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y
Grenzfragen
der Literatur und Medizin.
In Einzeldarstellungen
herausgegeben
von
Dr. S. Rahmer.
MÜNCHEN 1908
ERNST REINHARDT, Verlagsbuchhandlung.
Inhalt:
2^ Heft 1. Dr. S. Rahmer, Aus der Werkstatt des dramatischen
Genies. (Musik und Dichtkunst.)
vyHeft 2. Dr. med. Moritz Aisberg, Die Grundlagen des Ge-
dSchtnisses, der Vererbung und der Instinkte.
^ Heft 3. Dr. Erich Ebstein, Chr. D. Grabbes Krankheit. Eine
medizinisch - literarische Studie. Mit Grabbes Bildnis,
Faksimile und Ungedrucktem.
y Heft 4. E. von Kupffer, Klima und Dichtung. Ein Beitrag
zur Psychophysik.
Heft 5. Dr. Tim. Segaloff, Dostojewskys Krankheit. Mit
Portrait.
x^^Heft 6. Dr. S. Rahmer, August Strindberg. Eine pathologische
Studie. Mit Portrait.
</ Heft 7. Dr. Alfred Lichtenstein, Der Kriminal-Roman. Mit
einem Anhang: Sherlock Holmes Ober den Fall Hau.
_ Heft 8. Dr. H. Probst, Edgar Allan Poe. Ein Beitrag zur
Alkohol- und Morphiumpoesie.
GRENZFRAGEN DER LITERATUR UND MEDIZIN
in Einzeldarstellungen
herau^egeben von Dr. S. RAHMER, Berlin.
I. Heft
Aus der Werkstatt
des dramatischen Genies.
(Musik und Dichtkunst)
Eine psycho-physiologische Studie
von
Dr. S. Rahmer.
MÜNCHEN 1906
ERNST REINHARDT, Verlagsbuchhandlung
Zur Einfahrung.
Die literarische Forschung kann sich darauf beschränken,
das äussere Leben und den literarischen Charakter des Dichters
zu schildern, seine Werke nach ästhetischen Gesetzen zu beurteilen,
ihren Wert und ihre Bedeutung für die Zeitgenossen und für
kommende Geschlechter klarzulegen; sie kann weiter versuchen,
aus dem Zusammenwirken einzelner Richtungen die bestimmenden
Eigenschaften einer bestimmten Periode und die Entwicklung
der schöpferischen Volkskraft zu erkennen. Die literarische Be-
trachtung kann aber auf einer fortgeschrittenen Stufe ein intimeres
Verständnis des Dichters erstreben, wenn sie, in der Arbeitsstube
des Dichters vervweilend die Eigenart seines Schaffens dariegt und
von diesem Gesichtspunkte in die geheimen Tiefen einer Dichter-
seele eindringt. Auf dieser Stufe der Entwicklung ist die Psycho-
logie eine Hilfswissenschaft der literarischen Forschung geworden.
Auch das Band, welches den Arzt mit der Psychologie ver-
bindet, musste mit den Fortschritten der Medizin immer enger
sich gestalten. Für den Arzt ist die Psychologie nicht bloss
eine Hilfsdisziplin der Psychiatrie, sondern sie ist ihm unentbehr-
lich als eine notwendige Ergänzung seines auf körperiiche Vorgänge
beschränkten Studiums, und sie wird es in immer höheren Masse, je
mehr er die Tendenz verfolgt, den Kranken individuell zu behandeln,
d. h. seiner Eigenart, seinem seelischen Befinden entsprechend.
Für den modernen Arzt ist nicht bloss die Reizbarkeit des Neii-
rasthenikers, die nervöse Depression des Hypochonders, nicht
bloss die Wahnidee des Geistesgestörten, sondern jede Störung
des seelischen Gleichgewichts, wie sie unausbleiblich im Gefolge
eines köperlichen Leidens auftritt, ein Objekt der Beobachtung und
der Behandlung.
Die Psychologie ist nach alledem eine Hilfswissenschaft
geworden, sowohl der literar-ästhetischen Forschung als der
medizinischen Wissenschaft, . sie ist das Grenzgebiet, auf dem
— 2 —
Literatur und Medizin zusammenstossen. Auf diesem Grenzgebiete
sollen sich die Arbeiten bewegen, die in freier und unabhängiger
Form unter dem Gesamttitel: „Grenzfragen der Literatur und
Medizin" in der vorliegenden Sammlung zusammengefasst werden.
Die Auswahl unter den zur Behandlung kommenden Fragen
ist eine unbegrenzte. Das Thema soll in einem gewissen Zu-
sammenhang stehen zu den beiden Grenzdisziplinen, es soll diesen
Zusammenhang klarlegen, und es soll vor allen Dingen so bearbeitet
sein, dass der Medizin ihre exakten naturwissenschaftlichen, hier
vornehmlich physiologisch-psychologischen Untersuchungsmetho-
den, der Literatur und den schönen Künsten das reiche in Dichter-
werken, Memoiren, Briefen, Selbstbekenntniseen etc. niedergelegte
Material entnommen ist.
Der Gewinn für beide Wissenschaften, die hier in enge Be-
rührung kommen, liegt auf der Hand. Die Literaturgeschichte
bedarf, schon um den Zusammenhang zwischen geistiger Betäti-
gung und körperlichem Befinden in jedem einzelnen Falle zu durch-
schauen, der medizinischen Mitarbeit, abgesehen davon, dass sich
ihr auf Schritt und Tritt rein medizinische, speziell psychiatrische
Fragen aufdrängen. Das Bedürfnis nach entsprechender Ergänzung
literarisch-psychologischer Forschung ist von unabhängig denken-
den Vertretern der Wissenschaft stets empfunden worden und findet
den treffendsten Ausdruck darin, dass zur Vervollständigung rein
literarischer Studien von autoritativer Seite auch die psychiatrische
Ausbildung gefordert wurde. Da psychiatrisches Verständnis ohne
medizinische Kenntnisse und entsprechende Ausbildung eine Un-
möglichkeit ist, so müssen wir in dieser Forderung die Anerken-
nung sehen, dass die medizinisch-psychiatrische Literaturbetrach-
tung der rein literar-ästhetischen Forschung eine gewisse Förderung
bringen kann. Wie es ein juridisch-medizinisches Grenzgebiet gibt,
wie das gerichtliche Forum an das Gutachten ärztlicher Sachver-
ständiger in geeigneten Fällen appelliert, so wird auch die medi-
zinisch-literarische Betrachtungsweise an sich nicht auf ernsten
Widerspruch stossen können.
Der Mediziner sieht in den Studien, die sich auf der Grenz-
linie von schönen Wissenschaften und Künsten auf der einen, Medizin
— 8 —
und Psychiatrie auf der andern Seite bewegen, nicht nur sein
gutes Recht, sondern er findet in ihnen auch seinen eigenen,
grossen und unschätzbaren Vorteil. Wie er die Äusserungen
körperiicher Kraft, die Funktionen der Muskeln mit Vorliebe am
Rumpfe des Athleten studieren wird, so wird er als Studienobjekt
geistiger Betätigung, zur Beobachtung subtiler seelischer Vorgänge
die Überragenden im Geiste auswählen, jene bis in die Finger-
spitzen fein organisierten, sensiblen Dichter- und Künstlernaturen«
die die ganze Skala der Empfindungen durchgemacht, die über
ein reiches und empfindsames Seelenleben verfügen, die vor allem
imstande sind sich selbst und ihre Empfindungen zu beobachten
und wiederzugeben, in einer Weise, wie es die sorgfältigste ärztliche
Anamnese nicht vermag.
Sollen die Untersuchungen des Arztes für seine eigene Wissen-
schaft fruchtbringend sein, so muss er vor allem mit der grössten
Unbefangenheit und ohne jede Voreingenommenheit und vor-
gefasste Meinung an sie herantreten; er soll nicht die Bedeutung
und den Wert der Geistesgrössen an seinen Glaubenssätzen prüfen,
sondern umgekehrt soll er vor allem sich überzeugen, ob seine
eigene Wissenschaft vor den geistig Auserlesenen standhält.
Das Feld, das wir bearbeiten wollen, hat bereits viele Früchte
getragen; es liegt eine umfangreiche Literatur vor, die sich auf
dem von uns gezeichnetem Grenzgebiete bewegt, und wohl kaum
eine markante Persönlichkeit aus Dichtung und Leben hat nicht
ihren ärztlichen Bearbeiter gefunden. Wenn dabei viele Misgriffe
vorgekommen sind, wenn namentiich die häufig vertretene Tendenz,
Krankheitssymptome aufzuspüren und aus degenerativen Zeichen
und abnormen Zügen Krankheitsbilder zu konstruieren die ganze
Richtung in Miskredit gebracht hat, so liegt dies zum grossen Teil
an der ausserordentiich schwierigen Problemstellung. Nur in ver-
hältnismässig seltenen, unkomplizierten Fällen, bei einfacher
Fragestellung wird es möglich sein, mit dem fachwissenschafüich
medizinischen Rüstzeug auszukommen. In den meisten Fällen
kann die ausschliesslich medizinische Forschung ebensowenig
Aufklärung und Gewinn bringen als die einseitig literarische. Es
ist nicht angängig, die Persönlichkeit des Dichters von dem Kunst-
— 4 —
werk zu trennen ; das eine müssen wir aus dem andern verstehen
lernen. Der geistig- sittliche Kern der Dichtung und der geistig-
sittliche Kern des Dichters sind identisch, die progressive Ent-
wicklung des Dichters ist das Resultat einer ansteigenden geistigen
Entwicklung und wachsenden Charakterfestigung des Menschen.
Wie wir aus der Leistung und der Funktion des Herzens einen
Schluss ziehen auf die Beschaffenheit des Organs, wie wir aus
normalen Körperausscheidungen normal secemierende Organe
diagnostizieren, so müssen wir nach den Qeistesprodukten die
geistige und seelische Beschaffenheit des Dichters selbst beurteilen.
Weiter auch wird es notwendig sein, um zu einer gerechten Beurteilung
zu gelangen, die jeder Handlung und Äusserung zugrunde liegen-
den Motive abzuwägen und stets die psychologischen Bedingungen
im Auge zu behalten, um zutreffende Schlüsse daraus zu ziehen.
Wir ersehen aus alledem, dass die Aufgabe des Arztes in den
meisten Fällen eine ungemein schwierige und komplizierte ist: er
kann sich nicht daran genügen lassen, biographisches Material kritik-
los hinzunehmen und Darstellungen aus zweiter und dritter Hand
seiner Betrachtung zugrunde zu legen; er muss die Werke des
Dichters selbst beherrschen, er muss das Material, das die literar-
historische Forschung bietet, kritisch sondieren, er muss in den
meisten Fällen auf die literarischen Quellen selbst zurückgehen —
kurz seine Betrachtung, soll sie zu einem befriedigenden Resultat
führen, wird ebensowohl literarische und ästhetische als medi-
zinische und psychologische Studien eriordern.
Nur auf diesen, zweifellos sehr schwierigen Wegen kann es
gelingen, das höchste Ziel aller psychologischen Wissenschaft zu
erringen und eine Einsicht zu gewinnen in den Zusammenhang
zwischen körperiichem Befinden und geistiger Produktion, in das
Wesen der Vererbung und natüriichen Anlage, in die Abhängig-
keit poetischer und künstierischer Leistungen von allen möglichen
Exzessen und damit die Grundlagen einer seelischen und geistigen
Diätetik.
Berlin SW., im März 1906.
Der Herausgeben
Aus der Werkstatt des dramatischen Genies.
Jedes Kunstwerk ist eine mächtige Lebendigkeit, aber für den
Verstand unfassbar, — um Goethes Wort zu gebrauchen, inkal-
kulabel. Aber doch gibt es eine Gesetzmässigkeit, mit welcher
die Einbildungskraft in dem Kunstler wirkt, und mit welcher sie
das Typische und Idealische hervorbringt. Nachdem die Psycho-
logie auf dem Wege der Selbstbeobachtung eine Reihe von Be-
griffen aufgestellt hatte, nachdem man sich zu der Erkenntnis
durchgerungen, dass alle seelischen Vorgänge in derselben Weise
wie alle anderen Naturerscheinungen bestimmten Gesetzen unter-
liegen, versuchte man auch jene kompliziertesten und subtilsten
Geistesvorgänge zu ergrunden, welche sich in der Werkstatt des
Genies abspielen, um auf diesem Wege eine durch wissenschaftlich
begründete Tatsachen gestützte Definition des Begriffes Genie zu
finden.
Eine befriedigende Antwort auf die Frage, was das Wesen
des Genies ausmacht, ist trotz Jahrhunderte langer Versuche nicht
gegeben worden und wird niemals gegeben werden können. Es
ist von vornherein ein vergebliches Unterfangen, ein Wort oder
einen Ausdruck als etwas gewissermassen selbständig Gegebenes
anzunehmen und nun zu versuchen, aus den Erscheinungen und
Kennzeichen ausreichendes Material zu gewinnen, um einen diesem
Worte etwa innewohnenden Begriff zu erklären. Indem man ge-
wisse äussere Kennzeichen des Genies speziell während seiner
Schaffensperiode mit ähnlichen Symptomen bei Geisteskranken
verglich, glaubte man das Rätsel gelöst zu haben, indem man
das Genie als eine Erscheinung des Irrsinns erklärte. Schopen-
hauer hatte bereits die Lehre von der pathologischen Ver-
fassung des Genies aufgestellt, von der Disharmonie seines
Geistes, ähnlich wie sie auch heute noch Möbius vertritt; in
— 6 —
Frankreich war diese Lehre durch Renaudin, L^lut, Moreau
mit dem Prunk psychiatrischer Theorie ausgestattet worden, und
schliessh'ch hatte der itah'enische Forscher Lombroso das Genie
für eine ausgesprochen degenerative Erscheinung erklärt, für ein
letztes Aufflackern einen Knalleffekt, mit dem eine entartete
Generationsreihe erlischt. Und nicht genug, dass er und seine
Nachfolger den Ursprung jeder genialen Offenbarung zwischen
Tollhaus und Zuchthaus veriegten, hatten sie auch das Bordell
in Sehweite geruckt, indem sie in einseitiger Betonung das Sexual-
leben und seine Verirrungen als die Quellen alles dessen ansahen,
worin wir die herriichsten und stolzesten Betätigungen des mensch-
lichen Geistes erblicken.
Wir sehen davon ab, auf diese und ähnliche Erklärungs-
weisen, deren blendender Schein nicht über ihre innere Hohlheit
und Kritiklosigkeit hinwegtäuschen kann, näher einzugehen; wir
wollen versuchen, einen Einblick zu gewinnen in die Schaffens-
weise des Dichters und Kunstlers, und wollen zu diesem Zwecke
zunächst in kurzen Zügen eine psychologische Analyse des
geistigen Vorganges im Genie geben.
I.
Die Kunst des Dichters ist in erster Reihe Phantasiekunst,
d. h. sie besteht in einer Art geistiger Betätigung, die grund-
verschieden ist von dem gewöhnlichen oder willküriichen Denken,
bei welchem die Folge der Vorstellungen vom Willen geleitet ist.
Die Phantasie im engeren Sinne, welche nichts zu tun hat mit
der Fähigkeit des Schwärmens, des Ersinnens, mit dem blossen
Färben der Dinge durch das Temperament, ist nach Th. Ribot
„die geistige Handlung** und als solche die tiefste, ureigenste
Ausgeburt der Individualität Sie bedeutet nach ihm Bewegung
der Vorstellungen, Zusammentreten der Vorstellungen zu neuen
Kombinationen — kurz, die höchste Reaktionsweise des Organis-
mus auf die Eindrücke der Aussenwelt, die er zunächst mit ein-
förmigen, immer gleichbleibenden Reflexbewegungen und in auf-
steigender Entwicklung mit der Sprachbewegung, mit der äusseren
bewegenden Handlung und schliesslich mit der „geistigen indivi-
— 7 —
duellen Handlung eines eigenartig phantasievoll bewegten Vor-
stellungslaufes** beantwortet. Der „seltsamen Tochter Jovis, seinem
Schosskinde, der Phantasie'', erteilt Goethe den höchsten Preis
unter den Unsterblichen.
Wie sich der Vorgang des echten Phantasierens vollzieht,
wie das phantastische „Gesichf zustande kommt, davon können
wir uns eine annähernde Vorstellung bilden, wenn wir die analogen
Vorgänge in Schlafzuständen, wie sie jedem vertraut sind, wenn
wir die Träume in Vergleich ziehen. Beim Traume tritt, aller
hemmenden Verstandeszügel ledig, die eigentümliche Kunst des
Umbildens aller Dinge zutage, hier handelt es sich, ebenso wie
bei der Phantasietätigkeit des Dichters, um eine freie Gestaltung
der Bilder und ihrer Verbindungen, uneingeschränkt von den
Bedingungen der Wirklichkeit. Träume können vermittelt werden
durch die Sinne, namentlich durch das Gesicht und das Gehör,
wir empfinden dann im Traume wohl die jeweiligen Sinnesein-
drücke, aber nicht wie in ihren normalen Eindrücken, sondern
in allegorisch veränderter Bedeutung. Wir hören eine Tür in
der Nähe gehen, und das entstehende Geräusch erweckt in uns
die Wahrnehmung eines Schusses, eines Donners usw.; wir
empfinden einen Druck im Magen und einen schlechten Geschmack
im Munde, und wir quälen uns infolgedessen mit dem Rauchen
einer schlechten Zigarre. Andere Träume verdanken ihren Ur-
sprung Erinnerungsbildern, d. h. geistigen Abbildern anschaulicher
durch den Gesichtssinn vermittelter Vorstellungen und bestehen
also in einer rein innerlichen Tätigkeit des Gehirns; auch hier
erscheinen die ohne unser Zutun aus der Tiefe des Unbewussten
auftauchenden Erinnerungsbilder gewöhnlich in allegorischer Ver-
wandlung. Kurz: die Elemente des Traumes sind die gleichen wie
die der Phantasiekunst Nur dass hier ebenso wie beim Irrsinnigen
und Hypnotisierten der regulierende Apparat fortfällt, welcher die
Gefühle und die Sinneseindrücke der Wirklichkeit anpasst, und
dass sich infolgedessen die Bilder in einer regellosen und spielen-
den Willkür entfalten, verknüpfen und abwickeln. Das plan-
mässige anschauliche Denken gleicht einem Schiffe, das von kräf-
tigen Rudern geleitet, alle Fährnisse und alle Gefahren ver-
— 8 —
meidet; das Träumen einem steuerlosen Bote, das, ein Spiel der
Wellen, planlos umherirrt; die Phantasie einem Schiffe, das mit
aufgeblähten Segeln dahinstürmt, an dem eine treibende und
steuernde Kraft nicht sichtbar ist, das aber doch einen ziel-
bewussten und sicheren Kurs erkennen lässt. Im Traume ist
alles regellos, ungebunden und ohne Kontrolle des Willens; die
dichterische Phantasie übersteigt in ihren Bildern die Grenzen der
Wirldichkeit, aber der Wille bleibt tätig, wenn auch mehr passiv
als aktiv, und alles ist abhängig von der exceptionellen Energie des
Gefühls, der Affekte und der sinnlichen Organisation. Das Genie
des Dichters zeigt einen elementaren, unwillküriich und un-
widerstehlich wirkenden Bautrieb der Phantasie, dabei aber bleibt
der Zusammenhang des Seelenlebens gewahrt, der Blick für das
Wesenhafte ausgesprochen.
Alle Gebilde des Seelenlebens setzen sich aus Wahr-
nehmungen zusammen. Auch die Phantasie schafft nicht aus
dem Nichts, sondern alles, was sie produziert, ist abhängig von
voraufgegangenen Sinneseindrücken. Sie ist nicht fähig, absolut
neues hervorzubringen, ihre Produkte sind stets nur Kombinationen
von im Gedächtnis haftenden Residuen früherer Eindrücke
(Erinnerungsbilder). Die neuen Gedanken, die originellen Ideen,
mit denen uns der Dichter überrascht, verdankt er seiner reichen
Phantasie, welche die Sinneseindrücke in ihre kleinsten Bestand-
teile zeriegt und zu unendlich vielen Neugestaltungen zeriegt,
seiner leichten Assoziationstätigkeit und dem stark ausgeprägten
Vorstellungsvermögen.
Wenn der Dichter auf das Material angewiesen ist, welches
ihm voraufgegangene Sinneseindrücke darbieten, dann ist seine
schöpferische Tätigkeit auch abhängig von der ausesrordentiichen
Macht der sinnlichen Organisation, und je umfassender das
Wissen des Dichters ist, je mehr er imstande ist, die Eindrücke der
Aussenwelt in sich aufzunehmen und zu befestigen, je gesunder
und richtiger sein Urteil über die umgebenden Personen und
Verhältnisse, je geordneter sein Denken und je zuveriässiger sein
Gedächtnis ist, desto üppiger kann sich seine Phantasie entfalten,
und desto mannigfaltiger, origineller und überraschender werden sich
— 9 —
seine Schöpfungen gestalten. «Was ist denn Genie anders, sagt
Goethe, als die Fähigkeit, alles, was uns berfihrt, zu ergreifen und
zu verwenden; allen Stoff, der sich darbietet, zu ordnen und zu
beleben; hier Marmor und dort Erz zu nehmen und daraus ein
dauerndes Monument zu bauen?*
Zu der ausserordentlichen Energie und Leichtigkeit in
den Geistesprozessen, zu der Tätigkeit der Phantasie und des
Verstandes gesellt sich als eine weitere psychische Erscheinung
des Dichters eine hochgradige Verfeinerung und Ausbildung des
Gefühlslebens, des Gemütes, der Stimmungen. Auch hierbei
handelt es sich nicht um etwas Neues, Mystisches, dem Genie
ausschliesslich Eigenes, sondern um Erscheinungen der Psyche,
die jedem Menschen eigentumlich, nur in gesteigerter Intensität vor
und während des dichterischen Schaffensaktes sich geltend machen.
Wie wir unter normalen Bedingungen unserer Organgefühle nicht
bewusst sind, so tritt auch das, was wir Stimmung nennen, für
gewöhnlich nicht in unser Bewusstsein, und wir erkennen nur Ver-
änderungen und Schwankungen unserer Stimmungen. Stimmungen
und Vorstellungen stehen fortdauernd in Wechselbeziehung zu
einander: Der Inhalt der Vorstellungen richtet sich nach den
jeweiligen Stimmungen, und umgekehrt ist die Stimmung und das
ganze Gefühlsleben abhängig von bestimmten Vorstellungen. Wie
wir die mannigfachsten Unterschiede auf dem Gebiete der Sinnes-
wahrnehmungen kennen, so gibt es unendlich viele qualitative
Unterschiede der Stimmungen, die sich durch Worte nicht be-
zeichnen lassen. Wir haben zwar für bestimmte Zustände Bezeich-
nungen, doch können wir mit ihnen nur die Erinnerung an einen
entsprechenden früheren Eindruck erwecken. Bei seinem verfeiner-
ten Gemütsleben nimmt der Dichter auf dem Gebiete der Stim-
mungen qualitative Unterschiede wahr, welche er mit Worten nicht
beschreiben kann; er veriügt über Stimmungsgefühle, deren der
Durchschnittsmensch nicht fähig ist, genau so wie der musikalisch
begabte Mensch weit mehr Klangfarben unterscheiden kann als
das unmusikalische Ohr.
Wie die Werke des Dichters aus dem Gefühl entstanden sind,
so erregen sie ihrerseits wieder das Gefühl. Auch dem Menschen
- 10 —
von nüchterner geistiger Diät ist die Beziehung gegeben eines Innen
und Aussen: wir beleben äussere Bilder durch innere Zustände
und umgekehrt versinnlichen wir innere Zustände durch äussere
Bilder; wir sprechen von einer freundlichen Landschaft, von einem
heiteren Himmel etc. etc. Kraft seines ausserordentlich verfeinerten
Nervenlebens in Verbindung mit seiner Phantasie ist beim Dichter
diese Beziehung zwischen äusseren und inneren Zuständen eine
besonders ausgesprochene. „Die kernhafte Idealität des Kunst-
werkes liegt in dieser Symbolisierung eines ergreifenden inneren
Zustandes durch Aussenbilder, in dieser Belebung äusserer Wirk-
h*chkeit durch einen hineingesehenen inneren Zustand. *" (Dilthey.)
Das Spiel der Phantasie, hervorgerufen durch Affekte und Stim-
mungen, ist poetisch nirgends schöner und treffender geschildert
worden als in den folgenden Versen Shakespeares (Sommer-
nachtstraum) :
Des Dichters Äug* in schönem Wahnsinn rollend,
Blitzt auf zum Himmel, blitzt zur Erd* hinab,
Und wie die schwang're Phantasie Gebilde
Von unbekannten Dingen ausgebiert,
Gestaltet sie des Dichters Kiel, benennt
Das luft'ge Nichts und gibt ihm festen Wohnsitz.
So gaukelt die gewalfge Einbildung;
Empfindet sie nur irgend eine Freude;
Und in der Nacht, wenn uns ein Grau'n befällt.
Wie leicht, dass man den Busch für einen Bären hält.
Wir haben im vorausgehenden in grossen Zügen eine
psychologische Analyse des dichterischen Genies versucht und
haben dabei erfahren, dass nicht neue, fremde, mystische geistige
Elemente die Schaffenskraft des Genies bedingen, sondern dass es
sich nur durch die ungewöhnliche Energie, Lebhaftigkeit und
Leichtigkeit in den Geistesprozessen hervortut. In den folgenden
Blättern wollen wir versuchen, einen tieferen Einblick zu gewinnen
in die geistige Werkstatt des Genies, vor allem in die Art der
Stimmung, welche Voraussetzung des genialen Schaffens ist, in
den Zusammenhang von Stimmung und dichterischer Produktion.
Dabei müssen wir an die Stelle des physiologischen Experimentes
die Beobachtung setzen und müssen uns naturgemäss beschränken
auf die Beobachtungen, welche eine zweite zuverlässige Person
— 11 —
berichtet, oder welche die Dichter selbst an sich angestellt haben.
An solchen Beobachtungen, die an allen möglichen Dichtern
und Kfinstlem angestellt und in zusammenhängender Darstellung
veröffentlicht sind, ist kein Mangel. Indes ist das Ergebnis aller
dieser vergleichenden Zusammenstellungen ein sehr mangelhaftes,
fast nur ein äusseriiches. Wir erfahren nicht viel mehr, als dass
es sich gewissermassen um einen unbewussten Vorgang, um eine
plötzliche Eingebung beim Dichten oder Komponieren handelt,
dass das Genie wie in einem nachtwandlerischen Zustand produziert,^)
fiber den eigentlich psycho- physiologischen Zustand gelingt es
uns nicht, aus allen diesen Berichten Schlüsse zu ziehen.
Wir wollen unsere Aufgabe soweit einschränken, dass wir
versuchen, nur den dramatischen Dichter bei seiner Tätigkeit zu
belauschen. Diese Einschränkung erscheint insofern erspriesslich
und verspricht von vornherein ein reicheres Ergebnis, weil wir es bei
der dramatischen Produktion mit einer länger dauernden geistigen
Betätigung zu tun haben und damit mit einem weiteren Beobach-
1) Es ist auffallend, dass in den Arbeiten, soweit sie mir bekannt
sind, der Bericht von Kosegarten, dem Dichter auf Rügen, fehlt, den er
über die Art seines Dichtens und seine geistige Verfassung dabei gibt
Ich führe ihn hier an, weil er mir das vollkommenste Bild zu geben
scheint von der Verfassung, in der sich der Dichter während seines poe-
tischen Schaffens befindet Kosegarten schreibt in der Geschichte seines
fünfzigsten Lebensjahres: (pag. 48): Ich dichtete, weil ich nicht umhin
konnte, es zu tun, weil die mich treibende Unruhe nicht anders beschwichtigt
werden konnte als durch Hervorbringung eines Dichterwerkes. Der Ge-
danke zu einem solchen kam mir nur durch Eingebung; das Ganze stand
vor mir eines Schlages. Die Personen, wie sie leibten und lebten, die
Handlung, wie sie stund und ging, die Orte, die Zeiten, die Umgebung,
es machte sich alles von selbst Einzelne Massen traten hervor aus dem
Ganzen; Partien, die ihrer Natur nach erst später erscheinen durften,
drängten sich bisweilen in den Vordergrund und mussten beseitigt sein,
ehe mir vergönnt war, das Frühere nachzuholen. Da nun auch die Masse
und Rhythmen sich gar willig fugten, die ganze Reihenfolge von Versen zu-
gleich mir vor die Seele trat, so hatte ich die äusserste Not, um alles
niederzuschreiben, was zu verschwinden drohte, ehe ich Zeit gewonnen,
es festzuhalten. Auch vermochte ich weder zu essen noch zu schlafen in
solchen Zuständen. Ich war abwesend in der Mitte der Meinigen und der
uns etwa besuchenden Fremden. Ich fuhr fort zu dichten, wachend und
träumend, während der Mahlzeiten, während der gesellschaftlichen Unter-
haltung und selbst während der kirchlichen Verrichtungen.''
— 12 -
tungsfelde. Zudem vermeiden wir bei dieser Einschränkung eine
Schwierigkeit alier derartigen Untersuchungen, die in der Bewer-
tung des Genies liegt. Gerade bei den dramatischen Dichtern wird
kaum ein Zweifel darüber bestehen, und wir können deshalb jedesmal
die Frage unerörtert lassen, ob wir es wirklich und im wahren
Sinne des Wortes mit einem Genie zu tun haben oder nicht
Wir stellen zunächst die Beobachtungen zusammen, die von
nahestehenden Personen über das Schaffen bestimmter Dichter
berichtet worden,^) daran reihen wir die eigenen Reflexionen der
Dichter und wollen dann der Frage näher treten, ob sich gemeinsame
Symptome finden, die allgemein gültige Schlüsse und Deduktionen
auf die dichterische Einbildungskraft und das geistige Schaffen des
dramatischen Genies gestatten.
II.
Über Schillers Art zu schaffen, findet sich ein bemerkens-
werter Bericht in dem Buche seines Freundes Andreas Streicher:
«Schillers Flucht"*, dessen treuherzig-eindringliche Darstellung von
der Kritik als authentisch anerkannt ist Über Schillers Tätigkeit
in Oggersheim äussert sich Streicher wörtlich:
«Die langen Herbstabende wusste er für sein Nachdenken
auf eine Art zu benützen, die demselben ebenso förderlich
als für ihn angenehm war. Denn schon in Stuttgart liess sich
immer wahrnehmen, dass er durch Anhören trauriger oder
lebhafter Musik ausser sich selbst versetzt wurde, und
dass es nichts weniger als viele Kunst erforderte,
durch passendes Spiel auf dem Klavier alle Affekte
in ihm aufzureizen. Nun mit einer Arbeit beschäftigt,
welche das Gefühl auf die schmerzhafteste Art erschüttern
sollte, konnte Ihm nichts erwünschter sein, als in seiner
Die Berichte sind im folgenden mit aller Ausführlichkeit und
Genauigkeit wiedergegeben, auf die Gefahr hin, dass dadurch der Darstellung
eine Überlastung mit Zitaten nachgesagt wird. Dadurch glaube ich den
weit berechtigteren Vorwurf zu vermeiden, dass für einen bestimmten Zweck
Auszüge und Berichte zusammengestellt und in bestimmter Absicht tendenziös
zugestutzt wurden.
— 13 —
Wohnung das Mittel zu besitzen, das seine Begeisterung unter-
halten oder das Zuströmen von Gedanken erleichtern könne.
Er machte daher meistens schon bei dem Mittagtische mit
der bescheidensten Zutraulichkeit die Frage an Streicher:
,, Werden Sie nicht heute Abend wieder Klavier spielen?"
Wenn nun die Dämmerung eintrat, wurde sein Wunsch erfüllt,
während dem er im Zimmer, das oft bloss durch das Mond-
licht erleuchtet war, mehrere Stunden auf und ab ging und
nicht selten in unvernehmliche, begeisterte Laute ausbrach.**
Soweit der Bericht von Schillers Jugendfreunde, dem als
Musiker der Einfluss der Musik auf den dichterischen Affekt und
die poetische Schaffenskraft doppelt auffallen musste. Überein-
stimmend damit wird auch aus Schillers späteren Tagen berichtet,
dass er es liebte, wenn er bei der Arbeit aus benachbartem
Zimmer eine leise Musik zu hören bekam. Wir werden unten
sehen, dass Streichers Beobachtung richtig ist und mit dem über-
einstimmt, was Schiller aber sich selbst aussagte.
Über Hebbels Art zu produzieren, berichtet sein Freund
und Biograph Emil Kuh:
Den produzierenden Hebbel erblicken, war das Bild
eines Traumwandelnden sehen. Sein Antlitz hatte alsdann
den leidenden Ausdruck des Beseligten. Er neigte sein
Haupt tief herab, wie eine 'dem warmen Sommerregen hin-
gebogene Pflanze. Die Arme vor der Brust ineinander
gelegt, hin und wieder das Lächeln oder die Trauer des
schauenden Menschen um den Mund, so schritt er durch die
Strassen Wiens, durch das Gehölz des Praters oder durch die
Laubgänge des Augartens, gleichviel ob das klare Licht des
Spätherbstes sie vergoldete, oder feuchte Oktobernebel sie ver-
schatteten oder berieselten. Sogar das Teufelswetter dieser
Jahreszeit konnte ihm nichts anhaben, wenn er im Bildersegen
untergetaucht, war. Das Gewühl und Getöse der Grossstadt
störte den visionären Spaziergänger niemals, und die berüch-
tigte Windsbraut Wiens, wie sie auch in den Baumkronen der
gewaltigen Praterbäume wühlte und knirschte, wühlte ihn nicht
aus seiner Weltvergessenheit auf. Sprach ihn aber jemand an,
— 14 —
dann entfuhr ihm der heftigste Laut der Abwehr. Manchmal
überhörte er die Anrede und schwankte, leise singend, vorbei.
Das entstehende Gedicht kam ihm nämlich immer mit
einer Melodie. Ich habe diese seltsamen Summtöne zuweilen
vernommen, wenn ich zufälligerweise hinter ihm herging. Dann
und wann trat er in einen Hausflur und notierte rasch das
Empfangene, meistens jedoch brachte er alles unaufgeschrieben
heim, einmal hundert Verse, die er frei aus dem Kopf kopierte**.
Alles, was Hebbel in seinen Tagebüchern und Briefen über
sich selbst und die Wirkung der Musik auf seine Einbildungskraft
berichtet, bestätigt diese Beobachtung Kuhs. Wir werden öfters
Gelegenheit haben, darauf zurückzukommen.
Heinrich Heine dichtete den Ratdiff, wie er bekennt, in
einem Zuge und ohne Brouillon; es war ihm während des
Schreibens, als hörte er über seinem Haupte ein Rauschen,
wie der Flügelschlag eines Vogels.
Die Berichte von Zeitgenossen und Freunden, welche Ge-
legenheit hatten, den dramatischen Dichter bei seiner Produktion
zu beobachten, können uns nicht viel sagen. Was der Aussenstehende
im besten Falle beobachten und wahrnehmen kann, sind gewisse auf-
fällige Äusserungen innerer seelischer Vorgänge während der
Schaffensperiode. Die angeführten Beobachtungen bedeuten deshalb
an sich nicht viel; aber doch weisen sie uns darauf hin, dass in dem
intensiven Erregungsprozesse unter den übrigen Sinneszentren
auch das akustische Zentrum in besondere Mitleidenschaft gezogen
wird. Bei Heine scheint es sich um eine reine Gehörshalluzination
zu handeln, bei Schiller scheint die dichterische Produktion ge-
fördert durch Erregungen des Gehörzentrums, und die Notiz
Kuhs, der gewiss die Befähigung und auch die Gelegenheit besass,
die amabilis insania des produzierenden Hebbel häufig und ein-
gehend zu beobachten, legt uns die auffallende Tatsache nahe,
dass nicht bloss eine Melodie die dichterische Produktion begleitete,
sondern sie auch anregte und einleitete. „Das entstehende Gedicht
kam ihm immer mit einer Melodie".
So mangelhaft immer das Beobachtungsmaterial sein mag,
so wenig es uns berechtigt, bestimmte Schlüsse zu ziehen, es
— 15 -
lenkt doch unsere Aufmerksamkeit auf den innigen Zusammen-
hang zwischen musikalischem Eindruck und dramatischer Pro-
duktion. Versuchen wir, ob wir diesen Zusammenhang bestätigt
finden, und ob wir einen tieferen Einblick in seine Gesetzmässigkeit
gewinnen, wenn wir nunmehr die Dichter selbst befragen und die
Berichte studieren, die sie selbst über die Art ihres Schaffens geben.
111.
In seiner „Selbstbiographie** berichtet Franz Grillparzer
so eingehend wie kaum ein anderer Dichter über seine Ausbildung
in der Musik und seine Beziehungen zu dieser Kunst. In den
Knaben- ja schon Kinderjahren war ihm das Klavier, ähnlich wie
dem jungen Goethe, durch den Unterricht verieidet worden; die
Violine spielte er nach dem Urteil seines Lehrers mit grossem Talent,
und ohne jede Anweisung brachte er mit ihm leichte Duette zustande,
aber die Eltern verboten ihm die Geige, weil er in der Jugend eine
Anlage zum Verwachsen zeigte, welche, wie man fürchtete, durch die
emporgehobene Schulter bei der Behandlung des Instrumentes ver-
mehrt werden könnte. Als junger Mensch, nachdem er sieben bis
acht Jahre lang das Klavier nicht mehr berührt hatte, fluchtet er sich
wieder zu diesem Instrumente, da ihm die Beschäftigung mit der
Poesie noch fern lag. Er hatte alles vergessen, jede Technik
war ihm entschwunden, die Noten waren ihm fremd geworden;
aber in halb kindischer Tändelei hatte ihn sein erster Lehrer be-
zifferten Bass (Generalbass) spielen lassen und hatte ihm eine
Kenntnis der Grundakkorde beigebracht. „Ich ergötzte mich an
dem Zusammenklang der Töne, die Akkorde lösten sich in Be-
wegungen auf, und diese bildeten sich zu einfachen Melodien. Ich
gab den Noten den Abschied und spielte aus dem Kopfe. Nach
und nach erlangte ich darin eine solche Fertigkeit, dass ich stunden-
lang phantasieren konnte. Oft legte ich einen Kupferstich vor
mir auf das Notenpult und spielte die darauf dargestellte Be-
gebenheit, als ob es eine musikalische Komposition wäre". Seine
Phantasien auf dem Klavier fanden selbst bei kompetenten Beur-
teilern vielen Beifall. Aber die Fähigkeit des musikalischen Phanta-
sierens verlor sich, als er später Unterricht im Kontrapunkte nahm,
Qrenzfragen d. Lit u. Medizin. 1. Heft. 2
- 16 -
und er sich gleichzeitig mehr und mehr der Poesie zuwandte.
„Ich hatte immer das Wunderliche, dass, wenn ich von einem
Gegenstande auf den andern überging, ich mit der Lust an dem
früheren auch zugleich alle erlangte Fertigkeit, ja Fähigkeit verlor. **
Lange Jahre waren seitdem vergangen, der Dichter war in
Grillparzer erwacht, die selbständige musikalische Komposition
— der junge Grillparzer hatte einige Gedichte in Musik gesetzt —
hatte sich völlig verloren, zwei seiner Dramen waren bereits ver-
öffentlicht, und Grillparzer hatte mit grossem Eifer den Stoff der
Medeasage aufgegriffen. Der ganze gewaltige Stoff war gegliedert
und auch mehr als die Hälfte der Trilogie bereits ausgearbeitet,
als ihn der plötzliche Tod der Mutter seiner Arbeit entriss. Erst
mehrere Jahre später kehrte er wieder zu seiner Arbeit zurück,
aber die Erschütterungen beim Tode der Mutter, die gewaltigen
Reiseeindrücke in Italien, eine Krankheit, die Widerlichkeiten bei der
Rückkehr hatten alles, was er für diese Arbeit vorgedacht und vor-
bereitet, wie weggewischt und seinem Gedächtnisse völlig entrissen.
„Vor allem den Standpunkt, aber auch alle Einzelheiten
deckte völliges Dunkel, letzteres um so mehr, als ich mich nie
entschliessen konnte, derlei aufzuschreiben". — - „Während ich
in meiner Erinnerung fruchtlos suche, stellte sich etwas Wunder-
liches ein. Ich hatte in der letzten Zeit mit meiner Mutter häufig
Kompositionen grosser Meister, für das Klavier eingerichtet,
vierhändig gespielt. Bei all diesen Symphonien Haydns, Mozarts,
Beethovens dachte ich fortwährend auf mein Goldenes Vliess,
und die Gedankenembryonen verschwammen mit den Tönen
in ein ununterscheidbares Ganzes. Auch diesen Umstand hatte
ich vergessen und war wenigstens weit entfernt, darin ein Hilfs-
mittel zu suchen **.
Es findet sich die Gelegenheit, mit der Tochter der Karoline
Pichler öfters auf dem Klavier zu vier Händen zu spielen.
„Da ereignete sich nun, dass, wie wir auf jene
Symphonien geraten, die ich mit meinerMuttergespielt
hatte, nun alle Gedanken wieder daraus zurückkamen,
die ich bei jenem ersten Spielen halb unbewusst hinein-
gelegt hatte. Ich wusste auf einmal wieder, was ich
- 17 —
wollte, und wenn ich auch den eigentlich prägnanten Stand«
punkt der Anschauung nicht mehr rein gewinnen konnte, so
hellte sich doch die Absicht und der Gang des Ganzen auf.
Ich ging an die Arbeit, vollendete die Argonauten und schritt
zur Medea."
Die autobiographischen Angaben Grillparzers sind psycho-
logisch nach mancher Richtung bemerkenswert. In jungen Jahren
zeigt er eine ausgesprochene musikalische Begabung, die sich darin
äussert, dass er spielend leicht sich die Technik des Klaviers und
noch mehr der Geige aneignet, und dass er ohne eigentliche An-
leitung den Generalbass beherrschte und selbständig komponierte.
Aber sobald er dichterisch tätig wird, eriischt die musikalische
Produktionskraft; die dichterische unterdrückt die musikalische
Inspiration. — Unabhängig davon wirkt die Musik auch in späteren
Jahren anregend auf seine dichterische Einbildungskraft, ja mehr
noch, die Musik wirkt offenbar auch auf seine schöpferische Kraft
(er spricht nicht bloss von Gedanken, sondern von Gedanken-
embryonen), musikalische und poetische Eindrücke verbinden sich
miteinander, bleiben in seinem Unterbewusstsein haften, und als
nach Jahren die Erinnerung völlig erioschen ist, wird sie in voller
Schärfe wieder hervorgerufen, als die ursprüngliche Melodie
wieder erklingt. Ein treffendes Beispiel, das geeignet ist, das,
was von dem Beobachter Hebbels gesagt ist, in ein helleres Licht
zu rücken und den grossen Einfluss zu beweisen, welchen die
musikalische Erregung auf die dramatische Produktion ausübt
Über den gleichen Gegenstand, die Beziehung der Musik zu
dichterischem Schaffen, spricht der italienische Dramatiker Vittorio
Alfieri in den Denkwürdigkeiten aus seinem Leben. Mit dem 14.
Lebensjahre begann seine musikalische Ausbildung. Wie Grill-
parzer wurde auch ihm der Klavierunterricht verieidet, und zwar,
wie er berichtet, weil die Musikstunde gleich nach dem Essen
gelegt war, und weil diese Stunde der Verdauung während seines
ganzen Lebens jeder geistigen Betätigung sehr ungünstig war; es
gelang ihm noch nicht einmal, seine Aufmerksamkeit auf das
Papier und die Noten zu konzentrieren, die fünf engen und
parallelen Linien schwankten vor seinen Augen, und er war nach
— 18 -
einer solchen Stunde für den ganzen übrigen Tag stumpf und
verdrossen. »Was das Klavier anbelangt, schreibt er, so machte
ich, obwohl ich eine unendliche Leidenschaft zur Musik hatte
und nicht ohne naturliche Anlagen war, bei alledem fast gar
keine Fortschritte, ausser dass meine Hand auf den Tasten viel
Fertigkeit bekam. Aber die geschriebene Musik wollte mir nicht
in den Kopf; alles war Ohr und Gedächtnis bei mir und nichts
weiter." — Ein Jahr, bevor er anfing sich mit der Musik zu
beschäftigen, hatte Alfieri Gelegenheit, zum ersten Male eine Oper
zu hören, und er schildert in bewegten Worten den tiefen und
nachhaltigen Eindruck der Musik auf Herz und Gemüt des
13jährigen Knaben, wobei er gleichzeitig die Anregungen, die
er auch später von der Musik empfing, berührt.
„Die komische Oper, welche ich mittels des Vorwandes
meines wohlwollenden Onkels, der meinen Vorgesetzten sagen
liess, dass er mich auf einen Tag und eine Nacht mit sich auf
ein Landgut nehmen wolle, so glücklich war zu sehen, führte
den Titel: il Mercanto di Malmartile; die besten Komiker Italiens,
Carratoli, Baglioni und ihre Töchter sangen darin, und die Musik
war von einem der berühmtesten Meister. Der Reichtum und
die Mannigfaltigkeit dieser göttiichen Musik machten den tiefsten
Eindruck auf mich, indem sie gleichsam einen Nachklang von
Harmonie in meinen Ohren und meiner Phantasie zurückhess
und jede innerste Faser bewegte, dergestalt, dass ich in mehreren
Wochen in eine ausserordenliche, aber nicht unangenehme
Melancholie versunken blieb, aus welcher ein gänzlicher Über-
druss und Ekel an allen meinen gewohnten Studien, zugleich
aber eine höchst sonderbare Gährung phantastischer Ideen
entstand, mit welchen ich, wenn ich es verstanden, Verse
machen und die lebheftesten Leidenschaften hätte ausdrücken
können; allein ich kannte mich noch nicht, und diejenigen,
die mich zu erziehen vorgaben, ebenso wenig. Und dies war
das erstemal, dass ich eine solche von der Musik in mir hervor-
gebrachte Wirkung betrachten konnte; sie blieb mir lange ins
Gedächtnis geprägt, denn sie war viel heftiger als jedes andere
Gefühl vorher. Wenn ich aber meine Karnevale und die
— 19 -
wenigen Vorstellungen der grossen Oper, denen ich beigewohnt
hatte, in mein Gedächtnis zurückrufe und die Wirkung der-
selben mit derjenigen vergleiche, die ich noch gegenwärtig
empfinde, so oft ich nach einiger Entfremdung vom Theater
nach einer gewissen Zeit dahin zurückkehre, so finde ich
immer, dass mein Geist, mein Herz und mein Verstand
durch nichts so heftig und unermesslich angeregt
werden als durch Töne überhaupt und insbesondere durch
die Stimmen der Altisten und Sängerinnen. Nichts weckt in
mir mehr und mannigfaltigere und schrecklichere Leiden-
schaften; fast alle meine Trauerspiele sind entweder
unter dem Anhören der Musik oder wenige Stunden
nachher von mir aufgefasst worden."
Kein anderer Dichter und speziell Dramatiker hat in so
unzweideutiger und klarer Weise den Einfluss und die nachhaltige
Wirkung der Musik d. h. des akustischen Eindrucks auf die Er-
regung der Grosshirnrinde geschildert. Die dramatische Konzeption
kam Alfieri unter dem Anhören oder unter der Nachwirkung der
Musik. Im einzelnen schildert er diesen psychologischen Vorgang,
indem er rückschauend die Stimmung wiedergibt, in die ihn als
Knaben, noch bevor er sein dichterisches Talent entdeckt, während
er ganz naiv und ohne tieferes Verständnis die Musik in sich auf-
nimmt, diese auf ihn ausübt. Die musikalische Harmonie wirkt
durch Wochen hindurch in seiner Phantasie fort und versetzt ihn
allmählich in jenen weltabgeschlossenen, traumhaften Zustand, der
den somnambulen Eindruck des produzierenden Dichters hervorruft;
auf dem Boden der musikalischen Harmonie entwickeln sich
phantastische Ideen, die nach entsprechendem Ausdruck ringen
und sich bis zur höchsten Leidenschaftlichkeit steigern. Was wir bei
Hebbel und Grillparzer nur angedeutet finden, nach ihrer Schilderung
aber ahnen können, hier lesen wir es klar bestätigt: aus dem
musikalischen Eindruck entwickelt sich die dichterische Idee, oder
physiologisch ausgedrückt, unter allen Erregungen subcortikaler
Zentren ist es gerade die Erregung des Gehörszentrums, welche
auf der Bahn assoziativer Fasern sich am frühesten und inten-
sivsten auf die Hirnrinde überträgt.
— 20 —
Wie hier Alfieri den Eindruck der ersten Musik auf sein
empfängliches Kindergemüt schildert, wie er als gereifter Dichter
die Überzeugung ausspricht, dass er hier zum erstenmal die Stim-
mung empfand, die er nach seiner späteren Erfahrung als dichte-
rische erkannte, so erzählt uns auch Hebbel den entsprechenden
Eindruck der Musik während des Sonntagsgottesdienstes in der
Dorfkirche auf sein Kindergemüt. Am 17. November 1843 trägt
er gelegentlich eines Berichtes über ein Berlioz-Konzert in Paris
in sein Tagebuch das Folgende ein:
„Wenn ich mich jener Empfindungen in der Dorfkirche jetzt
erinnere, so muss ich sagen: ich schwamm im Element der
Poesie, wo die Dinge nicht sind, was sie scheinen, und nicht
scheinen, was sie sind, das Wunder der weltlichen Transsub-
stantion vollbrachte sich in meinem Gemüt, und alle Welten
flössen durcheinander."
Auch von Schiller haben wir eine zwar nur kurze, doch
vielsagende Notiz über die Wirkung der Musik auf sein drama-
tisches Schaffen ; er äussert sich darüber in einem Briefe an Goethe :
„Bei mir ist die Empfindung anfangs ohne bestimmten
und klaren Gegenstand, dieser bildet sich erst später. Eine
gewisse musikalische Gemütsstimmung geht vorher,
und auf diese folgt bei mir erst die poetische Idee.**
Schiller drückt hier klar und unzweideutig aus, dass die un-
bestimmten und verschwommenen Bilder seiner Phantasie unter
dem Einfluss einer durch die Musik hervorgrufenen Gemüts-
stimmung feste Umrisse und eine deutliche Gestaltung annehmen.
IV.
Wenn wir tiefer eindringen wollen in das Verständnis der
Beziehungen von Musik und dichterischer Schöpfungskraft, so
werden wir uns mit besonderem Interesse dem Studium der Dichter
und Dramatiker zuwenden müssen, die über die natüriiche musi-
kalische Veranlagung und das dilettantische Verständnis hinaus,
sich ernsthaft dem Studium der Musik hingaben, die bis zu einem
gewissen Grade wenigstens ein musikalisches Instrument beherrsch-
ten und sich zeitlebens mit musik-theoretischen Fragen beschäf-
— 21 —
tigten. Es liegt zwar ein entscheidendes Kriterium für die musi-
kalische Veranlagung und für das musikalische Verständnis nicht
gerade darin, ob es ein Dichter zu einer mehr oder weniger vir-
tuosen Beherrschung eines Instrumentes gebracht hat. Goethe war
nicht ausübender Künstler oder Dilettant, und doch verraten seine
musiktheoretischen Auslassungen, besonders in der Korrespondenz
mit Zelter eine Vertiefung des Urteils und ein Verständnis, das
entschieden über das seines Freundes und Musikers von Fach
hinausging. Heine liebte es, sich gelegentlich als Musikbanausen
aufzuspielen, und doch besass er eine seltene Empfindlichkeit,
Anfnahmefähigkeit und Ansprechbarkeit für Musik und bei vielen
Gelegenheiten ein über den Zeitgeschmack hinausgehendes kriti-
sches Urteil für musikalische Leistungen; Grillparzer und Alfieri
sprechen selbst von ihrer musikalischen Anlage und Begabung.
Wenn wir doch die ausübenden Musiker unter den Dramatikern
besonders aufmerksam betrachten, so geschieht es, weil wir vor-
aussetzen können, dass sich ihnen in der praktischen Betätigung
von selbst das psychologische Phänomen aufdrängte, mit dem wir
es hier zu tun haben, dass sie darüber nachdachten und eine
Erklärung hierfür suchten. In diesem Sinne sind für uns beson-
ders zwei Dramatiker bemerkenswert, deren intime Beziehung zur
Musik so wenig Beachtung gefunden hat, dass sich in zusammen-
fassenden Abhandlungen über Deutsche Dichter und die Musik
noch nicht einmal ihr Namen erwähnt findet.
Otto Ludwig hielt zunächst sein Talent für ein musikali-
sches und veriebte einige Jahre sehr zurückgezogen in Leipzig,
wo er ernsthaft Musik trieb. Erst später, als er in Dresden mit
Eduard Devrient und der Bühne in Verbindung trat, warf er sich
völlig der Poesie in die Arme. Dabei blieb er aber stets, was
wir einen dionysischen Dichter nennen. Ein Jahr nach des Dich-
ters Tode hat Gustav Freitag in dem Grenzboten (1866 Nr. 2)
einen Aufsatz über ihn veröffentlicht, in dem er, der dem Dichter
persönlich nahegestanden, seine Schaffensweise darzulegen und
in die geheimen Tiefen der Dichterseele einzudringen versucht.
In der feinen Charakterstudie betont er besonders die musikalische
Veranlagung des Dichters, aus der er die Eigenart seines Schaffens
— 22 -
und vor allem auch die Mängel seiner Qeistesprodukte erklären
zu dürfen glaubt. Über die Art seines Schaffens berichtet er:
„Noch auffallender wurde er, wenn man die Methode seiner
poetischen Arbeit beobachtete: in seinem Innern eine leiden-
schaftliche Bewegung, der eines Inspirierten gleich; seine Emp-
findungen und Anschauungen nicht bloss poetisch, sondern zu
gleicher Zeit sowohl musikalisch als malerisch, und zwar in
so hohem Grade, dass sein poetisches Schaffen dadurch ge-
hemmt wurde. In eigentümlichen Kämpfen rangen sich die
Gebilde aus seiner Seele los. Während sie in ihm lebten,
hörte er Klänge, sah er die Gestalten in Gruppen farbig vor
sich ... Er wusste, dass dergleichen nur gaukelnde Täuschung
des erregten Sinnes war . . . ."
Die Angaben und Beobachtungen Freitags sind nach mancher
Richtung ungenau; das ergibt sich ohne weiteres, wenn wir mit
ihnen die Aufzeichnungen vergleichen, die Otto Ludwig selbst
über sein poetisches Schaffen hinterlassen hat.
Mein Verfahren, bekennt er, ist dies: Es geht eine
Stimmung voraus, eine musikalische, die wird mir zur
Farbe, dann sehe ich Gestalten, eine oder mehrere in irgend-
einer Stellung und Gebärdung für sich oder gegeneinander . . .
Diese Farbenerscheinung habe ich auch, wenn ich ein Dichtungs-
werk gelesen, das mich ergriffen hat; versetz ich mich in eine
Stimmung, wie sie Goethes Gedichte geben, so hab* ich ein
gesättigt Goldgelb ins Goldbraune spielend; wie Schillers, so
hab* ich ein strahlendes Karmoisin; bei Shakespeare ist jede
Szene eine Nuance der besonderen Farbe, die das ganze
Stück hat. Wunderlicherweise ist jenes Bild oder jene Gruppe
gewöhnlich nicht nur das Bild der Katastrophe, manchmal
nur eine charakteristische Figur in irgend einer pathetischen
Stellung ....
Ich habe die Bekenntnisse des Dichters hier nur soweit
wiedergegeben, als sie an dieser Stelle für uns von Interesse sind.
Wir sehen daraus, dass die Angabe Freitags, der Dichter habe
in seiner poetischen Stimmung sowohl musikalisch als malerisch
empfunden, er habe während seines Schaffens sowohl Klänge
- 23 —
gehört, als Gestalten farbig vor sich gesehen, nicht ganz dem
psychologischen Vorgange entspricht. In der Phantasie Ludwigs
erweckten poetische Stimmungen und Bilder, ob sie nun im
eigenen Hirn entsprangen oder durch die Lektüre angeregt wurden,
Farbeneindrücke; etwas ähnliches wissen wir von Goethe, der ja
alle Gedanken über seine Kunst auf Farben bezogen hat und auch
von Modernen (Herm. Bahr u. a). Aber ganz unabhängig von
diesen Farben- und plastischen Vorstellungen, die ihrerseits natürlich
wieder auf die Intensität der poetischen Bilder und ihrer Verbin-
dungen befruchtend wirkten, wurde bei Ludwigdie poetische Stimmung
als solche, die erste poetische Konzeption zunächst hervorgerufen
oder doch eingeleitet durch eine musikalische Stimmung. Gerade
die Bekenntnisse Ludwigs lassen deutlich erkennen, wie verschieden
die Erregungen sensorieller Zentren auf die Werkstätte poetischer
Gedanken einwirken. Der Dichter versinnlicht oder deutet innere
Zustände durch äussere Bilder. Die Erregungszustände des aku-
stischen Zentrums werden zunächst auf den Bahnen der Assoziations-
fasem auf die grosse Gehirnrinde projiziert, und von hier aus erst
geht auf den entsprechenden Bahnen der Erregungsprozess auf
das Sehzentrum über. Die musikalische Stimmung geht dem
poetischen Schaffen Ludwigs voraus — das ist genau der gleiche
psychologische Vorgang, wie wir ihn bei Alfieri, Schiller und
anderen Dramatikern kennen gelernt haben. Im Anfang war der
Ton und die Harmonie, die Quelle des poetischen und drama-
tischen Schaffens ist das innere Gehör.
Das poetische, von musikalischen Eindrücken eingeleitete und
von Klangvorstellungen begleitete Schaffen Ludwigs erscheint seinem
Biographen, Gustav Freitag, einzigartig und rätselhaft, wie er sich
ausdrückt, ganz fremdartig gegenüber der regelvollen, innerlichen
und mit Absicht stärker verfolgten Dichterarbeit unserer Tage. Er
vergleicht ihn deshalb mit den alten epischen Dichtern, die nicht
nur ihre Gebilde leibhaftig vor sich sahen, sondern dabei auch
musikalischen Klang hörten, und die ihre Beschreibungen und ihre
Reden in rhythmischem Takt und melodischem Tonfall empfinden.
Für ihn ist Ludwigs Schaffen gewissermassen ein atavistischer
Rückschlag, und er will in seinen Bekenntnissen den Beweis sehen.
— 24 —
dass in einem Deutschen des neunzehnten Jahrhunderts einmal die
uralte und für uns seltsamste Arbeit eines Dichtergemütes aus
grauer Vorzeit wieder lebendig geworden ist. Aber die psycho-
logischen Gesetze des geistigen Schaffens sind unabänderlich, und
das Studium anderer Dramatiker hat uns belehrt und soll uns
weiter belehren, dass der Dichter des Erbförsters in seinem Geistes-
leben nichts Abnormes, nichts Eigenartiges darbietet
Es ist eine auffallende Erscheinung, dass derjenige unter
unseren Dichtern, dem wir heute die unmittelbarste dramatische
Begabung zuerkennen, gleichzeitig auch den ausgesprochensten
Sinn für Musik, das feinste musikalische Empfinden und neben
der praktischen Betätigung ein weitgehendes Verständnis für musik-
theoretische Fragen erkennen lässt Wir meinen Heinrich von
Kleist, über dessen Leben wir, nachdem endlich mit alten ent-
stellten Legenden und unkontrollierbaren Gerüchten gründlich aufge-
räumt worden ist, zwar sehr wenig Sichergestelltes nur wissen, doch
genug, um neben der dichterischen seine musikalische Veranlagung
und seine musikalische Ausbildung behaupten zu können. Schon
in der ersten, von Tieck verfassten biographischen Skizze über
Kleist findet sich kurz erwähnt, dass Kleist früh zur Musik ein
schönes Talent entwickelte und verschiedene Instrumente spielte,
und sein folgender Biograph, Eduard von Bülow, fügt hinzu, dass
er in Potsdam als Leutnant in einer von Offizieren zusammen-
gesetzten Musikkapelle die Klarinette spielte; Brahm spricht später
von einem aus Offizieren zusammengesetzten Liebhaberorchester.
Ich habe diese kurzen Daten nach zeitgenössischen Zeugnissen
ergänzt resp. richtiggestellt.^) Es handelte sich in Wirklichkeit,
nicht um eine Musikkapelle oder ein Orchester, sondern um ein
Quartett befreundeter Offiziere, unter ihnen Kleist, die in einer
oberflächlichen und in Äusserlichkeiten aufgehenden Umgebung
ernsthaft die Musik pflegten, und die auch später noch, als sie
zum Teil nach Beriin versetzt, zum Teil sich dort ins Privatleben
zurückgezogen hatten, zusammenhielten und ihre Übungen fleissig
fortsetzten. Ohrenzeugen bekunden ausdrücklich, dass die Leistungen
■) Vergl. Nationalzeitung 1904, Sonntagsbeilage Nr. 20.
- 25 —
des Quartetts ausgezeichnete waren, und dass ihre Darbietungen
noch heute (1847) den Zuhörern lebendig im Gedächtnis sind.
Auch eine kleine, von seinem Biographen entstellt berichtete Episode
aus Kleists Leben, die mit dieser frühzeitigen musikalischen Be-
tätigung im Zusammenhang steht, habe ich richtig gestellt Wie
der rechte Ernst niemals den Sinn für Scherz und Heiterkeit aus-
schliesst, so genossen die vier Freunde auch mit dem leichten
Flug dieser Stimmung die vergängliche Zeit. Einst kam das Quartett
auf die Idee, als reisende Musikanten einen Ausflug in den Harz
zu^ machen. Ohne einen Kreuzer mitzunehmen, wurde in Dörfern
und in Städten gespielt, und nur vom Ertrage der Kunst gelebt.
Der Erfolg war glänzend; man kehrte von der genialen Reise neu
erfrischt und geistig belebt wieder heim, und der Eindruck dieser
Harzreise speziell auf Kleist blieb ein nachhaltiger und anregender.
Damals stand Kleist im 20. Lebensjahre. Wir erfahren in der
Folge nichts weiter über seine musikalische Ausbildung und musi-
kalischen Studien. Hingegen aber lassen uns zahlreiche ganz kurze
Äusserungen und Andeutungen in seinen Briefen erraten, dass das
Interesse an der Musik niemals erioschen ist. Seine Verwandten
sucht er anzuregen, er verschafft ihnen Musikalien, er transponiert
für sie Musikstücke. Im Verkehr mit Mädchen und Frauen ist es
namentlich ihr Musikverständnis und ihr musikalischer Sinn, der
ihn anzieht und fesselt. Das gilt für Julie Kunze, deren vorzüg-
licher Gesang ihn bezaubert, das scheint das feste Band zu er-
klären zwischen ihm und der Stiefschwester Ulrike, von der neuer-
dings wenigstens bekannt geworden ist, dass sie bis an ihr Lebens-
ende an dem Musikleben ihrer Vaterstadt sich beteiligte, und das
gilt schliesslich für seine Beziehung zu seiner Todesgefährtin
Adolphine Vogel, mit der ihn die „gleiche Stimmung in musika-
lischen Dingen** so eng und bis in den Tod zusammenhielt. In
„musikalische Einsicht** betitelten Epigrammen besingt er die ver-
lockende Gewalt, das Erhebende und sinnlich Berauschende der
Musik, und wir wissen von ihm selbst, dass die produktive
Stimmung bei ihm einsetzte mit üppigen Gehörshalluzinationen,
die ein ganzes Konzert mit allen Instrumenten darstellten, von
der zärtlichen Flöte bis zum rauschenden Kontraviolon. Endlich
— 26 —
besitzen wir gewissermassen als die Quintessenz kunstästhetischer
Anschauung eine Äusserung des Dichters, die er wenige Monate
vor seinem Tode an eine Freundin *) richtete, und die den folgen-
den Wortlaut hat:
„In diesem Falle (nämlich, wenn er sich von dem Drange
widerwärtiger und verstimmender Verhältnisse befreien könnte)
wurde ich die Kunst vielleicht auf ein Jahr oder länger ganz
ruhen lassen, und mich, ausser einigen Wissenschaften, in
denen ich noch nachzuholen habe, mit nichts als Musik be-
schäftigen. Denn ich betrachte diese Kunst als die Wurzel,
oder vielmehr, um mich schulgerecht auszudrücken, als die alge-
braische Formel aller übrigen, und so wie wir schon einen
Dichter haben — mit dem ich mich übrigens auf keine Weise
zu vergleichen wage — der alle seine Gedanken über die Kunst,
die er übt, auf Farben bezogen hat, so habe ich von meiner
frühesten Jugend an, alles Allgemeine, was ich über die Dicht-
kunst gedacht habe, auf Töne bezogen. Ich glaube, dass im
Generalbass die wichtigsten Aufschlüsse über die Dichtkunst
enthalten sind.**
Es konnte nicht fehlen, dass das grosse und ausgesprochene
musikalische Temperament des Dramatikers Kleist die Aufmerk-
samkeit der Forscher auf sich zog, wenigstens nachdem man es
aufgegeben hatte, in seiner Eigenart etwas Pathologisches zu sehen
und seine Äusserungen namentlich aus dem letzten Lebensjahre
als Emanationen eines verwirrten, dem Wahnsinn verfallenen Geistes
zu betrachten. So haben namentiich Helene Zimpel^) und S.
Lublinski') in speziellen Untersuchungen wichtige Beiträge zu
einer Kleist-Ästhetik geliefert, denen mir nur wenig nachzu-
tragen übrig bleibt. Wollen wir ein Verständnis gewinnen für die
Der Herausgeber der gesammelten Kleistbriefe hat die Frage offen
gelassen, an wen dieser für das Verständnis des Dichters so wichtige
Brief gerichtet ist. Diese, wie viele andere Lücken der Ausgabe, lassen der
Forschung ein weites Feld übrig. Ich behalte mir vor, an anderer Stelle
die Frage zu untersuchen, wer der Empfänger des Briefes sein kann.
>) Helene Zimpel : Kleist der Dionysische in Nord und Süd, Heft 323.
') S. Lublinski ; Eine Kleist-Biographie in Nation, XXII. Jahrg. No. 31.
— 27 —
zitierte Briefstelle, so wird es nötig sein, auf eine frühere Lebens-
periode des Dichters näher einzugehen, die etwa in sein 23. - 27.
Lebensjahr fällt, und die ich bei anderer Gelegenheit schon als
die Sturm- und Drangperiode des Dichters bezeichnet habe.
Während Kleist in den vorausgehenden Lebensjahren als
Soldat und Student uns imponiert durch sein klares, konsequentes
Denken, durch seinen ausgesprochenen Drang nach Wahrheit und
Erkenntnis, durch einen Geist, der frei von jeder phantastischen
Überschwänglichkeit hauptsächlich Gefallen findet am Studium der
strengen Logik und Mathematik, zeigt er ganz unerwartet (etwa seit
1800) eine ausgesprochene Störung in seiner gemütlichen und ner-
vösen Verfassung: sein seejisches Gleichmass schwankt, seine Stim-
mung ist im fortwährenden Wechsel, wir erleben heftigste Selbst-
vorwürfe, tiefste Depression, Todesahnungen und Beängstigungen.
Ich habe versucht, an anderer Stelle diese Störungen des see-
lischen Gleichgewichts auf ihre wahren Ursachen zurückzuführen;
mittelbar oder unmittelbar spielen dabei seine Kämpfe und sein
Ringen mit dem Guiskard-Stoffe eine ebenso entscheidende als
verhängnisvolle Rolle.
In diese Zeit fällt auch Kleists für uns verlorener Aufsatz: „Ge-
schichte meiner Seele**. Der Dichter, der sich so scharf beobachtete,
der so viel über sich nachdachte, hat auch in dieser peinlichsten Periode
seines Lebens über sein seelisches Befinden und seine seelischen
Bedrängnisse offen Zeugnis abgelegt, besonders in den Briefen
an seine Braut. Darüber hinaus aber muss die Geschichte seiner
Seele zweifellos Bekenntnisse enthalten, welche auf sein dichterisches
Schaffen ein Licht werfen, welche uns einführen in die Werkstatt
seiner dramatischen Produktion, denn nicht anders ist es zu ver-
stehen, wenn eine Freundin, fünf Jahre nach des Dichters Tode
über das Werk schreibt, dass ohne dieses, wenigstens für diejenigen,
die Kleist ganz kennen und würdigen wollen, seine ganzen Schriften
nur ein Fragment bleiben. Kleists Briefe können nicht, wie ihr
letzter Herausgeber behauptet, als Ersatz für die Geschichte seiner
Seele gelten, denn der feinfühlige Dichter eröffnet sich in seinen
Briefen nur dort, wo er mit Verständnis rechnen kann, und unter
allen Adressaten ist der Briefempfänger, dem die zitierte Briefstelle
- 28 —
gilt, der einzige, dem gegenüber er sich gelegentlich über sein
poetisches Schaffen auslässt. Die zitierte Briefstelle kann deshalb
auch seiner Seelengeschichte entnommen sein, und wie sie auf seine
dichterischen Absichten ein Licht wirft, so müssen wir annehmen,
dass die verloren gegangene Schrift uns aufzuklären geeignet wäre
über des Dichters Pläne und Kämpfe um den Quiskard. Das
Rätsel des Guiskard - Dramas ist aber auch das Geheimnis von
Kleists Künstlertum, und wohl auch das Geheimnis seiner tief
verschlossenen, äusserlich so exzentrischen Natur.
Kleist, der in seinem Guiskard auf die Antike zurückging,
empfand, wie Lublinski es ausdrückt, nicht nur das Apollinische,
sondern auch das Dionysische der Antike d. h. nicht nur ihre
Architektur und Plastik, sondern auch fhr wirres Chaos und ihre
dumpfe grollende Musik. Beides zu einem gemeinsamen Kunst-
werke zu vereinigen, und wie die hellenische Tragödie im Sinne
Nietzsches aus dem Dionysischen Chorlied geboren wurde, so
sein modernes Drama aus dem Geiste der Musik entstehen zu lassen
— das war die grosse Aufgabe, die sich Kleist gestellt hatte, und
die er aufgeben musste, als er fühlte, dass sie seine Kräfte über-
schritt. Immerhin müssen wir Lublinski recht geben, wenn er
Kleist im gewissen Sinne nicht blos einen Voriäufer, sondern auch
einen Überwinder Richard Wagners nennt, indem er schon mit
seinem Guiskard-Fragment durch die Tat bewiesen hat, dass ein
^musikalisches** Drama auch im schlichten Dichterwort sehr wohl
möglich ist.
Die Beweise für die poetisch-musikalischen Intentionen Kleists
finden wir in dem Aufbau des Guiskard, soweit das Dramas uns er-
halten ist. Wieland, dem der Dichter einige Szenen seines Dramas
vorgelesen hatte, war der Meinung, dass, wenn die Geister des
Aschylus, Sophokles und Shakespeare sich vereinigten, eine Tragödie
zu schaffen, sie eben das sein würde, was das neue Drama zu
werden versprach. Gerade aber Wieland war, wie wir später
zeigen werden, wie kein anderer geeignet die Musik ohne Noten
und Instrumente herauszuhören, die zwischen den Zeilen des Dichter-
wortes zittert und rauscht. In einer verständnisvollen Analyse
hat neuerdings Servaes diesen Gedanken weiter ausgeführt. Das
— 29 —
Volk im Guiskard stellt ein ganzes Orchester dar mit einzelnen
individualisierten Stimmen : nämlich die Krieger und der Greis, die
das Volk beschwichtigen. Dann stellen sich in Robert, Abälard,
Helena und in Guiskard selbst dem Orchester die menschlichen
Stimmen gegenüber, und das alles in kontrastierendem Wechsel
und wohlschattiertem Gegensatz, zielt durchaus auf eine grosse
Harmonie hin, die die gesonderten Teile zu verbinden hat. Mag
der Dichter auch bei seiner nachträglichen Veröffentlichung vieles
von seiner ursprünglichen Absicht aufgegeben haben, wir ahnen im
Fragment das Drama, das sich auf einer musikalischen Grund-
empfindung aufbauen sollte. Noch nach einer andern Richtung scheint
mir das Guiskard-Fragment für die Bestrebungen des Dichters zu
sprechen. Auch die späteren Dramen Kleists verraten einen starken
musikalischen Gehalt, und es ist begreiflich, dass besonders die Pen-
thesilea auf Musiker wie Hugo Wolf einen grossen Zauber aus-
übte. Und das musikaliche Temperament, das hier wie auch
in einigen Scenen der Hermannschlacht zum Durchbruch kommt,
erscheint mir viel natürlicher und ungezwungener als im Guis-
kard, wo der Dichter in bestimmter Tendenz seinem musikalischen
Empfinden Gewalt anzutun scheint.
Was wir aus Kleists Drama herauslesen, das finden wir bestä-
tigt in seiner Korrespodenz. Kleist, der seiner Schwester mit
Bezug auf den Guiskard mitgeteilt hatte, dass er sich mit einer
„Entdeckung im Gebiete der Kunst" beschäftige, schreibt ihr aus
Genf (5. X. 03), dass er seine Arbeit aufgibt dass er vor Einem
zurücktritt, der noch nicht da ist und sich, ein Jahrtausend im
voraus, vor seinem Geiste beugt. Er grollt dem Schicksal, das
sich herablässt „ein so hilfloses Ding, wie der Mensch ist, an der
Nase herumzuführen**. Und nun sagt er wörtlich; „Die Hölle gab
mir meine halben Talente. '^ Kleists Sätze sind stets wörtlich
zu nehmen, auch niemals, wie sie oft gedeutet wurden, in über-
tragenem Sinne oder in einer Bedeutung, die wir ihnen im moder-
nen Sprachgebrauch unterlegen. Besonders wenn wir den Zusatz
berücksichtigen: „der Himmel schenkt dem Menschen ein ganzes
(Talent) oder gar keins", so liegt es klar auf der Hand, dass er von
seinem musikalischen und poetischem Talente spricht, die erforderlich
— 30 -
sind zu seiner grossen „menschlichen Erfindung*", die aber bei
ihm nicht stark genug entwickelt sind, um ihm den heissersehnten
Platz in den Sternen zu sichern.
Mir scheint es schliesslich auch nicht ein Zufall, dass gerade
Wieland sich mit so grossem Interesse und voller Begeisterung
der Arbeit seines jungen Freundes zuwandte. Wieland selbst war
eine sehr musikalische Natur, hatte frühzeitig gründlich die ita-
lienischen und deutschen Meister der Musik studiert, er spielte das
Klavier fertig und mit Ausdruck, er hatte als einer der ersten
die Bedeutung Glucks für die deutsche Oper erkannt und hatte
schon 80 Jahre, bevor Wagner mit seinem „Oper und
Drama** an die Öffentlichkeit trat, Gedanken über die Oper aus-
gesprochen, die sich mit Wagners Forderungen und Anschau-
ungen decken.
Wie Kleist sich im einzelnen die Durchführung des Musik-
dramas gedacht hat, das zu erörtern erscheint mir ein ebenso
vergebliches als überflüssiges Bemühen. Nur eine kongeniale Natur
wäre imstande, darauf eine Antwort zu finden, und wir können
nur mit dem Dichter hoffen, dass „irgendwo ein Stein wächst
für den, der sie einst ausspricht." Wenn ein frühzeitiger Tod
den Schöpfer des Musikdramas fortgerissen hätte, zu einer Zeit,
in der er uns nichts hinterlassen konnte, als seine Opern bis zum
Lohengrin und einige flüchtige Äusserungen über seine Zukunfts-
ideen, wer wäre dann imstande gewesen, sich auch nur eine Vor-
stellung zu bilden von den Bühnenschöpfungen seiner letzten
Schaffensperiode? Und wenn wir auch aus den Symphonien
Schuberts die Überzeugung gewinnen, dass er zweifellos der
absoluten Musik neue Wege gewiesen hätte, wer will sagen, welche
Entwickelung sie unter seiner schöpferischen Kraft durchgemacht
hätte? So können wir lediglich die Behauptung aufstellen, dass
der Dichter, der wie kein anderer von frühester Jugend an, über
seine eigenen Seelenzustände nachdachte und grübelte, dem früh-
zeitig der Zusammenhang zwischen Musik und Poesie aufgehen
musste, der in einer theoretischen Schrift die Gesetze seines
poetischen Schaffens klargelegt hatte, nach einer höheren Kunst-
form rang, in der er den dramatischen Vorgang auf eine musika-
— 31 —
lische Unterlage stellen und die Musik, die in jeder Poesie ent-
halten ist, nach bestimmten Regeln gestalten wollte. Seine Be-
mühungen waren vergebens.
Wir haben zu Kleist und seinem Guiskard-Fragment ein
analoges Beispiel in der deutschen Literaturgeschichte, und das ist:
Hebbel und sein Moloch-Fragment Auch hier ein langjähriges
Ringen um eine neue Kunstform, auch hier im Fragment der
musikalische Untergrund wahrnehmbar, auch hier die Resignation.
Was für uns bemerkenswert, ist, dass Hebbel sich deutlicher
über seine Absichten ausdrückte, und dass wir daher aus dieser
Analogie Rückschlüsse ziehen können auf das, was Kleist vor-
schwebte. Hebbel schreibt am 10. Mai 1853 an Robert Schumann :
Vieles hätte ich Ihnen über Poesie und Musik mitzuteilen,
gehörte nur nicht leider eine Reihe von Gesprächen oder eine
ganze Abhandlung dazu. Ohne Richard Wagner im ganzen
oder einzelnen irgend akzeptieren zu können, schwebt doch
auch mir, und zwar von meinem ersten Auftreten an, die Möglich-
keit einer Verschmelzung von Oper und Drama in ganz
speziellen Fällen vor, und meinen Moloch, an dem ich seit
zehn Jahren arbeite, habe ich mir immer in Bezug auf die
Musik gedacht. Aber freilich lässt sich das Wie nicht in
kurzem auseinandersetzen.
Und einige Monate später (am 30. November 1853):
Was würden Sie zu einem Drama sagen, das sich, seines
ungeheuren Umfangs wegen, bis auf wenige Partien ganz im
allgemeinen hielte und deshalb durchgehend von der Musik
so zu begleiten wäre, wie z. B. die Ballade, die Sie melo-
dramatisch behandelten? Ein solches Werk wird mein Moloch
werden, an dem ich nun schon zehn Jahre arbeite.
Wir wissen, dass Hebbels wie Kleists Bemühungen vergebliche
waren, und dass der Moloch wie der Guiskard Fragmente ge-
blieben sind. Woran sind Kleists Bemühungen gescheitert, und
hat er für immer die Pläne und Tendenzen seiner Jugend auf-
gegeben? Nach Lublinski versagte bei dem Guiskard-Fiasko nicht
die dichterische Kraft Kleists, sondern der Fehler steckte von
Grenzfra^en d. Lit u. Medizin. 1. Heft. 3
- 32 -
Anfang her im Geistigen, in der starr einseitigen Auffassung seines
Schicksalsgedanken. Ich lese aus des Dichters Korrespondenz
eine andere Erklärung für seinen Misserfolg heraus. Wenige
Monate vor seinem Tode, im August 1811, schreibt er zwei offen-
bar an dieselbe Adresse gerichtete kurze Briefe, von denen der
erste die oben zitierten Stellen über seine Auffassung der Musik
enthält, die ich als eine Reminiszenz an die Geschichte seiner
Seele auffaste, der zweite^) folgendermassen anhebt:
Sobald ich mit dieser Angelegenheit fertig bin, will ich einmal
wieder etwas recht Phantastisches vornehmen. Es weht mich
zuweilen bei einer Lektüre oder im Theater wie ein Luftzug
aus meiner allerfrühesten Jugend an. Das Leben, das
vor mir ganz öde liegt, gewinnt mit einem Male eine wunder-
bare herrliche Aussicht, und es regen sich Kräfte in mir,
die ich ganz erstorben glaubte.
Es unterliegt wohl keinem Zweifel nach diesen Briefstellen,
dass der Dichter in seinem letzten Jahre sich mit der Absicht
trug, auf dramatische Pläne zurückzukommen und Ideen wieder
aufzugreifen, die ihn schon früher beschäftigt hatten, und wenn
wir die unmittelbar vorher (oder nachher?) ausgedrückte Absicht
hinzufügen, alles auf ein Jahr oder länger ruhen zu lassen und
sich mit nichts als mit Musik zu beschäftigen, so ist es klar, dass seine
Pläne darauf hinausgingen, dort wieder anzuknüpfen, wo er mit
der Vernichtung des Guiskard geendet hatte. Von neuem
schwebte ihm das musikalische Drama vor. Als gereifter Mensch und
Dichter kommt er auf seine Jugendpläne zurück, er fühlt sich im
Vollbesitz der dramatischen Kraft, aber er ist sich auch bewusst,
dass sein musikalisches Können nicht ausreicht, und er besitzt
Selbstkritik genug, um die Notwendigkeit jahrelanger musikalischer
Studien zu erkennen. Wir sehen aus den beiden Briefen, dass der
Dichter ein Vierteljahr vor seinem Tode nicht entfernt an sein Ende
dachte, dass er sich mit ganz bestimmten Zukunftsplänen trug, und
dass nach seinem eigenen Bekenntnis das Guiskardfiasko auf sein
unzureichendes musikalisches Können zurückzuführen ist.
^} Ich würde nicht Anstand nehmen, diesen zweiten Brief dem voraus-
gehenden voranzustellen.
— 83 —
Die Bedeutung von Kleists Aussprüchen über die Musik
(s. o.) ergibt sich aus dem, was wir über seine und anderer
Dramatiker Produktionsweise erfahren haben. Die dramatische
Einbildungskraft entspringt aus einer musikalischen Stimmung;
die Musik ist es, an der sich gewissermassen die dichterische
Phantasie entzündet; die musikalische befruchtet die dichterische
Phantasie. Darum betrachtet Kleist diese Kunst als die Wurzel
aller übrigen.
Schwer verständlich ist Kleists Behauptung, dass die Musik
die algebraische Formel der anderen Künste darstellt Wir werden
erinnert an Pythagoras* Bemühungen, die Harmonie aus dem
Zahlenverhältnis zu erklären, und an Leibnitz* Definition der Musik
als: exercitium arithmeticae occultum nescientis se numerare
animi. Kleist, der neben philosophischen, hauptsächlich mathe-
matisch-physikalische Studien betrieb, hat frühzeitig, wie uns auch
diese Briefstelle beweist, über die algebraische Analyse der
Sprache, der Poesie und über ihr Verhältnis zur Melodie nach-
gedacht. Wir wissen aus Aufsätzen und Briefen des Dichters,
dass er in dem intimen Verhältnisse eines Freundes und Lehrers
zu dem jüngeren Rühle von Lilienstem stand; wir wissen auch,
dass er seinen Arbeiten das grösste Interesse entgegenbrachte,
dass sie unter seinen Augen entstanden sind, und es ist kein
Zweifel, dass nach vieler Richtung die Arbeiten Rühles Geist von
Kleists Geiste sind und einen Rückschluss auf seine Ansichten
gestatten. In einer 1808 erschienenen Abhandlung Rühles findet
sich ein Passus, der auf diese mysteriöse Briefstelle einiges Licht
wirft. Rühle vertritt hier die für seine Zeit sehr fortgeschrittene
Anschauung, dass der Mathematik in der Wissenschaft nicht der
gebührende Rang eingeräumt ist, und betrachtet sie als erste und
Grundwissenschaft. Ist nicht, so schreibt er, jede Lehre in der
Physik, in der Astronomie, in der Musik etc. eine mathematische?
Und schliesslich stellt er die Frage auf: „Lässt sich vermittelst
der analytischen Geo- und Trigonometrie und vermittelst der
algebraischen und combinatorischen Analysis nicht das Gesetz und
die Anomalität und der innere Bau jeder Sprache und jedes Ge-
dfchtes nachbilden und darstellen, nicht jede mögliche Melodie
3*
- 84 —
und Harmonie, jeder erfundene oder noch zu erfindende hörbare
Laut hinschreiben und angeben?**
Die Behauptung Rabies werden wir kühn finden, aber sie
gibt uns einen Anhaltspunkt fär Kleists Gedankengang, wenn er
versucht, die Musik und andere Künste auf einfache algebraische
Formeln zurfitkzufuhren.
Die Ansicht Kleists, mit der er seine Ausführungen beendigt,
dass im Generalbass die wichtigsten Aufschlüsse über die Dicht-
kunst enthalten sind, bedeutet, dass das Studium der musikalischen
Harmonie dem Dichter eine tiefere Einsicht und ein besseres
Verständnis für den Klang und Ryhthmus in der Poesie eröffnet,
und dass dadurch wiederum die dichterische Phantasie angeregt
und befruchtet werde.
V.
Unsere Betrachtungen haben uns darüber belehrt, dass ein
Zusammenhang besteht zwischen musikalischer Empfindung und
dramatischem Schaffen. Die dichterische Phantasie wird, wie wir
es vorläufig ganz allgemein ausdrücken wollen, angeregt durch eine
musikalische Stimmung. Das haben wir beobachtet bei Schiller,
Alfieri, bei Grillparzer, Hebbel, Ludwig und Kleist. Handelt es
sich um ein durchgehendes Gesetz und können wir den gleichen
Zusammenhang bei jedem Dramatiker und bei jedem dramatischen
Schaffen ausnahmslos nachweisen?
Grabbe habe ich nicht in den Kreis der Betrachtungen
hineingezogen, weil seine Persönlichkeit pathologische Züge auf-
weist, die Regeln für den normalen Ablauf psychischer und
geistiger Prozesse nicht gestatten. Bei dem jungverstorbenen
Dichter von Dantons Tode, Ludwig Büchner, habe ich weder in
seinen Werken und Briefen noch in Franzos' Biographie eine
Angabe über dichterische Inspiration und den Schaffensvorgang
gefunden. Auch dafür finde ich keinen bestimmten Anhaltspunkt,
dass Goethe in seinem dramatischen Schaffen durch die Musik
beeinflusst wurde. Doch unterliegt es keinem Zweifel, dass ein
solcher Einfluss tatsächlich vorhanden war. Goethe stand in
seinem Verhältnis zur Musik ^eichsam über ihr als einer Kunst-
~ 36 -
form, die ihn ausserordentlich interessierte und lebenslänglich
beschäftigte, ganz besonders nach der Periode, in welcher er
seine Farbenlehre abgeschlossen hatte. Wir lesen mit Staunen,
mit welcher wunderbaren Überlegenheit er, der Dilettant, in
gewissen schwierigsten Fragen des Musikwesens, dem Fachmanne,
seinem Freunde Zelter gegenubertrat Wie tief zugleich sein
Bewusstsein von der Bedeutung der Musik für die Poesie gewesen
und zwar in dem Sinne, dass diese von jener nicht nur das
Kleid allein, sondern auch Inhalt und Seele gewinnen könnte,
darüber belehrt uns die von ihm selbst (an Zelter) erzählte Ent-
stehungsgeschichte des zu Ehren der russischen Kaiserwittwe
Maria Feodorowna gedichteten Festzuges (Brief am 4. I. 19).
„Bei dieser Gelegenheit muss ich erzählen, dass ich, um
die Gedichte zum Festzug zu schreiben, drei Wochen anhal«
tend in Berka zubrachte, wo mir dann der Inspektor täglich
drei bis vier Stunden vorspielte, und zwar auf mein Ersuchen
nach historischer Reihe: von Sebastian Bach bis zu Beethoven
durch Philipp Emanuel, Händel, Mozart, Haydn durch, auch
Dussek und dgl. mehr.**
Diese und manche andere Stellen bei Goethe, in denen auch
seine grosse Vorliebe für musikalische Genüsse, der Einfluss,
den die Musik auf das Befinden seines Körpers und seiner Seele
ausübte, zum Ausdruck kommen, lassen es zweifellos erscheinen,
dass auch sein dichterisches Schaffen stark durch musikalische
Eindrücke gehoben wurde, wenngleich ich zugeben muss, dass
mir jede bestimmte Nachricht darüber abgeht, dass Goethes drama-
tische Konzeptionen durch eine musikalische Stimmung eingeleitet,
von musikalischem Unterbewusstsein begleitet war.
Von lebenden Dramatikern hat sich auf eine Anfrage Ernst
von Wildenbruch sehr eingehend über sein Verhältnis zur Musik
und über ihren Einfluss auf seine dichterische Einbildungskraft
ausgesprochen. Er schreibt von seiner grossen Vorliebe für Musik
und bestimmte Meister, von ihrer allgemein anregenden Wirkung;
aber die Anregung, die von der Musik auf ihn ausgeht, ist nur
allgemeiner Art; sie erregt die Phantansie im allgemeinen, weckt
aber keine bestimmten Bilder, Vorstellungen oder Kombinationen.
- Ö6 -
,»Ich mfisste Ifigen, schreibt der Dichter, wenn ich sagen wollte,
dass mir jemals eine dramatische Konzeption unter dem direkten
Eindruck, oder unter der Nachwirkung irgend eines Musikwerks
enstanden wäre; Meine dramatischen Konzeptionen sind
ausnahmslos in der Art entstanden, dass mir ein Konflikt vor die
Seele kommt. Entweder ein Konflikt von Persönlichkeit zu
Persönlichkeit, oder von Persönlichkeit zu umgebenden Verhält-
nissen, oder Konflikt in der Persönlichkeit mit sich selbst« und
endlich Kombination dieser verschiedenen Möglichkeiten. Ein
Konflikt aber, und nur ein solcher war immer die treibende
Wurzel, aus der alle meine Dramen herausgewachsen sind.**
Wenn wir nunmehr an die Aufgabe herantreten, aus den
Beobachtungen, die wir angestellt haben, allgemein gültige Schlüsse
zu ziehen, so werden wir zunächst die beiden letztgenannten
Dramatiker von den übrigen sondern müssen. Wildenbruch kon-
statierte wohl einen mächtigen Einfluss der Musik, eine starke
Anregung, die von ihr auf seine Phantasie ausgeübt wird, aber
er erwähnt nichts davon, dass die Musik im direkten Zusammen-
hang steht mit seinem dichterischen Schaffen, und aus seinen
Angaben geht hervor, dass die dramatische Konzeption bei ihm
im wesentlichen das Resultat der Verstandestätigkeit und der Über-
legung ist. Bei Goethe können wir wohl einen Einfluss der
Musik, die er die produktivste aller Künste nennt, auf seine
dichterische Betätigung aus manchen Äusserungen annehmen,
aber wir haben keinen Anhaltspunkt, der bei ihm auf regel-
mässige musikalische Stimmungen oder Illusionen hinwiese. Jede
Stimmung, jede äussere Beeinflussung bei der Produktion des
Dichters und Künstlers lässt er unberücksichtigt, wenn er schreibt:
„man sieht deutiicher, was es heissen wolle, dass Dichter und
alle einzelnen Künstler geboren sein müssen. Es muss nämlich
die innere produktive Kraft jene in der Erinnerung zurück-
gebliebenen Idole freiwillig, ohne Vorsatz und Wollen lebendig
hervortun, sie müssen sich entfalten.**
Unter den übrigen von uns besprochenen Dichtern, den zweifel-
los stärksten dramatischen Kräften, finden wir ausnahmslos Erschei-
nungen, die auf Beziehungen zwischen dichterischer Produktion und
- 37 —
musikalischem oder Gehörseindruck hinweisen. Welcher Art ist diese
Beziehung, und wie können wir sie psycho - physiologisch deuten?
Wiederholt findet sich das Bekenntnis (Schiller, Ludwig), dass eine
„musikalische Stimmung*' der Produktion vorausgeht. Der Ausdruck
„musikalische Stimmung", der sicherlich nicht aus der Luft ge-
griffen ist, da er sich ja wiederholt findet, hat an sich für den
Durchschnittsmenschen etwas Befremdendes. Es gibt unendlich
viele qualitative Unterschiede der Stimmungen, die sich durch
Worte nicht beschreiben lassen, und wie wir schon oben (S. 9)
erwähnt haben, haben wir wohl für bestimmte Zustände Bezeich-
nungen, doch können sie, ebenso wie die Namen für Ton- und
Klangfarben nur die Erinnerung an einen früheren Eindruck in
uns erwecken. Wir können mit Worten nicht die Empfindung
und Stimmung der Reue, Rührung, Sehnsucht, Furcht, Schrecken,
Angst, Hoffnung schildern und werden kaum jemandem, der nicht
die Stimmung der Rührung kennt, eine Vorstellung davon bei-
bringen können. „Musikalische Stimmung" werden wir von
vornherein als diejenige Gemütsverfassung definieren, welche zur
musikalischen Komposition besonders geeignet ist Wenn drama-
tische Dichter von einer musikalischen Stimmung sprechen, die
regelmässig ihr Schaffen einleitete, und wie wir gleich vorwegnehmen
wollen, auch begleitete (vergl. Schiller, Alfieri, Hebbel, Ludwig, Kleist)
so können wir nur annehmen, dass sie durch musikalische Gehörs-
eindrücke in eine nicht näher zu definierende Gemütsverfassung
versetzt und darin erhalten wurden, aus der sich ihre dichterische
Einbildung^- und Gestaltungskraft und die Gebilde ihrer Phantasie
entwickelten. An sich ist dies nichts neues; wir wissen, dass
Gefühle und Affekte auf die „Werke der Begeisterung" einen
mächtigen Einfluss ausüben, sie erteilen ihnen eine triebartige
Energie, sie verwandeln die Bilder der Phantasie, ändern ihre Ver-
bindungen und fügen ihrem innersten Kern neue Bestandteile und
Verbindungen hinzu ; genau so, wie die Traumbilder des Phantasie-
armen (s. o.) sich unter dem Einflüsse der Affekte und Empfin-
dungen entwickeln und entfalten. Aber was uns unsere Beob-
achtungen lehren, geht doch darüber noch weit hinaus. Es
berechtigt uns zu dem Schlüsse, dass nicht bloss die Poesie des
— 88 —
lyrischen und epischen Dichters, dessen musikah'sche Empfindung
Klang und Rhythmus des Verses bedingen, sondern auch die Kon-
zeption und Gestaltung dramatischer Vorgänge geweckt, hervor-
gerufen und unterhalten wird von musikalischen Empfindungen
und Gemfitsaffekten. Die musikalische Stimmung leitet eine neue
Schaffensperiode des Dramatikers ein, und indem sie anhält wirkt
sie befruchtend auf die Tätigkeit der Phantasie. Wie der alte
epische Dichter und Seher nicht nur seine Gebilde leibhaftig vor
sich erblickt, sondern dabei auch musikalischen Klang hört, wie
er seine Beschreibungen von ihnen und ihren Reden in rhyth-
mischem Takt und in melodischem Tonfall empfindet, so ringt
auch die produktive Kunst des Dramatikers zunächst nach Melodie,
und sie erst bedingt das erste Aufsteigen neuer Kunstbilder. Dabei
ist es natürlich ganz gleichgültig, ob es sich um Gehörseindrücke
handelt, die von aussen durch das Ohr vermittelt werden, oder
um Gehörsillusionen die interzentral entstehen. Zur Erklärung
müssen wir annehmen, dass die Musik eine viel weitgehendere
Wirkung auf den mit starker Phantasie begabten Dichter ausübt,
als auf den phantasiearmen, musikalischen oder nicht musikalischen
Menschen. Bei dem nüchternen Geistesmenschen erregt die Musik
vor allem die Gefühlssphären, und je höher sein musikalisches
Verständnis reicht, desto stärker wird sich ihm der innere Gehalt
des Musikstückes und seine Tendenz aufdrängen. In dem musi-
kalischen und dabei phantasievollen Zuhörer werden darüber hinaus
durch die Musik noch weit entfernte Seelenzustände hervorgerufen,
Phantasiebilder, die wohl mit dem Inhalt der Musik zusammen-
hängen, an die der Komponist aber selbst nicht gedacht hat
Natürlich werden die Phantasiebilder nur dann sich weiter ent-
wickeln, feste Gestalt annehmen und zur dramatischen Konzeption
führen können, wenn sie an Erinnerungsbilder anknüpfen resp.
solche wachrufen, die im Unterbewusstsein schlummern und auf
Erlebnisse, Erfahrungen, Beobachtungen, Taten etc. etc. zurück-
zuführen sind. Ebenso wie der Dichter den unwillkürlichen
passiven Ablauf der Vorstellungen (Phantasie) als unbewussten
Vorgang empfindet und schildert, so können auch die Erinne-
rungsbilder seinem Gedächtnis und Bewusstsein so völlig ent-
- 39 —
schwunden sein, dass sie gleichsam aus dem Nichts entstanden
scheinen, und dass er zu der Ansicht kommt, die Musik sei die
produktivste Kunst, oder sie sei die Wurzel aller anderen Künste.
Die Vorstellung, dass unter dem Einflüsse von Gehörsein-
drficken Bilder der Phantasie, Ideen, Vorstellungen und schliesslich
eine dramatische Konzeption zu stände kommt, wirkt auf unser
verstandesgemässes Denken sehr eigenartig und befremdend.
Psychologisch verständlich ist für uns ja nur das, was wir
innerlich nacherleben können. Fremde seelische Vorgänge können
wir nur soweit verstehen, als sie eine Analogisierung mit unserem
eigenen Innern zulassen. Dem Taubgeborenen wird immer der
Ton und die Stimme, dem Blindgeborenen das Licht und die
Farbe etwas Fremdes und Unverstandenes bleiben. Die einzige,
psychologische Methode, die wir üben, ist die, dass wir alle
Äusserungen fremden Seelenlebens auf unser eigenes Innere be-
ziehen, in der stillen Voraussetzung, dass die Seele unseres Neben-
menschen im wesentlichen die gleiche ist, wie unsere eigene.
Wenn auch die Elemente, die den geschilderten seelischen Vorgang
bedingen (Gehörseindruck — ^Ausdrucksillusion) bei allen Menschen
vorhanden sind, so ist der Vorgang an sich, selbst für den Musiker
und Komponisten, wie ich mich überzeugte, ganz unfasslich. Wir
begreifen es, wenn irgend ein sinnlicher Vorgang einen musika-
lischen Gedanken auslöst, aber für das umgekehrte Verhältnis fehlt
uns das Verständnis. Wir wollen uns deswegen nach Analogien
und anderweitigen, ausser uns gelegenen Beweisen umsehen.
In einer „die Musik als Eindruck" betitelten Abhandlung^)
hat der Musikschriftsteller Dr. F. Rosenthal Betrachtungen an-
gestellt über die psychische Wirkung der Musik; seine Ergebnisse
decken sich ungefähr mit dem, was wir in der Schaffensperiode des
Dramatikers beobachtet haben. Seine Ausführungen, soweit sie für
uns von Interesse sind, geben wir in den wesentlichen Zügen wieder.
Wir müssen uns nach Rosenthal vorstellen, dass es abseits
von unserem sonstigen psychischen Leben ein besonderes Reich
eigenartiger Bewusstseinsvorgänge gibt, die durch Musik irgend-
') Zeitschrift der internationalen Musikgesellschaft Jahrg. 11, Heft 7,
April 1901.
- 40 —
welcher Art in uns direkt hervorgerufen werden, und die sich am
besten als musikalische Eindrücke bezeichnen lassen. Dem ob-
jektiven, ausser uns gelegenen Reiche der Töne entspricht die innere
Musik unseres Seelenlebens; die hier sich abspielenden musi-
kalischen Gemütsbewegungen unterscheiden sich ganz wesentlich
von unseren sonstigen nicht musikalischen Gemütsbewegungen
oder Gefühlen. Zwischen den musikalischen und aussermusi-
kalischen Gemütsbewegungen bestehen auf Grund dynamischer
Ähnlichkeiten vielfache und enge Beziehungen. Auch die ein-
fachsten musikalischen Eindrücke sind mehr als blosse Gemüts-
wahrnehmung, sie sind nicht allen Menschen zugänglich und
setzen mehr voraus als einen wohlkonstruierten Gehörapparat.
Unmusikalische Personen werden Musikausdrücke als solche
überhaupt nicht erfassen; ihre Aufmerksamkeit und ihr Gedächtnis
ist bei der Aufnahme der Musik allein in Anspruch genommen
durch assoziierte Vorstellungen, Gedanken, Anschauungen und
vor allem durch Gefühle. Je höher die musikalische Entwicklungs-
stufe des Hörers, umsomehr wird sich das rein Musikalische
selbst in inneren Vorgängen des Hörers geltend machen. Dem
musikalisch empfindlichen Hörer muss sich der innere Gehalt
der Musik, die Tendenz des Musikstückes, ob mit ob ohne be-
gleitenden Text, sofern die Tendenz wirklich durch Erfindung und
Durchführung zum prägnantem Ausdruck kommt, mit voller
Gewalt aufdrängen; er wird den unmittelbaren Eindrucksgehalt
der Musik rein und unverändert aufnehmen und auffassen. Neben
dieser Wirkung der Musik auf den unmusikalischen und den
musikalischen Hörer kann es zu weitergehenden Einflüssen kommen
bei Hörern, die mit der musikalischen Aufnahmefähigkeit eine
stark ausgebildete Phantasie verbinden. Bei phantasierenden
Personen rufen die musikalischen Eindrücke mit
zwingender Gewalt weit entfernte Seelenzustände hervor,
Phantasiebilder, an die der Komponist selbst nie ge-
dacht hat, die aber immer doch nur aus den durch die
Musik wirklich gegebenen und vom Hörer wirklich emp-
fangenen Eindrücken hervorgehen. Solche vom Kompo-
nisten nicht direkt beabsichtigte psychische Wirkungen bezeichnet
— 41 —
Rosenthal sehr treffend als Ausdrucks-Illusionen. Es sind Phantasie-
bilder, die in folgerechter Verknüpfung sich über den unmittelbaren
Eindrucksgehalt der Musik hinaus entwickeln, und die als solche
nichts zu tun haben mit dem, was wir Gehörshalluzinationen
nennen, was, wenigstens bei stärkerer Ausbildung, bereits in das
Gebiet des Pathologischen gehört
Wir ersehen aus den Ausfuhrungen Rosenthals, dass hier
der Musikästhetiker auf Grund theoretischer Betrachtungen zu
Schlüssen gekommen ist, die sich völlig decken mit dem, was
wir bei der psychischen Analyse der hervorragendsten Dramatiker
erfahren haben. Aber über die kunstästhetischen Betrachtungen
hinaus bietet uns die Kunstgeschichte und die Literatur Belege
und Analogien für die von uns behaupteten psychologischen
Vorgänge.
Richard Wagner, der Schöpfer des Musikdramas, ist das
einzigartige Beispiel eines Komponisten, bei dem die Gehirnzentren
für das poetische und musikalische Schaffen so eng miteinander
durch Assoziations-Fasem verknüpft sind, dass beide gemeinsam
das höchste Kunstwerk der Welt schenkten, wogegen eines ohne
das andere nur eine mangelhafte Produktivität an den Tag legte.
Die Schriften Wagners verraten einen schwulstigen, oft unver-
standlichen Stil, strotzen von Wiederholungen und scheinbaren
Widersprüchen und scheinen an vielen Stellen, das was der Schrift-
steller eigentlich mitteilen wollte, durchaus nicht zum Ausdruck
zu bringen. Wagner selbst war sich dieses Unvermögens voll-
ständig bewusst. Ebenso versagt die Schaffensfähigkeit dieses
Riesen an musikalischer Kraft, wenn es sich um absolute Musik
handelt, und selbst der „Kaisermarsch", dem immerhin noch ein
gewisses Programm zugrunde liegt, hält nicht entfernt den Ver-
gleich aus mit der Musik seiner Bühnenwerke. Wagners Musik
bedurfte zu ihrer Enfaltung der Poesie, des dramatischen Vorganges;
die dichterische Phantasie rief bei ihm den musikalischen Gedanken
hervor. Da aber physologisch die Leitungsbahnen des Zentral-
nervensystems nach beiden Richtungen von einem Zentrum zum
andern den Erregungsprozess leiten können, so können wir in
Wagners Leistungen den Beweis sehen auch für den umgekehrten
- 42 -
psychologischen Vorgang, den wir bei den Hauptvertretern der
dramatischen Kunst konstatiert haben.
Gestattet Richard Wagners Konipositionsvermögen nur einen
Analogieschluss auf den psychologischen Vorgang, mit dem wir
es zu tun haben, so liefern uns die Bekenntnisse eines anderen
Dichters den direkten Beweis dafür, dass die Musik in der Phantasie
plastische, dramatische Gesichte hervorrufen kann. Heinrich Heines
Beziehung zur Musik haben wir bereits kurz berührt und auch
en^ähnt, dass er während der Arbeit an seinem Ratcliff ständig
Gehörsillusionen hatte. In den „Florentinische Nächte" erzählt
er von sich selbst gelegentiich einer Unterhaltung mit Maria über
Paganini und sein Violinspiel:
„Was mich betrifft, so kennen Sie ja mein musikalisches
zweites Gesicht, meine Begabnis, bei jedem Tone, den ich
erklingen höre, auch die adaequate Klangfigur zu sehen, und so
kam es, dass mir Paganini mit jedem Striche seines Bogens
auch sichtbare Gestalten und Situationen vor die Augen brachte,
dass er mir in tönender Bilderschrift allerlei grelle Geschichten
erzählte, dass er vor mir gleichsam ein farbiges Schattenspiel
hingaukeln liess, worin er selber immer mit seinem Violinspiel
als die Hauptperson agierte."
Und nun beschreibt Heine in eingehender Schilderung die
Bilder, die während Paganinis Spiel vor seinen Augen aufstiegen,
schildert die Szenerie in minutiöser Ausführung, dazu agierende
Personen in einem dramatisch bewegten Vorgange. Wir haben hier
gewissermassen den experimentellen Nachweis für die dem Ver-
standesmenschen schwer begreifliche Wirkung der Musik auf die
dichterische Phantasie.
Die physiologische Erklärung der geschilderten psychischen
Vorgänge gestaltet sich nach dem heutigen Stande der Gehirn-
physiologie in der folgenden Weise: Alle Eindrücke, welche wir
von der Aussenwelt und von uns selbst haben, werden uns durch
die Sinnesnerven zugeführt. Die Reizung eines Sinnesnerven hat
eine Sinnesempfindung zur Folge, welche in dem zentralen Ende
der peripherischen Sinnesnerven, dem Gehirn, vor sich geht.
Von hier aus setzt sich der Reiz fort bis zur Gehirnrinde, in
- 43 —
welcher das Ende der Sinnesbahn oder das sensorische Sinnes-
zentrum gelegen ist, und wo die Sinnesempfindung durch die Ver-
schmelzung mit Residuen früherer Eindrücke zur Wahrnehmung
wird. Die Bewegungserscheinungen der Aussenwelt einschliesslich
derjenigen des eigenen Körpers erfahren eine erste Transformierung
in chemische Prozesse innerhalb der Nervensubstanz mit ihrem
Eintritt in die letztere, weitere nach ihrem psychischen Werte uns
bisher unbekannte Transformierungen gehen in den unterhalb des
Grosshirns liegenden Zusammenfassungen der grauen Hirnsubstanz
vor sich, und erst die aus so vielfachen Veränderungen hervor-
gegangenen Produkte der niederen psychischen Tätigkeit werden
auf die Gehirnrinde projiziert und zwar, soweit sie durch
Schallwellen vermittelt werden, auf den grösseren Teil des Schläfen-
lappens, um dort als Vorstellungen zum Bewusstsein zu kommen.
Jede bewusste Vorstellung gibt den Grund ab zu Lust- oder
Unlustempfindungen, die, je nachdem sie sich mehr oder minder
stark über den Indifferenzpunkt erheben, mehr oder minder deut-
h'ch in das Bewusstsein als Gefühle oder affektive Gemütsbewe-
gungen eintreten. Aber schon bei der Transformation in den
niederen Zentren werden Lust- und Unlustempfindungen ausgelöst»
die zwar bei gesteigerter Intensität mit den sinnlichen Empfin-
dungen verknüpft in das Bewusstsein treten, aber bei geringerer
Intensität auch unter dessen Schwelle veriaufen können. Ihre
Existenz wird auch in letzterem Falle durch den Einfluss bewiesen,
den einfache, inhaltlose, wiederholte rhythmische Gesichts- oder
Gehörseindrücke auf die Atmung, das Herz und die Blutgefässe
ausüben.
Unsere Beobachtungen haben uns gezeigt, dass Gehörsein-
drücke bei disponierten Personen besonders starke Gemüts-
bewegungen und Gefühle hervorzurufen imstande sind, und dass
die Erregung der subkortikalen und vor allem auch des Rinden-
zentrums sich mit besonderer Intensität auf assoziativen Bahnen
dem übrigen Rindengrau, dem Sitze der Phantasie mitteilt, von
wo aus es dann auch weiter zur Erregung anderer Sinneszentren,
zu Gesichtsillusionen, Farbenempfindungen etc. kommen kann.
Jedenfalls handelt es sich bei dem geistigen Vorgange, welcher zu
- 44 -
dramatischer Produktion führt, um einen sehr komplizierten, mit
gewisser Gesetzmässigkeit verlaufenden Erregungszustand ver-
schiedener unterer und höherer Gehirnzentren und nicht, wie man
neuerdings im Sinne der alten Galischen Schädellehre wieder
anzunehmen geneigt ist, um Hirnprozesse, die in ganz bestimmten
und eng begrenzten Rindenpartien lokalisiert sind.
Druck von M. Malier k Sohn, München V.
ORENZFRAOEN DER LITERATUR UND MEDIZIN
in Einzeldarstellungen
Jierausgegeben von Dr. S. RAHMER, Berlin.
2. Heft.
Die Grundlagen
des Gedächtnisses, der Vererbung
und der Instinkte.
Von
Dr. med. Moritz Alsbcrg.
MÜNCHEN 1906
ERNST REINHARDT, Verlagsbuchhandlung
Vorwort.
Die geheimnisvollen Vorgänge bei der Vererbung typischer
Eigenschaften, bei der Entstehung eigenartiger Talente und Fertig-
keiten, bei dem Auftreten angeborener Instinkte, sind heute nicht
ausschliesslich mehr ein Objekt der ins Bodenlose und Unergründliche
sich vertiefenden reinen Metaphysik und des Spiritistentums, sondern
die exakte naturwissenschaftliche Beobachtung und Forschung ist
allen den Problemen nachgegangen, die mit dem Gedächtnis, dem
Erinnern, den Fähigkeiten und Eigenschaften — kurz dem „Denken
der Materie** zusammenhängen. Es sind hier besonders die Er-
fahrungen bei der Tier- und Pflanzenzucht, auf die sich die biologische
Forschung stützt. Der Gärtner bringt, der Naturzusammenstellung
folgend, in der Geschlechtergruppierung die Wunderkinder unter
den Pflanzen nach Belieben hervor, in einer Weise, dass auch uns
dadurch manches aus der Naturbildung des Menschengeistes näher
gerückt werden kann, was wir bisher mit Schlagworten und nichts-
sagenden Phrasen, wie Instinkt, Wundergabe etc. abfertigen mussten.
Auf einem anderen Wege hat die pathologische Anatomie neue
Einblicke in die geheimnisvollen Vorgänge innerhalb der tierischen
Zelle gewonnen, Vorgänge, die sich nicht bloss auf einzelne
Generationen, sondern auf ganze Generationsreihen einer Keimsorte
beziehen, indem sie mikroskopisch feine Schnitte von eben dem
Lebenden entnommenen Geschwulstteilen studierte, die noch
lebenswarm im Weiterwachsen begriffen waren und deshalb Kern-
teilungen, Zellteilungen, also den Entstehungsvorgang bei den ersten
Anfängen tierischer Gebilde deutlich erkennen Hessen.
Es kann uns nicht darauf ankommen, auf die einzelnen
Versuchsergebnisse Hansemanns, die mit den an einem reichen
zoologischen Material gewonnenen Beobachtungen WeismannS
übereinstimmen, hier einzugehen; wir wollten nur auf die Bedeutung
aller dieser biologischen Forschungen auch für die literar-ästhetische
Betrachtung hinweisen, für welche die Begriffe: Vererbung, Instinkt,
Talent, geniale Veranlagung, von grösster Bedeutung sind. Deshalb
haben wir auch die folgende Abhandlung, welche die moderne
naturwissenschaftliche Auffassung über die Grundlagen des Ge-
dächtnisses, der Vererbung, Veranlagung und der Instinkte wieder-
gibt, in unsere Sammlung aufgenommen.
Der Herausgeben
Während George Brown In der Oper: „Die weisse Dame"
das Schloss seiner Väter, das er als Kind verlassen hat, von
neuem durchwandert, steigen beim Anblicke der wohlbekannten
Räume auch die Klänge der Lieder, die ihm einst an der
Wiege gesungen wurden, in seinem Geiste wieder empor.
Ähnlicher Vorkommnisse, wobei eine Sinnesempfindung eine
zweite, von der ersten wesentlich verschiedene auslöst, werden
sich manche unserer Leser aus dem eigenen Leben erinnern. So
berichtet z. B. ein deutscher Naturforscher darüber, dass, als er
vor Jahren, an einem Tage, an dem ihm gerade ungewohnter
Stiefeldruck Fussschmerzen bereitete, unweit Neapel am Meeres-
strande stehend, seine Blicke auf das gegenüberliegende Capri
gerichtet hielt, gleichzeitig aus einer benachbarten italienischen
Schenke der Duft ranzigen siedenden Öles in seine Nase stieg.
Dieses Vorkommnis bietet eine Erklärung dafür, dass bei der
betreffenden Person der Ölgeruch neben der Erinnerung an die Fuss-
schmerzen regelmässig das Bild der lieblichen italienischen Insel im
Geiste erstehen lässt, dass diese Sinneseindrücke in der Erinnerung
des Betreffenden als assoziierte Begriffe aufs engste miteinander
verbunden sind. — Auch ist es ja bekannt, dass es Personen
gibt, bei denen bestimmte Töne zu Farbenempfindungen in naher
Beziehung stehen, bei denen die Klänge von gewissen musikali-
schen Instrumenten bestimmten Farben entsprechen, so dass
z. B. die Töne eines Violoncellos die indigoblaue Farbe, diejenigen
der Klarinette die gelbe Farbe, die Klänge der Trompete, Flöte
und Oboe verschiedene Nuancen der roten Farbe im Gesichts-
felde hervortreten lassen.
Wie sind diese Erscheinungen zu erklären? Sind wir im-
stande, uns einen Begriff davon zu machen, in welcher Weise die
Sinnesempfindungen und Bewusstseinszustände der Vergangenheit
- 4 -
in unserem Seelenorgan registriert werden, um dann später bei
der Wiederholung des betreffenden geistigen Vorgangs verwertet
zu werden, und so als Grundlage für die Ansammlung von Erfahrung
sowie als Richtschnur unseres Verhaltens zu dienen ? Die Unter-
suchungen über diese Fragen sind keineswegs neu; vielmehr hat
schon vor einer Reihe von Jahren der Physiologe Ewald Hering
in seinem Vortrage: „Über das Gedächtnis als allgemeine Funktion
der organischen Materie** darauf hingewiesen, dass offenbar eine
Übereinstimmung besteht zwischen dem Reproduktionsvermögen
der Vererbung, demjenigen der Gewohnheit und Übung und
jenen Erscheinungen, die wir als „Gedächtnis** bezeichnen. Aber
erst neuerdings hat Semon^ es unternommen, an der Hand des
grossartigen Materials der Morphologie, der Biologie und der
Psychologie den Nachweis zu liefern, dass es sich in diesen Fällen
um mehr als eine oberflächliche Ähnlichkeit, dass es sich viel-
mehr um eine vollständige Identität des Geschehens handelt,
dass die Reize, indem sie auf unser Nervensystem ein-
wirken, in demselben gewisse Eindrücke aufspeichern
und dass diese Einprägungen beim Wiederauftreten des
nämlichen oder eines analogen Reizes zu bestimmten
Hirntätigkeiten bezw. Bewusstseinszuständen verar-
„Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen
Geschehens" von Prof. Dr. Richard Semon. Leipzig. 1904. — Die
durch neue Reize bewirkte Reproduktion der mnemischen Einprägungen
wird von Semon als das „Ekphorieren der Engramme" bezeichnet. Die
Stärke der Einprägungen hängt ab: 1. von der Stärke der energetischen
Einwirkung, 2. von ihrer Dauer, 3. von ihrer Kontinuität oder Dis-
kontinuität (andauernde oder unterbrochene Einwirkung). Die Einprä-
gungen brauchen nicht an und für sich kausal verbunden zu sein, um
miteinander verknüpft (assoziiert) zu werden. Zu ihrer Verknüpfung
genügt es in den meisten Fällen, dass die Reize zeitlich zusammen-
fallen, dass in dem obenerwähnten Vorkommnis der Anblick der Insel
Capri mit den Fussschmerzen und dem ölgeruch koinzidierte. — Cha-
rakteristisch für die mnemischen Einprägungen ist: 1. das ihnen folgende
Latenzstadium (Stadium, wo die Einprägung in untätigem Zustand verharrt) ;
2. die durch Wiederholung des Reizes bezw. Einwirkung eines analogen
Reizes bewirkte Wiederkehr des Erregungszustandes; 3. die Auslösung der
Reizwirkung durch letztere; 4. die Möglichkeit, die alten Einprägungen
durch neue Erregungen bezw. Reizwirkungen umzugestalten.
- 6 -
beitet werden.** — Für diese Einprägungen hat Semon die
Bezeichnung: „Engramme'' in die Wissenschaft eingeführt, und
die Gesamtheit jener Einprägungen (bezw. Engramme) ist es, die
nach seiner Anschauung das in der gesamten organischen Welt
verbreitete „mnemische Prinzip** (abgeleitet vom griechischen
fufAyti^MOfuu d. h. ich erinnere mich) darstellt. — Obwohl sämt-
liche organische Wesen für mnemische Vorgänge sich empfäng-
lich erweisen, sind es ausschliesslich die höheren Tiere, bei denen
ein besonderer Organkomplex, nämlich das Nervensystem, als
Empfangsstation und Registrierungsapparat solcher Eindrücke
funktioniert Andererseits zwingt die bekannte Erscheinung der
Regeneration von Körperteilen und Organen zu der Annahme,
dass bei niederen Tieren, Protisten und Pflanzen jene Einprägungen
die gesamte organische Substanz (Protoplasma) in Mitleidenschaft
ziehen, dass die Wirkung jener Einprägungen bis in die ein-
fachsten Elemente des Tier- und Pflanzenkörpers, nämlich bis in
die Zellen sich erstreckt.
Doch davon später. Suchen wir zunächst einen Begriff
davon zu geben, in welcher Weise das „mnemische Prinzip**
in der Organismenwelt sich betätigt Wir sehen hierbei vom
Menschen und seinem hochentwickelten Seelenorgan einstweilen
ganz ab und suchen nur festzustellen, in welcher Weise die
Einprägungen der Mneme bezw. die aus letzteren sich er-
gebenden Erfahrungen bei verschiedenen Tieren sich äussern.
Als Beispiel diene uns die nachfolgende, fast täglich anzustellende
Beobachtung. Ein ganz junger Hund kommt auf mich zu; ich
bücke mich, hebe einen Stein auf; er sieht mir ruhig zu und
gibt keinerlei Zeichen von Furchtsamkeit zu erkennen. Einige
Tage oder Wochen vergehen, und derselbe Hund begegnet mir
wieder. Sobald ich aber nun die schon zuvor gemachte Bewegung
nach dem Erdboden hin wiederhole, wird der Hund sofort den
Schwanz zwischen die Beine klemmen und heulend entfliehen.
Auch fällt es nicht allzuschwer, den Grund für das veränderte
Verhalten des Köters festzustellen. Der Hund ist seit der Zeit,
wo ich zuerst mit ihm zusammentraf, von Knaben mit Steinen
beworfen worden, und diesem Umstand ist es zuzuschreiben, dass
- 6 -
das Tier, bei dem nunmehr die Handlung des Steinaufhebens
bezw. Steinwerfens mit dem Begriffe einer Schmerzempfindung ver-
knüpft ist, auch wohlwollenden Menschen nicht mehr traut. Oder
wählen wir ein anderes Beispiel: Hier ist ein Huhnchen, das erst
kürzlich in der Brutmaschine aus der Schale gekrochen und bei
seiner Nahrungssuche ohne elterliche Anleitung ist. Das Hühnchen
pickt zunächt nach allem möglichen, nach einem Papierschnitzei
so gut wie nach einem Getreidekorn. Nach kurzer Zeit hört dies
aber auf; in den Erinnerungen des Tierchens haben sich feste
Verknüpfungen ausgebildet. Mit dem Sehbilde des Getreidekorns
hat sich die Erinnerung „schmackhaft**, mit demjenigen des
Papierstückchens die Erinnerung „ungeniessbar** verknüpft, und
durch diese Erfahrung wird das Verhalten des Hühnchens natürlich
bestimmt. Bis zu welch hohem Grade die Einprägungen von
längst entschwundenen Generationen das ganze Verhalten der
Lebewesen beeinflussen, hierfür liefert eine Beobachtung, die man
bei einer fünf Wochen alten, in der Gefangenschaft aufgezogenen
Elster gemacht hat, einen interessanten Belag. Als man diesem
Vogel zum erstenmale eine Schüssel mit Wasser in den Käfig
setzte, pickte er mit dem Schnabel zunächst auf die Ober-
fläche des Wassers. Dann aber war es, als ob die Wasserberührung
eine ganze Erinnerungskette auslöse; die Elster begann ausserhalb
der Schüssel, und ohne das Wasser sonst zu berühren, genau jene
Bewegungen zu machen, die ein Vogel beim Baden macht. Dass
die mnemischen Vorgänge in einer ganz bestimmten Reihenfolge
sich abspielen — einer Reihenfolge, die genau der Art und Weise
entspricht, wie frühere Erlebnisse aufeinander gefolgt sind —
beweist die folgende Beobachtung P. Hubers. Eine Raupe
wurde beim Bau ihres Puppengespinnstes verfolgt; sie schuf
den Kokon, indem sie in neun verschiedenen Richtungen ihre
Fäden zog, wobei die betreffenden Prozeduren regelmässig in
einer ganz bestimmten Reihenfolge sich ablösten. Der Be-
obachter nahm nun die Raupe, die ihr Gewebe bis zur sechsten
Stufe vollendet hatte und setzte sie in ein fremdes Gewebe, das
erst bis zur dritten Stufe fertig war. Alsbald ging sie an die
Arbeit und vollendete auch dieses neue Gewebe zunächst in der
- 7 -
vierten, dann in der fünften Stufe usw. Ganz anders war aber
das Ergebnis, wenn man eine solche Raupe aus ihrem Gespinnst
löste, als sie eben erst bei der dritten Stufe angelangt war, und
sie in einen Kokon setzte, der bereits bis zur sechsten Stufe
vollendet war. Die Raupe spann diesmal nicht die siebente Stufe
hier aus; sie ging vielmehr, als ob gar keine Veränderung vor-
gefallen wäre, in ihrem Tempo weiter und spann auch hier erst
die vierte, fünfte und sechste Stufe noch einmal, so dass für diese
Stufen das Gewebe nun doppelt wurde, und erst nach Erledigung
dieser Arbeit wurden der siebente, achte und neunte Gewebe-
abschnitt von ihr vollendet. Das Verhalten der Raupe ähnelte
hierbei in bemerkenswerter Weise dem eines Schulknaben,
welchem die Aufgabe gestellt wird, ein auswendig gelerntes Gedicht
herzusagen. Es geht glatt in der Reihenfolge von vorn bis hinten,
wo immer eine Erregung auf assoziativem Wege die folgende
auslöst. Wird aber dem Schüler die Aufgabe gestellt, mitten in
dem Gedicht ein Stück zu überschlagen und ein paar Verse später
in der Rezitation fortzufahren, so hapert es zumeist; der Knabe
wird in der Regel erst die Zwischenverse zur Aufrechterhaltung
der Gedankenverbindung sich leise vorsagen müssen, um die
Anschlussstelle auszulösen. Es besteht also eine bemerkenswerte
Übereinstimmung zwischen dem Verhalten der spinnenden Raupe
und den geistigen Vorgängen, welche die Voraussetzung der
besagten Rezitation bilden — eine Übereinstimmung, die zu dem
Schlüsse berechtigt, dass diesen beiden durchaus verschiedenen
Vorgängen analoge Ursachen zugrunde liegen.
Dass die im Organismus schlummernden Erinnerungsein-
prägungen bezw. Registrierungen von Vorgängen dem Verlaufe
der Lebensprozesse sich anschmiegen und bis zu gewissem Grade
durch ein entsprechendes Verhalten modifiziert werden können,
lässt sich unschwer nachweisen. Wenn ich mich am Morgen zu
einer bestimmten Stunde wecken lasse, so wird dieser Vorgang,
einige Zeit fortgesetzt, zur Folge haben, dass ich später um
die betreffende Zeit von selbst aus dem Schlafe erwache. Mein
Organismus hat sich in seinem Verhalten einem bestimmten
Wechsel von schlafendem und wachendem Zustand angepasst, und
- 8 -
das Erwachen erfolgt nun ohne fremdes Zutun, ledigh'ch bedingt
durch den geheimnisvollen mnemischen Einfluss, genau ent-
sprechend der Tätigkeit der Weckeruhr, die, sobald das Uhrwerk
bis zu einem bestimmten Punkte abgelaufen ist, ihren schrillen
Weckruf ertönen lässt. Oder wählen wir ein anderes Beispiel.
Wenn ich gewöhnt bin, zwischen dem Morgenkaffee und dem
Mittagessen keine Nahrung zu mir zu nehmen, so werde ich in
dem Intervall zwischen diesen beiden Mahlzeiten die Nahrung nicht
vermissen. Habe ich mich aber einmal daran gewöhnt, in der
Zwischenzeit ein zweites Frühstuck zu mir zu nehmen, und
bin ich dann einmal zufällig am Einnehmen dieser Zwischen-
mahlzeit verhindert, so wird zu der betreffenden Stunde das
Hungergefühl sich einstellen. Mit anderen Worten: Die meinem
Körper als Erinnerungsvorgang angepasste Gewohnheit hat ihm
ein bestimmtes Bedürfnis eingeprägt, und die Stoffwechselvorgänge
sind nun so eingerichtet, dass, sobald die betreffende Stunde
wiederkehrt, jenes Bedürfnis auf mnemischem Wege in meinen
Empfindungen sich bemerkbar macht. Auch sind es gerade
die zeitlichen Einflüsse, die uns in den Stand setzen, das Vor-
handensein solcher Erinnerungseinprägungen bei niedrigen Orga-
nismen — insbesondere im Bereiche der Pflanzenwelt — nach-
zuweisen. Jedermann weiss, dass Sonnenwärme und Sonnenlicht
die Erscheinungen der Pflanzenwelt in hohem Grade beein-
flussen, dass in einem Jahre mit langem Winter Schneeglöckchen
und Krokus erst im April aus der Erde hervorsprossen, dass
dagegen bei frühzeitigem Eintreten milder Witterung die Erst-
linge des Frühlings nicht selten schon einen ganzen Monat
früher ihre Blüten entfalten. Aber nicht alle Gewächse werden
durch die klimatischen Verhältnisse in so hohem Grade beein-
flusst, wie die soeben erwähnten Frühlingsblumen. Unter den
Waldbäumen ist es vor allem die Rotbuche, die auf die Witterungs-
einflüsse in weit geringerem Grade reagiert als andere Bäume
und Sträucher, und die in einem warmen, zeitig auftretenden
Frühjahr ihre Knospen höchstens acht Tage früher entfaltet
als in Jahren mit spät einsetzender Sonnenwärme. Semon
pflanzte junge Buchen in Töpfe und brachte sie in ein Zimmer
- 9 -
mit ganz gleichmässiger Temperatur, wo sie ebensowohl von den
Herbstfrösten wie von dem Frühlingshauch unberührt bh'eben.
Trotzdem warfen sie von Ende September an ihre Blätter ab,
und traten etwa vom 1. Mai an in ihre Knospenperiode. Der
klimatische Einfiuss war hier ganz und gar ausgeschaltet, und
trotzdem drängte in den Buchen ein unbestimmtes Etwas auf
Einhalten des Termins, sowohl in ihrer Ruhe wie auch in ihrem
Erwachen. Sie hielten ihre Zeit ein, genau wie ein Mensch, der
gewohnt ist, um eine bestimmte Stunde zu erwachen. Das
Verhalten der in Töpfe verpflanzten, jahraus jahrein in gleich-
mässiger Zimmertemperatur gehaltenen Buchen ist aber um so
bemerkenswerter, als sich unter ihnen aus Samen gezogene
Keimlinge befanden, die noch gar keinen wirklichen Herbst und
Frühling erlebt hatten. Um dieses Rätsel zu lösen, bleibt kein
anderer Schluss übrig als die Annahme, dass wir auch hier das
Walten jenes mächtigen Prinzips der Mneme vor uns haben, und
dass solche Einprägungen, wie wir sie im vorhergehenden bei
Tieren kennen gelernt haben — Einprägungen, die durch unge-
zählte Jahrtausende von Generation zu Generation übertragen
werden — auf das Verhalten jener Gewächse bestimmend einwirken.
In hohem Grade bemerkenswert und von grosser Bedeutung
für die Beantwortung der uns beschäftigenden Fragen sind ferner
auch jene Versuche, wie sie neuerdings von Botanikern angestellt
wurden, um bezüglich der Grundbedingungen für die Entwicklung
verschiedener Getreidearten Aufschlüsse zu erlangen. Von dem
bekannten Sommerweizen (Triticum vulgare aristatum), der im
nördlichen und mittleren Deutschland zu seiner Entwicklung —
von dem Aussäen bis zur Ernte gerechnet — rund hundert Tage
gebraucht, brachte Schübeier im mittleren Deutschland produziertes
Saatgut nach Christiania und säete dasselbe dort aus. Da der
Unterschied von zehn Breitengraden bezw. die längere Dauer der
Sommertage in Norwegen eine stärkere Sonnenbestrahlung und
Erwärmung des Erdbodens bedingt, so musste man von vorn-
herein erwarten, dass die Entwicklungsdauer des deutschen
Weizens in dem nordischen Lande abgekürzt werden würde. Dies
war aber zunächst nicht der Fall; vielmehr nahm im ersten Jahre
- 10-
der Aussaat die Entwicklung des betreffenden Getreides noch un-
gefähr dieselbe Zeit in Anspruch, wie sie für deutsche Verhältnisse
als Regel gilt. Erst nachdem man die betreffenden Versuche durch
eine Anzahl von Generationen fortgesetzt hatte, wobei der aus
dem deutschen Saatgut gezogene Samen zur neuen Aussaat, das
Produkt dieser Aussaat dann wieder zum Aussäen benutzt wurde:
erst nachdem man diese Prozedur eine Zeitlang fortgesetzt hatte,
machte sich eine Verkürzung der Entwicklungsdauer bemerklich,
die allmählich bis auf 75 Tage — also auf drei Viertel der Zeit,
wie sie der in Deutschland gezogene Sommerweizen für seine
Entwicklung in Anspruch nimmt — zurückging. Auch deutete
der gesamte Verlauf jener Erscheinungen auf eine Art Kampf
zwischen dem alten, dem Getreide auf mnemischem Wege über-
mittelten Entwicklungstempo und jener kürzeren Entwicklungsdauer,
wie sie durch die länger andauernde Sonnenbestrahlung des nor-
dischen Sommers herbeigeführt wurde. Dabei verdient der Um-
stand hier noch eine besondere Erwähnung, dass das aus ur-
sprünglich deutschem Getreide nach einer Reihe von Aussaaten
schliesslich hervorgegangene Saatgut mit abgekürzter Entwicklungs-
dauer, als man dasselbe nach Deutschland brachte und dort aus-
säete, den Entwicklungszyklus in achtzig Tagen vollendete, demnach
die im nordischen Klima neuerworbene Einprägung im wesent-
lichen beibehielt und auf diese Weise wiederum die Gültigkeit
des mnemischen Prinzips — also eine Neuerfahrung, die
selbst jetzt wieder mnemisch wirkte und durch Ver-
erbung weiter übertragen wurde — zu erkennen gab. Auch
stehen die im vorhergehenden erwähnten Beispiele von mnemischen
Einprägungen bei Pflanzen — also Lebewesen ohne Nerven-
system — keineswegs vereinzelt da. Durch an Akazien und
Mimosen angestellte sinnreiche Versuche hat Semon neuerdings
noch den Nachweis geführt, dass der Rhythmus der Tages-
bewegung der Blätter bei diesen Gewächsen auf Vererbung beruht
und nicht einfach ein Lichtreflex ist, während es andererseits
Fr. Darwin und D. Pertz gelungen ist, durch abwechselnde
Beleuchtung und Verdunkelung bei geeigneten Pflanzen gewisse
Einprägungen, die sich durch in bestimmten Perioden verlaufende
-11-
Bewegungen der Blätter zu erkennen geben, kunstlich hervorzu-
rufen. — Bei Pilzen, die einem bestimmten Wechsel von grellem
elektrischen Bogenlicht und tiefstem Dunkel ausgesetzt wurden,
hat Ollmanns Erscheinungen von positivem und negativem
Heliotropismus (Wachsen der Fruchtkörper in der Richtung nach
der Lichtquelle hin, bezw. in entgegengesetzter Richtung) hervor-
gerufen — eine Reaktion, die in ganz bestimmten Perioden ver-
lief und .auch nach dem Aufhören der Lichteinwirkung bezw.
Verdunkelung noch fortgesetzt wurde.
Wie kommen aber jene mnemischen Einprägungen zustande,
und welchen Gesetzen sind sie unterworfen? — Zur Beant-
wortung dieser Fragen ist es unerlässlich, auf das Wesen der
Erinnerungseinprägungen hier näher einzugehen. Für das Zu-
standekommen der mnemischen Einprägung (Engramm) ist das
Vorhandensein eines Reizes uneriässlich. Diesen Reiz haben wir
nach Semon aufzufassen als eine energetische Einwirkung
auf den Organismus von solcher Beschaffenheit, dass
sie Reihen komplizierter Veränderungen in der reizbaren
Substanz der organischen Wesen hervorruft Über die
Natur jener Veränderungen ist die Forschung gegenwärtig noch
nicht völlig im klaren. Wenn wir aber entsprechend der jetzt vor-
herrschenden biologischen Anschauung sowie im Hinblick auf
den Umstand, dass die Erscheinungen des organischen Lebens
— so vor allem die Ernährungs- und Wachstumsprozesse, die
Tätigkeit der Muskeln usw. — mit Bewegungsvorgängen aufs
engste verbunden sind, wenn wir im Hinblick auf diesen Um-
stand Molekularbewegungen bezw. Umlagerungen der kleinsten
Bestandteile (Molekeln) als Grundlage der durch Reize hervorge-
rufenen Veränderungen betrachten, so hat die Auffassung wohl
eine gewisse Berechtigung, dass jenen Einprägungen molekulare
Bewegungen bezw. Umlagerungen der Molekeln zugrunde liegen.
Wir werden dann ferner annehmen müssen, dass jener Zustand
der Umlagerung der Molekeln nicht wieder sofort verschwindet,
sondern nach dem Aufhören der Reizwirkung dem Organismus
für kürzere oder längere Zeit erhalten bleibt, und dass jene Um-
lagerung dahin wirkt, dass beim Wiederholen des nämlichen Reizes
^ 1^ -
oder beim Auftreten eines analogen Reizes, die molekularen Vor-
gänge in einer jener Umlagerung entsprechenden Weise sich ab-
spielen. — Wenn diese Erklärung der mnemischen Erscheinungen
einstweilen auch nur als eine Hypothese zu betrachten ist, so
durfte doch der Umstand, dass wir in der anorganischen Natur
einen Vorgang kennen, der in analoger Weise zu erklären ist,
urtserer Auffassung einen gewissen Grad von Wahrscheinlichkeit
verleihen. Es sei nur an das Magnetischwerden d^s Eisens
erinnert, das von den Physikern jetzt wohl allgemein mit Um-
lagerung der Molekeln iu Zusammenhang gebracht wird.
Um auf die mnemischen Einprägungen zurückzukommen,
so deutet auch der subjektive Vorgang des Wiedererkennens
darauf hin, dass es sich hier in Wirklichkeit um Vorgänge handelt,
die in der Zellsubstanz (Protoplasma) der Organismen ihre Ein-
wirkung hinterlassen haben. Auf der häufigen Wiederholung
solcher Einprägungen und der entsprechenden Gangbarmachung
bestimmter Nervenbahnen, bezw. auf der durch das Zusammen-
wirken der Nerven bewirkten Koordination bestimmter Muskel-
gruppen und der Verknüpfung mehrerer Nervenzentren (Organe
für bestimmte Hirnfunktionen) zu gemeinschaftlicher Tätigkeit —
auf diesen Momenten beruht auch das bekannte Übungs- oder
Train ierungsgesetz, das bei einer grossen Anzahl von Vor-
gängen — wie z. B. beim Sprechen, bei den verschiedenartigsten
Verrichtungen der menschlichen Hand u. dergl., eine wichtige
Rolle spielt.
Um einen ungefähren Begriff davon zu erhalten, in welcher
Weise durch die Wiederholung einer und derselben mnemischen
Einprägung bestimmte Nervenbahnen für die betreffenden geistigen
Vorgänge geschaffen oder, wenn bereits vorhanden, gangbar
gemacht werden, wollen wir uns ein Ackerfeld vorstellen, auf
das von einer bestimmten Seite her zum Zwecke der Berieselung
Wasser geleitet wird. Anfangs wird das Wasser, das den
Acker überflutet, sich ziemlich gleichmässig über ihn verteilen.
Allmählich aber wird der Wasserstrom die in jedem Acker
befindlichen kleinen Vertiefungen aufsuchen bezw. sie zu
kleinen Rinnsalen umgestalten, und sobald der Bewässerungs-
^ lä -
prozes^ nur einigemale wiederholt worden ist, wird sich in dem
Acker ein vollständiges kleines Kanalsystem gebildet haben, dem
nun der Wasserstrom folgt, ohne erheblichen Hindernissen zu
begegnen. In ganz analoger Weise werden — so dürfen wir wohl
annehmen — in der Grosshimrinde (graue Hirnsubstanz), die
anfangs, wie es scheint, den ihr zugeleiteten Nervenstrom nach
allen Richtungen hin verteilt, durch Wiederholung der mnemischen
Einprägungen allmählich bestimmte Nervenbahnen sich entwickeln,
die durch Fortleitung der ihnen übermittelten Reize in einer ganz
bestimmten Richtung, sowie durch Herstellung von Verbindungen
zwischen verschiedenen Zentren geistiger Tätigkeit den Ablauf
der geistigen Vorgänge in hohem Grade erleichtern und dadurch
zugleich die seelischen Prozesse vervollkommnen.
In dem Gesagten ist bereits eine Vermutung enthalten, der
neuerdings von mehreren hervorragenden Gehimforschem Aus-
druck verliehen wurde. Es liegt, wie Edinger bemerkt, der
Gedanke nahe, dass die Assoziationsfasern — d. h. diejenigen
Faserzüge des Gehirns, welche verschiedene Hirnzentren zu ge-
meinsamer Tätigkeit verbinden — dass diese Assoziations-
fasern erst durch die Einübung zweier Hirnstellen
zu gemeinsamer Aktion entstehen, bezw. sich als deutlich
markumgebene Faserzüge aus der indifferenten Nerven-
fasermasse herausbilden, wenn sie häufiger als andere
Faserzüge in Gebrauch genommen werden. Mit der
Annahme, dass bei der Geburt die Leitungsbahnen noch nicht
sämtlich vorhanden sind, steht auch die neuerdings von Flechsig
gemachte Beobachtung im Einklang, wonach während der ersten
vier Lebensmonate — also gerade zu einer Zeit, wo beim Kinde
das geistige Leben erwacht — die Nervenstränge des Rücken-
markes sich mit Markscheiden überziehen. Was diese überaus
wichtige Tatsache anbelangt, so wollen wir für diejenigen unserer
Leser, die mit den histologischen Verhältnissen des Zentral-
nervensystems weniger vertraut sind, hier nur einschalten, dass
die Markscheide des Nerven der aus Guttapercha, Werg oder
ähnlichem Material hergestellten Umhüllung des in der Erde oder
im Wasser liegenden Telegraphendrahtes entspricht. Ebenso wie
- 14-
die Telegraphendraht-Umhüllung eine Isolierung bewirkt und den
Draht leitungsfähig macht, ist es die Markscheide, die den Nerven-
strang isoliert und auf diese Weise die Fortleitung eines Reizes
in einer ganz bestimmten Richtung ermöglicht. Sollte die von
Edinger ausgesprochene Vermutung — nur als eine Vermutung
dürfen wir beim gegenwärtigen Stande unseres Wissens jene
Annahme bezeichnen — durch die gegenwärtig in vollstem Flusse
befindliche Gehirnforschung bestätigt werden, sollte es sich wirklich
herausstellen, dass die Nervenreize bezw. Hirnfunktionen
ihre Leitungsbahnen zum Teil erst selbst herstellen,
so wäre das eine Tatsache von allergrösster Bedeutung — eine
Tatsache, die voraussichtlich andere wichtige Entdeckungen und Auf-
klärungen auf dem Gebiete der Gehirn-Anatomie und Physiologie und
dann weiter im Bereiche der Psychologie nach sich ziehen würde.
Was die Frage anlangt, ob die mnemischen Einprägungen
an bestimmte Teile des Gehirns gebunden sind, und welche Teile
unseres Seelenorgans für die örtliche Unterbringung (Lokalisation)
der Einprägungen vorzugsweise ausersehen sind, so dürfte die
Lehre gewisser Autoren, die sich die Erinnerungsbilder in einzelnen
Ganglienzellen wie in einer Anzahl von Schubfächern lokalisiert
vorstellen, den tatsächlichen Verhältnissen wohl kaum entsprechen.
Andererseits lässt sich doch manches zugunsten der Annahme vor-
bringen, dass eine relative Lokalisation der Leitungsbahnen
und Ankunftsstellen im Gehirn vorhanden ist. In der grauen
Hirnsubstanz (Hirnrinde) verbreiten sich nach Semon die dem
Gehirn durch die Sinnesorgane und Sinnesnerven zugeführten Reize
durch Ausstrahlung nach verschiedenen Richtungen (Irradiation).
Dass die durch die Lage der peripheren Nerven und der Leitungs-
bahnen gekennzeichneten Ankunftsbezirke, die der besagte Gelehrte
als „primäre Eigenbezirke*" bezeichnet, bei diesem Vorgange
beteiligt sind, ist in hohem Grade wahrscheinlich; damit soll
jedoch keineswegs gesagt sein, dass die in Rede stehende Hirn-
partie als Sitz für mnemische Erregungen des Menschen aus-
schliesslich in Betracht käme ^). Wir können vielmehr das Über-
^) Die obenerwähnte Vermutung Edingers würde mit der Auffassung
Semons, der sich das Zustandekommen der Assoziationen in der Weise
-IS-
•
greifen der Erregung aber den primären Eigenbezirk hinaus bei
allen Reflexkrämpfen, Mitbewegungen u. dergl. feststellen, während
im Bereiche der sensiblen Sphäre Ausstrahlungen der Nerven-
reize (wie z. B. Empfindung von Kitzel im Kehlkopf bei Berührung
des äusseren Gehörganges und des Trommelfells) ebenfalls nicht
zu den Seltenheiten gehören. — Zur Manifestation der Reize
(Ekphorie) ist eine gewisse Reizstärke erforderlich. Das so-
genannte „gute Gedächtnis" beruht nur zum Teil auf der Leichtig-
keit und Dauerhaftigkeit der Einprägungen. Fast ebenso wichtig
ist die durch Assoziation (Verknüpfung der durch den Reiz hervor-
gerufenen Erregung mit anderweitigen Geistesfunktionen) bewirkte
leichte Reproduktion der aus der Verschmelzung der Erinnerungs-
einprägungen mit dem Effekt neuer Reize sich ergebenden Wirkung.
Die Erregungen verschiedener Nervenfasern beim Menschen
müssen als ungleichartig aufgefasst werden ; denn für die höheren
Tierklassen haben wir eine angeborene Spezifikation der Sinnes-
eindrücke anzunehmen, die sich in der Weise äussert, dass gewisse
Nervenbahnen im Dienste der einen Sinnestätigkeit, andere wiederum
im Dienste einer anderen Sinnestätigkeit stehen. Die Aus-
bildung bestimmter Hirnteile für bestimmte Zwecke ist nirgends
in so vollkommener Weise durchgeführt wie in der Gross-
hirnrinde, die sich zu einer Art Multiplikator der Nerven-
erregung entwickelt hat und zugleich mit ihren mannigfaltigen
Assoziationszentren für das Oberbewusstsein (höhere mit voll-
kommenem Bewusstsein des Ichs verknüpfte Hirntätigkeit) den
vorzugsweisen Sitz abgibt. Hand in Hand gehend mit der fort-
schreitenden Entwicklung der Grosshirnrinde im Wirbeltierreiche
nimmt auch die Intelligenz zu, was nicht zum wenigsten darauf
beruht, dass zugleich mit jener Entwicklung die Aufnahmefähigkeit
vorstellt, dass die Wirkungen der Reize über den Eigenbezirk hinaus über
das ganze Nervensystem sich ausbreiten, nicht in unlösbarem Widerspruch
stehen. Vielmehr könnte man jene Ausstrahlung der Nervenreize nach
aUen Richtungen als den primären Vorgang, die Ausbildung bestimmter,
scharf abgegrenzter Nervenbahnen für die Assoziationen als den sekundären
Vorgang betrachten. Ob die von Flechsig in der Hirnrinde entdeckten
„myelogenetischen Felder" an der mnemischen Einprägung der Reize be-
teiligt sind, lässt sich noch nicht entscheiden.
Qrenzf ragen d. Llt u. Medizin. 2. Heft. 2
•
für Reize, bezw. für mnemische Einprägungen sowie die Fähigkeit,
letztere wiederum zur Manifestation zu bringen, bezw. durch
Verknüpfung der Einprägungen mit der Tätigkeit der höheren
Nervenzentren die geistige Befähigung auf eine höhere Stufe zu
erheben gesteigert wird. Entsprechend der Tatsache, dass beim
Menschen die mnemischen Erregungen durch besonders zahlreiche
Assoziationen unter sich verknüpft sind und zugleich in höherem
Grade als bei irgend einem anderen Lebewesen vielseitige Ver-
wertung finden — entsprechend dieser Tatsache beobachten wir,
dass beim Menschen und den höheren Tieren ein verhältnis-
mässig geringer Verlust von Hirnsubstanz den vollständigen
Verlust der mnemischen Einprägungen, bezw. die Unfähigkeit, jene
Einprägungen für die geistige Tätigkeit zu verwerten, zur Folge hat.
Dass die Wirkungen gewisser, gleichzeitig sich äussernder
Reize besonders häufig miteinander verknüpft werden — hierfür
liefern die eingangs gegebenen Beispiele, wo Gesichtseindrücke
und Gehörempfindungen zu einem Gesamteindruck sich vereinigten,
einen unzweideutigen Beweis. Die Eindrücke des Geschmack-
sinnes und Geruchsinnes sind im allgemeinen beim Menschen
nicht sehr scharf geschieden und geben daher zu solchen Misch-
empfindungen besonders häufig Anlass. — Was die zuvor erwähnten
Beobachtungen anlangt, denenzufolge bei gewissen Personen be-
stimmte Töne, bezw. die Klänge gewisser musikalischer Instrumente
neben den Tonempfindungen im Gesichtsfelde ganz bestimmte
Farbenempfindungen hervorrufen,^) so ist es zurzeit noch nicht
möglich, hierfür eine sichere Erklärung abzugeben. Indessen
ist die Vermutung nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen,
dass es sich hier um eine uralte Verknüpfung von Sinnes-
empfindungen handelt, die aus älteren Entwicklungsstadien des
Menschengeschlechts unter Vermittelung des mnemischen Prinzips
sich bis auf die Jetztzeit in der Weise erhalten hat, dass sie nur unter
gewissen Umständen, über die wir einstweilen noch nicht informiert
sind, zutage tritt. Eine derartige Annahme erhält einen gewissen
Grad von Wahrscheinlichkeit durch den Umstand, dass das Ver-
') Vergl. hierüber die Abhandlung von Dr. Collineau: L'Audition
coldr^e. Revue mensuelle de r£cole d'Anthropologie de Paris. Paris 1891.
-.In-
halten der Sinnesempfindungen im Tierreiche in der mannig-
faltigsten Weise sich gestaltet, dass im Gegensatz zu dem, was
soeben über die Spezifikation der Sinneseindrücke und Nerven-
leitungen bei den höheren Tierklassen sowie beim Menschen
bemerkt wurde, auf den niedrigsten Stufen der tierischen Ent-
Wickelung eine scharfe Trennung der Sinnesempfindungen und
eine deutlich ausgeprägte Bildung von Sinneswerkzeugen noch
nicht vorhanden ist, dass das Fehlen eines ausgebildeten Auges
bei vielen niederen Tieren auf den Mangel eines scharf unter-
scheidenden Gesichtssinnes schliessen lässt u. dgl. — Was
speziell die Farbenempfindungen anlangt, die auch gegenwärtig
beim Menschen noch gewissen Schwankungen unterliegen — ich
erinnere hier nur an die bekannten Erscheinungen der Farben-
blindheit ~ so haben die von Forel, Lubbock u. a. angestellten
Versuche zu dem Schlüsse geführt, dass gewisse Insekten,
so vor allem die Ameisen, hinsichtlich der Farbenperzeption
sich vom Menschen wesentlich unterscheiden und die Annahme,
dass unter den ältesten Vorfahren des Homo sapiens tierische
Wesen sich befunden haben, bei denen die Unterscheidung des
Klanges und der Farbe durch besondere Sinnesorgane noch nicht
durchgeführt war, hat daher manches für sich.^)
Wenn wir soeben über Mischempfindungen berichteten, so
möchten wir unsere Darlegungen nicht so verstanden wissen,
als ob die gleichzeitig einwirkenden (synchronen) Erregungen
vollständig miteinander verschmölzen und nicht auseinander ge-
halten werden könnten. Dass letzteres nicht der Fall ist, kann
man z. B. daraus ersehen, dass das musikalische Ohr beim
Anhören eines von einer Anzahl Musiker auf verschiedenen
Instrumenten vorgetragenen Musikstückes jeden einzelnen falschen
Ton sowie überhaupt jede Abweichung eines Instrumentes zu
') Die Annahme, dass die Sinnesempfindungen der niederen Tiere
von denjenigen des Menschen und der höheren Tierklassen sich wesentlich
unterscheiden, wird auch durch die Beobachtung bewiesen, dass bei gewissen
Insekten der Geruchsinn für die Raumunterscheidung bezw. räumh'che
Orientierung ausschliesslich Verwendung findet. Im Hinblick auf diese
Tatsache spricht Forel von den topo-chemischen Geruchsempfindungen
der Ameisen.
2»
Unterscheiden imstande ist. Während demnach bei gleichzeitig
stattfindenden Eindrucicen eine Unterscheidung der verschiedenen
Sinneserregungen immer noch mögh'ch ist, kommt es da, wo es
sich um zeitlich aufeinander folgende Sinneseindrucke handelt, in
der Regel zu einer Verschmelzung der ursprünglichen mnemischen
Einprägung und der durch den neuen Reiz hervorgerufenen
Wirkung — eine Erscheinung, die Semon als „mnemische
Homophonie** (d. h. Zusammenklingen zweier Erregungen)
bezeichnet. Die erbliche Homophonie gibt sich beim Nestbau der
Vögel zu erkennen, die ein künstliches Nest nur dann benutzen,
wenn es nach Form, Grösse und Beschaffenheit dem Instinkt
angepasst ist. Geringe Abweichungen im Bau des Nestes werden
von den Vögeln beseitigt, ehe sie es in Gebrauch nehmen.
Indessen vollzieht sich jener Vorgang wohl ohne irgend welche
Beteiligung von Bewusstseinszuständen, wie wir dies auch für
gewisse Vorkommnisse des menschlichen Geisteslebens anzunehmen
genötigt sind. Wir können z. B. intensiv bewusst arbeiten und ein
daneben gespieltes Musikstück vollständig überhören. Sobald jedoch
in dem musikalischen Vortrag ein Fehler gemacht wird, wird unsere
Aufmerksamkeit plötzlich erregt. Mit anderen Worten: es erfolgt
unter solchen Umständen der Übertritt einer unbewussten Sinnes-
wahrnehmung zum Inhalt des Oberbewusstseins. Fälle von
mnemischer Homophonie gehören zu den alltäglichen Vorkomm-
nissen des Menschenlebens. So unterliegen z. B. alle häufig
wiederholten Handlungen (Zurücklegung eines bestimmten Weges
u. dergl.) der besagten Verschmelzung der ursprünglichen
mnemischen Einprägung mit der durch neue gleichartige Reize
erzeugten Wirkung. Aus dem Umstände, dass bei der Reproduktion
einer häufig wiederholten mnemischen Einprägung kein Hervor-
treten einer einzelnen der miteinander klingenden (homophonischen)
Erregungen stattfindet, dürfen wir vielleicht auf ein Verschwimmen
— sozusagen Abstraktwerden — des Erinnerungsbildes schliessen.
Semon glaubt aus diesem Umstände auf die Entstehung einer
Art von physiologischer Abstraktion beim Menschen und
wahrscheinlich auch bei höheren Tieren schliessen zu dürfen,
welche die Vorläuferin der rein logischen Abstraktion sein soll.
- 19 -
Erwähnt sei hier ferner noch, dass unter gewissen Umständen
die aus der Verschmelzung der neuen Erregung mit der Ursprung-
h'chen mnemischen Einprägung hervorgehende Wiricung sich in
mehrereZweige spaltet — eine Erscheinung, die man als „Spaltung"
oder „Gabelung der Reizwirkung" (Dichotomie) bezeichnet.
Um ein Beispiel hier anzuführen, so existieren von dem bekannten
Goetheschen Gedichte zwei Lesarten, welche lauten:
i>u 11 .-• r I • * n u. • II (Wäldern hörest du keinen Hauch"
„über allen Gipfeln ist Ruh; in allen s ..... , - «^ ^ , . u u«
" »^ • l Wipfeln spurest du kaum einen Hauch".
Diejenige der beiden Lesarten wird mnemisch wiedergegeben
werden, welche in einem gegebenen Falle der betreffenden Person
besonders häufig vor Augen gekommen ist oder durch das
Gehör eingeprägt wurde. Wir werden in diesen und ähnlichen
Fällen annehmen müssen, dass das seltene durch das häufigere
Vorkommnis in den Hintergrund gedrängt, bezw. an der Erzeugung
einer Einprägung verhindert wird. Erwähnt sei hier ferner noch der
Umstand, dass das Wiederaufleben der mnemischen Einprägungen
nicht allzuselten mit bestimmten Phasen des organischen Lebens
verknüpft ist, dass beim Eintreten eines bestimmten Entwicklungs-
stadiums im Lebensgange eines Organismus uralte Eindrücke aufs
neue Leben gewinnen, dass beispielsweise der Eintritt der Ge-
schlechtsreife beim Manne das Hervorsprossen der Bart- und
Schamhaare sowie das Mutieren der Stimme, beim Weibe die
Entwicklung der Brüste zur Folge hat.
Eine besondere Erwähnung verdient ferner noch der Umstand,
dass da, wo keine Verschmelzung der Reizwirkungen unter sich
bezw. mit der ursprünglichen Erinnerungseinprägung stattgefunden
hat, der Ablauf der auf mnemische Erregungen zurückzuführenden
Vorgänge im allgemeinen die Reihenfolge innehält, in der die
betreffenden Reize aufeinander gefolgt sind. Eine beträchtliche
Anzahl von sogenannten „tierischen Instinkten** findet auf diese
Weise eine ungezwungene Erklärung. Es sind nicht etwa bewusste,
auf Überlegung beruhende Handlungen, die von den betreffenden
Tieren vorgenommen werden; es wird diesen Handlungen aber
dadurch ein Schein der Überlegung und Absichtlichkeit verliehen,
dass sie in einer ganz bestimmten Reihenfolge sich abspielen. In
- 20 -
hohem Grade lehrreich ist das Verhalten der Grabwespe (Sphex).
Wenn schon diese Wespe deshalb Beachtung verdient, weil sie
zur Versorgung ihrer Brut Beutetiere (kleine Insekten, Raupen,
Würmer und dergl.) in ihre Nestzellen bringt, die sie zuvor
durch den Stich ihres giftigen Stachels gelähmt hat und auf diese
Weise am Entfliehen verhindert — so ist auch die Art und Weise,
wie die mit dem Einbringen der Beute in das Nest verknüpften
Prozeduren sich aneinander reihen, in hohem Grade bemerkens-
wert. Die Sphex- Wespe geht nämlich in der Weise vor, dass sie
das eingefangene, durch den Stich gelähmte Beutetier zunächst
vor dem Eingange in das Nest niederiegt und sich selbst vor dem
Einbringen der Beute in die Nesthöhle begibt. Erst dann, wenn
dies geschehen ist, schickt sie sich an, das Beutetier in einer
der Nestzellen unterzubringen. Man könnte nun vielleicht geneigt
sein, das soeben erwähnte Vorgehen der Raubwespe als einen
auf Überiegung beruhenden zweckmässigen Vorgang aufzufassen;
dieser Annahme widersprechen aber die Ergebnisse der von Fahre
angestellten Versuche. Während die Wespe sich im Innern des
Nestes aufhielt, entfernte nämlich der besagte Forscher das Beute-
tier von dem Eingange. Es gelang nun zwar der Wespe, nach
einigem Suchen ihre Beute wieder aufzufinden; sie wiederholte
aber, nachdem sie das Beutetier wieder an den Eingang des Nestes
zurückgebracht hatte, die bereits erwähnte Nestuntersuchung. Diesen
Moment benutzte Fahre, um die Beute abermals vom Nest-
eingang zu entfernen, und es gelang ihm, die Wespe dahin zu
bringen, dass sie den Cyklus von Vorgängen, bestehend im Auf-
suchen der Beute, Zurückbringen derselben an den Nesteingang
und die völlig zwecklose abermalige Nestuntersuchung vierzigmal
hintereinander wiederholte und auf diese Weise den Beweis lieferte,
dass ihr Verhalten als ein ohne Beteiligung höherer geistiger
Regungen zustande kommender automatischer Vorgang, dem aber
zweifelsohne mnemische Einprägungen zugrunde liegen, aufzu-
fassen ist.
Von hervorragender Bedeutung sind auch die zwischen
den mnemischen Einprägungen und der Ontogenese (in-
dividuelle bezw. embryonale Entwicklung) bestehenden
-^ 21 —
Beziehungen. Im Gegensatz zu der Phylogenese, d. i. der
Stammesgeschichte der Organismen, die, wie jetzt allgemein an-
erkannt wird, aus ganz niedrigen Lebensformen, nämlich aus
einzelligen Lebewesen zu ihrer in den höheren Tierklassen sowie
im Menschen gipfelnden Vollkommenheit sich entwickelt haben
— im Gegensatz hierzu zeigt uns die Ontogenese, wie sich die
Ausbildung des Individuums aus den miteinander verschmelzenden
Keimzellen (Eizelle und Samenzelle) von der Befruchtung bis
zur Reife des lebensfähigen tierischen Organismus in der Folge
bestimmter Entwicklungsphasen nach feststehenden Gesetzen
vollzieht. Dass bei diesem individuellen Entwicklungsprozess
das mnemische Prinzip mitbeteiligt sein muss, dieser Schluss
wird uns von vornherein nahe gelegt durch den Umstand, dass,
wie bereits erwähnt, bei einer grossen Anzahl von niedrigen
tierischen Organismen eine Regeneration von verloren gegangenen
Körperteilen stattfindet, ja dass unter gewissen Umständen ein
einziges Körpersegment zu einem vollständigen tierischen Orga-
nismus sich zu ergänzen vermag. Man kann, wie die von
Roux und anderen Forschern angestellten Versuche beweisen,
von den acht Zellen einer auf der frühesten Entwicklungsstufe,
nämlich im sogenannten Furchungsstadium befindlichen Cteno-
phore vier oder gar sechs Zellen entfernen, ohne den Entwick-
lungsgang wesentlich zu beeinträchtigen, da die zurückbleibenden
Zellen sich zu einem Lebewesen ergänzen, das von dem Erzeuger
in keiner Weise sich unterscheidet. Man kann auch mit Eiern
von Stachelhäutern, Ascidien, Mollusken u. dergl. ähnliches er-
reichen. Man beobachtet ferner, wie bei Tieren anderer Gattung
Zerstückelungen bezw. Verstümmelungen Neubildungen von Ge-
webe herbeiführen, die schliesslich eine vollkommene Wieder-
herstellung der durch den Eingriff gestörten Voraussetzungen
bewirken. Ziehen wir in Betracht, dass alle den elterlichen
Organismen anhaftenden mnemischen Einprägungen durch die
Geschlechtszellen auf den neuen Organismus übertragen werden,
und bemerken wir dann zugleich, dass aus einem einzigen Stück
eines Wurmes, einer Qualle oder eines anderen niedrig-organi-
sierten tierischen Lebewesens der Gesamtorganismus in völliger
- 22 -
Unversehrtheit sich wieder herstellt, so ist die Annahme unab-
weislich, dass in jenem einzigen Stück alle jene Vorbedingungen
enthalten sein müssen, deren der unversehrte Organismus be-
nötigt ist, dass mithin die mnemischen Einprägungen jenem Körper-
segment nicht fehlen können. ^ Wenn bei den höher organisierten
Tieren die Erscheinungen der Regeneration fehlen oder nur an-
gedeutet sind, so dürfen wir aus diesem Umstand nicht etwa
folgern, dass hierdurch unsere Theorie von der Beeinflussung der
Ontogenese durch das mnemische Prinzip hinfällig werden könnte.
Wenn Webervögel im Käfig nicht weben, so beruht dies auf
einem Mangel an Material, nicht aber auf dem Fehlen des Weber-
instinktes; in analoger Weise wird es sich in jenen Fällen, wo
die Regeneration ausbleibt, entweder um den Mangel bezw. die
Unzulänglichkeit des zur Ersatzbildung dienenden Materials handeln
oder um eine Abnahme der plastischen (bildenden) Fähigkeit des
Organismus selbst, wie sie insbesondere mit zunehmendem Alter
regelmässig eintritt.
Den Ablauf der ontogenetischen Vorgänge werden wir uns
in Übereinstimmung mit dem Verlaufe der stammesgeschichtlichen
Entwicklung in der Weise vorstellen, dass die den elterlichen
Keimzellen anhaftenden mnemischen Einprägungen den in der
Entstehung begriffenen Organismus zwingen, eine bestimmte
Richtung der Entwicklung so lange innezuhalten, bis eine gewisse
Stufe der Ausbildung erreicht ist, dass dann aber (nach dem
Gesetze, wonach die Einwirkungen der Mneme in einer der Er-
zeugung jener Einprägungen entsprechenden Reihenfolge zur
*) Jene kleinsten Segmente des Tierkörpers, die noch imstande
sind, eine Regeneration zu bewirken, werden von Semon als „mnemische
Protomere" (ursprüngh'che Teile) bezeichnet. Es unterliegt nach diesem
Autor keinem Zweifel, dass jedes Protomer eines durch Vereinigung einer
männlichen und einer weiblichen Keimzelle erzeugten Individuums im
Besitze sämtlicher mnemischen Einprägungen, die beiden Erzeugern
eigen waren, sich befinden muss. Die Reproduktionsfähigkeit scheint nur
einzelnen Körperteilen, die zu spezifischen Zwecken ausgebildet sind, zu
fehlen. Wenn man z. B. die bekannte Hydra viridis, einen auf unseren
Teichgewächsen nistenden kleinen Polypen, in 40 bis 50 winzige Stücke
zerlegt, so sind sämtliche Segmente mit Ausnahme derjenigen, die aus der
Substanz der Fangarme bestehen, imstande, das ganze Tier zu reproduzieren.
- 23 —
Geltung kommen) andere mnemische Einprägungen an ihre Stelle
treten. Unter dieser Voraussetzung wäre es dann unausbleiblich,
dass die Ontogenese eine Reihe aufeinander folgender Phasen
durchläuft und einen vollständig typischen Verlauf nimmt.
Dass wir das mnemische Prinzip als Ausgangspunkt und
Grundlage der ontogenetischen Entwicklung zu betrachten haben
— diese Annahme findet noch eine besondere Bestätigung durch
den Umstand, dass die Art und Weise, wie der Ersatz
verloren gegangener Körperteile durch Regeneration be-
werkstelligt wird, wie künstlich erzeugte Ungleichartig-
keiten von dem in der Entwicklung begriffenen Organis-
mus wieder ausgeglichen werden — dass diese Vorgänge
in jeder Hinsicht den Charakter der „mnemischen Homo-
phonie" tragen, d. i. der Verschmelzung verschiedener
mnemischer Einprägungen bezw. der an diese Ein-
prägungen anknüpfenden Assoziationen zu einem ein-
heitlichen, harmonischen Erregungszustand. Die durch
Regeneration und Regulierung bewirkte Beseitigung von im Ver-
laufe der Ontogenese auftretenden oder künstlich erzeugten Un-
regelmässigkeiten entspricht genau jener obenerwähnten Erschei-
nung, nach welcher brütende Vögel unter der Herrschaft der
mnemischen Eindrücke ein ihnen zur Verfügung gestelltes künstliches
Nest in Übereinstimmung mit den ererbten Einprägungen abändern
bezw. ergänzen. Einen weiteren Beweis für die Annahme, dass die
mnemischen Einprägungen bei der ontogenetischen Entwicklung
eine wichtige Rolle spielen, bilden jene Spaltungen der mne-
mischen Reaktionszustände (Dichotomien), die, wie oben
erwähnt, ein häufiges Vorkommnis darstellen. Wir beobachten
nicht nur, dass entsprechend der Verschiedenheit der mnemischen
Einwirkungen im Verlaufe der ontogenetischen Entwicklung bei
verschiedenen Individuen verschiedene Erscheinungen zutage
treten, sondern wir bemerken zugleich, dass häufig bei einem
und demselben Individuum die Entwicklungsreaktionen hin und
her schwanken, dass als Folgezustand verschiedener Erregungen
bald diese, bald jene Erscheinung auftritt. Dabei verdient der
Umstand noch eine besondere Beachtung, dass allem An-
- 24 —
scheine nach mnemische Einflüsse auch der Entstehung
des Geschlechtes zugrunde liegen, und dass den mit
der Qeschlechtsbildung verknüpften Schwankungen der mnemi-
schen Erregungen bestimmte „Mischreaktionen*" (Kombinationen
verschiedener mnemischer Charaktere bei einem und demselben
Individuum) entsprechen. Als solche Mischungen mnemischer
Eigentümlichkeiten werden wir vor allem die Hermaphroditen
(Zwitter) aufzufassen haben, bei denen die Kombinierung von
Bildungen, denen man gewöhnlich nur bei verschiedenen Ge-
schlechtern begegnet, nicht selten zur Monstrosität führt. Aber
auch jeder ausgebildete, in seiner Entwicklung scheinbar abge-
schlossene Organismus befindet sich ebenso wie der in die Ent-
wicklungsbahn eintretende Keim nach wie vor im Besitz der
beiden divergierenden Reihen von Einprägungen des männlichen
und weiblichen Geschlechts. Davon legt er Zeugnis ab dadurch,
dass er Bruchstücke derselben in späteren Daseinsphasen zutage
treten lässt. Dies geschieht in der Form von sekundären
Sexualcharakteren und ist besonders auffällig, wenn Kastration
oder eine Altersrückbildung der Keimdrüsen erfolgt. Hierher
gehören alle Korrelate des anderen Geschlechts bei Kastrierten
oder Eunuchen, die Hahnenfedrigkeit und die Kampflust alter
Hennen, der Bart alter Frauen, die hennenähnliche Befiederung
und auch der Brutinstinkt der Kapaunen u. dergl. Aber auch
ohne Beeinträchtigung der Sexualdrüsen finden wir auffällige in-
dividuelle Erscheinungen des anderen Geschlechts bei bärtigen
Weibern, bei vollbusigen und bartlosen Männern, bei Homo-
sexuellen usw. Von ganz besonderem Interesse sind ferner
die „Kreuzungsdichotomien**, d. h. jene Fälle, in denen infolge
Kreuzung verschiedener Rassen von den aus jener Vermischung
hervorgegangenen Sprösslingen der eine mehr die väterlichen, der
andere die mütterlichen Eigenschaften zu erkennen gibt. Interessante
Beispiele jener Spaltung von mnemischen Einprägungen liefern
insbesondere die Kinder verschieden gefärbter Eltern, die nicht
selten alle Variationen der Farbe und des Typus aufweisen.
Auch in diesen Fällen zeigt sich entweder „Mischreaktion" oder
alternierendes Auftreten der mnemischen Eigenschaften bei ver-
— 25 -
schiedenen Sprösslingen eines und desselben Elternpaares. Be-
merkenswert sind auch diejenigen Fälle, in denen der aus einer
Kreuzung verschiedener Rassen hervorgegangene Sprössling für
kurze Zeit nach der Geburt die Färbung des einen Erzeugers
aufweist und erst später diejenige des anderen Erzeugers an-
nimmt. Zu den in Rede stehenden Spaltungsvorgängen (Dicho-
tomien) gehört der sogenannte „Saison-Dimorphismus" gewisser
Schmetterlinge (d. i. ihre Eigentümlichkeit, in bestimmten Jahres-
zeiten die Färbung zu ändern), der Polymorphismus der Ameisen,
Termiten usw. — sämtlich Erscheinungen, die als ein Hin- und
Herschwanken zwischen den dichotomischen Erregungszuständen
verschiedener mnemischer Einprägungen aufzufassen sind. — Bei
dem zwischen verschiedenen mnemischen Einprägungen bezw. Reihen
von mnemischen Einprägungen entstehenden Wettstreit kommt es
nicht allzuselten vor, dass Eigenschaften, die der betreffenden Gattung
oder Rasse anscheinend abhanden gekommen sind, bei ihr wieder
zutage treten, dass beispielsweise zwei Rassen von nichtbrfitenden
Hühnern, sobald sie miteinander gekreuzt werden, gute Brüter
erzeugen. Das was man als „Atavismus** (Rückschlag auf Vor-
fahrenzustände) bezeichnet, wird in gewissen Fällen auf ein derartiges
Vorkommnis zurückzuführen sein. — Bei Inzucht scheint die Zahl
der Dichotomien (Spaltung der Einwirkung mnemischer Erregungen
in mehrere Reihen) abzunehmen, während sie bei Mischung ver-
schiedener Gattungen oder Rassen ausserordentlich gross ist.
Wird die Zahl der Dichotomien zu gross, die Verschiedenheit der
mnemischen Einwirkungen allzu bedeutend, so stirbt der Spröss-
ling ab, oder er kann überhaupt nicht entstehen — mit anderen
Worten: wo die sich paarenden Wesen so weit auseinander
stehen, dass die von ihnen ausgehenden mnemischen
Einprägungen einen völlig verschiedenen Charakter auf-
weisen, muss Unfruchtbarkeit entstehen. Damit soll jedoch
keineswegs gesagt sein, dass allen Fällen von Unfruchtbarkeit
derartige ursächliche Verhältnisse zugrunde liegen. So ist z. B.
die vollkommene Sterilität der „Soldaten** und „Arbeiter** im
Ameisennest nicht an den Anfang, sondern erst an das Ende der
divergierenden Entwicklung zu setzen.
- S6 -
Um die im vorhergehenden dargelegten Anschauungen noch
einmal kurz zusammenzufassen, so wirkt die ursprüngliche
mnemische Einprägung bei der Ontogenese als Erregungs-
disposition. Sie bedingt nicht die absolute Grösse der aus der
Kombinierung der ursprunglichen Einprägung mit der Wirkung
neuer Reize sich ergebenden Erregung, sondern nur ihre Qualität
und ihre Grösse im Verhältnis zu anderen assoziativen mnemischen
Erregungen. Das, was Semon als ,,mnemische Individualität*"
bezeichnet, ist das Produkt der Zeugung und kommt dadurch zu
Stande, dass der nach erfolgter Befruchtung seine Entwicklung
beginnende kindliche Organismus mnemische Einprägungen er-
werben kann, an denen der elterliche Organismus keinen Anteil
hat. Ausser bei der Parthogenese (geschlechtslose Zeugung,
wie sie bei Pflanzen und niederen Tierformen häufig vorkommt)
ist ein äusserer Anstoss erforderlich, um jenen Entwicklungsprozess
in Gang zu bringen. Diesen Anstoss bildet für gewöhnlich die
Befruchtung. Dabei ist aber die Tatsache lehrreich, dass der
auslösende Reiz nicht immer spezifisch zu sein braucht, dass
neben dem aus der Samenflüssigkeit von Stachelhäutern ge-
wonnenen Spermin auch Kochsalzlösungen, Strychnin und andere
Substanzen als auslösende Reize tätig sein können. Sogar thermische
und mechanische Reize sind imstande, bei gewissen Tiereiern
die Befruchtung zu ersetzen. Wärme beschleunigt und Kälte
verlangsamt den Ablauf der Ontogenese, ohne jedoch deren
Rhythmus zu ändern. Belichtung, Nahrungszufuhr, Beschaffenheit
des Mediums, in dem das betreffende Tier lebt, kommen bei der
Ontogenese als Reizerreger ebenfalls in Betracht und können in
einer bestimmten Phase der ontogenetischen Entwicklung dadurch
eine besondere Bedeutung erlangen, dass die Manifestation der
mnemischen Erregung ohne ihre Mitwirkung nicht zustande kommt.
Um auf die bereits erwähnte Spaltung der mnemischen Ein-
flüsse (Dichotomie) zurückzukommen, so ist sie ganz besonders
geeignet, die Lösung von Rätseln anzubahnen, denen die Biologie
bisher völlig ratlos gegenüberstand. Dass es bis zu gewissem
Grade bereits gelungen ist, Spaltungen der erblichen Mneme
künstlich herbeizuführen und auf diese Weise die Ontogenese in
neue Bahnen zu lenken bezw. die Organisation der betreffenden
Lebewesen völlig umzugestalten, dies beweisen jene bemerkenswerten
Untersuchungen, wie sie die Naturforscherin Frl. E. von Chauvin
an dem aus Mexiko nach Europa gebrachten Axolotl angestellt hat.
Dieses salamanderähnliche und mit einem platten Schwanz aus-
gestattete Geschöpf wird gewöhnlich noch im Wasser lebend als
Larve mit Kiemen geschlechtsre'i. Gibt man ihm aber noch
vor der Geschlechtsreife Gelegenheit, bequem auf das trockene
Land zu krabbeln, so macht man die überraschende Wahrnehmung,
dass jene Individuen, deren Entwicklung sich auf dem Lande
vollzieht, sich zu wirklichen Salamandern, die durch Lungen atmen
und einen zylinderförmigen Schwanz aufweisen, ausbilden.
Man hat der neuen Tierform den Namen „Amblystoma'' gegeben
auch hat E. von Chauvin gezeigt, dass das Amblystoma, wenn
nicht allzuweit entwickelt, dadurch, dass man es wieder ins Wasser
versetzt, zum Axolotl zurückgeführt werden kann. Bemerkenswert
ist aber vor allem die Tatsache, dass das solche überraschende
Umwandlungen darbietende Geschöpf ebensowohl in der
älteren Amblystoma-Form — die Bezeichnung „älter"
bezieht sich in diesem Falle auf den stammesgeschicht-
lichen Ursprung des betreffenden Lebewesens — wie in
der jüngeren Axolotl-Form geschlechtsreif und zeugungs-
fähig wird, vorausgesetzt natürlich, dass die Versetzung vom
feuchten auf das trockene Element und umgekehrt vorgenommen
wird, ehe noch die Geschlechtsreife eingetreten ist.^
') Während gegen die Beweiskraft der Axoloti-Amblystoma-Unter-
suchungen ein Einwand wohl kaum erhoben werden kann, sind die
von Fischer und Standfuss mit Schmetterlingspuppen vorgenommenen
Versuche nicht ganz einwandfrei. Wenn die besagten Gelehrten bei
Schmetterlingen, deren Puppen von ihnen hohen Kältegraden ausgesetzt
wurden, von der Norm abweichende Färbungen erzielt haben, so liegt es
nahe, daran zu denken, dass durch diese ungewöhnliche Beeinflussung die
in der Schmetterlingspuppe enthaltenen mnemischen Einprägungen abge-
schwächt oder sonst irgendwie in abnormer Weise modifiziert wurden, und
dass dementsprechend in der ontogenetischen Entwicklung jener Schmetter-
linge Veränderungen eintreten mussten. — Unter dem Gesichtspunkte der
Zweiteilung (Spaltung) der aus dem Zusammenwirken von mnemischen
Einprägungen und neu hinzutretenden Reizen sich ergebenden Resultate
Welche Schlüsse haben wir aus den soeben erwähnten
Tatsachen zu ziehen? Zunächst wird durch sie bewiesen,
dass es sich bei der in Rede stehenden Umwandlung einer Tier-
form in eine andere nur um einen Vorgang handeln kann, bei
dem das mnemische Prinzip wesentlich mitbeteiligt ist. Wir er-
kennen bei dem auf das Trockene kriechenden, der Einwirkung
der athmosphärischen Luft fortwährend ausgesetzten Axolotl,
bezw. bei dem ins Wasser zurückversetzten Amblystoma jene
Erscheinung wieder, die wir im vorhergehenden als „Spaltung
bezw. Gabelung der mnemischen Einwirkung"* (Dichotomie) be-
zeichnet haben — eine Erscheinung, die darauf zurückzuführen
ist, dass, je nachdem der eine oder der andere Reiz (Einfluss
des Luftlebens bezw. des Wasserlebens) auf den Organismus
einwirkt, bald diese, bald jene Kategorie von mnemischen Erre-
gungen die Oberhand erlangt, und dass erst bei eingetretener
Geschlechtsreife der Übertritt aus der rezenten (gegenwärtigen)
Erscheinungsform in die atavistische, d. h. in den Vorfahren-
zustand und umgekehrt die Versetzung aus dem älteren Zustand
in die neue Erscheinungsform unmöglich wird. Die neu ein-
wirkenden Reize werden je nach ihrer Beschaffenheit bald der
einen, bald der anderen Kategorie von mnemischen Einprägungen
zum Siege verhelfen, und in jedem Falle wird die Mneme durch
werden auch gewisse Vererbungserscheinungen verständlich, für die man
eine plausible Erklärung bisher nicht zu geben wusste. Denken wir z. B.
an den folgenden Vorgang. Wenn grunsamige und gelbsamige Erbsen gepaart
werden, so wird die erste Generation von Hybriden entweder grün oder
gelb. Nehmen wir beispielshalber einmal gelb an, so wird schon die zweite
Generation der gelben Erbsen V/4 grüne Exemplare, die dritte '/s grüne
Exemplare usw. erzeugen — eine Erscheinung, die man als „Mendelsches
Gesetz" zu bezeichnen pflegt. Es tritt also eine alternative Spaltung ohne
Gleichgewicht ein, da in einem Teile der Nachfolger immer wieder die
grüne Abart dominiert. In ganz analoger Weise wird, wenn man zwei
Stammarten von Tauben oder zwei verschiedene Menschenrassen — sagen
wir Neger und Weisse — miteinander kreuzt, die Bastardierung so verlaufen,
dass bei dem einen Sprössling der väterliche, bei dem andern der mütter-
liche Einfluss vorherrscht, was uns nicht in Erstaunen setzen wird, da
die mnemischen Einprägungen, die von Seiten des Vaters auf den Nach-
kommen übertragen werden, und diejenigen, die derselbe von selten der
Mutter bezieht, nur in den allerseltensten Fällen gleichwertig sein werden.
die zuvor erwähnten Umgestaltungen (Umwandlungen der Kiemen
in Lungen, bezw. Rückverwandlung der Lungen in Kiemen u.s.w.)
eine Beseitigung der Inkongruenzen bewerkstelligen und auf diese
Weise jene Harmonie in der Einwirkung der Reize, die wir oben
als ,, Homophonie" bezeichnet haben, herbeiführen. Die Umwand-
lungen des Axolotl-Amblystoma sind auch insofern von grosser
Wichtigkeit, als durch sie zum erstenmale ein ganz unzweifel-
hafter Beweis erbracht ist für die so oft bestrittene Tat-
sache, dass die von den Erzeugern im Verlaufe ihres
individuellen Lebens erworbenen Eigenschaften von ihnen
auf die Nachkommen übertragen werden können. Bekannt-
lich sind die heutigen Naturforscher in zwei grosse Heerlager
geteilt, von denen die eine Partei im engen Anschluss an die Lehre
Darwins die Vererbung erworbener Eigenschaften als Ausgangs-
punkt für die Umgestaltung der Organismen und die Entstehung
neuer Arten betrachtet, während die andere Partei, an deren Spitze
der bekannte Zoologe A. Weismann (Freiburg i. B.) steht, ohne
jene Übertragung der vom Individuum erworbenen Eigenschaften
auszukommen glaubt und die bei der geschlechtlichen Fortpflanzung
regelmässig stattfindende Verschmelzung väterlicher und mütter-
licher Keimzellen, bezw. der in jenen Keimzellen enthaltenen
Anlagen als das bei der Umgestaltung der Organismen und der
Artentstehung ausschliesslich zur Geltung kommende Prinzip
betrachtet. Auch dürfen wir wohl als bekannt voraussetzen, dass
Weismann zur Begründung seiner Anschauungen die Lehre von
der „Kontinuität des Keimplasmas** aufgestellt hat, wonach die
Keimzelle, aus der ein neues Individuum hervorgeht, keine be-
sondere Neubildung des elterlichen Organismus, sondern eine
eigenartige Substanz darstellen soll, die in embryonaler Zellen-
form von einer Generation zur anderen sich überträgt. Es würde
uns zu sehr von unserem Thema ablenken, wollten wir das pro
und contra der beiden soeben erwähnten naturwissenschaftlichen
Anschauungen hier eingehend erörtern. Wir möchten aber doch
darauf hinweisen, dass durch die naturwissenschaftlich-ärztliche
Beobachtung bereits eine beträchtliche Anzahl von Tatsachen fest-
gestellt wurde, die sich nur mit Hilfe des Dogmas von der Ver-
erbbarkeit erworbener Eigenschaften in zufriedenstellender Weise
erklären lassen, und dass andererseits für die von Weismann be-
hauptete „Kontinuität des Keimplasmas** ein tatsächlicher Beweis
bisher noch nicht erbracht wurde. Nach Semon können die
während der individuellen Existenz der Organismen durch die
Einwirkung der Aussenwelt hervorgerufenen Einprägungen zwar
nur in ausserordentlich abgeschwächter Form bis zu den Keim-
zellen gelangen; aber es unterliegt doch kaum einem Zweifei, dass
durch die Wirkung von infinitesimalen Kräften in sehr langer Zeit
und bei sehr häufiger Wiederholung der betreffenden Einprägungen
die Keimzellen doch allmählich umgestaltet und auf diese Weise
die von dem Individuum erworbenen Eigenschaften schliesslich auf
die Nachkommen übertragen werden. Was die soeben erwähnte
Anschauung anbetrifft, derzufolge die mnemischen Einprägungen
nur in ausserordentlich abgeschwächter Form bis zu den Keimzellen
gelangen sollen, so steht diese Annahme allerdings in völligem Ein-
klang mit gewissen Beobachtungen des täglichen Lebens. Aus diesem
Grunde sehen wir uns genötigt, mit dem Unterrichten unserer
Kinder in Leibes- und Geistesübungen, mit der Dressur unserer
Pferde und Hunde bei jeder neuen Generation immer wieder von
neuem zu beginnen. Aber die Anhäufung von an und für sich
schwachen mnemischen Einprägungen, die sowohl durch die
Wiederholung bestimmter Erregungen im Leben jedes Individuums
wie durch die Wiederholung jener Erregungen in der Folge der
Generationen bedingt ist, macht sich doch allmählich geltend.
Man braucht nur die Jungen unserer domestizierten Tiere mit
den Jungen von nicht domestizierten Artgenossen zu vergleichen,
um zu erkennen, welchen Vorsprung erstere in der geistigen
Entwicklung vor letzteren voraus haben. Es zeigen sich unzwei-
deutige Verschiedenheiten in den Instinkten an domestizierten
und nicht domestizierten Neugeborenen. Was aber speziell den
Menschen anlangt, so ist es wohl kaum zuviel gesagt, wenn wir
behaupten, dass ohne jene Vererbung erworbener Eigenschaften,
die wir der Fortleitung der mnemischen Einprägungen bis zu den
Keimzellen des Individuums sowie ihrer Übertragung durch
die Keimzelle auf den neuentstehenden Organismus verdanken
— dass ohne diese Vererbung erworbener Eigenschaften die
gesamte menschh'che Kultur kaum denkbar ist. Denn wenn
der von unseren Vorfahren in der Form von mnemischen Ein-
Prägungen angesammelte Schatz von Erfahrungen und geistigen
Eigenschaften nicht auf uns erblich übertragen worden wäre,
wenn das Einzelindividuum bei seiner Ausbildung von jenem
Zustande niedrigster geistiger Entwicklung, auf dem sich der Ur-
mensch befunden hat, stets aufs neue wieder ausgehen musste,
so wurde die kurze Spanne Zeit, die ein Menschenleben umfasst,
für die Erreichung einer irgendwie nennenswerten kulturellen Aus-
bildung wohl kaum genügen. Freilich sind es nicht die Kennt-
nisse selbst, die als Kultureigenschaften auf den Neugeborenen
von seinen Vorfahren erblich übertragen werden, sondern vielmehr
die Fähigkeit, die Hirntätigkeiten in kurzer Frist mit Hilfe von
Anleitung und Unterricht zu einer hohen Stufe der Vervollkomm-
nung zu erheben, zwischen den verschiedenen Hirnzentren bezw.
verschiedenen Hirnfunktionen in kürzester Frist Verbindungen
herzustellen und auf diese Weise das Gebiet der Ideenassoziationen
ausserordentlich auszudehnen. Die dem modernen Kulturmenschen
erblich übertieferte Veranlagung und Begabung sichert ihm von
vornherein jene geistige Überiegenheit, die er nicht nur vor den
intellectuell am höchsten stehenden Tieren, sondern auch vor den
Angehörigen der Naturvölker voraus hat; sie ist es aber auch,
die ihm die Verpflichtung auferiegt, jene ihm angeborene
Veranlagung nicht unbenutzt zu lassen, vielmehr die Mahnung
unseres grossen Dichter-Naturiorschers zu beherzigen:
»Was du ererbt von deinen Vätern hast,
Erwirb* es, um es zu besitzen."
Um auf die Frage von der Übertragung erworbener Eigen-
schaften bezw. mnemischer Einprägungen durch die Keimzellen
zurückzukommen, so hat Gaule^) beim Frosche neuerdings fest-
gestellt, dass in noch ganz anderen Organen als in den Geschlechts-
werkzeugen sich Vorgänge abspielen, die auf das Geschlechtsleben
Bezug haben. Nach der Ansicht dieses Forschers unteriiegt es
*) Vergl. Pflugers Archiv, Bd. 87, Jahrgang 1903.
Orenzfragen d. Lit u. Medizin. 2. Heft
keinem Zweifel, dass in der Leber, in den Muskeln und in anderen
Körperteilen Stoffe erzeugt werden, die für die Bildung der
Geschlechtsprodukte Verwendung finden, dass auch ein Teil des
im Körper enthaltenen Fettgewebes zu diesem Zweck umgewandelt
wird, und dass diese freiwerdenden Stoffe in den Geschlechts-
organen wieder zusammengefügt werden bezw. innerhalb derselben
ihre morphologische Gestaltung in Eizellen bezw. Samenzellen
erhalten. Auf Grund dieser neueren Untersuchungen sind wir nun
gewiss berechtigt, die Existenz von ununterbrochenen Beziehungen
zwischen dem ganzen Organismus und den Geschlechtszellen
(Keimzellen) anzunehmen, wobei jede Geschlechtszelle gewisser-
massen einen Mikrokosmos im elterlichen Makrokosmos darstellt.
Ganz abgesehen von den in abgeschwächter Form bis zu den
Keimzellen fortgepflanzten Erregungszuständen, von denen im
vorhergehenden die Rede war, zeigen uns also die Gauleschen
Untersuchungen noch einen anderen Weg, auf dem die Fortleitung
mnemischer Einprägungen bis zu den Keimzellen und mit ihrer Hilfe
die Übertragung der Erinnerungseinprägungen auf den neu ent-
stehenden Organismus erfolgen kann.
Zu den wissenschaftlichen Fragen, über welche uns das
Studium der mnemischen Einprägungen ebenfalls wichtige Auf-
klärung geben dürfte, gehört auch die Frage nach den zwischen
Ontogenese (individuelle bezw. embryonale Entwicklung)
und Phylogenese (stammesgeschichtliche Entwicklung)
bestehenden Beziehungen. Was diese Frage anlangt, so dürfen
wir wohl als bekannt voraussetzen, dass der Verlauf der embryonalen
Entwicklung mit demjenigen der stammesgeschichtlichen Evolution
in seinen Grundzügen übereinstimmt, dass ebenso, wie wir bei
letzterer eine fortschreitende Entwicklung von einzelligen Lebewesen
zu Würmern, von diesen zu fisch- und molchähnlichen Geschöpfen
und dann weiter unter fortwährender Steigerung und Vervoll-
kommnung zu den höheren Wirbeltieren anzunehmen haben —
dass wir in analoger Welse bei der embryonalen (ontogenetischen)
Entwicklung eine Anzahl von Phasen zu unterscheiden haben, die
den soeben erwähnten stammesgeschichtlichen Entwicklungsstufen in
ihren Grundzügen entsprechen. Das Vorhandensein einer solchen
- 38 —
Übereinstimmung zwischen der Stammesgeschichte der Organismen-
welt und der embryonalen Ausbildung des Individuums — eine
Erscheinung, die Haeckel als nbiogenetisches Grundgesetz**
bezeichnet — wird denjenigen nicht in Erstaunen versetzen, der
sich vergegenwärtigt, dass die mnemischen Einprägungen, ebenso
wie sie die Grundlage bilden für die von Stufe zu Stufe fort-
schreitende individuelle Entwicklung, so auch den Rahmen abgeben
für jene stammesgeschichtliche Evolution, an deren Zustande-
kommen neben den Erinnerungseinprägungen die Zuchtwahl und
natürliche Auslese in hervorragender Weise beteiligt sind. Dass
andererseits zwischen embryonaler (ontogenetischer) und stammes-
geschichtlicher Entwicklung doch wiederum erhebliche Unterschiede
bestehen, wird sofort verständlich, wenn wir in Erwägung
ziehen, dass die Dauer des Ablaufs jener beiden Entwicklungs-
prozesse unendlich verschieden ist, dass den Jahrmillionen der
stammesgeschichtlichen Evolution Stunden, Tage oder höchstens
Wochen der ontogenetischen Entwicklung gegenüberstehen. Wenn
auch die von den Vorfahren eingeschlagene Entwicklungsbahn
von jedem Nachkommen immer wieder in annähernd gleicher
Weise gewandelt werden muss, so ist es doch leicht begreiflich,
dass mit der Zeit dieser Weg — insbesondere in seinen ältesten
und deshalb am häufigsten zurückgelegten Anfangsstrecken —
hier und da abgekürzt und verändert wurde. Solche Veränderungen
ergeben sich auch mit Notwendigkeit daraus, dass während jeder
neuen Ontogenese neue Originalreize auf den Organismus einwirken
und ihre einprägenden Wirkungen dem alten mnemischen Bestand
hinzufügen.
Was speziell jene Erscheinungen anlangt, die wir als
„Instinkte** zu bezeichnen gewohnt sind, so haben wir bereits
darauf hingewiesen, dass wir in den Instinkthandlungen Vorgänge
zu erblicken haben, die ohne irgendwelche Beteiligung der höheren
Nervenzentren (Organe für höhere geistige Tätigkeiten) auf rein
automatische Weise sich vollziehen, und dass bei ihnen die
Beteiligung des Bewusstseins völlig oder nahezu völlig ausge-
schlossen ist. Dass bei den Instinkthandlungen, obwohl sie
durch die Regelmässigkeit und Zweckmässigkeit des Ablaufs ihrer
3*
Prozeduren nicht allzuselten den Schein von Vernunfthandlungen
hervorrufen, Bewusstseinszustände in keiner Weise beteiligt sind
— hierfür haben die von Fahre mit der Grabwespe (Sphex)
angestellten Versuche, deren wir oben gedachten, einen unzwei-
deutigen Beweis geliefert. Dass auch das Nützlichkeitsprinzip,
wie es die Darwinistische Forschung in Form des Überlebens der
an die Existenzbedingungen am besten angepassten Individuen
und Arten proklamiert, bei den Instinkthandlungen der Tiere in
vielen Fällen nicht zutrifft — zur Begründung dieses Schlusses
bieten die von J. Romanes, dem Schüler und Freunde Darwins,
angestellten Untersuchungen reiches Material. Während einerseits
nicht zu verkennen ist, dass jener Naturtrieb, den man als „Instinkt**
bezeichnet, die einzelnen Tierarten in ihrem Lebensaufbau in der
wunderbarsten Weise unterstützt, und sich ihnen in der Regel als
ein zuveriässiger Ratgeber beim Nahrungserwerbe, bei der Selbst-
erhaltung und bei der Aufzucht der Nachkommenschaft bewährt,
fehlt es andererseits doch nicht an Beweisen dafür, dass der
Instinkt nicht immer und unter allen Umständen mit richtiger'
Sachkenntnis arbeitet, und dass er oftmals verderblich für die Nach-
kommenschaft wird, ohne der Art zu nützen. Die Insekten fliegen,
vom Kerzenschein angelockt, einem sicheren Tode entgegen. Das
Rindvieh und die Pferde, die man aus einem brennenden Stalle
zu retten sucht, rennen wieder in die Flammen hinein. Der männ-
liche Fasan kräht laut, wenn er zur Ruhe geht und verrät sich
dem Jäger. Die wilde Henne in Indien gackert, wenn sie ein Ei
gelegt hat, nicht minder laut als ihre gezähmten Artgenossen,
und so sind die Eingeborenen leicht imstande, ihr das Nest
auszunehmen. Der amerikanische Strauss zerstreut den grössten
Teil seiner Eier über das Land, so dass sie unabwendbar zugrunde
gehen. Der Kukuk legt manchmal zwei Eier in das nämliche
Nest, was natürtich zur Folge hat, dass nachher einer der beiden
jungen Vögel hinausgedrängt wird. Auch ist der Wander-
trieb mancher Tiere höchst mangelhaft ausgebildet. So unter-
nehmen z. B. Insekten, welche sonst nicht gesellig leben, zeit-
weilig grosse Wanderzüge und kommen in ungezählten Scharen
im Meere um. Die nordamerikanischen Bisone wandern, auf
— 86 -
ihren Zfigen zu grossen Herden zusammengedrängt, mit solchem
Ungestüm auf engem Felspfade, dass viele von ihnen in den
Abgrund stürzen. Auch der norwegische Lemming wird durch
seinen Instinkt häufig ins Verderben gelockt. Diese kleinen Nage-
tiere besuchen bestimmte Teile von Norwegen nicht regelmässig,
können aber mit ziemlicher Sicherheit alle drei bis vier Jahre dort
erwartet werden. Ihre Wanderung ist stets nach Westen gerichtet;
sie durchkreuzen Seen, Flüsse und tiefe Schluchten. Sie ziehen ihre
Familie während der Wanderung gross, und die drei oder vier
Generationen eines kurzen subarktischen Sommers helfen den Zug
anschwellen. Sie überwintern die sieben oder acht schwersten Monate
unter einer mehr als sechs Fuss hohen Schneedecke, nehmen
mit den ersten warmen Tagen ihre Wanderung wieder auf und ziehen
unentwegt weiter und immer weiter. Schliesslich stürzt sich der
abgehetzte Haufen, durch die fortwährenden Angriffe von Wölfen,
Füchsen, Renntieren, Adlern, Falken, Eulen und Menschen ge-
schwächt, aber trotzdem noch in ungeheurer Menge in den
Atlantischen Ozean, wo alle Mitglieder des Zuges, ohne irgend
welche Ausnahme ertrinken.
Diese Ereignisse sprechen eine beredte Sprache; sie be-
weisen, wie bereits bemerkt, dass der Instinkt nicht unter
allen Umständen dem Gedeihen der Art bezw. Rasse
dient; sie legen zugleich auch die Vermutung nahe, dass neben
dem Überleben der am besten angepassten Individuen
und Arten, das unter allen Umständen der Art bezw. Rasse
zustatten kommt, an den Instinkthandlungen noch ein
anderes Prinzip beteiligt sein muss. Diesen weiteren
ursächlichen Faktor haben wir aber mit grosser Wahr-
scheinlichkeit in den mnemischen Einprägungen zu
erblicken, die darauf hinwirken, dass Handlungen, die vielleicht
in vergangenen Jahrtausenden oder Jahrmillionen unter völlig ver-
schiedenen Existenzbedingungen für jene Tiere sich als vorteilhaft
erwiesen haben, auch noch zu einer Zeit fortgesetzt werden, wo
unter veränderten äusseren Verhältnissen die Festhaltung der
uralten Erinnerungseinflüsse jene Tiere mit Verderben bedroht,
in vielen Fällen sogar ihre Vernichtung herbeiführt.
— Sß -
Wenn wir im vorhergehenden bemerkten, dass wir bei
Deutung der Instinl^thandlungen mit dem Darwinistischen Prinzip
der Zuchtwahl und natürh'chen Auslese nicht auskommen, vielmehr
zur Erklärung jener Tätigkeiten die Erinnerungseinprägungen
heranziehen mfissen, so wäre es andererseits doch völlig irrig,
wenn wir annehmen wollten, dass die mnemischen Einprägungen
an und für sich schon für das Zustandekommen und die Regu-
lierung der in der Organismenwelt sich abspielenden Vorgänge
genügten. Die Einflüsse der Aussenwelt wirken in zwiefacher
Weise verändernd auf die Organismen ein, nämlich erstens im
Sinne einer vorübergehenden Einwirkung, zweitens über diese
hinaus, indem sie mit Hilfe der Erinnerungseinprägungen eine
dauernde Umbildung herbeiführen. Die auf unserem Planeten
stets wechselnde, niemals sich genau wiederholende äussere
energetische Situation wirkt also als Umgestalterin, die Fähigkeit
der organischen Substanz von jeder Erregung dauernd beeinflusst
zu werden, bezw. Einprägungen jener Erregungszustände aufzu-
bewahren wirkt als Erhalterin dieser Umgestaltung in der Flucht der
Erscheinungen. Wie gross auch die Bedeutung, welche wir jenen
ursächlichen Momenten zuschreiben, so sind sie dieselben für sich
allein doch nicht imstande, jenes bemerkenswerte Verhältnis zu
der umgebenden Aussenwelt herbeizuführen, das man treffend als
„Anpassung** oder als „Angepasstsein an die Lebensbedingungen**
bezeichnet hat. Für diese Anpassung lässt sich weder die direkte
Wirkung der umgestaltenden Aussenwelt, noch auch das rein auf-
bewahrende mnemische Vermögen der organischen Substanz
verantwortlich machen. Es bedarf dazu des Hinzutretens eines
weiteren Prinzips, wie es von Darwin und seinen Nachfolgern
durch den Nachweis einer logisch notwendigen und tatsächlich
vorhandenen auslesenden Wirkung der Aussenwelt festgestellt
wurde — einer Wirkung, die durch unablässige Beseitigung von
allem weniger gut Angepassten nur dem Passenden die Gelegen-
heit einer dauernden Erhaltung gibt. Die Selektion ist in der
Tat nur die Entfernerin alles Existenzunfähigen, demnach ein rein
negatives Prinzip; aber da sie unausgesetzt an der Arbeit ist,
dürfen wir uns nicht wundern, überall nur. Existenzfähiges zu
finden. — Ebensowenig wie in der Zuchtwahl erbUcken wir in
der Mneme ein allmächtiges Universalprinzip, das uns für sich
allein schon den Schlüssel zum Verständnis des organischen Ge-
schehens liefert. Wir erblicken aber in ihr das für die organische
Entwicklung unumgänglich notwendige erhaltende Prinzip, das die
Umbildungen bewahrt, welche die Aussenwelt fort und fort schafft
Nur durch das Zusammenwirken der beiden Prinzipien:
der erhaltenden und aufbewahrenden mnemischen Ein-
Prägungen und demSurviving of the fittest (Ausmerzung
aller auf die Dauer existenzunfähigen Individuen und
Arten und ausschliessliche Erhaltung der gut angepassten)
— nur durch die kombinierte Wirkung dieser beiden Fak-
toren lassen sich die Erscheinungen der organischen
Welt in völlig zufriedenstellender Weise erklären.
Zum Schlüsse möchten wir noch einem Einwände begegnen,
der vielleicht unseren Dariegungen entgegengehalten werden könnte.
Einem oder dem anderen unserer Leser könnte nämlich der
Gedanke sich aufdrängen, dass wir bei unseren Erörterungen
insofern nicht ganz logisch zu Wege gegangen sind, als wir körper-
liche und geistige Vorgänge von einem und demselben Gesichts-
punkte aus beurteilen. Auf den ersten Blick hat es nun aller-
dings den Anschein, als ob in unseren Auseinandersetzungen Dinge
miteinander verglichen wurden, die nicht vergleichbar sind, als
ob der rein geistige Zustand, den wir als „Gedächtnis*" bezeichnen,
und jene Einprägungen in die organische Substanz, die wir als Grund-
lage der wichtigsten Lebenserscheinungen betrachten, völlig ver-
schieden geartet und daher nicht vergleichbar seien. Wir legen
hier den Nachdruck auf die Worte: „es hat den Anschein**;
denn jene Verschiedenartigkeit ist eben nur eine scheinbare und
in Wirklichkeit nicht vorhanden. Es gehört nämlich nur geringes
Nachdenken dazu, um zu dem Schlüsse zu gelangen, dass in allen
jenen Fällen, wo wir geistig den Eindruck eines Erinnerungs-
vorganges in uns haben, ganz bestimmte materielle Veränderungen
in der Substanz der Hirnzellen vor sich gehen, und dass bei den
auf niedriger Entwicklungsstufe stehenden Organismen die mnemi-
schen Einprägungen an die Zellsubstanz des Tier-, bezw. Pflanzen
körpers gebunden sind. Wie jene Veränderungen bezw. Umge-
staltungen der Substanz der Hirn- bezw. Körperzellen beschaffen
sind, die wir als Grundlage des Erinnerungsvermögens und der
mnemischen Einprägungen vorauszusetzen haben — hierüber
können wir beim gegenwärtigen Stande unseres Wissens ein end-
gültiges Urteil freilich nicht abgeben; ja, wir müssen es sogar
als zweifelhaft bezeichnen, ob das eigentliche Wesen der Geistes-
zustände und seelischen Vorgänge der menschlichen Erkenntnis
nicht für immer verschlossen bleiben, ob nicht gerade auf diesem
Forschungsgebiete das bekannte „Ignorabimus** du Bois Reymonds
sich bewahrheiten wird. Dass aber geistige und körperliche
Erscheinungen nur scheinbare Gegensätze darstellen, dass das
Geistesleben des Organismus mit seinem materiellen Substrat
auf das engste und unzertrennlich verwachsen und verknüpft ist,
darauf deuten nicht nur unsere vorhergehenden Betrachtungen,
sondern auch die Ergebnisse aller neueren biologischen Unter-
suchungen. Wir haben auch bereits darauf hingewiesen, dass
gewichtige Gründe zugunsten der Annahme sprechen, wonach
den geistigen Vorgängen bezw. mnemischen Einprägungen be-
stimmte, in den Hirn- bezw. Körperzellen sich abspielende Molekular-
bewegungen, bezw. Umlagerungen der Molekeln zugrunde liegen.
Molekularbewegungen d. i. Bewegungen oder Schwingungen der
kleinsten Teile der Materie anzunehmen, sind wir genötigt, sobald
wir den Lichtstrahl durch den Weltenraum verfolgen oder die
Gesetze der Elektrizität zu ergründen versuchen. Wenn es dem
Physiker gestattet ist, zur Erklärung des Magnetischwerdens des
Eisens molekulare Veränderungen bezw. Umlagerungen der Molekeln
in jenem Metall heranzuziehen, wenn der Chemiker, um für seine
Lehre von der Zusammensetzung der chemischen Verbindungen
eine Grundlage zu gewinnen, auf die letzten, unteilbaren Bestand-
teile der Körper, auf Molekeln und Atome, zurückgreift, so sollte
es dem Biologen wohl ebenfalls gestattet sein, behufs Erklärung
jener geheimnis vollen Zustände und Vorgänge des Geisteslebens,
die wir als „Gedächtnis** und „mnemische Einprägungen** be-
zeichnen, Molekularbewegungen, bezw. Umlagerung der Molekeln
zu Hilfe zu nehmen.
^^^.^
ORENZFRAGEN DER LITERATUR UND MEDIZIN
in Einzeldarstellungen
herausgegeben von Dr. S. RAHMER, Bertin.
3. Heft.
Chr. D. Grabbes Krankheit
Eine medizinisch-literarische Studie
von
Dr. Erich Ebstein,
Manchen.
Mit Grabbes Bildnis, Faksimile und Unsedrucktem.
MÜNCHEN 1906
ERNST REINHARDT, Verlagsbuchhandluns
Jigerstrasse 17.
MEINEM LIEBEN VATER
ZUM 70. GEBURTSTAGE.
27. NOVEMBER 1906.
Inhalt.
Chr. D. Qrabbes Krankheit: Seite
I. Vom h'terarisch-psychologischen Standpunkt . . 1^23
II. Vom medizinischen Standpunkt 24—43
III. 1. Ungednicktes (Bruchstucke aus Grabbes »Her-
mannsschlacht" und Briefe) 44—48
2. Verzeichnis weiterer Literatur 49—50
Vorwort.
Die Grabbe-Forschung ist in den letzten Jahren von den ver-
schiedensten Seiten in Angriff genommen worden. Ich erinnere nur an
die schöne Ausgabe Eduard Grisebachs*) und die jüngst erschienenen
Arbeiten von Carl Behrens, O. Krack und A. Ploch; in Bälde
wird uns Paul Friedrich eine neue Grabbe-Studie bescheren. Mich
selbst auch hat seit einigen Jahren diese ungemein interessante
Persönlichkeit beschäftigt, und ich hatte versucht, an der Hand
von z. T. vergessenen zeitgenössischen Schilderungen als Ergebnis
meiner Studien einen „Beitrag zur Krankengeschichte" des Dichters
zu liefern. Dieser in der Zeitschrift für Bücherfreunde — Märzheft
1906, S. 486 — 496 — abgedruckte Aufsatz, der vorwiegend für
Literarhistoriker bestimmt ist, bildet mit Zusätzen und Veränderungen
den ersten Teil dieses Heftes. Der zweite Teil versucht, auf
Grund weiterer erneuter Ermittelungen und Studien die Frage nach
Grabbes Krankheit definitiv zu beantworten, soweit das nach den
uns voriiegenden laienhaften Berichten angängig ist; dieser be-
sonders für Mediziner bestimmte Abschnitt enthält zugleich einen
Beitrag zur Geschichte der Tabes dorsalis.
Zu meiner Freude geben mir die „Grenzfragen der Literatur
und Medizin'* Gelegenheit, zugleich einer oft an mich gerichteten
Aufforderung von Freunden nachzukommen, die mir zeigt, dass
man solchen Fragen der „Pathographie** von selten der Literar-
historiker sowie Mediziner das verdiente Interesse entgegenbringt.
Ist diese doch, wie Iwan Bloch vor kurzem bemerkt hat, „durchaus
geeignet und berufen als ein wichtiges Hilfsmittel der Biographie"
verwendet zu werden.
München, 17. Oktober 1906.
Krankenhaus 1. d. Isar.
Dr. Erich Ebstein.
*) Nach dieser, 1902 erschienenen Ausgabe zitiere ich durchweg, als
der jetzt massgebenden, bemerke aber, dass sie ihre Gundlagen grossenteils
Oskar Blumenthal und seiner (längst vergriffenen) bahnbrechenden,
„ersten kritischen Gesamt-Ausgabe** Grabbes (1874/76} verdankt
I. TEIL.
Die Krankengeschichten grosser Männer haben jetzt, besonders
in den letzten zehn Jahren^), vielfach das Interesse sowohl von Ärzten
als auch von Literarhistorikern erregt Ich brauche hier nur an die
vier „P^thographien'' von Möbius zu erinnern, die sich mit
Rousseau, Goethe, Schopenhauer und Nietzsche befassen. Was
Möbius mit diesen ,»Pathographien* will, das hat er in seiner
Einleitung zu Band I (1903) auseinandergesetzt und muss da
nachgelesen werden; sein Standpunkt ist übrigens hinlänglich
bekannt. Er sagt u. a., früher habe die fable convenue gelautet:
entweder ist einer gesund oder er ist verrückt. Richtiger aber
heisse es: «Niemand ist gesund, in jedem von uns ist Gesundes
mit Krankhaftem gemischt, und je weiter sich einer vom Durch-
schnitt entfernt, um so mehr entfernt er sich von der Normalität."
Es kann hier nicht der Ort sein, den Möbiusschen Ausein-
andersetzungen zu folgen; es mag nur gesagt sein, dass die
Literarhistoriker keinen Grund haben, darüber zu spotten, „dass
auch der Gesundeste der Gesunden der ungünstigen psychiatri-
schen Diagnose verfallen ist'* *) Jedenfalls ist es sehr zu bedauern,
dass eine grosse Reihe von Lebensbeschreibungen bedeutender
Männer auf deren körperliche Zustände so wenig Rücksicht nimmt.
So heisst es z. B. in einer vielgelesenen Goethebiographie : , JMit
Schönheit, Kraft und Gesundheit reich ausgestattet*' Mit Bezug
auf die Gicht Goethes bemerkte W. Ebstein („Die Gicht des
Chemikers J. Berzelius und anderer hervorragender Männer*',
Aber auch schon früher, vgl. u. a. „Dr. Martin Luthers Kranken-
geschichte'' von Friedrich Küchenmeister, Leipzig 188L
*) Ich darf an dieser Stelle wohl auch auf meine im «Janus**
November 1905, Seite 572—574, veröffentlichte historische Notiz verweisen :
„Über das Pathologische bei Nietzsche nach Th. Ziegler, P.J. Möbius
und A. Bilharz'*.
Qrenzfragen d. Lit. u. Medizin. 3. Heft. 1
— 2 —
Stuttgart 1904): „Für die Beurteilung grosser Männer sind
derartige Dinge keineswegs gleichgültig. Gerade die Gicht ge-
hört zu den Krankheitszuständen, welche den betreffenden In-
dividuen einen eigenartigen Stempel aufdrücken und zu ihrem
Nachteil von nicht Sachkundigen gedeutet und als Charakterfehfer
aufgefasst werden;'*
In dieser Art war u. a. die Arbeit von MaxMorris über „Hein-
rich von Kleists Reise nach Würzburg*' (Berlin 1899), die übrigens
in Walter Bormann und seinem leider lange übersehenen Auf-
satze „Neueres über Heinrich von Kleist" (Unsere Zeit, heraus-
gegeben von R. V. Gottschall, 1886, Heft 4, 549—567) einen Vor-
gänger hat, mit Freuden zu begrüssen. Ich habe diese beiden
Studien natürlich nur aus der grossen Menge herausgegriffen;
denn allein die Literatur über „Medizinisches bei Goethe" usw.
ist bereits so sehr angewachsen, dass sie sich kaum mehr fiber-
sehen lässt*).
Nach diesen einleitenden Bemerkungen möchte ich im fol-
genden einen kleinen Beitrag zu der Krankengeschichte Christian
Dietrich Grabbes liefern, die die Literarhistoriker bisher offen-
bar sehr wenig, die Mediziner merkwürdigerweise aber fast gar
nicht interessiert hat. Es ist bekannt, dassGrabbe 1836 jung gestorben
ist — er ist nur 34 Jahre 9 Monate und einen Tag alt geworden.
Die meisten seiner Biographen haben sein frühes Ende darauf
zurückgeführt, dass er ein Trinker gewesen, der am Alkohol zu-
grunde gegangen sei. Ed. Duller lässt Grabbe an der „Magen-
schwindsucht" sterben, H. Döring an „verbrannten Eingeweiden**
und K. Ziegler an einer „förmlichen Rückenmarkschwindsucht.**
Diese Diagnose, so meint Grisebach, der letzte Herausgeber der
Grabbeschen Werke, stütze sich jedenfalls auf den Ausspruch des
Grabbe behandelnden Arztes Piderit.
•) Vor Kurzem hat C. F. van V lauten »Die Leidensjahrc Karl
Gutzkows** (Liter. Echo 1906, No. 19 u. 20) und „Die Geistesstörung Friedrich
Hölderlins** [Dementia praecox catatonica] (Die Nation XXIII, No. 40) einer
medizinischen Analyse unterworfen.
— 3 —
Im Jahre 1898 hat der Literarhistoriker, Carl Anton
Piper, in seinen „Beiträgen zum Studium Grabbes" den Dichter
als eine psychopathische Erscheinung geschildert, d. h. ihn mit
der Diagnose „psychopathische Minderwertiglceif'^) belegt, einem
Ausdruck, den Piper dem ebenso betitelten Buche des Psychiaters
J. L. A. Koch (Ravensburg 1891) entnommen hat Gustav
Roethe in Berlin hat über das Pipersche Buch eine beachtens-
werte Kritik (Deutsche Literarturzeitung 1901, Nr. 4) geschrieben,
der ich mich völlig anschliesse. So legt z. B. Piper einen besonderen
Wert auf die „verbluffende Vollzähligkeit*, in der bei Grabbe die
Symptome der sogenannten psychopathischen Minderwertigkeit auf-
treten. »Aber was kreidet Piper nicht alles an !* bemerkt Roethe
mit Recht. „Er wittert Unrat, wenn Grabbe als Knabe leiden-
schaftiich sich in die Illusionen seines Bohnenspiels vertieft, wenn
er unreife Pflaumen den reifen vorzieht; dass er die Einsamkeit
Hebt, ja dass er in keine Burschenschaft eingetreten ist, wird ihm
verdacht; dass er fast ausschliesslich Dramen geschrieben hat,
verrät eine psychopathisch gravierende Einseitigkeit Weiter be-
tont Roethe, dass ihn „weder das Material der Untersuchung,
das gutenteils in unsicheren und mehrdeutigen biographischen
Kleinigkeiten besteht*", noch die Methode Pipers befriedige.
Sehr zu bedauern ist, dass für Grabbes Leben nicht genügend
sichere und zuverlässige Quellen fliessen. Mit Eduard Grise-
bachs Vierbändiger Grabbe-Ausgabe sind wir ein Stück weiter ge-
kommen in der Kenntnis von Grabbes Leben und Werken als
O. Blumenthal 1874. Besonders Grabbes Briefe und der durch Grise-
bach wiederhergestellte echte Text der Grabbeschen Dramen sind uns
neue wertvolle Hilfsmittel geworden. Die Zeiten sind wohl vorüber,
da W. Scherer (Geschichte der deutschen Literatur. 6. Auflage,
Beriin 1891, S. 782) „den Ernst nicht begriff, mit dem die Literar-
historiker und Herausgeber (Gottschall, 2 Bände, Leipzig 1869;
Blumenthal, 4 Bände, Detmold 1874) den Dichter Grabbe be-
handelten'*. Sc her er gibt dort zu, ihm müsse wohl das Organ
*) Besser ,,psychopathische Degeneration" nach Möbius (Schmidts Jahr-
bficher, Jahrgang 1892, S. 102).
— 4 -
fehlen, da er ihn «bloss lächerlich" und nur als eine Art Vor-
bereitung auf Hebbel interessant finden könne.
Jedenfalls — und das soll hiermit betont werden — dürfen
wir, wie bei anderen problematischen Dichtem, so auch bei Orabbe
nicht aufhören alles das zusammenzubringen, was uns für die
Kenntnis seines Lebens und seiner ganzen Persönlichkeit Auf-
klärung verschafft.
Mir war es sehr interessant, dass ich gelegentlich anderer
Studien auf einen intimen Kenner von Qrabbes Innenleben hin-
geleitet wurde, der den Literarhistorikern und besonders den
Qrabbe- Forschern merkwürdigerweise entgangen zu sein scheint.
Ich meine Grabbes Verhältnis zu Theodor von Kobbe
(1798—1845). Wer war Kobbe? «Ein deutscher Humorisf* lautet
die Antwort Krause (Allgemeine Deutsche Biographie, Band 16,
S. 344 f.) zählt ihn zu den besseren Humoristen unserer Literatur
und lobt sein eigenartiges, anregendes und dabei der gutmütigen
niedersächsischen Derbheit nicht entbehrendes Wesen. Für Kobbes
volkstümliches Wesen spricht, dass er lange Zeit — selbst von
seinen Verwandten — für den Verfasser von „SwfnSgels Wett-
loopen updeBuxtehuder Meid" gehalten werden konnte, einem Büch-
lein, dessen wirklicher Verfasser, Wilhelm Schröder, sich erst
nach langen Jahren nannte.
Adolf Stahr hat seinem Freunde Theodor von Kobbe einen
„Denkstein" in seinen „Kleinen Schriften" gesetzt; ich muss
darauf verweisen. Über Qrabbes Verhältnis zu Kobbe findet man
dort allerdings nichts: ich entnehme meine Mitteilungen aus
Kobbes „Humoresken aus dem Philisterieben", zweites Bändchen
(Seite 11—24), Bremen 1841.
Kobbe verdankte die Bekanntschaft Grabbes Immermann;
er hatte zwar selbst schon einige Jahre vorher an Grabbe ge-
schrieben, „beseelt von dem Wunsche, seine Person kennen zu
lernen."
Grabbes Antwort, die selbst E. Grisebach entgangen ist^),
') In Grisebachs Ausgabe fehlen ferner u. a. Grabbes Briefe an F. W. Gu-
bitz vom 22. Dezember 1827 und vom 7. März 1828; vgl. F. W. Gubitz,
Erlebnisse. Zweiter Band. (Beriln 1868), S. 268—260. Auf die anderen Aus-
- 5 -
lautete wörtlich wie folgt (dieser Brief wäre bei Qrisebach in
Band IV als Nummer 109a einzureihen):
Gechrtester HerrI
Ich danke für Ihren Brief. — Verzeihen Sie meine flüchtige Antwort
auf Schreibpapier. Ich schreibe sie, während Untersuchung angeblich Dienst-
untauglicher Militärs, und kann, da meine Stube von ihnen belagert ist.
Niemand nach Briefpapier aussenden.
Meine Poesien sind alle flüchtig geschrieben, und nicht so gut als
Sie wollen. Mein ansprechendstes Werk muss der Barbarossa^ sein. Da-
mals schien mir die Sonne des Glücks, seit zwei Jahren [1830] aber nichts
als Geschäfte, Undankbarkeit, ArmbruchO« alle drei Wochen infolge eines
früheren wüsten Lebens einen mich immer mehr ermattenden Krankheits-
angrifP), seit 7 Monaten [Juli 1831], wo ich, um ordentlicher zu werden,
mich häuslich ketten wollte, eine angeblich vor meiner Geistesschwäche
von hier entwichenen Braut*), an der ich hänge, und wieder eine andere ^^.
die ich wohl schätze, aber an der ich nicht hänge, sie jedoch an mir, dass
alles muss anders werden, oder in diesem Jahre [1832] so oder so endigen.
lassungen überGrabbe in GubiU* „Gesellschafter"' (1827, BI.206; 1829, B1.78;
18a0, BI. 80; 1836, Bl. 178) kann hier leider nicht eingegangen werden.
Diesen sowie andere Hinweise verdanke ich der liebenswürdigen Mitteilung
von Ludwig Fränkel in München, dem ich auch für die gütige Hilfe bei
der Druckkorrektur meinen herzlichen Dank abstatte.
*) Gemeint ist „Kaiser Friedrich Barbarossa. Eine Tragödie in
fünf Akten** [bei Grisebach II, 119-239] : sie wurde am 18. April 1829 im
Manuskript an den Verleger abgeliefert
") Am 3. August 1830 schreibt Grabbe an Wo If g. Menzel (IV, 290 f. bei Grise-
bach): nFolgen eines zerschmetterten Armes, Gicht, Biss eines tollen Hundes,
der hoffentlich nicht schaden wird, weil Tollheit auf Tollheit wenig wirken
kann. Blutspeien und Geschäftsdrang lassen mich nicht mehr und besser
schreiben, als hier geschehen '* Einen Tag später schreibt er an
Kettembeil (IV, 292): „Ich habe sehr viel zu tun, auch Gicht und Podagra
dabei."*
*) Am 16. Januar 1831 an Menzel (Grisebach IV, 801): „Die Gicht
ist fort, aber Nervenschläge treffen mich doch noch alle vier Wochen
mit schauderhafter Kraft''
Gemeint ist Henriette Meyer, die Grabbe im Frühjahr 1830 im
Hause des Detmolder Kaufmanns Husemann kennen lernte; im September
1831 verliess sie plötzlich Detmold und schrieb ihrem Bräutigam (von
Stolzenau aus) definitiv ab, weil sie sich anderweitig verlobt hatte.
'"O Am 20. Februar 1832 schreibt Grabbe (IV, 328) : ,JVlittlerweile habe
ich wieder eine mögliche Brauf*; es war die einzige Tochter des Archiv-
rats Clostermeier, Luise Christiane (15. August 1791 — 17. Oktober 1848).
» Am 6. März 1833 wurden Grabbe und „Lucie'' Clostermeier kirchlich
getraut; Grabbe war 32, seine Frau 42 Jahre alt
- 6 -
Die Zeit und ihre Trompeter, die Poeten, haben etwas Krampfhaftes
an sich. Niemand benutzt ein Talent recht. Bruchstucke von vielen ein-
zelnen Bruckstucksmenschen sind da, aber keiner, der sie im Drama oder
Epos zusammenfasst. Wahrscheinlich kommt aber doch einmal der
Messias, der diesen Jammer im Spiegel der Kunst erklärt. Wie isfs mit
unseren berühmten Tagesautoren? Haben sie Mut? Haben sie Lebens-
frische? Kennen sie die Welt? Qeldjuden und feige sind sie
zum Teil. — Ich kenne einige.
Werfen Sie sich mir nicht an den Hals. Meine Person würde Sie
schwerlich ansprechen. Mein bester Freund findet mich entweder wüst
und wild, oder stumm und langweilig, oder in Qeschäftslaunen, und dabei
stets nachlässig im Betragen. Meine Blütenstunden sind nicht mehr. Ich
habe durchgelebt, und lache, obgleich ich keine Feder mehr ansetze, über
die in meinen frühem Sachen bewiesene schlechte Menschenkenntnis.
Lebe ich so lange, so reise ich vielleicht nächsten Sommer auf einige
Tage nach Hamburg. Ich glaube aber, es kommt auch zu dem „vielleicht*'
nicht"), sonst könnten wir uns da sprechen.
Ich bin Hochachtungsvoll
Ew. Hodiwohlgeboren
Detmold, den 10. Februar 1832 gehorsamer
Orabbe.
Persönlich lernte Kobbe den Dichter erst etwa 3Vi Jahre
spater kennen, also im September ISdS^*)-
Es sei hier nur daran erinnert, dass Grabbe seit Anfang
Dezember 1834 in Düsseldorf in regem Verkehr mit Immermann^*)
lebte. Durch Immermann hatte Grabbe bereits im Januar 1835
die Bekannschaft der Gräfin Elise Ahlefeldt gemacht, mit der er
auch später Briefe gewechselt hat
Kobbe ging nun — und damit folge ich seiner Schilderung
— „zu Immermann, der, etwa zwanzig Minuten von Düsseldorf,
vor dem Ratinger Tor lebte. Er bewohnte die untere Etage,
während die Eigentämerin des geräumigen Landhauses, die Gräfin
A[hlefeldt], den oberen Stock bezogen hatte, ich hatte die Ehre,
dieser Dame, von der es mir ungewiss ist, ob ich mehr ihren
") Es kam auch wirklich nicht dazu.
'") Diese Datierung ergibt sich sehr einfach aus dem Briefe Grabbes
an die Gräfin von Ahlefeldt in Düsseldorf vom 25. September 1835 (Grise-
bach IV, 845).
'*} Über das Verhältnis Grabbes zu Immermann vgl. Orisebach IV,
XLIXff. und Adolf Stahr, Kleine Schriften II. Bd., 1872, S. 94ff. (über
Immermann); in Faksimilie bei Otto Krack, Grabbe, S. 40.
— 7 -^
Geist, ihr Herz, oder die schöne Harmonie beider bewundern
soll, Immermanns treuester Freundin, vorgestellt zu werden. Sie
war Holsteinerin, wenigstens dort erzogen, wir hatten durch unsere
Familienverhältnisse manche Berührungspunkte. Das holsteinische
Heimweh überkam uns beide, wir plauderten in einem fort, ohne
Immermann zu berücksichtigen. Als mir dies endlich in den Sinn
kam, und ich das Gespräch abbrach, mich gegen den Dichter
entschuldigend, versetzte dieser lächelnd: „Wenn Holsteiner zu-
sammenkommen, so ist das Gespräch über ihr Land, über ihre
Heimat ein unsterbliches, wenn aber zufällig das Gespräch auf
die Rantzaus, Reventlows und Brockdorfs kommt, so ist der Knoten
gar nicht zu durchhauen.*'
„Wo der Grabbe wohl bleibt?'* bemerkte Immermann nach
einer Pause. „Ich hatte ihn eingeladen, er äusserte auch den
Wunsch, Sie zu kennen, setzte aber hinzu, ohne dafür Gründe
anzuführen: ,Wenn ich Kobbe kennen lernen soll, so muss dies
durchaus in Uniform ^^) geschehen.' Sie können sich darauf etwas
einbilden, denn er trägt seine Uniform, wie andere Leute ihren
Bratenrock, hauptsächlich bei für ihn festlichen Gelegenheiten^^).
— Er soll seinen Abschied als Auditeur in Detmold von dem
gütigen Fürsten") mit den merkwürdigen Worten schriftlich ver-
langt haben:
»Ich habe kein Fischblut und bitte um meinen Abschied."
Immermann liess sich dann noch ein weiteres über ihn aus.
Erfüllt von seinem hohen Talente, das Grabbe erst kürzlich in
seinem „Hannibal" ^^) manifestiert, beklagt er dessen Hang zur
^*) Gemeint ist die Uniform, die Grabbe in seiner Stellung als Au-
diteur zu tragen pflegte.
**) Piper (a. a. O. S. 39) sieht in dem Tragen der Auditeuruniform
das Aufleben von Qrabbes ,,Sucht nach dem Auffallenden".
**) Damals Leopold Fürst zu Lippe (nach Grisebach IV, XL).
") Hannibal erschien 1836 In Düsseldorf bei J. H. C. Schreiner. —
Immermann nahm übrigens den stärksten Anteil an Qrabbes Hannibal:
vgl. Werner Deetjen, „Zu Grabbes Hannibar* : Sonntagsbeilage zur Vossi-
schen Zeitung 1902, Nr. 22, S. 176, wo ein bisher ungedruckter Brief Immer-
manns an Grabbe vom 20. Februar 1835 abgedruckt ist. Daran schliesst
sich unmittelbar Brief Nr. 162 bei Grisebach [Bd. IV] an.
- 8 -
Crapule^^) und zu einer geistig subordinierten Gesellschaft, in der er
Spott und Scherz nach Herzenslust treiben konnte. „Ich rechne
nicht auf seinen Dank, obgleich ich wie ein Bruder fär ihn ge-
sorgt habe. Qrabbe ist gegen Tieck undankbar gewesen und
wird es auch gegen mich sein**, endete er.
»Die Tür ging auf — so fährt Kobbe fort zu erzählen —
nder uniformierte Ex-Auditeur trat herein, einige Bucher in der
Hand, mich folgendermassen anredend:
[Qrabbe]: Sind Sie Kobbe?
[Kobbe] : Der bin ich.
[Grabbe]: Theodor von Kobbe?
[Kobbe] : Auch der Vorname ist richtig.
[Grabbe] : Theodor von Kobbe, der mal an mich geschrie-
ben hat?^^)
[Kobbe]: Ja, dem Sie antworteten: „Die Zeit und ihre
Trompeter, die Poeten, haben etwas krampfhaftes an sich—*
„Nun schenke ich Ihnen etwas. Hier sind meine letzten
Werke. Mein Hannibal ist, Gott verdamm* mich, nicht schlecht.
Die Druckfehler'®) habe ich alle selbst mit der Bleifeder korrigiert*
Mit diesen Worten überreichte er mir sein ,.Aschenbrödel'''^),
seinen „Hannibal** und sein „[Das] Theater zu Dusseldorf mit
Ruckblicken auf die übrige deutsche Schaubühne*'").
Es sind falsche Gerüchte'^) über Immermanns Benehmen
gegen Grabbe in Umlauf gebracht Wer, wie ich, beide Poeten
zusammengesehen, der wird eher Immermanns Nachsicht gegen
Grabbe bewundern, als den krähwinkligen deutschen Vorurteilen,
") crapula (lateinisch) Rausch; la crapule (französisch) Liederlichkeit,
Völlerei, aber auch: liederliches Gesindel.
^^) Aus dieser Unterredung ist doch ersichtlich, dass das Gedächtnis
Qrabbes nicht so sehr gelitten hatte, wie Piper (a. a. O. S. 41) bemerkt.
'") In der bereits erwähnten bei Schreiner erschienenen Ausgabe
waren unter den „Berichtigungen** sieben Druckfehler verzeichnet
") Dramatisches Mährchen von Qrabbe. Düsseldorf bei J. H. C.
Schreiner. 1885.
") Düsseldorf bei J. H. C. Schreiner. 18d5.
") Vgl. A. Ploch, Grabbes Stellung in der deutschen Literatur. Lpz.
1905. Seite 82.
- 9 —
dass der Landgerichtsrat den verabschiedeten Auditeur über die
Achsel angeschaut habe, — als etwas für einen Immermann Un-
möglichem den geringsten Qlauben schenken. Für Männer von
solchen geistigen Rangklassen können Abstufungen in der
burgeriichen Welt, Maulwurfshugeln vergleichbar, keine scheidende
Mauer werden. Immermanns Tisch und Bibliothek standen Grabbe
jederzeit zu Dienste, und er hat gewiss noch mehr mit der linken
für ihn getan, wovon die rechte nichts weiss. —
Es hat wohl kaum ein anderer Dichter so ganz entgegen-
gesetzte Urteile erfahren, wie Grabbe. Während Vischer ihn als
„Schnapslump** bezeichnet, versetzt Gutzkow ihn unter die „Göt-
ter" *% Und doch sind beide Männer ohne allen Zweifel vorzüg-
liche Kritiker, welche eigentlich auf dasselbe Resultat, nicht aber
auf ein diametralisch entgegengesetztes Urteil'^) kommen mussten.
Vielleicht rührt dieser Kontrast daher, dass der eine den Poeten
zu subjektiv, der andere denselben zu objektiv aufgefasst hat.
Die Poesien Grabbes zeugen von einer seltenen Phantasie,
von einem gründlichen geschichtlichen Studium und sind in einem
grossartigen Stile angelegt. Nichtsdestoweniger erfasst alle seine
Leser, je mehr sie sich in den Dichter vertiefen, ein gewisses
Missbehagen, ja ein Schmerz um den Sänger selbst, der sich
bei allen seinen Bekannten auf das peinlichste steigert. Eine
tiefe edle weibliche Schöpfung ist Grabbe nach meinem geringen
Ermessen nie gelungen^^).
Grabbe lebte und starb auf dem Standpunkte der Ironie'Ot
von wo aus er das Höchste untergehen Hess und sich nur selbst
**) Gutzkow gab 1838 eine Sammlung von Kritiken unter dem Titel :
««Götter, Helden, Don Quixote" heraus; die Götter sind Shelley, G. Büchner
und Grabbe, der auf Seite 51—58 abgehandelt wird. Das Zitat von
Fr. Th. Vischer konnte mir selbst sein Sohn Prof. R. Vischer in Göttingen,
dem ich an dieser Stelle bestens danke, nicht nachweisen.
"} Vgl. den lesenswerten Aufsatz R. M. Meyers über Grabbe in der
^Nation** vom 7. und 14. Dezember 1901, in dem er demselben Gedanken
Ausdruck verleiht
'*) Dasselbe betont O. Blumenthal in : Aus Grabbes Leidensgeschichte,
S. 11 (Pur alle Wagen- und Menschenklassen. 1875. Leipzig, E. J. Günther).
") Vgl. R. M. Meyer a. a. O. S. 155 : „Grabbe ist ein Romantiker, bei
dem die Ironie tödlicher Ernst geworden ist**.
- 10 -
genoss. Er vertiefte sich nicht in den Ernst der sittlichen Ob-
jektivität, und alle Götter, welche auf seinen gewaltigen Ton er-
schienen, verschwanden auch wieder bei irgend einer verzweifeln-
den egoistischen Anwandlung auf seinen schrillenden Ruf. Galt
dies schon von seinen Schriften, so zeigte sich dies noch mehr
im taglichen Leben. In das interessanteste Gespräch, in die be-
geisternde Rede warf er oft, selbst in Gegenwart der anständigsten
Damen, fast wie dazu geprickelt, irgend ein schmutziges Wort,
über das er dann, wenn es ihm verwiesen wurde, nach einer
höflichen Entschuldigung, fast wie ein Wahnsinniger, der irgend
ein Schelmenstfick verübt hat, still zu lächeln pflegte. Der Ge-
danke, dass alles Höchste leere und eitle Einbildung sei, zer-
trümmerte ihm die grossen kolossalen Gestalten, die im wunder-
barsten Kontraste mit der Zerstörung sein grosser poetischer
Meissel fortwährend schuf.
Wir wurden jetzt^^) zum Tee gerufen, welcher in einer Laube
des Gartens serviert wurde, zu welchem sich einige Familien
Düsseldorfs eingefunden hatten. Was Qrabbe hier sagte, konnte
meines Erachtens nicht den Anspruch darauf machen, geistreich
zu sein. Manche Plattheiten wurden ihm von Immermann ver-
wiesen, worauf er sich, wie oben angegeben, benahm und von
Immermann sogar durch Drohungen zum Schweigen gebracht
werden musste.*^)
„Ohne mich mit einem Heiligenschein umgeben zu wollen* --
fährt Kobbe fort, denn ich folge seiner Schilderung getreu — «darf
ich behaupten, dass ich nie unanständige Reden in Gesellschaften
von Herren geduldet habe, in Gegenwart von Damen bringen sie
mich aber vollends zur Verzweiflung. Sie haben mich schon oft
aus dem Theater gejagt, weil ich bei dem Anblick junger Mädchen
") Das war also an demselben Tage, an dem Kobbe Grabbe kennen
lernte: im September 1836.
^) Der Bericht über dieses Benehmen Grabbes ist ein sehr wertvoller
Beitrag zu seiner Krankengeschichte. Weder Immermann, Ziegler, Piper
noch andere haben darüber irgend eine Notiz gebracht — Ich zitiere hier
nur den bei Grisebach (IV, XXXVIII) abgedruckten Vers Grabbes:
Wer nicht Zoten reissen kann,
Ist fürwahr kein Ehrenmann.
— 11 -
und anständiger Frauen, welchen man solchen Schmutz zu bieten
wagt, in ihrer Seele zu sehr erröte.
Ich mahnte daher Grabbe zum Aufbruch und liess mich
nicht länger halten. Er nahm mich unter den Arm, oder ich
vielmehr ihn"®), und wir wanderten der Stadt zu. —
In des geistreichen und edlen Dullers Notizen über Qrabbe
zu dessen Hermannsschlacht"^), findet sich der ungeheure Vorwurf
gegen Qrabbes Mutter, als habe diese Frau schon das vierjährige
Kind zum Branntweintrinken verfährt und auf diese Weise einen
langsamen Verwandtenmord begangen, — dadurch bewahrheitet
und begründet, dass Grabbe dies selbst eingestanden habe. Es
hat sich bis jetzt kein Verteidiger für die hart angeklagte Mutter
erhoben""), auch vermag ich nicht den Gegenbeweis für sie zu
übernehmen. Soviel aber bleibt gewiss, dass Grabbes eigene
Behauptung keineswegs ein gültiges Zeugnis gibt. In apathischen
JMomenten zeugte seine Ironie oft Kinder mit dem Lügengeist,
die in späteren Tagen für ihn unbezweifelte „Münchhausensche
Wahrheiten" wurden.
Dahin gehörte auch eine Klage, die er wider mich erhob.
„O, ich Unglücklicher,** rief er aus, „denken Sie sich, meine Frau
*^ Bereits gegen Ende 1834 schreibt Immermann (a. a. O. S. 45 f.}
von Grabbe : „Zuweilen kam er auch zu mir, wenn die verdrossenen Füsse
ihm den Gang nach meiner entlegenen Wohnung erlauben wollten. Da
gab es denn den lächerlichsten Anblick. Weil er sich nämlich nie in den
Weg finden lernte, so musste ihn seine Magd jederzeit zu mir begleiten.
Auf diese Weise aber langte das Paar in meinem Garten an : Grabbe mit
ernsthaftem Gesichte hinter der Magd unsicher einherschreitend,dteMagd aber
ihr errötendes Antlitz halb in der Schürze verborgen, sich schämend, dass sie
einen so grossen Herrn bei Tage über die Strasse führen müsse. — In derselben
Zeit (Dezemb. 1834) schreibt Immennann (a. a. O. S. 14) von Grabbe : „Hinterher
Grabbe an meiner Seite mit hohen und wankenden Schritten das Pflaster
tretend**, und ebenda S. 15: „Nichts stimmte in diesem Körper zusammen.
Fein und zart -- Hände und Füsse von solcher Kleinheit, dass sie mir
wie unentwickelt vorkamen — regte er sich in eckichten, rohen und un-
geschlachten Bewegungen; die Arme wussten nicht, was die Hände taten,
Oberkörper und Füsse standen nicht selten im Widerstreite."
'0 Die Hermannsschlacht. Drama von Grabbe. Grabbes Leben, von
Eduard Duller. Dusseldorf bei J. H. C Schreiner. 1888. S. 71
") Heinrich Heine führte in den JViemoiren" die Verteidigung der
Mutter (S. 103 u. 107 nach Qrisebach IV, LVIII).
- 12 —
[entjhält mir mein ganzes Vermögen vor, von dem ich meine
alte Mutter ernähren muss!"
Qrabbe sprach dies in einem so wahrhaftigen Tone, dass
ich anfangs darüber empört, ihm meinen juristischen Rat auf-
dringen wollte, den er übrigens mit einem : „Es hilft alles nichts*'
beantwortete.
Am andern Tage aber erfuhr ich von Immermann, dass dies
gerade eine fixe Idee Grabbes sei, der an das Vermögen seiner
Frau überall [= überhaupt] keinen Anspruch habe, sich aber ein-
bilde, dass es sein Eigentum sei.
Während dieser Reden hatte ich bemerkt, dass Grabbe sehr
blass wurde und sich rückwärts zu krümmen anfing. Berauscht
war er nicht, denn er hatte mehrere Stunden hindurch nur etwa
ein einziges Glas Wein, mit Wasser vermischt, getrunken. Ich
fragte ihn, er sei doch nicht der verkappte Teufel, welcher an-
getan mit den vielen Westen seiner Grossmama, zur Zeit der
Hundstage in der Sonne erfriert, den er in irgend einer Erzählung'')
so köstlich geschildert hat. Der Gedanke beschäftigte ihn
lebhaft, er überliess sich demselben ganz und gar, mir aber seinen
Körper, den ich mühsam und in Schweiss gebadet, vor das
Ratinger Tor brachte, wo ich ihn auf einen Stuhl, der vor einer
Honigkuchenbude stand, sich ganz erschöpft niedersetzen liess.
Ich konnte ihn aber so, in seiner Uniform, nicht lange in
conspectu omnium lassen, ich bestellte daher eine Sänfte, da
diese näher bei zu haben war als ein Wagen. Sehr häufig muss
nun freilich der Gebrauch einer Portechaise in Düsseldorf nicht
sein, denn die vergelbten Vorhänge konnten das Zusammen-
gezogenwerden keineswegs ertragen, sondern fielen bei der Be-
rührung, wie manche im Schutt von Herculanum und Pompeji
gefundenen Figuren, zusammen. — Dies hatte die schlimme Folge,
dass die verwünschte Auditeur-Uniform fortwährend aus dem
Glaskasten blinkte. —
Ein Heer von Gassenjungen begleitete die Sänfte. — „Ein
") Grabbes »Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung.** I. Aufzug,
zweite Scene [Grisebach a. a. O. I, S. 279 f.]
— 13 —
Offizier, der die Cholera *0 belcommen hat'\ hiess es allgemein.
Der menschliche Muckenschwarm mehrte sich von Minute zu
Minute. — Da fiel mir die durchlauchtige Prinzessin Medea ein»
die dem sie verfolgenden Vater die einzelnen Glieder des Bruders
vorwarf, um den frommen Aetes durch Aufsammlung der Gebeine
von der richterlichen Nacheile abzuhalten ; ich zog den Geldbeutel
aus der Tasche und warf von dem steilen Düsseldorfer Wall einen
Silbergroschen nach dem andern hinab. Nachdem ich so sieb-
zehn geopfert, gelang es mir, dass der gute Grabbe ohne eine
sehr auffallende Suite in dem Weinhause'^) anlangte, wohin er
nach seiner letzten Äusserung, beim Eintritt in die Sanfte, gebracht
zu werden gewfinscht hatte.
Grabbe wurde auf das Sofa gelegt, wo er in einen halb
totenähnlichen Zustand verfiel. Mehrere seiner Bekannten, unter
denen ich als wohl den vorzüglichsten den ehrenwerten Doktor
Runkel, späteren Redakteur der Elberfelder Zeitung'*), nenne,
fanden sich ein. Von der Nachricht seines Todes erschreckt, eilte
auch der Verieger'^) der noch nicht ausgeführten „Hermanns-
schlacht"") herbei.
Ich nahm während der Zeit das mir geschenkte „Aschen-
brödel'*'^) zur Hand, blätterte darin und teilte dem Doktor Runkel
einige Stellen mit.
**) Bekanntlich dehnte sich die Cholera während der Jahre 1826 bis
1887 ober den grössten Teil der Erde aus; im Jahre 1885 ist sie in Deutsch-
land allerdings nicht au^etreten — erst 1887 in geringer Verbreitung in
Mittenwald in Oberbayem und München — , sondern hauptsächlich in
Nord-Italien (A. Hirsch). — Auf die sogenannten «Cholcraanfälle* (vgLGrise-
bach IV, 480) Grabbes werde ich im zweiten Teil dieser Arbeit ausführlicher
zurfickkommen.
*^ Das in der Rheinstrasse in Düsseldorf gelegene .Weinhaus* hiess
.Zum Drachenfels" und der Wirt Stange; in der Wirtschaft hing später
Qrabbes Bild fiber dem Platze, wo er meist gesessen. Vgl. Qrisebach
IV, LH und Albert Ellmenreich [vgl. Literaturverzeichnis] S. 78.
**) Dr. Martin Runkel, vgl. E. Duller a. a. O. S. 73.
^ Der Buchhändler J. H. C. Schreiner; bei ihm erschien 1838 die
.Hermannsschlacht*.
'") Am 25. September 1835 schreibt Grabbe der Gräfin Ahlefeldt: .Die
Hermannsschlacht ist fertig, ich feile nur noch" (vgl Grisebach IV, 420).
**) Vgl S. 8 Anmerkung 21.
- 14 —
Da ich dieses Gedicht ebensowohl wie den Hannibal kannte,
erlaubte ich mir, den letzteren ein wenig auf Kosten der ersten
zu loben, wie denn Aschenbrödel eine unendlich viel geringere
Produktion ist als der Hannibal.
Jedoch kaum hatte Qrabbe einen Tadel vernommen, als er
sich ursplötzlich aufrichtete, das Buch mir aus den Händen riss
und zur Verteidigung seiner Aschenbrödel dieselbe mit lauter
lippischer Stimme^^) vorzulesen begann. Mein Lächeln darüber,
dass Qrabbe so wenig seine eignen Poesien vorzulesen verstand,
schien ihn fast zu erzürnen. Er meinte, es ging mir wie Tieck
und Immermann» welche ihn um seine schöne Stimme beneideten^O*
Ich suchte ihn mit dem Geständnis des eignen Unvermögens im
Vorlesen zu beruhigen. Am andern Morgen war Grabbe ernstlich
erkrankt. Seinem Wunsche gemäss brachte ich die wenigen Tage
meines Aufenthalts in Düsseldorf grösstenteils vor seinem Bette
zu, wohin Immermann, der anderweitig sehr beschäftigt war, und
den ich nur selten sah, mich einige Male begleitete. Grabbe, der
während dieser Zeit nichts als Wasser genoss, schien mir um
vieles besinnlicher als am ersten Tage. Zuweilen drang die Liebe
in sein Herz, er ward dann weich und nannte seine Be-
stimmung eine verfehlte; wollte dann auch wohl mit herzlichem
Händedruck sagen, er sei in meiner Umgebung ein Anderer, ein
*o\
') Vgl. hierzu: F. Dingelstedt, Wanderbuch. Leipzig, 1839 (Eine Mitter-
nacht in Lippe-Detmold); darin S. 87—94 Bemerkungen über Grabbe. Dingel-
stedt wollte hier einen Blick tun in die Stellung Grabbes zu seinen
Landsleuten. Dingelstedts Reisegefährte wollte die Geschichte, dass ihm
der Auditeur Grabbe einen Militäreid, den er bei ihm zu schwören gehabt hätte,
in Unterhosen abgenommen habe, selbst erlebt haben. Vgl. diese Erzählung
bei Dingelstedt mit der bei Ziegler und die Bemerkungen bei Julius Roden-
berg, Heimaterinnerungen an Franz Dingelstedt u. s. w. Berlin, 1882, S. 92 f.
^') Vgl. Kobbe a. a. O. S. 11: „Grabbe war dermalen einige Monate
von Dresden zurückgekehrt, wo er, wie später Tieck mir selbst erzählt hat,
sich als einen vorzüglichen Schauspieler angekündigt hatte. Tieck war
freilich nicht wenig erstaunt, als er bei einer Leseprobe den abscheulichsten
Lipper Dialekt, der sonst in Deutschland und namentlich hier im Norden,
hauptsächlich von den Ziegelbrennern gehört wird, vernommen hatte. Er
hatte dann wenigstens von Tieck verlangt, dass er seine starke, kräftige
Stimme bewundern solle, dieser aber gelächelt, und da er ihn als Akteur
nicht empfehlen konnte, ihm wenigstens eine andere kleine Stelle verschafft*
- 15 -
Besserer, ein Glücklicher geworden. Meine Arbeiten^') versprach
er durch einen besonderen Aufsatz zu verherrlichen. Erst meine
Hermannsschlacht beendigen^*), dann will ich eine Kritik Ihrer
Bucher schreiben^), und dann sterben, so lautete wiederholt seine
Rede. — Ich bemerkte ihm lächelnd, dass es auf den Mittelsatz
in dieser Phrase nicht ankomme, dass meine Werke keine Adresse
an die Unsterblichkeit hätten, dass er viel besser daran tue, an-
statt solche Allotria zu treiben, sein Bruchstück aus Marius^^) zu
einem Ganzen zu vollenden, er rief aber nicht ohne Grimasse:
„Nur noch die Hermannsschlacht^^), dann will, dann muss ich
sterben. Ich bin unfähig zu ferneren Dichtungen."
**) Ich nenne nur (vgl. auch Allg. Deutsche Biographie a. a. O.):
„Die Schweden im Kloster zu Ütersen (1830)'', „Humoristische Skizzen und
Bilder*' (1881), „Die Leier des Meisters in den Händen des Jüngers" (1826),
„Reiseskizzen aus Belgien und Frankreich" (1835), „Wesemymphe"(1831)". —
Um diese Arbeiten dürfte es sich vielleicht hier gehandelt haben. Später
erschienen u. a.: „Briefe über Helgoland" (1840), „Humoristische Erinnerungen
aus meinem akademischen Leben in Heidelberg und Kiel" (2 Bändchen, 1840)
[daraus (S. 13 — 16) veröffentlichte ich in den „Heidelberger Familienblättem"
vom 18. Juli 1904 eine Notiz: Zu Goethes Aufenthalt in Heidelberg].
**) Ende September 1835 war sie fertig; sie wurde aber von Grabbe
oft umgearbeitet
^) Sie ist meines Wissens nicht erschienen; jedenfalls kennt sie
Grisebach nicht Die einzige Stelle, wo Kobbe bei Grabbe erwähnt wird,
ist der bereits oben zitierte Brief Grabbes an die Gräfin von Ahlefeldt
(Düsseldorf, den 25. September 1835) [Grisebach IV, 485]. Er lautet:
Hochgeborene Hochgeehrteste Frau Gräfin!
Kobbe's Werke, welche anbei zurückeriolgen, will ich recensiren.
Ich danke für die gütige Mittheilung. Der Kobbe hat mir neulich auf dem
Rückweg von Derendori [einem Vorort im Norden von Düsseldorf], wo ich
denn doch nur vor ahem Gram und alten Erinnerungen krank werden
konnte, indem wir da nur Kaffee getrunken hatten, recht geholfen. Immer-
mann vermuthet's immer schlimm, und meint, der Wein oder spirituosa
thäten's. Nein, mein böses spirituosum ist mein eigner Geist
Die Hermannsschlacht, welche Sie erwähnen, ist gegen Hannibal ein
Koloss. Sie ist fertig. Ich feile nur noch, sinke wohl auch an ihr nieder,
wenn sie vollendet ist, — auf ewig.
*') „Marius und Sulla" erschien im Druck in Band 1 der „Dramatischen
Dichtungen" von Grabbe. Frankfurt a. M. 1827.
^*) Im August 1904 habe ich auf der Kgl. Hof- und Staatsbibliothek
in München zwei Blätter (4 S. 4^ von Grabbes Hand aus der „Hermanns-
schlachf eingesehen, die Grisebach offenbar unbekannt geblieben sind:
diese Fassung weicht von der bei Grisebach gegebenen stark ab. Näheres
siehe hinten im „Anhangt*.
- 16 -
Ich sah ihn nicht wieder. Schon im folgenden Jahre [am
12. September 1836] starb er in Detmold. Ich furchte aber nicht
durch diese kleine Erzählung, welche ich zur Steuer der Wahr-
heit niedergeschrieben habe, mich bei unsren Bekannten einer
Lieblosigkeit gegen einen Mann, der mir so viele Beweise von
Anhänglichkeit gegeben hat, wie er dies nach seiner Individualität
nur vermochte, schuldig zu machen. Aber solche kleine Erleb-
nisse von und mit grossen Männern gehören der Geschichte
an und sind nicht sorgsam genug aufzusuchen. Hätten wir
bessere Spezialgeschichten von einigen Ländern, wie viel besser
würde sich die allgemeine Weltgeschichte dabei stehen'*.
Damit endigen die Mitteilungen Kobbes über Qrabbe, und ich
glaube, sie können einen beachtenswerten Beitrag liefern zu seinem
Leben, seinem Charakter und seiner Krankheit. Es wäre ver-
messen, wollte ich in dieser kleinen Studie, die es sich nur zur
Aufgabe macht einen Einblick in Qrabbes Krankengeschichte
darzubieten, annähernd die Urteile beleuchten, die Grabbe im
Laufe der Zeiten bis auf unsere Tage erfahren hat. Aber
erinnern muss ich an Heines massgebendes Urteil über Grabbe , der
ihm in Berlin nahe getreten ist Und wie fast immer, wenn Heine
einen Menschen kennen gelernt hat, findet sich bei ihm auch das
treffendste und geistreichste Wort über diesen ^^). Heine *^) sagt,
als er von ihm als demjenigen spricht, der die meiste Verwandt-
schaft mit Shakespeare^^) habe: „Er hat dieselben Plötzlichkeiten,
*^ Vgl. Leo Berg, Zum hundertsten Geburtstage Christian Grabbes:
Sonntagsbeilage zur Vossischen Zeitung, 1901. No. 49 und 60. [S. 8851.
und 394-397].
**) Vgl. O. Karpeles, Heinrich Heine. Leipzig 1899, S. 69—80 über
Grabbe.
*^) „Grabbesmuse I Shakespeare, zum andermal geboren, wäre noch-
mal eben nochmal original Shakespeare t Dass der grosse Britte, der
Stern, nicht Irrh'cht geworden, fehlwandernde Camöne I" S. 348 in : „Hessi-
sches Album für Literatur und Kunst*', herausgegeben von Franz Dingel-
stedt (Cassel 1838 ; München, Hof-und StaatsbibliothekX in der interessanten
Plauderei: „Die Musen. Aus den noch ungedruckten Denkschriften der
stillen Akademie. Von Ch. E. von Bentzel-Stemau,'* deren Kenntnis ich
auch Ludwig Fränkel verdanke.
— 17 —
dieselben Naturlaute, womit uns Shakespeare erschreckt, er-
schüttert, entzückt. Aber alle seine Vorzüge sind verdunkelt durch
eine Geschmacklosigkeit, einen Zynismus und eine Ausgelassen-
heit, die das Tollste und Abscheulichste überbieten, das je ein
Gehirn zutage gefördert. Es ist aber nicht Krankheit, etwa Fieber
oder Blödsinn, was dergleichen hervorbrachte, sondern eine
geistige Intoxikation des Genies. Wie Plato den Diogenes sehr
treffend einen wahnsinnigen Sokrates nannte, so könnte man
unsren Grabbe leider mit doppeltem Rechte einen betrunkenen
Shakespeare nennen." — „Glauben Sie mir*', sagte einst ein
naiver westfälischer Landsmann Grabbes zu Heine, „der konnte
viel vertragen und wäre nicht gestorben, weil er trank, sondern
er trank, weil er sterben wollte; er starb durch Selbsttrunk.**
Hierher gehört auch die Antwort, die Immermann ^^) denen gab,
die Grabbe zuriefen: „Wenn er nur gewollt hätte, er hätte schon
anders sein können*': „Er konnte gar nicht anders sein, als er
war, und dafür, dass er so war, hat er genug gelitten." Mit
einem gewissen Schaudern liest man, wie Immermann ^^) eines
Morgens in früher Stunde, da Grabbe sich keines Besuches ver-
sah, auf einem Tisch mehrere grosse Gläser, angefüllt mit den
stärksten geistigen Getränken fand. Dabei glaubte Grabbe, dass
er sich dieses furchtbaren Reizmittels bedienen müsse, um dem
Physischen Spannung zu geben, um es überhaupt nur noch zu-
sammenzuhalten. Immermann sprach daraufhin mit einem Arzte ^')
über seinen Zustand und brachte Grabbe endlich dahin, dass er
wenigstens mit gelinderen Mitteln sich hinhielt. Sein Körper war
bereits so herabgekommen, dass er gegen alle festen Speisen einen
unbeweglichen Widerwillen empfand^') und er sich fast nur mit
Getränk ernähren mochte. Vom Rum ist er also in dieser Zeit
durch Immermanns Bemühungen abgekommen; als Kobbe den
Dichter sah, trank er offenbar häufiger Wein mit Wasser unter-
**) Memorabilien. II. Band. Hamburg 1843. S. 61.
") Ebenda S. 59 und A. Ellmenreich a. a. O. S. 79.
'*) Es wird Dr. Ebermaier gewesen sein : vgl. Teil II dieser Arbeit
^') Vgl. auch K. Ziegler, a. a. O. 187; bis dahin hatte er noch keine
ärztliche Hilfe aufgesucht
Qrenzfragcn d. Lit. u. Medizin. 3. Heft. 2
— 18 —
mischt; in der letzten Zeit in Detmold scheint er mehr Bier als
Wein getrunken zu haben. Bereits auf dem Gymnasium soll
Grabbe stark dem Alkohol gehuldigt haben. Auch während der
Zeit von 1822 an, als Grabbe sich Gubitz durch Vermittlung von
Heinrich Heine und Karl Köchy nahte, wurde sein glutdichterischer
Geist leider fortdauernd vertrauter mit der Trunksucht. Dies Un-
heil und dessen Einwirken berührt er selbst wie unbewusst in
brieflichen Andeutungen, z. B. (nicht in der Grisebachschen Aus-
gabe): „Ich bin Auditeur, Advokat, Dichter, habe in allen drei
Sachen viel zu tun, lebe aber doch gern wüst und träge; dabei
die unruhige Natur, die mich keine zwei Stunden schlafen lässt.**
— „Ich habe gestern den Wagen zerschmettert, die Pferde fast
zermalmt, und liege heute krank!*' usw. „Ich mag das Jammer-
bild in seinen Ausschweifungen" — fährt Gubitz*^*) fort — „nicht
bis zur Vollständigkeit leibhaft schildern, bemerke nur noch, dass
ich ein paarmal von dem Schreckensanblick und den Folgen
dieser, den Manneswert selbstmörderisch entwürdigenden Trunk-
sucht erschüttert worden bin."
Diese Exzerpte sollen eine Vorstellung davon geben, wie
sehr Grabbes Leben unter dem Zeichen des Alkohols gestanden
hat^^). Ich kann hier nicht wieder des längeren auf die Fabel ein-
gehen, „wie eine rohe dämonische Mutter" das Kind an geistige
Getränke gewöhnt habe. Ich glaube, H. Marggraff (Allg. Theater-
Lexikon, Bd. IV, S. 89) hatte nicht Unrecht, wenn er bereits im
Jahre 1841 betonte: „Grabbe ist ein psychologisches, pathologisches
und poetisches Phänomen, das meist einseitig entweder vollkommen
selig oder bis in den tiefsten Abgrund einer wegwerfenden Kritik
verdammt wird.'* Das war fünf Jahre nach seinem Tode. „Mit
der Zeit wurde der ganze Grabbe zu einem pathologischen Prä-
parat zugerichtet, als Warnung für den Nachwuchs;'* so schrieb
Dingelstedt in seinem „Wanderbuch** vom Jahre 1877 (S. 343).
Heute ist der dunkle Mythus einigermassen aufgeklärt worden.
Grabbes Leben spiegelt sich sozusagen auch in seiner per-
^) a. a. O. 266 f.
*'} Weitere Belege bei A. Ploch a. a. O. S. 57 und 62 und in Teil II
dieser Arbeit S. 35 f.
— 19 —
sönlichen Erscheinung ab, im Porträt, das, wie Dingelstedt (a. a.
O. S. 345) bemerkt, „einen wohlgebildeten, eher feinen als starken
Kopf zeigt, nur die Stirn unverhältnismässig hoch und breit ge-
wölbt, an Shakespeare und Hebbel erinnert; dazu aber kleine
gekniffene Augen, scharfe Falten um Mund und Augen, hervor-
springende Backenknochen und ein kleines, zurücktretendes Kinn ;
die ganze Physiognomie ohne Energie, unsicher im Ausdruck,
erschlafft und verwelkt, nicht unter der Hand des Alters, sondern
infolge langsamer, von innen kommender Auflösung . . .".
Das beste Porträt Grabbes scheint mir dasjenige zu sein,
das Grisebach dem ersten Bande seiner vierbändigen Ausgabe
vorgesetzt hat und das der heute seltenen Zeitschrift „Rheinisches
Odeon" (Düsseldorf 1838) entnommen ist. Ich habe es deshalb
auch meinem Büchlein als Titelbild beigegeben. Sein Kopf macht
darauf einen etwas hydrocephalischen Eindruck. Sein Äusseres hat
Grabbe in der letzten Szene von „Scherz, Satire, Ironie und tiefere
Bedeutung" karikiert: „Das ist der vermaledeite Grabbe oder,
wie man ihn eigentlich nennen sollte, die zwergichte Krabbe, der
Verfasser dieses Stücks! Er ist so dumm wie ein Kuhfuss,
schimpft auf alle Schriftsteller und taugt selber nichts, hat ver-
renkte Beine, schielende Augen und ein fades Affengesicht I" Auf
der Strasse pflegte Grabbe meist jenes gelangweilte verdriessliche
Gesicht zu machen; begegnete ihm dann ein Bekannter und
fragte: „wie gehf s"?, so pflegte er zu antworten : „is sauer" (Ziegler
a. a. O. S. 70).
Grabbes Äusseres führt uns auch dazu, einen Blick auf
seinen Gang zu werfen, immermann schreibt (Memorabilien II,
S. 14) bei Gelegenheit eines Umzuges, den Immermann mit Grabbe
zusammen vollzog: „Voran der Karren mit dem Koffer und
Mantelsack, auf dem der Auditeurdegen, lose angebunden, hin
und her schwankte; hinterher Grabbe an meiner Seite mit hohen
und wankenden Schritten das Pflaster tretend." ^^) Grisebach be-
tont a. a. O. (S. LIX), dass diese in den unteren Extremitäten
auftretenden Schwächezustande mit der Diagnose der Tabes dor-
salis durchaus stimmten. Daraufhin allein wird man aber nach
**) Vgl. oben Anmerkung 30 und Ziegler a. a. O. S. 162.
— 20 —
den heutigen modernen Anschauungen diese Diagnose nicht
stellen dürfen. Aus Immermanns Berichten scheint hervorzu-
gehen, dass Grabbe einen ataktischen Gang gehabt. Nun haben
aber nicht nur die Tabiker Ataxie, sondern auch die mit einer
Polyneuritis alcoholica behafteten Kranken können sehr ausge-
prägte ataktische Erscheinungen zeigen. Diese alkoholische Poly-
neuritis kann sogar der wahren Tabes dorsalis, der grauen De-
generation der Hinterstränge, täuschend ähnlich sein: es kann
motorische Schwäche in solchem Masse bestehen, dass die Patienten
nicht einmal mit einem Stock gehen oder stehen können, beim
Versuche, mit geschlossenen Augen zu stehen, schwanken sie oder
fallen um, die Muskulatur ist schlaff und atrophisch, die Patellar-
reflexe sind erloschen, die Pupillen reagieren träge auf Lichtein-
fall, ausserdem bestehen schwere Sensibilitätsstörungen. Doch
ergeben dann schliesslich das Fehlen von Blasen- und Mastdarm-
störungen und nicht zum mindesten die rasche Besserung nach
Alkoholentziehung, dass es sich nur um eine sogenannte Pseudo-
tabes alcoholica gehandelt hat.
Aus dem eben Mitgeteilten geht hervor, dass durch die An-
nahme einer Polyneuritis alcoholica die Symptome, welche Grabbe
darbot — soweit dies überhaupt nach der immerhin recht unvoll-
ständigen und von einem Laien gegebenen Krankheitsgeschichte
möglich ist — nicht nur in befriedigenderer Weise erklärt werden
könnten als durch die Annahme einer Tabes dorsalis, sondern
dass auch die eine Polyneuritis veranlassende Ursache in ausgie-
bigster Weise vorhanden war. Denn Grabbe trank jede Art von
Alkohol, die ihm zu Gebote stand, und auch konzentrierte fusel-
reiche Spirituosen, die erfahrungsgemäss der Entwicklung von
Neuritiden Vorschub leisten.
Dass Grabbe während des Verlaufes seiner Krankheit Zittern
(Ataxie) der Hände hatte, habe ich nirgends erwähnt gefunden.
Seine Handschrift war bis in seine letzte Lebenszeit (vgl. hinten die
faksimilierte Beigabe aus Grabbes „Hermannsschlacht", die ich der
grossen Liebenswürdigkeit des Herrn Theodor Apel verdanke»
wofür ich ihm auch an dieser Stelle meinen Dank ausspreche)
fest, klar und deutlich.
- 21 —
Übrigens ist mit dieser Neuritis nur eine Seite der Krankheit
Qrabbes berührt; die andre Seite betrifft die geistige Degeneration,
die wohl zum grössten Teil ebenfalls auf Alkoholmissbrauch zurück-
zuführen ist. Wir brauchen uns nur den dritten Typus der De-
generierten anzusehen, wie er von E. Mendel in seiner Studie
^.Geisteskrankheiten und Ehe**^^) (Sonderabdruck S. 5) treffend ge-
schildert wird. Danach gehörte Grabbe zu denen, die „durch ihr
Auftreten in der Gesellschaft, ihre absonderiichen Gewohnheiten,
ihre Bizarrerien, ihre eigentümlichen Auffassungen und Ansichten,
welche nicht selten mit Geschick vorgetragen und verteidigt werden,
während sie den allgemein akzeptierten diametral entgegenstehen,
im Volksmund als «Originale' oder als «verrückte Genies' bezeichnet
werden."
Wer erblickt in dieser Charakteristik der Degenerierten nicht
ein getreues Konterfei des unglücklichen Grabbe? Wie sehr Grabbe
degeneriert war, lässt nachstehende Mitteilung erkennen, die ich
Herrn Gymnasiallehrer Wilhelm Österhaus in Detmold verdanke.
Dieser schreibt: „Dass Grabbe sich oft sehr herabwürdigte, ist ein
bekanntes Ding. Etwas überaus Wideriiches erzählte mir vor Jahr-
zehnten ein alter Rechtsanwalt in L. — Grabbe war geradezu ein
Sch[wein]I Mehrere junge Juristen machten wir einen Spazier-
gang auf dem Detmolder Stadtbruche. Da es dämmerte, liefen
Mäuse hin und her. Plötzlich wart sich Grabbe auf die Erde,
haschte wie ein Kater nach den Tieren, erhaschte eins und nahm
es zwischen die Zähne. Einer rief: «Trägst du es so zur «Stadt
Frankfurt' hin, gebe ich so und so viel aus.' —Grabbe gab sich
auch hierzu her.**
Schliesslich bin ich noch in der Lage, den Konfirmations-
vers Grabbes mitzuteilen^^); er befindet sich in einem acht
Druckseiten starken Heftchen, das der Fürstlichen Bibliothek in
Detmold übergeben worden ist. Es ist datiert vom 26. Mai 1816.
Grabbes Konfirmationsvers scheint nicht ohne Absicht gewählt
zu sein und lautet:
*^ In: Senator und Kaminer, Krankheiten und Ehe. 1904.
**) Diese Mitteilung verdanke ich gleichfalls Herrn W. österhaus; das
Büchelchen selbst fand sich im Nachlasse des Herrn Th. Bruno.
- 22 —
Erfülle mich mit wahrer Reu,
Wenn ich dich, Gott, betrübe;
Gib, dass ich alles Böse scheu
Und stets das Gute liebe.
Lass mich doch nicht, Herr, meine Pflicht
Mit Vorschrift je verletzen,
Der Seele Heil, mein bester Teil,
Lass mich mit Würden schätzen.
Seit ich im September 1904 vorstehende Mitteilungen nieder-
geschrieben, habe ich eine grosse Menge von Notizen gesammelt,
die ich auf das mindeste Mass einschränken darf, da uns vor
kurzem Arthur Ploch in seinem Buche „Grabbes Stellung in
der deutschen Literatur**, Leipzig 1905 (224 Seiten; der erste Teil
des Buches erschien unter dem Titel „Grabbe als Mensch und
Dichter**, als Hallenser Dissertation 1904) mit einer einschlägigen
Arbeit beschenkt hat, für die wir ihm dankbar sein müssen.
Ich kann seine Auffassung von Grabbes Persönlichkeit, die der
Kobbeschen Darstellung entspricht, im ganzen nur teilen.
Ich habe hier übrigens noch zu erwähnen, dass inzwischen
W. Deetjen unabhängig von mir in der Sonntagsbeilage der
„Vossischen Zeitung** vom 13. November 1904 die Kobbeschen
Mitteilungen gebracht, d. h. nur einfach wiedergegeben hat, ohne
sie mit kritischen vergleichenden Anmerkungen zu versehen, die
uns erst ihren Wert klar machen können^*).
Sowohl Deetjen als Ploch u. a. sind merkwürdigerweise
die „Erinnerungen an Kari Immermann** Albert Ellmenreichs
entgangen, die im „Deutschen Wochenblatt*' (herausgegeben von
H. Rippler und Cari Busse), XII. Jahrgang, Nr. 1 und 2 (vom
6. und 13. Januar 1899) erschienen sind, und die einige recht
bemerkenswerte Daten über Grabbe enthalten. Ferner zitiere ich
hierzu H. H. Ho üben, „Kari Immermann und das Düsseldorfer
Stadttheater** (Die Rheinlande I, 1901. No. 10); J. Wolter,
„Immermanns Leitung des Düsseldorfer Stadttheaters** (Jahrbuch
des Düsseldorfer Geschichtsvereins, XVII, 1902, S. 217—238), und
die Literarische Beilage des „Staatsanzeigers für Württemberg**,
'•) E. Ebstein, Erwiderung (an W. Deetjen), im Literar. Echo, Nr. 20
vom 15. Juli 1906.
- 28 —
Stuttgart, Jahrgang 1876, S. 476—478, die eine Charakteristik des
Dichters (ohne Unterschrift) enthält.
Arthur Moeller van den Brück hat in seinem vor kurzem
erschienenen Werke „Verirrte Deutsche'*, S. 95 — 113, ebenfalls
Qrabbes als des „tragischsten unter allen problematischen Naturen"
gedacht. Seine Betrachtungsweise hat uns aber über den Dichter
nichts Neues kennen gelehrt.
Über die Krankheit Grabbes habe ich inzwischen mannig-
fache neue interessante Anhaltspunkte auffinden können, die es mit
einer an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit sicher machen,
dass Grabbe wirklich an Tabes dorsalis gelitten hat. Nachdem
ich in diesem Teile nur einige differentialdiagnostische Momente in
Erwägung gezogen habe, werde ich die weitere Begründung der
Diagnose und die Symptome der Krankheit ausführlich im zweiten
Teil zu geben versuchen.
II. TEIL.
Eng verknüpft mit dem Kampfe über den Ursprung der
Syphilis ist die Geschichte der Tabes dorsahs, die allerdings
bisher gegenüber dem Syphilisproblem recht stiefmütterlich be-
handelt worden ist.
Der erste Autor, der der Geschichte dieser Krankheit
Interesse zugewendet hat, war W. Hörn, der in seiner 1827 in
Berlin erschienenen Doktordissertation „De tabe dorsuali prae-
lusio" zugleich die ersten genaueren Beobachtungen mitteilte, die
als die ersten Bausteine zur Lehre von der Tabes zu betrachten
sind. Weitere historische Notizen verdanken wir ebenfalls einem
Berliner Arzt, Dr. Steinthal, der in C. W. Hufelands Journal der
praktischen Heilkunde, Berlin, 1844 (Juli) S. 7—56 und (August)
S. 3-84 wertvolle Beiträge „zur Geschichte und Pathologie der
Tabes dorsalis** geliefert hat. Diese Arbeit hat E. Leyden in
seiner zu Berlin 1863 erschienenen Monographie über „die graue
Degeneration der hinteren Rückenmarkstränge" einer interessanten
Kritik unterzogen. So verdankte Leyden dem Psychiater C. West-
phal die Kenntnis der Tatsache, dass die von Hippocrates angeb-
lich gegebene Beschreibung wenig Ähnlichkeit mit dem Krankheits-
bilde hat, welches späterhin der Tabes dorsalis untergelegt wurde.
Vielleicht scheint es sich nach Westphal um „einen Zustand von
Erschöpfung derjenigen zu handeln, welche durch geschlechtliche
Ausschweifungen, sei es natürlicher Art, sei es durch Onanie,
heruntergekommen sind'* (S. 3).
Für Erb (v. Leydens „Deutsche Klinik'*, Bd. 6, S.808. 1905)
scheint auch die Tabes im Altertum und lange Jahrhunderte
später nicht existiert zu haben. Es würde sich der Mühe
lohnen, auf Grund der von Hörn, Steinthal u. a. bei-
gebrachten Notizen eine ausgiebigere erneute historisch-
— 26 —
kritische Revision dieser Frage vorzunehmen. Ohne auf
diese hier eingehen zu können, möchte ich nur auf die Definition
der Tabes verweisen, die Stephanus Blancard in seinem
Lexicon medicum tripertitum (Leipzig 1777, S. 1210) gibt Sie
gleicht fast noch vollkommen dem von Hippocrates gegebenen
Krankheitsbild und zeigt fast nicht den geringsten Fortschritt der
medizinischen Wissenschaft in diesem langen Zeitraum.
Heute, wo wir annehmen, dass die wesentlichste, fast aus-
schliessliche Vorbedingung für das Entstehen der Tabes die Syphilis
ist, und wo wir besonders durch die Untersuchungen von Iwan Bloch
über den Ursprung der Syphilis, I. (Jena, 1901) annehmen müssen,
dass die Seuche erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts nach Europa
verpflanzt wurde, erscheint die Nichtexistenz der Tabes bis zu
diesem Zeitpunkt recht wahrscheinlich. Dieser Ansicht scheint
auch Erb zu huldigen; auch die Beantwortung dieser Frage wäre
einer neuen Untersuchung wert.
Die folgenden Blätter, die Grabbes Krankheit vom medi-
zinischen Standpunkt aus beleuchten, sollen uns zugleich die Ge-
schichte der Tabes dorsalis zu Beginn des 19. Jahrhunderts
vor Augen führen. In dieser Zeit hatte sie, wie Leyden treffend
(a. a. O. S. 3) bemerkt, „das Geschick, in Deutschland eine Rolle
zu spielen. Sie wurde ein fast populärer Begriff, von dem Ärzte
und Laien sich nicht lossagen konnten, und in welchem Krankheits-
bilder ohne bestimmten Charakter und ohne ein sicheres patho-
logisch-anatomisches Substrat verschmolzen wurden." Die klas-
sischen Beschreibungen von Romberg (1851) u. a. waren noch
nicht erschienen, die die Ärztewelt mit dieser Krankheit genauer
bekannt machen sollten.
Meine folgenden Betrachtungen betreffen also die „Frühzeit''
der Kenntnisse über die Tabes und im besonderen die Kranken-
geschichte Grabbes. Für den Arzt hat es erstens etwas Veriocken-
des auf Grund der vorhandenen zwar oft spärlichen Literatur eine
Dtfferentialdiagnose zu stellen ; zweitens ist überhaupt von Interesse
zu konstatieren, dass es auf Grund von literarischen Mitteilungen
möglich sein kann heut Diagnosen zu stellen, die seinerzeit zu
stellen unmöglich waren.
— 2^ —
Dass die Pathographie, wie Iwan Bloch (Medizinische
Klinik 1906, No. 25 und 26) sich ausdrückt, durchaus geeignet
und berufen ist, als ein wichtiges Hilfsmittel der Biographie und
der Erforschung des Lebenswerkes unserer Dichter und Denker
verwertet zu werden, dürfte nicht mehr bestritten werden. Mit
einem gewissen Befremden liest man, wenn Otto Krack in seiner
Studie über Qrabbe (Sammlung „Die Dichtung", Band XXV) S. 16
schreibt: „an Grabbe ist so viel Geheimnisvolles, was keine Wissen-
schafterklären kann, und es scheint fast, als ob dieses Unerklärliche,
das sich nicht mit dem blossen Verstände begreifen lässt, gerade
seine Besonderheit und Wesenheit ausmache". Da muss ich doch
in dieser Beziehung ausdrücklich betonen, dass die medizinische
Betrachtungsweise eines Dichterlebens, d. h. das Eingehen auf
dessen körperlichen Zustand und Krankheit, mehr Licht zu schaffen
vermag, als mancher vielleicht denken mag. Sind es denn nicht viel
mehr als Phrasen, wenn Krack weiter schreibt: „Jenes Chaos,
das sich nicht sagen, nur fühlen lässt. Wer*s nicht fühlt, wird*s
nicht erjagen. Es ist das Ureigenste, das Göttliche dieses Menschen,
das er nicht ererbt, nicht überkommen und das er mit keinem
gemein hat"! Wenn der Literarhistoriker Carl Anton Piper in
seinen „Beiträgen zum Studium Grabbes" (1898) den Dichter als
eine psychopathische Erscheinung schildert d. h. ihn mit der Diagnose
„psychopathische Minderwertigkeit" (besser nach Möbius „Dege-
neration") im Sinne J. L. A. Kochs belegt, so erklärt diese Betrach-
tungsweise nur einen Teil von Grabbes Wesen und Krankheit.
Dass Grabbe von Hause aus geistig degeneriert war, darf nach
den uns vorliegenden Berichten in den über ihn verfassten Bio-
graphien nicht wohl zweifelhaft erscheinen. Ich muss hier auf
die S. 21 im Teil I, gemachten Bemerkungen und auf Mendels
treffende allgemeine Charakteristik verweisen.
Dass diese geistige Degeneration bei Grabbe zum grössten
Teil auf Alkoholmissbrauch zurückzuführen ist, dürfte nicht weniger
deutlich aus den uns zahlreich vorliegenden Notizen erwiesen sein ;
niemand wird bezweifeln, dass Grabbe, der jede Art von Alkohol
trank, als ein chronischer Alkoholist zu bezeichnen ist. Wie wir
später sehen werden, sind dem Dichter von den ihn behandelnden
— 27 ~
Ärzten des öfteren Vorhaltungen deswegen gemacht worden ; zeit-
weise scheint er zwar daraufhin abstinent gewesen zu sein, aber es
war zu spät: er konnte von dem ihm so heb gewordenen Gift
nicht lassen. So bekennt er offen an Immermann am 4. Jan. 1835
(Grisebach IV, 369) : „ich kann mich eben so gut irren, als ich
früher meiner Gesundheit mit Trinken geschadet**; ein andermal
(17. Februar 1834) rühmte er sich demselben Freunde gegenüber,
dass er sein Gelübde halte — gemeint ist offenbar das Rumverbot —
dabei trinkt er doch ein massiges Glas Punsch, nicht mehr den
schweren Bordeaux (17. Dez. 1834). Den folgenden Tag dankt er
Immermann, dass er Bier trinkt und nicht den Morgen-Rum.
Dass Grabbe sich auf diese Weise den Magen durch den allzu
häufigen Alkoholgenuss ruiniert hatte, berichten seine Biographen
übereinstimmend, und er selbst schreibt am 13. März 1835, dass er
„ausser etwas Bier, weder Essen noch weniger ein geistiges Getränk
(was Sie bei mir leicht vermuthen würden) zu mir nehmen konnte'*.
Bei dieser Gelegenheit fügt Grabbe hinzu, dass seine Krankheiten
genau mit seinen Gemütsbewegungen zusammenhängen.
Alles in allem zeigen schon diese wenigen Notizen, dass
Grabbe von einem Missbrauch geistiger Getränke nicht wohl frei
zu sprechen ist. Trotzdem suchte Grisebach den Dichter gegen
den Vorwurf der Trunksucht zu verteidigen, aber mit Unrecht.
Wozu? Grisebach behauptet, ein Trinker habe solche Werke
nicht schreiben können; dass er sie tatsächlich, und zwar unter
der Wirkung des Alkohols, geschrieben hat, genügt ! Schreibt Grabbe
doch selbst vom „Hannibal**, dass er „unter Wein und Tee mit
Rum geschrieben** wurde (IV, 398)***). Selbst der Literarhistoriker
J. Minor musste gegen Grisebach einwenden (Deutsche Literatur-
Zeitung, 1903, Nr. 30, S. 1840—1846): „Wer aber morgens anstatt
seines Kaffees Rum trinkt, der macht sich doch recht verdächtig ;
und ein Trinker ist nicht der, der enorme Quantitäten verträgt,
sondern jeder, der mehr trinkt, als er verträgt.** Besser ist die
Kraepelin*sche Definition des Trinkers, die besagt, dass Trinker
^ Vgl. dazu jetzt eben die Ergebnisse von C. F. van VIeutens Umfrage
«Dichterische Arbeit und Alkohol** betreffend, im Literar. Echo vom 15. Okt.
1906, S. 82->146 ; S. 146 setzt er das Urteil über Grabbe aus.
— 28 —
jeder ist, bei dem eine Dauerwirkung des Alkohols nachzuweisen
ist, bei dem also die Nachwirkung einer Alkoholgabe noch nicht
verschwunden ist, wenn die nächste einsetzt; oder, wie G. Hirth
sich ausdruckt („Wege zur Liebe'' [Kleine Schriften Bd. III], 1906,
S. 449) : „Trinker ist jeder, der seinem Organismus nicht die
Zeit zur Entlastung von den einzelnen alkoholischen An-
griffen gönnt, der also permanent unter der Einwirkung des
Giftes steht.'* So stand es auch bei Grabbe; und was bezweckt
Grisebach schliesslich, wenn er den Dichter zu einem Philister
und Spiessbürger stempelt?
Wir kommen nun zu dem Punkte, der die Erklärung gibt,
auf welcher aitiologischen Basis sich bei Grabbe die Tabes dorsalis
entwickeln konnte: ich meine die geschlechtliche Infektion
Grabbes als Student.
Bekanntlich bezog der Dichter Ostern 1822 die Universität
Berlin, mit dem fast vollendeten „Gothland" (Grisebach, Band IV,
S. VIII). Der Literarhistoriker O. Waltzel (Herrigs Archiv, 11 2. Band,
S. 177) hat sich gelegentlich der Kritik über Grisebachs Grabbe*
Ausgabe die Frage vorgelegt, ob im „Herzog von Gothland"
„Erlebtes von unerquicklichster Gemeinheit" oder künstliche Über-
reizung einer unkeuschen Phantasie zum Worte komme. Ich habe
von jeher, wie offenbar auch Grisebach (a. a. O. S. VIII) und Ploch
(Grabbes Stellung in der deutschen Literatur, 1905, S. 19), an-
genommen, dass Grabbe in diesem Jugendwerk ungeniert seine
Bordellerlebnisse (offenbar aus Leipzig und Berlin) zur Darstellung
brachte (vgl. Scherz, Satire, Ironie usw. II, 2.) Es ist bekannt,
dass zu dieser Zeit in Berlin das Bordellunwesen üppig florierte.
Besonders die Worte Gothlands (IV, 1)
„Du liebst?
Da sieh dich vor, dass
Du nicht venerisch wirst!"
hätte der Vater Grabbe seinem Sohne zurufen sollen. Aber es
war zu spät.
Als ich Ed. Grisebach am 3. November 1904 schrieb, dass ich
über Grabbes Krankheit arbeite, antwortete er mir gleich am
folgenden Tage: „Auf Ihre Studie über Grabbes Krankenge-
~ 29 —
schichte freue ich mich; ohne sich auf mich als Quelle zu
berufen, erwägen Sie doch ja dabei, dass der junge Grabbe in
Berlin die Syphilis durchgemacht hat, wie ich vom alten Köchy^O^
also ganz authentisch, weiss. Die Möbiussche Abhandlung über
Nietzsches Syphilis^') hat mich u. a. auch deshalb besonders
interessiert".
Ich trage indes kein Bedenken, diese von Grisebach mitgeteilte
wichtige Notiz nach dessen Ableben zu veröffentlichen, nachdem
Iwan Bloch vor kurzem, gleichfalls durch Grisebach aufmerksam
gemacht, über Schopenhauers gleiche Erkrankung berichtet hat.
Die venerische Infektion Grabbes dürfte in Leipzig erfolgt
sein, und zwar in dem Zeitraum von Ostern 1820 bis ebendahin
1822, in welchem er als Student bereits eifrig am „Gothland"
schrieb. In Berlin erst mag er sich vielleicht zur Behandlung der
Krankheit in die ärztliche Kur begeben haben.
Erinnern wir uns daran, dass, als Grabbe in Berlin Student
war, gerade kurz vorher durch Joh. Nep. Rust, der damals von
Wien nach Berlin kam und bald grossen Einfluss in der Metropole
an der Spree gewann ^'), die Schmierkur besonders gegen Syphilis
zur allgemeinen Anerkennung gelangte, ja, nach Rusts eigenen
Worten, bis zum Missbrauch. Wie F. A. Simon (Geschichte und
Schicksale der Inunctionskur u. s. w., Hamburg 1860, S. 184 und
294 ff.) hervorhebt, wurde die lange vergessene, verachtete, ver-
abscheute Inunctionskur „plötzlich die Lieblingsheilmethode** vieler
Ärzte ^).
Diese Tatsache verdient hier umsomehr betont zu werden,
als wir dann wieder etwa zwanzig Jahre lang, bis in die 40er
") Geb. 1800, t Mai 1880 in Leipzig. (Vgl. Allg. Deutsche Biographie,
Bd. 16, 414: Intimus des jungen Grabbe.)
**) Vgl. dazu auch : E. Ebstein, Über das Pathologische bei Nietzsche i
Zeitschrift „Janus**, November 1905.
*') In meinem Besitze befindet sich ein sehr schöner Kupferstich von
Rust, den Fr. Bolt 1822 nach dem Gemälde von Tangermann gestochen
hat Das betreffende Blatt ist „dem hochverehrten Lehrer gewidmet von
seinen dankbaren Zuhörern in den Jahren 1821 und 1822**.
•*) Vgl. auch G. F. L Stromeyer, Erinnerungen. Band I, Hannover
1875. S. 184 f.
- 30 -
Jahre des 19. Jahrhunderts, nur noch wenig oder fast gar nichts
von der Schmiericur hören. Es gab in der Tat zwischen 1825
und 1845 eine Zeit, wo man selbst, wie Simon (S. 296) erzahlt,
als Giftmischer und Mörder verschrieen wurde, wenn man Queck-
silber bei der Syphilis gebrauchte, und wo die Patienten es ge-
wöhnh'ch zur Bedingung machten, ihnen ja kein Quecksilber zu
geben; es war die Zeit, wo das Zittmannsche Decoct, wie
auch zu Ende des 18. Jahrhunderts®^), in Blüte stand, bis das
Jodkali ihm den Rang streitig machte.
Dass Grabbe in dem Briefe an Kettembeil vom 1. Sept. 1827
(IV, 233 f.) mit dem Passus: „Du charakterisierst unsere Berliner
Periode sehr gut, indem du sie als Periode der Pomade an-
deutest*', an seine vor wenigen Jahren vorgenommene Schmierkur
erinnert, scheint mir höchst wahrscheinlich. Dann schreibt Grabbe
in demselben Briefe weiter : „Mit meinen Medizingläsern habe ich
die Leipziger Madame Georgi auf ähnliche Art erfreut*'. Und weiter
berichtet Grabbe am 2. Dez. 1827 (a. a. O. IV, 241) an Kettembeil
über sich selbst: „Sohn ziemlich geringer Eltern . . . , mitten in
Gefängnisszenen als Kind erwachsen, sodann selbständig und ohne
Kontrolle, seither bloss Wissenschaft liebend, besonders Diplo-
matik und zu diesem Fache bestimmt, — dann — dann in
innere und äussere Abgründe, die ich stets bestmöglich verstecken
musste und muss, — ... Leipzig, Berlin . . . braue daraus pp.,
was Du magst."
Die Krankheit, die Grabbe möglichst verheimlichen musste,
dürfte gewiss nichts anderes als eine geschlechtliche Infektion ge-
wesen sein, und zwar eine syphilitische, wie wir nun durch Köchy-
Grisebach „authentisch** wissen.
Dieses von Grabbes Freund überlieferte Zeugnis würde auch
dann keine absolute Sicherheit für eine luetische Erkrankung
bieten, wenn Grabbes Arzt selbst der Gewährsmann gewesen wäre.
Wir müssen dann immer noch mit der Möglichkeit rechnen,
dass es sich bei der damals herrschenden Identitätslehre (vgl.
*^) Vgl. E. Ebstein, Zur Geschichte der Venerischen Krankheiten
in Gottingen: Zeitschr. „Janas". April 1905, S. 178-196.
- 31 -
Iwan Bloch, Geschichte der Hautkrankheiten, bei Neuburger-Pagel,
Bd. ill, 1904, S. 452) um ein anderes Qenitalleiden bei Grabbe
gehandelt haben könnte. Aller Wahrscheinlichkeit nach dürfte
aber die Diagnose einer syphilitischen Erkrankung doch zu Recht
bestehen. Wenn wir auch nichts anderes wüssten als die Be-
schreibung der Krankheitssymptome, die — wie wir noch sehen
werden — auf eine Tabes dorsalis hinweisen, so müssten wir die
Syphilis als aitiologisches Moment ohnehin fast voraussetzen.
Die syphilitische Erkrankung vorausgesetzt, besitzen wir,
ausser der geistigen Degeneration und dem chronischen Alkoho-
lismus, das hauptsächlichste aetiologische Moment ^^) für das Zu-
standekommen von Grabbes Krankheit: Tabes dorsalis.
Die Diagnosenstellung der Tabes hat sich in den letzten 50
Jahren etwas verschoben. Steinthal (a. a. O.) betonte 1844 unter den
wesentlichen Symptomen der Tabes: 1. die lähmungsartige
Schwäche und vollständige Lähmung der Extremitäten, zumal der
unteren (eigentümlicher Gang, unsicher, schwankend u. s. w.),
2. lähmungsartige Schwäche und vollständige Lähmung der Harn-
blase, 3. Gefühl von Zusammenschnüren des Leibes, 4. Amblyopia
amaurotica, 5. Unbefangenheit, Sorglosigkeit, fast Heiterkeit des
Gemüts. Friedrich Schnitze in Bonn hat vor kurzem (Deutsche
mediz. Wochenschrift vom 24. November 1904, S. 1747 ff.) eine
lesenswerte Arbeit über Diagnose und Behandlung der Frühstadien
der Tabes geschrieben ; darin betont er, dass die Prüfung auf das
Rombergsche Symptom (seit 1851 bekannt) „geradezu unnötig
geworden*' sei ; als Hauptsymptome erkennt er an: lancinirende
Schmerzen (oft Rheumatismus genannt), Lichtstarre der Pu-
pillen, Fehlen der Patellarreflexe. Hypästhesien, Hyperä-
sthesien und Parästhesien, sowie ausgebreitete oder umschriebene
Hypalgesien seien für die Feststellung einer beginnenden Tabes
viel wichtiger und entscheidend.
Aber die meisten dieser Symptome, fährt Seh ultze fort, führen
den Kranken nicht zum Arzte. Erst wenn etwa die neuralgischen
**) Vgl. u. a. Robert Bing, Die Pathogenese der Tabes: Medizinische
Klinik 1906, No. 49 und 50.
- 32 -
Schmerzen hartnäckiger werden, oder wenn gewisse weitere Symp-
tome, oft scheinbar ganz fernh'egender Art, den Kranken zu quälen
beginnen, wird der Arzt aufgesucht. Von diesen Symptomen
wurden die sog. gastrischen Krisen sowohl heute als auch
damals, wo sie noch nicht als Tabessymptom zu diagnostizieren
waren, verkannt. Bekanntlich machen sich diese „Crises gastriques"
oft zeitiich zuerst bemerkbar und können wohl auch das allererste
Symptom der Tabes darstellen.
So offenbar auch bei Grabbe. Wenn Grabbe am 10. No-
vember 1830 an Kettembeil (Grisebach IV, 298) schreibt: „Meine
tolle Lebensart und das ewige Sitzen bei dem Ungetüm von
Napoleon hatte mir Blutbrechen zugetragen, und vorigen Donners-
tag hing mein Leben von Vi Stunde mehr oder weniger Apo-
thekergeschwindigkeit ab. Vide an einl. Etiquetten^^), dass ich
nicht luge. Jetzt wieder besser, bei meiner zähen Natur, aber
der hiesige Hofrat [gemeint ist der Arzt Dr. Piderit in Detmold]
hält mich im Zügel der Diät, weil er sagt, ich verdiente es, diät
zu seyn."
Es kann wohl keinem Zweifel unterliegen, dass diese Brief-
stelle die erste Andeutung ^^) enthält von den Grabbe heimsuchen-
den Magenkrisen, wie sie mitCharcots klassischer Beschreibung
in die Pathologie der Tabes eingeführt sind. Nach Erbs neuester
Darstellung (v. Leydens „Deutsche Klinik". Bd. 6, 1, 1905) ge-
hört neben dem unstillbaren Erbrechen, erst von Speisen, dann
von Schleim und Magensaft, das Blutbrechen dabei zu den sel-
teneren Vorkommnissen^*).
Soviel lässt sich aber mit Sicherheit aus den beiden Brief-
stellen entnehmen, dass weder Grabbe selbst, noch der ihn damals
behandelnde Hofrat Piderit den Grund des Leidens d. h. den
Zusammenhang der Krisen mit der Tabes erkannte. Dass Piderit
Grabbes „Magenkrisen" als eine infolge zu reichlichen Alkohol-
^^) Die Rezepte haben sich nicht erhalten.
*') Bereits am 3. August 1830 spricht Grabbe von Blutspeien.
**) Vgl. auch Alfred Neumann, Haematemesis bei organischen Nerven-
erkrankungen (Tabes) in : Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde. 29. Bd.
(1905) S. 398-412.
- as -
genusses entstandene Magenaffektion auffasste, geht u. a. auch
aus der brieflichen Mitteilung hervor, die ich durch gütige Ver-
mittelung des Herrn Gymnasiallehrers Oesterhaus Herrn Professor
Winkelsesser in Detmold verdanke, der mit einer Enkelin Piderits
verheiratet ist. Danach hat Piderit später erzählt, wie er Qrabbe
seines spirituellen Lebenswandels wegen Vorhaltungen gemacht
und auf ein vorzeitiges Ende hingewiesen habe, wenn er seine
alkoholistischen Neigungen nicht liesse.
In der Tat gehören die Magenkrisen zu den allerschwersten
Symptomen der Tabes. Von neuem befiel (nach Duller a. a. O.
S.51) den Dichter im August 1834 eine gefährliche Magenkrankheit.
Wir werden nicht fehlgehen, wenn wir auch diese Erkrankung als
eine erneute Attake von tabischen Magenkrisen auffassen. Wie D u 1 1 e r
weiter betont, brachte diese Erkrankung eine gänzliche Verände-
rung seines Äusseren herbei, wohl besonders hervorgerufen durch
rapide Abmagerung, welche sich mit solchen Krisen zu verge-
sellschaften pflegt Derart abgemagert sehen wir Grabbe auf
dem im „Rheinischen Odeon" von 1838 erschienenen Brustbild, das
nach der Natur von Ludwig Heine gezeichnet ist (vgl. Grisebach
S.LI); Duller nennt das Grabbe-Porträt treu d. h. ähnlich (vgl.
Ploch S. 11), und ich habe schon früher betont, dass es das
beste Bild ist, das wir von dem Dichter haben (vgl. das Titelbild
zu dieser Arbeit).
Wenn Grabbe im Juli 1835 (Grisebach IV. 480) aus
Düsseldorf schreibt, dass ihm der Hof rat und Leibarzt Piderit seine
Choleraanfälle vertrieben habe » so dürfen wir dieser Angabe mit
gewissen Zweifeln begegnen, da die Cholera damals in Deutsch-
land verbreitet war und alle Gemüter beherrschte^®) und infolge-
dessen vielfach Erkrankungen von selten des Magens und Darms
jedenfalls oft als Cholerasymptome gedeutet wurden. Dafür
spricht auch der Anfall, der Grabbe im September desselben
Jahres in Derendorf bei Düsseldorf befiel, als er mit Immermann
und Theodor von Kobbe zusammen war ; letzterer beschreibt, wie
^^ Grisebach IV, 390 spricht Grabbe von einem »Haufen Berliner
Choleraarzte.''
Qrenzfragen d. Lit u. Medizin. 3. Heft. 3
— 34 —
wir bereits oben (S. 12f.) gesehen haben, den Anfall genau. „Ein
Offizier, der die Cholera bekommen hat*\ hiess es allgemein. Also
die Bevölkerung stellte ohne viel Überlegen die Diagnose. Grabbe,
in ein Weinhaus gebracht» wurde auf ein Sofa gelegt, wo er in
einen totenähnlichen Schlaf verfiel. Am anderen Morgen war
Qrabbe ernstlich erkrankt und musste zu Bett liegen. Soweit Kobbe.
Wir dürfen wohl heute — so unvollständig und ungenügend
die gegebenen Symptome auch sind — vermuten, dass es sich
bei den den Tabiker Grabbe öfters heimsuchenden Cholera-
anfällen vielleicht um tabische viscerale Krisen des Magens oder
Darms gehandelt hat, die, wie wir hervorhoben, allerdings damals
noch nicht als zum Bilde der Tabes gehörig gedeutet werden
konnten, da sie, zwar schon 1858 und 1866 erwähnt werden,
aber erst 1868 durch Charcots klassische Beschreibung in die
Pathologie der Tabes eingeführt worden sind. Bei den eigent-
lichen Darmkrisen handelt es sich um plötzlich eintretende Anfälle
von Durchfällen ohne sonstige nachweisbare Ursache, meist
ohne gleichzeitige Schmerzen. Dass derartige Attaken Grabbe
herunterbringen und den Krankheitsverlauf verschlimmem mussten,
ist einleuchtend.
V. Malais^ räumt in einer lehrreichen Arbeit (Die Prog-
nose der Tabes dorsalis. 1906. S. 34) dem Alkoholmissbrauch
die erste Stelle ein betreffs Verschlechterung der Prognose. Ma-
laise betont, dass von den Kranken der Alkohol als Palliativ-
mittel noch energischer als sonst in Anwendung gebracht zu
werden pflegt. In den ungunstig veriaufenden Fällen fanden sich
Angaben über Schnapspotus äusserst häufig; demgegenüber hatten
eine Anzahl günstiger Fälle in ihr Regime auch eine Meidung des
Alkohols, zum mindesten in grösseren Dosen, aufgenommen.
Dass Grabbe zeitweise den Alkohol meiden wollte, haben wir
vorher gesehen. Aber bei Grabbe blieb es bei dem Wollen. Sein
ganzes Leben ist er dem Alkohol treu geblieben. Ellmenreich ^0
erzählt (a. a. O. S. 87 f.) aus dieser Zeit, wie Grabbe stundenlang
bei einem Glase Wein sass, der seiner durch Spirituosen bereits
") Albert Ellmenreich, geb. 1816, Musiker, Schauspieler, Bühnen-
dichter, kam 1834 zu Immermann nach Düsseldorf, lebt noch in Lübeck.
- 85 —
abgestumpften Zunge nicht mehr genfigte, — seltener l)ei einem
Gläschen Grog, der ihn schon eher animierte. „Eigentlich trinken,
etwa gar sich betrinken, sah man ihn in der Kneipe nie. Freilich
konnte er damals auch schon nicht viel vertragen. Sein Körper
war schon zu sehr zerstört durch den Alkoholgenuss, dem er
heimlich fleissig fröhnte. Fast punktlich zu bestimmter Abend-
stunde — meist schon um 11 Uhr — erhob er sich und liess
sich von dem ihm erwartenden Burschen nach Hause geleiten in
seine «Spelunke* " (Grabbes eigene Bezeichnung).
Hermann Marggraff (Bücher und Menschen. Bunzlau 1837.
S. 215) meinte, „man hätte ein Bulletin über seinen Seelen- und
Körperstand ausgeben können und würde ihn Tag für Tag kränker
gefunden haben. Er sah das Grab, in das er hineintaumelte,
aber er fürchtete den Tod nicht, er trank, er taumelte ihm zu
und wenn das Spirituose in ihm verdunstete, griff er zu seinen
gefähriichen Anregungsmitteln ; er ersetzte, was inneriich abdampfte,
durch äussere Zuflüsse, die ihn allmählich aufrieben."
Diese Notizen sollen in erster Reihe zeigen, wie sehr
Grabbes Leben unter dem Zeichen des Alkohols gestanden hat,
wie ich auch schon oben betont habe. Dann machen sie es uns
verständlich, wie verderblich ein derartiger Alkoholmissbrauch auf
den Veriauf der Tabes dorsalis bei Grabbe einwirken musste.
Unter den bei Grabbes Tabes auftretenden Symptomen habe
ich nach Abhandlung der Krisen der sog. lancinierenden
Schmerzen zu gedenken, die ihn des öfteren heimsuchten und
von den Ärzten und von ihm selbst als Gicht und Podagra ge-
deutet wurden. So schreibt er u. a. am 14. Juli 1830: „Obgleich
ich viel arbeite, leide ich an Händen und Füssen schnöde an
der Gichr* und am 15. Jan. 1831 : „Die Gicht ist fort, aber Nerven-
schläge treffen mich doch noch alle 4 Wochen mit schauderhafter
Kraft.'* Noch am 10. Mai 1836 nannte er sich einen „Podagristen'*,
der sich nach Hause führen lassen müsse (Grisebach IV, 127).
Dass Grabbe einen ataktischen Gang gehabt hat, scheint
aus Immermanns Berichten hervorzugehen. Schreibt dieser doch
{Memorabilien Bd. VI, S. 14) bei Gelegenheit eines Umzuges,
den Immermann mit Grabbe zusammen vollzog: .Voran der
3»
— S6 —
Karren mit dem Koffer und Mantelsack, auf dem der Auditeur-
degen, lose angebunden, hin und herschwankte ; hinterher Grabbe
an meiner Seite mit hohen und wankenden Schritten das
Pflaster tretend*'. Ebenda heisstes Seite 45 weiter: „Zuweilen
aber kam er auch zu mir, wenn die verdrossenen Füsse ihm den
Gang nach meiner entlegenen Wohnung erlauben wollten. Da
gab es dann den lächerlichsten Anblick. Weil er sich nämlich
nie in den Weg finden lernte, so musste ihn eine Magd jederzeit
zu mir begleiten. Auf diese Weise aber langte das Paar in
meinem Garten an: Grabbe mit ernsthaftem Gesichte hinter der
Magd unsicher einherschreitend." Ziegler (a. a. O., S. 162)
schreibt: „In seinem ganzen Körper war kein Halt, er wankte so,
dass man fast befurchten musste, er möchte umfallen; nur lang-
sam bewegte er sich fort, nach seiner Weise, wo er die Spitzen
der Füsse wie zufühlend voraussetzte, was übrigens nicht von
einer Schusswunde im Duell gekommen war, wie mehrere Auf-
sätze gemeldet haben, ... — Gott, wie betrübt! Nein so traurig
hätt* ich mir*s nicht vorgestellt! sagte man. Der lebt keinen
Monat mehr, es ist aus mit ihm. Übrigens ist es nur gut, er
sehnt sich gewiss auch selbst nach dem Tode. Er hat offenbar
die Schwindsucht. Der verfluchte Rum! — • . . . Sieh er fällt
vor Mattigkeit. — No — no; es geht noch einmal."
Grisebach (a. a. O. IV, LIX) betonte, dass diese in den unteren
Extremitäten auftretenden Schwächezustände ^') mit der Diagnose
Tabes dorsalis durchaus stimmten. Nun daraufhin allein wird man
nach den heutigen modernen Anschauungen diese Diagnose nicht
stellen dürfen. Ich habe im ersten Teil (S. 20) die Differentitaldiag-
nose zwischen der echten Tabes und der Pseudotabes alcoholica er-^
örtert, glaube aber, dass wir es hier mit der Ataxia tabidorum zu
tun haben, obwohl die Unterscheidung zwischen dem tabischen
und neurotabischen Gange ausserordentlich schwer sein kann^
(Remak a. a. O. S. 460). Überhaupt kann die Differentialdiagnose
so schwierig sein, dass, wie Leyden noch 1892 betonte, auch
geübte Diagnostiker jahrelang unsicher bleiben können. Im Gegen-
**) Qrabbes Brief vom 17. Mai 1835: „und meine Füsse sind zum Stehea
zu schlecht" (Grisebach IV, 456).
- 87 —
salze zur Tabes dorsalis ist aber für die Neurotabes (oder besser
,,ataktische Polyneuritis" nach Remak a. a. O. S. 455) eine aetiolo-
gische Beziehung zur Lues nur ausnahmsweise behauptet werden.
Indes scheinen bei Grabbes Zustand die aetiologischen Momente
Lues und Alkohol eng miteinander verknüpft.
Dass Qrabbe während des Verlaufs der Tabes an Zittern
der Hände gelitten hat, habe ich nirgends erwähnt gefunden.
Seine Handschrift war vielmehr bis in die letzte Lebenszeit (vgl.
unser Faksimile aus der Niederschrift der „Hermannsschlacht")
fest, klar und deutlich, wie schon oben hervorgehoben.
In der Regel werden bekanntlich die Arme erst ergriffen,
wenn die Leistungsfähigkeit des Kranken schon in solchem Masse
herabgesetzt ist, dass auch seiner Hände Arbeit nicht mehr in
Betracht kommt, und fast regelmässig ist der Grad ihrer Er-
krankung erheblich geringer als an den unteren Extremitäten (vgl.
von Leyden, Berlin 1863, a. a. O. S. 223).
Des weiteren sei noch auf eine interessante Stelle in Grabbes
Brief vom 21. Februar 1835 (IV, 406) hingewiesen, wo es heisst:
,Mein Körper ist mir ziemlich etwas Fremdes, er hat seine eigenen
Interessen, was man oft an den unwillküriichsten Bewegungen
einer Fusszehe bemerken kann und die Ärzte wissen bis dato,
so fleissig sie studiert haben mögen, noch nichts davon, wie*s
zusammenhängt. Darum brauche ich auch keinen von der
Sorte . . ." Dass diese unwillkürlichen Muskelkontrak-
tionen eine merkwürdige Erscheinung darstellen, welche sich
meistens erst — wie auch bei Grabbe — in den höchsten
Graden der Krankheit zeigt, haben u. a. Hutin und v. Leyden
(a. a. O. S. 222) berichtet. Dass die Erklärung dieses Phänomens
nicht nur anno 1835 den Ärzten unbekannt, sondern noch 1863
zweifelhaft war, geht aus den Ausführungen Leydens hervor,
der betont, dass es schwer sei, die Erregungsquelle für die Muskel-
kontraktionen nachzuweisen, welche weder im Sensorium (Willen)
noch an der Peripherie liegen können.
Zum Bilde der Tabes dorsalis gehört auch die im Verlaufe
der Krankheit sich mehr und mehr fühlbar machende Geschlechts-
- 88 —
schwäche, sich steigernd bis zur Impotenz. Ich kann hier kurz
daran erinnern, dass der zehn Jahr jüngere Qrabbe am 6. März 1833
mit der 41 jährigen Luise Clostermeier getraut wird. Der Dichter
Levin Schücking erinnert sich ihrer (vgl. Ploch a. a. O. S. 103)
— damals war sie allerdings eine 48 Jahre alte Witwe — mit diesen
Worten: »Sie machte einen nicht angenehmen Eindruck, die kleine
wohlgenährte, überaus lebhafte Frau, mit ihrer mielleusen [= honig-
süssen] Beredsamkeit: wie von einer aus ihren Angeln gewor-
fenen und mit Leidenschaftlichkeit gepaarten ordinären Natur; und
es trug alles umher das Gepräge erdrückender Kleinbürgeriichkeit.'
Am 28. April 1872 schreibt Freiligrath: „Dass Grabbes Ehe
eine unselige war, wer mag sagen, wessen Schuld es war? Frau
Grabbe hatte auch ihre Härten und Herbigkeiten, aber welches
weibliche Wesen wäre wohl auf die Dauer mit Grabbe ausge-
kommen! Vieles haben auch die Hetzereien der Trinkfreunde,
vieles hat der Klatsch der kleinen Residenz verschuldet" (Deutsche
Revue, Dez. 1901, S. 277). Piper (a. a. O. S. 34) betont in dieser An-
gelegenheit sehr richtig: 9 Der eigentliche Grund für die Entfremdung
der beiden Ehegatten liege aber ganz wo anders. Grabbe konnte
seiner Frau vor allen Dingen keine körperiiche Befriedigung bieten.*
Das geht aus der Erzählung Zieglers hervor, welcher berichtet,
dass die Detmolder Bekannten ihm zugerufen, als er gedroht, er
werde sich seiner Frau gegenüber schon als Mann zeigen: »Das
ist es gerade, was sie veriangt.' Piper lässtes allerdings dahin-
gestellt, woher die sexuelle Schwäche stamme, ob sie ererbt, ob
erworben sei: er sagt nur: es ist beides möglich«
Die Ehe blieb kinderios. —
Wie gesagt, gehören bekanntlich Störungen der Geschlechts-
funktion zum Bilde der Tabes dorsalis; im praeataktischen Sta-
dium fehlen sie selten; die Hauptsignatur dieser Störungen' ist,
wie Erb hervorhebt, die Geschlechtsschwäche. Sie äussert sich
in Abnahme der Potenz, verminderter sexueller Leistungsfähig-
keit usw. bis zur völligen Impotenz. Auch die Kinderiosigkeit
dürfte ein Bestätigungssymptom für die Impotenz Grabbes sein.
Es erübrigt noch, dass ich auf die Möglichkeit hinweise.
— 39 —
dass neben Grabbes Lues ein starkesTrauma das auslösende
Moment für seine Erkrankung an Tabes gewesen sein könnte, und
dass sich daran die ersten tabischen Symptome angeschlossen
hätten, oder dass, was noch viel häufiger ist, die schon vor-
handene Tabes durch ein solches Trauma erheblich verschlimmert
und in ihrem Verlauf beschleunigt wurde.
So schreibt Grabbe am 23. August 1829: «Ich habe Wagen
und Pferd zerschmettert und liege krank." Am 31. Januar 1830:
„Der linke Arm ist mir seit vier Wochen zerschmettert . . .
Wundfieber ... Ein Schlitten, in welchem ich umstürzte, brach
mir die Canaille, den Arm, ab . . .", Am 16. Februar 1830:
„denn ich habe bei dem Umsturz eines Schlittens meinen linken
Arm total gebrochen.*' Die Klagen über den Armbruch gehen bis
in den Juli 1830 (Grisebach IV, 288) hinein.
Aber das Unglück wollte es, dass Grabbe kurz nach diesem
Trauma, von dem er noch in dem an Kobbe gerichteten
Briefe vom 10. Februar 1832 (vgl. Teil I, S. 5 f.) spricht, von
einem wilden Hunde gebissen wurde; am 3. August 1830 heisst
es: „Folgen eines zerschmetterten Armes, Gicht, Biss eines tollen
Hundes, der hoffentlich nicht schaden wird, weil Tollheit auf Toll-
heit wenig wirken kann, . . ." am 4. August desselben Jahres: „mich
hat, im Ernst, ein quasi toller Hund gebissen, denn das Ist alles
nur Charlatanerie" ; am 12. September: „ein toller Hund hat mich
wahrhaftig gebissen. Es geht vielleicht gut.*' —
Wenn es wahr ist, dass der Tabiker Grabbe von einem
wirklich tollen Hunde gebissen wurde, so erinnere ich nur an die
jüngst von L. Stembo (Neurolog. Zentralblatt 1904) veröffentlichte
Krankengeschichte, nach welcher bei einem Tabiker, der von
einem Hunde gebissen und nach Pasteur mit 28 Injektionen von
antirabischer Markemulsion behandelt war, die lancinierenden
Schmerzen, die vorher der Behandlung getrotzt hatten, aufhörten!
(Vgl. Schmidts Jahrbücher Bd. 289, 1906, S. 13—26.)
Ich möchte diese Beiträge zur Krankengeschichte Grabbes
nicht schliessen, ohne auf den Verkehr Grabbes mit seinem
Dfisseklorfer Arzte kurz hingewiesen zu haben. In Grabbes
— 40 —
Düsseldorfer Zeit (Dezember 1834 bis Mai 1836) fällt sein Ver-
kehr mit dem dortigen praktischen Arzt und Kreisphysikus Karl
Heinrich Ebermaier (geb. 1803, gest. ca. 1869^'), den er
wohl durch Immermann kennen gelernt hatte. Als Immermailn
an den Augen erkrankte, schrieb ihm Grabbe (IV, 440) am
3. Mai 1835: „P[unc]to Ihrer Augen trau* ich erstlich ganz keinem
Arzt, denn die Ärzte sind alle noch Schuler der Natur, und Eber-
maier gehört deshalb zu den besseren, weil er das weiss.'* Dass
dieses in der Tat der Standpunkt Ebermaiers gewesen ist, ersehe
ich aus seinem „Klinischen Tagebuch für praktische Ärzte*', Teil 1
(Düsseldorf 1838), S. 80 ff., in dem der „Heilkraft der Natur** ein
Kapitel gewidmet ist, das in dem alten, nicht leicht bestrittenen
Satze (wie er ihn nennt) gipfelt: Natura sanat, medicus curat
morbos.
Grabbe mag damals von Ebermaier manche medizinische
Belehrung erfahren haben, so dass er selbst gern Immermann
gegenüber den ärztlichen Ratgeber spielt. Er gibt Immermann
lange Verhaltungsmassregeln zwecks Heilung seines Augenleidens;
freilich rät Grabbe auch aus eigner Erfahrung (Grisebach IV, 437 u.
440),da er selbst so unsäglich sechs Wochen an den Augen gelitten
hat und Zeit genug fand, in der Finsternis an alle Hilfsmittel zu
denken, bis er sich endlich selbst half. Vor allem warnt er seinen
Freund, sich mit den Händen an die Augen zu fassen.
Es kann hier leider nicht der Ort sein, auf Ebermaiers
Persönlichkeit näher einzugehen, so verlockend es auch wäre. Er
promovierte 1824 in Beriin mit einer Arbeit über die „Plantae
papilionaceae** ; 1829 erschien von ihm ein Buch «Über den
Schwamm der Schädelknochen und die schwammartigen Aus-
wüchse der harten Hirnhaut**; 1832 veröffentlichte er seine
^.Erfahrungen und Ansichten über die Erkenntnis und Behandlung
des asiatischen Brechdurchfalls**, die er jenem Berliner Professor Rust
als .dem unerschütterlichen Verteidiger der Wahrheit in aufrichtiger
Anerkennung** zugeeignet hatte. Später hat Ebermaier die Cholera
^•) Weder Hirsch, noch Haeser, noch Pagel erwähnen ihn.
— 41 —
als den Gipfelpunkt der seit etwa 20 Jahren herrschenden gastrisch-
nervösen Krankheitskonstitution angesehen (Kh'n. Taschenbuch I,
102). In eben diesem Werke ist auch den Entzündungen der
Augen ein langes Kapitel (S. 525 f.) gewidmet, aus dem man
den Stand der damals üblichen Behandlungsmethoden gut erkennen
kann. Mir scheint, dass es sich bei Immermanns Augenerkrankung
um eine sog. gichtische Augenentzündung (vgl. S. 539) gehandelt
haben könnte, weil Grabbe schreibt: «mir scheint, als wären Ihre
Augen vollkommen von der Entzündung geheilt, nur noch etwas
matt. Da müssen Sie sich ja vor Erkältung hüten, besonders in
diesem gichtischen Frühlingsmonat usw."
Zu wiederholten Malen klagte Grabbe über seine Augen,
besonders über Sehstörungen. Bereits 1826 will er beinahe völlig
blind gewesen sein; im Mai 1827 befindet er sich aber wieder
auf dem Wege der Besserung (Grisebach IV, 192); er spricht von
seinen „Leipzig-Beriiner Lorgnetten "*, was im Zusammenhang mit
dem Folgenden zeigt, dass er bereits in Leipzig und Beriin über
erhebliche Sehstörungen zu klagen hatte.
Im Februar 1835 berichtet Grabbe genauer, dass das Wetter
ihm auf dem rechten Auge seine alte Februar- und Märzfreundin, die
Mouche volante, geschafft habe. „Indes kann ich noch beiher
sehen", fügt er hinzu (IV, 405). Wir hören weiter von ihm selbst,
dass er seit 1824 jähriich an diesem Übel zu leiden hat; für das Ent-
stehen desselben macht er rheumatische Einflüsse geltend. Bei
der Augenentzündung bestand Fieber, und so scheint er schliess-
lich, wenn auch etwas unfreiwillig, zu ärztlicher Hilfe Zuflucht
genommen zu haben; er berichtet wenigstens am 23. Februar 1835
seiner Mutter: „Ich habe schlimme Augen gehabt, aber einer der
«rsten mir unbekannten Aerzte der Stadt kam zu mir, ich weiss
Icaum von wem gesandt. Ich dachte an Hofrat Piderit (in
Detmold), der mich auch immer so gut behandelt hat*^^). Der
'') Von Piderit schreibt Grabbe im Juli 1836 (Grisebach IV, 480): „Der
Hofrath und Leibarzt Piderit hat mir den zerschmetterten linken Arm ge-
heilt, mein Augenübel kuriert, meine Choleraanfälle vertrieben, mir die
Diätfehler klar gemacht, wie selten Jemand, und doch ist er mir noch gut,
der sonst so finstre Westphale."
- 42 -
Düsseldorfer Arzt wird Ebermaier und der Vermittler Immerinann
gewesen sein.
Pierre Marie iiat den Symptomenreichtum der Tabes
dorsalis als ein die Prognose ungunstig beeinflussendes Moment
bezeichnet; diese Behauptung, die dann Malais^ (a. a. O., S. 20)
bestätigen konnte, scheint auch bei Grabbes Tabes zuzutreffen ;
die Vielheit der Symptome ist schon an sich ein Zeichen für die
Ausdehnung und Schwere des Prozesses.
Ohne den Symptomenreichtum der Qrabbeschen Tabes bis
in alle Einzelheiten zu verfolgen, hoffe ich gezeigt zu haben, mit
welch einem armen geplagten, kranken Menschen wir es zu tun
haben. Ich glaube, seine Persönlichkeit muss uns auf Grund
dieser medizinischen Betrachtungen in einem neuen Lichte erscheinen,
und viele Fehler, von denen die früheren Biographen den Dichter
nicht freisprechen konnten, und die ihnen als Charakterfehler
imponierten, sind nur die Reflexe der schweren Krankheit und
aus ihr heraus zu erklären.
Mit Recht durfte Grabbe nach Goethe von sich sagen:
«Denn ich bin ein Mensch gewesen
Und das heisst — ein Kämpfer sein."
Grabbe war ein Psychopath, d. h. er gehört zu denjenigen,
deren Erkrankung eine endogene ist, und die von Geburt eine fehler-
hafte Anlage des Nervensystems aufweisen. Was ihm als mora-
lischer Defekt, als Charakterschwäche, als romantische Grille u. s. w.
ausgelegt wird, ist in Wirklichkeit zurückzuführen auf die heredi-
täre Belastung seines Nerven- und Seelenlebens. Auf dieser psycho-
pathischen Basis entwickelte sich bei Grabbe ein chronischer
Alkoholismus, und es ist in der Folge oft schwer, die krank-
haften Züge des Hereditariers und des Alkoholisten auseinander-
zuhalten.
Als Student acquirierte Grabbe ein Geschlechtsleiden, welches
damals als ein syphilitisches angesehen wurde und auch aller
Wahrscheinlichkeit nach ein solches war.
Neben den psychischen Alterationen treten bei Grabbe immer
deutlichere Symptome hervor, die auf eine tiefgreifende Erkrankung
der Nerven und des Zentralnervensystems hinweisen. Gewiss
— 13 -
werden wir aus den überlieferten Krankheitserscheinungen und
ohne direkt das Verhalten der Reflexe, der Sensibilität u. s. w.
prfifen zu können, nur mit Vorbehalt eine Systemerkrankung nach-
träglich diagnostizieren können, aber ich halte mich doch für be-
rechtigt, die Tabes dorsalis (Rückenmarksschwindsucht) mit einer an
Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit bei Grabbe anzunehmen.
Der frühe Tod war für Grabbe eine Erlösung von einer
langen Kette qualvoller Leiden.
III. TEIL.
1. Ungedrucktes.
Zunächst drucke ich die auf S. 15, Anmerk. 46 angezogenen
(nicht zusammenhängenden) Blätter der „Hermannsschlacht**
aus dem Besitze der kgl. Hof- und StaatsbiUiothek in München ab :
[Blatt 1 (beide Seiten beschrieben)].
nicht ein Lied, sondern Mordschrei
in seinen Eselkopf. — OberfaUl
Varus.
Lass dich nicht stören. Arminius scherzt vor der Porta Decumana.
Die erstürmt man jetzt noch nicht.
Cäcina.
Er hat wohl zuviel Meth im Kopf.
Varus.
Die Juden in Syrien waren schlau, aber feig, und huckten sich als
ich dort Prätor war, vor meinem Blick, wie Jordans Schilf vor dem Wind.
Doch die Cherusker: falsch wie die Israeliten, und Tapferkeit faustdick
hinter den Ohren, stärker als die drei Mauern Jerusalems, wie es mir vor-
kommt.
Cäcina.
Arminius erreicht.
Armin.
Nicht ohne Fangl — Hai da blitzt hoch ein Adler -- Gehfs nicht
durch das Tor, sprengt sich*s über den Walll
(Er entreisst der neunzehnten Legion den Adler und jagt mit ihm
zurück:) der Kuckuck! — da Gaull Zerstampf den Vogel.
Varus.
Den Adlerträger und die Adlerwacht der neunzehnten Legion gleich
erdrosselt Besorg*s Cäcina. Zwei. —
[Blatt 2 (beide Seiten beschrieben)].
sie einen Kopf — sie würden nieder-
schmetternde Felsen!
Schreiber.
Silentium! -- Amelung!
- 46 —
Amelung.
Jenes Weib ist seit zehn bis elf Jahren meine Frau. Heut erfahr
ich und kann leider beweisen, sie brach im ersten Monat unserer Heirat
die Ehe.
Prätor.
Alberne Klage. Ehebruch verjährt nach fünf Jahren. — Rechne dem
Kläger die Kosten an, Scriba.
Volk.
Ehebruch verjährt? Was wird
wird alt?
Schreiber.
Prätor? —
Prätor.
Furchte dich nicht. Dort hinten stehn genug Lictoren. Die cherus-
kischen Nacken ab, die sich nicht beugen.
Armin (kommt:)
Volk.
Er, der alles könnte, wenn er wollte!
(Es beugt die Knie vor ihm.)
Armin.
Hübsch. Statt uralten Handschlags schon Kniebeugung. Ich sagt
immer, der Deutsche ist gelehrig. Alle Hölle, steht auf 1
Diese Korrekturen lassen unschwer erkennen, dass Qrabbe
bestrebt war, den Text möghchst knapp und gedrängt zu fassen.
Ein weiteres Blatt aus der „Hermannsschlacht" ist vor etwa einem
Jahre (Herbst 1905) mittelbar aus dem Nachlasse des Dichters
Ch. Seh ad ^^), in denselben Besitz gelangt, und zwar wie die Bei-
lage besagt, von Ignaz Hub ^^), der die Dedikation, — dazu eine
braunblonde Haarlocke Grabbes, — mit dem Datum: Würzburg,
3. Oktober 1858 versah. Zu der Fassung ist Grisebachs Ausgabe
111, 344 f. zu vergleichen.
[Seite] 69.
überwinden.
Varus.
Was verdankt man nicht deinem Eifer für die gute Sache, und wie
beförderst du die Civilisation.
*') Über diese Schenkung wertvoller Dichter-Autographen der beiden
Schad vgl. L Fränkels Bericht, Zeitschr. f. Bchrfrnd. VIII, H. 8, Beibl. S. 7 f.
^') Dessen warme Teilnahme für Grabbe belegt auch sein begeistertes
Gedicht „Das Grab zu Detmold*' mit einer Revue über alle Dramen Grabbes:
Blumenthals Grabbe- Ausgabe IV, S. 658—61.
- 46 —
Hermann (ffir sich):
Ich will euch civtlisleren und bei uns einbürgern» drei Puss tief unter
die Erde« oder noch besser: eure Knochen in Hügeln fiber ihr, weiss-
glanzende, warnende Malzeichen für künftige Eroberer.
[Seite] 70. U^
Römische Soldaten.
Donnert's?
Varus.
Sprachst Du?
Hermann.
Nein. Die Riemen am Sattelzeug meines Hengstes gingen los und
mein Stallbursch brummte.
Varus.
Schone er forthin seiner ungeheuren Lunge. Man schlagt Brumm*
fliegen leicht todt
(Laut:)
Auf, Hilfsvölker und Legionen!
Her-
Die mit Blatt 75 und 76 bezeichnete Seite gebe ich in Fak-
simile dem Aufsatze bei.
[Seite] 75.
ihre Bewegungen ailmählig nach
unsrer Sitte ordnen zu helfen.
Hermann (für sich:)
Spione, hetsst das.
Varus.
Und du. Wegkundiger, bleibst einige Zeit bei uns, und bedeutest mir
und der Vorhut den Weg auf die Empörer.
Hermann (ffir sich):
Schnell gehf s in Rom 1 Schon Empörer, ehe sie Untertanen waren,
die Harzmänner?
[Seite] 76.
Varus.
Führet rasch!
Armin.
Du befiehlst es. Wohl, folgt mir, hin und zurück. Ich bringe euch
zu grossen Siegs- und Todesschlachten.
Varus.
Wird uns lieb sein.
6.
(Oberer Hünenring. Eine Stube. Thusnelda und Thumelico.)
Thus-
Zum Schluss bin ich dank der grossen Freundlichkeit des
Besitzers, des Herrn Robert Remak in Berlin, in der Lage, einen
— 47 —
ungedruckten Brief Grabbesan seinen Verleger Schreiner mit-
teilen zu können (1 Blatt 4^ mit Siegel. „C. D. G:*). In dem
offenbar in den Juni 1835 zu setzenden Brief ist die Stelle bei
Grisebach IV, 472 zu vergleichen, wo es heisst: „Die Reise durch
die Schweiz von Zendyk kann ich neben meinem Armin recht gut
kritisieren. Dann muss ich sie aber aufschneiden dürfen . . /*
und ebendort S. 474 heisst es: ,,Die Schweizerbohne ist in
Arbeit"
An
den Herrn Buchhändler
Schreiner
Wohlgeboren.
Per Estafetten.
Euer Gnaden schick ich den Brief von Hofrat Menzel Besorgen Sie
ihn mit den Exemplaren und siegeln Sie ihn zu. Ich bitte. Mit dem Siegeln
versteh' ich's ohnehin schlecht, sowohl wie auf dem Maul als auf Briefen.
Ich bin an der Hermannschlacht, aber nicht minder an der Schweizerretse.
Zu deren Rezension war' *ne Karte gut — Haben Sie eine, so leihen Sie
sie mir. Es ist nicht Neugier, die Karten kenn* ich doch so ziemlich, aber
ich möchte Ihnen den Artikel reell, Punct vor Punct sicher, recensiren.
Ist keine da, geh* ich auch los. Besser ist indess besser, es heisst darum
ja «besser*.
Was ist heut doch für ein Datum?
[Dusseldorf, Juni 1835.]
Ihr
Sepulcrum + b
i. e.
Orab-be.
Nach dem Original in Privatbesitz durfte Ich femer den Brief
Grabbes an seine Braut kopieren, der bei Grisebach IV, 317 nicht
vollständig und inkorrekt abgedruckt ist:
An
die Demoiselle Clostermeier
Wohlgeboren
allhier.
Hochgeehrteste Mademoisellel
Sie haben eine schlechte Reise nach Heidenoldendorf gehabt.
Nehmen Sie mir aber nicht übel, und seyen Sie nicht zu edel: Ihr
eben mitgetheiltes Rescript ängstet mich, — aber Sie wollen ja des Morgens
mich Sie nicht besuchen lassen, und Abends auf gestern, heute und Morgen
sind Sie bei Kaiser versagt Also mir das Rescript mitgeteilt und mich
Montag Abend Sie besuchen lassen.
— 48 -
Hat* s aber Eile, jede Stunde. Aber ich bin und wäre abscheulich,
weil ich Ihnen Alles, und vor Allem Gesellschaft wünsche, und ein zer-
rütteter Teufel sie nicht ersetzen kann. Hochachtungsvollst
gehorsamst
Grabbe.
Detmold 27. August 1831.
Bauern um mich. Deshalb die Eile.
Der Brief Grabbes vom [12. April] 1834, von dem Grise-
bach (IV, 518) den Verbleib des Originals nicht nachweisen konnte,
v^urde (vgl. Leitzmann, Littbl. f. germ. und rom. Philologie, XXI. 1900,
Sp. 407 Anm.) in L. Liepmannssohns Antiquariat in Berlin am 7.
Mai 1896 versteigert; jetzt taucht der Brief — der übrigens im
„Taschenbuch dramatischer Originalien**, II. Jahrg. Leipzig 1838
facsimiliert ist — im Katalog von List und Francke in Leipzig
(Nr. 321, 1906) wieder auf, um gewiss bald wieder für längere
oder kürzere Zeit zu verschwinden.
Soeben, im Augenblicke des Abschlusses, treten in C. G.
Bömers LXXXV. Auktionskatalog (Leipzig 12.— M.November 1906)
hervor: ein freundschaftlich -scherzhafter Brief an Althof in Det-
mold vom 20. Februar 1829, sowie ein literarischer an ebendiesen
vom 10. Juni 1835 („in wenigen Wochen habt ihr auch Armin
oder die Hermannschiacht, vielleicht noch etwas über Code Napo-
lton")> beide nicht abgedruckt bei Blumenthal und Grisebach ; ferner
14 eigenhändige Dokumente Grabbes als Advokat von 1826/27
samt zwei Schreiben seines späteren Schwiegervaters, des Archiv-
rats Clostermeier, in derselben Angelegenheit an ihn.
Manche Äusserungen in obigen handschriftlichen Blättern,
sowohl der „Hermannschlacht** als der Briefe, sind dazu angetan,
unsere Betrachtungen über Grabbes Wesen und Krankheit zu er-
gänzen.
49 -
2. Verzeichnis weiterer Literatur.
L. Assing, Elisa von Ahlefeldt Ber-
lin 1857, S. 122.
Carl Behrens, En tysk Digter.
Ch. D. Qrabbe. Kopenhagen
1905. Qyldendals Verlag; be-
sprochen in der Zeitschrift für
deutsche Philologie, Bd. 37, 429 f.
M. Bernhardt, Über multiple Neu-
ritis der Alkoholisten u. s. w.
Zeitschr. f. klin. Mediz. Bd. XI.
Robert Bing, Die Pathogenie der
Tabes (Theorien und Tatsachen)
Mediz. Klinik. 1905 Nr. 49 u. 50.
Iwan Bloch, Schopenhauers Krank-
heit im Jahre 1823. Mediz. Klinik
1906 Nr. 25 u. 26.
Wilhelm Buchner, Ferd. Freilig-
grath. 1882. 2 Bde.
Cassirer, Tabes und Psychose.
Berlin 1903.
W. Deetjen, Grabbe-Studien. Sonn-
tagsbeilage der Vossischen Zei-
tung vom 13. XI. 1904, S. 374
bis 376.
A. Ellmenreich, Erinnerungen an
Karl Immermann : Deutsches
Wochenblatt, hg. von Rippler
und Busse, 1899 Nr. 2, S. 78—80.
Franc k, Grabbe, in: Taschenbuch
dramatischer Originalien. II. Jahr-
gang. Lpz. 1838.
Paul Friedrich, Neues von und
über Grabbe : Voss. Zeitung vom
11. Dez. 1901.
Paul Friedrich, Grabbes ausge-
wählte Werke nebst einer literar-
psycholog. Einleitung: Grabbe,
sein Wesen und sein Werk. Berlin,
A. Weichert. 1907.
Paul Friedrich, Napoleon. Hero-
ische Trilogie. Beriin 1902,
Otto Janke.
K. Gutzkow, Beitrage zur Ge-
schichte der neuesten Literatur.
Stuttgart 1836. I. S. 189 ff.
O. H a r n a c k , Chr. D. Grabbe : Preuss.
Jahrbücher, Bd. 105 S. 193
bis 203.
Ph. Hutin, Recherches et obser-
vations pour servir ä Thistoire
de la moelle dpini^re : Nouv. Bibl.
Mddic. Bd. 1. 1828.
Franz Lindl, Klin. Beobachtungen
über Polyneuritis alcoholica. Ber-
lin. Diss. 1905.
Franz Lindl, Ergebn. klin.Beobach-
tungen von Polyneuritis alcoho-
lica. Der Alcoholismus. Neue
Folge. Heft 1. Lpz. 1904. S. 34 ff.
J. Löwenberg, Deutsche Dichter-
abende, S.23— 46 (Hamburg 1904).
E. V. Malais^, Die Prognose der
Tabes dorsalis. Berlin, Karger
1906.
Hermann Marggraff, Bucherund
Menschen. Bunzlau 1837. S. 215
bis 223.
V. Magnan, Psychiatrische Vorle-
sungen, deutsch von P. J. Mo-
bius. Leipzig 1892.
Wolfgang Menzel, Geschichte der
deutschen Dichtung. Bd. III. Leipz.
1859. S. 220 und 603—506.
A. Moeller van den Brück, Ver-
irrte Deutsche, 1905 ; darin S. 95
bis 113: Grabbe.
O. Nieten, Chr. D. Grabbe. Beriin
1902.
- 50
Arthur Ploch, Grabbes Stellung in
der deutschen Literatur. Ver-
lag von K. Q. Th. Scheffer Lpz.
1905; enthält sehr viel Literatur-
angaben.
Felix Poppenberg, Bibelots, 1904
(S. 248 -62 „Grabbe-Qrotesken".)
E. Remak, Neuritis, XL, 3. Noth-
nagels Handbuch 1903.
M. H. Romberg, Lehrbuch der
Nervenkrankheiten d. Menschen.
Berlin 1846. S. 794-801.
H. von Treitschke, Deutsche Ge-
schichte im 19. Jahrhundert.
4. Teil. Lpz. 1889. S. 452f.
Friedr. TheodorVischer, Ästhe-
tik oder Wissenschaft des Schö-
nen. Teil 1 (Reutlingen und Lpz.
1846) S. 465.
Wilhelm Waldmann, Die Behand-
lungder Tabeskrankheiten als An-
halt f. Arzte u. Kranke. Halle 1872.
Karl Ziegler, Grabbes Leben und
Charakter. Hamburg 1855.
Druck von M. Muller & Sohn, München V.
Faksimile eines Blattes aus der Handschrift
i'.ii Grabbea „ Hermannsschlacht ",
aKweiphend von dem Dnicke von I8m'
7J,
|:-.w .,^f4
iLJ jS . i(/i^4JLj.'j^^ t^^
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di^^4/tji '««^V. i/^'u. 4aa*J ^^
- — ^ 0" /
^^
QRENZFRAQEN DER LITERATUR UND MEDIZIN
in EinzeldaistellunEen
herausgegeben von Dr. S. RAHMER, Berlin.
4. Heft.
Klima und Dichtung.
Ein Beitrag zur Psychophysik
von
Ellskr von KupHer.
MÜNCHEN 1907
ERNST REINHARDT. VerU^uchhandlang
JSseratrasse 17.
DEM ANDENKEN DER PERSÖNLICHKEIT
MEINES VATERS
ADOLF VON KUPFFER
DR. MED.
DER AUCH IN MIR DIE REIFENDE PERSÖN-
LICHKEIT ACHTETE ; DEM ANDENKEN DES
MANNES. DEN ERST DER TOD MITTEN AUS
FURCHTLOSEM UND OPFERFREUDIGEM
WIRKEN RISS.
GEBOREN 1834 IN REVAL.
GESTORBEN 1886 ZWISCHEN PORRIK U. JOOTMA
IN EHSTLAND.
Vorwort des Herausgebers.
Auf den folgenden Blättern kommt ein Dichter zu Worte,
dessen Namen und Leistungen dem grossen Publikum noch un-
bekannt sind, dessen Dramen zum Teil wohl in Buchform erschienen
sind, aber bisher nicht von der Bühne aus ihre Wirkung erprobt
haben. Es durfte deshalb angebracht sein, darauf hinzuweisen,
dass die Leistungen des Autors auf dramatischem Gebiete an
massgebender Stelle lebhaftes Interesse erweckt und vielseitige
Anerkennung gefunden haben. Von seinen Dramen sind «Der
Herr der Weif* (gedichtet 1896) und „Irrlichter'' (1897) im Buch-
handel erschienen. Den Lyriker lernt der Leser selbst kennen
und beurteilen aus den zahlreichen, dem Text beigefugten Proben.
Es handelt sich auf den folgenden Blättern um psychologische
Betrachtungen eines Dramatikers und Lyrikers, der wohl unbe-
wusst schafft, der aber nachträglich und retrospektiv sich aber
die Entstehung dichterischer Produkte Rechenschaft gibt. Dabei
kommt er zu bemerkenswerten Ergebnissen, die ihrerseits dem
Psychophysiologen und Kulturhistoriker weite Perspektiven eröffnen.
Auch das Schaffen der Dichter, Denker und Künstler ist eine Kon-
sequenz der Natureinwirkung auf die gegebene Persönlichkeit.
Sowohl Inhalt wie Form ausgesprochener Gedanken und Qe-
ffihle sind bisher fast immer als eine willkürliche Betätigung
des Geistes aufgefasst worden. Man spricht von Gedankenfreiheit
und — Gedankensünden, und versteht unter letzteren vielleicht
schlechte Gefühle, die sich nicht in Tat umzusetzen brauchen.
Ja, der Mensch ist so stolz auf diese „Freiheif* seiner Will-
kür, dass es keinen heikleren Punkt als das Kapitel der Willens-
freiheit gibt Sie dünkt vielen das »ultimum Refugium*, die letzte
Festung der Menschenwürde, die man mit dem letzten Blutstropfen
verteidigen muss. Mit ihr geht das Königreich des Menschen
unter! — So denkt man. Erst die neueste Erkenntnis hat be-
gonnen, diese Festung zu bestürmen — diese MBastille**, in der
so viel arme Sünder und unschuldige Gefangene schmachten.
Unter diesen Vorkämpfern gibt es bedeutende Köpfe, wie den
Kriminalisten Franz von Liszt, aber auch solche wie Cesare Lom-
broso, die an Stelle der alten Bastille ein „humanes Irrenhaus*
organisieren wollen — eine »lebenslängliche Bastillenkur*'. Chacun
ä son gofit! Ich zöge, glaube ich, die alte Festung vor.
Doch was hat das alles mit Klima und Kunstform zu tun?
Gemach. Sehr viel.
Muss das ein Pedant sein! Den Vorwurf höre ich. Ein
Pedant, der die Kunst mit Barometer, Hygrometer, Thermo-
meter und Irrenhaus usw. in engsten Zusammenhang bringt!
— 8 —
Da ich hier — wie es das Thema will — sachgemäss über
eigene Erfahrungen reden muss, wird sich ja dem Leser —
besonders wenn er die Grundlagen zu Rate zieht — die Ge-
legenheit bieten über meine absurde Anschauung zu Gericht zu
sitzen. Wie hoch ich übrigens die Kunst schätze, kann jeder aus
meiner Schrift ^.Heiland Kunst* ^) ersehen. Aber deshalb kann ich
ihr doch keine zusammenhanglose Willkür zusprechen, wie über-
haupt keiner Erscheinung, die wir kennen. Nicht einmal einer
Gottheit. Die gesamte Natur, und ihr gehört alles an, Erde,
Sonne und Sterne — auch der Mensch, ja auch die Kunst! . .
ist eine endlose Folge von Erscheinungen und Geschehnissen,
die einander bedingen. In «Olympia und Golgatha"') habe ich es
ausgeführt, dass wir deshalb doch keinem vorherbestimmten Ver-
bingnis unterworfen sind: Fatalismus und Moira unterscheiden sich
prinzipiell und wirken ethiisch verschieden. Nein, die Welt, das Sein,
die Natur — wie wir es auch nennen mögen — ist eine unendliche
Fülle von Mächten, die da leben, miteinander kämpfen, sich einander
anschliessen — sich hassen oder lieben. Der Mensch selbst ist
wohl eine Konzentration zahlloser kleinerer Mächte, die von seiner
persönlichen Macht gebändigt werden. So ist die Erde eine
Bändigung zahlloser Mächte, so ist es unser Sonnensystem, so
ist es der Wassertropfen. Unendlich gross, unendlich klein. Was
besagt das! Aus diesem beständigen Kampfe erwichst alles
Geschehen mit innerer Notwendigkeit. Uns [scheint das meist
Willkür. Uns scheint aber auch, als ginge die Sonne unter, als
wäre die Erde eine flache Scheibe, als stände alles auf Erden
still, und doch ist alles Bewegung und die Erde hat eine kugelige
Gestalt.
Wann werden wir dahin kommen, diesen Schein in bezug
auf uns selbst zu durchschauen? Und damit auch die blinde
Verfolgung einzustellen? Der Stumpfsinn der Erkenntnis scheint
aber ein Naturgesetz, das selten durchbrochen wird.
Dass auch die Kunst, die Dichtung — und ihre Äusserung,
Heft 3 der J^ebenswerte", Jena 1907.
>) Heft 1 der HLeb^nswerte".
- 9 -
ihre Form, ihr Geist ein solches Resultat verschiedener Einflässe
ist, war eine Einsicht, die sich mir unwillkürlich durch eigene
Erfahrungen allmählich aufdrängte — wohlverstanden: unwillkör-
Hch und ungesucht. Da wir hier wohl noch ziemlich am Anfang
einer Erkenntnis stehen, muss ich um Nachsicht bitten. Nur ein
reiches Material verschiedener und zahlreicher Beobachter kann
hierfiber weiteren Aufschluss geben. Wir leben denn doch in einer
Zeit, die den Menschen zu einer Selbstkritik auffordert. Vor
kurzem war das erotische Gebiet ein gefährlicher Igel, an dessen
Stacheln man sich zu Tode spiesste. Wenig Licht leuchtete in
dieses interessante Gebiet, das am Ende alle am nächsten angeht,
da doch jeder einmal im Leben »verliebt ist. Das Material hat
sich mehr und mehr gehäuft — trotz der beschränkten Mensch-
lichkeit, die in jeder Erforschung eine böswillige Verletzung gross-
väteriichen Erbes sieht. Dr. Magnus Hirschfeld hat in seinem letzten
Buche „Vom Wesen der Liebe" ^) viel lehrreiches und diesmal auch
vielseitigeres subjektives Material beschaffen, das der objektiven
Erkenntnis in bester Weise dient. In seinem Buche „Modernes
Mittelalter"*) hat Dr. Eduard von Mayer die prüde, heuchlerische,
ja unwissenschaftliche Stellungnahme unserer Kultur zur Erotik
einer scharfsinnigen Kritik unterzogen und einen positiven Aus-
weg gewiesen. Und Leo Bergs Werk „Geschlechter"") spricht
mit anerkennenswerter Ehriichkeit von der Befreiung der Persön-
lichkeit aus dem Joch widersinnigen Herkommens.
Es wird Zeit, dass wir mit der alten Methode brechen, nach
der man die Beurteilung der Dinge aus seinem Nabel spulte, wie
eine philosophische Missgeburt. „Greif nur hinein ins volle
Menschenleben!" Wir selbst sind das Buch, das wir lesen lernen
müssen. Darum sollen wir von uns selbst erzählen. Das ist nicht
Eitelkeit, wenn wir dazu geschult werden. Und wenn auch etwas
Eitelkeit mitunterliefe — so viele grosse Errungenschaften wären
ohne Eitelkeit nie erlangt worden. Solche Beobachtungen sind Bau-
Leipzig 1906.
>) Berlin 19Q6.
*) Kulturprobleme der Gegenwart Berlin 1906.
- 10 —
steine zum grossen Bau menschlicher Erkenntnis. Ein gewisses In-
teresse an sich selbst, ein Teil Freude an sich selbst — ohne dumme
Protzerei — ist Gesundheit des Wesens; Es wäre besser, die
Menschen nähmen Interesse an sich selber als an ihrem Nächsteh.
Aus dem Klatsch über den Nächsten entsteht nur schiefe Er-
kenntnis, an der unsere Wissenschaft, besonders die psychologische
und anthropologische, allzureich ist. Haben wir einmal vom Baum
der Erkenntnis gegessen und sind, wie es heisst, deshalb dem
Fluch unterworfen — so wollen wir wenigstens davon Nutzen
ziehen und die Früchte der Erkenntnis ernten!
Bevor ich hier auf mein eigentliches Thema eingehe, muss
ich voranschicken, was ich unter Klima verstehe. Mancher denkt
dabei bloss an Thermometer, Wind oder Regen. Das Klima
einer Gegend besteht aus verschiedenen Momenten, die zusammen-
wirken. Deren sind vier:
1. Das geologischeMomentderlandschaftlichen Formation.
(Berge, Hügel, Ebene, Täler, Flüsse, See und Meer).
2. Das meteorologische, das durch die geologische
Struktur bedingt wird. Winde (Anemometer), Höhenlage
(Barometer), Feuchtigkeit (Hygrometer), Sonnenstrahlung,
Wärme (Thermometer), Bewölkung.
3. Das biologische: Pflanzenwelt — Wälder, Matten, Wiesen.
Felder, Obstgärten, einzelne Bäume, Blumenflor. Die Tier-
welt — Vögel, Insekten wie Schmetterlinge, Wild, Herden,
wilde Tiere. (Die Tierwelt ist mehr akzessorisch.)
4. Das soziale: Städte, Gebäude in ihren verschiedenen Stil-
arten, die verschiedenen klimatischen Zwecken dienen, z. B.
deutsche Giebeldächer, die den Schnee abgleiten lassen,
flache südliche Dächer, um die laue Nacht zu geniessen,
Strassen und deren Leben (z. B. im Süden durch die Wärme
bedingt, das offene Gewerbe in den Strassen, das wieder
das ganze südliche Treiben erzeugt). Und endlich die
verschiedenen klimatischen Rassen. Der Mensch — als
Rassenindividuum.^)
^) Vgl. die Rassekritik in den „Lebensgesetzen der Kultur" von
Dr. Eduard von Mayer, S. 22 u. f., Halle 1904.
- 11 -
Ein Klima kann schroff wirken, wie manche nördh'che, oder
weich, wie viele südliche, aber auch zum Teil das Rheinklima.
Es kann Schroffheit und sudliche Wärme verbinden wie das
florentiner und sieneser Klima und eventuell einen mehr .»bisexuellen*
Typus schaffen.
Nicht Willkur. sondern des Lebens blinde (?) Mächte haben
mich oft gezwungen, meinen Aufenthalt zu wechseln. Ehstland,
St. Petersburg, Deutschland, die Schweiz und Italien sind meine
Heimat wider Willen gewesen. Nach einer Influenza und ver-
schiedenen schweren Lebenssorgen war ich nervenleidend geworden.
Meine Schaffenskraft wurde aber glücklicherweise dadurch nie wirk-
lich gebrochen. Bei dem wiederholten Wechsel des Klimas und
Rassebodens machte ich da Erfahrungen über Form und Wesen
meines Schaffens. Um das zu erklären, muss ich von dem wieder-
holten Hervorbrechen angeborener Anlagen reden. Von klein auf
bestand ein lebhafter Drang zum Drama, resp. dramatischen
Schaffen, aber nicht zum Schauspielern. Schon mit sieben Jahren
las ich Shakespeares Hamlet mit Leidenschaft und mit neun Jahren
entstand mir in Nachwirkung ein Stück, „Don Irrsino, der verrückte
Prinz". Leidenschaft zeichnete stets mein Schaffen aus. Der Drang
zum Dramatischen hat sich nie verloren, trotzdem ich ihm bittere
Opfer bringen musste. Mein Studium, das mich der r4issischen
Staatslaufbahn zuführen sollte, begann mit gutem Erfolg und die
russische Obrigkeit wie mein Vater redeten mir zu, zu bleiben
— trotzdem verliess ich meine Heimat, in der festen Überzeugung,
dass es mir gelingen werde, in Deutschland die Bühne als Dichter
zu erobern. Zuerst schien es fast, ich würde recht behalten, aber
in der Folge musste ich die schwere, kränkende und entbehrungs-
reiche Laufbahn eines deutschen Dramatikers durchmachen, dessen
Schöpfungen und dessen Befähigung zur dramatischen Ge-
staltung wohl von massgebender Seite anerkannt wurden, der
aber nie seine Geisteskinder auf der Bühne zu sehen das
Glück hatte.
VieUeicht interessiert es den Leser genaueres über das Schicksal
meiner dramatischen Produkte zu erfahren. Das Stfick ..Die toten Götter^',
das ich (1894) A. Entsch in Berlin einreichte, wurde von ihm mit Beifall
- 12 -
Weshalb ich das erwähne? Vor allem, um zu beweisen, dass
dieser dramatische Drang nie versiegen wollte, trotz aller häss-
liehen abschreckenden Erlebnisse, die Goethe „dämonische*' Ein-
flüsse genannt hätte. Aber ein Wunder sollte geschehen! Was
alle Theatergewaltigen von Reichsdeutschland und Österreich nicht
erreichten, das erreichte jedesmal vorübergehend die unglückliche
Liebe des Deutschen ~ Italien. Prosaisch gesprochen: das
italienische Klima! Selbst leidend gelang es mir in Berlin
eine Komödie „Die Krone der Schöpfung" zu vollenden. Als
ich in Italien weilte, schon das erste Mal, wo ich längere Zeit
dort blieb (fast ein Jahr: 1899/1900) versiegte jener verhängnis-
volle Drang. Und das war vor jenem erwähnten Lustspiel, das
ich im Herbste 1900 in Berlin verfasste. 1902 siedelte ich dann
nach Italien über — freilich nicht, um mich von der „Dramatitis'*^
zu kurieren, sondern von andern ebenso schlimmen Leiden.
Darauf entwarf ich im November 1902 in Rorenz den Plan zu
einem faustischen Märchendrama. Aber siehe da! nach der
ersten Szene stockte die Produktion, und diese Stockung hielt
zum Vertrieb angenommen. Es kam nicht zur Aufffihrung. Ein späteres
Stock, das auch gedruckt (Berlin 1899) erschien, „Der Herr der Weif* (ge-
dichtet 1896), wurde vom damaligen Dramaturgen am »Theater des Westens*,.
Dr. Adalbert von Hanstein, zur Auffuhrung angenommen. Bankrott trat ein.
Darauf versprach mir Josef Kainz die Titelrolle des jungen Papstes zu
spielen. Aber auch das half nicht Es kam nicht dazu. Der dramatische
Trieb blieb jedoch bestehn. Und das veranlasst mich auf diese Dinge ein-
zugehn, um die klimatische Beobachtung später verständlich erscheinen zu
lassen. Die inzwischen ebenfalls gedruckten „Irrlichter** (Berlin 1900X (ge*
dichtet 1897) wurden vom Direktor Lautenburg für eine Matinee angenommen,,
nachdem der damalige Dramaturg Paul Block sie für eine talentvolle Buhnen-
arbeit erklärt hatte. Es kam nicht dazu. Und je mehr ich reifte, um so
weniger kam es dazu. Das Drama „König Mensch** (gedichtet 1896) erlebte
einen Achtungserfolg bei Direktor Brahm. Ein symbolisches Märchendrama
„Aino und Tio** (gedichtet 1903) und „Die Tragödie der Schönheif* (gedichtet
1904) wurden wiederholt mit allerliebsten Phrasen abgelehnt, so voit
Dr. Schienther, Baron PutlitE, von Hülsen, Georg Jantschge usw. Ja zuletzt
ein realistisches Revolutionsdrama meiner baltischen Heimat „Feuer im
Osten** (gedichtet 1905) von Otto Brahm mit der Bemerkung, die Charaktere
schienen sehr wahr gezeichnet — aber! — und dann folgt ein Vorwurf, der
genau auf „Die Weber** und „Florian Geyer** passt
— 1» —
volle sechs Monate, an. Erst als ich im Mai 1903 in die Schweiz
kam, erwachte plötzlich der alte Trieb, die Arbeit fortzuführen.
Ich schrieb ein Dritteil der Arbeit,, alles in Versen und Reimen,
die einen freien Rhythmus annahmen. Dann trat wieder eine
Verschlimmerung meiner Krankheit ein. Als sich der Zustand
hob, entstand auch wieder der lebhafte Trieb, und im August
und September vollendete ich die Arbeit bei Luzem. Und zwar
wurde diese ganze Märchendichtung mitten im Rauschen des
Waldes geschrieben, unter Tannen und Buchen. Wenn sie also
etwas vom Duft des Waldes an sich hat, so ist das wohl er-
klärlich. Da sagt denn auch der alte Leibarzt zum Oberhofpriester :
„Hochwürdiger HerrI wer kann das wissen,
Was die Natur in uns erstrebt 1
Wo glaubt Ihr Natürlichkeit zu missen?
Es ist Natur, die uns durchbebt.
Was lebt und stirbt, was liebt und hasst.
In jeder Form die Natur umfasst —
Auch Menschengeistes hohe Gewalt
Ist nur Natur in andrer Gestalt." ^^^^ ^y^ ^ g^^^ ^
Im Herbste kehrte ich nach Italien zurück und damit war
die dramatische Produktion eingewiegt, ohne dass deshalb der
Schaffenstrieb erschöpft gewesen wäre. Nein, er äusserte sich
bloss in anderer Form. Darauf werde ich später zurückkommen,
wenn ich von der Lyrik rede. Und so blieb es bis zum März 1904,
der mich abermals — wider Willen — in die Schweiz führte. In
Genf entwarf ich dann den Plan zur «Tragödie der Schönheit*.
Mit leidenschaftlicher Kraft vollendete ich den ersten Akt im Monat
April in Lausanne. Darauf musste ich nach Beriin und, obgleich ich
hier gelegentlich einer Unterredung mit einem bekannten Hof-
Dramaturgen die Überzeugung gewonnen, dass auch meine neue
Schöpfung an massgebender Stelle nicht durchdringen werde, so
schreckte mich das alles nicht ab; der dramatische Drang blieb
sehr heftig, und bei Luzern vollendete ich dieses leidenschaftliche
Drama, das ja wieder ein Stück eigener Leidensgeschichte
gab. Ich las es in Luzem in einem kleinen Kreise des Hotels
vor und erlebte einen gewaltigen Eindruck auf die Anwesenden.
Wieder war es das cisalpine Klima, das mit daran die Schuld trug.
— li -
Die Hofschauspielerin Frau Clara Salbach in Dresden nahm leb-
hafte Teilnahme an dem Stück und bemühte sich, es auf die
Bühne zu bringen. Aber es kam, wie immer, nicht dazu. Der
Dramaturg Dr. Zeitz lehnte es mit der Begründung ab: in vorher-
gehender Saison wäre ein Stück ohne Erfolg geblieben, das in
derselben Zeitepoche gespielt hätte — sonst könnte man sehr
wohl einen Versuch mit diesem Stücke machen (I !) Leider zwingt
mich meine Arbeit zu solchen Berichten, damit der Leser, der
mich ja als Dramatiker nicht kennt, eine gewisse Vorstellung
davon bekommt, dass der klimatische Einfluss Italiens offenbar tatsäch-
lich eine vorhandene dramatische Fähigkeit gelähmt hat, und dass es
nicht bloss Einbildung meinerseits ist, wenn ich von diesen Werken
rede und von meiner nachträglichen physiologischen Erkenntnis»
Als ich nach Italien zurückkehrte, da war es wieder mit dem
dramatischen Sturm und Drang vorbei.
Ein viertes Mal sollte sich derselbe Vorgang wiederholen.
Als ich im vorigen Sommer nördlich der Alpen weilte, erwachte
plötzlich so heftig der alte Jugendtrieb, dass ich binnen
vier Wochen ein Revolutionsdrama meiner Heimat entwarf und
vollendete.
Ich denke, die wiederholten Erfahrungen beweisen doch
wohl, dass ein klimatischer Einfluss voriiegen muss. Nicht als
ob jeder Dramatiker würde, wenn er nördlich der Alpen ist! Das
wäre ein kindischer Trugschluss; und gegen diesen Vorwurf brauche
ich mich wohl nicht zu verwahren. Aber dass eine Hemmung
oder Förderung auf Grund angeborener Anlage stattfinden kann —
das ist es. Und wie ist es Goethe mit seinem dramatischen
Schaffen in Italien ergangen? Zunächst nahm er seine Arbeiten
mit, um Material für die neue Gesamtausgabe seiner Werke zu
beschaffen. Es handelt sich um »Iphigenie", „Egmont*" und
«Tasso". „Iphigenie"* wurde zuerst 1779 gedichtet, und als er
1786 nach Italien fuhr, hatte sie bereits vier Fassungen eriebt^
davon schon zwei in Versen. 1787 hat er also nur die letzte
Feile angelegt. «Egmont* war schon zum Teil in den Jahren
') Vgl. Julius R. Haarhaus: Johann Wolfgang von Goethe. Leipzig.
— 16 —
1775—81 nieder^schrieben . worden. Von der Vollendung des
Stackes schreibt Goethe am 11. August nach Weimar: „Es war
eine unsäglich schwere Aufgabe . . .*" Das Manuskript des „Tasso*
hatte Goethe ebenfalls mitgenommen und quälte sich damit. Erst
«beschäftigte ihn ein neuer Plan, der freilich nicht zur Ausführung
kommen sollte,'' .Iphigenie in Delphi*. Auch in Neapel schritt
die Arbeit nicht vorwärte, über den veränderten Plan kam er
weder hier noch in Sizilien hinaus. Als Torso brachte er den
»Tasso** wieder nach Weimar zurück. Ich meine, das gibt zu
denken, besonders wenn man erwägt, dass er gerade die «Iphigenie*
1779 mitten in dringlichsten Amtsgeschäften in kürzester Zeit zu
schreiben vermocht hatte, und seinen «Clavigo'' in genau acht
Tagen !
Und merkwürdig und tatsächlich, wenn wir die römisch
italienische Literaturgeschichte durchblättern, so werden wir bald
inne, dass auch die Eingeborenen selbst diesem Einflüsse unter-
worfen sind. Wo in aller Welt ist ein nennenswerter römischer
Dramatiker ! Nichts als die paar Possen von Terentius und Plautus.
Die Atellanen. Und damit basta. Wohl mag es auch durch die
Rasse bedingt sein ; aber die Rasse entwickelt am Ende ihre Eigen-
schaften in einem bestimmten Klima. Germanen, die lange im
Süden leben, pflegen sich auch zu verändern. Die Milieutheorie
erklärt längst nicht alles, vor allem weder Persönlichkeit noch
Genie, noch eine wesentliche neue Botschaft, die wider den Strom
geht; aber sie erklärt immerhin einen hohen Prozentsatz der Er-
scheinungen. Wir können uns, mit sehenden Augen, dem nicht
verschliessen, dass die Umwelt und zwar auch die Umwelt der
unbeweglichen Natur einen bedeutenden Einfluss auf uns ausübt.
Und die Italiener? Haben sie etwa wirklich eine dramatische
Literatur? Und wieviel sind dieser italienischen Dramatiker?
Da ist der berühmte Alfieri. Er hat einen vornehmen Stil»
erhabene Gedanken und mancheriei Schönes; aber ernstlich auf-
nehmen kann er es doch nicht, weder mit einem altgriechischen,
noch englischen, noch deutschen, skandinavischen oder spanischen
') Siehe die Anmerkung der vorhergehenden Seite.
- IS -
Dramatiker. Das sind ja die Völicer und Lander des Dramas.
Wer ist da noch von allgemeinem Ruf? Aus früherer Zeit:
Qoldoni und Pietro Cossa, kaum ist Metastasio zu erwähnen.
Und heute etwa ein Giacosa und Gabriel d'Annunzio. D'Annunzio
ist ein Dichter von „ausgearbeitetem** Schönheitsempfinden der
Sprache. Dass er auf der Buhne aufgeführt wird, ist auch noch
kein Beweis für seine dramatische Fähigkeit. Und ein Beweis gegen
seine dramatischeBegabung ist sein letztes Drama: mPiü che ramore"*,
wo er dem Publikum ein Expositionsgespräch von 45 Minuten
Dauer zumutet**.^) „Hanneles Himmelfahrt" von Qerhart Haüpt^
mann wurde oft gegeben, aber deswegen wird man das Stuck
nicht dramatisch finden können. Die Auffuhrung hängt meist
von allzu persönlichen Sympathien ab, und der Erfolg — von
Mode und Zufall. Hebbel wird viel seltener aufgeführt und
ist doch sicher weit dramatischer, das heisst leidenschaft^
lieber bewegt in den Hauptpersonen der Handlung. Es erübrigt
also nicht viel von dramatischer Bedeutung in Italien, und
damit bleibt als Tatsache bestehn, dass die apenninische Halb-
insel sich seit jeher durch Mangel an dramatischen Werken
ausgezeichnet hat, etwa wie das russische Gebiet. Ich meine
das nationalrussische, nicht den Kabinettpudding von hundert
Nationen, deren Grenzpfähle zufällig weiss-blau-rot angestrichen
sind, was der Unwissenheit schon genügt sie als allrussisch
anzusehn. Eine Bilderreihe ergreifender Szenen aus dem modern
sozialen Elend ist noch kein dramatisches Kunstwerk. Worin dieser
antidramatische Einfluss liegen mag, das ist eben ein Problem, das
man sich bisher noch nicht gestellt hat und auf das hinzuweisen
der Zweck dieser Arbeit ist. Was Italien anbetrifft, so dachte ich
bisweilen, es könnte an dem Pseudo-Scirocco liegen, der dort
so häufig ist und auch sonst der italienischen Kultur seinen Stempel
aufdrückt. Hierüber ein paar Worte.
Man unterscheidet den echten „Scirocco** — das heisst den
heissen afrikanischen Südwind, der auch nach Italien herüber^
kommt — von dem lokalen Scirocco, den ich „Sub-Scirocco"
') Auch diesmal hat sich wieder ein kundiger Bühnenleiter verrechnet
wie der Misserioig beweist
— 17 —
nennen möchte. Das ist ein scirocco-ähnlicher Luftzustand, der
sich aber meist durch Windstille auszeichnet und im Winter gar-
nicht warm zu sein braucht (im Gegensatz zum echten Scirocco).
Die Sonne scheint dann wie durch einen leichten, hellen Schleier,
die Augen werden geblendet; die Nerven erschlaffen, die Muskeln
verlieren ihre Spannung, so auch die Haut, was das Rasieren
erleichtert. Das Rasiermesser leidet doch wohl nicht an Auto*
Suggestion ! Eine gewisse Indifferenz, Gleichgültigkeit und Stumpf«
heit liegt im ganzen Körper. Aus dieser Indifferenz erklärt sich
in Italien, dass so vieles beim alten bleibt, worüber sich die
Fremden wundern. Auch der Betrieb der Bahnen ist davon be^
einflusst „Pazienza", Geduld! Man lässt es gehen, wie es eben
geht. Man ist froh sich nicht weiter belästigen zu müssen. Natür-
lich ist diese „Santa Pazienza" keine richtige Schutzheilige für das
Drama, für den Sturm und Drang. Dieser Luftzustand kommt auch
nördlich der Alpen vor, an manchen Orten viel mehr als an
andern, wie ich aus Erfahrung weiss; aber doch seltener und
weniger stark.
Und dann ist der Italiener vor allem Städtebewohner, ausser^
halb der Stadtmauern geht er nur, wenn er muss. Das ist eine
Art Verbannung für ihn. Ein Italiener schwärmte mir gelegentlich
vom Landaufenthalt vor, als wir dann wirklich in einer echten
Schweizer „Campagna*^ waren, wurde es ihm doch recht unbe-
haglich ; ihm gefiele doch nur eine „solitudine popolata*' — eine
bevölkerte Einsamkeit. Das Dramatische gedeiht aber nicht bloss
in den Stadtstrassen, es verlangt offenbar auch vom Sturm der
freien Natur genährt zu werden. Die alten Griechen standen uns
darin näher. Ihre zahlreichen Gottheiten der freien Natur beweisen,
dass sie auch für die aussermenschliche Natur Sinn hatten, ohne
sie jedoch sentimental und lebensfeindlich überwuchern zu lassen.
GötÜiche Wesen bevölkerten ihre Natur.
Das sind meine klimatischen Erfahrungen im Dramd; es
wird mich freuen, wenn sie Anregung geben, diese Wechsehvirkung
weiter zu beobachten. Ich möchte hier nur noch meine persön-
lichen, jahrelangen Erfahrungen über den „Sub*Scirocco** der
einschlägigen Wissenschaft ernstlich ans Herz legen. Mit so viel
2
- 18 -
Ärzten ich auch zu tun hatte, keiner war daniber orientiert. Es
war allen ein dunides Gebiet In keiner Klimatologie wurde bis-'
hier darauf Rucksicht genommen. Wenn man da nichts zu er-
klären weiss, hilft man sich mit der berüchtigten „Autosuggestion".
Das ist ja nur ein anderer Fachausdruck für „bösen Willen", „sünd-
haftes" Bestreben und dergleichen mehr. Solche Erklärungen sind
einer wissenschaftlichen Ehrlichkeit unwürdig. Ich stelle die —
banale — Behauptung auf, dass alles einen physikalischen Grund
hat Wo man noch keinen Grund und keine Ursache weiss, soll
man — wenigstens unter Denkenden — ehrlich sagen : nesdmus.
Alles andere ist Charlatanerie.
Jener Sub-Scirocco-Zustand der Luft muss auch mit Licht-
strahlungen zusammenhängen und mit dem Bestände der
Feuchtigkeit Ich weise auf Gustav Le Bon hin, der der
Entdecker des sogenannten schwarzen Lichtes ist und mehr : der-
jenige, der zuerst die allgemeine Zersetzung und Strahlung der
Materie experimentell nachgewiesen hat. Er sagt in seinem lehr-
reichen Buch „L* Evolution de la Matifere" (Paris 1905), das wohl
verdiente, ins Deutsche übersezt zu werden: „Spektralphotographien,
die ich während mehrerer Monate wiederholte, zeigten mir in
Übereinstimmung mit meinen Vermutungen, dass der grösste Teil
des Ultraviolett im Sonnenlicht plötzlich verschwand, von einem
Tage zum andern und zuweilen am selben Tage, ohne dass die
Erscheinung mit irgend einer erkennbaren Ursache verknöpft
werden konnte (folgen Beispiele.) , . . Das Ultraviolett besitzt nach
meinen Erfahrungen eine so eigene und so energische Wirkung,
dass es nicht anzunehmen ist, es spielte nicht in den Erschei-
nungen der Natur eine aktive Rolle. Es wäre zu wünschen, dass
in den Observatorien regelmässige Untersuchungen über seine
Gegenwart und über sein Verschwinden im Lichte angestellt
würden. Bei der gleichen Gelegenheit könnte man die Veränderung
des Infrarot studieren . . • Das unsichtbare Spektrum besitzt bekannt-
lich eine weit grössere Ausdehnung als das sichtbare Spektrum«
Es ist wahrscheinlich, dass diese durchaus leichten Untersuchungen
die Meteorologie aus ihrem ganz rudimentären Zustande, in
dem sie sich heute noch befindet, herausfuhren wurden,"
- 19 —
Es sollte mich freuen, wenn meine geringe Anregung dieser
Wissenschaft dient, um die sich der Bruder meines Grossvaters»
Adolf Theodor von Kupffer, ein anerkanntes Verdienst erworben hat.
Ähnliche Erfahrungen und Beobachtungen wie auf drama-
tischem Gebiete sind mir im Gebiete der Lyrik gekommen, und
wieder ganz unbewusst und ohne dass ich zuvor daran gedacht
habe. Um diese zu analysieren, muss ich des öfteren zurück-
greifen und die Entwicklung samt den Einwirkungen der Natur
verfolgen. Die Erkenntnis dieser Wechselwirkung zwischen Klima
und Kunstform drängte sich mir auch diesmal verhältnismässig
spät auf, eben als ich jährlich und wiederholt zu dem Wechsel so
verschiedener Naturen, wie Italiens, Deutschlands und der Schweiz
gezwungen war. Der Anlass wurde die von mir ersonnene Um-
formung des Sonettes, die ich „Florentine*' genannt habe, weil
sie mir zuerst in Florenz und im Angesichte seiner Schöne ent-
stand. Ich ffihre das erste Gedicht der neuen Gattung hier
an, um seine Seele und Form zu zergliedern und meine Er-
klärungen daran anzuknüpfen.
Da liegt Horenz im grünen Hügelkranze,
Der Wasserrose gleich im Schoss geborgen.
Wie auferwacht zu frohem Glfickesmorgen,
Ein Gniss des Lebens, hell im Sonncnglanzel
In blauen Dunst zerflattern alle Sorgen
Wie lichte Träume, die uns nicht beengen,
Wo mit dem Himmel sich die Berge mengen.
Die diese Blume wie ein See umwogen. ,
Wo sich des Kelches weisse Blätter drängen
Hat sie des Stromes grfines Band durchzogen,
Beherrscht von vielen kühnen Brückenbogen
Und Türmen ragend wie die stolzen Triebe.
Was ist es, sag, was noch zu wGnschen bliebe?
Ein Mensch wie dul und eine grosse Liebe! . ?)
Ich hoffe, es gelingt mir hier, nur noch als Psychologe dem
Wesen eines menschlichen Produktes nachzuspüren, das natürlich
>) AufcrstehuAg, Irdische Gedichte S. 107, 2. Aufl. Leipzig 1903.
- 80 -
seinerzeit gänzlich ohne Meditation und bewusste Vernuriftbegrfin-
dung entstanden ist Was die Seele der Florentiner anbetrifft, so
spiegelt sie die Empfindung der althellenischen Welt, die ja auch
im alten Etrurien, dem heutigen Toskana, in gewissem Grade
lebendig war und ist. Das eigentümliche dieser Dichtungsform
im Gegensatz zum Sonett liegt darin, dass die Grundempfindung
des Gedichtes in den beiden Schlussversen (vgl. oben) zu einem
prägnanten Ausdruck kommt — gleichsam zu plastischer Gestaltung;
die Plastik aber ist gerade in Hellas und Florenz-Toskana heimisch
gewesen. Der Inhalt dieser Empfindung ist der: wie schön auch
die unbewusste Natur ist, die uns umgibt — die i^Natur"* schlecht-
hin, wie man sie gewöhnlich nennt — ja wie schön sie auch ist
und wie sehr ihr Reiz erhöht sein mag, hier durch die archi-
tektonische Natur der künstlerischen Stadt, es fehlt doch Eins
zur Vollendung: der Mensch, der dem ebenbürtig ist. Also das
schönste Bild ist unvollendet, wenn der Mensch — als vollendete
Naturerscheinung darin fehlt In den Gemälden Pompejis finden
wir die Natur ohne ihr höchstes Attribut, den Menschen, so gut
wie nie. Und die ganze Renaissancemalerei, insonderheit die
toskanisch-florentinische, konnte sich die Natur ohne den Menschen
kaum denken. Sie war ihm, auch wo sie so vollendet ist wie
bei Correggio in „Zeus und Antiope", „Verlobung der Heil.
Katharina" (Paris), immer nur Hintergrund oder Gesellschaft für
den Menschen, um dessen Reize erst recht zu heben. Noch heute,
wie ich schon erwähnte, ist die „Natur'* schlechthin ohne den
Menschen dem Florentiner eine wüste Öde« Und das, obwohl
er eine so schöne Natur in seiner Umgebung hat! Wir sehen,
das ist ein schroffer Gegensatz zur nordischen Empfindung, die
sich so gern in der pantheistischen Bewunderung der Natur ge-
fällt. Der Italiener ist Polytheist, und er wird es wohl — trotz
der rationalistischen jahrelangen Kämpfe des „Asino" (Esel) ^)
wesentlich immer bleiben. Das beweisen seine Heiligen. Das
liegt in der Natur des Landes.
^) Sozialistisches und antiklerikales satirisches Witzblatt, das seit
Jahren in Rom erscheint und trotz allem recht parteiborniert ist
— 21 —
Wenn wir einmal wissenschaftiich erkannt haben werden,
von wie fundamentalem Einfluss das Klima (vgl. S. 10) auf den
Menschen, seine Empfindung und die Form seiner Überzeugung
ist, werden wir nicht mehr erwarten, dass sich infolge von Predigten
und Missionsarbeit das Wesen einer Religion irgendwo ändern
wird, auch wenn eine offizielle Konversion stattfindet Beim einzelnen
kann durch Ursachen der Persönlichkeit eine wirkliche Umwandlung
stattfinden, aber bei einem ganzen Volke — nein, im Wesen der
Sache jedenfalls nicht. Das ist eine Naturunmöglichkeit. Der Katho-
lizismus schwand fast überall, wo der Qermane sass. In Deutsch-
land hielt er sich nur in Landern, die wie Bayern und die Rhein-
gegend keltisches Blut hatten. Und die Rasse ist eben zum Teil
der Ausdruck eines Klimas, das lange Zeit zu wirken Gelegenheit
hatte. Die Empfindungen des Menschen gehen auf rhythmische Ver-
hältnisse zurück, verschiedene Möglichkeiten des Rhythmus liegen
im Menschen, und die Natur ausser ihm wirkt eben verschieden
darauf ein und verstärkt, je nach dem, die Anlagen.
Also die Grundempfindung der „Florentiner entspricht dem
toskanischen Gelände und seinem Geiste« Gewiss kann man auch
wo anders eine Florentine dichten, aber entstanden ist sie dort
und gefestigt hat sie sich dort Natürlich ist eine einzelne Person-»
lichkeit und dazu eine stark ausgeprägte, wie ein selbständiger
Dichter oder Denker, nie und nimmer absolut dem Einfluss des
Milieus unterworfen. Je stärker die Persönlichkeit ist, um so
heftiger wird der Kampf mit der Umgebung: daraus erwächst dann
eine reiche Frucht
Ich greife auf das Gedicht zurück und spreche von seiner
Form. Die Form ist ja nur ein organischer Ausdruck dessen,
was in ihr lebt — kein zufälliges Äusseres, wie noch viele glauben.
Und nun erst recht nicht eine Form, die neu erwachsen ist Das
fteiroschema des Sonettes ist:
a b b a
a b b a dieselben
c d e oder c d c
III —
cde dce.
- 22 —
Dagegen das Schema der Florentine ist:
a b b a
b c c d
c d d e
e e
Beim Sonett sind die beiden ersten Strophen verkettet,
dagegen fallen die sechs Schlussverse, deren Reimstellung wechseln
kann, ab. Die Florentine erwächst rein organisch wie eine
Pflanze, wo jeder Trieb mit dem andern natürlich verwachsen
ist Und zum Schluss setzt die BIQte an, die beiden Schluss-
verse. Oder sie ist wie ein Geschmeide aus Ringen, die in-
einander greifen und als Verschluss hingt das Kleinod daran.
Strophe II ist mit I durch b verkettet; Strophe III mit II durch
c4*d; und der Schluss mit III durch e. Das ganze Gefuge ist
also ein durchaus organisch-logisches, es hat etwas vom Geiste
der antiken Naturphilosophie oder — plastischen Geist Das
Sonett ist mehr architektonisch, zwei Säulen stehen auf einem
Fundament Die Florentine ist plastisch, und nichts scheint auf-
gesetzt. In der Plastik kann nichts bestehn, was nicht mit-
einander in Zusammenhang ist Ich kenne Natur und Klima in
Hellas leider nicht; was aber Florenz und Toskana, z. B. auch
Lucca und Siena anbetrifft so verbindet es einen eigentümlichen
Reiz an Malerei und Plastik. Die Berge greifen in schlichten
Linien ineinander, sie scheinen verkettet und ihre zarten blauen
Töne geben ihnen einen malerischen Duft der sich bis ins frische
greifbare Grün nächster Hügel abstuft Die Cypresse femer ist
in Toskana das natüriiche Wahrzeichen, gleichsam ein natürlicher
Turm oder Campanile von himmelanstrebender Feierlichkeit
eine Art Efflorescenz des Bodens. Die Architektur mit ihren
schlanken aristokratischen Berg- und Stadttürmen ist ganz ver-
wandten Geistes. Man spürt den „Genius loci" — das Klima.
Wir sehen, dass die Verehrung des Ortsgenius keineswegs blos
eine künstlerische Symbolik war, sondern einen sehr realen
Grund und Boden hatte. Alles in allem ist die Florentine, die
mir in Florenz geboren wurde, in Wahrheit ein Kind dieser Heimat
mit ihrem feierlich anmutigen Wesen, in dem sich die Leidenschaft
unter vornehme Formen verbirgt Zu psychologischer Ergänzung
gestatte ich mir noch Florentine XXXIX ^) hier anzuführen.
Mein holdes Kind, das ich von Herzen liebe,
Wird man dich frostig schelten, Florentine ?
Du honigdurstende, du wilde Biene,
Die lieber tot als kalten Herzens bliebe 1
Die Locken schüttelnd, schelmisch süsser Miene
Bist du so oft am Herzen mir gelegen.
Viel wunder Stunden balsamreicher Segen —
Des Stolzes und zugleich der Anmut Erbe.
O könnt ich ewig deine Gluten hegen,
Dass ich mit deiner Seele flammend sterbe
Und bis zuletzt um deine Schönheit werbe.
In deinem Feuer Leidenschaft versenge 1
Mein holdes Kind, den Bann der Feindschaft sprenge!
Strahl deine Welt in diamantner Enge!
Die erste Florentine entstand im Februar 1900 auf dem
Piazzale Michel Angelo, der, wunderbar auf einem Hügel gelegen,
einen Blick über ganz Florenz und seinen Umkreis gewährt Es
folgten drei weitere, die in der „Auferstehung" erschienen. Darauf
verliess ich Italien und ging in die Schweiz und dann nach Deutsch-
land, nach Berlin, wo ich, mit kurzer Sommerunterbrechung, etwa
zwei Jahre blieb. In Berlin entstand keine einzige Florentine.
Erst 1901 im Herbst bei Ciarens am Genfersee (vgl. „An Edens
Pforten" S. 7). Wer diese Gegend kennt, besonders an sonnen*
klaren Tagen und zugleich die Riviera oder den Blick von Majano
(kurz vor Fi^sole) auf das Amotal und Florenz, wird vielleicht
verwandte Stimmungen empfunden haben. Gewisse Stellen am
Genfersee sind an manchen Tagen durchaus italienisch und nicht
schweizerisch. Solche klimatische Stimmungen können auch nörd-
lich der Alpen vorkommen, doch nicht fiberall. Der Neuchftteler-
see ist ganz anders. Seine bei Gewitter türkisgrunen Wellen
kommen am Genfersee nicht vor. Erst 1903 erwachte in Florenz
der Trieb zur Florentine wieder mit lebhafter Energie und wurde
in vier Wintern ein obwaltender.
»Aus Edens Pforten -- aus Edens Reich.* S. 93. Dresden 1906.
- 24 —
Das Sonett ist in Deutschland oft schief angesehen worden.
Sogar Goethe tat es zuerst, bis . er ihm selbst später in schönster
Weise huldigte. Es ist bekannt, wie schöne Sonette Graf August
von Platen in Venedig schuf. Mir scheint, die Florentine hat
mehr von germanischem Geiste als das Sonett Sie ist logisch-
konsequenter. Und das ist keine italienische, vielmehr eine ger-
manische und hellenische Eigenschaft. Florenz ist aber — trotz
seines ausgesprochenen Deutschenhasses — wohl am meisten
hellenisch plus germanisch in Italien. Sollte der Deutschenhass
in Florenz am Ende gerade ein Zeichen für den starken germa-
nischen Zusatz zum alten Etrurier sein ? Das darf natürlich in Italien
aus Nationaldunkel nicht eingestanden werden. — Noch eins: die
Reime sämtlicher 52 Florentinen, die ich verfasste, sind weiblich-
klingend, und das ist der einzige Reim, den der Italiener anerkennt
Gut und Blut wären für ihn nur halbe Reime.
Merkwürdig ist, dass mir das kleine ,iLied** so gut wie gar nicht
in Italien gedieh. Der Italiener, in der Tat, hat keinen Sinn für den
Zauber des kleinen Liedes, wie etwa „Über allen Wipfeln ist Ruh".
Dass dieser Ausfall des kleinen Liedes in Italien nicht in meiner Be-
gabung oder Anlage begründet ist, beweist der Umstand, dass sich
solche Liedchen von Anfang an in meinem Schaffen gefunden
haben. Ich habe nämlich nie einer „Muse geschellt", wie mir ein
Schriftsteller einmal überlegen von sich äusserte, sondern nur
dann gedichtet, wenn es sich übermächtig regte. Schon als mein
erstes Gedichtbuch „Leben und Lieben" (Pierson 1895) erschien,
schrieb der gelehrte Kritiker Dr. hon. August Siebenlist in Wien
in seinem Blatte, es wären soviel kleine Lieder im Buche, die durchaus
nach Komposition verlangten: einzelne sind in der Tat auch
vertont worden. Ich führe hier nur ein paar Strophen aus dem
neuen Buche an, welches auch „Vogel Schelm" in meiner eigenen
Kompositon enthält:
Lieber Vogel Schelmerei
Setz dich zu mir nieder I
Tjul — Nach deiner Melodei
Singe muntre Lieder!
Tju I Taradei I
Tararadeil
- 26 —
und
Ein tiefer Blick!
Ein stummer Gnissl
Ein halbes Lächeln I
Und ach! kein Kuss?
Und andre wie „Was wir nie besessen'*, „In allen Blättern"
usw. Alle diese entstanden nördlich der Alpen. Jetzt, wo
ich die Produkte psychologisch durchforsche, ist es mir eigen-
tfimlich, wie sich das Rauschen des Waldes mit dem dunklen
unruhvollen Sehnen vereint. Verschiedenes derartiges ist Im Thüringer
Walde entstanden:*) „Ein Sang den Göttern", „Prometheisch",
„Wohin? Wohin?'*, „An der Kiefernhalde*\ „Ein Sang des Un-
glücks" usw. Als Beispiel gelte:
über die Täler und über die Höhen
Träume ich weit in die Welt hinaus.
Aber wohin? wohin?
Herze, mein Herze, fliegst du nach Haus?*)
Die Brise des nördlichen Meeres weht mir noch aus fol-
gender Strophe:
Der Sturmgott greift in die Wogen
Und spielt mit jauchzendem Bogen
Sein unergründliches Lied
Und lachend zerschellen
Die Köpfe der Wellen.
Wohin er sie zieht*)
Dies und anderes entstand in Heiligendamm an der Ostsee.
Das Gedicht „Im Dom dieser Erde" scheint mir durchaus vom
ebenen und feierlichen sonnendurchzitterten Buchenwalde beein-
flusst Wie ein weites Kirchenschiff, von hellen Säulenstämmen
getragen, wo die Sonne wie durch grüngoldige farbige Scheiben
zittert»
Da will auch die Sonne verstohlen träumen
In kühlen, saulengetragenen Räumen—.*)
SO träumt der „Gespensterwald" von Heiligendamm an den rau-
schenden Fluten des baltischen Meeres.
') „An Edens Pforten", S. 106 und 120.
^ Alle diese in »Auferstehung, Irdische Gedichte*.
^ »Auferstehung*, S. 43, 66 und 57.
- 26 —
Wir sprechen wohl im allgemeinen von poetischer Stimmung
und meinen damit so eine allgemeine „ästhetische Benebelung". Wer
denkt aber im Ernste daran, dass dieser Einfluss ein rein physika-
lischer und damit auch ein psychologischer ist. „Welch prosaische
Entwertung!*' werden sentimentale Gemüter sagen. „Ist es denk-
bar, dass solche naturwissenschaftlich-materialistische Thesen von
einem Dichter selbst aufgestellt werden?!" Und doch ist diese
tiefe Beziehung zur Natur, der ja auch der Mensch mit all seinen
Fähigkeiten angehört, doch ist dieses Ineinanderweben der Natur-
kräfte oder Naturgeister die wahrste und tiefste Poesie. Wir
kranken immer noch an der Überschätzung des Gehirns, das
den meisten die glänzendste Antithese zum Leibe ist. In Wahr-
heit ist aber das Gehirn nur ein Teil unsres Leibes, nur ein
Lämpchen, das allzuspärlich in die Tiefe unseres Wesens hinab-
leuchtet — geschweige denn in die Tiefen der Mitmenschen und
der Umwelt Gewiss, unsre Persönlichkeit kann sich im Gegen-
satz zur Umgebung und deren physikalischen Einflüssen fühlen —
das hat wohl niemand mehr als der Autor selbst empfunden.
Aber eben auch dieses gegensätzliche Gefühl beeinflusst uns doch
— nicht zur Nachahmung, aber wohl oft zum Kampfe bestimmend.
Ein tiefes wunderbares Geheimnis der Welt ist der Rhythmus
— das Auf und Ab der Kräfte, das wogende Verhältnis der
Empfindungen, die aus den Eindrücken resultieren. Rhythmus
ist die Musik der Bewegungen und Empfindungen; mystisch
gesprochen: die Musik des Weltprozesses. Es gibt da auch
harte Dissonanzen. So verschieden die Persönlichkeiten sind,
so verschieden ist ihr Rhythmus, ihr individuelles Lebens*
tempo. Auch Sonne und Erde, Erde und Mond stehen in einem
rhythmischen Verhältnis zu einander. Wer einen feinen Sinn hat,
merkt einen Rhythmus auch in der Weltgeschichte. Wie fein
muss Goethes Empfindungsvermögen gewesen sein, dass er allein
in der Nacht in Weimar die Schwingungen eines Erdbebens
spürte, das in Messina stattfand! Die Schönheit eines Menschen
— 27 —
besteht in dem abgewogenen Rhythmus der Mächte, die von
seiner persönlichen Macht gebändigt sind. So ist es auch mit
dem harmonischen Charakter eines Menschen. Die Hellenen
waren ein ausgesprochen rhythmisches Volk. Daher die bei
ihnen vorherrschende Schönheit und deren ethische Wertung —
die Harmonie ihrer Kunst, die reiche Entfaltung ihres Wesens,
vor allem des erotischen. Daher das Bisexuelle ihrer Kultur.')
Leidenschaftlichkeit ist nicht roher Qewaltsausbruch, wie einige
glauben, sie kann sehr wohl» im Rhythmus gebändigt, scheinbare
Ruhe sein,') z. B. in einem schönen Kunstwerk, in einem form-
vollendeten Gedicht Man spricht von den marmorkalten
Sonetten Platens, von der kühlen Antike. So reden die Leute,
bei denen die Dissonanz vorherrscht Das reiche Gefühl für
Rhythmus zeigt sich eben auch in der griechischen Sprache, in
ihrer berauschenden Fülle von Zeitformen, verschiedensten
Bewegungen und Massen. Daher bedurften die Griechen des
Reimes nicht Der Reim ist eine Art Aushilfe bei mangelndem
rhythmischen Empfinden. Das Holperdi holperdi der französischen
Poesie, und zum Teil auch der italienischen und modemer
deutscher Nachempfindungen, ist noch längst kein Rhythmus.
Deshalb kaprizieren sich wohl auch die Franzosen so auf den
identischen Reim, der uns geradezu arm vorkommt Sie haben
eben noch weniger rhythmisches Empfinden und brauchen eine
noch stärkere Nachhilfe. Man prüfe doch folgende Verse des
berühmten Paul Bourget:
Par ce jour de d^cembre une brise d'^t^
Souffle languissament sur le golfe enchantd,
Et cette brise ti^de et toute parium^e
Semble une voix qui dit: „Sans une bien-aim^e,
Repond, que viens tu faire ici, Jeune ^tranger? . .1'*
— „O Nature, je viQps t'adorer et songer . . ."•)
') Hier kann ich Leo Berg nicht beistimmen. Vgl. S. 101 der
»Geschlechter**.
*) Der englische Physiker Thompson hat berechnet, dass die in
einem Gramm Materie aufgespeicherte und harmlos gewordene Kraft 100
Milliarden Kilogrammometer betrl^l — also 10000 Kilogramm 10000 Kilo-
meter weit schleudern könnte.
') Sensations d*ltälie. S. 215, 1892 Paris.
-^ 28 -
Was wärde man im Deutschen zu einem Gedicht sagen« das
hinter einander folgende Reime hätte: ,,seh — See; o weh! —
ich weh'; ich steh — versteh!'' Schauderhaft! Nicht wahr? Die
einseitige Entwiclclung der französischen Kultur, deren Ausdruck
ja auch die Acad^mie fran^ise ist, die ewigen Ehebruchsromane,
die gleichförmigen, öden Provinzstädte . . . sollte das nicht auf
der Entwicklung beruhen, die das gallisch-fränkische Gemisch mit
lateinischem Firnis in dem {dortigen Klima der Ebenen genommen
hat, besonders in und um Paris? Paris übt auf die Dauer auf
fast alle einen verwandten Einfluss aus.
Ein Dichter, der stark rhythmisch-harmonisch veranlagt ist,
hat es heute schwer. Er kann doch unmöglich seine ganze
Sprache umformen. Auch das Deutsche ist an Rhythmus arm»
im Vergleich zum Altgriechischen. Die . apenninische Halbinsel
scheint dem Rhythmus nie recht zuträglich gewesen zu sein —
wenn auch dafür feineren Reimkompositionen, wie Sonett, Terzine«
Ottave und Canzone beweisen. Eine italienische sapphische oder
alkäische Ode, z. B. vom berühmten Giosu£ Carducci, ist ein
Rennen mit Hindernissen für jeden, der wirklich rhythmisch
empfindet. Man lese doch folgende Strophe eines inhaltlich schönen
Sonettes dieses anerkannt ersten Dichters des neuen Italiens.
Sogar in die elf silbigen jambischen Zeilen des Sonettes werden
bis 17 (!) Silben gezwängt:
Nh te, lauro infecondo, ammiro o bramo, (14)
Che menti e insulti, o che i tuoi verdi e strani (17)
Orgogli accampi in mezzo al vemo gramo (14)
O in fronte a calvi imperador romani. (14)
Italiener lesen es ohne Ausstossung (Elision); doch — gereimte,
schwungvolle Prosa oder Poesie ist noch kein „Sonett**. Will
man es wirklich als Sonett lesen, so ist es sprachliche Barbarei :
Ne te laur* infecond* ammir* o bramo
Zeile zwei ist überhaupt unmöglich.
Orgogl* accamp* in mezz* al vemo gramo
O 'n front' a calv* imperador romani.
Man bedenke, dass bei einem solchen Abhacken der Sinn fast
verloren ginge. Hier versagt also gerade die rhythmische Form,
die die Italiener so gern, wie alles was ihneji sympathisch ist, den
— 29 —
«.deutschen Barbaren'* absprechen. Unter vier Augen freih'ch ge-
stand mir der berühmte Florentiner Guido Mazzoni, dass die
deutsche Sprache formell das könnte, was der italienischen versagt
wäre, nämlich griechische Rhythmen nachzubilden. Und er spricht
aus Erfahrung, da er selbst Übersetzer der Distichen des Meleagros
von Gadara ist^
Aber auch die römische Poesie muss sich doch recht
zwängen und stutzen, um es der griechischen nachzutun; sie
kommt mir des öfteren vor, wie ein massiver Heldenschauspieler,
der den griechischen Jüngling Phaon spielte.
DiSic[e]^t decöniin[e]st pro pätria möri
lies: dulc^t decönimst pro patriä mori!
Es mag wohl säss sein für das Vateriand zu sterben, aber
süss zu lesen ist das nicht Mit dieser Verschluckung der Silben
lässt sich aus Dante besser lesen. Zum Beispiel die erste Zeile
des „Inferno**:
Nel mezzo del cainmin(o) di nostra vita
ist fliessend, weil die verkürzte Form «cammin"* für „cammino"
gebraucht ist Djigegen die zweite:
In una selv(a) oscura-mi trovai
>••
Leider habe ich selbst den Einfluss des hellenischen Klimas noch
nie erfahren können. Und was die modernen sogenannten Hellenen
anbetrifft, so ist dieser Mischmasch, dem man — wenigstens soweit
ich es im Ausland traf — 90 Prozent Slaventum etc. ansieht, kein
Beweis. Auch mag sich Klima und Natur verändert haben. Auch
die neugriechische Sprache ist verkruppeft und verstümmelt.
Natürlich macht das Klima allein nicht die Geistesprodukte: das
zu behaupten, fällt mir gar nicht ein. Es kommt auch auf Art
und Grad der Reaktionsfähigkeit an, die der betreffende Mensch
oder die Rasse entgegenbringt Gehe ich auf eigene Eriahrung
zurück, so muss ich bekennen» dass Italien mich wenig rhythmisch
beeinflusst hat, obwohl mein rhythmisches Empfinden von Haus
aus sehr stark ist
Der rhythmische Einfluss des Fahrrades (!) dürfte sich auch
veriolgen lassen. So entstand in Heiligendamm in der Nach-
^) Florenz, Sansoni.
— 80 —
mittagsstimmung eines sonnigen Herbsttages ein Qedicht, welches
beginnt :
Duftend rascheln die fauligen Blätter,
Früh verwelkt von den Meeresstfirmen,
Unter dem lautlos gleitenden Rade,
Rascheln und plaudern.
Dann Strophe drei:
Rauschend wälzt sich der grünliche Riese
Mit dem lilaschimmernden Rücken,
Weissen Gischt an das Ufer speiend.
Grollet und rauschet.*)
Wirkt hier nicht im Rhythmus das stete sanfte Gleiten des
Rades auf ebenen Parkwegen, auch das leise Geräuch der halb-
faulen Herbstblätter? Schon die Laute der Worte malen die
Stimmung: das »Rascheln und plaudern', das „rauschende Wälzen'*,
das „Speien des weissen Gischtes*' usw. Ein zweites Gedicht,
das den Einfluss des Rades verrät, aber in ganz anderer Stimmung,
und dazu den kalten Winterwind ahnen lässt, beginnt:
Breite die Flügel, breite sie aus,
Fliege getrost in die Stürme hinaus!
Schweb' wie der Aar, der Beherrscher der Lüfte,
Unter die Grauen, unter die Grüfte!
Zaust dir der Wind die entfalteten Schwingen,
Fühlst du erst mächtig ein frohes Gelingen.')
Es war ein kühler klarer Dezembertag in dem weitläufigen
Park der Cascinen in Florenz, als ich in bitterer Kampfesstimmung
nach herben Erfahrungen mich durch diese Fahrt zu stählen
suchte. Der Winterwind und das eilende Rad sind hier von be-
deutendem Einfluss gewesen. Natürlich ist nicht das ganze
Gedicht auf dem Rade verfasst, aber wesentlich „empfangen"
worden. Ich hoffe, man wird in all diesen Beobachtungen ein-
mal den Ansporn zu interessanten Forschungen der mensch-
lichen Psyche finden — wenn wir erst so weit sind, allgemein
zu erkennen, dass den Schlüssel zur menschlichen Psyche der
helle Verstand vor allem in sich selbst findet. Alle objektive
wissenschaftliche Erkenntnis erwächst wesentlich aus der sub-
') Auferstehung, S. 58.
*) An Edens Pforten, S. ia
— 31 —
jektiven, aus dem: „tvmOi <r€avTo/'. Das war die tiefe Weisheit jenes
Spruches.^)
Ich glaube nicht, dass ein Gedicht wie das oben zitierte mit
seiner rhythmischen Stimmung an einem schwülen Sciroccotage
entstehen könnte, bei einem ermüdenden Spaziergange. Das Auto-
mobil — horribile dictu! — könnte eine ähnliche Stimmung er-
zeugen, freilich fehlt dabei die Aktivität. Ich bitte bei alledem zu
bedenken, dass ich ein wesentlich neues Gebiet berühre, das
eben noch zu erforschen ist. Ja, der Wind kann von gewaltigem
Einflüsse auf das Schaffen werden. Ich wiederhole noch einmal:
es bedarf eines entsprechenden Resonanzbodens. Die innere
Stimmung des Menschen und der äussere Einfluss des Klimas
und andere Bedingungen geben erst in ihrem Zusammenwirken
das Resultat So konnte Goethe mit Recht sagen, alle seine
Gedichte wären Gelegenheitsgedichte. Das Leben ist nicht ein-
fach, sondern unendlich kompliziert.
Den Rhythmus hoher rauschender Wipfel glaube ich noch
heute in folgendem Gedichte zu spüren:
Heller froher Duft des Waldes, in dem leichten Wehn des Windes
Grüssest mich wie helles Lachen eines grossen schönen Kindes.
Weckest alle muntren Geister, tief in meines Lebens Grunde,
Wie die ungestümen Küsse von geliebtem frischem Munde.
Hoher Wald, dein reich Geflüster plaudert, plaudert tausend Dinge,
Stumme Lieder meines Herzens, singe sie, o rausche, singe.
.)
Sollte nicht in der Tat etwas darin leben von dem weithin ver*
rauschenden Wogen eines Waldes? Und zwar an einem schönen
Sommertage, wo der Wind wie ein erfrischender Hauch den reichen
Duft der Natur verjüngend uns zuführt? Wie aus dem Rauschen
des Waldes ein ganzes Bild Kultui^eschichte erstehen kann, dafür
war mir die Dichtung „Wenn die Wälder rauschen*") ein merk-
würdiges Beispiel. Die Luftwogen des Windes können eben ähn-
lich auf uns einwirken, wie die Schallwellen der Musik. Musik
und Klima können auch zusammenwirken.
*) So sollte ein vemfinftiger Arzt In der besonnenen Selbstbeobach-
tung des Kranken eine Hülfe der Wissenschaft sehen.
*) An Edens Pforten, S. 30.
*) Auferstehung S. 112.
- 82 -
Ich denke dabei an einen Vorfrühlingstag, wo die Sonne
den unruhigen Wolken jenes helle Blitzende des Frfihlings verlieh
und die italienische Militärmusik unter meinem Fenster vorbeizog.
Im Körper entstand sofort ein bestimmter rhythmischer Takt, der
sich geradezu gewaltsam aufdrängte. Ich musste meine Arbeit
abbrechen und skandierte genau die Hebungen und Senkungen
meiner Empfindung. Das ergab folgendes Schema:
und dann Verse, die so begannen:
Es kommen die Soldaten mit Musik
Sie locken wie zum Marsche in den Krieg
Sie gehen allesamt in gleichem Schritt
Tatri— rararatri! Wer wollt nicht mit ... .
1)
Und wie merkwürdig! Eben fällt mir das bekannte Soldaten-
lied ein: „Es geht bei gedämpfter Trommel Klang". Wie wirkt
es wehmütig, so ganz anders, weil eine Kürze, ein behender Laut
weniger ist. Ähnlich entstand auch die römische Ode: „In unsern
herbstlichen Tagen" an einem Herbstnachmittage auf dem Pincio,
während die Musik spielte; und zwar wurde es eine Odenform,
der ich sonst nicht begegnet bin:
— ww — I — ww — |w — w Wieder ertönt hell der Gesang der Vögel
— ww — i — ww — |w — w AbereskehrtnimmerzurfickderPrfihling.
— w — w — w — Mfider Herbst umfängt dich, Rom,
w — ww — ww — w— Die Bluten der Jugend verwelken dir.*)
Der Rhythmus ist ja viel reicher als der Reim, der nur airi
Ende der Verse ist, während der Rhytmus im ganzen Verse wirkt. Wo
aber das rhythmische Empfinden gering ist, da wird der Rhythmus
zu wenig mitempfunden. Und die Dichtung prägt sich dann nicht
mit gleicher Schärfe ein. Jeder Schulknabe weiss aus Erfahrung
— man denke an die Memorialverse der lateinischen Grammatik —
dass der Reim unendlich das Auswendigbehalten erleichtert. Es
ist leichter, drei Seiten Poesie im Kopfe zu haben, als eine
Seite Prosa.
Dass der Rhythmus direkt wie ein Reim wirken kann, fand
*) An Edens Pforten S. 44.
'} Auferstehung S. 94.
- 38 -
ich gerade unlängst in Eckermanns „Gesprächen mit Goethe' \
in bezug auf ein reimloses Gedicht Goethes:
Cupido, loser, eigensinniger Knabe
Du batst mich um Quartier auf einige Stunden
Wie viele Tag' und Nächte bist du geblieben.
Und bist nun herrisch und Meister im Hause geworden I
äussert Eckermann zu Goethe: „Noch etwas Eigenes hat das
Gedicht Es ist mir immer, als wäre es gereimt, und doch ist
es nicht so. Woher kommt das?"
„Es liegt im Rhythmus", sagte Goethe.
Goethe erklärte nun die Wirkung. Es heisst dann weiter:
«Der Takt", sagte Goethe, „kommt aus der poetischen Stimmung
wie unbewusst."0 Wie recht hatte Goethe mit dieser Bemerkung I
Das beweist eben, dass diese rhythmischen Wallungen aus dem
unbewussten Leben aufsteigen, dass sie unbewusst beeinflusst
sind. Ja der grössere Teil unseres Schaffens geht unbewusst vor
sich. Ein Gedanke, ein Plan steigt in uns auf. Er verschwindet.
Ohne dass wir bewusst darüber nachgedacht, taucht er . nach
geraumer Zeit reifer in uns auf. Er ist beeinflusst, verarbeitet
worden, von uns selbst, ohne dass unser L^ämpchen — das Ge-
hirn — darum wusste. Die Einwirkungen der Umwelt und damit
auch der klimatischen Einflüsse werden von uns verarbeitet Dieser
Einsicht wird sich allmählich nur noch derjenige verschliessen
können, der vom Wesen und Wirken des Menschen als einer
Erscheinung der Natur überhaupt keine Vorstellung besitzt Als
ob man ganz nach Belieben dies oder das könnte, und dann ein
eigensinniger Sünder ist, wenn man es tut oder nicht tut
Das folgende Gedicht, das an einem Maitage auf einer Berg-
wiese über dem Genfer See entstand, verrät, wie ich glaube, den
Einfluss der Natur und klimatischer Naturstimmung sehr deutlich,
und der Rhythmus dürfte so zwingend sein, dass ihn selbst der
nicht falsch lesen kann, der von Metrum und Rhythmus wenig
Ahnung hat:
Zirpl zirp! singen die Grillen laut;
Gold — Goldt flimmert im Wiesengrün.
Blau — blaul fliehn in diie Feme mich
Tiefer See und die Alpen.
^) II, S. 75, Reclam.
- 34 -
Schwarz! schwarz I steigt von den Bergen her
Hochwald, ernst wie ein Heer der Nacht
Hell flieht prangender Jugend Schar
Vor ihm lenzende Buchen.
Zirpl zirp! singen die Grillen laut
Welt — Welt! träumende Einsamkeit 1
Lust — Lust! springender Frühlingsborn
Rauschet, rauscht in den Felsen.^)
Als ich dieses Gedicht vorlas, bemerkte jemand unwillkürlich :
»Ist das nicht gereimt?* — „Nein." — „Aber es wirkt doch so."
Es sind noch vier andere Gedichte in demselben Rhythmus ent-
standen, die mehr oder minder denselben Charakter haben. Gern
wfisste ich» wie viele ähnliches empfunden haben, und ob ihnen
dieser Rhythmus nicht rein deutsch erschienen ist, ohne alles
äusserlich Erzwungne, das antiken Rhythmen bisweilen in moderner
Sprache anhaftet. Kenner des Griechischen erinnern sich hier
an das Bruchstück eines echten Gedichtes von Anakreon:
fi trat vapBiviov ßKhrwv.
Dass ein reimloses rhythmisches Gedicht unter Umständen
also wie gereimt wirken kann, beweist, dass der Rhythmus Reim-
erinnerungenzu wecken vermag, dass der Reim also rhythmische
Erinnerungen schafft, ähnlich wie das rhythmische Gefühl wirkte
also eine Art Nebenrhythmus ist. Der Reim ist Gleichklang,
Gehörempfindung. In gleicher Weise, wenn auch weniger stark
als der Schall bei der biologischen Verknüpfung des Gehörorganes
mit dem statischen Organe des Gleichgewichtes (Ohrsteine der
Fische, Canales semicirculares beim Menschen) — können auch
Farben-, Licht-, Linien- und meteorologische Empfindungen
wirken, nämlich rhythmisierend.
Farben gibt uns die Natur, ob es die hellblauen Berge
Toskanas oder die schieferblauen Thüringens sind, ein graugrünes,
sturmbewegtes oder azurblaues Meer, ob es die zitronengelben
Berge Siziliens sind, die die Augustsonne verbrannt hat, oder ein
sammtgrüner Wald auf den Höhen von Schwarzburg; ein roter
herbstlicher Buchenwald, eine weissblühende Narzissenwiese über
Montreux, ein wogendes goldiges Kornfeld mit rotblühendem Mohn
') An Edens Pforten S. 113.
— 35 -
oder ein Schlossgarten, der in abertausend farbigen Blüten prangt
— all das sind Farben des Klimas, infolge von Boden und Wetter,
das die verschiedensten Rhythmen und Empfindungen in uns
weckt. Und zuletzt, nicht zu vergessen: die stahlgrauen, meer-
grünen oder rehbraunen Augen, die goldigen, nussfarbnen oder
rabenschwarzen Haare der oder des Geliebten.
Ach, ich möcht im Golde wühlen,
Maid, in deinen goldnen Haaren 1 ')
Der bronzene Leib des Knaben, der in die blauen Fluten des
tyrrhenischen Meeres taucht, weckt einen andern Rhythmus, als der
silbrige Leib einer Schönen, die in das blassgrüne Wasser eines
Marmorbassins von Evian-les-Bains steigt. Bekanntlich beruhen
ja die Farben alle auf Ätherschwingungen, also auf rhythmischen
Bewegungen, die in uns hineinfluten. Interessant ist die psycho-
logische Ergründung der Farben Wirkung, ja ihre dramatische
Wirkung, wie sie in dem kleinen Werke „Die Seele Tizians'* ') von
Eduard von Mayer analysiert wird.
Und das Licht? Wie gewaltig ist sein Einfluss auf unsere
Stimmung! — auf Stumpfe natürlich weniger. Der graue Regen-
tag wirkt wie bekannt auf die meisten verstimmend, wenigstens
wenn er lange anhält, und wenn man seinem Eindruck auf dem
Lande unterworfen ist, ohne sich stark ablenken zu können.
Ein steter Regen niederrinnt
Wie fade Schmeicheleien
Und durch die Bäume pfeift der Wind
Die hohlsten Melodeien.*)
Ein klarer Sonnentag lässt alles in anderem Lichte erscheinen :
Und alle dem Dichten feindliche Lust
Will ein Leben und Lieben werden.^)
Freilich kommt es wieder auf den Resonanzboden an. Es
gibt Leute, die sich über die Langeweile des reinblauen Himmels
beklagen. Für mich ist er die Musik der schönen Ewigkeit, deren
ich nie satt werde. Auch Goethe sagt mit Sehnsucht, wo er von
der alten Dichtung: „Daphnis und Chloe'* spricht: „Und keine
An Edens Pforten, S. 101.
*) „Führer zur Kunst", No. 2, Esslingen 1906.
*) „Leben und Lieben" Leipzig 1895.
*) Auferstehung, S. 24.
3*
- 36 —
Spur von trüben Tagen, von Nebel, Wolken und Feuchtigkeit,
sondern immer der blaueste, reinste Himmel, die anmutigste Luft
und ein beständig trockner Boden, so dass man sich fiberall
nackend hinlegen möchte!'*^) — Also, meine Herren Sittlichkeits-
kongressler aus Niflheim, preisen Sie den Regen, la Santa
Pioggia! Goethe sagte auch, er fühlte sich weniger arbeitslustig
bei niedrigem Barometerstande. Und Nietzsche spricht von dem
gunstigen Einflüsse sonnig-frischer halkyonischer Tage. Das halbe,
fahle Licht des Mondes weckt fast immer eine skeptisch-melan-
cholische Stimmung im Menschen — ja auch im Hunde, der ihn
weltschmerzlich anheult. Das Mondlicht tastet um die Dinge
herum und gibt uns immer neue Rätsel auf. Auf den Wasser-
spiegel druckt „der Mond sein bleiches, gespenstiges Siegel" ') —
daher die Unruhe und das unbefriedigte Sehnen, das dieser mys-
tisch verträumte Zauberer erregt.
Das klarere, umzeichnende Licht des Herbstes wirkt ganz
anders auf den Leib, als das dunstige des Monats Mai. Solche
Einwirkung klaren Herbstklimas in meiner ehstländischen Heimat
äussert sich im „Herbstschweigen":
„Der Ahorn blutet. Kalter Sonnenschein
Umspielt der Birke sturmentlaubte Zweige".*)
Wie feieriich gemessen wirkt das dumpfe Blau im sterbenden,
bräunlichen Licht kurz nach Sonnenuntergang — all* imbrunire —
wie der Italiener so schön sagt.
Drunten in den blauen Schleiern
Der Campagna stilles Feiern,
Sonnentrunken,
Rom ist tief in Dunst versunken . . .
Dunkle blaue Abendfeme
Und ein Leuchten, Stern bei Sterne;
Durch des Fensters hohen Bogen
Leis gezogen
Kommen warme Nachtgedanken.*)
Es ist, als ob sie von aussen aus der Natur an den Menschen
herantreten würden.
*) Goethe sagt auch von Manzoni : „Eine Klarheit in der Behandlung
und Darstellung des Einzelnen, wie der italienische Himmel selber/'
■) Auferstehung, S. 13, 14, 92.
— 87 —
Wenn die Stuimwolken am Himmel jagen, werden andere
Gefühle ausgelöst, als wenn grosse weisse Sommerwolken am
Himmel stehen. Man denke z. B. an Schillers Gedicht in „Maria
Stuart", wo die Gefangene sich endlich im Garten ergeht« Sie
tritt aus dem Kerker und die Winde dringen auf sie ein:
Eilende Wolken, Segler der Liifte I
Oder wenn es heisst:
Stürme des Frühlings, Stürme der Liebe,
Sehnsuchtberauschend in träumenden Zweigen,
Hör ich euch Ueder der Zukunft geigen 1
Stürme des Frühlings, Sturme der Liebe,
Denen sich lauschend die Wipfel neigen.
Weckt mir der Stunden jauchzenden Reigen!
Stürme der Liebe. ')
Dies Gedicht entstand an einem Februartage in Florenz, als
die „Tramontana", der nördliche Bergwind, durch die Wipfel der
blattlosen Pappeln und immergrünen Eichen brauste. Und wieder
ganz anders ist die Lichtwirkung, wenn beim Subscirocco die
Sonne durch einen Schleier scheint, der das Auge schmerzhaft
blendet. Wieder anders, wenn im Winter schneeschwangere blau-
graue Wolken das Licht verschlucken. Wie sagt doch Nietzsche?
Die Krähen schrein
Und ziehen schweren Flugs zur Stadt
Bald wird es schnein —
Wohl dem, der jetzt noch — Heimat hat
Feuchtigkeit wirkt anders als Trockenheit, je nach der Kon-
stitution. Wir sind eben Kinder der Natur. Dagegen hilft kein
Sträuben. Von all dem ist unsere innere Spannung abhängig.
Dass sich solche Eindrucke noch nachträglich geltend machen
können, habe ich selbst wiederholt erfahren. Das Gedicht ent-
steht keineswegs immer im Momente des Eindruckes selbst, meist
wohl nur der Anfang. Der Rhythmus prägt sich ein, gewiss, und
die ganze Grundempfindung, aber die Worte gestalten sich dem
Bewusstsein oft wesentlich später. Auch das beweist mir
wieder, dass das Gehirn diese Arbeit erst später beleuchtet und
notiert, die schon früher unbewusst stattgefunden hat Ja selbst bei
*) An Edens Pforten, S. 97.
- 38 -
Prosaarbeit habe ich das erfahren, wie in der Wintergeschichte:
„Wenn es schneit . . ."*)
Wie die Farbe und das Licht, so wirken auch die Linien
der Nktur. Die Ebene der Felder und Wälder erzeugt eine andere
Stimmung als die Felsen, der See und die Berge der Alpen:
Die Wälder ziehen sich in langer Kette. *)
Das russische Volkslied und fast überhaupt die ganze rus-
sische Literatur beweist den Einfluss der Ebene auf die dichterische
und künstlerische Produktion. Eine stille Sehnsucht und Melan-
cholie zittert in diesen Linien, als ob der Blick hoffnungslos an
den fernen Horizont schweifte und immer wieder schweifte,
während der Horizont ihm entflieht. Und heute noch ist Russ-
land derjenige europäische Staat, der trotz lOOOjähriger Ge-
schichte nicht zur Verwirklichung seines Sehnens kommt. Ob
es ernstlich anders wird, solange der Slave, der den grössten Be-
standteil dieses Staates der 100 Nationen ausmacht, in seinem
Klima wohnt?
Merkwürdig ist, wie sich in den Gedichten des heut so
bekannten amerikanischen Dichters Walt Whitmann, der doch
kaum Indianerblut hatte, so viel rhythmische Stimmung findet,
die dem Volksliede der alten Indianer verwandt ist. Bei diesen
heisst es:
Hätt ich Flügel, zu dir zu fliegen, Krähenflügel,
Dem Laufe der Wolken folgt ich, ziehend zum Orrasee.
oder Knabenwille ist Kindeswiile,
Jünglings-Gedanken lange Gedanken.*)
Sollte nicht doch bei Withmann auch irgend eine Einwirkung
der Savannen und des Camplebens statthaben? Seine „Gras-
halme" sprächen dafür.
Dagegen ein sanftes und doch mitunter heroisches Hügel-
land mit seinen Wellenlinien leitet den Blick freundlich von einer
Erdwoge zur andern ; der Geist wiegt sich in den leicht verbundnen
Höhen. Schweift er in die Ferne, so entsteht nicht die endlose
1) Doppelliebe, Novellen aus Ehstland, 1901.
*) Leben und Lieben.
^) Herder, Stimmen der Völker.
- 39 —
Melancholie, sondern das fesselnde Spiel der wandernden Linien.
So entstanden die Verse:
Toskana, meine Seele ist gefangen.
Im Frieden deiner blauen Hügellande.')
Oder wenn die machtvollen Linien des Gebirges sich in zarten,
fast verflimmernden Konturen abheben, wenn sie:
Wie luftger Geister ferne Mauern schwinden,
Wo See und Himmel bräutlich sich verbinden,
Unendlich eins in wolkenloser Treue
Ersteht des Glückes ungetrübt Empfinden.*)
Und ganz anders klingt es in der Seele wieder:
Zerklüftet, finster aus dem Nebel ragen
Der Berge Häupter auf ... .
Und weiter daselbst:
Gleich weissen Geistern, schäumend lebensvollen
Stürzt Wog um Woge her, der Flut entquollen.
Und jede sich am Strande bricht.
Und aus diesem Unwetter mit den unruhvoll zerrissenen
Linien, die sich immer wieder erneuen, verbunden mit den
Dissonanzen des Donners, erwächst dann der tiefste Geist dieser
klimatischen Stimmung:
Da wogt heran auch unser Menschenleben
Das ruhelos zuletzt zerschellt —
Ein heisses, tiefes, unbewusstes Streben,
Das sich verlangt aus dunklem zu erheben
Zur kurzen Freude dieser Welt')
Kann da jemand ernstlich behaupten: aus freier Willkür des
Gehirns, aus Spekulation im Lampenlicht würde Form und Geist
der Kunst geboren! Nein, sie ist ein Kind der Natur — der
Persönlichkeit im Menschen und der wechselnden Influenzen. So
behält die Kunst einen ewigen Wert Das ist wahre Kunst. Das
ist Religion, weil es die tiefste Erkenntnis der Natur und alles
Seins ist.
In keiner Zeit stand es mit der Dichtung so schlimm wie
heute; sie ist als ein massiges Spiel gewertet, gerade noch gut
genug für Halbreife, Sentimentale oder gesellschaftliche Lazzaroni,
«) An Edens Pforten, S. 39 und 7.
') Auferstehung, S. 4.
— 40 -
SO dass der Verleger nicht mehr auf die Kosten — des Autors
kommt. ^) Es fehlen die Leser, und wer noch liest, borgt den
Gedichtband — wenn nicht vom Autor selbst, von einer guten
Freundin. Poesie ist Luxus, Genussmittel nach der allgemeinen
gültigen Auffassung. Nein! erwidere ich, die Poesie ist Lebens-
mittel, ') sie ist die Quelle der Wissenschaft, weil sie am unmittel-
barsten das Wesen der Umwelt und der menschlichen Psyche
entschleiern kann. Sie ist so ursprunglich oder so konventionell,
wie der Mensch, der sie spricht Aber das ist es eben: unsre
moderne, verbildete Gesellschaft versteht nicht mehr die Sprache
der Dichtung. Die Zunge ist durch Absinth, Schnaps, Tabak
und andre Reizmittel so abgestumpft, dass sie das Quellwasser
vom fadesten Mott nicht unterscheiden kann. Man schmeckt
nicht mehr die Erdsalze der Quelle. Dichtung kann die stärkste
Nahrung sein, wenn sie sich vom Blute des Menschen selbst
nährt und von allen Einflüssen der Natur. Natürlich ist das
keine Dichtung für Familienblätter und Generalanzeiger. Feuchtig»
keit und trockne Sonnenluft, Windesmacht und brütender Scirocco,
alle Ausdünstungen der Pflanzen und Blumen, alle Farben des
Himmels, der Erde und des Wassers, alle süssen und bittren
Eigenschaften der Menschen — alle meteorologischen und
biologischen Einflüsse haucht uns die Dichtung entgegen. Und das
sollte nicht interessant sein?l Das kann nur die Stumpfheit be-
haupten, die nicht zu sehen, noch zu riechen, noch zu hören versteht.
Ich gehe in den Wald — zufällig in den Grunewald, an den
See von Hundekehle. Es ist Vorfrühling. Welke Blätter liegen
auf dem Erdboden und rascheln unter den Tritten. Unruhige
Wolken spiegeln sich im See. Hie und da unschöne Reste —
Spuren menschlicher »Zivilisation"*. Der trübe Fichtenwald sieht
wie eine verlassene Braut aus, die um die vergangene Schaar
der Freier trauert. Da bricht die Sonne durch die Wolken I Die
') Schuster & Löffler in Berlin, die bekannten Verleger unserer
bekanntesten Lyriker äusserten zu mir: Jedes Gedichtbuch ist gleich
einem Verluste.**
*) Vgl. „Heiland Kunst** (Heft 3 der „Lebenswerte**) und die Prosa-
einleitung von „An Edens Pforten**.
- 41 -
Stamme entflammen sich lichtrot und blauer Himmel lacht in
den See hinein, dass die kleinen Wellen sich im Frühlingswinde
kräuseln, als erschauerten sie in erstem Kusse. Tritt die Sonne
aus den Wolken oder verbirgt sie sich, so entsteht immer eine
heftige Luftbewegung. Selbst die welken Blätter, die der Wind
erfasst, tanzen und glitzern in der Sonne. Da erwachen auch
im Menschen verwandte Rhythmen und Worte:
Auf dass ein Frühling komm auf Erden,
Muss es auch Herbst und Winter werden.
Damit die Blüte sich entfalte
Tut Not,
Dass sich der Tod
Qestalte.
Und diese klimatische Empfindung wächst dann höher hinaus:
Auf dass der Tag ein Leuchten werde,
Bedarf der Nächte diese Erde —
Damit am Gluck dein Herz sich weide,
Und Lust,
Dir schwell die Brust,
So leide P)
Das ist nur ein Beispiel.
Wenn die grauen Nebel streichen.
Durch die Zweige kahler Eichen,^)
entsteht eben eine andre Weise.
Es ist Frühling am Genfersee. Ein Schwärm von Vögeln
zieht seine Linien und Kreise in den Lüften, um dann in ge-
schlossener Reihe seinen Flug zu wagen.
Nach meiner Heimat ziehen diese Vögel 1*)
Mit dem pfeilartigen Schwärme, der gen Norden zieht, erwacht
ein voller Rhythmus der Sehnsucht und mit ihm zahllose Bilder.
.Der Frühling grüsste mich am Tor" . . .
und wie anders dieser Frühling in der Villa Adriana, als der vorige
am Grunewaldsee. Diesmal gipfelt der lenzende Eindruck denn
auch in den Worten:
Lebt heut in mir die schöne Weit auf Erden,
So kann sie morgen, morgen — Menschheit werden 1*)
*) Auferstehung, S. 28 und 126, vgl. da auch S. 32.
*} An Edens Pforten, S. 77 und 7L
- 48 —
Der Falter im Winde erweckt verschiedene Rhythmen. Einmal Jm
Vorfrfihh'ng'* ^ gleicht der Überwinterte der Hoffnung, die sich zu
früh in die Stürme des Lebens wagt Und das andere Mal in den
vielen Kürzen:
In dieser Sonnenlichtung www — w — w
Ein verspäteter Falter, >w w — w w — w
Wie eine verlorne Dichtung wwww— w — w
Aus der Zeiten Alter. w w — w — w
Glutrot, wie nur in der Campagna, geht die Sonne hinter Sankt
Peters schattenblauer Kuppel unter, das Ave Maria läutet; die
letzte Schar der schwarzen Priester wandelt vom Berge Pincio fort.
Plötzlich: das phantastische Bild des schönen Gott-Jünglings
Dionysos auf einer Totenbahre, von Gerippen in schwarzen Kutten
getragen! Wäre es nicht eine Vision für einen Maler! Und ethisch-
klimatisch heisst es:
Ein Frösteln zieht durch meine Glieder,
Die Sonne sank — und kehrt sie wieder? . . .>)
Wie eine Antwort auf die Schlussfrage dieses Gedichtes klingt es
aus einer andern ausführiich klimatischen Herbststimmung, das
„Lied von diesem Sterne'*, das nur in seiner Gesamtheit der drei
Strophen das richtige Verständnis erzielt.
Dieser brennende Purpur des Abendhimmels mit den lodern-
den Wolken ist eine Naturerscheinung, die ich selbst ausser in
der römischen Campagna so gut wie nirgends beobachtet habe,
die aber auch in den Posümpfen (Polesine) gerühmt wird. Es
dürfte wohl die stagnierende Feuchtigkeit sein, der Dunst der
weiten Sümpfe, der dieses grelle Farbenspiel stark beeinflusst.
Und man möchte sagen : ist diese Farbe nicht wie ein natüriicher
Mantel zur Geschichte Roms?')
Der einfachste physiologische Ausdruck des Rhythmus ist
1. der Pulsschlag, dann 2. die wechselnde Spannung der kleinen
Muskelfasern im ganzen Körper, und 3. die Arbeit der grossen
Muskeln, die in Bewegung treten, z. B. die Gebärde, der Schritt
>} Auferstehung, S. 111, 61, 97, 60.
^ Vgl. auch über das Rot in Venedig und seiner Kunst in der „Seele
Tizians'' von Eduard von Mayer.
_ 48 —
des Tanzes und die Sprachlaute. Die verschiedensten rhyth-
mischen Möglichkeiten kreuzen sich in der Regel, heben sich auf,
erzeugen Disharmonie und Prosa. Das ist wohl auch der Grund,
warum unsere disharmonische Zeit jede rhythmische, gebundene
Sprache oder Gestaltung so grundlich hasst: man empfindet sie als
Tadel oder als Langeweile. Disharmonie ist das modern Interessante.
Es kann nun ein Reiz — und so auch ein klimatischer — durch
augenblickliche oder angesammelte Stärke einzelne der rhythmischen
Möglichkeiten fördern, herausheben und so den Minimalrhythmus
eines Metrums wecken (Jambus,Trochäus, Anapäst, Daktylus). Wirken
viele Reize zusammen, wie in der Regel, ohne in gemeinsamer Har-
monie ineinander zu greifen — eines ohne auf das andere Röck-
sicht zu nehmen — dann entsteht eben das rhythmische Chaos oder
die Prosa, die allein legitime Tochter der schönen Jetztzeit" (!) Die
ständige Wiederholung eines und desselben Reizes, eines und des-
selben Metrums kann rhythmische Monotonie erzeugen. Um die Dich-
tung davor zu bewahren, bedarf es grosser Energie der Sprache, be-
sonders beim französischen Alexandriner, wie es Preiligrath ver-
sucht hat:
Spring an mein Wfistenross aus Alexandria!
Meine Bemerkungen über den Rhythmus möchte ich noch
mit der Erwähnung eines alkaiischen Strophengedichtes schliessen,
das in einem kleinen roten Zimmer in Pompeji entstand, wo ein
halbverwittertes, kreisrundes Bild von eigenartigem Reiz an der
Wand war, und wo der blaue Nachmittagshimmel hereinsah:
Der Himmel blaut ins rote Gemach herein.
Im mosaiknen Estriche spriesst das Grün,
Und mählich wächst der Sonne Schatten.
Raschelnd die scheuen Lazerten huschen.
Ich erlaube mir darauf aufmerksam zu machen, wie der
Rhythmus der alkaiischen Ode hier unbeabsichtigt, doch organisch
und von Naturmomenten beeinflusst zum Ausdruck gekommen
ist. Feierlich ist der Rhythmus der beiden ersten Zeilen:
und liegt nicht etwas Feierliches und Aufsteigendes im satten
Auferstehung, S. 83.
— 44 —
Himmel, der in das tiefrote Gemach hereinblaut und im mosaiknen
Boden, aus dessen halbzerstörter Kunst neues Leben herausdrängt?
Und die stille Einsamkeit. Lesen sich diese Zeilen nicht mit
einer gewissen feierlichen Energie? Dann die dritte Zeile:
— „Und mählich wächst der Sonne Schatten." Auch sie ist feier-
lich, noch gedehnter, ohne die Doppelkurze in den ersten — das
langsame Sinken der Sonne und das langsame Vorrücken des
Schattens rhythmisch begleitend. Auch tönt diese Zeile melan-
cholischer aus, als die beiden ersten mit ihrer Hebung (Starkton) ^)
— eben entsprechend dem Untergehen der Sonne. Und die vierte
Zeile: — ww — ww — w — w — „Raschelnd die scheuen
Lazerten huschen". Die unruhigen Daktylen stören gleich den
unruhigen Eidechsen (Lazerten) den Träumer plötzlich auf. Die
Worte „rascheln, huschen und scheu" verstärken noch diesen
Rhythmus. Gegen Schluss vermindert sich naturgemäss die Über*
raschung, die Daktylen lösen sich in Trochäen auf. Ich hoffe»
der Leser fühlt hier, was ich sagen wollte. Etwas ähnliches findet
sich in einem bekannten Gedicht von Horaz:
Vides ut alta stet nive candidum
Soracte, nee jam sustfneant onus
Silvae laborantes, geluque
Flumina constiterint acuto.
Da ist in den ersten beiden Zeilen der feierliche Anblick
des schneebedeckten Soracteberges rhythmisch begleitet, in der
dritten schwereren Zeile die Schneelast der Wälder, in der
letzten das Zufrieren der Flüsse wunderbar fein durch die Un-
ruhe der Daktylen und die folgenden erstarrten Trochäen rhyth-
misch empfunden. Man könnte scherzhaft sagen, es ist wie
ein antiker Witterungsbericht in Versen von Prof. Dr. Horatius
Flaccus.
Dass Rhythmus und Reim sich gegenseitig beleben können,
ist natürlich» und es kann auch noch eine Assonanz und Allitera-
tion hinzutreten, sodass die Wirkung eine drei-, ja fast vierfache
wird und sich aufs tiefste einzuschmeicheln sucht.
'} Vgl. Dr. Karl Borinski, Deutsche Poetik, Leipzig.
- 45 -
Nachträglich interessant ist es mir, dass die vielfache und
reiche Wirkung gerade da eintrat, wo mich die reiche Erscheinung
des „Hermaphroditen** in der Villa Albani physiologisch und
seherisch erfasste. Letzteres sage ich, weil meine Auffassung vom
Hermaphroditismus der üblichen durchaus entgegengesetzt ist*)
Es ist hier nicht der Ort, das auszuführen, obgleich mir auch
diese, fast transzendentale Anschauung aus der Erfahrung der
Natur erwachsen ist. Es ist keiner der bekannten liegenden,
sondern ein stehender Hermaphrodit, von schönem Typus, und
allgemein unbekannt, umsomehr als die Villa Albani, Winckel-
manns ehemalige Stätte, ja aller Welt streng verschlossen ist,
und ich nur dem persönlichen Einfluss der ebenso liebenswür-
digen als hochgebildeten Gräfin Ersilia Caetani-Lovatelli den
Eintritt in jene zauberische Welt verdanke. Die Florentine
beginnt :
In Aphroditens üppig schöner Fülle
Doch wie der Götterbote leicht bewegbar,
So lehnst du da, vom Liebeshauch erregbar,
Des Götterwesens reiche Doppelhülle.
In dir sind Mann und Weib doch unzerlegbar.*)
Die Reime „bewegbar, erregbar, zerlegbar" haben etwas
merkwürdig Schwebendes erhalten. Und gerade bewegte» ver-
klärte Materie ist diese Gestalt. Man beachte auch die Assonanz
in: „üppig schöner Fülle", wie sie gleichsam den Inhalt malen,
schon mit dem Schwellen der Lippen. Auch die Allitteration der
zweiten Zeile mit dem schwebendsten aller Konsonanten, dem b,
usw. Das beweist wohl einen tiefen Zusammenhang zwischen
Form und Geist, zwischen dem Einfluss der Aussenwelt und der
Reaktion in uns selbst, die wieder entsprechend nach aussen tritt,
besonders wo eine gestaltende Fähigkeit vorhanden ist. Solch
einzelne nachweisbare Fälle dürften wohl darauf hinweisen, dass
es noch viel andre Fälle gibt, die wir nicht einzeln nachweisen
können — und so besonders klimatische Einflüsse, die erst nach-
träglich bemerkbar werden, aber nicht gerade nachrechenbar.
*) Vgl. das Wort ».Araphrodif' und die eingehende Prosa-Erläuterung 19
in „An Edens Pforten — Aus Edens Reich" und S. 65.
~ 46 —
Ich hoffe, man wird aus alledem den Eindruck gewinnen,
dass Rhythmus und Dichtung etwas Urlebendiges sind — sein
können. Mir deucht: eines der tiefsten Naturgeheimnisse.
Noch einiges über das Erotische. Es ist naturlich, dass
dieser tiefste Quell unseres Wesens erst recht aus dem Erdreich
steigt. Man ist seit reichlich 1000 Jahren darin geschult, die
Liebe, sagen wir der Deutlichkeit halber: die erotische Liebe,
als etwas Nebensächliches zu werten, als etwas Akzessorisches,
das lieber gar nicht akzedieren sollte. Man geruhte zu übersehen,
dass das menschliche, sagen wir, das Weltgeschehn im Erotischen
seine Wurzeln hat — im Anti-erotischen hiesse ja wesentlich nichts
anders. Nur noch zur Zeugung wurde die Liebe geduldet: erst
von der Kirche, um Gott lobende Menschen zu schaffen, die der
Kirche und ihren Herren dienen ; und dann vom Staate, um Staats-
bürger zu schaffen, die ihre jeweiligen Herren verteidigen sollen
und Abgaben zahlen. Jegliche erotische Liebe ist eine Erschei-
nung der Natur und all ihrer Einflüsse, der klimatischen im reichen
Sinne dieses Wortes (vgl. Seite 10). Dagegen hilft alles Schimpfen
nichts. Freuen wir uns dessen ! Dann werden wir auch den Tod
vernünftiger ansehen und wieder eine Religion bekommen.
Fürchten doch alle Redaktionen den Frühling, weil dann so
viele Liebesgedichte entstehn! Wie sehr das Klimatische und die
Rasse, zum Teil als klimatisches Produkt, auf das Erotische ein-
wirken, beweisen ja schon — trivial gesprochen — die sehr
abweichenden Heiratsgrenzen und Strafgesetzparagraphen! Was
in einem Lande und Klima religiös als Todsünde oder wissen-
schaftlich als Verrücktheit oder Schweinerei verdammt wird, ist
in einem andern eine ethisch gewertete Empfindung, die dann
auch die Dichtung befruchtet, z. B. Hafis.^ Ein Klima kann sich
durch verschiedene Umstände verändern. Es kann Jahrhunderte
Man lese ihn aber unverfälscht, wie in der trefflichen Übersetzung
von Vincenz von Rosenzweig*Schwannau, Verl. der k. k. Hofbuchdnickerei,
Wien.
- 47 —
dauern bis eine Rasse dem hemmenden Einfluss eines Klimas
unterliegt oder durch Rodung und Landbau das Kh'ma verwandelt;
oder bis sie die hemmenden Einflüsse verliert, die sie nach
Übersiedelung aus dem früheren Klima noch mitgebracht hat.
Man denke an die Völkerwanderung, an die Vandalen, an
die Araber in Spanien, an die fürstlichen Häuser germanischer
Abstammung in den verschiedenen Ländern, ja an den alten
Adel überhaupt, der in den meisten europäischen Ländern vor-
wiegend germanisch ist Alle diese haben sich doch im Klima
mehr oder weniger gewandelt. Die Liebe des Mannes zur
männlichen Jugend z. B. hat in gewissen Klimaten nie so feind-
selig verfolgt oder wissenschaftlich missverstanden werden können,
wie in Europa, besonders Mittel- und Nordeuropa, und gar Nord-
amerika! Allerdings standen die Indianer gar nicht feindlich dazu.
Möglich ist, dass die Eroberer aus anderen Ländern sich unbewusst
dagegen stemmten, dann bewusst, weil sie für ihre Gefühle fürch-
teten. Gefährdete Positionen werden am stärksten befestigt. Ja,
die Verbreitung der Sitten und der Religionen ist doch sicherlich
von klimatischen Einflüssen mitbedingt. Ein einfacher Blick auf
eine statistische Religionskarte beweist das schon. Brahma blieb
daheim, Buddha fasste nur in Asien Wurzeln, das Christentum
— verfälscht — in Europa und Amerika, Mohammed auch in
einem begrenzten Gebiet. Warum haben Mohammedanismus und
Buddhismus nicht in Europa Wurzel gefasst? und das Christen-
tum fast garnicht in Asien? Warum ist der Despotismus wesentlich
in Asien zu Hause und bestehen geblieben, trotzdem Asien der
älteste kultivierte Erdteil ist? Wir sind eben Kinder der Erde!
Religion und Eros sind Zwillingsgeschwister. So ist, um
auf persönliche Beobachtungen zurückzukommen, die Liebe in der
Dichtung tief von der Natur beeinflusst. Vor allem durch den
Typus, den man liebt. Der Typus ist nicht eine willküriich
gewählte Form, sondern der Ausdruck dessen, in was für rhyth-
mischen Verhältnissen die inneren Mächte zur Vereinigung gelangt
sind und in was für Schwingungen sie Kraft ausstrahlen. Je nach der
Wechselwirkung ihrer Schwingungen harmonieren zwei Menschen
mehr oder minder. Wann wird uns aus dieser Erkenntnis endlich
— 48 -
eine wissenschaftliche Erforschung nicht blos des Sexuellen, sondern
auch des Erotischen erwachsen? Es ist also der Typus, der
erotisch fesselt:
So dunkle Augen fühlt ich einst mich lenken
Die wirren Locken haben ihre Ahnen
Im braunen Haar, das einst mir lieb und teuer.
So kehrt der Liebsten Bild in schelmisch neuer,
Entzuckender Gestalt den Wünschen wieder.')
Das längliche, ovale oder runde Antlitz; die reichen, blühenden
oder herben Formen ; die dunklen oder lichten Augen, die sonnen-
hellen oder nächtlichen Haare; die Schelmerei oder Würde; der
sonnenbraune Leib des Südens oder der mondhelle nördlicher
Klimate — all das sind in grossen, knappen Zügen die wesentlichen
Einflüsse. Ich glaube überhaupt, dass nichts so sehr die Liebe
erklärt — die wohl trotz aller Forschung ein Mysterium bleiben
wird — als die Typen- d. h. individuelle Rassenlehre. Ein
Individuum kann wiederholt, selbst bei gemütlicher Zuneigung
einem Typus gegenüber physiologisch versagen und bei einem
andern Typus potent sein.') Aber auch die klimatische Natur,
abgesehen vom Menschen, ist von tiefem Einfluss auf den Eros
und auf die erotische Kunst, auf Entstehung und Gestaltung der
Dichtung. Zum Beispiel:
An seinem silbernen Schleier
Merk ich des Winters Nahn.
Aus diesem weissen kalten Reif, der die eben noch grünende Wiese
überdeckt, erwächst eine melancholisch -erotische Empfindung:
dass an derselben Stelle die beiden Liebenden vor Monden zurück
in erblühendem Glücke geweilt haben. Aber:
Es fiel ein Reif auf Erden
Auf alle unsre Lust.*)
Der verhängnisvolle Schleier der Feindschaft, wie der silber-
kühle des Winters, decken beide das Grünende und Blühende wie
etwas Sterbendes zu. Das war in einem nordischen Schlosspark.
*) An Edens Pforten, S. 8.
*) Vgl. die belehrenden Beichten im Buche „Vom Wesen der Liebe*'
von Dr. M. Hirschfeld.
') Auferstehung, S. 125.
— 49 —
Anders der frische Herbstwind über dem blauenden See im An-
gesicht der blauenden Berge im Schatten der Wallnussbäuroe :
O rauscht er wieder mal im Herbstgelände
Der Fruhlingswind der Liebe 1 In den Saiten
Der Seele rauscht ein Wunderlied. — *)
die Liebe. Wie gewaltig ein Ort mit all seinen lokalen Eigen-
schaften auf das Liebesempfinden einwirkt, weiss wohl jeder, der
in seiner Umwelt die Liebe genoss:
Aus diesen Bluten hauchen süsse Düfte
Ihr Gift in meine Seele.')
Der schattende Baum am Felsabhang erweckt das Bewusstsein
geliebt zu werden:
Immer such ich das traute Helm
Deines rauschenden Schattens auf.
Deiner Zweige erprobtes Dach,
Liebster Baum dieser Erde.*)
Der Frühlingswind wogt durch das Tal des Arno :
Sieht da wandelt mir entgegen meines Traumes Lustgestalt
Wie das wilde Haar des Frühlings, quillt der Locken Obermut.
^^ ^^ ^^ ^^ ^^ •
Und:
Ach, beneld des Windes Schnelle, der dich in die Arme schllesst.
Der dir Wangen, Lippen, Kniee stürmisch küssend, dich geniesst.
Ist diese Erscheinung, ihre Schönheit, ihr Reiz nicht wie ein
organisches Gebilde mit dem anmutigen Sonnenfrühling verwoben
— mit dem Winde, der in den Locken wühlt, der um das hübsche
Antlitz streicht, um alle Blossen des lenzenden Leibes leidenschaft-
lich werbend, ja selbst neidisch die Gewandung zausend :
— — — — — — — — die an deinem Herzen liegt,
Die der Hülle gleich die Rose deiner Hüfte zart umschmiegt 1*)
Verrät nicht der eilende Rhythmus selbst diesen Fluss der Em-
pfindung, wie das Strömen der Wasserschnelle nahe der Brücke,
auf der das Bild entsteht, und wo der Wind den freien Zug durch
das Tal hat Die verliebte Sehnsucht des Windes atmet auch in
diesen lebhaften, langwehenden Versen. Das erinnert mich eben
') An Edens Pforte, S. 89, 75, 112.
*) Auferstehung, S. HO.
— 60 -
an die griechische Erklärung des Todes von Hyakinthos, dem der
eifersüchtige Wind die Diskosscheibe an das Haupt treibt. In
Lenzjubel tönt jenes Gedicht aus. Anders vermengt sich das
Licht der Julisonne unter tiefblauem Himmel und die helle Fest-
versammlung des Winzerfestes mit der erotischen Empfindung:
Der Himmel blaute wie ein jonisch Märchen
Und hoch die Sonne reifender erglühte
Auf deinem Antlitz, Dionysosblüte.
Auf deiner Kniee honiffioldnem Pärchen.*)
Das Leuchten der Sonne wird das Leuchten dieser Schönheit.
Wie die Sonne entflammt, im ungedeckten Theater des Festes, so
entflammt diese individuelle Schönheit; sie wird zum Brennpunkt.
Zum Jubelweihrauch wird die tanzende heitere Schar der Bac-
chanten und Bacchantinnen. Die Strahlen der Sonne oder:
— — — — — Wonnezugel
Die holden Strahlen deines Lächelns waren.
Wie ein Falter fliegt die Seele dieser Sonnenblüte nach, bis sie
vom Kelche trinkt — den Kuss. So ist dies Gedicht wie eine
Emanation der Sonne und der Liebe. Selbst das Fahrrad kann
wie bereits erwähnt, einen bestimmten Rhythmus oder eine ge-
wisse Assonanz erotischen Empfindens wecken. Wo der „schöne
Eros mit dem flüchtigen Rade'* apostrophiert wird, heisst es:
War ich dem Rade gleich mit dir verbunden,
So küsst ich auch die Pflaume deiner Wade,
Wie deines Rades lachend helle Speichen,
Die sie bei jedem Stosse schmeichelnd streichen.^)
In Reim und Assonanz klingt hier das streichelnde der glitzernden*
Speichen nach. Dass die Musik erotische Schwingungen erzeugt ')
oder erhöhend begleitet, ist wohl Vielen bekannt, wenn nicht gar
aus eigener Erfahrung:
Du spielst ein Lied auf meines Herzens Saiten
Und lachst dazu so schelmisch, Marguerite —
und ferner:
Musik gleich deinem feinen Spiele,
Musik wie deiner Augen dunkle Schöne.^)
*) An Edens Pforte, S. 91, 38 und 88.
*) Tolstois »Kreuzersonate" schildert solche Wirkung, freilich ine
des Verfassers tendenziöser Weise.
- 51 —
Wenn eine reife schöne Frau angeredet wird, als ,, . . . . warmer
Sommermorgen'*/) so war es nicht bloss ein Bild, sondern die
Realität eines heissen Tages im Buchen- und Tannenwalde, wo das
kommende Unwetter in den Zweigen schlief, wie in dem Herzen
dieses Weibes. Das wahre Bild ist Natur. Windlos, still ist
die Luft im Garten. Der Blick verliert sich im Spiegel des Brunnens,
leise plätschert der kleine Strahl der Fontäne. Das Sehnen ist
aufgewühlt von erneuter Botschaft der verloren geglaubten erst-
genossenen Liebe und der Sendung ihres liebreizenden Bildes. Der
Strahl der Fontäne steigt inzwischen plötzlich wie leidenschaftlich
empor; wenn er eine gewisse Höhe erreicht hat, fällt er wieder,
um dann aufs neue zu steigen. Und so entsteht der Rhythmus
eines Liedes mit seiner wachsenden Leidenschaft, wie empor-
schiessend. Allmählich taucht das Bild der verlorenen und wieder-
gewonnenen Liebe wie eine verzauberte Blume im Brunnen auf:
_w|— ww|— ww|— w Schimmernd grüsst in der Tiefe die Blume —
w— w w|— w|~w wj— w Die Blume, sie istsi Die einmal die Seele
w— wwj— ww|— w Umblühte, umduftete. Blumel
w— w Erwachst du?
w- O horch I*)
So lautet die dritte Strophe, und nun folgt das Zwiegespräch.
Das Klima im weiten Sinne, und die Rhythmen und Phan-
tasien, die es weckt, sind ein endloses Kapitel, dessen Erforschung
uns die allerinteressantesten Aufschlüsse bringen könnte. Ich habe
den Anfang gemacht, einen bescheidenen aber ehrlichen.
Wenn sich der Einfluss der klimatischen Eigentümlichkeiten
auf das intimste Empfindungsleben, auf Rhythmus und Dichtung
geltend macht, so ist naturgemäss anzunehmen, dass auch die
anderen Ausdrucksformendes menschlichen Gestaltungstriebes mehr
oder weniger solchen Einflüssen unterliegen. Die verschiedenen
Seiten der Psyche hängen ja zusammen; zur kurzen Ergänzung
des Vorhergehenden dürfte es von Interesse sein einige Streif-
>) An Edens Pforten, S. 53 und 121.
— 52 —
lichter auf die Nebengebiete fallen zu lassen. Und ich gehe auch
hier vom Subjektiven, als der ersten Quelle aus, um zum Objek-
tiven vorzudringen. Schon als neunjähriger Knabe zeichnete ich
und träumte von meinem zukünftigen Malertum. Auf väterlichen
Wunsch, der mir sonst alle Freiheit Hess, vollendete ich erst
meine klassischen Studien; und dann kamen die Universitäts-
studien. Kurz ich blieb im Malerischen wesentlich Autodidakt.
Aber der Drang erlosch nie. Im Gegenteil, er sollte später mit
erneuter Heftigkeit erstehen. Solange ich in meiner Heimat war,
beschränkte ich mich im ganzen aufs Porträt. Die Farbe gelangte
zu keiner wesentlichen Bedeutung. Auch in Deutschland nicht,
wo überhaupt mein malerischer Trieb verhältnismässig gering
war (es kommt auf die individuelle Resonanz für die betreffenden
Einflüsse an). Was mich nördlich der Alpen fesselte, war
wesentlich das Aristokratische in der Kunst. Einerseits van Dyck,
den ich in der Kaiserlichen Eremitage in St. Petersburg auf das
höchste bewunderte, anderseits die romantische Schönheit der
katholischen Kunst, wie der Murillos, und endlich der Trieb nach
dem Zauber der horstartigen Burgen und einsamen adligen
Schlösser. Als ich nach Italien kam, entfesselte sich ein mächtiger
Drang zur Farbe und Form, und zwar — obwohl ich beim
ersten Aufenthalt die Galerien so gut wie gänzlich ignorierte.
Später erkannte ich mehr und mehr, dass die hellenische Antike
und ein Teil der Renaissancemalerei bis 1600 mir verwandter
war als die übrige Vergangenheit.
Das erstemal, im Sommer, war es besonders das landschaft-
liche Klima Italiens, die klare Luft mit ihren heiteren durchsichtigen
Tönen, die gegen Abend einen so zauberhaften Reiz gewinnen, die
mich immer wieder zum Malen antrieben. Später lockte mich die
menschliche Form, verbunden mit jenen Tönen, und die malerische
Phantasie eigener Gemälde erwachte wie nie zuvor. Als ich
inzwischen fast zwei Jahre in Deutschland weilte, trat unwillkürlich
mehr Indifferenz gegen die Farbe ein, wenigstens im Schaffenstrieb,
Am Genfer See hatte ich dagegen ähnliche Triebe wie in Italien,
und ich bemerkte schon, dass der Genfer See halbitalienisch ist.
Besonders interessant sind die verschiednen klimatisch-ästhetischen
- 53 -
Wirkungen bei La Rosiaz unweit Lausanne. Binnen einer
Viertelstunde kann man das Klima wechseln. Bei der Brücke
von Belmont ist acht romantische süddeutsche Gegend: eine
gebirgige Waldschlucht mit einem Hügel, auf den meine Phantasie
unwillkürlich eine Burg zauberte. Tritt man aber heraus, so
liegt — bei Sonnenschein — der blaue See mit den blauenden
Bergen da; es ist eine andre Welt. Und allemal spüre ich
diesen Einfluss. Nördlich der Alpen, in den waldigen Hügd-
landen, erwachte stets wieder der Trieb nach den einsamen
Burgen; auf der apenninischen Halbinsel und bei ähnlichen
Stimmungen dagegen immer wieder der Trieb nach der Gestalten-
welt der Farbe und Nacktheit. Das sind jahrelange wiederholte
Erfahrungen und Beobachtungen. Die persönliche Anlage bietet
gewiss die Grundlage, aber der Wechsel muss durch äussere
klimatische Wirkungen beeinflusst sein.
Und so ist es zweifellos auch bei den anderen Künsten. Die
Architektur ist ja sichtlich vom Klima beeinflusst Die schlanken
Domspitzen z. B. im Norden, die sich durch die Wolken einen
Weg gen Himmel zu bohren scheinen! Für den hellenischen
Tempel, der in einem meist heiteren Klima entstand, war es
kein Gemütsbedürfnis hundert Meter höher zu bauen. Die
italienische Gotik hat auch nicht diese wolkenhohen Turme.
Und solcher Stil wirkt wieder auf die Lebensempfindung zurück.
Man denke ferner an die hohen schrägen Giebeldächer, die den
Schnee abgleiten lassen, dagegen an die flachen Dächer, die im
Süden häufig sind, um als Terrasse in schönen Nächten benutzt
zu werden. Als der Vesuvausbruch 1906 so viele Häuser zer-
störte, empfahl ein deutscher Gelehrter, man solle doch in der
Umgegend des Vesuv schräge Dächer, wie im Norden anlegen,
damit die Kraterasche abgleiten könnte, statt die flachen Dächer
mit ihrer Last einzudrücken. Dadurch könnte in jenen Orten
ein abweichender Stil von der klimatischen Eigentümlichkeit des
Vulkans bedingt werden. Man denke auch an die witzigen
Bemerkungen über die Stile (Schnupfenstil, Hustenstil usw.) von
Fr. Theodor von Vischer. Es wäre gewiss eine interessante
Arbeit, die verschiedenen Städte und ihre Architektur auf die
— 54 —
klimatischen (und somit auch geologischen) Verhältnisse hin zu
studieren. Nach und nach würden wir eben erkennen, dass alles
was wir blindlings als menschliche Willkür gewertet haben, zum
grossen Teil eine Emanation der Erde ist. Die Qeistesgeschlchte
würde zum Teil Psycliopliysik werden.
Keine Furcht, dass der Mensch dadurch zum Nichts herab^
sinkt! Diese Erdenkindschaft furchten oft diejenigen am meisten,
deren Persönlichkeit sich am wenigsten über Boden und (soziales)
Milieu erhebt. Da wir alle verschieden sind, so reagieren wir eben
verschieden, aber es ist stets ein Einfluss da, auf den wir reagieren.
Das Ergebnis ist die Resultante der Kräfte. Dem einen ist das
antike Museum ein Heim, den andern „lässt es kalf oder er fühlt
sich sogar geniert, wie in, einem unbestellten Chambre separ^e.
Und wie ist die Musik verschieden! Warum ist denn das
neapolitanische Volkslied, jene sinnlich heitere Weise der ver-
flatternden Melancholie, nicht anderswo entstanden, als am
parthenopäischen Golf! Warum entstehen Melodien wie „Mutter
der Mann mit dem Kocks ist da** oder „Im Grunewald ist Holz-
auktion** in Berlin, aber nicht in Florenz oder Dresden? Und
warum sind die Berliner eben die Berliner? Warum entstehen
melancholische Volksweisen wie „Seh ich drei Rosse vor dem
Wagen" oder „Längs dem Mütterchen der Wolga** in Russlands
weiter Ebne? Warum rief mir die Fellachenflöte in der Berliner
Kairoausstellung 1896, und nicht bloss mir, die Vorstellungeiner
Wüste vor die Augen?
Warum wurden die Dorer soviel weichlicher, als sie sich
in Sybaris und Kroton an der Südostküste von Italien nieder-
liessen? Oder will man das auch durch den sündigen bösen
Willen erklären? der gerade in Sybaris den Entschluss fasste,
„Sybariten** zu schaffen ? I Wie kindisch wirkt eine solche Auffassung
der Kulturgeschichte! Warum entstand die Tirolertracht mit den
nackten Knien in dem Berglande Tirol und nicht in Pommerns
weiten Flächen? Ebenso das schottische Bergkostüm mit dem
Kild (Röckchen) und den nackten Beinen? Und wir könnten noch
tausend Fragen stellen, die auf das Klima Bezug nehmen; noch
einmal gesagt, nicht bloss auf die Isothermen des Jahres» sondern
— 55 -
auf den ganzen Einfluss einer Ortschaft, einer Gegend. Ja, ja,
Mutter Erde hat meist sehr gehorsame Kinder. Und Vater Sonne
auch.^)
Der Herausgeber dieser Sammlung hatte mir geraten, das
meiste Gewicht auf subjektive Erfahrung zu legen, da allgemeinere
Folgerungen doch noch fraglich wären. Gewiss hatte er recht:
das Subjektive ist das zuerst objektiv Gewisse. Memoiren müssen
in der Geschichte gewiss mit Vorsicht benutzt werden, aber un-
entbehrlich sind sie trotzdem. Man muss sie nur gegen einander
abwägen. Vielleicht wird es einmal später möglich sein, die
Psychophysik des menschlichen Schaffens eingehender zu beur-
teilen. Ich glaube: auch da lässt sich jetzt schon manches in
grossen Zügen erkennen. Die Rasse mit ihren Eigentümlichkeiten
entwickelt sich in einem bestimmten Klima; die Juden im Orient
sollen anders sein, als die in Europa. Schon in Italien ist es oft
schwer dei) Juden vom Italiener zu unterscheiden. Wie und
inwiefern das altgriechische Volk sich mit seinem tiefen Gefühl
für Rhythmus entwickelt hat, konnte ich leider noch nicht an Ort
und Stelle erforschen. Es sind stets zwei Hauptfaktoren, die da
mitwirken : der Resonanzboden des Menschenstammes, der in ein
Klima eintritt, und dieses Klima selbst. Der Kulturphilosoph
Eduard von Mayer führte aus, dass alle Kulturrassen ihre letzte
Erhöhung vor dem Eintritt in die Geschichte in den Bergen
durchgemacht hätten.') Dass die alten Deutschen wenig Sinn för
Rhythmus hatten, scheint daraus hervorzugehen, dass es hart-
näckiger Kämpfe bedurfte, um sie über den „urteutscfien^ Vers
hinauszuführen. Aber auch das Klima in Germanien hat sich
geändert viele Wälder sind geschwunden oder zu Forsten geworden.
Die Natur ist sicher milder geworden und das soziale Leben hat
sich in gleicher Weise gewandelt. Man wurde aufnahmefähiger
') Die Sonne ist nämlich wohl nur im Deutschen feminin, worüber
sich die Italiener nicht genug wundem können, so absurd kommt es ihnen
vor: die befruchtende, zeugende Sonne — ein WeibI Das ist ja rein
wideraatüriich I Im Russischenlist sie Neutrum (Ssolnze), gleichsam her-
maphroditisch.
*) Lebensgesetze der Kultur, Kap. 4.
- 56 -
für Harmonie und Rhythmus. Es gibt ja auch heute noch so
viel Feinde der »langweiligen** oder gar „unsittlichen" Schönheit^)
in deutschen Landen, ganz verflogen sind jene harten Einwirkungen
ja nicht. In der Schweiz merke ich stets den Einfluss der rauheren
Bergnatur.
Der feinfühlige Herder war seiner Zeit weit voraus. Eine
gewisse Andeutung meiner Ausführungen zeigt sich bei ihm in
einigen Aussprüchen. Er sagt: „Liege es an Ursache von innen
oder aussen — wie gewöhnlich liegts an beiden; so war von
jeher die deutsche Harfe dumpf und die Volksstimmen niedrig
und wenig lebendig*'. Was bedeutet dieses „von aussen", wenn
nicht die klimatischen Bedingungen, „von innen", wenn nicht die
Persönlichkeit? Und dann sagt er zum „Liede vom eifersüchtigen
Knaben": „Die Melodie hat das Helle und Feierliche eines Abend-
gesanges, wie unter dem Licht der Sterne, und der elsässer Dialekt
schliesst sich den Schwingungen derselben trefflich an.***)
In unserer modernen babylonischen Kulturverwirrung gibt
es so viel Komplikationen, dass ich mit Selbstironie sagen möchte:
man brauchte fast Logarithmen, um diese Verhältnisse aus«*
zurechnen. Interessant ist die Persönlichkeit Heinrich Heines,
weil sich in ihr verschiedene Einflüsse kreuzen. Sollte es wirklich
von ungefähr gewesen sein, dass dieser bedeutende Dichter sich
die spanisch-maurische Romanze so zu eigen machte, ja, dass
sich ein ähnlicher Rhythmus in dem grössten Teil seiner Poesien
wiederfindet? Klingen folgende Verse nicht vollkommen wie von
Heine und sind doch in Mauro^Spanien gedichtet?
Schöne Zaida meiner Augen I
Meiner Seele schöne Zaida 1
Du die schönste der Mohrinnen
Und vor Allen Undankbare I
Es sind eben verschiedene Einflüsse: ererbtes Rasseempfin*
den, vielseitiges Klima und Persönlichkeit. Halb ernst, halb
*) Über die tiefe und weitgehende Bedeutung der heute so missver-
standenen Schönheit habe ich schon eingehender in den Prosaerläuterungen
zu »An Edens Pforten — aus Edens Reich* gesprochen, besonders in
5), 7), 12), 13), 18), 19), 38), 39).
') Stimmen der Völker.
- 57 —
scherzhaft könnte man folgendes Schema von Heine bilden:
50% Persönlichkeit + 20% altes Rasseempfinden + 20% deut-
sches Klima + 10% Pariser Klima. Es ist doch merkwürdig,
welch ein gewaltiger Unterschied zwischen einer maurisch-spanischen
Romanze und einer schottischen Ballade besteht. Wer sich heute
dieser Formen bedient, unteriiegt unwillkfiriich ihrem Geiste, der
sich in einem bestimmten Klima entwickelt hat Heitere Mond-
scheinserenaden, sonnenfroher Himmel, blühende Gärten usw.,
passen nicht in eine Ballade:
Vom See in Büschen des Lego
Steigen Nebel, die Seite blau
Von Wellen herauf
Wenn geschlossen die Tore der Nacht sind,
überm Adlerauge der Sonne des Himmels.
Oder:
Der König sitzt im Dumferlingschloss,
Er trinkt blutroten Wein
• * •
Oder:
Dein Schwert, wie ists von Blut so rot?
Edward, Edward I
Das sind die Stimmungen der nordischen Ballade. Sie
entstand eben in Ländern der gespensterhaften Romantik, wo die
Nebel gleich zauberhaften Gestalten schleichen, wie die Hexen in
Shakespeares „Macbeth". Walter Scotts Romane entstanden in
solchem Klima. Bei Byron sehen wir den Widerstreit zwischen
einer hochfliegenden Persönlichkeit, die es nach hellenischer Welt
drängt, und überkommnen Einflüssen, die auch aus dem englischen
Klima erwachsen, das unter anderem den Spleen erzeugt. Oskar
Wildes Paradoxen, selbst ein wenig Spleen, sind ein Kampf mit
dem bornierten Spleen der englischen Gesellschaft. Wäre es
denkbar, dass jene nordische Dichtungswelt in Hellas erwachsen
wäre, und umgekehrt? Alt-Hellas besass wohl eine zahlreiche
Dämonen weit (Dämon nicht im modernen, bösen Sinn gebraucht,
sondern = niederer Gottheit); aber wie anders sind diese greif*
baren, plastischen Gestalten, als die Nixen, Hexen, Albe und
Zauberer der nordischen Mythen! Wenn man die „nordischen''
Faune oder Satyre der modernen Maler sieht, so soll man diese
nordischen Waldschratten beileibe nicht für antike Waldgottheiten
- 58 -
und Satyre halten. Die sahen ganz anders aus! Das bezeugen
die zahlreichen anmutigen Satyre in den Museen. Klar und licht
wie die Sonne von Hellas sind die Gestalten der hellenischen
Antike, reich ist ihr Rhythmus, wie die reichgegliederten
Meereskästen und die Fülle der Inselwelt, wo der Blick sich
weitet, aber doch selten ins endlose träumen muss. Die apen*
ninische Halbinsel hat viel geschlossene Dichtungsformen zur
Vollendung gebracht, ebenso wie es an städtischen Eigenformen
reich ist, die abgeschlossene Kunstwerte bilden, wie Venedig,
Florenz, Siena, Genua usw. Persien kenne ich nicht, habe also
kein Urteil darüber, wie weit das Klima in den Dichtungen der
Hafis, Saadi, Firdusi und anderer wiederzufinden ist. Ich glaube aber
nach allem andern, dass da Gründe sind, die die leidenschaftlich duf-
tenden Verse des Hafis und die Ghaselenform mitbestimmten —
dass auch der Einfluss der persischen Blumenhaine, von denen
Hafis spricht, in der bifitenreichen Sprache nachwirken mag.
Vielleicht auch der schroffe Wechsel des Klimas.
Und Russland? Da kann ich wieder aus eigener Anschauuug
reden. Schon der alte Rhythmus der russischen Volkslieder und
,,Builinüi'' (Heldensage) verrät die Natur des ächten Russlands.
Das wiederholte melancholisch-musikalische Anlauten mit „A-i*'
oder „A" ist so ächtrussisch im Tonfall. Und besonders das
stete daktylische Auslauten der Verse, die fast nie einen
Reim und dabei auch noch einen schwerfälligen Rhythmus haben,
gibt jenen Volksgedichten den Klang der Steppe oder horizontlosen
Ebene, der weiten flachen Felder und Wälder.
Kto bui näm skasäl^pro stäroje,
Pro stäroje, pro buiwäloje.
Pro towö Iljü, pro Müromza.
Wer erzahlt uns vom Vergangenen,
Veigangenen, vom Gewesenen,
Von jenem Ujä, dem Märomer?
Und so könnte ich zahlreiche Belege anfuhren, wenn der
Umfang des Buches es mir erlaubte. Auch in der sogenannten
Kunstpoesie der Russen findet sich jene melancholische Stimmung
Ihrer Natur, ihres Klimas. In Gedichten von Kolzow, in sehr
schönen Gedichten von Lermontow. Ja auch in der Prosa von
— 69 —
Turgenjew und Dostojewski] verrät sich dieses Klima. Das lässt
sich keineswegs bloss durch politische und soziale Umstände
erklären, die ja ihrerseits auch wieder vom Klima abhängig sein
können. Als verwandte politische Verhältnisse in anderen Ländern
waren, haben sie dort doch anders gedichtet. Man denke an
Frankreich. Voltaire und Dostojewski] — welch ein Unterschied !
Ich kann hier nur noch auf Skandinavien und meine nor-
dische Heimat eingehen. Jeder Kenner nordischer Autoren wird
es empfunden haben, wie oft bei ihnen eine Art hellsehender
Gabe vorhanden ist. Das tiefe Schauen in die Seele, in ihre
Regungen und Ursachen ist ihnen eigen, das verrät uns Ibsen,
der alles Fragende und Rätselhafte hervorsucht. Auch Björnson
in „Über unsere Kraft". Das verrät uns der Schwede Strindberg
mit seiner eigenen Seelenanalyse, und der feinsinnige Däne Jens
Peter Jakobsen. Und Werner von Heidenstamm in seinem „En-
dymion"! Auch Kielland in seinen Novellen, z.B. in „Schnee"! und
wie sie alle heissen. Auch in meinen Novellen dürfte sich diese
Gabe finden, was auch teilweise von der Kritik anerkannt wurde. ^
Ich bin eben selbst in einem Lande geboren und aufge-
wachsen, das die hellen langen Sommernächte Skandinaviens
an den Küsten des baltischen Meeres hat, und mütterlicherseits
bin ich überdies Schwede. Die sogenannten „weissen*" durch-
sichtigen Nächte jenes Klimas haben offenbar einen titScn Etnfliiss
auf die Psyche, verbunden mit den übrigen Eigenschaften dieser
Länder, und diese Wirkung bleibt eine nachwirkende, auch wenn
die Kinder dieses Landes in andre Klimate übersiedeln. Es hängt
natürlich davon ab, wie das latente Klima (in der Erblichkeit) mit
der neugeborenen Persönlichkeit und dem neuen Klima zusammen-
wirkt. Die Menschen sind verschieden empfänglich für fremde
Einflüsse. Und die Stärke der Persönlichkeit besteht nicht in
der Unempfänglichkeit für Einwirkungen (stumpfere Anlage),
1) über mein unveröffentlichtes Buch: „Wenn ich nicht ich wäre ...^
ein Buch für Unzufriedene, schreibt mir der Verlagsbuchhändler Karl
Reissner in Leipzig: „Vor zehn Jahren, als die skandinavischen Bucher
beliebt waren, hätte ich dieses Buch ohne Bedenken herausgebracht. Jetzt
bevorzugt man in Deutschland breit angelegte Romane'*. Es ist heute
nicht der Markt dafür.
- 60 -
sondern in der Fähigkeit, sie zu verarbeiten. Wenn ein Dichter
sagt: „ich habe nichts davon an mir bemerict'', — so ist das
kein Beweis gegen den, der es bemerkt hat. Wenn zwei dieselbe
Speise essen und der eine fühlt und schmeckt einen latenten
Bestandteil heraus, der andre aber nicht, so hat der erstere Recht
Eisen unterliegt besonders dem Einflüsse des Magnetismus;
aber auch bei allen andern Körpern ist es der Fall, ohne dass
es nun so deutlich in Erscheinung tritt. Das Radium ist besonders
radioaktiv, aber die andern Körper sind es auch, nur hat man
noch nicht gelernt, darauf zu achten. Bemerkenswert ist, dass
auch der so feinfühlige Goethe vielleicht in väterlicher Linie
gotischer Abstammung war. ^) Schon sein Name, der in Deutschland
so selten ist, dagegen in Schweden in Ortsnamen wiederkehrt
(die Stadt Göteborg, der Fluss Götaelf, die Insel Gotland), deutet
darauf hin. Und die Schweden sind ja heute die einzigen reinen
Germanen, die Norweger haben eine keltische Beimischung, die
Deutschen haben zum Teil slavisches und keltisches Blut: das hat
wohl auch (zusammen mit der geologischen Gliederung Deutsch-
lands) die Vielseitigkeit der Deutschen bewirkt.
Soviel von objektiven Tatsachen, deren gründliche Erforschung
noch interessante Ergebnisse bringen kann — auch für die
Ethnologie und die ethnologische Psychologie. Die Toten sind
tot; über sie wird man nie etwas Bündiges sagen können, wo
sie nicht selbst Andeutungen gemacht haben, wie Goethe.
Natürlich müssten die lebenden und die zukünftigen Künstler
sich zur Selbstbeobachtung bequemen, ja auch schulen, und vor
allem nicht fürchten, dass sie sich dabei etwas vergeben. Ich
selbst habe mich bemüht, durch eine Umfrage bei bekannten
Dichtern Material zu sammeln. Aber mit völlig negativem Erfolg.
Dabei sind die Antworten so lehrreich und merkwürdig, dass ich
mir nicht versagen kann, genauer auf sie einzugehen, zumal ich dabei
auch gewisse Einwände gegen meine Theorie wiederlegen kann.
Im allgemeinen beweisen die Antworten, welche ich erhielt,
wie jede neue Erkenntnis, so harmlos sie scheinen mag, einen
') Trotz Prem: .,Goethe", S. 20, Leipzig 1900. Man denke nur an
die Soldateska des 30jährigen Krieges und der Schwedenzeit
— 61 —
Sturm des Unwillens hervorruft. Man kann über sexuelle Dinge
schreiben und noch mit Gleichmut aufgenommen werden. Man
schreibt als Dichter aber ultraviolette Strahlen oder das Klima
und wird mit moralischer Entrüstung zurückgewiesen. ^)
Meine Anfrage bei einigen bekannten Dichtem ging dahin,
ob Berg, Flach-, Haideland oder Meer, Städteleben usw. ver-
schiedene Jahreszeiten, landschaftliche Farben und Linien usw.
irgend einen Einfluss auf das Schaffen gehabt hätten.
„Ich ahne den Inhalt Ihres Schreibens und beantworte ihn
dahin : niemals hat irgendwo oder irgendwann das Klima auch nur
den geringsten Einfluss auf mein Dichten gehabt"*. So schreibt
Detlev von Liliencron, der Dichter des „Heidegänger" ! Er hätte
also die Stimmungen der deutschen Heide empfunden und gedichtet,
auch wenn er nur in den Schneefeldern von Grönland oder auf
einer kleinen Koralleninsel des Ozeans oder in einem Bergnest
der Abruzzen aufgewachsen wäre und gelebt hätte ! ? Das soll man
dem Dichter glauben?! Wo bleibt denn da der Erdgeruch der
modernen Poesie? Man kann ein vortrefflicher Dichter sein, braucht
sich aber deswegen nicht über die eigene Natur und die der Umwelt
Rechenschaft zu geben. „Nie und nirgendwo auch nur den geringsten
Einfluss/' Darnach wäre es also für den Lyriker ganz gleichgültig,
ob es Frühling ist oder dichter Schnee die Felder bedeckt, er dichtet
ein FrQhlingslied im Dezember auf der Schneekoppe und besingt
den Sonnenschein bei anhaltendem Regen. — Und selbst wenn er
im Kontrast zur Natur und Umgebung dichtet, bleibt er immer doch
beeinflusst. Bleibt der Dichter nicht immer ein Kind der Natur?
Man mag freiherriich geboren sein, unsere menschliche Freiherriich-
keit ist ein echtes Erbkind der Mutter Erde. Nochmals betone ich :
wir sind alle verschieden und reagieren verschieden, aber nie
ohne Einwirkung. Wer stärker im sozialen Milieu wurzelt, der fühlt
es weniger, wie ursprünglich die Natur darin mitwirkt.
Ein Aufsatz über die »Fremdenliste" — diese harmlose Liste der
fashionabien Schweizer Sommerorte — die nichts als die Nameniiste der
Hotels enthält, wurde mir von einem bekannten Berliner Blatte zurück-
gewiesen, mit der Bemerkung, sie wäre zu schroff für das Publikum. Es
handelte sich um eine sozialpsychologische Studie der Fremdenliste.
— 62 —
Richard Dehmel, der Moderne, gibt auf meine Anfrage wenig-
stens zu, dass er einem Einflüsse auf seine Produktion bisher keine
Aufmerksamkeit geschenkt habe — aber er weist schroff meine
Zumutung zurück mit den Worten: „und werde es wohl auch
fernerhin nicht tun." Gewiss, jeder ist frei, zu tun und zu lassen.
Aber warum diese pathetische Abwehr!? Ist es denn eine be-
leidigende Zumutung für einen Modernen, den Einfluss der
Natur zu beobachten?! „Meines Erachtens", schreibt er, „sind
solche Beobachtungen stets durch Selbsttäuschungen getrübt."
Gewiss sind Selbsttäuschungen möglich, aber kann es nicht auch
Selbsttäuschung sein bei Richard Dehmel, dass solche Beobach-
tungen „stets" Selbsttäuschung sein müssten?! Oder brauchen
diese modernen Ungläubigen doch einen infalliblen Papst? Sollte
unser alter Goethe auch so ganz dumm gewesen sein, als er
sagte: „Das Subjekt ist bei allen Erscheinungen wichtiger als
man denkt!" Und in seinem Briefe vom 22. Juni 1808 an Zelter:
„Der Mensch an sich selbst, insofern er sich seiner gesunden
Sinne bedient, ist der grösste und genaueste physikalische Apparat,
den es geben kann." Wieviel Selbsttäuschung birgt die Geschichte
der Wissenschaft! Und doch bliebe uns jede Erkenntnis ver-
schlossen, wenn wir nicht den Mut zu Irrtümern hätten.
Gerhard Hauptmann ist auf meine Anfrage überhaupt nicht
eingegangen. Ich gebe zu, dass sich unwillkürliche Beobachtungen
und die geschilderten Beeinflussungen der Psyche weniger den-
jenigen aufdrängen, die meist in ihrer Heimat leben oder doch
in einem verwandten Klima ständig beharren. Es genügt auch
nicht, dass man eine flüchtige Lustreise nach Norwegen oder
Italien macht. Jeder Einfluss veriangt eine gewisse Zeit, bis er
zur Wirkung kommt, und die Erkenntnis fusst auf einer gewissen
Wiederholung derselben Phänomene.
Wann werden wir wohl dahin kommen zu erkennen, dass
alles Geschehen aus den Kämpfen der Naturmächte resultiert? —
dass unser Gehirn zumeist nur ein mehr oder weniger objektiver
Beleuchter ist! Als mitwirkender Faktor aber steht auch unser
hochwohlgebornes Bewusstsein unter den Einflüssen der Natur —
d. h. aller Erscheinungen. Die Familie „von Mensch"» zu der
— 63 —
sich ja auch unsere freigeistigen Kapazitäten zählen, will nicht
von der Dynastenwillkfir ihrer Gedanken, Gefühle und Handlungen
lassen. Die Praerogative des Herrn von Mensch ist ja nur die
alte Perücke, die die englischen Rechtsgelehrten noch heute bei
feierlichen Anlässen tragen. Die Götter des Olymps mit ihren
natürlichen Locken sind aber doch weit schöner und erhabener,
sie brauchen auch nicht die Stürme der Natur zu fürchten. Aber
ohne Sorge! Diese Erkenntnis tut dem Schaffen selbst wenig
Abbruch. Auch Detlev von Liliencron, Richard Dehmel, Gustav
Falke, Gerhard Hauptmann, Hugo von Hofmannsthal usw. werden
weiter dichten, bisweilen beeinflusst — sei es auch wider ihren
Willen. Der Tropenkoller und alle übrigen Abnormitäten, die mit
der Kolonialwirtschaft zusammenhängen, werden sich aoch femer*
Üb etnsleHen — wider den Willen cte- Herren Koloniaiminister.
In feiner Erkenntnis sagt schon der berühmte Florentiner
Historiker des XIV. Jahrhunderts Giovanni Villani (f 1 348) : „Die Lage
und die Luft von Arezzo erzeugt Männer von grosser Feinheit
des Geistes.'* Und Michelangelo gestand dem Vasari (der aus
Arezzo stammte): „Wenn ich irgend geistige Vorzüge habe, so
stammt es daher, dass ich in der feinen Luft eures Aretiner
Gebietes geboren bin.**
Meine Auffassung weicht von der Milieulehre durchaus ab.
Diese versteht unter dem Einfluss des Milieus wesentlich die
sozialen Einflüsse; meine Anschauung geht aber auch auf die
Wurzeln des Sozialen, d. i. die Physik zurück. Alles Geschehen
ist aber: Persönlichkeit plus oder minus Einfluss.
Ein Zufall — wenn nicht der Zufall nur des Wesens Schein
ist — fügte es, dass ich, fast am Schlüsse dieser Arbeit, nach
vielen Jahren wieder ,,Eckermanns Gespräche mit Goethe*" las,
die so wunderbar die reife, grosse Seele dieses Universalmenschen
spiegeln. Und da lese ich, wo beide vom Einfluss der Umgebung
auf B^ranger sprechen, dass Eckermann Goethe auffordert, doch
seine Gedanken über die Influenzen zu schreiben, da der Gegen-
stand doch reich und wichtig sei.^
^) Eckermanns «Gespräche mit Goethe", Bd. II, S. 64, Lpz.
- 64 —
,,Er ist nur zu reich, sagte Goethe, denn am Ende ist
alles Influenz, sofern wir es nicht selber sind."
Dann heisst es ferner:
„Beim Nachtisch Hess Goethe einen blühenden Lorbeer
und eine japanische Pflanze vor uns auf den Tisch stellen.
Ich bemerkte, dass von beiden Pflanzen eine verschiedene
Stimmung ausgehe, dass der Anblick des Lorbeers heiter,
leicht, milde und ruhig wirke, die japanische Pflanze dagegen
barbarisch-melancholisch wirke.'*
„Sie haben nicht unrecht", sagte Goethe, „und daher
kommt es denn auch, dass man der Pflanzenwelt eines
Landes einen Einfluss auf die Gemütsart seiner Bewohner
zugestanden hat Und gewiss, wer sein Leben lang von
hohen ernsten Eichen umgeben wäre, müsste ein anderer
Mensch werden, als wer täglich unter luftigen Birken sich
erginge. Nur muss man bedenken, dass die Menschen im
allgemeinen nicht so sensibler Natur sind, als wir anderen,
und dass sie im ganzen kräftig vor sich hinleben, ohne den
äusseren Eindrücken so viel Gewalt einzuräumen. Aber
soviel ist gewiss, dass ausser . dem Angeborenen der Rasse
sowohl Boden und Klima als Nahrung und Beschäf-
tigung einwirkt, um den Charakter eines Volkes zu
vollenden. Auch ist zu bedenken, dass die frühesten
Stämme meistenteils von einem Boden Besitz nahmen, wo
es ihnen gefiel, und wo also die Gegend mit dem ange-
borenen Charakter der Menschen bereits in Harmonie stand."
Also Goethe sagt: „Am Ende ist alles Influenz, sofern
wir es nicht selber sind." Wir selber — was ist das anders,
als wenn ich von der Persönlichkeit sprach! Also: Persönlich-»
keit plus oder minus Einfluss. So freut es mich am Schlüsse,
eigene Beobachtung und Hypothese durch diesen grössten unserer
Geister bestätigt zu finden. In ruhiger Bescheidung übergebe ich
dies Buch der Öffentlichkeit. Möge es ehrliche Freunde und
Feinde finden!
- 66 -
Während dieses Buch im Druclc ist, geraten mir Goethes „Noten"
zur „Harzreise im Winter*" in die Hand. Diese Erläuterungen
hatte ich noch nie gelesen, und werde geradezu überrascht! Ich
kann nicht umhin, sie hier mit kurzen Auslassungen mitzuteilen,
damit der Leser sich sofort selbst ein Urteil bilden kann. Nach
verschiedenen einleitenden Bemerkungen fährt Goethe so fort:
»Die Reise ward Ende November 1777 gewagt Ganz
allein, zu Pferde, im drohenden Schnee, unternahm der Dichter
ein Abenteuer, das man bizarr nennen könnte, von dem jedoch
die Motive im Gedicht selbst leise angedeutet sind.
Dem Geier gleich,
Der auf schweren Morgenwolken
Mit sanftem Fittich ruhend.
Nach Beute schaut,
Schwebe mein Lied.
Der Reisende verlässt am frühsten Wintermorgen seinen,
im Augenblick behaglich-gastfreundlichen thfiringischen Wohn-
sitz . . . ; er reitet nordwärts bergauf ; ein schwerer schneedrohender
Himmel wälzt sich ihm entgegen.
Denn ein Gott hat
Jedem seine Bahn
Vorgezeichnet,
Die der Gluckliche
Rasch zum freudigen
Ziele rennt
Begonnene Ausführung eines bedenklichen und beschwerlichen
Unternehmens stählt den Mut und erheitert den Geist. ... (Es
folgen Ausführungen, in Verlauf deren Goethe auf die Werthersche
Empfindsamkeitskrankheit eingeht, von der er sich befreit hatte,
und auf einen Jüngling, der an ihr litt, und dessentwegen er
diesen Ritt mit unternahm). . . .
In Dickichtschauer
Drängt sich das rauhe Wild.
Der Reisende gelangt auf die nächsten Bergeshöhen ; immer
winterhafter zeigt sich die Landschaft. Einsam und öde starrt
alles umher, nur flüchtiges Wild deutet auf kümmerlichen Zustand.
Nun blickt er über gefrorene Teiche, Seen, auch eine Stadt
kommt ihm zu Gesicht.
5
- 66 -
Und mit den Sperlingen
Haben längst die Reichen
In ihre Sumpfe sich gesenkt.
Wer seine Bequemlichkeiten aufopfert, verachtet gern dier
jenigen, die sich darin behagen. . . . Unser Reisender hat alle
Bequemlichkeiten zuräckgelassen und verachtet die Städter, deren
Zustand er gleichnisweise schmählich herabsetzt . . (Goethe erzählt,
dass durch ein Versehen des Korrektors in einer Ausgabe „Reiher*
statt „Reichen" gestanden hat. Natärlich, wem die ganze klimatisch-
geologische Situation Goethes, im Winterwinde auf den Bergen
hoch über Ebene und Stadt, nicht gegenwärtig war, konnte in einen
solchen Fehler verfallen ; dann heisst es bei Goethe später weiter . . .)
Aber abseits wer ists?
Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad,
Hinter ihm schlagen
Die Sträucher zusammen.
Das Gras steht wieder auf,
Die Öde verschlingt ihn.
(Nun folgt ein ganzer Passus über jenen menschenfeindlichen
Jungling. Dann heisst es): «... Der Dichter wendet seine
Gedanken zu Leben und Tat hin, erinnert sich seiner engverbun-
denen Freunde, welche gerade in dieser Jahreszeit und Witterung
eine bedeutende Jagd unternehmen . . . (Nun) : ruft er die Liebe, ihm
zur Seite zu bleiben. (Es folgt eine Bemerkung über das Verhältnis
des Wirklichen zum Ideellen beim Dichter und eine feinsinnige Aus-
legung des Wortes „Liebe**, das sich hier mit der Natur verwebt) . . .
Mit der dämmernden Fackel
Leuchtest du ihm
Durch die Furten bei Nacht,
Ober grundlose Wege
Auf Öden Gefilden;
Mit dem tausendfarbigen Morgen
Lachst du ins Herz ihm;
Mit dem beizenden Sturme
Trägst du ihn hoch empor;
Winterströme stürzen vom Felsen
In seine Psalmen.
Er schildert einzelne Beschwerlichkeiten des Augenblicks, die ihn
peinlich anfechten, aber in Gedanken an die entfernten Qeliebtea
frohmutig fiberstanden werden.
-- 67 —
Und Altar des lieblichsten Danks
Wird ihm des gefürchteten Gipfels
Schneebehangner Scheitel,
Den mit Geisterrethen
Kränzten ahnende Völker.
. . . Ich stand wirklich am 10. Dezember in der Mittagsstunde,
grenzenlosen Schnee überschauend, auf dem Gipfel des Brockens,
zwischen jenen ahnungsvollen Granitkh'ppen, über mir den voll-
kommen klarsten Himmel, von welchem herab die Sonne gewalt-
sam brannte, so dass in der Wolle des Überrocks der bekannte
branstige Geruch erregt ward. Unter mir sah ich ein unbeweg-
liches Wogenmeer nach allen Seiten die Gegend überdecken und
nur durch höhere und tiefere Lage der Wolkenschichten die
darunter befindlichen Berge und Täler andeuten. Die herrliche Er-
scheinung farbiger Schatten, bei untergehender Sonne, ist in meinem
„Entwurf der Farbenlehre* im 75sten § umständlich beschrieben.
Du stehst mit unerforschtem Busen
Geheimnisvoll offenbar
Ober der erstaunten Welt
Und schaust aus Wolken
Auf ihre Reiche und Herrlichkeit,
Die du aus den Adern deiner BrQder
Neben dir wässerst
Hier ist leise auf den Bergbau gedeutet. Der unerforschte
Busen des Hauptgipfels wird den Adern seiner Bruder entgegen-
gesetzt Die Metalladern sind gemeint, aus welchen die Reiche
der Welt und ihre Herrlichkeit gewässert werden."
(Sehr aufschlussreich ist auch, wie Goethe selbst bemerkt,
dass dieses Gedicht sich): «... fragmentarisch, geheimnisvoll,
im Sinn und Ton des ganzen Unternehmens ... in kaum
geregelte rhythmische Zeilen . . . (band)."
Diese geniale Nüchternheit Goethes beweist wohl, wie die
reichste Phantasie eine natüriich gesunde Erscheinung des Men-
schengeistes sein kann und nicht auf pathologischen Zuständen
ä la Lombroso beruht Die klimatischen und physischen Einflässe,
wie auch das Erotische, werden eben vom Dichter in höhere
Werte verwandelt
5^
— 68 —
Von dem Verfasser erschienen bisher:
Leten und Liebeiit Oedichte, E. Piersons Verlag, Dresden 1895.
Ehrlos, Novellen, Berlin 1898.
Der Herr der Welt, Dr., E. Ehering, Berlin 1899.
Irrlichter (Andrei, Erich, NarkissosX Dr., E. Ehering, Berlin 1900.
Auferstehung» Irdische Oedichte, Veriag Kreisende Ringe (M, Spohr),
Leipzig, 2. Aufl., 1903.
Lieblingminne und Freundesliebe in der Weltliteratur, Eine
kulturhistorisch-literarische Sammlung, M. Spohr, Leipzig.
Soeben erschienen:
An Edens Pforten — aus Edens Reich, sufische Gedichte mit 2 Bildern,
Kompositionen und Erläuterungen, E. Piersons Verlag, Dresden.
Und erscheint:
Der Maler der Schönheit (Qiovann Antonio Bazzi, genannt il Sodoma).
Olympia und Oolgatha (Heft I der Lebenswerte, Verlag H. Coste-
noble, Jena).
Heiland Kunst (Heft III der Lebenswerte).
Priesterin Mutter (Heft V der Lebenswerte, dies zusammen mit
Dr. Eduard von Mayer).
M. nOHcr t, Sohn
mOnchen V.
FEODOR DOSTOJEWSKY
ORENZFRAGEN DER LITERATUR UND MEDIZIN
in Einzeldatstellungen
herausgegeben von Dr. S. RAHMER, Berlin.
5. Heft.
Die
Krankheit Dostojewskys.
Eine ärztlich-psychologische Studie
mit einem Bildnis Dostojewskys
von
Dr. Tim. Segaloff.
MÜNCHEN 1907
ERNST REINHARDT, Veriagsbuchhandlung
Jügerstrasse 17.
Vorwort.
Die vorliegende Arbeit gibt einen Beitrag zum psychologischen
Verständnis Dostojewskys. Sowohl die Persönlichkeit des Dichters
selbst, als das richtige Verständnis seiner dichterischen Gestalten
erfordert eine psychiatrische Beurteilung. Eine Biographie Dosto-
jewskys ist bisher nicht vorhanden; sie soll demnächst erst in
russischer Sprache erscheinen. Dem deutschen Lesepublikum
werden die zahlreichen, dem Text eingefügten und in einem An-
hang vervollständigten Auszüge aus den Briefen des Dichters be-
sonders willkommen sein.
I.
Jedem, der die Werke Dostojewskys gelesen hat. fällt unter
den Typen, die uns der Künstler in seinen Romanen schildert, die
grosse Anzahl von psychisch Kranken auf. Die Kunstkritik, die
sich mit der Beurteilung der Werke Dostojewskys befasste, hat
diese Seite seines Genius nie ausser acht gelassen, hat aber die
Erklärung hierfür stets den medizinischen Sachverständigen über-
lassen. Und es ist in der Tat hervorzuheben, dass mehrere rus-
sische Psychiater ihre Arbeit der Lösung dieser schwierigen Auf-
gabe widmeten. „Ich wage es mit voller Sicherheit zu behaupten.*,
sagt Muratoff , „dass das richtige Verständnis der Typen Dostojewskys
nur mit Hilfe psychiatrischer Beurteilung ermöglicht wird.** Prof.
Tschisch, der ein Buch über „Dostojewsky als Psychopathologc*'
verfasst hat, schreibt am Schlüsse seiner Arbeit: „Es ist schwer
zu erklären, auf welche Weise Dostojewsky sich eine so reiche Er-
fahrung in der Psychopathologie erworben hat; noch schwieriger
ist es, die Frage zu beantworten, ob Dostojewsky sich seiner tief-
griindigen Kenntnisse der Erscheinungen der kranken Seele bewusst
war. Selbstverständlich**, fährt Tschisch fort, „gewann Dosto-
jewsky für die Analyse von krankhaften Seelenzuständen Klarheit
und Erfahrung durch seine eigene Krankheit. Er erzählte selber,
dass er schon in früher Kindheit Halluzinationen hatte. Es ist.
auch allgemein bekannt, dass er an Epilepsie litt.*
Wenn wh- die Biographien Dostojewskys, seine autoblö--
graphischen Angaben und die Erinnerungen dritter Persoi)6ti
an Hm in den Kreis unserer Betrachtungen ziehen, so werden wir
hier die Bestätignug für die beiden vorerwähnten Angaben finden^*:
erstens« dass Dostojewsky an Epilepsie litt und weiterhin, dass er:'
selber viele derjenigen Zustände durchlebte, die er beschrieben hat
Den Erinnerungen von Nikolaus Strachow entnehmen wir folgende
Zeilen : „Dostojewsky war einer der tiefstempfindenden und auf-
richtigsten Schriftsteller; alles, was er geschrieben, hat er auch mit
starker Innigkeit und Hingebung durchlebt. Dostojewsky ist einer
äer subjektivsten Schriftsteller, indem er fast immer seine Typen nach.
- 6 -
eigenem Ebenbide schafft Pur mich, der ich ihn nahe kannte,
war die Subjektivität seiner Schilderungen sehr klar. Oft wunderte
ich mich über ihn und empfand zugleich Furcht, da ich sah, dass
er manche seiner eigenen dfisteren krankhaften Stimmungen be-
schrieb.* In den Erinnerungen von Strachow finden wir neben
einigen allgemeinen Bemerkungen über die Krankheit Dostojewskys
../^uch^tne Beschreibung, eines epileptischen Anfalls. »Die Anfälle
r.^ten für :42ewöhnli)ch.iTionat]j|Ch.. einmal auf, bisweilen kamen sie
öfterSr jcweimal. wöchentlich spgar..— . dpch war dies sehr seJtisn.
,: Während seines Aufenthaltes im Auslände kam es vor, dass iqfolge
o< des .besseren Klimas^ und wenn er sonst von Aufregungen verschont
• bUebi die Anfalle bif zur Dauer von vier Monatet^ aussetzten.
.i,^ii\ Vorgefühl ftir.den Auf all war stets yorhaaden, täuschte
: aberz^weUen. Ich habe .selbst Qelegenheit. gehabt» einem. Anfall,
wie. er gewöhnlich auftrat« beizuwpluien, ich glaube im Jahre 1805.
V ßpät abeQds jegen 11 Uhr. besuchte er mich, und wir kamen bald
in, ein ^haftes Gespräch, leb kann mich de^, Inhaltes nich^t entsin-
oeq» wei86nur,das^essich4]m einsehr wichtigesund abstraktes Thema
r. Rändelte. . Dostojewsky gisriet in .Begeisterung, und b^g^fin im Zim-
^ m^ auf undabzu geben ;lch.$ass am Tische. |Er sprach in verzücktem
Ton. über etwas. Hehres und Eiibabeaes. Als ach seinen Worten
r mit irgend einer Bem^jpjng.zusjtimmte^ wandte e^ , i^ir sein begei-
• Stertes Antlitz zu« auf dem der höchste. Grad exaltierter Erregung
zu lesenrwar. Er stpckte einen Augenblick, als suche er.nach Worten,
i: unflj^ffnete schon den Mund. Ich beobachtete ihn mit gespanntester
I Aufmerksamkeit, da ich fühltet ,dass er etwa; Aussergewöhnlicbes
I, sagen werde, dass mir irgend eine Offenbarung zu teil werde.
Plötzlich ertönte. aus seinem weitg^öffneten Munde ein merkwürdiger,
, langgezogener, sinnloser Schrei, und er fielphnmächtig zu Boden.
^ \ Der. Anfall war dii^smal nicht, ^us^rge^^öhnlich heftig. .(Juter
^' Klampfen wand sich sein Körper und zuckte t^saromen, in den
^ jK4undv)rinkeln zeigte sich Schaum, s Öfters pflegt^ Dostojewsky mir
zu erzählen, dass er vor dem Anfalle in begeisterte Ekstase gerate.
«Während einiger Augenblicke', erzählte er»;./iurchströmt mich
. fin Qlück^efuhl, wie es in normalem Zustande, undenkbar ist*
und yoa dem. gesunde. Leute keine Ahnung bähen. Ich empfinde
. in mir selbst und in der ganzen Welt die höchste Harmonie, und
das Gefühl ist so stark und. beseligend, dass man imstande ist,
für ein. paar solcher Sekunden zehn Jahre, ja selbst das. ganze
— 7 —
Leben zU' opfern'.'' Die AnfiHe hatten Msvreiien leichtere Vfer-
letsangitn im Gefolge. Die KrSmpfe vertirsaehien ^fhm häufig
Mu9kel9dmi6Fzen. Bisweiten wurde sdn Gedidit rot, Initridiifial
erschien es gefleckt. Von eindchneMeilder WiricuAg ' ab6r vl^,
dass>4as Qedichtnts de^ Krankeif nacMfessiund düss er Selbst sich
üwet^Us'drei Tage hindurch gatiz »srschlageri fiSMte. Zi^eteh war
er während dieser Zeit sehr schwermfiftg uAd konnte eiMr ge-
wissen Bekfemmung und Reizbarkeit kaum Herr werden. ' Die Be-j
Memmang äusserte sich in der Weise, dass er sich als Vätfrirecher'
ffihlte; es schien ihm, ^s laste auf ihm eine' unfatefcaniite Schuld,
eine grosse* Missetat 'Wir fOhren hier die Worte ata d£m Roitian
toOsbrfider Karamasoff ** an, welche Dostojewsky dem Staatsanwalt
in der 'Rede, die er zur BegrQndung der -Anklage gegen Oimilri
Karanmsoff hält und zur Verte! (figung des Bpfleptikers Smferdfakow,
in 'den Mund legt: „Die an starker PaRsücht Leidenden sind itach
der Ansicht der grössten Psychialer zu einer Endigen und äeWst-
verständlfch krankhaften Selbstbeschüldigtitig geneigt Sie^^ääten
ihre.Seele mit Irgend einer Schuld, leiden uMtei' QewistS6nsbissen,
oft ohne Qrund, übertreiben in vielen Dingtaund ersinnen sogar
verschiedene Verbrechen, > die sie niemals begangen h&beri.''
In den Erinnerungen von A. P.Milakow finden wir folgende
Beschreibung eines AnfiaHs: ,,Man erzählte, dässDostojewIiky' auf
ider Strasse mit Absicht seinen Bekannten aus dem Wege ging,
beim Zusammentreffen in einer Gesellschaft Begrussungen nidit
erwiderte und manchmal naish einem Menschen, den er schon
lange kannte, sich erkundigte: ,Wer ist denn das?' Möglüch, dass
solche PäUe wirklich vorkamen; ich glaube aber, dato dies nicht
Hochmut oder Selbstfiberschätzung von seifendes Dichters,* Sondern
lediglich die Folge seiner unseligen Krankheit war und meiäteiks
unmittelbar nach den 'Anfällen geschah. Wer Zeuge diäser schreck-
Heben AnfäMe war nild die Spuren bemerkte, die Sie für einige
Tage hinterliessen, der wiM wohl verstehen, warum 6f PetiMtKin,
•und bisweilen sogar ziemlich nahestehende, verkannte. Ibh kann
mich^des folgenden Anfalls entsinnen: Als ich -in Pawtowsk^) Wohnte,
kam Dostojewsky eines Abends zum Tee zu mir. In dem Augen-
'blick, als meine Tothter ihm ein Glas Tee reichte, sprang er plötz-
tich auf, erblasste, fing an zu schwanken, und nur mit Mfihe könnte
*} Ein Sontmeraufenthalt in der Nihe von Petersburg.
- 8 -
ich ihn bis zum Divan schleppen, auf den er in Krämpfen mit
entstelltem Gesicht hinsank. Sein Körper wand sich unter starken
Zuckungen. Als er nach einer Viertelstunde zu sich kam, wusste
er von dem Vorgefallenen nichts und sagte nur mit dumpfer
Stimme: »Was ist mit mir geschehen?' Ich bemühte mich ihn
zu beruhigen und bat ihn, bei mir zu übernachten. Er wies aber
meine Bitte aufs Entschiedenste zurück, indem er sagte, er müsse
unbedingt nach Petersburg zurück. Warum — vermochte er nicht
anzugeben, er wusste nur, dass eine dringende Notwendigkeit
hierfür vorlag. Ich wollte einen Fuhrmann holen, er schlug
auch dies ab. ,Qehen wir lieber zu Fuss zum Bahnhof — das
wird auf mich erfrischend wirken', sagte er. Wir verliessen das
Haus, es war bereits ziemlich dunkel; unser Weg führte uns
durch einen Park, der um diese Stunde fast menschenleer war.
Kaum waren wir einige Minuten gegangen, als Dostojewsky
plötzlich stehen blieb und flüsterte: ,Ich werde sofort einen
Anfall bekommen.' Ringsum war kein Mensch zu sehen; ich
setzte ihn aufs Gras, gerade am Gartenweg. Er blieb ungefähr
fünf Minuten sitzen; der Anfall trat glücklicherweise nicht ein.
Wir gingen weiter. Nicht lange danach blieb er wieder stehen
und sagte, mich mit gebrochenen Augen ansehend: „Gleich kommt
ein Anfall!" Aber auch diesmal ging es vorüber, ohne dass seine
Befürchtung sich verwirklichte. Dasselbe Spiel wiederholte sich
noch zweimal, bis wir den Bahnhof erreicht hatten. Von dort
aus liess ich durch einen Dienstmann einen Verwandten Dosto-
jewskys holen, der sofort kam und ihn nach Petersburg begleitete.
Als ich ihn am nächsten Tage aufsuchte, war er so schwach wie
nach einer überstandenen Krankheit und erkannte mich nicht so-
gleich."
Nicht weniger bedeutungsvoll und interessant sind folgende
Zeilen, die ich den Erinnerungen von Wsewolod Solowjew ent-
nehme: „Während meiner Verbannung", erzählte Dostojewsky,
„bekam ich einen Anfall, und seit dieser [Zeit verlässt mich die
Krankheit nicht mehr. Bis in die kleinsten Einzelheiten kann ich
mich an alles, was vor diesem Anfall geschah, erinnern, an jedes
kleinste Ereignis meines Lebens, an jedes Gesicht, das ich gesehen,
an alles, was ich gelesen und gehört habe ; alles was nach diesem
ersten Anfall geschah, vergesse ich sehr oft, manchmal vergesse
ich Personen, die ich sehr gut kannte, vollkommen, ich habe
- 9 —
alles vergessen, was ich nach der Verbannung geschrieben habe.
Als ich zu meinem Roman ,Die Teufel' den Schluss schrieb»
musste ich noch einmal alles vom Anfang an durchlesen, da ich
sogar die Namen der handelnden Personen vergessen hatte. ** Fol-
genderweise beschreibt Solowjew den Zustand des Dichters nach
dem Anfall: „Er war manchmal unausstehlich. Sein Nervensystem
war so erschüttert, dass er in seiner Reizbarkeit und Absonderiich-
keit ganz unzurechnungsfähig erschien. Er kam herein wie eine
schwarze Wolke (wörtlicher Ausdruck des russischen Autors), oft
vergass er sogar zu grossen und schien geradezu eine Gelegenheit
zu suchen, um Streit zu beginnen. In allem, was man ihm gegenüber
tat, erblickte er eine Beleidigung, die Absicht, ihn zu kränken und
zu erregen. Man musste ihn allmählich auf eines seiner Lieblings-
themen bringen, dann fing er sogleich an zu sprechen, sich zu
begeistern. Nach einer Stunde schon war er in bester Laune, nur
das totenbeiche Gesicht, die glänzenden Augen und der schwere
Atem Hessen den krankhaften Zustand, in dem er sich befand, er-
kennen.** Die Widerspiegelung all dieser Stimmungen finden wir
in vielen Stellen seiner Werke. Wir führen aus dem Roman
„Erniedrigte und Beleidigte** folgende Zeilen an: „Wie oft geschah
es, dass ich im Zimmer auf und abschritt mit dem unbewussten
Wunsch, es möge mich irgend jemand beleidigen, oder auch nur
ein Wort sagen, das als Beleidigung aufzufassen wäre, damit ich
an ihm meinen Zorn auslassen könnte 1**
In den Jugenderinnerungen von Sophja Kowalewskaja finden
wir folgende Daten in bezug auf die Krankheit Dostojewskys :
„Meine Schwester und ich, wir wussten, das Dostojewsky an Epi-
lepsie litt. Diese Krankheit aber erweckte in uns einen so liefen
Schrecken und Abscheu, dass wir es niemals gewagt hätten, ihrer
auch nur im entferntesten ihm gegenüber Erwähnung zu tun. Zu
meiner Verwunderung hat er selbst einmal die Rede darauf ge-
bracht und uns erzählt, unter welchen Umständen der erste Anfall
aufgetreten. Er sagte uns, seine Krankheit habe sich erst nach
der Zuchthausstrafe, in der Verbannung entwickelt. Damals habe
er sich in der Einsamkeit und in der Unmöglichkeit eine leben-
dige Seele bei sich zu haben, einen Menschen, mit dem man ein
vernünftiges Wort hätte wechseln können, gemartert und gequält.
Ganz unerwartet besuchte ihn zu jener Zeit ein alter Freund. Es
war in der heiligen Osternacht. In der Freude des Wiedersehens
- 10 -
versifsen sie beide ginzlidi die BedeotuQg dieser Nacht and
verbrachten sie in tiefsmaigen Gesprächen, worttieraiischt, ohne
der vorrikkenden Zeit zu achten und ihre eigene Ermfidusg wahr-
»nehmen* Sie sprachen über das, was ihaen am nächsten lag» über
Literatur, Kunst, Philosophie, schliesslich berührten sie andi reügjöse
Fragen. Der Freund Dostojewskys war Atheist Dostojewsky selbst
war ein sehr gläubiger Christ und jeder von ihnen verfocht mit
Eifer seinen eigenen Standpunkt — ,Es gibt einen Gott, es gibt
doch einen Gott,' schrie Dostojewsky voHer Erregung. In diesem
Augenblicke ertönten die KirchengjkKken, die frohe Botschaft der
Auferstehung verkündend. In der Luft, so schien es, haltten die
Töne zitternd wieder. ,Und ich fühlte,' erzählte Dostojewricy,
,dass der Himmel auf die Erde hinabsank und mich verschlungen
hatte. Ich empfand Gott als eine hehre, tiefe Wahrheit, und fühke
mich von ihm durchdrungen. Ja, es gibt einen Gotf , rief ich
^- ,was nachher geschah, weiss ich nicht Ihr gesunden Menschen,'
fuhr Dostojewsky fort, ,ihr ahnt nicht, welch herriiches Wonne-
gefühl den Epileptiker eine Sekunde vor dem Anfall durchdringt
Mahomet erzählt in seinem Koran, er sei im Paradies, gewesen.
Alle klugen Narrenköpfe behaupten, er sei einfach dn Lügner
und Betrüger. Das ist aber nicht wahr, er lügt nicht! Sicher
war er im Paradiese während eines epileptischen Anfalls — eine
Krankheit, an der er ebenso wie ich litt. Ich weiss nicht, ob
diese Wonne Sekunden, Stunden dauert, aber, glaubt mir, alle
Freuden des Lebens möchte ich nicht dafür eintauschen.' Dosto-
jewsky sprach diese letzten Worte in seiner ihm eigenen Art —
leidenschaftlich und erregt flüsternd. Wir alle sassen wie ver-
steinert unter dem Eindruck seiner Worte. Da auf einmal erfasste
uns alle der Gedanke : Gleich kommt ein Anfall t Sein Mund
verzog sich, sein Gesicht zuckte nervös. Dostojewsky las wahr-
scheinlich in unseren Gesichtern Angst und Furcht Plötzlich
hielt er in seiner Rede inne, fuhr mit der Hand über sein Gesicht
und lächelte bitter. ,Fürchtet euch nicht,' sagte er, ,ich weiss
immer, wenn es kommt' Wir wurden verwirrt, schämten uns,
dass er unsere Gedanken erraten hatte und vermochten nichts zu
envidem. Bald darauf veriiess uns der Dichter; und später erzählte
er uns, er habe in dieser Nacht einen schweren Anfall erlitten.*
Auf Grund der oben angeführten Tatsachen und Berichte
haben wir die Berechtigung, die Krankheit Dostojewskys als
- 11 -
Epilepsie anzuseilen. Wir tiaben es mit Anfällen, einhergeh^pd
mit Bewusstlosigiceit, Hyperämie des Gesichtes und allgemeinen
Konvulsijonen zu tun. Nach dem Anfall bleiben die Muskel-
schmerzen. zurück, und es fehlt die Erinnerung an das Geschehene.
Wir 3ehen fernerhin eine ganz typische psychische Ajura: Glocken- c
gelallte, zitternde Schwingungen der Luft,, ein unsagbares Wonne-
gefuhl, ein Empfinden der Nähe Gottes.
Wir haben fernerhin ei:fahren, dass Postojewsky sich nach
dem Anfall 2—3 Tage in einem typischen, postepileptischen
Dämmerzustande befand. Sein mürrisches Wesen und seine
stärkere Reizbarkeit in diesen Zuständen gibt uns ein deutliches
Bild von der jiu$serordentlichen Wirkung dieser Krankheit,
welche fremde Züge in den Charakter Dostojewskys einpflanzte
und ihn arg verunstaltete. Die Spuren der Krankheit lassen
sich besonders im Roman „Die Teufel** verfolgen, dessen
Entstehung sicher mit der Verschlimmerung des Leidens zu-
sammenfiel. Die Umständlichkeit, ein typischer Zug für die Ver-
standestätigkeit der Epileptiker, deren Spuren wir in allen seinen
Werken wahrnehmen, verleiht dem ganzen Roman einen beinahe
unzusammenhängenden Charakter. Ausserdem ist dieses Werk
voller boshafter Einfälle und zeigt eine durchaus intolerante
Behandlung3weise der von ihm geschaffenen Helden, die jn
solchem Masse den christlichen Ansichten des Dichters wider-
sprechen, dass sie nur durch den Einfluss der Krankheit zu
erklären sind. Dieser leidenschaftliche, gereizte Ton steht in
vollkommenem Widerspruch zu der Grundstimmung in den
Werken Dosto|ewsl^s, in denen der Genius des Dichters in seinem
tiefen Verständnis der menschlichen Seele (Memoiren aus dem
Totenh^tuse) und der ruhig objektiven Betrachtungsweise (Gebrüder
Karamasoff) zu den höchsten Höhen emporsteigt.
Die oben angeführten Erinnerungen beziehen . sich auf die
zwei letzten Jahrzehnte (1860— 1880) des Lebens Dostojewskys,
also ; auf eine Zeit, in der seine Krankheit sich schon scharf
begrenzt und den typischen Verlauf angenommen hatte. Die Ge-
schichte der Krankheit bis zu der Verhaftung und Verbannung
— in dieser Zeit fand der erste typische Anfall statt — wollen
wir später beleuchten.
Unsere Schilderung würde nicht vollständig sein, wenn
wir nicht die Leidenschaft Dostojewskys für das Roulettespiel
- 12 -
erwähnten. »Im Sommer 1863", erzahlt N. Strachow, »versah
sich Dostojewsky mit einer genügenden Summe Geldes für eine
Reise. Im Auslande versuchte er das Roulettespiel und verlor»
Er lernte das Spiel schon während seiner ersten Reise kennen
und gewann* dann 1 1 000 Francs. Seit dieser Zeit aber gewann
er nicht mehr."* »Mitte Juni ISö?*", lesen wir in derselben Quelle
von der dritten Reise Dostojewskys, »fuhren der Dichter und
seine Frau von Dresden nach der Schweiz, unterwegs machten
sie in Baden-Baden Halt und waren gezwungen, dort 1 Vt Monate
zu verweilen. Dostojewsky liess sich zum Roulettespiel hinreissen,.
gewann zuerst, dann aber verspielte er, und nur mit Hilfe einer
Geldsumme, die er von einem Bekannten erhalten hatte, konnte
er Baden-Baden verlassen. In Genf langten Dostojewsky und seine
Frau mit einem Vermögen von 30 Francs an. Die düstere Stim-
mung Dostojewskys besserte sich aber bald, als er endlich von
dem Wahn, der ihn zwei Monate hindurch gequält hatte, geheilt
wurde — nämlich der Idee, im Roulettespiel zu gewinnen.*" Wir
fuhren hier die Stelle eines Briefes an, den Dostojewsky an A.
N. Maikow richtete, und der am besten seine Seelenstimmung zu
jener Zeit kennzeichnete. »Die Anfälle kamen jetzt schon wöchent-
lich, das Gefühl aber, sich dieser Nerven- und Gehirnzerrüttung
bewusst zu sein, war unerträglich. Mein Verstand trübte sich
wirklich — das ist Wahrheit, und die Nervosität brachte mich
manchmal bis zum Wahnsinn. Ich beginne mit der Beschreibung
meiner Schandtaten. Als ich Baden-Baden passierte, kam mir die
Idee, dort ein paar Tage zu verweilen. Es quälte mich der ver-
führerische Gedanke, 10 Louisdor zu opfern und vielleicht 2000
Francs zu gewinnen. Das Verhängnisvollste daran aber war, dass
es mir schon früher gelungen war, zu gewinnen. Am schlimmsten
aber ist es, dass meine Natur in der Tat niedrig und zu leiden-
schaftlich ist. Überall und in allem gehe ich bis zur äussersten
Grenze, während meines ganzen Lebens konnte ich nie Mass
halten. Der Teufel hat hierbei sein Spiel in der Hand. In drei
Tagen gewann ich mit einer merkwürdigen Leichtigkeit 4000 Fr.
Nunmehr will ich auseinandersetzen, wie ich mir dies alles aus-
gemalt hatte: einerseits das leichte Gewinnen, mit 100 Francs
gewann ich in drei Tagen 4000 — anderseits Schulden, von
verschiedenen Seiten aus Forderungen zu bezahlen, und die Un-
möglichkeit nach Russland zurückzukehren. Schliesslich drittens
- 13 -
das wichtigste — das Spiel selbst — wisst Ihr, wie es den Men-
schen packt! Wahrlich, es war nicht nur die Habsucht allein,
obgleich ich wirklich das Geld nötig hatte. Meine Frau flehte
mich an, mich mit 4000 Francs zu begnügen und sofort abzu-
reisen. Bedenken Sie nur diese verlockende Aussicht, alles ohne
irgend welche Anstrengungen wieder gut zu machen! Und dann
die verlockenden Beispiele der anderen! Ausser seinem eigenen
Gewinnst sieht man alle Tage, wie verschiedene bis zu 20000,
30000 Francs kommen (die, die verlieren, sieht man nicht).
Warum sind sie mehr vom Schicksal begünstigt als ich? Ich
habe doch das Geld nötiger. Ich versuchte mein Glück weiter
und habe verspielt, nicht nur die 4000 Francs, sondern mein
ganzes eigenes Vermögen. Ich war wie in einem Fiebertraume,
versetzte meine letzten Kleider, schliesslich auch die Habe meiner
Frau. Endlich wars genug, denn alles war verspielt. **
Wir enthalten uns von vornherein der Analyse einer bei
einem Menschen von dem Charakter Dostojewskys wohl schwer
erklärbaren Leidenschaft. Es sei nur bemerkt, dass sich in man-
chen seiner Werke deutliche Spuren der Eindrücke jener Zeit
wiederfinden lassen. („Der Spieler", „Der Jüngling".)
Über die Beziehungen Dostojewskys zu Frauen haben wir keine
sicheren Kenntnisse, und blosse Vermutungen hier anzustellen, halten
wir nicht für gerechtfertigt. — Eine Unmässigkeit im Genuss von
Spirituosen lässt sich in unserm Fall nicht nachweisen. , .... Ich
möchte noch erwähnen", schreibt Strachow in seinen Erinnerungen,
„dass Dostojewsky im Weintrinken ungemein massig war. Ich kann
mich nicht eines einzigen Falles während eines Zeitraumes von
20 Jahren erinnern, wo ich eine merkliche Spur irgend einer
Alkoholwirkung an ihm wahrgenommen hätte. Eher zeigt sich
bisweilen eine ziemlich grosse Neigung zu Süssigkeiten, im all-
meinen aber bewies er im Essen eine grosse Massigkeit"
Aus verschiedenen anderen Quellen geht hervor, dass
Dostojewsky grosse Mengen von sehr starkem Thee und Kaffee,
besonders während der Arbeit, zu sich nahm und weiter, dass er
ein leidenschaftlicher Raucher war.
Dies ist also das Bild der Krankheit Dostojewskys, so wie
sie sich in den letzten 20 Jahren seines Leidens uns darstellt.
Wir wissen, dass sich sein Leiden in der Verbannung entwickelt
hat, vermögen aber nicht eine genaue Schilderung des Krankheits-
— 14 —
zustanden unseres Dichters während seiines Aufenthaltes in Sibirien
zu geben, da uns hierzu die nötigen Quellen fehlen. In den
nächsten Kapiteln wird die Entwiciciung der Persönlichkeit voii
der frühesten Kindheit bis zur Verhaftung und eine Schilderung
der seine Krankheit veranliassenden Faktoren gegeben werden.
II.
Feodor Michailowitsch Dostojewsky wurde zu Moskau im
Gebäude des Mariinschen Krankenhauses geboren, wo sein Vater
die Stelle eines Arztes bekleidete. Über die frühe Kindheit des
Dichters ist uns nichts bekannt. Die Erinnerungen seines Bruders
schildern uns Dostojewsky im Alter von 9—10 Jahren. Die
Umgebung, in der er gross wurde, finden wir in vielen seiner
Werke wiedergespiegelt. Die Erinnerungen seines jüngeren Bruders
Ahdrey zeichnen uns eine enge, einfache Wohiiung eines
anspruchslosen, bescheidenen Arztes jener Zeit. Kleine Zimmer,
nur durch Bretterwände von einander getrennt. Das Mittelzimmer
dient sowohl als Speisezimmer, in dem die Familie sich zu den
Mahlzeiten versammelt, wie auch als Gastzimmer für die seltenen
Besucher des Hauses und schliesslich als Empfangsraum für die
Patienten des Vaters. In diesem Zimmer mit seinen typischen
durch verwaschene Überzüge geschützten Möbeln spielte sich
hauptsächlich das Leben der Familie ab, und hier empfing
Dostojewsky die ersten Eindrücke seiner Kindheit Friedlich und
eintönig flössen die Tage dahin. Und von diesem grauen Hinter-
grund hob sich der Charakter des Knaben mit seiner sprühenden
Lebhaftigkeit besonders scharf ab. « Feodor war in seiner ganzen
Art das reine Feuer*" schreibt sein Bruder.
Wenn die Eltern am Sonntag, um den Kindern ein Ver-
gnügen zu bereiten, sich zu einem allgemeinen Kartenspiel
gemütlich hinsetzten, ,,so gelang es Feodor immer durch
seine Handfertigkeit, die andern zu hintergehen, wenn er auch
mehrmals dabei ertappt wurde*". — Die Erziehung, welche
die Kinder genossen, war streng; Schon früh begann für sie der
Unterricht; aber noch bevor die Kinder lesen und schreiben konnten,
lasen ihnen der Vater oder die Mutter an langen Winterabenden
verschiedene Bücher religiösen oder historischen Inhalts vor.
Dostojewsky selbst schildert uns in folgenden Worten seine Kind-
— 16 —
heit: »Ich stammte aus einer frommen russischen Familie. Soweit
meine Erinnerungen an mich selbst zurückitichen, erinnere ich mich
auch der Liebe memer Ehern zu mir. In unserer Familie kannten
wir das Evangelium schon von der Kindheit her. Ich war kaum
10 Jahre alt, als ich bereits mit den wichtigsten Ereignissen der
russischen Geschichte nach Karamsin ^) vertraut war, welche uns
laut von unserem Vater vorgelesen wurden. Jedesmal war der
Besuch des Kremls und der Kathedrale Moskaus für mich einer
der feierlichsten Momente.* —
Emen grossen Einfluss auf die Entwickelung der Phantasie
des Knaben übten die Märchen der leibeignen Ammen aus, die
aus dem Dbrie herüberkamen. Die Mutter Dostojewskys war
eine schwächliche Frau. Sie starb bereits im Jahre 1836 an
Schwindsucht, und die Kinder wurden von Ammen genährt und
beaufsichtigt
Das Mitteizimmer, in dem die Kinder all die gruseligen
Geschichten der Ammen anhörten, wurde abends nur von dem
Lichte, welches durch die offene Tür aus dem väteriichen Arbeits-
zimmer fiel, erhellt; deutHch hörte man das eintönige Kratzen
einer Feder aus dem Nebenzimmer — der Vater trug die
Tagesberichte in die Krankengeschichten der Patienten ein, --
die Erzählerinnen sprachen leise, beinahe flüsternd, um den
Hehrn nicht zu stören, und die kleinen Zuhörer erstarrten vor
Schauder und Angst, indem sie alle Abenteuer der tapferen
Helden oder des «Vogel Phönix" miterlebten. Dostojewsl^ war
im höchsten Grade für alle Eindrücke empfänglich. Jedes ausser-
gewöhnliche Ereignis beschäftigte lange Zeit seine Phantasie. Sein
Bruder erzählt, dass, als er einmal auf einem Spaziergange einen
Schnelläufer gesehen hatte, der vor seinem Gesicht ein mit einem
erregenden Mittel durchtränktes Taschentuch hielt, er lange Zeit
mit einem Taschentuch im Munde in den Gängen des grossen
Gartens umhergelaufen sei. Und begeistert von der Geschicklich-
keit, die ein Tänzer in der Hauptrolle des Balletts «Jacko oder
der brasilianische Affe" entfaltete, versuchte Dostojewsky lange
Zelt zu Hause dessen Sprünge und Schritte nachzuahmen. Übrigens
waren derartige Eindrücke doch recht selten: eine Fahrt ins
Theater oder sonst irgendwohin war ein aussergewöhnliches
*) Russischer Historiker.
— 16 -
Ereignis. Aber die lebhafte und empfängliche Natur des Knaben
sehnte sich nach neuen Eindrücken. Die merkwürdigen Gestalten
der Kranken in ihren langen, grauen Röcken und den komischen
Mützen erregten stets von neuem seine Neugier, und ungeachtet
des Verbotes seines Vaters, konnte er nie der Verlockung wider-
stehen, sich mit ihnen in ein Gespräch einzulassen, besonders
wenn sich unter ihnen Knaben fanden. Die lebhafte Natur des
Kindes dürstete leidenschaftlich nach lebendigen und konkreten
Eindrücken, und das merkwürdige Erziehungssystem, das der
Vater befolgte, bot ihm etwas ganz anderes. Selbst, wenn die
ganze Familie einen Spaziergang in den Marienhain (so nannte
man den Ort, an dem sich das Krankenhaus befand), unternahm,
wurde den Kindern nicht erlaubt, zu laufen und zu springen. Der
Vater benutzte diese Spaziergänge, um seine Kinder durch ver-
schiedene Gespräche zu belehren. Dem Gedächtnis des jüngeren
Bruders haben sich einige solche Gespräche eingeprägt, in denen
er ihnen „die Anfangsgründe der Geometrie** beibrachte, ihnen
von spitzen, rechten und stumpfen Winkeln, von gebrochenen und
geraden Linien erzählte, die ja in den Strassen Moskaus so viel-
fach vorkommen. Später, in reiferen Jahren, sprach Dostojewsky
stets mit der grössten Ehrfurcht von seinen Eltern: „Es waren
aufgeklärte Persönlichkeiten **. Wir haben keine Anhaltspunkte, um
uns über die Mutter des Dichters ein Urteil zu bilden. Aber die
Persönlichkeit seines Vaters steht uns klar vor Augen. Nach Be-
endigung der Universitätsstudien nahm der Vater des Dichters an
dem Kriege 1812 teil. Es ist natüriich, dass er den Freiheitsideen
der damaligen Zeit nicht fremd bleiben konnte. Man darf nicht
vergessen, dass aus den Reihen derer, die den Feldzug mit-
gemacht hatten, die „Dekabristen** sich rekrutierten — diese glänzen-
den Gardeoffiziere, welche die Soldaten lesen und schreiben lehrten
und aus eigenem Entschluss die Rute aus ihren Regimentern ver-
bannten. Und es ist begreiflich, dass auch auf einen Militärarzt
die sozialen Strömungen, der geistige Aufschwung der ganzen rus-
sischen Gesellschaft, der für einen Augenblick die Kluft zwischen
Intelligenz und Volk überbrückte, mächtig einwirken mussten. Trotz
seiner geringen Mittel gab der Vater Dostojeswskys seine Kinder
doch nicht in eine Kronschule, wo sie als Stipendiaten aufgenommen
werden konnten, sondern er Hess sie in einer Privatpension unter-
richten, da in den Gymnasien der damaligen Zeit die Rute als
— 17 -
notwendiges Erziehungsmittel galt. Höher als alles auf der Welt
schätzte er die Unabhängigkeit, und da er sie hauptsächlich in
dem Besitze einer höheren Bildung zu erblicken glaubte, so be-
mühte er sich aus allen Kräften, seinen Kindern von den ersten
Jahren an das Bewusstsein der Notwendigkeit des Arbeitens und
Lernens einzuprägen. Er wollte ihnen eine Mustererziehung zu teil
werden lassen, aber leider wies sein Charakter eine ganze Reihe von
Zügen auf, die ihn zu einem sehr schlechten Pädagogen machten.
Die Zeit, die dem Befreiungskriege 1812 folgte, ist am besten
als „Epoche der gescheiterten Hoffnungen'' zu bezeichnen. Wie
in allen Perioden der sozialen Bewegungen in ihrer fortschreiten-
den EntWickelung waren auch hier die Anschauungen der Menschen
geteilt. Die einen, gefestigt durch ihren Idealismus und den un-
umstösslichen Glauben an die Menschheit, gingen auf dem einmal
eingeschlagenen Wege weiter, ohne vor den Schrecken der ihrer
wartenden Möglichkeiten zurückzuweichen, — die andern sahen
in dem Scheitern ihrer Hoffnungen ein verderbenbringendes Zeichen
der Bosheit menschlicher Natur — sie wandten sich von der Ge-
sellschaft ab und beschränkten sich lediglich auf ihren Familien-
kreis. Zu den letzteren gehörte auch der Vater des Dichters.
In einem Briefe an seinen Bruder schreibt der junge 17jährige
Feodor Dostojewsky : „Mein armer Vater tut mir leid I Ein merk-
würdiger Charakter ! Wieviel Schicksalsschläge haben ihn getroffen !
Es ist bitter, dass man ihn nicht trösten kann. — Und weisst Du,
der Vater kennt überhaupt garnicht die Welt. Er lebt in ihr schon
fünfzig Jahre und ist bei denselben Anschauungen geblieben, die
er schon vor dreissig Jahren gehabt. Glückliche Unkenntnis I
Aber er ist sehr enttäuscht. Das scheint mir ja unser aller Los."*
Der Vater war ein finsterer, nervöser, schweigsamer, leicht
aufbrausender und argwöhnischer Mann. Bei der seltenen Pflicht-
treue, die ihn selbst auszeichnete, verlangte er auch von seinen
Kindern eine peinliche Erfüllung der ihnen obliegenden Pflichten.
^— »Der Vater wiederholte oft, dass er ein armer Mann sei, dass
seine Kinder, besonders die Knaben, sich selbst ihren Lebensweg
bahnen müssten, dass sie im Falle seines Todes als Bettler zurück-
bleiben würden usw., ein düsteres Bild.** (Andrej Dostojewsky.)
Als die Kinder für die Pension Tschermaks vorbereitet
wurden, erteilte der Vater selbst ihnen lateinischen Unterricht.
Der jüngere Bruder Andrej beschreibt diese Stunden: „Der
Qrenzfragen d. Lit. u. Medizin. 5. Heft. 2
— 18 —
Unterschied zwischen den Lehrern überhaupt und dem Vater als
Lehrer bestand darin, dass bei den ersteren die Schuler das Recht
hatten zu sitzen, bei dem letzteren aber die Kinder die ganze
Stunde hindurch nicht nur stehen mussten, sondern sich nicht
einmal irgendwie stutzen oder an einen Tisch anlehnen durften.
Während des ganzen Unterrichts^ standen sie da wie Ölgötzen und
deklinierten der Reihe nach „mensa** oder konjugierten ihr „amo**
as, at Die Brüder hatten vor diesen am Abend stattfindenden
Stunden grosse Angst. Bei seiner ungemein grossen Güte war
der Vater dennoch ungeduldig, aufbrausend und verlangte ausser-
ordentlich viel. Der kleinste Fehler der Brüder erregte ihn bis
zum Äussersten, und die Aufregung des Vaters war den Kindern
die schlimmste Strafe.*
Einen grossen Einfluss auf die Religiosität des künftigen
Dichters übten die Religionsstunden aus. Der Lehrer, der in
diesem Fache unterrichtete, ein junger Qeistlicher, besass eine
wunderbare Redegabe, und die Bilder, die er vor seinen Schülern
aufzurollen verstand, hinteriiessen in der Seele des empfänglichen
Knaben einen grossen Eindruck.
Im Jahre 1831 kaufte die Familie Dostojewsky ein kleines
Gut im Gouvernement Tula, 150 Werst von Moskau entfernt
Dorthin zog die gesamte Familie für den Sommer, nur der Vater
blieb in Moskau zurück. Die Reisen auf das Gut und das dortige
Leben gaben eine Menge neuer Eindrücke, und die verhältnismässig
grosse Freiheit und das Fehlen der strengen väterlichen Aufsicht
veriiehen diesen wenigen Monaten noch grösseren Reiz.
Die Reise aufs Gut zu Wagen ging langsam vor sich. Fort-
während machte man Halt, sodass die Fahrt einige Tage dauerte.
„Während dieser Fahrten", so erzählt uns Andrej Dostojewsky,
„befand sich der Bruder Feodor in einem fieberhaften Zustand.
Stets sass er auf dem Bock, und wo der Wagen auch nur für
einen Augenblick stehen blieb, sprang er herunter, lief in den
Feldern umher oder machte sich bei den Pferden zu schaffen.**
Auf dem Gute lernte Dostojewsky zum ersten Male den
russischen Bauern kennen und lieben, und diese starke Liebe war
es auch, die ihn später in der Verbannung aus Not und Ver-
zweiflung rettete. — Der lebhafte und empfängliche Knabe machte
~ 19 —
sich schnell mit den Feldarbeiten des Landmanns vertraut und selbst
mit einem unersättlichen Eigenstolz erfüllt, war er für einen blossen
Dank bereit, einem Bauern bei seiner Arbeit behilflich zu sein,
einem Weibe ihr Kind zu halten und anderes mehr. Binnen kurzer
Zeit gewannen die Dorfleute das verständige und dienstwillige
Kind lieb. Im Dorfe lernte auch der Knabe die Natur Russlands
von Grund auf kennen. Im „Tagebuch eines Schriftstellers'' (1876)
schreibt er folgendes: „Ich erinnere mich der Frfihherbstmonate
in unserem Dorfe. Trockene und klare, aber kühle und windige
Tage. Der Sommer naht seinem Ende. Bald kommt die Zeit^
wo wir nach Moskau zurückfahren müssen, um uns den ganzen
Winter über bei den französischen Stunden zu langweilen, und es
wird mir so schwer, unser Gut zu verlassen .... Ich wanderte
hinter die Scheunen und stieg zu dem wilden Gestrüpp jenseits
des Bergabhanges, welches sich bis zum Walde hinzog, hinab.
Ich verberge mich im dichten Laub und höre wie in der Nähe
unser Bauer pflügt. Ich kenne alle unsere Bauern mit Namen ....
Rasch breche ich einen Baumzweig ab, um den Fröschen nach-
zustellen .... Auch liebe ich die kleinen, geschickten rotgelben
Eidechsen, aber vor den Schlangen habe ich Angst .... und
nichts in der Welt hatte ich so gern wie den Wald mit seinen
Beeren und Pilzen, seinen Vögeln und Insekten, mit seinen Eich-
hörnchen und Igeln, mit dem mir so lieben Gerüche der halb-
verwelkten Blätter."
Die Natur fasste Dostojewsky in eigenartigster Weise auf.
Seine lebhafte Phantasie und seine krankhafte Schwärmerei trugen
immer etwas Geheimnisvolles in die einfachen Bilder der russischen
Natur hinein. Herrlich beschreibt Dostojewsky den Einfluss der
Natur auf ein kindliches Gemüt in seinem Roman „Beleidigte und
Erniedrigte", der ganz entschieden autobiographische Züge trägt.
„Hinter jedem Strauch, hinter jedem Baum lebte für uns etwas
Geheimnisvolles und Unbekanntes. Das Märchenhafte floss mit
der Wirklichkeit zusammen, und wenn aus den tiefen Tälern sich
ein dichter Abendnebel erhob und sich gleichsam mit eigenartigen
grauen Fühlern am Gebüsch, welches den felsigen Abhang bedeckte,
festzuklammern versuchte, standen wir am Ufer, schauten, uns
gegenseitig bei den Händen haltend, in die Tiefe und warteten
mit banger Neugier, dass im kommenden Augenblick etwas Grosses
und Schreckliches sich erheben oder seine Stimme aus dem dunkeln
— 20 -
Abgrund erschallen lassen und dass die Märchen der Ammen sich
verwirklichen würden."
Im Dorfe stand es den Kindern frei» umherzulaufen und sich
herumzubalgen. Hier war Dostojewsky stets an der Spitze aller
Unternehmungen, obgleich er dem Alter nach erst an zweiter Stelle
kam. Bei den Spielen, wo der Phantasie des Knaben eine grosse
Rolle zufiel, war er stets Indianerhäuptling, oder Robinson, niemals
aber der schwarze Freitag. „In meinen ersten Träumereien schon,
also von der frühesten Kindheit an**, sagt der Held des Romans
„Der Jüngling", „konnte ich mich in allen Lagen des Lebens nur
als an erster Stelle stehend, vorstellen." — Nach den Angaben von
Orest Miller^), der den Dichter persönlich kannte, erzählte Dosto-
jewsky selbst, wie er stets bestrebt war, gute Freunde zu gewinnen
und wie ihm dieses immer infolge seiner grossen Empfindlichkeit
misslang.
„In den ersten Klassen des Gymnasiums schon", erzählt
„der Jüngling", „zerriss sofort jedes Verhältnis zu denjenigen
meiner Kameraden, die mich in irgend einer Weise übertrafen,
sei es in den Wissenschaften, in körperlicher Kraft, oder auch nur
in einer schlagfertigen Antwort. Dabei hasste ich den Betreffenden
durchaus nicht, wollte ihm auch gar kein Leid zufügen, wandte
mich nur still von ihm ab. Denn so ist mein Charakter." Und
diese Charaktereigenschaften ziehen sich gleich einem roten Faden
durch das ganze Leben Dostojewskys.
In den ersten Lebensjahren des Kindes schon trat seine Nei-
gung zu Träumereien deutlich hervor. Im Romane „Der Jüng-
ling", dem eine so hervorragende Autorität wie Kirpitschnikow
entschieden autobiographische Bedeutung zuschreibt, finden wir
folgende interessante Stellen: „Ja, ich schwärmte mit aller Leiden-
schaft, so sehr, dass ich zu Unterhaltungen keine Zeit fand, und
daraus folgerte man, ich sei menschenscheu. Aus meiner Zer-
streutheit glaubte man noch schlimmere Schlüsse ziehen zu müssen,
aber meine blühenden Wangen bewiesen das Gegenteil. Besonders
glücklich war ich, wenn ich mich schlafen legte und die Decke
über meinen Kopf zog. Da begann ich allein in vollster Ein-
samkeit ohne die störenden Menschen, in geheimnisvoller Stille, —
das Leben auf meine Art umzuformen."
Ein russischer Kritiker und Biograph.
- 21 —
Wir erkennen in dem oben Beschriebenen einen oft eintreten-
den Zustand untätiger Träumereien, wie wir ihn in den Kinder-
jahren bei gesunden, nicht selten aber auch bei neuropathisch
veranlagten Individuen vorfinden. Ausser diesen hier beschriebenen
Wachträumereien fesseln unsere Aufmerksamkeit noch andere
Erscheinungen, — wir lassen es offen, ob es sich dabei um
Halluzinationen handelt, welche in der Kindheit auftraten. Wir
zitieren hier eine Stelle des »Tagebuches eines Schriftstellers*
(1876), in der Dostojewsky sich seiner Kindheft erinnernd, eine Hallu-
zination beschreibt.^) »Plötzlich hörte ich, wie ein Schrei: ,Ein
Wolf kommt' das Schweigen durchbrach. Ich schrie auf und
lief jammernd auf die kleine Waldwiese, wo ein Bauer pflügte und
ergriff in meiner Angst mft meiner Rechten den Pflug und mft der
anderen seinen Arm. ,Ein Wolf schrie ich mft erstickender
Stimme. — ,Wo ist er denn?* — ,Man schrie jemand
schrie .... eben, ein Wolf kommt', konnte ich nur lispeln.
Ich bebte am ganzen Leibe, eriasste krankhaft seinen Rock, und
war wohl sehr bleich. Meine Lippen zitterten. Schliesslich ver-
stand ich, dass es mir nur so schien, als schrie jemand: ,ein
Wolf kommt', und dass in Wirklichkeft gar kein Wolf da war.
Übrigens glaubte ich den Schrei ganz deutlich gehört zu haben.
Auch früher schon war es vorgekommen, dass ich solche Momente
erlebte, und das wusste ich ganz genau. In späteren Jahren
hörten diese Erscheinungen auf.*" —
Feodor Dostojewsky, ebenso wie sein älterer Bruder,
wandten sich schon früh der Lektüre zu ; sie lasen fast ausschliess-
lich Bücher literarischen Inhalts, was der schwärmerischen und
poetischen Natur der beiden Knaben völlig entsprach. Auf den
Einfluss der Lektüre wollen wir nicht näher eingehen. Es scheint
uns hier nur am Platze, hervorzuheben, welches Entzücken Puschkin
in den Brüdern hervorgerufen hatte; ihre feinfühlenden Seelen er-
kannten wohl die Grösse seines Genies, während die Mehrzahl der
russischen Intelligenz überhaupt nicht die volle Bedeutung des Dich*
ters eriasst hatte. Diese Hochschätzung Puschkins erscheint
als eines der ersten selbständigen Urteile Dostojewskys, zu
welchem er selbst ohne jede Anleitung, sogar teilweise ent-
*) Die hier zitierte Stelle ist die Fortsetzung der bereits oben aus
demselben Werke angeführten Zeilen.
- 22 -
gegen der Anschauung seiner Eltern über diesen Dichter, geicommen
war. Die Verschiedenheit der Charaktere von Vater und Sohn musste
eine ganze Reihe unvermeidh'cher Missverständnisse nach sich ziehen,
und wir selbst haben mehrere Beweise davon. — „Der Bruder
Feodor,'' sagt Andrej Dostojewsky, „war viel zu hitzig; energisch
verteidigte er seine Ansichten und war in seiner Ausdrucksweise
etwas unbedacht. Bei solchen Äusserungen Feodors sagte der
Vater öfters zu ihm : Ach Fedja, nimm dich in acht, sonst kann
es dir noch schlecht ergehen, pass auf, dass dir nicht noch einst
die rote Mütze auf den Kopf gesetzt wird.'' ^)
Im Jahre 1836 starb die Mutter des Dichters an Schwind-
sucht, und 1837 fiel Puschkin im Duell. Dies waren zwei zu
harte Schläge für eine so zarte und nervöse Natur wie Dosto-
jewsky. In demselben Jahr entschloss sich der Vater, seine zwei
Söhne Feodor und Michail nach Petersburg zu schicken. Vor
der Abreise besuchten die Brfider in Begleitung ihrer Tante das
Troitze-Sergiew'sche Kloster bei Moskau. Sowohl auf dem Hin-
wie auf dem Rückwege befanden sich beide in höchster Erregung
und deklamierten fortwährend ihre Lieblingsgedichte. Die mystische
Feierlichkeit, die über dem ganzen Kloster lag und erfüllt war
von tief religiöser Stimmung, die gespannte Erwartung einer un-
gewissen Zukunft, die ihrer in Petersburg harrte, die noch frische
Trauer über den Tod ihrer Mutter, das schreckliche Ende des
vergötterten Dichters — dies war doch zu viel für sie — und
„die Reise des Vaters mit seinen Söhnen nach Petersburg wäre
beinahe nicht zustande gekommen, da der Bruder Feodor erkrankte.
Scheinbar ohne Grund trat bei ihm eine Kehlkopfkrankheit auf,
und er verlor die Stimme. Nur mit Mühe konnte er leise sprechen.
Die Krankheit war hartnäckig und trotzte jeder Behandlung. Nach-
dem man alle Mittel umsonst versucht hatte, entschloss sich der
Vater — ein strenger Allopath, auf verschiedene Ratschläge hin
^ die homöopathische Heilmethode zu erproben. Der Bruder
Feodor wurde von der Familie gänzlich abgesondert, speiste sogar
an einem besonderen Tisch, um nicht einmal den Geruch der
für die Gesunden bestimmten Speisen zu verspüren. Übrigens
half auch die Homöopathie nicht viel, bald erging es dem Kranken
besser, bald schlechter. Schlfesslich wurde dem Vater von vielen
Mützen.
) Die Mannschaften der russischen Strafbataiilone trugen damals rote
- 23 —
Ärzten geraten, die Reise zu unternehmen, ohne auf die völlige
Genesung seines Sohnes zu warten. Sie dachten, dass die Fahrt
bei guter Jahreszeit nur Nutzen bringen könne. So geschah es
auch." — Wir sind der Meinung, dass diese Krankheit in Anschluss
an den Besuch des Klosters und die tiefen Eindrücke daselbst
aufgetreten ist. Es handelt sich hier wohl um eine psychogene
Erscheinung, wie sie bei Epileptikern gar nicht selten zur Beobach-
tung kommt •
Die Reise von Moskau nach Petersburg, die die Kindheit
und frühe Jugend des Dichters beschliesst, hat er uns mit folgen-
den Worten geschildert. „Im Jahre 1837 fuhren ich, beinahe
15 Jahre alt, und der ältere Bruder in Begleitung des verstorbenen
Vaters nach Petersburg, um hier die Hauptingenieurschule zu
beziehen. Es war im Mai, aber heiss wie im Hochsommer. Wir
fuhren zu Wagen beinahe Schritt und machten auf den Stationen
für 2—3 Stunden Halt. Ich kann mich noch gut erinnern, wie
diese Reise, die beinahe eine Woche hindurch dauerte, uns
schliesslich zuwider wurde. Es zog uns zum neuen Leben hin,
und wir schwärmten beseligt von allem ,Schönen und Guten*.
Damals war diese Redensart noch jung und wurde ohne jede
Ironie gebraucht .... obgleich wir beide zur Genüge wussten,
was alles von uns für das Mathematikexamen verlangt wurde,
träumten wir doch nur von Poesie und Poeten. Der Bruder
verfasste täglich 2—3 Gedichte, und ich schuf in meiner Vor-
stellung einen Roman aus dem venezianischen Leben. Es war
damals ein Monat nach dem Tode Puschkins, und wir kamen
überein, sobald wir in Petersburg angelangt wären, sogleich
die Duellstelle und die Wohnung, in der er seine Seele aus-
hauchte, aufzusuchen." ,,Tagebuch eines Schriftstellers" (1876).
in.
In der Hauptingenieurschule blieb Dostojewsky vier Jahre
und arbeitete ausserdem noch zwei Jahre lang in der Zeichen-
abteilung, als er bereits Offizier war. Diese sechs Jahre bilden
ihrem ganzen äusseren und inneren Inhalte nach eine in sich ge-
schlossene Periode im Leben unseres Dichters.
Die Umgebung, in welche der ,17jährige mittelgrosse Jüng-
ling mit kräftigem Körperbau, blonden (!) Haaren und einem krank-
- 24 -
'haft bleichen Gesicht'' hineingeraten war, glich nicht im geringsten
dem, wovon Dostojewsky einst in der Heimat geträumt hatte, als
er sich nach Petersburg sehnte. Die militärische Disziplin mit
ihrem Prinzip des unbedingten Gehorsams drückte den Jüngling,
der es gewohnt war, seine Meinung frei und offen zu vertreten.
Die Ingenieurwissenschaften, unter denen Mathematik und Zeichnen
die erste Stelle einnahmen, konnten ihn, der von einer literarischen
Tätigkeit träumte, und die Poesie vergötterte, nicht begeistern.
Dostojewsky war auch von Hause aus eine strenge Behandlung
gewöhnt, aber die Forderungen seines Vaters wurden immerhin
durch seine aufopfernde Liebe gemildert. Dazu kam noch, dass er
sich dort in einem eng zusammenhängenden Familienkreise befand,
hier dagegen waren nur die militärische Disziplin und die Kame-
raden, die ihm ihrem ganzen Wesen nach völlig fremd gegenüber-
standen.
„In unserer Schule**, so berichtet der Held der „Notizen **,
„wurde der Gesichtsausdruck aller Schüler in kurzer Zeit umge-
wandelt — zumeist geradezu dumm. Wieviel schöne Kinder traten
in unsere Schule ein. Nach einigen Jahren war es wideriich, sie
anzusehen. Erst 16 Jahre alt habe ich sie schon mit einer Art
von traurigem Widerwillen angestaunt. Mich wunderte die Klein-
lichkeit ihrer Denkungsart, die Torheit ihrer Beschäftigungen, ihrer
Spiele und ihrer Gespräche. Sie verstanden weder die notwendigsten
Dinge, noch interessierten sie sich überhaupt für wichtige und
dringende Fragen, so dass ich sie nur noch von oben herab an-
sehen konnte. Für die einfachste, deutlich zutage tretende Wirk-
lichkeit hatten sie nicht den geringsten Sinn und waren schon da-
mals gewohnt, nur dem Erfolge zu huldigen. Der Titel galt ihnen
als das Höchste. Erst 16 Jahre alt, sprachen sie bereits von Zu-
kunftsplätzchen, die ihnen einst als warmes Nest dienen sollten.
Vieles [stammte selbstverständlich hier von den schlechten Bei-
spielen, die sie von früher Kindheit an bereits um sich sahen.
Sie waren [widerlich lasterhaft. Selbstverständlich waren hierbei
mehr Äusseriichkeit, mehr gemachter Zynismus im Spiel, selbst-
verständlich trat auch bei ihnen hinter diesem Zynismus eine ge-
wisse jugendliche Frische hervor, aber auch diese war im Grunde
wenig anziehend und äusserte sich in einer gewissen ,Schneidigkeit'.''
Das ganze Verhalten Dostojewskys in der Schule entsprach
durchaus den vorerwähnten Beziehungen zu seinen Kameraden.
— 26 -
Die Erinnerungen dreier ganz verschiedener Personen geben uns
ein völlig übereinstimmendes Bild.
„Ich habe öfters Gelegenheit gehabt, Dostojewsky während
der Arbeit sowohl wie auch auf Spaziergängen entweder allein
oder begleitet von (Ivan) Bereschetzky zu sehen/' schreibt Saweljew.
„Niemals habe ich bemerkt, dass die jungen Leute weder an
den Streichen, noch an den beliebten Spielen ihrer Kameraden
teilgenommen hätten. Sie besuchten niemals den Tanzunterricht»
öfters meldeten sie sich krank und lasen dann an ihren Bett-
tischen oder gingen auch in den Schlafkammern auf und ab. Im
Jahre 1840", fährt Saweljew fort, „blieb Dostojewsky immer noch
der unerschütterlich ruhige und schweigsame Jungling, .... durch
eine tiefe Kluft von seinen Kameraden getrennt, gab er sich ganz
seinen Schwärmereien hin. Auch noch als Schuler der letzten
Klasse konnte man ihn öfters ganz allein sehen: entweder sass
er an seinem Tische und arbeitete, oder er ging mit gesenktem
Kopfe und auf dem Rucken gefalteten Händen im Zimmer umher»
„Auch im nächsten Jahre (1841) blieb Dostojewsky wie früher
nachdenklich, in sich gekehrt und verschlossen, selten kam er
mit irgend einem seiner Kameraden zusammen, wenngleich er
dieselben auch nicht mied, sondern ihnen öfters ihre Schulauf*
gaben anfertigen half und ihnen dann und wann ihre Aufsätze
schrieb; nichtstuend und lässig aber konnte man ihn niemals
sehen. Sein Lieblingsarbeitsplatz war die Fensternische in dem
Schlafzimmer seiner Abteilung. In dieser abgesonderten Ecke
sass und arbeitete Dostojewsky oft, ohne zu bemerken, was rings
um ihn her vor sich ging. Er räumte oft dann erst Bücher und
Hefte in seinen Pult, wenn der Trommler, der durch die Schlaf-
räume ging, den Zapfenstreich schlug. Zu später Nachtstunde
konnte man Dostojewsky bisweilen an seinem Nachttische arbeitend
finden. Es kam öfters vor, dass Dostojewsky meinen Aufforde-
rungen liebenswürdig Folge leistete, seine Hefte wegräumte und
sich zu Bette legte, es verstrich aber nur kurze Zeit und man
konnte ihn wieder an demselben Tische und an derselben Arbeit
sitzend erblicken."
„Zu dieser Zeh (1839)", erzählt K. A. Trutowsky, später ein
bekannter Maler, der dieselbe Schule besuchte, „war Dostojewsky
ziemlich mager, von fahler Gesichtsfarbe, seine Haare blond und
spärlich, die Augen tief eingesunken; sein Blick war scharf und
— 26 -
durchdringend. In der ganzen Schule passte niemand so wenig
in das System der mih'tärischen Schuldisziplin wie Dostojewsky.
Seine Bewegungen waren stets eckig und hastig, in seiner Militär-
uniform sah er noch unbeholfener aus.
„Moralisch unterschied er sich ebenfalls von allen seinen mehr
oder minder leichtsinnigen Kameraden; immer in sich gekehrt,
ging er in seinen Freistunden beständig auf und ab, dort, wo
niemand ihn sehen konnte, und nahm von allem, was rings um
ihn geschah, nicht das Geringste wahr. Er war immer gut und
liebenswürdig den anderen gegenüber, kam aber mit keinem von
seinen Kameraden in engeren Verkehr. Nur zwei Menschen
waren es, mit denen er in längerer Unterhaltung verschiedene
Fragen besprach.*
D. W. Qrigorowitsch, später einer der bekanntesten russi-
schen Schriftsteller, zeichnet uns von Dostojewsky als Schüler
folgendes Bild: „Eine angeborene Zurückhaltung in seinem
ganzen Wesen und der Mangel der jugendlichen Offenherzigkeit
und der übersprudelnden Lebensfreude zeichneten ihn aus. Dosto-
jewsky zog damals schon die Einsamkeit dem Zusammensein mit
vielen Menschen vor. Bei allen Spielen ging er auf die Seite,
sass immer in ein Buch vertieft und suchte sich ein einsames
Fleckchen. Bald fand sich auch so ein Plätzchen und wurde für
lange Zeit sein liebster Aufenthaltsort. Dort konnte man ihn
immer mit einem Buche finden." Das Verhältnis seiner Kame-
raden zu ihm war vollständig bestimmt durch dasjenige zu ihnen:
man hielt ihn für einen „Sonderling'', für einen „Mystiker**,
achtete aber zumeist gar nicht auf ihn. So erschien der Dichter
den Menschen, die mit ihm in oberflächliche Berührung kamen,
aber nicht in ein engeres Verhältnis zu ihm traten. Q. Kirpitsch-
nikow gibt in seiner Schrift: „Dostojewsky und Pissemsky"^)
folgende Charakteristik Dostojewskys für diese Periode, indem
er seinen Roman „Der Jüngling** kritisiert: „Dies ist Dosto-
jewsky selbst in seiner Jugend, in einer durchaus nicht schmeichel-
haften Selbstschilderung. Er ist ,das jQemisch aller Arten von
Eigenliebe*. Er quält die am meisten, die er liebt. Sein Herz
fliesst ihm von Menschenliebe über, er versucht aber, ,sich so
finster als möglich zu geben*, er hasst sich wegen des Wunsches,
Bekannter russischer Romanschriftsteller.
- 27 -
»allen Menschen um den Hals zu fallen*. Er ist nicht rach-
süchtig, vergisst aber das Böse nicht leicht. Er sucht durch
Grossmut sich an seinem Feinde zu rächen, damit dieser seine
Verfehlung von ihm besonders schmerzhaft empfinde." Ganze
Stürme spielten sich in der Seele des schweigsamen Jünglings
ab. Die völlige Einsamkeit, zu der er inmitten dieser lärmenden
Menge verdammt war, lastete schwer auf seiner sensiblen Seele.
Manchmal, aber nur selten, trat er irgend einem seiner Kameraden
näher: dieser Fall trat nur dann ein, wenn der andere sich der
Autorität seiner geistigen Überlegenheit unbedingt beugte, oder es
musste irgend ein äusseres Ereignis ein intimeres Verhältnis zu
einem anderen anbahnen. Im Jahre 1838 besuchte ihn ein Arzt,
Dr. Riesenkampf, der aus Reval kam und von dem älteren Bruder
des Dichters eine Empfehlung mitbrachte. Und nun eröffneten
sich diesem, der es verstanden hat, dem verschlossenen Jüngling
ein gewisses Vertrauen einzuflössen, ganz andere Züge seines
Charakters. Den Erinnerungen von Riesenkampf entnehmen wir
folgende Stellen: „Dostojewsky war ein sehniger, blonder Jüngling
mit einem rundlichen Gesicht und einer Stumpfnase. Sein helles
Haar war kurz geschnitten. Unter der hohen Stirn und den spär-
lichen Augenbrauen sassen ziemlich tiefliegende graue Augen.
Die Wangen waren bleich und mit Sommersprossen bedeckt. Die
Gesichtsfarbe kränklich, die Lippen ziemlich dick. Er war weit
temperamentvoller, beweglicher und hitziger als sein älterer Bruder.
Er liebte leidenschaftlich die Poesie, schrieb aber nur in Prosa,
denn zur Verarbeitung der Form fehlte ihm die Geduld. Die
Gedanken in seinem Kopfe entstanden mit Blitzesschnelle. Seine
angeborene herrliche Vortragsgabe überschritt häufig die Grenzen
einer künstlerischen Selbstbeherrschung." Aus dieser gewissen-
haften Beschreibung des deutschen Arztes im Vergleich zu den
früheren Berichten sieht man geradezu, wie die Gedanken
und Eindrücke, die in der Seele des Jünglings sich angesam-
melt hatten und in freundschaftlichen Unterhaltungen keinen
Ausweg gefunden, sich gleichsam unter dem Drucke des
Schweigens befanden, und wie bei der ersten Bekanntschaft mit
einem Menschen, dem man sein Inneres erzählen konnte, die
ganze Zurückhaltung und Schweigsamkeit plötzlich verschwand und
wieder der talentvolle, heissblütige Jüngling zutage trat. Der-
artige Begegnungen waren aber sehr selten, und die niemand
- 28 —
gegenüber geäusserten Empfindungen und niemals im Gespräche
geprüften Gedanken quälten in Stunden tiefer Einsamkeit den
Jüngling und erzeugten in ihm eine düstere Stimmung, die ihn
bisweilen zu Selbstmordgedanken trieb. So lesen wir in einem
Briefe an seinen Bruder, der aus dieser Perfode stammt, folgendes:
„Ich glaube, dass unsere Welt ein Fegefeuer für die himmlischen
Geister ist, die von sündhaften Gedanken umschleiert sind. Ich
glaube, dass der Sinn unseres Lebens ein negativer geworden ist»
und dass aus der hohen Schönheit des geistigen sich eine Satire
entwickelt hat. Denken wir, dass in diese Welt eine Persönlich-
lichkeit hineingerät, die weder an den Gedanken, noch an den
Leidenschaften des ganzen irgend welchen Anteil hat, ihm also
wie etwas ganz Fremdem gegenübersteht. Zu welchem Ende soll
dies führen? Das Bild ist verdorben und unmöglich geworden!
Jedoch, nur die traurige Hülle zu sehen, unter der die ganze
Welt leidet, zu wissen, dass eine Willenexplosion genügt, um sie
zu zerreissen und sich mit der Ewigkeit eins zu wissen, und bei
alledem sich als das letzte, elendeste aller Geschöpfe zu fühlen . . . t
Der Gedanke ist schrecklich! Wie kleinmütig ist doch der Menscht
Hamlet! Hamlet! Ich habe einen Plan — wahnsinnig zu werden. —
Sollen die anderen versuchen, mich gesund zu machen, mögen
sie mich weise machen!*'
In einer der Klassen blieb Dostojewsky für ein Jahr zurück.
Dieses Ereignis übte auf ihn einen erschütternden Eindruck aus*
„Ich bin nicht versetzt! O wie fürchterlich! Noch ein Jahr, ein
ganzes Jahr der Entbehrungen! Ich würde ja nicht so wütend
sein, wenn ich nicht genau wüsste, dass die Gemeinheit, ja die
Gemeinheit allein, über mich triumphiere; ich würde ja nicht so
traurig darüber sein, wenn nicht die Tränen des armen Vaters
mir tiefen Kummer bereiteten Ich möchte mit einem
Male die ganze Welt zermalmen! .... Es ist so trübe, ohne
Hoffnung zu leben ich blicke in die Zukunft und
schaudere. Ich bewege mich in irgend einer kalten, eisigen
Atmosphäre, zu der kein Sonnenstrahl dringt. Ich habe schon
lange keine Ausbrüche künstlerischer Begeisterung gehabt, be-
finde mich aber oft in einer Stimmung, ähnlich der des Gefan*
genen von Chillon im Kerker, nachdem er alle seine Brüder ver-
loren hatte. In mein ödes Heim fliegt kein Paradiesvögelchen
der Poesie, nichts wärmt mir meine zu Eis gewordene Seele»
— 29 -
Meine früheren Träume haben mich längst verlassen, und die
schönen Arabesken, die ich einst geschaffen, haben längst ihren
Glanz verloren. Die Gedanken, welche einst mit ihren Strahlen
Seele und Herz entflammten, haben heute ihre Wärme verloren,
oder ist vielleicht mein Herz erstarrt, oder .... weiter rede ich
nicht, es wird mir angst .... O, wenn Du wusstest, mein lieber
guter Freund, wie ich hier verwildert bin!*"
Neben alledem erschwerten noch materielle Verhältnisse die
Lage in der Schule. Wir haben einige Briefe Dostojewskys an
seinen Vater, in denen er diesen um Geld bittet. Sie machen alle
einen schwermutigen Eindruck.
Als Dostojewsky im Jahre 1842 in die Offiziersklassen ver-
setzt wurde, besserte sich seine pekuniäre Lage, seine seelische
Stimmung dagegen zeigte durchaus keine Veränderungen. Dabei
war sein Gemütszustand bedeutend schlechter geworden. In dieser
Zeit bewohnte Dostojewsky seine eigene Wohnung, die der Künst-
er Trutowsky foigendermassen beschreibt: „Die Wohnung bestand
aus vier Zimmern, von denen Dostojewsky eins bewohnte — drei
standen ganz leer.*" Diese wurden sogar, wie wir aus anderen
Quellen ersehen, im Winter gar nicht geheizt. In dem engen
Zimmer, in dem Dostojewsky sich aufhielt, schlief und arbeitete,
stand ein Schreibtisch und ein Divan, welcher auch als Bett diente.
Auf dem Tische, den Stühlen und auf dem Boden lagen haufen-
weise Bücher und beschriebene Papierzettel. „Nach dem Besuch
der morgens abgehaltenen Offizierskurse", so erzählt Dr. Riesen*
kämpf, „sass er in seinem Zimmer und widmete sich der literarischen
Tätigkeit. Seine Gesichtsfarbe war bleich, ihn quälte beständig
ein trockener Husten, der gegen Morgen immer stärker wurde.
Seine Stimme war stets heiser; zu diesen krankhaften Symptomen
gesellte sich noch die Anschwellung der Unterkieferdrüsen.**
Der trockene Husten, die heisere Stimme und die Drüsen-
anschwellungen berechtigen uns, einen tuberkulösen Prozess an-
zunehmen. Es gewinnt diese Vermutung an Wahrscheinlichkeit,
wenn wir die tuberkulöse Belastung von selten seiner Mutter in
Betracht ziehen.
„Er verheimlichte aber sorgfältig alles dies seinen Bekannten,
und sogar seinem Freunde — einem Arzte — gelang es nur mit
Mühe, ihn zum Einnehmen irgend welcher Mittel gegen seinen
Husten zu veranlassen und zu zwingen, etwas weniger zu rauchen."
- 30 -
Der Schriftsteller Grigorowitsch, welcher damals mit Dostojewsky
zusammen wohnte, berichtet folgendes:
„Dostojewsky sass ganze Tage hindurch und teilweise auch
Nächte an seinem Schreibtisch. Er sprach nie ein Wort über das,
was er schrieb. Auf meine Fragen antwortete er nur ungern und
kurz; und da ich seine Verschlossenheit bald kennen lernte, ver-
mied ich es, ihn nach irgend etwas zu fragen. Wenn Dostojewsky
zu schreiben aufhörte, sah man ihn sogleich mit dem Lesen irgend
eines Buches beschäftigt.
Die ununterbrochene Arbeit und das beständige Zuhause-
sitzen übten einen schlechten Einfluss aus auf seinen Gesundheits-
zustand. Seine Krankheit, die sich schon früher während des
Besuches der Schule entwickelt hatte, nahm zu. Ein paarmal be-
kam er während unserer sehr seltenen Spaziergänge Anfälle. Als
wir einst zusammen durch eine Strasse gingen, begegnete uns ein
Leichenzug. Dostojewsky wandte sich rasch ab und wollte auf
demselben Wege zurückkehren. Aber ehe er einige Schritte zu-
rückgelegt hatte, trat ein so starker Anfall auf, xlass ich mich ge-
zwungen sah, ihn mit Hülfe einiger vorübereilenden Passanten
nach dem nächsten Laden hinüberzubringen. Nur mit grosser
Mühe gelang es uns, ihn zum Bewusstsein zurückzurufen. Nach
solchen Anfällen trat gewöhnlich ein Depressionszustand ein, der
zwei bis drei Tage dauerte.'*
Die Anfälle, welche Dostojewsky nach den Angaben von
Grigorowitsch in der Schule hatte, waren wahrscheinlich sehr
schwach und traten nur selten auf, da wir nirgends, sogar nicht
in den Erinnerungen von Saweljew, etwas von ihnen zu hören
bekommen. Vielleicht lässt sich dies aber aus der Verschlossen-
heit Dostojewskys erklären.
Die Arbeit, an welcher, wie Grigorowitsch berichtet, Dosto-
jewsky Tag und Nacht sass, war sein erster Roman „Die armen
Leute**. Dieser Roman erregte in der russischen Gesellschaft
grosses Aufsehen, und es begann von diesem Augenblicke für
Dostojewsky ein neues Leben. Im Jahre 1844 nahm er
seinen Abschied und gab für immer seine Ingenieurlaufbahn
auf; als Offizier aber musste er noch einmal wider seinen
Willen dienen.
- 31 -
IV.
Es ist hier nicht der Ort, eine Charakteristik Bjelinskys und
des Kreises junger und begabter Schriftsteller, die sich um ihn
gesammelt, zu geben. Es genügt, wenn wir hervorheben, dass
sich unter ihnen Turgenjeff und Tolstoi befanden. Bjelinsky selbst
steht mit seinen kritischen Schriften in einer Reihe mit Puschkins
Poesie und Gogols Prosa. Zu jener Zeit genügte ein Wort von
Bjelinsky, um einen jungen Schriftsteller berühmt zu machen oder
ihn völlig zu verderben. —
Nachdem Bjelinsky das ihm von Nekrasoff zugestellte
Manuskript des Romans „Arme Leute"* aufmerksam durchgesehen,
rief er den jugendlichen Autor zu sich, und Dostojewsky hörte aus
dem Munde „des Königs der Literatur** ein begeistertes Lob über
sein erstes Werk. Bjelinsky war ein heissblütiger Mensch, der
sich leicht hinreissen Hess. Den „ungestümen Vissarion" nannten
ihn seine Freunde, das „grosse Herz** seine zeitgenössischen
Biographen. — „Ich blieb an der Ecke seines Hauses stehen,**
schreibt Dostojewsky im Jahre 1877, „ich sah den Himmel, den
hellen Tag, die vorübereilenden Menschen und fühlte in meinem
Innern, dass ein wichtiger Moment meines Lebens herangenaht
war. Ich empfand, dass etwas ganz Neues begonnen hatte, etwas,
das ich selbst in meinen leidenschaftlichsten Schwärmereien nie
geahnt hatte. Und ich war damals ein leidenschaftlicher Schwärmer.**
So wurde Dostojewsky in den Kreis der ersten Schriftsteller Russ-
lands eingeführt. Die Frau des Schriftstellers Panajew, einer von
denen, die zu Bjelinskys Kreise gehörten, und bei denen sich öfters
die ganze Gesellschaft versammelte, erzählt in ihren Memoiren,
wie zartfühlend und entgegenkommend man sich zuerst Dostojewsky
gegenüber verhielt. Sie schildert den Dichter folgendennassen:
„Man konnte auf den ersten Blick sehen, dass er ein sehr ner-
vöser, eindrucksfähiger, junger Mann war. Er war mager, klein,
blond, seine Gesichtsfarbe krankhaft. Seine Augen, grau und
nicht gross, blickten unruhig hin und her, und die bleichen Lippen
zuckten nervös.**
Sein erster Roman fand sogleich Beifall, und Dostojewsky
war glücklich darüber. „Bruder,** schreibt er an Michail Dosto-
jewsky, „ich glaube, dass mein Ruhm nie wieder die jetzige Höhe
erreichen wird, überall begegnet man mir mit unglaublicher Hoch-
— 32 —
achtung und ausserordentlicher Liebenswürdigkeit. Wenn ich Dir
von allen meinen Erfolgen erzählen wollte» würde das Papier
hierzu nicht ausreichen. Ich glaube, ich werde viel Geld gewinnen
Meine Zeit verbringe ich sehr lustig und vergnfigt. Unser Kreis
Ist nicht gross. Aber verzeih Lieber, ich schreibe nur von mir
selbst. Ich muss Dir aufrichtig gestehen, ich bin beinahe be-
rauscht von meinem eigenen Ruhm."*
Wenn man Dostojewskys Charakter näher kennt, so kann
man sich leicht vorstellen, wie dieser Zustand leidenschaftlicher
Begeisterung auf ihn gewirkt hat.
In den Memoiren von P. W. Annenkoff findet sich folgendes:
^Der grosse Erfolg, den sein Roman ,Arme Leute* hatte, befruch-
tete wie mit einem Zauberschlag alle in seiner Seele schlum-
mernden Keime hoher Selbstachtung und Selbstschätzung. Dieser
Erfolg befreite ihn von allen Zweifeln und allem Schwanken, die
die ersten Schritte der Autoren meist begleiten ; Dostojewsky selbst
sah ihn gewissermassen als einen Traum an, der ihm Ruhm und
Lorbeeren verkündete. ** Der Dichter beschreibt uns diese Zeit
in seinem Roman „Erniedrigte und Beleidigte"*: „Endlich erschien
mein Roman. Vor seiner Veröffentlichung bereits erhoben sich in
der literarischen Welt Zank und Streitigkeiten. Bjelinsky freute
sich wie ein Kind, als er mein Manuskript las. Wenn ich je
glücklich gewesen bin, so war es nicht in den ersten berauschenden
Augenblicken meines Erfolges, sondern zu einer Zeit, da ich mein
Manuskript noch niemand gezeigt und noch niemand vorgelesen
hatte. Es war in jenen langen Nächten, inmitten begeisterter
Hoffnungen und Schwärmereien und einer leidenschafüichen Liebe
zur Arbeit, als ich mich mit den Gebilden meiner Phantasie,
mit den von mir erschaffenen Personen, so eins ffihlte, als ob
sie mir verwandt wären und in Wirklichkeit lebten; ich liebte sie,
ich freute mich und war traurig mit ihnen und manchmal
meinte ich sogar aufrichtige Tränen über das Schicksal meiner
Helden.-
Mit den Worten des von ihm geschaffenen „Jüngling** konnte
Dostojewsky damals sagen :^'„ Ich lebte nur in Träumen, von meiner
Kindheit an lebte ich in einem phantastischen Königreiche, aber
seit dem Zutagetreten dieser, mein ganzes Sein erfüllenden Idee,
gewannen meine Träume festere Gestalt, und wurden in eine
bestimmte Form geprägt, aus Törichten wurden Vernünftige.**
- 33 -
Ungefähr um dieselbe Zeit gewann Dostojewskys Leben noch
grösseren und komplizierteren Inhalt: er schloss sich einem
politischen Kreise an, der sich um Petroschewsky versammelte.
Dieser Kreis hatte sich unter dem Einfluss der Ereignisse des
Jahres 48 gebildet. Ihm gehörten Menschen an, die ihrer Idee
mit Leib und Seele ergeben und erfüllt von unsicheren, schwär-
merischen Hoffnungen und Plänen waren. Der Kritiker und Bio-
graph Orest Miller hat alle Erinnerungen, die Dostojewsky im
Kreise von Petroschewsky schildern, sorgfältig gesammelt Wir
entnehmen ihnen nur folgende zusammenfassende Worte. «Dem
Äussern nach war er ein richtiger Typus eines Verschwörers: er
war schweigsam, liebte es, nur zu zweien zu sprechen und war
nicht so aufrichtig als verschwiegen. Mit seinem krankhaften
Äussern machte er niemals den Eindruck eines jungen Menschen.
Er sprach wenig und nicht laut. Wir hielten ihn alle für einen
weichen, nervösen Menschen von zartem Empfindungsvermögen.
Und doch konnte dieser stille und bescheidene Mensch in seinen
Reden zu erschütterndem Pathos gelangen." Auf diese Weise
gewannen die hier auftauchenden politischen Fragen Anziehungs-
kraft für Dostojewsky. Sie führten seine Lektüre einer anderen
Richtung zu und gaben seinen Träumereien neuen Inhalt Seine
Neigung zur Schwärmerei verringerte sich nicht, sondern nahm
eher noch zu.
Im „Tagebuch eines Schriftstellers'* (1876) schreibt Dostojewsky
über diese Lebensperiode: „Am Ende der 40er Jahre, in der Zeit
meiner verwegensten und leidenschaftlichsten Phantasien ....**
Diese Stimmung tritt uns deutlich in zwei um diese Zeit herum
geschriebenen Novellen „Die Wirtin*' und „Weisse Nächte" entgegen.
Ihnen entnehmen wir folgendes: „Es gibt in Petersburg ganz
sonderbare Winkel. Hier entwickelt sich anscheinend ein eigen-
artiges Leben, ganz verschieden von dem, das uns umbraust ....
Dies Leben ist ein Gemisch von etwas rein Phantastischem,
glühend Idealem und gleichzeitig von etwas farblos Prosaischem
und Gewöhnlichem, um nicht unglaublich — Trivialem zu sagen
.... in diesen Winkeln leben sonderbare Menschen — Schwärmer.
— Ein Schwärmer ist, wenn man ihn näher bezeichnen will, kein
Mensch, sondern ein ausserhalb der Welt stehendes Geschöpf
«r ist reich durch sein eigenartiges Leben . . . ." „Die Göttin
der Phantasie hat mit ihrer launenhaften Hand auf einen goldenen
Qrenzf ragen d. Lit. u. Medizin. 5. Heft. 3
- 34 -
Untergrund vor ihm die Muster eines seltsamen, wunderlichen
Lebens zu entwerfen begonnen." Wir übergehen hier die Be*
Schreibung der Schwärmereien, in denen Dostojewsky uns schildert,
wie aus Gelesenem und Erlebtem sich phantastische Bilder von
wehmütig angenehmem Inhalt verweben. „Der Schwärmer er-
wacht, im Zimmer ist es dunkel geworden, seine Seele ist leer
und traurig, ein Reich von phantastischen Schwärmereien ist um
ihn her zusammengefallen. Ohne Geräusch und Lärm ist es ge-
stürzt, wie ein Traumbild ist es vorübergezogen, er weiss selbst
nicht mehr, was ihm vorgeschwebt. Aber eine dunkle Empfindung,
die sein Herz zusammenschnürte und seine Brust durchbebte, ein
neuer Wunsch reisst verführerisch seine Phantasie hin und be-
schwört unmerklich eine ganze Reihe neuer Gesichter .... ein
neuer Traum — ein neues Glück I Eine neue Dosis eines ver-
feinerten, süssen Giftes!" — Schlaflose Nächte vergehen wie ein
Moment in unendlichem Glück, in unendlicher Lust Wenn die
Morgenröte mit ihren Strahlen durch das Fenster dringt und die
Dämmerung das düstere Zimmer mit ihrem phantastischen Licht
erhellt, so wirft sich unser Schwärmer ermattet und gequält auf
sein Bett und schläft in dem ersterbenden Wonnegefühl seines
krankhaft erschütterten Geistes ein, mit einem qualvoll-süssen
Schmerz im Herzen." („Weisse Nächte".)
In dem nächsten Abschnitt begegnen wir demselben Schwärmer,
der nunmehr eine „Idee" für seine phantastischen Bilder gefunden
hat Dostojewsky spricht hier von einer „Wissenschaft**. Es ist
nicht schwer daraus zu ersehen, dass Dostojewsky hier unter
Wissenschaft sozialpolitische Theorien französischer Utopisten jener
Zeit, wie Saint-Simon, Fourier u. a. versteht. „Seit seiner Kind-
heit lebte er als Sonderiing. Jetzt haben diese Absonderlichkeiten
feste Formen angenommen. Ihn verzehrte eine Leidenschaft, die
tiefste, unersättlichste, das ganze Leben eines Menschen erschöpfende,
die bei solchen Naturen wie Ordinoff nicht die geringste Betätigung
in irgend einer anderen praktischen oder materiellen Sphäre zu-
liess, diese Leidenschaft war — die Wissenschaft. Sie erfüllte
augenblicklich seine Jugend, vernichtete mit einem langsam wirken-
den, süssen Gift seine Nachtruhe, entzog ihm gesunde Kost und
frische Luft, die niemals bis zu seinem finsteren Winkel drang,
und Ordinoff wollte, berauscht von seiner Leidenschaft, von alle-
dem nichts merken." — „Der Drang, zu lernen und zu wissen,
— 35 —
entsprang mehr einer ungeahnten Neigung, als einem logisch be-
wussten Streben (wörtlich: Ursache).** — „Seit seiner Kindheit
galt er für einen Sonderling und war seinen Kameraden unähn-
lich. Diese quälten ihn in grober und roher Weise seines eigen-*
artigen, scheuen Charakters wegen, so dass er wirklich menschen-
scheu und finster wurde und sich allmählich zum Sonderling ent-«
wickelte. In seiner einsamen Beschäftigung war keine Ordnung
und kein bestimmtes System. Es war nur die Begeisterung, die
Ekstase und das Fieber eines Künstlers, der sich zum ersten Male
sein eigenes System geschaffen hatte. Jahrelang wuchs und bildete
es sich in ihm, und in seiner Seele entstand allmählich ein warmes
und undeutliches, aber schon lange angenehm empfundenes Bild
einer Idee in einer neuen verklärten Form verkörpert, und diese
Form flehte die Seele quälend nach Befreiung." („Die Wirtin*'.)
Wir sahen, wie ehrgeizig Dostojewsky war, und welcher un-
ersättliche Durst, in allem der Erste zu sein, in seiner Seele lebte.
Als er aber jetzt in den Kreis von talentvollen und begabten Menschen
eingeführt wurde, war es ihm hier viel schwerer, den ersten Platz
zu erringen. Leider entsprachen seine folgenden Werke nicht
den Erwartungen, die durch seine ersten wachgerufen waren. In
den Briefen an seinen Bruder lesen wir: „In meinem Leben
ereignet sich täglich soviel Neues, es finden sich so viel Ver-
änderungen, so viel Eindrücke, so viel Gutes, Angenehmes und
Vorteilhaftes für mich, aber auch so viel Unangenehmes und
Trauriges, dass ich zum Nachdenken keine Zeit habe, glaube nicht,
dass ich auf Rosen gebettet bin.** — „Was mich betrifft, so werde
ich für Augenblicke sogar schwermütig. Ich habe einen schreck-
lichen Fehler — unbegrenzte Eigenliebe und Ehrgeiz. Der Ge-
danke, dass ich Hoffnungen, die man auf mich setzte, getäuscht,
und eine Sache verdorben habe, die ein grosses Werk hätte sein
können, martert mich unsäglich.** — „Ich war noch niemals so
tatenfroh wie jetzt; alles kocht und braust .... und was wird
dann sein? Ich habe noch niemals so eine schwere Zeit durch-
lebt. Mich quält die Langeweile, Traurigkeit, Apathie und die
zitternde, fieberhafte Erwartung von etwas* besserem. Hierzu
kommt noch meine Krankheit. Hol's der Teufel I Wenn das nur
einmal vorüber wäre.'* Wir führen hier eine Reihe von Stellen
aus dem Romane „Erniedrigte und Beleidigte** an. In diesem 1860
verfassten Roman trägt eine der handelnden Personen deutliche,
3*
— 36 —
unverkennbare Züge von Dostojewsky. Diese Abschnitte schildern
ons die Seelenstimmung des Dichteis and jene Krankheit, von der
er in den Briefen an seinen Broder bricht — ,,lch warf die Feder
hin and setzte mich ans Fenster. Es dämmerte, and ich ward
trauriger and trauriger. Schwere Gedanken lasteten auf meiner
Seele. Und es schien mir immer, als ob ich in Petersburg zuletzt
umkommen müsste. Der Frühling nahte, und ich dachte mir,
dass ich wahrscheinlkh aufleben würde, wenn ich aus dieser Eng-
nis in die freie Gottesluft herauskäme und den Duft der frischen
Fekler und des jungen Korns einsaugen könnte. Ich habe sie
solange schon nicht gesehen! Ich besinne mich noch, wie mir
der Gedanke kam, wie schön es sein müsste, wenn man durch
irgend ein Zauberwerk oder durch ein Wunder all das in den
letzten Jahren Durdilebte vergessen könnte. — alles vergessen
und mit frischen Kräften von vorne anfangen. Damals träumte
idi noch davon und Raubte an eine Auferstehung. — Ach! schliess-
lich in ein Irrenhaus eintreten, dachte ich in meiner Veizweifhing,
damit dort sich das ganze Hirn im Kopfe umdrehe und auf neue
Art umgeformt werde, — dann kann man sich dodi wieder heilen
lassen. Damals in mdner Lebenslust glaubte ich noch daran.
Aber ich erinnere mich, dass ich damals doch zu ladien anfing.
Was sollte aus mir nach dem Irrenhaus werden? Sollte ich wieder
Romane schreiben?* »Mit zunehmender Dunkdheit wurde mein
2mmer immer grösser und breiter. Kommt dies von meinen an-
gegriffenen Nerven, von den frischen Eindrücken in der neuen
Wohnung oder von meiner Schwermut? .... Ich verfalle lang-
sam und albnählich in den Seelenzustand, in dem idi mich so
oft nachts während meiner Krankheit befand und den ich mystisches
Entsetzen nenne. Es ist die schreddichste, quälende Angst vor
etwas, das ich selbst nicht bezeichnen kann — vor etwas Unbe-
greiflidiem. Unmöglichem im Zusammenhang der Dinge, das aber
unbedingt, vidleicht schon in diesem Momente, aller Vernunft
Hohn sprechend, eintritt, zu mir kommt und sich als etwas Un-
bezwingbares, Fürditerliches, Entsetzliches und Unerbittliches vor
mich hinstellt Diese Angst nimmt gewöhnUch mehr und mehr
zu, trotc aller Vemunftgründe, so dass der Verstand, wenngleich
er in solchen Momenten vielleicfat noch an Schärfe und Klarheit
gewinnt, dennodi die Fähigkeit verliert, diesen Empfindungen ent-
gegen zu ari)eiten. Man gehorcht ihm nicht, er wird nutztos, und
- 87 —
diese Spaltung verstärkt nur noch mehr die angstvolle Bangigkeit
der Erwartung. Ich glaube, so muss es den Menschen zu Mute
sein, die sich vor Leichen fürchten. Aber die Ungewissheit der
Gefahr vermehrt noch in meiner Herzensangst meine Qual."
Für das Verständnis der Krankheit Dostojewskys sind die
Memoiren von Wsewolod Solowjeff besonders wichtig. Dosto-
jewsky, der in seinen letzten Lebensjahren mit Solowjeff bekannt
wurde, erzählte ihm folgendes: ,,Meine Nerven sind seit meiner
Jugend angegriffen. Ich wurde zwei Jahre vor meiner Verbannung,
zu der Zeit verschiedener literarischer Zwiste und Streitigkeiten,
von einer eigenartigen und unerträglich qualvollen Nervenkrankheit
befallen. Lebhaft entsinne ich mich noch der entsetzlichen Emp-
findungen, die ich nicht näher schildern kann. Mir schien es oft,
dass ich stürbe — der Tod kam wirklich und ging dann wieder
fort. Ich fürchtete mich auch vor dem lethargischen Schlaf."
Über die Furcht vor dem lethargischen Schlaf besitzen wir noch
einige Angaben: „Im Jahre 1849", erzählt Trutowsky, „wohnte
Dostojewsky ein paar Tage bei mir. Er bat mich jedesmal vor
dem Schlafengehen, ihn, wenn er in den Zustand der Lethargie
verfiele, nicht vor drei Tagen beerdigen zu lassen. Der Gedanke
an die Möglichkeit einer Lethargie beängstigte und beunruhigte ihn."
Nach Dostojewskys Tode, erzählt Orest Miller, wies sein
Bruder in der „Nowoje Wremja" darauf hin, dass Dostojewsky
in seiner Jugend oft vor dem Einschlafen Zettelchen ungefähr
folgenden Inhalts schrieb: „Heute kann ich in lethargischen
Schlaf verfallen und bitte mich deshalb vor 5 Tagen nicht be-
erdigen zu lassen."
Dostojewsky schildert sich selbst in der Aussage, die er nach
seiner Verhaftung auf Verlangen der Untersuchungskommission
schrieb, folgendermassen : „Ich liebe es nicht, viel und laut zu
sprechen, sogar nicht einmal mit meinen Freunden, deren ich nur
wenige habe, viel weniger noch in Gesellschaft, wo ich für einen
zurückhaltenden, schweigsamen, mürrischen Menschen gelte. Ich
habe nur wenig Bekannte; die Hälfte meiner Zeit wird durch die
Arbeit, die mich ernährt, ausgefüllt, die andere durch fortwährende
Krankheit, durch hypochondrische Anfälle, an denen ich schon
seit drei Jahren leide."
Die Briefe an seinen Bruder sind voller Befürchtungen für
seine Gesundheit: „Petersburg ist Gift für mich, es ist so schwer
-38 -
hier zu leben. Mein Gesundheitszustand hat sich verschlechtert,
und dabei fürchte ich mich schrecklich davor, was z. B. der
Oktober bringen wird. Ich habe heftiges Herzklopfen, wie am
Anfang meiner Krankheit.'' Manchmal finden sich in seinen
Briefen auch Zeilen freudigen Inhalts und dann wieder: „Mich
quält bisweilen eine Schwermut" „Meine Nerven gehorchen mir
oft nicht." Häufig trifft man Stellen rein hypochondrischen
Charakters: „Ich werde mich vielleicht schliesslich nach der
Priessnitz-Methode mit kaltem Wasser behandeln lassen," übrigens
„die Behandlung nach Priessnitz ist nur ein Gebilde meiner
Phantasie; die Ärzte werden mir vielleicht abraten". Und endlich
der letzte Brief vor seiner Verhaftung: „Jetzt ist nun schon das
dritte Jahr meiner literarischen Tätigkeit herangekommen, ich
lebe wie im Traume. Vom Leben sehe ich nichts, ich habe
keine Zeit, mich zu besinnen, keine Zeit, mich mit Wissenschaften
zu beschäftigen. Man hat mir zweifelhafte Berühmtheit ver-
schafft, und ich weiss nicht, wie lange dies Leben in der Hölle
noch dauern wird — Armut, Arbeit auf Bestellung — wenn ich
nur endlich Ruhe hätte!" Am Abend vor der Verhaftung traf
Dostojewsky seinen Bruder Andrej auf der Strasse und sagte ihm :
„Schlecht geht es, Bruder, ich fühle, dass meine Krankheit mich
verzehrt. Ich müsste mich behandeln lassen, den Sommer irgend
wohin fahren . . . und ich habe keinen Pfennig I"
In der Nacht vom 22. zum 23. April des Jahres 1849 wurde
Dostojewsky verhaftet und in die Peter-Paulsfestung gebracht.
„Es ist sonderbar", erzählt Dostojewsky in den oben zitierten
Memoiren von Solowjeff, „dass meine schreckliche Krankheit ver-
schwand, als ich arretiert wurde. Weder unterwegs, noch bei der
Zwangsarbeit in Sibirien habe ich jemals wieder etwas davon
verspürt. Ich wurde stark, frisch, kräftig und ruhig. — Schon
während der Untersuchung hörten meine Qualen auf. Als ich
mich in der Festung befand, glaubte ich, mein Ende sei gekommen,
ich würde nicht mehr drei Tage aushalten. Und ich wurde mit
einem Male vollständig ruhig .... ich hatte stille, gute, schöne
Träume und je länger es dauerte, desto besser wurde es." —
„Der Gleichmut, den Dostojewsky in seiner Lage bewahrte,"
erzählt Orest Miller, „seine Geduld und sein ruhiges Ausharren
waren um so merkwürdiger, als er nach seinen eigenen Worten
bis zur Katastrophe krankhaft um seine Gesundheit besorgt war.
— 89 -
an alle möglichen Erkrankungen bei sich glaubte und sich selbst
mit Kataplasmen behandelte.** Anna Grigorjewna, Dostojewskys
zweite Frau, schrieb folgende Zeilen in ihr Notizbuch: „Nach
den Worten Feodors wäre er wahnsinnig geworden, wenn nicht
die Katastrophe eingetreten wäre, die eine Umwälzung in seinem
Leben bedeutete. Es trat jetzt in den Vordergrund eine Idee,
im Vergleich zu der die Gesundheit und die Sorge für die eigene
Person ganz an Bedeutung verloren. **
In der von Orest Miller verfassten Biographie Dostojewskys
finden wir folgendes:
„Dr. Janowsky, ein in nahen Beziehungen zu Dostojewsky
stehender Arzt, der ihn vor seiner Verbannung nach Sibirien be-
handelte, behauptet, dass schon damals zweifellos Anfälle von
Epilepsie vorhanden waren, zeitweise in so hohem Grade, dass
sie das Leben ernstlich bedrohten."
Obgleich wir keinen Grund haben, an der Richtigkeit dieser
Behauptung zu zweifeln, möchten wir doch darauf hinweisen,
dass sie gesondert dasteht, ohne durch andere Quellenangaben
unterstutzt zu sein. Das plötzliche Verschwinden der krankhaften
Symptome, hervorgerufen durch psychische Einwirkungen, lässt
wohl an eine hysterische Erkrankung denken; anderseits aber
wissen wir, dass Epileptiker psychischer Suggestion zugänglich sind.
Die oben gegebene Schilderung der Angstzustände, das
klinische Bild und der Krankheitsverlauf lassen an der Diagnose
„Epilepsie** keinen Zweifel aufkommen.
Es kann unmöglich unsere Aufgabe sein, alle kranken Typen
wiederzugeben, welche Dostojewsky gezeichnet hat. Hierzu be-
dürfte es einer neuen Arbeit, welche einen weit grösseren Umfang
als die voriiegende erhielte. Zum Teil ist diese Arbeit schon von
Tschisch in seinem Werke „Dostojewsky als Psychopathologe**
ausgeführt worden. Von allgemeinerem Interesse ist es» jene
Gestalten wiederzugeben, in denen Dostojewsky seine eigene
Krankheit schildert, nämlich Epileptiker. Wir kennen fünf
solcher Typen. Erstens: der Greis Murin in der Erzählung «Die
Wirtin**, im Jahre 1874 geschrieben, zu einer Zeit, in der das
Talent des Künstlers sich noch nicht voll entfaltet hatte. Wir
haben diese Erzählung in den vorhergehenden Kapiteln benutzt,
— 40 —
um die Stimmungen des jun^n Dostojewsky zu charakterisieren^
In der Figur Murins lassen sich ohne Muhe die Zuge eines ,epi-
leptischen Charakters" nachweisen; was aber die Schilderungen
der Anfälle betrifft, so erheben sie sich nicht über laienhafte Vor*
Stellungen. Doch ist es von Interesse, einen Zug hier besonders
hervorzuheben: schon damals war dem Künstler der Einfluss des
Alkohols auf den Epileptiker bekannt Als Murin, kaum gesund
geworden, sich vom Bette erhebt, und einige Glas Wein trinkt,
wird hierdurch ein neuer Anfall ausgelöst
Ein anderer Epileptikertypus ist Nelly im Roman »Die Emied*
rigten und Beleidigten", aus dem Jahre 1861, also nachdem Dosto-
jewsky Gelegenheit gehabt hatte, In der Verbannung an seiner
eigenen Person Eriahrungen über die »heilige Krankheit" zu sam-
meln. In diesem Roman wird uns die ganze Krankheitsgeschichte
der Patientin angegeben. Ihr Grossvater ist ein atter, roher,
absonderiicher Mann; die Mutter ist eine exaltierte, leicht erreg-
bare Frau mit träumerischem Wesen. Die fanatische Überzeugung
der unglücklichen Frau in die Unerschutterlichkeit ihrer moralischen
Grundsatze kann zunächst grosse Willensstärke vortäuschen, doch
im Grunde genommen kann von einer ruhigen Willenskraft nicht
die Rede sein. Das Mädchen selbst war von Kindheit auf von
Elend heimgesucht, und dieses wurde nach dem Tode ihrer Mutter
noch grösser. Schon früh hatte sie unter Anfällen zu leiden, und
im Romane erscheint sie uns schon als ausgesprochen epileptischer
Charakter."
Die Anfälle selbst werden von Dostojewsky kurz folgender-
massen geschildert: »Sie sah lange auf ihn . . . und plötzlich
stiess sie einen furchtt)aren Schrei aus. Ein krampfhaftes Zittern
verzerrte ihr Gesicht und sie fiel zu Boden." Der Zustand nach
dem Anfall wird sehr ausführlich beschrieben : »Sie sah lange und
regungslos mit gespannter Aufmerksamkeit auf mich, als suche sie
etwas zu begreifen. Doch man merkte, dass es ihr grosse Mühe
kostete. Endlich sah man, wie etwas einem Gedanken ähnliches
ihr Gesicht erhellte; nach einem Anfalle konnte sie gewöhnlich
eine lange Zeit hindurch ihre Gedanken nicht sammeln und murmelte
verständnislose Worte vor sich hin .... Nachdem sie sich
von dem Anfalle erholt hatte, konnte sie längere Zeit nicht zur
Besinnung kommen. Die Wirklichkeit vermischte sich mit Wahn-
gebilden, und es schien, als ob etwas Furchtbares ihre Seele er-
— 41 —
regte.* Endlich verfällt Nelly in einen tiefen Schlaf. »Sie war
bleich, ihre Lippen bluteten — wahrscheinlich von dem Falle.
Aus ihrem Antlitz schwand nicht der Ausdruck einer grossen Furcht
und einer quälenden Sehnsucht, die sie nicht einmal im Traume
zu verlassen schien.** Es würde zu weit führen, hier ausführlich
eine Charakteristik der jungen Nelly zu geben.
An einigen Stellen des Romans, z. B. als Nelly Arznei
einnehmen soll, dreimal nach einander den Inhalt des Löffels
in das Gesicht ihres guten Arztes spritzt und endlich, ver-
wundert durch seine Gutmütigkeit, verzweifelt zu schluchzen be-
ginnt, werden deutlich die Züge der Krankheit geschildert : Erreg-
barkeit, Launenhaftigkeit, Empfindlichkeit, Misstrauen, Mangel des
psychischen Gleichgewichtes, ewiges Schwanken zwischen Exaltiert-
heit und Apathie.
Der dritte Typus eines Epileptikers, der Zeit der Entstehung
nach ist der Fürst Mischkin, im Romane „Der Idiot", der im Jahre
1868 geschrieben wurde. Wir erfahren hier, dass der Knabe seine
Eltern nicht kannte nnd von frühester Kindheit an an Anfällen litt;
man schickte ihn zur Heilung in die Schweiz, wo unter sachgemässer
Behandlung sein Zustand sich so weit gebessert hatte, dass
wir ihn im Roman als einen gut entwickelten Menschen kennen
lernen. In seinem Äussern war nichts Krankhaftes. Seine Augen
waren gross, blau und blickten stier; in ihnen war etwas Stilles und
Schwermütiges, ein Ausdruck, auf Grund dessen gewisse Menschen
an der betreffenden Person sofort die Fallsucht erkennen.* Über
seine Kindheit hören wir einiges nur aus seinen Erzählungen von
der Reise nach der Schweiz; wir entnehmen ihnen folgendes:
„Nach einer Reihe qualvoller und heftiger Anfälle verfiel ich in
vollständige Stumpfheit, verior das Gedächtnis; mein Verstand
arbeitete wohl, aber ohne jede Logik. Mehr als zwei oder drei
Ideen konnte ich nie miteinander verknüpfen. Als die Anfälle
schwächer wurden, wurde ich wieder gesund und stark Eine
unsagbare Sehnsucht quälte mich; öfters wollte ich weinen. Ich wun-
derte mich und regte mich über alles auf; niederdrückend wirkte es
auf mich, dass alles um mich herum fremd war." Im Charakter
Mischkins finden wir nicht die typischen Züge eines Epileptikers;
er ist ein feinfühliger und guter Mensch. Anormal scheint nur
seine Naivität zu sein, welche manchmal an Dummheit grenzt,
ausserdem sein schwacher Wille, welcher allen seinen Handlungen
— 42 -
den Charakter einer gewissen Knabenhaftigkeit und Unreife ver-
leiht Hier ist es am Platze, eine Eigenheit sdnes Charakters
hervorzuheben. Mischkin schrieb kalligraphisch schön und malte
gewissermassen jeden Buchstal>en sorgfältig.^)
Den grössten Wert für den Psychiater haben die ausffihriichen
Schilderungen seiner Dämmemistande und ausserdem die Be-
schreibungen des Anfalls und der Gefühle und Gedanken, die den
Epileptiker auch in gesundem Zustande beseelen.
Hiervon wollen wir jetzt sprechen : »Zuweilen sah er mit grosser
Neugier auf die Vorübergehenden; am häufigsten jedoch bemerkte
er weder die Passanten, noch wusste er selbst, wo er ging. Er
lebte in qualvoller Erregung und Unruhe und fühlte zur selben
Zeit in sich den Zwang, einsam zu sein. Er wollte allein sein und
sich vollständig passiv seiner quälenden Erregung hingeben ....
Die Einsamkeit wurde ihm unerträglich, ein neuer Drang durch-
glühte sein Herz, und auf einen Augenblick erhellte sich die
Dämmerung, in der seine Seele vor Sehnsucht verging Nach
einiger Zeit kam ihm wieder etwas in den W^, etwas Furcht-
bares, etwas, was ihn lange gequält hatte. Plötzlich fand er sich
bei einer Beschäftigung wieder, die er schon lange betrieben hatte,
ohne es zu wissen .... Dann fing er an etwas zu suchen, vergass
es wieder, blieb so eine halbe Stunde lang und begann wieder
voller Unruhe zu suchen .... Er wusste, dass er vor dem
Anfalle sehr zerstreut war und öfters Gegenstände und Gesichter
verwechselte, wenn er sie [nicht mit besonderer Aufmerksamkeit
betrachtete. In seinem epileptischen Zustande war ein Augenblick,
in dem plötzlich die Dämmerung seiner Seele erhellt wurde, sein
Hirn zu glühen schien und alle seine Lebenskräfte plötzlich zu
sprudeln begannen. Die Empfindung des Lebens, des Selbstbe-
wusstseins, verzehnfachte sich in diesen Momenten, die kurz wie
ein Blitz waren. Den Verstand, das Herz erhellte ein nie geahntes
Licht; alle Erregungen, alle Zweifel, jede Unruhe, sie schwanden
plötzlich und gingen auf in voller, klarer Harmonie, Freude und
Hoffnung. Aber diese heilen Momente waren nur die Vorahnungen
des Anfalls. Sie waren unerträglich. Wenn er später in gesundem
Zustande über diese kurzen Augenblicke nachsann, musste er
sich sagen, dass diese ganze Harmonie und das Gefühl, es exi-
1) ^'"*^ '^^^♦ojcwsky schrieb eine sehr kalligraphische Hand.
- 43 -
Stiere ein höheres Sein, doch nichts anderes als kranichafte Erschei-
nungen seien; wenn es aber so wäre, so könnten die Momente nicht
ein höheres Sein andeuten, sondern sie müssten zu den niedrig-
sten gerechnet werden.
„Zuletzt kam er zu dem höchst paradoxen Resultat: ,Was
hat es denn zu sagen, dass dies krankhaft ist? Was ist denn
dabei, dass die Erregung anormal ist, wenn ihre Folge eine höhere
Harmonie ist und zum Zusammenfliessen mit den höchsten Syn-
thesen des Lebens zwingt?* Diese nebelhaften Vorstellungen
schienen ihm selbst ganz klar zu sein. Er zweifelte nicht daran,
dass diese Momente wirkliche Schönheit, wirkliches Gebet und
die höchste Synthese des Lebens offenbarten. Denn es waren
ja keine Träume, welche, durch Opium oder Wein hervorgerufen,
die Seele erniedrigen und verzerren. Er besass eine klare Vor-
stellung von ihnen. In diesen Momenten konnte er sich mit
Bewusstsein sagen: ,Ja es lohnt sich, das ganze Leben fär einen
solchen Moment hinzugeben .... In diesen Momenten wird
mir das tiefe, wunderbare Wort verständlich : Es wird einst keine
Zeit mehr geben.'**
Wahrscheinlich hatte Mahomet dieselben Momente, welche
so kurz waren, dass in dieser Spanne Zeit eine zu Boden gefallene
Kanne Wasser sich nicht völlig entleeren konnte, aber in diesen
Sekunden durchflog er mit seinem Qeiste alle Wohnungen Allahs. *)
Gleiche Stimmungen erlebte Mischkin : Plötzlich erschien es,
als ob eine wunderbare innere Lichtwelt sich vor seiner Seele
entfaltete. Diese Augenblicke währten vielleicht nur eine halbe
Sekunde, doch er hat eine klare Vorstellung von ihrem Anfange,
von dem fürchterlichen Schrei, der sich dabei seinem Innern ent-
ringt. Sodann eriischt sein Bewusstsein, und seine Seele erfüllt
vollständige Finsternis.
Es ist bekannt, dass die epileptischen Anfälle plötzlich kom-
men. In diesen Momenten verzerrt sich das Gesicht, besonders
der Blick ; ein konvulsivisches Zittern fiberfällt den ganzen Körper.
Ein furchteflicher, nicht näher zu schildernder Schrei entringt
sich der Brust. In diesem Schrei verschwindet alles Menschliche,
und es ist unmöglich, sich vorzustellen, dass ein Mensch im-
stande ist, einen solchen Schrei auszustossen. Es scheint sogar,
Vergl. normale Träume I
- 44 —
als ob hier ein anderes Wesen im Menschen schreie. Bei vielen
Menschen ruft die Fallsucht eine furchtbare Angst hervor, die
etwas Mystisches in sich hat.
,,.'... Der Fürst wankt zurück und fällt plötzlich auf der
Treppe nieder, indem er mit seinem Hinterkopf auf die steinernen
Stufen aufschlägt. Sein Körper, durchbebt von konvulsivischem Zit-
tern, gleitet die Stufen hinunter.'
Wir wollen hier noch ejnen Anfall schildern, von dem Misch-
kin in einer Gesellschaft überrascht wurde, als er in erregter Stim-
mung diskutierte. Es sei hier nicht die ganze Szene geschildert,
sondern nur jene Stellen angeführt, welche das Verhalten Mischkins
schildern :».... Allmählich fiberkam ihn ein unendliches Glficks-
gefühl. Er sprach wenig, antwortete nur auf Fragen und schwieg
zuletzt völlig; er sass ruhig da und lauschte, indem er in Wonne
und Seligkeit zu versinken schien. Eine erhabene Begeisterung
erfüllte ihn mehr und mehr, sie konnte jeden Moment zur Ent-
flammung gebracht werden .... der Fürst hörte das alles, und
seine Augen glühten vor Seligkeit. Dann begann er mit über-
schwenglicher Leidenschaft zu reden, dabei rang er mühsam nach
Atem. Er erstickte sozusagen an dem Überfliessen des Guten in
seinem Herzen .... Der Fürst hielt an, um Atem zu schöpfen»
er war bleich. Er setzte sich auf einen Stuhl und blickte regungs-
los mit blitzenden Augen um sich .... Dieser ganze Ansturm
unruhiger und mit wirrer Begeisterung gesprochener Worte, wobei
ein Gedanke den andern fibersprang, liess etwas Gefährliches ahnen
.... (hier zerbricht er die Vase) .... Er ffihlte sich bis ins
Herz getroffen und stand, von mystischem Schrecken gepackt, da.
Noch ein Augenblick, und es schien, als ob sich alles vor ihm
erweitere, der Schrecken wich dem Licht, der Freude, der Begeiste-
rung, er atmete schneller, doch der Augenblick verging, der Anfall
blieb aus I Er holte tief Atem und blickte um sich. Längere Zeit
verstand er nichts, die Bestürzung, welche rings um ihn herrschte,
d. h. er begriff und sah alles, doch er stand da wie ein Mensch,
der an nichts Anteil hatte und der sich mit einer Tarnkappe in
das Zimmer geschlichen hatte . . . ." Nun beginnt er wieder zu
reden. „Alles kommt stossweise, fieberhaft, nebelhaft hervor, es
ist leicht möglich, dass er etwas spricht, was er selbst nicht sagen
wollte .... Er redet immer schneller, immer unverständlicher,
immer begeisterter. Der Ffirst gerät in volle Ekstase ... .'^ er
- 45 -
schreit auf und fällt zu Boden. Nach einer Reihe starker seelischer
Störungen wurde sein von Natur schwaches Nervensystem so
stark erschüttert dass sein Verstand sich zu verdunkeln begann,
und am Ende des Romanes treffen wir ihn in der Schweiz wieder,
wo er in einem unheilbaren Verblödungszustand in einer Pflege-
anstalt sich befindet
Kiriloff, eine Person aus dem Roman „Die Teufel** (1871/72)
ist der vierte Typus eines Epileptikers, den Dostojewsky schildert.
Sein Äusseres weist nichts Aussergewöhnliches auf, doch fällt seine
Sprache sofort auf .... Er redet in einzelnen Worten oder ab-
gerissenen Sätzen, und man bemerkt unmittelbar, dass sein Den-
ken erschwert ist. Die Ideen verknüpfen sich bei ihm in höchst
abenteuerlicher Weise. Wir wollen hier nicht den Inhalt seiner
Weltanschauung wiedergeben, dies würde uns zu weit führen. Wir
wollen hier nur hervorheben, dass seine Anschauungen von religiös-
mystischer Stimmung durchdrungen sind und in seinen Illusionen
und Halluzinationen wurzeln. Anfälle kommen bei Kiriloff nicht
vor, doch oft treten psychische Äquivalente für die Anfälle ein.
Seine Erlebnisse während dieser Momente schildert er folgender-
massen : «Es gibt Sekunden, zusammen sind es nicht mehr als 5
oder 6, da fühlen Sie plötzlich die eine, ewige, das ganze Dasein
ausfüllende Harmonie.
.Hier ist nichts Irdisches mehr. Ich sage auch nicht, dass
es etwas Himmlisches ist. Ich sage nur, dass der Mensch als
irdisches Wesen dies nicht ertragen kann. Man muss physisch
umgewandelt werden oder sterben. Es ist ein klares, zweifellos existie-
rendes QefühL Es ist als ob man plötzlich die ganze Natur in sich fühlt
und sagt: ,Ja, das ist Wahrheit.' Gott, als er die Welt erschuf,
sagte am Ende jedes Schöpfungstages: ,Ja, das ist Wahrheit, das
ist gut,' hier ist nichts von Rührung, sondern einfach Freude.
Man verzeiht nichts, denn es gibt nichts zu verzeihen. Das ist
nicht nur Liebe, nein, das ist mehr als Liebe. Entsetzlich ist es,
dass diese Gefühle so klar sind und die Freude so gewaltig ist.
Wenn diese Stimmungen länger als fünf Sekunden dauern könn-
ten, so hielt es die Seele nicht aus und müsste zugrunde gehen.
In diesen fünf Sekunden durchlebe ich ein ganzes Leben und würde
auch für sie mein Leben hingeben, denn sie sind es wert. Um
zehn solcher Sekunden zu ertragen, müsste man physisch anders
werden. Ich denke, der Mensch muss aufhören zu gebären. Wozu
— 46 —
sind Kinder da? Wozu die ganze Entwicklung, wenn das Ziel
schon erreicht ist?" ... . »Haben Sie öfters derartige Stimmungen?*'
„Ein oder zweimal in der Woche." „Leiden Sie an epileptischen
Anfällen?" „Nein." «Dann wird es später noch kommen. Nehmen
Sie sich in acht, Kiriloff, ich habe gehört, dass so die Fallsucht
beginnt. Mir hat ein Epileptiker ausführlich seine Stimmung vor
dem Anfall geschildert. Genau so wie Sie. Ffinf Sekunden hat
auch er angegeben und auch gesagt, mehr wfirde man nicht aus-
halten. Denken Sie an Mahomet, der auf seinem Ross den gan-
zen Himmel durchflog, ehe das Wasser aus der Kanne ausfloss;
die Kanne entleerte sich in ffinf Sekunden, und Mahomet war ein
Epileptiker. Seien Sie auf der Hut, Kiriloff — die Fallsucht I"
Im Roman „Die Brüder Karamasoff*" (1879/80) begegnen
wir der Persönlichkeit Smerdjakows. Dies ist der klassische Typus
eines Epileptikers. Wir können seine Entwicklung vom Tage seiner
Geburt bis zu seinem Tode verfolgen. Seine Mutter war eine voll-
ständige Idiotin, welche nur mit einem Hemde bekleidet zur Be-
lustigung der Menschen auf den Strassen der Stadt einherging.
Sie lebte von Almosen. Sein Vater war ein Wüstling; er nannte sich
selbt mit Stolz „der Typus eines römischen Senators in der Epoche
des Verfalls". Der Knabe Smerdjakow erblickte das Licht der
Weh in einem Gemüsegarten ; die Mutter zerbiss die Nabelschnur
mit ihren Zähnen. Das Kind brachte man in das Karamasoffsche
Haus, wo der alte Lakai Grigori die Erziehung des Kindes über-
nahm. Wir wollen hier eine Reihe von Stellen anführen, welche
den Charakter und die Krankheit Smerdjakows am besten schildern :
„Er war ein junger, im 21. Lebensjahre stehender Mann; sehr
menschenscheu und schweigsam. Man kann ihn nicht wild oder
schüchtern nennen, im Gegenteil, er war hochmütig, und es schien
als ob er alle Menschen verachte." In seiner Kindheit pflegte er mit
Vorliebe Katzen aufzuhängen und dieselben dann mit Pomp zu
beerdigen. Einst züchtete Grigori ihn mit der Rute; darauf ver-
kroch sich der Knabe in eine Ecke und blickte eine Woche lang
verdriesslich auf alle Menschen. Einmal nahm der Knabe eine Ohr-
feige ruhig hin, ohne ein Wort zu sagen, aber darauf versteckte er
sich wieder einige Tage in einen Winkel.
Nach einem ähnlichen Vorfall trat zum erstenmal in seinem
Leben bei ihm die Fallsucht auf, welche ihn seitdem nicht mehr
verliess. Im allgemeinen bekam er die Anfälle einmal im Monat
— 47 —
in unbestimmten Zwischenräumen. Sie waren von verschiedener
Stärke. Zuweilen leicht, zuweilen heftiger. Mit der Zeit entwickelte
sich Smerdjakow zu einem grossen Kostverächter .... So sitzt
er zuweilen lange vor seiner Suppe, rührt mit dem Löffel in
derselben herum, dann führt er den Löffel zum Munde, indem er
ihn zuvor noch lange im Lichte betrachtet. Auch mit dem Brot»
mit dem Fleisch, wie überhaupt mit allen Speisen macht er das-
selbe. So hob er zuweilen ein Stück Fleisch an der Gabel empor
und betrachtete dasselbe aufmerksam, als ob er ein Mikroskop
vor sich hätte; endlich entschliesst er sich, das Stück in den Mund
zu nehmen. In der Lehre blieb er einige Jahre, und kam mit
sehr verändertem Äussern zurück. Er war sehr gealtert, ganz un-
verhältnismässig für seine Jahre; auch war er bleich geworden, sein
Gesicht war von Runzeln durchfurcht, und er hatte Ähnlichkeit mit
einem Kastraten. Moralisch kehrte er ebenso rein zurück, wie er es vor
seiner Abreise nach Moskau gewesen war ... Er war ebenso menschen-
scheu wie früher und fühlte sich niemals zu anderen hingezogen. Er
hatte auch in Moskau immer geschwiegen. Die Stadt selbst hatte
ihn wenig interessiert. Aber er kam aus Moskau in guter Klei-
dung und mit reiner Wäsche zurück. Er wurde ein vortrefflicher
Koch. Seinen Monatsgehalt verbrauchte Smerdjakow beinahe aus-
schliesslich für die Anschaffung von Kleidern, Pomade, Parfüm
und dergleichen. Das weibliche Geschlecht verachtete er ebenso
wie das männliche und zeigte sich immer ernst und unzugänglich.
Die epileptischen Anfälle hatten sich vermehrt. Er schwieg immer,
sehr selten redete er jemand an. Es geschah oft, dass Smerd-
jakow im Gehen plötzlich anhielt, den Kopf in Gedanken zur Erde
senkte, und so etwa 10 Minuten verharrte. Der Physiognomiker
hätte gesagt, dass in diesem Jünglinge weder Gedanken noch ein
Nachdenken sei, sondern ein blosses Schauen.
Der Künstler Kramskoi hat ein bemerkenswertes Bild unter
dem Namen „Der Schauende** geschaffen. Es zeigt uns einen Wald
im Winter; im Wald steht in einem zerlumpten Kaftan und Bast-
schuhen einsam und allein ein Bäuerlein. Es scheint, dass er über
etwas nachsinnt. Doch er »schaut** nur. Hätte ihn jemand ge-
stossen, so würde er aufschrecken und ihn erschreckt ansehen, als
wäre er aus einem Traume erwacht Aber hätte man ihn dann
gefragt, worüber er soeben nachgedacht, so würde er sich an nichts
erinnern und alle Eindrücke, die er beim Schauen gehabt, bei sich
— 48 -
behalten. Diese Eindrucke sind ihm sehr teuer, weshalb, weiss
er selbst nicht Es kann sein, dass er auf diese Weise viele Be-
trachtungen sammeln wird und plötzlich nach vielen Jahren nach
Jerusalem pilgern, alles verlassen, vielleicht aber auch sein Dorf
anzfinden wird. Im Volke gibt es viele solcher Schauenden. Zu
diesen kann man gewiss auch Smerdjakow rechnen, der ebenfalls
eifrig Eindrucke sammelte, ohne zu wissen wozu.
Iwan Feodorowitsch Karamasoff hatte ihn daran gewöhnt,
sich mit ihm zu unterhalten, doch immer wunderte er sich über
4\e Untätigkeit Smerdjakows; er konnte es nicht verstehen, was
•diesen Schauenden unaufhörlich beunruhigte. Sie sprachen über
philosophische Fragen und sogar darüber, weshalb am ersten Tage
xier Schöpfung schon Licht dagewesen wäre, während doch die
Sonne, der Mond und die Sterne erst am vierten Tage erschaffen
wurden. Doch bald sah Iwan Feodorowitsch ein, dass den Jüng-
ling Smerdjakow viele andere Fragen quälten, so eine tiefe und
gekränkte Eigenliebe.
Nach langem, religiös-moralischem Nachdenken und For-
schungen kam Smerdjakow zu der Überzeugung, „dass auf der
Welt alles erlaubt sei", und indem er sich dies zum Leitsatz machte,
tötete er mit teuflischer List seinen Vater und stahl dessen Geld.
Seine Krankheit verschlimmerte sich nach der Tat, ein Anfall folgte
dem andern. Nachdem er sich ein wenig erholt hatte, wurde er
von Halluzinationen geplagt. Er sah überall den Teufel, der ihn
in Versuchung führen wollte und kam zuletzt soweit, dass er sich
erhängte.
Dies alles sind verschiedene Variationen des epileptischen
Charakters, welche Dostojewsky geschaffen hat.
Es sei schliesslich noch bemerkt, dass die Übersetzungen
aus den für die Arbeit benützten russischen Werken nicht wort-
getreu sind, da es nur darauf ankam, den Sinn wiederzugeben.
- 49 -
Anhang.
Auszüge aus Briefen Dostojewskys,
Im Jahre 1847.
Lieber Bruder!
Ich muss Dich wieder um Verzeihung bitten, mein Wort nicht
gehalten und nicht sofort geantwortet zu haben; aber die ganze
Zeit fiber hat mich so ein Trübsinn fiberwältigt, sodass es mir
einfach ganz unmöglich war Dir zu schreiben. Sehr oft und ge-
radezu mit Qual habe ich an Dich denken müssen. Dein Schick-
sal ist schwer, lieber Bruder!
Deine schwache Gesundheit, Deine ernsten Gedanken, die
niemand aus deiner Umgebung versteht und die Unmöglichkeit in
Deinen freien Stunden Zerstreuung und Erholung zu finden, noch
dazu die Familiensorgen, die allerdings heilig und süss sind, aber
auch eine schwere Last aufbürden — alles das macht Dir das Leben
unerträglich; aber verzage nicht, lieber Bruder ! Denn die Zukunft
wird glücklicher sein.
Nun, hör mir mal aufmerksam zu! Je mehr Geist wir be-
sitzen und je reicher unser innerliches Wesen ausgestattet ist, desto
feiner und schöner empfinden wir das Leben.
Selbstverständlich sind Dissonanzen gefährlich — insofern,
wenn das Gleichgewicht der Umgebung gegenüber fehlt. Das Äussere
muss mit dem Innern in Einklang gebracht werden, sonst würde,
bei dem Fehlen äusserer Eindrücke, das Innere gefährlich über-
wuchern. Die Nerven und die Phantasie würden die Person zuviel
in Anspruch nehmen. Jede äussere Erscheinung würde ungewöhn-
lich, riesenhaft und beängstigend scheinen. Man würde anfangen
sich vor dem Leben zu fürchten.
Qrenzf ragen d. Lit. u. Medizin. 5. Heft. 4
— 50 -
Ein Brief aus der Peter Pauls -Festung an den Bruder
Michael.
22. XII. 1849.
Heute am 22. Dezember hat man uns nach dem Simionowsky-
Platz übergeführt, dort hat man uns allen das Todesurteil verlesen
und die Säbel über den Köpfen zerbrochen. Man liess uns das
Kreuz küssen, und man hatte uns die Todestoilette gemacht (weisse
Hemden). Dann hat man drei von uns, zur Vollführung der Strafe,
an Pfähle gestellt. Man hat uns zu Dreien aufgerufen, folglich
war ich in der zweiten Reihe. Ich hatte nur zwei Minuten zu leben.
Da erinnerte ich mich an Dich und an die Deinigen. In diesen
letzten Minuten hatte ich nur Dich, Dich allein in Gedanken. Erst
da habe ich entdeckt, wie ich Dich liebe, mein Bruder. Ich hatte
noch Zeit gehabt um Pleschejeff und Duroff, die neben mir standen,
zu umarmen und Abschied zu nehmen. Plötzlich schlugen die
Trommeln. Die, welche an die Pfähle gebunden waren, hat man
zurückgeführt, und es wurde uns verlesen, dass Seine kaiserliche
Majestät uns das Leben schenkt. Dann folgten die richtigen Ver-
urteilungen . . .
An Baron Wrangel.
^ Semipalatinsk 1847.
. . . Trauern Sie nicht so, lieber Freund, obwohl ich einsehe,
dass Sie in allen Beziehungen unglücklich sind. Am meisten beun-
ruhigen mich Ihre Verhältnisse zu Ihrem Vater. Ich weiss es
ausserordentlich gut (nach eigener Erfahrung), dass solche Unan-
nehmlichkeiten unerträglich sind, desto unerträglicher, weil Sie
beide, wie ich es sehr wohl weiss, einander innig lieben. Es ist
nur eine Art von endlosem Missverständnis beiderseits, und je länger
es dauert, desto verwickelter wird es. Da hilft weder Kreuz noch
Stock. Keine Erklärungen können die Harmonie wiederherstellen
und wenn schon, dann nur auf kurze Zeit. Es gibt nur eine Hilfe,
nur ein Mittel — die Trennung. In den ersten Tagen Ihrer Abwe-
senheit wird er Sie in sein Herz einschliessen, und er wird der
erste sein, welcher sich in allem Schuld geben wird.
So ein Charakter, wie der Ihres Vaters, besteht aus einem
sonderbaren Gemisch von finsterer Verdächtigkeit, krankhafter Fein-
— 51 —
fühligkeit und Grossmut. Ohne Ihren Vater persönlich zu kennen,
urteile ich so über ihn, weil ich in meinem Leben schon zweimal
solche Verhältnisse gekannt habe. Man muss ihn schonen, und
das wissen Sie besser als ich.
Nehmen Sie sich in acht, lieber Freund! Mir scheint es
nämlich, dass Sie einen ähnlichen Charakter haben. Ihr Herz wie auch
Ihre Seele ist krank, und wenn bei Ihnen dieser Verdächtigungszug
noch nicht überwuchert hat, so liegt die Ursache wohl darin, dass
er noch keine Gelegenheit dazu hatte; oder Sie sind noch zu
jung, es wird wohl noch kommen. Sie sind schon krankhaft
empfindlich. Hüten und wahren Sie sich. Starke Umwälzungen
im Leben helfen fast immer. Auch ich war ein ausgeprägter
Hypochonder, aber ich wurde durch eine krasse Umwälzung in
meinem Leben vollständig geheilt. . . .
Aus dem Briefe an Maikow.
Genf, 18. Mai 1868.
. . . Meine Sonia ist gestorben. Drei Tage sind es her,
seitdem wir sie begraben haben. Sogar noch zwei Stunden vor
dem Tode wusste ich nicht, dass sie sterben würde. Drei Stunden
vor ihrem Tode sagte der Arzt, dass es ihr besser gehe und dass
sie lebensfähig sei. Sie ist nur eine Woche lang an Lungen-
entzündung krank gewesen.
Es ist möglich, dass die Liebe zu meinem ersten Kinde für
manche komisch erscheinen wird; auch ist es möglich, dass ich
in vielen Briefen, die ich als Dank für die Gratulationen (anläss-
lich ihrer Geburt) schrieb, mich komisch über mein Kind geäussert
hätte. Für diese Leute bin ich allerdings komisch gewesen.
Gegen Sie aber trage ich kein Bedenken, denn Sie werden mich
sicher verstehen.
Das kleine, drei Monat alte Geschöpf — so winzig und hilf-
los — war aber für mich eine Persönlichkeit, ein Charakter. Sie
fing schon an mich zu kennen und zu lieben. Wenn ich mich
ihr näherte, lächelte sie. Sie hörte gern zu, wenn ich ihr mit
meiner tiefen Stimme Lieder vorsang. Sie weinte nicht, wenn ich
sie kusste. Jetzt sagt man mir, um mich zu trösten, dass ich
andere Kinder haben werde. Aber wo ist nun meine Sonia? Wo
4*
62 —
bleibt diese kleine Persönlichkeit? für die, um sie wieder lebendig
zu sehen, ich mich kreuzigen liesse. Aber genug davon.
Meine Frau weint. Übermorgen werden wir von der Gruft
irgendwohin fortreisen . . .
Vevey, 4. Juni 1868.
Mein lieber Freund!
Ich weiss und glaube Ihnen, dass Sie aufrichtig und tief mit
mir empfinden. Aber noch nie war ich so unglücklich wie in
der letzten Zeit. Ich möchte es nicht beschreiben, aber je weiter
die Zeit vorschreitet, desto brennender werden die Erinnerungen
und desto ausgeprägter sehe ich das Bild meiner verstorbenen
Sonia. Es gibt Augenblicke, die unmöglich zu ertragen sind. Sie
kannte mich schon; als ich das Haus verliess, um Zeitungen zu
lesen, hatte sie ohne zu ahnen, dass sie in zwei Stunden sterben
würde, mich so angeschaut und mich so mit ihren Äuglein ver-
folgt, sodass ich es noch immer vor den Augen habe, sogar
immer prägnanter und deutlicher werdend.
Ich werde sie nie vergessen und die Qual wird niemals auf-
hören. Und wenn auch ein anderes Kind kommen wird, ist es
mir unverständlich, wie ich es werde lieben können; wo werde
ich noch Liebe finden? Mir ist die Sonia notwendig, ich kann
es nicht begreifen, dass sie nicht mehr existiert und ich sie nie-
mals wiedersehen werde. . . .
Aus dem Briefe an Strachow.
Florenz, 26. II. 1869.
. . . Über die Tätigkeit des Künstlers habe ich ein eigenes
Urteil. Das, was die meisten Menschen als phantastisch und
aussergewöhnlich bezeichnen, ist meiner Meinung nach nur zu
oft der Kern der Wirklichkeit.
Die Alltäglichkeit der Erscheinungen und das Durchschnitts-
urteil darüber ist noch kein Realismus, bei Leibe nicht. In jeder
Zeitung findet man Berichte tatsächlich geschehener, aber märchen-
haft erscheinender Ereignisse. Unsere Schriftsteller fassen sie als
- 58 -
phantastische Kuriosa des Lebens auf und legen ihnen weiter keine
Bedeutung bei, aber es sind nichtsdestoweniger Tatsachen des
wirklichen Lebens, die erklärt werden wollen. . . .
Aus dem Brief an Herrn Kowner.*)
... Ich kann es nicht gut verstehen , wie Sie behaupten
können, Ihre Tat ganz und gar nicht zu bereuen. Es gibt etwas
Höherstehendes als die Beweise des Verstandes und alle Möglich-
keiten des Zufalls, »etwas vor dem man sich beugen muss".
Sie sind ausserordentlich klug, sodass ich hoffe, dass Sie
meine Offenherzigkeit nicht übelnehmen werden. Erstens bin
ich selbst nicht besser wie Sie und wie jeder andere beliebige
Mensch. Zweitens, wenn ich Sie in meinem Herzen rechtfertigen
werde (und ich ersuche Sie auch mich zu rechtfertigen), dann ist es
viel besser, wenn ich Sie freispreche, als wenn Sie es selbst tun
würden. Vielleicht ist Ihnen nicht ganz klar was ich meine. Um
mich verständlich zu machen, will ich eine Parallele ziehen.
Ein Christ (das heisst ein vollständig echter und idealer
Christ) sagt folgendes: „Ich muss mit meinem jüngeren Bruder
mein ganzes Gut teilen und sein Untergebener sein.** Der Kom-
munist sagt dagegen: „Ja, du musst mit mir, dem Jüngsten und
Ärmsten, alles teilen und mir dienen.**
Der Christ wird recht haben, der Kommunist aber — un-
recht. Übrigens ist es jetzt für Sie wahrscheinlich noch unver-
ständlicher geworden. . . .
Aus dem Brief an eine Unbekannte.
21. IV. 1877.
... Ich bedaure sehr, dass Sie in Ihrem Geographieexamen
Unglück hatten. Aber Sie übertreiben wohl die Sache zu sehr.
Ihr Brief klingt ganz hoffnungslos. In der Tat ist nichts weniger
als Gutes geschehen, denn die zwei schwierigsten Prüfungen haben
Sie doch überstanden. Die Geographie werden Sie bis zum
**) Ein Bankbeamter, der eine grosse Unterschlagung verübte.
— 64 -
Herbst aufschieben, damit wird alles wieder gut. Wozu denn
soviel Tränen und Hoffnungslosigkeit? Wie ich sehe, haben Sie
sich selbst gequält und unverzeihlich Ihre Nerven geschädigt.
Es scheint mir, dass Sie Ihre ganze Familie aufgebracht haben.
Es hat mich tief gerührt und ich schätzte es sehr hoch, aber es
ist unzulässig und unverzeihlich, so ungeduldig zu sein und in
Ihrem winzigen Alter verzweifelt auszurufen: „Ich komme zu
nichts l*" Sie sind zu jung, Sie haben noch kein Recht so zu
sprechen. Im Gegenteil, dank Ihrer Beharrlichkeit werden Sie es
unbedingt zu etwas bringen. Bleiben Sie nur gut und gross-
mütig. . . .
An Frau N. N.
11. April 1889.
... Sie schreiben mir über Ihre augenblickliche Seelen-
stimmung. Ich weiss, dass Sie eine Künstlerin — eine Malerin
sind. Gestatten Sie, dass ich Ihnen einen herzlich gut gemeinten
Rat gebe: Verlassen Sie nie die Kunst. Im Gegenteil, geben Sie
sich ihr noch mehr hin. Ich weiss, dass Sie unglücklich sind.
Wenn Sie einsam leben und Ihre Seele mit Erinnerungen plagen
werden, so wird Ihr Leben zu finster sein. Es gibt nur ein Mittel,
nur eine Rettung, — das ist die Kunst, die Schöpfung. Ihre
Beichte sollen Sie jetzt noch nicht schreiben, denn es wird Ihnen
unerträglich werden. Nehmen Sie mir meine Ratschläge nicht
übel. Wie gerne möchte ich Sie sehen und mit Ihnen vertraulich
sprechen. Nachdem ich Ihren Brief gelesen hatte, sind Sie mir
verwandt — ein meiner Seele nahestehendes Wesen, eine Herzens-
schwester — geworden — und ich fühle mit Ihnen . . .
Ende.
Druck von M. Mflller k Sohn, Manchen V.
QRENZFRAGEN DER LITERATUR UND MEDIZIN
in Einzeldarstellungen
herausgegeben von Dr. S. RAHMER, Berlin.
6. Heft.
August Strindberg
eine pathologische Studie
von
S. RAHMER.
MÜNCHEN 1907
ERNST REINHARDT, Verlagsbuchhandlung
JSgerstrasse 17.
Vorwort.
August Strindberg hat in der Vollkraft seines Schaffens seine
eigene Lebensbeschreibung geschrieben, die in mehreren Bänden
abgeschlossen uns vorliegt. Krankhafte Züge walten hier in einem
Masse vor, dass sie auch dem Nichtfachmanne auffallen müssen.
Aber es geht hier wie überall: in den literarischen und psycho-
logischen Essays bleibt das Krankhafte entweder fast völlig un-
berücksichtigt, oder es wird falsch gedeutet und viel zu sehr in
den Vordergrund gestellt. In einem solchen Falle kann der Biograph
und Psychologe nicht ein wahrheitsgetreues und befriedigendes
Bild des Wesens und Charakters entwerfen; es kann nur ein
Zerrbild entstehen, solange nicht der Arzt und Psychiater das Wort
ergriffen, die krankhaften Züge gedeutet und ihren Einfluss auf
die dichterische Produktion klargelegt hat
Die folgenden Blätter bringen einen Versuch in diesem Sinne.
Er erscheint doppelt angebracht bei einem Schriftsteller, der nach
dem gewichtigen 2Ieugnis Maximilian Hardens (Zukunft 1905) vom-
ansteht in der kleinen Schar derer, die germanischer Kultur
den Boden bereiten, dem der Literatenruhm nicht genügt, der
nicht nur ein Künstler sein, sondern als Kulturmacht ins Weite
wirken möchte.
Berlin, im Mai 1907.
Der Verfasser.
I.
Das Studium eines Dichters und Menschen, welches sich
nicht daran genügen lässt« sein äusseres Leben, seinen litera-
rischen Charakter zu registrieren, seine Werke nach ästhetischen
Gesichtspunkten zu ordnen und nach ihrer Bedeutung für die Zeit-
genossen zu würdigen, sondern welches in des Dichters Arbeits-
stube verweilt, seine besondere Schaffensweise offenbart, gewisser-
massen seine eigenartige Gehirnorganisation klarlegt, wird stets
als wichtigstes Quellenmaterial in jedem Falle autobiographische
Dokumente benutzen. Das autobiographische Material, wie es
in den Werken der Dichter und Künstler, in ihren Briefen, Tage-
büchern, Lebensbeschreibungen niedergelegt ist, bietet dem Literar-
ästhetiker den Einblick in die geheimen Tiefen der Künstler- und
Dichterseele und erhöht damit nicht bloss den Reiz seiner Werke,
sondern ermöglicht erst eine achtungsvolle Würdigung der
schöpferischen Kunst überhaupt. Freilich genügen nicht zu solchen
Studien allgemeine psychologische Anschauungen, das übliche
Moralisieren und die landläufige Menschenkenntnis, sondern in
erster Reihe muss der Arzt, der Seelenarzt gehört werden mit der
nur ihm eigenen Kenntnis vom menschlichen Wesen, mit der nur
ihm gegebenen Fähigkeit, das Gesunde vom Kranken zu scheiden»
seelische Schwankungen und seelische Störungen zu erkennen und
zu würdigen.
Das Dichter- und Künstlerwerk kann nur begriffen werden
als Ausfluss der Persönlichkeit; die Person kann nicht gewürdigt
werden, ohne dass das Pathologische in ihr verstanden und
berücksichtigt wird. Pathologische Züge finden sich aber nicht
bloss, wie der Laie anzunehmen geneigt ist, bei den Minderwertigen,
sondern auch bei den Mehrwertigen, nicht bloss bei den D€g6n€T6s^
sondern auch bei den Prog^n^r^s, nicht bloss bei den Insassen
der Kranken- und Irrenanstalten, sondern auch bei völlig Gesunden.
Einzelne und auch gehäufte krankhafte Züge werden wir aus den
Memoirenwerken, aus den Dokumenten von Dichtern und Künstlern
in jedem Falle herauslesen können; von wirklich pathologischen Do-
kumenten, von pathologischen Romanen, von pathologischen Selbst-
bekenntnissen — als einer besonderen Abart psychologischer Romane
- 5 -
etc. — haben wir das Recht nur unter zweierlei Bedingungen zu
sprechen. Entweder die krankhaften Zuge, welche wir diagno-
stizieren, bilden einen geschlossenen Symptomenkomplex, welcher
uns gestattet, die Diagnose auf ein bestimmtes Leiden, eine distinkte
Seelenstörung zu stellen, oder die krankhaften Erscheinungen sind
nur ganz vereinzelt und gestatten an sich keinen Ruckschluss,
aber der ganze Vorgang, die Stellung des Helden zur Aussenwelt,
seine Reaktion auf äussere und innere Einflüsse lassen sich vom
ärztlichen Standpunkte nur erklären aus einer von Geburt an
krankhaften Anlage, aus einer mangelhaften nervösen Organisation.
Pathologische Dichterwerke, namentlich der neueren Literatur, die
zur ersten Gattung gehören, sind häufig; unter den Memoiren-
werken seien nur Rousseaus Schriften erwähnt, aus denen Möbius
die Krankengeschichte des Autors herauslesen konnte. Unter den
Dichterwerken der zweiten Gattung sei als besonders prägnates
Beispiel die Autobiographie «Anton Reiser** hervorgehoben,
herausgegeben von Karl Philipp, die den Untertitel „psychologischer
Roman** führt, in Wirklichkeit aber pathologischer Roman heissen
müsste. Hier treten krankhafte Symptome nicht gerade deutlich
und besonders zahlreich hervor, und selbst soweit sie O. Hin-
richsen^) neuerdings zusammengestellt hat, lassen sie sich wohl
auch auf gelegentliche äussere Einwirkungen zurückführen, aber das
ganzeWesen des kindlichen Reiser,dieeigentümlicheGestaltungseiner
Lebensschicksale und manches andere kann seine Erklärung nur
finden in einer neuropathischen Anlage seiner Person und in einer
mangelhaften und verkehrten Erziehung. In der vom literar-
ästhetischen Standpunkte vielleicht mangelhaften Fortsetzung der
Autobiographie von Friedrich Klischzigg finden wir die Bestätigung
unserer Diagnose, dass der „Anton Reiser** tatsächlich als gedruckte
Krankengeschichte gelten muss.
August Strindberg hat in einer Reihe seiner Bücher eine
Autobiographie, eine Geschichte seiner seelischen Entwickelung
abgefasst, in der er ohne jedes Vertuschungssystem in nackter,
eingehendster und erschöpfender Wahrheit ein Spiegelbild seines
Seelenzustandes in den verschiedensten Lebensphasen entwirft,
und in der er selbstlos und ernsthaft bemüht ist, seiner Mitwelt
und kommenden Geschlechtern einen Lehrer des Lebens abzu-
^ .Zur Kasuistik und Psychologie der Pseudologia phantastica*, Archiv
für Kriminalanthropologie und Kriminalistik Bd. 23. 1906.
— 6 —
geben. Die Werke Strindbergs, die wir als seine Lebens- und
Seelenbekenntnisse aufzufassen haben, sind:
«Der Sohn einer Magd"" (1886), deutsch unter dem Titel »Ver-
gangenheit eines Toren**. Von den vier Teilen des Buches sind
auch im Schwedischen nur erst drei erschienen.
Die Beichte eines Toren (1887).
Inferno 1897.
Legenden (1897—98).
Einsam (1903). Dazu kann auch noch ,Im roten Zimmer**
gerechnet werden.
Da die umfangreichen biographischen Schriften Strindbergs
noch nicht vollständig vorliegen, so wird als Ersatz und für die
erste Orientierung ein „Strindberg-Brevier**, mit dessen Herausgabe
der Autor selbst beschäftigt ist, und das demnächst im Schwedischen
erscheinen soll, willkommen geheissen werden.^)
Strindbergs Autobiographien sind eine wichtige Fundgrube
für den Psychologen, der sich für die Entwickelung des Menschen
und Künstlers interessiert, sie sind aber auch von höchstem
Interesse für den Seelenarzt und Psychiater, der hier in der ein-
gehenden Schilderung des Kindes im Eltemhause und in der Schule,
des Jünglings auf der Hochschule, des Mannes in der Ehe etc.
zahlreiche krankhafte Züge in ihrer Entwicklung und ihrer ver-
schiedenartigen Äusserung erkennt. Ohne diese Erkenntnis und
ohne Würdigung des krankhaften Momentes müssen Strindbergs
Schriften unverständlich bleiben. Des Künstlers Charakter ent-
wickelt sich auf einer neuropsychopathischen Grundlage. Insofern
sind Strindbergs autobiographische Schriften eine bemerkenswerte
Bereicherung jener Literatur, die wir im vorhergehenden als
pathologische bezeichnet haben.
Eine erschöpfende psychiatrische Analyse des gesamten auto-
biographischen Materials würde zu weit führen; wir beschränken
uns auf dasjenige Buch, welches in ausgesprochenster Weise und
gewissermassen auf dem Kulminationspunkt die krankhafte Seelen-
verfassung des Autors wiedergibt, welches, meist in Tagebuch-
form ein abgeschlossenes Krankheitsbild schildert, durch dessen
Erkenntnis wir erst einen Standpunkt gewinnen zum Verständnis
der voraufgehenden und der folgenden Bücher — wir meinen
') Ich verdanke diese Mitteilung Herrn Emil Schering, dem liebe-
vollen Strindberg-Übersetzer.
— 7 —
den «Inferno" mit dem vorangeschickten Mysterium: De creatione
et sententia vera mondi. Das Buch trägt offensichtlich den
Charakter einer Selbstschilderung; zum Überfluss schreibt der
Autor am Schlüsse:
«Der Leser, welcher dieses Buch ffir eine Dichtung
halten sollte, ist eingeladen, mein Tagebuch einzusehen, das
ich Tag ffir Tag seit 1895 gefuhrt habe, und aus dem dieses
nur ein ausgearbeiteter und geordneter Auszug ist*
Der ausgesprochen krankhafte Zug des Buches konnte auch
von Laien nicht übersehen werden; sein Inhalt ist auch von
anderer Seite als »krankhaft** bezeichnet worden. Ob damit der
ganze Inhalt des Buches erschöpft ist oder nicht, bleibt für uns
belanglos; unsere Aufgabe ist es zu prüfen, wie weit die krank-
haften Zuge sich zu einem abgeschlossenen Krankheitsbild
zusammenfassen lassen, welches die Erkrankung ist, um die es
sich handelt, wie sie sich entwickelt und verläuft, wie sie zu
beurteilen ist, und wie sie in der weiteren Entwicklung des Autors
zum Ausdruck kommt.
IL
Die Selbstschilderungen Strindbergs im Inferno beginnen mit
dem November 1894; er steht etwa im 50. Lebensjahre, er hat
eben Abschied genommen von seiner Frau, die nichts ahnend
auf eine baldige Ruckkehr rechnet, während der Ehemann eine
definitive Scheidung von Frau und Kind im Sinne hat und auch
in der Folge durchführt. Schon in den ersten Zeilen kommt
jene aus der „Beichte eines Toren** bekannte und zur fixen Idee
gewordene Wahnvorstellung zum Ausdruck, nach welcher seine
Frau Tag und Nacht seine Seele belauert, seine geheimen Gedanken
errät und, voll Eifersucht auf seine Liebe zur Erkenntnis, den Lauf
seiner Ideen überwacht. Wie mit seiner Familie so hat er auch
völlig mit seiner Lebensweise und seiner Beschäftigung gebrochen.
Er hat eben noch auf einer Pariser Bühne den ersten grossen Erfolg
errungen, sein Jugendtraum ist damit in Erfüllung gegangen —
aber er opfert mit seiner Liebe auch die Kunst, das
Theater stösst ihn in seiner jetzigen Stimmung ab, er folgt einem
neuen Berufe und wirft sich mit grossem Eifer der Wissenschaft
in die Arme. Er beschäftigte sich, indem er noch den gleichen
Abend ein kleines Laboratorium einrichtet, mit chemischen
- 8-
Experimenten. Seine Angaben über die Ergebnisse seiner Unter-
suchungen machen einen verworrenen und zum Teil Unverstand-
fachen Eindruck. Aber doch erkennt man gerade an ihnen deutlich
die EntWickelung seiner geistigen Erkrankung.
Anfangs ist sein Gedankengang noch geleitet von wissen-
schaftlichen Prinzipien, aber allmählich verliert er den wissenschaft-
lichen Boden und gerät völlig in ein mystisches Fahrwasser. Es
ist hier unsere Aufgabe nicht, den Wert und die Bedeutung von
Strindbergs chemischen Experimenten kritisch zu beurteilen. Sie
bezwecken im allgemeinen eine Analyse der einfachen Elemente
und beschäftigen sich zunächst in diesem Sinn mit dem Schwefel,
ferner mit dem Jod. Aber bald verlieren die Untersuchungen jede
wissenschaftliche Bedeutung, und wie der Alchymist im Mittel-
alter beschäftigt sich Strindberg mit der Herstellung von Gold.
Schon im Prodromalstadium der Krankheit hat er das Problem
Gold zu machen ins Auge gefasst Dies sein Gedankengang:
„Der Ausgangspunkt bestand in der Frage: Warum
schlägt schwefelsaures Eisen in einer Goldsalzlösung Metall-
gold nieder? Die Antwort war: Weil Eisen und Schwefel
einen wesentlichen Bestandteil des Goldes ausmachen. Der
Beweis ist, dass alle Schwefeleisenverbindungen der Natur
mehr oder weniger Gold enthalten. So begann ich also mit
Lösungen von schwefelsaurem Eisen zu arbeiten."
Auf einer weiteren Stufe der Entwickelung lebt er bereits in
dem Wahne, dass es ihm nach seinen Berechnungen und den
Beobachtungen der Metallurgen geglückt sei, Gold zu machen,
und er glaubt, es beweisen zu können ; auf der Höhe der Krank-
heit endlich glaubt er, die Eifersucht und den Hass seines ihn
behandelnden Arztes darauf zurückfuhren zu müssen, dass es ihm
selbst geglückt ist, Gold zu machen, während jener es nur halb
und halb zuwege gebracht hat
Kehren wir zurück zu dem Beginn der Erzählung. Schon
hier treten — zunächst in flüchtiger Andeutung, doch ganz deutlich —
krankhafte Symptome in die Erscheinung. Er fühlt sich verfolgt
von unbekannten Mächten, die es sich zur Aufgabe gemacht zu
haben scheinen, ihm das ganze Leben und Streben durch ihre
Verfolgungen zu vergällen. Mit dem Verfolgungswahn, der
hier bereits angedeutet ist, geht ein Bedürfnis nach Einsamkeit
einher; er wird menschenscheu, zieht sich zurück von allen
— 9 —
Gesellschaften, lehnt alle Einladungen ab und verleugnet sich vor
allen seinen Freunden. Schweigen, Einsamkeit breitet sich um ihn
aus, «das erhaben-schreckliche Schweigen der Wüste, in der ich
mich trotzig an dem Unbekannten messe, Leib an Leib, Seel* an
dCvIC • • •
' Wir haben hier als erstes und grundlegendes klinisches
Symptom der beginnenden Psychose die Niedergeschlagenheit,
Traurigkeit, Verstimmung und als weitere Folgen der psychischen
Dysaesthesie : Zurfickgezogenheit, Leutscheu, resp. ein feind-
liches Verhalten gegenüber der Aussenwelt. Dazu die psychische
Anaesthesie und damit im Zusammenhang die Gleichgültigkeit
gegen alle, selbst die sonst wichtigsten Lebensbeziehungen.
„Niemand teilt meine furchtbare Einsamkeit, und ich bin zu
stolz, jemanden aufzusuchen." Mit seiner Frau korrespondiert er
zunächst und schreibt ihr verliebte Briefe, aber in seiner Miss-
stimmung tut er sich selbst das Leid, „den Selbstmord**, an und
gibt in einem unverzeihlich nichtswürdigen Briefe Weib und Kind
den Laufpass, indem er sich stellt, als ob eine neue Liebschaft
seinen Geist beschäftige. Seine Beziehungen zur Aussenwelt hat
er abgebrochen; am Weihnachtsabend entschliesst er sich im
letzten Augenblick, eine bekannte skandinavische Familie aufzu-
suchen. Aber die Heiterkeit und Ausgelassenheit der Gesellschaft,
der freie ungebundene Ton stimmen ihn traurig und erregen ein
unbeschreibliches Missbehagen. „Gewissensbisse fiberfallen mich,
ich stehe auf, schütze ein Unwohlsein vor und gehe.** Auf der
Strasse beleidigt ihn die gemachte Lustigkeit der Menge, er eilt
von einem Caf^ ins andere, und schliesslich flieht er, „von
Eumeniden gepeitscht, unter den foppenden Geleitfanfaren der
Mirlitons nach Hause. **
Die ersten schwach angedeuteten Wahnideen kommen zum
Ausdruck, die ersten leichten Sinnestäuschungen, Paraesthesien,
Halluzinationen. Der Kranke fühlt sich als das Opfer einer
ungerechten Verfolgung, aber noch fehlt ihm jedes Schuldbewusst-
sein. „Der Gedanke an eine Züchtigung, als Folge meines Ver-
brechens, kommt mir nicht" Er lehnt sich gewaltsam gegen jedes
Schuldbewusstsein auf und beteuert wenige Zeilen später: „Ich
habe unrecht gehabt und zugleich habe ich recht gehabt und
werde recht behalten.* Das sind die Notizen über seine seelische
Verfassung an dem erwähnten Weihnachtsabend, die er mit den
- 10 —
folgenden kurzen Andeutungen schliesst: „Diese Weihnacht schh'ef
ich schlecht. Ein kalter Luftzug streifte mehrere Male
mein Gesicht, und von Zeit zu Zeit weckte mich der
Ton einer Quitarre** — die erste Andeutung von Halluzinationen,
die später viel gehäufter und intensiver auftreten sollten, und
die auch in der Folge hauptsächlich in der Form von Gehörs-
halluzinationen sich äusserten.
Verletzungen der Hände, die sich Strindberg bei seinen
chemischen Experimenten zugezogen hat, eine gewisse allgemeine
Hinfälligkeit und eine durch Vernachlässigung der Hände hervor-
gerufene Blutvergiftung zwingen ihn, ein Krankenhaus aufzusuchen.
Die Ruhe des Krankenhauses, die Pflege einer sich aufopfernden
Schwester, die ihn liebgewinnt und wie ein Baby behandelt,
besänftigen seine aufgeregten Nerven, erheitern sein Gemüt und
beseitigen allmählich seine psychische Depression. „Ich fange an,
mich mit meinem Lose wieder auszusöhnen und mein Unglück,
das mich unter dieses gesegnete Dach geführt hat, als Glück zu
preisen." In seiner gehobenen, glücklichen Stimmung bahnt er
auch eine neue Beziehung zu seiner Frau an. Er schreibt ihr wie
ein Liebhaber, berichtet ihr, wie die sogenannte Untreue eitel Lüge
gewesen und bittet sie um Verzeihung.
Die Besserung in Strindbergs Befinden war nur eine schein-
bare und vorübergehende, sie sollte den Aufenthalt im Kranken-
hause nicht überdauern. Am Abend vor seiner Entlassung aus
dem Krankenhause macht er einen Spaziergang durch die Strassen
der Stadt. Angst überfällt ihn, seinen Freunden geht er bedrückt
aus dem 'Wege, es wiederholt sich die Szene von Weihnachten:
„Gestäubt, gehetzt, zum Aussersten getrieben laufe ich wie ein
nächtlicher Herumstreicher den Boulevard entlang und heim zu
meinen Aussätzigen. Da endlich, und nur da in meinem Kerker,
fühle ich mich heimisch.*" Immer eindringlicher und fester beherrscht
ihn die Idee, dass die Vorsehung etwas mit ihm plant, dass ihn
eine unsichtbare Hand züchtigt und geisselt, ohne dass er noch
den Zweck und den Grund errät.
in.
Wenn uns die voraufgegangenen Aufzeichnungen Strindbergs
darüber belehren, dass wir den Beginn einer seelischen Störung
vor uns haben, so zeigen uns die folgenden Blätter, zum grossen
— 11 —
Teil in Form eines Tagebuches, wie die bisher angedeuteten
Symptome sich immer ernsthafter entwickeln, wie neue Störungen
auftreten, bis wir endlich den geschlossenen Symptomenkomplex
einer schweren Psychose vor uns haben. Die weitere Entwick-
lung des Leidens bis zum Höhepunkt der Krankheft umfasst die
Zeft eines Jahres, vom Sommer 1895 bis 96. Die Äusserungen
des Leidens sind so zahlreiche, die krankhaften Störungen treten
in so verschiedenen Formen und so gehäuft auf, dass es nicht
möglich ist, sie alle einzeln und eingehend zu besprechen. Ich
lasse mir daran genügen, den weiteren Fortgang und Ablauf des
Leidens und damit ein Bild von der seelischen Verfassung des
Autors in grossen Zügen zu geben, indem ich nur die markan-
testen Krankheitssymptome und ihren Ablauf hervorhebe.
Den Angstzustanden gesellen sich Selbstbeschuldigungen
bei. Der Kranke hat den Grund entdeckt, weshalb er bestraft wird ;
er hat seine Pflicht weder gegen Gott noch gegen die Menschen
erffilk (Versündigungswahn). Er empfindet die Strafe, welche ihn
trifft, als Sühne für eine begangene Schuld. Das Dasein einer
unsichtbaren Hand ist ihm zur Gewissheit geworden. Sobald er
gesündigt und gefehft hat, fühft er sich auf frischer Tat ertappt
und mft einer Pünktlichkeit und einem Raffinement bestraft, dass
er über das Eingreifen einer richterlichen Gewalt keinen
Zweifel mehr hegt. „Der Unbekannte ist mir ein persönlicher
Bekannter geworden, mit dem ich spreche, dem ich Dank sage,
den ich um Rat angehe.** — „Ein Bankrottier der Gesellschaft,
werde ich in einer andern Weft wiedergeboren, wohin mir niemand
folgen kann. Ehedem unbedeutende Ereignisse ziehen meine Auf-
merksamkeft auf sich, meine nächtlichen Träume nehmen die Form
von Ahnungen an, ich halte mich für einen Abgeschiedenen, und
mein Leben veriäuft in einer anderen Sphäre.**
In weiterem Verlaufe der Krankheft richtet sich der Ver-
sündigungswahn nicht bloss auf unsichtbare Mächte, sondern in
der Vorstellung des Kranken gehen die Verfolgungen auch von
bestimmten Personen aus, gegen die er sich in der einen oder
der anderen Form vor Jahren angeblich versündigt hat Ein Vor-
gang aus dem Sommer 96 ist so bezeichnend für den Seelen-
zustand des von Sinnestäuschungen und allen möglichen Wahn-
vorstellungen beherrschten Kranken, dass ich ihn hier wörtlich
wiedergebe :
- 12 —
„In dieser Stimmung sitze ich an einem schwulen
Nachmittag über meine Arbeit gebeugt, als ich mit einemmal
hinter dem Laube des Täichens vor mir Klavier spielen höre.
Ich spitze, wie das Schlachtross beim Ton der Trompeten,
die Ohren, richte mich auf, ringe in hoher Erregung nach
Atem. Man spielt den «Aufschwung* von Schumann. Und
noch mehr, er spielt! Er, mein russischer Freund, mein
Schuler, der mich ,Vater' nannte, weil er mir seine ganze
Bildung verdankte, mein Famulus, der mich Meister nannte
und mir die Hand kfisste, der sein Leben da begann, wo
das meine endete. Er ist von Wien nach Paris gekommen,
um mich zugrunde zu richten, wie er mich in Wien zugrunde
gerichtet hat — und warum? . . . weil das Schicksal gewollt
hatte, dass seine jetzige Gattin, ehe er sie kennen lernte,
meine Geliebte gewesen war. Konnte ich dafür, dass dies
so gekommen war? Gewiss nicht, und dennoch hasste er
mich tödlich, verleumdete mich, verhinderte die Annahme
meiner Stücke, fädelte Intriguen ein und beraubte mich so
der notwendigsten Hilfsmittel zu meiner Existenz. Damals
drehte ich in einem Anfall von Wut den Spiess einmal um
und traf ihn gut, freilich auf eine so rohe und feige Art,
dass ich darunter wie unter einem Morde litt. Dass er nun,
mich zu töten, gekommen ist, tröstet mich, denn der Tod
allein kann mich von meinen Gewissensbissen befreien."*
Die Verfolgung durch seinen ehemaligen Freund und Schüler
bildet zwar nur eine Episode im Krankheitsbilde, aber sie beherrscht
ihn doch durch lange Wochen. Die Freunde im Restaurant sind
von der Anwesenheit des Russen und seinen Absichten unterrichtet,
und die ganze Gesellschaft ist gegen ihn verschworen. «Noch
einmal also treibt mich dieser verfluchte Feind in Einsamkeit und
Verbannung.* Der Kranke will nichts mehr wissen von Tod, die
Demütigung wäre für ihn, die Ehre für seinen Feind zu gross, er will
den Kampf aufnehmen und sich verteidigen. Er wird von gemein-
samen Bekannten gewarnt, aber der Feind bleibt ihm unsichtbar.
,,Der Aufschwung von Schumann tönt über den
buschigen Bäumen, aber der Musiker bleibt unsichtbar und
lässt mich über seine Wohnung nach wie vor in Zweifel.
Einen ganzen Monat währt die Musik von vier bis
fünf Uhr nachmittags.**
- 18 —
Schliesslich erfährt er, dass der rfissische Feind unter der
Anklage, eine Frau und zwei Kinder, seine Geliebte und seine
zwei ausserehelichen Kinder ermordet zu haben, in Wien verhaftet
worden ist.
„Vielleicht haben seine blutdürstigen Instinkte unlängst
in Paris keinen Ausweg gefunden, und haben sich nun eigens
einen andern, gleichviel welchen, gesucht."
Die Verfolgung durch eine bestimmte Person als Vergeltung
für fernliegende Verfehlungen ist eine vorübergehende Episode.
Im allgemeinen beherrscht den Kranken während der voll entwickel-
ten Psychose die Dämonomanie, der Wahn, von Dämonen und un-
sichtbaren Mächten als Vergeltung seiner Sünden verfolgt zu werden.
„Furcht erfasst mich, wenn ich über mein Betragen während der
letzten Wochen gründlich nachdenke. Mein Gewissen beichtet mir
rückhalt- und erbarmungslos. Ich hatte durch Hochmut gesündigt,
durch Hybris, das einzige Laster, welches die Götter nicht ver-
zeihen. Der Gunst der Mächte bewusst, schmeichelte ich mir,
meinen Feinden gegenüber unbesiegbar zu sein und vergass die
gewöhnlichsten Regungen der Bescheidenheit' Eine viel prägnantere
Form nehmen die Selbstanklagen des Autors an in dem Epilog,
mit welchem er sein Buch abschliesst. Hier, wo er sein Buch
und seine Lebensbeichte den Lesern empfiehlt, „als ein Zeichen,
ein Beispiel, um anderen zur Besserung zu dienen,** äussert er sich
wörtlich über den Grund, weshalb er verfolgt und bestraft werde:
„Warum ist der Verfasser dieses Buches auf eine so
ungewöhnliche Weise bestraft worden? Leset das Mysterium,
welches dem Texte vorangeht.^) Dieses Mysterium ist vor
dreissig Jahren verfasst worden.**
Der Inhalt dieses Mysteriums, von dem Strindberg seine
Verfolgungen herleitet, ist: Lucifer, der gute, von dem „andern**
verjagte und abgesetzte Gott, wird wiederkehren, wenn der Usur-
pator, Gott genannt, durch sein elendes Regiment, seine Grau-
samkeit, seine Ungerechtigkeit sich vor den Menschen verächtlich
gemacht hat, und von seiner eigenen Unfähigkeit überzeugt
worden ist.
Die Verfolgungen, denen der Kranke ausgesetzt ist, kom-
binieren sich mit allen möglichen Halluzinationen. Bald wird er
') De creatlone et sententfa vera mundi.
- 14 —
in seinem Hotel gestört tlurch Klavierspiel in dem benachbarten
Zimmer; bald wird er aus dem Schlafe aufgescheucht dadurch,
dass auf der Seite seines Bettes ein Nagel eingeschlagen wird;
bald dadurch, dass es auf der Gegenseite klopft; bald wieder geht
während des Mittagsschlafes über seinem Alkoven ein Gepolter
los, dass der Putz der Decke ihm auf den Kopf fällt Er beklagt
sich, aber Niemand hat etwas wahrgenommen.
Die einfachsten harmlosesten Erscheinungen und Vorgänge
werden ins Ungeheuerliche gedeutet; die Gegenstände der Wirk-
lichkeit erscheinen ihm manchmal auf grandiose Weise in mensch-
licher Form.
Das zerdrfickte Kopfkissen deucht ihm ein Mannes-
kopf im Stile Michel Angelos; an anderen Tagen stellt das
Kopfkissen entsetzliche Ungetüme dar, gotische Drachen, Lind-
wurme, und gelegentlich begrusst ihn bei seiner Rückkehr der
Teufel selbst mit Feuerkopf und sonstigem Zubehör. „Furcht
ergriff mich niemals, es war immer allzu natürlich, aber der
Eindruck von etwas Abnormem, halb Übernatürlichem blieb immer
in meiner Seele haften.*"
Ein Hund liegt vor dem Hause, in das er eintreten will,
er macht sofort Kehrt und glaubt, dass ihn die Mächte ge-
warnt haben vor einer unbekannten Gefahr. Im Garten findet
er zwei dünne vom Wind abgebrochene Reiser, sie bilden
zwei griechische Buchstaben, den Anfangs- und den End-
buchstaben im Namen seines russischen Feindes. Also ver-
folgt er ihn, und die Mächte wollen ihn gegen die drohende Ge-
fahr schützen. Auch schmutzige und ekelerregende Dinge spielen
eine wichtige Rolle unter den Verfolgungen, denen er ausgesetzt
ist. Sehr bezeichnend ist die Schilderung der „Kothölle'', zu der
er bei dem Einzug in ein neues Hotel verurteilt ist. Er erzählt
wörtlich :
„Sehr zufrieden mit meinem Zimmer schlafe ich die erste
Nacht gut. Am andern Morgen entdecke ich, dass der
Abtritt in der Gasse unter meinem Fenster liegt und zwar
so nah, dass man die ganze Prozedur samt Auf- und Zu-
klappen des Deckels hören muss. Ferner entdecke ich,
dass auch die beiden runden Fensterchen mir gegenüber
zu Abtritten gehören. Zum guten Ende weisen auch noch
die hundert Fensterchen unten im Tale auf ebenso viele
— 15 —
Abtritte hin, die an der Rfickseite einer Häuserreihe h'egen.
Ich bin zuerst wütend, da ich aber nichts ändern kann,
verwünsche ich mein Schicicsal und beruhige mich.
Gegen ein Uhr bringt der Diener das Essen, und stellt,
da ich meinen Schreibtisch nicht in Unordnung bringen
will, das Tablett auf den Nachttisch, in dem das Nacht-
geschirr steht. Ich bemerkte ihm dies, aber er bedauerte
sehr, keinen andern Tisch decken zu können.*"
Die psychische Depression nimmt ständig zu: ihm ist zum
Sterben traurig, die Furcht für verrückt gehalten zu werden, von
einem Freunde, den er in einem seiner Träume gekränkt hat, als
Geisteskranker interniert zu werden, beherrscht ihn, er hat die
Empfindung irgend einer Katastrophe; Selbstmordideen und Selbst-
mordversuche.
„Die Grenze zwischen Leben und Tod kennen zu lernen,
lege ich mich auf das Bett, entkorke das Fläschchen mit
Cyankali und lasse es seine vernichtenden Düfte ausströmen.
Der Mann mit der Sense nähert sich sanft, wollüstig." Im
letzten Augenblick tritt jemand oder etwas dazwischen: „Die
Mächte verweigern mir die einzige Freude und ich beuge
mich ihrem Willen.*'
IV.
Im Juli dieses Jahres erreicht die Krankheit ihren Höhe-
punkt. Das Hotel ist leer geworden, die Studenten haben es
während der Ferien verlassen. Ein Unbekannter, der das an-
grenzende Zimmer bezieht, erregt zunächst des Kranken Neugierde
und steigert allmählich seine Angst ins Ungemessene. Der Unbe-
kannte spricht niemals und scheint sich hinter der trennenden
Wand mit Schreiben fortdauernd zu beschäftigen. Wenn der
Kranke seinen Stuhl rückt, rückt er auch den seinen, er ahmt
überhaupt alle seine Bewegungen nach, als ob er ihn ärgern
wollte. Das geht drei Tage lang so fort. Am vierten Tage macht
der Kranke folgende Beobachtung:
„Gehe ich schlafen, so geht der andere im Zimmer
neben meinem Tisch auch schlafen, liege ich aber ruhig im
Bett, so höre ich ihn sich im andern Zimmer niederlegen
und das Bett an meiner Wand besetzen. Ich höre es, wie
er sich parallel mit mir ausstreckt; er blättert in einem
- 16 -
Buch, löscht dann die Lampe aus, atmet laut, dreht sich
auf die Seite und schläft ein. Eine tiefe Stille herrscht
in dem Zimmer neben meinem Tisch. Er bewohnt also
beide. Es ist unangenehm, von zwei Seiten belagert zu
werden."
Die fortdauernden Angstzustände und das bedrückende Ein-
samkeitsgefuhl haben den Appetit herabgesetzt. Der Kranke isst
so wenig, dass der Aufwärter ihn bedauert. Dabei hört er in
völliger Abgeschiedenheit acht Tage lang nicht seine Stimme und
„ihr Ton beginnt aus Mangel an Übung bereits abzunehmen."
Die notwendigsten Mitteln fehlen ihm und er rafft noch
einmal alle seine Willenskraft zusammen um Qold zu machen,
„auf trockenem Wege durch Feuer". Er verschafft sich Ofen«
Schmelztiegel, Holzkohlen, Blasebalg und Zangen ; bei furchtbarer
Hitze arbeitet er wie ein Schmiedegeselle bis an die Hüften ent-
kleidet, der Rauch schlägt ins Zimmer und verursacht Kopf-
schmerzen, alle Versuche bleiben vergeblich, bei einem Blick
in das Innere des Tiegels hat er die Vision eines Totenkopfes
mit zwei leuchtenden Augen, die seine Seele wie mit übernatür-
licher Ironie durchbohren.
In seiner Gemütsbeklemmung und Angst nimmt der Kranke
zum Gebet seine Zuflucht, aber, wie gewöhnlich, lässt die
Hemmung der mit dem Gebet sonst verbundenen Erbauungs-
und Erleichterungsgefühle das Gebet unwirksam erscheinen. Die
Lektüre in der Bibel steigert seine Verzweiflung, er zweifelt an
seinen wissenschaftlichen Versuchen, ihn packt das Schuldbewusst-
sein an seiner Familie, die Steigerung des krankhaften Zustandes
gibt sich in dem Wahn zu erkennen, vom Teufel besessen zu
sein. Ein ganz typischer Verlauf! „Der gute Geist hat mich
auf den rechten Weg nach der Insel der Seligen geleitet, aber
Satan versucht mich. Man straft mich wieder. " Neben der
Dämonanie erhält sich konstant und in progressiver Steigerung
der Wahn, dass ein magnetisches Fluidum ihn beherrscht. „Aus
der Wand scheint ein magnetisches Fluidum zu strömen." Der
Zustand des von allen möglichen Wahnvorstellungen und Sinnes-
täuschungen beherrschten und von mächtiger Präkordialangst
befallenen Kranken ist ein bejammernswerter. Lassen wir ihn
selbst sein Befinden während der Abendstunden und in der Nacht
beschreiben :
— 17 —
«Ich nehme mich zusammen und stehe auf, um auszu-
gehen. Als ich durch den Flur komme, höre ich zwei
Stimmen in dem Zimmer neben meinem Tische flüstern.
Warum flüstern sie? In der Absicht, sich vor mir ver-
steckt zu halten.
Durch die Rue d' Assas gehe ich nach dem Jardin de
Luxembourg. Ich schleppe mich mfihsam, vom Kreuz bis
zu den Füssen gelähmt, vorwärts
Ich bin vergiftet! Das ist mein erster Gedanke. Und
Popoltsky, der Frau und Kinder durch giftige Gase getötet
hat, ist hier. Er hat nach dem berühmten Experiment von
Pettenkofer einen Gasstrom durch die Mauer geleitet. Was
soll ich tun? Zur Polizei gehen? Nein, denn wenn ich
keine Beweise vorbringen kann, wird man mich als einen
Verrückten einsperren.
Vae soll! Wehe dem einsamen Menschen, dem Sper-
ling auf dem Dache! Niemals war das Elend meines Da-
seins grösser, und ich weine wie ein verlassenes Kind, das
sich vor der Dunkelheit fürchtet.
Abends wage ich aus Furcht vor einem neuen Atten-
tate nicht an meinem Tisch sitzen zu bleiben und lege mich
zu Bett, ohne dass ich mich einzuschlafen getraute. Die
Nacht bricht herein und meine Lampe brennt. Da sehe ich
draussen an der gegenüberliegenden Mauer, von meinem
Fenster aus, den Schatten einer menschlichen Gestalt sich
abheben, ob Mann oder Frau, wüsste ich nicht zu sagen,
aber ich glaube, es war eine Frau.
Als ich aufstehe, um es auszuspionieren, senkt sich
das Rouleau geräuschvoll nieder, dann höre ich den Unbe-
kannten in das Zimmer neben meinem Alkoven treten, und
alles ist still.
Drei Stunden bleibe ich mit offenen Augen liegen, in
die der gewöhnliche Schlaf nicht kommen will. Da durch-
läuft meinen Körper ein beunruhigendes Gefühl : ich bin das
Opfer eines elektrischen Stromes, der zwischen den beiden
benachbarten Zimmern hin und her geht. Die Spannung
wächst, und trotz meines Widerstandes halte ich es im Bett
nicht mehr aus, nur von einem Gedanken besessen:
Man mordet mich ! Ich will mich nicht morden lassen !
Qrenzfragen d. Lit. u. Medizin. 6. Heft 2
- 18 -
Ich gehe hinaus, um den Diener in seiner Loge am
Ende des Korridors zu sehen» aber ach, er ist nicht da.
Man hat ihn also entfernt, beiseite gebracht, er ist still-
schweigender Komplize, ich bin verraten I
Ich steige die Treppen hinab und durcheile die Korri-
dore, um den Vorstand der Pension zu wecken. Mit einer
Geistesgegenwart, deren ich mich nicht fär fähig gehalten,
erzähle ich ihm von einem plötzlichen Unwohlsein, das von
den Ausdünstungen meiner Chemikalien herrühre, und ver-
lange für die Nacht ein anderes Zimmer.
Das einzige freie Zimmer liegt dank der zornigen Vor-
sehung gerade unter dem meines Feindes.
Ich öffne das Fenster und atme in vollen Zügen die
frische Luft einer Sternennacht ein. Über den Dächern der
Rue d*Assas und der Rue de Madame sind der Grosse Bär
und der Polarstern sichtbar.
Nach Norden also! Omen accipiol
Als ich die Vorhänge meines Alkovens zuziehe, höre
ich über meinem Kopfe den Feind, der aus dem Bette steigt
und einen schweren Gegenstand in einen Koffer wirft, dessen
Deckel er mit einem Schlüssel verschliesst
Er versteckt also etwas; vielleicht die Elektrisier-
maschine!'*
Strindberg hat am nächsten Morgen unter der Vorwande,
einen Ausflug ans Meer zu machen, unter allen möglichen Vor-
sichtsmassregeln, um nicht verfolgt zu werden, seine Wohnung
verlassen. Er mietet sich zunächst in Paris selbst in einer land-
schaftlich bevorzugten Gegend in der Nähe des Jardin des plantes
ein, wo er inkognito bleiben will, um vor seiner Abreise nach
Schweden seine Studien zu vollenden.
Die Ortsveränderung, der Glaube, den ihm nachstellenden
Feinden entgangen zu sein, die schöne ruhige Umgebung beein-
flussen zunächst sehr günstig sein Befinden. Er wird ruhig, er
sitzt stundenlang in einem Sessel auf dem Vorplatz des Garten-
hauses, er kann allmählich auch wieder arbeiten und nachtsüber
ruhig schlafen. Dabei besteht die Krankheit selbst fort, nur die
akuten Steigerungen, die Exaltationen haben sich beruhigt, die
gewaltsamen Entleerungen der präkordialen Angst nach aussen
haben nachgelassen. Die Wahnvorsteilungen und die Selbst-
— 19 —
besdiuMigungen bestehen latent fort. Er deutet auch jetzt noch
die fiberstandenen Qualen als Verfolgungen wirklicher Feinde und
sieht in dem gegenwärtigen Wohlbefmden nur eine Pause in seinen
wohlverdienten Strafen. Immerhin fühlt er sich vor seinen Ver-
folgern so weit sicher, dass er seine Adresse in die frühere Pension
sendet, um durch Wiederaufnahme seiner Korrespondenz wieder
in Beziehung mit der Aussenwelt zu treten.
Kaum aber hat er sein Inkognito gelüftet, so weicht die
Ruhe von ihm, „der Friede ist gebrochen*". AHes deutet auf
erneute Ausbruche und Aufruhr hin. Neben seinem Zfmmer im
Erdgeschoss liegt ein bisher leeres Zimmer, in dem jetzt Sachen
aufgestapelt werden, deren Gebrauch ihm n^nerkläiiich ist. In der
Strasse beginnt es zu lärmen. Es gilt nach Strindbergs Wahn die
Herstelkmg einer nfhihstischen Höllenmaschine. Die Pensions-
vorsteherin ändert ihr Benehmen, sie sucht ihn auszukundschaften
und ärgert ihn auch durch die Art ihres Qrusses. Die unwesent-
lichsten Voi^änge erregen den Verdacht des Kranken und machen
ihn misstrauisch : Im ersten Stockwerk ist der Mieter ausgezogen
resp. hat das Zimmer gewechselt; der Kranke grübelt über den
Grund. Das Dienstmädchen, das das Zimmer besorgt, ist ernst
geworden „und wirft mir mitleidige Seitenblicke zu"*. Neue Hallu-
zinationen : „Jetzt fängt mit einem Male ein Rad an, sich über mir
zu drehen, den ganzen Tag über zu drehen. Ich bin zum Tode
verurteilt! Das ist meine feste Überzeugung! Von wem? Von
den Russen, den Muckern, Katholiken, Jesuiten, Theosophen?
Als was? Als Zanberer oder Schwarzkünstler? Oder von der
Polizei? Als Anarchist?**
In seinem krankhaften Wahn hält sich der Patient zum Tode
verurteilt, und er sieht in seinem Tode eine Sühne, eine Lektion
für Verchuldungen, und die scheinbar von Menschenhand ge-
sponnene Intrigue geht von einer stärkeren Hand aus, die jene
Menschen, ihnen unbewusst, ja gegen ihren Willen fuhrt. Der
Kranke resigniert, er ist auf den Tod vorbereitet, nichts mehr
bindet ihn an das Leben: er ordnet seine Papiere, vernichtet
andere, schreibt die notwendigsten Briefe und geht nach dem
Jardin des plantes, um von der Schöpfung Abschied zu nehmen.
Die Vorgänge der nun folgenden Nacht mit dem neuen
schweren Anfall gebe ich, soweit sie uns interessieren, mit den
Worten des Kranken selbst wieder:
2*
- 20 —
.Als ich den Hotelgarten wieder betrete, wittere ich die
Gegenwart eines Menschen, der während meiner Abwesen-
heit gekommen sein muss. Ich sehe ihn nicht, aber
ich fühle ihn.
Was meine Verwirrung noch erhöht, ist die sichtbare
Veränderung, die sich mit dem anstossenden Zimmer zu-
getragen hat Eine über einen Strick gehängte Decke soll
offenbar etwas verbergen. Auf dem Kaminsims sind Stösse
von durch Hölzer isolierten Metallplatten aufgestapelt, auf
jedem Stoss liegt ein Photographiealbum oder irgend ein
anderes Buch, augenscheinlich, um diesen Höllenmaschinen,
die ich für Akkumulatoren halten möchte, ein unschuldiges
Äussere zu geben. Zum Überfluss sehe ich auf einem Dach
der Rue Censier und gerade meinem Gartenhaus gegenüber
zwei Arbeiter. Was sie da oben machen, kann ich nicht
erkennen, aber sie scheinen es auf meine Glastür abgesehen
zu haben und hantieren mit Gegenständen, die ich nicht
unterscheiden kann.
Warum fliehe ich nicht? Weil ich zu stolz bin und
das Unvermeidliche ertragen werden muss.
Ich bereite mich also auf die Nacht vor. Ich nehme
ein Bad ... Ich rasiere und parfümiere mich und lege die
Wäsche an, die ich mir vor drei Jahren in Wien zu meiner
Hochzeit gekauft habe . . . die Toilette eines zum Tode Ver-
urteilten.
Als ich die Vorhänge meiner Glastür niederlasse, sehe
ich im Privatsalon eine Gesellschaft von Herren und Damen
beim Champagner sitzen. Augenscheinlich sind es diesen
Abend angekommene Fremde. Aber es ist keine lustige
Gesellschaft; die Gesichter sind alle ernst, man debattiert,,
scheint Pläne zu schmieden und macht sich leise Mitteilungen»
als handle es sich um eine Verschwörung. Meine Qual auf
die Spitze zu treiben, drehen sie sich auf ihren Stühlen um
und zeigen mit den Fingern nach der Richtung meines
Zimmers.
Um zehn Uhr lösche ich meine Lampe aus und schlafe
ruhig, resigniert wie ein Sterbender ein.
Ich wache auf, eine Uhr schlägt zwei, eine Tür wird
zugemacht und ... ich bin ausserhalb des Bettes, als hätte
— 21 —
man mir eine Luftpumpe ans Herz gesetzt und mich so
herausgezogen. Zugleich trifft ein elektrischer Strom meinen
Nacken und drückt mich zu Boden. Ich richte mich wieder
auf, ergreife meine Kleider und steige, eine Beute des
fürchteriichsten Herzklopfens, in den Garten hinab.**
In seiner furchtbaren Angst will der Kranke zur Polizei und
eine Haussuchung veranlassen, doch die Haustür ist verschlossen,
wie die Portierioge. Er gelangt allmählich ins Freie, und im
Garten, ausserhalb der Gewaft seiner Feinde, wird ihm allmählich
wohl, und das aufgeregte Herz beruhigt sich. Die Wahnvorstel-
lungen halten an : er hört in dem Zimmer, das an das seine stösst,
ein Husten, ein leises Husten antwortet im darüberiiegenden
Zimmer — ein verabredetes Zeichen.
Vom unnützen Kampf gegen die Unsichtbaren ermüdet, sinkt
er auf einen Gartenstuhl und unter den Sternen einer schönen
Sommernacht verfällt er in einen tiefen Schlaf.
Die Angst treibt ihn von dannen, am nächsten Tage packt
er schleunigst seine Sachen, um in Dieppe bei Freunden ein
Unterkommen zu suchen. Die Pensionsvorsteherin will er sprechen,
sie lässt sich wegen eines Unwohlseins entschuldigen. Er hat es
so erwartet, da sie gewiss an dem Komplott gegen sein Leben
beteiligt war; er veriässt das Haus mit einem Fluch auf das Haupt
seiner diebischen Feinde.
In Dieppe erschrecken die Freunde vor seinem Anblick.
Er sieht zum Erbarmen aus: das Gesicht vom Rauch der Loko-
motive geschwärzt, die Backen eingefallen, die Haare voll Schweiss
und grau geworden, die Augen scheu und die Wäsche voll Schmutz.
Die anfängliche Beruhigung, die ein Wechsel des Aufenthalts
bisher regelmässig mit sich brachte, bleibt hier aus. Die äusseren
Bedingungen sind die denkbar günstigsten. Die Wirtsleute sind
auf das liebevollste um ihn besorgt und tun alles, um ihn zu
beruhigen. Aber das Schuldbewusstsein lässt ihn nicht los; er
macht sich fortwährend Vorwürfe, dass er sich gegen die gast-
liche Familie früher undankbar benommen hat. Zur Busse wird
er auch hier durch die Furien verjagt werden. In dem schönen
Künstlerheim, in dem glücklichen, geordneten Haushaft voller
Sauberkeit und Luxus, in dieser Atmosphäre von Schönheft und
Güte, die ihm wie ein Paradies erscheint, fühft er sich ein Ver-
dammter.
- 22 -
Er bezieht eine Dachstube mit der Aussicht auf einen Hfigel.
Am Abend beobachtet er zwei Männer, die nach der Villa spähen
und auf sein Fenster deuten ; sofort nimmt ihn die Idee» elektrisch
verfolgt EU werden, aufs neue in Besitz. Die Fremde wenden
alles auf zu seiner Beruhigung. Alle Mansardenzinmier« ja selbst
der Bodenraum werden geraeinsam durchsucht, um ihn zu
vergewissern, dass niemand sich dort in schlechter Absicht ver*
steckt halte. Unausgekleidet legt er sich aufs Bett, um die ver-
hängnisvolle zweite Stunde abzuwarten. Bis zwei Uhr ist alles
ruhig, dann öffnet er beide Fenster, zQndet zwei Kerzen an und
setzt sich an den Tisch hinter die Leuchter. Da fühlt er, zunächst
nur schwach, etwas wie ein elektrisches Fluidium; er greift den
Kompass und beobachtet keine Spur von Abweichung.
»Aber die Spannung wächst, das Herz schlägt energisch;
ich leiste Widerstand, aber wie von einem Blitzschlag ist
mein Körper mit einem Ruidum fiberladen , das mich er-
stickt und mir das Blut aussaugt.*
Er steigt die Treppe herunter nach dem Salon im Erdgeschoss,
wo man ein provisorisches Bett für den Fall der Not aufge-
schlagen hat. Von neuem sucht er einzuschlafen, „aber wie ein
Zyklon trifft mich eine neue Entladung, reisst mich vom Bett
und die Jagd beginnt aufs neue. Ich verstecke mich hinter die
Mauern, stelle mich unter die Türen, vor die Kamine. Überall,
überall finden mich die Furien**.
Von Seelenangst fiberwältigt, flfichtet er in panisdiem
Schrecken vor allem und nichts von Zimmer zu Zimmer und
endet damit, sich auf dem Balkon zusammenzukauern. Die durch
schwere Angstanfälle bedingte Unruhe währt bis zum Morgen, erst
dann sinkt er wie ein Toter aufs Bett zu schwerem Schlaf.
Wieder verlässt er am nächsten Tage das gastliche Heim,
er denkt an eine nervöse Krankheit, die ärztlicher Hilfe bedarf,
und er reist nach Schweden, um dort einen befreundeten Arzt
aufzusuchen.
Der Direktor des Kreiskrankenhauses in einem kleinen
Stadtchen des sudlichen Schwedens ist Witwer und bewohnt allein
ein klosterartiges Gebäude. Das leidende Aussehen seines
Freundes lässt den sachverständigen Arzt das schlimmste ahnen,
aber der Kranke, aus Argwohn, er könnte ihn einsperren lassen,
simuliert und erzählt von Schlaflosigkeit, Nervosität, bösen Trämnen.
- 23 -
Hier in der Umgebung des Atztes, dem er sich nicht entdeckt,
erreichen die Unruhe, die Wahnvorstellungen, die Angstgefühle
zunächst ihren Höhepunkt.
Die vier Messin^ugeln auf den Pfeilern der amerikanischen
Bettstelle in seinem Stäbchen erscheinen ihm wie die Leiter einer
Elektrisiermaschine. Die elastische Matratze mit kupfernen und
gleich Rumkorffschen Spiralen gewundenen Sprungfedern vervoll-
kommnet die elektrische Anlage. Ängstlich steigt er in den Boden-
raum, um sich zu vergewissern, dass über ihm nichts versteckt
sei. Der einzige Gegenstand, der sich im Räume befindet, ein
zusammengerolltes Drahtnetz, steigert seine Verzweiflung aufs
höchste. »Man könnte sich keinen besseren Akkumulator wünschen.
Im Falle eines Gewitters, der hier sehr häufig eintritt, wird das
Drahtgeflecht den Blitz anziehen und ich werde auf dem Kon-
duktor lie^n . . ." Ständiges Ohrensausen peinigt den Kranken
seit Beginn der Psychose; jetzt beunruhigt ihn dazu das Getöse
einer Maschme in der angrenzenden Druckerei.
«Die gefürchtete Nacht kommt Der Himmel ist be-
deckt, die Luft schwül; man erwartet ein Gewitter. Ich
wage nicht, mich schlafen zu legen und schreibe zwei
Stunden lang Briefe. Wie zerschlagen vor Mattigkeit kleide
ich mich endlich aus und schleiche mich ins Bett Die
Lampe ist erloschen, eine entsetzliche Stille ist im Hause.
Ich fühle, wie jemand im Dunkeln auf mich lauert, mich
berührt, mein Blut zu saugen, nach meinem Herzen tastet
Ohne es abzuwarten, springe ich aus dem Bett, reisse
das Fenster auf und stürze mich in den Hof hinunter —
aber ich habe die Rosensträucher vergessen, deren spitzige
Dornen mir das Hemd durchstechen. Zerrissen und blut-
überströmt suche ich mich über den Hof.
Kieselsteine, Disteln und Brennesseln eerschinden
meine nackten Füsse, unbekannte Gegenstände bringen mich
zum Ausgleiten, endlich gewinne ich die Küche, die an die
Wohnräume des Arztes stösst Ich klopfe. Keine Antwort !
— Plötzlich entdecke ich, dass es fortwährend regnet I
O Elend, über Elend! Was habe ich getan, diese Martern
zu verdienen? Hier ist die Hölle! Miserere! Miserere!*
Endlich gelingt es ihm, den Arzt zu wecken. Simulation ist
nicht mehr möglich; er entdeckt dem Arzte seinen Seelenzu^nd
— 24 —
und schildert seine Krankheit vom ersten Beginn. Der Arzt er-
klärt ihn für geisteskrank, aber anstatt den Leidenden, wie es
vom ärztlichen Standpunkt unbedingt angebracht gewesen wäre,
einer geeigneten Anstalt zu fiberweisen, behält er ihn im eigenen
Hause und nimmt ihn selbst in Behandlung.
Eine Kaltwasserkur bessert den Zustand, der Kranke hat
das Zimmer gewechselt und verbringt nach eigener Angabe die
Nacht jetzt ziemlich ruhig, wenn auch nicht ohne Ruckfälle. Im
übrigen ist die Behandlung während der dreissig Tage, die
Strindberg bei seinem Arzte zubringt, eine allgemein diätetische;
er hält ihn zu passender Tätigkeit und Beschäftigung an, er kon-
trolliert seine Lektüre, er sucht ihn suggestiv zu beeinflussen.
Seine Bemühungen haben Erfolg insofern, als die nächtlichen
Anfälle, die Präkordialangst, die Delirien fortbleiben, aber die
Wahnvorstellungen bestehen, und der Verdacht des Kranken richtet
sich gegen den eigenen Arzt und Freund. Jedes Wort von ihm, jede
Handlungsweise err^ seinen Argwohn. Bald glaubt er, dass er ihn
verächtlich behandelt mit einer entwürdigenden Brutalität, bald findet
er ihn selbst unglücklich, wenn er liebevoll mit ihm umgeht und ihn
wie ein krankes Kind pflegt und tröstet »Ein anderes Mal
wieder macht es ihm Freude, einen Mann von Verdienst,
den er früher hochgeschätzt, mit Füssen treten zu können. Dann
predigt er wie ein unerbitüicher Peiniger.** Der Argwohn wandelt
sich allmählich in Hass, der Arzt ist bestochen, er beneidet ihn und
spielt dem Kranken gegenüber eine von der Vorsehung bestimmte
Rolle. Schliesslich löst diese erbitterte Stimmung des Kranken
gegen seinen Arzt einen letzten nächtlichen Anfall aus. Gewisse
Hantierungen des Arztes in der Nachbarschaft seines Schlaf-
zimmers ängstigen den Kranken.
»Halb entkleidet erwarte ich stehend, unbew^ich, ohne
zu atmen das Resultat dieser geheimnisvollen Vorbereitungen.
Da strahlt auch schon wieder das wohlbekannte elek-
trische Fluidum durch die Wand an meinem Bett, sucht
meine Brust und unter dieser mein Herz. Die Spannung
wächst ... ich greife nach meinen Kleidern, gleite durchs
Fenster und ziehe mich erst ausserhalb des Hauses an.*
Auf der Strasse kommt der Kranke allmählich zu sich, und
er eilt geradewegs in die Stadt zum Arzte. Die nächtliche
Störung entschuldigt er mit seinen Beschwerden: Schlaflosigkeit,
- 25 -
Herzklopfen, verlorenes Vertrauen zu seinem Arzte. »Mein vortreff-
licher Freund» dessen Gastfreundschaft ich angenommen hatte,
behandle mich als eingebildeten Kranken und wolle mich nicht
anhören." Bei einer Zigarre und einem Glase Wein verplaudern
die beiden zwei Stunden, der Arzt versteht es geschickt auf die
Eigenart des Kranken und seine theoretischen Anschauungen ein-
zugehen, und der Kranke ist glücklich als anständiger Mensch
und nicht als elender Idiot sich behandelt zu sehen. Der Arzt
versteht es schliesslich die Angst und die Besorgnisse des Kranken
so weit zu zerstreuen, dass er nach kurzem Widerstand noch in
derselben Nacht mit ihm in das Haus des Freundes zurückkehrt.
Nach diesem letzten maniakalischen Anfall nimmt die Krank-
heit eine entschiedene Wendung zum besseren. Der Argwohn
gegen den Freund verwandelt sich in Mitleid; Strindberg berichtet
selbst: meine Gesundheit ist nun wieder hergestellt; ich schlafe
ruhig und arbeite fleissig. Die bösen Geister sind von ihm ge-
wichen, seine Stimmung ist eine heitere, zufriedene. Vor allem
aber macht sich als objektives Merkmal der entschiedenen Besse-
rung eine Sehnsucht nach der eigenen Häuslichkeit geltend, und
als er einen liebevollen Brief von seiner Frau bekommt, der ihn
ihrer Liebe und des Mitgefühls ihrer Eltern versichert und ihn
auffordert, seine Tochter bei den Grosseltern auf dem Lande zu
besuchen, ist sein Entschluss gefasst.
«Das ruft mich ins Leben zurück! Mein Kind, meine
Tochter geht meiner Gattin vor. Ich lebe wieder
auf, erwache wie aus einem langen, bösen Traum und
verehre den strengen Willen des Herrn, dessen harte aber
weise Hand mich geschlagen. Jetzt begreife ich die dunklen,
erhabenen Worte Hiobs: ,Siehe, selig ist, wen Gott straft !***
Ich habe die Vorgänge auf der Höhe der Erkrankung und
ihren Verlauf, wie sie Strindberg in einem „Die Hölle** über-
schriebenen Kapitel schildert, eingehender und an prägnanten
Stellen mit des Autors eigenen Worten wiedergegeben, um dem
Vorwurf zu entgehen, künstlich Symptome zusammenzustellen
und Einzelheiten herauszugreifen. Aus der Wiedei^abe dieses
Kapitels muss auch dem Laien einleuchten, dass es sich um
einen krankhaften Zustand und eine schwere Psychose handelt,
die sich allmählich und langsam entwickelt hatte, unter heftigen
- 26 -
Erscheinungen von Wahnsinn und Sinnestäuschungen ihren Höhe-
punkt erreichte, und dann bei geeigneter Behandlung langsam
abklang. Es ist nicht angängig, wie dies erst neuerdings in
einem „psychologischen Versuch'* geschehen ist, die Lebensphase
welche Strindberg in seinem Inferno schildert, als eine Krisis zu
bezeichnen, aus der der Kunsder geboren wurde, das Buch selbst
als ein solches, in dem sich sein Faustischer Zwiespalt aufs stärkste
konzentriert, in dem Liebe und Mass so toll auf einander los-
platzen, wie Wissenschaf fliches Streben und mysttsch-theosophisches
Ahnen, in dem Strindbergs Bemuhen, beide Extreme zu vereinen,
ihn selbst betäubt und benebelt. Nein, Inferno bedeutet die gran-
diose, künstlerisch vollendete Schilderung einer geistigen Er-
krankung von Seiten eines Autors, dessen neuropsychopathische
Belastung seine früheren Offenbarungen und Geständnisse zur
Evidenz erwiesen. Übrigens zeigen verschiedene Andeutungen,
dass Strindberg selbst sich, wenigstens im Stadium der Besserung,
seiner voraufgegangenen Erkrankung bewusst war.
Wekrhe Form geistiger Erkrankung vorliegt? Strindberg selbst
spricht an einzelnen Stellen seines Buches, dass die Ärzte seine
Erkrankung für Paranoia (Verrücktheit) hielten. Ich möchte dem
widersprechen. Nach meiner Auffassung handelte es sich um
]'' Melancholie, und zwar zunächst um die typische Melancholia
7 , V' moralis mit dem Verlangen nach Einsamkeit, unbestimmter Furcht,
>'^''\'.''; .Todesgedanken, Suicidialideen, mit Versündigungswahn. Dazu
gesellte sich im weiteren Veriauf der Symptomenkomplex der
'\^ Präkordialangst mit Anfällen von Raptus melancholknis, mit
,(. -^l, ^ Wahnideen und Sinnestäuschungen. Es ist ein in seinem
^^ „^ ' ' ' Symptomenkomplex und in seinem Ablauf typischer Schulfall von
'Melancholie, der auf dem Höhepunkt seiner Entwickhing als
^ Melancholia daemomaniaca sich darstellt.
Bemerkenswert an dem Krankheitsbilde erscheint nur, dass
die Angstanfälle nicht wie gewöhnlich in den Morgenstunden auf-
treten, sondern regelmässig in den Abendstunden resp. in der
Nacht Und femer wirkt es befremdend, die Wahnvorsteiiung,
von Dämonen und bösen Geistern verfolgt zu werden, bei einem
geistig so hochentwickelten und gebikleten Patienten zu finden,
da wir gewohnt sind, diesen Zustand gerade bei ungebildeten Leuten
sich entwickeln zu sehen, denen die Entziehung des Himmels und
der göttlichen Gnade gleichbedeutend ist mit Heimfall an Hölle
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— 27 —
oder Teufel. Es sei noch kurz erwähnt, dass differentiell dia- ^ ^ /
gnostisch Paranoia schon deshalb nicht in Beü-acht kommt, weil yl ^>/\'^^;
in der Hchtvollen Schilderung des Kranken die Verfblgungsvor
«'r... 'XK>^'-//
Stellungen immer mit Selbstbeschuldigungen einhergehen, und A^^f^^f^J^^yH*^
Kranke die Verfolgungen wohl für g rausam, aber nk:ht für un-^^- > w v '^'!
berechtigt und unverdient ansieht ^ . ^ri^/'<rf^''''
Strindberg ist nach der Abreise von seinem Arzte in ein ^
Dorf nach Böhmen geeilt, wo er bei seiner Schwiegermutter und
seiner zweijährigen Tochter lebt Sein Zustand ist gebessert in-
sofern, als die regdmässigen Anfälle von raptus melancholicus zu-
nächst aufgehört haben, die Unruhe sich gelegt hat; aber eine grosse
psyschische Schwäche ist zurückgeblieben. Rückfälle selbst in die
agitierte Form der Melancholie treten auf äussere Veranlassung
leicht ein, die Stimmung ist meist eine anhaltend deprimierte, der
Verfolgungs- und Versnndigung$wahn ist nicht von ihm gewichen;
die liebevoll um ihn besorgten Angehörigen erkennen seinen Zu-
stand als Krankheit, führen ihn auf das einsame Leben zurück
und sind sich darüber einig, dass er einen Arzt nötig hat An-
fangs zwar geht alles gut „Acht ruhige Tage und acht ruhige
Nächte verbringe ich in dem rosa Zimmer. Meine Herzensfreude
kehrt mit den täglichen Besuchen meines Töchterchens wieder, das
mich liebt, geliebt wird und liebenswert ist; von meinen Ver-
wandten werde ich wie ein krankes, verzogenes Kind gepflegt"
Der traurige Winter in dem einsamen Dorfe, missliche Verhältnisse
unter seinen Angehörigen bringen Rückfälle in den alten Zustand,
und es fehlt nicht an unruhigen Nächten, in denen, wenn auch
nur ^legentlich, die früheren Anfälle in der gieichai Heftigkeit
wiederkehren« Ich verzichte auf eine fortlaufende eingehende
Schilderung seines Seelenzustandes und gebe nur einige Proben
aus seinen Tagebucheintragungen:
«17. September. Ich erwache nachts und höre von der
Kirche des Dorfes dreizehn Schläge. So^eich überfällt mich
der elektrische Zustand, nnd ich glaube, auf dem Boden
über mir ein Geräusch zu vernehmen.
19. September. Ich durdisuche den Boden und ent-
decke ein Dutzend Spinnrodcen, deren Räder mich an Elek-
trisiermaschinen erinnern.
- 28 -
Zwischen Mitternacht und zwei Uhr bricht ein furcht-
bares Gewitter los. Gewöhnlich erschöpft und verzieht sich
ein Gewitter bald wieder; dieses jedoch bleibt zwei Stunden
lang über dem Dorfe stehen. Jeder Blitz ist ein persönlicher
Angriff auf mich, aber keiner trifft mich."
Während des Herbstes mit seinen Stürmen, Regengüssen und
finsteren Nächten verschlimmert sich der Zustand des Patienten,
die Dämonen haben wieder Gewalt über ihn, und er fühlt sich
verfolgt von Feinden, d. h. den von seinem bösen Wollen Ver-
letzten.
„Den Tag über arbeite ich in meinem Häuschen. Aber
es scheint, dass die Mächte mir seit einiger Zeit nicht mehr
wohlwollen. Bei meinem Eintritt finde ich oft die Luft
stickig, wie vergiftet. In einen dicken Mantel gehüllt und
eine Pelzmütze auf dem Kopfe, sitze ich am Tisch und
schreibe, und kämpfe gegen die sogenannten elektrischen
Anfälle, die mir die Brust beengen und auch in den Rücken
stechen. Oft scheint es mir, dass jemand hinter meinem
Stuhle stehe. Dann steche ich mit meinem Dolch hinter
mich und bilde mir ein mit einem Feinde zu kämpfen. So
geht es bis fünf Uhr abends. Wenn ich länger sitzen bleibe,
wird der Kampf schrecklich, bis ich endlich, völlig erschöpft,
meine Laterne anstecke und zu meiner Mutter und meinem
Kinde gehe.*"
Die Unruhe und die mit allen möglichen Sinnestäuschungen
und Halluzinationen einhergehenden Angstzustände während der
Nacht erreichen gelegentlich eine erschreckende Höhe.
„Ich ziehe den Schlachtmantel und die Stiefel wieder
an und setze die Mütze auf, fest entschlossen, so angekleidet
mich niederzulegen, bereit, wie ein tapferer Krieger zu
sterben, der den Tod herausfordert, nachdem er das Leben
verachtet hat. Gegen elf Uhr fängt die Luft in dem Zimmer
an, dick zu werden, eine tödliche Angst bemächtigt
sich meines mutigen Herzens. Ich mache die Fenster auf.
Ein Luftzug droht die Lampe auszulöschen. Ich schreibe
wieder. Die Lampe fängt zu singen, zu seufzen, zu wimmern
an; dann wieder Stille. Ermüdet lege ich mich
wieder aufs Bett und versuche zu schlafen. Alsbald erneuert
sich das alte Spiel. Ein elektrischer Strom sucht mein
i
— 29 —
Herz, die Lungen hören auf zu arbeiten, ich muss mich
erheben oder ich sterbe. Ich setze mich auf einen Stuhl,
bin aber zu erschöpft, um lesen zu können, und verharre
so eine halbe Stunde lang, stumpfsinnig, abwartend."
Nach einem vergeblichen Versuch auszugehen:
.Als ich die Zimmertüre öffne und eintrete, scheint
es mir, als sei die Stube von feindlichen Lebewesen erffiUt,
und das so sehr, dass ich meine, mich durch ihre Menge
hindurchdrängen zu müssen, als ich mein Bett erreichen
will. Resigniert und zu sterben entschlossen, werfe ich mich
auf mein Lager. Aber im letzten Augenblick, wenn der un-
sichtbare Geier mich unter seinen Flfigeln ersticken will,
reisst mich jemand in die Höhe, und die Jagd der Furien
geht ihren Weg. Besiegt, zu Boden geschmettert, zurück-
geschlagen, verlasse ich das Schlachtfeld eines ungleichen
Kampfes und weiche den Unsichtbaren. **
Am Morgen, wenn ihn sein Kind nach einigen Stunden
tiefen Schlafes weckt, ist alles vergessen, er geht seiner gewohnten
schriftstellerischen Tätigkeit nach und hat die Empfindung, dass
Sinn und Verstand unversehrt sind. Auch als Strindberg aus dem
böhmischen Dorfe nach Schweden zurückkehrt, beherrschen ihn
noch alle möglichen Wahn- und Selbstmordideen. In Hotels und
Restaurants, in die er einzieht, bricht sehr bald ein Höllenlärm los.
„Verjagt von Hotel zu Hotel und überall von elektrischen
Drähten bis in mein Bett veriolgt, überall von elektrischen
Strömen angegriffen, die mich vom Stuhl und aus dem Bett
heben, bereite ich in aller Ordnung einen Selbstmord vor.*"
Schliesslich kommt Strindberg im Dezember 1896 „gejagt
von den Erinyen", in die kleine Universitätsstadt Lund, wo er in
einem Kreise «alter Freunde, Ärzte, Irrenärzte, selbst Theosophen*"
Ruhe zu finden scheint; er kommt zu der Erkenntnis, eine schwere
Krankheit und Gefahr überwunden zu haben ; jeden Morgen beim
Spaziergang auf dem Wall erinnert ihn das Irrenhaus »an das,
was ihm bei einem etwaigen Rückfall bevorsteht'. In der Lektüre
eines schwedischen Mystikers, des «Buddha des Nordens*, glaubt
Strindberg Ruhe, Erkenntnis und Einsicht in die Art seines Leidens
gefunden zu haben. Er fühlt sich gestraft, gedemütigt und tut Busse.
Die Halluzinationen verlieren den ängstlichen Charakter, er schwelgt
in allen möglichen wunderbaren und unerkläriichen Erscheinungen.
- ao -
In klinischem Sinne nimmt die Erkrankung bei Strindberg
den üblichen Verlauf, d. h. die Lösung der Dämonomanie geht
durch ein Stadium religiöser Melancholie mit wehroutvoller Re-
signation. Strindberg kehrt zu dem frommen Glauben seiner
Jugendjahre zurfick. „Jung wari ch aufrichtig fromm, und ihr habt
mich zum Freidenker gemacht Aus dem Freidenker habt ihr
mich zum Atheisten gemacht, aus dem Atheisten zum Qottes-
ffirchtigen/ Der einzige Weg zum Heile erscheint ihm: die Dä-
monen in ihrer Höhle, d. h. in sich selber aufzusuchen und sie
dort durch — Reue zu töten» Strindberg kehrt zum Katholizismus
zurfick, und das Buch und die Beichte schliesst damit, dass er
hofft, in einem belgischen Kloster einen Ruhesitz zu finden.
VI.
Die unmittelbare Fortsetzung des „Inferno" bilden „Die
Legenden", die die Vorgänge und Wandlungen in Lund und später
in Paris schildern. Mystizismus, Spiritismus, Okkultismus, die
schwarze Magie, die Geheimnisse unsichtbarer Mächte, Astralplanet,
Doppelgangertum , Dematerialisation , psychische Fernwirkung
bilden den Hauptinhalt der „Legenden". Strindberg ist völlig be-
herrscht von der fixen Idee, dass er gesündigt habe, und dass er
bestraft werde. Sünde — Sühne — Entsfindigung bezeichnen die
einzelnen Phasen des Buches. Die vielen Exazerbationen des „Infer-
no" haben aufgehört, die Psychose klingt unter Remissionen und
leichten Exazerbationen allmählich ab, wir haben besonders im An-
fangsteil des Buches die typische melancholica religiosa vor uns. In
eine erschöpfende Analyse der umfangreichen Autobiographie ein-
zugehen, wäre überflüssig und würde zu weit führen. Es genügt,
einige markante Stellen aus dem Werke anzuführen, aus denen
sich das seelische und körpertiche Befinden des Autors ohne
weiteres ergibt
„Tag und Nacht von .elektrischen Strömen' ange-
griffen, die die Brust zusammenklemmmen und ins Herz
stechen, verzichte ich auf meine Folterkammer und besuche
das Wirtshaus, wo ich Freunde treffe. Aus Furcht nüchtern
zu werden, trinke ich ohne Rast, das einzige Mittel, um nachts
schlafen zu können. Aber Ekel und Schamgefühl im Verein
mit der friedlosen Unruhe nötigen mich damit aufzuhören,
und einige Abende gehe ich in das CbS6 der Temperenzler."
- 81 —
«Am Abend blieben wir in einem Dorfe« um dort die Nacht
zuzubringen. Ich war gerade in mein Zimmer gekommen,
eine Treppe hoch und hatte mich ein bisscbeo aufsäubern
Icönnen, als das gewöhnliche Poltern sich über mir hören
Hess; man schleppt Möbel, macht Tanzschritte.
Diesmal begnüge ich mich nicht mit Verdacht, sondern
klettere in Gesellschaft meines Kameraden die Bodentreppe
hinauf, um Bekräftigung zu gewinnen. Aber dort oben
findet sidi nichts um Zeugnis abzulegen, da niemand über
meinem Zimmer unter den Dachpfannen wohnt."
»Alles ist still im Hotel und kein Poltern vernehmbar.
Mein Mut wächst und ich falle in tiefen Schlaf, um nach
einer halben Stunde von Lärm und Gepolter tan Zimmer
über dem meinen geweckt zu werden. Es scheint min-
destens eine Stiege junger Leute zu sein, die singen, auf
den Boden stampfen und Stühle hin und her schieben.''
«Im selben Augenblick, wie ich ins Wirtshaus eintrete,
um ein Fuhrwerk zu bestellen, beginnt der gewöhnliche
Hexensabbath oben. Unter einem Vorwand» ich erinnere
mich jetzt nicht welchen, steige ich eine Treppe hinauf. Ein
grosser Saal, der leer ist» ist alles, was ich dort finde.*
Die Erklärung, die der Kranke selbst für alle diese Ge-
sichter, Visionen, Halluzinationen findet» i^t immer die ^eidie:
er muss büssen, weil er gesündigt hat. „Das ist der Böse, der
mir diesen Schabernack spiehl** Niemals auch nur die geringste
Andeutung eines Grössenwahns. An einer andern Stelle:
„Bin ich verrückt ? Nein, die Ärzte sagen, dass das nicht
der Fall ist Da ist Anlass vorhanden, an Wunder zu glauben.
Ich bin ein Verdammter, ich befinde mich in der Hölle —
und die Mächte strafen mich, rasttos, unbarmherzig.*
„Warum ich nicht krank werde nach solchen Peini-
gungen wie diese? Weil es gilt, das Leiden bis auf die Hefe
zu leeren, um das Gleich gewicht wieder herzustellen
zwischen den begangenen Missetaten und der auf-
erlegten Strafe. Und es ist wirklich merkwürdig, wie ich
die Qualen auszuhalten vermag; ich verschlinge sie mit grim-
miger Freude um sie endlich zu Ende zu bekommen l**
„ — und in der Tat hat die Verfolgung mich verleitet,
einen Skandal anzustellen in einem Hotel, wo ich in ein
- 82 -
Zimmer neben dem meinen eindringen wollte, überzeugt
dort Feinde zu finden, die mich beunruhigten. Wenn ich
noch einen Tag in diesem Hotel gewohnt bitte, wurde die
Polizei sich in die Sache gemischt haben, und ich hätte
meine Zukunft im Irrenhause gesichert bekommen!*
^Seit langem an Platzfurcht leidend, fürchte ich mich
vor leeren Räumen, und mit einer schlecht verhehlten
Ängstlichkeit gehe ich über offene Plätze.''
„Der Schlaf, der heilige Schlaf, nimmt die Form eines
Hinterhalts an, wo die Mörder sich verbergen. Ich wage
nicht mehr zu schlafen und habe keine Kraft übrig, mich
wach zu halten. Das ist ja die Hölle! Als ich die
Schlummerbetäubung über mich schleichen lasse, trifft mich
ein galvanischer Stoss, gleich einem Donnerschlag, ohne
mich jedoch zu töten."
Die Mächte offenbaren sich Strindberg durch unerkläriiche»
mystische Vorgänge; die „Wunder*, mit denen ein ganzes Ka-
pitel angefüllt ist, sind so gehäuft, dass die Lektüre ermüdend
wirkt. Den Seelenzustand des Patienten geben am besten zwei
eigene Schilderungen wieder, von denen die eine gegen Ende des
Aufenthalts in Lund, die andere in der folgenden Pariser Periode
abgefasst sind. Das „Canossa" überschriebene Kapitel (Lund) be-
ginnt mit den folgenden Betrachtungen:
„Ermattet von den geheimnisvollen Verfolgungen habe
ich schon längst eine sorgfältige Prüfung meines Gewissens
vorgenommen, und treu meinem neuen Programm, mir selbst
Unrecht zu geben gegenüber dem Nächsten, finde ich mein
verflossenes Leben abscheulich, und Ekel eriasst mich vor
meiner eigenen Persönlichkeit Es ist Wahrheit, dass ich
die Jugend in Harnisch gebracht habe gegen das Bestehende,
gegen die Religion, die Gesetze, die Obrigkeit, die Sittlichkeit.
Das ist meine Gottlosigkeit, die nun bestraft
worden ist und ich nehme zurück."
Im Sommer 97 ist Strindberg nach Paris gegangen, zunächst
in der Absicht in ein Benediktinerkloster einzutreten. Die folgende
ergreifende Stelle gibt ein Bild seines Seelenzustandes :
„Und dann die Gewissensbisse! In früheren Zeiten,
als ich mich selbst für verantwortungsvoll ansah, war es
nur die Erinnerung an begangene Dummheiten, die mich
- 33 -
peinigte. Jetzt ist es das Böse selbst, meine schlechten
Handlungen, die meine Geissei ausmachen. Und zum Über-
fluss von allem erscheint mir mein vergangenes Leben nur
wie ein Gewebe von Verbrechen, wie eine Strähne von
Gottlosigkeiten, Bosheiten, Missgriffen, Grobheiten in Wort
und Handlung. Ganze Szenen aus meiner Vergangenheit
rollen sich vor der Anschauung auf. Ich sehe mich in der
einen und der andern Situation, und immer ist es eine ab-
geschmackte. Ich wundere mich darüber, dass jemand mich
hat lieben können. Ich klage mich wegen alles möglichen
an; nicht eine Niedrigkeit, nicht eine widrige Handlung, die
nicht bezeichnet stünde mit schwarzer Kreide auf dem weissen
Schiefer. Ich werde mit Entsetzen von mir selbst erfüllt
und möchte sterben.
Es gibt Augenblicke, wo die Schamröte das Blut auf-
jagt in meine Wangen, bis in meine Ohrläppchen. Die
Selbstsucht, die Undankbarkeit, der Groll, der Neid, der
Hochmut, alle die Todsünden führen ihren Gespenstertanz
vor meinem erwachten Gewissen auf."*
Strindberg hat zwar das Kloster nicht aufgesucht, aber
während seines Aufenthaltes in Paris lebte er vollständig ab-
geschlossen von aller Welt, wie ein Eremit in seiner kleinen
Kammer, nicht grösser als eine Klosterzelle, mit Gitterfenstern
oben unter der Decke; nur ganz wenig vom Himmel ist sichtbar,
sonst nur eine graue Wand mit Efeu, „der hinaufklettert, dem
Lichte zu**.
Als Begleiterscheinung der psychischen Depression hat
sich auch das körperiiche Befinden andauernd verschlechtert. Auf
der Strasse wankt ihm der Fussboden unter den Füssen, das
Pflaster bewegt sich wie ein Schiffsdeck in langen Schwankungen ;
das Besteigen kleiner Anhöhen verursacht ihm grosse Schwierig-
keiten; dazu alle möglichen nervösen Störungen, Herzklopfen,
geringe Esslust; wenn er isst, so tut er es nur, um die Schmerzen
im Magen zu stillen; Platzangst (s. o.)
Ich habe versucht, in kurzen Andeutungen den Seelenzustand
Strindbergs zu schildern, wie er in seinen „Legenden** zum Aus-
druck kommt, einem Buche, das bestimmt ist, in sinnbildlicher
Schilderung die religiösen Kämpfe des Verfassers wiederzugeben.
Hier wie im Inferno handelt es sich um den Fall eines psychisch
drenzf ragen d. Lit. u. Medizin. 6. Heft 3
— 84 —
Leidenden, eines Melancholikers, der nicht mehr wie im Inferno
die agitierte Form der Krankheit, sondern im langsamen Abklingen
das Bild der religiösen Melancholie darbietet
Den Abschluss von Strindbergs Autobiographie bildet die
Novelle .Einsam", die letzte in der Trias pathologischer Romane.
Der krankhafte Seelenzustand ist überwunden, eine grosse psy-
chische Ruhe ist über Strindberg gekommen. Hören wir, wie
der Autor selbst in einer Beschreibung seines Tagewerkes sein
psychisches Verhalten schildert Es ist die einzige Stelle des
Buches, aus der vielleicht eine gelegentliche Schwankung im seelischen
Befinden herausgelesen werden kann.
«Morgens nach einem nüchternen Abend und einer
durchgeschlafenen Nacht, wenn ich aus dem Bette steige,
ist das Leben selbst ein positiver Genuss. Es ist«
als stehe man von den Toten auf. Alle Fähigkeiten der
Seele sind neugeschaffen, und die zusammengeschlafene Kraft
erscheint vervielfacht In diesem Augenblick traue ich mir
zu, die Weltordnung ändern, die Geschicke der Nationen
lenken, Krieg erklären und Dynastien absetzen zu können.
mit einer neuen Sonne und einem neuen Tag ist
etwas Neues gekommen, und ich fühle mich selbst erneuert.
Ich brenne vor Verlangen, mich in Arbeit zu setzen, aber
ich muss erst hinaus. Bin ich in Harmonie mit mir,
dann ist die Luft weich, und ich suche Menschen. Dann
gehe ich auf die Strassen, ins Volksgewimmel hinein und
habe eine Empfindung, als sei ich mit allen befreundet Ist
aber etwas nicht richtig, dann sehe ich nur Feinde mit
höhnischen Blicken, und ihr Hass ist zuweilen so
stark, dass ich umkehren muss. Wenn ich
aber nach Hause komme und mich an den Schreibtisch
setze, dann lebe ich, und die Kräfte, die ich von draussen
geholt habe, sei es vom Strom Wechsler der Disharmonien
oder vom Stromschliesser der Harmonien, dienen mir jetzt
zu meinen verschiedenen Zwecken. Ich lebe, und ich lebe
mannigfaltig das Leben der Menschen, die ich schildere.
Um die Mittagszeit aber hört das auf, und ist es
mit dem Schreiben für den Tag zu Ende, so wird mein
eigenes Dasein so quälend, dass ich ein Gefühl habe, als
ginge ich dem Tod en^egen, je weiter der Abend vor-
— 85 —
schreitet. Und der Abend ist schrecklich lang. Andere
Menschen pflegen nach der Arbeit des Tages in Gesprächen
eine Zerstreuung zu geniessen, ich aber geniesse keine. Das
Schweigen schliesst sich um mich, ich versuche zu lesen,
vermag es aber nicht. Da gehe ich im Zimmer auf und ab
und sehe nach der Uhr, ob sie bald zehn ist. Und schliess-
lich schlägt sie zehn.
Wenn ich dann den Körper von den Kleidern befreie,
mit allen ihren Knöpfen, Schnallen und Bändern, scheint
mir die Seele gleichsam Atem zu holen und sich freier zu
ffihlen. Und wenn ich nach meinen morgenländischen
Waschungen ins Bett komme, dann dehnt sich das ganze
Dasein aus; der Wille zum Leben, der Kampf, der Streit
hört auf, und die Schlafsucht gleicht sehr der Sehnsucht
nach dem Tod."
Wie bemerkt, ist diese Stelle mit der Erwähnung der abend-
lichen Unruhe und eines leichten Angstgefühls die einzige, welche
eine Reminiszenz an die uberstandenen Seelenqualen hervorruft.
Sonst ist „Einsam" von einer durchgehenden selten abgeklärten
Ruhe, nach den Stürmen und den früheren seelischen Bekenntnissen
macht sich ein völliges Gleichmass der Seele geltend, die, wie er selbst
empfindet, in neuerworbener Freiheit zu wachsen beginnt; alles atmet
einen unerhörten inneren Frieden, eine stille Freude und ein
Gefühl von Sicherheit und Selbstverantwortung. Strindberg hat
sich in langen und schweren seelischen Kämpfen selbständig durch-
gerungen, und hat in «Einsam" als Abschluss seiner Autobio*
graphie eines jener seltenen Bücher geschrieben, das man immer
mit Befriedigung in die Hand nimmt, und das mir als das reichste
Werk seiner bisherigen Produktion erscheint. Kein Zweifel, die
Psychose ist überstanden, und der Autor im Vollbesitz seiner
seelischen und geistigen Kräfte.
VII.
Fassen wir unsere Ausführungen in wenigen Leitsätzen zu-
sammen, so muss unsere Epikrise lauten:
Die Beurteilung der psychologischen Vorgänge in den auto-
biographischen Werken Strindbergs gehört nicht sowohl zum
Ressort des literarischen Kritikers und des Psychologen, als zu
dem des Psychiaters von Fach. Die Seelenvorgänge, die hier
3»
— 36 —
vor uns aufgerollt werden, sind ausgesprochen pathologischer
Natur und bieten Krankheitsbilder von so typischem Verlauf, dass
sie in ihren Hauptzägen, und entkleidet ihres ästhetischen
Charakters in jedes psychiatrische Lehrbuch aufgenommen werden
können.
Strindberg ist ein Neuropath; das aus den ersten auto-
biographischen Skizzen zu beweisen — auch die am besten
bekannte und am weitesten verbreitete »Beichte eines Toren"
kann herangezogen werden — erübrigt sich, weil Strindberg selbst
sich als solchen an einzelnen Stellen bezeichnet Dabei ist hervor-
zuheben, dass diese neuropsychopathische Disposition eine heredi-
täre, eine angeborene ist Bei Strindberg selbst und in literarischen
Essays über ihn wird besonderes Gewicht auf die misslichen
Verhältnisse im Elternhaus, auf die Einwirkung der Schule etc.
gelegt — gewiss all* das muss die hereditäre Belastung im un-
günstigen Sinne zur Entfaltung bringen, aber die nervöse und
psychische Schwäche und Minderwertigkeit hat damit von vorne-
herein nichts zu tun, sie ist angeboren und liegt in der ererbten
Natur. Schon in der „Beichte* erkennen wir den Neurastheniker
mit schwankenden Gemütszuständen, mit der Neigung zu Auto-
sug^stionen, mit allen möglichen Zwangsvorstellungen und fixen
Ideen.
Auf dieser neuropsychopathischen Basis entwickelt sich bei
dem mehr als Vierzigjährigen eine Melancholie, die zunächst unter
dem Bilde der melancholia moraUs auftritt Gleich beim ersten Be-
ginn macht sich Präkordialangst geltend, ^äter alle möglichen
Illusionen und Halluzinationen; unter vielfachem Wechsel des
Objekts entwickelt sich ein Beschuldigungs* und Versündigungs-
wahn. Der Zustand hält etwa ein volles Jahr an und zeigt auf
dem Höhepunkt der Entwicklung das Bild der Melancholia agitata
und daemonomaniaca. Als Äusserun^n der auf das Höchste ge-
steigerten präkordialen Angst mit gewaltsamer Entladung nach
aussen treten besonders häufig während der schlaflosen Nächte
Zustände von raptus melancholicus auf.
Es kann keinem Zweifel unterii^en, dass Strindberg bei
dieser hochgradig entwickelten Erkrankung, behenscht von Ver-
folgungswahn und Suicidialideen in den Schutz einer Anstalt ge-
hört hätte. Der Aufenthalt bei seinem Freunde und Arzte, der
nicht länger als dreissig Tage dauerte, konnte nur die Haupt-
~ 37 —
gefahr ablenken. Wir sehen nach diesem Aufenthalte — zweite
Hälfte des Inferno und Legenden — den Kranken wohl ruhiger,
aber die Krankhei tklingt nur sehr langsam ab ; wir haben während
dieses ganzen Stadiums immer noch das Bild der melancholia religiosa
vor uns, bis sich schliesslich unter Abblassung der Wahnvor-
stellungen und Sinnestäuschungen ein psychischer Schwächezustand
ausbildet, in welchen der frfihere depressive Zustand mit seinen
krankhaften Vorstellungen noch hineinleuchtet. Ende der Legenden.
„Einsam" als Schluss der Autobiographie bedeutet die volle Wieder-
herstellung und Gesundung.
Wie weit ist Strindbergs Schaffen und dichterische Pro-
duktion vor seinem nervösen und psychopathischen Zustande
beeinflusst und abhängig? Ein gewisser Hang zum Mystizismus
und Okkultismus macht sich in mehr oder weniger ausgesprochenem
Masse in allen Werken Strindbergs geltend; nicht bloss in den
ausschliesslich autobiographischen Schriften, sondern auch in
seinen Dramen, Romanen etc., die ja alle mehr oder weniger
Bekenntnisse sind. Es wäre unrecht, darin einen pathologischen
Zug zu suchen. Für Strindberg resultiert der Mystizismus mit allen
geheimnisvollen, oft antiwissenschaftlichen Vorgängen im wesent-
lichen aus dem Versuch, eine Synthese zwischen Wissenschaft
und Religion herzustellen.
Anders liegt es mit Strindbergs Pessimismus, der einen
wesentlichen Charakterzug seiner Werke ausmacht. Es ist nicht
richtig, ihn aus seiner freudlos verbrachten Kindheit, aus Furcht
und Hunger, aus dem Mangel jeder Daseinsfreude, aus den Ent-
täuschungen des Lebens erklären zu wollen, — das sind unter-
stfitzende Momente, aber die Hauptquelle von Strindbergs Pessimis-
mus liegt in seiner nervösen Konstitution und in seiner psychischen
Depression.
Und noch einen anderen Fehler möchte ich auf die neuro-
pathische Disposition zurückfuhren — ja ich glaube gerade hierin
ein diagnostisches Kennzeichen aller in ihrem Nerven- und Seelen-
leben gestörten Künstler zu sehen, — d. i. das bei Strindberg
häufig mangelhafte dichterische Gestaltungsvermögen, der von der
deutschen Kritik oft beanstandete Mangel an Plastikerkraft. Es
fehlt uns an genügendem pathographischen Material um ein
durchgehendes Gesetz aufstellen zu können. Aber doch glaube
ich zu der Behauptung berechtigt zu sein, dass das Hauptkenn-
— 88 —
zeichen eines intakten Seelenlebens die Fähigkeit des Känstlers
ist zu geschlossener Komposition, zur Einheit der Darstellung,
zu einer konsequenten und konzentrierten Durchführung.
Den beregten Mangeln stehen erstaunliche Vorzüge in
Strindbergs Schaffen gegenüber, die an sich bei Künstlern mit
mangelhaft veranlagtem Nervensystem nur selten zu finden sind.
Das ist einmal die grosse dichterische Produktion und die poetische
Schaffenskraft, und dann vor allem die Ehrlichkeit und absolute
Wahrheit im Schaffen. Strindbergs Ernst und Ehriichkeit, welcher
Wahrheit und Wirklichkeit einziges Gesetz ist, diefrei von jeder öffent-
lichen Prüderie veriänglichste Seelenzustände mit der Unbe-
scholtenheit eines Spartaners schildert, hat etwas durchaus Ge-
sundes, Gesundes namentlich im Fühlen und Wollen und stellt
Strindberg neben die ganz Grossen unserer modernen Literatur.
Mit Recht sagt H. Esswein : »Strindbergs schmerzliche Selbst-
zergliederung ist niemals kokett, sie lächelt nicht — am wenigsten
unter Tränen. Es handelt sich mit ihr nicht um Spiel, nicht um
jene Schamlosigkeit, für welche man das Schlagwort ,romantische
Ironie' geprägt hat. Oft sehen wir bei Strindberg eine flagellan-
tische Selbstpeinigung am Werke, aber sie ist durch pädagogisch-
ethischen und durch erkennerischen Ernst stets vollkommen
geadelt, sokratisch emporgeläutert aus ihrer physiologischen
Basis. Strindberg verschweigt und bemäntelt seine Bizarrerien
niemals "
Soweit diese Wahrheitsliebe, die nichts unterdrückt und ver-
schweigt, aber auch nichts hinzufügt und entstellt, in Strindbergs
Bekenntnisschriften zum Ausdruck kommt, kann sie niemand besser
beurteilen und bewerten als der Arzt. Die feinste Lupe des Seelen-
forschers und Psychiaters wird hier keine Linie finden, die im-
stande wäre, das pathologische Bild zu stören. Es ist erstaunlich,,
wie der Autor nachträglich seelische Zustände schildert und wieder»
gibt und noch erstaunlicher, wie dies ohne sachverständige Prä-
tension mit peinlichster Gewissenhaftigkeit und ohne jede ent-
stellende Beigabe geschieht.
Deshalb sind auch Strindbergs Autobiographien neben ihrer
künstlerischen Bewertung sehr wichtige und schätzbare ärztliche
Dokumente, Ich wüsste ihnen in der gesamten deutschen Ute-
<) August Strindberg, ein psychologischer Versuch. München 1907.
— 39 —
ratur kein anderes Werk an die Seite zu stellen, als Qeorg
Bächners Novellenfragment „Lenz''. Auch hier eine Krankheits-
schilderung, nicht in dichterischer Verklärung, sondern in abso-
luter Wahrheitstreue, ohne jeden störenden und verzerrenden Zug,
dabei in künstlerischer Vollendung. Hier wie dort eine vollendete
Seelenmalerei, die exakteste Anatomie der Lebens- und Gemfits-
störung. Bei Strindberg die geheimsten Seelenvorgänge eines
Melancholikers, bei dem Dichter von Dantons Tod die Zeichnung
eines an Paranoia leidenden Dichters von dem ersten Stadium
der Krankheit bis zum vollen Ausbruch, der die Intemierung im
Irrenhause notwendig macht. Bewundern wir bei Büchner neben
dem dichterischen Können die ernsten fachwissenschaftlichen
Studien eines Arztes, so fordert bei Strindberg jene unerbittliche
Rücksichtslosigkeit und naive Keuschheit, welche die nackte Seele
vor unserem Auge enthüllt, unsere staunende Anerkennung heraus.
Das hohe Wollen und die ethische Kraft des Dichters sind sicher
von seiner Psychose unbeeinflusst geblieben.
Die seelischen Zustände, die seelischen Schwankungen und
Störungen der Grossen im Geiste persönlich zu beobachten, wird
nur selten einem Arzt und Seelenarzt gegeben sein. Hierin liegt
neben dem ästhetischem Genüsse der unschätzbare Wert von
Strindbergs Beichte und Büchners Lebensbild als wissenschaft-
lichen und ärztlich-psychiatrischen Dokumenten.
VIII.
Medizinische Fragen werden in den Werken Strindbergs oft
berührt, mit ganz besonderem Interesse aber verweilt er bei psy-
chiatrischen Problemen. Kein Zweifel, er hat sich mit grosser
Vorliebe und in ernstem Studium der Literatur dieser Probleme
hingegeben, und es ist interessant genug, zu ermitteln, inwieweit
seine eigenen Beobachtungen und Reflexionen aus der Inferno-
Periode seine Auffassungen psychiatrischer Fragen beeinflussen«
In seinem gross angelegten sozialen Roman «Die gotischen
Zimmer*" aus dem Jahre 1904, in welchem er Stellung nimmt zu
allen Fragen, welche um die Jahrhundertwende die Menschheit
bewegten, gibt er in einem besonderen Abschnitt durch den Mund des
Grafen Lux gelegentiich des Besuches einer IrrenanstaU seine Gedan-
ken wieder über die heutige psychiatrische Wissenschaft. Er steht
in seinen Ausführungen völlig noch unter dem Einflüsse jener
— 40 -
mystischtranszendentalen Auffassung, die sich allmählich unter dem
Einflüsse seiner eigenen Psychose bei ihm herausgebildet hat.
Sein eigener Versfindigungswahn klingt an und leuchtet in
seine Auffassung hinein, wenn er behauptet, dass alle Krankheiten,
die körperlichen wie die geistigen, Folgen der Sunde sind. Während
die Psychiatrie als Wahnidee, ganz gleichgültig welches ihr Inhalt
ist, Urteile und Schlüsse bezeichnet, welche durch eine krankhafte
Assoziation von Vorstellungen mit Hineinbeziehung des Ich
entstehen, welche als krankhaft nicht anerkannt und durch Gegen-
gründe nicht korrigiert werden können — muss der krankhaften
Vorstellung nach Strindberg, wenigstens wenn es sich um Selbst-
beschuldigungs- und Versündigungswahn handelt, tatsächlich eine
greifbare Schuld und Sünde zugrunde liegen. Er leugnet die
krankhaften Vorgänge in der Hirnrinde, für ihn hat alles einen
zureichenden (äusseren) Grund, und wenn sich der Kranke in
seinem Wahn als schuldig bekennt und ausgibt, so existiert ein
logischer Grund dafür. „Die Einbildungen besitzen eine höhere
Wirklichkeit, deren Zusammenhang mit der Wirklichkeit ich nicht
verstehe, aber nicht zu leugnen wage.*" Auch glaubt Strindberg
an eine direkte Beeinflussung der Seele durch eine andere, selbst
auf grosse Entfernung, und entwickelt daher eine Anschauung
über Entstehung von Geisteskrankheiten, welche an die wissen-
schaftliche Auffassung von der psychischen Infektion oder von
dem induzierten Irrsein erinnert. Eine Seele kann ohne Mit-
wirkung anderer Seelen nicht existieren. Nun habe ich, so führt
er aus, Veranlassung zu glauben, dass alle Seelen miteinander im
Rapport stehen; und es gibt Menschen mit so empfindlichen
Empfangsapparaten, dass sie mit der ganzen Menschheit mit-
fühlen und folglich mit ihr leiden. Aber es gibt auch welche,
die aus der Entfernung auf andere Einfluss üben, sogar auf Un-
bekannte.
Gewiss, auch die Wissenschaft rechnet zu den psychischen
Ursachen der Geisteskrankheiten die Übertragung durch Ansteckung
(Imitation), analog den häufigen Fällen von Hysterie, Hypochondrie
durch Ansteckung, aber immer nimmt sie in solchen Fällen eine
bedeutende Prädisposition an, und die Menschen mit überempfind-
lichen Empfangsapparaten, die psychisch so leicht beeinflussbar
sind, sind für uns eben hereditär resp. familiär Belastete und
Neuropsychopathen. Eine psychische Infektion durch Fern-
— 41 —
Wirkung ohne jeden Kontakt müssen wir in das Gebiet der Fabel
verweisen.
Einen wesentlich objektiveren und von seinen eigenen Seelen-
erlebnissen unabhängigen Standpunkt zur Psychiatrie vertritt
Strindberg in längeren Ausführungen seiner Novelle „Die Kleinen
und die Grossen*. Nachdem er zunächst gegen die in unserer
Zeit überhandnehmende Sucht alles für verrückt und geistesgestört
zu erklären Front gemacht hat, sieht er die gewöhnlichste Ursache
des psychischen Wahnsinns mit Maudsley in der Unfähigkeit, mit
den äusseren Verhältnissen so oder so einen Kompromiss zu
schliessen. Ein isoliertes Leben kann man» so führt Strindberg
aus, streng genommen, nicht führen; ein intimes Band vereinigt
die Individuen bis zu dem Grade, dass jeder Versuch, sich von
seinem Kreis freizumachen, mit Wahnsinn bestraft wird. Allein
mit seiner Ansicht stehen, ist ebenso gefähriich, wie überall Feinde
haben, geknechtet, gefesselt sein. Gegen die Ansicht Strindbergs
in dieser allgemeinen Fassung lässt sich gewiss vieles einwenden,
aber es ist interessant und bemerkenswert, wenn hier (1905)
Strindberg, der so lange Zeit ein völlig isoliertes Leben in klöster-
licher Abgeschiedenheit gesucht und verbracht hat, die Gefahren
der Einsamkeit und Isolierung für das Geistesleben predigt
»Misstrauen und Verfolgungsmanie werden mit Not-
wendigkeit erzeugt, wenn der Gesellschaftsmensch aus der
schützenden Umgebung herausgetreten ist. Aus dem Mangel
an einem Massstab, aus der Unfähigkeit, die relative Grösse
seines eigenen Ichs zu beurteilen, entsteht dann leicht ent-
weder der Grössenwahnsinn der Überschätzung oder die
Mikromanie der Unterschätzung. Zuletzt vertiert das Gehirn
oder das Selbstbewusstsein jede Kraft, den Gefahren zu
begegnen, sie zu beurteilen und schliesslich jede Beherrschung
der Triebe; nun reagieren die Bewegungs- und Empfindungs-
nerven auf die ersten Eindrücke. Verwechslungen von Ur-
sache und Wirkung, fehlerhafte Vorstellungen» falsche Schluss-
folgerungen, Gesichts- und Gehörstäuschungen und schliess-
lich Wut oder beständige Verteidigungsmanie, die sich in
Angriffen Luft macht, finden sich bald ein."
Der Kampf um die Macht, der früher ein rein körperlicher
war (Gefängnis, Marter, Tod) ist mehr psychisch geworden, wie
Strindberg ausführt, darum aber nicht weniger grausam. In
- 42 —
frfiheren Zeiten erschlug man den, der anderer Meinung war,
ohne ihn überfuhrt zu haben, jetzt schafft man eine Mehrheit
gegen ihn, überfuhrt ihn, stellt seine Absichten bloss, beraubt ihn
seiner Existenzmittel, versagt ihm gesellschaftliches Ansehen,
macht ihn lächerlich ; kurz peinigt und lügt ihn tot, oder macht
ihn verrückt, statt ihn zu erschlagen. Und als Beleg hierfür
bespricht Strindberg eingehend das Verfahren der Theaterkritiker, die
den missliebigen Schauspieler, wie es in der Theatersprache heisst,
„in den Sarg legen", die Taktik der Zeitungsredakteure, die einen
gefährlichen Schriftsteller „tot quälen" und ihm „die Hände binden",
ihn geistig töten und berührt schliesslich auch den hitzigen Kampf
zwischen den Gehirnen auf anderen intimen Gebieten des sozialen
Lebens, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Ehegatten etc
Als ein Beispiel von Seelenmord analysiert Strindberg den Fall
in Ibsens „Rosmersholm". Rebekka ist für ihn eine unbewusste
Kannibalin, die die Seele der ersten Frau verschlungen hat. Frau
Rosmer hegte Verdacht gegen sie und durchschaut sie, aber
Rebekka verbirgt ihren Plan und rettet sich dadurch, dass sie ihr
einredet, sie leide an „Misstrauen". Das Misstrauen der Frau
Rosmer wird durch die Beobachtungen, die sie macht, durch die
Unmöglichkeit, Beweismaterial in die Hand zu bekommen, immer
grösser. Dadurch aber wird es noch mehr wahrscheinlich, dass
sie an Misstrauen leidet, und es ist schliesslich eine leichte Sache
für Rebekka, sie verrückt zu machen. Nach der alten Methode
hat Rebekka dem schwächeren Gehirn eingeredet, es sei krank,
bis es eingebildet krank wurde, und dann hat sie ihr „bewiesen"
oder sie dahin gebracht, dass der Tod ein Glück sei.
Das sind die Ausführungen Strindbergs über den modernen
Seelenmord und zum Falle Rebekka-Rosmer, der die Grundlage
bildet zu Ibsens Rosmersholm. Strindbergs psychiatrische These
klingt veriockend, ist zweifellos geistreich und blendend, aber
deshalb ist sie doch nicht wahr und zutreffend, wenigstens in
dieser Allgemeinheit nicht. Strindberg vertritt hier die zum
mindesten einseitige Auffassung der Laien, die namentlich Dramen-
dichter und Romanschriftsteller sich zu eigen gemacht haben,
nach welcher der Wahnsinn und die Geistesstörung aus mächtigen
Leidenschaften und Affekten hervorgehen können. Die mächtige
Wirkung der Affekte auf vasomotorische und motorische Zentren,
die Gewalt psychischer Bewegungen soll nicht geleugnet werden.
— 48 -
aber von hier bis zum Irrsein ist ein weiter Weg. Es gibt wohl
Fälle, wo ein heftiger Affekt (Schreck) und noch häufiger, wo
eine chronisch einwirkende psychische Ursache (häuslicher
Kummer etc.) fast unmittelbar oder auch nach längerer Zeit Irre-
sein in irgend einer Form hervorruft, aber hier besteht immer
eine bedeutende Pradisposition oder doch mindestens eine tem-
porär gesteigerte Erregbarkeit des Gehirns. Nur unter solcher
Bedingung wird Kummer, Sorge, getäuschte oder hoffnungslose
Liebe, gekränkter Ehrgeiz etc. die geistige Gesundheit zu unter-
graben imstande sein.
Druck von M. MflUer k Sohn, MOnchen V.
ORENZFRAOEN DER LITERATUR UND MEDIZIN
in Einzeldarstellungen
lierausgegeben von Dr. S. RAHMER, BERLIN.
7. Heft
Der Kriminalroman.
Eine literarische und forensisch-medizinische Studie
mit Anhang:
Sherlock Holmes zum Fall Hau
Alfred Licliteniteln
Berijn.
MÜNCHEN 1908
ERNST REINHARDT, Verlagsbucllhandlung
JS^entrasse 17.
Meiner lieben Schwester.
• /
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Vorwort ^ 7
Vom Wesen und Werden des heutigen Kriminalromans 9
Über die Technik des modernen Kriminalromans 13
Der Detektiv 15
Das Krankhalte im Verbrechen . . ^ 18
Von der Art und Weise ein Verbrechen zu begehen, und wie es
entdeckt wird 28
Schundliteratur 47
Der Kriminalroman in seiner Beziehung zur Medizin und Psychiatrie 48
Anhang:
Der Fall Hau als Kriminalroman 49
Vorwort.
Die vorliegende Studie bedarf einiger einleitenden Worte.
Zunächst verlangte der Rahmen der Arbeit eine möglichste Zu-
sammendrängung des Stoffes. Aus diesem Grunde habe ich nur
den modernen Kriminalroman in das Betrachtungsgebiet gezogen
und auch den Begriff „Kriminalroman" als den genommen, den
er heutzutage bezeichnet. Das heisst: nicht nur das Motiv muss
kriminalistisch sein, sondern der ganze Roman muss von Anfang
bis Ende den Qrundzug des Kriminalistischen tragen. Etwaige
Liebesepisoden oder ähnliche Momente dürfen durchaus nicht
mehr als Beiwerk sein, Hauptgegenstand ist und bleibt das Ver-
brechen, beziehungsweise der Kampf zwischen Verbrecher und
Verfolger. Über den literarischen Wert des Kriminalromans zu
urteilen, war von vornherein ausgeschlossen, Lob und Tadel sind
durchaus objektiv. Meine subjektive Ansicht freilich ist die, dass
Kriminalromane weit mehr gelesen werden als man zugeben
möchte, solange es für „gebildef" gilt, zwischen Butter und Käse
über das Herrenmenschentum des armen toten Nietzsche zu
debattieren, und zwischen zwei Tänzen über Verse von Stephan
Mallarm£ oder Dante Gabriel Rossetti zu reden — solange sage
ich, ist dies Streben begreiflich. Einen wahrhaften Literaturfreund
wird dies naturiich nichts angehen, auch ein Botaniker wird ja,
wie ich schon einmal bei Besprechung desselben Themas im nTag*"
sagte, nicht nur wohlriechende oder schönbluhende Pflanzen für
ein seiner würdiges Studiengebiet halten. (Vgl. Kari Hans Strobl
in einem Aufsatze in der Wiener „Zeit").
Das vorliegende Thema gehört seinem Wesen nach in das
Grenzgebiet: Literatur-Jurisprudenz. Indessen besitzt der Kriminal-
roman ausserordentlich viele Berührungspunkte mit der Medizin
und den verwandten Wissenschaften. Das beweisen meine Aus-
führungen im Text, und das soll in einem besonderen Kapitel
behandelt werden.
- 8 -
Wenn diese Studie der Öffentlichkeit übergeben wird, ist das
endgfiltige Schicicsal des Rechtsanwalts Hau wahrscheinlich schon
entschieden. An den aufgestellten Theorien und AusfQhningen
indert dies naturlich wenig oder gamichts.
Es ist mir eine angenehme Pflicht, den Herren zu danken, die
mir bei der Abfassung dieser Studie mit ihrem liebenswürdigen Rate
nutzlich waren. Es sind dies neben Herrn Dr. Hans Hirschberg in
Berlin, die Herren Verlagsbuchhändler Engelhom und Robert
Lutz. Letzterer besonders hatte die grosse Güte, mich mit aus-
ländischem Material zu versorgen und mir die Eindrücke, die er
im Verkehr mit den Autoren seines Verlages gewonnen, mitzu-
teilen. Meinen besonderen Dank schulde ich vor allem Herrn
Prof. Dr. Qross, dem Lehrer des Strafrechts an der Universität
zu Prag, dessen «Kriminalpsychologie'' ich vielfach benutzt habe,
und der, ein grundsätzlicher Gegner des Kriminalromans, die
Liebenswürdigkeit hatte, mir in einem längeren Brief seine
Ansicht mir zu übermitteln. Der Herausgeber dieser Hefte, Herr
Dr. Rahmer, endlich hatte die Güte mich, der ich nicht Mediziner
bin, durch wertvolle fachwissenschaftliche Ratschläge, besonders
über E. A. Poe, zu unterstfitzen.
Berltn» September 1907.
Der Verfassen
Vom Wesen und Werden des heutigen
Kriminalromans.
Das enfant prodigue der Literatur des späteren Mittelalters
Avar der Schelmenroman, dann löste ihn die erotische Erzählung
ab. In der Gegenwart ist es der Kriminalroman. Wenigstens
seine heute herrschende Abart. Kriminalistische Themata an und
für sich waren eigentlich immer beliebt, von Herodots Geschichte
vom Meisterdiebe an, über Schillers „Geisterseher* und Goethes
«Grosskophta", bis zu den Geschichten von Streckfuss, König usw.
Doch ist hier schon der Unterschied deutlich. Das Thema
des früheren Kriminalromans rechtfertigte seinen Titel, das
Wesentliche blieb jedoch immer die Liebesgeschichte, das Krimi-
nalistische lief nur nebenher. Der Verbrecher war entweder
der hartgesottenste Bösewicht, der je auf der Erde herumlief und
trug das Kainszeichen so deutlich auf der Stirne, dass es eigent-
h'ch jeder vemfinftige Mensch hätte bemerken mfissen, oder ein
durch ungünstige Verhältnisse auf die schiefe Bahn getriebener,
im übrigen jedoch hochgradig edler Mensch. Die Eltern des
Unglückseligen natüriich in demselben Massstabe teils arm aber
ehrlich, teils reich mit bösem Makel auf dem Vorieben, oder
gutmütig und gutartig aber willensschwach. Dazu die gewöhnlich
blonde Liebe, die häufig weinte oder betete, und die Erzählung
war fertig. Nun könnte man meinen, ich übertreibe, aber wer
die Produktion eifrig verfolgt, wird — besonders bei deutschen
Romanen — vielfach das gegebene Schema, natüriich in modifi-
zierterer Form, wiederfinden.
Der moderne Kriminalroman ist der analytische und E. A. Poe
hat ihn geschaffen. Zum mindesten, indem er den «Consulting
detective'' einführte, denn schon oft hatte man versucht, die
Kunst, eine anscheinende Unmöglichkeit durch analysierende
Beobachtung zu lösen, in Erzählungen und Märchen vorzufinden.
So paradox es klingt, im Märchen. Der Jude Abner in Hauffs
- 10 -
»Geschichte vom Juden Abner, der nichts gesehen hat", g|bt so
logisch durchdachte, scharfsinnige Schlussfolgerungen, dass er
sich jedem modernen Romandetektiv mit aller Ruhe zur Seite
stellen könnte. Freilich, auch seine Analysis ist nicht originell
und der Urtypus des Hauffschen Märchens ist (wenigstens be-
hauptet es Dr. Ludwig in dem sehr interessanten Aufsatze
»Sherlock Holmes und seine Ahnen'' ^) die indische Erzählung
von den zwei scharfsinnigen Brfidem, die an den Spuren eines
Kameles, das kurz vorher die Landstrasse passiert hat, erläutern,
dass es halb mit Zuckerwerk und halb mit Getreide beladen,
auf einem Auge blind und schwanzlos gewesen sein müsse. Sie
schliessen nämlich so: die Ri^en schwärmen nur auf einer
Seite des Weges, folglich trug das Tier auf dieser Seite etwas
den Riegen angenehmes; die Kräuter sind nur auf einer Seite
des Weges abgefressen, folglich sah das Kamel nur auf einer
Seite; der Kot endlich, den das Kameel sonst durch Wedeln mit
dem Schwänze zerstreut, li^ auf einem Haufen, folglich hatte
es keinen Schwanz.
Die Schlussfolgerungen sind gut, aber sie bewegen sich noch
in räumlichen Begriffen. Mit E. A. Poe lernte der Kriminalromaa
psychologisch denken. Hierfür ein Beispiel aus dem «entwendeten
Brief*. Der Polizeipräfekt war bei Dupin — so heisst der
»Consulting detective" bei Poe, wie er später Lecoq, Sheriock
Holmes, Barnes usw. heissen sollte. — Er hat auf der Suche
nach einem Briefe alles getan, was sich in räumlicher Be-
rührung tun liess, die Wohnung des Diebes, und er sdbst
sind so gründlich durchforscht worden, dass der Präfekt vor
einem Rätsel steht. Und die Natur des Briefes bedingt, dass er
an keinem anderen Orte verborgen sein kann. An dem Beispiele
eines Schuljungen, der in dem bekannten Spiele »Paar oder un-
paar* seinen Mitschülern alle Murmeln abgewann, erklärt Dupin,.
dem die Zurückgewinnung des gestohlenen Gegenstandes gelingt,,
die Gedankenarbeit, die er geleistet. Als er diesen Schuljungen,
so erzählt er, einst fragte, wie er es denn mache, fast immer das
Richtige zu raten oder vielmehr — da jener ihm gesagt hatte,,
dass er die Antwort danach richte, ob sein Spielpartner klug^
oder dumm sei — wie er denn das erkennt, erhielt er die Aus-
Sonntagsbeilage der Vossischen Zeitung, Nr. 374, Jahrgang 1906.
-' 11 -
kunft: »Wenn ich herausfinden will, wie klug oder wie dumm»
wie gut oder wie schlimm jemand ist, oder was er in dem
Augenblicke denkt» dann richte ich mich mit dem Ausdruck meines
Gesichtes so genau wie möglich nach dem Ausdrucke des seinen
und warte ab, was ffir Gedanken oder Empfindungen mir dann
in Herz oder Sinn aufsteigen um dem Ausdrucke der Züge zu
entsprechen." Dupin deduziert dann weiter, dass die Identifizierung
des Verstandes desjenigen, der nachdenkt, mit dem seines Gegners
von der Genauigkeit abhängt, mit der der Geist des Widersachers
abgemessen wird, „und das eben ist der Grund, weshalb der
Präfekt mit seiner Kohorte so oft auf dem Holzwege ist Sie ver-
säumen es, sich mit ihrem Gegner zu identifizieren und ermessen
den Grad seines Verstandes falsch oder gar nicht. Sie bleiben immer
bei ihren eigenen Ideen von Scharfsinn stehen, und haben sie
etwas zu suchen, was verborgen ist, so suchen sie es da, wo sie
es würden verborgen haben"*. Er eriäutert dann noch weiter die
Zusammengehörigkeit der Begriffe von »suchen" und »verstecken"
und wie das eine fast immer die Vorstellung des anderen auslöse.^)
Jeder, dem man die Aufgabe stelle, irgend eine bestimmte Sache
zu »suchen", wird das »verstecken" als eine conditio sine qua non
auffassen und danach seine Vorbereitungen treffen, er wird es
machen wie der Präfekt, der »es für ganz gewiss angenommen
hat, dass alle Menschen, wenn sie einen Brief verstecken wollen»
— ihn nicht gerade in ein Loch, welches in ein Stuhlbein gebohrt
wird — aber doch wenig$tens in irgend ein entlegenes Loch oder
in einen verborgenen Winkel legen müssen". Schaltet nun ein
so guter Kenner psychologischer Vorgänge, wie es in diesem
Falle der Dieb ist, die Schlussfolgerung des »suchen" aus, so
steht der mit der Suche Beauftragte vor einem Rätsel, und erst der
in dem Beispiele des Schuljungen gegebene Gedankengang bringt
die Lösung. So ist es übrigens auch in der Poeschen Erzählung,
das fragliche Objekt liegt unter Benutzung einiger oberflächlicher
Vorsichtsmassregeln offen vor aller Augen.
Baute sich hier die Handlung auf eine Vorstellungsverbindung
auf, von der Münsterberg^) sehr zutreffend sagt: „Der Grundfehler
aller zu unrichtigen Vorstellungsverbindungen führenden Asso-
*) Vgl. Gross, Kriminal-Psychologie, „Gewohnheit".
*) Hugo Munsterberg: «Beiträge zur expsrimenteUen Psychologie*.
Freiburg 1889-92, Heft 1-lV. *
- 12 -
ziationsprozesse muss in ihrer Unvollständigkeit stecken. Eine
Vorstellung war mit einer zweiten, diese mit einer dritten assoziiert,
und wir verbinden die erste mit der dritten . . . was wir aber
nicht sollten, weil die erste, als sie mit der zweiten koexistierte,
auch mit vielen anderen verbunden war,** so leistet Dupin in
«The Murders in the Rue Morgue" eigentlich eine psychologisch
viel weniger hoch einzuschätzende Arbeit, obwohl gerade diese
Erzählung, sowie der „Mord der Marie Roget* (die allerdings
auf einem wirklichen Morde fusst) den Ruhm des die verwickeltsten
Kriminalrätsel lösenden Poe begründeten. Die Worte des Sir
Thomas Browne jedoch: „What song the Syrens sang, or what
name Achilles assumed, when he hid himself among women,
although puzzling questions, are not beyond all conjecture**, die
als Motto über dem „Die Mordtaten in derRueMorgue" stehen, bilden
seit E. A. Poe eigentlich das Leitmotiv des modernen Kriminal-
romans.
Der amerikanische Dichter starb, und ein Franzose, Qaboriau
mit Namen, übernahm die Erbschaft. Dem fehlte das Dämonisch-
Mystische des genialen Amerikaners, die besondere Begabung für
die Analysierung psychologischer Vorgänge beinahe vollständig.
Er hatte wenig oder gar nichts von dem Geiste des Redakteurs
E. A. Poe, der ein Preisausschreiben erlassen konnte, dass kein
Leser seiner Zeitschrift ihm eine Chiffreschrift voriegen könne,
die er nicht zu lösen imstande wäre und der — wunderbar
genug — recht behielt. Qaboriau verkleinerte den Dupin, sein
Held Lecoq ist ein vielleicht schärferer Beobachter, aber er gleicht
dem Wilden, der die verborgensten Spuren zwar auffinden und
räumlich deuten, aber nur unzureichend begründen kann. Die
Gedankenarbeit, die Dupin so konform mit der des Verbrechers
sich zu leisten bemüht, fällt fast vollkommen unter den Tisch.
Dazu kommt der spezifisch französische Einschlag, die unver-
meidlichen Liebesgeschichten, die üblichen treulosen Frauen (nicht
Begabung und innerer Drang, sondern eigentlich eine unglückliche
Liebe, Geldmangel und andere reale Beweggründe haben Lecoq
in den Beruf des Polizisten getrieben). Auch alle Motive und
überhaupt das ganze Lokalkolorit sind typisch für französisches
Empfinden; so brechen z. B. bei einer Verhaftung Richter und
Angeschuldigter in Tränen aus, und auch die dabei stehenden
Gensdarmen b'emeistem nur mühsam ihre Rührung.
- 13 -
Den Dupin und Lecoq goss als bewusster Nachahmer Arthur
G>nan Doyle in dem zu unerhörter Popularität gelangten Sheriock
Holmes zu einer Persönlichkeit zusammen. Er ist der Typ der
ganzen Gattung, die heute die Kriminalliteratur beherrscht mag
er auch bei anderen Autoren andere Namen tragen und einzelne
Variationen aufweisen. Weiter unten in «Verbrecher und Ver-
folger" wird sein Charakterbild noch genauer auszuführen sein,
hier nur einige Worte fiber das Milieu, in dem er sich bewegt.
Angelsächsich seine Umgebung, angelsächsisch er selbst Englisch
alle Begriffe : das beste Recht ist das englische, der gentleman ist
das einzig berechtigte Lebewesen und der geschickteste Verbrecher
ein Engländer. Stolz auch darin noch ; seht solche Köpfe haben
wir. Immerhin ist Doyle der würdigste Nachahmer von Poe;
die Notiz, die letzthin durch die Blätter ging, dass es seinen
Bemühungen gelungen ist einem unschuldig Verurteilten, dem
Perser Edalji, die Freiheit zu erwirken,^ zeigen, dass er Theorien
in Praxis umzusetzen versteht
Ober die Technik
des modernen Kriminalromans.
Die Technik des modernen Kriminalromans ist beinahe fest-
stehend. Der erste Grundsatz heisst: misstraue dem Indizien-
beweise! Er mag noch so umfassend sein, noch so sehr alle Wahr-
scheinlichkeiten abwägen und sie beinahe in Tatsachen umprägen,
eine einzige Möglichkeit bleibt doch noch immer, dass es auch
anders gewesen sein könnte. Auch der klarste Indizienbeweis hat
eine Lücke« sie zu verdecken und im geeigneten Momente aufzu-
decken, das ist die Kunst des Kriminalromans. Es gibt Kriminal-
Er hat mehr Gluck dabei gehabt, als — wenn man von Voltaire
absieht — seine beiden Schriftstellerkollegen Zola und Balzac. Das feierlich
pathetische ,J*accuse" des ersteren hatte dennoch immer mehr Erfolg als
Balzacs Eintreten für Peytel (1839). Der grosse Psychologe, der so meisterhaft
in Romanen die Seele zergUederte, liess sich von dem, mit Recht des Mordes
an Gattin und Bedienten schuldig Befundenen, vollständig düpieren. Ein
Beweis mehr, wie grau manche Theorie sein kann!
— 14 -
romane, in denen das Gewebe sich so diclit um den Verdäclitigten
schliesst, dass man die Hand auf ihn legen möchte und sagen:
„dieser ist es". Dann aber zerreisst das Netz, und der eben noch
Belastete ist plötzhch frei von allem Verdacht Auch das Leben
zeigt oft ähnliche Momente, ein eben noch auf Grund von Zeugen-
aussagen Verhafteter muss freigelassen werden, da er sein Alibi
nachweist Im Punkte des Indizienbeweises ist man ja bis jetzt
bei uns weniger zartfühlend, und wenn Herr Professor Gross mir
schreibt: „Eine wahre, vollkommen wahre Geschichte zu einetn
interessanten Kriminalroman zu machen, ist unmöglich, das Leben
ist in der Regel viel einfacher und langweiliger", so datiert dies vor
dem Prozesse Hau, den ich hier noch mehrmals anfahren werde,
weil er mit der interessanteste Kriminalroman ist, der bisher ge-
schrieben wurde und in allen seinen Phasen in jedem guten ameri-
kanischen oder englischen Roman der betreffenden Gattung stehen
könnte. (Der Typus des Rechtsanwaltes Hau kommt oft in der
Kriminalliteratur vor, z. B. ist Tremaine in „Das Perlenhalsband"
eine völlig konforme Figur, sogar mit denselben einen starken Strich
ins Abenteuerhafte tragenden Projekten.)
Heute verurteilt man auf Indizienbeweise hin, die obendrein
manchmal auf recht schwachen Füssen stehen und sich auf Aus-
sagen von recht dubiosen Zeugen stützen.') In diesem einen Punkte
könnte der Kriminalroman erzieherisch wirken, er könnte lehren,
dass die Voruntersuchung — natüriich nach bestem Wissen und
Gewissen — ganz unwillkfiriich alles Belastende viel eifriger zu-
sammenträgt als das Entlastende, und dass im Leben der in der
engen Untersuchungszelle Sitzende nicht immer so gute Freunde
hat, die mit so vielem Eifer für ihn arbeiten, wie im Romane.
Aus dieser Technik des Kriminalschriftstellers folgt die Regel,
dass im Roman der auf den ersten Blick hin am kompromittiertesten
erscheinende nie der Täter ist. Vielfach benutzt wird der Trick,
dass der wahre Schuldige gleich am Anfange erwähnt und mit
unbedeutenden Worten gestreift wird, um gleich wieder in der
Versenkung zu verschwinden, aus der er dann im geeigneten Moment
erscheint Die Probe auf die Richtigkeit lässt sich sehr leicht
in der Praxis machen: wer viel Kriminalliteratur gelesen, wird
^) Der Fall Berger; für die Unschuld des im Zuchthaus Sitzenden
kämph augenblickh'ch ein bekannter Schriftsteller.
- 15 -
schon nach den ersten Seiten fast immer auf Grund dieser Regel
den wahren Täter zu nennen imstande sein.
Ein weiteres Erfordernis ist das Hineinziehen von medizinischen
und chemischen Kenntnissen. Je mehr darin geleistet wird, desto
wahrscheinlicher wird die Erzählung. Einzelne Autoren lassen
ihre Detektivs förmliche Vorträge fiber Chemie, Botanik, Medizin
und so weiter halten. Auch etwas Mathematik ^) wirkt gut, sie zeigt
die logischen Fähigkeiten. Doch ist Medizin recht eigentlich die
Hauptsache; die nach dem Verbrechen, gemäss dem englischen
und amerikanischen Recht, sofort stattfindende Leichenschau gibt
dem „Coroner" und dem Detektiv reichlich Gelegenheit zu weisen
medizinischen Wechselgesprächen. Das Verbrechen selbst spielt
nicht mehr wie früher in einsamen Gegenden, unheimlichen
Wirtshäusern und zerfallenen Gebäuden, im Gegenteil, mitten im
Herzen der Grossstadt'), im Hotel'), im Expresszug ^), im eleganten
Salon oder Schlafzimmer^). Es gibt auch keine verlarvten Mörder
mehr, keine zerlumpten Gestalten mit finsteren Gesichtern.
Der moderne Verbrecher mordet im Frack, und muss sich, wenn
er einbrechen will, die natürlich am Oberhemde festsitzenden
Manschetten ^) zurfickschlagen.
Der Detektiv.
Der moderne Kriminalroman besteht aus dem Gegenspiel
zweier Personen, des Verbrechers und des Verfolgers. Betrachten
wir zunächst den letzteren.
Die Reihenfolge Poe-Gaboriau-C. Doyle, die zum Typus
des Detektivs fuhrt, ist bereits im ersten Abschnitte dieser Studie
behandelt worden. Bleibt noch, sie etwas näher auszuführen.
Edgar Allan Poe war ein kranker Mensch, ein „Säufer*,
wie ihn das prüde Amerika seiner Zeit nannte. Die Nachwelt ist
^) Wood: „Auf der Fährte*'. (The Passenger from Scotland-Yard).
*) J. Hawthome: „Der grosse Bankdiebstahl**. Gnin: „Endlich ge-
funden**.
>) Kent: „Das Haus gegenüber**. Murray: »Der Bischof In Not*.
*) Major Qriffits: „Im Expresszug Rom-Paris**.
*) L. Lynch: „Schlingen und Netze**. Paul Lindau: „Spitzen**.
*) Homung: „Ein Einbrecher aus Passion**.
- 16 -
ihm gerechter geworden, wir wissen heute, dass er von Geburt
krank, ein schwerer Psychopath und Epileptiker war und
dass seine Alkoholexzesse als echte Dipsomanie aufzufassen
sind.^) Der Dichter kannte sich zweifellos am besten, wenn er
eine seiner hervorragendsten Novellen mit den Worten: ,,Es ist
wahr! nervös, entsetzlich nervös war ich in jener Zeit und bin
es noch; aber warum soll ich denn wahnsinnig sein?"') anfängt.
Auch Fritz Reuter war „Säufer'', aber der Humor, der aus seinen
Schriften quillt, mindert für uns das Quälende des Charakterbildes^
er vergoldet das verzerrte Gesicht des »Quartalssäufers" und mildert
das Urteil auch der absolutesten „Moral". Dem armen Edgar
Allan fehlte die Gabe des Humors gänzlich, was er „Humoresken*
nennt, scheint mühsam und gequält und geht erst da in reinere
Töne über, wo das Grauenhafte und Bizarre einsetzt
Krank war der Dichter, krank ist sein Dupin, der sich in
dem grossen Paris von der Umgebung ängstlich abschliesst, der
die Fenster herunteriässt, der die Sonne und den Tag verneint
„Beim ersten Morgengrauen schlössen wir alle die massiven Fenster-
läden in unserem alten Gebäude und steckten ein paar Wachs-
kerzen an, die stark parfümiert waren und nur einen schwachen
flackernden Schimmer vor sich hinwarfen. Mit ihrer Hilfe ver-
senkten wir unsere Seelen in Träume — wir lasen, schrieben
oder unterhielten uns, bis uns die Uhr den Beginn der wirklichen
Dunkelheit anzeigte. Dann begaben wir uns Arm in Arm in die
Strassen und setzten die Gesprächsgegenstände des Tages weiter
fort oder strichen bis zu einer sehr späten Stunde ins Weite
und suchten mitten unter den Gegensätzen von Licht und Schatten,
wie die grosse volkreiche Stadt sie bietet, die endlosen geistigen
Anregungen, welche ruhige Beobachtung gewähren kann." *)
Aber Poe starb, auch Gaboriau wurde begraben und A. C.
Doyle trat das Erbe an. Der ist von Beruf Arzt, lebt vergnügt
auf seinem Landgute in schöner Gegend und beteiligt sich an
Automobilrennen. Dabei, wie schon einmal oben erwähnt, ein
recht scharfsinniger Herr, der viel vom Leben gesehen hat Das
') Eine eingehende Psychopathie E. A. Poes bringt das Heft 8 dieser
Sammlung.
*) Poe: „Das verräterische Herz*'.
*) Ins „Die Mordtaten in der Rue Morgue*'. Eindringlicher noch
schildert Poe diesen Geistes- und Gemütszustand in dem ,JMann der Menge**.
- 17 -
reinste Exemplar der Gattung „Detektiv", Sherlock Holmes ist
fertig.
Er bedarf zunächst einmal, um sich voll und ganz ins rechte
Licht zu setzen, eines Gegenspielers. Dies ist der Erzähler der
Holmes-Geschichten, Dr. Watson, der brave Doktor, welcher nie
etwas zulernt, oder wenigstens in höchst beschränktem Masse,
stets aufs neue über den unglaublichen Scharfsinn seines Freundes
verwundert ist und stets dieselbe Frage stellt: „Aber Holmes, woher
weisst du das?" Sherlock aber setzt sich dann in Positur und
doziert. Wie man zugeben muss, recht logisch.
Sherlock Holmes ist Cocainist und Morphinist, aber er bedarf
dieser Stimulantien nur in der Ruhe. Auf der Jagd nach dem
Verbrecher, beim Lösen irgend eines schwierigen Problems wachsen
ihm, wie einst dem Riesen Antäus, dem Sohne der Erde, die Kräfte.
Dann braucht er keine Irritantien, auf ihn wirkt die Jagd nach
menschlichem Wild besser, als alle chemischen Reizmittel. Watson
hat ihn einst charakterisiert als in Botanik ungleich, Philosophie,
Astronomie und Politik vollkommen null, in Geologie sehr gründ-
lich, namentlich in bezug auf Dreckspuren aus jeder beliebigen
Gegend im Umkreis von London; Chemie brillant, anatomische
Kenntnisse unsystematisch, in Kriminalliteratur ein hervorragender
Kenner. Im übrigen guter Boxer, Fechter, Jurist. Im Laufe der
Erzählungen wächst Holmes, der nebenbei sacht zum Doktor
avanciert, langsam über sich hinaus, er wird eine Art Universalgenie.
Seiner geistigen Anlagen ist er sich vollkommen bewusst, die
Kunst der Schlussfolgerung übt er mit einer gewissen, ihm nicht
übel anstehenden Selbstgefälligkeit, er schätzt sich selbst recht hoch
ein. So sehen wir ihn im Lehnstuhl sitzen, die Augen geschlossen,
die Fingerspitzen aneinandergelegt und hören ihn seinem Freunde
Watson gegenübet deduzieren:
«Der vollendete Denker müsste eigentlich imstande sein,
an der Hand einer einzigen Tatsache, die ihm in allen ihren
Beziehungen klar geworden ist, sowohl die Begebenheiten,
die daraus folgten, als auch diejenigen, welche vorausgingen,
zu ermitteln. Genau so, wie Cuvier den Bau eines ganzen
Tieres bei der Betrachtung eines einzigen Knochen fest-
zustellen vermochte. Wir sind uns noch viel zu wenig be-
wusst, was wir alles durch blosse Geistesarbeit erreichen
können. Mit Hilfe des Studiums vermag man Probleme zu
Qrenzfragen d. Lit. u. Medizin. 7. Heft. 2
- 18 —
lösen, an denen diejenigen verzweifeln, die die Lösung nur
vermittelst ihrer fünf Sinne zu finden trachten. *"*)
Er ist mit Watson nicht recht zufrieden, weil dieser seine
geistigen Eigenschaften in den Erzählungen nicht genug hervoriiebe :
„Wenn ich volle Gerechtigkeit für meine Kunst verlange,
so tue ich dies, weil ich dieselbe als etwas Unpersönliches — als
etwas Ober mir stehendes betrachte. Verbrechen kommen alle
Tagevor, streng folgerichtiges Denken findetsich selten. Deshalb
hättest du dich mehr bei dem letzteren als bei ersterem aufhalten
sollen. Statt einer Reihe belehrender Vorträge (!) ist unter deiner
Hand ein ganz gewöhnliches Geschichtenbuch enstanden.* ')
Solch Detektiv bedarf natüriich als Objekt seiner Bemühungen
des richtigen Verbrechers, gewöhnliche »schwere Jungen* reichen
nicht aus. So recht würdig ist zwar seiner eigentlich nur Professor
Mariarty,^ der bei Doyle den geborenen Verbrecher repräsentiert
Aber auch die anderen Gegner des Allerweltskeris Holmes sind
nicht zu verachten, und der neuerdings zum Dogma erhobene Satz
der Kriminalpsychologie von der „üblichen Dummheit, die jeder,
auch der geschickteste Verbrecher macht** kommt bei Doyle nicht
gut weg. Sherlock Holmes ist hier ziemlich ausführiich behandelt
worden, er ist, wie ich schon mehrfach erwähnte, der Detektiv
des modernen Kriminalromans. Andere Autoren, andere kleine
Abweichungen in der Zeichnung des Helden, der Typ bleibt gleich.
Vielfach wird jetzt der Gentleman -Verbrecher beliebt, der
eigentlich bloss ein Detektiv in umgekehrter Form ist Er ist am
besten in „Raffles'*^) verkörpert, der auch vor kurzem auf die
deutsche Bühne gebracht wurde.
Das Krankhafte im Verbrechen.
(Krankhafte Motilre und kranke Verbrechen)
«Das grosse Unglück, nicht allein sein zu können* steht
als Motto über Poes ,Der Mann der Menge* ^). Es ist das typische
*) „Fun! Apfelsinenkeme**.
*) „Das Landhaus in Hampshire".
*) „Das letzte Problem** und in „Als Sherlock Holmes aus Lhassa kam".
^ Homun£:„DieschwarzeMaske". Ders.: „Ein Einbrecher ans Passion".
3) Poe: J}er Geist des Bösen".
— 19 -
Krankheitsbild eines neuropathisch beiasteten Menschen, das dort
entrollt wird. Der Unglückliche, der sich selbst im Treiben der
Menge entrinnen will, den die Furcht vor dem Alleinsein mit sich
selbst hinaustreibt, der rastlos umherirrt und dennoch überall
sich selbst findet, ist er nicht recht eigentlch der Dichter selbst? Auch
ein anderes Genie, Guy de Maupassant, hat derartige Stimmungen
mit Meisterhand entworfen : der irrsinnige Richter, der den Mord
begangen und doch den vor ihm stehenden Angeklagten, von dem
er am besten weiss, wie unschuldig er an dem Verbrechen ist,
verurteilen wird, fühlt wohl den dumpfen Druck im Gehirn, er
weiss auch, dass ein Adler in seinem Kopfe ist, der heraus will
und dennoch vergeblich an die engen Schädelwände pocht. Sie
aber waren beide, der Amerikaner und der Franzose, kranke
Menschen und krank verzerrt das Bild, das ihnen das Leben
spiegelte.
Objektiv steht der moderne Autor vor den Erscheinungs-
formen, die ihm die Kriminalpsychologie bietet. Die und die
sagt ihm zu, auf ihr baut er seine Erzählung auf. Mustern wir
die bunte Reihe und greifen wir einige Beispiele heraus.
„In den Fällen, die man früher Kleptomanie nannte
die trotz der Abschaffung des letztgenannten Namens doch
nicht zu leugnen sind, und die immer und immer wieder
kommen "*)
Mit diesen Worten streift Gross eine Erscheinung, die Warden ')
benutzt hat. Auch das Läppische und vielfach Sinnlose bei dem
Treiben der an Kleptomanie Leidenden (wie im Leben weitaus
immer, so ist auch in der Erzählung der Dieb in diesem Falle
eine Frau), ist sorgfältig in Betracht gezogen. „Unter den Dielen
der Dachstuben, sowie eingenäht in der Matratze des eigenen
Bettes der Dame, in Löchern der ausser Gebrauch gesetzten
Schornsteine und der Kamine versteckt, fand der Beamte einen
Haufen ebenso verschiedenartiger wie sie schwer belastender Gegen-
stände. Gold- und Silbergeld, wie auch Banknoten, Schmuck
von meist nur geringem Wert und anscheinend neu aus Läden
gestohlen, ein halbes Dutzend Herrenuhren, Bleistifthalter, Börsen,
*) Gross: Kriminalpsychologie; cf. auch: Henri Legrand du Saulle:
„La folie devant les tribunaux.*'
*) Fl. Warden: „Das Gasthaus am Strande". (Oberst Bostal ist der
Vater der Diebin, Clifford einer der Ankläger.)
2*
- 20 —
Stücke von Zeug und von Spitzen, Visitenkartentaschchen, silberne
Löffel undQabeln bildeten einen Teil dessen, was er gefunden hatte.''
Ganz konsequent heisst es dann nachher weiter :
Oberst Bostal erhob sich von seinem Stuhl, und nach-
dem er ein Schränkchen in der Ecke des Zimmers geöffnet
hatte, nahm er aus diesem eine alte Schreibmappe heraus,
aus der er Clifford ein Bündel alter Zeitungsausschnitte
fiberreichte.
Sie bezogen sich alle auf Fälle von Kleptomanie, die
vor dreiundzwanzig bis ffinfundzwanzig Jahren zur Verhand-
lung gekommen waren, und wobei eine gebildete junge
Dame aus guter Familie des Ladendiebstahls angeklagt
worden war.
»Sie beziehen sich alle auf meine Tochter**, sagte der
Oberst gelassen. „Und jedesmal haben wir ihre Freisprechung
durchgesetzt mittelst der Einrede, dass sie an Hysterie ge-
litten habe, was auch wahr war."
„Dann ist sie also nicht für ihre Handlungen verant-
wortlich?'* warf Clifford erleichtert dazwischen. Der Oberst
zögerte und sagte dann: ,»Offen gesagt ist meine feste Über-
zeugung, dass sie völlig verantwortlich ist Sie ist eine hoch-
begabte Person und ihre Verschlagenheit und List grenzen
ans Wunderbare, dabei ist sie von einer moralischen Ent-
artung beherrscht, die sie die Aufregung des Verbrechens
suchen lässt.**
Man sieht, auch den Autor überkommen Zweifel, — die er
übrigens nachher dann noch einmal ausführt — an die Klepto-
manie als Krankheitsform zu glauben, und er befürwortet lediglich
eine gewisse »moral insanity*.
Auf Sadismus, wenigstens larvierten, scheint mir A. C. Doyle
in »John Barrington Cowles* hinzudeuten. Hier bleibt das Motiv,
das die Veriobten einer Dame teils in Irrsinn, teils in den Tod
treibt, fast vollkommen unklar, jedoch die Tatsache, dass die be-
treffende Dame eine gewisse Vorliebe für Pelze zeigt, sie häufig
trägt, sowie die nachfolgend zitierten Stellen rechtfertigen wohl
meine Behauptung:
»Ihr Gesicht zeigte etwas mehr Farbe als gewöhnlich,
und in der Hand hielt sie eine schwere Hundepeitsche, mit
der sie eben einen kleinen schottischen Terrier durchgeprügeil
- 21 -
hatte, dessen Geheul uns auf der Strasse aufgefallen war. Das
arme Tier lag kläglich winselnd und augenscheinlich gänzlich
erschöpft in einer Ecke.*"
Nach einem kurzem Wechselgespräch heisst es dann weiter:
„Angenommen, dass jedesmal, wenn sich ein Mensch
schlecht aufführte, eine Riesenhand ihn packen und eine zweite
ihn mit einer Peitsche durchprügeln würde, bis er ohnmächtig
wäre,*" — bei diesen Worten schnalzte sie mit den Fingern
und liess die Peitsche durch die Luft pfeifen — «das würde
ihn zu einem besseren Menschen erziehen als jede beliebige
Anzahl von hochgesinnten Morallehren.*
„Liebe Käthe," bemerkte mein Freund, „du bist ja heute
ganz wild aufgelegt.*
„Nein mein Junge", lachte sie. „Ich lege nur Herrn
Doyle eine Theorie zum Nachdenken vor."
Sadistische Neigungen zeigt auch Stapleton^), „der Mann mit
dem kältesten Mörderherzen". Darauf weist für mich hin, dass
er aus Neigung Schulmeister war, ehe er Verbrecher wurde (man
denke nur an Dickens' Schilderung des englischen Schullebens,
auch an die moderneren Dührens und anderer) und die vielfachen
Schilderungen, wie er seine Frau, die er obendrein liebt, misshandelt:
„An diesem Pfeiler war eine menschliche Gestalt fest-
gebunden, aber ob es ein Mann oder ein Weib war, konnten
wir für den Augenblick nicht sagen, denn diese Gestalt war
vollständig von Bett- und Handtüchern vermummt. Ein Hand-
tuch war um die Kehle geschlungen und hinter dem Pfosten
zusammengeknotet; ein zweites bedeckte den unteren Teil
des Gesichtes usw. Ihr schönes Haupt neigte sich
auf ihre Brust und da sah ich auf ihrem Halse klar und
scharf die roten Striemen vom Hiebe einer Reitpeitsche."
Krankhaft gesteigerte Rachsucht liegt jener Erzählung Doyles*)
zugrunde, in der ein Baumeister durch einen fingierten Mord, bzw.
spurloses Verschwindenlassen von sich selbst, einen Unschuldigen,
dessen Mutter ihn einst beleidigt, fast an den Galgen bringt, und
nur der Scharfsinn des Detektivs den teuflischen Anschlag verhütet.
Sehr gern entzieht Doyle die Verbrecher — besonders die, deren
*) A. C. Doyle: „Der Hund von Baskerville'*.
1) In „Als Sherlock Holmes aus Lhassa kam'*.
- 22 -
Motive einigermassen edle und menschlich verständlich sind —
dadurch, dass er sie im letzten Stadium einer schweren Krankheit
einführt, ihrem Schicksal und der irdischen Gerechtigkeit. So ist
der alte Turner Diabetiker, der seinen Zustand genau kennt
und selbst sagt: „Seit Jahren leide ich an Zuckerkrankheit, mein
Arzt hält es für fraglich, ob ich in vier Wochen noch lebe. Nur
stürbe ich gern unter dem eigenen Dach — nicht im Zuchthaus. *",
der Mörder in „Späte Rache' ist schwer herzleidend. Das Bild
des Opiumessers bzw. Opiumrauchers führt Doyle im Anfange
von „Der Mann mit der Schramme*" vor, wenn er sagt:
„Isa Whitney, der Bruder des weiland Elias Whitney,
Doktors der Theologie und Rektors des Predigerseminars von
St. Georgen, war ein starker Opiumraucher. So viel ich
weiss, kam er durch eine Jugendeselei dazu, als er noch auf
der Schule war. Er hatte damals de Quinceys Beschreibung
seiner Träume und Empfindungen ') gelesen und tränkte seinen
Rauchtabak mit Opiumtinktur, um womöglich dieselbe Wirkung
zu erzielen. Dabei ging es ihm aber, wie schon manchem
vor ihm: er fand, dass es viel leichter ist, eine Gewohnheit
anzunehmen, als sie wieder abzulegen; so blieb er jahrelang
ein Sklave dieses Giftes und wurde seinen Freunden und
Verwandten zum Gegenstand des Abscheus oder auch des
Mitleids. Noch sehe ich ihn vor mir in einem Lehnstuhl
zusammengekauert mit dem gelben aufgedunsenen Gesicht,
den schlaffen Augenlidern und den zu der Grösse eines
Stecknadelkopfes verkleinerten Pupillen, die traurige Ruine
eines ursprünglich edlen Menschen.**
Die Kriminalpsychologie kennt Verbrechen ausBibliomanie'),
Jack London führt in „The Minions of Midas" *) eine Reihe von
Mordtaten vor, die aus dem rein philanthropischen Grunde be-
gangen wurden, einen gesellschaftlichen Ausgleich zwischen begü-
terten und weniger bemittelten Klassen zu bewirken. In hellem
Wahnsinn begehen die „Minions of Midas" eine Schandtat nach
der anderen, ganz sinnlos in der Wahl der Opfer; einzig allein
1) In „Der geheimnisvolle Mord im Tale von Boskombe".
*) Thomas de Quincey: „Bekenntnisse eines Opiumessers''.
') Der Fall des Magister Trinius (Pitaval); eine kurzlich in Wien ge-
führte Untersuchung gegen einen bedeutenden Philologen usw.
*) Jack London: „Moon-Face and Other Stories". London 1906.
— 23 -
um einen Druck auf das Gemüt eines Ungläcklichen auszuführen
sind sie anderseits fähig, mit der unerbittlichen Logik, die der
Irrsinnige in einzelnen Punkten zeigt, kühl und ruhig zu dozieren :
M We are of the unwasted, best with this difference : our
brains are of the best and we have no foolish ethical nor
social scruples. As we are, toiling early and late and
living abstemiously, we could not save in threescore years —
nor in twenty times threescore years — a sum of money
sufficient succesfully to cope with the great aggregations of
massed capital which now exist.'*
Sie wollen Geld erpressen, um die Menschen glücklich zu
machen und morden, nicht etwa Angehörige dessen, den sie ver-
folgen, nein — ein Kindermädchen, einen Arbeiter; Leute» die sie
gar nicht kennen, die den Kreisen angehören, die sie beglücken
wollen, werden zur Strecke gebracht. Die Tat eines direkt Wahn-
sinnigen schildert in einer Erzählung Aug. Groner, verbrecherische
Anlage behandelt Perfall *). In dem in militärischen Kreisen spie-
lenden Romane Olivieris *) ist der Held im höchsten Grade erblich
belastet Der italienische Autor hat für seinen Verbrechertypus
die Lehren Lombrosos und seiner Schule benutzt. Freilich, die
Akten über die Theorien der italienischen Positivisten sind noch
nicht geschlossen, speziell deutsche Forscher haben auf diesem
Gebiete ein reichliches Material gegen Lombroso gesammelt, ob-
wohl der italienische Forscher, als er auf dem Kriminal-Anthro-
pologenkongresse in Genf seinen Gegnern zurief: „Die deutschen
und österreichischen Gelehrten glauben meine Lehren nicht —
das macht aber nichts, die Neukaledonier glauben sie auch nicht l**
nicht nur ein glückliches Schlagwort prägte. Wie Gross, der
eine ziemlich umfangreiche Literatur darüber anführt, sagt, ist
„ . . . die Frage der Vererbung deshalb noch nicht totgeleugnet
und das will man auch nicht tun. Am deutlichsten hat das der
Bericht') gezeigt, den A. L. Marchand über die von ihm mit
N. A. Koslow gepflogenen Erhebungen in den Asylen für Ver-
brecherkinder in der Petersburger anthropologischen Gesellschaft
erstattet hat (Januar 1897), und zwischen Buckle ^), der die Ver-
*) Perfall: „Finsternis".
') Sangiacomo Olivieri : „Der Oberst".
*) St Petersburger Zeitung vom 1. und 13. März 1897.
^) Henry Thomas Buckle: „History of civilisation in England".
— 24 -
erbung von Tugenden und Lastern Oberhaupt leugnet, bis zu den
jungst verflossenen modernen Lehren finden sich eine Menge
Zwischenansichten und bei einer derselben wird wohl das Wahre
liegen." Und so geht auch die Geschichte Olivieris zum Schluss
in eine Anzahl Zwischenansichten aus; die Meinungen über Garulli
(dies der Name des Verbrechers) sind recht geteilt, und bei dem
Abendessen nach der Verhandlung findet zwischen dem Rechts-
anwälte, dem Professor Guidarelli und dem Obersten ein regel-
rechtes wissenschaftliches Gespräch über verminderte Zurech-
nungsfähigkeit, die Lehre von der Wesensteilung und dem psychischen
Doppelsein statt, kurz die ganzen Lehrsätze einer teilweise erst
kommenden Generation werden aufgerollt Wie Gross die end-
gültige Beantwortung und Einschätzung des Wertes der italie-
nischen Positivistenschule offen lässt, so heisst es auch im
Roman :
„Die psychologischenAusführungen eines Romanschreibers
oder eines Dramatikers sind sehr gut und schön, aber wehe,
wenn man bei Gericht Ibsensche oder nordische Philosophie
treiben wollte ! Auf dem Gebiet der Irrenheilkunde, der Kriminal-
pathologie und der gerichtlichen Medizin können nur solche
Hypothesen zugelassen werden und als beweiskräftig gelten, die
sich auf Tatsachen stutzen. Nun, was sind das für Tatsachen ?
Ist Garulli irrsinnig? Nein. Ist er blödsinnig? Erst recht nicht.
Ist er degeneriert? Körperiich etwas, obgleich er auch da
keine bestimmten organischen Fehlerzeigt. Ist er Epileptiker?
ist er Neurastheniker? ist er Hysteriker? Wer weiss es?
Möglicherweise trifft nichts von alledem zu.'*
Man sieht hier (der Autor selbst steht natüriich mit seiner
psychologischen Begründung auf Seite des Verbrechers) das Be-
streben, das auch bei uns der so dringend verlangten Einführung des
Begriffes ,,verminderteZurechnungsfähigkeit" entgegensteht, nämlich
klassifizier dich oder ich fress dich. (Prozess Haul)
Die Edelsteinmanie ist klassisch, hat sie doch unser E. T. A.
Hoffmann bereits in seinem „Fräulein von Scud^ry** für seinen
Goldschmied Ren£ Cardillac benutzt Durch die Verhandlungen
in dem obenerwähnten Sensati'onsprozess hat sie eine gewisse
Aktualität eriangt und wurde vielfach als psychiatrisches Moment
angeführt. Im „Bild des Dorian Gray" spielt sie eine grosse
- 25 —
Rolle, und Mitchell nennt das Sammeln von Schmucksachen
sein nSteckenpferd".
Den obenerwähnten Verbrechen aus Bibliomanie und Philan-
throphie reiht sich würdig der Arzt bei Villiers de LMsle-Adam an,
der den durch seinen Rat von der Schwindsucht geheilten Patienten
niederschiesst, um dessen Lunge zu sezieren, und jener andere
Arzt in „Eine dunkle Tat", der zum Verbrecher wird, um die
Krankheit seines Opfers genau studieren zu können. Pyromanie
ist ein äusserst selten behandeltes Thema; periodisches Irresein
finden wir bei Hawthorne in „Archibald Malmaison", freilich in
sehr anfechtbarer Form behandelt
Krankhafte Wahnvorstellungen treiben den Verbrecher in
,,Eine Suggestion" ') in den Tod, und ergreifend klingt das Tage-
buch des Unseligen in die Worte aus:
1 2. November. „Ich sehe wieder klar, jetzt wo ich das ganze
Buch abgeschrieben habe. — Ich bin krank. Da hilft nur
kalter Mut und klares Wissen. — Für morgen früh habe ich
mir den Doktor Wetterstrand bestellt, der muss mir genau sagen,
wo der Fehler lag. — Ich werde ihm alles haarklar berichten,
er wird mir ruhig zuhören und das über Suggestion ver-
raten, was ich noch nicht weiss. —
Er kann im ersten Augenblick unmöglich für wahr halten,
dass ich wirklich gemordet habe, — er wird glauben, ich bin
nur wahnsinnig. —
Und dass er es sich zu Hause nicht mehr übertegt,
dafür werde ich sorgen : Ein Gläschen Wein ! ! I
13. November.
Ein meisterhaft gezeichnetes Bild, das ich dem «Moria"
Maupassants zur Seite stellen möchte, abgesehen davon, dass es
dort ausgesprochener Verfolgungswahn ist Die Frage des „ Dop-
pel-Ich" behandelt Gross mit den Worten:
»Es handelt sich hier um einen Fall von retrograder
Amnesie; man nimmt heute an, dass dieses Phänomen in
den weitaus meisten Fällen nach demselben Prinzip wie die
*) R. Ottolengui: „Der Kameenknopf/* (An Artist in Crime.)
*) Gustav Meyrink: „Orchideen.*
- J6 -
Hysterien, also ideogen zustande kooimt Die be-
treffenden Vorstellungskomplexe werden ins Unterbewosstsein
gedrängt, wo sie gelegentlich durch assoziative Nachhilfe, durch
Konzentration in der Hypnose und ähnliche Momente ins
Oberbewusstsein gehoben werden können.*
und erwähnt für weitere Belege Breuer und Freud, »Studien über
Hysterie' und Freud «Psychopathologie des Alltagslebens*. Paul
Lindau behandelt in ,Der Andere* (Urquelle wohl eigentlich Dick
May «Unheimliche Geschichten*) dieses Thema in der oben an-
^fährten Weise, während Stevenson^ die Trennung des Dr. Jekyll
in ein absolut böses Prinzip durch die Einwirkung dner phan-
tastischen chemischen Lösung erfolgen lässt
Bei Fergus Hume-) ist der Verbrecher schwerhörig (richtiger
er täuscht Schwerhörigkeit vor und benutzt sie geschickt als Hilfs-
mittel) und gut zeichnet ihn der Autor, wenn er ihn dastehen lässt,
mit gefatteten Händen, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, um
auch das leiseste Wort zu verstehen.
Nymphomanie bzw. Satyria»s sind recht heikle Themen,
dennoch werden auch sie in einem französischen Kriminalromane')
benutzt
Last not least möchte ich des Wilkie Collins^) gedenken, der
mit Vorliebe kranke Verbrecher zeichnet So ist im «Mondstein*
der Dieb eigentlich unschuldig, da er — von Haus aus starker
Raucher ausgesucht schwerer Zigarren, eine Leidenschaft, die er
einer Dame wegen plötzlich aufgibt — in einer derart nervös über-
reizten Stimmung ist, dass er, als ihm von dritter Seite her ein
Opiat eingegeben wird, willenlos im Schlaf Handlungen begeht,
deren er sich im wachen Zustande nicht mehr bewusst ist «Er-
findet ein Elixier, die Organe des Unterieibes, das milzsüchtige
Organ anders zu stimmen und die fröhliche, gutmütige Tugend
wird einkehren ; verändert die somatische Natur, und ihr seid Herr
des Willens*, sagt der alte, ehriiche Grohmann in .Friedreichs
Magazin für Seelenkunde*. Eine sehr gut gezeichnete Figur ist
*) Stevenson: JDer seltsame Fall des Dr. Jekyll und des Herren Hyde''.
*i Hume: „Verwehte Spuren** (The Carbunde Quc).
*} JLa divine Marquise**. Ohne Autor und Druckort Das Buch lag
dem Tribunal Conrectionnel vor und ab und zu fiiiden sidi im Texte leere
Seiten mit dem Aufdruck: «Passage condamn^ par le T. C*
«) Wilkie CoiUns: „Nicht bewiesen**.
- 27 -
der wahnsinnige Dexter, der in einem Rollstuhl gefahren wird,
da seine Beine gänzlich verkrüppelt sind. Er ist ein Mann, der
bei einer grossen Qemütsaufregung, wenn eine Seite seines glim-
menden Wahnsinns angeschlagen wird, jäh in die Luft springt
«als wenn er von einem Schlag getroffen wäre. Einen Augen-
blick lang sah man ein menschliches Wesen in der Luft
schweben, dem beide Beine gänzlich fehlten. In der näch-
sten Sekunde sank das entsetzliche Geschöpf mit der Ge-
schicklichkeit eines Affen auf seine beiden Hände herab und
hfipfte mit bewunderungswürdiger Schnelle durch das Zimmer.*"
Mit der Schärfe des Irrsinnigen urteilt er fiber seinen Zustand :
„Es gibt Menschen, die mich für periodisch wahnsinnig
halten. Meine Einbildungskraft läuft manchmal mit mir fort,
und ich sage seltsame Dinge. Ich bin ein sehr gefühlvoller
Mensch."
Seine Genossin ist ein armes idiotisches Wesen, das einen
Männerhut trägt, ein Vogelgesicht und sehr lange starke Finger
hat. Am liebsten sitzt sie dabei, wenn ihr Herr ihr Geschichten
erzählt, die „Schauer über ihren Körper bringen* und voll mit
Blut und Verbrechen sind. Als Dexter im Irrsinn stirbt, findet
man sie vief Tage später tot auf seinem Grabe.
Ich schliesse diesen kurzen Abriss, der natürlich noch sehr
zu erweitern und zu ergänzen ist. Wer weiter nach Krankhaftem
und nach Monomanien sucht, wird noch viele Typen finden.
Letztere besonders sind ja fast fiberall nachweisbar, wie Gross an-
deutet, wenn er sagt: „Esquirol, der die Monomanie erfand**.^)
Englische Literatur daraufhin zu untersuchen, dürfte fiberhaupt
recht dankbar sein. Sagt doch schon Percy:') „It is worth atten-
tion, that the English have more songs and ballads on the subject
of madness, than any of their neighbours". Möglich, dass er
recht hat.
Gross: „Kriminalpsychologie", 483.
*) Percy: „Relics of andent english poetry*'. Tauchnitz 11, 287.
- 28 -
Von der Art und Weise ein Verbrechen
zu b^ehen,
und wie Verbrechen entdeckt werden.
«Scboo ist ein schönes Verbrechen* sagt Anatole France im
«Garten des Epiknr*. bi verstäiktem Sinne gpH dies beim Kriminal*
roman. Je »schöner* das Verbredien ist, mit je mehr Aufwand
an Gesduddidikeit und Scharfsinn es b^mgen, je mehr Kunst
bei ihm angewendet worden ist. desto höher und grosser die
Ijeistung des Verfo^ers. Daraus resuHiert, dass die Art und Weise
wie das Vobiedien b^angen worden »t, unmitlelbar zu seiner
Enldecinii^ in Beziehung stellt Es ist ohne w e it e re s fcbr, dass bei
Brandstiftung, Bankdnbrnchen^ Attentaten usw. die Spuren in der
Regd so sinnfilfig sind, das sie auch dem Nichtfadmumn deutlich
werden. Das riditige .schöne' Vetbrechen ist und trieibt der
Mord, ^eichguH^ ob er aus niedersten, tiöheren oder wenn man
so sagen darf edelen Motiven^) entsprii^; bei ilmi aOefai sind
eigentlich die besten Kombinationen möglicfa. Aoch hier sind
wieder UebUngsthemata; Erwürgen z.B. ist recht nnbdiebt, die
Sirangnlatioosniarken reden eine zn Uare Sprache und weisen
zn deutlich auf Mord bin. Besser sieht es schon mit dem Er-
trinken und Erhängen, hier beginnt bereits das Kombinationsbild
des Sell>stnK>rdes sich ei n z ufüg en (denn die gewohnlicfa mit dem
Verbrechen einherlaufiende Sdhstmordtheorie ist für den Schrift*
sieDer ein gewaltiges HOfsmitleO, und eine fremde Emwirfcm^ ist
zumal Iwi dem erslercn recht schwer ffarhiiiwri'irn, wobei um
so sonderbarer ist. dass Autoren sich seiner so seilen bcäitBtn.
Schöne Betspiele für beides bietet A. C Do>1e aach hier. Dort
wird der junge Openshaw*) nach Sierkxk Hohnes* (der übrigens
e::^ Scfa*aappe erleidet) cn::inslös^cber Gewissbeit und gt w isaeu
Indizien das Opfer einer Mörderbacie, ncd doch ist das posüive
Ergebnis der fnterssckung m dem Porizeflxridxt
kurz und trocken meldet:
K C Dof^z JDer
- 29 ~
„Gestern abend zwischen neun und zehn Uhr vemahnr
der Schutzmann Cook von der Division H., bei der Waterloo-
brücke stationiert, einen Hilferuf und einen Fall ins Wasser.
Die Nacht war so stfirmisch und finster, dass trotz der Hilfe
mehrerer Vorübergehenden jegliche Rettung unmöglich blieb.
Die Stadtpolizei wurde alarmiert und es gelang den Körper
herauszufischen. Der Ertrunkene ist ein junger Mann, namens
John Openshaw, wohnhaft zu Horsham, wie sich aus einem
Briefumschlag erwies, den er in seiner Tasche trug. Es ist
anzunehmen, das er zum letzten Zug an die Waterloostation
wollte; bei seiner Hast und der ausserordentlichen Dunkelheit
hat er wohl den Weg verfehlt und ist auf einen der schmalen
Stege geraten, die den Flussdampfern zur Landung dienen.
Der Leichnam trug keine Zeichen von Gewalttat, und so
wurde der Verstorbene das Opfer eines Unglücksfalles, durch
den sich die Behörden veranlasst sehen sollten, ihre Aufmerk-
samkeit auf den Zustand der Landungsstellen am Flusse
zu lenken."
Wie gesagt, Holmes weiss hier, sowohl wie in einer anderen
Erzählung,^) dass es Mord, kaltblütiger Mord ist, und dennoch
(während er in der eben erwähnten Geschichte das Verbrechen
nachweist) ist er machtlos. Dass nicht nur im Roman beim
Erhängen grosse Zweifel eintreten können, beweist der vor noch
nicht allzulanger Zeit vor den Berliner Geschworenen verhandelte
Fall,') in dem der Ehemann des Verbrechens an seiner erhängt
aufgefundenen Frau, trotz desGutachtens der Sachverständigen (! ! !),
dass sehr wohl Selbstmord vorliegen könne, schuldig befunden
und verurteilt wurde. „Credo quia absurdum", im gewöhnlichen
Leben sind Giftmorde recht selten, die Literatur bevorzugt sie.
') In: »Der Doktor und sein Patient".
') Der Name ist mir nicht mehr genau erinnerlich, irre ich nicht, war
es ein Schneider Walter. Der Fall jedoch ist typisch für die Einschätzung,
die beispielsweise mitunter im Gegensatze zu den Schreibsachverstandigen
(die sich doch oft genug blamiert haben, z. B. Affaire Dreyfuss, Kotze usw.)
psychiatrische und medizinische Gutachten haben. Geschworene sind nur
allzu oft geneigt, nach Sentiments zu urteilen, besonders wenn sie die, eine
schöne Parallele zu den .armen, aber ehriichen Eltern" bildenden, »biederen
Leute aus dem Volke" sind. (Prozess Haul) Es gibt, ohne einer völligen
Abschaffung der Geschworenengerichte das Wort zu reden, doch zu denken,
dass eine Autorität wie Professor Gross ihr prinzipieller Gegner ist.
- 30 -
In seinem Buche »Die Gifte* sagt Taylor (ein häufig in Kriminal-
romanen zitierter Autor):
„Es ist jetzt eine allbekannte und im allgemeinen an-
genommene Tatsache, dass jemand an Gift sterben kann,
ohne dass es durch chemische Analyse in der Leiche ge-
funden werden kann. Es ist eine im Volke herrschende,
aber irrige Ansicht, dass, wenn aus der Leiche, vorausgesetzt,
dass der Untersuchungsweise nichts zur Last fällt, kein Gift
hergestellt werden kann, auch der Schluss sich ziehen lässt,
dass kein Gift genommen und der Tod durch Krankheit
verursacht wurde. Auf diese Weise würde sich die Gift-
mordfrage auf einen sehr einfachen Streitpunkt reduzieren.
Das hiesse Physiologie und Pathologie über Bord werfen
und unseren Gerichten zumuten, nur dem Schmelztiegel und
der Reagensröhre des Chemikers zu vertrauen. Hat denn
die organische Chemie mit allen ihren neueren Fortschritten
es so weit gebracht, dass kein Vergiftungstod stattfinden kann,
ohne dass das Gift entweder im Magen, den Geweben, dem
Blute, den Sekreten oder in all diesen Teilen gefunden würde?"
. . . (Führt Gifte an und fährt nach längeren Ausführungen fort):
„Wenn nicht, dann ist die Behauptung, es könne niemand
an Gift sterben, ohne dass es sich in der Leiche fände, eine
Täuschung oder Hintertür, um zahlreichen geheimen Gift-
morden eine Freistätte zu gewähren. Sie ist überhaupt um
so gefährlicher, als die Geschichte der Verbrechen zeigt, dass
die Vergiftungsarten täglich raffinierter werden."
Folgt man diesen Ausführungen, besonders am Schlüsse, so
liegt freilich die relativ seltene Entdeckung von Giftmorden im Leben
hauptsächlich an ihrem Raffinement, worin ja auch in der Tat
recht Hübsches zu allen Zeiten geleistet worden ist. Der alte
Ring und die hohle Gabel der Borgia lebt modernisiert wieder
in einer Erzählung Greens^) auf.
Das ungeeignetste Gift für Mordzwecke ist nach Casper-
Liman') Strychnin. Zur Verübung eines Verbrechens wird es
bei Gaboriau') benutzt, der es in Fleischbrühe aufgelöst geben
K. Green: «Der Filigranschmuck".
*) Casper-Liman: , Forensische Medizin".
*) Emil Qaboriau: „Monsieur Lecoq*.
- 31 —
lässt. Sollte dies nicht praktisch ebenso anfechtbar sein, wie
wenn er die Wirkung mit den Worten:
«Schon nach wenigen Minuten (!) fing das Gift augen-
scheinlich an zu wirken. Marianne wurde bleich, Schweiss-
tropfen traten ihr auf die Stirn, ihre Lippen färbten sich
blau, sie sank auf einen Tisch und sah mit einem ratlosen
Ausdruck um sich"
beschreibt? Denn Strychnin v/irkt doch verhältnismässig langsam.
In genügend grossen Dosen stellt sich die Wirksamkeit der Gifte
(ich folge hier dem wohl in mancher Beziehung veralteten, aber
auf dem Gebiete der Tatsachen noch immer recht guten Casper-
Liman), soweit sie hier In Frage kommen, wohl so dar:
Blausäure weniger als 2 Minuten
Oxalsäure 10—60 Minuten
Starke Mineralsäuren 18 — 24 Stunden
Arsenige Säuren 10 Stunden — 3 bis 4 Tage
Opium 6 — 12 Stunden
Strychnin 20 Minuten — 6 Stunden.
Eine allgemeine Anwendbarkeit der Zeitdauer und einzelnen
Dosen gibt es nicht. ')
Wie man sieht, steht Blausäure obenan in der Wirksamkeit,
und in der Tat ist es auch das von den Autoren mit Vorliebe
angewendete Gift. Es hat allerdings den Fehler, schon durch
seinen auffallenden Geruch sehr leicht nachweisbar zu sein und
auch adie behauptete schnelle Wirkung ist durchaus nicht not-
wendig und wahr".*) (Es wird der Fall eines jungen Mannes
. zitiert, der das zum Selbstmord benutzte Gefäss noch entfernte
und sich zum Sterben hinsetzte; desgleichen eine Frau, die des
Gattenmordes verdächtigt wurde, weil der Selbstmörder — ihr
Gatte — noch die Kraft gehabt hatte, das Fläschchen mit Blau-
säure einzuschliessen.) Doch sind dies immerhin Ausnahn
die sehr selten sind, Regel ist doch wohl die .behauptete sehr
Wirkung". So stürzt bei Green') der Vergiftete schnell
sammen, fasst nach der Kehle und bemüht sich vergeblich,
aller Kraft aber umsonst — er kann die Worte nicht n
hervorgurgeln, die den sinnverwirrenden Satz .Einer me
'] Casper-Liman: „Forensische Medizin". II. 390.
■) Ebend. [I. 491.
", Green: „Einer meiner Söhne".
— 32 -
Söhne hat . . .*, der auf der Schrdbmaschine siebt eridaren
soDen. Ähnlich sind die Symptome bei .John Darrovs
Tod* geschildert einem Romane, von dem noch weit^ onten
die Rede sein wird und der in brillanter Weise mehrere Ver-
brechensarten einschachtelt Hier stirbt der alte Darrow durch den
Biss der Russeis Viper (Daboia RusseliiX und sein Stertxn wird
genau geschUdert Nachdem er den tödlichen Biss an der Kehte
gespQrt springt er auf und schreit: «Ich bin ^stochen !" Das
Krankheitsbild geht weiter:
«Er wollte wieder sprechen, vermochte es aber nicht
und sah uns mit einem Ausdruck der Hilflosigkeit an, den ich
niemals vergessen werde.
Im nächsten Augenblick war er auf den Fassen und aus
dem Anschwellen seiner Venen, die an seinem Halse auf-
quollen wie Stricke, konnten wir erkennen, welche schreck-
lichen Anstrengungen er machte, ein Wort hervorzubringen*
Endlich kamen die Töne, als würden sie mit Gewatt heraus-
gerissen, zischend aus seiner Kehle; nach jedem Wort holte
er tief Atem: .Rorence — ich wusste — es! Leb' — wohl!
Halte — dein — Versprechen!" Hierauf fiel er, eine r^ungs-
lose Masse, in seinen Stuhl . Ich löste
ihm die Kleidung am Halse, und während ich dies tat, sank
sein Kopf nach hinten, das Gesicht mir zugewendet Die
Gesichtszüge waren verzogen — die Augen gläsern und starr.
Ich fühlte nach seinem Herzen, er war tot*"
Sofort tödlich und nur noch Zeit für einen kurzen Schrei
übrig lassend, wirkt bei Doyle') der Biss der indischen Sumpfotter.
Hier wendet sich das Verbrechen selbst g^en den Verbrecher und
der Pfeil fliegt auf den ungeschickten Schützen zurück. Kaum ist
der Schrei ertönt so stürzen Holmes und Watson in das Zimmer
und finden Dr. Grimesby Roylott bereits tot das Kinn aufwärts
gezogen und mit glasigen Augen in eine Zimmerecke starrend.
«Um die Stime hatte er ein eigentümliches gelbes Band
mit bräunUchen Tupfen, das anscheinend fest um seinen Kopf
gewunden war. Bei unserem Eintreten gab er keinen Laut von
sich und rührte sich nicht
*} Melvin L Severy. John Darrows Tod"*.
*) C. Doyle: J)as getupfte Band^
- 33 -
„Das Bandl das getupfte Band!*' flüsterte Holmes. Ich
tat einen Schritt vorwärts. Auf einmal begann der eigentüm-
liche Kopfschmuck sich zu bewegen und mitten aus den Haaren
des Dasitzenden erhob sich der platte, spitzige Kopf und der
aufgeblasene Hals einer greulichen Schlange.*
Sonderbarerweise wird dies Schlangengift, das bereits zum
Tode eines Mädchens gefuhrt hat, trotzdem die Leiche von ärzt-
licher Seite untersucht wird, bei dieser Untersuchung nicht ent-
deckt oder auch nur beargwöhnt; als Todesursache vielmehr »durch
Schrecken verursachte Nervenerschutterung'' angenommen. Auch
Stevenson^) benutzt den Biss einer Fer-de-lance-Schlange, deren
Biss, wenn er eine Arterie trifft, einen Mann in weniger als ein
paar Minuten in ein «aufgedunsenes, faules Stück Fleisch" ver-
wandeln soll. Und so findet man auch Tremaine wie er daliegt,
den Mund weit geöffnet, den Körper und das Gesicht aufgedunsen
und von rotblauer Farbe. Recht spannend behandelt in einem
anderen Romane') Stevenson die Art und Weise, wie ein sehr
schweres Verbrechen (Anklage des Vatermordes) entdeckt wird.
Morde durch vergiftete Konfitüren und Kuchen lassen Green ')
und M. Mc. Donneil Bodkin ^) begehen. Bei letzterem steht auch
der einzige Fall, den ich in der Kriminalliteratur kenne, wo Toll-
wutinfektion zu verbrecherischen Zwecken benfitzt wird. (V. Jensen
bedient sich zwar in „Madame d^Ora** ebenfalls einer Infektion
durch Tollwut, die bei einem Unfälle — ein Reagensröhrchen
mit Tollwutreinkulturen zerbricht und infiziert die Heldin — in
Aktion tritt Doch tut man meiner Ansicht nach dem Dichter
unrecht, wenn man seinen Roman, trotzdem sogar ein Detektiv
handelnd eingreift, für einen Kriminalroman hält. Eher könnte
er antispiristisch gelten, aber auch dies nur cum grano salis). Der
Doktor Kilkadely, Spezialist für Hundswut, begeht hier ein Ver-
brechen, indem er das Hündchen seines Oheims mit Tollwut
infiziert. Die Krankheft kommt zum Ausbruch, der Hund beisst
seinen Herrn. Der Doktor erschiesst das Tier, der Onkel stirbt
*) B. E. Stevenson: „Seine Kreolin". (Erschien im „Berliner Tage-
blatt^ unter dem Titel „Das Perienhalsband'*.)
*) Derselbe: „Fräulein Holliday".
') Green: „Um Millionen**.
*) Donneil Bodkin : „Der Hund und der Doktor*' in „Verschwindende
Diamanten**.
Orenzfragen d. Lit u. Medizin. 7. Heft. 3
— 34 -
und er beerbt ihn. Der untersuchende Detektiv kommt mit
allerdings etwas sehr kühn gezeichneter Kombinationsgabe hinter
die, wie er es mit „einer gewissen Anerkennung* nennt, «teuflische
Untat "*. Aber er selbst weiss auch, dass das Gebäude der Anklage,
die auf einer Lanzettenspitze fusst, die bei der Impfung des Hundes
abbrach und im Kadaver gefunden wird, auf schwachem Fusse
steht, und ist zu einem Kompromiss geneigt. Sehr beliebt ist end-
lich noch das afrikanische Pfeilgift Curare, Doyle wendet es z. B.
im (»iZeichen der Vier" an. Ebenfalls fär Morde benutzbar sind
Stoss und Schlag, und grade sie ermöglichen für die Untersuchung,
auf Grund des Sektionsbefundes, eine ziemlich genaue Beschreibung
des benutzten Werkzeuges; der Standpunkt des Angreifers, die
Kraft mit der das Verbrechen verübt wurde, lässt auf den Mörder
schliessen und anderes mehr.
Am meisten liest naturiich A. C. Doyle aus Verwundungen
heraus, wohl weil er den Arzt mit dem Schriftsteller verbindet
Ich gebe als Beispiel die Beweisaufnahme und Schlussfolgerung
aus dem „Morde im Tale von Boscombe*'. Holmes liest den
Sektionsbefund :
«Nach Aussage des Wundarztes war am Kopf das
hintere Drittel des linken Scheitelbeins, und die linke Hälfte
des Hinterhauptbeins durch einen heftigen Schlag mit einer
stumpfen Waffe zerschmettert worden.**
Er untersucht den Fundort der Leiche, findet auf Grund des
Sektionsbefundes das zum Morde benutzte Werkzeug, einen Stein.
Auf Grund eigener Beobachtung wird ihm dann noch klar, dass
der Mörder Linkshänder sein muss. ^) Er kombiniert weiter, er spürt
jeder Fährte nach, sei sie auch noch so verborgen» und kommt
zu dem Schlüsse — der bei Doyle deshalb immer wieder so ver-
blüffend wirkt, weil er den Trick hat, (wie ich oben schon des
längeren ausgeführt habe) das Resultat vor den Entwicklungsgang
der Aufgabe zu setzen — , dass der Mörder ein grosser Mann
ist, der links sein müsse, mit dem rechten Fusse hinke, stark-
sohlige Jagdstiefel und einen grauen Mantel trüge, indische Zigarren
^) In „Der schwarze Koffer"* wird das Motiv der Linkshändigkeit ge-
schickt verwertet Der Knoten, der sich in dem um den Koffer gewundenen
Strick befindet, rührt von einem Linkser her. Auf den zuerst sehr Belasteten
(später natürlich Unschuldigen) passt alles Gravierende bis auf eben diese
Linkshändigkeit. Autor der Erzählung ist nicht angegeben.
- 35 -
rauche, die er mit einem stumpfen Federmesser abschnitt. Natür-
lich stimmt alles. Aus der Erweiterung der rechten Pupille kon-
statiert Qodefroy 1 dass der Erschossene vorher auf der rechten
Seite des Kopfes eine Gehirnverletzung erlitten haben müsse.
Green') lässt die tödlich verwundete Frau Klemens mit eingeschla-
genem Schädel auffinden, das Werkzeug, ein Stück Knüppelholz,
liegt daneben. An ihrer Verletzung demonstriert der untersuchende
Arzt, dass der Schlag von hinten gekommen sein müsse und
zwar völlig unerwartet. Vor ihrem Ende kommt die Frau
noch einmal zu rasch vorübergehendem Bewusstsein und stösst
die Worte »Hand . . . und Ring" hervor, Worte, die in dem
Romane so sinnverwirrend wirken, wie im Falle Ziethen') es
die der sterbenden Frau Ziethen geworden sind. In »Seine Kreolin**
wird aus der Tatsache, dass der Ermordete in wachem Zustande
und von vorne niedergeschlagen worden ist, der Schluss gezogen,
dass der Mörder, da das Opfer bei einem Wertobjekte Wache hielt,
ein Bekannter gewesen sein müsse. Nur einen solchen hätte der
Ermordete so nahe an sich herankommen lassen. Natürlich stimmt
diese recht logische Folgerung. Auch die Verbrechen durch Stich-
oder Schusswunden geben dem Untersuchenden eine grosse An-
zahl von Aufschlüssen über den Täter. Mord durch Stichwunde
ist beispielsweise benutzt von Jules Claretie.^) Die Leiche des
Rov^re wird dort auf einem Teppich liegend gefunden, der die
grosse Menge Blut, die aus einer Wunde am Halse geflossen ist,
fast vollkommen aufgesogen hat.
«Der Stich muss rasch geführt worden sein**, dachte der
Polizeimann. Er näherte sich dem Leichnam vorsichtig, wie
ein Jäger, der fürchtet, irgend eine Spur zu verwischen, sein
lebhafter Blick eilte von dem leblosen Körper zu den Gegen-
ständen, die ihn umgeben, und dann beugte er sich über das Opfer,
um es zu studieren. Rovfek'e erschien in dieser tragischen
Pose fast lebend; das bleiche hübsche Gesicht mit dem langen
1) Stevenson: „Seine Kreohn'\
*) Green: „Hand und Ring**.
*) Der „Fall Ziethen** ist wohl noch allgemein bekannt. Trotz Be-
mühungen der bedeutendsten Manner gelang es nicht, dem Unglücklichen,
der einem — mindestens recht anzweifelbarem Verdikt zum Opfer gefallen —
das Wiederaufnahmeverfahren zu erwirken.
^) Jules Claretie: „Das Auge des Toten**.
3*
- 36 —
zugespitzten, wohlgepflegten grauen Bart hatte in seiner starren
Unbew^ichkeit einen zornig drohenden Aosdruclc Dieser
magere, aber starke Mann mosste flachend, aber mutig ge-
fallen sein.
Aber was am meisten auffid, war der Blidc, dieser ausser-
gewöhnliche Blick . . . Die durch Zorn oder Schreck auf-
gerissenen Augen schienen jemand niederschmettern zu wollen.
Sie waren unermesslich weit, als wollten sie unter den sich
straut)enden Brauen aus ihren Höhlen hervortreten. Sie lebten
in diesem toten Gesicht*
Ich zitiere die Stelle, die sich auf den Ausdruck der Augen
bezieht, deshalb wörtlich, weil zur Entdeckung des Täters ein Ex-
periment gemacht wird, das, wenn auch nicht wahr, so doch
mindestens hübsch erhmden ist Auf Grund einer Publikation
der Gesellschaft für gerichtliche Medizin, in der ein Doktor Vemois
Ober Mitteilungen eines Provinzarztes referiert und der eine .Photo-
graphische Aufnahme der Netzhaut einer am 14. Juni 1868 er-
mordeten Frau* beiliegt, kommt der die Untersuchung führende
Bemardet auf den Gedanken, die Netzhaut der Ermordeten zu
photographieren. Er behauptet — allerdings sagt er vorher selbst :
»Ich wette, wenn ich es einem Arzte sagte, Hess er mich in ein
Narrenhaus sperren* — dass, da das Auge das Abbild der photo-
graphischen Kamera wäre, auch die Netzhaut dementsprechend
wirken müsse. Er beruft sich dabei auf ein interessantes, und den
Physiologen wohlbekanntes Experiment Kühnes, über welches er
folgendes im Roman erzählt:
, — im Jahre 1877 erzählte mir der ausgezeichnete Akademi-
ker Brouardet, dass Professor Kühne in Heidelberg, der frühere
Präparator Claude Bemards, ihm gesagt habe, dass er die Frage
Mieder aufgenommen habe. Nun, dem Professor Kühne war
es in dem folgenden Experiment gelungen, einen Eindruck
auf die Netzhaut hervorzubringen: von toten Hunden oder
Kaninchen hob er den inneren Teil des Auges aus, wandte
den hinteren Teil um, setzte ihn dem Licht aus und stellte
zwischen das Auge und das Licht ein aus kleinen Eisen-
blättchen bestehendes Netz. Dieses Netz wurde nach einer
Viertelstunde sichtbar."
In der Erzählung wird das Experiment angestellt und — miss-
lingt Freilich nur dem Untersuchenden selbst wird dies ganz klar»
- 37 —
am Schlüsse des Romans geht Bemadet über die Strasse und
liest in der Zeitung an der Spitze des Blattes: »Das Wissenschaft^
liehe Problem des Falls Rovfere. Ein dunkles Kapitel aus der ge-
richtlichen Medizin. Das Auge des Toten. Der letzte Ankläger.
Interviews und Meinungen der . . ." (folgt eine Reihe Namen).
In „Verwehte Spuren" ^) wird durch den untersuchenden Arzt
sogleich der Tod als durch ein spitzes Instrument — Dolch,
Stilett oder langes schmales Messer — herbeigeführt, bezeichnet.
Bei E. Kent') bekundet der Arzt, dass die Wunde durch eine sehr
dünne Waffe, vielleicht ein Stilett, aber auch ebensogut durch eine
Stricknadel, ja sogar durch eine Hutnadel verursacht sein könnte.
Allerdings befindet sich die tödliche Verletzung genau in der Mitte
des Herzens und ist so winzig, dass sie zuerst vollkommen über-
sehen wurde. Als Waffe, die benutzt wurde, entpuppt sich dann
tatsächlich eine Hutnadel.
Am beliebtesten ist ohne Zweifel das Verbrechen mittelst
Schusswaffen. In der Tat eignet sich auch nichts besser für die
Technik des Romanaufbaus, als ein wohlgezielter Schuss. Die
Wunde selbst ermöglicht eine genaue ärztliche Diagnose, ihre
Beschaffenheit, das Kaliber des Geschosses, seine Durchschlags-
kraft, der Schusskanal und sein Veriauf, Gewehr, Revolver, oder
Pistole und besonders die Entfernung'), aus der der Schuss ab-
gegeben wurde, all dies bietet dem geschickten Autor mannigfaltige
Möglichkeiten und Material für den Aufbau von Theorien. Ander-
seits hat die Schusswunde nicht die Nachteile, die in dem Möglich-
keitsgebiete der Schlag- und Stichwunden liegen. Eine Frau bei-
spielsweise wird einen Mann kaum niederschlagen können, und
auch das Niederstechen muss die besondere Kunst des Schrift-
stellers glaubhaft machen. Niederschiessen aber kann schliesslich
jeder, ein zartes Mädchen, eine Frau, ein Kind, ja sogar mecha-
nische Wirkung^) kann nutzbar gemacht werden, ohne besondere
^) Fergus Hume: „Verwehte Spuren".
') E. Kent: „Das Haus gegenüber**.
') Bekanntlich eines der stärksten Argumente, die zur Revision des
Hau-Prozesses fuhren sollen. Kein Romanautor hatte die Frage, aus welcher
Entfernung der Schuss auf Frau Molitor fiel, nicht so vernachlässigt, wie
dies im Prozess geschah.
*) Heinrich Lee : „Ein Pistolenschuss" und W. Bodkin : „Nicht mit
eigener Hand*'. Eine Wasserflasche wirkt als Brennglas und bewirkt die
Entladung der Pistole.
- 38 -
Schwierigkeiten zu bieten. So wird z. B. Jean Baptiste *) im Bois
de Boulogne erschossen aufgehinden:
«Eine Schusswunde ging grade durchs Herz, und die
versengte Kleidung lieferte den Beweis, dass der Schuss aus
unmitelbarer Nähe abgefeuert sein musste. Es lag zweifellos
Mord vor, denn man hatte keine Waffe gefunden, und die
Spuren im Grase zeigten, dass die Leiche von der Land-
strasse aus in das Dickicht, in dem man sie versteckt ge-
funden hatte, geschleppt worden war.*
Der Roman selbst behandelt übrigens eine Landesverrats-
affäre, spielt in Paris und zeigt spezifisch französische Einzel-
heiten ; ich halte ihn für erheblich schwächer als den mir ebenfalb
vorliegenden zweiten Roman") desselben Autors, der von der
Presse der „englische Gaboriau" genannt worden sein soll und
tatsächlich wenn nicht alle Vorzüge, so doch in verstärktem Grade
alle Fehler der Franzosen zeigt Das richtige Einschätzen des
Wertes, dann die Entfernung, aus der der Schuss abgegeben wird,
ist ein wichtiges, oft benutztes Moment
Auf eine recht sonderbare Methode, einen Mord zu begehen
kommt Jack London.^) Es ist eine bekannte Abart der Raub-
fischerei, durch Dynamitexplosionen im Wasser die Fische zu
betäuben. Der Mörder schenkt nun seinem Opfer, von dem er
weiss, dass es diesem Sport huldigt, einen Hund, den er vorher
mit vieler Mühe so abgerichtet hat, dass er fortgeworiene Gegen-
stände sogleich apportiert. Als der Raubfischer nun die Dynamit-
patrone ins Wasser wirft, springt der Hund hinterher und eih mit
der Patrone im Maule zu seinem Herrn. Dieser läuft fort, er
rennt aus Leibeskräften, denn er weiss, es geht um das Leben
und hinter ihm her das Tier. „And then, just as she caught up,
he in füll stride and she leaping with nose at his knee, there was
a sudden flash, a burst of smoke, a terricific detonation and where
man and dog had been the instant before there was naugth ta
be Seen but a big hole in the ground." (Wie gesagt, die Art und
Weise des Verbrechens scheint hier gewiss recht ausgefallen und
doch schafft das Leben recht sonderbare Parallelen. Ein dem vor-
stehenden ganz ähnlicher Fall ist mir persönlich bekannt Ein
«TiEdmund Mitchell: „Das Modeir.
*) Derselbe: „Gehetzt*.
*) Jack London : „Moon Face*'.
— 39 —
Artillerieoffizier wollte seinen Hund, der krank war, töten, und da
es ihm widerstrebte das Tier vergiften oder erschiessen zu
lassen — vielleicht auch in einem Anfalle von Spielerei —
er band dem, an einem Pfahle auf dem Exerzierplatz fest-
gebundenen Tier, eine Dynamitpatrone an den Schwanz und ent-
fernte sich um die Wirkung der Explosion von weitem abzuwarten.
Das geängstigte Tier riss sich los und eilte auf ihn zu. Er er-
reichte grade noch eine Eskaladierwand, an der er in Eile hoch-
zuklimmen begann. Als er Ober die halbe Höhe hinaus war,
hörte er unter sich die Explosion.) Derselbe Autor schildert in
der, auf die eben angezogene folgenden Geschichte ^) eine ebenfalls
weit hergeholte Art des Mordes, die in diesem Spezialfälle aller-
dings sehr annehmbar klingt. Ein Tierbändiger Wallace bringt als
Glanznummer das oft gezeigte Kunststück, wie er den Kopf in den
Rachen eines Löwen, seines braven, bereits bejahrten „Old Augustus',
steckt. Sein Feind, der Trapezkünstler de Ville hat ihm Rache
geschworen und der Erzähler sieht, wie de Ville kurz vor dem
Auftreten des Bändigers mit einem Taschentuch Bewegungen über
dessen Kopf macht. Die great attraction kommt und:
»Old Augustus, blinking good naturedly opened his
mouth and in poppded Wallace*s head. Then the jaws came
together, crunch, just like that.** The Leopard Man smiied
in a sweetly wistful fashion and the far-away look came
into his eyes.
„And that was the end of King Wallace**, he went on
in sad, low voice. „After the excitement cooled down I
watched my chance and beut over ad smelied Wallace's head.
Then I sneezed.**
„It ... it was . . . ?" I quiered with halting eagerness
„Snuff — that De Ville dropped on his hair in the
dressing tent Old Augustus never meent to do it. He
only sneezed.**
Der Mord durch Radiumstrahlen, die, durch eine Wand
hindurchgehend, das an derselben Wand liegende Opfer töten,
während der Mörder sich selbst durch Abbiendung mit Bleiplatten
schützt (praktisch dürfte dies ein recht teures Verbrechen werden),
ist ebenso den neuesten wissenschaftlichen Entdeckungen ent-
*) Jack London : ^The Leopard Man's Story".
- 40 —
sprangen, wie der Gedanke, einen automatisch betriebenen, selbst-
tätigen Fahrstuhl durch elektrische Weilen von aussen her ver-
unglücken zu lassen.^) Zigarren oder Zigaretten, die betauben,
werden als Vorbereitung für ein Verbrechen oft angewandt, für
Mordzwecke benutzt sie Doyle.*) Besser noch als er es tut, war
das Verbrechen in einer Erzählung vorbereitet, die ich vor Jahren
gelesen und trotz eiMger Bemühungen nicht wieder habe auffinden
können. Der Anfang spielt in dem Laden eines armen Barbiers,
der unter anderen zwei Freunde zu Kunden hat und von einem
derselben durch eine grössere Summe Geldes bewogen wird, den
anderen an der Lippe ein wenig zu schneiden. Er lässt sich
leichten Herzens dazu bewegen, da ihm sein Auftraggeber aus-
drücklich erklärt, es handeft sich um eine Wette. Natüriich ist
ein Verbrechen geplant, das auch gelingt, da dem an der Lippe
leicht Verletzten eine mit Gift präparierte Zigarre in die Hände
gespielt wird. Sonderbare Verbrechen sind auch, bei Aug. Groner
der Mord, der dadurch verübt wird, dass durch das Schlüsselloch
hindurch (!) dem am Schreibtische sitzenden Opfer eine Kugel
ins Herz geschossen wird ; bei Doyle ') Mord durch Blasrohrpfeile,
versuchter Mord durch Zusammendrücken in einer hydraulischen
Presse*), ja sogar Tod durch ein »verzaubertes Werkzeug".^)
Absichtlich habe ich das Gebiet bis zum Schlüsse ge-
lassen, das gegenwärtig in der Kriminalliteratur eine immer füh-
rendere Stellung als Mittel zum Verbrechen nimmt Es ist
die Hypnose. Sie spielt eine grosse Rolle in den „Histoires Penales", ^
von denen die erste „La tSte de cire"* einen Mord auf rein hypno-
tischer Grundlage enthält. Der Sheriock Holmes der Geschichten
ist der Doktor Maingot, und er erzählt in der „Wachsbüste", dass
er seinerzeit die Leiche eines gewissen Herren Rosalba, dessen
Frau mit Herrn Le Herpeu ein Verhältnis hat, als erster unter-
sucht hat. Er hat nichts gefunden «II est mort de sa belle mort,
je r ai certifiä et j* en t^moignerais devant la justice. On ne 1' a
*) John H. A. Lightstone : „Ein Mann, der die Treppe hinunteiging*'.
*) A.C. Doyle: „Ein medizinisches Geheimnis" in „Der Teufel in der
Böttcherei".
^ Derselbe: „Das Zeichen der Vier*'.
*) Derselbe: „Der Daumen des Ingenieurs".
») Derselbe: „The Silver Hatchet", „The Gully of Bluemansdyke"
^ Henri Allais: «Histoires Pönales.*
- 41 -
pas touchä du bout du doigt et il ne s*est pas suicide.*' Und
dennoch, obwohl, wie er mehrmals wiederholt, weiss, dass Herr
Rosalba auch nicht mit der Spitze eines Fingers berfihrt worden
ist, kann er den Gedanken an ein, durch fremde Einwirkung her
von aussen bewirktes Ende nicht loswerden. Frau Rosalba hat
einen Liebhaben »Cave amantem — M£fie-toi de son amour."
Dieser Satz steht für ihn fest. Und vor seinem Gehirn „passaient
les amoureuses h^roTques et perverses, Callirhoe, Jocaste, Häfene,
ses soeurs aussi, la troupe malfaisante aux sourires cruels.* Eine
Zeitlang blitzt mit Le Herpeu, dem „Jeteur de sorts", das alte
satanistische Moment der Vergiftung in der Feme auf. Aber gleich
darauf erklingt wieder das alte Leitmotiv, das bereits im Anfang
in den Worten : „Ah I vous marchez dans les souliers de Charcot,
de Bemheim et de Riebet!" gegeben wird. Denn Maingot ist
sicher:
„M. Rosalba n* a jamais 6t€ ni cardiaque, ni phtisique
ni paralytique et Tapoplexie ne Ta pas frappd, j*ai le droit
de Taffirmer en Tabsence de tout Symptome probant. II n*
ätait pas plus poussif que vous ou moi. En revanche, il
6tait n^vros^, mon enqufite de prhs d*une ann^e m'a certifi6
tout cela. Elle m*a m&me appris autre chose, mon enqufite,
eile m*a appris le nom de Tamant, le beau Le Herpeu, le
„Jeteur de sorts". Eh bien, on a asphyxi^ notre homme,
tout simplement. Qa vous £tonne, parbleu! Moi-mfime
je me d^bats toujours contre cette ^vidence, et aujourd*hui
encore je n*en suis qu*a soup^onner la m^thode employ£e
pour obtenir ce r^sultat.*
Lange Zeit ist er herumgetappt, jetzt sucht er Gewissheit, er hypno-
tisiert Frau Rosalba in der grossen Gesellschaft, die aus lauter
Langeweile auf das Gebiet des Hypnotismus gekommen ist sie
spricht, es sind sonderbare Worte „ralentir la lampe", „souffler
la lampe*", kehrt immer wieder. Den Damen und Herren, die
herumsitzen, macht das viel Vergnügen, „ralentir la lampe" ist
ihnen ein Scherz, ein sinnloser Ausruf; die Übertragung von Ge-
danken, wie sie der Doktor eben versucht hat, ist recht amüsant,
sie klatschen Beifall als die Hypnotisierte aufwacht und sich ver-
wirrt und errötend verbeugt. Der Arzt aber geht hinaus, bleich,
aufgeregt, ganz voll von seiner Entdeckung. Er hat sie hypnotisiert
und gehofft:
- 42 —
,»Nous allons savoir comment on supprime un homme
Sans y toucher; c*est curieuxi L*action toute puissante de
la volontö sur les sens r^fiexes, sur la circulation . . . . ce
serait Enorme! La Suggestion mortelle heini"
und nun weiss er genau, wie der Mord geschehen ist Man hat
den Ehemann hypnotisiert (Doktor Maingot hat inzwischen erfahren^
dass Frau Rosalba mit ihrem Geliebten hypnotische Sitzungen
abgehalten hat) und dann:
„Eh bien! quand le mari 6taiX en somnambulisme, on
ordonnait tout simplement, pour le lendemain ou le jour
m£me, ä teile heure que vous voudrez, le ralentissement du
coeur, chaque fois plus long .... Bernheim a demontrd qu*on
peut, chez les sujets entrain£s, provoquer ä l'^tat de veille
des paralysies par Suggestion. Bottey est all6 plus loin : il a
prouv£ Texistence de ce pouvoir sur des sujets non entraines
Et Rosalba en lisant son Journal ou en s'habillant
äprouvait des vertiges, des ^tourdissements, des suffocations
incompr^hensibles .... Notez — ceci est un point capital —
que sa femme et Tautre n'avaient pas besoin d*etre lä ; eile
nous Ta däclarö, et c*est exact. Voilä le chef-d*oeuvret
lls le tuaient ä distance . . . Un beau soir, ils Tont teliement
ralenti qu'il en est demeur£ coi pour T^ternitd. ...
Und Doktor Maingot geht hinweg, für ihn ist der Mord
bewiesen, aber kein Gerichtshof der Welt wird ihm das glauben.
Er wird sich auch sehr hüten mit seiner Anklage irgendwie her-
vorzutreten, im Gegenteil — als erster wird er der Frau, wenn sie
ihren Geliebten heiratet, gratulieren. Für ihn steht ja fest:
,,L*arr£t du coeur mSme prolong^ jusqu*ä semblerdefinitiX
n*est pas et ne peut etre un Symptome de mort convaincant (!)
L*exp£rience bien connue des fakirs^) enterr^s durant des
mois et renaissant ensuite, le d^montre assez; puisqu'ä
Texhumation, toute pulsation, si legere soit-elle a cessS chez
eux. Aussi T^lectrocution, employ^e aux Etats-Unis n'est-elle
qu*un mode pr^caire et douteux de suppression de la vie.
') (Jber die sog. „Wunder der indischen Fakire'* ist schon so viel ge-
schrieben worden, dass die Erscheinungen allgemein bekannt sind. Lite-
rarisch sind sie in letzter Zeit von Bleibtreu („Geisf* Geschichte einer Mann-
helt) und Meyrink („Der Untergang") benutzt worden.
- 43 -
Si le m^decin s*en tient a rimmobilit^ du coeur pour certifier
la mort, il risque fort de murer un vivant dans le tombeau*"
aber das bleibt eine persönliche Ansicht.
Der bereits oben erwähnte Roman »John Darrows Tod* ist
— abgesehen davon, dass der Verbrecher durch Daktyloscopie ^
überfuhrt wird — deshalb besonders hervorzuheben, weil einer-
seits Hypnose im Zusammenhang mit Selbstbeschuldigung eines
unheilbar Kranken gebracht wird, und die Krankheit (Krebs) auf
die Spur des Mörders fuhrt, anderseits die Lösung gradezu
verblüffend wirkt. Der ganze Roman ist so geschickt aufgebaut,
dass eine Inhaltsangabe wohl am Platze sein durfte, umsomehr
als der Weg, den die Verfolger einschlagen, bis jetzt einzigartig ist.
Der alte John Darrow sitzt am späten Nachmittag — die Däm-
merung ist schon sehr weit vorgeschritten — in Gesellschaft seiner
Tochter Florence und der Herren George Maitland, Clinton Brown,
Karl Herne und des Autors (der Roman ist in Ich-Form geschrieben)
in einem Salon und lauscht dem Gesänge der Tochter. Das
Fenster hinter ihm ist ein Schiebefenster uud bis auf einen kleinen
Spalt geschlossen. Der Sessel, in dem er sitzt, ragt weit über
seinen Kopf hervor, so dass ihn kein Geschoss treffen kann.
Plötzlich fährt er auf, fasst nach der Kehle und stirbt unter Ver-
giftungserscheinungen, (vgl. oben.) Selbstmord ist ausgeschlossen,
und auch der Meisterdetektiv Godin ist von einem gewaltsamen
Ende überzeugt. Maitland, von Beruf Anwalt, ausNeigung Chemiker
mit forensisch-medzinischem Einschlag, und der Autor übernehmen
die Verfolgung. Eine einfache und sichere Spur bietet sich ihnen
sogleich. Unter den Papieren des Ermordeten finden sich Notizen,
dass er einst in Indien ein Liebesabenteuer gehabt hat, und dass
er aus diesem Ereignisse her in Indien einen vielvermögenden
Feind, Rama Ragobah, hat. Wie sehr er sich vor dessen
Nachstellungen fürchtete, geht daraus hervor, dass er kurz vor
seinem Tode in beständiger Angst und Aufregung war, ja sogar
in Blättern, von denen er wusste, dass sie seiner Tochter nicht
zu Gesicht kommen würden, eine Ankündigung erlassen hat, die
dem Entdecker seines Mörders, falls er gewaltsam sterben sollte,
eine grosse Belohnung verspricht. Alle inzwischen festgestellten
Indizien, besonders die, dass sich zur Zeit des Mordes ein
Mensch mit auffallend kleinen Händen und Füssen, von denen
*) Ausführlich angewendet von Mark Twain : „Querkopf Wilson*'.
- 44 —
ein Fuss etwas misgestaltet sein muss, vor dem Fenster aufge-
halten habe muss, treffen zu, und so wird Rama Ragobah, der in
der fraglichen Zeit in Europa gewesen ist, verhaftet. Eine so simple
Lösung wäre gegen alle Technik des Kriminalromans, und richtig —
der schwer Belastete weist in durchaus einwandfreier Weise sein
Alibi nach.
Maitland sieht ein, dass ihn das Nichstliegendste irregeführt
hat, er wird einen anderen Weg einschlagen. Durch ein genaues
Ausscheidungsverfahren ist er dahin gelangt, in dem Mörder John
Darrows einen Mann von reifem Alter und ausserordentlicher
Schlauheit zu suchen. Das Verbrechen zeigt eine auffallende Ähn-
lichkeit in Vorgeschichte und Schluss mit dem „Zeichen der Vier".
Im Orte gibt es eine stadtische Bibliothek, vielleicht dass eine
Durchsicht der Bucherzettel irgend ein Resultat ergibt. Nach ge-
wissenhafter Durchsiebung aller Besteller, die das »Zeichen der
Vier** in einer Reihenfolge mit anderen Büchern gelesen haben,
bleiben zwei Besteller übrig, deren Auswahl einen gewissen Plan
und eine gewisse Überiegung zeigt. Es sind dies die Herren Weltz
und Rizzi und sie haben gelesen:
Weltz:
1. „Qiftkunde" von M. Oriila
(Französisch).
2. „Nattemgift und andere Ge-
schichten** von Florence
Marryat.
3. „Eine praktische Abhandlung
über Krebs'* von CT. John-
ston.
4. „Der entdeckte und entlarvte
Betrüger** von R. Houdin.
5. „Das Zeichen der Vier** von
A. C. Doyle.
6. „Der Krebs**, eine neue Be-
handlungsmethode von W.
H. Brondbeat.
7. „Prozesse wegen Mordes
Rizzi:
1. „Giftlehre" von C. P. Galtcr
(Franz.)
2. „Nattemgift und andere Ge-
schichten" von Florenze
Marryat.
3. „Eine praktische Abhandlung
über Krebs** von C. T. John-
stone.
4. „Der entdeckte und entllarvte
Betruger** von R. Houdin.
5. „Das Zeichen der Vier** von
A. C. Doyle,
6. „Gerichtliche Chemie, ein
Führer zur Entdeckung von
Giften**. Hilfsbuch zur Qe-
richtschemie von A. Naquet.
Übersetzt v. Dr. J. P. Batters-
hall.
7. „Praktische Abhandlung über
- 45 -
durch Vergiftung" von G. L. Krebserkrankungen'* von H.
Browne und C. G. Stewart. Lebert. (Franz.)
8. „Praktische Beschreibung v. 8. „Praktische Beschreibung v.
Giften" von O. H. Costill. Giften" von O. H. Costill.
9. „Die Gifte, ihre Wirkung und 9. „Eine Abhandlung über Gifte
ihr Nachweis" von Alexander in bezug auf gerichtliche Me-
Winter-Blyth. dizin, Physiologie und prak-
tische Physik" von Dr.
Christison.
10. „Die Gifte, usw/ 10. „Die Gifte, ihre Wirkung
(Dasselbe Buch noch einmal). und ihr Nachweis" von
Alexander Winter-Blyth.
Die erste Annahme, es handele sich um zwei Studierende
der Medizin, wird hinfällig, als eine Vergleichung der Handschriften
auf den Bestellzetteln die Identität der beiden Entleiher ergibt, und
auch die angegebene Wohnung sich als falsch erweist. In einem
der Bucher über Gifte entdeckt Maitland einen durch Daumen-
abdruck hervorgerufenen Schmutzfleck, er vergleicht den Abdruck
mit dem, den er seinerzeit in dem Glase des Schiebefensters
gefunden hat. Den Leser der Bücher finden und der Mörder ist
gefunden. Vielleicht rührt das Interesse, das der Entleiher am
Krebs nimmt, daher, dass er daran leidet. Sollte nicht ein Inserat,
dasein neues epochemachendes Heilmittel ankündigt, Erfolg haben?
Das Experiment gelingt, es führt sie in die Wohnung von Latour,
alias Weltz, alias Rizzi, der hoffnungslos an Krebs erkrankt ist.
Neben seiner Behausung, einem elenden, ärmlichen Zimmer logieren
sich die Verfolger mit photographischen Apparaten, Mikrophonen
und weiteren Errungenschaften der Technik ein, um den endlich
entdeckten Mörder genau zu überwachen. Da öffnet sich die Tür
zu dem Zimmer Latours, der Detektiv Godin tritt ein. Der vierte
Teil des Romans schliesst mft der Zeitungsnotiz: „John Darrows
Ermordung. Eine Spielschuld, die der Mörder nicht bezahlen
konnte, der Beweggrund zum Verbrechen. Vorzügliche Leistung
eines französichen Detektivs."
Denn Godin hat Latour unter der Beschuldigung des Mordes
an John Darrow verhaftet.
Der fünfte Teil bringt die grosse Überraschung. Latour ist
geständig des Mordes, er erklärt die tödliche Verwundung dadurch
verursacht zu haben, dass er einen Affen, den er durch Ziehen
- 46 -
an einer Leine leitete, in das Zimmer geschoben habe, und zwar
sei dies vom Fenster aus geschehen. Mit einer besonders kon-
struierten Pravarz^schen Injektionsspritze, die in zwei Punkten von
den bisher gebrauchten abwich:
«Erstens war sie sehr klein und fasste nur fünf bis sechs
Tropfen, und zweitens war von innen eine Feder angebracht,
die, losgelassen, auf den Kolben wirkte und den Inhalt mit
grösster Schnelligkeit hervorstiess."
Auf die Frage, wodurch die Feder in Bewegung gesetzt wurde,
heisst es weiter:
„Um die nadelartige Spitze der Spritze zog sich, nur
wenig vom Ende entfernt, ringförmig ein dünner Metallstreifen.
Dieser kleine Metallkragen wurde beim Einführen der dünnen
Spitze zurückgedrängt, durch diese Bewegung wurde die
Federkraft ausgelöst und der. Inhalt sofort kräftig heraus-
gespritzt. '^
Als benutztes Gift nennt er Cyanwasserstoffsäure.*
Und nun kommt die Pointe. Maitland, der den Angeklagten
verteidigt, überreicht dem Detektiv Godin, der Latour gegenüber
sitzt und ihn mit funkelnden Augen fixiert, eine photographische
Platte, die er ihn so halten lässt, dass sich der Daumen des
Detektivs auf ihr abdrückt. Der Abdruck ist derselbe wie der
so lange gesuchte. Maitland wird zum Ankläger, er weist nach,
dass Godin dem Latour die ganze Sache suggeriert, dass Godin
der Mörder ist. Resultat: Godin hat Herrn Darrows durch den
Biss einer Schlange, die er an einem Stock durch die Fenster-
ritze schob, getötet. Das Motiv war die Höhe der Belohnung,
die Darrow selbst ausgesetzt, und die ihm, da er ja den selbst
gestehenden Mörder entdeckte, auch ohne Maitlands Geschicklich-
keit zugekommen wäre.
Der Roman enthält viele medizinische und chemische Einzel-
heiten; er beweist wieder einmal, welche Summe von Scharfsinn
und Einbildungskraft der Mensch grade, wenn es sich um das
Böse handelt, anzuwenden geneigt ist.
Ich habe bei Jerome K. Jerome einmal die Stelle gelesen:
„Es ist ein äusserst trauriger Gedanke, ** bemerkte Mac-Shangassey
sinnend, „was für ein verzweifelt langweiliges Nest diese Erde
sein würde, wenn es nicht unsere Freunde, die schlechten Menschen,
gäbe. Wisst ihr," fuhr er fort „wenn ich von Leuten höre, die
- 47 -
in der Welt herumlaufen und versuchen, alle Menschen zu bessern
und gut zu machen, dann werde ich ganz nervös. Rottet einmal
die Sünde aus und die Literatur wird der Vergangenheit angehören.''
Wenigstens die Kriminalliteratur.
Schundliteratur.
Die Schundliteratur auf dem Gebiete krimineller Publizistik
in ihren grellen, buntbedruckten Heften, entwickelt sich immer mehr
zu einer Gefahr für die Volkspsyche, und es ist schwer ver-
standlich, wie die Kreise, die in Kunst- und Literaturfragen stets
geneigt sind, nach Polizei und Zensur zu rufen, einer derartigen
literarischen Brunnenvergiftung ruhig zusehen können. Kriminai-
fälle letzter Zeit haben deutlich bewiesen, welche Gefahr in dieser
Zufuhr von blutrünstigem Blödsinn liegt. Bei den Kriminalromanen
im allgemeinen liegt ein gewisses Sicherheitsventil schon in ihrem
Preise (dies Moment wird leider bei der Beurteilung von lite-
rarischen Sittlichkeits- oder Unsittlichkeitsfragen vollkommen ver-
nachlässigt; wer sich z. B. die „Nächte der Gamianid** oder
«Gespräche der Aloisia Sigaea" leisten kann, ist mit anderem
Masse zu messen, als jemand, der seinen erotischen Bedarf in
Zwanzigpfennigheften von „Was man nicht laut erzählt", „Intime
Geschichten** usw. deckt, und auch öffentliche Bibliotheken und
Leihbibliotheken haben doch immer ein etwas durchgesiebtes
Publikum.
Für die Beurteilung von „Nick Carter**, „Aus den Geheim-
akten eines Weltdetektivs** (hier hat sich der Vertag den ursprung-
lichen Titel „Sheriock Holmes**, den der auch sonst, z. B. Hornung,
tapfer plagiierende Verfasser ursprunglich gewählt, hatte energisch
verbeten), „Detektiv Nobody** usw. gelten meiner Ansicht nach in
doppeltem und dreifachem Masse die Worte, die Herr Professor Gross
— allerdings ein Gegner des Kriminalromans überhaupt — mir so
liebenswürdig war zu schreiben. Er sagt unter anderem: „Ich habe
vor vielen Jahren in einem Laden eine kleine, mumienartig getrocknete
Seejungfrau gesehen: Der Kopf eines Affen mit Hahnensporen als
Hörnern, die Vorderpfoten eines Maulwurfs, der Hinterleib eines
Hechtes und die Sprungbeine eines grossen Frosches waren feucht
— 48 —
ober einem Hol^eslril angebradit, die Nahtstellen mit Kitt un*
sichtbar gemacht und so war eine Sirene fertig. Alles war echt
und die Sache lustig zom l)esdien, abar wenn einer ^ubte —
und es standen stets Dutzende ¥on Menschen vor dem Laden
— er habe eine echte Seejungfrau mit eigenen Augen gesehen»
so war doch Unwahres und somit Schädliches eneugL An diese
Sirene denke ich bei den meisten Kriminalromanen, die ich lese.*
Der Kriminalroman in seiner Beziehung
zur Medizin und Psychiatrie.
Es ist kein Zufall, dass der Verfasser der heut am meisten
verbreiteten Kriminalromane aus dem ärzdichen Stande hervor*
gegangen ist Der moderne Kriminalroman hat ausserordentlich
viele Beziehungen, wie sich aus unserer Darstellung ergibt, zur
Medizin und den verwandten Wissenschaften und steht im Grunde
^nommen viel mehr auf dem Grenzgebiete von Literatur und
Medizin als dort, wo er seiner Natur nach hingehört, auf der Grenze
der Literatur und Jurisprudenz. Naturwissenschaft und Medizin
ist ein Hilfsmittel des Kriminalschriftstellers geworden. Darin liegt
im wesentiichen der Unterschied des Kriminalromans wie er sich
bei Doyle und den anderen Vertretern dieser Literaturgattung
entwickelt hat und dem Vater der Kriminalnovelle, E. A. Poe. Der
moderne Autor zieht alle Errungenschaften der Physiologie, der
Medizin, der Pharmakologie etc. heran, macht sie seinen Zwecken
dienstbar und benutzt sie geschickt an passenden Stellen, um den
Leser zu verbluffen, seine Spannung zu erhöhen und die Losung
herbeizuführen. Der Detektiv up to date ist physiologisch gebildet
(vgl. oben den Kfihneschen Versuch), er ist bis in alle Einzel-
heiten vertraut mit der Wirkung aller Gifte, wie er aus den Aschen-
resten die Zigarrensorte erkennt, er ist Chemiker, Hypnotiseur,,
weiss die Radiumstrahlen zu benutzen u.s.w. — mit anderen
Worten: er verfügt aber das ganze Arsenal wissenschaftlicher
Errungenschaften. Anders Poes Dupin. Auch er ist ein Aus-
nahmemensch mit ungewöhnlichen Kenntnissen; aber während
uns Holmes-Doyle durch die geschickte und geistreiche Ausnutzung^
äusserlicher Erscheinungen imponiert und verblufft, wirkt Poes
- 49 —
Detektive durch seine geistreichen psychologischen Deduktionen.
Eine so feine psychologische Auseinandersetzung, wie sie Poe in dem
.«entwendeten Brief gibt (s. oben S. ), werden wir vergeblich bei
allen seinen Nachahmern suchen. Pur Poe ist der „Chevalier,
Auguste Dupin" in erster Reihe Psychologe und in der Novelle,
in welcher er uns zuerst mit ihm bekannt macht, charakterisiert
er ihn vor allem als den feinen Menschenkenner und Denker,
der eine Viertelstunde stillschweigend neben seinem Freunde einher-
geht und dann plötzlich, an seinen Gedankengang anknüpfend,
genau den Gedanken in Worten wiedergibt, der den Freund
eben beschäftigt hat.
Poes Kriminalnovellen besitzen nicht bloss den Vorzug einer
unvergleichlich höheren Kunstform, sondern sie weisen eine psycho-
logische Vertiefung auf, wie bei keinem seiner Nachahmer. Hieran
müsste der moderne Kriminalroman anknüpfen, wenn er einen
höheren literarischen Wert gewinnen, und wenn er auf seinen er-
weiterten Leserkreis belehrend einwirken will. Die Psyche des
Verbrechers klariegen, seine Handlungsweise aus seiner geistigen
Organisation erklären, und bei der engen Verknüpfung von Ver-
brechertum und Degeneration jene degenerativen Zustände, welche
ins Gebiet der Psychiatrie fallen (ethische, geistige Minder-
wertigkeit, epileptische Äquivalente, Dämmerzustände etc. etc.)
dem Verständnis des Lesers nahebringen, darin sehe ich die
lohnende Aufgabe des Kriminalromans der Zukunft Ich will
im folgenden zeigen, wie der Schriftsteller und sein Detektiv dieser
Aufgabe gerecht werden kann, an der Hand eines Kriminalfalles,
der wie kein anderer die Öffentlichkeit erregt hat, und den wir
in seinen Einzelheiten beim Leser als bekannt voraussetzen dürfen.
Anhang.
Der Fall Hau als Kriminalroman.
Der Fall Hau und kein Ende! Der Zeitungsleser ist bereits
der ganzen Sache überdrüssig, und sein Organ nennt alle, die noch
das Wort zu der Angelegenheit ergreifen „sensationslüstern*. Aber
kann man überhaupt von „Sensationslust" sprechen, wenn
es den Kopf eines Menschen gilt? Bei dem Hazardspiel, das
Qrenzf ragen d. Lit. u. Medizin. 7. Heft. 4
- 50 -
Qeschwomengericht heisst, sind die Würfel gefallen, und das
Haupt des Verurteilten wackelt. Wackelt mehr als je, denn der
milde Mann auf dem Ttirone, der das Todesurteil sicher nicht
bestätigt hätte, ist gestorben.
Sensationslust! Das Wort hat fibelen Klang und würde mehr
als je grade in dieser Studie zu vermeiden sein. Erst „Kriminal-
roman* und dann noch «Hau*. Aber der Prozess las sich wie
der spannendste Kriminalroman, ein interessantes Moment folgte
dem andern, immer geschlossener schien der Indizienbeweis
— beinahe so geschlossen wie in einem guten Roman. Dann
aber kam jäh und hart das »Schuldig'' der Geschworenen.
Als das gefallen war, hatte ich das Gefühl, man müsste
hingehen zu den Geschwomen und ihnen einen guten Krimi-
nalroman zu lesen geben. Am besten den schon mehrmals
erwähnten «Einer meiner Söhne* ^), wo sich jedesmal der Indizien-
beweis so fest um den jeweilig Beschuldigten legt, dass man sagen
möchte, „dieser ist es*, und jedesmal dann eine einzige, winzige
Kleinigkeit den ganzen schönen Aufbau umwirft Darin liegt für
mich der erziehende Wert des Kriminalromans, dass er zeigt, in
welches Netz von Anschuldigungen und Beweisen man verstrickt
werden kann, wie Dummheiten und Unüberlegtheiten, die jeder
einmal gelegentlich macht, sich zu erdrückendem Beweismaterial
auswachsen können. Im Romane freilich, da löst der Detektiv
den Knoten und spürt die feinsten Fäden auf, die zu dem wahren
Schuldigen führen. Grade Sherlock Holmes spricht oft über den
Indizienbeweis und warnt direkt vor einem sich allzu schön zu-
sammenfügenden Bilde. Man spricht ja im Leben oft von einer
Sache, die „zu schön* ist, auch vom Indizienbeweis sollte dies
gelten. Gebt jedem Geschworenen, jedem Richter und Staatsanwalt
vor grossen Kriminalfällen, bei denen es um Tod oder Leben
geht, einen guten Kriminalroman, damit er etwas von der Psyche
des Beschuldigten — meinetwegen von dem Autor stark über-
trieben — lerne. Es gibt in Juristenkreisen vielfach die Ansicht,
dass es für einen wirklich Schuldigen besser sei, vor ein Schwur-
gericht zu kommen, der Unschuldige oder nicht ausreichend Be-
lastete günstigere Aussichten vor dem Straf rieh ter habe. Wehe
*) Green: „Einer meiner Söhne". Green baut überhaupt gern auf —
im entscheidenden Augenbh'ck zusammenbrechenden — Indizienbeweisen.
Vgl. auch Farjeon: „Die Herz-Neun'* und Rosner: „Der FaU Versegy".
- 51 -
den letzteren, wenn sie persönlich unsympathisch sind oder aus
anderen Kreisen stammen, als die Männer auf der Qeschworenen-
bank. Die Psychologie der Geschworenen ist noch zu schreiben,
ein Kunstler, ein Dichter und tiefster Menschenkenner mfisste dies
tun. Bis dahin aber muss der Kriminalroman — natürlich der
gute — den Zweck erffillen und den zu verantwortlichstem Tun
Berufenen Zweifel an ihrer Qottähnlichkeit auslösen. Man werfe
nicht ein, dass der Roman Situationen schaffe, die das Leben
nicht kennt,^) nichts ist so absurd erdacht, als dass die Wirklich-
lichkeit es nicht fiberholen kann.
Ein Todesurteil, das auf einen Indizienbeweis (sogar einen
wunderbar klappenden) hin gefällt wurde, und das im letzten
Augenblick durch das Eintreten des tüchtigen Cdocceji nicht voll-
streckt wurde, führte einst zur Aufhebung der Tortur in Preussen.
Ob die geistige Tortur eines zu Unrecht Beschuldigten geringer
ist, der hilflos in seiner Zelle sitzt (denn nicht jeder hat einen
tüchtigen Verteidiger und die Mittel, für seine Unschuld streiten
zu können, oder findet wie im Romane den smarten Detektiv,
der für ihn kämpft), angewiesen auf sich selbst und seinen Rechts-
beistand, während Untersuchungsrichter und Staatsanwalt mit einem
Federzug Hunderte von Hilfskräften in Bewegung setzen? Der
auf die Folter Gespannte gestand Verbrechen, die er nie begangen,
bekannte Dinge, von denen er nichts wusste; sollte nicht auch
für den, der geistig, wie es in der Chronik von den Judenver-
folgungen heisst, „spasshaft förschelnd inquirieret und torquieret
wird", der Zeitpunkt kommen, an dem er zusammenbricht? In
„Monsieur Lecoq*" bedient sich der Untersuchungsrichter aller
dieser geistigen Torturmittel, freilich zeichnet ihn Gaboriau sonst
durchaus sympathisch. Den Stand des Untersuchungsrichters in
Ehren, aber er sitzt da, um Material in erster Reihe gegen den
Angeklagten zu sammeln ; Entlastungszeuge zu sein gehört neuer-
dings nicht grade zu den Annehmlichkeiten des Lebens und der
Sachverständige hat zuweilen einen sehr schweren Stand.
Wenn der Kriminalroman sonst nichts tut, als all diese
Zweifel und Beklemmungen bei dem Leser aufsteigen zu lassen,
dann ist sein Zweck ein guter und vollkommen ausreichend. Es
') Man vergleiche die suggerierte Zeugenaussage in ,John Darrows
Tod*' und die (falsche) Selbstbezichtigung im Essener Prozess. (Mord der
Miss Lake.)
4*
- 52 -
ist hier nicht der Ort zu polemisieren, und in dem AtatfmMe
über ^»Schundliteratur* habe ich meinen Standpunkt bereite Mir-
gelegt, aber man komme doch ttm Himmelswinen nicht iimiier
mit moralischen Bedenken. Es gibt sicherlich viele Leute, 4fe
auch den „Faust* nur als ausgewähltes Dichtwerk und iiMer
Weglassung aller anstössigen Stellen lesen können, aber die wird
doch kein vernünftiger Mensch als Norm gelten lassen.
Eine gute Theorie muss auch die Praxis aushalten könneti;
versuchen wir einmal die theoretischen Lehren des Kriminalromans
in ihrer Anwendbarkeit auf den Fall Hau. Wie etwa wird ein
englischer Autor den Mord an der Frau Molitor für Romanzwecke
behandeln? Ich hoffe, dass A. C. Doyle, da sein Detektiv nun
doch einmal der bekannteste Typ ist, es nicht übelnehmen wird,
wenn wir ihn und seinen Doktor Sherlock Holmes mit der Be-
arbeitung des Falles beauftragen und ihn ausdrücklichst anweisen,
die Technik des Kriminalromans dabei zu benutzen.
Als Sherlock Holmes in Karlsruhe eingetroffen war, bahnte
er sich durch die dichten Massen den Weg nach dem Qerichts-
gebäude. Um ihn her drängte sich eine fieberhaft erregte Menge,
die in ungeduldiger Spannung auf den Urteilsspruch harrte.
Dann kam von drüben wie ein dumpfes Stöhnen der Ruf
„Schuldig" und grollte weiter fort in den Massen. Zwischendurch
ein gellender Ruf, hasserfüllte Schreie gegen die „rote Olga*'.
Sheriock Holmes schüttelte den Kopf. Hinter der scharfgeschnittenen
Stirne seltsame Gedanken. Dort oben ein eines Kapitalverbrechens
schuldig Befundener, und hier unten Tausende von Menschen,
bangend um das Schicksal des einen, der in dem hohen Saale
des Schwurgerichts um sein Leben kämpfte. Was war all denen
um ihn herum der Rechtsanwalt und Professor Hau, was sind sie
ihm? Massenbewusstsein, Massenpsychologie I Polizisten von allen
Seiten, die sich bemühen Ordnung zu schaffen, und die machtlos
gegen den Ansturm sind. Zwei Kompagnien Leibgrenadiere rucken
an, um den Platz zu säubern. Der Detektiv trat den Ruckzug
an, gestossen und geschoben von der, endlich der Gewalt wei-
chenden Menge. Er hatte viel mitgemacht, Hungerrevolten in Ir-
land, Aufstandsversuche in englischen Kolonien und Massen-
meetings von Anarchisten in Patterson. Überall dort trieb aber
die Menge ihr eigenes Interesse, ihr ureigenstes Selbst kam in Frage.
Und hier? Vox populi, vox dei? Keiner der Ihrigen ist der nun
- 53 -
zum To4e Verurteilte; der Herr Rechtsanwalt, in dem elegant
sitzenden schwarzen Oehrock und dem fabelhaft hohen Kragen,
würde sich sehr für die Leute, die unten bis tief in die Nacht
hinein warten, bedanken und die behandschuhte Rechte schwerlich
einem derer zum Grusse reichen, die für ihn im Dunkel der
Nacirt demonstrieren.
Sherlock Holmes ging in sein Hotel, wohin ihn der
mysteriöse Absender des Telegramms, das ihn nach dem Kontinent
gerufen, für den nächsten Morgen bestellt hatte. Pünktlich um
elf Uhr begab er sich in den eleganten Rauchsalon, wo ein älterer
gutgekleideter Herr ihm mit einer leichten Verbeugung entgegentrat.
„Habe ich die Ehre Herrn Doktor Holmes . . . ?"
Holmes verbeugte sich.
„ich bin der Vorsitzende des Bundes zur ,Aufhebung der
Todesstrafe' und habe Sie gebeten, uns für den vorliegenden
Fall mit Ihrem bewährten Rate nützlich zu sein. Was wir an-
streben, ist zunächst die Forderung, dass auf einen Indizien-
beweis hin kein Todesurteil gefällt werden darf. Unserer Ansicht
nach stehen die Gegner unserer Bestrebungen auf dem Stand-
punkt der menschlichen Unfehlbarkeit, sie setzen den mathe-
matischen ,negativen Beweis' in praktische Formen um und gehen
an der schrecklichen Liste von Justizmorden — doppelt und drei-
fach schrecklich, weil sie im Namen der Gerechtigkeit geschehen
sind — ohne Bedenken vorüber. Für uns ist der vorliegende Fall
von prinzipieller Bedeutung. Ob Herr Hau sympathisch oder un-
sympathisch, kümmert uns nicht (mir persönlich ist er immer noch
sympathischer, als der Held der ,affaire', und Sie werden mich
grade als Engländer besser verstehen, wenn ich Ihnen sage, dass
mir vom nationalen Standpunkt aus ein Zeitungsfeldzug für Hau
angenehmer ist, als für den Leuteschinder und grimmigen Deutschen-
hasser Dreyfuss), lediglich die Tatsache, dass Indizien zweifel-
hafter Art — trotzdem Entlastungszeugen genug auftraten — dais
Urteil auf Mord zuwege gebracht haben, kommt für uns in Frage.
Ja ich gehe noch weher, ich sage, dass Hau ganz ruhig schuldig
sein kann, und dennoch um des leisen Restes von Zweifels willen,
der trotz und alledem iibrig bleibt, nicht verurteilt werden dürfte.
Ich habe Ihnen hier eine Reihe bedeutendster Leitungen mitgebracht,
die Ihnen, dem Ausländer, das eben gesagte verständlich machen
werden und klar zeigen, dass in den weitesten Kreisen das Todes-
— 54 -
urteil Befremden erregt. Sie sehen hier die «Nationalzeitung*,
das ,Beriiner Tageblatt', die ,Wiener Neue freie Presse', den
«Rheinischen Kurier', das ,Badener Tageblatt', usw. Um der
Parallele mit dem ,Bild des Dorian Gray' willen mache ich Sie
hier noch besonders auf ,das Bild des Rechtsanwalts Hau* in der
«Berliner Morgen post' aufmerksam. Was wir erkämpfen wollen,
das finden sie dort in dem schönen Schlussworte:
,Denn wir sind anders als jene Minner in Karlsruhe.
Wir sind gewohnt, hinter jeder Antwort eine neue Frage zu
sehen, wir misstrauen unserem Urteil, dessen Grenzen wir
kennen und geben in unserem Bemuhen, fremde Dinge, fremde
Menschen nach ihrer Weise zu verstehen, dem Seltsamsten,
dem ,Unmöglichen' Raum.^) Wir gehen lieber zu langsam
als zu schnell, wir schonen lieber einen Schuldigen, als dass
wir einen Unschuldigen strafen. Vielleicht ist unser Erwägen
manchmal allzu empfindsam, unser Gewissen allzu furchtsam
vor künftiger Reue. Aber wir haben den Mut unserer Feig-
heit, und der Zweifel hätte Macht über uns auch vor dem
Bildnisse des Karl Hau.'
Noch einmal, das prinzipielle Element, die Hoffnung, dass
dieser Prozess den Anstoss für höchst notwendige Reformen der
Strafprozessordnung geben wird, deren Blutzeuge auch ein Rechts-
anwalt Hau sein kann, hat uns bewogen, Sie um Hilfe anzugehen.
Ihr Erscheinen zeigt die Bereitwilligkeit, in Geldausgaben haben
Sie vollkommen carte blanche. Wie lange brauchen Sie Zeit für
Ihre Erhebungen?**
^Acht Tage."
„Abgemacht. Also heut über eine Woche hier im Hotel
um dieselbe. Zeit. Leben Sie wohl, Herr Holmes, und Glück
auf den Wegl Noch einmal, es handelt sich nicht darum, den
wahren Täter zu finden, sondern lediglich, auf Ihrer Methode
aufbauend, den Weg anzugeben, den Sie gegangen wären. Besonders
interessieren uns natürlich dabei die Widersprüche , in die Sie sich
zu unserer Behandlung des Prozesses setzen werden. Ich habe
die Ehre."
Ein kräftiges Händeschütteln und die Herren trennten sich.
^} In der „Kriminalpsychologie" sagt Gross oft nach irgend einer Aus-
fuhrung, dass wahrscheinlich kein Gerichtshof der Welt dem Angeklagten,
wenn er ähnliches ausführte, es glauben würde .
- 55 -
Als Holmes zur verabredeten Zeit wieder im Rauchzimmer
des Hotels dem Vorsitzenden, den diesmal noch einige Herren
begleitet hatten, gegenüber sass, zfindete er sich noch eine
Zigarette an, tat ein paar lange Züge, lehnte sich in dem schweren
englischen Klubsessel zurück, schlug die Beine übereinander
und begann:
„Nachdem ich mich in den Besitz des vollständigen Prozess-
berichtes gesetzt hatte, ging ich an die Arbeit. Ich werde Ihnen
die Punkte, die mir aufgefallen sind, der Reihe nach vortragen.
Zunächst versuchte ich mich von dem eben gelesenen möglichst
zu emanzipieren. Ich begann mit der Urfrage jedes Ver-
brechens: cui bono? Diese und die Aussagen der Belastungs-
zeugen führten mich auf — den Rechtsanwalt und ausserordent-
lichen Professor an der George Washington - Universität Karl
Hau. Sie sehen, ich komme zu demselben Resultat wie der
Staatsanwalt. Aber ich bin kein öffentlicher Ankläger, ich musste
gerechterweise prüfen, was für den Beschuldigten spricht. Und
da fiel das Qeldmotiv völlig. Erstens erhält er ja das Geld überhaupt
nicht, wie sich herausgestellt hat. Dann aber war grade Hau
als Rechtsanwalt genau in der Lage zu wissen, wie lange eine
Erbschaftsregulierung dauert Bis sie beendet, ist er längst er-
ledigt, wenn ihm das Messer wirklich, wie der Staatsanwalt will,
so an der Kehle sitzt Der Staatsanwalt sagt, das mache nichts,
er könne sich ja Geld darauf hin leihen. Ich glaube. Hau könnte
nichts Ungeschickteres tun, als — wenn er bis dahin glücklich
entkommen — durch Beleihungsversuche (die doch praktisch nicht
so glatt gehen und bei denen obendrein gewöhnlich ein schönes
Stück Geld verloren wird, die zudem im Anfangsstadium der
Erbschaftsregulierung schwerlich ohne Wissen der Miterben gemacht
werden können) die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Allerdings
schalte ich hier eine Frage vollkommen aus, auf die ich am Schlüsse
eingehen will. Ich schliesse streng logisch und will alle Un-
begreiflichkeiten, die lächerliche Verkleidung usw. für später auf-
sparen. Das ,cui bono' hat für mich versagt, ich nehme das
Gegenstück, das alte ,cave amantem*, das moderne ,cherchez
la femme*. Ich habe die Absicht mich nach Korsika zu begeben.
Dort muss sich, dies ist meine feste Überzeugung, der Schlüssel
des Rätsels finden lassen, von dort aus heisst es den Lebens-
bahnen des Hau und der Familie Molitor nachspüren. Seien Sie
- 56 —
überzeugt ein Erfolg, mag er auch noch so klein sein, wird die
Bemühungen belohnen. Die im Prozesse nur gestreifte Selbst-
mordaffaire — wenn man sie so nennen will — ist für mich zur
Beurteilung der Psyche von Haus Gattin höchst wertvoll. Der
Geist der unglücklichen Frau muss heraufbeschworen werden,
ungeheuer wichtig ist ihre Psychologie, denn ihr Testament brach
dem Rechtsanwalt nach meiner Überzeugung den Hals. Wer so
zum Romanhaften neigt wie Frau Hau (dies soll beileibe kern
Tadel sein, ich verwahre mich ausdröcklich dagegen) ist für die
wichtige Frage, ob der Gatte Täter oder nicht ist, keine Autorität,
ja nicht einmal ernsthaft zu befragen. Zieht man sie jedoch
trotzdem zur Zeugin heran, warum wird das Belastende ffir Hau
emsig zusammengetragen, während das harte Votum fiber den
Belastungszeugen Bachelin, das dem Angeklagten hätte nützen
können, nicht weiter wichtig erschien?
Ich beschränke mich in weiteren Ausführungen, um zu dem
wichtigsten aller Punkte zu gelangen. Natürlich meine ich den
tödlichen Schuss. Meine Herren I Alles was sonst in der Verhand-
lung geschehen sein mag, will ich verzeihen. Unentschuldbar aber
ist für mich und absolut unverständlich, dass nicht eine Debatte,
die gar nicht zu lang sein konnte, über die Entfernung des Schiessen-
den von seinem Opfer, den Schusskanal, die Art und Weise, wie
geschossen wurde usw. stattgefunden hat. Nicht einmal eine Be-
sichtigung des Tatortes! „Da es sich um den Kopf eines Menschen
handelt, wäre dringend eine Augenscheinnahme an Ort und Stelle
notwendig gewesen, zumal sonst reine Lappalien dazu Veran-
lassung geben.** las ich in einer Zeitung.^) Dabei komme ich
auf einen Punkt, den ich aufs lebhafteste bedaure, den ich aber
nicht umgehen kann. Fiat justitia, pereat mundus! Auf Grund
von vielfachen Versuchen, die ich machte, kam ich zu derselben
Überzeugung wie ein Herr, der so liebenswürdig war, mich zu
zitieren.*) Wird in unmittelbarster Nähe hinter dem Rücken irgend
eines Menschen — natürlich darf er darauf nicht vorbereitet sein —
ein lautes Geräusch hörbar, geschweige gar der Knall eines
Schusses, so ist sein erster Impuls, sich umzudrehen. Wie der
eben erwähnte Herr setze auch ich meinen Kopf dafür zum Pfände.
Bedenken Sie doch, meine Herren, dass, wenn ein neben mir
') „Badener Tageblatt <.
*) Dr. Martin Beradt in der „Gegenwart''.
— 57 -
Gehender auch sofort nach dem Schuss zusammenbricht, dennoch
das Bewusstsein des gehörten Schusses früher in meinen Vor-
stelhingskreis tritt als das Zusammenbrechen. Tierversuche, die
ich anstellte, haben mich, ebenso wie die Lektfire, davon über-
zeugt, dass grade ein genau durchs Herz Getroffener (natürlich
cum grano salis verstanden, es ist eine Sekundenrechnung I) nicht
sofort zusammenstürzt. Sie verstehen, worauf ich hinaus will,
dass nämlich der erste Vorstellungskreis (des Schusses) nicht un-
mittelbar durch das Zusammenbrechen ausgelöst werden kann,
zumal, wenn der Schuss so nahe abgegeben wird, dass er die
Kleider versengt. Diese Tatsache steht unumstösslich fest. Da
Hau bedeutend grösser als Frau Molitor ist, muss er nach der
Richtung des Schusskanals beinahe in die Kniebeuge gehen. Ehe
er ausser Sicht kommt, hat er — im langen Mantel obendrein
— immerhin noch gegen 30 Meter zu durchlaufen. Ich habe
natürlich selbst diese Versuche gemacht, auch die Rekorde der
besten englischen und deutschen Läufer zu Rat gezogen und
trotzdem immer noch 5 Sekunden gebraucht, Zeit genug, um das
Bild eines Fliehenden zu erfassen. Ich sage damit absolut nichts
gegen die Aussage des Fräulein Olga Molitor, die Aufnahmefähig-
keit jedes einzelnen Zeugen ist verschieden,^) aber diese wäre für
mich durch geeignete Experimente zu prüfen. Selbstverständlich
habe ich die Zeiten genau ausgeprobt. Ich nahm das für den
Angeklagten Ungünstigste, die Zeit 6 Uhr 3 Minuten, als Augen-
blick der Tat an. 6 Uhr 15 Minuten geht sein Zug. Da durch
Zeugenaussagen eidlich bekundet wird, dass nach Abgabe des
Schusses kein Mann die Lindenstaffeln passiert hat, blieb mir nur
<ler vom Staatsanwalt verlangte Weg durch die Gärten. Ich rede
nicht von der Sinnlosigkeit, durch Villengärten fliehen zu wollen,
von der verzweifelt geringen Chance nicht angehalten oder ge-
sehen zu werden, ich behaupte ganz einfach (da auch hier zu
Lande Gärten eingezäunt werden und selbst Durchschnittszäune
nicht so leicht mit einem langen Mantel überstiegen werden, und
führe mich selbst — der ich gut durchtrainiert und guter Turner
obendrein bin — als Beweis an), dass der Weg bis zur Bahn, für
<ien noch 12 Minuten bleiben, eine Höchstleistung ist, die ich wohl
<) Professor Gross bespricht ausfuhrlich diese Frage. Man denke
auch an die bekannten Experimente von Liszt
- 58 -
allenfalls einem Sportsmanne, der einen neuen Rekord aufsteilen
will, aber nicht einem um sein Leben fliehenden Mörder zutraue.
Bei einer derart wichtigen Angelegenheit wie die vorliegende, und
wo ja auch bei Ihnen der Ruf »Menschenleben in Gefahr' allem
anderen vorgeht, hätten diese Zeitexperimente in allen Variationen
unbedingt gemacht werden müssen.
Eminent wichtig ist natürlich für mich die Frage nach dem
Mann, den die Freifrau von Reitzenstein gesehen hat. Ich bin
auf eifrigster Suche nach ihm und halte mich auch jetzt noch
verpflichtet, in allen Hotels und Gasthäusern nachzuforschen. In-
wieweit der verhaftete Lindenau damit in Zusammenhang zu bringen
ist, muss erst die Verhandlung ergeben. Ausser Zweifel ist für
mich« dass ich, falls ich den zur Tat benutzten Revolver im Be-
sitze hätte, feststellen könnte, wo er gekauft wurde, und wer der
Käufer war.
Ich habe meine weiteren Bedenken schriftlich dargelegt und
werde Ihnen das Manuskript übergeben. Ich will jetzt die Sache
von einem anderen Standpunkte aus betrachten. Wie Sie wissen,
bin ich von Haus aus etwas Mediziner und auch Sie, die Sie mir
hier gegenübersitzen, sind, wie ich erfahren habe, in fiberwiegender
Mehrheit Ärzte. Sehen wir einmal von der Schuldfrage vollkommen
ab, ist Hau denn überhaupt vollkommen normal? Ist er für seine
Handlungen voll verantwortlich? Die Sache mit dem Kreditbrief gab
mir zu denken. Da Hau genau wusste, dass er den Schaden zu
tragen hatte, war seine Handlungsweise direkt läppisch und dumm.
Handelt so ein Mensch mit gesunden Sinnen? Hängt sich ein
geistig normaler Mensch einen derart schlecht gemachten Bait um,
steckt sich in eine derart auffallende Verkleidung? Der kluge Rechts-
anwalt, läuft er bei gesunden Sinnen nicht wie der blutdürstige
Mörder einer Schmiere sechsten Ranges herum?
Die Aussage, richtiger das Gutachten, des Sachverständigen
Medizinalrat Dr. Kayser-Karisruhe verstehe ich nicht ganz. Nach-
dem zu Anfang gesagt worden ist: ,Er zitterte stark und zeigte
starke Reflexe. Er zuckte stets zusammen' kommt der Unter-
suchende zu dem Schlüsse, dass trotzdem von einer geistigen
Störung keine Rede sein könnte. Dies ist zweifelsohne sein gutes
Recht. Seinen nachherigen Ausspruch ,es kann sich nur um eine
überlegte, bedachte Tat handeln* kann er doch nur abgeben, wenn
er den Täter genau kennt. Dem gegenüber stelle ich hier folgende
- 59 -
Aussagen durchweg gebildeter Zeugen, indem ich zwar nur das
auf den Geisteszustand Haus Bezügliche erwähne, jedoch keines-
wegs so aus dem Zusammenhang reisse, dass der Sinn irgendwie
verändert wird.
Frau Dr. Müller-Linz: ,Er machte mir ganz den Eindruck eines
irrsinnigen Menschen*. (Sie erwähnt auch die bereits oben
besprochene ,Edelsteinmanie'.)
Oberlehrer Schlich-Saarlouis. Der Zeuge traf Hau noch einmal im
September 1906. Damals zeigte er sich sehr mürrisch, ein-
silbig und geistesabwesend.
Assistenzarzt Dr. Schmitz-Bonn fiel das eigentümliche überspannte
Wesen Haus auf. Die Frage des Vorsitzenden, ob er Hau
für geisteskrank halte, beantwortet er dahin: *,Er scheint nur
psychopathisch zu sein.'
Rittergutsbesitzer Meissen-Köln. Als er von der Tat hörte, sagte
Zeuge sich gleich : ,Man sieht da wieder, wenn Hau die Tat
begangen hat, dass Genie und Wahnsinn nahe bei einander
liegen.*
Volksschullehrer Staut-Saarbrücken : Die geistige Entwicklung Haus
sei nicht normal gewesen.
Gerichtsassessor Karolath-Greiz hält Hau für absonderlich,
Kandidat Henkel ist ein Schulfreund von Hau. Er schildert ihn
als typisch degeneriert. Hau hätte einen Hang zum Mystischen
gehabt. Auf der Schule hiess es bereits (!) er habe einen
,Spleen'.
Referendar Moritz, ein Studienfreund Haus. Sagt aus, dass dieser
sich in einer Weise einsam hielt, die an den jungen Nietzsche
erinnert. Hält ihn für einen der interessantesten Köpfe, weil
er der anormalste war.
Rektor Gemmel-Köln kennt Hau von Jugend auf. Er ist früh
reif gewesen. Sein Geist war unstet und überladen, während
sein Körper sehr schwach war.
Glänzende Zeugnisse für Hau geben ferner Kaplan Tinkert
und Kandidat Kiem ab. All dies ist viel zu wenig beachtet worden.
Und vor meinem geistigen Auge steht das Bild des tief degenierten
und stark psychopathisch belasteten Angeklagten, den eine irr-
sinnige Leidenschaft zu unmöglichsten Tollheiten verführt, der
daheim eine kranke Frau hat, und der zu lange mit dem Gedanken
an die schöne Schwägerin gespielt hat Die ganzen Unbegreiflich-
- 60 —
Reitea werden für mich erklärlich, wenn ich eine — meinetwegen
momentane — Herabsetzung der Geisteskräfte annehme. Nur aus
der mangelhaften Organisation des Psychopathen lassen sich,
Haus volle Schuld vorausgesetzt, die Motive seiner Handlungsweise
herleiten. Hier musste den Sachverständigen ein breiter Spielraum
in der Aufklärung der Geschworenen und des Publikums ein-
geräumt werden. Worin liegt der Widerspruch in der festen
Überzeugung der Geschworenen und den immer wieder laut-
gewordenen Zweifeln des grossen Publikums? Ganz besonders und
in erster Reihe da, dass die Menge Hau für eine hervorragende Per-
sönlichkeit, für eine grosse geistige Kapazität hält, für einen Progenerä,
während er in Wirklichkeit von Geburt geistig minderwertig ist
und der ausgesprochene Typus des Degener^. Nur wer dessen
Eigenart kennt, seinen sprunghaften Charakter, seine unberechen-
bare, widersinnige, unerkläriiche Handlungsweise, vor allem seine
Affekthandlungen, der wird die Tat Haus begreifen können. Wem
die Aussagen der angeführten Zeugen nicht genügen, der wird in
dem Vorieben Haus seit seiner frühesten Kindheit, wie es der
Prozess vor aller Augen aufgerollt hat, die sprechendsten Beweise
für meine Diagnose finden können. Nun ist ja bei Ihnen zwischen
der Begehung eines Verbrechens im Dämmer- und unzurechnungs-
fähigen Zustande bis zu der Wohltat des § 51 ein weiter Schritt. Von
Korsika aus müssen auch für die psychiatrischen Sachverständigen
die Forschungen beginnen. Trefflicher, glaube ich, wird sich kein
Bild eines kranken Ehepaares zusammenfügen, als das des Rechts-
anwaltes Hau und seiner Gattin. Auf Grund dieser Deduktionen
muss weiter aufgebaut werden, der Urteilsspruch kann nicht be-
stehen vor dem geisteskranken Verbrecher, der einen schweren
Typhusanfall durchgemacht hat, in einer Lungenheilanstalt war
und nicht vollkommen ausgeheilter Luetiker ist. Wie wichtig ist
die }edem Mediziner bekannte Tatsache, auf die sonderbarerweise
kein Sachverständiger hingewiesen hat, dass die Libido sexualis
der Tuberkulösen, namentlich im vorgeschrittenen Stadium, ge-
wohnlich sehr gesteigert ist. An den Männern auf der Geschworenen-
bank gehen die psychopathischen Feinheiten vorüber, Sache der
Sachverständigen ist es und wäre es gewesen, sie den Richtenden
näher zu rücken.
Die Verteidiger sind tüchtige Leute. Sollte es zu einem
neuen Verfahren kommen, werden sie die Fra^ der geistigen
- 61 -
Minderwertigkeit sicher zur Sprache bringen. Was ich sonst noch
an neuen Punkten gesammelt habe, rate ich dann erst zu ver-
öffentlichen.'*
Der Vorsitzende erhob sich und streckte dem Detektiv die
Hand entgegen:
„Ich danke Ihnen bestens für Ihre Mitarbeit. Dürfen wir
auch ferner auf Sie zahlen?''
Der Engländer lächelte leicht:
„Ihr Deutschen seid komische Leute. Ihr lest ganz gerne
Kriminalromane, und begeistert euch theoretisch für den .consulting-
detektive*. Wenn es aber zur Praxis kommt, und ein Schriftsteller den
Kampf für einen, wie er glaubt zu Unrecht Verurteilten antritt,
dann muss er sich viel gefallen lassen. Lautere Motive glaubt
man ihm nicht. Ich habe das Buch von Lindau gelesen und sah
neulich in einem Witzblatt eine darauf bezugliche Karikatur, in
der er, weil er das Unglück hatte, einen sensationellen Stoff zu
finden, als Kolportageroman-Schriftsteller wiedergegeben war. Es
ist mir überhaupt aufgefallen, wie viel Leute auf einmal ihr allem
Sensationellen abgewandtes Herz entdeckten. Mich trifft das wenig,
für Verfolgte trete ich ganz ein, auch wenn ich mich lächerlich
mache. Ich halte den Kopf eines Menschen für einen zu edlen
Gegenstand als dass auch nur irgend etwas versäumt werden
darf; wo es sich um Sein oder Nichtsein handelt, ist jeder
Kampf edel.
Hätte Voltaire weiter nichts getan, als den Streit im Prozesse
Calas geführt und den schrecklichen Justizmord nachgewiesen, er
verdiente die Unsterblichkeit. Er deckte den Rechtsirrtum auf;
obenan auf der goldenen Tafel der Wohltäter der Menschheit
müsste sein Name prangen, weil er in jahrelangem Mühen bewies,^
auf wie schwachen Füssen die menschliche Gerechtigkeit steht.
Und auch ich möchte gerne überall den Kampf aufnehmen, aber
Sie wissen es ja, ich bin leider nur eine Romanfigur. "
&H^U.
QRENZFRAOEN DER LITERATUR UND MEDIZIN
in Einzeldarstellungen
herausgegeben von Dr. S. RAHMER, BERLIN.
8. Heft.
Edgar Allan Poe
Dr. Ferdinand Probst
München-Eglfing.
n Teil Sklave von Machten gc-
sen bin, Ober die wir Mensciaen
mal« Herr werden können,"
Poe „w. Wilson".
MÜNCHEN 1908
ERNST REINHARDT. Verlagsbuchhandlung
Jägerstrasse 17.
Inhaltsverzeichnis.
Seit«
Vorwort 8
Verlauf des äusseren Lebens 5
Persönlichkeit und Krankheit 8
Die Werke 26
Vorwort.
über Poe existiert, besonders in englischer Sprache, eine
umfangreiche Literatur; abgesehen von ganz modernen Ansätzen
zeigt sich aber in derselben fast überall der alte Fehler. Entweder
wird der Dichter von einem moralisierenden Standpunkt herab
beurteilt und als Ausbund verworfener Gesinnungen dargestellt;
oder aber der Darsteller macht Poe's Sache zu seiner eigenen und
versucht nun eine Mohrenwäsche, eine „Rettung*, wobei der edle
Zweck die Mittel heiligt. Während die einen nur einen unver-
besserlichen Trunkenbold mit wirrer Phantasie in ihm sehen,
feiern ihn die anderen als einen glänzenden Heros, der die neue
Literaturepoche eröffnete und seinen Platz neben Goethe haben
muss. In Wirklichkeit aber lässt sich das Problem „Poe" ganz
klar lösen, wenn man sich bemüht, recht objektiv zu sein. Es
soll nicht darüber gestritten werden, ob er gut oder böse, ob er
ein kleiner oder ein grosser Dichter war; das kann jeder für sich
halten wie er will; hier soll lediglich festgestellt werden, warum
Poe eben so sein musste, wie er war. Sein begeisterter Biograph
und Seelenverwandter Baudelaire lässt Poe das grausame Wort
Notwendigkeit (pas de chance) auf der Stirne tragen. Von dieser
Notwendigkeit will ich sprechen. Van Vleuten hat bereits 1903
in einem Aufsatze in der »Zukunft" die Grundlinien der Krank-
heit Poe's klar skizziert und ihn als Epileptiker mit Trunksuchts-
anfällen aufgefasst. Ich glaube, es dürfte sich mit Ausnahme
Dostojewsky^s nicht leicht ein Fall finden, bei dem die Dichtungen
so klar die verschiedenen pathologischen Seelenvorgänge des
Dichters widerspiegeln. Moeller-Bruck sagt, in Poes Hauptwerken
„hat sich der ganze Mensch entschält, sodass sie in ihrer Gesamt-
heit eigentlich nur einen einzigen grossen Roman bilden, der den Titel
Poe führen müsste. Man braucht alle diese Novellen nur in Gedanken
zu verbinden . . . und man hätte den Roman des Lebens Poe's**.
Ich will zunächst einen gedrängten Überblick über die äusseren
Schicksale Poe's geben; denn ich halte die Kenntnis dieser Daten
— 4 —
für absolut nötig zum Verständnis der ganzen Persönlichkeit, wenn
auch H. H. Ewers in seiner Arbeit über Poe ganz verächtlich
^von diesen allergleichgiltigsten Daten" spricht. An der Hand
dieser Daten will ich dann die Persönlichkeit Poe's, seine Krank-
heit und die Art seines Schaffens schildern. Endlich will ich
das Krankhafte in seinen Werken selbst darstellen.
Die aus Poe*s Werken zitierten Stellen entnehme ich der
vorzuglichen Moeller-Bruck*schen Übersetzung (Bruns* Verlag
Minden i. W.)
Verlauf des äusseren Lebens.
Edgar Poe entstammt einer alten irischen Familie, die Mitte
des 18. Jahrhunderts nach Amerika ausgewandert war. Er ist
am 19. Januar 1809 zu Boston geboren. Sein Vater war mit
einer englischen Schauspielerin verheiratet und hatte sich wegen
dieser Heirat mit seiner Familie entzweit. Schon im Jahre 1811
starben beide Eltern rasch nacheinander an Tuberkulose. Als
auch die Grosseltem bald darauf starben, wurde Poe von dem
reichen Herrn Allan adoptiert (daher E. Allan P.); 1816 reiste er
mit seinen Pflegeeltern nach Schottiand und England, wo er bis 1821
in einem Institute zu Stoke-Newington verblieb; 1821 bezog er
die Akademie zu Richmond. Das Jahr 1826 verbrachte er auf
der Universität Charlotteville. Wegen einiger Exzesse soll er von
dort entiassen worden sein; diese Tatsache wird neuerdings be-
stritten; sicher ist aber, dass er damals mit dem Alkohol Bekannt-
schaft machte, dass er femer eine unbesiegbare Leidenschaft ffir
das Kartenspiel hatte, und dass er in Schulden geriet Es folgte
ein Zerwürfnis mit dem Adoptivvater, infolgedessen Poe den Ent-
schluss fasste, nach Griechenland zu reisen und sich wie Byron
den Freiheitskämpfern anzuschliessen. 1829 kehrte er zu Allan
zurück. Nie hat er selbst über diese Periode seines Lebens eine
Andeutung gemacht; man weiss nur, dass er nicht in Griechen-
land war, dass er eines Tages ohne Pass und „in kompromittier-
liehen Verhältnissen* in Petersburg auftauchte und erst durch Ver-
mittiung des dortigen amerikanischen Gesandten die Heimreise
antreten konnte. Man hat versucht, diese Begebenheiten als Le-
gende hinzustellen, aber doch nicht vermocht, dann diese Lücke
von 1828—29 irgendwie auszufüllen; ich konnte mich von der
Stichhaltigkeit der Gegengründe absolut nicht überzeugen. —
Am 27. Februar 1829 starb Frau Allan. Am 1. Juli 1830
bezog Poe die Militär-Akademie Westpoint als Kadett; doch wurde
er schon nach wenigen Monaten (7. Januar 1831) wegen ver-
schiedener Pflichtverletzungen und Insubordination wieder ent-
- 6 —
lassen. Während das Verfahren noch gegen ihn schwebte, gab
er einen Band Gedichte heraus, die er dem Kadettenkorps widmete,
Nach Hause zurückgekehrt, fiberwarf er sich definitiv mit seinem
Adoptivvater ; Allan ging eine neue Ehe ein und enterbte Poe vollständig.
Poe war damals in eine Miss Royster (spätere Mrs. Shelton) verliebt
Nun folgten einige Jahre tiefsten Elends, über welche genaue Nach-
richten fehlen; kurze Zeit soll Poe sogar als Soldat angeworben
gewesen sein. Im Oktober 1833 gelang es ihm, einen literarischen
Preis zu erringen, den die Zeitschrift „Saturday Visitor* zu Baltimore
ausgeschrieben hatte; dabei machte er die Bekanntschaft Kennedy*s,
der sich sogleich aufs freundschaftlichste des Unglücklichen an-
nahm. Durch Kennedy*s Empfehlung wurde Poe als Redakteur
an dem von Thomas White eben gegründeten „Southern Literary
Messenger** zu Richmond angestellt (August 1834) und seine
Zukunft schien endlich gesichert Nahezu zwei Jahre arbeitete Poe an
dem Blatte als dessen Hauptstütze, lieferte Kritiken, Aufsätze und
vor allem phantastische Erzählungen. Im Jahre 1836 heiratete er
seine Cousine Virginia Clemm, eine Tochter seiner Vaterschwester;
sie litt damals schon an vorgeschrittener Tuberkulose der Lungen.
Im Januar 1837 gab Poe seine gesicherte Stellung plötzlich auf;
der Grund lag in ,»Anfällen von Hypochondrie und Krisen von
Trunkenheit**, wodurch er sich mit White überwarf; es sind »die
charakteristischen Vorkommnisse, die von Zeit zu Zeit seinen
Qeisteshimmel verdunkelten ** (Baudelaire). Dass White mit Poe
späterhin freundliche Briefe wechselte, beweist natüriich nichts;
denn dieser wollte begreiflicherweise den wertvollen Mitarbeiter nicht
ganz verlieren; auch waren durch den Weggang Poe's die Ur-
sachen der Reibereien gefallen. Zudem wiederholt sich nun fast
monoton dieser Stellenwechsel, und es ist ganz unmöglich, dafür
jedesmal logisch einleuchtende, praktische Erklärungen aufzustellen.
Poe fand dann Stellung bei der «New York Quarteriy Review";
aber im Jahre 1838 finden wir ihn abermals auf einem anderen
Posten ; er ist nun zu Philadelphia zuerst Mitarbeiter, dann Heraus-
geber des „Gentlemans Magazine"; 1840 arbeitet er für »Grahams
Magazine", dann für den „Pioneer" u. a. m.; 1844 ist er beim
„Daily Mirror" in New York angestellt; nach 6 Monaten geht er
weg; 1845 übernimmt er das „Broadway Journal", dessen alleiniger
Eigentümer er im Oktober 1845 wird; endlich im Besitze eines
eigenen Blattes, muss er dasselbe schon am Anfang 1846 aufgeben,
— 7 —
da sich nicht genug Abonnenten fanden, obwohl Poe damals seine
berühmtesten Arbeiten schon veröffentlicht hatte und allgemein
bekannt war. Im Sommer 1846 bezog er ein Häuschen, fast eine
Hütte, in dem Dorf Fordham, wo er in tiefster Zurfickgezogenheit
armselig lebte; seine Frau war im letzten Stadium der Schwind-
sucht und starb im Januar 1847. Poe tauchte erst Anfang 1848
wieder auf; er selbst spricht des öftem von der schweren Krank-
heit, die er 1847/48 durchgemacht habe; er schreibt sogar einmal,
dass er drei Jahre »recht krank" gewesen sei; es waren Anfälle
von Wahnsinn („Delirium''), die im Zusammenhang mit dem Tode
seiner Frau und anderen später zu schildernden Einflüssen das
Jahr 1847 zu dem »most immemorial year** machten. Aus dieser
Zeit stammt das „philosophische** Werk „Heureka **, dem noch einige
kleine ahnliche Arbeiten folgten. Anfang 1848 kehrte Poe wieder
in die Öffentlichkeit zurück, schrieb für Journale, hielt Vortrage.
Im September 1848 veriobte er sich; die Verlobung wurde aber
schon im Dezember, einen Tag vor der Heirat, wieder gelöst;
Poe soll an diesem Tag plötzlich grobe Exzesse begangen haben
und schwer betrunken gewesen sein; Baudelaire meint, sein Heros
habe das getan, um seiner ersten Frau die Treue zu wahren — ein
richtiges Beispiel von psychologischer Konstruktion. Im Sommer 1 849
schien sich der Himmel noch einmal aufzuhellen; Poe's Vor-
lesungen fanden Beifall; er trat mit seiner Jugendgeliebten, die
Witwe geworden war, wieder in Beziehung. Da erkrankte er am
4. X. 1849, als er eben von Richmond nach Baltimore, wo er
Vorträge halten sollte, abfuhr, an Frösteln, allgemeinen Unbehagen
und wurde am 6. X. besinnungslos in Baltimore auf der Strasse
liegend gefunden. Über seinen Verbleib während der letzten
zwei Tage sind eine Reihe Überiieferungen im Umlauf; er soll,
durch sein Übelbefinden veranlasst, in eine Schenke gegangen sein;
dort sei er ins Zechen gekommen ; den bereits Delirierenden habe
dann eine Rotte Wahlagenten mitgeschleppt und ihn endlich auf
der Strasse liegen gelassen. Ins Hospital verbracht, starb Poe
bereits am nächsten Tage, erst 37 Jahre alt, an Gehirnentzündung,
wie sein Biograph Ingram sich vorsichtig ausdrückt, »dahingerafft
durch das Delirium tremens, diesen furchtbaren Gast, der bereits
ein- oder zweimal in seinem Gehirn umgegangen", wie Baudelaire
ehrlich sagt, da er die ganze Tragik dieses unglückseligen Lebens
erfasst hatte.
Persönlichkeit und Krankheit.
Poe ist das Ausklingen eines alten Geschlechtes; seine Vor-
fahren, die sich bis in das 12.Jahrhundertzuruckverfolgen lassen»
hatten sich stets durch einen romantisch-exzentrischen Charakter
ausgezeichnet. Über spezielle psychische Erkrankungen in der
Aszendenz ist jedoch nichts bekannt. Poe selbst bezeichnet sich
„als Abkömmling eines Geschlechtes, an dem von alters her eine
starke Einbildungskraft und ein leicht erregbares Gefühlsleben
auffiel**. Schon der Vaters Poe*s stellt einen Degenerationstypus
dar, der in vielem dem des Sohnes gleicht; er entzweit sich in
jungen Jahren um seiner Liebe willen mit der Familie, führt ein
unruhiges Schauspielerleben und geht früh an Tuberkulose zu-
grunde; auch seine Frau erliegt fast gleichzeitig dieser Krankheit
Poe nennt seine Eltern „ziemlich willensschwach und ausserdem
an den gleichen Erbfehlern leidend**.
So war Poe »im vollsten Sinne des Wortes das Kind der
Leidenschaft und des Abenteuers** (Baudelaire); er war anders,
als wie der allgemeine Begriff den Menschen verlangt; das Nütz-
liche war ihm ein ziemlich fremder Begriff; er war ein Entarteter,
ein Dekadenter und er war sich dieses Fluches wohl bewusst;
der ganze Veriauf seines Lebens, all sein unsägliches Elend war
nur die Folge seiner eigenartigen degenerativen Anlage; A. Moeller-
Bruck, der sich mit ungemeinem Verständnis in das Problem der
Natur Poe*s vertieft hat, konnte zwar das eigentliche Wesen der
furchtbaren Erkrankung, die voriag, nicht erkennen, aber auch er
bezeichnete Poe als ,,ausgesprochenen Degenerationstyp**.
Schon das Äussere Poe*s verrät auf den ersten Blick, dass
es sich um eine krankhaft veranlagte Persönlichkeit handelt Die
«grosse beherrschende Stime mit ihren gewissen Erhöhungen**,
welche seine überschäumenden Fähigkeiten verraten sollten, Ist
der Ausdruck eines in frühester Entwicklung durchgemachten Ge-
hirnleidens; die Bilder zeigen klar und deutlich, dass es sich um
eine hydrocephale Schädelbildung handelt (Wasserkopf). Femer
— 9 —
fällt eine Ungleichheit (Assymmetrie) der Qesichtshäiften auf. Die
vielgerfihmten, grossen, dusterglänzenden Augen sind ebenfalls eine
wohlbekannte Degenerationserscheinung; besonders bei Epileptikern
finden sich so oft diese »glänzenden Augen mit auffallend weiten
Pupillen". Dazu trug sein ganzes Wesen den Charakter femininer
Feinheit, obwohl seine Muskelkraft eine sehr beträchtliche war
und er in körperlichen Übungen als junger Mann hervorragendes
leistete. Seine Hände und Fusse waren so fein und schmal wie
die von Frauen. In späteren Jahren fiel noch die bleiche Ge-
sichtsfarbe auf, die mit den dunkelglänzenden Augen und dem
dunklen Haar seltsam kontrastierte. Dass endlich die Sinnes-
organe abnorm fein entwickelt und der differenziertesten Empfin-
dungen fähig waren, daffir finden sich in seinen Werken auf jeden
Schritt Belege.
Im geistigen Leben Poe*s äusserte sich diese angeborene Ent-
artung ununterbrochen in geradezu typischen Erscheinungen; die
Krankheit, die wie eine düstere Wolke über seinem ganzen Dasein
hing, war die Epilepsie. In einer Zeit geboren, da man das
Wesen dieser Krankheit in seiner ganzen Ausdehnung noch nicht
im entferntesten kannte, wurde Poe für einen zügellosen Menschen
und un verbessert ichen Trunkenbold angesehen, und man hielt die
Wirkungen dieses Leidens für Ausflüsse eines bösen Willens, einer
moralischen Schwäche; „er hat keine Grundsätze, keinen mora-
lischen Sinn", teilt ihm seine Braut, Miss Whitman, als das all-
gemeine Urteil mit. Der arme Kranke selbst bittet nur, „dass
man des Schicksals Unerbittlichkeit wie eine kleine Oase in der
Wüste seiner Verirrungen entdecken möge".
Bevor ich die Äusserungen und Wirkungen der Epilepsie im
Leben Poes zergliedere, will ich versuchen, dem nichtärztlichen
Leser das Wesen dieser Krankheit zu erklären. Durch irgend-
welche krankhafte Reizvorgänge im Gehirn, über deren Natur
man noch recht wenig weiss, werden je nach der Örtlichkeit dieses
Reizes krankhafte Erscheinungen der mannigfachsten Art aus-
gelöst; sitzt z. B. der Reiz in dem Gehirnbezirk, der den Bewe-
gungen des Körpers vorsteht, so erfolgen die bekannten epilepti-
schen Krämpfe; bei der engen Verbindung der motorischen mit
den psychischen Gehimpartien ist bei diesen Bewegungskrämpfen
meist auch das Bewusstsein schwer affiziert, zum mindesten während
der Dauer des Anfalles; doch sind auch ganz reine Fälle mit er-
— 10 —
haltenem Bewusstsein möglich. Wenn der Reiz aber in exquisit
psychischen Gebieten des Gehirns sitzt, so tritt an Stelle der
Muskelkrämpfe z. B. ein Krampf der Stimmung oder des Vor-
stbllens oder des Bewusstseins überhaupt usw. Man nennt solche
Anfälle gern die psychischen Äquivalente. So kommen Erschein
nungen zustande wie die sog. epileptischen Wutanfälle, die plötz-
lichen Verstimmungen (Depressionen und manisch-ekstasische
Stimmungen) oder die oft langandauemden Dämmerzustände, in
denen der Kranke scheinbar ganz geordnet handelt, während ihm
nach Abklingen des Anfalles meist jede Erinnerung für diese Zeit
fehlt; groteske Fälle dieser Art sind ja genugsam beschrieben, so
z. B. der des Pariser Kaufmanns, welcher plötzlich aus einem
Dämmerzustand erwacht und sich in Bombay findet. Häufig sind
auch Delirien, in denen der Kranke eigenartige, meist schreck-
hafte oder ekstasische Halluzinationen hat; bei den Dämmer-
zuständen und vor allem bei den Delirien handelt es sich um
traumhafte Bewusstseinsstörungen, und ähnlich wie bei den Träumen
verhält sich in den meisten Fällen auch die Erinnerung; der
Kranke steht zu seinen deliranten Eriebnissen in keiner realen
Beziehung, sondern die Erinnerung ist eine vollkommen traum-
hafte. Eigenartige Anfälle sind auch die sog. Zwangsvorstellungen
und Zwangsantriebe, die mit unwiderstehlicher Macht von dem
Kranken Besitz nehmen ; der epileptische Wandertrieb ist bekannt.
Eine ganz besonders merkwürdige Art ist ein periodisch ein-
tretender unwiderstehlicher Trieb zu unsinnigem Alkoholmiss-
brauch; während der Epileptiker für gewöhnlich gegen Alkohol
intolerant ist (d. h. kleine Mengen ihn schon ganz unverhältnis-
mässig schädigen), vertilgt er da unheimliche Quantitäten; zu den
Folgen der Epilepsie gesellen sich dann noch die des Alkohol-
missbrauches als Komplikation. Diese Anfälle zwangsmässiger
Trunksucht (Dipsomanie) können von wochenlanger Dauer sein.
Charakteristisch für die Epilepsie ist weiterhin, dass im Krankheits-
veriaufe die verschiedenen Typen der Anfälle abwechseln können
in den buntesten Übergängen. In ihren Wirkungen umfasstdie Krank-
heit alle Stufen vom verblödeten Epileptiker bis zum Menschen der
genialen Ekstase. Bekannt ist der eigentumliche Zusammenhang der
Epilepsie mit religiösen Vorstellungen von der niedrigsten Bigotterie
bis zur Schöpfung neuer Götter. ^Massgebend für die Diagnose
ist ferner nicht der Nachweis einer bestimmten Art von Anfällen».
— 11 —
sondern in erster Linie das Bestehen einer selbständigen, von
äusseren Einflüssen wesentlich unabhängigen Periodizität der Stö-
rungen vom ersten Beginn der Krankheit an/ (Kraepelin)
Wir -haben über Poe keine sachverständigen, chronologischen
Aufzeichnungen, in denen die einzelnen krankhaften Attacken über-
liefert sind; wir können nicht genau sagen, wann zum erstenmal
ein echter Anfall erfolgte, in welchen Intervallen die Stimmungs-
schwankungen eintraten, wann er zuerst zum Alkohol, zum Opium
griff usw. Dafür sind aber die krankhaften Symptome von einer
seltenen Klarheit und Mannigfaltigkeit, und nahezu jede seiner
Novellen ist ein neues Stück Krankengeschichte; an der Auffassung
des Wesens der Erkrankung besteht daher trotz der Unsicherheit
der Daten kein Zweifel; und auch wenn einige der neuerdings
angestrittenen Daten von wohlmeinenden Freunden Poe*s als zu
Unrecht in meine Beweiskette gezogen bezeichnet würden, so
könnte das an der Qrundtatsache nicht das geringste ändern.
Über das Wesen Poe*s, wie es sich in den Perioden, die von
akuten Krankheitserscheinungen frei waren, zeigte, spricht am
liebevollsten und mit dem meisten Verständnis Baudelaire; selbst
Griswold, Poe*s erster Biograph, der seinen unglücklichen Freund
so schief moralisch beurteilt und verurteilt hat, kann nicht umhin,
Poes Benehmen in diesen Zeiten als das eines vollkommenen
Gentleman zu bezeichnen und rühmt den Ausdruck der Verfeine-
rung, den Poe seiner ganzen Umgebung, auch in seiner ärmsten
Zeit, zu verleihen verstanden habe. Auf geistvolle Frauen muss
er geradezu faszinierend gewirkt haben mit den meist etwas me-
lancholischen Zügen, der stolzen Kopfhaltung, der aristokratischen
Vornehmheit seines Wesens; unter ihnen hat er seine tapfersten
Verteidiger gewonnen. Baudelaire sagt in seinem Überschwange:
„Alles, was die Gesamtheit seiner Persönlichkeit ausmacht, er-
scheint als etwas Finsteres und Leuchtendes zugleich ; sie war
einzigartig und verführerisch und in einer undefinierbaren Art mit
Melancholie gezeichnet."
Dass diese Persönlichkeit nur noch faszinierender wurde
durch das unselige Geschick, von dem sie verfolgt schien, durch
den unheimlichen Hintergrund der „verblüffenden Anomalien ihres
Charakters", wie sich M[^ Whitman äusserte, ist naheliegend;
denn „ein Teil dessen, was unser höchstes Entzücken ausmacht,
hat ihn ja getötet".
- 12 —
Schon als Kind war Poe anders als alle seine Altersgenossen;
vor allem zeigte er die für Dekadente so charakteristische Früh-
reife; er wurde im Salon seines Adoptivvaters in Gesellschaften
vorgeführt, deklamierte und galt für eine Art Wunderkind. Eine
verständige, von wahrer elteriicher Liebe geleitete Erziehung wäre
gerade bei ihm eine unbedingte Notwendigkeit gewesen; sie ward
ihm nicht zuteil. Und so entwickelten sich schon in den Kind-
heitsjahren eine ungewöhnliche Reizbarkeit und Leidenschaftlich-
keit, ein starker Eigensinn. „Meine Neigung wurde mehr und
mehr Gesetz im Haus, und in einem Alter, in dem die meisten
Kinder noch am Gängelbande geführt gehen, war ich in allem
mein eigener Herr", sagt Poe von sich selbst (in „W. Wilson").
Wir haben hier die ersten Anfänge jener Affekte vor uns, die ihn
später aus der militärischen Laufbahn warfen und ihn seinem
Adoptivvater entfremdeten. Über seine frühzeitige geistige Ent-
wicklung äussert sich Poe im „W.Wilson": „Ich bin zur Über-
zeugung gekommen, dass meine erste intellektuelle Entwick-
lung zum grossen Teil eine ganz ungewöhnliche, ja sogar
krankhafte gewesen sein muss.*' Sein Gedächtnis war ein
ausgezeichnetes und seine Erinnerung ging mit grosser Klarheit
bis in frühe Kindheitsjahre zurück. Ganz eigenartig muss auch
das Gefühlsleben dieses Kindes gewesen sein. „Ich muss schon
als Kind mit dem ausgebildeten Empfindungsleben eines Erwachsenen
alles das gefühlt haben, was ich jetzt in so bestimmten Linien in
mein Gedächtnis eingeprägt finde." („W. Wilson**)- Dieses so
früh einsetzende Gefühlsleben begann sehr bald ganz abnorme
Seiten zu zeigen; es entwickelte sich in merkwürdigem Gegen-
satze zu seiner guten mathematischen Veranlagung eine Neigung
zu mystischen Träumereien, zum Gruseligen, Unheimlichen; (ge-
nährt wurde die Phantasie später durch eine gefährliche Lektüre;
in einer Stelle der „Scheintoten** verschwört er es, je wieder
«^medizinische Bücher, Nachtgedanken, Kirchhof- und Gespenster-
Geschichten** zu lesen. Diese Richtung seiner Phantasie braucht
an sich durchaus nicht als eine Äusserung der epileptischen Ver-
anlagung aufgefasst werden ; es gibt genug ehrenwerte Spiessbürger,
die sich einer wilden Phantasie erfreuen; zudem lagen diese Ge-
fühle damals in der Luft; es war ja das Zeitalter der Romantik;
man lese nur allein, um in Amerika zu bleiben, die Gedichte
Longfellow's, der ja ein Altersgenosse Poe*s ist ; aus den deutschen
- 13 —
Romantikern Fälle anzuführen, hiesse Eulen nach Athen tragen.
Da aber gerade in epileptischen Zuständen das Gespenstische,
Grausig-Unheimliche eine grosse Rolle spielt, so fand die Krank-
heit bei ihrem vollen Ausbruche zum mindesten einen ungemein
günstigen Boden in dieser ohnehin zum Unheimlichen neigenden
Phantasie.
Wann die Erkrankung ausbrach, ist nicht sicher zu sagen;
es scheint aber, dass ihre Entwiclkung mit der Geschlechtsreife
zusammenfällt. Damals hat Poe zum ersten Male eine langan-
haltende melancholische Verstimmung durchgemacht; er befand
sich auf der Hochschule zu Richmond und hatte grosse Ver-
ehrung für die Mutter eines Schulkameraden gefasst, die ihm, dem
Einsamen, Scheuen, gütig entgegengekommen war. Die Dame
starb, und Poe versank in Traurigkeit; er brachte Monate hin-
durch fast jede Nacht auf dem Kirchhof an ihrem Grabe zu. Die
Eindrücke dieser Periode sind ungemein tief und nachhaltig ge-
wesen ; wenn man durch Poe*s Werke wandert, hat man das Ge-
fühl, als ob er die Vorstellungen von damals nicht wieder los
geworden wäre; fast monoton kehren da Gräber, Leichen, Särge,
Verwesung, Gespenster wieder; eine gewisse Änderung tritt hier
erst ganz spät ein in den letzten Jahren seines Lebens, als durch
neue Faktoren seine Phantasie eine andere Richtung bekam.
Die krankhaften Stimmungsschwankungen lassen sich durch
das ganze Leben Poe's verfolgen ; dass die Anfälle von Melan-
cholie von äusseren Umständen unabhängig waren (wenn auch
eine äussere Erklärung immer konstruiert werden kann), beweist
ein Anfall, den Poe Ende 1835 durchmachte, also zu einer Zeit,
wo sich sein böser Dämon von ihm gewandt zu haben schien,
und die Zukunft wie ein sonniges Land vor ihm lag. Als er seinem
Retter Kennedy für die Anstellung dankte, schrieb Poe in diesem
Briefe: „ . . . Doch ach, es kommt mir oft vor, dass nichts aut
der Welt mir Freude oder die geringste Befriedigung gewähren
kann. ... Ich bin augenblicklich wirklich zu beklagen ; ich leide
unter einer Niedergeschlagenheit, wie ich sie fürchterlicher nie
zuvor empfunden habe. Ich habe vergeblich gegen diese Melan-
cholie anzukämpfen versucht ... Ich bin elend und weiss nicht
warum ..." In seiner Antwort auf diesen Brief äussert Kennedy
sein Erstaunen, dass eine Melancholie gerade jetzt einsetzte, wo
Berühmtheit und materieller Aufschwung begänne.
- 14 -
In Poe*s Werken findet sich ungemein häufig das Wort
«melanchoh'sch'', und die Personen, die er als melanchoh'sch ver-
anlagt zeichnet, sind zahlreich. In den depressiven Perioden war
Poe gehemmt und war ausserstande, zu produzieren; es handelt
sich da um die sog. „sterilen Epochen**, wie sie seine Schwieger-
mutter Frau Clemm bezeichnete. Den Zuständen der traurigen
Verstimmung standen Perioden gehobener Stimmung gegenüber;
in diese fällt ein guter Teil seiner Arbeiten; ohne diesen fast
rhythmischen Wechsel von Ebbe und Flut der Stimmung halte ich
eine echte dichterische Produktivität för nicht möglich ; ich glaube,
dass auf diesem Rhythmus das Wesen der dichterischen Begabung
überhaupt beruht; auf die Ähnlichkeit epileptischer Anfälle mit
dem Eintritte der dichterischen Inspiration ist übrigens schon oft
hingewiesen worden. Bei Poe äusserte sich die Stimmungsanomalie
in den verschiedenen Perioden an Intensität sowohl wie an Dauer
ganz verschieden. Einen lang andauernden Erregungszustand hatte
Poe z. B. zur Zeit, als er „Heureka* (1847/48) schrieb, ein Werk,
länger als alle seine sonstigen Arbeiten, in welchem er eine Lösung
der allerschwierigsten Probleme wie ein Kinderspiel vornimmt
Dieses Werk trägt die typischen Züge eines manischen Erregungs-
zustandes; es wird später noch eingehend davon die Rede sein.
„Voll intensiver Glut redet er von seinem unerschütteriichen
Glauben, die Geheimnisse des Universums enträtseln zu können*',
schreibt Field über den mit der Abfassung des „Heureka'' beschäftig-
ten Poe. Auf ähnliche Erregungen deuten auch Bemerkungen wie,
dass Poe in der Wahl seiner Hörer manchmal nicht sehr peinlich
war, und dass er hie und da in der Unterhaltung „einen betrübenden
Zynismus" an den Tag legte; man erinnere sich, dass er in aus-
geglichener Verfassung ein durchaus vornehmer Mensch warl Wie
Poe in einem solchen Erregungszustande aussah, beschreibt Field,
der ihn Anfang 1848 in New- York einen Vortrag über seine Kos-
mogenie halten hörte: „Er schien von Dämonen beseelt zu sein,
und die geringe Zuhörerschaft empfand seine Inspiration fast
ängstlich. Seine Augen glühten wie die seines Raben."
Poe hat versucht, seine Produktion als eine berechnete,
mathematisch-absichtliche darzustellen ; so legt er z. B. den Auf-
bau des Gedichtes „Der Rabe" dar, als wenn da jeder Vers
aus einer bestimmten, wohlüberiegten Absicht herausgefeilt wäre ;
das spräche natüriich gegen eine Erregung; dass diese „Mathematiker-
— 16 —
klarheit" nicht der Wahrheit entspricht, bedarf kaum eines Be-
weises, denn Poe ist wirklich ein Dichter. Diese Überlegungen
hat er sich erst post festum zurechtgelegt
Infolge seiner Stimmungsschwankungen machte Poe oft den
Eindruck gemütlicher Unausgeglichenheit; wer ihn in seinen guten
oder heiteren Zeiten sah, war von ihm entzuckt; wer in anderen
Perioden mit ihm zu tun hatte, bekam Streit mit ihm, hatte zum
mindesten einen peinlichen Eindruck; so bezeichnete ihn sein
Freund Willis als „schwer zu behandelnden Menschen*', weil eben
die ruhige, schöne Gleichmässigkeit im Wesen Poe*s fehlte, die
den Verkehr mit den sog. harmonischen Menschen so einfach und
angenehm gestaltet Wenn man seine Werke genauer durchsieht,
so wird man erstaunt sein über die Fülle feinster krankhafter
Stimmungsschilderungen; in diesen Stimmungen hat einst die
Seele des Dichters geschwungen; er zuerst hat solche Erlebnisse
in allen ihren Nuancen wiedergegeben, und seine Bewunderer
stellen ihn deshalb als Schöpfer eines neuen Schönen an den
Eingang der modernen Dichtung.
Neben den periodischen Verstimmungen gehen eine Reihe
krankhafter Eigenschaften her, die konstanten Charakter haben
und mit zum Bilde der epileptischen Anlage gehören; sie sind
Äusserungen der Degeneration und können ebensogut in allerlei
Varianten bei anderen psychischen Degenerationszuständen vor-
kommen. Da ist zunächst eine eigentfimliche Umständlich-
keit, eine quälende Gewissenhaftigkeit, ja nichts zu unterlassen,
alles richtig zu erklären, alles sauber zu halten ; daher zeigen alle
Einleitungen Poe*s diesen weitschweifig-umständlichen Stil ; in der
deutschen Übersetzung hat man diese Fehler ausgemerzt. Auch
die berühmte schöne Handschrift hat er mit vielen seiner Leidens-
genossen gemein (man denke nur an Dostojewsky) ; sie entspringt
dem gleichen Grunde. Der Trieb, ver wickelteChiffreschriften zu
erfinden oder aufzulösen, dürfte bis zu einem gewissen Grade
auch hieher gehören. Seine oft zwangsmässig auftretende Grfibel-
sucht hat Poe in „Berenice" geradezu klassisch dargestellt, ein
Nachgrubelnmussen über das Warum und Wie der allergewöhn-
lichsten Dinge. An verschiedenen Stellen, besonders aber im
«Geist des Bösen** spricht er sich auch über „Anfälle von Per-
versität** aus, Zwangsvorstellungen, die in Handlungen umgesetzt
werden müssen, obwohl das Unsinnige, ja Schädliche und Ge-
- 16 -
fihrliche derselben klar erkannt wird. Hieher gehört auch der
Drang, verbrecherische Vorstellungen auszugestalten; Moeller-Bruck
meint: ^Dbls Böse war Poe*s fixe Idee**, und sein Vorstellungs-
leben müsse ein wahres Verbrecherleben gewesen sein; er nennt
diese „Manie" ein ausgesprochenes Degenerationszeichen. Merk-
würdig erscheint ferner im Leben Poe's die Unstetigkeit und Rast-
losigkeit, die ihn auf keinem Boden festen Fuss fassen Hess;
Qriswold spricht von einer „angeborenen Ruhelosigkeit, die Poe
von Zeit zu Zeit stachelte und in vergeblicher Suche nach dem
Eldorado seiner Hoffnungen von Ort zu Ort trieb**. Sesshaftig-
keit ist nun allerdings im Zeitalter der Romantik überhaupt eine
seltene Erscheinung; aber bei Poe gewinnt diese Unrast doch eine
eigene Bedeutung, weil wir wissen, dass sie häufig im Ringe der
epileptischen Erscheinungen sich findet; sie lediglich als epilep-
tisch bedingt anzusehen, wäre wohl zu weit gegangen. Gegen
Alkohol war Poe in den ruhigen Zeiträumen seines Lebens voll-
ständig intolerant; in „W. Wilson" spricht er von dem «aufrüh-
rerischen Einfluss des Weines auf sein ererbtes Temperament".
Seine Freunde versichern, dass ein sehr geringes Quantum Wein
oder Likör schon genügt habe, seinen Organismus vollständig zu
verwirren. Graham schrieb sogar, dass oft schon ein einziges
Glas Wein Poe „zum Wahnsinnigen" gemacht habe. Man kann
sich demnach leicht denken, wie vernichtend schon ein geringer
Alkoholmissbrauch auf dieses so empfindliche, widerstandslose
Nervensystem einwirken musste. — Die krankhafte Richtung seiner
Phantasie äusserte sich in schweren, ängstlichen Träumen von
Lebendigbegrabenwerden und ähnlichen Greuelszenen mit den
Empfindungen des Gleitens, Fallens und Fliegens; in seinen Werken
spricht er oft von diesen Träumen; manche seiner Novellen hat
er zuerst im Traum konzipiert. Die Angst vor dem Lebendig-
begrabenwerden war übrigens auch im wachen Zustande bei Poe
vorhanden; sie ist ein Degenerationssymptom, das er auch mit
Dostojewsky gemein hat. Aber nicht nur im Traume spiegelte
ihm seine Phantasie Unheimliches vor; das Grausen kam auch
am hellen bewussten Tage oft zu ihm wie eine Art Anfall ; es war
die gleiche Erscheinung, die Dostojewsky an sich als den „mystischen
Schrecken** beschreibt. Poe behauptet, er habe oft zum Alkohol
gegriffen „in dem verzweifelten Bemühen, qualvollen Erinnerungen
zu entgehen und um das Gefühl unerträglicher Veriassenheit und
— 17 —
die Furcht vor einem seltsamen, ihm vorbestimmten düsteren Un-
heil zu betäuben*'. Diese Angst ist um so entsetzlicher, weil sie
gar keinen bestimmten Gegenstand hat. Man darf sie nicht ver-
wechseln mit der Angst, die den alten E. Th. A. Hoffmann vor
seinen Gruselgeschichten manchmal überkam, so dass er aus Furcht
vor Gespenstern nicht allein sein wollte.
Ich gehe nun zu den schweren Krankheitsäusserungen über,
den richtigen Anfällen, die Poe wie Krisen periodisch überfielen
und ihn jedesmal aus seiner Bahn warfen. Bei Poe sind neben
allen anderen epileptischen Erscheinungen auch die dem Laien
gewöhnlich als Epilepsie bekannten Krämpfe aufgetreten; über
ihren Verlauf ist nichts Sicheres berichtet; jedenfalls waren sie
ganz selten, da man ihnen erst in neuerer Zeit auf die Spur ge-
kommen ist. Poe*s Schilderungen solcher Anfälle sind meisterhaft
Ich will hier noch bemerken, dass den epileptischen Anfällen sehr
häufig ein einleitendes Stadium mit charakteristischen Erschei-
nungen vorausgeht, die sogenannte Aura; auch können eigen-
tümliche Bewusstseinsstörungen von ganz verschiedener Dauer
sich an den Anfall anschliessen (prä- und postepileptische Zu-
stände). In den „Scheintoten" beschreibt Poe den Beginn eines
Krampfanfalles: „Mir wurde übel; eine Taubheit legte sich auf
meine Glieder; ich fröstelte; dann ergriff mich Schwindel und
warf mich plötzlich nieder." Das Erwachen aus einem solchen
Anfall von Katalepsie, wie ihn Poe nennt, ging folgendermassen
von statten : Aus vollständiger Bewusstlosigkeit erfolgte die Rück-
kehr zu einem ersten schwachen Gefühl von Dasein ; er empfand
eine starre Unbeweglichkeit, ein apathisches Ertragen dumpfen
Schmerzes; „keine Furcht, keine Hoffnung, keine Bewegung";
dann stellte sich nach längerer Pause Ohrensausen ein; dann
prickelnde und stechende Empfindungen in Armen und Beinen;
dann eine scheinbar endlose Zeit angenehmer Ruhe; endlich ein
plötzliches Zusichkommen ; die Augenlider zucken; er bleibt noch
mehrere Minuten verwirrt und verlegen, bis Gedanken und Er-
innerung sich wieder vollständig eingestellt haben.
Den Anfällen gehen in der Aura oft ekstatische Empfindungen
eines ungeheuren Glückes voran oder treten selbst an die Stelle
des Anfalles ; der Geist scheint plötzlich die ungeheuersten Ge-
heimnisse des Daseins zu begreifen; wie durch einen Blitz er-
leuchten sich ihm die fernsten Gebiete, in die noch keines
Orenzfraccn d. Lit. n. Medizin. 8. Heft. 8
- 18 -
Menschen Denkkraft eingedrungen; oft taucht auch das Ge-
fühl auf, dass er alles schon früher einmal erlebt habe, dass
die Seele plötzlich ihren Zusammenhang mit den vergangenen
Jahrtausenden fühlt Poe bezeichnet diese Gefühle als „nebel-
hafte Visionen, seltsame, verwirrte, zusammengedrängte Vor-
stellungen aus einer Zeit, in der sein Gedächtnis noch nicht
geboren war**; oder: „Ich kann dieses Gefühl nicht anders
erklären, als wenn ich sage, ich habe jenes Wesen in einer un-
endlich lang verschwundenen Vergangenheit gekannt.* „Diese
Vorstellungen erloschen so schnell als wie sie gekommen waren*"
(„W.Wilson"). In „Eleonore" erörtert Poe ernstlich die Frage,
ob dieser Wahnsinn nicht eigentlich die höchste Stufe der Geistig-
keit bedeute; die Menschen, die am hellen Tage träumten, sähen
mehr; „durch den grauen Nebel ihrer Visionen dringen die ersten
Lichtschimmer der Ewigkeit zu ihnen und halb erwachend fühlen
sie mit Schaudern, dass sie einen Augenblick lang an das grosse
Geheimnis gerührt haben". Das Vorwort zu „Heureka" gibt eben-
falls von einem solchen Zustand Kunde; da empfindet Poe die
Träume als die einzige Wirklichkeit und empfängt die Inspiration
zu einem Werke, das, wie er verkündet, auch wenn es zeitlich
vergessen würde, doch zu einem ewigen Leben bestimmt sei; er
versteht in seiner Ekstase „das physische, metaphysische, mathe-
matische, materielle und geistige Weltall, dessen Wesen und Ur-
sprung, dessen Schöpfung, gegenwärtigen Zustand und Zukunft".
Ich erinnere hier an die Schilderungen Dostojewsky*s, der erklärte,
lieber sterben zu wollen als jene Augenblicke höchsten Glückes
zu missen; derselbe beschreibt z. B. einen Epileptiker, der in der
Aura ein unsägliches Glück empfindet, weil er den Sinn des Wortes:
„Und die Zeit wird nicht mehr sein" erfasste. Ein mir bekannter
Kranker beschrieb dieses Gefühl wie folgt: „Ich empfand eine
höchste Verschärfung und Empfindlichkeit der Verstandeskräfte;
der Verstand liess mich fernste und letzte Dinge fühlen und ver-
stehen: so das in klarster und selbstverständlichster Weise erfol-
gende Erfassen ungeheuerlichster Begriffe wie: Weltall, Weltgeist,
Weltsystem, Göttlichkeit, Unsterblichkeit, Allmacht, Liebe, Hölle
und Tod, Begriffe, die erklärlicherweise jetzt nicht mehr wieder-
gegeben werden können." Dieser Kranke suchte die Erklärung
dieser Erscheinungen in einer Zweiheit seines Bewusstseins; ganz
ähnliche Gedanken finden sich bei Poe häufig.
- 19 —
Als einen schweren Anfall in Gestalt eines langen Dämmer-
zustandes möchte ich Poe*s so sonderbar verunglückte Fahrt nach
Griechenland ansehen. Vor dem Ausbruche dieses Anfalles hatte
schon erhöhte Reizbarkeit und Neigung zu Affekten bestanden;
wann der eigentliche Dämmerzustand begann, ob vor, ob nach
der Abreise, lässt sich nicht entscheiden. In Petersburg ging er
zu Ende. Niemals hat man das geringste erfahren können, was
mit Poe in dieser Zeit vor sich gegangen ist; auch in seinen Werken
findet sich darüber kein Anhaltspunkt; auch seine nächstenVerwandten
und Bekannten gaben nichts an, weil sie eben nie etwas darüber von
Poe gehört haben. Es bestand eben ein richtiger Erinnerungsaus-
fall für die Dauer des Dämmerzustandes. Verehrer Poe*s haben
gemeint, ihm einen Gefallen zu tun, wenn sie diese Fahrt ihres
Helden in das Reich der Legende verweisen, obwohl sie die Ab*
reise nach Griechenland als Tatsache anerkennen; sie können
über seinen weiteren Verbleib zwar nicht das geringste angeben«
aber sie wollen eben alles ausmerzen, was „kompromittierlich"
erscheint; und damit tun sie dem Manne ihrer Verehrung ein
grosses Unrecht. Wem das Wesen von Poe*s Erkrankung klar
geworden ist, der wird erkennen, dass es sich um eine typische
Äusserung derselben handelt, die ihren Wahrheitsbeweis in sich
selbst trägt; moralische Massstäbe dürfen da nicht angelegt werden.
Am häufigsten und schwersten aber äusserte sich die Epilepsie
Po6's in periodischen zwangsmässigen Anfällen von Trunksucht,
in Dipsomanie. In den Folgen dieses krankhaften Alkoholmiss-
brauches liegt der Hauptgrund aller Missverständnisse über Poe*s
Charakter; sie sind die Hauptursache seiner vielen Katastrophen,
die ihn jedesmal überfielen, wenn er dachte, endlich in gesicherten
Verhältnissen arbeiten zu können; ich glaube, dass alle jene
späteren Zerwürfnisse, auch die endgültige Trennung Allan*s von
ihm, über welche so hässliche Andeutungen umgingen, ihren
Grund in solchen oder ähnlichen Anfällen hatten; mit ein wenig
Liebe und Verständnis wäre da unendlich viel Gutes zu leisten
gewesen; man denke nur an Reuterl; aber wie die Umstände
lagen, wurde jene kindliche Zärtlichkeit seines Herzens, jenes
Liebesbedürfnis, von dem er selbst spricht, für ihn nur eine ver-
wundbare Stelle mehr. Selbst Baudelaire gerät übrigens bei der
Beurteilung dieser dipsomanen Anfälle bei all seinem psychologischen
Spürsinn auf falsche Wege und verwechselt Ursache und Wirkung^
— 20 —
Pur ihn ist Poe zum Trinker geworden aus Verzweiflung über sein Ge-
schick oder gar weil er in der Bezechung ein mnemotechnisches Hilfs-
mittel gefunden; dabei gibt Baudelaire aber instinktiv ganz treffende
Bemerkungen wie z. B., dass Poe „nicht als Qourmand, sondern
als Barbar getrunken habe", oder dass Poe ein bahnloser Planet,
ein regelwidriges Wesen von zögellosen, vagabundenhaften Ge-
wohnheiten gewesen sei, dessen alkoholdurchsättigter Atem an
einer Kerze Feuer gefangen hätte.
Während dieser dipsomanen Anfälle trank Poe ganz sinn-
los; eine besondere Vorliebe scheint er für Kirschwasser gehabt
zu haben. Übrigens ist es gerade der vielgeschmähte Griswold,
der diese Exzesse als Trunksuchtsanfälle bezeichnet. In seinen
letzten Lebensjahren hat Poe anscheinend auch in den freien
Zwischenräumen öfter zum Alkohol gegriffen; es ist aber ganz
unrichtig anzunehmen, der Alkoholmissbrauch habe überhaupt nur
in seinen letzten Lebensjahren stattgefunden ; die dipsomanen An-
fälle haben im Gegenteil schon ziemlich früh begonnen; meiner
Ansicht nach fällt ihr erstes Auftreten etwa in die Zeit von
Poe*s Aufenthalt an der Universität Charlotteville ; die Wirkungen
sind so stereotyp charakterisch, dass jeder, der die Lebensdaten
Poe*s sich vergegenwärtigt, damit den Schlüssel zu allen diesen
sonst unerklärlichen Schicksalen hat. Auch geben seine Werke
Aufschluss über den ungefähren Beginn; der Alkohol lässt sich
fast von Anfang an darin feststellen und seine Wirkungen ziehen
wie eine breite Heerstrasse durch alle Novellen. Es gibt übrigens
auch eine Art Epilepsie, die durch den chronischen Alkoholmiss-
brauch erst ausgelöst wird ; ich glaube, es bedarf im vorliegenden
Falle keines Beweises, dass hier der Alkohol nicht die auslösende
Ursache war, sondern dass umgekehrt der Alkoholmissbrauch eine
Folge der Epilepsie war; die ganze Darstellung dreht sich ja um
diesen Punkt. Es ist unendlich traurig, zu denken, dass dieser
Unglückliche von seinen Mitmenschen für einen unverbesserlichen
Trunkenbold gehalten wurde, während ihm heute wohl auch der
Laie voll Einsicht und Mitleid die hilfreiche Hand bieten würde.
Mit einer schaueriichen Sachkenntnis schildert Poe alle Wirkungen
des Alkohols vom einfachen Rausch bis zur Alkoholdegeheration
und ruft voll Verzweiflung: „Welche Krankheit ist an Hartnackig-
keit dem Hang zum Alkohol zu vergleichen I" — Über die Häufig-
keit dieser Trinkanfälle ist Genaues nicht bekannt; doch darf an-
— 21 —
genommen werden, dass sie ein- bis zweimal im Jahr auftraten.
Beweisend für ihren epileptischen Charakter sind auch die eigen-
tümlichen Zustände, die sich vor und nach solchen Exzessen oft
einstellten; es waren auraähnliche, oft ekstatische Zustände, in
denen Poe eine ungemeine Produktionskraft entwickelte; „der
Abfassung der meisten seiner ausgezeichnetsten Stucke ging eine
dieser Krisen voraus oder folgte ihr**. So war die Konzeption
des „Heureka" die Einleitung einer solchen Krise, an die sich
dann noch ein langes manisches Nachstudium anschloss; auch
das so viel gerühmte Gedicht vom „Raben** zeigt alle Spuren
des kommenden Anfalles, und es ist bekannt, dass der Dichter
am gleichen Morgen, als es im Druck erschien (II. 1845) „gefähr-
lich stolpernd durch Broadway schwankte".
Durch die zerstörende Wirkung des Alkohols wurden die
schweren Symptome noch vermehrt; es entstanden direkte Delirien
mft Sinnestäuschungen aller Art; die Werke Poe's wimmeln von
solchen Reminiszenzen; die meisten sind ganz auf diesen deliranten
Erlebnissen aufgebaut; darüber wird bei Besprechung der Werke
noch eingehend die Rede sein. Es ist bei dem Mangel exakter
Überlieferung leider ganz unmöglich, mit Bestimmtheft zu sagen,
ob Poe wirklich einmal ein reines alkoholisches Delirium durch-
gemacht hat; die Erkrankung von 1847 — 48, die er selbst als lange
und gefährlich bezeichnet und von der er 1848 an seine Braut schreibt,
er sei nun an drei Jahre sehr krank gewesen, kann natürlich nicht
ein gewöhnliches Delirium gewesen sein, besonders kein alkoho-
lisches; ein solches würde wenige Wochen nicht überdauert haben.
Nach den literarischen Schöpfungen dieser Epoche scheint hier
schon eine schwere Geistesstörung vorgelegen zu haben, und ich
glaube, dass man am ehesten an einen Mischzustand denken muss,
eine chronische Erregung mit halluzinatorischen Perioden und
Missbrauch von Alkohol und Opium; in eine Anstaft wurde der
Kranke nicht verbracht; er lebte ganz einsam; so werden sich
über diese Störung wohl immer nur Vermutungen aufstellen lassen;
doch darauf kommt es ja auch nicht an, nachzuweisen, dass ge-
rade diese oder jene spezielle Psychose vorgelegen; es genügt,
zu wissen, dass halluzinatorische Zustände überhaupt aufgetreten
sind. Es ist sehr interessant, in den Schilderungen Poe's die
Einflüsse alkoholischer Natur von den epileptischen zu trennen;
mir scheint dies aber nur bis zu einem gewissen Grade möglich
- 22 —
ZU sein; denn das Alkoholdelirium und erst recht der halluzina-
torische Wahnsinn der Trinker haben, was ihren psychischen In-
halt betrifft, viel mit dem epileptischen Delirium gemeinsam und
es ist eine scharie Grenze nicht zu ziehen, besonders bei einem
epileptischen Trinker; die körperlichen Begleiterscheinungen sind
ausserdem in unserem Falle nicht fiberiiefert, und damit ist schon
eines der wertvollsten Unterscheidungsmerkmale gefallen. Im all-
gemeinen ist das epileptische Delirium von ungeheuerlichen, un-
heimlichen, entsetzlichen Vorkommnissen erfüllt; doch schieben
sich auch religiös-visionäre und andere Episoden ein ; der Kranke
hat die seinem Vorstellungsinhalte entsprechende Stimmung und
Affektlage; die ganze Handlung dreht sich um ihn; er ist aktiv
beteiligt. Das alkoholische Delirium dagegen geht mit einer
wirren Menge der buntesten Visionen einher, bald schreckhaft,
bald grotesk; dabei spielen Tiererscheinungen (Ratten, Spinnen,
Käfer usw.) eine grosse Rolle ; das Charakteristische aber ist, dass
der Kranke mehr das Gefühl eines Zuschauers hat, der da zu-
fällig hineingeraten ist, und dass bei aller Schreckhaftigkeit der
Eindrücke die Stimmung doch humoristisch gefärbt ist. Zwischen
beiden Typen finden sich eine Menge von Übergängen. Ich will
hier als Beispiel eines Alkoholdeliriums bei einem epileptisch ver-
anlagten Menschen einige Stellen aus Aufzeichnungen anführen,
die mir ein früherer Kranker, ein einfacher Schuhmacher, gemacht
er schreibt: „ . . . Beim vierten Glas Bier spürte ich immer schon,
dass nicht mehr alles in Ordnung, hörte Stimmen und Summen
in den Ohren . . .'* Im Delirium erlebte er die fürchterlichsten
Qreuelszenen, Mord, Totschlag; seine Frau sollte erschossen, er
selbst gefoltert und hingerichtet werden; ein riesiges Messer, wie
eine Säge schartig, sollte ihm den Leib aufschneiden (!); der
Boden war unterminiert, das Weltgericht war da; er ist der letzte
Mensch ; die Toten reden mit ihm usw. „Aber" — und man beachte
die Poesie, die der einfache Handwerker darin zum Ausdruck bringt
— „ich hatte dann wieder bessere Stunden; auf einmal war es Früh-
jahr; es schien die Sonne, und es zeigte sich Gott und die Engel;
die Bäume blühten ; die Vögel trugen Goldfäden in den Schnäbeln
zum Nestbau und sangen und waren so heimlich, und mir war
so wonnig zumute; auf einmal wird es kalt und der Winter ist
im Anzug; mich friert und mein Gemüt wird wieder schwer und
ich fühle mich wieder ganz verlassen; ich höre wieder Stimmen
- 28 -
und Lauten; es ist Krieg etc. etc. . . . und mein Vater und meine
Geschwister wurden auf einmal zu Holz und ganz buckelig . . .**
Wie Poe bewahrte dieser Kranke eine sehr gute Erinnerung „an
diese Traumbilder**, die in seiner Phantasie gespielt hätten, wie
er sich ausdrückte; die Erkrankung dauerte etwa 2 Wochen;
dann kam er über Nacht zur Klarheit. Dass ein sehr grosser
Teil der Poe*schen Werke — und zwar die unmittelbarsten und
berühmtesten — nichts anderes sind als solche Erinnerungen, ist
bereits gesagt; darin liegt auch der Grund ihrer Wirkung; man
fühlt unwillkürlich, dass hinter diesem Grauenhaften ein Wahres,
ein Erlebtes steckt; darum haben ihn seine Nachahmer an Er-
findung und Ausmalung scheusslicher Situationen wohl über-
treffen, an Wirkung aber auch nicht im entferntesten erreichen
können.
Dass Poe sich absichtlich betrunken habe, „um die wunder-
baren oder schrecklichen Visionen, die feinen und zarten Kon-
zeptionen wiederzufinden, die ihm in einem früheren Sturme be-
gegnet waren**, wie Baudelaire sagt, wird wohl niemand mehr
glauben ; aber zu einem anderen, scheinbar harmloseren Gifte hat
Poe oft gegriffen, um seine trüben Stimmungen zu verscheuchen:
zum Opium, hie und da auch zum Morphium; mit diesem konnte
er ohne die hässlichen Begleit- und Folge-Erscheinungen des Al-
kohols rasch ein tiefes und behagliches Glücksgefühl erzeugen,
konnte in angenehme Träumerei versunken dennoch „prächtige
und buntscheckige Züge rhapsodischer Gedanken** an sich vor-
überziehen lassen. Das Charakteristische der Opiumwirkung ist eine
ungemein angenehme, sanfte Erschlaffung, ein eigentümlich be-
hagliches Lustgefühl, bei dem im Gegensatz zu den Wirkungen
des Alkohols jeder Tatendrang fehlt; das Spiel der Phantasie,
Illusionen und Halluzinationen, hat eine romantisch-phantastische
Färbung; architektonische und landschaftliche Bilder spielen eine
grosse Rolle. Die schönste Schilderung dieser Opiumwirkungen
hat wiederum Baudelaire, der auch darin ein getreuer Schüler
seines Meisters war, in seinen „Künstlichen Paradiesen** gegeben;
er erzählt da von prachtvollen Durchblicken auf Landschaften, von
wundervollen Lichterscheinungen, herrlichem Geleucht, von Kaskaden
flüssigen Goldes; alle Sinne sind verschärft; dieAugen sehen das Unend-
liche, das Ohr hört fast unvernehmbare Töne; die Töne kleiden sich in
Farben, und die Farben enthalten eine Musik. Poe schildert seinen
— 24 -
Opiummissbrauch in einer Reihe von Novellen, die ungemein charakte-
ristisch sind. Die ersten Anzeichen, dass Poe Opium nahm, lassen sich
für 1837 nachweisen; in seinen letzten acht Lebensjahren scheint
er sich in immer steigendem Masse dem Genüsse dieses Giftes
zugewandt zu haben, und hier kann vielleicht mit mehr Be-
rechtigung Baudelaire*s Idee einer gewissen Produktionsabsicht
zutreffen. Ich werde im nächsten Abschnitt die Hauptstficke dieser
Opium- oder Morphium-Poesie zergliedern, mit ihrem Fehlen von
Handlung, ihren phantastischen Landschaften, ihren prunkenden
Milieus und mystischen Tönen und Farben, vor allem aber der
so bezeichnenden Vorliebe für das Wasser und dessen »verfäh-
rerische Mysterien" (Baudelaire).
Die Art, wie sich aber neben den Schilderungen, die auf
die angenehme Wirkung des Opiums schliessen lassen, allmählich
auch da wieder unheimliche Dinge eindrängen, legt den Schluss
nahe, dass Poe ziemlich rasch zu Dosen des Giftes gelangte, die
ihn aus der heiter ruhigen Welt der spielenden Phantasie in die
schweren Spätfolgen des Opiummissbrauchs hinOberführten, so-
dass er statt einem Übel zu entfliehen, demselben nur noch neue
Nahrung gab; jene düstere Epoche, die de Quincey in seinen
„Bekenntnissen eines Opiumessers* so schauerlich beschreibt, wo
ein „ungeheures Geschlinge von Finsternissen" den Kranken um-
gibt, „das nur dann und wann durch reiche und überwältigende
Visionen zernagt wird." Doch heisst es hier bei Beurteilung der
einschlägigen Dichtungen vorsichtig sein, weil es sich bei Poe um
zu komplizierte Erscheinungen handelt; er war eben nicht allein
Opiumessser; und gar vieles kann ebenso für sich allein die
Epilepsie, oder der Alkohol im gegebenen Falle bewirken;
und hier haben alle diese drei Faktoren zusammengearbeitet
Als sonderbar könnte auffallen, dass die geistige Kraft Poe*s
trotz der gewaltigen Anstürme der Krankheit bis zum Ende schein-
bar unversehrt geblieben ist; ja dass sein Stil im Gegenteil an
Feinheit und Reichtum gewinnt. Man darf nicht vergessen, dass
Poe ziemlich jung gestorben ist, sonst würde er doch wohl dem
Verhängnis nicht entgangen sein, das mit Zerstörung seiner
geistigen Fähigkeiten drohte. Dass in den letzten Jahren seines
Lebens religiöse Ideen auftauchen und ihn ganz in Beschlag
nehmen, weist schon auf einen Umwandlungsprozess; dass tat-
sächlich schon ein Verfall des Gedächtnisses begonnen hatte,
— 25 —
scheint mir daraus hervorzugehen, dass Poe» als er im November 1848
ein «Rätselgedicht* an die von ihm unter dem Namen Stella (Estelle)
verehrte Dame schickte, diesen ihm so wohlbekannten Namen ver-
wechselte, und den Buchstabenscherz statt auf Stella auf Sarah
schrieb. Die Arbeiten seiner letzten Jahre lassen auch die Klarheit,
die intellektuelle Schärfe vermissen, die in den früheren Werken,
besonders auch in den Kriminalnovellen noch zutage trat. Auch
für einen ethischen Niedergang der ganzen Persönlichkeit finden
sich bei genauerem Zusehen die ersten untrüglichen Anzeichen.
Ich habe bei der Darstellung der einzelnen Eigenschaften
Poe's unterlassen, auf ein sehr wesentliches Moment hinzuweisen;
ich führe dasselbe erst nachträglich an, weil es sich nun unge-
zwungen aus dem Zusammenhang ergibt. Man sieht, dass Poe
sein eigenes Ich derart intensiv gefühlt hat, dass sich all sein
Denken nur um das Wesen dieses Ichs drehen musste; er war
gänzlich egozentrisch und in dieser rein egotistischen Betrachtung
und Zergliederung des Lebens auch der eigentliche Schöpfer der
Wilde*schen Ästhetik; er war unsozial; für altruistische Probleme
hatte er keinen Sinn ; er stellte eine Ausnahme von der sittlichen
Ordnung dar, die auf Altruistik beruht: darum hat auch er die
reale Welt und diese ihn nicht verstanden.
Die Werke.
A. Moeller-Bruck hat die Werke Poe's in einem Satze
80 schön charakterisiert, dass ich es mir nicht versagen kann,
seine Worte an die Spitze dieses Kapitels zu setzen; er sagt:
„Hie und da hat Poe ein scheinbar Gesundes, hat er auch das
Harmonische, Natürliche, Ruhige; aber es liegt dann wie ein
Sonnenplätzchen rings zwischen Schutt und Trümmern und wirkt
nur um so schmerzlicher.*'
SchuttundTrümmer!dassinddieErgebnissedesVerfalls;undbei
Poe haben wir es ja mit Produkten des Verfalls zu tun. Die allgemeinen
Charakteristiker seiner Kunst sind durchaus dekadente, ungesunde;
wer das vielleicht über dem Glänze seiner Darstellung vergessen
könnte, der braucht nur die Zerrbilder der Schüler und Nachäffer
Poes durchzusehen, etwa einen Maurice Rollinat, von dessen
„Kunst" Nordau eine Schilderung entwirft, die sich in ihren Grund-
Zügen ebenso gut auf 'Poe anwenden lässt. Auch in Poe*s
Schöpfungen schleicht überall der Geist des Verbrechens umher;
auf Schritt und Tritt stösst man auf das Schauspiel des Todes
und der Verwesung; detaillierte Beschreibungen des Siechtums
finden sich in Menge; alle Personen Poe*s sind Kranke; sie sterben
in Anfällen, an Gift, an Alkoholmissbrauch, vor allem aber an der
Schwindsucht, für deren Darstellung Poe eine schauerliche Vor-
liebe hat; sie war ihm ja nur zu gut bekannt; unheimliche Ge-
räusche, sonderbare Gerüche, gespenstische Beleuchtungen, Leichen-
tücher, Lebendigbegrabene kehren mit einer wahren Monotonie
immer wieder; auch die Sujets selbst wiederholen sich sehr häufig.
Worte wie melancholisch, gespenstisch, düster, unheimlich bilden
einen dauernden Rhythmus in seinen Schilderungen auch der Land-
schaften, wovon nur gewisse Opium-Gesichte eine Ausnahme
machen. Viele der Novellen sind nur geschrieben, um eine grausige
Stimmung, eine schreckliche Situation hervorzurufen, und brechen
dann jäh ab; die handelnden Personen erscheinen alle wie Auto-
maten oder Somnabule; nirgends ein kräftiger Wille, ein starker,
- 27 -
gesunder Mensch ; über allen scheint der Druck eines ungeheuren
Verhängnisses, einer lähmenden Angst zu schweben; wie Draht*
puppen werden sie von der Hand einer dämonischen Macht dem
Abhänge zugetrieben. Dass Poe trotzdem so grosse Wirkungen
erzielt, ist darauf zurfickzuführen, dass alle jene Phantastik doch
bis zu einem gewissen Grade wenigstens der Forderung der
ideellen Wahrscheinlichkeit entspricht. Rühmend wird auch darauf
hingewiesen, dass er trotz des vielen Fürchterlichen in seinen
Schöpfungen keine Zeile geschrieben habe, die den Charakter der
Schlüpfrigkeit oder der sinnlichen Wollust trüge. Diese Asexualität
der Poeschen Novellen ist schon von van Vleuten als eine Wir*
kung des Alkohols (und wie ich hinzufügen möchte, des Opiums)
nachgewiesen worden; diese Gifte verwandeln oder ertöten die
erotischen Gefühle; „deshalb ist das Weib aus seinen Delirien
verbannt, und da sein Dichten fast ausschliesslich in seinen
Delirien wurzelt, fehlt ihm die Geschlechtsliebe. " Die wenigen
weiblichen Wesen, die Poe schildert, sind übrigens fast alle noch
schemenhafter und kränker als die männlichen; gemeinsam ist
allen der Tod an der Schwindsucht.
Soviel im allgemeinen über den Inhalt der Werke. Bei der
Besprechung der einzelnen sei zunächst eine Gruppe ausgesondert,
die nur für die Art von Poe's Phantasie an sich kennzeichnend
ist; es sind das fast alles Arbeiten aus seinen früheren Jahren.
Da ist z. B. „das Fass Amantillado**, wo ein italienischer Edel-
mann seinen betrunkenen Feind unter dem Vorwand, ihm ein
Fass seltenen Weines zu zeigen, inn eineKeller lockt und ihn dort
in einem salpetertriefenden Gewölbe einmauert. Dann „Frosch-
hüpfer", wo ein brutaler Fürst seinen Hofzwerg, der gegen Alko-
hol intolerant ist, mit Gewalt betrunken macht; der Zwerg rächt
sich und .... eine Misshandlung seiner Geliebten dadurch,
dass er den Fürsten vermag, auf einem Maskenballe mit seinen
Ministem als zusammengekettete Orang-Utangs zu erscheinen; der
Zwerg zündet dann die mit Werg und Theer bedeckten, hässlichen
Kerle an. Hieher gehört auch „die Maske des roten Todes**;
ein lebenslustiger Prinz hat sich, da die rote Pest in seinem Lande
wütete, mit seinem Hofstaat auf ein unzugängliches Schloss zurück-
gezogen; er gibt dort einen Maskenball, der in einer Flucht von
sieben Zimmern abgehalten wird, von denen jedes eine andere
Farbe und Beleuchtung hat; das letzte aber ist ganz schwarz aus-
— 28 -
gestattet mit düsterem roten Licht, und eine unheimliche Uhr steht
darinnen, bei deren Stundenschlag jedesmal ein Schauder durch
die Gesellschaft geht. Die Pest dringt, als die Uhr die zwölfte
Stunde schlägt, in der Maske des roten Todes ein, schreitet durch
die Säle und postiert sich im schwarzen Gemach; in ihren Mas-
kengewändern stirbt die ganze Gesellschaft und erfüllt mit den
Schrecken des roten Todes diese magisch beleuchteten Säle.
Leichentucher, Totengesicht, blutige Pestflecken verfehlen nicht im
Verein mit den Beleuchtungseffekten und der gespenstischen Uhr
den gewünschten Eindruck hervorzubringen. Im „verräterischen
Herzen** schildert Poe die Zwangsvorstellung eines Wahnsinnigen,
seinen Hausgenossen umzubringen, weil derselbe ein unaussteh-
Hches Auge hatte, ,iein Auge, wie das eines Geiers, blassblau,
von einem dünnen Häulchen bedeckt ... ein trübes Blau von
einem scheusslichen Schimmer, dessen Anblick das Mark in den
Knochen gerinnen liess*. Er erstickt den Mann nachts und ver-
gräbt die Leiche unter den Dielen des Fussbodens. Bei der Haus-
suchung aber hört er plötzlich das Herz des Toten schlagen und
gesteht von Angst ergriffen seine Tat.
Der Versuch eines Seeabententeuer-Romans „Gordon Pyms*
(1837) dürfte auch hieher gehören, eine Aneinanderreihung der
scheusslichsten Eriebnisse, die sich so steigern, dass die Hand-
Jung plötzlich abbricht, weil es unmöglich ist, sie aus der Sack-
gasse wieder herauszubringen. Ein besonderes Interesse gewinnt
diese Arbeit aber dadurch, dass sich in ihr detaillierte Be-
schreibungen eines pathologischen Alkoholrausches und zweier
eigenartiger Delirien finden. Die Darstellung des Rauschzu-
standes ist klassisch; der Held der Geschichte, Pyms, und sein
Freund, beides Jungen von 17 Jahren, waren in Gesellschaft
bezecht geworden; sie gehen zu Bett, ohne dass Pyms seinem
Freunde einen Rausch anmerkt; nach einer halben Stunde aber
steht dieser wieder auf, erklärt ganz ruhig, er wolle jetzt eine
Segelpartie auf dem Meere machen; er sei nie nüchterner gewesen;
Pyms willigt ein ; dabei scheint ihm sein Freund trotz seiner an-
genommenen Gleichgültigkeit sehr erregt; das Gesicht ist bleich,
die Hände zittern; weit draussen auf dem nächtlichen stürmi-
schen Meere zeigen sich dann ganz plötzlich die motorischen
Lähmungserscheinungen des Rausches; der Betrunkene kann sich
flicht mehr aufrecht halten; die Augen sind glasig; er fällt um
- 29 —
wie ein Ballcen. Später hat er nur eine ganz unvollkommene
Erinnerung an das Vorgefallene. Poe spricht hier ganz richtig
vom «Resultat einer besonders hochgradigen Trunkenheit, welche
gleich einer gewissen Art von Irrsinn zulässt, dass das Opfer eine
Zeitlang wie ein vollständig vernünftiger Mensch reden und
handeln kann". Diese Erkenntnisse können nur auf eigenster
Erfahrung beruhen; denn heute noch beurteilen sogar viele
Richter den Rausch nach dem Grade der motorischen Lähmungs*
erscheinungen und der sog. pathologische Rausch wird oft nur
nach grossen Schwierigkeiten anerkannt.
Die deliranten Symptome betreffen den wochenlang im
Schiffsräume eingesperrten Pyms und scheinen aus der Erinnerung
an epileptische Zustände geschöpft zu sein; es heisst da: »Ich
hatte die entsetzlichsten Träume und empfand jedes Grauen, jeden
Schrecken. Einmal versuchten wilde, grässliche Teufelsfratzen
mich unter ungeheuren Kissen zu ersticken; gewaltige Schlangen
rissen mich in ihre Umschlingungen und sahen mir mit fürchter-
lichen, glühenden Augen ins Gesicht. Dann breiteten sich plötz-
lich grenzenlose Wüsten vor mir aus ; riesenhafte, graue, blattlose
Baumstämme wuchsen auf einmal, so weit das Auge reichen
konnte, aus dem Boden empor; ihre Wurzeln verioren sich in
einem uferiosen Sumpfe, dessen Wasser sich in grauenvoller Düster-
keit unbeweglich weithin ausbreitete . . ."
Die „Abenteuer des Gordon Hyms"* sind 1837 erschienen;
damals muss der Opiummissbrauch Poe*s schon begonnen gehabt
haben; denn von nun an wird des Opiums in immer zunehmen-
dem Masse Erwähnung getan; im „Gordon Pyms"* kommt der
Held beim Nachdenken über seine Lage „auf tausend absurde Mittel,
die wohl nur noch dem Opiumesser in seinem unruhigen Schlafe
hätten einfallen können". Diesen Hinweis auf das Opium vervoll-
ständigt eine spätere Schilderung; der schiffbrüchig treibende Pyms
hat „Phantasmagorien, in denen Bewegung das herrschende Prin-
zip ist**, d. h. er selbst liegt vollkommen ruhig und in endloser
Folge ziehen Windmühlen, Schiffe, riesige Vögel, Reiter, Wagen„
Tänzerinnen usf. an ihm vorüber.
Den Höhepunkt bildet in dieser ersten Gruppe meiner An*
sieht nach der „Untergang des Hauses Usher" ; von diesem Werke
führen zugleich Wege in fast alle anderen Gruppen; auch ist m
keiner anderen Arbeit Poe*s seine Methode der Darstellung deut-
- 30 -
lieber zu erkennen. Poe will einen alten Studienfreund besuchen,
Dieser wobnt mit seiner Schwester in einer „eigentfimlich trfiben
Oegend*", in einem alten Schloss von .»unerträglicher Düsterkeit*,
dessen Anblick mit keiner anderen Stimmung zu vergleichen ist,
als mit dem trostlosen Erwachen des Opiumessers aus seinem
Rausche. Das Schloss ist von einem finsteren Teiche umgeben,
der in unheimlicher Regungslosigkeit daliegt und aus dem eine
giftige Atmosphäre aufsteigt, die alles um das Schloss herum in
«ine „niüde Melancholie" kleidet, „wie ein giftiger, mystischer
Hauch, bleifarben, trübe, schwer und doch kaum wahrnehmbar*.
Das Schloss ist dfistergrau, sieht einen wie mit erloschenen Augen
an ; im Hause selbst bemerkt man „eine gramgeschwängerte Luft,
«inen Hauch nicht zu bannender Düsterkeit". Seine ganze Rüst-
kammer hat Poe ausgeleert, um eine möglichst unheimliche
Stimmung zu erzeugen. Nun treten die Menschen in diesen Bann-
kreis, der total degenerierte Usher und seine an Auszehrung ster-
bende Schwester, die nur wie ein Schemen einmal durch den
Hintergrund schwebt. Dieser Usher ist der schwerste Psychopath,
den man sich überhaupt denken kann; er ist „gespenstisch blass";
„er spricht in gemessenen Tönen, um gleich darauf wieder in jene
gaumigen, schwerfälligen, ungenügend modulierten Laute zu ver-
fallen, die man nur von verkommenen Trunkenbolden oder von
unverbesserlichen Opiumessern im Stadium der höchsten Auf-
regung vernimmt'*. Er zeigt eine krankhafte Verschärfung alier
Sinne, kann kein Gewürz mehr ertragen, keinen Blumenduft, kein
Licht; nur die Töne von Saiteninstrumenten vermochte er noch
ohne Schmerzen zu hören. „Sein aufgeregter, nie befriedigter
Idealismus flackerte wie ein grelles, schwefelgelbes Licht um die
Dinge.*' Usher malte; er malte „seltsame Unbestimmtheiten, Ideen**,
und seinen Besucher „erfüllten die reinen Abstraktionen, die dieser
Melancholiker auf die Leinwand warf, mit unerträglichem, angst-
vollem Schauder**. Auf diesem Milieu baut sich nun eine ebenso
schreckliche Handlung auf; die Schwester stirbt und wird von den
beiden einstweilen in einem Kellergewölbe beigesetzt; Usher mit
seinem verfeinerten Gehör wird sich am ersten Abend klar, dass
die Schwester lebendig begraben worden sei ; acht Tage lang hört
er die Begrabene; acht Tage lang treibt ihn diese Gewissheit um-
her, ohne dass er in seiner Energielosigkeit zu reden oder gar
zu handeln wagte; nach acht Tagen, als die Freunde nachts bei
- 81 -
einem schrecklichen Sturm beisammen sitzen, geh'ngt es der schein-
tot Begrabenen, ihre Gruft zu durchbrechen; sie erscheint, vom
Bruder, der jeden ihrer Schritte hört, erwartet, blutig, im Leichen-
tuch, fällt dem Bruder in die Arme und beide sinken tot zu Boden.
Während dieser Schauerszene tobt um das Schloss ein gespen-
stischer Sturm; „Dunstwolken hängen bis auf die Turme; alle
Dinge auf der Erde in der Umgebung des Schlosses glühen in
unnatürlichem Qlanze, der ihnen eine mattleuchtende, doch deut-
lich sichtbare gasartige Ausdünstung verlieh, die wogend wie ein
Leichentuch um das ganze Haus zusammenschlug/* Der Gast
entflieht voll Grausen; ein greller Schein irrt über seinen Weg,
und umblickend sieht er das Schloss in dem dunklen Teiche ver-
sinken. Diese Gruselgeschichte ist meisterhaft aufgebaut, und ich
erinnere mich noch deutlich des unheimlichen Grauens, das mich
verfolgte, als ich in jungen Jahren den „Untergang des Hauses
Usher*' gelesen hatte.
Über die Gruppe der Kriminalnovellen ist an dieser Stelle
nicht viel zu sagen; dass der von Poe geschaffene geniale Lieb-
haberdetektiv Dupin das Urbild der Sheriock-Holmes*se bildet, ist
bekannt; in Dupin schildert aber Poe nur wieder sich selbst, und
deshalb seien einige Stellen aus dem „Mord in der Spitalgasse*'
angeführt. Man hat an Poe immer den tiefen mathematischen
Verstand gerühmt; aufrichtiger als seine Bewunderer sagt er aber
selbst: „Ein Beweiss, dass er ein Phantast und die wirkliche
geistige Konzentration nicht liebte, war, dass er Mathematik und
Physik nur so viel trieb, als er eben zur Einkleidung seiner Phan-
tasien nötig hatte.'* Dupin huldigte der alten Philosophie vom
Zweiseelensystem ; er lebte mit seinem Freunde in einem >,wetter-
zerstörten, grotesk anzuschauenden Hause", das wegen Aber-
glaubens verödet stand, und möblierte es in einem Stil, „welcher
der phantastischen Düsterkeit der Gemütsart beider entsprach".
Poe schreibt hier wie übrigens in allen seinen Erzählungen in
der ersten Person. Die Freunde machen die Nacht zum Tag;
der Tag ist ihnen verhasst; da haben sie alle Läden zu, schlafen
oder sitzen beim Scheine starkparfümierter Kerzen, „die einen ge-
spenstisch schwachen Schimmer um sich verbreiten".
Von allen bisher angeführten Arbeiten Poe's lässt sich sagen,
dass sie zwar eine schwer psychopathische Persönlichkeit verraten,
dass aber Folgerungen auf spezielle pathologische Zustande des
— 82 —
Dichters aus ihnen allein (von Details abgesehen) kaum möglich
sind. Über solche Zustände geben die drei folgenden Haupt-
gruppen seiner Werke Aufschluss: die Produkte epileptischen,
alkoholistischen und morphinistischen Ursprungs. Wie ich schon
erwähnt habe, ist bei den vielen Übergängen, die die betreffenden
Symptome zeigen, eine exakte Scheidung im einzelnen oft direkt
unmöglich, und es wird sich wohl fiber manche Zugehörigkeit
von Symptomen streiten lassen. Wenn nur die Grundlinien
klare sindl
Zu den Werken, die den Stempel epileptischen Ursprungs
tragen, gehört „William Wilson**, in dem Poe einen grossen Teil
seiner Selbstbekenntnisse niederlegte; es ist von dieser Arbeit im
vorhergehenden schon mehrmals die Rede gewesen. Nachgetragen
sei nur, dass es sich um eine in zwei Wesen auch äusserlich ge-
teilte Persönlichkeit handelt, von der die eine das gute, die andere
das böse Prinzip in Poe*s Seele darstellen soll ; der Erzähler wird
durch Spiel und Trunksucht allmählich zum Verbrecher und er-
sticht endlich voll Zorn sein besseres Selbst, das immer in allen
hässlichen Situationen als Warner erschienen war; er hat sich
durch den Tod des anderen selbst gemordet. Die Spaltung der
Persönlichkeit in Doppelwesen, das Gefühl dunkler Erinnerung
an eriebte Tage in unendlich fernen Zeiten spielt die Hauptrolle;
wir haben diese Erscheinungen als epileptische schon kennen
gelernt.
Qualvolle Erinnerungen an epileptische Zustände werden in
den „Scheintoten* geschildert; die darin beschriebenen Krampf-
anfälle sind bereits erwähnt Wenn man nicht wQsste, dass es
sich um die quälenden Angstvorstellungen eines Epileptikers handelt,
mfisste man diese Arbeit für einen Ausbund von Bosheit halten;
sie ist in ihren Wirkungen direkt gemeingefährlich ; in seiner Furcht
vor dem Lebendigbegrabenwerden erzählt Poe seinen Lesern eine
Menge grässlicher Fälle von Leuten« die scheintot begraben wurden;
diese erfundenen Schauergeschichten wurden aber geglaubt« und
man muss sich nur die Folgen solcher Behauptungen vorstellen»
wie: „Man kann in der Tat kaum einen Kirchhof umgraben, ohne
Skelette in Stellungen zu finden, die zu den grauenvollsten Mut-
massungen führen mfissen.*
In „Berenice** wird eine Epileptische mit Starrkrämpfen be-
schrieben ; ihr Vetter, der Mystiker Egäus, ist ebenfalls Epileptiker
- 88 —
und nebenbei auch etwas Opiumesser; seine Anfälle gehören zu
den Äquivalenten; er hat melancholische Zustande, Zwangsvor-
stellungen, Anfälle von Gräbelsucht; so muss er z. B. ein alltag-
liches Wort monoton so lange wiederholen, bis dessen Klang jeden
Sinn für ihn verloren hat; die Wirklichkeiten der Welt berührten
ihn nur wie Visionen, so sehr lebte er in seltsamen, traumhaften
Vorstellungen ; er weiss genau, dass er schon vorher existiert hat.
Dieser Egäus verlobt sich mit Berenice, weil ihn ein wahnsinniges
Verlangen nach ihren — Zähnen ergriffen hat, eine Zwangsvor-
stellung absurdester Art: „Jedes Fleckchen auf der Oberfläche
dieser Zähne, jede Tönung an ihrem Email, jede Ausbuchtung
ihrer Schneide hatte ihr flüchtiges Lächeln meinem Gedächtnis
unauslöschlich eingebrannt; sie waren überall sichtbar, greifbar
vor mir, lang, schmal und ausserordentlich weiss." Er ist über-
zeugt, dass alle diese Zähne Ideen seien. Da stirbt Berenice
plötzlich in einem epileptischen Anfall. Um Mitternacht des Bei-
setzungstages treibt das Verlangen nach dem Besitz dieser Zähne
den Egäus in die Gruft, wo er der scheintot Begrabenen,
die während der Prozedur wieder zu sich kommt, alle Zähne
ausbricht.
Über die perversen Zwangsantriebe im „Geist des Bösen'* ist
schon gesprochen.
Aus der Erinnerung an delirante Erlebnisse scheint mir auch
die Erzählung „die Foltern" aufgebaut; in den epileptischen Deli-
rien, ebenso wie im Alkoholwahnsinn, spielen ja Verfolgung,
Mord und Foltern eine grosse Rolle; es gibt nichts Grässliches,
was in solchen Delirien der Kranke nicht zu hören, zu sehen,
zu erleben vermeint. Mit peinlichster Genauigkeit schildert Poe
die Qualen eines von der Inquisition zum Tode Verurteilten, wie
derselbe zuerst in einem schwarzen, feuchten Keller eingesperrt
ist, in dessen Mitte ein Schacht ins Bodenlose geht; dann wie
er auf einem Gestell festgebunden ein riesiges, messerscharfes
Pendel, das ihn zersägen soll, viele Tage über sich schwingen und
ganz langsam und allmählich herabsinken sieht; endlich wie er
in einer Kammer mit verschiebbaren Metallwänden eingeschlossen
ist; durch Erhitzen dieser mit teuflischen Fratzen bedeckten Wände
soll der Gefangene gezwungen werden, sich in das in der
Mitte des Raumes befindliche Brunnenloch hinab zu stürzen; im
letzten Augenblick erfolgt die Befreiung. Am Beginn dieser Er-
Grenzffragen d. Lit u. Hebizin. 8. Heft. 8
- 84 —
Zählung findet sich folgende schöne Stelle: „Wer niemals ohn-
mächtig geworden ist, gehört nicht zu denen, die in einem glü-
henden Kohlenfeuer seltsame Paläste und sonderbar vertraute
Gesichter wiederfinden, — die oft in den Luftgebieten trauervolle
Visionen vorüberziehen sehen, die von den viel zu vielen nicht
bemerkt werden; — die sich über den Duft einer unbekannten
Blume in Grübeleien verlieren können; deren Gedanken sich
plötzlich in dem Geheimnis einer Melodie, die sie bis dahin un-
beachtet gelassen, verlieren können."
Die glänzende Schilderung im „Strudel des Malstroms'*, wie
das Boot in diesen Wasserabgrund hineingezogen wird, verdankt
ihren Ursprung meiner Überzeugung nach wenigstens zum grössten
Teile Empfindungen, wie sie Krampfanfällen vorausgehen (Gefühl
des Gleitens, Stürzens, das Brausen von Wassern usw.); da heisst
es: „das Boot schien wie durch Zauberkraft auf dem halben Wege
nach unten auf der Innenfläche eines ungeheuer weiten, uner-
messlich tiefen Trichters zu hängen, dessen vollständig glatte
Seitenwände man für Ebenholz gehalten hätte, hätte man nicht
gesehen, dass sie sich mit betäubender Schnelligkeit rundum
drehten und einen blendend geisterhaften Glanz widerspiegelten/
Von den bis jetzt geschilderten Stücken unterscheidet sich
eine kleine Gruppe, die das „Heureka** und einige ihm ähnliche
Produkte umfasst: auf den epileptischen Charakter der Einleitung
zu „Heureka** habe ich schon hingewiesen; während es sich
aber in den eben besprochenen Arbeiten nur um die aus der
Erinnerung geschöpfte Darstellung epileptischer Seelenzustände
handelte, ist „Heureka** umgekehrt eine Schöpfung aus einem
solchen Zustande heraus. Diese Arbeiten fallen in die letzten
Lebensjahre Poe*s, und es macht ganz den Eindruck, als ob die
Epilepsie in ihrem Fortschreiten allmählich religiöse Vorstellungen
in den Mittelpunkt des Poe*schen Denkens gerückt habe. Die
Neigung der Epileptiker, sich mit religiösen Dingen zu beschäf-
tigen, jeder nach seiner Fähigkeit, ist ja eine alte Erfahrung. Poe
hat bei Abfassung des „Heureka** einen lang dauernden ekstatischen
Zustand durchgemacht; wenn man nicht wüsste, dass es ihm mit
der Lösung aller Probleme so heiliger Ernst gewesen, möchte
man meinen, er habe sich in diesem längsten seiner Werke einen
schlechten Scherz erlaubt; der Stil ist vollständig manisch; öde
Witzeleien, besonders in der ersten Hälfte (z. B. Harry Stoffel, statt
— 86 -
Aristoteles), wechseln ab mit dröhnenden Tiraden, aber oft auch
glänzenden Bildern: mit unglaublicher Naivität und Kühnheit werden
die einfachsten naturwissenschaftlichen Tatsachen umgekrempelt,
ein Widerspruch folgt dem andern, und im Handumdrehen werden
die gewaltigsten Fragen beantwortet Auf dieser Arbeit beruht
aber hauptsächlich Poe*s Ruf als Denker; einen unwiderlegten
Philosophen nennt ihn Baudelaire. Ingram bezeichnet „Heureka"
als ein wundervolles Gedicht in Prosa, und sogar Moeller-Bruck
spricht von dem „grossen, rein in den Sphären des Geistigen
schwingenden Heureka -Gesang vom Weltbau". Nichts spricht
mehr für das Aufhören relativ geistig gesunder Perioden in Poe's
letzten Jahren, als dass er dieses Werk als vollgültig ansah, ja
dass er diese »«Kosmogenie" von der Welt als die höchste religiöse
Offenbarung aufgefasst sehen wollte. Der Gedankengang ist kurz
folgender: In der ursprünglichen Einheit des ersten Dinges liegt
die Ursache aller Dinge, zugleich mit der Anlage zu ihrer unver-
meidlichen Vernichtung. Um die grosse Gesamttatsache zu ver-
stehen, darf man sich nicht mit Kleinigkeiten abgeben ; die Wissen-
schaften sind nichts wie die Detailkrämerei der Diminutivdenker
und schaden mehr als sie nützen; „es tut uns so etwas not wie
ein geistiges Auf- dem -Absatz- Herumdrehen; wir brauchen eine
stürmische Bewegung aller Dinge um den Mittelpunkt des Schauens,
dass das Unbedeutende völlig verschwindet und das Auffallende
sich in eins vermengt". Aus dem einen „einfachsten Urteilchen
der Materie", das soviel ist wie absolute Beziehungslosigkeit, ist
das Weltall entstanden, indem „das Eins in den unnormalen Zu-
stand der Vielheit gezwungen wurde". Die Materie strahlte bei
ihrem Ursprung in Atomgestalt in eine begrenzte Raumkugel aus;
nach Ablauf eines gewissen Zeitraumes wird dieses Prinzip der
Abstossung überwunden sein, und sämtliche Atome werden wieder
dem Mittelpunkte zueilen auf Grund der nun einsetzenden Attraktion.
Das Ende ist eine Vereinigung aller Weltkugeln zu einer einzigen.
„Die absolut zu Eins gewordene Kugel der Kugeln ist aber zweck-
los, gegenstandslos, daher könnte sie nicht einen Augenblick länger
existieren . . . Bemühen wir uns zu verstehen, dass sie ver-
schwinden wird, und dass nur Gott bleibt: Alles in allem." Bei
diesem Schlüsse scheint es sogar Poe in seiner Erregung für
einen Augenblick zum Bewusstsein gekommen zu sein, in welchem
haarsträubenden Unsinn er sich da verrannt habe, und er ver«
8»
— 86 —
sucht noch rasch einen Kunstgriff, indem er erklärt, es gäbe über-
haupt keine Materie, sondern nur Attraktion und Repulsion ; diese
seien mit dem Begriff der Materie identisch und bei ihrer gegen-
seitigen Aufhebung sei dann eben auch keine Materie mehr da!
Die krankhafte Selbstüberschätzung des Manischen und der
Vertust jeder Kritikfähigkeit spricht sich in dem Urteile aus, das
Poe selbst über seine Leistung fällt: „Voll Stolz gewahre ich, dass
es. viele sehr tiefe und vorsichtig prüfende Köpfe gibt, die nicht anders
können, als ausnehmend zufrieden sein mit meinen Hinweisen. Für
diese Köpfe wie für meinen eigenen gibt es keine mathematische
Demonstration, die auch nur den geringsten Wahrheitsbeweis der
grossen Wahrheit hinzufügen könnte, die ich aufgestellt habe!"
Man denkt dabei unwillküriich an die Entstehung von Nietzsche*s
„Zarathustra", der auch einer manischen Erregung entsprang.
Direkt delirant wie das Vorwort klingt auch der Schluss des
„Heureka" : „Die Erinnerung besonders in der Jugend, dass man
schon immer da war: das allgemeine Bewusstsein, dass der Mensch
z. B. unmerklich aufhört, sich Mensch zu fühlen und schliesslich
den überwältigend sieghaften Moment erreicht, wo er sein Dasein
als das Jehovas erkennt. Mittlerweile bewahret es in euren Seelen,
dass alles Leben ist — Leben in Leben — das Kleinere im Grösseren
— und alles im göttlichen Geiste!"
Auf „Heureka" folgten noch drei kleine Stücke, welche eben-
falls einen verzückten Charakter tragen; in allen handelt es sich
um Seelen von der Erde Abgeschiedener, die sich im Weltenraum
treffen und die in schöner Sprache von göttlichen Dingen reden;
die eigentlich manischen Symptome sind nicht mehr vorhanden.
Einer der Auferstandenen sagt: „Ich höre nicht länger jenes sinnlos
rauschende, schreckliche Getön gleich der Stimme vieler Wasser."
Die zweite Hauptgruppe umfasst die Produkte mehr alko-
holischen Ursprungs. Da finden sich vor allem zwei Erzählungen,
die nur Berichte deliranter Eriebnisse sind : „Der verlorene Atem"
und „Der Engel des Wunderiichen". Van Vleuten glaubt, die
erste dieser beiden Geschichten als Erinnerung an ein rein
epileptisches Delirium auffassen zu müssen, weil sie vorwiegend
quälende und schreckhafte Vorstellungen enthält; aber das Alkohol-
delirium wimmelt ja ebenfalls von schrecklichen Dingen; mir
scheint in den beiden Stücken der eigentümliche Humor, mit dem
alle die grauenhaften und angsterregenden Vorkommnisse an-
— 37 —
einandergereiht und geschildert werden, für den alkoholischen
Ursprung geradezu beweisend; von diesem Humor fehlt in den
rein epileptischen Produkten aber auch jede Spur; selbstverständlich
zeigen aber auch die Alkoholdelirien von Epileptikern Zuge, die
dem Grundleiden angehören.
Im „Veriorenen Atem" schimpft Herr Ohneluft seine Frau;
dabei entspringt ihm sein Atem ; unter dem Vorwand nun Schau-
spieler werden zu wollen, reist er ab; in der Postkutsche wird
er totgedruckt, kann aber, da er ja keinen Atem hat, nicht sterben,
hat Kopf und Glieder ausgerenkt und wird als tot auf die Strasse
geworfen; dabei bricht er beide Arme und der nachfliegende
Koffer zerschmettert ihm den Schädel; bei der Sektion schneidet
ihm der Arzt die Ohren ab und nimmt ihm einige Eingeweide
heraus; dass Herr Ohneluft dabei mit einem Beine ausschlägt,
wird für die Wirkung einer elektrischen Batterie gehalten; die
Leiche wird zusammengebunden, nur mit Hose und Strumpfen
bekleidet, auf dem Speicher aufbewahrt; als aber einige Katzen
seine Nase anfressen, befreit sich Herr Ohneluft und springt aus
dem Fenster; ein Verbrecher wird eben zur Hinrichtung vorbei-
gefuhrt und entwischt; die Menge dringt auf Herrn Ohneluft ein,
der dem Verbrecher ganz gleichsieht, und man hängt ihn an den
Galgen, wo er die Zuschauer durch lustige Sprunge unterhält,
bis der wirkliche Verbrecher zufällig wieder eingefangen und an
seine Stelle gehangen wird. Man bestattet Herrn Ohneluft in einer
Gruft, wo er beim Öffnen der Särge und lustigen Betrachtungen
über deren Insassen, den scheintot begrabenen Herrn Windgenug
findet, in welchen seinerzeit der entflohene Atem hineingefahren
war; der Verlorene kehrt zu seinem Herrn zurück.
Man sieht, dieser Inhalt weicht ganz wesentlich von dem ab,
was die epileptischen Produkte kennzeichnet; die Erlebnisse sind
viel traumhafter, sinnlos-verworrener, und man fühlt aus der ganzen
Darstellung und dem sonderbaren Lachen, das alle diese doch
eigentlich recht peinlichen Eriebnisse begleitet, dass es sich nicht
um das fürchterliche Miterieben der epileptischen Delirien handeln
kann. Der so typisch alkoholistisch gefärbte Humor zeigt sich auch
in Äusserungen wie: „Um wirklich glaubwürdig berichten zu können,
muss man eben gehangen worden sein; jeder Autor sollte sich, das
ist meine ästhetische Überzeugung, auf Erzählungen aus seiner
eigenen Eriahrung beschränken.'*
— 88 —
Noch deutlicher ist der alkoholdelirante Ursprung im «Engel
des Wunderlichen", der dem von Kirschwasser betrunkenen Dichter
erscheint; anfangs hält derselbe die Stimme der Erscheinung »für
ein Summen in den Ohren, wie man es oft verspürt, wenn man
sehr betrunken ist". Poe zweifelt an der Bestimmung dieses
Engels, »jene wunderlichen Begebenheiten zu veranlassen, die den
Skeptiker fortwährend in Erstaunen versetzen", und das aus einem
Rumfass, zwei Fässchen, zwei Flaschen und einem trichtergekrönten
Flaschenkorb bestehende Ungetüm rächt sich nun ; da wirft nachts
eine Ratte die Kerze um; das Haus verbrennt; Poe flüchtet im
Hemd durchs Fenster; die Leiter fällt um; er bricht einen Arm
und das Haar geht ihm aus; er wird infolgedessen ernst, will
heiraten, hat dabei aber Missgeschick und springt in selbstmörde-
rischer Absicht ins Wasser, nachdem er seine Kleider am Ufer
niedergelegt hat; aber ein alter Rabe, der zu viel in Branntwein
geweichtes Korn gefuttert hatte und sich deshalb im Rausche von
seinen Kameraden getrennt hatte, packt das Depositum und fliegt
mit dem unerlässlichsten Kleidungsstücke, der Hose, davon; der
Selbstmordkandidat springt aus dem Wasser, schlüpft mit den
Beinen in die Ärmel der Jacke und jagt dem Raben nach; dabei
fällt er in einen Abgrund, erwischt im Fall aber das Tau eines
Ballons, in dem der wunderliche Engel sitzt, der ihn gleich mit
einer Flasche Kirschwasser bombardiert; Poe kann der Aufforderung
mit seiner rechten Hand in seine linke Hosentasche zu langen, nicht
nachkommen, einmal weil er ja einen Arm gebrochen hat. und ausser-
dem hat er ja keine Hose an ; daraufhin durchschneidet der Engel
das Tau, und Poe fällt krachend durch den Schornstein seines
Hauses ins Zimmer, wo er nun erwacht, „den Kopf in der Asche
des Kamins, die Füsse auf dem Wrack eines umgefallenen Tisch-
chens, inmitten von Gläsern und zertrümmerten Flaschen und
einem leeren Kirschwasserkruge". Ein Kommentar dürfte über-
flüssig sein.
Ähnliche Werke wie diese letzten beiden sind auch die Hu-
moresken „Peter Bongbong", „König Pest", „Teufels Wetten"
u. a. m.; der Unterschied ist nur, dass die Handlung eine ein-
heitlichere ist; im übrigen gehen darin groteske Witze und Tri-
vialität ebenfalls oft plötzlich ins Grausige über, ohne dass sich
aber der jeweilige Träger der Handlung in seiner Vergnüglichkeit
stören liesse; so säuft der philosophische Bongbong in einer
— 39 —
Sturmnacht mit dem Teufel um die Wette, und während sie um
seine Seele schachern, rülpst der Wirt bei jedem Satze: hi— köpp.
Oder zwei betrunkene Matrosen finden in einem Sargmagazin einer
pestverödeten Vorstadt eine scheussliche Gesellschaft beim Gelage,
nämlich König und Königin Pest, die Erzherzogin Anna Pest, den Erz-
herzog Pest-Ilenz, dieHerzöge Pest-Beulchen undTem-Pesta; die bei-
den Betrunkenen beteiligen sich mit riesiger Freude an der Sauferei, die
dann mit einer grossen Prügelszene abrupt endigt. In „Des Teufels
Wetten** schlägt sich Herr D. beim Hochsprung an einer Eisenstange
zufällig den Kopf ab, den der Teufel in einer Schurze auffängt und
davon trägt; „D. überlebte den Veriust des Kopfes nicht lange".
In dieser „Humoreske** sind so hässliche Töne angeschlagen, wie
sie Poe nur in alkoholisiertem Zustande fertig bringen konnte,
wenn ich auch nicht verkenne, dass manches davon auf Rechnung
des amerikanischen Humors kommt, jener „barocken Mischung
von trockenster Nüchternheit und grotesk-phantastischen Über-
treibungen** (J. Hart). Poe erzählt da von einem frühreifen Kinde,
das schon mit acht Monaten Ärgernis erregte, weil es sich nicht
in einen Mässigkeitsverein aufnehmen lassen wollte. Als sein
Freund nach Vertust des Kopfes starb, liess er ihn begraben,
aber — und damit schliesst die Geschichte -^ „die Schufte, die
MetaphysIker, weigerten sich, die Begräbniskosten zu zahlen, und
ich liess darauf Herrn D. wieder ausgraben und verkaufte ihn als
Hundefutter**.
Die berühmteste Geschichte der Alkoholgruppe, die zugleich
eine Menge biographisches Material enthält, ist „Der schwarze
Kater**. Darin schildert Poe geradezu meisterhaft die Wirkungen
des chronischen Alkoholmissbrauches, die Alkoholdegeneration,
ohne Zweifel auf Grund eigener Erfahrungen. Der Held dieser
Novelle war als Kind von so ungewöhnlicher Herzenszärtlichkeit,
dass er deswegen zum Gespött seiner Kameraden wurde. Er
war ein grosser Tierfreund, und als er heiratete, teilte seine Frau
diese Neigung; das bevorzugteste Tier im Hause war ein grosser
schwarzer Kater. Allmählich vollzog sich aber in dem Charakter
des Mannes eine böse Wandlung; er wurde zum Trinker („durch
den Dämon Unmässigkeit**) ; er wurde oft trübsinnig, war reizbar,
rücksichtslos, brutal gegen die Frau und die Tiere; selbst der
schwarze Kater hatte die Wirkungen dieser „Verdüsterung ** zu
fühlen. Dass ihn das Tier nun flieht, steigert seinen Zorn; im
— 40 -
Schnapsrausch sticht er „ganz bedächtig" dem Kater ein Auge
aus; »ich kannte mich selbst nicht mehr; es war, als ob meine
Seele aus meinem Körper entwichen sei ; eine mehr als teuflische,
vom Schnaps noch angefeuerte Bosheit zuckte in jeder Fiber
meines Leibes"". Die tückische Erbitterung gegen den Kater nimmt
zu durch den Geist der Perversität (»die Psychologie hat sich
noch nie mit diesem Dämon befasstl""); eines Tages erhängt der
Trunkenbold das Tier, während er dabei weint; „weil ich dabei
fühlte, dass ich damit eine Sünde beging, eine Todsünde, die
mein Seelenheil vernichten konnte". In derselben Nacht ver-
brennt ihm Haus und Besitz; an der einzigen noch stehenden
Innenmauer sieht man, wie ein Basrelief eingegraben, die Ge-
stalt einer erhängten Katze. In einer Schnapsschenke, wo er
stumpfsinnig brütend sass, findet er einen Kater, den niemand kennt
und der dem ermordeten total gleicht; nur hat dieser die Zeich-
nung eines Galgens auf der Brust und eines Strickes um den
Hals. Er nimmt das Tier mit nach Hause. Durch den Alkokol
war sein Temperament allmählich in Hass gegen alles in der Welt
ausgeartet; er hasste besonders seine Frau; in einem Wutanfall
schlägt er ihr den Schädel ein; gleich nach dem Affekt geht er
voll Überlegung daran, die Leiche im Keller einzumauern und
empfindet ein gewaltiges Gefühl der Erleichterung. Bei einer
Haussuchung überkommt ihn aber der Geist der Perversität und
er klopft höhnisch an die betreffende Mauerstelle; da antwortet
eine jämmerliche Stimme; er hatte den Kater aus Versehen mit
eingemauert, der beim Öffnen auf dem blutigen Schädel der
Leiche sitzt.
Es ist kein reiner Alkoholist, den Poe da gezeichnet hat,
sondern ein epileptischer Alkoholist; für Epilepsie sprechen die
Anfälle von Perversität, die Affekthandlungen schrecklichster Art
und das auf den Totschlag folgende Gefühl der Erleichterung,
der aus dem Schattenreiche wiederkehrende Kater und die ver-
steckte Leiche sind Variationen eines bei Poe sehr häufigen
Themas.
Ich verlasse nun die Alkoholpoesie Poe*s, um mich zur
letzten Gruppe, der des Opiums oder Morphiums zu wenden. Die
Wirkung dieser nah verwandten Alkaloide ist schon im allgemeinen
entworfen worden. Eine schöne Illustration dazu bieten das „Gut
zu Arnheim'*, „Landors Landhaus", „die Feeninsel" und „das
— 41 —
ovale Porträt". Das „Landhaus zu Arnheim" ist wie ein Haschisch-
traum; ein ungeheuer reicher Mann hat all sein Können darauf
verwendet, eine Landschaft aufzubauen, die Natur und Kunst ver-
söhnen sollte. Alles was Poe von dieser Landschaft beschreibt
— und die ganze Erzählung ist nur Beschreibung — spiegelt „den
berückenden Glanz des Opiums*' wieder: das sanfte Gleiten des
Bootes, die Musik des Wassers, die eigentümlichen Blumen, das
Fehlen jeder Spur von Welken, von Abfall; alles ist durch-
sichtig, mit sonderbar leuchtenden Farben; dazu harmonische
Musik, hängendes Moos, märchenhafte Architektonik; „das kristall-
helle Wasser schwoll an dem glatten Granit und dem fleckenlosen
Moose in so scharfer Linie empor, dass es das Auge zugleich
verwirrte und entzückte". Auf eine Opiumhalluzination deutet
auch die Schilderung des „Tales der vielfarbigen Gräser*' in
„Eleonora". Um die „Feeninsel" ist das Wasser so durchsichtig,
dass die Insel darin zu schweben scheint; die Insel ist von
traumhafter Schönheit; „aus den westlichen Lichtquellen des Himmels
stürzt ein reicher purpurgoldener Wasserfall in das Tal hernieder".
Der Weg in diese Regionen führte vorüber „an traurig plätschernden
Flüssen und düsteren, schlafenden Seen". Dass es Poe bei seinen
Schilderungen, wenn er in den ästhetischen Genüssen des Opiums
schwelgte, auch auf etwas Unsinn nicht ankam, wenn es nurschön klang,
zeigt folgender Satz : „ . . so feierlich und tiefgetönt war damals das
Glück, damals in jenen heiligen, erhabenen, segensreichen Tagen,
in denen blaue Flüsse, von keinem Damme beengt, durch jung-
fräuliche Lande dahinströmten und sich in ferne, duftende, un-
erforschte Urwaldeinsamkeiten verloren" (Monos und Una). Hier
nähert er sich schon recht bedenklich manchen unserer modernen
Sprachkünstler.
Im „ovalen Porträt* kommt ein von Banditen verwundeter
Edelmann mit seinem Diener in ein ganz einsames, unbewohntes
Apenninenschloss, das aber trotz seiner Verlassenheit fürstlich
eingerichtet ist. Der Edelmann hat Opium bei sich; sonst hat er
es geraucht; da kam es nicht so sehr darauf an, wieviel man
nahm; jetzt musste er es innerlich nehmen und die Dosis wurde
zu gross. In einem mit Gemälden reichgeschmfickten Turm-
zimmer legt er sich in ein prächtiges Bett und liest „lange, lange**;
„schnell mit glänzenden Flügeln entflohen die Stunden". Plötz-
lich fällt sein Blick auf ein ovales Porträt, das einen Frauenkopf
- 42 -
von grosser Schönheit darstellt; eine Stunde lang starrt er das
Bild an, das zu leben scheint; er liest im Katalog nach, der merk-
würdigerweise auf dem Nachtkästchen liegt, und erfährt, dass einst
ein Maler in diesem Zimmer seine junge Frau malte ; er hatte nur
Sinn für sein Bild; gespenstisches Licht fiel dabei durch die Fenster;
er malte, während von ihm unbemerkt ein schweres Siechtum die
ihm als Modell sitzende Frau verzehrte; als das Bild fertig war»
stellte es das Leben selbst dar, während im gleichen Moment die
Frau tot umfiel.
Opiumwirkung ist hier nur die Verfassung des Edelmannes
während der Nacht ; die angehängte Fabel ist lediglich romantisch»
wenn man nicht von ihrer Unsinnigkeit reden will.
„In den Bergen"" ist ebenfalls die Erinnerung an ein delirantes
Erlebnis; van VIeuten hat auch hier bereits den Verdacht aus-
gesprochen, dass sich eine Opiumvergiftung darin ausdrücke, und
führt als beweisend das Gefühl der Körperlosigkeit und die
Architekturvisionen an. Wie bei den meisten Arbeiten Poe*s, so
handelt es sich auch hier um eine Mischung von Symptomen;
der Grundzug der Handlung hat etwas Epileptisches; die Schil-
derungen dagegen verraten das Opium. Der Held der Erzählung,
ein junger Mann, namens Bedloe, ist ein schwerer Psychopath;
er hat „Augen sehr gross und rund, oft sonderbar glänzend wie
eigenes Licht; dann wieder trübe und unklar wie die Augen eines
Leichnams". Bedloe hat „eine stark schöpferische Phantasie, die
durch den Gebrauch von Morphium noch gesteigert wurde; er
genoss das Gift in grossen Mengen *". Er ist begleitet von einem
alten Arzte. Bei einem einsamen Ausflug kommt Bedloe in eine
sonderbare Gegend; „die Landschaft war von einer unbeschreib-
lichen, trostlosen Düsterkeit, die mich geradezu entzückte". Bedloe
erzählt: „Mittlerweile begann auch das Morphium in gewohnter
Weise zu wirken; es erfüllte mich mit einem überlebhaften Inter-
esse für alle Dinge der äusseren Welt; in dem Zittern eines
Blattes, in dem Hauch des Windes, dem Summen einer Biene,
in dem Funkeln eines Tautropfens, in dem flüchtigen Duft, der
vom Walde herüberkam, barg sich mir eine ganze Welt von Er-
innerungen und Vorstellungen, eine heitere, bunte Schar abgeris-
sener, angenehm verworrener Gedanken." Plötzlich überkommt
ihn eine Halluzination ; er hört Trommelwirbel ; ein dunkelfarbiger
Mann, eine Hyäne springen über den Weg; es ist heiss; Palmen
- 43 -
Stehen da; im Tal unten liegt eine grosse orientalische Stadt —
Benares; Bedloe ist plötzlich in einen englischen Offizier ver-
wandelt und durchlebt den Aufstand von 1780, wird von einem
vergifteten Pfeile an der Schläfe getroffen und stirbt; die Seele
sieht den Leichnam des Körpers entstellt auf der Strasse liegen,
fliegt fort; es erfolgt die Rückkehr in das reale Selbst. Der alte
Arzt klärt die Sache dahin auf, dass vor vielen Jahren sein bester
Freund Oldeb (= Bedlo) in Benares auf diese Weise umgekommen
sei, und dass er sich an Bedloe angeschlossen habe, weil ihn
derselbe so an den toten Freund erinnerte. Acht Tage später
stirbt Bedloe durch einen giftigen Egel, der ihm gegen Kopf-
schmerz aus Versehen statt eines Blutegels an die Schläfe gesetzt
worden war. Man sieht, es sind Variationen der alten Vorstel-
lungen, die bei Poe immer wiederkehren.
Das Hauptwerk dieser letzten Gruppe ist „Ligeia*, das nach
Poe's eigenem Geständnis im Traum konzipiert ist und das des Dich-
ters Liebltngswerk war. In dieser Geschichte ist Epileptisches mit
den Spätwirkungen des Opiummissbrauchs verquickt; die Erzählung
geschieht wie fast stets in der ersten Person. Ligeia war „wie die
Blüte eines Opiumtraumes, wie eine unirdische, geisterhaft schöne,
verzückte Vision, seltsamer und himmlischer wie die Traumgebilde,
die durch die schlummernden Seelen der Mädchen von Delos
ziehen". Sie hat grosse strahlende Pupillen, hat etwas Mystisches
um sich; sie ist ungeheuer gelehrt und scheint aus einer uralten
Vorzeit zu stammen ; ihr Gemahl weiss nicht, wann er sie kennen
gelernt hat; denn sein Gedächtnis ist schwach geworden. Die
Grundansicht der Lady Ligeia ist, dass sich der Mensch nur aus
Willensschwäche dem Tode fiberliefere. Sie stirbt aber trotzdem
und zwar an Schwindsucht. Ihr Gemahl zieht nach England, ganz
verzweifelt, kauft dort eine alte Abtei, die natüriich von einer
finsteren, melancholischen Grossartigkeit ist; er richtet die Abtei
phantastisch ein; „ich stand jetzt ganz unter der Herrschaft des
Opiums und alle meine Arbeiten und Pläne atmeten den Geist
meiner Träume". Der Witwer verheiratet sich wieder mit einer
vornehmen Engländerin; diese Dame erkrankt aber sehr bald an
einem rätselhaften Siechtum; der Mann wacht nachts bei ihr in
einem Saal von seltsamster Phantasie; er beginnt zu halluzinieren;
zuerst meint er, es sei „die gewöhnliche Erregung der Opium-
träume"; er sieht Schatten an den Wänden huschen, fühlt sich
- 44 -
von ihnen gestreift; als er seiner Frau Wein zu trinken gibt, sieht
er aus der Luft rubinrote Tropfen in das Glas fallen. Die Frau
stirbt. In dem gleichen phantastischen Zimmer hält der Mann
die Leichenwache und denkt dabei an Ligeia; da bemerkt er voll
Entsetzen, dass die Tote mehrmals periodisch alle Zeichen wieder-
kehrenden Lebens aufweist, um danach jedesmal mehr die grauen-
haften Merkmale eines verwesenden Leichnams zu zeigen; bei
einem neuen Zurückfluten des Lebens erhebt sich die Tote, und
als sie vor dem Manne steht, erkennt er die ins Leben zurück-
gekehrte Ligeia. Mit diesem Effekt schliesst die Geschichte. Wie
fast alle Poe'schen Erzählungen zeigt auch sie eine absolute Igno-
rierung aller Nebenumstände, die sonst im Dasein eine so wich-
tige Rolle spielen und mit Fragen und logischen Überlegungen
darf man an diese Handlungen gar nicht herantreten. Einen ganz
ähnlichen Veriauf weist auch die Novelle „Morella** auf, wo die
Mutter in der Tochter wieder zum Leben gelangt.
Sehr anschaulich zeigen sich die späten Opiumvisionen
des Epileptikters in der kleinen Skizze „Schweigen"; dass
das Opium dabei die führende Rolle spielt, scheint mir auch
daraus hervorzugehen, dass fast jede Handlung fehlt und dass
sich die Diktion wesentlich von der epileptischen Art unter-
scheidet. Ich führe zum Schlüsse aus dem „Schweigen** eine
Beschreibung an, weil sie mir wie von einem unserer Modern-
sten geschrieben erscheint: „Die Wasser sind von safrangelber«
kranker Farbe und sie strömen nicht weiter dem Meere zu, son-
dern bäumen sich ewig unter dem roten Auge der Sonne mit
stürmischer, krampfhafter Bewegung empor. An jeder Seite des
schlammigen Flussbettes zieht sich viele Meilen weit eine bleiche
Wüste gigantischer Wasserlilien hin. Sie seufzen einander durch
die Öde zu und recken ihre langen gespenstischen Hälse zum
Himmel empor . . . Durch einen dünnen, geisterhaften Nebel
geht der Mond auf und ist von karmoisinroter Farbe . . .**
Noch einige Worte über die Lyrik Poe's. Abgesehen von ganz
wenigen guten Sachen finde ich seine Gedichte, auch in englischer
Sprache, nicht geniessbar; aber das ist Geschmackssache; ich
glaube, dass er kein lyrischer Dichter sein konnte, weil ihm nur
eine begrenzte Gefühlsskala zur Verfügung stand und diese noch
weit entfernt von dem, was man lyrische Gefühle nennt Die
meisten Gedichte sind genau so pathologische Produkte wie seine
— 46 -
Novellen. Die berühmtesten sind „Der Rabe" (1845) und „Ulalume*^
(1847); beide sind ausgesprochene Produicte einer geistigen Störung;
im „Raben* sind die Halluzinationen eines beginnenden Deliriums
geschildert, wo der Dichter „Träume träumt, die kein armer Erden-
sohn geträumt zuvor"; alle Gedanken sind um die nächtliche Er-
scheinung eines Raben geflochten, der in das Zimmer des Dichters
stolziert, sich auf einem Schranke neben einer Pallasbüste nieder-
lässt und auf alle Fragen mit „Nimmermehr" antwortet Die
Diktion ist einfach souverän, einzelne Bilder sind prächtig; aber
das Ganze ist krank. Ich finde es verkehrt, das im Leser er-
regte Grauen als Massstab für den Wert des Gedichtes zu ver-
wenden; dass es Leute gegeben hat, die nicht mehr wagten eine
im Zimmer stehende Pallasbüste in der Dämmerung anzusehen
aus Furcht, der Rabe Nimmermehr könnte daneben sitzen, halte
ich für alles andere eher als ein Lob. Noch krankhafter ist
„Ulalume", wo alle die uns schon bekannten Requisiten Poe*scher
Gespensterschilderung in gebundener Sprache wiederkehren; ich
kann dem Gedicht nur ein pathologisches Interesse zuerkennen;
ich denke, der Anfang wird als Muster genügen:
„Die Wolken türmten sich mächtig;
Die Blätter waren verdorrt,
Sie waren kraus und verdorrt.
Es war Oktober und nächtig
An einem unseligen Ort.
Es war nahe dem bleiernen Wasser,
Das da so verschlafen steht,
Am Hain, wo des Nachts sich ein blasser.
Hohläugiger Schwärm ergeht."
Sollte Poe mit diesem Schwärm seine blassen Nachahmer
gemeint und vorgeahnt haben?
Ich eile zum Schlüsse. Ich glaube das Walten einer schreck-
lichen Notwendigkeit im Leben Poe*s gezeigt zu haben; ich glaube
ferner gezeigt zu haben, dass die Schöpfungen Poe's total patho-
logische sind und dass der Kranke aus einem gewissen patho-
logischen Vorstellungskreise nicht hinausgekommen ist; was er
aber geschrieben hat, ist sein Eigenstes; seine Nachahmer können
heute ihn und noch ein Dutzend psychiatrischer Lehrbücher dazu
abschreiben; er konnte nur in seiner eigenen Seele lesen, und
was er las, war der Psychiatrie der damaligen Zeit noch ein fast
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unbekanntes Land. Dieses Land der Poe*schen Schöpfungen ist
Neuland gewesen, und Baudelaire war der Fuhrer in diese neuen,
fruchtbaren Gefilde; eine Schar bewusster Nachahmer hat sich nun
darüber ergossen, und die Folgen sind für die Literatur unheil-
voller gewesen als man vielleicht heute ahnt; denn nichts ist
leichter, als Poe im Äusserlichen nachzuahmen.
Man kann Poe zu verstehen suchen; nachbeten darf man
ihn nicht; denn seine Kunst ist etwas Krankes; sie hat nichts
Erhebendes, und das Unheimliche und Entsetzliche ist bei ihr Selbst-
zweck. Nichts von dem haben wir auf dem ganzen Wege ge*
funden, was von der eigentlichen, idealen Aufgabe der Kunst zeugte;
in jenen Worten Nietzsche*s liegt die Verurteilung dieser entarteten
Richtung: „Kunst, sie allein vermag jene Ekelgedanken über das
Entsetzliche und Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen,
mit denen sich leben lässt; diese sind das Erhabene als die künst-
lerische Bändigung des Entsetzlichen und das Komische als die
künstlerische Entladung vom Ekel des Absurden.** („Geburt der
Tragödie".)
Ernst Reinhardt Verlagsbuchhandlungt Mfinchen, JIgerstr. 17.
Soeben erschien:
Kunst als Äusdrockstätigkeit.
Biologische Voraussetzungen der Ästhetik.
Von Dr. Oskar Kohnstamm.
95 Seiten, gr. 8^ 1907. Preis Mk. 2.—
Beziebongen des Seelenlebens zum Neryenleben.
Grundlegende Tatsachen der Nerven- und Seelenlehre.
Von Dr. Eduard Hirt
1903. 8*. SO Seiten. Preis Mk. 1.20
Über moralisches Irresein
(Moral Insanity)
Ein Vortrag von Dr. L. von Moral t
1903. 32 Seiten, gr. 8^ Preis 80 Pfg.
Der Descendenzgedanke und seine Geschichte
vom Altertum bis zur Neuzeit
dargestellt von Dr. Edgar Dacqu€.
1903. gr. 8«. 120 Seiten. Preis Mk, 2.-
Wahres and Falsches an Darwins Lehre.
Ein Vortrag von Prof. Dr. August Pauly.
1902. 18 Seiten, gr. 8^ Preis 80 Pfg.
Ernst Reinhardt, Verlagsbuchhandlung, MQnchen, JIgerstr. 17.
Soeben erschien:
Gesundheitspflege des Geistes
von Professor Dr. Clouston.
Mit Vorwort und Anmerkungen von Professor August Forel.
ca. 350 Seiten 8*. Mit 10 Illustrationen. In eleg. Leinenband Preis Mk.2.80.
Mehr und mehr suchen die Ärzte auf Gebieten die Führung zu über-
nehmen, die früher ausschliessliche Domäne der Moralisten und Theologen
waren. Viele Bücher sind über diese und ähnliche Themata erschienen,
aber keines ist klarer als das von Clouston. „Die Verbesserung unserer
Rasse muss ein wirklicher politischer Faktor werden'', das ist der Grund-
gedanke des Verfassers und damit trifft er mit Ruskin zusammen, der vor
Jahren in Fors Clavigera ausgeführt hat, dass der Zweck des Staates nicht
sei, Reichtümer aufzuhäufen, sondern die seelische Kultur zu fördern.
„British Medical Journal**.
Der Wert der deutschen Ausgabe wird ganz wesentlich erhöht
durch die zahlreichen Anmerkungen von Prof, Forel, die das Werk des
mehr auf das Praktische gerichteten englischen Psychiaters in theore-
tischer Hinsicht, in der die deutsche Wissenschaft die unbestrittene
Führung hat, wertvoll ergänzen. Jeder Gebildete, vor allem Eltern und
Lehrer, werden dieses Buch mit Nutzen lesen.
Prof. A, Forel:
Verbrechen
und konstitutionelle Seelenabnormitäten.
Unter Mitwirkung von Professor A. Maheim.
187 Seiten gn 8*. 1907. Preis Mk. 2.50, eleg. geb. Mk. 3.50.
Ein neues Buch von Prof. Forel ist des Interesses aller Gebildeten
sicher. Es behandelt die Übergangsformen zwischen Geisteskrankheit und
Gesundheit, Gestalten, die jeder aus nächster Nähe kennt, die, trotz ihrer
Defekte oft hochbegabt, ihre Umgebung hinreissen und dadurch viel ge-
fährlicher werden als die offenkundig Geisteskranken. Diese Unglücklichen
machen das Leben sich und andern zur Qual, Gefängnisse und Irrenanstalten
nehmen sie abwechselnd auf, ohne sie dauernd zu behahen, da sie nirgends
hingehören. Mit einer Freisprechung wegen verminderter Zurechnungs-
fähigkeit ist weder ihnen noch der Gesamtheit gedient, denn je geringer
diese, um so grösser die Gefahr. Darum schlägt der Verfasser ländliche
Asyle mit bedingter Freiheitsentziehung vor. Typische Fälle, spannend
wie ein Roman, erläutern seine Ansicht.
Draok von M. MflUer k Sohn, München V.
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CECIL H. GREEN LIBRARY
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