Erklärung dafür, dass bei der 
betreffenden Person der Ölgeruch neben der Erinnerung an die Fuss- 
schmerzen regelmässig das Bild der lieblichen italienischen Insel im 
Geiste erstehen lässt, dass diese Sinneseindrücke in der Erinnerung 
des Betreffenden als assoziierte Begriffe aufs engste miteinander 
verbunden sind. — Auch ist es ja bekannt, dass es Personen 
gibt, bei denen bestimmte Töne zu Farbenempfindungen in naher 
Beziehung stehen, bei denen die Klänge von gewissen musikali- 
schen Instrumenten bestimmten Farben entsprechen, so dass 
z. B. die Töne eines Violoncellos die indigoblaue Farbe, diejenigen 
der Klarinette die gelbe Farbe, die Klänge der Trompete, Flöte 
und Oboe verschiedene Nuancen der roten Farbe im Gesichts- 
felde hervortreten lassen. 

Wie sind diese Erscheinungen zu erklären? Sind wir im- 
stande, uns einen Begriff davon zu machen, in welcher Weise die 
Sinnesempfindungen und Bewusstseinszustände der Vergangenheit 



- 4 - 

in unserem Seelenorgan registriert werden, um dann später bei 
der Wiederholung des betreffenden geistigen Vorgangs verwertet 
zu werden, und so als Grundlage für die Ansammlung von Erfahrung 
sowie als Richtschnur unseres Verhaltens zu dienen ? Die Unter- 
suchungen über diese Fragen sind keineswegs neu; vielmehr hat 
schon vor einer Reihe von Jahren der Physiologe Ewald Hering 
in seinem Vortrage: „Über das Gedächtnis als allgemeine Funktion 
der organischen Materie** darauf hingewiesen, dass offenbar eine 
Übereinstimmung besteht zwischen dem Reproduktionsvermögen 
der Vererbung, demjenigen der Gewohnheit und Übung und 
jenen Erscheinungen, die wir als „Gedächtnis** bezeichnen. Aber 
erst neuerdings hat Semon^ es unternommen, an der Hand des 
grossartigen Materials der Morphologie, der Biologie und der 
Psychologie den Nachweis zu liefern, dass es sich in diesen Fällen 
um mehr als eine oberflächliche Ähnlichkeit, dass es sich viel- 
mehr um eine vollständige Identität des Geschehens handelt, 
dass die Reize, indem sie auf unser Nervensystem ein- 
wirken, in demselben gewisse Eindrücke aufspeichern 
und dass diese Einprägungen beim Wiederauftreten des 
nämlichen oder eines analogen Reizes zu bestimmten 
Hirntätigkeiten bezw. Bewusstseinszuständen verar- 



„Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen 
Geschehens" von Prof. Dr. Richard Semon. Leipzig. 1904. — Die 
durch neue Reize bewirkte Reproduktion der mnemischen Einprägungen 
wird von Semon als das „Ekphorieren der Engramme" bezeichnet. Die 
Stärke der Einprägungen hängt ab: 1. von der Stärke der energetischen 
Einwirkung, 2. von ihrer Dauer, 3. von ihrer Kontinuität oder Dis- 
kontinuität (andauernde oder unterbrochene Einwirkung). Die Einprä- 
gungen brauchen nicht an und für sich kausal verbunden zu sein, um 
miteinander verknüpft (assoziiert) zu werden. Zu ihrer Verknüpfung 
genügt es in den meisten Fällen, dass die Reize zeitlich zusammen- 
fallen, dass in dem obenerwähnten Vorkommnis der Anblick der Insel 
Capri mit den Fussschmerzen und dem ölgeruch koinzidierte. — Cha- 
rakteristisch für die mnemischen Einprägungen ist: 1. das ihnen folgende 
Latenzstadium (Stadium, wo die Einprägung in untätigem Zustand verharrt) ; 
2. die durch Wiederholung des Reizes bezw. Einwirkung eines analogen 
Reizes bewirkte Wiederkehr des Erregungszustandes; 3. die Auslösung der 
Reizwirkung durch letztere; 4. die Möglichkeit, die alten Einprägungen 
durch neue Erregungen bezw. Reizwirkungen umzugestalten. 



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beitet werden.** — Für diese Einprägungen hat Semon die 
Bezeichnung: „Engramme'' in die Wissenschaft eingeführt, und 
die Gesamtheit jener Einprägungen (bezw. Engramme) ist es, die 
nach seiner Anschauung das in der gesamten organischen Welt 
verbreitete „mnemische Prinzip** (abgeleitet vom griechischen 
fufAyti^MOfuu d. h. ich erinnere mich) darstellt. — Obwohl sämt- 
liche organische Wesen für mnemische Vorgänge sich empfäng- 
lich erweisen, sind es ausschliesslich die höheren Tiere, bei denen 
ein besonderer Organkomplex, nämlich das Nervensystem, als 
Empfangsstation und Registrierungsapparat solcher Eindrücke 
funktioniert Andererseits zwingt die bekannte Erscheinung der 
Regeneration von Körperteilen und Organen zu der Annahme, 
dass bei niederen Tieren, Protisten und Pflanzen jene Einprägungen 
die gesamte organische Substanz (Protoplasma) in Mitleidenschaft 
ziehen, dass die Wirkung jener Einprägungen bis in die ein- 
fachsten Elemente des Tier- und Pflanzenkörpers, nämlich bis in 
die Zellen sich erstreckt. 

Doch davon später. Suchen wir zunächst einen Begriff 
davon zu geben, in welcher Weise das „mnemische Prinzip** 
in der Organismenwelt sich betätigt Wir sehen hierbei vom 
Menschen und seinem hochentwickelten Seelenorgan einstweilen 
ganz ab und suchen nur festzustellen, in welcher Weise die 
Einprägungen der Mneme bezw. die aus letzteren sich er- 
gebenden Erfahrungen bei verschiedenen Tieren sich äussern. 
Als Beispiel diene uns die nachfolgende, fast täglich anzustellende 
Beobachtung. Ein ganz junger Hund kommt auf mich zu; ich 
bücke mich, hebe einen Stein auf; er sieht mir ruhig zu und 
gibt keinerlei Zeichen von Furchtsamkeit zu erkennen. Einige 
Tage oder Wochen vergehen, und derselbe Hund begegnet mir 
wieder. Sobald ich aber nun die schon zuvor gemachte Bewegung 
nach dem Erdboden hin wiederhole, wird der Hund sofort den 
Schwanz zwischen die Beine klemmen und heulend entfliehen. 
Auch fällt es nicht allzuschwer, den Grund für das veränderte 
Verhalten des Köters festzustellen. Der Hund ist seit der Zeit, 
wo ich zuerst mit ihm zusammentraf, von Knaben mit Steinen 
beworfen worden, und diesem Umstand ist es zuzuschreiben, dass 



- 6 - 

das Tier, bei dem nunmehr die Handlung des Steinaufhebens 
bezw. Steinwerfens mit dem Begriffe einer Schmerzempfindung ver- 
knüpft ist, auch wohlwollenden Menschen nicht mehr traut. Oder 
wählen wir ein anderes Beispiel: Hier ist ein Huhnchen, das erst 
kürzlich in der Brutmaschine aus der Schale gekrochen und bei 
seiner Nahrungssuche ohne elterliche Anleitung ist. Das Hühnchen 
pickt zunächt nach allem möglichen, nach einem Papierschnitzei 
so gut wie nach einem Getreidekorn. Nach kurzer Zeit hört dies 
aber auf; in den Erinnerungen des Tierchens haben sich feste 
Verknüpfungen ausgebildet. Mit dem Sehbilde des Getreidekorns 
hat sich die Erinnerung „schmackhaft**, mit demjenigen des 
Papierstückchens die Erinnerung „ungeniessbar** verknüpft, und 
durch diese Erfahrung wird das Verhalten des Hühnchens natürlich 
bestimmt. Bis zu welch hohem Grade die Einprägungen von 
längst entschwundenen Generationen das ganze Verhalten der 
Lebewesen beeinflussen, hierfür liefert eine Beobachtung, die man 
bei einer fünf Wochen alten, in der Gefangenschaft aufgezogenen 
Elster gemacht hat, einen interessanten Belag. Als man diesem 
Vogel zum erstenmale eine Schüssel mit Wasser in den Käfig 
setzte, pickte er mit dem Schnabel zunächst auf die Ober- 
fläche des Wassers. Dann aber war es, als ob die Wasserberührung 
eine ganze Erinnerungskette auslöse; die Elster begann ausserhalb 
der Schüssel, und ohne das Wasser sonst zu berühren, genau jene 
Bewegungen zu machen, die ein Vogel beim Baden macht. Dass 
die mnemischen Vorgänge in einer ganz bestimmten Reihenfolge 
sich abspielen — einer Reihenfolge, die genau der Art und Weise 
entspricht, wie frühere Erlebnisse aufeinander gefolgt sind — 
beweist die folgende Beobachtung P. Hubers. Eine Raupe 
wurde beim Bau ihres Puppengespinnstes verfolgt; sie schuf 
den Kokon, indem sie in neun verschiedenen Richtungen ihre 
Fäden zog, wobei die betreffenden Prozeduren regelmässig in 
einer ganz bestimmten Reihenfolge sich ablösten. Der Be- 
obachter nahm nun die Raupe, die ihr Gewebe bis zur sechsten 
Stufe vollendet hatte und setzte sie in ein fremdes Gewebe, das 
erst bis zur dritten Stufe fertig war. Alsbald ging sie an die 
Arbeit und vollendete auch dieses neue Gewebe zunächst in der 



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vierten, dann in der fünften Stufe usw. Ganz anders war aber 
das Ergebnis, wenn man eine solche Raupe aus ihrem Gespinnst 
löste, als sie eben erst bei der dritten Stufe angelangt war, und 
sie in einen Kokon setzte, der bereits bis zur sechsten Stufe 
vollendet war. Die Raupe spann diesmal nicht die siebente Stufe 
hier aus; sie ging vielmehr, als ob gar keine Veränderung vor- 
gefallen wäre, in ihrem Tempo weiter und spann auch hier erst 
die vierte, fünfte und sechste Stufe noch einmal, so dass für diese 
Stufen das Gewebe nun doppelt wurde, und erst nach Erledigung 
dieser Arbeit wurden der siebente, achte und neunte Gewebe- 
abschnitt von ihr vollendet. Das Verhalten der Raupe ähnelte 
hierbei in bemerkenswerter Weise dem eines Schulknaben, 
welchem die Aufgabe gestellt wird, ein auswendig gelerntes Gedicht 
herzusagen. Es geht glatt in der Reihenfolge von vorn bis hinten, 
wo immer eine Erregung auf assoziativem Wege die folgende 
auslöst. Wird aber dem Schüler die Aufgabe gestellt, mitten in 
dem Gedicht ein Stück zu überschlagen und ein paar Verse später 
in der Rezitation fortzufahren, so hapert es zumeist; der Knabe 
wird in der Regel erst die Zwischenverse zur Aufrechterhaltung 
der Gedankenverbindung sich leise vorsagen müssen, um die 
Anschlussstelle auszulösen. Es besteht also eine bemerkenswerte 
Übereinstimmung zwischen dem Verhalten der spinnenden Raupe 
und den geistigen Vorgängen, welche die Voraussetzung der 
besagten Rezitation bilden — eine Übereinstimmung, die zu dem 
Schlüsse berechtigt, dass diesen beiden durchaus verschiedenen 
Vorgängen analoge Ursachen zugrunde liegen. 

Dass die im Organismus schlummernden Erinnerungsein- 
prägungen bezw. Registrierungen von Vorgängen dem Verlaufe 
der Lebensprozesse sich anschmiegen und bis zu gewissem Grade 
durch ein entsprechendes Verhalten modifiziert werden können, 
lässt sich unschwer nachweisen. Wenn ich mich am Morgen zu 
einer bestimmten Stunde wecken lasse, so wird dieser Vorgang, 
einige Zeit fortgesetzt, zur Folge haben, dass ich später um 
die betreffende Zeit von selbst aus dem Schlafe erwache. Mein 
Organismus hat sich in seinem Verhalten einem bestimmten 
Wechsel von schlafendem und wachendem Zustand angepasst, und 



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das Erwachen erfolgt nun ohne fremdes Zutun, ledigh'ch bedingt 
durch den geheimnisvollen mnemischen Einfluss, genau ent- 
sprechend der Tätigkeit der Weckeruhr, die, sobald das Uhrwerk 
bis zu einem bestimmten Punkte abgelaufen ist, ihren schrillen 
Weckruf ertönen lässt. Oder wählen wir ein anderes Beispiel. 
Wenn ich gewöhnt bin, zwischen dem Morgenkaffee und dem 
Mittagessen keine Nahrung zu mir zu nehmen, so werde ich in 
dem Intervall zwischen diesen beiden Mahlzeiten die Nahrung nicht 
vermissen. Habe ich mich aber einmal daran gewöhnt, in der 
Zwischenzeit ein zweites Frühstuck zu mir zu nehmen, und 
bin ich dann einmal zufällig am Einnehmen dieser Zwischen- 
mahlzeit verhindert, so wird zu der betreffenden Stunde das 
Hungergefühl sich einstellen. Mit anderen Worten: Die meinem 
Körper als Erinnerungsvorgang angepasste Gewohnheit hat ihm 
ein bestimmtes Bedürfnis eingeprägt, und die Stoffwechselvorgänge 
sind nun so eingerichtet, dass, sobald die betreffende Stunde 
wiederkehrt, jenes Bedürfnis auf mnemischem Wege in meinen 
Empfindungen sich bemerkbar macht. Auch sind es gerade 
die zeitlichen Einflüsse, die uns in den Stand setzen, das Vor- 
handensein solcher Erinnerungseinprägungen bei niedrigen Orga- 
nismen — insbesondere im Bereiche der Pflanzenwelt — nach- 
zuweisen. Jedermann weiss, dass Sonnenwärme und Sonnenlicht 
die Erscheinungen der Pflanzenwelt in hohem Grade beein- 
flussen, dass in einem Jahre mit langem Winter Schneeglöckchen 
und Krokus erst im April aus der Erde hervorsprossen, dass 
dagegen bei frühzeitigem Eintreten milder Witterung die Erst- 
linge des Frühlings nicht selten schon einen ganzen Monat 
früher ihre Blüten entfalten. Aber nicht alle Gewächse werden 
durch die klimatischen Verhältnisse in so hohem Grade beein- 
flusst, wie die soeben erwähnten Frühlingsblumen. Unter den 
Waldbäumen ist es vor allem die Rotbuche, die auf die Witterungs- 
einflüsse in weit geringerem Grade reagiert als andere Bäume 
und Sträucher, und die in einem warmen, zeitig auftretenden 
Frühjahr ihre Knospen höchstens acht Tage früher entfaltet 
als in Jahren mit spät einsetzender Sonnenwärme. Semon 
pflanzte junge Buchen in Töpfe und brachte sie in ein Zimmer 



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mit ganz gleichmässiger Temperatur, wo sie ebensowohl von den 
Herbstfrösten wie von dem Frühlingshauch unberührt bh'eben. 
Trotzdem warfen sie von Ende September an ihre Blätter ab, 
und traten etwa vom 1. Mai an in ihre Knospenperiode. Der 
klimatische Einfiuss war hier ganz und gar ausgeschaltet, und 
trotzdem drängte in den Buchen ein unbestimmtes Etwas auf 
Einhalten des Termins, sowohl in ihrer Ruhe wie auch in ihrem 
Erwachen. Sie hielten ihre Zeit ein, genau wie ein Mensch, der 
gewohnt ist, um eine bestimmte Stunde zu erwachen. Das 
Verhalten der in Töpfe verpflanzten, jahraus jahrein in gleich- 
mässiger Zimmertemperatur gehaltenen Buchen ist aber um so 
bemerkenswerter, als sich unter ihnen aus Samen gezogene 
Keimlinge befanden, die noch gar keinen wirklichen Herbst und 
Frühling erlebt hatten. Um dieses Rätsel zu lösen, bleibt kein 
anderer Schluss übrig als die Annahme, dass wir auch hier das 
Walten jenes mächtigen Prinzips der Mneme vor uns haben, und 
dass solche Einprägungen, wie wir sie im vorhergehenden bei 
Tieren kennen gelernt haben — Einprägungen, die durch unge- 
zählte Jahrtausende von Generation zu Generation übertragen 
werden — auf das Verhalten jener Gewächse bestimmend einwirken. 
In hohem Grade bemerkenswert und von grosser Bedeutung 
für die Beantwortung der uns beschäftigenden Fragen sind ferner 
auch jene Versuche, wie sie neuerdings von Botanikern angestellt 
wurden, um bezüglich der Grundbedingungen für die Entwicklung 
verschiedener Getreidearten Aufschlüsse zu erlangen. Von dem 
bekannten Sommerweizen (Triticum vulgare aristatum), der im 
nördlichen und mittleren Deutschland zu seiner Entwicklung — 
von dem Aussäen bis zur Ernte gerechnet — rund hundert Tage 
gebraucht, brachte Schübeier im mittleren Deutschland produziertes 
Saatgut nach Christiania und säete dasselbe dort aus. Da der 
Unterschied von zehn Breitengraden bezw. die längere Dauer der 
Sommertage in Norwegen eine stärkere Sonnenbestrahlung und 
Erwärmung des Erdbodens bedingt, so musste man von vorn- 
herein erwarten, dass die Entwicklungsdauer des deutschen 
Weizens in dem nordischen Lande abgekürzt werden würde. Dies 
war aber zunächst nicht der Fall; vielmehr nahm im ersten Jahre 



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der Aussaat die Entwicklung des betreffenden Getreides noch un- 
gefähr dieselbe Zeit in Anspruch, wie sie für deutsche Verhältnisse 
als Regel gilt. Erst nachdem man die betreffenden Versuche durch 
eine Anzahl von Generationen fortgesetzt hatte, wobei der aus 
dem deutschen Saatgut gezogene Samen zur neuen Aussaat, das 
Produkt dieser Aussaat dann wieder zum Aussäen benutzt wurde: 
erst nachdem man diese Prozedur eine Zeitlang fortgesetzt hatte, 
machte sich eine Verkürzung der Entwicklungsdauer bemerklich, 
die allmählich bis auf 75 Tage — also auf drei Viertel der Zeit, 
wie sie der in Deutschland gezogene Sommerweizen für seine 
Entwicklung in Anspruch nimmt — zurückging. Auch deutete 
der gesamte Verlauf jener Erscheinungen auf eine Art Kampf 
zwischen dem alten, dem Getreide auf mnemischem Wege über- 
mittelten Entwicklungstempo und jener kürzeren Entwicklungsdauer, 
wie sie durch die länger andauernde Sonnenbestrahlung des nor- 
dischen Sommers herbeigeführt wurde. Dabei verdient der Um- 
stand hier noch eine besondere Erwähnung, dass das aus ur- 
sprünglich deutschem Getreide nach einer Reihe von Aussaaten 
schliesslich hervorgegangene Saatgut mit abgekürzter Entwicklungs- 
dauer, als man dasselbe nach Deutschland brachte und dort aus- 
säete, den Entwicklungszyklus in achtzig Tagen vollendete, demnach 
die im nordischen Klima neuerworbene Einprägung im wesent- 
lichen beibehielt und auf diese Weise wiederum die Gültigkeit 
des mnemischen Prinzips — also eine Neuerfahrung, die 
selbst jetzt wieder mnemisch wirkte und durch Ver- 
erbung weiter übertragen wurde — zu erkennen gab. Auch 
stehen die im vorhergehenden erwähnten Beispiele von mnemischen 
Einprägungen bei Pflanzen — also Lebewesen ohne Nerven- 
system — keineswegs vereinzelt da. Durch an Akazien und 
Mimosen angestellte sinnreiche Versuche hat Semon neuerdings 
noch den Nachweis geführt, dass der Rhythmus der Tages- 
bewegung der Blätter bei diesen Gewächsen auf Vererbung beruht 
und nicht einfach ein Lichtreflex ist, während es andererseits 
Fr. Darwin und D. Pertz gelungen ist, durch abwechselnde 
Beleuchtung und Verdunkelung bei geeigneten Pflanzen gewisse 
Einprägungen, die sich durch in bestimmten Perioden verlaufende 



-11- 

Bewegungen der Blätter zu erkennen geben, kunstlich hervorzu- 
rufen. — Bei Pilzen, die einem bestimmten Wechsel von grellem 
elektrischen Bogenlicht und tiefstem Dunkel ausgesetzt wurden, 
hat Ollmanns Erscheinungen von positivem und negativem 
Heliotropismus (Wachsen der Fruchtkörper in der Richtung nach 
der Lichtquelle hin, bezw. in entgegengesetzter Richtung) hervor- 
gerufen — eine Reaktion, die in ganz bestimmten Perioden ver- 
lief und .auch nach dem Aufhören der Lichteinwirkung bezw. 
Verdunkelung noch fortgesetzt wurde. 

Wie kommen aber jene mnemischen Einprägungen zustande, 
und welchen Gesetzen sind sie unterworfen? — Zur Beant- 
wortung dieser Fragen ist es unerlässlich, auf das Wesen der 
Erinnerungseinprägungen hier näher einzugehen. Für das Zu- 
standekommen der mnemischen Einprägung (Engramm) ist das 
Vorhandensein eines Reizes uneriässlich. Diesen Reiz haben wir 
nach Semon aufzufassen als eine energetische Einwirkung 
auf den Organismus von solcher Beschaffenheit, dass 
sie Reihen komplizierter Veränderungen in der reizbaren 
Substanz der organischen Wesen hervorruft Über die 
Natur jener Veränderungen ist die Forschung gegenwärtig noch 
nicht völlig im klaren. Wenn wir aber entsprechend der jetzt vor- 
herrschenden biologischen Anschauung sowie im Hinblick auf 
den Umstand, dass die Erscheinungen des organischen Lebens 
— so vor allem die Ernährungs- und Wachstumsprozesse, die 
Tätigkeit der Muskeln usw. — mit Bewegungsvorgängen aufs 
engste verbunden sind, wenn wir im Hinblick auf diesen Um- 
stand Molekularbewegungen bezw. Umlagerungen der kleinsten 
Bestandteile (Molekeln) als Grundlage der durch Reize hervorge- 
rufenen Veränderungen betrachten, so hat die Auffassung wohl 
eine gewisse Berechtigung, dass jenen Einprägungen molekulare 
Bewegungen bezw. Umlagerungen der Molekeln zugrunde liegen. 
Wir werden dann ferner annehmen müssen, dass jener Zustand 
der Umlagerung der Molekeln nicht wieder sofort verschwindet, 
sondern nach dem Aufhören der Reizwirkung dem Organismus 
für kürzere oder längere Zeit erhalten bleibt, und dass jene Um- 
lagerung dahin wirkt, dass beim Wiederholen des nämlichen Reizes 



^ 1^ - 

oder beim Auftreten eines analogen Reizes, die molekularen Vor- 
gänge in einer jener Umlagerung entsprechenden Weise sich ab- 
spielen. — Wenn diese Erklärung der mnemischen Erscheinungen 
einstweilen auch nur als eine Hypothese zu betrachten ist, so 
durfte doch der Umstand, dass wir in der anorganischen Natur 
einen Vorgang kennen, der in analoger Weise zu erklären ist, 
urtserer Auffassung einen gewissen Grad von Wahrscheinlichkeit 
verleihen. Es sei nur an das Magnetischwerden d^s Eisens 
erinnert, das von den Physikern jetzt wohl allgemein mit Um- 
lagerung der Molekeln iu Zusammenhang gebracht wird. 

Um auf die mnemischen Einprägungen zurückzukommen, 
so deutet auch der subjektive Vorgang des Wiedererkennens 
darauf hin, dass es sich hier in Wirklichkeit um Vorgänge handelt, 
die in der Zellsubstanz (Protoplasma) der Organismen ihre Ein- 
wirkung hinterlassen haben. Auf der häufigen Wiederholung 
solcher Einprägungen und der entsprechenden Gangbarmachung 
bestimmter Nervenbahnen, bezw. auf der durch das Zusammen- 
wirken der Nerven bewirkten Koordination bestimmter Muskel- 
gruppen und der Verknüpfung mehrerer Nervenzentren (Organe 
für bestimmte Hirnfunktionen) zu gemeinschaftlicher Tätigkeit — 
auf diesen Momenten beruht auch das bekannte Übungs- oder 
Train ierungsgesetz, das bei einer grossen Anzahl von Vor- 
gängen — wie z. B. beim Sprechen, bei den verschiedenartigsten 
Verrichtungen der menschlichen Hand u. dergl., eine wichtige 
Rolle spielt. 

Um einen ungefähren Begriff davon zu erhalten, in welcher 
Weise durch die Wiederholung einer und derselben mnemischen 
Einprägung bestimmte Nervenbahnen für die betreffenden geistigen 
Vorgänge geschaffen oder, wenn bereits vorhanden, gangbar 
gemacht werden, wollen wir uns ein Ackerfeld vorstellen, auf 
das von einer bestimmten Seite her zum Zwecke der Berieselung 
Wasser geleitet wird. Anfangs wird das Wasser, das den 
Acker überflutet, sich ziemlich gleichmässig über ihn verteilen. 
Allmählich aber wird der Wasserstrom die in jedem Acker 
befindlichen kleinen Vertiefungen aufsuchen bezw. sie zu 
kleinen Rinnsalen umgestalten, und sobald der Bewässerungs- 



^ lä - 

prozes^ nur einigemale wiederholt worden ist, wird sich in dem 
Acker ein vollständiges kleines Kanalsystem gebildet haben, dem 
nun der Wasserstrom folgt, ohne erheblichen Hindernissen zu 
begegnen. In ganz analoger Weise werden — so dürfen wir wohl 
annehmen — in der Grosshimrinde (graue Hirnsubstanz), die 
anfangs, wie es scheint, den ihr zugeleiteten Nervenstrom nach 
allen Richtungen hin verteilt, durch Wiederholung der mnemischen 
Einprägungen allmählich bestimmte Nervenbahnen sich entwickeln, 
die durch Fortleitung der ihnen übermittelten Reize in einer ganz 
bestimmten Richtung, sowie durch Herstellung von Verbindungen 
zwischen verschiedenen Zentren geistiger Tätigkeit den Ablauf 
der geistigen Vorgänge in hohem Grade erleichtern und dadurch 
zugleich die seelischen Prozesse vervollkommnen. 

In dem Gesagten ist bereits eine Vermutung enthalten, der 
neuerdings von mehreren hervorragenden Gehimforschem Aus- 
druck verliehen wurde. Es liegt, wie Edinger bemerkt, der 
Gedanke nahe, dass die Assoziationsfasern — d. h. diejenigen 
Faserzüge des Gehirns, welche verschiedene Hirnzentren zu ge- 
meinsamer Tätigkeit verbinden — dass diese Assoziations- 
fasern erst durch die Einübung zweier Hirnstellen 
zu gemeinsamer Aktion entstehen, bezw. sich als deutlich 
markumgebene Faserzüge aus der indifferenten Nerven- 
fasermasse herausbilden, wenn sie häufiger als andere 
Faserzüge in Gebrauch genommen werden. Mit der 
Annahme, dass bei der Geburt die Leitungsbahnen noch nicht 
sämtlich vorhanden sind, steht auch die neuerdings von Flechsig 
gemachte Beobachtung im Einklang, wonach während der ersten 
vier Lebensmonate — also gerade zu einer Zeit, wo beim Kinde 
das geistige Leben erwacht — die Nervenstränge des Rücken- 
markes sich mit Markscheiden überziehen. Was diese überaus 
wichtige Tatsache anbelangt, so wollen wir für diejenigen unserer 
Leser, die mit den histologischen Verhältnissen des Zentral- 
nervensystems weniger vertraut sind, hier nur einschalten, dass 
die Markscheide des Nerven der aus Guttapercha, Werg oder 
ähnlichem Material hergestellten Umhüllung des in der Erde oder 
im Wasser liegenden Telegraphendrahtes entspricht. Ebenso wie 



- 14- 

die Telegraphendraht-Umhüllung eine Isolierung bewirkt und den 
Draht leitungsfähig macht, ist es die Markscheide, die den Nerven- 
strang isoliert und auf diese Weise die Fortleitung eines Reizes 
in einer ganz bestimmten Richtung ermöglicht. Sollte die von 
Edinger ausgesprochene Vermutung — nur als eine Vermutung 
dürfen wir beim gegenwärtigen Stande unseres Wissens jene 
Annahme bezeichnen — durch die gegenwärtig in vollstem Flusse 
befindliche Gehirnforschung bestätigt werden, sollte es sich wirklich 
herausstellen, dass die Nervenreize bezw. Hirnfunktionen 
ihre Leitungsbahnen zum Teil erst selbst herstellen, 
so wäre das eine Tatsache von allergrösster Bedeutung — eine 
Tatsache, die voraussichtlich andere wichtige Entdeckungen und Auf- 
klärungen auf dem Gebiete der Gehirn-Anatomie und Physiologie und 
dann weiter im Bereiche der Psychologie nach sich ziehen würde. 
Was die Frage anlangt, ob die mnemischen Einprägungen 
an bestimmte Teile des Gehirns gebunden sind, und welche Teile 
unseres Seelenorgans für die örtliche Unterbringung (Lokalisation) 
der Einprägungen vorzugsweise ausersehen sind, so dürfte die 
Lehre gewisser Autoren, die sich die Erinnerungsbilder in einzelnen 
Ganglienzellen wie in einer Anzahl von Schubfächern lokalisiert 
vorstellen, den tatsächlichen Verhältnissen wohl kaum entsprechen. 
Andererseits lässt sich doch manches zugunsten der Annahme vor- 
bringen, dass eine relative Lokalisation der Leitungsbahnen 
und Ankunftsstellen im Gehirn vorhanden ist. In der grauen 
Hirnsubstanz (Hirnrinde) verbreiten sich nach Semon die dem 
Gehirn durch die Sinnesorgane und Sinnesnerven zugeführten Reize 
durch Ausstrahlung nach verschiedenen Richtungen (Irradiation). 
Dass die durch die Lage der peripheren Nerven und der Leitungs- 
bahnen gekennzeichneten Ankunftsbezirke, die der besagte Gelehrte 
als „primäre Eigenbezirke*" bezeichnet, bei diesem Vorgange 
beteiligt sind, ist in hohem Grade wahrscheinlich; damit soll 
jedoch keineswegs gesagt sein, dass die in Rede stehende Hirn- 
partie als Sitz für mnemische Erregungen des Menschen aus- 
schliesslich in Betracht käme ^). Wir können vielmehr das Über- 

^) Die obenerwähnte Vermutung Edingers würde mit der Auffassung 
Semons, der sich das Zustandekommen der Assoziationen in der Weise 



-IS- 

• 

greifen der Erregung aber den primären Eigenbezirk hinaus bei 
allen Reflexkrämpfen, Mitbewegungen u. dergl. feststellen, während 
im Bereiche der sensiblen Sphäre Ausstrahlungen der Nerven- 
reize (wie z. B. Empfindung von Kitzel im Kehlkopf bei Berührung 
des äusseren Gehörganges und des Trommelfells) ebenfalls nicht 
zu den Seltenheiten gehören. — Zur Manifestation der Reize 
(Ekphorie) ist eine gewisse Reizstärke erforderlich. Das so- 
genannte „gute Gedächtnis" beruht nur zum Teil auf der Leichtig- 
keit und Dauerhaftigkeit der Einprägungen. Fast ebenso wichtig 
ist die durch Assoziation (Verknüpfung der durch den Reiz hervor- 
gerufenen Erregung mit anderweitigen Geistesfunktionen) bewirkte 
leichte Reproduktion der aus der Verschmelzung der Erinnerungs- 
einprägungen mit dem Effekt neuer Reize sich ergebenden Wirkung. 
Die Erregungen verschiedener Nervenfasern beim Menschen 
müssen als ungleichartig aufgefasst werden ; denn für die höheren 
Tierklassen haben wir eine angeborene Spezifikation der Sinnes- 
eindrücke anzunehmen, die sich in der Weise äussert, dass gewisse 
Nervenbahnen im Dienste der einen Sinnestätigkeit, andere wiederum 
im Dienste einer anderen Sinnestätigkeit stehen. Die Aus- 
bildung bestimmter Hirnteile für bestimmte Zwecke ist nirgends 
in so vollkommener Weise durchgeführt wie in der Gross- 
hirnrinde, die sich zu einer Art Multiplikator der Nerven- 
erregung entwickelt hat und zugleich mit ihren mannigfaltigen 
Assoziationszentren für das Oberbewusstsein (höhere mit voll- 
kommenem Bewusstsein des Ichs verknüpfte Hirntätigkeit) den 
vorzugsweisen Sitz abgibt. Hand in Hand gehend mit der fort- 
schreitenden Entwicklung der Grosshirnrinde im Wirbeltierreiche 
nimmt auch die Intelligenz zu, was nicht zum wenigsten darauf 
beruht, dass zugleich mit jener Entwicklung die Aufnahmefähigkeit 



vorstellt, dass die Wirkungen der Reize über den Eigenbezirk hinaus über 
das ganze Nervensystem sich ausbreiten, nicht in unlösbarem Widerspruch 
stehen. Vielmehr könnte man jene Ausstrahlung der Nervenreize nach 
aUen Richtungen als den primären Vorgang, die Ausbildung bestimmter, 
scharf abgegrenzter Nervenbahnen für die Assoziationen als den sekundären 
Vorgang betrachten. Ob die von Flechsig in der Hirnrinde entdeckten 
„myelogenetischen Felder" an der mnemischen Einprägung der Reize be- 
teiligt sind, lässt sich noch nicht entscheiden. 

Qrenzf ragen d. Llt u. Medizin. 2. Heft. 2 



• 

für Reize, bezw. für mnemische Einprägungen sowie die Fähigkeit, 
letztere wiederum zur Manifestation zu bringen, bezw. durch 
Verknüpfung der Einprägungen mit der Tätigkeit der höheren 
Nervenzentren die geistige Befähigung auf eine höhere Stufe zu 
erheben gesteigert wird. Entsprechend der Tatsache, dass beim 
Menschen die mnemischen Erregungen durch besonders zahlreiche 
Assoziationen unter sich verknüpft sind und zugleich in höherem 
Grade als bei irgend einem anderen Lebewesen vielseitige Ver- 
wertung finden — entsprechend dieser Tatsache beobachten wir, 
dass beim Menschen und den höheren Tieren ein verhältnis- 
mässig geringer Verlust von Hirnsubstanz den vollständigen 
Verlust der mnemischen Einprägungen, bezw. die Unfähigkeit, jene 
Einprägungen für die geistige Tätigkeit zu verwerten, zur Folge hat. 
Dass die Wirkungen gewisser, gleichzeitig sich äussernder 
Reize besonders häufig miteinander verknüpft werden — hierfür 
liefern die eingangs gegebenen Beispiele, wo Gesichtseindrücke 
und Gehörempfindungen zu einem Gesamteindruck sich vereinigten, 
einen unzweideutigen Beweis. Die Eindrücke des Geschmack- 
sinnes und Geruchsinnes sind im allgemeinen beim Menschen 
nicht sehr scharf geschieden und geben daher zu solchen Misch- 
empfindungen besonders häufig Anlass. — Was die zuvor erwähnten 
Beobachtungen anlangt, denenzufolge bei gewissen Personen be- 
stimmte Töne, bezw. die Klänge gewisser musikalischer Instrumente 
neben den Tonempfindungen im Gesichtsfelde ganz bestimmte 
Farbenempfindungen hervorrufen,^) so ist es zurzeit noch nicht 
möglich, hierfür eine sichere Erklärung abzugeben. Indessen 
ist die Vermutung nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen, 
dass es sich hier um eine uralte Verknüpfung von Sinnes- 
empfindungen handelt, die aus älteren Entwicklungsstadien des 
Menschengeschlechts unter Vermittelung des mnemischen Prinzips 
sich bis auf die Jetztzeit in der Weise erhalten hat, dass sie nur unter 
gewissen Umständen, über die wir einstweilen noch nicht informiert 
sind, zutage tritt. Eine derartige Annahme erhält einen gewissen 
Grad von Wahrscheinlichkeit durch den Umstand, dass das Ver- 

') Vergl. hierüber die Abhandlung von Dr. Collineau: L'Audition 
coldr^e. Revue mensuelle de r£cole d'Anthropologie de Paris. Paris 1891. 



-.In- 
halten der Sinnesempfindungen im Tierreiche in der mannig- 
faltigsten Weise sich gestaltet, dass im Gegensatz zu dem, was 
soeben über die Spezifikation der Sinneseindrücke und Nerven- 
leitungen bei den höheren Tierklassen sowie beim Menschen 
bemerkt wurde, auf den niedrigsten Stufen der tierischen Ent- 
Wickelung eine scharfe Trennung der Sinnesempfindungen und 
eine deutlich ausgeprägte Bildung von Sinneswerkzeugen noch 
nicht vorhanden ist, dass das Fehlen eines ausgebildeten Auges 
bei vielen niederen Tieren auf den Mangel eines scharf unter- 
scheidenden Gesichtssinnes schliessen lässt u. dgl. — Was 
speziell die Farbenempfindungen anlangt, die auch gegenwärtig 
beim Menschen noch gewissen Schwankungen unterliegen — ich 
erinnere hier nur an die bekannten Erscheinungen der Farben- 
blindheit ~ so haben die von Forel, Lubbock u. a. angestellten 
Versuche zu dem Schlüsse geführt, dass gewisse Insekten, 
so vor allem die Ameisen, hinsichtlich der Farbenperzeption 
sich vom Menschen wesentlich unterscheiden und die Annahme, 
dass unter den ältesten Vorfahren des Homo sapiens tierische 
Wesen sich befunden haben, bei denen die Unterscheidung des 
Klanges und der Farbe durch besondere Sinnesorgane noch nicht 
durchgeführt war, hat daher manches für sich.^) 

Wenn wir soeben über Mischempfindungen berichteten, so 
möchten wir unsere Darlegungen nicht so verstanden wissen, 
als ob die gleichzeitig einwirkenden (synchronen) Erregungen 
vollständig miteinander verschmölzen und nicht auseinander ge- 
halten werden könnten. Dass letzteres nicht der Fall ist, kann 
man z. B. daraus ersehen, dass das musikalische Ohr beim 
Anhören eines von einer Anzahl Musiker auf verschiedenen 
Instrumenten vorgetragenen Musikstückes jeden einzelnen falschen 
Ton sowie überhaupt jede Abweichung eines Instrumentes zu 

') Die Annahme, dass die Sinnesempfindungen der niederen Tiere 
von denjenigen des Menschen und der höheren Tierklassen sich wesentlich 
unterscheiden, wird auch durch die Beobachtung bewiesen, dass bei gewissen 
Insekten der Geruchsinn für die Raumunterscheidung bezw. räumh'che 
Orientierung ausschliesslich Verwendung findet. Im Hinblick auf diese 
Tatsache spricht Forel von den topo-chemischen Geruchsempfindungen 
der Ameisen. 

2» 



Unterscheiden imstande ist. Während demnach bei gleichzeitig 
stattfindenden Eindrucicen eine Unterscheidung der verschiedenen 
Sinneserregungen immer noch mögh'ch ist, kommt es da, wo es 
sich um zeitlich aufeinander folgende Sinneseindrucke handelt, in 
der Regel zu einer Verschmelzung der ursprünglichen mnemischen 
Einprägung und der durch den neuen Reiz hervorgerufenen 
Wirkung — eine Erscheinung, die Semon als „mnemische 
Homophonie** (d. h. Zusammenklingen zweier Erregungen) 
bezeichnet. Die erbliche Homophonie gibt sich beim Nestbau der 
Vögel zu erkennen, die ein künstliches Nest nur dann benutzen, 
wenn es nach Form, Grösse und Beschaffenheit dem Instinkt 
angepasst ist. Geringe Abweichungen im Bau des Nestes werden 
von den Vögeln beseitigt, ehe sie es in Gebrauch nehmen. 
Indessen vollzieht sich jener Vorgang wohl ohne irgend welche 
Beteiligung von Bewusstseinszuständen, wie wir dies auch für 
gewisse Vorkommnisse des menschlichen Geisteslebens anzunehmen 
genötigt sind. Wir können z. B. intensiv bewusst arbeiten und ein 
daneben gespieltes Musikstück vollständig überhören. Sobald jedoch 
in dem musikalischen Vortrag ein Fehler gemacht wird, wird unsere 
Aufmerksamkeit plötzlich erregt. Mit anderen Worten: es erfolgt 
unter solchen Umständen der Übertritt einer unbewussten Sinnes- 
wahrnehmung zum Inhalt des Oberbewusstseins. Fälle von 
mnemischer Homophonie gehören zu den alltäglichen Vorkomm- 
nissen des Menschenlebens. So unterliegen z. B. alle häufig 
wiederholten Handlungen (Zurücklegung eines bestimmten Weges 
u. dergl.) der besagten Verschmelzung der ursprünglichen 
mnemischen Einprägung mit der durch neue gleichartige Reize 
erzeugten Wirkung. Aus dem Umstände, dass bei der Reproduktion 
einer häufig wiederholten mnemischen Einprägung kein Hervor- 
treten einer einzelnen der miteinander klingenden (homophonischen) 
Erregungen stattfindet, dürfen wir vielleicht auf ein Verschwimmen 
— sozusagen Abstraktwerden — des Erinnerungsbildes schliessen. 
Semon glaubt aus diesem Umstände auf die Entstehung einer 
Art von physiologischer Abstraktion beim Menschen und 
wahrscheinlich auch bei höheren Tieren schliessen zu dürfen, 
welche die Vorläuferin der rein logischen Abstraktion sein soll. 



- 19 - 

Erwähnt sei hier ferner noch, dass unter gewissen Umständen 
die aus der Verschmelzung der neuen Erregung mit der Ursprung- 
h'chen mnemischen Einprägung hervorgehende Wiricung sich in 
mehrereZweige spaltet — eine Erscheinung, die man als „Spaltung" 
oder „Gabelung der Reizwirkung" (Dichotomie) bezeichnet. 
Um ein Beispiel hier anzuführen, so existieren von dem bekannten 
Goetheschen Gedichte zwei Lesarten, welche lauten: 

i>u 11 .-• r I • * n u. • II (Wäldern hörest du keinen Hauch" 
„über allen Gipfeln ist Ruh; in allen s ..... , - «^ ^ , . u u« 

" »^ • l Wipfeln spurest du kaum einen Hauch". 

Diejenige der beiden Lesarten wird mnemisch wiedergegeben 
werden, welche in einem gegebenen Falle der betreffenden Person 
besonders häufig vor Augen gekommen ist oder durch das 
Gehör eingeprägt wurde. Wir werden in diesen und ähnlichen 
Fällen annehmen müssen, dass das seltene durch das häufigere 
Vorkommnis in den Hintergrund gedrängt, bezw. an der Erzeugung 
einer Einprägung verhindert wird. Erwähnt sei hier ferner noch der 
Umstand, dass das Wiederaufleben der mnemischen Einprägungen 
nicht allzuselten mit bestimmten Phasen des organischen Lebens 
verknüpft ist, dass beim Eintreten eines bestimmten Entwicklungs- 
stadiums im Lebensgange eines Organismus uralte Eindrücke aufs 
neue Leben gewinnen, dass beispielsweise der Eintritt der Ge- 
schlechtsreife beim Manne das Hervorsprossen der Bart- und 
Schamhaare sowie das Mutieren der Stimme, beim Weibe die 
Entwicklung der Brüste zur Folge hat. 

Eine besondere Erwähnung verdient ferner noch der Umstand, 
dass da, wo keine Verschmelzung der Reizwirkungen unter sich 
bezw. mit der ursprünglichen Erinnerungseinprägung stattgefunden 
hat, der Ablauf der auf mnemische Erregungen zurückzuführenden 
Vorgänge im allgemeinen die Reihenfolge innehält, in der die 
betreffenden Reize aufeinander gefolgt sind. Eine beträchtliche 
Anzahl von sogenannten „tierischen Instinkten** findet auf diese 
Weise eine ungezwungene Erklärung. Es sind nicht etwa bewusste, 
auf Überlegung beruhende Handlungen, die von den betreffenden 
Tieren vorgenommen werden; es wird diesen Handlungen aber 
dadurch ein Schein der Überlegung und Absichtlichkeit verliehen, 
dass sie in einer ganz bestimmten Reihenfolge sich abspielen. In 



- 20 - 

hohem Grade lehrreich ist das Verhalten der Grabwespe (Sphex). 
Wenn schon diese Wespe deshalb Beachtung verdient, weil sie 
zur Versorgung ihrer Brut Beutetiere (kleine Insekten, Raupen, 
Würmer und dergl.) in ihre Nestzellen bringt, die sie zuvor 
durch den Stich ihres giftigen Stachels gelähmt hat und auf diese 
Weise am Entfliehen verhindert — so ist auch die Art und Weise, 
wie die mit dem Einbringen der Beute in das Nest verknüpften 
Prozeduren sich aneinander reihen, in hohem Grade bemerkens- 
wert. Die Sphex- Wespe geht nämlich in der Weise vor, dass sie 
das eingefangene, durch den Stich gelähmte Beutetier zunächst 
vor dem Eingange in das Nest niederiegt und sich selbst vor dem 
Einbringen der Beute in die Nesthöhle begibt. Erst dann, wenn 
dies geschehen ist, schickt sie sich an, das Beutetier in einer 
der Nestzellen unterzubringen. Man könnte nun vielleicht geneigt 
sein, das soeben erwähnte Vorgehen der Raubwespe als einen 
auf Überiegung beruhenden zweckmässigen Vorgang aufzufassen; 
dieser Annahme widersprechen aber die Ergebnisse der von Fahre 
angestellten Versuche. Während die Wespe sich im Innern des 
Nestes aufhielt, entfernte nämlich der besagte Forscher das Beute- 
tier von dem Eingange. Es gelang nun zwar der Wespe, nach 
einigem Suchen ihre Beute wieder aufzufinden; sie wiederholte 
aber, nachdem sie das Beutetier wieder an den Eingang des Nestes 
zurückgebracht hatte, die bereits erwähnte Nestuntersuchung. Diesen 
Moment benutzte Fahre, um die Beute abermals vom Nest- 
eingang zu entfernen, und es gelang ihm, die Wespe dahin zu 
bringen, dass sie den Cyklus von Vorgängen, bestehend im Auf- 
suchen der Beute, Zurückbringen derselben an den Nesteingang 
und die völlig zwecklose abermalige Nestuntersuchung vierzigmal 
hintereinander wiederholte und auf diese Weise den Beweis lieferte, 
dass ihr Verhalten als ein ohne Beteiligung höherer geistiger 
Regungen zustande kommender automatischer Vorgang, dem aber 
zweifelsohne mnemische Einprägungen zugrunde liegen, aufzu- 
fassen ist. 

Von hervorragender Bedeutung sind auch die zwischen 
den mnemischen Einprägungen und der Ontogenese (in- 
dividuelle bezw. embryonale Entwicklung) bestehenden 



-^ 21 — 

Beziehungen. Im Gegensatz zu der Phylogenese, d. i. der 
Stammesgeschichte der Organismen, die, wie jetzt allgemein an- 
erkannt wird, aus ganz niedrigen Lebensformen, nämlich aus 
einzelligen Lebewesen zu ihrer in den höheren Tierklassen sowie 
im Menschen gipfelnden Vollkommenheit sich entwickelt haben 
— im Gegensatz hierzu zeigt uns die Ontogenese, wie sich die 
Ausbildung des Individuums aus den miteinander verschmelzenden 
Keimzellen (Eizelle und Samenzelle) von der Befruchtung bis 
zur Reife des lebensfähigen tierischen Organismus in der Folge 
bestimmter Entwicklungsphasen nach feststehenden Gesetzen 
vollzieht. Dass bei diesem individuellen Entwicklungsprozess 
das mnemische Prinzip mitbeteiligt sein muss, dieser Schluss 
wird uns von vornherein nahe gelegt durch den Umstand, dass, 
wie bereits erwähnt, bei einer grossen Anzahl von niedrigen 
tierischen Organismen eine Regeneration von verloren gegangenen 
Körperteilen stattfindet, ja dass unter gewissen Umständen ein 
einziges Körpersegment zu einem vollständigen tierischen Orga- 
nismus sich zu ergänzen vermag. Man kann, wie die von 
Roux und anderen Forschern angestellten Versuche beweisen, 
von den acht Zellen einer auf der frühesten Entwicklungsstufe, 
nämlich im sogenannten Furchungsstadium befindlichen Cteno- 
phore vier oder gar sechs Zellen entfernen, ohne den Entwick- 
lungsgang wesentlich zu beeinträchtigen, da die zurückbleibenden 
Zellen sich zu einem Lebewesen ergänzen, das von dem Erzeuger 
in keiner Weise sich unterscheidet. Man kann auch mit Eiern 
von Stachelhäutern, Ascidien, Mollusken u. dergl. ähnliches er- 
reichen. Man beobachtet ferner, wie bei Tieren anderer Gattung 
Zerstückelungen bezw. Verstümmelungen Neubildungen von Ge- 
webe herbeiführen, die schliesslich eine vollkommene Wieder- 
herstellung der durch den Eingriff gestörten Voraussetzungen 
bewirken. Ziehen wir in Betracht, dass alle den elterlichen 
Organismen anhaftenden mnemischen Einprägungen durch die 
Geschlechtszellen auf den neuen Organismus übertragen werden, 
und bemerken wir dann zugleich, dass aus einem einzigen Stück 
eines Wurmes, einer Qualle oder eines anderen niedrig-organi- 
sierten tierischen Lebewesens der Gesamtorganismus in völliger 



- 22 - 

Unversehrtheit sich wieder herstellt, so ist die Annahme unab- 
weislich, dass in jenem einzigen Stück alle jene Vorbedingungen 
enthalten sein müssen, deren der unversehrte Organismus be- 
nötigt ist, dass mithin die mnemischen Einprägungen jenem Körper- 
segment nicht fehlen können. ^ Wenn bei den höher organisierten 
Tieren die Erscheinungen der Regeneration fehlen oder nur an- 
gedeutet sind, so dürfen wir aus diesem Umstand nicht etwa 
folgern, dass hierdurch unsere Theorie von der Beeinflussung der 
Ontogenese durch das mnemische Prinzip hinfällig werden könnte. 
Wenn Webervögel im Käfig nicht weben, so beruht dies auf 
einem Mangel an Material, nicht aber auf dem Fehlen des Weber- 
instinktes; in analoger Weise wird es sich in jenen Fällen, wo 
die Regeneration ausbleibt, entweder um den Mangel bezw. die 
Unzulänglichkeit des zur Ersatzbildung dienenden Materials handeln 
oder um eine Abnahme der plastischen (bildenden) Fähigkeit des 
Organismus selbst, wie sie insbesondere mit zunehmendem Alter 
regelmässig eintritt. 

Den Ablauf der ontogenetischen Vorgänge werden wir uns 
in Übereinstimmung mit dem Verlaufe der stammesgeschichtlichen 
Entwicklung in der Weise vorstellen, dass die den elterlichen 
Keimzellen anhaftenden mnemischen Einprägungen den in der 
Entstehung begriffenen Organismus zwingen, eine bestimmte 
Richtung der Entwicklung so lange innezuhalten, bis eine gewisse 
Stufe der Ausbildung erreicht ist, dass dann aber (nach dem 
Gesetze, wonach die Einwirkungen der Mneme in einer der Er- 
zeugung jener Einprägungen entsprechenden Reihenfolge zur 



*) Jene kleinsten Segmente des Tierkörpers, die noch imstande 
sind, eine Regeneration zu bewirken, werden von Semon als „mnemische 
Protomere" (ursprüngh'che Teile) bezeichnet. Es unterliegt nach diesem 
Autor keinem Zweifel, dass jedes Protomer eines durch Vereinigung einer 
männlichen und einer weiblichen Keimzelle erzeugten Individuums im 
Besitze sämtlicher mnemischen Einprägungen, die beiden Erzeugern 
eigen waren, sich befinden muss. Die Reproduktionsfähigkeit scheint nur 
einzelnen Körperteilen, die zu spezifischen Zwecken ausgebildet sind, zu 
fehlen. Wenn man z. B. die bekannte Hydra viridis, einen auf unseren 
Teichgewächsen nistenden kleinen Polypen, in 40 bis 50 winzige Stücke 
zerlegt, so sind sämtliche Segmente mit Ausnahme derjenigen, die aus der 
Substanz der Fangarme bestehen, imstande, das ganze Tier zu reproduzieren. 



- 23 — 

Geltung kommen) andere mnemische Einprägungen an ihre Stelle 
treten. Unter dieser Voraussetzung wäre es dann unausbleiblich, 
dass die Ontogenese eine Reihe aufeinander folgender Phasen 
durchläuft und einen vollständig typischen Verlauf nimmt. 

Dass wir das mnemische Prinzip als Ausgangspunkt und 
Grundlage der ontogenetischen Entwicklung zu betrachten haben 
— diese Annahme findet noch eine besondere Bestätigung durch 
den Umstand, dass die Art und Weise, wie der Ersatz 
verloren gegangener Körperteile durch Regeneration be- 
werkstelligt wird, wie künstlich erzeugte Ungleichartig- 
keiten von dem in der Entwicklung begriffenen Organis- 
mus wieder ausgeglichen werden — dass diese Vorgänge 
in jeder Hinsicht den Charakter der „mnemischen Homo- 
phonie" tragen, d. i. der Verschmelzung verschiedener 
mnemischer Einprägungen bezw. der an diese Ein- 
prägungen anknüpfenden Assoziationen zu einem ein- 
heitlichen, harmonischen Erregungszustand. Die durch 
Regeneration und Regulierung bewirkte Beseitigung von im Ver- 
laufe der Ontogenese auftretenden oder künstlich erzeugten Un- 
regelmässigkeiten entspricht genau jener obenerwähnten Erschei- 
nung, nach welcher brütende Vögel unter der Herrschaft der 
mnemischen Eindrücke ein ihnen zur Verfügung gestelltes künstliches 
Nest in Übereinstimmung mit den ererbten Einprägungen abändern 
bezw. ergänzen. Einen weiteren Beweis für die Annahme, dass die 
mnemischen Einprägungen bei der ontogenetischen Entwicklung 
eine wichtige Rolle spielen, bilden jene Spaltungen der mne- 
mischen Reaktionszustände (Dichotomien), die, wie oben 
erwähnt, ein häufiges Vorkommnis darstellen. Wir beobachten 
nicht nur, dass entsprechend der Verschiedenheit der mnemischen 
Einwirkungen im Verlaufe der ontogenetischen Entwicklung bei 
verschiedenen Individuen verschiedene Erscheinungen zutage 
treten, sondern wir bemerken zugleich, dass häufig bei einem 
und demselben Individuum die Entwicklungsreaktionen hin und 
her schwanken, dass als Folgezustand verschiedener Erregungen 
bald diese, bald jene Erscheinung auftritt. Dabei verdient der 
Umstand noch eine besondere Beachtung, dass allem An- 



- 24 — 

scheine nach mnemische Einflüsse auch der Entstehung 
des Geschlechtes zugrunde liegen, und dass den mit 
der Qeschlechtsbildung verknüpften Schwankungen der mnemi- 
schen Erregungen bestimmte „Mischreaktionen*" (Kombinationen 
verschiedener mnemischer Charaktere bei einem und demselben 
Individuum) entsprechen. Als solche Mischungen mnemischer 
Eigentümlichkeiten werden wir vor allem die Hermaphroditen 
(Zwitter) aufzufassen haben, bei denen die Kombinierung von 
Bildungen, denen man gewöhnlich nur bei verschiedenen Ge- 
schlechtern begegnet, nicht selten zur Monstrosität führt. Aber 
auch jeder ausgebildete, in seiner Entwicklung scheinbar abge- 
schlossene Organismus befindet sich ebenso wie der in die Ent- 
wicklungsbahn eintretende Keim nach wie vor im Besitz der 
beiden divergierenden Reihen von Einprägungen des männlichen 
und weiblichen Geschlechts. Davon legt er Zeugnis ab dadurch, 
dass er Bruchstücke derselben in späteren Daseinsphasen zutage 
treten lässt. Dies geschieht in der Form von sekundären 
Sexualcharakteren und ist besonders auffällig, wenn Kastration 
oder eine Altersrückbildung der Keimdrüsen erfolgt. Hierher 
gehören alle Korrelate des anderen Geschlechts bei Kastrierten 
oder Eunuchen, die Hahnenfedrigkeit und die Kampflust alter 
Hennen, der Bart alter Frauen, die hennenähnliche Befiederung 
und auch der Brutinstinkt der Kapaunen u. dergl. Aber auch 
ohne Beeinträchtigung der Sexualdrüsen finden wir auffällige in- 
dividuelle Erscheinungen des anderen Geschlechts bei bärtigen 
Weibern, bei vollbusigen und bartlosen Männern, bei Homo- 
sexuellen usw. Von ganz besonderem Interesse sind ferner 
die „Kreuzungsdichotomien**, d. h. jene Fälle, in denen infolge 
Kreuzung verschiedener Rassen von den aus jener Vermischung 
hervorgegangenen Sprösslingen der eine mehr die väterlichen, der 
andere die mütterlichen Eigenschaften zu erkennen gibt. Interessante 
Beispiele jener Spaltung von mnemischen Einprägungen liefern 
insbesondere die Kinder verschieden gefärbter Eltern, die nicht 
selten alle Variationen der Farbe und des Typus aufweisen. 
Auch in diesen Fällen zeigt sich entweder „Mischreaktion" oder 
alternierendes Auftreten der mnemischen Eigenschaften bei ver- 



— 25 - 

schiedenen Sprösslingen eines und desselben Elternpaares. Be- 
merkenswert sind auch diejenigen Fälle, in denen der aus einer 
Kreuzung verschiedener Rassen hervorgegangene Sprössling für 
kurze Zeit nach der Geburt die Färbung des einen Erzeugers 
aufweist und erst später diejenige des anderen Erzeugers an- 
nimmt. Zu den in Rede stehenden Spaltungsvorgängen (Dicho- 
tomien) gehört der sogenannte „Saison-Dimorphismus" gewisser 
Schmetterlinge (d. i. ihre Eigentümlichkeit, in bestimmten Jahres- 
zeiten die Färbung zu ändern), der Polymorphismus der Ameisen, 
Termiten usw. — sämtlich Erscheinungen, die als ein Hin- und 
Herschwanken zwischen den dichotomischen Erregungszuständen 
verschiedener mnemischer Einprägungen aufzufassen sind. — Bei 
dem zwischen verschiedenen mnemischen Einprägungen bezw. Reihen 
von mnemischen Einprägungen entstehenden Wettstreit kommt es 
nicht allzuselten vor, dass Eigenschaften, die der betreffenden Gattung 
oder Rasse anscheinend abhanden gekommen sind, bei ihr wieder 
zutage treten, dass beispielsweise zwei Rassen von nichtbrfitenden 
Hühnern, sobald sie miteinander gekreuzt werden, gute Brüter 
erzeugen. Das was man als „Atavismus** (Rückschlag auf Vor- 
fahrenzustände) bezeichnet, wird in gewissen Fällen auf ein derartiges 
Vorkommnis zurückzuführen sein. — Bei Inzucht scheint die Zahl 
der Dichotomien (Spaltung der Einwirkung mnemischer Erregungen 
in mehrere Reihen) abzunehmen, während sie bei Mischung ver- 
schiedener Gattungen oder Rassen ausserordentlich gross ist. 
Wird die Zahl der Dichotomien zu gross, die Verschiedenheit der 
mnemischen Einwirkungen allzu bedeutend, so stirbt der Spröss- 
ling ab, oder er kann überhaupt nicht entstehen — mit anderen 
Worten: wo die sich paarenden Wesen so weit auseinander 
stehen, dass die von ihnen ausgehenden mnemischen 
Einprägungen einen völlig verschiedenen Charakter auf- 
weisen, muss Unfruchtbarkeit entstehen. Damit soll jedoch 
keineswegs gesagt sein, dass allen Fällen von Unfruchtbarkeit 
derartige ursächliche Verhältnisse zugrunde liegen. So ist z. B. 
die vollkommene Sterilität der „Soldaten** und „Arbeiter** im 
Ameisennest nicht an den Anfang, sondern erst an das Ende der 
divergierenden Entwicklung zu setzen. 



- S6 - 

Um die im vorhergehenden dargelegten Anschauungen noch 
einmal kurz zusammenzufassen, so wirkt die ursprüngliche 
mnemische Einprägung bei der Ontogenese als Erregungs- 
disposition. Sie bedingt nicht die absolute Grösse der aus der 
Kombinierung der ursprunglichen Einprägung mit der Wirkung 
neuer Reize sich ergebenden Erregung, sondern nur ihre Qualität 
und ihre Grösse im Verhältnis zu anderen assoziativen mnemischen 
Erregungen. Das, was Semon als ,,mnemische Individualität*" 
bezeichnet, ist das Produkt der Zeugung und kommt dadurch zu 
Stande, dass der nach erfolgter Befruchtung seine Entwicklung 
beginnende kindliche Organismus mnemische Einprägungen er- 
werben kann, an denen der elterliche Organismus keinen Anteil 
hat. Ausser bei der Parthogenese (geschlechtslose Zeugung, 
wie sie bei Pflanzen und niederen Tierformen häufig vorkommt) 
ist ein äusserer Anstoss erforderlich, um jenen Entwicklungsprozess 
in Gang zu bringen. Diesen Anstoss bildet für gewöhnlich die 
Befruchtung. Dabei ist aber die Tatsache lehrreich, dass der 
auslösende Reiz nicht immer spezifisch zu sein braucht, dass 
neben dem aus der Samenflüssigkeit von Stachelhäutern ge- 
wonnenen Spermin auch Kochsalzlösungen, Strychnin und andere 
Substanzen als auslösende Reize tätig sein können. Sogar thermische 
und mechanische Reize sind imstande, bei gewissen Tiereiern 
die Befruchtung zu ersetzen. Wärme beschleunigt und Kälte 
verlangsamt den Ablauf der Ontogenese, ohne jedoch deren 
Rhythmus zu ändern. Belichtung, Nahrungszufuhr, Beschaffenheit 
des Mediums, in dem das betreffende Tier lebt, kommen bei der 
Ontogenese als Reizerreger ebenfalls in Betracht und können in 
einer bestimmten Phase der ontogenetischen Entwicklung dadurch 
eine besondere Bedeutung erlangen, dass die Manifestation der 
mnemischen Erregung ohne ihre Mitwirkung nicht zustande kommt. 

Um auf die bereits erwähnte Spaltung der mnemischen Ein- 
flüsse (Dichotomie) zurückzukommen, so ist sie ganz besonders 
geeignet, die Lösung von Rätseln anzubahnen, denen die Biologie 
bisher völlig ratlos gegenüberstand. Dass es bis zu gewissem 
Grade bereits gelungen ist, Spaltungen der erblichen Mneme 
künstlich herbeizuführen und auf diese Weise die Ontogenese in 



neue Bahnen zu lenken bezw. die Organisation der betreffenden 
Lebewesen völlig umzugestalten, dies beweisen jene bemerkenswerten 
Untersuchungen, wie sie die Naturforscherin Frl. E. von Chauvin 
an dem aus Mexiko nach Europa gebrachten Axolotl angestellt hat. 
Dieses salamanderähnliche und mit einem platten Schwanz aus- 
gestattete Geschöpf wird gewöhnlich noch im Wasser lebend als 
Larve mit Kiemen geschlechtsre'i. Gibt man ihm aber noch 
vor der Geschlechtsreife Gelegenheit, bequem auf das trockene 
Land zu krabbeln, so macht man die überraschende Wahrnehmung, 
dass jene Individuen, deren Entwicklung sich auf dem Lande 
vollzieht, sich zu wirklichen Salamandern, die durch Lungen atmen 
und einen zylinderförmigen Schwanz aufweisen, ausbilden. 
Man hat der neuen Tierform den Namen „Amblystoma'' gegeben 
auch hat E. von Chauvin gezeigt, dass das Amblystoma, wenn 
nicht allzuweit entwickelt, dadurch, dass man es wieder ins Wasser 
versetzt, zum Axolotl zurückgeführt werden kann. Bemerkenswert 
ist aber vor allem die Tatsache, dass das solche überraschende 
Umwandlungen darbietende Geschöpf ebensowohl in der 
älteren Amblystoma-Form — die Bezeichnung „älter" 
bezieht sich in diesem Falle auf den stammesgeschicht- 
lichen Ursprung des betreffenden Lebewesens — wie in 
der jüngeren Axolotl-Form geschlechtsreif und zeugungs- 
fähig wird, vorausgesetzt natürlich, dass die Versetzung vom 
feuchten auf das trockene Element und umgekehrt vorgenommen 
wird, ehe noch die Geschlechtsreife eingetreten ist.^ 



') Während gegen die Beweiskraft der Axoloti-Amblystoma-Unter- 
suchungen ein Einwand wohl kaum erhoben werden kann, sind die 
von Fischer und Standfuss mit Schmetterlingspuppen vorgenommenen 
Versuche nicht ganz einwandfrei. Wenn die besagten Gelehrten bei 
Schmetterlingen, deren Puppen von ihnen hohen Kältegraden ausgesetzt 
wurden, von der Norm abweichende Färbungen erzielt haben, so liegt es 
nahe, daran zu denken, dass durch diese ungewöhnliche Beeinflussung die 
in der Schmetterlingspuppe enthaltenen mnemischen Einprägungen abge- 
schwächt oder sonst irgendwie in abnormer Weise modifiziert wurden, und 
dass dementsprechend in der ontogenetischen Entwicklung jener Schmetter- 
linge Veränderungen eintreten mussten. — Unter dem Gesichtspunkte der 
Zweiteilung (Spaltung) der aus dem Zusammenwirken von mnemischen 
Einprägungen und neu hinzutretenden Reizen sich ergebenden Resultate 



Welche Schlüsse haben wir aus den soeben erwähnten 
Tatsachen zu ziehen? Zunächst wird durch sie bewiesen, 
dass es sich bei der in Rede stehenden Umwandlung einer Tier- 
form in eine andere nur um einen Vorgang handeln kann, bei 
dem das mnemische Prinzip wesentlich mitbeteiligt ist. Wir er- 
kennen bei dem auf das Trockene kriechenden, der Einwirkung 
der athmosphärischen Luft fortwährend ausgesetzten Axolotl, 
bezw. bei dem ins Wasser zurückversetzten Amblystoma jene 
Erscheinung wieder, die wir im vorhergehenden als „Spaltung 
bezw. Gabelung der mnemischen Einwirkung"* (Dichotomie) be- 
zeichnet haben — eine Erscheinung, die darauf zurückzuführen 
ist, dass, je nachdem der eine oder der andere Reiz (Einfluss 
des Luftlebens bezw. des Wasserlebens) auf den Organismus 
einwirkt, bald diese, bald jene Kategorie von mnemischen Erre- 
gungen die Oberhand erlangt, und dass erst bei eingetretener 
Geschlechtsreife der Übertritt aus der rezenten (gegenwärtigen) 
Erscheinungsform in die atavistische, d. h. in den Vorfahren- 
zustand und umgekehrt die Versetzung aus dem älteren Zustand 
in die neue Erscheinungsform unmöglich wird. Die neu ein- 
wirkenden Reize werden je nach ihrer Beschaffenheit bald der 
einen, bald der anderen Kategorie von mnemischen Einprägungen 
zum Siege verhelfen, und in jedem Falle wird die Mneme durch 



werden auch gewisse Vererbungserscheinungen verständlich, für die man 
eine plausible Erklärung bisher nicht zu geben wusste. Denken wir z. B. 
an den folgenden Vorgang. Wenn grunsamige und gelbsamige Erbsen gepaart 
werden, so wird die erste Generation von Hybriden entweder grün oder 
gelb. Nehmen wir beispielshalber einmal gelb an, so wird schon die zweite 
Generation der gelben Erbsen V/4 grüne Exemplare, die dritte '/s grüne 
Exemplare usw. erzeugen — eine Erscheinung, die man als „Mendelsches 
Gesetz" zu bezeichnen pflegt. Es tritt also eine alternative Spaltung ohne 
Gleichgewicht ein, da in einem Teile der Nachfolger immer wieder die 
grüne Abart dominiert. In ganz analoger Weise wird, wenn man zwei 
Stammarten von Tauben oder zwei verschiedene Menschenrassen — sagen 
wir Neger und Weisse — miteinander kreuzt, die Bastardierung so verlaufen, 
dass bei dem einen Sprössling der väterliche, bei dem andern der mütter- 
liche Einfluss vorherrscht, was uns nicht in Erstaunen setzen wird, da 
die mnemischen Einprägungen, die von Seiten des Vaters auf den Nach- 
kommen übertragen werden, und diejenigen, die derselbe von selten der 
Mutter bezieht, nur in den allerseltensten Fällen gleichwertig sein werden. 



die zuvor erwähnten Umgestaltungen (Umwandlungen der Kiemen 
in Lungen, bezw. Rückverwandlung der Lungen in Kiemen u.s.w.) 
eine Beseitigung der Inkongruenzen bewerkstelligen und auf diese 
Weise jene Harmonie in der Einwirkung der Reize, die wir oben 
als ,, Homophonie" bezeichnet haben, herbeiführen. Die Umwand- 
lungen des Axolotl-Amblystoma sind auch insofern von grosser 
Wichtigkeit, als durch sie zum erstenmale ein ganz unzweifel- 
hafter Beweis erbracht ist für die so oft bestrittene Tat- 
sache, dass die von den Erzeugern im Verlaufe ihres 
individuellen Lebens erworbenen Eigenschaften von ihnen 
auf die Nachkommen übertragen werden können. Bekannt- 
lich sind die heutigen Naturforscher in zwei grosse Heerlager 
geteilt, von denen die eine Partei im engen Anschluss an die Lehre 
Darwins die Vererbung erworbener Eigenschaften als Ausgangs- 
punkt für die Umgestaltung der Organismen und die Entstehung 
neuer Arten betrachtet, während die andere Partei, an deren Spitze 
der bekannte Zoologe A. Weismann (Freiburg i. B.) steht, ohne 
jene Übertragung der vom Individuum erworbenen Eigenschaften 
auszukommen glaubt und die bei der geschlechtlichen Fortpflanzung 
regelmässig stattfindende Verschmelzung väterlicher und mütter- 
licher Keimzellen, bezw. der in jenen Keimzellen enthaltenen 
Anlagen als das bei der Umgestaltung der Organismen und der 
Artentstehung ausschliesslich zur Geltung kommende Prinzip 
betrachtet. Auch dürfen wir wohl als bekannt voraussetzen, dass 
Weismann zur Begründung seiner Anschauungen die Lehre von 
der „Kontinuität des Keimplasmas** aufgestellt hat, wonach die 
Keimzelle, aus der ein neues Individuum hervorgeht, keine be- 
sondere Neubildung des elterlichen Organismus, sondern eine 
eigenartige Substanz darstellen soll, die in embryonaler Zellen- 
form von einer Generation zur anderen sich überträgt. Es würde 
uns zu sehr von unserem Thema ablenken, wollten wir das pro 
und contra der beiden soeben erwähnten naturwissenschaftlichen 
Anschauungen hier eingehend erörtern. Wir möchten aber doch 
darauf hinweisen, dass durch die naturwissenschaftlich-ärztliche 
Beobachtung bereits eine beträchtliche Anzahl von Tatsachen fest- 
gestellt wurde, die sich nur mit Hilfe des Dogmas von der Ver- 



erbbarkeit erworbener Eigenschaften in zufriedenstellender Weise 
erklären lassen, und dass andererseits für die von Weismann be- 
hauptete „Kontinuität des Keimplasmas** ein tatsächlicher Beweis 
bisher noch nicht erbracht wurde. Nach Semon können die 
während der individuellen Existenz der Organismen durch die 
Einwirkung der Aussenwelt hervorgerufenen Einprägungen zwar 
nur in ausserordentlich abgeschwächter Form bis zu den Keim- 
zellen gelangen; aber es unterliegt doch kaum einem Zweifei, dass 
durch die Wirkung von infinitesimalen Kräften in sehr langer Zeit 
und bei sehr häufiger Wiederholung der betreffenden Einprägungen 
die Keimzellen doch allmählich umgestaltet und auf diese Weise 
die von dem Individuum erworbenen Eigenschaften schliesslich auf 
die Nachkommen übertragen werden. Was die soeben erwähnte 
Anschauung anbetrifft, derzufolge die mnemischen Einprägungen 
nur in ausserordentlich abgeschwächter Form bis zu den Keimzellen 
gelangen sollen, so steht diese Annahme allerdings in völligem Ein- 
klang mit gewissen Beobachtungen des täglichen Lebens. Aus diesem 
Grunde sehen wir uns genötigt, mit dem Unterrichten unserer 
Kinder in Leibes- und Geistesübungen, mit der Dressur unserer 
Pferde und Hunde bei jeder neuen Generation immer wieder von 
neuem zu beginnen. Aber die Anhäufung von an und für sich 
schwachen mnemischen Einprägungen, die sowohl durch die 
Wiederholung bestimmter Erregungen im Leben jedes Individuums 
wie durch die Wiederholung jener Erregungen in der Folge der 
Generationen bedingt ist, macht sich doch allmählich geltend. 
Man braucht nur die Jungen unserer domestizierten Tiere mit 
den Jungen von nicht domestizierten Artgenossen zu vergleichen, 
um zu erkennen, welchen Vorsprung erstere in der geistigen 
Entwicklung vor letzteren voraus haben. Es zeigen sich unzwei- 
deutige Verschiedenheiten in den Instinkten an domestizierten 
und nicht domestizierten Neugeborenen. Was aber speziell den 
Menschen anlangt, so ist es wohl kaum zuviel gesagt, wenn wir 
behaupten, dass ohne jene Vererbung erworbener Eigenschaften, 
die wir der Fortleitung der mnemischen Einprägungen bis zu den 
Keimzellen des Individuums sowie ihrer Übertragung durch 
die Keimzelle auf den neuentstehenden Organismus verdanken 



— dass ohne diese Vererbung erworbener Eigenschaften die 
gesamte menschh'che Kultur kaum denkbar ist. Denn wenn 
der von unseren Vorfahren in der Form von mnemischen Ein- 
Prägungen angesammelte Schatz von Erfahrungen und geistigen 
Eigenschaften nicht auf uns erblich übertragen worden wäre, 
wenn das Einzelindividuum bei seiner Ausbildung von jenem 
Zustande niedrigster geistiger Entwicklung, auf dem sich der Ur- 
mensch befunden hat, stets aufs neue wieder ausgehen musste, 
so wurde die kurze Spanne Zeit, die ein Menschenleben umfasst, 
für die Erreichung einer irgendwie nennenswerten kulturellen Aus- 
bildung wohl kaum genügen. Freilich sind es nicht die Kennt- 
nisse selbst, die als Kultureigenschaften auf den Neugeborenen 
von seinen Vorfahren erblich übertragen werden, sondern vielmehr 
die Fähigkeit, die Hirntätigkeiten in kurzer Frist mit Hilfe von 
Anleitung und Unterricht zu einer hohen Stufe der Vervollkomm- 
nung zu erheben, zwischen den verschiedenen Hirnzentren bezw. 
verschiedenen Hirnfunktionen in kürzester Frist Verbindungen 
herzustellen und auf diese Weise das Gebiet der Ideenassoziationen 
ausserordentlich auszudehnen. Die dem modernen Kulturmenschen 
erblich übertieferte Veranlagung und Begabung sichert ihm von 
vornherein jene geistige Überiegenheit, die er nicht nur vor den 
intellectuell am höchsten stehenden Tieren, sondern auch vor den 
Angehörigen der Naturvölker voraus hat; sie ist es aber auch, 
die ihm die Verpflichtung auferiegt, jene ihm angeborene 
Veranlagung nicht unbenutzt zu lassen, vielmehr die Mahnung 
unseres grossen Dichter-Naturiorschers zu beherzigen: 

»Was du ererbt von deinen Vätern hast, 
Erwirb* es, um es zu besitzen." 

Um auf die Frage von der Übertragung erworbener Eigen- 
schaften bezw. mnemischer Einprägungen durch die Keimzellen 
zurückzukommen, so hat Gaule^) beim Frosche neuerdings fest- 
gestellt, dass in noch ganz anderen Organen als in den Geschlechts- 
werkzeugen sich Vorgänge abspielen, die auf das Geschlechtsleben 
Bezug haben. Nach der Ansicht dieses Forschers unteriiegt es 



*) Vergl. Pflugers Archiv, Bd. 87, Jahrgang 1903. 

Orenzfragen d. Lit u. Medizin. 2. Heft 



keinem Zweifel, dass in der Leber, in den Muskeln und in anderen 
Körperteilen Stoffe erzeugt werden, die für die Bildung der 
Geschlechtsprodukte Verwendung finden, dass auch ein Teil des 
im Körper enthaltenen Fettgewebes zu diesem Zweck umgewandelt 
wird, und dass diese freiwerdenden Stoffe in den Geschlechts- 
organen wieder zusammengefügt werden bezw. innerhalb derselben 
ihre morphologische Gestaltung in Eizellen bezw. Samenzellen 
erhalten. Auf Grund dieser neueren Untersuchungen sind wir nun 
gewiss berechtigt, die Existenz von ununterbrochenen Beziehungen 
zwischen dem ganzen Organismus und den Geschlechtszellen 
(Keimzellen) anzunehmen, wobei jede Geschlechtszelle gewisser- 
massen einen Mikrokosmos im elterlichen Makrokosmos darstellt. 
Ganz abgesehen von den in abgeschwächter Form bis zu den 
Keimzellen fortgepflanzten Erregungszuständen, von denen im 
vorhergehenden die Rede war, zeigen uns also die Gauleschen 
Untersuchungen noch einen anderen Weg, auf dem die Fortleitung 
mnemischer Einprägungen bis zu den Keimzellen und mit ihrer Hilfe 
die Übertragung der Erinnerungseinprägungen auf den neu ent- 
stehenden Organismus erfolgen kann. 

Zu den wissenschaftlichen Fragen, über welche uns das 
Studium der mnemischen Einprägungen ebenfalls wichtige Auf- 
klärung geben dürfte, gehört auch die Frage nach den zwischen 
Ontogenese (individuelle bezw. embryonale Entwicklung) 
und Phylogenese (stammesgeschichtliche Entwicklung) 
bestehenden Beziehungen. Was diese Frage anlangt, so dürfen 
wir wohl als bekannt voraussetzen, dass der Verlauf der embryonalen 
Entwicklung mit demjenigen der stammesgeschichtlichen Evolution 
in seinen Grundzügen übereinstimmt, dass ebenso, wie wir bei 
letzterer eine fortschreitende Entwicklung von einzelligen Lebewesen 
zu Würmern, von diesen zu fisch- und molchähnlichen Geschöpfen 
und dann weiter unter fortwährender Steigerung und Vervoll- 
kommnung zu den höheren Wirbeltieren anzunehmen haben — 
dass wir in analoger Welse bei der embryonalen (ontogenetischen) 
Entwicklung eine Anzahl von Phasen zu unterscheiden haben, die 
den soeben erwähnten stammesgeschichtlichen Entwicklungsstufen in 
ihren Grundzügen entsprechen. Das Vorhandensein einer solchen 



- 38 — 

Übereinstimmung zwischen der Stammesgeschichte der Organismen- 
welt und der embryonalen Ausbildung des Individuums — eine 
Erscheinung, die Haeckel als nbiogenetisches Grundgesetz** 
bezeichnet — wird denjenigen nicht in Erstaunen versetzen, der 
sich vergegenwärtigt, dass die mnemischen Einprägungen, ebenso 
wie sie die Grundlage bilden für die von Stufe zu Stufe fort- 
schreitende individuelle Entwicklung, so auch den Rahmen abgeben 
für jene stammesgeschichtliche Evolution, an deren Zustande- 
kommen neben den Erinnerungseinprägungen die Zuchtwahl und 
natürliche Auslese in hervorragender Weise beteiligt sind. Dass 
andererseits zwischen embryonaler (ontogenetischer) und stammes- 
geschichtlicher Entwicklung doch wiederum erhebliche Unterschiede 
bestehen, wird sofort verständlich, wenn wir in Erwägung 
ziehen, dass die Dauer des Ablaufs jener beiden Entwicklungs- 
prozesse unendlich verschieden ist, dass den Jahrmillionen der 
stammesgeschichtlichen Evolution Stunden, Tage oder höchstens 
Wochen der ontogenetischen Entwicklung gegenüberstehen. Wenn 
auch die von den Vorfahren eingeschlagene Entwicklungsbahn 
von jedem Nachkommen immer wieder in annähernd gleicher 
Weise gewandelt werden muss, so ist es doch leicht begreiflich, 
dass mit der Zeit dieser Weg — insbesondere in seinen ältesten 
und deshalb am häufigsten zurückgelegten Anfangsstrecken — 
hier und da abgekürzt und verändert wurde. Solche Veränderungen 
ergeben sich auch mit Notwendigkeit daraus, dass während jeder 
neuen Ontogenese neue Originalreize auf den Organismus einwirken 
und ihre einprägenden Wirkungen dem alten mnemischen Bestand 
hinzufügen. 

Was speziell jene Erscheinungen anlangt, die wir als 
„Instinkte** zu bezeichnen gewohnt sind, so haben wir bereits 
darauf hingewiesen, dass wir in den Instinkthandlungen Vorgänge 
zu erblicken haben, die ohne irgendwelche Beteiligung der höheren 
Nervenzentren (Organe für höhere geistige Tätigkeiten) auf rein 
automatische Weise sich vollziehen, und dass bei ihnen die 
Beteiligung des Bewusstseins völlig oder nahezu völlig ausge- 
schlossen ist. Dass bei den Instinkthandlungen, obwohl sie 
durch die Regelmässigkeit und Zweckmässigkeit des Ablaufs ihrer 

3* 



Prozeduren nicht allzuselten den Schein von Vernunfthandlungen 
hervorrufen, Bewusstseinszustände in keiner Weise beteiligt sind 
— hierfür haben die von Fahre mit der Grabwespe (Sphex) 
angestellten Versuche, deren wir oben gedachten, einen unzwei- 
deutigen Beweis geliefert. Dass auch das Nützlichkeitsprinzip, 
wie es die Darwinistische Forschung in Form des Überlebens der 
an die Existenzbedingungen am besten angepassten Individuen 
und Arten proklamiert, bei den Instinkthandlungen der Tiere in 
vielen Fällen nicht zutrifft — zur Begründung dieses Schlusses 
bieten die von J. Romanes, dem Schüler und Freunde Darwins, 
angestellten Untersuchungen reiches Material. Während einerseits 
nicht zu verkennen ist, dass jener Naturtrieb, den man als „Instinkt** 
bezeichnet, die einzelnen Tierarten in ihrem Lebensaufbau in der 
wunderbarsten Weise unterstützt, und sich ihnen in der Regel als 
ein zuveriässiger Ratgeber beim Nahrungserwerbe, bei der Selbst- 
erhaltung und bei der Aufzucht der Nachkommenschaft bewährt, 
fehlt es andererseits doch nicht an Beweisen dafür, dass der 
Instinkt nicht immer und unter allen Umständen mit richtiger' 
Sachkenntnis arbeitet, und dass er oftmals verderblich für die Nach- 
kommenschaft wird, ohne der Art zu nützen. Die Insekten fliegen, 
vom Kerzenschein angelockt, einem sicheren Tode entgegen. Das 
Rindvieh und die Pferde, die man aus einem brennenden Stalle 
zu retten sucht, rennen wieder in die Flammen hinein. Der männ- 
liche Fasan kräht laut, wenn er zur Ruhe geht und verrät sich 
dem Jäger. Die wilde Henne in Indien gackert, wenn sie ein Ei 
gelegt hat, nicht minder laut als ihre gezähmten Artgenossen, 
und so sind die Eingeborenen leicht imstande, ihr das Nest 
auszunehmen. Der amerikanische Strauss zerstreut den grössten 
Teil seiner Eier über das Land, so dass sie unabwendbar zugrunde 
gehen. Der Kukuk legt manchmal zwei Eier in das nämliche 
Nest, was natürtich zur Folge hat, dass nachher einer der beiden 
jungen Vögel hinausgedrängt wird. Auch ist der Wander- 
trieb mancher Tiere höchst mangelhaft ausgebildet. So unter- 
nehmen z. B. Insekten, welche sonst nicht gesellig leben, zeit- 
weilig grosse Wanderzüge und kommen in ungezählten Scharen 
im Meere um. Die nordamerikanischen Bisone wandern, auf 



— 86 - 

ihren Zfigen zu grossen Herden zusammengedrängt, mit solchem 
Ungestüm auf engem Felspfade, dass viele von ihnen in den 
Abgrund stürzen. Auch der norwegische Lemming wird durch 
seinen Instinkt häufig ins Verderben gelockt. Diese kleinen Nage- 
tiere besuchen bestimmte Teile von Norwegen nicht regelmässig, 
können aber mit ziemlicher Sicherheit alle drei bis vier Jahre dort 
erwartet werden. Ihre Wanderung ist stets nach Westen gerichtet; 
sie durchkreuzen Seen, Flüsse und tiefe Schluchten. Sie ziehen ihre 
Familie während der Wanderung gross, und die drei oder vier 
Generationen eines kurzen subarktischen Sommers helfen den Zug 
anschwellen. Sie überwintern die sieben oder acht schwersten Monate 
unter einer mehr als sechs Fuss hohen Schneedecke, nehmen 
mit den ersten warmen Tagen ihre Wanderung wieder auf und ziehen 
unentwegt weiter und immer weiter. Schliesslich stürzt sich der 
abgehetzte Haufen, durch die fortwährenden Angriffe von Wölfen, 
Füchsen, Renntieren, Adlern, Falken, Eulen und Menschen ge- 
schwächt, aber trotzdem noch in ungeheurer Menge in den 
Atlantischen Ozean, wo alle Mitglieder des Zuges, ohne irgend 
welche Ausnahme ertrinken. 

Diese Ereignisse sprechen eine beredte Sprache; sie be- 
weisen, wie bereits bemerkt, dass der Instinkt nicht unter 
allen Umständen dem Gedeihen der Art bezw. Rasse 
dient; sie legen zugleich auch die Vermutung nahe, dass neben 
dem Überleben der am besten angepassten Individuen 
und Arten, das unter allen Umständen der Art bezw. Rasse 
zustatten kommt, an den Instinkthandlungen noch ein 
anderes Prinzip beteiligt sein muss. Diesen weiteren 
ursächlichen Faktor haben wir aber mit grosser Wahr- 
scheinlichkeit in den mnemischen Einprägungen zu 
erblicken, die darauf hinwirken, dass Handlungen, die vielleicht 
in vergangenen Jahrtausenden oder Jahrmillionen unter völlig ver- 
schiedenen Existenzbedingungen für jene Tiere sich als vorteilhaft 
erwiesen haben, auch noch zu einer Zeit fortgesetzt werden, wo 
unter veränderten äusseren Verhältnissen die Festhaltung der 
uralten Erinnerungseinflüsse jene Tiere mit Verderben bedroht, 
in vielen Fällen sogar ihre Vernichtung herbeiführt. 



— Sß - 

Wenn wir im vorhergehenden bemerkten, dass wir bei 
Deutung der Instinl^thandlungen mit dem Darwinistischen Prinzip 
der Zuchtwahl und natürh'chen Auslese nicht auskommen, vielmehr 
zur Erklärung jener Tätigkeiten die Erinnerungseinprägungen 
heranziehen mfissen, so wäre es andererseits doch völlig irrig, 
wenn wir annehmen wollten, dass die mnemischen Einprägungen 
an und für sich schon für das Zustandekommen und die Regu- 
lierung der in der Organismenwelt sich abspielenden Vorgänge 
genügten. Die Einflüsse der Aussenwelt wirken in zwiefacher 
Weise verändernd auf die Organismen ein, nämlich erstens im 
Sinne einer vorübergehenden Einwirkung, zweitens über diese 
hinaus, indem sie mit Hilfe der Erinnerungseinprägungen eine 
dauernde Umbildung herbeiführen. Die auf unserem Planeten 
stets wechselnde, niemals sich genau wiederholende äussere 
energetische Situation wirkt also als Umgestalterin, die Fähigkeit 
der organischen Substanz von jeder Erregung dauernd beeinflusst 
zu werden, bezw. Einprägungen jener Erregungszustände aufzu- 
bewahren wirkt als Erhalterin dieser Umgestaltung in der Flucht der 
Erscheinungen. Wie gross auch die Bedeutung, welche wir jenen 
ursächlichen Momenten zuschreiben, so sind sie dieselben für sich 
allein doch nicht imstande, jenes bemerkenswerte Verhältnis zu 
der umgebenden Aussenwelt herbeizuführen, das man treffend als 
„Anpassung** oder als „Angepasstsein an die Lebensbedingungen** 
bezeichnet hat. Für diese Anpassung lässt sich weder die direkte 
Wirkung der umgestaltenden Aussenwelt, noch auch das rein auf- 
bewahrende mnemische Vermögen der organischen Substanz 
verantwortlich machen. Es bedarf dazu des Hinzutretens eines 
weiteren Prinzips, wie es von Darwin und seinen Nachfolgern 
durch den Nachweis einer logisch notwendigen und tatsächlich 
vorhandenen auslesenden Wirkung der Aussenwelt festgestellt 
wurde — einer Wirkung, die durch unablässige Beseitigung von 
allem weniger gut Angepassten nur dem Passenden die Gelegen- 
heit einer dauernden Erhaltung gibt. Die Selektion ist in der 
Tat nur die Entfernerin alles Existenzunfähigen, demnach ein rein 
negatives Prinzip; aber da sie unausgesetzt an der Arbeit ist, 
dürfen wir uns nicht wundern, überall nur. Existenzfähiges zu 



finden. — Ebensowenig wie in der Zuchtwahl erbUcken wir in 
der Mneme ein allmächtiges Universalprinzip, das uns für sich 
allein schon den Schlüssel zum Verständnis des organischen Ge- 
schehens liefert. Wir erblicken aber in ihr das für die organische 
Entwicklung unumgänglich notwendige erhaltende Prinzip, das die 
Umbildungen bewahrt, welche die Aussenwelt fort und fort schafft 
Nur durch das Zusammenwirken der beiden Prinzipien: 
der erhaltenden und aufbewahrenden mnemischen Ein- 
Prägungen und demSurviving of the fittest (Ausmerzung 
aller auf die Dauer existenzunfähigen Individuen und 
Arten und ausschliessliche Erhaltung der gut angepassten) 
— nur durch die kombinierte Wirkung dieser beiden Fak- 
toren lassen sich die Erscheinungen der organischen 
Welt in völlig zufriedenstellender Weise erklären. 

Zum Schlüsse möchten wir noch einem Einwände begegnen, 
der vielleicht unseren Dariegungen entgegengehalten werden könnte. 
Einem oder dem anderen unserer Leser könnte nämlich der 
Gedanke sich aufdrängen, dass wir bei unseren Erörterungen 
insofern nicht ganz logisch zu Wege gegangen sind, als wir körper- 
liche und geistige Vorgänge von einem und demselben Gesichts- 
punkte aus beurteilen. Auf den ersten Blick hat es nun aller- 
dings den Anschein, als ob in unseren Auseinandersetzungen Dinge 
miteinander verglichen wurden, die nicht vergleichbar sind, als 
ob der rein geistige Zustand, den wir als „Gedächtnis*" bezeichnen, 
und jene Einprägungen in die organische Substanz, die wir als Grund- 
lage der wichtigsten Lebenserscheinungen betrachten, völlig ver- 
schieden geartet und daher nicht vergleichbar seien. Wir legen 
hier den Nachdruck auf die Worte: „es hat den Anschein**; 
denn jene Verschiedenartigkeit ist eben nur eine scheinbare und 
in Wirklichkeit nicht vorhanden. Es gehört nämlich nur geringes 
Nachdenken dazu, um zu dem Schlüsse zu gelangen, dass in allen 
jenen Fällen, wo wir geistig den Eindruck eines Erinnerungs- 
vorganges in uns haben, ganz bestimmte materielle Veränderungen 
in der Substanz der Hirnzellen vor sich gehen, und dass bei den 
auf niedriger Entwicklungsstufe stehenden Organismen die mnemi- 
schen Einprägungen an die Zellsubstanz des Tier-, bezw. Pflanzen 



körpers gebunden sind. Wie jene Veränderungen bezw. Umge- 
staltungen der Substanz der Hirn- bezw. Körperzellen beschaffen 
sind, die wir als Grundlage des Erinnerungsvermögens und der 
mnemischen Einprägungen vorauszusetzen haben — hierüber 
können wir beim gegenwärtigen Stande unseres Wissens ein end- 
gültiges Urteil freilich nicht abgeben; ja, wir müssen es sogar 
als zweifelhaft bezeichnen, ob das eigentliche Wesen der Geistes- 
zustände und seelischen Vorgänge der menschlichen Erkenntnis 
nicht für immer verschlossen bleiben, ob nicht gerade auf diesem 
Forschungsgebiete das bekannte „Ignorabimus** du Bois Reymonds 
sich bewahrheiten wird. Dass aber geistige und körperliche 
Erscheinungen nur scheinbare Gegensätze darstellen, dass das 
Geistesleben des Organismus mit seinem materiellen Substrat 
auf das engste und unzertrennlich verwachsen und verknüpft ist, 
darauf deuten nicht nur unsere vorhergehenden Betrachtungen, 
sondern auch die Ergebnisse aller neueren biologischen Unter- 
suchungen. Wir haben auch bereits darauf hingewiesen, dass 
gewichtige Gründe zugunsten der Annahme sprechen, wonach 
den geistigen Vorgängen bezw. mnemischen Einprägungen be- 
stimmte, in den Hirn- bezw. Körperzellen sich abspielende Molekular- 
bewegungen, bezw. Umlagerungen der Molekeln zugrunde liegen. 
Molekularbewegungen d. i. Bewegungen oder Schwingungen der 
kleinsten Teile der Materie anzunehmen, sind wir genötigt, sobald 
wir den Lichtstrahl durch den Weltenraum verfolgen oder die 
Gesetze der Elektrizität zu ergründen versuchen. Wenn es dem 
Physiker gestattet ist, zur Erklärung des Magnetischwerdens des 
Eisens molekulare Veränderungen bezw. Umlagerungen der Molekeln 
in jenem Metall heranzuziehen, wenn der Chemiker, um für seine 
Lehre von der Zusammensetzung der chemischen Verbindungen 
eine Grundlage zu gewinnen, auf die letzten, unteilbaren Bestand- 
teile der Körper, auf Molekeln und Atome, zurückgreift, so sollte 
es dem Biologen wohl ebenfalls gestattet sein, behufs Erklärung 
jener geheimnis vollen Zustände und Vorgänge des Geisteslebens, 
die wir als „Gedächtnis** und „mnemische Einprägungen** be- 
zeichnen, Molekularbewegungen, bezw. Umlagerung der Molekeln 
zu Hilfe zu nehmen. 



^^^.^ 



ORENZFRAGEN DER LITERATUR UND MEDIZIN 

in Einzeldarstellungen 

herausgegeben von Dr. S. RAHMER, Bertin. 

3. Heft. 



Chr. D. Grabbes Krankheit 



Eine medizinisch-literarische Studie 

von 

Dr. Erich Ebstein, 

Manchen. 

Mit Grabbes Bildnis, Faksimile und Unsedrucktem. 



MÜNCHEN 1906 

ERNST REINHARDT, Verlagsbuchhandluns 

Jigerstrasse 17. 



MEINEM LIEBEN VATER 

ZUM 70. GEBURTSTAGE. 

27. NOVEMBER 1906. 



Inhalt. 



Chr. D. Qrabbes Krankheit: Seite 

I. Vom h'terarisch-psychologischen Standpunkt . . 1^23 

II. Vom medizinischen Standpunkt 24—43 

III. 1. Ungednicktes (Bruchstucke aus Grabbes »Her- 
mannsschlacht" und Briefe) 44—48 

2. Verzeichnis weiterer Literatur 49—50 



Vorwort. 

Die Grabbe-Forschung ist in den letzten Jahren von den ver- 
schiedensten Seiten in Angriff genommen worden. Ich erinnere nur an 
die schöne Ausgabe Eduard Grisebachs*) und die jüngst erschienenen 
Arbeiten von Carl Behrens, O. Krack und A. Ploch; in Bälde 
wird uns Paul Friedrich eine neue Grabbe-Studie bescheren. Mich 
selbst auch hat seit einigen Jahren diese ungemein interessante 
Persönlichkeit beschäftigt, und ich hatte versucht, an der Hand 
von z. T. vergessenen zeitgenössischen Schilderungen als Ergebnis 
meiner Studien einen „Beitrag zur Krankengeschichte" des Dichters 
zu liefern. Dieser in der Zeitschrift für Bücherfreunde — Märzheft 
1906, S. 486 — 496 — abgedruckte Aufsatz, der vorwiegend für 
Literarhistoriker bestimmt ist, bildet mit Zusätzen und Veränderungen 
den ersten Teil dieses Heftes. Der zweite Teil versucht, auf 
Grund weiterer erneuter Ermittelungen und Studien die Frage nach 
Grabbes Krankheit definitiv zu beantworten, soweit das nach den 
uns voriiegenden laienhaften Berichten angängig ist; dieser be- 
sonders für Mediziner bestimmte Abschnitt enthält zugleich einen 
Beitrag zur Geschichte der Tabes dorsalis. 

Zu meiner Freude geben mir die „Grenzfragen der Literatur 
und Medizin'* Gelegenheit, zugleich einer oft an mich gerichteten 
Aufforderung von Freunden nachzukommen, die mir zeigt, dass 
man solchen Fragen der „Pathographie** von selten der Literar- 
historiker sowie Mediziner das verdiente Interesse entgegenbringt. 
Ist diese doch, wie Iwan Bloch vor kurzem bemerkt hat, „durchaus 
geeignet und berufen als ein wichtiges Hilfsmittel der Biographie" 
verwendet zu werden. 

München, 17. Oktober 1906. 

Krankenhaus 1. d. Isar. 

Dr. Erich Ebstein. 



*) Nach dieser, 1902 erschienenen Ausgabe zitiere ich durchweg, als 
der jetzt massgebenden, bemerke aber, dass sie ihre Gundlagen grossenteils 
Oskar Blumenthal und seiner (längst vergriffenen) bahnbrechenden, 
„ersten kritischen Gesamt-Ausgabe** Grabbes (1874/76} verdankt 



I. TEIL. 

Die Krankengeschichten grosser Männer haben jetzt, besonders 
in den letzten zehn Jahren^), vielfach das Interesse sowohl von Ärzten 
als auch von Literarhistorikern erregt Ich brauche hier nur an die 
vier „P^thographien'' von Möbius zu erinnern, die sich mit 
Rousseau, Goethe, Schopenhauer und Nietzsche befassen. Was 
Möbius mit diesen ,»Pathographien* will, das hat er in seiner 
Einleitung zu Band I (1903) auseinandergesetzt und muss da 
nachgelesen werden; sein Standpunkt ist übrigens hinlänglich 
bekannt. Er sagt u. a., früher habe die fable convenue gelautet: 
entweder ist einer gesund oder er ist verrückt. Richtiger aber 
heisse es: «Niemand ist gesund, in jedem von uns ist Gesundes 
mit Krankhaftem gemischt, und je weiter sich einer vom Durch- 
schnitt entfernt, um so mehr entfernt er sich von der Normalität." 

Es kann hier nicht der Ort sein, den Möbiusschen Ausein- 
andersetzungen zu folgen; es mag nur gesagt sein, dass die 
Literarhistoriker keinen Grund haben, darüber zu spotten, „dass 
auch der Gesundeste der Gesunden der ungünstigen psychiatri- 
schen Diagnose verfallen ist'* *) Jedenfalls ist es sehr zu bedauern, 
dass eine grosse Reihe von Lebensbeschreibungen bedeutender 
Männer auf deren körperliche Zustände so wenig Rücksicht nimmt. 
So heisst es z. B. in einer vielgelesenen Goethebiographie : , JMit 
Schönheit, Kraft und Gesundheit reich ausgestattet*' Mit Bezug 
auf die Gicht Goethes bemerkte W. Ebstein („Die Gicht des 
Chemikers J. Berzelius und anderer hervorragender Männer*', 



Aber auch schon früher, vgl. u. a. „Dr. Martin Luthers Kranken- 
geschichte'' von Friedrich Küchenmeister, Leipzig 188L 

*) Ich darf an dieser Stelle wohl auch auf meine im «Janus** 
November 1905, Seite 572—574, veröffentlichte historische Notiz verweisen : 
„Über das Pathologische bei Nietzsche nach Th. Ziegler, P.J. Möbius 
und A. Bilharz'*. 

Qrenzfragen d. Lit. u. Medizin. 3. Heft. 1 



— 2 — 

Stuttgart 1904): „Für die Beurteilung grosser Männer sind 
derartige Dinge keineswegs gleichgültig. Gerade die Gicht ge- 
hört zu den Krankheitszuständen, welche den betreffenden In- 
dividuen einen eigenartigen Stempel aufdrücken und zu ihrem 
Nachteil von nicht Sachkundigen gedeutet und als Charakterfehfer 
aufgefasst werden;'* 

In dieser Art war u. a. die Arbeit von MaxMorris über „Hein- 
rich von Kleists Reise nach Würzburg*' (Berlin 1899), die übrigens 
in Walter Bormann und seinem leider lange übersehenen Auf- 
satze „Neueres über Heinrich von Kleist" (Unsere Zeit, heraus- 
gegeben von R. V. Gottschall, 1886, Heft 4, 549—567) einen Vor- 
gänger hat, mit Freuden zu begrüssen. Ich habe diese beiden 
Studien natürlich nur aus der grossen Menge herausgegriffen; 
denn allein die Literatur über „Medizinisches bei Goethe" usw. 
ist bereits so sehr angewachsen, dass sie sich kaum mehr fiber- 
sehen lässt*). 



Nach diesen einleitenden Bemerkungen möchte ich im fol- 
genden einen kleinen Beitrag zu der Krankengeschichte Christian 
Dietrich Grabbes liefern, die die Literarhistoriker bisher offen- 
bar sehr wenig, die Mediziner merkwürdigerweise aber fast gar 
nicht interessiert hat. Es ist bekannt, dassGrabbe 1836 jung gestorben 
ist — er ist nur 34 Jahre 9 Monate und einen Tag alt geworden. 
Die meisten seiner Biographen haben sein frühes Ende darauf 
zurückgeführt, dass er ein Trinker gewesen, der am Alkohol zu- 
grunde gegangen sei. Ed. Duller lässt Grabbe an der „Magen- 
schwindsucht" sterben, H. Döring an „verbrannten Eingeweiden** 
und K. Ziegler an einer „förmlichen Rückenmarkschwindsucht.** 
Diese Diagnose, so meint Grisebach, der letzte Herausgeber der 
Grabbeschen Werke, stütze sich jedenfalls auf den Ausspruch des 
Grabbe behandelnden Arztes Piderit. 



•) Vor Kurzem hat C. F. van V lauten »Die Leidensjahrc Karl 
Gutzkows** (Liter. Echo 1906, No. 19 u. 20) und „Die Geistesstörung Friedrich 
Hölderlins** [Dementia praecox catatonica] (Die Nation XXIII, No. 40) einer 
medizinischen Analyse unterworfen. 



— 3 — 

Im Jahre 1898 hat der Literarhistoriker, Carl Anton 
Piper, in seinen „Beiträgen zum Studium Grabbes" den Dichter 
als eine psychopathische Erscheinung geschildert, d. h. ihn mit 
der Diagnose „psychopathische Minderwertiglceif'^) belegt, einem 
Ausdruck, den Piper dem ebenso betitelten Buche des Psychiaters 
J. L. A. Koch (Ravensburg 1891) entnommen hat Gustav 
Roethe in Berlin hat über das Pipersche Buch eine beachtens- 
werte Kritik (Deutsche Literarturzeitung 1901, Nr. 4) geschrieben, 
der ich mich völlig anschliesse. So legt z. B. Piper einen besonderen 
Wert auf die „verbluffende Vollzähligkeit*, in der bei Grabbe die 
Symptome der sogenannten psychopathischen Minderwertigkeit auf- 
treten. »Aber was kreidet Piper nicht alles an !* bemerkt Roethe 
mit Recht. „Er wittert Unrat, wenn Grabbe als Knabe leiden- 
schaftiich sich in die Illusionen seines Bohnenspiels vertieft, wenn 
er unreife Pflaumen den reifen vorzieht; dass er die Einsamkeit 
Hebt, ja dass er in keine Burschenschaft eingetreten ist, wird ihm 
verdacht; dass er fast ausschliesslich Dramen geschrieben hat, 
verrät eine psychopathisch gravierende Einseitigkeit Weiter be- 
tont Roethe, dass ihn „weder das Material der Untersuchung, 
das gutenteils in unsicheren und mehrdeutigen biographischen 
Kleinigkeiten besteht*", noch die Methode Pipers befriedige. 

Sehr zu bedauern ist, dass für Grabbes Leben nicht genügend 
sichere und zuverlässige Quellen fliessen. Mit Eduard Grise- 
bachs Vierbändiger Grabbe-Ausgabe sind wir ein Stück weiter ge- 
kommen in der Kenntnis von Grabbes Leben und Werken als 
O. Blumenthal 1874. Besonders Grabbes Briefe und der durch Grise- 
bach wiederhergestellte echte Text der Grabbeschen Dramen sind uns 
neue wertvolle Hilfsmittel geworden. Die Zeiten sind wohl vorüber, 
da W. Scherer (Geschichte der deutschen Literatur. 6. Auflage, 
Beriin 1891, S. 782) „den Ernst nicht begriff, mit dem die Literar- 
historiker und Herausgeber (Gottschall, 2 Bände, Leipzig 1869; 
Blumenthal, 4 Bände, Detmold 1874) den Dichter Grabbe be- 
handelten'*. Sc her er gibt dort zu, ihm müsse wohl das Organ 



*) Besser ,,psychopathische Degeneration" nach Möbius (Schmidts Jahr- 
bficher, Jahrgang 1892, S. 102). 



— 4 - 

fehlen, da er ihn «bloss lächerlich" und nur als eine Art Vor- 
bereitung auf Hebbel interessant finden könne. 

Jedenfalls — und das soll hiermit betont werden — dürfen 
wir, wie bei anderen problematischen Dichtem, so auch bei Orabbe 
nicht aufhören alles das zusammenzubringen, was uns für die 
Kenntnis seines Lebens und seiner ganzen Persönlichkeit Auf- 
klärung verschafft. 

Mir war es sehr interessant, dass ich gelegentlich anderer 
Studien auf einen intimen Kenner von Qrabbes Innenleben hin- 
geleitet wurde, der den Literarhistorikern und besonders den 
Qrabbe- Forschern merkwürdigerweise entgangen zu sein scheint. 

Ich meine Grabbes Verhältnis zu Theodor von Kobbe 
(1798—1845). Wer war Kobbe? «Ein deutscher Humorisf* lautet 
die Antwort Krause (Allgemeine Deutsche Biographie, Band 16, 
S. 344 f.) zählt ihn zu den besseren Humoristen unserer Literatur 
und lobt sein eigenartiges, anregendes und dabei der gutmütigen 
niedersächsischen Derbheit nicht entbehrendes Wesen. Für Kobbes 
volkstümliches Wesen spricht, dass er lange Zeit — selbst von 
seinen Verwandten — für den Verfasser von „SwfnSgels Wett- 
loopen updeBuxtehuder Meid" gehalten werden konnte, einem Büch- 
lein, dessen wirklicher Verfasser, Wilhelm Schröder, sich erst 
nach langen Jahren nannte. 

Adolf Stahr hat seinem Freunde Theodor von Kobbe einen 
„Denkstein" in seinen „Kleinen Schriften" gesetzt; ich muss 
darauf verweisen. Über Qrabbes Verhältnis zu Kobbe findet man 
dort allerdings nichts: ich entnehme meine Mitteilungen aus 
Kobbes „Humoresken aus dem Philisterieben", zweites Bändchen 
(Seite 11—24), Bremen 1841. 

Kobbe verdankte die Bekanntschaft Grabbes Immermann; 
er hatte zwar selbst schon einige Jahre vorher an Grabbe ge- 
schrieben, „beseelt von dem Wunsche, seine Person kennen zu 
lernen." 

Grabbes Antwort, die selbst E. Grisebach entgangen ist^), 

') In Grisebachs Ausgabe fehlen ferner u. a. Grabbes Briefe an F. W. Gu- 
bitz vom 22. Dezember 1827 und vom 7. März 1828; vgl. F. W. Gubitz, 
Erlebnisse. Zweiter Band. (Beriln 1868), S. 268—260. Auf die anderen Aus- 



- 5 - 

lautete wörtlich wie folgt (dieser Brief wäre bei Qrisebach in 
Band IV als Nummer 109a einzureihen): 

Gechrtester HerrI 

Ich danke für Ihren Brief. — Verzeihen Sie meine flüchtige Antwort 
auf Schreibpapier. Ich schreibe sie, während Untersuchung angeblich Dienst- 
untauglicher Militärs, und kann, da meine Stube von ihnen belagert ist. 
Niemand nach Briefpapier aussenden. 

Meine Poesien sind alle flüchtig geschrieben, und nicht so gut als 
Sie wollen. Mein ansprechendstes Werk muss der Barbarossa^ sein. Da- 
mals schien mir die Sonne des Glücks, seit zwei Jahren [1830] aber nichts 
als Geschäfte, Undankbarkeit, ArmbruchO« alle drei Wochen infolge eines 
früheren wüsten Lebens einen mich immer mehr ermattenden Krankheits- 
angrifP), seit 7 Monaten [Juli 1831], wo ich, um ordentlicher zu werden, 
mich häuslich ketten wollte, eine angeblich vor meiner Geistesschwäche 
von hier entwichenen Braut*), an der ich hänge, und wieder eine andere ^^. 
die ich wohl schätze, aber an der ich nicht hänge, sie jedoch an mir, dass 
alles muss anders werden, oder in diesem Jahre [1832] so oder so endigen. 



lassungen überGrabbe in GubiU* „Gesellschafter"' (1827, BI.206; 1829, B1.78; 
18a0, BI. 80; 1836, Bl. 178) kann hier leider nicht eingegangen werden. 
Diesen sowie andere Hinweise verdanke ich der liebenswürdigen Mitteilung 
von Ludwig Fränkel in München, dem ich auch für die gütige Hilfe bei 
der Druckkorrektur meinen herzlichen Dank abstatte. 

*) Gemeint ist „Kaiser Friedrich Barbarossa. Eine Tragödie in 
fünf Akten** [bei Grisebach II, 119-239] : sie wurde am 18. April 1829 im 
Manuskript an den Verleger abgeliefert 

") Am 3. August 1830 schreibt Grabbe an Wo If g. Menzel (IV, 290 f. bei Grise- 
bach): nFolgen eines zerschmetterten Armes, Gicht, Biss eines tollen Hundes, 
der hoffentlich nicht schaden wird, weil Tollheit auf Tollheit wenig wirken 
kann. Blutspeien und Geschäftsdrang lassen mich nicht mehr und besser 

schreiben, als hier geschehen '* Einen Tag später schreibt er an 

Kettembeil (IV, 292): „Ich habe sehr viel zu tun, auch Gicht und Podagra 
dabei."* 

*) Am 16. Januar 1831 an Menzel (Grisebach IV, 801): „Die Gicht 
ist fort, aber Nervenschläge treffen mich doch noch alle vier Wochen 
mit schauderhafter Kraft'' 

Gemeint ist Henriette Meyer, die Grabbe im Frühjahr 1830 im 
Hause des Detmolder Kaufmanns Husemann kennen lernte; im September 
1831 verliess sie plötzlich Detmold und schrieb ihrem Bräutigam (von 
Stolzenau aus) definitiv ab, weil sie sich anderweitig verlobt hatte. 

'"O Am 20. Februar 1832 schreibt Grabbe (IV, 328) : ,JVlittlerweile habe 
ich wieder eine mögliche Brauf*; es war die einzige Tochter des Archiv- 
rats Clostermeier, Luise Christiane (15. August 1791 — 17. Oktober 1848). 
» Am 6. März 1833 wurden Grabbe und „Lucie'' Clostermeier kirchlich 
getraut; Grabbe war 32, seine Frau 42 Jahre alt 



- 6 - 

Die Zeit und ihre Trompeter, die Poeten, haben etwas Krampfhaftes 
an sich. Niemand benutzt ein Talent recht. Bruchstucke von vielen ein- 
zelnen Bruckstucksmenschen sind da, aber keiner, der sie im Drama oder 
Epos zusammenfasst. Wahrscheinlich kommt aber doch einmal der 
Messias, der diesen Jammer im Spiegel der Kunst erklärt. Wie isfs mit 
unseren berühmten Tagesautoren? Haben sie Mut? Haben sie Lebens- 
frische? Kennen sie die Welt? Qeldjuden und feige sind sie 

zum Teil. — Ich kenne einige. 

Werfen Sie sich mir nicht an den Hals. Meine Person würde Sie 
schwerlich ansprechen. Mein bester Freund findet mich entweder wüst 
und wild, oder stumm und langweilig, oder in Qeschäftslaunen, und dabei 
stets nachlässig im Betragen. Meine Blütenstunden sind nicht mehr. Ich 
habe durchgelebt, und lache, obgleich ich keine Feder mehr ansetze, über 
die in meinen frühem Sachen bewiesene schlechte Menschenkenntnis. 

Lebe ich so lange, so reise ich vielleicht nächsten Sommer auf einige 
Tage nach Hamburg. Ich glaube aber, es kommt auch zu dem „vielleicht*' 
nicht"), sonst könnten wir uns da sprechen. 

Ich bin Hochachtungsvoll 

Ew. Hodiwohlgeboren 

Detmold, den 10. Februar 1832 gehorsamer 

Orabbe. 

Persönlich lernte Kobbe den Dichter erst etwa 3Vi Jahre 
spater kennen, also im September ISdS^*)- 

Es sei hier nur daran erinnert, dass Grabbe seit Anfang 
Dezember 1834 in Düsseldorf in regem Verkehr mit Immermann^*) 
lebte. Durch Immermann hatte Grabbe bereits im Januar 1835 
die Bekannschaft der Gräfin Elise Ahlefeldt gemacht, mit der er 
auch später Briefe gewechselt hat 

Kobbe ging nun — und damit folge ich seiner Schilderung 
— „zu Immermann, der, etwa zwanzig Minuten von Düsseldorf, 
vor dem Ratinger Tor lebte. Er bewohnte die untere Etage, 
während die Eigentämerin des geräumigen Landhauses, die Gräfin 
A[hlefeldt], den oberen Stock bezogen hatte, ich hatte die Ehre, 
dieser Dame, von der es mir ungewiss ist, ob ich mehr ihren 



") Es kam auch wirklich nicht dazu. 

'") Diese Datierung ergibt sich sehr einfach aus dem Briefe Grabbes 
an die Gräfin von Ahlefeldt in Düsseldorf vom 25. September 1835 (Grise- 
bach IV, 845). 

'*} Über das Verhältnis Grabbes zu Immermann vgl. Orisebach IV, 
XLIXff. und Adolf Stahr, Kleine Schriften II. Bd., 1872, S. 94ff. (über 
Immermann); in Faksimilie bei Otto Krack, Grabbe, S. 40. 



— 7 -^ 

Geist, ihr Herz, oder die schöne Harmonie beider bewundern 
soll, Immermanns treuester Freundin, vorgestellt zu werden. Sie 
war Holsteinerin, wenigstens dort erzogen, wir hatten durch unsere 
Familienverhältnisse manche Berührungspunkte. Das holsteinische 
Heimweh überkam uns beide, wir plauderten in einem fort, ohne 
Immermann zu berücksichtigen. Als mir dies endlich in den Sinn 
kam, und ich das Gespräch abbrach, mich gegen den Dichter 
entschuldigend, versetzte dieser lächelnd: „Wenn Holsteiner zu- 
sammenkommen, so ist das Gespräch über ihr Land, über ihre 
Heimat ein unsterbliches, wenn aber zufällig das Gespräch auf 
die Rantzaus, Reventlows und Brockdorfs kommt, so ist der Knoten 
gar nicht zu durchhauen.*' 

„Wo der Grabbe wohl bleibt?'* bemerkte Immermann nach 
einer Pause. „Ich hatte ihn eingeladen, er äusserte auch den 
Wunsch, Sie zu kennen, setzte aber hinzu, ohne dafür Gründe 
anzuführen: ,Wenn ich Kobbe kennen lernen soll, so muss dies 
durchaus in Uniform ^^) geschehen.' Sie können sich darauf etwas 
einbilden, denn er trägt seine Uniform, wie andere Leute ihren 
Bratenrock, hauptsächlich bei für ihn festlichen Gelegenheiten^^). 
— Er soll seinen Abschied als Auditeur in Detmold von dem 
gütigen Fürsten") mit den merkwürdigen Worten schriftlich ver- 
langt haben: 

»Ich habe kein Fischblut und bitte um meinen Abschied." 

Immermann liess sich dann noch ein weiteres über ihn aus. 
Erfüllt von seinem hohen Talente, das Grabbe erst kürzlich in 
seinem „Hannibal" ^^) manifestiert, beklagt er dessen Hang zur 



^*) Gemeint ist die Uniform, die Grabbe in seiner Stellung als Au- 
diteur zu tragen pflegte. 

**) Piper (a. a. O. S. 39) sieht in dem Tragen der Auditeuruniform 
das Aufleben von Qrabbes ,,Sucht nach dem Auffallenden". 

**) Damals Leopold Fürst zu Lippe (nach Grisebach IV, XL). 

") Hannibal erschien 1836 In Düsseldorf bei J. H. C. Schreiner. — 
Immermann nahm übrigens den stärksten Anteil an Qrabbes Hannibal: 
vgl. Werner Deetjen, „Zu Grabbes Hannibar* : Sonntagsbeilage zur Vossi- 
schen Zeitung 1902, Nr. 22, S. 176, wo ein bisher ungedruckter Brief Immer- 
manns an Grabbe vom 20. Februar 1835 abgedruckt ist. Daran schliesst 
sich unmittelbar Brief Nr. 162 bei Grisebach [Bd. IV] an. 



- 8 - 

Crapule^^) und zu einer geistig subordinierten Gesellschaft, in der er 
Spott und Scherz nach Herzenslust treiben konnte. „Ich rechne 
nicht auf seinen Dank, obgleich ich wie ein Bruder fär ihn ge- 
sorgt habe. Qrabbe ist gegen Tieck undankbar gewesen und 
wird es auch gegen mich sein**, endete er. 

»Die Tür ging auf — so fährt Kobbe fort zu erzählen — 
nder uniformierte Ex-Auditeur trat herein, einige Bucher in der 
Hand, mich folgendermassen anredend: 

[Qrabbe]: Sind Sie Kobbe? 

[Kobbe] : Der bin ich. 

[Grabbe]: Theodor von Kobbe? 

[Kobbe] : Auch der Vorname ist richtig. 

[Grabbe] : Theodor von Kobbe, der mal an mich geschrie- 
ben hat?^^) 

[Kobbe]: Ja, dem Sie antworteten: „Die Zeit und ihre 
Trompeter, die Poeten, haben etwas krampfhaftes an sich—* 

„Nun schenke ich Ihnen etwas. Hier sind meine letzten 
Werke. Mein Hannibal ist, Gott verdamm* mich, nicht schlecht. 
Die Druckfehler'®) habe ich alle selbst mit der Bleifeder korrigiert* 

Mit diesen Worten überreichte er mir sein ,.Aschenbrödel'''^), 
seinen „Hannibal** und sein „[Das] Theater zu Dusseldorf mit 
Ruckblicken auf die übrige deutsche Schaubühne*'"). 

Es sind falsche Gerüchte'^) über Immermanns Benehmen 
gegen Grabbe in Umlauf gebracht Wer, wie ich, beide Poeten 
zusammengesehen, der wird eher Immermanns Nachsicht gegen 
Grabbe bewundern, als den krähwinkligen deutschen Vorurteilen, 



") crapula (lateinisch) Rausch; la crapule (französisch) Liederlichkeit, 
Völlerei, aber auch: liederliches Gesindel. 

^^) Aus dieser Unterredung ist doch ersichtlich, dass das Gedächtnis 
Qrabbes nicht so sehr gelitten hatte, wie Piper (a. a. O. S. 41) bemerkt. 

'") In der bereits erwähnten bei Schreiner erschienenen Ausgabe 
waren unter den „Berichtigungen** sieben Druckfehler verzeichnet 

") Dramatisches Mährchen von Qrabbe. Düsseldorf bei J. H. C. 
Schreiner. 1885. 

") Düsseldorf bei J. H. C. Schreiner. 18d5. 

") Vgl. A. Ploch, Grabbes Stellung in der deutschen Literatur. Lpz. 
1905. Seite 82. 



- 9 — 

dass der Landgerichtsrat den verabschiedeten Auditeur über die 
Achsel angeschaut habe, — als etwas für einen Immermann Un- 
möglichem den geringsten Qlauben schenken. Für Männer von 
solchen geistigen Rangklassen können Abstufungen in der 
burgeriichen Welt, Maulwurfshugeln vergleichbar, keine scheidende 
Mauer werden. Immermanns Tisch und Bibliothek standen Grabbe 
jederzeit zu Dienste, und er hat gewiss noch mehr mit der linken 
für ihn getan, wovon die rechte nichts weiss. — 

Es hat wohl kaum ein anderer Dichter so ganz entgegen- 
gesetzte Urteile erfahren, wie Grabbe. Während Vischer ihn als 
„Schnapslump** bezeichnet, versetzt Gutzkow ihn unter die „Göt- 
ter" *% Und doch sind beide Männer ohne allen Zweifel vorzüg- 
liche Kritiker, welche eigentlich auf dasselbe Resultat, nicht aber 
auf ein diametralisch entgegengesetztes Urteil'^) kommen mussten. 
Vielleicht rührt dieser Kontrast daher, dass der eine den Poeten 
zu subjektiv, der andere denselben zu objektiv aufgefasst hat. 
Die Poesien Grabbes zeugen von einer seltenen Phantasie, 
von einem gründlichen geschichtlichen Studium und sind in einem 
grossartigen Stile angelegt. Nichtsdestoweniger erfasst alle seine 
Leser, je mehr sie sich in den Dichter vertiefen, ein gewisses 
Missbehagen, ja ein Schmerz um den Sänger selbst, der sich 
bei allen seinen Bekannten auf das peinlichste steigert. Eine 
tiefe edle weibliche Schöpfung ist Grabbe nach meinem geringen 
Ermessen nie gelungen^^). 

Grabbe lebte und starb auf dem Standpunkte der Ironie'Ot 
von wo aus er das Höchste untergehen Hess und sich nur selbst 



**) Gutzkow gab 1838 eine Sammlung von Kritiken unter dem Titel : 
««Götter, Helden, Don Quixote" heraus; die Götter sind Shelley, G. Büchner 
und Grabbe, der auf Seite 51—58 abgehandelt wird. Das Zitat von 
Fr. Th. Vischer konnte mir selbst sein Sohn Prof. R. Vischer in Göttingen, 
dem ich an dieser Stelle bestens danke, nicht nachweisen. 

"} Vgl. den lesenswerten Aufsatz R. M. Meyers über Grabbe in der 
^Nation** vom 7. und 14. Dezember 1901, in dem er demselben Gedanken 
Ausdruck verleiht 

'*) Dasselbe betont O. Blumenthal in : Aus Grabbes Leidensgeschichte, 
S. 11 (Pur alle Wagen- und Menschenklassen. 1875. Leipzig, E. J. Günther). 

") Vgl. R. M. Meyer a. a. O. S. 155 : „Grabbe ist ein Romantiker, bei 
dem die Ironie tödlicher Ernst geworden ist**. 



- 10 - 

genoss. Er vertiefte sich nicht in den Ernst der sittlichen Ob- 
jektivität, und alle Götter, welche auf seinen gewaltigen Ton er- 
schienen, verschwanden auch wieder bei irgend einer verzweifeln- 
den egoistischen Anwandlung auf seinen schrillenden Ruf. Galt 
dies schon von seinen Schriften, so zeigte sich dies noch mehr 
im taglichen Leben. In das interessanteste Gespräch, in die be- 
geisternde Rede warf er oft, selbst in Gegenwart der anständigsten 
Damen, fast wie dazu geprickelt, irgend ein schmutziges Wort, 
über das er dann, wenn es ihm verwiesen wurde, nach einer 
höflichen Entschuldigung, fast wie ein Wahnsinniger, der irgend 
ein Schelmenstfick verübt hat, still zu lächeln pflegte. Der Ge- 
danke, dass alles Höchste leere und eitle Einbildung sei, zer- 
trümmerte ihm die grossen kolossalen Gestalten, die im wunder- 
barsten Kontraste mit der Zerstörung sein grosser poetischer 
Meissel fortwährend schuf. 

Wir wurden jetzt^^) zum Tee gerufen, welcher in einer Laube 
des Gartens serviert wurde, zu welchem sich einige Familien 
Düsseldorfs eingefunden hatten. Was Qrabbe hier sagte, konnte 
meines Erachtens nicht den Anspruch darauf machen, geistreich 
zu sein. Manche Plattheiten wurden ihm von Immermann ver- 
wiesen, worauf er sich, wie oben angegeben, benahm und von 
Immermann sogar durch Drohungen zum Schweigen gebracht 
werden musste.*^) 

„Ohne mich mit einem Heiligenschein umgeben zu wollen* -- 
fährt Kobbe fort, denn ich folge seiner Schilderung getreu — «darf 
ich behaupten, dass ich nie unanständige Reden in Gesellschaften 
von Herren geduldet habe, in Gegenwart von Damen bringen sie 
mich aber vollends zur Verzweiflung. Sie haben mich schon oft 
aus dem Theater gejagt, weil ich bei dem Anblick junger Mädchen 



") Das war also an demselben Tage, an dem Kobbe Grabbe kennen 
lernte: im September 1836. 

^) Der Bericht über dieses Benehmen Grabbes ist ein sehr wertvoller 
Beitrag zu seiner Krankengeschichte. Weder Immermann, Ziegler, Piper 
noch andere haben darüber irgend eine Notiz gebracht — Ich zitiere hier 
nur den bei Grisebach (IV, XXXVIII) abgedruckten Vers Grabbes: 

Wer nicht Zoten reissen kann, 
Ist fürwahr kein Ehrenmann. 



— 11 - 

und anständiger Frauen, welchen man solchen Schmutz zu bieten 
wagt, in ihrer Seele zu sehr erröte. 

Ich mahnte daher Grabbe zum Aufbruch und liess mich 
nicht länger halten. Er nahm mich unter den Arm, oder ich 
vielmehr ihn"®), und wir wanderten der Stadt zu. — 

In des geistreichen und edlen Dullers Notizen über Qrabbe 
zu dessen Hermannsschlacht"^), findet sich der ungeheure Vorwurf 
gegen Qrabbes Mutter, als habe diese Frau schon das vierjährige 
Kind zum Branntweintrinken verfährt und auf diese Weise einen 
langsamen Verwandtenmord begangen, — dadurch bewahrheitet 
und begründet, dass Grabbe dies selbst eingestanden habe. Es 
hat sich bis jetzt kein Verteidiger für die hart angeklagte Mutter 
erhoben""), auch vermag ich nicht den Gegenbeweis für sie zu 
übernehmen. Soviel aber bleibt gewiss, dass Grabbes eigene 
Behauptung keineswegs ein gültiges Zeugnis gibt. In apathischen 
JMomenten zeugte seine Ironie oft Kinder mit dem Lügengeist, 
die in späteren Tagen für ihn unbezweifelte „Münchhausensche 
Wahrheiten" wurden. 

Dahin gehörte auch eine Klage, die er wider mich erhob. 
„O, ich Unglücklicher,** rief er aus, „denken Sie sich, meine Frau 



*^ Bereits gegen Ende 1834 schreibt Immermann (a. a. O. S. 45 f.} 
von Grabbe : „Zuweilen kam er auch zu mir, wenn die verdrossenen Füsse 
ihm den Gang nach meiner entlegenen Wohnung erlauben wollten. Da 
gab es denn den lächerlichsten Anblick. Weil er sich nämlich nie in den 
Weg finden lernte, so musste ihn seine Magd jederzeit zu mir begleiten. 
Auf diese Weise aber langte das Paar in meinem Garten an : Grabbe mit 
ernsthaftem Gesichte hinter der Magd unsicher einherschreitend,dteMagd aber 
ihr errötendes Antlitz halb in der Schürze verborgen, sich schämend, dass sie 
einen so grossen Herrn bei Tage über die Strasse führen müsse. — In derselben 
Zeit (Dezemb. 1834) schreibt Immennann (a. a. O. S. 14) von Grabbe : „Hinterher 
Grabbe an meiner Seite mit hohen und wankenden Schritten das Pflaster 
tretend**, und ebenda S. 15: „Nichts stimmte in diesem Körper zusammen. 
Fein und zart -- Hände und Füsse von solcher Kleinheit, dass sie mir 
wie unentwickelt vorkamen — regte er sich in eckichten, rohen und un- 
geschlachten Bewegungen; die Arme wussten nicht, was die Hände taten, 
Oberkörper und Füsse standen nicht selten im Widerstreite." 

'0 Die Hermannsschlacht. Drama von Grabbe. Grabbes Leben, von 
Eduard Duller. Dusseldorf bei J. H. C Schreiner. 1888. S. 71 

") Heinrich Heine führte in den JViemoiren" die Verteidigung der 
Mutter (S. 103 u. 107 nach Qrisebach IV, LVIII). 



- 12 — 

[entjhält mir mein ganzes Vermögen vor, von dem ich meine 
alte Mutter ernähren muss!" 

Qrabbe sprach dies in einem so wahrhaftigen Tone, dass 
ich anfangs darüber empört, ihm meinen juristischen Rat auf- 
dringen wollte, den er übrigens mit einem : „Es hilft alles nichts*' 
beantwortete. 

Am andern Tage aber erfuhr ich von Immermann, dass dies 
gerade eine fixe Idee Grabbes sei, der an das Vermögen seiner 
Frau überall [= überhaupt] keinen Anspruch habe, sich aber ein- 
bilde, dass es sein Eigentum sei. 

Während dieser Reden hatte ich bemerkt, dass Grabbe sehr 
blass wurde und sich rückwärts zu krümmen anfing. Berauscht 
war er nicht, denn er hatte mehrere Stunden hindurch nur etwa 
ein einziges Glas Wein, mit Wasser vermischt, getrunken. Ich 
fragte ihn, er sei doch nicht der verkappte Teufel, welcher an- 
getan mit den vielen Westen seiner Grossmama, zur Zeit der 
Hundstage in der Sonne erfriert, den er in irgend einer Erzählung'') 

so köstlich geschildert hat. Der Gedanke beschäftigte ihn 

lebhaft, er überliess sich demselben ganz und gar, mir aber seinen 
Körper, den ich mühsam und in Schweiss gebadet, vor das 
Ratinger Tor brachte, wo ich ihn auf einen Stuhl, der vor einer 
Honigkuchenbude stand, sich ganz erschöpft niedersetzen liess. 

Ich konnte ihn aber so, in seiner Uniform, nicht lange in 
conspectu omnium lassen, ich bestellte daher eine Sänfte, da 
diese näher bei zu haben war als ein Wagen. Sehr häufig muss 
nun freilich der Gebrauch einer Portechaise in Düsseldorf nicht 
sein, denn die vergelbten Vorhänge konnten das Zusammen- 
gezogenwerden keineswegs ertragen, sondern fielen bei der Be- 
rührung, wie manche im Schutt von Herculanum und Pompeji 
gefundenen Figuren, zusammen. — Dies hatte die schlimme Folge, 
dass die verwünschte Auditeur-Uniform fortwährend aus dem 
Glaskasten blinkte. — 

Ein Heer von Gassenjungen begleitete die Sänfte. — „Ein 



") Grabbes »Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung.** I. Aufzug, 
zweite Scene [Grisebach a. a. O. I, S. 279 f.] 



— 13 — 

Offizier, der die Cholera *0 belcommen hat'\ hiess es allgemein. 
Der menschliche Muckenschwarm mehrte sich von Minute zu 
Minute. — Da fiel mir die durchlauchtige Prinzessin Medea ein» 
die dem sie verfolgenden Vater die einzelnen Glieder des Bruders 
vorwarf, um den frommen Aetes durch Aufsammlung der Gebeine 
von der richterlichen Nacheile abzuhalten ; ich zog den Geldbeutel 
aus der Tasche und warf von dem steilen Düsseldorfer Wall einen 
Silbergroschen nach dem andern hinab. Nachdem ich so sieb- 
zehn geopfert, gelang es mir, dass der gute Grabbe ohne eine 
sehr auffallende Suite in dem Weinhause'^) anlangte, wohin er 
nach seiner letzten Äusserung, beim Eintritt in die Sanfte, gebracht 
zu werden gewfinscht hatte. 

Grabbe wurde auf das Sofa gelegt, wo er in einen halb 
totenähnlichen Zustand verfiel. Mehrere seiner Bekannten, unter 
denen ich als wohl den vorzüglichsten den ehrenwerten Doktor 
Runkel, späteren Redakteur der Elberfelder Zeitung'*), nenne, 
fanden sich ein. Von der Nachricht seines Todes erschreckt, eilte 
auch der Verieger'^) der noch nicht ausgeführten „Hermanns- 
schlacht"") herbei. 

Ich nahm während der Zeit das mir geschenkte „Aschen- 
brödel'*'^) zur Hand, blätterte darin und teilte dem Doktor Runkel 
einige Stellen mit. 



**) Bekanntlich dehnte sich die Cholera während der Jahre 1826 bis 
1887 ober den grössten Teil der Erde aus; im Jahre 1885 ist sie in Deutsch- 
land allerdings nicht au^etreten — erst 1887 in geringer Verbreitung in 
Mittenwald in Oberbayem und München — , sondern hauptsächlich in 
Nord-Italien (A. Hirsch). — Auf die sogenannten «Cholcraanfälle* (vgLGrise- 
bach IV, 480) Grabbes werde ich im zweiten Teil dieser Arbeit ausführlicher 
zurfickkommen. 

*^ Das in der Rheinstrasse in Düsseldorf gelegene .Weinhaus* hiess 
.Zum Drachenfels" und der Wirt Stange; in der Wirtschaft hing später 
Qrabbes Bild fiber dem Platze, wo er meist gesessen. Vgl. Qrisebach 
IV, LH und Albert Ellmenreich [vgl. Literaturverzeichnis] S. 78. 

**) Dr. Martin Runkel, vgl. E. Duller a. a. O. S. 73. 

^ Der Buchhändler J. H. C. Schreiner; bei ihm erschien 1838 die 
.Hermannsschlacht*. 

'") Am 25. September 1835 schreibt Grabbe der Gräfin Ahlefeldt: .Die 
Hermannsschlacht ist fertig, ich feile nur noch" (vgl Grisebach IV, 420). 

**) Vgl S. 8 Anmerkung 21. 



- 14 — 

Da ich dieses Gedicht ebensowohl wie den Hannibal kannte, 
erlaubte ich mir, den letzteren ein wenig auf Kosten der ersten 
zu loben, wie denn Aschenbrödel eine unendlich viel geringere 
Produktion ist als der Hannibal. 

Jedoch kaum hatte Qrabbe einen Tadel vernommen, als er 
sich ursplötzlich aufrichtete, das Buch mir aus den Händen riss 
und zur Verteidigung seiner Aschenbrödel dieselbe mit lauter 
lippischer Stimme^^) vorzulesen begann. Mein Lächeln darüber, 
dass Qrabbe so wenig seine eignen Poesien vorzulesen verstand, 
schien ihn fast zu erzürnen. Er meinte, es ging mir wie Tieck 
und Immermann» welche ihn um seine schöne Stimme beneideten^O* 
Ich suchte ihn mit dem Geständnis des eignen Unvermögens im 
Vorlesen zu beruhigen. Am andern Morgen war Grabbe ernstlich 
erkrankt. Seinem Wunsche gemäss brachte ich die wenigen Tage 
meines Aufenthalts in Düsseldorf grösstenteils vor seinem Bette 
zu, wohin Immermann, der anderweitig sehr beschäftigt war, und 
den ich nur selten sah, mich einige Male begleitete. Grabbe, der 
während dieser Zeit nichts als Wasser genoss, schien mir um 
vieles besinnlicher als am ersten Tage. Zuweilen drang die Liebe 
in sein Herz, er ward dann weich und nannte seine Be- 
stimmung eine verfehlte; wollte dann auch wohl mit herzlichem 
Händedruck sagen, er sei in meiner Umgebung ein Anderer, ein 



*o\ 



') Vgl. hierzu: F. Dingelstedt, Wanderbuch. Leipzig, 1839 (Eine Mitter- 
nacht in Lippe-Detmold); darin S. 87—94 Bemerkungen über Grabbe. Dingel- 
stedt wollte hier einen Blick tun in die Stellung Grabbes zu seinen 
Landsleuten. Dingelstedts Reisegefährte wollte die Geschichte, dass ihm 
der Auditeur Grabbe einen Militäreid, den er bei ihm zu schwören gehabt hätte, 
in Unterhosen abgenommen habe, selbst erlebt haben. Vgl. diese Erzählung 
bei Dingelstedt mit der bei Ziegler und die Bemerkungen bei Julius Roden- 
berg, Heimaterinnerungen an Franz Dingelstedt u. s. w. Berlin, 1882, S. 92 f. 
^') Vgl. Kobbe a. a. O. S. 11: „Grabbe war dermalen einige Monate 
von Dresden zurückgekehrt, wo er, wie später Tieck mir selbst erzählt hat, 
sich als einen vorzüglichen Schauspieler angekündigt hatte. Tieck war 
freilich nicht wenig erstaunt, als er bei einer Leseprobe den abscheulichsten 
Lipper Dialekt, der sonst in Deutschland und namentlich hier im Norden, 
hauptsächlich von den Ziegelbrennern gehört wird, vernommen hatte. Er 
hatte dann wenigstens von Tieck verlangt, dass er seine starke, kräftige 
Stimme bewundern solle, dieser aber gelächelt, und da er ihn als Akteur 
nicht empfehlen konnte, ihm wenigstens eine andere kleine Stelle verschafft* 



- 15 - 

Besserer, ein Glücklicher geworden. Meine Arbeiten^') versprach 
er durch einen besonderen Aufsatz zu verherrlichen. Erst meine 
Hermannsschlacht beendigen^*), dann will ich eine Kritik Ihrer 
Bucher schreiben^), und dann sterben, so lautete wiederholt seine 
Rede. — Ich bemerkte ihm lächelnd, dass es auf den Mittelsatz 
in dieser Phrase nicht ankomme, dass meine Werke keine Adresse 
an die Unsterblichkeit hätten, dass er viel besser daran tue, an- 
statt solche Allotria zu treiben, sein Bruchstück aus Marius^^) zu 
einem Ganzen zu vollenden, er rief aber nicht ohne Grimasse: 
„Nur noch die Hermannsschlacht^^), dann will, dann muss ich 
sterben. Ich bin unfähig zu ferneren Dichtungen." 

**) Ich nenne nur (vgl. auch Allg. Deutsche Biographie a. a. O.): 
„Die Schweden im Kloster zu Ütersen (1830)'', „Humoristische Skizzen und 
Bilder*' (1881), „Die Leier des Meisters in den Händen des Jüngers" (1826), 
„Reiseskizzen aus Belgien und Frankreich" (1835), „Wesemymphe"(1831)". — 
Um diese Arbeiten dürfte es sich vielleicht hier gehandelt haben. Später 
erschienen u. a.: „Briefe über Helgoland" (1840), „Humoristische Erinnerungen 
aus meinem akademischen Leben in Heidelberg und Kiel" (2 Bändchen, 1840) 
[daraus (S. 13 — 16) veröffentlichte ich in den „Heidelberger Familienblättem" 
vom 18. Juli 1904 eine Notiz: Zu Goethes Aufenthalt in Heidelberg]. 

**) Ende September 1835 war sie fertig; sie wurde aber von Grabbe 
oft umgearbeitet 

^) Sie ist meines Wissens nicht erschienen; jedenfalls kennt sie 
Grisebach nicht Die einzige Stelle, wo Kobbe bei Grabbe erwähnt wird, 
ist der bereits oben zitierte Brief Grabbes an die Gräfin von Ahlefeldt 
(Düsseldorf, den 25. September 1835) [Grisebach IV, 485]. Er lautet: 
Hochgeborene Hochgeehrteste Frau Gräfin! 

Kobbe's Werke, welche anbei zurückeriolgen, will ich recensiren. 
Ich danke für die gütige Mittheilung. Der Kobbe hat mir neulich auf dem 
Rückweg von Derendori [einem Vorort im Norden von Düsseldorf], wo ich 
denn doch nur vor ahem Gram und alten Erinnerungen krank werden 
konnte, indem wir da nur Kaffee getrunken hatten, recht geholfen. Immer- 
mann vermuthet's immer schlimm, und meint, der Wein oder spirituosa 
thäten's. Nein, mein böses spirituosum ist mein eigner Geist 

Die Hermannsschlacht, welche Sie erwähnen, ist gegen Hannibal ein 
Koloss. Sie ist fertig. Ich feile nur noch, sinke wohl auch an ihr nieder, 
wenn sie vollendet ist, — auf ewig. 

*') „Marius und Sulla" erschien im Druck in Band 1 der „Dramatischen 
Dichtungen" von Grabbe. Frankfurt a. M. 1827. 

^*) Im August 1904 habe ich auf der Kgl. Hof- und Staatsbibliothek 
in München zwei Blätter (4 S. 4^ von Grabbes Hand aus der „Hermanns- 
schlachf eingesehen, die Grisebach offenbar unbekannt geblieben sind: 
diese Fassung weicht von der bei Grisebach gegebenen stark ab. Näheres 
siehe hinten im „Anhangt*. 



- 16 - 

Ich sah ihn nicht wieder. Schon im folgenden Jahre [am 
12. September 1836] starb er in Detmold. Ich furchte aber nicht 
durch diese kleine Erzählung, welche ich zur Steuer der Wahr- 
heit niedergeschrieben habe, mich bei unsren Bekannten einer 
Lieblosigkeit gegen einen Mann, der mir so viele Beweise von 
Anhänglichkeit gegeben hat, wie er dies nach seiner Individualität 
nur vermochte, schuldig zu machen. Aber solche kleine Erleb- 
nisse von und mit grossen Männern gehören der Geschichte 
an und sind nicht sorgsam genug aufzusuchen. Hätten wir 
bessere Spezialgeschichten von einigen Ländern, wie viel besser 
würde sich die allgemeine Weltgeschichte dabei stehen'*. 



Damit endigen die Mitteilungen Kobbes über Qrabbe, und ich 
glaube, sie können einen beachtenswerten Beitrag liefern zu seinem 
Leben, seinem Charakter und seiner Krankheit. Es wäre ver- 
messen, wollte ich in dieser kleinen Studie, die es sich nur zur 
Aufgabe macht einen Einblick in Qrabbes Krankengeschichte 
darzubieten, annähernd die Urteile beleuchten, die Grabbe im 
Laufe der Zeiten bis auf unsere Tage erfahren hat. Aber 
erinnern muss ich an Heines massgebendes Urteil über Grabbe , der 
ihm in Berlin nahe getreten ist Und wie fast immer, wenn Heine 
einen Menschen kennen gelernt hat, findet sich bei ihm auch das 
treffendste und geistreichste Wort über diesen ^^). Heine *^) sagt, 
als er von ihm als demjenigen spricht, der die meiste Verwandt- 
schaft mit Shakespeare^^) habe: „Er hat dieselben Plötzlichkeiten, 

*^ Vgl. Leo Berg, Zum hundertsten Geburtstage Christian Grabbes: 
Sonntagsbeilage zur Vossischen Zeitung, 1901. No. 49 und 60. [S. 8851. 
und 394-397]. 

**) Vgl. O. Karpeles, Heinrich Heine. Leipzig 1899, S. 69—80 über 
Grabbe. 

*^) „Grabbesmuse I Shakespeare, zum andermal geboren, wäre noch- 
mal eben nochmal original Shakespeare t Dass der grosse Britte, der 
Stern, nicht Irrh'cht geworden, fehlwandernde Camöne I" S. 348 in : „Hessi- 
sches Album für Literatur und Kunst*', herausgegeben von Franz Dingel- 
stedt (Cassel 1838 ; München, Hof-und StaatsbibliothekX in der interessanten 
Plauderei: „Die Musen. Aus den noch ungedruckten Denkschriften der 
stillen Akademie. Von Ch. E. von Bentzel-Stemau,'* deren Kenntnis ich 
auch Ludwig Fränkel verdanke. 



— 17 — 

dieselben Naturlaute, womit uns Shakespeare erschreckt, er- 
schüttert, entzückt. Aber alle seine Vorzüge sind verdunkelt durch 
eine Geschmacklosigkeit, einen Zynismus und eine Ausgelassen- 
heit, die das Tollste und Abscheulichste überbieten, das je ein 
Gehirn zutage gefördert. Es ist aber nicht Krankheit, etwa Fieber 
oder Blödsinn, was dergleichen hervorbrachte, sondern eine 
geistige Intoxikation des Genies. Wie Plato den Diogenes sehr 
treffend einen wahnsinnigen Sokrates nannte, so könnte man 
unsren Grabbe leider mit doppeltem Rechte einen betrunkenen 
Shakespeare nennen." — „Glauben Sie mir*', sagte einst ein 
naiver westfälischer Landsmann Grabbes zu Heine, „der konnte 
viel vertragen und wäre nicht gestorben, weil er trank, sondern 
er trank, weil er sterben wollte; er starb durch Selbsttrunk.** 
Hierher gehört auch die Antwort, die Immermann ^^) denen gab, 
die Grabbe zuriefen: „Wenn er nur gewollt hätte, er hätte schon 
anders sein können*': „Er konnte gar nicht anders sein, als er 
war, und dafür, dass er so war, hat er genug gelitten." Mit 
einem gewissen Schaudern liest man, wie Immermann ^^) eines 
Morgens in früher Stunde, da Grabbe sich keines Besuches ver- 
sah, auf einem Tisch mehrere grosse Gläser, angefüllt mit den 
stärksten geistigen Getränken fand. Dabei glaubte Grabbe, dass 
er sich dieses furchtbaren Reizmittels bedienen müsse, um dem 
Physischen Spannung zu geben, um es überhaupt nur noch zu- 
sammenzuhalten. Immermann sprach daraufhin mit einem Arzte ^') 
über seinen Zustand und brachte Grabbe endlich dahin, dass er 
wenigstens mit gelinderen Mitteln sich hinhielt. Sein Körper war 
bereits so herabgekommen, dass er gegen alle festen Speisen einen 
unbeweglichen Widerwillen empfand^') und er sich fast nur mit 
Getränk ernähren mochte. Vom Rum ist er also in dieser Zeit 
durch Immermanns Bemühungen abgekommen; als Kobbe den 
Dichter sah, trank er offenbar häufiger Wein mit Wasser unter- 



**) Memorabilien. II. Band. Hamburg 1843. S. 61. 
") Ebenda S. 59 und A. Ellmenreich a. a. O. S. 79. 
'*) Es wird Dr. Ebermaier gewesen sein : vgl. Teil II dieser Arbeit 
^') Vgl. auch K. Ziegler, a. a. O. 187; bis dahin hatte er noch keine 
ärztliche Hilfe aufgesucht 

Qrenzfragcn d. Lit. u. Medizin. 3. Heft. 2 



— 18 — 

mischt; in der letzten Zeit in Detmold scheint er mehr Bier als 
Wein getrunken zu haben. Bereits auf dem Gymnasium soll 
Grabbe stark dem Alkohol gehuldigt haben. Auch während der 
Zeit von 1822 an, als Grabbe sich Gubitz durch Vermittlung von 
Heinrich Heine und Karl Köchy nahte, wurde sein glutdichterischer 
Geist leider fortdauernd vertrauter mit der Trunksucht. Dies Un- 
heil und dessen Einwirken berührt er selbst wie unbewusst in 
brieflichen Andeutungen, z. B. (nicht in der Grisebachschen Aus- 
gabe): „Ich bin Auditeur, Advokat, Dichter, habe in allen drei 
Sachen viel zu tun, lebe aber doch gern wüst und träge; dabei 
die unruhige Natur, die mich keine zwei Stunden schlafen lässt.** 
— „Ich habe gestern den Wagen zerschmettert, die Pferde fast 
zermalmt, und liege heute krank!*' usw. „Ich mag das Jammer- 
bild in seinen Ausschweifungen" — fährt Gubitz*^*) fort — „nicht 
bis zur Vollständigkeit leibhaft schildern, bemerke nur noch, dass 
ich ein paarmal von dem Schreckensanblick und den Folgen 
dieser, den Manneswert selbstmörderisch entwürdigenden Trunk- 
sucht erschüttert worden bin." 

Diese Exzerpte sollen eine Vorstellung davon geben, wie 
sehr Grabbes Leben unter dem Zeichen des Alkohols gestanden 
hat^^). Ich kann hier nicht wieder des längeren auf die Fabel ein- 
gehen, „wie eine rohe dämonische Mutter" das Kind an geistige 
Getränke gewöhnt habe. Ich glaube, H. Marggraff (Allg. Theater- 
Lexikon, Bd. IV, S. 89) hatte nicht Unrecht, wenn er bereits im 
Jahre 1841 betonte: „Grabbe ist ein psychologisches, pathologisches 
und poetisches Phänomen, das meist einseitig entweder vollkommen 
selig oder bis in den tiefsten Abgrund einer wegwerfenden Kritik 
verdammt wird.'* Das war fünf Jahre nach seinem Tode. „Mit 
der Zeit wurde der ganze Grabbe zu einem pathologischen Prä- 
parat zugerichtet, als Warnung für den Nachwuchs;'* so schrieb 
Dingelstedt in seinem „Wanderbuch** vom Jahre 1877 (S. 343). 
Heute ist der dunkle Mythus einigermassen aufgeklärt worden. 

Grabbes Leben spiegelt sich sozusagen auch in seiner per- 



^) a. a. O. 266 f. 

*'} Weitere Belege bei A. Ploch a. a. O. S. 57 und 62 und in Teil II 
dieser Arbeit S. 35 f. 



— 19 — 

sönlichen Erscheinung ab, im Porträt, das, wie Dingelstedt (a. a. 
O. S. 345) bemerkt, „einen wohlgebildeten, eher feinen als starken 
Kopf zeigt, nur die Stirn unverhältnismässig hoch und breit ge- 
wölbt, an Shakespeare und Hebbel erinnert; dazu aber kleine 
gekniffene Augen, scharfe Falten um Mund und Augen, hervor- 
springende Backenknochen und ein kleines, zurücktretendes Kinn ; 
die ganze Physiognomie ohne Energie, unsicher im Ausdruck, 
erschlafft und verwelkt, nicht unter der Hand des Alters, sondern 
infolge langsamer, von innen kommender Auflösung . . .". 

Das beste Porträt Grabbes scheint mir dasjenige zu sein, 
das Grisebach dem ersten Bande seiner vierbändigen Ausgabe 
vorgesetzt hat und das der heute seltenen Zeitschrift „Rheinisches 
Odeon" (Düsseldorf 1838) entnommen ist. Ich habe es deshalb 
auch meinem Büchlein als Titelbild beigegeben. Sein Kopf macht 
darauf einen etwas hydrocephalischen Eindruck. Sein Äusseres hat 
Grabbe in der letzten Szene von „Scherz, Satire, Ironie und tiefere 
Bedeutung" karikiert: „Das ist der vermaledeite Grabbe oder, 
wie man ihn eigentlich nennen sollte, die zwergichte Krabbe, der 
Verfasser dieses Stücks! Er ist so dumm wie ein Kuhfuss, 
schimpft auf alle Schriftsteller und taugt selber nichts, hat ver- 
renkte Beine, schielende Augen und ein fades Affengesicht I" Auf 
der Strasse pflegte Grabbe meist jenes gelangweilte verdriessliche 
Gesicht zu machen; begegnete ihm dann ein Bekannter und 
fragte: „wie gehf s"?, so pflegte er zu antworten : „is sauer" (Ziegler 
a. a. O. S. 70). 

Grabbes Äusseres führt uns auch dazu, einen Blick auf 
seinen Gang zu werfen, immermann schreibt (Memorabilien II, 
S. 14) bei Gelegenheit eines Umzuges, den Immermann mit Grabbe 
zusammen vollzog: „Voran der Karren mit dem Koffer und 
Mantelsack, auf dem der Auditeurdegen, lose angebunden, hin 
und her schwankte; hinterher Grabbe an meiner Seite mit hohen 
und wankenden Schritten das Pflaster tretend." ^^) Grisebach be- 
tont a. a. O. (S. LIX), dass diese in den unteren Extremitäten 
auftretenden Schwächezustande mit der Diagnose der Tabes dor- 
salis durchaus stimmten. Daraufhin allein wird man aber nach 

**) Vgl. oben Anmerkung 30 und Ziegler a. a. O. S. 162. 



— 20 — 

den heutigen modernen Anschauungen diese Diagnose nicht 
stellen dürfen. Aus Immermanns Berichten scheint hervorzu- 
gehen, dass Grabbe einen ataktischen Gang gehabt. Nun haben 
aber nicht nur die Tabiker Ataxie, sondern auch die mit einer 
Polyneuritis alcoholica behafteten Kranken können sehr ausge- 
prägte ataktische Erscheinungen zeigen. Diese alkoholische Poly- 
neuritis kann sogar der wahren Tabes dorsalis, der grauen De- 
generation der Hinterstränge, täuschend ähnlich sein: es kann 
motorische Schwäche in solchem Masse bestehen, dass die Patienten 
nicht einmal mit einem Stock gehen oder stehen können, beim 
Versuche, mit geschlossenen Augen zu stehen, schwanken sie oder 
fallen um, die Muskulatur ist schlaff und atrophisch, die Patellar- 
reflexe sind erloschen, die Pupillen reagieren träge auf Lichtein- 
fall, ausserdem bestehen schwere Sensibilitätsstörungen. Doch 
ergeben dann schliesslich das Fehlen von Blasen- und Mastdarm- 
störungen und nicht zum mindesten die rasche Besserung nach 
Alkoholentziehung, dass es sich nur um eine sogenannte Pseudo- 
tabes alcoholica gehandelt hat. 

Aus dem eben Mitgeteilten geht hervor, dass durch die An- 
nahme einer Polyneuritis alcoholica die Symptome, welche Grabbe 
darbot — soweit dies überhaupt nach der immerhin recht unvoll- 
ständigen und von einem Laien gegebenen Krankheitsgeschichte 
möglich ist — nicht nur in befriedigenderer Weise erklärt werden 
könnten als durch die Annahme einer Tabes dorsalis, sondern 
dass auch die eine Polyneuritis veranlassende Ursache in ausgie- 
bigster Weise vorhanden war. Denn Grabbe trank jede Art von 
Alkohol, die ihm zu Gebote stand, und auch konzentrierte fusel- 
reiche Spirituosen, die erfahrungsgemäss der Entwicklung von 
Neuritiden Vorschub leisten. 

Dass Grabbe während des Verlaufes seiner Krankheit Zittern 
(Ataxie) der Hände hatte, habe ich nirgends erwähnt gefunden. 
Seine Handschrift war bis in seine letzte Lebenszeit (vgl. hinten die 
faksimilierte Beigabe aus Grabbes „Hermannsschlacht", die ich der 
grossen Liebenswürdigkeit des Herrn Theodor Apel verdanke» 
wofür ich ihm auch an dieser Stelle meinen Dank ausspreche) 
fest, klar und deutlich. 



- 21 — 

Übrigens ist mit dieser Neuritis nur eine Seite der Krankheit 
Qrabbes berührt; die andre Seite betrifft die geistige Degeneration, 
die wohl zum grössten Teil ebenfalls auf Alkoholmissbrauch zurück- 
zuführen ist. Wir brauchen uns nur den dritten Typus der De- 
generierten anzusehen, wie er von E. Mendel in seiner Studie 
^.Geisteskrankheiten und Ehe**^^) (Sonderabdruck S. 5) treffend ge- 
schildert wird. Danach gehörte Grabbe zu denen, die „durch ihr 
Auftreten in der Gesellschaft, ihre absonderiichen Gewohnheiten, 
ihre Bizarrerien, ihre eigentümlichen Auffassungen und Ansichten, 
welche nicht selten mit Geschick vorgetragen und verteidigt werden, 
während sie den allgemein akzeptierten diametral entgegenstehen, 
im Volksmund als «Originale' oder als «verrückte Genies' bezeichnet 
werden." 

Wer erblickt in dieser Charakteristik der Degenerierten nicht 
ein getreues Konterfei des unglücklichen Grabbe? Wie sehr Grabbe 
degeneriert war, lässt nachstehende Mitteilung erkennen, die ich 
Herrn Gymnasiallehrer Wilhelm Österhaus in Detmold verdanke. 
Dieser schreibt: „Dass Grabbe sich oft sehr herabwürdigte, ist ein 
bekanntes Ding. Etwas überaus Wideriiches erzählte mir vor Jahr- 
zehnten ein alter Rechtsanwalt in L. — Grabbe war geradezu ein 
Sch[wein]I Mehrere junge Juristen machten wir einen Spazier- 
gang auf dem Detmolder Stadtbruche. Da es dämmerte, liefen 
Mäuse hin und her. Plötzlich wart sich Grabbe auf die Erde, 
haschte wie ein Kater nach den Tieren, erhaschte eins und nahm 
es zwischen die Zähne. Einer rief: «Trägst du es so zur «Stadt 
Frankfurt' hin, gebe ich so und so viel aus.' —Grabbe gab sich 
auch hierzu her.** 

Schliesslich bin ich noch in der Lage, den Konfirmations- 
vers Grabbes mitzuteilen^^); er befindet sich in einem acht 
Druckseiten starken Heftchen, das der Fürstlichen Bibliothek in 
Detmold übergeben worden ist. Es ist datiert vom 26. Mai 1816. 
Grabbes Konfirmationsvers scheint nicht ohne Absicht gewählt 
zu sein und lautet: 



*^ In: Senator und Kaminer, Krankheiten und Ehe. 1904. 
**) Diese Mitteilung verdanke ich gleichfalls Herrn W. österhaus; das 
Büchelchen selbst fand sich im Nachlasse des Herrn Th. Bruno. 



- 22 — 

Erfülle mich mit wahrer Reu, 

Wenn ich dich, Gott, betrübe; 

Gib, dass ich alles Böse scheu 

Und stets das Gute liebe. 

Lass mich doch nicht, Herr, meine Pflicht 

Mit Vorschrift je verletzen, 

Der Seele Heil, mein bester Teil, 

Lass mich mit Würden schätzen. 

Seit ich im September 1904 vorstehende Mitteilungen nieder- 
geschrieben, habe ich eine grosse Menge von Notizen gesammelt, 
die ich auf das mindeste Mass einschränken darf, da uns vor 
kurzem Arthur Ploch in seinem Buche „Grabbes Stellung in 
der deutschen Literatur**, Leipzig 1905 (224 Seiten; der erste Teil 
des Buches erschien unter dem Titel „Grabbe als Mensch und 
Dichter**, als Hallenser Dissertation 1904) mit einer einschlägigen 
Arbeit beschenkt hat, für die wir ihm dankbar sein müssen. 
Ich kann seine Auffassung von Grabbes Persönlichkeit, die der 
Kobbeschen Darstellung entspricht, im ganzen nur teilen. 

Ich habe hier übrigens noch zu erwähnen, dass inzwischen 
W. Deetjen unabhängig von mir in der Sonntagsbeilage der 
„Vossischen Zeitung** vom 13. November 1904 die Kobbeschen 
Mitteilungen gebracht, d. h. nur einfach wiedergegeben hat, ohne 
sie mit kritischen vergleichenden Anmerkungen zu versehen, die 
uns erst ihren Wert klar machen können^*). 

Sowohl Deetjen als Ploch u. a. sind merkwürdigerweise 
die „Erinnerungen an Kari Immermann** Albert Ellmenreichs 
entgangen, die im „Deutschen Wochenblatt*' (herausgegeben von 
H. Rippler und Cari Busse), XII. Jahrgang, Nr. 1 und 2 (vom 
6. und 13. Januar 1899) erschienen sind, und die einige recht 
bemerkenswerte Daten über Grabbe enthalten. Ferner zitiere ich 
hierzu H. H. Ho üben, „Kari Immermann und das Düsseldorfer 
Stadttheater** (Die Rheinlande I, 1901. No. 10); J. Wolter, 
„Immermanns Leitung des Düsseldorfer Stadttheaters** (Jahrbuch 
des Düsseldorfer Geschichtsvereins, XVII, 1902, S. 217—238), und 
die Literarische Beilage des „Staatsanzeigers für Württemberg**, 



'•) E. Ebstein, Erwiderung (an W. Deetjen), im Literar. Echo, Nr. 20 
vom 15. Juli 1906. 



- 28 — 

Stuttgart, Jahrgang 1876, S. 476—478, die eine Charakteristik des 
Dichters (ohne Unterschrift) enthält. 

Arthur Moeller van den Brück hat in seinem vor kurzem 
erschienenen Werke „Verirrte Deutsche'*, S. 95 — 113, ebenfalls 
Qrabbes als des „tragischsten unter allen problematischen Naturen" 
gedacht. Seine Betrachtungsweise hat uns aber über den Dichter 
nichts Neues kennen gelehrt. 

Über die Krankheit Grabbes habe ich inzwischen mannig- 
fache neue interessante Anhaltspunkte auffinden können, die es mit 
einer an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit sicher machen, 
dass Grabbe wirklich an Tabes dorsalis gelitten hat. Nachdem 
ich in diesem Teile nur einige differentialdiagnostische Momente in 
Erwägung gezogen habe, werde ich die weitere Begründung der 
Diagnose und die Symptome der Krankheit ausführlich im zweiten 
Teil zu geben versuchen. 



II. TEIL. 

Eng verknüpft mit dem Kampfe über den Ursprung der 
Syphilis ist die Geschichte der Tabes dorsahs, die allerdings 
bisher gegenüber dem Syphilisproblem recht stiefmütterlich be- 
handelt worden ist. 

Der erste Autor, der der Geschichte dieser Krankheit 
Interesse zugewendet hat, war W. Hörn, der in seiner 1827 in 
Berlin erschienenen Doktordissertation „De tabe dorsuali prae- 
lusio" zugleich die ersten genaueren Beobachtungen mitteilte, die 
als die ersten Bausteine zur Lehre von der Tabes zu betrachten 
sind. Weitere historische Notizen verdanken wir ebenfalls einem 
Berliner Arzt, Dr. Steinthal, der in C. W. Hufelands Journal der 
praktischen Heilkunde, Berlin, 1844 (Juli) S. 7—56 und (August) 
S. 3-84 wertvolle Beiträge „zur Geschichte und Pathologie der 
Tabes dorsalis** geliefert hat. Diese Arbeit hat E. Leyden in 
seiner zu Berlin 1863 erschienenen Monographie über „die graue 
Degeneration der hinteren Rückenmarkstränge" einer interessanten 
Kritik unterzogen. So verdankte Leyden dem Psychiater C. West- 
phal die Kenntnis der Tatsache, dass die von Hippocrates angeb- 
lich gegebene Beschreibung wenig Ähnlichkeit mit dem Krankheits- 
bilde hat, welches späterhin der Tabes dorsalis untergelegt wurde. 
Vielleicht scheint es sich nach Westphal um „einen Zustand von 
Erschöpfung derjenigen zu handeln, welche durch geschlechtliche 
Ausschweifungen, sei es natürlicher Art, sei es durch Onanie, 
heruntergekommen sind'* (S. 3). 

Für Erb (v. Leydens „Deutsche Klinik'*, Bd. 6, S.808. 1905) 
scheint auch die Tabes im Altertum und lange Jahrhunderte 
später nicht existiert zu haben. Es würde sich der Mühe 
lohnen, auf Grund der von Hörn, Steinthal u. a. bei- 
gebrachten Notizen eine ausgiebigere erneute historisch- 



— 26 — 

kritische Revision dieser Frage vorzunehmen. Ohne auf 
diese hier eingehen zu können, möchte ich nur auf die Definition 
der Tabes verweisen, die Stephanus Blancard in seinem 
Lexicon medicum tripertitum (Leipzig 1777, S. 1210) gibt Sie 
gleicht fast noch vollkommen dem von Hippocrates gegebenen 
Krankheitsbild und zeigt fast nicht den geringsten Fortschritt der 
medizinischen Wissenschaft in diesem langen Zeitraum. 

Heute, wo wir annehmen, dass die wesentlichste, fast aus- 
schliessliche Vorbedingung für das Entstehen der Tabes die Syphilis 
ist, und wo wir besonders durch die Untersuchungen von Iwan Bloch 
über den Ursprung der Syphilis, I. (Jena, 1901) annehmen müssen, 
dass die Seuche erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts nach Europa 
verpflanzt wurde, erscheint die Nichtexistenz der Tabes bis zu 
diesem Zeitpunkt recht wahrscheinlich. Dieser Ansicht scheint 
auch Erb zu huldigen; auch die Beantwortung dieser Frage wäre 
einer neuen Untersuchung wert. 

Die folgenden Blätter, die Grabbes Krankheit vom medi- 
zinischen Standpunkt aus beleuchten, sollen uns zugleich die Ge- 
schichte der Tabes dorsalis zu Beginn des 19. Jahrhunderts 
vor Augen führen. In dieser Zeit hatte sie, wie Leyden treffend 
(a. a. O. S. 3) bemerkt, „das Geschick, in Deutschland eine Rolle 
zu spielen. Sie wurde ein fast populärer Begriff, von dem Ärzte 
und Laien sich nicht lossagen konnten, und in welchem Krankheits- 
bilder ohne bestimmten Charakter und ohne ein sicheres patho- 
logisch-anatomisches Substrat verschmolzen wurden." Die klas- 
sischen Beschreibungen von Romberg (1851) u. a. waren noch 
nicht erschienen, die die Ärztewelt mit dieser Krankheit genauer 
bekannt machen sollten. 

Meine folgenden Betrachtungen betreffen also die „Frühzeit'' 
der Kenntnisse über die Tabes und im besonderen die Kranken- 
geschichte Grabbes. Für den Arzt hat es erstens etwas Veriocken- 
des auf Grund der vorhandenen zwar oft spärlichen Literatur eine 
Dtfferentialdiagnose zu stellen ; zweitens ist überhaupt von Interesse 
zu konstatieren, dass es auf Grund von literarischen Mitteilungen 
möglich sein kann heut Diagnosen zu stellen, die seinerzeit zu 
stellen unmöglich waren. 



— 2^ — 

Dass die Pathographie, wie Iwan Bloch (Medizinische 
Klinik 1906, No. 25 und 26) sich ausdrückt, durchaus geeignet 
und berufen ist, als ein wichtiges Hilfsmittel der Biographie und 
der Erforschung des Lebenswerkes unserer Dichter und Denker 
verwertet zu werden, dürfte nicht mehr bestritten werden. Mit 
einem gewissen Befremden liest man, wenn Otto Krack in seiner 
Studie über Qrabbe (Sammlung „Die Dichtung", Band XXV) S. 16 
schreibt: „an Grabbe ist so viel Geheimnisvolles, was keine Wissen- 
schafterklären kann, und es scheint fast, als ob dieses Unerklärliche, 
das sich nicht mit dem blossen Verstände begreifen lässt, gerade 
seine Besonderheit und Wesenheit ausmache". Da muss ich doch 
in dieser Beziehung ausdrücklich betonen, dass die medizinische 
Betrachtungsweise eines Dichterlebens, d. h. das Eingehen auf 
dessen körperlichen Zustand und Krankheit, mehr Licht zu schaffen 
vermag, als mancher vielleicht denken mag. Sind es denn nicht viel 
mehr als Phrasen, wenn Krack weiter schreibt: „Jenes Chaos, 
das sich nicht sagen, nur fühlen lässt. Wer*s nicht fühlt, wird*s 
nicht erjagen. Es ist das Ureigenste, das Göttliche dieses Menschen, 
das er nicht ererbt, nicht überkommen und das er mit keinem 
gemein hat"! Wenn der Literarhistoriker Carl Anton Piper in 
seinen „Beiträgen zum Studium Grabbes" (1898) den Dichter als 
eine psychopathische Erscheinung schildert d. h. ihn mit der Diagnose 
„psychopathische Minderwertigkeit" (besser nach Möbius „Dege- 
neration") im Sinne J. L. A. Kochs belegt, so erklärt diese Betrach- 
tungsweise nur einen Teil von Grabbes Wesen und Krankheit. 

Dass Grabbe von Hause aus geistig degeneriert war, darf nach 
den uns vorliegenden Berichten in den über ihn verfassten Bio- 
graphien nicht wohl zweifelhaft erscheinen. Ich muss hier auf 
die S. 21 im Teil I, gemachten Bemerkungen und auf Mendels 
treffende allgemeine Charakteristik verweisen. 

Dass diese geistige Degeneration bei Grabbe zum grössten 
Teil auf Alkoholmissbrauch zurückzuführen ist, dürfte nicht weniger 
deutlich aus den uns zahlreich vorliegenden Notizen erwiesen sein ; 
niemand wird bezweifeln, dass Grabbe, der jede Art von Alkohol 
trank, als ein chronischer Alkoholist zu bezeichnen ist. Wie wir 
später sehen werden, sind dem Dichter von den ihn behandelnden 



— 27 ~ 

Ärzten des öfteren Vorhaltungen deswegen gemacht worden ; zeit- 
weise scheint er zwar daraufhin abstinent gewesen zu sein, aber es 
war zu spät: er konnte von dem ihm so heb gewordenen Gift 
nicht lassen. So bekennt er offen an Immermann am 4. Jan. 1835 
(Grisebach IV, 369) : „ich kann mich eben so gut irren, als ich 
früher meiner Gesundheit mit Trinken geschadet**; ein andermal 
(17. Februar 1834) rühmte er sich demselben Freunde gegenüber, 
dass er sein Gelübde halte — gemeint ist offenbar das Rumverbot — 
dabei trinkt er doch ein massiges Glas Punsch, nicht mehr den 
schweren Bordeaux (17. Dez. 1834). Den folgenden Tag dankt er 
Immermann, dass er Bier trinkt und nicht den Morgen-Rum. 
Dass Grabbe sich auf diese Weise den Magen durch den allzu 
häufigen Alkoholgenuss ruiniert hatte, berichten seine Biographen 
übereinstimmend, und er selbst schreibt am 13. März 1835, dass er 
„ausser etwas Bier, weder Essen noch weniger ein geistiges Getränk 
(was Sie bei mir leicht vermuthen würden) zu mir nehmen konnte'*. 
Bei dieser Gelegenheit fügt Grabbe hinzu, dass seine Krankheiten 
genau mit seinen Gemütsbewegungen zusammenhängen. 

Alles in allem zeigen schon diese wenigen Notizen, dass 
Grabbe von einem Missbrauch geistiger Getränke nicht wohl frei 
zu sprechen ist. Trotzdem suchte Grisebach den Dichter gegen 
den Vorwurf der Trunksucht zu verteidigen, aber mit Unrecht. 
Wozu? Grisebach behauptet, ein Trinker habe solche Werke 
nicht schreiben können; dass er sie tatsächlich, und zwar unter 
der Wirkung des Alkohols, geschrieben hat, genügt ! Schreibt Grabbe 
doch selbst vom „Hannibal**, dass er „unter Wein und Tee mit 
Rum geschrieben** wurde (IV, 398)***). Selbst der Literarhistoriker 
J. Minor musste gegen Grisebach einwenden (Deutsche Literatur- 
Zeitung, 1903, Nr. 30, S. 1840—1846): „Wer aber morgens anstatt 
seines Kaffees Rum trinkt, der macht sich doch recht verdächtig ; 
und ein Trinker ist nicht der, der enorme Quantitäten verträgt, 
sondern jeder, der mehr trinkt, als er verträgt.** Besser ist die 
Kraepelin*sche Definition des Trinkers, die besagt, dass Trinker 



^ Vgl. dazu jetzt eben die Ergebnisse von C. F. van VIeutens Umfrage 
«Dichterische Arbeit und Alkohol** betreffend, im Literar. Echo vom 15. Okt. 
1906, S. 82->146 ; S. 146 setzt er das Urteil über Grabbe aus. 



— 28 — 

jeder ist, bei dem eine Dauerwirkung des Alkohols nachzuweisen 
ist, bei dem also die Nachwirkung einer Alkoholgabe noch nicht 
verschwunden ist, wenn die nächste einsetzt; oder, wie G. Hirth 
sich ausdruckt („Wege zur Liebe'' [Kleine Schriften Bd. III], 1906, 
S. 449) : „Trinker ist jeder, der seinem Organismus nicht die 
Zeit zur Entlastung von den einzelnen alkoholischen An- 
griffen gönnt, der also permanent unter der Einwirkung des 
Giftes steht.'* So stand es auch bei Grabbe; und was bezweckt 
Grisebach schliesslich, wenn er den Dichter zu einem Philister 
und Spiessbürger stempelt? 

Wir kommen nun zu dem Punkte, der die Erklärung gibt, 
auf welcher aitiologischen Basis sich bei Grabbe die Tabes dorsalis 
entwickeln konnte: ich meine die geschlechtliche Infektion 
Grabbes als Student. 

Bekanntlich bezog der Dichter Ostern 1822 die Universität 
Berlin, mit dem fast vollendeten „Gothland" (Grisebach, Band IV, 
S. VIII). Der Literarhistoriker O. Waltzel (Herrigs Archiv, 11 2. Band, 
S. 177) hat sich gelegentlich der Kritik über Grisebachs Grabbe* 
Ausgabe die Frage vorgelegt, ob im „Herzog von Gothland" 
„Erlebtes von unerquicklichster Gemeinheit" oder künstliche Über- 
reizung einer unkeuschen Phantasie zum Worte komme. Ich habe 
von jeher, wie offenbar auch Grisebach (a. a. O. S. VIII) und Ploch 
(Grabbes Stellung in der deutschen Literatur, 1905, S. 19), an- 
genommen, dass Grabbe in diesem Jugendwerk ungeniert seine 
Bordellerlebnisse (offenbar aus Leipzig und Berlin) zur Darstellung 
brachte (vgl. Scherz, Satire, Ironie usw. II, 2.) Es ist bekannt, 
dass zu dieser Zeit in Berlin das Bordellunwesen üppig florierte. 

Besonders die Worte Gothlands (IV, 1) 

„Du liebst? 
Da sieh dich vor, dass 
Du nicht venerisch wirst!" 
hätte der Vater Grabbe seinem Sohne zurufen sollen. Aber es 
war zu spät. 

Als ich Ed. Grisebach am 3. November 1904 schrieb, dass ich 
über Grabbes Krankheit arbeite, antwortete er mir gleich am 
folgenden Tage: „Auf Ihre Studie über Grabbes Krankenge- 



~ 29 — 

schichte freue ich mich; ohne sich auf mich als Quelle zu 
berufen, erwägen Sie doch ja dabei, dass der junge Grabbe in 
Berlin die Syphilis durchgemacht hat, wie ich vom alten Köchy^O^ 
also ganz authentisch, weiss. Die Möbiussche Abhandlung über 
Nietzsches Syphilis^') hat mich u. a. auch deshalb besonders 
interessiert". 

Ich trage indes kein Bedenken, diese von Grisebach mitgeteilte 
wichtige Notiz nach dessen Ableben zu veröffentlichen, nachdem 
Iwan Bloch vor kurzem, gleichfalls durch Grisebach aufmerksam 
gemacht, über Schopenhauers gleiche Erkrankung berichtet hat. 

Die venerische Infektion Grabbes dürfte in Leipzig erfolgt 
sein, und zwar in dem Zeitraum von Ostern 1820 bis ebendahin 
1822, in welchem er als Student bereits eifrig am „Gothland" 
schrieb. In Berlin erst mag er sich vielleicht zur Behandlung der 
Krankheit in die ärztliche Kur begeben haben. 

Erinnern wir uns daran, dass, als Grabbe in Berlin Student 
war, gerade kurz vorher durch Joh. Nep. Rust, der damals von 
Wien nach Berlin kam und bald grossen Einfluss in der Metropole 
an der Spree gewann ^'), die Schmierkur besonders gegen Syphilis 
zur allgemeinen Anerkennung gelangte, ja, nach Rusts eigenen 
Worten, bis zum Missbrauch. Wie F. A. Simon (Geschichte und 
Schicksale der Inunctionskur u. s. w., Hamburg 1860, S. 184 und 
294 ff.) hervorhebt, wurde die lange vergessene, verachtete, ver- 
abscheute Inunctionskur „plötzlich die Lieblingsheilmethode** vieler 
Ärzte ^). 

Diese Tatsache verdient hier umsomehr betont zu werden, 
als wir dann wieder etwa zwanzig Jahre lang, bis in die 40er 



") Geb. 1800, t Mai 1880 in Leipzig. (Vgl. Allg. Deutsche Biographie, 
Bd. 16, 414: Intimus des jungen Grabbe.) 

**) Vgl. dazu auch : E. Ebstein, Über das Pathologische bei Nietzsche i 
Zeitschrift „Janus**, November 1905. 

*') In meinem Besitze befindet sich ein sehr schöner Kupferstich von 
Rust, den Fr. Bolt 1822 nach dem Gemälde von Tangermann gestochen 
hat Das betreffende Blatt ist „dem hochverehrten Lehrer gewidmet von 
seinen dankbaren Zuhörern in den Jahren 1821 und 1822**. 

•*) Vgl. auch G. F. L Stromeyer, Erinnerungen. Band I, Hannover 
1875. S. 184 f. 



- 30 - 

Jahre des 19. Jahrhunderts, nur noch wenig oder fast gar nichts 
von der Schmiericur hören. Es gab in der Tat zwischen 1825 
und 1845 eine Zeit, wo man selbst, wie Simon (S. 296) erzahlt, 
als Giftmischer und Mörder verschrieen wurde, wenn man Queck- 
silber bei der Syphilis gebrauchte, und wo die Patienten es ge- 
wöhnh'ch zur Bedingung machten, ihnen ja kein Quecksilber zu 
geben; es war die Zeit, wo das Zittmannsche Decoct, wie 
auch zu Ende des 18. Jahrhunderts®^), in Blüte stand, bis das 
Jodkali ihm den Rang streitig machte. 

Dass Grabbe in dem Briefe an Kettembeil vom 1. Sept. 1827 
(IV, 233 f.) mit dem Passus: „Du charakterisierst unsere Berliner 
Periode sehr gut, indem du sie als Periode der Pomade an- 
deutest*', an seine vor wenigen Jahren vorgenommene Schmierkur 
erinnert, scheint mir höchst wahrscheinlich. Dann schreibt Grabbe 
in demselben Briefe weiter : „Mit meinen Medizingläsern habe ich 
die Leipziger Madame Georgi auf ähnliche Art erfreut*'. Und weiter 
berichtet Grabbe am 2. Dez. 1827 (a. a. O. IV, 241) an Kettembeil 
über sich selbst: „Sohn ziemlich geringer Eltern . . . , mitten in 
Gefängnisszenen als Kind erwachsen, sodann selbständig und ohne 
Kontrolle, seither bloss Wissenschaft liebend, besonders Diplo- 
matik und zu diesem Fache bestimmt, — dann — dann in 
innere und äussere Abgründe, die ich stets bestmöglich verstecken 
musste und muss, — ... Leipzig, Berlin . . . braue daraus pp., 
was Du magst." 

Die Krankheit, die Grabbe möglichst verheimlichen musste, 
dürfte gewiss nichts anderes als eine geschlechtliche Infektion ge- 
wesen sein, und zwar eine syphilitische, wie wir nun durch Köchy- 
Grisebach „authentisch** wissen. 

Dieses von Grabbes Freund überlieferte Zeugnis würde auch 
dann keine absolute Sicherheit für eine luetische Erkrankung 
bieten, wenn Grabbes Arzt selbst der Gewährsmann gewesen wäre. 

Wir müssen dann immer noch mit der Möglichkeit rechnen, 
dass es sich bei der damals herrschenden Identitätslehre (vgl. 



*^) Vgl. E. Ebstein, Zur Geschichte der Venerischen Krankheiten 
in Gottingen: Zeitschr. „Janas". April 1905, S. 178-196. 



- 31 - 

Iwan Bloch, Geschichte der Hautkrankheiten, bei Neuburger-Pagel, 
Bd. ill, 1904, S. 452) um ein anderes Qenitalleiden bei Grabbe 
gehandelt haben könnte. Aller Wahrscheinlichkeit nach dürfte 
aber die Diagnose einer syphilitischen Erkrankung doch zu Recht 
bestehen. Wenn wir auch nichts anderes wüssten als die Be- 
schreibung der Krankheitssymptome, die — wie wir noch sehen 
werden — auf eine Tabes dorsalis hinweisen, so müssten wir die 
Syphilis als aitiologisches Moment ohnehin fast voraussetzen. 

Die syphilitische Erkrankung vorausgesetzt, besitzen wir, 
ausser der geistigen Degeneration und dem chronischen Alkoho- 
lismus, das hauptsächlichste aetiologische Moment ^^) für das Zu- 
standekommen von Grabbes Krankheit: Tabes dorsalis. 

Die Diagnosenstellung der Tabes hat sich in den letzten 50 
Jahren etwas verschoben. Steinthal (a. a. O.) betonte 1844 unter den 
wesentlichen Symptomen der Tabes: 1. die lähmungsartige 
Schwäche und vollständige Lähmung der Extremitäten, zumal der 
unteren (eigentümlicher Gang, unsicher, schwankend u. s. w.), 
2. lähmungsartige Schwäche und vollständige Lähmung der Harn- 
blase, 3. Gefühl von Zusammenschnüren des Leibes, 4. Amblyopia 
amaurotica, 5. Unbefangenheit, Sorglosigkeit, fast Heiterkeit des 
Gemüts. Friedrich Schnitze in Bonn hat vor kurzem (Deutsche 
mediz. Wochenschrift vom 24. November 1904, S. 1747 ff.) eine 
lesenswerte Arbeit über Diagnose und Behandlung der Frühstadien 
der Tabes geschrieben ; darin betont er, dass die Prüfung auf das 
Rombergsche Symptom (seit 1851 bekannt) „geradezu unnötig 
geworden*' sei ; als Hauptsymptome erkennt er an: lancinirende 
Schmerzen (oft Rheumatismus genannt), Lichtstarre der Pu- 
pillen, Fehlen der Patellarreflexe. Hypästhesien, Hyperä- 
sthesien und Parästhesien, sowie ausgebreitete oder umschriebene 
Hypalgesien seien für die Feststellung einer beginnenden Tabes 
viel wichtiger und entscheidend. 

Aber die meisten dieser Symptome, fährt Seh ultze fort, führen 
den Kranken nicht zum Arzte. Erst wenn etwa die neuralgischen 



**) Vgl. u. a. Robert Bing, Die Pathogenese der Tabes: Medizinische 
Klinik 1906, No. 49 und 50. 



- 32 - 

Schmerzen hartnäckiger werden, oder wenn gewisse weitere Symp- 
tome, oft scheinbar ganz fernh'egender Art, den Kranken zu quälen 
beginnen, wird der Arzt aufgesucht. Von diesen Symptomen 
wurden die sog. gastrischen Krisen sowohl heute als auch 
damals, wo sie noch nicht als Tabessymptom zu diagnostizieren 
waren, verkannt. Bekanntlich machen sich diese „Crises gastriques" 
oft zeitiich zuerst bemerkbar und können wohl auch das allererste 
Symptom der Tabes darstellen. 

So offenbar auch bei Grabbe. Wenn Grabbe am 10. No- 
vember 1830 an Kettembeil (Grisebach IV, 298) schreibt: „Meine 
tolle Lebensart und das ewige Sitzen bei dem Ungetüm von 
Napoleon hatte mir Blutbrechen zugetragen, und vorigen Donners- 
tag hing mein Leben von Vi Stunde mehr oder weniger Apo- 
thekergeschwindigkeit ab. Vide an einl. Etiquetten^^), dass ich 
nicht luge. Jetzt wieder besser, bei meiner zähen Natur, aber 
der hiesige Hofrat [gemeint ist der Arzt Dr. Piderit in Detmold] 
hält mich im Zügel der Diät, weil er sagt, ich verdiente es, diät 
zu seyn." 

Es kann wohl keinem Zweifel unterliegen, dass diese Brief- 
stelle die erste Andeutung ^^) enthält von den Grabbe heimsuchen- 
den Magenkrisen, wie sie mitCharcots klassischer Beschreibung 
in die Pathologie der Tabes eingeführt sind. Nach Erbs neuester 
Darstellung (v. Leydens „Deutsche Klinik". Bd. 6, 1, 1905) ge- 
hört neben dem unstillbaren Erbrechen, erst von Speisen, dann 
von Schleim und Magensaft, das Blutbrechen dabei zu den sel- 
teneren Vorkommnissen^*). 

Soviel lässt sich aber mit Sicherheit aus den beiden Brief- 
stellen entnehmen, dass weder Grabbe selbst, noch der ihn damals 
behandelnde Hofrat Piderit den Grund des Leidens d. h. den 
Zusammenhang der Krisen mit der Tabes erkannte. Dass Piderit 
Grabbes „Magenkrisen" als eine infolge zu reichlichen Alkohol- 



^^) Die Rezepte haben sich nicht erhalten. 
*') Bereits am 3. August 1830 spricht Grabbe von Blutspeien. 
**) Vgl. auch Alfred Neumann, Haematemesis bei organischen Nerven- 
erkrankungen (Tabes) in : Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde. 29. Bd. 



(1905) S. 398-412. 



- as - 

genusses entstandene Magenaffektion auffasste, geht u. a. auch 
aus der brieflichen Mitteilung hervor, die ich durch gütige Ver- 
mittelung des Herrn Gymnasiallehrers Oesterhaus Herrn Professor 
Winkelsesser in Detmold verdanke, der mit einer Enkelin Piderits 
verheiratet ist. Danach hat Piderit später erzählt, wie er Qrabbe 
seines spirituellen Lebenswandels wegen Vorhaltungen gemacht 
und auf ein vorzeitiges Ende hingewiesen habe, wenn er seine 
alkoholistischen Neigungen nicht liesse. 

In der Tat gehören die Magenkrisen zu den allerschwersten 
Symptomen der Tabes. Von neuem befiel (nach Duller a. a. O. 
S.51) den Dichter im August 1834 eine gefährliche Magenkrankheit. 
Wir werden nicht fehlgehen, wenn wir auch diese Erkrankung als 
eine erneute Attake von tabischen Magenkrisen auffassen. Wie D u 1 1 e r 
weiter betont, brachte diese Erkrankung eine gänzliche Verände- 
rung seines Äusseren herbei, wohl besonders hervorgerufen durch 
rapide Abmagerung, welche sich mit solchen Krisen zu verge- 
sellschaften pflegt Derart abgemagert sehen wir Grabbe auf 
dem im „Rheinischen Odeon" von 1838 erschienenen Brustbild, das 
nach der Natur von Ludwig Heine gezeichnet ist (vgl. Grisebach 
S.LI); Duller nennt das Grabbe-Porträt treu d. h. ähnlich (vgl. 
Ploch S. 11), und ich habe schon früher betont, dass es das 
beste Bild ist, das wir von dem Dichter haben (vgl. das Titelbild 
zu dieser Arbeit). 

Wenn Grabbe im Juli 1835 (Grisebach IV. 480) aus 
Düsseldorf schreibt, dass ihm der Hof rat und Leibarzt Piderit seine 
Choleraanfälle vertrieben habe » so dürfen wir dieser Angabe mit 
gewissen Zweifeln begegnen, da die Cholera damals in Deutsch- 
land verbreitet war und alle Gemüter beherrschte^®) und infolge- 
dessen vielfach Erkrankungen von selten des Magens und Darms 
jedenfalls oft als Cholerasymptome gedeutet wurden. Dafür 
spricht auch der Anfall, der Grabbe im September desselben 
Jahres in Derendorf bei Düsseldorf befiel, als er mit Immermann 
und Theodor von Kobbe zusammen war ; letzterer beschreibt, wie 



^^ Grisebach IV, 390 spricht Grabbe von einem »Haufen Berliner 
Choleraarzte.'' 

Qrenzfragen d. Lit u. Medizin. 3. Heft. 3 



— 34 — 

wir bereits oben (S. 12f.) gesehen haben, den Anfall genau. „Ein 
Offizier, der die Cholera bekommen hat*\ hiess es allgemein. Also 
die Bevölkerung stellte ohne viel Überlegen die Diagnose. Grabbe, 
in ein Weinhaus gebracht» wurde auf ein Sofa gelegt, wo er in 
einen totenähnlichen Schlaf verfiel. Am anderen Morgen war 
Qrabbe ernstlich erkrankt und musste zu Bett liegen. Soweit Kobbe. 

Wir dürfen wohl heute — so unvollständig und ungenügend 
die gegebenen Symptome auch sind — vermuten, dass es sich 
bei den den Tabiker Grabbe öfters heimsuchenden Cholera- 
anfällen vielleicht um tabische viscerale Krisen des Magens oder 
Darms gehandelt hat, die, wie wir hervorhoben, allerdings damals 
noch nicht als zum Bilde der Tabes gehörig gedeutet werden 
konnten, da sie, zwar schon 1858 und 1866 erwähnt werden, 
aber erst 1868 durch Charcots klassische Beschreibung in die 
Pathologie der Tabes eingeführt worden sind. Bei den eigent- 
lichen Darmkrisen handelt es sich um plötzlich eintretende Anfälle 
von Durchfällen ohne sonstige nachweisbare Ursache, meist 
ohne gleichzeitige Schmerzen. Dass derartige Attaken Grabbe 
herunterbringen und den Krankheitsverlauf verschlimmem mussten, 
ist einleuchtend. 

V. Malais^ räumt in einer lehrreichen Arbeit (Die Prog- 
nose der Tabes dorsalis. 1906. S. 34) dem Alkoholmissbrauch 
die erste Stelle ein betreffs Verschlechterung der Prognose. Ma- 
laise betont, dass von den Kranken der Alkohol als Palliativ- 
mittel noch energischer als sonst in Anwendung gebracht zu 
werden pflegt. In den ungunstig veriaufenden Fällen fanden sich 
Angaben über Schnapspotus äusserst häufig; demgegenüber hatten 
eine Anzahl günstiger Fälle in ihr Regime auch eine Meidung des 
Alkohols, zum mindesten in grösseren Dosen, aufgenommen. 
Dass Grabbe zeitweise den Alkohol meiden wollte, haben wir 
vorher gesehen. Aber bei Grabbe blieb es bei dem Wollen. Sein 
ganzes Leben ist er dem Alkohol treu geblieben. Ellmenreich ^0 
erzählt (a. a. O. S. 87 f.) aus dieser Zeit, wie Grabbe stundenlang 
bei einem Glase Wein sass, der seiner durch Spirituosen bereits 

") Albert Ellmenreich, geb. 1816, Musiker, Schauspieler, Bühnen- 
dichter, kam 1834 zu Immermann nach Düsseldorf, lebt noch in Lübeck. 



- 85 — 

abgestumpften Zunge nicht mehr genfigte, — seltener l)ei einem 
Gläschen Grog, der ihn schon eher animierte. „Eigentlich trinken, 
etwa gar sich betrinken, sah man ihn in der Kneipe nie. Freilich 
konnte er damals auch schon nicht viel vertragen. Sein Körper 
war schon zu sehr zerstört durch den Alkoholgenuss, dem er 
heimlich fleissig fröhnte. Fast punktlich zu bestimmter Abend- 
stunde — meist schon um 11 Uhr — erhob er sich und liess 
sich von dem ihm erwartenden Burschen nach Hause geleiten in 
seine «Spelunke* " (Grabbes eigene Bezeichnung). 

Hermann Marggraff (Bücher und Menschen. Bunzlau 1837. 
S. 215) meinte, „man hätte ein Bulletin über seinen Seelen- und 
Körperstand ausgeben können und würde ihn Tag für Tag kränker 
gefunden haben. Er sah das Grab, in das er hineintaumelte, 
aber er fürchtete den Tod nicht, er trank, er taumelte ihm zu 
und wenn das Spirituose in ihm verdunstete, griff er zu seinen 
gefähriichen Anregungsmitteln ; er ersetzte, was inneriich abdampfte, 
durch äussere Zuflüsse, die ihn allmählich aufrieben." 

Diese Notizen sollen in erster Reihe zeigen, wie sehr 
Grabbes Leben unter dem Zeichen des Alkohols gestanden hat, 
wie ich auch schon oben betont habe. Dann machen sie es uns 
verständlich, wie verderblich ein derartiger Alkoholmissbrauch auf 
den Veriauf der Tabes dorsalis bei Grabbe einwirken musste. 

Unter den bei Grabbes Tabes auftretenden Symptomen habe 
ich nach Abhandlung der Krisen der sog. lancinierenden 
Schmerzen zu gedenken, die ihn des öfteren heimsuchten und 
von den Ärzten und von ihm selbst als Gicht und Podagra ge- 
deutet wurden. So schreibt er u. a. am 14. Juli 1830: „Obgleich 
ich viel arbeite, leide ich an Händen und Füssen schnöde an 
der Gichr* und am 15. Jan. 1831 : „Die Gicht ist fort, aber Nerven- 
schläge treffen mich doch noch alle 4 Wochen mit schauderhafter 
Kraft.'* Noch am 10. Mai 1836 nannte er sich einen „Podagristen'*, 
der sich nach Hause führen lassen müsse (Grisebach IV, 127). 

Dass Grabbe einen ataktischen Gang gehabt hat, scheint 
aus Immermanns Berichten hervorzugehen. Schreibt dieser doch 
{Memorabilien Bd. VI, S. 14) bei Gelegenheit eines Umzuges, 
den Immermann mit Grabbe zusammen vollzog: .Voran der 

3» 



— S6 — 

Karren mit dem Koffer und Mantelsack, auf dem der Auditeur- 
degen, lose angebunden, hin und herschwankte ; hinterher Grabbe 
an meiner Seite mit hohen und wankenden Schritten das 
Pflaster tretend*'. Ebenda heisstes Seite 45 weiter: „Zuweilen 
aber kam er auch zu mir, wenn die verdrossenen Füsse ihm den 
Gang nach meiner entlegenen Wohnung erlauben wollten. Da 
gab es dann den lächerlichsten Anblick. Weil er sich nämlich 
nie in den Weg finden lernte, so musste ihn eine Magd jederzeit 
zu mir begleiten. Auf diese Weise aber langte das Paar in 
meinem Garten an: Grabbe mit ernsthaftem Gesichte hinter der 
Magd unsicher einherschreitend." Ziegler (a. a. O., S. 162) 
schreibt: „In seinem ganzen Körper war kein Halt, er wankte so, 
dass man fast befurchten musste, er möchte umfallen; nur lang- 
sam bewegte er sich fort, nach seiner Weise, wo er die Spitzen 
der Füsse wie zufühlend voraussetzte, was übrigens nicht von 
einer Schusswunde im Duell gekommen war, wie mehrere Auf- 
sätze gemeldet haben, ... — Gott, wie betrübt! Nein so traurig 
hätt* ich mir*s nicht vorgestellt! sagte man. Der lebt keinen 
Monat mehr, es ist aus mit ihm. Übrigens ist es nur gut, er 
sehnt sich gewiss auch selbst nach dem Tode. Er hat offenbar 
die Schwindsucht. Der verfluchte Rum! — • . . . Sieh er fällt 
vor Mattigkeit. — No — no; es geht noch einmal." 

Grisebach (a. a. O. IV, LIX) betonte, dass diese in den unteren 
Extremitäten auftretenden Schwächezustände ^') mit der Diagnose 
Tabes dorsalis durchaus stimmten. Nun daraufhin allein wird man 
nach den heutigen modernen Anschauungen diese Diagnose nicht 
stellen dürfen. Ich habe im ersten Teil (S. 20) die Differentitaldiag- 
nose zwischen der echten Tabes und der Pseudotabes alcoholica er-^ 
örtert, glaube aber, dass wir es hier mit der Ataxia tabidorum zu 
tun haben, obwohl die Unterscheidung zwischen dem tabischen 
und neurotabischen Gange ausserordentlich schwer sein kann^ 
(Remak a. a. O. S. 460). Überhaupt kann die Differentialdiagnose 
so schwierig sein, dass, wie Leyden noch 1892 betonte, auch 
geübte Diagnostiker jahrelang unsicher bleiben können. Im Gegen- 

**) Qrabbes Brief vom 17. Mai 1835: „und meine Füsse sind zum Stehea 
zu schlecht" (Grisebach IV, 456). 



- 87 — 

salze zur Tabes dorsalis ist aber für die Neurotabes (oder besser 
,,ataktische Polyneuritis" nach Remak a. a. O. S. 455) eine aetiolo- 
gische Beziehung zur Lues nur ausnahmsweise behauptet werden. 
Indes scheinen bei Grabbes Zustand die aetiologischen Momente 
Lues und Alkohol eng miteinander verknüpft. 

Dass Qrabbe während des Verlaufs der Tabes an Zittern 
der Hände gelitten hat, habe ich nirgends erwähnt gefunden. 
Seine Handschrift war vielmehr bis in die letzte Lebenszeit (vgl. 
unser Faksimile aus der Niederschrift der „Hermannsschlacht") 
fest, klar und deutlich, wie schon oben hervorgehoben. 

In der Regel werden bekanntlich die Arme erst ergriffen, 
wenn die Leistungsfähigkeit des Kranken schon in solchem Masse 
herabgesetzt ist, dass auch seiner Hände Arbeit nicht mehr in 
Betracht kommt, und fast regelmässig ist der Grad ihrer Er- 
krankung erheblich geringer als an den unteren Extremitäten (vgl. 
von Leyden, Berlin 1863, a. a. O. S. 223). 

Des weiteren sei noch auf eine interessante Stelle in Grabbes 
Brief vom 21. Februar 1835 (IV, 406) hingewiesen, wo es heisst: 
,Mein Körper ist mir ziemlich etwas Fremdes, er hat seine eigenen 
Interessen, was man oft an den unwillküriichsten Bewegungen 
einer Fusszehe bemerken kann und die Ärzte wissen bis dato, 
so fleissig sie studiert haben mögen, noch nichts davon, wie*s 
zusammenhängt. Darum brauche ich auch keinen von der 
Sorte . . ." Dass diese unwillkürlichen Muskelkontrak- 
tionen eine merkwürdige Erscheinung darstellen, welche sich 
meistens erst — wie auch bei Grabbe — in den höchsten 
Graden der Krankheit zeigt, haben u. a. Hutin und v. Leyden 
(a. a. O. S. 222) berichtet. Dass die Erklärung dieses Phänomens 
nicht nur anno 1835 den Ärzten unbekannt, sondern noch 1863 
zweifelhaft war, geht aus den Ausführungen Leydens hervor, 
der betont, dass es schwer sei, die Erregungsquelle für die Muskel- 
kontraktionen nachzuweisen, welche weder im Sensorium (Willen) 
noch an der Peripherie liegen können. 

Zum Bilde der Tabes dorsalis gehört auch die im Verlaufe 
der Krankheit sich mehr und mehr fühlbar machende Geschlechts- 



- 88 — 

schwäche, sich steigernd bis zur Impotenz. Ich kann hier kurz 
daran erinnern, dass der zehn Jahr jüngere Qrabbe am 6. März 1833 
mit der 41 jährigen Luise Clostermeier getraut wird. Der Dichter 
Levin Schücking erinnert sich ihrer (vgl. Ploch a. a. O. S. 103) 
— damals war sie allerdings eine 48 Jahre alte Witwe — mit diesen 
Worten: »Sie machte einen nicht angenehmen Eindruck, die kleine 
wohlgenährte, überaus lebhafte Frau, mit ihrer mielleusen [= honig- 
süssen] Beredsamkeit: wie von einer aus ihren Angeln gewor- 
fenen und mit Leidenschaftlichkeit gepaarten ordinären Natur; und 
es trug alles umher das Gepräge erdrückender Kleinbürgeriichkeit.' 

Am 28. April 1872 schreibt Freiligrath: „Dass Grabbes Ehe 
eine unselige war, wer mag sagen, wessen Schuld es war? Frau 
Grabbe hatte auch ihre Härten und Herbigkeiten, aber welches 
weibliche Wesen wäre wohl auf die Dauer mit Grabbe ausge- 
kommen! Vieles haben auch die Hetzereien der Trinkfreunde, 
vieles hat der Klatsch der kleinen Residenz verschuldet" (Deutsche 
Revue, Dez. 1901, S. 277). Piper (a. a. O. S. 34) betont in dieser An- 
gelegenheit sehr richtig: 9 Der eigentliche Grund für die Entfremdung 
der beiden Ehegatten liege aber ganz wo anders. Grabbe konnte 
seiner Frau vor allen Dingen keine körperiiche Befriedigung bieten.* 
Das geht aus der Erzählung Zieglers hervor, welcher berichtet, 
dass die Detmolder Bekannten ihm zugerufen, als er gedroht, er 
werde sich seiner Frau gegenüber schon als Mann zeigen: »Das 
ist es gerade, was sie veriangt.' Piper lässtes allerdings dahin- 
gestellt, woher die sexuelle Schwäche stamme, ob sie ererbt, ob 
erworben sei: er sagt nur: es ist beides möglich« 

Die Ehe blieb kinderios. — 

Wie gesagt, gehören bekanntlich Störungen der Geschlechts- 
funktion zum Bilde der Tabes dorsalis; im praeataktischen Sta- 
dium fehlen sie selten; die Hauptsignatur dieser Störungen' ist, 
wie Erb hervorhebt, die Geschlechtsschwäche. Sie äussert sich 
in Abnahme der Potenz, verminderter sexueller Leistungsfähig- 
keit usw. bis zur völligen Impotenz. Auch die Kinderiosigkeit 
dürfte ein Bestätigungssymptom für die Impotenz Grabbes sein. 

Es erübrigt noch, dass ich auf die Möglichkeit hinweise. 



— 39 — 

dass neben Grabbes Lues ein starkesTrauma das auslösende 
Moment für seine Erkrankung an Tabes gewesen sein könnte, und 
dass sich daran die ersten tabischen Symptome angeschlossen 
hätten, oder dass, was noch viel häufiger ist, die schon vor- 
handene Tabes durch ein solches Trauma erheblich verschlimmert 
und in ihrem Verlauf beschleunigt wurde. 

So schreibt Grabbe am 23. August 1829: «Ich habe Wagen 
und Pferd zerschmettert und liege krank." Am 31. Januar 1830: 
„Der linke Arm ist mir seit vier Wochen zerschmettert . . . 
Wundfieber ... Ein Schlitten, in welchem ich umstürzte, brach 
mir die Canaille, den Arm, ab . . .", Am 16. Februar 1830: 
„denn ich habe bei dem Umsturz eines Schlittens meinen linken 
Arm total gebrochen.*' Die Klagen über den Armbruch gehen bis 
in den Juli 1830 (Grisebach IV, 288) hinein. 

Aber das Unglück wollte es, dass Grabbe kurz nach diesem 
Trauma, von dem er noch in dem an Kobbe gerichteten 
Briefe vom 10. Februar 1832 (vgl. Teil I, S. 5 f.) spricht, von 
einem wilden Hunde gebissen wurde; am 3. August 1830 heisst 
es: „Folgen eines zerschmetterten Armes, Gicht, Biss eines tollen 
Hundes, der hoffentlich nicht schaden wird, weil Tollheit auf Toll- 
heit wenig wirken kann, . . ." am 4. August desselben Jahres: „mich 
hat, im Ernst, ein quasi toller Hund gebissen, denn das Ist alles 
nur Charlatanerie" ; am 12. September: „ein toller Hund hat mich 
wahrhaftig gebissen. Es geht vielleicht gut.*' — 

Wenn es wahr ist, dass der Tabiker Grabbe von einem 
wirklich tollen Hunde gebissen wurde, so erinnere ich nur an die 
jüngst von L. Stembo (Neurolog. Zentralblatt 1904) veröffentlichte 
Krankengeschichte, nach welcher bei einem Tabiker, der von 
einem Hunde gebissen und nach Pasteur mit 28 Injektionen von 
antirabischer Markemulsion behandelt war, die lancinierenden 
Schmerzen, die vorher der Behandlung getrotzt hatten, aufhörten! 
(Vgl. Schmidts Jahrbücher Bd. 289, 1906, S. 13—26.) 

Ich möchte diese Beiträge zur Krankengeschichte Grabbes 
nicht schliessen, ohne auf den Verkehr Grabbes mit seinem 
Dfisseklorfer Arzte kurz hingewiesen zu haben. In Grabbes 



— 40 — 

Düsseldorfer Zeit (Dezember 1834 bis Mai 1836) fällt sein Ver- 
kehr mit dem dortigen praktischen Arzt und Kreisphysikus Karl 
Heinrich Ebermaier (geb. 1803, gest. ca. 1869^'), den er 
wohl durch Immermann kennen gelernt hatte. Als Immermailn 
an den Augen erkrankte, schrieb ihm Grabbe (IV, 440) am 
3. Mai 1835: „P[unc]to Ihrer Augen trau* ich erstlich ganz keinem 
Arzt, denn die Ärzte sind alle noch Schuler der Natur, und Eber- 
maier gehört deshalb zu den besseren, weil er das weiss.'* Dass 
dieses in der Tat der Standpunkt Ebermaiers gewesen ist, ersehe 
ich aus seinem „Klinischen Tagebuch für praktische Ärzte*', Teil 1 
(Düsseldorf 1838), S. 80 ff., in dem der „Heilkraft der Natur** ein 
Kapitel gewidmet ist, das in dem alten, nicht leicht bestrittenen 
Satze (wie er ihn nennt) gipfelt: Natura sanat, medicus curat 
morbos. 

Grabbe mag damals von Ebermaier manche medizinische 
Belehrung erfahren haben, so dass er selbst gern Immermann 
gegenüber den ärztlichen Ratgeber spielt. Er gibt Immermann 
lange Verhaltungsmassregeln zwecks Heilung seines Augenleidens; 
freilich rät Grabbe auch aus eigner Erfahrung (Grisebach IV, 437 u. 
440),da er selbst so unsäglich sechs Wochen an den Augen gelitten 
hat und Zeit genug fand, in der Finsternis an alle Hilfsmittel zu 
denken, bis er sich endlich selbst half. Vor allem warnt er seinen 
Freund, sich mit den Händen an die Augen zu fassen. 

Es kann hier leider nicht der Ort sein, auf Ebermaiers 
Persönlichkeit näher einzugehen, so verlockend es auch wäre. Er 
promovierte 1824 in Beriin mit einer Arbeit über die „Plantae 
papilionaceae** ; 1829 erschien von ihm ein Buch «Über den 
Schwamm der Schädelknochen und die schwammartigen Aus- 
wüchse der harten Hirnhaut**; 1832 veröffentlichte er seine 
^.Erfahrungen und Ansichten über die Erkenntnis und Behandlung 
des asiatischen Brechdurchfalls**, die er jenem Berliner Professor Rust 
als .dem unerschütterlichen Verteidiger der Wahrheit in aufrichtiger 
Anerkennung** zugeeignet hatte. Später hat Ebermaier die Cholera 



^•) Weder Hirsch, noch Haeser, noch Pagel erwähnen ihn. 



— 41 — 

als den Gipfelpunkt der seit etwa 20 Jahren herrschenden gastrisch- 
nervösen Krankheitskonstitution angesehen (Kh'n. Taschenbuch I, 
102). In eben diesem Werke ist auch den Entzündungen der 
Augen ein langes Kapitel (S. 525 f.) gewidmet, aus dem man 
den Stand der damals üblichen Behandlungsmethoden gut erkennen 
kann. Mir scheint, dass es sich bei Immermanns Augenerkrankung 
um eine sog. gichtische Augenentzündung (vgl. S. 539) gehandelt 
haben könnte, weil Grabbe schreibt: «mir scheint, als wären Ihre 
Augen vollkommen von der Entzündung geheilt, nur noch etwas 
matt. Da müssen Sie sich ja vor Erkältung hüten, besonders in 
diesem gichtischen Frühlingsmonat usw." 

Zu wiederholten Malen klagte Grabbe über seine Augen, 
besonders über Sehstörungen. Bereits 1826 will er beinahe völlig 
blind gewesen sein; im Mai 1827 befindet er sich aber wieder 
auf dem Wege der Besserung (Grisebach IV, 192); er spricht von 
seinen „Leipzig-Beriiner Lorgnetten "*, was im Zusammenhang mit 
dem Folgenden zeigt, dass er bereits in Leipzig und Beriin über 
erhebliche Sehstörungen zu klagen hatte. 

Im Februar 1835 berichtet Grabbe genauer, dass das Wetter 
ihm auf dem rechten Auge seine alte Februar- und Märzfreundin, die 
Mouche volante, geschafft habe. „Indes kann ich noch beiher 
sehen", fügt er hinzu (IV, 405). Wir hören weiter von ihm selbst, 
dass er seit 1824 jähriich an diesem Übel zu leiden hat; für das Ent- 
stehen desselben macht er rheumatische Einflüsse geltend. Bei 
der Augenentzündung bestand Fieber, und so scheint er schliess- 
lich, wenn auch etwas unfreiwillig, zu ärztlicher Hilfe Zuflucht 
genommen zu haben; er berichtet wenigstens am 23. Februar 1835 
seiner Mutter: „Ich habe schlimme Augen gehabt, aber einer der 
«rsten mir unbekannten Aerzte der Stadt kam zu mir, ich weiss 
Icaum von wem gesandt. Ich dachte an Hofrat Piderit (in 
Detmold), der mich auch immer so gut behandelt hat*^^). Der 



'') Von Piderit schreibt Grabbe im Juli 1836 (Grisebach IV, 480): „Der 
Hofrath und Leibarzt Piderit hat mir den zerschmetterten linken Arm ge- 
heilt, mein Augenübel kuriert, meine Choleraanfälle vertrieben, mir die 
Diätfehler klar gemacht, wie selten Jemand, und doch ist er mir noch gut, 
der sonst so finstre Westphale." 



- 42 - 

Düsseldorfer Arzt wird Ebermaier und der Vermittler Immerinann 
gewesen sein. 

Pierre Marie iiat den Symptomenreichtum der Tabes 
dorsalis als ein die Prognose ungunstig beeinflussendes Moment 
bezeichnet; diese Behauptung, die dann Malais^ (a. a. O., S. 20) 
bestätigen konnte, scheint auch bei Grabbes Tabes zuzutreffen ; 
die Vielheit der Symptome ist schon an sich ein Zeichen für die 
Ausdehnung und Schwere des Prozesses. 

Ohne den Symptomenreichtum der Qrabbeschen Tabes bis 
in alle Einzelheiten zu verfolgen, hoffe ich gezeigt zu haben, mit 
welch einem armen geplagten, kranken Menschen wir es zu tun 
haben. Ich glaube, seine Persönlichkeit muss uns auf Grund 
dieser medizinischen Betrachtungen in einem neuen Lichte erscheinen, 
und viele Fehler, von denen die früheren Biographen den Dichter 
nicht freisprechen konnten, und die ihnen als Charakterfehler 
imponierten, sind nur die Reflexe der schweren Krankheit und 
aus ihr heraus zu erklären. 

Mit Recht durfte Grabbe nach Goethe von sich sagen: 

«Denn ich bin ein Mensch gewesen 
Und das heisst — ein Kämpfer sein." 

Grabbe war ein Psychopath, d. h. er gehört zu denjenigen, 
deren Erkrankung eine endogene ist, und die von Geburt eine fehler- 
hafte Anlage des Nervensystems aufweisen. Was ihm als mora- 
lischer Defekt, als Charakterschwäche, als romantische Grille u. s. w. 
ausgelegt wird, ist in Wirklichkeit zurückzuführen auf die heredi- 
täre Belastung seines Nerven- und Seelenlebens. Auf dieser psycho- 
pathischen Basis entwickelte sich bei Grabbe ein chronischer 
Alkoholismus, und es ist in der Folge oft schwer, die krank- 
haften Züge des Hereditariers und des Alkoholisten auseinander- 
zuhalten. 

Als Student acquirierte Grabbe ein Geschlechtsleiden, welches 
damals als ein syphilitisches angesehen wurde und auch aller 
Wahrscheinlichkeit nach ein solches war. 

Neben den psychischen Alterationen treten bei Grabbe immer 
deutlichere Symptome hervor, die auf eine tiefgreifende Erkrankung 
der Nerven und des Zentralnervensystems hinweisen. Gewiss 



— 13 - 

werden wir aus den überlieferten Krankheitserscheinungen und 
ohne direkt das Verhalten der Reflexe, der Sensibilität u. s. w. 
prfifen zu können, nur mit Vorbehalt eine Systemerkrankung nach- 
träglich diagnostizieren können, aber ich halte mich doch für be- 
rechtigt, die Tabes dorsalis (Rückenmarksschwindsucht) mit einer an 
Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit bei Grabbe anzunehmen. 
Der frühe Tod war für Grabbe eine Erlösung von einer 
langen Kette qualvoller Leiden. 



III. TEIL. 



1. Ungedrucktes. 

Zunächst drucke ich die auf S. 15, Anmerk. 46 angezogenen 
(nicht zusammenhängenden) Blätter der „Hermannsschlacht** 
aus dem Besitze der kgl. Hof- und StaatsbiUiothek in München ab : 

[Blatt 1 (beide Seiten beschrieben)]. 

nicht ein Lied, sondern Mordschrei 
in seinen Eselkopf. — OberfaUl 

Varus. 
Lass dich nicht stören. Arminius scherzt vor der Porta Decumana. 
Die erstürmt man jetzt noch nicht. 

Cäcina. 
Er hat wohl zuviel Meth im Kopf. 

Varus. 
Die Juden in Syrien waren schlau, aber feig, und huckten sich als 
ich dort Prätor war, vor meinem Blick, wie Jordans Schilf vor dem Wind. 
Doch die Cherusker: falsch wie die Israeliten, und Tapferkeit faustdick 
hinter den Ohren, stärker als die drei Mauern Jerusalems, wie es mir vor- 
kommt. 

Cäcina. 
Arminius erreicht. 

Armin. 
Nicht ohne Fangl — Hai da blitzt hoch ein Adler -- Gehfs nicht 
durch das Tor, sprengt sich*s über den Walll 

(Er entreisst der neunzehnten Legion den Adler und jagt mit ihm 
zurück:) der Kuckuck! — da Gaull Zerstampf den Vogel. 

Varus. 
Den Adlerträger und die Adlerwacht der neunzehnten Legion gleich 
erdrosselt Besorg*s Cäcina. Zwei. — 

[Blatt 2 (beide Seiten beschrieben)]. 

sie einen Kopf — sie würden nieder- 
schmetternde Felsen! 

Schreiber. 
Silentium! -- Amelung! 



- 46 — 

Amelung. 

Jenes Weib ist seit zehn bis elf Jahren meine Frau. Heut erfahr 

ich und kann leider beweisen, sie brach im ersten Monat unserer Heirat 

die Ehe. 

Prätor. 

Alberne Klage. Ehebruch verjährt nach fünf Jahren. — Rechne dem 

Kläger die Kosten an, Scriba. 

Volk. 

Ehebruch verjährt? Was wird 

wird alt? 

Schreiber. 
Prätor? — 

Prätor. 

Furchte dich nicht. Dort hinten stehn genug Lictoren. Die cherus- 

kischen Nacken ab, die sich nicht beugen. 

Armin (kommt:) 

Volk. 
Er, der alles könnte, wenn er wollte! 
(Es beugt die Knie vor ihm.) 

Armin. 
Hübsch. Statt uralten Handschlags schon Kniebeugung. Ich sagt 
immer, der Deutsche ist gelehrig. Alle Hölle, steht auf 1 

Diese Korrekturen lassen unschwer erkennen, dass Qrabbe 
bestrebt war, den Text möghchst knapp und gedrängt zu fassen. 

Ein weiteres Blatt aus der „Hermannsschlacht" ist vor etwa einem 
Jahre (Herbst 1905) mittelbar aus dem Nachlasse des Dichters 
Ch. Seh ad ^^), in denselben Besitz gelangt, und zwar wie die Bei- 
lage besagt, von Ignaz Hub ^^), der die Dedikation, — dazu eine 
braunblonde Haarlocke Grabbes, — mit dem Datum: Würzburg, 
3. Oktober 1858 versah. Zu der Fassung ist Grisebachs Ausgabe 
111, 344 f. zu vergleichen. 

[Seite] 69. 

überwinden. 

Varus. 
Was verdankt man nicht deinem Eifer für die gute Sache, und wie 
beförderst du die Civilisation. 



*') Über diese Schenkung wertvoller Dichter-Autographen der beiden 
Schad vgl. L Fränkels Bericht, Zeitschr. f. Bchrfrnd. VIII, H. 8, Beibl. S. 7 f. 

^') Dessen warme Teilnahme für Grabbe belegt auch sein begeistertes 
Gedicht „Das Grab zu Detmold*' mit einer Revue über alle Dramen Grabbes: 
Blumenthals Grabbe- Ausgabe IV, S. 658—61. 



- 46 — 

Hermann (ffir sich): 
Ich will euch civtlisleren und bei uns einbürgern» drei Puss tief unter 
die Erde« oder noch besser: eure Knochen in Hügeln fiber ihr, weiss- 
glanzende, warnende Malzeichen für künftige Eroberer. 

[Seite] 70. U^ 

Römische Soldaten. 
Donnert's? 

Varus. 
Sprachst Du? 

Hermann. 

Nein. Die Riemen am Sattelzeug meines Hengstes gingen los und 

mein Stallbursch brummte. 

Varus. 

Schone er forthin seiner ungeheuren Lunge. Man schlagt Brumm* 

fliegen leicht todt 

(Laut:) 

Auf, Hilfsvölker und Legionen! 

Her- 

Die mit Blatt 75 und 76 bezeichnete Seite gebe ich in Fak- 
simile dem Aufsatze bei. 

[Seite] 75. 

ihre Bewegungen ailmählig nach 
unsrer Sitte ordnen zu helfen. 

Hermann (für sich:) 

Spione, hetsst das. 

Varus. 

Und du. Wegkundiger, bleibst einige Zeit bei uns, und bedeutest mir 

und der Vorhut den Weg auf die Empörer. 

Hermann (ffir sich): 
Schnell gehf s in Rom 1 Schon Empörer, ehe sie Untertanen waren, 
die Harzmänner? 

[Seite] 76. 

Varus. 

Führet rasch! 

Armin. 

Du befiehlst es. Wohl, folgt mir, hin und zurück. Ich bringe euch 

zu grossen Siegs- und Todesschlachten. 

Varus. 

Wird uns lieb sein. 

6. 

(Oberer Hünenring. Eine Stube. Thusnelda und Thumelico.) 

Thus- 

Zum Schluss bin ich dank der grossen Freundlichkeit des 
Besitzers, des Herrn Robert Remak in Berlin, in der Lage, einen 



— 47 — 

ungedruckten Brief Grabbesan seinen Verleger Schreiner mit- 
teilen zu können (1 Blatt 4^ mit Siegel. „C. D. G:*). In dem 
offenbar in den Juni 1835 zu setzenden Brief ist die Stelle bei 
Grisebach IV, 472 zu vergleichen, wo es heisst: „Die Reise durch 
die Schweiz von Zendyk kann ich neben meinem Armin recht gut 
kritisieren. Dann muss ich sie aber aufschneiden dürfen . . /* 
und ebendort S. 474 heisst es: ,,Die Schweizerbohne ist in 
Arbeit" 

An 

den Herrn Buchhändler 

Schreiner 

Wohlgeboren. 

Per Estafetten. 

Euer Gnaden schick ich den Brief von Hofrat Menzel Besorgen Sie 
ihn mit den Exemplaren und siegeln Sie ihn zu. Ich bitte. Mit dem Siegeln 
versteh' ich's ohnehin schlecht, sowohl wie auf dem Maul als auf Briefen. 
Ich bin an der Hermannschlacht, aber nicht minder an der Schweizerretse. 
Zu deren Rezension war' *ne Karte gut — Haben Sie eine, so leihen Sie 
sie mir. Es ist nicht Neugier, die Karten kenn* ich doch so ziemlich, aber 
ich möchte Ihnen den Artikel reell, Punct vor Punct sicher, recensiren. 
Ist keine da, geh* ich auch los. Besser ist indess besser, es heisst darum 
ja «besser*. 

Was ist heut doch für ein Datum? 

[Dusseldorf, Juni 1835.] 

Ihr 

Sepulcrum + b 

i. e. 

Orab-be. 

Nach dem Original in Privatbesitz durfte Ich femer den Brief 
Grabbes an seine Braut kopieren, der bei Grisebach IV, 317 nicht 
vollständig und inkorrekt abgedruckt ist: 

An 

die Demoiselle Clostermeier 

Wohlgeboren 

allhier. 

Hochgeehrteste Mademoisellel 

Sie haben eine schlechte Reise nach Heidenoldendorf gehabt. 

Nehmen Sie mir aber nicht übel, und seyen Sie nicht zu edel: Ihr 
eben mitgetheiltes Rescript ängstet mich, — aber Sie wollen ja des Morgens 
mich Sie nicht besuchen lassen, und Abends auf gestern, heute und Morgen 
sind Sie bei Kaiser versagt Also mir das Rescript mitgeteilt und mich 
Montag Abend Sie besuchen lassen. 



— 48 - 

Hat* s aber Eile, jede Stunde. Aber ich bin und wäre abscheulich, 
weil ich Ihnen Alles, und vor Allem Gesellschaft wünsche, und ein zer- 
rütteter Teufel sie nicht ersetzen kann. Hochachtungsvollst 

gehorsamst 

Grabbe. 
Detmold 27. August 1831. 

Bauern um mich. Deshalb die Eile. 

Der Brief Grabbes vom [12. April] 1834, von dem Grise- 
bach (IV, 518) den Verbleib des Originals nicht nachweisen konnte, 
v^urde (vgl. Leitzmann, Littbl. f. germ. und rom. Philologie, XXI. 1900, 
Sp. 407 Anm.) in L. Liepmannssohns Antiquariat in Berlin am 7. 
Mai 1896 versteigert; jetzt taucht der Brief — der übrigens im 
„Taschenbuch dramatischer Originalien**, II. Jahrg. Leipzig 1838 
facsimiliert ist — im Katalog von List und Francke in Leipzig 
(Nr. 321, 1906) wieder auf, um gewiss bald wieder für längere 
oder kürzere Zeit zu verschwinden. 

Soeben, im Augenblicke des Abschlusses, treten in C. G. 
Bömers LXXXV. Auktionskatalog (Leipzig 12.— M.November 1906) 
hervor: ein freundschaftlich -scherzhafter Brief an Althof in Det- 
mold vom 20. Februar 1829, sowie ein literarischer an ebendiesen 
vom 10. Juni 1835 („in wenigen Wochen habt ihr auch Armin 
oder die Hermannschiacht, vielleicht noch etwas über Code Napo- 
lton")> beide nicht abgedruckt bei Blumenthal und Grisebach ; ferner 
14 eigenhändige Dokumente Grabbes als Advokat von 1826/27 
samt zwei Schreiben seines späteren Schwiegervaters, des Archiv- 
rats Clostermeier, in derselben Angelegenheit an ihn. 

Manche Äusserungen in obigen handschriftlichen Blättern, 
sowohl der „Hermannschlacht** als der Briefe, sind dazu angetan, 
unsere Betrachtungen über Grabbes Wesen und Krankheit zu er- 
gänzen. 



49 - 



2. Verzeichnis weiterer Literatur. 



L. Assing, Elisa von Ahlefeldt Ber- 
lin 1857, S. 122. 

Carl Behrens, En tysk Digter. 
Ch. D. Qrabbe. Kopenhagen 
1905. Qyldendals Verlag; be- 
sprochen in der Zeitschrift für 
deutsche Philologie, Bd. 37, 429 f. 

M. Bernhardt, Über multiple Neu- 
ritis der Alkoholisten u. s. w. 
Zeitschr. f. klin. Mediz. Bd. XI. 

Robert Bing, Die Pathogenie der 
Tabes (Theorien und Tatsachen) 
Mediz. Klinik. 1905 Nr. 49 u. 50. 

Iwan Bloch, Schopenhauers Krank- 
heit im Jahre 1823. Mediz. Klinik 
1906 Nr. 25 u. 26. 

Wilhelm Buchner, Ferd. Freilig- 
grath. 1882. 2 Bde. 

Cassirer, Tabes und Psychose. 
Berlin 1903. 

W. Deetjen, Grabbe-Studien. Sonn- 
tagsbeilage der Vossischen Zei- 
tung vom 13. XI. 1904, S. 374 
bis 376. 

A. Ellmenreich, Erinnerungen an 
Karl Immermann : Deutsches 
Wochenblatt, hg. von Rippler 
und Busse, 1899 Nr. 2, S. 78—80. 

Franc k, Grabbe, in: Taschenbuch 
dramatischer Originalien. II. Jahr- 
gang. Lpz. 1838. 

Paul Friedrich, Neues von und 
über Grabbe : Voss. Zeitung vom 
11. Dez. 1901. 

Paul Friedrich, Grabbes ausge- 
wählte Werke nebst einer literar- 
psycholog. Einleitung: Grabbe, 
sein Wesen und sein Werk. Berlin, 
A. Weichert. 1907. 



Paul Friedrich, Napoleon. Hero- 
ische Trilogie. Beriin 1902, 
Otto Janke. 

K. Gutzkow, Beitrage zur Ge- 
schichte der neuesten Literatur. 
Stuttgart 1836. I. S. 189 ff. 

O. H a r n a c k , Chr. D. Grabbe : Preuss. 
Jahrbücher, Bd. 105 S. 193 
bis 203. 

Ph. Hutin, Recherches et obser- 
vations pour servir ä Thistoire 
de la moelle dpini^re : Nouv. Bibl. 
Mddic. Bd. 1. 1828. 

Franz Lindl, Klin. Beobachtungen 
über Polyneuritis alcoholica. Ber- 
lin. Diss. 1905. 

Franz Lindl, Ergebn. klin.Beobach- 
tungen von Polyneuritis alcoho- 
lica. Der Alcoholismus. Neue 
Folge. Heft 1. Lpz. 1904. S. 34 ff. 

J. Löwenberg, Deutsche Dichter- 
abende, S.23— 46 (Hamburg 1904). 

E. V. Malais^, Die Prognose der 
Tabes dorsalis. Berlin, Karger 
1906. 

Hermann Marggraff, Bucherund 
Menschen. Bunzlau 1837. S. 215 
bis 223. 

V. Magnan, Psychiatrische Vorle- 
sungen, deutsch von P. J. Mo- 
bius. Leipzig 1892. 

Wolfgang Menzel, Geschichte der 
deutschen Dichtung. Bd. III. Leipz. 
1859. S. 220 und 603—506. 

A. Moeller van den Brück, Ver- 
irrte Deutsche, 1905 ; darin S. 95 
bis 113: Grabbe. 

O. Nieten, Chr. D. Grabbe. Beriin 
1902. 



- 50 



Arthur Ploch, Grabbes Stellung in 
der deutschen Literatur. Ver- 
lag von K. Q. Th. Scheffer Lpz. 
1905; enthält sehr viel Literatur- 
angaben. 

Felix Poppenberg, Bibelots, 1904 
(S. 248 -62 „Grabbe-Qrotesken".) 

E. Remak, Neuritis, XL, 3. Noth- 
nagels Handbuch 1903. 

M. H. Romberg, Lehrbuch der 
Nervenkrankheiten d. Menschen. 
Berlin 1846. S. 794-801. 



H. von Treitschke, Deutsche Ge- 
schichte im 19. Jahrhundert. 
4. Teil. Lpz. 1889. S. 452f. 

Friedr. TheodorVischer, Ästhe- 
tik oder Wissenschaft des Schö- 
nen. Teil 1 (Reutlingen und Lpz. 
1846) S. 465. 

Wilhelm Waldmann, Die Behand- 
lungder Tabeskrankheiten als An- 
halt f. Arzte u. Kranke. Halle 1872. 

Karl Ziegler, Grabbes Leben und 
Charakter. Hamburg 1855. 



Druck von M. Muller & Sohn, München V. 




Faksimile eines Blattes aus der Handschrift 
i'.ii Grabbea „ Hermannsschlacht ", 
aKweiphend von dem Dnicke von I8m' 



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QRENZFRAQEN DER LITERATUR UND MEDIZIN 

in EinzeldaistellunEen 

herausgegeben von Dr. S. RAHMER, Berlin. 

4. Heft. 



Klima und Dichtung. 



Ein Beitrag zur Psychophysik 

von 

Ellskr von KupHer. 



MÜNCHEN 1907 

ERNST REINHARDT. VerU^uchhandlang 

JSseratrasse 17. 



DEM ANDENKEN DER PERSÖNLICHKEIT 

MEINES VATERS 

ADOLF VON KUPFFER 

DR. MED. 

DER AUCH IN MIR DIE REIFENDE PERSÖN- 
LICHKEIT ACHTETE ; DEM ANDENKEN DES 
MANNES. DEN ERST DER TOD MITTEN AUS 
FURCHTLOSEM UND OPFERFREUDIGEM 

WIRKEN RISS. 



GEBOREN 1834 IN REVAL. 
GESTORBEN 1886 ZWISCHEN PORRIK U. JOOTMA 

IN EHSTLAND. 



Vorwort des Herausgebers. 



Auf den folgenden Blättern kommt ein Dichter zu Worte, 
dessen Namen und Leistungen dem grossen Publikum noch un- 
bekannt sind, dessen Dramen zum Teil wohl in Buchform erschienen 
sind, aber bisher nicht von der Bühne aus ihre Wirkung erprobt 
haben. Es durfte deshalb angebracht sein, darauf hinzuweisen, 
dass die Leistungen des Autors auf dramatischem Gebiete an 
massgebender Stelle lebhaftes Interesse erweckt und vielseitige 
Anerkennung gefunden haben. Von seinen Dramen sind «Der 
Herr der Weif* (gedichtet 1896) und „Irrlichter'' (1897) im Buch- 
handel erschienen. Den Lyriker lernt der Leser selbst kennen 
und beurteilen aus den zahlreichen, dem Text beigefugten Proben. 
Es handelt sich auf den folgenden Blättern um psychologische 
Betrachtungen eines Dramatikers und Lyrikers, der wohl unbe- 
wusst schafft, der aber nachträglich und retrospektiv sich aber 
die Entstehung dichterischer Produkte Rechenschaft gibt. Dabei 
kommt er zu bemerkenswerten Ergebnissen, die ihrerseits dem 
Psychophysiologen und Kulturhistoriker weite Perspektiven eröffnen. 
Auch das Schaffen der Dichter, Denker und Künstler ist eine Kon- 
sequenz der Natureinwirkung auf die gegebene Persönlichkeit. 



Sowohl Inhalt wie Form ausgesprochener Gedanken und Qe- 
ffihle sind bisher fast immer als eine willkürliche Betätigung 
des Geistes aufgefasst worden. Man spricht von Gedankenfreiheit 
und — Gedankensünden, und versteht unter letzteren vielleicht 
schlechte Gefühle, die sich nicht in Tat umzusetzen brauchen. 
Ja, der Mensch ist so stolz auf diese „Freiheif* seiner Will- 
kür, dass es keinen heikleren Punkt als das Kapitel der Willens- 
freiheit gibt Sie dünkt vielen das »ultimum Refugium*, die letzte 
Festung der Menschenwürde, die man mit dem letzten Blutstropfen 
verteidigen muss. Mit ihr geht das Königreich des Menschen 
unter! — So denkt man. Erst die neueste Erkenntnis hat be- 
gonnen, diese Festung zu bestürmen — diese MBastille**, in der 
so viel arme Sünder und unschuldige Gefangene schmachten. 
Unter diesen Vorkämpfern gibt es bedeutende Köpfe, wie den 
Kriminalisten Franz von Liszt, aber auch solche wie Cesare Lom- 
broso, die an Stelle der alten Bastille ein „humanes Irrenhaus* 
organisieren wollen — eine »lebenslängliche Bastillenkur*'. Chacun 
ä son gofit! Ich zöge, glaube ich, die alte Festung vor. 

Doch was hat das alles mit Klima und Kunstform zu tun? 
Gemach. Sehr viel. 

Muss das ein Pedant sein! Den Vorwurf höre ich. Ein 
Pedant, der die Kunst mit Barometer, Hygrometer, Thermo- 
meter und Irrenhaus usw. in engsten Zusammenhang bringt! 



— 8 — 

Da ich hier — wie es das Thema will — sachgemäss über 
eigene Erfahrungen reden muss, wird sich ja dem Leser — 
besonders wenn er die Grundlagen zu Rate zieht — die Ge- 
legenheit bieten über meine absurde Anschauung zu Gericht zu 
sitzen. Wie hoch ich übrigens die Kunst schätze, kann jeder aus 
meiner Schrift ^.Heiland Kunst* ^) ersehen. Aber deshalb kann ich 
ihr doch keine zusammenhanglose Willkür zusprechen, wie über- 
haupt keiner Erscheinung, die wir kennen. Nicht einmal einer 
Gottheit. Die gesamte Natur, und ihr gehört alles an, Erde, 
Sonne und Sterne — auch der Mensch, ja auch die Kunst! . . 
ist eine endlose Folge von Erscheinungen und Geschehnissen, 
die einander bedingen. In «Olympia und Golgatha"') habe ich es 
ausgeführt, dass wir deshalb doch keinem vorherbestimmten Ver- 
bingnis unterworfen sind: Fatalismus und Moira unterscheiden sich 
prinzipiell und wirken ethiisch verschieden. Nein, die Welt, das Sein, 
die Natur — wie wir es auch nennen mögen — ist eine unendliche 
Fülle von Mächten, die da leben, miteinander kämpfen, sich einander 
anschliessen — sich hassen oder lieben. Der Mensch selbst ist 
wohl eine Konzentration zahlloser kleinerer Mächte, die von seiner 
persönlichen Macht gebändigt werden. So ist die Erde eine 
Bändigung zahlloser Mächte, so ist es unser Sonnensystem, so 
ist es der Wassertropfen. Unendlich gross, unendlich klein. Was 
besagt das! Aus diesem beständigen Kampfe erwichst alles 
Geschehen mit innerer Notwendigkeit. Uns [scheint das meist 
Willkür. Uns scheint aber auch, als ginge die Sonne unter, als 
wäre die Erde eine flache Scheibe, als stände alles auf Erden 
still, und doch ist alles Bewegung und die Erde hat eine kugelige 
Gestalt. 

Wann werden wir dahin kommen, diesen Schein in bezug 
auf uns selbst zu durchschauen? Und damit auch die blinde 
Verfolgung einzustellen? Der Stumpfsinn der Erkenntnis scheint 
aber ein Naturgesetz, das selten durchbrochen wird. 

Dass auch die Kunst, die Dichtung — und ihre Äusserung, 



Heft 3 der J^ebenswerte", Jena 1907. 
>) Heft 1 der HLeb^nswerte". 



- 9 - 

ihre Form, ihr Geist ein solches Resultat verschiedener Einflässe 
ist, war eine Einsicht, die sich mir unwillkürlich durch eigene 
Erfahrungen allmählich aufdrängte — wohlverstanden: unwillkör- 
Hch und ungesucht. Da wir hier wohl noch ziemlich am Anfang 
einer Erkenntnis stehen, muss ich um Nachsicht bitten. Nur ein 
reiches Material verschiedener und zahlreicher Beobachter kann 
hierfiber weiteren Aufschluss geben. Wir leben denn doch in einer 
Zeit, die den Menschen zu einer Selbstkritik auffordert. Vor 
kurzem war das erotische Gebiet ein gefährlicher Igel, an dessen 
Stacheln man sich zu Tode spiesste. Wenig Licht leuchtete in 
dieses interessante Gebiet, das am Ende alle am nächsten angeht, 
da doch jeder einmal im Leben »verliebt ist. Das Material hat 
sich mehr und mehr gehäuft — trotz der beschränkten Mensch- 
lichkeit, die in jeder Erforschung eine böswillige Verletzung gross- 
väteriichen Erbes sieht. Dr. Magnus Hirschfeld hat in seinem letzten 
Buche „Vom Wesen der Liebe" ^) viel lehrreiches und diesmal auch 
vielseitigeres subjektives Material beschaffen, das der objektiven 
Erkenntnis in bester Weise dient. In seinem Buche „Modernes 
Mittelalter"*) hat Dr. Eduard von Mayer die prüde, heuchlerische, 
ja unwissenschaftliche Stellungnahme unserer Kultur zur Erotik 
einer scharfsinnigen Kritik unterzogen und einen positiven Aus- 
weg gewiesen. Und Leo Bergs Werk „Geschlechter"") spricht 
mit anerkennenswerter Ehriichkeit von der Befreiung der Persön- 
lichkeit aus dem Joch widersinnigen Herkommens. 

Es wird Zeit, dass wir mit der alten Methode brechen, nach 
der man die Beurteilung der Dinge aus seinem Nabel spulte, wie 
eine philosophische Missgeburt. „Greif nur hinein ins volle 
Menschenleben!" Wir selbst sind das Buch, das wir lesen lernen 
müssen. Darum sollen wir von uns selbst erzählen. Das ist nicht 
Eitelkeit, wenn wir dazu geschult werden. Und wenn auch etwas 
Eitelkeit mitunterliefe — so viele grosse Errungenschaften wären 
ohne Eitelkeit nie erlangt worden. Solche Beobachtungen sind Bau- 



Leipzig 1906. 

>) Berlin 19Q6. 

*) Kulturprobleme der Gegenwart Berlin 1906. 



- 10 — 

steine zum grossen Bau menschlicher Erkenntnis. Ein gewisses In- 
teresse an sich selbst, ein Teil Freude an sich selbst — ohne dumme 
Protzerei — ist Gesundheit des Wesens; Es wäre besser, die 
Menschen nähmen Interesse an sich selber als an ihrem Nächsteh. 
Aus dem Klatsch über den Nächsten entsteht nur schiefe Er- 
kenntnis, an der unsere Wissenschaft, besonders die psychologische 
und anthropologische, allzureich ist. Haben wir einmal vom Baum 
der Erkenntnis gegessen und sind, wie es heisst, deshalb dem 
Fluch unterworfen — so wollen wir wenigstens davon Nutzen 
ziehen und die Früchte der Erkenntnis ernten! 

Bevor ich hier auf mein eigentliches Thema eingehe, muss 
ich voranschicken, was ich unter Klima verstehe. Mancher denkt 
dabei bloss an Thermometer, Wind oder Regen. Das Klima 
einer Gegend besteht aus verschiedenen Momenten, die zusammen- 
wirken. Deren sind vier: 

1. Das geologischeMomentderlandschaftlichen Formation. 
(Berge, Hügel, Ebene, Täler, Flüsse, See und Meer). 

2. Das meteorologische, das durch die geologische 
Struktur bedingt wird. Winde (Anemometer), Höhenlage 
(Barometer), Feuchtigkeit (Hygrometer), Sonnenstrahlung, 
Wärme (Thermometer), Bewölkung. 

3. Das biologische: Pflanzenwelt — Wälder, Matten, Wiesen. 
Felder, Obstgärten, einzelne Bäume, Blumenflor. Die Tier- 
welt — Vögel, Insekten wie Schmetterlinge, Wild, Herden, 
wilde Tiere. (Die Tierwelt ist mehr akzessorisch.) 

4. Das soziale: Städte, Gebäude in ihren verschiedenen Stil- 
arten, die verschiedenen klimatischen Zwecken dienen, z. B. 
deutsche Giebeldächer, die den Schnee abgleiten lassen, 
flache südliche Dächer, um die laue Nacht zu geniessen, 
Strassen und deren Leben (z. B. im Süden durch die Wärme 
bedingt, das offene Gewerbe in den Strassen, das wieder 
das ganze südliche Treiben erzeugt). Und endlich die 
verschiedenen klimatischen Rassen. Der Mensch — als 
Rassenindividuum.^) 

^) Vgl. die Rassekritik in den „Lebensgesetzen der Kultur" von 
Dr. Eduard von Mayer, S. 22 u. f., Halle 1904. 



- 11 - 

Ein Klima kann schroff wirken, wie manche nördh'che, oder 
weich, wie viele südliche, aber auch zum Teil das Rheinklima. 
Es kann Schroffheit und sudliche Wärme verbinden wie das 
florentiner und sieneser Klima und eventuell einen mehr .»bisexuellen* 
Typus schaffen. 

Nicht Willkur. sondern des Lebens blinde (?) Mächte haben 
mich oft gezwungen, meinen Aufenthalt zu wechseln. Ehstland, 
St. Petersburg, Deutschland, die Schweiz und Italien sind meine 
Heimat wider Willen gewesen. Nach einer Influenza und ver- 
schiedenen schweren Lebenssorgen war ich nervenleidend geworden. 
Meine Schaffenskraft wurde aber glücklicherweise dadurch nie wirk- 
lich gebrochen. Bei dem wiederholten Wechsel des Klimas und 
Rassebodens machte ich da Erfahrungen über Form und Wesen 
meines Schaffens. Um das zu erklären, muss ich von dem wieder- 
holten Hervorbrechen angeborener Anlagen reden. Von klein auf 
bestand ein lebhafter Drang zum Drama, resp. dramatischen 
Schaffen, aber nicht zum Schauspielern. Schon mit sieben Jahren 
las ich Shakespeares Hamlet mit Leidenschaft und mit neun Jahren 
entstand mir in Nachwirkung ein Stück, „Don Irrsino, der verrückte 
Prinz". Leidenschaft zeichnete stets mein Schaffen aus. Der Drang 
zum Dramatischen hat sich nie verloren, trotzdem ich ihm bittere 
Opfer bringen musste. Mein Studium, das mich der r4issischen 
Staatslaufbahn zuführen sollte, begann mit gutem Erfolg und die 
russische Obrigkeit wie mein Vater redeten mir zu, zu bleiben 
— trotzdem verliess ich meine Heimat, in der festen Überzeugung, 
dass es mir gelingen werde, in Deutschland die Bühne als Dichter 
zu erobern. Zuerst schien es fast, ich würde recht behalten, aber 
in der Folge musste ich die schwere, kränkende und entbehrungs- 
reiche Laufbahn eines deutschen Dramatikers durchmachen, dessen 
Schöpfungen und dessen Befähigung zur dramatischen Ge- 
staltung wohl von massgebender Seite anerkannt wurden, der 
aber nie seine Geisteskinder auf der Bühne zu sehen das 
Glück hatte. 



VieUeicht interessiert es den Leser genaueres über das Schicksal 
meiner dramatischen Produkte zu erfahren. Das Stfick ..Die toten Götter^', 
das ich (1894) A. Entsch in Berlin einreichte, wurde von ihm mit Beifall 



- 12 - 

Weshalb ich das erwähne? Vor allem, um zu beweisen, dass 
dieser dramatische Drang nie versiegen wollte, trotz aller häss- 
liehen abschreckenden Erlebnisse, die Goethe „dämonische*' Ein- 
flüsse genannt hätte. Aber ein Wunder sollte geschehen! Was 
alle Theatergewaltigen von Reichsdeutschland und Österreich nicht 
erreichten, das erreichte jedesmal vorübergehend die unglückliche 
Liebe des Deutschen ~ Italien. Prosaisch gesprochen: das 
italienische Klima! Selbst leidend gelang es mir in Berlin 
eine Komödie „Die Krone der Schöpfung" zu vollenden. Als 
ich in Italien weilte, schon das erste Mal, wo ich längere Zeit 
dort blieb (fast ein Jahr: 1899/1900) versiegte jener verhängnis- 
volle Drang. Und das war vor jenem erwähnten Lustspiel, das 
ich im Herbste 1900 in Berlin verfasste. 1902 siedelte ich dann 
nach Italien über — freilich nicht, um mich von der „Dramatitis'*^ 
zu kurieren, sondern von andern ebenso schlimmen Leiden. 
Darauf entwarf ich im November 1902 in Rorenz den Plan zu 
einem faustischen Märchendrama. Aber siehe da! nach der 
ersten Szene stockte die Produktion, und diese Stockung hielt 



zum Vertrieb angenommen. Es kam nicht zur Aufffihrung. Ein späteres 
Stock, das auch gedruckt (Berlin 1899) erschien, „Der Herr der Weif* (ge- 
dichtet 1896), wurde vom damaligen Dramaturgen am »Theater des Westens*,. 
Dr. Adalbert von Hanstein, zur Auffuhrung angenommen. Bankrott trat ein. 
Darauf versprach mir Josef Kainz die Titelrolle des jungen Papstes zu 
spielen. Aber auch das half nicht Es kam nicht dazu. Der dramatische 
Trieb blieb jedoch bestehn. Und das veranlasst mich auf diese Dinge ein- 
zugehn, um die klimatische Beobachtung später verständlich erscheinen zu 
lassen. Die inzwischen ebenfalls gedruckten „Irrlichter** (Berlin 1900X (ge* 
dichtet 1897) wurden vom Direktor Lautenburg für eine Matinee angenommen,, 
nachdem der damalige Dramaturg Paul Block sie für eine talentvolle Buhnen- 
arbeit erklärt hatte. Es kam nicht dazu. Und je mehr ich reifte, um so 
weniger kam es dazu. Das Drama „König Mensch** (gedichtet 1896) erlebte 
einen Achtungserfolg bei Direktor Brahm. Ein symbolisches Märchendrama 
„Aino und Tio** (gedichtet 1903) und „Die Tragödie der Schönheif* (gedichtet 
1904) wurden wiederholt mit allerliebsten Phrasen abgelehnt, so voit 
Dr. Schienther, Baron PutlitE, von Hülsen, Georg Jantschge usw. Ja zuletzt 
ein realistisches Revolutionsdrama meiner baltischen Heimat „Feuer im 
Osten** (gedichtet 1905) von Otto Brahm mit der Bemerkung, die Charaktere 
schienen sehr wahr gezeichnet — aber! — und dann folgt ein Vorwurf, der 
genau auf „Die Weber** und „Florian Geyer** passt 



— 1» — 

volle sechs Monate, an. Erst als ich im Mai 1903 in die Schweiz 
kam, erwachte plötzlich der alte Trieb, die Arbeit fortzuführen. 
Ich schrieb ein Dritteil der Arbeit,, alles in Versen und Reimen, 
die einen freien Rhythmus annahmen. Dann trat wieder eine 
Verschlimmerung meiner Krankheit ein. Als sich der Zustand 
hob, entstand auch wieder der lebhafte Trieb, und im August 
und September vollendete ich die Arbeit bei Luzem. Und zwar 
wurde diese ganze Märchendichtung mitten im Rauschen des 
Waldes geschrieben, unter Tannen und Buchen. Wenn sie also 
etwas vom Duft des Waldes an sich hat, so ist das wohl er- 
klärlich. Da sagt denn auch der alte Leibarzt zum Oberhofpriester : 

„Hochwürdiger HerrI wer kann das wissen, 

Was die Natur in uns erstrebt 1 

Wo glaubt Ihr Natürlichkeit zu missen? 

Es ist Natur, die uns durchbebt. 

Was lebt und stirbt, was liebt und hasst. 

In jeder Form die Natur umfasst — 

Auch Menschengeistes hohe Gewalt 

Ist nur Natur in andrer Gestalt." ^^^^ ^y^ ^ g^^^ ^ 

Im Herbste kehrte ich nach Italien zurück und damit war 
die dramatische Produktion eingewiegt, ohne dass deshalb der 
Schaffenstrieb erschöpft gewesen wäre. Nein, er äusserte sich 
bloss in anderer Form. Darauf werde ich später zurückkommen, 
wenn ich von der Lyrik rede. Und so blieb es bis zum März 1904, 
der mich abermals — wider Willen — in die Schweiz führte. In 
Genf entwarf ich dann den Plan zur «Tragödie der Schönheit*. 
Mit leidenschaftlicher Kraft vollendete ich den ersten Akt im Monat 
April in Lausanne. Darauf musste ich nach Beriin und, obgleich ich 
hier gelegentlich einer Unterredung mit einem bekannten Hof- 
Dramaturgen die Überzeugung gewonnen, dass auch meine neue 
Schöpfung an massgebender Stelle nicht durchdringen werde, so 
schreckte mich das alles nicht ab; der dramatische Drang blieb 
sehr heftig, und bei Luzern vollendete ich dieses leidenschaftliche 
Drama, das ja wieder ein Stück eigener Leidensgeschichte 
gab. Ich las es in Luzem in einem kleinen Kreise des Hotels 
vor und erlebte einen gewaltigen Eindruck auf die Anwesenden. 
Wieder war es das cisalpine Klima, das mit daran die Schuld trug. 



— li - 

Die Hofschauspielerin Frau Clara Salbach in Dresden nahm leb- 
hafte Teilnahme an dem Stück und bemühte sich, es auf die 
Bühne zu bringen. Aber es kam, wie immer, nicht dazu. Der 
Dramaturg Dr. Zeitz lehnte es mit der Begründung ab: in vorher- 
gehender Saison wäre ein Stück ohne Erfolg geblieben, das in 
derselben Zeitepoche gespielt hätte — sonst könnte man sehr 
wohl einen Versuch mit diesem Stücke machen (I !) Leider zwingt 
mich meine Arbeit zu solchen Berichten, damit der Leser, der 
mich ja als Dramatiker nicht kennt, eine gewisse Vorstellung 
davon bekommt, dass der klimatische Einfluss Italiens offenbar tatsäch- 
lich eine vorhandene dramatische Fähigkeit gelähmt hat, und dass es 
nicht bloss Einbildung meinerseits ist, wenn ich von diesen Werken 
rede und von meiner nachträglichen physiologischen Erkenntnis» 

Als ich nach Italien zurückkehrte, da war es wieder mit dem 
dramatischen Sturm und Drang vorbei. 

Ein viertes Mal sollte sich derselbe Vorgang wiederholen. 
Als ich im vorigen Sommer nördlich der Alpen weilte, erwachte 
plötzlich so heftig der alte Jugendtrieb, dass ich binnen 
vier Wochen ein Revolutionsdrama meiner Heimat entwarf und 
vollendete. 

Ich denke, die wiederholten Erfahrungen beweisen doch 
wohl, dass ein klimatischer Einfluss voriiegen muss. Nicht als 
ob jeder Dramatiker würde, wenn er nördlich der Alpen ist! Das 
wäre ein kindischer Trugschluss; und gegen diesen Vorwurf brauche 
ich mich wohl nicht zu verwahren. Aber dass eine Hemmung 
oder Förderung auf Grund angeborener Anlage stattfinden kann — 
das ist es. Und wie ist es Goethe mit seinem dramatischen 
Schaffen in Italien ergangen? Zunächst nahm er seine Arbeiten 
mit, um Material für die neue Gesamtausgabe seiner Werke zu 
beschaffen. Es handelt sich um »Iphigenie", „Egmont*" und 
«Tasso". „Iphigenie"* wurde zuerst 1779 gedichtet, und als er 
1786 nach Italien fuhr, hatte sie bereits vier Fassungen eriebt^ 
davon schon zwei in Versen. 1787 hat er also nur die letzte 
Feile angelegt. «Egmont* war schon zum Teil in den Jahren 



') Vgl. Julius R. Haarhaus: Johann Wolfgang von Goethe. Leipzig. 



— 16 — 

1775—81 nieder^schrieben . worden. Von der Vollendung des 
Stackes schreibt Goethe am 11. August nach Weimar: „Es war 
eine unsäglich schwere Aufgabe . . .*" Das Manuskript des „Tasso* 
hatte Goethe ebenfalls mitgenommen und quälte sich damit. Erst 
«beschäftigte ihn ein neuer Plan, der freilich nicht zur Ausführung 
kommen sollte,'' .Iphigenie in Delphi*. Auch in Neapel schritt 
die Arbeit nicht vorwärte, über den veränderten Plan kam er 
weder hier noch in Sizilien hinaus. Als Torso brachte er den 
»Tasso** wieder nach Weimar zurück. Ich meine, das gibt zu 
denken, besonders wenn man erwägt, dass er gerade die «Iphigenie* 
1779 mitten in dringlichsten Amtsgeschäften in kürzester Zeit zu 
schreiben vermocht hatte, und seinen «Clavigo'' in genau acht 
Tagen ! 

Und merkwürdig und tatsächlich, wenn wir die römisch 
italienische Literaturgeschichte durchblättern, so werden wir bald 
inne, dass auch die Eingeborenen selbst diesem Einflüsse unter- 
worfen sind. Wo in aller Welt ist ein nennenswerter römischer 
Dramatiker ! Nichts als die paar Possen von Terentius und Plautus. 
Die Atellanen. Und damit basta. Wohl mag es auch durch die 
Rasse bedingt sein ; aber die Rasse entwickelt am Ende ihre Eigen- 
schaften in einem bestimmten Klima. Germanen, die lange im 
Süden leben, pflegen sich auch zu verändern. Die Milieutheorie 
erklärt längst nicht alles, vor allem weder Persönlichkeit noch 
Genie, noch eine wesentliche neue Botschaft, die wider den Strom 
geht; aber sie erklärt immerhin einen hohen Prozentsatz der Er- 
scheinungen. Wir können uns, mit sehenden Augen, dem nicht 
verschliessen, dass die Umwelt und zwar auch die Umwelt der 
unbeweglichen Natur einen bedeutenden Einfluss auf uns ausübt. 
Und die Italiener? Haben sie etwa wirklich eine dramatische 
Literatur? Und wieviel sind dieser italienischen Dramatiker? 
Da ist der berühmte Alfieri. Er hat einen vornehmen Stil» 
erhabene Gedanken und mancheriei Schönes; aber ernstlich auf- 
nehmen kann er es doch nicht, weder mit einem altgriechischen, 
noch englischen, noch deutschen, skandinavischen oder spanischen 



') Siehe die Anmerkung der vorhergehenden Seite. 



- IS - 

Dramatiker. Das sind ja die Völicer und Lander des Dramas. 
Wer ist da noch von allgemeinem Ruf? Aus früherer Zeit: 
Qoldoni und Pietro Cossa, kaum ist Metastasio zu erwähnen. 
Und heute etwa ein Giacosa und Gabriel d'Annunzio. D'Annunzio 
ist ein Dichter von „ausgearbeitetem** Schönheitsempfinden der 
Sprache. Dass er auf der Buhne aufgeführt wird, ist auch noch 
kein Beweis für seine dramatische Fähigkeit. Und ein Beweis gegen 
seine dramatischeBegabung ist sein letztes Drama: mPiü che ramore"*, 
wo er dem Publikum ein Expositionsgespräch von 45 Minuten 
Dauer zumutet**.^) „Hanneles Himmelfahrt" von Qerhart Haüpt^ 
mann wurde oft gegeben, aber deswegen wird man das Stuck 
nicht dramatisch finden können. Die Auffuhrung hängt meist 
von allzu persönlichen Sympathien ab, und der Erfolg — von 
Mode und Zufall. Hebbel wird viel seltener aufgeführt und 
ist doch sicher weit dramatischer, das heisst leidenschaft^ 
lieber bewegt in den Hauptpersonen der Handlung. Es erübrigt 
also nicht viel von dramatischer Bedeutung in Italien, und 
damit bleibt als Tatsache bestehn, dass die apenninische Halb- 
insel sich seit jeher durch Mangel an dramatischen Werken 
ausgezeichnet hat, etwa wie das russische Gebiet. Ich meine 
das nationalrussische, nicht den Kabinettpudding von hundert 
Nationen, deren Grenzpfähle zufällig weiss-blau-rot angestrichen 
sind, was der Unwissenheit schon genügt sie als allrussisch 
anzusehn. Eine Bilderreihe ergreifender Szenen aus dem modern 
sozialen Elend ist noch kein dramatisches Kunstwerk. Worin dieser 
antidramatische Einfluss liegen mag, das ist eben ein Problem, das 
man sich bisher noch nicht gestellt hat und auf das hinzuweisen 
der Zweck dieser Arbeit ist. Was Italien anbetrifft, so dachte ich 
bisweilen, es könnte an dem Pseudo-Scirocco liegen, der dort 
so häufig ist und auch sonst der italienischen Kultur seinen Stempel 
aufdrückt. Hierüber ein paar Worte. 

Man unterscheidet den echten „Scirocco** — das heisst den 
heissen afrikanischen Südwind, der auch nach Italien herüber^ 
kommt — von dem lokalen Scirocco, den ich „Sub-Scirocco" 

') Auch diesmal hat sich wieder ein kundiger Bühnenleiter verrechnet 
wie der Misserioig beweist 



— 17 — 

nennen möchte. Das ist ein scirocco-ähnlicher Luftzustand, der 
sich aber meist durch Windstille auszeichnet und im Winter gar- 
nicht warm zu sein braucht (im Gegensatz zum echten Scirocco). 
Die Sonne scheint dann wie durch einen leichten, hellen Schleier, 
die Augen werden geblendet; die Nerven erschlaffen, die Muskeln 
verlieren ihre Spannung, so auch die Haut, was das Rasieren 
erleichtert. Das Rasiermesser leidet doch wohl nicht an Auto* 
Suggestion ! Eine gewisse Indifferenz, Gleichgültigkeit und Stumpf« 
heit liegt im ganzen Körper. Aus dieser Indifferenz erklärt sich 
in Italien, dass so vieles beim alten bleibt, worüber sich die 
Fremden wundern. Auch der Betrieb der Bahnen ist davon be^ 
einflusst „Pazienza", Geduld! Man lässt es gehen, wie es eben 
geht. Man ist froh sich nicht weiter belästigen zu müssen. Natür- 
lich ist diese „Santa Pazienza" keine richtige Schutzheilige für das 
Drama, für den Sturm und Drang. Dieser Luftzustand kommt auch 
nördlich der Alpen vor, an manchen Orten viel mehr als an 
andern, wie ich aus Erfahrung weiss; aber doch seltener und 
weniger stark. 

Und dann ist der Italiener vor allem Städtebewohner, ausser^ 
halb der Stadtmauern geht er nur, wenn er muss. Das ist eine 
Art Verbannung für ihn. Ein Italiener schwärmte mir gelegentlich 
vom Landaufenthalt vor, als wir dann wirklich in einer echten 
Schweizer „Campagna*^ waren, wurde es ihm doch recht unbe- 
haglich ; ihm gefiele doch nur eine „solitudine popolata*' — eine 
bevölkerte Einsamkeit. Das Dramatische gedeiht aber nicht bloss 
in den Stadtstrassen, es verlangt offenbar auch vom Sturm der 
freien Natur genährt zu werden. Die alten Griechen standen uns 
darin näher. Ihre zahlreichen Gottheiten der freien Natur beweisen, 
dass sie auch für die aussermenschliche Natur Sinn hatten, ohne 
sie jedoch sentimental und lebensfeindlich überwuchern zu lassen. 
GötÜiche Wesen bevölkerten ihre Natur. 

Das sind meine klimatischen Erfahrungen im Dramd; es 
wird mich freuen, wenn sie Anregung geben, diese Wechsehvirkung 
weiter zu beobachten. Ich möchte hier nur noch meine persön- 
lichen, jahrelangen Erfahrungen über den „Sub*Scirocco** der 
einschlägigen Wissenschaft ernstlich ans Herz legen. Mit so viel 

2 



- 18 - 

Ärzten ich auch zu tun hatte, keiner war daniber orientiert. Es 
war allen ein dunides Gebiet In keiner Klimatologie wurde bis-' 
hier darauf Rucksicht genommen. Wenn man da nichts zu er- 
klären weiss, hilft man sich mit der berüchtigten „Autosuggestion". 
Das ist ja nur ein anderer Fachausdruck für „bösen Willen", „sünd- 
haftes" Bestreben und dergleichen mehr. Solche Erklärungen sind 
einer wissenschaftlichen Ehrlichkeit unwürdig. Ich stelle die — 
banale — Behauptung auf, dass alles einen physikalischen Grund 
hat Wo man noch keinen Grund und keine Ursache weiss, soll 
man — wenigstens unter Denkenden — ehrlich sagen : nesdmus. 
Alles andere ist Charlatanerie. 

Jener Sub-Scirocco-Zustand der Luft muss auch mit Licht- 
strahlungen zusammenhängen und mit dem Bestände der 
Feuchtigkeit Ich weise auf Gustav Le Bon hin, der der 
Entdecker des sogenannten schwarzen Lichtes ist und mehr : der- 
jenige, der zuerst die allgemeine Zersetzung und Strahlung der 
Materie experimentell nachgewiesen hat. Er sagt in seinem lehr- 
reichen Buch „L* Evolution de la Matifere" (Paris 1905), das wohl 
verdiente, ins Deutsche übersezt zu werden: „Spektralphotographien, 
die ich während mehrerer Monate wiederholte, zeigten mir in 
Übereinstimmung mit meinen Vermutungen, dass der grösste Teil 
des Ultraviolett im Sonnenlicht plötzlich verschwand, von einem 
Tage zum andern und zuweilen am selben Tage, ohne dass die 
Erscheinung mit irgend einer erkennbaren Ursache verknöpft 
werden konnte (folgen Beispiele.) , . . Das Ultraviolett besitzt nach 
meinen Erfahrungen eine so eigene und so energische Wirkung, 
dass es nicht anzunehmen ist, es spielte nicht in den Erschei- 
nungen der Natur eine aktive Rolle. Es wäre zu wünschen, dass 
in den Observatorien regelmässige Untersuchungen über seine 
Gegenwart und über sein Verschwinden im Lichte angestellt 
würden. Bei der gleichen Gelegenheit könnte man die Veränderung 
des Infrarot studieren . . • Das unsichtbare Spektrum besitzt bekannt- 
lich eine weit grössere Ausdehnung als das sichtbare Spektrum« 
Es ist wahrscheinlich, dass diese durchaus leichten Untersuchungen 
die Meteorologie aus ihrem ganz rudimentären Zustande, in 
dem sie sich heute noch befindet, herausfuhren wurden," 



- 19 — 



Es sollte mich freuen, wenn meine geringe Anregung dieser 
Wissenschaft dient, um die sich der Bruder meines Grossvaters» 
Adolf Theodor von Kupffer, ein anerkanntes Verdienst erworben hat. 



Ähnliche Erfahrungen und Beobachtungen wie auf drama- 
tischem Gebiete sind mir im Gebiete der Lyrik gekommen, und 
wieder ganz unbewusst und ohne dass ich zuvor daran gedacht 
habe. Um diese zu analysieren, muss ich des öfteren zurück- 
greifen und die Entwicklung samt den Einwirkungen der Natur 
verfolgen. Die Erkenntnis dieser Wechselwirkung zwischen Klima 
und Kunstform drängte sich mir auch diesmal verhältnismässig 
spät auf, eben als ich jährlich und wiederholt zu dem Wechsel so 
verschiedener Naturen, wie Italiens, Deutschlands und der Schweiz 
gezwungen war. Der Anlass wurde die von mir ersonnene Um- 
formung des Sonettes, die ich „Florentine*' genannt habe, weil 
sie mir zuerst in Florenz und im Angesichte seiner Schöne ent- 
stand. Ich ffihre das erste Gedicht der neuen Gattung hier 
an, um seine Seele und Form zu zergliedern und meine Er- 
klärungen daran anzuknüpfen. 

Da liegt Horenz im grünen Hügelkranze, 
Der Wasserrose gleich im Schoss geborgen. 
Wie auferwacht zu frohem Glfickesmorgen, 
Ein Gniss des Lebens, hell im Sonncnglanzel 

In blauen Dunst zerflattern alle Sorgen 
Wie lichte Träume, die uns nicht beengen, 
Wo mit dem Himmel sich die Berge mengen. 
Die diese Blume wie ein See umwogen. , 

Wo sich des Kelches weisse Blätter drängen 
Hat sie des Stromes grfines Band durchzogen, 
Beherrscht von vielen kühnen Brückenbogen 
Und Türmen ragend wie die stolzen Triebe. 

Was ist es, sag, was noch zu wGnschen bliebe? 
Ein Mensch wie dul und eine grosse Liebe! . ?) 

Ich hoffe, es gelingt mir hier, nur noch als Psychologe dem 
Wesen eines menschlichen Produktes nachzuspüren, das natürlich 



>) AufcrstehuAg, Irdische Gedichte S. 107, 2. Aufl. Leipzig 1903. 



- 80 - 

seinerzeit gänzlich ohne Meditation und bewusste Vernuriftbegrfin- 
dung entstanden ist Was die Seele der Florentiner anbetrifft, so 
spiegelt sie die Empfindung der althellenischen Welt, die ja auch 
im alten Etrurien, dem heutigen Toskana, in gewissem Grade 
lebendig war und ist. Das eigentümliche dieser Dichtungsform 
im Gegensatz zum Sonett liegt darin, dass die Grundempfindung 
des Gedichtes in den beiden Schlussversen (vgl. oben) zu einem 
prägnanten Ausdruck kommt — gleichsam zu plastischer Gestaltung; 
die Plastik aber ist gerade in Hellas und Florenz-Toskana heimisch 
gewesen. Der Inhalt dieser Empfindung ist der: wie schön auch 
die unbewusste Natur ist, die uns umgibt — die i^Natur"* schlecht- 
hin, wie man sie gewöhnlich nennt — ja wie schön sie auch ist 
und wie sehr ihr Reiz erhöht sein mag, hier durch die archi- 
tektonische Natur der künstlerischen Stadt, es fehlt doch Eins 
zur Vollendung: der Mensch, der dem ebenbürtig ist. Also das 
schönste Bild ist unvollendet, wenn der Mensch — als vollendete 
Naturerscheinung darin fehlt In den Gemälden Pompejis finden 
wir die Natur ohne ihr höchstes Attribut, den Menschen, so gut 
wie nie. Und die ganze Renaissancemalerei, insonderheit die 
toskanisch-florentinische, konnte sich die Natur ohne den Menschen 
kaum denken. Sie war ihm, auch wo sie so vollendet ist wie 
bei Correggio in „Zeus und Antiope", „Verlobung der Heil. 
Katharina" (Paris), immer nur Hintergrund oder Gesellschaft für 
den Menschen, um dessen Reize erst recht zu heben. Noch heute, 
wie ich schon erwähnte, ist die „Natur'* schlechthin ohne den 
Menschen dem Florentiner eine wüste Öde« Und das, obwohl 
er eine so schöne Natur in seiner Umgebung hat! Wir sehen, 
das ist ein schroffer Gegensatz zur nordischen Empfindung, die 
sich so gern in der pantheistischen Bewunderung der Natur ge- 
fällt. Der Italiener ist Polytheist, und er wird es wohl — trotz 
der rationalistischen jahrelangen Kämpfe des „Asino" (Esel) ^) 
wesentlich immer bleiben. Das beweisen seine Heiligen. Das 
liegt in der Natur des Landes. 



^) Sozialistisches und antiklerikales satirisches Witzblatt, das seit 
Jahren in Rom erscheint und trotz allem recht parteiborniert ist 



— 21 — 

Wenn wir einmal wissenschaftiich erkannt haben werden, 
von wie fundamentalem Einfluss das Klima (vgl. S. 10) auf den 
Menschen, seine Empfindung und die Form seiner Überzeugung 
ist, werden wir nicht mehr erwarten, dass sich infolge von Predigten 
und Missionsarbeit das Wesen einer Religion irgendwo ändern 
wird, auch wenn eine offizielle Konversion stattfindet Beim einzelnen 
kann durch Ursachen der Persönlichkeit eine wirkliche Umwandlung 
stattfinden, aber bei einem ganzen Volke — nein, im Wesen der 
Sache jedenfalls nicht. Das ist eine Naturunmöglichkeit. Der Katho- 
lizismus schwand fast überall, wo der Qermane sass. In Deutsch- 
land hielt er sich nur in Landern, die wie Bayern und die Rhein- 
gegend keltisches Blut hatten. Und die Rasse ist eben zum Teil 
der Ausdruck eines Klimas, das lange Zeit zu wirken Gelegenheit 
hatte. Die Empfindungen des Menschen gehen auf rhythmische Ver- 
hältnisse zurück, verschiedene Möglichkeiten des Rhythmus liegen 
im Menschen, und die Natur ausser ihm wirkt eben verschieden 
darauf ein und verstärkt, je nach dem, die Anlagen. 

Also die Grundempfindung der „Florentiner entspricht dem 
toskanischen Gelände und seinem Geiste« Gewiss kann man auch 
wo anders eine Florentine dichten, aber entstanden ist sie dort 
und gefestigt hat sie sich dort Natürlich ist eine einzelne Person-» 
lichkeit und dazu eine stark ausgeprägte, wie ein selbständiger 
Dichter oder Denker, nie und nimmer absolut dem Einfluss des 
Milieus unterworfen. Je stärker die Persönlichkeit ist, um so 
heftiger wird der Kampf mit der Umgebung: daraus erwächst dann 
eine reiche Frucht 

Ich greife auf das Gedicht zurück und spreche von seiner 
Form. Die Form ist ja nur ein organischer Ausdruck dessen, 
was in ihr lebt — kein zufälliges Äusseres, wie noch viele glauben. 
Und nun erst recht nicht eine Form, die neu erwachsen ist Das 
fteiroschema des Sonettes ist: 

a b b a 

a b b a dieselben 

c d e oder c d c 
III — 

cde dce. 



- 22 — 

Dagegen das Schema der Florentine ist: 

a b b a 

b c c d 

c d d e 

e e 

Beim Sonett sind die beiden ersten Strophen verkettet, 
dagegen fallen die sechs Schlussverse, deren Reimstellung wechseln 
kann, ab. Die Florentine erwächst rein organisch wie eine 
Pflanze, wo jeder Trieb mit dem andern natürlich verwachsen 
ist Und zum Schluss setzt die BIQte an, die beiden Schluss- 
verse. Oder sie ist wie ein Geschmeide aus Ringen, die in- 
einander greifen und als Verschluss hingt das Kleinod daran. 
Strophe II ist mit I durch b verkettet; Strophe III mit II durch 
c4*d; und der Schluss mit III durch e. Das ganze Gefuge ist 
also ein durchaus organisch-logisches, es hat etwas vom Geiste 
der antiken Naturphilosophie oder — plastischen Geist Das 
Sonett ist mehr architektonisch, zwei Säulen stehen auf einem 
Fundament Die Florentine ist plastisch, und nichts scheint auf- 
gesetzt. In der Plastik kann nichts bestehn, was nicht mit- 
einander in Zusammenhang ist Ich kenne Natur und Klima in 
Hellas leider nicht; was aber Florenz und Toskana, z. B. auch 
Lucca und Siena anbetrifft so verbindet es einen eigentümlichen 
Reiz an Malerei und Plastik. Die Berge greifen in schlichten 
Linien ineinander, sie scheinen verkettet und ihre zarten blauen 
Töne geben ihnen einen malerischen Duft der sich bis ins frische 
greifbare Grün nächster Hügel abstuft Die Cypresse femer ist 
in Toskana das natüriiche Wahrzeichen, gleichsam ein natürlicher 
Turm oder Campanile von himmelanstrebender Feierlichkeit 
eine Art Efflorescenz des Bodens. Die Architektur mit ihren 
schlanken aristokratischen Berg- und Stadttürmen ist ganz ver- 
wandten Geistes. Man spürt den „Genius loci" — das Klima. 
Wir sehen, dass die Verehrung des Ortsgenius keineswegs blos 
eine künstlerische Symbolik war, sondern einen sehr realen 
Grund und Boden hatte. Alles in allem ist die Florentine, die 
mir in Florenz geboren wurde, in Wahrheit ein Kind dieser Heimat 



mit ihrem feierlich anmutigen Wesen, in dem sich die Leidenschaft 
unter vornehme Formen verbirgt Zu psychologischer Ergänzung 
gestatte ich mir noch Florentine XXXIX ^) hier anzuführen. 

Mein holdes Kind, das ich von Herzen liebe, 
Wird man dich frostig schelten, Florentine ? 
Du honigdurstende, du wilde Biene, 
Die lieber tot als kalten Herzens bliebe 1 

Die Locken schüttelnd, schelmisch süsser Miene 
Bist du so oft am Herzen mir gelegen. 
Viel wunder Stunden balsamreicher Segen — 
Des Stolzes und zugleich der Anmut Erbe. 

O könnt ich ewig deine Gluten hegen, 
Dass ich mit deiner Seele flammend sterbe 
Und bis zuletzt um deine Schönheit werbe. 
In deinem Feuer Leidenschaft versenge 1 

Mein holdes Kind, den Bann der Feindschaft sprenge! 
Strahl deine Welt in diamantner Enge! 

Die erste Florentine entstand im Februar 1900 auf dem 
Piazzale Michel Angelo, der, wunderbar auf einem Hügel gelegen, 
einen Blick über ganz Florenz und seinen Umkreis gewährt Es 
folgten drei weitere, die in der „Auferstehung" erschienen. Darauf 
verliess ich Italien und ging in die Schweiz und dann nach Deutsch- 
land, nach Berlin, wo ich, mit kurzer Sommerunterbrechung, etwa 
zwei Jahre blieb. In Berlin entstand keine einzige Florentine. 
Erst 1901 im Herbst bei Ciarens am Genfersee (vgl. „An Edens 
Pforten" S. 7). Wer diese Gegend kennt, besonders an sonnen* 
klaren Tagen und zugleich die Riviera oder den Blick von Majano 
(kurz vor Fi^sole) auf das Amotal und Florenz, wird vielleicht 
verwandte Stimmungen empfunden haben. Gewisse Stellen am 
Genfersee sind an manchen Tagen durchaus italienisch und nicht 
schweizerisch. Solche klimatische Stimmungen können auch nörd- 
lich der Alpen vorkommen, doch nicht fiberall. Der Neuchftteler- 
see ist ganz anders. Seine bei Gewitter türkisgrunen Wellen 
kommen am Genfersee nicht vor. Erst 1903 erwachte in Florenz 
der Trieb zur Florentine wieder mit lebhafter Energie und wurde 
in vier Wintern ein obwaltender. 



»Aus Edens Pforten -- aus Edens Reich.* S. 93. Dresden 1906. 



- 24 — 

Das Sonett ist in Deutschland oft schief angesehen worden. 
Sogar Goethe tat es zuerst, bis . er ihm selbst später in schönster 
Weise huldigte. Es ist bekannt, wie schöne Sonette Graf August 
von Platen in Venedig schuf. Mir scheint, die Florentine hat 
mehr von germanischem Geiste als das Sonett Sie ist logisch- 
konsequenter. Und das ist keine italienische, vielmehr eine ger- 
manische und hellenische Eigenschaft. Florenz ist aber — trotz 
seines ausgesprochenen Deutschenhasses — wohl am meisten 
hellenisch plus germanisch in Italien. Sollte der Deutschenhass 
in Florenz am Ende gerade ein Zeichen für den starken germa- 
nischen Zusatz zum alten Etrurier sein ? Das darf natürlich in Italien 
aus Nationaldunkel nicht eingestanden werden. — Noch eins: die 
Reime sämtlicher 52 Florentinen, die ich verfasste, sind weiblich- 
klingend, und das ist der einzige Reim, den der Italiener anerkennt 
Gut und Blut wären für ihn nur halbe Reime. 

Merkwürdig ist, dass mir das kleine ,iLied** so gut wie gar nicht 
in Italien gedieh. Der Italiener, in der Tat, hat keinen Sinn für den 
Zauber des kleinen Liedes, wie etwa „Über allen Wipfeln ist Ruh". 
Dass dieser Ausfall des kleinen Liedes in Italien nicht in meiner Be- 
gabung oder Anlage begründet ist, beweist der Umstand, dass sich 
solche Liedchen von Anfang an in meinem Schaffen gefunden 
haben. Ich habe nämlich nie einer „Muse geschellt", wie mir ein 
Schriftsteller einmal überlegen von sich äusserte, sondern nur 
dann gedichtet, wenn es sich übermächtig regte. Schon als mein 
erstes Gedichtbuch „Leben und Lieben" (Pierson 1895) erschien, 
schrieb der gelehrte Kritiker Dr. hon. August Siebenlist in Wien 
in seinem Blatte, es wären soviel kleine Lieder im Buche, die durchaus 
nach Komposition verlangten: einzelne sind in der Tat auch 
vertont worden. Ich führe hier nur ein paar Strophen aus dem 
neuen Buche an, welches auch „Vogel Schelm" in meiner eigenen 
Kompositon enthält: 

Lieber Vogel Schelmerei 
Setz dich zu mir nieder I 
Tjul — Nach deiner Melodei 
Singe muntre Lieder! 

Tju I Taradei I 

Tararadeil 



- 26 — 

und 

Ein tiefer Blick! 
Ein stummer Gnissl 
Ein halbes Lächeln I 
Und ach! kein Kuss? 

Und andre wie „Was wir nie besessen'*, „In allen Blättern" 
usw. Alle diese entstanden nördlich der Alpen. Jetzt, wo 
ich die Produkte psychologisch durchforsche, ist es mir eigen- 
tfimlich, wie sich das Rauschen des Waldes mit dem dunklen 
unruhvollen Sehnen vereint. Verschiedenes derartiges ist Im Thüringer 
Walde entstanden:*) „Ein Sang den Göttern", „Prometheisch", 
„Wohin? Wohin?'*, „An der Kiefernhalde*\ „Ein Sang des Un- 
glücks" usw. Als Beispiel gelte: 

über die Täler und über die Höhen 
Träume ich weit in die Welt hinaus. 

Aber wohin? wohin? 
Herze, mein Herze, fliegst du nach Haus?*) 

Die Brise des nördlichen Meeres weht mir noch aus fol- 
gender Strophe: 

Der Sturmgott greift in die Wogen 
Und spielt mit jauchzendem Bogen 
Sein unergründliches Lied 

Und lachend zerschellen 

Die Köpfe der Wellen. 

Wohin er sie zieht*) 

Dies und anderes entstand in Heiligendamm an der Ostsee. 
Das Gedicht „Im Dom dieser Erde" scheint mir durchaus vom 
ebenen und feierlichen sonnendurchzitterten Buchenwalde beein- 
flusst Wie ein weites Kirchenschiff, von hellen Säulenstämmen 
getragen, wo die Sonne wie durch grüngoldige farbige Scheiben 
zittert» 

Da will auch die Sonne verstohlen träumen 
In kühlen, saulengetragenen Räumen—.*) 

SO träumt der „Gespensterwald" von Heiligendamm an den rau- 
schenden Fluten des baltischen Meeres. 



') „An Edens Pforten", S. 106 und 120. 

^ Alle diese in »Auferstehung, Irdische Gedichte*. 

^ »Auferstehung*, S. 43, 66 und 57. 



- 26 — 

Wir sprechen wohl im allgemeinen von poetischer Stimmung 
und meinen damit so eine allgemeine „ästhetische Benebelung". Wer 
denkt aber im Ernste daran, dass dieser Einfluss ein rein physika- 
lischer und damit auch ein psychologischer ist. „Welch prosaische 
Entwertung!*' werden sentimentale Gemüter sagen. „Ist es denk- 
bar, dass solche naturwissenschaftlich-materialistische Thesen von 
einem Dichter selbst aufgestellt werden?!" Und doch ist diese 
tiefe Beziehung zur Natur, der ja auch der Mensch mit all seinen 
Fähigkeiten angehört, doch ist dieses Ineinanderweben der Natur- 
kräfte oder Naturgeister die wahrste und tiefste Poesie. Wir 
kranken immer noch an der Überschätzung des Gehirns, das 
den meisten die glänzendste Antithese zum Leibe ist. In Wahr- 
heit ist aber das Gehirn nur ein Teil unsres Leibes, nur ein 
Lämpchen, das allzuspärlich in die Tiefe unseres Wesens hinab- 
leuchtet — geschweige denn in die Tiefen der Mitmenschen und 
der Umwelt Gewiss, unsre Persönlichkeit kann sich im Gegen- 
satz zur Umgebung und deren physikalischen Einflüssen fühlen — 
das hat wohl niemand mehr als der Autor selbst empfunden. 
Aber eben auch dieses gegensätzliche Gefühl beeinflusst uns doch 
— nicht zur Nachahmung, aber wohl oft zum Kampfe bestimmend. 



Ein tiefes wunderbares Geheimnis der Welt ist der Rhythmus 
— das Auf und Ab der Kräfte, das wogende Verhältnis der 
Empfindungen, die aus den Eindrücken resultieren. Rhythmus 
ist die Musik der Bewegungen und Empfindungen; mystisch 
gesprochen: die Musik des Weltprozesses. Es gibt da auch 
harte Dissonanzen. So verschieden die Persönlichkeiten sind, 
so verschieden ist ihr Rhythmus, ihr individuelles Lebens* 
tempo. Auch Sonne und Erde, Erde und Mond stehen in einem 
rhythmischen Verhältnis zu einander. Wer einen feinen Sinn hat, 
merkt einen Rhythmus auch in der Weltgeschichte. Wie fein 
muss Goethes Empfindungsvermögen gewesen sein, dass er allein 
in der Nacht in Weimar die Schwingungen eines Erdbebens 
spürte, das in Messina stattfand! Die Schönheit eines Menschen 



— 27 — 

besteht in dem abgewogenen Rhythmus der Mächte, die von 
seiner persönlichen Macht gebändigt sind. So ist es auch mit 
dem harmonischen Charakter eines Menschen. Die Hellenen 
waren ein ausgesprochen rhythmisches Volk. Daher die bei 
ihnen vorherrschende Schönheit und deren ethische Wertung — 
die Harmonie ihrer Kunst, die reiche Entfaltung ihres Wesens, 
vor allem des erotischen. Daher das Bisexuelle ihrer Kultur.') 
Leidenschaftlichkeit ist nicht roher Qewaltsausbruch, wie einige 
glauben, sie kann sehr wohl» im Rhythmus gebändigt, scheinbare 
Ruhe sein,') z. B. in einem schönen Kunstwerk, in einem form- 
vollendeten Gedicht Man spricht von den marmorkalten 
Sonetten Platens, von der kühlen Antike. So reden die Leute, 
bei denen die Dissonanz vorherrscht Das reiche Gefühl für 
Rhythmus zeigt sich eben auch in der griechischen Sprache, in 
ihrer berauschenden Fülle von Zeitformen, verschiedensten 
Bewegungen und Massen. Daher bedurften die Griechen des 
Reimes nicht Der Reim ist eine Art Aushilfe bei mangelndem 
rhythmischen Empfinden. Das Holperdi holperdi der französischen 
Poesie, und zum Teil auch der italienischen und modemer 
deutscher Nachempfindungen, ist noch längst kein Rhythmus. 
Deshalb kaprizieren sich wohl auch die Franzosen so auf den 
identischen Reim, der uns geradezu arm vorkommt Sie haben 
eben noch weniger rhythmisches Empfinden und brauchen eine 
noch stärkere Nachhilfe. Man prüfe doch folgende Verse des 
berühmten Paul Bourget: 

Par ce jour de d^cembre une brise d'^t^ 

Souffle languissament sur le golfe enchantd, 

Et cette brise ti^de et toute parium^e 

Semble une voix qui dit: „Sans une bien-aim^e, 

Repond, que viens tu faire ici, Jeune ^tranger? . .1'* 

— „O Nature, je viQps t'adorer et songer . . ."•) 



') Hier kann ich Leo Berg nicht beistimmen. Vgl. S. 101 der 
»Geschlechter**. 

*) Der englische Physiker Thompson hat berechnet, dass die in 
einem Gramm Materie aufgespeicherte und harmlos gewordene Kraft 100 
Milliarden Kilogrammometer betrl^l — also 10000 Kilogramm 10000 Kilo- 
meter weit schleudern könnte. 

') Sensations d*ltälie. S. 215, 1892 Paris. 



-^ 28 - 

Was wärde man im Deutschen zu einem Gedicht sagen« das 

hinter einander folgende Reime hätte: ,,seh — See; o weh! — 

ich weh'; ich steh — versteh!'' Schauderhaft! Nicht wahr? Die 

einseitige Entwiclclung der französischen Kultur, deren Ausdruck 

ja auch die Acad^mie fran^ise ist, die ewigen Ehebruchsromane, 

die gleichförmigen, öden Provinzstädte . . . sollte das nicht auf 

der Entwicklung beruhen, die das gallisch-fränkische Gemisch mit 

lateinischem Firnis in dem {dortigen Klima der Ebenen genommen 

hat, besonders in und um Paris? Paris übt auf die Dauer auf 

fast alle einen verwandten Einfluss aus. 

Ein Dichter, der stark rhythmisch-harmonisch veranlagt ist, 

hat es heute schwer. Er kann doch unmöglich seine ganze 

Sprache umformen. Auch das Deutsche ist an Rhythmus arm» 

im Vergleich zum Altgriechischen. Die . apenninische Halbinsel 

scheint dem Rhythmus nie recht zuträglich gewesen zu sein — 

wenn auch dafür feineren Reimkompositionen, wie Sonett, Terzine« 

Ottave und Canzone beweisen. Eine italienische sapphische oder 

alkäische Ode, z. B. vom berühmten Giosu£ Carducci, ist ein 

Rennen mit Hindernissen für jeden, der wirklich rhythmisch 

empfindet. Man lese doch folgende Strophe eines inhaltlich schönen 

Sonettes dieses anerkannt ersten Dichters des neuen Italiens. 

Sogar in die elf silbigen jambischen Zeilen des Sonettes werden 

bis 17 (!) Silben gezwängt: 

Nh te, lauro infecondo, ammiro o bramo, (14) 

Che menti e insulti, o che i tuoi verdi e strani (17) 

Orgogli accampi in mezzo al vemo gramo (14) 

O in fronte a calvi imperador romani. (14) 

Italiener lesen es ohne Ausstossung (Elision); doch — gereimte, 
schwungvolle Prosa oder Poesie ist noch kein „Sonett**. Will 
man es wirklich als Sonett lesen, so ist es sprachliche Barbarei : 

Ne te laur* infecond* ammir* o bramo 

Zeile zwei ist überhaupt unmöglich. 

Orgogl* accamp* in mezz* al vemo gramo 
O 'n front' a calv* imperador romani. 

Man bedenke, dass bei einem solchen Abhacken der Sinn fast 

verloren ginge. Hier versagt also gerade die rhythmische Form, 

die die Italiener so gern, wie alles was ihneji sympathisch ist, den 



— 29 — 

«.deutschen Barbaren'* absprechen. Unter vier Augen freih'ch ge- 
stand mir der berühmte Florentiner Guido Mazzoni, dass die 
deutsche Sprache formell das könnte, was der italienischen versagt 
wäre, nämlich griechische Rhythmen nachzubilden. Und er spricht 
aus Erfahrung, da er selbst Übersetzer der Distichen des Meleagros 
von Gadara ist^ 

Aber auch die römische Poesie muss sich doch recht 
zwängen und stutzen, um es der griechischen nachzutun; sie 
kommt mir des öfteren vor, wie ein massiver Heldenschauspieler, 
der den griechischen Jüngling Phaon spielte. 

DiSic[e]^t decöniin[e]st pro pätria möri 
lies: dulc^t decönimst pro patriä mori! 

Es mag wohl säss sein für das Vateriand zu sterben, aber 
süss zu lesen ist das nicht Mit dieser Verschluckung der Silben 
lässt sich aus Dante besser lesen. Zum Beispiel die erste Zeile 
des „Inferno**: 

Nel mezzo del cainmin(o) di nostra vita 

ist fliessend, weil die verkürzte Form «cammin"* für „cammino" 
gebraucht ist Djigegen die zweite: 

In una selv(a) oscura-mi trovai 

>•• 

Leider habe ich selbst den Einfluss des hellenischen Klimas noch 
nie erfahren können. Und was die modernen sogenannten Hellenen 
anbetrifft, so ist dieser Mischmasch, dem man — wenigstens soweit 
ich es im Ausland traf — 90 Prozent Slaventum etc. ansieht, kein 
Beweis. Auch mag sich Klima und Natur verändert haben. Auch 
die neugriechische Sprache ist verkruppeft und verstümmelt. 
Natürlich macht das Klima allein nicht die Geistesprodukte: das 
zu behaupten, fällt mir gar nicht ein. Es kommt auch auf Art 
und Grad der Reaktionsfähigkeit an, die der betreffende Mensch 
oder die Rasse entgegenbringt Gehe ich auf eigene Eriahrung 
zurück, so muss ich bekennen» dass Italien mich wenig rhythmisch 
beeinflusst hat, obwohl mein rhythmisches Empfinden von Haus 
aus sehr stark ist 

Der rhythmische Einfluss des Fahrrades (!) dürfte sich auch 
veriolgen lassen. So entstand in Heiligendamm in der Nach- 

^) Florenz, Sansoni. 



— 80 — 

mittagsstimmung eines sonnigen Herbsttages ein Qedicht, welches 
beginnt : 

Duftend rascheln die fauligen Blätter, 
Früh verwelkt von den Meeresstfirmen, 
Unter dem lautlos gleitenden Rade, 
Rascheln und plaudern. 

Dann Strophe drei: 

Rauschend wälzt sich der grünliche Riese 
Mit dem lilaschimmernden Rücken, 
Weissen Gischt an das Ufer speiend. 
Grollet und rauschet.*) 

Wirkt hier nicht im Rhythmus das stete sanfte Gleiten des 
Rades auf ebenen Parkwegen, auch das leise Geräuch der halb- 
faulen Herbstblätter? Schon die Laute der Worte malen die 
Stimmung: das »Rascheln und plaudern', das „rauschende Wälzen'*, 
das „Speien des weissen Gischtes*' usw. Ein zweites Gedicht, 
das den Einfluss des Rades verrät, aber in ganz anderer Stimmung, 
und dazu den kalten Winterwind ahnen lässt, beginnt: 

Breite die Flügel, breite sie aus, 

Fliege getrost in die Stürme hinaus! 

Schweb' wie der Aar, der Beherrscher der Lüfte, 

Unter die Grauen, unter die Grüfte! 

Zaust dir der Wind die entfalteten Schwingen, 

Fühlst du erst mächtig ein frohes Gelingen.') 

Es war ein kühler klarer Dezembertag in dem weitläufigen 
Park der Cascinen in Florenz, als ich in bitterer Kampfesstimmung 
nach herben Erfahrungen mich durch diese Fahrt zu stählen 
suchte. Der Winterwind und das eilende Rad sind hier von be- 
deutendem Einfluss gewesen. Natürlich ist nicht das ganze 
Gedicht auf dem Rade verfasst, aber wesentlich „empfangen" 
worden. Ich hoffe, man wird in all diesen Beobachtungen ein- 
mal den Ansporn zu interessanten Forschungen der mensch- 
lichen Psyche finden — wenn wir erst so weit sind, allgemein 
zu erkennen, dass den Schlüssel zur menschlichen Psyche der 
helle Verstand vor allem in sich selbst findet. Alle objektive 
wissenschaftliche Erkenntnis erwächst wesentlich aus der sub- 



') Auferstehung, S. 58. 

*) An Edens Pforten, S. ia 



— 31 — 

jektiven, aus dem: „tvmOi <r€avTo/'. Das war die tiefe Weisheit jenes 
Spruches.^) 

Ich glaube nicht, dass ein Gedicht wie das oben zitierte mit 
seiner rhythmischen Stimmung an einem schwülen Sciroccotage 
entstehen könnte, bei einem ermüdenden Spaziergange. Das Auto- 
mobil — horribile dictu! — könnte eine ähnliche Stimmung er- 
zeugen, freilich fehlt dabei die Aktivität. Ich bitte bei alledem zu 
bedenken, dass ich ein wesentlich neues Gebiet berühre, das 
eben noch zu erforschen ist. Ja, der Wind kann von gewaltigem 
Einflüsse auf das Schaffen werden. Ich wiederhole noch einmal: 
es bedarf eines entsprechenden Resonanzbodens. Die innere 
Stimmung des Menschen und der äussere Einfluss des Klimas 
und andere Bedingungen geben erst in ihrem Zusammenwirken 
das Resultat So konnte Goethe mit Recht sagen, alle seine 
Gedichte wären Gelegenheitsgedichte. Das Leben ist nicht ein- 
fach, sondern unendlich kompliziert. 

Den Rhythmus hoher rauschender Wipfel glaube ich noch 
heute in folgendem Gedichte zu spüren: 

Heller froher Duft des Waldes, in dem leichten Wehn des Windes 

Grüssest mich wie helles Lachen eines grossen schönen Kindes. 

Weckest alle muntren Geister, tief in meines Lebens Grunde, 

Wie die ungestümen Küsse von geliebtem frischem Munde. 

Hoher Wald, dein reich Geflüster plaudert, plaudert tausend Dinge, 

Stumme Lieder meines Herzens, singe sie, o rausche, singe. 
.) 

Sollte nicht in der Tat etwas darin leben von dem weithin ver* 
rauschenden Wogen eines Waldes? Und zwar an einem schönen 
Sommertage, wo der Wind wie ein erfrischender Hauch den reichen 
Duft der Natur verjüngend uns zuführt? Wie aus dem Rauschen 
des Waldes ein ganzes Bild Kultui^eschichte erstehen kann, dafür 
war mir die Dichtung „Wenn die Wälder rauschen*") ein merk- 
würdiges Beispiel. Die Luftwogen des Windes können eben ähn- 
lich auf uns einwirken, wie die Schallwellen der Musik. Musik 
und Klima können auch zusammenwirken. 



*) So sollte ein vemfinftiger Arzt In der besonnenen Selbstbeobach- 
tung des Kranken eine Hülfe der Wissenschaft sehen. 
*) An Edens Pforten, S. 30. 
*) Auferstehung S. 112. 



- 82 - 

Ich denke dabei an einen Vorfrühlingstag, wo die Sonne 
den unruhigen Wolken jenes helle Blitzende des Frfihlings verlieh 
und die italienische Militärmusik unter meinem Fenster vorbeizog. 
Im Körper entstand sofort ein bestimmter rhythmischer Takt, der 
sich geradezu gewaltsam aufdrängte. Ich musste meine Arbeit 
abbrechen und skandierte genau die Hebungen und Senkungen 
meiner Empfindung. Das ergab folgendes Schema: 

und dann Verse, die so begannen: 

Es kommen die Soldaten mit Musik 

Sie locken wie zum Marsche in den Krieg 

Sie gehen allesamt in gleichem Schritt 

Tatri— rararatri! Wer wollt nicht mit ... . 

1) 

Und wie merkwürdig! Eben fällt mir das bekannte Soldaten- 
lied ein: „Es geht bei gedämpfter Trommel Klang". Wie wirkt 
es wehmütig, so ganz anders, weil eine Kürze, ein behender Laut 
weniger ist. Ähnlich entstand auch die römische Ode: „In unsern 
herbstlichen Tagen" an einem Herbstnachmittage auf dem Pincio, 
während die Musik spielte; und zwar wurde es eine Odenform, 
der ich sonst nicht begegnet bin: 

— ww — I — ww — |w — w Wieder ertönt hell der Gesang der Vögel 

— ww — i — ww — |w — w AbereskehrtnimmerzurfickderPrfihling. 

— w — w — w — Mfider Herbst umfängt dich, Rom, 

w — ww — ww — w— Die Bluten der Jugend verwelken dir.*) 

Der Rhythmus ist ja viel reicher als der Reim, der nur airi 
Ende der Verse ist, während der Rhytmus im ganzen Verse wirkt. Wo 
aber das rhythmische Empfinden gering ist, da wird der Rhythmus 
zu wenig mitempfunden. Und die Dichtung prägt sich dann nicht 
mit gleicher Schärfe ein. Jeder Schulknabe weiss aus Erfahrung 

— man denke an die Memorialverse der lateinischen Grammatik — 
dass der Reim unendlich das Auswendigbehalten erleichtert. Es 
ist leichter, drei Seiten Poesie im Kopfe zu haben, als eine 
Seite Prosa. 

Dass der Rhythmus direkt wie ein Reim wirken kann, fand 



*) An Edens Pforten S. 44. 
'} Auferstehung S. 94. 



- 38 - 

ich gerade unlängst in Eckermanns „Gesprächen mit Goethe' \ 
in bezug auf ein reimloses Gedicht Goethes: 

Cupido, loser, eigensinniger Knabe 

Du batst mich um Quartier auf einige Stunden 

Wie viele Tag' und Nächte bist du geblieben. 

Und bist nun herrisch und Meister im Hause geworden I 

äussert Eckermann zu Goethe: „Noch etwas Eigenes hat das 
Gedicht Es ist mir immer, als wäre es gereimt, und doch ist 
es nicht so. Woher kommt das?" 

„Es liegt im Rhythmus", sagte Goethe. 

Goethe erklärte nun die Wirkung. Es heisst dann weiter: 
«Der Takt", sagte Goethe, „kommt aus der poetischen Stimmung 
wie unbewusst."0 Wie recht hatte Goethe mit dieser Bemerkung I 
Das beweist eben, dass diese rhythmischen Wallungen aus dem 
unbewussten Leben aufsteigen, dass sie unbewusst beeinflusst 
sind. Ja der grössere Teil unseres Schaffens geht unbewusst vor 
sich. Ein Gedanke, ein Plan steigt in uns auf. Er verschwindet. 
Ohne dass wir bewusst darüber nachgedacht, taucht er . nach 
geraumer Zeit reifer in uns auf. Er ist beeinflusst, verarbeitet 
worden, von uns selbst, ohne dass unser L^ämpchen — das Ge- 
hirn — darum wusste. Die Einwirkungen der Umwelt und damit 
auch der klimatischen Einflüsse werden von uns verarbeitet Dieser 
Einsicht wird sich allmählich nur noch derjenige verschliessen 
können, der vom Wesen und Wirken des Menschen als einer 
Erscheinung der Natur überhaupt keine Vorstellung besitzt Als 
ob man ganz nach Belieben dies oder das könnte, und dann ein 
eigensinniger Sünder ist, wenn man es tut oder nicht tut 

Das folgende Gedicht, das an einem Maitage auf einer Berg- 
wiese über dem Genfer See entstand, verrät, wie ich glaube, den 
Einfluss der Natur und klimatischer Naturstimmung sehr deutlich, 
und der Rhythmus dürfte so zwingend sein, dass ihn selbst der 
nicht falsch lesen kann, der von Metrum und Rhythmus wenig 
Ahnung hat: 

Zirpl zirp! singen die Grillen laut; 
Gold — Goldt flimmert im Wiesengrün. 
Blau — blaul fliehn in diie Feme mich 
Tiefer See und die Alpen. 

^) II, S. 75, Reclam. 



- 34 - 

Schwarz! schwarz I steigt von den Bergen her 
Hochwald, ernst wie ein Heer der Nacht 
Hell flieht prangender Jugend Schar 
Vor ihm lenzende Buchen. 

Zirpl zirp! singen die Grillen laut 
Welt — Welt! träumende Einsamkeit 1 
Lust — Lust! springender Frühlingsborn 
Rauschet, rauscht in den Felsen.^) 

Als ich dieses Gedicht vorlas, bemerkte jemand unwillkürlich : 
»Ist das nicht gereimt?* — „Nein." — „Aber es wirkt doch so." 
Es sind noch vier andere Gedichte in demselben Rhythmus ent- 
standen, die mehr oder minder denselben Charakter haben. Gern 
wfisste ich» wie viele ähnliches empfunden haben, und ob ihnen 
dieser Rhythmus nicht rein deutsch erschienen ist, ohne alles 
äusserlich Erzwungne, das antiken Rhythmen bisweilen in moderner 
Sprache anhaftet. Kenner des Griechischen erinnern sich hier 
an das Bruchstück eines echten Gedichtes von Anakreon: 

fi trat vapBiviov ßKhrwv. 

Dass ein reimloses rhythmisches Gedicht unter Umständen 
also wie gereimt wirken kann, beweist, dass der Rhythmus Reim- 
erinnerungenzu wecken vermag, dass der Reim also rhythmische 
Erinnerungen schafft, ähnlich wie das rhythmische Gefühl wirkte 
also eine Art Nebenrhythmus ist. Der Reim ist Gleichklang, 
Gehörempfindung. In gleicher Weise, wenn auch weniger stark 
als der Schall bei der biologischen Verknüpfung des Gehörorganes 
mit dem statischen Organe des Gleichgewichtes (Ohrsteine der 
Fische, Canales semicirculares beim Menschen) — können auch 
Farben-, Licht-, Linien- und meteorologische Empfindungen 
wirken, nämlich rhythmisierend. 

Farben gibt uns die Natur, ob es die hellblauen Berge 
Toskanas oder die schieferblauen Thüringens sind, ein graugrünes, 
sturmbewegtes oder azurblaues Meer, ob es die zitronengelben 
Berge Siziliens sind, die die Augustsonne verbrannt hat, oder ein 
sammtgrüner Wald auf den Höhen von Schwarzburg; ein roter 
herbstlicher Buchenwald, eine weissblühende Narzissenwiese über 
Montreux, ein wogendes goldiges Kornfeld mit rotblühendem Mohn 



') An Edens Pforten S. 113. 



— 35 - 

oder ein Schlossgarten, der in abertausend farbigen Blüten prangt 
— all das sind Farben des Klimas, infolge von Boden und Wetter, 
das die verschiedensten Rhythmen und Empfindungen in uns 
weckt. Und zuletzt, nicht zu vergessen: die stahlgrauen, meer- 
grünen oder rehbraunen Augen, die goldigen, nussfarbnen oder 
rabenschwarzen Haare der oder des Geliebten. 

Ach, ich möcht im Golde wühlen, 
Maid, in deinen goldnen Haaren 1 ') 

Der bronzene Leib des Knaben, der in die blauen Fluten des 
tyrrhenischen Meeres taucht, weckt einen andern Rhythmus, als der 
silbrige Leib einer Schönen, die in das blassgrüne Wasser eines 
Marmorbassins von Evian-les-Bains steigt. Bekanntlich beruhen 
ja die Farben alle auf Ätherschwingungen, also auf rhythmischen 
Bewegungen, die in uns hineinfluten. Interessant ist die psycho- 
logische Ergründung der Farben Wirkung, ja ihre dramatische 
Wirkung, wie sie in dem kleinen Werke „Die Seele Tizians'* ') von 
Eduard von Mayer analysiert wird. 

Und das Licht? Wie gewaltig ist sein Einfluss auf unsere 
Stimmung! — auf Stumpfe natürlich weniger. Der graue Regen- 
tag wirkt wie bekannt auf die meisten verstimmend, wenigstens 
wenn er lange anhält, und wenn man seinem Eindruck auf dem 
Lande unterworfen ist, ohne sich stark ablenken zu können. 

Ein steter Regen niederrinnt 

Wie fade Schmeicheleien 

Und durch die Bäume pfeift der Wind 

Die hohlsten Melodeien.*) 

Ein klarer Sonnentag lässt alles in anderem Lichte erscheinen : 

Und alle dem Dichten feindliche Lust 
Will ein Leben und Lieben werden.^) 

Freilich kommt es wieder auf den Resonanzboden an. Es 
gibt Leute, die sich über die Langeweile des reinblauen Himmels 
beklagen. Für mich ist er die Musik der schönen Ewigkeit, deren 
ich nie satt werde. Auch Goethe sagt mit Sehnsucht, wo er von 
der alten Dichtung: „Daphnis und Chloe'* spricht: „Und keine 



An Edens Pforten, S. 101. 

*) „Führer zur Kunst", No. 2, Esslingen 1906. 

*) „Leben und Lieben" Leipzig 1895. 

*) Auferstehung, S. 24. 

3* 



- 36 — 

Spur von trüben Tagen, von Nebel, Wolken und Feuchtigkeit, 
sondern immer der blaueste, reinste Himmel, die anmutigste Luft 
und ein beständig trockner Boden, so dass man sich fiberall 
nackend hinlegen möchte!'*^) — Also, meine Herren Sittlichkeits- 
kongressler aus Niflheim, preisen Sie den Regen, la Santa 
Pioggia! Goethe sagte auch, er fühlte sich weniger arbeitslustig 
bei niedrigem Barometerstande. Und Nietzsche spricht von dem 
gunstigen Einflüsse sonnig-frischer halkyonischer Tage. Das halbe, 
fahle Licht des Mondes weckt fast immer eine skeptisch-melan- 
cholische Stimmung im Menschen — ja auch im Hunde, der ihn 
weltschmerzlich anheult. Das Mondlicht tastet um die Dinge 
herum und gibt uns immer neue Rätsel auf. Auf den Wasser- 
spiegel druckt „der Mond sein bleiches, gespenstiges Siegel" ') — 
daher die Unruhe und das unbefriedigte Sehnen, das dieser mys- 
tisch verträumte Zauberer erregt. 

Das klarere, umzeichnende Licht des Herbstes wirkt ganz 
anders auf den Leib, als das dunstige des Monats Mai. Solche 
Einwirkung klaren Herbstklimas in meiner ehstländischen Heimat 
äussert sich im „Herbstschweigen": 

„Der Ahorn blutet. Kalter Sonnenschein 
Umspielt der Birke sturmentlaubte Zweige".*) 

Wie feieriich gemessen wirkt das dumpfe Blau im sterbenden, 
bräunlichen Licht kurz nach Sonnenuntergang — all* imbrunire — 
wie der Italiener so schön sagt. 

Drunten in den blauen Schleiern 
Der Campagna stilles Feiern, 
Sonnentrunken, 

Rom ist tief in Dunst versunken . . . 
Dunkle blaue Abendfeme 
Und ein Leuchten, Stern bei Sterne; 
Durch des Fensters hohen Bogen 
Leis gezogen 
Kommen warme Nachtgedanken.*) 

Es ist, als ob sie von aussen aus der Natur an den Menschen 

herantreten würden. 



*) Goethe sagt auch von Manzoni : „Eine Klarheit in der Behandlung 
und Darstellung des Einzelnen, wie der italienische Himmel selber/' 
■) Auferstehung, S. 13, 14, 92. 



— 87 — 

Wenn die Stuimwolken am Himmel jagen, werden andere 
Gefühle ausgelöst, als wenn grosse weisse Sommerwolken am 
Himmel stehen. Man denke z. B. an Schillers Gedicht in „Maria 
Stuart", wo die Gefangene sich endlich im Garten ergeht« Sie 
tritt aus dem Kerker und die Winde dringen auf sie ein: 

Eilende Wolken, Segler der Liifte I 

Oder wenn es heisst: 

Stürme des Frühlings, Stürme der Liebe, 
Sehnsuchtberauschend in träumenden Zweigen, 
Hör ich euch Ueder der Zukunft geigen 1 
Stürme des Frühlings, Sturme der Liebe, 
Denen sich lauschend die Wipfel neigen. 
Weckt mir der Stunden jauchzenden Reigen! 
Stürme der Liebe. ') 

Dies Gedicht entstand an einem Februartage in Florenz, als 
die „Tramontana", der nördliche Bergwind, durch die Wipfel der 
blattlosen Pappeln und immergrünen Eichen brauste. Und wieder 
ganz anders ist die Lichtwirkung, wenn beim Subscirocco die 
Sonne durch einen Schleier scheint, der das Auge schmerzhaft 
blendet. Wieder anders, wenn im Winter schneeschwangere blau- 
graue Wolken das Licht verschlucken. Wie sagt doch Nietzsche? 

Die Krähen schrein 

Und ziehen schweren Flugs zur Stadt 

Bald wird es schnein — 

Wohl dem, der jetzt noch — Heimat hat 

Feuchtigkeit wirkt anders als Trockenheit, je nach der Kon- 
stitution. Wir sind eben Kinder der Natur. Dagegen hilft kein 
Sträuben. Von all dem ist unsere innere Spannung abhängig. 
Dass sich solche Eindrucke noch nachträglich geltend machen 
können, habe ich selbst wiederholt erfahren. Das Gedicht ent- 
steht keineswegs immer im Momente des Eindruckes selbst, meist 
wohl nur der Anfang. Der Rhythmus prägt sich ein, gewiss, und 
die ganze Grundempfindung, aber die Worte gestalten sich dem 
Bewusstsein oft wesentlich später. Auch das beweist mir 
wieder, dass das Gehirn diese Arbeit erst später beleuchtet und 
notiert, die schon früher unbewusst stattgefunden hat Ja selbst bei 



*) An Edens Pforten, S. 97. 



- 38 - 

Prosaarbeit habe ich das erfahren, wie in der Wintergeschichte: 
„Wenn es schneit . . ."*) 

Wie die Farbe und das Licht, so wirken auch die Linien 
der Nktur. Die Ebene der Felder und Wälder erzeugt eine andere 
Stimmung als die Felsen, der See und die Berge der Alpen: 

Die Wälder ziehen sich in langer Kette. *) 

Das russische Volkslied und fast überhaupt die ganze rus- 
sische Literatur beweist den Einfluss der Ebene auf die dichterische 
und künstlerische Produktion. Eine stille Sehnsucht und Melan- 
cholie zittert in diesen Linien, als ob der Blick hoffnungslos an 
den fernen Horizont schweifte und immer wieder schweifte, 
während der Horizont ihm entflieht. Und heute noch ist Russ- 
land derjenige europäische Staat, der trotz lOOOjähriger Ge- 
schichte nicht zur Verwirklichung seines Sehnens kommt. Ob 
es ernstlich anders wird, solange der Slave, der den grössten Be- 
standteil dieses Staates der 100 Nationen ausmacht, in seinem 
Klima wohnt? 

Merkwürdig ist, wie sich in den Gedichten des heut so 
bekannten amerikanischen Dichters Walt Whitmann, der doch 
kaum Indianerblut hatte, so viel rhythmische Stimmung findet, 
die dem Volksliede der alten Indianer verwandt ist. Bei diesen 
heisst es: 

Hätt ich Flügel, zu dir zu fliegen, Krähenflügel, 

Dem Laufe der Wolken folgt ich, ziehend zum Orrasee. 

oder Knabenwille ist Kindeswiile, 

Jünglings-Gedanken lange Gedanken.*) 

Sollte nicht doch bei Withmann auch irgend eine Einwirkung 
der Savannen und des Camplebens statthaben? Seine „Gras- 
halme" sprächen dafür. 

Dagegen ein sanftes und doch mitunter heroisches Hügel- 
land mit seinen Wellenlinien leitet den Blick freundlich von einer 
Erdwoge zur andern ; der Geist wiegt sich in den leicht verbundnen 
Höhen. Schweift er in die Ferne, so entsteht nicht die endlose 



1) Doppelliebe, Novellen aus Ehstland, 1901. 

*) Leben und Lieben. 

^) Herder, Stimmen der Völker. 



- 39 — 

Melancholie, sondern das fesselnde Spiel der wandernden Linien. 
So entstanden die Verse: 

Toskana, meine Seele ist gefangen. 
Im Frieden deiner blauen Hügellande.') 

Oder wenn die machtvollen Linien des Gebirges sich in zarten, 
fast verflimmernden Konturen abheben, wenn sie: 

Wie luftger Geister ferne Mauern schwinden, 
Wo See und Himmel bräutlich sich verbinden, 
Unendlich eins in wolkenloser Treue 

Ersteht des Glückes ungetrübt Empfinden.*) 

Und ganz anders klingt es in der Seele wieder: 

Zerklüftet, finster aus dem Nebel ragen 
Der Berge Häupter auf ... . 

Und weiter daselbst: 

Gleich weissen Geistern, schäumend lebensvollen 
Stürzt Wog um Woge her, der Flut entquollen. 
Und jede sich am Strande bricht. 

Und aus diesem Unwetter mit den unruhvoll zerrissenen 

Linien, die sich immer wieder erneuen, verbunden mit den 

Dissonanzen des Donners, erwächst dann der tiefste Geist dieser 

klimatischen Stimmung: 

Da wogt heran auch unser Menschenleben 
Das ruhelos zuletzt zerschellt — 
Ein heisses, tiefes, unbewusstes Streben, 
Das sich verlangt aus dunklem zu erheben 
Zur kurzen Freude dieser Welt') 

Kann da jemand ernstlich behaupten: aus freier Willkür des 
Gehirns, aus Spekulation im Lampenlicht würde Form und Geist 
der Kunst geboren! Nein, sie ist ein Kind der Natur — der 
Persönlichkeit im Menschen und der wechselnden Influenzen. So 
behält die Kunst einen ewigen Wert Das ist wahre Kunst. Das 
ist Religion, weil es die tiefste Erkenntnis der Natur und alles 
Seins ist. 

In keiner Zeit stand es mit der Dichtung so schlimm wie 
heute; sie ist als ein massiges Spiel gewertet, gerade noch gut 
genug für Halbreife, Sentimentale oder gesellschaftliche Lazzaroni, 



«) An Edens Pforten, S. 39 und 7. 
') Auferstehung, S. 4. 



— 40 - 

SO dass der Verleger nicht mehr auf die Kosten — des Autors 
kommt. ^) Es fehlen die Leser, und wer noch liest, borgt den 
Gedichtband — wenn nicht vom Autor selbst, von einer guten 
Freundin. Poesie ist Luxus, Genussmittel nach der allgemeinen 
gültigen Auffassung. Nein! erwidere ich, die Poesie ist Lebens- 
mittel, ') sie ist die Quelle der Wissenschaft, weil sie am unmittel- 
barsten das Wesen der Umwelt und der menschlichen Psyche 
entschleiern kann. Sie ist so ursprunglich oder so konventionell, 
wie der Mensch, der sie spricht Aber das ist es eben: unsre 
moderne, verbildete Gesellschaft versteht nicht mehr die Sprache 
der Dichtung. Die Zunge ist durch Absinth, Schnaps, Tabak 
und andre Reizmittel so abgestumpft, dass sie das Quellwasser 
vom fadesten Mott nicht unterscheiden kann. Man schmeckt 
nicht mehr die Erdsalze der Quelle. Dichtung kann die stärkste 
Nahrung sein, wenn sie sich vom Blute des Menschen selbst 
nährt und von allen Einflüssen der Natur. Natürlich ist das 
keine Dichtung für Familienblätter und Generalanzeiger. Feuchtig» 
keit und trockne Sonnenluft, Windesmacht und brütender Scirocco, 
alle Ausdünstungen der Pflanzen und Blumen, alle Farben des 
Himmels, der Erde und des Wassers, alle süssen und bittren 
Eigenschaften der Menschen — alle meteorologischen und 
biologischen Einflüsse haucht uns die Dichtung entgegen. Und das 
sollte nicht interessant sein?l Das kann nur die Stumpfheit be- 
haupten, die nicht zu sehen, noch zu riechen, noch zu hören versteht. 
Ich gehe in den Wald — zufällig in den Grunewald, an den 
See von Hundekehle. Es ist Vorfrühling. Welke Blätter liegen 
auf dem Erdboden und rascheln unter den Tritten. Unruhige 
Wolken spiegeln sich im See. Hie und da unschöne Reste — 
Spuren menschlicher »Zivilisation"*. Der trübe Fichtenwald sieht 
wie eine verlassene Braut aus, die um die vergangene Schaar 
der Freier trauert. Da bricht die Sonne durch die Wolken I Die 



') Schuster & Löffler in Berlin, die bekannten Verleger unserer 
bekanntesten Lyriker äusserten zu mir: Jedes Gedichtbuch ist gleich 
einem Verluste.** 

*) Vgl. „Heiland Kunst** (Heft 3 der „Lebenswerte**) und die Prosa- 
einleitung von „An Edens Pforten**. 



- 41 - 

Stamme entflammen sich lichtrot und blauer Himmel lacht in 
den See hinein, dass die kleinen Wellen sich im Frühlingswinde 
kräuseln, als erschauerten sie in erstem Kusse. Tritt die Sonne 
aus den Wolken oder verbirgt sie sich, so entsteht immer eine 
heftige Luftbewegung. Selbst die welken Blätter, die der Wind 
erfasst, tanzen und glitzern in der Sonne. Da erwachen auch 
im Menschen verwandte Rhythmen und Worte: 

Auf dass ein Frühling komm auf Erden, 
Muss es auch Herbst und Winter werden. 
Damit die Blüte sich entfalte 

Tut Not, 

Dass sich der Tod 

Qestalte. 

Und diese klimatische Empfindung wächst dann höher hinaus: 

Auf dass der Tag ein Leuchten werde, 
Bedarf der Nächte diese Erde — 
Damit am Gluck dein Herz sich weide, 

Und Lust, 

Dir schwell die Brust, 

So leide P) 

Das ist nur ein Beispiel. 

Wenn die grauen Nebel streichen. 
Durch die Zweige kahler Eichen,^) 

entsteht eben eine andre Weise. 

Es ist Frühling am Genfersee. Ein Schwärm von Vögeln 
zieht seine Linien und Kreise in den Lüften, um dann in ge- 
schlossener Reihe seinen Flug zu wagen. 

Nach meiner Heimat ziehen diese Vögel 1*) 

Mit dem pfeilartigen Schwärme, der gen Norden zieht, erwacht 
ein voller Rhythmus der Sehnsucht und mit ihm zahllose Bilder. 

.Der Frühling grüsste mich am Tor" . . . 

und wie anders dieser Frühling in der Villa Adriana, als der vorige 
am Grunewaldsee. Diesmal gipfelt der lenzende Eindruck denn 
auch in den Worten: 

Lebt heut in mir die schöne Weit auf Erden, 

So kann sie morgen, morgen — Menschheit werden 1*) 



*) Auferstehung, S. 28 und 126, vgl. da auch S. 32. 
*} An Edens Pforten, S. 77 und 7L 



- 48 — 

Der Falter im Winde erweckt verschiedene Rhythmen. Einmal Jm 
Vorfrfihh'ng'* ^ gleicht der Überwinterte der Hoffnung, die sich zu 
früh in die Stürme des Lebens wagt Und das andere Mal in den 
vielen Kürzen: 

In dieser Sonnenlichtung www — w — w 

Ein verspäteter Falter, >w w — w w — w 

Wie eine verlorne Dichtung wwww— w — w 

Aus der Zeiten Alter. w w — w — w 

Glutrot, wie nur in der Campagna, geht die Sonne hinter Sankt 
Peters schattenblauer Kuppel unter, das Ave Maria läutet; die 
letzte Schar der schwarzen Priester wandelt vom Berge Pincio fort. 
Plötzlich: das phantastische Bild des schönen Gott-Jünglings 
Dionysos auf einer Totenbahre, von Gerippen in schwarzen Kutten 
getragen! Wäre es nicht eine Vision für einen Maler! Und ethisch- 
klimatisch heisst es: 

Ein Frösteln zieht durch meine Glieder, 

Die Sonne sank — und kehrt sie wieder? . . .>) 

Wie eine Antwort auf die Schlussfrage dieses Gedichtes klingt es 
aus einer andern ausführiich klimatischen Herbststimmung, das 
„Lied von diesem Sterne'*, das nur in seiner Gesamtheit der drei 
Strophen das richtige Verständnis erzielt. 

Dieser brennende Purpur des Abendhimmels mit den lodern- 
den Wolken ist eine Naturerscheinung, die ich selbst ausser in 
der römischen Campagna so gut wie nirgends beobachtet habe, 
die aber auch in den Posümpfen (Polesine) gerühmt wird. Es 
dürfte wohl die stagnierende Feuchtigkeit sein, der Dunst der 
weiten Sümpfe, der dieses grelle Farbenspiel stark beeinflusst. 
Und man möchte sagen : ist diese Farbe nicht wie ein natüriicher 
Mantel zur Geschichte Roms?') 

Der einfachste physiologische Ausdruck des Rhythmus ist 
1. der Pulsschlag, dann 2. die wechselnde Spannung der kleinen 
Muskelfasern im ganzen Körper, und 3. die Arbeit der grossen 
Muskeln, die in Bewegung treten, z. B. die Gebärde, der Schritt 



>} Auferstehung, S. 111, 61, 97, 60. 

^ Vgl. auch über das Rot in Venedig und seiner Kunst in der „Seele 
Tizians'' von Eduard von Mayer. 



_ 48 — 

des Tanzes und die Sprachlaute. Die verschiedensten rhyth- 
mischen Möglichkeiten kreuzen sich in der Regel, heben sich auf, 
erzeugen Disharmonie und Prosa. Das ist wohl auch der Grund, 
warum unsere disharmonische Zeit jede rhythmische, gebundene 
Sprache oder Gestaltung so grundlich hasst: man empfindet sie als 
Tadel oder als Langeweile. Disharmonie ist das modern Interessante. 
Es kann nun ein Reiz — und so auch ein klimatischer — durch 
augenblickliche oder angesammelte Stärke einzelne der rhythmischen 
Möglichkeiten fördern, herausheben und so den Minimalrhythmus 
eines Metrums wecken (Jambus,Trochäus, Anapäst, Daktylus). Wirken 
viele Reize zusammen, wie in der Regel, ohne in gemeinsamer Har- 
monie ineinander zu greifen — eines ohne auf das andere Röck- 
sicht zu nehmen — dann entsteht eben das rhythmische Chaos oder 
die Prosa, die allein legitime Tochter der schönen Jetztzeit" (!) Die 
ständige Wiederholung eines und desselben Reizes, eines und des- 
selben Metrums kann rhythmische Monotonie erzeugen. Um die Dich- 
tung davor zu bewahren, bedarf es grosser Energie der Sprache, be- 
sonders beim französischen Alexandriner, wie es Preiligrath ver- 
sucht hat: 

Spring an mein Wfistenross aus Alexandria! 

Meine Bemerkungen über den Rhythmus möchte ich noch 
mit der Erwähnung eines alkaiischen Strophengedichtes schliessen, 
das in einem kleinen roten Zimmer in Pompeji entstand, wo ein 
halbverwittertes, kreisrundes Bild von eigenartigem Reiz an der 
Wand war, und wo der blaue Nachmittagshimmel hereinsah: 

Der Himmel blaut ins rote Gemach herein. 
Im mosaiknen Estriche spriesst das Grün, 

Und mählich wächst der Sonne Schatten. 
Raschelnd die scheuen Lazerten huschen. 

Ich erlaube mir darauf aufmerksam zu machen, wie der 
Rhythmus der alkaiischen Ode hier unbeabsichtigt, doch organisch 
und von Naturmomenten beeinflusst zum Ausdruck gekommen 
ist. Feierlich ist der Rhythmus der beiden ersten Zeilen: 



und liegt nicht etwas Feierliches und Aufsteigendes im satten 



Auferstehung, S. 83. 



— 44 — 

Himmel, der in das tiefrote Gemach hereinblaut und im mosaiknen 
Boden, aus dessen halbzerstörter Kunst neues Leben herausdrängt? 
Und die stille Einsamkeit. Lesen sich diese Zeilen nicht mit 
einer gewissen feierlichen Energie? Dann die dritte Zeile: 

— „Und mählich wächst der Sonne Schatten." Auch sie ist feier- 
lich, noch gedehnter, ohne die Doppelkurze in den ersten — das 
langsame Sinken der Sonne und das langsame Vorrücken des 
Schattens rhythmisch begleitend. Auch tönt diese Zeile melan- 
cholischer aus, als die beiden ersten mit ihrer Hebung (Starkton) ^) 

— eben entsprechend dem Untergehen der Sonne. Und die vierte 

Zeile: — ww — ww — w — w — „Raschelnd die scheuen 

Lazerten huschen". Die unruhigen Daktylen stören gleich den 

unruhigen Eidechsen (Lazerten) den Träumer plötzlich auf. Die 

Worte „rascheln, huschen und scheu" verstärken noch diesen 

Rhythmus. Gegen Schluss vermindert sich naturgemäss die Über* 

raschung, die Daktylen lösen sich in Trochäen auf. Ich hoffe» 

der Leser fühlt hier, was ich sagen wollte. Etwas ähnliches findet 

sich in einem bekannten Gedicht von Horaz: 

Vides ut alta stet nive candidum 
Soracte, nee jam sustfneant onus 

Silvae laborantes, geluque 
Flumina constiterint acuto. 

Da ist in den ersten beiden Zeilen der feierliche Anblick 
des schneebedeckten Soracteberges rhythmisch begleitet, in der 
dritten schwereren Zeile die Schneelast der Wälder, in der 
letzten das Zufrieren der Flüsse wunderbar fein durch die Un- 
ruhe der Daktylen und die folgenden erstarrten Trochäen rhyth- 
misch empfunden. Man könnte scherzhaft sagen, es ist wie 
ein antiker Witterungsbericht in Versen von Prof. Dr. Horatius 
Flaccus. 

Dass Rhythmus und Reim sich gegenseitig beleben können, 
ist natürlich» und es kann auch noch eine Assonanz und Allitera- 
tion hinzutreten, sodass die Wirkung eine drei-, ja fast vierfache 
wird und sich aufs tiefste einzuschmeicheln sucht. 



'} Vgl. Dr. Karl Borinski, Deutsche Poetik, Leipzig. 



- 45 - 

Nachträglich interessant ist es mir, dass die vielfache und 
reiche Wirkung gerade da eintrat, wo mich die reiche Erscheinung 
des „Hermaphroditen** in der Villa Albani physiologisch und 
seherisch erfasste. Letzteres sage ich, weil meine Auffassung vom 
Hermaphroditismus der üblichen durchaus entgegengesetzt ist*) 
Es ist hier nicht der Ort, das auszuführen, obgleich mir auch 
diese, fast transzendentale Anschauung aus der Erfahrung der 
Natur erwachsen ist. Es ist keiner der bekannten liegenden, 
sondern ein stehender Hermaphrodit, von schönem Typus, und 
allgemein unbekannt, umsomehr als die Villa Albani, Winckel- 
manns ehemalige Stätte, ja aller Welt streng verschlossen ist, 
und ich nur dem persönlichen Einfluss der ebenso liebenswür- 
digen als hochgebildeten Gräfin Ersilia Caetani-Lovatelli den 
Eintritt in jene zauberische Welt verdanke. Die Florentine 
beginnt : 

In Aphroditens üppig schöner Fülle 
Doch wie der Götterbote leicht bewegbar, 
So lehnst du da, vom Liebeshauch erregbar, 
Des Götterwesens reiche Doppelhülle. 

In dir sind Mann und Weib doch unzerlegbar.*) 

Die Reime „bewegbar, erregbar, zerlegbar" haben etwas 
merkwürdig Schwebendes erhalten. Und gerade bewegte» ver- 
klärte Materie ist diese Gestalt. Man beachte auch die Assonanz 
in: „üppig schöner Fülle", wie sie gleichsam den Inhalt malen, 
schon mit dem Schwellen der Lippen. Auch die Allitteration der 
zweiten Zeile mit dem schwebendsten aller Konsonanten, dem b, 
usw. Das beweist wohl einen tiefen Zusammenhang zwischen 
Form und Geist, zwischen dem Einfluss der Aussenwelt und der 
Reaktion in uns selbst, die wieder entsprechend nach aussen tritt, 
besonders wo eine gestaltende Fähigkeit vorhanden ist. Solch 
einzelne nachweisbare Fälle dürften wohl darauf hinweisen, dass 
es noch viel andre Fälle gibt, die wir nicht einzeln nachweisen 
können — und so besonders klimatische Einflüsse, die erst nach- 
träglich bemerkbar werden, aber nicht gerade nachrechenbar. 



*) Vgl. das Wort ».Araphrodif' und die eingehende Prosa-Erläuterung 19 
in „An Edens Pforten — Aus Edens Reich" und S. 65. 



~ 46 — 



Ich hoffe, man wird aus alledem den Eindruck gewinnen, 
dass Rhythmus und Dichtung etwas Urlebendiges sind — sein 
können. Mir deucht: eines der tiefsten Naturgeheimnisse. 



Noch einiges über das Erotische. Es ist naturlich, dass 
dieser tiefste Quell unseres Wesens erst recht aus dem Erdreich 
steigt. Man ist seit reichlich 1000 Jahren darin geschult, die 
Liebe, sagen wir der Deutlichkeit halber: die erotische Liebe, 
als etwas Nebensächliches zu werten, als etwas Akzessorisches, 
das lieber gar nicht akzedieren sollte. Man geruhte zu übersehen, 
dass das menschliche, sagen wir, das Weltgeschehn im Erotischen 
seine Wurzeln hat — im Anti-erotischen hiesse ja wesentlich nichts 
anders. Nur noch zur Zeugung wurde die Liebe geduldet: erst 
von der Kirche, um Gott lobende Menschen zu schaffen, die der 
Kirche und ihren Herren dienen ; und dann vom Staate, um Staats- 
bürger zu schaffen, die ihre jeweiligen Herren verteidigen sollen 
und Abgaben zahlen. Jegliche erotische Liebe ist eine Erschei- 
nung der Natur und all ihrer Einflüsse, der klimatischen im reichen 
Sinne dieses Wortes (vgl. Seite 10). Dagegen hilft alles Schimpfen 
nichts. Freuen wir uns dessen ! Dann werden wir auch den Tod 
vernünftiger ansehen und wieder eine Religion bekommen. 

Fürchten doch alle Redaktionen den Frühling, weil dann so 
viele Liebesgedichte entstehn! Wie sehr das Klimatische und die 
Rasse, zum Teil als klimatisches Produkt, auf das Erotische ein- 
wirken, beweisen ja schon — trivial gesprochen — die sehr 
abweichenden Heiratsgrenzen und Strafgesetzparagraphen! Was 
in einem Lande und Klima religiös als Todsünde oder wissen- 
schaftlich als Verrücktheit oder Schweinerei verdammt wird, ist 
in einem andern eine ethisch gewertete Empfindung, die dann 
auch die Dichtung befruchtet, z. B. Hafis.^ Ein Klima kann sich 
durch verschiedene Umstände verändern. Es kann Jahrhunderte 



Man lese ihn aber unverfälscht, wie in der trefflichen Übersetzung 
von Vincenz von Rosenzweig*Schwannau, Verl. der k. k. Hofbuchdnickerei, 
Wien. 



- 47 — 

dauern bis eine Rasse dem hemmenden Einfluss eines Klimas 
unterliegt oder durch Rodung und Landbau das Kh'ma verwandelt; 
oder bis sie die hemmenden Einflüsse verliert, die sie nach 
Übersiedelung aus dem früheren Klima noch mitgebracht hat. 
Man denke an die Völkerwanderung, an die Vandalen, an 
die Araber in Spanien, an die fürstlichen Häuser germanischer 
Abstammung in den verschiedenen Ländern, ja an den alten 
Adel überhaupt, der in den meisten europäischen Ländern vor- 
wiegend germanisch ist Alle diese haben sich doch im Klima 
mehr oder weniger gewandelt. Die Liebe des Mannes zur 
männlichen Jugend z. B. hat in gewissen Klimaten nie so feind- 
selig verfolgt oder wissenschaftlich missverstanden werden können, 
wie in Europa, besonders Mittel- und Nordeuropa, und gar Nord- 
amerika! Allerdings standen die Indianer gar nicht feindlich dazu. 
Möglich ist, dass die Eroberer aus anderen Ländern sich unbewusst 
dagegen stemmten, dann bewusst, weil sie für ihre Gefühle fürch- 
teten. Gefährdete Positionen werden am stärksten befestigt. Ja, 
die Verbreitung der Sitten und der Religionen ist doch sicherlich 
von klimatischen Einflüssen mitbedingt. Ein einfacher Blick auf 
eine statistische Religionskarte beweist das schon. Brahma blieb 
daheim, Buddha fasste nur in Asien Wurzeln, das Christentum 
— verfälscht — in Europa und Amerika, Mohammed auch in 
einem begrenzten Gebiet. Warum haben Mohammedanismus und 
Buddhismus nicht in Europa Wurzel gefasst? und das Christen- 
tum fast garnicht in Asien? Warum ist der Despotismus wesentlich 
in Asien zu Hause und bestehen geblieben, trotzdem Asien der 
älteste kultivierte Erdteil ist? Wir sind eben Kinder der Erde! 
Religion und Eros sind Zwillingsgeschwister. So ist, um 
auf persönliche Beobachtungen zurückzukommen, die Liebe in der 
Dichtung tief von der Natur beeinflusst. Vor allem durch den 
Typus, den man liebt. Der Typus ist nicht eine willküriich 
gewählte Form, sondern der Ausdruck dessen, in was für rhyth- 
mischen Verhältnissen die inneren Mächte zur Vereinigung gelangt 
sind und in was für Schwingungen sie Kraft ausstrahlen. Je nach der 
Wechselwirkung ihrer Schwingungen harmonieren zwei Menschen 
mehr oder minder. Wann wird uns aus dieser Erkenntnis endlich 



— 48 - 

eine wissenschaftliche Erforschung nicht blos des Sexuellen, sondern 
auch des Erotischen erwachsen? Es ist also der Typus, der 
erotisch fesselt: 

So dunkle Augen fühlt ich einst mich lenken 



Die wirren Locken haben ihre Ahnen 
Im braunen Haar, das einst mir lieb und teuer. 
So kehrt der Liebsten Bild in schelmisch neuer, 
Entzuckender Gestalt den Wünschen wieder.') 

Das längliche, ovale oder runde Antlitz; die reichen, blühenden 
oder herben Formen ; die dunklen oder lichten Augen, die sonnen- 
hellen oder nächtlichen Haare; die Schelmerei oder Würde; der 
sonnenbraune Leib des Südens oder der mondhelle nördlicher 
Klimate — all das sind in grossen, knappen Zügen die wesentlichen 
Einflüsse. Ich glaube überhaupt, dass nichts so sehr die Liebe 
erklärt — die wohl trotz aller Forschung ein Mysterium bleiben 
wird — als die Typen- d. h. individuelle Rassenlehre. Ein 
Individuum kann wiederholt, selbst bei gemütlicher Zuneigung 
einem Typus gegenüber physiologisch versagen und bei einem 
andern Typus potent sein.') Aber auch die klimatische Natur, 
abgesehen vom Menschen, ist von tiefem Einfluss auf den Eros 
und auf die erotische Kunst, auf Entstehung und Gestaltung der 
Dichtung. Zum Beispiel: 

An seinem silbernen Schleier 
Merk ich des Winters Nahn. 

Aus diesem weissen kalten Reif, der die eben noch grünende Wiese 
überdeckt, erwächst eine melancholisch -erotische Empfindung: 
dass an derselben Stelle die beiden Liebenden vor Monden zurück 
in erblühendem Glücke geweilt haben. Aber: 

Es fiel ein Reif auf Erden 
Auf alle unsre Lust.*) 

Der verhängnisvolle Schleier der Feindschaft, wie der silber- 
kühle des Winters, decken beide das Grünende und Blühende wie 
etwas Sterbendes zu. Das war in einem nordischen Schlosspark. 



*) An Edens Pforten, S. 8. 

*) Vgl. die belehrenden Beichten im Buche „Vom Wesen der Liebe*' 
von Dr. M. Hirschfeld. 

') Auferstehung, S. 125. 



— 49 — 

Anders der frische Herbstwind über dem blauenden See im An- 
gesicht der blauenden Berge im Schatten der Wallnussbäuroe : 

O rauscht er wieder mal im Herbstgelände 
Der Fruhlingswind der Liebe 1 In den Saiten 
Der Seele rauscht ein Wunderlied. — *) 

die Liebe. Wie gewaltig ein Ort mit all seinen lokalen Eigen- 
schaften auf das Liebesempfinden einwirkt, weiss wohl jeder, der 
in seiner Umwelt die Liebe genoss: 

Aus diesen Bluten hauchen süsse Düfte 
Ihr Gift in meine Seele.') 

Der schattende Baum am Felsabhang erweckt das Bewusstsein 

geliebt zu werden: 

Immer such ich das traute Helm 
Deines rauschenden Schattens auf. 
Deiner Zweige erprobtes Dach, 
Liebster Baum dieser Erde.*) 

Der Frühlingswind wogt durch das Tal des Arno : 

Sieht da wandelt mir entgegen meines Traumes Lustgestalt 



Wie das wilde Haar des Frühlings, quillt der Locken Obermut. 

^^ ^^ ^^ ^^ ^^ • 

Und: 

Ach, beneld des Windes Schnelle, der dich in die Arme schllesst. 
Der dir Wangen, Lippen, Kniee stürmisch küssend, dich geniesst. 

Ist diese Erscheinung, ihre Schönheit, ihr Reiz nicht wie ein 
organisches Gebilde mit dem anmutigen Sonnenfrühling verwoben 
— mit dem Winde, der in den Locken wühlt, der um das hübsche 
Antlitz streicht, um alle Blossen des lenzenden Leibes leidenschaft- 
lich werbend, ja selbst neidisch die Gewandung zausend : 

— — — — — — — — die an deinem Herzen liegt, 

Die der Hülle gleich die Rose deiner Hüfte zart umschmiegt 1*) 

Verrät nicht der eilende Rhythmus selbst diesen Fluss der Em- 
pfindung, wie das Strömen der Wasserschnelle nahe der Brücke, 
auf der das Bild entsteht, und wo der Wind den freien Zug durch 
das Tal hat Die verliebte Sehnsucht des Windes atmet auch in 
diesen lebhaften, langwehenden Versen. Das erinnert mich eben 



') An Edens Pforte, S. 89, 75, 112. 
*) Auferstehung, S. HO. 



— 60 - 

an die griechische Erklärung des Todes von Hyakinthos, dem der 
eifersüchtige Wind die Diskosscheibe an das Haupt treibt. In 
Lenzjubel tönt jenes Gedicht aus. Anders vermengt sich das 
Licht der Julisonne unter tiefblauem Himmel und die helle Fest- 
versammlung des Winzerfestes mit der erotischen Empfindung: 

Der Himmel blaute wie ein jonisch Märchen 
Und hoch die Sonne reifender erglühte 
Auf deinem Antlitz, Dionysosblüte. 
Auf deiner Kniee honiffioldnem Pärchen.*) 

Das Leuchten der Sonne wird das Leuchten dieser Schönheit. 
Wie die Sonne entflammt, im ungedeckten Theater des Festes, so 
entflammt diese individuelle Schönheit; sie wird zum Brennpunkt. 
Zum Jubelweihrauch wird die tanzende heitere Schar der Bac- 
chanten und Bacchantinnen. Die Strahlen der Sonne oder: 

— — — — — Wonnezugel 

Die holden Strahlen deines Lächelns waren. 

Wie ein Falter fliegt die Seele dieser Sonnenblüte nach, bis sie 
vom Kelche trinkt — den Kuss. So ist dies Gedicht wie eine 
Emanation der Sonne und der Liebe. Selbst das Fahrrad kann 
wie bereits erwähnt, einen bestimmten Rhythmus oder eine ge- 
wisse Assonanz erotischen Empfindens wecken. Wo der „schöne 
Eros mit dem flüchtigen Rade'* apostrophiert wird, heisst es: 

War ich dem Rade gleich mit dir verbunden, 
So küsst ich auch die Pflaume deiner Wade, 
Wie deines Rades lachend helle Speichen, 
Die sie bei jedem Stosse schmeichelnd streichen.^) 

In Reim und Assonanz klingt hier das streichelnde der glitzernden* 
Speichen nach. Dass die Musik erotische Schwingungen erzeugt ') 
oder erhöhend begleitet, ist wohl Vielen bekannt, wenn nicht gar 
aus eigener Erfahrung: 

Du spielst ein Lied auf meines Herzens Saiten 
Und lachst dazu so schelmisch, Marguerite — 

und ferner: 

Musik gleich deinem feinen Spiele, 

Musik wie deiner Augen dunkle Schöne.^) 

*) An Edens Pforte, S. 91, 38 und 88. 

*) Tolstois »Kreuzersonate" schildert solche Wirkung, freilich ine 
des Verfassers tendenziöser Weise. 



- 51 — 

Wenn eine reife schöne Frau angeredet wird, als ,, . . . . warmer 
Sommermorgen'*/) so war es nicht bloss ein Bild, sondern die 
Realität eines heissen Tages im Buchen- und Tannenwalde, wo das 
kommende Unwetter in den Zweigen schlief, wie in dem Herzen 
dieses Weibes. Das wahre Bild ist Natur. Windlos, still ist 
die Luft im Garten. Der Blick verliert sich im Spiegel des Brunnens, 
leise plätschert der kleine Strahl der Fontäne. Das Sehnen ist 
aufgewühlt von erneuter Botschaft der verloren geglaubten erst- 
genossenen Liebe und der Sendung ihres liebreizenden Bildes. Der 
Strahl der Fontäne steigt inzwischen plötzlich wie leidenschaftlich 
empor; wenn er eine gewisse Höhe erreicht hat, fällt er wieder, 
um dann aufs neue zu steigen. Und so entsteht der Rhythmus 
eines Liedes mit seiner wachsenden Leidenschaft, wie empor- 
schiessend. Allmählich taucht das Bild der verlorenen und wieder- 
gewonnenen Liebe wie eine verzauberte Blume im Brunnen auf: 

_w|— ww|— ww|— w Schimmernd grüsst in der Tiefe die Blume — 

w— w w|— w|~w wj— w Die Blume, sie istsi Die einmal die Seele 

w— wwj— ww|— w Umblühte, umduftete. Blumel 
w— w Erwachst du? 

w- O horch I*) 

So lautet die dritte Strophe, und nun folgt das Zwiegespräch. 

Das Klima im weiten Sinne, und die Rhythmen und Phan- 
tasien, die es weckt, sind ein endloses Kapitel, dessen Erforschung 
uns die allerinteressantesten Aufschlüsse bringen könnte. Ich habe 
den Anfang gemacht, einen bescheidenen aber ehrlichen. 



Wenn sich der Einfluss der klimatischen Eigentümlichkeiten 
auf das intimste Empfindungsleben, auf Rhythmus und Dichtung 
geltend macht, so ist naturgemäss anzunehmen, dass auch die 
anderen Ausdrucksformendes menschlichen Gestaltungstriebes mehr 
oder weniger solchen Einflüssen unterliegen. Die verschiedenen 
Seiten der Psyche hängen ja zusammen; zur kurzen Ergänzung 
des Vorhergehenden dürfte es von Interesse sein einige Streif- 



>) An Edens Pforten, S. 53 und 121. 



— 52 — 

lichter auf die Nebengebiete fallen zu lassen. Und ich gehe auch 
hier vom Subjektiven, als der ersten Quelle aus, um zum Objek- 
tiven vorzudringen. Schon als neunjähriger Knabe zeichnete ich 
und träumte von meinem zukünftigen Malertum. Auf väterlichen 
Wunsch, der mir sonst alle Freiheit Hess, vollendete ich erst 
meine klassischen Studien; und dann kamen die Universitäts- 
studien. Kurz ich blieb im Malerischen wesentlich Autodidakt. 
Aber der Drang erlosch nie. Im Gegenteil, er sollte später mit 
erneuter Heftigkeit erstehen. Solange ich in meiner Heimat war, 
beschränkte ich mich im ganzen aufs Porträt. Die Farbe gelangte 
zu keiner wesentlichen Bedeutung. Auch in Deutschland nicht, 
wo überhaupt mein malerischer Trieb verhältnismässig gering 
war (es kommt auf die individuelle Resonanz für die betreffenden 
Einflüsse an). Was mich nördlich der Alpen fesselte, war 
wesentlich das Aristokratische in der Kunst. Einerseits van Dyck, 
den ich in der Kaiserlichen Eremitage in St. Petersburg auf das 
höchste bewunderte, anderseits die romantische Schönheit der 
katholischen Kunst, wie der Murillos, und endlich der Trieb nach 
dem Zauber der horstartigen Burgen und einsamen adligen 
Schlösser. Als ich nach Italien kam, entfesselte sich ein mächtiger 
Drang zur Farbe und Form, und zwar — obwohl ich beim 
ersten Aufenthalt die Galerien so gut wie gänzlich ignorierte. 
Später erkannte ich mehr und mehr, dass die hellenische Antike 
und ein Teil der Renaissancemalerei bis 1600 mir verwandter 
war als die übrige Vergangenheit. 

Das erstemal, im Sommer, war es besonders das landschaft- 
liche Klima Italiens, die klare Luft mit ihren heiteren durchsichtigen 
Tönen, die gegen Abend einen so zauberhaften Reiz gewinnen, die 
mich immer wieder zum Malen antrieben. Später lockte mich die 
menschliche Form, verbunden mit jenen Tönen, und die malerische 
Phantasie eigener Gemälde erwachte wie nie zuvor. Als ich 
inzwischen fast zwei Jahre in Deutschland weilte, trat unwillkürlich 
mehr Indifferenz gegen die Farbe ein, wenigstens im Schaffenstrieb, 
Am Genfer See hatte ich dagegen ähnliche Triebe wie in Italien, 
und ich bemerkte schon, dass der Genfer See halbitalienisch ist. 
Besonders interessant sind die verschiednen klimatisch-ästhetischen 



- 53 - 

Wirkungen bei La Rosiaz unweit Lausanne. Binnen einer 
Viertelstunde kann man das Klima wechseln. Bei der Brücke 
von Belmont ist acht romantische süddeutsche Gegend: eine 
gebirgige Waldschlucht mit einem Hügel, auf den meine Phantasie 
unwillkürlich eine Burg zauberte. Tritt man aber heraus, so 
liegt — bei Sonnenschein — der blaue See mit den blauenden 
Bergen da; es ist eine andre Welt. Und allemal spüre ich 
diesen Einfluss. Nördlich der Alpen, in den waldigen Hügd- 
landen, erwachte stets wieder der Trieb nach den einsamen 
Burgen; auf der apenninischen Halbinsel und bei ähnlichen 
Stimmungen dagegen immer wieder der Trieb nach der Gestalten- 
welt der Farbe und Nacktheit. Das sind jahrelange wiederholte 
Erfahrungen und Beobachtungen. Die persönliche Anlage bietet 
gewiss die Grundlage, aber der Wechsel muss durch äussere 
klimatische Wirkungen beeinflusst sein. 

Und so ist es zweifellos auch bei den anderen Künsten. Die 
Architektur ist ja sichtlich vom Klima beeinflusst Die schlanken 
Domspitzen z. B. im Norden, die sich durch die Wolken einen 
Weg gen Himmel zu bohren scheinen! Für den hellenischen 
Tempel, der in einem meist heiteren Klima entstand, war es 
kein Gemütsbedürfnis hundert Meter höher zu bauen. Die 
italienische Gotik hat auch nicht diese wolkenhohen Turme. 
Und solcher Stil wirkt wieder auf die Lebensempfindung zurück. 
Man denke ferner an die hohen schrägen Giebeldächer, die den 
Schnee abgleiten lassen, dagegen an die flachen Dächer, die im 
Süden häufig sind, um als Terrasse in schönen Nächten benutzt 
zu werden. Als der Vesuvausbruch 1906 so viele Häuser zer- 
störte, empfahl ein deutscher Gelehrter, man solle doch in der 
Umgegend des Vesuv schräge Dächer, wie im Norden anlegen, 
damit die Kraterasche abgleiten könnte, statt die flachen Dächer 
mit ihrer Last einzudrücken. Dadurch könnte in jenen Orten 
ein abweichender Stil von der klimatischen Eigentümlichkeit des 
Vulkans bedingt werden. Man denke auch an die witzigen 
Bemerkungen über die Stile (Schnupfenstil, Hustenstil usw.) von 
Fr. Theodor von Vischer. Es wäre gewiss eine interessante 
Arbeit, die verschiedenen Städte und ihre Architektur auf die 



— 54 — 

klimatischen (und somit auch geologischen) Verhältnisse hin zu 
studieren. Nach und nach würden wir eben erkennen, dass alles 
was wir blindlings als menschliche Willkür gewertet haben, zum 
grossen Teil eine Emanation der Erde ist. Die Qeistesgeschlchte 
würde zum Teil Psycliopliysik werden. 

Keine Furcht, dass der Mensch dadurch zum Nichts herab^ 
sinkt! Diese Erdenkindschaft furchten oft diejenigen am meisten, 
deren Persönlichkeit sich am wenigsten über Boden und (soziales) 
Milieu erhebt. Da wir alle verschieden sind, so reagieren wir eben 
verschieden, aber es ist stets ein Einfluss da, auf den wir reagieren. 
Das Ergebnis ist die Resultante der Kräfte. Dem einen ist das 
antike Museum ein Heim, den andern „lässt es kalf oder er fühlt 
sich sogar geniert, wie in, einem unbestellten Chambre separ^e. 

Und wie ist die Musik verschieden! Warum ist denn das 
neapolitanische Volkslied, jene sinnlich heitere Weise der ver- 
flatternden Melancholie, nicht anderswo entstanden, als am 
parthenopäischen Golf! Warum entstehen Melodien wie „Mutter 
der Mann mit dem Kocks ist da** oder „Im Grunewald ist Holz- 
auktion** in Berlin, aber nicht in Florenz oder Dresden? Und 
warum sind die Berliner eben die Berliner? Warum entstehen 
melancholische Volksweisen wie „Seh ich drei Rosse vor dem 
Wagen" oder „Längs dem Mütterchen der Wolga** in Russlands 
weiter Ebne? Warum rief mir die Fellachenflöte in der Berliner 
Kairoausstellung 1896, und nicht bloss mir, die Vorstellungeiner 
Wüste vor die Augen? 

Warum wurden die Dorer soviel weichlicher, als sie sich 
in Sybaris und Kroton an der Südostküste von Italien nieder- 
liessen? Oder will man das auch durch den sündigen bösen 
Willen erklären? der gerade in Sybaris den Entschluss fasste, 
„Sybariten** zu schaffen ? I Wie kindisch wirkt eine solche Auffassung 
der Kulturgeschichte! Warum entstand die Tirolertracht mit den 
nackten Knien in dem Berglande Tirol und nicht in Pommerns 
weiten Flächen? Ebenso das schottische Bergkostüm mit dem 
Kild (Röckchen) und den nackten Beinen? Und wir könnten noch 
tausend Fragen stellen, die auf das Klima Bezug nehmen; noch 
einmal gesagt, nicht bloss auf die Isothermen des Jahres» sondern 



— 55 - 

auf den ganzen Einfluss einer Ortschaft, einer Gegend. Ja, ja, 
Mutter Erde hat meist sehr gehorsame Kinder. Und Vater Sonne 
auch.^) 

Der Herausgeber dieser Sammlung hatte mir geraten, das 
meiste Gewicht auf subjektive Erfahrung zu legen, da allgemeinere 
Folgerungen doch noch fraglich wären. Gewiss hatte er recht: 
das Subjektive ist das zuerst objektiv Gewisse. Memoiren müssen 
in der Geschichte gewiss mit Vorsicht benutzt werden, aber un- 
entbehrlich sind sie trotzdem. Man muss sie nur gegen einander 
abwägen. Vielleicht wird es einmal später möglich sein, die 
Psychophysik des menschlichen Schaffens eingehender zu beur- 
teilen. Ich glaube: auch da lässt sich jetzt schon manches in 
grossen Zügen erkennen. Die Rasse mit ihren Eigentümlichkeiten 
entwickelt sich in einem bestimmten Klima; die Juden im Orient 
sollen anders sein, als die in Europa. Schon in Italien ist es oft 
schwer dei) Juden vom Italiener zu unterscheiden. Wie und 
inwiefern das altgriechische Volk sich mit seinem tiefen Gefühl 
für Rhythmus entwickelt hat, konnte ich leider noch nicht an Ort 
und Stelle erforschen. Es sind stets zwei Hauptfaktoren, die da 
mitwirken : der Resonanzboden des Menschenstammes, der in ein 
Klima eintritt, und dieses Klima selbst. Der Kulturphilosoph 
Eduard von Mayer führte aus, dass alle Kulturrassen ihre letzte 
Erhöhung vor dem Eintritt in die Geschichte in den Bergen 
durchgemacht hätten.') Dass die alten Deutschen wenig Sinn för 
Rhythmus hatten, scheint daraus hervorzugehen, dass es hart- 
näckiger Kämpfe bedurfte, um sie über den „urteutscfien^ Vers 
hinauszuführen. Aber auch das Klima in Germanien hat sich 
geändert viele Wälder sind geschwunden oder zu Forsten geworden. 
Die Natur ist sicher milder geworden und das soziale Leben hat 
sich in gleicher Weise gewandelt. Man wurde aufnahmefähiger 



') Die Sonne ist nämlich wohl nur im Deutschen feminin, worüber 
sich die Italiener nicht genug wundem können, so absurd kommt es ihnen 
vor: die befruchtende, zeugende Sonne — ein WeibI Das ist ja rein 
wideraatüriich I Im Russischenlist sie Neutrum (Ssolnze), gleichsam her- 
maphroditisch. 

*) Lebensgesetze der Kultur, Kap. 4. 



- 56 - 

für Harmonie und Rhythmus. Es gibt ja auch heute noch so 
viel Feinde der »langweiligen** oder gar „unsittlichen" Schönheit^) 
in deutschen Landen, ganz verflogen sind jene harten Einwirkungen 
ja nicht. In der Schweiz merke ich stets den Einfluss der rauheren 
Bergnatur. 

Der feinfühlige Herder war seiner Zeit weit voraus. Eine 
gewisse Andeutung meiner Ausführungen zeigt sich bei ihm in 
einigen Aussprüchen. Er sagt: „Liege es an Ursache von innen 
oder aussen — wie gewöhnlich liegts an beiden; so war von 
jeher die deutsche Harfe dumpf und die Volksstimmen niedrig 
und wenig lebendig*'. Was bedeutet dieses „von aussen", wenn 
nicht die klimatischen Bedingungen, „von innen", wenn nicht die 
Persönlichkeit? Und dann sagt er zum „Liede vom eifersüchtigen 
Knaben": „Die Melodie hat das Helle und Feierliche eines Abend- 
gesanges, wie unter dem Licht der Sterne, und der elsässer Dialekt 
schliesst sich den Schwingungen derselben trefflich an.***) 

In unserer modernen babylonischen Kulturverwirrung gibt 
es so viel Komplikationen, dass ich mit Selbstironie sagen möchte: 
man brauchte fast Logarithmen, um diese Verhältnisse aus«* 
zurechnen. Interessant ist die Persönlichkeit Heinrich Heines, 
weil sich in ihr verschiedene Einflüsse kreuzen. Sollte es wirklich 
von ungefähr gewesen sein, dass dieser bedeutende Dichter sich 
die spanisch-maurische Romanze so zu eigen machte, ja, dass 
sich ein ähnlicher Rhythmus in dem grössten Teil seiner Poesien 
wiederfindet? Klingen folgende Verse nicht vollkommen wie von 
Heine und sind doch in Mauro^Spanien gedichtet? 

Schöne Zaida meiner Augen I 
Meiner Seele schöne Zaida 1 
Du die schönste der Mohrinnen 
Und vor Allen Undankbare I 

Es sind eben verschiedene Einflüsse: ererbtes Rasseempfin* 
den, vielseitiges Klima und Persönlichkeit. Halb ernst, halb 



*) Über die tiefe und weitgehende Bedeutung der heute so missver- 
standenen Schönheit habe ich schon eingehender in den Prosaerläuterungen 
zu »An Edens Pforten — aus Edens Reich* gesprochen, besonders in 
5), 7), 12), 13), 18), 19), 38), 39). 

') Stimmen der Völker. 



- 57 — 

scherzhaft könnte man folgendes Schema von Heine bilden: 
50% Persönlichkeit + 20% altes Rasseempfinden + 20% deut- 
sches Klima + 10% Pariser Klima. Es ist doch merkwürdig, 
welch ein gewaltiger Unterschied zwischen einer maurisch-spanischen 
Romanze und einer schottischen Ballade besteht. Wer sich heute 
dieser Formen bedient, unteriiegt unwillkfiriich ihrem Geiste, der 
sich in einem bestimmten Klima entwickelt hat Heitere Mond- 
scheinserenaden, sonnenfroher Himmel, blühende Gärten usw., 
passen nicht in eine Ballade: 

Vom See in Büschen des Lego 

Steigen Nebel, die Seite blau 

Von Wellen herauf 

Wenn geschlossen die Tore der Nacht sind, 

überm Adlerauge der Sonne des Himmels. 



Oder: 



Der König sitzt im Dumferlingschloss, 
Er trinkt blutroten Wein 



• * • 



Oder: 

Dein Schwert, wie ists von Blut so rot? 
Edward, Edward I 

Das sind die Stimmungen der nordischen Ballade. Sie 
entstand eben in Ländern der gespensterhaften Romantik, wo die 
Nebel gleich zauberhaften Gestalten schleichen, wie die Hexen in 
Shakespeares „Macbeth". Walter Scotts Romane entstanden in 
solchem Klima. Bei Byron sehen wir den Widerstreit zwischen 
einer hochfliegenden Persönlichkeit, die es nach hellenischer Welt 
drängt, und überkommnen Einflüssen, die auch aus dem englischen 
Klima erwachsen, das unter anderem den Spleen erzeugt. Oskar 
Wildes Paradoxen, selbst ein wenig Spleen, sind ein Kampf mit 
dem bornierten Spleen der englischen Gesellschaft. Wäre es 
denkbar, dass jene nordische Dichtungswelt in Hellas erwachsen 
wäre, und umgekehrt? Alt-Hellas besass wohl eine zahlreiche 
Dämonen weit (Dämon nicht im modernen, bösen Sinn gebraucht, 
sondern = niederer Gottheit); aber wie anders sind diese greif* 
baren, plastischen Gestalten, als die Nixen, Hexen, Albe und 
Zauberer der nordischen Mythen! Wenn man die „nordischen'' 
Faune oder Satyre der modernen Maler sieht, so soll man diese 
nordischen Waldschratten beileibe nicht für antike Waldgottheiten 



- 58 - 

und Satyre halten. Die sahen ganz anders aus! Das bezeugen 
die zahlreichen anmutigen Satyre in den Museen. Klar und licht 
wie die Sonne von Hellas sind die Gestalten der hellenischen 
Antike, reich ist ihr Rhythmus, wie die reichgegliederten 
Meereskästen und die Fülle der Inselwelt, wo der Blick sich 
weitet, aber doch selten ins endlose träumen muss. Die apen* 
ninische Halbinsel hat viel geschlossene Dichtungsformen zur 
Vollendung gebracht, ebenso wie es an städtischen Eigenformen 
reich ist, die abgeschlossene Kunstwerte bilden, wie Venedig, 
Florenz, Siena, Genua usw. Persien kenne ich nicht, habe also 
kein Urteil darüber, wie weit das Klima in den Dichtungen der 
Hafis, Saadi, Firdusi und anderer wiederzufinden ist. Ich glaube aber 
nach allem andern, dass da Gründe sind, die die leidenschaftlich duf- 
tenden Verse des Hafis und die Ghaselenform mitbestimmten — 
dass auch der Einfluss der persischen Blumenhaine, von denen 
Hafis spricht, in der bifitenreichen Sprache nachwirken mag. 
Vielleicht auch der schroffe Wechsel des Klimas. 

Und Russland? Da kann ich wieder aus eigener Anschauuug 
reden. Schon der alte Rhythmus der russischen Volkslieder und 
,,Builinüi'' (Heldensage) verrät die Natur des ächten Russlands. 
Das wiederholte melancholisch-musikalische Anlauten mit „A-i*' 
oder „A" ist so ächtrussisch im Tonfall. Und besonders das 
stete daktylische Auslauten der Verse, die fast nie einen 
Reim und dabei auch noch einen schwerfälligen Rhythmus haben, 
gibt jenen Volksgedichten den Klang der Steppe oder horizontlosen 
Ebene, der weiten flachen Felder und Wälder. 

Kto bui näm skasäl^pro stäroje, 
Pro stäroje, pro buiwäloje. 
Pro towö Iljü, pro Müromza. 

Wer erzahlt uns vom Vergangenen, 
Veigangenen, vom Gewesenen, 
Von jenem Ujä, dem Märomer? 

Und so könnte ich zahlreiche Belege anfuhren, wenn der 
Umfang des Buches es mir erlaubte. Auch in der sogenannten 
Kunstpoesie der Russen findet sich jene melancholische Stimmung 
Ihrer Natur, ihres Klimas. In Gedichten von Kolzow, in sehr 
schönen Gedichten von Lermontow. Ja auch in der Prosa von 



— 69 — 

Turgenjew und Dostojewski] verrät sich dieses Klima. Das lässt 
sich keineswegs bloss durch politische und soziale Umstände 
erklären, die ja ihrerseits auch wieder vom Klima abhängig sein 
können. Als verwandte politische Verhältnisse in anderen Ländern 
waren, haben sie dort doch anders gedichtet. Man denke an 
Frankreich. Voltaire und Dostojewski] — welch ein Unterschied ! 

Ich kann hier nur noch auf Skandinavien und meine nor- 
dische Heimat eingehen. Jeder Kenner nordischer Autoren wird 
es empfunden haben, wie oft bei ihnen eine Art hellsehender 
Gabe vorhanden ist. Das tiefe Schauen in die Seele, in ihre 
Regungen und Ursachen ist ihnen eigen, das verrät uns Ibsen, 
der alles Fragende und Rätselhafte hervorsucht. Auch Björnson 
in „Über unsere Kraft". Das verrät uns der Schwede Strindberg 
mit seiner eigenen Seelenanalyse, und der feinsinnige Däne Jens 
Peter Jakobsen. Und Werner von Heidenstamm in seinem „En- 
dymion"! Auch Kielland in seinen Novellen, z.B. in „Schnee"! und 
wie sie alle heissen. Auch in meinen Novellen dürfte sich diese 
Gabe finden, was auch teilweise von der Kritik anerkannt wurde. ^ 

Ich bin eben selbst in einem Lande geboren und aufge- 
wachsen, das die hellen langen Sommernächte Skandinaviens 
an den Küsten des baltischen Meeres hat, und mütterlicherseits 
bin ich überdies Schwede. Die sogenannten „weissen*" durch- 
sichtigen Nächte jenes Klimas haben offenbar einen titScn Etnfliiss 
auf die Psyche, verbunden mit den übrigen Eigenschaften dieser 
Länder, und diese Wirkung bleibt eine nachwirkende, auch wenn 
die Kinder dieses Landes in andre Klimate übersiedeln. Es hängt 
natürlich davon ab, wie das latente Klima (in der Erblichkeit) mit 
der neugeborenen Persönlichkeit und dem neuen Klima zusammen- 
wirkt. Die Menschen sind verschieden empfänglich für fremde 
Einflüsse. Und die Stärke der Persönlichkeit besteht nicht in 
der Unempfänglichkeit für Einwirkungen (stumpfere Anlage), 

1) über mein unveröffentlichtes Buch: „Wenn ich nicht ich wäre ...^ 
ein Buch für Unzufriedene, schreibt mir der Verlagsbuchhändler Karl 
Reissner in Leipzig: „Vor zehn Jahren, als die skandinavischen Bucher 
beliebt waren, hätte ich dieses Buch ohne Bedenken herausgebracht. Jetzt 
bevorzugt man in Deutschland breit angelegte Romane'*. Es ist heute 
nicht der Markt dafür. 



- 60 - 

sondern in der Fähigkeit, sie zu verarbeiten. Wenn ein Dichter 
sagt: „ich habe nichts davon an mir bemerict'', — so ist das 
kein Beweis gegen den, der es bemerkt hat. Wenn zwei dieselbe 
Speise essen und der eine fühlt und schmeckt einen latenten 
Bestandteil heraus, der andre aber nicht, so hat der erstere Recht 
Eisen unterliegt besonders dem Einflüsse des Magnetismus; 
aber auch bei allen andern Körpern ist es der Fall, ohne dass 
es nun so deutlich in Erscheinung tritt. Das Radium ist besonders 
radioaktiv, aber die andern Körper sind es auch, nur hat man 
noch nicht gelernt, darauf zu achten. Bemerkenswert ist, dass 
auch der so feinfühlige Goethe vielleicht in väterlicher Linie 
gotischer Abstammung war. ^) Schon sein Name, der in Deutschland 
so selten ist, dagegen in Schweden in Ortsnamen wiederkehrt 
(die Stadt Göteborg, der Fluss Götaelf, die Insel Gotland), deutet 
darauf hin. Und die Schweden sind ja heute die einzigen reinen 
Germanen, die Norweger haben eine keltische Beimischung, die 
Deutschen haben zum Teil slavisches und keltisches Blut: das hat 
wohl auch (zusammen mit der geologischen Gliederung Deutsch- 
lands) die Vielseitigkeit der Deutschen bewirkt. 

Soviel von objektiven Tatsachen, deren gründliche Erforschung 
noch interessante Ergebnisse bringen kann — auch für die 
Ethnologie und die ethnologische Psychologie. Die Toten sind 
tot; über sie wird man nie etwas Bündiges sagen können, wo 
sie nicht selbst Andeutungen gemacht haben, wie Goethe. 
Natürlich müssten die lebenden und die zukünftigen Künstler 
sich zur Selbstbeobachtung bequemen, ja auch schulen, und vor 
allem nicht fürchten, dass sie sich dabei etwas vergeben. Ich 
selbst habe mich bemüht, durch eine Umfrage bei bekannten 
Dichtern Material zu sammeln. Aber mit völlig negativem Erfolg. 
Dabei sind die Antworten so lehrreich und merkwürdig, dass ich 
mir nicht versagen kann, genauer auf sie einzugehen, zumal ich dabei 
auch gewisse Einwände gegen meine Theorie wiederlegen kann. 

Im allgemeinen beweisen die Antworten, welche ich erhielt, 
wie jede neue Erkenntnis, so harmlos sie scheinen mag, einen 

') Trotz Prem: .,Goethe", S. 20, Leipzig 1900. Man denke nur an 
die Soldateska des 30jährigen Krieges und der Schwedenzeit 



— 61 — 

Sturm des Unwillens hervorruft. Man kann über sexuelle Dinge 
schreiben und noch mit Gleichmut aufgenommen werden. Man 
schreibt als Dichter aber ultraviolette Strahlen oder das Klima 
und wird mit moralischer Entrüstung zurückgewiesen. ^) 

Meine Anfrage bei einigen bekannten Dichtem ging dahin, 
ob Berg, Flach-, Haideland oder Meer, Städteleben usw. ver- 
schiedene Jahreszeiten, landschaftliche Farben und Linien usw. 
irgend einen Einfluss auf das Schaffen gehabt hätten. 

„Ich ahne den Inhalt Ihres Schreibens und beantworte ihn 
dahin : niemals hat irgendwo oder irgendwann das Klima auch nur 
den geringsten Einfluss auf mein Dichten gehabt"*. So schreibt 
Detlev von Liliencron, der Dichter des „Heidegänger" ! Er hätte 
also die Stimmungen der deutschen Heide empfunden und gedichtet, 
auch wenn er nur in den Schneefeldern von Grönland oder auf 
einer kleinen Koralleninsel des Ozeans oder in einem Bergnest 
der Abruzzen aufgewachsen wäre und gelebt hätte ! ? Das soll man 
dem Dichter glauben?! Wo bleibt denn da der Erdgeruch der 
modernen Poesie? Man kann ein vortrefflicher Dichter sein, braucht 
sich aber deswegen nicht über die eigene Natur und die der Umwelt 
Rechenschaft zu geben. „Nie und nirgendwo auch nur den geringsten 
Einfluss/' Darnach wäre es also für den Lyriker ganz gleichgültig, 
ob es Frühling ist oder dichter Schnee die Felder bedeckt, er dichtet 
ein FrQhlingslied im Dezember auf der Schneekoppe und besingt 
den Sonnenschein bei anhaltendem Regen. — Und selbst wenn er 
im Kontrast zur Natur und Umgebung dichtet, bleibt er immer doch 
beeinflusst. Bleibt der Dichter nicht immer ein Kind der Natur? 
Man mag freiherriich geboren sein, unsere menschliche Freiherriich- 
keit ist ein echtes Erbkind der Mutter Erde. Nochmals betone ich : 
wir sind alle verschieden und reagieren verschieden, aber nie 
ohne Einwirkung. Wer stärker im sozialen Milieu wurzelt, der fühlt 
es weniger, wie ursprünglich die Natur darin mitwirkt. 



Ein Aufsatz über die »Fremdenliste" — diese harmlose Liste der 
fashionabien Schweizer Sommerorte — die nichts als die Nameniiste der 
Hotels enthält, wurde mir von einem bekannten Berliner Blatte zurück- 
gewiesen, mit der Bemerkung, sie wäre zu schroff für das Publikum. Es 
handelte sich um eine sozialpsychologische Studie der Fremdenliste. 



— 62 — 

Richard Dehmel, der Moderne, gibt auf meine Anfrage wenig- 
stens zu, dass er einem Einflüsse auf seine Produktion bisher keine 
Aufmerksamkeit geschenkt habe — aber er weist schroff meine 
Zumutung zurück mit den Worten: „und werde es wohl auch 
fernerhin nicht tun." Gewiss, jeder ist frei, zu tun und zu lassen. 
Aber warum diese pathetische Abwehr!? Ist es denn eine be- 
leidigende Zumutung für einen Modernen, den Einfluss der 
Natur zu beobachten?! „Meines Erachtens", schreibt er, „sind 
solche Beobachtungen stets durch Selbsttäuschungen getrübt." 
Gewiss sind Selbsttäuschungen möglich, aber kann es nicht auch 
Selbsttäuschung sein bei Richard Dehmel, dass solche Beobach- 
tungen „stets" Selbsttäuschung sein müssten?! Oder brauchen 
diese modernen Ungläubigen doch einen infalliblen Papst? Sollte 
unser alter Goethe auch so ganz dumm gewesen sein, als er 
sagte: „Das Subjekt ist bei allen Erscheinungen wichtiger als 
man denkt!" Und in seinem Briefe vom 22. Juni 1808 an Zelter: 
„Der Mensch an sich selbst, insofern er sich seiner gesunden 
Sinne bedient, ist der grösste und genaueste physikalische Apparat, 
den es geben kann." Wieviel Selbsttäuschung birgt die Geschichte 
der Wissenschaft! Und doch bliebe uns jede Erkenntnis ver- 
schlossen, wenn wir nicht den Mut zu Irrtümern hätten. 

Gerhard Hauptmann ist auf meine Anfrage überhaupt nicht 
eingegangen. Ich gebe zu, dass sich unwillkürliche Beobachtungen 
und die geschilderten Beeinflussungen der Psyche weniger den- 
jenigen aufdrängen, die meist in ihrer Heimat leben oder doch 
in einem verwandten Klima ständig beharren. Es genügt auch 
nicht, dass man eine flüchtige Lustreise nach Norwegen oder 
Italien macht. Jeder Einfluss veriangt eine gewisse Zeit, bis er 
zur Wirkung kommt, und die Erkenntnis fusst auf einer gewissen 
Wiederholung derselben Phänomene. 

Wann werden wir wohl dahin kommen zu erkennen, dass 
alles Geschehen aus den Kämpfen der Naturmächte resultiert? — 
dass unser Gehirn zumeist nur ein mehr oder weniger objektiver 
Beleuchter ist! Als mitwirkender Faktor aber steht auch unser 
hochwohlgebornes Bewusstsein unter den Einflüssen der Natur — 
d. h. aller Erscheinungen. Die Familie „von Mensch"» zu der 



— 63 — 

sich ja auch unsere freigeistigen Kapazitäten zählen, will nicht 
von der Dynastenwillkfir ihrer Gedanken, Gefühle und Handlungen 
lassen. Die Praerogative des Herrn von Mensch ist ja nur die 
alte Perücke, die die englischen Rechtsgelehrten noch heute bei 
feierlichen Anlässen tragen. Die Götter des Olymps mit ihren 
natürlichen Locken sind aber doch weit schöner und erhabener, 
sie brauchen auch nicht die Stürme der Natur zu fürchten. Aber 
ohne Sorge! Diese Erkenntnis tut dem Schaffen selbst wenig 
Abbruch. Auch Detlev von Liliencron, Richard Dehmel, Gustav 
Falke, Gerhard Hauptmann, Hugo von Hofmannsthal usw. werden 
weiter dichten, bisweilen beeinflusst — sei es auch wider ihren 
Willen. Der Tropenkoller und alle übrigen Abnormitäten, die mit 
der Kolonialwirtschaft zusammenhängen, werden sich aoch femer* 
Üb etnsleHen — wider den Willen cte- Herren Koloniaiminister. 

In feiner Erkenntnis sagt schon der berühmte Florentiner 
Historiker des XIV. Jahrhunderts Giovanni Villani (f 1 348) : „Die Lage 
und die Luft von Arezzo erzeugt Männer von grosser Feinheit 
des Geistes.'* Und Michelangelo gestand dem Vasari (der aus 
Arezzo stammte): „Wenn ich irgend geistige Vorzüge habe, so 
stammt es daher, dass ich in der feinen Luft eures Aretiner 
Gebietes geboren bin.** 

Meine Auffassung weicht von der Milieulehre durchaus ab. 
Diese versteht unter dem Einfluss des Milieus wesentlich die 
sozialen Einflüsse; meine Anschauung geht aber auch auf die 
Wurzeln des Sozialen, d. i. die Physik zurück. Alles Geschehen 
ist aber: Persönlichkeit plus oder minus Einfluss. 

Ein Zufall — wenn nicht der Zufall nur des Wesens Schein 
ist — fügte es, dass ich, fast am Schlüsse dieser Arbeit, nach 
vielen Jahren wieder ,,Eckermanns Gespräche mit Goethe*" las, 
die so wunderbar die reife, grosse Seele dieses Universalmenschen 
spiegeln. Und da lese ich, wo beide vom Einfluss der Umgebung 
auf B^ranger sprechen, dass Eckermann Goethe auffordert, doch 
seine Gedanken über die Influenzen zu schreiben, da der Gegen- 
stand doch reich und wichtig sei.^ 



^) Eckermanns «Gespräche mit Goethe", Bd. II, S. 64, Lpz. 



- 64 — 

,,Er ist nur zu reich, sagte Goethe, denn am Ende ist 
alles Influenz, sofern wir es nicht selber sind." 
Dann heisst es ferner: 

„Beim Nachtisch Hess Goethe einen blühenden Lorbeer 

und eine japanische Pflanze vor uns auf den Tisch stellen. 
Ich bemerkte, dass von beiden Pflanzen eine verschiedene 
Stimmung ausgehe, dass der Anblick des Lorbeers heiter, 
leicht, milde und ruhig wirke, die japanische Pflanze dagegen 
barbarisch-melancholisch wirke.'* 

„Sie haben nicht unrecht", sagte Goethe, „und daher 
kommt es denn auch, dass man der Pflanzenwelt eines 
Landes einen Einfluss auf die Gemütsart seiner Bewohner 
zugestanden hat Und gewiss, wer sein Leben lang von 
hohen ernsten Eichen umgeben wäre, müsste ein anderer 
Mensch werden, als wer täglich unter luftigen Birken sich 
erginge. Nur muss man bedenken, dass die Menschen im 
allgemeinen nicht so sensibler Natur sind, als wir anderen, 
und dass sie im ganzen kräftig vor sich hinleben, ohne den 
äusseren Eindrücken so viel Gewalt einzuräumen. Aber 
soviel ist gewiss, dass ausser . dem Angeborenen der Rasse 
sowohl Boden und Klima als Nahrung und Beschäf- 
tigung einwirkt, um den Charakter eines Volkes zu 
vollenden. Auch ist zu bedenken, dass die frühesten 
Stämme meistenteils von einem Boden Besitz nahmen, wo 
es ihnen gefiel, und wo also die Gegend mit dem ange- 
borenen Charakter der Menschen bereits in Harmonie stand." 

Also Goethe sagt: „Am Ende ist alles Influenz, sofern 
wir es nicht selber sind." Wir selber — was ist das anders, 
als wenn ich von der Persönlichkeit sprach! Also: Persönlich-» 
keit plus oder minus Einfluss. So freut es mich am Schlüsse, 
eigene Beobachtung und Hypothese durch diesen grössten unserer 
Geister bestätigt zu finden. In ruhiger Bescheidung übergebe ich 
dies Buch der Öffentlichkeit. Möge es ehrliche Freunde und 
Feinde finden! 



- 66 - 

Während dieses Buch im Druclc ist, geraten mir Goethes „Noten" 
zur „Harzreise im Winter*" in die Hand. Diese Erläuterungen 
hatte ich noch nie gelesen, und werde geradezu überrascht! Ich 
kann nicht umhin, sie hier mit kurzen Auslassungen mitzuteilen, 
damit der Leser sich sofort selbst ein Urteil bilden kann. Nach 
verschiedenen einleitenden Bemerkungen fährt Goethe so fort: 

»Die Reise ward Ende November 1777 gewagt Ganz 
allein, zu Pferde, im drohenden Schnee, unternahm der Dichter 
ein Abenteuer, das man bizarr nennen könnte, von dem jedoch 
die Motive im Gedicht selbst leise angedeutet sind. 

Dem Geier gleich, 

Der auf schweren Morgenwolken 

Mit sanftem Fittich ruhend. 

Nach Beute schaut, 

Schwebe mein Lied. 

Der Reisende verlässt am frühsten Wintermorgen seinen, 
im Augenblick behaglich-gastfreundlichen thfiringischen Wohn- 
sitz . . . ; er reitet nordwärts bergauf ; ein schwerer schneedrohender 
Himmel wälzt sich ihm entgegen. 

Denn ein Gott hat 
Jedem seine Bahn 
Vorgezeichnet, 
Die der Gluckliche 
Rasch zum freudigen 
Ziele rennt 

Begonnene Ausführung eines bedenklichen und beschwerlichen 
Unternehmens stählt den Mut und erheitert den Geist. ... (Es 
folgen Ausführungen, in Verlauf deren Goethe auf die Werthersche 
Empfindsamkeitskrankheit eingeht, von der er sich befreit hatte, 
und auf einen Jüngling, der an ihr litt, und dessentwegen er 
diesen Ritt mit unternahm). . . . 

In Dickichtschauer 

Drängt sich das rauhe Wild. 

Der Reisende gelangt auf die nächsten Bergeshöhen ; immer 
winterhafter zeigt sich die Landschaft. Einsam und öde starrt 
alles umher, nur flüchtiges Wild deutet auf kümmerlichen Zustand. 
Nun blickt er über gefrorene Teiche, Seen, auch eine Stadt 
kommt ihm zu Gesicht. 

5 



- 66 - 

Und mit den Sperlingen 
Haben längst die Reichen 
In ihre Sumpfe sich gesenkt. 

Wer seine Bequemlichkeiten aufopfert, verachtet gern dier 
jenigen, die sich darin behagen. . . . Unser Reisender hat alle 
Bequemlichkeiten zuräckgelassen und verachtet die Städter, deren 
Zustand er gleichnisweise schmählich herabsetzt . . (Goethe erzählt, 
dass durch ein Versehen des Korrektors in einer Ausgabe „Reiher* 
statt „Reichen" gestanden hat. Natärlich, wem die ganze klimatisch- 
geologische Situation Goethes, im Winterwinde auf den Bergen 
hoch über Ebene und Stadt, nicht gegenwärtig war, konnte in einen 
solchen Fehler verfallen ; dann heisst es bei Goethe später weiter . . .) 

Aber abseits wer ists? 

Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad, 

Hinter ihm schlagen 

Die Sträucher zusammen. 

Das Gras steht wieder auf, 

Die Öde verschlingt ihn. 

(Nun folgt ein ganzer Passus über jenen menschenfeindlichen 
Jungling. Dann heisst es): «... Der Dichter wendet seine 
Gedanken zu Leben und Tat hin, erinnert sich seiner engverbun- 
denen Freunde, welche gerade in dieser Jahreszeit und Witterung 
eine bedeutende Jagd unternehmen . . . (Nun) : ruft er die Liebe, ihm 
zur Seite zu bleiben. (Es folgt eine Bemerkung über das Verhältnis 
des Wirklichen zum Ideellen beim Dichter und eine feinsinnige Aus- 
legung des Wortes „Liebe**, das sich hier mit der Natur verwebt) . . . 

Mit der dämmernden Fackel 

Leuchtest du ihm 

Durch die Furten bei Nacht, 

Ober grundlose Wege 

Auf Öden Gefilden; 

Mit dem tausendfarbigen Morgen 

Lachst du ins Herz ihm; 

Mit dem beizenden Sturme 

Trägst du ihn hoch empor; 

Winterströme stürzen vom Felsen 

In seine Psalmen. 

Er schildert einzelne Beschwerlichkeiten des Augenblicks, die ihn 
peinlich anfechten, aber in Gedanken an die entfernten Qeliebtea 
frohmutig fiberstanden werden. 



-- 67 — 

Und Altar des lieblichsten Danks 
Wird ihm des gefürchteten Gipfels 
Schneebehangner Scheitel, 
Den mit Geisterrethen 
Kränzten ahnende Völker. 

. . . Ich stand wirklich am 10. Dezember in der Mittagsstunde, 
grenzenlosen Schnee überschauend, auf dem Gipfel des Brockens, 
zwischen jenen ahnungsvollen Granitkh'ppen, über mir den voll- 
kommen klarsten Himmel, von welchem herab die Sonne gewalt- 
sam brannte, so dass in der Wolle des Überrocks der bekannte 
branstige Geruch erregt ward. Unter mir sah ich ein unbeweg- 
liches Wogenmeer nach allen Seiten die Gegend überdecken und 
nur durch höhere und tiefere Lage der Wolkenschichten die 
darunter befindlichen Berge und Täler andeuten. Die herrliche Er- 
scheinung farbiger Schatten, bei untergehender Sonne, ist in meinem 
„Entwurf der Farbenlehre* im 75sten § umständlich beschrieben. 

Du stehst mit unerforschtem Busen 

Geheimnisvoll offenbar 

Ober der erstaunten Welt 

Und schaust aus Wolken 

Auf ihre Reiche und Herrlichkeit, 

Die du aus den Adern deiner BrQder 

Neben dir wässerst 

Hier ist leise auf den Bergbau gedeutet. Der unerforschte 
Busen des Hauptgipfels wird den Adern seiner Bruder entgegen- 
gesetzt Die Metalladern sind gemeint, aus welchen die Reiche 
der Welt und ihre Herrlichkeit gewässert werden." 

(Sehr aufschlussreich ist auch, wie Goethe selbst bemerkt, 
dass dieses Gedicht sich): «... fragmentarisch, geheimnisvoll, 
im Sinn und Ton des ganzen Unternehmens ... in kaum 
geregelte rhythmische Zeilen . . . (band)." 

Diese geniale Nüchternheit Goethes beweist wohl, wie die 
reichste Phantasie eine natüriich gesunde Erscheinung des Men- 
schengeistes sein kann und nicht auf pathologischen Zuständen 
ä la Lombroso beruht Die klimatischen und physischen Einflässe, 
wie auch das Erotische, werden eben vom Dichter in höhere 
Werte verwandelt 



5^ 



— 68 — 



Von dem Verfasser erschienen bisher: 
Leten und Liebeiit Oedichte, E. Piersons Verlag, Dresden 1895. 

Ehrlos, Novellen, Berlin 1898. 

Der Herr der Welt, Dr., E. Ehering, Berlin 1899. 

Irrlichter (Andrei, Erich, NarkissosX Dr., E. Ehering, Berlin 1900. 

Auferstehung» Irdische Oedichte, Veriag Kreisende Ringe (M, Spohr), 
Leipzig, 2. Aufl., 1903. 



Lieblingminne und Freundesliebe in der Weltliteratur, Eine 
kulturhistorisch-literarische Sammlung, M. Spohr, Leipzig. 

Soeben erschienen: 
An Edens Pforten — aus Edens Reich, sufische Gedichte mit 2 Bildern, 
Kompositionen und Erläuterungen, E. Piersons Verlag, Dresden. 

Und erscheint: 
Der Maler der Schönheit (Qiovann Antonio Bazzi, genannt il Sodoma). 

Olympia und Oolgatha (Heft I der Lebenswerte, Verlag H. Coste- 
noble, Jena). 

Heiland Kunst (Heft III der Lebenswerte). 

Priesterin Mutter (Heft V der Lebenswerte, dies zusammen mit 
Dr. Eduard von Mayer). 



M. nOHcr t, Sohn 

mOnchen V. 



FEODOR DOSTOJEWSKY 



ORENZFRAGEN DER LITERATUR UND MEDIZIN 

in Einzeldatstellungen 

herausgegeben von Dr. S. RAHMER, Berlin. 

5. Heft. 



Die 

Krankheit Dostojewskys. 



Eine ärztlich-psychologische Studie 
mit einem Bildnis Dostojewskys 

von 

Dr. Tim. Segaloff. 



MÜNCHEN 1907 

ERNST REINHARDT, Veriagsbuchhandlung 

Jügerstrasse 17. 



Vorwort. 



Die vorliegende Arbeit gibt einen Beitrag zum psychologischen 
Verständnis Dostojewskys. Sowohl die Persönlichkeit des Dichters 
selbst, als das richtige Verständnis seiner dichterischen Gestalten 
erfordert eine psychiatrische Beurteilung. Eine Biographie Dosto- 
jewskys ist bisher nicht vorhanden; sie soll demnächst erst in 
russischer Sprache erscheinen. Dem deutschen Lesepublikum 
werden die zahlreichen, dem Text eingefügten und in einem An- 
hang vervollständigten Auszüge aus den Briefen des Dichters be- 
sonders willkommen sein. 



I. 

Jedem, der die Werke Dostojewskys gelesen hat. fällt unter 
den Typen, die uns der Künstler in seinen Romanen schildert, die 
grosse Anzahl von psychisch Kranken auf. Die Kunstkritik, die 
sich mit der Beurteilung der Werke Dostojewskys befasste, hat 
diese Seite seines Genius nie ausser acht gelassen, hat aber die 
Erklärung hierfür stets den medizinischen Sachverständigen über- 
lassen. Und es ist in der Tat hervorzuheben, dass mehrere rus- 
sische Psychiater ihre Arbeit der Lösung dieser schwierigen Auf- 
gabe widmeten. „Ich wage es mit voller Sicherheit zu behaupten.*, 
sagt Muratoff , „dass das richtige Verständnis der Typen Dostojewskys 
nur mit Hilfe psychiatrischer Beurteilung ermöglicht wird.** Prof. 
Tschisch, der ein Buch über „Dostojewsky als Psychopathologc*' 
verfasst hat, schreibt am Schlüsse seiner Arbeit: „Es ist schwer 
zu erklären, auf welche Weise Dostojewsky sich eine so reiche Er- 
fahrung in der Psychopathologie erworben hat; noch schwieriger 
ist es, die Frage zu beantworten, ob Dostojewsky sich seiner tief- 
griindigen Kenntnisse der Erscheinungen der kranken Seele bewusst 
war. Selbstverständlich**, fährt Tschisch fort, „gewann Dosto- 
jewsky für die Analyse von krankhaften Seelenzuständen Klarheit 
und Erfahrung durch seine eigene Krankheit. Er erzählte selber, 
dass er schon in früher Kindheit Halluzinationen hatte. Es ist. 
auch allgemein bekannt, dass er an Epilepsie litt.* 

Wenn wh- die Biographien Dostojewskys, seine autoblö-- 
graphischen Angaben und die Erinnerungen dritter Persoi)6ti 
an Hm in den Kreis unserer Betrachtungen ziehen, so werden wir 
hier die Bestätignug für die beiden vorerwähnten Angaben finden^*: 
erstens« dass Dostojewsky an Epilepsie litt und weiterhin, dass er:' 
selber viele derjenigen Zustände durchlebte, die er beschrieben hat 
Den Erinnerungen von Nikolaus Strachow entnehmen wir folgende 
Zeilen : „Dostojewsky war einer der tiefstempfindenden und auf- 
richtigsten Schriftsteller; alles, was er geschrieben, hat er auch mit 
starker Innigkeit und Hingebung durchlebt. Dostojewsky ist einer 
äer subjektivsten Schriftsteller, indem er fast immer seine Typen nach. 



- 6 - 

eigenem Ebenbide schafft Pur mich, der ich ihn nahe kannte, 
war die Subjektivität seiner Schilderungen sehr klar. Oft wunderte 
ich mich über ihn und empfand zugleich Furcht, da ich sah, dass 
er manche seiner eigenen dfisteren krankhaften Stimmungen be- 
schrieb.* In den Erinnerungen von Strachow finden wir neben 
einigen allgemeinen Bemerkungen über die Krankheit Dostojewskys 
../^uch^tne Beschreibung, eines epileptischen Anfalls. »Die Anfälle 
r.^ten für :42ewöhnli)ch.iTionat]j|Ch.. einmal auf, bisweilen kamen sie 
öfterSr jcweimal. wöchentlich spgar..— . dpch war dies sehr seJtisn. 
,: Während seines Aufenthaltes im Auslände kam es vor, dass iqfolge 
o< des .besseren Klimas^ und wenn er sonst von Aufregungen verschont 

• bUebi die Anfalle bif zur Dauer von vier Monatet^ aussetzten. 

.i,^ii\ Vorgefühl ftir.den Auf all war stets yorhaaden, täuschte 
: aberz^weUen. Ich habe .selbst Qelegenheit. gehabt» einem. Anfall, 

wie. er gewöhnlich auftrat« beizuwpluien, ich glaube im Jahre 1805. 
V ßpät abeQds jegen 11 Uhr. besuchte er mich, und wir kamen bald 

in, ein ^haftes Gespräch, leb kann mich de^, Inhaltes nich^t entsin- 

oeq» wei86nur,das^essich4]m einsehr wichtigesund abstraktes Thema 
r. Rändelte. . Dostojewsky gisriet in .Begeisterung, und b^g^fin im Zim- 
^ m^ auf undabzu geben ;lch.$ass am Tische. |Er sprach in verzücktem 

Ton. über etwas. Hehres und Eiibabeaes. Als ach seinen Worten 
r mit irgend einer Bem^jpjng.zusjtimmte^ wandte e^ , i^ir sein begei- 

• Stertes Antlitz zu« auf dem der höchste. Grad exaltierter Erregung 
zu lesenrwar. Er stpckte einen Augenblick, als suche er.nach Worten, 

i: unflj^ffnete schon den Mund. Ich beobachtete ihn mit gespanntester 
I Aufmerksamkeit, da ich fühltet ,dass er etwa; Aussergewöhnlicbes 
I, sagen werde, dass mir irgend eine Offenbarung zu teil werde. 

Plötzlich ertönte. aus seinem weitg^öffneten Munde ein merkwürdiger, 

, langgezogener, sinnloser Schrei, und er fielphnmächtig zu Boden. 

^ \ Der. Anfall war dii^smal nicht, ^us^rge^^öhnlich heftig. .(Juter 

^' Klampfen wand sich sein Körper und zuckte t^saromen, in den 

^ jK4undv)rinkeln zeigte sich Schaum, s Öfters pflegt^ Dostojewsky mir 

zu erzählen, dass er vor dem Anfalle in begeisterte Ekstase gerate. 

«Während einiger Augenblicke', erzählte er»;./iurchströmt mich 
. fin Qlück^efuhl, wie es in normalem Zustande, undenkbar ist* 

und yoa dem. gesunde. Leute keine Ahnung bähen. Ich empfinde 
. in mir selbst und in der ganzen Welt die höchste Harmonie, und 

das Gefühl ist so stark und. beseligend, dass man imstande ist, 

für ein. paar solcher Sekunden zehn Jahre, ja selbst das. ganze 



— 7 — 

Leben zU' opfern'.'' Die AnfiHe hatten Msvreiien leichtere Vfer- 
letsangitn im Gefolge. Die KrSmpfe vertirsaehien ^fhm häufig 
Mu9kel9dmi6Fzen. Bisweiten wurde sdn Gedidit rot, Initridiifial 
erschien es gefleckt. Von eindchneMeilder WiricuAg ' ab6r vl^, 
dass>4as Qedichtnts de^ Krankeif nacMfessiund düss er Selbst sich 
üwet^Us'drei Tage hindurch gatiz »srschlageri fiSMte. Zi^eteh war 
er während dieser Zeit sehr schwermfiftg uAd konnte eiMr ge- 
wissen Bekfemmung und Reizbarkeit kaum Herr werden. ' Die Be-j 
Memmang äusserte sich in der Weise, dass er sich als Vätfrirecher' 
ffihlte; es schien ihm, ^s laste auf ihm eine' unfatefcaniite Schuld, 
eine grosse* Missetat 'Wir fOhren hier die Worte ata d£m Roitian 
toOsbrfider Karamasoff ** an, welche Dostojewsky dem Staatsanwalt 
in der 'Rede, die er zur BegrQndung der -Anklage gegen Oimilri 
Karanmsoff hält und zur Verte! (figung des Bpfleptikers Smferdfakow, 
in 'den Mund legt: „Die an starker PaRsücht Leidenden sind itach 
der Ansicht der grössten Psychialer zu einer Endigen und äeWst- 
verständlfch krankhaften Selbstbeschüldigtitig geneigt Sie^^ääten 
ihre.Seele mit Irgend einer Schuld, leiden uMtei' QewistS6nsbissen, 
oft ohne Qrund, übertreiben in vielen Dingtaund ersinnen sogar 
verschiedene Verbrechen, > die sie niemals begangen h&beri.'' 

In den Erinnerungen von A. P.Milakow finden wir folgende 
Beschreibung eines AnfiaHs: ,,Man erzählte, dässDostojewIiky' auf 
ider Strasse mit Absicht seinen Bekannten aus dem Wege ging, 
beim Zusammentreffen in einer Gesellschaft Begrussungen nidit 
erwiderte und manchmal naish einem Menschen, den er schon 
lange kannte, sich erkundigte: ,Wer ist denn das?' Möglüch, dass 
solche PäUe wirklich vorkamen; ich glaube aber, dato dies nicht 
Hochmut oder Selbstfiberschätzung von seifendes Dichters,* Sondern 
lediglich die Folge seiner unseligen Krankheit war und meiäteiks 
unmittelbar nach den 'Anfällen geschah. Wer Zeuge diäser schreck- 
Heben AnfäMe war nild die Spuren bemerkte, die Sie für einige 
Tage hinterliessen, der wiM wohl verstehen, warum 6f PetiMtKin, 
•und bisweilen sogar ziemlich nahestehende, verkannte. Ibh kann 
mich^des folgenden Anfalls entsinnen: Als ich -in Pawtowsk^) Wohnte, 
kam Dostojewsky eines Abends zum Tee zu mir. In dem Augen- 
'blick, als meine Tothter ihm ein Glas Tee reichte, sprang er plötz- 
tich auf, erblasste, fing an zu schwanken, und nur mit Mfihe könnte 



*} Ein Sontmeraufenthalt in der Nihe von Petersburg. 



- 8 - 

ich ihn bis zum Divan schleppen, auf den er in Krämpfen mit 
entstelltem Gesicht hinsank. Sein Körper wand sich unter starken 
Zuckungen. Als er nach einer Viertelstunde zu sich kam, wusste 
er von dem Vorgefallenen nichts und sagte nur mit dumpfer 
Stimme: »Was ist mit mir geschehen?' Ich bemühte mich ihn 
zu beruhigen und bat ihn, bei mir zu übernachten. Er wies aber 
meine Bitte aufs Entschiedenste zurück, indem er sagte, er müsse 
unbedingt nach Petersburg zurück. Warum — vermochte er nicht 
anzugeben, er wusste nur, dass eine dringende Notwendigkeit 
hierfür vorlag. Ich wollte einen Fuhrmann holen, er schlug 
auch dies ab. ,Qehen wir lieber zu Fuss zum Bahnhof — das 
wird auf mich erfrischend wirken', sagte er. Wir verliessen das 
Haus, es war bereits ziemlich dunkel; unser Weg führte uns 
durch einen Park, der um diese Stunde fast menschenleer war. 
Kaum waren wir einige Minuten gegangen, als Dostojewsky 
plötzlich stehen blieb und flüsterte: ,Ich werde sofort einen 
Anfall bekommen.' Ringsum war kein Mensch zu sehen; ich 
setzte ihn aufs Gras, gerade am Gartenweg. Er blieb ungefähr 
fünf Minuten sitzen; der Anfall trat glücklicherweise nicht ein. 
Wir gingen weiter. Nicht lange danach blieb er wieder stehen 
und sagte, mich mit gebrochenen Augen ansehend: „Gleich kommt 
ein Anfall!" Aber auch diesmal ging es vorüber, ohne dass seine 
Befürchtung sich verwirklichte. Dasselbe Spiel wiederholte sich 
noch zweimal, bis wir den Bahnhof erreicht hatten. Von dort 
aus liess ich durch einen Dienstmann einen Verwandten Dosto- 
jewskys holen, der sofort kam und ihn nach Petersburg begleitete. 
Als ich ihn am nächsten Tage aufsuchte, war er so schwach wie 
nach einer überstandenen Krankheit und erkannte mich nicht so- 
gleich." 

Nicht weniger bedeutungsvoll und interessant sind folgende 
Zeilen, die ich den Erinnerungen von Wsewolod Solowjew ent- 
nehme: „Während meiner Verbannung", erzählte Dostojewsky, 
„bekam ich einen Anfall, und seit dieser [Zeit verlässt mich die 
Krankheit nicht mehr. Bis in die kleinsten Einzelheiten kann ich 
mich an alles, was vor diesem Anfall geschah, erinnern, an jedes 
kleinste Ereignis meines Lebens, an jedes Gesicht, das ich gesehen, 
an alles, was ich gelesen und gehört habe ; alles was nach diesem 
ersten Anfall geschah, vergesse ich sehr oft, manchmal vergesse 
ich Personen, die ich sehr gut kannte, vollkommen, ich habe 



- 9 — 

alles vergessen, was ich nach der Verbannung geschrieben habe. 
Als ich zu meinem Roman ,Die Teufel' den Schluss schrieb» 
musste ich noch einmal alles vom Anfang an durchlesen, da ich 
sogar die Namen der handelnden Personen vergessen hatte. ** Fol- 
genderweise beschreibt Solowjew den Zustand des Dichters nach 
dem Anfall: „Er war manchmal unausstehlich. Sein Nervensystem 
war so erschüttert, dass er in seiner Reizbarkeit und Absonderiich- 
keit ganz unzurechnungsfähig erschien. Er kam herein wie eine 
schwarze Wolke (wörtlicher Ausdruck des russischen Autors), oft 
vergass er sogar zu grossen und schien geradezu eine Gelegenheit 
zu suchen, um Streit zu beginnen. In allem, was man ihm gegenüber 
tat, erblickte er eine Beleidigung, die Absicht, ihn zu kränken und 
zu erregen. Man musste ihn allmählich auf eines seiner Lieblings- 
themen bringen, dann fing er sogleich an zu sprechen, sich zu 
begeistern. Nach einer Stunde schon war er in bester Laune, nur 
das totenbeiche Gesicht, die glänzenden Augen und der schwere 
Atem Hessen den krankhaften Zustand, in dem er sich befand, er- 
kennen.** Die Widerspiegelung all dieser Stimmungen finden wir 
in vielen Stellen seiner Werke. Wir führen aus dem Roman 
„Erniedrigte und Beleidigte** folgende Zeilen an: „Wie oft geschah 
es, dass ich im Zimmer auf und abschritt mit dem unbewussten 
Wunsch, es möge mich irgend jemand beleidigen, oder auch nur 
ein Wort sagen, das als Beleidigung aufzufassen wäre, damit ich 
an ihm meinen Zorn auslassen könnte 1** 

In den Jugenderinnerungen von Sophja Kowalewskaja finden 
wir folgende Daten in bezug auf die Krankheit Dostojewskys : 
„Meine Schwester und ich, wir wussten, das Dostojewsky an Epi- 
lepsie litt. Diese Krankheit aber erweckte in uns einen so liefen 
Schrecken und Abscheu, dass wir es niemals gewagt hätten, ihrer 
auch nur im entferntesten ihm gegenüber Erwähnung zu tun. Zu 
meiner Verwunderung hat er selbst einmal die Rede darauf ge- 
bracht und uns erzählt, unter welchen Umständen der erste Anfall 
aufgetreten. Er sagte uns, seine Krankheit habe sich erst nach 
der Zuchthausstrafe, in der Verbannung entwickelt. Damals habe 
er sich in der Einsamkeit und in der Unmöglichkeit eine leben- 
dige Seele bei sich zu haben, einen Menschen, mit dem man ein 
vernünftiges Wort hätte wechseln können, gemartert und gequält. 
Ganz unerwartet besuchte ihn zu jener Zeit ein alter Freund. Es 
war in der heiligen Osternacht. In der Freude des Wiedersehens 



- 10 - 

versifsen sie beide ginzlidi die BedeotuQg dieser Nacht and 
verbrachten sie in tiefsmaigen Gesprächen, worttieraiischt, ohne 
der vorrikkenden Zeit zu achten und ihre eigene Ermfidusg wahr- 
»nehmen* Sie sprachen über das, was ihaen am nächsten lag» über 
Literatur, Kunst, Philosophie, schliesslich berührten sie andi reügjöse 
Fragen. Der Freund Dostojewskys war Atheist Dostojewsky selbst 
war ein sehr gläubiger Christ und jeder von ihnen verfocht mit 
Eifer seinen eigenen Standpunkt — ,Es gibt einen Gott, es gibt 
doch einen Gott,' schrie Dostojewsky voHer Erregung. In diesem 
Augenblicke ertönten die KirchengjkKken, die frohe Botschaft der 
Auferstehung verkündend. In der Luft, so schien es, haltten die 
Töne zitternd wieder. ,Und ich fühlte,' erzählte Dostojewricy, 
,dass der Himmel auf die Erde hinabsank und mich verschlungen 
hatte. Ich empfand Gott als eine hehre, tiefe Wahrheit, und fühke 
mich von ihm durchdrungen. Ja, es gibt einen Gotf , rief ich 
^- ,was nachher geschah, weiss ich nicht Ihr gesunden Menschen,' 
fuhr Dostojewsky fort, ,ihr ahnt nicht, welch herriiches Wonne- 
gefühl den Epileptiker eine Sekunde vor dem Anfall durchdringt 
Mahomet erzählt in seinem Koran, er sei im Paradies, gewesen. 
Alle klugen Narrenköpfe behaupten, er sei einfach dn Lügner 
und Betrüger. Das ist aber nicht wahr, er lügt nicht! Sicher 
war er im Paradiese während eines epileptischen Anfalls — eine 
Krankheit, an der er ebenso wie ich litt. Ich weiss nicht, ob 
diese Wonne Sekunden, Stunden dauert, aber, glaubt mir, alle 
Freuden des Lebens möchte ich nicht dafür eintauschen.' Dosto- 
jewsky sprach diese letzten Worte in seiner ihm eigenen Art — 
leidenschaftlich und erregt flüsternd. Wir alle sassen wie ver- 
steinert unter dem Eindruck seiner Worte. Da auf einmal erfasste 
uns alle der Gedanke : Gleich kommt ein Anfall t Sein Mund 
verzog sich, sein Gesicht zuckte nervös. Dostojewsky las wahr- 
scheinlich in unseren Gesichtern Angst und Furcht Plötzlich 
hielt er in seiner Rede inne, fuhr mit der Hand über sein Gesicht 
und lächelte bitter. ,Fürchtet euch nicht,' sagte er, ,ich weiss 
immer, wenn es kommt' Wir wurden verwirrt, schämten uns, 
dass er unsere Gedanken erraten hatte und vermochten nichts zu 
envidem. Bald darauf veriiess uns der Dichter; und später erzählte 
er uns, er habe in dieser Nacht einen schweren Anfall erlitten.* 
Auf Grund der oben angeführten Tatsachen und Berichte 
haben wir die Berechtigung, die Krankheit Dostojewskys als 



- 11 - 

Epilepsie anzuseilen. Wir tiaben es mit Anfällen, einhergeh^pd 
mit Bewusstlosigiceit, Hyperämie des Gesichtes und allgemeinen 
Konvulsijonen zu tun. Nach dem Anfall bleiben die Muskel- 
schmerzen. zurück, und es fehlt die Erinnerung an das Geschehene. 
Wir 3ehen fernerhin eine ganz typische psychische Ajura: Glocken- c 
gelallte, zitternde Schwingungen der Luft,, ein unsagbares Wonne- 
gefuhl, ein Empfinden der Nähe Gottes. 

Wir haben fernerhin ei:fahren, dass Postojewsky sich nach 
dem Anfall 2—3 Tage in einem typischen, postepileptischen 
Dämmerzustande befand. Sein mürrisches Wesen und seine 
stärkere Reizbarkeit in diesen Zuständen gibt uns ein deutliches 
Bild von der jiu$serordentlichen Wirkung dieser Krankheit, 
welche fremde Züge in den Charakter Dostojewskys einpflanzte 
und ihn arg verunstaltete. Die Spuren der Krankheit lassen 
sich besonders im Roman „Die Teufel** verfolgen, dessen 
Entstehung sicher mit der Verschlimmerung des Leidens zu- 
sammenfiel. Die Umständlichkeit, ein typischer Zug für die Ver- 
standestätigkeit der Epileptiker, deren Spuren wir in allen seinen 
Werken wahrnehmen, verleiht dem ganzen Roman einen beinahe 
unzusammenhängenden Charakter. Ausserdem ist dieses Werk 
voller boshafter Einfälle und zeigt eine durchaus intolerante 
Behandlung3weise der von ihm geschaffenen Helden, die jn 
solchem Masse den christlichen Ansichten des Dichters wider- 
sprechen, dass sie nur durch den Einfluss der Krankheit zu 
erklären sind. Dieser leidenschaftliche, gereizte Ton steht in 
vollkommenem Widerspruch zu der Grundstimmung in den 
Werken Dosto|ewsl^s, in denen der Genius des Dichters in seinem 
tiefen Verständnis der menschlichen Seele (Memoiren aus dem 
Totenh^tuse) und der ruhig objektiven Betrachtungsweise (Gebrüder 
Karamasoff) zu den höchsten Höhen emporsteigt. 

Die oben angeführten Erinnerungen beziehen . sich auf die 
zwei letzten Jahrzehnte (1860— 1880) des Lebens Dostojewskys, 
also ; auf eine Zeit, in der seine Krankheit sich schon scharf 
begrenzt und den typischen Verlauf angenommen hatte. Die Ge- 
schichte der Krankheit bis zu der Verhaftung und Verbannung 
— in dieser Zeit fand der erste typische Anfall statt — wollen 
wir später beleuchten. 

Unsere Schilderung würde nicht vollständig sein, wenn 
wir nicht die Leidenschaft Dostojewskys für das Roulettespiel 



- 12 - 

erwähnten. »Im Sommer 1863", erzahlt N. Strachow, »versah 
sich Dostojewsky mit einer genügenden Summe Geldes für eine 
Reise. Im Auslande versuchte er das Roulettespiel und verlor» 
Er lernte das Spiel schon während seiner ersten Reise kennen 
und gewann* dann 1 1 000 Francs. Seit dieser Zeit aber gewann 
er nicht mehr."* »Mitte Juni ISö?*", lesen wir in derselben Quelle 
von der dritten Reise Dostojewskys, »fuhren der Dichter und 
seine Frau von Dresden nach der Schweiz, unterwegs machten 
sie in Baden-Baden Halt und waren gezwungen, dort 1 Vt Monate 
zu verweilen. Dostojewsky liess sich zum Roulettespiel hinreissen,. 
gewann zuerst, dann aber verspielte er, und nur mit Hilfe einer 
Geldsumme, die er von einem Bekannten erhalten hatte, konnte 
er Baden-Baden verlassen. In Genf langten Dostojewsky und seine 
Frau mit einem Vermögen von 30 Francs an. Die düstere Stim- 
mung Dostojewskys besserte sich aber bald, als er endlich von 
dem Wahn, der ihn zwei Monate hindurch gequält hatte, geheilt 
wurde — nämlich der Idee, im Roulettespiel zu gewinnen.*" Wir 
fuhren hier die Stelle eines Briefes an, den Dostojewsky an A. 
N. Maikow richtete, und der am besten seine Seelenstimmung zu 
jener Zeit kennzeichnete. »Die Anfälle kamen jetzt schon wöchent- 
lich, das Gefühl aber, sich dieser Nerven- und Gehirnzerrüttung 
bewusst zu sein, war unerträglich. Mein Verstand trübte sich 
wirklich — das ist Wahrheit, und die Nervosität brachte mich 
manchmal bis zum Wahnsinn. Ich beginne mit der Beschreibung 
meiner Schandtaten. Als ich Baden-Baden passierte, kam mir die 
Idee, dort ein paar Tage zu verweilen. Es quälte mich der ver- 
führerische Gedanke, 10 Louisdor zu opfern und vielleicht 2000 
Francs zu gewinnen. Das Verhängnisvollste daran aber war, dass 
es mir schon früher gelungen war, zu gewinnen. Am schlimmsten 
aber ist es, dass meine Natur in der Tat niedrig und zu leiden- 
schaftlich ist. Überall und in allem gehe ich bis zur äussersten 
Grenze, während meines ganzen Lebens konnte ich nie Mass 
halten. Der Teufel hat hierbei sein Spiel in der Hand. In drei 
Tagen gewann ich mit einer merkwürdigen Leichtigkeit 4000 Fr. 
Nunmehr will ich auseinandersetzen, wie ich mir dies alles aus- 
gemalt hatte: einerseits das leichte Gewinnen, mit 100 Francs 
gewann ich in drei Tagen 4000 — anderseits Schulden, von 
verschiedenen Seiten aus Forderungen zu bezahlen, und die Un- 
möglichkeit nach Russland zurückzukehren. Schliesslich drittens 



- 13 - 

das wichtigste — das Spiel selbst — wisst Ihr, wie es den Men- 
schen packt! Wahrlich, es war nicht nur die Habsucht allein, 
obgleich ich wirklich das Geld nötig hatte. Meine Frau flehte 
mich an, mich mit 4000 Francs zu begnügen und sofort abzu- 
reisen. Bedenken Sie nur diese verlockende Aussicht, alles ohne 
irgend welche Anstrengungen wieder gut zu machen! Und dann 
die verlockenden Beispiele der anderen! Ausser seinem eigenen 
Gewinnst sieht man alle Tage, wie verschiedene bis zu 20000, 
30000 Francs kommen (die, die verlieren, sieht man nicht). 
Warum sind sie mehr vom Schicksal begünstigt als ich? Ich 
habe doch das Geld nötiger. Ich versuchte mein Glück weiter 
und habe verspielt, nicht nur die 4000 Francs, sondern mein 
ganzes eigenes Vermögen. Ich war wie in einem Fiebertraume, 
versetzte meine letzten Kleider, schliesslich auch die Habe meiner 
Frau. Endlich wars genug, denn alles war verspielt. ** 

Wir enthalten uns von vornherein der Analyse einer bei 
einem Menschen von dem Charakter Dostojewskys wohl schwer 
erklärbaren Leidenschaft. Es sei nur bemerkt, dass sich in man- 
chen seiner Werke deutliche Spuren der Eindrücke jener Zeit 
wiederfinden lassen. („Der Spieler", „Der Jüngling".) 

Über die Beziehungen Dostojewskys zu Frauen haben wir keine 
sicheren Kenntnisse, und blosse Vermutungen hier anzustellen, halten 
wir nicht für gerechtfertigt. — Eine Unmässigkeit im Genuss von 
Spirituosen lässt sich in unserm Fall nicht nachweisen. , .... Ich 
möchte noch erwähnen", schreibt Strachow in seinen Erinnerungen, 
„dass Dostojewsky im Weintrinken ungemein massig war. Ich kann 
mich nicht eines einzigen Falles während eines Zeitraumes von 
20 Jahren erinnern, wo ich eine merkliche Spur irgend einer 
Alkoholwirkung an ihm wahrgenommen hätte. Eher zeigt sich 
bisweilen eine ziemlich grosse Neigung zu Süssigkeiten, im all- 
meinen aber bewies er im Essen eine grosse Massigkeit" 

Aus verschiedenen anderen Quellen geht hervor, dass 
Dostojewsky grosse Mengen von sehr starkem Thee und Kaffee, 
besonders während der Arbeit, zu sich nahm und weiter, dass er 
ein leidenschaftlicher Raucher war. 

Dies ist also das Bild der Krankheit Dostojewskys, so wie 
sie sich in den letzten 20 Jahren seines Leidens uns darstellt. 
Wir wissen, dass sich sein Leiden in der Verbannung entwickelt 
hat, vermögen aber nicht eine genaue Schilderung des Krankheits- 



— 14 — 



zustanden unseres Dichters während seiines Aufenthaltes in Sibirien 
zu geben, da uns hierzu die nötigen Quellen fehlen. In den 
nächsten Kapiteln wird die Entwiciciung der Persönlichkeit voii 
der frühesten Kindheit bis zur Verhaftung und eine Schilderung 
der seine Krankheit veranliassenden Faktoren gegeben werden. 



II. 

Feodor Michailowitsch Dostojewsky wurde zu Moskau im 
Gebäude des Mariinschen Krankenhauses geboren, wo sein Vater 
die Stelle eines Arztes bekleidete. Über die frühe Kindheit des 
Dichters ist uns nichts bekannt. Die Erinnerungen seines Bruders 
schildern uns Dostojewsky im Alter von 9—10 Jahren. Die 
Umgebung, in der er gross wurde, finden wir in vielen seiner 
Werke wiedergespiegelt. Die Erinnerungen seines jüngeren Bruders 
Ahdrey zeichnen uns eine enge, einfache Wohiiung eines 
anspruchslosen, bescheidenen Arztes jener Zeit. Kleine Zimmer, 
nur durch Bretterwände von einander getrennt. Das Mittelzimmer 
dient sowohl als Speisezimmer, in dem die Familie sich zu den 
Mahlzeiten versammelt, wie auch als Gastzimmer für die seltenen 
Besucher des Hauses und schliesslich als Empfangsraum für die 
Patienten des Vaters. In diesem Zimmer mit seinen typischen 
durch verwaschene Überzüge geschützten Möbeln spielte sich 
hauptsächlich das Leben der Familie ab, und hier empfing 
Dostojewsky die ersten Eindrücke seiner Kindheit Friedlich und 
eintönig flössen die Tage dahin. Und von diesem grauen Hinter- 
grund hob sich der Charakter des Knaben mit seiner sprühenden 
Lebhaftigkeit besonders scharf ab. « Feodor war in seiner ganzen 
Art das reine Feuer*" schreibt sein Bruder. 

Wenn die Eltern am Sonntag, um den Kindern ein Ver- 
gnügen zu bereiten, sich zu einem allgemeinen Kartenspiel 
gemütlich hinsetzten, ,,so gelang es Feodor immer durch 
seine Handfertigkeit, die andern zu hintergehen, wenn er auch 
mehrmals dabei ertappt wurde*". — Die Erziehung, welche 
die Kinder genossen, war streng; Schon früh begann für sie der 
Unterricht; aber noch bevor die Kinder lesen und schreiben konnten, 
lasen ihnen der Vater oder die Mutter an langen Winterabenden 
verschiedene Bücher religiösen oder historischen Inhalts vor. 
Dostojewsky selbst schildert uns in folgenden Worten seine Kind- 



— 16 — 

heit: »Ich stammte aus einer frommen russischen Familie. Soweit 
meine Erinnerungen an mich selbst zurückitichen, erinnere ich mich 
auch der Liebe memer Ehern zu mir. In unserer Familie kannten 
wir das Evangelium schon von der Kindheit her. Ich war kaum 
10 Jahre alt, als ich bereits mit den wichtigsten Ereignissen der 
russischen Geschichte nach Karamsin ^) vertraut war, welche uns 
laut von unserem Vater vorgelesen wurden. Jedesmal war der 
Besuch des Kremls und der Kathedrale Moskaus für mich einer 
der feierlichsten Momente.* — 

Emen grossen Einfluss auf die Entwickelung der Phantasie 
des Knaben übten die Märchen der leibeignen Ammen aus, die 
aus dem Dbrie herüberkamen. Die Mutter Dostojewskys war 
eine schwächliche Frau. Sie starb bereits im Jahre 1836 an 
Schwindsucht, und die Kinder wurden von Ammen genährt und 
beaufsichtigt 

Das Mitteizimmer, in dem die Kinder all die gruseligen 
Geschichten der Ammen anhörten, wurde abends nur von dem 
Lichte, welches durch die offene Tür aus dem väteriichen Arbeits- 
zimmer fiel, erhellt; deutHch hörte man das eintönige Kratzen 
einer Feder aus dem Nebenzimmer — der Vater trug die 
Tagesberichte in die Krankengeschichten der Patienten ein, -- 
die Erzählerinnen sprachen leise, beinahe flüsternd, um den 
Hehrn nicht zu stören, und die kleinen Zuhörer erstarrten vor 
Schauder und Angst, indem sie alle Abenteuer der tapferen 
Helden oder des «Vogel Phönix" miterlebten. Dostojewsl^ war 
im höchsten Grade für alle Eindrücke empfänglich. Jedes ausser- 
gewöhnliche Ereignis beschäftigte lange Zeit seine Phantasie. Sein 
Bruder erzählt, dass, als er einmal auf einem Spaziergange einen 
Schnelläufer gesehen hatte, der vor seinem Gesicht ein mit einem 
erregenden Mittel durchtränktes Taschentuch hielt, er lange Zeit 
mit einem Taschentuch im Munde in den Gängen des grossen 
Gartens umhergelaufen sei. Und begeistert von der Geschicklich- 
keit, die ein Tänzer in der Hauptrolle des Balletts «Jacko oder 
der brasilianische Affe" entfaltete, versuchte Dostojewsky lange 
Zelt zu Hause dessen Sprünge und Schritte nachzuahmen. Übrigens 
waren derartige Eindrücke doch recht selten: eine Fahrt ins 
Theater oder sonst irgendwohin war ein aussergewöhnliches 



*) Russischer Historiker. 



— 16 - 

Ereignis. Aber die lebhafte und empfängliche Natur des Knaben 
sehnte sich nach neuen Eindrücken. Die merkwürdigen Gestalten 
der Kranken in ihren langen, grauen Röcken und den komischen 
Mützen erregten stets von neuem seine Neugier, und ungeachtet 
des Verbotes seines Vaters, konnte er nie der Verlockung wider- 
stehen, sich mit ihnen in ein Gespräch einzulassen, besonders 
wenn sich unter ihnen Knaben fanden. Die lebhafte Natur des 
Kindes dürstete leidenschaftlich nach lebendigen und konkreten 
Eindrücken, und das merkwürdige Erziehungssystem, das der 
Vater befolgte, bot ihm etwas ganz anderes. Selbst, wenn die 
ganze Familie einen Spaziergang in den Marienhain (so nannte 
man den Ort, an dem sich das Krankenhaus befand), unternahm, 
wurde den Kindern nicht erlaubt, zu laufen und zu springen. Der 
Vater benutzte diese Spaziergänge, um seine Kinder durch ver- 
schiedene Gespräche zu belehren. Dem Gedächtnis des jüngeren 
Bruders haben sich einige solche Gespräche eingeprägt, in denen 
er ihnen „die Anfangsgründe der Geometrie** beibrachte, ihnen 
von spitzen, rechten und stumpfen Winkeln, von gebrochenen und 
geraden Linien erzählte, die ja in den Strassen Moskaus so viel- 
fach vorkommen. Später, in reiferen Jahren, sprach Dostojewsky 
stets mit der grössten Ehrfurcht von seinen Eltern: „Es waren 
aufgeklärte Persönlichkeiten **. Wir haben keine Anhaltspunkte, um 
uns über die Mutter des Dichters ein Urteil zu bilden. Aber die 
Persönlichkeit seines Vaters steht uns klar vor Augen. Nach Be- 
endigung der Universitätsstudien nahm der Vater des Dichters an 
dem Kriege 1812 teil. Es ist natüriich, dass er den Freiheitsideen 
der damaligen Zeit nicht fremd bleiben konnte. Man darf nicht 
vergessen, dass aus den Reihen derer, die den Feldzug mit- 
gemacht hatten, die „Dekabristen** sich rekrutierten — diese glänzen- 
den Gardeoffiziere, welche die Soldaten lesen und schreiben lehrten 
und aus eigenem Entschluss die Rute aus ihren Regimentern ver- 
bannten. Und es ist begreiflich, dass auch auf einen Militärarzt 
die sozialen Strömungen, der geistige Aufschwung der ganzen rus- 
sischen Gesellschaft, der für einen Augenblick die Kluft zwischen 
Intelligenz und Volk überbrückte, mächtig einwirken mussten. Trotz 
seiner geringen Mittel gab der Vater Dostojeswskys seine Kinder 
doch nicht in eine Kronschule, wo sie als Stipendiaten aufgenommen 
werden konnten, sondern er Hess sie in einer Privatpension unter- 
richten, da in den Gymnasien der damaligen Zeit die Rute als 



— 17 - 

notwendiges Erziehungsmittel galt. Höher als alles auf der Welt 
schätzte er die Unabhängigkeit, und da er sie hauptsächlich in 
dem Besitze einer höheren Bildung zu erblicken glaubte, so be- 
mühte er sich aus allen Kräften, seinen Kindern von den ersten 
Jahren an das Bewusstsein der Notwendigkeit des Arbeitens und 
Lernens einzuprägen. Er wollte ihnen eine Mustererziehung zu teil 
werden lassen, aber leider wies sein Charakter eine ganze Reihe von 
Zügen auf, die ihn zu einem sehr schlechten Pädagogen machten. 

Die Zeit, die dem Befreiungskriege 1812 folgte, ist am besten 
als „Epoche der gescheiterten Hoffnungen'' zu bezeichnen. Wie 
in allen Perioden der sozialen Bewegungen in ihrer fortschreiten- 
den EntWickelung waren auch hier die Anschauungen der Menschen 
geteilt. Die einen, gefestigt durch ihren Idealismus und den un- 
umstösslichen Glauben an die Menschheit, gingen auf dem einmal 
eingeschlagenen Wege weiter, ohne vor den Schrecken der ihrer 
wartenden Möglichkeiten zurückzuweichen, — die andern sahen 
in dem Scheitern ihrer Hoffnungen ein verderbenbringendes Zeichen 
der Bosheit menschlicher Natur — sie wandten sich von der Ge- 
sellschaft ab und beschränkten sich lediglich auf ihren Familien- 
kreis. Zu den letzteren gehörte auch der Vater des Dichters. 

In einem Briefe an seinen Bruder schreibt der junge 17jährige 
Feodor Dostojewsky : „Mein armer Vater tut mir leid I Ein merk- 
würdiger Charakter ! Wieviel Schicksalsschläge haben ihn getroffen ! 
Es ist bitter, dass man ihn nicht trösten kann. — Und weisst Du, 
der Vater kennt überhaupt garnicht die Welt. Er lebt in ihr schon 
fünfzig Jahre und ist bei denselben Anschauungen geblieben, die 
er schon vor dreissig Jahren gehabt. Glückliche Unkenntnis I 
Aber er ist sehr enttäuscht. Das scheint mir ja unser aller Los."* 

Der Vater war ein finsterer, nervöser, schweigsamer, leicht 
aufbrausender und argwöhnischer Mann. Bei der seltenen Pflicht- 
treue, die ihn selbst auszeichnete, verlangte er auch von seinen 
Kindern eine peinliche Erfüllung der ihnen obliegenden Pflichten. 
^— »Der Vater wiederholte oft, dass er ein armer Mann sei, dass 
seine Kinder, besonders die Knaben, sich selbst ihren Lebensweg 
bahnen müssten, dass sie im Falle seines Todes als Bettler zurück- 
bleiben würden usw., ein düsteres Bild.** (Andrej Dostojewsky.) 

Als die Kinder für die Pension Tschermaks vorbereitet 
wurden, erteilte der Vater selbst ihnen lateinischen Unterricht. 
Der jüngere Bruder Andrej beschreibt diese Stunden: „Der 

Qrenzfragen d. Lit. u. Medizin. 5. Heft. 2 



— 18 — 

Unterschied zwischen den Lehrern überhaupt und dem Vater als 
Lehrer bestand darin, dass bei den ersteren die Schuler das Recht 
hatten zu sitzen, bei dem letzteren aber die Kinder die ganze 
Stunde hindurch nicht nur stehen mussten, sondern sich nicht 
einmal irgendwie stutzen oder an einen Tisch anlehnen durften. 
Während des ganzen Unterrichts^ standen sie da wie Ölgötzen und 
deklinierten der Reihe nach „mensa** oder konjugierten ihr „amo** 
as, at Die Brüder hatten vor diesen am Abend stattfindenden 
Stunden grosse Angst. Bei seiner ungemein grossen Güte war 
der Vater dennoch ungeduldig, aufbrausend und verlangte ausser- 
ordentlich viel. Der kleinste Fehler der Brüder erregte ihn bis 
zum Äussersten, und die Aufregung des Vaters war den Kindern 
die schlimmste Strafe.* 

Einen grossen Einfluss auf die Religiosität des künftigen 
Dichters übten die Religionsstunden aus. Der Lehrer, der in 
diesem Fache unterrichtete, ein junger Qeistlicher, besass eine 
wunderbare Redegabe, und die Bilder, die er vor seinen Schülern 
aufzurollen verstand, hinteriiessen in der Seele des empfänglichen 
Knaben einen grossen Eindruck. 



Im Jahre 1831 kaufte die Familie Dostojewsky ein kleines 
Gut im Gouvernement Tula, 150 Werst von Moskau entfernt 
Dorthin zog die gesamte Familie für den Sommer, nur der Vater 
blieb in Moskau zurück. Die Reisen auf das Gut und das dortige 
Leben gaben eine Menge neuer Eindrücke, und die verhältnismässig 
grosse Freiheit und das Fehlen der strengen väterlichen Aufsicht 
veriiehen diesen wenigen Monaten noch grösseren Reiz. 

Die Reise aufs Gut zu Wagen ging langsam vor sich. Fort- 
während machte man Halt, sodass die Fahrt einige Tage dauerte. 
„Während dieser Fahrten", so erzählt uns Andrej Dostojewsky, 
„befand sich der Bruder Feodor in einem fieberhaften Zustand. 
Stets sass er auf dem Bock, und wo der Wagen auch nur für 
einen Augenblick stehen blieb, sprang er herunter, lief in den 
Feldern umher oder machte sich bei den Pferden zu schaffen.** 

Auf dem Gute lernte Dostojewsky zum ersten Male den 
russischen Bauern kennen und lieben, und diese starke Liebe war 
es auch, die ihn später in der Verbannung aus Not und Ver- 
zweiflung rettete. — Der lebhafte und empfängliche Knabe machte 



~ 19 — 

sich schnell mit den Feldarbeiten des Landmanns vertraut und selbst 
mit einem unersättlichen Eigenstolz erfüllt, war er für einen blossen 
Dank bereit, einem Bauern bei seiner Arbeit behilflich zu sein, 
einem Weibe ihr Kind zu halten und anderes mehr. Binnen kurzer 
Zeit gewannen die Dorfleute das verständige und dienstwillige 
Kind lieb. Im Dorfe lernte auch der Knabe die Natur Russlands 
von Grund auf kennen. Im „Tagebuch eines Schriftstellers'' (1876) 
schreibt er folgendes: „Ich erinnere mich der Frfihherbstmonate 
in unserem Dorfe. Trockene und klare, aber kühle und windige 
Tage. Der Sommer naht seinem Ende. Bald kommt die Zeit^ 
wo wir nach Moskau zurückfahren müssen, um uns den ganzen 
Winter über bei den französischen Stunden zu langweilen, und es 
wird mir so schwer, unser Gut zu verlassen .... Ich wanderte 
hinter die Scheunen und stieg zu dem wilden Gestrüpp jenseits 
des Bergabhanges, welches sich bis zum Walde hinzog, hinab. 
Ich verberge mich im dichten Laub und höre wie in der Nähe 
unser Bauer pflügt. Ich kenne alle unsere Bauern mit Namen .... 
Rasch breche ich einen Baumzweig ab, um den Fröschen nach- 
zustellen .... Auch liebe ich die kleinen, geschickten rotgelben 
Eidechsen, aber vor den Schlangen habe ich Angst .... und 
nichts in der Welt hatte ich so gern wie den Wald mit seinen 
Beeren und Pilzen, seinen Vögeln und Insekten, mit seinen Eich- 
hörnchen und Igeln, mit dem mir so lieben Gerüche der halb- 
verwelkten Blätter." 

Die Natur fasste Dostojewsky in eigenartigster Weise auf. 
Seine lebhafte Phantasie und seine krankhafte Schwärmerei trugen 
immer etwas Geheimnisvolles in die einfachen Bilder der russischen 
Natur hinein. Herrlich beschreibt Dostojewsky den Einfluss der 
Natur auf ein kindliches Gemüt in seinem Roman „Beleidigte und 
Erniedrigte", der ganz entschieden autobiographische Züge trägt. 
„Hinter jedem Strauch, hinter jedem Baum lebte für uns etwas 
Geheimnisvolles und Unbekanntes. Das Märchenhafte floss mit 
der Wirklichkeit zusammen, und wenn aus den tiefen Tälern sich 
ein dichter Abendnebel erhob und sich gleichsam mit eigenartigen 
grauen Fühlern am Gebüsch, welches den felsigen Abhang bedeckte, 
festzuklammern versuchte, standen wir am Ufer, schauten, uns 
gegenseitig bei den Händen haltend, in die Tiefe und warteten 
mit banger Neugier, dass im kommenden Augenblick etwas Grosses 
und Schreckliches sich erheben oder seine Stimme aus dem dunkeln 



— 20 - 

Abgrund erschallen lassen und dass die Märchen der Ammen sich 
verwirklichen würden." 

Im Dorfe stand es den Kindern frei» umherzulaufen und sich 
herumzubalgen. Hier war Dostojewsky stets an der Spitze aller 
Unternehmungen, obgleich er dem Alter nach erst an zweiter Stelle 
kam. Bei den Spielen, wo der Phantasie des Knaben eine grosse 
Rolle zufiel, war er stets Indianerhäuptling, oder Robinson, niemals 
aber der schwarze Freitag. „In meinen ersten Träumereien schon, 
also von der frühesten Kindheit an**, sagt der Held des Romans 
„Der Jüngling", „konnte ich mich in allen Lagen des Lebens nur 
als an erster Stelle stehend, vorstellen." — Nach den Angaben von 
Orest Miller^), der den Dichter persönlich kannte, erzählte Dosto- 
jewsky selbst, wie er stets bestrebt war, gute Freunde zu gewinnen 
und wie ihm dieses immer infolge seiner grossen Empfindlichkeit 
misslang. 

„In den ersten Klassen des Gymnasiums schon", erzählt 
„der Jüngling", „zerriss sofort jedes Verhältnis zu denjenigen 
meiner Kameraden, die mich in irgend einer Weise übertrafen, 
sei es in den Wissenschaften, in körperlicher Kraft, oder auch nur 
in einer schlagfertigen Antwort. Dabei hasste ich den Betreffenden 
durchaus nicht, wollte ihm auch gar kein Leid zufügen, wandte 
mich nur still von ihm ab. Denn so ist mein Charakter." Und 
diese Charaktereigenschaften ziehen sich gleich einem roten Faden 
durch das ganze Leben Dostojewskys. 

In den ersten Lebensjahren des Kindes schon trat seine Nei- 
gung zu Träumereien deutlich hervor. Im Romane „Der Jüng- 
ling", dem eine so hervorragende Autorität wie Kirpitschnikow 
entschieden autobiographische Bedeutung zuschreibt, finden wir 
folgende interessante Stellen: „Ja, ich schwärmte mit aller Leiden- 
schaft, so sehr, dass ich zu Unterhaltungen keine Zeit fand, und 
daraus folgerte man, ich sei menschenscheu. Aus meiner Zer- 
streutheit glaubte man noch schlimmere Schlüsse ziehen zu müssen, 
aber meine blühenden Wangen bewiesen das Gegenteil. Besonders 
glücklich war ich, wenn ich mich schlafen legte und die Decke 
über meinen Kopf zog. Da begann ich allein in vollster Ein- 
samkeit ohne die störenden Menschen, in geheimnisvoller Stille, — 
das Leben auf meine Art umzuformen." 



Ein russischer Kritiker und Biograph. 



- 21 — 

Wir erkennen in dem oben Beschriebenen einen oft eintreten- 
den Zustand untätiger Träumereien, wie wir ihn in den Kinder- 
jahren bei gesunden, nicht selten aber auch bei neuropathisch 
veranlagten Individuen vorfinden. Ausser diesen hier beschriebenen 
Wachträumereien fesseln unsere Aufmerksamkeit noch andere 
Erscheinungen, — wir lassen es offen, ob es sich dabei um 
Halluzinationen handelt, welche in der Kindheit auftraten. Wir 
zitieren hier eine Stelle des »Tagebuches eines Schriftstellers* 
(1876), in der Dostojewsky sich seiner Kindheft erinnernd, eine Hallu- 
zination beschreibt.^) »Plötzlich hörte ich, wie ein Schrei: ,Ein 
Wolf kommt' das Schweigen durchbrach. Ich schrie auf und 
lief jammernd auf die kleine Waldwiese, wo ein Bauer pflügte und 
ergriff in meiner Angst mft meiner Rechten den Pflug und mft der 
anderen seinen Arm. ,Ein Wolf schrie ich mft erstickender 

Stimme. — ,Wo ist er denn?* — ,Man schrie jemand 

schrie .... eben, ein Wolf kommt', konnte ich nur lispeln. 
Ich bebte am ganzen Leibe, eriasste krankhaft seinen Rock, und 
war wohl sehr bleich. Meine Lippen zitterten. Schliesslich ver- 
stand ich, dass es mir nur so schien, als schrie jemand: ,ein 
Wolf kommt', und dass in Wirklichkeft gar kein Wolf da war. 
Übrigens glaubte ich den Schrei ganz deutlich gehört zu haben. 
Auch früher schon war es vorgekommen, dass ich solche Momente 
erlebte, und das wusste ich ganz genau. In späteren Jahren 
hörten diese Erscheinungen auf.*" — 

Feodor Dostojewsky, ebenso wie sein älterer Bruder, 
wandten sich schon früh der Lektüre zu ; sie lasen fast ausschliess- 
lich Bücher literarischen Inhalts, was der schwärmerischen und 
poetischen Natur der beiden Knaben völlig entsprach. Auf den 
Einfluss der Lektüre wollen wir nicht näher eingehen. Es scheint 
uns hier nur am Platze, hervorzuheben, welches Entzücken Puschkin 
in den Brüdern hervorgerufen hatte; ihre feinfühlenden Seelen er- 
kannten wohl die Grösse seines Genies, während die Mehrzahl der 
russischen Intelligenz überhaupt nicht die volle Bedeutung des Dich* 
ters eriasst hatte. Diese Hochschätzung Puschkins erscheint 
als eines der ersten selbständigen Urteile Dostojewskys, zu 
welchem er selbst ohne jede Anleitung, sogar teilweise ent- 



*) Die hier zitierte Stelle ist die Fortsetzung der bereits oben aus 
demselben Werke angeführten Zeilen. 



- 22 - 

gegen der Anschauung seiner Eltern über diesen Dichter, geicommen 
war. Die Verschiedenheit der Charaktere von Vater und Sohn musste 
eine ganze Reihe unvermeidh'cher Missverständnisse nach sich ziehen, 
und wir selbst haben mehrere Beweise davon. — „Der Bruder 
Feodor,'' sagt Andrej Dostojewsky, „war viel zu hitzig; energisch 
verteidigte er seine Ansichten und war in seiner Ausdrucksweise 
etwas unbedacht. Bei solchen Äusserungen Feodors sagte der 
Vater öfters zu ihm : Ach Fedja, nimm dich in acht, sonst kann 
es dir noch schlecht ergehen, pass auf, dass dir nicht noch einst 
die rote Mütze auf den Kopf gesetzt wird.'' ^) 

Im Jahre 1836 starb die Mutter des Dichters an Schwind- 
sucht, und 1837 fiel Puschkin im Duell. Dies waren zwei zu 
harte Schläge für eine so zarte und nervöse Natur wie Dosto- 
jewsky. In demselben Jahr entschloss sich der Vater, seine zwei 
Söhne Feodor und Michail nach Petersburg zu schicken. Vor 
der Abreise besuchten die Brfider in Begleitung ihrer Tante das 
Troitze-Sergiew'sche Kloster bei Moskau. Sowohl auf dem Hin- 
wie auf dem Rückwege befanden sich beide in höchster Erregung 
und deklamierten fortwährend ihre Lieblingsgedichte. Die mystische 
Feierlichkeit, die über dem ganzen Kloster lag und erfüllt war 
von tief religiöser Stimmung, die gespannte Erwartung einer un- 
gewissen Zukunft, die ihrer in Petersburg harrte, die noch frische 
Trauer über den Tod ihrer Mutter, das schreckliche Ende des 
vergötterten Dichters — dies war doch zu viel für sie — und 
„die Reise des Vaters mit seinen Söhnen nach Petersburg wäre 
beinahe nicht zustande gekommen, da der Bruder Feodor erkrankte. 
Scheinbar ohne Grund trat bei ihm eine Kehlkopfkrankheit auf, 
und er verlor die Stimme. Nur mit Mühe konnte er leise sprechen. 
Die Krankheit war hartnäckig und trotzte jeder Behandlung. Nach- 
dem man alle Mittel umsonst versucht hatte, entschloss sich der 
Vater — ein strenger Allopath, auf verschiedene Ratschläge hin 
^ die homöopathische Heilmethode zu erproben. Der Bruder 
Feodor wurde von der Familie gänzlich abgesondert, speiste sogar 
an einem besonderen Tisch, um nicht einmal den Geruch der 
für die Gesunden bestimmten Speisen zu verspüren. Übrigens 
half auch die Homöopathie nicht viel, bald erging es dem Kranken 
besser, bald schlechter. Schlfesslich wurde dem Vater von vielen 



Mützen. 



) Die Mannschaften der russischen Strafbataiilone trugen damals rote 



- 23 — 

Ärzten geraten, die Reise zu unternehmen, ohne auf die völlige 
Genesung seines Sohnes zu warten. Sie dachten, dass die Fahrt 
bei guter Jahreszeit nur Nutzen bringen könne. So geschah es 
auch." — Wir sind der Meinung, dass diese Krankheit in Anschluss 
an den Besuch des Klosters und die tiefen Eindrücke daselbst 
aufgetreten ist. Es handelt sich hier wohl um eine psychogene 
Erscheinung, wie sie bei Epileptikern gar nicht selten zur Beobach- 
tung kommt • 

Die Reise von Moskau nach Petersburg, die die Kindheit 
und frühe Jugend des Dichters beschliesst, hat er uns mit folgen- 
den Worten geschildert. „Im Jahre 1837 fuhren ich, beinahe 
15 Jahre alt, und der ältere Bruder in Begleitung des verstorbenen 
Vaters nach Petersburg, um hier die Hauptingenieurschule zu 
beziehen. Es war im Mai, aber heiss wie im Hochsommer. Wir 
fuhren zu Wagen beinahe Schritt und machten auf den Stationen 
für 2—3 Stunden Halt. Ich kann mich noch gut erinnern, wie 
diese Reise, die beinahe eine Woche hindurch dauerte, uns 
schliesslich zuwider wurde. Es zog uns zum neuen Leben hin, 
und wir schwärmten beseligt von allem ,Schönen und Guten*. 
Damals war diese Redensart noch jung und wurde ohne jede 
Ironie gebraucht .... obgleich wir beide zur Genüge wussten, 
was alles von uns für das Mathematikexamen verlangt wurde, 
träumten wir doch nur von Poesie und Poeten. Der Bruder 
verfasste täglich 2—3 Gedichte, und ich schuf in meiner Vor- 
stellung einen Roman aus dem venezianischen Leben. Es war 
damals ein Monat nach dem Tode Puschkins, und wir kamen 
überein, sobald wir in Petersburg angelangt wären, sogleich 
die Duellstelle und die Wohnung, in der er seine Seele aus- 
hauchte, aufzusuchen." ,,Tagebuch eines Schriftstellers" (1876). 



in. 

In der Hauptingenieurschule blieb Dostojewsky vier Jahre 
und arbeitete ausserdem noch zwei Jahre lang in der Zeichen- 
abteilung, als er bereits Offizier war. Diese sechs Jahre bilden 
ihrem ganzen äusseren und inneren Inhalte nach eine in sich ge- 
schlossene Periode im Leben unseres Dichters. 

Die Umgebung, in welche der ,17jährige mittelgrosse Jüng- 
ling mit kräftigem Körperbau, blonden (!) Haaren und einem krank- 



- 24 - 

'haft bleichen Gesicht'' hineingeraten war, glich nicht im geringsten 
dem, wovon Dostojewsky einst in der Heimat geträumt hatte, als 
er sich nach Petersburg sehnte. Die militärische Disziplin mit 
ihrem Prinzip des unbedingten Gehorsams drückte den Jüngling, 
der es gewohnt war, seine Meinung frei und offen zu vertreten. 
Die Ingenieurwissenschaften, unter denen Mathematik und Zeichnen 
die erste Stelle einnahmen, konnten ihn, der von einer literarischen 
Tätigkeit träumte, und die Poesie vergötterte, nicht begeistern. 
Dostojewsky war auch von Hause aus eine strenge Behandlung 
gewöhnt, aber die Forderungen seines Vaters wurden immerhin 
durch seine aufopfernde Liebe gemildert. Dazu kam noch, dass er 
sich dort in einem eng zusammenhängenden Familienkreise befand, 
hier dagegen waren nur die militärische Disziplin und die Kame- 
raden, die ihm ihrem ganzen Wesen nach völlig fremd gegenüber- 
standen. 

„In unserer Schule**, so berichtet der Held der „Notizen **, 

„wurde der Gesichtsausdruck aller Schüler in kurzer Zeit umge- 
wandelt — zumeist geradezu dumm. Wieviel schöne Kinder traten 
in unsere Schule ein. Nach einigen Jahren war es wideriich, sie 
anzusehen. Erst 16 Jahre alt habe ich sie schon mit einer Art 
von traurigem Widerwillen angestaunt. Mich wunderte die Klein- 
lichkeit ihrer Denkungsart, die Torheit ihrer Beschäftigungen, ihrer 
Spiele und ihrer Gespräche. Sie verstanden weder die notwendigsten 
Dinge, noch interessierten sie sich überhaupt für wichtige und 
dringende Fragen, so dass ich sie nur noch von oben herab an- 
sehen konnte. Für die einfachste, deutlich zutage tretende Wirk- 
lichkeit hatten sie nicht den geringsten Sinn und waren schon da- 
mals gewohnt, nur dem Erfolge zu huldigen. Der Titel galt ihnen 
als das Höchste. Erst 16 Jahre alt, sprachen sie bereits von Zu- 
kunftsplätzchen, die ihnen einst als warmes Nest dienen sollten. 
Vieles [stammte selbstverständlich hier von den schlechten Bei- 
spielen, die sie von früher Kindheit an bereits um sich sahen. 
Sie waren [widerlich lasterhaft. Selbstverständlich waren hierbei 
mehr Äusseriichkeit, mehr gemachter Zynismus im Spiel, selbst- 
verständlich trat auch bei ihnen hinter diesem Zynismus eine ge- 
wisse jugendliche Frische hervor, aber auch diese war im Grunde 
wenig anziehend und äusserte sich in einer gewissen ,Schneidigkeit'.'' 

Das ganze Verhalten Dostojewskys in der Schule entsprach 
durchaus den vorerwähnten Beziehungen zu seinen Kameraden. 



— 26 - 

Die Erinnerungen dreier ganz verschiedener Personen geben uns 
ein völlig übereinstimmendes Bild. 

„Ich habe öfters Gelegenheit gehabt, Dostojewsky während 
der Arbeit sowohl wie auch auf Spaziergängen entweder allein 
oder begleitet von (Ivan) Bereschetzky zu sehen/' schreibt Saweljew. 

„Niemals habe ich bemerkt, dass die jungen Leute weder an 
den Streichen, noch an den beliebten Spielen ihrer Kameraden 
teilgenommen hätten. Sie besuchten niemals den Tanzunterricht» 
öfters meldeten sie sich krank und lasen dann an ihren Bett- 
tischen oder gingen auch in den Schlafkammern auf und ab. Im 
Jahre 1840", fährt Saweljew fort, „blieb Dostojewsky immer noch 
der unerschütterlich ruhige und schweigsame Jungling, .... durch 
eine tiefe Kluft von seinen Kameraden getrennt, gab er sich ganz 
seinen Schwärmereien hin. Auch noch als Schuler der letzten 
Klasse konnte man ihn öfters ganz allein sehen: entweder sass 
er an seinem Tische und arbeitete, oder er ging mit gesenktem 
Kopfe und auf dem Rucken gefalteten Händen im Zimmer umher» 

„Auch im nächsten Jahre (1841) blieb Dostojewsky wie früher 
nachdenklich, in sich gekehrt und verschlossen, selten kam er 
mit irgend einem seiner Kameraden zusammen, wenngleich er 
dieselben auch nicht mied, sondern ihnen öfters ihre Schulauf* 
gaben anfertigen half und ihnen dann und wann ihre Aufsätze 
schrieb; nichtstuend und lässig aber konnte man ihn niemals 
sehen. Sein Lieblingsarbeitsplatz war die Fensternische in dem 
Schlafzimmer seiner Abteilung. In dieser abgesonderten Ecke 
sass und arbeitete Dostojewsky oft, ohne zu bemerken, was rings 
um ihn her vor sich ging. Er räumte oft dann erst Bücher und 
Hefte in seinen Pult, wenn der Trommler, der durch die Schlaf- 
räume ging, den Zapfenstreich schlug. Zu später Nachtstunde 
konnte man Dostojewsky bisweilen an seinem Nachttische arbeitend 
finden. Es kam öfters vor, dass Dostojewsky meinen Aufforde- 
rungen liebenswürdig Folge leistete, seine Hefte wegräumte und 
sich zu Bette legte, es verstrich aber nur kurze Zeit und man 
konnte ihn wieder an demselben Tische und an derselben Arbeit 
sitzend erblicken." 

„Zu dieser Zeh (1839)", erzählt K. A. Trutowsky, später ein 
bekannter Maler, der dieselbe Schule besuchte, „war Dostojewsky 
ziemlich mager, von fahler Gesichtsfarbe, seine Haare blond und 
spärlich, die Augen tief eingesunken; sein Blick war scharf und 



— 26 - 

durchdringend. In der ganzen Schule passte niemand so wenig 
in das System der mih'tärischen Schuldisziplin wie Dostojewsky. 
Seine Bewegungen waren stets eckig und hastig, in seiner Militär- 
uniform sah er noch unbeholfener aus. 

„Moralisch unterschied er sich ebenfalls von allen seinen mehr 
oder minder leichtsinnigen Kameraden; immer in sich gekehrt, 
ging er in seinen Freistunden beständig auf und ab, dort, wo 
niemand ihn sehen konnte, und nahm von allem, was rings um 
ihn geschah, nicht das Geringste wahr. Er war immer gut und 
liebenswürdig den anderen gegenüber, kam aber mit keinem von 
seinen Kameraden in engeren Verkehr. Nur zwei Menschen 
waren es, mit denen er in längerer Unterhaltung verschiedene 
Fragen besprach.* 

D. W. Qrigorowitsch, später einer der bekanntesten russi- 
schen Schriftsteller, zeichnet uns von Dostojewsky als Schüler 
folgendes Bild: „Eine angeborene Zurückhaltung in seinem 
ganzen Wesen und der Mangel der jugendlichen Offenherzigkeit 
und der übersprudelnden Lebensfreude zeichneten ihn aus. Dosto- 
jewsky zog damals schon die Einsamkeit dem Zusammensein mit 
vielen Menschen vor. Bei allen Spielen ging er auf die Seite, 
sass immer in ein Buch vertieft und suchte sich ein einsames 
Fleckchen. Bald fand sich auch so ein Plätzchen und wurde für 
lange Zeit sein liebster Aufenthaltsort. Dort konnte man ihn 
immer mit einem Buche finden." Das Verhältnis seiner Kame- 
raden zu ihm war vollständig bestimmt durch dasjenige zu ihnen: 
man hielt ihn für einen „Sonderling'', für einen „Mystiker**, 
achtete aber zumeist gar nicht auf ihn. So erschien der Dichter 
den Menschen, die mit ihm in oberflächliche Berührung kamen, 
aber nicht in ein engeres Verhältnis zu ihm traten. Q. Kirpitsch- 
nikow gibt in seiner Schrift: „Dostojewsky und Pissemsky"^) 
folgende Charakteristik Dostojewskys für diese Periode, indem 
er seinen Roman „Der Jüngling** kritisiert: „Dies ist Dosto- 
jewsky selbst in seiner Jugend, in einer durchaus nicht schmeichel- 
haften Selbstschilderung. Er ist ,das jQemisch aller Arten von 
Eigenliebe*. Er quält die am meisten, die er liebt. Sein Herz 
fliesst ihm von Menschenliebe über, er versucht aber, ,sich so 
finster als möglich zu geben*, er hasst sich wegen des Wunsches, 



Bekannter russischer Romanschriftsteller. 



- 27 - 

»allen Menschen um den Hals zu fallen*. Er ist nicht rach- 
süchtig, vergisst aber das Böse nicht leicht. Er sucht durch 
Grossmut sich an seinem Feinde zu rächen, damit dieser seine 
Verfehlung von ihm besonders schmerzhaft empfinde." Ganze 
Stürme spielten sich in der Seele des schweigsamen Jünglings 
ab. Die völlige Einsamkeit, zu der er inmitten dieser lärmenden 
Menge verdammt war, lastete schwer auf seiner sensiblen Seele. 
Manchmal, aber nur selten, trat er irgend einem seiner Kameraden 
näher: dieser Fall trat nur dann ein, wenn der andere sich der 
Autorität seiner geistigen Überlegenheit unbedingt beugte, oder es 
musste irgend ein äusseres Ereignis ein intimeres Verhältnis zu 
einem anderen anbahnen. Im Jahre 1838 besuchte ihn ein Arzt, 
Dr. Riesenkampf, der aus Reval kam und von dem älteren Bruder 
des Dichters eine Empfehlung mitbrachte. Und nun eröffneten 
sich diesem, der es verstanden hat, dem verschlossenen Jüngling 
ein gewisses Vertrauen einzuflössen, ganz andere Züge seines 
Charakters. Den Erinnerungen von Riesenkampf entnehmen wir 
folgende Stellen: „Dostojewsky war ein sehniger, blonder Jüngling 
mit einem rundlichen Gesicht und einer Stumpfnase. Sein helles 
Haar war kurz geschnitten. Unter der hohen Stirn und den spär- 
lichen Augenbrauen sassen ziemlich tiefliegende graue Augen. 
Die Wangen waren bleich und mit Sommersprossen bedeckt. Die 
Gesichtsfarbe kränklich, die Lippen ziemlich dick. Er war weit 
temperamentvoller, beweglicher und hitziger als sein älterer Bruder. 
Er liebte leidenschaftlich die Poesie, schrieb aber nur in Prosa, 
denn zur Verarbeitung der Form fehlte ihm die Geduld. Die 
Gedanken in seinem Kopfe entstanden mit Blitzesschnelle. Seine 
angeborene herrliche Vortragsgabe überschritt häufig die Grenzen 
einer künstlerischen Selbstbeherrschung." Aus dieser gewissen- 
haften Beschreibung des deutschen Arztes im Vergleich zu den 
früheren Berichten sieht man geradezu, wie die Gedanken 
und Eindrücke, die in der Seele des Jünglings sich angesam- 
melt hatten und in freundschaftlichen Unterhaltungen keinen 
Ausweg gefunden, sich gleichsam unter dem Drucke des 
Schweigens befanden, und wie bei der ersten Bekanntschaft mit 
einem Menschen, dem man sein Inneres erzählen konnte, die 
ganze Zurückhaltung und Schweigsamkeit plötzlich verschwand und 
wieder der talentvolle, heissblütige Jüngling zutage trat. Der- 
artige Begegnungen waren aber sehr selten, und die niemand 



- 28 — 

gegenüber geäusserten Empfindungen und niemals im Gespräche 
geprüften Gedanken quälten in Stunden tiefer Einsamkeit den 
Jüngling und erzeugten in ihm eine düstere Stimmung, die ihn 
bisweilen zu Selbstmordgedanken trieb. So lesen wir in einem 
Briefe an seinen Bruder, der aus dieser Perfode stammt, folgendes: 
„Ich glaube, dass unsere Welt ein Fegefeuer für die himmlischen 
Geister ist, die von sündhaften Gedanken umschleiert sind. Ich 
glaube, dass der Sinn unseres Lebens ein negativer geworden ist» 
und dass aus der hohen Schönheit des geistigen sich eine Satire 
entwickelt hat. Denken wir, dass in diese Welt eine Persönlich- 
lichkeit hineingerät, die weder an den Gedanken, noch an den 
Leidenschaften des ganzen irgend welchen Anteil hat, ihm also 
wie etwas ganz Fremdem gegenübersteht. Zu welchem Ende soll 
dies führen? Das Bild ist verdorben und unmöglich geworden! 
Jedoch, nur die traurige Hülle zu sehen, unter der die ganze 
Welt leidet, zu wissen, dass eine Willenexplosion genügt, um sie 
zu zerreissen und sich mit der Ewigkeit eins zu wissen, und bei 
alledem sich als das letzte, elendeste aller Geschöpfe zu fühlen . . . t 
Der Gedanke ist schrecklich! Wie kleinmütig ist doch der Menscht 
Hamlet! Hamlet! Ich habe einen Plan — wahnsinnig zu werden. — 
Sollen die anderen versuchen, mich gesund zu machen, mögen 
sie mich weise machen!*' 

In einer der Klassen blieb Dostojewsky für ein Jahr zurück. 
Dieses Ereignis übte auf ihn einen erschütternden Eindruck aus* 
„Ich bin nicht versetzt! O wie fürchterlich! Noch ein Jahr, ein 
ganzes Jahr der Entbehrungen! Ich würde ja nicht so wütend 
sein, wenn ich nicht genau wüsste, dass die Gemeinheit, ja die 
Gemeinheit allein, über mich triumphiere; ich würde ja nicht so 
traurig darüber sein, wenn nicht die Tränen des armen Vaters 

mir tiefen Kummer bereiteten Ich möchte mit einem 

Male die ganze Welt zermalmen! .... Es ist so trübe, ohne 

Hoffnung zu leben ich blicke in die Zukunft und 

schaudere. Ich bewege mich in irgend einer kalten, eisigen 
Atmosphäre, zu der kein Sonnenstrahl dringt. Ich habe schon 
lange keine Ausbrüche künstlerischer Begeisterung gehabt, be- 
finde mich aber oft in einer Stimmung, ähnlich der des Gefan* 
genen von Chillon im Kerker, nachdem er alle seine Brüder ver- 
loren hatte. In mein ödes Heim fliegt kein Paradiesvögelchen 
der Poesie, nichts wärmt mir meine zu Eis gewordene Seele» 



— 29 - 

Meine früheren Träume haben mich längst verlassen, und die 
schönen Arabesken, die ich einst geschaffen, haben längst ihren 
Glanz verloren. Die Gedanken, welche einst mit ihren Strahlen 
Seele und Herz entflammten, haben heute ihre Wärme verloren, 
oder ist vielleicht mein Herz erstarrt, oder .... weiter rede ich 
nicht, es wird mir angst .... O, wenn Du wusstest, mein lieber 
guter Freund, wie ich hier verwildert bin!*" 

Neben alledem erschwerten noch materielle Verhältnisse die 
Lage in der Schule. Wir haben einige Briefe Dostojewskys an 
seinen Vater, in denen er diesen um Geld bittet. Sie machen alle 
einen schwermutigen Eindruck. 

Als Dostojewsky im Jahre 1842 in die Offiziersklassen ver- 
setzt wurde, besserte sich seine pekuniäre Lage, seine seelische 
Stimmung dagegen zeigte durchaus keine Veränderungen. Dabei 
war sein Gemütszustand bedeutend schlechter geworden. In dieser 
Zeit bewohnte Dostojewsky seine eigene Wohnung, die der Künst- 
er Trutowsky foigendermassen beschreibt: „Die Wohnung bestand 
aus vier Zimmern, von denen Dostojewsky eins bewohnte — drei 
standen ganz leer.*" Diese wurden sogar, wie wir aus anderen 
Quellen ersehen, im Winter gar nicht geheizt. In dem engen 
Zimmer, in dem Dostojewsky sich aufhielt, schlief und arbeitete, 
stand ein Schreibtisch und ein Divan, welcher auch als Bett diente. 
Auf dem Tische, den Stühlen und auf dem Boden lagen haufen- 
weise Bücher und beschriebene Papierzettel. „Nach dem Besuch 
der morgens abgehaltenen Offizierskurse", so erzählt Dr. Riesen* 
kämpf, „sass er in seinem Zimmer und widmete sich der literarischen 
Tätigkeit. Seine Gesichtsfarbe war bleich, ihn quälte beständig 
ein trockener Husten, der gegen Morgen immer stärker wurde. 
Seine Stimme war stets heiser; zu diesen krankhaften Symptomen 
gesellte sich noch die Anschwellung der Unterkieferdrüsen.** 

Der trockene Husten, die heisere Stimme und die Drüsen- 
anschwellungen berechtigen uns, einen tuberkulösen Prozess an- 
zunehmen. Es gewinnt diese Vermutung an Wahrscheinlichkeit, 
wenn wir die tuberkulöse Belastung von selten seiner Mutter in 
Betracht ziehen. 

„Er verheimlichte aber sorgfältig alles dies seinen Bekannten, 
und sogar seinem Freunde — einem Arzte — gelang es nur mit 
Mühe, ihn zum Einnehmen irgend welcher Mittel gegen seinen 
Husten zu veranlassen und zu zwingen, etwas weniger zu rauchen." 



- 30 - 

Der Schriftsteller Grigorowitsch, welcher damals mit Dostojewsky 
zusammen wohnte, berichtet folgendes: 

„Dostojewsky sass ganze Tage hindurch und teilweise auch 
Nächte an seinem Schreibtisch. Er sprach nie ein Wort über das, 
was er schrieb. Auf meine Fragen antwortete er nur ungern und 
kurz; und da ich seine Verschlossenheit bald kennen lernte, ver- 
mied ich es, ihn nach irgend etwas zu fragen. Wenn Dostojewsky 
zu schreiben aufhörte, sah man ihn sogleich mit dem Lesen irgend 
eines Buches beschäftigt. 

Die ununterbrochene Arbeit und das beständige Zuhause- 
sitzen übten einen schlechten Einfluss aus auf seinen Gesundheits- 
zustand. Seine Krankheit, die sich schon früher während des 
Besuches der Schule entwickelt hatte, nahm zu. Ein paarmal be- 
kam er während unserer sehr seltenen Spaziergänge Anfälle. Als 
wir einst zusammen durch eine Strasse gingen, begegnete uns ein 
Leichenzug. Dostojewsky wandte sich rasch ab und wollte auf 
demselben Wege zurückkehren. Aber ehe er einige Schritte zu- 
rückgelegt hatte, trat ein so starker Anfall auf, xlass ich mich ge- 
zwungen sah, ihn mit Hülfe einiger vorübereilenden Passanten 
nach dem nächsten Laden hinüberzubringen. Nur mit grosser 
Mühe gelang es uns, ihn zum Bewusstsein zurückzurufen. Nach 
solchen Anfällen trat gewöhnlich ein Depressionszustand ein, der 
zwei bis drei Tage dauerte.'* 

Die Anfälle, welche Dostojewsky nach den Angaben von 
Grigorowitsch in der Schule hatte, waren wahrscheinlich sehr 
schwach und traten nur selten auf, da wir nirgends, sogar nicht 
in den Erinnerungen von Saweljew, etwas von ihnen zu hören 
bekommen. Vielleicht lässt sich dies aber aus der Verschlossen- 
heit Dostojewskys erklären. 

Die Arbeit, an welcher, wie Grigorowitsch berichtet, Dosto- 
jewsky Tag und Nacht sass, war sein erster Roman „Die armen 
Leute**. Dieser Roman erregte in der russischen Gesellschaft 
grosses Aufsehen, und es begann von diesem Augenblicke für 
Dostojewsky ein neues Leben. Im Jahre 1844 nahm er 
seinen Abschied und gab für immer seine Ingenieurlaufbahn 
auf; als Offizier aber musste er noch einmal wider seinen 
Willen dienen. 



- 31 - 



IV. 



Es ist hier nicht der Ort, eine Charakteristik Bjelinskys und 
des Kreises junger und begabter Schriftsteller, die sich um ihn 
gesammelt, zu geben. Es genügt, wenn wir hervorheben, dass 
sich unter ihnen Turgenjeff und Tolstoi befanden. Bjelinsky selbst 
steht mit seinen kritischen Schriften in einer Reihe mit Puschkins 
Poesie und Gogols Prosa. Zu jener Zeit genügte ein Wort von 
Bjelinsky, um einen jungen Schriftsteller berühmt zu machen oder 
ihn völlig zu verderben. — 

Nachdem Bjelinsky das ihm von Nekrasoff zugestellte 
Manuskript des Romans „Arme Leute"* aufmerksam durchgesehen, 
rief er den jugendlichen Autor zu sich, und Dostojewsky hörte aus 
dem Munde „des Königs der Literatur** ein begeistertes Lob über 
sein erstes Werk. Bjelinsky war ein heissblütiger Mensch, der 
sich leicht hinreissen Hess. Den „ungestümen Vissarion" nannten 
ihn seine Freunde, das „grosse Herz** seine zeitgenössischen 
Biographen. — „Ich blieb an der Ecke seines Hauses stehen,** 
schreibt Dostojewsky im Jahre 1877, „ich sah den Himmel, den 
hellen Tag, die vorübereilenden Menschen und fühlte in meinem 
Innern, dass ein wichtiger Moment meines Lebens herangenaht 
war. Ich empfand, dass etwas ganz Neues begonnen hatte, etwas, 
das ich selbst in meinen leidenschaftlichsten Schwärmereien nie 
geahnt hatte. Und ich war damals ein leidenschaftlicher Schwärmer.** 
So wurde Dostojewsky in den Kreis der ersten Schriftsteller Russ- 
lands eingeführt. Die Frau des Schriftstellers Panajew, einer von 
denen, die zu Bjelinskys Kreise gehörten, und bei denen sich öfters 
die ganze Gesellschaft versammelte, erzählt in ihren Memoiren, 
wie zartfühlend und entgegenkommend man sich zuerst Dostojewsky 
gegenüber verhielt. Sie schildert den Dichter folgendennassen: 
„Man konnte auf den ersten Blick sehen, dass er ein sehr ner- 
vöser, eindrucksfähiger, junger Mann war. Er war mager, klein, 
blond, seine Gesichtsfarbe krankhaft. Seine Augen, grau und 
nicht gross, blickten unruhig hin und her, und die bleichen Lippen 
zuckten nervös.** 

Sein erster Roman fand sogleich Beifall, und Dostojewsky 
war glücklich darüber. „Bruder,** schreibt er an Michail Dosto- 
jewsky, „ich glaube, dass mein Ruhm nie wieder die jetzige Höhe 
erreichen wird, überall begegnet man mir mit unglaublicher Hoch- 



— 32 — 

achtung und ausserordentlicher Liebenswürdigkeit. Wenn ich Dir 
von allen meinen Erfolgen erzählen wollte» würde das Papier 

hierzu nicht ausreichen. Ich glaube, ich werde viel Geld gewinnen 

Meine Zeit verbringe ich sehr lustig und vergnfigt. Unser Kreis 
Ist nicht gross. Aber verzeih Lieber, ich schreibe nur von mir 
selbst. Ich muss Dir aufrichtig gestehen, ich bin beinahe be- 
rauscht von meinem eigenen Ruhm."* 

Wenn man Dostojewskys Charakter näher kennt, so kann 
man sich leicht vorstellen, wie dieser Zustand leidenschaftlicher 
Begeisterung auf ihn gewirkt hat. 

In den Memoiren von P. W. Annenkoff findet sich folgendes: 
^Der grosse Erfolg, den sein Roman ,Arme Leute* hatte, befruch- 
tete wie mit einem Zauberschlag alle in seiner Seele schlum- 
mernden Keime hoher Selbstachtung und Selbstschätzung. Dieser 
Erfolg befreite ihn von allen Zweifeln und allem Schwanken, die 
die ersten Schritte der Autoren meist begleiten ; Dostojewsky selbst 
sah ihn gewissermassen als einen Traum an, der ihm Ruhm und 
Lorbeeren verkündete. ** Der Dichter beschreibt uns diese Zeit 
in seinem Roman „Erniedrigte und Beleidigte"*: „Endlich erschien 
mein Roman. Vor seiner Veröffentlichung bereits erhoben sich in 
der literarischen Welt Zank und Streitigkeiten. Bjelinsky freute 
sich wie ein Kind, als er mein Manuskript las. Wenn ich je 
glücklich gewesen bin, so war es nicht in den ersten berauschenden 
Augenblicken meines Erfolges, sondern zu einer Zeit, da ich mein 
Manuskript noch niemand gezeigt und noch niemand vorgelesen 
hatte. Es war in jenen langen Nächten, inmitten begeisterter 
Hoffnungen und Schwärmereien und einer leidenschafüichen Liebe 
zur Arbeit, als ich mich mit den Gebilden meiner Phantasie, 
mit den von mir erschaffenen Personen, so eins ffihlte, als ob 
sie mir verwandt wären und in Wirklichkeit lebten; ich liebte sie, 
ich freute mich und war traurig mit ihnen und manchmal 
meinte ich sogar aufrichtige Tränen über das Schicksal meiner 
Helden.- 

Mit den Worten des von ihm geschaffenen „Jüngling** konnte 
Dostojewsky damals sagen :^'„ Ich lebte nur in Träumen, von meiner 
Kindheit an lebte ich in einem phantastischen Königreiche, aber 
seit dem Zutagetreten dieser, mein ganzes Sein erfüllenden Idee, 
gewannen meine Träume festere Gestalt, und wurden in eine 
bestimmte Form geprägt, aus Törichten wurden Vernünftige.** 



- 33 - 

Ungefähr um dieselbe Zeit gewann Dostojewskys Leben noch 
grösseren und komplizierteren Inhalt: er schloss sich einem 
politischen Kreise an, der sich um Petroschewsky versammelte. 
Dieser Kreis hatte sich unter dem Einfluss der Ereignisse des 
Jahres 48 gebildet. Ihm gehörten Menschen an, die ihrer Idee 
mit Leib und Seele ergeben und erfüllt von unsicheren, schwär- 
merischen Hoffnungen und Plänen waren. Der Kritiker und Bio- 
graph Orest Miller hat alle Erinnerungen, die Dostojewsky im 
Kreise von Petroschewsky schildern, sorgfältig gesammelt Wir 
entnehmen ihnen nur folgende zusammenfassende Worte. «Dem 
Äussern nach war er ein richtiger Typus eines Verschwörers: er 
war schweigsam, liebte es, nur zu zweien zu sprechen und war 
nicht so aufrichtig als verschwiegen. Mit seinem krankhaften 
Äussern machte er niemals den Eindruck eines jungen Menschen. 
Er sprach wenig und nicht laut. Wir hielten ihn alle für einen 
weichen, nervösen Menschen von zartem Empfindungsvermögen. 
Und doch konnte dieser stille und bescheidene Mensch in seinen 
Reden zu erschütterndem Pathos gelangen." Auf diese Weise 
gewannen die hier auftauchenden politischen Fragen Anziehungs- 
kraft für Dostojewsky. Sie führten seine Lektüre einer anderen 
Richtung zu und gaben seinen Träumereien neuen Inhalt Seine 
Neigung zur Schwärmerei verringerte sich nicht, sondern nahm 
eher noch zu. 

Im „Tagebuch eines Schriftstellers'* (1876) schreibt Dostojewsky 
über diese Lebensperiode: „Am Ende der 40er Jahre, in der Zeit 
meiner verwegensten und leidenschaftlichsten Phantasien ....** 
Diese Stimmung tritt uns deutlich in zwei um diese Zeit herum 
geschriebenen Novellen „Die Wirtin*' und „Weisse Nächte" entgegen. 
Ihnen entnehmen wir folgendes: „Es gibt in Petersburg ganz 
sonderbare Winkel. Hier entwickelt sich anscheinend ein eigen- 
artiges Leben, ganz verschieden von dem, das uns umbraust .... 
Dies Leben ist ein Gemisch von etwas rein Phantastischem, 
glühend Idealem und gleichzeitig von etwas farblos Prosaischem 
und Gewöhnlichem, um nicht unglaublich — Trivialem zu sagen 
.... in diesen Winkeln leben sonderbare Menschen — Schwärmer. 
— Ein Schwärmer ist, wenn man ihn näher bezeichnen will, kein 

Mensch, sondern ein ausserhalb der Welt stehendes Geschöpf 

«r ist reich durch sein eigenartiges Leben . . . ." „Die Göttin 
der Phantasie hat mit ihrer launenhaften Hand auf einen goldenen 

Qrenzf ragen d. Lit. u. Medizin. 5. Heft. 3 



- 34 - 

Untergrund vor ihm die Muster eines seltsamen, wunderlichen 
Lebens zu entwerfen begonnen." Wir übergehen hier die Be* 
Schreibung der Schwärmereien, in denen Dostojewsky uns schildert, 
wie aus Gelesenem und Erlebtem sich phantastische Bilder von 
wehmütig angenehmem Inhalt verweben. „Der Schwärmer er- 
wacht, im Zimmer ist es dunkel geworden, seine Seele ist leer 
und traurig, ein Reich von phantastischen Schwärmereien ist um 
ihn her zusammengefallen. Ohne Geräusch und Lärm ist es ge- 
stürzt, wie ein Traumbild ist es vorübergezogen, er weiss selbst 
nicht mehr, was ihm vorgeschwebt. Aber eine dunkle Empfindung, 
die sein Herz zusammenschnürte und seine Brust durchbebte, ein 
neuer Wunsch reisst verführerisch seine Phantasie hin und be- 
schwört unmerklich eine ganze Reihe neuer Gesichter .... ein 
neuer Traum — ein neues Glück I Eine neue Dosis eines ver- 
feinerten, süssen Giftes!" — Schlaflose Nächte vergehen wie ein 
Moment in unendlichem Glück, in unendlicher Lust Wenn die 
Morgenröte mit ihren Strahlen durch das Fenster dringt und die 
Dämmerung das düstere Zimmer mit ihrem phantastischen Licht 
erhellt, so wirft sich unser Schwärmer ermattet und gequält auf 
sein Bett und schläft in dem ersterbenden Wonnegefühl seines 
krankhaft erschütterten Geistes ein, mit einem qualvoll-süssen 
Schmerz im Herzen." („Weisse Nächte".) 

In dem nächsten Abschnitt begegnen wir demselben Schwärmer, 
der nunmehr eine „Idee" für seine phantastischen Bilder gefunden 
hat Dostojewsky spricht hier von einer „Wissenschaft**. Es ist 
nicht schwer daraus zu ersehen, dass Dostojewsky hier unter 
Wissenschaft sozialpolitische Theorien französischer Utopisten jener 
Zeit, wie Saint-Simon, Fourier u. a. versteht. „Seit seiner Kind- 
heit lebte er als Sonderiing. Jetzt haben diese Absonderlichkeiten 
feste Formen angenommen. Ihn verzehrte eine Leidenschaft, die 
tiefste, unersättlichste, das ganze Leben eines Menschen erschöpfende, 
die bei solchen Naturen wie Ordinoff nicht die geringste Betätigung 
in irgend einer anderen praktischen oder materiellen Sphäre zu- 
liess, diese Leidenschaft war — die Wissenschaft. Sie erfüllte 
augenblicklich seine Jugend, vernichtete mit einem langsam wirken- 
den, süssen Gift seine Nachtruhe, entzog ihm gesunde Kost und 
frische Luft, die niemals bis zu seinem finsteren Winkel drang, 
und Ordinoff wollte, berauscht von seiner Leidenschaft, von alle- 
dem nichts merken." — „Der Drang, zu lernen und zu wissen, 



— 35 — 

entsprang mehr einer ungeahnten Neigung, als einem logisch be- 
wussten Streben (wörtlich: Ursache).** — „Seit seiner Kindheit 
galt er für einen Sonderling und war seinen Kameraden unähn- 
lich. Diese quälten ihn in grober und roher Weise seines eigen-* 
artigen, scheuen Charakters wegen, so dass er wirklich menschen- 
scheu und finster wurde und sich allmählich zum Sonderling ent-« 
wickelte. In seiner einsamen Beschäftigung war keine Ordnung 
und kein bestimmtes System. Es war nur die Begeisterung, die 
Ekstase und das Fieber eines Künstlers, der sich zum ersten Male 
sein eigenes System geschaffen hatte. Jahrelang wuchs und bildete 
es sich in ihm, und in seiner Seele entstand allmählich ein warmes 
und undeutliches, aber schon lange angenehm empfundenes Bild 
einer Idee in einer neuen verklärten Form verkörpert, und diese 
Form flehte die Seele quälend nach Befreiung." („Die Wirtin*'.) 
Wir sahen, wie ehrgeizig Dostojewsky war, und welcher un- 
ersättliche Durst, in allem der Erste zu sein, in seiner Seele lebte. 
Als er aber jetzt in den Kreis von talentvollen und begabten Menschen 
eingeführt wurde, war es ihm hier viel schwerer, den ersten Platz 
zu erringen. Leider entsprachen seine folgenden Werke nicht 
den Erwartungen, die durch seine ersten wachgerufen waren. In 
den Briefen an seinen Bruder lesen wir: „In meinem Leben 
ereignet sich täglich soviel Neues, es finden sich so viel Ver- 
änderungen, so viel Eindrücke, so viel Gutes, Angenehmes und 
Vorteilhaftes für mich, aber auch so viel Unangenehmes und 
Trauriges, dass ich zum Nachdenken keine Zeit habe, glaube nicht, 
dass ich auf Rosen gebettet bin.** — „Was mich betrifft, so werde 
ich für Augenblicke sogar schwermütig. Ich habe einen schreck- 
lichen Fehler — unbegrenzte Eigenliebe und Ehrgeiz. Der Ge- 
danke, dass ich Hoffnungen, die man auf mich setzte, getäuscht, 
und eine Sache verdorben habe, die ein grosses Werk hätte sein 
können, martert mich unsäglich.** — „Ich war noch niemals so 
tatenfroh wie jetzt; alles kocht und braust .... und was wird 
dann sein? Ich habe noch niemals so eine schwere Zeit durch- 
lebt. Mich quält die Langeweile, Traurigkeit, Apathie und die 
zitternde, fieberhafte Erwartung von etwas* besserem. Hierzu 
kommt noch meine Krankheit. Hol's der Teufel I Wenn das nur 
einmal vorüber wäre.'* Wir führen hier eine Reihe von Stellen 
aus dem Romane „Erniedrigte und Beleidigte** an. In diesem 1860 
verfassten Roman trägt eine der handelnden Personen deutliche, 

3* 



— 36 — 

unverkennbare Züge von Dostojewsky. Diese Abschnitte schildern 
ons die Seelenstimmung des Dichteis and jene Krankheit, von der 
er in den Briefen an seinen Broder bricht — ,,lch warf die Feder 
hin and setzte mich ans Fenster. Es dämmerte, and ich ward 
trauriger and trauriger. Schwere Gedanken lasteten auf meiner 
Seele. Und es schien mir immer, als ob ich in Petersburg zuletzt 
umkommen müsste. Der Frühling nahte, und ich dachte mir, 
dass ich wahrscheinlkh aufleben würde, wenn ich aus dieser Eng- 
nis in die freie Gottesluft herauskäme und den Duft der frischen 
Fekler und des jungen Korns einsaugen könnte. Ich habe sie 
solange schon nicht gesehen! Ich besinne mich noch, wie mir 
der Gedanke kam, wie schön es sein müsste, wenn man durch 
irgend ein Zauberwerk oder durch ein Wunder all das in den 
letzten Jahren Durdilebte vergessen könnte. — alles vergessen 
und mit frischen Kräften von vorne anfangen. Damals träumte 
idi noch davon und Raubte an eine Auferstehung. — Ach! schliess- 
lich in ein Irrenhaus eintreten, dachte ich in meiner Veizweifhing, 
damit dort sich das ganze Hirn im Kopfe umdrehe und auf neue 
Art umgeformt werde, — dann kann man sich dodi wieder heilen 
lassen. Damals in mdner Lebenslust glaubte ich noch daran. 
Aber ich erinnere mich, dass ich damals doch zu ladien anfing. 
Was sollte aus mir nach dem Irrenhaus werden? Sollte ich wieder 
Romane schreiben?* »Mit zunehmender Dunkdheit wurde mein 
2mmer immer grösser und breiter. Kommt dies von meinen an- 
gegriffenen Nerven, von den frischen Eindrücken in der neuen 
Wohnung oder von meiner Schwermut? .... Ich verfalle lang- 
sam und albnählich in den Seelenzustand, in dem idi mich so 
oft nachts während meiner Krankheit befand und den ich mystisches 
Entsetzen nenne. Es ist die schreddichste, quälende Angst vor 
etwas, das ich selbst nicht bezeichnen kann — vor etwas Unbe- 
greiflidiem. Unmöglichem im Zusammenhang der Dinge, das aber 
unbedingt, vidleicht schon in diesem Momente, aller Vernunft 
Hohn sprechend, eintritt, zu mir kommt und sich als etwas Un- 
bezwingbares, Fürditerliches, Entsetzliches und Unerbittliches vor 
mich hinstellt Diese Angst nimmt gewöhnUch mehr und mehr 
zu, trotc aller Vemunftgründe, so dass der Verstand, wenngleich 
er in solchen Momenten vielleicfat noch an Schärfe und Klarheit 
gewinnt, dennodi die Fähigkeit verliert, diesen Empfindungen ent- 
gegen zu ari)eiten. Man gehorcht ihm nicht, er wird nutztos, und 



- 87 — 

diese Spaltung verstärkt nur noch mehr die angstvolle Bangigkeit 
der Erwartung. Ich glaube, so muss es den Menschen zu Mute 
sein, die sich vor Leichen fürchten. Aber die Ungewissheit der 
Gefahr vermehrt noch in meiner Herzensangst meine Qual." 

Für das Verständnis der Krankheit Dostojewskys sind die 
Memoiren von Wsewolod Solowjeff besonders wichtig. Dosto- 
jewsky, der in seinen letzten Lebensjahren mit Solowjeff bekannt 
wurde, erzählte ihm folgendes: ,,Meine Nerven sind seit meiner 
Jugend angegriffen. Ich wurde zwei Jahre vor meiner Verbannung, 
zu der Zeit verschiedener literarischer Zwiste und Streitigkeiten, 
von einer eigenartigen und unerträglich qualvollen Nervenkrankheit 
befallen. Lebhaft entsinne ich mich noch der entsetzlichen Emp- 
findungen, die ich nicht näher schildern kann. Mir schien es oft, 
dass ich stürbe — der Tod kam wirklich und ging dann wieder 
fort. Ich fürchtete mich auch vor dem lethargischen Schlaf." 
Über die Furcht vor dem lethargischen Schlaf besitzen wir noch 
einige Angaben: „Im Jahre 1849", erzählt Trutowsky, „wohnte 
Dostojewsky ein paar Tage bei mir. Er bat mich jedesmal vor 
dem Schlafengehen, ihn, wenn er in den Zustand der Lethargie 
verfiele, nicht vor drei Tagen beerdigen zu lassen. Der Gedanke 
an die Möglichkeit einer Lethargie beängstigte und beunruhigte ihn." 

Nach Dostojewskys Tode, erzählt Orest Miller, wies sein 
Bruder in der „Nowoje Wremja" darauf hin, dass Dostojewsky 
in seiner Jugend oft vor dem Einschlafen Zettelchen ungefähr 
folgenden Inhalts schrieb: „Heute kann ich in lethargischen 
Schlaf verfallen und bitte mich deshalb vor 5 Tagen nicht be- 
erdigen zu lassen." 

Dostojewsky schildert sich selbst in der Aussage, die er nach 
seiner Verhaftung auf Verlangen der Untersuchungskommission 
schrieb, folgendermassen : „Ich liebe es nicht, viel und laut zu 
sprechen, sogar nicht einmal mit meinen Freunden, deren ich nur 
wenige habe, viel weniger noch in Gesellschaft, wo ich für einen 
zurückhaltenden, schweigsamen, mürrischen Menschen gelte. Ich 
habe nur wenig Bekannte; die Hälfte meiner Zeit wird durch die 
Arbeit, die mich ernährt, ausgefüllt, die andere durch fortwährende 
Krankheit, durch hypochondrische Anfälle, an denen ich schon 
seit drei Jahren leide." 

Die Briefe an seinen Bruder sind voller Befürchtungen für 
seine Gesundheit: „Petersburg ist Gift für mich, es ist so schwer 



-38 - 

hier zu leben. Mein Gesundheitszustand hat sich verschlechtert, 
und dabei fürchte ich mich schrecklich davor, was z. B. der 
Oktober bringen wird. Ich habe heftiges Herzklopfen, wie am 
Anfang meiner Krankheit.'' Manchmal finden sich in seinen 
Briefen auch Zeilen freudigen Inhalts und dann wieder: „Mich 
quält bisweilen eine Schwermut" „Meine Nerven gehorchen mir 
oft nicht." Häufig trifft man Stellen rein hypochondrischen 
Charakters: „Ich werde mich vielleicht schliesslich nach der 
Priessnitz-Methode mit kaltem Wasser behandeln lassen," übrigens 
„die Behandlung nach Priessnitz ist nur ein Gebilde meiner 
Phantasie; die Ärzte werden mir vielleicht abraten". Und endlich 
der letzte Brief vor seiner Verhaftung: „Jetzt ist nun schon das 
dritte Jahr meiner literarischen Tätigkeit herangekommen, ich 
lebe wie im Traume. Vom Leben sehe ich nichts, ich habe 
keine Zeit, mich zu besinnen, keine Zeit, mich mit Wissenschaften 
zu beschäftigen. Man hat mir zweifelhafte Berühmtheit ver- 
schafft, und ich weiss nicht, wie lange dies Leben in der Hölle 
noch dauern wird — Armut, Arbeit auf Bestellung — wenn ich 
nur endlich Ruhe hätte!" Am Abend vor der Verhaftung traf 
Dostojewsky seinen Bruder Andrej auf der Strasse und sagte ihm : 
„Schlecht geht es, Bruder, ich fühle, dass meine Krankheit mich 
verzehrt. Ich müsste mich behandeln lassen, den Sommer irgend 
wohin fahren . . . und ich habe keinen Pfennig I" 

In der Nacht vom 22. zum 23. April des Jahres 1849 wurde 
Dostojewsky verhaftet und in die Peter-Paulsfestung gebracht. 
„Es ist sonderbar", erzählt Dostojewsky in den oben zitierten 
Memoiren von Solowjeff, „dass meine schreckliche Krankheit ver- 
schwand, als ich arretiert wurde. Weder unterwegs, noch bei der 
Zwangsarbeit in Sibirien habe ich jemals wieder etwas davon 
verspürt. Ich wurde stark, frisch, kräftig und ruhig. — Schon 
während der Untersuchung hörten meine Qualen auf. Als ich 
mich in der Festung befand, glaubte ich, mein Ende sei gekommen, 
ich würde nicht mehr drei Tage aushalten. Und ich wurde mit 
einem Male vollständig ruhig .... ich hatte stille, gute, schöne 
Träume und je länger es dauerte, desto besser wurde es." — 
„Der Gleichmut, den Dostojewsky in seiner Lage bewahrte," 
erzählt Orest Miller, „seine Geduld und sein ruhiges Ausharren 
waren um so merkwürdiger, als er nach seinen eigenen Worten 
bis zur Katastrophe krankhaft um seine Gesundheit besorgt war. 



— 89 - 

an alle möglichen Erkrankungen bei sich glaubte und sich selbst 
mit Kataplasmen behandelte.** Anna Grigorjewna, Dostojewskys 
zweite Frau, schrieb folgende Zeilen in ihr Notizbuch: „Nach 
den Worten Feodors wäre er wahnsinnig geworden, wenn nicht 
die Katastrophe eingetreten wäre, die eine Umwälzung in seinem 
Leben bedeutete. Es trat jetzt in den Vordergrund eine Idee, 
im Vergleich zu der die Gesundheit und die Sorge für die eigene 
Person ganz an Bedeutung verloren. ** 

In der von Orest Miller verfassten Biographie Dostojewskys 
finden wir folgendes: 

„Dr. Janowsky, ein in nahen Beziehungen zu Dostojewsky 
stehender Arzt, der ihn vor seiner Verbannung nach Sibirien be- 
handelte, behauptet, dass schon damals zweifellos Anfälle von 
Epilepsie vorhanden waren, zeitweise in so hohem Grade, dass 
sie das Leben ernstlich bedrohten." 

Obgleich wir keinen Grund haben, an der Richtigkeit dieser 
Behauptung zu zweifeln, möchten wir doch darauf hinweisen, 
dass sie gesondert dasteht, ohne durch andere Quellenangaben 
unterstutzt zu sein. Das plötzliche Verschwinden der krankhaften 
Symptome, hervorgerufen durch psychische Einwirkungen, lässt 
wohl an eine hysterische Erkrankung denken; anderseits aber 
wissen wir, dass Epileptiker psychischer Suggestion zugänglich sind. 

Die oben gegebene Schilderung der Angstzustände, das 
klinische Bild und der Krankheitsverlauf lassen an der Diagnose 
„Epilepsie** keinen Zweifel aufkommen. 



Es kann unmöglich unsere Aufgabe sein, alle kranken Typen 
wiederzugeben, welche Dostojewsky gezeichnet hat. Hierzu be- 
dürfte es einer neuen Arbeit, welche einen weit grösseren Umfang 
als die voriiegende erhielte. Zum Teil ist diese Arbeit schon von 
Tschisch in seinem Werke „Dostojewsky als Psychopathologe** 
ausgeführt worden. Von allgemeinerem Interesse ist es» jene 
Gestalten wiederzugeben, in denen Dostojewsky seine eigene 
Krankheit schildert, nämlich Epileptiker. Wir kennen fünf 
solcher Typen. Erstens: der Greis Murin in der Erzählung «Die 
Wirtin**, im Jahre 1874 geschrieben, zu einer Zeit, in der das 
Talent des Künstlers sich noch nicht voll entfaltet hatte. Wir 
haben diese Erzählung in den vorhergehenden Kapiteln benutzt, 



— 40 — 



um die Stimmungen des jun^n Dostojewsky zu charakterisieren^ 
In der Figur Murins lassen sich ohne Muhe die Zuge eines ,epi- 
leptischen Charakters" nachweisen; was aber die Schilderungen 
der Anfälle betrifft, so erheben sie sich nicht über laienhafte Vor* 
Stellungen. Doch ist es von Interesse, einen Zug hier besonders 
hervorzuheben: schon damals war dem Künstler der Einfluss des 
Alkohols auf den Epileptiker bekannt Als Murin, kaum gesund 
geworden, sich vom Bette erhebt, und einige Glas Wein trinkt, 
wird hierdurch ein neuer Anfall ausgelöst 

Ein anderer Epileptikertypus ist Nelly im Roman »Die Emied* 
rigten und Beleidigten", aus dem Jahre 1861, also nachdem Dosto- 
jewsky Gelegenheit gehabt hatte, In der Verbannung an seiner 
eigenen Person Eriahrungen über die »heilige Krankheit" zu sam- 
meln. In diesem Roman wird uns die ganze Krankheitsgeschichte 
der Patientin angegeben. Ihr Grossvater ist ein atter, roher, 
absonderiicher Mann; die Mutter ist eine exaltierte, leicht erreg- 
bare Frau mit träumerischem Wesen. Die fanatische Überzeugung 
der unglücklichen Frau in die Unerschutterlichkeit ihrer moralischen 
Grundsatze kann zunächst grosse Willensstärke vortäuschen, doch 
im Grunde genommen kann von einer ruhigen Willenskraft nicht 
die Rede sein. Das Mädchen selbst war von Kindheit auf von 
Elend heimgesucht, und dieses wurde nach dem Tode ihrer Mutter 
noch grösser. Schon früh hatte sie unter Anfällen zu leiden, und 
im Romane erscheint sie uns schon als ausgesprochen epileptischer 
Charakter." 

Die Anfälle selbst werden von Dostojewsky kurz folgender- 
massen geschildert: »Sie sah lange auf ihn . . . und plötzlich 
stiess sie einen furchtt)aren Schrei aus. Ein krampfhaftes Zittern 
verzerrte ihr Gesicht und sie fiel zu Boden." Der Zustand nach 
dem Anfall wird sehr ausführlich beschrieben : »Sie sah lange und 
regungslos mit gespannter Aufmerksamkeit auf mich, als suche sie 
etwas zu begreifen. Doch man merkte, dass es ihr grosse Mühe 
kostete. Endlich sah man, wie etwas einem Gedanken ähnliches 
ihr Gesicht erhellte; nach einem Anfalle konnte sie gewöhnlich 
eine lange Zeit hindurch ihre Gedanken nicht sammeln und murmelte 
verständnislose Worte vor sich hin .... Nachdem sie sich 
von dem Anfalle erholt hatte, konnte sie längere Zeit nicht zur 
Besinnung kommen. Die Wirklichkeit vermischte sich mit Wahn- 
gebilden, und es schien, als ob etwas Furchtbares ihre Seele er- 



— 41 — 

regte.* Endlich verfällt Nelly in einen tiefen Schlaf. »Sie war 
bleich, ihre Lippen bluteten — wahrscheinlich von dem Falle. 
Aus ihrem Antlitz schwand nicht der Ausdruck einer grossen Furcht 
und einer quälenden Sehnsucht, die sie nicht einmal im Traume 
zu verlassen schien.** Es würde zu weit führen, hier ausführlich 
eine Charakteristik der jungen Nelly zu geben. 

An einigen Stellen des Romans, z. B. als Nelly Arznei 
einnehmen soll, dreimal nach einander den Inhalt des Löffels 
in das Gesicht ihres guten Arztes spritzt und endlich, ver- 
wundert durch seine Gutmütigkeit, verzweifelt zu schluchzen be- 
ginnt, werden deutlich die Züge der Krankheit geschildert : Erreg- 
barkeit, Launenhaftigkeit, Empfindlichkeit, Misstrauen, Mangel des 
psychischen Gleichgewichtes, ewiges Schwanken zwischen Exaltiert- 
heit und Apathie. 

Der dritte Typus eines Epileptikers, der Zeit der Entstehung 
nach ist der Fürst Mischkin, im Romane „Der Idiot", der im Jahre 
1868 geschrieben wurde. Wir erfahren hier, dass der Knabe seine 
Eltern nicht kannte nnd von frühester Kindheit an an Anfällen litt; 
man schickte ihn zur Heilung in die Schweiz, wo unter sachgemässer 
Behandlung sein Zustand sich so weit gebessert hatte, dass 
wir ihn im Roman als einen gut entwickelten Menschen kennen 
lernen. In seinem Äussern war nichts Krankhaftes. Seine Augen 
waren gross, blau und blickten stier; in ihnen war etwas Stilles und 
Schwermütiges, ein Ausdruck, auf Grund dessen gewisse Menschen 
an der betreffenden Person sofort die Fallsucht erkennen.* Über 
seine Kindheit hören wir einiges nur aus seinen Erzählungen von 
der Reise nach der Schweiz; wir entnehmen ihnen folgendes: 
„Nach einer Reihe qualvoller und heftiger Anfälle verfiel ich in 
vollständige Stumpfheit, verior das Gedächtnis; mein Verstand 
arbeitete wohl, aber ohne jede Logik. Mehr als zwei oder drei 
Ideen konnte ich nie miteinander verknüpfen. Als die Anfälle 

schwächer wurden, wurde ich wieder gesund und stark Eine 

unsagbare Sehnsucht quälte mich; öfters wollte ich weinen. Ich wun- 
derte mich und regte mich über alles auf; niederdrückend wirkte es 
auf mich, dass alles um mich herum fremd war." Im Charakter 
Mischkins finden wir nicht die typischen Züge eines Epileptikers; 
er ist ein feinfühliger und guter Mensch. Anormal scheint nur 
seine Naivität zu sein, welche manchmal an Dummheit grenzt, 
ausserdem sein schwacher Wille, welcher allen seinen Handlungen 



— 42 - 

den Charakter einer gewissen Knabenhaftigkeit und Unreife ver- 
leiht Hier ist es am Platze, eine Eigenheit sdnes Charakters 
hervorzuheben. Mischkin schrieb kalligraphisch schön und malte 
gewissermassen jeden Buchstal>en sorgfältig.^) 

Den grössten Wert für den Psychiater haben die ausffihriichen 
Schilderungen seiner Dämmemistande und ausserdem die Be- 
schreibungen des Anfalls und der Gefühle und Gedanken, die den 
Epileptiker auch in gesundem Zustande beseelen. 

Hiervon wollen wir jetzt sprechen : »Zuweilen sah er mit grosser 
Neugier auf die Vorübergehenden; am häufigsten jedoch bemerkte 
er weder die Passanten, noch wusste er selbst, wo er ging. Er 
lebte in qualvoller Erregung und Unruhe und fühlte zur selben 
Zeit in sich den Zwang, einsam zu sein. Er wollte allein sein und 
sich vollständig passiv seiner quälenden Erregung hingeben .... 
Die Einsamkeit wurde ihm unerträglich, ein neuer Drang durch- 
glühte sein Herz, und auf einen Augenblick erhellte sich die 

Dämmerung, in der seine Seele vor Sehnsucht verging Nach 

einiger Zeit kam ihm wieder etwas in den W^, etwas Furcht- 
bares, etwas, was ihn lange gequält hatte. Plötzlich fand er sich 
bei einer Beschäftigung wieder, die er schon lange betrieben hatte, 
ohne es zu wissen .... Dann fing er an etwas zu suchen, vergass 
es wieder, blieb so eine halbe Stunde lang und begann wieder 
voller Unruhe zu suchen .... Er wusste, dass er vor dem 
Anfalle sehr zerstreut war und öfters Gegenstände und Gesichter 
verwechselte, wenn er sie [nicht mit besonderer Aufmerksamkeit 
betrachtete. In seinem epileptischen Zustande war ein Augenblick, 
in dem plötzlich die Dämmerung seiner Seele erhellt wurde, sein 
Hirn zu glühen schien und alle seine Lebenskräfte plötzlich zu 
sprudeln begannen. Die Empfindung des Lebens, des Selbstbe- 
wusstseins, verzehnfachte sich in diesen Momenten, die kurz wie 
ein Blitz waren. Den Verstand, das Herz erhellte ein nie geahntes 
Licht; alle Erregungen, alle Zweifel, jede Unruhe, sie schwanden 
plötzlich und gingen auf in voller, klarer Harmonie, Freude und 
Hoffnung. Aber diese heilen Momente waren nur die Vorahnungen 
des Anfalls. Sie waren unerträglich. Wenn er später in gesundem 
Zustande über diese kurzen Augenblicke nachsann, musste er 
sich sagen, dass diese ganze Harmonie und das Gefühl, es exi- 



1) ^'"*^ '^^^♦ojcwsky schrieb eine sehr kalligraphische Hand. 



- 43 - 

Stiere ein höheres Sein, doch nichts anderes als kranichafte Erschei- 
nungen seien; wenn es aber so wäre, so könnten die Momente nicht 
ein höheres Sein andeuten, sondern sie müssten zu den niedrig- 
sten gerechnet werden. 

„Zuletzt kam er zu dem höchst paradoxen Resultat: ,Was 
hat es denn zu sagen, dass dies krankhaft ist? Was ist denn 
dabei, dass die Erregung anormal ist, wenn ihre Folge eine höhere 
Harmonie ist und zum Zusammenfliessen mit den höchsten Syn- 
thesen des Lebens zwingt?* Diese nebelhaften Vorstellungen 
schienen ihm selbst ganz klar zu sein. Er zweifelte nicht daran, 
dass diese Momente wirkliche Schönheit, wirkliches Gebet und 
die höchste Synthese des Lebens offenbarten. Denn es waren 
ja keine Träume, welche, durch Opium oder Wein hervorgerufen, 
die Seele erniedrigen und verzerren. Er besass eine klare Vor- 
stellung von ihnen. In diesen Momenten konnte er sich mit 
Bewusstsein sagen: ,Ja es lohnt sich, das ganze Leben fär einen 
solchen Moment hinzugeben .... In diesen Momenten wird 
mir das tiefe, wunderbare Wort verständlich : Es wird einst keine 
Zeit mehr geben.'** 

Wahrscheinlich hatte Mahomet dieselben Momente, welche 
so kurz waren, dass in dieser Spanne Zeit eine zu Boden gefallene 
Kanne Wasser sich nicht völlig entleeren konnte, aber in diesen 
Sekunden durchflog er mit seinem Qeiste alle Wohnungen Allahs. *) 

Gleiche Stimmungen erlebte Mischkin : Plötzlich erschien es, 
als ob eine wunderbare innere Lichtwelt sich vor seiner Seele 
entfaltete. Diese Augenblicke währten vielleicht nur eine halbe 
Sekunde, doch er hat eine klare Vorstellung von ihrem Anfange, 
von dem fürchterlichen Schrei, der sich dabei seinem Innern ent- 
ringt. Sodann eriischt sein Bewusstsein, und seine Seele erfüllt 
vollständige Finsternis. 

Es ist bekannt, dass die epileptischen Anfälle plötzlich kom- 
men. In diesen Momenten verzerrt sich das Gesicht, besonders 
der Blick ; ein konvulsivisches Zittern fiberfällt den ganzen Körper. 
Ein furchteflicher, nicht näher zu schildernder Schrei entringt 
sich der Brust. In diesem Schrei verschwindet alles Menschliche, 
und es ist unmöglich, sich vorzustellen, dass ein Mensch im- 
stande ist, einen solchen Schrei auszustossen. Es scheint sogar, 



Vergl. normale Träume I 



- 44 — 

als ob hier ein anderes Wesen im Menschen schreie. Bei vielen 
Menschen ruft die Fallsucht eine furchtbare Angst hervor, die 
etwas Mystisches in sich hat. 

,,.'... Der Fürst wankt zurück und fällt plötzlich auf der 
Treppe nieder, indem er mit seinem Hinterkopf auf die steinernen 
Stufen aufschlägt. Sein Körper, durchbebt von konvulsivischem Zit- 
tern, gleitet die Stufen hinunter.' 

Wir wollen hier noch ejnen Anfall schildern, von dem Misch- 
kin in einer Gesellschaft überrascht wurde, als er in erregter Stim- 
mung diskutierte. Es sei hier nicht die ganze Szene geschildert, 
sondern nur jene Stellen angeführt, welche das Verhalten Mischkins 
schildern :».... Allmählich fiberkam ihn ein unendliches Glficks- 
gefühl. Er sprach wenig, antwortete nur auf Fragen und schwieg 
zuletzt völlig; er sass ruhig da und lauschte, indem er in Wonne 
und Seligkeit zu versinken schien. Eine erhabene Begeisterung 
erfüllte ihn mehr und mehr, sie konnte jeden Moment zur Ent- 
flammung gebracht werden .... der Fürst hörte das alles, und 
seine Augen glühten vor Seligkeit. Dann begann er mit über- 
schwenglicher Leidenschaft zu reden, dabei rang er mühsam nach 
Atem. Er erstickte sozusagen an dem Überfliessen des Guten in 
seinem Herzen .... Der Fürst hielt an, um Atem zu schöpfen» 
er war bleich. Er setzte sich auf einen Stuhl und blickte regungs- 
los mit blitzenden Augen um sich .... Dieser ganze Ansturm 
unruhiger und mit wirrer Begeisterung gesprochener Worte, wobei 
ein Gedanke den andern fibersprang, liess etwas Gefährliches ahnen 
.... (hier zerbricht er die Vase) .... Er ffihlte sich bis ins 
Herz getroffen und stand, von mystischem Schrecken gepackt, da. 
Noch ein Augenblick, und es schien, als ob sich alles vor ihm 
erweitere, der Schrecken wich dem Licht, der Freude, der Begeiste- 
rung, er atmete schneller, doch der Augenblick verging, der Anfall 
blieb aus I Er holte tief Atem und blickte um sich. Längere Zeit 
verstand er nichts, die Bestürzung, welche rings um ihn herrschte, 
d. h. er begriff und sah alles, doch er stand da wie ein Mensch, 
der an nichts Anteil hatte und der sich mit einer Tarnkappe in 
das Zimmer geschlichen hatte . . . ." Nun beginnt er wieder zu 
reden. „Alles kommt stossweise, fieberhaft, nebelhaft hervor, es 
ist leicht möglich, dass er etwas spricht, was er selbst nicht sagen 
wollte .... Er redet immer schneller, immer unverständlicher, 
immer begeisterter. Der Ffirst gerät in volle Ekstase ... .'^ er 



- 45 - 

schreit auf und fällt zu Boden. Nach einer Reihe starker seelischer 
Störungen wurde sein von Natur schwaches Nervensystem so 
stark erschüttert dass sein Verstand sich zu verdunkeln begann, 
und am Ende des Romanes treffen wir ihn in der Schweiz wieder, 
wo er in einem unheilbaren Verblödungszustand in einer Pflege- 
anstalt sich befindet 

Kiriloff, eine Person aus dem Roman „Die Teufel** (1871/72) 
ist der vierte Typus eines Epileptikers, den Dostojewsky schildert. 
Sein Äusseres weist nichts Aussergewöhnliches auf, doch fällt seine 
Sprache sofort auf .... Er redet in einzelnen Worten oder ab- 
gerissenen Sätzen, und man bemerkt unmittelbar, dass sein Den- 
ken erschwert ist. Die Ideen verknüpfen sich bei ihm in höchst 
abenteuerlicher Weise. Wir wollen hier nicht den Inhalt seiner 
Weltanschauung wiedergeben, dies würde uns zu weit führen. Wir 
wollen hier nur hervorheben, dass seine Anschauungen von religiös- 
mystischer Stimmung durchdrungen sind und in seinen Illusionen 
und Halluzinationen wurzeln. Anfälle kommen bei Kiriloff nicht 
vor, doch oft treten psychische Äquivalente für die Anfälle ein. 
Seine Erlebnisse während dieser Momente schildert er folgender- 
massen : «Es gibt Sekunden, zusammen sind es nicht mehr als 5 
oder 6, da fühlen Sie plötzlich die eine, ewige, das ganze Dasein 
ausfüllende Harmonie. 

.Hier ist nichts Irdisches mehr. Ich sage auch nicht, dass 
es etwas Himmlisches ist. Ich sage nur, dass der Mensch als 
irdisches Wesen dies nicht ertragen kann. Man muss physisch 
umgewandelt werden oder sterben. Es ist ein klares, zweifellos existie- 
rendes QefühL Es ist als ob man plötzlich die ganze Natur in sich fühlt 
und sagt: ,Ja, das ist Wahrheit.' Gott, als er die Welt erschuf, 
sagte am Ende jedes Schöpfungstages: ,Ja, das ist Wahrheit, das 
ist gut,' hier ist nichts von Rührung, sondern einfach Freude. 
Man verzeiht nichts, denn es gibt nichts zu verzeihen. Das ist 
nicht nur Liebe, nein, das ist mehr als Liebe. Entsetzlich ist es, 
dass diese Gefühle so klar sind und die Freude so gewaltig ist. 
Wenn diese Stimmungen länger als fünf Sekunden dauern könn- 
ten, so hielt es die Seele nicht aus und müsste zugrunde gehen. 
In diesen fünf Sekunden durchlebe ich ein ganzes Leben und würde 
auch für sie mein Leben hingeben, denn sie sind es wert. Um 
zehn solcher Sekunden zu ertragen, müsste man physisch anders 
werden. Ich denke, der Mensch muss aufhören zu gebären. Wozu 



— 46 — 

sind Kinder da? Wozu die ganze Entwicklung, wenn das Ziel 
schon erreicht ist?" ... . »Haben Sie öfters derartige Stimmungen?*' 
„Ein oder zweimal in der Woche." „Leiden Sie an epileptischen 
Anfällen?" „Nein." «Dann wird es später noch kommen. Nehmen 
Sie sich in acht, Kiriloff, ich habe gehört, dass so die Fallsucht 
beginnt. Mir hat ein Epileptiker ausführlich seine Stimmung vor 
dem Anfall geschildert. Genau so wie Sie. Ffinf Sekunden hat 
auch er angegeben und auch gesagt, mehr wfirde man nicht aus- 
halten. Denken Sie an Mahomet, der auf seinem Ross den gan- 
zen Himmel durchflog, ehe das Wasser aus der Kanne ausfloss; 
die Kanne entleerte sich in ffinf Sekunden, und Mahomet war ein 
Epileptiker. Seien Sie auf der Hut, Kiriloff — die Fallsucht I" 

Im Roman „Die Brüder Karamasoff*" (1879/80) begegnen 
wir der Persönlichkeit Smerdjakows. Dies ist der klassische Typus 
eines Epileptikers. Wir können seine Entwicklung vom Tage seiner 
Geburt bis zu seinem Tode verfolgen. Seine Mutter war eine voll- 
ständige Idiotin, welche nur mit einem Hemde bekleidet zur Be- 
lustigung der Menschen auf den Strassen der Stadt einherging. 
Sie lebte von Almosen. Sein Vater war ein Wüstling; er nannte sich 
selbt mit Stolz „der Typus eines römischen Senators in der Epoche 
des Verfalls". Der Knabe Smerdjakow erblickte das Licht der 
Weh in einem Gemüsegarten ; die Mutter zerbiss die Nabelschnur 
mit ihren Zähnen. Das Kind brachte man in das Karamasoffsche 
Haus, wo der alte Lakai Grigori die Erziehung des Kindes über- 
nahm. Wir wollen hier eine Reihe von Stellen anführen, welche 
den Charakter und die Krankheit Smerdjakows am besten schildern : 
„Er war ein junger, im 21. Lebensjahre stehender Mann; sehr 
menschenscheu und schweigsam. Man kann ihn nicht wild oder 
schüchtern nennen, im Gegenteil, er war hochmütig, und es schien 
als ob er alle Menschen verachte." In seiner Kindheit pflegte er mit 
Vorliebe Katzen aufzuhängen und dieselben dann mit Pomp zu 
beerdigen. Einst züchtete Grigori ihn mit der Rute; darauf ver- 
kroch sich der Knabe in eine Ecke und blickte eine Woche lang 
verdriesslich auf alle Menschen. Einmal nahm der Knabe eine Ohr- 
feige ruhig hin, ohne ein Wort zu sagen, aber darauf versteckte er 
sich wieder einige Tage in einen Winkel. 

Nach einem ähnlichen Vorfall trat zum erstenmal in seinem 
Leben bei ihm die Fallsucht auf, welche ihn seitdem nicht mehr 
verliess. Im allgemeinen bekam er die Anfälle einmal im Monat 



— 47 — 

in unbestimmten Zwischenräumen. Sie waren von verschiedener 
Stärke. Zuweilen leicht, zuweilen heftiger. Mit der Zeit entwickelte 
sich Smerdjakow zu einem grossen Kostverächter .... So sitzt 
er zuweilen lange vor seiner Suppe, rührt mit dem Löffel in 
derselben herum, dann führt er den Löffel zum Munde, indem er 
ihn zuvor noch lange im Lichte betrachtet. Auch mit dem Brot» 
mit dem Fleisch, wie überhaupt mit allen Speisen macht er das- 
selbe. So hob er zuweilen ein Stück Fleisch an der Gabel empor 
und betrachtete dasselbe aufmerksam, als ob er ein Mikroskop 
vor sich hätte; endlich entschliesst er sich, das Stück in den Mund 
zu nehmen. In der Lehre blieb er einige Jahre, und kam mit 
sehr verändertem Äussern zurück. Er war sehr gealtert, ganz un- 
verhältnismässig für seine Jahre; auch war er bleich geworden, sein 
Gesicht war von Runzeln durchfurcht, und er hatte Ähnlichkeit mit 
einem Kastraten. Moralisch kehrte er ebenso rein zurück, wie er es vor 
seiner Abreise nach Moskau gewesen war ... Er war ebenso menschen- 
scheu wie früher und fühlte sich niemals zu anderen hingezogen. Er 
hatte auch in Moskau immer geschwiegen. Die Stadt selbst hatte 
ihn wenig interessiert. Aber er kam aus Moskau in guter Klei- 
dung und mit reiner Wäsche zurück. Er wurde ein vortrefflicher 
Koch. Seinen Monatsgehalt verbrauchte Smerdjakow beinahe aus- 
schliesslich für die Anschaffung von Kleidern, Pomade, Parfüm 
und dergleichen. Das weibliche Geschlecht verachtete er ebenso 
wie das männliche und zeigte sich immer ernst und unzugänglich. 
Die epileptischen Anfälle hatten sich vermehrt. Er schwieg immer, 
sehr selten redete er jemand an. Es geschah oft, dass Smerd- 
jakow im Gehen plötzlich anhielt, den Kopf in Gedanken zur Erde 
senkte, und so etwa 10 Minuten verharrte. Der Physiognomiker 
hätte gesagt, dass in diesem Jünglinge weder Gedanken noch ein 
Nachdenken sei, sondern ein blosses Schauen. 

Der Künstler Kramskoi hat ein bemerkenswertes Bild unter 
dem Namen „Der Schauende** geschaffen. Es zeigt uns einen Wald 
im Winter; im Wald steht in einem zerlumpten Kaftan und Bast- 
schuhen einsam und allein ein Bäuerlein. Es scheint, dass er über 
etwas nachsinnt. Doch er »schaut** nur. Hätte ihn jemand ge- 
stossen, so würde er aufschrecken und ihn erschreckt ansehen, als 
wäre er aus einem Traume erwacht Aber hätte man ihn dann 
gefragt, worüber er soeben nachgedacht, so würde er sich an nichts 
erinnern und alle Eindrücke, die er beim Schauen gehabt, bei sich 



— 48 - 

behalten. Diese Eindrucke sind ihm sehr teuer, weshalb, weiss 
er selbst nicht Es kann sein, dass er auf diese Weise viele Be- 
trachtungen sammeln wird und plötzlich nach vielen Jahren nach 
Jerusalem pilgern, alles verlassen, vielleicht aber auch sein Dorf 
anzfinden wird. Im Volke gibt es viele solcher Schauenden. Zu 
diesen kann man gewiss auch Smerdjakow rechnen, der ebenfalls 
eifrig Eindrucke sammelte, ohne zu wissen wozu. 

Iwan Feodorowitsch Karamasoff hatte ihn daran gewöhnt, 
sich mit ihm zu unterhalten, doch immer wunderte er sich über 
4\e Untätigkeit Smerdjakows; er konnte es nicht verstehen, was 
•diesen Schauenden unaufhörlich beunruhigte. Sie sprachen über 
philosophische Fragen und sogar darüber, weshalb am ersten Tage 
xier Schöpfung schon Licht dagewesen wäre, während doch die 
Sonne, der Mond und die Sterne erst am vierten Tage erschaffen 
wurden. Doch bald sah Iwan Feodorowitsch ein, dass den Jüng- 
ling Smerdjakow viele andere Fragen quälten, so eine tiefe und 
gekränkte Eigenliebe. 

Nach langem, religiös-moralischem Nachdenken und For- 
schungen kam Smerdjakow zu der Überzeugung, „dass auf der 
Welt alles erlaubt sei", und indem er sich dies zum Leitsatz machte, 
tötete er mit teuflischer List seinen Vater und stahl dessen Geld. 
Seine Krankheit verschlimmerte sich nach der Tat, ein Anfall folgte 
dem andern. Nachdem er sich ein wenig erholt hatte, wurde er 
von Halluzinationen geplagt. Er sah überall den Teufel, der ihn 
in Versuchung führen wollte und kam zuletzt soweit, dass er sich 
erhängte. 

Dies alles sind verschiedene Variationen des epileptischen 
Charakters, welche Dostojewsky geschaffen hat. 

Es sei schliesslich noch bemerkt, dass die Übersetzungen 
aus den für die Arbeit benützten russischen Werken nicht wort- 
getreu sind, da es nur darauf ankam, den Sinn wiederzugeben. 



- 49 - 



Anhang. 

Auszüge aus Briefen Dostojewskys, 



Im Jahre 1847. 
Lieber Bruder! 

Ich muss Dich wieder um Verzeihung bitten, mein Wort nicht 
gehalten und nicht sofort geantwortet zu haben; aber die ganze 
Zeit fiber hat mich so ein Trübsinn fiberwältigt, sodass es mir 
einfach ganz unmöglich war Dir zu schreiben. Sehr oft und ge- 
radezu mit Qual habe ich an Dich denken müssen. Dein Schick- 
sal ist schwer, lieber Bruder! 

Deine schwache Gesundheit, Deine ernsten Gedanken, die 
niemand aus deiner Umgebung versteht und die Unmöglichkeit in 
Deinen freien Stunden Zerstreuung und Erholung zu finden, noch 
dazu die Familiensorgen, die allerdings heilig und süss sind, aber 
auch eine schwere Last aufbürden — alles das macht Dir das Leben 
unerträglich; aber verzage nicht, lieber Bruder ! Denn die Zukunft 
wird glücklicher sein. 

Nun, hör mir mal aufmerksam zu! Je mehr Geist wir be- 
sitzen und je reicher unser innerliches Wesen ausgestattet ist, desto 
feiner und schöner empfinden wir das Leben. 

Selbstverständlich sind Dissonanzen gefährlich — insofern, 
wenn das Gleichgewicht der Umgebung gegenüber fehlt. Das Äussere 
muss mit dem Innern in Einklang gebracht werden, sonst würde, 
bei dem Fehlen äusserer Eindrücke, das Innere gefährlich über- 
wuchern. Die Nerven und die Phantasie würden die Person zuviel 
in Anspruch nehmen. Jede äussere Erscheinung würde ungewöhn- 
lich, riesenhaft und beängstigend scheinen. Man würde anfangen 
sich vor dem Leben zu fürchten. 

Qrenzf ragen d. Lit. u. Medizin. 5. Heft. 4 



— 50 - 

Ein Brief aus der Peter Pauls -Festung an den Bruder 

Michael. 

22. XII. 1849. 

Heute am 22. Dezember hat man uns nach dem Simionowsky- 
Platz übergeführt, dort hat man uns allen das Todesurteil verlesen 
und die Säbel über den Köpfen zerbrochen. Man liess uns das 
Kreuz küssen, und man hatte uns die Todestoilette gemacht (weisse 
Hemden). Dann hat man drei von uns, zur Vollführung der Strafe, 
an Pfähle gestellt. Man hat uns zu Dreien aufgerufen, folglich 
war ich in der zweiten Reihe. Ich hatte nur zwei Minuten zu leben. 
Da erinnerte ich mich an Dich und an die Deinigen. In diesen 
letzten Minuten hatte ich nur Dich, Dich allein in Gedanken. Erst 
da habe ich entdeckt, wie ich Dich liebe, mein Bruder. Ich hatte 
noch Zeit gehabt um Pleschejeff und Duroff, die neben mir standen, 
zu umarmen und Abschied zu nehmen. Plötzlich schlugen die 
Trommeln. Die, welche an die Pfähle gebunden waren, hat man 
zurückgeführt, und es wurde uns verlesen, dass Seine kaiserliche 
Majestät uns das Leben schenkt. Dann folgten die richtigen Ver- 
urteilungen . . . 



An Baron Wrangel. 

^ Semipalatinsk 1847. 

. . . Trauern Sie nicht so, lieber Freund, obwohl ich einsehe, 
dass Sie in allen Beziehungen unglücklich sind. Am meisten beun- 
ruhigen mich Ihre Verhältnisse zu Ihrem Vater. Ich weiss es 
ausserordentlich gut (nach eigener Erfahrung), dass solche Unan- 
nehmlichkeiten unerträglich sind, desto unerträglicher, weil Sie 
beide, wie ich es sehr wohl weiss, einander innig lieben. Es ist 
nur eine Art von endlosem Missverständnis beiderseits, und je länger 
es dauert, desto verwickelter wird es. Da hilft weder Kreuz noch 
Stock. Keine Erklärungen können die Harmonie wiederherstellen 
und wenn schon, dann nur auf kurze Zeit. Es gibt nur eine Hilfe, 
nur ein Mittel — die Trennung. In den ersten Tagen Ihrer Abwe- 
senheit wird er Sie in sein Herz einschliessen, und er wird der 
erste sein, welcher sich in allem Schuld geben wird. 

So ein Charakter, wie der Ihres Vaters, besteht aus einem 
sonderbaren Gemisch von finsterer Verdächtigkeit, krankhafter Fein- 



— 51 — 

fühligkeit und Grossmut. Ohne Ihren Vater persönlich zu kennen, 
urteile ich so über ihn, weil ich in meinem Leben schon zweimal 
solche Verhältnisse gekannt habe. Man muss ihn schonen, und 
das wissen Sie besser als ich. 

Nehmen Sie sich in acht, lieber Freund! Mir scheint es 
nämlich, dass Sie einen ähnlichen Charakter haben. Ihr Herz wie auch 
Ihre Seele ist krank, und wenn bei Ihnen dieser Verdächtigungszug 
noch nicht überwuchert hat, so liegt die Ursache wohl darin, dass 
er noch keine Gelegenheit dazu hatte; oder Sie sind noch zu 
jung, es wird wohl noch kommen. Sie sind schon krankhaft 
empfindlich. Hüten und wahren Sie sich. Starke Umwälzungen 
im Leben helfen fast immer. Auch ich war ein ausgeprägter 
Hypochonder, aber ich wurde durch eine krasse Umwälzung in 
meinem Leben vollständig geheilt. . . . 



Aus dem Briefe an Maikow. 

Genf, 18. Mai 1868. 

. . . Meine Sonia ist gestorben. Drei Tage sind es her, 
seitdem wir sie begraben haben. Sogar noch zwei Stunden vor 
dem Tode wusste ich nicht, dass sie sterben würde. Drei Stunden 
vor ihrem Tode sagte der Arzt, dass es ihr besser gehe und dass 
sie lebensfähig sei. Sie ist nur eine Woche lang an Lungen- 
entzündung krank gewesen. 

Es ist möglich, dass die Liebe zu meinem ersten Kinde für 
manche komisch erscheinen wird; auch ist es möglich, dass ich 
in vielen Briefen, die ich als Dank für die Gratulationen (anläss- 
lich ihrer Geburt) schrieb, mich komisch über mein Kind geäussert 
hätte. Für diese Leute bin ich allerdings komisch gewesen. 
Gegen Sie aber trage ich kein Bedenken, denn Sie werden mich 
sicher verstehen. 

Das kleine, drei Monat alte Geschöpf — so winzig und hilf- 
los — war aber für mich eine Persönlichkeit, ein Charakter. Sie 
fing schon an mich zu kennen und zu lieben. Wenn ich mich 
ihr näherte, lächelte sie. Sie hörte gern zu, wenn ich ihr mit 
meiner tiefen Stimme Lieder vorsang. Sie weinte nicht, wenn ich 
sie kusste. Jetzt sagt man mir, um mich zu trösten, dass ich 
andere Kinder haben werde. Aber wo ist nun meine Sonia? Wo 

4* 



62 — 



bleibt diese kleine Persönlichkeit? für die, um sie wieder lebendig 
zu sehen, ich mich kreuzigen liesse. Aber genug davon. 

Meine Frau weint. Übermorgen werden wir von der Gruft 
irgendwohin fortreisen . . . 



Vevey, 4. Juni 1868. 
Mein lieber Freund! 

Ich weiss und glaube Ihnen, dass Sie aufrichtig und tief mit 
mir empfinden. Aber noch nie war ich so unglücklich wie in 
der letzten Zeit. Ich möchte es nicht beschreiben, aber je weiter 
die Zeit vorschreitet, desto brennender werden die Erinnerungen 
und desto ausgeprägter sehe ich das Bild meiner verstorbenen 
Sonia. Es gibt Augenblicke, die unmöglich zu ertragen sind. Sie 
kannte mich schon; als ich das Haus verliess, um Zeitungen zu 
lesen, hatte sie ohne zu ahnen, dass sie in zwei Stunden sterben 
würde, mich so angeschaut und mich so mit ihren Äuglein ver- 
folgt, sodass ich es noch immer vor den Augen habe, sogar 
immer prägnanter und deutlicher werdend. 

Ich werde sie nie vergessen und die Qual wird niemals auf- 
hören. Und wenn auch ein anderes Kind kommen wird, ist es 
mir unverständlich, wie ich es werde lieben können; wo werde 
ich noch Liebe finden? Mir ist die Sonia notwendig, ich kann 
es nicht begreifen, dass sie nicht mehr existiert und ich sie nie- 
mals wiedersehen werde. . . . 



Aus dem Briefe an Strachow. 

Florenz, 26. II. 1869. 

. . . Über die Tätigkeit des Künstlers habe ich ein eigenes 
Urteil. Das, was die meisten Menschen als phantastisch und 
aussergewöhnlich bezeichnen, ist meiner Meinung nach nur zu 
oft der Kern der Wirklichkeit. 

Die Alltäglichkeit der Erscheinungen und das Durchschnitts- 
urteil darüber ist noch kein Realismus, bei Leibe nicht. In jeder 
Zeitung findet man Berichte tatsächlich geschehener, aber märchen- 
haft erscheinender Ereignisse. Unsere Schriftsteller fassen sie als 



- 58 - 



phantastische Kuriosa des Lebens auf und legen ihnen weiter keine 
Bedeutung bei, aber es sind nichtsdestoweniger Tatsachen des 
wirklichen Lebens, die erklärt werden wollen. . . . 



Aus dem Brief an Herrn Kowner.*) 

... Ich kann es nicht gut verstehen , wie Sie behaupten 
können, Ihre Tat ganz und gar nicht zu bereuen. Es gibt etwas 
Höherstehendes als die Beweise des Verstandes und alle Möglich- 
keiten des Zufalls, »etwas vor dem man sich beugen muss". 

Sie sind ausserordentlich klug, sodass ich hoffe, dass Sie 
meine Offenherzigkeit nicht übelnehmen werden. Erstens bin 
ich selbst nicht besser wie Sie und wie jeder andere beliebige 
Mensch. Zweitens, wenn ich Sie in meinem Herzen rechtfertigen 
werde (und ich ersuche Sie auch mich zu rechtfertigen), dann ist es 
viel besser, wenn ich Sie freispreche, als wenn Sie es selbst tun 
würden. Vielleicht ist Ihnen nicht ganz klar was ich meine. Um 
mich verständlich zu machen, will ich eine Parallele ziehen. 

Ein Christ (das heisst ein vollständig echter und idealer 
Christ) sagt folgendes: „Ich muss mit meinem jüngeren Bruder 
mein ganzes Gut teilen und sein Untergebener sein.** Der Kom- 
munist sagt dagegen: „Ja, du musst mit mir, dem Jüngsten und 
Ärmsten, alles teilen und mir dienen.** 

Der Christ wird recht haben, der Kommunist aber — un- 
recht. Übrigens ist es jetzt für Sie wahrscheinlich noch unver- 
ständlicher geworden. . . . 



Aus dem Brief an eine Unbekannte. 

21. IV. 1877. 

... Ich bedaure sehr, dass Sie in Ihrem Geographieexamen 
Unglück hatten. Aber Sie übertreiben wohl die Sache zu sehr. 
Ihr Brief klingt ganz hoffnungslos. In der Tat ist nichts weniger 
als Gutes geschehen, denn die zwei schwierigsten Prüfungen haben 
Sie doch überstanden. Die Geographie werden Sie bis zum 



**) Ein Bankbeamter, der eine grosse Unterschlagung verübte. 



— 64 - 

Herbst aufschieben, damit wird alles wieder gut. Wozu denn 
soviel Tränen und Hoffnungslosigkeit? Wie ich sehe, haben Sie 
sich selbst gequält und unverzeihlich Ihre Nerven geschädigt. 
Es scheint mir, dass Sie Ihre ganze Familie aufgebracht haben. 
Es hat mich tief gerührt und ich schätzte es sehr hoch, aber es 
ist unzulässig und unverzeihlich, so ungeduldig zu sein und in 
Ihrem winzigen Alter verzweifelt auszurufen: „Ich komme zu 
nichts l*" Sie sind zu jung, Sie haben noch kein Recht so zu 
sprechen. Im Gegenteil, dank Ihrer Beharrlichkeit werden Sie es 
unbedingt zu etwas bringen. Bleiben Sie nur gut und gross- 
mütig. . . . 



An Frau N. N. 

11. April 1889. 

... Sie schreiben mir über Ihre augenblickliche Seelen- 
stimmung. Ich weiss, dass Sie eine Künstlerin — eine Malerin 
sind. Gestatten Sie, dass ich Ihnen einen herzlich gut gemeinten 
Rat gebe: Verlassen Sie nie die Kunst. Im Gegenteil, geben Sie 
sich ihr noch mehr hin. Ich weiss, dass Sie unglücklich sind. 
Wenn Sie einsam leben und Ihre Seele mit Erinnerungen plagen 
werden, so wird Ihr Leben zu finster sein. Es gibt nur ein Mittel, 
nur eine Rettung, — das ist die Kunst, die Schöpfung. Ihre 
Beichte sollen Sie jetzt noch nicht schreiben, denn es wird Ihnen 
unerträglich werden. Nehmen Sie mir meine Ratschläge nicht 
übel. Wie gerne möchte ich Sie sehen und mit Ihnen vertraulich 
sprechen. Nachdem ich Ihren Brief gelesen hatte, sind Sie mir 
verwandt — ein meiner Seele nahestehendes Wesen, eine Herzens- 
schwester — geworden — und ich fühle mit Ihnen . . . 



Ende. 



Druck von M. Mflller k Sohn, Manchen V. 



QRENZFRAGEN DER LITERATUR UND MEDIZIN 

in Einzeldarstellungen 

herausgegeben von Dr. S. RAHMER, Berlin. 

6. Heft. 



August Strindberg 

eine pathologische Studie 

von 

S. RAHMER. 



MÜNCHEN 1907 

ERNST REINHARDT, Verlagsbuchhandlung 

JSgerstrasse 17. 



Vorwort. 



August Strindberg hat in der Vollkraft seines Schaffens seine 
eigene Lebensbeschreibung geschrieben, die in mehreren Bänden 
abgeschlossen uns vorliegt. Krankhafte Züge walten hier in einem 
Masse vor, dass sie auch dem Nichtfachmanne auffallen müssen. 
Aber es geht hier wie überall: in den literarischen und psycho- 
logischen Essays bleibt das Krankhafte entweder fast völlig un- 
berücksichtigt, oder es wird falsch gedeutet und viel zu sehr in 
den Vordergrund gestellt. In einem solchen Falle kann der Biograph 
und Psychologe nicht ein wahrheitsgetreues und befriedigendes 
Bild des Wesens und Charakters entwerfen; es kann nur ein 
Zerrbild entstehen, solange nicht der Arzt und Psychiater das Wort 
ergriffen, die krankhaften Züge gedeutet und ihren Einfluss auf 
die dichterische Produktion klargelegt hat 

Die folgenden Blätter bringen einen Versuch in diesem Sinne. 
Er erscheint doppelt angebracht bei einem Schriftsteller, der nach 
dem gewichtigen 2Ieugnis Maximilian Hardens (Zukunft 1905) vom- 
ansteht in der kleinen Schar derer, die germanischer Kultur 
den Boden bereiten, dem der Literatenruhm nicht genügt, der 
nicht nur ein Künstler sein, sondern als Kulturmacht ins Weite 
wirken möchte. 



Berlin, im Mai 1907. 



Der Verfasser. 



I. 

Das Studium eines Dichters und Menschen, welches sich 
nicht daran genügen lässt« sein äusseres Leben, seinen litera- 
rischen Charakter zu registrieren, seine Werke nach ästhetischen 
Gesichtspunkten zu ordnen und nach ihrer Bedeutung für die Zeit- 
genossen zu würdigen, sondern welches in des Dichters Arbeits- 
stube verweilt, seine besondere Schaffensweise offenbart, gewisser- 
massen seine eigenartige Gehirnorganisation klarlegt, wird stets 
als wichtigstes Quellenmaterial in jedem Falle autobiographische 
Dokumente benutzen. Das autobiographische Material, wie es 
in den Werken der Dichter und Künstler, in ihren Briefen, Tage- 
büchern, Lebensbeschreibungen niedergelegt ist, bietet dem Literar- 
ästhetiker den Einblick in die geheimen Tiefen der Künstler- und 
Dichterseele und erhöht damit nicht bloss den Reiz seiner Werke, 
sondern ermöglicht erst eine achtungsvolle Würdigung der 
schöpferischen Kunst überhaupt. Freilich genügen nicht zu solchen 
Studien allgemeine psychologische Anschauungen, das übliche 
Moralisieren und die landläufige Menschenkenntnis, sondern in 
erster Reihe muss der Arzt, der Seelenarzt gehört werden mit der 
nur ihm eigenen Kenntnis vom menschlichen Wesen, mit der nur 
ihm gegebenen Fähigkeit, das Gesunde vom Kranken zu scheiden» 
seelische Schwankungen und seelische Störungen zu erkennen und 
zu würdigen. 

Das Dichter- und Künstlerwerk kann nur begriffen werden 
als Ausfluss der Persönlichkeit; die Person kann nicht gewürdigt 
werden, ohne dass das Pathologische in ihr verstanden und 
berücksichtigt wird. Pathologische Züge finden sich aber nicht 
bloss, wie der Laie anzunehmen geneigt ist, bei den Minderwertigen, 
sondern auch bei den Mehrwertigen, nicht bloss bei den D€g6n€T6s^ 
sondern auch bei den Prog^n^r^s, nicht bloss bei den Insassen 
der Kranken- und Irrenanstalten, sondern auch bei völlig Gesunden. 
Einzelne und auch gehäufte krankhafte Züge werden wir aus den 
Memoirenwerken, aus den Dokumenten von Dichtern und Künstlern 
in jedem Falle herauslesen können; von wirklich pathologischen Do- 
kumenten, von pathologischen Romanen, von pathologischen Selbst- 
bekenntnissen — als einer besonderen Abart psychologischer Romane 



- 5 - 

etc. — haben wir das Recht nur unter zweierlei Bedingungen zu 
sprechen. Entweder die krankhaften Zuge, welche wir diagno- 
stizieren, bilden einen geschlossenen Symptomenkomplex, welcher 
uns gestattet, die Diagnose auf ein bestimmtes Leiden, eine distinkte 
Seelenstörung zu stellen, oder die krankhaften Erscheinungen sind 
nur ganz vereinzelt und gestatten an sich keinen Ruckschluss, 
aber der ganze Vorgang, die Stellung des Helden zur Aussenwelt, 
seine Reaktion auf äussere und innere Einflüsse lassen sich vom 
ärztlichen Standpunkte nur erklären aus einer von Geburt an 
krankhaften Anlage, aus einer mangelhaften nervösen Organisation. 
Pathologische Dichterwerke, namentlich der neueren Literatur, die 
zur ersten Gattung gehören, sind häufig; unter den Memoiren- 
werken seien nur Rousseaus Schriften erwähnt, aus denen Möbius 
die Krankengeschichte des Autors herauslesen konnte. Unter den 
Dichterwerken der zweiten Gattung sei als besonders prägnates 
Beispiel die Autobiographie «Anton Reiser** hervorgehoben, 
herausgegeben von Karl Philipp, die den Untertitel „psychologischer 
Roman** führt, in Wirklichkeit aber pathologischer Roman heissen 
müsste. Hier treten krankhafte Symptome nicht gerade deutlich 
und besonders zahlreich hervor, und selbst soweit sie O. Hin- 
richsen^) neuerdings zusammengestellt hat, lassen sie sich wohl 
auch auf gelegentliche äussere Einwirkungen zurückführen, aber das 
ganzeWesen des kindlichen Reiser,dieeigentümlicheGestaltungseiner 
Lebensschicksale und manches andere kann seine Erklärung nur 
finden in einer neuropathischen Anlage seiner Person und in einer 
mangelhaften und verkehrten Erziehung. In der vom literar- 
ästhetischen Standpunkte vielleicht mangelhaften Fortsetzung der 
Autobiographie von Friedrich Klischzigg finden wir die Bestätigung 
unserer Diagnose, dass der „Anton Reiser** tatsächlich als gedruckte 
Krankengeschichte gelten muss. 

August Strindberg hat in einer Reihe seiner Bücher eine 
Autobiographie, eine Geschichte seiner seelischen Entwickelung 
abgefasst, in der er ohne jedes Vertuschungssystem in nackter, 
eingehendster und erschöpfender Wahrheit ein Spiegelbild seines 
Seelenzustandes in den verschiedensten Lebensphasen entwirft, 
und in der er selbstlos und ernsthaft bemüht ist, seiner Mitwelt 
und kommenden Geschlechtern einen Lehrer des Lebens abzu- 

^ .Zur Kasuistik und Psychologie der Pseudologia phantastica*, Archiv 
für Kriminalanthropologie und Kriminalistik Bd. 23. 1906. 



— 6 — 

geben. Die Werke Strindbergs, die wir als seine Lebens- und 
Seelenbekenntnisse aufzufassen haben, sind: 

«Der Sohn einer Magd"" (1886), deutsch unter dem Titel »Ver- 
gangenheit eines Toren**. Von den vier Teilen des Buches sind 
auch im Schwedischen nur erst drei erschienen. 

Die Beichte eines Toren (1887). 

Inferno 1897. 

Legenden (1897—98). 

Einsam (1903). Dazu kann auch noch ,Im roten Zimmer** 
gerechnet werden. 

Da die umfangreichen biographischen Schriften Strindbergs 
noch nicht vollständig vorliegen, so wird als Ersatz und für die 
erste Orientierung ein „Strindberg-Brevier**, mit dessen Herausgabe 
der Autor selbst beschäftigt ist, und das demnächst im Schwedischen 
erscheinen soll, willkommen geheissen werden.^) 

Strindbergs Autobiographien sind eine wichtige Fundgrube 
für den Psychologen, der sich für die Entwickelung des Menschen 
und Künstlers interessiert, sie sind aber auch von höchstem 
Interesse für den Seelenarzt und Psychiater, der hier in der ein- 
gehenden Schilderung des Kindes im Eltemhause und in der Schule, 
des Jünglings auf der Hochschule, des Mannes in der Ehe etc. 
zahlreiche krankhafte Züge in ihrer Entwicklung und ihrer ver- 
schiedenartigen Äusserung erkennt. Ohne diese Erkenntnis und 
ohne Würdigung des krankhaften Momentes müssen Strindbergs 
Schriften unverständlich bleiben. Des Künstlers Charakter ent- 
wickelt sich auf einer neuropsychopathischen Grundlage. Insofern 
sind Strindbergs autobiographische Schriften eine bemerkenswerte 
Bereicherung jener Literatur, die wir im vorhergehenden als 
pathologische bezeichnet haben. 

Eine erschöpfende psychiatrische Analyse des gesamten auto- 
biographischen Materials würde zu weit führen; wir beschränken 
uns auf dasjenige Buch, welches in ausgesprochenster Weise und 
gewissermassen auf dem Kulminationspunkt die krankhafte Seelen- 
verfassung des Autors wiedergibt, welches, meist in Tagebuch- 
form ein abgeschlossenes Krankheitsbild schildert, durch dessen 
Erkenntnis wir erst einen Standpunkt gewinnen zum Verständnis 
der voraufgehenden und der folgenden Bücher — wir meinen 

') Ich verdanke diese Mitteilung Herrn Emil Schering, dem liebe- 
vollen Strindberg-Übersetzer. 



— 7 — 

den «Inferno" mit dem vorangeschickten Mysterium: De creatione 
et sententia vera mondi. Das Buch trägt offensichtlich den 
Charakter einer Selbstschilderung; zum Überfluss schreibt der 
Autor am Schlüsse: 

«Der Leser, welcher dieses Buch ffir eine Dichtung 
halten sollte, ist eingeladen, mein Tagebuch einzusehen, das 
ich Tag ffir Tag seit 1895 gefuhrt habe, und aus dem dieses 
nur ein ausgearbeiteter und geordneter Auszug ist* 
Der ausgesprochen krankhafte Zug des Buches konnte auch 
von Laien nicht übersehen werden; sein Inhalt ist auch von 
anderer Seite als »krankhaft** bezeichnet worden. Ob damit der 
ganze Inhalt des Buches erschöpft ist oder nicht, bleibt für uns 
belanglos; unsere Aufgabe ist es zu prüfen, wie weit die krank- 
haften Zuge sich zu einem abgeschlossenen Krankheitsbild 
zusammenfassen lassen, welches die Erkrankung ist, um die es 
sich handelt, wie sie sich entwickelt und verläuft, wie sie zu 
beurteilen ist, und wie sie in der weiteren Entwicklung des Autors 
zum Ausdruck kommt. 

IL 

Die Selbstschilderungen Strindbergs im Inferno beginnen mit 
dem November 1894; er steht etwa im 50. Lebensjahre, er hat 
eben Abschied genommen von seiner Frau, die nichts ahnend 
auf eine baldige Ruckkehr rechnet, während der Ehemann eine 
definitive Scheidung von Frau und Kind im Sinne hat und auch 
in der Folge durchführt. Schon in den ersten Zeilen kommt 
jene aus der „Beichte eines Toren** bekannte und zur fixen Idee 
gewordene Wahnvorstellung zum Ausdruck, nach welcher seine 
Frau Tag und Nacht seine Seele belauert, seine geheimen Gedanken 
errät und, voll Eifersucht auf seine Liebe zur Erkenntnis, den Lauf 
seiner Ideen überwacht. Wie mit seiner Familie so hat er auch 
völlig mit seiner Lebensweise und seiner Beschäftigung gebrochen. 
Er hat eben noch auf einer Pariser Bühne den ersten grossen Erfolg 
errungen, sein Jugendtraum ist damit in Erfüllung gegangen — 
aber er opfert mit seiner Liebe auch die Kunst, das 
Theater stösst ihn in seiner jetzigen Stimmung ab, er folgt einem 
neuen Berufe und wirft sich mit grossem Eifer der Wissenschaft 
in die Arme. Er beschäftigte sich, indem er noch den gleichen 
Abend ein kleines Laboratorium einrichtet, mit chemischen 



- 8- 

Experimenten. Seine Angaben über die Ergebnisse seiner Unter- 
suchungen machen einen verworrenen und zum Teil Unverstand- 
fachen Eindruck. Aber doch erkennt man gerade an ihnen deutlich 
die EntWickelung seiner geistigen Erkrankung. 

Anfangs ist sein Gedankengang noch geleitet von wissen- 
schaftlichen Prinzipien, aber allmählich verliert er den wissenschaft- 
lichen Boden und gerät völlig in ein mystisches Fahrwasser. Es 
ist hier unsere Aufgabe nicht, den Wert und die Bedeutung von 
Strindbergs chemischen Experimenten kritisch zu beurteilen. Sie 
bezwecken im allgemeinen eine Analyse der einfachen Elemente 
und beschäftigen sich zunächst in diesem Sinn mit dem Schwefel, 
ferner mit dem Jod. Aber bald verlieren die Untersuchungen jede 
wissenschaftliche Bedeutung, und wie der Alchymist im Mittel- 
alter beschäftigt sich Strindberg mit der Herstellung von Gold. 
Schon im Prodromalstadium der Krankheit hat er das Problem 
Gold zu machen ins Auge gefasst Dies sein Gedankengang: 
„Der Ausgangspunkt bestand in der Frage: Warum 
schlägt schwefelsaures Eisen in einer Goldsalzlösung Metall- 
gold nieder? Die Antwort war: Weil Eisen und Schwefel 
einen wesentlichen Bestandteil des Goldes ausmachen. Der 
Beweis ist, dass alle Schwefeleisenverbindungen der Natur 
mehr oder weniger Gold enthalten. So begann ich also mit 
Lösungen von schwefelsaurem Eisen zu arbeiten." 
Auf einer weiteren Stufe der Entwickelung lebt er bereits in 
dem Wahne, dass es ihm nach seinen Berechnungen und den 
Beobachtungen der Metallurgen geglückt sei, Gold zu machen, 
und er glaubt, es beweisen zu können ; auf der Höhe der Krank- 
heit endlich glaubt er, die Eifersucht und den Hass seines ihn 
behandelnden Arztes darauf zurückfuhren zu müssen, dass es ihm 
selbst geglückt ist, Gold zu machen, während jener es nur halb 
und halb zuwege gebracht hat 

Kehren wir zurück zu dem Beginn der Erzählung. Schon 
hier treten — zunächst in flüchtiger Andeutung, doch ganz deutlich — 
krankhafte Symptome in die Erscheinung. Er fühlt sich verfolgt 
von unbekannten Mächten, die es sich zur Aufgabe gemacht zu 
haben scheinen, ihm das ganze Leben und Streben durch ihre 
Verfolgungen zu vergällen. Mit dem Verfolgungswahn, der 
hier bereits angedeutet ist, geht ein Bedürfnis nach Einsamkeit 
einher; er wird menschenscheu, zieht sich zurück von allen 



— 9 — 

Gesellschaften, lehnt alle Einladungen ab und verleugnet sich vor 
allen seinen Freunden. Schweigen, Einsamkeit breitet sich um ihn 
aus, «das erhaben-schreckliche Schweigen der Wüste, in der ich 
mich trotzig an dem Unbekannten messe, Leib an Leib, Seel* an 

dCvIC • • • 

' Wir haben hier als erstes und grundlegendes klinisches 
Symptom der beginnenden Psychose die Niedergeschlagenheit, 
Traurigkeit, Verstimmung und als weitere Folgen der psychischen 
Dysaesthesie : Zurfickgezogenheit, Leutscheu, resp. ein feind- 
liches Verhalten gegenüber der Aussenwelt. Dazu die psychische 
Anaesthesie und damit im Zusammenhang die Gleichgültigkeit 
gegen alle, selbst die sonst wichtigsten Lebensbeziehungen. 
„Niemand teilt meine furchtbare Einsamkeit, und ich bin zu 
stolz, jemanden aufzusuchen." Mit seiner Frau korrespondiert er 
zunächst und schreibt ihr verliebte Briefe, aber in seiner Miss- 
stimmung tut er sich selbst das Leid, „den Selbstmord**, an und 
gibt in einem unverzeihlich nichtswürdigen Briefe Weib und Kind 
den Laufpass, indem er sich stellt, als ob eine neue Liebschaft 
seinen Geist beschäftige. Seine Beziehungen zur Aussenwelt hat 
er abgebrochen; am Weihnachtsabend entschliesst er sich im 
letzten Augenblick, eine bekannte skandinavische Familie aufzu- 
suchen. Aber die Heiterkeit und Ausgelassenheit der Gesellschaft, 
der freie ungebundene Ton stimmen ihn traurig und erregen ein 
unbeschreibliches Missbehagen. „Gewissensbisse fiberfallen mich, 
ich stehe auf, schütze ein Unwohlsein vor und gehe.** Auf der 
Strasse beleidigt ihn die gemachte Lustigkeit der Menge, er eilt 
von einem Caf^ ins andere, und schliesslich flieht er, „von 
Eumeniden gepeitscht, unter den foppenden Geleitfanfaren der 
Mirlitons nach Hause. ** 

Die ersten schwach angedeuteten Wahnideen kommen zum 
Ausdruck, die ersten leichten Sinnestäuschungen, Paraesthesien, 
Halluzinationen. Der Kranke fühlt sich als das Opfer einer 
ungerechten Verfolgung, aber noch fehlt ihm jedes Schuldbewusst- 
sein. „Der Gedanke an eine Züchtigung, als Folge meines Ver- 
brechens, kommt mir nicht" Er lehnt sich gewaltsam gegen jedes 
Schuldbewusstsein auf und beteuert wenige Zeilen später: „Ich 
habe unrecht gehabt und zugleich habe ich recht gehabt und 
werde recht behalten.* Das sind die Notizen über seine seelische 
Verfassung an dem erwähnten Weihnachtsabend, die er mit den 



- 10 — 

folgenden kurzen Andeutungen schliesst: „Diese Weihnacht schh'ef 
ich schlecht. Ein kalter Luftzug streifte mehrere Male 
mein Gesicht, und von Zeit zu Zeit weckte mich der 
Ton einer Quitarre** — die erste Andeutung von Halluzinationen, 
die später viel gehäufter und intensiver auftreten sollten, und 
die auch in der Folge hauptsächlich in der Form von Gehörs- 
halluzinationen sich äusserten. 

Verletzungen der Hände, die sich Strindberg bei seinen 
chemischen Experimenten zugezogen hat, eine gewisse allgemeine 
Hinfälligkeit und eine durch Vernachlässigung der Hände hervor- 
gerufene Blutvergiftung zwingen ihn, ein Krankenhaus aufzusuchen. 
Die Ruhe des Krankenhauses, die Pflege einer sich aufopfernden 
Schwester, die ihn liebgewinnt und wie ein Baby behandelt, 
besänftigen seine aufgeregten Nerven, erheitern sein Gemüt und 
beseitigen allmählich seine psychische Depression. „Ich fange an, 
mich mit meinem Lose wieder auszusöhnen und mein Unglück, 
das mich unter dieses gesegnete Dach geführt hat, als Glück zu 
preisen." In seiner gehobenen, glücklichen Stimmung bahnt er 
auch eine neue Beziehung zu seiner Frau an. Er schreibt ihr wie 
ein Liebhaber, berichtet ihr, wie die sogenannte Untreue eitel Lüge 
gewesen und bittet sie um Verzeihung. 

Die Besserung in Strindbergs Befinden war nur eine schein- 
bare und vorübergehende, sie sollte den Aufenthalt im Kranken- 
hause nicht überdauern. Am Abend vor seiner Entlassung aus 
dem Krankenhause macht er einen Spaziergang durch die Strassen 
der Stadt. Angst überfällt ihn, seinen Freunden geht er bedrückt 
aus dem 'Wege, es wiederholt sich die Szene von Weihnachten: 
„Gestäubt, gehetzt, zum Aussersten getrieben laufe ich wie ein 
nächtlicher Herumstreicher den Boulevard entlang und heim zu 
meinen Aussätzigen. Da endlich, und nur da in meinem Kerker, 
fühle ich mich heimisch.*" Immer eindringlicher und fester beherrscht 
ihn die Idee, dass die Vorsehung etwas mit ihm plant, dass ihn 
eine unsichtbare Hand züchtigt und geisselt, ohne dass er noch 
den Zweck und den Grund errät. 

in. 

Wenn uns die voraufgegangenen Aufzeichnungen Strindbergs 
darüber belehren, dass wir den Beginn einer seelischen Störung 
vor uns haben, so zeigen uns die folgenden Blätter, zum grossen 



— 11 — 

Teil in Form eines Tagebuches, wie die bisher angedeuteten 
Symptome sich immer ernsthafter entwickeln, wie neue Störungen 
auftreten, bis wir endlich den geschlossenen Symptomenkomplex 
einer schweren Psychose vor uns haben. Die weitere Entwick- 
lung des Leidens bis zum Höhepunkt der Krankheft umfasst die 
Zeft eines Jahres, vom Sommer 1895 bis 96. Die Äusserungen 
des Leidens sind so zahlreiche, die krankhaften Störungen treten 
in so verschiedenen Formen und so gehäuft auf, dass es nicht 
möglich ist, sie alle einzeln und eingehend zu besprechen. Ich 
lasse mir daran genügen, den weiteren Fortgang und Ablauf des 
Leidens und damit ein Bild von der seelischen Verfassung des 
Autors in grossen Zügen zu geben, indem ich nur die markan- 
testen Krankheitssymptome und ihren Ablauf hervorhebe. 

Den Angstzustanden gesellen sich Selbstbeschuldigungen 
bei. Der Kranke hat den Grund entdeckt, weshalb er bestraft wird ; 
er hat seine Pflicht weder gegen Gott noch gegen die Menschen 
erffilk (Versündigungswahn). Er empfindet die Strafe, welche ihn 
trifft, als Sühne für eine begangene Schuld. Das Dasein einer 
unsichtbaren Hand ist ihm zur Gewissheit geworden. Sobald er 
gesündigt und gefehft hat, fühft er sich auf frischer Tat ertappt 
und mft einer Pünktlichkeit und einem Raffinement bestraft, dass 
er über das Eingreifen einer richterlichen Gewalt keinen 
Zweifel mehr hegt. „Der Unbekannte ist mir ein persönlicher 
Bekannter geworden, mit dem ich spreche, dem ich Dank sage, 
den ich um Rat angehe.** — „Ein Bankrottier der Gesellschaft, 
werde ich in einer andern Weft wiedergeboren, wohin mir niemand 
folgen kann. Ehedem unbedeutende Ereignisse ziehen meine Auf- 
merksamkeft auf sich, meine nächtlichen Träume nehmen die Form 
von Ahnungen an, ich halte mich für einen Abgeschiedenen, und 
mein Leben veriäuft in einer anderen Sphäre.** 

In weiterem Verlaufe der Krankheft richtet sich der Ver- 
sündigungswahn nicht bloss auf unsichtbare Mächte, sondern in 
der Vorstellung des Kranken gehen die Verfolgungen auch von 
bestimmten Personen aus, gegen die er sich in der einen oder 
der anderen Form vor Jahren angeblich versündigt hat Ein Vor- 
gang aus dem Sommer 96 ist so bezeichnend für den Seelen- 
zustand des von Sinnestäuschungen und allen möglichen Wahn- 
vorstellungen beherrschten Kranken, dass ich ihn hier wörtlich 
wiedergebe : 



- 12 — 

„In dieser Stimmung sitze ich an einem schwulen 
Nachmittag über meine Arbeit gebeugt, als ich mit einemmal 
hinter dem Laube des Täichens vor mir Klavier spielen höre. 
Ich spitze, wie das Schlachtross beim Ton der Trompeten, 
die Ohren, richte mich auf, ringe in hoher Erregung nach 
Atem. Man spielt den «Aufschwung* von Schumann. Und 
noch mehr, er spielt! Er, mein russischer Freund, mein 
Schuler, der mich ,Vater' nannte, weil er mir seine ganze 
Bildung verdankte, mein Famulus, der mich Meister nannte 
und mir die Hand kfisste, der sein Leben da begann, wo 
das meine endete. Er ist von Wien nach Paris gekommen, 
um mich zugrunde zu richten, wie er mich in Wien zugrunde 
gerichtet hat — und warum? . . . weil das Schicksal gewollt 
hatte, dass seine jetzige Gattin, ehe er sie kennen lernte, 
meine Geliebte gewesen war. Konnte ich dafür, dass dies 
so gekommen war? Gewiss nicht, und dennoch hasste er 
mich tödlich, verleumdete mich, verhinderte die Annahme 
meiner Stücke, fädelte Intriguen ein und beraubte mich so 
der notwendigsten Hilfsmittel zu meiner Existenz. Damals 
drehte ich in einem Anfall von Wut den Spiess einmal um 
und traf ihn gut, freilich auf eine so rohe und feige Art, 
dass ich darunter wie unter einem Morde litt. Dass er nun, 
mich zu töten, gekommen ist, tröstet mich, denn der Tod 
allein kann mich von meinen Gewissensbissen befreien."* 
Die Verfolgung durch seinen ehemaligen Freund und Schüler 
bildet zwar nur eine Episode im Krankheitsbilde, aber sie beherrscht 
ihn doch durch lange Wochen. Die Freunde im Restaurant sind 
von der Anwesenheit des Russen und seinen Absichten unterrichtet, 
und die ganze Gesellschaft ist gegen ihn verschworen. «Noch 
einmal also treibt mich dieser verfluchte Feind in Einsamkeit und 
Verbannung.* Der Kranke will nichts mehr wissen von Tod, die 
Demütigung wäre für ihn, die Ehre für seinen Feind zu gross, er will 
den Kampf aufnehmen und sich verteidigen. Er wird von gemein- 
samen Bekannten gewarnt, aber der Feind bleibt ihm unsichtbar. 
,,Der Aufschwung von Schumann tönt über den 
buschigen Bäumen, aber der Musiker bleibt unsichtbar und 
lässt mich über seine Wohnung nach wie vor in Zweifel. 
Einen ganzen Monat währt die Musik von vier bis 
fünf Uhr nachmittags.** 



- 18 — 

Schliesslich erfährt er, dass der rfissische Feind unter der 
Anklage, eine Frau und zwei Kinder, seine Geliebte und seine 
zwei ausserehelichen Kinder ermordet zu haben, in Wien verhaftet 
worden ist. 

„Vielleicht haben seine blutdürstigen Instinkte unlängst 

in Paris keinen Ausweg gefunden, und haben sich nun eigens 

einen andern, gleichviel welchen, gesucht." 

Die Verfolgung durch eine bestimmte Person als Vergeltung 
für fernliegende Verfehlungen ist eine vorübergehende Episode. 
Im allgemeinen beherrscht den Kranken während der voll entwickel- 
ten Psychose die Dämonomanie, der Wahn, von Dämonen und un- 
sichtbaren Mächten als Vergeltung seiner Sünden verfolgt zu werden. 
„Furcht erfasst mich, wenn ich über mein Betragen während der 
letzten Wochen gründlich nachdenke. Mein Gewissen beichtet mir 
rückhalt- und erbarmungslos. Ich hatte durch Hochmut gesündigt, 
durch Hybris, das einzige Laster, welches die Götter nicht ver- 
zeihen. Der Gunst der Mächte bewusst, schmeichelte ich mir, 
meinen Feinden gegenüber unbesiegbar zu sein und vergass die 
gewöhnlichsten Regungen der Bescheidenheit' Eine viel prägnantere 
Form nehmen die Selbstanklagen des Autors an in dem Epilog, 
mit welchem er sein Buch abschliesst. Hier, wo er sein Buch 
und seine Lebensbeichte den Lesern empfiehlt, „als ein Zeichen, 
ein Beispiel, um anderen zur Besserung zu dienen,** äussert er sich 
wörtlich über den Grund, weshalb er verfolgt und bestraft werde: 
„Warum ist der Verfasser dieses Buches auf eine so 

ungewöhnliche Weise bestraft worden? Leset das Mysterium, 

welches dem Texte vorangeht.^) Dieses Mysterium ist vor 

dreissig Jahren verfasst worden.** 

Der Inhalt dieses Mysteriums, von dem Strindberg seine 
Verfolgungen herleitet, ist: Lucifer, der gute, von dem „andern** 
verjagte und abgesetzte Gott, wird wiederkehren, wenn der Usur- 
pator, Gott genannt, durch sein elendes Regiment, seine Grau- 
samkeit, seine Ungerechtigkeit sich vor den Menschen verächtlich 
gemacht hat, und von seiner eigenen Unfähigkeit überzeugt 
worden ist. 

Die Verfolgungen, denen der Kranke ausgesetzt ist, kom- 
binieren sich mit allen möglichen Halluzinationen. Bald wird er 



') De creatlone et sententfa vera mundi. 



- 14 — 

in seinem Hotel gestört tlurch Klavierspiel in dem benachbarten 
Zimmer; bald wird er aus dem Schlafe aufgescheucht dadurch, 
dass auf der Seite seines Bettes ein Nagel eingeschlagen wird; 
bald dadurch, dass es auf der Gegenseite klopft; bald wieder geht 
während des Mittagsschlafes über seinem Alkoven ein Gepolter 
los, dass der Putz der Decke ihm auf den Kopf fällt Er beklagt 
sich, aber Niemand hat etwas wahrgenommen. 

Die einfachsten harmlosesten Erscheinungen und Vorgänge 
werden ins Ungeheuerliche gedeutet; die Gegenstände der Wirk- 
lichkeit erscheinen ihm manchmal auf grandiose Weise in mensch- 
licher Form. 

Das zerdrfickte Kopfkissen deucht ihm ein Mannes- 
kopf im Stile Michel Angelos; an anderen Tagen stellt das 
Kopfkissen entsetzliche Ungetüme dar, gotische Drachen, Lind- 
wurme, und gelegentlich begrusst ihn bei seiner Rückkehr der 
Teufel selbst mit Feuerkopf und sonstigem Zubehör. „Furcht 
ergriff mich niemals, es war immer allzu natürlich, aber der 
Eindruck von etwas Abnormem, halb Übernatürlichem blieb immer 
in meiner Seele haften.*" 

Ein Hund liegt vor dem Hause, in das er eintreten will, 
er macht sofort Kehrt und glaubt, dass ihn die Mächte ge- 
warnt haben vor einer unbekannten Gefahr. Im Garten findet 
er zwei dünne vom Wind abgebrochene Reiser, sie bilden 
zwei griechische Buchstaben, den Anfangs- und den End- 
buchstaben im Namen seines russischen Feindes. Also ver- 
folgt er ihn, und die Mächte wollen ihn gegen die drohende Ge- 
fahr schützen. Auch schmutzige und ekelerregende Dinge spielen 
eine wichtige Rolle unter den Verfolgungen, denen er ausgesetzt 
ist. Sehr bezeichnend ist die Schilderung der „Kothölle'', zu der 
er bei dem Einzug in ein neues Hotel verurteilt ist. Er erzählt 
wörtlich : 

„Sehr zufrieden mit meinem Zimmer schlafe ich die erste 
Nacht gut. Am andern Morgen entdecke ich, dass der 
Abtritt in der Gasse unter meinem Fenster liegt und zwar 
so nah, dass man die ganze Prozedur samt Auf- und Zu- 
klappen des Deckels hören muss. Ferner entdecke ich, 
dass auch die beiden runden Fensterchen mir gegenüber 
zu Abtritten gehören. Zum guten Ende weisen auch noch 
die hundert Fensterchen unten im Tale auf ebenso viele 



— 15 — 

Abtritte hin, die an der Rfickseite einer Häuserreihe h'egen. 
Ich bin zuerst wütend, da ich aber nichts ändern kann, 
verwünsche ich mein Schicicsal und beruhige mich. 

Gegen ein Uhr bringt der Diener das Essen, und stellt, 
da ich meinen Schreibtisch nicht in Unordnung bringen 
will, das Tablett auf den Nachttisch, in dem das Nacht- 
geschirr steht. Ich bemerkte ihm dies, aber er bedauerte 
sehr, keinen andern Tisch decken zu können.*" 
Die psychische Depression nimmt ständig zu: ihm ist zum 
Sterben traurig, die Furcht für verrückt gehalten zu werden, von 
einem Freunde, den er in einem seiner Träume gekränkt hat, als 
Geisteskranker interniert zu werden, beherrscht ihn, er hat die 
Empfindung irgend einer Katastrophe; Selbstmordideen und Selbst- 
mordversuche. 

„Die Grenze zwischen Leben und Tod kennen zu lernen, 
lege ich mich auf das Bett, entkorke das Fläschchen mit 
Cyankali und lasse es seine vernichtenden Düfte ausströmen. 
Der Mann mit der Sense nähert sich sanft, wollüstig." Im 
letzten Augenblick tritt jemand oder etwas dazwischen: „Die 
Mächte verweigern mir die einzige Freude und ich beuge 
mich ihrem Willen.*' 

IV. 

Im Juli dieses Jahres erreicht die Krankheit ihren Höhe- 
punkt. Das Hotel ist leer geworden, die Studenten haben es 
während der Ferien verlassen. Ein Unbekannter, der das an- 
grenzende Zimmer bezieht, erregt zunächst des Kranken Neugierde 
und steigert allmählich seine Angst ins Ungemessene. Der Unbe- 
kannte spricht niemals und scheint sich hinter der trennenden 
Wand mit Schreiben fortdauernd zu beschäftigen. Wenn der 
Kranke seinen Stuhl rückt, rückt er auch den seinen, er ahmt 
überhaupt alle seine Bewegungen nach, als ob er ihn ärgern 
wollte. Das geht drei Tage lang so fort. Am vierten Tage macht 
der Kranke folgende Beobachtung: 

„Gehe ich schlafen, so geht der andere im Zimmer 
neben meinem Tisch auch schlafen, liege ich aber ruhig im 
Bett, so höre ich ihn sich im andern Zimmer niederlegen 
und das Bett an meiner Wand besetzen. Ich höre es, wie 
er sich parallel mit mir ausstreckt; er blättert in einem 



- 16 - 

Buch, löscht dann die Lampe aus, atmet laut, dreht sich 
auf die Seite und schläft ein. Eine tiefe Stille herrscht 
in dem Zimmer neben meinem Tisch. Er bewohnt also 
beide. Es ist unangenehm, von zwei Seiten belagert zu 
werden." 

Die fortdauernden Angstzustände und das bedrückende Ein- 
samkeitsgefuhl haben den Appetit herabgesetzt. Der Kranke isst 
so wenig, dass der Aufwärter ihn bedauert. Dabei hört er in 
völliger Abgeschiedenheit acht Tage lang nicht seine Stimme und 
„ihr Ton beginnt aus Mangel an Übung bereits abzunehmen." 
Die notwendigsten Mitteln fehlen ihm und er rafft noch 
einmal alle seine Willenskraft zusammen um Qold zu machen, 
„auf trockenem Wege durch Feuer". Er verschafft sich Ofen« 
Schmelztiegel, Holzkohlen, Blasebalg und Zangen ; bei furchtbarer 
Hitze arbeitet er wie ein Schmiedegeselle bis an die Hüften ent- 
kleidet, der Rauch schlägt ins Zimmer und verursacht Kopf- 
schmerzen, alle Versuche bleiben vergeblich, bei einem Blick 
in das Innere des Tiegels hat er die Vision eines Totenkopfes 
mit zwei leuchtenden Augen, die seine Seele wie mit übernatür- 
licher Ironie durchbohren. 

In seiner Gemütsbeklemmung und Angst nimmt der Kranke 
zum Gebet seine Zuflucht, aber, wie gewöhnlich, lässt die 
Hemmung der mit dem Gebet sonst verbundenen Erbauungs- 
und Erleichterungsgefühle das Gebet unwirksam erscheinen. Die 
Lektüre in der Bibel steigert seine Verzweiflung, er zweifelt an 
seinen wissenschaftlichen Versuchen, ihn packt das Schuldbewusst- 
sein an seiner Familie, die Steigerung des krankhaften Zustandes 
gibt sich in dem Wahn zu erkennen, vom Teufel besessen zu 
sein. Ein ganz typischer Verlauf! „Der gute Geist hat mich 
auf den rechten Weg nach der Insel der Seligen geleitet, aber 
Satan versucht mich. Man straft mich wieder. " Neben der 
Dämonanie erhält sich konstant und in progressiver Steigerung 
der Wahn, dass ein magnetisches Fluidum ihn beherrscht. „Aus 
der Wand scheint ein magnetisches Fluidum zu strömen." Der 
Zustand des von allen möglichen Wahnvorstellungen und Sinnes- 
täuschungen beherrschten und von mächtiger Präkordialangst 
befallenen Kranken ist ein bejammernswerter. Lassen wir ihn 
selbst sein Befinden während der Abendstunden und in der Nacht 
beschreiben : 



— 17 — 

«Ich nehme mich zusammen und stehe auf, um auszu- 
gehen. Als ich durch den Flur komme, höre ich zwei 
Stimmen in dem Zimmer neben meinem Tische flüstern. 
Warum flüstern sie? In der Absicht, sich vor mir ver- 
steckt zu halten. 

Durch die Rue d' Assas gehe ich nach dem Jardin de 
Luxembourg. Ich schleppe mich mfihsam, vom Kreuz bis 
zu den Füssen gelähmt, vorwärts 

Ich bin vergiftet! Das ist mein erster Gedanke. Und 
Popoltsky, der Frau und Kinder durch giftige Gase getötet 
hat, ist hier. Er hat nach dem berühmten Experiment von 
Pettenkofer einen Gasstrom durch die Mauer geleitet. Was 
soll ich tun? Zur Polizei gehen? Nein, denn wenn ich 
keine Beweise vorbringen kann, wird man mich als einen 
Verrückten einsperren. 

Vae soll! Wehe dem einsamen Menschen, dem Sper- 
ling auf dem Dache! Niemals war das Elend meines Da- 
seins grösser, und ich weine wie ein verlassenes Kind, das 
sich vor der Dunkelheit fürchtet. 

Abends wage ich aus Furcht vor einem neuen Atten- 
tate nicht an meinem Tisch sitzen zu bleiben und lege mich 
zu Bett, ohne dass ich mich einzuschlafen getraute. Die 
Nacht bricht herein und meine Lampe brennt. Da sehe ich 
draussen an der gegenüberliegenden Mauer, von meinem 
Fenster aus, den Schatten einer menschlichen Gestalt sich 
abheben, ob Mann oder Frau, wüsste ich nicht zu sagen, 
aber ich glaube, es war eine Frau. 

Als ich aufstehe, um es auszuspionieren, senkt sich 
das Rouleau geräuschvoll nieder, dann höre ich den Unbe- 
kannten in das Zimmer neben meinem Alkoven treten, und 
alles ist still. 

Drei Stunden bleibe ich mit offenen Augen liegen, in 
die der gewöhnliche Schlaf nicht kommen will. Da durch- 
läuft meinen Körper ein beunruhigendes Gefühl : ich bin das 
Opfer eines elektrischen Stromes, der zwischen den beiden 
benachbarten Zimmern hin und her geht. Die Spannung 
wächst, und trotz meines Widerstandes halte ich es im Bett 
nicht mehr aus, nur von einem Gedanken besessen: 

Man mordet mich ! Ich will mich nicht morden lassen ! 

Qrenzfragen d. Lit. u. Medizin. 6. Heft 2 



- 18 - 

Ich gehe hinaus, um den Diener in seiner Loge am 
Ende des Korridors zu sehen» aber ach, er ist nicht da. 
Man hat ihn also entfernt, beiseite gebracht, er ist still- 
schweigender Komplize, ich bin verraten I 

Ich steige die Treppen hinab und durcheile die Korri- 
dore, um den Vorstand der Pension zu wecken. Mit einer 
Geistesgegenwart, deren ich mich nicht fär fähig gehalten, 
erzähle ich ihm von einem plötzlichen Unwohlsein, das von 
den Ausdünstungen meiner Chemikalien herrühre, und ver- 
lange für die Nacht ein anderes Zimmer. 

Das einzige freie Zimmer liegt dank der zornigen Vor- 
sehung gerade unter dem meines Feindes. 

Ich öffne das Fenster und atme in vollen Zügen die 
frische Luft einer Sternennacht ein. Über den Dächern der 
Rue d*Assas und der Rue de Madame sind der Grosse Bär 
und der Polarstern sichtbar. 

Nach Norden also! Omen accipiol 
Als ich die Vorhänge meines Alkovens zuziehe, höre 
ich über meinem Kopfe den Feind, der aus dem Bette steigt 
und einen schweren Gegenstand in einen Koffer wirft, dessen 
Deckel er mit einem Schlüssel verschliesst 

Er versteckt also etwas; vielleicht die Elektrisier- 
maschine!'* 

Strindberg hat am nächsten Morgen unter der Vorwande, 
einen Ausflug ans Meer zu machen, unter allen möglichen Vor- 
sichtsmassregeln, um nicht verfolgt zu werden, seine Wohnung 
verlassen. Er mietet sich zunächst in Paris selbst in einer land- 
schaftlich bevorzugten Gegend in der Nähe des Jardin des plantes 
ein, wo er inkognito bleiben will, um vor seiner Abreise nach 
Schweden seine Studien zu vollenden. 

Die Ortsveränderung, der Glaube, den ihm nachstellenden 
Feinden entgangen zu sein, die schöne ruhige Umgebung beein- 
flussen zunächst sehr günstig sein Befinden. Er wird ruhig, er 
sitzt stundenlang in einem Sessel auf dem Vorplatz des Garten- 
hauses, er kann allmählich auch wieder arbeiten und nachtsüber 
ruhig schlafen. Dabei besteht die Krankheit selbst fort, nur die 
akuten Steigerungen, die Exaltationen haben sich beruhigt, die 
gewaltsamen Entleerungen der präkordialen Angst nach aussen 
haben nachgelassen. Die Wahnvorsteilungen und die Selbst- 



— 19 — 

besdiuMigungen bestehen latent fort. Er deutet auch jetzt noch 
die fiberstandenen Qualen als Verfolgungen wirklicher Feinde und 
sieht in dem gegenwärtigen Wohlbefmden nur eine Pause in seinen 
wohlverdienten Strafen. Immerhin fühlt er sich vor seinen Ver- 
folgern so weit sicher, dass er seine Adresse in die frühere Pension 
sendet, um durch Wiederaufnahme seiner Korrespondenz wieder 
in Beziehung mit der Aussenwelt zu treten. 

Kaum aber hat er sein Inkognito gelüftet, so weicht die 
Ruhe von ihm, „der Friede ist gebrochen*". AHes deutet auf 
erneute Ausbruche und Aufruhr hin. Neben seinem Zfmmer im 
Erdgeschoss liegt ein bisher leeres Zimmer, in dem jetzt Sachen 
aufgestapelt werden, deren Gebrauch ihm n^nerkläiiich ist. In der 
Strasse beginnt es zu lärmen. Es gilt nach Strindbergs Wahn die 
Herstelkmg einer nfhihstischen Höllenmaschine. Die Pensions- 
vorsteherin ändert ihr Benehmen, sie sucht ihn auszukundschaften 
und ärgert ihn auch durch die Art ihres Qrusses. Die unwesent- 
lichsten Voi^änge erregen den Verdacht des Kranken und machen 
ihn misstrauisch : Im ersten Stockwerk ist der Mieter ausgezogen 
resp. hat das Zimmer gewechselt; der Kranke grübelt über den 
Grund. Das Dienstmädchen, das das Zimmer besorgt, ist ernst 
geworden „und wirft mir mitleidige Seitenblicke zu"*. Neue Hallu- 
zinationen : „Jetzt fängt mit einem Male ein Rad an, sich über mir 
zu drehen, den ganzen Tag über zu drehen. Ich bin zum Tode 
verurteilt! Das ist meine feste Überzeugung! Von wem? Von 
den Russen, den Muckern, Katholiken, Jesuiten, Theosophen? 
Als was? Als Zanberer oder Schwarzkünstler? Oder von der 
Polizei? Als Anarchist?** 

In seinem krankhaften Wahn hält sich der Patient zum Tode 
verurteilt, und er sieht in seinem Tode eine Sühne, eine Lektion 
für Verchuldungen, und die scheinbar von Menschenhand ge- 
sponnene Intrigue geht von einer stärkeren Hand aus, die jene 
Menschen, ihnen unbewusst, ja gegen ihren Willen fuhrt. Der 
Kranke resigniert, er ist auf den Tod vorbereitet, nichts mehr 
bindet ihn an das Leben: er ordnet seine Papiere, vernichtet 
andere, schreibt die notwendigsten Briefe und geht nach dem 
Jardin des plantes, um von der Schöpfung Abschied zu nehmen. 

Die Vorgänge der nun folgenden Nacht mit dem neuen 
schweren Anfall gebe ich, soweit sie uns interessieren, mit den 
Worten des Kranken selbst wieder: 

2* 



- 20 — 

.Als ich den Hotelgarten wieder betrete, wittere ich die 
Gegenwart eines Menschen, der während meiner Abwesen- 
heit gekommen sein muss. Ich sehe ihn nicht, aber 
ich fühle ihn. 

Was meine Verwirrung noch erhöht, ist die sichtbare 
Veränderung, die sich mit dem anstossenden Zimmer zu- 
getragen hat Eine über einen Strick gehängte Decke soll 
offenbar etwas verbergen. Auf dem Kaminsims sind Stösse 
von durch Hölzer isolierten Metallplatten aufgestapelt, auf 
jedem Stoss liegt ein Photographiealbum oder irgend ein 
anderes Buch, augenscheinlich, um diesen Höllenmaschinen, 
die ich für Akkumulatoren halten möchte, ein unschuldiges 
Äussere zu geben. Zum Überfluss sehe ich auf einem Dach 
der Rue Censier und gerade meinem Gartenhaus gegenüber 
zwei Arbeiter. Was sie da oben machen, kann ich nicht 
erkennen, aber sie scheinen es auf meine Glastür abgesehen 
zu haben und hantieren mit Gegenständen, die ich nicht 
unterscheiden kann. 

Warum fliehe ich nicht? Weil ich zu stolz bin und 
das Unvermeidliche ertragen werden muss. 

Ich bereite mich also auf die Nacht vor. Ich nehme 
ein Bad ... Ich rasiere und parfümiere mich und lege die 
Wäsche an, die ich mir vor drei Jahren in Wien zu meiner 
Hochzeit gekauft habe . . . die Toilette eines zum Tode Ver- 
urteilten. 

Als ich die Vorhänge meiner Glastür niederlasse, sehe 
ich im Privatsalon eine Gesellschaft von Herren und Damen 
beim Champagner sitzen. Augenscheinlich sind es diesen 
Abend angekommene Fremde. Aber es ist keine lustige 
Gesellschaft; die Gesichter sind alle ernst, man debattiert,, 
scheint Pläne zu schmieden und macht sich leise Mitteilungen» 
als handle es sich um eine Verschwörung. Meine Qual auf 
die Spitze zu treiben, drehen sie sich auf ihren Stühlen um 
und zeigen mit den Fingern nach der Richtung meines 
Zimmers. 

Um zehn Uhr lösche ich meine Lampe aus und schlafe 
ruhig, resigniert wie ein Sterbender ein. 

Ich wache auf, eine Uhr schlägt zwei, eine Tür wird 
zugemacht und ... ich bin ausserhalb des Bettes, als hätte 



— 21 — 

man mir eine Luftpumpe ans Herz gesetzt und mich so 
herausgezogen. Zugleich trifft ein elektrischer Strom meinen 
Nacken und drückt mich zu Boden. Ich richte mich wieder 
auf, ergreife meine Kleider und steige, eine Beute des 
fürchteriichsten Herzklopfens, in den Garten hinab.** 
In seiner furchtbaren Angst will der Kranke zur Polizei und 
eine Haussuchung veranlassen, doch die Haustür ist verschlossen, 
wie die Portierioge. Er gelangt allmählich ins Freie, und im 
Garten, ausserhalb der Gewaft seiner Feinde, wird ihm allmählich 
wohl, und das aufgeregte Herz beruhigt sich. Die Wahnvorstel- 
lungen halten an : er hört in dem Zimmer, das an das seine stösst, 
ein Husten, ein leises Husten antwortet im darüberiiegenden 
Zimmer — ein verabredetes Zeichen. 

Vom unnützen Kampf gegen die Unsichtbaren ermüdet, sinkt 
er auf einen Gartenstuhl und unter den Sternen einer schönen 
Sommernacht verfällt er in einen tiefen Schlaf. 

Die Angst treibt ihn von dannen, am nächsten Tage packt 
er schleunigst seine Sachen, um in Dieppe bei Freunden ein 
Unterkommen zu suchen. Die Pensionsvorsteherin will er sprechen, 
sie lässt sich wegen eines Unwohlseins entschuldigen. Er hat es 
so erwartet, da sie gewiss an dem Komplott gegen sein Leben 
beteiligt war; er veriässt das Haus mit einem Fluch auf das Haupt 
seiner diebischen Feinde. 

In Dieppe erschrecken die Freunde vor seinem Anblick. 
Er sieht zum Erbarmen aus: das Gesicht vom Rauch der Loko- 
motive geschwärzt, die Backen eingefallen, die Haare voll Schweiss 
und grau geworden, die Augen scheu und die Wäsche voll Schmutz. 
Die anfängliche Beruhigung, die ein Wechsel des Aufenthalts 
bisher regelmässig mit sich brachte, bleibt hier aus. Die äusseren 
Bedingungen sind die denkbar günstigsten. Die Wirtsleute sind 
auf das liebevollste um ihn besorgt und tun alles, um ihn zu 
beruhigen. Aber das Schuldbewusstsein lässt ihn nicht los; er 
macht sich fortwährend Vorwürfe, dass er sich gegen die gast- 
liche Familie früher undankbar benommen hat. Zur Busse wird 
er auch hier durch die Furien verjagt werden. In dem schönen 
Künstlerheim, in dem glücklichen, geordneten Haushaft voller 
Sauberkeit und Luxus, in dieser Atmosphäre von Schönheft und 
Güte, die ihm wie ein Paradies erscheint, fühft er sich ein Ver- 
dammter. 



- 22 - 

Er bezieht eine Dachstube mit der Aussicht auf einen Hfigel. 
Am Abend beobachtet er zwei Männer, die nach der Villa spähen 
und auf sein Fenster deuten ; sofort nimmt ihn die Idee» elektrisch 
verfolgt EU werden, aufs neue in Besitz. Die Fremde wenden 
alles auf zu seiner Beruhigung. Alle Mansardenzinmier« ja selbst 
der Bodenraum werden geraeinsam durchsucht, um ihn zu 
vergewissern, dass niemand sich dort in schlechter Absicht ver* 
steckt halte. Unausgekleidet legt er sich aufs Bett, um die ver- 
hängnisvolle zweite Stunde abzuwarten. Bis zwei Uhr ist alles 
ruhig, dann öffnet er beide Fenster, zQndet zwei Kerzen an und 
setzt sich an den Tisch hinter die Leuchter. Da fühlt er, zunächst 
nur schwach, etwas wie ein elektrisches Fluidium; er greift den 
Kompass und beobachtet keine Spur von Abweichung. 

»Aber die Spannung wächst, das Herz schlägt energisch; 
ich leiste Widerstand, aber wie von einem Blitzschlag ist 
mein Körper mit einem Ruidum fiberladen , das mich er- 
stickt und mir das Blut aussaugt.* 
Er steigt die Treppe herunter nach dem Salon im Erdgeschoss, 
wo man ein provisorisches Bett für den Fall der Not aufge- 
schlagen hat. Von neuem sucht er einzuschlafen, „aber wie ein 
Zyklon trifft mich eine neue Entladung, reisst mich vom Bett 
und die Jagd beginnt aufs neue. Ich verstecke mich hinter die 
Mauern, stelle mich unter die Türen, vor die Kamine. Überall, 
überall finden mich die Furien**. 

Von Seelenangst fiberwältigt, flfichtet er in panisdiem 
Schrecken vor allem und nichts von Zimmer zu Zimmer und 
endet damit, sich auf dem Balkon zusammenzukauern. Die durch 
schwere Angstanfälle bedingte Unruhe währt bis zum Morgen, erst 
dann sinkt er wie ein Toter aufs Bett zu schwerem Schlaf. 

Wieder verlässt er am nächsten Tage das gastliche Heim, 
er denkt an eine nervöse Krankheit, die ärztlicher Hilfe bedarf, 
und er reist nach Schweden, um dort einen befreundeten Arzt 
aufzusuchen. 

Der Direktor des Kreiskrankenhauses in einem kleinen 
Stadtchen des sudlichen Schwedens ist Witwer und bewohnt allein 
ein klosterartiges Gebäude. Das leidende Aussehen seines 
Freundes lässt den sachverständigen Arzt das schlimmste ahnen, 
aber der Kranke, aus Argwohn, er könnte ihn einsperren lassen, 
simuliert und erzählt von Schlaflosigkeit, Nervosität, bösen Trämnen. 



- 23 - 

Hier in der Umgebung des Atztes, dem er sich nicht entdeckt, 
erreichen die Unruhe, die Wahnvorstellungen, die Angstgefühle 
zunächst ihren Höhepunkt. 

Die vier Messin^ugeln auf den Pfeilern der amerikanischen 
Bettstelle in seinem Stäbchen erscheinen ihm wie die Leiter einer 
Elektrisiermaschine. Die elastische Matratze mit kupfernen und 
gleich Rumkorffschen Spiralen gewundenen Sprungfedern vervoll- 
kommnet die elektrische Anlage. Ängstlich steigt er in den Boden- 
raum, um sich zu vergewissern, dass über ihm nichts versteckt 
sei. Der einzige Gegenstand, der sich im Räume befindet, ein 
zusammengerolltes Drahtnetz, steigert seine Verzweiflung aufs 
höchste. »Man könnte sich keinen besseren Akkumulator wünschen. 
Im Falle eines Gewitters, der hier sehr häufig eintritt, wird das 
Drahtgeflecht den Blitz anziehen und ich werde auf dem Kon- 
duktor lie^n . . ." Ständiges Ohrensausen peinigt den Kranken 
seit Beginn der Psychose; jetzt beunruhigt ihn dazu das Getöse 
einer Maschme in der angrenzenden Druckerei. 

«Die gefürchtete Nacht kommt Der Himmel ist be- 
deckt, die Luft schwül; man erwartet ein Gewitter. Ich 
wage nicht, mich schlafen zu legen und schreibe zwei 
Stunden lang Briefe. Wie zerschlagen vor Mattigkeit kleide 
ich mich endlich aus und schleiche mich ins Bett Die 
Lampe ist erloschen, eine entsetzliche Stille ist im Hause. 
Ich fühle, wie jemand im Dunkeln auf mich lauert, mich 
berührt, mein Blut zu saugen, nach meinem Herzen tastet 
Ohne es abzuwarten, springe ich aus dem Bett, reisse 
das Fenster auf und stürze mich in den Hof hinunter — 
aber ich habe die Rosensträucher vergessen, deren spitzige 
Dornen mir das Hemd durchstechen. Zerrissen und blut- 
überströmt suche ich mich über den Hof. 

Kieselsteine, Disteln und Brennesseln eerschinden 
meine nackten Füsse, unbekannte Gegenstände bringen mich 
zum Ausgleiten, endlich gewinne ich die Küche, die an die 
Wohnräume des Arztes stösst Ich klopfe. Keine Antwort ! 
— Plötzlich entdecke ich, dass es fortwährend regnet I 
O Elend, über Elend! Was habe ich getan, diese Martern 
zu verdienen? Hier ist die Hölle! Miserere! Miserere!* 
Endlich gelingt es ihm, den Arzt zu wecken. Simulation ist 
nicht mehr möglich; er entdeckt dem Arzte seinen Seelenzu^nd 



— 24 — 

und schildert seine Krankheit vom ersten Beginn. Der Arzt er- 
klärt ihn für geisteskrank, aber anstatt den Leidenden, wie es 
vom ärztlichen Standpunkt unbedingt angebracht gewesen wäre, 
einer geeigneten Anstalt zu fiberweisen, behält er ihn im eigenen 
Hause und nimmt ihn selbst in Behandlung. 

Eine Kaltwasserkur bessert den Zustand, der Kranke hat 
das Zimmer gewechselt und verbringt nach eigener Angabe die 
Nacht jetzt ziemlich ruhig, wenn auch nicht ohne Ruckfälle. Im 
übrigen ist die Behandlung während der dreissig Tage, die 
Strindberg bei seinem Arzte zubringt, eine allgemein diätetische; 
er hält ihn zu passender Tätigkeit und Beschäftigung an, er kon- 
trolliert seine Lektüre, er sucht ihn suggestiv zu beeinflussen. 
Seine Bemühungen haben Erfolg insofern, als die nächtlichen 
Anfälle, die Präkordialangst, die Delirien fortbleiben, aber die 
Wahnvorstellungen bestehen, und der Verdacht des Kranken richtet 
sich gegen den eigenen Arzt und Freund. Jedes Wort von ihm, jede 
Handlungsweise err^ seinen Argwohn. Bald glaubt er, dass er ihn 
verächtlich behandelt mit einer entwürdigenden Brutalität, bald findet 
er ihn selbst unglücklich, wenn er liebevoll mit ihm umgeht und ihn 
wie ein krankes Kind pflegt und tröstet »Ein anderes Mal 
wieder macht es ihm Freude, einen Mann von Verdienst, 
den er früher hochgeschätzt, mit Füssen treten zu können. Dann 
predigt er wie ein unerbitüicher Peiniger.** Der Argwohn wandelt 
sich allmählich in Hass, der Arzt ist bestochen, er beneidet ihn und 
spielt dem Kranken gegenüber eine von der Vorsehung bestimmte 
Rolle. Schliesslich löst diese erbitterte Stimmung des Kranken 
gegen seinen Arzt einen letzten nächtlichen Anfall aus. Gewisse 
Hantierungen des Arztes in der Nachbarschaft seines Schlaf- 
zimmers ängstigen den Kranken. 

»Halb entkleidet erwarte ich stehend, unbew^ich, ohne 
zu atmen das Resultat dieser geheimnisvollen Vorbereitungen. 
Da strahlt auch schon wieder das wohlbekannte elek- 
trische Fluidum durch die Wand an meinem Bett, sucht 
meine Brust und unter dieser mein Herz. Die Spannung 
wächst ... ich greife nach meinen Kleidern, gleite durchs 
Fenster und ziehe mich erst ausserhalb des Hauses an.* 
Auf der Strasse kommt der Kranke allmählich zu sich, und 
er eilt geradewegs in die Stadt zum Arzte. Die nächtliche 
Störung entschuldigt er mit seinen Beschwerden: Schlaflosigkeit, 



- 25 - 

Herzklopfen, verlorenes Vertrauen zu seinem Arzte. »Mein vortreff- 
licher Freund» dessen Gastfreundschaft ich angenommen hatte, 
behandle mich als eingebildeten Kranken und wolle mich nicht 
anhören." Bei einer Zigarre und einem Glase Wein verplaudern 
die beiden zwei Stunden, der Arzt versteht es geschickt auf die 
Eigenart des Kranken und seine theoretischen Anschauungen ein- 
zugehen, und der Kranke ist glücklich als anständiger Mensch 
und nicht als elender Idiot sich behandelt zu sehen. Der Arzt 
versteht es schliesslich die Angst und die Besorgnisse des Kranken 
so weit zu zerstreuen, dass er nach kurzem Widerstand noch in 
derselben Nacht mit ihm in das Haus des Freundes zurückkehrt. 
Nach diesem letzten maniakalischen Anfall nimmt die Krank- 
heit eine entschiedene Wendung zum besseren. Der Argwohn 
gegen den Freund verwandelt sich in Mitleid; Strindberg berichtet 
selbst: meine Gesundheit ist nun wieder hergestellt; ich schlafe 
ruhig und arbeite fleissig. Die bösen Geister sind von ihm ge- 
wichen, seine Stimmung ist eine heitere, zufriedene. Vor allem 
aber macht sich als objektives Merkmal der entschiedenen Besse- 
rung eine Sehnsucht nach der eigenen Häuslichkeit geltend, und 
als er einen liebevollen Brief von seiner Frau bekommt, der ihn 
ihrer Liebe und des Mitgefühls ihrer Eltern versichert und ihn 
auffordert, seine Tochter bei den Grosseltern auf dem Lande zu 
besuchen, ist sein Entschluss gefasst. 

«Das ruft mich ins Leben zurück! Mein Kind, meine 

Tochter geht meiner Gattin vor. Ich lebe wieder 

auf, erwache wie aus einem langen, bösen Traum und 
verehre den strengen Willen des Herrn, dessen harte aber 
weise Hand mich geschlagen. Jetzt begreife ich die dunklen, 
erhabenen Worte Hiobs: ,Siehe, selig ist, wen Gott straft !*** 



Ich habe die Vorgänge auf der Höhe der Erkrankung und 
ihren Verlauf, wie sie Strindberg in einem „Die Hölle** über- 
schriebenen Kapitel schildert, eingehender und an prägnanten 
Stellen mit des Autors eigenen Worten wiedergegeben, um dem 
Vorwurf zu entgehen, künstlich Symptome zusammenzustellen 
und Einzelheiten herauszugreifen. Aus der Wiedei^abe dieses 
Kapitels muss auch dem Laien einleuchten, dass es sich um 
einen krankhaften Zustand und eine schwere Psychose handelt, 
die sich allmählich und langsam entwickelt hatte, unter heftigen 



- 26 - 

Erscheinungen von Wahnsinn und Sinnestäuschungen ihren Höhe- 
punkt erreichte, und dann bei geeigneter Behandlung langsam 
abklang. Es ist nicht angängig, wie dies erst neuerdings in 
einem „psychologischen Versuch'* geschehen ist, die Lebensphase 
welche Strindberg in seinem Inferno schildert, als eine Krisis zu 
bezeichnen, aus der der Kunsder geboren wurde, das Buch selbst 
als ein solches, in dem sich sein Faustischer Zwiespalt aufs stärkste 
konzentriert, in dem Liebe und Mass so toll auf einander los- 
platzen, wie Wissenschaf fliches Streben und mysttsch-theosophisches 
Ahnen, in dem Strindbergs Bemuhen, beide Extreme zu vereinen, 
ihn selbst betäubt und benebelt. Nein, Inferno bedeutet die gran- 
diose, künstlerisch vollendete Schilderung einer geistigen Er- 
krankung von Seiten eines Autors, dessen neuropsychopathische 
Belastung seine früheren Offenbarungen und Geständnisse zur 
Evidenz erwiesen. Übrigens zeigen verschiedene Andeutungen, 
dass Strindberg selbst sich, wenigstens im Stadium der Besserung, 
seiner voraufgegangenen Erkrankung bewusst war. 

Wekrhe Form geistiger Erkrankung vorliegt? Strindberg selbst 

spricht an einzelnen Stellen seines Buches, dass die Ärzte seine 

Erkrankung für Paranoia (Verrücktheit) hielten. Ich möchte dem 

widersprechen. Nach meiner Auffassung handelte es sich um 

]'' Melancholie, und zwar zunächst um die typische Melancholia 

7 , V' moralis mit dem Verlangen nach Einsamkeit, unbestimmter Furcht, 

>'^''\'.''; .Todesgedanken, Suicidialideen, mit Versündigungswahn. Dazu 

gesellte sich im weiteren Veriauf der Symptomenkomplex der 

'\^ Präkordialangst mit Anfällen von Raptus melancholknis, mit 

,(. -^l, ^ Wahnideen und Sinnestäuschungen. Es ist ein in seinem 

^^ „^ ' ' ' Symptomenkomplex und in seinem Ablauf typischer Schulfall von 

'Melancholie, der auf dem Höhepunkt seiner Entwickhing als 
^ Melancholia daemomaniaca sich darstellt. 

Bemerkenswert an dem Krankheitsbilde erscheint nur, dass 
die Angstanfälle nicht wie gewöhnlich in den Morgenstunden auf- 
treten, sondern regelmässig in den Abendstunden resp. in der 
Nacht Und femer wirkt es befremdend, die Wahnvorsteiiung, 
von Dämonen und bösen Geistern verfolgt zu werden, bei einem 
geistig so hochentwickelten und gebikleten Patienten zu finden, 
da wir gewohnt sind, diesen Zustand gerade bei ungebildeten Leuten 
sich entwickeln zu sehen, denen die Entziehung des Himmels und 
der göttlichen Gnade gleichbedeutend ist mit Heimfall an Hölle 






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— 27 — 

oder Teufel. Es sei noch kurz erwähnt, dass differentiell dia- ^ ^ / 
gnostisch Paranoia schon deshalb nicht in Beü-acht kommt, weil yl ^>/\'^^; 
in der Hchtvollen Schilderung des Kranken die Verfblgungsvor 



«'r... 'XK>^'-// 



Stellungen immer mit Selbstbeschuldigungen einhergehen, und A^^f^^f^J^^yH*^ 
Kranke die Verfolgungen wohl für g rausam, aber nk:ht für un-^^- > w v '^'! 
berechtigt und unverdient ansieht ^ . ^ri^/'<rf^'''' 

Strindberg ist nach der Abreise von seinem Arzte in ein ^ 
Dorf nach Böhmen geeilt, wo er bei seiner Schwiegermutter und 
seiner zweijährigen Tochter lebt Sein Zustand ist gebessert in- 
sofern, als die regdmässigen Anfälle von raptus melancholicus zu- 
nächst aufgehört haben, die Unruhe sich gelegt hat; aber eine grosse 
psyschische Schwäche ist zurückgeblieben. Rückfälle selbst in die 
agitierte Form der Melancholie treten auf äussere Veranlassung 
leicht ein, die Stimmung ist meist eine anhaltend deprimierte, der 
Verfolgungs- und Versnndigung$wahn ist nicht von ihm gewichen; 
die liebevoll um ihn besorgten Angehörigen erkennen seinen Zu- 
stand als Krankheit, führen ihn auf das einsame Leben zurück 
und sind sich darüber einig, dass er einen Arzt nötig hat An- 
fangs zwar geht alles gut „Acht ruhige Tage und acht ruhige 
Nächte verbringe ich in dem rosa Zimmer. Meine Herzensfreude 
kehrt mit den täglichen Besuchen meines Töchterchens wieder, das 
mich liebt, geliebt wird und liebenswert ist; von meinen Ver- 
wandten werde ich wie ein krankes, verzogenes Kind gepflegt" 
Der traurige Winter in dem einsamen Dorfe, missliche Verhältnisse 
unter seinen Angehörigen bringen Rückfälle in den alten Zustand, 
und es fehlt nicht an unruhigen Nächten, in denen, wenn auch 
nur ^legentlich, die früheren Anfälle in der gieichai Heftigkeit 
wiederkehren« Ich verzichte auf eine fortlaufende eingehende 
Schilderung seines Seelenzustandes und gebe nur einige Proben 
aus seinen Tagebucheintragungen: 

«17. September. Ich erwache nachts und höre von der 
Kirche des Dorfes dreizehn Schläge. So^eich überfällt mich 
der elektrische Zustand, nnd ich glaube, auf dem Boden 
über mir ein Geräusch zu vernehmen. 

19. September. Ich durdisuche den Boden und ent- 
decke ein Dutzend Spinnrodcen, deren Räder mich an Elek- 
trisiermaschinen erinnern. 



- 28 - 

Zwischen Mitternacht und zwei Uhr bricht ein furcht- 
bares Gewitter los. Gewöhnlich erschöpft und verzieht sich 
ein Gewitter bald wieder; dieses jedoch bleibt zwei Stunden 
lang über dem Dorfe stehen. Jeder Blitz ist ein persönlicher 
Angriff auf mich, aber keiner trifft mich." 
Während des Herbstes mit seinen Stürmen, Regengüssen und 
finsteren Nächten verschlimmert sich der Zustand des Patienten, 
die Dämonen haben wieder Gewalt über ihn, und er fühlt sich 
verfolgt von Feinden, d. h. den von seinem bösen Wollen Ver- 
letzten. 

„Den Tag über arbeite ich in meinem Häuschen. Aber 
es scheint, dass die Mächte mir seit einiger Zeit nicht mehr 
wohlwollen. Bei meinem Eintritt finde ich oft die Luft 
stickig, wie vergiftet. In einen dicken Mantel gehüllt und 
eine Pelzmütze auf dem Kopfe, sitze ich am Tisch und 
schreibe, und kämpfe gegen die sogenannten elektrischen 
Anfälle, die mir die Brust beengen und auch in den Rücken 
stechen. Oft scheint es mir, dass jemand hinter meinem 
Stuhle stehe. Dann steche ich mit meinem Dolch hinter 
mich und bilde mir ein mit einem Feinde zu kämpfen. So 
geht es bis fünf Uhr abends. Wenn ich länger sitzen bleibe, 
wird der Kampf schrecklich, bis ich endlich, völlig erschöpft, 
meine Laterne anstecke und zu meiner Mutter und meinem 
Kinde gehe.*" 

Die Unruhe und die mit allen möglichen Sinnestäuschungen 
und Halluzinationen einhergehenden Angstzustände während der 
Nacht erreichen gelegentlich eine erschreckende Höhe. 

„Ich ziehe den Schlachtmantel und die Stiefel wieder 
an und setze die Mütze auf, fest entschlossen, so angekleidet 
mich niederzulegen, bereit, wie ein tapferer Krieger zu 
sterben, der den Tod herausfordert, nachdem er das Leben 
verachtet hat. Gegen elf Uhr fängt die Luft in dem Zimmer 
an, dick zu werden, eine tödliche Angst bemächtigt 
sich meines mutigen Herzens. Ich mache die Fenster auf. 
Ein Luftzug droht die Lampe auszulöschen. Ich schreibe 
wieder. Die Lampe fängt zu singen, zu seufzen, zu wimmern 

an; dann wieder Stille. Ermüdet lege ich mich 

wieder aufs Bett und versuche zu schlafen. Alsbald erneuert 
sich das alte Spiel. Ein elektrischer Strom sucht mein 



i 



— 29 — 

Herz, die Lungen hören auf zu arbeiten, ich muss mich 
erheben oder ich sterbe. Ich setze mich auf einen Stuhl, 
bin aber zu erschöpft, um lesen zu können, und verharre 
so eine halbe Stunde lang, stumpfsinnig, abwartend." 
Nach einem vergeblichen Versuch auszugehen: 

.Als ich die Zimmertüre öffne und eintrete, scheint 
es mir, als sei die Stube von feindlichen Lebewesen erffiUt, 
und das so sehr, dass ich meine, mich durch ihre Menge 
hindurchdrängen zu müssen, als ich mein Bett erreichen 
will. Resigniert und zu sterben entschlossen, werfe ich mich 
auf mein Lager. Aber im letzten Augenblick, wenn der un- 
sichtbare Geier mich unter seinen Flfigeln ersticken will, 
reisst mich jemand in die Höhe, und die Jagd der Furien 
geht ihren Weg. Besiegt, zu Boden geschmettert, zurück- 
geschlagen, verlasse ich das Schlachtfeld eines ungleichen 
Kampfes und weiche den Unsichtbaren. ** 
Am Morgen, wenn ihn sein Kind nach einigen Stunden 
tiefen Schlafes weckt, ist alles vergessen, er geht seiner gewohnten 
schriftstellerischen Tätigkeit nach und hat die Empfindung, dass 
Sinn und Verstand unversehrt sind. Auch als Strindberg aus dem 
böhmischen Dorfe nach Schweden zurückkehrt, beherrschen ihn 
noch alle möglichen Wahn- und Selbstmordideen. In Hotels und 
Restaurants, in die er einzieht, bricht sehr bald ein Höllenlärm los. 
„Verjagt von Hotel zu Hotel und überall von elektrischen 
Drähten bis in mein Bett veriolgt, überall von elektrischen 
Strömen angegriffen, die mich vom Stuhl und aus dem Bett 
heben, bereite ich in aller Ordnung einen Selbstmord vor.*" 
Schliesslich kommt Strindberg im Dezember 1896 „gejagt 
von den Erinyen", in die kleine Universitätsstadt Lund, wo er in 
einem Kreise «alter Freunde, Ärzte, Irrenärzte, selbst Theosophen*" 
Ruhe zu finden scheint; er kommt zu der Erkenntnis, eine schwere 
Krankheit und Gefahr überwunden zu haben ; jeden Morgen beim 
Spaziergang auf dem Wall erinnert ihn das Irrenhaus »an das, 
was ihm bei einem etwaigen Rückfall bevorsteht'. In der Lektüre 
eines schwedischen Mystikers, des «Buddha des Nordens*, glaubt 
Strindberg Ruhe, Erkenntnis und Einsicht in die Art seines Leidens 
gefunden zu haben. Er fühlt sich gestraft, gedemütigt und tut Busse. 
Die Halluzinationen verlieren den ängstlichen Charakter, er schwelgt 
in allen möglichen wunderbaren und unerkläriichen Erscheinungen. 



- ao - 

In klinischem Sinne nimmt die Erkrankung bei Strindberg 
den üblichen Verlauf, d. h. die Lösung der Dämonomanie geht 
durch ein Stadium religiöser Melancholie mit wehroutvoller Re- 
signation. Strindberg kehrt zu dem frommen Glauben seiner 
Jugendjahre zurfick. „Jung wari ch aufrichtig fromm, und ihr habt 
mich zum Freidenker gemacht Aus dem Freidenker habt ihr 
mich zum Atheisten gemacht, aus dem Atheisten zum Qottes- 
ffirchtigen/ Der einzige Weg zum Heile erscheint ihm: die Dä- 
monen in ihrer Höhle, d. h. in sich selber aufzusuchen und sie 
dort durch — Reue zu töten» Strindberg kehrt zum Katholizismus 
zurfick, und das Buch und die Beichte schliesst damit, dass er 
hofft, in einem belgischen Kloster einen Ruhesitz zu finden. 

VI. 

Die unmittelbare Fortsetzung des „Inferno" bilden „Die 
Legenden", die die Vorgänge und Wandlungen in Lund und später 
in Paris schildern. Mystizismus, Spiritismus, Okkultismus, die 
schwarze Magie, die Geheimnisse unsichtbarer Mächte, Astralplanet, 
Doppelgangertum , Dematerialisation , psychische Fernwirkung 
bilden den Hauptinhalt der „Legenden". Strindberg ist völlig be- 
herrscht von der fixen Idee, dass er gesündigt habe, und dass er 
bestraft werde. Sünde — Sühne — Entsfindigung bezeichnen die 
einzelnen Phasen des Buches. Die vielen Exazerbationen des „Infer- 
no" haben aufgehört, die Psychose klingt unter Remissionen und 
leichten Exazerbationen allmählich ab, wir haben besonders im An- 
fangsteil des Buches die typische melancholica religiosa vor uns. In 
eine erschöpfende Analyse der umfangreichen Autobiographie ein- 
zugehen, wäre überflüssig und würde zu weit führen. Es genügt, 
einige markante Stellen aus dem Werke anzuführen, aus denen 
sich das seelische und körpertiche Befinden des Autors ohne 
weiteres ergibt 

„Tag und Nacht von .elektrischen Strömen' ange- 
griffen, die die Brust zusammenklemmmen und ins Herz 
stechen, verzichte ich auf meine Folterkammer und besuche 
das Wirtshaus, wo ich Freunde treffe. Aus Furcht nüchtern 
zu werden, trinke ich ohne Rast, das einzige Mittel, um nachts 
schlafen zu können. Aber Ekel und Schamgefühl im Verein 
mit der friedlosen Unruhe nötigen mich damit aufzuhören, 
und einige Abende gehe ich in das CbS6 der Temperenzler." 



- 81 — 

«Am Abend blieben wir in einem Dorfe« um dort die Nacht 
zuzubringen. Ich war gerade in mein Zimmer gekommen, 
eine Treppe hoch und hatte mich ein bisscbeo aufsäubern 
Icönnen, als das gewöhnliche Poltern sich über mir hören 
Hess; man schleppt Möbel, macht Tanzschritte. 

Diesmal begnüge ich mich nicht mit Verdacht, sondern 
klettere in Gesellschaft meines Kameraden die Bodentreppe 
hinauf, um Bekräftigung zu gewinnen. Aber dort oben 
findet sidi nichts um Zeugnis abzulegen, da niemand über 
meinem Zimmer unter den Dachpfannen wohnt." 

»Alles ist still im Hotel und kein Poltern vernehmbar. 
Mein Mut wächst und ich falle in tiefen Schlaf, um nach 
einer halben Stunde von Lärm und Gepolter tan Zimmer 
über dem meinen geweckt zu werden. Es scheint min- 
destens eine Stiege junger Leute zu sein, die singen, auf 
den Boden stampfen und Stühle hin und her schieben.'' 

«Im selben Augenblick, wie ich ins Wirtshaus eintrete, 
um ein Fuhrwerk zu bestellen, beginnt der gewöhnliche 
Hexensabbath oben. Unter einem Vorwand» ich erinnere 
mich jetzt nicht welchen, steige ich eine Treppe hinauf. Ein 
grosser Saal, der leer ist» ist alles, was ich dort finde.* 
Die Erklärung, die der Kranke selbst für alle diese Ge- 
sichter, Visionen, Halluzinationen findet» i^t immer die ^eidie: 
er muss büssen, weil er gesündigt hat. „Das ist der Böse, der 
mir diesen Schabernack spiehl** Niemals auch nur die geringste 
Andeutung eines Grössenwahns. An einer andern Stelle: 

„Bin ich verrückt ? Nein, die Ärzte sagen, dass das nicht 
der Fall ist Da ist Anlass vorhanden, an Wunder zu glauben. 
Ich bin ein Verdammter, ich befinde mich in der Hölle — 
und die Mächte strafen mich, rasttos, unbarmherzig.* 

„Warum ich nicht krank werde nach solchen Peini- 
gungen wie diese? Weil es gilt, das Leiden bis auf die Hefe 
zu leeren, um das Gleich gewicht wieder herzustellen 
zwischen den begangenen Missetaten und der auf- 
erlegten Strafe. Und es ist wirklich merkwürdig, wie ich 
die Qualen auszuhalten vermag; ich verschlinge sie mit grim- 
miger Freude um sie endlich zu Ende zu bekommen l** 

„ — und in der Tat hat die Verfolgung mich verleitet, 
einen Skandal anzustellen in einem Hotel, wo ich in ein 



- 82 - 

Zimmer neben dem meinen eindringen wollte, überzeugt 
dort Feinde zu finden, die mich beunruhigten. Wenn ich 
noch einen Tag in diesem Hotel gewohnt bitte, wurde die 
Polizei sich in die Sache gemischt haben, und ich hätte 
meine Zukunft im Irrenhause gesichert bekommen!* 

^Seit langem an Platzfurcht leidend, fürchte ich mich 
vor leeren Räumen, und mit einer schlecht verhehlten 
Ängstlichkeit gehe ich über offene Plätze.'' 

„Der Schlaf, der heilige Schlaf, nimmt die Form eines 
Hinterhalts an, wo die Mörder sich verbergen. Ich wage 
nicht mehr zu schlafen und habe keine Kraft übrig, mich 
wach zu halten. Das ist ja die Hölle! Als ich die 
Schlummerbetäubung über mich schleichen lasse, trifft mich 
ein galvanischer Stoss, gleich einem Donnerschlag, ohne 
mich jedoch zu töten." 

Die Mächte offenbaren sich Strindberg durch unerkläriiche» 
mystische Vorgänge; die „Wunder*, mit denen ein ganzes Ka- 
pitel angefüllt ist, sind so gehäuft, dass die Lektüre ermüdend 
wirkt. Den Seelenzustand des Patienten geben am besten zwei 
eigene Schilderungen wieder, von denen die eine gegen Ende des 
Aufenthalts in Lund, die andere in der folgenden Pariser Periode 
abgefasst sind. Das „Canossa" überschriebene Kapitel (Lund) be- 
ginnt mit den folgenden Betrachtungen: 

„Ermattet von den geheimnisvollen Verfolgungen habe 
ich schon längst eine sorgfältige Prüfung meines Gewissens 
vorgenommen, und treu meinem neuen Programm, mir selbst 
Unrecht zu geben gegenüber dem Nächsten, finde ich mein 
verflossenes Leben abscheulich, und Ekel eriasst mich vor 
meiner eigenen Persönlichkeit Es ist Wahrheit, dass ich 
die Jugend in Harnisch gebracht habe gegen das Bestehende, 
gegen die Religion, die Gesetze, die Obrigkeit, die Sittlichkeit. 
Das ist meine Gottlosigkeit, die nun bestraft 
worden ist und ich nehme zurück." 
Im Sommer 97 ist Strindberg nach Paris gegangen, zunächst 
in der Absicht in ein Benediktinerkloster einzutreten. Die folgende 
ergreifende Stelle gibt ein Bild seines Seelenzustandes : 

„Und dann die Gewissensbisse! In früheren Zeiten, 
als ich mich selbst für verantwortungsvoll ansah, war es 
nur die Erinnerung an begangene Dummheiten, die mich 



- 33 - 

peinigte. Jetzt ist es das Böse selbst, meine schlechten 
Handlungen, die meine Geissei ausmachen. Und zum Über- 
fluss von allem erscheint mir mein vergangenes Leben nur 
wie ein Gewebe von Verbrechen, wie eine Strähne von 
Gottlosigkeiten, Bosheiten, Missgriffen, Grobheiten in Wort 
und Handlung. Ganze Szenen aus meiner Vergangenheit 
rollen sich vor der Anschauung auf. Ich sehe mich in der 
einen und der andern Situation, und immer ist es eine ab- 
geschmackte. Ich wundere mich darüber, dass jemand mich 
hat lieben können. Ich klage mich wegen alles möglichen 
an; nicht eine Niedrigkeit, nicht eine widrige Handlung, die 
nicht bezeichnet stünde mit schwarzer Kreide auf dem weissen 
Schiefer. Ich werde mit Entsetzen von mir selbst erfüllt 
und möchte sterben. 

Es gibt Augenblicke, wo die Schamröte das Blut auf- 
jagt in meine Wangen, bis in meine Ohrläppchen. Die 
Selbstsucht, die Undankbarkeit, der Groll, der Neid, der 
Hochmut, alle die Todsünden führen ihren Gespenstertanz 
vor meinem erwachten Gewissen auf."* 
Strindberg hat zwar das Kloster nicht aufgesucht, aber 
während seines Aufenthaltes in Paris lebte er vollständig ab- 
geschlossen von aller Welt, wie ein Eremit in seiner kleinen 
Kammer, nicht grösser als eine Klosterzelle, mit Gitterfenstern 
oben unter der Decke; nur ganz wenig vom Himmel ist sichtbar, 
sonst nur eine graue Wand mit Efeu, „der hinaufklettert, dem 
Lichte zu**. 

Als Begleiterscheinung der psychischen Depression hat 
sich auch das körperiiche Befinden andauernd verschlechtert. Auf 
der Strasse wankt ihm der Fussboden unter den Füssen, das 
Pflaster bewegt sich wie ein Schiffsdeck in langen Schwankungen ; 
das Besteigen kleiner Anhöhen verursacht ihm grosse Schwierig- 
keiten; dazu alle möglichen nervösen Störungen, Herzklopfen, 
geringe Esslust; wenn er isst, so tut er es nur, um die Schmerzen 
im Magen zu stillen; Platzangst (s. o.) 

Ich habe versucht, in kurzen Andeutungen den Seelenzustand 
Strindbergs zu schildern, wie er in seinen „Legenden** zum Aus- 
druck kommt, einem Buche, das bestimmt ist, in sinnbildlicher 
Schilderung die religiösen Kämpfe des Verfassers wiederzugeben. 
Hier wie im Inferno handelt es sich um den Fall eines psychisch 

drenzf ragen d. Lit. u. Medizin. 6. Heft 3 



— 84 — 

Leidenden, eines Melancholikers, der nicht mehr wie im Inferno 
die agitierte Form der Krankheit, sondern im langsamen Abklingen 
das Bild der religiösen Melancholie darbietet 

Den Abschluss von Strindbergs Autobiographie bildet die 
Novelle .Einsam", die letzte in der Trias pathologischer Romane. 
Der krankhafte Seelenzustand ist überwunden, eine grosse psy- 
chische Ruhe ist über Strindberg gekommen. Hören wir, wie 
der Autor selbst in einer Beschreibung seines Tagewerkes sein 
psychisches Verhalten schildert Es ist die einzige Stelle des 
Buches, aus der vielleicht eine gelegentliche Schwankung im seelischen 
Befinden herausgelesen werden kann. 

«Morgens nach einem nüchternen Abend und einer 
durchgeschlafenen Nacht, wenn ich aus dem Bette steige, 
ist das Leben selbst ein positiver Genuss. Es ist« 
als stehe man von den Toten auf. Alle Fähigkeiten der 
Seele sind neugeschaffen, und die zusammengeschlafene Kraft 
erscheint vervielfacht In diesem Augenblick traue ich mir 
zu, die Weltordnung ändern, die Geschicke der Nationen 
lenken, Krieg erklären und Dynastien absetzen zu können. 

mit einer neuen Sonne und einem neuen Tag ist 

etwas Neues gekommen, und ich fühle mich selbst erneuert. 
Ich brenne vor Verlangen, mich in Arbeit zu setzen, aber 

ich muss erst hinaus. Bin ich in Harmonie mit mir, 

dann ist die Luft weich, und ich suche Menschen. Dann 
gehe ich auf die Strassen, ins Volksgewimmel hinein und 
habe eine Empfindung, als sei ich mit allen befreundet Ist 
aber etwas nicht richtig, dann sehe ich nur Feinde mit 
höhnischen Blicken, und ihr Hass ist zuweilen so 

stark, dass ich umkehren muss. Wenn ich 

aber nach Hause komme und mich an den Schreibtisch 
setze, dann lebe ich, und die Kräfte, die ich von draussen 
geholt habe, sei es vom Strom Wechsler der Disharmonien 
oder vom Stromschliesser der Harmonien, dienen mir jetzt 
zu meinen verschiedenen Zwecken. Ich lebe, und ich lebe 
mannigfaltig das Leben der Menschen, die ich schildere. 

Um die Mittagszeit aber hört das auf, und ist es 

mit dem Schreiben für den Tag zu Ende, so wird mein 
eigenes Dasein so quälend, dass ich ein Gefühl habe, als 
ginge ich dem Tod en^egen, je weiter der Abend vor- 



— 85 — 

schreitet. Und der Abend ist schrecklich lang. Andere 
Menschen pflegen nach der Arbeit des Tages in Gesprächen 
eine Zerstreuung zu geniessen, ich aber geniesse keine. Das 
Schweigen schliesst sich um mich, ich versuche zu lesen, 
vermag es aber nicht. Da gehe ich im Zimmer auf und ab 
und sehe nach der Uhr, ob sie bald zehn ist. Und schliess- 
lich schlägt sie zehn. 

Wenn ich dann den Körper von den Kleidern befreie, 
mit allen ihren Knöpfen, Schnallen und Bändern, scheint 
mir die Seele gleichsam Atem zu holen und sich freier zu 
ffihlen. Und wenn ich nach meinen morgenländischen 
Waschungen ins Bett komme, dann dehnt sich das ganze 
Dasein aus; der Wille zum Leben, der Kampf, der Streit 
hört auf, und die Schlafsucht gleicht sehr der Sehnsucht 
nach dem Tod." 

Wie bemerkt, ist diese Stelle mit der Erwähnung der abend- 
lichen Unruhe und eines leichten Angstgefühls die einzige, welche 
eine Reminiszenz an die uberstandenen Seelenqualen hervorruft. 
Sonst ist „Einsam" von einer durchgehenden selten abgeklärten 
Ruhe, nach den Stürmen und den früheren seelischen Bekenntnissen 
macht sich ein völliges Gleichmass der Seele geltend, die, wie er selbst 
empfindet, in neuerworbener Freiheit zu wachsen beginnt; alles atmet 
einen unerhörten inneren Frieden, eine stille Freude und ein 
Gefühl von Sicherheit und Selbstverantwortung. Strindberg hat 
sich in langen und schweren seelischen Kämpfen selbständig durch- 
gerungen, und hat in «Einsam" als Abschluss seiner Autobio* 
graphie eines jener seltenen Bücher geschrieben, das man immer 
mit Befriedigung in die Hand nimmt, und das mir als das reichste 
Werk seiner bisherigen Produktion erscheint. Kein Zweifel, die 
Psychose ist überstanden, und der Autor im Vollbesitz seiner 
seelischen und geistigen Kräfte. 

VII. 

Fassen wir unsere Ausführungen in wenigen Leitsätzen zu- 
sammen, so muss unsere Epikrise lauten: 

Die Beurteilung der psychologischen Vorgänge in den auto- 
biographischen Werken Strindbergs gehört nicht sowohl zum 
Ressort des literarischen Kritikers und des Psychologen, als zu 
dem des Psychiaters von Fach. Die Seelenvorgänge, die hier 

3» 



— 36 — 

vor uns aufgerollt werden, sind ausgesprochen pathologischer 
Natur und bieten Krankheitsbilder von so typischem Verlauf, dass 
sie in ihren Hauptzägen, und entkleidet ihres ästhetischen 
Charakters in jedes psychiatrische Lehrbuch aufgenommen werden 
können. 

Strindberg ist ein Neuropath; das aus den ersten auto- 
biographischen Skizzen zu beweisen — auch die am besten 
bekannte und am weitesten verbreitete »Beichte eines Toren" 
kann herangezogen werden — erübrigt sich, weil Strindberg selbst 
sich als solchen an einzelnen Stellen bezeichnet Dabei ist hervor- 
zuheben, dass diese neuropsychopathische Disposition eine heredi- 
täre, eine angeborene ist Bei Strindberg selbst und in literarischen 
Essays über ihn wird besonderes Gewicht auf die misslichen 
Verhältnisse im Elternhaus, auf die Einwirkung der Schule etc. 
gelegt — gewiss all* das muss die hereditäre Belastung im un- 
günstigen Sinne zur Entfaltung bringen, aber die nervöse und 
psychische Schwäche und Minderwertigkeit hat damit von vorne- 
herein nichts zu tun, sie ist angeboren und liegt in der ererbten 
Natur. Schon in der „Beichte* erkennen wir den Neurastheniker 
mit schwankenden Gemütszuständen, mit der Neigung zu Auto- 
sug^stionen, mit allen möglichen Zwangsvorstellungen und fixen 
Ideen. 

Auf dieser neuropsychopathischen Basis entwickelt sich bei 
dem mehr als Vierzigjährigen eine Melancholie, die zunächst unter 
dem Bilde der melancholia moraUs auftritt Gleich beim ersten Be- 
ginn macht sich Präkordialangst geltend, ^äter alle möglichen 
Illusionen und Halluzinationen; unter vielfachem Wechsel des 
Objekts entwickelt sich ein Beschuldigungs* und Versündigungs- 
wahn. Der Zustand hält etwa ein volles Jahr an und zeigt auf 
dem Höhepunkt der Entwicklung das Bild der Melancholia agitata 
und daemonomaniaca. Als Äusserun^n der auf das Höchste ge- 
steigerten präkordialen Angst mit gewaltsamer Entladung nach 
aussen treten besonders häufig während der schlaflosen Nächte 
Zustände von raptus melancholicus auf. 

Es kann keinem Zweifel unterii^en, dass Strindberg bei 
dieser hochgradig entwickelten Erkrankung, behenscht von Ver- 
folgungswahn und Suicidialideen in den Schutz einer Anstalt ge- 
hört hätte. Der Aufenthalt bei seinem Freunde und Arzte, der 
nicht länger als dreissig Tage dauerte, konnte nur die Haupt- 



~ 37 — 

gefahr ablenken. Wir sehen nach diesem Aufenthalte — zweite 
Hälfte des Inferno und Legenden — den Kranken wohl ruhiger, 
aber die Krankhei tklingt nur sehr langsam ab ; wir haben während 
dieses ganzen Stadiums immer noch das Bild der melancholia religiosa 
vor uns, bis sich schliesslich unter Abblassung der Wahnvor- 
stellungen und Sinnestäuschungen ein psychischer Schwächezustand 
ausbildet, in welchen der frfihere depressive Zustand mit seinen 
krankhaften Vorstellungen noch hineinleuchtet. Ende der Legenden. 
„Einsam" als Schluss der Autobiographie bedeutet die volle Wieder- 
herstellung und Gesundung. 

Wie weit ist Strindbergs Schaffen und dichterische Pro- 
duktion vor seinem nervösen und psychopathischen Zustande 
beeinflusst und abhängig? Ein gewisser Hang zum Mystizismus 
und Okkultismus macht sich in mehr oder weniger ausgesprochenem 
Masse in allen Werken Strindbergs geltend; nicht bloss in den 
ausschliesslich autobiographischen Schriften, sondern auch in 
seinen Dramen, Romanen etc., die ja alle mehr oder weniger 
Bekenntnisse sind. Es wäre unrecht, darin einen pathologischen 
Zug zu suchen. Für Strindberg resultiert der Mystizismus mit allen 
geheimnisvollen, oft antiwissenschaftlichen Vorgängen im wesent- 
lichen aus dem Versuch, eine Synthese zwischen Wissenschaft 
und Religion herzustellen. 

Anders liegt es mit Strindbergs Pessimismus, der einen 
wesentlichen Charakterzug seiner Werke ausmacht. Es ist nicht 
richtig, ihn aus seiner freudlos verbrachten Kindheit, aus Furcht 
und Hunger, aus dem Mangel jeder Daseinsfreude, aus den Ent- 
täuschungen des Lebens erklären zu wollen, — das sind unter- 
stfitzende Momente, aber die Hauptquelle von Strindbergs Pessimis- 
mus liegt in seiner nervösen Konstitution und in seiner psychischen 
Depression. 

Und noch einen anderen Fehler möchte ich auf die neuro- 
pathische Disposition zurückfuhren — ja ich glaube gerade hierin 
ein diagnostisches Kennzeichen aller in ihrem Nerven- und Seelen- 
leben gestörten Künstler zu sehen, — d. i. das bei Strindberg 
häufig mangelhafte dichterische Gestaltungsvermögen, der von der 
deutschen Kritik oft beanstandete Mangel an Plastikerkraft. Es 
fehlt uns an genügendem pathographischen Material um ein 
durchgehendes Gesetz aufstellen zu können. Aber doch glaube 
ich zu der Behauptung berechtigt zu sein, dass das Hauptkenn- 



— 88 — 

zeichen eines intakten Seelenlebens die Fähigkeit des Känstlers 
ist zu geschlossener Komposition, zur Einheit der Darstellung, 
zu einer konsequenten und konzentrierten Durchführung. 

Den beregten Mangeln stehen erstaunliche Vorzüge in 
Strindbergs Schaffen gegenüber, die an sich bei Künstlern mit 
mangelhaft veranlagtem Nervensystem nur selten zu finden sind. 
Das ist einmal die grosse dichterische Produktion und die poetische 
Schaffenskraft, und dann vor allem die Ehrlichkeit und absolute 
Wahrheit im Schaffen. Strindbergs Ernst und Ehriichkeit, welcher 
Wahrheit und Wirklichkeit einziges Gesetz ist, diefrei von jeder öffent- 
lichen Prüderie veriänglichste Seelenzustände mit der Unbe- 
scholtenheit eines Spartaners schildert, hat etwas durchaus Ge- 
sundes, Gesundes namentlich im Fühlen und Wollen und stellt 
Strindberg neben die ganz Grossen unserer modernen Literatur. 
Mit Recht sagt H. Esswein : »Strindbergs schmerzliche Selbst- 
zergliederung ist niemals kokett, sie lächelt nicht — am wenigsten 
unter Tränen. Es handelt sich mit ihr nicht um Spiel, nicht um 
jene Schamlosigkeit, für welche man das Schlagwort ,romantische 
Ironie' geprägt hat. Oft sehen wir bei Strindberg eine flagellan- 
tische Selbstpeinigung am Werke, aber sie ist durch pädagogisch- 
ethischen und durch erkennerischen Ernst stets vollkommen 
geadelt, sokratisch emporgeläutert aus ihrer physiologischen 
Basis. Strindberg verschweigt und bemäntelt seine Bizarrerien 
niemals " 

Soweit diese Wahrheitsliebe, die nichts unterdrückt und ver- 
schweigt, aber auch nichts hinzufügt und entstellt, in Strindbergs 
Bekenntnisschriften zum Ausdruck kommt, kann sie niemand besser 
beurteilen und bewerten als der Arzt. Die feinste Lupe des Seelen- 
forschers und Psychiaters wird hier keine Linie finden, die im- 
stande wäre, das pathologische Bild zu stören. Es ist erstaunlich,, 
wie der Autor nachträglich seelische Zustände schildert und wieder» 
gibt und noch erstaunlicher, wie dies ohne sachverständige Prä- 
tension mit peinlichster Gewissenhaftigkeit und ohne jede ent- 
stellende Beigabe geschieht. 

Deshalb sind auch Strindbergs Autobiographien neben ihrer 
künstlerischen Bewertung sehr wichtige und schätzbare ärztliche 
Dokumente, Ich wüsste ihnen in der gesamten deutschen Ute- 



<) August Strindberg, ein psychologischer Versuch. München 1907. 



— 39 — 

ratur kein anderes Werk an die Seite zu stellen, als Qeorg 
Bächners Novellenfragment „Lenz''. Auch hier eine Krankheits- 
schilderung, nicht in dichterischer Verklärung, sondern in abso- 
luter Wahrheitstreue, ohne jeden störenden und verzerrenden Zug, 
dabei in künstlerischer Vollendung. Hier wie dort eine vollendete 
Seelenmalerei, die exakteste Anatomie der Lebens- und Gemfits- 
störung. Bei Strindberg die geheimsten Seelenvorgänge eines 
Melancholikers, bei dem Dichter von Dantons Tod die Zeichnung 
eines an Paranoia leidenden Dichters von dem ersten Stadium 
der Krankheit bis zum vollen Ausbruch, der die Intemierung im 
Irrenhause notwendig macht. Bewundern wir bei Büchner neben 
dem dichterischen Können die ernsten fachwissenschaftlichen 
Studien eines Arztes, so fordert bei Strindberg jene unerbittliche 
Rücksichtslosigkeit und naive Keuschheit, welche die nackte Seele 
vor unserem Auge enthüllt, unsere staunende Anerkennung heraus. 
Das hohe Wollen und die ethische Kraft des Dichters sind sicher 
von seiner Psychose unbeeinflusst geblieben. 

Die seelischen Zustände, die seelischen Schwankungen und 
Störungen der Grossen im Geiste persönlich zu beobachten, wird 
nur selten einem Arzt und Seelenarzt gegeben sein. Hierin liegt 
neben dem ästhetischem Genüsse der unschätzbare Wert von 
Strindbergs Beichte und Büchners Lebensbild als wissenschaft- 
lichen und ärztlich-psychiatrischen Dokumenten. 

VIII. 

Medizinische Fragen werden in den Werken Strindbergs oft 
berührt, mit ganz besonderem Interesse aber verweilt er bei psy- 
chiatrischen Problemen. Kein Zweifel, er hat sich mit grosser 
Vorliebe und in ernstem Studium der Literatur dieser Probleme 
hingegeben, und es ist interessant genug, zu ermitteln, inwieweit 
seine eigenen Beobachtungen und Reflexionen aus der Inferno- 
Periode seine Auffassungen psychiatrischer Fragen beeinflussen« 
In seinem gross angelegten sozialen Roman «Die gotischen 
Zimmer*" aus dem Jahre 1904, in welchem er Stellung nimmt zu 
allen Fragen, welche um die Jahrhundertwende die Menschheit 
bewegten, gibt er in einem besonderen Abschnitt durch den Mund des 
Grafen Lux gelegentiich des Besuches einer IrrenanstaU seine Gedan- 
ken wieder über die heutige psychiatrische Wissenschaft. Er steht 
in seinen Ausführungen völlig noch unter dem Einflüsse jener 



— 40 - 

mystischtranszendentalen Auffassung, die sich allmählich unter dem 
Einflüsse seiner eigenen Psychose bei ihm herausgebildet hat. 

Sein eigener Versfindigungswahn klingt an und leuchtet in 
seine Auffassung hinein, wenn er behauptet, dass alle Krankheiten, 
die körperlichen wie die geistigen, Folgen der Sunde sind. Während 
die Psychiatrie als Wahnidee, ganz gleichgültig welches ihr Inhalt 
ist, Urteile und Schlüsse bezeichnet, welche durch eine krankhafte 
Assoziation von Vorstellungen mit Hineinbeziehung des Ich 
entstehen, welche als krankhaft nicht anerkannt und durch Gegen- 
gründe nicht korrigiert werden können — muss der krankhaften 
Vorstellung nach Strindberg, wenigstens wenn es sich um Selbst- 
beschuldigungs- und Versündigungswahn handelt, tatsächlich eine 
greifbare Schuld und Sünde zugrunde liegen. Er leugnet die 
krankhaften Vorgänge in der Hirnrinde, für ihn hat alles einen 
zureichenden (äusseren) Grund, und wenn sich der Kranke in 
seinem Wahn als schuldig bekennt und ausgibt, so existiert ein 
logischer Grund dafür. „Die Einbildungen besitzen eine höhere 
Wirklichkeit, deren Zusammenhang mit der Wirklichkeit ich nicht 
verstehe, aber nicht zu leugnen wage.*" Auch glaubt Strindberg 
an eine direkte Beeinflussung der Seele durch eine andere, selbst 
auf grosse Entfernung, und entwickelt daher eine Anschauung 
über Entstehung von Geisteskrankheiten, welche an die wissen- 
schaftliche Auffassung von der psychischen Infektion oder von 
dem induzierten Irrsein erinnert. Eine Seele kann ohne Mit- 
wirkung anderer Seelen nicht existieren. Nun habe ich, so führt 
er aus, Veranlassung zu glauben, dass alle Seelen miteinander im 
Rapport stehen; und es gibt Menschen mit so empfindlichen 
Empfangsapparaten, dass sie mit der ganzen Menschheit mit- 
fühlen und folglich mit ihr leiden. Aber es gibt auch welche, 
die aus der Entfernung auf andere Einfluss üben, sogar auf Un- 
bekannte. 

Gewiss, auch die Wissenschaft rechnet zu den psychischen 
Ursachen der Geisteskrankheiten die Übertragung durch Ansteckung 
(Imitation), analog den häufigen Fällen von Hysterie, Hypochondrie 
durch Ansteckung, aber immer nimmt sie in solchen Fällen eine 
bedeutende Prädisposition an, und die Menschen mit überempfind- 
lichen Empfangsapparaten, die psychisch so leicht beeinflussbar 
sind, sind für uns eben hereditär resp. familiär Belastete und 
Neuropsychopathen. Eine psychische Infektion durch Fern- 



— 41 — 

Wirkung ohne jeden Kontakt müssen wir in das Gebiet der Fabel 
verweisen. 

Einen wesentlich objektiveren und von seinen eigenen Seelen- 
erlebnissen unabhängigen Standpunkt zur Psychiatrie vertritt 
Strindberg in längeren Ausführungen seiner Novelle „Die Kleinen 
und die Grossen*. Nachdem er zunächst gegen die in unserer 
Zeit überhandnehmende Sucht alles für verrückt und geistesgestört 
zu erklären Front gemacht hat, sieht er die gewöhnlichste Ursache 
des psychischen Wahnsinns mit Maudsley in der Unfähigkeit, mit 
den äusseren Verhältnissen so oder so einen Kompromiss zu 
schliessen. Ein isoliertes Leben kann man» so führt Strindberg 
aus, streng genommen, nicht führen; ein intimes Band vereinigt 
die Individuen bis zu dem Grade, dass jeder Versuch, sich von 
seinem Kreis freizumachen, mit Wahnsinn bestraft wird. Allein 
mit seiner Ansicht stehen, ist ebenso gefähriich, wie überall Feinde 
haben, geknechtet, gefesselt sein. Gegen die Ansicht Strindbergs 
in dieser allgemeinen Fassung lässt sich gewiss vieles einwenden, 
aber es ist interessant und bemerkenswert, wenn hier (1905) 
Strindberg, der so lange Zeit ein völlig isoliertes Leben in klöster- 
licher Abgeschiedenheit gesucht und verbracht hat, die Gefahren 
der Einsamkeit und Isolierung für das Geistesleben predigt 

»Misstrauen und Verfolgungsmanie werden mit Not- 
wendigkeit erzeugt, wenn der Gesellschaftsmensch aus der 
schützenden Umgebung herausgetreten ist. Aus dem Mangel 
an einem Massstab, aus der Unfähigkeit, die relative Grösse 
seines eigenen Ichs zu beurteilen, entsteht dann leicht ent- 
weder der Grössenwahnsinn der Überschätzung oder die 
Mikromanie der Unterschätzung. Zuletzt vertiert das Gehirn 
oder das Selbstbewusstsein jede Kraft, den Gefahren zu 
begegnen, sie zu beurteilen und schliesslich jede Beherrschung 
der Triebe; nun reagieren die Bewegungs- und Empfindungs- 
nerven auf die ersten Eindrücke. Verwechslungen von Ur- 
sache und Wirkung, fehlerhafte Vorstellungen» falsche Schluss- 
folgerungen, Gesichts- und Gehörstäuschungen und schliess- 
lich Wut oder beständige Verteidigungsmanie, die sich in 
Angriffen Luft macht, finden sich bald ein." 
Der Kampf um die Macht, der früher ein rein körperlicher 
war (Gefängnis, Marter, Tod) ist mehr psychisch geworden, wie 
Strindberg ausführt, darum aber nicht weniger grausam. In 



- 42 — 

frfiheren Zeiten erschlug man den, der anderer Meinung war, 
ohne ihn überfuhrt zu haben, jetzt schafft man eine Mehrheit 
gegen ihn, überfuhrt ihn, stellt seine Absichten bloss, beraubt ihn 
seiner Existenzmittel, versagt ihm gesellschaftliches Ansehen, 
macht ihn lächerlich ; kurz peinigt und lügt ihn tot, oder macht 
ihn verrückt, statt ihn zu erschlagen. Und als Beleg hierfür 
bespricht Strindberg eingehend das Verfahren der Theaterkritiker, die 
den missliebigen Schauspieler, wie es in der Theatersprache heisst, 
„in den Sarg legen", die Taktik der Zeitungsredakteure, die einen 
gefährlichen Schriftsteller „tot quälen" und ihm „die Hände binden", 
ihn geistig töten und berührt schliesslich auch den hitzigen Kampf 
zwischen den Gehirnen auf anderen intimen Gebieten des sozialen 
Lebens, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Ehegatten etc 
Als ein Beispiel von Seelenmord analysiert Strindberg den Fall 
in Ibsens „Rosmersholm". Rebekka ist für ihn eine unbewusste 
Kannibalin, die die Seele der ersten Frau verschlungen hat. Frau 
Rosmer hegte Verdacht gegen sie und durchschaut sie, aber 
Rebekka verbirgt ihren Plan und rettet sich dadurch, dass sie ihr 
einredet, sie leide an „Misstrauen". Das Misstrauen der Frau 
Rosmer wird durch die Beobachtungen, die sie macht, durch die 
Unmöglichkeit, Beweismaterial in die Hand zu bekommen, immer 
grösser. Dadurch aber wird es noch mehr wahrscheinlich, dass 
sie an Misstrauen leidet, und es ist schliesslich eine leichte Sache 
für Rebekka, sie verrückt zu machen. Nach der alten Methode 
hat Rebekka dem schwächeren Gehirn eingeredet, es sei krank, 
bis es eingebildet krank wurde, und dann hat sie ihr „bewiesen" 
oder sie dahin gebracht, dass der Tod ein Glück sei. 

Das sind die Ausführungen Strindbergs über den modernen 
Seelenmord und zum Falle Rebekka-Rosmer, der die Grundlage 
bildet zu Ibsens Rosmersholm. Strindbergs psychiatrische These 
klingt veriockend, ist zweifellos geistreich und blendend, aber 
deshalb ist sie doch nicht wahr und zutreffend, wenigstens in 
dieser Allgemeinheit nicht. Strindberg vertritt hier die zum 
mindesten einseitige Auffassung der Laien, die namentlich Dramen- 
dichter und Romanschriftsteller sich zu eigen gemacht haben, 
nach welcher der Wahnsinn und die Geistesstörung aus mächtigen 
Leidenschaften und Affekten hervorgehen können. Die mächtige 
Wirkung der Affekte auf vasomotorische und motorische Zentren, 
die Gewalt psychischer Bewegungen soll nicht geleugnet werden. 



— 48 - 

aber von hier bis zum Irrsein ist ein weiter Weg. Es gibt wohl 
Fälle, wo ein heftiger Affekt (Schreck) und noch häufiger, wo 
eine chronisch einwirkende psychische Ursache (häuslicher 
Kummer etc.) fast unmittelbar oder auch nach längerer Zeit Irre- 
sein in irgend einer Form hervorruft, aber hier besteht immer 
eine bedeutende Pradisposition oder doch mindestens eine tem- 
porär gesteigerte Erregbarkeit des Gehirns. Nur unter solcher 
Bedingung wird Kummer, Sorge, getäuschte oder hoffnungslose 
Liebe, gekränkter Ehrgeiz etc. die geistige Gesundheit zu unter- 
graben imstande sein. 



Druck von M. MflUer k Sohn, MOnchen V. 



ORENZFRAOEN DER LITERATUR UND MEDIZIN 

in Einzeldarstellungen 

lierausgegeben von Dr. S. RAHMER, BERLIN. 

7. Heft 



Der Kriminalroman. 

Eine literarische und forensisch-medizinische Studie 
mit Anhang: 

Sherlock Holmes zum Fall Hau 

Alfred Licliteniteln 

Berijn. 



MÜNCHEN 1908 

ERNST REINHARDT, Verlagsbucllhandlung 

JS^entrasse 17. 



Meiner lieben Schwester. 



• / 



Inhaltsverzeichnis. 



Seite 

Vorwort ^ 7 

Vom Wesen und Werden des heutigen Kriminalromans 9 

Über die Technik des modernen Kriminalromans 13 

Der Detektiv 15 

Das Krankhalte im Verbrechen . . ^ 18 

Von der Art und Weise ein Verbrechen zu begehen, und wie es 

entdeckt wird 28 

Schundliteratur 47 

Der Kriminalroman in seiner Beziehung zur Medizin und Psychiatrie 48 

Anhang: 

Der Fall Hau als Kriminalroman 49 



Vorwort. 

Die vorliegende Studie bedarf einiger einleitenden Worte. 
Zunächst verlangte der Rahmen der Arbeit eine möglichste Zu- 
sammendrängung des Stoffes. Aus diesem Grunde habe ich nur 
den modernen Kriminalroman in das Betrachtungsgebiet gezogen 
und auch den Begriff „Kriminalroman" als den genommen, den 
er heutzutage bezeichnet. Das heisst: nicht nur das Motiv muss 
kriminalistisch sein, sondern der ganze Roman muss von Anfang 
bis Ende den Qrundzug des Kriminalistischen tragen. Etwaige 
Liebesepisoden oder ähnliche Momente dürfen durchaus nicht 
mehr als Beiwerk sein, Hauptgegenstand ist und bleibt das Ver- 
brechen, beziehungsweise der Kampf zwischen Verbrecher und 
Verfolger. Über den literarischen Wert des Kriminalromans zu 
urteilen, war von vornherein ausgeschlossen, Lob und Tadel sind 
durchaus objektiv. Meine subjektive Ansicht freilich ist die, dass 
Kriminalromane weit mehr gelesen werden als man zugeben 
möchte, solange es für „gebildef" gilt, zwischen Butter und Käse 
über das Herrenmenschentum des armen toten Nietzsche zu 
debattieren, und zwischen zwei Tänzen über Verse von Stephan 
Mallarm£ oder Dante Gabriel Rossetti zu reden — solange sage 
ich, ist dies Streben begreiflich. Einen wahrhaften Literaturfreund 
wird dies naturiich nichts angehen, auch ein Botaniker wird ja, 
wie ich schon einmal bei Besprechung desselben Themas im nTag*" 
sagte, nicht nur wohlriechende oder schönbluhende Pflanzen für 
ein seiner würdiges Studiengebiet halten. (Vgl. Kari Hans Strobl 
in einem Aufsatze in der Wiener „Zeit"). 

Das vorliegende Thema gehört seinem Wesen nach in das 
Grenzgebiet: Literatur-Jurisprudenz. Indessen besitzt der Kriminal- 
roman ausserordentlich viele Berührungspunkte mit der Medizin 
und den verwandten Wissenschaften. Das beweisen meine Aus- 
führungen im Text, und das soll in einem besonderen Kapitel 
behandelt werden. 



- 8 - 

Wenn diese Studie der Öffentlichkeit übergeben wird, ist das 
endgfiltige Schicicsal des Rechtsanwalts Hau wahrscheinlich schon 
entschieden. An den aufgestellten Theorien und AusfQhningen 
indert dies naturlich wenig oder gamichts. 

Es ist mir eine angenehme Pflicht, den Herren zu danken, die 
mir bei der Abfassung dieser Studie mit ihrem liebenswürdigen Rate 
nutzlich waren. Es sind dies neben Herrn Dr. Hans Hirschberg in 
Berlin, die Herren Verlagsbuchhändler Engelhom und Robert 
Lutz. Letzterer besonders hatte die grosse Güte, mich mit aus- 
ländischem Material zu versorgen und mir die Eindrücke, die er 
im Verkehr mit den Autoren seines Verlages gewonnen, mitzu- 
teilen. Meinen besonderen Dank schulde ich vor allem Herrn 
Prof. Dr. Qross, dem Lehrer des Strafrechts an der Universität 
zu Prag, dessen «Kriminalpsychologie'' ich vielfach benutzt habe, 
und der, ein grundsätzlicher Gegner des Kriminalromans, die 
Liebenswürdigkeit hatte, mir in einem längeren Brief seine 
Ansicht mir zu übermitteln. Der Herausgeber dieser Hefte, Herr 
Dr. Rahmer, endlich hatte die Güte mich, der ich nicht Mediziner 
bin, durch wertvolle fachwissenschaftliche Ratschläge, besonders 
über E. A. Poe, zu unterstfitzen. 

Berltn» September 1907. 

Der Verfassen 



Vom Wesen und Werden des heutigen 

Kriminalromans. 

Das enfant prodigue der Literatur des späteren Mittelalters 
Avar der Schelmenroman, dann löste ihn die erotische Erzählung 
ab. In der Gegenwart ist es der Kriminalroman. Wenigstens 
seine heute herrschende Abart. Kriminalistische Themata an und 
für sich waren eigentlich immer beliebt, von Herodots Geschichte 
vom Meisterdiebe an, über Schillers „Geisterseher* und Goethes 
«Grosskophta", bis zu den Geschichten von Streckfuss, König usw. 
Doch ist hier schon der Unterschied deutlich. Das Thema 
des früheren Kriminalromans rechtfertigte seinen Titel, das 
Wesentliche blieb jedoch immer die Liebesgeschichte, das Krimi- 
nalistische lief nur nebenher. Der Verbrecher war entweder 
der hartgesottenste Bösewicht, der je auf der Erde herumlief und 
trug das Kainszeichen so deutlich auf der Stirne, dass es eigent- 
h'ch jeder vemfinftige Mensch hätte bemerken mfissen, oder ein 
durch ungünstige Verhältnisse auf die schiefe Bahn getriebener, 
im übrigen jedoch hochgradig edler Mensch. Die Eltern des 
Unglückseligen natüriich in demselben Massstabe teils arm aber 
ehrlich, teils reich mit bösem Makel auf dem Vorieben, oder 
gutmütig und gutartig aber willensschwach. Dazu die gewöhnlich 
blonde Liebe, die häufig weinte oder betete, und die Erzählung 
war fertig. Nun könnte man meinen, ich übertreibe, aber wer 
die Produktion eifrig verfolgt, wird — besonders bei deutschen 
Romanen — vielfach das gegebene Schema, natüriich in modifi- 
zierterer Form, wiederfinden. 

Der moderne Kriminalroman ist der analytische und E. A. Poe 
hat ihn geschaffen. Zum mindesten, indem er den «Consulting 
detective'' einführte, denn schon oft hatte man versucht, die 
Kunst, eine anscheinende Unmöglichkeit durch analysierende 
Beobachtung zu lösen, in Erzählungen und Märchen vorzufinden. 
So paradox es klingt, im Märchen. Der Jude Abner in Hauffs 



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»Geschichte vom Juden Abner, der nichts gesehen hat", g|bt so 
logisch durchdachte, scharfsinnige Schlussfolgerungen, dass er 
sich jedem modernen Romandetektiv mit aller Ruhe zur Seite 
stellen könnte. Freilich, auch seine Analysis ist nicht originell 
und der Urtypus des Hauffschen Märchens ist (wenigstens be- 
hauptet es Dr. Ludwig in dem sehr interessanten Aufsatze 
»Sherlock Holmes und seine Ahnen'' ^) die indische Erzählung 
von den zwei scharfsinnigen Brfidem, die an den Spuren eines 
Kameles, das kurz vorher die Landstrasse passiert hat, erläutern, 
dass es halb mit Zuckerwerk und halb mit Getreide beladen, 
auf einem Auge blind und schwanzlos gewesen sein müsse. Sie 
schliessen nämlich so: die Ri^en schwärmen nur auf einer 
Seite des Weges, folglich trug das Tier auf dieser Seite etwas 
den Riegen angenehmes; die Kräuter sind nur auf einer Seite 
des Weges abgefressen, folglich sah das Kamel nur auf einer 
Seite; der Kot endlich, den das Kameel sonst durch Wedeln mit 
dem Schwänze zerstreut, li^ auf einem Haufen, folglich hatte 
es keinen Schwanz. 

Die Schlussfolgerungen sind gut, aber sie bewegen sich noch 
in räumlichen Begriffen. Mit E. A. Poe lernte der Kriminalromaa 
psychologisch denken. Hierfür ein Beispiel aus dem «entwendeten 
Brief*. Der Polizeipräfekt war bei Dupin — so heisst der 
»Consulting detective" bei Poe, wie er später Lecoq, Sheriock 
Holmes, Barnes usw. heissen sollte. — Er hat auf der Suche 
nach einem Briefe alles getan, was sich in räumlicher Be- 
rührung tun liess, die Wohnung des Diebes, und er sdbst 
sind so gründlich durchforscht worden, dass der Präfekt vor 
einem Rätsel steht. Und die Natur des Briefes bedingt, dass er 
an keinem anderen Orte verborgen sein kann. An dem Beispiele 
eines Schuljungen, der in dem bekannten Spiele »Paar oder un- 
paar* seinen Mitschülern alle Murmeln abgewann, erklärt Dupin,. 
dem die Zurückgewinnung des gestohlenen Gegenstandes gelingt,, 
die Gedankenarbeit, die er geleistet. Als er diesen Schuljungen, 
so erzählt er, einst fragte, wie er es denn mache, fast immer das 
Richtige zu raten oder vielmehr — da jener ihm gesagt hatte,, 
dass er die Antwort danach richte, ob sein Spielpartner klug^ 
oder dumm sei — wie er denn das erkennt, erhielt er die Aus- 



Sonntagsbeilage der Vossischen Zeitung, Nr. 374, Jahrgang 1906. 



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kunft: »Wenn ich herausfinden will, wie klug oder wie dumm» 
wie gut oder wie schlimm jemand ist, oder was er in dem 
Augenblicke denkt» dann richte ich mich mit dem Ausdruck meines 
Gesichtes so genau wie möglich nach dem Ausdrucke des seinen 
und warte ab, was ffir Gedanken oder Empfindungen mir dann 
in Herz oder Sinn aufsteigen um dem Ausdrucke der Züge zu 
entsprechen." Dupin deduziert dann weiter, dass die Identifizierung 
des Verstandes desjenigen, der nachdenkt, mit dem seines Gegners 
von der Genauigkeit abhängt, mit der der Geist des Widersachers 
abgemessen wird, „und das eben ist der Grund, weshalb der 
Präfekt mit seiner Kohorte so oft auf dem Holzwege ist Sie ver- 
säumen es, sich mit ihrem Gegner zu identifizieren und ermessen 
den Grad seines Verstandes falsch oder gar nicht. Sie bleiben immer 
bei ihren eigenen Ideen von Scharfsinn stehen, und haben sie 
etwas zu suchen, was verborgen ist, so suchen sie es da, wo sie 
es würden verborgen haben"*. Er eriäutert dann noch weiter die 
Zusammengehörigkeit der Begriffe von »suchen" und »verstecken" 
und wie das eine fast immer die Vorstellung des anderen auslöse.^) 
Jeder, dem man die Aufgabe stelle, irgend eine bestimmte Sache 
zu »suchen", wird das »verstecken" als eine conditio sine qua non 
auffassen und danach seine Vorbereitungen treffen, er wird es 
machen wie der Präfekt, der »es für ganz gewiss angenommen 
hat, dass alle Menschen, wenn sie einen Brief verstecken wollen» 
— ihn nicht gerade in ein Loch, welches in ein Stuhlbein gebohrt 
wird — aber doch wenig$tens in irgend ein entlegenes Loch oder 
in einen verborgenen Winkel legen müssen". Schaltet nun ein 
so guter Kenner psychologischer Vorgänge, wie es in diesem 
Falle der Dieb ist, die Schlussfolgerung des »suchen" aus, so 
steht der mit der Suche Beauftragte vor einem Rätsel, und erst der 
in dem Beispiele des Schuljungen gegebene Gedankengang bringt 
die Lösung. So ist es übrigens auch in der Poeschen Erzählung, 
das fragliche Objekt liegt unter Benutzung einiger oberflächlicher 
Vorsichtsmassregeln offen vor aller Augen. 

Baute sich hier die Handlung auf eine Vorstellungsverbindung 
auf, von der Münsterberg^) sehr zutreffend sagt: „Der Grundfehler 
aller zu unrichtigen Vorstellungsverbindungen führenden Asso- 

*) Vgl. Gross, Kriminal-Psychologie, „Gewohnheit". 
*) Hugo Munsterberg: «Beiträge zur expsrimenteUen Psychologie*. 
Freiburg 1889-92, Heft 1-lV. * 



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ziationsprozesse muss in ihrer Unvollständigkeit stecken. Eine 
Vorstellung war mit einer zweiten, diese mit einer dritten assoziiert, 
und wir verbinden die erste mit der dritten . . . was wir aber 
nicht sollten, weil die erste, als sie mit der zweiten koexistierte, 
auch mit vielen anderen verbunden war,** so leistet Dupin in 
«The Murders in the Rue Morgue" eigentlich eine psychologisch 
viel weniger hoch einzuschätzende Arbeit, obwohl gerade diese 
Erzählung, sowie der „Mord der Marie Roget* (die allerdings 
auf einem wirklichen Morde fusst) den Ruhm des die verwickeltsten 
Kriminalrätsel lösenden Poe begründeten. Die Worte des Sir 
Thomas Browne jedoch: „What song the Syrens sang, or what 
name Achilles assumed, when he hid himself among women, 
although puzzling questions, are not beyond all conjecture**, die 
als Motto über dem „Die Mordtaten in derRueMorgue" stehen, bilden 
seit E. A. Poe eigentlich das Leitmotiv des modernen Kriminal- 
romans. 

Der amerikanische Dichter starb, und ein Franzose, Qaboriau 
mit Namen, übernahm die Erbschaft. Dem fehlte das Dämonisch- 
Mystische des genialen Amerikaners, die besondere Begabung für 
die Analysierung psychologischer Vorgänge beinahe vollständig. 
Er hatte wenig oder gar nichts von dem Geiste des Redakteurs 
E. A. Poe, der ein Preisausschreiben erlassen konnte, dass kein 
Leser seiner Zeitschrift ihm eine Chiffreschrift voriegen könne, 
die er nicht zu lösen imstande wäre und der — wunderbar 
genug — recht behielt. Qaboriau verkleinerte den Dupin, sein 
Held Lecoq ist ein vielleicht schärferer Beobachter, aber er gleicht 
dem Wilden, der die verborgensten Spuren zwar auffinden und 
räumlich deuten, aber nur unzureichend begründen kann. Die 
Gedankenarbeit, die Dupin so konform mit der des Verbrechers 
sich zu leisten bemüht, fällt fast vollkommen unter den Tisch. 
Dazu kommt der spezifisch französische Einschlag, die unver- 
meidlichen Liebesgeschichten, die üblichen treulosen Frauen (nicht 
Begabung und innerer Drang, sondern eigentlich eine unglückliche 
Liebe, Geldmangel und andere reale Beweggründe haben Lecoq 
in den Beruf des Polizisten getrieben). Auch alle Motive und 
überhaupt das ganze Lokalkolorit sind typisch für französisches 
Empfinden; so brechen z. B. bei einer Verhaftung Richter und 
Angeschuldigter in Tränen aus, und auch die dabei stehenden 
Gensdarmen b'emeistem nur mühsam ihre Rührung. 



- 13 - 

Den Dupin und Lecoq goss als bewusster Nachahmer Arthur 
G>nan Doyle in dem zu unerhörter Popularität gelangten Sheriock 
Holmes zu einer Persönlichkeit zusammen. Er ist der Typ der 
ganzen Gattung, die heute die Kriminalliteratur beherrscht mag 
er auch bei anderen Autoren andere Namen tragen und einzelne 
Variationen aufweisen. Weiter unten in «Verbrecher und Ver- 
folger" wird sein Charakterbild noch genauer auszuführen sein, 
hier nur einige Worte fiber das Milieu, in dem er sich bewegt. 
Angelsächsich seine Umgebung, angelsächsisch er selbst Englisch 
alle Begriffe : das beste Recht ist das englische, der gentleman ist 
das einzig berechtigte Lebewesen und der geschickteste Verbrecher 
ein Engländer. Stolz auch darin noch ; seht solche Köpfe haben 
wir. Immerhin ist Doyle der würdigste Nachahmer von Poe; 
die Notiz, die letzthin durch die Blätter ging, dass es seinen 
Bemühungen gelungen ist einem unschuldig Verurteilten, dem 
Perser Edalji, die Freiheit zu erwirken,^ zeigen, dass er Theorien 
in Praxis umzusetzen versteht 



Ober die Technik 
des modernen Kriminalromans. 

Die Technik des modernen Kriminalromans ist beinahe fest- 
stehend. Der erste Grundsatz heisst: misstraue dem Indizien- 
beweise! Er mag noch so umfassend sein, noch so sehr alle Wahr- 
scheinlichkeiten abwägen und sie beinahe in Tatsachen umprägen, 
eine einzige Möglichkeit bleibt doch noch immer, dass es auch 
anders gewesen sein könnte. Auch der klarste Indizienbeweis hat 
eine Lücke« sie zu verdecken und im geeigneten Momente aufzu- 
decken, das ist die Kunst des Kriminalromans. Es gibt Kriminal- 



Er hat mehr Gluck dabei gehabt, als — wenn man von Voltaire 
absieht — seine beiden Schriftstellerkollegen Zola und Balzac. Das feierlich 
pathetische ,J*accuse" des ersteren hatte dennoch immer mehr Erfolg als 
Balzacs Eintreten für Peytel (1839). Der grosse Psychologe, der so meisterhaft 
in Romanen die Seele zergUederte, liess sich von dem, mit Recht des Mordes 
an Gattin und Bedienten schuldig Befundenen, vollständig düpieren. Ein 
Beweis mehr, wie grau manche Theorie sein kann! 



— 14 - 

romane, in denen das Gewebe sich so diclit um den Verdäclitigten 
schliesst, dass man die Hand auf ihn legen möchte und sagen: 
„dieser ist es". Dann aber zerreisst das Netz, und der eben noch 
Belastete ist plötzhch frei von allem Verdacht Auch das Leben 
zeigt oft ähnliche Momente, ein eben noch auf Grund von Zeugen- 
aussagen Verhafteter muss freigelassen werden, da er sein Alibi 
nachweist Im Punkte des Indizienbeweises ist man ja bis jetzt 
bei uns weniger zartfühlend, und wenn Herr Professor Gross mir 
schreibt: „Eine wahre, vollkommen wahre Geschichte zu einetn 
interessanten Kriminalroman zu machen, ist unmöglich, das Leben 
ist in der Regel viel einfacher und langweiliger", so datiert dies vor 
dem Prozesse Hau, den ich hier noch mehrmals anfahren werde, 
weil er mit der interessanteste Kriminalroman ist, der bisher ge- 
schrieben wurde und in allen seinen Phasen in jedem guten ameri- 
kanischen oder englischen Roman der betreffenden Gattung stehen 
könnte. (Der Typus des Rechtsanwaltes Hau kommt oft in der 
Kriminalliteratur vor, z. B. ist Tremaine in „Das Perlenhalsband" 
eine völlig konforme Figur, sogar mit denselben einen starken Strich 
ins Abenteuerhafte tragenden Projekten.) 

Heute verurteilt man auf Indizienbeweise hin, die obendrein 
manchmal auf recht schwachen Füssen stehen und sich auf Aus- 
sagen von recht dubiosen Zeugen stützen.') In diesem einen Punkte 
könnte der Kriminalroman erzieherisch wirken, er könnte lehren, 
dass die Voruntersuchung — natüriich nach bestem Wissen und 
Gewissen — ganz unwillkfiriich alles Belastende viel eifriger zu- 
sammenträgt als das Entlastende, und dass im Leben der in der 
engen Untersuchungszelle Sitzende nicht immer so gute Freunde 
hat, die mit so vielem Eifer für ihn arbeiten, wie im Romane. 

Aus dieser Technik des Kriminalschriftstellers folgt die Regel, 
dass im Roman der auf den ersten Blick hin am kompromittiertesten 
erscheinende nie der Täter ist. Vielfach benutzt wird der Trick, 
dass der wahre Schuldige gleich am Anfange erwähnt und mit 
unbedeutenden Worten gestreift wird, um gleich wieder in der 
Versenkung zu verschwinden, aus der er dann im geeigneten Moment 
erscheint Die Probe auf die Richtigkeit lässt sich sehr leicht 
in der Praxis machen: wer viel Kriminalliteratur gelesen, wird 



^) Der Fall Berger; für die Unschuld des im Zuchthaus Sitzenden 
kämph augenblickh'ch ein bekannter Schriftsteller. 



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schon nach den ersten Seiten fast immer auf Grund dieser Regel 
den wahren Täter zu nennen imstande sein. 

Ein weiteres Erfordernis ist das Hineinziehen von medizinischen 
und chemischen Kenntnissen. Je mehr darin geleistet wird, desto 
wahrscheinlicher wird die Erzählung. Einzelne Autoren lassen 
ihre Detektivs förmliche Vorträge fiber Chemie, Botanik, Medizin 
und so weiter halten. Auch etwas Mathematik ^) wirkt gut, sie zeigt 
die logischen Fähigkeiten. Doch ist Medizin recht eigentlich die 
Hauptsache; die nach dem Verbrechen, gemäss dem englischen 
und amerikanischen Recht, sofort stattfindende Leichenschau gibt 
dem „Coroner" und dem Detektiv reichlich Gelegenheit zu weisen 
medizinischen Wechselgesprächen. Das Verbrechen selbst spielt 
nicht mehr wie früher in einsamen Gegenden, unheimlichen 
Wirtshäusern und zerfallenen Gebäuden, im Gegenteil, mitten im 
Herzen der Grossstadt'), im Hotel'), im Expresszug ^), im eleganten 
Salon oder Schlafzimmer^). Es gibt auch keine verlarvten Mörder 
mehr, keine zerlumpten Gestalten mit finsteren Gesichtern. 
Der moderne Verbrecher mordet im Frack, und muss sich, wenn 
er einbrechen will, die natürlich am Oberhemde festsitzenden 
Manschetten ^) zurfickschlagen. 



Der Detektiv. 

Der moderne Kriminalroman besteht aus dem Gegenspiel 
zweier Personen, des Verbrechers und des Verfolgers. Betrachten 
wir zunächst den letzteren. 

Die Reihenfolge Poe-Gaboriau-C. Doyle, die zum Typus 
des Detektivs fuhrt, ist bereits im ersten Abschnitte dieser Studie 
behandelt worden. Bleibt noch, sie etwas näher auszuführen. 

Edgar Allan Poe war ein kranker Mensch, ein „Säufer*, 
wie ihn das prüde Amerika seiner Zeit nannte. Die Nachwelt ist 



^) Wood: „Auf der Fährte*'. (The Passenger from Scotland-Yard). 
*) J. Hawthome: „Der grosse Bankdiebstahl**. Gnin: „Endlich ge- 
funden**. 

>) Kent: „Das Haus gegenüber**. Murray: »Der Bischof In Not*. 
*) Major Qriffits: „Im Expresszug Rom-Paris**. 
*) L. Lynch: „Schlingen und Netze**. Paul Lindau: „Spitzen**. 
*) Homung: „Ein Einbrecher aus Passion**. 



- 16 - 

ihm gerechter geworden, wir wissen heute, dass er von Geburt 
krank, ein schwerer Psychopath und Epileptiker war und 
dass seine Alkoholexzesse als echte Dipsomanie aufzufassen 
sind.^) Der Dichter kannte sich zweifellos am besten, wenn er 
eine seiner hervorragendsten Novellen mit den Worten: ,,Es ist 
wahr! nervös, entsetzlich nervös war ich in jener Zeit und bin 
es noch; aber warum soll ich denn wahnsinnig sein?"') anfängt. 
Auch Fritz Reuter war „Säufer'', aber der Humor, der aus seinen 
Schriften quillt, mindert für uns das Quälende des Charakterbildes^ 
er vergoldet das verzerrte Gesicht des »Quartalssäufers" und mildert 
das Urteil auch der absolutesten „Moral". Dem armen Edgar 
Allan fehlte die Gabe des Humors gänzlich, was er „Humoresken* 
nennt, scheint mühsam und gequält und geht erst da in reinere 
Töne über, wo das Grauenhafte und Bizarre einsetzt 

Krank war der Dichter, krank ist sein Dupin, der sich in 
dem grossen Paris von der Umgebung ängstlich abschliesst, der 
die Fenster herunteriässt, der die Sonne und den Tag verneint 
„Beim ersten Morgengrauen schlössen wir alle die massiven Fenster- 
läden in unserem alten Gebäude und steckten ein paar Wachs- 
kerzen an, die stark parfümiert waren und nur einen schwachen 
flackernden Schimmer vor sich hinwarfen. Mit ihrer Hilfe ver- 
senkten wir unsere Seelen in Träume — wir lasen, schrieben 
oder unterhielten uns, bis uns die Uhr den Beginn der wirklichen 
Dunkelheit anzeigte. Dann begaben wir uns Arm in Arm in die 
Strassen und setzten die Gesprächsgegenstände des Tages weiter 
fort oder strichen bis zu einer sehr späten Stunde ins Weite 
und suchten mitten unter den Gegensätzen von Licht und Schatten, 
wie die grosse volkreiche Stadt sie bietet, die endlosen geistigen 
Anregungen, welche ruhige Beobachtung gewähren kann." *) 

Aber Poe starb, auch Gaboriau wurde begraben und A. C. 
Doyle trat das Erbe an. Der ist von Beruf Arzt, lebt vergnügt 
auf seinem Landgute in schöner Gegend und beteiligt sich an 
Automobilrennen. Dabei, wie schon einmal oben erwähnt, ein 
recht scharfsinniger Herr, der viel vom Leben gesehen hat Das 

') Eine eingehende Psychopathie E. A. Poes bringt das Heft 8 dieser 
Sammlung. 

*) Poe: „Das verräterische Herz*'. 

*) Ins „Die Mordtaten in der Rue Morgue*'. Eindringlicher noch 
schildert Poe diesen Geistes- und Gemütszustand in dem ,JMann der Menge**. 



- 17 - 

reinste Exemplar der Gattung „Detektiv", Sherlock Holmes ist 
fertig. 

Er bedarf zunächst einmal, um sich voll und ganz ins rechte 
Licht zu setzen, eines Gegenspielers. Dies ist der Erzähler der 
Holmes-Geschichten, Dr. Watson, der brave Doktor, welcher nie 
etwas zulernt, oder wenigstens in höchst beschränktem Masse, 
stets aufs neue über den unglaublichen Scharfsinn seines Freundes 
verwundert ist und stets dieselbe Frage stellt: „Aber Holmes, woher 
weisst du das?" Sherlock aber setzt sich dann in Positur und 
doziert. Wie man zugeben muss, recht logisch. 

Sherlock Holmes ist Cocainist und Morphinist, aber er bedarf 
dieser Stimulantien nur in der Ruhe. Auf der Jagd nach dem 
Verbrecher, beim Lösen irgend eines schwierigen Problems wachsen 
ihm, wie einst dem Riesen Antäus, dem Sohne der Erde, die Kräfte. 
Dann braucht er keine Irritantien, auf ihn wirkt die Jagd nach 
menschlichem Wild besser, als alle chemischen Reizmittel. Watson 
hat ihn einst charakterisiert als in Botanik ungleich, Philosophie, 
Astronomie und Politik vollkommen null, in Geologie sehr gründ- 
lich, namentlich in bezug auf Dreckspuren aus jeder beliebigen 
Gegend im Umkreis von London; Chemie brillant, anatomische 
Kenntnisse unsystematisch, in Kriminalliteratur ein hervorragender 
Kenner. Im übrigen guter Boxer, Fechter, Jurist. Im Laufe der 
Erzählungen wächst Holmes, der nebenbei sacht zum Doktor 
avanciert, langsam über sich hinaus, er wird eine Art Universalgenie. 
Seiner geistigen Anlagen ist er sich vollkommen bewusst, die 
Kunst der Schlussfolgerung übt er mit einer gewissen, ihm nicht 
übel anstehenden Selbstgefälligkeit, er schätzt sich selbst recht hoch 
ein. So sehen wir ihn im Lehnstuhl sitzen, die Augen geschlossen, 
die Fingerspitzen aneinandergelegt und hören ihn seinem Freunde 
Watson gegenübet deduzieren: 

«Der vollendete Denker müsste eigentlich imstande sein, 
an der Hand einer einzigen Tatsache, die ihm in allen ihren 
Beziehungen klar geworden ist, sowohl die Begebenheiten, 
die daraus folgten, als auch diejenigen, welche vorausgingen, 
zu ermitteln. Genau so, wie Cuvier den Bau eines ganzen 
Tieres bei der Betrachtung eines einzigen Knochen fest- 
zustellen vermochte. Wir sind uns noch viel zu wenig be- 
wusst, was wir alles durch blosse Geistesarbeit erreichen 
können. Mit Hilfe des Studiums vermag man Probleme zu 

Qrenzfragen d. Lit. u. Medizin. 7. Heft. 2 



- 18 — 

lösen, an denen diejenigen verzweifeln, die die Lösung nur 

vermittelst ihrer fünf Sinne zu finden trachten. *"*) 

Er ist mit Watson nicht recht zufrieden, weil dieser seine 

geistigen Eigenschaften in den Erzählungen nicht genug hervoriiebe : 

„Wenn ich volle Gerechtigkeit für meine Kunst verlange, 

so tue ich dies, weil ich dieselbe als etwas Unpersönliches — als 

etwas Ober mir stehendes betrachte. Verbrechen kommen alle 

Tagevor, streng folgerichtiges Denken findetsich selten. Deshalb 

hättest du dich mehr bei dem letzteren als bei ersterem aufhalten 

sollen. Statt einer Reihe belehrender Vorträge (!) ist unter deiner 

Hand ein ganz gewöhnliches Geschichtenbuch enstanden.* ') 

Solch Detektiv bedarf natüriich als Objekt seiner Bemühungen 

des richtigen Verbrechers, gewöhnliche »schwere Jungen* reichen 

nicht aus. So recht würdig ist zwar seiner eigentlich nur Professor 

Mariarty,^ der bei Doyle den geborenen Verbrecher repräsentiert 

Aber auch die anderen Gegner des Allerweltskeris Holmes sind 

nicht zu verachten, und der neuerdings zum Dogma erhobene Satz 

der Kriminalpsychologie von der „üblichen Dummheit, die jeder, 

auch der geschickteste Verbrecher macht** kommt bei Doyle nicht 

gut weg. Sherlock Holmes ist hier ziemlich ausführiich behandelt 

worden, er ist, wie ich schon mehrfach erwähnte, der Detektiv 

des modernen Kriminalromans. Andere Autoren, andere kleine 

Abweichungen in der Zeichnung des Helden, der Typ bleibt gleich. 

Vielfach wird jetzt der Gentleman -Verbrecher beliebt, der 

eigentlich bloss ein Detektiv in umgekehrter Form ist Er ist am 

besten in „Raffles'*^) verkörpert, der auch vor kurzem auf die 

deutsche Bühne gebracht wurde. 



Das Krankhafte im Verbrechen. 

(Krankhafte Motilre und kranke Verbrechen) 

«Das grosse Unglück, nicht allein sein zu können* steht 
als Motto über Poes ,Der Mann der Menge* ^). Es ist das typische 

*) „Fun! Apfelsinenkeme**. 

*) „Das Landhaus in Hampshire". 

*) „Das letzte Problem** und in „Als Sherlock Holmes aus Lhassa kam". 

^ Homun£:„DieschwarzeMaske". Ders.: „Ein Einbrecher ans Passion". 

3) Poe: J}er Geist des Bösen". 



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Krankheitsbild eines neuropathisch beiasteten Menschen, das dort 
entrollt wird. Der Unglückliche, der sich selbst im Treiben der 
Menge entrinnen will, den die Furcht vor dem Alleinsein mit sich 
selbst hinaustreibt, der rastlos umherirrt und dennoch überall 
sich selbst findet, ist er nicht recht eigentlch der Dichter selbst? Auch 
ein anderes Genie, Guy de Maupassant, hat derartige Stimmungen 
mit Meisterhand entworfen : der irrsinnige Richter, der den Mord 
begangen und doch den vor ihm stehenden Angeklagten, von dem 
er am besten weiss, wie unschuldig er an dem Verbrechen ist, 
verurteilen wird, fühlt wohl den dumpfen Druck im Gehirn, er 
weiss auch, dass ein Adler in seinem Kopfe ist, der heraus will 
und dennoch vergeblich an die engen Schädelwände pocht. Sie 
aber waren beide, der Amerikaner und der Franzose, kranke 
Menschen und krank verzerrt das Bild, das ihnen das Leben 
spiegelte. 

Objektiv steht der moderne Autor vor den Erscheinungs- 
formen, die ihm die Kriminalpsychologie bietet. Die und die 
sagt ihm zu, auf ihr baut er seine Erzählung auf. Mustern wir 
die bunte Reihe und greifen wir einige Beispiele heraus. 

„In den Fällen, die man früher Kleptomanie nannte 
die trotz der Abschaffung des letztgenannten Namens doch 
nicht zu leugnen sind, und die immer und immer wieder 

kommen "*) 

Mit diesen Worten streift Gross eine Erscheinung, die Warden ') 
benutzt hat. Auch das Läppische und vielfach Sinnlose bei dem 
Treiben der an Kleptomanie Leidenden (wie im Leben weitaus 
immer, so ist auch in der Erzählung der Dieb in diesem Falle 
eine Frau), ist sorgfältig in Betracht gezogen. „Unter den Dielen 
der Dachstuben, sowie eingenäht in der Matratze des eigenen 
Bettes der Dame, in Löchern der ausser Gebrauch gesetzten 
Schornsteine und der Kamine versteckt, fand der Beamte einen 
Haufen ebenso verschiedenartiger wie sie schwer belastender Gegen- 
stände. Gold- und Silbergeld, wie auch Banknoten, Schmuck 
von meist nur geringem Wert und anscheinend neu aus Läden 
gestohlen, ein halbes Dutzend Herrenuhren, Bleistifthalter, Börsen, 



*) Gross: Kriminalpsychologie; cf. auch: Henri Legrand du Saulle: 
„La folie devant les tribunaux.*' 

*) Fl. Warden: „Das Gasthaus am Strande". (Oberst Bostal ist der 
Vater der Diebin, Clifford einer der Ankläger.) 

2* 



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Stücke von Zeug und von Spitzen, Visitenkartentaschchen, silberne 
Löffel undQabeln bildeten einen Teil dessen, was er gefunden hatte.'' 
Ganz konsequent heisst es dann nachher weiter : 

Oberst Bostal erhob sich von seinem Stuhl, und nach- 
dem er ein Schränkchen in der Ecke des Zimmers geöffnet 
hatte, nahm er aus diesem eine alte Schreibmappe heraus, 
aus der er Clifford ein Bündel alter Zeitungsausschnitte 
fiberreichte. 

Sie bezogen sich alle auf Fälle von Kleptomanie, die 
vor dreiundzwanzig bis ffinfundzwanzig Jahren zur Verhand- 
lung gekommen waren, und wobei eine gebildete junge 
Dame aus guter Familie des Ladendiebstahls angeklagt 
worden war. 

»Sie beziehen sich alle auf meine Tochter**, sagte der 
Oberst gelassen. „Und jedesmal haben wir ihre Freisprechung 
durchgesetzt mittelst der Einrede, dass sie an Hysterie ge- 
litten habe, was auch wahr war." 

„Dann ist sie also nicht für ihre Handlungen verant- 
wortlich?'* warf Clifford erleichtert dazwischen. Der Oberst 
zögerte und sagte dann: ,»Offen gesagt ist meine feste Über- 
zeugung, dass sie völlig verantwortlich ist Sie ist eine hoch- 
begabte Person und ihre Verschlagenheit und List grenzen 
ans Wunderbare, dabei ist sie von einer moralischen Ent- 
artung beherrscht, die sie die Aufregung des Verbrechens 
suchen lässt.** 

Man sieht, auch den Autor überkommen Zweifel, — die er 
übrigens nachher dann noch einmal ausführt — an die Klepto- 
manie als Krankheitsform zu glauben, und er befürwortet lediglich 
eine gewisse »moral insanity*. 

Auf Sadismus, wenigstens larvierten, scheint mir A. C. Doyle 
in »John Barrington Cowles* hinzudeuten. Hier bleibt das Motiv, 
das die Veriobten einer Dame teils in Irrsinn, teils in den Tod 
treibt, fast vollkommen unklar, jedoch die Tatsache, dass die be- 
treffende Dame eine gewisse Vorliebe für Pelze zeigt, sie häufig 
trägt, sowie die nachfolgend zitierten Stellen rechtfertigen wohl 
meine Behauptung: 

»Ihr Gesicht zeigte etwas mehr Farbe als gewöhnlich, 
und in der Hand hielt sie eine schwere Hundepeitsche, mit 
der sie eben einen kleinen schottischen Terrier durchgeprügeil 



- 21 - 

hatte, dessen Geheul uns auf der Strasse aufgefallen war. Das 
arme Tier lag kläglich winselnd und augenscheinlich gänzlich 
erschöpft in einer Ecke.*" 
Nach einem kurzem Wechselgespräch heisst es dann weiter: 
„Angenommen, dass jedesmal, wenn sich ein Mensch 
schlecht aufführte, eine Riesenhand ihn packen und eine zweite 
ihn mit einer Peitsche durchprügeln würde, bis er ohnmächtig 
wäre,*" — bei diesen Worten schnalzte sie mit den Fingern 
und liess die Peitsche durch die Luft pfeifen — «das würde 
ihn zu einem besseren Menschen erziehen als jede beliebige 
Anzahl von hochgesinnten Morallehren.* 

„Liebe Käthe," bemerkte mein Freund, „du bist ja heute 
ganz wild aufgelegt.* 

„Nein mein Junge", lachte sie. „Ich lege nur Herrn 
Doyle eine Theorie zum Nachdenken vor." 
Sadistische Neigungen zeigt auch Stapleton^), „der Mann mit 
dem kältesten Mörderherzen". Darauf weist für mich hin, dass 
er aus Neigung Schulmeister war, ehe er Verbrecher wurde (man 
denke nur an Dickens' Schilderung des englischen Schullebens, 
auch an die moderneren Dührens und anderer) und die vielfachen 
Schilderungen, wie er seine Frau, die er obendrein liebt, misshandelt: 
„An diesem Pfeiler war eine menschliche Gestalt fest- 
gebunden, aber ob es ein Mann oder ein Weib war, konnten 
wir für den Augenblick nicht sagen, denn diese Gestalt war 
vollständig von Bett- und Handtüchern vermummt. Ein Hand- 
tuch war um die Kehle geschlungen und hinter dem Pfosten 
zusammengeknotet; ein zweites bedeckte den unteren Teil 

des Gesichtes usw. Ihr schönes Haupt neigte sich 

auf ihre Brust und da sah ich auf ihrem Halse klar und 
scharf die roten Striemen vom Hiebe einer Reitpeitsche." 
Krankhaft gesteigerte Rachsucht liegt jener Erzählung Doyles*) 
zugrunde, in der ein Baumeister durch einen fingierten Mord, bzw. 
spurloses Verschwindenlassen von sich selbst, einen Unschuldigen, 
dessen Mutter ihn einst beleidigt, fast an den Galgen bringt, und 
nur der Scharfsinn des Detektivs den teuflischen Anschlag verhütet. 
Sehr gern entzieht Doyle die Verbrecher — besonders die, deren 



*) A. C. Doyle: „Der Hund von Baskerville'*. 
1) In „Als Sherlock Holmes aus Lhassa kam'*. 



- 22 - 

Motive einigermassen edle und menschlich verständlich sind — 
dadurch, dass er sie im letzten Stadium einer schweren Krankheit 
einführt, ihrem Schicksal und der irdischen Gerechtigkeit. So ist 
der alte Turner Diabetiker, der seinen Zustand genau kennt 
und selbst sagt: „Seit Jahren leide ich an Zuckerkrankheit, mein 
Arzt hält es für fraglich, ob ich in vier Wochen noch lebe. Nur 
stürbe ich gern unter dem eigenen Dach — nicht im Zuchthaus. *", 
der Mörder in „Späte Rache' ist schwer herzleidend. Das Bild 
des Opiumessers bzw. Opiumrauchers führt Doyle im Anfange 
von „Der Mann mit der Schramme*" vor, wenn er sagt: 

„Isa Whitney, der Bruder des weiland Elias Whitney, 
Doktors der Theologie und Rektors des Predigerseminars von 
St. Georgen, war ein starker Opiumraucher. So viel ich 
weiss, kam er durch eine Jugendeselei dazu, als er noch auf 
der Schule war. Er hatte damals de Quinceys Beschreibung 
seiner Träume und Empfindungen ') gelesen und tränkte seinen 
Rauchtabak mit Opiumtinktur, um womöglich dieselbe Wirkung 
zu erzielen. Dabei ging es ihm aber, wie schon manchem 
vor ihm: er fand, dass es viel leichter ist, eine Gewohnheit 
anzunehmen, als sie wieder abzulegen; so blieb er jahrelang 
ein Sklave dieses Giftes und wurde seinen Freunden und 
Verwandten zum Gegenstand des Abscheus oder auch des 
Mitleids. Noch sehe ich ihn vor mir in einem Lehnstuhl 
zusammengekauert mit dem gelben aufgedunsenen Gesicht, 
den schlaffen Augenlidern und den zu der Grösse eines 
Stecknadelkopfes verkleinerten Pupillen, die traurige Ruine 
eines ursprünglich edlen Menschen.** 
Die Kriminalpsychologie kennt Verbrechen ausBibliomanie'), 
Jack London führt in „The Minions of Midas" *) eine Reihe von 
Mordtaten vor, die aus dem rein philanthropischen Grunde be- 
gangen wurden, einen gesellschaftlichen Ausgleich zwischen begü- 
terten und weniger bemittelten Klassen zu bewirken. In hellem 
Wahnsinn begehen die „Minions of Midas" eine Schandtat nach 
der anderen, ganz sinnlos in der Wahl der Opfer; einzig allein 

1) In „Der geheimnisvolle Mord im Tale von Boskombe". 
*) Thomas de Quincey: „Bekenntnisse eines Opiumessers''. 
') Der Fall des Magister Trinius (Pitaval); eine kurzlich in Wien ge- 
führte Untersuchung gegen einen bedeutenden Philologen usw. 

*) Jack London: „Moon-Face and Other Stories". London 1906. 



— 23 - 

um einen Druck auf das Gemüt eines Ungläcklichen auszuführen 

sind sie anderseits fähig, mit der unerbittlichen Logik, die der 

Irrsinnige in einzelnen Punkten zeigt, kühl und ruhig zu dozieren : 

M We are of the unwasted, best with this difference : our 

brains are of the best and we have no foolish ethical nor 

social scruples. As we are, toiling early and late and 

living abstemiously, we could not save in threescore years — 

nor in twenty times threescore years — a sum of money 

sufficient succesfully to cope with the great aggregations of 

massed capital which now exist.'* 

Sie wollen Geld erpressen, um die Menschen glücklich zu 
machen und morden, nicht etwa Angehörige dessen, den sie ver- 
folgen, nein — ein Kindermädchen, einen Arbeiter; Leute» die sie 
gar nicht kennen, die den Kreisen angehören, die sie beglücken 
wollen, werden zur Strecke gebracht. Die Tat eines direkt Wahn- 
sinnigen schildert in einer Erzählung Aug. Groner, verbrecherische 
Anlage behandelt Perfall *). In dem in militärischen Kreisen spie- 
lenden Romane Olivieris *) ist der Held im höchsten Grade erblich 
belastet Der italienische Autor hat für seinen Verbrechertypus 
die Lehren Lombrosos und seiner Schule benutzt. Freilich, die 
Akten über die Theorien der italienischen Positivisten sind noch 
nicht geschlossen, speziell deutsche Forscher haben auf diesem 
Gebiete ein reichliches Material gegen Lombroso gesammelt, ob- 
wohl der italienische Forscher, als er auf dem Kriminal-Anthro- 
pologenkongresse in Genf seinen Gegnern zurief: „Die deutschen 
und österreichischen Gelehrten glauben meine Lehren nicht — 
das macht aber nichts, die Neukaledonier glauben sie auch nicht l** 
nicht nur ein glückliches Schlagwort prägte. Wie Gross, der 
eine ziemlich umfangreiche Literatur darüber anführt, sagt, ist 
„ . . . die Frage der Vererbung deshalb noch nicht totgeleugnet 
und das will man auch nicht tun. Am deutlichsten hat das der 
Bericht') gezeigt, den A. L. Marchand über die von ihm mit 
N. A. Koslow gepflogenen Erhebungen in den Asylen für Ver- 
brecherkinder in der Petersburger anthropologischen Gesellschaft 
erstattet hat (Januar 1897), und zwischen Buckle ^), der die Ver- 

*) Perfall: „Finsternis". 

') Sangiacomo Olivieri : „Der Oberst". 

*) St Petersburger Zeitung vom 1. und 13. März 1897. 

^) Henry Thomas Buckle: „History of civilisation in England". 



— 24 - 

erbung von Tugenden und Lastern Oberhaupt leugnet, bis zu den 
jungst verflossenen modernen Lehren finden sich eine Menge 
Zwischenansichten und bei einer derselben wird wohl das Wahre 
liegen." Und so geht auch die Geschichte Olivieris zum Schluss 
in eine Anzahl Zwischenansichten aus; die Meinungen über Garulli 
(dies der Name des Verbrechers) sind recht geteilt, und bei dem 
Abendessen nach der Verhandlung findet zwischen dem Rechts- 
anwälte, dem Professor Guidarelli und dem Obersten ein regel- 
rechtes wissenschaftliches Gespräch über verminderte Zurech- 
nungsfähigkeit, die Lehre von der Wesensteilung und dem psychischen 
Doppelsein statt, kurz die ganzen Lehrsätze einer teilweise erst 
kommenden Generation werden aufgerollt Wie Gross die end- 
gültige Beantwortung und Einschätzung des Wertes der italie- 
nischen Positivistenschule offen lässt, so heisst es auch im 
Roman : 

„Die psychologischenAusführungen eines Romanschreibers 
oder eines Dramatikers sind sehr gut und schön, aber wehe, 
wenn man bei Gericht Ibsensche oder nordische Philosophie 
treiben wollte ! Auf dem Gebiet der Irrenheilkunde, der Kriminal- 
pathologie und der gerichtlichen Medizin können nur solche 
Hypothesen zugelassen werden und als beweiskräftig gelten, die 
sich auf Tatsachen stutzen. Nun, was sind das für Tatsachen ? 
Ist Garulli irrsinnig? Nein. Ist er blödsinnig? Erst recht nicht. 
Ist er degeneriert? Körperiich etwas, obgleich er auch da 
keine bestimmten organischen Fehlerzeigt. Ist er Epileptiker? 
ist er Neurastheniker? ist er Hysteriker? Wer weiss es? 
Möglicherweise trifft nichts von alledem zu.'* 

Man sieht hier (der Autor selbst steht natüriich mit seiner 
psychologischen Begründung auf Seite des Verbrechers) das Be- 
streben, das auch bei uns der so dringend verlangten Einführung des 
Begriffes ,,verminderteZurechnungsfähigkeit" entgegensteht, nämlich 
klassifizier dich oder ich fress dich. (Prozess Haul) 

Die Edelsteinmanie ist klassisch, hat sie doch unser E. T. A. 
Hoffmann bereits in seinem „Fräulein von Scud^ry** für seinen 
Goldschmied Ren£ Cardillac benutzt Durch die Verhandlungen 
in dem obenerwähnten Sensati'onsprozess hat sie eine gewisse 
Aktualität eriangt und wurde vielfach als psychiatrisches Moment 
angeführt. Im „Bild des Dorian Gray" spielt sie eine grosse 



- 25 — 

Rolle, und Mitchell nennt das Sammeln von Schmucksachen 
sein nSteckenpferd". 

Den obenerwähnten Verbrechen aus Bibliomanie und Philan- 
throphie reiht sich würdig der Arzt bei Villiers de LMsle-Adam an, 
der den durch seinen Rat von der Schwindsucht geheilten Patienten 
niederschiesst, um dessen Lunge zu sezieren, und jener andere 
Arzt in „Eine dunkle Tat", der zum Verbrecher wird, um die 
Krankheit seines Opfers genau studieren zu können. Pyromanie 
ist ein äusserst selten behandeltes Thema; periodisches Irresein 
finden wir bei Hawthorne in „Archibald Malmaison", freilich in 
sehr anfechtbarer Form behandelt 

Krankhafte Wahnvorstellungen treiben den Verbrecher in 
,,Eine Suggestion" ') in den Tod, und ergreifend klingt das Tage- 
buch des Unseligen in die Worte aus: 

1 2. November. „Ich sehe wieder klar, jetzt wo ich das ganze 
Buch abgeschrieben habe. — Ich bin krank. Da hilft nur 
kalter Mut und klares Wissen. — Für morgen früh habe ich 
mir den Doktor Wetterstrand bestellt, der muss mir genau sagen, 
wo der Fehler lag. — Ich werde ihm alles haarklar berichten, 
er wird mir ruhig zuhören und das über Suggestion ver- 
raten, was ich noch nicht weiss. — 

Er kann im ersten Augenblick unmöglich für wahr halten, 
dass ich wirklich gemordet habe, — er wird glauben, ich bin 
nur wahnsinnig. — 

Und dass er es sich zu Hause nicht mehr übertegt, 
dafür werde ich sorgen : Ein Gläschen Wein ! ! I 

13. November. 



Ein meisterhaft gezeichnetes Bild, das ich dem «Moria" 
Maupassants zur Seite stellen möchte, abgesehen davon, dass es 
dort ausgesprochener Verfolgungswahn ist Die Frage des „ Dop- 
pel-Ich" behandelt Gross mit den Worten: 

»Es handelt sich hier um einen Fall von retrograder 
Amnesie; man nimmt heute an, dass dieses Phänomen in 
den weitaus meisten Fällen nach demselben Prinzip wie die 

*) R. Ottolengui: „Der Kameenknopf/* (An Artist in Crime.) 
*) Gustav Meyrink: „Orchideen.* 



- J6 - 

Hysterien, also ideogen zustande kooimt Die be- 
treffenden Vorstellungskomplexe werden ins Unterbewosstsein 
gedrängt, wo sie gelegentlich durch assoziative Nachhilfe, durch 
Konzentration in der Hypnose und ähnliche Momente ins 
Oberbewusstsein gehoben werden können.* 
und erwähnt für weitere Belege Breuer und Freud, »Studien über 
Hysterie' und Freud «Psychopathologie des Alltagslebens*. Paul 
Lindau behandelt in ,Der Andere* (Urquelle wohl eigentlich Dick 
May «Unheimliche Geschichten*) dieses Thema in der oben an- 
^fährten Weise, während Stevenson^ die Trennung des Dr. Jekyll 
in ein absolut böses Prinzip durch die Einwirkung dner phan- 
tastischen chemischen Lösung erfolgen lässt 

Bei Fergus Hume-) ist der Verbrecher schwerhörig (richtiger 
er täuscht Schwerhörigkeit vor und benutzt sie geschickt als Hilfs- 
mittel) und gut zeichnet ihn der Autor, wenn er ihn dastehen lässt, 
mit gefatteten Händen, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, um 
auch das leiseste Wort zu verstehen. 

Nymphomanie bzw. Satyria»s sind recht heikle Themen, 
dennoch werden auch sie in einem französischen Kriminalromane') 
benutzt 

Last not least möchte ich des Wilkie Collins^) gedenken, der 
mit Vorliebe kranke Verbrecher zeichnet So ist im «Mondstein* 
der Dieb eigentlich unschuldig, da er — von Haus aus starker 
Raucher ausgesucht schwerer Zigarren, eine Leidenschaft, die er 
einer Dame wegen plötzlich aufgibt — in einer derart nervös über- 
reizten Stimmung ist, dass er, als ihm von dritter Seite her ein 
Opiat eingegeben wird, willenlos im Schlaf Handlungen begeht, 
deren er sich im wachen Zustande nicht mehr bewusst ist «Er- 
findet ein Elixier, die Organe des Unterieibes, das milzsüchtige 
Organ anders zu stimmen und die fröhliche, gutmütige Tugend 
wird einkehren ; verändert die somatische Natur, und ihr seid Herr 
des Willens*, sagt der alte, ehriiche Grohmann in .Friedreichs 
Magazin für Seelenkunde*. Eine sehr gut gezeichnete Figur ist 



*) Stevenson: JDer seltsame Fall des Dr. Jekyll und des Herren Hyde''. 

*i Hume: „Verwehte Spuren** (The Carbunde Quc). 

*} JLa divine Marquise**. Ohne Autor und Druckort Das Buch lag 
dem Tribunal Conrectionnel vor und ab und zu fiiiden sidi im Texte leere 
Seiten mit dem Aufdruck: «Passage condamn^ par le T. C* 

«) Wilkie CoiUns: „Nicht bewiesen**. 



- 27 - 

der wahnsinnige Dexter, der in einem Rollstuhl gefahren wird, 
da seine Beine gänzlich verkrüppelt sind. Er ist ein Mann, der 
bei einer grossen Qemütsaufregung, wenn eine Seite seines glim- 
menden Wahnsinns angeschlagen wird, jäh in die Luft springt 
«als wenn er von einem Schlag getroffen wäre. Einen Augen- 
blick lang sah man ein menschliches Wesen in der Luft 
schweben, dem beide Beine gänzlich fehlten. In der näch- 
sten Sekunde sank das entsetzliche Geschöpf mit der Ge- 
schicklichkeit eines Affen auf seine beiden Hände herab und 
hfipfte mit bewunderungswürdiger Schnelle durch das Zimmer.*" 
Mit der Schärfe des Irrsinnigen urteilt er fiber seinen Zustand : 
„Es gibt Menschen, die mich für periodisch wahnsinnig 
halten. Meine Einbildungskraft läuft manchmal mit mir fort, 
und ich sage seltsame Dinge. Ich bin ein sehr gefühlvoller 
Mensch." 

Seine Genossin ist ein armes idiotisches Wesen, das einen 
Männerhut trägt, ein Vogelgesicht und sehr lange starke Finger 
hat. Am liebsten sitzt sie dabei, wenn ihr Herr ihr Geschichten 
erzählt, die „Schauer über ihren Körper bringen* und voll mit 
Blut und Verbrechen sind. Als Dexter im Irrsinn stirbt, findet 
man sie vief Tage später tot auf seinem Grabe. 

Ich schliesse diesen kurzen Abriss, der natürlich noch sehr 
zu erweitern und zu ergänzen ist. Wer weiter nach Krankhaftem 
und nach Monomanien sucht, wird noch viele Typen finden. 
Letztere besonders sind ja fast fiberall nachweisbar, wie Gross an- 
deutet, wenn er sagt: „Esquirol, der die Monomanie erfand**.^) 
Englische Literatur daraufhin zu untersuchen, dürfte fiberhaupt 
recht dankbar sein. Sagt doch schon Percy:') „It is worth atten- 
tion, that the English have more songs and ballads on the subject 
of madness, than any of their neighbours". Möglich, dass er 
recht hat. 



Gross: „Kriminalpsychologie", 483. 

*) Percy: „Relics of andent english poetry*'. Tauchnitz 11, 287. 



- 28 - 

Von der Art und Weise ein Verbrechen 

zu b^ehen, 
und wie Verbrechen entdeckt werden. 

«Scboo ist ein schönes Verbrechen* sagt Anatole France im 
«Garten des Epiknr*. bi verstäiktem Sinne gpH dies beim Kriminal* 
roman. Je »schöner* das Verbredien ist, mit je mehr Aufwand 
an Gesduddidikeit und Scharfsinn es b^mgen, je mehr Kunst 
bei ihm angewendet worden ist. desto höher und grosser die 
Ijeistung des Verfo^ers. Daraus resuHiert, dass die Art und Weise 
wie das Vobiedien b^angen worden »t, unmitlelbar zu seiner 
Enldecinii^ in Beziehung stellt Es ist ohne w e it e re s fcbr, dass bei 
Brandstiftung, Bankdnbrnchen^ Attentaten usw. die Spuren in der 
Regd so sinnfilfig sind, das sie auch dem Nichtfadmumn deutlich 
werden. Das riditige .schöne' Vetbrechen ist und trieibt der 
Mord, ^eichguH^ ob er aus niedersten, tiöheren oder wenn man 
so sagen darf edelen Motiven^) entsprii^; bei ilmi aOefai sind 
eigentlich die besten Kombinationen möglicfa. Aoch hier sind 
wieder UebUngsthemata; Erwürgen z.B. ist recht nnbdiebt, die 
Sirangnlatioosniarken reden eine zn Uare Sprache und weisen 
zn deutlich auf Mord bin. Besser sieht es schon mit dem Er- 
trinken und Erhängen, hier beginnt bereits das Kombinationsbild 
des Sell>stnK>rdes sich ei n z ufüg en (denn die gewohnlicfa mit dem 
Verbrechen einherlaufiende Sdhstmordtheorie ist für den Schrift* 
sieDer ein gewaltiges HOfsmitleO, und eine fremde Emwirfcm^ ist 
zumal Iwi dem erslercn recht schwer ffarhiiiwri'irn, wobei um 
so sonderbarer ist. dass Autoren sich seiner so seilen bcäitBtn. 
Schöne Betspiele für beides bietet A. C Do>1e aach hier. Dort 
wird der junge Openshaw*) nach Sierkxk Hohnes* (der übrigens 
e::^ Scfa*aappe erleidet) cn::inslös^cber Gewissbeit und gt w isaeu 
Indizien das Opfer einer Mörderbacie, ncd doch ist das posüive 
Ergebnis der fnterssckung m dem Porizeflxridxt 
kurz und trocken meldet: 



K C Dof^z JDer 



- 29 ~ 

„Gestern abend zwischen neun und zehn Uhr vemahnr 
der Schutzmann Cook von der Division H., bei der Waterloo- 
brücke stationiert, einen Hilferuf und einen Fall ins Wasser. 
Die Nacht war so stfirmisch und finster, dass trotz der Hilfe 
mehrerer Vorübergehenden jegliche Rettung unmöglich blieb. 
Die Stadtpolizei wurde alarmiert und es gelang den Körper 
herauszufischen. Der Ertrunkene ist ein junger Mann, namens 
John Openshaw, wohnhaft zu Horsham, wie sich aus einem 
Briefumschlag erwies, den er in seiner Tasche trug. Es ist 
anzunehmen, das er zum letzten Zug an die Waterloostation 
wollte; bei seiner Hast und der ausserordentlichen Dunkelheit 
hat er wohl den Weg verfehlt und ist auf einen der schmalen 
Stege geraten, die den Flussdampfern zur Landung dienen. 
Der Leichnam trug keine Zeichen von Gewalttat, und so 
wurde der Verstorbene das Opfer eines Unglücksfalles, durch 
den sich die Behörden veranlasst sehen sollten, ihre Aufmerk- 
samkeit auf den Zustand der Landungsstellen am Flusse 
zu lenken." 

Wie gesagt, Holmes weiss hier, sowohl wie in einer anderen 
Erzählung,^) dass es Mord, kaltblütiger Mord ist, und dennoch 
(während er in der eben erwähnten Geschichte das Verbrechen 
nachweist) ist er machtlos. Dass nicht nur im Roman beim 
Erhängen grosse Zweifel eintreten können, beweist der vor noch 
nicht allzulanger Zeit vor den Berliner Geschworenen verhandelte 
Fall,') in dem der Ehemann des Verbrechens an seiner erhängt 
aufgefundenen Frau, trotz desGutachtens der Sachverständigen (! ! !), 
dass sehr wohl Selbstmord vorliegen könne, schuldig befunden 
und verurteilt wurde. „Credo quia absurdum", im gewöhnlichen 
Leben sind Giftmorde recht selten, die Literatur bevorzugt sie. 



') In: »Der Doktor und sein Patient". 

') Der Name ist mir nicht mehr genau erinnerlich, irre ich nicht, war 
es ein Schneider Walter. Der Fall jedoch ist typisch für die Einschätzung, 
die beispielsweise mitunter im Gegensatze zu den Schreibsachverstandigen 
(die sich doch oft genug blamiert haben, z. B. Affaire Dreyfuss, Kotze usw.) 
psychiatrische und medizinische Gutachten haben. Geschworene sind nur 
allzu oft geneigt, nach Sentiments zu urteilen, besonders wenn sie die, eine 
schöne Parallele zu den .armen, aber ehriichen Eltern" bildenden, »biederen 
Leute aus dem Volke" sind. (Prozess Haul) Es gibt, ohne einer völligen 
Abschaffung der Geschworenengerichte das Wort zu reden, doch zu denken, 
dass eine Autorität wie Professor Gross ihr prinzipieller Gegner ist. 



- 30 - 

In seinem Buche »Die Gifte* sagt Taylor (ein häufig in Kriminal- 
romanen zitierter Autor): 

„Es ist jetzt eine allbekannte und im allgemeinen an- 
genommene Tatsache, dass jemand an Gift sterben kann, 
ohne dass es durch chemische Analyse in der Leiche ge- 
funden werden kann. Es ist eine im Volke herrschende, 
aber irrige Ansicht, dass, wenn aus der Leiche, vorausgesetzt, 
dass der Untersuchungsweise nichts zur Last fällt, kein Gift 
hergestellt werden kann, auch der Schluss sich ziehen lässt, 
dass kein Gift genommen und der Tod durch Krankheit 
verursacht wurde. Auf diese Weise würde sich die Gift- 
mordfrage auf einen sehr einfachen Streitpunkt reduzieren. 
Das hiesse Physiologie und Pathologie über Bord werfen 
und unseren Gerichten zumuten, nur dem Schmelztiegel und 
der Reagensröhre des Chemikers zu vertrauen. Hat denn 
die organische Chemie mit allen ihren neueren Fortschritten 
es so weit gebracht, dass kein Vergiftungstod stattfinden kann, 
ohne dass das Gift entweder im Magen, den Geweben, dem 
Blute, den Sekreten oder in all diesen Teilen gefunden würde?" 
. . . (Führt Gifte an und fährt nach längeren Ausführungen fort): 
„Wenn nicht, dann ist die Behauptung, es könne niemand 
an Gift sterben, ohne dass es sich in der Leiche fände, eine 
Täuschung oder Hintertür, um zahlreichen geheimen Gift- 
morden eine Freistätte zu gewähren. Sie ist überhaupt um 
so gefährlicher, als die Geschichte der Verbrechen zeigt, dass 
die Vergiftungsarten täglich raffinierter werden." 
Folgt man diesen Ausführungen, besonders am Schlüsse, so 
liegt freilich die relativ seltene Entdeckung von Giftmorden im Leben 
hauptsächlich an ihrem Raffinement, worin ja auch in der Tat 
recht Hübsches zu allen Zeiten geleistet worden ist. Der alte 
Ring und die hohle Gabel der Borgia lebt modernisiert wieder 
in einer Erzählung Greens^) auf. 

Das ungeeignetste Gift für Mordzwecke ist nach Casper- 
Liman') Strychnin. Zur Verübung eines Verbrechens wird es 
bei Gaboriau') benutzt, der es in Fleischbrühe aufgelöst geben 



K. Green: «Der Filigranschmuck". 
*) Casper-Liman: , Forensische Medizin". 
*) Emil Qaboriau: „Monsieur Lecoq*. 



- 31 — 

lässt. Sollte dies nicht praktisch ebenso anfechtbar sein, wie 
wenn er die Wirkung mit den Worten: 

«Schon nach wenigen Minuten (!) fing das Gift augen- 
scheinlich an zu wirken. Marianne wurde bleich, Schweiss- 
tropfen traten ihr auf die Stirn, ihre Lippen färbten sich 
blau, sie sank auf einen Tisch und sah mit einem ratlosen 
Ausdruck um sich" 
beschreibt? Denn Strychnin v/irkt doch verhältnismässig langsam. 
In genügend grossen Dosen stellt sich die Wirksamkeit der Gifte 
(ich folge hier dem wohl in mancher Beziehung veralteten, aber 
auf dem Gebiete der Tatsachen noch immer recht guten Casper- 
Liman), soweit sie hier In Frage kommen, wohl so dar: 
Blausäure weniger als 2 Minuten 
Oxalsäure 10—60 Minuten 

Starke Mineralsäuren 18 — 24 Stunden 
Arsenige Säuren 10 Stunden — 3 bis 4 Tage 

Opium 6 — 12 Stunden 

Strychnin 20 Minuten — 6 Stunden. 

Eine allgemeine Anwendbarkeit der Zeitdauer und einzelnen 
Dosen gibt es nicht. ') 

Wie man sieht, steht Blausäure obenan in der Wirksamkeit, 
und in der Tat ist es auch das von den Autoren mit Vorliebe 
angewendete Gift. Es hat allerdings den Fehler, schon durch 
seinen auffallenden Geruch sehr leicht nachweisbar zu sein und 
auch adie behauptete schnelle Wirkung ist durchaus nicht not- 
wendig und wahr".*) (Es wird der Fall eines jungen Mannes 
. zitiert, der das zum Selbstmord benutzte Gefäss noch entfernte 
und sich zum Sterben hinsetzte; desgleichen eine Frau, die des 
Gattenmordes verdächtigt wurde, weil der Selbstmörder — ihr 
Gatte — noch die Kraft gehabt hatte, das Fläschchen mit Blau- 
säure einzuschliessen.) Doch sind dies immerhin Ausnahn 
die sehr selten sind, Regel ist doch wohl die .behauptete sehr 
Wirkung". So stürzt bei Green') der Vergiftete schnell 
sammen, fasst nach der Kehle und bemüht sich vergeblich, 
aller Kraft aber umsonst — er kann die Worte nicht n 
hervorgurgeln, die den sinnverwirrenden Satz .Einer me 

'] Casper-Liman: „Forensische Medizin". II. 390. 

■) Ebend. [I. 491. 

", Green: „Einer meiner Söhne". 



— 32 - 

Söhne hat . . .*, der auf der Schrdbmaschine siebt eridaren 
soDen. Ähnlich sind die Symptome bei .John Darrovs 
Tod* geschildert einem Romane, von dem noch weit^ onten 
die Rede sein wird und der in brillanter Weise mehrere Ver- 
brechensarten einschachtelt Hier stirbt der alte Darrow durch den 
Biss der Russeis Viper (Daboia RusseliiX und sein Stertxn wird 
genau geschUdert Nachdem er den tödlichen Biss an der Kehte 
gespQrt springt er auf und schreit: «Ich bin ^stochen !" Das 
Krankheitsbild geht weiter: 

«Er wollte wieder sprechen, vermochte es aber nicht 
und sah uns mit einem Ausdruck der Hilflosigkeit an, den ich 
niemals vergessen werde. 

Im nächsten Augenblick war er auf den Fassen und aus 
dem Anschwellen seiner Venen, die an seinem Halse auf- 
quollen wie Stricke, konnten wir erkennen, welche schreck- 
lichen Anstrengungen er machte, ein Wort hervorzubringen* 
Endlich kamen die Töne, als würden sie mit Gewatt heraus- 
gerissen, zischend aus seiner Kehle; nach jedem Wort holte 
er tief Atem: .Rorence — ich wusste — es! Leb' — wohl! 
Halte — dein — Versprechen!" Hierauf fiel er, eine r^ungs- 

lose Masse, in seinen Stuhl . Ich löste 

ihm die Kleidung am Halse, und während ich dies tat, sank 

sein Kopf nach hinten, das Gesicht mir zugewendet Die 

Gesichtszüge waren verzogen — die Augen gläsern und starr. 

Ich fühlte nach seinem Herzen, er war tot*" 

Sofort tödlich und nur noch Zeit für einen kurzen Schrei 

übrig lassend, wirkt bei Doyle') der Biss der indischen Sumpfotter. 

Hier wendet sich das Verbrechen selbst g^en den Verbrecher und 

der Pfeil fliegt auf den ungeschickten Schützen zurück. Kaum ist 

der Schrei ertönt so stürzen Holmes und Watson in das Zimmer 

und finden Dr. Grimesby Roylott bereits tot das Kinn aufwärts 

gezogen und mit glasigen Augen in eine Zimmerecke starrend. 

«Um die Stime hatte er ein eigentümliches gelbes Band 

mit bräunUchen Tupfen, das anscheinend fest um seinen Kopf 

gewunden war. Bei unserem Eintreten gab er keinen Laut von 

sich und rührte sich nicht 

*} Melvin L Severy. John Darrows Tod"*. 
*) C. Doyle: J)as getupfte Band^ 



- 33 - 

„Das Bandl das getupfte Band!*' flüsterte Holmes. Ich 
tat einen Schritt vorwärts. Auf einmal begann der eigentüm- 
liche Kopfschmuck sich zu bewegen und mitten aus den Haaren 
des Dasitzenden erhob sich der platte, spitzige Kopf und der 
aufgeblasene Hals einer greulichen Schlange.* 
Sonderbarerweise wird dies Schlangengift, das bereits zum 
Tode eines Mädchens gefuhrt hat, trotzdem die Leiche von ärzt- 
licher Seite untersucht wird, bei dieser Untersuchung nicht ent- 
deckt oder auch nur beargwöhnt; als Todesursache vielmehr »durch 
Schrecken verursachte Nervenerschutterung'' angenommen. Auch 
Stevenson^) benutzt den Biss einer Fer-de-lance-Schlange, deren 
Biss, wenn er eine Arterie trifft, einen Mann in weniger als ein 
paar Minuten in ein «aufgedunsenes, faules Stück Fleisch" ver- 
wandeln soll. Und so findet man auch Tremaine wie er daliegt, 
den Mund weit geöffnet, den Körper und das Gesicht aufgedunsen 
und von rotblauer Farbe. Recht spannend behandelt in einem 
anderen Romane') Stevenson die Art und Weise, wie ein sehr 
schweres Verbrechen (Anklage des Vatermordes) entdeckt wird. 
Morde durch vergiftete Konfitüren und Kuchen lassen Green ') 
und M. Mc. Donneil Bodkin ^) begehen. Bei letzterem steht auch 
der einzige Fall, den ich in der Kriminalliteratur kenne, wo Toll- 
wutinfektion zu verbrecherischen Zwecken benfitzt wird. (V. Jensen 
bedient sich zwar in „Madame d^Ora** ebenfalls einer Infektion 
durch Tollwut, die bei einem Unfälle — ein Reagensröhrchen 
mit Tollwutreinkulturen zerbricht und infiziert die Heldin — in 
Aktion tritt Doch tut man meiner Ansicht nach dem Dichter 
unrecht, wenn man seinen Roman, trotzdem sogar ein Detektiv 
handelnd eingreift, für einen Kriminalroman hält. Eher könnte 
er antispiristisch gelten, aber auch dies nur cum grano salis). Der 
Doktor Kilkadely, Spezialist für Hundswut, begeht hier ein Ver- 
brechen, indem er das Hündchen seines Oheims mit Tollwut 
infiziert. Die Krankheft kommt zum Ausbruch, der Hund beisst 
seinen Herrn. Der Doktor erschiesst das Tier, der Onkel stirbt 



*) B. E. Stevenson: „Seine Kreolin". (Erschien im „Berliner Tage- 
blatt^ unter dem Titel „Das Perienhalsband'*.) 

*) Derselbe: „Fräulein Holliday". 

') Green: „Um Millionen**. 

*) Donneil Bodkin : „Der Hund und der Doktor*' in „Verschwindende 
Diamanten**. 

Orenzfragen d. Lit u. Medizin. 7. Heft. 3 



— 34 - 

und er beerbt ihn. Der untersuchende Detektiv kommt mit 
allerdings etwas sehr kühn gezeichneter Kombinationsgabe hinter 
die, wie er es mit „einer gewissen Anerkennung* nennt, «teuflische 
Untat "*. Aber er selbst weiss auch, dass das Gebäude der Anklage, 
die auf einer Lanzettenspitze fusst, die bei der Impfung des Hundes 
abbrach und im Kadaver gefunden wird, auf schwachem Fusse 
steht, und ist zu einem Kompromiss geneigt. Sehr beliebt ist end- 
lich noch das afrikanische Pfeilgift Curare, Doyle wendet es z. B. 
im (»iZeichen der Vier" an. Ebenfalls fär Morde benutzbar sind 
Stoss und Schlag, und grade sie ermöglichen für die Untersuchung, 
auf Grund des Sektionsbefundes, eine ziemlich genaue Beschreibung 
des benutzten Werkzeuges; der Standpunkt des Angreifers, die 
Kraft mit der das Verbrechen verübt wurde, lässt auf den Mörder 
schliessen und anderes mehr. 

Am meisten liest naturiich A. C. Doyle aus Verwundungen 
heraus, wohl weil er den Arzt mit dem Schriftsteller verbindet 
Ich gebe als Beispiel die Beweisaufnahme und Schlussfolgerung 
aus dem „Morde im Tale von Boscombe*'. Holmes liest den 
Sektionsbefund : 

«Nach Aussage des Wundarztes war am Kopf das 
hintere Drittel des linken Scheitelbeins, und die linke Hälfte 
des Hinterhauptbeins durch einen heftigen Schlag mit einer 
stumpfen Waffe zerschmettert worden.** 
Er untersucht den Fundort der Leiche, findet auf Grund des 
Sektionsbefundes das zum Morde benutzte Werkzeug, einen Stein. 
Auf Grund eigener Beobachtung wird ihm dann noch klar, dass 
der Mörder Linkshänder sein muss. ^) Er kombiniert weiter, er spürt 
jeder Fährte nach, sei sie auch noch so verborgen» und kommt 
zu dem Schlüsse — der bei Doyle deshalb immer wieder so ver- 
blüffend wirkt, weil er den Trick hat, (wie ich oben schon des 
längeren ausgeführt habe) das Resultat vor den Entwicklungsgang 
der Aufgabe zu setzen — , dass der Mörder ein grosser Mann 
ist, der links sein müsse, mit dem rechten Fusse hinke, stark- 
sohlige Jagdstiefel und einen grauen Mantel trüge, indische Zigarren 



^) In „Der schwarze Koffer"* wird das Motiv der Linkshändigkeit ge- 
schickt verwertet Der Knoten, der sich in dem um den Koffer gewundenen 
Strick befindet, rührt von einem Linkser her. Auf den zuerst sehr Belasteten 
(später natürlich Unschuldigen) passt alles Gravierende bis auf eben diese 
Linkshändigkeit. Autor der Erzählung ist nicht angegeben. 



- 35 - 

rauche, die er mit einem stumpfen Federmesser abschnitt. Natür- 
lich stimmt alles. Aus der Erweiterung der rechten Pupille kon- 
statiert Qodefroy 1 dass der Erschossene vorher auf der rechten 
Seite des Kopfes eine Gehirnverletzung erlitten haben müsse. 
Green') lässt die tödlich verwundete Frau Klemens mit eingeschla- 
genem Schädel auffinden, das Werkzeug, ein Stück Knüppelholz, 
liegt daneben. An ihrer Verletzung demonstriert der untersuchende 
Arzt, dass der Schlag von hinten gekommen sein müsse und 
zwar völlig unerwartet. Vor ihrem Ende kommt die Frau 
noch einmal zu rasch vorübergehendem Bewusstsein und stösst 
die Worte »Hand . . . und Ring" hervor, Worte, die in dem 
Romane so sinnverwirrend wirken, wie im Falle Ziethen') es 
die der sterbenden Frau Ziethen geworden sind. In »Seine Kreolin** 
wird aus der Tatsache, dass der Ermordete in wachem Zustande 
und von vorne niedergeschlagen worden ist, der Schluss gezogen, 
dass der Mörder, da das Opfer bei einem Wertobjekte Wache hielt, 
ein Bekannter gewesen sein müsse. Nur einen solchen hätte der 
Ermordete so nahe an sich herankommen lassen. Natürlich stimmt 
diese recht logische Folgerung. Auch die Verbrechen durch Stich- 
oder Schusswunden geben dem Untersuchenden eine grosse An- 
zahl von Aufschlüssen über den Täter. Mord durch Stichwunde 
ist beispielsweise benutzt von Jules Claretie.^) Die Leiche des 
Rov^re wird dort auf einem Teppich liegend gefunden, der die 
grosse Menge Blut, die aus einer Wunde am Halse geflossen ist, 
fast vollkommen aufgesogen hat. 

«Der Stich muss rasch geführt worden sein**, dachte der 
Polizeimann. Er näherte sich dem Leichnam vorsichtig, wie 
ein Jäger, der fürchtet, irgend eine Spur zu verwischen, sein 
lebhafter Blick eilte von dem leblosen Körper zu den Gegen- 
ständen, die ihn umgeben, und dann beugte er sich über das Opfer, 
um es zu studieren. Rovfek'e erschien in dieser tragischen 
Pose fast lebend; das bleiche hübsche Gesicht mit dem langen 



1) Stevenson: „Seine Kreohn'\ 

*) Green: „Hand und Ring**. 

*) Der „Fall Ziethen** ist wohl noch allgemein bekannt. Trotz Be- 
mühungen der bedeutendsten Manner gelang es nicht, dem Unglücklichen, 
der einem — mindestens recht anzweifelbarem Verdikt zum Opfer gefallen — 
das Wiederaufnahmeverfahren zu erwirken. 

^) Jules Claretie: „Das Auge des Toten**. 

3* 



- 36 — 

zugespitzten, wohlgepflegten grauen Bart hatte in seiner starren 
Unbew^ichkeit einen zornig drohenden Aosdruclc Dieser 
magere, aber starke Mann mosste flachend, aber mutig ge- 
fallen sein. 

Aber was am meisten auffid, war der Blidc, dieser ausser- 
gewöhnliche Blick . . . Die durch Zorn oder Schreck auf- 
gerissenen Augen schienen jemand niederschmettern zu wollen. 
Sie waren unermesslich weit, als wollten sie unter den sich 
straut)enden Brauen aus ihren Höhlen hervortreten. Sie lebten 
in diesem toten Gesicht* 

Ich zitiere die Stelle, die sich auf den Ausdruck der Augen 
bezieht, deshalb wörtlich, weil zur Entdeckung des Täters ein Ex- 
periment gemacht wird, das, wenn auch nicht wahr, so doch 
mindestens hübsch erhmden ist Auf Grund einer Publikation 
der Gesellschaft für gerichtliche Medizin, in der ein Doktor Vemois 
Ober Mitteilungen eines Provinzarztes referiert und der eine .Photo- 
graphische Aufnahme der Netzhaut einer am 14. Juni 1868 er- 
mordeten Frau* beiliegt, kommt der die Untersuchung führende 
Bemardet auf den Gedanken, die Netzhaut der Ermordeten zu 
photographieren. Er behauptet — allerdings sagt er vorher selbst : 
»Ich wette, wenn ich es einem Arzte sagte, Hess er mich in ein 
Narrenhaus sperren* — dass, da das Auge das Abbild der photo- 
graphischen Kamera wäre, auch die Netzhaut dementsprechend 
wirken müsse. Er beruft sich dabei auf ein interessantes, und den 
Physiologen wohlbekanntes Experiment Kühnes, über welches er 
folgendes im Roman erzählt: 

, — im Jahre 1877 erzählte mir der ausgezeichnete Akademi- 
ker Brouardet, dass Professor Kühne in Heidelberg, der frühere 
Präparator Claude Bemards, ihm gesagt habe, dass er die Frage 
Mieder aufgenommen habe. Nun, dem Professor Kühne war 
es in dem folgenden Experiment gelungen, einen Eindruck 
auf die Netzhaut hervorzubringen: von toten Hunden oder 
Kaninchen hob er den inneren Teil des Auges aus, wandte 
den hinteren Teil um, setzte ihn dem Licht aus und stellte 
zwischen das Auge und das Licht ein aus kleinen Eisen- 
blättchen bestehendes Netz. Dieses Netz wurde nach einer 
Viertelstunde sichtbar." 

In der Erzählung wird das Experiment angestellt und — miss- 
lingt Freilich nur dem Untersuchenden selbst wird dies ganz klar» 



- 37 — 

am Schlüsse des Romans geht Bemadet über die Strasse und 
liest in der Zeitung an der Spitze des Blattes: »Das Wissenschaft^ 
liehe Problem des Falls Rovfere. Ein dunkles Kapitel aus der ge- 
richtlichen Medizin. Das Auge des Toten. Der letzte Ankläger. 
Interviews und Meinungen der . . ." (folgt eine Reihe Namen). 

In „Verwehte Spuren" ^) wird durch den untersuchenden Arzt 
sogleich der Tod als durch ein spitzes Instrument — Dolch, 
Stilett oder langes schmales Messer — herbeigeführt, bezeichnet. 
Bei E. Kent') bekundet der Arzt, dass die Wunde durch eine sehr 
dünne Waffe, vielleicht ein Stilett, aber auch ebensogut durch eine 
Stricknadel, ja sogar durch eine Hutnadel verursacht sein könnte. 
Allerdings befindet sich die tödliche Verletzung genau in der Mitte 
des Herzens und ist so winzig, dass sie zuerst vollkommen über- 
sehen wurde. Als Waffe, die benutzt wurde, entpuppt sich dann 
tatsächlich eine Hutnadel. 

Am beliebtesten ist ohne Zweifel das Verbrechen mittelst 
Schusswaffen. In der Tat eignet sich auch nichts besser für die 
Technik des Romanaufbaus, als ein wohlgezielter Schuss. Die 
Wunde selbst ermöglicht eine genaue ärztliche Diagnose, ihre 
Beschaffenheit, das Kaliber des Geschosses, seine Durchschlags- 
kraft, der Schusskanal und sein Veriauf, Gewehr, Revolver, oder 
Pistole und besonders die Entfernung'), aus der der Schuss ab- 
gegeben wurde, all dies bietet dem geschickten Autor mannigfaltige 
Möglichkeiten und Material für den Aufbau von Theorien. Ander- 
seits hat die Schusswunde nicht die Nachteile, die in dem Möglich- 
keitsgebiete der Schlag- und Stichwunden liegen. Eine Frau bei- 
spielsweise wird einen Mann kaum niederschlagen können, und 
auch das Niederstechen muss die besondere Kunst des Schrift- 
stellers glaubhaft machen. Niederschiessen aber kann schliesslich 
jeder, ein zartes Mädchen, eine Frau, ein Kind, ja sogar mecha- 
nische Wirkung^) kann nutzbar gemacht werden, ohne besondere 



^) Fergus Hume: „Verwehte Spuren". 

') E. Kent: „Das Haus gegenüber**. 

') Bekanntlich eines der stärksten Argumente, die zur Revision des 
Hau-Prozesses fuhren sollen. Kein Romanautor hatte die Frage, aus welcher 
Entfernung der Schuss auf Frau Molitor fiel, nicht so vernachlässigt, wie 
dies im Prozess geschah. 

*) Heinrich Lee : „Ein Pistolenschuss" und W. Bodkin : „Nicht mit 
eigener Hand*'. Eine Wasserflasche wirkt als Brennglas und bewirkt die 
Entladung der Pistole. 



- 38 - 

Schwierigkeiten zu bieten. So wird z. B. Jean Baptiste *) im Bois 
de Boulogne erschossen aufgehinden: 

«Eine Schusswunde ging grade durchs Herz, und die 
versengte Kleidung lieferte den Beweis, dass der Schuss aus 
unmitelbarer Nähe abgefeuert sein musste. Es lag zweifellos 
Mord vor, denn man hatte keine Waffe gefunden, und die 
Spuren im Grase zeigten, dass die Leiche von der Land- 
strasse aus in das Dickicht, in dem man sie versteckt ge- 
funden hatte, geschleppt worden war.* 
Der Roman selbst behandelt übrigens eine Landesverrats- 
affäre, spielt in Paris und zeigt spezifisch französische Einzel- 
heiten ; ich halte ihn für erheblich schwächer als den mir ebenfalb 
vorliegenden zweiten Roman") desselben Autors, der von der 
Presse der „englische Gaboriau" genannt worden sein soll und 
tatsächlich wenn nicht alle Vorzüge, so doch in verstärktem Grade 
alle Fehler der Franzosen zeigt Das richtige Einschätzen des 
Wertes, dann die Entfernung, aus der der Schuss abgegeben wird, 
ist ein wichtiges, oft benutztes Moment 

Auf eine recht sonderbare Methode, einen Mord zu begehen 
kommt Jack London.^) Es ist eine bekannte Abart der Raub- 
fischerei, durch Dynamitexplosionen im Wasser die Fische zu 
betäuben. Der Mörder schenkt nun seinem Opfer, von dem er 
weiss, dass es diesem Sport huldigt, einen Hund, den er vorher 
mit vieler Mühe so abgerichtet hat, dass er fortgeworiene Gegen- 
stände sogleich apportiert. Als der Raubfischer nun die Dynamit- 
patrone ins Wasser wirft, springt der Hund hinterher und eih mit 
der Patrone im Maule zu seinem Herrn. Dieser läuft fort, er 
rennt aus Leibeskräften, denn er weiss, es geht um das Leben 
und hinter ihm her das Tier. „And then, just as she caught up, 
he in füll stride and she leaping with nose at his knee, there was 
a sudden flash, a burst of smoke, a terricific detonation and where 
man and dog had been the instant before there was naugth ta 
be Seen but a big hole in the ground." (Wie gesagt, die Art und 
Weise des Verbrechens scheint hier gewiss recht ausgefallen und 
doch schafft das Leben recht sonderbare Parallelen. Ein dem vor- 
stehenden ganz ähnlicher Fall ist mir persönlich bekannt Ein 

«TiEdmund Mitchell: „Das Modeir. 

*) Derselbe: „Gehetzt*. 

*) Jack London : „Moon Face*'. 



— 39 — 

Artillerieoffizier wollte seinen Hund, der krank war, töten, und da 
es ihm widerstrebte das Tier vergiften oder erschiessen zu 
lassen — vielleicht auch in einem Anfalle von Spielerei — 
er band dem, an einem Pfahle auf dem Exerzierplatz fest- 
gebundenen Tier, eine Dynamitpatrone an den Schwanz und ent- 
fernte sich um die Wirkung der Explosion von weitem abzuwarten. 
Das geängstigte Tier riss sich los und eilte auf ihn zu. Er er- 
reichte grade noch eine Eskaladierwand, an der er in Eile hoch- 
zuklimmen begann. Als er Ober die halbe Höhe hinaus war, 
hörte er unter sich die Explosion.) Derselbe Autor schildert in 
der, auf die eben angezogene folgenden Geschichte ^) eine ebenfalls 
weit hergeholte Art des Mordes, die in diesem Spezialfälle aller- 
dings sehr annehmbar klingt. Ein Tierbändiger Wallace bringt als 
Glanznummer das oft gezeigte Kunststück, wie er den Kopf in den 
Rachen eines Löwen, seines braven, bereits bejahrten „Old Augustus', 
steckt. Sein Feind, der Trapezkünstler de Ville hat ihm Rache 
geschworen und der Erzähler sieht, wie de Ville kurz vor dem 
Auftreten des Bändigers mit einem Taschentuch Bewegungen über 
dessen Kopf macht. Die great attraction kommt und: 

»Old Augustus, blinking good naturedly opened his 
mouth and in poppded Wallace*s head. Then the jaws came 
together, crunch, just like that.** The Leopard Man smiied 
in a sweetly wistful fashion and the far-away look came 
into his eyes. 

„And that was the end of King Wallace**, he went on 
in sad, low voice. „After the excitement cooled down I 
watched my chance and beut over ad smelied Wallace's head. 
Then I sneezed.** 

„It ... it was . . . ?" I quiered with halting eagerness 
„Snuff — that De Ville dropped on his hair in the 
dressing tent Old Augustus never meent to do it. He 
only sneezed.** 

Der Mord durch Radiumstrahlen, die, durch eine Wand 
hindurchgehend, das an derselben Wand liegende Opfer töten, 
während der Mörder sich selbst durch Abbiendung mit Bleiplatten 
schützt (praktisch dürfte dies ein recht teures Verbrechen werden), 
ist ebenso den neuesten wissenschaftlichen Entdeckungen ent- 



*) Jack London : ^The Leopard Man's Story". 



- 40 — 

sprangen, wie der Gedanke, einen automatisch betriebenen, selbst- 
tätigen Fahrstuhl durch elektrische Weilen von aussen her ver- 
unglücken zu lassen.^) Zigarren oder Zigaretten, die betauben, 
werden als Vorbereitung für ein Verbrechen oft angewandt, für 
Mordzwecke benutzt sie Doyle.*) Besser noch als er es tut, war 
das Verbrechen in einer Erzählung vorbereitet, die ich vor Jahren 
gelesen und trotz eiMger Bemühungen nicht wieder habe auffinden 
können. Der Anfang spielt in dem Laden eines armen Barbiers, 
der unter anderen zwei Freunde zu Kunden hat und von einem 
derselben durch eine grössere Summe Geldes bewogen wird, den 
anderen an der Lippe ein wenig zu schneiden. Er lässt sich 
leichten Herzens dazu bewegen, da ihm sein Auftraggeber aus- 
drücklich erklärt, es handeft sich um eine Wette. Natüriich ist 
ein Verbrechen geplant, das auch gelingt, da dem an der Lippe 
leicht Verletzten eine mit Gift präparierte Zigarre in die Hände 
gespielt wird. Sonderbare Verbrechen sind auch, bei Aug. Groner 
der Mord, der dadurch verübt wird, dass durch das Schlüsselloch 
hindurch (!) dem am Schreibtische sitzenden Opfer eine Kugel 
ins Herz geschossen wird ; bei Doyle ') Mord durch Blasrohrpfeile, 
versuchter Mord durch Zusammendrücken in einer hydraulischen 
Presse*), ja sogar Tod durch ein »verzaubertes Werkzeug".^) 

Absichtlich habe ich das Gebiet bis zum Schlüsse ge- 
lassen, das gegenwärtig in der Kriminalliteratur eine immer füh- 
rendere Stellung als Mittel zum Verbrechen nimmt Es ist 
die Hypnose. Sie spielt eine grosse Rolle in den „Histoires Penales", ^ 
von denen die erste „La tSte de cire"* einen Mord auf rein hypno- 
tischer Grundlage enthält. Der Sheriock Holmes der Geschichten 
ist der Doktor Maingot, und er erzählt in der „Wachsbüste", dass 
er seinerzeit die Leiche eines gewissen Herren Rosalba, dessen 
Frau mit Herrn Le Herpeu ein Verhältnis hat, als erster unter- 
sucht hat. Er hat nichts gefunden «II est mort de sa belle mort, 
je r ai certifiä et j* en t^moignerais devant la justice. On ne 1' a 



*) John H. A. Lightstone : „Ein Mann, der die Treppe hinunteiging*'. 
*) A.C. Doyle: „Ein medizinisches Geheimnis" in „Der Teufel in der 
Böttcherei". 

^ Derselbe: „Das Zeichen der Vier*'. 

*) Derselbe: „Der Daumen des Ingenieurs". 

») Derselbe: „The Silver Hatchet", „The Gully of Bluemansdyke" 

^ Henri Allais: «Histoires Pönales.* 



- 41 - 

pas touchä du bout du doigt et il ne s*est pas suicide.*' Und 

dennoch, obwohl, wie er mehrmals wiederholt, weiss, dass Herr 

Rosalba auch nicht mit der Spitze eines Fingers berfihrt worden 

ist, kann er den Gedanken an ein, durch fremde Einwirkung her 

von aussen bewirktes Ende nicht loswerden. Frau Rosalba hat 

einen Liebhaben »Cave amantem — M£fie-toi de son amour." 

Dieser Satz steht für ihn fest. Und vor seinem Gehirn „passaient 

les amoureuses h^roTques et perverses, Callirhoe, Jocaste, Häfene, 

ses soeurs aussi, la troupe malfaisante aux sourires cruels.* Eine 

Zeitlang blitzt mit Le Herpeu, dem „Jeteur de sorts", das alte 

satanistische Moment der Vergiftung in der Feme auf. Aber gleich 

darauf erklingt wieder das alte Leitmotiv, das bereits im Anfang 

in den Worten : „Ah I vous marchez dans les souliers de Charcot, 

de Bemheim et de Riebet!" gegeben wird. Denn Maingot ist 

sicher: 

„M. Rosalba n* a jamais 6t€ ni cardiaque, ni phtisique 

ni paralytique et Tapoplexie ne Ta pas frappd, j*ai le droit 

de Taffirmer en Tabsence de tout Symptome probant. II n* 

ätait pas plus poussif que vous ou moi. En revanche, il 

6tait n^vros^, mon enqufite de prhs d*une ann^e m'a certifi6 

tout cela. Elle m*a m&me appris autre chose, mon enqufite, 

eile m*a appris le nom de Tamant, le beau Le Herpeu, le 

„Jeteur de sorts". Eh bien, on a asphyxi^ notre homme, 

tout simplement. Qa vous £tonne, parbleu! Moi-mfime 

je me d^bats toujours contre cette ^vidence, et aujourd*hui 

encore je n*en suis qu*a soup^onner la m^thode employ£e 

pour obtenir ce r^sultat.* 

Lange Zeit ist er herumgetappt, jetzt sucht er Gewissheit, er hypno- 
tisiert Frau Rosalba in der grossen Gesellschaft, die aus lauter 
Langeweile auf das Gebiet des Hypnotismus gekommen ist sie 
spricht, es sind sonderbare Worte „ralentir la lampe", „souffler 
la lampe*", kehrt immer wieder. Den Damen und Herren, die 
herumsitzen, macht das viel Vergnügen, „ralentir la lampe" ist 
ihnen ein Scherz, ein sinnloser Ausruf; die Übertragung von Ge- 
danken, wie sie der Doktor eben versucht hat, ist recht amüsant, 
sie klatschen Beifall als die Hypnotisierte aufwacht und sich ver- 
wirrt und errötend verbeugt. Der Arzt aber geht hinaus, bleich, 
aufgeregt, ganz voll von seiner Entdeckung. Er hat sie hypnotisiert 
und gehofft: 



- 42 — 

,»Nous allons savoir comment on supprime un homme 
Sans y toucher; c*est curieuxi L*action toute puissante de 
la volontö sur les sens r^fiexes, sur la circulation . . . . ce 
serait Enorme! La Suggestion mortelle heini" 

und nun weiss er genau, wie der Mord geschehen ist Man hat 
den Ehemann hypnotisiert (Doktor Maingot hat inzwischen erfahren^ 
dass Frau Rosalba mit ihrem Geliebten hypnotische Sitzungen 
abgehalten hat) und dann: 

„Eh bien! quand le mari 6taiX en somnambulisme, on 
ordonnait tout simplement, pour le lendemain ou le jour 
m£me, ä teile heure que vous voudrez, le ralentissement du 
coeur, chaque fois plus long .... Bernheim a demontrd qu*on 
peut, chez les sujets entrain£s, provoquer ä l'^tat de veille 
des paralysies par Suggestion. Bottey est all6 plus loin : il a 
prouv£ Texistence de ce pouvoir sur des sujets non entraines 

Et Rosalba en lisant son Journal ou en s'habillant 

äprouvait des vertiges, des ^tourdissements, des suffocations 
incompr^hensibles .... Notez — ceci est un point capital — 
que sa femme et Tautre n'avaient pas besoin d*etre lä ; eile 
nous Ta däclarö, et c*est exact. Voilä le chef-d*oeuvret 
lls le tuaient ä distance . . . Un beau soir, ils Tont teliement 
ralenti qu'il en est demeur£ coi pour T^ternitd. ... 

Und Doktor Maingot geht hinweg, für ihn ist der Mord 
bewiesen, aber kein Gerichtshof der Welt wird ihm das glauben. 
Er wird sich auch sehr hüten mit seiner Anklage irgendwie her- 
vorzutreten, im Gegenteil — als erster wird er der Frau, wenn sie 
ihren Geliebten heiratet, gratulieren. Für ihn steht ja fest: 

,,L*arr£t du coeur mSme prolong^ jusqu*ä semblerdefinitiX 
n*est pas et ne peut etre un Symptome de mort convaincant (!) 
L*exp£rience bien connue des fakirs^) enterr^s durant des 
mois et renaissant ensuite, le d^montre assez; puisqu'ä 
Texhumation, toute pulsation, si legere soit-elle a cessS chez 
eux. Aussi T^lectrocution, employ^e aux Etats-Unis n'est-elle 
qu*un mode pr^caire et douteux de suppression de la vie. 



') (Jber die sog. „Wunder der indischen Fakire'* ist schon so viel ge- 
schrieben worden, dass die Erscheinungen allgemein bekannt sind. Lite- 
rarisch sind sie in letzter Zeit von Bleibtreu („Geisf* Geschichte einer Mann- 
helt) und Meyrink („Der Untergang") benutzt worden. 



- 43 - 

Si le m^decin s*en tient a rimmobilit^ du coeur pour certifier 
la mort, il risque fort de murer un vivant dans le tombeau*" 
aber das bleibt eine persönliche Ansicht. 

Der bereits oben erwähnte Roman »John Darrows Tod* ist 
— abgesehen davon, dass der Verbrecher durch Daktyloscopie ^ 
überfuhrt wird — deshalb besonders hervorzuheben, weil einer- 
seits Hypnose im Zusammenhang mit Selbstbeschuldigung eines 
unheilbar Kranken gebracht wird, und die Krankheit (Krebs) auf 
die Spur des Mörders fuhrt, anderseits die Lösung gradezu 
verblüffend wirkt. Der ganze Roman ist so geschickt aufgebaut, 
dass eine Inhaltsangabe wohl am Platze sein durfte, umsomehr 
als der Weg, den die Verfolger einschlagen, bis jetzt einzigartig ist. 
Der alte John Darrow sitzt am späten Nachmittag — die Däm- 
merung ist schon sehr weit vorgeschritten — in Gesellschaft seiner 
Tochter Florence und der Herren George Maitland, Clinton Brown, 
Karl Herne und des Autors (der Roman ist in Ich-Form geschrieben) 
in einem Salon und lauscht dem Gesänge der Tochter. Das 
Fenster hinter ihm ist ein Schiebefenster uud bis auf einen kleinen 
Spalt geschlossen. Der Sessel, in dem er sitzt, ragt weit über 
seinen Kopf hervor, so dass ihn kein Geschoss treffen kann. 
Plötzlich fährt er auf, fasst nach der Kehle und stirbt unter Ver- 
giftungserscheinungen, (vgl. oben.) Selbstmord ist ausgeschlossen, 
und auch der Meisterdetektiv Godin ist von einem gewaltsamen 
Ende überzeugt. Maitland, von Beruf Anwalt, ausNeigung Chemiker 
mit forensisch-medzinischem Einschlag, und der Autor übernehmen 
die Verfolgung. Eine einfache und sichere Spur bietet sich ihnen 
sogleich. Unter den Papieren des Ermordeten finden sich Notizen, 
dass er einst in Indien ein Liebesabenteuer gehabt hat, und dass 
er aus diesem Ereignisse her in Indien einen vielvermögenden 
Feind, Rama Ragobah, hat. Wie sehr er sich vor dessen 
Nachstellungen fürchtete, geht daraus hervor, dass er kurz vor 
seinem Tode in beständiger Angst und Aufregung war, ja sogar 
in Blättern, von denen er wusste, dass sie seiner Tochter nicht 
zu Gesicht kommen würden, eine Ankündigung erlassen hat, die 
dem Entdecker seines Mörders, falls er gewaltsam sterben sollte, 
eine grosse Belohnung verspricht. Alle inzwischen festgestellten 
Indizien, besonders die, dass sich zur Zeit des Mordes ein 
Mensch mit auffallend kleinen Händen und Füssen, von denen 

*) Ausführlich angewendet von Mark Twain : „Querkopf Wilson*'. 



- 44 — 



ein Fuss etwas misgestaltet sein muss, vor dem Fenster aufge- 
halten habe muss, treffen zu, und so wird Rama Ragobah, der in 
der fraglichen Zeit in Europa gewesen ist, verhaftet. Eine so simple 
Lösung wäre gegen alle Technik des Kriminalromans, und richtig — 
der schwer Belastete weist in durchaus einwandfreier Weise sein 
Alibi nach. 

Maitland sieht ein, dass ihn das Nichstliegendste irregeführt 
hat, er wird einen anderen Weg einschlagen. Durch ein genaues 
Ausscheidungsverfahren ist er dahin gelangt, in dem Mörder John 
Darrows einen Mann von reifem Alter und ausserordentlicher 
Schlauheit zu suchen. Das Verbrechen zeigt eine auffallende Ähn- 
lichkeit in Vorgeschichte und Schluss mit dem „Zeichen der Vier". 
Im Orte gibt es eine stadtische Bibliothek, vielleicht dass eine 
Durchsicht der Bucherzettel irgend ein Resultat ergibt. Nach ge- 
wissenhafter Durchsiebung aller Besteller, die das »Zeichen der 
Vier** in einer Reihenfolge mit anderen Büchern gelesen haben, 
bleiben zwei Besteller übrig, deren Auswahl einen gewissen Plan 
und eine gewisse Überiegung zeigt. Es sind dies die Herren Weltz 
und Rizzi und sie haben gelesen: 
Weltz: 



1. „Qiftkunde" von M. Oriila 
(Französisch). 

2. „Nattemgift und andere Ge- 
schichten** von Florence 
Marryat. 

3. „Eine praktische Abhandlung 
über Krebs'* von CT. John- 
ston. 

4. „Der entdeckte und entlarvte 
Betrüger** von R. Houdin. 

5. „Das Zeichen der Vier** von 
A. C. Doyle. 

6. „Der Krebs**, eine neue Be- 
handlungsmethode von W. 
H. Brondbeat. 



7. „Prozesse wegen Mordes 



Rizzi: 

1. „Giftlehre" von C. P. Galtcr 
(Franz.) 

2. „Nattemgift und andere Ge- 
schichten" von Florenze 
Marryat. 

3. „Eine praktische Abhandlung 
über Krebs** von C. T. John- 
stone. 

4. „Der entdeckte und entllarvte 
Betruger** von R. Houdin. 

5. „Das Zeichen der Vier** von 
A. C. Doyle, 

6. „Gerichtliche Chemie, ein 
Führer zur Entdeckung von 
Giften**. Hilfsbuch zur Qe- 
richtschemie von A. Naquet. 
Übersetzt v. Dr. J. P. Batters- 
hall. 

7. „Praktische Abhandlung über 



- 45 - 

durch Vergiftung" von G. L. Krebserkrankungen'* von H. 

Browne und C. G. Stewart. Lebert. (Franz.) 

8. „Praktische Beschreibung v. 8. „Praktische Beschreibung v. 
Giften" von O. H. Costill. Giften" von O. H. Costill. 

9. „Die Gifte, ihre Wirkung und 9. „Eine Abhandlung über Gifte 
ihr Nachweis" von Alexander in bezug auf gerichtliche Me- 
Winter-Blyth. dizin, Physiologie und prak- 
tische Physik" von Dr. 
Christison. 

10. „Die Gifte, usw/ 10. „Die Gifte, ihre Wirkung 

(Dasselbe Buch noch einmal). und ihr Nachweis" von 

Alexander Winter-Blyth. 

Die erste Annahme, es handele sich um zwei Studierende 
der Medizin, wird hinfällig, als eine Vergleichung der Handschriften 
auf den Bestellzetteln die Identität der beiden Entleiher ergibt, und 
auch die angegebene Wohnung sich als falsch erweist. In einem 
der Bucher über Gifte entdeckt Maitland einen durch Daumen- 
abdruck hervorgerufenen Schmutzfleck, er vergleicht den Abdruck 
mit dem, den er seinerzeit in dem Glase des Schiebefensters 
gefunden hat. Den Leser der Bücher finden und der Mörder ist 
gefunden. Vielleicht rührt das Interesse, das der Entleiher am 
Krebs nimmt, daher, dass er daran leidet. Sollte nicht ein Inserat, 
dasein neues epochemachendes Heilmittel ankündigt, Erfolg haben? 
Das Experiment gelingt, es führt sie in die Wohnung von Latour, 
alias Weltz, alias Rizzi, der hoffnungslos an Krebs erkrankt ist. 
Neben seiner Behausung, einem elenden, ärmlichen Zimmer logieren 
sich die Verfolger mit photographischen Apparaten, Mikrophonen 
und weiteren Errungenschaften der Technik ein, um den endlich 
entdeckten Mörder genau zu überwachen. Da öffnet sich die Tür 
zu dem Zimmer Latours, der Detektiv Godin tritt ein. Der vierte 
Teil des Romans schliesst mft der Zeitungsnotiz: „John Darrows 
Ermordung. Eine Spielschuld, die der Mörder nicht bezahlen 
konnte, der Beweggrund zum Verbrechen. Vorzügliche Leistung 
eines französichen Detektivs." 

Denn Godin hat Latour unter der Beschuldigung des Mordes 
an John Darrow verhaftet. 

Der fünfte Teil bringt die grosse Überraschung. Latour ist 
geständig des Mordes, er erklärt die tödliche Verwundung dadurch 
verursacht zu haben, dass er einen Affen, den er durch Ziehen 



- 46 - 

an einer Leine leitete, in das Zimmer geschoben habe, und zwar 
sei dies vom Fenster aus geschehen. Mit einer besonders kon- 
struierten Pravarz^schen Injektionsspritze, die in zwei Punkten von 
den bisher gebrauchten abwich: 

«Erstens war sie sehr klein und fasste nur fünf bis sechs 

Tropfen, und zweitens war von innen eine Feder angebracht, 

die, losgelassen, auf den Kolben wirkte und den Inhalt mit 

grösster Schnelligkeit hervorstiess." 

Auf die Frage, wodurch die Feder in Bewegung gesetzt wurde, 

heisst es weiter: 

„Um die nadelartige Spitze der Spritze zog sich, nur 
wenig vom Ende entfernt, ringförmig ein dünner Metallstreifen. 
Dieser kleine Metallkragen wurde beim Einführen der dünnen 
Spitze zurückgedrängt, durch diese Bewegung wurde die 
Federkraft ausgelöst und der. Inhalt sofort kräftig heraus- 
gespritzt. '^ 

Als benutztes Gift nennt er Cyanwasserstoffsäure.* 
Und nun kommt die Pointe. Maitland, der den Angeklagten 
verteidigt, überreicht dem Detektiv Godin, der Latour gegenüber 
sitzt und ihn mit funkelnden Augen fixiert, eine photographische 
Platte, die er ihn so halten lässt, dass sich der Daumen des 
Detektivs auf ihr abdrückt. Der Abdruck ist derselbe wie der 
so lange gesuchte. Maitland wird zum Ankläger, er weist nach, 
dass Godin dem Latour die ganze Sache suggeriert, dass Godin 
der Mörder ist. Resultat: Godin hat Herrn Darrows durch den 
Biss einer Schlange, die er an einem Stock durch die Fenster- 
ritze schob, getötet. Das Motiv war die Höhe der Belohnung, 
die Darrow selbst ausgesetzt, und die ihm, da er ja den selbst 
gestehenden Mörder entdeckte, auch ohne Maitlands Geschicklich- 
keit zugekommen wäre. 

Der Roman enthält viele medizinische und chemische Einzel- 
heiten; er beweist wieder einmal, welche Summe von Scharfsinn 
und Einbildungskraft der Mensch grade, wenn es sich um das 
Böse handelt, anzuwenden geneigt ist. 

Ich habe bei Jerome K. Jerome einmal die Stelle gelesen: 
„Es ist ein äusserst trauriger Gedanke, ** bemerkte Mac-Shangassey 
sinnend, „was für ein verzweifelt langweiliges Nest diese Erde 
sein würde, wenn es nicht unsere Freunde, die schlechten Menschen, 
gäbe. Wisst ihr," fuhr er fort „wenn ich von Leuten höre, die 



- 47 - 



in der Welt herumlaufen und versuchen, alle Menschen zu bessern 
und gut zu machen, dann werde ich ganz nervös. Rottet einmal 
die Sünde aus und die Literatur wird der Vergangenheit angehören.'' 
Wenigstens die Kriminalliteratur. 



Schundliteratur. 

Die Schundliteratur auf dem Gebiete krimineller Publizistik 
in ihren grellen, buntbedruckten Heften, entwickelt sich immer mehr 
zu einer Gefahr für die Volkspsyche, und es ist schwer ver- 
standlich, wie die Kreise, die in Kunst- und Literaturfragen stets 
geneigt sind, nach Polizei und Zensur zu rufen, einer derartigen 
literarischen Brunnenvergiftung ruhig zusehen können. Kriminai- 
fälle letzter Zeit haben deutlich bewiesen, welche Gefahr in dieser 
Zufuhr von blutrünstigem Blödsinn liegt. Bei den Kriminalromanen 
im allgemeinen liegt ein gewisses Sicherheitsventil schon in ihrem 
Preise (dies Moment wird leider bei der Beurteilung von lite- 
rarischen Sittlichkeits- oder Unsittlichkeitsfragen vollkommen ver- 
nachlässigt; wer sich z. B. die „Nächte der Gamianid** oder 
«Gespräche der Aloisia Sigaea" leisten kann, ist mit anderem 
Masse zu messen, als jemand, der seinen erotischen Bedarf in 
Zwanzigpfennigheften von „Was man nicht laut erzählt", „Intime 
Geschichten** usw. deckt, und auch öffentliche Bibliotheken und 
Leihbibliotheken haben doch immer ein etwas durchgesiebtes 
Publikum. 

Für die Beurteilung von „Nick Carter**, „Aus den Geheim- 
akten eines Weltdetektivs** (hier hat sich der Vertag den ursprung- 
lichen Titel „Sheriock Holmes**, den der auch sonst, z. B. Hornung, 
tapfer plagiierende Verfasser ursprunglich gewählt, hatte energisch 
verbeten), „Detektiv Nobody** usw. gelten meiner Ansicht nach in 
doppeltem und dreifachem Masse die Worte, die Herr Professor Gross 
— allerdings ein Gegner des Kriminalromans überhaupt — mir so 
liebenswürdig war zu schreiben. Er sagt unter anderem: „Ich habe 
vor vielen Jahren in einem Laden eine kleine, mumienartig getrocknete 
Seejungfrau gesehen: Der Kopf eines Affen mit Hahnensporen als 
Hörnern, die Vorderpfoten eines Maulwurfs, der Hinterleib eines 
Hechtes und die Sprungbeine eines grossen Frosches waren feucht 



— 48 — 



ober einem Hol^eslril angebradit, die Nahtstellen mit Kitt un* 
sichtbar gemacht und so war eine Sirene fertig. Alles war echt 
und die Sache lustig zom l)esdien, abar wenn einer ^ubte — 
und es standen stets Dutzende ¥on Menschen vor dem Laden 
— er habe eine echte Seejungfrau mit eigenen Augen gesehen» 
so war doch Unwahres und somit Schädliches eneugL An diese 
Sirene denke ich bei den meisten Kriminalromanen, die ich lese.* 



Der Kriminalroman in seiner Beziehung 
zur Medizin und Psychiatrie. 



Es ist kein Zufall, dass der Verfasser der heut am meisten 
verbreiteten Kriminalromane aus dem ärzdichen Stande hervor* 
gegangen ist Der moderne Kriminalroman hat ausserordentlich 
viele Beziehungen, wie sich aus unserer Darstellung ergibt, zur 
Medizin und den verwandten Wissenschaften und steht im Grunde 
^nommen viel mehr auf dem Grenzgebiete von Literatur und 
Medizin als dort, wo er seiner Natur nach hingehört, auf der Grenze 
der Literatur und Jurisprudenz. Naturwissenschaft und Medizin 
ist ein Hilfsmittel des Kriminalschriftstellers geworden. Darin liegt 
im wesentiichen der Unterschied des Kriminalromans wie er sich 
bei Doyle und den anderen Vertretern dieser Literaturgattung 
entwickelt hat und dem Vater der Kriminalnovelle, E. A. Poe. Der 
moderne Autor zieht alle Errungenschaften der Physiologie, der 
Medizin, der Pharmakologie etc. heran, macht sie seinen Zwecken 
dienstbar und benutzt sie geschickt an passenden Stellen, um den 
Leser zu verbluffen, seine Spannung zu erhöhen und die Losung 
herbeizuführen. Der Detektiv up to date ist physiologisch gebildet 
(vgl. oben den Kfihneschen Versuch), er ist bis in alle Einzel- 
heiten vertraut mit der Wirkung aller Gifte, wie er aus den Aschen- 
resten die Zigarrensorte erkennt, er ist Chemiker, Hypnotiseur,, 
weiss die Radiumstrahlen zu benutzen u.s.w. — mit anderen 
Worten: er verfügt aber das ganze Arsenal wissenschaftlicher 
Errungenschaften. Anders Poes Dupin. Auch er ist ein Aus- 
nahmemensch mit ungewöhnlichen Kenntnissen; aber während 
uns Holmes-Doyle durch die geschickte und geistreiche Ausnutzung^ 
äusserlicher Erscheinungen imponiert und verblufft, wirkt Poes 



- 49 — 

Detektive durch seine geistreichen psychologischen Deduktionen. 
Eine so feine psychologische Auseinandersetzung, wie sie Poe in dem 
.«entwendeten Brief gibt (s. oben S. ), werden wir vergeblich bei 
allen seinen Nachahmern suchen. Pur Poe ist der „Chevalier, 
Auguste Dupin" in erster Reihe Psychologe und in der Novelle, 
in welcher er uns zuerst mit ihm bekannt macht, charakterisiert 
er ihn vor allem als den feinen Menschenkenner und Denker, 
der eine Viertelstunde stillschweigend neben seinem Freunde einher- 
geht und dann plötzlich, an seinen Gedankengang anknüpfend, 
genau den Gedanken in Worten wiedergibt, der den Freund 
eben beschäftigt hat. 

Poes Kriminalnovellen besitzen nicht bloss den Vorzug einer 
unvergleichlich höheren Kunstform, sondern sie weisen eine psycho- 
logische Vertiefung auf, wie bei keinem seiner Nachahmer. Hieran 
müsste der moderne Kriminalroman anknüpfen, wenn er einen 
höheren literarischen Wert gewinnen, und wenn er auf seinen er- 
weiterten Leserkreis belehrend einwirken will. Die Psyche des 
Verbrechers klariegen, seine Handlungsweise aus seiner geistigen 
Organisation erklären, und bei der engen Verknüpfung von Ver- 
brechertum und Degeneration jene degenerativen Zustände, welche 
ins Gebiet der Psychiatrie fallen (ethische, geistige Minder- 
wertigkeit, epileptische Äquivalente, Dämmerzustände etc. etc.) 
dem Verständnis des Lesers nahebringen, darin sehe ich die 
lohnende Aufgabe des Kriminalromans der Zukunft Ich will 
im folgenden zeigen, wie der Schriftsteller und sein Detektiv dieser 
Aufgabe gerecht werden kann, an der Hand eines Kriminalfalles, 
der wie kein anderer die Öffentlichkeit erregt hat, und den wir 
in seinen Einzelheiten beim Leser als bekannt voraussetzen dürfen. 



Anhang. 

Der Fall Hau als Kriminalroman. 

Der Fall Hau und kein Ende! Der Zeitungsleser ist bereits 
der ganzen Sache überdrüssig, und sein Organ nennt alle, die noch 
das Wort zu der Angelegenheit ergreifen „sensationslüstern*. Aber 
kann man überhaupt von „Sensationslust" sprechen, wenn 
es den Kopf eines Menschen gilt? Bei dem Hazardspiel, das 

Qrenzf ragen d. Lit. u. Medizin. 7. Heft. 4 



- 50 - 

Qeschwomengericht heisst, sind die Würfel gefallen, und das 
Haupt des Verurteilten wackelt. Wackelt mehr als je, denn der 
milde Mann auf dem Ttirone, der das Todesurteil sicher nicht 
bestätigt hätte, ist gestorben. 

Sensationslust! Das Wort hat fibelen Klang und würde mehr 
als je grade in dieser Studie zu vermeiden sein. Erst „Kriminal- 
roman* und dann noch «Hau*. Aber der Prozess las sich wie 
der spannendste Kriminalroman, ein interessantes Moment folgte 
dem andern, immer geschlossener schien der Indizienbeweis 
— beinahe so geschlossen wie in einem guten Roman. Dann 
aber kam jäh und hart das »Schuldig'' der Geschworenen. 
Als das gefallen war, hatte ich das Gefühl, man müsste 
hingehen zu den Geschwomen und ihnen einen guten Krimi- 
nalroman zu lesen geben. Am besten den schon mehrmals 
erwähnten «Einer meiner Söhne* ^), wo sich jedesmal der Indizien- 
beweis so fest um den jeweilig Beschuldigten legt, dass man sagen 
möchte, „dieser ist es*, und jedesmal dann eine einzige, winzige 
Kleinigkeit den ganzen schönen Aufbau umwirft Darin liegt für 
mich der erziehende Wert des Kriminalromans, dass er zeigt, in 
welches Netz von Anschuldigungen und Beweisen man verstrickt 
werden kann, wie Dummheiten und Unüberlegtheiten, die jeder 
einmal gelegentlich macht, sich zu erdrückendem Beweismaterial 
auswachsen können. Im Romane freilich, da löst der Detektiv 
den Knoten und spürt die feinsten Fäden auf, die zu dem wahren 
Schuldigen führen. Grade Sherlock Holmes spricht oft über den 
Indizienbeweis und warnt direkt vor einem sich allzu schön zu- 
sammenfügenden Bilde. Man spricht ja im Leben oft von einer 
Sache, die „zu schön* ist, auch vom Indizienbeweis sollte dies 
gelten. Gebt jedem Geschworenen, jedem Richter und Staatsanwalt 
vor grossen Kriminalfällen, bei denen es um Tod oder Leben 
geht, einen guten Kriminalroman, damit er etwas von der Psyche 
des Beschuldigten — meinetwegen von dem Autor stark über- 
trieben — lerne. Es gibt in Juristenkreisen vielfach die Ansicht, 
dass es für einen wirklich Schuldigen besser sei, vor ein Schwur- 
gericht zu kommen, der Unschuldige oder nicht ausreichend Be- 
lastete günstigere Aussichten vor dem Straf rieh ter habe. Wehe 



*) Green: „Einer meiner Söhne". Green baut überhaupt gern auf — 
im entscheidenden Augenbh'ck zusammenbrechenden — Indizienbeweisen. 
Vgl. auch Farjeon: „Die Herz-Neun'* und Rosner: „Der FaU Versegy". 



- 51 - 

den letzteren, wenn sie persönlich unsympathisch sind oder aus 
anderen Kreisen stammen, als die Männer auf der Qeschworenen- 
bank. Die Psychologie der Geschworenen ist noch zu schreiben, 
ein Kunstler, ein Dichter und tiefster Menschenkenner mfisste dies 
tun. Bis dahin aber muss der Kriminalroman — natürlich der 
gute — den Zweck erffillen und den zu verantwortlichstem Tun 
Berufenen Zweifel an ihrer Qottähnlichkeit auslösen. Man werfe 
nicht ein, dass der Roman Situationen schaffe, die das Leben 
nicht kennt,^) nichts ist so absurd erdacht, als dass die Wirklich- 
lichkeit es nicht fiberholen kann. 

Ein Todesurteil, das auf einen Indizienbeweis (sogar einen 
wunderbar klappenden) hin gefällt wurde, und das im letzten 
Augenblick durch das Eintreten des tüchtigen Cdocceji nicht voll- 
streckt wurde, führte einst zur Aufhebung der Tortur in Preussen. 
Ob die geistige Tortur eines zu Unrecht Beschuldigten geringer 
ist, der hilflos in seiner Zelle sitzt (denn nicht jeder hat einen 
tüchtigen Verteidiger und die Mittel, für seine Unschuld streiten 
zu können, oder findet wie im Romane den smarten Detektiv, 
der für ihn kämpft), angewiesen auf sich selbst und seinen Rechts- 
beistand, während Untersuchungsrichter und Staatsanwalt mit einem 
Federzug Hunderte von Hilfskräften in Bewegung setzen? Der 
auf die Folter Gespannte gestand Verbrechen, die er nie begangen, 
bekannte Dinge, von denen er nichts wusste; sollte nicht auch 
für den, der geistig, wie es in der Chronik von den Judenver- 
folgungen heisst, „spasshaft förschelnd inquirieret und torquieret 
wird", der Zeitpunkt kommen, an dem er zusammenbricht? In 
„Monsieur Lecoq*" bedient sich der Untersuchungsrichter aller 
dieser geistigen Torturmittel, freilich zeichnet ihn Gaboriau sonst 
durchaus sympathisch. Den Stand des Untersuchungsrichters in 
Ehren, aber er sitzt da, um Material in erster Reihe gegen den 
Angeklagten zu sammeln ; Entlastungszeuge zu sein gehört neuer- 
dings nicht grade zu den Annehmlichkeiten des Lebens und der 
Sachverständige hat zuweilen einen sehr schweren Stand. 

Wenn der Kriminalroman sonst nichts tut, als all diese 
Zweifel und Beklemmungen bei dem Leser aufsteigen zu lassen, 
dann ist sein Zweck ein guter und vollkommen ausreichend. Es 



') Man vergleiche die suggerierte Zeugenaussage in ,John Darrows 
Tod*' und die (falsche) Selbstbezichtigung im Essener Prozess. (Mord der 
Miss Lake.) 

4* 



- 52 - 

ist hier nicht der Ort zu polemisieren, und in dem AtatfmMe 
über ^»Schundliteratur* habe ich meinen Standpunkt bereite Mir- 
gelegt, aber man komme doch ttm Himmelswinen nicht iimiier 
mit moralischen Bedenken. Es gibt sicherlich viele Leute, 4fe 
auch den „Faust* nur als ausgewähltes Dichtwerk und iiMer 
Weglassung aller anstössigen Stellen lesen können, aber die wird 
doch kein vernünftiger Mensch als Norm gelten lassen. 

Eine gute Theorie muss auch die Praxis aushalten könneti; 
versuchen wir einmal die theoretischen Lehren des Kriminalromans 
in ihrer Anwendbarkeit auf den Fall Hau. Wie etwa wird ein 
englischer Autor den Mord an der Frau Molitor für Romanzwecke 
behandeln? Ich hoffe, dass A. C. Doyle, da sein Detektiv nun 
doch einmal der bekannteste Typ ist, es nicht übelnehmen wird, 
wenn wir ihn und seinen Doktor Sherlock Holmes mit der Be- 
arbeitung des Falles beauftragen und ihn ausdrücklichst anweisen, 
die Technik des Kriminalromans dabei zu benutzen. 

Als Sherlock Holmes in Karlsruhe eingetroffen war, bahnte 
er sich durch die dichten Massen den Weg nach dem Qerichts- 
gebäude. Um ihn her drängte sich eine fieberhaft erregte Menge, 
die in ungeduldiger Spannung auf den Urteilsspruch harrte. 
Dann kam von drüben wie ein dumpfes Stöhnen der Ruf 
„Schuldig" und grollte weiter fort in den Massen. Zwischendurch 
ein gellender Ruf, hasserfüllte Schreie gegen die „rote Olga*'. 
Sheriock Holmes schüttelte den Kopf. Hinter der scharfgeschnittenen 
Stirne seltsame Gedanken. Dort oben ein eines Kapitalverbrechens 
schuldig Befundener, und hier unten Tausende von Menschen, 
bangend um das Schicksal des einen, der in dem hohen Saale 
des Schwurgerichts um sein Leben kämpfte. Was war all denen 
um ihn herum der Rechtsanwalt und Professor Hau, was sind sie 
ihm? Massenbewusstsein, Massenpsychologie I Polizisten von allen 
Seiten, die sich bemühen Ordnung zu schaffen, und die machtlos 
gegen den Ansturm sind. Zwei Kompagnien Leibgrenadiere rucken 
an, um den Platz zu säubern. Der Detektiv trat den Ruckzug 
an, gestossen und geschoben von der, endlich der Gewalt wei- 
chenden Menge. Er hatte viel mitgemacht, Hungerrevolten in Ir- 
land, Aufstandsversuche in englischen Kolonien und Massen- 
meetings von Anarchisten in Patterson. Überall dort trieb aber 
die Menge ihr eigenes Interesse, ihr ureigenstes Selbst kam in Frage. 
Und hier? Vox populi, vox dei? Keiner der Ihrigen ist der nun 



- 53 - 

zum To4e Verurteilte; der Herr Rechtsanwalt, in dem elegant 
sitzenden schwarzen Oehrock und dem fabelhaft hohen Kragen, 
würde sich sehr für die Leute, die unten bis tief in die Nacht 
hinein warten, bedanken und die behandschuhte Rechte schwerlich 
einem derer zum Grusse reichen, die für ihn im Dunkel der 
Nacirt demonstrieren. 

Sherlock Holmes ging in sein Hotel, wohin ihn der 
mysteriöse Absender des Telegramms, das ihn nach dem Kontinent 
gerufen, für den nächsten Morgen bestellt hatte. Pünktlich um 
elf Uhr begab er sich in den eleganten Rauchsalon, wo ein älterer 
gutgekleideter Herr ihm mit einer leichten Verbeugung entgegentrat. 

„Habe ich die Ehre Herrn Doktor Holmes . . . ?" 

Holmes verbeugte sich. 

„ich bin der Vorsitzende des Bundes zur ,Aufhebung der 
Todesstrafe' und habe Sie gebeten, uns für den vorliegenden 
Fall mit Ihrem bewährten Rate nützlich zu sein. Was wir an- 
streben, ist zunächst die Forderung, dass auf einen Indizien- 
beweis hin kein Todesurteil gefällt werden darf. Unserer Ansicht 
nach stehen die Gegner unserer Bestrebungen auf dem Stand- 
punkt der menschlichen Unfehlbarkeit, sie setzen den mathe- 
matischen ,negativen Beweis' in praktische Formen um und gehen 
an der schrecklichen Liste von Justizmorden — doppelt und drei- 
fach schrecklich, weil sie im Namen der Gerechtigkeit geschehen 
sind — ohne Bedenken vorüber. Für uns ist der vorliegende Fall 
von prinzipieller Bedeutung. Ob Herr Hau sympathisch oder un- 
sympathisch, kümmert uns nicht (mir persönlich ist er immer noch 
sympathischer, als der Held der ,affaire', und Sie werden mich 
grade als Engländer besser verstehen, wenn ich Ihnen sage, dass 
mir vom nationalen Standpunkt aus ein Zeitungsfeldzug für Hau 
angenehmer ist, als für den Leuteschinder und grimmigen Deutschen- 
hasser Dreyfuss), lediglich die Tatsache, dass Indizien zweifel- 
hafter Art — trotzdem Entlastungszeugen genug auftraten — dais 
Urteil auf Mord zuwege gebracht haben, kommt für uns in Frage. 
Ja ich gehe noch weher, ich sage, dass Hau ganz ruhig schuldig 
sein kann, und dennoch um des leisen Restes von Zweifels willen, 
der trotz und alledem iibrig bleibt, nicht verurteilt werden dürfte. 
Ich habe Ihnen hier eine Reihe bedeutendster Leitungen mitgebracht, 
die Ihnen, dem Ausländer, das eben gesagte verständlich machen 
werden und klar zeigen, dass in den weitesten Kreisen das Todes- 



— 54 - 

urteil Befremden erregt. Sie sehen hier die «Nationalzeitung*, 
das ,Beriiner Tageblatt', die ,Wiener Neue freie Presse', den 
«Rheinischen Kurier', das ,Badener Tageblatt', usw. Um der 
Parallele mit dem ,Bild des Dorian Gray' willen mache ich Sie 
hier noch besonders auf ,das Bild des Rechtsanwalts Hau* in der 
«Berliner Morgen post' aufmerksam. Was wir erkämpfen wollen, 
das finden sie dort in dem schönen Schlussworte: 

,Denn wir sind anders als jene Minner in Karlsruhe. 
Wir sind gewohnt, hinter jeder Antwort eine neue Frage zu 
sehen, wir misstrauen unserem Urteil, dessen Grenzen wir 
kennen und geben in unserem Bemuhen, fremde Dinge, fremde 
Menschen nach ihrer Weise zu verstehen, dem Seltsamsten, 
dem ,Unmöglichen' Raum.^) Wir gehen lieber zu langsam 
als zu schnell, wir schonen lieber einen Schuldigen, als dass 
wir einen Unschuldigen strafen. Vielleicht ist unser Erwägen 
manchmal allzu empfindsam, unser Gewissen allzu furchtsam 
vor künftiger Reue. Aber wir haben den Mut unserer Feig- 
heit, und der Zweifel hätte Macht über uns auch vor dem 
Bildnisse des Karl Hau.' 

Noch einmal, das prinzipielle Element, die Hoffnung, dass 
dieser Prozess den Anstoss für höchst notwendige Reformen der 
Strafprozessordnung geben wird, deren Blutzeuge auch ein Rechts- 
anwalt Hau sein kann, hat uns bewogen, Sie um Hilfe anzugehen. 
Ihr Erscheinen zeigt die Bereitwilligkeit, in Geldausgaben haben 
Sie vollkommen carte blanche. Wie lange brauchen Sie Zeit für 
Ihre Erhebungen?** 
^Acht Tage." 

„Abgemacht. Also heut über eine Woche hier im Hotel 
um dieselbe. Zeit. Leben Sie wohl, Herr Holmes, und Glück 
auf den Wegl Noch einmal, es handelt sich nicht darum, den 
wahren Täter zu finden, sondern lediglich, auf Ihrer Methode 
aufbauend, den Weg anzugeben, den Sie gegangen wären. Besonders 
interessieren uns natürlich dabei die Widersprüche , in die Sie sich 
zu unserer Behandlung des Prozesses setzen werden. Ich habe 
die Ehre." 

Ein kräftiges Händeschütteln und die Herren trennten sich. 

^} In der „Kriminalpsychologie" sagt Gross oft nach irgend einer Aus- 
fuhrung, dass wahrscheinlich kein Gerichtshof der Welt dem Angeklagten, 
wenn er ähnliches ausführte, es glauben würde . 



- 55 - 

Als Holmes zur verabredeten Zeit wieder im Rauchzimmer 
des Hotels dem Vorsitzenden, den diesmal noch einige Herren 
begleitet hatten, gegenüber sass, zfindete er sich noch eine 
Zigarette an, tat ein paar lange Züge, lehnte sich in dem schweren 
englischen Klubsessel zurück, schlug die Beine übereinander 
und begann: 

„Nachdem ich mich in den Besitz des vollständigen Prozess- 
berichtes gesetzt hatte, ging ich an die Arbeit. Ich werde Ihnen 
die Punkte, die mir aufgefallen sind, der Reihe nach vortragen. 
Zunächst versuchte ich mich von dem eben gelesenen möglichst 
zu emanzipieren. Ich begann mit der Urfrage jedes Ver- 
brechens: cui bono? Diese und die Aussagen der Belastungs- 
zeugen führten mich auf — den Rechtsanwalt und ausserordent- 
lichen Professor an der George Washington - Universität Karl 
Hau. Sie sehen, ich komme zu demselben Resultat wie der 
Staatsanwalt. Aber ich bin kein öffentlicher Ankläger, ich musste 
gerechterweise prüfen, was für den Beschuldigten spricht. Und 
da fiel das Qeldmotiv völlig. Erstens erhält er ja das Geld überhaupt 
nicht, wie sich herausgestellt hat. Dann aber war grade Hau 
als Rechtsanwalt genau in der Lage zu wissen, wie lange eine 
Erbschaftsregulierung dauert Bis sie beendet, ist er längst er- 
ledigt, wenn ihm das Messer wirklich, wie der Staatsanwalt will, 
so an der Kehle sitzt Der Staatsanwalt sagt, das mache nichts, 
er könne sich ja Geld darauf hin leihen. Ich glaube. Hau könnte 
nichts Ungeschickteres tun, als — wenn er bis dahin glücklich 
entkommen — durch Beleihungsversuche (die doch praktisch nicht 
so glatt gehen und bei denen obendrein gewöhnlich ein schönes 
Stück Geld verloren wird, die zudem im Anfangsstadium der 
Erbschaftsregulierung schwerlich ohne Wissen der Miterben gemacht 
werden können) die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Allerdings 
schalte ich hier eine Frage vollkommen aus, auf die ich am Schlüsse 
eingehen will. Ich schliesse streng logisch und will alle Un- 
begreiflichkeiten, die lächerliche Verkleidung usw. für später auf- 
sparen. Das ,cui bono' hat für mich versagt, ich nehme das 
Gegenstück, das alte ,cave amantem*, das moderne ,cherchez 
la femme*. Ich habe die Absicht mich nach Korsika zu begeben. 
Dort muss sich, dies ist meine feste Überzeugung, der Schlüssel 
des Rätsels finden lassen, von dort aus heisst es den Lebens- 
bahnen des Hau und der Familie Molitor nachspüren. Seien Sie 



- 56 — 

überzeugt ein Erfolg, mag er auch noch so klein sein, wird die 
Bemühungen belohnen. Die im Prozesse nur gestreifte Selbst- 
mordaffaire — wenn man sie so nennen will — ist für mich zur 
Beurteilung der Psyche von Haus Gattin höchst wertvoll. Der 
Geist der unglücklichen Frau muss heraufbeschworen werden, 
ungeheuer wichtig ist ihre Psychologie, denn ihr Testament brach 
dem Rechtsanwalt nach meiner Überzeugung den Hals. Wer so 
zum Romanhaften neigt wie Frau Hau (dies soll beileibe kern 
Tadel sein, ich verwahre mich ausdröcklich dagegen) ist für die 
wichtige Frage, ob der Gatte Täter oder nicht ist, keine Autorität, 
ja nicht einmal ernsthaft zu befragen. Zieht man sie jedoch 
trotzdem zur Zeugin heran, warum wird das Belastende ffir Hau 
emsig zusammengetragen, während das harte Votum fiber den 
Belastungszeugen Bachelin, das dem Angeklagten hätte nützen 
können, nicht weiter wichtig erschien? 

Ich beschränke mich in weiteren Ausführungen, um zu dem 
wichtigsten aller Punkte zu gelangen. Natürlich meine ich den 
tödlichen Schuss. Meine Herren I Alles was sonst in der Verhand- 
lung geschehen sein mag, will ich verzeihen. Unentschuldbar aber 
ist für mich und absolut unverständlich, dass nicht eine Debatte, 
die gar nicht zu lang sein konnte, über die Entfernung des Schiessen- 
den von seinem Opfer, den Schusskanal, die Art und Weise, wie 
geschossen wurde usw. stattgefunden hat. Nicht einmal eine Be- 
sichtigung des Tatortes! „Da es sich um den Kopf eines Menschen 
handelt, wäre dringend eine Augenscheinnahme an Ort und Stelle 
notwendig gewesen, zumal sonst reine Lappalien dazu Veran- 
lassung geben.** las ich in einer Zeitung.^) Dabei komme ich 
auf einen Punkt, den ich aufs lebhafteste bedaure, den ich aber 
nicht umgehen kann. Fiat justitia, pereat mundus! Auf Grund 
von vielfachen Versuchen, die ich machte, kam ich zu derselben 
Überzeugung wie ein Herr, der so liebenswürdig war, mich zu 
zitieren.*) Wird in unmittelbarster Nähe hinter dem Rücken irgend 
eines Menschen — natürlich darf er darauf nicht vorbereitet sein — 
ein lautes Geräusch hörbar, geschweige gar der Knall eines 
Schusses, so ist sein erster Impuls, sich umzudrehen. Wie der 
eben erwähnte Herr setze auch ich meinen Kopf dafür zum Pfände. 
Bedenken Sie doch, meine Herren, dass, wenn ein neben mir 

') „Badener Tageblatt <. 

*) Dr. Martin Beradt in der „Gegenwart''. 



— 57 - 

Gehender auch sofort nach dem Schuss zusammenbricht, dennoch 
das Bewusstsein des gehörten Schusses früher in meinen Vor- 
stelhingskreis tritt als das Zusammenbrechen. Tierversuche, die 
ich anstellte, haben mich, ebenso wie die Lektfire, davon über- 
zeugt, dass grade ein genau durchs Herz Getroffener (natürlich 
cum grano salis verstanden, es ist eine Sekundenrechnung I) nicht 
sofort zusammenstürzt. Sie verstehen, worauf ich hinaus will, 
dass nämlich der erste Vorstellungskreis (des Schusses) nicht un- 
mittelbar durch das Zusammenbrechen ausgelöst werden kann, 
zumal, wenn der Schuss so nahe abgegeben wird, dass er die 
Kleider versengt. Diese Tatsache steht unumstösslich fest. Da 
Hau bedeutend grösser als Frau Molitor ist, muss er nach der 
Richtung des Schusskanals beinahe in die Kniebeuge gehen. Ehe 
er ausser Sicht kommt, hat er — im langen Mantel obendrein 
— immerhin noch gegen 30 Meter zu durchlaufen. Ich habe 
natürlich selbst diese Versuche gemacht, auch die Rekorde der 
besten englischen und deutschen Läufer zu Rat gezogen und 
trotzdem immer noch 5 Sekunden gebraucht, Zeit genug, um das 
Bild eines Fliehenden zu erfassen. Ich sage damit absolut nichts 
gegen die Aussage des Fräulein Olga Molitor, die Aufnahmefähig- 
keit jedes einzelnen Zeugen ist verschieden,^) aber diese wäre für 
mich durch geeignete Experimente zu prüfen. Selbstverständlich 
habe ich die Zeiten genau ausgeprobt. Ich nahm das für den 
Angeklagten Ungünstigste, die Zeit 6 Uhr 3 Minuten, als Augen- 
blick der Tat an. 6 Uhr 15 Minuten geht sein Zug. Da durch 
Zeugenaussagen eidlich bekundet wird, dass nach Abgabe des 
Schusses kein Mann die Lindenstaffeln passiert hat, blieb mir nur 
<ler vom Staatsanwalt verlangte Weg durch die Gärten. Ich rede 
nicht von der Sinnlosigkeit, durch Villengärten fliehen zu wollen, 
von der verzweifelt geringen Chance nicht angehalten oder ge- 
sehen zu werden, ich behaupte ganz einfach (da auch hier zu 
Lande Gärten eingezäunt werden und selbst Durchschnittszäune 
nicht so leicht mit einem langen Mantel überstiegen werden, und 
führe mich selbst — der ich gut durchtrainiert und guter Turner 
obendrein bin — als Beweis an), dass der Weg bis zur Bahn, für 
<ien noch 12 Minuten bleiben, eine Höchstleistung ist, die ich wohl 



<) Professor Gross bespricht ausfuhrlich diese Frage. Man denke 
auch an die bekannten Experimente von Liszt 



- 58 - 

allenfalls einem Sportsmanne, der einen neuen Rekord aufsteilen 
will, aber nicht einem um sein Leben fliehenden Mörder zutraue. 
Bei einer derart wichtigen Angelegenheit wie die vorliegende, und 
wo ja auch bei Ihnen der Ruf »Menschenleben in Gefahr' allem 
anderen vorgeht, hätten diese Zeitexperimente in allen Variationen 
unbedingt gemacht werden müssen. 

Eminent wichtig ist natürlich für mich die Frage nach dem 
Mann, den die Freifrau von Reitzenstein gesehen hat. Ich bin 
auf eifrigster Suche nach ihm und halte mich auch jetzt noch 
verpflichtet, in allen Hotels und Gasthäusern nachzuforschen. In- 
wieweit der verhaftete Lindenau damit in Zusammenhang zu bringen 
ist, muss erst die Verhandlung ergeben. Ausser Zweifel ist für 
mich« dass ich, falls ich den zur Tat benutzten Revolver im Be- 
sitze hätte, feststellen könnte, wo er gekauft wurde, und wer der 
Käufer war. 

Ich habe meine weiteren Bedenken schriftlich dargelegt und 
werde Ihnen das Manuskript übergeben. Ich will jetzt die Sache 
von einem anderen Standpunkte aus betrachten. Wie Sie wissen, 
bin ich von Haus aus etwas Mediziner und auch Sie, die Sie mir 
hier gegenübersitzen, sind, wie ich erfahren habe, in fiberwiegender 
Mehrheit Ärzte. Sehen wir einmal von der Schuldfrage vollkommen 
ab, ist Hau denn überhaupt vollkommen normal? Ist er für seine 
Handlungen voll verantwortlich? Die Sache mit dem Kreditbrief gab 
mir zu denken. Da Hau genau wusste, dass er den Schaden zu 
tragen hatte, war seine Handlungsweise direkt läppisch und dumm. 
Handelt so ein Mensch mit gesunden Sinnen? Hängt sich ein 
geistig normaler Mensch einen derart schlecht gemachten Bait um, 
steckt sich in eine derart auffallende Verkleidung? Der kluge Rechts- 
anwalt, läuft er bei gesunden Sinnen nicht wie der blutdürstige 
Mörder einer Schmiere sechsten Ranges herum? 

Die Aussage, richtiger das Gutachten, des Sachverständigen 
Medizinalrat Dr. Kayser-Karisruhe verstehe ich nicht ganz. Nach- 
dem zu Anfang gesagt worden ist: ,Er zitterte stark und zeigte 
starke Reflexe. Er zuckte stets zusammen' kommt der Unter- 
suchende zu dem Schlüsse, dass trotzdem von einer geistigen 
Störung keine Rede sein könnte. Dies ist zweifelsohne sein gutes 
Recht. Seinen nachherigen Ausspruch ,es kann sich nur um eine 
überlegte, bedachte Tat handeln* kann er doch nur abgeben, wenn 
er den Täter genau kennt. Dem gegenüber stelle ich hier folgende 



- 59 - 

Aussagen durchweg gebildeter Zeugen, indem ich zwar nur das 
auf den Geisteszustand Haus Bezügliche erwähne, jedoch keines- 
wegs so aus dem Zusammenhang reisse, dass der Sinn irgendwie 
verändert wird. 
Frau Dr. Müller-Linz: ,Er machte mir ganz den Eindruck eines 

irrsinnigen Menschen*. (Sie erwähnt auch die bereits oben 

besprochene ,Edelsteinmanie'.) 
Oberlehrer Schlich-Saarlouis. Der Zeuge traf Hau noch einmal im 

September 1906. Damals zeigte er sich sehr mürrisch, ein- 
silbig und geistesabwesend. 
Assistenzarzt Dr. Schmitz-Bonn fiel das eigentümliche überspannte 

Wesen Haus auf. Die Frage des Vorsitzenden, ob er Hau 

für geisteskrank halte, beantwortet er dahin: *,Er scheint nur 

psychopathisch zu sein.' 
Rittergutsbesitzer Meissen-Köln. Als er von der Tat hörte, sagte 

Zeuge sich gleich : ,Man sieht da wieder, wenn Hau die Tat 

begangen hat, dass Genie und Wahnsinn nahe bei einander 

liegen.* 
Volksschullehrer Staut-Saarbrücken : Die geistige Entwicklung Haus 

sei nicht normal gewesen. 
Gerichtsassessor Karolath-Greiz hält Hau für absonderlich, 
Kandidat Henkel ist ein Schulfreund von Hau. Er schildert ihn 

als typisch degeneriert. Hau hätte einen Hang zum Mystischen 

gehabt. Auf der Schule hiess es bereits (!) er habe einen 

,Spleen'. 
Referendar Moritz, ein Studienfreund Haus. Sagt aus, dass dieser 

sich in einer Weise einsam hielt, die an den jungen Nietzsche 

erinnert. Hält ihn für einen der interessantesten Köpfe, weil 

er der anormalste war. 
Rektor Gemmel-Köln kennt Hau von Jugend auf. Er ist früh 

reif gewesen. Sein Geist war unstet und überladen, während 

sein Körper sehr schwach war. 

Glänzende Zeugnisse für Hau geben ferner Kaplan Tinkert 
und Kandidat Kiem ab. All dies ist viel zu wenig beachtet worden. 
Und vor meinem geistigen Auge steht das Bild des tief degenierten 
und stark psychopathisch belasteten Angeklagten, den eine irr- 
sinnige Leidenschaft zu unmöglichsten Tollheiten verführt, der 
daheim eine kranke Frau hat, und der zu lange mit dem Gedanken 
an die schöne Schwägerin gespielt hat Die ganzen Unbegreiflich- 



- 60 — 

Reitea werden für mich erklärlich, wenn ich eine — meinetwegen 
momentane — Herabsetzung der Geisteskräfte annehme. Nur aus 
der mangelhaften Organisation des Psychopathen lassen sich, 
Haus volle Schuld vorausgesetzt, die Motive seiner Handlungsweise 
herleiten. Hier musste den Sachverständigen ein breiter Spielraum 
in der Aufklärung der Geschworenen und des Publikums ein- 
geräumt werden. Worin liegt der Widerspruch in der festen 
Überzeugung der Geschworenen und den immer wieder laut- 
gewordenen Zweifeln des grossen Publikums? Ganz besonders und 
in erster Reihe da, dass die Menge Hau für eine hervorragende Per- 
sönlichkeit, für eine grosse geistige Kapazität hält, für einen Progenerä, 
während er in Wirklichkeit von Geburt geistig minderwertig ist 
und der ausgesprochene Typus des Degener^. Nur wer dessen 
Eigenart kennt, seinen sprunghaften Charakter, seine unberechen- 
bare, widersinnige, unerkläriiche Handlungsweise, vor allem seine 
Affekthandlungen, der wird die Tat Haus begreifen können. Wem 
die Aussagen der angeführten Zeugen nicht genügen, der wird in 
dem Vorieben Haus seit seiner frühesten Kindheit, wie es der 
Prozess vor aller Augen aufgerollt hat, die sprechendsten Beweise 
für meine Diagnose finden können. Nun ist ja bei Ihnen zwischen 
der Begehung eines Verbrechens im Dämmer- und unzurechnungs- 
fähigen Zustande bis zu der Wohltat des § 51 ein weiter Schritt. Von 
Korsika aus müssen auch für die psychiatrischen Sachverständigen 
die Forschungen beginnen. Trefflicher, glaube ich, wird sich kein 
Bild eines kranken Ehepaares zusammenfügen, als das des Rechts- 
anwaltes Hau und seiner Gattin. Auf Grund dieser Deduktionen 
muss weiter aufgebaut werden, der Urteilsspruch kann nicht be- 
stehen vor dem geisteskranken Verbrecher, der einen schweren 
Typhusanfall durchgemacht hat, in einer Lungenheilanstalt war 
und nicht vollkommen ausgeheilter Luetiker ist. Wie wichtig ist 
die }edem Mediziner bekannte Tatsache, auf die sonderbarerweise 
kein Sachverständiger hingewiesen hat, dass die Libido sexualis 
der Tuberkulösen, namentlich im vorgeschrittenen Stadium, ge- 
wohnlich sehr gesteigert ist. An den Männern auf der Geschworenen- 
bank gehen die psychopathischen Feinheiten vorüber, Sache der 
Sachverständigen ist es und wäre es gewesen, sie den Richtenden 
näher zu rücken. 

Die Verteidiger sind tüchtige Leute. Sollte es zu einem 
neuen Verfahren kommen, werden sie die Fra^ der geistigen 



- 61 - 

Minderwertigkeit sicher zur Sprache bringen. Was ich sonst noch 
an neuen Punkten gesammelt habe, rate ich dann erst zu ver- 
öffentlichen.'* 

Der Vorsitzende erhob sich und streckte dem Detektiv die 
Hand entgegen: 

„Ich danke Ihnen bestens für Ihre Mitarbeit. Dürfen wir 
auch ferner auf Sie zahlen?'' 

Der Engländer lächelte leicht: 

„Ihr Deutschen seid komische Leute. Ihr lest ganz gerne 
Kriminalromane, und begeistert euch theoretisch für den .consulting- 
detektive*. Wenn es aber zur Praxis kommt, und ein Schriftsteller den 
Kampf für einen, wie er glaubt zu Unrecht Verurteilten antritt, 
dann muss er sich viel gefallen lassen. Lautere Motive glaubt 
man ihm nicht. Ich habe das Buch von Lindau gelesen und sah 
neulich in einem Witzblatt eine darauf bezugliche Karikatur, in 
der er, weil er das Unglück hatte, einen sensationellen Stoff zu 
finden, als Kolportageroman-Schriftsteller wiedergegeben war. Es 
ist mir überhaupt aufgefallen, wie viel Leute auf einmal ihr allem 
Sensationellen abgewandtes Herz entdeckten. Mich trifft das wenig, 
für Verfolgte trete ich ganz ein, auch wenn ich mich lächerlich 
mache. Ich halte den Kopf eines Menschen für einen zu edlen 
Gegenstand als dass auch nur irgend etwas versäumt werden 
darf; wo es sich um Sein oder Nichtsein handelt, ist jeder 
Kampf edel. 

Hätte Voltaire weiter nichts getan, als den Streit im Prozesse 
Calas geführt und den schrecklichen Justizmord nachgewiesen, er 
verdiente die Unsterblichkeit. Er deckte den Rechtsirrtum auf; 
obenan auf der goldenen Tafel der Wohltäter der Menschheit 
müsste sein Name prangen, weil er in jahrelangem Mühen bewies,^ 
auf wie schwachen Füssen die menschliche Gerechtigkeit steht. 
Und auch ich möchte gerne überall den Kampf aufnehmen, aber 
Sie wissen es ja, ich bin leider nur eine Romanfigur. " 



&H^U. 



QRENZFRAOEN DER LITERATUR UND MEDIZIN 

in Einzeldarstellungen 

herausgegeben von Dr. S. RAHMER, BERLIN. 

8. Heft. 



Edgar Allan Poe 



Dr. Ferdinand Probst 

München-Eglfing. 



n Teil Sklave von Machten gc- 

sen bin, Ober die wir Mensciaen 

mal« Herr werden können," 

Poe „w. Wilson". 



MÜNCHEN 1908 

ERNST REINHARDT. Verlagsbuchhandlung 

Jägerstrasse 17. 



Inhaltsverzeichnis. 



Seit« 

Vorwort 8 

Verlauf des äusseren Lebens 5 

Persönlichkeit und Krankheit 8 

Die Werke 26 



Vorwort. 

über Poe existiert, besonders in englischer Sprache, eine 
umfangreiche Literatur; abgesehen von ganz modernen Ansätzen 
zeigt sich aber in derselben fast überall der alte Fehler. Entweder 
wird der Dichter von einem moralisierenden Standpunkt herab 
beurteilt und als Ausbund verworfener Gesinnungen dargestellt; 
oder aber der Darsteller macht Poe's Sache zu seiner eigenen und 
versucht nun eine Mohrenwäsche, eine „Rettung*, wobei der edle 
Zweck die Mittel heiligt. Während die einen nur einen unver- 
besserlichen Trunkenbold mit wirrer Phantasie in ihm sehen, 
feiern ihn die anderen als einen glänzenden Heros, der die neue 
Literaturepoche eröffnete und seinen Platz neben Goethe haben 
muss. In Wirklichkeit aber lässt sich das Problem „Poe" ganz 
klar lösen, wenn man sich bemüht, recht objektiv zu sein. Es 
soll nicht darüber gestritten werden, ob er gut oder böse, ob er 
ein kleiner oder ein grosser Dichter war; das kann jeder für sich 
halten wie er will; hier soll lediglich festgestellt werden, warum 
Poe eben so sein musste, wie er war. Sein begeisterter Biograph 
und Seelenverwandter Baudelaire lässt Poe das grausame Wort 
Notwendigkeit (pas de chance) auf der Stirne tragen. Von dieser 
Notwendigkeit will ich sprechen. Van Vleuten hat bereits 1903 
in einem Aufsatze in der »Zukunft" die Grundlinien der Krank- 
heit Poe's klar skizziert und ihn als Epileptiker mit Trunksuchts- 
anfällen aufgefasst. Ich glaube, es dürfte sich mit Ausnahme 
Dostojewsky^s nicht leicht ein Fall finden, bei dem die Dichtungen 
so klar die verschiedenen pathologischen Seelenvorgänge des 
Dichters widerspiegeln. Moeller-Bruck sagt, in Poes Hauptwerken 
„hat sich der ganze Mensch entschält, sodass sie in ihrer Gesamt- 
heit eigentlich nur einen einzigen grossen Roman bilden, der den Titel 
Poe führen müsste. Man braucht alle diese Novellen nur in Gedanken 
zu verbinden . . . und man hätte den Roman des Lebens Poe's**. 

Ich will zunächst einen gedrängten Überblick über die äusseren 
Schicksale Poe's geben; denn ich halte die Kenntnis dieser Daten 



— 4 — 

für absolut nötig zum Verständnis der ganzen Persönlichkeit, wenn 
auch H. H. Ewers in seiner Arbeit über Poe ganz verächtlich 
^von diesen allergleichgiltigsten Daten" spricht. An der Hand 
dieser Daten will ich dann die Persönlichkeit Poe's, seine Krank- 
heit und die Art seines Schaffens schildern. Endlich will ich 
das Krankhafte in seinen Werken selbst darstellen. 

Die aus Poe*s Werken zitierten Stellen entnehme ich der 
vorzuglichen Moeller-Bruck*schen Übersetzung (Bruns* Verlag 
Minden i. W.) 



Verlauf des äusseren Lebens. 

Edgar Poe entstammt einer alten irischen Familie, die Mitte 
des 18. Jahrhunderts nach Amerika ausgewandert war. Er ist 
am 19. Januar 1809 zu Boston geboren. Sein Vater war mit 
einer englischen Schauspielerin verheiratet und hatte sich wegen 
dieser Heirat mit seiner Familie entzweit. Schon im Jahre 1811 
starben beide Eltern rasch nacheinander an Tuberkulose. Als 
auch die Grosseltem bald darauf starben, wurde Poe von dem 
reichen Herrn Allan adoptiert (daher E. Allan P.); 1816 reiste er 
mit seinen Pflegeeltern nach Schottiand und England, wo er bis 1821 
in einem Institute zu Stoke-Newington verblieb; 1821 bezog er 
die Akademie zu Richmond. Das Jahr 1826 verbrachte er auf 
der Universität Charlotteville. Wegen einiger Exzesse soll er von 
dort entiassen worden sein; diese Tatsache wird neuerdings be- 
stritten; sicher ist aber, dass er damals mit dem Alkohol Bekannt- 
schaft machte, dass er femer eine unbesiegbare Leidenschaft ffir 
das Kartenspiel hatte, und dass er in Schulden geriet Es folgte 
ein Zerwürfnis mit dem Adoptivvater, infolgedessen Poe den Ent- 
schluss fasste, nach Griechenland zu reisen und sich wie Byron 
den Freiheitskämpfern anzuschliessen. 1829 kehrte er zu Allan 
zurück. Nie hat er selbst über diese Periode seines Lebens eine 
Andeutung gemacht; man weiss nur, dass er nicht in Griechen- 
land war, dass er eines Tages ohne Pass und „in kompromittier- 
liehen Verhältnissen* in Petersburg auftauchte und erst durch Ver- 
mittiung des dortigen amerikanischen Gesandten die Heimreise 
antreten konnte. Man hat versucht, diese Begebenheiten als Le- 
gende hinzustellen, aber doch nicht vermocht, dann diese Lücke 
von 1828—29 irgendwie auszufüllen; ich konnte mich von der 
Stichhaltigkeit der Gegengründe absolut nicht überzeugen. — 

Am 27. Februar 1829 starb Frau Allan. Am 1. Juli 1830 
bezog Poe die Militär-Akademie Westpoint als Kadett; doch wurde 
er schon nach wenigen Monaten (7. Januar 1831) wegen ver- 
schiedener Pflichtverletzungen und Insubordination wieder ent- 



- 6 — 

lassen. Während das Verfahren noch gegen ihn schwebte, gab 
er einen Band Gedichte heraus, die er dem Kadettenkorps widmete, 
Nach Hause zurückgekehrt, fiberwarf er sich definitiv mit seinem 
Adoptivvater ; Allan ging eine neue Ehe ein und enterbte Poe vollständig. 
Poe war damals in eine Miss Royster (spätere Mrs. Shelton) verliebt 
Nun folgten einige Jahre tiefsten Elends, über welche genaue Nach- 
richten fehlen; kurze Zeit soll Poe sogar als Soldat angeworben 
gewesen sein. Im Oktober 1833 gelang es ihm, einen literarischen 
Preis zu erringen, den die Zeitschrift „Saturday Visitor* zu Baltimore 
ausgeschrieben hatte; dabei machte er die Bekanntschaft Kennedy*s, 
der sich sogleich aufs freundschaftlichste des Unglücklichen an- 
nahm. Durch Kennedy*s Empfehlung wurde Poe als Redakteur 
an dem von Thomas White eben gegründeten „Southern Literary 
Messenger** zu Richmond angestellt (August 1834) und seine 
Zukunft schien endlich gesichert Nahezu zwei Jahre arbeitete Poe an 
dem Blatte als dessen Hauptstütze, lieferte Kritiken, Aufsätze und 
vor allem phantastische Erzählungen. Im Jahre 1836 heiratete er 
seine Cousine Virginia Clemm, eine Tochter seiner Vaterschwester; 
sie litt damals schon an vorgeschrittener Tuberkulose der Lungen. 
Im Januar 1837 gab Poe seine gesicherte Stellung plötzlich auf; 
der Grund lag in ,»Anfällen von Hypochondrie und Krisen von 
Trunkenheit**, wodurch er sich mit White überwarf; es sind »die 
charakteristischen Vorkommnisse, die von Zeit zu Zeit seinen 
Qeisteshimmel verdunkelten ** (Baudelaire). Dass White mit Poe 
späterhin freundliche Briefe wechselte, beweist natüriich nichts; 
denn dieser wollte begreiflicherweise den wertvollen Mitarbeiter nicht 
ganz verlieren; auch waren durch den Weggang Poe's die Ur- 
sachen der Reibereien gefallen. Zudem wiederholt sich nun fast 
monoton dieser Stellenwechsel, und es ist ganz unmöglich, dafür 
jedesmal logisch einleuchtende, praktische Erklärungen aufzustellen. 
Poe fand dann Stellung bei der «New York Quarteriy Review"; 
aber im Jahre 1838 finden wir ihn abermals auf einem anderen 
Posten ; er ist nun zu Philadelphia zuerst Mitarbeiter, dann Heraus- 
geber des „Gentlemans Magazine"; 1840 arbeitet er für »Grahams 
Magazine", dann für den „Pioneer" u. a. m.; 1844 ist er beim 
„Daily Mirror" in New York angestellt; nach 6 Monaten geht er 
weg; 1845 übernimmt er das „Broadway Journal", dessen alleiniger 
Eigentümer er im Oktober 1845 wird; endlich im Besitze eines 
eigenen Blattes, muss er dasselbe schon am Anfang 1846 aufgeben, 



— 7 — 

da sich nicht genug Abonnenten fanden, obwohl Poe damals seine 
berühmtesten Arbeiten schon veröffentlicht hatte und allgemein 
bekannt war. Im Sommer 1846 bezog er ein Häuschen, fast eine 
Hütte, in dem Dorf Fordham, wo er in tiefster Zurfickgezogenheit 
armselig lebte; seine Frau war im letzten Stadium der Schwind- 
sucht und starb im Januar 1847. Poe tauchte erst Anfang 1848 
wieder auf; er selbst spricht des öftem von der schweren Krank- 
heit, die er 1847/48 durchgemacht habe; er schreibt sogar einmal, 
dass er drei Jahre »recht krank" gewesen sei; es waren Anfälle 
von Wahnsinn („Delirium''), die im Zusammenhang mit dem Tode 
seiner Frau und anderen später zu schildernden Einflüssen das 
Jahr 1847 zu dem »most immemorial year** machten. Aus dieser 
Zeit stammt das „philosophische** Werk „Heureka **, dem noch einige 
kleine ahnliche Arbeiten folgten. Anfang 1848 kehrte Poe wieder 
in die Öffentlichkeit zurück, schrieb für Journale, hielt Vortrage. 
Im September 1848 veriobte er sich; die Verlobung wurde aber 
schon im Dezember, einen Tag vor der Heirat, wieder gelöst; 
Poe soll an diesem Tag plötzlich grobe Exzesse begangen haben 
und schwer betrunken gewesen sein; Baudelaire meint, sein Heros 
habe das getan, um seiner ersten Frau die Treue zu wahren — ein 
richtiges Beispiel von psychologischer Konstruktion. Im Sommer 1 849 
schien sich der Himmel noch einmal aufzuhellen; Poe's Vor- 
lesungen fanden Beifall; er trat mit seiner Jugendgeliebten, die 
Witwe geworden war, wieder in Beziehung. Da erkrankte er am 
4. X. 1849, als er eben von Richmond nach Baltimore, wo er 
Vorträge halten sollte, abfuhr, an Frösteln, allgemeinen Unbehagen 
und wurde am 6. X. besinnungslos in Baltimore auf der Strasse 
liegend gefunden. Über seinen Verbleib während der letzten 
zwei Tage sind eine Reihe Überiieferungen im Umlauf; er soll, 
durch sein Übelbefinden veranlasst, in eine Schenke gegangen sein; 
dort sei er ins Zechen gekommen ; den bereits Delirierenden habe 
dann eine Rotte Wahlagenten mitgeschleppt und ihn endlich auf 
der Strasse liegen gelassen. Ins Hospital verbracht, starb Poe 
bereits am nächsten Tage, erst 37 Jahre alt, an Gehirnentzündung, 
wie sein Biograph Ingram sich vorsichtig ausdrückt, »dahingerafft 
durch das Delirium tremens, diesen furchtbaren Gast, der bereits 
ein- oder zweimal in seinem Gehirn umgegangen", wie Baudelaire 
ehrlich sagt, da er die ganze Tragik dieses unglückseligen Lebens 
erfasst hatte. 



Persönlichkeit und Krankheit. 

Poe ist das Ausklingen eines alten Geschlechtes; seine Vor- 
fahren, die sich bis in das 12.Jahrhundertzuruckverfolgen lassen» 
hatten sich stets durch einen romantisch-exzentrischen Charakter 
ausgezeichnet. Über spezielle psychische Erkrankungen in der 
Aszendenz ist jedoch nichts bekannt. Poe selbst bezeichnet sich 
„als Abkömmling eines Geschlechtes, an dem von alters her eine 
starke Einbildungskraft und ein leicht erregbares Gefühlsleben 
auffiel**. Schon der Vaters Poe*s stellt einen Degenerationstypus 
dar, der in vielem dem des Sohnes gleicht; er entzweit sich in 
jungen Jahren um seiner Liebe willen mit der Familie, führt ein 
unruhiges Schauspielerleben und geht früh an Tuberkulose zu- 
grunde; auch seine Frau erliegt fast gleichzeitig dieser Krankheit 
Poe nennt seine Eltern „ziemlich willensschwach und ausserdem 
an den gleichen Erbfehlern leidend**. 

So war Poe »im vollsten Sinne des Wortes das Kind der 
Leidenschaft und des Abenteuers** (Baudelaire); er war anders, 
als wie der allgemeine Begriff den Menschen verlangt; das Nütz- 
liche war ihm ein ziemlich fremder Begriff; er war ein Entarteter, 
ein Dekadenter und er war sich dieses Fluches wohl bewusst; 
der ganze Veriauf seines Lebens, all sein unsägliches Elend war 
nur die Folge seiner eigenartigen degenerativen Anlage; A. Moeller- 
Bruck, der sich mit ungemeinem Verständnis in das Problem der 
Natur Poe*s vertieft hat, konnte zwar das eigentliche Wesen der 
furchtbaren Erkrankung, die voriag, nicht erkennen, aber auch er 
bezeichnete Poe als ,,ausgesprochenen Degenerationstyp**. 

Schon das Äussere Poe*s verrät auf den ersten Blick, dass 
es sich um eine krankhaft veranlagte Persönlichkeit handelt Die 
«grosse beherrschende Stime mit ihren gewissen Erhöhungen**, 
welche seine überschäumenden Fähigkeiten verraten sollten, Ist 
der Ausdruck eines in frühester Entwicklung durchgemachten Ge- 
hirnleidens; die Bilder zeigen klar und deutlich, dass es sich um 
eine hydrocephale Schädelbildung handelt (Wasserkopf). Femer 



— 9 — 

fällt eine Ungleichheit (Assymmetrie) der Qesichtshäiften auf. Die 
vielgerfihmten, grossen, dusterglänzenden Augen sind ebenfalls eine 
wohlbekannte Degenerationserscheinung; besonders bei Epileptikern 
finden sich so oft diese »glänzenden Augen mit auffallend weiten 
Pupillen". Dazu trug sein ganzes Wesen den Charakter femininer 
Feinheit, obwohl seine Muskelkraft eine sehr beträchtliche war 
und er in körperlichen Übungen als junger Mann hervorragendes 
leistete. Seine Hände und Fusse waren so fein und schmal wie 
die von Frauen. In späteren Jahren fiel noch die bleiche Ge- 
sichtsfarbe auf, die mit den dunkelglänzenden Augen und dem 
dunklen Haar seltsam kontrastierte. Dass endlich die Sinnes- 
organe abnorm fein entwickelt und der differenziertesten Empfin- 
dungen fähig waren, daffir finden sich in seinen Werken auf jeden 
Schritt Belege. 

Im geistigen Leben Poe*s äusserte sich diese angeborene Ent- 
artung ununterbrochen in geradezu typischen Erscheinungen; die 
Krankheit, die wie eine düstere Wolke über seinem ganzen Dasein 
hing, war die Epilepsie. In einer Zeit geboren, da man das 
Wesen dieser Krankheit in seiner ganzen Ausdehnung noch nicht 
im entferntesten kannte, wurde Poe für einen zügellosen Menschen 
und un verbessert ichen Trunkenbold angesehen, und man hielt die 
Wirkungen dieses Leidens für Ausflüsse eines bösen Willens, einer 
moralischen Schwäche; „er hat keine Grundsätze, keinen mora- 
lischen Sinn", teilt ihm seine Braut, Miss Whitman, als das all- 
gemeine Urteil mit. Der arme Kranke selbst bittet nur, „dass 
man des Schicksals Unerbittlichkeit wie eine kleine Oase in der 
Wüste seiner Verirrungen entdecken möge". 

Bevor ich die Äusserungen und Wirkungen der Epilepsie im 
Leben Poes zergliedere, will ich versuchen, dem nichtärztlichen 
Leser das Wesen dieser Krankheit zu erklären. Durch irgend- 
welche krankhafte Reizvorgänge im Gehirn, über deren Natur 
man noch recht wenig weiss, werden je nach der Örtlichkeit dieses 
Reizes krankhafte Erscheinungen der mannigfachsten Art aus- 
gelöst; sitzt z. B. der Reiz in dem Gehirnbezirk, der den Bewe- 
gungen des Körpers vorsteht, so erfolgen die bekannten epilepti- 
schen Krämpfe; bei der engen Verbindung der motorischen mit 
den psychischen Gehimpartien ist bei diesen Bewegungskrämpfen 
meist auch das Bewusstsein schwer affiziert, zum mindesten während 
der Dauer des Anfalles; doch sind auch ganz reine Fälle mit er- 



— 10 — 

haltenem Bewusstsein möglich. Wenn der Reiz aber in exquisit 
psychischen Gebieten des Gehirns sitzt, so tritt an Stelle der 
Muskelkrämpfe z. B. ein Krampf der Stimmung oder des Vor- 
stbllens oder des Bewusstseins überhaupt usw. Man nennt solche 
Anfälle gern die psychischen Äquivalente. So kommen Erschein 
nungen zustande wie die sog. epileptischen Wutanfälle, die plötz- 
lichen Verstimmungen (Depressionen und manisch-ekstasische 
Stimmungen) oder die oft langandauemden Dämmerzustände, in 
denen der Kranke scheinbar ganz geordnet handelt, während ihm 
nach Abklingen des Anfalles meist jede Erinnerung für diese Zeit 
fehlt; groteske Fälle dieser Art sind ja genugsam beschrieben, so 
z. B. der des Pariser Kaufmanns, welcher plötzlich aus einem 
Dämmerzustand erwacht und sich in Bombay findet. Häufig sind 
auch Delirien, in denen der Kranke eigenartige, meist schreck- 
hafte oder ekstasische Halluzinationen hat; bei den Dämmer- 
zuständen und vor allem bei den Delirien handelt es sich um 
traumhafte Bewusstseinsstörungen, und ähnlich wie bei den Träumen 
verhält sich in den meisten Fällen auch die Erinnerung; der 
Kranke steht zu seinen deliranten Eriebnissen in keiner realen 
Beziehung, sondern die Erinnerung ist eine vollkommen traum- 
hafte. Eigenartige Anfälle sind auch die sog. Zwangsvorstellungen 
und Zwangsantriebe, die mit unwiderstehlicher Macht von dem 
Kranken Besitz nehmen ; der epileptische Wandertrieb ist bekannt. 
Eine ganz besonders merkwürdige Art ist ein periodisch ein- 
tretender unwiderstehlicher Trieb zu unsinnigem Alkoholmiss- 
brauch; während der Epileptiker für gewöhnlich gegen Alkohol 
intolerant ist (d. h. kleine Mengen ihn schon ganz unverhältnis- 
mässig schädigen), vertilgt er da unheimliche Quantitäten; zu den 
Folgen der Epilepsie gesellen sich dann noch die des Alkohol- 
missbrauches als Komplikation. Diese Anfälle zwangsmässiger 
Trunksucht (Dipsomanie) können von wochenlanger Dauer sein. 
Charakteristisch für die Epilepsie ist weiterhin, dass im Krankheits- 
veriaufe die verschiedenen Typen der Anfälle abwechseln können 
in den buntesten Übergängen. In ihren Wirkungen umfasstdie Krank- 
heit alle Stufen vom verblödeten Epileptiker bis zum Menschen der 
genialen Ekstase. Bekannt ist der eigentumliche Zusammenhang der 
Epilepsie mit religiösen Vorstellungen von der niedrigsten Bigotterie 
bis zur Schöpfung neuer Götter. ^Massgebend für die Diagnose 
ist ferner nicht der Nachweis einer bestimmten Art von Anfällen». 



— 11 — 

sondern in erster Linie das Bestehen einer selbständigen, von 
äusseren Einflüssen wesentlich unabhängigen Periodizität der Stö- 
rungen vom ersten Beginn der Krankheit an/ (Kraepelin) 

Wir -haben über Poe keine sachverständigen, chronologischen 
Aufzeichnungen, in denen die einzelnen krankhaften Attacken über- 
liefert sind; wir können nicht genau sagen, wann zum erstenmal 
ein echter Anfall erfolgte, in welchen Intervallen die Stimmungs- 
schwankungen eintraten, wann er zuerst zum Alkohol, zum Opium 
griff usw. Dafür sind aber die krankhaften Symptome von einer 
seltenen Klarheit und Mannigfaltigkeit, und nahezu jede seiner 
Novellen ist ein neues Stück Krankengeschichte; an der Auffassung 
des Wesens der Erkrankung besteht daher trotz der Unsicherheit 
der Daten kein Zweifel; und auch wenn einige der neuerdings 
angestrittenen Daten von wohlmeinenden Freunden Poe*s als zu 
Unrecht in meine Beweiskette gezogen bezeichnet würden, so 
könnte das an der Qrundtatsache nicht das geringste ändern. 
Über das Wesen Poe*s, wie es sich in den Perioden, die von 
akuten Krankheitserscheinungen frei waren, zeigte, spricht am 
liebevollsten und mit dem meisten Verständnis Baudelaire; selbst 
Griswold, Poe*s erster Biograph, der seinen unglücklichen Freund 
so schief moralisch beurteilt und verurteilt hat, kann nicht umhin, 
Poes Benehmen in diesen Zeiten als das eines vollkommenen 
Gentleman zu bezeichnen und rühmt den Ausdruck der Verfeine- 
rung, den Poe seiner ganzen Umgebung, auch in seiner ärmsten 
Zeit, zu verleihen verstanden habe. Auf geistvolle Frauen muss 
er geradezu faszinierend gewirkt haben mit den meist etwas me- 
lancholischen Zügen, der stolzen Kopfhaltung, der aristokratischen 
Vornehmheit seines Wesens; unter ihnen hat er seine tapfersten 
Verteidiger gewonnen. Baudelaire sagt in seinem Überschwange: 
„Alles, was die Gesamtheit seiner Persönlichkeit ausmacht, er- 
scheint als etwas Finsteres und Leuchtendes zugleich ; sie war 
einzigartig und verführerisch und in einer undefinierbaren Art mit 
Melancholie gezeichnet." 

Dass diese Persönlichkeit nur noch faszinierender wurde 
durch das unselige Geschick, von dem sie verfolgt schien, durch 
den unheimlichen Hintergrund der „verblüffenden Anomalien ihres 
Charakters", wie sich M[^ Whitman äusserte, ist naheliegend; 
denn „ein Teil dessen, was unser höchstes Entzücken ausmacht, 
hat ihn ja getötet". 



- 12 — 

Schon als Kind war Poe anders als alle seine Altersgenossen; 
vor allem zeigte er die für Dekadente so charakteristische Früh- 
reife; er wurde im Salon seines Adoptivvaters in Gesellschaften 
vorgeführt, deklamierte und galt für eine Art Wunderkind. Eine 
verständige, von wahrer elteriicher Liebe geleitete Erziehung wäre 
gerade bei ihm eine unbedingte Notwendigkeit gewesen; sie ward 
ihm nicht zuteil. Und so entwickelten sich schon in den Kind- 
heitsjahren eine ungewöhnliche Reizbarkeit und Leidenschaftlich- 
keit, ein starker Eigensinn. „Meine Neigung wurde mehr und 
mehr Gesetz im Haus, und in einem Alter, in dem die meisten 
Kinder noch am Gängelbande geführt gehen, war ich in allem 
mein eigener Herr", sagt Poe von sich selbst (in „W. Wilson"). 
Wir haben hier die ersten Anfänge jener Affekte vor uns, die ihn 
später aus der militärischen Laufbahn warfen und ihn seinem 
Adoptivvater entfremdeten. Über seine frühzeitige geistige Ent- 
wicklung äussert sich Poe im „W.Wilson": „Ich bin zur Über- 
zeugung gekommen, dass meine erste intellektuelle Entwick- 
lung zum grossen Teil eine ganz ungewöhnliche, ja sogar 
krankhafte gewesen sein muss.*' Sein Gedächtnis war ein 
ausgezeichnetes und seine Erinnerung ging mit grosser Klarheit 
bis in frühe Kindheitsjahre zurück. Ganz eigenartig muss auch 
das Gefühlsleben dieses Kindes gewesen sein. „Ich muss schon 
als Kind mit dem ausgebildeten Empfindungsleben eines Erwachsenen 
alles das gefühlt haben, was ich jetzt in so bestimmten Linien in 
mein Gedächtnis eingeprägt finde." („W. Wilson**)- Dieses so 
früh einsetzende Gefühlsleben begann sehr bald ganz abnorme 
Seiten zu zeigen; es entwickelte sich in merkwürdigem Gegen- 
satze zu seiner guten mathematischen Veranlagung eine Neigung 
zu mystischen Träumereien, zum Gruseligen, Unheimlichen; (ge- 
nährt wurde die Phantasie später durch eine gefährliche Lektüre; 
in einer Stelle der „Scheintoten** verschwört er es, je wieder 
«^medizinische Bücher, Nachtgedanken, Kirchhof- und Gespenster- 
Geschichten** zu lesen. Diese Richtung seiner Phantasie braucht 
an sich durchaus nicht als eine Äusserung der epileptischen Ver- 
anlagung aufgefasst werden ; es gibt genug ehrenwerte Spiessbürger, 
die sich einer wilden Phantasie erfreuen; zudem lagen diese Ge- 
fühle damals in der Luft; es war ja das Zeitalter der Romantik; 
man lese nur allein, um in Amerika zu bleiben, die Gedichte 
Longfellow's, der ja ein Altersgenosse Poe*s ist ; aus den deutschen 



- 13 — 

Romantikern Fälle anzuführen, hiesse Eulen nach Athen tragen. 
Da aber gerade in epileptischen Zuständen das Gespenstische, 
Grausig-Unheimliche eine grosse Rolle spielt, so fand die Krank- 
heit bei ihrem vollen Ausbruche zum mindesten einen ungemein 
günstigen Boden in dieser ohnehin zum Unheimlichen neigenden 
Phantasie. 

Wann die Erkrankung ausbrach, ist nicht sicher zu sagen; 
es scheint aber, dass ihre Entwiclkung mit der Geschlechtsreife 
zusammenfällt. Damals hat Poe zum ersten Male eine langan- 
haltende melancholische Verstimmung durchgemacht; er befand 
sich auf der Hochschule zu Richmond und hatte grosse Ver- 
ehrung für die Mutter eines Schulkameraden gefasst, die ihm, dem 
Einsamen, Scheuen, gütig entgegengekommen war. Die Dame 
starb, und Poe versank in Traurigkeit; er brachte Monate hin- 
durch fast jede Nacht auf dem Kirchhof an ihrem Grabe zu. Die 
Eindrücke dieser Periode sind ungemein tief und nachhaltig ge- 
wesen ; wenn man durch Poe*s Werke wandert, hat man das Ge- 
fühl, als ob er die Vorstellungen von damals nicht wieder los 
geworden wäre; fast monoton kehren da Gräber, Leichen, Särge, 
Verwesung, Gespenster wieder; eine gewisse Änderung tritt hier 
erst ganz spät ein in den letzten Jahren seines Lebens, als durch 
neue Faktoren seine Phantasie eine andere Richtung bekam. 

Die krankhaften Stimmungsschwankungen lassen sich durch 
das ganze Leben Poe's verfolgen ; dass die Anfälle von Melan- 
cholie von äusseren Umständen unabhängig waren (wenn auch 
eine äussere Erklärung immer konstruiert werden kann), beweist 
ein Anfall, den Poe Ende 1835 durchmachte, also zu einer Zeit, 
wo sich sein böser Dämon von ihm gewandt zu haben schien, 
und die Zukunft wie ein sonniges Land vor ihm lag. Als er seinem 
Retter Kennedy für die Anstellung dankte, schrieb Poe in diesem 
Briefe: „ . . . Doch ach, es kommt mir oft vor, dass nichts aut 
der Welt mir Freude oder die geringste Befriedigung gewähren 
kann. ... Ich bin augenblicklich wirklich zu beklagen ; ich leide 
unter einer Niedergeschlagenheit, wie ich sie fürchterlicher nie 
zuvor empfunden habe. Ich habe vergeblich gegen diese Melan- 
cholie anzukämpfen versucht ... Ich bin elend und weiss nicht 
warum ..." In seiner Antwort auf diesen Brief äussert Kennedy 
sein Erstaunen, dass eine Melancholie gerade jetzt einsetzte, wo 
Berühmtheit und materieller Aufschwung begänne. 



- 14 - 

In Poe*s Werken findet sich ungemein häufig das Wort 
«melanchoh'sch'', und die Personen, die er als melanchoh'sch ver- 
anlagt zeichnet, sind zahlreich. In den depressiven Perioden war 
Poe gehemmt und war ausserstande, zu produzieren; es handelt 
sich da um die sog. „sterilen Epochen**, wie sie seine Schwieger- 
mutter Frau Clemm bezeichnete. Den Zuständen der traurigen 
Verstimmung standen Perioden gehobener Stimmung gegenüber; 
in diese fällt ein guter Teil seiner Arbeiten; ohne diesen fast 
rhythmischen Wechsel von Ebbe und Flut der Stimmung halte ich 
eine echte dichterische Produktivität för nicht möglich ; ich glaube, 
dass auf diesem Rhythmus das Wesen der dichterischen Begabung 
überhaupt beruht; auf die Ähnlichkeit epileptischer Anfälle mit 
dem Eintritte der dichterischen Inspiration ist übrigens schon oft 
hingewiesen worden. Bei Poe äusserte sich die Stimmungsanomalie 
in den verschiedenen Perioden an Intensität sowohl wie an Dauer 
ganz verschieden. Einen lang andauernden Erregungszustand hatte 
Poe z. B. zur Zeit, als er „Heureka* (1847/48) schrieb, ein Werk, 
länger als alle seine sonstigen Arbeiten, in welchem er eine Lösung 
der allerschwierigsten Probleme wie ein Kinderspiel vornimmt 
Dieses Werk trägt die typischen Züge eines manischen Erregungs- 
zustandes; es wird später noch eingehend davon die Rede sein. 
„Voll intensiver Glut redet er von seinem unerschütteriichen 
Glauben, die Geheimnisse des Universums enträtseln zu können*', 
schreibt Field über den mit der Abfassung des „Heureka'' beschäftig- 
ten Poe. Auf ähnliche Erregungen deuten auch Bemerkungen wie, 
dass Poe in der Wahl seiner Hörer manchmal nicht sehr peinlich 
war, und dass er hie und da in der Unterhaltung „einen betrübenden 
Zynismus" an den Tag legte; man erinnere sich, dass er in aus- 
geglichener Verfassung ein durchaus vornehmer Mensch warl Wie 
Poe in einem solchen Erregungszustande aussah, beschreibt Field, 
der ihn Anfang 1848 in New- York einen Vortrag über seine Kos- 
mogenie halten hörte: „Er schien von Dämonen beseelt zu sein, 
und die geringe Zuhörerschaft empfand seine Inspiration fast 
ängstlich. Seine Augen glühten wie die seines Raben." 

Poe hat versucht, seine Produktion als eine berechnete, 
mathematisch-absichtliche darzustellen ; so legt er z. B. den Auf- 
bau des Gedichtes „Der Rabe" dar, als wenn da jeder Vers 
aus einer bestimmten, wohlüberiegten Absicht herausgefeilt wäre ; 
das spräche natüriich gegen eine Erregung; dass diese „Mathematiker- 



— 16 — 

klarheit" nicht der Wahrheit entspricht, bedarf kaum eines Be- 
weises, denn Poe ist wirklich ein Dichter. Diese Überlegungen 
hat er sich erst post festum zurechtgelegt 

Infolge seiner Stimmungsschwankungen machte Poe oft den 
Eindruck gemütlicher Unausgeglichenheit; wer ihn in seinen guten 
oder heiteren Zeiten sah, war von ihm entzuckt; wer in anderen 
Perioden mit ihm zu tun hatte, bekam Streit mit ihm, hatte zum 
mindesten einen peinlichen Eindruck; so bezeichnete ihn sein 
Freund Willis als „schwer zu behandelnden Menschen*', weil eben 
die ruhige, schöne Gleichmässigkeit im Wesen Poe*s fehlte, die 
den Verkehr mit den sog. harmonischen Menschen so einfach und 
angenehm gestaltet Wenn man seine Werke genauer durchsieht, 
so wird man erstaunt sein über die Fülle feinster krankhafter 
Stimmungsschilderungen; in diesen Stimmungen hat einst die 
Seele des Dichters geschwungen; er zuerst hat solche Erlebnisse 
in allen ihren Nuancen wiedergegeben, und seine Bewunderer 
stellen ihn deshalb als Schöpfer eines neuen Schönen an den 
Eingang der modernen Dichtung. 

Neben den periodischen Verstimmungen gehen eine Reihe 
krankhafter Eigenschaften her, die konstanten Charakter haben 
und mit zum Bilde der epileptischen Anlage gehören; sie sind 
Äusserungen der Degeneration und können ebensogut in allerlei 
Varianten bei anderen psychischen Degenerationszuständen vor- 
kommen. Da ist zunächst eine eigentfimliche Umständlich- 
keit, eine quälende Gewissenhaftigkeit, ja nichts zu unterlassen, 
alles richtig zu erklären, alles sauber zu halten ; daher zeigen alle 
Einleitungen Poe*s diesen weitschweifig-umständlichen Stil ; in der 
deutschen Übersetzung hat man diese Fehler ausgemerzt. Auch 
die berühmte schöne Handschrift hat er mit vielen seiner Leidens- 
genossen gemein (man denke nur an Dostojewsky) ; sie entspringt 
dem gleichen Grunde. Der Trieb, ver wickelteChiffreschriften zu 
erfinden oder aufzulösen, dürfte bis zu einem gewissen Grade 
auch hieher gehören. Seine oft zwangsmässig auftretende Grfibel- 
sucht hat Poe in „Berenice" geradezu klassisch dargestellt, ein 
Nachgrubelnmussen über das Warum und Wie der allergewöhn- 
lichsten Dinge. An verschiedenen Stellen, besonders aber im 
«Geist des Bösen** spricht er sich auch über „Anfälle von Per- 
versität** aus, Zwangsvorstellungen, die in Handlungen umgesetzt 
werden müssen, obwohl das Unsinnige, ja Schädliche und Ge- 



- 16 - 

fihrliche derselben klar erkannt wird. Hieher gehört auch der 
Drang, verbrecherische Vorstellungen auszugestalten; Moeller-Bruck 
meint: ^Dbls Böse war Poe*s fixe Idee**, und sein Vorstellungs- 
leben müsse ein wahres Verbrecherleben gewesen sein; er nennt 
diese „Manie" ein ausgesprochenes Degenerationszeichen. Merk- 
würdig erscheint ferner im Leben Poe's die Unstetigkeit und Rast- 
losigkeit, die ihn auf keinem Boden festen Fuss fassen Hess; 
Qriswold spricht von einer „angeborenen Ruhelosigkeit, die Poe 
von Zeit zu Zeit stachelte und in vergeblicher Suche nach dem 
Eldorado seiner Hoffnungen von Ort zu Ort trieb**. Sesshaftig- 
keit ist nun allerdings im Zeitalter der Romantik überhaupt eine 
seltene Erscheinung; aber bei Poe gewinnt diese Unrast doch eine 
eigene Bedeutung, weil wir wissen, dass sie häufig im Ringe der 
epileptischen Erscheinungen sich findet; sie lediglich als epilep- 
tisch bedingt anzusehen, wäre wohl zu weit gegangen. Gegen 
Alkohol war Poe in den ruhigen Zeiträumen seines Lebens voll- 
ständig intolerant; in „W. Wilson" spricht er von dem «aufrüh- 
rerischen Einfluss des Weines auf sein ererbtes Temperament". 
Seine Freunde versichern, dass ein sehr geringes Quantum Wein 
oder Likör schon genügt habe, seinen Organismus vollständig zu 
verwirren. Graham schrieb sogar, dass oft schon ein einziges 
Glas Wein Poe „zum Wahnsinnigen" gemacht habe. Man kann 
sich demnach leicht denken, wie vernichtend schon ein geringer 
Alkoholmissbrauch auf dieses so empfindliche, widerstandslose 
Nervensystem einwirken musste. — Die krankhafte Richtung seiner 
Phantasie äusserte sich in schweren, ängstlichen Träumen von 
Lebendigbegrabenwerden und ähnlichen Greuelszenen mit den 
Empfindungen des Gleitens, Fallens und Fliegens; in seinen Werken 
spricht er oft von diesen Träumen; manche seiner Novellen hat 
er zuerst im Traum konzipiert. Die Angst vor dem Lebendig- 
begrabenwerden war übrigens auch im wachen Zustande bei Poe 
vorhanden; sie ist ein Degenerationssymptom, das er auch mit 
Dostojewsky gemein hat. Aber nicht nur im Traume spiegelte 
ihm seine Phantasie Unheimliches vor; das Grausen kam auch 
am hellen bewussten Tage oft zu ihm wie eine Art Anfall ; es war 
die gleiche Erscheinung, die Dostojewsky an sich als den „mystischen 
Schrecken** beschreibt. Poe behauptet, er habe oft zum Alkohol 
gegriffen „in dem verzweifelten Bemühen, qualvollen Erinnerungen 
zu entgehen und um das Gefühl unerträglicher Veriassenheit und 



— 17 — 

die Furcht vor einem seltsamen, ihm vorbestimmten düsteren Un- 
heil zu betäuben*'. Diese Angst ist um so entsetzlicher, weil sie 
gar keinen bestimmten Gegenstand hat. Man darf sie nicht ver- 
wechseln mit der Angst, die den alten E. Th. A. Hoffmann vor 
seinen Gruselgeschichten manchmal überkam, so dass er aus Furcht 
vor Gespenstern nicht allein sein wollte. 

Ich gehe nun zu den schweren Krankheitsäusserungen über, 
den richtigen Anfällen, die Poe wie Krisen periodisch überfielen 
und ihn jedesmal aus seiner Bahn warfen. Bei Poe sind neben 
allen anderen epileptischen Erscheinungen auch die dem Laien 
gewöhnlich als Epilepsie bekannten Krämpfe aufgetreten; über 
ihren Verlauf ist nichts Sicheres berichtet; jedenfalls waren sie 
ganz selten, da man ihnen erst in neuerer Zeit auf die Spur ge- 
kommen ist. Poe*s Schilderungen solcher Anfälle sind meisterhaft 
Ich will hier noch bemerken, dass den epileptischen Anfällen sehr 
häufig ein einleitendes Stadium mit charakteristischen Erschei- 
nungen vorausgeht, die sogenannte Aura; auch können eigen- 
tümliche Bewusstseinsstörungen von ganz verschiedener Dauer 
sich an den Anfall anschliessen (prä- und postepileptische Zu- 
stände). In den „Scheintoten" beschreibt Poe den Beginn eines 
Krampfanfalles: „Mir wurde übel; eine Taubheit legte sich auf 
meine Glieder; ich fröstelte; dann ergriff mich Schwindel und 
warf mich plötzlich nieder." Das Erwachen aus einem solchen 
Anfall von Katalepsie, wie ihn Poe nennt, ging folgendermassen 
von statten : Aus vollständiger Bewusstlosigkeit erfolgte die Rück- 
kehr zu einem ersten schwachen Gefühl von Dasein ; er empfand 
eine starre Unbeweglichkeit, ein apathisches Ertragen dumpfen 
Schmerzes; „keine Furcht, keine Hoffnung, keine Bewegung"; 
dann stellte sich nach längerer Pause Ohrensausen ein; dann 
prickelnde und stechende Empfindungen in Armen und Beinen; 
dann eine scheinbar endlose Zeit angenehmer Ruhe; endlich ein 
plötzliches Zusichkommen ; die Augenlider zucken; er bleibt noch 
mehrere Minuten verwirrt und verlegen, bis Gedanken und Er- 
innerung sich wieder vollständig eingestellt haben. 

Den Anfällen gehen in der Aura oft ekstatische Empfindungen 
eines ungeheuren Glückes voran oder treten selbst an die Stelle 
des Anfalles ; der Geist scheint plötzlich die ungeheuersten Ge- 
heimnisse des Daseins zu begreifen; wie durch einen Blitz er- 
leuchten sich ihm die fernsten Gebiete, in die noch keines 

Orenzfraccn d. Lit. n. Medizin. 8. Heft. 8 



- 18 - 

Menschen Denkkraft eingedrungen; oft taucht auch das Ge- 
fühl auf, dass er alles schon früher einmal erlebt habe, dass 
die Seele plötzlich ihren Zusammenhang mit den vergangenen 
Jahrtausenden fühlt Poe bezeichnet diese Gefühle als „nebel- 
hafte Visionen, seltsame, verwirrte, zusammengedrängte Vor- 
stellungen aus einer Zeit, in der sein Gedächtnis noch nicht 
geboren war**; oder: „Ich kann dieses Gefühl nicht anders 
erklären, als wenn ich sage, ich habe jenes Wesen in einer un- 
endlich lang verschwundenen Vergangenheit gekannt.* „Diese 
Vorstellungen erloschen so schnell als wie sie gekommen waren*" 
(„W.Wilson"). In „Eleonore" erörtert Poe ernstlich die Frage, 
ob dieser Wahnsinn nicht eigentlich die höchste Stufe der Geistig- 
keit bedeute; die Menschen, die am hellen Tage träumten, sähen 
mehr; „durch den grauen Nebel ihrer Visionen dringen die ersten 
Lichtschimmer der Ewigkeit zu ihnen und halb erwachend fühlen 
sie mit Schaudern, dass sie einen Augenblick lang an das grosse 
Geheimnis gerührt haben". Das Vorwort zu „Heureka" gibt eben- 
falls von einem solchen Zustand Kunde; da empfindet Poe die 
Träume als die einzige Wirklichkeit und empfängt die Inspiration 
zu einem Werke, das, wie er verkündet, auch wenn es zeitlich 
vergessen würde, doch zu einem ewigen Leben bestimmt sei; er 
versteht in seiner Ekstase „das physische, metaphysische, mathe- 
matische, materielle und geistige Weltall, dessen Wesen und Ur- 
sprung, dessen Schöpfung, gegenwärtigen Zustand und Zukunft". 
Ich erinnere hier an die Schilderungen Dostojewsky*s, der erklärte, 
lieber sterben zu wollen als jene Augenblicke höchsten Glückes 
zu missen; derselbe beschreibt z. B. einen Epileptiker, der in der 
Aura ein unsägliches Glück empfindet, weil er den Sinn des Wortes: 
„Und die Zeit wird nicht mehr sein" erfasste. Ein mir bekannter 
Kranker beschrieb dieses Gefühl wie folgt: „Ich empfand eine 
höchste Verschärfung und Empfindlichkeit der Verstandeskräfte; 
der Verstand liess mich fernste und letzte Dinge fühlen und ver- 
stehen: so das in klarster und selbstverständlichster Weise erfol- 
gende Erfassen ungeheuerlichster Begriffe wie: Weltall, Weltgeist, 
Weltsystem, Göttlichkeit, Unsterblichkeit, Allmacht, Liebe, Hölle 
und Tod, Begriffe, die erklärlicherweise jetzt nicht mehr wieder- 
gegeben werden können." Dieser Kranke suchte die Erklärung 
dieser Erscheinungen in einer Zweiheit seines Bewusstseins; ganz 
ähnliche Gedanken finden sich bei Poe häufig. 



- 19 — 

Als einen schweren Anfall in Gestalt eines langen Dämmer- 
zustandes möchte ich Poe*s so sonderbar verunglückte Fahrt nach 
Griechenland ansehen. Vor dem Ausbruche dieses Anfalles hatte 
schon erhöhte Reizbarkeit und Neigung zu Affekten bestanden; 
wann der eigentliche Dämmerzustand begann, ob vor, ob nach 
der Abreise, lässt sich nicht entscheiden. In Petersburg ging er 
zu Ende. Niemals hat man das geringste erfahren können, was 
mit Poe in dieser Zeit vor sich gegangen ist; auch in seinen Werken 
findet sich darüber kein Anhaltspunkt; auch seine nächstenVerwandten 
und Bekannten gaben nichts an, weil sie eben nie etwas darüber von 
Poe gehört haben. Es bestand eben ein richtiger Erinnerungsaus- 
fall für die Dauer des Dämmerzustandes. Verehrer Poe*s haben 
gemeint, ihm einen Gefallen zu tun, wenn sie diese Fahrt ihres 
Helden in das Reich der Legende verweisen, obwohl sie die Ab* 
reise nach Griechenland als Tatsache anerkennen; sie können 
über seinen weiteren Verbleib zwar nicht das geringste angeben« 
aber sie wollen eben alles ausmerzen, was „kompromittierlich" 
erscheint; und damit tun sie dem Manne ihrer Verehrung ein 
grosses Unrecht. Wem das Wesen von Poe*s Erkrankung klar 
geworden ist, der wird erkennen, dass es sich um eine typische 
Äusserung derselben handelt, die ihren Wahrheitsbeweis in sich 
selbst trägt; moralische Massstäbe dürfen da nicht angelegt werden. 

Am häufigsten und schwersten aber äusserte sich die Epilepsie 
Po6's in periodischen zwangsmässigen Anfällen von Trunksucht, 
in Dipsomanie. In den Folgen dieses krankhaften Alkoholmiss- 
brauches liegt der Hauptgrund aller Missverständnisse über Poe*s 
Charakter; sie sind die Hauptursache seiner vielen Katastrophen, 
die ihn jedesmal überfielen, wenn er dachte, endlich in gesicherten 
Verhältnissen arbeiten zu können; ich glaube, dass alle jene 
späteren Zerwürfnisse, auch die endgültige Trennung Allan*s von 
ihm, über welche so hässliche Andeutungen umgingen, ihren 
Grund in solchen oder ähnlichen Anfällen hatten; mit ein wenig 
Liebe und Verständnis wäre da unendlich viel Gutes zu leisten 
gewesen; man denke nur an Reuterl; aber wie die Umstände 
lagen, wurde jene kindliche Zärtlichkeit seines Herzens, jenes 
Liebesbedürfnis, von dem er selbst spricht, für ihn nur eine ver- 
wundbare Stelle mehr. Selbst Baudelaire gerät übrigens bei der 
Beurteilung dieser dipsomanen Anfälle bei all seinem psychologischen 
Spürsinn auf falsche Wege und verwechselt Ursache und Wirkung^ 



— 20 — 

Pur ihn ist Poe zum Trinker geworden aus Verzweiflung über sein Ge- 
schick oder gar weil er in der Bezechung ein mnemotechnisches Hilfs- 
mittel gefunden; dabei gibt Baudelaire aber instinktiv ganz treffende 
Bemerkungen wie z. B., dass Poe „nicht als Qourmand, sondern 
als Barbar getrunken habe", oder dass Poe ein bahnloser Planet, 
ein regelwidriges Wesen von zögellosen, vagabundenhaften Ge- 
wohnheiten gewesen sei, dessen alkoholdurchsättigter Atem an 
einer Kerze Feuer gefangen hätte. 

Während dieser dipsomanen Anfälle trank Poe ganz sinn- 
los; eine besondere Vorliebe scheint er für Kirschwasser gehabt 
zu haben. Übrigens ist es gerade der vielgeschmähte Griswold, 
der diese Exzesse als Trunksuchtsanfälle bezeichnet. In seinen 
letzten Lebensjahren hat Poe anscheinend auch in den freien 
Zwischenräumen öfter zum Alkohol gegriffen; es ist aber ganz 
unrichtig anzunehmen, der Alkoholmissbrauch habe überhaupt nur 
in seinen letzten Lebensjahren stattgefunden ; die dipsomanen An- 
fälle haben im Gegenteil schon ziemlich früh begonnen; meiner 
Ansicht nach fällt ihr erstes Auftreten etwa in die Zeit von 
Poe*s Aufenthalt an der Universität Charlotteville ; die Wirkungen 
sind so stereotyp charakterisch, dass jeder, der die Lebensdaten 
Poe*s sich vergegenwärtigt, damit den Schlüssel zu allen diesen 
sonst unerklärlichen Schicksalen hat. Auch geben seine Werke 
Aufschluss über den ungefähren Beginn; der Alkohol lässt sich 
fast von Anfang an darin feststellen und seine Wirkungen ziehen 
wie eine breite Heerstrasse durch alle Novellen. Es gibt übrigens 
auch eine Art Epilepsie, die durch den chronischen Alkoholmiss- 
brauch erst ausgelöst wird ; ich glaube, es bedarf im vorliegenden 
Falle keines Beweises, dass hier der Alkohol nicht die auslösende 
Ursache war, sondern dass umgekehrt der Alkoholmissbrauch eine 
Folge der Epilepsie war; die ganze Darstellung dreht sich ja um 
diesen Punkt. Es ist unendlich traurig, zu denken, dass dieser 
Unglückliche von seinen Mitmenschen für einen unverbesserlichen 
Trunkenbold gehalten wurde, während ihm heute wohl auch der 
Laie voll Einsicht und Mitleid die hilfreiche Hand bieten würde. 
Mit einer schaueriichen Sachkenntnis schildert Poe alle Wirkungen 
des Alkohols vom einfachen Rausch bis zur Alkoholdegeheration 
und ruft voll Verzweiflung: „Welche Krankheit ist an Hartnackig- 
keit dem Hang zum Alkohol zu vergleichen I" — Über die Häufig- 
keit dieser Trinkanfälle ist Genaues nicht bekannt; doch darf an- 



— 21 — 

genommen werden, dass sie ein- bis zweimal im Jahr auftraten. 
Beweisend für ihren epileptischen Charakter sind auch die eigen- 
tümlichen Zustände, die sich vor und nach solchen Exzessen oft 
einstellten; es waren auraähnliche, oft ekstatische Zustände, in 
denen Poe eine ungemeine Produktionskraft entwickelte; „der 
Abfassung der meisten seiner ausgezeichnetsten Stucke ging eine 
dieser Krisen voraus oder folgte ihr**. So war die Konzeption 
des „Heureka" die Einleitung einer solchen Krise, an die sich 
dann noch ein langes manisches Nachstudium anschloss; auch 
das so viel gerühmte Gedicht vom „Raben** zeigt alle Spuren 
des kommenden Anfalles, und es ist bekannt, dass der Dichter 
am gleichen Morgen, als es im Druck erschien (II. 1845) „gefähr- 
lich stolpernd durch Broadway schwankte". 

Durch die zerstörende Wirkung des Alkohols wurden die 
schweren Symptome noch vermehrt; es entstanden direkte Delirien 
mft Sinnestäuschungen aller Art; die Werke Poe's wimmeln von 
solchen Reminiszenzen; die meisten sind ganz auf diesen deliranten 
Erlebnissen aufgebaut; darüber wird bei Besprechung der Werke 
noch eingehend die Rede sein. Es ist bei dem Mangel exakter 
Überlieferung leider ganz unmöglich, mit Bestimmtheft zu sagen, 
ob Poe wirklich einmal ein reines alkoholisches Delirium durch- 
gemacht hat; die Erkrankung von 1847 — 48, die er selbst als lange 
und gefährlich bezeichnet und von der er 1848 an seine Braut schreibt, 
er sei nun an drei Jahre sehr krank gewesen, kann natürlich nicht 
ein gewöhnliches Delirium gewesen sein, besonders kein alkoho- 
lisches; ein solches würde wenige Wochen nicht überdauert haben. 
Nach den literarischen Schöpfungen dieser Epoche scheint hier 
schon eine schwere Geistesstörung vorgelegen zu haben, und ich 
glaube, dass man am ehesten an einen Mischzustand denken muss, 
eine chronische Erregung mit halluzinatorischen Perioden und 
Missbrauch von Alkohol und Opium; in eine Anstaft wurde der 
Kranke nicht verbracht; er lebte ganz einsam; so werden sich 
über diese Störung wohl immer nur Vermutungen aufstellen lassen; 
doch darauf kommt es ja auch nicht an, nachzuweisen, dass ge- 
rade diese oder jene spezielle Psychose vorgelegen; es genügt, 
zu wissen, dass halluzinatorische Zustände überhaupt aufgetreten 
sind. Es ist sehr interessant, in den Schilderungen Poe's die 
Einflüsse alkoholischer Natur von den epileptischen zu trennen; 
mir scheint dies aber nur bis zu einem gewissen Grade möglich 



- 22 — 

ZU sein; denn das Alkoholdelirium und erst recht der halluzina- 
torische Wahnsinn der Trinker haben, was ihren psychischen In- 
halt betrifft, viel mit dem epileptischen Delirium gemeinsam und 
es ist eine scharie Grenze nicht zu ziehen, besonders bei einem 
epileptischen Trinker; die körperlichen Begleiterscheinungen sind 
ausserdem in unserem Falle nicht fiberiiefert, und damit ist schon 
eines der wertvollsten Unterscheidungsmerkmale gefallen. Im all- 
gemeinen ist das epileptische Delirium von ungeheuerlichen, un- 
heimlichen, entsetzlichen Vorkommnissen erfüllt; doch schieben 
sich auch religiös-visionäre und andere Episoden ein ; der Kranke 
hat die seinem Vorstellungsinhalte entsprechende Stimmung und 
Affektlage; die ganze Handlung dreht sich um ihn; er ist aktiv 
beteiligt. Das alkoholische Delirium dagegen geht mit einer 
wirren Menge der buntesten Visionen einher, bald schreckhaft, 
bald grotesk; dabei spielen Tiererscheinungen (Ratten, Spinnen, 
Käfer usw.) eine grosse Rolle ; das Charakteristische aber ist, dass 
der Kranke mehr das Gefühl eines Zuschauers hat, der da zu- 
fällig hineingeraten ist, und dass bei aller Schreckhaftigkeit der 
Eindrücke die Stimmung doch humoristisch gefärbt ist. Zwischen 
beiden Typen finden sich eine Menge von Übergängen. Ich will 
hier als Beispiel eines Alkoholdeliriums bei einem epileptisch ver- 
anlagten Menschen einige Stellen aus Aufzeichnungen anführen, 
die mir ein früherer Kranker, ein einfacher Schuhmacher, gemacht 
er schreibt: „ . . . Beim vierten Glas Bier spürte ich immer schon, 
dass nicht mehr alles in Ordnung, hörte Stimmen und Summen 
in den Ohren . . .'* Im Delirium erlebte er die fürchterlichsten 
Qreuelszenen, Mord, Totschlag; seine Frau sollte erschossen, er 
selbst gefoltert und hingerichtet werden; ein riesiges Messer, wie 
eine Säge schartig, sollte ihm den Leib aufschneiden (!); der 
Boden war unterminiert, das Weltgericht war da; er ist der letzte 
Mensch ; die Toten reden mit ihm usw. „Aber" — und man beachte 
die Poesie, die der einfache Handwerker darin zum Ausdruck bringt 
— „ich hatte dann wieder bessere Stunden; auf einmal war es Früh- 
jahr; es schien die Sonne, und es zeigte sich Gott und die Engel; 
die Bäume blühten ; die Vögel trugen Goldfäden in den Schnäbeln 
zum Nestbau und sangen und waren so heimlich, und mir war 
so wonnig zumute; auf einmal wird es kalt und der Winter ist 
im Anzug; mich friert und mein Gemüt wird wieder schwer und 
ich fühle mich wieder ganz verlassen; ich höre wieder Stimmen 



- 28 - 

und Lauten; es ist Krieg etc. etc. . . . und mein Vater und meine 
Geschwister wurden auf einmal zu Holz und ganz buckelig . . .** 
Wie Poe bewahrte dieser Kranke eine sehr gute Erinnerung „an 
diese Traumbilder**, die in seiner Phantasie gespielt hätten, wie 
er sich ausdrückte; die Erkrankung dauerte etwa 2 Wochen; 
dann kam er über Nacht zur Klarheit. Dass ein sehr grosser 
Teil der Poe*schen Werke — und zwar die unmittelbarsten und 
berühmtesten — nichts anderes sind als solche Erinnerungen, ist 
bereits gesagt; darin liegt auch der Grund ihrer Wirkung; man 
fühlt unwillkürlich, dass hinter diesem Grauenhaften ein Wahres, 
ein Erlebtes steckt; darum haben ihn seine Nachahmer an Er- 
findung und Ausmalung scheusslicher Situationen wohl über- 
treffen, an Wirkung aber auch nicht im entferntesten erreichen 
können. 

Dass Poe sich absichtlich betrunken habe, „um die wunder- 
baren oder schrecklichen Visionen, die feinen und zarten Kon- 
zeptionen wiederzufinden, die ihm in einem früheren Sturme be- 
gegnet waren**, wie Baudelaire sagt, wird wohl niemand mehr 
glauben ; aber zu einem anderen, scheinbar harmloseren Gifte hat 
Poe oft gegriffen, um seine trüben Stimmungen zu verscheuchen: 
zum Opium, hie und da auch zum Morphium; mit diesem konnte 
er ohne die hässlichen Begleit- und Folge-Erscheinungen des Al- 
kohols rasch ein tiefes und behagliches Glücksgefühl erzeugen, 
konnte in angenehme Träumerei versunken dennoch „prächtige 
und buntscheckige Züge rhapsodischer Gedanken** an sich vor- 
überziehen lassen. Das Charakteristische der Opiumwirkung ist eine 
ungemein angenehme, sanfte Erschlaffung, ein eigentümlich be- 
hagliches Lustgefühl, bei dem im Gegensatz zu den Wirkungen 
des Alkohols jeder Tatendrang fehlt; das Spiel der Phantasie, 
Illusionen und Halluzinationen, hat eine romantisch-phantastische 
Färbung; architektonische und landschaftliche Bilder spielen eine 
grosse Rolle. Die schönste Schilderung dieser Opiumwirkungen 
hat wiederum Baudelaire, der auch darin ein getreuer Schüler 
seines Meisters war, in seinen „Künstlichen Paradiesen** gegeben; 
er erzählt da von prachtvollen Durchblicken auf Landschaften, von 
wundervollen Lichterscheinungen, herrlichem Geleucht, von Kaskaden 
flüssigen Goldes; alle Sinne sind verschärft; dieAugen sehen das Unend- 
liche, das Ohr hört fast unvernehmbare Töne; die Töne kleiden sich in 
Farben, und die Farben enthalten eine Musik. Poe schildert seinen 



— 24 - 

Opiummissbrauch in einer Reihe von Novellen, die ungemein charakte- 
ristisch sind. Die ersten Anzeichen, dass Poe Opium nahm, lassen sich 
für 1837 nachweisen; in seinen letzten acht Lebensjahren scheint 
er sich in immer steigendem Masse dem Genüsse dieses Giftes 
zugewandt zu haben, und hier kann vielleicht mit mehr Be- 
rechtigung Baudelaire*s Idee einer gewissen Produktionsabsicht 
zutreffen. Ich werde im nächsten Abschnitt die Hauptstficke dieser 
Opium- oder Morphium-Poesie zergliedern, mit ihrem Fehlen von 
Handlung, ihren phantastischen Landschaften, ihren prunkenden 
Milieus und mystischen Tönen und Farben, vor allem aber der 
so bezeichnenden Vorliebe für das Wasser und dessen »verfäh- 
rerische Mysterien" (Baudelaire). 

Die Art, wie sich aber neben den Schilderungen, die auf 
die angenehme Wirkung des Opiums schliessen lassen, allmählich 
auch da wieder unheimliche Dinge eindrängen, legt den Schluss 
nahe, dass Poe ziemlich rasch zu Dosen des Giftes gelangte, die 
ihn aus der heiter ruhigen Welt der spielenden Phantasie in die 
schweren Spätfolgen des Opiummissbrauchs hinOberführten, so- 
dass er statt einem Übel zu entfliehen, demselben nur noch neue 
Nahrung gab; jene düstere Epoche, die de Quincey in seinen 
„Bekenntnissen eines Opiumessers* so schauerlich beschreibt, wo 
ein „ungeheures Geschlinge von Finsternissen" den Kranken um- 
gibt, „das nur dann und wann durch reiche und überwältigende 
Visionen zernagt wird." Doch heisst es hier bei Beurteilung der 
einschlägigen Dichtungen vorsichtig sein, weil es sich bei Poe um 
zu komplizierte Erscheinungen handelt; er war eben nicht allein 
Opiumessser; und gar vieles kann ebenso für sich allein die 
Epilepsie, oder der Alkohol im gegebenen Falle bewirken; 
und hier haben alle diese drei Faktoren zusammengearbeitet 

Als sonderbar könnte auffallen, dass die geistige Kraft Poe*s 
trotz der gewaltigen Anstürme der Krankheit bis zum Ende schein- 
bar unversehrt geblieben ist; ja dass sein Stil im Gegenteil an 
Feinheit und Reichtum gewinnt. Man darf nicht vergessen, dass 
Poe ziemlich jung gestorben ist, sonst würde er doch wohl dem 
Verhängnis nicht entgangen sein, das mit Zerstörung seiner 
geistigen Fähigkeiten drohte. Dass in den letzten Jahren seines 
Lebens religiöse Ideen auftauchen und ihn ganz in Beschlag 
nehmen, weist schon auf einen Umwandlungsprozess; dass tat- 
sächlich schon ein Verfall des Gedächtnisses begonnen hatte, 



— 25 — 

scheint mir daraus hervorzugehen, dass Poe» als er im November 1848 
ein «Rätselgedicht* an die von ihm unter dem Namen Stella (Estelle) 
verehrte Dame schickte, diesen ihm so wohlbekannten Namen ver- 
wechselte, und den Buchstabenscherz statt auf Stella auf Sarah 
schrieb. Die Arbeiten seiner letzten Jahre lassen auch die Klarheit, 
die intellektuelle Schärfe vermissen, die in den früheren Werken, 
besonders auch in den Kriminalnovellen noch zutage trat. Auch 
für einen ethischen Niedergang der ganzen Persönlichkeit finden 
sich bei genauerem Zusehen die ersten untrüglichen Anzeichen. 
Ich habe bei der Darstellung der einzelnen Eigenschaften 
Poe's unterlassen, auf ein sehr wesentliches Moment hinzuweisen; 
ich führe dasselbe erst nachträglich an, weil es sich nun unge- 
zwungen aus dem Zusammenhang ergibt. Man sieht, dass Poe 
sein eigenes Ich derart intensiv gefühlt hat, dass sich all sein 
Denken nur um das Wesen dieses Ichs drehen musste; er war 
gänzlich egozentrisch und in dieser rein egotistischen Betrachtung 
und Zergliederung des Lebens auch der eigentliche Schöpfer der 
Wilde*schen Ästhetik; er war unsozial; für altruistische Probleme 
hatte er keinen Sinn ; er stellte eine Ausnahme von der sittlichen 
Ordnung dar, die auf Altruistik beruht: darum hat auch er die 
reale Welt und diese ihn nicht verstanden. 



Die Werke. 

A. Moeller-Bruck hat die Werke Poe's in einem Satze 
80 schön charakterisiert, dass ich es mir nicht versagen kann, 
seine Worte an die Spitze dieses Kapitels zu setzen; er sagt: 
„Hie und da hat Poe ein scheinbar Gesundes, hat er auch das 
Harmonische, Natürliche, Ruhige; aber es liegt dann wie ein 
Sonnenplätzchen rings zwischen Schutt und Trümmern und wirkt 
nur um so schmerzlicher.*' 

SchuttundTrümmer!dassinddieErgebnissedesVerfalls;undbei 
Poe haben wir es ja mit Produkten des Verfalls zu tun. Die allgemeinen 
Charakteristiker seiner Kunst sind durchaus dekadente, ungesunde; 
wer das vielleicht über dem Glänze seiner Darstellung vergessen 
könnte, der braucht nur die Zerrbilder der Schüler und Nachäffer 
Poes durchzusehen, etwa einen Maurice Rollinat, von dessen 
„Kunst" Nordau eine Schilderung entwirft, die sich in ihren Grund- 
Zügen ebenso gut auf 'Poe anwenden lässt. Auch in Poe*s 
Schöpfungen schleicht überall der Geist des Verbrechens umher; 
auf Schritt und Tritt stösst man auf das Schauspiel des Todes 
und der Verwesung; detaillierte Beschreibungen des Siechtums 
finden sich in Menge; alle Personen Poe*s sind Kranke; sie sterben 
in Anfällen, an Gift, an Alkoholmissbrauch, vor allem aber an der 
Schwindsucht, für deren Darstellung Poe eine schauerliche Vor- 
liebe hat; sie war ihm ja nur zu gut bekannt; unheimliche Ge- 
räusche, sonderbare Gerüche, gespenstische Beleuchtungen, Leichen- 
tücher, Lebendigbegrabene kehren mit einer wahren Monotonie 
immer wieder; auch die Sujets selbst wiederholen sich sehr häufig. 
Worte wie melancholisch, gespenstisch, düster, unheimlich bilden 
einen dauernden Rhythmus in seinen Schilderungen auch der Land- 
schaften, wovon nur gewisse Opium-Gesichte eine Ausnahme 
machen. Viele der Novellen sind nur geschrieben, um eine grausige 
Stimmung, eine schreckliche Situation hervorzurufen, und brechen 
dann jäh ab; die handelnden Personen erscheinen alle wie Auto- 
maten oder Somnabule; nirgends ein kräftiger Wille, ein starker, 



- 27 - 

gesunder Mensch ; über allen scheint der Druck eines ungeheuren 
Verhängnisses, einer lähmenden Angst zu schweben; wie Draht* 
puppen werden sie von der Hand einer dämonischen Macht dem 
Abhänge zugetrieben. Dass Poe trotzdem so grosse Wirkungen 
erzielt, ist darauf zurfickzuführen, dass alle jene Phantastik doch 
bis zu einem gewissen Grade wenigstens der Forderung der 
ideellen Wahrscheinlichkeit entspricht. Rühmend wird auch darauf 
hingewiesen, dass er trotz des vielen Fürchterlichen in seinen 
Schöpfungen keine Zeile geschrieben habe, die den Charakter der 
Schlüpfrigkeit oder der sinnlichen Wollust trüge. Diese Asexualität 
der Poeschen Novellen ist schon von van Vleuten als eine Wir* 
kung des Alkohols (und wie ich hinzufügen möchte, des Opiums) 
nachgewiesen worden; diese Gifte verwandeln oder ertöten die 
erotischen Gefühle; „deshalb ist das Weib aus seinen Delirien 
verbannt, und da sein Dichten fast ausschliesslich in seinen 
Delirien wurzelt, fehlt ihm die Geschlechtsliebe. " Die wenigen 
weiblichen Wesen, die Poe schildert, sind übrigens fast alle noch 
schemenhafter und kränker als die männlichen; gemeinsam ist 
allen der Tod an der Schwindsucht. 

Soviel im allgemeinen über den Inhalt der Werke. Bei der 
Besprechung der einzelnen sei zunächst eine Gruppe ausgesondert, 
die nur für die Art von Poe's Phantasie an sich kennzeichnend 
ist; es sind das fast alles Arbeiten aus seinen früheren Jahren. 
Da ist z. B. „das Fass Amantillado**, wo ein italienischer Edel- 
mann seinen betrunkenen Feind unter dem Vorwand, ihm ein 
Fass seltenen Weines zu zeigen, inn eineKeller lockt und ihn dort 
in einem salpetertriefenden Gewölbe einmauert. Dann „Frosch- 
hüpfer", wo ein brutaler Fürst seinen Hofzwerg, der gegen Alko- 
hol intolerant ist, mit Gewalt betrunken macht; der Zwerg rächt 
sich und .... eine Misshandlung seiner Geliebten dadurch, 
dass er den Fürsten vermag, auf einem Maskenballe mit seinen 
Ministem als zusammengekettete Orang-Utangs zu erscheinen; der 
Zwerg zündet dann die mit Werg und Theer bedeckten, hässlichen 
Kerle an. Hieher gehört auch „die Maske des roten Todes**; 
ein lebenslustiger Prinz hat sich, da die rote Pest in seinem Lande 
wütete, mit seinem Hofstaat auf ein unzugängliches Schloss zurück- 
gezogen; er gibt dort einen Maskenball, der in einer Flucht von 
sieben Zimmern abgehalten wird, von denen jedes eine andere 
Farbe und Beleuchtung hat; das letzte aber ist ganz schwarz aus- 



— 28 - 

gestattet mit düsterem roten Licht, und eine unheimliche Uhr steht 
darinnen, bei deren Stundenschlag jedesmal ein Schauder durch 
die Gesellschaft geht. Die Pest dringt, als die Uhr die zwölfte 
Stunde schlägt, in der Maske des roten Todes ein, schreitet durch 
die Säle und postiert sich im schwarzen Gemach; in ihren Mas- 
kengewändern stirbt die ganze Gesellschaft und erfüllt mit den 
Schrecken des roten Todes diese magisch beleuchteten Säle. 
Leichentucher, Totengesicht, blutige Pestflecken verfehlen nicht im 
Verein mit den Beleuchtungseffekten und der gespenstischen Uhr 
den gewünschten Eindruck hervorzubringen. Im „verräterischen 
Herzen** schildert Poe die Zwangsvorstellung eines Wahnsinnigen, 
seinen Hausgenossen umzubringen, weil derselbe ein unaussteh- 
Hches Auge hatte, ,iein Auge, wie das eines Geiers, blassblau, 
von einem dünnen Häulchen bedeckt ... ein trübes Blau von 
einem scheusslichen Schimmer, dessen Anblick das Mark in den 
Knochen gerinnen liess*. Er erstickt den Mann nachts und ver- 
gräbt die Leiche unter den Dielen des Fussbodens. Bei der Haus- 
suchung aber hört er plötzlich das Herz des Toten schlagen und 
gesteht von Angst ergriffen seine Tat. 

Der Versuch eines Seeabententeuer-Romans „Gordon Pyms* 
(1837) dürfte auch hieher gehören, eine Aneinanderreihung der 
scheusslichsten Eriebnisse, die sich so steigern, dass die Hand- 
Jung plötzlich abbricht, weil es unmöglich ist, sie aus der Sack- 
gasse wieder herauszubringen. Ein besonderes Interesse gewinnt 
diese Arbeit aber dadurch, dass sich in ihr detaillierte Be- 
schreibungen eines pathologischen Alkoholrausches und zweier 
eigenartiger Delirien finden. Die Darstellung des Rauschzu- 
standes ist klassisch; der Held der Geschichte, Pyms, und sein 
Freund, beides Jungen von 17 Jahren, waren in Gesellschaft 
bezecht geworden; sie gehen zu Bett, ohne dass Pyms seinem 
Freunde einen Rausch anmerkt; nach einer halben Stunde aber 
steht dieser wieder auf, erklärt ganz ruhig, er wolle jetzt eine 
Segelpartie auf dem Meere machen; er sei nie nüchterner gewesen; 
Pyms willigt ein ; dabei scheint ihm sein Freund trotz seiner an- 
genommenen Gleichgültigkeit sehr erregt; das Gesicht ist bleich, 
die Hände zittern; weit draussen auf dem nächtlichen stürmi- 
schen Meere zeigen sich dann ganz plötzlich die motorischen 
Lähmungserscheinungen des Rausches; der Betrunkene kann sich 
flicht mehr aufrecht halten; die Augen sind glasig; er fällt um 



- 29 — 

wie ein Ballcen. Später hat er nur eine ganz unvollkommene 
Erinnerung an das Vorgefallene. Poe spricht hier ganz richtig 
vom «Resultat einer besonders hochgradigen Trunkenheit, welche 
gleich einer gewissen Art von Irrsinn zulässt, dass das Opfer eine 
Zeitlang wie ein vollständig vernünftiger Mensch reden und 
handeln kann". Diese Erkenntnisse können nur auf eigenster 
Erfahrung beruhen; denn heute noch beurteilen sogar viele 
Richter den Rausch nach dem Grade der motorischen Lähmungs* 
erscheinungen und der sog. pathologische Rausch wird oft nur 
nach grossen Schwierigkeiten anerkannt. 

Die deliranten Symptome betreffen den wochenlang im 
Schiffsräume eingesperrten Pyms und scheinen aus der Erinnerung 
an epileptische Zustände geschöpft zu sein; es heisst da: »Ich 
hatte die entsetzlichsten Träume und empfand jedes Grauen, jeden 
Schrecken. Einmal versuchten wilde, grässliche Teufelsfratzen 
mich unter ungeheuren Kissen zu ersticken; gewaltige Schlangen 
rissen mich in ihre Umschlingungen und sahen mir mit fürchter- 
lichen, glühenden Augen ins Gesicht. Dann breiteten sich plötz- 
lich grenzenlose Wüsten vor mir aus ; riesenhafte, graue, blattlose 
Baumstämme wuchsen auf einmal, so weit das Auge reichen 
konnte, aus dem Boden empor; ihre Wurzeln verioren sich in 
einem uferiosen Sumpfe, dessen Wasser sich in grauenvoller Düster- 
keit unbeweglich weithin ausbreitete . . ." 

Die „Abenteuer des Gordon Hyms"* sind 1837 erschienen; 
damals muss der Opiummissbrauch Poe*s schon begonnen gehabt 
haben; denn von nun an wird des Opiums in immer zunehmen- 
dem Masse Erwähnung getan; im „Gordon Pyms"* kommt der 
Held beim Nachdenken über seine Lage „auf tausend absurde Mittel, 
die wohl nur noch dem Opiumesser in seinem unruhigen Schlafe 
hätten einfallen können". Diesen Hinweis auf das Opium vervoll- 
ständigt eine spätere Schilderung; der schiffbrüchig treibende Pyms 
hat „Phantasmagorien, in denen Bewegung das herrschende Prin- 
zip ist**, d. h. er selbst liegt vollkommen ruhig und in endloser 
Folge ziehen Windmühlen, Schiffe, riesige Vögel, Reiter, Wagen„ 
Tänzerinnen usf. an ihm vorüber. 

Den Höhepunkt bildet in dieser ersten Gruppe meiner An* 
sieht nach der „Untergang des Hauses Usher" ; von diesem Werke 
führen zugleich Wege in fast alle anderen Gruppen; auch ist m 
keiner anderen Arbeit Poe*s seine Methode der Darstellung deut- 



- 30 - 

lieber zu erkennen. Poe will einen alten Studienfreund besuchen, 
Dieser wobnt mit seiner Schwester in einer „eigentfimlich trfiben 
Oegend*", in einem alten Schloss von .»unerträglicher Düsterkeit*, 
dessen Anblick mit keiner anderen Stimmung zu vergleichen ist, 
als mit dem trostlosen Erwachen des Opiumessers aus seinem 
Rausche. Das Schloss ist von einem finsteren Teiche umgeben, 
der in unheimlicher Regungslosigkeit daliegt und aus dem eine 
giftige Atmosphäre aufsteigt, die alles um das Schloss herum in 
«ine „niüde Melancholie" kleidet, „wie ein giftiger, mystischer 
Hauch, bleifarben, trübe, schwer und doch kaum wahrnehmbar*. 
Das Schloss ist dfistergrau, sieht einen wie mit erloschenen Augen 
an ; im Hause selbst bemerkt man „eine gramgeschwängerte Luft, 
«inen Hauch nicht zu bannender Düsterkeit". Seine ganze Rüst- 
kammer hat Poe ausgeleert, um eine möglichst unheimliche 
Stimmung zu erzeugen. Nun treten die Menschen in diesen Bann- 
kreis, der total degenerierte Usher und seine an Auszehrung ster- 
bende Schwester, die nur wie ein Schemen einmal durch den 
Hintergrund schwebt. Dieser Usher ist der schwerste Psychopath, 
den man sich überhaupt denken kann; er ist „gespenstisch blass"; 
„er spricht in gemessenen Tönen, um gleich darauf wieder in jene 
gaumigen, schwerfälligen, ungenügend modulierten Laute zu ver- 
fallen, die man nur von verkommenen Trunkenbolden oder von 
unverbesserlichen Opiumessern im Stadium der höchsten Auf- 
regung vernimmt'*. Er zeigt eine krankhafte Verschärfung alier 
Sinne, kann kein Gewürz mehr ertragen, keinen Blumenduft, kein 
Licht; nur die Töne von Saiteninstrumenten vermochte er noch 
ohne Schmerzen zu hören. „Sein aufgeregter, nie befriedigter 
Idealismus flackerte wie ein grelles, schwefelgelbes Licht um die 
Dinge.*' Usher malte; er malte „seltsame Unbestimmtheiten, Ideen**, 
und seinen Besucher „erfüllten die reinen Abstraktionen, die dieser 
Melancholiker auf die Leinwand warf, mit unerträglichem, angst- 
vollem Schauder**. Auf diesem Milieu baut sich nun eine ebenso 
schreckliche Handlung auf; die Schwester stirbt und wird von den 
beiden einstweilen in einem Kellergewölbe beigesetzt; Usher mit 
seinem verfeinerten Gehör wird sich am ersten Abend klar, dass 
die Schwester lebendig begraben worden sei ; acht Tage lang hört 
er die Begrabene; acht Tage lang treibt ihn diese Gewissheit um- 
her, ohne dass er in seiner Energielosigkeit zu reden oder gar 
zu handeln wagte; nach acht Tagen, als die Freunde nachts bei 



- 81 - 

einem schrecklichen Sturm beisammen sitzen, geh'ngt es der schein- 
tot Begrabenen, ihre Gruft zu durchbrechen; sie erscheint, vom 
Bruder, der jeden ihrer Schritte hört, erwartet, blutig, im Leichen- 
tuch, fällt dem Bruder in die Arme und beide sinken tot zu Boden. 
Während dieser Schauerszene tobt um das Schloss ein gespen- 
stischer Sturm; „Dunstwolken hängen bis auf die Turme; alle 
Dinge auf der Erde in der Umgebung des Schlosses glühen in 
unnatürlichem Qlanze, der ihnen eine mattleuchtende, doch deut- 
lich sichtbare gasartige Ausdünstung verlieh, die wogend wie ein 
Leichentuch um das ganze Haus zusammenschlug/* Der Gast 
entflieht voll Grausen; ein greller Schein irrt über seinen Weg, 
und umblickend sieht er das Schloss in dem dunklen Teiche ver- 
sinken. Diese Gruselgeschichte ist meisterhaft aufgebaut, und ich 
erinnere mich noch deutlich des unheimlichen Grauens, das mich 
verfolgte, als ich in jungen Jahren den „Untergang des Hauses 
Usher*' gelesen hatte. 

Über die Gruppe der Kriminalnovellen ist an dieser Stelle 
nicht viel zu sagen; dass der von Poe geschaffene geniale Lieb- 
haberdetektiv Dupin das Urbild der Sheriock-Holmes*se bildet, ist 
bekannt; in Dupin schildert aber Poe nur wieder sich selbst, und 
deshalb seien einige Stellen aus dem „Mord in der Spitalgasse*' 
angeführt. Man hat an Poe immer den tiefen mathematischen 
Verstand gerühmt; aufrichtiger als seine Bewunderer sagt er aber 
selbst: „Ein Beweiss, dass er ein Phantast und die wirkliche 
geistige Konzentration nicht liebte, war, dass er Mathematik und 
Physik nur so viel trieb, als er eben zur Einkleidung seiner Phan- 
tasien nötig hatte.'* Dupin huldigte der alten Philosophie vom 
Zweiseelensystem ; er lebte mit seinem Freunde in einem >,wetter- 
zerstörten, grotesk anzuschauenden Hause", das wegen Aber- 
glaubens verödet stand, und möblierte es in einem Stil, „welcher 
der phantastischen Düsterkeit der Gemütsart beider entsprach". 
Poe schreibt hier wie übrigens in allen seinen Erzählungen in 
der ersten Person. Die Freunde machen die Nacht zum Tag; 
der Tag ist ihnen verhasst; da haben sie alle Läden zu, schlafen 
oder sitzen beim Scheine starkparfümierter Kerzen, „die einen ge- 
spenstisch schwachen Schimmer um sich verbreiten". 

Von allen bisher angeführten Arbeiten Poe's lässt sich sagen, 
dass sie zwar eine schwer psychopathische Persönlichkeit verraten, 
dass aber Folgerungen auf spezielle pathologische Zustande des 



— 82 — 

Dichters aus ihnen allein (von Details abgesehen) kaum möglich 
sind. Über solche Zustände geben die drei folgenden Haupt- 
gruppen seiner Werke Aufschluss: die Produkte epileptischen, 
alkoholistischen und morphinistischen Ursprungs. Wie ich schon 
erwähnt habe, ist bei den vielen Übergängen, die die betreffenden 
Symptome zeigen, eine exakte Scheidung im einzelnen oft direkt 
unmöglich, und es wird sich wohl fiber manche Zugehörigkeit 
von Symptomen streiten lassen. Wenn nur die Grundlinien 
klare sindl 

Zu den Werken, die den Stempel epileptischen Ursprungs 
tragen, gehört „William Wilson**, in dem Poe einen grossen Teil 
seiner Selbstbekenntnisse niederlegte; es ist von dieser Arbeit im 
vorhergehenden schon mehrmals die Rede gewesen. Nachgetragen 
sei nur, dass es sich um eine in zwei Wesen auch äusserlich ge- 
teilte Persönlichkeit handelt, von der die eine das gute, die andere 
das böse Prinzip in Poe*s Seele darstellen soll ; der Erzähler wird 
durch Spiel und Trunksucht allmählich zum Verbrecher und er- 
sticht endlich voll Zorn sein besseres Selbst, das immer in allen 
hässlichen Situationen als Warner erschienen war; er hat sich 
durch den Tod des anderen selbst gemordet. Die Spaltung der 
Persönlichkeit in Doppelwesen, das Gefühl dunkler Erinnerung 
an eriebte Tage in unendlich fernen Zeiten spielt die Hauptrolle; 
wir haben diese Erscheinungen als epileptische schon kennen 
gelernt. 

Qualvolle Erinnerungen an epileptische Zustände werden in 
den „Scheintoten* geschildert; die darin beschriebenen Krampf- 
anfälle sind bereits erwähnt Wenn man nicht wQsste, dass es 
sich um die quälenden Angstvorstellungen eines Epileptikers handelt, 
mfisste man diese Arbeit für einen Ausbund von Bosheit halten; 
sie ist in ihren Wirkungen direkt gemeingefährlich ; in seiner Furcht 
vor dem Lebendigbegrabenwerden erzählt Poe seinen Lesern eine 
Menge grässlicher Fälle von Leuten« die scheintot begraben wurden; 
diese erfundenen Schauergeschichten wurden aber geglaubt« und 
man muss sich nur die Folgen solcher Behauptungen vorstellen» 
wie: „Man kann in der Tat kaum einen Kirchhof umgraben, ohne 
Skelette in Stellungen zu finden, die zu den grauenvollsten Mut- 
massungen führen mfissen.* 

In „Berenice** wird eine Epileptische mit Starrkrämpfen be- 
schrieben ; ihr Vetter, der Mystiker Egäus, ist ebenfalls Epileptiker 



- 88 — 

und nebenbei auch etwas Opiumesser; seine Anfälle gehören zu 
den Äquivalenten; er hat melancholische Zustande, Zwangsvor- 
stellungen, Anfälle von Gräbelsucht; so muss er z. B. ein alltag- 
liches Wort monoton so lange wiederholen, bis dessen Klang jeden 
Sinn für ihn verloren hat; die Wirklichkeiten der Welt berührten 
ihn nur wie Visionen, so sehr lebte er in seltsamen, traumhaften 
Vorstellungen ; er weiss genau, dass er schon vorher existiert hat. 
Dieser Egäus verlobt sich mit Berenice, weil ihn ein wahnsinniges 
Verlangen nach ihren — Zähnen ergriffen hat, eine Zwangsvor- 
stellung absurdester Art: „Jedes Fleckchen auf der Oberfläche 
dieser Zähne, jede Tönung an ihrem Email, jede Ausbuchtung 
ihrer Schneide hatte ihr flüchtiges Lächeln meinem Gedächtnis 
unauslöschlich eingebrannt; sie waren überall sichtbar, greifbar 
vor mir, lang, schmal und ausserordentlich weiss." Er ist über- 
zeugt, dass alle diese Zähne Ideen seien. Da stirbt Berenice 
plötzlich in einem epileptischen Anfall. Um Mitternacht des Bei- 
setzungstages treibt das Verlangen nach dem Besitz dieser Zähne 
den Egäus in die Gruft, wo er der scheintot Begrabenen, 
die während der Prozedur wieder zu sich kommt, alle Zähne 
ausbricht. 

Über die perversen Zwangsantriebe im „Geist des Bösen'* ist 
schon gesprochen. 

Aus der Erinnerung an delirante Erlebnisse scheint mir auch 
die Erzählung „die Foltern" aufgebaut; in den epileptischen Deli- 
rien, ebenso wie im Alkoholwahnsinn, spielen ja Verfolgung, 
Mord und Foltern eine grosse Rolle; es gibt nichts Grässliches, 
was in solchen Delirien der Kranke nicht zu hören, zu sehen, 
zu erleben vermeint. Mit peinlichster Genauigkeit schildert Poe 
die Qualen eines von der Inquisition zum Tode Verurteilten, wie 
derselbe zuerst in einem schwarzen, feuchten Keller eingesperrt 
ist, in dessen Mitte ein Schacht ins Bodenlose geht; dann wie 
er auf einem Gestell festgebunden ein riesiges, messerscharfes 
Pendel, das ihn zersägen soll, viele Tage über sich schwingen und 
ganz langsam und allmählich herabsinken sieht; endlich wie er 
in einer Kammer mit verschiebbaren Metallwänden eingeschlossen 
ist; durch Erhitzen dieser mit teuflischen Fratzen bedeckten Wände 
soll der Gefangene gezwungen werden, sich in das in der 
Mitte des Raumes befindliche Brunnenloch hinab zu stürzen; im 
letzten Augenblick erfolgt die Befreiung. Am Beginn dieser Er- 

Grenzffragen d. Lit u. Hebizin. 8. Heft. 8 



- 84 — 

Zählung findet sich folgende schöne Stelle: „Wer niemals ohn- 
mächtig geworden ist, gehört nicht zu denen, die in einem glü- 
henden Kohlenfeuer seltsame Paläste und sonderbar vertraute 
Gesichter wiederfinden, — die oft in den Luftgebieten trauervolle 
Visionen vorüberziehen sehen, die von den viel zu vielen nicht 
bemerkt werden; — die sich über den Duft einer unbekannten 
Blume in Grübeleien verlieren können; deren Gedanken sich 
plötzlich in dem Geheimnis einer Melodie, die sie bis dahin un- 
beachtet gelassen, verlieren können." 

Die glänzende Schilderung im „Strudel des Malstroms'*, wie 
das Boot in diesen Wasserabgrund hineingezogen wird, verdankt 
ihren Ursprung meiner Überzeugung nach wenigstens zum grössten 
Teile Empfindungen, wie sie Krampfanfällen vorausgehen (Gefühl 
des Gleitens, Stürzens, das Brausen von Wassern usw.); da heisst 
es: „das Boot schien wie durch Zauberkraft auf dem halben Wege 
nach unten auf der Innenfläche eines ungeheuer weiten, uner- 
messlich tiefen Trichters zu hängen, dessen vollständig glatte 
Seitenwände man für Ebenholz gehalten hätte, hätte man nicht 
gesehen, dass sie sich mit betäubender Schnelligkeit rundum 
drehten und einen blendend geisterhaften Glanz widerspiegelten/ 

Von den bis jetzt geschilderten Stücken unterscheidet sich 
eine kleine Gruppe, die das „Heureka** und einige ihm ähnliche 
Produkte umfasst: auf den epileptischen Charakter der Einleitung 
zu „Heureka** habe ich schon hingewiesen; während es sich 
aber in den eben besprochenen Arbeiten nur um die aus der 
Erinnerung geschöpfte Darstellung epileptischer Seelenzustände 
handelte, ist „Heureka** umgekehrt eine Schöpfung aus einem 
solchen Zustande heraus. Diese Arbeiten fallen in die letzten 
Lebensjahre Poe*s, und es macht ganz den Eindruck, als ob die 
Epilepsie in ihrem Fortschreiten allmählich religiöse Vorstellungen 
in den Mittelpunkt des Poe*schen Denkens gerückt habe. Die 
Neigung der Epileptiker, sich mit religiösen Dingen zu beschäf- 
tigen, jeder nach seiner Fähigkeit, ist ja eine alte Erfahrung. Poe 
hat bei Abfassung des „Heureka** einen lang dauernden ekstatischen 
Zustand durchgemacht; wenn man nicht wüsste, dass es ihm mit 
der Lösung aller Probleme so heiliger Ernst gewesen, möchte 
man meinen, er habe sich in diesem längsten seiner Werke einen 
schlechten Scherz erlaubt; der Stil ist vollständig manisch; öde 
Witzeleien, besonders in der ersten Hälfte (z. B. Harry Stoffel, statt 



— 86 - 

Aristoteles), wechseln ab mit dröhnenden Tiraden, aber oft auch 
glänzenden Bildern: mit unglaublicher Naivität und Kühnheit werden 
die einfachsten naturwissenschaftlichen Tatsachen umgekrempelt, 
ein Widerspruch folgt dem andern, und im Handumdrehen werden 
die gewaltigsten Fragen beantwortet Auf dieser Arbeit beruht 
aber hauptsächlich Poe*s Ruf als Denker; einen unwiderlegten 
Philosophen nennt ihn Baudelaire. Ingram bezeichnet „Heureka" 
als ein wundervolles Gedicht in Prosa, und sogar Moeller-Bruck 
spricht von dem „grossen, rein in den Sphären des Geistigen 
schwingenden Heureka -Gesang vom Weltbau". Nichts spricht 
mehr für das Aufhören relativ geistig gesunder Perioden in Poe's 
letzten Jahren, als dass er dieses Werk als vollgültig ansah, ja 
dass er diese »«Kosmogenie" von der Welt als die höchste religiöse 
Offenbarung aufgefasst sehen wollte. Der Gedankengang ist kurz 
folgender: In der ursprünglichen Einheit des ersten Dinges liegt 
die Ursache aller Dinge, zugleich mit der Anlage zu ihrer unver- 
meidlichen Vernichtung. Um die grosse Gesamttatsache zu ver- 
stehen, darf man sich nicht mit Kleinigkeiten abgeben ; die Wissen- 
schaften sind nichts wie die Detailkrämerei der Diminutivdenker 
und schaden mehr als sie nützen; „es tut uns so etwas not wie 
ein geistiges Auf- dem -Absatz- Herumdrehen; wir brauchen eine 
stürmische Bewegung aller Dinge um den Mittelpunkt des Schauens, 
dass das Unbedeutende völlig verschwindet und das Auffallende 
sich in eins vermengt". Aus dem einen „einfachsten Urteilchen 
der Materie", das soviel ist wie absolute Beziehungslosigkeit, ist 
das Weltall entstanden, indem „das Eins in den unnormalen Zu- 
stand der Vielheit gezwungen wurde". Die Materie strahlte bei 
ihrem Ursprung in Atomgestalt in eine begrenzte Raumkugel aus; 
nach Ablauf eines gewissen Zeitraumes wird dieses Prinzip der 
Abstossung überwunden sein, und sämtliche Atome werden wieder 
dem Mittelpunkte zueilen auf Grund der nun einsetzenden Attraktion. 
Das Ende ist eine Vereinigung aller Weltkugeln zu einer einzigen. 
„Die absolut zu Eins gewordene Kugel der Kugeln ist aber zweck- 
los, gegenstandslos, daher könnte sie nicht einen Augenblick länger 
existieren . . . Bemühen wir uns zu verstehen, dass sie ver- 
schwinden wird, und dass nur Gott bleibt: Alles in allem." Bei 
diesem Schlüsse scheint es sogar Poe in seiner Erregung für 
einen Augenblick zum Bewusstsein gekommen zu sein, in welchem 
haarsträubenden Unsinn er sich da verrannt habe, und er ver« 

8» 



— 86 — 

sucht noch rasch einen Kunstgriff, indem er erklärt, es gäbe über- 
haupt keine Materie, sondern nur Attraktion und Repulsion ; diese 
seien mit dem Begriff der Materie identisch und bei ihrer gegen- 
seitigen Aufhebung sei dann eben auch keine Materie mehr da! 

Die krankhafte Selbstüberschätzung des Manischen und der 
Vertust jeder Kritikfähigkeit spricht sich in dem Urteile aus, das 
Poe selbst über seine Leistung fällt: „Voll Stolz gewahre ich, dass 
es. viele sehr tiefe und vorsichtig prüfende Köpfe gibt, die nicht anders 
können, als ausnehmend zufrieden sein mit meinen Hinweisen. Für 
diese Köpfe wie für meinen eigenen gibt es keine mathematische 
Demonstration, die auch nur den geringsten Wahrheitsbeweis der 
grossen Wahrheit hinzufügen könnte, die ich aufgestellt habe!" 
Man denkt dabei unwillküriich an die Entstehung von Nietzsche*s 
„Zarathustra", der auch einer manischen Erregung entsprang. 

Direkt delirant wie das Vorwort klingt auch der Schluss des 
„Heureka" : „Die Erinnerung besonders in der Jugend, dass man 
schon immer da war: das allgemeine Bewusstsein, dass der Mensch 
z. B. unmerklich aufhört, sich Mensch zu fühlen und schliesslich 
den überwältigend sieghaften Moment erreicht, wo er sein Dasein 
als das Jehovas erkennt. Mittlerweile bewahret es in euren Seelen, 
dass alles Leben ist — Leben in Leben — das Kleinere im Grösseren 
— und alles im göttlichen Geiste!" 

Auf „Heureka" folgten noch drei kleine Stücke, welche eben- 
falls einen verzückten Charakter tragen; in allen handelt es sich 
um Seelen von der Erde Abgeschiedener, die sich im Weltenraum 
treffen und die in schöner Sprache von göttlichen Dingen reden; 
die eigentlich manischen Symptome sind nicht mehr vorhanden. 
Einer der Auferstandenen sagt: „Ich höre nicht länger jenes sinnlos 
rauschende, schreckliche Getön gleich der Stimme vieler Wasser." 

Die zweite Hauptgruppe umfasst die Produkte mehr alko- 
holischen Ursprungs. Da finden sich vor allem zwei Erzählungen, 
die nur Berichte deliranter Eriebnisse sind : „Der verlorene Atem" 
und „Der Engel des Wunderiichen". Van Vleuten glaubt, die 
erste dieser beiden Geschichten als Erinnerung an ein rein 
epileptisches Delirium auffassen zu müssen, weil sie vorwiegend 
quälende und schreckhafte Vorstellungen enthält; aber das Alkohol- 
delirium wimmelt ja ebenfalls von schrecklichen Dingen; mir 
scheint in den beiden Stücken der eigentümliche Humor, mit dem 
alle die grauenhaften und angsterregenden Vorkommnisse an- 



— 37 — 

einandergereiht und geschildert werden, für den alkoholischen 
Ursprung geradezu beweisend; von diesem Humor fehlt in den 
rein epileptischen Produkten aber auch jede Spur; selbstverständlich 
zeigen aber auch die Alkoholdelirien von Epileptikern Zuge, die 
dem Grundleiden angehören. 

Im „Veriorenen Atem" schimpft Herr Ohneluft seine Frau; 
dabei entspringt ihm sein Atem ; unter dem Vorwand nun Schau- 
spieler werden zu wollen, reist er ab; in der Postkutsche wird 
er totgedruckt, kann aber, da er ja keinen Atem hat, nicht sterben, 
hat Kopf und Glieder ausgerenkt und wird als tot auf die Strasse 
geworfen; dabei bricht er beide Arme und der nachfliegende 
Koffer zerschmettert ihm den Schädel; bei der Sektion schneidet 
ihm der Arzt die Ohren ab und nimmt ihm einige Eingeweide 
heraus; dass Herr Ohneluft dabei mit einem Beine ausschlägt, 
wird für die Wirkung einer elektrischen Batterie gehalten; die 
Leiche wird zusammengebunden, nur mit Hose und Strumpfen 
bekleidet, auf dem Speicher aufbewahrt; als aber einige Katzen 
seine Nase anfressen, befreit sich Herr Ohneluft und springt aus 
dem Fenster; ein Verbrecher wird eben zur Hinrichtung vorbei- 
gefuhrt und entwischt; die Menge dringt auf Herrn Ohneluft ein, 
der dem Verbrecher ganz gleichsieht, und man hängt ihn an den 
Galgen, wo er die Zuschauer durch lustige Sprunge unterhält, 
bis der wirkliche Verbrecher zufällig wieder eingefangen und an 
seine Stelle gehangen wird. Man bestattet Herrn Ohneluft in einer 
Gruft, wo er beim Öffnen der Särge und lustigen Betrachtungen 
über deren Insassen, den scheintot begrabenen Herrn Windgenug 
findet, in welchen seinerzeit der entflohene Atem hineingefahren 
war; der Verlorene kehrt zu seinem Herrn zurück. 

Man sieht, dieser Inhalt weicht ganz wesentlich von dem ab, 
was die epileptischen Produkte kennzeichnet; die Erlebnisse sind 
viel traumhafter, sinnlos-verworrener, und man fühlt aus der ganzen 
Darstellung und dem sonderbaren Lachen, das alle diese doch 
eigentlich recht peinlichen Eriebnisse begleitet, dass es sich nicht 
um das fürchterliche Miterieben der epileptischen Delirien handeln 
kann. Der so typisch alkoholistisch gefärbte Humor zeigt sich auch 
in Äusserungen wie: „Um wirklich glaubwürdig berichten zu können, 
muss man eben gehangen worden sein; jeder Autor sollte sich, das 
ist meine ästhetische Überzeugung, auf Erzählungen aus seiner 
eigenen Eriahrung beschränken.'* 



— 88 — 

Noch deutlicher ist der alkoholdelirante Ursprung im «Engel 
des Wunderlichen", der dem von Kirschwasser betrunkenen Dichter 
erscheint; anfangs hält derselbe die Stimme der Erscheinung »für 
ein Summen in den Ohren, wie man es oft verspürt, wenn man 
sehr betrunken ist". Poe zweifelt an der Bestimmung dieses 
Engels, »jene wunderlichen Begebenheiten zu veranlassen, die den 
Skeptiker fortwährend in Erstaunen versetzen", und das aus einem 
Rumfass, zwei Fässchen, zwei Flaschen und einem trichtergekrönten 
Flaschenkorb bestehende Ungetüm rächt sich nun ; da wirft nachts 
eine Ratte die Kerze um; das Haus verbrennt; Poe flüchtet im 
Hemd durchs Fenster; die Leiter fällt um; er bricht einen Arm 
und das Haar geht ihm aus; er wird infolgedessen ernst, will 
heiraten, hat dabei aber Missgeschick und springt in selbstmörde- 
rischer Absicht ins Wasser, nachdem er seine Kleider am Ufer 
niedergelegt hat; aber ein alter Rabe, der zu viel in Branntwein 
geweichtes Korn gefuttert hatte und sich deshalb im Rausche von 
seinen Kameraden getrennt hatte, packt das Depositum und fliegt 
mit dem unerlässlichsten Kleidungsstücke, der Hose, davon; der 
Selbstmordkandidat springt aus dem Wasser, schlüpft mit den 
Beinen in die Ärmel der Jacke und jagt dem Raben nach; dabei 
fällt er in einen Abgrund, erwischt im Fall aber das Tau eines 
Ballons, in dem der wunderliche Engel sitzt, der ihn gleich mit 
einer Flasche Kirschwasser bombardiert; Poe kann der Aufforderung 
mit seiner rechten Hand in seine linke Hosentasche zu langen, nicht 
nachkommen, einmal weil er ja einen Arm gebrochen hat. und ausser- 
dem hat er ja keine Hose an ; daraufhin durchschneidet der Engel 
das Tau, und Poe fällt krachend durch den Schornstein seines 
Hauses ins Zimmer, wo er nun erwacht, „den Kopf in der Asche 
des Kamins, die Füsse auf dem Wrack eines umgefallenen Tisch- 
chens, inmitten von Gläsern und zertrümmerten Flaschen und 
einem leeren Kirschwasserkruge". Ein Kommentar dürfte über- 
flüssig sein. 

Ähnliche Werke wie diese letzten beiden sind auch die Hu- 
moresken „Peter Bongbong", „König Pest", „Teufels Wetten" 
u. a. m.; der Unterschied ist nur, dass die Handlung eine ein- 
heitlichere ist; im übrigen gehen darin groteske Witze und Tri- 
vialität ebenfalls oft plötzlich ins Grausige über, ohne dass sich 
aber der jeweilige Träger der Handlung in seiner Vergnüglichkeit 
stören liesse; so säuft der philosophische Bongbong in einer 



— 39 — 

Sturmnacht mit dem Teufel um die Wette, und während sie um 
seine Seele schachern, rülpst der Wirt bei jedem Satze: hi— köpp. 
Oder zwei betrunkene Matrosen finden in einem Sargmagazin einer 
pestverödeten Vorstadt eine scheussliche Gesellschaft beim Gelage, 
nämlich König und Königin Pest, die Erzherzogin Anna Pest, den Erz- 
herzog Pest-Ilenz, dieHerzöge Pest-Beulchen undTem-Pesta; die bei- 
den Betrunkenen beteiligen sich mit riesiger Freude an der Sauferei, die 
dann mit einer grossen Prügelszene abrupt endigt. In „Des Teufels 
Wetten** schlägt sich Herr D. beim Hochsprung an einer Eisenstange 
zufällig den Kopf ab, den der Teufel in einer Schurze auffängt und 
davon trägt; „D. überlebte den Veriust des Kopfes nicht lange". 
In dieser „Humoreske** sind so hässliche Töne angeschlagen, wie 
sie Poe nur in alkoholisiertem Zustande fertig bringen konnte, 
wenn ich auch nicht verkenne, dass manches davon auf Rechnung 
des amerikanischen Humors kommt, jener „barocken Mischung 
von trockenster Nüchternheit und grotesk-phantastischen Über- 
treibungen** (J. Hart). Poe erzählt da von einem frühreifen Kinde, 
das schon mit acht Monaten Ärgernis erregte, weil es sich nicht 
in einen Mässigkeitsverein aufnehmen lassen wollte. Als sein 
Freund nach Vertust des Kopfes starb, liess er ihn begraben, 
aber — und damit schliesst die Geschichte -^ „die Schufte, die 
MetaphysIker, weigerten sich, die Begräbniskosten zu zahlen, und 
ich liess darauf Herrn D. wieder ausgraben und verkaufte ihn als 
Hundefutter**. 

Die berühmteste Geschichte der Alkoholgruppe, die zugleich 
eine Menge biographisches Material enthält, ist „Der schwarze 
Kater**. Darin schildert Poe geradezu meisterhaft die Wirkungen 
des chronischen Alkoholmissbrauches, die Alkoholdegeneration, 
ohne Zweifel auf Grund eigener Erfahrungen. Der Held dieser 
Novelle war als Kind von so ungewöhnlicher Herzenszärtlichkeit, 
dass er deswegen zum Gespött seiner Kameraden wurde. Er 
war ein grosser Tierfreund, und als er heiratete, teilte seine Frau 
diese Neigung; das bevorzugteste Tier im Hause war ein grosser 
schwarzer Kater. Allmählich vollzog sich aber in dem Charakter 
des Mannes eine böse Wandlung; er wurde zum Trinker („durch 
den Dämon Unmässigkeit**) ; er wurde oft trübsinnig, war reizbar, 
rücksichtslos, brutal gegen die Frau und die Tiere; selbst der 
schwarze Kater hatte die Wirkungen dieser „Verdüsterung ** zu 
fühlen. Dass ihn das Tier nun flieht, steigert seinen Zorn; im 



— 40 - 

Schnapsrausch sticht er „ganz bedächtig" dem Kater ein Auge 
aus; »ich kannte mich selbst nicht mehr; es war, als ob meine 
Seele aus meinem Körper entwichen sei ; eine mehr als teuflische, 
vom Schnaps noch angefeuerte Bosheit zuckte in jeder Fiber 
meines Leibes"". Die tückische Erbitterung gegen den Kater nimmt 
zu durch den Geist der Perversität (»die Psychologie hat sich 
noch nie mit diesem Dämon befasstl""); eines Tages erhängt der 
Trunkenbold das Tier, während er dabei weint; „weil ich dabei 
fühlte, dass ich damit eine Sünde beging, eine Todsünde, die 
mein Seelenheil vernichten konnte". In derselben Nacht ver- 
brennt ihm Haus und Besitz; an der einzigen noch stehenden 
Innenmauer sieht man, wie ein Basrelief eingegraben, die Ge- 
stalt einer erhängten Katze. In einer Schnapsschenke, wo er 
stumpfsinnig brütend sass, findet er einen Kater, den niemand kennt 
und der dem ermordeten total gleicht; nur hat dieser die Zeich- 
nung eines Galgens auf der Brust und eines Strickes um den 
Hals. Er nimmt das Tier mit nach Hause. Durch den Alkokol 
war sein Temperament allmählich in Hass gegen alles in der Welt 
ausgeartet; er hasste besonders seine Frau; in einem Wutanfall 
schlägt er ihr den Schädel ein; gleich nach dem Affekt geht er 
voll Überlegung daran, die Leiche im Keller einzumauern und 
empfindet ein gewaltiges Gefühl der Erleichterung. Bei einer 
Haussuchung überkommt ihn aber der Geist der Perversität und 
er klopft höhnisch an die betreffende Mauerstelle; da antwortet 
eine jämmerliche Stimme; er hatte den Kater aus Versehen mit 
eingemauert, der beim Öffnen auf dem blutigen Schädel der 
Leiche sitzt. 

Es ist kein reiner Alkoholist, den Poe da gezeichnet hat, 
sondern ein epileptischer Alkoholist; für Epilepsie sprechen die 
Anfälle von Perversität, die Affekthandlungen schrecklichster Art 
und das auf den Totschlag folgende Gefühl der Erleichterung, 
der aus dem Schattenreiche wiederkehrende Kater und die ver- 
steckte Leiche sind Variationen eines bei Poe sehr häufigen 
Themas. 

Ich verlasse nun die Alkoholpoesie Poe*s, um mich zur 
letzten Gruppe, der des Opiums oder Morphiums zu wenden. Die 
Wirkung dieser nah verwandten Alkaloide ist schon im allgemeinen 
entworfen worden. Eine schöne Illustration dazu bieten das „Gut 
zu Arnheim'*, „Landors Landhaus", „die Feeninsel" und „das 



— 41 — 

ovale Porträt". Das „Landhaus zu Arnheim" ist wie ein Haschisch- 
traum; ein ungeheuer reicher Mann hat all sein Können darauf 
verwendet, eine Landschaft aufzubauen, die Natur und Kunst ver- 
söhnen sollte. Alles was Poe von dieser Landschaft beschreibt 
— und die ganze Erzählung ist nur Beschreibung — spiegelt „den 
berückenden Glanz des Opiums*' wieder: das sanfte Gleiten des 
Bootes, die Musik des Wassers, die eigentümlichen Blumen, das 
Fehlen jeder Spur von Welken, von Abfall; alles ist durch- 
sichtig, mit sonderbar leuchtenden Farben; dazu harmonische 
Musik, hängendes Moos, märchenhafte Architektonik; „das kristall- 
helle Wasser schwoll an dem glatten Granit und dem fleckenlosen 
Moose in so scharfer Linie empor, dass es das Auge zugleich 
verwirrte und entzückte". Auf eine Opiumhalluzination deutet 
auch die Schilderung des „Tales der vielfarbigen Gräser*' in 
„Eleonora". Um die „Feeninsel" ist das Wasser so durchsichtig, 
dass die Insel darin zu schweben scheint; die Insel ist von 
traumhafter Schönheit; „aus den westlichen Lichtquellen des Himmels 
stürzt ein reicher purpurgoldener Wasserfall in das Tal hernieder". 
Der Weg in diese Regionen führte vorüber „an traurig plätschernden 
Flüssen und düsteren, schlafenden Seen". Dass es Poe bei seinen 
Schilderungen, wenn er in den ästhetischen Genüssen des Opiums 
schwelgte, auch auf etwas Unsinn nicht ankam, wenn es nurschön klang, 
zeigt folgender Satz : „ . . so feierlich und tiefgetönt war damals das 
Glück, damals in jenen heiligen, erhabenen, segensreichen Tagen, 
in denen blaue Flüsse, von keinem Damme beengt, durch jung- 
fräuliche Lande dahinströmten und sich in ferne, duftende, un- 
erforschte Urwaldeinsamkeiten verloren" (Monos und Una). Hier 
nähert er sich schon recht bedenklich manchen unserer modernen 
Sprachkünstler. 

Im „ovalen Porträt* kommt ein von Banditen verwundeter 
Edelmann mit seinem Diener in ein ganz einsames, unbewohntes 
Apenninenschloss, das aber trotz seiner Verlassenheit fürstlich 
eingerichtet ist. Der Edelmann hat Opium bei sich; sonst hat er 
es geraucht; da kam es nicht so sehr darauf an, wieviel man 
nahm; jetzt musste er es innerlich nehmen und die Dosis wurde 
zu gross. In einem mit Gemälden reichgeschmfickten Turm- 
zimmer legt er sich in ein prächtiges Bett und liest „lange, lange**; 
„schnell mit glänzenden Flügeln entflohen die Stunden". Plötz- 
lich fällt sein Blick auf ein ovales Porträt, das einen Frauenkopf 



- 42 - 

von grosser Schönheit darstellt; eine Stunde lang starrt er das 
Bild an, das zu leben scheint; er liest im Katalog nach, der merk- 
würdigerweise auf dem Nachtkästchen liegt, und erfährt, dass einst 
ein Maler in diesem Zimmer seine junge Frau malte ; er hatte nur 
Sinn für sein Bild; gespenstisches Licht fiel dabei durch die Fenster; 
er malte, während von ihm unbemerkt ein schweres Siechtum die 
ihm als Modell sitzende Frau verzehrte; als das Bild fertig war» 
stellte es das Leben selbst dar, während im gleichen Moment die 
Frau tot umfiel. 

Opiumwirkung ist hier nur die Verfassung des Edelmannes 
während der Nacht ; die angehängte Fabel ist lediglich romantisch» 
wenn man nicht von ihrer Unsinnigkeit reden will. 

„In den Bergen"" ist ebenfalls die Erinnerung an ein delirantes 
Erlebnis; van VIeuten hat auch hier bereits den Verdacht aus- 
gesprochen, dass sich eine Opiumvergiftung darin ausdrücke, und 
führt als beweisend das Gefühl der Körperlosigkeit und die 
Architekturvisionen an. Wie bei den meisten Arbeiten Poe*s, so 
handelt es sich auch hier um eine Mischung von Symptomen; 
der Grundzug der Handlung hat etwas Epileptisches; die Schil- 
derungen dagegen verraten das Opium. Der Held der Erzählung, 
ein junger Mann, namens Bedloe, ist ein schwerer Psychopath; 
er hat „Augen sehr gross und rund, oft sonderbar glänzend wie 
eigenes Licht; dann wieder trübe und unklar wie die Augen eines 
Leichnams". Bedloe hat „eine stark schöpferische Phantasie, die 
durch den Gebrauch von Morphium noch gesteigert wurde; er 
genoss das Gift in grossen Mengen *". Er ist begleitet von einem 
alten Arzte. Bei einem einsamen Ausflug kommt Bedloe in eine 
sonderbare Gegend; „die Landschaft war von einer unbeschreib- 
lichen, trostlosen Düsterkeit, die mich geradezu entzückte". Bedloe 
erzählt: „Mittlerweile begann auch das Morphium in gewohnter 
Weise zu wirken; es erfüllte mich mit einem überlebhaften Inter- 
esse für alle Dinge der äusseren Welt; in dem Zittern eines 
Blattes, in dem Hauch des Windes, dem Summen einer Biene, 
in dem Funkeln eines Tautropfens, in dem flüchtigen Duft, der 
vom Walde herüberkam, barg sich mir eine ganze Welt von Er- 
innerungen und Vorstellungen, eine heitere, bunte Schar abgeris- 
sener, angenehm verworrener Gedanken." Plötzlich überkommt 
ihn eine Halluzination ; er hört Trommelwirbel ; ein dunkelfarbiger 
Mann, eine Hyäne springen über den Weg; es ist heiss; Palmen 



- 43 - 

Stehen da; im Tal unten liegt eine grosse orientalische Stadt — 
Benares; Bedloe ist plötzlich in einen englischen Offizier ver- 
wandelt und durchlebt den Aufstand von 1780, wird von einem 
vergifteten Pfeile an der Schläfe getroffen und stirbt; die Seele 
sieht den Leichnam des Körpers entstellt auf der Strasse liegen, 
fliegt fort; es erfolgt die Rückkehr in das reale Selbst. Der alte 
Arzt klärt die Sache dahin auf, dass vor vielen Jahren sein bester 
Freund Oldeb (= Bedlo) in Benares auf diese Weise umgekommen 
sei, und dass er sich an Bedloe angeschlossen habe, weil ihn 
derselbe so an den toten Freund erinnerte. Acht Tage später 
stirbt Bedloe durch einen giftigen Egel, der ihm gegen Kopf- 
schmerz aus Versehen statt eines Blutegels an die Schläfe gesetzt 
worden war. Man sieht, es sind Variationen der alten Vorstel- 
lungen, die bei Poe immer wiederkehren. 

Das Hauptwerk dieser letzten Gruppe ist „Ligeia*, das nach 
Poe's eigenem Geständnis im Traum konzipiert ist und das des Dich- 
ters Liebltngswerk war. In dieser Geschichte ist Epileptisches mit 
den Spätwirkungen des Opiummissbrauchs verquickt; die Erzählung 
geschieht wie fast stets in der ersten Person. Ligeia war „wie die 
Blüte eines Opiumtraumes, wie eine unirdische, geisterhaft schöne, 
verzückte Vision, seltsamer und himmlischer wie die Traumgebilde, 
die durch die schlummernden Seelen der Mädchen von Delos 
ziehen". Sie hat grosse strahlende Pupillen, hat etwas Mystisches 
um sich; sie ist ungeheuer gelehrt und scheint aus einer uralten 
Vorzeit zu stammen ; ihr Gemahl weiss nicht, wann er sie kennen 
gelernt hat; denn sein Gedächtnis ist schwach geworden. Die 
Grundansicht der Lady Ligeia ist, dass sich der Mensch nur aus 
Willensschwäche dem Tode fiberliefere. Sie stirbt aber trotzdem 
und zwar an Schwindsucht. Ihr Gemahl zieht nach England, ganz 
verzweifelt, kauft dort eine alte Abtei, die natüriich von einer 
finsteren, melancholischen Grossartigkeit ist; er richtet die Abtei 
phantastisch ein; „ich stand jetzt ganz unter der Herrschaft des 
Opiums und alle meine Arbeiten und Pläne atmeten den Geist 
meiner Träume". Der Witwer verheiratet sich wieder mit einer 
vornehmen Engländerin; diese Dame erkrankt aber sehr bald an 
einem rätselhaften Siechtum; der Mann wacht nachts bei ihr in 
einem Saal von seltsamster Phantasie; er beginnt zu halluzinieren; 
zuerst meint er, es sei „die gewöhnliche Erregung der Opium- 
träume"; er sieht Schatten an den Wänden huschen, fühlt sich 



- 44 - 

von ihnen gestreift; als er seiner Frau Wein zu trinken gibt, sieht 
er aus der Luft rubinrote Tropfen in das Glas fallen. Die Frau 
stirbt. In dem gleichen phantastischen Zimmer hält der Mann 
die Leichenwache und denkt dabei an Ligeia; da bemerkt er voll 
Entsetzen, dass die Tote mehrmals periodisch alle Zeichen wieder- 
kehrenden Lebens aufweist, um danach jedesmal mehr die grauen- 
haften Merkmale eines verwesenden Leichnams zu zeigen; bei 
einem neuen Zurückfluten des Lebens erhebt sich die Tote, und 
als sie vor dem Manne steht, erkennt er die ins Leben zurück- 
gekehrte Ligeia. Mit diesem Effekt schliesst die Geschichte. Wie 
fast alle Poe'schen Erzählungen zeigt auch sie eine absolute Igno- 
rierung aller Nebenumstände, die sonst im Dasein eine so wich- 
tige Rolle spielen und mit Fragen und logischen Überlegungen 
darf man an diese Handlungen gar nicht herantreten. Einen ganz 
ähnlichen Veriauf weist auch die Novelle „Morella** auf, wo die 
Mutter in der Tochter wieder zum Leben gelangt. 

Sehr anschaulich zeigen sich die späten Opiumvisionen 
des Epileptikters in der kleinen Skizze „Schweigen"; dass 
das Opium dabei die führende Rolle spielt, scheint mir auch 
daraus hervorzugehen, dass fast jede Handlung fehlt und dass 
sich die Diktion wesentlich von der epileptischen Art unter- 
scheidet. Ich führe zum Schlüsse aus dem „Schweigen** eine 
Beschreibung an, weil sie mir wie von einem unserer Modern- 
sten geschrieben erscheint: „Die Wasser sind von safrangelber« 
kranker Farbe und sie strömen nicht weiter dem Meere zu, son- 
dern bäumen sich ewig unter dem roten Auge der Sonne mit 
stürmischer, krampfhafter Bewegung empor. An jeder Seite des 
schlammigen Flussbettes zieht sich viele Meilen weit eine bleiche 
Wüste gigantischer Wasserlilien hin. Sie seufzen einander durch 
die Öde zu und recken ihre langen gespenstischen Hälse zum 
Himmel empor . . . Durch einen dünnen, geisterhaften Nebel 
geht der Mond auf und ist von karmoisinroter Farbe . . .** 

Noch einige Worte über die Lyrik Poe's. Abgesehen von ganz 
wenigen guten Sachen finde ich seine Gedichte, auch in englischer 
Sprache, nicht geniessbar; aber das ist Geschmackssache; ich 
glaube, dass er kein lyrischer Dichter sein konnte, weil ihm nur 
eine begrenzte Gefühlsskala zur Verfügung stand und diese noch 
weit entfernt von dem, was man lyrische Gefühle nennt Die 
meisten Gedichte sind genau so pathologische Produkte wie seine 



— 46 - 

Novellen. Die berühmtesten sind „Der Rabe" (1845) und „Ulalume*^ 
(1847); beide sind ausgesprochene Produicte einer geistigen Störung; 
im „Raben* sind die Halluzinationen eines beginnenden Deliriums 
geschildert, wo der Dichter „Träume träumt, die kein armer Erden- 
sohn geträumt zuvor"; alle Gedanken sind um die nächtliche Er- 
scheinung eines Raben geflochten, der in das Zimmer des Dichters 
stolziert, sich auf einem Schranke neben einer Pallasbüste nieder- 
lässt und auf alle Fragen mit „Nimmermehr" antwortet Die 
Diktion ist einfach souverän, einzelne Bilder sind prächtig; aber 
das Ganze ist krank. Ich finde es verkehrt, das im Leser er- 
regte Grauen als Massstab für den Wert des Gedichtes zu ver- 
wenden; dass es Leute gegeben hat, die nicht mehr wagten eine 
im Zimmer stehende Pallasbüste in der Dämmerung anzusehen 
aus Furcht, der Rabe Nimmermehr könnte daneben sitzen, halte 
ich für alles andere eher als ein Lob. Noch krankhafter ist 
„Ulalume", wo alle die uns schon bekannten Requisiten Poe*scher 
Gespensterschilderung in gebundener Sprache wiederkehren; ich 
kann dem Gedicht nur ein pathologisches Interesse zuerkennen; 
ich denke, der Anfang wird als Muster genügen: 

„Die Wolken türmten sich mächtig; 

Die Blätter waren verdorrt, 

Sie waren kraus und verdorrt. 

Es war Oktober und nächtig 

An einem unseligen Ort. 

Es war nahe dem bleiernen Wasser, 

Das da so verschlafen steht, 

Am Hain, wo des Nachts sich ein blasser. 

Hohläugiger Schwärm ergeht." 
Sollte Poe mit diesem Schwärm seine blassen Nachahmer 
gemeint und vorgeahnt haben? 

Ich eile zum Schlüsse. Ich glaube das Walten einer schreck- 
lichen Notwendigkeit im Leben Poe*s gezeigt zu haben; ich glaube 
ferner gezeigt zu haben, dass die Schöpfungen Poe's total patho- 
logische sind und dass der Kranke aus einem gewissen patho- 
logischen Vorstellungskreise nicht hinausgekommen ist; was er 
aber geschrieben hat, ist sein Eigenstes; seine Nachahmer können 
heute ihn und noch ein Dutzend psychiatrischer Lehrbücher dazu 
abschreiben; er konnte nur in seiner eigenen Seele lesen, und 
was er las, war der Psychiatrie der damaligen Zeit noch ein fast 



- 46 — 

unbekanntes Land. Dieses Land der Poe*schen Schöpfungen ist 
Neuland gewesen, und Baudelaire war der Fuhrer in diese neuen, 
fruchtbaren Gefilde; eine Schar bewusster Nachahmer hat sich nun 
darüber ergossen, und die Folgen sind für die Literatur unheil- 
voller gewesen als man vielleicht heute ahnt; denn nichts ist 
leichter, als Poe im Äusserlichen nachzuahmen. 

Man kann Poe zu verstehen suchen; nachbeten darf man 
ihn nicht; denn seine Kunst ist etwas Krankes; sie hat nichts 
Erhebendes, und das Unheimliche und Entsetzliche ist bei ihr Selbst- 
zweck. Nichts von dem haben wir auf dem ganzen Wege ge* 
funden, was von der eigentlichen, idealen Aufgabe der Kunst zeugte; 
in jenen Worten Nietzsche*s liegt die Verurteilung dieser entarteten 
Richtung: „Kunst, sie allein vermag jene Ekelgedanken über das 
Entsetzliche und Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, 
mit denen sich leben lässt; diese sind das Erhabene als die künst- 
lerische Bändigung des Entsetzlichen und das Komische als die 
künstlerische Entladung vom Ekel des Absurden.** („Geburt der 
Tragödie".) 



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Kunst als Äusdrockstätigkeit. 

Biologische Voraussetzungen der Ästhetik. 

Von Dr. Oskar Kohnstamm. 
95 Seiten, gr. 8^ 1907. Preis Mk. 2.— 

Beziebongen des Seelenlebens zum Neryenleben. 

Grundlegende Tatsachen der Nerven- und Seelenlehre. 

Von Dr. Eduard Hirt 

1903. 8*. SO Seiten. Preis Mk. 1.20 

Über moralisches Irresein 

(Moral Insanity) 

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1903. 32 Seiten, gr. 8^ Preis 80 Pfg. 

Der Descendenzgedanke und seine Geschichte 

vom Altertum bis zur Neuzeit 

dargestellt von Dr. Edgar Dacqu€. 

1903. gr. 8«. 120 Seiten. Preis Mk, 2.- 

Wahres and Falsches an Darwins Lehre. 

Ein Vortrag von Prof. Dr. August Pauly. 

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Soeben erschien: 

Gesundheitspflege des Geistes 

von Professor Dr. Clouston. 
Mit Vorwort und Anmerkungen von Professor August Forel. 

ca. 350 Seiten 8*. Mit 10 Illustrationen. In eleg. Leinenband Preis Mk.2.80. 

Mehr und mehr suchen die Ärzte auf Gebieten die Führung zu über- 
nehmen, die früher ausschliessliche Domäne der Moralisten und Theologen 
waren. Viele Bücher sind über diese und ähnliche Themata erschienen, 
aber keines ist klarer als das von Clouston. „Die Verbesserung unserer 
Rasse muss ein wirklicher politischer Faktor werden'', das ist der Grund- 
gedanke des Verfassers und damit trifft er mit Ruskin zusammen, der vor 
Jahren in Fors Clavigera ausgeführt hat, dass der Zweck des Staates nicht 
sei, Reichtümer aufzuhäufen, sondern die seelische Kultur zu fördern. 

„British Medical Journal**. 

Der Wert der deutschen Ausgabe wird ganz wesentlich erhöht 
durch die zahlreichen Anmerkungen von Prof, Forel, die das Werk des 
mehr auf das Praktische gerichteten englischen Psychiaters in theore- 
tischer Hinsicht, in der die deutsche Wissenschaft die unbestrittene 
Führung hat, wertvoll ergänzen. Jeder Gebildete, vor allem Eltern und 
Lehrer, werden dieses Buch mit Nutzen lesen. 

Prof. A, Forel: 

Verbrechen 
und konstitutionelle Seelenabnormitäten. 

Unter Mitwirkung von Professor A. Maheim. 

187 Seiten gn 8*. 1907. Preis Mk. 2.50, eleg. geb. Mk. 3.50. 

Ein neues Buch von Prof. Forel ist des Interesses aller Gebildeten 
sicher. Es behandelt die Übergangsformen zwischen Geisteskrankheit und 
Gesundheit, Gestalten, die jeder aus nächster Nähe kennt, die, trotz ihrer 
Defekte oft hochbegabt, ihre Umgebung hinreissen und dadurch viel ge- 
fährlicher werden als die offenkundig Geisteskranken. Diese Unglücklichen 
machen das Leben sich und andern zur Qual, Gefängnisse und Irrenanstalten 
nehmen sie abwechselnd auf, ohne sie dauernd zu behahen, da sie nirgends 
hingehören. Mit einer Freisprechung wegen verminderter Zurechnungs- 
fähigkeit ist weder ihnen noch der Gesamtheit gedient, denn je geringer 
diese, um so grösser die Gefahr. Darum schlägt der Verfasser ländliche 
Asyle mit bedingter Freiheitsentziehung vor. Typische Fälle, spannend 
wie ein Roman, erläutern seine Ansicht. 



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