GRIECfflSCHE
LITERATÜEGESCHICHTE
VON
THEODOR BERGK
DRITTER BAND
AUS DEM NACHLASS HERAUSGEGEBEN
VON
GUSTAV HINRICHS
BERLIN
WEIDMANNSCHE BUCHHANDLUNG
1884
3057
OEC 1 3 1966
i150«55
VORWORT
Als Nachtrag zum zweiten Bande, welcher mit den jüngeren
Dithyrambikern abschliefst, mufs ich ein Doppelblatt folgen lassen,
welches an das Ende der Besprechung des Euripides gerathen und
bei der Ordnung der Manuskripte durch ein hoffentlich entschuld-
bares Vei*sehen dort belassen worden war: erst als der Abschnitt
über Euripides im Druck vollendet wurde, kam es wieder zum
Vorschein. Ich habe dann nochmals zu erinnern, dafs der vor-
liegende Band über die attische Tragödie eine genauere Behand-
lung von Aeschylus' Orestie und Sophokles' Elektra (auch von Euri-
pides' Elektra, taurischer Iphigeneia und Phönissen), ferner über-
haupt ein Eingehen auf Euripides' Ion, Hekabe, Rasenden Herakles,
Troerinnen, Orestes, Iphigeneia in AuUs und Bakchen vermissen
läfst, während er sonst bis auf Euphorion und Philokles mit seinen
Söhnen und etliche Nachzügler des vierten Jahrhunderts, die Ver-
treter der dritten Gruppe, voll zu Ende geführt ist. Die chrono-
logische Vertheilung unter das dritte Stadium der Blüthezeit der
Tragödie war vom Verfasser nicht weiter angedeutet als bei Agathon :
ich habe den Einschnitt hinter den nur mit Namen aufgezählten
Zeitgenossen des Theognis vorgenommen und den Rhesus an den
Schlufs gestellt, obwohl er nach der gegebenen Datirung ebenso gut
auch die dritte Gruppe hätte eröffnen können. Was die Ansichten
Bergks über die Andromache des Euripides betrifft, welche er in
IV VORWORT
einem späteren, im Hermes XVIII S. 487 — 510 publicirten Aufsatz
zum Theil anders gefafst hat, so habe ich, da die Untersuchung
selbst durch ihre Form aus dem Rahmen dieses Buches herausfiel,
mich begnügen müssen, das Resultat kurz zu referiren, und, ohne
dem Urtheil der Leser über die Identificirung der Namen . . vex^a-
rrjg und ^i^fiOXQccTrjg oder TifioxQciTrig vorzugreifen, die ursprüng-
liche Fassung im Zusammenhang des Textes absichtlich stehen lassen.
Berlin, den 1. Mai 1884.
Onstay Hiiirlchs.
VERZEICHNISS DES mHALTES
Seite
Nachtrag zu den jüngeren Dithyrambikern IX — XI
Dritte Periode: Die neue oder attisehe Zeit
von 500 (Ol. 70) bis 300 (Ol. 120) v. Chr. Geb. 1—620
DiedramatischePoesie 1 — 620
Einleitung (I Charakteristik der dramatischen Poesie 1. II Ursprung
des Dramas 3. III Feste des Dionysus in Athen 13. Zahl
der Spieltage 23. Die Zeit der groCsen Dionysien 25. Der
Proagon 29. IV Das Theater zu Athen 33. Ausstattung der
Bühne 4o. Rechts und links im Theater 44. Vertheilung
der Plätze 46, Eintrittsgeld 47. Zahl der Zuschauer 48.
Frauen und Kinder ausgeschlossen 49. V JiSaaxaXos 50.
Der Beruf des Tragikers und Komikers streng geschieden 55.
Produktivität 56. Vererbung der Kunst 56. Fremde Dichter
den einheimischen gleichgestellt 57. Preisrichter 57. Preise
59. Die Didaskalien 62. Titel der Dramen 64. Verzeich-
nisse der Dramen 66. Wiederholte Aufführungen 68. Ueber-
arbeitungen 69. Interpolationen der Schauspieler 70. Ly-
kurgs Exemplar der Tragiker 71. Untergeschobene Dramen
72. VI Die Choregie 73. VII Der Chor und seine Organi-
sation 75. Koryphäus 7S. Der Prolog 79. VIII Die Schau-
spieler 81. Masken und Kostüm der Schauspieler 95. IX Die
Sprache der dramatischen Poesie 101. Die metrische Form
106. Der iambische Trimeter 107. Der iambische Tetra-
meter 111. Der trochäische Tetrameter 111. Anapästen 112.
Die melischen Partien des Dramas 114. Die melischen Par-
tien der Tragödie 116. Die melischen Partien der Komödie
118. Der Vortrag der Verse im Drama 126. Oekonomie des
Dramas 129. Chorlieder 131. Bühnengesänge 139. Klage-
lieder 140. Verhältnifs der Chorlieder zum Dialog 142. Um-
fang der Dramen 143. Eintheilung in Akte 144. Epeisodien
148. Antistrophische Gliederung. Freie Bildungen 151. Re-
VI VEBZEICHMSS DES INHALTES
Se^T*
sponsion der antistrophischen Theile 152. Refrain 153. Ver-
theilung eines Verses unter mehrere Personen 15:i. Inter-
jektionen aufserhalb des Verses 154. Gleichklänge 154. Sym-
metrische Verhältnisse in den dialogischen Partien 155.
Stichomythie 156. Die musikalische Begleitung 157. Die
dramatische Orchestik 161. X Das Drama aufserhalb Athens
167. "Wirkungen in der Fremde 170) 1-174
Die Tragödie 175—620
Einleitung (Charakteristik der tragischen Poesie 175. Wirkung
und Einflufs der Tragödie 175. Mythische Stoffe 178. Art
der Darstellung 185. Anachronismen 185. Historische Stoffe
186. Beziehungen auf die Gegenwart 187. Die sittliche "Welt-
ordnung und das Schicksal 189. Die Personen der Tragödie
195. Götter 195. Heroen 196. Frauen 196. Kinder 197.
Nebenfiguren gewöhnliche Menschen 197. Zusammensetzung
des Chores 198. Tragische Charaktere 199. Einheit des Or-
tes und der Zeit 201. Die Hauptperson 204. Episoden 205.
Episches Element 205. Das Gnomische 209. Conventionel-
les 210. Gliederung 211. Exodos 213. Der Chor der Tra-
gödie 214. Die Tetralogie 222. Aeschylus führt die Tetra-
logie ein 229. (332.) Tetralogie bei Sophokles 230. (456.)
Tragödie an den Lenäen 235. Die Einzeltragödie eine [Ein-
richtung des Sophokles 235. Das Satyrdrama 236. Stoffe
des Satyrdramas 238. Versmafs und Sprache des Satyr-
dramas 241. Die geschichtliche Entwicklung des Satyrdramas
242. Veränderung der Organisation 244. Grofse Zahl der
tragischen Dichtungen 245. Der Nachlafs der griechischen
Tragiker 245. Die drei grofsen Tragiker 246. Eintheilung
247. Recapitulation. Idealer Charakter der griechischen Tra-
gödie 248) 175 2:.J
Erste Gruppe. Die Anfänge der Tragödie von Ol. (>I bis 69
(Thespis 255. Chörilus 259. Pratinas 261. Phrynichus 263.
Polyphradmon 267. Aristias 267) 252 271
Zweite Gruppe. Die Biüthezeit der Tragödie von Ol. 7o, 1 bis
Ol. 93, 3 (Erstes Stadium 271. Zweites Stadium 272. Drit-
tes Stadium 275.
Die drei grofsen Tragiker 277—601. I Aeschylus 277 — 3.56.
Aeschylus' Leben 277. Zahl der Dramen 2s4. Dramen der ersten
Periode 286. Die Perser 288. Die Sieben gegen Theben 295.
I>if Schut/fb'lienden :{05. Die Oreslie 311. Der gefesselte Pro-
metheus. Die Zeit der Abfassung 311. Inhalt 316. Trilogie 318.
Der befreite Prometheus 318. Verhältnifs des Aeschylus zu
VER/EICHMSS DES 1>HALTES MI
X
Seite
Hesiod 322. Ort der Handlung 327. Anlage 329. Einführang
der Tetralogie 332. (229.) Reduktion des Chores 336. Be-
urtheilung desAeschylus 336. Einflufs der Zeit auf Aeschy-
lus 339. Aeschylus' Stellung zu Vorgängern und Nachfol-
gern 340. Alterthümlicher Charakter. Strenger Stil 340.
Auswahl und Behandlung der Mythen 341. Sophokles" Ur-
theil über Aeschylus 346. Gestaltende Kraft 346. Einfach-
heit 347. Das Ahnungsvolle 347. Das Zarte 34S. Die Leiden-
schaft 34S. Der Stil des Aeschylus 349. II Sophokles 356
— 465. Sophokles' Leben 356. Sophokles' Verdienste um
die Dramaturgie 359. Antheil am öffentlichen Leben 362.
Sophokles' Tod 367. Eifriges Studium des Homer 369. Dauer
der dichterischen Thätigkeit 371. Zahl der Dramen 371.
Epochen in der dichterischen Entwicklung des Sophokles 373.
Elektra 376. Aias 376. Die Trachinierinnen 3S9. Antigene
399. König Oedipus 417. Philoktet 424. Oedipus auf Ko-
lonos 432. Die verlorenen Dramen 440. Beurtheilung des
Sophokles 443. Der Chor des Sophokles 447. Der Dialog
451. Concentration des Stoffes 452. Auswahl des Stoffes
453. Durchführung der Handlung 453. Der Kunstcharakter
des Sophokles 453. Sophokles' Verhältnifs zur Sage 455.
Die freiere tetralogische Form bei Sophokles 456 (230). Die
Kunst der Charakterzeichnung bei Sophokles 458. Der Stil
des Sophokles 461. Hl Euripides 465—601. Euripides' Le-
ben 465. Philosophische Studien 469. Euripides hält sich
vom öffentlichen Leben fern 477. Häusliche Verhältnisse 478.
Euripides' letzte Schicksale 480. Dauer der dichterischen
Thätigkeit 484. Euripides arbeitet für fremde Bühnen 485.
Euripides bedient sich bei der Composition der melischen
Partien fremder Hülfe 486. Euripides überarbeitet seine Tra-
gödien 486. Dramatische Erfolge 487. Zahl der Dramen 488.
Perioden der dichterischen Entwicklung 490. Die Peliaden
493. Alkestis 494. Medea 501. Herakliden 515. Hippo-
lytus 526. Die Schutzflehenden 530. Andromache 539. Elek-
tra 550. Taurische Iphigeneia 552. Helena 553. Phönissen
561. Kyklops 562. Einflufs des Euripides 565. Beurthei-
lung des Euripides 568. Frauencharaktere 572. Charakter
des Euripides 574. Die politischen Ansichten 576. Polemik
gegen Orakel 579, Religiöse Ansichten 5S0. Auswahl und
Behandlung der Mythen 585. Die Oekonomie der Euripi-
deischen Tragödie 589. Erzählung 591. Der Prolog 592.
Der Stil des Euripides 595.
Tragiker zweiten und dritten Ranges 602—619. 1 602. II An-
VIII VERZEICHNISS DES INHALTES
Seite
starclius 602. Ion 603. Achäus 607. Neophron 608. Eupho-
rion 608. Philokles 608. Morsimus 609. Melanthius 600.
lophon 609. Ariston 610. Theognis 610. Nikomachus 610.
Gnesippus 610. Akestor 610. Sthenelus 610. Morychus 610.
III Karkinus der Aeltcre 610. Xenokles 611. Hippias 611.
Kritias 612. Agathon 613. Rhesus 613) 271—619
Dritte Gruppe. Das Nachleben der tragischen Poesie von Ol. 94
bis 120 (Astydamas der Aeltere 619. Astydaraas der Jüngere
619. Sophokles der .lungere 619. Euripides der Jüngere
620. Dionysius der Aeltere 620. Antiphon 620. Karkinus
der Jüngere 620. Theodektes 620. Chäremon 620) . . . 619—620
Nachtrag zu den jüngeren Dithyrambikern.
(Bd. U S. 536 oder 544.)
Wenn man lediglich den Erfolg zum Mafsstabe des inneren anheile der
Werthes macht, mufs man diese dem Fortschritt unbedingt huldi- ' sen.
gende Richtung sehr hoch stellen. Das Ueberschwänglichc der Em-
pfindung, die Steigerung des Pathos, wie die sinnliche Pracht und
Virtuosität der Technik mufsten einer tief aufgeregten, genufssüch-
tigen Zeit vor allem zusagen. So gelangte die neue Richtung nicht
nur auf dem eigenen Gebiete bald zu ausschliefslicher Herrschaft*),
sondern auch die Tragödie schlofs sich alsbald an. Euripides und
Agathon, bei denen der subjektive Zug von Anfang an mächtig war,
führten den dithyrambischen Stil in die Chorheder und Monodien der
dramatischen Poesie ein. Nicht blofs die grofsen Städte, wo der
revolutionäre Geist immer schrankenloser waltete, sondern auch die
abseits Hegenden, noch wehig von dem Fortschritt der Cultur berührten
Landschaften nahmen mit Begeisterung diese lyrisch - musikalischen
Schöpfungen auf. Die einsamen Bergkantone Arkadiens'"'), wie die
stillen Städte der Insel Kreta ^), wo die dem hellenischen Volke ange-
borene Gesangeslust sich unverändert erhalten hatte, sagten sich von
den schlichten, aber gehaltvollen Weisen der Väter, an denen sie mit
1) Nur Einzelne hielten an den Ueberlieferungen der alten Kunst fest.
Hierher werden die von Plut. de mus. c. 21 erwähnten Musiker Andreas von
Korinth, Thrasyllus von Phlius, Tyrtäus von Mantinea (Mantinea galt überhaupt
als treu ergeben der alten Musik, Plut. c. 32) gehören. Telesias aus Theben
schwankte eine Zeit lang, wandte sich aber später von dem neuen Stil ab und
blieb der Weise des Pindar und Simonides treu (Plut. c. 31).
2) Polyb. IV 20.
3) Dekret von Knossos CIG. 3053 zu Ehren der Abgeordneten der ioni-
schen Stadt Teos: insSei^axo Mevexkfjs fista xid'öiQas nXeovanis xa t£ Ti/io-
&£ca xal IloXvtSco xai xwv a.Q%ai(ov afimv jtoirjräv, xa&cos TtQoarjxsv avSql
TtenaiSsvfisvio.
X DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
inniger Pietät geliangen hatten, los und gaben sich willig dem Ge-
nüsse der berauschenden neuen Kunst hin. Sonst war es nicht
üblich, lyrische Gedichte von neuem aufzuführen ; allein die Poesien
der jüngeren Dithyrambiker werden gerade so wie die Tragödien
und später die Lustspiele wiederholt^) und waren aller Orten will-
kommen; ja, diese Gedichte fanden sogar eifrige Leser. Alexander
läfst sich aufser Stücken der drei grofsen Tragiker auch Dithyram-
ben des Philoxenus und Telestes nachsenden.*)
Anders urtheilten tiefer bhckende besonnene Männer, welche
die Herrhchkeit der alten Kunst zu würdigen wufsten ; sie vermifsten
in dem neuen Stile sitthchen Gehalt. Dieses geistreiche, aber zügel-
lose Spiel erschien ihnen als Abfall von der echten musischen Kunst,
welche berufen ist, den Geist harmonisch zu stimmen und die Un-
ruhe der Seele zu beschwichtigen. Sie erkannten sehr wohl, dafs
das Uebergreifen der Musik die klare, objektive Gestaltung der Poe-
sie beeinträchtigen müsse; sie sahen voraus, dafs die Musik, welche
in der Jugenderziehung eine so wichtige Stelle einnahm, auf das
heranwachsende Geschlecht einen unheilvollen Einflufs ausüben und
den Geist revolutionärer Neuerung nähren werde. Schon Pratinas
tritt mit Entschiedenheit den ersten Versuchen der neuen Richtung
entgegen ; vor allem wird die Komödie , welche ihres hohen Berufes
alle Zeit eingedenk war, nicht müde, die. Bestrebungen jener Män-
ner, in denen sie das Verderben der wahren Kunst erblickte, scharf
und schonungslos zu kritisiren. Diese Einmüthigkeit beweist*),
4) Die Perser des Timotheus trug der Kitharöde Pylades an den Nemeen
vor, Flut. Philopoemen eil (s. Bd. U S. 529, A. 8); den rasenden Aias, einen
Dithyramb desselben Dichters, führt der Flötenvirtuose Timolheus in Athen
wieder auf mit einem Chor der Pandionischen Phyle (dieser Sieg war der
erste Erfolg des thebanischen Virtuosen), Lukian. Hormon. 1. Timotheus selbst
scheint seinen Hymnus auf Artemis, der für Ephesus bestimmt war, auch in
Athen vorgetragen zu haben, Plut. de aud. poet. c. 4.
5) Plut. Alexander c. 8.
6) Kratinus, Eupolis, Aristophanes und, soviel wir wissen, alle ihre Be-
rufsgenossen vertreten ganz denselben Standpunkt. .Am Eingehendsten hatte
Pherekrates im Cheiron Com. II 326 ff., oder wer sonst Verfasser dieser Komö-
die war, die neue Richtung kritisirt, als deren Hauptvertreter Melanippides der
Aeltere, Phrynis, Kinesias und Timotheus bezeichnet werden. Timotheus, ob-
wohl seine Thätigkcit früher als die des Kinesias begonnen haben mag, wird
zuletzt genannt, weil er als der Talentvollste und Bedeutendste vorzugsweise
für den Verfall der Kunst verantwortlich gemacht wird.
^ACHTRAG ZU DKN JÜNGEREN DITHYRAMBIKERN. XI
dafs wir es hier nicht mit subjektiven Anschauungen Einzelner zu
thun haben. Ganz den gleichen Ansichten begegnen wir bei den
Philosophen, nicht nur bei Plato'), dessen strenges Urtheil in ästhe-
tischen Fragen nicht frei von Einseitigkeit ist, sondern auch bei
Aristoteles, der vorurtheilsfrei das Tüchtige, wo es auch sich findet,
anzuerkennen pflegt und für jeden wahren Fortschritt empßingüch
ist.*) Ebenso steht Aristoxenus, unbestritten der gründlichste Ken-
ner der griechischen Musik, entschieden auf Seite der alten klassi-
schen Meister gegenüber den Bestrebungen der Neuerer, die er für
den Verfall der Kunst und für den falschen Geschmack der Zeit-
genossen verantwortlich macht.^) Die Versuche, welche man in
neuerer Zeit gemacht hat, den dithyrambischen Stil gegen jene Vor-
würfe zu rechtfertigen, sind ledigUch aus dem Geiste des Wider-
spruchs entsprungen.
7) "Vergleiche die Schilderung des Verfalles der Kunst in den Gesetzen
III 700 D. Im Gorgias 501 E f. spottet Plato über den Kinesias ganz im Geiste
der Aristophanischen Komödie.
S) Aristot. Pol. VIII 6 p. 1341 A 10 bezeichnet namentlich den EinfluTs
der für Agone bestimmten Musik auf die Jugenderziehung als nachtheilig: ai
(*ruE Tf 71Q0S rois cywvas Tois zexvtxois awieivovra Bianovaiiev, ftr^iE ta
&avfiaaia xal ns^ixxa xäv iQyoxv, a vvv iXriXv&ev sie rove aymvas, ex Si
rwv ayätvcov eis rr,v TiaiSeiav.
9) Plut. de mus. c. 31 und 27, und vor allem die charakteristische Stelle
bei Athen. XIV 632 A.
Druckfehler des zweiten Bandes
S. VI Z. 11 lies: fortlaufenden Nummerierung. S. VII Z. 18: Panätius fällt
in die folgende Periode. S. VIII Z. 1 lies : Pamphilus. S. 7 Z. 4 lies : meisten
statt wenigsten. S. 25 Z. 8 lies: Kolossalstatue. S. 42 Z. 15 v. u. lies: Geres
statt gens. S. 108 Z. 16 v. u. lies: urkundlicher. S. 110 Z. 9 lies: welches statt
was. S. 442 Z. 14 v. u. lies: rexQaxrvv. S. 540 Z. 2 v. u. lies: lakonische. S. 541
Z. 14 V. u. lies: xid-aQue.
Druckfehler des dritten Bandes
S. 3 Kol. lies: Ursprung des Dramas statt Drama. S. 18 Z. 18 lies: ay^ls.
S. 20 Z. 4 V. u. lies : Ol. 103, 1 (wie S. 168 Z. 6 v. u.). S. 22 Z. 5 v. u. lies: Agons.
S. 27 Z. 17 V. u. lies: 501 f. statt 511). S, 105 Z. 9 v. u. lies: landschaftlichen.
S. 130 Z. 3 V. u. lies: ro (lev. S. 155 Z. 2 v, u. lies: Antigene 631—765 und
Z. 1 V. u. Sieben 375—673. S. 229 und 230 Z. 4 v. u., S. 235 Z. 16 v. u. lies:
II 2, 838. S. 232 Z, 4 v. u. lies: verwirrten statt vermifsten. S. 255 Z. 6 v. u.
lies: Poet. Astrol. S. 461 Z. 11 v.u. lies: compos. statt complic. S. 464 Z. 5
V. u. lies: löyois. S. 484 Z. 20 v. u. lies: des Dichters Thukydides (so hatte
Bergk statt des Historikers Thukydides geschrieben, vgl. PLG. 11267^),
Die dramatische Poesie.
Einleitung.
iDdem die dramatische Poesie eioe Handlung sinnlich vergegen- cbarakteri-
wärtigt und allem den Schein des wirklichen Lebens leiht, wirkt matischen
der dramatische Dichter ganz unmittelbar auf das Volk. Nirgends Poesie.
offenbart sich, so wie hier, die unbedingte Gewalt der Poesie über
die Gemüther. Diese Wirkung der dramatischen Kunst war um so
mächtiger, da diese Spiele nichts Alltäghches, sondern ein seltener
Festgenufs waren; denn das griechische Drama hängt auf das Engste
mit dem rehgiösen Cultus zusammen. Ward auch dieses Band all-
mähhch schwächer, so ist es doch niemals völUg gelöst worden. So
ruht auf diesen Aufführungen eine ge\\isse Weihe. Erwartungsvoll
und in gehobener Stimmung betrat der Zuschauer das Theater, um
ebenso den hohen Ernst der Tragödie, wie die muthwiUige Lause
des Lustspiels auf sich einwirken zu lassen und mit offenem, empfäng-
lichem Sinne die Schöpfungen des Dichters gleichsam zu reprodu-
ciren. Daher hat das griechische Theater, indem es nicht ausschliefs-
lich dem Zeitvertreibe dient und sich vom Geschmacke und von der
wechselnden Gunst des Publikums möglichst unabhängig zu machen
sucht, lange Zeit eine edlere Richtung behauptet. Indem es neben
dem städtischen Theater eine Anzahl kleinerer Bühnen in den Land-
gemeinden gab, die, wenn sie auch nichts Neues brachten, doch die
älteren Stücke wiederholten, wurde die Theilnahme an der drama-
tischen Poesie in den weitesten Kreisen verbreitet.
Nur unter besonders günstigen Bedingungen pflegt sich das
Drama zu entwickeln ; es erscheint immer als die reifste und schönste
Frucht einer bedeutenden CuUurepoche. Die epische und lyrische
Dichtung haben auch bei anderen Völkern des Alterthums Pflege
gefunden, aber nur die poetische Kunst der Hellenen hat diese letzte ^
Bergk, Griecb. Literaturgeachichte III. 1
2 DRITTE PEKIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
und hüchsle Stufe vermöge eigener Kraft erreicht. Wo wir sonst
noch Versuchen in der dramatischen Poesie begegnen, sind sie nicht
aus innerer nationaler Entwicklung hervorgegangen, sondern eben
auf den mächtigen Einflufs griechischer Cultur zurückzuführen.
Die ersten Anfänge der Tragödie wie der Komödie treten uns
bereits in der vorigen Periode entgegen. Sie gehen von den mehr
in sich abgeschlossenen Doriern aus. Allein die höhere Ausbildung
der dramatischen Poesie ist fast ganz ausschliefslich ein Verdienst
des attischen Stammes, der vermöge der angeborenen Begabung
und der Universalität seines Strebens die getrennten Gebiete der
dichtenden Kunst zu einigen berufen war. Und erst jetzt war die
Zeit reif, um durch das Drama den Kreis der Dichtungsarten ab-
zuschhefsen. Denn naturgemäfs kann sich das Drama erst dann frei
und selbständig gestalten, nachdem sowohl das Epos als auch die
lyrische Dichtung zur Reife gelangt sind ; denn die dramatische
Poesie erinnert ebenso an das Epos, wie an die Lyrik, sie hat
Theil an den Eigenthümlichkeiten beider Gattungen und ist doch
selbst wieder etwas Neueres und Höheres. Die Anmuth der behag-
lichen epischen Erzählung, so gut wie der Zauber des lyrischen
Gesanges soll nur dazu dienen , um das dramatische Leben zu er-
höhen.
Gerade in diesem Zeiträume, und zwar vor allem in Athen,
waren die Bedingungen vorhanden , um die Blüthe der dramatischen
Dichtung hervorzurufen und zu fördern. Es war eine thatkräftige,
emporstrebende Zeit. Der Gesetzgeber der Tragödie war Augen-
zeuge der grofsen welthistorischen Ereignisse, welche damals das
Abendland wie den Orient erschütterten. Die Perserkriege fallen
gerade zusammen mit den Bemühungen des Acschylus und seiner
Kunstgenossen, der Tragödie, die den tiefen Ernst des Lebens aus-
spricht, eine würdige Form zu geben. Der Aufschwung der Gei-
ster unmittelbar nach den Freiheitskriegen kam diesen auf die höch-
sten Ziele gerichteten Bestrebungen entschieden zu statten. Eine
Epoche, die so reich war an grofsen Männern und tüchtigen Cha-
rakteren, so bildungsbedürflig und offenen Sinnes für alles Grofse
und Schöne, besafs nicht nur die rechte Empfänglichkeit für das,
was Dichter ersten Ranges schufen , sondern bot auch eben jenen
Meistern Anregung in Fülle dar. Der Staat war im Innern geordnet,
aber die Parteikämple dauerten fort; starke Gegensätze rangen mit
DIE DRAMATISCHE POESIE. EI>LEITO'G. ö
einander um die Herrschaft und gewährten so jene Freiheit der
Bewegung, welche vor allem der Komödie zu Gute kam, die bei
ihrer rücksichtslosen Kritik der öffentlichen Zustände keine beengen-
den Fesseln ertragen konnte. Nicht minder mächtige Wandelungen
vollziehen sich auf allen Gebieten des geistigen Lebens, neue Ideen
und Anschauungen kommen auf. Gerade in Athen vereinigen sich
wie in einem Brennpunkte die verschiedensten Richtungen, indem
man die höchsten Probleme zu lösen versucht. Indem überall das
Neue mit dem AUen im Kampfe liegt, entstehen schwere Conflicte,
aber zugleich erzeugt sich auch eine Vielseitigkeit und Höhe der
Bildung, wie sie früher unbekannt war. Das griechische Drama ist
recht eigenthch ein Abbild dieses vielbewegten Lebens ; hier finden
wir in edler, würdiger Form den tiefen Gehalt, den jene Zeit zu
Tage förderte, niedergelegt.
n
In dem. griechischen Cultus liegt von Haus aus ein dramati- Ursprung
sches Element.*) Nachahmende Tänze wie die Pyrrhiche oder den Drama.
Waffentanz gab es seit alter Zeit; die Tanzlieder hatten überhaupt
einen entschieden mimischen Charakter. Bald wurde die Wirkung
durch Verkleidung erhöht. Man nahm beim Festaufzuge die Gestalt
des Gottes und seiner Begleiter an und stellte einen Abschnitt der
heiUgen Geschichte in voller Gegenwärtigkeit dar^), und indem der
Chor einen feierlichen Hymnus oder ein Processionslied anstimmte,
ward die stumme Action belebt. In den verschiedensten Culten und
Gegenden Griechenlands treffen wir solche nachahmende Vorstel-
lungen an. Namentlich in mvstischen Culten wurden die alten Tra-
1) Vergl. die Bemerkungen Strabos X 467.
2) In Kreta stellte man die Geburt des Zeus dar, Strabo X 468, in Samos,
in Knossos auf Kreta, in Argos die Hochzeit des Zeus und der Hera; auch das
unter dem Namen JaiSaXa zu Platää gefeierte Fest gehört hierher. Der Knabe,
der zu Tanagra am Hermesfeste ein Lamm auf seinen Schultern um die Mauern
der Stadt trug, stellte den Hermes dar; an den Daphnephorien in Böotien und
Thessalien trat gleichfalls einer im Kostüm des Apollo auf, begleitet von einem
Jungfrauenchore. In Delphi stellte man den Mythus vom Kampfe des Apollo
mit dem Drachen in seinem ganzen Verlaufe dramatisch dar {orsnxriQiov Plut.
Quaest. Graec. c. 12), und auch andere Feste in Delphi entbehrten des mimischen
Elementes nicht. In Delos führte der unter dem Namen ysQavos bekannte Tanz
(PoU.IV 101) das Bild der aus dem Labyrinth durch Theseus befreiten Kinder vor.
1*
4 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
ditionen, die den eigentlichen Kern der Geheinilehre ausmachten,
nicht sowohl in Worten überUefert, sondern mimisch dargestellt und
so recht anschaulich gemacht.^)
Neben dem Ernste halte auch der naturwüchsige Volkshumor
Raum. Zumal an Festen, die recht eigentlich für das Landvolk be-
stimmt waren, herrschte ein derber, kecker Ton, wie im Dienste
der Demeter, wo sich unter dem Schutze der Rehgion frühzeitig
eine sonst unbekannte Freiheit der Rede entwickelte.'') Auch dem
Dionysusdienste, der dem Demetercultus nahe verwandt ist und
wie dieser mystische Elemente in sich schliefst, war dieses freie,
übermüthige Wesen, die Lust an Verkleidung und Mummerei nicht
fremd.*) Aber es ist nicht zufällig, dafs gerade aus diesem Cultus
das Drama hervorging. Dem Dionysus fällt recht eigentlich das
Mittleramt zwischen den Menschen und den höheren Mächten zu.
Er offenbart, wie kein anderer, seine erlösende und befreiende
Kraft. Sinnliches und Geistiges ist in dem Wesen des Gottes aufs
3) Diese Ceremonien und Darstellungen des Mythus heifsen xa Sqcofiiva,
Plut. de prof. in virt. c. 10: Sgcofievcov xal Ssixwuivcov raiv isQÜv, und de Is.
und Os. c. 3 und Ouaest. Graec. c. 12: t^s 8s 'HgcatSoe rc nXeloxa fivaxixov iyet
Xoyov, ov i'aaffiv ai ©v'iaSee, ix 8e rwv SQOifiivcov tpaveQcös ^SfisXrjs av TtS
a.vayo}yrfl> sixäaete. Euseb. praep. ev. III 1 : ol neql ras leXeras o^yiaoftoi xai
xt Sqci fteva av/ißoXixcüe iv xale lEQOVQyiaie xfjv xöjv TtaXaitüv ifivpaivei 8ta-
voiav. Pausan. II 37, 2: xa Xsyofieva ini xols S^tv/isvoie, d. h. der isQoe Xöyoe,
vergl. III 22, 2: äXXa xs is xa S^cö/isva Xiyovxee. Doch kam öfter auch münd-
liche Unterweisung hinzu, Galen de usu pari. VII 14: v}ms rjad'a TiQOi xois
BQOJfiivoie xs xai Xsyofie'vois vno xcöv iBQOfavxiöv. J^äfia, wenn es auch
nicht von diesem geheimen Gottesdienst gebraucht wird, berührt sich doch mit
den Sgcöfisva; denn Sqäfia ist Handlung, Aristot. Poet. 3, 4: o&ev xai Sqö.-
fjutxa xaXslad'ai xivss avrä <pa<nv, ort fiifiovvxat SQÖvxat.
4) Muthwilliger Spott und Hohn, der sich alles erlaubte und auch das
Unanständigste nicht vermied, war hier nicht nur durch die Sitte des Volkes
gleichsam geheiligt, sondern sogar gesetzlich erlaubt. Auf den Demeter- und
Dionysusdienst bezieht sich Aristot. Pol. VII 17, 8: et fii] na^ä xiai &eoTs xoi-
ovxois, oh xai xbv xotd'aafiov anoSiSoiatv 6 vbfwf ttqos Si xovxoie a^ir^atv
6 vofws xove b'yovxas rjXixlav nXiov jtQofixovaav xai VTxe^ avräv xai xexvotv
xai yvvaixcjv xifiaXtpsiv xove ü'eovs. Diese Bestimmung, welche nur die un-
reife Jugend ausschliefst, ist offenbar wörtlich aus dem Gesetze entlehnt.
5) In Athen wurde an den Anlhesterien die Gattin dos zweiten Archon
(des ßaatXsve) mit Dionysus vermähll, Dcmosthenes in Neaer. 73. Hesychius
Jioyvaov yäfxos. Die Erzählung bei Plutarch Nie. 3, wo ein Sklave des Nikias
den Dionysus darstellt, gehört wohl nicht hierher. Aber auch anderwärts wurde
die Hochzeit des Gottes dargestellL
DIE DRAMATISCHE POESIE. EI>LEITL>G. 5
Engste verbunden. Im Dionysus stellt sich das Naturleben in seinen
Gegensätzen dar; Licht und Dunkel, ausgelassene Freude und mafs-
loser Schmerz berühren sich unmittelbar. Dionysus, der nächtUche
Gott, ist den geheimnifsvollen Mächten der Unterwelt verwandt"),
steht aber auch den freundlichen Göttern des Lichtes nahe.') Die
Traube, das Kind der Sonne, ist sein Geschenk.*) Die Cuhur der
Rebe steht in Griechenland überall in unzertrennlicher Verbindung
mit dem Dienste des Gottes. Aus den ländUchen Festen zu Ehren
des Dionysus ist das Drama hervorgegangen. Hier herrschte unge-
zügelte Festlust®), hier war ganz von selbst der Anlafs zur Ver-
kleidung und Maskenspiel gegeben. Die Thaten und Leiden des Dio-
nysus, die Kämpfe, welche dieser Cuhus bei seinem ersten Auftreten
zu bestehen hatte, die Wunder, durch die der Gott seine siegreiche
Macht den Verächtern gegenüber offenbarte, die phantastische, bunte
Weh und der vielgestahige Thiasus, der den Gott umgab, boten der
Schaulust und dem dramatischen Spiel den dankbarsten Stoff dar.
Der Cultus des Dionysus vereinigt tiefen Ernst mit ausgelas-
sener Fröhlichkeit. Daher ist auf diesem Boden ebenso die Tragödie,
6) JMwaos ist nichts anderes als ■d'eos vvxios. Daher stellt Heraklit fr. 70
Schleienn. [132 Schuster] den Dionysus mit Hades zusammen: et fii] ya^ Jio-
vvatp TioitTtfjv iTiotoivro xai v/ivsov aofia alSoioiaiv, avaiSe'arar^ {av) sioya-
aro' (oixoe Si li4tSr^s xal Jiowaos, oreco fiaivovrat xai Xr^vat^ovaiv, wo auf
die Lieder der Phallophoren am Kelterfeste angespielt wird ; nur ist auch hier
dunkel, zu welchem Satzgliede aiSoioiaiv gehört,
7) In Delphi ist daher der Festkalender zwischen Apollo und Dionysus
getheilt. Dionysus ist Sonnengott und nächtlicher Gott zugleich (II. Argum.
Demosth. Mid.). Am kürzesten Tage ward in Delphi die mystische Feier be-
gangen, die recht eigentlich dem d'shs vvxtos gilt; im Frühjahr, wo man die
Wiedergeburt des Gottes feiert, veranstaltet man Freudenfeste für den Bgojuios,
den '7ax/os. Auch die alten Thraker verehrten besonders den "W.ios und den
Jiowaos. Nach der Darstellung des Aeschylus war Orpheus ein Diener des
Apollo (ihm schlofs sich wohl auch Lykurgus an) und ward deshalb von den
Bassariden getödtet (Eratosth. Katast. 24), aber am Schlufs der Tragödie mochte
der Tragiker auf die Identität beider Gottheiten hinweisen. Aber im Cultus
war man sich der Unterschiede zwischen Apollo und Dionysus, zwischen Päan
und Dithyrambus wohl bewufst, vergl. Athen. XIV 62S A.
8) Daher heifst in der alten Dichtersprache der Wein SöiQa Juoviaov.
9) Dionysus selbst fßhrt die Zunamen 'E/.£v&£qös C^Xev&e'^toe, 'Elevd'e-
Qeie) und Aiaios. Selbst die Gefangenen wurden gegen Bürgschaft an diesen
Tagen entlassen, Demostbenes Androt. 68; ebenso war Auspfändung untersagt
Demosthenes Mid. 10.
6 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
welche auf Erhebung des Gemüthes hinwirkt, wie die heilere Ko-
mödie erwachsen.") Die Hauptfeste des Dionysus werden im Herbst
und im Frühjahr gefeiert. An der Weinlese im Späljahr herrscht
ungezügelte Festlust; im Frühling, wo die Natur zu neuem Leben
erwacht und die Geburt des Gottes gefeiert wurde, war die Fröh-
lichkeit, indem man zum ersten Male den neuen Wein genofs, mehr
gehalten. Ein Lobgesang auf Dionysus ward an beiden Festen vor-
getragen, und daran knüpfen sich eben die Anßinge der Tragödie
und Komödie. Wenn man bei der Weinlese den Phallus, das Sjinbol
des Segens und der Fruchtbarkeit, im festUchen Aufzuge herumtrug,
begnügte man sich nicht mit dem Absingen des Processionshedes,
sondern ging bald zu improvisirten Neckereien und derben oder un-
anständigen Späfsen über. Man geifselte die Gebrechen und Thor-
heiten der allgemeinen Zustände, wie einzelner wohlbekannter Per-
sönlichkeiten. Aus dem Leben selbst, aus der Gegenwart und nächster
Umgebung nahm man den Stoff. Der schlagfertige Witz des Volkes
betheihgte sich unmittelbar an diesen Possen und steigerte die Aus-
gelassenheit. Hier treten uns die Ursprünge der Komödie entgegen,
während die Tragödie aus dem Dithyrambus hervorging.") Dem
Frühjahrsfeste gehört dieser enthusiastische Hymnus an, in welchem
die jauchzende, brausende Festlust sich mit würdigem Ernste ver-
band. Die wechselnden Schicksale des Gottes bildeten den Inhalt
des Gesanges, und das angeborene Talent des Volkes für mimisch-
plastische Darstellung führte allmählich zur Dramatisirung der heiligen
10) Die seltsame Notiz bei Donatus zu Terenz Andr. III 4, 11, die Tra-
gödie gehöre dem Dionysus, die Komödie dem Apollo, und comoediam cele-
brafites in Apollinis honorem aram conMittiebant, beruht auf einem Mifsvcr-
sländnisse. Dieser Grammatiker fand in einem älteren Commentare, es sei der
Altar des Apollo zu verstehen, weil in der Komödie vor dem athenischen Wohn-
hause auf der Bühne sich ein ßcofioe ayvieve befand (in dem dort angeführten
Verse des Menander ist an' ayvietoe zu lesen). Um nichts besser begründet
ist die Bemerkung in der Einleitung des Donatus zu Terenz: i« scena duae
arae poni solebant, dextra Liberi, sinistra eins dei, cui Itidi fiebant. Eine
solche Einrichtung wäre für Rom wohl passend, wenn nur nicht auch hier
wieder auf jenen Vers der Andria wieder Bezug genommen würde; dies Slück
ist aber bekanntlich an den Megalesien, nicht an den ludi ApolUnares auf-
geführt.
11) AristoU Poet. 4, 14: yavo/itvij ovv an* a^im« ovrocxtSiaariH^ Mal
axnti {fi TpayipSia) xal j] xcjfitp8ia, rj ftiv ano xäv i^a^xövxoiv rov Bt&v-
qaußov, Tj de ano löJv ra faXXma.
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITUNG. 7
Geschichte, indem der Vorsänger dem Chore gegenüber eine selb-
ständige Stellung einnahm. Wie in dem Sagenkreise des Dionysus
ernste und heitere Elemente ungeschieden neben einander lagen, so
zeigte sich dieses zwiespältige >Yesen auch in jenen Festspielen. Bald
ward der Kreis der dramatischen Stoffe erweitert. Man geht zu der
alten Heroensage über, aber das burleske Nachspiel, welches der
ernsten Tragödie folgt, hat alle Zeit die Erinnerung an die Ursprünge
treuhch bewahrt.
Wie der Dionysusdienst überall in Griechenland verbreitet war,
so auch die mit diesem Cultus verbundenen volksthümlichen Belu-
stigungen. Insbesondere bei den Doriern im eigentlichen Hellas wie
in den Colonien der Westraark führte das diesem Stamme cigen-
thümliche Talent der Nachahmung zu mimischen Darstellungen.'*)
Tragische Chöre traten unter den Doriern zuerst auf. Aber noch
weit behebtcr war der kecke Hohn muthwilliger SpottHeder, an denen
der schlagfertige Witz der Dorier besondere Freude fand , daher man
bald zu dramatischer Gestaltung fortschritt.'') Die Anfänge des Lust-
spiels gehören den Doriern unbestritten an. Allein die höhere Aus-
bildung des Dramas war den Attikern vorbehalten, und zwar gehen
die ersten Versuche von Ikaria aus.") Hier trat Susarion um Ol.
12) Daher nahmen auch die Dorier den Ruhm für sich in Anspruch, so-
wohl die Tragödie als auch die Komödie erfunden zu haben, Aristoteles Poet.
3,5. Nur durften sie sich nicht auf den Ausdruck S^äfia berufen; denn wenn
auch das Zeitwort Soäv der dorischen Mundart besonders geläufig sein mochte,
so gehört es ihr doch nicht ausschliefslich an.
13) Besonders in Sparta gab es mimische Tanzweisen in grofser Zahl,
nicht nur zu Ehren des Dionysus, sondern auch in anderen Götterdiensten
(Pollux IV 102 ff.). Aber die meiste Verwandtschaft mit der Komödie zeigen die
Darstellungen der sogenannten SeixriXixTai (über die Sosibius ausführlich ge-
schrieben hatte, s. Suidas Zoiaißioi 112,852), die sich nicht mit stummem
Geberdenspiel begnügten, sondern in schlichter volksmäfsiger Rede komische
Charaktere, wie den Arzt und Quacksalber aus der Fremde oder Sceneii des
gewöhnlichen Lebens, wie Obstdiebstahl, darstellten, s. Sosibius bei Athen.
XIV 621 F, wo die Verwandtschaft dieser Deikelikten mit den Phallophoren und
ähnlichen Possenspielen, die an den verschiedenen Orten immer auch einen lo-
kalen Charakter annahmen, anerkannt wird.
14) Ikaria ist die Heiniath sowohl der Tragödie als der Komödie, Athen.
II 40 A : ano fiid^^i xal t] t^s rgaycoSias evQeaiS iv ^IxaQico r^s !^tt<x^ä ev-
Qi&T}, xai xaz avzov rov rrs r^vyrji xaiQov' aq>' oh Srj xal r^yei^Sia x6
nQcörov ixkr^dTi t; xü)fX(^Sia; nur hat wohl der Epitomator den Gedanken nicht
ganz genau wiedergegeben.
8 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
49 — 54 zum ersten Male mit einem komischen Chore auf. Von hier
stammt Thespis, der den tragischen Chor aus seiner Heimath nach
Athen verpflanzt. Fortan bheb Atlien der eigenthche Sitz der drama-
tischen Poesie, die nur in einer grösseren Umgebung, inmitten eines
bewegten Volkslebens, nicht in der Stille einer kleinen Landstadt
gedeihen konnte. Die Herrschaft des Pisistratus, der für die neue
Kunst günstig gestimmt war und, wenn man will, selbst ein ge-
wisses Schauspielertalent besafs, war dieser Entwicklung forderlich.'*)
Durch die Gründung eines Wettkampfes für tragische Chüre Ol. 61
war ein fester Boden gewonnen. Aus den pohtischen Verhältnis-
sen Athens erklärt sich genügend, wie die Komüdiendichlung, ob-
schon ihr Ursprung hoher hinaufreicht, geraume Zeit sich in einer
gewissen Verborgenheit hält, während die Tragödie sich rascher und
stetiger entwickelt und dann erst die Komödie diesem Vorgange
nachfolgt. Zunächst schied sich die Tragödie vollständig vom Di-
thyrambus, wenn auch anfangs die Grenzhnie noch schwankend sein
mochte. Beide Galtungen verfolgen von jetzt an selbständig ihren
eigenen Weg. Bald führte der geläuterte Kunstgeschmack zu einer
Sonderung der zwiespältigen Elemente in der tragischen Chorpoesie:
das ernste, würdevolle Trauerspiel legte die Satyrmaske ab, die fortan
dem heiteren, neckischen Nachspiele verbheb. Nun machte die dra-
matische Kunst rasche Fortschritte, und seit Ol. 70, noch mehr aber
nach glücklicher Beendigung der ruhmvollen Perserkriege gelangen
alle Gattungen, Tragödie, Satyrspiel, Komödie, gleichmäfsig zu immer
reicherer und reiferer Ausbildung. Angebahnt und vorbereitet war
diese Entwicklung schon längst, enlliäU doch das homerische Epos
dramatische Elemente in Fülle, und auch der lyrischen Poesie war
der dialogische Vortrag nicht fremd. Aber erst jetzt, wo das Epos
sich ausgelebt, die Lyrik ihren Höhepunkt erreicht hatte, war die
Zeit gekommen für die selbständige Schöpfung des nationalen Dra-
mas, welches ebenso an der objecliven Haltung des Epos wie an der
subjecliven Empfindung der lyrischen Dichtung Theil hat und ver-
möge dieser innigen Verbindung der früher gesonderten Gebiete doch
etwas wesenthch Neues ist. In der dramatischen Poesie, welche
eine Handlung unmittelbar vergegenwärtigt und durch Wechsel-
15) In einer Dionysusinaske zu Athen, die wohl eben in dieser Zeit auf-
gestellt ward, glaubte man die Züge des Tyrannen wiederzufinden, Athen.
XU 533 C.
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITUNG. 9
gespräch und lebendige Mimik allem den Schein der Wirklichkeit ver-
leiht, erreicht der nie rastende hellenische Geist die höchste Staffel
der Kunst. Die dramatische Dichtung ist die populärste, weil das
menschliche Leben ihr ausschüefslicher Gegenstand ist, und übt die
unmittelbarste Wirkung aus, da sie ein getreues Abbild der Wirk-
hchkeit , mit allem Reiz und Zauber der Kunst ausgestattet , auf der
Bühne vorführt. Eine Zeit, die so mächtige, welterschütternde Er-
eignisse durchlebte, so reich an grofsen Thaten und tüchtigen cha-
raktervollen PersönHchkeiten war, mufste die begabten Dichternatu-
ren fast mit Nothwendigkeit auf dieses Ziel hinweisen und zugleich
im Volke die rechte nachhaltige Empfänghchkeit für die neue Dichtart
wachrufen.
Tragödie und Komödie, obwohl auf gemeinsamem Boden er-
wachsen , sind doch von Anfang an streng gesondert. Jede Gattung
hängt mit einem anderen Feste zusammen.
Aristoteles bezeugt, dafs die Vorsänger des Phallusliedes den
ersten Anstofs zur Komödiendicbtung gaben. Wenn man bei der
Weinlese dem Dionysus ein Dankopfer darbrachte, trug man bei
der Processiou einen Phallus voran, und dabei wurde zu Ehren des
Gottes ein keckes, lustiges Lied angestimmt; in den Pausen, oder
wenn das Lied zu Ende gesungen war, wandte sich die übermüthige
Laune gegen den ersten besten aus der Menge; man neckte und
verhöhnte die Begegnenden.'^) Ein deutliches Bild von den ersten
16) Der Phallus, das Symbol des Dionysus (des 'EXev&s^evs in Athen,
Schol. Arisloph. Ach, 243 ; als phallischer Gott heifst Dionysus selbst 6od-6s, Athen.
II 38 C. V 179E), wurde in der Procession vorangetragen (Plutarch de cup. divit.
c. 8. Herodot führt diesen Brauch, TtofiTir; tov fa/.h)v, fa/.Xos 6 t(Ö Jioviaco
Tieftnöfisvos U 49 auf den Seher Melampus zurück ; Heraklit fr. 70 Schi, bezieht
sich auf die Procession und die dabei abgesungenen Lieder, Tgl. auch Hesychius
nt^ifaXXia' tio/itct] diovvaco Ts)MVfiitnj twv ipaXXwv), daher auch später die
attischen Colonien, wie sie an den grofsen Panathenäen Opfer sandten (Schol.
Aristoph. Nub. 386), so auch an den Dionysien einen Phallus darbrachten,
und die gleiche Yerpflichlung lag Mohl auch den Bundesgenossen ob, natür-
lich an den grofsen Dionysien, weil nur an diesen die Vertreter auswärtiger
Staaten sich betheiligten. So ist es auch erklärlich, dafs die herkömmlichen
Späfse der alten Komödie mit Vorliebe an den Phallus anknüpfen. Aristophanes
tadelt darum seine Kunstgenossen (Nub. 538), hat aber selbst dieses Motiv
keineswegs verschmäht. Die Lieder, welche man bei der Procession anstimmte,
heifsen 9paP.^.»xa (Arisloph. Ach. 261), tfaX)M<fOQixa, *i9^iyß>Uot (dieser Ausdruck
bezeichnet sowohl die Sänger als auch das Lied selbst). Das Strophische war
10 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Anfängen des Lustspiels gewährt uns noch Aristophanes an einigen
Stellen seiner Komödien.") An den ländhchen Dionysien in Attika,
die nichts anderes sind als das Fest der Weinlese, welches man in
eine spätere Zeit des Jahres verlegte , hat sich der alte Brauch un-
verändert erhalten, und an den Lenäen, dem städtischen Kelterfesle,
traten zuerst in Athen selbst die Chöre der Phallophoren auf. Mit
dem Feste der Weinlese hängt die Komödie zusammen.'*) Darauf
geht auch die alte Benennung TQvyqjöia.^^) Daher empfing der Sieger
im Wettkampf der komischen Chöre einen Krug Most oder Wein.'^°)
Der übhche Name Komödie deutet auf die ausgelassene Festlust hin,
welche die dem Dionysus geweihten Tage kennzeichnet.") Man ge-
ein wesentliches Element. Die Phallophoren stimmen nach Semus bei Athen.
XIV 622 C einen Hymnus auf Dionysus an , sha nQOSr^exovres iTcä&a^ov ovi
av nQoeXoivro', daher hiefsen die Sänger und ihre Schmähreden auch iufißoi
(Athen. XIV 622 B), in Syrakus iafißiaxai (Athen. V 181 C), wie auch Epicharmus
die für einen solchen Chor bestimmten Spottlieder des Aristoxenus von Selinunt
lamben nach alter Art {ta/ußol xaxa rov aQx.f^ov xQÖnov) nennt. In der
Regel aber waren es improvisirte Späfse; dabei heifsen die Sänger auch atro«
Mäß8aXoi, (Athen. XIV 622 A).
17) Aristoph. Acharn. 241 If. und Frösche 316 ff.
18) Schol. Plato Rep. III 394 B : xcoficp8ia . . . nguTSQov fiev if^ ila^orTjri
rivi xal xaQTtäv avyxoftiSfi (d. h. der rovyTjrös) ytyvo/te'vrjs.
19) TQvycpSia (bei Aristophanes auch r^vytpSoi, zQvyoSai/uovsg, r^ytxol
XOQoi) ist von xQvyr], die Weinlese, abzuleiten, Athen. II 40 B: xal xar' aix'ov
xov T^S XQvyr,s xaiQÖv {evQi&T} 17 XQaycoSia), a<p ov Srj xai x^vyq>8ia to tiqu»-
rov ix7.rid'rj 17 xcofic^Sia, nur dafs hier (vielleicht durch Nachlässigkeil des Aus-
zuges) die Anfänge der Tragödie mit der Komödie vermengt werden. Die
Grammatiker leiten den Namen von xqv^ ab und beziehen denselben entweder
auf den ausgesetzten Preis, oder weil man in Ermangelung der Masken sich
durch Bestreichen des Gesichtes mit Trestern unkenntlich machte, Schol. Ari-
stoph. Ach. 499.
20) Schol. Aristoph. Ach. 499 : Sia xo XQvya t'na&lov Xaftßäyeiv, xovj-
t'axt viov olvov, ursprünglich, als das Fest mit der Weinlese zusammenfiel,
Most, später als die Feier verlegt wurde, neuen Wein, der erst gegen das Früh-
jahr trinkbar war (Plut. Qu. Symp. VIII 10, 3, 6), den man aber gerade hier nach
herkömmlicher Weise xqv^ oder yXevxoe nennen mochte, Proleg. n. xo)fio)Siae
III 7 ff: XQvy(j)8iav . . 8i,a xo xois ev8oxifiovaiv tni x^yh;vai(^ y/.evxoi 8i8oa&atf
ontd ixälovv xqvya, Schol. Plato Rep. 111 394 B.
21) Ko}^(i)8ia leitete man im Altertliume gewöhnlich unrichtig von xoV>7
das Dorf, Ortschaft ab, indem diese ursprünglich ländliche Lustbarkeit
erst später in der Stadt Eingang gefunden habe (Schol. Plat. vaxeQov St, anb
xov xaxa xcüftai ä^^aad'ai xavxrjv ngU' sii äaxv fiexeld'eh', x(ijuq>8ia mvo-
uäa&t], oder wie Pausanias bei Eu»<lathius 17Ö9: oi naÄmoi xtuäivtn xijv
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITUNG. 11
nofs reichlich die Gaben des Gottes, bei der Weinlese im Herbst
den Most, im Frühjahr den neuen >Yein. Neckereien konnten nicht
ausbleiben. Sie waren an diesen Tagen der allgemeinen Freude
gleichsam unter den Schutz der Götter gestellt. So pflegten nament-
hch Landleute, die auf ihren Wagen zur Stadt fuhren, die, welchen
sie begegneten, mit allerlei Spottreden zu necken"), und die An-
gegriffenen antworteten in gleichem Tone. Im Frühjahre an den
Choen hat dieser volksmäfsige Brauch sich lange in seiner ursprüng-
lichen Form behauptet*^), aber an den Lenäen gewann er erhöhte
Bedeutung ^^^3, daher die Anfänge der Volksposse mit diesem Feste
zusammenhängen. An den Lenäen ward der Cultus des Dionysus
mit dem Geheimdienste der eleusinischen Göttinnen verknüpft.") An
den Festen der Demeter war Neckerei und Lästerung von jeher ge-
stattet. Aus dieser Redefreiheit des Demeterdienstes ist die iambische
EvQsaiv TOI oivov qSeiv kfsvoov xal ToiiS iavxöiv tctoftr^as xaxoXoysTv, o&ey
iöged'T; xal rb xojfiqtSeTv). Diese Etymologie gehört den attischen Alterthums-
forschern an, und ihre Zunflgenossen bei den Doriern benutzten dies als Be-
weis für die dorische Herkunft der Komödie, indem sie geltend machten, der
Ausdruck xcöfiTj sei der dorischen Mundart eigenthümlich , den Attikern fremd
(Aristot. Poet. 3, 6, Proleg. n. xcoficoSias III 5), was nicht begründet ist. Der Name
hängt vielmehr mit xßjjaos, xw/Mtgetv zusammen, wie auch Aristoteles andeutet
(ü5s xcofitgSovS ovx ano rov xcofiä^eiv Xe/^d'dvras , aX)M rp xara xcöfias ti^mvi]
cnifinl^oftEvovs ix rov aazecos). Kcöfios (Hom. Hymn. in Alerc. 481 , Hesiod
Schild 281) bezeichnet das Herumschwärmen in den Strafsen eines Ortes, wo-
mit gewöhnlich ein lustiges Gelage beschlossen ward; namentlich an den Dio-
nysusfesten pflegten die jungen Leute scherzend und singend durch die Strafsen
zu ziehen. In Athen bildet der xäi/ios noch später an den grofsen Dionysien
einen integrirenden Theil der Festfeier; an den Lenäen vertrat die navwxis
die Stelle des Komos.
22) Auch stellten sich die Höhnenden wohl auf die Wagen der Bauern,
um so besser gesehen und gehört zu werden, Schol. Lukian Eunuch. 2.
23) Daher die sprichwörtliche Redensart ra ix rcöv ofia^cov axa fifiaxa,
vgl. auch Harpokration nofinsia. Die Choen meint offenbar Plato Leg. I 63" ß,
wenn er sagt, iv rale afiä^ais sei ganz Athen im Weine berauscht.
24) Wenn Photius u. a. Gr. (ra ix rcöv dfza^öiv) sagen: tb 8' avro xal
Tols Ar]vaiois vaisQov inoiovv, als wäre diese Sitte hier erst später aufge-
kommen, so ist dies unrichtig. Die Sitte ist am Kelterfest ebenso alt wie an
den Anthesterien; vielleicht soll nur angedeutet werden, dafs, als später das
Kelterfest verlegt wurde, sich der Brauch erhielt.
25) Der mystische lacchus Sohn der Persephone: diese JSdreiQa (oder De-
meter) ist nicht Athene, wie SchoL Aristoph. Ran. 378 sagt : JSo^eiQav eis at^ijs.
Aristoteles Rhet. III 18, 1419 A 3.
12 DRITTE PERIODE VO.N 500 BIS 300 V. CHR. G.
Poesie des Archilochus erwachsen , die mit der alten attischen Ko-
mödie so nahe verwandt ist. In Aegina traten Frauenchöre auf,
welche ihr Geschlecht mit kecken Schmähreden angriffen, während
sie die Männer verschonten^), und die gleiche Sitte ist für Epidaurus
bezeugt. In Athen genossen die Frauen an dem Thesmophorien-
feste die gleiche Freiheit.") Ebenso war es Sitte, an den Eleusinien,
wenn der Festzug zu Ehren des mystischen Dionysus, des Genossen
der Demeter und Persephone, sich am 19. Boedromion auf der hei-
hgen Strafse von Athen nach Eleusis begab und den Kephissus über-
schritt, die Procession mit derben Späfsen zu empfangen.*®) Die
Lenäen also, wo die Hohn- und SpottHeder des Dionysusdienstes
sich mit den altherkömmlichen Späfsen und Possen des Demeter-
cultus berührten , waren der rechte Boden , um die Keime des Lust-
spiels zu zeitigen.***)
Die Tragödie ist aus dem Dithyrambus hervorgegangen. Die-
ser Gesang gehört dem Frühlingsfeste ^°), in Athen den städtischen
Dionysien, an. Nach herkömmlicher Sitte wurde dem Dionysus ein
Bock geopfert.^') Der Chor führte seine Reigentänze auf, indem er
26) Herodot V 83 : d'vairjaC rs xal xoqoXai yvvaixr;totai icsQxofioiai iXä-
axovro, x^QTjyöJv aTtoSeixwfievcov ixaTtor] lav Saifiövcov Säxa avS^cöv xtA. ;
denn die beiden Göttinnen Damia und Auxesia stellen nur gesondert das Dop-
pelwesen der Demeter dar, die ebenso als zürnende und strafende wie als
Segen spendende Gottheit ihre Macht offenbart,
27) Photius: ^XT}via' soqttj 'Ad'riVr/aiv ... iXoiSo^ovvxo 8 iv avtri vv-
xrbs ai yvvalxee aXlrj^atS' ovrcoe EvßovXoi.
28) Hesychius yetpvQts und ysfVQiarai, daher yeipvQi^eiv und yayvQtaftoi
(Strabo IX 400) Schmachreden bezeichnet.
29) Daher weist das Etym. Magn. (Tgayf^Sia) die Komödie den Festen des
Dionysus und der Demeter zu. — Wie die Stammesverwandtschaft zwischen
den Hellenen und den altilalischen Völkerschaften sich vielfach in volksraäfsi-
gen Bräuchen und Instituten kund giebt, so ist auch auf italischem Boden das
nationale Lustspiel aus gleichen Anfängen erwachsen, vgl, Horaz Ep. II 1, 139 ff,
30) Plato Leg. III 700 B bezeichnet ganz richtig das Wesen des Dithyram-
bus: xai (iDm (elSoe <üSr;i) Jtorvaov yt'pean , olftui , St9v^aftßoe Xeyöfteva.
Daher ist auch die attische Tragödie mit den grofsen Dionysien verknüpft ; un-
richtig hat man versucht, die Anfänge dieser Gattung auf die Lenäen zurück-
zuführen,
31) In dem illustrirtcn attischen Kalender (Philol, XXII 385ff.) wird die Zeit
der städtischen Dionysien durch zwei Frauengeslalten , von denen eine einen
Kranz in der Hand trägt, dann durch zwei Männer bezeichnet, von denen der
eine, eine untersetzte, kräftige, satyrhafte Grslalt. eint'n Bock zum Opfer führt,
DIE DRAMATISCHE POESIE. EIXLEITUiNG. 13
den Altar und das Opfer umkreiste. Später ward daher auch der
Bock als Preis dem siegreichen Chormeister zuerkannt. Aber nicht
deshalb heifsen die Chöre tragische, sondern weil die Sänger in der
Maske der Satyrn, mit Ziegenfellen bekleidet, auftraten.^) Dies
Kostüm pafste, so lange Mythen aus dem Sagenkreise des Diony-
sus den Inhalt der Choijlieder bildeten und das bäuerische, groteske
Wesen vorherrschte. Sowie man zur Darstellung heroischer Mythen,
zu ernsten und würdigen Stoffen überging, gab man die Satyrmaske
auf. Aber der hergebrachte IS'ame^^) verblieb nach wie vor der ern-
sten Gattung des Dramas, während man das Nachspiel, welches den
Charakter der alten Volkslustbarkeit festhielt, Satyrdrama nannte.*^)
III
In Athen wurden im sechsten Monat des attischen Jahres, im Feste des
Poseideon, der ungefähr unserem December entspricht ^^), die länd- Aiiien.
der andere, schlank und jugendlich, einen Widder geleitet. Ersterer ist das
herkömmliche Opfer des Dionysus. Der Widder geht wohl auf das Fest Pandia,
denn an die Diasien ist nicht zu denken, da sie in den Anthesterion fallen,
also den Dionysien vorausgehen. Der Bock ward dem Dionj-sus nach der ge-
wöhnlichen Ansicht (Pausanias bei Eustathius 1769, Euanthius de trag.) geopfert,
weil er den Rebstock benagt und schädigt; darauf geht das bekannte Epigramm
des Euenus Anthol. I 97 lac. n. 7 : Kfjv (le fäyrjs ini gi^av, oficos exi y.aoTto-
tpoQTjaoi, oaaov inianelaal aoi, tqäye, 9'vofiivco.
32) Tqayiy.oi rgönos, xQayiy.oi xoqoC ist gleichbedeutend mit aaxvQiicoi
(Suidas ^AQioJv I 1, 716). Die richtige Erklärung von roayojSoi, xQayc^Sia findet
sich neben anderen mehr oder minder verfehlten im Etym. Magn. T^aycoSia . . ,
ort T« 7io/.Xa Ol yfiQoi ix aarvQcov awiaravro, 6xS iy.äiurvv Tqäyovs. Die ge-
wöhnliche Deutung im Alterthume führt den Namen auf den Bock als Preis des
Siegers zurück.
33) Tgayixoi xoQol, rgaye^Sia.
34) ^TvQoi, aaxvQixov Bgäfia.
35) Die Daten des attischen Kalenders auf unsere Zeitrechnung zurück-
zuführen ist mifslich. Abgesehen von der regelmäfsig wiederkehrenden Ver-
schiebung der Monate, die durch den Charakter des Mondjahres bedingt ist,
welches von Zeit zu Zeit die Einfügung eines Schaltmonates erforderte, unter-
liegt auch die absolute Feststellung der in Griechenland üblichen Zeitrechnung
vielfachen Bedenken. Später sind nicht nur im ionischen , sondern auch im atti-
schen Kalender die Monate um eine Stelle vorgerückt, so daCs z. B. der Poseideon
dem römischen Januar (Plutarch Caes. 37), der Anthesterion dem römischen
März entspricht (Plutarch Sulla U, Appian B. Civ. ü 149; ja Macrobius Sat.
I 12, 14 setzt sogar den Anthesterion dem April gleich; dies gründet sich jedoch
mehr auf eine etymologische Combination, als auf chronologische Berechnung).
14 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
liehen Dionysien**), im achten Monat, im Anthesterion (Februar),
die drei Tage dauernden Anthesterien gefeiert^); darauf folgten im
neunten Monat, Elaphebolion (März), die städtischen oder grofsen
Dionysien.^) Besondere Schwierigkeiten macht die Feststellung der
Lenäen , die nach der Ansicht Neuerer bald mit den ländlichen Dio-
nysien , bald mit den Anthesterien zusammenfallen sollen. Allein dafs
die Lenäen ein selbständiges Fest waren, ist sicher, und wenn die
Ueberlieferung der alten Grammatiker dasselbe dem siebenten Mo-
nate, dem Gamelion (Januar), zuweist, müssen wir uns dabei be-
ruhigen.*)
Die Cultur des Rebstockes und der Dienst des Dionysus stehen
36) Ta xar' äyQove (oder 8^/iove) Jiovvaia.
37) Der erste Tag der 'Avd'eatriQia, die sogen, nt&oiyta, fallen auf den
elften, die Xoee, der Haupttag der Feier auf den zwölften, die Xvr^ot auf den
dreizehnten Anthesterion.
38) Tä iv aazsi {aarixa oder fieyaXa) Jtovvoia, nicht selten auch schlecht-
hin Jiovvaia genannt, als das glänzendste Fest.
39) Aufser den äbereinstimmenden Berichten der Grammatiker ist das
Hauptzeiignifs für die Feier der Lenäen die vielfach mifsverstandene Erklärung
des Plutarch (fr. XI 29) bei Proklus zu Hesiods W. u. T. 504: IIlovTaQxoe ovSeva
yrjal firjva yirjvaitSva xaXslad'ni TiaQo. Boicorols, vnoTtTBvei Si rj rov Bovxnriov
avxov Xeyeiv, oe ioriv t]kiov xov aiyoxe'Qcov Siiovros . . . . rj rov Eq/nalov, oe
iart ftera rov Bovxäxiov xai sie lainov iQxofisvos xco rafirjXimvi , xad"' ov
xai ra yirjvala nag^ 'yid'Tjvaioie, In der Gleichstellung des Lenäon bei Hesiod
mit dem böotischen Bovxanoe folgt Plutarch den älteren Erklärern. Und diese
Parallele ist gegründet; denn in Hesiods Zeit war der Lenäon der erste Monat
nach der Sonnenwende, und im ersten Monat des böotischen Jahres (welches eben
mit dem Wintersolstiz oder Eintreten der Sonne in das Zeichen des Steinbocks
begann), im Bovxnrioe, steht die Sonne im Zeichen des Steinbocks. In den
rj/iara ßovSoQa bei Hesiod fanden diese Erklärer mit Recht eine Bestätigung
dieser Ansicht. Dagegen die Parallele des Hesiodischen Lenäon mit dem Hermäus,
dem zweiten Monat des böotischen Kalenders, gehört dem Plutarch eigenthüm-
lich an. Er schliefst: der ylrjvaiMv mufs von dem Feste der Lenäen seinen Namen
erhalten haben; diese werden zu Athen im Gamelion gefeiert; dieser entspricht
dem böotischen '£^^^«(0«; folglich ist der ^i;;»'«««»' diesem gleichzustellen. Plu-
tarch hat dabei den attischen Kalender im Auge, daher er auch (juaest. Symp.
III 7, 1, 2 die Anthesterien und den Monat Anthesterion dem dritten böotischen
Monat, dem ngoararrj^ioe gleichsetzt. Dafs in der klassischen Zeit die Lenäen-
feier noch in die Winterszeit fällt (Januar), deutet auch Plato Sympos. 223 C:
oT£ fiaxQÜ>v riöv wxrtSv ovacäv an. Denn Agathon hat seinen ersten Sieg an
den Lenäen gewonnen. Willkürlich hat man wegen der 30,000 Zuschauer diesen
Sieg auf <Me grofsen Dionysien beziehen Mollen, wo die Erwähnung der langen
Nächte ganz unpassend sein würde.
DIE DRAMATISCHE POESIE. EI>LEITU>G. 15
in engster Verbindung. Wie der Gott als Beschützer des Weinbaues
verehrt wird, so haben auch seine Festtage darauf Bezug. Das
Hauptfest war natürlich die Weinlese, die in Griechenland in den
letzten Theil des September oder Anfang Octobers fällt ^°), wobei
die rehgiose Weihe nicht fehlen durfte.") Dies sind die Lenäen,
die, wie schon der >'ame bezeugt, nichts anderes als das Kelterfest
waren und daher gewifs ursprünglich auch im Herbst gefeiert wur-
den."^) Das zweite Fest sind die Anthesterien , wo man den neuen
Wein, der ausgegohren hatte, zuerst genofs*^), daher der erste Tag
des Festes, wo man die Fässer öffnete, eben danach benannt ist
{Ili&oiyia); der folgende Tag heifst das Kannenfest (Xoeg), weil
beim Schmause jeder einen Krug ungemischten Weines vor sich
hatte; der dritte Tag sind die Chytren {Xitqoi), weil man dem Her-
mes allerlei Früchte als Opfergaben in Töpfen darbrachte. Diese
Verbindung des Hermes und Dionysus hat nichts Auffallendes, da
H)) Hesiod W. u. T. 611 flF,
41) Daher ward im Pyanepsion (October) das Fest der 'Oaxo<p6^ta zu Athen
gefeiert. Hierhergehört auch ein attisches Bildwerk (Philo). XXII 385 ff.); es
ist dies kein eigentlicher Festkalender, sondern ein illustrirter Kalender. Hier
ist das Erntefest durch einen Knaben mit der Eiresione bezeichnet, die Wein-
lese durch einen Mann , der die Trauben mit den Füfsen ausprefst ; daneben
steht eine Kanephore, die man auf häusliche Opfer beziehen kann (Aristoph.
Acharn. 242); dann folgt das Zeichen des Skorpion, um den Eintritt des Win-
ters anzudeuten. Eine Beziehung auf die Lenäen oder andere öfifentliche Feste
darf man hier nicht suchen.
42) Von Xr,v6s, die Kelter, was etymologisch mit Xä^, laxTtXetv (Irp^os
ist 3iüs ylAKNOJ:, wie kr^vos, die Wolle, aus ^^XXO^ {lüxvr,}, entstanden)
zusammenhängt, leiten die .\lten den Namen des Festes Xr^vaia ab (nur Plutarch
bei Proklus zu Hesiod erwähnt eine abweichende Herleitung von Xr^voi, Wolle,
Wollenbinde), was die Neueren nicht anfechten durften. Daher heifst das
Kelterlied intXrjvios fii)MS (Athen. V 199A), Dionysus selbst y/ijvalo» (auf einer
Inschrift von Mykonus bei Le Bas Partie IV 2058, 24 (s. unten S. 2fi, A. 78) Jt]vsvs,
wohl nur verlesen für -^tjvsvs, obwohl anderwärts dieser Lautwandel vorkommt),
die Bacchantinnen ylr,vai. Heraklit (s. A. 6 S. 5) gebraucht von der bacchischen
Fesllust den Ausdruck Xr^vail^eiv (in gleichem Sinne Xrjvevsiv bei Hesychius).
Wenn also der Schol. Aristoph. Ach. 378 sagt, die Lenäen wären iv rcp /ustotiio^m
gefeiert worden, so ist dies zwar nicht für die Zeit des Aristophanes, wohl aber
für die Anfänge des Dionysusdienstes zutreffend. Nach den Grammatikern nannte
man das Lenäenfest auch^^fißooaia, womit offenbar der Most gemeint ist; auch
diese Benennung pafst eigentlich nur auf das alte Kelterfest im Herbst.
43) Im Antheslerion war der junge Wein frühestens geniefsbar, Plutarch
Ouaest. Symp. VIH 10, 3, 6; vergl. auch III 7. 1, 1 f.
16 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
beide GoUheilen gleichmäfsig zu den in der Unterwelt waltenden
Mächten in einem näheren Verhältnisse stehen. Der Monat Anthe-
sterion ist gerade wie der Fehruar der Römer vorzugsweise eine Zeit
der Reinigung und Sühne. Man dankt den Göttern für den Segen,
den sie gespendet, und bittet zugleich, da der Frühling naht, wo
alles in der Natur zu neuem Leben erwacht, ym die Fortdauer
dieser Gnade und Ihut daher alles Unlautere, alles, was den Zorn
oder das Mifsfallen der Götter erregen könnte, von sich ab. Zu-
gleich mit den chthonischen Gottheiten gedenkt man aber auch der
Verstorbenen, die in der Unterwelt weilen. Deshalb hatten die Chy-
Iren den düsteren Charakter eines Todtenfestes; denn nach altem
Volksglauben kehrten um diese Zeit die Geister der Abgeschiedenen
auf die obere Welt zurück.
Die Antheslerien haben ihre ursprüngliche Stelle im Festkalender
alle Zeit behauptet, während die Lenäen vom Spätjahr mitten in
den Winter verlegt wurden. Diese Verlegung erscheint bei einem
Feste, welches mit der Thätigkeit des Landmannes eng verwachsen
und daher an einen bestimmten Abschnitt des Jahres geknüpft war,
doppelt befremdlich. Wir greifen wohl nicht fehl, wenn wir diese
Neuerung auf das delphische Orakel zurückführen, welches alle Zeit
auf die Ordnung des religiösen Lebens der hellenischen Nation einen
weitreichenden Einfluss ausgeübt hat. Gerade in Delphi walten
eigenthUmliche Verhältnisse ob. Der Dienst des Apollo nimmt dort
die erste Stelle ein , ihm ist der gröfsere Theil des Jahres geweiht.
Dionysus mufs sich mit den Wintermonaten begnügen, wo Apollo
nach dem in Delphi'herrschenden Volksglauhen in entfernten, freund-
Hcheren Gegenden verweilte.**) Mitten im Winter feierte man auf
dem rauhen Parnafs zur Nachtzeit bei Fackelschein den Gelieimdienst
des Dionysus, zu dem sich Frauen von Nah und Fern einfanden;
auch die attischen Frauen nahmen an diesen Orgien, besonders in
der älteren Zeit, regen Antheil.") Nach dem Vorgange Delphis und
sicherlich auf ausdrückliches Geheifs des Orakels wurde mm riinh
44) Plularch de El apud Delphos c. 9 : rbv fiev nXXov irtnvror nnunt xi,""*'-
Trt« Ttegi TrtS &vaiae, aQxoftvov Sa x^tßtcüpo: ineyei^avTee tov Sid^gafißov,
■tbv Se natäva xaranaiaavras , xpels fifivas avr' ixeivov rovxov ttaxoKalovv-
Trti TOV d'eöv.
45) Pausari. X .'^2, 7 und X 4, 3. Diese Sitte mufs noch in der Zeit des
Pausanias sich erhalten haben.
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITLWG. 17
das allgemeine Volksfest der Lenäen in die winterliche Zeit verlegt.
Man mochte um so mehr geneigt sein, darauf einzugehen, da gerade
diese Zeit des Jahres, wo der Landmann von seinen Arbeiten aus-
ruht, an eigentlichen Volkslustbarkeiten vorzugsweise arm war.^®)
Diese Neuerung mufs frühzeitig eingeführt worden sein. Hesiod
beschreibt auf das Anschaulichste in den Werken und Tagen die
Leiden des Winters im Lenäon; denn so nennt er den Monat^),
ein deutlicher Beweis, dafs bereits das aUe Kelterfest verlegt war.
Die ionischen Niederlassungen in Kleinasien, welche von Attika aus-
gehen, haben in ihrem Kalender gleichfalls als Wintermonate den
Poseideou und Lenäon, auf den dann mit dem Beginne des Früh-
jahrs der Anthesterion folgt. In diesem Monate feierten sie das
Anthesterienfest genau an demselben Tage wie zu Athen."*^ Ebenso
dürfen wir bei den loniern die Feier der Lenäen in dem gleich-
namigen Monate voraussetzen. In Athen heifst dieser Monat Game-
hon ^®); dies ist wohl der alte Name, den dieser Monat, noch bevor
die Lenäen in denselben verlegt wurden, im attischen Festkalender
führte und auch später behauptete, während anderwärts die Benen-
nung abgeändert wurde.
Die Lenäen gehören der Stadt Athen an. Die Dionysien sind
46) So wurden ja auch die l4}uäa, die als Erntefest eigentlich sicher
einer früheren Zeit des Jahres angehörten, in Attika im Poseideon gefeiert. Bei
der Verlegung der Lenäen mag noch das Motiv mitgewirkt haben, die Frauen
von den delphischen Orgien möglichst zurückzuhalten.
47) Hesiod W. u. T. 504, das erste urkundliche Zeugnifs eines griechischen
Monatsnamens. Die Benennung selbst ist wohl nicht auf das böotische Askra,
sondern auf das lokrische Naupaktus zurückzuführen, wo dieser Theil des Ge-
dichtes entstanden ist. So gewinnt auch die Bemerkung des Schol. Aristoph.
Ach. 195: Jiovvaia eoQrrj Jioviaov, r,v r,yov NavTiäxrioi, die in der abge-
brochenen Fassung des Auszugs kaum verständlich ist, Bedeutung. Auch in
der Schrift über den Agon
48) Thukyd. U 15. In der alten Inschrift von Teos (CIG. ü 3044) [Roehl
497, 32] wird ein aydv an den Anthesterien unter den hauptsächlichsten Festen
dieser Stadt erwähnt; in der Inschrift von Kyzikus (II 3655, 20) findet eine Be-
kränzuiig statt: toIs l^v&eazr^Qiots iv rq d'eäxQci}. wo wir wohl an scenische
Spiele denken dürfen. Auch der Monat yirjvaioßäxxto: in dem dorischen Asty-
paläa, wo eine Bekränzung role Jtowaiots dv r^ ayävi röv iQayc^Bmv statt
finden soll (ü 2484, 16 AT.), ist wohl eher ein Frühlingsmonat, wie der Anthe-
sterion.
49) In Tenos hiefs dieser Monat, wie es scheint, 'Hgatciv.
Bergk, GriecL Liieraturgeschichie III. 2
18 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
eigentlich auch nichts anderes als das alte Kelterfest**'), welches aber
die Gemeinden jetzt ebenfalls im Winter, im Monat Poseideon, begin-
gen.^') Die grofsen oder städtischen Dionysien, unzweifelhaft jüngeren
Ursprungs, vielleicht erst seit der Zeit des Pisistratus"), sind gewisser-
mafsen eine Nachfeier oder Wiederholung des alten Frühjahrsfestes
der Anlhesterien. Aber begünstigt durch die Jahreszeit und nirgends
gehemmt durch alte Ueberheferung, konnte man sich vüUig frei be-
wegen. Die grofsen Dionysien verhalten sich zu den Lenäen und
Anthesterien, wie ein neu gegründeter prachtvoller Tempelbau, z. B.
der Parthenon, zu dem Erechtheion oder einem anderen allen Hei-
ligthume, an das sich zahlreiche ehrwürdige Erinnerungen heften.
War so die religiöse Bedeutung geringer, so wurde das Fest, wie
eben alle, welche später eingeführt wurden, mit desto grofserem
Glänze und Aufwände gefeiert. ' Das Fest heifst die städtischen Dio-
nysien, weil die Hauptfeier auf dem Marktplatze stattfand, zum Un-
50) Eine Erinnerung an die Identität hat sich wohl erhalten, wenn Ste-
phanus von Byzanz mit Berufung auf Apollodor sagt: yli^vaios, aycov Jiovvaov
iv oyQols. Doch könnte sich dies auch darauf beziehen, dafs das Arjvaiov
ursprünglich nicht zur Stadt gehörte, Schol. Aristoph. Ach. 202.
51) Die ländlichen Dionysien fielen nicht auf einen bestimmten Tag, son-
dern waren über den ganzen Monat vertheilt, so dafs auch die benachbarten
Gemeindeangehörigen sich an einer solchen Feier betheiligen konnten. Auch
die Dionysien im Piräus gehören in diese Kategorie.
52) Thukydides, der mit der älteren Geschichte seiner Vaterstadt wohl
vertraut war, nennt die Anthesterien aQX'''*oTe^a Jiovvaia (II 15), eben zum
Unterschiede von den grofsen Dionysien. Die Lenäen berücksichtigt er nicht,
weil diesen die Benennung Jioviaia nicht zukam , ebenso wenig die länd-
lichen Dionysien, da er nur die Feste der Stadt Athen im Sinne hat. Sicher-
lich wurde das neue Fest der städtischen Dionysien mit Genehmigung des
delphischen Orakels eingeführt: darauf ist wohl das Orakel in Hexametern bei
Demosthenes Mid. 52 zu beziehen. Dies scheint auch Aristophanes zu bestätigen,
der Xub. 311 mit den Worten rjQi t' dne^xof*^*'V Booftin x^Q^^ deutlich auf
diesen Götterspruch hinweist. Dagegen das zweite delphische Orakel in Prosa
(ähnlichen Inhalts ist das ausführlichere in der Rede gegen Makartatus 66, aber
das vorliegende ist doch wohl nicht aus jenem excerpirt) hängt damit nicht
zusammen und geht die Dionysien überhaupt nichts an. Das zweite dodonäische
Orakel verordnet Opfer und Chöre für Dionysus, Opfer für Apollo und einen
Ruhetag für Freie und Unfreie; hier handelt es sich unzweifelhaft um eine
aufserordentliche, einmalige Festfeier. Das erste dodonäische Orakel pafst, wie
es vorliegt, überhaupt nicht für den Zweck des Demosthenes; entweder ist es
unvollständig überliefert, oder der Herausgeber der Rede hat eine ungeschickte
Auswahl aus den ihm vorliegenden Urkunden getroffen.
DIE DRA>UTISCHE POESIE. EI>"LEITU>G. 19
terschiede von den Anthesterien , die an das alte Cultuslocal im hei-
ligen Bezirke, das sogen. Lenäon, gebunden waren.")
Man scheint zu glauben, dafs die Sitte, an den Lenäen und
grofsen Dionysien sowohl Komödien als auch Tragödien aufzuführen,
von Anfang an , nachdem ein Agon für scenische Spiele eingerichtet
wurde, bestanden habe. Dies ist äufserst unwahrscheinlich; denn
jene Einrichtung setzt eine ungemein rege literarische Thätigkeit
voraus, die sich erst allmäldich entwickelt hat. Thatsache ist, dafs
die Tragödie am frühesten eine feste Gestalt gewinnt. Schon Pisi-
stratus führte Ol. 61 einen Agon für tragische Chöre ein, und zwar
an den städtischen Dionysien.^) Denn der Dithyrambus, aus dem
die Tragödie hervorging , ist dem Frühlingsfeste des Dionysus eigen-
thümlich. Langsameren Schrittes folgt die Komödie nach. Väe nun
die beiden Gattungen der dramatischen Poesie stets eine selbstän-
dige Stellung behaupten, so trat diese Sonderung gewifs in den
Anfängen noch entschiedener hervor. Es ist nicht glaublich, dafs man
komische Chöre neben den tragischen sofort an den städtischen Dio-
nysien zugelassen habe, zumal da durch das Satyrspiel ausreichend
für heitere Festlust gesorgt war. Die Komödie gehört zunächst den
Lenäen an. Nur an einem Feste, welches seit AUers bestand, konnte
das Lustspiel auf die unentbehrliche freie Bewegung Anspruch machen.
Aus den bäuerischen Spottreden, die mit den Lenäen verbunden
waren, aus den improvisirten Liedern der Phallusträger, die an dem
alten Kelterfeste, gerade so wie an den ländüchen Dionysien ihre
Stelle hatten, ist die Komödie erwachsen.
So sind also ursprünglich die städtischen Dionysien für tragi-
sche, die Lenäen für komische Chöre bestimmt. Erst später, als die
Zahl und der Eifer der Dichter stetig zunahm und die Theilnahme
des Publikums an diesen Schauspielen immer lebhafter ward, hat
53) Gewöhnlich nimmt man an, die Benennung t« iv aarei Jiovvaia
stehe der ra xar' ay^oie Jiovxaia gegenüber. Das sogenannte yir^vaiov ge-
hörte offenbar ursprünglich nicht zu der eigentlichen Stadt, rergl, Schol. Ari-
stoph. Acharn. 202. Die Gegend , wo das Heiliglhum des Dionysus lag, hiefs
ytifxvai und war wohl eine Art Vorstadt, wie in Sparta. Thukydides frei-
lich II 15 scheint gerade den südlichen Theil der Unterstadt mit seinen Hei-
ligthümern, wozu das Lenäon gehört, zu den ältesten Theilen der Stadt zu
rechnen.
54) Auf die parische Chronik darf man sich nicht berufen ; denn die Er-
gänzung iv oaret, ist unzulässig.
2*
20 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
man gleichmäfsig an beiden Festen Tragödien und Komödien zu-
gleich aufzuführen begonnen. Tragödien lassen sich an den Le-
näen vor Ol. 90,4 nicht nachweisen'*'^); dagegen treffen wir an den
städtischen Dionysien bereits vor dem peloponnesischen Kriege Ko^
mödien an.'^) Daher wird auch hei den Stücken dos Aristophanes
und seiner Altersgenossen rcgelmäfsig vermerkt, ob die Aufführung
an den Lenäen oder städtischen Dionysien stattfand. Dafs man aber
die Komödie bevorzugt habe, widerstrebt allem Herkommen. Diese
Neuerung ist nothwendig für beide Gattungen gleichzeitig durchge-
setzt worden. Perikles wird der Urheber sein, und die Auszahlung
des Theatergeldes hängt wohl eben mit dieser Verdoppelung der
Schauspiele zusammen.
Dafs bei den uns erhaltenen Dramen der drei grofsen Tragiker
die Festfeier niemals näher bezeichnet wird, ist gewifs nicht zu-
fälhg.") Daraus darf man schliefsen , dafs sie in der Regel nur für
die grofsen Dionysien, denen die Tragödie eigentlich angehört, thätig
waren. Bei Aeschylus, der jene Neuerung nicht mehr erlebte, ist
dies selbstverständlich, aber auch Sophokles und Euripides, als die
angesehensten Meisler der tragischen Kunst, behaupteten dieses Pri-
vilegium, während Anfänger und Dichter untergeordneten Ranges
zufrieden sein mochten, wenn sie an den Lenäen einen Chor er-
hielten.^*)
Nun erscheint auch die verschiedene Einrichtung der scenischen
Spiele an diesen Festen im rechten Lichte. An den Lenäen wur-
55) In diesem Jahre gewann Agathon seinen ersten tragischen Sieg, Athen.
V 217 A: ini aQxovroi Evfpi](iov arefavovrai yitjpaiots.
56) Dies beweist die didaskalische Inschrift CIG. 229, wo Z. 2, 11 und
vielleicht 13 iv aarsi vorkommt; davon fällt Z. 2 wahrscheinlich vor den pelo-
ponnesischen Krieg, Z, 13 in Ol. 86, 1, während Z. 11 auf Ol. 96, 2 geht. Wenn
die Einrichtung des Theaters im Piräeus, wo ebenfalls Komödien und Tragödien
mit einander aufgeführt wiu-den, um Ol. 83 anzusetzen sein dürfte, könnte man
diese Neuerung eben jener Zeit zuschreiben.
57) Nur von der letzten Tetralogie des Euripides wird ausdrücklich be-
zeugt, dafs sie nach des Dichters Tode iv äaist zur Aufführung kam, Schol.
Aristoph. Ran. 67.
58) Wenn der Tyrann Dionysius seine Tragödien an den Lenäen auffüh-
ren liefs 01.103,2, so geschah dies wohl aus Berechnung; er mochte an den
grofsen Dionysien von Seiten der anwesenden Fremden mifsliebige Demonstra-
tionen erwarten, während er au den Lenäen von Seiten des attischen Publi-
kums mehr Rücksicht erwarten durfte.
DIE DRAMATISCHE POESIE. ELNLEITU>G. 21
den zuerst Tragödien, darauf Komödien gegeben. An den städtischen
Dionysien beginnt man mit dem Lustspiele, endet mit der tragischen
Tetralogie. Es geht also jedes Mal die später hinzugefügte Gattung
voran, während die von Anfang an bestehenden Chöre das Recht
behaupten, zuletzt aufzutreten.*^)
Ob es in Athen aufser den Lenäen noch andere scenische Spiele
gab , ist ganz unsicher.^) Wohl aber pflegten die Gemeinden, wenig-
59) Das Gesetz oder vielmehr Psepliisma des Euegorus bei Demosthenes
Mid. 10 bezeugt die Folge: orav rj TtOfiTifj r, r^ Jicrvacp iv ITeiQuieT xal oi
xcoucpSoi xai oi XQaycpSoi, xai 17 eTii Ar^vaico TtOftTTTj xal oi r^aycoSoi xal oi
xof/u(pSoi, xai idis ev äarsi JiorvaioiS ^ nofiTir; xai oi TtalSss (hier ist xal
oi ävS oss einzuschalten) xai 6 xcäuos xai oi xcaucoSoi xai oi ToaycoSoi. Auch
im Piräeus wird man früher nur Tragödien gegeben haben ; später kamen Ko-
mödien hinzu. Man hat ohne triftige Gründe die Echtheit dieses Gesetzes be-
zweifelt, welches uns natürlich nur im Auszuge erhalten ist. Man hat bei dieser
Aufzählung die Anthesterien vermifst. Ebenso gut hätte man an der Nicht-
erwähnung der Panathenäen und Eleusinien Anstofs nehmen können: an diesen
Festen wird eben schon ein früheres Gesetz die Auspfändung eines Bürgers
untersagt haben, vergl. Demosth. Timocr. 39; man vgl. auch das Gesetz von
Lampsakus GIG. 3641 B.
60) Der Schol. Aristoph. Ach. 504 kennt nur die scenischen Spiele der
Lenäen und grofsen Dionysien, doch ist ein solches Zeugnifs nicht entscheidend.
Diog. Laert. III 56: OQaavXXos Se <pr,ai. xai xa-ta rr,v rQaytxf;v xerqtxXoyiav
ixSolvai avxbv rovs SiaXoyovS' olov ixsTvoi rsr^aat S^äuaaiv ^ycoviXoyjo
Jiovxaiois, Ar,vaiois, nava&r/vaioie, Xvxqois xrtX. Dies ist ein unverständiger
Zusatz des Diogenes zu den Worten des Thrasyllus; denn die tetralogische
Form hat mit der Zahl der Feste nichts zu schaffen, gesetzt auch die That-
sache, dafs an vier Festen Tragödien gespielt wurden, sei richtig. Dafs in der
Blüthezeit der damaligen Poesie an den Panathenäen keine scenischen Spiele
gegeben wurden, ist gewifs; wenn in einer Inschrift (Ephem. Archaeol. ISdS,
3453) ein navad'rjvaixov d'e'aroov erwähnt wird, so ist darunter das von Lykurg
erbaute Odeum zu verstehen [s. Köhler zu CIA. II 176, 17]. Nach Lykurgs
Zeit könnten immerhin auch die Panathenäen das Drama gekannt haben, so
gut wie die Eleusinien (ßhangabis S13 axrjvixoi ayeöves der Tcxvixai TteQi tov
Jtövxaov, aber gewifs nur in beschränktem iMafse; denn in Eleusis war der
yvfxvixbs aycöv alle Zeit die Hauptsache). Schwieriger ist die Entscheidung
hinsichtlich des Chytrenfestes. Plutarch im Leben des Redners Lykurg § 10
sagt, er habe den Agon der xco/icoSoi an den Chytren, der in Vergessenheit
gerathen war, wiederhergestellt, allein die Deutung der Worte ist nichts we-
niger als klar; die meisten beziehen dieselbe auf eine Probe der komischen
Schauspieler für die städtischen Dionysien, allein auch diese Erklärung ist
bedenklich. Xir^ivot ayaivee erwähnt Philochorus Schol. Aristoph. Ran. 218,
aber welcher Art sie waren , ist nicht gesagt (an dem vorhergehenden Tage,
den Xöes, fand ein Wettkampf im Trinken statt). Die Worte des Aristophanes
22 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
stens die volkreicheren, an den ländlichen Dionysien dramatische
Aufführungen zu veranstalten. Diese Sitte mufs früh aufgekommen
sein"). Später, wo das Interesse daran sich steigerte, durchzogen
wandernde Schauspieler die ganze Landschaft. Zuschauer fanden
sich gewifs stets zahlreich ein; die Schauspiele der nahe liegenden
Ortschaften wurden selbst von Athen aus besucht. Daher begann man
frühzeitig, steinerne Theater zu errichten, wie im Piräeus®''), welches
wohl zu den Anlagen gehörte, welche Perikles um Ol. 83 durch
den Architekten Hippodamus aufführen liefs. Auch in Salamis und
Aexone werden Theater erwähnt, in Thorikus und Eleusis sind noch
jetzt Ueberreste solcher Anlagen erhalten. Das bedeutendste war das
Theater im Piräeus. Die Dionysien der Hafenstadt reihten sich den
beiden Hauptfesten Athens würdig an , daher auch der Staat einen
Theil der Kosten der Festfeier trug. Es fand wie in Athen ein Agon
sowohl für komische als tragische Chöre statt"), und in der guten
Zeit begnügte man sich hier wohl nicht mit Wiederholungen älterer
Stücke, sondern suchte auch neue Dramen vorzuführen."^) Sonst
gehen nur auf die nofinr} und den xä/uos an den Ghytren, die ebenfalls im
ylrjvaiov gefeiert wurden (in römischer Zeil hatten die ayoqavöfiot wohl nach
Analogie der römischen Aedilen die Leitung dieser Festfeier, s. Ephem. 199 Ar-
chaeol. Nova 1862, 1 199, 65). Wenn es in dem Briefe des Hippolochus bei Athen.
IV 130 D heifst: Ar^vaia xai Xvtqovs d'stoQÖn', so kann man dies auf die nouTir]
beziehen; aber wenn wir vorher, wo die Hochzeit des Karanus geschildert wird,
lesen (IV 129 ü): iTiei?ßnXXovai,v T]fäv oi xav rote Xvtqoh xoiie 'A&rjvTjatv kei-
xovQyrjaavxes , so geht dies wohl auf die xexvlTat ne^l Jiöwaov; denn an llhy-
phallen ist nicht zu denken, da diese gleich nachher auftreten. Vielleicht führ-
ten in der Diadochenzeit diese Künstler an den Ghytren mimische Darstellungen
auf, wie wir sie später in Athen antreffen (Philostr. Apollon. IV 21). Alkiphron
II 3 kennt Spiele an deu Lenäen, aber nicht an den Xöes und Xvr^oi. Aelian
H. An. IV, 43 kommt gar nicht in Betracht. Aus der Anekdote vom Tode des
Sophokles hat man geschlossen, dafs an den Choen tragische Dichter ihre Stücke
vorgelesen hätten; diese Erzählung, die unreife Trauben im Beginn des Früh-
jahres kennt, ist völlig werthlos.
61) Komödien mögen früher auf dem Lande gegeben worden sein, noch
bevor in der Stadt ein regelmäfsiger Agon bestand.
62) Thukyd. VIH 93: to nQoe t^ Movwxiq Jiovvaiaxov d'eaT^v.
63) Inschrift im GIG. 101, 29 und das Gesetz des Euegorus bei Demosthenes
Mid. 10. Die Form des Agon mufs auch in anderen Gemeinden nicht unbe-
kannt gewesen sein, wie Menander (Schol. Arisloph. Ach. 202): xar' ay^iie
tfay(^8oie rjv aymv Jiovvaia beweist; deim so mufs man den Vers ergänzen.
64) Was Aelian V. H. 11 13 von der Aufführung Euripideischer Stücke im
Piräeus berichtet, ist nach keiner Seite hin entscheidend.
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITUNG. 23
ist jedoch für die ländlichen Dionysien die Wiederholung älterer
Stücke als Regel zu betrachten ; namentlich die klassischen Arbeiten
der anerkannten Meister behaupteten sich fortwährend auf diesen
Bühnen. Aeschines trat, als er Schauspieler war, wie es scheint,
nur in Tragödien des Sophokles und Euripides auf.®*) Die Tragö-
dien erfreuten sich überhaupt vorzugsweise der Gunst des Publi-
kums^); aber auch Lustspiele wurden gegeben.") Bemerkenswerth
ist, dafs in A^xone das Theater nur für Komödien bestimmt war."*)
Die Mitgheder dieser Ortschaft waren wegen ihrer schhmmen Läster-
zunge berufen®®), und so erscheint die Vorhebe für das Lustspiel
begreiflich. Dafs bei diesen theatralischen Vorstellungen der Land-
schaft ein ziemlich ungezwungener Ton herrschte und der Schau-
spieler den Zuschauern gegenüber oft keinen leichten Stand halte,
geht aus den Schilderungen der Redner hervor.™)
Ueber die Zahl der Festtage an den Lenäen und erofsen Dio- ^*''' '**''
... 111 -1 r>- , • in Spieltage.
uysien sind wir nur unvollkommen unterrichtet. Sicher ist, dafs,
als die dramatischen Aufführungen eine gröfsere Ausdehnung ge-
wannen, auch die Festfeier in entsprechender Weise erweitert wurde.
65) Daher sagt auch Plutarch im Leben des Redners § 2: ava'/.außävtov
ini o^oXr^s ras nakatas XQayc^Sias.
66) Im Theater zu Salamis (CIG. 108,31) werden xQaycoSoi erwähnt; dies
schliefst jedoch Komödien nicht aus; nur gebührt den Tragödien die bevorzugte
Stelle.
67) In KoUytus wurden Tragödien und Komödien aufgeführt, Demosth.
de cor. ISO, Aeschin. Timarch. 157. Bemerkenswerth ist, dafs diese Gemeinde,
obwohl zur Stadt gehörend, doch fortwährend das Recht behauptet, ihre eige-
nen Dionysien zu feiern.
68) Inschrift aus Ol. 116, 1 oder 116, 4 (Philol. 22, 568, Uff.) [CIA. H 1, 585]:
aveinelv 8e ycai Jiowaicov roii xcofKoSoTi rdls Al^oavriaiv iv rcä O'edroep.
69) Stephanus von Byzanz unter Ai^a>%eta, daher Menander (xrevijjoo^os
fr. 5, com. IV 144 M.): y^avs ns yay.o?.6yos ex Svoiv Ai^coveoiv.
70) Die Dionysien wurden wohl in den meisten Gemeinden Attikas ge-
feiert, auch wo der Weinbau unbedeutend war oder gar nicht existirte. Sce-
nische Spiele dürfen wir aber doch nur in den bedeutenderen Ortschaften vor-
aussetzen. In Brauron lassen sie sich nicht nachweisen; an dem vielbesuchten
Dionysusfeste dieser Gemeinde, welches alle vier Jahre begangen wurde, fand seit
alter Zeit ein Rhapsoden wettkampf statt; daher war für das Drama kein Raum.
Später übten die herumziehenden Schauspieler diese Kunst wohl auch, ohne
dafs ein solches Fest die Gelegenheit darbot, wie Demosthenes (de cor. 262)
andeutet : denn Aeschines zieht offenbar zur Zeit der Weinlese als Tritagonist
im Lande herum, stiehlt übst aus den Gärten und wird dafür durchgeprügelt.
24 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Für die sUidlisclien Dionysien mflssen wir von Anfang an zwei Tage
ansetzen. Der erste Tag war für den Festzug , die kyklischen Chüre
und den Schmaus bestimmt, der folgende für den Wettkampf der
Tragiker. Sowie sich das Satyrdrama von der Tragödie bestimmt
absondert und man auf das ernste Drama regehuäfsig ein heiteres
Nachspiel folgen liefs, reichte ein Tag für die scenischen Auffüh-
rungen nicht mehr aus. Wahrscheinlich ward schon jetzt die Zahl
der Spieltage auf drei erhöht, sodafs an jedem Tage ein Dichter
mit zwei Stücken auftrat.") Um so leichter war später der Ueber-
gang zur tetralogischen Form. Als Aeschylus diese Compositionsweise
einführte, erlitt der Organismus der Festfeier gar keine Aenderung.
Jedem Dichter war ein voller Tag vergönnt, und damit war ganz
von selbst ein bestimmtes Mafs für den Umfang der Tetralogie wie
der einzelnen Dramen gegeben. Eine Beschränkung mufste eintreten,
als in der Perikleischen Zeit an beiden Ilauptfesten sowohl tragische
als komische Chöre um den Preis kämpften; denn die Thatsache,
dafs an demselben Tage Trauer- und Lustspiele gegeben wurden
und dafs man mit drei Spieltagen auskam, ist sicher.") Um Raum
für die Komödie zu gewinnen , niufsle die tragische Tetralogie sich
mit einem kürzeren Zeitraum begnügen.") Wenn äufserlich der
Unterschied zwischen den Dramen des Aeschylus, welche von
dieser Neuerung noch nicht berührt werden, und den Stücken
seiner Nachfolger nicht sehr merklich hervortritt, wenn sogar die
Tragödien des Aeschylus durchschnittlich kürzer sind als die des
Sophokles und Euripides^''), so darf man nicht vergessen, dafs der
71) Denn es hat wenig Wahrscheinlichkeit, dafs man sich mit zwei Tagen
begnügte; dann hätte man am ersten Tage die drei Tragödien, am anderen die
dazu gehörigen Salyrspiele aufführen müssen.
72) Dafür spricht besonders der ursprüngliche Betrag des sog. &ataQtx6v;
eine Drachme reicht eben für drei Tage hin.
73) Darauf geht wahrscheinlich die Notiz bei SuidasI 1, 718 über den Tra-
giker Aristarcli : os Tt^cüjoe eis ro vvv avxcJv (ifjxos ra Sqäfnara xaxearrjaev.
Arislarchs Wirksamkeit gehört eben dei Zeit an, wo diese Neuerung eingeführt
ward.
74) Eine Tragödie des Aeschylus zählt durchschnittlich 1100 Verse; nur
der Agamemnon überschreitet dieses Mafs erheblich. Bei Sophokles schwankt
die Verszahl der einzelnen Stücke zwischen 1300 bis 15Ü0 Versen; der Oedipus
auf Kolonus übertrifft an Umfang alle erhaltenen Stücke dieses Tragikers. Bei
Euripides zeigt sich ein gröfseres Schwanken: die kürzeste Tragödie sind die
Herakliden (1050 Verse), dann die Alkestis (1163), Hiketiden (1250), Andre-
DIE DRAMATISCHE POESIE. EI>LEITU>G. 25
Vortrag der ausgedehnten Chorgesänge in der älteren Tragödie ver-
hältnifsmäfsig viel Zeit in Anspruch nahm. Indem nun aber durch
die selbständige Entwicklung des dramatischen Elementes der Um-
fang der lyrischen Partien bereits sehr ermäfsigt war, war es nicht
so schwierig , für komische Chöre den nüthigen Raum zu gewinnen.
Gleich mit frühem Morgen begann die Vorstellung "), und man stellte
sich rechtzeitig im Theater ein. An den Lenäen, wo die Tage be-
deutend kürzer waren, mufste man noch sorgföltiger die Zeit aus-
nutzen.
Am achten Elaphebolion ward dem Asklepius ein Opfer dar-^'® ^^j' ^^^
gebracht, und der sogenannte Proagon als Einleitung der Festfeier Dionysien.
abgehalten. Da nun Ol. S9, 1 die Athener in einer Volksversamm-
lung am vierzehnten Elaphebolion den Waffenstillstand mit Sparta
genehmigen"^), mufs damals die Festfeier schon beendet gewesen
sein , und da , wie es scheint , zwischen dem Proagon und dem Feste
selbst stets ein freier Zwischenraum war, so müssen die vier Tage
der grofsen Dionysien auf den zehnten bis dreizehnten Elaphebohon
fallen.
Wir wissen, dafs die Lenäen im Monat Gameliou gefeiert wur-
den. Allein auf welchen Tag dieselben fielen, ist nicht überhefert,
wie wir überhaupt über dieses alte Fest, welches gewifs ursprünglich
einen sehr ausgeprägten religiösen Charakter hatte, nichts Näheres
wissen. Nur so viel läfst sich erkennen, dafs mit den Lenäen eine
nächthche Feier verbunden war, die dem Dionysus und zugleich
mache (1260); die höchsten Zahlen zeigen Ion und Iphigeneia in Aulis (1630),
Helena und Orestes (1700), die Phönissen (1765 Verse). Der Kyklops zählt nur
700 Verse, wie wohl der Umfang der Satyrdramen stets beschränkt war. Der
Rhesus sondert sich auch durch seine Kürze (990 Verse) von der Weise des
Euripides ab und erinnert an die Schule des Aeschylus. Wir können übrigens
nur den Umfang des einzelnen Dramas feststellen, nicht der Tetralogie; denn
uns ist ja nur die Aeschyleische Orestie (drei Tragödien ohne das Satyrstück)
erhalten. Wenn übrigens ein Drama, wie der Agamemnon oder Oedipus auf
Kolonus oder die Phönissen, das normale Mafs überschritt, wird der Dichter
sich eben in den dazu gehörigen Dramen kürzer gefafst haben, so dafs keine
Störung entstand.
75) Aeschines adv. Ctesiph. 76: xai a/na r^ ^/*t'Q<i fiysiio loie nqeaßsaiv
eis xo d'iaxQov (an den grofsen Dionysien).
76) Thukyd. IV 118. Der Proagon hat wohl stets dieselbe Stelle im Fest-
kalender behauptet.
k
26 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
(1er Demeter galt.^') Für solchen geheimen Gottesdienst ist der zwan-
zigste Monatstag die geeignetste Zeit; wir dürfen also wohl den
zwanzigsten Gamehon für die Lenäen ansetzen.'*) Eben an diesem
Tage wird auch der Agon der komischen Chöre stattgefunden haben,
steht doch die Ausgelassenheit des Maskenspielcs mit der Pannychis
in enger Verbindung und geniefst den besonderen Schutz des Dio-
77) Arislophanes hat in den Fröschen, die an den Lenäen aufgeführt sind,
dieses Motiv sehr glücklich benutzt. Daher sagt der Koryphäus des Chores der
Mysten V. 370: ifieis S^ avEyeiqexB fioXnr^v nal navwxiSae ras ruistiQae,
at rfße TtQtnovaiv eoqxtj. Dafs diese Pannychis zu der Festfeier der Lenäen
selbst gehört, dafs sie insliesondere auch der Demeter gilt, zeigt V, 390: nai
T^s ff^s ioQxr]e a^icos Tiaiaavxa xai axwxpavxa, wo der Chor die Demeter,
die Herrin der heiligen Orgien, anruft. Dafs der Fackelträger der eleusinischen
Göttinnen mitwirkte, bezeugt der Schol. Aristoph. Frösche 479: iv xols yirj-
va'Cxois dycöffi xov Jioviaov 6 SqSotxos xaxextov Xa/indSa Xeyei ' xaXeTxB
&eöv' xai oi imaxoiovxes ßocjai' ^IsfieXT^'i' "lax^e nkovxoSöxa. Auf diese Pan-
nychis zielt vielleicht auch der Vers des Kallimachus (Schol. Aristoph. Frösche
216). Es gab zwei Heiligthümer des Dionysus. Das älteste ward nur einmal
im Jahre, am zwölften Anthesterion (den Xöse), geöffnet, Demosth. Neaer. 76,
wobei die sogenannten yiqaiQai fungirten. Wenn es nun in der Eidesformel
(ebendas. 78) heifst: xai xa Oeöyvia xai xa ^loßäu^Eia ye^aiQO} xtö Jioviaco
xaxa xa nctxqia xai iv xols xa&rjxovat x^ovoie, so wird deutlich auf zwei
verschiedene Feste hingewiesen, die zu verschiedener Zeit gefeiert wurden. Die
Osöyvia sind wohl eben das Frühlingsfest, die Anthesterien, die ^loßdxxsia die
Lenäen. Die Gerären wurden jedes Jahr gewählt, fungirten zunächst im Früh-
jahr an den Anthesterien, dann gegen Ende des Winters an den Lenäen; hier
wurde wohl das andere Heiligthum des Gottes benutzt.
7S) Eine attische Inschrift (CIG. 523, 21), die offenbar Vorschriften über ört-
liche Opfer enthält, erwähnt am neunzehnten Gamelion xixxcoaeis Jwin'oov,
eine ähnliche Urkunde bei Rhangabis II 2252 gegen Ende des Gamelion Opfer
für Dionysus; dagegen in der Inschrift der Ephemeris Archaeol. 1S60, 4097, 65
(Ürlichs Verb, der Würzb. Phil. S. 7) wird in einem Psephisma vom elften Gamelion
ein Opfer derEpheben t^ Jiovvaio T<j5 ^Ekev&eQi]co, denn so ist wohl zu schrei-
ben, erwähnt, welches iv xfj nofinfj xov Jioviaov dargebracht wurde. Demnach
muCs in späterer Zeit das Lenäenfest auf den Anfang des Monats verlegt worden
sein. Die ixxXrjaia xvQia iv T<j5 d'eaxQc^ ist wohl die Versammlung, welche
ordnungsmäfsig unmittelbar nach der Festfeier abgehalten werden mufste. Diese
Verlegung der Lenäen kann erst nach Ol. 116,3 (s. die Inschrift CIG, 105) er-
folgt sein. Auch die Dionysusfeste anderer Orte geben über die attische Feier
keinen Aufschlufs. In einer Inschrift von Mykonus bei Le Bas Partie IV 2058
•wird für Poseidon am zwölftcnPoseideon ein Opfer erwähnt, dann offenbar in
einem folgenden Monate (wohl dem Lcnäon): SvoSsxäxst Jioviaoi Jfjvsi (sehr.
yirjveX)^ dann Baxxtwros Si ivSsxäxBi JiovvC^ Baxxei x^f*f^oi xaXhffxeicJv,
darauf folgen Opfer im Hekatombäon.
DIE DRAMATISCHE POESIE. ELVLEITUÄG. 27
nysus und der Demeter. Da von kyklischen Chören an den Lenäen
in der klassischen Periode keine Spur wahrnehmbar ist*'), reichte
die Zeit für drei Lustspiele vollkommen aus; später, als der Agon
der Tragiker hinzukam, waren drei Spieltage erforderlich.*^)
Nach dem peloponnesischen Kriege müssen erhebliche Aende-
rungen eingetreten sein. Die Zahl der Lustspiele wird von drei auf
fünf erhöht*'), sicherHch an beiden Festen, wie die schon grofse
Zahl der Dramen aus dieser Periode wahrscheinlich macht. Denn
die achthundert Stücke der mittleren Komödie, die sich auf einen
Zeitraum von ungefähr achtzig Jahren vertheilen, ergaben für jedes
Jahr gerade zehn Komödien. Die Production auf diesem Gebiete
war damals sehr bedeutend und wurde natüdich durch diese neue
Einrichtung entschieden gesteigert. Die Sache war um so leichter
ausführbar, da mit dem Wegfallen des Chores die Kosten erheblich
verringert wurden, und auch bei den Preisen der Dichter wird
man mit Rücksicht auf die Finanzlage möglichste Sparsamkeit be-
obachtet haben .*^)
79) Der Dithyrambus, der dem Frähjahrsfeste zukommt, war dem Lenäon
fremd. Die Inschrift (CIG. 213) aus der Zeit unmittelbar nach Eukleides kennt
Knaben- und Männerchöre nur an den Dionysien (d. h. den Jtovvaia kv äarsi),
Thargelien, Promethien und Hephästien. Den Agon für kyklische Chöre am
Poseidonsfeste im Pirleus hat erst Lykurg eingeführt. Erst in späterer Zeit mufs
auch an den Lenäen der Dithyrambus Eingang gefunden haben, wie die In-
schrift Ephem. Ärchaeol. Nova 1S62, I 219 beweist, die einen Sieger Ar^vata 8i-
d'vQufißo) nennt (vgl. Bd. II S. 511, A. 11).
80) Das Fest wird jetzt vom 20. bis 22. Gamelion gefeiert worden sein.
81) Die Didaskalie IV vom Plutus des Aristophanos bezeugt dies klar: k8i~
Saxd^i iTti uQyovxos AvxiTtÖLTQOv (Ol. 9S, 1), avraycovitofievov avicö Nixo^äoavS
fiev Aäxcoaiv, Agiaro/isvovs Sa ASfir^rco, Ntxofwvzos Si AScoviSi, AXy.aiov
8s naatfäTj. Ebenso werden in dem Bruchstück der Didaskalie (CIG. 231) aus
OL 106, 2 und 3 jedes Mal fünf komische Dichter mit einem Stück aufgeführt;
dieses Verzeichnifs geht auf die grofsen Dionysien. An welchem Feste Aristo-
phanes den Plutus aufführte, ist unbekannt.
82) Vielleicht erhielt nur der Sieger einen Preis, wenigstens werden in
jener Urkunde die Dichter nach der Reihenfolge, in der sie auftraten, genannt,
zuletzt aber der Sieger {ivixa) namhaft gemacht. Doch müssen die Preisrichter
noch immer in hergebrachter Weise durch Zahlen den Werth sämmtlicher Stücke,
die concurrirten, bezeichnet haben, da Isaeus de Dicaeog. der. 36, um den ge-
ringen Erfolg eines Choregen zu schildern, sagt, er sei mit einem kyklischen
Chore an den Dionysien der vierte, mit einem tragischen Chore und mit Pyrrhy-
chisten der letzte gewesen.
28 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Es ist nicht wahrscheinlich, dafs diese Neuerung sich auf das
Lustspiel beschränkte; denn die Tragödie gilt fortwährend, nament-
lich an den städtischen Dionysien, als der eigentliche Glanzpunkt
der Festfeier. Um so weniger wird man sie dem Lustspiel gegen-
über zurückgesetzt haben. Liegt auch kein ausdrückliches Zeugnifs
vor, so spricht doch die Nachricht, dafs der Schauspieler Polus in
vier Tagen in acht Tragödien auftrat, für die Gleichstellung beider
Gattungen.") So ward denn auch die Festfeier der grofsen Dio-
nysien auf sechs Tage ausgedehnt*^), vom elften bis sechszehnten
Elaphebohon ") ; und in gleicher Weise wird man zu den drei Spiel-
tagen der Lenäen zwei neue hinzugefügt haben. In der Diadochen-
zeit müssen weitere Reformen stattgefunden haben; doch ist dies
für die Geschichte der hterarischen Entwicklung ohne jedes Interesse.
Dafs man gerade jetzt die Zahl der concurrirenden Tragiker
erhöhte, kann befremdlich erscheinen, da man weder die Leistungen
der Bürger für öffentliche Festhchkeiten albu sehr in Anspruch neh-
men durfte und nach dem Tode der grofsen Meister der tragischen
83) Plutarch an seni s. resp. ger. c. 3 : IlaiXov tov TQaycoSov ^E^aroa&e-
»'Tjs xai fPtXoxoQOS iaroQOvaiv eßSofirjxovra ^xrj ysyBvrifiivov, oyrto) tqaymdiai
iv TtTraoaiv ^fttortts Siaycoviaaa&ai fttxQov S'fiTtgoad'ev r^e reXsvTTJe, was
doch nur auf Athen gehen kann. Dagegen der Ausdruck, den Isaeus gebraucht
(s. A. S2), TQaytoSole vararos gewährt keinen Aufschlufs. Dafs je fünf Komö-
dien und ebensoviel tragische Tetralogien gegeben wurden, hat seinen Grund;
so wirkte jede der zehn Phylen an jedem Feste mit.
84) Plautus Pseud. 59 ist als Zahlungstermin festgesetzt: et rei dies haec
praestitutasl proxuma Dionysia, aber 321 wird Aufschub verlangt: ut oppe-
riare hos sex dies saltern modo (denn hos sex dies festos hat keine Gewähr).
85) Dies ergiebt sich aus den Reden des Demosthenes und Aeschines über
den Rechtshandel des Ktesiphon. Am achten Elaphebolion, wo das Opfer für
Askiepios und der Proagon stattfand, wird eine Volksversammlung gehalten,
die man offenbar der Dringlichkeit der Sache wegen auf diesen Festtag ver-
legt hatte. Man könnte glauben, es sei dies deshalb geschehen, weil gleich
am nächsten Tage das Fest selbst begann; allein es müssen erst ein Paar freie
Tage gefolgt sein, da inzwischen die makedonischen Gesandten eintreffen und
noch eine Volksversammlung berufen wird (Aeschines adv. Cles. 68; auch bemerkt
der Scholiast richtig, der Proagon sei oXiynn i^/ue'^ate fynqoad'Bv ttqo röjv
(isyäXfov Jtorvaieov gefeiert worden). In dieser Versammlung ward beschlossen,
die Friedensverhandlungen gleich nach den Dionysien {ev&vs ftera rr Jiovtata)
am achtzehnten und neunzehnten zu eröffnen; also werden die Gesandten am
neunten erschienen sein. Am zehnten wird das Volk berufen, vom elften bis
sechszehnten sind die Dionysien, am siebzehnten die UavSia nebst der Ver-
sammlung wegen der Festfeier.
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITUNG. 29
Kunst die literarische Regsamkeit auf diesem Gebiete sichtlich nach-
läfst; indes war docli die Einrichtung durchführbar. Auch in der
Tragödie wurden offenbar die Chorgesänge auf ein mögHchst knappes
Mafs zurückgeführt. So verursachte auch die Einübung der Chöre
weit geringere Kosten. Dann aber Hefs man von der Strenge der
früheren Zeit nach, die nur neue Tragödien zugelassen hatte. Wäh-
rend an den grofsen Dionysien auch jetzt das alle Herkommen fest-
gehalten wurde, wiederholte man an den Lenäen vorzugsweise
ältere Stücke, obwohl auch hier noch öfter neue Dramen gegeben
wurden.*^) Hiermit steht die Einrichtung des Lykurg in Verbin-
dung, der zur Controlle der Schauspieler eine officielle Abschrift
der Dramen der drei Tragiker anfertigen liefs; denn die Aufsicht des
Staates erstreckte sich in dieser Beziehung nur auf die Theaterauf-
führungen in der Stadt und im Piräeus, nicht auf die Bühnen der
Landschaft.
Den Festen, mit welchen scenische Spiele verbunden waren, Der Pro-
ging ein Proagon voraus, wozu man das Odeum benutzte.*') Der
S6) Erst in der Zeit nach dem peloponnesischen Kriege kommt die Be-
zeichnung xaipol ToaycpSoi auf im Gegensatz zu nai.aiov S^äfia (s. Inschrift
bei Le Bas Partie I 460, wie es scheint, aus Ol. 98, 2), ein deutlicher Beweis, dafs
man früher an beiden Hauptfeslen nur neue Tragödien kannte. Die grofsen
Dionysien sind aber das bevorzugte Fest , und der ^Vettkampf der Tragiker ist
wieder der Mächtigste Theil der Feier, daher findet die Verkündigung öffent-
licher Auszeichnung xaivols r^aycoSoTs {■xaivcHv roaycoScöv ayätvi ; in der Ephe-
beninschrift Z. 25, Verh. der Würzb. Phil. S. 7 (s. A. 78). Jiowaimv räv ev aaret
rgaycpSäiv töJ xaivä aytövi ist nur Lesefehler) statt. Indem auch anderwärts
nach dem Vorgange Athens Tragödien an dem Dionysusfeste aufgeführt wurden,
wird jene Sitte oder Unsitte, bei diesem Anlasse Ehrenbezeugungen zu procla-
miren u. dergl., ganz allgemein ; man vgl. die Inschriften von Ephesus (Le Bas
Partie V 136 B) und Keos (Ephem. Archaeol. 1858, 3267). Wie lange übrigens an
den grofsen Dionysien ausschliefslich neue Dramen gegeben wurden, ist un-
sicher. Später mag nur ein Tag für die xaivoi roaycoSoi reservirt worden sein,
Plut.de exil. c. 10, doch ist daraus keine Zeitbestimmung zu entnehmen, da
Plutarch (oder seine Quelle) sich einen Anachronismus erlaubt haben kann. In
der Zeit des Lukian (encom. Dem. 27) führte man nur noch ältere Stücke auf.
— Dafs an den Lenäen auch noch neue Tragödien gegeben wurden , bezeugt
Plutarch vit. Isoer. § 47, wenn er sagt, Aphareus habe zweimal an den grofsen
Dionysien und ebenso oft an den Lenäen mit seinen Dramen gesiegt. Die Ko-
mödien beider Feste sind selbstverständlich auch jetzt immer als erste Auffüh-
rungen zu betrachten. Der Komiker Eudoxus (nach ApoUodor bei Diog. Laert.
VIII 8, 90) gewann fünf lenäische, drei städtische Siege.
87) Schol. Aesch. Ctes. 67 : iyiyvovio tiqo rmv fisya).cov diowaiav r^fte-
30 DRITTE PERIODE VO."S 500 BIS 300 V. CHR. G.
Dichter im Purpurgewande fühijt hier seine Schauspieler und Choreuten
bekränzt, aber ohne Masken dem Publikum vor. So halte man Ge-
legenheit, nicht nur das auf der Bühne und Orchestra thätige Per-
sonal, sondern auch den Dichter, falls er noch unbekannt war,
kennen zu lernen. Der Archon nannte wohl den Namen jedes Dich-
ters, dem er einen Chor gegeben, sowie der Schauspieler, die jenem
überwiesen waren. Ebenso wird das Publikum hier die Titel und
Reihenfolge der aufzuführenden Stücke erfahren haben. Dafs dabei
Schauspieler und Choreulen eine Probe ihrer Kunst ablegten und
so das Publikum Gelegenheit halte, auch die Leistungen des Dich-
ters im voraus zu beurtheilen, geht aus den Nachrichten der Alten
hervor, obwohl schwer zu sagen ist, wie sich eine solche Probe
einrichten liefs.**) Der Proagon der grofsen Dionysien , der auf den
achten Elaphebolion fiel, ist sicher bezeugt, aber wir dürfen die
gleiche Einrichtung auch für die Lenäen voraussetzen.*')
^«ts oXiyais i'/inQoad'ev iv reo ^iSeico xaXovftdvco rcöv rQaycoSaiv ayatv xot
iniSei^is ibv fie'XXovai Sgafiärcov ayoivi^ead'at iv rt^ d'eiiz^eo, St^ o eToifiote
n^oaycov xaXelrai. • eiiiaai de Sixa nQ0i(O7i(öv ol vnoxoiTai yvftvoi. Das Odeum
bezeugt auch Schol. Arist. Vesp. 1109: {cpSsTov) iaxi rönos &£ax^oeiSr;e, iv q
eüo&aai ra Ttotr^/xara ccTiayyeXXeiv, tiqiv rrfi eis rb d'daxQOv anayyeXias. Vita
Eurip. : Xeyovat Si xal 2!c(poxXia axovaavra, ort ireXevrrjaev {EvgtTtiSr;«), at-
rov ftsv Ifiariqj tpaic^ avri TtOQfVQOv tiqobX&eXv, rbv Si x^QOv xal rove ino-
xQiras aar£(pavcorove eisayayeXv iv reo nqoaycövi xai SaxQvaai rov Sr,fiov.
Auch wenn diese Nachricht problematisch sein sollte, ist doch der Vorgang
der Wirklichkeit gemäfs geschildert. Auf diesen Akt bezieht sich auch Plato
Symp. 194 A: imXfiaficov fidvr' av ei'rjv, a 'Ayä&ojv, einelv rov ^cax^rrj, ei
iScov rT]v arjv avS^eiav xal fieyaXocpQoaivrjv avaßaivovros ini rov oxQißavra
juera rcäv vnoxQiriöv xal ßXixfavroe ivavria roaovrc^ d'enrQco xrX., eine Stelle,
die man nicht verstanden hat. Ebendaher entnahm Aristophanes das Motiv zu
seinem Proagon.
88) Auf keinen Fall fand ein wirklicher Agon statt; denn dadurch wäre
ja dem Urtheile über die gesammte Leistung vorgegriffen worden. Der Ausdruck
nQoayiöv erheischt diese Deutung keineswegs. Auch darf man diese Schau-
stellung nicht verwechseln mit der Prüfung der Schauspieler, die, soweit sie
überhaupt stattfand, mindestens einen Monat voiher vorgenommen ward.
89) Dies beweist auch die Stelle aus Piatos Symposion; denn Agathon
hat seine erste Tetralogie eben an den Lenäen gegeben. Alle jene Nachrichten
beziehen sich auf den Proagon der tragischen Chöre. Wenn dieselbe Einrich-
tung auch für die Komiker bestand, so war der Act jedenfalls ein ganz ge-
sonderter. Auch werden in einer Inschrift Ephem. Archaeol. Nova 1862, I 2'iO
mehrere Proagone unterschieden; der Agonothet wird belobt, weil tr iniriXeat
roie 7ifoayüüv{ae) rote iv roTe ie^Xe xara ru närqia.
DIE DRAMATISCHE POESIE. EIXLEITLNG. 31
Die Zuschauer konnten unmöglich den ganzen Tag nüchtern
im Theater ausharren. Dafs man vorher ein Frühstück zu sich nahm,
ist selbstverständlich; allein dies reichte nicht aus. Wenn Philo-
chorus berichtet, in der älteren Zeit habe man während der Spiele
Wein und Naschwerk herumgereicht, so erscheint dies sehr befremd-
hch.^) Vielmehr wird man immer eine Pause gemacht haben; so
konnte, wer wollte, ein zweites Frühstück einnehmen. An den
grofsen Dionysien , wo man mit der Komödie begann , trat die Pause
zeitig ein; an den Lenäen folgt das Frühstück erst spät, weil hier
die Tetralogie vorangeht.^') Darauf zielt der Scherz in den Vögeln
des Aristophanes"): wer Flügel hat, braucht nicht zu warten, bis die
Pause eintritt, sondern er kann, wenn er sich an dem Spiel der
Tragöden langweilt, jeder Zeit davoneilen ^^, so lange er will, früh-
stücken und dann zurückkehren, um dem komischen Chore zuzu-
schauen. Aristophanes' Vögel sind an den grofsen Dionysien gegeben,
aber der vorausgesetzte Fall pafst nur auf die Lenäen, wo die Ko-
mödie den Beschlufs machte.
Dafs an jedem Spiehage immer nur eine Komödie aufgeführt
90) Philochorus bei Athen. XI 464 F: ^Ad'r,valoi rot» Jiowaiaxola ayäai
TO ft£v nQcJxov Toiairjxöres xai TcencoxcTSS eßäSi^ov erti xr^v &iav xal doTE-
^avojfiivoi, e&Ecöqovv (dies ist richtig, und dafür bedurfte es kaum der Be-
rufung auf Pherekrates), naQo. Se rov ayöjva ciavxa olros airoTi covoxoelro
xai TQayr^ftara TcaQetpioETo (dies ist offenbar nur eine Sage), xai xols x'^qoIs
etsiovatv ive'xEOP txiveiv xai 8ir/ycovifffttrots ot' e^etioqevovxo ivixEov Tid/.iv.
Auch dies ist begründet, dafs man die Choreuten vor ihrem Auftreten und
nachher mit dem Nöthigen versorgte. Wohl aber versahen sich die Zuschauer
mit Naschwerk; darauf geht die treffende Bemerkung des Aristot. Eth. Nik.
X 5, 1175 B 12: olov xai iv xdis d'sdxQOiS oi x^ayr^fiaxiZovxES , oxav (palXot
Ol. aycovi^ofiEvoi (bat, xöxe /uäkiax avxo Socöai.
91) Das S^iaxov ist eben hier wie bei den Soldaten im Felde an keine
bestimmte Zeit gebunden, sondern richtet sich nach den Umständen.
92) Aristoph. Vögel 7S6 ff.
93) Für die Aufrechterhaltung der Ordnung im Theater sorgten ^aßSoyo-
$ot, Schol. Aristoph. Pac. 733. Sie sind in dem Bilde (Wieseler Theatergebäude
IV 6) auf der Thymele neben dem Flötenspieler postirt (diese Figuren sind
nicht als Kampfrichter zu betrachten). Offenbar durfte man nicht nach Be-
lieben während des Schauspieles das Theater verlassen; auch darüber hatten
wohl die Stabträger zu wachen. In der Zeit des Demosthenes führt auch der
Rath eine gewisse Aufsicht über die Ordnung im Theater (Evxoa/zia), wie die
Inschrift aus Ol. 109,2 im Philistor I 190 [CIA. II 1, 114] beweist, wozu wohl
die Händel des Midias den Anlafs gegeben hatten.
32 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
wurde, bezeugt Aristophanes.'*) Es wurden eben an jedem Tage
sowohl Tragödien als Komödien gegeben; der Ernst wechselte mit
dem Scherze ab. Aber die Folge war an den Festen verschieden.
An den Lenäen gingen, wie schon erinnert wurde, die Tragödien
voraus, dann folgte die Komödie. An den grofsen Dionysien eröffnete
der komische Chor das Spiel, nachher trat der tragische auf; ebenso
im Theater des Piräeus.^^)
Am letzten Tage erfolgte offenbar noch die Verkündigung der
Preise , welche den Schlufs der Festfeier bildete.^) An den grofsen
Dionysien fand unmittelbar nachher eine Volksversammlung im Theater
statt"'), wo jeder, der an dem Feste mitgewirkt und zu einer ße-
94) Aristoph. Ekkles. 1158. Wenn Aristophanes Vögel 787 von xoQoi rga-
ycpSöiv, die an einem Tage auftreten, redet, so ist dies ganz zutreffend; für
eine Tetralogie waren eben vier Cliöre erforderlich.
95) Gesetz des Euegorus bei Demoslh. Mid. 10. Hier werden eben die
tragischen und komischen Chöre in der Folge genannt, wie sie an den einzel-
nen Spieltagen der verschiedenen Feste auftraten. Wenn Xenophon Oecon. 3, 7
sagt: vvv S' iycö aot avvotSa im fisv xcofK^Säjv d'iav xal näw nqoH dvi-
arafiivco xal nävv fiaxqav oSov ßaSi^ovri xai ifie avanei&ovrt TtQO&vficos
avv&eaad-ai, kann man dies auf die grofsen Dionysien, oder wenn man lieber
will, mit Rücksicht »ni fiaxoav oSüv auf eine ländliche Feier beziehen; ver-
kehrt ist es, wenn man hier neben den Komödien auch die Erwähnung der
Tragödien verlangt hat. Die Ekklesiazusen des Aristophanes sind offenbar an
den Lenäen gegeben; denn es wird auf die unmittelbar darauf folgende Abend-
mahlzeit hingewiesen. Da die Frösche gleichfalls an den Lenäen aufgeführt
wurden, sind die Worte des Chores 377 TJQiarrjrat. S^ k^nQxovvxms (die man
mit sehr verfehlten Aenderungen bedacht hal) vollkommen zutreffend. Es ist
das eigentliche äoiarov (das zweite Frühstück) gemeint, wofür der Choreg zu
sorgen hatte, obwohl natürlich auch die Schauspieler, die gleich am Morgen
auftraten, nicht nüchtern waren. Darauf geht die Anekdote bei Hierokles Phi-
logelos 226, wo ein Schauspieler von den Agonotheten vor dem Auftreten einen
Imbifs begehrt, damit er nicht eines jMeineides sich schuldig mache, wenn er
nachher auf der Bühne die Worte sprechen müsse: TjQiazTjan vi] t^ 'AQrsfiiv
fiaX' rßeois. Völlig verfehlt ist die Ansicht einiger Neueren, als habe man
Komödien und Tragödien neben einander in verschiedenen Theatern gegeben.
96) So schwierig auch bei der beschränkten Zeit dies sein mochte, konnte
man doch die Abstimmung der Preisrichter und die Verkündigung des Urtheils
nicht hinausschieben, da gleich am nächsten Tage die gesetzlich vorgeschrie-
bene Volksversammlung gehalten werden mufste.
97) Auf diesen Tag fallen die 77«»-^*«, und gleich nachher trat man zur
Volksversammlung zusammen; in dem Gesetz bei Demosth. Mid. 8 ist rr, vare-
Qala tvJv UavSioJv eine unzulässige Aenderung statt iv UavSiovi; es mufs,
wie Demosthenes selbst bezeugt, /tera ra IlavSta heifsen.
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITUNG. 33
schwerde Anlafs gegeben hatte, die nicht bereits durch eine Geld-
bufse beseitigt worden war, belangt werden konnte.^) Auch der
Dichter, der zum Volke sprach, war nicht nur morahsch für das,
was er sagte, verantwortHch, sondern man konnte ihn auch wohl
eben in dieser Versammlung zur Rechenschaft ziehen.^) Eine ähn-
liche Einrichtung dürfen wir auch bei den Lenäen voraussetzen."^)
IV
Als Local für die dramatischen Vorstellungen ward in der älterenOas Theater
Zeit an den Lenäen der dem Dionysus geweihte Bezirk""), an den
grofsen Dionysien der Marktplatz benutzt.'"-) Die höchst einfachen
Einrichtungen wurden jedes Mal für die Festfeier getroffen. Der
Mittelpunkt war der Altar des Gottes."") Um diesen stellt sich der
9S) S. Demosth. Mid. 8 fl. Der Vers des Eupolis fr. 30 Com. II 1, 518:
av8^ss koyKTzai xütv v'jtsvd'vvtov %oqcJv geht entweder auf die Preisrichter
oder das Publikuin.
99) Nach Aristoteles Rhet. III 15 p. 1416, 31 flf. warf Euripides dem Hygiä-
non, der dem Eide des Dichters den Glauben absprach, weil er im Hippolylus den
Meineid vertheidigt habe, vor, dafs er nicht recht Ihue , ras iy. tdv Jiowaiaxov
aytövos yqiffeis sii ra SucaaTTjoia äyovra ■ ixet yao avxöiv SeScoxsvai Xoyov ^
Scöaeiv, ei ßoi/^rai xair^yooelv. Wenn Kleon gegen Aristophanes eine Be-
schwerde beimBathe anbrachte, so war dies wohl ein ungewöhnliches Verfahren.
100) Darauf geht wahrscheinlich ein Beschlufs vom elften Gamelion (ent-
sprechend der späteren Verlegung des Festes), in der Volksversammlung iv
&eäiq(o gefafst, in einer die Feier der Dionysien betreffenden Angelegenheit
(die Ephebeninschrift I, 65, Verh. der Würzburger Phil.).
101) Photius: yiTjvaiov, neoißoXos ixiyas ^Ad'i^vT'ü'.Vy iv tu rois ayiövas
r/yov 71^0 rov d'earoov oixoSofirj&i^vai. Aehnlich Hesychius int Arivaico aycöv.
102) Photius und Timäus Plat. Glossar unter oQxh'^xqa, aufserdem Photius
nnd Hesychius: t'xota, to. iv rfi ayoQÜ, a^p' ütv id'etävro zovi Jtovvaiaxois
aycävas, tiqIv r, xaracxevaa&rivai zo iv Jiovvaov d'earoov. Nur wenn man
für jede Festfeier ein verschiedenes Local annimmt, löst sich der scheinbare
Widerspruch in den Angaben der Grammatiker (s. A. 53). Natürlich wurden
ixqta auch im Lenäon jedes Mal aufgeschlagen. Der Vers eines Komikers bei
Photius oQxriazoa (fr. an. 226 Com. IV 658) gehört zu einer Parabase in Eupoli-
deischen Versen: eis z'r,v 0Qxr,azQav ixt yaq rriv &eav töxeir^ ixet. Hier
ward eine Theateranekdote aus alter Zeit berührt, die sich auf die tragischen
Chöre bezogen haben mufs; denn für die Komödie war das Lenäon bestimmt.
103) Dies ist die sogenannte ^i-^f;.»? , eigentlich der Altar (Aesch. Schutzfl.
666), dann in weiterem Sinne der freie Baum vor dem Tempel, wo der Altar
errichtet war. so Eurip. Ion 46. 114. So nannte man auch hier sehr bald den
Raum um den Altar des Dionysus oder die Orchestra &vftiXr, , so schon Pratinas
Bergk , Griech. Literaiurgescbicbte III. 3
34 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Chor auf; der geebnete Raum, welcher für die Reigentänze des
Chores bestimmt war, heifsl daher Orches.tra. P'ilr den Schau-
spieler war ein erhöhtes hölzernes Gerüst errichtet*"^); so war der-
selbe für jedermann sichtbar und leicht verständlich. Dahinter war
ein Zelt, wo der Schauspieler sein Kostüm anlegte."*) So ward auch
das Auf- und Abtreten der handelnden Personen schicklich vermit-
telt. Für die Zuschauer waren Rrettergerüste bestimmt'"*); wer hier
keinen Platz fand, suchte in der Nachbarschaft einen passenden
Standpunkt zu gewinnen.'*")
bei Athen. XIV 617 C ini JiowaiäSa TtoXvTtaTaya d'vfiiXav. Das Wort, dessen
Bedeutung im Laufe der Zeit mehrfach modificirt ward, ist von Alten und
Neuen nicht selten mi fsverstanden.
104) Dies Gerüst hiefs ox^ißae (s. die alten Lexikographen) und ist das
später sogenannte koysTov, wofür man auch später den alten Ausdruck ox^lßae
zuweilen anwenden mochte. Erst im jüngeren Sprachgebrauche ist ox^ißae
der Cothurn der tragischen Schauspieler. Auf die Bühne der ältesten Tragödie
würde die Notiz des Photius u. a. : zQayixrj axrjvr;' nf^yfia fiericoQOv, tf>* ov
iv d'emv axevri rivee na^iövree iXsyov passen, da die Handlung sich meist im
Gebiete der Götter bewegte; doch ist auf solche Bemerkungen wenig Verlafs.
Auf die Anfänge der dramatischen Poesie noch vor Thespis weist Pollux IV 123
hin: iXeoe 8^ r[v r^ajie^a ag^aia, i(p rjv nqo OtoniSoe eh ris avaßa: xoXi
XOQExnaXe anexQivaTO.
105) Hxrjvrj. So pflegten noch später lierumziehende Schauspieler auf dem
Marktplatze griechischer Städte ihre Zelte aufzuschlagen, Plato Leg. VII bl" C:
axTjvaS re Ttrj^avTae xar' ayoQav xai xaXXifcövovi vnox^izas eiaayayo/iet'ovs.
Dionysius der Aeltere schickte nach Olympia, wo es kein Theater gab, vergoldete
und mit Purpurteppichen verzierte Zelte (axr,vai, Dionys. Halic. de Lysia indic.
c. 29 erwähnt nur ein Zelt), welche offenbar für die Schauspieler und die Dar-
stellung der eigenen Tragödie des Dionysius, nicht für die Festgesandten {&s<o-
Qol) bestimmt waren (DiodorXIV 109,1). Später seit Aufführung eines stehen-
den Theaters nannte man das Bühnengebäude, aber auch speciell die Bühne
axrjvrj. Aber im gewöhnlichen Leben hiefs axTjvrj {axrjvai) auch ein Platz im
Theater (= ^£0, &eai), vergl. Aristoph. Frieden 731 und 880, sowie den Titel
der Aristophanischen Komödie JSxrjvat xnraXafißävovaai.
106) 'IxQia bezeichnet daher den Raum für die Zuschauer, den man ur-
sprünglich allein 9iarQov nannte, während man später den Ausdruck auf die
ganze für Schauspieler bestimmte Anlage ausdehnte. Die Bezeichnung XxQia
erhielt sich auch noch, naclidem das alte Brettergerüst durch den steinernen
Bau ersetzt war, Aristoph. Thesmoph. 395 : ano tüv ixgicay eiaiirai, d. h. aus
dem Tiieater heimkehren; ebenso spricht Kratinus fr. 51 Com. U 1, 192 von der
ixQifov xföftjaie.
107) So ward besonders ein Pappelbaum beim Lenäon dazu benutzt. Dic-
Mn Sitz auf der Pappel erwähnte noch Kratinus fr. 3S Com. II 1, 1S9, indem er
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITUNG. 35
Ol. 70, 1, als Aeschylus mit Choerilus und Pratinas die Erst-
linge seiner Muse aufführte und ein ungewohnter Zudrang statt-
finden mochte, brach das Brettergerüst zusammen, um ähnlichen
Unfällen für die Zukunft vorzubeugen, entschlofs man sich, ein festes
geräumiges Theater aus Stein aufzuführen.'**) Es ist nicht bedeu-
tungslos, dafs gerade in dem Zeitpunkte, wo die dramatische Kunst
einen höheren Aufschwung nimmt, wo insbesondere die Tragödie
raschen Schrittes ihrer Vollendung entgegengeführt ward, die Athener
darauf bedacht waren, statt des ärmlichen Nothbehelfes, mit dem
man sich längere Zeit begnügt hatte, einen würdigen Raum für
scenische Vorstellungen zu schaffen. Die bühnenkundigen Dichter
werden mit ihren Erfahrungen den Architekten unterstützt haben,
um einen Bau aufzuführen, welcher allen Anforderungen entsprach.
Dieses Theater, von dem noch jetzt ansehnliche Reste erhahen sind'°^),
lag am südlichen Abhänge des Burgfelsens. Diese OertHchkeit bot
nicht nur für die Anlage des Theaters natürhche Vortheile dar, in-
dem Sitzreihen für die Zuschauer sich an die Abdachung des Hü-
gels anlehnten, sondern das neue Theater grenzte auch unmittelbar
an das Lenäon, das alte Heiligthum des Dionysus."") Dieser Raum
der Anfänge des Lustspiels gedachte, s. Hesychius ^iyei^ov &äa' ar/et^os r,v
^Ad'Tpniai 7tXr,alov rov Isqov (d. h. des Dionysus im Lenäon, die Aenderung
ixoiov ist unzulässig), Sv&a, rc^iv ytvdad'at d'ear^v, ra ixQia inr^ywov. Am
Markte scheinen in älterer Zeit auch Pappeln gestanden zu haben; doch scheint
jene Redensart nur auf die Lenäen zu gehen.
108) Suidas II 2, 401 : IJQartvas . . . avrriyiovi^ero S' Aiax^/^ T£ xeti
Xot^iXto ini Tr,s o OkvfintaSoe xai n^cöros s'yQaus ^axi'QOvi ' iTtiSetxwfitvov
Si roCrov awtßtj za i'xota, s^' ojv earTjxsoav oi d'eazai, Ttsaeiv, y.ai ix roirov
&iarQov ipxoSoftT;&T; A&rjvaion ; denn offenbar ist das Einstürzen der Gerüste
mit jenem Agon Ol. 70 in Verbindung zu bringen.
109) Erst Ausgrabungen der neuesten Zeit haben diese Reste aufgedeckt.
110) Pausan. I 20,3, daher auch Yitruv V 9, 1 sagt, in Athen biete das
Liberi patris fanum bei plötzlichem Unwetter den Zuschauern Zuflucht dar.
Vielleicht ward der Raum, den man früher für die Feier der lenäischen Schau-
spiele verwandt hatte, ganz oder doch zum Theil bei dem Neubau benutzt.
Auch das neue Theater Mar eine dem Dionysus geweihte öertlichkeit; daher
heifst es tö Jiowciaxbv d'iarQov (dies ist die officielle Benennung), t^ Iv
Jiovvaov d'iaxQov (daher im gewöhnlichen Leben Iv Jiovvaov), Aioviaun'
oder kurzweg x6 d'iaxQov. Demosth. Mid. 55: iv avxiö xtÖ aycövt xai iv r^
rov &eov Isqi^. Ob aber Inschriften, welche iv x^ xsfiivti xoi Jiovioov auf-
gestellt werden sollen, im Theater ihren Platz hatten, ist ungewifs, obwohl
sie im Theater gefunden worden sind.
Z*
36 DRITTE PERfODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
wurde fortan für die dramatischen Spiele sowolil der Lenäen, als
auch der städtischen Dionysien benutzt.'")
Der Theaterpächter, der ein Eintrittsgeld erhob, war verpflichtet,
das Gebäude in gutem Zustande zu erhalten. Dadurch ward indes
nur für das Nothwendigsle gesorgt. Es war daher ein verdienstliches
Werk, dafs man in der Zeit des Demosthenes sich zu einer voll-
ständigen Restauration entschlofs. Lykurg nahm sich während seiner
nach allen Seiten hin wohlthätig wirkenden Finanzverwaltung auch
des Theaters an."^) Der steinerne Bau ward nicht nur reparirt,
sondern wohl auch erweitert und verschönert. Insbesondere das
Scenengebäude mag eine reichere Ausstattung erhalten haben, aber
es ist irrig, wenn man meint, damals zuerst sei dieser Theil des
Theaters in Stein aufgeführt worden. In römischer Zeit, wo man
auch das Theater zu Athen für Gladiatorenkämpfe und ahnhche
111) Die Ausdrücke Jiowaiaxov d-earoor uud yiT]vai)c6v bei Pollux IV 121
sind identisch. Aristopli. Thesmoph. 1059 : ^Hxof . . . ipte^ ne^vaiv iv r^Se rav-
Tcp x^Q^V EvQmiSr} xavxr; ^vvr]yo)vt^6fiT]v. Dies geht auf die Andromeda des
Euripides, die sicher an den grofsen Dionysien aufgeführt wurde, während die
Thesmophoriazusen den Lenäen angehören.
112) Vergl. das Psephisma des Stratokies bei Plutarch dec. or. vitt. III 5
(eine Copie dieser Urkunde ist in Athen wieder aufgefunden, s. Phiiol. XXIV 86):
n^oe TB Tovrots rjftie^ya naQaXaßcav xovs le vetoaoixove xai Triv axevod'r^riv
xai 10 d'daxQov ro Jiovvataxbv i^eioyäaaro xai inexi)^as , Pausan. 129, 16:
oitcoSofirifiara 8i inertXeae /uev ro d'taxQOv ixEQOJv vnag^auivcov ; doch läfst
sich aus der Urkunde so wenig wie aus Pausanias mit Sicherheit schliefsen,
dafs die Restauration des Theaters schon früher begonnen wurde. Hyperides in
der Rede für die Söhne Lykurgs fr. 32 sagt einfach: (oxoS6fit]as Si xb d^sax^ov,
ro caSelov, vsmQia. — Sehr mit Unrecht hat man auf den Thealerbau die In-
schrift Ephem. Archaeol. 1858 3453 [CIA. II t, 176] beziehen wollen, wo Lykurg
Auszeichnungen beantragt, der sich um die rechtzeitige Vollendung des axaBiov
und des d'taxQOv IlavadTjvaixöv verdient gemacht hat; denn es ist reine Will-
kür, wenn man die Worte der Urkunde umstellt: c/s xijv noirjaiv xov axaSiov
xov nava&rjvatxov xai xov d'eäxQov. Es ist hier nur von den Bauten für den
gymnischen und musischen Agon det Panathenäen die Rede. Das Panathenaische
Theater ist nichts anderes als das von Hyperides erwähnte Odeum, gleichviel
ob darunter ein Neubau oder eine Restauration zu verstehen ist (s.S. 21 A. «>0).
Nicht minder willkürlich hat man auf den Theaterbau eine Inschrift aus Ol.
109,2 (Philistorl 190 [CIA. li 1, 144]) bezogen, wo der Rath belobt wird, weil
er inefteXrj&rj xi^ evxoafiiai xov O'aaxQOv. Es handelt sich nicht nm die Aus-
schmückung des Theaters (diese Erklärung ist sprachwidrig), sondern um die
Aafrechterhaltung polizeilicher Ordnung; die bekannten Vorfülle mit Meidias
Ol. 107, 2 machten eine verschärfte Aufsicht nothwendig (s. S. 31 A. 93).
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITUNG. 37
Schauspiele benutzte, ward später ein Umbau vorgenommen, wo-
durch namentlich die Bühne bedeutend erweitert ward."^)
Schon die einfachen Vorrichtungen, welche man früher für
dramatische Spiele getroffen hatte, enthielten alle wesentlichen Ele-
mente des Theaterbaues. Das Theater zu Athen besteht aus drei
Theilen. Die halbkreisförmige Orchestra in der Mitte, für den Chor
bestimmt, wird einerseits begrenzt durch die erhöhte Bühne der
Schauspieler, andererseits durch die um den Halbkreis sich concen-
trisch erhebenden Sitzreihen für die Zuschauer. An dieser Grund-
form des Theaters, welche den Bedürfnissen der scenischen Dar-
stellung entsprach, hielt man in Griechenland fest, wenn man auch
im Verlaufe der Zeit Einzelnes abgeändert, Anderes hinzugefügt hat.
Doch sind wir über diese Dinge nur sehr unvollkommen unter-
richtet. Wenn nach glaubwürdiger üeberlieferung der Theil der
Orchestra, welcher der Bühne zunächst lag, mit einem Bretterboden
bedeckt war und dies der eigenthch für den Chor bestimmte Baum
war, so ist doch fraglich, ob diese Einrichtung bereits der Blüthe-
zeit des attischen Theaters angehört.^"') Die Bühne für die Schau-
spieler"'), verhältnifsmäfsig breit, aber von geringer Tiefe und mit
Holz gedielt, erhob sich mehr oder minder über der Orchestra, und
durch Stufen war eine Verbindung hergestellt."^ Das Gebäude,
113) Damals ward auch eine neue Vertheilung der Sitzplätze vorgenom-
men. In der vordersten Reihe waren mehrere Sessel für die höheren Staats-
beamten wie für Priester und andere Würdenträger der religiösen Culte auf-
gestellt. Aber auch die folgenden Sitzreihen bis zur zwanzigsten waren meist
für Priester, dann insbesondere auch für Frauen, welche priesterliche Functio-
nen versahen, oder für einzelne, denen durch Volksbeschlufs ein Ehrenplatz
eingeräumt war, bestimmt, wie die neuesten Ausgrabungen gezeigt haben. Ge-
hört auch diese Einrichtung erst der römischen Zeit an, so sind doch die Culte,
abgesehen von einzelnen Ausnahmen, alt, und erst jetzt erkennt man die un-
gemein reiche Entwicklung des religiösen Lebens in dem alten Athen.
114) Die Beschreibung dieser Einrichtung bei Suidas II 2, 785 f. und im Et.
M. axjjrij (vergl. Hermes VI 491) pafst eben nur auf spätere Zeiten: c/qx^otqu'
avrrj Se iariv o ronos o ix aaviScov k'xcov xo S8a<pos, i<f ov xai d'earoi^avatv
ol fiJftoi, elxa fisra xtjv oQ/r^arQav ßcofioi r^v rov Jiovvaov, leroaytovov
oixo86fiTjfj.a xsvov inl xov ^iaov, o xaXelrai d'vfiiXr^ naga rb d'ietv fiera rfiv
d^fiiXvjV Tj xoviaxQa, rovriari xb xäxco i'Safos xov d'säxQov. Auch die neue-
sten Ausgrabungen geben darüber keinen genügenden Aufschlufs. Auf keinen
Fall aber darf man den Altar des Dionysus, die eigentliche O-v/uXt], beseitigen.
115) Das sogenannte X.oyelov.
116) xXi/iaxes, PoUux IV 127.
38 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
welches den Hinlergrund der Bühne bildete und den ganzen Bau
abschlofs, war für die mannigfachen Bedürfnisse der dramatischen
Spiele unentbehrlich; aber die ursprünglich einfache Anlage mag
successiv erweitert worden sein. Für das Akustische war ausreichend
gesorgt, so dafs die Stimme der Schauspieler, wie der Gesang des
Chores in allen Theilen des weiten Raumes deutlich vernommen
wurde. Die Sitte, den Zuschauerraum mit Segeltüchern zu über-
spannen, um Schutz gegen Sonne und Regen zu gewinnen, mag
schon in der klassischen Zeit aufgekommen sein.*")
Bildlicher Schmuck fehlte nicht. Gleich vorn an den Eingängen
des Theaters erblickte man die Helden der Perserkriege, an der
Westseite, also in der Richtung nach dem Meere zu, den Sieger von
Salamis, an den östlichen Propyläen den Miltiades. Diese Bronze-
statuen waren ein Werk der Perikleischen Zeit."*) Im Innern des
Theaters waren Bildsäulen dramatischer Dichter aufgestellt. Neben
den drei grofsen Tragikern fehlten auch Epigonen, wie Astydamas
der Aeltere, nicht. Diesem mag zuerst eine solche Auszeichnung zu-
erkannt worden sein"^), und eben dadurch ward wohl der Redner
Lykurg veranlafst, die gleiche Ehre für Aeschylus, Sophokles und
Euripides zu beantragen."'") Ebenso ward später neben manchen
unbedeutenden komischen Dichtern dem Menander ein Standbild er-
richtet."') Dagegen das Bild des Dionysus auf der Orchestra wurde
117) Wenigstens scheint im Theater des Piräeus (CIG. I 102) die O^ia
iareyaafitvTj xaxa xi närqia erwähnt zu werden.
118) Aristides II S. 216, indem er bemerkt, dem Miltiades gebühre eigent-
lich ein Platz auf dem rechten Flügel, er sollte nicht aQiaxeQoaxäjtji sein.
Nach dem Schol. III S. 535 war jeder Statue auch das Bild eines gefangenen
Persers beigegeben. Vergl. auch Andokides de myst. 27.
119) Diog. Laert. II 43: l^axvSajuavxa TtQoxe^v xwv Tie^l AlaxvXov kxl-
fiijoav eixövt x^^^'ll ""d zwar im Theater, s. die Paroemiographen {^uvri^v
inaiveis), noch bei Lebzeiten; er verfafste selbst das Epigramm dazu.
120) Plutarch im Leben des Lykurg § 11. Der Antrag scheint von Philinus
angegriffen worden zu sein, wohl wegen eines Formfehlers (Harpokration unter
&ea)^ixä, fPtXivoe iv x^ TiQoe ^ofoxlsovt xai EvQiniSov eixövas, wo man den
Namen des Aeschylus vermifsl); aber Lykurg wird den Hechtshandrl gewonnen
haben, und die Statuen der drei Tragiker, welche Pausanias im Theater sah
I 21, 1, siml unzweifelhaft dieselben, welche damals errichtet wurden.
121) Pausan. I 21, 1: lixt yag /itj MiravS^oi, oiSsii iy 7iotT;xi^ xojftqtSim
xtöv ie Sö^av Tjxövxcor. Auf dieselbe Statue bezieht sich auch Dio Chrysoslomus
oder wer sonst der Verfasser der Hedr ist, 31,llf). .\lso befand sich die Statue
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITUNG. 39
immer nur während der Festläge aufgestellt. Abends wurde dasselbe
von Epheben bei Fackelschein ins Theater getragen, nachdem man
zuvor ein Opfer dargebracht hatte'"), wie man auch vor Beginn der
Spiele dem Dionysus ein Trankopfer weihte.'")
Auch im Piräeus gab es ein steinernes Theater, ebenso in an-
deren Gemeinden Attikas ; meist aber wurde nach älterer Weise ein
Gerüst aufgeschlagen, was bisweilen brechen mochte.'*^) Das Theater-
gebäude zu Athen ward natürhch Vorbild für alle ähnlichen Anlagen.
Zuerst wird man in Syrakus, nächst Athen der wichtigsten Stätte
für die dramatische Poesie, ein Theater errichtet haben'"), bald aber
folgten andere Orte nach.
noch im 2. Jahrhundert d. Chr. zu Athen, und damit wird schon die Vermuthung
widerlegt, dafs uns in der Marmorstatue des Menander im vatikanischen Mu-
seum das Oiiginal erhalten sei. Aufserdem war dem Menander gewifs ebenfalls
eine Bronzeslatue errichtet; folglich kann die römische Bildfigur nur für eine
Copie gelten. Die neuesten Ausgrabungen haben die Basis der Statue des
Menander zu Tage gefördert, ebenso andere mit dem Namen des Thespis, der
Komiker Timostratus und Dionysius, dann eines unbekannten Diomedes. Dafs
später vielen obscuren Dichtern diese Ehre zu Theil ward, deutet Pausanias
an. Athenäus 1 19E erwähnt neben Aeschylus eine Statue des Eurykleides. Dies
kann, Mie der Zusammenhang zeigt, nicht der bekannte Staatsmann zur Zeit
des Chremonideischen Krieges, sondern nur ein Gaukler oder dergleichen ge-
wesen sein. Auf eine andere Statue eines Ungenannten bezieht sich Dio Chry-
sostomus 31, 116, Pbilistor III 3S5. III 564. IV 470.
122) Dio Chrysostomus 31, 12t. Genaueres geben die Ephebeninschriflea
(Verb, der Würzb. Philol.)! 12: tiar^yayov Sa xal lov Jwvvaov arrö t^s iaxäQns
dxaavjta reo d'eä, und II 12: siaT]yayov Si xal rcv Jiöwaov cnxo t^s dox^~
^ai ft» tö d'tajoov fteja fcoro», und dann wird hinzugefügt, die Epheben
hätten bei dem Festzöge einen Stier geführt und dem Gotte geopfert (daraus
folgt jedoch nicht, dafs die Ttounf, und &i<jia später fiel als der Fackelzug),
und II 76: xai i'ov Jioriaov avv£iar;yayev sU ro d'eazQov. Vgl. auch Alkiphron
n 3: rov i:z (vielleicht an ) ia^tioas vfxvr^aai xöt' i'roi Jiöwaov. Dafs die
Epheben auch an den Dionysien im Piräeus Theil hatten, zeigt Inschrift 113.
123) Die höheren priesterlichen Würdenträger und Beamten brachten die
Libation dar, so die zehn Strategen nach Plul. Cimon c. S. Dafs die Sitte auch
später bestand, bezeugt Philostratus viL Apoll. IV 22.
124) Plautus Cure. V 2. 46.
125) Das Theater in Syrakus, dessen Erbauer der Mimendichter Sophron
nannte, ist schwerlich schon unter Hiero erbaut. Das Theater, welches Poly-
klet neben dem Asklepiostempel zu Epidaurus aufführte, war durch vollendete
Harmonie der Verhältnisse ausgezeichnet, Pausan. II 27,5. Wir können daraus
schliefsen, dafs schon zur Zeit des peloponnesischen Krieges an diesem viel
40 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Ausstattung pje Architektur der Fronte des Scenengebäudes'**) war wäh-
der Bühne. , o /
rend der dramatischen AulTührungen durch eine Dekoration den
Bhcken der Zuschauer entzogen. Diese gemalte Wand der Scenen-
fronte war so eingerichtet, dafs, wenn eine Veränderung des Ortes
der Handking eintrat, sich ein anderes Bild zeigte"^'); meist reichte
man jedoch mit einer Dekoration aus. Da die Handlung in der
Regel im Freien vor sich geht, war in der Tragödie gewöhnlich ein
fürstlicher Palast dargestellt mit drei Thüren. Die mittlere oder Haupt-
thilr führte in die fürsthchen Gemächer, die Thür rechts in die Gast-
zimmer, hnks in ein Gcfängnifs'^); aber diese Dekoration konnte
mit Rücksicht auf die besonderen Verhältnisse des Stückes mit einer
anderen vertauscht werden. Im Satyrdrama zeigte die Bühnendeko-
ration meist eine waldige oder gebirgige Gegend ^^) , in der Komödie
ein Bürgerhaus zu Athen.''") Die Periakten an den beiden Seiten
besuchten Kurorte regelmäfsige dramatische Vorstellungen stattfanden. Derselben
Zeit gehört auch das Theater zu Thasos an, s. Hippokrates Epid. I 2.
126) Das Bühnengebäude heifst axrjvy]. Allein dieser Ausdruck wird in sehr
verschiedener Bedeutung verwendet; specieil versteht man darunter die Fronte
dieses Gebäudes, dann die Bühne (loysiov, nQoaxrivi,ov), endlich aber auch die
Üekorationswand.
127) "Wie in den Eumeniden des Aeschylus.
128) Pollux IV 124: xqicöv Se xwv xara ttjv gxtjvtjv d'voöiv r] fiiarj ftiv
ßaaiXeiov r a7ir]laiov tj olxoi ^vSo^oe rj Ttäv tb TiQCoraycovtarovv rov S(>cifinroe'
t] Se Se^iä rov SevceqaycoviaTOvvroi aaraycöyiov' rj 8e aoiareQn ^ t6 tvrsJie-
ararov txsi ■jiQoaoinov rj isqov i^QT^ficofievov tj äoixöe iaziv ' iv Sa iQaytoSia
7] ftev Ss^ia d'vqa ^evcov iaxvp, eioxri] Se rj Xaiä. Diese Beschreibuug der
Dekorationswand ist weder klar noch erschöpfend, was auch bei der Fülle der
wechselnden Details nicht möglich war. Vitruv V 7, S drückt sich ganz allgemein
aus: Uli mcdiae valvae habeant ornattis aulae regiae, dextra ac sinisira ho-
spitalia. Ein Gastgemach erfordert die Scene der Alkestis des Euripides, ein
Gefängnifs die Antigene des Sophokles. Vor dem Königshause fand sich ein
Altar; auch Götterbilder und anderer Schmuck fehlte nicht, wie die tragischen
Dichter wiederholt andeuten. Im Ajas und wo sonst die Handlung im Feld-
lager vor sich geht stellte die Dekorationswand Zelte dar, in den Eumeniden
erst das delphische Heiligthum, dann den Tempel der Athene auf der Burg zu
Athen; auch der Ion des Euripides spielt vor dem delphischen Tempel; im
Philoktet des Sophokles war eine Felsengrotte, im Oedipus auf Kolonos der
heilige Hain dargestellt.
129) Vitruv V 8,1.
130) Vitruv V 8, 1. Oefter waren zwei Nachbarhäuser dargestellt oder auch
wohl neben dem Hause ein Stall, eine Werkstatt und dergl., s. Pollux IV 125.
Vor dem liause durfte der Altar des Apollo (ayvitvi) nicht fehlen, auf den die
DIE DRAMATISCHE POESIE. EmLEITOG. 41
der Bühne TervoUständigten die Dekoration.^^*) Da sie beweglich
waren und auf jeder Fläche ein anderes Bild darstellten , leisteten
sie besonders bei Veränderung des Ortes gute Dienste. ?feben den
Periakten führten zwei Zugänge auf die Bühne '^*), welche für die-
jenigen Personen bestimmt waren, die entweder aus der Stadt oder
Fremde kamen,
Wie das Leben des hellenischen Volkes durchgehends den Cha-
rakter der Oeffentlichkeil zeigt und die Kunst eben nur ein treues
Abbild dieser Zustände ist , so beruht auch das Trauerspiel und die
alte Komödie'^^) auf der Voraussetzung, dafs die Handlung vor aller
Augen, nicht in geschlossenen Räumen stattfindet. Wie sorgsam
aber auch die dramatischen Dichter bei dem Entwürfe ihrer Arbeit
darauf Rücksicht nehmen mochten, so waren sie doch zuweilen ge-
nöthigt , wogen der eigenthümhchen Natur der Sache oder aus con-
ventionellen Rücksichten einen Vorgang ins Innere des Hauses zu
verlegen. Dazu diente eine besondere Vorrichtung, das sogenannte
Ekkyklema.'^) Ein Stück der Dekorationswand ward zur Seite ge-
schoben, und nun zeigte sich den Blicken der Zuschauer eine Art
kleiner Bühne, welche das Innere des Hauses und was darin Yor
sich ging unmittelbar zur Anschauung brachte. Die Tragödie hat
Komiker mehrfach hinweisen. Die alte Komödie zeichnet sich durch reiche
Mannigfaltigkeit der Scenerie aus.
131) Die Tteoiay.Toi waren dreiseitige Prismen, die gedreht werden konn-
ten; jede Fläche war mit einer gemalten Dekoration oder einem gewirkten
Teppich bedeckt, PoüuxIV 126. 131, Vitruv V 7, 8.
132) Pollux IV 126. Darauf gehen auch die Worte des Vitruv V 7,8: *e-
cundum ea loca (d. h. wo die Periakten sich befinden) versurae sunt procur-
rentes, quae ef'ficiunt una a fora, altera a peregre aditus in scaenam. (S.
unten S. 45 A. 147.) Es gilt dies natürlich nicht nur für das Auftreten, sondern
auch für den Abgang der Schauspieler.
133) Für das griechische Drama war dies schon deshalb eine Nothwen-
digkeit, weil sich nur so die Verbindung mit dem Chore aufrecht erhalten liefs.
Die Komödie, welche später auf den Chor verzichtet und sich auf Vorgänge
des häuslichen Lebens beschränkt, hält nichts desto weniger diese Ueberlieferung
alle Zeit fest.
134) Pollux IV 128, Schol. Aristoph. Acharn. 408. Die Maschine ruht auf
Rädern, um sie bequem vorwärts und rückwärts bewegen zu können; denn schon
um dem Bilde, welches man den Zuschauern zeigen wollte, die nöthige Beleuch-
tung zu geben, war ein Vorschieben dieser Bühne nothwendig. Daher sagt auch
Aristoph. Thesmoph. 265: ei'aeo iis tos xä/^iata u si<jy.vx/.r,aär(a, und dies ist
auch in der Bezeichnung exy.vx/.r/fia ausgedrückt.
42 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
von diesem Mittel sehr wirksamen Gebrauch gemacht.'") Noch häu-
figer und in freiester Weise mag die alte Komödie sich des Ekky-
klema bedient haben'''), wenn aus den Lustspielen des Aristopha-
nes ein Schlufs auf die anderen gestattet ist.
Da Göltererscheinungen in der Tragödie häufig vorkommen,
bedurfte es einer V'orrichtung, um eine Gottheit oder einen Heros
schwebend darzustellen.'") Aber auch andere Bühnenfiguren treten
136) Im Agamemnon des Aeschylus zeigte das Ekkyklema die Klylämne-
stra mit dem blutigen Schwerte neben den Leichen des Gatten und der Kas-
sandra. Ein nicht minder ergreifendes Bild bot das folgende Drama, die Choe-
phoren, dar, wo Orestes, das Gewand, unter welchem einst Klytämnestra den
Agamemnon erschlagen hatte, in der Hand haltend, vor seinen Füfsen die Lei-
chen der Mutter und des Aegisthus, sichtbar wird. Ob auch in dem dritten
Stücke der Trilogie das Ekkyklema in Anwendung kam, ist unsicher; die Worte
des alten Erklärers (Schol. Eum. 64) lassen auch eine andere Auffassung zu.
Auch Sophokles und Euripides (dieser Dichter, wie es scheint, seltener) haben
von diesem Mittel Gebrauch gemacht.
136) Bei Aristophanes finden wir eine Anzahl völlig gesicherter Beispiele
des Ekkyklemas, und zwar werden die Dinge hier mit genialer Freiheit behan-
delt, indem die Personen, welche auf der Bühne stehen, mit denen, welche
durch das Ekkyklema sichtbar werden, ungehindert verkehren, als befänden sie
sich auch im Innern des Hauses, wie Dikäopolis mit Euripides in den Achar-
nern. Noch gröfsere Kühnheit zeigt sich in den Thesmophoriazusen ; waren
auch die alten Erklärer uneins, ob dort das ixxvitXr,fia oder die ä^daroa (Pol-
lux IV 127) zur Verwendung kam, so ändert dies nichts; denn die i^iöarga
kann eine ganz ähnliche Maschinerie gewesen sein.
137) PolluxIV 128. Es gab offenbar verschiedene Flug- und Hebemaschi-
nen; aber die Verschiedenheit des Namens deutet nicht noth wendig auf Ver-
schiedenheit der Vorrichtung hin. Der gewöhnliche Name ist fir,xavr,, ein Appa-
rat, durch den eine Bühnenperson schwebend über der Bühne gehalten wurde.
Dies wurde durch eine Drehung oder Wendung bewirkt, daher der Ausdruck
ar^ifeiv von der Maschine gebraucht wird: daher brachten auch alte Gramma-
tiker den Ausdruck xaxnaxoofi] tov Soäfiaroi, d. h. der Ausgang des
Drama, irrigerweise damit in Verbindung, weil der Schlufs der dramatischen
Handlung häufig durch den O'ios aTib firjxavrji herbeigeführt wird, s. Suidas
1 1,632 ano ftrjxotviqi [Bcrnhardy xaxaarokriv]. Identisch mit der fir^x^pv sind offen-
bar die aidioai; denn die Beschreibung bei Pollux IV 131 stimmt vollkommen mit
der Schilderung der /«^jK«*"^ IV 128, nur dal's er hier d-eoli xai ^qu» noch durch
den Zusatz BelleQOfövxai rj Us^aäm erläutert. Der Krahn iyt'oatoi), der in der
Psychoslasie des Aeschylus zur Anwendung kam, war wohl auch nichts anderes
als die gewöhnliche ftTixnrri. Ebenso ist die xoäSt] der Komödie identisch (mit
diesem volksmäfsigen Ausdruck wird ein Komiker die Maschine benannt haben).
Aristophanes macht davon im Frieden Gebrauch, wo Trygäus ein Seilenätück
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITUNG. 43
zuweilen auf einem höheren Standpunkte auf'^), wie der Wächter
im Agamemnon des Aeschylus und Antigone in den Phönissen des
Euripides. Ebenso fehlten Versenkungen nicht, um Geistererschei-
nungen vorzuführen.'^) Donner und Blitz nachzuahmen verstand
der Theatermaschinist recht wohl.**')
Anfangs begnügte sich das Drama offenbar mit einfachen Mit-
teln; war auch der Scenenschmuck für jede Gattung der drama-
tischen Poesie verschieden und dem besonderen Charakter entspre-
chend, so begnügte man sich doch mehr mit symbolischen Andeu-
tungen der Oerthchkeit. Erst seit der Erbauung eines stehenden
Theaters ward auch die Dekoration der Bühne reicher.'^') Man wufste
zu dem Bellerophon der Tragödie bildet. Das argo^elov (nach Pollax IV 132:
TOtS r^ocos k'/Bi TOI» £«s 10 d'tiov fted'eaTr^icÖTas rj rois iv 7Te)Ayet ^ tio'/.euco
T£?^vrc5%'rai) war gewifs ähnlich construirt und unterschied sich nur durch
seine abweichende Bestimmung und Stelle von der eigentlichen ur,xavri. Diese
war über der linken Periakte angebracht, das (JTQOfslov wohl über der rech-
ten; ein bestimmtes Zeugnifs fehlt, denn Schol. Lukian IV S. 226: ur,xavcäv Sio
fi£X£o}QiZ,ouivo}v Tj d^ aQiaxBocöv d'EovS y.ai r^ocoas dvefävi^s ist unvollständig.
Wesentlich verschieden ist das d-so^Ajyeiov, eine schwebende Bühne, wohl in
der Mitte der Bühne angebracht, hinreichend stark und geräumig, um in der
Psychostasie des Aeschylus eine ganze olympische Götterversammlung zu tragen.
Sie war vielleicht eigens für diese Tragödie angefertigt und hat sicherlich
in der jüngeren Tragödie keine Anwendung mehr gefunden. Der Chor der
Okeaniden im Prometheus erscheint mit seinen Flügelwagen auf der linken
Periakte, denn die /ur^xavr; war dafür zu schwach; auch bedurfte man derselben,
um den Okeanos auf seinem Flügelrosse einzuführen. Götter erscheinen übrigens
nicht immer in der Luft, sondern ausnahmsweise auch auf der Bühne, und es ist
nicht immer leicht, eine Entscheidung zu treffen, wie z. B. im Prologe des Ajas.
138) PoUux IV 129 nennt axoTtr, (Warte), Mauer, Thurm, (fovxrcoQun'
(eigentlich Leuchtthurm, dies geht vielleicht auf den Prolog des Agamemnon)
und Stazsyi'a (diese bezieht er auf die Phönissen). In der Komödie leistet
besonders das flache Dach des Hauses diesen Dienst.
139) Wie in den Persern des Aeschylus, aber auch wohl in der Komödie
(vgl. die Jr^uoi des Eupolis Com. II 1, 455 ff.). Auch Flufsgölter oder die Erin-
nyen, wenn sie aus der Tiefe der Erde emporstiegen, wurden so vorgeführt,
Pollux IV 132.
140) KeoavrooxoTtslov und ßoovrsTov Pollux IV 130. Ueber den ftijxavo-
noiöi vgl. Aristophanes Frieden 173.
141) Aeschylus, dann aber auch Sophokles haben sich um die Einführung
der axTjvoyoafia verdient gemacht; ein tüchtiger Künstler, der Maler Agathar-
chos (Vitruv VII praef. § 11) widmete ihnen seine Dienste; später mag Apollo-
doru«, mit dem Zunamen axiayQa(pos, sich mit der Bühne und der Dekoration
beschäftigt haben.
44 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
sehr wohl die Vortheile zu würdigen, welche eine möglichst voll-
ständige Vergegenwärtigung der Handlung darbietet, aber man ging
nicht darauf aus, durch täuschende Illusion blofs die äufseren Sinne
zu befriedigen. Manches war nur angedeutet, anderes ergänzte die
lebhafte Einbildungskraft Iheilnehmender Zuschauer. Es gilt dies be-
sonders von der alten Komödie, die bei einer entschiedenen Rich-
tung auf das Phantastische doch niemals über so reiche Mittel wie
die Tragödie verfügte.
Die Ausstattung der Bühne war mannigfaltig genug, um die
verschiedensten scenischen Darstellungen möglich zu machen. Zumal
die Tragödien des Aeschylus, der immer neue dramatische Bilder
vorführte und auf würdige Ausstattung Werth legte, nahmen die
Maschinerie des Theaters vielfach in Anspruch. Bei Sophokles mufs
alles viel einfacher gewesen sein '"), wie überhaupt der äufsere Prunk,
den die alte Tragödie nicht verschmäht hatte, später mehr und mehr
ermäfsigt wird, sicherlich zum Vortheile der Kunst, da solche äufsere
Zuthat nur zu leicht den Sinn der Zuschauer von dem tieferen poe-
tischen Gehalte ablenkt. Leere Schaugepränge, grofsartige Proces-
sionen auf der Bühne und dergleichen, sind den Griechen in der
klassischen Zeit unbekannt, während die Römer daran vorzugsweise
Wohlgefallen fanden.
Rechts und Ob der Chor von der rechten oder linken Seite her in die
Theater* Orchestra einzog, ob ein Schauspieler durch den rechten oder linken
Seiteneingang die Bühne betrat"^), war nicht gleichgültig. Die Büh-
nenpraxis verknüpfte mit jedem dieser Zugänge eine bestimmte Be-
deutung, und der Zuschauer, der mit dieser einfachen Symbolik ver-
traut war, wurde dadurch in den Stand gesetzt, sich augenblickUch
über die Voraussetzungen der dramatischen Handlung zu orientiren.
Die linke Seite weist auf Stadt und Hafen, die rechte auf das Land
und die Fremde hin. Man unterschied also sofort, ob einer aus
der Nähe oder Ferne kommt. Diese conventioneile Ortsbezeichnung,
welche von der attischen Bühne ausgeht, hat allgemeine Geltung
erlangt.'*^) Wenn man auf der Bühne des attischen Theaters stand
142) Euripides kehrt in einzelnen Dramen, wie z. B. in den Schulzflehen-
den, wie es scheint, wieder zu der Weise der älteren Tragödie zurück.
14r{) Die beiden Eingänge zur Orchcstra heifsen ei'ioSoi schlechthin (Ari-
stophanes), die Seileneingänge der Bühne eliaoSoi tii axrjv^v.
144) Diese Ausdrücke links und rechts gehören der Bühuenpraxis an.
DIE DRAMATISICHE POESIE. EINLEITUNG. 45
und das Gesicht nach dem südhchen Abhänge der Akropolis und
dem Zuschauerräume richtete, hatte man zur Linken die Stadt Athen
und den Hafen, zur Rechten die Landschaft. Wenn der Chor aus
der Heimalh kommt, so tritt er von der Linken auf"*), kommt er
aus der Fremde, so wird der rechte Eingang benutzt. In der Tra-
gödie, wenigstens bei Sophokles und Euripides, ist die erste Form
des Einzugs die gewöhnhche, weil diese Dichter den Chor in der
Regel aus den Rewohnern des Ortes bilden, wo eine Handlung vor
sich geht.'^) Ebenso verhält es sich mit dem linken und rechten
Seiteneingange der Rühne."') Der Rote, der das meldet, was sich
im Innern des Hauses ereignet, tritt auf der hnken Seite auf, wäh-
rend der Rote, welcher über das, was sich aufserhalb zugetragen
hat, berichtet, von rechts nach hnks geht.'^*) Die rechte Periakte
steUt Rilder aus der Landschaft , die hnke aus Stadt und Hafen dar'^)
und dient zugleich in gewissen Fällen als Ersatz für die Maschine,
sind daher auch von der Bühne aus zu verstehen, und die Notizen der späte-
ren Berichterstatter sind unter sich im Einklänge.
145) Schol. Aristid. III S. 535 sagt, der Chor habe beim Einzüge die Zu-
schauer zur linken und die tt^iwto« rov yooov bildeten den linken Flügel, der
im Chor als Ehrenplatz galt, Mas von der sonstigen Sitte abweicht. Dann wird
noch S. 536 hinzugefügt : tva sv^e&fi ex Ss^icöv tov olqxo^^os (6 yo^ös). Dies
ist nicht der eigentliche Grund (sondern die besten Choreuten sollten sich den
Zuschauern präsentiren), aber die Thatsache wird richtig sein. Der Vorsitzende
Archon halte offenbar seinen Platz auf der untersten Stufe des ersten Keiles
der Westseite, d. h. er safs auf dem rechten Flügel der Zuschauer, als dem
Ehrenplatze. Dafs in der Zeit Hadrians die Sitzplätze der Archonten sich auf
der entgegengesetzten Seite befanden, ist eben eine Neuerung. Der Einzug
durch den linken Eingang Mar am gebränchiichsten; daher richtet sich die Ord-
nung der Choreuten darnach.
146) Bei Aeschylus finden sich mehrfache Ausnahmen, wie z.B. in den
Schutzflehenden; in den Eumeniden und im Prometheus hält der Chor keinen
förmlichen Einzug in die Orchestra. Für den Chor der Komödie gilt die gleiche
Norm; kommt er aTto ttjs TiöXstos, so zieht er Sia rrjs d^tarsQäs cnplSos, da-
gegen Sia T^s Se^iäi ätplSos, M'enn er otio ayoov auftritt, s. Ttsol xauofSias
IX a 14 ff. und 35 ff., X c 34 ff.
147) VitruvVT, S: secundum ea loca versurae sunt procurrentes, quae
efficiunt una a f'oro, altera a peregre adittis in scaenam. Die Stelle des Pollux
IV 126 über diese Ttä^oSot ist nicht in Ordnung.
148) Der d^äyyeÄo» geht Sia axoas ir,s Xaiäs, der ayys?/}S ix Se^köv
jiQos lawv (MiQos, wie Tzetzes sich ausdrückt. Ebenso führt nach Pollux
IV 125 die rechte Thür der Dekorationswaod zur Fremdenwohnung {^evcäv).
149) Pollux IV 126.
46 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
welche Göttererscheinungen vorführte; denn auch die Maschine war
auf der linken Seite angebracht.'*") Dies ist befremdlich, da nach
der herrschenden Anschauung der Hellenen die rechte Seite für
glückverheifsend gilt und die Götter in der Tragödie meist als hülf-
reiche Wesen erscheinen; aber hier war eben die Rücksicht auf die
Zuschauer mafsgebend, denen so die Götter rechtshin sichtbar wur-
den, wie es die volksmäfsige Vorstellung verlangte.
Vertheiiung Die untersten Stufen, als die besten Plätze, waren den geist-
der Plätze
■ heben und weltlichen Würdenträgern vorbehalten ; in dem geweihten
Räume des Dionysus hatte der Priester des Gottes, wie sich gebührte,
seinen Sessel gerade in der Mitte der untersten Sitzreihe."') Selbst-
verständhch waren dem Vorsitzenden Archon und denen, die ihn
bei der Ordnung der Festfeier unterstützten, Ehrenplätze angewiesen.
Aber auch die anderen Archonten, sowie höhere Reamte, besonders
die Strategen, genossen unzweifelhaft schon in der klassischen Zeit
dieses Vorrecht, ebenso Priester, wenn schon nicht in der Ausdeh-
nung, wie später'"), dann fremde Gesandte und andere Gäste des
Staates, sowie einzelne RUrger, denen man wegen besonderer Ver-
dienste diese Auszeichnung zuerkannt hatte.'") Auch den Preis-
richtern wird man vorzügliche Sitzplätze zugetheilt haben. Ebenso
ward den Mitgliedern des Rathes der Fünfhundert, dann im Interesse
der Zucht und Ordnung den Epheben ein abgesonderter Raum an-
gewiesen.'") Die übrigen Plätze waren der Rürgerschaft ohne Unter-
schied zugänghch; nur scheint man die obersten Sitzstufen, also die
150) PoUux IV 128: xslrai xara rrjv uQiareQav tcÜqoSov tmi^ r^r axr]-
vTjv To vtpoe, ebenso Schol. zu Clemens Protr. 98. Schol. Lukian IV S. 224, wo
er zwei Maschinen unterscheidet, sagt »J i^ ä^iars^äv d'eoie xal i^^ojai ive-
151) Arisloph. Frösche 297. Der mit Reliefs verzierte marmorne Sessel
ist noch erhalten [CIA. III 1, 240] und gehört vielleicht der Zeit des Lykurg an,
wenn schon die Schriftzüge ie^itoe Jioviaov 'Elev&epitos auf eine spätere
Epoche hinweisen.
152) Die &g6vot des upofävtr,e und der anderen Priester erwähnt Dio
Chrysostomus 31, 121, er hat aber seine Zeil im Auge. In der Zeit des Hadrian
waren, wie die Ausgrabungen gezeigt haben, die untersten zwanzig Sitzreihen
vorzugsweise für das priesterliche Personal bestimmt.
153) Vielleicht ward auch berühmten Dichtern die Proedrie zuerkannt
(Aristoph. Ritter 536).
154) BovXevriKÖs (tottoc), ift]ßix6e, Schol. Aristoph. Vögel 794, Pollux
IV 122.
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITUNG. 47
entferntesten und schlechtesten Plätze, den Metöken und Fremden
zugetheilt zu haben.'")
Der Besuch der Schauspiele war anfangs unentgehhch. So moch- ^''"^'[j"^
ten nicht wenig unberechtigte sich zudrängen und Unordnungen
entstehen, die zumal bei den gebrechhchen Brettergerüsten leicht
eine wirkliche Gefahr herbeiführen konnten. Man führte daher ein
Eintrittsgeld ein "^), wahrscheinhch bei der Erbauung des steinernen
Theaters Ol. 70. Der Staat verpachtete diese Einnahmen an einen
Unternehmer, der zugleich das Theater in bauhchem Stande zu er-
halten verpflichtet war."') Das Eintrittsgeld warmäfsig; man zahlte
für einen jeden Theatertag zwei Obolen für seinen Platz.'**) Gleich-
wohl wurde dadurch den ärmeren Bürgern der regelmäfsige Besuch
der Schauspiele erschwert oder unmöglich gemacht. Man war jedoch
verständig genug, eine Einrichtung, welche sich bewährt hatte, nicht
aufzuheben, sondern Perikles führte wahrscheinhch im Zusammen-
hang mit der Verdoppelung der dramatischen Spiele die Auszahlung
des Theorikon ein.'^^) Jeder attische Bürger erhielt eine Drachme,
die gerade für die drei Theatertage der Lenäen wie der grofsen
Dionysien ausreichte. Man darf diese Spende nicht mit den übrigen
155) Darauf deutet Alexis in der rwatxoxQaria fr. 1 Com. III 402 (also in
der verkehrten Welt, m o die Frauen die Stelle der Männer einnehmen) bei Pol-
lux IX 49 : ivzav&a TieQi ttjv kayaTr^v Sei y.e^y.iSa 'Tfiäi y.ad'iZoiaaS d'ecDQEiv
ü:s ^evae. Auch Aristoph. Acharn. 507. 50S deutet auf die Absonderung der
Metöken von den Bürgern hin ; denn an Ausschlufs der Metöken an den Lenäen
ist nicht zu denken, da ja selbst die Leistung der Choregie von ihnen gefordert
wurde; noch weniger darf man V. 50S als Zusatz von fremder Hand entfernen.
156) Schol. Lukian Timon 49.
157) Dieser Unternehmer heifst daher d'sarocovTjS {d'ear^oTrcö/.T^s , oqx*-
rixTcov). Das Theater im Piräeus war, wie die Inschrift (GIG. 102) zeigt, für
3300 Drachmen verpachtet, und auch hier hatte der Pächter vertragsmäfsig die
nöthigen Reparaturen zu übernehmen. Der Gewinn des Unternehmens mag
trotzdem nicht unbedeutend gewesen sein.
156) Demosth. de corona 28. Der Staat hatte natürlich den Preis fest-
gestellt. Theuere Plätze gab es nicht. Wer das Recht der TiQosSoia besafs,
zahlte nichts, aber die Rathsmitglieder und Epheben werden wohl die zwei
Obolen entrichtet haben. Wenn der Staat in besonderen Fällen, wie für Ge-
sandte, Plätze in Anspruch nahm (der Architekt wies sie auf Befehl der Be-
hörden an, xazavt'ficiv &£av), scheint er den Architekten dafür entschädigt zu
haben, wie Demosthenes andeutet.
159) Das Theorikon wurde anfangs aufser den Dionysien nur noch an
den Panathenäen ausgezahlt.
48 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
auf gleiche Linie stellen. Hier liegt keine politische Berechnung zu
Grunde, sondern die humane Absicht war, jedem berechtigten Ge-
nossen des Gemeinwesens den Zutritt gerade zu den edelsten Kunst-
genüssen, welche diese Feste darboten, möglich zu machen.**') Für
den Mifsbrauch, welcher später mit den Theorikengeldern getrieben
wurde, ist der Urheber dieser verständigen Mafsregel nicht verant-
worthch. Dafs in Folge dieser neuen Einrichtung der Besuch des
Theaters bedeutend zunahm, ist bezeugt, wie denn überhaupt das
Interesse an scenischen Darstellungen sich fortwährend steigert.
Zahl der \\\q viel Zuschaucr das attische Theater fassen konnte, ist nicht
' überliefert. An den Lenäen , wo die Bürgerschaft gewissermafsen
unter sich war'®'), indem nur die Fremden, welche sich dauernd
in Athen niedergelassen hatten oder doch dort vorübergehend auf-
hielten, erschienen, war natürlich die Zahl geringer. Anders an den
stadtischen Dionysien, die im Frühjahr gefeiert wurden, wo die
SchilTfahrt wieder eröflnel ward und daher Kaufleute, wie Fremde
aus allen Theilen Griechenlands sich in grofser Zahl einfanden ; hier
erschienen auch die Abgeordneten der attischen Bundesgenossen, um
ihre jährlichen Tribute zu zahlen. Bei dieser Gelegenheit entfaltete
Athen all seinen Glanz. Es war ein allgemeines nationales Fest, und
mit wohlberechneter Liberalität gestattete man den Fremden ohne
Ausnahme den Zutritt zu den Schauspielen. An den städtischen
Dionysien dürfte die Zahl der Zuschauer durchschnittUch mindestens
30 000, wo nicht mehr betragen haben.'") Von der städtischen Be-
160) Diese Einrichtung parst ganz zu der Sinnesweise des Perikles, der
ein reges Interesse für Volksbildung besafs: die Vertheilung des Theorikon ent-
sprach dem Priucip der Gleichheit, und zugleich wurde im Interesse der Ord-
nung und Bequemlichkeit das Einlriltsgeld beibehalten. Vielleicht gab aber
ein anderer die erste Anregung. Plutarch Pericl. c. 9 schreibt: T^snerat n^ui
XTjv T<äv Srjfxoaicüv Siavo^trjv, avfißovlevaavToi avrtö JtjftcjriSov rov 0'Crj&'st\
(ÖS 'Aoiaxoxilrji larö^Tjxe. Dieser Demonides ist ganz unbekannt; es ist wohl
Dämon, der Sohn des Damonides, drr bekannte Musiker gemeint, der dem Pe-
rikles, obschoH er einer ganz anderen politischen Hiclitung angehörte, doch
persönlich nahe stand. Ebendeshalb wird sich aber der Einflufs des Dämon
nur auf das Theorikon beschränkt haben.
161) Aristopli. Acharn. 507.
162) Die Zahl der Bürger und iMelöken in Anika betrug durchschnittlich
30,000; wenn nun auch nicniuls die gcsamnite erwachsene männliche Bevölke-
rung des Landes im Theater anwesend Mar, so mufste man doch auf die zahl-
reichen Fremden Kücksicht nehmen. Das Theater war wohl geräumig genug,
DIE DRAMATISCHE POESIE. EL>XEITCNG. 49
völkerung mochten nur wenige zu Hause bleiben, wenn Schauspiel
war, und aus den Landgemeinden, selbst den entfernteren, fanden
sich gerade an diesen Festtagen viele ein, die sonst nie zur Stadt
gingen, namentlich seitdem das Theorikon eingeführt worden war.
Ob auch Frauen und Kinder Zutritt zu den dramatischen Auf-Fj-auen und
führungen hatten, ist eine vielverhandelte Frage. Die ganze Slel-gg^chTossen'
lung der Frauen in Athen, sowie die Rücksicht auf eine verständige
Erziehung der Jugend, die selbst ein demokratisches Gemeinwesen
wie Athen nie völhg aufser Acht hefs, sprechen von vornherein
gegen ihre Zulassung. Dann würde der Umfang des Theaters, so
geräumig er auch war, schwerlich ausgereicht haben, da man diese
Erlaubnifs doch nicht auf eine bestimmte Zahl beschränken und so
ein gehässiges Privilegium schaffen durfte. Thatsache ist, dafs nir-
gends abgesonderte Plätze für Frauen oder Rinder erwähnt werden*^,
und eine solche Einrichtung war doch unerläfshch. Wären Frauen
im Theater gewesen, so würde die alte Komödie, wo der Dichter
gern die Schranken zwischen Bühne und Zuschauerraum überspringt
und sich mit dem Pubhkum in unmittelbaren Verkehr setzt, diese
ergiebige Quelle des Spafses sicherlich benutzt haben.'")
um jene Zahl zu fassen. Daher sagt Plato Sympos. 175 E, wo er von dem ersteiv
tragischen Siege des Agathon redet, er habe sein Talent bewährt iv /läqrvaiv
1CÖV 'E'ü.rywv ix'fXov i] rgiaftvoiois. Dieser Ausdruck pafst eigentlich auf die
grofsen Dionysien, die den Charakter einer panhellenischen Panegyris hatten,
aber Plato drückt sich hyperbolisch aus; denn Agathon hatte an den Lenäen
gesiegt, s. Athen. V 217 A f., ein Zeugnifs, was man nicht anzweifeln darf.
163) Der Schol. Arisloph. Ekkles. 22 sagt freilich, PhjTomachus habe ein
Psephisma beantragt, wornach die Männer und Frauen und ebenso die Hetären
wieder abgesondert sitzen sollten. Allein dies ist nur ein Autoschediasma ; der
Sinn der Stelle war schon den Alten dunkel , und andere lasen statt <Pv^
fiayos vielmehr K)^cfiayos (ein tragischer Schauspieler). Wenn Alkibiades als
Choreg (siatcav eis ro d-taTQov) auch von Frauen bewundert ward (Athen.
XII 534 C). so ist damit das Publikum auf der Strafse und den Dächern der
Häuser gemeint.
164) Aristoph. Ekkles. 1146 werden die verschiedenen Altersklassen der
Zuschauer mit den Worten xa)^li ytQovra, fisiodxiov, TtatSiaxov bezeichnet,
wobei an die Epheben zu denken ist. Ebensowenig beweist Wolken 539: tdis
TiaiSiots iv' fi yÜMS für die Anwesenheit der Kinder; denn dies heifst nur:
ein lächerlicher Anblick für Kinder. Wenn es im Frieden 966 ovx o.i ywahcsi y'
fhaßov heifst. so ist mit klaren Worten gesagt, dafs die Frauen nicht im Thea-
ter, sondern zu Hause sind. Dafs im Theater zu Athen später zahlreiche Plätze
für Priesterinnen und Jungfrauen, wie die Hersephoren, bestimmt waren, ist erst
Bergk, Griech. Literaturgeschichte IlL 4
50 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Wenn man gemeint hat, die Theilnalmie der Frauen sei auf
die Tragödie zu beschränken'"), so erscheint auch dieser vermit-
telnde Versuch nicht glückhch, wenn man bedenkt, dafs an dem-
selben Tage in unmittelbarer Folge Lustspiele und Trauerspiele auf-
geführt wurden. Es ist nur ein Mifsbrauch, wenn in der Zeit des
Plato und später nicht nur einzelne Frauen und Kinder mitbrach-
ten, sondern sogar Sklaven oder Freigelassene den dramatischen
Aufführungen beiwohnten.'*')
JiSäaxa- Der Dichter, welcher ein Drama zur Aufführung bringen wollte,
^s- meldete sich beim Archon. Dieser entschied ganz nach eigenem Er-
messen, und für einen jüngeren Mann, der sich noch nicht bewährt
hatte, mochte es nicht leicht sein, einen Chor zu erhalten '"), wurde
in der Zeit der römischen Herrschaft aufgekommen. Unter den Sesseln der vor-
dersten Reihe sind nur zwei Frauen angewiesen ; der eine trägt den Namen der
Athenion, Priesterin der Athene (die in der zweiten Hälfte des zweiten Jahr-
hunderts n.Chr. lebte [CIA. Ul 1, 282]), der andere hat die Aufschrift le^eias
'HXiov, wahrscheinlich der gleichen Zeit angehörend [CIA. III 1,313].
165) Wenn dem Euripides bei Aristophanes Frösche 1050 ff. vorgeworfen
wird, er habe auf die Frauen nachtheiligen Einflufs ausgeübt, so folgt daraus
nicht, dafs sie im Theater seine Tragödien aufführen sahen, sondern dafs sie
seine Stücke lasen.
166) Plato Gorg. 502 D nennt geringschätzig das Publikum der Dichter im
Theater: Srjfiov naidtov rs ofiov xai ywatxäiv xal avS^cäv xal SoiXojv xai
iXevd'iQMv. Dafs er aber nur factische Zustände schildert, nicht von einem
Rechte die Rede ist, beweist schon die Erwähnung der SoiJmi. Man vergleiche
auch Leg. II 658 D und VII 817 C. Bei wachsender Zuchtlosigkeit mögen eben be-
sonders Hetären sich eingedrängt haben ; daher mag der Spottname d-BaxqoTOQivrj
(Athen. IV 157 A) rühren. Theophrast Char. c. 9 schildert den Geizigen, der für
seinen Gastfreund einen Platz im Theater nimmt, und nicht nur selbst mit zu-
sieht, ohne etwas zu zahlen (es ist zu lesen nrj Soi/s io /ue^oe xai avToe &e<o-
Qsiv), sondern am anderen Tage sogar seine Kinder und den Pädagogen mitbringt.
An den ländlichen Dionysien mag in dieser Beziehung von jeher gröfsere Freiheit
geherrscht haben. Beachtung verdient auch eine Aeufserung des Aristot. Pol.
VII 17, 9, wo er verlangt, das Gesetz solle die vemtsqoi von der Komödie aus-
schliefsen {n^lv 7} r^v ^Xtxiav läßtaaiv, iv rj xni xaxaxkiaeoie vnd^^si xot-
vtovtiv fiSrj xai /it&rji xxX.); er will also, wie es scheint, auch die Epheben
ausschliefsen.
167) Der übliche Ausdruck ist xo^"*' «t^«»»' und ^o^ov StSovai, vom Dich-
ter xoQO*' Xaßeiv {i'x^tv), daher xoQOv ötSövai sprüchwörtlich gebraucht ward,
DIE DRAMATISCHE POESIE. EDiLEITUNG. 51
doch manchmal selbst ein anerkannter Meister zurückgewiesen.**^
Persönhche Vorurtheile wirkten vielfach ein, und so mögen die
Dichter auch aus diesem Grunde das Geschäft der Aufführung manch-
mal einem anderen übertragen haben, der der Gunst der Behörde
sich erfreute. Ein bestimmtes Lebensalter war, wie es scheint, nicht
vorgeschrieben; jedoch wird keiner gewagt haben, sich bei dem
Archon zu melden, ehe er nicht berechtigt war, seine staatsbürger-
üchen Rechte auszuüben.'®^ Von einer vorausgehenden Prüfung
der Stücke ist keine Spur vorhanden.'"") Bei der Komödie würde
dies zu einer Art Censur geführt haben, die der Dichter sich nicht
gefallen lassen konnte. Früher überwies wohl der Archon, der ein
Drama angenommen hatte, dem Dichter ohne Weiteres einen Cho-
wenn man einem Redefreiheit gewährt (Plato Rep. 11 3S3C, Leg. Vü 81 7 D, wo
der Scholiast zu der ersten Stelle bemerkt: rra^ yaQ rols l4&r]vaioia x^Qov
iTvy^avov xcoucpSias xai xQaycoBlas ytoujrcU ov irayrcs, oXJl oi evSoxifiovv-
les xai Soxiuaa&svres a^ioi).
168) So mufste Sophokles einem ganz obscuren Dichter nachstehen; eine
ähnliche Zurücksetzung erfuhr Kratinus (s. Bovx6)u)i fr, l und 2 Com. II 1, 26 flf.).
169) Wenn ein Dichter vor dem zwanzigsten Jahre, wie z. B. Eupolis im
Alter von siebzehn Jahren, sein erstes Stück auf die Bühne brachte, so hat er
sicher sich eines Stellvertreters bedient. Angeblich soll ein Gesetz das dreifsigste
Jahr vorgeschrieben haben; so berichtet der Schol. Aristoph. Wolken 510, der
nicht, wie manche meinen, von den Komikern, sondern allgemein von drama-
tischen Dichtern redet. Dafs dieser Gewährsmann einer späten Zeit angehört,
beweist schon der Ausdruck Soäfta avayivdaxeiv iv ^eäiQca, und wenn er hin-
zufügt, Aristophanes habe damals das dreifsigste Jahr erreicht gehabt, so vergifst
er der Ritter. Ein anderer Scholiast zu V. 530 [adn. p. 434 Did.] schwankt gar zwi-
schen dreifsig und vierzig Jahren. Die Thatsachen sprechen entschieden dagegen:
Aeschylus, Sophokles, Euripides sind vor dem dreifsigsten Jahre aufgetreten.
Agathon war sehr jung, als er seinen Erstlingsversuch auf die Bühne brachte,
in eigener Person, wie aus allem hervorgeht, und das Gleiche gilt wohl auch
von Sophokles. Ebenso haben die namhaften komischen Dichter in frühem Alter
sich ihrem Berufe zugewandt, wie Eupolis, Aristophanes, Antiphanes, Menan-
der; diese haben allerdings zum Theil sich eines fremden Namens bedient. —
Ebenso wenig ist die Ansicht Neuerer gerechtfertigt, Ausländer hätten keinen
Chor erhalten : wie man lyrische Dichter ohne alle Ausnahme zuliefs, so auch
dramatische. Ion ist wohl stets Bürger von Chios geblieben. Aber die, welche
beständig für die attische Bühne thätig waren, werden in der Regel auch das
Bürgerrecht erlangt haben.
170) In Rom mag dies nicht ungewöhnlich gewesen sein. Terenz mufste
auf Verlangen der Behörde sein erstes Stück einem älteren bewährten Dichter
vorlesen, s. Sueton vit. Ter. p. 292, 29 Roth.
4*
52 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V, CHR. G.
regen. Spater entschied darüber das Loos"'), um so viel als mög-
lich jede Parteilichkeit fernzuhalten. Nämlich der Choreg, der das
erste oder zweite Loos zog'"), durfte sich den Dichter wühlen, und
zwar fand die Verloosung mindestens einen Monat vor der Festfeier
statt.'^^) Ebenso ward die Reihenfolge der dramatischen Aufführun-
gen durch das Loos geregelt.'"^)
Das mühsame Geschäft, den Chor und die Schauspieler einzu-
üben, übernahm der Dichter selbst.'") Noch Euripides kam dieser
Verpflichtung nach.'^^) Die Aufführung, welche für die dramatische
Poesie so wesentlich ist, konnte niemand besser als der Dichter, in
dessen Geiste das Werk entsprungen war, vorbereiten und über-
wachen.'^') Denn dem Dichter kommt es auch zu, sein Werk dem
171) Bei den lyrischen Chören wurde dies Verfahren beobachtet (Demosth.
Mid. 13), aber das Gleiche gilt offenbar auch für die dramatischen Aufführungen.
Aus Demosth. Mid. 58 darf man nicht schliefsen, dafs der Choreg sich den Dich-
ter gewählt habe; denn ^avvicov 6 rovs r^ayixoi/s x^Qovs SiSäaxoav, den der
xo^ybs x^aycoSwv anwirbt (ifiia&äxjaxo), ist kein tragischer Dichter, sondern
nur ein vTtoSiSäaxakos.
172) Der dritte hatte natürlich keine freie "Wahl.
173) Darauf deuten wohl die unklaren Worte Arg. II Demosth. Mid. hin:
7tavofiEin}i Ss TTjS eoQxriS iv t^» TtQtorcj} firjvl TtQoißäXXovto oi XOQVy^^ ''^V^
fiEXXovarjS io^TTJe.
174) Aristoph. Ekkles. 1158.
175) Daher x'^QO'^ StSaaxetv, S^äfia SiSdaxeiv; ebenso bezeichnet SiSa-
ffxaXia dieses Geschäft, wird aber dann auch auf das dramatische Gebiet über-
tragen, und der Dichter heifst SiSäaxaXoe oder bestimmter r^ayotSoStSuaxaXos,
xcoft(^So8iSaaxalos, weil er den Chor der xQaytpSoi oder x(o/n(oSoi einübt. Diese
Worte sind ganz correkt gebildet, aber Aristophanes sagt nach dieser Analogie
auch r^aycoSoTtoios, xoifuoSonotrjTTje, r^yfoSoTtoiofiovatxr], und die Attikisten
lassen nur diese Formen gellen, nicht r^ayojSioTioios, xojfKoSionotös , obwohl
diese Worte regelrecht gebildet sind und bei den Späteren allgemein üblich
waren. Die Ausdrücke xQuynjSoi, xojfto'Soi gehen eigentlich auf den Chor,
aber zuweilen nennt man auch den Dichter oder den Schauspieler r^aycoSös,
xiofttpSöe. Mit SiSnaxsiv wechseln ab die Ausdrücke eiaayeip S^äfia (s. A. 178),
ferner xa&uvat 8^ä/ia und xa&eaie S^ä/uaroi, was zunächst auf den Agon der
Dichter zu beziehen ist, bei den Späteren auch avayiyvcöaxeiv S^äfta, indem
sie mifsbräulich die Praxis ihrer Zeit auf die klassische Epoche übertragen.
176) Plutarch berichtet, dafs Euripides dem Chore ein in mixolydischer
Harmonie gesetztes Lied vortrug, und als einer der Choreuten bei dieser ernsten
Melodie eine lächelnde Miene zeigte, dieses ungebildete Wesen rügte.
177) Auf den Dichter selbst gehen wohl meist auch die dramaturgischen
Bemerkungen (die sogenannten naQuityi^afai) zurück, welche die nöthige An-
DIE DRA5UTISCHE POESIE. EI>XEITÜ>G. 53
Publikum persönlich vorzurdhren und die Darstellung auf der Bühne
zu leiten. Wie das Drama aus Chorgesängen hervorgegangen ist,
so war es Brauch, dafs der dramatische Dichter den Chor anführte :
während der Herold seinen Namen verkündete, zog er an der Spitze
der Choreuten in die Orchestra."') Wie lange sich diese Sitte er-
hieh, wissen wir nicht; aber auch später wohnte offenbar der Ver-
fasser eines Dramas oder wer sonst an seiner Stelle die Einübung des
Stückes übernommen hatte, der Aufführung bei, um das Ganze zu
überwachen und, wenn es galt, mit Rath und That beizustehen.'")
Stellvertretung war eigentUch nicht gestattet. Wollte oder konnte
ein Dichter sich nicht selbst dieser Mühe unterziehen, dann mufste
er einem anderen sein Drama übergeben, der sich in eigenem Namen
bei der Behörde meldete und den Chor einübte.'***) Die Dichter der
weisDng für die Aufführung des Stückes enthiehen. In der Tragödie (wo übri-
gens nur dürftige Reste sich erhalten haben, wie Aeschyl, Eumen. 120 ff. fivyftoe,
ciyfios, fivyuös SmXovs o|vs) könnten sie auch von späterer Hand, von einem
vnoSiSäaxalos. hinzugefügt sein, aber in den Komödien des Aristophanes , wo
ja in der Regel keine spätere Aufführung stattfand, rühren sie unzweifelhaft
vom Dichter selbst her. Die TiaQeTttyQafai bei Aristophanes sind, wie dies
die Natur der alten Komödie mit sich brachte, weit zahlreicher, aber keines-
wegs vollständig überliefert.
178) Ein anschauliches ßUd dieser alten Sitte giebt Aristoph. Ach. 11,
wo der Herold den Tragiker Theognis aufruft : ft'ffo/' a Oioyvt rov xo^v.
Daher der Ausdruck : aiaayew Soäfia = SiSaaxeiv, wie in der Didaskalie der
Aristophanischen Lysistrata: etarjxrai Sia Ka}J.iaxQäxov.
179) Dies beweist die Erzählung von Aeschylns, der einst den heftigen
Unwillen des Publikums sich zuzog und genöthigt war, am Altar des Dionysus
Schutz zu suchen. Aehnliches wird mehrfach von Euripides berichtet. Auf
die Anwesenheit des dtSäaxakoe ist wohl auch Aristoph. Friede 763: aiU'
a^ÖLftevos rrjv axevr^v ev&iis i^cä^ovr zu beziehen. Deutlicher ist Demosthenes
Mid. 5S, wo Sannio, 6 rovs r^ayixovs xo^ovi StSdaxojv, von einem Choregen
für den tragischen Chor gemiethet war: die anderen Choregen wollten diesen
v7toSiSäaxa)u>s, dessen bürgerliche Ehre nicht makellos war, nicht zulassen,
standen aber zuletzt ab, cJs inXr,^oJ9^r, rb &ear^ov xal tov ox^ov avvst/.ey-
fiivov slSov ini xhv ayäva.
180) Verschiedenartige Motive mögen dabei mitgewirkt haben. Mancher
mochte glauben, ein anderer werde leichter vom Archon einen Chor erhalten;
manche trauten sich die Fähigkeit, einen Chor einzuüben, nicht recht zu oder
scheuten auch diese Mühe, daher nicht nur Anfanger aus Schüchternheit, son-
dern schon bewährte Dichter ihre Stücke durch andere aufführen liersen, wie
wir bei Aristophanes sehen. Diese Sitte erhielt sich auch später, obwohl es
jetzt viel leichter war einen Chor zu erhalten und die Arbeit geringer, da der
54 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
alten Komödie, wie Aristophanes, haben nicht selten zu diesem Aus-
kunftsmittel ihre Zuflucht genommen."*) Von den älteren Tragikern
ist nichts Aehnhches bekannt"''), nur dafs Euripides die Aufführung
der Andromache, die wahrscheinlich für das Theater in Argos be-
stimmt war, einem Freunde übertrug.'^) Ebenso werden nachge-
lassene Arbeiten der Tragiker, wie des Pratinas, Aeschylus, Sopho-
kles, Euripides, durch ihre Angehörigen auf die Bühne gebracht.
Dagegen später scheint man das Geschäft, das Drama einzuüben,
meist einem Gehülfen übertragen zu haben "^), den man wohl zu-
nächst zuzog, wenn es galt, ältere Stücke wieder aufzuführen.
Chor, dessen Einübung die meiste Mühe machte, immer mehr reducirt wurde
oder ganz wegfiel; aufserdem hatte man an dem vnoSiSnaxaXoe eine wesent-
liche Hülfe. So liefs Eubulus seine Komödien zum Theil durch den Komiker
Philippus aufführen, und damit hängt auch zum Theil die fortwährende Un-
sicherheit des literarischen Eigenthums zusammen. Z. B. von der Komödie Näv-
vu>v war es zweifelhaft, ob sie von Eubulus oder Philippus verfafst war.
181) Nicht nur Aristophanes, sondern auch Eupolis übertrug anderen
dieses Geschäft. Der Autolykus dieses Dichters ward 8i,a ^rifwargärov aufge-
führt, Athen. V 216 D. Der Komiker Plato Ihut dies ganz gewöhnlich, und als
ihn seine Zunftgenossen deshalb verspotteten, entschuldigte er sich, indem er
sich mit den arkadischen Söldnern verglich, die auch für andere, nicht für sich
thätig waren : auffallend ist, dafs hier die Armuth des Dichters als Beweggrund
angeführt wird (Sia nsviav Suidas 1 1, 738 lAQxäSas ftifiovfiavoi), denn dafs ein
anderer dem Dichter die Ehre abgekauft habe, ist schwer zu glauben; wohl aber
deshalb, weil das Geschäft des xoQo8iSä.axnh>s mit mancherlei Unkosten ver-
knüpft war, wie z. B. der Dichter, der den ersten Preis erhalten hatte, einen
Schmaus {imvixia), wie Agathon, zu veranstalten pflegte, dessen Kosten der
empfangene Preis schwerlich deckte.
182) "Wohl aber von den jüngeren, wie Aphareus, s. Plutarch im Leben
des Isokrates § 47 : SiSatrxakias aanxae xad'Tixev s' xai Sit irixrjasv Sta Jto-
vvalov xa&eie xnl St^ sxiQcov exeqas Svo y/tjvaixäe.
183) Dafs die Andromache nicht in Athen aufgeführt wurde, ist über-
liefert. Aphareus, der Sohn des Isokrates, scheint die Didaskalie regelmäfsig
einem anderen übertragen zu haben (Plut. vit. X or. Isoer. § 47).
184) 'Tno8t8äaxah>e, Plato Ion 536 A: oQfia&os TiäfijtoXve i^rjQnjrcu yp-
QBxnöJv TS xal SiSaaxäkcov xai vnoSiSnaxnXtor. Eine Gesandtschaft, welche
die Corporation der Bühnenkünstler an die Amphiktyonen abordnet (Philol. 24,
539, 70 ff.) besteht aus einem xQayc^Siai noirir^e und vier xQaytxoi vnoStSätrxa-
h)i. Ein solcher vnoSiSäaxakoe ist der Sannio bei Demosth. Mid. 58. Auf den
xno8iSäaxa)4}S mufs man wohl auch Plutarch praec. ger. reip. 17: ftifitla^'ai
rovs vnoxQixoe nn&oe fiev i'Stov xnl 7;&os xal a^i<ujua T<jJ ayöävt TtQoaxi&iv
ras, xov üi vnoßoXicos axovovxai xal fir, iraQBxßaivovxat xove ^v&fiovi xal
To fuxQa TTfi Si8oftevT]S i^ovaiae vno xav x^axovvxoiv, nicht auf den Souffleur
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITUNG. 55
Der Beruf des tragischen Dichters ist von dem des Komikers Der Beruf
völhg gesondert; die Vertreter jeder Gattung bilden einen Stand ters und
für sich."^) In der klassischen Zeit hat, so viel wir wissen, niemals Komikers
•' . streng ge-
ein Dichter sich in beiden Gebieten der dramatischen Poesie ver- schieden,
sucht.'*^) Das Lustspiel hat eben eine ganz andere Aufgabe als die
Tragödie, setzt eine eigenthümhche Anlage und Geistesrichtung vor-
aus. Wer in einer Gattung etwas Tüchtiges leisten wollte, mufste
seine ganze Kraft auf dieses Ziel richten. Ebenso trat niemals ein
tragischer Schauspieler in einer Komödie oder ein komischer im
Trauerspiele auf.'*^) Plato hält sich genau an die wirklichen Ver-
hältnisse, wenn er sagt, es sei nicht möghch, dafs derselbe Dichter
zugleich in der Tragödie und Komödie es zur Meisterschaft bringe.**®)
Damit stimmt nicht recht der Schlufs des Symposiums'*^), wo be-
richtet wird, Sokrates habe bewiesen, dafs derselbe Dichter Lust-
spiele und Trauerspiele müsse machen können, und sowohl Agathon
als auch Aristophanes hätten zuletzt diesem Satze beigestimmt. Aber
wir erfahren nicht, ob dies ernsthaft gemeint war oder ob Sokrates
nur mit gewohnter Schalkhaftigkeit seine dialektische Kunst hand-
habt. Wohl aber wenden die dramatischen Dichter, jedoch vorzugs-
weise die Tragiker, ihre Thätigkeit nebenbei anderen Gattungen der
Poesie zu. Pratinas und Phrynichus waren mit Erfolg auch für
lyrische Chöre thätig, was in dieser Zeit, wo in der Tragödie das
lyrische Element noch entschieden vorherrschte, nichts Auffallendes
hat. Ebenso werden auch später Dithyramben von Tragikern auf-
geführt. Gelegenheitsgedichte, wie Elegien und Epigramme, haben
selbst die drei ffrofsen Tragiker verfafst. Bekannt ist die Vielseitig-
beziehen ; doch wird auch dieser nicht gefehlt haben, und vielleicht versah eben
der vTtoSiSaaxa^MS zugleich diesen Dienst.
185) Bei Aristophanes Gerytades fr. 1 [198 Di.] werden Vertreter jeder Gat-
tung {exaarTjS t^s riyvrjs) der zu Athen gepflegten Poesie gewählt. Hier vertritt
Sannyrion die Komödie, iVIeletus die Tragödie, Kinesias die kyklischen Chordichter.
186) Erst seit der alexandrinischen Zeit ändert sich dies. Von Kallimachus
und Timon dem Sillographen, von Nikolaus aus Damaskus und dem älteren Philo-
stratus werden Tragödien und Komödien erwähnt.
187) Plato Rep. III 395 ß. Für die Choreuten gilt selbstverständlich diese
Sonderung nicht; vgl, Aristot. Pol. III 3: x°Qov ote fisv xcofiixov ora Si tqu- .
ytxbv SxEQOv slvai <pafiev, rmv avröiv ixoXXäxis avd'Qcöncov ovxcov.
188) Plato Rep. III 395 B.
189) Plato Sympos. 223D.
56 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
keit des Ion, der die verschiedensten Formen der Poesie und Prosa
cultivirte. Diese Versatilität ist das charakteristische Merkmal der
Sophisten, wie Hippias und Kritias, oder der Rhetoren, wie Theo-
dektes; aliein für sie war die tragische Poesie nicht eigentlich Lebens-
aufgabe. Viel strenger beschränkten sich die Komiker auf ihr Gebiet.
Nur Hermippus schrieb Spottgedichte, eine Form, die gerade dem
Lustspieldichter besonders nahe lag, und Anaxandrides, der über-
haupt eine eigenartige Natur war, Dithyramben.
rroduktiTi- Indem man einer bestimmt abgegrenzten Aufgabe sich mit hin-
'"'■ gebender Treue widmet, entspringt daraus jene nachhaltige Kraft der
Produktion, welche die eigentliche klassische Periode kennzeichnet.
Die namhaften Vertreter der dramatischen Poesie zeigen eine bewun-
dernswerthe Fruchtbarkeit'""), und dabei war man bemüht, dem Pu-
bhkum nur reife Arbeiten zu bieten. Als man später immer mehr
an rasches Producieren sich gewöhnte, mufste die Gediegenheit der
Arbeit nothwendig darunter leiden; es gilt dies ebenso wohl von den
Leistungen der jüngeren Tragiker, wie der Lustspieldichter.
Wie jede Kunst bei den Hellenen , so hat ganz besonders die
dramatische Poesie ihre herkömmlichen Satzungen und Normen, die
erlernt und geübt sein wollen. Daher schlofs sich der jüngere häufig
an einen älteren Dichter an, um unter seiner Leitung sich die un-
entbehrlichen Kenntnisse und Fertigkeiten anzueignen; aber auch
wo kein so unmittelbares Verhältnifs stattfand, bildete sich der
Jüngere meist nach einem anerkannten Meister des Faches, dessen
Arbeiten ihm als Muster und Vorbild dienten.
Vererbung Daher vererbt sich die Kunst geradezu in gewissen Familien ;
der Kunst. ^^^ ^qI^h wandelt dieselbe Bahn, die sein Vater mit Erfolg betreten
hatte, wofür die Geschichte der tragischen Poesie bis auf Euripides
zahlreiche Beispiele darbietet. Nirgends tritt diese Stetigkeit der
Tradition deutlicher hervor, als in der Familie des Aeschylus, welche
mehr als ein Jahrhundert hin durch die tragische Kunst nach der
Weise ihres grofsen Ahnherrn ausübte. Ebenso können wir diese
Vererbung in der Familie des Karkinus durch mehrere Generationen
nachweisen , und auch in der Geschichte des Lustspiels wiederholt
sich dieselbe Erscheinung.
190) Dagegen die Dilettanten, welche Aristophanes in den Fröschen S9fl'.
verhöhnt, waren unproduktiv; sie kamen meist über einen ersten Versuch nicht
iiinaus.
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITUNG. 57
Athen ist die Heimath der dramatischen Poesie. Daher gehören Fremde
auch die Dichter, welche sich thesem Berufe widmen , grofsentheils ejnheimi-
durch Geburt Attiiia an ; aber Talente aus der Fremde waren jeder -'chen
Zeit willkommen. Namentlich für den Tragiker begründet die Her- ^gtent!^
kunft keinen Unterschied."") Der PhHasier Pratinas, der Tegeat
Aristarchus, Achäus aus Eretria, Ion von Chios, Neophron aus Sikyon
und viele andere waren beständig für die attische Bühne thätig, ohne
irgendwie auf Hindernisse zu stofsen. INur die Dichter der alten
Komödie sind eigenthch ohne alle Ausnahme geborene Athener. Ein
Lustspiel von so ausgeprägter lokaler Färbung schlofs ganz von selbst
die BetheiUgung Fremder aus'®^), aber nach dem peloponnesischen
Kriege war der Zutritt zu der komischen Bühne auch Ausländern
unverwehrt.
Die Einrichtung eines Wettkampfes für tragische und komische Preisrichter.
Chore setzt Preisrichter voraus, die in der älteren Zeit der Archon
nach eigenem Ermessen ernannte '^^), indem er sie durch einen Eid
zu gewissenhafter Ausübung ihres Amtes verpflichtete.'^') Fünf Rich-
ter urtheilten über die Leistungen der Lustspieldichter, und die
gleiche Einrichtung ist auch für das Theater zu Syrakus bezeugt. '^^)
Wieviel für die Tragödie ernannt wurden, wird nicht berichtet, wahr-
scheinUch sieben ; wenigstens treffen wir diese Zahl in Alexandria.'^)
191) Die Termuthung, daTs fremde Tragiker in der älteren Zeit ihre Dra-
men nur an den Lenäen aufführen durften, ist unbegründet; znr Zeit des Pra-
tinas traten tragische Chöre nur an den grofsen Dionysien auf.
192) Abgesehen von dem Megarenser Susarion, dem Begründer des Lust-
spiels in Attika, und Diokles, der Phliasler und Athener heifst, also wohl das
Bürgerrecht erlangt hatte, kommt nur der Parode Hegemon von Thasos, der
auch Komödien schrieb, in Betracht (s. Bd. II S. 4S7).
193) Es ist ein singulärer Fall, wenn bei dem ersten Auftreten des So-
phokles die zehn Strategen zu Preisrichtern ernannt wurden, Plutarch Cimon c. 8.
194) Plutarch Cimon c. 8. Pherekrates (Kganaxaloi fr. 16, Com. II 1, 293)
warnt die Richter ßifj ^ntomteiv luriS' aSixcoe xgiveiv, und droht ihnen mit
schlimmer Nachrede, wenn sie dies vergäfsen. Aehnlich Aristoph. Ekkles. 1160.
195) Daraufgeht das Sprüchwort: iv nivit. xoi.rwv yovvaai xslrcu (s. die
Parömiographen und Hesychius).
196) Vitruv VII praef. § 5 : rejc cum iam ex civitatesex lectos {iudices lit-
teratos) habuisset nee tarn cito septimum idoneutn inveniret. Dieser siebente
war der Grammatiker Aristophanes; es war offenbar ein Agon für tragische
Dichter. Auch Lukian Harmonid. c. 2 : iv roie ayöüatv ol uev TtolXoi d'eaiai
idaai xporf]<jai nors xai avgiaai, xgivovat Si STitä ^ nätne r; oaoi Sr; deutet
darauf hin. Jedenfalls war die Zahl eine ungleiche.
58 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Später mufs die Ernennung der Preisrichter von dein Archen auf
den Rath der Fünfliundert übertragen worden sein, wobei man ein
ziemlich compliciertes Verfahren beobachtete, indem man, wie in
manchen anderen Fällen, das Loos mit der Wahl verband. Zunächst
wählte der Rath in geheimer Abstimmung in Gegenwart der Choregen
eine Anzahl Preisrichter. Ein gewisser Grad von Bildung war für
dieses Geschäft unentbehrlich; denn es galt, nicht nur die Leistungen
der Schauspieler und der Chöre, sondern auch der Dichter zu be-
urtheilen. Daher schien freie Wahl unerläfslich, und zwar wurden
für jeden Agon besondere Preisrichter bestimmt.''') Die Urnen,
welche die Namen der Gewählten enthielten, wurden darauf von den
Prytanen und Choregen versiegelt und von den Schatzmeistern auf
der Burg bis zum Feste sorgfältig verwahrt, um jedem Unterschleife
vorzubeugen. Beim Beginn des Schauspiels looste dann der Archon
jedes Mal aus den Gewählten die gesetzHche Zahl der Richter'*') und
verpflichtete dieselben durch einen Eid zu unparteiischem Urtheil.
Die Richter hatten offenbar ihren bestimmten Platz im Theater, wo
sie der Aufführung der Stücke beiwohnten "''), und traten unmittel-
bar nach dem Schlufs der Spiele zu gemeinsamer Berathung zu-
sammen, um das Urtheil zu fällen. In der Regel werden sie nur
der öffentUchen Stimmung gefolgt sein, so weit sie sich kundgegeben
hatte *°°); denn sich in entschiedenen Widerspruch mit der Volks-
197) Die Stellen des Lysias 4,3 und Demosth. Mid. 17 und 65 beziehen
sich speciell auf die Wahl der Preisrichter der lyrischen Chöre. Allein die Haupt-
steile bei Isokrales 17, 33fr., die am besten das Wahlverfahren erläutert, ist
allgemein gehalten, und es ist natürlich, dafs man die gleiche Einrichtung für
alle Chöre, scenische wie lyrische, traf.
198) Auf diese Weise suchte man Bestechung und andere unlautere Ein-
flüsse fernzuhalten. Wenn Midias trotzdem bei der Ausloosung sich an die Rich-
ter herandrängt und den Versuch macht, ihr Unheil zu bestimmen, so ist dies
nur ein Beweis seiner schamlosen Dreistigkeit. Es ist unbegründet, wenn man
vermuthet, die Richter wären erst nach der Aufführung ausgeloost worden.
199) Wenigstens für Alexandria bezeugt dies Vitruv VII praef § 5: m
conventu ludorum, cum secretae sedes iudicibus essent distribtitae, cum cete-
ris Aristopkanes citatus , quemadmodum fuerat locus ei designatus, sedit.
Man wird dort alles der attischen Sitte nachgebildet haben.
200) Vitruv VII praef. §6: populus cunclus significando monebat iudices,
quot probarent, und dadurch liefsen sich sechs Richter bestimmen, quem maxime
animadverlerunt miiltiludini placuiste, ei primuin praemium , insequenti secun-
dum tribuerunt. Nur Arislophanes hatte den Math, ein sclbsiländiges Urlheil au»-
DIE DRAliATISCHE POESIE. EINLEITUNG. 59
meinuDg zu setzen war nicht gerathen, da die Richter für ihre Ab-
stimmung verantworthch waren.*") Die Entscheidung über den
ersten Preis wird nicht gerade schwierig gewesen sein und erfolgte
wohl oft einstimmig.*^} Weit eher mochten Meinungsverschieden-
heiten hervortreten, wenn es galt, den anderen Mitbewerbern die
ihnen gebührende Stelle zuzuweisen, zumal wenn die Stimmen im
Pubhkum über den Werth der Leistungen getheilt waren.
Entsprechend dem Charakter ländhcher Festlust erhielt der tra- Preise,
gische Chor, der seine Sache am besten gemacht hatte, einen Bock
und als Zugabe einen Korb mit Feigen^, der komische Chor einen
Krug Wein nebst der gleichen Zugabe.*"*) Diese einfache Sitte wird
zusprechen. Auch Plato Leg. II 659 A klagt über den nachtheiligen Einflufs, den
das Publikum auf die Richter ausübt (vgl. III 701 A die Bemerkungen über die
■d'sarQoxoaria); ja in Sicilien und Unteritalien übertrug man damals geradezu
der Abstimmung der Zuschauer die Entscheidung (o ^ixelixo; ie xal ^IzaÄi>c6s
vofios vvv TftJ nkf^d'ei, xwv d'e.atöjv eTtiroancov xal tov viy.divra SiaxQivoov
xeiQOToviais). Das Publikum liefs sich nicht selten durch die Geschicklichkeit
des SiSäaxa'/MS oder durch die Pracht der äufseren Ausstattung, also das Ver-
dienst des Choregen, bestimmen. Auch mögen nicht selten unlautere Einflüsse
eingewirkt haben. Wenn Menander nur mäfsigen Erfolg hatte, so schrieb man
dies vielleicht mit Unrecht den Intriguen des Philemon zu. Auf die drama-
tischen Preisrichter und die Ungerechtigkeit des Publikums, nicht auf die ge-
wöhnlichen Gerichte sind die Worte des Diphilus zu beziehen im Fäfiog Com.
IV 3S5 bei Athen. VI 254 E. Dafs es Mittel gab, auf die Richter einzuwirken,
dafs man sogar die Wahl durchs Loos zu beeinflussen vermochte, und dafs Ehr-
geizige solche Mittel nicht verschmähten, z. ß, um ihrer Phyle den Preis zu
verschaffen, deutet Lysias 4, 3 an.
201) Aeschines Ctes. 232, wo allerdings nur von den Richtern der kykli-
schen Chöre die Rede ist.
202) Aristoph. Av. 445 : jtäat vtxäv role xQiraTs xai rots d'earcüs näai.
Schol. Arist. Eq. 52S läfst den Kratinus hier Siege nafixfnjfei gewinnen , doch
ist dies vielleicht nur Vermuthung des Grammatikers. Dafs nicht EinheUigkeit
erforderlich war, sondern auch vier, ja sogar drei Stimmen genfigten, zeigen
die Didaskalien (CIG. 229. 230).
203) Marmor Parium Z. 58 : ajp' ov Os'anis o ^oitjxt^s {ifävt]) ngcäros . . .
(xai syie'&j] 6 {x)qäyoi {d&/.ov). Genauer Dioskorides in seinem Epigramm auf
Thespis Anth. VII 410 [16, 3 I 248 Jac.]: Bäx/os ore igirriv xar" ayot xoqov,
(p tQayos a&'/Mv xeomxbs r^ avxcov aÖQtyos a&Xov im (so ist statt roid'vv
xaräyot, a&liov, ä&).ov iri ZU lesen). Horaz A. P. 220. Vcrg. Georg. II 382 und
die griechischen Grammatiker.
204) Marmor Parium Z. 55 von der Einführung komischer Chöre durch Susa-
rioB: xai a&lov irtd'Ti TiQÖnov iax,ö.S(o{v) ä^ixo{s) xai oi'vov {aufOQ)e{vi), Hesych
60 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. COR. G.
sich bis auf Perikles erhalten haben. Indem man damals die üffent-
hchen Feste neu ordnete und reicher ausstaltete, wird man nicht
versäumt haben, auch die dramatischen Dichter zu berüciisichtigen,
welche für ihre grofse Mühe vor allen anderen Anspruch auf an-
gemessene Belohnung hatten. Schon längst erhielt jeder Lyriker,
der auf Bestellung eines Privatmannes ein wenn auch noch so kurzes
Lied dichtete, einen Ehrensold. UnmügHch konnte der Staat ver-
langen, dafs die scenischen Dichter lediglich um der Ehre willen,
die doch nur dem Sieger zu Theil wurde, sich einer so umfassen-
den Leistung unterziehen sollte. Man mufste also durch ausgesetzte
Preise alle concurrirenden Dichter wenigstens einigermafsen ent-
schädigen.
Ein verjährtes Vorurtheil bezeichnet den Dreifufs als Preis des
dramatischen Dichters. Allein diese Auszeichnung kommt in Athen
vielmehr den Lyrikern zu, die an den Dionysien und Thargelien
gesiegt hatten,^') INicht minder irrig ist die Vorstellung, der Sieger
V. fiiad^os. Der Schol. Plato Rep. III 394 C nennt statt des Weines yXsvxos (t(w|).
Wenn derselbe Scholiast sagt, bei dem Agon der dithyrambischen Chöre habe
der erste Dichter einen ßovs, der zweite einen a/nfo^evs oi'vov, der dritte einen
TQayos erhalten, so überträgt er willkärlich die attischen Preise für Tragödie
und Komödie auf den dithyrambischen Agon, wo der Sieger (aber nicht in Athen)
einen Stier erhielt (s. Bd. II S. 505, A. 23). Nur der Sieger empfing einen Preis, die
anderen gingen leer aus. Plularch de cup. divit. c. 8 : ij näiQioe rcHv Jiowaimv
eoQTTj to nakatov inifinexo Srjfiorixrös xal iXaQcäs, afitpoQeve oi'vov xai xXt}-
fiaris, elra iqkyov iti slkxev, akXoS iaxö-Swv d^tn^ov rxokov&ei xofii^atv, ini
näai Se 6 falXös verbindet verschiedene Züge zu einem Bilde. Ebenso geht Plu-
tarch de glor. Ath. c. 7 : ov ßovv k'nnd'Xov ikxovaas i} rqäyov, ovSe avsaxsfi-
fie'vae xirri^, ov8i Jiowaiaxfjs tQvyoe oScaSviae auf die verschiedenen Arten
der Chorsiege; daher werden nachher auch rginoSes iTuvixioi erwähnt, der
Preis des Siegers, der dann den Göltern geweiht, das Andenken verewigt.
205) Im Argum. II zur Midiana des Demosthenes wird der Dreifufs ganz
richtig als Preis der lyrischen Chöre bezeichnet: rj^t^ov vfivove sie rov Jiow
aov qSovres xni t<^ vixöJvri TQinovi to a&Xov rjv. Auch wird nirgends ein
Dreifufs als Weihgeschenk für einen tragischen oder komischen Sieg erwähnt.
Themistokles weiht als Choreg für den Tragiker Phryniclms einen niva^, Plut.
Themist. c. 5, Thrasippus als Choreg für Ekphantides ebenfalls einen nivai,
Arislot. Pol. VIII 6, 6 (doch ist es nicht sicher, ob hier von einem komischen
Chor die Rede war). Bei Lysias 21, 4 wird eine Choregie für einen komischen
Chor unter dem Archonten Eukleides erwähnt, die sechszehn .Minen kostet oiv
T5 T^« axevrji nva&iaei ; doch hatte der Chor vielleicht nicht den ersten Preis
erlangt. Bei Theophrast Char. c. 22 weiht der Sieger mit einem tragischen Chore
aus Geiz nur eine laivia von tlolz.
DIE DRAMATISCHE POESIE. EL>XEITUNG. 61
sei öffentlich mit einem Epheukranze und Wollenbinden geschmückt
worden. Freunde und Bekannte pflegten auf diese Weise den sieg-
reichen tragischen oder komischen Dichter zu ehren**), nicht der
Staat. Vielmehr ist man berechtigt, nach der Analogie des musischen
Agons an den Panathenäen anzunehmen^), dafs der Sieger einen
goldenen Kranz und aufserdem ein Geldgeschenk, die beiden ande-
ren nur einen Ehrensold erhielten. Dieser Kranz wird die Form
einer Epheuranke gehabt haben ^); denn der Epheu ist dem Dio-
nysus heihg.^) Daher war es auch herkömmlich, den Beruf des
scenischen Dichters durch einen Epheukranz anzudeuten. Eigent-
lich kam der Preis wohl dem Choregen zu, aber dieser wird ihn,
wie billig, dem Dichter überlassen haben. Die Ehrengabe mag nicht
unbedeutend gewesen sein, wahrscheinlich höher als die, welche der
Kitharode empfing ""), und der Tragiker wird wieder mehr erhalten
haben, als der komische Dichter. Dafs die Preise liberal bemessen
waren, darf man schon daraus schliefsen, dafs Aristophanes dem
greisen Sophokles Habsucht vorwirft und ihn deshalb mit Simonides
zusammenstellt.^") Gegen Ende des peloponnesischen Krieges nöthigte
die ungünstige Lage der Finanzen zur Sparsamkeit. So ward das
Honorar der scenischen Dichter verkürzt '^'^); denn die Reduktion
206) Plato Sympos. 212 E, 213 E, Aristoph. Ran. 393.
207) Inschrift bei Rhangabis 961.
208) Der goldene Kranz für den Kitharöden kostete 1000 Drachmen ; der
Kranz für den dramatischen Dichter wird sicher nicht wohlfeiler gewesen sein.
209) In Acharnae, wo der Sage nach der erste Epheu wuchs, führte Dio-
nysus den Zunamen Kiaaos, Pausan. I 31, 6. Mit Epheu bekränzt man sich regel-
mäfsig am Feste des Gottes, vgl. das choregische Denkmal Ephem. Archaeol. 1860,
3785: 0)5 fiTj ftooiris alayßs anoxiaaovftevos. Auch die Phallophoren waren mit
Epheu und Veilchen geschmückt, Athen. XIV 622 C. In der Ephebeninschrift I 79
wird einer, der sich um das Dionysusfest verdient gemacht hat , xirrov are-
(pävc^ geehrt. Der Epheu war daher das SjTnbol des dramatischen Dichters,
s. die Epigramme auf Sophokles Anth. VII 21. 23, 36 [1. 2 I 100 Jac, 13, 2 IIl 12],
auf Kratinus XIII 29 [4, 7 1 206], auf Aristophanes IX 186 [25 II 102], dann Zeichen
der Dichterweihe überhaupt VI 279 und öfter bei römischen Dichtern.
210) Der erste Preis für den Kitharöden betrug 500 Drachmen, die übrigen
erhielten, wie es scheint, 300 Drachmen. Als Lykurg kyklische Chöre am
Feste des Poseidon im Piräeus einführte, betrug der erste Preis zehn Minen,
der zweite acht, der dritte sechs. (Plut. vit. X or. § 13).
211) Aristoph. Frieden 695 ff.
212) Agyrrhius und Archinus werden als Urheber dieser Mafsregel bezeich-
net, Schol. Aristoph. Ran. 367. Ekkles. 102.
62 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
traf offenbar nicht blofs die Komiker. Nur wird die Komödie, die
überhaupt keine sonderhche Gunst genofs, am schhmmslen gefahren
sein, und es lag sehr nahe, jener Mafsregel persünHche Motive unter-
zulegen, indem die leitenden Staatsmänner sich durch die unabläs-
sigen Angriffe der Lustspieldichter verletzt fühlen mochten.
Dte Dida»- Der Choreg oder auch die Phyle, deren Chor ein Preis zuer-
kaiien. ^^3^^^ ^gp^ pflegten zum Gedächtnifs daran ein Weihgeschenk zu
stiften; aber es ist irrig, wenn man meint, auf Grund dieser Denk-
mäler habe man später Verzeichnisse der aufgeführten Dramen zu-
sammengestellt. Für diesen Zweck waren solche Monumente ganz
unzulänglich, da sie in der Regel nur errichtet wurden, wenn einer
den ersten Preis gewonnen hatte; auch enthielten sie keine nähere
Angabe über die Stücke des Dichters. Es war dies nur eine unter-
geordnete Quelle, die zur Ergänzung und Vervollständigung der so-
genannten Didaskahen diente.^'^) Denn es gab urkundliche Aufzeich-
nungen über die aufgeführten Theaterstücke. V^^ie hoch dieselben
hinaufreichten, wissen wir nicht; für die ersten Anfänge fehlten wohl
gleichzeitige Dokumente, man wird später so viel als thunhch diese
Lücken zu ergänzen gesucht haben. In der ßlüthezeit der drama-
tischen Poesie führte man sorgfältige Verzeichnisse^'") über die an
213) So z. ß., wenn bei der Orestie des Aeschylus, die den ersten Preis
erhielt, sich die Bemerkung findet: ixoQTjysi SsvoxXtjs l^fiSvsvs (^äiptSvaios).
Eine unverständliche Notiz findet sich zum Frieden des Aristophanes, einem
Stücke, was sich mit der zweiten Stelle begnügen raufste.
214) Noch ist uns ein Bruchstück einer solchen Urkunde aus der Demo-
sthenischen Zeit erhalten, CIG. 231. Die Inschrift bezieht sich auf die städtischen
Dionysien; denn auf der linken Golumne sind die Komödien aus Ol. 106,2 und
3 verzeichnet, auf der rechten die Tragödien um Ol. 108, 2 und 3. Die Zeilen
dieser rechten Golumne waren wohl länger, da die Aufzählung der Tetralogie
einen gröfseren Raum beanspruchte; demungeachlet ist das Verzeichnifs der
Tragödien um acht Jahre voraus. Aufser dem Schauspieler (dem wir zuerst in
der Didaskalie des Aristophanischen Friedens Ol. 89, 3 begegnen) ward , wie
es scheint, bei den Tragödien auch der vnoSiSäffxaXoe genannt. "Wesentlich
verschieden davon sind zwei andere Inschriften (229 und 230) aus Rom. Es
sind dies Verzeichnisse komischer Dichter und ihrer Dramen; wahrscheinlich
gehören beide Steine derselben Urkunde an, da die Einrichtung die gleiche ist.
Dafs hier keine attische Originalurkunde vorliegt, beweist schon die Bemerkung
(229,9) zu den JSax;^«« des Lysippus: avrai ftövai aw^oviai. Auf Grund der
Didaskalien hat ein Grammatiker die Dichter der älteren und mittleren Komö-
die (ob auch der neueren, ist nicht zu erkennen) und ihre Siege verzeichnet.
Dafs nicht sämmliche Dramen genannt waren, beweist die mäfsige Zahl der
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITOG. 63
den beiden Hauptfesten aufgeführten Lust- und Trauerspiele mit
Angabe des Jahres und der ausgetheilten Preise; auch ward später
der erste Schauspieler vermerkt. Ob diese Urkunden ganz unver-
sehrt und lückenlos übediefert waren, steht dahin; jedenfalls blieb
noch Stoff für eine Nachlese übrig, nachdem zuerst Aristoteles auf
Grund dieser öffentlichen Urkunden ein Verzeichnifs der in Athen
aufgeführten Dramen zusammengestellt hatte.*'^) Mit dem literarischen
Nachlasse der Tragiker war dieser grofse Philosoph vollkommen ver-
traut, und er erkannte nicht nur, wie unentbehriich für jede histo-
rische Forschung ein solches Hülfsmittel war, sondern unterzog sich
auch selbst dieser mühevollen Arbeit, die dann Dikäarch vervoll-
ständigte.
Titel eines Verfassers, wie auch meist ein Zwischenraum von mehreren Jahren
die einzelnen Aufführungen trennt. Beim Lysippus wird ausdrücklich ivixa
vermerkt; die Zahlzeichen Pz/ £•, welche einige Mal vorkommen, dürfen weder
auf die Reihenfolge der zusammen aufgeführten Stücke, noch auf die Stelle,
welche die Preisrichter den concurrirenden Dichtern anwiesen, bezogen werden,
sondern sie drücken die Stimmenzahl aus, welche dem Dichter den Sieg zu-
erkannte; also ist E soviel als TiauxiT/fsi. Aristoteles wird das Resultat an-
gegeben haben, soweit es sich aktenmäfsig ermitteln liefs. Man sieht, wie für
die ältere Zeit die Urkunden noch mangelhaft waren, da mehrmals statt der
Titels blofs xtofKoSla steht. Die Siege werden in der Ordnung aufgezählt, dafs
die Lenäen den städtischen Dionysien voranslehen. Die Dichter sind nicht in
chronologischer Folge, sondern in alphabetischer Ordnung aufgeführt; so folgt
auf Lysippus ein Dichter der mittleren Komödie mit zwei Siegen Ol. 96, 2 und
97, 2, dann wieder ein Dichter der alten. Nur der Name des Lysippus ist auf
dem Steine erhalten, aber mit Wahrscheinlichkeit lassen sich die anderen An-
gaben auf Krates, Myrtilus(?), Anaxandrides und Anaxilas zurückführen.
215) Aristoteles JiSaaxaliai. Hier waren sowohl die Arbeiten der dra-
matischen Dichter, als auch die Erfolge der Lyriker an den attischen Festen
in chronologischer Folge verzeichnet, und zugleich, was sonst für die äufsere
Geschichte des Dramas von Wichtigkeit war, berücksichtigt. Die im Schriften-
verzeichnifs des Aristoteles daneben aufgeführten Werke vTxat Jiowaiaxai (vi-
xföv J. aarty.cöv xal Ar,vai(ov) und tisqI ToaycoSicüv sind wohl davon nicht
verschieden. JiSaaxa/.ia, eigentlich die Einübung eines Chores, bezeichnet
dann die Aufführung eines lyrischen oder dramatischen Gedichtes, daher auch
das Gedicht selbst so genannt wird. So sagt Plutarch Pericl. c. 5, die loaytxi]
SiSaaxaXia (d. h. TfToaAoyt'o) habe ein aatvqtxov ucqo;, Dioskorid. Anth. P.
Vn 37 [28, S, I 252 Jac.]: ix noir-s ^Se SiSaaxaXirjS , d.h. aus welchem Werke
des Sophokles. Plutarch im Leben des Isokrates § 47 von Aphareus : SiSaaxalias
äoTixas xa&Tjxev g' xai .... irtgas ß' Arfvacxäs. Daher nannte Aristoteles jenes
urkundliche Verzeichnifs, welches für alle Folgenden die Grundlage bildet, Si-
SaaxaXiat.
64 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Diese Didaskalien bildeten die Grundlage für die bibliographischen
und kritischen Arbeiten der alexandrinischen und pergamenischen
Gelehrten.'^'*') Jetzt übersah man den reichen Ertrag dieses Gebietes
.der Poesie, erkannte aber auch, wie bereits nianches Drama gänz-
lich verschollen war.'"^) Jene Urkunden leisteten auch da gute
Dienste, wo es galt, über Stücke zweifelhaften Ursprungs zu ent-
scheiden.'"*) Den wesenthchsten Gewinn aber zog daraus die histo-
rische Forschung; nun erst war man im Stande, den Entwicklungs-
gang nicht nur der dramatischen Poesie im Grofsen, sondern auch
der einzelnen Dichter zu verfolgen. Endlich war für das Verständ-
nifs der Komödie, besonders der älteren Periode, die Ermittelung
der Zeit der Abfassung ganz unentbehrlich.
Titel der Die Dramen werden vorzugsweise nach dem Chore oder der
° Hauptperson^'^) benannt. Die erste Art der Bezeichnung ist beson-
216) Kallimachus hatte in seinen nivaxes bei den dramatischen Dichtern
auch die Zeit der Aufführung der einzelnen Stücke verzeichnet. Seine Irrlhümer,
die aus flüchtigem Studium der Quellen entsprangen, hatte schon der beson-
nene Eratosthenes theilweise berichtigt, dann Aristophanes in den Nachträgen
zu den Ttivaxes und wohl auch in seinen Commentaren zu den scenischen Dich-
tern. Die pergamenischen Grammatiker setzten diese Arbeiten fort. Athenäus
VIII 336 E, wo er von den avayQatpai Sqafiäxcov handelt, beruft sich nicht nur
auf Kallimachus und Aristophanes, sondern auch auf oi ras iv ÜBQyäfjii^ ava-
y^afas noirjaufievoi. Diese Arbeiten zeichneten sich durch gröfsere Vollständig-
keit aus, da die Bibliothek in Pergamum nianches den Alexandrinern unbe-
kannte Werk besafs. Aber auch anderwärts waren werlhvoUe literarische
Schätze vorhanden. Asklepiades fand zu Athen unbekannte Verse des Aeschy-
lus (eV Ttv« rüiv ano&sr cov, so ist zu lesen Schol. Aristoph. Frösche 1344);
•wahrscheinlich hatte sich hier eine Tragödie des Dichters in der echten Gestalt
erhalten, die den Alexandrinern nur in einer üeberarbeitung vorlag. Speciell
jie^i SiSaaxaLcöv schrieb der Pergamener Karystius (Athen. VI 235 E).
217) Von Euripides' Stücken war schon den Alten eine ansehnliche Zahl
nur dem Namen nach bekannt; besonders Satyrstücke müssen frühzeitig in
Vergessenheit gerathen sein (vgl. die Bemerkung ov atü^srai in der Didas-
kalie der Phönissen und der Medea). Weit gröfser mag der Verlust an Lust-
spielen gewesen sein ; besonders die Dichter der alten Komödie traf dies Schick-
sal; von Lysippus war nur ein Stück, die Baxxni, erhalten.
218) Stücke, die nicht für die attische Bühne bestimmt waren, wie der
Archelaus und die Andromache des Euripides, fehlten selbstverständlich in den
Didaskalien, ebenso Dramen, die gar nicht zur Aufführung gekommen waren
{(''diSaxra, Athen. VI 270 A).
219) Doch bezeichnet die Titelrolle nicht immer den eigentlichen Träger
der Handlung, wie der Agamemnon des Aeschylus zeigt.
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITUNG. 65
ders bei den älteren Tragikern und Komikern beliebt , da der Chor
anfangs den Schwerpunkt der dramatischen Aktion bildete. Aber
auch die Handlung des Stückes oder bei den Komikern öfter ein
nebensächlicher Umstand wird zur Namenschopfung benutzt.^") Der
Dichter selbst legte seiner Arbeit den Namen bei^*), der in den
öffentlichen Urkunden verzeichnet ward.--"^) Manchmal wurde später
der ursprüngliche Titel mit einem anderen vertauscht ^^^); ebenso
kommen Doppeltitel in ziemlicher Anzahl vor.'^^) Man trug kein
220) So onXaiv x^iaie, 'iXiov niqaie, 'EXävr,e anairr/ais und andere Tra-
gödientitel. Die BaTQaxoi des Aristophanes sind nach dem Xebenchore benannt.
Zumal in der neueren Komödie sind solche Titel nicht ungewöhnlich, wie der
Evvoixos des Jlenander. der 0r,<TavQ6s des Philemon.
221) Aristophanes kündigt seine Ritter (Imisis) eben unter diesem Namen
an, und so wird das Stück auch von Eupolis genannt. Die Gitate der Komiker
bieten überhaupt hinlängliche Gewähr für die Dramentitel dar; so beruft sich
Aristophanes auf die üe'^aai und "Etzt'' ini Or^ßas des Aeschylus, auf die Ly-
kurgie und Orestie desselben Dichters, auf die Andromache des Euripides u. s. w.
222) Zweifelhaft ist, wie die Tetralogien, die entsprechend der Einheit
des mythischen Stoffes einen CoUectivnamen führten , in den Didaskalien ver-
zeichnet waren. Wenn der Schol. Aristoph. Frösche 1124 schreibt: Teroa-
tjoyiav (ptQovai itjp ^O^aareiav ai StSaay.aXiai, li4yafiefivova, XoT^fö^oiä, Ev-
fteviSas, Jl^carea aarv^ixör. AgiaraQ^os y.ai 'AjtoXXtä^'ios r^ÜMyiav /^yovai,
XOJ^is Tcöv aarvQiy.cöv, so kann man dies nur so verstehen, dafs in den Ur-
kunden sowohl der Gesammtname als auch die Titel der einzelnen Stücke auf-
geführt waren. Dagegen heifst es in der vTtöd'sais des Agamemnon: ttqmtos
AiaxvXoi ^Ayauiuvmt., XorjfOQOis, Evfisviai, IlQonsl aarvQiy.cö, wo der Name
'OQtoreia übergangen wird, und einer ähnlichen Abkürzung begegnen wir in
der iTiö&eais der Sieben : T(>t'Tos noXvfQÜSfitov AvxovQyeicc rer^aXoyiq, ■wäh-
rend der Schol. Aristoph. Thesmoph. 135 sich sorgfältiger ausdrückt: ri;v ts-
T^a/Myiav Xäysi Avxov^ysiav, ^HScovovs, Baaaa^iSas, Neavioxots, Avxov^yov
10V oaxvqixöv.
223) So hatte Dikaearch den A'ias fiaaxiyofOQOs des Sophokles unter
dem Namen Ai'avros d'äva-ioe eingeführt. Gitate bei den Alten sind oft sehr
trügerisch. Aristoteles Poet. c. 17 schreibt dv reo ^O^eorj] und versteht darunter
die komische Iphigenie des Euripides, aber der Kürze halber zieht er jenen
Ausdruck vor.
224) So wird dasselbe Stück nach dem Chore oder der Hauptperson
(Handlung des Dramas) benannt, wie bei Aeschylus die <pQvyes ^ "Extoqos Xv-
tqa, bei Sophokles üavScÖQa ^ HfVQoxoTiot. Wo das Interesse zwischen zwei
Personen sich ziemlich gleichmäfsig verlheilt, schwankt ebenfalls zuweilen die
Bezeichnung. Der Hippolytus des Euripides wird auch Phädra genannt. Bei
Sophokles sind Olvö/uaos und 'innoSä/teia und wohl auch 'lojv und K^iovaa
ein Beleg solcher Doppeltitel.
Bergk, Griech. Literaturgeschichte III. 5
66 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Bedenken, einen Namen, den schon ein Vorgänger gebraucht hatte,
zu wiederholen; ja derselbe Name bezeichnet ein ganz verschiedenes
Thema."') Dagegen unterschied man gleichnamige Dramen desselben
Dichters durch einen Zusatz. Das ältere Stück war gewöhnlich ein-
fach überschrieben; das jüngere erhielt öfter schon von der Hand
des Dichters eine genauere Bezeichnung; später ward gewöhnlich
auch das ältere durch einen Zunamen kenntlich gemacht."^) Auf-
fallende Titel sind der Tragödie fremd"'), in der alten Komödie
dagegen sehr behebt.
Verzeich- Die alexandrinischcu und pergameuischen Grammatiker legten
Dramen'^ ^" bibHograpliischen Zwecken Verzeichnisse der Dramen der ein-
zelnen Dichter an, welche allmählich immer mehr vervollständigt
wurden."®) Manche Stücke waren frühzeitig untergegangen , ihr
Andenken hatte sich nur durch die Didaskalien erhalten"®); andere
225) Man vergleiche z. ß, die »Poiviaaai des Phrynichus und Euripides,
die 'IxstiSes des Aeschylus und Euripides. In der Blüthezeit der Kunst nimmt
man es mit solchen Aeufserlichkeiten nicht so genau; um die Bequemlichkeit
der künftigen Literaturfreunde war man unbekümmert.
226) So war der rasende Ajas des Sophokles, offenbar das ältere Stück,
in den Didaskalien einfach u4ias benannt; später fügte man fiaanyotpoQOi hinzu,
um ihn von A'ias yloxqöe zu scheiden, der wohl gleich anfangs so hiefs. Der
König Oedipus hiefs ursprünglich OiSinove. Erst nach des Dichters Tode kam
der Zusatz rv^awoe zur Unterscheidung von dem OiSinovs ini KoXtovco auf;
andere nannten ihn TtQÖrsoos {Sin roie x^ovovs rtöv SiSaaxnXtcHv xal Sin t«
ji^nyfiara). Diese Bezeichnung TCQÖreooe und SsvreQoe ist nicht ungewöhnlich,
namentlich um verschiedene Bearbeitungen desselben Dramas zu sondern , wie
bei Euripides 'innöXiros ttqÖteqos (xa^vTirö/uevoe) und Sevregos {are^nvias)
und oftmals bei den Komikern. Auffallend ist, dafs der erste Alkmäon des
Euripides in der vnod'sais der Alkestis den Zunamen Sin ^'wfXSoi erhält, wäh-
rend der zweite in der Didaskalie bei Schol. Aristoph. Frösche 67 einfach WA-
xfiaiaiv heifst; doch verbirgt wohl hier in den Verderbnissen der Handschriften
sich der übliche Zusatz Sin KoQiv9ov.
227) Ein ganz ungewöhnlicher Titel ist fityn Sqnfia bei Ion; das l^v^os
des Agathon hiefs vielmehr yiv&evv.
228) Kallimachus kannte nur die zweiten Wolken des Aristophanes, wäh-
rend dem Eralosthenes auch die erste Bearbeitung vorlag; Krafes halle den
Frieden desselben Dichters in zwei verschiedenen Ausgaben vor sich, den Ale-
xandrinern war nur eine bekannt. Diese Verzeichnisse (7rtVrt»c«s) waren in
zahlreichen Abschriften als unentbehrliches literarisches Hülfsmittel verbreitet.
Cicero im Horlensius bei Nonius (sumcre): quarr velim dari mi/ii, Luct/lle, in-
dicem tragicorum, ut sitmam, qui forte mihi desunt.
229) Dann war in den Verzeichnissen die Bemerkung ov C(ot,tXM hincu-
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITUNG. 67
Dramen fehlten dagegen in diesen Urkunden, weil sie für eine aus-
wärtige Bühne bestimmt oder auch gar nicht zur Aufführung ge-
langt waren. ^°) Das Natürhchste war, dafs man die Stücke mit Hülfe
der Didaskahen so viel wie möglich chronologisch ordnete ^^); unter-
geschobene Dramen und nachträglicher Erwerb mochten am Schlufs
der Verzeichnisse eine Stelle finden. Aber viel verbreiteter müssen
besonders in späterer Zeit alphabetisch geordnete Verzeichnisse ge-
wesen sein."^') Diese Anordnung war in mancher Hinsicht bequem,
gefügt. Dies Schicksal hat besonders Satyrdramen und Komödien betroffen.
Stücke, die keinen rechten Erfolg gehabt hatten, pflegte der Verfasser zuweilen
selbst zu vernichten, wie dies von Anaxandrides überliefert wird (Athenäus
IX 374 A).
230) So die Androniache des Euripides, Schol. Andr. 446: siliyotvcöi Se
TOv Soafiaros xoovovi ovx eart XaßsTv ov SsSiSay.rat ya^ ^A^rpr^aiv.
231) Auf chronologische Folge weisen die Bemerkungen zur Antigene
des Sophokles und zur Alkestis des Euripides hin. Zur Antigone bemerkt die
vTiod'saiS: XiXsxrac Si rb Soäua lovro XQiäxoarov Sevxeqov. Dann wäre die
Antigone das vierte Stück der achten Tetralogie, aber diese Tragödie kann
nimmermehr die Stelle eines Satyrdramas vertreten haben. Man müfste also
annehmen, in jener Zahl seien auch Einzeldramen mit inbegriffen, dies hat
aber für diese frühe Periode geringe Wahrscheinlichkeit; ebenso wenig zuläs-
sig ist die Auskunft, Soöfta sei hier nach dem Sprachgebrauch der Byzantiner
gleichbedeutend mit TQaytoSia. Die offenbar verdorbenen Worte sind wohl so
zu verbessern : SeSiSaxTai Se ro Soäua rovro roiayoarov S svre ^os {rjv).
Die Antigone war also Mittelstück einer Trilogie. und Sophokles erhielt damals
nicht, wie man gewöhnlich annimmt, den ersten, sondern nur den zweiten Preis.
Zur Alkestis des Euripides bemerkt der Scholiast: to S^äfia inoird'T] i^', wo
man richtig i; geändert bat; es war dies die vierte Tetralogie des Euri-
pides.
232) So die noch erhaltenen Verzeichnisse der Tragödien des Aeschylus
und Euripides. Auch die Komödien des Aristophanes waren ähnlich geordnet.
Das rr,Qas wird als das neunte Stück bezeichnet, was richtig ist, indem der
Aeolosikon in doppelter Bearbeitung vorausging, die Vögel als fünfunddreifsig-
stes Stück, wo aber statt ^' vielmehr /' zu lesen ist. Das Verzeichnifs der
Lustspiele des Plato zerfällt in zwei Abtheilungen, beide nach alphabetischer
Folge geordnet. Der Zweck dieser Sonderung ist unklar: vielleicht besafs die
alexandrinische Bibliothek anfangs die Dramen des Plato nicht vollständig; der
spätere Erwerb ward nachträglich gleichfalls in alphabetischer Ordnung ver-
zeichnet. Bei Andronikus, den Suidas ausschreibt, ist der Nachtrag, der sieben
Komödien enthält (darunter einige der namhaftesten Arbeiten des Dichters neben
zweifelhaften Stücken), an die Spitze gestellt. Auch die Verzeichnisse der
Dramen bei Suidas sind meist alphabetisch geordnet, jedoch ist ans verschie-
denen Anlässen die Folge nicht immer streng beobachtet.
5*
68 DRITTE PERIODE VON 500 HIS 300 V. CHR. G.
fühi-te aber einen grofsen Uebelsland herbei, indem so bei den Tra-
gödien der telralogische Zusammenhang völlig zerstört wurde,
wiederhohe Zur Bewerbung um den Preis wurden nur neue Dramen zu-
*"'^g|j[""' gelassen. Es war eine besondere Auszeichnung, wenn man nach dem
Tode des Aeschylus gestattete, die Tragödien dieses Dichters an den
öfl'entlichen Festen von neuem aufzuführen. Später mag in einzelnen
Fällen anderen die gleiche Gunst zu Theil geworden sein; so wur-
den die Frösche des Aristophanes, wie es scheint, gleich an dem
nächsten Feste wiederholt."^) Dagegen war es den Dichtern un ver-
wehrt, ein älteres Stück, nachdem sie dasselbe überarbeitet hatten,
als ein neues wieder auf die Bühne zu bringen, wie der Hippolytos
des Euripides, der Plutos des Aristophanes und andere Beispiele
beweisen. Hergebracht war die Wiederholung älterer Dramen an
den ländlichen Dionysien , sowie auf auswärtigen Theatern. Wenn
die Athener die fernere Aufführung der Eroberung Milets von Phry-
nichus untersagten^^), so kann sich dies Verbot eben nur auf die
Landgemeinden beziehen. Später, wo die dichterische Produktion
zu stocken begann, sah man sich genöthigt, auch an den städtischen
Festen die klassischen Stücke der äheren Tragiker zu wiederholen.
Nur die grofsen Dionysien genossen das Vorrecht, neue Dramen dem
IHibhkum zu bieten.'^) Für die Komödie war diese Einrichtung
erst später nothwendig, da während der klassischen Epoche und
selbst darüber hinaus an originalen Lustspielen kein Mangel war.'-^'*)
233) Offenbar auf Grund eines besonderen Beschhisses , gerade so wie
ein Psepbisma die Wiederaufführung der Tragödien des Aesiiiylus anordnete,
ein anderes das Drama des Phrynichus verbot.
234) Herodot VI 21: xat indxa^av firjxiri, firjSsva XQÖ-a&at tOvt(o tq;
S^äfiaxi,
235) Schon in der Demosthenischen Zeit war die Aufführung neuer Tra-
gödien auf die grofsen Dionysien beschränkt, Aeschin. in Ctes. 34: ov8e ix-
x^rjaia^övrcov li4d'T;vaicav, nlXa TQayioSäfv nyan'i^ofieriov xait'cävy ovS' ivav-
xiov TOv Srjfiov, alV ivavriov zäiv EXXtjvojv, iv' rjfiiv avrstSiöaiv, olov crSga
tifiüjfiev, wofür nacliher 41 yiyvofisvcov ta.v iv aaret rpayioSätv gesagt wird.
236) Im zweiten Jahrhundert n. Chr. begnügte man sich in Athen ledig-
lich ältere Stücke aufzuführen, wie Lukian Dcmoslh. 27 bezeugt: t^ Jto$naip
TO fiep Ttoitjatv xnivr;v noielv xotftipSiae iq TQayKjSiae ixltketnrat. Gewöhn-
lich wurden in den musischen Agonen der späteren Zeit ältere uud neuere
Dramen zugleich gegeben, wie die böotischcn Inschriften beweisen, s. GIG. I 1584,
wo rgayqfSot und xa)ft(^S6s auf die Wiederholung älterer chorischer Stücke
geht. Bei neuen Dramen wird der Dichter (noiijr^s zpayi^SKov oder xatftqfSidir)
DIE DRAMATISCHE POESIE. E1>LEITL>"G. 69
Dramatische Dichtungen fordern vorzugsweise die Thätigkeit der ueberarbei-
Ueberarbeiter heraus*^), wie die Erfahrung aller Zeiten bestätigt. '"°^®°'
Auch die scenische Poesie der Griechen ist diesem Schicksal so wenig
wie das alte Epos entgangen. Während wir aber dort die Umge-
staltung der originalen Werke meist nur vermuthungsweise zu ver-
' folgen im Stande sind, hegen hier bestimmte Zeugnisse, eine wohl-
beglaubigte Ueberlieferung vor. Theils legen die Dichter selbst an
ihre Arbeiten die bessernde Hand, theils unterziehen sich andere
diesem Geschäfte. Aeschylus mag an den Persern auf Anlafs einer
neuen AufTührung einzelne Aenderungen vorgenommen haben ; später
ward das Vermächtnifs des grofsen Dichters von seinem Sohne Eupho-
rion und vielleicht noch von anderen mit grofser Freiheit behan-
delt.**) Unter den Tragödien des Sophokles zeigen mehrere noch
jetzt deutliche Spuren einer neuen Redaction, die wohl meist von
fremder Hand herrührt.^^) Der Hippolytus des Euripides ist die
zweite Bearbeitung eines älteren Stückes, von dem uns wenige Ueber-
reste erhalten sind.'"*) Die Dichter der alten Komödie pflegten,
namenthch wenn ein Drama nicht den gewünschten Erfolg gehabt
hatte, eine mehr oder minder durchgreifende Revision vorzunehmen.**')
mit seinem Schauspieler genannt; ähnlich in der jüngeren Inschrift 1585, nur
heifst es hier r§aycp86s TtaXaiäs r^ayi^SiaS, dann Ttoirjrfis xatv^s xoaficoSias
und vnoxQixr^S xaivt^s xtuucoSias oder Ttoir^xrfi y.aivr,i r^aycpSias und VTtox^i-
T^s xaivTjs T^aytoSias. Neue Dramen neben alten finden wir noch bei dem
musischen Wettkampfe im karischen Aphrodisias aus der Zeit der Antonine,
CIG. II 2759, in einer freilich sehr nachlässig copirten Urkunde. Hier kommen
nicht nur je drei Preise für xojuioSoi und zoayioSoi vor (aufserdem noch xow^
xcofiepSdäv und xotvr, XQayioScöv), sondern auch für xatvrj xatficoSCa und xatvri
■tqayoiSia, und was noch befremdlicher ist, für die aq/^aia xcoficoSia (die ao^aia
roayioSia war offenbar gleichfalls erwähnt); denn dieser Agon mufste doch
eigentlich mit dem Agon der xioficoSoi zusammenfallen.
237) Jiaaxevr;, Siaaxevä^tiv. Galen T. V p. 3S ß.
238) Ouintil. X l, 66: Aeschylus . . rudis in plerisque et incotnpositus,
propter quod correctas eins fabulas in certamen deferre posterioril/us poe-
tis Alhenienses pemiiserunt.
239) An der Antigene schrieb man offenbar dem lophon einen gewissen
Antheil zu. Daraus ist die irrige Auffassung, als sei das ganze Drama von lophon
verfafst (Gramer An. IV 415), entstanden.
240) Auch die Iphigenia in Aulis dieses Dichters ist nicht in ihrer ur-
sprünglichen Gestall überliefert; allein diese Interpolation gehört erst der nach-
kiassischen Zeit an.
241) Enpolis überarbeitete seinen Autolykus (s. Galen) und vielleicht auch
70 DUITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Aber man überarbeitete auch ältere Stücke von anderen Dichtern,
die einst beifdUig aufgenommen worden waren, um sie in einem
neuen Gewände wieder auf die Bühne zu bringen."") Auch die
Dichter der mittleren und neueren Komödie müssen noch ab und
zu die nachbessernde Hand an ihre älteren Arbeiten gelegt haben.'")
liiterpoia- Hier ist es überall auf Erneuerung und Umgestaltung eines
Schauspie- älteren Werkes abgesehen , der sich ein Dichter von Beruf unter-
^"- zieht. Entschieden nachtheilig wirkten dagegen die Bemühungen der
Schauspieler, die später ohne Scheu oft in willkürlichster Weise sich
an den klassischen Stücken versuchten. Ein Drama vollständig zu
überarbeiten und den Wünschen des Publikums entsprechend zu-
recht zu machen, was sich die römischen Schauspieler mit den
Komödien des Plautus erlaubten, hat man wohl nur selten gewagt.
Desto mehr ward im Einzelnen abgeändert. Man fügte längere Par-
tien hinzu, wie den Prolog im Rhesus, strich anderes, schaltete ein-
zelne Verse ein, corrigirte den Ausdruck, wo man den Dichter nicht
verstand oder verbessern zu können glaubte.*^*) Die Stücke der
noch andere Dramen (s. Suidas I 2, 634). Aristophanes hat bekanntlich mehrfach
seine Lustspiele umgestaltet; auch die Frösche wurden auf Anlafs der zweiten
Aufführung revidirt.
242) Dies geschah besonders in den Anfängen, wo die Lustspiele des
Chionides und Magnes dieses Schicksal hatten. Darauf gehen die Ausdrücke
inixarrveiv xai 7ire^vi%eiv, welche Phrynichus offenbar aus einer alten Ko-
mödie anführt (Bekk. An. 1 39 : keyovai Sa ini riöv xa TiaXaia toiv S^nfiäzcov
fiEranoiovvTüiv xai fiaia^Qanrövroiv. An diese vom Schuhflicker entlehnte
Metapher erinnert ein anderes auf das Reinigen der Gewänder anspielendes
Bild bei Lysippus (PoUiiX VII 41): 6 8^ avayvdxpai xai d'eKÖans Tna akXoToiaS
intvoias. Nur bezieht sich dieser Vers wohl nicht auf das Bearbeiten fremder
Dramen, sondern der Komiker rühmt sich, dafs er originell sei und nicht ande-
ren ihre Gedanken entlehne.
243) Der JrjftrjXQtoe des Alexis war eine Ueberarbeitung einer älteren
Komödie, die den Titel fPtXsrai^oe führte. Die doppelten Recensionen der
'ASel^oi des Menander, sowie der Usqiv&ia beruhen zwar nicht auf durchaus
gesicherter Ueberlieferung, haben aber an der ngiüxr] und Sevxe^a 'EnUkrjffos
dieses Dichters eine Analogie.
244) Bei Euripides Phöniss. 271 änderte man ovx ixf^üai, weil es für
die Aussprache nicht recht bequem war. In der Andromache (i verstand man
die völlig klaren Worte nicht, corrigirte daher nicht nur willkürlich, sondern
fügte auch noch einen Vers ein. In den Phönissen ward der völlig müssige
V. 52: X'xi axrpiTQ^ Sna&Xa xr^aSs lafißärsi xO'oiö» zugesetzt, der sich schon
durch den der klassischen Zeit unbekannten Ausdruck ^na&Xot als Inlerpola-
DIE DRAMATISCHE POESIE. EL>LEITL>G. 71
drei Tragiker, zumal des Euripides*^*), waren dieser dünkelhaftea
Interpolation am meisten ausgesetzt. Aber auch die Lustspiele des
Menander und seiner Zeitgenossen werden nicht ganz verschont ge-
büeben sein."®)
Diesem Unwesen suchte der Redner Lykurg zu steuern. Unter Lykurgs
° Exemplar
der Aufsicht des Staatsschreibers liefs er sorgfältige Abschriften von der
den Werken der drei Tragiker anfertigen, welche im Archiv auf- Tragiker.
bewahrt wurden und zur ControUe der Schauspieler dienen sollten,
denen nicht mehr gestattet ward, zu improvisiren oder behehig den
überüeferten Text abzuändern. ^^^ Man darf jedoch den Werth dieser
wohlgemeinten Mafsregel nicht überschätzen. Höchstens wurde da-
durch der immer weiter um sich greifenden Verderbnifs jener Denk-
mäler bei den Aufführungen in Athen ein Ziel gesetzt; für die aus-
wärtigen Bühnen war das Gesetz wirkungslos. Vor allem aber fragt
sich, welchen Anspruch auf Zuverlässigkeit eben jenes öffentliche
Exemplar besafs. Durchaus correkte und den Originalen genau ent-
sprechende Abschriften herzustellen war wohl schon damals kaum
möglich; jedenfalls konnte nur einer, der mit den Grundsätzen diplo-
matischer Kritik wohl vertraut war, diese Aufgabe befriedigend lösen.
Ob es zu Athen in jener Zeit solche Männer gab, ist sehr zu be-
zweifeln; dem Staatsschreiber, mochte er auch noch so gewissenhaft
verfahren, wird niemand diese Fähigkeit zutrauen. Dieses attische
Exemplar erwarb später Ptolemäus III für die alexandrinische Biblio-
tion kund giebt; die alten Kritiker zeigen auch hier richtiges Sprachgefühl,
zogen es aber vor, das anstöCsige Wort durch Correctur zu entfernen statt den
Vers zu streichen.
245) Ebenso finden sich in denjenigen Tragödien des Euripides, die am
häufigsten gespielt wurden, auch die meisten Spuren solcher Interpolation, wie
in der Medea, den Phönissen.
246) In den Komödien des Aristophanes finden wir auch Interpolationen,
die jedoch nicht von den Schauspielern herrühren.
247) Plutarch im Leben der zehn Redner § 11: xa* ras r^ayq'Sias airäiv
(der drei Tragiker) iv xotv^ YQayjaudvon gwÄarTeiv, xai t6v t^» nö/^cos '/^afi-
fiarea Tta^avayiyva/axetv lols vnoxQtvofiävoiS' ovx i^eJvai yao avras vTiox^ive-
ffi9"oi. Die letzten offenbar verderbten Worte lassen sich nicht mit Sicherheit
herstellen; vielleicht ist zols 8' vnoxoivoftivon ovx i^Eivai. irrap' avxa (d.i.
tubito, aus dem Stegreif) vnox^ivead'at. Bedenken erregt auch oix i^eT-
vat; otx i^r^ liegt nahe, ist aber wegen der Zweideutigkeit dieses Ausdrucks
nicht zu empfehlen.
72 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
thek.*'") Die dortigen Gelehrten mochten bedeutende Erwartungen
von dem Werthe dieser Handschriften hegen, aber man sah sich
getäuscht. Das Exemplar war keineswegs frei von Zusätzen oder
Veränderungen, und der Gewinn bestand hauptsächlich darin, dafs
man jetzt gleichsam urkundhch die Fälschungen der Schauspieler
nachzuweisen vermochte.*^^)
Unterge- Dafs die Kritiker des Alterthums, als sie die Denkmäler der
Dramen, dramatischen Poesie in geordneter Folge übersahen, manches Werk
seinem Verfasser absprachen oder doch beanstandeten, ist erklärlich.
Indem die Dichter häufig ihre Stücke unter fremden Namen auf-
fuhren liefsen oder .lungere die Arbeiten ihrer Vorgänger umge-
stalteten, mufste nothwendig eine gewisse Unsicherheit der Ueber-
lieferung entstehen. Manches herrenlose Stück ward beUebig einem
berühmten Namen zugeschrieben. Nicht blofs den drei grofsen Tra-
gikern, sondern auch den jüngeren entzog die Kritik eine Anzahl
Dramen.*^) Noch ist uns eine Tragödie dieser Gattung erhalten,
der Rhesus, über dessen Ursprung die Ansichten im Alterthum ebenso
getheilt waren, wie in der neueren Zeit. Weit mehr Problematisches
248) Galen in Hippocr. Epidem. T. XVII l p. 607 berichtet, dafs Ptolemäus
sich jenes Exemplar schicken liefs, um davon eine Copie anfertigen zu lassen,
und als Unterpfand den Athenern 15 Talente gab. Er behielt aber das Origi-
nal, sandte den Athenern eine Abschrift auf bestem Papyrus und übeiiiefs ihnen
als Ersatz die 15 Talente. Dafs Ptolemäus Euergetes zu verstehen ist, ergiebt
sich aus p. 603.
249) Darauf gehen einzelne Bemerkungen der Scholiasten, wo sie mit
voller Bestimmtheit eine Lesart den Schauspielern zuschreiben, wie zu Eurip.
Med. 82: oL 8i inoxoirai tovio ayv07;aavTes fierartd'taai , 909: ol S^ vrto-
x^iral ayvor;aavTes yodfovaiv, 228: ol 5' inoxQixal ov avfiTieoKfsoönevoi iqi
iqÖtk^ keyovaiv. Davon mufs man wohl die Fälle scheiden, wo sie nur nach
Yermuthung die Thätigkeit der Schauspieler annehmen, vgl. Arg. Rhesus. Schol.
Med. 14S. 169, Orest. 1366. Die Alexandriner besafsen eben zum Theil ältere
und bessere Handschriften, waren also besser im Stande, solche Interpolationen
nachzuweisen.
250) Dem Aeschylus sprachen die Kritiker fünf Dramen ab (in dem Kata-
log werden neben den yiirvalai yvrjatm auch Alrvalat vö&oi angeführt; vöd-ov
Späfta, vero&evTai ist der übliche Ausdruck), dem Sophokles, wie es scheint,
sieben, dem Euripides drei Stücke, dem Aphareus zwei. Doch sind alle solche
Angaben mit Vorsicht aufzunehmen. Nach der Biographie des Euripides wurden
Tivir^i, ' Pu8äftav&vi , Ilsifid-ooi als unecht verworfen; hier ist der '/'/.ffoe
übergangen, ebenso der JSiavfOi, doch ist die Entscheidung hinsichtlich dieses
Stückes unsicher.
DIE DRAMATISCHE POESIE. EI>LEITL>G. 73
bot flie komische Literatur dar, und zwar aus allen Epochen.^"*)
Aber literarischer Betrug hat sich, wenn wir von einigen Stücken
des Thespis absehen, auf diesem Gebiete nicht versucht. Die an-
gebliche Danae des Euripides und die Klytämnestra des Sophokles
verdanken erst einer viel späteren Zeit ihre Entstehung.*^*)
VI
Der Staat verwandte bedeutende Summen auf die dramatischen Die
Aufführungen.*") Aufser den Preisen für die Dichter und dem Honorar °'"'^'**
für die Schauspieler, welches wenigstens später ziemlich hoch gewesen
sein mag, mufs die Staatskasse noch manche andere Ausgaben be-
stritten haben; denn es ist unrichtig, wenn man meint, der Choreg
habe alle Unkosten übernommen. Aber auch so darf man dessen
Leistungen nicht gering anschlagen. Die einzelnen Phylen der Bür-
gerschaft stellten den Choregen aus ihrer Mitte.*^') Natürlich waren
251) Von Epicharmus verwarfen die Kritiker vier, von Aristophanes eben
so viel Komödien; aber auch unter den Werken des Eupolis, dann besonders
des Plato, Pherekrates und anderer Dichter der alten Komödie fanden sich viel
bestrittene Dramen. Auch in der Schrift neoi xcoficodias 111 3 werden die xpEvSe-
niyoafa ausdrücklich hervorgehoben : (pdQexai avrcHv nävxa ra S^äfiata r^e'
aiv tols xfjevSeniy^afois. Aber auch die späteren Zeiten bieten Belege dafür
dar; die üoocpvoa wurde von einigen dem Timokles, von anderen dem Xenar-
chus, die 'AnoltTtovaa dem Diphilus oder Sosippus zugeschrieben. Bei dem
^ixeXixos scheint es zweifelhaft gewesen zu sein, ob Diphilus oder Philemon
der Verfasser war.
252) Von beiden Tragödien besitzen wir nur den Anfang; die Verfasser
haben es nur bis zu einem Bruchstücke gebracht. Die Danae des Euripides ist
das Machwerk eines Byzantiners, die Klytämnestra des Sophokles ein ganz
junges Produkt, welches dem Occident angehört; denn der Fälscher hat haupt-
sächlich den Agamemnon des Seneca ausgebeutet.
253) Plutarch de Glor. Athen, c. 6 behauptet, die Athener hätten mehr Geld
auf die Aufführung ihrer klassischen Trauerspiele verwendet, als ihnen die
Freiheitskriege und die Gewinnung der Hegemonie kosteten. Die ganze Stelle
ist darum von Bedeutung, weil sie, wie es scheint, auf Demetrius von Phaleros
zurückgeht und zeigt, wie in der Zeit des Aristoteles politische Männer darüber
urtheilten. Aehnliche Vorwürfe macht auch Demosthenes den Athenern Phi-
lipp. I 35, Leptin. 26.
254) An den Lenäen wurden auch die Metöken zur Choregie herangezogen
(Schol. Aristoph. Plut. 953), dagegen die Betheiligung an den aartxoi xo^oi war
ein ausschliefsiiches Ehrenrecht der Bürger. Zur Choregie war nur verpflich-
tet, wer ein Vermögen von mindestens drei Talenten hatte.
74 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
nur die Wohlhabenden zu einer solchen Liturgie verpflichtet. Der
Choreg halte dann das Chorpersonal gleichfalls aus Angehörigen seiner
Phyle zusammenzubringen, ein geeignetes Local für die Einübung
des Chores zu beschaffen, für die Verpflegung und Bedienung wäh-
rend dieser Zeit zu sorgen und zur Aufführung selbst Masken, Ge-
wänder und Schmuck für den Chor zu liefern. War ein Nebenchor
erforderhch, so steigerte dies unter Umständen die Kosten erheb-
lich*"); aber auch sonst hatte der Choreg manches für die Auf-
führung Erforderliche zu leisten."") Man unterzog sich jedoch meist
willig solchen Anforderungen. Der Ehrgeiz, etwas Vollendetes vor-
zuführen, war zu mächtig, die Ehre des Sieges zu lockend, und man
wufste recht gut, dafs der Glanz der äufseren Ausstattung zum Er-
folge wesentlich beitrug.'"') Erst später mag knickeriges Wesen mehr
und mehr überhand genommen haben. Wenn die Komiker sich zu-
weilen über die Sparsamkeit der Choregen beklagten, so wird dies
wohl oft nur ein harmloser Scherz sein. Die Choregie für den
tragischen Dichter war kostspieliger, als für die Komödie, weil das
heroische Drama einen gewissen Prunk erforderte, der im Lustspiel
nicht an seiner Stelle war, dann weil die Zahl der Choreuten im
Trauerspiel weit gröfser war.***)
Als der Wohlstand der attischen Bürgerschaft abnahm, mufste
man darauf bedacht sein, diese Verpflichtung zu erleichtern, daher
schon Ol. 93, 3 gestattet wurde, dafs zwei zusammen die Choregie
übernahmen."^) Bald ging man weiter, indem man die Ansprüche
255) Darauf geht wohl die ungeschickt erzählte Anekdote bei Plutarch
Phok. c. 19.
256) Aristoph. Fried. 1022.
257) Isäus Dicaeog. 36.
258) Der komische Chor bestand aus vierundzwanzig, der tragische aus
fünfzehn (früher zwölf) Personen, aber diese Zahl vervierfacht sich mit Rück-
sicht auf die tragische Tetralogie. Bei Lysias de bonis Aristoph. 29 und 42
wird der Aufwand für eine zweimalige Choregie für einen tragischen Dichter
auf 5000 Drachmen angeschlagen. Lehrreich ist besonders eine andere Hede
des Lysias (SojQoSonias anoXoyia). Hier giebt einer Ol. 92, 2 für den tragischen
Chor an den grofsen Dionysien 3000 Drachmen, t)l. 94 für den komischen Chor
nebst dem Weihgeschenke (4: ovv ifi rfis axsvr^i avnd-iost) 1000 Drach-
men aus.
259) Schol. Arist. Frösche 404. Das dort aus Aristoteles angezogene Ge-
setz traf nur für die städtischen Dionysien jene Bestimmung, aber unzweifel-
haft galt das Gleiche auch für die Lenäen; nur mag es hier schon früher ein-
DIE DRAMATISCHE POESIE. EIM-EITÜAG. 75'
an die Choregie für ein Lustspiel auf das geringste Mafs herab-
setzte.****) Die Folge war, dafs der komische Chor fortan mit einer
ganz untergeordneten Stelle sich begnügte und bald ganz beseitigt
wurde. Allein die Choregie für die Komödie blieb nach wie vor
bestehen. Indes ist seit dem Ende des grofsen Krieges nicht mehr
die Bereitwilhgkeit wie früher vorhanden. In der Zeit des Demo-
sthenes fand sich häufig kein Choreg*^'), und wenn nicht etwa einer
freiwillig die Leistung übernahm, mufste der Staat eintreten.
VII
Wie die Tragödie aus dem Dithvrambus der kvklischen Chöre D" chor
° ' . * und seine
hervorgegangen ist, so besteht auch der tragische Chor anfangs aus organisa-
fünfzig Personen.*-) Wenn sich Aeschylus mit zwölf Choreuten
begnügt, so hängt diese scheinbare Verminderung unzweifelhaft mit
der Einführung der Tetralogie zusammen. Der grofse Chor wurde
tion.
geführt sein. Ob vereinzelte Fälle schon früher vorkamen, ist ungewifs; in
der Didaskalie der Alkestis des Euripides ist Teiaias i/oor/yei zu lesen.
260) Schol. Aristoph. Frösche 404 auf Betrieb des Dithyrambendichters
Rinesias. Dafs aber die Choregie für die Komödie demungeachtet auch nach
dem peloponnesischen Kriege fortbestand, zeigt die Inschrift CIG. 219, wo sie
einer offenbar an demselben Feste (den grofsen Dionysien) für einen y.ixXios
yoQÖs und xcouojSoi übernimmt; vgl. auch die Inschrift 22S und eine dritte bei
Le Bas Attique 85 {riSvyilcoTi yogco dioviaia).
261) Wenn Demosthenes Lept. 22 behauptet, es sei kein Mangel an sol-
chen, welche die Choregie übernehmen konnten oder wollten, so ist dies eine
rhetorische Phrase, durch den Zweck seiner Rede entschuldigt; dafs es that-
sächlich ganz anders war, bezeugt er selbst in der Rede gegen Midias. Daher
findet sich öfter auf Inschriften 6 Sr/uos iyoQrjyet. Merkwürdig lautet aus rö-
mischer Zeit die Inschrift Ephem. Archaeol. 1860, 3785: 6 Sfjftos iveixa,
262) PoUu.x IV HO: tÖ na?.atöv o rgayucos xoqos Ttevrrixovra f;aav
axQt läjv EvfiBviSatv ^iayjOxm ' n^ös Si xbv Öx,/jov avrcäv rov nXrjd'ovi ix-
nxor,d'ivTOi avvsaxei'/^v o vöfios eis ikärrco a^id'fiov xbv ypqöv. Dafs der
grofse Chor unvermindert bis zu den Eumeniden bestanden habe, wie PoUux
durch eine schlecht erfundene Anekdote beweisen will, wird eben durch die
Orestie widerlegt, vgl. Schol. Aristoph. Ritter 5S9: o dk r^ayixbs yoohs t,t ,
WS Aiayyhi'i Ayafitfivovi , und Schol. Eumen. 5S5. Also hatte damals bereits
Sophokles die Normalzahl fünfzehn (PoUux IV lOS) eingeführt; denn dafs dieser
Dichter nur zwölf Choreuten vorfand, ist ausdrücklich (Suidas II 2, SS3 und der
Biographen) bezeugt. Irrig ist es, wenn (Bekker An. II 746) dem tragischen Chore
vierzehn oder {negi xco/xcaSias IX a 45 p. XX) sechszehn Mitglieder gegeben wer-
den; auch TzetzesXb 109 spricht von sechszehn Choreuten im Satyrdrama.
76 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
eben in vier kleinere zerlegt, von denen jeder in einem Drama mit-
wirkte. Sophokles erhöhte bald nachher die Zwolfzahl auf fünfzehn.
Der Chor der Komödie hat vierundzwanzig Mitglieder. Das Lust-
spiel, das überall der Tragödie nachsteht, begnügt sich mit der Hälfte
des grofsen kykliscben Chores.*"^;
Man behielt in der Tragödie die festgesetzte Zahl der Choreuten,
erst zwölf, dann fünfzehn, stets bei, auch wo die Rücksicht auf die
mythische UeberHeferung eine gröfsere oder geringere Zahl erfor-
derte. Für die jüngere Tragödie, welche nicht mehr bestimmte Per-
sönlichkeiten im Chore verwendet, war ohnedies die Zahl ziemlich
gleichgültig.*")
Nebenchöre kommen öfter im Trauerspiel, wie im Lustspiel
vor. Ein ^'ebenchor verursacht wenig Umstände, wenn er vor der
Parodos des eigentlichen Chores und hinter der Bühne sein Lied
vortrug. So sind bei Euripides die Begleiter des Hippolytus blofse
Statisten ; das kurze Lied wird von dem Chore, der noch nicht die
Orchestra betreten hat, gesungen.^") Ganz ähnlich verhält es sich
bei Aristophanes mit dem Chor der Frösche ^''''), nach welchem die
Komödie benannt ist, während der wirkliche Chor, weil die Haupt-
handlung des Stückes in die Unterwelt verlegt ist, durch Genossen
der eleusinischen Weihen gebildet wird. Aber manchmal tritt ein
263) Scliol. Aristoph. Ritter 589: o nsv xeoftixoe xoqos xS', tos xal ovxoi
aTiT^^id'fiTjasv if'Ogviaiv, aöosvas fiev OQvte ißf , &r]ksiai Se roaavTai. Pollux
IV 109.
264) So sah sich Aeschylus genöthigt, in den Eumeniden die Zahl der
Rachegöttinnen zu vermehren, in den Schutzflehenden die Zahl der Danaiden
zu verringern: und der beigefügte Nebenchor der Dienerinnen trug dazu bei,
das abweichende Zahlenverhältnifs minder bemerkbar zh machen. Die Schutz-
flehenden gehören zu einer tetralogischen Compoäition. Hier ist also ein Chor
von fünfzig Personen unzulässig; und wenn in einem Bruchstück wahrschein-
lich aus einer anderen zu dieser Tetralogie gehörenden Tragödie (JavatSee)
dem Chore geboten wird, sich im Kreise um das Feuer des Altars aufzustellen
(xvxkq» TtegiaxTjr', iv Xöxtp t' ansigovi sv^aa&e), so war dies auch für eine
geringere Zahl, zumal wenn noch Dienerinnen beigegeben waren, ausführbar.
265) Schol. Hipp. 67: I'tbqoi Si eiai tov x'^QOv, xa&äneQ iv Ttpl/Ile^nt>-
Boto ' ivrav&a fisv ow Svfnrai n(>oanoxg^O(to^(tt toü ano tov xo^oi; ixel
Si oweatätTOi tov x'^P^v ineiaäyet ro a&ftoiOfta, wi xai iv Avjtönrj Svo
Xogovi eiaäyei tov tt t>i]ßaio}v yeQOVtcJv Siökov xai tov fteta Jifxr.i.
266) Auf gleiche Weise wird auch der Chor des Agathon im Eingange
der Thesmophoriazusen hinter der Bühne gesungen haben.
DIE DRAMATISCHE POESIE. EI>LEITü>G. 77
zweiter Chor von Sängern in geeignetem Kostüme auf, wie am
Schlüsse der Eumeniden des Aeschylus der Fackeln tragende Chor,
welcher den Rachegöttinnen das Geleite giebt^®'), oder die Lakonier
in der Lysistrata des Aristophanes. In der Tragödie konnte man
füghch einen Chor, der bereits in einem anderen Stücke aufgetreten
war^''*), dazu verwenden. Der Cboreg hatte dann nur für die äufsere
Ausstattung zu sorgen.*®^) Verschieden davon sind gemischte Chöre,
von denen besonders die Komödie öfter Gebrauch macht.^'**)
Der tragische Chor zog entweder in fünf Reihen zu je drei,
oder in drei Reihen zu je fünf Mann in die Orchestra ein. Aehnlich
war der komische Chor in sechs Reihen zu je vier oder in vier
Reihen zu je sechs Mann gegliedert.-"') Und er behielt diese Stel-
lung im Viereck auch in der Regel bei, während der grofse Chor
I
267) Einen Nebenchor haben auch die Schutzflehenden des Aeschylus,
nicht aber das gleichnamige Stück des Euripides; denn die fünf Knaben treten
einzeln auf, bilden keinen Chor. Der Chor dieser Tragödie ist, wie es scheint,
aus den Müttern und ihren Begleiterinnen gebildet.
268) Selbstverständlich in einem Stück desselben Dichters.
269) Dafür würde der Ausdruck TtaQayoorjyr^ua ganz passend sein, den
der Schol. der Frösche 209 auf jenes Stück anwendet.
270) In den Schutzflehenden des Euripides scheint der Chor aus fünf Müt-
tern und zehn Dienerinnen bestanden zu haben. Ob der Chor im Theseus aus
Knaben und Mädchen gebildet war, ist unbekannt. Für die gemischten Chöre
der alten Komödie gilt das Gesetz, dafs die Halbchöre eine ungleiche Zahl
zeigen, also dreizehn Männer und elf Frauen oder dreizehn Frauen und elf
Knaben, dreizehn Greise und elf Jünglinge, s. Schol. Arist. Ritter 5S9 (wo tois
TiQeaßvxas ji^^orexreTv Svslv faaiv statt 8 siv za lesen ist). So steht Inder
Lysistrata der Halbchor der Greise dem Halbchore der Frauen gegenüber. Da-
gegen in den Wespen sind die Knaben, welche den Alten voranleuchten, nur
ein Parachoregem. Im Frieden werden nur Statisten verwandt, um die Arbeit
des Chores zu unterstützen.
271) PoUux IV 109 vom tragischen Chore: xai xaza roeii ftiv eiar^saaf>,
ei naxa ^vya yiyvotro tj nn^oSos, si Si xara aroi^ovs, ava TCevrs siar[saav. Der
komische Chor besteht aus sechs !^vyd oder vier arol^cot- Die Gliederung des
dramatischen Chores ist identisch mit der militärischen Taktik : ^vyov (Glied)
nennt man hier die Stellung mehrerer Soldaten auf einer Linie neben einander,
<rrr/cos (die Rotte) heifst eine Reihe Leute, die hinter einander aufgestellt sind;
drei Rotten neben einander bilden also Glieder von je drei Mann. Gewöhnlich
zog wohl der dramatische Chor in ^vyä. auf; auf der Orchestra angelangt, konnte
er dann die Stellung verändern. Bei Aristophanes in den Vögeln zieht der
Chor in vier Reihen zu sechs Mann [xaxa aroixovs) auf, und in derselben Stel-
lung ward in den Babyloniern die Parodos vorgetragen.
78 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
der älteren Tragödie und der Dithyrambendichter sich im Kreise
um den Altar des Gottes aufzustellen pflegte."') Zuweilen wird diese
feste Ordnung aufgegeben.'''^) Wenn der Chor von leidenschaftlicher
Aufregung ergriffen ist oder Neugier und Ungewifsheit anschaulich
geschildert werden soll, treten die Choreuten einzeln oder auch in
grüfseren und kleineren Gruppen auf.
Von der Regel, dafs der Chor ohne Unterbrechung von seinem
ersten Auftreten bis zum Schlüsse des Stückes gegenwärtig ist, fin-
den sich mehrfache Ausnahmen. Der Wechsel der Scene in den
Eumeniden, wo die Handlung aus dem delphischen Heiligthume nach
der Akropolis von Athen verlegt wird, machte auch eine momentane
Entfernung des Chores nothwendig. Ebenso war der Selbstmord
des Ajas bei Sophokles mit der Anwesenheit von Zeugen unverein-
bar; während der Held den langen Monolog spricht und sich in
sein Schwert stürzt, mufs sich der Chor fernhalten.
Koryphäus. Dor Chor Steht als Gesammtheit den Schauspielern auf der Bühne
gegenüber. Der Repräsentant des Chores, gleichsam sein Sprecher,
ist der Koryphäus, der den Verkehr mit den handelnden Personen
vermittelt. Diese Zwiegespräche sind eine Erinnerung an die An-
fänge der dramatischen Poesie; denn hier ist der Keim des Dialoges
zu suchen. Aber man konnte auch später nicht darauf verzichten,
ohne den Chor völlig loszulösen. Was der Koryphäus, was der ganze
Chor vortrug, darüber schweigt die üeberliel'erung. Dafs in der
Tragödie iambische Trimeter, welche der Chor mit den Schauspielern
wechselte, dafs die anapästischen Dimeter, womit das Erscheinen und
Abtreten der Personen angekündigt wird, dem Koryphäus zuzuweisen
sind, ist sicher; aber wie weit der Chorführer am Einzelvortrage
melischer Partien betheiligt war, läfst sich nicht genauer feststellen.
In der Komödie, wo der Chor mehr oder minder in die Handlung ver-
flochten ist, oft geradezu thätig eingreift, war auch die Aufgabe
des Koryphäus eine viel bedeutendere. Er führt nicht nur mit den
272) Die alten Grammatiker, wie r. B. Tzetzes Prol. zu Lykophron, legen
daher den dramatischen Chören ein xBTQäymvov ox^f" ^f'- I'ai'iit brachte man
sogar den Namen xqayioSia durch ein etymologisches Kunststück in Verbin-
dung (Bekker An. II 74t), Et. M. 7fi4). Doch müssen auch RuHdtänze zuweilen
vorgekommen sein, vgl. Aesch. Eum. 307, Aristoph. Thesmoph. 953.
273) Pollux IV 103: k'a&^ ore 8i xai xad'' ivn inotovvro rijv na^oSov.
Vgl. Aeschylus' Eumeniden und Sophokles' Oedipus auf Kolonos.
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITUNG. 79
Schauspielern bald längere, bald kürzere Wechselreden, sondern steht
auch mit dem Chore selbst in fortwährendem Verkehr. Die Befehle
und Ermahnungen, welche häufig an die Gesammtheit der Choreuten
gerichtet werden, schicken sich nur für den Führer.
Der Koryphäus ist der Vorsänger. *^^) Ursprünglich übernahm
der Dichter selbst diese Function. Seitdem aber durch Thespis das
dramatische Element hinzutrat, mufste er dies Geschäft einem ande-
ren übertragen, der gründliche musikalische Bildung und praktische
Erfahrung besafs. Bei der Einübung des Chores, wie bei der Auf-
führung des Dramas leistete er wesentliche Dienste; von seiner Ge-
schickhchkeil hing vielfach der Erfolg ab.*^') Zumal in der Komö-
die waren die Anforderungen an den Koryphäus noch zahlreicher
und schwieriger, als in der Tragödie.
Der Koryphäus hatte seinen bestimmten Platz. Im tragischen
Chor nahm er beim Einzüge die dritte Stelle der linken Reihe ein'"®);
denn die linke Seite, welche den Zuschauern zugekehrt war, galt
für ehrenvoller als die rechte. Auf der linken Seite befanden sich
die tüchtigsten Choreuten, während man die Unansehnlichen und
Mindergeschickten der mittleren Reihe zuwies; doch war man Ihun-
lichst darauf bedacht, dafs nur stattliche Figuren, geübte Sänger und
Tänzer in den Chor aufgenommen wurden.
Aus dem Chore ist die Tragödie hervorgegangen. Erst nach und Der Prolog,
nach gelangt das Dramatische zur Geltung. Wie der Chor alle Zeit
274) D. h. der i^aQxcov, wie man seit Alters den Leiter eines Chores
nannte, später auch TiyBfiäv. Auf ihn sind die Blicke aller Choreuten gerichtet,
Aristot. Probl. 11, 22. daher ein beliebtes Bild in Vergleichungen, Plato Euthyd.
276 B : (oaneg vnb SiSaay.ä).ov y,oobi cntoar^ufp'avxo? aua aved'ootSr-aav. Colu-
mella XU 2 : nbi chorus canentium non ad certos modos neque numeris prae-
euntis magistri consensit, dissonum qitiddam ac tumtiltuosum audientibus
canere videtm: Der sogenannte Aristoteles de mundo c. 6 p. 399 A 14 ff.: xad"-
anBQ iv ;ijooß5 yoovcpaiov yaräo^avTOS awenr^xei näs 6 xoQos avSocov, sad'^ ore
y.ai yvvaiy.eöv, iv SiafoooiS fotvals o^vrsoais yai ßaovTBQais fiiav a^fioviav
xsoavvtvTiov, ovrco? k'^ei xai irti tov to avuTtav Stsnovros &eov , und noch-
mals oitBQ kv x'>^'p xo^'cpdios , Tovro d'sbs iv xöauqt.
275) Demosth. Mid. 60 : i'ars Sri itov tov&\ ort rov riysftöva av atpiXi]
T«s, oixttai o XotnoQ yooös.
276) Photins rglro? aoiaxB^ov und Hesych. aQurrB^ocrdrrjs. Seine ge-
wöhnliche Stellung war in der Mitte, d. h. der Fronte; daher nennt ihn Plinius
Ep. II 14 fiBaöjcoQoe. Athen. IV 152B: xd&r^vTat ftiv iv xvxho, ftiffo: 8' 6 x^-
TtffTOS, cüs av xoqxxpaiot XOQOV.
80 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
die Handlung begleitet und abscbliefst, so erwartet man, dafs er sie
auch, wenigstens in der älteren Zeit, eingeführt habe. Gleichwohl
hat nach glaubwürdiger Ueberlieferung schon der Gründer der Tra-
gödie, Thespis, sich des Prologes bedient, und man begreift, wie
gerade in den Anfängen der dramatischen Kunst diese Weise, das
Pubhkum in die Sache einzuführen, gute Dienste leisten mufsle.
Die Thatsache selbst darf man nicht in Zweifel ziehen , aber der
Prolog des Thespis und seiner Nachfolger wird nicht das Drama
eröffnet haben*"), sondern dieses Amt fiel dem Chore zu. Wenn
das Spiel beginnen sollte, forderte der Herold den Dichter auf, mit
seinem Chore in die Orchestia einzuziehen."*) Aeschylus ist in den
Persern und in den Schutzflehenden der allen Sitte noch treu ge-
blieben.^^^) In beiden Stücken treten die handelnden Personen erst
nach dem Einzüge des Chores auf. Auch später macht dieser Dich-
ter noch zuweilen von dieser alterlhümlichen Form Gebrauch, wie
im befreiten Prometheus^*"), und dem Meister hat sich seine Schule
angeschlossen, wie man am Rhesus sieht.^*') Bei den anderen Tra-
gikern ist dies nicht mehr üblich; auch wo der Chor gleichzeitig
mit einer handelnden Person auftritt, verharrt er so lange schwei-
gend, bis der Prolog gesprochen war.^-) Das erste Beispiel eines
277) Der Prolog bei Thespis war die erste Qr,ais, und der Name ist viel-
leicht erst aufgekommen, seitdem er an die Spitze des Dramas trat. Auch später
haben sich noch einige Reminiscenzen an diese alte Weise erhalten. Abgesehen
von der Iphigeneia in Aulis des Euripides, wo nach der vorliegenden Redaction
der Prolog die zweite Stelle einnimmt, ward auch die Audromache desselben
Dichters durch eine Monodie der Heldin eröffnet, und die sich daran schliefsende
Rede des Perseus vertrat die Stelle des eigentlichen Prologs. Im Miles des
Plautus ist der Prolog sehr geschickt an die Spitze des zweiten Actes gesetzt.
278) Aristoph. Ach. 1 1 : eXaay io Otayri top xoqÖv. Diese Formel war
damals eigentlich nicht mehr recht anwendbar, aber der Komiker behält sie
bei, weil sie für seinen Zweck sich eignete. (S. 53, A. 178.)
279) Diese beiden Dramen entbehren des Prologs, aber die der Parodos
vorausgehenden Anapästen des Chores vertreten seine Stelle, daher der Schol.
der Perser: ivzavd'a Tz^oloyi^ei x^^oe TtQeaßvjöiv.
260) Auf den Chorgesang der Titanen folgte die Ansprache des Prome-
theus; ähnlich wohl auch in den Myrmidonen, wo der Prolog in Trimetern
(Strabo XIII GIO) sich an den lyrischen Eingang angeschlossen zu haben scheint.
281) Hier ward später von zweiter Hand ein Prolog in lambcn hinzu-
gedichtet. Dafs auch die Komödie anfangs durch ein Choriied eröffnet wurde,
zeigen «Mc 13ovHv)u)t des Kratinus.
282) So im Pliiloktet des Sophokles und anderwärts.
DIE DRAMATISCHE POESIE. EI>LEITÜ>'T;. 81
einleitenden Prologs in Trimetern, auf den die Parodos des Chores
folgte, bieten die Phönissen des Phrynichus dar, Ol. 75, 4, also noch
vor den Persern des Aeschylus aufgeführt. Diese Neuerung wird
wohl erst der Zeit des Zusammenwirkens dieser Dichter verdankt,
wo das dramatische Element durch Einführung des zweiten Schau-
spielers sich einen breiteren Raum eroberte.-*')
VIII
Schauspieler von Beruf sind den Anfängen des Dramas fremd; »»e schan-
der Dichter selbst übernahm diese Funktion.^'O ß^i der Schhcht-
heit der aUen Kunst hat solche Vielseitigkeit nichts Auffallendes.
Der Dichter führte die Gestalten, welche er geschaffen hatte, auch
dem Zuschauer vor. Das volle Verständnifs, was ein fremder Dar-
steller sich erst durch Studien aneignen mufste, brachte er mit und
mufste so, wenn er anders von der Natur mit ausreichenden Mit-
teln ausgestattet war, eine mächtige Wirkung erzielen. Durch diese
persönliche Betheiligung erlangte der dramatische Dichter zugleich
die vertrauteste Bekanntschaft mit dem Geheimnifs des dramatischen
Lebens. So waren alle älteren Tragiker von Thespis bis auf Aeschy-
lus zugleich Schauspieler, und das Gleiche gilt auch von der älteren
Komödiendichtung.'^*) So lange die dramatische Handlung in engen
Grenzen verharrte, kam man mit einem Darsteller aus. Allein seit-
dem Aeschylus den Umfang der Chorgesänge beschränkte, um eine
selbständige reichere Entwicklung des dramatischen Lebens herbei-
zuführen, mufste er einen Gehülfen heranziehen, dem er die Neben-
rollen übertrugt), während der Dichter zunächst noch immer die
283) Aristoteles' Definition Poet. c. 12 p. 1452B 19: fiiQoeolov XQayioSCas
rb TtQo xoQov TtaoöSov hält sich eben an die später gültige Norm , ebenso Euri-
pides, wenn er bei Aristophanes Frösche 1120 die Prologe des Aeschylus {rb
TtQarov rr,s r^aycpSias fteoos) kritisirt.
284) Aristot. Rhet. III 1 p. 1403 B 22 : xal yao eis rrjv XQayixiiv xai garp^-
Siav oxpB TtUQr^'/.&sv [rj vTtoxoKTis)' vTtsxoivovzo yoLQ avxol ras ronycoSias ol
Ttoir/rai rb Ttoürov, wie dies von Thespis, Phrynichus, Aeschylus bekannt ist.
Selbständig tritt die Schauspielkunst erst auf, nachdem Aeschylus den zweiten
Darsteller hinzufügte.
285) Der Entwicklungsgang der Komödie ist im wesentlichen der gleiche ;
nur fehlen uns für die Anfänge bestimmte Zeugnisse.
286) Thespis führt den ersten, Aeschylus den zweiten Schauspieler ein,
wie die Ueberlieferung nach der Ausdrucksweise der jüngeren Zeit lautet; denn
Bergk, Griecb. Literaturgeschichte III. 6
82 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Hauptrollen übernahm. Nun erst war ein längerer zusammenhän-
gender Dialog möglich. Die Personen sprachen nicht blofs für sich
oder zum Chore, sondern auch zu einander; die Handlung wird
bewegter. Erst jetzt kann von einem Schauspiele die Rede sein,
und mit der Sache steUte sich auch der entsprechende Name ein.
Da Sophokles durch die Schwäche seiner Stimme verhindert
war, bei der Aufführung seiner Stücke persönhch mitzuwirken,
mufste er für einen Stellvertreter sorgen. Bereitwillig wird man ihm
diese Erleichterung gewährt haben ^^), und alsbald machten auch die
thatsächlich war der zweite Darsteller des Aeschylus der erste wirkliche Schau-
spieler. 'TTtoxQiTTje, die übliche Bezeichnung der Schauspieler bei den Attikcrn
(bereits Hippokrates bietet einen Beleg dar), ist eigentlich einer, der auf eine
Frage antwortet. 'TnoxQivead'ai ist in der älteren Sprache so viel als otto-
xQivead'ai, namentlich bei den loniern, so in dem Homerischen Hymnus auf
Apollo 1171: vfieie S' sv fidXa näaai imoxQivead'ai, affjfiois (d. h. einstim-
mig antworten). Aber auch den Attikern, wie Thukydides und Aristophanes,
ist dieser Sprachgebrauch nicht fremd, daher das Zeitwort (ebenso vnoxQian)
besonders von der Antwort eines Orakels gebraucht wird. Nach den alten
Grammatikern ist der Ausdruck vnox^iTTjs aufgekommen, sobald das dramatische
Element in der Chordichtung sich zu entwickeln begann. ApoUonius Lex. Hom. :
vnoxqivairo . . TtQCJxaycoviarovvros yuQ rov x^Q^^^ "^o naXaiov ovroi, toaneQ
anoxQirai tjaav, anox^ivo/isvoi ttqos tov '/p^öv. Aehnlich Photius und Eusta-
thius o qLTtoxqivöfiEvoi TcjJ xoq^ und Pollux IV 123. Euanthius: sed primo
una persona substituta est cantoribns , quae respondens alternis choro locu-
pletavü variavitque rem musicam, tum altera, tum tertia. Es ist möglich,
dafs man den Chormeister oder Vorsänger, der zuerst mit dem Chore Worte
wechselte, bereits vTtoxQirrjg nannte. Allein ebenso gut kann diese Beziehung
erst der Zeit des Aeschylus ihren Ursprung verdanken ; denn erst seitdem dieser
Dichter einen Gehülfen als zweiten Darsteller hinzunahm, war ein eigentlicher
ausführlicher Dialog möglich. Erst jetzt kann von der selbständigen Thätigkeit
eines Schauspielers die Rede sein, und als bald nachher die Dichter dieser
Function gänzlich entsagten, gewinnt der Ausdruck allgemeine Geltung. Daher
sagt man jetzt ra nqäna vnoxQivead'ai. vom Protagonisten, vTiox^ivea&ai nva
eine Rolle spielen, eine dramatische Person darstellen. Wenn eine bekannte
Anekdote dem Solon (Plut. Solon c. 30) die Worte: ov xnkiöe vTioxQivr] rov 'O/trj'
Qixbv ^OSvaasa in den Mund legt, so lag dieser Sprachgebrauch jener Zeil noch
ganz fern. — Den zweiten Schauspieler hat übrigens Aeschylus wohl erst nach
Ol. 73, 4 eingeführt, wo er zum ersten Male im tragischen Agon über seine
Milbewerber siegte.
287) Wohl gleich bei seinem ersten dramatischen Versuche Ol. 77,4, ob-
schon Sophokles ausnahmsweise sich später einmal an einer Aufführung be-
theiligt hat. Nach dem Vorgange des Sophokles hat dann auch Aeschylus sich
von der Bühne zurückgezogen.
DIE DRAMATISCHE POESIE. El.NLEITL.NG. 83
anderen Dichter von dieser Vergünstigung Gebrauch. So traten also
jetzt zwei wirkliche Schauspieler in jedem Stücke auf; bald nachher
ward ein dritter hinzugefügt, den wir bereits in der Orestie des
Aeschylus Ol. 80, 2 antreffen. Ob diese Neuerung von Sophokles
oder Aeschylus ausging, war streitig."*) Wenn wir aber sehen, dafs
Sophokles, um das dramatische Element immer mehr zu entwickeln,
den Chor noch weiter beschränkte und ihm eine veränderte Stel-
lung anwies, so wird auch die Einführung des Tritagonisten , die
demselben Zwecke dient, von Sophokles ausgegangen sein. Aeschy-
lus, der einfachen Weise der älteren Kunst treu bleibend, empfand
nicht so sehr das Bedürfnifs, die Mittel der Darstellung zu steigern,
aber er trat auch dem Wunsche seines jüngeren Kunstgenossen nicht
hindernd in den Weg.
Mit dieser geringen Zahl der Schauspieler hat sich im Allge-
meinen das griechische Drama begnügt. Man erkannte wohl, dafs
es bei der Vermehrung des Personals nicht so leicht sein würde,
erprobte tüchtige Kräfte zu gewinnen; blofse Handlanger aber machen
immer einen störenden Eindruck, selbst wenn man ihnen nur unter-
geordnete Rollen anvertraut. Daher beobachtet der dramatische
Dichter in der Verwendung der handelnden Personen eine weise
Sparsamkeit.'"^) Er führt keine neue Person ein, wo eine anwesende
denselben Dienst leisten kann, und entfernt den Darsteller von der
Bühne, sobald seine Rolle beendet ist. Unter Umständen zog man
288) Nach Aristot. Poet. 4, 13 p. U49 A 18 führt Aeschylus den zweiten,
Sophokles den dritten Schauspieler ein (t^sTs Ss xal cxr^voyoafiav ^o(poxXris).
Aber Theniistius 26, 382 berichtet aus demselben Aristoteles : Aia-/v).os Si rgirov
i7ioxoiTf;v xal oxQißavras (die Variante vnoxgirds ist nur Schreibfehler, und man
darf nicht rosTs iTtox^näs, noch weniger Sitrois vnoxQixäi, um beide Stellen
in Einklang zu bringen, schreiben, obwohl es eigentlich Sevteqov xal TQi-
Tov heifsen mufste). Themistius hat oflfenbar die Schrift Tteol Ttoirixiöv vor
Augen, und solcher Widerspruch des Aristoteles in einem zweifelhaften Falle
hat nichts Auffälliges. Dem Aeschylus legt dies Verdienst die Biographie die-
ses Dichters bei, dem Sophokles Dikäarch (s. Biographie des Aeschylus), Dio-
genes Laert. c. III 34, 56, Biographie des Sophokles und Suidas II 2, S83.
289) Wie gut man mit diesen Mitteln auskam, zeigt die Alkestis des
Euripides. Hier genügen eigentlich zwei Schauspieler und ein Parachoregema,
aber natürlich hat der Dichter, dem damals drei Schauspieler zur Verfügung
standen, sich nicht ohne Noth auf zwei beschränkt. Wie man sich zu helfen
wufste, zeigt die Bemerkung des Schol. Aeschyl. Choeph. 899: ftereaxeiaaTai
o i^äyye?.os si: IlvXä8r,v, iva ftrj räaaages /Jycoaiv.
6*
84 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
jedoch zur Aushülfe einen vierten Schauspieler hinzu. Diese Lei-
stung übernahm der Choreg^); denn der Staat stellte nur die drei
Schauspieler. Schon Aeschylus hatte einmal von diesem Mittel Ge-
brauch gemacht.'*') Ebenso tritt bei Sophokles im Oedipus auf
Kolonos ein vierter Schauspieler auf; denn es ist unnatürlich , eine
Rolle wie die des Theseus unter mehrere Darsteller zu vertheilen,
wenn sich eine solche Aushülfe darbot.*^^) AehnUch verhält es sich
mit der Andromache des Euripides.
Für die Komödien gelten die gleichen Ordnungen. Da sie an-
fangs der Unterstützung des Staates entbehrte und auf freiwillige
290) Aeschylus in dem nicht mehr erhaltenen Memnon (Pollux IV 110),
aber nicht in den Choephoren V. 899, wo sich der Dichter einfacher zu helfen
wufste. Dies Citat bei Pollux cos iv L4yaftefivovt AiayvXov, was man nur durch
Annahme eines Irrthums im Citiren auf die Choephoren beziehen könnte , be-
ruht nur auf einem Versehen der Abschreiber; auch zeigt schon der Ausdruck
IV 109 eineiv ev cpSfj, dafs von der betreffenden Stelle der Choephoren nicht die
Rede sein kann. Uebrigens wenn auch vier Schauspieler zugleich auf der Bühne
waren, so ist doch in der Regel einer stumm, daher Horaz A. F. 192 vorschreibt:
nee quarta loqui persona laboret.
291) Daher stammt der Ausdruck naQaxoQrjyriua. So heifst jede aufser-
ordentliche Leistung, zu der der Choreg eigentlich nicht verpflichtet war, die
er aber im Interesse der Sache gern übernahm. Wenn Pollux IV 109 sagt:
OTiöre HSV avrl rerägrov vnoxQirov Se'oi rtva tcöv y^ooevrdiv etTisiv iv f^Sfjf
naQaaxrjviov xnXelxai rb ngäyua {cos iv Ayauif^ivovi Aiayiv'kov\ ' ei Sa retaft-
ros vnoxQiTTjS n naQafd'ey^ano , rovro naoa/o^rjyrjfia ovo/uä^srat, xai ne-
n^nxd'ai cpaaiv avrb iv Aiaxvhyv Mtuvori, so ist diese Darstellung unvoll-
ständig; denn er übergeht gerade die Hauptsache, die Stellung eines Neben-
chores, die ebenfalls unter den Begriff des Parachoregems fallt und unter
Umständen mit erheblichen Kosten verbunden sein mochte. Nur Pollux unter-
scheidet zwischen dem na^a^oQ^yri^a und nngciaxrjvtov. Letzteres bezeichnet
den besonderen Fall, wo der vierte Darsteller ein Lied vorzutragen hat (anb
axtjvTJs (liXos). Hierzu mochte man gewöhnlici» einen Choreuten verwenden; ob
dieser wirklich auftrat oder nur hinter der Bühne sang, während ein Statist
seine Stelle vertrat, ist ungewifs. Ein Beispiel dafür bietet Aristoph. Friede 1 14
(wo der Scholiast d«n allgemeinen Ausdruck nagaxo^Tjyrjfia gebraucht). Ebenso
ist der Knabe Molossus in der Andromache des Euripides ein nctQaaxijvior.
292) Theseus braucht nicht gerade von dem vierten Schauspieler darge-
stellt zu werden. Der Tritagonist konnte diese Rolle übernehmen, so dafs der
vierte Darsteller für die Nebenrollen verwandt wurde. Wo eine Person später
mit völlig verändertem Charakter auftritt, hat die Verlheilung der Rolle unter
zwei Schauspieler nichts Anstöfsiges; ebenso konnte, wenn einer früher agirt
hatte und dann nochmals als stumme Person auftrat, füglich ein Statist aus-
helfen.
DIE DRAMATISCHE POESIE. ELNLEITUiNG. 85
Leistungen angewiesen war, fehlten feste Normen. Daher erschien
schon den alten Forschern die Vorgeschichte des attischen Lustspiels
dunkel. Auch hier war der Chornieister zugleich darstellender Künst-
ler, allein seit Kratinus wird nach dem Vorgange der Tragödie dies
Geschäft Schauspielern von Beruf überlassen.'^^) Die Zahl der Dar-
steller mag in der ersten Zeit eine nach Umständen wechselnde
gewesen sein."^^) Allein seit der Staat den komischen Chor dem tra-
gischen gleichstellte und der Archon dem Dichter einen Choregen
zuwies, ist auch die Komödie an eine bestimmte Regel gebunden;
seit Kratinus finden wir auch hier die gesetzhche Zahl der Schau-
spieler. Wenn wir die Fülle von Figuren, den raschen Scenen-
wechsel in den Lustspielen des Aristophanes ins Auge fassen, scheint
es kaum möghch, mit so geringen Kräften auszukommen. Allein
diese Beschränkung bereitet einem Dichter, wie Aristophanes, keine
Verlegenheit. Zwar macht er von der Aushülfe des Parachoregems
häufiger Gebrauch als die Tragiker, aber immer in mafsvoller Weise.
In den Vögeln drängt eine Person die andere, aber nur in einer
Scene, wo die drei Gesandten der Götter vor Peithetaeros erschei-
nen, treten vier Personen auf.*^*) In manchen Dramen, nicht nur
in den beiden letzten, sondern auch in äheren Stücken, wie den
Rittern, reichen drei Darsteller vollständig aus. Die mittlere Ko-
mödie, die sich viel weniger frei bewegt, hatte keinen Anlafs, die
Mittel der Darstellung zu vermehren, wie die jüngsten Arbeiten des
Aristophanes, die Ekklesiazusen und der Plutos, beweisen, welche
bereits dieser Epoche angehören. Die neuere Komödie zieht sieb
zwar in einen eng umschriebenen Kreis zurück, allein da sie vor-
zugsweise verwickeitere Handlungen liebt, könnte man vermuthen,
es sei eine Vermehrung der Schauspieler eingetreten. Jedoch hat
293) Der alte Myllus wird als Schauspieler und Dichter bezeichnet. Kra-
tinus dagegen bediente sich des Krates als Darsteller. Dafs Aristophanes in
den Rittern selbst eine Rolle übernahm, ist nur ein Mifsverständnifs unwissen-
der Erklärer.
294) Ileoi xcJftcoSiai IX a 16: ol iv t^ I^ttix^ tiqcüxov oiarTjaäfiEvoi z6
knijrßtvfia xr^t xoifiioSiaa — r,aav Sa oi Tie^i 2!ovaaQiiova — t« 7(o6ac07ia
ainxTCos eiatiyov . . . 'ETityevofievos Ss K^axTvos x«Tf'ffT»7<Te fiiv tiocötov xi iv
xf, xoificoSia TtQÖacoTia fidxQi- xqiwv. Dies wird bald, nachdem Sophokles den
dritten tragischen Schauspieler hinzugefügt hatte, geschehen sein.
295) Der Triballus spricht übrigens nur ein Paar barbarische Worte.
86 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
eine solche Neuerung wenig Wahrscheinlichkeit^*'), da sonst die
Dichter dieser Epoche an dem üherliel'erten Organismus des Dramas
nichts Wesentliches geändert haben. Erst die römischen Lustspiel-
dichter fügten zwei weitere Darsteller hinzu. Für die Komödie des
Plautus und Terenz ist die Fünfzahl Norm'^''^), und man reicht nicht
einmal überall aus. Wie es die älteren römisclien Tragiker hielten,
ist unbekannt. Da indes auch in Rom beide Gattungen der drama-
tischen Poesie in solchen äufserhchen Dingen gleichen Schritt hal-
ten, dürfen wir wohl auch hier die Fünfzahl voraussetzen.^"*) Da-
296) Euanthius (Terentius cd. Zeune 1774 p. XXVI f.) bringt allerdings die
fünf Schauspieler mit den fünf Akten in Verbindung: et ad ulti?num, qui pri-
marum partium, qui xectindarum et tertiarum, qui quartai'um atque quin-
tarum actores essent, distributa et divisa quinquepartito tota est fabula. Allein
dieser Grammatiker hatte eben die römische Bühne vor Augen und brachte daher
ganz äusserlich die fünffache Gliederung des Drama mit der vermehrten Zahl der
Spieler in Verbindung. Von ähnlichen Vorstellungen geht auch der Scholiast des
Cicero in Gaecil. 15 aus. Für die Fortdauer der alten Praxis in der griechischen
Komödie sprechen besonders die Inschriften von Delphi, welche sich auf die
Festfeier der HcoTti^ia (gestiftet nach der Vernichtung der Kelten Ol. 125, 2)
beziehen (Wescher n. 3 ff.). Die Ordnung der Festfeier ist QaxpcoSol, xi&aQiarai,
xi&aQcpSoi (noiTjrai TiQoaoSicov n. 5), TtalSes xo^evrai, avS^se xOQSVTai, aikr}-
xal mit ihrem 8iSäa>caXoe, r^aycoSoi mit ihrem avXrjrrjS und SiSäay.alos, xß>-
ficpSoi mit avkTjzTjS und SiSaaxaXos; den Beschlufs machen xoQsvrai xeo/utxoi
(sieben an der Zahl). Dieser Agon ist offenbar nach dem Muster Athens eingerich-
tet, für drei Tragödien und drei Komödien bestimmt; doch erscheinen zuweilen
nur zwei Dramen der einen Gattung (n. 6 ist das Verhältnifs unklar). Hier ist
die Normalzahl der Schauspieler festgehalten; es sind immer drei r^ayioSoi
und ebensoviel xcoficoSoi. War einmal ein vierter Darsteller nöthig, so wurde
er offenbar der Ehre der Aufzeichnung nicht gewürdigt. Bezeichnend ist, dafs
die Schauspieler immer voranstehen ; dann folgt der Componist (avXrjTi^), zu-
letzt der SiSaaxaXos, nicht der Verfasser, sondern der, welcher das alte Stück
einübt, der sogenannte vTioSiSäaxnXos. Denn offenbar wurden in dieser Zeit,
wo die literarische Produktion immer mehr abstarb, in Delphi keine neuen
Dramen aufgeführt.
297) Diomedesp. 490K.: In Gracco dramate fcre tres persoiiae solae agunt,
at latini scriptores amplures porsonas in fabulas introdua-erunt, ut
speciosiores frequentia facerent. Das Verfahren der römisclien Bearbeiter, die
einzelne Scenen aus anderen Dramen einflochten, (die sogenannte contaminatio)
war darauf sicher nicht ohne Einflufs. Den vierten Schauspieler erwähnt Cicero
In Gaecil. 15.
298) Auch spricht Diomedes ganz allgemein vom Drama. Die Vorschrift
des Horaz (A. P. 192) ist nicht entscheidend; er verlangt nur, dafs in einer
Scene sich nicht mehr als drei am Dialog betheiligen dürfen.
DIE DRAMATISCHE POESIE. ELNLEITCÄG. 87
gegen hält sich Seneca wieder streog an die Regel der griechischen
Bühne.
Aiifser den Schauspielern waren auch Statisten erforderhch, für
welche der Choreg zu sorgen verpflichtet war. So traten in der
Tragödie gemäfs der herrschenden Sitte fürstliche Personen in der
Regel mit Gefolge auf.^) Nicht selten nimmt eine untergeordnete
Buhnentigur auch an der Handlung, aber nicht am Dialoge Theil.^)
Solche stumme Personen, welche schon bei Aeschylus und Sopho-
kles auftreten, kommen häufiger in den figurenreichen Dramen des
Euripides, besonders aber bei Aristophanes vor.
Dafs z\\ischen den drei Schauspielern eine gewisse Rangord-
nung und Abstufung stattfand, beweisen schon die herkömmhchen
INamen der Protagonisten, Deuteragonisten und Tritagonisten. Als
sicher darf man annehmen, dafs die Hauptrolle als die schwierigste
und meist auch umfangreichste dem Protagonisten zufiel^'}; denn
es ist gewifs irrig, wenn man meint, der Protagonist habe stets die
Titelrolle gespielt*^) oder den Charakter dargestellt, der unsere
Theilnahine am meisten in Anspruch nimmt. Im Agamemnon des
Aeschylus hat sicherhch der erste Schauspieler nicht den König,
sondern die Klytämnestra übernommen*"); denn wenn man behaup-
299) doQvtpöqrifia ist der allgemeine Ausdruck für dies Gefolge, selbst
in der Komödie, weil junge lanzentragende Krieger den Fürsten begleiten.
300) Daher der Ausdruck xöjyö»' rrooffa>;rov. Bei Diomedes p. 491K. : ideo-
que Horatius ait: ne quarta loqui persona laboret, qi/ia quarta setnper muta
e^t; man mufs vielmehr quinta schreiben.
301) Der Protagonist war daher nicht selten fortwährend auf der Bühne,
daher der Schol. Cic. in Caecil. 15: est persona primarum pai'tium, quae sae-
pius acta regreditur, seeundarum et tertiarum, quae minus minusque pro-
cedunt.
302) Aeschines gab als Tritagonist im Oenomaus des Sophokles die Titel-
rolle. Dafs der Titel des Stückes nicht mafsgebend war, beweist Terenz, der
den Namen des griechischen Stückes in Phormio umwandelt Prol, 27: quia pri-
mas partis qui aget, is erit Phormio Parasitus per quem res geretur maxume.
Per griechische Titel war eben dem Publikum nicht recht verständlich, daher
wird der Name der Hauptperson subslituirt. In der neuen Komödie fällt die
Hauptrolle häufig dem intriganten Sklaven zu.
303) Ganz unglücklich ist der Gedanke, dafe in einer Tetralogie derselbe
Schauspieler immer dieselbe Person dargestellt habe, wie in der Orestie des
Aeschylus die Klytämnestra, die in allen drei Dramen auftritt, so dafs man
dann diese Rolle überall dem Tritagonisten hat zutheilen wollen.
88 «RITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V, CHR. G.
tet, dafs Frauen rollen wegen ihrer mehr passiven Hallung dem
Deuleragonisten zugefallen seien, so ist dies in solcher Allgemeinheit
nicht zutreffend. Nicht nur bei Euripides, sondern auch l)ei Sopho-
kles tritt uns in weiblichen Charakteren ein hochgesteigerles Palhos
entgegen. Die Darstellung der Elektra, der Antigone und Deiaueira
des Sophokles wird man unzweifelhaft dem ersten Darsteller anver-
traut haben. Dem Deuteragonisten fallen in der Regel die Rollen
zu, welche dem Hauptcharakter am Nächsten stehen, sich mit ihm
freundlich oder feindlich berühren. Der Tritagonist übernahm ge-
wöhnlich eine Reihe kleinerer Rollen^"'); allein auch dem ersten
und zweiten Schauspieler wurden nicht selten Nebenrollen zuge-
wiesen. Der Tritagonist mag häufig ein Anfänger gewesen sein ;
allein deshalb darf man von seinen Aufgaben nicht so geringschätzig
denken, wie gewöhnlich geschieht, wenn man meint, er habe die
Rollen gespielt, an denen nicht viel zu verderben war.^°*) Im Phi-
loktet des Sophokles erfordert die Darstellung des Odysseus einen
ebenso tüchtigen Spieler, wie die des Philoktet; seine Aufgabe ist
sogar schwieriger als die Rolle des Neoptolemos. Wenn dem Trita-
gonisten häufig die Rolle des Königs zufiel, so war es doch nicht
eine allgemein gültige RegeP°°), sondern es kommt auf die Stellung
304) Der Deuteragonist* und Tritagonist ordnen sich dem ersten Schau-
spieler unter, mäfsigen ihre Stimme und suchen sich nicht über Gebülir geltend
zu machen, Cicero in Caecil. 15. Der tragische Schauspieler Theodorus war
so eifersüchtig, dafs er immer zuerst auf der Bühne auftrat, weil er die Em-
pfindlichkeit des Publikums für erste Eindrücke kannte (Arislot. Polit. VII 17
p. 1336 B 28); er wird in diesem Falle wohl auch noch die Rolle eines TiQoranxcv
TiQoaoiTtov übernommen haben. So wird dieser Schauspieler in der Elektra des
Sophokles, wo er sicherlich die Hauptrolle der Elektra übernahm (Polus spielte
ebenfalls diese Rolle, Gellius VI 3), seinem Grundsatze gemäfs im Prolog auch
die Rolle des Pädagogen gegeben haben, vgl. Plutarch Qu- Symp. IX 1, 2 (wo
ttxrjaae auf den Protagonisten hinweist).
305) Die Aeufserungen des Demosthenes in der Rede vom Kranze oder
der Truggesandtschaft sind nicht mafsgcbend, da er mit sichtlicher Gering-
schätzung die Vergangenheit seines politischen Gegners behandelt; auch trat
ja Aeschines nicht im Theater zu Athen auf, sondern war Tritagonist bei einer
wandernden Truppe. Wenn PoUux IV 124 den Tritagonisten svreXi'araroi'
:xQÖatonov nennt, so versteht er darunter gar nicht die Rangordnung der Schau-
spieler, sondern die verschiedene Lebensstellung im Drama. Bei Pollux ist der
König der Tx^oraytovicrriS, während er auf dem Theater häußg durch einen
Tritagonisten dargestellt wurde.
30Ü) Man legt ungebührliches Gewicht auf die Aeufserung des Demosthenes
DIE DRAMATISCHE POESIE. EI>LEITU>G. 89
ao, welche diese Figur in der dramatischen Handlung einnimmt, und
wenn Kreon in der Antigone des Sophokles dem dritten Schauspieler
anvertraut wurde, so lag gerade bei diesem Charakter, den der Dich-
ter nicht eben mit besonderer Gunst behandelt hatte, dem Darsteller
ob, diese Schwierigkeiten durch seine Kunst zu überwinden. Wir
vermögen überhaupt nicht in jedem einzelnen Drama mit Sicher-
heit die verschiedenen Rollen unter die drei Schauspieler zu ver-
theilen.*") Der Dichter wies nach eigenem Ermessen mit Rücksicht
auf individuelle Regabung oder Neigung, so weit es die Anlage des
Dramas gestattete, jedem Einzelnen seine Aufgabe zu. Es ist wohl
denkbar, dafs ein Schauspieler auf gewisse Rollen einen Anspruch
machte, und der Dichter mochte solchen Forderungen gegenüber
nicht immer leichten Stand haben, aber ein einträchtiges Zusammen-
spielen, die rechte Totalwirkung wäre unmöglich gewesen, wenn der
einzelne Schauspieler mit Rerufung auf seinen Rang befugt gewesen
wäre, bestimmte Rollen zu fordern oder abzulehnen. Aufserdem wird
man bei wiederholten Aufführungen öfter die Vertheilung der Rollen
abgeändert haben.*^)
de f. leg. 247 : et> anaai roXs S^duaai toTs roayiy.oTs i^aiQeröv eaxiv c^otiso
VEQaS rois rQizaycoviaiais ro rois ivQavvcniS xai rovs ra oxr^rtroa e^ovras
slauvai. Nach der richtigen Bemerkung des luba in den d-ear^ixai lazo^iat
fielen diese Rollen meist dem dritten Schauspieler zu, insiSr] ^ttov iari na-
■d'TjTtxt xai vTie^oyxa.
307) Daher weichen auch die Versuche der Neueren, Genaueres zu er-
mitteln, oft weit von einander ab. Nur selten liegt eine bestimmte üeber-
lieferung vor, und diese ist gewöhnlich solchen Hypothesen nicht günstig. Im
Orestes des Euripides hat man die erste Rolle der Elektra zutheilen wollen,
aber wir wissen durch das Zeugnifs des Komikers Strattis fr. 1, Com. II 2, 763,
dafs vielmehr die Rolle des Orestes dem Protagonisten Hegelochus zugetheilt war;
denn er sprach V. 279, wie wir durch Aristophanes erfahren. Strattis aber tadelt
den Archon, dafs er durch die schlechte Wahl der Schauspieler besonders der
Wirkung der melischen Partien Eintrag gethan und den Genufs der Euripideischen
Tragödie gestört habe. Nun hat aber Orestes gar nicht zu singen; wahrscheinlich
übernahm Hegelochus auch die schwierige Gesangspartie des Phrygers, so dafs
ausnahmsweise die Rolle des Orestes unter zwei Darsteller vertheilt werden
mufste. Aehnlich verhält es sich mit den Phönissen. Ein Schauspieler gab die
lokaste und die Antigone (s. Schol. V 93) ; folglich mufs in der Scene, wo Mut-
ter und Tochter zusammen auftraten, die Rolle der Antigone einem anderen
Spieler übertragen worden sein.
308) Besonders in späterer Zeit, wo talentvolle Schauspieler wohl manch-
mal absichtlich den Boten spielten oder eine andere untergeordnete Rolle über-
nahmen, Plutarch Lvs. c. 23,
90 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Das Verhältnifs zwischen Schauspieler und Dichter war anfangs
ein ganz nahes, persönhches. Der Dichter bildete den Schauspieler
als seinen Gehülfen heran und verwandte ihn, wenn er sich bewährt
hatte, regelmäfsig in seinen Stücken. So konnte der darstellende
Künstler sich ganz in die Weise und Gedankenwelt des Dichters
einleben; er war ein vertrauter Freund und Genosse des Meisters.
Als Aeschylus den zweiten Darsteller einführte, übertrug er dem
Kleander die Nebenrollen; später nahm er den Myniskus aus Chalkis
hinzu.^^) Seitdem Aeschylus sich an der Aufführung nicht mehr
beiheiligte, wird er den älteren Gehülfen als Protagonisten, den an-
deren als Deuteragonisten verwendet haben. Ebenso hatte der Ko-
miker Kratinus an Krates, der sich später der Komödiendichtung
zuwandte, einen erprobten Darsteller seiner Dramen. So erscheint
auch die Ueberlieferung, dafs Sophokles, wenn er seine Tragödien
ausarbeitete, dabei die EigenthUmlichkeil der Schauspieler berück-
sichtigte, denen er bestimmte Rollen zudachte, vollkommen glaub-
würdig*'"); nur wird man dies auf die frühere Lebensperiode des
Tragikers beschränken müssen.
Indem die Dichter sich von der Aufführung zurückzogen , trat
eine gewisse Entfremdung ein. Die Schauspieler bilden eine selb-
ständige Zunft, erlernen und üben ihre Kunst berufsmäfsig aus. Die
Verdoppelung der scenischen Spiele seit Perikles erforderte zahl-
reiche Darsteller, und die jüngeren Dichter, welche jetzt neben den
anerkannten Meistern auftraten, mochten es schwer empfinden, dafs
jene über bewährte Künstler verfügten, während sie zumeist auf die
Unterstützung von Anfängern angewiesen waren. Die gesetzlich
bestehende Form des dramatischen Wettkampfs verlangte vollständige
Gleichheit; um dieser Forderung zu genügen, vertheille man später
die Schauspieler durchs Loos an die Dichter.'") Die Schauspieler inel-
309) Biographie des Aeschyhis.
310) Biographie des Sophokles.
311) Photius und SuidaslI 1, 954: vefirjoets vnoxQnöiv oi noirjrai iläftr
ßavov iQtls vnoxQtrae xXrqy vsfirj&dvrae vnoxQivofitvovs t« S^dftara, cav o vi-
xi^aaeeie rovntov äxQiroe naQaXafißnvBxm. Wann diese Acnderung eingeführt
ward, ist nicht festzustellen. Im peloponnesischen Kriege inufs die alte Sitte be-
reits beseitigt gewesen sein. Daher werden jetzt auch nicht mehr Schauspieler
in Verbindung mit bestimmten Dichtern genannt; denn es ist nur ein Irrthum,
wenn Thomas Magister den Kophisophon als Schauspieler des Euripides be-
zeichnet. >\'enn Tlepolemus und Kleidemides Schauspieler des Sophokles heifsen,
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITUNG. 91
deten sich beim Archon. Dieser traf eine Auswahl; jedoch fand vorher
eine Art Prüfung slatt.^'^) ^Ver in einem Stück mitgewirkt hatte, wel-
ches den ersten Preis erhielt ^'^), war für die Zukunft von der Probe
befreit. Die Verloosung fand wohl in der Art statt , dafs der Dichter,
der das erste oder zweite Loos zog, aus jeder der drei Rangklassen
der Schauspieler sich einen Darsteller wählte ^*^), während es für den
dritten keine freie Wahl mehr gab. Die Schauspieler erhielten für
ihre Leistungen vom Staate ein Honorar^*^); wie hoch es sich be-
lief, ist unbekannt. Wenn Polus oder Aristodemus für zwei Tage
ein Talent empfing, so wissen wir nicht, ob sich dies auf Athen
bezieht.''^ Aber es läfst sich denken, dafs man in jener Zeit, um
so sind dies nur schlechte Erfindungen des Scholiasten zu Aristophanes Wölk.
1264 und Frösche 791. Pleisthenes heifst nur deshalb Schauspieler des Kar-
kinus, weil er in dem Ajas dieses Dichters auftrat (Miller Melanges de litter.
Grecque S. 355).
312) Diese Prüfung darf man nicht mit dem Proagon verwechseln.
313) Der Ausdruck o vmi^aas bei Photins bezeichnet offenbar nicht blofs
den Protagonisten, sondern jeden der drei Schauspieler.
314) Wenigstens verfuhr man so bei den kyklischen Chören, wo der
Choreg sich den Cnmponisten wählen durfte, Demosth. Mid. 13. (S. Bd. II S. 504
A. 20.) Der Archon hatte vorher zu bestimmen, welche Schauspieler als Prota-
gonisten u. s. w. beim Agon mitwirken sollten. Wenigstens beklagt sich Strattis
fr. 1, Com. 112, 763 über das Ungeschick des Archon: EiotniSov Si Sgäfia 8s-
^närarov Siixvaia^ 'Ooe'azTjv, HyiXoxov rov Kivväoov uia&coaäuevos ra TTocÜTa
rwv htcäv )^yeiv. Freilich scheint es mifslich, dem Archon eine solche Ent-
scheidung anzuvertrauen. Vielleicht war es Sitte, dafs der Protagonist sich nach
eigener Wahl mit zwei Kunstgenossen verband und sich mit diesen beim Ar-
chon meldete, so dafs die Behörde nur über die Zulassung der drei Prota-
gonisten oder, wenn man will, der drei Schauspielergesellschaften entschied.
315) Strattis fr. 1, daher auch in einem sehr jungen Zusätze der Bio-
graphie des Aeschylus: ovs xai to xoiv'ov exQetpev. Sehr mit Unrecht hat man
behauptet, nur der Tritagonist habe ein Honorar erhalten, aber Demosth. de
cor. 262 geht gar nicht auf die öffentlichen Spiele, sondern auf Privatunter-
nehmungen, wo man den dritten Schauspieler mit kargem Lohne abfinden
mochte, während die Unternehmer sich in die Einnahme theilten. Auf dies Ver-
häitnifs zielt auch Plutarch praec. reip. ger. 21, 3.
316) Gellius XI 9, Plutarch Leben der 10 Redner Demosth. 66. Dafs der Beruf
der Schauspieler sehr einträglich war, bezeugt Isoer. de antid. 157. Da später
die Schauspieler von allen Seiten in Anspruch genommen wurden und manch-
mal wohl ihre Zusage nicht hielten, mufsten sie Bürgschaft für ihr rechtzeitiges
Erscheinen stellen, s. Aeschines de f. leg. 19, wo die Athener sich für Aristo-
demus um Erlafs der Geldstrafe verwenden, die ihn traf, weil er verhindert
war, sein Versprechen zu erfüllen. Ebenso zahlte Alexander (Plut. Alex. c. 29)
92 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Künstler von Ruf zu gewinnen, welche auswärts überall Gelegenheit
zu einer gewinnreichen Thäligkeit fanden, selbst weitgehende Forde-
rungen gewähren mufste. In den öffentlichen Urkunden wurde auch
der Name des Protagonisten verzeichnet,^")
Die Schauspieler waren grofsenlheils Athener von Geburt; doch
schlofs man nicht grundsätzlich Ausländer von der Ausübung dieser
Kunst aus.^'*) Der tüchtige Künstler war jeder Zeit geachtet, wenn
schon der Stand im Allgemeinen sich keines sonderlichen sittlichen
Rufes erfreuen mochte.^''^) Die Schauspieler in Athen und die ande-
ren bei den dramatischen Aufführungen mitwirkenden Künstler bil-
den eine eigene, mit besonderen Vorrechten ausgestattete Corpora-
tion.^*") Sophokles scheint den Grund zu dieser Vereinigung gelegt
zu haben.^*') In der Zeit des Demosthenes und Aristoteles war die
für Athenodorus die Bufse, als er in Athen an den Dionysien nicht mitwirken
konnte.
317) Nicht blofs in dem Falle, wo die Aufführung den ersten Preis davon
trug, sondern ganz allgemein. Aber natürlich kam die Ehre des Sieges vor
allem auch dem Protagonisten zu gute, der wesenüich zu diesem Erfolge mit-
gewirkt halte; daher bemerkt der Schol. Aesch. de f. 1. 15 von Aristodemus:
ivixa Sie ivil Arjvaicav {ylrjvaico).
318) Myniskus, der Schauspieler des Aeschylus, stammte aus Chalkis,
Aristodemus aus Metapont ; doch hat dieser vielleicht später das attische Bür-
gerrecht erworben.
319) Aristot. Probl. 30, 10 p. 956 B 11 ff., wo der Grund in den schroflfen
Gegensätzen drückender Armulh und rasch erworbenen Reichthums gefunden
wird ; dazu kam später das unstete Wanderleben. Uebrigens indem keine Frau
sich der Bühne widmen durfte, weil dieser Beruf mit dem Begriffe weiblicher
Sittsamkeit unvereinbar erschien (anders in der spälrömischen Zeit, Donat zu
Ter. Andr. IV 3), wurde schon dadurch manch unsittliches Element ferngehalten.
320) Ol TVEQi JtSvvaov le^vlrai nannten sie sich selbst, aber der Volkswitz
zog JiowaonöXaxES vor, Aristot. Probl. 30, 10 956 B 11, Rhet. III 2 p. 1405 A 23,
Athen. XII 538 F, aber X435E ist Jiowai.ox6Xaxss zu schreiben.
321) Vita Soph. : yjjat 8e "laxQOS ... tais Si Movcais d'iaaov ix rcäv
nenatSevfiivuv awayayeiv. Dafs auch später dramatische Dichter der Corpora-
tion angehörten, zeigen die Inschriften. Ueber die attische Genossenschaft ver-
gleiche besonders die Inscliriften Philol. 24, 637 (Wesclier Mon. bilingue de
Delph. 202). Später bildete sich eine ähnliche Genossenschaft indem ionischen
Teos GIG. 3045 fl. (der Dionysusdiensl und ein äyojv, natürlich kein dramatischer,
bestand hier seit Alters, wie die Inschrift 11 3044 [Roehl 497, 32, s. S. 17 A. 48],
lehrt), die nachher nach Lebedos ihren Sitz verlegte; aufserdem gab es noch
andere minder bekannte. Das wichtigste Privilegium war der freie ungehinderte
Verkehr, den diese ihrem Beruf nachgehenden Künstler unter dem Schulze der
Amphiktyonen, später der Aetoler und Römer genossen. [S. Philo!. 43, 233.]
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITUNG. 93
Genossenschaft schon vollständig organisirt und öffentlich anerkannt,
so dafs sie in ihren Angelegenheiten mit den Amphiktyonen durch
Abgeordnete verhandelt. Man sieht deuthch, wie die dramatischen
Spiele damals eine nationale Angelegenheit waren, welche das all-
gemeine Interesse in Anspruch nahmen.
Noch bei Lebzeiten des Sophokles und Euripides treten nahm-
hafte Künstler auf, wie Rallipides, Nikostratus und vor allem Polus
der Aeltere, der als der bedeutendste Künstler dieser Epoche er-
scheint. Nach dem Abscheiden der grofsen Tragiker tritt mit dem
Rückgange der Poesie die Theilnahme für die darstellenden Künst-
ler in den Vordergrund; daher hat der Zeitraum vom Ende des
peloponnesischen Krieges bis auf Alexander den Grofsen eine un-
gemeine Zahl berühmter Schauspieler aufzuweisen^), und man
pflegt diese Periode als die eigentliche Blüthezeit der Schauspieler-
kunst zu betrachten. Wer das Verdienst nur nach dem Erfolge
und der Anerkennung zu beurtheilen gewohnt ist, könnte wohl ge-
neigt sein , die Leistungen dieser Künstler weit über die der frühe-
ren zu setzen. Denn Schauspieler von Ruf, deren Thätigkeit von
allen Seiten her in Anspruch genommen wurde, genössen das höchste
Ansehen, wurden sogar in öffentlichen Geschäften vorwendet oder
trieben wohl auch auf eigene Hand Pohtik. Diese vielbewunderten
Virtuosen waren eben gleich willkommen an Fürstenhöfen wie in
Freistaaten. Allein darin giebt sich eher ein Zeichen des Verfalles
zu erkennen, lehrt doch eine wohlbeglaubigte Erfahrung, dafs die
Zeit der grofsen dramatischen Dichter in der Regel auch die vor-
zügUchsten Bühnenkünstler erzeugt. Auch in Athen nahm damals
offenbar die Virtuosität der Schauspieler zu, während die echte Kunst
immer seltener ward.^') Der Darsteller stand jetzt höher in Ansehen
322) Jedoch vorzugsweise tragische Schauspieler (r^a'/cpSoi), wie Aristo-
demus und Neoptolemus, Athenodorus und Thessalus, um andere zu äbergehen;
von Komikern ist nur Satyrus zu nennen, der nicht nur ein Mann von red-
licher und patriotischer Gesinnung, sondern auch ein tüchtiger Künstler war.
323) Aristot. Poet. 26, Rhet. Uli. Der nachtheiiige Einflufs, den diese
Bühnenkünstler auf die dramatische Poesie ausübten, wird Poet. 9, 10 p. 1451 B
35 ff. angedeutet: roiavTai 8s {ineiaoStcöSsts rQayc^Biai) notoivrai vnb fiev
räv (paiXcov rcoir^räv 8i^ airois, vtto Si rcäv dyad'cäv Su xovs vjtox^tTccS'
aycoviafiara yao noiovvxsi xai naga z^v Bvvafiiv ncc^areivavree /tv&ov 7fO/L-
?Mxte Siaaroitpeiv avayxot^ovTai ro ifs^r^s.
94 DRITTE PERIODE VOxN 500 BIS 300 V. CHR. G.
als der Dichter. Die Poesie wie die Schauspieler sind von den Launen
und Neigungen des Publikums abhängig und sinken gleichmäfsig.
Die Leistungen einer so persönlichen und für augenblickliche
Wirkung bestimmten Kunst sind die vergänglichsten. Was die grie-
chischen Schauspieler mit den ihnen zu Gebote stehenden Mitteln
der Darstellung leisteten, läfst sich nicht genau feststellen. Der be-
deutende Umfang des Theaters, sowie der Gebrauch der Masken
legte gewisse Beschränkungen auf. Der Schauspieler mufste auf den
Ausdruck der Empfindungen in Blick und Gesicht verzichten, aber
auch die feineren Nuancen in der Stimme und Haltung waren bei
der grofsen Zahl der Zuschauer und den weiten offenen Räumen
nicht gut anwendbar. Indem Frauenrollen durch Männer gegeben
wurden, litt die feinere Darstellung weiblicher Charaktere nothwendig
Einbufse.
Vortrag und Modulation der Stimme, Gang, Bewegung und
Haltung ward wesentlich durch den Charakter der Rolle bedingt;
denn der Sinn für das Angemessene und Schickhche, der überall die
Schöpfungen der hellenischen Kunst auszeichnet, verläugnet sich auch
hier nicht, und das altische Pubhkum war gebildet genug, um jeden
noch so geringfügigen Verstofs wahrzunehmen und unnachsichthch
zu rügen. Noch viel stärker machte sich der Unterschied zwischen
Komödie und Tragödie geltend. Hier herrschte in Sprache und Be-
nehmen das Pathetisch-Deklamatorische vor. Das Lustspiel neigt zu
possenhafter Uebertreibung und Carikatur hin, ein Element, was
selbst die neuere Komödie wohl niemals ganz überwunden hat. In
der Tragödie waren Sprache und Haltung in vollständigem Einklänge.
Der schwerrällige Gang auf dem Kothurn, die reichen Gewänder, der
starre Gesichtsausdruck der Maske verlieh der Darstellung etwas Ge-
messenes; nur wo das Pathos sich steigerte, mochte alles mehr einen
gewahsamen Charakter annehmen. Der weite Raum, den der Schau-
spieler mit seiner Stimme bewältigen mufste, gestattete ihm nicht
so rasch zu sprechen, wie es im täglichen Leben, zumal bei einem
so lebhaften und leicht erregbaren Volke Brauch war. Daher war
die Recitation der Verse selbst in leidenschaftHch bewegten Stellen
gehalten ; daher eignete sich auch vorzugsweise das knappe Mafs des
iambischen Trimeters für den Dialog der Tragödie. Die Komödie
bewegt sich mit gröfserer Zwangslosigkcit, ist aber doch durch die
gegebenen Verhältnisse gleichfalls eingeschränkt. Es war eben alles
DIE DRAMATISCHE POESIE. E1>LEITL>G. 95
ao eine gewisse Regel gebunden , beruhte auf künstlerischer Conven-
tion. Es gilt dies vor allem von der Tragödie. Nicht das wirkliche
Leben führte man mit Naturwahrheit vor, sondern ein veredeltes
Abbild. Aber auch in der Komödie herrschte nicht die rohe Natür-
lichkeil. Bald jedoch sagten sich einzelne talentvolle Schauspieler
von diesem Conventionellen Wesen los und suchten durch ein mehr
realistisches Spiel mächtige Wirkungen zu erzielen, wie Rallippides,
ein Zeitgenosse des Sophokles und Alkibiades, der stolz darauf war,
das Publikum bis zu Thränen zu rühren.^")
Glückliche Naturanlage ist bei dem darstellenden Künstler die
Hauptsache. Statthcher Wuchs und Anmuth der äufseren Erscheinung
gereichte zu besonderer Empfehlung; aber vor allem wurde auf ein
kräftiges und zugleich wohlkhngendes Organ gesehen.^^^) Es galt, die
Bewegung des Gemüthes, den Ausdruck der Leidenschaften, wenn
man die beabsichtigte Wirkung erreichen wollte, in stark betonter
Rede, mit ausdrucksvollen Geberden, in scharfen Contrasten darzu-
stellen. Ein jedes Talent will entwickelt und gebildet werden. Der
dramatische Dichter, indem er das Einstudieren seiner Stücke per-
sönUch überwachte, gab dem Schauspieler die nöthige Anleitung.
Durch die Tradition bildete sich allmählich ein zusammenhängendes
System von Regeln, und später unterwiesen bewährte Schauspieler
nicht nur Anfänger in dieser Kunst, sondern auch wer öffenthch
als Redner auftreten wollte, wie Demosthenes, benutzte diesen
Unterricht. Die Versuche des Aeschines auf der Bühne waren die
beste Vorschule für seinen künftigen Beruf als Redner.
Aus den Mummereien des Dionysusfestes ging das Drama her- Masken und
vor. Wer eine fremde Gestalt annahm, suchte sein Vorbild auch in ^°''"'" ^®''
Scnauspie-
den Gesichtszügen möglichst wiederzugeben oder doch sein Antlitz ler.
unkenntlich zu machen. So ist auch die Maske für den dramatischen
Chor, wie für die Schauspieler unentbehrlich ^^J, übernahm doch
324) Xenoph. Symp. 3, 11. Myniskus, der Schauspieler des Aeschylus, der
noch das Auftreten und die Erfolge des jungen Kallippides erlebte und an den
strengen Sül der früheren Zeit gewöhnt war, nannte ihn geradezu einen Affen
(Arist. Poet. 26 p. 1461 B 34).
325) KaXUcpojvoi vTtoxQtrai Plato Leg. 817 C, Diodor XV 7, 2, toqov xal
yeycovbv fcövrjjua Alkiphron HI 48. Ueber Theodorus, der seine Stimme so in
der Gewalt hatte, dafs er sie jedes Mal dem einzelnen Charakter anzupassen
verstand, s. Aristot. Rhet. III 2 p. 1404 B 22.
326) Ueber Masken und Kostüme verdanken wir das Beste der zusam-
96 DRITTE PERIODE VON 500 RIS 300 V. CHR. G.
der Darsteller auf der Bühne oft nach einander ganz verschiedene
Rollen. Die Macht der überlieferten Sitte war so grofs, dafs es ge-
radezu für unschicklich galt, sich ohne Maske blicken zu lassen.'''^
Aufserdem leistet die Maske dem Schauspieler einen wesentlichen
Dienst, indem sie die Stimme verstärkt.'") Die Maske ist nicht
etwa erst aufgekommen, seit Phrynichus Frauenrollen aufl)rachte.'''*)
Schon Thespis bediente sich, wenn er auftrat, einer Linuenmaske,
ebenso Choerilus^), aber erst durch Aeschylus ward dieselbe ver-
voUkommnet.'^')
Die Maske, später gewöhnlich aus Holz gefertigt, bedeckte nicht
nur das Gesicht, sondern den gröfsten Theil des Kopfes und machte
mit den starren, aber scharf ausgeprägten Zügen, den grofsen Augen-
höhlen und dem weiten Munde einen eigenartigen, fast unheimlichen
Eindruck.^^'') Diese Masken stellen gemäfs der EigenthUmlichkeit
menhängenden Darstellung bei PoUux IV 133 fr. (wohl hauptsächlich beruhend auf
der Schrift des Grammatikers Aristophanes ne^i nooGcöncov, welche wohl alle
Gattungen des Dramas berücksichtigte; von dem Grammatiker Sellius mit dem
Zunamen Homer erwähnt Suidas II 1, 1109 eine Schrift ns^l ycofiixcöv nQoa-
cöncov), einiges dem Donat. Dazu kommen scenische Darstellungen auf Bild-
werken, sowie die Zeichnungen in den Handschriften der Komödien des Terenz,
die zunächst zur Instruktion für dramatische Aufführungen bestimmt waren,
327) Theophrast Char. c. 6: ö^fj^eiff^"«* vrjfcov rov xöqSaxa nQoaanelov
ovx k'xcov iv xMfiixq^ XOQV- Demosth. de fals. leg. 287 : iv raXs nofinaie ävev
rov TtQoacoTtov xcofia^ei.
328) Der tiefe Klang der Stimme, der besonders die Tragöden (ßaQvfou-
voi) charakterisirte, wird vorzugsweise der Maske verdankt. Erst die Römer
liefsen die Maske fallen und gaben dem Schauspieler Gelegenheit, die Kunst
des Mienenspieles zu entwickeln. Die veränderte Einrichtung des römischen
Theaters, wo die Orchestra zu Sitzplätzen verwendet ward und die Zuschauer
näher an die Bühne heranrückten, war darauf gewifs nicht ohne EinfluCs.
329) Allerdings mochte hier die Maske besonders noth wendig sein, da
hinsichtlich der Haartracht u. s. w. beide Geschlechter in der Tragödie sich nur
wenig unterscheiden, Servius Verg. Aen. X 832.
330) Suidas 0Ea%a I 2, 1 172 und XoiqIXos II 2, 1691. In alter Zeit verhüllte
man sich bei Aufzügen das Gesicht mit Laub und Blättern oder behalf sich mit
Schminke; in der Komödie erhielt sich die letztexe Sitte längere Zeit.
331) Daher wird er gewöhnlich als Erfinder der tragischen Masken bezeich-
net, Horaz A. P. 278 personae repcrtor, Suidas I 2, 65 : evqe TtQoacunBTn Seiyn
xai xQtü/iaai xexQKTfievn.
332) Dazu kommt die oft grelle Färbung der Maske, in der Komödie die
verzerrten Gesichtszüge. Daher nannte man die Masken auch /toQuoXvxeXn, bei
Aristophanes {f^Qae fr. IS [187 01.]) fragt einer, wo das Jtorvoiov liege, und
DIE DRAMATISCHE POESIE. EKNLEITOG. 97
der dramatischen Poesie der Hellenen, welche sich in einer gewissen
Allgemeinheit hält, nicht sowohl Individuen dar, sondern es sind
typische Formen für bestimmte Klassen nach Mafsgabe des Alters
und Geschlechtes, der Lebensstellung oder des Charakters.^^) Durch
das carikirt Uebertriebene unterschieden sich die komischen Masken
von der mafsvoUen Haltung der idealen Tragödie. Bemerkenswerth
ist, dafs, während die Komödie nur das höhere Alter und die Jugend
kennt, die Tragödie auch das mittlere Alter unterscheidet. Mit ein-
fachen Mitteln, durch die Verschiedenheit der Gesichtsfarbe, wie der
Haartracht, durch die Behandlung der Augenbrauen, die Form der
Nase u. s. w., verstand man feinere Nuancen und charakteristische
Züge auszudrücken.
Götter und Heroen dachte sich die Phantasie der Griechen
gröfser und schöner als sterbliche Menschen, daher auch Aeschylus
die Figuren der Tragödie, welche vorzugsweise jenen Kreisen an-
gehören, durch künsthche Mittel über das Mafs gewöhnlicher Gröfse
hinaushob. Es entsprach dies nicht nur der Richtung der Tragödie
auf das Erhabene und Würdevolle, sondern war auch durch den
bedeutenden Umfang des Theaters geboten, wo dem entfernter Sitzen-
den selbst statthche Gestalten verhältnifsmäfsig klein erscheinen
mufsten. Dazu dient vor allem der Haaraufsatz über der Stirn ^^)
und der hohe Kothurn.^) Um aber die Gestalten nicht allzu schlank
erhält zur Antwort onov t« /io^fiolvy.ela nooaxqsfifiäwxat. Die Maske, das
gewöhnliche Bacchische Attribut, wurde vielfach als Ornament verwendet.
333) Nur die alte Komödie macht eine Ausnahme. Sie hat nur für ge-
wisse typische Figuren ständige Masken ; die lebenden Persönlichkeiten, welche
sie vorführte, suchte man mit möglichster Treue, wenn schon nicht ohne Cari-
katur wiederzugeben, so dafs man sie sofort erkannte, PoUux IV 134, nsgi
xcoficpSias I 19 p. XIV, Aelian V. H. II 13. Als Aristophanes seine Ritter aufführte,
fand er niemanden, der eine ähnliche Maske des gefürchteten Kleon anzufer-
tigen gewagt hätte, s. Ritter 231 f. Inderseiben Komödie, die aufserdem zahl-
reiche grotesk-phantastische Figuren vorführte, war die Thätigkeit des Masken-
machers {(jxevoTioioe) vielfach in Anspruch genommen.
334) Der sogen, öyyos, aber abgestuft nach Mafsgabe der Rolle. Manche
begnügten sich mit einem ßqu^vs oyxos; bei anderen versah das neglxoavov
(eine Kopfbekleidung) diesen Dienst. Die trauernde Jungfrau {xovqi/ios naQ-
d'tvoe, Mie Elektra oder Antigone, vgl. das Epigramm des Dioskorides 2S, 8ff.
Anth. I 252 Jac.) trägt natürlich keinen oyxos, sondern ist eben am geschorenen
Haar kenntlich; andererseits erhallen auch nicht- heroische Figuren diese Aus-
zeichnung, wie der Herold und Bote (afrjvoTKoycov).
335) Der xo&o^os, eigentlich eine lydische Fufsbekleidung (Herod. I 155,
Bergk, Griech. LUeraturgeschichie III. "
98 DRITTE PERIODE VON 500 RIS 300 V. CHR. G.
erscheiDen zu lassen, suchte man durch Auspolstern der Brust und
des Leibes, durch Bekleidung der Arme und ähnliche Mittel"*) ein
richtiges Verhältnifs herzustellen. Ganz besonders trug die Kleidung
der tragischen Schauspieler dazu bei, den Eindruck des Feierlichen
hervorzurufen. Gleich von Anfang an waren buntfarbige prachtvolle
Gewänder in der Tragödie beliebt.^") Diese Gewohnheit stammt aus
den alten Dionysischen Festzügen, dann aber sorgte Aeschylus, wie
er überhaupt die Würde der äufseren Erscheinung hochstellte, für
prächtige Kostüme.^^) Ihm wird namentlich die Einführung des
langen Schleppgewandes verdankt. Später hat Sophokles sich in
ähnlicher Weise um reichere Ausstattung des Salyrchores verdient
VI 125), mag schon bei mimischen Darstellungen im Dionysuscultus gebraucht
■worden sein. Aeschylus fand ihn wohl schon in der Tragödie vor und hat
ihn nur erhöht, und zwar je wichtiger die Person, desto höher war der Kothurn.
Der Kothurn pafst nicht für den tragischen Chor, der sich ungehindert und
leicht bewegen mufste. Die Schuhe der Choreuten hiefsen vielleicht u^ßvXai
(Eurip. Orest. 1470), Suidas aber (unter ^iff;(^Aos I 2, 65) scheint darunter den
Kothurn zu verstehen : rals aQßvXais roTs xaXovfidvoiS i/ußarais )[Qijod'ai. Sehr
häufig wird die Fufsbckleidung der Tragöden ifißarai oder i/ißdSes genannt,
ganz allgemeine Ausdrücke (= Schuhe), und i/ußarat heifsen auch wieder die
niedrigen Schuhe der Komöden (Pollux IV 115), welche die Römer «occj^ä nen-
nen (griechisch avxxos, avxxäs, Pollux VII SO, nach Hesychius eine phrygische
Frucht). Wenn dem Sophokles (Biographie) die Einführung der Xsvxal x^r^nlSei
für Schauspieler und Chor zugeschrieben wird, so handelt es sich nicht um
eine andere Form des Schuhes, sondern nur um die Farbe.
336) Lukian lupiter Iragoedus c. 41 : z« TiQÖacona rüiv d'eöjv aixa xai loie
ifißärae xal TOvS TioS/i^eis x^föJvas xal x^a/ivSas xai ;ij£tpTJaS xai n^oya-
axQiSia xai a eo fidria xai rälka, oli exslvot asftvvvovai xrjv XQayt^Siav.
Vit. Aesch. : xovs vnoxQtxds ;^««^rffi axenuaas xai x(ö av^/uaxi (so, nicht acofia-
xüj} ist zu lesen) iioyxcöaas. Xei^lSss sind nicht Handschuhe, auch nicht Aermel
der Gewänder, sondern Bekleidungen der Arme.
337) Schon Choerilus sorgte für die axevrj xäJv oxoXtäv (Suidas II 2, 1691)
[Bernh. oxtivt'^].
33S) Athen. I 21D: wilaxvXoe i^tvQe xijv xr;e aioXrs tinQtneiav xai ae-
/ir6%r,xa, tjv t,TjXu)aavxBS oi iEQO<pävxai xai SaSoZ^Oi dficfuvwvxai. Aber die
priesteiliche Tracht wird vielmehr Vorbild für den Tragiker gewesen sein, und
man hat wohl richtig ^TjXciaai r]v verbessert. Darauf zielt auch Aristoph.
Frösche 1061, wo Aeschylus sagt, die Halbgötter in seinen Dramen bedienlen
sich hoher Worte, xai yuQ xoiit ifiaxiott rifiöjv ;)j(>tJvT«* noXi) aeftfoxegotct.
Könige trugen auf dem Scepter einen Adler (Aristoph. Vögel 515), wie dies
auch Vasenbilder vergegenwärtigen. Die Sitte, den Fürsten in der Tragödie,
auch dem Achilles und Neoploiemus, ein Diadem zu geben (Donatus), ist wohl
erst in der Diadocheuzeil aufgekommen.
DIE DRA>UTISCHE POESIE. EINLEITUNG. 99
gemacht.^^) Indes pafst dieser Prunk nicht für alle Rollen. Un-
glückliche, wie der entthronte Fürst, der heimathlose Held, die in
Trauer versenkte Jungfrau, trugen auch äufserlich ihr Elend und
ihren Jammer zur Schau.^'°) Ebenso wenig kommt das tragische Ko-
stüm den untergeordneten Personen zu. Der Landmann oder Hirt
erschien in der gewöhnlichen griechischen Bauerntracht, in Schaf-
oder Ziegenfellen ^"); ebenso traten Herolde, Boten und Diener in
der ihrem Stande zukommenden Tracht auf.^*)
Diese Ausstattung des tragischen Schauspiels wird vorzugsweise
dem Aeschylus verdankt, und sie war für die Dramen dieses Dich-
ters, welche ein grofsartiges Bild der alten Heldenzeit vorführten,
durchaus zweckmäfsig. Die jüngere Tragödie, indem sie den hohen
Stil, das feierliche Pathos aufgiebt und mehr und mehr eine moderne
Phvsiognomie zeigt, hätte eigenthch auch den Pomp der Aufführung
ermäfsigen müssen ^^); allein man hielt an dem Hergebrachten fest.
So machten später die Masken und Kostüme der tragischen Schau-
spieler den Eindruck einer völlig fremden Welt.***)
339) Dioskoiides ep. 29 Anth. I 252 Jac.
340) Durch passende Modificationen der Gesichtsfarbe, der Haartracht, der
Kleidung rief man den Eindruck der Erniedrigung und des Unglücks hervor:
öfter deuten die tragischen Personen selbst darauf hin, vgl, Sophokles Oed.
Kol. 1258. Daher wird zuweilen auch ein Wechsel der Maske eingetreten sein.
Im Oedipus Tyrannus erschien der unglückliche Oedipus am Schlüsse des Dra-
mas gewifs in anderer Gestalt als im Eingange, üeberhaupt verstand man
durch passende Attribute die typischen Bühnenfiguren mehr und mehr zu indi-
vidualisiren. Weissager, wie Teiresias, waren kenntlich au einem netzartigem
Ueberwurfe (a/("j»'o»') , Reisende, die aus der Fremde anlangten, trugen den
thessalischen breitkrempigen Hut {Ttäraaos).
341) JKfd-eoias Varro de r. r. U 11.
342) Der afr^voncuycov, der mit dem keilförmigen Barte an Hermes er-
innerte, wurde wohl vorzugsweise als Herold verwendet; neben ihm versah
auch ein jüngerer {aytvEios) die Rolle des Boten. — Aufser den stehenden,
für jede Tragödie unentbehrlichen Masken gab es noch andere, die nur für
eine bestimmte Rolle, einen besonderen Fall hergestellt wurden, i'xaxEva Ttooa-
wna Pollux IV 141 ff., wie der blinde Phineus, der hörnertragende Äktäon, der
Dämon des Todes oder der Raserei {Avaaa\ Flufsgötter, Nymphen, Kentauren
u. s. w., von denen besonders die alte Tragödie vielfachen Gebrauch macht.
343) Einzelnes mag man abgeändert, namentlich gewisse Figuren mehr
individualisirt haben. So trat wohl Odysseus in der Schiffertracht (Donatus sagt
palliatus) auf, die vielleicht zuerst auf der Bühne aufkam, dann von der Ma-
lerei und bildenden Kunst adoptlrt ward.
344) Lukian spottet wiederholt über die seltsame Ausstattung der Tra-
100 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Nicht minder conservativ zeigt sich die Komödie. Jene verzerr-
ten Masken, wie sie uns zahlreiche Bildwerke und Beschreihungen
hinreichend vergegenwärtigen"^), passen nicht recht für den Cha-
rakter der Lustspiele des Menander und Philemon ; sie sind nur für
die mittlere Komödie geeignet, die zur Uebertreibung noch ent-
schieden hinneigt und auch manche Figur von der alten Komödie
überkommen hatte. Für den Haushalt des jüngeren Lustspiels ist
diese Ausstattung ungeeignet. Aber wie man die typischen Cha-
raktere der Vorgänger beibehielt, so auch das Kostüm, und so wird
diese Praxis auch auf das römische Theater verpflanzt. Mehr als
vierzig Charaktermasken, welche für die verschiedenen RoUenßicher
der Komödie vollständig ausreichten^^'"), waren mit so bestimmten
Attributen versehen, dafs man gleich beim ersten Auftreten wufste,
wen man vor sich hatte.^"") Es entspricht dies dem convenlionellen
Wesen dieser Dichtart, aber man erkennt auch das Geschick, womit
die einzelnen Lebensalter, Geschlechter, Stände und Charaktere durch
Gesichtsausdruck, Haartracht, Kleidung sorgfällig von einander ge-
schieden waren; besonders die Wahl der Farbe des Gesichtes, des
Haares, des Kostümes war bedeutsam.^'*)
göden, so de saltat. 27: cos siSBx&ee a/xa xal (poßsQov d'e'afia «s ftT]xoe ä^ov&-
ftov rj<sxr,fiivos avd'Qconos, ifißäxais irfjTjXöis inoxov/xsvos , n^üatonov vtieq
xeyaXrjs avareivöfisvov dmxeijuevos xai aröfia xe)(^rjvis nafifieya, tos xaraTtiö-
fiEvos Tovs d'earns, iöi Xeyeiv 7tQoaTSQviSi.a xal n^oyaaxQiSia, n^oa&exrjv xai
imrexvTjTT^v naxvTTjTa n^oanotovfievoe, cos fiij lov ft^xovs rj a^^v&fiia iv Ae^rTÖ»
fiäXXov iXiyxotTO.
345) Hegi xcoftcpSlas I 19 p. XIV: iv Ss rfj jutar] xal via xa/n^Sia dnirt]-
8sS ja Tt^oaoineia tiqos ro yeXoiorsQOv dSri/utovpyrjaav , . . o^cä/isv yovv rae
otpQvS iv role TtooacJTtois iffi MevÜvSqov xatfic^Sias onoias i'xei xal onots
i^eOTQa/ufuvov ro aröfia xal oiiSe xar' avd'^ojTtcov (piaiv. Nur ist nicht zu-
treffend, wenn bemerkt wird, aus Furclit vor den makedonischen Gewalthabern
sei dies geschehen.
346) Die Zahl der typischen Figuren ward nach und nach vermehrt, daher
einzelne nach ihrem Erfinder 'Eq/icoveios und yivxofi^Sswe benannt werden:
Hermon und Lykomedes waren wohl komische Schauspieler (PoUux IV 88), ob-
wohl man aus dem Etyra. M. (EQfia'vsia) den ersteren auch für einen axsvo'
Ttoioe halten könnte.
347) Sorgfältig war nicht nur die Hetäre von der anständigen Bürgers-
tochter, die Kupplerin von der ehrbaren Matrone unterschieden, sondern auch
unter den einzelnen Klassen, wie den Alten und Jungen, den Sklaven und
Soldaten, den Parasiten und Kupplern, sonderten sich wieder Spielarten des
Charakters aus.
348) Für die Tracht der Greise wählte man gewöhnlich die weifse Farbe,
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITUNG. 101
IX
\\'ie die selbständige Ausbildung des Dramas, abgesehen von^ie Sprache
der dorischen Komödie, Attika angehört, so wird auch die sprach- uschen '
hebe Form dadurch bedingt.^'*) Da bisher die Attiker keinen thäti- Poesie,
gen Antbeil an der Literatur genommen hatten^^), ist der drama-
tische Stil wesentlich als eine neue Schöpfung zu betrachten. Indem
diese Dichtart, zumal die Tragödie, auch ein episches und lyrisches
Element enthält, waren Homer und die Lyriker die passendsten
Führer. Aber die attische Mundart bildet die Grundlage nicht nur
für den Dialog und die Erzählung, sondern auch für die mehschen
Partien. Durch das Einmischen fremder Laute, Wortformen und
Ausdrücke wird dieser Grundton nur temperirt; der dramatische Stil
wird durch das Epische und Lyrische leise gefärbt und belebt. Be-
merkenswerth ist, dafs anfangs die Tragödie die Lautstufe der alten
Atlhis, die von der las nicht verschieden war, mehrfach festhielt.
Bei Aeschylus haben sich noch deutUche Spuren erhalten "') ; ande-
res mögen die Schauspieler frühzeitig getilgt haben, da man diesen
Klängen entfremdet war. Mit feinem Gefühl trafen die Dichter eine
schickliche Auswahl. Alles, was allzu sehr an die Redeweise des täg-
hchen Lebens erinnerte und mit der idealen HaUung der Tragödie
nicht recht vereinbar schien, ward sorgfältig gemieden^*); daher
für Jünglinge bunte Gewänder (Lonatus), Sklaven erscheinen nur leicht be-
kleidet; die reiche Erbtochter war an dem mit Franzen besetzten Gewände
kenntlich.
349) Der Gebrauch der Atlhis im Drama ist nicht nur historisch genügend
gerechtfertigt, sondern dieser Dialekt eignet sich auch vorzugsweise für diese
Dichtart. Der Rhetor Demetrius § 177 IX 80 Walz bemerkt ganz richtig, dafs die
Atthis besonders der Komödie angemessen sei, aber er geht zu weit, wenn er die
Doris wegen ihrer Neigung zu breiter Aussprache geradezu verwirft: SioneQ
ovSe iYOJucöSovv ScoQi%ovres , aXß^i nix^cüs (1. äxgcas) rjTrixi^ov t] ya^ u4r-
rixfj y).{öaaa avvsar^a/ifie'vov rt ^et xai Stjfiorixöv xai rais zoiaiiais eiiQU'
Tte/.iaiS TtQETtOV.
350) Nur Selon ist zu nennen, da die Thätigkeit des Tyrtäus Lakonien
angehört.
351) Die Kritiker haben dies nicht beachtet und solche Formen meist be-
seitigt, auch bei Ion, wo dergleichen noch weniger befremden darf. Aeltere
Formen wie oxpoiaro u. dergl. finden sich nicht nur bei Aeschylus und Sopho-
kles, sondern auch bei Aristophanes; selbst Euripides verschmäht nicht das
ionische 7ti'7t?.coxa.
352) Die Tragiker sagen daher iXaia, ateros, xXaico (auch wohl xaioi),.
102 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
zog man nicht selten die durch Wohllaut oder fremdartigen Klang
sich empfehlenden Formen des dorischen und äolischen Dialektes
vor.**^) Von der Mischung der Mundarten macht man üherhaupl
ausgedehnten Gebrauch. Manches ist überall zulässig; lediglich nach
Bedürfnifs des Verses wechselt man mit den verschiedenen For-
men^"); anderes ist vom Dialog ausgeschlossen.'") Das Epische
trat besonders in den Botenberichten '*^), dann in anapüstischen Ver-
sen hervor, weil dieses Metrum der Weise des Heldenliedes am näch-
sten steht. Die meisten Anklänge an den StiP") des Epos finden
wir bei Aeschylus. In den melischen Partien der Tragödie erhält
der dorische Dialekt angemessene Verwendung. Zunächst äufserte
sich darin die Macht des Herkommens, des historischen Princips;
denn die chorische Poesie, aus der die Tragödie entsprungen ist,
verdankt ihre Ausbildung vorzugsweise den Doriern. Aber diese Tra-
dition wird mit vollem Bewufstscin aufrecht erhalten ; man fühlt, dafs
die dorische Mundart durch kräftigen Wohllaut, durch männliche
Würde sich auszeichnet. Daher zog man in den feierlichen Ge-
sängen der Tragödie, die sich über das Mafs des Gewöhnhchen er-
hoben, die vollen Klänge der Doris vor'*); doch ist der Gebrauch
atel {aei nur wo Verkürzung eintritt), ebenso in der zweiten Pers. Sing, des
Passivums t;, nicht et, wo die Kritiker liöclist willkürlich jetzt fiberall die jün-
geren Formen zu substituiren pflegen ; daher hält die Tragödie selbst 6>()j;xc».
0^7jxtos u. dergl. fest.
353) Wie 'Ad'ava, Suqöv, ixari, tcvvayos (aber xvvrjyerr]«), yaftö^os, tpa-
evvde (nicht tpasivoe); ja, es wirkt dies selbst auf die Endung ein, Euripides
sagt '.Eo) cpaevvav.
354) So fiovvoe, ^elvoe, fiiaaos, das dorische viv (nicht fiiv), os&ev. So-
phokles liebt besonders das verkürzte T]fiiv und iifxtv. Schon die zeitgenös-
sische Kritik nahm daran Anstofs. Ariphrades tadelt die Tragiker, weil sie
aäd'ev, viv, Scofxäxcov ano, !^/«^Ae<yg ntQi sagten , was niemand im gewöhn-
lichen Leben gebrauche. Aristoteles Poet. 22, 14 p. 1458 B 31 f. nimmt die Tragö-
die gegen diese unverständige Kritik in Schutz. Ariphrades, ein von Aristophanes
verspotteter Kitharöde, mufs wohl diese Kritik schriftlich ausgeübt haben.
355) Der epische Genitiv oio MJrd im Dialog nicht zugelassen; erst der
Alexandriner Lykophron gebraucht diese Form im Trimetor.
Jf? M356) So fehlt in den nyysXixai ^r,asis öfter das syllabische Augment, was
man sich im Dialog niemals, wohl aber in lyrischen Partien erlaubt.
357) So liebt Aeschylus die Partikel »jJc, die bei Sophokles und Euripi-
des nur selten vorkommt; iSi hat Sophokles einmal zugelassen.
358) Hauptsächlich zieht man das klangvolle lange A vor, jedoch consequent
nur in Floxioiisondungen, weniger in Stammsilben und AbieilunRen.
r
DIE DRAMATISCHE POESIE. EI>XEITÜVG. 103
dieses Dialektes keineswegs auf die melischen Partien beschränkt.''*)
Die Sprache der Tragödie, die sehr verschiedenartige Elemente ent-
hält^"), darf also keineswegs als die unvermischte Atthis gelten : erst
in der jungen Tragödie seit Euripides tritt dieser Dialekt in gröfse-
rer Reinheit hervor, ohne jedoch auf alles Traditionelle zu ver-
zichten.
Der Stil der Tragödie hat im Verlaufe der Zeit mehrfachen
Wandel erfahren ; die Fülle des Ausdrucks, die Pracht und Kühnheit
der Bilder, der Pomp der klangvollen Worte wird allmählich er-
mäfsigt. Je mehr die Tragödie von der idealen Höhe in das Leben
der Gegenwart herabsteigt, desto mehr entsagt sie dem plastischen,
farbenreichen Stile, dem hohen Pathos.^*)
Jeder der drei Tragiker hat seinen eigenen Stil ausgebildet, der
mit dem Charakter und der Sinnesart des Dichters durchaus har-
monirt. An Erhabenheit und Würde der Sprache steht Aeschylus
unübertroffen da. In den altert hümlichen, fremdartigen Worten, in
den kühnen, überraschenden Metaphern, in dem phantastischen Bil-
derschmuck liegt eine Fülle von Poesie; der feierliche, gemessene
Ton pafst ganz für die gigantischen Gestalten, welche dieser Dich-
ter uns vor Augen führt. Aber die Gefahr, in Schwulst und leeres
Wortgepränge zu verfallen, lag nahe, und die Nachahmer haben
diese Klippe nicht immer gemieden. Den entgegengesetzten Weg
359) ^Afios gebranchea Aeschylus und Sophokles auch in iambischen "Ver-
sen, ebenso Aeschylus Ttori. Dorismen in anapästischen Versen kommen nicht
häufig vor.
360) Auch im Worlgebrauch zeigt sich dies; oxäaaa&ai, ?.f;v, TToraivtov
und andere Dorismen sind nicht selten, anderes ist aus örtlichen Mundarten
entlehnt.
361) Die älteste Tragödie mag dem feierlichen Stil des Epos noch ganz
nahe gestanden haben, wie Aristot. Rhet. III l andeutet : seitdem man den tro-
chäischen Tetrameter mit dem iambischen Trimeter vertauschte, habe man auch
auf die Worte verzichtet, die von der gewöhnlichen Redeweise allzu sehr sich
entfernten (öaa naqu tov StäXexrov, p. 1404 A 33); die ersten Tragiker hätten den
Redeprunk angewandt, auf den jetzt bereits das Epos verzichtet habe. Bei Aeschy-
lus werden wir übrigens noch überall an diese ältere Weise erinnert, und auch
später schlugen Einzelne diesen Ton an. Diese tadelt Aristoteles, wenn er sagt,
es sei verkehrt, die Epiker nachzuahmen, die selbst nicht mehr jener Ausdrucks-
weise sich bedienten. Seltene, alterthümliche Worte {yhüaaai) sind das Vorrecht
des epischen Dichters; der dramatische Dichter zieht im iambischen Vers vor
die Metapher als Redeschmuck zu verwenden, Aristot. Rhet. III 3 p. 1406 B 2 und
104 KRITTE PERIODE V0> 500 BIS 300 V. CHR. G.
schlägt Euripides ein, der an Sicherheit der Formgehung keinem
nachsteht. Euripides schöpft nicht aus dem allerthümUchen Sprach-
schatze, sondern wählt aus der Redeweise des gewOhnhchen Lehens
aus, was der Bildung und den Bedürfnissen der Gegenwart geniäfs
ist.''*) In dem hellen, anmuthigen, durchsichtigen Stile dieses Dich-
ters hat der Atticismus den reinsten Ausdruck gefunden. Euripides,
der Zögling der Sophisten, der Meister in der dialektischen Kunst,
versteht mit kluger Berechnung die Mittel der Darstellung auf das
V/irksamste zu handhaben. Diese leichte Eleganz und Prücision,
dieser sanft dahingleitende Redeflufs hat etwas Einschmeichelndes
und sagte nicht nur dem Geschmacke der Zeitgenossen zu, sondern
ward auch für seine Nachfolger IVorm und Gesetz. Aeschylus und
Euripides haben jeder einen im Ganzen gleichmäfsigen Stil, so ver-
schieden auch ihre Art ist. Sophokles hält zwischen diesen entgegen-
gesetzten Richtungen eine glückhche Mitte, indem er die ideale
poetische Anschauung mit den Anforderungen der realen Wirklich-
keit harmonisch zu verschmelzen gewohnt ist; er verschmäht kein
Mittel der Darstellung, sucht aber alles auf das richtige Mafs zurück-
zuführen. Mit Rücksicht auf den Inhalt, nach der Verschiedenheit
der redenden Personen wechselt der Stil, der für Sophokles ein
höchst wirksames Mittel der Charakteristik ist. Daher erscheint die
Schreibart dieses Tragikers ungemein mannigfaltig; indem sie selbst
leise Nuancen wiederzugeben vermag und sich immer nach Mafs-
gabe der gestellten Aufgabe verwandelt, zeigt sie den gröfsten Reicli-
thum eigenartiger Wendungen und Ausdrücke. Den Stil des Aeschylus
oder Euripides haben viele mit mehr oder weniger Erfolg nach-
gebildet, und unter den Händen der Nachahmer ward die Eigenthüm-
lichkeit der Meister leicht zur Manier; die Kunst des Sophokleischen
Stils war für jeden anderen unerreichbar.^")
Poet. 22 p. 1459 A 11 ff., wo er hinzufügt: iv Si toU iafißeiote, dia to ot«
fiäXtaxn Xi^iv fjifieTad'ni, Tuvra ap/xcrrei xwv Ivofiajoir, oaote )cav iy löyo$e
iii xgTjaairo.
362) Aristoteles Rhet. 1112 p. 1404 B 24f.: xHinrerai S' et, iäv xie tu
rr,s tloid'viai SiaXi'xtov ixXdyav owrt&f,, onsf EvQtjtiSijs noul nai vnsdat^e
Tt^cüxos.
363) Datier bezielien sich auch die Parodien der Komödie vorzugsweise
auf Aeschylus und Euripides (das Paliios des einen, die Rhetorik des anderen
forderten unwillkürlich dazu auf), während Sophokleische Verse nur selten zu
diesem Zwecke benutzt werden.
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITUNG. 105
Wie die Komödie ihren Stoff unmittelbar aus dem Leben nimmt,
so ist auch ihre Sprache von der Redeweise im gewöhnhchen Ver-
kehr nicht wesentlich verschieden. Die Komödie zeigt überall eine
locale Färbung. Die Lustspiele des Epicharmus sind in syrakusani-
schem Dialekt, die Possen des Rbintho in tarentinischer Mundart
geschrieben ; der attischen Komödie liegt die Atthis zu Grunde. Das
Volksmäfsige hat in der Komödie vorzugsweise seine Stelle; je mehr
die Sprache des Dichters an die populäre Weise erinnert, desto mehr
sagt sie der Menge zu, die sich hier heimisch fühlt. Aber die Dar-
stellung der älteren attischen Komödie ist nichts weniger als ein-
förmig, sondern zeichnet sich durch grolse Mannigfaltigkeit aus. Die
melischen Partien verlangen reicheren Schmuck der Rede ; Dorismen,
obwohl mit 3Iäfsigung angewandt, befördern den Wohllaut.^®^) Dann
aber haben diese Dichter nicht selten die verschiedenen Stilarten
der epischen, lyrischen oder tragischen Poesie mit Glück nachgebil-
det.^*) Ebenso gehört es zur Charakteristik, dafs die Angehörigen
anderer Stämme, die in der Komödie auftreten, sich ihrer heimischen
Mundart bedienten^®); selbst die stammelnde incorrekte Rede der
Rarbaren wird nachgeahmt.^^^)
Da die hterarische Ausbildung der Komödie später beginnt und
sie vielfach dem Vorgange der Tragödie sich anschliefst, so hat auch
der Stil des Lustspiels ähnhche Wandelungen erfahren. Kratinus,
der Schöpfer des kunstgerechten Lustspiels, hält sich auf einer ge-
wissen Höhe ; auch die sprachhche Form harmonirt mit dem idealen
Zuge, der seiner Poesie eigen war. Seine Nachfolger ermäfsigen die
kraftvolle Energie, die Fülle des poetischen Rilderschmuckes und
364) Epische Formen kommen auch in der Komödie vereinzelt in ana-
päslischen Versen vor, dann hauptsächlich, wo der Ton der Orakelpoesie oder
des Epos parodirt wird.
365) Häufig zu parodischen Zwecken , aber man darf nicht jede Nach-
bildung aus diesem Gesichtspunkte betrachten.
366) Bei Aristophanes reden Lakonier, Megarenser, Böoter in ihrer land-
schaftlichen Mundart.
367) Wie in den Thesmophoriazusen des Aristophanes das halb barba-
rische Griechisch des skythischen Polizeisoldaten. Aber auch zur Charakteri-
stik des Persers in den Acharnern, des Triballers in den Vögeln wird das fremde
Idiom benutzt. Ileoi xatficoSiai X d 7 p. XXVII : Sei lov xtoficoSonoiov T^r nä-
iQiov avxov yXwaaav roTs TiQOOumots Tte^trid'evat , tt^v Se iTttxcöoiov av r^
|tV<j> [avrüi ixeiv<ff Dübner]. Der punisch redende Karthager bei Plautus gehört
wohl dem römischen Dichter, nicht dem Original an.
106 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
nähern sich mehr und mehr der Sprache des gewöhnHchen Lebens;
besonders Arislophanes wetteifert mit Euripides in leichter, geschmei-
diger Rede. Die mittlere Komödie macht zwar den Versuch, einen
höheren Ton anzuschlagen.^*'*} Für die mythologischen Stoffe, die
man jetzt mit Voriiebe behandelt, war eine gewähltere Ausdrucks-
weise, der feierliche Pomp der Tragödie nicht unangemessen; be-
sonders einzelne Dichter, wie Eubulus und Anaxandrides, gefallen
sich in diesem tragischen Stile. Aber man lenkt bald wieder in das
hergebrachte Gleis ein, und die Sprache der neueren Komödie ist
durchgehends nüchtern, farblos, verwaschen. ^'^)
Die metri- Das griechische Drama, wie es aus künstlerischem Triebe ent-
sprungen ist, hält auch die Form der gebundenen Rede alle Zeit
fest. Nicht einmal die neuere Komödie, die mitten im alltäghchen
Leben steht und die Richtung auf das Natürhche mit Entschieden-
heit verfolgt, hat die metrische Form gegen die prosaische ver-
tauscht. Nur die alte Komödie nimmt sich zuweilen diese Freiheit,
wenn sie Gebete an die Götter, öffentliche Urkunden, und was sonst
an berkömmhche Formeln gebunden ist, einflicht ^"j, obwohl sonst
Mischung von Versen und ungebundene Rede innerhalb desselben
Werkes dem Charakter der griechischen Kunst widerstrebt, da sie
sorgsam auf Reinheit der Form, auf Sonderung der Stilgattungen
hält. Auch darf man in jenem Einmischen der Prosa kein dich-
terisches Unvermögen erblicken, sondern der Komiker bildet eben
alles täuschend der Wirklichkeit nach. Der rechte Eindruck wäre
sehe Form.
368) In Arislophanes Plutos 515: nagnov Jr^ovs d-eQiaaa&ai. bemerkt der
Scholiast: TjSti ro k'nos rovro rfje (liarji xiofitf/Siai o^e«.
369) IleQi xü)jU(i>Siasl\a 14: SiaXexrco Si (Siafe'^ovatr), xa&o fj fisv via
10 aatpiarsQov ^ox^> "^fl *'*'? ''^W?,"*'''? 'y^i^'Si, tj Se naXaia ro Seit'ov xnl
vxpT}X6v rov Xöyov , iviore Si xai intrijSavovaa Xi^eie riväe. Vgl. V 1.
370) So bewegt sich das Gebet bei Arislophanes Vögel 865 ganz in den her-
kömmlichen Formeln. Ebendaselbst 1035 ff. wird der allische Kanzleistil gleich-
sam parodirl; auch der Friedensvertrag zwischen den Menschen und Fischen
bei dem Komiker Archippus V;fd'vs fr. 2, Com. 11 2, 719 war in ungebundener
Rede abgefafst. Dagegen hat Arislophanes Tlicsmoph. 331 das Gebet, womit
man in Athen die Volksversammlung zu eröffnen pflegte, in iambischen Tri-
melern frei nachgebildet. Wenn bei den Tragikern öfter einzelne Worte, beson-
ders Interjectionen, aufserhalb des Verses zu stehen scheinen, wie 7lana^, tl
tpjii av, Id &eoi, so isl doch meist ein beslimmlor Hhythnnis zu erkennen,
und das Ebenmafs wird nicht gestört; vgl. Mar. Victor II 3, 30. VI T^K.
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITOG. 107
leicht verloren gegangen, hätte man auch hier die metrische Fas-
sung durchgeführt.
Von richtigem Gefühl geleitet, hat das griechische Drama sich Der iambi-
für den Dialog und die eigentlich dramatischen Partien das iam-* ter.
bische Versmafs gewählt, weil dasselbe von der gewöhnlichen Rede-
weise und der ^Yirklichkeit des Lebens sich am wenigsten entfernt.
Die Schlichtheit und knappe Form des sechsfüfsigen lanibus eignet
sich besser für die gedrängte Kürze der Darstellung, als die beweg-
teren und anspruchsvolleren Langverse. So sondern sich die Reden
der handelnden Personen bestimmt von dem mannigfaUigen und
kunstreichen Bau der lyrischen Partien ab, und doch ist der Dialog
den Gesetzen der Kunst geraäfs rhythmisch geghedert. Die älteste
Tragödie hatte neben meüschen Versen sich des trochäischen Tetra-
meters bedient, aber schon durch Thespis ward der iambische Tri-
meter eingeführt und gelangt, je reiner und selbständiger sich das
dramatische Element neben dem lyrischen ausbildet, immer mehr
zur Herrschaft. Das Satyrspiel mufs sich diesem Vorgange alsbald
angeschlossen haben. Aber noch früher ist der sechsfüfsige lambus,
der von Anfang an dem Spott und Hohne dienstbar war, im Lust-
spiel zur Geltung gekommen. Schon den ersten Versuchen der
attischen Komödie war dieser Vers geläufig, aber daneben machte
man auch von anderen altherkömmlichen Formen Gebrauch. Die
Komödie ist aus den Processionshedern der Phallophoren hervor-
gegangen. Der iambische katalektische Tetrameter, ein in volks-
mäfsigen heiteren Tanzweisen behebtes Mafs, und ebenso der anapä-
stische Langvers, der Rhythmus der Marsch- und KriegsUeder, waren
für die muthwilhge Laune des Lustspiels wie geschaffen. Beide Vers-
arten sind der Komödie als ausschhefshcher Besitz verblieben ; für
den ruhigen Ernst und würdevollen Ton der Tragödie waren diese
Formen, denen ein ganz anderer Charakter aufgeprägt ist, ungeeig-
net. Wohl aber ist der trochäische Langvers gemeinsames Eigen-
thum beider Gattungen. Dieser leicht bewegüche Rhythmus schickt
sich recht gut für das Lustspiel , daher auch die Komödie der Sike-
lioten den trochäischen und daneben den anapästischeo Langvers
dem schlichten lambus entschieden vorzog.
Der iambische Trimeter ist der IS'ormalvers fiir alle Gattungen
des Dramas; nur erftihrt er immer eine dem Charakter der Gattung
entsprechende Behandlung. Der tragische Trimeter kommt der Sauber-
108 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
keit, mit welcher Archilochus diesen Vers ausarbeitete, am nächsteo,
übeitrifTt aber sein Vorbild durch eine mehr gemessene, würdevolle
Haltung; die meisten Freiheiten nimmt sich die Komödie, während
das Satyrdrama die Mitte hält. Archilochus und die lambographen,
die mügHchst auf Reinheit der Form halten, mäfsigen zwar durch
eingemischte Spondeen den raschen Gang der Trimeter, vermeiden
aber sichthch die Auflösung langer Silben. Gerade in diesem Punkte
tritt der Unterschied der Stilarten der dramatischen Poesie recht
augenfällig hervor. Die Tragödie macht, wie sich gebührt, von die-
ser Freiheit einen weit mafsvoUeren Gebrauch, als das Satyrspiel
und die Komödie. Aber in der Tragödie selbst vollzieht sich ein
merkwürdiger Wandel ; im Verlaufe der Zeit werden die Verse immer
bewegter, indem man von der früher geübten Strenge sich lossagt,
lag die Gefahr nahe, in ein lässiges, zerfahrenes Wesen zu verfallen,
wenn man nicht später wieder eingelenkt hätte. Zunächst gestat-
tete man sich die Auflösung langer Silben hauptsächhch in der
dritten oder vierten Stelle, je nachdem die Cäsur den einen oder
den anderen Fufs thcilte, um so ganz schicklich den Anfang eines
neuen Abschnittes zu markiren.^^') Alhnählich geht man weiter, um
in den einförmigen Rhythmus des Verses möghchst Abwechselung zu
bringen. Aeschylus als der älteste unter den drei Tragikern wahrt
verhältnifsmäfsig am sorgfältigsten die Strenge der alten Technik"*),
aber man erkennt bereits, wie die freiere Rehandlung um sich
greift, namentlich in den jüngeren Stücken."') Noch bedeutendere
371) Wie die Cäsur viel häufiger im dritten als im vierten Fufse vor-
kommt, so verhält es sich auch mit den Auflösungen. In der Komödie ist die
Cäsur nicht mafsgebend, und zwar finden sich bei Aristophanes gerade im vier-
ten Fufse besonders zahlreiche Auflösungen.
372) Aeschylus beobä'chtet meist die regelrechten Cäsuren. Sophokles be-
handelt den Vers mit gröfserer Freiheit, aber doch nicht ohne Kunst. Aeschy-
lus liebt es, den Gedanken mit dem Ende des Verses abzuschliefsen , wie er
auch noch den Vers unter zwei Personen zu vertheilen meidet, und deshalb
ist er wohl auch genöthigt, hier und da ein sonst entbehrliches Wort einzu-
schalten. Euripides bei Aristophanes Frösche 1178 macht dem Tragiker den
Gebrauch solcher Füllworte (aroißai) ausdrücklich zum Vorwurf, aber auch die
anderen Tragiker bieten dafür Belege: namentlich das Gesetz der Stichomythie
war darauf nicht ohne Einflufs.
373) Aeschylus vermeidet den Anapäst im ersten Fufse des Trimeters. In
den älteren Stücken weichen nur die Perser ab, wo die Eigennamen diese
Freiheit genügend rechtfertigen ; «ahlreiche Beispiele finden sich dagegen im
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITUNG. 109
Unterschiede treten bei Sophokles hervor, was nicht auffallen kann,
da die erhaltenen sieben Dramen dieses Dichters sehr verschiedenen
Zeiten angehören. Der Elektra, wo sich die wenigsten Auflösungen
finden, steht die Antigone am nächsten; der Ajas, die Trachinierin-
nen und König Oedipus bekunden eine erhebliche Zunahme; der
Philoktet (aufgeführt Ol. 92, 3) zeigt eine Freiheit, die der des Euri-
pides in jener Periode ziemhch nahe kommt, während die letzte
Arbeit des Dichters, der Oedipus auf Kolonos, wieder gröfsere Sorg-
falt verräth und mit den Trachinierinnen ungefähr auf gleicher Li-
nie steht. Man sieht daraus, dafs die gröfsere oder geringere Anzahl
der Auflösungen nicht entscheidend ist, um danach allein die Zeit
der Abfassung einer Tragödie festzustellen.
Euripides macht ursprünglich von jener Freiheit nur mit Mäfsi-
gung Gebrauch, wie die älteren Arbeiten, Alkestis, Medea, Hippo-
lytus, Hecuba, Herakhden, beweisen."*) Allein seit Ol. 90 nimmt man
ein entschiedenes Nachlassen von der früheren Strenge wahr. Die-
ser Wandel vollzieht sich, so viel wir urtheilen können, nicht all-
mählich, sondern tritt plötzlich ein. Auch darf man darin keine
ausschliefsliche EigenthümUchkeit des Euripides finden, der nur zu-
erst die Bande lockerte; denn auch die anderen gleichzeitigen Tra-
giker, wie Sophokles und Agathon, schhefsen sich der neuen Praxis
an, obwohl keiner so weit gegangen sein dürfte, als eben Euripides.
Es ist gewifs nicht zufällig, dafs gerade gleichzeitig mit dem Frieden
des Nikias, Ol. S9, 4, der die gehoffte Ruhe nicht brachte, sondern
die allgemeine Verwirrung nur steigerte, auch die Tragödie mehr
und mehr ihre ideale Würde und Ruhe aufgiebt und einen ent-
schieden leidenschaftlich erregten Charakter annimmt. Die Poesie
ist eben das Abbild ihrer Zeit. Der Geist und die Gesinnung des
Volkes spiegelt sich unwillkürlich in den literarischen Erzeugnissen
Prometheus und Agamemnon, während die beiden anderen Dramen dieser Tri-
logie nur wenige Beispiele darbieten. Auch Sophokles beobachtet diese Mäfsi-
gung; in der Antigone findet sich gar kein Anapäst an dieser Stelle, desto mehr
im Philoktet. Bei Euripides dagegen wird von dieser Freiheit in immer aus-
gedehnterem Mafse Gebrauch gemacht; die wenigsten Belege bieten Alkestis,
Hippolytus, Medea und Herakliden, denn der Rhesus, der gleiche Strenge zeigt,
ist kein Werk des Euripides.
374) Auch hier ist die Zahl der Auflösungen nicht mafsgebend. Im Hippo-
lytus (aufgeführt Ol. 87, 4) finden sich weniger Abweichungen von der strengen
Technik als in der Medea, die Ol. 87, 1 gegeben wurde.
110 UUITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CUR. G.
wieder, und ganz naturgemäfs giebt sich der veränderte Ton der
Tragödie auch in der Auflösung der rhythmischen Gebundenheit
kund. Aber noch eine andere Ursache wirkte mit. Die Unruhe der
Zeit war der dichterischen Production nicht günstig. Früher hatte
es nie an zahheichen Mitbewerbern gefehlt, jetzt wurde die Thätig-
keit der älteren Dichter in erhöhtem Mafse in Anspruch genommen.
Man hatte nicht mehr Zeil, sein Werk langsam zu feilen, und ge-
wohnte sich an rasches Arbeiten ; so trägt auch die metrische Form
die Spuren dieser Eilfertigkeit an sich. Diese laxe Praxis nimmt
immer grofsere Verhältnisse an. Den Höhepunkt stellt der Orestes
des Euripides dar, wo der tragische Trimeter sein gemessenes Wesen
fast ganz cingebüfst hat, während die Verse in den Bacchen, obwohl
nicht tadellos, doch weniger Auflösungen zeigen."*) Nach dem pelo-
ponnesischen Kriege tritt ein Umschlag ein. Der Bau der Verse wird
wieder sorgfältiger; vor allem zeichnet sich Moschion durch beson-
dere Strenge aus"^), und dasselbe gilt von den Alexandrinern; nur
im Satyrdrama hat man sich alle Zeit mehr Freiheit gestattet.
Auch im Dialog der Komödie ist der iambische Trimeter das
übliche Versmafs, und die lässigere Behandlung des Metrums har-
monirt hier mit dem Charakter der Gattung.*'^ Aber die Verse in
der alten Komödie unterscheiden sich nicht nur durch leichten Flufs,
sondern auch durch eine gewisse kräftige Energie vortheilhaft vor
dem zerfahrenen Wesen der neueren Komödie."^) Dann treten ge-
375) Man sieht auch hier, wie die grofsere oder geringere Nachlässigkeit
kein untrügliches Kriterium für die Zeitbestimmung ist. Dramen derselben Te-
tralogie mochten in diesem Punkte differiren: die Bacchen und die Iphigeneia
in Aulis gehören zu derselben tetralogischen Composition ; doch ist gerade hier
eine Vergleichung -unstatthaft, da die letztere Tragödie nicht in ihrer ursprüng-
lichen Gestalt überliefert ist.
376) Den Theodektes darf man nicht nach den Versen bei Athen. X454E
beurtheilen.
377) Die Tragödie sorgt dafür, dafs in aufgelösten Versfüfsen wo mög-
lich Wortaccent und metrischer Iclus übereinstimmen (nur im ersten Fufse, der
alle Zeit gewisse Freiheit geniefst, nimmt man es nicht so genau, und in der
jüngeren Tragödie ist man auch an anderen Stellen darauf minder achtsam).
Die Komödie ist um diese Harmonie ziemlich unbekümmert, doch ist man auch
hier bemüht, auffallende Härten zu vermeiden.
378) So pflegen die Dichter der neueren Komödie einsilbige Worte un-
bedenklich im Ausgange des Verses zu gebrauchen, wie xat; gegen die l'elxT-
DIE DRAMATISCHE POESIE. El>LEITL>G. 111
rade auch im Versbau der komischen Dichter individuelle Verschie-
denheiten hervor, auf die man bisher wenig geachtet hat.
Der iambische katalektische Tetrameter, eine in volksmäfsigen Der iambi-
Liedern, besonders Tanzweisen sehr beliebte Form, eignet sich mit meter.
seinem kecken, leichtfertigen Wesen so recht für die Komüdie, wäh-
rend er von der Tragödie gerade so wie der anapästische Langvers
ausgeschlossen ist. In der alten Komödie nimmt er eine bevorzugte
Stelle ein.^^) So bedient sich der Chor sowohl bei seinem Einzüge
als auch bei seinem Abgange öfter dieses Verses, aber auch im
Dialog wird er verwendet, besonders wo eine lebhaft erregte Debatte
stattfindet. Auch in den Ueberresten der Lustspiele aus der mittle-
ren Periode können wir den iambischen Langvers nachweisen. Ebenso
mag er der neueren Komödie nicht fremd gewesen sein ; wenigstens
machen die römischen Komiker davon ausgedehnten Gebrauch.
Der trochäische Tetrameter war in der ältesten Tragödie dasDer «rochäi-
gebräuchhchste Mafs. Für jene 3Iaskenspiele, wo das satyrhafte und meter.
das tragische Element noch friedlich neben einander bestanden, war
dieser beweghche Vers wohl geeignet.^**') Indem durch Thespis sich
das Dramatische selbständiger entwickelte und der iambische Tri-
raeter aufliam, ward der Gebrauch der Trochäen mehr und mehr
beschränkt; doch mag Aeschylus in seinen älteren Arbeiten dies
Versmafs noch häufig angewandt haben, wie die Perser zeigen.^")
In der nächsten Zeit verschwindet es fast vollständig und behauptet
sich nur noch zuweilen in Schlufspartien.^*^) Erst seit Ol. 90, wo
die Tragödie einen weit leidenschaftlicheren Charakter annimmt, ge-
winnt der trochäische Langvers wieder Boden. Jetzt finden wir das
Metrum nicht nur am Schlufs, sondern häufig auch mitten im Drama
gebraucht, wo das Pathos sich steigert und der aufgeregte Ton der
einstimmung zwischen der Satzgliederung nnd der rhythmischen Bewegung des
Verses war man fast gleichgültig.
379) Aristophanes hat vielleicht zuerst dieses Metrum im Lustspiele beson-
ders cultivirt; daher nennen die alten Metriker den Vers fiixQov ''A^taxotpä-
veiov.
380) Aristot. Rhet, III 8 p. 1408 B 36 ff.: 6 8e xQOxaios M^Saxixcoreooi-
oj;/ot 08 ta itiQaftETQa' iari yuQ TQOxeooi Qv&/iös [ra rer^afteToa].
381) Aeschylus Pers. 155—175 und 215—248, wälirend zur Erzählung
des Traumgesichtes der Trimeter verwandt wird, dann 697 — 758 das Gespräch
des Dareios und der Atossa, was nachher ebenfalls zum Trimeter übergeht.
382) Aeschylus' Agamemnon, Sophokles' Oedipus Tyrannus.
112 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Rede den entsprechenden rhythmischen Ausdruck verlangt.^") Kicht
minder pafst der trochäische Tetrameter wegen seines frischen, leben-
digen Wesens für das Lustspiel, wie ja schon Archilochus, in mehr
als einer Hinsicht der Vorläufer der Komödie, in seinen Spottliedern
dies Versmafs mit Vorliebe gebraucht hatte. Epicharmus und wahr-
scheinlich auch die anderen sicilischen Komiker haben diesen Vers
ungemein häufig angewandt, so dafs der iambische Trimeter sich
hier mit einer untergeordneten Stelle begnügen mufste. In der
älteren attischen Komödie, namentlich bei Aristophanes, wird der
trochäische Langvers häufig in der Parodos gebraucht, wo der leichte,
bewegliche Rhythmus schicklich den Einzug des Chores auf die Or-
chestra begleitet.^^) Aber auch in den darauf folgenden Scenen wird
öfter dies Versmafs beibehalten ; dann findet es sich regelmäfsig in
dem Epirrhema und Antepirrhema der Parodos. Die mittlere und
neuere Komödie verwendet gleichfalls dieses Versmafs, besonders in
Monologen, wo anschauhche Sittengemälde mit lebendiger Mimik
vorgetragen wurden.^**)
Anapästen. Anapästische Dimeter, von denen bald mehr, bald weniger zu
einer festgeschlossenen Gruppe verbunden werden^®'), sind ein in
383) Hermogenes Tte^t iSeöjv II 1 HI 302 Walz empfiehlt den trochäischen
Rhythmus für den yoQyoe Xoyos: xai roirov ye rsxfiriQia ivaoyri TioXXa. ix
T^ä roayc^Siae, iv&a iTteiysffd'ai 6 Xeyeov Soxel, rgoxal'xdJs awred'evxa xal
Tia^a T<j5 MepävS^t^ .... XQexet yaq üJs ovtoie ip xovxois o Qv&fios. So geht
in den Phönissen des Euripides der Streit der feindlichen Brüder zum Schlufs
V. 588 vom Trimeter zum Telrameter über. Im Orestes kommt Pylades eilen-
den Laufes herbei, und das aufgeregte Zwiegespräch mit Orestes (728—806)
besteht aus trochäischen Langzeilen. Auch Sophokles gebraucht es wieder in
seinen jüngeren Arbeiten, dem Philoktet und Oedipus auf Kolonos (doch nur
wenige Verse).
384) Schol. Aristoph. Ach. 204: ydy^anxat Sa xo fis'xQoy XQOxnl'xov, itQoa-
(pOQOv xr] X(öv Sicoxövxcov yeqövxcov anovSfj. xavxa 8e TtoieTv eiiö9a<jtv oi
Xiöv Boafiäxtav nonftai xat/nxol xnl xQnytxoi, ineiSav S^Ofiaitos etoaytaai
xoi/S xooove, 'iva o koyoe avvx^exi] xi^ S^äfiaxt (n ^äy uax i).
385) Ein weiteres Gebiet war dieser Versart im römischen Lustspiele ein-
geräumt, wie überhaupt im römischen Drama Langverse entschieden bevorzugt
waren. Auch die Tragiker suchen dadurch das Feierliche, Gemessene der Dar-
stellung zu erhöhen.
3S6) In der Tragödie haben die Systeme weniger Umfang; umfangreichere
Perikopen, die natürlich nicht in einem Athem vorgetragen werden konnten,
finden sich nur in der Komödie, wie Aristoph. Wolken 8S9 (62 Verse, wohl
eher zwei Systeme).
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITUNG. 113
der Tragödie besonders beliebtes Versmafs.^^) Oft genügt ein solches
System, nicht selten folgen mehrere auf einander. Zumal die ältere
Tragödie pflegt gemäfs ihrer VorHebe für feierhche Würde diesen
anapästischen Partien eine grofse Ausdehnung zu geben. Ursprüng-
lich gebrauchte wohl nur der Chor solche Verse ; später werden sie
auch den handelnden Personen zugetheilt.^*^) Der Anapäst ist ein
Marschrhythmus; er eignet sich daher vor allem, um den Einzug und
Abzug des Chores zu begleiten. Bei Aeschylus pflegt der Koryphäus
die Parodos mit anapästischen Systemen einzuleiten; der abziehende
Chor bedient sich später regelmäfsig dieses Metrums. Ebenso wird
das Auf- und Abtreten der Schauspieler durch den Chor in Ana-
pästen angekündigt.^^) Wenn eine Gottheit oder eine dem Chor un-
bekannte Persönhchkeit auftritt, führt sie sich selbst durch ein ana-
pästisches System ein. Eigenthümlich ist, dafs öfter, besonders in
der Parodos, melische Strophen mit anapästischen Systemen abwech-
seln, welche ebenfalls dem Chore oder einer Bühnenögur gehören.^
Die freien Anapästen haben hauptsächlich in Klagehedern ihre Stelle ;
sie stammen offenbar aus volksmäfsiger Poesie, waren seit Alters,
wenn auch nicht in der eigentlichen Todtenklage, doch beim Leichen-
zuge üblich.*")
38") Diese Systeme, aus Dimetern gebildet, die der dramatischen Poesie
eigen sind, haben ihr Vorbild vielleicht in dem Heroldsrufe zu Olympia und
sind daher für den Koryphäus des Chores ganz angemessen. Hier ist wohl
zuerst die Freiheit aufgekommen, den Anapästen mit dem Daktylus zu ver-
tauschen, die zunächst auf die erste und dritte Stelle (die rechten Füfse) be-
schränkt war, s, Diomedes in 27, 1 505 K. Der Einschnitt in der Mitte wird bald
mehr, bald minder sorgfältig beobachtet; Euripides nimmt es in den strengen
Systemen damit sehr gewissenhaft.
388) Ein Zwiegespräch in Anapästen findet sieb in der Iphigeneia in Aulis
bei Euripides. Auch im Wechselgespräch zwischen den Schauspielern und dem
Chore werden solche anapästische Systeme verwandt.
389) Sophokles und Euripides pflegen nur in den älteren Stücken das
Abtreten der Schauspieler so vorzubereiten.
390) Dieser Gegensatz zwischen dem gleichnamigen Rhythmus der Ana-
pästen und dem reichen Wechsel der melischen Verse ist sehr wirksam. Aeschy-
lus macht von dieser Verbindung in der Orestie und im Prometheus Gebrauch,
Euripides hauptsächlich in seinen älteren Stücken, Sophokles auch noch im
Philoktet V. 135 und im Oedipus auf Kolonos.
391) Auch in Rom werden anapästische Verse zu Trauergesängen {iiae-
niae) verwendet, Seneca Apocoloc. c. 12.
Bergk, Griecb. Literaturgeschichte III. 8
114 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Der Komödie eigenthümlich ist der anapästische Telraineter, der
ebenso wenig wie der iambische Tetrameter Eingang in die Tragö-
die gefunden hat.^®*) Wir begegnen dieser Versform nicht nur in
den spartanischen Marsch- und Kriegshedern, sondern auch in den
ersten Versuchen der skoptischen Chorpoesie bei Aristoxenus von
SeUnunt. In den Processionshedern der Phallussänger, wenn der
Chor seine Angriffe nach allen Seiten hin richtete und die Thor-
heiten der Menschen geifselte, hatte dieses Versmafs seine Stelle; von
da kam es in die sicilische^^^), wie in die attische Komödie, daher
das Hauptstück der Parabase, die noch am meisten an die Anfänge
des volksthilmlichen Lustspiels erinnert, in der Regel in anapästi-
schen Tetrameiern gedichtet ist. Dann wird es besonders in Scenen
verwendet, wo eine lebhafte, leidenschaftliche Debatte geführt wird.
Zum Schlufs, wenn sich das Pathos steigert, werden hier die ana-
pästischen Langverse regelmäfsig, wie auch in der Parabase, mit dem
kürzeren Dimeter vertauscht. Sonst ist der Gebrauch dieser aus Di-
metern gebildeten Systeme in der Komödie beschränkter als in der
Tragödie; öfter dienen sie zum Abschlufs einer Scene, kommen aber
auch sonst vor, namenthch wenn der Dichter einen ernsten feier-
lichen Ton anschlägt oder Stellen der Tragiker parodirt. In der
mittleren Komödie ist der Dimeter gleichfalls ein sehr beliebtes Vers-
mafs, wird jedoch vorzugsweise zu weit ausgeführten Schilderungen
benutzt; in den üeberresten des Menander und seiner Zeitgenossen
erscheint er nur selten. Freie Anapästen finden auch in der alten
Komödie vielfach Verwendung; manchmal wird nur der tragische
Ton nachgeahmt, aber es fehlt auch nicht an eigenthümhchen Bil-
dungen.
Die me- j)je lyrischen Partien des Dramas zeichnen sich durch grofsen
tien des Formenreichthum aus; doch liegt, so viel wir urtheilen können,
Drama«, j,icj)t ei^c wesentlich neue und originale Schöpfung vor, sondern
die dramatischen Dichter haben aus dem reichen Schatze der meli-
schen Poesie dasjenige, was für ihre Zwecke geeignet war. mit Ver-
392) Auch die aUcn römischen Dramatiker, denen es an richtigem Uotühi
und Verständnir« des ethischen Charakters nicht gebrach, haben diese Unter-
scheidung wohl beaclitet; der iambische wie der anapastische kataleküsche Te-
trameter ist der römischen Tragödie durchaus fremd geblieben.
393) Epicharmus hat sogar zwei Komödien vollständig in diesem Vers-
maTse gedichtet (Hephaestion c. 6).
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITUNG. 115
ständnifs ausgewählt und zum Theil in eigenthümlicher Weise fort-
gebildet. Hymnen und Processionslieder, Päane und Dithyramben,
Hyporcheme und Trauergesänge boten sich als passende Vorbilder
dar; die daktylischen Chorüeder hat die Tragödie wohl der alten
Nomenpoesie entlehnt, die ionischen Verse den Cultusgesängen der
Göttermulter und des Dionysus, aber auch die Weisen des Volks-
hedes mag die Tragödie nachgebildet haben. Aber an die kunst-
volle Gestaltung der Rhythmen , die wir in der chorischen Lyrik
antreffen, erinnert nur die ältere Tragödie, aber auch sie läfst sich
mit dem Dithyrambus und anderen Gattungen der Lyrik in keinen
Wettstreit ein. Das Drama bildet seinen eigenen Stil aus. Alles ist
schhchter, die Strophen sind von mäfsigem Umfange und einfachem
Bau, die langen Streckverse, wie sie ehemals in dithyrambischen
Dichtungen üblich waren, sind dem Drama unbekannt, gekünstelte
und verschlungene Wortstellung wird vermieden, der hohe Stil mit
seiner Gedankenfülle und glänzenden Diction macht immer mehr
einer leicht fafshchen Darstellung Platz. Es kam darauf an, dafs ein
gemischtes Publikum, die grofse Masse der Zuschauer mit Leichtig-
keit dem Gesänge des Chores folgen konnte. Der melische Dichter,
der oft nur für einen kleinen erlesenen Kreis thätig war, durfte an
sein Publikum andere Anforderungen stellen, als der Bühnendichter.
Auch konnten letztere ihren Chören, die aus bürgerhchen Sängern,
nicht aus Virtuosen bestanden, nicht allzu viel zumuthen, so allge-
mein auch musikalische Bildung gerade in Athen früher verbreitet
war. Die Dithyramben und andere lyrische Dichtungen hatten nur
einen mäfsigen Umfang; die zur Einübung des Chores vergönnte
Zeit reichte aus, um selbst schwierige Aufgaben zu lösen. Dagegen
die Chorheder, zumal der Tragödie, hatten in der älteren Zeit einen
sehr bedeutenden Umfang. Der dramatische Dichter mufste also wohl
erwägen, was sich mit einem solchen Chore leisten liefs; denn da
neben dem Drama die kyklischen Chöre fortbestanden und hier wie
dort die Zahl der Aufführungen sich immer vermelu'te, so mufsten
die tüchtigen Kräfte sich sehr vertheilen. Zwar wird allmähhch das
Chorlied im Drama erheblich beschränkt ; allein man darf nicht ver-
gessen, dafs bereits seit dem Beginn des grofsen Krieges gründliche
musikalische Bildung im Volke seltener ward. Die Dichter mufsten
dies sehr bald empfinden und auf das Mafs der Kräfte ihres Chores
gebührende Rücksicht nehmen.
8*
116 DRITTE PERIODE V0> 500 BIS 300 V. CHR. G.
Die meii- Die Tragödie hat ihren eigenlhümlichen Stil , aber innerhalb
tien der ^^'' allgemeingültigen Gesetze bewegt sich jeder Dichter mit Frei-
Tragödie. heit. Gerade bei der Ausübung der lyrischen Kunst ist die Indivi-
dualität des einzelnen vor allem mafsgebend, wie man an den drei
grofsen Tragikern deutlich sieht. Aber auch andere Rücksichten
wirken ein ; mehr oder minder wird ein jeder durch Vorgänger und
Mitstrebende bestimmt. Dieser Einflufs äufsert sich bald in positiver,
bald in negativer Weise. Aeschylus meidet absichtlich alles, was an
die Art des Phrynichus erinnert, und bildet in voller Selbständigkeit
seinen eigenen Stil aus.^*"*) Dann wirkt unwillkürlich nicht nur die
fortschreitende Entwicklung der Musik, sondern auch der Geschmack
des Publikums auf den dramatischen Dichter ein. Auch die Zu-
schauer besalsen ein richtiges Verständnifs der Kunst; nicht leicht
gab ('S anderwärts ein so empfängliches und wahrhaft gebildetes
Publikum, wie in Athen. Aristophanes würde nimmer eine so ein-
gehende scharfe Kritik an den Werken der lyrischen und tragischen
Dichter, an den Leistungen der damaligen Musik ausgeübt haben,
wenn er nicht bei seinen Zeitgenossen Sinn dafür voraussetzen durfte.
Aber die Masse pflegt der allgemeinen Strömung zu folgen, und in-
dem die Dichter mehr und mehr allzu willHihrig den Wünschen und
Neigungen der Zuhörer entgegenkamen, mufste die echte Kunst
empfindliche Einbufse erleiden.
Am höchsten steht die lyrische Kunst bei Aeschylus, der den
grofsen Chormeistern, Simonides und Pindar, vollkommen ebenbürtig
erscheint. Unter den Komikern gebührt dem Aristophanes, soweit
wir zu urtheilen vermögen, der Preis. Für Aeschylus sind die me-
lischen Partien der Nerv der Tragödie. Daher tritt der eigenthüm-
liche Charakter seiner Poesien gerade hier uns in seiner ganzen
Grofsheit entgegen. Diese Chorlieder haben etwas wahrhaft Ergrei-
fendes und Erhabenes. Wie sie an Ausdehnung die der jüngeren
Dichter weit überlreflen, so zeigen sie auch die gröfste Mannigfal-
tigkeit metrischer Bildungen, und zugleich bekundet der Dichter das
feinste Gefühl für den ethischen Charakter der rhythmischen Form.'"*)
394) Aeschylus sagt selbst bei Aristoph. Frösche 1298: aXX' ovv fytu ftav
de To xaAov ix rov xaXov f,veyxov av&\ iva ftrj rbv avrur <P^vixV Xtiuäva
MovacSv liQOV oy&eirjv S^eniov.
395) Bfi den Kritikern wird daS rechte Vcrsländriifs und der Sinn für
Bedeutsamkeit der metrischen Form nicht selten vermifsl. So hat man bei Aeschy-
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITUNG. 117
Einzelne Versarten gebraucht Aeschylus nur in beschränktem Mafse,
während er andere sichlhch bevorzugt; so nehmen die iambischen
und trochäischen Strophen eine hervorragende Stelle ein, demnächst
Dochmien und Logaöden, die er in eigenartiger Weise behandelt.
Je mehr der Chor seine frühere Bedeutung einbüfst und die
Tragödie im eigenthch Dramatischen ihren Schwerpunkt findet, desto
mehr schwindet auch der Reichthum der Formen; nicht nur der
Umfang der Chorlieder wird beschränkt, sondern auch die Behand-
lung wird immer schhchter, während sich die Bühnengesänge einer
reicheren Ausstattung erfreuen. Schon Sophokles beschränkt sich
auf einen weit engeren Kreis von Formen, und wie dieser Dichter
scharfe Gegensätze und Contrastc eher meidet als aufsucht, so tritt
uns auch das eigenthümhche Wesen der einzelnen Stilarten nicht
in so klar ausgeprägten Zügen entgegen. Milde und Anmuth ist
der Grundton seiner Lieder, die nicht das Grofsartige und Gewaltige
der Aeschyleischen Chorpoesie zeigen^'®), sondern einen mehr ruhig-
friedhchen Eindruck machen. Wie der Chor des Sophokles etwas
Allgemeingültiges hat, so sagt dem Dichter das logaodische Vers-
mafs am meisten zu. In der leichten Eleganz dieses Rhythmus und
der grofsen Abwechslung, deren er fähig ist, liegt eben von Haus
aus etwas Universelles.
Auch bei Euripides erfreuen sich die Logaöden besonderer
Gunst, aber im Vergleich mit Sophokles treffen wir bei diesem Dich-
ter eine gröfsere Mannigfaltigkeit metrischer Formen^); zumal iam-
bische Strophen und Dochmien nehmen einen breiten Raum ein.
Aber wie bei Euripides das Individuelle mit aller Macht hervorbricht,
wie er den Neuerungen der Musik, die den alten strengen Charakter
immer mehr aufgiebt, wiUig huldigt, hat er auch viel weniger das
Ethische gewahrt. Euripides gefällt sich in einer leichten, glatten,
oft spielenden , oberflächlichen Weise , zumal in den Chorhedern,
lus Perser 548 ff, die trochäischen Strophen durch willkürliche Aenderungen
in iambische verwandelt.
396) Sophokles verfolgt wohl mehr die Richtung, welche Phrynichus ein-
geschlagen hatte; später kann er übrigens dem mächtigen Einflüsse des Euri-
pides sich nicht ganz entziehen.
397) So verschieden auch sonst die Art des Euripides von der des Aeschy-
lus ist, stehen sie doch in dieser Beziehung einander näher und berühren sich
vielfach in der Auswahl der Versgattungen.
118 DRITTE PERIODE V0> 500 BIS 300 V. CHR. G.
während für die Bühnengesänge der Ausdruck des leidenschaftlichen
Pathos aufgespart wird. Dem Euripides ist der liefe feierliche Ernst
des Aeschylus ebenso fremd, wie die milde Würde des Sophokles,
die in ihrer Art nicht minder wirksam ist; überall aber behandelt
Euripides die Form mit einer Freiheit, die bis zur äufsersten Grenze
des Erlaubten geht.
Die meii- Dje Lyrik des Lustspiels hat verhältnifsmSfsig mehr volkslhüm-
tien der üchc Elemente als die Tragödie bewahrt. Man erkennt dies beson-
Komödie. (je^g an der Vorliebe für die Bildung festgeschlossener Versgruppen,
wie für die stetige Wiederholung desselben Vei'ses. Den Ausgangs-
punkt der Komödie bilden Lieder zu Ehren des Dionysus und der
Demeter. Hier waren eben diese einfachen Formen seit Alters üb-
lich; dann aber berührt sich die Komödie, deren Element ebenso
scharfer Spott und Hohn, wie ausgelassene Heiterkeit und Lebens-
lust ist, vielfach mit verwandten Schöpfungen der subjectiven Lyrik.
So hat die alte iambische Poesie, besonders ihr namhaftester Ver-
treter Archilochus, ein Meister in der Kunst der rhythmischen Form-
gebung, vielfach auf Kratinus und seine Genossen eingewirkt. Die
Bildung der Strophen ist in der Komödie meist einfach, aufser wo
die Weise der höheren Lyrik oder der Tragödie nachgeahmt wird;
denn auch hier wird von der Entlehnung und Parodie nicht selten
Gebrauch gemacht.^'*) Im Vergleich mit der alten Tragödie ist der
Umfang der lyrischen Partien mäfsig; der Unterschied beider Gal-
tungen giebt sich auch in der formellen Behandlung der Verse kund.
Gehäufle Auflösungen, wie andererseits der beschränkte Gebrauch der
Synkope harmoniren mit dem leichtbeweghchen Wesen dieser Poesie.
Wir können freilich den Kunslcharakler der Lyrik in der Komödie
nur nach den Leistungen des Aristophanes beurtheilen. Der enthu-
siastische Kratinus wie der feinsinnige Eupolis mögen manches Eigen-
thUmhche geschaffen haben, aber sicher stand Aristophanes ihnen
nicht nach. Er übt mit sicherer Hand seine Kunst, schlägt alle Töne
an und bildet mit vollstem Versländnifs die verschiedensten Slil-
arten nach, die er stets passend für seine Zwecke verwendet. Für
die mittlere und neuere Komödie, welche den Chor fallen läfst, ist
das Melische ohne sonderliche Bedeutung.
39S) Für das im zartesten Tone gehaltene lieMiclie ;in;iitastisilir l.ird m den
Vögeln 209 fl'. mag Aristophanes entweder im Volksgesang oder in der raelischen
Poesie eine Vorlage gefunden haben, aber man darf darin keine Parodie Anden.
DIE DRASUTISCHE POESIE. EI>"LEITU.>'G. 119
Wir finden im Drama die gröfste Mannigfaltigkeit rhythmischer
Formen. Alle Versarten, welche der künstlerische Sinn der Hellenen,
unterstützt von der Bildsamkeit der Sprache, geschaffen hat, treten
uns hier entgegen.^®*) Indem die dramatische Poesie aus diesem
reichen Schatze jedes Mal das Angemessene heraushob, war sie im
Stande, die verschiedensten Stimmungen klar und wirksam auszu-
drücken. Allein auf blofse Abwechslung ist es nicht abgesehen. Zu-
weilen sind in einer Tragödie die Chorheder und Bühnengesänge
hinsichtlich der rhythmischen Bildung nahe verwandt. Bei Aeschy-
lus herrschen in den Eumeniden die Trochäen vor, bei Euripides
in den Schutzflehenden die lamben , in dem zweiten Theile der
Phönissen die Daktylen. Namenthch die alte Kunst Hebt eine ge-
wisse Einfachheit und wendet daher gern dieselben Mittel an, in-
sofern die Rücksicht auf den Inhalt es gestattet. Jede Versart hat
ihren besonderen Charakter, ist der naturgemäfse Ausdruck einer
Stimmung des Seelenlebens. Die Kunst treibt mit diesen Aielgestal-
tigen Formen kein willkürliches Spiel, sondern trifft ihre Wahl mit
stetiger Berücksichtigung des Gedankens und der herrschenden Em-
pfindung.
Wie die einzelne Strophe ein Kunstwerk im vollen Sinne des
Wortes ist, wo jedes Glied in einem bestimmten Verhältnifs zu dem
Organismus der rhythmischen Compositionen steht, so wird in der
Regel eine metrische Grundform festgehalten. Die Verbindung mit
einzelnen fremdartigen Elementen hebt die Einheit nicht auf, son-
dern dient dazu, feinere Nuancen anzudeuten und zugleich jede
Eintönigkeit fernzuhalten. Unter Umständen tritt das secundäre Ele-
ment stärker hervor, so dafs in der Strophe verschiedene Versarten
gleichmäfsig vertreten sind. Man mochte auf dieses Mittel, Abwechs-
lung in die rhythmische Composition zu bringen , um so weniger
verzichten, da für die dramatische Poesie so gut wie für die cho-
rische Lyrik die überlieferte Satzung gilt, dafs der architektonische
Bau der Strophe wie die begleitende Melodie stets neu sein müsse.
Es war nicht gestattet, weder fremde noch eigene Weisen unver-
ändert zu wiederholen.'"*")
399) Nur der sogen. lonicus a maiori oder das Soladeische Versmafs
kommt nicht vor, weil es überhaupt der Literatur der klassischen Zeit fremd
geblieben ist.
400) Nor die Komödie erlaubt sich öfter, wenn sie den Stil der höheren
120 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Das daktylische Versmafs, wie es in der melischen Poesie,
zumal in der religiösen Lyrik, einen breiten Raum einnahm, ist auch
der Tragödie nicht fremd. Die daktylischen Chorheder des Aeschy-
lus, die dieser Dichter häufig anwendet, während sie bei seinen
Nachfolgern nur vereinzelt vorkommen, zeichnen sich entsprechend
dem Charakter dieses Rhythmus durch ruhige Haltung aus, gleich-
viel, ob sie dem Ausdrucke der Gefühle dienen oder epische Schil-
derung vorwaltet. Auch die Komödie bildet zuweilen daktylische
Strophen, wenn sie den feierHchen Ton der höheren Poesie an-
schlagt.^") In Bühnengesängen begegnen wir diesem Metrum erst
in der jüngeren Tragödie, in den späteren Arbeiten des Euripides
und Sophokles.''*'*) Euripides hält in daktyHschen Klageliedern an-
fangs die antistrophische Form fest, geht aber bald zu freieren Bil-
dungen über.
Anapästische Strophen, welche der älteren Lyrik in dem
volksmäfsigen Liede sicher nicht fremd waren, kommen nur vereinzelt
vor'""), weil das Drama von diesem Versmafse anderweitig den aus-
gedehntesten Gebrauch macht. So nehmen namentlich die freien
Anapästen alle Zeit eine bevorzugte Stelle ein.^°*) Diese freien Ana-
pästen sind öfters antistrophisch gegliedert; meist jedoch wird diese
Fessel abgestreift. Wir treffen sie in Chorliedern, wie in Bühnen-
gesängen , oder es theilen sich auch der Chor und die Schauspieler
in den Vortrag. Bei Leichenbestattungen war dieser Rhythmus, der
sich für die aufgeregte Stimmung der Leidtragenden wohl schickte,
offenbar seit alter Zeit in volksmäfsigen Melodien gebräuchlich.^'")
Lyrik oder der Tragödie nachbildet, fremde Strophen zu wiederholen, was für
diesen bestimmten Zweck nothwendig war, und dabei werden doch meist ein-
zelne Abänderungen vorgenommen.
401) Arisloph. Wolken 275. Vögel 1750.
402) Und zwar in Monodien wie in "Wechselgesängcn.
403) Bei Sophokles Oed. R. 168 ist der Parömiacus, der mit daktylischen
und iambischen Reihen verbunden wird, als das primäre Element zu betrach-
ten. Voran geht ein daktylisches Stiophenpaar: das Chorlied hat den Charakter
des Päans. Das anapästische Chorlied der Wächter im Rhesus 527 ist wohl
Nachbildung eines Volksliedes.
404) Nicht nur in der älteren Tragödie bei Aeschylus, sondern auch bei
Euripides finden wir diese freien Anapästen, die besonders durch den rascheren
Takl (es sind dreizeitige Füfse) sich von den strengen sondern.
405) Aeschylus Perser 936 deutet darauf hin, ebenso Aristophanes in den
Fröschen 1302, wenn er den Euripides seine Melodien entnehmen läfst ano
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITOG. 121
Die Tragödie hat diese Weisen im Threnos nachgebildet. Auch in
der alten Komödie sind freie Anapästen eine beliebte Form, welche
nicht blofs zur Nachahmung des tragischen Pathos dient, sondern
auch sonst verwendet wird. In den Anfängen des Lustspiels, bei
den Umzügen der Phallophoren, mochte dieses Versmafs, was ebenso
für Processionsheder wie für die bewegteren Weisen des Watfentanzes
sich eignete, für persönliche Ausfälle verwendet werden ; daher tref-
fen wir es auch noch bei Aristophanes besonders da an, wo eine
leidenschaftliche Aufregung ihren Ausdruck findet.
Trochäische Strophen wendet Aeschylus in seinen Chorge-
sängen mit sichthcher Vorliebe an. Der Bau dieser Strophen ist ein-
fach, der umfang meist mäfsig. Die Grundform des Trochäus wird
überall rein bewahrt. Dieser rasche Rhythmus wird nur dadurch ein
geeigneter Ausdruck für das tragische Pathos, dafs die Reihen in der
Regel katalektisch ausgehen und durch häufige Unterdrückung der
Thesis Würde und Energie gewinnen. Mag nun Wehmuth oder Un-
wille, ruhige Ergebung oder ein Segenswunsch sich in diesen Ge-
sängen kundgeben, der Grundton ist immer ein tiefer Ernst, ein
ruhig -gefafstes Wesen. Aeschylus darf wohl als der Erfinder dieser
Stilart betrachtet werden.''**) Seine Nachfolger scheinen sie nicht
cultivirt zu haben; nur Euripides hat gemäfs seiner eklektischen
Methode sich ein und das andere Mal darin versucht. Auch im Lust-
spiel kommen trochäische Strophen vor, sie zeigen aber einen we-
senthch verschiedenen Charakter und erinnern an analoge Bildungen
der mehschen Poesie.
Ganz nahe verwandt sind die iam bis eben Strophen, die in
der Tragödie eine hervorragende Stelle einnehmen. Der Ursprung
dieser Stilart geht wohl auf volksmäfsige W eisen der Todtenklage und
KaQucäv avXrjftäxojv, d'qrivcov. Dafs dort Aeschylus dem Euripides diesen
Vorwurf macht, darf man nicht urgiren: beide Dichter schöpfen aus gleicher
Quelle , aber jeder behandelt sein Thema in eigenlhümlicher Weise. Gerade
Euripides zeigt für diese Stilart eine besondere Vorliebe; er gebraucht es be-
sobders in Monodien. Hierher gehört auch der Gesang, den Ion im delphischen
Heiligthume anstimmt, V. 82, während sonst dies Metrum in der Regel Aus-
druck wehmüthiger Klage ist. In diesen Gesängen mag besonders die ionische
Tonweise angewandt worden sein, wie die Verse (Schol. Aeschyl. Pers. 936):
avXfi MaqtavBwoii y,a7M^oii xqovcov iaari andeuten.
406) Aeschylus behandelt hier das trochäische VersmaCs ganz nach Ana-
logie der iambischen Strophen.
122 DRITTE PERIODE VOK 500 BIS 300 V. CHR. G.
der Trauerprocessionen zurück.'"") Aeschylus mag sie zuerst kunst-
gerecht ausgebildet haben. Er macht von dieser Galtung noch weit
ausgedehnteren Gebrauch als von den trochsischen Strophen und
offenbart auch hier sein bewunderungswürdiges Talent, mit einfachen
Mitteln die gröfste Wirkung zu erzielen. Nach Aeschylus' Vorgange
bedient sich auch Euripides wiederholt dieser Form*"*), die bei So-
phokles nur ausnahmsweise vorkommt. Der strenge Ernst dieser
Gattung sagte offenbar dem Sophokles, der mehr das Milde und An-
muthige liebt, weniger zu. Die Behandlung der iainbischen Verse
ist dieselbe wie in den trochäischen Strophen. Durch Ausschlufs der
irrationalen Länge wird der rasche Charakter des iambischen Rhyth-
mus gewahrt, während die häufige Synkope Abwechslung und den
Ausdruck energischer Kraft verleiht.^"^) Auflösung der Längen ist
nicht selten; katalektische Verse wechseln mit akatalektischen, kür-
zere Strophen, wie sie in der trochäischen Gattung öfter vorkommen,
sind hier nicht üblich. Die Stilart wird in Chorliedern, besonders
Klagegesängen, aber auch in Bühnengesängen verwendet. Der lam-
bus als ansteigender Rhythmus übertrifft an Energie den Trochäus,
erreicht aber nicht das gesteigerte leidenschaftliche Pathos der Doch-
mien. JNicht blofs Schmerz und Klage, Trauer und Verzweiflung
findet in diesen iambischen Strophen Ausdruck, sondern auch ruhige
Ergebung und ernste Mahnung. Die durchsichtige, mannigfachen
Wechsels fähige Form gestattete die verschiedenen Bewegungen der
Seele wiederzugeben, immer aber tritt uns ein gefafstes Wesen,
heroische Würde entgegen, wie jeder empfinden wird, der achtsam
die iambischen Strophen des Aeschylus durchgeht; denn Euripides
hat zwar mit gewohnter Virtuosität sich die Technik dieser Stilart
407) Hesychius: KuQixa fiikr], dh'yero ris Ka^ixbs (/n'f'fioi ix XQOxaiov
xal iäftßov avyxeiftevoB , wo i^ iäfißov xal XQOx^-iov zu schreiben ist;
denn der sogenannte Antispast ist nichts anderes, als die hier übliche Form
der synkopirten lamben. Darauf zielt auch Arislophanes Frösche 1302 (ano
KaoixMv aiXTjfiäxoiv). Doch gab es auch heitere karische Melodien, vgl. den
Komiker Plato bei Athen. XV 665 D.
408) Wiederholt in den Schutzflehenden imd in den Troaden.
409) Die Synkope wird nicht selten in unmittelbarer Folge wiederholt.
Diese Unterdrückung des schwachen Takttheiles ist eine Freiheit, die aus der
volksmäfsigen Poesie in die kunstgerechte Dichtung übergegangen ist. Der
Tragödie sagt diese Behandlung des Metrums besonders zii und ist offenbar
hier vorzugsweise ausgebildet worden.
DIE DRAMATISCHE POESIE. EL>XErTÜNG. 123
angeeignet, aber ihm fehlt die Seelengröfse und Geistesgewalt des
älteren Dichters. Wenn in der Komödie ähnliche Strophen vor-
kommen, so soll eben der tragische Ton nachgebildet werden. Auch
sonst verwendet die Komödie in mehschen Partien iambische Reihen
und Verse, aber in der Form des geschlossenen Systems, und diese
Bildungen unterscheiden sich sehr bestimmt durch ihren leichten,
beweglichen Rhythmus. lambisch-trochäische Bildungen treffen
wir erst in der jüngeren Tragödie bei Euripides, dann bei Sopho-
kles in seiner letzten Arbeit, und zwar vorwiegend in Bühnenge-
sängen. Diese Stilart ist wegen ihres flüchtigen Charakters für die
Tragödie minder angemessen, desto besser würde sie für die Ko-
mödie passen; aber Aristophanes gebraucht sie nur selten, zum Theil
eben da, wo er die Manier des Euripides parodirt.
Choriambische Verse gebraucht die Tragödie nur in be-
schränktem Umfange, meist als secundäres Element^'"); häufiger kom-
men solche Lieder in der Komödie vor. Hier wird auch nach der
Weise der melischen Poesie dieselbe Versform stetig wiederholt.
Der ionische Rhythmus, der etwas Weiches und zugleich Er-
regtes hat und ursprüngUch den enthusiastischen Gesängen des Diony-
sus- und Demeterdienstes angehört""), wird in der Tragödie zu weli-
müthigen Chorliedern verwendet, in der ersten Epoche häufiger"'^,
bei Sophokles und Euripides nur noch vereinzelt.
Der feierhch- würdevolle Rhythmus der enkoraiologischen
Gattung, wo Daktylen mit schweren Trochäen verbunden werden,
eignet sich vor allem für das tragische Chorlied. Wenn Aeschylus
diese Form nur im Prometheus benutzt hat, so erklärt sich dies wohl
daraus, dafs er die betretenen Pfade mied und nicht mit Phrynichus
zusammentreffen mochte, während Sophokles und Euripides davon
häufig Gebrauch machen. Durch eine gewisse Einfachheit, durch
den meist mäfsigen Umfang der Strophen unterscheiden sich diese
tragischen Chorlieder von den kunstreichen, grofsartigen Bildungen
410) Bei Euripides werden Choriamben in der Parodos der Bacchen theils
mit dem ionischen Versmafse, theils mit Logaöden verbunden.
411) Daher gebraucht Euripides sehr passend diesen Rhythmus in den
Bacchen. Aristophanes benutzt ihn in den Fröschen für den Chor der Einge-
weihten, während er sonst der Komödie fremd ist.
412) Wie z. B. Aeschylus in den Persern.
124 DRLTTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
der melischen Dichter, während sich Aristophanes enger an diese
älteren Muster anschUefst.'"^)
Die Verbindung dreizeitiger Daktylen und Anapästen mit lam-
ben und Trochäen gewinnt in der dramatischen Poesie mehr und
mehr Eingang. Der leichte Flufs dieser Stilart, die sich aufserdem
durch Mannigfaltigkeit empfahl, sagte besonders der jüngeren Tra-
gödie zu und ist auch dem Charakter der Komödie gemäfs. Strophen
aus daktyhschen und trochäischen oder iambischen Versen, sowie
andere aus Anapästen und lamben gebildet, kommen in der Tragödie
häufig vor, und zwar halten gewöhnlich bei«le Elemente sich das
Gleichgewicht. Dagegen Strophen , wo die Trochäen überwiegen,
die Daktylen nur als secundäres Element auftreten, eine Gattung,
für die heiter-anmuthige Mimik des Hyporchems wie geschaffen, pafst
nicht für den gemessenen Ernst der Tragödie, wohl aber für das
Satyrdrama und Lustspiel."'^)
Die logaödischen Verse, durch leichte Eleganz wie Reich-
thum der Formen ausgezeichnet, erfreuen sich nicht nur in der
lyrischen Poesie, sondern auch im Drama besonderer Gunst. In der
Tragödie findet dies Versmafs gleich anfangs Aufnahme und erobert
sich ein immer weiteres Gebiet. Manche Bildungen, wie die glyko-
neischen Systeme, gehen aus der melischen Dichtung auf die Tra-
gödie über. Andere sind ausgeschlossen ; dafür werden neuere For-
men in gröfster Abwechslung geschaffen, da dieses bildsame Versmafs
die gröfste Abwechslung gestattete. In der älteren Tragödie ist der
Gebrauch der Logaöden noch beschränkt; Aeschylus benutzt die-
selben besonders zu Klagegesängen. Diese logaödischen Strophen
hinterlassen nicht sowohl den Eindruck ruhiger Ergebung (dazu
verwendet der Tragiker am liebsten den ionischen Rhythmus) oder
jener leidenschafilichen Aufregung (wie sie besonders in iambischen
Strophen herrscht), sondern sie nehmen eine mittlere Stellung ein.
Daher tritt uns hier eine ungemeine Mannigfaltigkeit der Empfindun-
gen entgegen, die Weichheit steigert sich bis zur Energie der Leiden-
schaft, und in entsprechender Weise wird die Form behandelt; denn
Aeschylus weifs die Vortheile des bildsamen Metrums wohl zu be-
413) Die enkomiologischen Strophen bei Aristophanes sind zum Theil
geradezu Nachbildungen wohlbekannter Lieder des Stesichorus.
414) Solche trochäo- daktylische Strophen finden sich im Kyklops des
Eoripides, dann bei Aristophanes.
DIE DRAMATISCHE POESIE. EI>LE[TL>G. 125
nutzen, ohne der Strenge der echten Kunst untreu zu werden. In
der jüngeren Tragödie gewinnen die Logaöden die allgemeinste
Geltung, zumal in den Chorgesängen; denn zu Monodien werden
sie seltener verwandt. Hier erreicht der Formenreichthum seinen
Höhepunkt, aber es reifst auch eine gewisse Willkür ein, welche
gegen die Gesetze der strengen Technik verstöfst.^") Diese Bevor-
zugung der Logaöden wird dem Sophokles verdankt. Es hängt dies
unmittelbar mit der veränderten Stellung zusammen, welche dieser
Dichter dem Chore an^%ies; dann aber sagte seinem Naturell die
leichte Anraulh und Glätte dieses Rhythmus besonders zu , daher
kein anderer Tragiker diese Versform so bevorzugt hat. Auch die
Komödie verwendet Logaöden gern und auf die verschiedenste Weise,
indem sie gerade so wie im Liede bald dieselbe Versform ununter-
brochen wiederholt, bald die systematische Gliederung anwendet,
endhch aber auch Strophen bildet. Manche Strophenformen sind
der Komödie mit der chorischen Lyrik und der Tragödie gemein-
sam, aber es fehlt auch nicht an eigenthümhchen Bildungen.
Das kretische Versmafs, welches in lebhaften stürmischen
Tanzweisen seine Stelle hatte, sagte eben deshalb der Tragödie we-
niger zu und wird nur selten zu Chorhedern oder Monodien be-
nutzt. In der Komödie ist dagegen dieser Rhythmus sehr beliebt
und tritt theils selbständig, theils in Verbindung mit Trochäen oder
Anapästen auf. Das bacchische Metrum, den Processionsgesängen
des Dionysus eigenthümhch und daher für tragische Chöre wohl pas-
send, erscheint in den uns erhaltenen Denkmälern nur als secun-
däres Element. Desto gebräuchlicher ist der Dochmius. Vermöge
der Anomalie des rhythmischen Verhältnisses und des reichen For-
menwechsels eignet er sich vorzugsweise zum Ausdrucke des tragi-
schen Pathos. Ueberall, wo das Gemüth von leidenschafthcher Er-
regung ergriffen hin und her schwankt, hat dieser unruhig bewegte
Rhythmus seine Stelle. Wir treffen ihn daher zumeist in Gesängen
an, in denen sich tiefer Schmerz oder ohnmächtige Verzweiflung
ausspricht. Aeschylus gebraucht Dochmien auch in freudig erregten
Liedern, wenn das von schwerer Noth und Angst befreite Gemüth
auljauchzt. Die ältere Tragödie verwendet den Dochmius hauptsäch-
415) Namentlich Euripides macht von der Freiheit des Polyschematismus
den ausgedehntesten Gebrauch; dies rügt schon Aristophanes in seiner Kritik
der Euripideischen Melopöie in den Fröschen V. 80.
126 DRITTE PERIODE VOK 500 BIS 300 V. CHR. G.
lieh in Chorliedero, die jüngere mehr in Bühnengesiingen, Sopho-
kles besonders gegen den Schlufs des Dramas nach dem Eintreten
der Katastrophe, Euripides auch an anderen Stellen, und zwar macht
dieser Dichter von dem Formenreichthum des vielgestaltigen Metrums
den freiesten Gebrauch. In der Komödie kommt der Dochmius nur
als Nachahmung des tragischen Stils vor.
Der Vortrag Von der Weise des Vortrags in den einzelnen Theilen des Dra-
im Drama. Hi^s ist CS schwer, eine klare Vorstellung zu gewinnen, da die Ueber-
lieferung ganz unzulängUch ist. Dafs für gewisse Partien die ein-
fache Declamation, für andere der Gesang in Anwendung kam, steht
fest, aber aufserdem gab es auch Stellen, wo die Verse mit musi-
kalischer Begleitung recitirt wurden, und gerade über den Gebrauch
dieses melodramatischen Vortrags wissen wir nichts Verlässiges. Die
iambischen Trimeter, das eigenthche Versmafs für die dramatische
Handlung, wurden einfach gesprochen, sowohl im Lustspiel als auch
im Trauerspiel. Völlig grundlos ist die Vermuthung Neuerer, diese
Verse seien in der Tragödie ohne Ausnahme gesungen oder mit
musikahscher Begleitung melodramatisch vorgetragen worden.^'") Dafs
416) Aristoteles Poet. c. 6 p. 1449 B 29 f. erläutert seine Definition der Tra-
gödie: x^^lä Tols ei'Seai ro Sia fiäTQOiv kvta fiövov nt.qaivtad'ai xai näXiv
i'reoa Siä fiiXovs. Die einfache Declanaation kann doch nirgends anders als eben
in den Versen des Dialoges ihre Stelle haben. Dann c. 26 p. 1462 All, wo er
die Tragödie mit dem Epos zusammenstellt: 8t6ri nävr^ t'xsi oanneQ ^ ino-
Ttotta' xal ya^ (hier ist yjilc^ einzufügen) rt^ (xixQc^ i^eart x^<^^<^if »««t *'t«
ov fiix^ov fiBQOi rT}v fiovffixfjv xai rfjv oxptv ä'xei. Ferner c. 1 p. 1447 ß 25 0",,
wo von den Kunstmilteln Qv&fiös, fitkoe, fiiiQov gehandelt wird, heilst es, die
chorische Lyrik bediente sich derselben afia näaiv (was nicht in nnaat zu
ändern ist), die Tragödie und Komödie xara jueQoe. Auch bemerkt Aristot.
4, 14 p. 1449 A 23 ausdrücklich, dafs mit dem Aufkommen des Dialogs auch das
iambische Versmafs sich sofort eingestellt habe: U^stai Se yevofievtjs airr} rj
(fvau 10 oixslov nixqov evQsv ftäXi,axa yuQ Xexjtxuv ru'v fidn^wv %o iafi-
ßel6v iari xxL (vgl. auch Rhet. 111 1 und 8) und 22, 10 p. 1459 A 11 f.: iv Se
xoie tafißeiois Sia xo oxt fiahaxa Xt'^tv fttfieTdd'ai, xarTa apjuoxxsi xcäv ovo-
ft 'x(ov, oaoi« xav iv Xöyois xie x^riOaixo. L'nd nicht blofs der eigentliche Dia-
log, sondern auch die Qrjaete, gleichviel ob sie eine Thatsache berichteten oder
dem Ausdruck der Empfindung dienten, wurden gesprochen, Plato Rep. X 605 C:
'OfiTiQOv rj alXov xivhs xäiv xpaytoSujnotwv fttfiovftevov xiva xibv r,^o}(ov iv
Ttiv&Ei ovxa xal fiax^av (>i]aiv anoxeivovxn iv xols oSv^ftoU rj xal qSovxiii
xe xal Honxofiivovs, obwohl gerade in diesem Falle zuweilen melodramatischer
Vortrag stattgefunden haben mag. Jene verkehrte Auffassung l>eruhl lediglich
auf einer mi fsverstandenen Steile des PUilarch de mus, c. 2b, ;< über die na^a-
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITUNG. 127
die Trimeter der Komödie für den Gesang ungeeignet waren, zeigt
schon die Behandlung des Versmafses/'^ Die trochäischen Telra-
meter der Tragödie wurden wohl immer gesprochen, wenigstens läfst
sich mehscher Vortrag nicht mit Sicherheit nachweisen, aber die
Flöte begleitete die Stimme des Schauspielers; ob von Anfang an,
oder ob dies eine Neuerung war, die um Ol. 90 aufkam, bleibt
dahingestellt.'"*) In der Komödie darf man für die trochäischen
Verse der Parabase melischen Vortrag voraussetzen.^'^) Dagegen die
dialogischen Partien in der Mitte des Dramas wurden offenbar ein-
fach gesprochen, während sich für den Einzug des Chores, wo die
Flötenspieler vorausgingen, die melodramatische Weise empfiehlt,
lieber den Vortrag der Anapästen ist es schwer, ein sicheres
xaiaXoyfi (Bd. 11 S. 132, A. SS). Bei Archilochus kam sie ab und zu in den
la/ußsia Tor, die gesungen wurden. In der Tragödie, nicht im Dialog (denn
dann wären ja die Trimeter in der Regel gesungen und nur ausnahmsweise
jT^ös aiiitiv declamirt worden), sondern wie Aristoteles Probl. 19, 6 p. 91SA10
bezeugt ey wSaTs, also in den melischen Partien, d. h. vorzugsweise in den ueXt]
azib axT]V7-3 oder wo sonst die Form der aTroleXvftäva gebraucht war. Erst die
Schauspieler der späteren Zeit haben auch für den iambischen Trimeter diesen
Vortrag aufgebracht, Lukian de salt. c. 27 : iviors xal TiegiaStov ra iafxßtia ttai
To 8r} aiaxiOTOv fisXtoSäv ras avfi<pOQas xai fi6v7]S (lies xara/uovTJs) t^s
fonnrs vTiex&wov Tia^exov iavrov. Für diesen Mifsbrauch, den Lukian mit
bitteren Worten rügt {ao?/)ixia), macht er nicht die alten Dichter, sondern die
Schauspieler verantwortlich; diese Verirrung lag um so näher, da man die
melischen Chorpartien aus der Tragödie ganz auszuscheiden pflegte. Diodor
XV 7, 2 überträgt auf die klassische Periode die Sitte seiner Zeit.
417) In den Komödien des Plautus werden die in Senaren gedichteten
Scenen niemals als canlica. sondern als diverbia bezeichnet. — Für die iam-
bischen Tetrameter bei Aristophanes dürfen wir in der Parodos und Epodos
des Chores melischen Vortrag voraussetzen ; die Verse des Dialoges wurden ge-
sprochen.
418) Xenophon Symp. 6, 3: utoneg Nitcoaroaroi 6 v:ioxotri;i Terodfieroa
TXQoe tIv ai'tJbv y.areXsyev; denn nach strengem Sprachgebrauch schliefst xara-
Xdyeiv den Gesang aus. Wenn Xenophon selbst dies als ^8r, zu betrachten
scheint, so bezeichnet dieser Ausdruck im weiteren Sinne auch den melodra-
matischen Vortrag. Nikostratus war tragischer Schauspieler. Dafür, dafs in
der Tragödie trochäische Verse nicht einfach declamirt wurden, scheint Aristot.
Poet. 4, 14 p. 1449 A 24 zu sprechen, wo er dem trochäischen Tetrameter den
iambischen Trimeter als fidXiara Xexrtxbv rcHv fiir^cov gegenüberstellt.
419) Wenigstens spricht dafür Aristoph. Friede 1171, wo mitten im Satze
der Chor von einer melischen Partie zu trochäischen Langversen übergeht; doch
ist es möglich, dafs gerade hier und so überall in der Parabase die naqaxata-
h>yri in Anwendung kam.
128 DUITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V, CHR. G.
Ergebnifs zu gewinnen. Für die aus Dimetern bestehenden Systeme
in der Parodos und Epodos der Tragödie, sowie für die Perikopen,
welche mit melischen Strophen verflochten sind, ist die einfache
Declamation ausgeschlossen. Sie wurden wohl unter Flötenbegleitung
recitirt und vielleicht war diese Weise des Vortrags für die anapästi-
schen Dimeter bei den Tragikern überhaupt Norm; doch mag unter
Umständen auch vollständiger Gesang eingetreten sein.^*°) Wenn die
Komödie den anapäslischen Langvers in dialogischen Partien gleich-
sam als Demegorie anwendet, so ist zwar melischer Vortrag unstatt-
haft, aber die Klänge der Flöte konnten sehr passend diese erregte
Debatte begleiten, wie dies in der Parabase der Fall war."') Aber
ob hier der Koryphäus die anapästischen Langzeilen melodramatisch
oder melisch vortrug, ist ungewifs **''); dagegen die alhemlose Hast,
mit der das den Schlufs bildende System der Dimeter recitirt wurde,
ist mit dem Gesänge, der stets ein gröfseres Zeitmafs beansprucht,
unvereinbar."") Dafs übrigens auch der Komödie gesungene ana-
pästische Dimeter nicht fremd waren, bezeugt Aristophanes selbst.*")
Für die freien Anapästen, sowohl der Tragiker als auch der Komi-
ker, dürfen wir durchgehends melischen Vortrag voraussetzen."**)
420) Für die Anapästen im Clirysippus des Euripides fr. 1 [836 Di.] bezeugt
dies Sextus Empiricus (na^ä rols r^ayixole fielt] xal ardaifia) , ähnlich wohl
auch die Anapästen in den Kretern fr. 2 [475 a Di.] desselben Dichters.
421) Aristoph. Vögel 683 deutet mit klaren Worten darauf hin.
422) Hesychius und Suidas 1 1, 354: dvaTiataza [-oi]' xv^icos ro iv rais
TtttQaßäoeai rtöv yoQÜv aofiara ist nicht entscheidend ; denn nSeiv, qa/ia (aber
nicht fiikoe) wird auch von melodrannatischem Vortrage gebraucht. So läfst auch
das aSovxai Aristoph. Plut. 1209 über den Vortrag der Anapästen in der Exodos
keinen sicheren Schlufs zu.
423) Irrthümlich sagt Pollux IV 112 von dem sogenannten /laxQov oder
Ttvlyos: ßgo-xv fieXvS ^löv kariv dnvevaxi qSöfievov. Richtiger drückt sich
Hephaestion de poem. c. 14 aus: anrevarl Xeyea&ai. Dafs manchmal die eigent-
liche Parabase aus rein lyrischen Versmafsen gebildet wird, ist für die ana-
pästiscben Langverse nicht entscheidend, ebenso wenig dafs das vorangeiiende
HOfifiärtov öfter ein wirkliches fit'loi war. Wo die Parabase aus lyrisciien
Versen bestand, da mag manchmal auch das jtvTyoe ähnlich gebildet gewesen
und als /lilo: vorgetragen worden sein.
424) Aristoph. Vögel 226: ovnoxp fisXioSsXv av TtagauHevä^nat, was auf
das vorhergehende anmuthige Lied in anapäslischen Dimetern zurückweist.
425) Hier ist auch der Dialekt dorisch gefärbt, während die strengen Sy-
steme in Dimetern, sowie die Telrameter den attischen Dialekt hier und da
mit epischen Formen gemischt .festhalten. Doch linden sich ab und zu auch
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITUNG. 129
Das lyrische und dramatische Element waren eigenthch geson- Oekonomic
dert. Die melischen Partien gehören dem Chore, der in den Ruhe-
punkten der Handlung seine Gedanken und Empfindungen kund
giebt, während der Dialog und alles, was gesprochen wird, den Per-
sonen der Bühne zufällt. Indes finden auch Uebergänge statt; wie
sich der Chor ab und zu am Gespräch betheihgt, so bedienen sich
die handelnden Personen, wenn sie von leidenschafthcher Bewegung
ergriffen werden, der lyrischen Form. Im Dialoge liegt vorzugs-
weise der Schwerpunkt des Dramas. Durch den Wechsel der Rede
und Gegenrede wird ebenso der Charakter der handelnden Personen,
wie der Fortschritt der Handlung dargelegt. Bald wechseln mit
schneidender Schärfe Vers um Vers, Halbvers um Halbvers; dann
folgen wieder längere Reden. Eine gewisse natürliche Redegabe ist
dem hellenischen Volke verliehen. Durch die Gestaltung des öffent-
lichen Lebens ward dies Talent frühzeitig entwickelt, zumal in Athen,
wo die Debatten der Volksversammlungen, die Verhandlungen vor
Gericht das allgemeine Interesse in Anspruch nahmen. Dieses redne-
rische Element macht sich daher auch von Anfang an in der Tra-
gödie geltend. Die Scenen, wo Anklage und Rechtfertigung, Angi'iff
und Abwehr mit steigender Lebhaftigkeit, oft mit leidenschafthcher
Erbitterung die scharfe Waffe des Wortes führen, sind in der Regel
mit grofser Kunst und weiser Berechnung der Mittel ausgearbeitet
und verfehlten nicht leicht, auf die Zuhörer, welche den Werth die-
ser Kunst wohl zu würdigen wufsten, die beabsichtigte Wirkung
auszuüben. Uns werden diese Reden, wo die natürhche Empfindung
mehr und mehr durch dialektische Kunst ersetzt, die überzeugende
Kraft der Wahrheit spitzfindiger Beweisführung aufgeopfert wird,
nicht sehen kalt lassen; es gilt dies namentlich von der jüngeren
Tragödie, die den Einflüssen der sophistischen Bildung sich nicht
entziehen kann.***) Monologe, in welchen die Handelnden ihre Lage,
ihre Zustände und Absichten darlegen, sind nicht gerade häufig.^*^
in strengen Systemen Dorismen, wie bei Euripides Medea (97 f. 111 f. 144 ff. 163),
was auf Gesang hindeutet; nur fragt sich, in wie weit auf die Ueberlieferong
des Textes Verlafs ist.
426) Aristoteles Poet. c. 6 p. 1450B 7 bezeichnet treffend den Unterschied:
Ol fiiv yag o(>;faM>* Ttohrixcös inoiovv leyovras, ol 8e vvv ^r;roQtxcäi , indem
er mit Recht die charaktervolle Beredsamkeit der berechneten, künstlichen Rhe-
torik des Verstandes vorzieht.
427) So der Monolog des Prometheus im Eingange der Tragödie, der des
Bergk, Griech. Literaturgeschichte IH. , 9
130 DRITTE PERIODE \0y 500 BIS 300 V. CHR. G.
Desto beliebter ist die Form des Botenberichtes und Erzählungen
verwandter Art, welche fast in keiner Tragödie fehlen und zuweilen
selbst im Ausgange des Stückes verwendet werden, indem die Kata-
strophe nur berichtet wird, was eigentUch dem Wesen der drama-
tischen Poesie widerspricht. Man darf darin nicht blofs die Macht
des Herkommens, eine Erinnerung an die Anfänge des Dramas er-
blicken, sondern schon weil auf der griechischen Bühne aus con-
ventionellen Rücksichten manches nicht dargestellt werden durfte,
konnte man auf dieses Auskunftsmittel nicht verzichten. Indem
ferner der beschränkte Umfang des griechischen Dramas den Dich-
ter nöthigte, seinen Stoff möglichst zu concentriren, leistete das Ein-
mischen erzählender Partien erwünschte Dienste; daher greift auch
Euripides , der jene Beschränkung am meisten empfand , so häufig
zu dieser epischen Form.
Die lyrischen Partien der Tragödie zerfallen in Chorlieder
und Gesänge der Schauspieler^'^); diese sind wieder entweder
Monodien oder werden abwechselnd von mehreren vorgetragen.**®)
Dazu kommen die Klagelieder""), in denen die Tragödie ihren
Höhepunkt erreicht. An diesen betheihgen sich der Chor bald allein,
bald auch die handelnden Personen. In einem solchen Liede lösen
sich einzelne Choreuten oder auch Abtheilungen ab, während die
eigentlichen Chorgesänge in der Regel vom gesammten Chore vor-
getragen wurden. Dies ist das unterscheidende Merkmal.''^') Doch
Ajas, ehe er Hand an sich legt. Nur Euripides macht besonders im Prolog
ausgedehnten Gebrauch von dieser Form.
428) Xoqmä und ihnen gegenüber ra ano axijv^e (auch axijvixd, axtj-
vixr, ipSrj).
429) Man unterscheidet daher die /lovipSla und to afioßaia. Schon Ari-
stophanes in den Fröschen 1330, wo er die lyrische Kunst des Euripides kriti-
sirt, stellt das (xoQixa) fiehj dem xäiv /lovqfStüiv tqötios gegenüber; daher
rühmt sich auch Euripides ebendas. 944, er habe die Tragödie mit Monodien
ausgestattet {aver^sfov fiovwSiais). Die Monodie , als die beliebteste Form,
vertritt hier die Bühnengesänge überhaupt. Auch die Grammatiker berücksich-
tigen vorzugsweise dieses Moment, Eukleides: axrjvixov 8i iaxiv, ornv toJv
vnox^ircüv {ets) eie c^Sfjv <ps^Tjrai.
430) Kofifioi.
431) Aristoteles bezeugt dies Poet. c.i2 p. 1452 B 16: xo^ixo*', uai xovxov
X fiiv nrtQoSos, x6 Si axdaiftov xoivd fiev dnävxtav xavxa, i'Stn 8i xd dno
xfie cxr^vrj« xai xöfifiot. Freilich ist der Sinn dieser Worte vielfach mifsverslanden
worden; indem man S^aftäxtov zu dnävxotv ergänzt, versteht man darunter alle
DIE DRAMATISCHE POESIE. EIISLEITUNG. 131
darf man nicht jede lyrische Partie, wo Choreuten und Schauspieler
zusammenwirken, für einen Kommos ansehen ; nicht sehen wechselt
der meUsche Vortrag des Schauspielers mit dem vollstimmigen Chor-
gesange ab/^^)
Unter den Chorhedern mufs man vor allem die Parodos vom ChorUeder.
Stasimon unterscheiden. Die Parodos ist der Gesang, welchen der
Chor bei seinem ersten Auftreten vorträgt.^) Diese Einzugsheder
drei Gattungen der dramatischen Poesie, während Aristoteles doch nur von der
Tragödie handelt. Will man also S^a/zdrcov suppliren , so mufs man die Be-
merkung auf die Tragödie beschränken, und der Sinn wäre, Parodos und Sta-
sima kommen in jeder Tragödie vor, sind nothwendige Theile, nicht aber
Bühnengesänge und Klagelieder. Für diese Auffassung liefse sich mit ge« issem
Schein geltend machen, dafs der Bühnengesang sich erst später in der Tragödie
selbständiger entwickelt, während die eigentlichen Klagegesänge vorzugsweise
der alten Tragödie angehören; allein xotv/ wäre dann ein sehr entbehrlicher
Zusatz und nicht minder auffallend der Ausdruck iSia. Koiva anävrcov ist ge-
radeso zu fassen, wie nachher xöfifios d'Qr^vos xoivbs %oqov xai ano axr,vr^s.
Die Parodos und das Slasimon werden nach Aristoteles von dem gesammten
Chore {aTtavree), Bühnengesänge und Kommoi von Einzelnen vorgetragen: es
ist dies naturgemäfs und gewifs auch mit der Praxis in Uebereinstimmung; nur
hat man sich unter Umständen auch von der Regel abzuweichen erlaubt. "iSta
{aa/iaxa) ist der Kunstausdruck für Gesänge, die von Einzelnen, sowohl Schau-
spielern als Choreuten, vorgetragen wurden, s. Biographie des Sophokles: (fvai
8i ^A^iarö^evos, eis TtQcöros rwv ^A&r^vr,at 7iotrjT(öv tiiv 4>Qvyiav (isXoTtoitav
eis ra iSia aofiara TtaqsXaße, worunter eben Monodien und dergleichen zu
verstehen sind.
432) So in der Regel, wenn die Parodos oder ein Stasimon die Form der
melischen afioißaXa zeigt, wo der Chor als Gesammtheit den Schauspielern gegen-
übertritt : entschieden irrig rechnen die Neueren auch solche Partien zu den xc/tfioi.
Zuweilen findet auch hier Einzelvortrag der Ghoreuten statt; dann ist gewöhn-
lich der poetische Text in kurzen, abgerissenen Sätzen unter die Sänger vertheilt.
433) Die Parodos folgt gewöhnlich auf den Prolog. Nur in den Persern,
den Schutzflehenden und dem Rhesus wird das Drama mit der Parodos eröff-
net; verschieden ist das Verhalten im Philoktet, wo der Chor mit Odysseus
und Neoptolemus zugleich auftritt, aber erst nach dem Prologe seinen Gesang
beginnt. Die Parodos ist das Einzugslied des Chores, Pollux IV 108: tj fiev
EiaoSos TOI )fOQot' Tiä^oSos xaX^lrai. — Die Definition der nÜQoSos bei Aristo-
teles Poet. c. 12 p. 1452 B 22: -/oqixov 8e nÖQoSos uev fj tc^coti] /tf'liä oXov
Xoqov, axaaiftov Se fiiXos x^QO"^ ^o ^vbv dvanaiarov xai TQOx,alov könnte
ausreichend erscheinen, wenn nur die Erklärung des aiäoi/iov, die ein blofs
negatives Merkmal angiebt, welches noch dazu kaum verständlich ist, befrie-
digen könnte. Die lückenhafte und verderbte Ueberlieferung des Aristotelischen
Textes (wiederholt von dem Grammatiker, den Tzetzes jtBQi rgayc^Sias 51
[Rhein. Mus. IV 402 ff. ed. Dübner] ausschreibt) gab schon im Alterthume zu
9*
132 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
sind nicht nach einem bestimmten Schema gearbeitet. Wir finden
mannigfaltige Formen, und man darf nicht glauben, dafs die uns
erhaltenen Tragödien auch für jede Bildung Belege darbieten. Die
Parodos wird in der älteren Tragödie gewöhnlich durch eine bald
gröfsere, bald geringere Anzahl anapäslischer Dimeter eingeleitet ^^^),
allerlei willkürliclien und verfehlten Aenderungen Anlafs. Aristoteles wird ge-
schrieben haben: naQoSos ftev ri nQanrj Xi^ts oXov xoQOv ((lexa) avanai-
axov xai r^oxot-lov, aräatfiov 8e fis'Xos (oXov) xoQOv xo {ftsra^v 8vo
ineiaoSC oiv). Die letzten Worte /lera^v Svo ^7r£tffo^t<üf waren ausgefallen;
una nun die unentbehrliche Definition des arafftuov zu gewinnen, bildete man
sie der Erklärung der Parodos nach, indem man unverständig das positive Merk-
mal in ein negatives verwandelte. Wie die Verderbnifs successiv zunahm, liefsen
später die Abschreiber die Worte f*era avanaiarov xal r^oxaiov aus. Mancher
wird vielleicht vorziehen avev avanaCaxov xai r^oxaiov der Definition der
Parodos hinzuzufügen und dann einfach eine Lücke anzunehmen, wo dann
ävev in dem Sinne von ;^a>pi.'s zu fassen wäre, so dafs Aristoteles damit an-
deutete, die Anapästen und Trochäen würden nicht vom ganzen Chore vorge-
tragen; denn dafs er diese Partien als zur Parodos gehörig betrachtet, ist
gewifs. Allein jene Erklärung der Worte ist hart, viel einfacher ist fisrn; da-
durch wird die Verbindung anapästischer und trochäischer Partien mit der
Parodos klar ausgesprochen ; über die Verschiedenheit des Vortrags spricht sich
Aristoteles nicht weiter aus. Anapästische Systeme als Einleitung der Parodos
finden sich nicht nur bei Aeschylus ganz gewöhnlich, sondern auch bei Sopho-
kles im Ajas und kamen gerade bei diesem Dichter wie bei anderen öfter vor.
Trochäen in der Parodos der Tragödie bezeugt ausdrücklich Schol. Aristoph. Ach.
204, und in den Persern des Aeschylus V. 155 geht die Parodos zu diesem Metrum
über. — Es ist reine Willkür, wenn Eukleides den Ausdruck Parodos auf die
Einzugslieder beschränken wollte, welche ganz bestimmt den Charakter eines
Marschliedes an sich tragen, wo man aus den Worten selbst entnimmt, dafs
der Chor sich fortbewegt, wie im Orestes V. 140 f. Die Definition des Euklei-
des : TiÜQoSös iartv coSt] xoQO^ yivofievt] (richtiger und vollständiger Schol.
Eur. Phoen. 202 ßaSi^ovroe aSofisvrj) afia rfi slaöSco, (oaneo iv ^Ogiarr}
liefse sich zwar mit der hergebrachter Vorstellung vereinigen; aber der eigent-
liche Sinn jener Worte wird klar, wenn man siebt, dafs Eukleides die Parodos des
Hippolylus V. 121 fT. für ein Stasimon erklärt, welches der Chor auf seinem Stand-
orte ruhig verweilend (a-iäe) vorgetragen habe. In diesem Falle wird Eukleides
den vorausgehenden Jägerchor V. 61 ff. als Parodos behandelt haben (s. A. 445),
aber vielen Tragödien mufste er dann die Parodos ganz absprechen, weil sich
keine Andeutung der Bewegung vorfand: so der Schol. Eurip. Phoen. 202, der
dem Eukleides folgend diese Parodos (als solche auch von Schol. Aescb. Pers.
Arg. anerkiinnt) für ein Stasimon erklärt, dabei aber unverständig die gewohnte
Erklärung festhält, Stasimon sei das auf die Parodos insrn rr,v nägoBor) fol-
gende Chorlied, die nun nicht mehr pafste.
434) So bei Aeschylus, bei Sophokles im Ajas, dann im Rhesus (nur fin-
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITUNG. 133
welche der Roryphäus eben während des Einzuges in die Orchestra
Tortrug.''") Dann sang der gesammte Chor die melischen Strophen,
indem er dabei die Thymele umwandelte/^®) Oefter aber ward, in-
dem der Chor seinen gewöhnhchen Standpunkt auf der Orchestra
einnahm, der Gesang noch weiter fortgesetzt, namentlich bei Aeschy-
lus, der so Gelegenheit hat, die Fülle grofser Gedanken, die er gern
gleich im Eingange der Tragödie auszusprechen Hebt, zu entwickeln,
wie z. B. im Agamemnon und in den Persern."'')
Indem man den Umfang der Parodos mehr und mehr be-
schränkte, Uefs man die einleitenden Anapästen fort und ersetzte
sie durch ein Musikstück. Der Chor begann seinen Gesang erst,
nachdem er sich auf der Orchestra befand.*^) So besteht die Pa-
rodos nur aus den melischen Strophen des Chores. Dies ist, wenn
keine Bühnen person anwesend war, später die übliche Form. Allein
in der älteren Tragödie werden zwischen die melischen Strophen
auch anapästische Perikopen eingeschaltet."^) Indem der Vortrag
des Koryphäus den Gesang der Choreuten ablöst, wird Abwechslung
det sich hier die Form der afioißala). Aeschylus gebraucht solche anapästische
Perikopen zuweilen auch als Einleitung der Stasima ; der jüngeren Tragödie ist
dies fremd. Eigenthümlich ist, dafs die Parodos in der Hecuba des Euripides
nur aus Anapästen besteht. Die Stelle der Anapästen vertraten offenbar zu-
weilen auch trochäische Langverse, s. A. 384.
435) Die Zahl der Verse ist oft viel zu grofs, als dafs der eigentliche
Einzug zu ihrem Vortrag ausgereicht hätte; der Koryphäus setzte offenbar seinen
Vortrag auf der Orchestra fort.
436) Ursprünglich stimmte der Chor ein Lied zu Ehren des Dionysus
an; daher ist auch die Form der Trias (Strophe, Gegenstrophe, Abgesang), die
eigentlich dem Hymnus zukommt, in der Parodos auch noch später sehr be-
liebt.
437) Dieser zweite Theil der Parodos nimmt dann den Charakter des
Stasimonsan; daher wird wohl a^ich in solchen ausgeführten Einzugsliedern die
Epode in der Mitte gefunden (aufser Aeschylus' Agamemnon auch bei Euripides'
Phönissen, indem eine Strophentrias die Parodos eröffnet), während sie in den
Stasima nur am Schlufs vorkommt.
438) So bei Aeschylus in den Choephoren, wo der Chor, den Orestes
alsbald bemerkt, stumm, aber von der yjilij avlr^an begleitet, hereinzieht und
erst nach dem Schlüsse des Prologs sein Lied beginnt. Im König Oedipus
ziehen die Greise und Kinder, welche während des Prologs anwesend waren,
ab, und die Greise kommen als Chor wieder; Musik geht dem Chore voraus.
439) Wie in der Antigone des Sophokles; eigentlich ist nur die Stellung
der anapästischen Perikopen verändert.
134 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
gewonnen. Dieselbe Form findet sich auch, wenn bei dem Einzüge
des Chores Schauspieler auf der Bilhne anwesend sind; dann werden
die anapästischen Perikopen dem Schauspieler zugetheilt.'"") So stehen
sich die handelnden Personen und der Chor nicht fremd oder theil-
nahmlos gegenüber. Die jüngere Tragödie giebt jedoch in diesem
Falle auch den Schauspielern mehsche Strophen.**')
Nur ausnahmsweise tritt der Chor zuerst auf der Bühne auf,
wie bei Aeschylus in den Sieben , wo die thebanischen Jungfrauen
sich zu den HeiUglhümern der Königsburg begeben, um den Schutz
der Götter für die bedrohte Stadt anzurufen. Hier ist die Bühne
frei, wahrend sonst die handelnden Personen gegenwärtig sind, so-
bald der Chor auf dieser ungewohnten Stätte erscheint.*") Es ist
immer innige Theilnahme an dem Schicksale der Handelnden, leb-
hafte Neugier, leidenschafthche Aufregung oder irgend ein beson-
derer Anlafs, welcher den Chor auf die Bühne führt. Die strenge
Ordnung erscheint hier aufgelöst; die Form des feierhchen Einzugs-
Hedes pafst hier nicht, die antistrophische Form kann mit freien
Bildungen vertauscht werden, der vollstimmige Gesang des Chores
sich in einzelne Stimmen auflösen ; mit den Bühnenpersonen werden
meist kurze Reden gewechselt.*")
440) So bei Aeschylus im Prometheus (nur ist der Chor hier nicht auf
der Orchestra), bei Euripides in der Medea (wo zwei Schauspieler sich bethei-
ligen), eigenthümlich im Ajas des Sophokles, wo nach der eigentlichen Pa-
rodos (eine Trias), welche durch Anapästen des Chores eröffnet war, anapä-
stische afioißala der Tekmessa und des Chores folgen; zum Schlüsse singt der
Chor wieder zwei Strophen, unterbrochen durch Anapästen der Tekmessa.
441) Vgl. Sophokles' Elektra und Euripides' Elektra (von Plut. Lys. c. 15
als Parodos bezeichnet).
442) So bei Sophokles im Oedipns auf Kolonos, bei Euripides im Orestes,
etwas anderer Art bei Aeschylus in den Eumeniden, wo der Chor der Rache-
göttinnen zuerst schlafend im delphischen Tempel dargestellt wird. Im Pro-
metheus erscheint er mit Hülfe einer Maschine über der Bühne. Werthlos ist
die Bemerkung Schol. Hephaest. 128: näqoSoi xakclxat rj n^cinj rmv xoQ^
dnl r^v axTjvrjv ei'aoSos, welche auf die römische Zeit geht.
443) Bei der Parodos auf der Bühne haben die xofiftmixrt ihre Stelle,
wie im Oedipus auf Kolonos und im Orestes (hier ist überhaupt der Antheil
des Chores auf das geringste Mafs beschränkt). Diese Einzugslieder haben eben
viel Abweichendes; nur die Parodos im Prometheus gleicht einer gewöhnlichen
Parodos; der Chor tritt nur deshalb zuerst gleich auf der Orchestra auf, weil
die Okeaniden als Göttinnen mit Hülfe der Maschine eingeführt werden.
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITÜ>G. 135
Die Bühne ist für die Schauspieler bestimmt; der Chor darf sie
nur vorübergehend benutzen und vertauscht sie alsbald mit der Or-
chestra. Daher betrachtet man in diesem Falle das erste Lied, wel-
ches der Chor von seinem gewohnten Platze aus vorträgt, nicht
unpassend als die Parodos der Tragödie."^ Der Chor kann aber
auch zeitweilig während der Handlung abtreten; sein Wiedererscheinen
nannte man Epiparodos/")
Das Auftreten des Chores wird in der Regel schicklich moti-
virt; entweder giebt der vorangehende Prolog, indem er das Er-
scheinen des Chores ankündigt, den nöthigen Aufschlufs, oder der
Chor theilt selbst das mit, was zum richtigen Verständnifs der Situa-
tion erforderhch ist.'"®) Nur Euripides verfährt öfter mit einer ge-
wissen Sorglosigkeit auch da, wo die Verhältnisse des Chores ein
genaueres Motiviren verlangen. Das Einzugslied erinnert nicht selten
an rehgiöse Gesänge, besonders Hymnen oder Processionslieder^");
anderwärts zeigt es auch den Charakter eines Marschliedes oder eines
444) Plutarch an seni s. resp. ger. 3 bezeichnet daher das erste Stasimon
des Oedipus auf Kolonos V, 66S als nÖQoSos, weil erst hier der Chor sich auf
der Orchestra befindet. Doch wird dieser Sprachgebrauch nicht streng beobach-
tet ; der Schol. Aristoph. Wespen 270 nennt das zweite Lied im Prometheus,
wo der Chor die Orchestra betritt, V, 397 ein aräatfiov.
445) Pollux IV 108 : ^ Se xarä j^oe^av s^oSoi cos 7iä?.iv etaiövroav fierd-
araais , t} 8e fiexa ravzrjv ei'aoSos iniTtaooSos. So im Ajas des Sophokles,
wo der Scholiast zu V. S13 bemerkt: ueraxiveiTai tJ ascr^vfj rov z^pov i^sX-
■d'övros, avayxaia 8s t} S^oBos, iva ev^rj xaiQov 6 yä'i'as ;f£tß(yffao'^«» eavrov.
Ebenso in der Alkestis des Euripides, s. Schol. 918, der sich auf den Ajas be-
ruft, und in der Helena, wo der Chor V, 385 sich mit Helena entfernt und
V. 515 wiedererscheint. Der Grammatiker Eukleides weicht auch hier von
dem wohlbegründeten Sprachgebrauche ab, wenn er sagt: iTtirtä^oSos Se iariv,
oxav ireoos xooos dfixvrjrat zov nooxioov 7ta^£?.d'övros, indem er im Hippo-
lytus das Lied des Jägerchores (der als Nebenchor zu betrachten ist) als Par-
odos, das Einzugslied des eigentlichen Chores als Epiparodos und zugleich,
weil es nicht den Charakter eines Marschliedes hat, als Stasimon bezeichnet.
(S. A. 433.)
446) Schol. Aesch. Pers. Arg. : na^oSixä , ore ke'yst 5t' ^v airiav TxaQ-
Eariv, ähnlich Tzetzes n. rgay. 35, wo er wahrscheinlich den Dionysius aus-
schreibt. Schol. Soph. Antig. 100: inel xal ras nQOfäasis rr,s siaöSov rcäv
XOQÖJv Tti&avds elvai Sei, und ebendas. 155 die richtige Bemerkung, dafs der
Dichter mit besonderer Kunst die nöthige Aufklärung für den Schlufs aufgespart
habe.
447) Die Parodos im König Oedipus kann man mit einem Päan ver-
gleichen.
136 nniTTE Periode von 500 bis 300 ?. chr. g.
Klagegesanges/") Bei Aeschylus, wo der Chor niemals zur Bedeu-
tungslosigkeit herabsinkt, ist das Einzugslied kein blofser Schmuck
des Dramas, sondern erfüllt den Zweck, die Zuschauer auf die be-
vorstehenden Ereignisse vorzubereiten und ihr Gemüth in die rechte
Stimmung zu versetzen, in wirksamster Weise. Besonders umfang-
reich, gewichtig, inhaltvoll ist die Parodos, wenn der Dichter die-
selbe benutzt, um den Grundgedanken klar auszusprechen; ander-
wärts spart er dies für ein späteres Chorlied auf, wenn die Handlung
an einem entscheidenden Punkte angelangt ist/^^)
Wie der Chor lebhaftes Interesse an der dramatischen Hand-
lung nimmt, so begleitet er jeden Abschnitt mit seinem Urtheil,
seinen Wünschen und Erwartungen. Obschon der Chor seine An-
sicht auch den handelnden Personen gegenüber theils durch seinen
Sprecher, theils durch seine Gesammtheit kund giebt, so tritt doch
seine Thätigkeit vorzugsweise dann ein, wenn die Bühne momentan
frei ist. Wie die Parodos den Uebergang vom Prolog zum ersten
Auftritt vermittelt, so trägt auch der Chor am Schlüsse jedes Auf-
trittes ein bald längeres, bald kürzeres Lied vor. Diese Chorlieder,
wodurch die Abschnitte der dramatischen Handlung markirt werden,
heifsen, eben zum Unterschiede von der Parodos, Stasima*"), eben
448) So unter anderen die Parodos in den Choephoren, die eine Art d-Q^-
vos (nicl)t xofifios) ist.
449) So in den Eumeniden V. 490— 565; auch im Prometlieus findet sich
das bedeutsamste Cliorlied 526 — 560 in der Mitte der Tragödie, ebenso bei
Sophokles in der Antigone V. 582—625.
450) Die Definition des Stasimons bei Aristoteles c. 12 p. 1452 B 23,wie sie
oben A. 433 vermuthungsweise hergestellt wurde : axäai/xov de fiih>s {o)mv) xoqov
%o {ftera^v Svo insiaoSioiv) entspricht allen Anforderungen; denn das aräaifiov
wird vom ganzen Chor vorgetragen (Aristoteles selbst sagt vorher von der Paro-
dos und dem aräaifiov, sie wären xoiva anävrcov) und tritt da ein, wo die Hand-
lung zu einem Ruhepunkte gelangt ist. Hier ist der schickliche Moment für die
ßetrachtungen des Chores, und zugleich wird Raum gewonnen für das, was
inzwischen aufserhalb der Bühne vor sich geht. Die Definition des Chorliedes
der Komödie neql xtoftc^Siae X d 8 (der Verfasser benutzte ein vollständigeres
Exemplar der Aristotelischen Schrift) ;^o()txt')v iari rh vno tov xoQOv fiiXoe
qSöfiet'ov, örav i'xij fie'ye&os ixavöv, fügt ein weiteres Merkmal hinzu; dadurch
werden die kurzen Chorlieder innerhalb der Epeisodien, wie z. B. Aeschylus*
Schutzfl. 418 — 437 ausgeschlossen. Dagegen rrept xcoftt^SiasWtn 30 ftiXos xa-
hilxai XOQOV ist lückenhaft; schon Tzelzes negl xcoftioSint 13 hatte keinen
besseren Text vor sich. — Weshalb diese Chorlieder den Namen mäaifia füh-
ren, ist streitig, ^znaifiov /tiXoe bildet eigentlich den Gegensatz zu fuXos
DIE DRASUTISCHK POESIE. ELNLEITOG. 137
weil der Chor jetzt seinen gewohnten Standort auf der Orchestra
einnimmt, nicht aber, wie meist die ahen Grammatiker berichten,
weil er während des Vortrages unbeweglich dastand. In der alten
iQÖxtH^ov, ßaaifiov (Sophokles im Thamyras fr. 22S Di.: TtqönoSa fitlea' xa 8^
oaa xXvofiev TQoxifitt ßäaifia x^Qeai TtoSsat, wo vielleicht Tt^önoXa zu lesen
ist). Daher ist araaifiov so viel als ruhig, gemessen. Aristoteles gebraucht es
Probl. XIX 4S p. 922 B 14, Pol. IX 7 p. 1342 ß 13, wo er von Melodien redet, als
gleichbedeutend mit (isyaXonQEntiS, vgl. auch Athen. XIV 629 D. Allein auf den
Charakter dieser Lieder, der höchst mannigfaltig war, darf man den Namen axä-
aiftov nicht beziehen, sondern sie heifsen axäaifia im Gegensatz zur TtagoSos,
weil der Chor jetzt seinen gewohnten Standort auf der Orchestra einnimmt {axa-
ffts, vgl. Photius xqIxos a^iaxsQov, Hesychius ino-MX-niov, Schol. Aristoph. Friede
733 ; dieser Ort war durch yga/^/uai genau bezeichnet), während er bei der Paro-
dos in die Orchestra einzieht, um zu dieser Stelle zu gelangen. Dem Wahren
kommt ziemlich nahe Schol. Aesch. Pers. Einl. : xcSv '/oq^v xa fiev iaxt nagoStxd,
oxs Xiyst, Si' T]v aixiav nägsaxiv, — xa Se axäatfxq, oxe laxaxat (d. h. 6 %o^oe,
denn schwerlich war der Ausdruck axdaifiov mit dem Stillstehen der Handlung
auf der Bühne in Verbindung gesetzt) xal uQx^a^ t^s av/xfogäs xov Sgäf/axos
(die offenbare Lücke ist etwa durch ^Xeos xal foßos auszufüllen), xd Se xo/i--
fiaxixd, oxe Xomov ev d'QTivcg yivexai, eine Definition, die vielleicht auf Dio-
nysius von Halikarnafs zurückgeht. Daran schliefst sich Tzetzes negi xoaycpS^
48 ff. an, wonach das Stasimon der Protasis des Dramas angehört, während bei
der Epitasis seine Stelle durch die efjLfibXeia (Tzetzes 58 ff.) ersetzt ward. Allein
nach der gewöhnlichen Auffassung der Grammatiker ist das axäaifiov deshalb
so genannt, weil der Chor ruhig auf der Orchestra stand, Schol. Eurip. Phoen,
202 : oxav 6 x^Q^s fuxd xr,v naQoSov Xeyr] xi fie'Xos ävr;xov xrj vTto&east dxi-
vrjxos fiivoiVf axdaifiov xaXelxai, ebenso Etym. unter axdaifiov: oxav 6 xoode
fiexd xf]v TidqoSov Siaxid'r/xai xi fievcav dxivr^xos TtQos xrjv vTCod'eaiv dv{r^xov),
Eixoxojs dv axdaifiov Xiyoixo. Aehnlich ebendas. TtgoacoSiov wird axdatfia fieXi]
erklärt, jedoch ohne bestimmte Beziehung auf das Drama, Schol. Aristoph.
Frösche 1281 (irrthümlich mit dem dort gebrauchten Ausdruck axdais fieXoiv
in Verbindung gebracht, wodurch Neuere sich haben irre leiten lassen), Suidas
II 2, 886 (wo man den Zusatz tj axdaifiov x6 xa^axcäSes ganz absondern mufs).
Die Erklärung in den Excerpten aus Eukleides: aidaifios Si oxav XQV Xe'yeiv axd-
aifiov (lies axdatfios 8e, oxav uqxV^^^ Xeyeiv axds xi fieXos), von
Tzetzes mehrmals wiederholt, würde kaum Erwähnung verdienen, da sie mit
der traditionellen Auffassung stimmt, wenn er nicht eben davon ausgehend den
Begriff der Parodos anders zu fassen versucht und deshalb das Einzugslied im
Hippolytus für ein Stasimon erklärt hätte. Die Vorstellung der alten Gram-
matiker, welche die Orchestik vom Stasimon so gut wie ganz ausschlieCsen, ist
hervorgerufen durch die Klagen der Komiker über den Verfall der Tanzkunst
in der Tragödie (der Komiker Plato bei Athen. XIV 628 E sagt von den tragi-
schen Chören seiner Zeit: vvv 8^ otaneQ dn6'nXr,xxoi axdSrjv iaxöixes cogvovxai);
vor allem aber wurden sie in dieser Ansicht bestärkt, weil in der römischen
Zeit der Tanz bei Aufführung der Tragödie vollständig wegfiel.
138 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Tragödie begleiten orchestische Bewegungen nacli Mafsgabe des In-
haltes bald lebhafter, bald mehr gemessen ein jedes Chorlied; die
jüngere Tragödie ermäfsigl dieses Element*"), hat jedoch niemals dar-
auf verzichtet. So findet sich in der Regel an schicklicher Stelle
in jenem Drama wenigstens ein Stasimon, welches vorzugsweise
mannigfaltige Tanzfiguren, sowie lebhafte Mimik erheischt"") und
öfter unwillkürlich an die rauschende Lust der Dionysischen Fest-
feier erinnert, wie in den Trachinierinnen des Sophokles, nachdem
die freudige Kunde von der bevorstehenden Heimkehr des Herakles
angelangt ist."*") Sophokles pflegt ein solches heiteres, leichtes Lied
mit entsprechenden Tanzweisen öfter unmittelbar vor der Katastrophe
einzulegen.*") Während der Zuschauer schon den traurigen Aus-
451) Cheironomie und Mimik mochten hier mehr und mehr die eigent-
lichen Tanzweisen ersetzen oder doch die Bewegung bedeutend ermäfsigea
(Athen. XIV 629 D, wo er den Charakter der Tanzweisen schildert, verbindet ora-
aificäreQa xai noiytiXwTeqa xal rfjv OQxrjdtv anXovars'^ar i'xovra); vielleicht
ward auch die musikalische Begleitung entsprechend modificirt, indem beson-
ders bei diesen Stasima Citherspiel zur Flöte hinzutrat. Wenn in einem Sta-
simon die Epodenform vorkommt, war wohl auch ein Umzug um die Thymele
damit verbunden.
452) Den Grammatikern ist dies nicht entgangen; daher unterschieden sie
vom araaifiov entsprechend der ihnen geläufigen Vorstellung die dfifieXeta,
d.h. nicht den tragischen Tanz, sondern eine Gesangspartie des Chores, wo
dieser Tanz vorzugsweise in Anwendung kam, PolluxIV53: r^ayqtSia, naQ-
oSos, araatftov, ififieleia, xofifiarixd, k'^oSoi. Dieselben lyrischen Partien der
Tragödie zählt Tzetzes auf 30 ff., wo er wahrscheinlich Excerpte aus Dionysius
verarbeitet: die i/ifieXeia hat ihre Stelle i^St] Tt^oHOTtrovarje rrje r^aycoSias, dar-
auf folgt V. 59 f. der xofifiöe (axfiTjr n^be aiti]v rjQfiivrjv rQaytoSias). Eukleides
lehrt dasselbe; nur gebraucht er daher den Ausdruck vnoQxrjfia, inav 6 xoQV
yoe c^SaQxfl (die Handschriften a>BaQX£'iv)y Xiysrai, und fügt hinzu, dafs der
T^'nofi vTC0Qxr]narix6e sich eigentlich mehr für das Satyrdrama als die Tra-
gödie eigne: wenn er dabei besonders die Thätigkeit des Koryphäus hervor-
hebt, so liegt wohl eine alte Ueberlieferung zu Grunde.
453) Sophokles Trachin. 205, wozu der Schoiiast bemerkt : ro (ishSa^iov
ovx i'azi aräai/uov, aXV vnb trje fSovrjS oQxovvrat. Die Bemerkung ist rich-
tig; denn das Lied ist mitten in die Scene eingelegt, wird auf ausdrückliches
Geheifs der Deianeira vorgetragen, dient also nicht, wie das Stasimon, zum Ab-
schlufs des Epeisodions; aber dem Scholiasten mochte die traditionelle Auffas-
sung des Stasimons vorschweben. (S. A. 542.)
454) So in der Antigone 1115, Ajas 693, König Oedipus 10S6, während
bei Euripides der freudige Triumphgesang des Chores, wenn das Strafgericht
den Frevler ereilt hat, mit lebhaften Tanzweisen begleitet wird, wie in der
Elektra 859, im rasenden Herakles 763, in den Bacchen 1153.
DIE DRAMATISCHE POESIE. EIKLEITÜNG. 139
gang voraussieht, giebt sich der Chor freudigen Hoffnungen hin, ohne
in seiner Kurzsichtigkeil das drohende Unheil zu ahnen, und eben
durch diesen schroffen Gegensatz wird die tragische Wirkung, ver-
stärkt.
Der Inhalt der Stasima ist so mannigfaltig, wie die wechsel-
vollen Geschicke der Menschen, welche die Tragödie darstellt.'^)
Doch ward die Forderung, dafs die Betrachtungen des Chores sich
jedes Mal an die Situation anschliefsen müssen, zwar in der Theorie
alle Zeit als wohlbegründet anerkannt '*'*;, aber in der Praxis später
nicht selten vernachlässigt.''")
Die alte Tragödie, in der das lyrische Element vorwaltet und
dem Chore ein hervorragender Antheil an der Handlung zufiel,
schlofs wohl in der Regel mit einer ausgeführten melischen Partie
ab. Auch Aeschylus hat dies noch öfter beobachtet. Die Schutz-
flehenden und die Eumeniden enden mit Chorliedern, die Sieben
vor Theben und die Perser mit einem Rommos. Bühnengesänge
und Kommos sind auch der jüngeren Tragödie im letzten Akte nicht
unbekannt, aber ein eigentliches Chorhed kommt nicht mehr vor;
nur der Koryphäus pflegt regelmäfsig ein Paar Verse zum Schlüsse
des Dramas zu sprechen.
Aufserdem werden öfter mitten in einem Epeisodion kürzere
Lieder des Chores, die zuweilen nur aus ein Paar Versen bestehen,
an passender Stelle eingeflochten. Besonders die ältere Tragödie,
wo das Verhältnifs zwischen dem Chore und den handelnden Per-
sonen ein viel engeres ist, macht davon ausgedehnten Gebrauch.''^)
Auch die ältere Tragödie läfst die handelnden Personen ihreßühueng
sänge.
455) Wenn Pollux IV 53 nach ^oSos noch hinzufügt evxrixa, ifißar^gta,
und dies sich auch auf die Tragödie bezieht (was jedoch nicht sicher ist), so
fügte er zu den nothwendigen Theilen noch beispielsweise andere hinzu, welche
öfter in einer Tragödie vorkommen; und in der That hat das Stasimon sehr
häufig den Charakter eines Gebetes oder hymnenartigen Liedes, während es
anderwärts dem Marschliede gleicht.
456) Daher die Grammatiker das Stasimon als ein fielos avrixov nQoe ztjv
inö&eaiv definiren.
457) Vergl. Aristot. Poet. c. 18 p. 1456 A 29 über die sogenannten iftßöXtfia
bei Agathon, dem Euripides und die jüngere Tragödie sich willig anschlofs.
458) So bei Aeschylus in der Hauplscene der Sieben, wo jeder Abschnitt
des Zwiegespräches zwischen Eleokles und dem Boten durch ein kurzes Lied
des Chores markirt wird.
140 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CUR. G.
Gefühle in lyrischer Form aussprechen, aber nur unter Betheiligung
des Chores."^) Hier empfiehlt die enge Beziehung zwischen Schau-
spieler und Choreuten die gleichniafsige Durchführung des melischen
Vortrags. Dagegen Monodien sowie Wechseigesänge der Schauspieler
sind der ersten Periode noch unbekannt; wir treffen sie zuerst im
Prometheus des Aeschylus.^®*') Indem durch Sophokles der Umfang
der Chorgesänge immer mehr beschränkt ward, lag es nahe, den
handelnden Personen einen selbständigen Antheil an dem lyrischen
Elemente zuzuweisen, um so dem melischen Vortrage sein gebühren-
des Recht in der Tragödie zu sichern. Die Bühnengesänge, von
unscheinbaren Anfängen ausgehend, gewinnen auf Kosten des Chor-
liedes eine immer gröfsere Bedeutung. Hier findet der Schauspieler
die beste Gelegenheit, seine Virtuosität als Sänger und pathetischer
Darsteller zu bethätigen. Daher ward auch in den melischen Par-
tien, wo Schauspieler und Chor zusammenwirken, der Antheil des
letzteren oft auf das knappeste Mafs beschränkt.^®')
Klagelieder. Die Bühnengesänge berühren sich ganz nahe mit dem soge-
nannten Kommos.^®*) Der Kommos ist eigentlich die Todtenklage,
459) Die Form dieser afioißala ist sehr mannigfaltig. In den Sieben des
Aeschylus 203 wechselt der melisclie Vortrag des Chores mit iambischen Tri-
metern des Eteokles ab, später gehl auch der Chor zum Trimeter, also zum reinen
Dialog über; in den Eumeniden und im Prometheus stehen anapästische Peri-
kopen der handelnden Personen den gesungenen Strophen des Chores gegen-
über; im Agamemnon 1073 sind die prophetischen Reden, die Kassandras Munde
entströmen, in melische Form gefafst, der Chor spricht dazwischen iambische
Trimeter, geht aber dann ebenfalls zum Lyrischen über. In Sophokles' Elektra
1232 ff. stehen den melischen Versen der Elektra die Trimeter des Bruders
gegenüber. Durchgeführt ist die melische Form für alle Theilnehmer der n/<o«-
ßala in dem Trauergesange der Choephorcn 315 (Orestes, Elektra, der Chor),
in den Schutzflehenden 836 (Wortwechsel zwischen Herold und Chor), in der
Schlufsscene der Perser 921 (Kommos zwischen Xerxes und dem Chore).
460) Der Monolog des Prometheus 88 ff. zeigt gleichsam die ersten schüch-
ternen Anfänge in den Klagen der lo; ebendas. 561 ff. tritt uns das Melische
vollständig ausgebildet entgegen. Der Klaggesang der Schwestern am Schlufs
der Sieben, wo der Chor nur ein Paar Mal einfällt, ist von anderer Hand hin-
zugefügt.
461) Die Dichter nahmen eben auf die Wünsche der Schauspieler Rück-
sicht; auch mochte es später nicht leicht sein, unter den Choreulen vollkom-
men durchgebildete Sänger zu finden.
462) Kofifivt. Aeschylus Choeph. 423 fxoxpa uofifihv 'AQtov. So wird
das Wort gewöhnlich nach der Analogie betont, bei Aristoteles Hoft/uoe (daher
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITCKG. 141
WO nach uralter Sitte das tieferregle Gemiith durch äufsere Zeichen
wilden, leidenschaftHchen Schmerzes, wie durch Worte seine Empfin-
dungen kund gab. Bei diesem Anlasse bricht der natürhche poe-
tische Trieb unmittelbar im Volke hervor. Nachdem jener Brauch
aus dem Leben verbannt war, lebt er wenigstens im Beiche der
Kunst auf dem Theater noch fort und verfehlt nicht, leicht eine
ergreifende AYirkung auszuüben. Die Todtenklage ist ein charakte-
ristisches Merkmal der alten Tragödie und hat gewöhnlich ihre Stelle
am Schlüsse des Dramas.^®^) In der jüngeren Tragödie ist der Rom-
mos mehr ein schmerzlich-wehmüthiger Rlagegesang ""), dann über-
haupt ein leidenschaftlich erregtes Lied und daher auf keine be-
stimmte Stelle beschränkt.^®*)
Der Koramos unterscheidet sich sehr bestimmt von den anderen
Chorhedern. Während die Stasima, welche die einzelnen Epeisodien
trennen, nur die Handlung begleiten, die Empfindungen und Ge-
danken aussprechen , welche die Vorgänge auf der Bühne hervor-
rufen, greift der Kommos in die Handlung selbst ein und bildet so,
mag er nun die Handlung zum Abschlufs bringen oder bald fördernd
und anregend, bald hemmend einwirken, immer ein mehr oder min-
der wesentliches Moment der Entwicklung. Die Lyrik dieser Ge-
sänge ist durchaus dramatisch ; daher wirken hier Chor und Schau-
spieler zusamraen.^*^) Aber der Chor betlieiligt sich in der Regel
wohl auch der mehrfach vorkommende Schreibfehler xä/toe); vielleicht ward
der Accent variirt, wenn das Wort in technischem Sinne von einer melischen
Partie der Tragödie gebraucht ward.
-163) Vgl. Plato Pol. X 605 C f. : 'OfirjQov fj a).}jOv xivos tcHv r^ayepSiOTVoicäv
ftiuovftevov riva rcöv rqaxov iv nivd'ei ovxa xai fiaxQttv QTjaiv aTioreivorra
iv loiz odvofidii tj xal qS<n-rae te xal xonrofisvovs.
464) Daher verlauscht man auch den Ausdruck xouftos mit &qt;vos, Schol.
Aesch. Pers. l: ja Se xoufiarixa, ore )u)i7iov (d. h. der Schlufs des Dramas) iv
d'oT]vcp (oder iv d'Qr^vcoSia) yivsrai. Tzetzes n. r^ay. 66 unterscheidet, wohl
nach Dionysius: xoftfioe Se d'^T>i>ov nsvd'txcöxsqov nXe'ov' 6 &^T}voe 9^ iarlv
rjQEfiioTBQOv fie'Xos (nicht fie^os).
465) Stücke mit tragischem Ausgang haben einen solchen kommatischen
Gesang meist in Verbindung mit der Katastrophe, aber unter Umständen kann
derselbe an jeder anderen Stelle eingeflochten werden.
466) Nur in den Sieben des Aeschylus stimmt der Chor allein (wenigstens
nach der ursprünglichen Fassung) die Todtenklage an; in der alten Tragödie
mag dies häufiger vorgekommen sein. Sonst gilt die Vorschrift des Aristoteles
Poet. c. 12 p. 1452 B 24: xofifios Si &^r,vos xoivos x'^QO^ *«♦ «^o axrjvr^s. Tzetzes
jr. Tpoy. 65: 6 xo/ifios xov xoqov . . . inoxairdie rjv tos noXv avvriyfiivoe.
142 DRITTE PERIODE VON 500 DIS 300 V. CHR. G.
nicht in seiner Gesammtheit"^), sondern löst sich in Gruppen auf,
oder es werden einzelne Stimmen laut, um den Widerstreit der An-
sichten recht anschauhch zu machen. Die Vorgänge auf der Bühne
wirken so mächtig auf den Chor, dafs er seine ruhige Haltung auf-
giebt und von der Leidenschaft der handelnden Personen mit fort-
gerissen wird. Diese Erregung giebt sich auch in der Form kund.
Die Rede hat meist etwas Abgebrochenes, das Lied zerlegt sich in
kurze Glieder.''") Die ältere Tragödie bewährt ihren Sinn für Mafs,
indem sie auch in solchen Partien die antistrophische Gliederung
festzuhalten pflegt. Gerade hier wird vorzugsweise von künstlicher
Verflechtung Gebrauch gemacht und so die leidenschaftliche Be-
wegung, der Sturm der Gefühle, das Schwanken der Entschlüsse,
einem bestimmten Gesetz unterworfen. Die jüngere Tragödie er-
laubt sich diese Klagelieder ebenso frei zu behandeln, wie die Bühnen-
gesänge. Hier werden gleich anfangs neben der antistrophischen
Form freiere Bildungen zugelassen ; später ist diese Weise vorherr-
schend."**) In den Bühnengesängen bedient man sich zunächst haupt-
sächlich des dochmischen Versmafses, welches hier, wo das ganze Pa-
thos der Leidenschaft hervorbricht, besonders angemessen ist. Die
jüngere Tragödie strebt nach gröfserer Abwechslung und verwendet
mehrfach auch andere Versarten, wie freie Anapästen, Daktylen, oder
verbindet verschiedenartige Formen, wie lamben und Trochäen, mit
einander. Der aufregende Charakter der Monodien bei Euripides
giebt sich besonders in den gehäuften Auflösungen und Zusammen-
ziehungen, sowie in dem öfteren Rhythmenwechsel kund."^")
Verhäitnifs Das Verhältnifs der Chorheder zu den dialogischen Partien ist
lieder lum Sehr verschieden. Im Allgemeinen haben die Gesänge der älteren
Dialog. Tragödie einen bedeutenden Umfang, machen den Eindruck des
467) Aristoteles Poet. c. 12 p. 1452 6 18: i9ta 8i ano axr]vrfi xai xö/i/iot.
468) Kofifiarixä, daher auch Pollux IV 53 und Schol. Aesch. Pers. diesen
Ausdruck geradezu für xo/ifioe gebrauchen. Es ist ein Mifsbrauch, wenn die
Neueren alle afioißnXa des Chores und der Bühnenpersonen xou/anrixä nennen.
Eukleides unterscheidet mit Recht die a/uotßala; nur ist die Definition in dem
Auszuge : a/toißalov 8e iari, t6 7tQ6(t) Xöyov i^ aftoißrjt ksyöfievov unpassend,
weil dies die Vorstellung erweckt, als wären die Fälle gemeint, wo der Chor
mit den Bühnenpersonen Trimeler wechselt.
469) Besonders bei Euripides, weniger bei Sophokles.
470) In den Monodien dieses Dichters glaubte man vor allem die Beihülfe
dea Musikers Kephisophon zu erkennen, s. Aristoph. Frösche 944.
DIE DRAMATISCHE POESIE. EIXLEITÜKG. 143
Massenhaften, wie bei Aeschylus, obwohl bereits dieser Dichter das
lyrische Element mehr und mehr beschränkte. Die Chorlieder des
Sophokles und Euripides werden immer kürzer, aber selbst die Dra-
men desselben Dichters, sogar gleichzeitige Arbeiten zeigen nicht
unerhebhche Differenzen. In den Schutzflehenden des Aeschylus
nehmen die Gesänge des Chores mehr als die Hälfte des Stückes
für sich in Anspruch."") In den Persern und den Sieben halten
sich das Lyrische und Dramatische vollständig das Gleichgewicht,
während in der Orestie der Chor sich durchschnittlich mit dem
dritten Theile begnügt; nur im Agamemnon ist dem Lyrischen ein
gröfserer Raum vergönnt. Im Prometheus wird der Antheil des
Chores noch mehr beschränkt."^^) Bei Sophokles ist in der Antigone
(aufgeführt Ol. 84, 3) das Verhältnifs wie 1:2, im Ajas und in der
letzten Arbeit des Dichters, im Oedipus auf Kolonos, wie 1 : 2V2,
im Konig Oedipus, in der Elektra und den Trachinierinnen wie 1 :3,
im Philoktet (Ol. 92, 3 gedichtet) wie 1 : 4. Bei Euripides nimmt
schon in den älteren Stücken, in der Alkestis und dem Hippolytus,
das Lyrische nur etwas mehr als ein Fünftel in Anspruch, in der
Medea ist es noch mehr reducirt; dagegen zeigen die späteren Ar-
beiten, wo die Bühnengesänge häufiger und umfangreicher werden,
wieder eine Zunahme."^)
Der Umfang der älteren Stücke scheint im Allgemeinen geringer umfang der
gewesen zu sein, aber ihre Aufführung nahm mindestens ebenso viel °'"'"^°-
Zeit in Anspruch, als eine Tragödie des Sophokles oder Euripides,
da der Vortrag der ausgedehnten meUschen Partien ein weit gröfseres
Zeitmafs erforderte. Daher konnte man, als das dramatische Element
sich reicher entwickelte und die lyrischen Stellen verkürzt wurden,
unbedenkhch dem Stück eine gröfsere Länge geben."") Ein be-
471) Es erklärt sich dies aus der Stellung des Chores in diesem Drama
zur Genüge.
472) Hier kommen auf den Chor etwa 150 Verse, dafür aber finden sich
auch bereits hier Bühnengesänge. Der Prometheus steht eben mit den Dramen
des Sophokles und Euripides auf gleicher Stufe. Trimeter des Chores, in den
älteren Stücken des Aeschylus nur selten gebraucht, kommen im Prometheus
häufig vor; auch die Orestie zeigt schon eine Zunahme.
473) In den Phönissen kommen von 1765 Versen etwa 500 auf Chor und
Bühnengesänge.
474) Der Tragiker Aristarch mag an dieser Veränderung einen gewissen
Antheil gehabt haben, wie Suidas I 1,718 andeutet.
144 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V, CHH. G.
stimmtes Mafs für das einzelne Drama war nicht vorgeschrieben, die
uns erhaltenen Tragödien ergeben sehr verschiedene Zahlenverhält-
nisse, wohl aber brachte es die Einrichtung des tragischen Wettkam-
pfes mit sich, dafs für jede Tetralogie die Länge der Zeit bestimmt
war, welche der Dichter nicht beliebig überschreiten durfte/^*)
Eintheiiung Die römischen Komiker theilen, wie die noch erhaltenen Dra-
men des Plautus und Terenz beweisen, ihre Stücke regelmäfsig in
fünf Akte ab; dieselbe Ghederung war in der römischen Tragödie
üblich. Horaz empfiehlt sie als unbedingte Norm."'®) Dafs die rö-
mischen Dramatiker, die das Formelle der Kunst lediglich den Grie-
chen verdankten, keine selbständige Neuerung eingeführt haben, ist
gewifs.^") Menander und die anderen Dichter der neueren attischen
Komödie befolgten denselben Gebrauch""), und wir dürfen wohl
annehmen, dafs die Fünfzahl der Akte bereits in der mittleren Ko-
mödie, sowie bei den jüngeren Tragikern seit Euripides Geltung
hatte, ist doch die griechische Tragödie stets um einen Schritt dem
Lustspiele voraus. Die Theorie der dramatischen Dichtung war aber
damals schon vollkommen ausgebildet; man arbeitet allgemein nach
einem fertigen Schema."'^)
475) Innerhalb dieser Grenzen war dem Dichter freie Bewegung gestaltet:
in der Orestie kommen auf das erste Drama nahezu 1700 Verse, während die
beiden anderen Tragödien noch nicht 1100 Verse umfassen. Das Satyrdrama
war wohl in der Regel kürzer als eine Tragödie, wenn der Kyklops des Euri-
liides und derAgen, der S^aftäriov genannt wird (Athen. XIII 586 D. XIII 595 E),
einen Schlufs auf andere Dichtungen dieser Art gestatten.
476) Horaz Ars Poet. 189. Wenn Cicero ad Quintum fr. I 1, 46 den drit-
ten Akt als den letzten bezeichnet (ut hie tertius annus imperii tui tanquam
tertius actus perfectissimus et ornatissimus fuisse videatur), so meint er wohl
die dreifache Gliederung der dramatischen Handlung (itQÖraaie, iniraais, xaxa-
axQotprj), obwohl es nicht unmöglich ist, dafs die römisclien Dramatiker sich
zuweilen mit drei Akten begnügten.
477) Donat zu den Adclphen des Terenz verlangt für die Komödie quin-
que actut choris divisos a Graecis poetU. Euanthius legt diese Einrichtung
sogar der alten Komödie bei: Comoedia velus ab initio cfiorus fuit paula-
timque (aitcto) personarum numero in quinqiie actus processil.
479) Andronikus ne^l xcofic^Siae X sagt von der neueren Komödie, als deren
Hauptvertreter er den Menander, bei den Römern Plautus und Terenz bezeich-
net : ;(fp^Tnt Sa TtQoräaei xai inirnaei xal xazaarpOffj 6 TepivTtos xai eis nerre
ffxr^vas Siatpei rb Sgäftn (denn so ist die Stelle zu verbessern). JSxrivai ist
oITenbar der bei den Griechen übliche Ausdruck entsprechend dem lateinischen
actus (von Festus 17 als cerla spatia canticorum deiinirt).
479) Wie Antiphanes in der noltjati (Athen. VI 222 A) beweist.
DIE DRAMATISCHE POESIE. EI>LEITU>G. 145
Indem der Chor völlig verschwindet oder doch seine frühere
Bedeutung einbüfst, war dies von entschiedenem Einflüsse auf die
Gestalt des Dramas. Das ältere Drama, wo der Chor beständig auf
der Orchestra verweiU, und wenn die Schauspieler abtreten, die
Zwischenzeit bis zu ihrem Wiedererscheinen mit seinen Gesängen
ausfüUt, kennt eigentlich keine Unterbrechung der Handlung; denn
auch die Chorheder haben stets eine gewisse Beziehung darauf. Eine
Gliederung in Akte, wo die Handlung in den Pausen gleichsam still-
steht, ist früher der Tragödie und Komödie fremd; sie kommt erst
auf, seitdem man die Chorheder beseitigt oder durch Musikstücke
ersetzt. Dabei galt wohl als Regel, dafs der Akt jedes Mal da ab-
schüefst, wo die Bühne von den handelnden Personen gänzhch ver-
lassen war. Für die römischen Lustspieldichter ist freilich dieses Ge-
setz nicht mafsgebend^*"), und auch die Griechen mögen zuweilen
sich dieser Fessel entledigt haben.
Auf dem römischen Theater ward die Bühne zwischen den
Akten durch einen Vorhang den Blicken der Zuschauer entzogen;
auch dieser Brauch ist von den Griechen entlehnt. Wir können
freihch in Athen den Theatervorhang nicht vor Ol. 115, 2 nach-
weisen"**), aber die Sitte ist natürlich weit älter. In der eigent-
lichen Blüthezeit der dramatischen Poesie lag dagegen die Bühne
stets ofl"en vor den Augen des Pubhkums, waren doch nicht selten
die Schauspieler auch während des Chorgesanges gegenwärtig.'*")
4Su) Besonders Terenz hat dies Gesetz nicht beobachtet, daher auch Donat
Miederholt darüber klagt, es sei schwierig, ein Stück dieses Dichters nach Akten
abzutheilen; dieselbe Bemerkung macht Euanthius. Es hängt dies wohl zum
Theil mit der Art zusammen, wie Terenz das griechische Original bearbeitete,
indem er einzelne Scenen aus einem anderen Stücke einflocht; daher rührt auch
wohl die bedeutende Zahl der handelnden Personen in den meisten Komödien
des Terenz.
481) Als Demetrius Poliorketes als Sieger in Athen einzog und man ihm
zu Ehren die Jwvvata in Jrjfirjr^ta verwandelte, war er, wie Duris bei Athen.
Xn 536A berichtet, auf dem Theatervorhang als Herr der Welt abgemalt {ytyvo-
fie'vcov 8e itöv JrjfirjrQicav ^A&ijvriaiv iyoäffEto knl tov Tt^oaxTjviov sni t^s oi-
xovfiirtjs o'/oviisvos). IlQoaxTjviov , früher die Dekoration der Scenen wand, be-
zeichnet ganz passend einen solchen Vorhang.
4S2) So ist Prometheus bei Aeschylus im ganzen Stücke auf der Bühne,
in den Eumeniden ist das letzte Stasimon ein Wechselgesang zwischen Athene
und dem Ciiore.
Bergk, Griech. Literaturgeschichte III. lü
146 Dl'.ITTE PERIODE VO.N 500 BIS 300 V. CHR. G.
Durch die neue Einrichtung wurde nicht nur der Wechsel der Deko-
rationen erleichtert, sondern aucli eine freiere Behandlung der Zeit
und des Ortes ermöglicht, obwohl man von dieser Vergünstigung
auch jetzt nur mäfsigen Gebrauch gemacht zu haben scheint, indem
man an der hergebrachten üeberheferung festhielt.
Der Verlauf der dramatischen Handlung zerlegt sich naturgemäfs
in gewisse Abschnitte. Auch die Epeisodien des älteren Dramas ent-
halten immer eine Begebenheit, einen wesentüchen Moment der
Fabel, und die Buhepunkle, welche die bewegte Handlung erheischt,
gaben dem Chore Gelegenheit, die Handlung mit seinen Betrach-
tungen zu begleiten. Aber dieser Wechsel der Epeisodien und Chor-
lieder ist an keine unabänderliche Regel gebunden; man bewegt
sich mit einer gewissen Freiheit.^") Bei Aeschylus finden wir regel-
mäfsig vier Chorlieder; daher zerfällt jedes Drama in fünf oder, wo
der Prolog fehlt, in vier gröfsere Abschnitte."**) Sophokles hat sich
zwar an die Weise seines Vorgängers angeschlossen, bewegt sich
483) Dafs die alten Grammatiker die Gliederung des Dramas der klassi-
schen Zeit beobachteten, ist nicht zweifelhaft. Der Biograph des Aeschylus
sagt : iv ftev yaQ Tri ^lößr] (Ni.6ßrj) ?cos xqitov fiiQovs intxad'Tjfidvr} rq* räfpta
•töi.v TtaiScov ovSkv (p^ty/stni. iyxexnkvfifte'vr], d. h. nachdem das zweite Chor-
lied gesungen ist, in der Mitte des Stückes. Ganz dasselbe meint Aristoph. Ran.
923, wo er sagt, bei Aeschylus schweigen die handelnden Personen wie die
trauernde Niobe oder Achilles ungebührlich lange Zeit, während der Chor seine
endlosen Lieder singt, bis sie endlich, nachdem das Drama zur Mitte gelangt
ist {iTiciSr] ro S^äfia fßr} fieaoi?]), dieses Stillschweigen brechen. In den jün-
geren Abschriften der Biographie hat man daraus Scos r^irris ^jue'^as gemacht,
eine unverständige Aenderung; denn ein dreitägiges Schweigen liefs sich wohl
in einem Berichte erwähnen, aber nicht auf der Bühne darstellen. Der Komi-
ker Macho in Alexandria führte den Grammatiker Aristophanes in das Ver-
ständnifs dieser Gliederung im Lustspiele ein, Athen. VI 241 F (SiSäaxalos yeto-
f/eros Twv xarri xtü/jc^Sinv fte^div ^AQiaiotpmovi xov yQafiumtxov, von der
neueren Kritik mit Unrecht angefochten). Auch Vitruv praef. V § 4 sagt: Graeci
quoque poctae cctnici (wohl verschrieben statt scenici) interponentes e choro
canlicum divisirujii spatia fabularum; ita partes cubica ratione facientet,
intercapedinibiis levant actorum pronvntiationes. Was Vitruv von der cubica
ratio bemerkt, die er mit der Beobachtung bestimmter Zahlenverhältnisse in
der Poesie der Pythagoreer zusammenstellt, ist ofTenbar eine künstliche Spe-
cuiation Späterer, die möglicher Weise auch Verrius Flaccus berührt hat (im
Festus ed. 0. Müller S. 17 actus . . . certa spatia canticorum); vielleicht hatte
Vario darüber genauer gelnindelt.
484) Der Verfasser des Rhesus hält sich nicht an dieses Schema.
DIE DRAMATISCHE POESIE. EI>LE1TU??6. 147
jedoch nicht immer in diesen eng umschriebenen Schranken; in
der Antigone tritt entsprechend der reichen und bewegten Hand-
lung die Siebenzahl an die Stelle der Fünfzahl, auch in den Trachi-
nierinnen kommt man mit der gewöhnlichen Gliederung nicht aus.
Bei Euripides ist die fünffache Ghederung gleichfalls Norm***), aber
wo die Fülle der Begebenheiten, die Verwicklung der Fabel es nöthig
macht, geht der Dichter darüber hinaus.*'*) Wenn innerhalb des
Epeisodions eine neue Person auftritt, so zerfällt dasselbe wieder in
kleinere Abschnitte. Aeschylus hat in den älteren Dramen und im
Prometheus gemäfs der Einfachheit seiner Poesie immer nur ein-
mal ein Epeisodion in zwei Auftritte zerlegt; nur die Orestie zeigt
bereits eine reichere Ghederung. Bei Sophokles und Euripides sind
Epeisodien von zwei, drei und noch mehr Auftritten ganz gewöhn-
Hch und wiederholen sich öfter in demselben Stücke. Es ist be-
greiflich, dafs besonders in dem letzten Abschnitte, wo die Ent-
wicklung auf die Entscheidung hindrängt, immer neue Personen auf
der Buhne erscheinen und die Auftritte sich häufen. Schon die
Exodos im Agamemnon des Aeschylus hefert dafür den Beweis. Auch
werden in den Epeisodien zuweilen kürzere Lieder des Chores, die
man nicht mit dem Stasimon verwechseln darf, eingelegt, wo der
Dichter einen Ruhepunkt für angemessen hielt. Es ist übrigens
nicht immer leicht, die richtige Ghederung festzustellen; z. B. könnte
es auf den ersten Anbhck scheinen , als wenn der Philoktet des
Sophokles nur aus drei oder höchstens vier gröfseren Abschnitten
bestände; allein auch diese Tragödie hält an der normalen Fünf-
zahl fest.*«')
Die ältere Komödie stimmt im Wesentlichen mit der Tragödie
überein, und zwar erinnern die beiden letzten Lustspiele des Ari-
stophanes schon ganz an die Weise der neueren Komödie, wie wir
sie aus den Bearbeitungen der römischen Bühnendichter kennen;
455) Auch in der Elektra des Euripides sind deutlich fünf, nicht vier Ab-
schnitte zu unterscheiden; der Chorgesang V. 1147 ff. bildet den Uebergang zum
Exodos.
456) In den Phönissen haben wir sechs Abschnitte, ebenso in anderen
Tragödien.
4ST) Hier vertritt die umfangreiche lyrische Partie 1080 ff., welche zwi-
schen dem Philoktet und dem Chore vertheilt ist, die Stelle des Stasimons, und
dann Tolgt die Exodos.
10*
148 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
nur zerfallen die Ekklesiazusen und der Plutus nicht in fünf, son-
dern in sechs Akte/**)
EpeUodien. Dafs der Schauspieler erst, nachdem der Chor das Drama ein-
geleitet hatte, auftrat, zeigt auch der Ausdruck Ep ei so dion, womit
man jeden gröfseren Abschnitt der dramatischen Handlung bezeich-
net**^), der nach beiden Seiten hin von Gesängen des Chores ein-
gefafst ist. Die Rede- des Schauspielers ist anfangs nichts Anderes
als ein Zwischenspiel, welches die Pausen der Chorlieder ausfüllt.
488) In den Ekklesiazusen gebt der erste Akt mit dem dazu gehörenden
Cliorliede von V. 1 — 311, der zvv'eite gleichfalls mit seinem Chorliede von 311
—503, der dritte von 501—729 (hier ist das fehlende Chorlied durch XOPOT
bezeichnet), der vierte Akt von 730—876 (hier steht wieder XOPOT), der fünfte
Akt von 877—1111 {XOPOT)\ den sechsten Akt bildet die kurze Exodos von
1112—1182. Aehnlich im Plutus, Akt I V. 1—321, Akt II V. 322— 626, Akt DI
\. 627—801, Akt IV V. 802—958, Akt V V. 959-1096, Akt VI V. 1097—1208.
Hier fehlen die Chorlieder durchgehends, und am Schlufs des fünften Aktes ver-
miCst man sogar das sonst beigeschriebene XOPOT; dagegen findet sich diese
Parepigraphe mitten im dritten Akte nach V. 770, wo augenblicklich die Bühne
verlassen ist und eine neue Scene beginnt, daher eigentlich hier ein kurzes
Chorlied einzufügen war, um die Pause auszufüllen; im Plutus muCste eben
die Musik die Stelle des fehlenden Liedes ersetzen. Die Regel, dafs, wenn die
Bühne ganz frei ist, ein neuer Akt anhebt, erlitt wohl auch bei den griechi-
schen Dramatikern manche Beschränkung.
489) Zunächst nannte man wohl die erste Rede, welche unmittelbar auf
die Parodos des Chores folgte, später jeden Abschnitt mit Ausnahme des letz-
ten, der seinen besonderen Namen hatte, insiaöSiov. ElaoSiov im Sinne des
später üblichen nägoSos kennt Marius Vict. II 11, 7, VI p. 99 K.: hoc melro veteres
satyricos choros modtilabanlur, quod Graeci staöSiov ab ingressu chori satyrici
appellabant metrumque ipsum eiaöSiov dixerunt. Das Satyrspiel enthält die
ersten Anfänge der dramatischen Poesie. Anapästen wurden auch in der älteren
Tragödie im Eingange verwendet; das Satyrdrama mag besonders freie aufgelöste
Anapästen, von denen der Grammatiker handelt, hier gebraucht haben. E'iaoSot
ist der eigentliche Ausdruck vom Auftreten des Chores (daher heifsen auch so
die für den Chor bestimmten Zugänge zur Orchestra); instaöSiov ist also die
darauf folgende Rede des Schauspielers, ursprünglich eine Art TtnQBQyov. Mit
der Definition des Aristoteles Poet. c. 12 p. 1452B2(t: dnsivöSiov fitQos o}mv
TQaycffSiat ro fiera^ oXav x^Q^^^ ^«^a>»' stimmt ne^i xo)/i(oSiai\d 8 (vila
Aristoph. 16): inataäSiöv iaxi ro ftera^v Svo xoQixöiy ftelän; was Tzetzes so-
wohl bei der Komödie als auch der Tragödie durch Xöyos ^«ra^v TiXrjv /ttXmv
XOQoni 8vo ausdrückt. Wenn Pollux IV 108 insiaöStov iv S^ä/taat n^ny/ta
n^iiy/tfrrt cvranrofierov sagt, so pafst dies nur auf die jüngere Komödie, die
keinen Chor mehr besitzt ; hier ist TtQÜyfta soviel als Akt. Jmlovr ineiao-
Siov nennt der Schol. Soph. Phil. 1218, wenn zwei Personen auftreten.
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITUNG. 149
Aber bald macht das dramatische Element sein Recht gehend und
beansprucht einen gröfseren Raum ; so wird der Gesang des Chores
beschränkt. Er dient vorzugsweise dazu, die Abschnitte der Hand-
lung zu trennen und zugleich zu verbinden, ein Epeisodion abzu-
schliefsen und ein neues vorzubereiten.
Nur ganz ausnahmsweise wird das Choriied am Schlüsse des
Abschnittes vermifst, wie bei Aeschylus in den Eumeniden ; im ersten
Theil der Tragödie ist Delphi, im zweiten Athen Schauplatz der
Handlung; hier tritt also eine Ortsveränderung ein, die durch Scenen-
wechsel anschaulich gemacht werden mufste. Anscheinend geht der
erste Theil völlig unvermittelt in den folgenden über. Dies ist un-
moghch; gleichwohl darf man keine Verstümmelung des Textes, etwa
den Ausfall eines Chorliedes voraussetzen. Eben weil der Dichter
hier die Einheit des Ortes preisgiebt, kann er die Pause nicht mit
einer melischen Partie ausfüllen ; denn der Chor mufs sich ebenso
entfernen, wie Apollo verschwindet und Orestes durch die Verände-
rung der Dekoration den Rlicken der Zuschauer entzogen wird. Der
Dichter wird hier, während der Scenenwechsel vor sich ging, ein
Musikstück eingelegt haben. ^^*')
Nicht immer ist das Epeisodion als ein vollständiger Akt zu
betrachten; denn dann ist die Rühne leer. In den Persern des Aeschy-
lus tritt nach dem ersten Stasimon die Königin Atossa auf^'}, und
nach einer kurzen Rede folgt wieder ein Lied, womit der Chor den
Schatten des Darius heraufbeschwört. Während dieses Gesanges, der
als das zweite Stasimon zu betrachten \si^^^), bleibt die Königin auf
der Rühne ; denn sie bringt das Todtenopfer ihrem Gatten dar, der
alsbald erscheint. Hier ist also das Epeisodion nichts als eine ein-
490) Die iMilr; avkrjats vertrat hier die Stelle des Chorgesanges; daher
hat diese Tragödie nur zwei Stasima. Die neueren Erklärer gehen fehl, wenn
sie dieses Epeisodion von V. 177 bis V. 306 fortsetzen, so dafs der Scenen-
wechsel inmitten des Aktes eintreten würde.
491) Aeschylus Pers. 59S.
492) Dieses Lied hat durchaus den Charakter eines Stasimons; so ist auch
hier die Dreizahl der Stasima festgehalten. Auch bei Sophokles Oed. R. ver-
weilt Kreon während des Stasimons 5S2 ff. auf der Bühne, aber V, 780 tritt er
ab. Ebenso wird Antigone vor dem Beginn des Chorliedes 944 ff. abgeführt,
die Anrede V. 9S7 o) nal (vgl. 949) verlangt nicht die Anwesenheit der Anti-
gone; aufserdem ist wohl i'a^ov ama zu lesen, indem der Dichter auf den
Zauber des bösen Blickes hindeutet.
150 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V, CHR. G.
zelne Scene. Anderwärts gliedert sich ein längerer Akt in Abschnitte,
wo jedes Mal ein kurzes Chorlied einen schicklichen Ruhepunkt ge-
währt."»')
lieber die Zahl der Epeisodien giebt Aristoteles keine näheren
Bestimmungen; es hatte sich damals, wenigstens für die Tragödie,
noch keine feste Norm gebildet. Dafs die Tragödie der allen Zeit
entsprechend der Schhchtheit der Handlung und geringen Zahl der
Theilnehmer sich mit einer raäfsigen Zahl begnUgte, während man
später, wo die Handlung reicher, die Ausführung detaillirter ward,
weiter ging, wird kurz angedeutet.'"'") Die jüngere Tragödie eman-
cipirt sich mehr und mehr von den Fesseln der alten Kunstform:
man begnügt sich nicht, den meist schlichten Stoff durch reichere
Folge der Scenen zu beleben, sondern wendet dieses Mittel auch
ohne innere Nothwendigkeit an, nur um Effect zu erzielen. Nicht
blofs mittelmäfsige Talente verfallen aus mangelhaftem Verständnifs
der Kunst in diesen Fehler, sondern auch die besseren, indem sie
allzu willfährig auf die Wünsche der Schauspieler oder des Publikums
Rücksicht nehmen."**)
493) So bei Sophokles Philokt. 391 und nochmals 507 (correspondirend
mit der früheren Strophe). In der Elektra 823—870 findet sich ein gemischter
xofiftös mitten im Epeisodion als Schlafs einer Scene. Manchmal begnügt man
sich mit zwei iambischen Trimetern des Chores, wo die ältere Tragödie ein
kurzes Melos einzulegen pflegt, vgl. die Bemerkung des Schol. Eurip. Med.
517: 17 Si<Trtxia {avrl) rov x°Q''^ov iari' xara Se rovrovs tjSt] (zove XQÖ-
vovs) ra rcöv xo^atv rjfiavQoiro. t« fiev yoLQ a(>/ata Sia xcöv xo^öiv iTiext-
Xs'no. Die Stelle des Eupolis, aufweiche sich der Grammatiker beruft, ist ver-
dorben; man weifs nicht, ob der Komiker auf die Tragödie oder Komödie zielt.
494) Aristot. Poet. c. 4, 14 p. 1449 A 28, wo er die fortschreitende Entwick-
lung der tragischen Kunst schildert: ^rt Ss ineiaoSicav nXrjdT] xal t« aX/.a tos
gxuffra xoafiT)d'r,vat Xiyexai. Das Gliedern und Ausführen der dramatischen
Handlung nennt Aristoteles ineiaoSiovv c. 17, 4 p. 1455 B 13. Diese instaöSta
müssen oixEln sein in der Tragödie wie im Epos, im Drama avviofia, während
dem Epiker freiere Bewegung vergönnt ist; vgl. auch c. 24, 4 p. 1459B30.
495) Aristot. Poet. c. fl, 10 p. 1 45 1 B 33 : röJv Si änläv fii&cop »cai Ti^ä^emv
ni inaiaoS 1(68 eis eial ;^e^(><ffTaf Xsyeo Si dneiaoStiöStj ftvd'oy, iv <j> xa dTtsia-
öStn fier^ nXXrjXa ovr' etxoe ovr' avdyxrj elvat. roiavrni Se jtoiovrrn$ twü ftiv
xwv <f!ttvX(ov noiT]rö)v 81' aiiTOve, vno 8e rüiv nyad'mv 8ia Toiis iinox^troS'
ayoiviafiarn yng Troiovvree nai naga rf}i> 8vva/utv nngaTsivarrei /ui&ov, noX-
Xäxu SiaaxQifeiv avayxä^ovxai rb ife^i;i. in diesem Sinne bezeichnet der
GrammatiKcr Aristophanes die Phönissen des Euripides als 8^f*a inetaoStcü-
8ee «ai naQnnXr,Q(ouajixöv.
DIE DRAMATISCHE POESIE. EL>LEITU.\G. 151
Die antistrophische GHederung ist für den Gesang des drama-AnüstropUj-
tischen Chores Norm: die Form, eine Epode als AbschUifs auf ein^^^,„g y^^^
Strophenpaar folgen zu lassen, kommt hauptsächüch beim ersten Auf- Bildungen.
treten des Chores vor, doch ist dies kein unwandelbares Gesetz, noch
auf die Parodos zu beschränken.**) Künstüche Verflechtung der
Strophen kommt, abgesehen von den Klagehedern der älteren Tra-
gödie, nur ausnahmsweise vor; zuweilen finden sich einzelne Stro-
phen, denen nichts entspricht, oder Strophe und Gegenstrophe sind
durch eine dialogische Partie von einander getrennt.*^') Wie der
Dithyrambus später die Fesseln der antistrophischeu Ghederung ab-
streift, ebenso fühlte sich die Tragödie in den Bühnengesängen, die
leidenschaftliche Erregung durch das strenge Mafs zu sehr gebun-
den''^*) und zog meist freie Bildungen vor.'®^)
496) Wie es Einzugslieder ohne Epode giebt, so findet sich dieselbe um-
gekehrt auch in Chorgesängen am Ende des Aktes ; so bei Aeschylus Prome-
theus im ersten Stasimon, welches allerdings die Stelle der eigentlichen Parodos
vertritt (aber nicht bei Sophokles im ersten Stasimon des Oedipus auf Kolonos
unter gleichen Umständen), ebenso Prometheus 901, Euripides Hec. 943, Phö-
nissen 676. Ursprünglich mag der Chor auch bei diesen Stasima mit Epoden
gerade so wie in der Parodos den Allar umwandelt haben. Nur ausnahms-
weise wird eine Proodos (Euripides Medea 131 ff.) oder eine Mesodos (Euri-
pides El. 12.5. 126, wo ava rov avrbv eyeioe yöov zu lesen ist, und 150 — 158;
denn Phönissen 226 ist als Epode zu betrachten) angewandt; vgl. Schol. Ari-
stopb, Wesp. 270: iStv yao ^o^iy-cöv fitXciv la fiiv i<XTi . . . ra Se noocoSnca,
Ta 8s jueacpSixä, ra de STtc^Sixä.
497) Eine Einzelstrophe gebraucht Aeschylus Prometheus 6SS; bei Sopho-
kles Philoktet folgt auf die Strophe 391 erst 507 die Gegenstrophe.
49S) Aristot. Probl. 19, 15 p. 91SB26: to S^ avrb airiov xal Stört ra
fiev ano rrfi axrjvrjS ovx avTiargoipa, ra Se rov xo^ov avriarQoyw 6 ftiv yao
vjiOK^irTjs ayavtarrfi aal fiiurirrjS, 6 Se xoQoi rjrrov fufielrai. Vorher p. 918
B 21 heifst es von der Veränderung, die im Dithyrambus vorging: noXlovs ovv
dya}vtari)c(JJS aSeiv ^akenov ijv, coare ivuQfiövia fiäX/Mv fiiKTj ivjjSoy, offenbar
fehlerhaft, denn gerade das unharmonische Tonsystem eignete sich wegen seiner
Schwierigkeit am wenigsten für den Chor, sondern eben für Virtuosen; es ist
wohl /Uta aQfiovia ftäDxw ra fieXr^ iveSovv zu verbessern. In der Tra-
gödie fand das ytvos ivaQfioviov erst spät Eingang (Plut. de mus. c. 20 und
c. 33) und ist den Chorliedern wohl hier stets fremd geblieben.
499) Zuweilen finden sich solche auch in Chorliedern. Die Parodos der
Sieben vor Theben wird durch die freie Form der anoleXvfidva eröffnet, in
denen die Unruhe und Furcht, welche das Gemüth des Chores völlig beherrscht,
den angemessensten Ausdruck findet; darauf folgen antistrophische gegliederte
Gesänge, in denen jene Empfindung mehr leise nachtönt. Die erste Partie
152 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
R^sponsion In den Versen, welche in Strophe und Antislrophe einander
^*p^°°p{,'g"'entsprechen , wird meist sorgsam auf Gleichmäfsigkeit geachtet, so
Theiie. dafs Auflösung der Auflösung, Zusammenziehung der Zusamnaen-
ziehung entspricht; jedoch wird nicht überall die gleiche Strenge
angewandt.**") Die älteren Dichter, wie Aeschylus, nehmen es in
allen diesen Dingen genauer, doch finden sich auch hei ihm öfter
Abweichungen, die man nicht beseitigen darf. Sophokles verfährt
schon freier; noch mehr haben sich Euripides und die Komiker er-
laubt. Die Kritiker haben diese Unterschiede zu wenig beachtet ;
während man früher um solche metrische Feinheiten ziemlich un-
bekümmert war, hat man in neuerer Zeit oft buchst willkürlich die
Ueberlieferung abgeändert, um eine vollständige Responsion auch da
herzustellen, wo sie der Dichter gar nicht beabsichtigt hatte. Es
kommt eben hier nicht nur auf die Eigenthümlichkeit des Versmafses
und den besonderen Charakter des Liedes an, sondern auch ob ein
Dichter seine Arbeit sorgsam feilte oder rasch hinwarf, war von
Einflufs.«")
(V. 78 — 134) ist, wie der äufsere Umfang und das Gewicht der Gedanken be-
weist, als der eigentliche Schwerpunkt der Parodos zu betrachten und zerfällt
wieder in zwei Theiie, eine Art Einleitung, wo der Dichter sich der Form der
ufioißaia bedient, um die Stimmung des Chores klar zu veranschaulichen (V. TS
— 103), und ein Gebet an die Götter um Abwehr von der drohenden Gefahr
(V. 104 — 134), die Hauptpartie des Gesanges, vom ganzen Chore vorgetragen.
Ganz ähnlich gliedert sich der zweite anlistrophische Theil in aftotßala (V. 135
— 150) und vollstimmiger Gesang des Chores (V. 15 t — lfi2), und zwar werden
die Motive des ersten Theiles nur wiederholt: im ersten Abschnitte wird wieder
die Situation geschildert, dann folgen Gebete.
500) Hierher gehört vor allem auch der Wechsel zwischen Länge und
Kürze in der syllaba miceps im Anlaut wie im Inlaut der Verse. Zuweilen
werden verschiedene Versformen als Aeqnivalent gebraucht, eine Freiheit, die
besonders den Logaöden eigen ist. Ebenso wechseln synkopirle Verse mit
nicht synkopirten in Strophe und Antistrophe, oder die Stelle der Synkope ist
veränderlich.
501) Wenn es auch im Allgemeinen richtig ist, dafs die ältere Kunst sorg-
fältiger darauf achtet, dafs in den anlisirophischen Theilen alle Formen sich
genau entsprechen, so wirken doch auch andere Verhältnisse ein. Catull hat
in dem Ol. Gediclile, was mehr als 200 Verse zählt, in den glykoneischen Ver-
sen in der ersten Hälfte des Gedichtes constant nur den Trochäus im Anlaute
gebraucht; in der zweiten Hälfte läfst er nicht selten auch den Spondeus zu.
iMan sieht, wie der Dichter selbst im weiteren Verlaufe seiner Arbeit auf die
strenge Durchführung der Regel verzichtete.; P^^*
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITUNG. 153
In manchen Fällen, namentlich bei Aeschylus, wird nach der Refrain.
Weise des Volkshedes, welche auch der Kunstform der melischen
Poesie nicht fremd war, der Refrain angewandt. Eine Interjektion
oder auch ein Vers, der einen selbständigen Gedanken enthält, wird
am Schlüsse der Strophen wiederholt, um den Grundton des Liedes,
die Stimmung, welche alles beherrscht, nachdrücklich hervorzu-
heben.**^) ISoch wirksamer ist, wenn eine ganze Periode wiederholt
wird, lim den Grundgedanken eines Chorgesanges recht bestimmt
hervortreten zu lassen. Aeschylus Hebt diese Art**^, aber auch die
Dramen des Sophokles und Euripides bieten einzelne Belege dar,
obwohl die Abschreiber, meist aus Unkenntnifs, solche Wiederholun-
gen getilgt haben. Bemerkenswerth ist, dafs nicht selten in Strophe
und Antistrophe dieselben oder ähnliche Worte ganz an der gleichen
Stelle wiederkehren und dadurch einen besonderen Nachdruck ge-
winnen.
Die ältere Tragödie hält streng darauf, dafs jedes Mal die Rede yertheiinng
der einzelnen Person mit einem vollständigen Verse abschhefst. Den „ni" meh-
Vers zwischen zwei oder sogar drei Personen zu vertheilen, hat man""«'« ''«■^o-
sich anfangs nicht einmal in Stellen, wo das Pathos sich entschieden
steigert, erlaubt. Erst später, wo die Darstellung leidenschaftlicher
wird, nimmt man sich diese Freiheit.^) Die leidenschaftliche Erregt-
502) Besonders Aeschylus wendet öfter den Refrain an, wie im Agamem-
non 121 ff. aXXivov aXXtvov eiTid, rb S^ ev vixdrco; nur darf man darin keine
Nachahmung gerade der sicilischen Hirtenlieder suchen.
503) So wurden in dem Gesänge der Eumeniden die letzten vier Verse
der Strophe V. 329 : i^l 8e rw Ts&vuevcp xi)., in der Antistrophe wiederholt ;
aber man hat nicht erkannt [doch s. Kirchhoff], dafs der Dichter dasselbe Kunst-
mittel auch in den beiden anderen Strophenpaaren angewandt hat, und müht
sich nun vergeblich ab, die gestörte Symmetrie herzusteilen. Das zweite
Strophenpaar schliefst gleichmäfsig mit drei Versen: oxav 'Agr,? xrX. ab, [wobei
sich?] Aeschylus nur im Eingange eine leichte Verände[rung gestattet hat?],
ebenso das dritte Strophenpaar wiederum [mit drei Versen: fu'Xa yao ovv
(\Xou\Eva xt).. Auch die Parodos der Perser mag auf ähnliche Weise geschä-
digt worden sein. Bei Sophokles Oedipus Kol. 1S2 haben zwar die Kritiker
den Ausfall von drei Versen nachgewiesen, aber nicht erkannt, dafs diese Lücke
sich mit voller Sicherheit durch Wiederholung von V. 199—201 ergänzen läfst.
Bei Euripides findet sich in dem wunderlichen Chorliede der Bacchen S77 die
Schlufsperiode der Strophe: rt to aofov t rl to xaXXiov na^r &s(5v ye'oas
iv ßoorola TJ ^eJ^ vTxeo xoQvq>äs xcöv ixd'qtov x^eiaaco xare'xeiv, o zi xalov
ipiXov aisi in der Antistrophe wiederholt.
504) Der Kunstausdruck für solche Stellen, wo die Personen Halbverse
154 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
lieit wird zuerst in den lyrischen Partien veranlafst haben, einen
Vers unter mehrere Personen zu verlheilen ""*) und bald nahm der
Dialog das gleiche Recht in Anspruch,
interjektio- Interjektionen aufserhalb des Verses kommen bei Aeschylus ver-
"haibVe" ''*^^^"'^*"^^'^^'8^ selten und immer nur bei gesteigerter Gemüthsbewegung
ver»es. als Ausdnick des tiefsten Schmerzes, wie der höchsten Freude vor.
Bei Sophokles werden die Beispiele häufiger, noch mehr bei Euri-
pides, entsprechend dem gesteigerten Palhos der jüngeren Tragödie.
Aber nicht selten dient dieses Mittel hier lediglich dazu, um in mög-
lichster Kürze zwei verschiedene Gedankenreihen zu verknüplen.**^)
Gleich- Reimartige Wendungen sind der Tragödie ziemlich fremd und
*°*^"" mögen manchmal nur dem Zufall ihren Ursprung verdanken ; da
meist nur die Flexionsendungen einander entsprechen oder auch
dasselbe Wort wiederholt wird, sind sie nicht recht wirksam.^') Die
Alliteration, eine Erinnerung an die archaische Poesie, wenden Aeschy-
lus und Sophokles noch öfter an ***), während Euripides diese Laut-
malerei verschmäht.^"®)
sprechen, ist amlaßni (Hesycbius), von den Ringern entlehnt, die einander
packen und zu umschlingen suchen. Aeschylus hat nur an zwei Stellen diese
Vertheilung angewandt, in den Sieben V. 217 (doch ist dies kein einTacher
Dialog, sondern hier kam wohl beim Vortrage die sogenannte 7ia^axaza?xtyr;
in Anwendung), dann sehr passend im Prometheus '.»SO. Bei Sophokles findet
sich in der Antigene kein Beispiel, wohl aber in den übrigen Dramen, beson-
ders in der Elektra, dem Philoktet und vor allem im Oedipus auf Kolonos.
Euripides macht den ausgedehntesten Gebrauch von dieser Freiheit.
505) Aeschylus hat in den melischen a/ioißala nur sehr selten sich der
avTiXaßai bedient, wie in den Persern 1059 und 1065: denn der Schlufs der
Sieben, wo sich zahlreiche Belege finden, ist nicht von Aeschylus verfafst. Die
jüngeren Tragiker, wie Sophokles (besonders im Oedipus auf Kolonos) und
Euripides, machen in Bühnengesängen von dieser Freiheit ausgedehnteren Ge-
brauch. Euripides wendet die avnXaßai sogar mehrmals in demselben Verse
an, und Sophokles ist ihm gefolgt. Noch freier bewegt sich die Komödie.
50(1) So namentlich i'a, tSov, flsv.
507) Bei der Formfülle der griechischen Sprache tritt dieser Gleichklaug
meist in den mehrsilbigen Wortausgängen, nicht in der Stammsilbe, der Trä-
gerin des Begriffes, hervor; daher machen solche Versausgänge, wie t,T]Tol<fUvov
— a^ekovftevov, rjSovfie&a — Xvnoifisd'a, iHߣßf.Tjftivr; — rjnazrjfiivr} und ähn-
liche, die sich besonders bei Sophokles finden, keine volle Wirkung, wohl
aber KQäxot S' ozto x^ros fieket — na^aßarov oida/nq nelai in der Anti-
gene b'3. 871.
50S> Besonders Jl und K, weil diese Consonanten stärker tönen, werden
7iir AlliiiJ'taiinn verwendet. Wenn bei Acsrliyliis öfter im Anfange der Verse
DIE DRAMATISCHE POESIE. EI>LEITL>G. 155
Symmetrie ist das Grundgesetz der antiken Kunst; darauf be- Symmetri-
ruht vorzugsweise der Bau und die kunstvolle Gliederung der Stro- ^j^j^'^g "r^
phen, aber dieses ebenmäfsige Verhältnifs, welches in den lyrischenden diaiogu
Partien zwischen den einzelnen Gruppen stattfindet, wirkt sichtlich^ jien
auch auf andere Theile des Dramas ein. So entsprechen sich in
der Tragödie iambische Trimeter des Dialoges, welche mit Chorge-
sängen in Verbindung stehen, öfter in ganz ähnhcher Weise, wie
jene Chorüeder. Manchmal verzichtet jedoch der Dichter auf voll-
ständige üebereinstimmung und begnügt sich mit ungefährem Eben-
mafse. Man mufs sich hüten, durch Umstellung der Verse oder
Annahme von Lücken vollständige Gleichheit einzuführen. Dasselbe
Princip nimmt man nicht selten auch da wahr, wo anapästische
Systeme in gröfserer oder kleinerer Zahl auf einander folgen. Auch
diese Gruppen entsprechen sich oft genau hinsichtlich des Ümfangs
und der Stellung, sind ganz nach Analogie der melischen Strophen
geghedert.
Oefter sind sogar ganze Scenen des Dialoges so gestaltet, dafs
uns ein durchgehender Parallelismüs entgegentritt, so in der Anti-
gone des Sophokles die Scene°'°}, wo Kreon und Hämon, in leb-
haftem Wortwechsel begriffen, einander gegenüberstehen ; hier wahet
kein Spiel des Zufalls ob, sondern man nimmt deulHch die bewufste
Kunst des Dichters wahr. Allein man darf diese Beobachtung nicht
mifsbrauchen ; man hat gesucht, ein solches symmetrisches Verhält-
nifs auch bei Acschylus in der Scene der Sieben vor Theben her-»
zustellen, wo der Bote seinen Bericht über den bevorstehenden
feindlichen Angriff abstattet.*") An sich wäre es wohl angemessen,
dafs jeder Abschnitt dieser Erzählung hinsichtUch der Verszahl jedes
Mal genau mit der nachfolgenden Erwiderung des Eteokles über-
einstimmte ; allein ohne Gewaltsamkeit läfst sich hier dieses Verhält-
nifs nicht herstellen.
derselbe Laut mehrmals wiederholt wird, z. B. in den Sieben, so ist dies wohl
zufällig.
509) Mit Ausnahme der "Wiederholung der Zischlaute, wie in der Medea
V. 470: "Eacaaä ff', cos iaaai,v 'E?j.r;v(ov oaot, worüber sich schon die gleich-
zeitigen Komiker lustig machen. Da Euripides sonst dergleichen nicht liebt
und gerade dieser Laut für Schauspieler und Sänger sehr unbequem war, möchte
man fast vermuthen, dafs nur der Geist des Widerspruches dazu Anlafs gab.
510) Sophokles' Anligone.
511) Aeschylus' Sieben.
156 DRITTE PERIODE VOIS 500 BIS 300 V. CHR. G.
sticho- In der lebliaften VVechselrede der handelnden Personen in der
mythie. jpggjjjjje findet diese Symmetrie vorzugsweise Anwendung. Indem
hier Rede und Gegenrede wie Schlag auf Schlag rasch auf einander
folgen, ist es ganz gewöhnlich, dafs jeder immer einen Vere spricht;
es ist dies gleichsam eine Art von Zweikampf in Worten. Man
bezeichnet diesen Parallelismus mit dem Kunstausdrucke Sliclio-
mythie.*''') Man darf jedoch diese Methode nicht auf den einzelnen
Vers beschränken; nach Umständen werden jedem auch zwei Verse
oder noch mehr, aber in der Regel die gleiche Zahl zugetheilt,
während andererseits, wo die Leidenschaft wächst, auch Halbverse
vorkommen. Zuweilen hat man sich eine Abweichung von der strengen
Regel gestattet, indem eine Person zwei, die andere nur einen Vers
erhält, besonders wenn man den anderen ausforscht, eine Sache
untersucht. Hier pflegt die Hast des Fragenden sich kurz zu fassen,
während die Antwort einen breiteren Raum beansprucht; jedoch
wird das symmetrische Verhältnifs insofern gewahrt, als diese un-
gleiche Vertheilung der Verse stetig durchgeführt wird. Reispiele
der Stichomythie finden sich bei den Tragikern überall, am häufig-
sten bei Euripides. Dies hängt mit dem Vorwalten des dialektischen
Elementes zusammen , welches diesem Tragiker eigenlhümlich ist.
Bei Euripides beginnen die Sprechenden öfter mit ausführlichen
Darlegungen; indem das Pathos zunimmt, werden die Reden kürzer,
dann folgen, indem die Aufregung ihren Höhepunkt erreicht, ein-
zelne Verse oder Halbverse; allmählich steigt der Dialog wieder auf-
wärts und schliefst zuletzt meist mit einer längeren Rede ab. Auch
hier erkennt man deutlich eine bewufste Methode des Dichters."^)
Unterbrechungen der regelmäfsigen Stichomythie kommen öfter
vor; wo die Wichtigkeit des Gegenstandes ein längeres Verweilen,
eine ausführUchere Darlegung erfordert, war lediglich die Rücksicht
auf den Inhalt mafsgebend. Aber auch wenn ein neuer Abschnitt
des Gespräches beginnt, wenn die Rede zu einem anderen Punkte
512) Pollux IV 113: arixofiv&elv Sa k'Xeyov xo nn^^ Iv iaftßslov avrtXe'
VHVy xai tÖ TiQayfia art/COftv&inv.
b['.\) Auch der Komödie ist diese Symmetrie nicht fremd, doch wird die
Stichomythie seltener als in der Tragödie angewandt oder doch streng durch-
gefährt: öfter liegt nur eine Nachahmung des tragischen Stiles vor, wie in
den Acharnern des Aristophanes gegen Ende (1097 ff.), wo Laraachus und Di-
käopolis sich gegenüberstehen.
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITUNG. 157
übergeht oder auch eine neue Person auftritt, verzichtet man auf
Durchführung der Symmetrie. In diesen Fällen ist die Unterbrechung
durch die Natur der Sache genügend gerechtfertigt; anderwärts mag
eine Verderbnifs des Textes vorliegen; denn durch die Nachlässig-
keit der Abschreiber ist nicht selten der Dialog lückenhaft über-
liefert oder doch die Personenabtheilung in V^erwirrung gerathen.
Wenn der Chor in die Orchestra einzog, gingen die MusikerDiemusika-
voraus und nahmen den für sie bestimmten Platz auf der Thymele 'gie^ung^.'
ein.*") Die Flöte ist das eigentliche Instrument für dramatische Auf-
führungen*'*); sie allein war im Stande mit ihren durchdringenden
514) Ebenso beim Abzüge des Chores Schol. Aristoph. Wesp. 582: t&os riv
iv rais i^öSois rtöv t^s rgaycoSias xoQiy.cöv TiQoacöncov 7tQOT]ysla-d'at avXrjrr^v,
waxs avXovvTa nooninneiv. Die Anwesenheit der Musiker in der Parodos der
Komödie bezeugt Aristophanes Vögel 26S. Wie viele Flötenspieler mitwirkten,
ist nicht überliefert, bei Aristophanes ziehen vier voran, doch ist dies nicht ent-
scheidend. Wenn einer genannt wird, wie Schol. Aristoph. Wesp. 528 (richtiger
Suidas I 2, 324: i^öSioi vofiot. 8i^ oiv i^f^taav ol %oqol xal oi avlr^rai), so ist
dies nur eine Brachylogie; gerade so wird auf Vasenbildern auch nur ein Flö-
tenspieler auf dem Bema dargestellt. Der tibicen, welcher regelmäfsig in den
Didaskalien hei Terenz namhaft gemacht wird, ist der Componist; in diesem
Sinne steht auch im Griechischen «vAj?t7;s. Ein Flötenbläser hätte weder für
die Begleitung des Gesanges, noch weniger aber für die yü^ avXr^ats ausge-
reicht. Aber man wird ein gewisses Mafs nicht überschritten haben, da, wie
Aristoteles Probl. 19, 9 p. 918 A 27 bemerkt, rb ngos noXXovs avXt]ras ij XvQas
■KoXXas ovx i]§iov, ort dfavi^si rrjv (pSrjv. Ueber die Vortheile, welche die
Flötenbegleitung für den Chorgesang darbot, zumal w enn die Sänger nicht ganz
tüchtig waren, vgl. ebendas. 19, 43 p. 922 A ff. — Zuweilen hörte man auch
Flötenspiel hinter der Bühne, s. Schol. Aristoph. Frösche 1264. Vögel 222.
515) In der älteren Zeit wird die Flöte von einfacher Construclion aus-
gereicht haben; später sorgte man, schon weil die Zahl der Zuschauer bedeu-
tend anwuchs, für stärkere Instrumentation. Die Schilderung bei Horaz A. P.
202 ff. hat auch für Athen Gültigkeit. Es gab sehr verschiedene Arten der
Flöten, s. PoUux IV 81 ; so scheint man wenigstens später für Chorlieder den
XOQixos uDms, dessen Ton mehr etwas Weiches hatte (daher xooavÄTjs), für
Bühnengesänge {cantica) den üv&ixos avXoe (Uvd'avXi^s), der einen entschieden
männlichen Ton hatte, verwendet zu haben, s. Aristid. Qmnt II S. 101, Diomedes
IV p. 492 K. Wie man in Rom mit Rücksicht auf den Ton und Charakter des
einzelnen Dramas diese oder jene Flötenart wählte, erhellt aus den Bemerkungen
des Donat zu Terenz. — Den aiXos als mitwirkend bei einem Chorliede der
Tragödie erwähnt Sophokles ausdrücklich Trachin. 216 ff. (verschieden ebendas.
040, wo die Flöte nur Symbol der Festfreude überhaupt ist; auch darf man
nicht aviiXvQov mit den alten Erklärern auf das Zusammenwirken der Flölc
158 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Tönen den weiten nnbedeckten Raum eines griechischen Theaters
zu erfüllen. Die Flötenniusik hat etwas Aufregendes"*) und eignet
sich vor allem für die ekstatische Begeisterung, wie für die üher-
müthig- kecke Lust der Feslfeier des Dionysus. Sie hat daher im
Schauspiel, welches eben zur Ehre dieses Gottes in seinem Heilig-
thume gegeben wurde, alle Zeit eine bevorzugte Stelle behauptet.
Die sanfteren TOne der Kithara, welche mehr Ruhe als leidenschaft-
liche Bewegung ausdrücken, daher miifsigend und besänftigend wir-
ken, sind von der Begleitung der dramatischen Poesie nicht aus-
geschlossen*'^, dürfen aber nur als secundäres Element betrachtet
werden.
Der Grundsatz, dafs die Musik sich dem Dichterwort unterzu-
ordnen hat*'*), gilt vor allem von der älteren Tragödie zur Zeit des
Phrynichus und Aeschylus, die auch in der musischen Kunst un-
übertrofTene Meister waren.*'^) Zwar eifert bereits ihr unmittelbarer
Zeitgenosse Pratinas*^) gegen das Bestreben, die Musik aus dieser
dienenden Stellung herauszuführen, indessen dieser Versuch ward
offenbar zunächst in der chorischen Lyrik gemacht, die dramatische
Poesie blieb davon unberührt. Die ältere Tragödie kennt eigentUch
nur Chorheder; der Vortrag dieser Gesänge, ausgeführt von einer
gröfseren Zahl musikalisch gebildeter junger Männer, die jedoch nicht
Sänger von Profession waren, erheischt alle Zeit eine gewisse Ein-
fachheit der musikalischen Begleitung. Später treten diese Chorlieder,
einst der höchste Schmuck der Tragödie, mehr und mehr zurück
hinter den Bühnengesängen"'), die den Schauspielern Gelegenheit
und Saiteninstrumente beziehen). In der Komödie wird der Flö(cnl)egleitung
wiederholt gedacht.
516) Aristot. Pol. VIII 7, 8 p. 1342 B 2.
517) Plutarch de glor. Athen, fi: ngoalroianv i'ti' nilole xai Xv^nis noir,-
ral Xeyovree xal qSovres' st<pr}iuelv x^^ xt^. Iloraz A. P. 216: sie etiam fidi-
but voces crevere severis.
51 S) Pratinas bei Athen. XIV 617 D: tov aotSav xareoraas Die^is ßaai-
Xttav 6 5' rtt'^s rar s^ov xoQeidxto' xni ynp ia&^ vnri^exns.
519) Phrynichus und Aeschylus machen von dem chromatischen Tonge-
fichlechte keinen Gebrauch, wohl aber Agalhon, s. Plut. de mus. c. 20, 3. Quaest.
Symp. III 1,3.
520) Pratinas bei Athen. XIV 61 7 P.
521) Dieser Unterschied ist von durchgreifender Bedeutung. Per Compo-
nist pflegte bei der Wahl der Tonweise darauf gebührend Rücksicht zu nehmen;
die XTTOfovytari und vnoBtaQiaii wurden niilil in ("liorlirdtrn. sondern nur in
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITL>G. 159
gaben, ihre Kunstfertigkeit glänzend zu bethäligen. So gewinnt die
Thcatermusik allmählich einen anderen Charakter; hatte man früher
vorzugsweise die vollendete Kunst der rhythmischen Bildungen und
die grofsartige Schlichtheit der Melodien hochgehalten, so wird jetzt
hauptsächlich auf reiche und mannigfaltige Instrumentalbegleitung,
auf künstliche, geschnürkelte Melodien Werth gelegt.^-^)
Die Reform, welche Sophokles mit dem Chore vornahm, wirkt
auch hier ein. Indem der Chor, welcher früher mehr und minder
Antheil an der Handlung hatte, zu einer untergeordneten Stellung
herabgedrückt wurde, mufsle auch die Manier der musikalischen
Composition mehrfache Veränderungen erleiden. Die dorische Har-
monie mit ihrem gemessenen Ernste mag in der älteren Tragödie
häufig Anwendung gefunden haben.^^) Die herbe, strenge ionische
Tonart wird von Aeschylus in Klageliedern gebraucht.*") Auch die
enthusiastische phrygische Harmonie war gewifs den Chorgesängeu
nicht fremd, zumal in Dramen, deren Fabel dem bacchischen Sagen-
kreise entnommen war, wo die Tragödie unwillkürlich an den alten
Dithyrambus erinnerte'^), war sie ganz an ihrer Stelle. Jetzt mufste
der Componist, weil die Rücksicht auf den veränderten Charakter
den Bühnengesängen gebraucht, wegen des nachahmenden Charakters dieser
Melodien {uifir^rixoC, Aristot. Probl. 19, 30 p. 920 A 10).
522) Plut. de mus. c. 12, 5 : ir^v yag oXiyoxooB iav xai Trjv aTiXörr^xa xai
aefiv6rf}Ta t^s fioxaiyr^s 7Tavre?.cös aoxai'yrjv elvai avftßdßrjxev. c. 21, 4: ol
ftiv yoiQ vvv fiXouad'eTs (schreibe <pi?.ofielels), ol Si tote (fi)J)6gvd'inot.
523) Die dorische Tonart, vorzugsweise als r,d-ixr; äoftovia anerkannt,
fand selbst in Klageliedern {TQayixoi olxroi) Anwendung, s. Plutarch de mus.
c. 17,2; neben ihr ward besonders die mixolydische Harmonie (TTadr^rixT,) ge-
braucht; beide sagten dem Charakter der älteren Tragödie am meisten zu.
524) Heraklides bei Athen. XIV 625 B charakterisirt sie mit den Worten:
araTTjpcv xai axXr^oov, oyxov Se e/ov ovx ayevvri " 8ib xai rr] loayfoSia Tt^os-
ifiXf;s rj aQfiovia. Aeschylus gebraucht sie in den Schutzflehenden (V. 69) und
in dem Threnos der Perser. Klagelieder wurden auch in lydischer Tonweise
gesetzt, Plut* de mus. c. 17,3: xai ttsoI tov ylvSicv oix r-yvoei xai Txeql rrß
Icoos' rjTTiararo yao cTir. ToaycoSia ravTTj tf, ueXonoitq xe'x^rai (lies T«r-
Trtts T«Ts jueX,o7tot'taig, vgl. Kratinus bei Athen. XIV 63SF).
525) Die phr^-gische Harmonie hatte im Dithyrambus vorzugsweise ihre
Stelle, Aristot. Pol. Vlll 7, 9 p. 1342 B 7, Wenn der Biograph des Sophokles be-
richtet: yjjfft Se^AQiarö^evos, cos Tiocöros rcöv Ad'r^vr^d'ev notrj'rcöviTjv 0^yiav
ftsMTtottav EIS ra i'Sia qffftara TtaQiXaßEv xai t<m Si&v^außixcä xoönw xnrdui-
hv, so ist damit nicht gesagt, dafs Sophokles zuerst in der Tragödie diese Ton-
art anwandte, sondern es bezieht sich dies nur auf Bühnengesänge und dergl.
160 DUITTE l'EKIOÜE VÜ^ 500 BIS 300 V. CHR. G.
des Chores mafsgebend war, auf manches verzichten."'') Der reiche
Wechsel der Melodien, welcher die ältere Tragödie auszeichnete,
machte einer gewissen Einförmigkeit Platz.
Der eigeuthche Wendepunkt tritt in der Zeit des peloponne-
sischen Krieges ein. Den Neuerungen des Timotheus, welche dem
herrschenden Geschmacke zusagten und rasch den Beifall der Menge
gewannen, konnte sich auch die dramatische Musik nicht entziehen.
Euripides und Agathon führten den Stil der Dithyrambiker in die
Tragödie ein, und indem die neue Manier sich des Theaters be-
mächtigte, war ihre Herrschaft entschieden.*'")
Flöte und Kithara begleiten nicht nur den Gesang, sondern
auch zwischen den Versen oder am Schlüsse der Strophen und Ab-
schnitte fielen öfter die Instrumente ein, um so die Wirkung, welche
der Dichter hervorrufen wollte, zu verstärken. Besonders Aeschylus
scheint von diesem Kunstmittel Gebrauch gemacht zu haben.*^) Aber
526) Der Chor besteht jetzt aus gewöhnlichen Menschen, ist ein an^a-
XTOS xTjSsvTTje; daher pafst jetzt weder die vnoSoj^tari (d. h. die Alo},iaxi,
Athen. XIV 625 A), noch A\t vnof^vyiari für Chorlieder, denn es sind ctQfiovitu
TigaxTiyai, sondern für Bühnengesänge, Aristot. Prob). 19, ',iO p. 920 A 9 und 4S
p. 920 ß 25, während früher diese Harmonien dem tragischen Chore gewifs nicht
fremd waren. Da der Chor jetzt meist aus Greisen oder Jungfrauen besteht,
war auch darauf Rücksicht zu nehmen ; so sind z. B. die avvrova /lakr; für
Greise ungeeignet, s. Aristot. Pol YIII 7, 10 p. i:U2 A 24. Ruhige Ergebung, stille
Wehmuth ist der Grundton des Sophokleischen Chores (Aristot. Probl. 19, 4S
p. 922B19: a^fw^ei avzcö xo yoBQuv aal rjav^iop rjd'os ttal fiiXot); daher sagt
ihm vor allem die jui^oXvSiati zu ; denn von dieser, nicht von der vnof^vyiari
(oder vielmehr der enthusiastischen f^vyiari, die Aristoteles für den Chor un-
geeignet findet,) ist die Rede.
527) Aristoteles Pol. VIU 7 p. 1342 A 4 findet für die d'earQixtj fwiaixfj
zwar die a.Q/ioi'iai, Tt^axzitcai xal iv&ovaiaaxixai besonders geeignet, aber er
räumt ein, dafs sich die Strenge der alten Kunst nicht aufrecht erhalten lasse,
und macht Concessionen, indem er p. 1342 A 24 auch TiaQBxßdaeis xiöv fteXüiv,
Ta avvrova xal naQaxsxQcoafieva zuläfst. Das Haschen nach Popularität, das
Bestreben einander zu überbieten, was Plutarch de mus. c. 12,5 mit den Wor-
ten (piXdv&QOJTxos xai d'e/tarixos (d. h. aytoviarixoe) xfönos bezeichnet, ist das
charakteristische IVlerkmal dieser Richtung.
528) Euripides verspottet bei Aristopii. Frösche 12S5 diese Manier des
Aeschylus, indem er nach jedem Verse xoipXaxxö&Qax xotpXaxxöd'Qax einschal-
tet. Damit soll eben nur der Ton der musikalischen Instrumente und zwar wohl
der Flöte (vgl. bei den römischen Komikern hat und bitlubatta) nachgeahmt
werden, was nachher zu einem Vergleiche mit dem eintönigen Gesänge der
Wasserschöpfer, die eben nur unverständliche Interjektionen wiederholen moch-
DIE DRAMATISCHE POESIE. EI>XEITU.N:G. 161
auch ganz selbständig trat die Musik auf, indem sie auf schickliche
Art Pausen der Handlung ausfüllte'^), wie bei Aeschylus im Ein-
gänge der Eumeniden, wo die Priesterin im Heiligthume des Gottes
verschwindet und nach einiger Zeit zurückkehrt*^, dann in der-
selben Tragödie nochmals beim Scenenwechsel. Die mittlere und
neuere Komödie mufs, da sie keinen Chor hat, regelmäfsig von die-
sem Mittel Gebrauch gemacht haben."')
Die lebendige Plastik des Tanzes, der die Schönheit der mensch- Die drama-
lichen Gestalt in ihren Bewegungen offenbart, wufsten die Griechen chestik.
wohl zu würdigen, während die römische Sittenstrenge diese Kunst
mit den Gesetzen des Anstandes nicht zu vereinigen vermochte. Die
Griechen kannten eine unendhche Mannigfaltigkeit charaktervoller
iSationaltänze. Jede Stimmung fand in diesen Tanzweisen Ausdruck.
Neben dem Adel und der würdevollen Haltung war auch dem über-
müthigen Bocksprunge und der obscönen Geberde Raum vergönnt.
Für das bewegüche Volk der Hellenen war der Tanz eine ebenso
natürhche Lebensäufserung wie das Singen^); daher stehen auch
ten, benutzt wird. Der Scholiast des Aristophanes bezeichnet sie richtig als Com-
plement des Rhythmus, und deutet an, dafs dies auch zuweilen im Texte der
Lieder angedeutet war, dafs aber die Kritiker willkürlich ras roiavras iv rols
fiB)^at TiQoad'iaeis entfernten. Euripides selbst weist darauf hin (aräaiv uekch'
ix Tiöv xid'a^cpSixcäv vöficov si^yaaft6vip>) , dafs Aeschylus hierin dem Vor-
gange der alten Nomendichter folgte. Plutarch de mus. c. 2S, 5 führt diese Kunst-
mittel auf Archilochus zurück: oi'ovrai 8s xai ir-v xoovaiv ttjv vno rriv co8r^
rovrov tiqcÖtov st-^elv, Tois S' aQ)(,aCov: Tiüvras 'noöayooSa xooveiv. Darauf
ist der Kunstausdruck StavXtov zu beziehen, Hesychius: onöxav ev tois fieleai
ftera^ TiaoaßäXXr^ fiih)5 ri o 7toir/rTj£ naoaaica7ir,(yain:os rov X0(}ov " na^a Si
TOIS fiovatxols T« roiatra fieaavXut. In etwas anderer Art Schol. Arisloph. Frösche
1264: oxav r^av^iai nävTcov yevouivrjs spSov 6 av?.T]rTjS «ffp, wie ivSov zeigt.
529) Entweder hörte man nur die Flöte (rptXfj avXi]<Tis), oder Flöte und
Rithara wirkten zusammen (owavUa).
530) Schol. Eum. 33: 7ia^' oXiyov iorjuos rj oxr;vr, yivexai, ovte yäo 6
XOQos nto Ttä^eaziv, rj re le^eia eiar^Xd'ev eii rov vabv. Hier konnte nur die
Musik aushelfen.
531) Donatus bemerkt zur Andria, der Akt schliefse, wenn die Bühne von
allen verlassen sei, ut in ea chorus (d. h. in der römischen Tragödie) vel
tibicen (in der Komödie) audiri possit.
532) Schon der Musiker Dämon würdigte die ethische Bedeutung des
Tanzes, Athen. XIV 628 C. Was Athenäus über den Znsammenhang zwischen
Orchestik und kriegerischer Ausbildung bemerkt, ist wohl aus Aristoxenus ent-
lehnt, von dem auch Plutarch Quaest. Symp. IX 15 abhängig ist.
Bergk, Griech. Literaturgescbicbte IIL 11
162 DRITTE PERIODE VON 500 DIS 300 V. CHR. G.
Gesang und Orchestik in der innigsten Verbindung; es gilt dies
namentlich von der dramatischen Poesie. Schon die Bezeichnung
des für den Chor im Theater bestimmten Raumes, Orchestra,
spricht hinlänglich für die Bedeutung dieser Kunst, zumal in den
Anfängen des Dramas. Jede Gattung der dramatischen Poesie hatte
ihre eigenthümhchen Tanzweisen, welche mit dem Charakter der
Dichtart vollkommen harmonirten.'^) Der tragische Tanz, die soge-
nannte Emmeleia'^''), verlangt mafsvolle Haltung, Ernst und feier-
liche Würde, während für die Satyrchöre ein stürmisches Wesen,
muthwillige Bewegungen und Geberden wohl pafsten. Der Ueber-
muth und die Ausgelassenheit der bacchantischen Festlust erreicht
in dem Kordax der Komödie den Höhepunkt.
Für die alte Tragödie war die Orchestik von grofser Bedeu-
tung.^) Thespis, Pratinas und vor allem Phrynichus wufsten immer
neue Tanzfiguren zu erfinden und ihre Chöre auf das Beste einzu-
üben, aber auch Aeschylus stand in dieser Kunst jenen Meistern
nicht nach.^*®) Der Chor begnügt sich nicht, wie man gewöhnlich
annimmt, damit, den Vortrag seiner Lieder durch orchestische Evo-
lutionen und ausdrucksvolle Mimik zu unterstützen , sondern das
Festspiel nahm von Anfang bis zu Ende seine Thätigkeit in An-
533) Aristoxenus schrieb ncQl zQaytxrje o^x^aeos. Die umfangreiche Schrift
des Aristokles ne^l xo^cäv, lubas d'earQixrj iaroQia und andere verwandte Ar-
beiten boten reichen Stoff dar ; denn dies Thema hat die Gelehrten später viel
beschäftigt, vgl. Lukian de salt. 33.
534) Die ififieXeia wird zum ersten Male bei Herodot VI 129 erwähnt;
hier wird sie im Hause des Tyrannen Kleisthenes von Sikyon als Flötenmelo-
die zum Tanze aufgespielt. Plato Leg. VII $16B stellt der friedlichen Emmeleia
die kriegerische Pyrrhiche gegenüber; nur diese beiden Tanzweisen läfst er
als wahrhaft schöne gelten.
535) Daher erklären die Grammatiker (Photius) r^ayq'Selv durch ;uop«v«v;
vgl. Aristoph. Wesp. 149U und wohl auch Wolken 1U91, wo man nur nicht an
den Tragiker Phrynichus denken darf.
536) Athen. I 21 Ef. mit Berufung auf Chamäleon und Aristophanes, der in
einer Komödie dem Tragiker die Worte in den Mund legte: rolai xoQo'n nv-
Tce T( axrjfiax' inoiovv. Diese Worte des Chamäleon darf man nicht so auf-
fassen, wie sie Alhenäus verstanden zu haben scheint, als hätte er zuerst
{n^iötos) ohne Hülfe eines Tanzmeisters die Chöre eingeübt, denn dies hatten
die älteren auch gethan, sondern Aeschylus habe anfangs (to n^dnov) auf
fremde Hülfe verzichtet, später den sehr geschickten Künstler Telestes (8. nach-
her A. 538) hinzugezogen.
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITUNG. 163
Spruch. Der Chor der älteren Tragödie stand nicht als unlhätiger
Zuschauer da, während die Handlung vor seinen Augen sich ab-
spielte, sondern er folgte jedem Momente der Entwicklung mit reg-
ster Theilnahme und begleitete die Reden der Schauspieler mit leb-
haften Geberden und Bewegungen, welche unter Umständen selbst
zu dem Rhythmus des Tanzes übergehen konnten. Natürhch war
man bedacht, die rechte Grenzlinie inne zu halten, um nicht die
Aufmerksamkeit der Zuschauer von der Hauptsache abzulenken. So
greift alles in einander. Die Choreuten , indem sie jedes Gefühl,
welches die Vorgänge auf der Bühne in ihrem Gemüth hervorrufen,
durch Stellung, Gestikulation und rhythmische Bewegung des Kör-
pers auszudrücken suchen, sind keine blofsen Statisten, wie später,
sondern beiheiligen sich unmittelbar an der Handlung; ihr stummes,
aber allgemeinverständliches Spiel veranschaulicht in bewegten Sce-
nen die Bedeutung des Momentes."') Wie die dramatische Kunst
der Hellenen eine entschiedene Richtung auf das Plastische hat, so
wird sie durch schickliche Anordnung dafür gesorgt haben, dafs die
Schauspieler oben auf der Bühne und die Choreuten unten auf der
Orchestra sich als eine wohlgeordnete symmetrische Gruppe darstell-
ten. So dient alles dazu, die Wirkung des reichen dramatischen
Bildes zu verstärken; nichts ist müssig oder stört die Harmonie.
Aeschylus, der bei der Aufführung seiner Dramen alles bis ins kleinste
Detail anordnete und überwachte, verstand es auch, tüchtige Gehülfen
heranzubilden, welche auf seine Intentionen eingingen und in selb-
ständiger Weise ihre Kunst übten."*)
537) Darauf geht die Deßnition der Emmeleia bei Schol. Aristoph. Frösche
896 : iftfiiXeiav oti xaraxorjOTixcös vvv rr^v tvqvd'fUav ' xv^icos yaQ r^ fisiä fii-
txtvi iqayi-KTi Iqxr^on , oi Si rj nooe raS prjaeis vnö^xv^^^' Die Emmeleia
umfafst eben beides, während diese Definitionen immer nur ein Moment heraus-
heben.
53S) Telestes oder Telesis, der als 6^x'l<''^V' oder o^;fjjffTo5<^affxa/o» des
Aeschylus bezeichnet wird (Athen. I 21 F) und besonders bei der Aufführung der
Sieben vor Theben sein Talent bewährte (22 A: dv t<j5 c();^£lai9"a< rois Etito. inl
0T)ßai favsQo. Ttoiijaai rä TtQÖyftara), war nicht Schauspieler, der die Rolle
des Eteokles übernommen hatte, sondern Koryphäus des Chores. Er erfand nicht
nur neue Tanzweisen, sondern war Tor allem geschickt, durch stummen Ge-
berdenausdruck und das Spiel der Arme die Handlung zu veranschaulichen.
Dieses Talent konnte er zwar auch in der Parodos und anderen Chorliedern der
Sieben bethätigen, aber Aor allem in der Scene, wo der Bote auftritt, und zwar
nicht blofs in den kurzen melischen Perikopen des Chores, sondern mit seiner
11*
161 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Die Wirkung der Reformen , welche Sophokles mit dem Chor
vornahm, ist auch hier leicht erkennbar. Der Chor, von jeder Theil-
nahme an der Handlung ausgeschlossen, verhält sich während der
Vorgänge auf der Bühne passiv ; er verzichtet darauf, durch Gesten
und Tanzfiguren die Handlung zu veranschaulichen und auch ohne
Worte seine Empfindungen kund zu geben. ^') Die Orchestik des
Chores beschränkt sich fortan auf seine eigenen Lieder, und auch
hier nimmt sie einen anderen Charakter an. Die Tanzweisen der
tragischen Chöre zeichneten sich ehemals durch bunte Mannigfaltig-
keit aus""); die Dichter benutzten volksmäfsige Elemente oder er-
fanden neue kunstreiche Figuren, um jedes Mal den Inhalt des Lie-
des, die augenblickliche Stimmung möglichst deutlich für das Auge
darzustellen. In der jüngeren Tragödie gewinnt der Tanz mehr und
mehr eine feste typische Form. Die gemessene Ruhe der Emmeleia
herrscht entschieden vor; für den Ton und Inhalt der meisten Sta-
sima würde die alte Weise nicht recht mehr passen."') Daneben
finden sich jedoch auch bei Sophokles und Euripides einzelne Chor-
lieder, welche lebhaftere Tanzbewegungeu erfordern "*) ; namentlich
ausdrucksvollen stummen Mimik begleitete er eben den Bericht des Boten und
die Reden des Eleokles.
539) Nur Karkinus machte den Versuch, das orchestische Element wieder
zu Ehren zu bringen.
540) Pollux IV 105: xQayiMfii o^xriaeoie ra axfifiaxa, m/i^ X^iQi o xaXa-
&ia)eoe, x^^Q xaran^avi^s, ivXov naQaXrjrpiS, Smlfj, 9'eQfiavaxQli , xvßiarrjats,
Tia^aßijvai rerra^a. Das Verzeichnifs ist unvollständig; es fehlt der §i(ptaf*ös,
von den Lexikographen ausdrücklich als Spielart der Emmeleia bezeichnet, eine
Nachahmung des kriegerischen Schwertertanzes. Aber die MoJMaaixr] iftftilsia
bei Athen. XIV 629 D beruht ebenso wie die alxivvie Ile^atxr; auf Irrthum; es
sind dort die Worte i/ifiileia xö^Sa^ aixiwis als ungehörig zu streichen.
541) Den Unterschied der alten und neuen Zeit veranschaulicht der Ko-
miker Plato, Athen. XIV 628 E: war' ci'rts ö^j^oIt' ev, &eaft' tjv' vtiy Se S^öi-
oiv ovSiv, aXl' üicTteQ anoTtXrjxroi. atäSriv iaräxBS coQvovxai, wobei natürlich
etwas üeberireibung mit unterläuft.
542) So bei Sophokles im Ajas 69S, wo der Chor freudig bewegt den
Pan anruft, zu erscheinen, oncos ftot Nvaia Kvcüoai' oQxVf^"-"^^ avxoSafj ^tviav
iätpfjs, viiv ya^ iftol fiälet xogevaat. Ebenso das Tanzlied in den Trachinierin-
nen 205 (vergl. Schol. xo yaQ fttJuSaQtov ovx Kaxi axiiat/uor, aXX' vnb xf;s
^dovr^e ^f;ijoiVra«) , wo die Beziehung auf die bacchische Festlusl klar ausge-
sprochen ist. (S. A. 45:<.) Hierhergehörtauch das Lied OedipusTyr. 10S6; nur
eignen sich für den Chor der Greise gemessenere Evolutionen, und dasselbe gilt
von Antig. 1115.
DIE DRAMATISCHE POESIE. EI>LEITU>G. 165
da, WO die Erinnerung an die bacchische Festlust durchbricht. Aber
auch die Bühnengesänge boten dem Schauspieler Gelegenheit dar,
durch lebhafte Mimik und nachahmenden Tanzschritt die Anschau-
lichkeit der Handlung zu erhöhen."^)
Die alte Komödie scheint die Weise der Aeschyleischen Tra-
gödie, durch die Mimik und Orchestik des Chores der Darstellung
der dramatischen Handlung gröfsere Energie und Wahrheit zu geben,
alle Zeit festgehalten zu haben ; nur war in der Komödie diese stumme
Mimik viel lebhafter und drastischer, streifte an die Carikatur heran.
Hier erschlofs sich eine unerschöpfliche Quelle naturwüchsiger Komik,
und es galt hauptsächlich das Uebertriebene zu ermäfsigen, dem
Mifsbrauche des Gemeinen vorzubeugen. In besonders bewegten
Momenten pflegt der komische Chor seinen Gefühlen durch Tanz-
figuren Ausdruck zu geben und setzt sich auch mit den handelnden
Personen in unmittelbaren Verkehr."^) Namenthch begleitet der
Chor der Komödie mit seinem Geberdenspiel und seinen orchesti-
schen Bewegungen die Reden der Schauspieler, sobald sie aus ana-
pästischen oder iambischen Langversen bestehen*^*), wie in dem
sogenannten Agon, oder wo sonst ein leidenschaftüches Wortgefecht
geführt wird. Eben weil diese beiden Versmafse unwillkürhch an
die damit eng verbundenen Tanzweisen der Komödie erinnerten,
waren sie für die Tragödie unbrauchbar.
Tanzweisen begleiten in der alten Komödie den Gesang sowohl
des Chores als auch der handelnden Personen. Wie Ton und Hal-
tung dieser Lieder sehr verschieden war, so wechselnd und mannig-
faltig waren auch die orchestischen Bewegungen. Nicht selten mögen
543) So bei Euripides in den Phönissen das Lied der lokaste V. 30t ff. und
im Orestes V. 1369 ff. die Monodie des phrj-gischen Dieners,
544) Vergleiche besonders die anschauliche Scene Aristoph. Frieden 322 ff.
545) Schol. Aristoph. Wolken 1352: ovrcoe eXeyov crqoe %oocv h'yeiv, ore
rov vrcox^irov Staiid'efitvov xr,v orjOtv o xc^^s oiq^elro' 8ib xai ixf.e'yovrat
a>e iniTOTtXelaxov iv roTs xoutvxois xa xexgäfiexQu tj xa avanaiaxtxa rj xc
iaußixu, Siä xb SqSiots kfininxeiv iv xovxois xov xoiovxov ov&fiöv. Der Gram-
matiker las offenbar i^Sri Idysiv XQV tcqösxoqov; man mag diese Lesart ver-
werfen, aber die sachliche Bemerkung stammt aus guter alter Ueberlieferung.
Hierher gehören auch die trochäischen Tetrameter, die entweder dem Chor
allein gehören, oder zwischen Chor und Schauspieler vertheilt sind : hier wird
der Chor, auch wenn er schweigt, nicht gefeiert haben, vergl. Aristot. Rhet.
111 8 p. 140b B 36: o 8k xQOxaios xogSaxixwrsgos.
166 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
die Dichter possenhafte volksmäfsige Tänze vorgeführt haben,"') Aber
wie die alte Komödie auch auf ihrem Höhepunkte den Zusammen-
hang mit den ausgelassenen Maskenscherzen des Dionysusfestes nie
verleugnet, so sagt ihr am meisten der Kordax zu, ein würdeloser,
unzüchtiger Tanz, den in alter Zeit die Festgenossen, als Satyren
verkleidet, aufzuführen pflegten *"), und das Volk, welches mit Zähig-
keit an der beliebten Lustbarkeit festhielt, forderte vom Chore dieses
Schauspiel. Ein Dichter, der von dem Herkommen abzuweichen wagte,
mochte seinen Mitbewerbern gegenüber keinen leichten Stand haben."')
So behauptet sich der Kordax, dessen Unanständigkeit man wohl er-
mäfsigen, aber nicht beseitigen konnte, ohne den eigenthchen Cha-
rakter des Tanzes preiszugeben."^)
Die S i k i n n i s des Satyrspiels ist aus gleicher Wurzel erwach-
sen **°), aber wie diese Dichtart eine mittlere Stellung einnimmt, so
galt es, den Uebermuth und die Zügellosigkeit dieser Tanzweise des
Gemeinen und Unschönen insoweit zu entkleiden, als es die V^er-
bindung mit der Tragödie erforderte. Raschheit und Energie der
Bewegung^'), Muthwille und neckisches Wesen waren die charakte-
546) Athen. XIV 629 F und Pollux IV 101 ff. führen eine namhafte Zahl
solcher possenhafter Tänze auf.
547) Lukian de saltat. 22, Arrian Ind. 7. Das charakteristische Merkmal
war, wie Schol. Aristoph. Nub. 540 bemerkt, dafs die Tanzenden aiaxQÖJe xivovai
rrjv oatpvv (darin berührte sich der Kordax mit der 'iySis, fiaxxQiaftos, «tto-
Kivoe, aoßäe und wohl noch anderen von Pollux und Athenäus aufgezählten
Tanzweisen). Gesteigert ward die Ausgelassenheit des Kordax, wenn der Phal-
lus als Zugabe hinzutrat. Daher meinte man auch, nur ein Trunkener könne
den Kordax tanzen, Theophr. Char. c. 6.
548) Aristophanes rühmt ausdrücklich in den Wolken 540, dafs er in
diesem Drama streng den Anstand gewahrt, weder vom Phallus, noch vom Kor-
dax {ovSs xögSax" el'Xxvaev) Gebrauch gemacht habe, während er dem Eupolis
(V. 555) vorwirft, diese Mittel nicht zu verschmähen. Aber Aristophanes selbst
hat keineswegs darauf verzichtet, wie schon der Schoiiast erinnert, der auf die
Wespen (vgl. 1326 ff. 1482 ff.) verweist.
549) Ob die mittlere und neuere Komödie von der Orchestik Gebrauch
machte, läfst sich nicht feststellen. Die Darstellung lustiger Gelage auf der
Bühne bot wenigstens dazu Anlafs; man vergleiche z. B. den Stichus des
Plautus.
550) Die Sikinnis wird ausdrücklich als ia^artxr] o^xv^is (Schol. Hom. II.
U 617) bezeichnet; ähnlich war wohl die rv^ßaaia, die dithyrambische Tanz-
weise der Lakonier (Pollux IV 104).
551) Athen. XIV Ü'.MC (wo statt ov yoQ fx»i nä&ot aiit) »; oqxv^^^ ^*«>
DIE DRAMATISCHE POESIE. EINLEITUNG. 167
ristischen Kennzeichen der Sikinnis, welche offenbar vielfacher Modi-
ficationen fähig war."*) Die alten Meister hatten daher Gelegenheit,
ihr Talent io der Erfindung neuer Tanzflguren, wie in der Nach-
bildung volksthümlicher Weisen zu bewähren.
Die Schöpfung der dramatischen Poesie gehört Athen an ; nur Das Drama
die Dorier in Siciüen und Unteritahen haben ihrem angeborenen A*hen».
Naturell gemäfs an der Ausbildung des Lustspiels Theil genommen.
In Siciüen gewinnt die Komödie zuerst eine feste Form. Epichar-
mus und seine Genossen bahnen den attischen Komikern den Weg.
Aber das Lustspiel der Sikelioten war doch nur eine vorübergehende
Erscheinung ; es fehlte die nachhaltige Kraft, welche die literarischen
Leistungen der Attiker auszeichnet. Ebenso tritt in Tarent gegen
Ende dieser Periode Rhintho mit seinen Phlyaken auf. Aber auch
diesem Possenspiele der Italioten war keine lange Dauer beschieden.
Von einer selbständigen Thätigkeit tragischer Dichter aufserhalb
Athens nimmt man wenig wahr. Talentvolle Dichter, die sich etwas
zutrauten, brachten ihre Stücke in Athen zur Aufführung*^); was
hier Beifall gefunden hatte, dem war günstige Aufnahme auch ander-
wärts gesichert; namentlich wem es vergönnt war, an den grofsen
Dionysien, die ganz den Charaker eines allgemeinen nationalen Festes
hatten, wo man auch später nur neue Dramen zuliefs, einen Chor
zu erhalten, fühlte sich durch diese Auszeichnung hochgeehrt.
Wohl suchten einzelne Fürsten den Glanz ihrer Hofhahung
durch Errichtung einer tragischen Bühne zu erhöhen, und indem
sie gemäfs der nie ganz erloschenen Tradition fürsthche Freigebig-
keit übten, gelang es ihnen, vorübergehend einen oder den anderen
berühmten Dichter zu gewinnen. So führte Aeschylus als Gast des
Hiero in Syrakus nicht nur ältere Tragödien wie die Perser auf,
oiSe ßgaSvvsi vielmehr ^5*0 s zu lesen ist). Daher stellte man sie auch mit der
Pyrrhiche zusammen (vgl. auch Hesychius: o^xrjais rts ar^axioj-rixT] HaxvQcav
avvrovoe).
552) Auf die Tanzfiguren des Satyrchores weist Euripides Kykl. 220:
inei /u, av iv fidar} xfi yaaxeqi TtrjScövres anokeffair' av vno rtöv ax^lf^-
xoiv hin. Ein beliebter Gharaktertanz im Satyrdrama war, wie es scheiot, das
ay.cÖ7ievft,a (s. Hesychius).
553) Plato Laches 183 A f.
168 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
sondern dichtete auch mit Bezug auf die NeugrUndung Katanas seine
Aetnäerinnei). In Makedonien, welches lange Zeit fast von allem
geistigen Verkehre abgeschieden war, hatte schon Perdikkas sich den
Bestrebungen der Kunst und Wissenschaft nicht abgeneigt erwie-
sen.*") Allein weit mehr that in dieser Richtung sein Nachfolger
Archelaus, eigentlich ein ruchloser Charakter. Die Cultur, welche er
sich angeeignet hatte, verhallte nur äufserlich die innere Roheil;
aber um sein Land hat er sich wesentliche Verdienste erworben.
Der Ruf seiner Reichthümer und seiner Liberahtät, sowie der Glanz
der neu gegründeten Hauptstadt Pella übte, zumal in den letzten
Jahren des peloponnesischen Krieges, wo das Gefühl der Unsicher-
heit aller Verhältnisse sich der Geraüther bemächtigte, eine gewisse
Anziehungskraft aus. Der Epiker Choerilus, der Dithyrambendichter
Timotheus, die Tragiker Agathon und Euripides, sowie noch man-
cher andere fanden am makedonischen Hofe gasthche Aufnahme.
Hier dichtete Euripides seinen Archelaus, hier wird er auch ältere
Dramen wieder auf die Bühne gebracht haben ; denn Archelaus hatte
bei Dion an den Abhängen des Olympos einen musischen Agon ge-
stiftet, wo auch scenische Spiele nicht fehlten.***)
In Makedonien konnte die Kunst niemals rechte Wurzel fassen,
und doch erscheinen diese Bestrebungen des Archelaus achtungs-
werth gegenüber dem Gebahren des älteren Dionysius von Syrakus.
Dieser verband die Willkür und Grausamkeit des echten Tyrannen
mit der kleinhchen Eitelkeit des Dilettanten; so übel er auch wegen
seiner Missethaten berufen war, gegen die selbst die nächste Um-
gebung nicht geschützt war, bildet er sich doch wie andere Gewalt-
haber seinen Musenhof. Xenarchus, des Mimendichters Sophron
Sohn, und der Dithyrambendichter Philoxenus verweilten hier län-
gere Zeit; die Tragiker Karkinus der Jüngere und Antiphon waren
für das syrakusanische Theater thätig; der letzlere leistete aufserdem
dem Tyrannen bei seinen eigenen dichterischen Versuchen hülfreiche
Hand. Wie Dionysius seine Tragödien zu Olynjpia, Ol. 98, 1, und
zu Atlien, Ol. 103, 1, aufl'ühren liefs**®), so wird er sicherlich diese
554) Der Dilhyranibendichter Melanippides der Jüngere (8. Bd. II 538) und
Hippokrates von Kos verweilten längere Zeil am Hofe des Perdikkas. — (S.
Bd. 11 480. 540.)
553) Diodor XVII 16.
556) Diodor XIV 109. XV 74. (S. oben S. 20, A. 5b).
DIE DRASUTISCHE POESIE. EI>"LEITL>G. 169
literarischen Versuche, auf die er sich mehr einbildete als auf seine
miütärischen Erfolge, seinen ünterthanen nicht vorenthalten haben,
deren mifsliebige Kritik er nicht zu fürchten hatte."^
Auch für andere Fürstenhöfe mögen öfter neue Stücke gedich-
tet worden sein; so schrieb Theodektes seinen Mausolus offenbar
für die Artemisia von Halikarnafs.***) Ebenso müssen einzelne Städte
sich frühzeitig für die tragische Dichtung lebhaft interessirt haben,
wie Argos. Wahrscheinlich war schon Aeschylus für die dortige Bühne
thätig.^^) Später mag Euripides seine Andromache für Argos gedich-
tet haben; denn dafs die Tragödie nicht in Athen zur Aufführung
kam, ist bezeugt, und die offen zu Tage hegenden politischen Ten-
denzen des Stückes, insbesondere die leidenschaftliche Polemik gegen
Sparta, weisen deutlich auf Argos hin.*) Hier erkennt man zugleich,
wie die Rücksicht auf das Publikum gerade in der dramatischen
Poesie den Geist und die Färbung des einzelnen Werkes wesentlich
bedingt; denn man erhält den Eindruck, als hätten sowohl Aeschylus
als auch Euripides in diesen Dramen die Farben stärker als gewöhn-
lich aufgetragen. Sie wufsten eben im voraus, dafs sie einen Zu-
hörerkreis vor sich hatten, dem die mafsvolle Bildung der Athener
abging.
Nach dem peloponnesischen Kriege wurden regelmäfsige drama-
tische Aufführungen immer allgemeiner. Ueberall werden Theater er-
baut, die freilich auch für andere Zwecke vielfach benutzt wur-
55") Da Dionysius ein besonderer Verehrer des Aeschylus und Euripides
war, werden die Dramen dieser Dichter damals auch der syrakusanischen Bühne
nicht fremd gewesen sein. In Sicilien mögen die Stücke des Euripides früh-
zeilig Eingang gefunden haben. Besonderer Gunst erfreuten sich die meliscben
Partien, Plut. Nie. c. 29: fiaXiara yä.Q, ais ioixs, tcHv exioi 'EX).rjva)v in6dr,aav
avrov XTiv fiovaav oi ntgi ^ixeXCav, wo berichtet wird, dafs nach der Nieder-
lage der Athener in Sicilien viele ihre Rettung nur dem glücklichen Zufall
verdankten, dafs sie Euripideische Lieder auswendig wufsten.
55S) Gellius X IS, 7. Nichts berechtigt jedoch, neben dem Agon für Lei-
chenreden auch noch einen tragischen Wettkampf vorauszusetzen.
559) Aeschylus' 'ixeriSss mit den anderen dazu gehörigen Dramen waren
wohl für Argos bestimmt.
*) [Diese Meinung hat Bergk kurz vor seinem Tode aufgegeben, s. Hermes
XVIII S. 4SS f.: „Die Tragödie ist, wie ich nach erneuter Prüfung des Dramas so
wie der Scholien erkannt habe, für Athen bestimmt und auch in Athen auf-
geführt worden." Vgl. auch S. 503 ff,]
170 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
den,'®") Die ausgesetzten Preise (denn nach dem Vorgange Athens
fand meist ein Agon statt) trugen wesentHch dazu bei, die Theil-
nahme zu steigern. Zunächst wurden Tragödien gegeben, meist ältere
klassische Stücke, vor allem von Euripides; doch mag man auch die
Arbeiten der jüngeren attischen Tragiker wiederholt haben. Von
selbständiger Thätigkeit ist nichts wahrzunehmen, und diese Verhält-
nisse erfahren auch in der alexandrinischen Epoche und später keine
wesentliche Aenderung. Nur in Alexandria und etwa in Athen regt
sich der Trieb, aus eigener Kraft etwas zu schaffen, und wenn auch
auf anderen Bühnen noch zuweilen Dichter mit neuen Dramen auf-
traten, so ist doch von einer literarischen Wirkung keine Rede,
daher manche von vornherein auf scenische Darstellung verzichteten
und ihre Versuche nur für Leser bestimmten. So wurden selbst
jüdische und später christliche Stoffe dramatisch bearbeitet, wie der
Auszug der Juden aus Aegypten von Ezechiel im zweiten Jahrhun-
dert und die Leiden Christi, gewöhnhch dem Gregorius von Nazianz
zugeschrieben.^')
Die Stücke der alten und meist auch der mittleren attischen
Komödie trugen so entschieden das Gepräge ihrer Zeit und örtlichen
Umgebung an sich, dafs eine Uebertragung auf andere Buhnen nicht
möglich war. Dagegen das neuere Lustspiel fand wegen seines
allgemeingültigen Charakters alsbald überall Eingang. Die Stücke
des Menander und seiner Kunstgenossen wurden sehr bald gerade
sowie die Dramen der drei grofsen Tragiker Jahr aus Jahr ein auf-
geführt. Allein abgesehen von Possenspielen und Parodien regt sich
nirgends das Bestreben, mit jenen Vertretern des attischen Lustspiels
sich in einen Wettstreit einzulassen , und auch in Athen erlischt
seit dem Anfange der alexandrinischen Epoche die Produktion auf
diesem Gebiete immer mehr.
Ungleich höher sind die Wirkungen anzuschlagen, welche das
Wirkungen griechische Drama in der Fremde ausübte. Im Orient waren an den
Fremde. Fürstenhöfen, wo man für griechische Bildung nicht unempfänglich
war, sehr bald auch griechische Tragödien behebt. Der Parther-
560) Namentlich zu anderen dichterischen oder musikalischen Auffährun-
gen: in Nemea fand im Theater ein aYdiv xi&a^(oSd5v statt, dem Philopömen
beiwohnte, wobei die Perser des Timotheus aufgeführt wurden. Die Menutxung
des Theaters zu Volksversammlungen ist bekannt.
561) 'E^aytoyri und X^iarbi Ttna%o>v.
DIE DRAMATISCHE POESIE. EL>LE1TL>G. 171
könig Orodes liefs nach dem Siege über Crassus durch griechische
Schauspieler die Bacchen des Euripides aufführen. Die Wahl der
Tragödie für diesen Anlafs und der rohe Muthwille, den man wäh-
rend des Spiels an dem blutigen Haupte des Römers verübte, be-
kunden hinlänghches Verständnifs ; ja der Orodes und sein Bundes-
genosse Artavasdes von Armenien schrieb sogar selbst griechische
Trauerspiele.^^ Das indische Drama verdankt seine Ausbildung
wesentlich der Bekanntschaft mit der griechischen Schauspieldich-
tung.«^)
Viel tiefer geht die Wirkung bei den nahe verwandten ita-
lischen Stämmen, weil man hier die griechischen Dramen nicht
in ihrer originalen Gestall vorführte, die doch nur einem kleinen
Kreise Gebildeter verständlich war, sondern übersetzte und bearbei-
tete, bis man später zu selbständigen Nachbildungen überging. So
wurden die klassischen Werke der griechischen Dramatiker in Italien
vollständig eingebürgert; nach dem Muster der Griechen erstand
eine umfangreiche einheimische dramatische Literatur, Ein gewisses
mimisches Talent ist der altitahschen Bevölkerung eigen. Unvoll-
kommene Anfänge der dramatischen Poesie waren längst vorhanden ;
um so gröfsere Theilnahme brachte man der Einführung des grie-
chischen Schauspiels entgegen. Bald wurde der Sinn für künstlerische
Form geweckt, und man wufste den Werth einer regelrecht ange-
legten dramatischen Handlung wohl zu würdigen.
Die römische Literatur beginnt mit dem Drama, also derjeni-
gen Gattung der Poesie, womit sonst bei naturgemäfsem Verlaul'e
die Entwicklung abschhefst. Es waren dies eben keine selbständigen
Arbeiten, sondern massenweise wurden griechische Lust- und Trauer-
spiele übersetzt. Daher hat es auch nichts Auffallendes, wenn an-
fangs derselbe Dichter gleichmäfsig tragische und komische Stoffe
562) Plutarch Crassus c. 33.
563) Manche griechische Culturelemente mögen auf diesem Wege nach
Indien gelangt sein; so ist der indische Liebesgott vielleicht erst dem grie-
chischen Eros nachgebildet. Die Bekanntschaft der Völker des inneren Asiens
mit den klassischen "Werken der griechischen Tragödie bezeugt Plutarch de
fort. Alex. I c. 5, wo er die Verdienste Alexanders um die Ausbreitung helleni-
scher Bildung im Orient hervorhebt: xal ire^acHv xai 2ovaiav(öv (lies ^oy-
8iavü)v) xal reBqotaiav naiSss ras Ev^miSov xai ^OfoxXiovi r^aytaSias
Tjdov.
172 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
bearbeitet. ludes so wie man höhere Anforderungen an sich selbst
stellte, tritt auch in Rom die naturgemäfse Theilung ein. Pacuvius
und Accius beschränken sich auf die Tragödie, ebenso Plautus und
seine Nachfolger auf die Komödie. Es ist leicht erklärlich, dafs die
ersten Versuche, das Drama nach Rom zu verpflanzen, von Fremden
ausgehen. Livius Andronicus stammt aus Tarent, wo die dramatische
Poesie mit Vorliebe gepflegt wurde, Nävius aus Campanien, wo
griechische Cultur seit frühester Zeit feste Wurzeln gefafst hatte,
Ennius aus Rudiä in Calabrien, sein Schwestersohn Pacuvius aus
ßrundusium.
Der Erfolg, mit dem diese Dichter ihre griechischen Vorbilder
wiedergaben, war sehr verschieden, und die unbeholfenen Versuche
sind nicht gerade immer die ersten. Die Tragödie erreicht ihren
Höhepunkt in Accius, einem begabten Dichter, eigentUch dem letz-
ten neunenswerthen Vertreter der Gattung, die Komödie in Plautus,
den keiner seiner Nachfolger auch nur annähernd erreicht. Plautus
besafs alles, was den wahren Luslspieldichter macht. Wie Grofses
hätte er leisten können, wenn er sich entschlossen hätte, seine Stoffe
unmittelbar aus dem römischen Volksleben herauszugreifen, statt den
trüben Niederschlag einer fremden Cultur, die sich ausgelebt hatte,
zu reproduciren. Man hat zwar später den Versuch gemacht, ein
nationales Lustspiel zu schafl'en, aber man begnügte sich mit der
Veränderung des Kostüms und unwesentlichen Aeufserlichkeiten.
Afranius meinte das Höchste geleistet zu haben, wenn er dem Me-
nander die römische Toga umwarf. Verdienstlicher war jedenfalls
das Unternehmen, das allitalische Possenspiel zu erneuern und lite-
rarisch auszubilden. Freihch führten die stehenden Figuren der Atel-
lanen nothwendig eine gewisse Beschränkung des Gesichtskreises
herbei, aber vor den tyi)ischen Charakteren des griechischen Lust-
spiels halten sie wenigstens den Vorzug des Naturwüchsigen, Volks-
mäfsigen, und so viel auch des Rohen und Gemeinen der hier dar-
gestellten Handlung anhaften mochte, so sehr auch das römische
Volksleben bereits in der Zersetzung begrifl'en war, so mufsle doch
unwillkürlich der sittliche Geist, der gerade in den niederen Schich-
ten des Volkes noch nicht erloschen war, durchbrechen. .\uch in
der Tragödie begegnen wir Ansätzen zu einem nationalen Drama,
und da es keine einheimische Sagendichtung gab, war man aus-
schliefslirh auf das Gebiet der Geschichte angewiesen. Die Eriu-
DIE DRAMATISCHE POESIE. EI>LEITU>G. 173
neruDgen an die bewegte Vergangenheit Roms und die grofsen Män-
ner, welche diesen Staat geschaffen, boten reichhaltiges, wenn auch
sprödes Material dar; allein der rechte Dichter vermag selbst wider-
strebenden Stoff zu bewältigen. Indes, da man das Gesetz der Kunst
als etwas Fertiges und Abgeschlossenes von den Griechen überkam,
ist das historische Drama in Rom eine ebenso vereinzelte Erschei-
nung wie in Athen geblieben.
Die Theilnahme an den Erzeugnissen der griechischen Bühne
war nicht auf Rom beschränkte^); die Römer sind vielmehr hier
wie anderwärts nur dem Vorgange ihrer Nachbarn gefolgt. Die
Etrusker haben sich nicht, wie man gewöhnlich annimmt, mit
pantomimischen Tänzen begnügt, worin sie allerdings besondere
Fertigkeit besafsen^), sondern auch dramatische Spiele waren nicht
unbekannt. Die tuskischen Tragödien des Volnius, deren Varro
gedenkt**'), mögen erst einer späteren Zeit angehören, aber nichts
berechtigt zu der Vermuthung, dafs dies ein vereinzelter Versuch
war, lediglich in der Absicht unternommen, um eine Sprache neu
zu beleben, die bereits im Aussterben begriffen war. Die Reste
alter Theater zu Fäsulä, Arretium und Adria sind zwar ebenso wenig
als die zu Cortona aufgefundenen Bronzefiguren von Schauspielern
mit Masken und Kothurnen als ein voUgüUiges Zeugnifs für dra-
matische Aufführungen anzusehen; allein die zahlreichen Sculptur-
werke etruskischer Grabdenkmäler, welche mit sichtlicher Vorliebe
Scenen aus griechischen Tragödien, besonders des Euripides dar-
stellen , wobei zugleich die Einwirkung des nationalen Elementes
564) Ob andere Städte in Latium mit Rom wetteiferten, ob sie nicht viel-
leicht ein regelrechtes Drama besafsen, ehe Livius Andronicus auftrat, läfst sich
bei der Dürftigkeit unserer Quellen nicht ermitteln; sicher ist, daCs in diesen
Municipalstädten einst grofse geistige Regsamkeit und Bildungstrieb herrschte,
bis die Centralisation in Rom alle diese Keime erstickte, ohne aus dieser Ver-
ödung der Landschaft rechten Vortheil zu ziehen, vgl. was Cicero pro Archia
c. 3 über das Studium der griechischen Literatur bemerkt.
565) Dafs die etruskischen Künstler in Rom nur ihre Tänze aufführten
{sine carmine ullo, sine imitandorum carminum acta, Liv. VII 2, 4), ist erklär-
lich; denn die etruskische Sprache war für die Bühne etwas durchaus Fremdes.
566) Varro de 1. 1. V 55. Dieser Volnius (oder Volumnius?) mag ein älte-
rer Zeitgenosse des Varro gewesen sein.
567) Als Nachbildungen griechischer Skulpturwerke können jene etrus-
kischen Aschenkisten nicht gelten; wollte man aber annehmen, durch griechi-
174 DRITTE PERIODE V0> 500 BIS 300 V. CHR. G.
unverkennbar ist, setzen eine einheimische Bühne voraus.**^) Be-
deutende dichterische Begabung mag nicht gerade das Erbtheil der
alten Etrusker gewesen sein, allein von einer selbständigen Blüthe
des Dramas ist auch gar nicht die Rede; wohl aber mögen die
Etrusker, deren Kunst überall unter dem mächtigen Einflüsse helle-
nischer Cultur steht, griechische Tragödien, vor allem die des Euri-
pides bearbeitet haben, und zwar gewifs früher als die Römer, denen
sie in der äufseren Civilisation überall voraus waren. Die Osker
in Campanien werden nicht zurückgeblieben sein. Nur mochte bei
dieser genufssüchtigen Bevölkerung das Lustspiel, welches hier ohne-
dies verwandten einheimischen Elementen begegnete*^), vorzugs-
weise Anklang finden , während der gemessene Ernst der Tragödie
dem herrschenden Geschmacke weniger zusagte.
sehe oder gar römische Tragödien , die man auf etruskischen Theatern auf-
führte, sei jene Richtung der Plastik hervorgerufen worden, so hat diese Er-
klärung weit geringere Wahrscheinlichkeit, als die Voraussetzung einer nationa-
len Bühne.
568) Das Fest der Weinlese wurde von den italischen Stämmen mit Mas-
kenscherzen ganz wie in Griechenland begangen; vgl. Vergil Georg. II 3S5 fT.,
wo man den Zusatz des gelehrten Dichters: Troia gens mista zu Ausonii co-
loni nicht urgiren darf.
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. EINLEITUNG. 175
Die Tragödie.
Einleitung.
Indem der tragische Dichter fremdes Unglück, fremde Schuld Charakien-
mit der ergreifenden Gewalt der ganzen Wahrheit vorführt, erfüllt gischen
er unsere Seele mit Furcht und Mitgefühl. Der empfängliche Zu- Poesie-
schauer giebt sich völlig der Illusion hin; er vergifst, dafs er der
Bühne gegenüber ist, folgt mit wärmstem Antheil den Geschicken der
handelnden Personen, begleitet den Helden mit banger Furcht und
Besorgnifs auf seiner gefahrvollen Bahn. Die Kämpfe und Conflicte
des Lebens, das Unrecht und die Sünde, die INoth und der Jammer
des irdischen Daseins stehen uns nicht als etwas Fremdes gegen-
über. Unsere Leidenschaften sind von denen, die der Dichter dar-
stellt, nicht verschieden ; ein ähnliches Schicksal, wie es den tragi-
schen Helden heimsucht, kann einen jeden treffen. Allein Furcht
empfinden wir nicht so sehr für uns; ein solches egoistisches Inte-
resse mufs der echten Kunst gegenüber verstummen. Die Erinnerung
an Selbsterlebtes, an ähnhche Erfahrungen Anderer tritt zurück vor
der lebhaften Sympathie, welche der AnbHck fremder Leiden, frem-
den Schmerzes hervorruft. Ist die Katastrophe eingetreten, so wird
uns die Nichtigkeit des irdischen Daseins klar, aber zugleich fühlen
wir uns gehoben und geläutert ebenso durch das Schauspiel mensch-
hcher Kraft und Energie, die sich in Kämpfen und Dulden bewährt,
bis sich ihr Schicksal erfüllt, wie durch den Hinblick auf eine höhere
Nothwendigkeit , die sich an den dunkeln Verwickelungen des Le-
bens offenbart. So wird das Gemüth von dem, was es innerlich ge-
wollt, befreit, des Herzens Unruhe beschwichtigt, und der Glaube
an eine sittliche Weltordnung neu befestigt. Dies eben ist die läu-
ternde und erlösende Kraft, welche aller echten Poesie innewohnt,
die aber nirgend so wirksam, wie in der Tragödie, sich äussert.
Athen übernimmt mit dem Beginn dieser Epoche die Führung Wirkung
auf dem Gebiete der Literatur. Die epische Dichtung war längst ^^^ :^J.°"^*
abgeschlossen, die Lyrik bereits auf ihrem Höhepunkte angelangt; die,
nalurgemäss tritt nun das Drama auf, dessen Pflege sich alsbald die
176 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
tüchtigsten Kräfte zuwenden. Die höhere Ausbildung der dramati-
schen Poesie, ein ausschhefsHches Verdienst der Altiker, beginnt mit
der Tragödie, deren Blüthezeit ein volles Jahrhundert umfafst. Was
die bedeutendsten Vertreter dieser Gattung geschaffen, wirkte nach
verschiedenen Seiten hin anregend. Die Komödie, bisher gering
geachtet, ordnet ihren Haushalt nach dem Vorbilde der Tragödie,
so weit die Verschiedenheit der gestellten Aufgabe es zuhefs, und tritt
bald mit ebenbürtigen Leistungen auf. Wie Kratinus an Aeschylus
erinnert, so Aristophanes an Euripides, und der Komiker gesteht
selbst zu, dafs er bei dem Tragiker in die Schule gegangen sei.
AUmähhch gestaltete sich das Verhältnifs minder freundlich. Wie die
Komödie nach allen Seiten hin scharfe, oft rücksichtslose Kritik itbt.
so wird sie nicht müde, das Verfehlte, die falschen Richtungen ge-
rade der zeitgenössischen Tragiker zu geifseln, eben weil diese Kunst
auf dem Gebiete des geistigen Lebens eine der ersten Stellen ein-
nahm. Wenn die dithyrambische Poesie auf die Gestaltung des Ly-
rischen in der jüngeren Tragödie vielfach eingewirkt hat, so bildet
sie auch wieder das dramatische Element wetteifernd mit der Tra-
gödie aus.
Das Talent leichter gewandter Conversation ist vorzugsweise den
Athenern eigen. Alle Schichten der attischen Gesellschaft durchdringt
der Trieb sich mitzutheilen, seine Gedanken in Scherz und Ernst
auszusprechen. Aus dem Leben ging diese Gewohnheit, die höchsten
Fragen wie das Geringfügigste dialektisch zu erörtern, in die Lite-
ratur über, und gerade die Tragödie bot die mannigfachsten Vor-
bilder für diese üebung des Geistes in mustergültiger Form dar.
Aber nicht nur die dialogischen Scenen, sondern auch die längeren
Reden, mit denen die Helden auf der Bühne ihre Sache führen,
hatten für die Bürger eines politisch hochentwickelten Gemein-
wesens, wo die Gabe der Rede Eintlufs und Ansehen verlieh, beson-
deren Reiz. Die mächtige Beredsamkeit, welche zu derselben Zeit,
wo die grofsen Tragiker wetteifernd ihre besten Werke schufen, alle
(iemüther mit sich fortrifs, empfing sicherlich von der Bühne man-
nigfache Anregung, während später die öffentlichen Verhandlungen
vor der Volksgemeinde und den Gerichtshöfen ebenso wie die Vor-
suche, die Theorie der Redekunst festzustellen, nur allzuviel Einllufs
auf die weitere Entwicklung tler tragischen Poesie gewannen. Die
Verdienste dieser Dichter um die Pflege und Ausbildung der Sprache
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. EI^O-ETTÜNG. 177
►
sind unbestritten. Die durchsichtige Klarheit und Geschmeidigkeit,
die Verstandesschärfe wie die Reinheil des Ausdrucks, welche die
Rede der Attiker auszeichnet, wird zunächst den Bemühungen der
Tragiker verdankt; was später Gemeingut war, von jedem Gebildeten
in der Schrift wie im mündhchen Verkehr gebraucht wurde, tritt
uns hier in ursprüngücher Frische entgegen.
IS'icht minder nachhaltig ist der Einflufs der Tragödie auf die
bildende Kunst. Indem die dramatische Dichtung in unmittelbarer
Gegenwärtigkeit eine Handlung dem Auge vorführt, mufste sie in
ganz anderer Weise als Epos und Lyrik auf die Plastik und Malerei
einwirken. Die lebensvollen Bilder der Bühne ziehen in raschem
Wechsel vorüber. Der Künstler mufste sich alsbald angeregt fühlen,
durch den Meifsel, durch Erzgufs oder durch den Reiz der Farben
das Bild zu fixiren und so dem flüchtigen Momente dauernde Wir-
kung zu sichern. Allein die bildende Kunst begnügt sich nicht mit
Reproductionen. Das bewegte Leben der dramatischen Poesie, welche
nicht nur äufsere Begebenheiten, sondern auch innere Seelenzustände
darstellt und mit allen Mitteln, geistigen wie sinnhchen, ihren
Schöpfungen den Schein wirklichen Lebens, voller Gegenständlichkeit
zu verleihen vermag, forderte zu einem Wettstreite in verwandter
Richtung auf, und die hellenische Sculptur, noch mehr aber die Ma-
lerei, obwohl der Poesie gegenüber im Nachtheil, da sie in der
Wahl der Mittel beschränkt und nur auf die Darstellung eines Mo-
mentes angewiesen sind, verfolgen beharrlich diese Bahn. Polygno-
tus, der Meister im hohen idealen Stil, in der Kunst, den Charakter
heroischer Gestalten zur Anschauung zu bringen, unübertroffen, ein
Geistesverwandter des Aeschylus und Sophokles, folgt nicht nur den
Spuren des Epos und der Mehker, sondern behandelt auch Motive
der dramatischen Poesie.') Bei ApoUodorus, dem Vorläufer des Zeuxis,
von dem man rühmte, er habe zuerst die Pforten der wahren Kunst
erschlossen, weil er Licht und Schatten wirksam zu vertheilen ver-
stand, erklärt sich das Bestreben, seinen Gestalten den täuschenden
Schein wirklichen Lebens zu geben, vielleicht daraus, dafs er ur-
1) Hierher gehören besonders die Gemälde in den Propyläen, dann in der
bunten Halle {TtoixiXr]) Kassandra und Ajas' Frevel. Kassandra kam auch auf
dem grofsen delphischen Bilde vor. Namentlich an Sophokles erinnert man-
ches, wie der Thamyras; doch zeigt der Maler auch seine Selbständigkeit; bei
der Ermordung des Aegisthus führte er die Söhne des Nauplius ein.
Bergk, Griech. Literaturgescbichte III. 12
178 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
sprilDglich Bühnenmaler war') und so Gelegenheit hatte, die Ge-
setze der Perspektive wie die Wirkungen auf der Bühne gründlich
zu Studiren. Viel entschiedener als Aeschylus') und Sophokles hat
Euripides eingewirkt. Die Hauptfiguren seiner Dramen, zumal seine
Frauencharaktere, wie Medea, Phädra, Iphigenia*), Merope und an-
dere, sind unzähhge Mal in Werken der Sculptur und Malerei dar-
gestellt worden. Ueberhaupt hat dieser Dichter, bei dem das tragische
Pathos am intensivsten erscheint und der zugleich ein ungewöhn-
liches Talent malerisch anschaulicher Schilderung bekundet, der jün-
geren Schule der hellenischen Plastik und Malerei recht eigentlich
den Weg gewiesen. In der Plastik tritt die neue Richtung des
Praxiteles und Skopas, die zu dem Ernste und der Strenge des Stils
von Pheidias in entschiedenem Gegensatze steht, obwohl in dem
Entwicklungsgesetze der Kunst selbst begründet, erst hervor, nach-
dem die Tragödie das Innere des menschhchen Gemüthes erschlos-
sen hatte.
Mythische Die griechische Tragödie behandelt gegebene Stoffe, welche
Stoffe, fagt ausnahmslos dem Gebiete der Sage angehören; denn die Zahl
historischer Dramen war gering. Von freier Erfindung hat nur ein-
mal Agathon Gebrauch gemacht*); denn die letzte Arbeit des greisen
2) Der Zuname axtay^äfog, den Apollodorus mit Recht führte, ist eigent-
lich gleichbedeutend mit axrjvoy^äfos (Hesychius axta). Auch in der Wahl
der Gegenstände ist bei Apollodorus der Einflufs der dramatischen Poesie
sichtbar.
3) Dafs dem Künstler, der die Zeichnung zu der Dariusvase entwarf,
Aeschylus' Perser gegenwärtig waren, ist nicht zu verkennen. Wenn auf einem
Relief die Fesselung des Prometheus dargestellt ist und Nereiden oder Okea-
niden den Hephästus, der eben sein Geschäft vollendet hat, um Erbarmen für
den Titanen anflehen, so ist dieser Zug nicht der Sage entlehnt, sondern man
erkennt deutlich die Einwirkung der Aeschyleischen Tragödie.
4) Wenn in der Erkennungsscene bei den Taurern Iphigeneia mit dem
Briefe in der Hand erscheint, so geht dies unzweifelhaft auf die scenische Dar-
stellung zurück.
5) Aristot. Poet. 9, 7 p. 1451 B 19, wo er ausführt, dafs die Namen der
handelnden Personen in der Tragödie meist überliefert und bekannt sind: ov
fiT}v aXXa xal iv rals rgayc^Siate iviais fiiv ir tj Stx) löiv yvtOQinoiv iarlv
ovOfiärafv, tÖ 8i aXXa TienoiTj/teva, iv ivioui Si ovSäv, olov iv Tiji '^ya&a*-
voe "^v^n ' Oftoicoe ya^ iv tovt<j> ta je Tt^yfiara xai t« hvö/taxa ii»noir,x<u,
xai ovSiv 7JTXOV evfQaivei. Allein yiv&oi ist für den Titel einer Tragödie
wenig passend; das Stück wird I4v&eve gehciTsen haben.
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. EI2SLEITÜISG. 179
Sophokles, der Oedipus auf Kolonos, wenn schon die dramatische
Handlung selbst wesentlich ein Werk des Dichters ist, lehnt sich
doch überall in Motiven und Charakteren an die Ueberlieferung an.
Die griechische Tragödie breitet sich über das ganze Gebiet der
Sage aus, aber sie hat die Schätze der Tradition weder gleichmäfsig
benutzt, noch viel weniger zu erschöpfen versucht. Bei der un-
endlichen Fülle der Sagen war dies nicht möglich, aber bezeich-
nend ist, dafs die Tragiker nach Euripides am wenigsten darauf
ausgehen, neue Pfade einzuschlagen, während doch sonst die Epi-
gonen an unverbrauchten Stoffen ihre Kräfte zu üben pflegen.
Homer und die kyklischen Dichter sind die Hauptquelle der
Sagenkunde für die Tragiker.^) Daher erklärt sich auch zur Genüge
6) Frühzeitig begann die gelehrte Forschung sich mit den mythischen
Stoffen, welche die griechischen Tragiker behandelt haben, zu beschäftigen,
indem man ebensowohl die Quellen, welche sie benutzten, als auch die Um-
bildungen der Sage, welche von ihnen ausgingen, sowie die Abweichungen
der einzelnen Dichter unter sich nachzuweisen bemüht war. Schon Glaukus
von Rhegium schrieb tveqI AiaxvXov fivd'cov (s. die Einl. zu Aeschylus' Per-
sern). Dikäarch setzte gewissermafsen diese Arbeit fort in seinen inod'dasie tc5v
2!ofox)^ove xai EvQmiSov fivd'cov (Sext. Empir. adv. Math. III 3 p. 697 Bekk.), die
sich keineswegs auf eine summarische Angabe des Inhalts der Dramen beschränk-
ten; noch sind uns Proben dieser Arbeit (wenn auch nicht immer in der voll-
ständigen Fassung) zu Euripides Medea, Alkestis und Rhesus erhalten. Das
Hauptwerk des Isokrateers Asklepiades r^aycoSoiiftava in sechs Büchern wird
von den Späteren fleifsig benutzt. Philochorus schrieb tieqI Hofoaliovs fivd'cov
(Suidas II 2, 1 496) und eine eniaroXij tiqos läaxXrjniäSrjv eben mit Bezug auf die
TQaycpSovfteva (Schol. Eurip. Hecuba 1), wohl nicht verschieden von der eben-
daselbst genannten Schrift tisqI r^ayojSiwv. Aufserdem werden rQayc^SovfjiEva
von Demaratus einige Mal erwähnt. Die alten Erklärer der Tragiker haben dann
diese Forschungen ergänzt und fortgesetzt. Man glaubt gewöhnlich einen Er-
satz für diese untergegangene Literatur in den Fabulae des Hygin zu finden.
Allein die Vermuthung, dafs hier grofsentheils nur Inhaltsangaben griechischer
Tragödien oder lateinischer Bearbeitungen vorliegen, ist nicht begründet; aller-
dings ist c. 4 Ino Euripidis , c. 8 Jntiopa Euripidis quam scribit Ennius
überschrieben, aber gerade bei diesen Kapiteln ist es fraglich, ob sie dem ur-
sprünglichen Werke angehören. Natürlich sind auch die Tragiker direkt oder
indirekt benutzt, z. B. die Erzählung von Archelaus geht auf das Drama des
Euripides zurück, aber sie sind nicht die eigentliche Quelle ; daher vermifst man
bei Hygin manches beliebte tragische Thema, während daneben Fremdartiges
sich findet. Wenn Hygin mit sichtlicher Vorliebe Liebesabenteuer auswählt,
welche zu einer tragischen Verwicklung Anlafs geben, so deutet dies auf eine
Stoffsammlung nach Art des Parthenius hin.
12*
180 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
die Bevorzugung des troischen und thebanischen Kreises, die uns
besonders bei Aeschylus und Sophokles entgegentritt, weniger bei
Euripides, dem überhaupt der Geist des heroischen Epos nicht eben
zusagte. Es ist beachtenswerth, dafs dieser Dichter nur den Rhesus^
einer Episode der Ilias, die nicht dem älteren Gedichte angehört,
nachgebildet hat, während Aeschylus und Sophokles aus der Ilias
wie aus der Odyssee Stoff zu mehreren Dramen entlehnten. Aber
auch die Hesiodische Poesie, die unerschöpfliche Fundgrube alter
Sagenkunde, ward nicht vernachlässigt; zumal Aeschylus verdankt die-
sem Dichter vielfache Anregung. Den Einflufs, welchen die Um-
dichtungen der Heldensage durch die chorische Lyrik auf die Tra-
giker ausübten, vermögen wir zwar nicht genügend nachzuweisen,
dürfen ihn aber nicht gering anschlagen.*) Endhch haben die Tragiker
wie alle älteren Dichter nicht selten unmittelbar aus der lebendigen
Ueberlieferung geschöpft; so wurden selbst rein örtliche Sagen aus
dem Volksmunde in die Poesie eingeführt.')
So treten neben den troischen Kreis die Argonautensage, neben
die düstere Geschichte der thebanischen Vorzeit die unheimlichen
Erinnerungen an die Greueltbaten des argivischen Königshauses,
neben Herakles sein jüngeres Abbild Theseus. Aber auch thessa-
hsche, korinthische, attische, kretische und andere Sagen werden
fleifsig bearbeitet. Die eigentliche Göttersage tritt zurück; nur die
Mythen, welche sich auf die Einführung des Dionysusdienstes in
Griechenland bezogen, wo die siegreiche Gewalt des Gottes sich in
dem Untergange seiner Widersacher recht deutlich offenbarte, waren
ein beliebter Vorwurf für die tragische Dichtung, die ja unmittelbar
aus dem Cultus des Dionysus hervorgegangen ist.
In der Auswahl der Stoffe bekundet jeder der drei Tragiker
seine eigene Art. Der alterthümliche Geist des Aeschylus verläugnel
7) Eine nicht mehr vorhandene Tragödie; denn das erhaltene Stück gehört
der Schule des Aeschylus an.
8) Am meisten dürfte Stesichorus auf die Tragiker eingewirkt haben;
allein auch andere Meliker, wie Ibykus und Simonides, boten der dramatischen
Poesie geeignete Stoffe dar. So hatte Simonides in einer Parekbase (fr. 209)
die Abfahrt der Achäer und den Schatten des Achilles, der über seinem Grab-
hügel erscheint und den Opfertod der Polyxena fordert, auf das Anschaulichste
geschildert.
9) Aeschylus hatte in seinem Gelegenheilsdrama, den ^iTva.la$, die iicl-
lische Sage von den Paliken benutzt.
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. EINLEITUNG. 181
sich auch hier nicht; wenn er wiederholt den Mythus vom Prome-
theus bearbeitet, so steigt er bis zu den fernsten Zeiten der Götter-
geschichte hinauf; aber auch sonst berührt er mit sichthcher Vor-
hebe die Göltersage. Ebenso haben die Wunder und grauen Gestalten
der älteren Heroensage für ihn besonderen Reiz. Dagegen sind ihm
andere Stoffe fremd, welche gerade die folgenden Tragiker vorzugs-
weise beschäftigten , wie die Thaten des Atreus und Thyestes , der
Wahnsinn des Alkmäon , ebenso Helena oder Antigone, wie über-
haupt Frauen Charaktere bei Aeschylus noch zurückstehen. Sophokles
hat mit Aeschylus die ideale Richtung gemein und folgt wie jener
vorzugsweise den Spuren der epischen Dichtung, aber er entsagt
der Vorliebe für das Alterthümliche, da der feierliche Ernst und die
Erhabenheit dem herrschenden Zeitgeschmacke nicht mehr wie ehe-
dem zusagten. Dagegen führt Sophokles attische Sagen, wie die
vom Triptolemus, von der Prokris und andere, in die Poesie ein '"),
an die sich ein besonderes patriotisches Interesse knüpfte. Nicht
wenig neuen Stoff verdankt die Tragödie dem Euripides. Er benutzt
die verschiedensten Gebiete der Sage; so geht er in seinem Kres-
phontes bis auf die Zeit nach der W'anderung der Herakliden herab,
die sonst allgemein als Grenze des mythischen Heldenzeitalters gilt;
ebenso hat er in seinem Archelaus, einem echten Gelegenheitsstücke,
den Stifter des makedonischen Königshauses auf die Bühne ge-
bracht.
Wie die Tragiker nach dem Vorgange der epischen und lyri-
schen Dichter den reichen Sagenschatz der Nation nur in einer neuen
Kunstform reproducieren, so meiden sie auch nicht das Zusammen-
treffen mit ihren eigenen Vorgängern. Derselbe Stoff wird immer
von neuem dramatisch bearbeitet, und diese üebereinstimmung in
der materiellen Grundlage, diese Wiederholung derselben Charaktere,
Schicksale und Verwicklungen that der Wirkung keinen Eintrag.
So hat jeder der drei Tragiker eine Ipbigenie in Aulis, einen Pala-
medes, einen Philoktet in Lemnos, einen Oedipus, dann den Mutter-
mord des Orestes und den Tod des Glaukus gedichtet.") Den Selbst-
10) Aeschylus hat, wie es scheint, nur die attische Sage von der Entfüh-
rung der Oreithyia durch Boreas dramatisch bearbeitet, vielleicht erst, nachdem
Sophokles diese Bahn betreten hatte.
11) Das Schicksal des Glaukus, eines Sohnes von Minos, hatte Aeschylus
182 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
raord des Ajas, welchen Aeschylus in den Thrakerinnen ") dargestellt
hatte, führte Sophokles in seiner bekannten Tragödie wieder vor;
«benso haben beide Dichter den Tod des Memnon wie des Odys-
seus bearbeitet, dann begegnen sie sich in der Niobe, im Athamas,
Phineus, Sisyphus und Telephus in Mysien. Aeschylus und Euri-
pides haben einen Telephus in Argos gedichtet, ebenso die Sagen
vom Tode des Phaethon ") und des Pentheus"), sowie vom Ixion ")
dramatisch behandelt. Besonders häufig trelTen Sophokles und Euri-
pides zusammen: im Alexandros, wo die Wiederaufnahme des Paris in
das troische Königshaus geschildert wurde, in der Antigone, Danae'*)
und Andromeda, im Phrixus, Alkmäon, Oenomaus, in dem Bruder-
zwiste des Atreus und Thyestes, im Ion, Hippolytus'"'), Meleager
und ßellerophon. Ebenso werden die Nachfolger der drei Tragiker,
die sich überhaupt auf einen immer engeren Kreis beschränken,
nicht müde, die bekannten Themen zu wiederholen, wie Thyestes,
Alkmäon oder Oedipus, Achilles und Telephus, Philoktet und Helena,
oder die Zerstörung Trojas, Medea und Herakles. Manchmal wird
eine Episode aus einem älteren Drama zu einer selbständigen Dich-
tung erweitert, oder auch der Inhalt einer bekannten Tragödie bei-
läufig in gedrängter Kürze wiederholt.'*)
Ein jeder Dichter behandelt eben die Fabel in anderer Weise
und in eigenthümlichem Geiste. War auch der Stoff der gleiche,
so gestattete er doch meist eine verschiedenartige Auffassung. Dazu
kommt, dafs diese Sagen zum Theil nur in allgemeinen Umrissen
überliefert waren ; denn die ältere Poesie halte nicht alles erschöpft.
in den Kor,oaai, Sophokles in den Mäv^en (oder auch IIoXviSos genannt),
Euripides im IloXviSos behandelt.
12) Aeschylus' 0grjaaat.
13) Aeschylus in den 'HhäSse, Euripides im <Pas&o}p.
14) Aeschylus im Jlevd'eve, Euripides in den Bäxxat.
15) Auch Sophokles scheint einen Ixion geschrieben zu haben.
16) Sophokles dichtete einen \4xQiaiot.
17) Sophokles' Kgiovaa entsprach dem Ion des Euripides, der Hippolytus
des Euripides der <t>aiSQa des Sophokles.
1$) Die lo hat Aeschylus zu einer Episode im Prometheus benutzt. So-
phokles dichtete einen 'Ivaxoi. Die Sage vom Prometheus, welche Aeschylus
in mehreren Dramen bearbeitet hatte, flocht Sophokles in den KoXxiSei ein.
Der Opfertod der Polyxena bildete den hihall der gleichnamigen Tragödie des
Sophokles. Euripides bringt ihn als Beiwerk in der Hccuba an.
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. EINLEITUNG. 183
sondern vieles nur gelegentlich und andeutend berührt. Um so
freier konnte sich der dramatische Dichter bewegen. Aber auch wo
ein Vorwurf von den Epikern oder Lyrikern in selbständiger Form
dargestellt war, verlangte doch das Gesetz der dramatischen Poesie
meist eine wesentlich andere Gestaltung. Nach der Erzählung der
Kykliker ward Diomedes ausgesandt, um den verstofsenen Philoktet
von Lemnos zurückzuführen. Dieser Held eignete sich für die schüchte
Weise des Epos, nicht für die verwickelte tragische Handlung ; hier
bedurfte es eines stärkeren Gegensatzes, um die rechte Wirkung zu
erzielen. Aeschylus setzt daher an die Stelle des Diomedes den
Odysseys, der früher den Philoktet ausgesetzt hatte, und diesem
Vorgange sind die anderen Tragiker gefolgt, nur dafs Euripides dem
Diomedes und Odysseus dieses Geschäft überträgt und so eine Stei-
gerung des dramatischen Lebens gewinnt'^), während Sophokles den-
selben Zweck in anderer Form erreicht, indem er dem Odysseus
den jungen Sohn des Achilles Neoptolemus zugesellt.
Ohne ümdichtungen ging es nicht ab. An dem Thatsächlichen
der mythischen Ueberlieferungen haben alle Tragiker mehr oder
minder selbständige Aenderungen vorgenommen, ja derselbe Dichter
scheut sich nicht in verschiedenen Dramen nach Mafsgabe des ver-
schiedenen Standpunktes der Sage eine abweichende Gestalt zu ge-
ben und so mit sich selbst scheinbar in Widerspruch zu gerathen.
Man hat gewohnlich den Euripides beschuldigt, dafs er mit der
Ueberheferung willkürlich umgehe, die Mythen allzufrei abgeändert
habe. Und in der That finden sich in den Tragödien des Euripides
nicht wenige und starke Abweichungen von der volksmäfsigen Sage,
z. B. der Inhalt des Orestes ist wesentUch als eigene Erfindung des
Dichters zu betrachten.**) Indes auch Aeschylus und Sophokles habea
wie mehr oder weniger alle griechischen Dichter in vielen Punkten
den Mythus umgestaltet und fortgebildet^'); allein diese Dichter pfle-
19) Euripides schliefst sich hier der Weise des Epos an , welches beide
Helden gern vereint wirken läfst.
20) Daher bemerkt auch der Grammatiker Aristophanes na^^ oiSevi xsl-
xai ^ fiv&oTxoua. Allein einzelne Züge verdankt auch hier der Dichter der
Ueberlieferung, z. B. wenn Elektra dem Pylades vermählt wird, s. Hellanikas
bei Pausan. U 16, 7.
21) Das unveräurserliche Recht des Dichters, die mythische Ueberlieferung^
abzuändern, erkennt auch Aristoteles an. Manches übrigens, was uns erfunden
184 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
gen, wo es gilt, die Ueberlieferung der kunstmafsigen Form des
Dramas anzupassen, die alte Sage mit tieferem Gehalt zu erfüllen
oder mit den Anforderungen einer vorgeschrittenen Bildung in Ein-
klang zu setzen, schonend zu verfahren. Zumal Aeschylus, der mit
ehrfurchtsvoller Scheu an die Gestalten der Götter und Heroen weit
herantritt, dichtet im Geist der alten Sage. Ganz anders verfährt
Euripides. Ihm ist der Sinn für die einfache Gröfse des höheren
Alterthums fremd; er versetzt unbedenklich die Heroen aus ihrer
idealen Sphäre mitten in die gemeine Wirklichkeit und treibt mit
der Ueberlieferung ein freies Spiel, die er nicht selten ganz nach
Laune abändert'"'), oft recht wirksam, aber durch dies Einmischen
fremdartiger und widerstrebender Züge entsteht etwas Zwiespältiges.
Wie eben die Kunst des Euripides sich in unvermittelten Gegen-
sätzen bewegt, so ist er andererseits von dem Vorwurfe nicht frei
zu sprechen, dafs er öfter allzusehr von dem überheferten Stoffe
abhängig ist; denn statt Unpassendes und Widersprechendes aus-
zuscheiden oder den höheren Forderungen der Kunst gemäfs um-
zubilden, nimmt er die verschiedenen, oft geradezu unmittelbaren
Elemente der Sage auf und verwendet sie für seine Zwecke. Vor
allem aber tritt die eigenthümUche Geistesrichtung in der Wahl der
mythischen Stoffe hervor, wie schon der Komiker Aristophanes in
seiner trefflichen Kritik des Tragikers bemerkt.")
scheiRt, weil es nicht anderweitig bezeugt ist, mag auf alter Sage beruhen.
"Wenn die Tragiker den Opfertod der Iphigeneia berühren, so wird der Zorn
der Artemis jedes Mal anders motivirt. Sophokles in der Elektra folgt dem
kyprischen Epos, Aeschylus in der Parodos des Agamemnon einer ganz ande-
ren Ueberlieferung von hochalterlhümlichem, einfältigem Gepräge, daher sie
eben den Aeschylus anzog, während nicht leicht ein Dichter dergleichen aus-
sinnt. Einer poetischen Erfindung am ähnlichsten sieht die Darstellung des
Euripides im Prolog der Iphigeneia in Tauris, die in sehr feiner Weise das
Lob der Iphigeneia verkündet: allein die flüchtige Weise, in der die Sache
berührt wird, setzt eine nähere Bekanntschaft mit dieser Fassung voraus; mög-
licher Weise sind hier ein Paar Verse ausgefallen, die dem Verständnifs nach-
halfen.
22) So bemerkt der Scholiast zur Hecuba V. 1 : noklaxu 6 EvQiniitie
aixoaxeStä^ei iv xots yeveakoyiaie, an xai eavxip Ivioie ivavxia Xeysiv.
23) Aristoph. Frösche 1050 IT., wo Euripides sich damit zu rechtfertigen
sucht, dafs er die Sage von der Liebe der Phädra nicht erfunden habe : nöre-
^v S' ovx ovta Xöyov toItov ns^i rfje <J>alS^as ^vvs&rjxa, worauf ihm Aeschy-
lus erwidert: aXX' anoxQvmetv xQV ''^ novrj^bv xöv ya noifiXTjv, xai /* '
na^yetv fi^Sa SiSäaxaiv.
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. ELNLEITOG. 185
Indem die Handlung meist in die sagenhafte Vorzeit verlegt Ar« der
wird, trägt auch die Darstellung das Kostüm und die Farbe jener ^"'* "°^'
Epoche. Denn wenn schon der Kunst ein gewisses Mafs von Frei-
heit gestattet ist und der wahre Dichter ein reicheres Leben vor-
zuführen, die Handlungen und Charaktere mit tieferem Inhalte zu
erfüllen bestrebt ist, so würde er doch mit der Aufgabe, die er
sich gestellt hat, in Widerspruch gerathen, wollte er von den Sitten
und Anschauungen, von dem Bildungszustande und dem Geiste jener
völlig absehen; denn durch solche Gleichgültigkeit geht gerade
das Charakteristische verloren, die Treue und Wahrheit der Schil-
derungen wird beeinträchtigt.
Aber man verfährt nicht allzu ängsthch; an das poetische Welt-Anachronis-
bild darf man nicht den strengen Mafsstab des Historikers anlegen.
Anachronismen kommen häufiger vor, als bei den epischen Dichtern,
die jener entlegenen Zeit noch näher standen, während die Tragiker
nur auf vielfach vermitteltem Wege eine Anschauung der heroischen
Welt gewinnen konnten.")
Dem Aeschylus gebührt auch hier unbestritten der erste Preis.
Er führt uns ein lebendiges Bild der Heroenzeit in grofsen charak-
teristischen Zügen vor das Auge. Sophokles ermäfsigt die alter-
thümhche Färbung, indem er mehr das Allgemeinmenschliche her-
vorhebt, sodafs man bei diesem Dichter den Gegensatz zwischen den
Culturverhältnissen seiner Zeit und der alten Welt kaum empfindet.
Euripides steht zu sehr unter dem Einflüsse der neuen Zeit, um
sich innerhalb dieser Schranken zu halten. Er besitzt nicht die Ent-
sagung, um einfache und natürhche Verhältnisse einfach zu schil-
dern, sondern bringt überall Beziehungen auf die Gegenwart, auf
das Culturleben seiner Zeit an, so dafs die rechte Harmonie ver-
loren geht und ein zwiespältiges Wesen überall durchbhckt.
24) Die tyrrhenische Trompete ist das gewöhnliche Instrument in Kampf-
scenen. Schriftlicher Verkehr wird unbedenklich vorausgesetzt. Euripides führte
in seinem Theseus einen des Schreibens und Lesens unkundigen Hirten ein,
der genau die Schriftzeichen des Namens Orjaeve beschreibt; dieser Einfall
ward so beifällig aufgenommen, dafs Agathon in Telephus und Theodektes
denselben copierten. Ein ähnliches Kunststück hatte Sophokles in einem
Satyrdrama Amphiaraus angewandt, indem hier die Schriftzüge eines Namens
(Wortes) durch Tanzfiguren auf der Orchestra dargestellt wurden, Athen.
X 454 F.
186 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Historische Nur ausnahmsweise haben die griechischen Tragiker sich an
^ "' historischen Stoffen versucht, obwohl nicht nur die ältere Geschichte
der hellenischen Stämme und Staaten geeignete Aufgaben darbot,
man erinnere sich nur der heldenmiUhigen Kämpfe, welche die
Messenier für ihre Unabhängigkeit mit den Spartanern führten, son-
dern es auch in der Gegenwart an tragischen Conflikten nicht fehlte.
Allein die Macht des Herkommens war zu grofs; wie das Epos und
die lyrische Dichtung sich auf die ideale Welt des Mythus beschränkt,
so folgt auch bereitwillig die Tragödie diesem V^organge, so ver-
lockend auch gerade für den dramatischen Dichter die Realität des
wirklichen Lebens sein mufste. Nur Phrynichus that den ktlhnen
Griff, indem er Begebenheiten der unmittelbaren Gegenwart, an die
sich ein bedeutendes patriotisches Interesse knüpfte, auf die Bühne
brachte, und Aeschylus schliefst sich mit glücklichem Erfolge diesem
Vorgange an. In den Persern treten uns lebensvolle Gestalten der
wirklichen Welt entgegen, und doch unigiebt sie ein idealer Schim-
mer, ohne dafs der Dichter der geschichthchen Wahrheit untreu wird.
Allein diese Beispiele stehen vereinzelt da. Je mehr die Tra-
giker nach Aeschylus darauf ausgehen, durch fesselnde Verwicklung
und überraschende Lösung zu wirken, desto entschiedener wenden
sie vom Historischen sich ab. Die Mythologie bot Belege plötzlichen
Schicksalswechsels in Fülle dar, und auch wo man das beliebte Motiv
des Mifsverständnisses und der unerwarteten Aufklärung nicht vor-
fand, hefs er sich mit Leichtigkeit anbringen, während in der Wirk-
lichkeit die Dinge meist einen einfacheren Verlauf nehmen und der
Dichter einen solchen Stoff nicht so frei wie sagenhafte Ueberliefe-
rungen behandeln mochte. Erst gegen Ende dieses Zeitraums dichtet
Moschion ^*) wieder einen Themistokles. Hier war also der griechische
Held Mittelpunkt der Tragödie, während Phrynichus und Aeschylus
in ihren Dramen, die den Perserkrieg behandelten, mit gutem Grunde
den Schauplatz in das ferne Morgenland verlegten.**) Das Satyr-
drama Agen von Python, im Heerlager Alexanders aufgeführt, knüpft
an die unmittelbare Gegenwart an, und so werden jetzt historische
25) Moscliion hat vielleicht auch noch andere Tragödien geschichtlichen
Inhalts gedichtet.
2C) Einen Themistokles hat vielleicht auch der Alexandriner Philiskus
gedichtet. Ebenso behandelten wohl die KaaavS(fels des Lykophron einen ge-
schichtlichen Stoff.
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. EOLEITCNG. 187
Persönlichkeiten mehrfach für das Sat\Tspiel heniitzt. Doch waren
diese Stücke wohl meist für ein lesendes Pubükum bestimmt.
Indem so die griechischen Tragiker im Allgemeinen darauf ver-Beziehuagen
ziehten, Begebenheiten und Charaktere des wirküchen Lebens poetisch q /"„^'j^^
darzustellen, übt doch die Gegenwart ihr Recht aus. ünwillkürUch
drängt es den Dichter, das auszusprechen , was ihn in seiner Zeit
näher berührt oder was ihn innerüch bewegt. Gelegentliche Be-
ziehungen auf Zeitverhältoisse finden sich nicht selten in der grie-
chischen Tragödie. Hie und da mag selbst die Wahl des Gegenstan-
des auf solchen Einfluss zurückzuführen sein, aber man war doch
weit entfernt , eine mythische Begebenheit so umzugestalten, dafs sie
gleichsam unter der Hülle der Allegorie ein Bild der eigenen Zeit
darbot. Es war ein unglücklicher Gedanke, wenn man meinte,
Sophokles habe in seiner ergreifenden Tragödie unter dem Bilde
des Königs Oedipus eigentlich den Perikles dargestellt, obwohl im
Gange der dramatischen Handlung alles anders ist und durchaus
nichts im Leben des attischen Staatsmannes an die Schicksale des
Oedipus erinnert, üeberhaupt gehen die neueren Erklärer viel
zuweit, indem sie mit übel angebrachtem Aufwand von Scharfsinn
überall offenen oder versteckten Anspielungen auf Zeitverhältnisse
nachspüren oder auch , auf solche vermeidlichen Andeutungen ge-
stützt, die unbekannte Zeit der Abfassung einer Tragödie zu ermitteln
suchen. Dieses Merkmal ist jedoch sehr trügerisch; denn ein treffen-
des Dichterwort kann oft erst später besondere Bedeutsamkeit ge-
winnen und ganz unerwartet dem jüngeren Geschlechte sein Spiegel-
bild vorfuhren"), hat doch die echte Poesie etwas Prophetisches.
Uebrigens bewährt gerade hier jeder der drei attischen Tragiker
seine eigene Art. Aeschylus, wie er von lebhaftestem Interesse für
27) Wenn Euripides im Palaoiedes fr. 591 Di. den Tod dieses Heros mit den
Worten beklagte : ixaver^, ixävsTE xav Tiavaocpov, a Javaoi, rav oiStv' aXyv-
vovaav arßova Movaäv, SO kann man sich wohl denken, wie bei einer späteren
Aufführung dieser Ol. 91, 2 gedichteten Tragödie das attische Publikum sich
bei diesen Worten nicht ohne Rührung an die ungerechte Verurtheilung des
Sokrates erinnerte (vgl. Argum. Isoer. Busir.). Die Worte bei Aeschylus Prom.
1065, die durch die Situation genügend gerechtfertigt sind, konnten recht wohl
später bei einem besonderen Anlasse mächtigen Anklang finden; wenn sie aber
der späte Scholiast auf die Anklage wegen Verrath, die Chares gegea Iphi-
krales anhängig machte, beziehen will, so haben diese Verhältnisse mit der
Ae^chyleischen Tragödie gar keine innere Verwandtschaft.
188 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
die Geschichte seiner Heimath erfüllt ist und sein feuriger, erreg-
barer Geist von den mächtigen Bewegungen der Zeit tief ergriffen
ward, arbeitet unwillkürHch unter dem Einflüsse solcher Stimmun-
gen, aber mit verständiger Mäfsigung hält er in der Regel alles
fern, was das Bild der heroischen Welt trüben oder einen zwie-
spältigen Eindruck hervorrufen könnte. Sophokles, obwohl er seinem
Volke nicht entfremdet war, gestaltet doch den wechselnden Mei-
nungen der flüchtigen Stunde keinen Zugang. Er arbeitet nicht für
den Augenbhck ; ihm lag es ganz fern, mit den gediegenen Charakte-
ren der mythischen Zeit ein willkürliches Spiel zu treiben ; so hält
sich seine Poesie gleichmäfsig auf idealer Höhe und ist daher für
alle Zeiten gleich verständlich. Euripides steht auch hier zu seinem
älteren Zeitgenossen im entschiedensten Gegensatze. Bei ihm ist der
subjektive Geist viel zu mächtig, als dafs er mit voller Hingebung
an dem Gegenstand arbeiten könnte. Wir stossen daher bei diesem
Dichter überall auf deutliche Beziehungen auf die socialen und poU-
tischen, die rehgiösen und pohtischen Fragen des Tages. Er ist
sichtlich bemüht, durch solche Reizmittel seine Zuhörer zu fesseln,
ihnen die Charaktere und Begebenheiten der fernen mythischen Zeit
näher zu rücken, aber dergleichen versteckten Hintergedanken, mö-
gen sie auch augenblicklich wirken , haftet etwas Erkältendes an ;
alle solche Tendenzen haben etwas Gestaltloses, was der echten
Poesie zuwider ist.
Die griechische Tragödie behandelt allgemeinbekannte Stoffe.
Dies ist in vieler Hinsicht günstig, da es dem Dichter die Arbeit
erleichtert, aber es hat auch seine Nachtheile. Indem der Zuschauer
den wesentlichen Verlauf der Fabel im voraus kennt, findet das
realistische Interesse keine rechte Befriedigung; so wird die stetige
Theilnahme, deren vor allem der dramatische Dichter bedarf, leicht
abgeschwächt. Indes thut doch dieses Festhalten der wohlhekannten
Welt der Sage der Wirkung der tragischen Poesie keinen Eintrag.
Es ist eben nicht auf Befriedigung blofser Neugier abgesehen; der
Dichter versteht die gespannte Erwartung, die ihn Schritt für Schritt
begleiten soll, wie der tragische Held sich in seiner gefahrvollen
Lage benehmen wird, zu wecken und zu erhalten. Im König Oedi-
pus wufste jeder den Ausgang; aber durch die meisterhafte Behand-
lung der Fahel hält Sophokles den Hörer zwischen Furcht und
Hofl'nung schwebend und erzielt so die gröfsle Wirkung. Auch ist
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. ECSLEITÜNG. 189
der Dichter nicht so streng an das Gegebene gebunden, dafs ihm
jede freie Bewegung versagt wäre. Wenn man auch an der Grund-
lage des Mythus meist nichts änderte, so zeigt doch der Oedipus
auf Kolonos, wie sich selbst aus dürftigen Elementen der Ueber-
lieferung etwas wesentüch Neues und Selbständiges bilden liefs.
Es wird niemals gehngen, das Verhältnifs eines Volkes zu denoie sittliche
höchsten Dingen vollständig zu ergründen. Ist es schon schwierig, yn^'^ja""*
die Entwicklung des sitthchen Geistes bei einer Nation , die der ScWcksai.
lebendigen Gegenwart angehört, zu verfolgen, so steigern sich diese
Schwierigkeiten, wenn ein Volk bereits vom Schauplatze abgetreten
ist Andere Völker haben den Kern ihrer Glaubens- und Sittenlehre
urkundlich zusammengefafst ; den Hellenen sind solche altehrwürdige
Denkmäler unbekannt. >Vir sind lediglich angewiesen auf die zer-
streuten Zeugnisse der griechischen Literatur und Geschichte. Aber
dieses Material reicht nicht aus, um den Ursprung der ethischen
Gedanken gleichsam in ihrer Geburtsstätte zu belauschen, den Fort-
schritt in seinem geschichtlichen Verlaufe klar darzulegen. Eine
natürhche Scheu hält manchen ab, des Geistes tiefstes Geheimnifs
in Worte zu fassen, und selbst wo bestimmte Aeufserungen vorhegen,
darf man denselben nicht ohne Weiteres allgemeine Gültigkeit zu-
sprechen. Der Unterschied der Zeiten, die vielfach abgestuften Grade
des sittlichen Gefühls und der intellektuellen Bildung, der Wider-
spruch zwischen Wissen und Handeln ist so grofs, dafs jedes un-
bedingte Unheil unzulänglich erscheint.
Eben weil die Hellenen kein fest formulirtes, auf alter Ueber-
lieferung beruhendes Sittengesetz besafsen, tritt vor allem an die
hellenischen Dichter, welche berufen waren, Führer ihres Volkes zu
sein, die Forderung heran, dem sitthchen Geiste, der im Volke leben-
dig ist, Ausdruck zu verleihen, sich und anderen über die heihgsten
Pflichten und höchsten Aufgaben Rechenschaft zu geben.*®) Auch
die griechischen Tragiker haben auf dem Grunde, den ihre Vorgänger
gelegt, weiter gebaut, und gerade diese ernste Gattung der drama-
tischen Poesie, welche uns mitten in die schwersten ConÜikte des
Lebens einführt und die vielfach verschlungenen Pfade der Welt-
ordnung am deuthchsten zur Erscheinung bringt, konnte ein Ein-
28) Aristophanes Frösche 1055 macht diesen Gesichtspunkt bei der ße-
urtheilung des Euripides geltend.
190 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
gehen auf ethische Probleme am wenigsten von sich weisen. Allein
man darf von diesen Dichtern kein abgeschlossenes philosophisches
System, keine fest abgegrenzte Glaubens- und Sittenlehre verlangen.
Die Verschiedenheit der mythischen Ueberlieferung, welcher der
Dichter folgt, ebenso wie die Form der dramatischen Poesie selbst
gestatten keine vollständige Harmonie der Anschauung ; daher rührt
das Schwanken der Ansichten, je nachdem der Chor oder die han-
delnden Personen sich äufsern. Bald lehnt sich der tragische Dich-
ter an den älteren Volksglauben an, indem er die Idee, welche im
überlieferten Mythus hegt, treuhch wiedergiebt. Sehr häufig mag
der Dichter auf poetisch wirksame Züge nicht verzichten, auch wenn
sie mit seinem geläuterten sittlichen Bewufstsein nicht durchaus
übereinstimmen, während er anderwärts diese Schranken durchbricht
und seine eigene Ueberzeugung unverhüllt kund giebt; aber dann
hält er auch wieder sein Ürlheil zurück, indem er Scheu trägt, die
höchsten sittlichen Fragen zu berühren.
So fehlt es nicht an zahllosen Widersprüchen und Inconse-
quenzen. Eben daher finden die einen bei den griechischen Tragi-
kern einen trostlosen Fatalismus, während sich andere abmühen,
Charakter und Schicksal der tragischen Helden in völligen Einklang
zu setzen. Diese Theoretiker der strengen Observanz, die ausschliefs-
lich den Gedanken der persönlichen Zurechnung festhalten, fördern
weder das Verständnifs der dramatischen Werke, da sie unbeküm-
mert um die Worte und Intentionen des Dichters ihre eigenen Ge-
danken hineinlegen, noch vermögen sie das geheimnifsvolle Räthsel
des Daseins zu lösen, an dessen Abgründen sie mit der Siclierheit
des Machtwandlers einherschreiten. Denn wer will wagen, das un-
fehlbare Richteramt zu üben oder in jedem einzelnen Falle eine
Berechnung zwischen Schuld und Leiden, zwischen Glück und Ver-
dienst zu ziehen. Die griechischen Tragiker, die sehr wohl das
Unzulängliche der menschlichen Einsicht erkannten, halten sich be-
scheiden in gemessenen Schranken.
Es liegt in der Natur des Polytheismus, dafs der Begriff der
höheren Weltordnung nicht vollständig mit der Vorstellung des höch-
sten Wesens zusammenfallt. Wie die Götter Glück und Unglück ver-
leihen, so erscheint vor allem der Schicksalsschlufs als Wille des
Zeus; aber dann ist auch Zeus wieder der Nolhwendigkeil unter-
worfen, an die Gesetze gebunden, welche das Werden, Bestehen und
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. EL\LEITl>G. 191
Vergehen der Dinge bestimmen.*^) Ebenso wenig vermochte die
griechische Rehgion den ßegrilT der Vorherbestimmung mit der Wil-
lensfreiheit des Menschen, das götthche Strafgericht und die mensch-
hche Verschuldung völlig in Einklang zu setzen ; es bleibt ein Zwie-
spalt, den auch die Tragiker nicht recht überwunden haben.
Aeschylus und Sophokles stehen im Wesentlichen auch hier auf
dem Boden des Volksglaubens; nur tritt bei jenem mehr das Herbe
der alterthümhchen Anschauungsweise hervor, während Sophokles
seinem Charakter gemäfs dieses strenge Wesen zu mildern bemüht
ist. Die Vorstellung eines dunkeln, alle Verhältnisse beherrschenden
Schicksals bildet den Hintergrund. In den alten Ueberiieferungen,
denen die Dichter folgen, ist diese Anschauung gegeben, und gerade
für die tragische Poesie war sie besonders wirksam. Aber dieses
Verhängnifs ist keine bhnde Gewalt, welche mit gleich schonungs-
loser Willkür den Schuldigen wie den unschuldigen heimsucht. Wenn
die Tragiker selbst zuweilen in anderem Sinne sich aussprechen, so
geschieht dies entweder, um den Eindruck des Dämonischen, Ueber-
natürlichen zu steigern, oder sie leihen mit Vorbedacht den drama-
tischen Figuren die gewöhnhche Volksmeinung. Der Untergang des
tragischen Helden, die Leiden, welche den Menschen treffen, ent-
springen in der Regel aus eigener Schuld, wenn man auch zuge-
stehen mufs, dafs diese Anschauung nicht immer zu voller Klarheit
ausgebildet ist. Der Mensch überhebt sich, empört sich gegen die
Gesetze der sittlichen Weltordnung und geht daran zu Grunde. Selbst
wo die Motive des Handelns berechtigt sind und so die Schuld im
milderen Lichte erscheint, ist doch der Eigenwille, die Selbstgerech-
tigkeit, die mafslose Leidenschaft strafbar. Wie schon der tiefsin-
nige Heraklit erkannt hatte, bereitet sich der Mensch selbst sein
Schicksal.*) Das Leiden, was den Einzelnen trifft, ist die nothwen-
dige Folge seiner Verschuldung ; so erscheint das unheilvolle Geschick
als gerechte Vergeltung, die sittliche Idee der Nemesis, welche kein
29) Aeschylus hat im Prometheus dieses Problem berührt.
30) Des Menschen Gemüth ist sein Geschick {^^os av&gcoTiM Saifiojv),
lehrte Heraklit (fr. 57 Schi. 92 Schust.). Damit ist ausgesprochen, dafs der Mensch
sich in die bestehende "Weltordnung, die so, wie sie sein soll, eingerichtet ist,
fügen mufs, wenn er glücklich werden will ; daher erklärt auch Heraklit es für
kein Glück, wenn alle Wünsche des Menschen in Erfüllung gehen würden {av-
&^(L>7toiat yivta&ai öxoaa d-tiovfft, ovx afitivov fr. 39 Schi. S4 SchusL).
192 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Unrecht, keine Ueberhebung duldet, sondern früher oder später den
Schuldigen ereilt, offenbart sich in diesen Fügungen. So wird das
Gemüth nicht zur Verzweiflung oder trostlosen Resignation getrieben,
sondern fühlt sich ergriffen, gehoben, geläutert.
Wenn diese höhere Weltordnung, die zur Erhaltung des Ganzen
das Gleichgewicht der Kräfte gewissenhaft wahrt und daher auch
darüber wacht, dafs der Mensch in den ihm angewiesenen Schran-
ken bleibt, als Mifsgunst oder Neid des götlhchen Wesens bezeich-
net wird, so ist dies nur eine alte volksmäfsige Ausdrucksweise.
Gerade das höhere Alterthum ist von der Hinfälligkeit alles Irdischen
durchdrungen ; man hat zur Genüge erfahren, wie gerade die Fülle
der Wohlfahrt den Keim des Unterganges in sich schhefst. Den
Menschen ist kein dauerndes Glück beschieden, und die Warnung,
den Zorn oder Neid der Götter nicht zu reizen, ist eben nichts
Anderes als eine Mahnung, sein Glück bescheiden und ohne Ueber-
hebung zu geniefsen, des plötzhchen Schicksalswechsels stets ein-
gedenk zu sein. Der alterthümliche Sinn des Aeschylus hält diese
Anschauung besonders fest; aber gerade bei ihm tritt uns die ge-
läuterte Vorstellung, die alles Unwürdige fern hält, klar entgegen.
Nicht das Glück des Schuldlosen^'), sondern der Uebermuth der
Menschen fordert die strafende Nemesis heraus*'); Entsagung und
Demuth allein vermag der Gunst der flüchtigen Stunde Dauer zu
verleihen.
Diese alterthümhche Anschauung nimmt man auch da wahr,
wo die Gottheit den Menschen bethört und ins Unglück stürzt. Denn
auch hier ist das Unglück nichts Anderes als die Strafe einer Ver-
schuldung; die Gottheit übt das ihr zustehende Rächeramt aus. Wenn
bei Aeschylus der Chor der Perser sagt, so wie ein Gott den Men-
schen mit trügerischen Hoffnungen berücke, vermöge er nicht mehr
dem Netze des Unheils zu entrinnen, so ist damit recht eigentlich
der Grundgedanke dieser Tragödie ausgesprochen , dafs frevelhafter
Uebermuth den Menschen ins Verderben stürzt, indem er, in thö-
richtem Wahne befangen, selbst an seinem Untergange arbeitel.")
31) Aeschylus Perser 772 : d'toe ya^ o\>x VX^Q'V' ««'S evtp^mv ftpv.
32) Es genügt auf das Chorlied im Agamemnon V. 757 ff. zu verweisen.
3?) Aeschylus Perser 04 ff. Wenn derselbe Dichter in der Niobe (fr. 151
[160 Di.]) sagt, 9B0i ftiv aixiav tpvBi ßqoxoii, oiav xatcäiaat Söifta naftntjStjy
&dXT] , so konnte zwar Plato Rep. II 380 A, der die Poesie nicht unbefangen be-
i
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. EEVLEITDNG. 193
Wohl ist dem Chor in diesem Augenblicke noch nicht das volle
Bewufstsein der Lage aufgegangen, aber der Dichter bereitet schon
hier den Ausgang vor, erinnert an die Lehre, welche der weitere
Verlauf des Dramas eindringlich ans Herz legt. Wenn Kreon in der
Antigone des Sophokles die Gottheit anklagt, die ihn zu seiner Hand-
lungsweise getrieben^*), so gesteht er damit nur seine eigene Schuld
ein. Anderwärts wirkt die Sünde der Väter nach, die sich an dem
späteren Geschlecht rächt"); die Erinnerung an das Unheil, welches
drohend über dem Haupte der Söhne oder Enkel schwebt, macht
das klare Denken, das besonnene Handeln unraöghch, lähmt die
Energie oder treibt zu neuer Frevelthat und beschleunigt so die
Katastrophe.
Denn nicht immer liegt eigene Verschuldung vor. Häufig er-
scheint das Unheil als Erbtheil der Vergangenheit, eine Missethat,
ein Fluch haftet an der Geschichte der Familie, ein finsterer Geist
geht durch das Haus und verstrickt die GHeder in seine verderb-
lichen Netze; denn jede Schuld rächt sich, jede Uebertretung der
sittlichen Ordnung mufs gesühnt werden. Bis auf Kinder und Kindes-
kinder erstreckt sich auch nach dem griechischen Volksglauben das
Gesetz der Vergeltung.^) Aeschylus, dessen ernster Gesinnung die
alterthümliche Weltanschauung vorzugsweise zusagte, hat besonders
jenen Glaubenssatz festgehalten, und die trilogische Form war ganz
geeignet, die Wahrheit dieser Erfahrung in das hellste Licht zu setzen.
Allein auch dem Sophokles sind solche Gedanken nicht fremd, ob-
wohl bei diesem Dichter, da er vorzugsweise auf psychologische Cha-
urtheilt und zu sehr am Einzelnen haftet, fürchten, dies Wort könne auf die
Jugend einen nachtheiligen Einflufs ausüben, aber wir dürfen dem grofsen Dich-
ter vertrauen, der auch hier für das richtige Verständnifs Sorge getragen haben
•wird; man vergleiche in derselben Tragödie fr. 154 [155 Di.]: ovfws Se norfws
ovQÜvtp xv^äv avoo ioa^e ninrsi x«t' /us TXQoatpcJvei räSe' yiyvioaxe rav&Qia-
nsia fiT] aeßeiv ayav.
34) Sophokles Ant. 1273 ff.
35) Sophokles Ant. 594 ff.
36) Drei Generationen bilden die natürliche Einheit der Familie; über das
dritte Geschlecht reicht gewöhnlich die Erinnerung des Einzelnen nicht hin-
aus. Auch im bürgerlichen Erbrecht macht sich diese Anschauung geltend,
namentlich insofern, als entferntere Seitenverwandte, die in Ermangelung der
Nächstberechtigten zur Erbschaft berufen werden, die Erbfähigkeit nur bis ins
dritte Glied besitzen.
BerKk. Griecb. Literaturgeicbichte III. 13
194 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
rakleristik hinarbeitet, die Schicksalsmotive überhaupt nicht in dem
Mal'se vorwalten, wie bei Aeschylus.
Der Gedanke, dafs jedes Leid, was den Menschen trifft, ohne
Ausnahme die Folge einer Schuld sei, oder dafs das Mafs des Un-
glücks genau dem Grade der Verschuldung entspreche, lag redlichen
Gemüthern, die unbeirrt durch abstrakte Formeln voll gläubigen
Vertrauens den Weltlauf beobachteten, fern; denn dann hätte man
auch jedes Glück als verdienten Lohn der Tugend ansehen müssen,
und da die täghche Erfahrung lehrt, dafs oft Unwürdige sich eines
scheinbar ungetrübten Glückes erfreuen, so hätte man nothwendig
an der sittlichen Weltordnung irre werden müssen. Es giebt auch
Leiden, die das Mafs der Schuld übersteigen, wie bei Oedipus, oder
einen Schuldlosen treffen, wie den Philoktet. Die Schule der Lei-
den ist der Prüfstein des sitthchen Werthes oder Unwerthcs. Die
Gottheit, indem sie Unglück sendet, führt dadurch den Menschen
auf den Weg der Tugend und des rechten Mafses. Namenlhch
Aeschylus erhebt sich zu dieser Höhe silthcher Weltanschauung
und weist mit klaren Worten auf die läuternde Wirkung des Un-
glücks hin.^^) Um den höheren Rathschluss zu verstehen und eine
befriedigende Lösung des Zweifels zu finden, darf man nicht am
einzelnen Falle haften, sondern muss den Zusammenhang der Welt-
ordnung ins Auge fassen. Sophokles hat dies gefühlt, wenn er im
Philoktet die schwere Prüfung des Helden zu motiviren suchl^),
wenn uns auch diese Rechtfertigung der göttlichen Weltregierung
zu äusserlich und unbefriedigend erscheinen wird.
Nach dem herrschenden Volksglauben ist einem jeden sein Loos
im voraus angeordnet; allein diese Nothwendigkeit hebt die Frei-
heit des Handelns nicht auf. Ohne das eigene Mitwirken würde der
Schicksalsspruch sich nicht erfüllen, und dies eben ist das Tragische,
dafs der Mensch, indem er dem drohenden Unheil auszuweichen
sucht, sich immer unauflöslicher in die Fesseln verstrickt. Diese
Vorstellung tritt daher in den alten Sagen überall hervor, und weil
37) Aeschylus Ag. t76: JZ^vn ... rov tpQOvelv ßQorovS oStoaavxa, ror
Ttä&ti fiu&oe &£'vra xvQiovs i'x^tv, und nachher V. 250: Jixa Si rote uiv
na&ovaiv fin&eZv ini^^snu. Der Redliche, der sich fern von Frevel iiält,
wird sich auch im Unglück niemals ganz elend und verlassen fohlen, Eume-
niden 550.
38) Sophokles Philokt. 196 8*.
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. EINLEITUNG. 195
die Schicksalsspriiche meist dunkel und vieldeutig sind, das Geheim-
nifsvoUe über des Menschen Geniüth einen besonderen Reiz ausübt,
haben die Tragiker mit Vorliebe diese Motive benutzt. \yährend
aber Aeschylus mit weiser Mäfsigung verfahrt, gefällt sich Sophokles
darin, bei jeder Gelegenheit Orakel, Sehersprüche oder Traunigesichte
anzubringen; indem so das Geschick des Menschen bis ins Einzelne
als vorherbestimmt erscheint, wird die Freiheit des Wollens und
Handelns eigentlich aufgehoben und die Zurechnung der Schuld in
Frage gestellt.
Auch Euripides bringt wohl das Unglück des Einzelnen mit
dem Schicksalsschlusse oder mit der Schuld der Familie in Verbin-
dung, aber es sind dies eben nur Reminiscenzen an die alte Ueber-
lieferung. Bei Euripides herrscht nicht sowohl innere Nothwendig-
keit, sondern das Spiel des Zufalls; der Begriff der sittlichen Ver-
antwortlichkeit des Einzelnen fehlt eigentlich ganz.
Die Tragödie entnahm zunächst ihre Stoffe dem Sagenkreise Die Pcrso-
des Dionysus, aus dessen Cultus sie hervorgegangen ist; der Gott xTagö^dic
selbst und die dämonischen Gestalten seines Gefolges wurden auf
die Bühne gebracht. Bald aber trat man aus diesem beschränkten
Kreise heraus und begann die Heldensage dramatisch zu bearbeiten.
Eine gewisse natürliche Scheu hielt die Dichter zurück, sich an Götter,
der Göttersage zu versuchen. Der kühne Geist des Aeschylus hat dies
wiederholt gewagt; nur ein Dichter von so tief religiösem Sinne
vermochte diese schwierige Aufgabe befriedigend zu lösen. Im ge-
fesselten wie im befreiten Prometheus ist die Handlung ganz in das
Reich der Götter verlegt. In den Eumeniden ist das Interesse gleich-
mäfsig zwischen der Götter- und Heroenwelt vertheilt, aber auch in
den verlorenen Dramen dieses Dichters nahmen die Götter nicht sel-
ten eine hervorragende Stelle ein.^®) Sophokles ist wohl nur in seinen
ältesten Stücken, wie im Triptolemus^**), dem Beispiele des Aeschy-
lus gefolgt. Später erneuert Euripides diesen Versuch im Phaethon
und in den Bacchen , wie überhaupt in den Dramen, die dem Sagen-
39) So in der tetralogischen Composition der Lykurgie, in den Heliaden,
welche das Schicksal des Phaethon darstellten, in der Psychostasie, wo nach
dem Vorgange der Homerischen liias Zeus, umgeben von den anderen Göttern,
auf dem 6eo).oy£Xov erschien und die Todesloose des Memncn und Achilles
abwog, wie auch Eos den todten Sohn in ihren Armen tragend erschien,
40) Hier trat Demeter auf.
13*
196 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
kreise des Dionysus angehörten, der Gott nicht leicht fehlte. Sonst
werden die Götter nur vorübergehend eingeführt, indem sie nach
der Weise des Epos in die Handlung eingreifen, besonders in der
Einleitung, noch häufiger am Schlüsse des Dramas. Und es ist be-
zeichnend, dafs gerade Euripides, der dem alterthümlichen Geist der
Sage am meisten entfremdet ist, von diesem Mittel vorzugsweise Ge-
brauch macht.
Heroen. Die Gestalten der Heroensage sind die eigentlichen Träger der
Handlung und zwar ist bemerkenswerth, dafs, nachdem Phrynichus
zuerst sich an der Darstellung von Frauencharakteren versucht hatte"),
Frauen, die Frauen ein sehr wesenthches Element der griechischen Tra-
gödie bilden. Von den sieben Stücken des Sophokles macht nur
der Philoktet eine Ausnahme. Aeschylus schlofs sich sofort dem
Vorgange des Phrjnichus an. Nicht selten mufs er die Hauptrolle
Frauen überwiesen haben ^^), wenn schon unter den erhaltenen
Stücken nur die Schutzflehenden hierher gehören, wo der Schwer-
punkt in dem Chore der Danaiden liegt. Im Agamemnon zieht zwar
der König vorzugsweise die Theilnahme auf sich, allein die bedeu-
tendste Rolle ist unbestritten der Klytämnestra zugetheilt; ihr gegen-
über steht die Seherin Kassandra. In den Persern ist der Antheil
der handelnden Personen ziemlich gleichmäfsig abgewogen, aber die
Königin Atossa nimmt nicht die letzte Stelle ein. Im Prometheus
wird die Episode von der lo eingeflochten ; auch in den Choephoren
und Eumeniden fehlen Frauen nicht; nur in dem Kriegsdrama der
Sieben vor Theben ist dieses Element lediglich durch den Chor ver-
treten; denn Antigone und Ismene sind als spätere Zulhat auszu-
scheiden. Auch bei Sophokles ist den Frauen die Hauptrolle nicht
selten zugetheilt, wie in der Elektra und Antigone und in manchen
anderen der verlorenen Stücke; auch in den Trachinierinnen con-
centrirt sich das Interesse überwiegend in dem Schicksale der Deia-
neira. Bei Euripides nimmt die Darstellung weiblicher Charaktere
noch einen viel breiteren Haum ein.
Hinsichtlich der Zusammensetzung des Chores ergiebt sich das
beachtenswerlhe Resultat, dafs Aeschylus mit sichtlicher Vorliebe den
41) Suidas II 2, 1555: n^cÜTOS 6 (Pfvytxoe yvpatxelop jt^oatonov »tat';ya-
ytv iv "-^ axTjv^.
42) So in der Ipliigeneia, Niobe, Peneiope, Semele, Europe, Hypsipyle,
Oreilhyia.
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. EI>LEITÜ>G. 197
Chor aus Frauen bildet; nur in den Persern und im Agamemnon
ist der Chor aus Greisen zusammengesetzt. In den verlorenen
Stücken, soweit sie nach dem Chore benannt sind, waren beide
Geschlechter fast gleichmäfsig vertreten. Dagegen hat Sophokles
nur in der Elektra und in den Trachinierinnen von Frauenchören
Gebrauch gemacht, während sich bei Euripides wieder eine ent-
schiedene Bevorzugung der Frauen zeigt. Selbst in der Iphigeneia
zu Aulis treten mitten im Lager einheimische Jungfrauen auf; nur
in dem ältesten Drama, der Alkestis, dann im rasenden Herakles und
den Herakliden wh-d diese Stelle Greisen überwiesen.^)
Kinder werden wohl bei Euripides nicht zuerst auf die Bühne Kinder,
gebracht"), aber kein anderer Tragiker dürfte von diesem Slittel,
die Zuschauer zu rühren, so ausgedehnten Gebrauch gemacht haben.
•Wie es in Athen bei Gerichtsverhandlungen üblich war, die kleinen
Kinder des Angeklagten vorzuführen, um Mitleid zu erwecken und
die Geschworenen günstig zu stimmen, gerade so verwendet Euri-
pides dieses Motiv. So erscheint in den SchutzQehenden die Mut-
ter mit ihren unmündigen Söhnen auf der Bühne; in der auhschen
Iphigeneia wird Orestes als Kind vorgeführt; in der Alkestis stimmt
Eumelus die Todtenklage um die Mutter an; in der Andromache
ergreift Menelaus ihr Kind und zückt das Schwert, um es zu tödten.
Andere Belege boten die verlorenen Tragödien dar. Hypsipyle er-
scheint mit ihrem Pflegekinde Opheltes; Telepbus reifst das Kind
Orestes aus der Wiege und flüchtet sich mit ihm auf den Altar, ein
Zug, der, wie es scheint, schon in der gleichnamigen Tragödie des
Aeschylus vorkam ; im Erechtheus richtet der sterbende König weise
Lehren an den jungen Kekrops. Im Theseus bestand der Chor aus
den Kindern, welche Athen als blutiges Opfer dem Minotaurus
sandte.")
Neben den Heroen treten auch Menschen gewöhnlichen Schlages Nebenfigu-
ren gewöbn-
liehe Men-
43) Im Rhesus, der von einem Nachfolger des Aeschylus verfafst ist, wird
der Chor sehr passend durch die Nachtwache des Lagers gebildet.
44) Bei Aeschylus wird in den Jiovvaov roofoi der junge Dionysus nicht
gefehlt haben. Sophokles führt im Ajas den Knaben Eurysakes ein; in der
Tyro mögen die ausgesetzten Zwillinge, im rasenden Odysseus das Kind Tele-
machus vorgekommen sein. Auf Sophokles konnte freilich zum Theil schon
der Vorgang des Euripides Einflufs ausüben.
45) Doch war dies vielleicht nur ein Nebenchor.
198 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
auf: Herolde und Boten, Diener und Dienerinnen. Schon die alte
Tragödie konnte solche Figuren nicht entbehren^®), aber bei den
jüngeren Dichtern, welche die Darstellung der Heroenwelt dem Leben
der Gegenwart immer näher rücken, gewinnen sie erhöhte Bedeu-
tung. Den Pädagogen hat zuerst Neophron in die Tragödie ein-
geführt"), Euripides weist im Hippolyt die Rolle der Vertrauten der
Amme der Phädra zu.
Zusammen- Die fortschreitende Entwicklung der dramatischen Kunst hat
"chores.^^^i'ch die Zusammensetzung des Chores wesentlich verändert. Der
Chor der Aeschyleischen Tragödie zeichnet sich durch reiche Man-
nigfaltigkeit aus. In den Eumeniden treten die Rachegöttinnen selbst
auf, im gefesselten Prometheus die Okeaniden , in der Fortsetzung
die befreiten Titanen, in den Schutzflehenden die Töchter des Da-
naus, in den Persern die Grofswürdenträger des Reiches, im Aga-
memnon die argivischen Greise, in den Choephoren und in den
Sieben ein Jungfrauenchor. Ganz anders bei den folgenden Dich-
tern. Indem der Chor von jedem selbständigen Antheil an der Hand-
lung ausgeschlossen wird, büfst er alles inviduelle Leben ein ; scharf
und bestimmt sondert sich der Chor von den Hauptpersonen der
Bühne ab. Im Gegensatz zu den Heroen, welche hoch über ihre
Umgebung hervorragen, stellt er gewöhnliche Menschen dar*') und
wird daher entweder durch das Gefolge einer der handelnden Per-
sonen gebildet oder besteht aus den Bewohnern des Ortes, wo die
46) Aescliylus gebraucht den Herold in den Schutzflehenden, den Boten
in den Persern und den Sieben, einen Wächter im Agamemnon, die Amme und
einen Diener in den Choephoren, die delphische Prieslerin in den Eumeniden.
Der Herold Talthybius im Agamemnon gehört der alten Sage an (wie bei So-
phokles in den NinxQa die Euryklea); K^nxos und Bia im Prometheus sind
mythische Gestalten.
47) Suidas II 1, itßO: NeocpQcov . . . TtQÖixoe etarjyays naiSayeoyovi xni
cixeröjv ßäaavov. Dieser Dichter wandelt eben dieselbe Bahn wie Euripides.
Der Pädagog findet sich auch bei Sophokles in der Eleklra und bei Euripides
in den Phönissen.
48) Aristot. Probl. 19, 48 p. 922 B 17 hält eben den Standpunkt der jün-
geren Tragödie fest, wenn er sagt: ixBivoi fiev {ol ano axt;fiii) yaQ rj^oiwy
fiifirjrai, ol Si Tjyaftövts rüv a.QXf-io**' ftövot TjCnv tj^cjss, oi Si laoi äv&QOJjroi,
av iartv ' xoQÖs. Erst seit den Neuerungen des Sophokles gilt dieser Grund-
gatz, daher auch Euripides im Phaelhon den Chor aus Dienerinnen des äthio-
pischen Königshauses bildet.
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. Ei:>fLEITU>G. 199
Handlung vor sich geht.") Indem der Chor nicht mehr dramatisch
thätig ist, sondern nur die Empfindungen und Betrachtungen, zu
denen der Verlauf der tragischen Begebenheit Anlafs giebt, ausspricht,
wird dieses Amt am hebsten bejahrten Männern oder Jungfrauen
zugewiesen; denn dem Greisenaher ziemt die ruhige contemplative
HahuDg, während das innerhche Gefühlsleben in jugendUcheu Frauen-
gemiithern am mächtigsten ist. Nur das Satyrdrama bildet, getreu
dem ahen Herkommen, fortwährend seinen Chor aus den phanta-
stischen Waldgeistern des Volksglaubens.
Die tragische Dichtung geht treulich den Spuren der epischen JF"?'**''^®
Ciustr 3 fitere*
nach oder schöpft doch aus denselben Quellen ; aber wie das Leben
des Volkes inzwischen vielgestaltiger geworden, so ist auch die Welt
der tragischen Bühne reicher. Die verschiedenartigsten Charaktere
werden redend und handelnd eingeführt, und indem das Drama den
Schein des Lebens unmittelbar vor das Auge rückt, übt die Persön-
keit in ihrer Totalität die mächtigste Wirkung aus.
Die Charaktere der griechischen Heroenwelt haben etwas Ein-
faches, in sich Abgeschlossenes; daher führt auch die Tragödie zu-
nächst mehr fertige Gestalten vor, die in ihrer Naturbestimmtheit
verharren. Aber je mehr sich das dramatische Leben regt, desto
mehr gehen die Tragiker darauf aus, das Werden und Reifen der
Persönlichkeit, die Entwicklung des Charakters darzustellen. In den
älteren Stücken des Aeschylus erinnern uns die handelnden Per-
sonen noch an das Geradlinige des archaischen Stils; einen ent-
schiedenen Fortschritt zu lebensvoller Zeichnung bekunden die Ore-
stie und der Prometheus. Prometheus ist eine fest bestimmte Gestalt,
welche keiner wesentlichen Veränderung fähig erscheint, aber meister-
haft wird die allmähliche Steigerung des Pathos dargestellt und so
die Katastrophe herbeigeführt. Mau erkennt hier deutlich den gün-
stigen Einflufs, den das einträchtige Zusammenwirken mit Sophokles
auf den älteren Dichter ausübt. Denn Sophokles ist Meister in der
psychologischen Kunst; seine Charaktere sind concrete Persönlich-
keiten und haben individuelles Leben. Dabei weifs Sophokles' mafs-
volle Natur die ideale Würde der Kunst zu wahren, während Euri-
pides in seinem Streben nach Naturwahrheit die rechte Grenzhnie
nur zu oft überschreitet. Diese durchaus individuahsirten Gestalten
49) Reia willkürlich erfanden ist der Chor der Phönissen bei Euripides.
200 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
bilden in ihrer nicht selten skizzenhaften Behandlung zu den Cha-
rakteren des Aeschylus, welche bei aller Sparsamkeit des Details
doch in bestimmten Umrissen gezeichnet sind, den schärfsten Gegen-
satz. Zwischen der grofsen, breiten Art des Aeschylus und dem
Realismus des Euripides, der manchmal der I'orträtähnlichkeit nahe
kommt, hält Sophokles, der das Individuum ebenso in seiner Be-
sonderheit wie in seiner Allgemeinheit aufzufassen versteh», die
rechte Mitte.
Wenn Aristoteles^) verlangt, der Tragiker solle sittlich tüchtige
Persönhchkeiten, edle Charaktere darstellen, so kann man dies doch
nur in bedingter Weise gelten lassen. Indem der tragische Dichter
den Kampf und Widerstreit der Interessen vorführt, kann er nicht
umhin, auch Gegenbilder des Grofsen und Edlen zu schildern; aber
auch ohne solche Rücksicht werden die Schicksale ruchbarer Frev-
ler vielfach ein selbständiger Vorwurf der tragischen Poesie. Die
Thaten des Atreus, Thyesles, Sisyphus und anderer sind nicht nur
durch Euripides und das jüngere Geschlecht, sondern bereits durch
Aeschylus und Sophokles auf die Bühne gebracht worden. Insofern
auch in solcher Verzerrung des menschlichen Geistes sich die Spu-
ren einer ursprünglich grofsartig angelegten INatur offenbaren, übten
diese Stoffe unwillkürlich auf den Dichter einen besonderen Reiz
und, wenn sie in würdiger Weise behandelt wurden, auf die Zu-
schauer eine mächtige Wirkung aus. Euripides geht weiter. Er sucht
nicht nur mit sichtlicher Vorliebe sich solche Stoffe aus, was ihm
schon Aristophanes zum Vorwurf macht*'), sondern er hat auch seine
Freude daran, ohne Noth die heroischen Charaktere herabzuwür-
digen.") Aber im Allgemeinen hat die griechische Tragödie gemäfs
ihrer idealen Richlung vorherrschend sitilich tüchtige Charaktere
dargestellt. Je edler ursprünglich eine Persünlichkeit, desto mehr
nimmt sie unsere Theilnahme in Anspruch, desto tragischer erscheint
ihr Leiden und Mifsgeschick.
50) Arisiot. Poof. c. 15 p. 1454 A 33.
51) Aristopl). Frösche 1011 ff.
52) Arisiot. PocJ. c. 15 p. 1454 A 28 beruft sicli auf den .Menelaus des Kuri-
pides: Saxt Si nagaSeiy/m TtovriQlai fiBV i,&ovi fii] vmYxalov olov 6 Mevt-
).aoi 6 ly ri^ ^Opiarr], vgl, auch c. 25, 20 p. MtU 15 21, und die allen Kritiker
urlheiiten ähnlich über das ganze Drama: x^i^iaror rou jj&eaiv' nkijv yu^
Ili/.äSm) närtti <faxXoi tiaiv (v. i;«j«»); aliein Pylades sieht mit den übrigen
Charakteren auf ganz gleicher Linie.
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. EI>LEITDKG. 201
Die ältere Tragödie hat etwas entschieden Männliches. Sie liebt
es daher besonders, Charaktere darzustellen, welche, stolz und trotzig,
mit den göttlichen und menschlichen Gesetzen in Conflikt gerathen ;
indem sie ihr Schicksal selbst durch Uebermuth herausfordern, gehen
sie zu Grunde, wenn sie nicht rechtzeitig vor der Macht, die sie
bekämpfen, sich beugen und das Sittengesetz anerkennen. Dies ist
besonders die Weise des Aeschylus. Sophokles zeichnet mit Vorhebe
passive Helden, die eine Reihe furchtbarer Prüfungen bestehen und
durch Verblendung sich ihr Schicksal bereiten. Denn das Schicksal
ist keine unbegreifliche Willkür, so dafs der Mensch nur als das
willenlose Spiel des Zufalles oder einer blinden iNolhwendigkeit er-
scheint, sondern in der eignen Brust des Menschen wohnt der Dä-
mon, seine Natur ist sein Schicksal.
Aeschylus und Sophokles, wenn sie die ferne Heldenzeit der
Nation reproduciren, entäufsern sich nicht nur ihrer Subjectivität,
sondern sind auch innerhch jener Welt nicht entfremdet; sie wissen
daher den heroischen Gestalten eine Kraft und Fülle inneren Lebens
zu geben, ohne dem Geist und Wesen der alten Zeit untreu zu
werden. Euripides steht auf einem ganz anderen Lebensgrunde.
In ihm ist der subjective Geist viel zu mächtig; daher wird er der
idealen Richtung mehr und mehr untreu.*^) Statt mit hebevoller
Hingabe und Entsagung die überiieferten Stoffe zu behandeln, statt
die Charaktere der Heroenwelt in dem grofsen Stil, der hier einzig
angemessen war, darzustellen, leiht er ihnen nicht selten die Hal-
tung und Farbe seiner Zeit, legt ihnen seine eigenen Gedanken und
Anschauungen in den Mund und verfährt überhaupt mit äufsersler
Willkür. Schon Aristoteles vermifst in der Zeichnung der Charak-
tere bei Euripides häufig die Angemessenheit und rechte Conse-
quenz.")
Die Einheit des Ortes und der Zeit ergiebt sich für das grie- Einheit des
chische Drama von selbst. Die Einrichtung der scenischen Spiele ^jer ze".**
53) Sophokles spricht dies in seiner Kritik über Enripides offen ans bei
Aristot. Poet. c. 25, 6 p. 1460 B 33: J^OfOxXr;« iq:r} avxos /uiv oion Sei notsTv,
EiQtniSr^v Si oloi etffiv.
54) Aristot. Poet, c, 15 p. 1454 A 31. Nur ist das Beispiel aus der Iphigeneia
m Aulis (tov oe or(0(iö).ov t] bv ^IXiSi 'Ifiyivsia' ovSiv vag ä'oncsv rj ixe-
rsiovaa xp iaregq) nicht gat gewählt; denn gerade hier trifft den Euripides
luin Tadel.
202 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
führte mit Nothwendigkeit auf die Beobachtung dieser Gesetze. In-
dem der Chor beständig auf der Orchestra verweilt, war nicht nur
die Veränderung des Ortes eigentlich ausgeschlossen, sondern auch
der Verlauf der Handlung, der keine längere Unterbrechung gestat-
tete, auf das knappeste Zeitmafs beschränkt. Natürlich gilt dies nur
von dem einzelnen Drama, nicht von der tragischen Tetralogie, welche
volle Freiheit geniefst. Die drei Tragödien der thebanischen Tri-
logie des Aeschylus führen die Geschichte des Königshauses während
dreier Generationen vor. Ebenso sind die einzelnen Dramen der
Orestie durch einen längeren Zwischenraum getrennt. Während Aga-
memnon im ersten Stücke durch MOrderhand fällt, steht Orestes im
Knabenalter; im zweiten Drama ist er zum Jüngling herangereift.
Zwischen der Fesselung des Prometheus im ersten Drama und seiner
Befreiung in der zweiten Tragödie liegen nach der Darstellung des
Dichters nicht Jahre, sondern Jahrtausende. Nicht minder zulässig
und leicht ausführbar war die Veränderung des Ortes. Im gefessel-
ten Prometheus ist die Scene an die ferne Küste des Okeanus ver-
legt, in der Fortsetzung an die steilen Felshöhen des Kaukasus. In
den beiden ersten Dramen der Orestie geht die Handlung zu My-
kenä, in den Eumeniden zu Delphi und Athen vor sich.
Allein auch im einzelnen Drama wird Zeit und Ort zuweilen
mit läfslicher Freiheit behandelt, zumal bei Aeschylus. Dieser Dichter
steht eben der Weise der epischen Poesie noch näher, und die Form
der Tetralogie wirkte unwillkürlich auch auf die einzelnen Theile
der Composition ein. In den Eumeniden ist anfangs der Apollo-
tempel zu Delphi Schauplatz der Handlung, dann die Akropolis von
Athen ^*), und zwischen diesen beiden Theilen der dramatischen
Handlung wird zugleich der Verlauf eines längeren Zeitraumes vor-
ausgesetzt. Auch im Ajas des Sophokles findet Scenenwechsel statt.
Solcher Ortswechsel war nur ausführbar, indem der Chor sich zeit-
weilig entfernte.
55) Irrig nimmt man einen dreimaligen Wechsel der Scene ati. indem
man die Gericlilsverhandlimg auf den Areopag verlegt. Aber diese findet nach
der Intention des Dichters ebenfalls auf der Akropolis statt, und Aeschylus
deutet nur an, dafs für die Folgezeit der Areopag zur iMalstätte bestimmt sei.
Man mufs V. 689 schreiben: näyov S' a&Qtlxe (statt äQewf) rövS' l4/ua-
^oviov HS^av aHTjväs &\ ot' t]k&ov St}aiaiS xarr qi&övoy atQaTijXnrovaai
xni Tiöhv veifTixoXiv t^J' (d. i. die Akropolis, statt xtivS*) v\f^invf/ov avxa-
nvpyaxrav tot« xtA.
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE, ELNLEITUNG. 203
Weit weniger pflegt sich die alte Komödie an diese Schranken
zu binden. Phantastisch, wie sie war, traut sie auch den Zuschauern
die Fähigkeit zu, sich in ganz andere örtliche Verhältnisse zu ver-
setzen, über einen kürzeren oder längeren Zeitraum, als wäre er nicht
vorhanden, hinwegzuspringen. Im Frieden des Aristophanes spielt
die Handlung abwechselnd im Himmel und auf der Erde. In den
Acharnern verknüpft der Dichter mit genialer Willkür gesonderte
Zeitmomeute. Dagegen die mittlere und ebenso die neuere Komödie,
obwohl sie durch den Wegfall des Chores vollkommen freie Bewegung
gewonnen halte, scheint doch von dem Wechsel der Zeit und des
Ortes nach dem Vorgange der Tragödie nur sehr mäfsigen Gebrauch
gemacht zu haben.^)
Es ist entschieden irrig, wenn man behauptet, nur auf einer
mifsverstandeuen Aeufserung des Aristoteles habe man die Lehre
von der Einheit der Zeit aufgebaut, die dem Philosophen völlig un-
bekannt sei.*') Freilich ist die Ansicht des Aristoteles uns nicht in
56) Bei Terenz im Heautontimorumenos wird es Nacht (II 3, 7) und wieder
Tag (1111,1).
57) Aristot. Poet. c. 5 p. 1449 B 12 ff. handelt von dem verschiedenen Um-
fange des Epos und der Tragödie; daher ist auf den ersten Anblick eine nähere
Bestimmung über die Zeitdauer der Handlung in der Tragödie befremdend. Man
hat daher diese Stelle auf das Zeitmafs, welches die Aufführung eines Dramas
erfordert, beziehen wollen. Da nun eine griechische Tragödie nur wenige Stun-
den in Anspruch nimmt, also das hier aufgestellte Maximum eines Tages {uia
TtEoioSoi TjXiov) m\\. der Praxis nicht stimmt, hat man behauptet, iQayc^Sia be-
zeichne hier die tragische Tetralogie. Allein dies ist gegen den Sprachgebrauch
des Aristoteles. Noch weniger ist die weitere Goncession ^ uixqov e^a).iArxsiv
mit dieser Erklärung vereinbar; denn auch die längste Aufführung konnte und
durfte den Raum eines Tages nicht überschreiten. Noch weniger stimmt die
weitere Bemerkung, die dann besagen würde, in den Anfängen (wo man nur
Einzelstücke, nicht gröfsere Compositionen kannte) dichtete man Dramen, deren
Vortrag gerade so wie der der epischen Gedichte mehrere Tage in Anspruch
nahm. Wollte Aristoteles die für die Aufführung erforderliche Zeit bestimmen,
so mufste er sagen fiiav rjiUov ftoloav, d. h. den vierten Theil eines Tages, was
mit den realen Verhältnissen stimmt; allein Aristoteles lehnt eine solche Be-
stimmung ausdrücklich ab (c. 7, 6 p. 1451 A6; offenbar ward einmal der Ver-
such gemacht, die Zeit nach der Wasseruhr zu bestimmen). Es liegen uns hier
nur Excerpte vor. Die Hand des Epitomators, der sehr flüchtig arbeitete, er-
kennt man schon in der vorhergehenden unverständigen Bemerkung über die
metrische Form, ebenso hier, wo Aristoteles gesagt haben wird: i'ri Si t^J
fiTjyef 7j fiev yao {iv i).arrov t firixst to reXo? rri ftiftr;aecüs f^sf
204 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
der ursprünglichen Form überliefert, aber auch so ist der Grund-
gedanke klar. Die Darstellung eines Dramas ist durch die Natur der
äufseren Verhältnisse auf ein geringes Zeitmafs beschränkt. Wollte
die Tragödie, so wie das Epos, eine breite Fülle von Ereignissen
schildern und weit entfernte Zeiträume in diese engen Grenzen zu-
sammendrängen, dann würde die Wirkung ebenso verloren gehen,
wie wenn man die Handlung des König Oedipus in der Darstellung
bis zum Umfange der Homerischen Ilias ausdehnen wollte. Das ge-
ringe Zeitmafs, was der Aufführung einer Tragödie vergönnt ist,
nöthigt den dramatischen Dichter, die Handlung zu concentriren.
Daher wird der Verlauf der Ereignisse womöglich in den Raum
eines Tages zusammengefafst, während das Epos sich freier bewegt
und auch die ältere Tragödie noch öfter auf jene straffe Composi-
tionsweise verzichtet. Das Gesetz der Einheit der Zeit, welches
man aus dieser Stelle abgeleitet bat, war also dem Aristoteles wohl-
bekannt.
Die Haupt- Entsprechend der Einheit der Handlung verlangt das Drama
person. gjj^g Hauptperson, in der alle Fülle des Handelns oder Leidens sich
concentrirt, aber andere Charaktere stehen ihr gegenüber, welche
ihre Pläne und Interessen bekämpfen oder fördern. Indem die grie-
chische Tragödie sich zunächst mit einem Darsteller begnügte, trug
alles das Gepräge höchster Einfachheit an sich. Bald kam zu der
Hauptperson eine zweite hinzu, nun erst war die Darstellung einer
wahren dramatischen Handlung möglich; man war im Stande, den
Kampf und Streit der Gegensätze unmittelbar vor Augen zu bringen.
Aber Aeschylus verzichtet noch darauf, in den Sieben vor The-
ben die feindlichen Hrüder einander gegenüberzustellen; Polyneikes
bleibt im Hintergrunde, wirkt nur aus der Ferne auf die dramatische
Handlung ein. Erst Euripidos brachte in den Phönissen beide Brüder
auf die Bühne. Indem man den dritten Darsteller hinzunahm, ge-
wann man die Mittel, um auch noch andere Personen einzuführen,
denen ein gewisser Thcil an der Handlung zufällt, und so das Bild
8 10 xal) oTi fiähaja TteiQÜiai. vjto filav jieQioSov ^Xiov elrai r; fiix^ov ii'
a).?Mrreiv, f; Sc inoTiotta aogtaros T<j5 x9or(i>. Die Richtigkeil der Ergänzung
ergiebt sich durch Vergleicliung mit c. 2ü, 5 p. 1-162 A IS. Aristoteles gehl auch
liier von di'r Heobaclitung der Wirklichkeil aus; die griechischen Tragiker haben,
einzelne Ausnahmen abgerechnet,' dieses Gesetz beobachtel, die dramatische
Handlung fügt sich leicht in diesen Rahmen.
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. EI^XElTÜ^G. 205
des Lebens zu vervollständigen. Sophokles, wie er durch die Ein-
führung des dritten Schauspielers die Vollendung der dramatischen
Kunst anhahnt, pflegt auch solche Nehenpersonen mit besonderer
Liebe zu behandeln; aber im Allgemeinen sind die Dichter hiermit
dem Detail sparsamer, sie begnügen sich oft mit blofsen Andeu-
tungen, zeichnen den Charakter nur in flüchtigen Strichen.
Es ist nicht immer leicht, die Hauptperson zu bezeichnen. Der
Agamemnon des Aeschylus, wie er dem Stücke den Namen giebt,
ist zwar der Mittelpunkt des tragischen Interesses, aber weit mehr
ist Klytämnestra in den Vordergrund gerückt. Die dämonische Ge-
walt des Weibes, die der Dichter mit scharfen Zügen zeichnet, über-
ragt entschieden den passiven Helden. Daher kann da, wo ver-
schiedene Dichter ganz die gleiche Aufgabe bearbeiten und die Hand-
lung selbst in den wesenthchen Zügen unverändert bleibt, doch die
Stellung der Charaktere eine verschiedene sein. Wenn Aeschylus und
Sophokles den Muttermord des Orestes vorführen, so liegt bei jenem
der Hochton auf Orestes, bei diesem auf der Elektra. Die meisten
Schwierigkeiten bereitet Euripides; seine Dramen entbehren eben
nicht selten der rechten Einheit. Daher vermag man zuweilen kaum
festzustellen, wer eigentlich als Träger der Handlung zu betrachten
ist, wie z. B. in den Phönissen.
Eigenthche Episoden, wie sie das Epos liebt, hat die Tragödie Episoden.
nur selten eingeflochten, da ein solches Abweichen von der geraden
Linie die Einheit der Anschauung leicht stört und aufserdem die
knapp zugemessene Zeit nichts üeberschüssiges duldet. Eine solche
Parekhase ist das Auftreten der lo im Prometheus bei Aeschylus,
bei Euripides in den Phönissen der Opfertod des Menökeus.
Das epische Element, was anfangs im Drama fast unvermittelt Episches
neben dem lyrischen auftrat, hat auch später, nachdem das drama- ^'"®'"-
tische bereits zu seinem Rechte gelangt war, sich alle Zeit behauptet
und nimmt in manchen Tragödien einen breiten Raum ein.") W'as
5S) In den Auszügen aus der fiovaixr, larogia (wohl des Dionysius von
Halikarnafs) am Schlufs der Biographie des Aeschylus wird die herkömmliche
Eintheilung der Poesie in drei Gattungen, äTtayyslrixov, ftifirjnxov (oder Soa-
fiarixäv) und uixtÖp ganz abstrakt festgehalten. Während das Homerische Epos
dem fitxröv zugezählt wird mit Berücksichtigung des dramatischen Elementes,
wird die dramatische Poesie als eine reine und unvermischte Gattung bezeich-
net: avrc yäg ivegyel xai liyei afia t« ngoaiona xal aina ib xv^s i';^f«.
206 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
vorher geschehen ist, wird, soweit es zum Verständnifs der Fabe
nOthig erscheint, häufig auch das, was später sich zuträgt und auf
das Schicksal der handelnden Personen von Einflufs ist, bald kürzer,
bald ausführlicher berichtet. Der Prometheus des Aeschylus, wo der
Held dem Chore gegenüber darlegt, was er für die Menschheit ge-
than, wie er sich dadurch das Strafgericht des Zeus zugezogen habe,
dann der lo sowohl ihre bisherigen Irrfahrten schildert, als auch
das künftige Geschick vorher verkündet, bietet für beides Belege
dar. Der Prolog, der den Zuschauer einführen soll, ist die geeig-
nete Stelle, um auf Früheres hinzuweisen, der Schlufs der Tragüdie,
um die Zukunft zu enthüllen. Hier treten gewöhnlich Götter oder
Seher auf, vor deren geistigen Augen das Werdende klar daliegt.
Aber auch in der Einleitung werden unter Umständen Götter zu
solchen Berichten verwendet'^), namentlich bei Euripides, der, ob-
schon er anderwärts von dem Vorwurfe der Nachlässigkeit nicht
immer frei zu sprechen ist, gerade in diesen Dingen eine lobens-
werthe Gründlichkeit zeigt.
Aber auch was während des Stückes sich ereignet, wird häufig
nur berichtet, vollzieht sich nicht unmittelbar unter den Augen der
Zuschauer.'") Schon Aristoteles, wenn er von dem Unterschiede der
epischen und tragischen Poesie handelt, bemerkt, dafs es unzulässig
sei, wenn ein dramatischer Dichter die Verfolgung des Hektor durch
Achilles, so wie sie die Homerische Ilias schildert, auf die Bühne
bringen wolle.") Hier ist die erzählende Form ganz an ihrer Stelle,
ebenso wenn Wunderbares und Uebernatürliches wie Verwandlungen
eintraten; doch scheinen die Dichter manchmal dies Gesetz über-
treten zu haben.") Kämpfe und Gefechte, sowie ähnliche Actionen
werden niemals auf der Bühne dargestellt. Die beschränkte Zahl
der Schauspieler, sowie die geringe Tiefe der Bühne gestattete solche
59) Aristot. Poet. c. 15, 7 p. 1454 B 5.
60) Manche Dichter verfuhren in dieser Bezieliung lässig, indem >io Vor-
gänge übergingen, die der Zuschauer wissen mufste; daraus entsprangen Un-
klarheiten oder Widersprüche. Karkinus hatte diesen Fehler nicht vermieden
und zog sich dadurch das Mifsfallen des Publikums zu, Aristot. Poet. c. 17
p. 1455 A 26,
61) Aristot. Poet. c. 24, 8 p. 1460 A 15 und c. 25, 5 p. 1460 B 26.
62) Wenn Horaz A. P. 186 warnt: ne ... avt in avem /loc ne vertalur,
Cadmut in anfeuern, so hat er bestimmte Beispiele vor Augen, wohl den Te-
reuB des Sophokles (Schol. Aristoph. Vög. 100) und den Kadnnus des Euripides.
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. EINLEITUNG. 207
Scenen nicht. Es wäre nicht so schwierig gewesen, dieser Fesseln
sich zu entledigen, allein man verzichtete gern auf volle Gegen-
ständhchkeit; denn die Nachahmung wird hier immer etwas Unzu-
länghches hehalten. Das äufserliche Schaugepränge vermag niemals
den Schein des wirklichen Lebens hervorzurufen ; nirgends liegt die
Gefahr, ins Kleinliche oder gar Lächerliche zu verfallen, so nahe als
hier. Daher ist auch der Mord und blutige Gewaltthat von der
Bühne verbannt"), nicht sowohl, weil man solche Scenen für un-
vereinbar hielt mit dem Maskenspiele, welches dem Dionysus geweiht
war, sondern weil man, von richtigem Gefühl geleitet, einsah, dafs
eine vollkommene naturgetreue Darstellung sich nicht erreichen üefs,
und dafs gerade bei grofser Virtuosität des Schauspielers eine solche
Scene leicht einen ganz anderen als den beabsichtigten Eindruck
macht.*") Wo die erzählende Form meist nicht anwendbar war, half
man sich damit, dafs man durch mehr oder minder klare Zeichen,
durch Klagelaule, durch Bemerkungen des Chores den Zuschauer
ahnen hefs, was hinter der Bühne vorging, und wirkte so mächtiger
auf die Phantasie und das Gemüth ein, als wenn man die Hand-
lung in ihrer Reahtät darzustellen versucht hälte.^^)
63) Nur bei Sophokles stürzt sich Ajas vor den Augen der Zuschauer in
sein Schwert. Aeschylus hatte (in den O^f^affai) den Selbstmord des Helden
durch einen Boten melden lassen, wie der Schol. Soph. S15 berichtet. Nur ist
seine Bemerkung, Sophokles vtt' oyjiv ed'T]x£ ro S^cousvov, ixTiXr^^at ßovlo-
fievos nicht richtig: über einen Selbstmord, der in der Einsamkeit verübt ward,
konnte glaubwürdig nur ein heimlicher Beobachter berichten. Dieses Motiv wird
Aeschylus benutzt haben; Sophokles konnte es also nicht wiederholen und
wich daher von dem Herkommen ab, wie derselbe Schol. vorher sehr richtig
bemerkt : i'acos ovv xaivotoueiv ßovXöfisvos yai fxtj xaraxo/Mvd'eiv toIs itsoov
xivöe. Ebenso erinnert derselbe ganz passend: ^«tt« Se xa roiavxa Ttaoa toTs
TiaXaiois anivia, etcöd'aai yoQ T« nsTiQayfidva 8i' ayyelatv anayyiX'keiv.
64) Philostratus ApoUon. VI 11 legt dem Aeschylus dieses Verdienst bei:
--5 To vnij axr^vi^s ano&vr^axstv inevÖTjoev, cos ftf] iv tpave^eo atfäxroi (vgl.
vit. Soph. I 9 : y.ai a enl axrjt^iS xs xai vtvo axrjvTjS XQV Tioaxxstv), Im
Uebrigen vergleiche man die Vorschriften bei Horaz A. P. 179 ff., der in diesem
Gedichte wesentlich die Grundsätze des Aristoteles vertritt und in erwünschter
Weise die Lücken der Poetik des griechischen Philosophen ergänzt.
65) So im Agamemnon des Aeschylus und in der Elektra des Sophokles.
Zur Elektra 1404 bemerkt der Scholiast richtig: vvv xoiwv ßomaris iv xf,
ctvaiqiaEi xrfi KXtnaifivrjax^as axovsi o ■d'eaxr^ xai ivaQytaxeQOv xo jtoäyfta
yiyvsxai fj 8i * ayyikov arjuaivöfievov ' xai xo ipoqxixiv xr,i öxpecos aTtsoxi, x6
8e ivaQyes ol8ev ijaaov xai Sul xffi ßoijs ingayftaxsvaaxo. Vgl. Schol. B Hom.
208 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Da dem griecliisclicn Tragiker nur ein geringes Zeitmafs ge-
stattet ist, schreitet die Handlung rasch vorwärts; daher war es bei
der Fülle des Stoffes unmöglich, alles dramatisch darzustellen. Hier
leistet die erzählende Form, welche Vorgänge, die zur Fabel noth-
wendig gehören, in möglichst knappen Umrissen zu schildern ge-
stattet, die besten Dienste, So wird z. B. in der Antigene des So-
phokles die Beerdigung des Polyneikes und das Ergreifen der Anti-
gone auf frischer That nur berichtet. Dadurch gewinnt der Dichter
zugleich ein Mittel, um die Einheit der Zeit und des Ortes ohne
sonderliche Mühe zu wahren.
Meist werden Herolde, Wächter oder andere Diener zu solchen
Mittheilungen verwendet; daher ist der Bote eine stehende Figur
der griechischen Tragödie.®®) Es kann aber auch eine der handeln-
den Personen jenes Amt übernehmen. Der Ton dieser Erzählungen
erinnert vielfach an den epischen Stil; doch ist die Darstellung ge-
drängter, es werden nur die wesentlichen Punkte hervorgehoben.")
Am wenigsten duldet der Moment, welcher die Aufmerksamkeit der
Beiheiligten vorzugsweise in Anspruch nimmt, ein behagliches Ver-
weilen; hier ist energische Kürze am wirksamsten. Bilder und aus-
geführte Gleichnisse werden nur sparsam verwendet."®) Ganz ge-
läußg ist der rasche Wechsel zwischen der historischen Zeitform und
dem Präsens, der eben dazu dient, das Bild zu vergegenwärtigen.®')
Durch kurze, aber inhaltsvolle Reden der handelnden Personen wird
II. VI 58 : od'sv xai iv rnls TgayioSiais xgvTirovai roie SQüirrne t« roiavra
iv Trtts axrjvali xai i] tpcovale rialv i^axovofis'vais ij 8t' ayysXtov vaxEQOv arj-
fiaivovai ia TtQnxd'evza, ovSev aXX' i] tpoßoiinevoi fti] avrol av/ufnarj&öjat
rols S^cofit'roiS.
00) Daher der Ausdruck ayysXixi} ^rjate Bekk. An. I 26, 6. Phiiostralus vit.
Soph. I 9 betrachtet die Einführung der äyyeXot und i^äyye}u)t als eine Erfin-
dung des Aeschylus; allein die Botenberichte sind wohl so alt, wie die Tra-
gödie. Der Vers des Thespis (Chrysippus tts^)* «tto^o. 12): ovx i^a&()Tjaas o7S' ,
tSiov St aoi Xiyto ist offenbar aus einer solchen Erzählung entnommen. Man
unterschied zwischen ayysloe unA i^äyyeXoe, Ammonius: äyyelos näe 6 ryyeX-
hov T« (liod'ev, i^nyysXos Se ö ra ivSod'ev jole ^ai Siayye'ÄXcav. So wird
der Bote bei Soph. Antig. 1278 als i^äyyekoe bezeichnet.
07) Oft heben die Boten selbst hervor, dafs sie sich kurz fassen, s. Aesch.
Per». 330, Soph. Elekt. 088.
08) So z. B. Aesch. Pers. 42.'>.
09) Manchmal mag aber auch die Bequemlichkeil für das Versmars die
Wahl bestimmt haben.
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. EINLEITUNG. 209
die Erzählung dramatisch belebt. Der Berichterstatter ist in der
Regel nicht theilnahmlos, sondern giebt seiner Empfindiing Ausdruck,
und der Dicbter, indem er die unmittelbare Wirkung auf den Augen-
zeugen darstellt, versetzt dadurch den Zuschauer in die beabsichtigte
Stimmung. Manchmal zeichnen die Dichter auch mit einigen leich-
ten Strichen den individuellen Charakter des Erzählenden."'*j Den
epischen Ton hat Aeschylus in solchen Erzählungen, wie sich er-
warten läfst, am meisten gewahrt''), während bei Euripides das be-
wegte dramatische Element entschieden hervortritt.") Manche Par-
tien sind mehr lyrisch gehalten, wie die ergreifende Schilderung
von dem wunderbaren Lebensende des Oedipus bei Sophokles"),
gemäfs dem ganzen Charakter dieser Tragödie, wo das dramatische
Leben hinter dem Ausdrucke lyrischer Empfindung zurücktritt.
Wie das Drama vor allem die Entwicklung der inneren Zu- ^ "!' ,
" Guotniscl.
Stände darstellt, das Gemilth d^r handelnden Personen enthüllt, so
führt das Aussprechen der Gefühle und der Empfindungen, das Dar-
legen der Absichten und Pläne nolhwendig auf allgemeine Gedanken
hin.'*) Wer sich rechtfertigt, wer etwas beweisen oder widerlegen
will, wer andere zu belehren oder zu überzeugen sucht, der pflegt
sich auf allgemeingültige Sätze und anerkannte Wahrheiten zu be-
rufen, um die Berechtigung seines Strebens darzuthun. Diese Gedan-
ken sind um so wirksamer, je mehr sie sich aus der natürlichen Lage
der Verhältnisse ergeben, je mehr sie aus der Tiefe des Herzens
70) So z. B. Sophokles den Wächter in der Antigone.
71) Die Schlachlenberichte in den Persern erinnern an die Homerische
Ilias, die Schilderung der Irrfahrten der lo im Prometheus an die Hesiodische
Poesie. Aber auch Sophokles hat den epischen Ton wohl getroffen , wie z. B.
in der Elektra 6S0 ff. in der Schilderung des W'agenkampfes zu Delphi und
des vorgeblichen Todes des Orestes.
72) Man vergleiche z. B. in der Hecuba .^18 ff. den Bericht vom Opfer-
tode der Polyxena.
73) Sophokles Oed. Kol. 15S6 ff. Nur ist der Bericht durch einige schlimme
Fehler entstellt; V. 1623 ist zu lesen: fd'tyfia 8' i6s d-eoöv (statt ilaifvr]i)
rtvos &a'v^sv avrcv und V. 1626 xaXei ya^ avrov noXlä noXXaxri &s6s als
störender Zusatz auszuscheiden.
74) Aristot Poet. c. 6 p. 1450 A 29 und c. 19 p. 1456 A 36 über die Siävota ;
wenn er bemerkt, man dürfe nicht den Hauplnachdruck darauf legen, c. 6, 16
p. 1450 A 29: in inv Tis ifc^^s &fj ^r^asis rjd'txas xai Xt'^etS xat Siavoias ev
nenoiTjuivai, ol rtoiTjast o tjv t^s T^aytpSias i^yor, so hat er gewisse bestimmte
Beispiele, wie sie die Epigonen der tragischen Kunst darboten, vor Augen.
Kergk, Griech. Lileraiurgeschichte III. 14
210 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
und der Fülle eigener Erfahrung entspringen; denn der Dichter
mufs sich hüten selbst laut zu werden, ein Fehler, in den Euripi-
des nicht selten verfällt, wie überhaupt die jüngere Tragödie jene
verständige Mäfsigung, mit welcher die älteren Dichter das f^^noniiscbe
Element verwenden, nicht mehr recht kennt.
An bestimmten Stellen ist dieser gedankenmäfsige Ausdruck vor-
zugsweise passend ; so schliefst man längere Reden gern mit einer ge-
wichtigen Sentenz. Dieses wirksame Mittel hat die griechische Poesie
schon längst gleichsam unbewufst angewandt, bevor die rhetorische
Kunst daraus die Regel abstrahirte. Ebenso wird der Ausgang der Dra-
men schicklich durch einen allgemeinen Satz, eine sitthche Betrachtung
markirt, ohne dafs man berechtigt wäre, gerade darin immer den
eigentlichen Grundgedanken der Tragödie zu finden. Man mufs sich
überhaupt hüten, überall eine bestimmte Reflexion oder einen be-
stimmten Zweck aus der Tragödie herauszulesen. In jedem echten
Kunstwerke liegt ein unerschöpflicher Gehalt; es ist nicht möglich,
diese reiche Fülle auf eine abstrakte Formel zurückzuführen. Je
mehr der Dichter seines wahren Berufes eingedenk ist, desto weni-
ger arbeitet er auf eine bestimmte Tendenz hin. Der tragische Dich-
ter, indem er charaktervolle Persönlichkeiten, mächtige Leidenschaften,
ergreifende Conllikte schildert, indem er den Kampf der menschlichen
Freiheit mit dem Schicksal unter den verschiedensten Gestalten vor-
führt, verkündet in anschaulichen Bildern, aber in ganz unmittel-
barer Weise den Sieg der sittlichen Mächte,
conveniio- Manches ist conventioneller Art, aber höchst zweckmSfsig, z. B.
"* "■ die Weise, wie die auftretenden Personen angekündigt und einge-
führt werden; denn da dem Zuschauer kein Verzeichnifs der Han-
delnden vorlag, war es nothwendig, ihr Auftreten vorzubereiten,
sie durch Nennung des Namens kenntlich zu machen. Dieser Forde-
rung wird in der Regel, zumal in der Tragödie, genügt. Wenn eine
Person auf der Bühne auftritt, wird sie entweder schon vorher an-
gekündigt oder nennt sich selbst"); häufig vvird gleich der Anfang des
Dialoges benutzt, um die sich Unterredenden kenntlich zu machen.
Meist führen die Dichter mit Geschick die Personen auf der Bühne
ein ; manchmal freilich suchen sie nur dieses Geschäftes sich zu ent-
75) Bei Sophokles nennt Oedipus im Eingange des Oedipus auf Kolonos
jtcinen Namen; dagegen im Oedipus Tyrannus ist V. S wahrscheinlich Zusatz
eines Srhauspielers.
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TR-iGÜDIE. EI>LEITÜKG. 211
ledigen, weil es einmal herkömmlich ist. Ebenso pflegt der Chor
bei seinem ersten Auftreten, namentlich wenn er unangemeldet oder
unerwartet erscheint, zu sagen, wer er sei und was er wolle."') ^Vie
der Dichter für das richtige Verständnifs sorgt, indem er das Auf-
treten der handelnden Personen genügend motivirt, ebenso erfährt
der Zuschauer in der Regel, wann und warum dieselben abtreten.
Auch da, wo zunächst die Rücksicht auf die geringe Zahl der Dar-
steller die Entfernung einer Person erheischte, wird der Abgang
doch immer in schickliche Verbindung mit der Handlung gebracht.
Wie jede organische Composition sich dreifach gliedert, so zer- Gliederung,
fällt auch die Tragödie in di'ei Theile, Anfang, Mitte, Ende.
Der erste Theil, die Exposition "'), führt den Zuschauer ein : die
Situation wird anschaulich geschildert, die Pläne und Interessen treten
hervor, die Träger der Handlung werden , wenn auch öfter nur mit
kurzen Strichen gezeichnet, doch so, dafs man die Grundzüge des
Charakters erkennt. Nicht immer tritt die Hauptperson gleich auf,
sondern öfter wird ganz passend im Eingange eine iSebenfigur ver-
wendet.'*) In der Einleitung gilt es das rechte Mafs zu halten ; der
Zuhörer darf über das, was zum Verständnifs nöthig ist, nicht im
Dunkeln bleiben , aber der Dichter mufs sich hüten , ihn mit allzu
viel Detail zu überschütten und so das Interesse abzustumpfen.
Euripides ist zwar sorgfäUig in der Exposition, holt aber öfter zu
weit aus oder greift auch schon der Lösung vor.
Der zweite Theil, die Verwicklung'^), ist das eigenthche Gebiet
der dramatischen Handlung und zugleich die schwierigste Aufgabe
für den Dichter. Hier treten die feindhchen Mächte gegen einander
auf, ihre Absichten und Interessen durchkreuzen sich, der Conflikt
spitzt sich immer schärfer zu, retardirende Scenen mäfsigen oft
schicklich den allzu raschen Verlauf, aber die Handlung darf sich
auch nicht allzu langsam bewegen ; denn alles drängt unwillkürlich
zur Entscheidung hin. Die Aufgabe des Dichters ist es, den Zu-
76) Eine Ausnahme macht der Philoktet des Sophokles. Dieses Unter-
lassen wird dadurch gerechtfertigt, dafs hier der Chor zugleich mit Neopto-
lemus auftritt.
77) Jl^oraais, auch siaßoXrj.
78) IlqoTartxov ■jt^öcoKiov, wie bei Aeschylus im Agamemnon der Wäch-
ter in sehr passender Weise zu diesem Zwecke eingeführt wird.
79) ^Enizaaie.
14*
212 DRITTE PERIODE V0>- 500 BIS 300 V. CHR. G.
schauer während des zweifelhaften Kampfes in Spannung zu halten ;
dieses ist leichter, wo der Ausgang nicht nur den handelnden Per-
sonen, sondern auch den Zuschauern verhorgen ist. Aber der grie-
chische Tragiker behandelt allgemeinbekannle Stoffe; die Lösung
der Verwicklung ist für den Zuschauer in der Regel kein Geheim-
nifs. Hier gilt es also, nicht sowohl die realistische Neugier zu be-
friedigen , sondern den innigsten Antheil an den Schicksalen des
tragischen Helden wachzuhalten. Noch schwieriger ist ein anderes.
Der Zuschauer neigt sich leicht der Gegenpartei zu; da liegt die
Gefahr nahe, dafs der Dichter, während er seinen Helden mit sicht-
licher Vorliebe behandelt, den Gegner in allzu ungünstigem Lichte
darstellt. Aber je schärfer und schwerer der Conflikt ist, desto
mehr gilt es, das Mafs strenger, unparteiischer Gerechtigkeit zu
üben.
Der dritte Theil, die Auflösung*"), enthält die Entscheidung des
Kampfes, der mit dem Siege oder Untergange des Helden endet, und
in das Schicksal der Hauptperson sind mittelbar oder unmittelbar
gewöhnlich auch die, welche ihm nahe stehen, verflochten. Der
Gipfel der Krisis wird meist ins Kurze zusammengedrängt; ein breites
Ausmalen war hier nicht an der Stelle. Oft begnügt sich der Dich-
ter mit wenigen, aber inhaltvollen Worten die Entscheidung nur an-
zudeuten. Nach der Krisis fällt die Handlung gewöhnlich rasch ab,
so dafs die Darstellung manchmal etwas dürftig erscheint. Man könnte
leicht darin einen Mangel finden, und zuweilen mag der Dichter,
wenn die Zeit ihm knapp zugemessen war, mit einer gewissen Eil-
fertigkeit seine Arbeil abgeschlossen haben; aber öfter war wohl
die Rücksicht auf das Publikum mafsgebend, welches, wenn die Ent-
scheidung eingetreten ist, ungeduldig den Schlufs verlangt. Höch-
stens das Aufserordentliche, wie eine Göttererscheinung nach der
Weise des Epos, vermag die Menge zu fesseln, daher der bühnen-
kundige Euripides gern von diesem Mittel Gebrauch macht, welches
insbesondere bei Tragödien mit glücklichem Ausgange sehr passende
Dienste leistete. Die jüngere Tragödie, die mehr auf Rührung und
mildere Affekte hinarbeitet und sich den Neigungen des Publikums
fügt, zieht den versöhnenden Abschlufs vor*'), während die ältere
80) KaraaxQO^f).
b\) Aristot. Foet. c. 13 p. 115:» A 22 weis! den Tragödion mit lierbeni Aus-
gange die erste Stelle an (dies ist iiini ttaxa lix^tiv ynXUarri jQnyqtSia) und
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. EI>LE1TU>G. 213
Tragödie gemäfs ihrem entschieden männhchen Charakter vorzugs-
weise den erschütternden Untergang menschüchen Glückes und
menschlicher Grüfse darstellt. Aber wenn der Held der Uebermacht
erhegt, enipfiingt mau den Eindruck von der Nothwendigkeit des
Unterganges, und ebenso bot die Form der Trilogie, wenn der Held
alle Hindernisse überwindet und siegreich aus dem Conflikte her-
vorgeht, genügenden Raum für eine aufrichtige Versöhnung und
Ausgleichung der Gegensätze dar.
Aeschylus hebt es gerade hier, Chor und handelnde Personen Eiodos.
in die engste Beziehung zu setzen. Die Perser schüefsen mit einem
Klagegesange zwischen Xerxes und dem Chore, der kurz abbrechend
sagt, er werde den unglückhchen Fürsten geleiten. Am Schlufs des
Agamemnon wechselt der Chor Worte mit Aegisthus und Klytämne-
stra, so dafs die Königin das letzte Wort behält; in den Choepho-
ren Orestes und der Chor, der mit einer anapästischen Perikope
die Handlung abschhefst. In den Eumeniden ergreift Athene nach
einem Wechselgesange mit dem Chore der Rachegöttinnen nochmals
das Wort, und der Nebenchor singt ein kurzes Schlufslied. Im Pro-
metheus sind die anapästischen Perikopen zwischen Prometheus,
Hermes und dem Chor vertheilt; dem Titanen, indem er in den Ab-
grund versinkt, kommen natürHch die letzten Verse zu. Dagegen die
Sieben enden, nachdem Eteokles im Zweikampfe gefallen ist, in der
ursprünglichen Bearbeitung mit der Todtenklage des Chores, und
ebenso erhalten die Schutzflehenden ihren Abschlufs durch einen
Chorgesang, der unter die Danaiden und ihre Begleiterinnen ver-
theilt ist.
Bei Sophokles endet das Drama regelmäfsig mit dem Abtreten
des Chores, der sich mit wenigen, aber passenden und meist inhalts-
nimmt dabei den Earipides gegen den Tadel älterer Kritiker in Sctiutz; dann
fährt er fort p. 1453 A 30: Sevre^a 8' r, Tt^corq ß.eyofit'vT] vno iiv<ov iaxlv av-
araaii. tj Si7iXr,v rs jr;v avoraatv e'xovaa xad-aTtsQ tj ^OSvaasia xai re/.evrcöaa
i§ ivavrias rols ßeXxioai xai x^i^oat, Soxei Sa elvat n^carrj Sia tt^v tcüv &eä-
j^cjv aa&eveiav axoÄov&ovai yao oi rtotr^jal xax^ ^y.fjv Ttoiovvres roTi d'ea-'
Tals. Während Aristoteles Tragödien mit gemischtem Ausgange gellen läfst,
erklärt er sich ganz entschieden gegen Stücke, die einfach mit der Versöhnung
der feindlichen Parteien abschliefsen; ein solcher Ausgang schicke sich wohl
für die Komödie, aber nicht für die Tragödie. Hier hat Aristoteles wohl Dra-
men, wie den Orestes des Euripide«. im Sinne.
211 DR[TTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
vollen Versen verabschiedet.") Bei Euripides erinnern nur die Troa-
den, welche mit einem Klageliede der Hecnha nnd des Chores
schliefsen, an die Art des Aescliylns; sonst aber folgt er dem Bei-
spiele des Sophokles.*') Auch Euripides f'afst sich kurz; nach her-
kömmlicher Weise wird meist eine Gnome angebracht, aber der
Gedanke ist manchmal ganz allgemein gehalten ohne specielle Be-
ziehung auf den Verlauf der dramatischen Handlung. Wie die Kunst
des Euripides etwas Typisches hat, zumal in Nebendingen, so findet
er sich gern mit einer stehenden Schlufsformel ab. Wenn der Chor
am Ende der Alkestis den Gedanken ausspricht, die Schicksale, welche
die Güller senden, seien vielgestaltig, vieles Unerwartete ereigne
sich, während das Erwartete sich nicht erfülle, oftmals finde die
Gottheit einen überraschenden Ausweg, so sind diese Verse für jenes
Drama sehr angemessen ; sie werden aber auch in späteren Stücken
unverändert wiederholt.*^) Anderwärts sieht der Tragiker von seinem
Gegenstande ganz ab, indem er sich an die Siegesgöttin wendet
und sie bittet, ihm den Kranz zu spenden"), wie ja Euripides auch
sonst gewohnt ist, persönhche Beziehungen einzuflechten.
Der Chor Der Chor ist die eigenlHche Wurzel des altischen Dramas, wel-
Tngödie ^^^^ ^'^^ '" Streng organischer Weise aus den Liedern zu Ehren des
Dionysus entwickelt hat. Die Gesänge des Chores bilden daher alle
Zeit einen wesenlHchen Bestandtheil der griechischen Tragödie; sie
haben nicht nur historisch ihre Berechtigung, weshalb auch die
Versuche anderwärts, wo diese Bedingungen nicht gegeben waren,
den Chor im Drama einzuführen, niemals sonderlichen Erfolg hatten,
82) Anapästen oder auch trochäische Langverse haben hier ihre Stelle.
Die Schlufsverse des Oedipus Tyrannus darf man nicht dem Chore entziehen.
83) Euripides gebraucht regelmäfsig Anapästen ; nur im Ion ßnden sich
trochäische Tetrameter, im Kyklops iambische Trimeter.
84) Diese Verse kehren wieder in der Medea (wo nur der erste Vers
variirt wird), in der Andromache, der Helena und den Uacchen.
85) Diese formelhafte Wendung findet sich in den Piiönissen, im Orestes
und in der taurischen Iphigeneia; hier sind diese Verse ullerdings bedenklich
und können Zusatz zweiter Hand sein, aber in den Phönissen sind sie unent-
behrlich. Da Euripides nur fünfmal den ersten Preis erhielt, sieht man. dafs
der Erfolg diesem Wunsche nicht sonderlich entsprach ; die Phönissen mufsten
«ich mit dem zweiten Preise begnügen. An diese Formel des Euripides erin-
nert auch der Schlufs des Rhesus ',»1)5 f.: raxn J' "v vixrjv Soirj Saifiav 6
fitd'^ rifiüiv-, doch lassen diese Worte eine doppelte Auslegung zu.
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. EINLEITUNG. 215
sondern sie erfüllen auch einen bestimmten Zweck, wenn schon es
nicht möglich ist, die ganze Bedeutung dieser chorischeu Poesie auf
eine abstrakte Formel zurückzuführen. Man hat gesagt, der Chor
sei der idealisirte Zuschauer. Allein diese Auffassung, obwohl sie
den Meisten ebenso treffend als geistreich erscheint, erweist sich als
unzulänglich. Der Chor hat eben im Verlaufe der Zeit vielfachen
Wandel erfahren; er wü*d von jedem der drei grofsen Tragiker in
eigenthümlicher Weise verwendet. Aeschylus hat vorzugsweise in
den Chorgesängen seine ideale Wehanschauung niedergelegt; aber
gerade bei diesem Dichter ist der Chor am wenigsten ein blofser
Zuschauer, sondern betheiligt sich unmittelbar an der dargestellten
Begebenheit oder steht doch zu dieser in der engsten Beziehung.
Indem bei den Nachfolgern des Aeschylus der Chor immer mehr
dem Gebiete der dramatischen Handlung entrückt wird und sich
begnügt, dieselbe mit seinen Empfindungen und Beflexionen zu be-
gleiten, steht er deshalb noch nicht auf einem höheren Standpunkt,
von wo er unbeirrt die leidenschaftlichen Conflikte überschaut, son-
dern ist häufig nur der Wiederhall der handelnden Personen und
entfernt sich, indem er ihre Befangenheit theilt, immer mehr von
jener idealen Höhe.
Ursprünglich dienten die Beden der Schauspieler gleichsam nur
dazu, die Pausen zwischen den Chorhedern auszufüllen. Später ist
der Chor das Nebensächliche ; nur die Buhepunkte der dramatischen
Handlung werden durch diese Zwischengesänge markirt.*®) Je selb-
ständiger sich das dramatische Element entwickelt, desto kürzer
werden die Chorlieder. So giebt sich schon äufserlich der Wandel,
der sich allmähhch vollzog, deutlich zu erkennen.
Das lyrische und dramatische Element stehen nicht schroff ge-
sondert einander gegenüber. Unwillkürlich mufste die lebensvolle
Darstellung einer Handlung auch auf den Ausdruck lyrischer Em-
pfindung einwirken, zumal in der aUen Tragödie, die sich mit einem
Schauspieler begnügte, so dafs ein eigentlicher Dialog nur möglich
S6) Sehr richtig sagt .\polionius Lex. Hom. (vTiox^ivoiro) von den An-
fängen der Tragödie: TiQtoraycoviarovvjoi jov ^oqov rb Tca)M.iav oixoi ojansq
arcoxQirai r^aav , anoxQivöftevoi tiqos tov ^oqÖv , dagegen Aristoteles Poet,
c. 4, 13 p. 1449 A 17 vom Aeschylus, der den zweiten Schauspieler hinzufügte:
xn zov -/(pQov rjhxtrcoae ycai xov 't.öyov TtocOTaytaytaTTJv Tta^eaxsvaasy.
216 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
war, indem der Darsteller sich mit dem Chore in unmittelbaren
Verkehr setzte.") Es war freilich nicht leicht, eine gröfsere Zahl
von Personen wirklich handelnd einzuführen.^^) Aeschylus verfidn't
mit weiser Mäfsigung, wenn er die Clioreuten einzeln und indivi-
duell thätig auftreten läfst.***) Schon der Umstand, dafs der Chor
von den Schauspielern gelrennt sich auf der Orchestra befindet,
hindert engere und unmittelbare Beziehungen; denn der Dichter
hat sich immer nur ausnahmsweise gestattet, den Chor auf die
Buhne zu bringen. Wenn trotz der Entfernung sich der Chor
an der Handlung betheiligt, so wurde dies bei der feierlichen,
gemessenen Haltung des griechischen Trauerspieles weniger em-
pfunden.
In der älteren Tragödie gehurt der Chor wesentlich mit zur
Handlung, und eben deshalb ist er von dramatischem Leben erfüllt,
zeigt einen individuellen Charakter und hat nicht blofs eine histo-
rische, sondern auch eine künstlerische Berechtigung. Immer aber
liegt darin etwas Zwiespältiges, und nur einem wahrhaft grofsen
Dichter wie Aeschylus konnte es gelingen, in jedem einzelnen Falle
das Rechte zu treffen. In den Schutzflehenden bilden die Töchter
des Danaus, um deren Geschick es sich handelt, den Chor; in den
Eumeniden stehen die Hachegüttinnen, die den Muttermord zu ahn-
den berufen sind, dem Bluträcher gegenüber, und nicht nur über
das Schicksal des Orestes, sondern auch über die künftige Stellung
der Gottinnen wird eine Entscheidung getroffen. Aber auch da, wo
der Chor nicht eigentlich thätig eingreift, verharrt er doch nicht in
einer rein passiven Haltung, sondern nimmt den innigsten Antheil
an den erschütternden Schicksalen der handelnden Personen. Der
Chor hat bei Aeschylus immer einen bestimmten klar ausgeprägten
S") Der Koryphäos des Chores vertrat gevfissermarsen die Stelle des
zweiten Schauspielers, und auch später rcpräsenlirt derselbe die Gesanimtheit,
wechselt in ihrem Namen mit den handelnden Personen Worte. Aufserdem
aber kommen auch nicht selten Wechselgesänge zwischen dem Chor und einer
Bühnenperson vor.
bh) Die Theilung des grofsen kyklischcn Chores von fünfzig Personen
in vier Chöre von je zwölf (fünfzehn) Theilnehniern war in dieser Hinsicht
vortheilhaft.
si») Wie in der Scene des Agamemnon V. i:U4fr. Auch das erste Chor»
lied der Kumeniden und andere Gesänge hat man unter einzelne Choreuten zu
vcrthcilen versucht; dies ist j«M|ncli iiii<icher.
DIE DP.AMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. EI>LEITL>G. 217
Charakter. Wie verschieden sind nicht die Grofswürdenträger der
Perser von den argivischen Greisen im Agamemnon, wie unheimHch
düster sind die Gestalten der Eumeniden, wie zart und anmuthig
die Jungfrauenchöre! Diese reiche Mannigfaltigkeit, dieses indivi-
duelle Leben ist den jüngeren Tragikern unbekannt; auch macht
schon der Prometheus des Aeschylus eine Ausnahme. Hier erkennt
man in der Behandlung des Chores deutlich den Einflufs der Neue-
rungen des Sophokles.
Indem der Chor mit ganzem Gemüthe an der Handlung An-
theil nimmt, begleitet er dieselbe mit seinen Betrachtungen; Aus-
brüche der Freude und des Schmerzes, tröstender Zuspruch und
ernste Mahnungen, innige Gebete und Segenswünsche wechseln mit
einander ab. Während der Chor von den gewaltigen Ereignissen
tief ergriffen ist, bewahrt er sich doch mitten in der leidenschaft-
lichen Aufregung, die ihn umgiebt, Ruhe und Besonnenheit des
Urtheils, So mäfsigt in den Choephoren der Chor die stürmische
Leidenschaft der Handelnden und lenkt klar verständig ihren Ent-
schlufs auf das Ziel hin. Aeschylus benutzt vor allem den Chor,
um das Gleichgewicht herzustellen , um die ewige AYahrheit gegen-
über den schwankenden menschUchen Meinungen geltend zu machen
und den Glauben an die höheren sittlichen Mächte wachzurufen.
Hier hat der Tragiker tiefernste Gedanken, seine innersten Empfin-
dungen niedergelegt. So ruht auf dem Chore gleichsam eine reli-
giöse Weihe. Diese grofsartigen Gesänge üben eine wahrhaft läu-
ternde und reinigende Wirkung aus ; hier ist in der That der Gipfel
der tragischen Kunst erreicht. Es wäre schön gewesen, wenn sich
der Chor auf dieser Höhe erhalten hätte; dies war aber nur so lange
erreichbar, als das Lyrische und Dramatische sich im Ganzen und
Grofsen das Gleichgewicht hielten. Je mehr alles darauf hindrängt,
den Dialog zum Schwerpunkte des Dramas zu machen, desto mehr
mufste auch der Chor seiner ursprünglichen Bestimmung entfremdet
werden. Sophokles' Wirken bezeichnet diesen Wendepunkt. Die
Neuerungen dieses Dichters fanden allgemein Eingang, und wenn
die anderen Kunstgenossen darüber hinausgingen, so ist dies nur
die nothwendige Consequenz des ersten Schrittes. Während Aeschy-
lus, seinem angeborenen Genius folgend, immer das Rechte zu tref-
fen weifs, arbeitet Sophokles mit vollem Bewufstsein, führt alles auf
eine bestimmte Regel zurück. Es ist recht bezeichnend , dafs er in
218 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
einer eigenen Schrift sein Verfahren rechtfertigte und die anderen
Dichter dafür zu gewinnen suchte.*")
Die Reformen des Sophokles lassen sich auf zwei Gesichtspunkte
zurückführen. Er schliefst den Chor von jedem Antheil an der Hand-
lung aus; nicht gleichgültig, aber auch nicht von Leidenschaft fort-
gerissen, soll er sein Mitgefühl aussprechen und gleichsam eine un-
abhängige Würde wahren. Dann gilt als Gesetz, dafs der Chor nicht
mehr aus Heroen, sondern aus Menschen gewöhnlicher Art be-
steht.*') Dadurch ist das ideale Element, an dem auch der Chor
Theil hatte, in Frage gestellt. Die räumliche Sonderung der Cho-
reuten von den Schauspielern war diesen Neuerungen günstig; oben
auf der Bühne agiren die Darsteller, unten auf der Orchestra stimmt
der Chor seine Gesänge an. Dies mufste die Auffassung unterstützen,
als ständen den Halbgöttern einfache Sterbhehe gegenüber. Es wäre
übrigens ein Leichtes gewesen, da das Orchestische immer mehr
zurücktritt, den Chor auf die Bühne zu bringen, indem man die-
selbe vertiefte; aber man scheute sich, an der äufseren Form, wie
sie einmal überUefert war, zu rütteln, während man kein Bedenken
trug, eine tief eingreifende Aenderung vorzunehmen , die sich dem
Blicke des oberflächhchen Beobachters leicht entzog.
Aristoteles, so gut wie die Neueren, erbücken in den Grund-
sätzen, welche Sophokles aufstellte, einen wesentlichen Forlschrilt;
allein in dieses Lob kann man nicht unbedingt einstimmen. Das
Zwiespältige, was der alten Weise anhaftet, ist zwar enffernf, aber
90) Suidas II 2, 833 : ^OfOxXfjS . . . Xoyov (iy^ay-'c) xataloyäSt^v ns^i tov
XOQOv, nQos 0i<Tziv xat Xoi^iXov aycort^ofieioi. Dieser Zusatz deutet eben
auf die Polemik iün, die Sophokles in dieser Schrift gegen die Vertreter der
alten Tragödie ausübte.
!tl) .\ristoteles Poet. c. 18, 7 p. 1456 A 25: xal top xoqov 8i iva StX vno-
Xaßeiv xÖjv vtioxqitcÖv , xai /uogiov elrai rov okov, xai avvaytovi^ea&ai fiij
ü'ansQ Ev^miSj], «AA' maneQ JSo<fOxXel. Deutlicher spricht sich der Pliilo-
soph über seine Grundsätze, die eben der Theorie und Praxis des Sophokles
entsprachen, in den Probl. 19, 18 p. 922 H 26 aus, wo er di«'jenigen Tonweisen,
die ein n^nxrixbv rj&oe haben, als ungeeignet für den Chor bezeichnet: fori yao
6 K^Qoi xTjSevTrfi nnqaxTOt' etvoiav yaf (livov ■:iaqi%txai oli nä^tajty.
Jene Tonweisen passen für die Schauspieler: ixelroi ften yaq tQ(ä(o$' uiuf]-
tai' Ol (ii r^ya/uüres ripv uQxaiav fiövot r,anv tj^aiei, oi Sa Xaoi äv^^conot,
oiv lottv 6 xo^^'- Die Vorschriften des Horaz (A. F. 193 (T.) stimmen damit
völlig überein.
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TF.AGÖDIE. EL\LEITU>G. 219
(1er Dichter verzichtet zugleich auf sehr wesentliche Vortheile. In-
dem der Chor jetzt aufserhalb der Handlung steht, lag die Ver-
suchung nahe, jede engere Beziehung zu lösen, wie dies auch alsbald
geschah, so dafs der Chor nicht mehr mit seinen Betrachtungen bei
der Handlung verweilt, sondern sich geradezu von ihr abwendet.^'^)
Entsprechend der untergeordneten, unselbständigen Stellung ver-
tauscht der Chor das individuelle Leben mit einer unbestimmten
Allgemeinheit ; alles wird einförmiger und gleichmäfsiger. Greise und
Jungfrauen sind fortan das geeignetste Organ, um Rath und Er-
mahnung auszusprechen, sich in allgemeinen Betrachtungen und Re-
flexionen zu ergehen, bei den Erinnerungen der Vorzeit zu verweilen,
Trost zu spenden oder in Riagen auszubrechen. Feste Consequenz,
einen in sich geschlossenen Charakter darf mau nicht mehr vom
Chor erwarten, sondern man stöfst überall auf Widersprüche. Los-
gelöst von der Handlung, ist der Chor doch nicht frei von Befangen-
heit; er steht durchaus nicht auf einem idealen Standpunkte über
den Parteien. Eine innerliche Natur wie Sophokles, der ernsten
Sinnes und zugleich liebevoll den menschlichen Geschicken nach-
geht, konnte der Weise seines grofsen Vorgängers nicht völlig untreu
werden. Wo gewaltige Leidenschaften in all ihrer Einseitigkeit auf-
treten, wo die GrenzHnie zwischen Recht und Unrecht zu schwan-
ken scheint und dem Dichter daran Hegt, jede unrichtige Auffassung
fernzuhalten, da benutzt auch Sophokles den Chor, um durch den
Mund der blofs zuschauenden, nicht mithandelnden Personen ein
ruhiges, durch den Widerstreit der Parteien unberirrtes Urtheil aus-
zusprechen. Besonders im König Oedipus erscheint Sophokles der
W^ürde und höheren Bedeutung des tragischen Chores eingedenk,
wenn er auch das grofsartige Pathos des .4eschylus nicht erreicht.
92) Dafs nur Sophokles die rechte Grenzlinie inne hielt, die anderen, vor
allem Agathon weiter gingen, bemerkt Aristot. Poet. c. 18, 7 p. 1456 A 2S: roTs
Si XoiTioli T« uSöfiEva ov fiäXlov rov fivd'ov rj alli^s r^aytffSias iariv Sib
ifißoXtfia aoovaiv, nocüjov äp^avtos'Ayäd'covos xov toiovtov xairoi li 8ia-
(pioet TJ kfißökifia u8eiv rj or^aiv f'l äX/Mv eis aXXo aqfiorreiv r iTXsiaöSiov
olov. Bei Euripides ist dies nicht selten der Fall; sehr richtig bemerkt z. B.
der Schol. zu Phönissen 1019: noos ovSiv ravra' iSei ya^ rov yfioov oiy.ii-
aaad'ai rov S'avarov rov Mevoiy.t'cas rj a.TioSäyjad'ai rfjv svipv;^iav rov veavi-
axov' a/.Xa rä nepi OiSiTZOv >cal rr^s 2!(ftyyos Strjyeircu rä ■TzoXXaxis stot] flava.
Bezeichnend ist, dafs bei Euripides besonders gegen Ende des Dramas die Chor-
lieder dem Charakter der ifißohfia sich nähern.
220 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Aber im Allgemeinen ist der Chor für Sophokles nur ein Mittel,
um seine künstlerischen Absichten zu unterstützen.
Im Einzelnen ist das Gebahren dos Chores oft nicht eben an-
stOfsig und erfüllt den Zweck, den der Dichter vor Augen hatte;
aber wenn man die Haltung des Chores während der ganzen Hand-
lung überschaut, so erkennt man, dafs er häufig nur die Weise des
grofsen Haufens repräsentirt, der stets gesinnungs- und charakter-
los ist. In der Antigone erhebt sich nur ein Chorlied über die
Handlung und nimmt unser sittliches Gefühl wahrhaft in Anspruch ;
im Uebrigen ist der Chor stets schwankend und unbestimmt, folgt
willenlos fremdem Impulse und verwickelt sich in Widersprüche,
was gegen die Würde der echten Tragödie entschieden verstüfst.
Eben weil der Chor für Sophokles wesentlich nur ein Mittel
ist, um seine politischen Intentionen zu verstärken, hilfst derselbe
mehr und mehr seine selbständige Bedeutung ein. In den Trachi-
nierinnen ist der Chor ganz damit einverstanden, dafs Deianeira den
Versuch macht, die verlorene Neigung des Gatten durch Liebes-
zauber wiederzugewinnen, und als dann das Unglück mit seiner ver-
nichtenden Gewalt über die Aermste hereinbricht, als der Sohn die
Mutter für des Vaters Tod verantwortlich macht, hat der Chor, ob-
wohl er die Unschuld der Deianeira kennt, kein Wort der Reciit-
fertigung. Da Deianeira sich schweigend entfernt, weifs er recht
wohl, dafs sie an nichts anderes als an ihren eigenen Tod denkt;
aber er macht keinen Versuch, sie zurückzuhalten, sondern spricht
das harte Wort aus, dafs ihr Schweigen ein Eingeständnifs der
Schuld sei. Im Philoktet empfindet der Chor anfangs inniges Mit-
gefühl mit den Leiden des schwer gekränkten Helden. Psoch ehe er
den Philoktet von Angesicht zu Angesicht sieht, regt sich schon bei
der Besichtigung der einsamen Felsgrolte warme Theilnahme; aber
dies hindert den Chor nicht, nachher die Täuschung des unglikk-
lichen Dulders in jeder Weise zu fördern. Der Chor klagt die
Atriden des Unrechtes an, indem sie angeblich die Waflen des
Achilles seinem Sohne entzogen und dem Odysseus zusprachen, nur
um den Philoktet in der Meinung zu bestärken , dafs gemeinsamer
Hals ihn und Neoptolemus auf das Festeste verbinde. Der Chor geht
willig auf die Vorstellung ein, als wolle Neoptolemus den Verlasse-
nen in seine väterliche lieiuiath zurückfdhreu, und wie dann Phi-
loktet, von (ItT (jualvollcii Krauklifif »'rschüplt und in li( len Srhl;d'
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TR.\GÖDIE. EIXLEITÜ.NG. 221
versunken, ganz in der Gewalt der Fremden ist und Neoptolemus
reuig zögert den entscheidenden Schritt zu thun, ist es der Chor,
der ihn zu rücksichtslosem Handeln antreibt.
So erscheint der Chor als das getreue Abbild des Volkes, der
grofsen unselbständigen Masse. Auch das Volk ist leicht bestimmbar
und Hebt es. jedem Eindruck folgend, ein Unternehmen im ersten
Beginnen zu fördern und gutzuheifsen, um es dann, wenn ein Um-
schlag eintritt, fallen zu lassen. Gleichgültig pflegt es sich von dem
abzuwenden, den es bisher gehoben und getragen hatte ; aber dann
trifft auch N^ieder das Volk mit angeborenem Gefühl das Rechte. So
dient also gewissermafsen der Chor dazu, das Abbild des mensch-
lichen Lebens, welches der tragische Dichter unserem Auge vorführt,
zu vervollständigen.
Euripides behält den Chor eigentlich nur bei, weil es so her-
gebracht war. Hätte dieser reichbegabte Dichter sich entschliefsen
können , eine durchgreifende Umgestaltung der tragischen Poesie
vorzunehmen, er würde den Chor ganz haben fallen lassen, wie
bald nachher die Komödie darauf verzichtete; denn in dem Drama,
wie es dem Euripides im Geiste vorschwebte, war für den Chor kein
rechter Platz mehr. Eben weil das Verhältnifs des Dichters zum
Chore ein äufserliches ist, behandelt er denselben mit gröfster Frei-
heit. Auch Euripides folgt nicht selten der Weise des Sophokles,
aber anderwärts wird man mehr an den Charakter der alten Tra-
gödie erinnert. Oft steht der Inhalt der Gesänge in gar keiner
näheren Beziehung zu der Handlung oder ist auch für den Cha-
rakter des Chores wenig angemessen ; so pafst es sehr wenig zu der
ländhchen Scenerie der Elektra, dafs die argolischen Landmädchen
die Bildwerke an der Rüstung des Achilles, die sie nur vom Hören-
sagen kennen, schildern. Euripides Hebt es, wie Agathon, eine
klangvolle lyrische Partie einzuschalten, nur um eine Pause der
Handlung auszufüllen und die Zuschauer mit seinen leichten, gefäl-
ligen Melodien zu unterhallen. Manchmal leiht der Dichter dem
Chor geradezu seine individuellen Ansichten , und es ist erklärlich,
dafs auch die handelnden Personen sich oft gar nicht um den Chor
kümmern oder doch jedes vertrautere VerhäUnifs fehlt. Insbesondere
in den späteren Arbeiten des Euripides wird man deutlich inne,
wie der Chor nicht mehr auf innerer organischer Nothwendigkeit
beruht. Gleichwohl fanden gerade diese melischen Partien bei den
222 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Zeitgenossen entschiedenen Beifall, und das ausgezeichnete Talent
des Tragikers verleugnet sich auch hier nicht. Einzelne Chorlieder
sind in ihrer Art vorzüglich; auch bei Euripides trefl'en wir neue
oder bedeutende Gedanken. Der Chor nimmt öfter einen Anlauf,
sich mit seinen Betrachtungen über den Conflikt zu erheben, aber
schon der Widerspruch, dafs die Masse, die eben noch willenlos
schwankte oder leidenschaftlich Partei nahm, das sittliche Richterarat
auszuüben wagt, wirkt störend. Und wie bei dem Dichter der Glaube
an die Götterwelt tief erschüttert ist, wie Euripides die Widersprüche
zu lösen aufser Stande ist, so vermag er auch nicht uns wahrhaft
über die Verworrenheit des menschlichen Lebens zu erheben.^^)
nie Tetra- Nirgends emplinden wir so schmerzlich das Unzulängliche der
üeberlieferung, als bei der tragischen Tetralogie. Die Entstehung
dieser Kunstform ist vollständig in Dunkel gehüllt; ihre allmähliche
Forlbildung vermögen wir nur theilweise zu verfolgen; denn unsere
Quellen schweigen oder bieten nur hier und da eine Andeutung
dar."*} Diesen Mangel zu ersetzen, reichen die Ueberreste der grie-
93) Manchmal ist die Weise dieser Dichter geradezu unbegreiflich. In den
Bacchen spricht der Chor V. 862 ff., als der Untergang des Pentheus bevorsteht,
den Wunsch aus, in einem Reigentanze sich ungezügelter bacchischer Festlust
hinzugeben, indem er sich mit dem Rehe vergleicht, M-as den Netzen des Jägers
glücklich entronnen ist — diese Vergleichung mag absichtslos gewählt sein,
hat aber in dem Momente, wo Pentheus wie ein gehetztes Wild unter den
Händen der wahnbethörten Frauen fallen soll, etwas Verletzendes; — dann be-
zeichnet der Chor als das höchste Erdenglück, wenn man mit starker Hand
seinen Feind niederhalten könne. Die Beziehung auf Pentheus, der für seinen
Widerstand gegen den neuen Götterdienst schwer büfsen mufs, ist klar, und
jene Worte enthalten den Grundgedanken des ganzen Liedes; daher werden
diese Verse in der Gegenstrophe nochmals wiederholt. Aber wie eisiger Hohn
klingt es, wenn dann V. 88 der alte Spruch, was schön ist, ist auch lieb,
hinzugefügt wird. Und wenn dann der Chor auf das Walten der Nemesis hin-
weist, die endlich die Frevler und Götlerverächler heimsucht, wenn er den
Menschen warnt, sich nicht über Sitte und Gesetz zu erheben, in dem Glauben
der Väter, der seit Alters besteht, Ruhe und Befriedigung zu suchen, so er-
scheint diese Betrachtung in solcher Umgebung als hohle Phrase.
tl4) Aristoteles gedenkt in seiner Abhandlung über die Poetik der tragi-
schen Tetralogie mit keinem Worte. Der Philosojih, der nicht so sehr den
historischen Gesichtspunkt ins Auge fafst, sondern ein praktisches Interesse ver-
folgt, berücksichtigt eben fast ausschliefslich die jüngere Tragödie; für diese
aber war die tetnilogische Form ohne rechte Bedeutung. Nur indirekt deutet
er einmal darauf hio, wenn er c. 21, '.\ p. Il.">'.t H'il für den iiursoreii Umfang
niE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÜDIE. EINLEITOG. 223
chischen Tragiker nicht aus. Dafs die tragische Poesie nicht mit
so grofsartig angelegten Compositionen begann, ist gewifs. Erst als
die Kunst mündig ward , konnte sie diesen entscheidenden Schritt
thun. Wir begegnen der tetralogischen Form zuerst bei Aeschylus,
und wenn uns auch kein Name genannt wird, so ist es doch wahr-
scheinlich, dafs eben dem Gesetzgeber der Tragödie dieser Fortschritt
verdankt wird. Indem Aeschylus darauf ausging, dem Trauerspiele
einen würdigen Inhalt zu geben ^*), mufste er sich durch die Schran-
ken des Herkommens beengt fühlen. Wetteifernd mit den grofsen
epischen Dichtern, sucht er der dramatischen Handlung eine gröfsere
Ausdehnung zu geben. Durch die tetralogische Form ward er in
den Stand gesetzt, das verhängnifsvolle Walten des Schicksals in den
Thaten und Leiden ganzer Geschlechter nachzuweisen und so seine
tiefsinnigen Ideen in wirksamster Form auszusprechen. Der Fluch,
der sich von Geschlecht zu Geschlecht vererbt, war ein sehr geeig-
neter Vorwurf für den tragischen Dichter. Gerade die Geschichte
der beiden ältesten Fürstengeschlechter Griechenlands, von Theben
und von Argos, bot Belege für jene Erfahrung dar. Aeschylus hat,
so viel wir wissen, zum ersten Male diese Mythenkreise dramatisch
bearbeitet; ihm sind Sophokles und die anderen gefolgt. Liefs sich
auch der Gedanke an das Walten der Nemesis in den Geschicken
eines Individuums in einem Einzeldrama darstellen, so war doch die
tetralogische Form viel geeigneter, um den erschütternden Verlauf
menschhcher Schicksale, der sich langsam und gemessenen Schrittes,
aber sicher vollzieht, in voller Anschaulichkeit vorzuführen. Während
das Epos in ununterbrochener Folge die Begebenheiten schildert,
hebt der dramatische Dichter nur die Hauptmomente hervor, indem
er das, was sich in den Zwischenzeiten zuträgt, übergeht oder an
geeigneter Stelle nachholt. So waren auch die Schranken der Zeit
und des Ortes, welche den dramatischen Dichter vielfach hemmten,
keine Fessel mehr; er konnte sich eben so frei wie der epische
Erzähler bewegen.*')
des Epos ein gewisses Mafs aufstellt {Ti^oe rb ^Xf^d'os Täiv r^aycoSiöJv rcäv
eis (liav ay^oautv rid'efiäveov 7ta^T]xoiev).
95) Aesclijius führte die Tragödie aus der früheren Beschränkung hervor
(ix fity.Qcöv fivd'mv Aristot. Poet. c. 4, 14 p. 1449 A 19), und eben, um gröfsere
Stoffe genügend beherrschen zu können, ward die neue Form aufgebracht.
96) Man vergleiche nur die drei Tragödien der Orestie, die Sieben vor
224 DRITTE TERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Wie die Bewegung der dramatischen Handlung sich naturgemäfs
in gewissen Abschnitten vollzieht und wir in jedem Stücke wesent-
lich drei Theile, Anlage, Verwicklung und Lösung, unterscheiden,
so gliedert sich auch eine grofsere Composilion dreifach."') Jedes
Drama ist eine selbständige Dichtung, aber die einzelnen Stücke
sind nicht blofs durch eine äufscrliche Folge, sondern organisch
mit einander verbunden, und nach herküinmlicher Sitte schlofs sich
ein Satyrspiel an^*), um durch harmlose Heiterkeit den feierlichen
Ernst der Tragödie zu mildern und so gleichsam den Uebergang
zu der allgemeinen Fesllust zu vermitteln.
Dafs nicht blofs der historische Zusammenhang, wie er durch
den überlieferten Mythus gegeben war, sondern auch ein inneres
Band die einzelnen Theile eines solchen Dramencyklus verknüpfte,
ist gewifs, wenn wir auch das Geheimnifs dieser Kunstform genügend
zu ergründen aufser Stande sind. Nur eine Trilogie ist uns voll-
ständig erhalten, die Orestie des Aeschylus, glücklicher Weise eine
einheitliche dramatische Composilion. Die Versuche der Neueren,
das eigenthümliche Wesen der Tetralogie genauer zu bestimmen,
gehen unwillkürlich von der Betrachtung der Orestie aus; aber wer
Avird glauben, dafs dieses eine Dichterwerk die reiche Mannigfaltig-
keit der griechischen Kunst erschöpfend darstelle. Die Weise des
Aeschylus lernen wir liier kenneu, und wir dürfen wohl glauben,
dafs der grofse Tragiker hier auf dem Höhepunkte seiner Entwick-
Theben mit den beiden anderen dazu gebörigen Dramen, den gefesselten Pro-
melbeus mit seiner Forlsetzung.
97) Man könnte vermulhen, in der ältesten Tragödie sei der Schauspieler
(Darsteller) immer dreimal aufgetreten, und aus jedem Zwischenspiele {ineia-
oSiot) sei dann ein selbständiges Drama hervorgegangen. Allein diese äufser-
liche Erklärung trifft niclit den wesentlichen Punkt.
*.tS) Diese vier mit einander verbundenen Stücke nannte man rsjQaloyia
(Diog.Laert. 111 35, 50), die drei Tragödien mit Anscblufs des Satyrspicls rQiloyia
(Scbol. Aristoph. Ran. 1121). yiöyoe, eigentlich der Inhalt, die Fabel des Stückes
(Aristoph. Wespen 54. Frieden 50, in gleichem Sinne n^ayun Hitter Ht), daher
fr. carm. ine. 203: tj8tj Ss At'|<u zov Xöyov to'v Tipty/inzoi; auch von der
Tragödie Kratin. fr. 150 Com. II 1, 220: omeQ <t>tloxXtr}i rov Xöyov Sii<f9^0Qev)
bezeichnet dann das Drama selbst. Als man später den Versuch machte, die
Platonischen Dialoge mit Hücksichl auf Verwandtschaft des Inhalts zu gruppiren,
tbeilte man sie in Tetralogien oder Trilogien ab; und ein ahnliches Verfahren
wandle Thrasyllus auch bei Demokrit an-
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. EINLEITUNG. 225
luDg angelangt ist, aber dieses Ziel hat er gewifs nicht gleich an-
fangs erreicht.
Man hat auf verschiedene Weise das Verhältnifs der einzelnen
Tragödien einer Tetralogie zu bestimmen versucht. Auf die Orestie
passen die Normen, obwohl sie unter einander bedeutend abweichen,
so ziemlich; aber sobald man sie auf andere Glieder eines Dramen-
cyklus anwenden will, bewähren sie sich nicht. Die Einen glauben
in der philosophischen Formel Satz, Gegensatz, V ermitte-
ln ng den Schlüssel zum richtigen Verständnifs zu finden. Allein
damit stimmt wenig das Schhifsstück einer Aeschyleischen Trilogie,
die Sieben vor Theben; denn hier wird man die rechte Vermitte-
lung und Ausführung vermissen, selbst wenn man den fremdartigen
Zusatz am Schlufs gelten läfst. Ebenso wenig trifft die Behauptung
zu, dafe, wie das dramatische Interesse seinen Höhepunkt in der
Mitte erreiche, so auch das mittlere Stück durch Gröfse der sinn-
lichen Erscheinung und Mächtigkeit der Leidenschaft auf Phantasie
und Gemüth am tiefsten einwirke. Die Sieben vor Theben werden
an erschütternder Wirkung nicht hinter dem Oedipus zurückgeblieben
sein. Eher mag man zugeben, dafs die Idee des Ganzen sich vor-
zugsweise im letzten Stücke entfaltete. Andere meinen, das echte
Drama sei bestimmt, durch Erhabenheit und Gröfse des Pathos vor-
zugsweise auf Geist und Gemüth zu wirken ; das Mittelstück habe
seinen Schwerpunkt in den lyrischen Gesängen und wirke durch
die melodischen Klänge der Musik besonders auf Ohr und Gemüth,
während das Schlufsstück durch Pracht der äufseren Ausstattung
zumeist das Auge fesselte. Allein diese Betrachtung, welche mehr
an das Aeufserliche, die secundären Mittel der Darstellung, anknüpft,
würdigt zu wenig die tiefere Bedeutung der Aeschyleischen Tragö-
die. Auch wollen andere Dramen sich in dieses Schema nicht ein-
fügen ; denn niemand wird in der scenischen Ausstattung der Sieben
etwas besonders Imposantes finden. Endhch hat man das innerste
Wesen der Trilogie auf den Satz des griechischen Volksglaubens,
dafs kein Frevel ungerächt bleibt, dafs die ISemesis jede Sünde,
wenn auch oft spät, heimsucht, zurückführen wollen. Allein obwohl
jene Idee auf die Bildung der Tetralogie nicht ohne Einflufs war,
so darf man doch eine Kunstform nicht lediglich aus einem sittlich-
religiösen Glaubenssatze ableiten. Auch ist unsere Kenntnifs des Nach-
lasses der griechischen Tragiker viel zu unzulänglich, um zu er-
tiergk, Griecli. Literaturgeschichte lil. t5
226 »RITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
liennen, inwieweit die Nachfolger des Aeschylus gerade die tetra-
logische Compositionsweise benutzen, um diesen Gedanken gellend
zu machen.
Weder bei Aeschylus, noch bei den Dichtern, welche sich seinem
Beispiele eng anschlössen, dürfen wir eine strenge unabänderliche
Regel voraussetzen.®') Mit Rücksicht auf die Eigenthümlichkeit der
besonderen Aufgabe mufste auch das Verhältnifs der Theile eines
dramatischen Cyklus sich verschieden gestalten. Hier mochte das
dramatische Interesse sich im stetigen Fortschritte steigern und im
letzten Theile seinen Gipfel erreichen, dort die beiden ersten Stücke
durch den Anblick erschütternder Ereignisse mächtig wirken , wäh-
rend die dritte Tragödie den beruhigenden Abschlufs brachte und
die Bedeutung des Ganzen ins hellste Licht setzte. Ebenso wenig
ist es zulässig, die geringen Ueberreste der verlorenen Dramen nach
Tetralogien zu ordnen. Man hat grofsen Scharfsinn aufgewandt,
um zu ermitteln, welche Stücke zu einem grofseren Ganzen ver-
bunden waren und wie sie auf einander folgten. Es ist zwar rich-
tig, dafs, wenn wir die Titel der Aeschyleischen Dramen durchgehen,
sich ziemlich bestimmt gewisse Gruppen absondern und öfter die
Dreizahl uns ganz von selbst entgegentritt, da eben Aeschylus meist
dem Faden der geschichtlichen Ueberlieferung folgend seine Tra-
gödien dichtete. Allein bei der Dürftigkeit der Ueberlieferung und
der Freiheit der dichterischen Erfindung sind solche Vermuthungen
höchst unsicher.'"**) Bei Sophokles und Euripides, die auf jene ge-
99) Die noch erhaltenen Stücke des Aeschylus zeigen deutlich, dafs die
Verbindung der einzelnen Theile einer Trilogie bald enger, bald loser war. Die
Schutzflehenden weisen mit Nothwendigkeit auf eine Fortsetzung hin; der ge-
fesselte Prometheus fand erst im folgenden Drama den rechten Abschlufs; aber
in der Orestie ist jede Tragödie so in sich abgerundet, dafs man zum Verständ-
nifs nichts Wesentliches vermifst. Wäre uns durch einen unglücklichen Zufall
nur ein oder das andere Drama dieser Composition erhalten, wir würden das-
selbe auch in seiner Isolirung gebührend würdigen und geniefsen können. Diese
Wahrnehmung hat etwas Tröstliches; in noch höherem Grade gilt dies natür-
lich für Tetralogien, die auf stoffmäfsigen Zusammenhang verzichteten.
100) Man mufs sich hüten, Dramen, welche demselben Sagenkreise ange-
hören, deshalb als zusammengehörig zu betrachten. Aeschylus hat den Mythus
vom Prometheus zuerst in einem Satyrstück bearbeitet, dann später zu zwei
Tragödi'^n benutzt. Wäre jene Voraussetzung zutreffend, dann niüfste man,
unbekümmert um historische Zeugnisse, die taurische Iphigeneia des Euripides
als Fortsetzung der Iphigeneia in Aulis ansehen, wie man in der That mit
WE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. EI>LEITC>G. 227
schlossene Einheit der Compositionen verzichten, ist jede Combina-
tion dieser Art geradezu unstatthaft.
Die Entstehung der Tetralogie setzt die mythische Einheit aller
vier mit einander verbundenen Dramen oder doch wenigstens der
drei Tragödien voraus. Aber sehr bald gab man die stoffliche Ein-
heit auf und brachte einzelne Stücke verschiedenen Inhalts zusam-
men auf die Bühne. So verliert jene Form, obwohl sie sich fort-
während behauptet, eigentlich ihre rechte Bedeutung. Aeschylus
that frühzeitig, Ol. 76, 4, diesen Schritt, wie die Tetralogie der Per-
ser beweist. Phineus, die Perser, Glaukus und das Satyrspiel Pro-
metheus bildeten den dramatischen Cyklus. Eine historische Tragödie
war mit ganz verschiedenartigen mythischen Dramen vereinigt. Der
Triptolemus, Sophokles' erster Versuch Ol. 77, 4, war unzweifelhaft
Theil einer freien Tetralogie; ebenso trat Aristias Ol. 78, 1 mit einer
solchen Composition auf."") Der gefesselte und befreite Prometheus
müssen ihren Abschlufs durch Dramen selbständigen Inhaltes em-
pfangen haben. Wenn schon die ursprünghche Form der Tetra-
logie nicht völhg beseitigt ward, so tritt sie doch gegen die freiere
Weise bald entschieden in den Hintergrund.'**^) Nicht jeder Stoff,
der den dramatischen Dichter anzog, eignete sich zu einer solchen
breiten Behandlung. Mit richtigem Takte wählte Aeschylus für seine
historische Tragödie die Form des Einzeldramas, und es lag nahe,
nun auch bei den anderen damit verbundenen Stücken die Verein-
zelung durchzuführen. Die bildende Kunst, welche frühzeitig be-
gonnen hatte, Scenen aus den verschiedensten Sagenkreisen neben
einander darzustellen, war vorausgegangen, und wie diese Bilder-
mafsloser A^'illkür die beiden Oedipus des Sophokles und die Antigone zu
einer Trilogie zu verknöpfen gewagt hat. — Die Verzeichnisse der Tragödien,
die uns erhalten sind, gewähren keinen Aufschlufs; denn sie sind alphabetisch
geordnet. Hier ward also von dem Zusammenhang der tetralogischen Compo-
sition ganz abgesehen, und zwar nicht nur bei den jüngeren Dichtern, sondern
auch bei Aeschylus.
101) Aristias gab damals den Perseus, Tantalns, (der Name der drittea
Tragödie wird vermifst) und das Satyrspiel die Ringer (IlaXaiorafl während
Aeschylus die Oedipodie, Polyphradmon eine Lykurgie zur Aufführung brachte.
102) Als einheitliche Tetralogien aus der Zeit des peloponnesischen Krieges
sind nur die Pandionis des Philokles und die Oedipodie des Meletus bekannt ;
denn der Dramacyklus des Euripides, zu dem die Troaden gehörten, fällt nicht
unter diese Kategorie.
15*
228 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
gruppen durch den Reiz bunter Mannigfaltigkeit ansprachen, so
übten sicherhch auch diese freieren dramatischen Compositionen,
wo Stücke verschiedenartigen Inhalts mit einander vereinigt waren,
auf das Pubhkum, welches Abwechslung verlangte, eine besondere
Anziehungskraft aus. So trug die neue Form bald den Sieg davon.
Auch konnte der Dichter, da die Zuhörer durch wiederholte Bear-
beitung der Mythen schon mit dem Thatsächhchen vollkommen ver-
traut waren, um so eher auf die Darstellung des Ganzen verzichten
und sich begnügen, einen einzelnen Moment herauszuheben. Aufser-
dem war der Dichter, der einen schon von anderen dramatisch
bearbeiteten Stoff wieder aufnahm, indem er sich engere Grenzen
setzte, nicht so sehr durch Rücksichten auf seine Vorgänger ge-
hemmt.
Es ist Schade, dafs man die einheitliche Tetralogie fallen liefs.
Hätte man diese Form consequent fortgebildet, so dafs die drei mit
einander verbundenen Tragödien nicht drei selbständige Stücke,
sondern nur drei Akte eines den zusammenhängenden Verlauf einer
Geschichte darstellenden Dramas bildeten, so hätte dieser Weg zur
Vollendung der dramatischen Poesie geführt. Dann war man im
Stande, eine bedeutende Handlung in ihrem ganzen Verlaufe ohne
unnatürhche Hast vorzuführen ; in voller GegenständUchkeit konnte
der Dichter die Entwicklung der Charaktere schildern, die Leiden-
schaft von ihrem ersten Anfange bis zu ihrem Höhepunkte dar-
stellen.'**') Es war eher ein Rückschritt, dafs man die stoffmäfsige
Einheit der Tetralogie aufgab ; denn die neue Form, wo jedes Drama
seinen besonderen Inhalt hat und ein abgeschlossenes Ganze für
sich bildet, legt dem Dichter gröfseren Zwang auf als die ursprüng-
liche Compositionsweise.
Bei der Vereinigung der einzelnen Stücke zu einer freien Te-
tralogie mag ebenso Zufall wie Absicht eingewirkt haben. Oofter,
zumal wenn die Zeit drängte, wird der Dichter .4rbeilen, welche
gerade zur Reife gelangt waren, ziemlich lose vereinigt haben, in-
10!}) So hat Aeschylus denselben Charakter in mehreren zusammenge-
hörenden Tragödien dargestellt, wie den Prometheus, die Klytämneslra. Orestes.
Eine solche ronsequenle Fortbildung des Dramas hätte allerdings wohl auch
eine Vermehrung der handelnden Personen erfordert; allein die Rücksicht auf
die vermehrten Kosten wäre damals kein Hindernifs gewesen, sobald die Kunst
entschlossen war, den letzten entscheidenden Schritt zu thun.
DIE DRAMATISCHE POESIE. DDE TRAGÖDIE. ELNLEITÜ.NG. 229
dem er nur für Abwechslung sorgte, damit das Interesse der Zu-
schauer nicht ermattete. Dann aber mag derselbe auch wieder län-
gere Zeit eine solche Composition vorbereitet und nach einem wohl-
berechneten Plane bestimmte Dramen zusammen auf die Bühne
gebracht haben, die durch ein inneres ßand, eine ideale gedanken-
mäfsige Einheit verknüpft waren. In der Aufeinanderfolge der Stücke
ward gewifs eine bestimmte Rücksicht beobachtet : man verband Tra-
gödien contrastirenden oder auch verwandten Inhalts oder suchte
eine angemessene Steigerung zu erzielen. Ein sicheres ürtheil ist
uns nicht vergönnt, da keine vollständige Tetralogie dieser Gat-
tung vorUegt; aber selbst wenn uns eine erhalten wäre, \vürde es
mifsHch sein, danach das Verfahren der griechischen Tragiker zu
beurtheilen, da hier sicherhch eine grofse Mannigfaltigkeit statt-
fand.
Wann die Tetralogie aufkam, wem diese Compositionsweise ver- Aeschyjus
dankt wird, ist nicht überhefert ; dafs sie den Anfängen der tragi- j'^^ij^'^g
sehen Kunst fremd war, liegt auf der Hand. Wie bei den Griechen ein.
jede Kunst sich ruhig fortschreitend in streng organischer Weise
entwickelte, so mufste auch die Tragödie die Periode unvollkomme-
ner Versuche bereits zurückgelegt haben, ehe man den letzten ent-
scheidenden Schritt wagen und zu einem grofsartigen umfassenden
künstlerischen Plane übergehen konnte. Die Einführung der Tetra-
logie setzt eine sehr rege poetische Thätigkeit voraus, ^'ur ein all-
gemein anerkannter Dichter konnte diese bedeutende Neuerung
durchsetzen; denn es bedurfte dazu ebenso des vollen Einverständ-
nisses der anderen namhaften Tragiker, wie der bereitwiUigen Mit-
wirkung der Behörden. Man hat nur zwischen Phrynichus und
Aeschylus zu wählen. Allein Phrynichus hält im Wesentlichen die
hergebrachte Kunstform der Tragödie fest"*'), während sein jünge-
rer Kunstgenosse Aeschylus eine Reihe mehr oder minder tief ein-
greifender Aenderungen durchgeführt hat. Liegt uns auch kein
ausdrückliches Zeugnifs vor, so geht auch aller inneren Wahrschein-
lichkeit nach diese wichtige Aenderung eben von dem eigentlichen
104) Es ist die äufeerste Wülkfir, wenn man die Bemerkung des Suidas
II 2, 833 unter 2k)<pox).r,s: xai atro» ^o|c rot S^ua n^oi Sgäfia aycavi^ea&aif
aWt ftr; ifTQa'Koyiav in den Artikel 4>ovvixos versetzt und, um dann den ge-
wünsciiten Sinn zu erlangen, die Worte umstellt: tov rexQaloyiav^ aXXa firi
230 DIUTTE PERIODE V0>- 500 BIS 300 V. CHR. G.
Gesetzgeber der Tragödie'"*) aus, der eben durch diese Form der
Tragödie die Grofsheil und Würde, die er vor allem anstrebte, ver-
lieh. Natürlich konnte Aeschylus erst, nachdem er festen Fufs ge-
fafst hatte und als Dichter allgemein anerkannt war, daran denken,
die Oekonomie der Tragödie zum Abschlufs zu bringen. Aeschylus
hat aber nur langsam die Gunst des Pubhkums sich errungen ; denn
erst Ol. 73, 4 ward er als Sieger im Agon ausgerufen. Vorher und
wohl auch noch in den nächsten Jahren hat Aeschylus nach her-
gebrachter Weise einzelne Tragödien gedichtet, wie dies auch das
Verzeichnifs seiner Dramen bezeugt.*'*) Erst nach den Perserkriegen,
wo die tragische Kunst, von der allgemeinen Theilnahme getragen,
immer freier und schöner sich entwickelte, wird der Gebrauch auf-
gekommen sein, mit drei Tragödien und einem Satyrstück zu streiten,
und es ist nicht unwahrscheinlich, dafs Ol. 75, 4 das Geburtsjahr
der neuen Kunstform war.*") Wenn damals Phrynichus, nicht Aeschy-
lus den ersten Preis davontrug, so war dies eben das Schicksal des
grofsen Dichters, dafs der äufsere Erfolg seinen Verdiensten nie-
mals recht entsprach.
Tetralogie Gestützt auf eine ziemlich unklare Ueberlieferung eines späten
Sophokles. Grammatikers'"*) hat man vielfach behauptet, Sophokles habe die
105) Aeschylus, nicht Phrynichus hat die Tragödie zu der Höhe, die sie
fortan behauptet, erhoben , vgl. die Biographie des Aeschylus : koytl^e'a&eo, ort
noXX(^ XaXsTtojze^v r,v inl OeantSi, <pQvvixc^ te xal Xot^iXep eis xoaövS»
fieye&ovs ifjv zQaycpSiav n^oayayelv, 17 in^ AiaxvXco EiTtövra eis rrjy 2o-
(foxliovi iX&elv TBhdirjTa. Auch die Redaction des tragischen Chores, die
der Zeit des Aeschylus angehört und offenbar mit der Einführung der Tetra-
logie zusammenhängt, spricht dafür.
106) Unter 90 Dramen waren 70 Tragödien, 20 Satyrspiele.
107) Plutarch Themist. 5: kviarjae Si {0efttazoxXr;e) xai xoQrjycäv roayqt-
Sole, fieyaXtjv rore r^Sr] otiovStjv xai ftXort/iiav zov aycüvoi övros. Phry-
nichus war damals der siegreiche Dichter, und man vermulhet mit Wahrschein-
lichkeit, dafs er die Phönissen aufführte und eben diesem Stücke seinen Erfolg
verdankte. Man hat gemeint, Phrynichus habe sich der trilogischen Compo-
sition IJtQcat, Hvvd'üjxoi, <Poitiaaai bedient; dies ist jedoch ganz unsicher.
Phrynichus konnte sich der neuen Kunstform accommodiren, indem er in freie-
rer Weise ein historisches Drama mit mythischen Stücken verknüpfte.
10b) Suidas 2o9POxA^'s II 2, S3:i : xai aircs (Wes n^cÜTOi) i;(}^i rol Soäfia
iiQot Bgäfia dyüfrU^ea&ai , aXXii fifj rar^aXoyiav (die Handschr. ar^toXoyiav
oder OTQnroXoytlad-at; Eudocia läfst den ganzen Salz fort) d. b. ritfaXoyiar
■nfbi Ttx^nXoyior.
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. EINLEITUNG. 2-31
tetralogische Form völlig aufgegeben und nur Einzeltiratnen ge-
dichtet. Durch einen merkwürdigen Zufall ist uns allerdings von
Tetralogien des Sophokles durchaus nichts Genaueres überliefert;
^leiD es ist Thatsache, dafs die anderen Dichter dieser Epoche, wie
Euripides, Philokles, Xenokles, Meletus'°^), diese Weise der Compo-
sition festhielten. Es ist ferner Thatsache, dafs Sophokles selbst mit
den Tetralogien anderer Dichter unmittelbar concurrirte. Ol. 85, 2
erhielt Sophokles den ersten Preis, Euripides mit einer Tetralogie,
zu welcher die Alkestis geborte, den zweiten Preis. Ol. 87, 1 tritt
Sophokles wieder neben Euripides auf""), der vier Dramen zur Auf-
führung brachte, darunter die Medea. Nun ist es aber ganz un-
denkbar, dafs an demselben Feste ein Dichter mit vier Stücken auf-
trat, während ein anderer sich mit einem begnügte; es wäre dies
ein ganz ungleicher Kampf gewesen, üeberhaupt konnte es un-
möghcb von der Willkür der Dichter abhängen, ob sie mit Tetra-
logien oder Einzeldramen sich am Agon betheiligen wollten, da alle
diese Verbältnisse fest geregelt waren. Die tetralogische Form hat
sich vielmehr, seitdem Aeschylus dieselbe eingeführt hatte, im Gan-
zen unverändert an beiden Hauptfesten an den gröfseren oder städti-
schen Dionysien und den Lenäen behauptet. Auch Sophokles ist
dieser Ordnung alle Zeit treu geblieben. Aber während bei Aeschy-
lus und den älteren Dichtern die einzelnen Stücke der tetralogischen
Composition in der Regel durch die Einheit des Mythus verbunden
waren, verzichtete Sophokles meist auf diesen stofliichen Zusammen-
hang; er zog es vor, Stücke verschiedenen Inhalts mit einander zu
109) Philokles dichtete eine IlavSiovls rexQaXoyia, Schol. Aristoph. Vögel
2S1. Xenokles erhielt Ol. 91, 1 den ersten Preis OiSinoSi, Avxäovi, Bäxxais,
^ui&äfiavri aajv^ixc^, Euripides den zweiten yiXs^ävSo(o, HaXa/iTiSr^, TQcoaat,
üiavfio aaxvQix^ (Aelian V. H. II S); Meletus führte eine OiSiTioSeia auf
(Aristoteles bei Schol. Plat. p. 330 Bekk. = p. 1573 B 21). Von Euripides kennen
wir aufser der eben angeführten Tetralogie (Ol. 91, 1) und den später zu erwäh-
nenden Dramencyklen Ol. 85, 2 und ST, 1 noch zwei Trijogien: Oenomaus, Chry-
sippus, Phönissen und die letzte Arbeit, Jphigeneia in Aulis, Alkmäon, Bacchen.
In beiden Fällen wird das Satyrdrama nicht genannt; es war wohl schon in
der alexandrinischen Zeit verschollen.
HO) Die Didaskalie der Alkestis des Euripides: n^cötoi i^v üofoxjiiji,
SeirsQOi EvqmiSrfi K^r^aaan, 'Akx/iaicovi rcji Sia f{o<fl8os, Tr^Xe'fCjt, ^Akx^'
CTiSi (Ol. S5, 2) und die Didaskalie der Medea: 7tQ(öxoi Exxpo^itov, SsvreQOi
-2^ofoxXr,t, TQt'roi Ei-^inidr^s Mr,Seta, ^tloxT^xfi, Jixzv't, Oä^toraU aarvqoii.
232 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
verknüpfen. So bildete auch jedes Drama der Tetralogie ein in sich
abgeschlossenes Ganze.
Euripides folgt dem Beispiele des Sophokles und bat wohl nie-
mals mehrere Tragödien zu einer strengen historischen Einheit ver-
knüpft.'") IS'ur die Schule des Aeschylus gab die Kunstform des
Meisters nicht auf"*), aber auch sie sah wohl häufig von der Aus-
führung eines umfassenden dramatischen Planes ab. Die jüngeren
Tragiker scheinen ganz allgemein ihre Stücke einfach aneinander-
gereiht zu haben. So ward zwar die äufsere Form der Tetralogie
beibehalten, aber sie büfste durch die Isolirung der Stücke ihre
reclite Bedeutung ein. Denn selbst der ideelle Zusammenhang, der
früher gewifs sorgfältiger beobachtet wurde, mochte mehr und mehr
aufser Acht gelassen werden, indem Sophokles den geschlossenen
Organismus eines dramatischen Cyklus aufgiebt, hat er eigenthch
die Auflösung der tetralogischen Kunslform herbeigeführt. Freilich
finden sich die Anfänge dieser loseren Verbindung bereits bei Aeschy-
lus, aber es ist doch etwas anderes, wenn es jetzt Norm wird, auf
den historischen Zusammenhang zu verzichten.
111) Sophokles mag wenigstens in der früheren Zeit noch Tetralogien im
vollen Wortsinne geschiieben haben. Von Euripides liefse sich nur eine Didas-
kalie mit gewissem Scheine anführen, Alexandres, Palamedes, Troaden, Sisy-
phus, insofern die drei Tragödien ebenmäfsig dem troischen Sagenkreise an-
gehören. Und der Alexandros , wo der (roische Königssohn wieder in seine
Familie aufgenommen wird, über die er Verderben bringen sollte, entspricht
sehr passend den Troaden, die den Untergang Troias und die Erfüllung der
unheilvollen Prophezeiung darstellen: allein das mittlere Drama, wo der schuld-
lose Palamedes durch die Ränke des Odysscus ins Verderben gestürzt wird,
steht weder mit der ersten noch der dritten Tragödie in einem inneren Zu-
sammenhange; wohl aber bildet der arglistige Odysseus zu dem schlauen Si-
syphus, dem Helden des Satyrspiels, ein schickliches Gegenbild. Ebenso wenig
bilden die Phönissen mit den dazu gehörenden Tragödien einen wirklichen
Sagencyklus. Chrysippus, Oedipus und Phönissen würden eine richtige Trilogie
bilden , aber den Oedipus wird Euripides schon früher geschrieben haben. So
fehlt der Trilogie das unentbehrliche Mittelglied, und er dichtete daher als
ersie Tragödie den Oenomaus, der doch nur in einem entfernten Verhältnisse
zum Chrysippus stehen konnte.
112) Dies beweist die Pandionis des Philokles. Auch Melelus dichtete
eine Oedipodie, eine Trilogie vielleicht Nikomachus, nämlich AeonröXsftoi, TIsq-
aii, IJolv^fvr], obwohl es kaum möglich ist, aus dem vermifsten Artikel bei
Suidas II l,9b'J ein verlussiges Resultat zu gewinnen. Dabei ist vorausgesetzt,
dafs die meisten Dramentitel dem älteren Nikomachus aus Athen, einem Zeitge-
nossen des Euripides, nicht wie Suidas aiigicbt. dem Jüngern Alexandriner gehören.
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. EI>XEITÜ>G. 233
Jene üeberlieferimg bei Suidas deutet in ihrer kurzen und nicht
gerade klaren Fassung wohl noch auf eine andere damit zusammen-
hängende Neuerung hin. Man hat vermuthet, dafs, während früher
die vier Dramen zusammen aufgeführt wurden, also auf jeden Thea-
tertag eine Tetralogie kam, von jetzt an an jedem Tage immer nur
ein SlUck eines der drei concurrirenden Dichler auf die Bühne ge-
bracht wurde. Dies war ausführbar, wenn jedes Drama eine voll-
kommen selbständige Dichtung war, und man begreift sehr wohl,
wie man auf eine solche Neuerung fallen konnte. Bei der herkömm-
lichen Praxis war der Tragiker, dessen Stücke am ersten Tage auf-
geführt wurden, gegen seine Mitbewerber einigermafsen im Nach-
theile; denn der letzte Eindruck pflegt in der Regel der stärkste
zu sein "^, und die Preisrichter konnten sich diesem Einflüsse schwer
entziehen. Im Interesse der Bilhgkeit scheint also eine solche An-
ordnung empfehlenswerth. Gleichwohl stehen gegründete Bedenken
jener Hypothese entgegen. Denn einzelne dichteten auch jetzt noch
Tetralogien nach alter Weise; diese aber wären sehr empfindlich
geschädigt worden, wenn man willkürHch den Zusammenhang gelöst
hätte. Dann würden drei Tage nicht mehr genügt haben; man
mufste nothwendig noch einen vierten Spieltag zusetzen. Von einer
solchen Vermehrung ist jedoch in der Zeit des Sophokles keine Spur
wahi-zunehmen. Aufserdem hätte diese Einrichtung genöthigt, die
drei Satyrdramen an einem Tage hinter einander aufzuführen, was
höchst unzweckmäfsig war. Endhch würden die Komödiendichter
wohl das gleiche Recht beansprucht haben; aber aus Aristophanes
geht deuthch hervor, dafs hier die alte Sitte festgehalten wurde."*)
An der äufseren Organisation ward offenbar nichts geändert"*);
dagegen hat wohl Sophokles durchgesetzt, dafs die Preisrichter nicht
113) Daher die Klagen des Aristophanes Eccles. llöSff. Aristoteles freilich
Polit. VII 15, 10 p. 1336 B 33 urtheilt in einem anderen Falle, wo er dem tragi-
schen Schauspieler Theodorus beipflichtet, anders: nävxa ya^ are'^yofisv xa
TtQcäica juäXlov.
114) Aristophanes Eccles. 1154 ff. Hätte man sich entschlossen, die Ko-
mödien an einem Tage hinter einander aufzuführen, so mufste man nochmals
einen neuen Spieltag hinzusetzen.
115) Wenn Aelian V. H. II 13 berichtet, Sophokles habe das Schauspiel
nur selten besucht, sei aber in das Theater gegangen: e'i nore EiQiniSrjs o t^s
Tgay{p8ias noiTjrr^i rjycavi^txo xaivoTs roaycpSoii, so deutet auch dies darauf
hin, dafs die vier Dramen des Euripides an einem Tage gegeben wurden.
234 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
mehr wie früher über jede Tetralogie ihre Stimmen abgaben, son-
dern jedes Drama für sich als eine selbständige Dichtung beurtheil-
len, und dann erst wurde das Resultat über die gesammte Leistung
eines Dichters festgestellt."')
Auch nach dem peloponnesischen Kriege ward die Form der
tetralogischen Composition beibehalten. Dafs unter Piatos poetischen
Jugendarbeiten eine Tetralogie genannt wird"^), hat zwar keine aus-
reichende Beweiskraft, da dies nur ein schriftstellerischer Versuch
war, allein die Didaskalien aus der Zeit des Demosthenes bezeugen
hinlänghch das Fortbestehen der alten Praxis."*)
Neben den Tetralogien mag man seit der Zeit des Sophokles
auch begonnen haben , ganz selbständige Einzeldramen zu dichten ;
denn da das Interesse an dramatischen Aufführungen immer mehr
zunahm und gröfsere Gemeinden, wie der Peiräeus, sich nicht mehr
mit der Wiederholung älterer Stücke begnügen mochten"^), lag es
nahe, dafs die altischen Tragiker auch diesem Bedürfnisse zu ge-
nügen suchten. Für die beschränkten Mittel dieser Gemeinden
waren Tetralogien nicht geeignet; hier fand das Einzeldrama seine
passende Stelle.'=^)
116) Dies eben ist in den Worten des Suidas S^äfin jtQoi S^/ia ayoi-
vCCfiod'ai, aVka ftrj rsT^aloyiav ausgesprochen.
117) Diog. Laert. [HI 56. 57. Aeiian V. H. II 30],
118) Die Insclirift im CIG. 231 KaXXtar^azoe . . .l4fifiX6xv t 'ISio{vt) . . .
Wie es in Alexandria gehalten wurde, ist unbekannt.
119) Auf diesen kleineren Bühnen wird man frühzeitig begonnen haben,
einzelne Tragödien, die man aus dem tetralogischen Verband loslöste, zu wie-
derholen.
120) Die Vermulhung, an den Lenäen habe man einzelne Tragödien auf-
geführt und eben darauf sei die Notiz bei Suidas über Sophokles {S^ä/^a ttqö»
S^äfin aycDvi^ead'ai) zu beschränken, ist nicht begründet. Dafs an den Lenäen
gerade so wie an den grofsen Dionysien auch während des peloponnesischen
Krieges Tetralogien üblich waren, beweist die Oedipodie des Meletus ; denn sie
ward an den Lenäen aufgeführt, da Aristophanes in den Ilslapyoi, die den
grofsen Dionysien desselben Jahres angehören, sich darauf bezog, Schol. zu
Plato p. 330 Bekk. Auf dieselbe Aufführung geht wohl auch der Spott des
Komikers Sannyrio fr. 3. Com. II 2, 873 : Melrjxov i6v ano yh;vaiov vsxqÖv. Wenn
der Tyrann Dionysius an den Lenäen eine Tragödie '.ßxTO(>Ob kvxQa zur Aufführung
brachte (s. Tzelzes Chiliad. V 180), so beweist dies keineswegs, dafs der Agon auf
Einzeldramen beschränkt war. Flato Sympos. 173A sagt von dem Siege des
Agalhon an den Lenäen: Zxe jtj n^cirrj jfayiftSt'a irixr;afy; hier ist r^nyoiSia
soviel als j^ayt^SoU ro tt^cjtov. Aehnlich ilnickl siil» die parische Chrmiik
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÜDIE. EINLEITUNG. 235
Dafs auch an den Lenäen Tragödien aufgeführt wurden, so gutTragödie an
wie Komödien an den giofsen Dionysien, ist sicher, und zwar nicht
erst nach Ablauf des fünften Jahrhunderts, wie manche meinen,
sondern weit früher, da bereits Aeschylus sich an diesem Agon be-
theiligte. Seit Ol. 79, wo der Komödie nicht nur die Choregie für
die Lenäen gewährt wurde, sondern sie auch Zutritt zu dem Haupt-
feste erlangte, traten tragische Dichter regelmäfsig auch an den
Lenäen, jedoch nicht mit Tetralogien, sondern mit einzelnen Tra-
gödien auf.'")
i\un gewinnt auch die Ueberlieferung , Sophokles habe zuerst Die Einxei-
den Wettkampf mit einzelnen Tragödien aufgebracht, ihr rechtes Jr^f'^n.
Verständnifs.'^) Sophokles hat Ol. 78 im Einvernehmen mit Aeschylusnchtung des
Sophokles.
Ep. "2 voa Sophokles aus, wo nothwendig eine Tetralogie vorauszusetzen ist,
und der gleiche Ausdruck ist auch vorher Ep. 65 vom ersten Siege des Aeschy-
lus gebraucht, wo offenbar diese Kunstform noch unbekannt war.
121) Für die Zeit vom Tode des Aeschylus bis zum Tode des Sophokles
und Euripides (Ol. 81 — 93) läfst sich dies durch Zahlen erweisen. Sophokles,
Euripides und ihre Zeitgenossen Aristarch, Achäus, Ion, Xeophron, Philokles,
lophon haben zusammen mehr als 600 Dramen gedichtet. Rechnen wir für die
übrigen Tragiker dieses Zeitraumes, welche jenen an Fruchtbarkeit nicht gleich-
kamen, 200 Stücke, so reicht diese Zahl von SOO Dramen gerade aus, wenn
in jedem Jahre an den grofsen Dionysien zwölf, an den Lenäen drei Dramen
zur Aufführung kamen; jene Zahl wäre viel zu gering, wenn damals an beiden
Festen Tetralogien um den Preis gekämpft hätten. Denn eine solche Einrich-
tung würde 1300 Dramen erfordert haben, aber andererseits wäre die Zahl zu
hoch, wenn der tragische Agon auf die grofsen Dionysien beschränkt war.
122) SmAas \l 2, HZ : ^OfOxXr^S ...xai avTOS {lies 7t ^ cur oi) r;^^erov Soäfia
TtQos Soäfia ayojvi^ea&at, aXla firj rsxQaXoyiav (zwei Hdschr. ar^aToloyeTa&at,
was man in Ter^aXoyslo&ai ändert, aber der Sprachgebrauch verlangt rsTQa/u>-
yaU). Man hat diese Notiz sehr verschieden gedeutet oder auch als werthlos
und jeder Gewähr entbehrend verworfen, ja man hat sogar durch Versetzung
der Negation die erste Einführung der Tetralogie gefunden und daher alles auf
Phrynichus bezogen. Die Worte weisen offenbar auf eine veränderte Einrich-
tung des Agons hin, die eben bei der ersten Einführung der tragischen Choregie
an den Lenäen getroffen wurde, also den längst bestehenden aarixos aycov
gar nicht berührte. Plato Symp. 1T3A rfj i^aycoSia ivixr,<i£v 6 ^Ayctd'üiv ist
also wörtlich zu verstehen; denn der Sieg ward nach Athenäus V 217 A an den
Lenäen gewonnen. Auch Plato deutet darauf hin, wenn er von den langen Näch-
ten spricht, hält jedoch diese Aenderung nicht fest, wenn er von einem hel-
lenischen Publikum bei der Feslfeier redet. Aeschylus ist ein und das andere
Mal an den Lenäen aufgetreten, Sophokles öfter, da er, wie es scheint, sechs-
mal hier den Preis erhielt. Euripides' erstes Stück, die Peliaden, können aa
236 DRITTE PERIODE VOIS 500 BIS 300 V. CHR. G.
den Agon der Tragiker in diesem beschränkten Umfange an den
Lenäcn geordnet, um so jüngeren Dichtern Gelegeulieit zu geben,
ihre Kräfte an mäfsigeren Aufgaben und in einem engeren Kreise
zu versuchen. Daraus erklärt sich, dafs der Aulführung von Tragö-
dien an den Lenäen in diesem Zeiträume nur selten gedacht wird ;
die namhaften Dichter, zumal Sophokles und Euripides, waren vor-
zugsweise für das Hauptfest thätig; sie dichteten Tetralogien, nicht
einzelne Tragödien.
Das Saiyr- Aus den alten Satyrchören ist die Tragödie hervorgegangen.'")
drama. ^^^^ nachdem Thespis das dramatische Element ausbildete und seiner
neuen Schöpfung einen mehr ernsten Charakter gab, vermifste man
ungern die hergebrachte Weise. Pratinas führte den Satyrchor in
Athen wieder ein und ist als der erste Begründer des Satyrdramas
zu betrachten'"), welches fortan neben der Tragödie seine Stelle
behauptete."'*) Die Einführung der Tetralogie berührte nothwendig
auch das Satyrdrama ; denn indem der Tragödie Raum zu voller Ent-
wicklung vergönnt war und das Satyrdrama als heiteres Nachspiel
den Abschlufs der Composition bildete, erscheint es der Tragödie
nicht mehr vollkommen gleichberechtigt.
den Lenäen Ol. 81, 1 aufgeführt sein; doch ist dies nicht sicher, da man auch
einen Dramencyklus mit dem Namen des ersten Stückes bezeichnete, wie der
Parthenopäus des Astydamas beweist. Die Ghoregie an den Lenäen war wegen
der Beschränkung auf ein Drama minder kostspielig; als daher Ol. 93, 3 das
avvSvo xo^iyeiv für den ciffTitcde aytov gestattet wurde, bestand doch an den
Lenäen die frühere Einrichtung fort. Erst durch die Reform der scenischen
Spiele um Ol. 97 wurde die Einrichtung des Sophokles beseitigt.
1 23) Aristot. Poet. c. 4, 17 p. 1449 A 20. Diese ältesten Satyrstücke, wenn
es erlaubt ist, vor Pratinas diesen Namen zu gebrauchen, waren rein lyrischer
Art, Athen. XIV 61 7 BIT.
124) Die Schrift des Chamäleon ne^i aatvQoiv handeile offenbar vom
Satyrdrama und seinem Ursprünge. Dafs die Ausbildung des Satyrdramas, das
Verdienst des Pratinas, auf die Anfange der Tragödie durch Thespis folgt,
deutet Horaz A. P. 221 an.
125) Es wird jetzt in der Regel jeder Dichter eine Tragödie und ein
Salyrslück aufgeführt haben. Wenn dem Ausdrucke jigoetanyBtv bei den Parö-
miographen {ovSev n^oi xov Jiöwaov) zu trauen ist, (doch darf man zur
Unterstützung dieser Lesart sich nicht auf Mar. Victor. II 11,7, VI 99 K. berufen)
ging das Salyrdrama voran: dann hätte erst Aeschylus das groteske Vorspiel
zum Nachspiel gemacht. Auf die Tetralogie bezieht sich die Glosse bei Photius
u. a.: catvftxa S^ä/inra fiera nkeiova (r faytxä) r,v t&os vnoxQivea&ai,
iv ole fiexu^ TotTM iftiywov ngoi Stii)(vaiv.
DIE DR.\MATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. EINLEITUNG. 237
Das Satyrdrama, welches gleichsam den Eindruck eines Wein-
rausches macht, hat den Charakter des alten Maskenspieles zu Ehren
des Dionysus am reinsten bewahrt. Hier äufserte sich die ausge-
lassene Festlust unter dem Schutze der Religion in voller Freiheit.'^*)
So behauptet der Gott sein durch der Väter Sitte geheiHgtes Recht,
und zugleich ward der Uebergang von dem hohen Ernst der Tra-
gödie zu den Freuden des Festes, welche die Zuschauer nach der
Vorstellung im Theater erwarteten, durch das heitere Nachspiel schick-
lich vermittelt*"), aber zugleich ward durch die enge Verbindung
der Tragödie der kecke Muthwille des Satyrchores ermäfsigt.'^) Ge-
rade in dem Contraste zwischen den heroischen Charakteren und
der fremdartigen Umgebung, in der sie auftreten, liegt zum guten
Theil die Wirkung des Satyrdramas. Indem Götter und Dämonen,
die Helden der epischen Dichtung und der Tragödie, mit den necki-
schen, possenhaften Waldgeistern verkehren und seltsame, mehr
komische als ernste Abenteuer bestehen, werden sie in eine niedere
Sphäre herabgezogen, wissen aber doch immer ihre angeborene
Würde zu behaupten. ^^)
Diese Waldgeister, das Gefolge des Dionysus, dem die Menschen
das Geschenk des Weines verdanken, erscheinen als die Repräsen-
tanten unverwüsthcher Naturkraft und naiver Sinnhchkeit. Der Ernst
des Lebens, sittliches Gefühl, Sinn für Anstand ist ihnen unbekannt ;
alles ist auf den Genufs des Augenbhckes gerichtet, die herzer-
freuende Gabe des Gottes steigert den Uebermuth bis zur Frechheit.
Die üppige Natur der Satyrn verräth sich in unzüchtigen Bewegungen
126) Es war eine Nachahmung der Nymphen, Pane, Satyrn und Silene
in der Trunkenheil, Plato Gesetze VII Sl 5 C. Sympos. 222D: xo aarvQtxöv aov
Soäfia raiTO xcu aeiXrjvixov. Politic. 303 C: coaneQ Sgäfia, xa&äne^ kÖQrjd'ri
vvv St} xevxavotxov oQaad'ai xal aaxvQixöv rtva S'iaaov,
127) Plutarch Pericl. 5 führt das Urtheil des Ion über Perikles an, dem
das ernste, gemessene Wesen dieses Staatsmannes minder zusagte, als die Leut-
seligkeit des Kimon, und fügt hinzu: all' 'Icova fiiv öianeQ XQayixrjv StSa-
axaXiav a^ioiivza rrjv aQsxrjv i'^siv rt nävrois xal aarvotxov tieoos käfisv.
12S) Das Scherzhafte, Neckische ist der Grund ton des Satyrdramas. De-
metrius de eloc. 169 Rhet. IX 76 Walz eignet dem Satyrstück und der Komödie
das yeXolov, der Tragödie ;Ka(WTCS zu: ovSe ya^ inivoT^asisv av Tis r^aycoSiav
nai^ovaav, inei aaxvgov yqä\pei. avri XQaycoSlas.
129) Ob die Dichter immer die Grenzlinie streng inne hielten, steht
dahin.
238 »RITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
und Späfsen. Neckereien und Possen, in Worten und Thaten ge-
übt , ist das Element der Satyrn ; ihr Muthwille kennt keine Gren-
zen, ist aber doch meist harmlos und zieht unwillkürlich jeden, der
sich naht, in diesen Kreis herein. Das Vorbild des Helden, mit dem
sie gerade verkehren, scheint wohl auch ihre schlummernde That-
kraft zu wecken, aber ihr Muth, der sich nur in prahlerischen Re-
den kund giebt, besteht die Probe nicht. Die Satyrn sind feige
und unzuverlässige Bundesgenossen. Mit diesem Naturell harmonirt
die äufsere Erscheinung und Umgebung: gewöhnHch fast nackend,
häfslich und halb thierisch anzusehen'^"), waren sie in steter un-
ruhiger Bewegung. Dem Bocksfelle, mit dem sie in der Regel be-
kleidet auftraten, entsprachen die muthwilligen Bocksprünge. Wilder
Wald und einsames Felsgebirg ist das passende Terrain für diese
grotesken Gesellen, welche von höherer Cultur durchaus unberührt
sind.
Der Grundton der Lieder des Chores, welcher regelmäfsig aus
Satyrn besteht"') und ebendaher den eigenthümlichen Charakter
der Gattung auf das Klarste darstellt, ist ausgelassene Heiterkeit.
Der Dichter bewegt sich hier vollkommen frei; daher wandte sich
der Chor zuweilen nach Art der Parabase in der Komödie von der
Handlung ganz ab zum Publikum."*)
Stoffe des Acschylus, der Gründer der Tetralogie, bewahrt auch hier seinen
Satjrdramas.gjjjjj für künstlerische Composition, indem bei ihm das Nachspiel
mit der tragischen Trilogie in der Regel in einem organischen Zu-
sammenhange stand."') Er wufste in dem Mythenkreise, den er
sich für einen dramatischen Cyklus erlesen hatte, immer einen Aus-
läufer zu finden, der sich für einen Satyrchor eignete. Aeschylus*
Nachfolger, indem sie auf den stofflichen Zusammenhang der Dra-
men verzichten, bewegen sich in voller Freiheil, und der unerschopf-
130) Die mannigfachen Abstufungen und Varietäten dieser Begleiter des
Dionysus vergegenwärtigen zahlreiche Denkmäler der bildenden Kunst.
131) Daher auch statt aarv^ixöv S^ä/ua ganz gewöhnlich der Ausdruck
eäiv^oi (oäjvgos Demetrius de eloc. 109) vorkommt. Frauenchöre, z. B. von
Nymphen oder Bacchantinnen, lassen sich nicht mit Sicherheit nachweisen.
132) Wie die Verse aus dem Herakles des Astydamas bei Athen. X 411 A
beweisen; auch das Eupolideische Versmafs erinnert an die Komödie.
133) So der IJQiaxtxt in der Orestie, die ^iy^ in der thebanischen Te-
tralogie, der jitxoipyos in der Lykurgie.
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. EINLEITUNG. 239
liehe Schatz der Sage bot eine Fülle geeigneter Stoffe zu behebiger
Auswahl dar.
Wie Satyrn den Chor bilden, so lag nichts näher, als den
Mythenkreis des Dionysus selbst zu benutzen."'') Die Erfindung des
"Weines und die Wirkungen, welche die ungewohnte Gabe des Got-
tes ausübte, die Kämpfe des Dionysus, dessen CuUus bei seiner ersten
Einführung auf hartnäckigen Widerstand stiefs, Liebesabenteuer und
andere heitere neckische Scenen aus seinem bewegten Leben for-
derten von selbst zu dramatischer Bearbeitung auf.'") Hätte jedoch
das Satyrspiel sich fortwährend in diesem Kreise bewegt, so waren
ermüdende Wiederholungen nicht zu vermeiden. Man sah sich daher
nach geeigneten Stoffen in den verschiedenen Theilen des weiten
Gebietes der Sage um. Mit Vorhebe wurden Bilder der Urzeit, wo
die Menschen noch im Naturzustande verharrten, vorgeführt. So
schilderte Sophokles in der Pandora die Schöpfung des Menschen-
geschlechts, Aeschylus im Prometheus die Mittheilung des Feuers.'^)
Die beliebtesten Figuren des Satyrdramas sind Riesen und Unholde,
wie Antäus und Busiris, der Frevler Salmoneus, Räuber und gewalt-
thätige, ungeschlachte Gesellen, wie Araykus, Syleus, Kerkyon, der
Kyklop Polyphemus"^), oder Meister der List und Verschlagenheit,
wie Autolykus und Sisyphus, dann dämonische Gestalten, wie die
Zauberin Kirke."*) Hier bot sich zugleich Gelegenheit dar, die ge-
feierten Namen der Heroensage, Herakles, Theseus, das Brüderpaar
der Dioskuren, Odysseus, einzuführen und zu zeigen, wie der Adel
ritterlichen Wesens in den Kämpfen mit roher Gewalt oder über-
134) Ob nach dem "Vorgänge des Asklepiades (r^ayipSorfura) und anderer
auch die Stoffe des Satyrdrannas übersichtlich zusammengestellt wurden, wissen
wir nicht; die aarv^ixä des Derkyllus beruhen auf einem erdichteten Citate.
135) Hierher gehören der AvAovqyoi des Aeschylus (obwohl wir über den
Inhalt des Stückes nichts Genaueres wissen), das Jiowaiaxov Sqü/uu des So-
phokles, der "H^aiaToe des Achäus. Euripides im Kykl, V. 4 ff., 11 und 38
spielt wohl auf bekannte Satyrdramen verwandten Inhalts an.
136) Auch die l4^yc6 des Aeschylus war wohl ein Satyrspiel; das Er-
staunen, welches der Anblick des ersten Schiffes erregen mufste, war eine
ganz geeignete Stimmung. Wie die Menschen das Geschenk ewiger Jugend
wieder einbüfsten, hatte Sophokles in den Kco<foi und schon früher Aristias ge-
schildert.
137) Den blinden Riesen Orion hatte Sophokles im Krßa)üa)v vorgeführt.
138) Auch der rXalxos üörtioi des Aeschylus war wohl ein Satyr-
drama.
240 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
natürliclieu Mächten sich gläuzend hewährt, jedoch nicht ohne Bei-
mischung schalkhaften Wesens und derben Scherzes, welcher dieser
Gattung eigen ist. Daher war auch Herakles der Liehhngsheld des
Satyrdramas. Dieser Heros, der voll kühnen Muthes und mit un-
verwüstlicher Kürperkraft ausgerüstet, die weile Welt durchwandert
und die seltsamsten Abenteuer besteht, giebt sich dann auch wieder
ungezügelter Sinnenlust hin. Der nimmersatte, weintrunkene, ver-
liebte Heros bot nicht nur der Komödie der Sikelioten und Attiker,
sondern vor allem dem Satyrspiele die dankbarsten Motive dar.
Achäus schilderte in seinem Linus die erste Jugend des Helden,
Sophokles die Hadesfahrt, Euripides sein Verhältnifs als Dienstmann
des tückischen Eurystheus und seinen Kampf mit Syleus, Achäus
und Ion das Liebesabenteuer mit der lydischen Omphale. Erotische
Scenen aus der Götter-*^) und Heldensage wurden auch sonst mehr-
fach behandelt, da der Charakter des Satyrchores für solche Stoffe
sehr geeignet war und zugleich der Contrast zwischen der Häfslich-
keit der lüsternen Waldgeister und dem Reize der Schönheit und
Jugend besonders wirksam sein mufste. Hierher gehört unter an-
deren die Amymone des Aeschylus, Helenas Hochzeit und die Lieb-
haber des Achilles von Sophokles.
Die Stoffe des Satyrdramas waren meist heiterer Natur; aber
auch ernsthaften Geschichten wufste man eine heitere Seile abzu-
gewinnen.'^") Die Züchtigung eines Frevlers, der Untergang eines
Unholdes hatte nichts Ergreifendes, sondern diente nur, den Muth-
willen und Frohsinn zu steigern. Eine reiche Auswahl schicklicher
Motive bot die griechische Volkssage, zumal das Märchen, der Nie-
derschlag des Mythus, dar"'); aber auch die ältere Poesie ward fleifsig
benutzt.
139) Auch andere Bilder der alten Göttersage wurden vorgefülirt; die
MoiQai des Achäus stellten wohl dar, wie Apollo, um den Adinetus zu retten,
die Schicksalsgöttinnen durch einen Weintrunk berauscht.
140) Von manchem Satyrdrama läTst sich der hihait gar nicht genauer
ermitteln. Am befremdlichsten ist, daCs tragische Gestalten, wie Amphiaraus
und Alkmäon, bei Sophokles und Achäus als Helden eines Satyrspiels auftraten,
vielleicht in Tetralogien, wo der stofTliche Zusammenhang der einzelnen Drä-
nen festgehalten war.
141) Das Märchenhafte und Wunderbare ist ein charakteristischer Zug be-
sonders des älteren Satyrspiels, und dazu pafsl sehr wohl die ländliche Um-
gebung, in der die Handlung vor sich geht.
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. EINLEITUNG. 241
Das Satyrdrania ist schon äufserlich an gewissen formellen versmaTs
Eigenthümlichkeiten erkennbar. Der Vers des Dialoges wird nicht^jg, satyr-*
nach der strengen Regel der Tragödie behandelt."') Für die Ge- dramas.
sänge des Chores, welche mit lebhaften Tanzbewegungen "^) und
ausdrucksvoller Mimik begleitet wurden, eigneten sich zumeist leich-
tere Rhythmen."') Ebenso ward die Erhabenheit des tragischen Stiles
ermäfsigt. Volksthümhche Ausdrücke, welche der gewählten Rede-
weise der Tragödie fremd sind, werden mit Vorliebe gebraucht.
Selbst das Derbe und Geraeine wird nicht verschmäht.*") Die natur-
wüchsige Sinnlichkeit der Stoffe, welche der Dichter hier behandeU,
verlangt einen entsprechenden Ausdruck; doch ist nicht zu verken-
nen, dafs die heroischen Figuren sich im Ganzen durch mafsvoUere
Haltung von dem Chore und den satyresken Personen absondern.
Nur ein einziges Drama dieser Gattung, der Kyklop des Euri-
pides, ist uns erhalten. Von den SalyrstUcken der anderen Tra-
giker besitzen wir nur dürftige üeberreste "'^) ; denn das Interesse
für die scherzhafte Tragödie war später selbst in gelehrten Kreisen
nur sehr mäfsig, ja schon in der klassischen Zeit"') müssen nicht
wenige Satvrdramen durch Achtlosigkeit untergegangen sein.
142) Der Anapäst soMie Auflösungen wurden im Trimeter häufig zugelassen.
143) Handschellen [y.QÖrala), ein im Cultus des Dionysus und der Götter-
mutter beliebtes Instrument, war wohl öfter Beigabe des Satyrchores: doch
geht der Ausdruck y-ooros aimvviSojv (Eurip. Kykl. 37) nicht nothwendig dar-
auf (er bezeichnet wohl nur das heftige Stampfen mit den Füfsen). Auch
Künsteleien fehlten nicht: im Amphiaraus des Sophokles stellten die Tanzfiguren
die Buchstaben eines Namens dar (Athen. X 454 F). (S. S. 1S5 A. 24).
144) In dem älteren Satyrdrama war die Parodos des Chores gewöhnlich
in freien Anapästen gedichtet, Mar. Vict. II 11, 7 VI 99 K. Ebenso mufs anfangs
der trochäische Tetrameter einen breiten Raum eingenommen haben (Aristot.
Poet. c. 4, 14 p. 1449 A 22); später ward er durch den Trimeter verdrängt.
145) Aristot. Poet. c. 4, 14 p. 1449 A 19 f. bezeichnet die Xä^ts y^^oia als
Eigenthümlichkeit des alten Satyrspiels, aber dieser Ton ist niemals ganz ver-
wischt Morden, floraz A. P. 222 ff. giebt über die Mischung von Ernst und
Scherz verständige Winke ; ob aber immer die rechte Grenzlinie inne gehalten
wurde, steht dahin. Verkleinerungsworte, im höheren Stil sorgfältig gemieden,
kommen im Satyrdrama öfter vor.
14ü) Oft sind wir aufser Stande zu ermitteln, ob ein Drama der tragischen
oder der satyrischen Gattung angehört.
147) D. h. gegen Ende der Epoche, wo das Wohlgefallen an diesen Dra-
men sichtlich nachläfst; denn früher war es anders. Und diese älteren Stücke
mögen auch der bildenden Kunst manchen geeigneten Vorwurf dargeboten
Bergl«, Griecli. Literaturgeschichte III. 16
242 DRITTE PERIODE VON 500 RIS 300 V. CHR. G.
Hie ge- Der erste Preis in dieser Gattung gebührt unbestritten dem
Kntwfcklung^^^^^^y^"^- ^'^ zweitc Stelle wies man bald dem Fratinas und seinem
des Satyr- Sohne Aristias"*), bald dem Achäus zu."*) Doch mufs auch Sopho-
kles Vorzügliches geleistet haben; nur wird er die groteske Weise
seiner Vorgänger ermafsigt, den rohen Gesellen feinere Sitten ge-
liehen haben, und es ist nicht zufällig, dafs dieser Dichter zuerst
die Prunkgewänder der Tragödie einführte.*'") Euripides, dessen
ernsthaftem Wesen die ausgelassene Fröhlichkeil dieses Nachspieles
weniger zusagte, machte den Versuch, dasselbe durch eine Tragödie
zu ersetzen , wo neben dem Ernste auch das heitere Element nicht
fehlte'"), und er mag, wie schon die geringe Zahl der ihm zuge-
schriebenen Satyrdramen beweist, sich öfter auf diese Art mit dem
Herkommen abgefunden haben. Allein Euripides mufs auch im
Satyrdrama sein bedeutendes Talent glänzend bewährt haben. Der
Syleus, wo Herakles in die Dienste eines gewaUthätigen Gebieten
eintritt, um das Rächeramt an dem wüsten Gesellen zu vollziehen,
gehörte, wie noch jetzt die Bruchstücke erkennen lassen, zu den
gelungensten Arbeiten des Tragikers; die Sinnlichkeit in Herakles
erschien hier durch männhche Würde und hohes Selbstgefühl ge-
adelt, und der Contrast mit seinem Gegner wie dem Satyrchore
mochte diesen Eindruck noch verstärken.*")
Wie die tetralogische Form sich auch nach dem grofsen Kriege
haben ; namentlicli sind einzelne Scenen bemalter Vasen direkt auf das Satyr-
spiel zurückzuführen. Doch darf man nicht vergessen, daCs die Kunst der Hel-
lenen alle Zeit Bilder des dionysischen Thiasos in bunter Mannigfaltigkeit dar-
zustellen liebt. Das Vasenbild mit dem Flötenspieler Pronomus ist nicht auf
einen Satyrchor, sondern auf die Aufführung eines Dithyrambus zu bezielien.
148) Pausan. II 13, 5.
149) So urtheilt der Philosoph Menedemus Diog. Laert. II 133.
150) Dioskorides Anthol. VII 37 = 2S I 252 Jac, mo ein Satyr auf dem
Grabe des Sophokles die tragische Maske in der Hand hält und das Satyrdrama
dieses Dichters der unfeineren Manier des alten Spieles von Phlius gegenüber-
gestellt wird. Goldenen Schmuck und Purpurgewänder gab übrigens Sophokles
wohl nur den üühnenfiguren, während der Chor auch bei ihm die conventio-
nelle Tracht behielt. (S. S. 262 A. 32.)
151) Diese Dramen, welche natürlich keinen Satyrchor hatten, galten als
Tragödien; inwieweit andere Dichter dem Beispiele des Euripides folgten, ist
unbekannt.
l.':2) Der Syleus, der sich durch den gehobenen Ton sehr vorlheilhaft
auszeichnet, mufs, wie Philo zeigt, noch später fleifsige Leser gefunden, ja
vielleicht sich sogar auf der Bühne behauptet haben.
b
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. EI.NLEITU.NG. 2A'Ö
erhielt, so behauptete sich auch das Satyrspiel, obwohl der Charakter
dieser Dichtung weder der Eigenart der jüngeren Tragiker, noch
überhaupt der Richtung jener Zeit sonderhch gemäfs war.*") Wie
man jetzt einzelne Tragödien schrieb, so auch Satyrdramen. '*^) Der
bei der Feier der Dionysien zu Susa Ol. 113, 4 aufgeführte Agen, von
Python oder nach anderen von Alexander dem Grofsen selbst ver-
fafst, schlofs sich wohl als Nachspiel an ältere Tragödien an. Die
Handlung des Stückes spielt bei Babylon. Die Scherze über Har-
palus, der mit den Schätzen Alexanders nach Griechenland entflohen
war, über die Buhlerin Pythionike, über die hungrigen Athener
erinnern ganz an die Komödie. Ebenso haben die Alexandriner, wie
Lykophron, der den Philosophen Menedemus zur Hauptfigur eines
Satyrdramas machte, ihre Stoffe öfter der unmittelbaren Gegenwart
entnommen.'") Nur Sositheus hat, wie es scheint, nicht ohne Er-
folg den Versuch gemacht, das alte Satyrspiel nach klassischem Muster
wieder zu erneuern.'*^) Die Römer, welche sonst nicht leicht eine
von den Griechen mit Vorüebe gepflegte Dichtart liegen lassen,
haben sich, soviel wir wissen, niemals im Satyrdrama versucht; es
mufs daher auffaUen, dafs Horaz in seiner Poetik (220 ff.), die doch
sonst überall an ein unmittelbares praktisches Interesse anknüpft,
eingehend über diese Galtung der Poesie handelt.'")
153) Bekannt ist nur der 'Hqux^s ^aiv^ixöi des jüngeren (so wenig-
stens Suidas 1 1, 814) Astydamas.
154) Daher erscheint auf Inschriften aus der Diadochenzeit und später
bei musischen Wettkämpfen der noirjifjs aarvgcov neben dem Tragiker.
155) Der Chor kann auch in solchen Stücken nicht gefehlt haben (denn
sonst hätten sie gar kein Anrecht auf den Namen des Satyrdramas gehabt),
aber er war wohl sehr beschränkt.
156) Dioskorides Anth. VII TOT = 29 I 252 Jac. (s. S. 262 A. 32). Doch mufe
auch Sositheus entweder Satyrstücke in neuem Stil geschrieben oder durch
persönliche Ausfälle auf Lebende die mythischen Stoffe gewürzt haben, wie
sein Angriff auf Kleanthes beweist, s. Diog. Laert. VII 1T3.
15") Man darf den Grund nicht darin suchen, weil den Römern Satyrn,
Sllene u. s. w. fremd waren ; denn da Bacchische Culte überall in Italien ver-
breitet waren, konnte es auch nicht an Verständnifs dieser Waldgeister fehlen.
Ebenso wenig kann man sagen, das Satyrdrama sei damals bereits völlig anti-
quirt gewesen. Aber den Römern blieb die Form der Tetralogie fremd. Später
ersetzte die Alellana, welche sich als exodium an die Tragödien anschlofs,
das Satyrspiel. Vielleicht hat später Pomponius Secundus den Versuch ge-
niacht, [Satyrspiele nachzubilden, vgl.] Porphyrie bei Welcker [Die griechischen
Tragödien 111 1363 f.].
16*
244 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Tertnderung Nach dem peloponnesisclien Kriege trat eine neue Organisation
''^saUo^n"'*^^'" scenischen Spiele ins Leben. Eine bestimmte Ueberlieferung
über die Reform liegt nicht vor, aber die Grundzüge lassen sich
durch inschriftUche Urkunden und indirekte Zeugnisse feststellen.
Während früher drei Bewerber um den Preis für das beste Lust-
spiel auftraten, werden jetzt fünf zum Wettkampfe zugelassen, so-
wohl an den grofsen Dionysien, wie an den Lenäen, so dafs von
jetzt an in jedem Jahre zehn neue Komödien zur Aufführung kamen.
Für die Tragiker wurde die herkömmliche Dreizahl festgehalten, aber
auch hier der Thätigkeit der Dichter ein grofser Raum vergönnt,
indem an den Lenäen nicht mehr wie früher Einzeldramen, sondern
Trilogien aufgeführt wurden, so dafs von jetzt an die Tragiker an
beiden Festen in der Hauptsache gleichgestellt waren.
Die Form der Tetralogie ward abgeschafft. Das Satyrspiel hatte
sich überlebt ; es sagte weder dem Geschmacke des Publikums, noch
den Neigungen der Dichter recht zu; gleichwohl liefs man es nicht
gänzUch fallen. An den grofsen Dionysien wurde regelmäfsig gleich
zu Anfang der tragischen Spiele ein neues Satyrdrama aufgeführt;
eine ältere klassische Tragödie von einem der drei grofsen Meister
schlofs sich an; dann erst folgte der Wettkampf mit neuen Dramen.
Drei Dichter traten mit Trilogien nach einander auf.
Die Blüthezeit der dramatischen Poesie war vorüber. Aber die
literarische Regsamkeit liefs nicht nach, sondern steigerte sich, da
nach dem Abscheiden der grofsen Dichter die Aussicht auf leichte-
ren Erfolg eine grofse Zahl mittelmäfsiger Talente in die Bahn rief.
Die Theilnahme des Publikums für dramatische Aufführungen war
unvermindert, und wenn man auch den vollendeten Leistungen der
älteren Meister gebührende Achtung zollte, so sagte doch das, was
die Epigonen boten, dem herrschenden Geschmacke mehr zu. Das
Neue übt alle Zeit eine besondere Anziehungskraft aus. Dafs diese
gesteigerte Produktion der echten Kunst nicht gerade förderlich war,
liegt auf der Hand; nur hat nicht jene Organisation das Ueberhand-
nehmen des mechanischen Schaffens begünstigt, sondern der Zu-
drang problematischer Talente rief die neuen Einrichtungen hervor,
hiese Veränderung der dramatischen Spiele war nur ausführ-
bar, indem man die Anforderungen an die Leistungen der Clioregen,
welche bei der zunehmenden Verarmung der Bürgerschaft immer
mehr als drückende Last empfunden wurden, bedeutend ermäfsigte.
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. EINLEITUNG. 245
Die Dichter liefsen sich dies nicht ungern gefallen. Das lyrische
Element im Drama war allmählich immer mehr beschränkt und nur
noch ein Beiwerk. Die neue Richtung der Musik fand im Dithy-
rambus ihren Ausdruck; diesen gesteigerten Anforderungen zu ge-
nügen war für die dramatischen Dichter kaum möglich. So wurde
der Chor in der Tragödie auf das knappeste Mafs zurückgeführt; im
Lustspiel verschwand er bald vollständig. Nun konnte der Schau-
spieler seine Kunst ausschhefsHch zur Gehung bringen. Nicht die
Leistungen der Chöre wie ehedem, sondern die Virtuosität der Schau-
spieler bürgte wesentlich für den Erfolg eines Stückes, gab es doch
damals zahlreiche Vertreter dieser Kunst voll ausgezeichneter Be-
gabung. So nimmt jetzt der Protagonist eine dem Dichter nahezu
ebenbürtige Stellung ein. Daher wurden damals für die vorzüg-
hchsten Leistungen der Schauspieler in der Tragödie wie in der
Komödie Preise ausgesetzt.
Mit der Vermehrung der dramatischen Aufführungen war wenig-
stens für die grofsen Dionysien nothwendig auch eine Vermehrung
der Spieltage verbunden. Um das Interesse des PubUkums an sce-
nischen Vorstellungen sich zu sichern, mufste man das Theatergeld
wieder einführen, dessen Vertheilung in den Jahren der Noth ein-
gestellt worden war.
Die Geschichte der tragischen Poesie in der klassischen Epoche Grofse zahi
umfafst einen langen Zeitraum von nahezu zwei und einem halben ^" '"?*:
Jahrhundert (Ol. 61 — 120). Mit der stetig wachsenden Theilnahme tungeu.
an dramatischen Aufführungen wurde auch die Thätigkeit der Dich-
ter immer mehr in Anspruch genommen.'^*)
Viele dieser Dramen mögen frühzeitig verschollen sein ; schon Der Nacb-
die Alexandriner kannten manches Stück nur aus den öffenthcheng^ig^g^jg'l.^g^
Aufzeichnungen. Nicht einmal der Nachlafs der grofsen Tragiker Tragiker,
war unversehrt überliefert, lieber die Summe der gesammten Pro-
duktion sind wir nicht unterrichtet. Uns hegen nur Zahlenangaben
vor über die Arbeiten der namhaften Tragiker, und auch diese sind
unvollständig; sie ergeben etwa fünfzehn- bis sechszehnhundert
Dramen. Die Alexandriner hatten in ihren BibUotheken gewifs eher
mehr als weniger. Von diesem Reichthum ist nur eine sehr mäfsige
15S) In den ersten Anfängen waren jährlich drei Dramen erforderlich, dann
sechs, nach Einführung der Tetralogie zwölf, später vierundzwanzig.
246 DRITTE PERIODE V0> 500 BIS 300 V. CHR. G.
Auswahl auf uns gekommen. Wir besitzen dreiunddreifsig vollstän-
dige Stücke, sieben Tragödien von Aeschylus, ebenso viele von So-
phokles, neunzehn von Euripides"^), darunter ein Satyrdrama. Das
älteste Stück sind die Perser des Aeschylus"^), aufgeführt Ol. 76, 4,
das jüngste der Oedipus auf Kolonos von Sophokles, erst einige
Jahre nach des Dichters Tode, Ol. 94, 3, auf die Bühne gebracht."')
Die drei Unter der grofsen Zahl tragischer Dichter (ungefähr sechszig
^'°g""r ""und darüber sind uns bekannt) trugen drei unbestritten den ersten
Preis davon. Während sonst das Urtheil der Zeitgenossen über den
Werth hterarischer Leistungen oft sehr schwankend ist und erst ein
späteres Geschlecht zu einer unbefangenen Würdigung vorschreitet,
hat sich hier frühzeitig eine feste Norm gebildet, an der spätere
Zeiten nichts Wesentliches zu ändern vermochten.'**) So sehr liefsen
diese drei Koryphäen der tragischen Kunst alle ihre Mitbewerber
hinter sich, obwohl darunter nicht wenige bedeutende und reich-
begabte Dichter waren. Daher ist es auch nicht auffallend, dafs im
tragischen Agon öfter ein anderer Dichter jenen Meistern vorgezogen
ward, und die Richter bewährten nur ihre Unparteilichkeit, wenn
sie die tüchtige Leistung auch eines minder anerkannten Dichters
auszeichneten ; aber das Urtheil im Ganzen und Grofsen stand fest.
Fand auch das Verdienst des Aeschylus bei seinen Lebzeiten nicht
immer gebührende Würdigung, so ward man doch sofort nach seinem
Tode inne, was man an dem grofsen Meister verloren hatte. Sopho-
kles und Euripides standen schon bei den Zeitgenossen in höchstem
Ansehen, wie Aristophanes genugsam bezeugt. Sophokles erfreute
sich während seiner langen Laufbahn ungetheilter Anerkennung,
159) Eigentlich gehören dem Euripides nur achtzehn Dramen; denn der
Rhesus ist von einem Unbekannten verfafst.
160) Die Zeit der Aufführung der Schutzflehenden ist nicht äberliefert.
IGl) Aufser dieser letzten Arbeit des Sophokles sind uns auch die Bacchen
und die Iphigeneia in Aulis, des Euripides letztes Vermächtnifs, wahrschein-
lich Ol. 93, H zu Athen gegeben, erhalten. Aus der alexandrinischen Periode
besitzen wir nur ein Drama, die Alexandra des Lykophron.
1<»2) Oefter mögen an demselben Feste die Dramen dieser Koryphäen neben
einander aufgeführt worden sein, da Aeschylus" Stücke nach seinem Tode beim
Agon der neuen Tragödien zugelassen wurden. So bewarben sich Ol, S7, t
Euphorion (d. h. mit Tragödien des Vaters), Sophokles und Euripides um den
Preis, Ol. 87, 3 Philokles (wohl ebenfalls mit Stücken des Aeschylus) und So-
phokles; vielleicht w;ir Kiiripides der Dritte.
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TBAGÜDIE. ELNLEITÜAG. 247
■svie kein anderer dranaatischer Dichter; man huldigle willig dem
grofsen Talente des Meisters. Sein günstiges Geschick blieb ihm auch
hier treu, und das milde Wesen des Dichters entwaffnete den Wider-
spruch, während die schroffere Natur des Euripides sich nur all-
mähfich Bahn brach und neben begeisterten Anhängern alle Zeit
leidenschaftliche Widersacher fand.
Aeschylus, Sophokles, Euripides repräsentiren drei Stufen der
»dramatischen Kunst, und wenn es erlaubt ist, das Amt des Preis-
richters zu übernehmen, so werden wir unbedenklich dem Aeschylus
den ersten Preis zuerkennen; dann folgen genau nach der chrono-
logischen Ordnung Sophokles und Euripides. Wohl hat die Tragödie
sich auch nach Aeschylus noch weiter entwickelt, aber der Sohn
des Euphorion überragt doch in allem, was den wahren Dichter
macht, seine iNachfolger. Aristophanes, der an feinem Sinn und
Verständnifs in diesen Dingen unübertroffen dasteht, erkennt mit
wärmster Bewunderung die unerreichte Gröfse dieses Dichters an,
unbeirrt durch die öffentliche Meinung, welche damals in der
Hochschätzung des Sophokles einig war, während Aeschylus vie-
len schon veraltet erschien, über Euripides die Stimmen getheilt
waren.'")
Später ward dies allgemeine ürtheil wohl modiiicirt, aber nicht
wesentüch abgeändert. Aeschylus tritt mehr in den Hintergrund;
man bewahrt ihm zwar alle Zeit Hochachtung, aber seine Dramen
verschwinden nicht nur von der Bühne, sondern linden auch nur
noch einen kleinen Kreis von Lesern. Sophokles und Euripides
theilen sich in die Gunst. Während man aber die vollendete Kunst
des Sophokles willig anerkennt und ihm die erste Stelle einräumt,
geniefst doch Euripides eine viel grüfsere Popularität. Er beherrscht
recht eigentlich die Masse und trägt, wenn man den Mafsstab des
Erfolges anlegt, den ersten Preis davon.
Die Geschichte der tragischen Poesie zerlegt sich in drei Ab-Eimhaiiuag.
163) Xenophon Mem. I 4, 3 nennt Sophokles als Hauptvertreler der Tra-
gödie, Plato im Phaedius 208 C Sophokles und Euripides, und in der Republik.
VllI 568 A wird Euripides als der Liebling des Publikums bezeichnet. Aeschylus
wird von Plato mehrfach berücksiciitigl, aber meist, um gegen seine Poesie zu
polemisiren. Aristophanes spricht von Sophokles überall mit Achtung, aber
die milde Weise dieses Dichters konnte stark ausgeprägten Naturen weniger
zusagen.
248 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
schnitte, welche die ersten Anfänge von Ol. 61 — 69, die ßlüthezeit
von Ol. 70—93, das Nachleben von Ol. 94—120 umfassen.
Recapituia- Schon deshalb, weil die Handlung in die ferne, jenseits der
Charakter Gcschichte liegende Zeit verlegt wird, welche im verklärten Glänze
der griechi-(jgg Heroenthums erscheint, hat die i^riechische Tragödie einen ent-
scben Tra- "
gödie. schieden idealen Charakter, und zugleich ist durch diese Beschrän-
kung auf den Kreis der heroischen Welt die ganze Handlungsweise
bedingt. Alles ist einfach und schlicht, die Zahl der Personen be-
schränkt, Scenenwechsel kommen selten vor, die Einheit der Zeit
und des Ortes wird meist gewahrt. Der Umfang des einzelnen Dra-
mas ist nur mäfsig. Die Einrichtung des Wettkampfes zwischen drei
concurrirenden Dichtern, die tetralogische Form, die man als etwas
Ueberliefertes auch später festhielt, gestatteten keine Ueberschreitung
der knapp zugemessenen Zeit. Daher schreitet die Handlung meist
rasch und ohne Unterbrechung vorwärts. Der Exposition ist in der
Regel nur ein mäfsiger Raum vergünnt; die Katastrophe füllt haupt-
sächüch das Drama ; manchmal fällt sie sogar aufserhalb und wird
als bekannt vorausgesetzt. Manche griechische Tragödie werden die
Neueren kaum als ein eigentliches Drama gelten lassen.
Das Drama stellt Begebenheiten dar, wie sie aus dem Zusam-
menwirken der Charaktere hervorgehen. Aber auch hier, wo es
gih, das Thun und Leiden, die Zwecke und Bestrebungen der Han-
delnden darzustellen, bleibt die griechische Tragödie ihrem schlich-
ten Wesen treu. Eben weil sie den einfachen Weltzustand der
alten sagenhaften Zeit vorführt, haben die Charaktere im Ganzen
etwas Naives und Ungebrochenes, sind mehr noch von der Sitte
und dem Herkommen abhängig. Zwar gähren auch hier mächtige
Leidenschaften. Schwere Conllikte waren diesem Geschlechte so wenig
wie den Nachlebenden erspart. Die alte Zeit war nicht ärmer; denn
die Gefühle und Schicksale der Menschen bleiben sich wesentlich
gleich. Aber die selbstbewufste Reflexion trat zurück; im Kampfe
mit feindlichen Mächten schritt man rasch und ohne langes Zögern
zur entscheidenden That. Aber dabei bewahren in der älteren Tra-
gödie die handelnden Personen auch mitten im Sturme der Leiden-
schaft eine gewisse äufserliche Ruhe. Wenn die griechischen Tra-
giker diese einfache Gröfse und Energie der Charaktere wiedergeben,
so haben sie nur die Treue des Weltbildes gewahrt. Wo der Dich«
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. EINLEITUNG. 249
ter complicirte, eigenartige Charaktere zu schildern unternimmt, wo
die Subjektivität zur Herrschaft gelangt, wie bei Euripides, da setzt
man sich eben über die Schranken hinweg, welche naturgemäfs
für das mythologische Drama gegeben sind. Denn indem Euripides
den tragischen Helden der heroischen Epoche seine eigenen Ge-
danken leiht, das Gepräge seiner Zeit aufdrückt, geht das Unbefan-
gene, das Frische der ursprünglichen Natur verloren; alle diese
Figuren haben etwas künstlich Gemachtes. Vom richtigen Gefühl
geleitet, beschränken sich die Vorgänger des Euripides auf das Noth-
wendige; nur solche Züge werden hervorgehoben, welche den Grund-
ton des Wesens veranschauHchen , die Handlung motiviren, dem
Grundgedanken des Dramas dienstbar sind. Aber eben deshalb tritt
uns ein klares, leicht übersehbares Bild entgegen, und die einzelnen
Momente des Charakters stehen mit einander meist in vollkommener
Harmonie. Wenn in den Anfängen der Kunst, in den früheren
Stücken des Aeschylus die Darstellung der Charaktere noch nicht
zu ihrem vollen Rechte gelangt, so erinnert diese geradlinige, skiz-
zenhafte Behandlungsweise ganz an die bildende Kunst der älteren
Zeit. Dafs aber die tragischen Dichter bemüht sind, mit dem Fort-
schritte der Handlung immer mehr auch die fortschreitende Ent-
wicklung des Charakters zur Anschauung zu bringen, zeigt vor allem
Sophokles.
Wie die griechische Kunst mit seltener Treue an der Ueber-
lieferung festhält, so hat auch die Tragödie ihren Ursprung niemals
verleugnet. Aus Chorliedern, welche ab und zu durch eine längere
Erzählung unterbrochen wurden, ist die Tragödie hervorgegangen;
daher bilden die episch gehaltenen Botenberichte und die Gesänge
des Chores alle Zeit ein unentbehrliches Element des Trauerspieles.
So erinnert die griechische Tragödie ebenso an die epische wie die
lyrische Poesie. Allein diese Elemente machen sich doch nicht auf
Kosten des Dramatischen geltend, sondern die Anmuth der behag-
lichen Erzählung, wie der Zauber und Wohllaut des lyrischen Ge-
sanges dient nur dazu, das dramatische Leben zu erhöhen. Wie
vielfachen Wandel auch der tragische Chor allmählich erfahren hat,
auch die vorgeschrittene Kunst mag ihn nicht missen ; dieses Werk-
zeug leistet dem Dichter die mannigfachsten Dienste, für die sich
nicht leicht ein passender Ersatz darbot. Gerade in dem Chore
stellt sich jener ideale Zug, welcher der griechischen Tragödie eigen
250 DRITTE PERIODE V0>' 500 BIS 300 V. CHR. G.
ist, am wenigsten dar; daher benutzt ihn der Dichter vorzugsweise,
um den lieferen geistigen Gehalt zu offenbaren, die Idee des Stückes
klar auszusprechen. Musik und theilweise orchestische Bewegungen
begleiten die lyrischen Partien der Tragödie und dienen wesentlich
dazu, die Wirkung zu erhöhen, obwohl man von diesen Kunstmit-
teln im Allgemeinen nur einen mafsvoUen Gebrauch macht.
Die Sprache ist würdevoll und der Stärke des dramatischen
Pathos angemessen; erst Euripides hat sie der Rede des tägUchen
Lebens näher gerückt, wie überhaupt dieser Dichter vorzugsweise
eine rhetorische Kunst entfaltet. Der Stil der Tragödie, indem er
sich auf einer gewissen Höhe hält, ist doch nicht eintönig. Schon
der Wechsel zwischen erzählenden Partien und lyrischen Gesängen,
zwischen längeren zusammenhängenden Reden der handelnden Per-
sonen und kurzen Fragen und Antworten verleiht der Darstellung
Mannigfaltigkeit. Namentlich die Stichomythie, wo im Dialog Vere
um Vers Rede und Gegenrede auf einander folgen, stellt die Wech-
selbeziehungen der Einzelnen anschaulich dar. Das Gleichmäfsige
thut der Energie der Spannung keinen Eintrag, wie ja dieses Ge-
setz des strengen Parallelismus auch sonst in der Tragödie mafs-
gebend ist. Gewichtige Gnomen, an richtiger Stelle angebracht,
sind in ihrer gedrängten sinnvollen Kürze besonders wirksam; sie
offenbaren nicht nur den Seelenzustand der Sprechenden oder sol-
len auf den anderen Einflufs ausüben, sondern dringen auch in
das Gemüth des Hörers ein und sprechen oft vornehmlich den Grund-
gedanken des Dramas aus.
Die äufsere Ausstattung der Tragödie war diesem idealen Cha-
rakter entsprechend. Die scenische Darstellung verschmäht zwar
nicht die geeigneten Mittel, aber auf Illusion der Sinne war es schon
deshalb nicht abgesehen, weil die dramatischen Aufführungen am
Tage in weiten Räumen unter freiem Himmel stattfanden. Viek-s
bleibt der lebendigen Phantasie des Zuschauers zu ergänzen über-
lassen. Es ist sehr bezeichnend für die Richtung der griechischen
Tragödie, dafs im Laufe der Zeit der äufsere Pomp immer mehr
ermäfsigt wird, nicht aus kleinlicher Sparsamkeit, sondern um nicht
durch l'runk und den Reiz des äufseren Scheines den Sinn von
dem Wesentlichen abzulenken. Die Schauspieler, durch den Kothurn
über das gewöhnliche Mafs erhoben, in würdigen prachtvollen Ge-
wändern aiiftr«'l»MMl, machten schon datliirrli dfn Kimliuck des Feier-
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. EIXLEITUNG. 251
liehen. Da die Frauenrollen von Männern gegeben wurden, da die
Schauspieler sich durchgehends der Masken bedienten, fällt das
Mienenspiel weg , das Individuelle wird ferngehalten , alles trägt ein
allgemeingültiges Gepräge an sich. Die Natur erscheint gleichsam
ideahsirt, wie ja auch der Vortrag auf der Bühne offenbar etwas
Conventionelles hatte. Der Schauspieler mufste laut sprechen . schon
um in dem grofsen offenen Räume sich verständHch zu machen ;
aber selbst bei der Darstellung der leidenschaftlichen Erregung war
die Rede gehalten und würdevoll. Da der Gebrauch der Masken
keinen Wechsel der Gesichtszüge verstattete, so gewannen die Gesti-
kulation und charakteristische Stellungen erhöhte Bedeutung; oft
mag das stumme Spiel, eine sprechende Geberde oder eine bedeut-
same Pause das tiefere Verständnifs des Dichterwerkes wesenthch ge-
fördert haben. Diese lebendigen Bilder der Bühne, welche an die
Gruppen der Sculptur erinnern mochten, verliehen dem griechischen
Trauerspiel etwas entschieden Plastisches.
Die griechische Tragödie wird wegen ihrer vorherrschend idea-
len Haltung immer etwas Fremdartiges behalten. Diese Schlichtheit
wird dem verwöhnten Gefühl der jN'eueren leicht als Armuth und
Dürftigkeit erscheinen. Wie die moderne Kunst eine entschiedene
Richtung auf das Realistische gewonnen hat, so vermag die alte
Tragödie, die das Reale möglichst beschränkt oder ausscheidet, sol-
chen Ansprüchen nicht zu genügen. Der Tadel, dafs hier nicht so
sehr concrete Persönlichkeiten, sondern allgemeine, gleichsam typi-
sche Charaktere vorgeführt werden , ist nicht ganz unbegründet.
Allein man darf den Charakteren der griechischen Tragödie die Natur-
wahrheit nicht absprechen; es sind lebensvolle Gestalten, nur nicht
so individuahsirt, wie es die Vertiefung des modernen ßewufstseins
verlangt.
Die Griechen haben zuerst, ohne durch fremden Vorgang an-
geregt oder unterstützt zu werden , die Tragödie geschaffen und
dieser neuen Kunstgattung eine feste Form und geregelte Oekono-
mie gegeben. Die Kunst der griechischen Dichter ist fähig, auch
im engen Räume ein Ganzes darzustellen, während die Neueren sich
oft ins Weite verlieren und nicht fertig werden können. Trotz der
Beschränkung, welche die antike Kunst sich auferlegt, hat sie Grofses
geleistet und mit mäfsigen Mitteln mächtige Wirkungen zu erzeugen
vermocht.
252 DRITTE PEniODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
In den Anfängen jeder Kunst liegt ein eigenthümlicher Reiz;
in ihnen kündigt sich das bereits im Keime an, was später in Er-
fülhing gehen soll. Wollte man daher die griechische Tragödie auch
nur als Vorstufe für die weitere Entwicklung des modernen Dramas
gelten lassen, so würde der Nachlafs jener Dichter schon darum
des eingehenden Studiums würdig erscheinen, weil sie einen un-
bestrittenen Einflufs auf alle ihre Nachfolger ausgeübt haben, denen
sie recht eigentlich den Weg bahnten. Allein diese Dichter, obwohl
sie einer Epoche angehören, die weit hinler uns liegt, haben Werke
geschaffen, die eine unversiegbare Quelle des edelsten Genusses und
wahrhafter Erhebung darbieten. Mag auch manches nur einem klei-
neren Kreise recht verständlich sein, der sich durch das Fremd-
artige nicht abschrecken läfst, bis zu dem inneren Kerne vorzu-
dringen, so ist doch vieles noch heute ebenso wirksam wie ehedem,
hat eine universelle Bedeutung, einen bleibenden Werlh, über den
die Zeit keine Macht ausübt.
Erste Gruppe.
Die Anfänge der Tragödie
von Ol. Gl bis 69.
Aristoteles klagt, dafs die ersten AnOinge der KomOdiendichtung
sich nicht genau feststellen liefsen ; uns geht es mit den Ursprüngen
der Tragödie nicht viel anders. Während Aristoteles mit seinen Mit-
teln ihre Entwicklung Schritt für Schritt verfolgen konnte, vermögen
wir nicht mehr aus den geringen, unzureichenden , zum Theil sich
widersprechenden Resten aller Ueberlieferung ein nur einigermafsen
klares Bild von den Anfängen und der allmählichen Ausbildung der
Tragödie zu gewinnen.
Tragischen Chören begegnen wir zuerst bei den Doriern in
Korinth und Sikyon. Diese Neuerung wird an den Namen des
Arion angeknüpft, dem dann Epigen es folgte. Allein Arion wird
nur der volksmäfsigen Sitte eine feste Form verheben haben; durch
ihn erhielt diese Weise der Poesie in Korinth zuerst literarische
Ausbildung. Aristoteles bezeichnet ausdrücklich die ersten Versuche
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. ERSTE GRIPPE. DIE A>FÄ>GE. 253
der Tragödie wie der Komödie als Stegreifdichtung.*) Diese müssen
notbwendig über Arion hinaiisreichen. Aber diese Weise wird auch
noch fortbestanden haben, nachdem den Spielen der tragischen Chore
literarische Pflege zu Theil geworden war, und es ist wohl möghch,
dafs in den Anfängen der Kunst ein Dichter zuweilen nur die Chor-
parlien sorgfälliger ausarbeitete und das Uebrige improvisirte. Ein
Chorlied läfst sich nicht aus dem Stegreife vortragen ; es mufs stets
vorher entworfen und eingeübt werden. Die Improvisation kann
sich nur auf die Zwischenspiele beschränken, in denen eben der
Keim der dramatischen Dichtung zu suchen ist.^) Nicht Thespis
hat dieses Element zum ersten Male zur Geltung gebracht, sondern
er fand es bei seinen Vorgängern und hat es nur weiter ent-
wickelt.2)
Die Dithyramben, welche Arien um Ol. 38 in Korinth aufführte,
wurden von einem Satvrchore vorgetragen; hier tritt also die mi-
mische Darstellung unzweideutig hervor. Dieses Kostüm war ganz
angemessen, so lange der Dithyrambus sich auf Mythen aus dem
Kreise des Dionysus beschränkte. Mit diesen Chorgesängen waren
Zwischenspiele verbunden, wo ein Einzelner auftrat, entweder der
Chorraeister selbst oder auch einer der Choreuten.^) Der Eingang,
1) Aristot. Poet. c. 4, 11 p. 1449 A 9. Ebenso Max. Tyr. 37, 4: Ud-r,vaiois
r. na}.aia ftovaa X^Qoi TiaiScov r,aav xal olvSqcÖv .... äattaza qSorrss avxo-
ajcdSta' fisransaovaa d' r,avxyj ini rs^vr^v axo^sazov '/ä.Qiros iv Oicr^i'ij xal
d'eaTQOts xrX.
2] Auch in der Komödie wurden nur die Spottreden improvisirt, nicht
das Phalloslied. Maximus Tyrius geht von einer unklaren Vorstellung aus.
3) Daher sagt Pollux IV 123: ehos S' r^v xQÜ^teta aQ^aia, if^ r;v noo
OsaniSos sh zis avaßas rols xoQsvrais oTtexQivaTO. Der Platonische Minos 321 A,
der die Erfindung der Tragödie für Attika in Anspruch nimmt, rückt sie weit
über Thespis und Phrynichus hinaus. Minder genau drückt sich Diog. Laert.
Ill 56 aus von Thespis: fiövos 6 yoQos StsSgounnyev Aehnlich Athen. XIV 630 G:
awiGTriXS Si xai aaTvQixTj Tiäaa Tioir^aiS xb 7ia?Miov ix xoQÖ)v, cos xai 17
xöxB x^aycoSia' SiÖTXtQ ovSi iTtoxQixaS el^ev.
4) Aristoteles a. a. 0. fülirt die Anfänge der Tragödie auf die i^äoym'XES xov
St&vQafißov zurück; der Vorsänger war in der Regel der Dichter selbst ixogo-
StSaaxa/MS). Suidas dagegen I 1, 716: l^oicuv . . . xai TtQwros xoQov axr^aat xai
Si&vQaiußov äaat xai ovoftäaat x6 aSöftsvov inb xov X^Q^^ ^^^ ^axv^ovS
eiasveyxeiv iuiisioa Xeyovxas. Hier wird die Declamation der Zwischenspiele
dem Gesänge des Chores gegenübergestellt, wohl nicht ganz genau: im Dithy-
rambus scheint erst Krexus von der schlichten Recitation stellenweise Gebrauch
gemacht zu haben. (S. Bd. II, S. 242. 132. 537.)
254 DRITTE PERIODE V0> 500 BIS 300 V. CHR. G.
die Mitte und der Schlufs des Dithyrambus boten dazu die geeig-
netste Stelle dar. Der Vortrag war aber auch hier wohl melisch;
denn diese Partien waren vorzugsweise in trochäischen Tetrametern
abgefafst, und der neckische possenhafte Ton mochte zumeist hier
durchbrechen.')
Auch in Sikyon bestand seit Alters die Sitte, dafs tragische
Chöre am Feste des Dionysus zu Ehren des Gottes auftraten. Hier
aber verliefs man zuerst die herkömmhche Weise, indem man heroische
Stoffe zum Gegenstande der Darstellung wählte und damit dieser
Poesie einen ernsteren Charakter verheb. Wenn man in Sikyon die
Thaten und Schicksale des Adrastus darstellte, so führten wohl poli-
tische Beweggründe zu dieser Erneuerung alter vaterländischer Er-
innerungen, aber eben deshalb trat alsbald der Tyrann Kleisthenes,
der nach Ol. 50 sich der Herrschaft bemächtigte und dieselbe bis
Ol. 67 behauptete, dieser ISeuerung entgegen und führte den tra-
gischen Chor auf seine ursprünghche Bestimmung zurück.®) Es war
wohl der Sikyonier Epigenes'), der zuerst den Kreis der drama-
tischen Stoffe erweiterte*), daher auch später die Sikyonier geltend
machten, bei ihnen sei eigenthch die Tragödie entstanden.") Allein
über diese ersten Versuche sind die Dorier nicht hinausgekommen.
Die selbständige Ausbildung und Vollendung der Tragödie ist ein
ausschliefshches Verdienst der Attiker.
5) Aristot. Poet. c. 4, 14 p. 1449 A 22. Anapästen, besonders aufgelöste,
mögen namentlich beim ersten Auftreten des Chores üblich gewesen sein (Mar.
Viel. II 11, 7 VI 99 K.), wie wir diesen Rhythmus auch im Eingange eines Hypor-
chemcs von Pralinas antrefl'cn.
G) Herodot V 67 : zä xe Sti akka ol ^ixvcövioi irifiatv xov 'AS^tjaxov
yai Sij ti^oS T( nad'ea nvzov xQayixoiai x^Q^lai dyt'^ai^or, xov fikv Jtövvaov
ov xtfitovxBS, xov Se yiS^rjaxor. Kkeiad'ev^e 8i xoQovs fiev T<p Jiovvat^
aTiiSwxe.
7) Suidas {Odanis \ 2, WVl) bezeichnet ihn als Vorgänger des Thespis.
S) Zenobius V 40: t^s ya^ nott'jaecae xu tiqüHxov ix Si&vQÜftßov rijv
xaxtt^Xr^ eiki;yviaS xal xa TiQue xov Jiovvaov ovfjxovxa nQayuaxevofidvTii
^Eniytviii 6 ^ixvojpioe ovx ovxio noi^aae tpcovas xovxov xov Äöyoy OvSey
7i(>is xov Jiüvvaov. Die Thalsache ist gewifs richtig, wenn auch das Sprüch-
wort erst spuler in Attika entstunden ist. (S. S. 2(31 A. 30.)
9) Aribtol. Poet. c. 3 p. 1448 A 29 fr. : Sto xal avxmotovvxai xr^e xe x^ayqi'
Sias xal xtje x(Oft(^hias ol JoiquI* , xr}i fiiv xtufnoSiae ol Meya^is, . . . xai
rfjs xQayi^Sias Cvioi xaJv iv FltkonowTiaoj. Aristoteles denkt dabei aufser
den Sikvoniern wohl auch un die Phliusier.
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. ERSTE GRUPPE. DIE A>FÄ>GE. 255
Der eigentliche Begründer der Tragödie ist Thespis aus Ikaria^"), Tiiespis.
einer kleinen Ortschaft unweit Marathon. Ein näherer Zusammen-
hang mit Epigenes ist nicht wahrzunehmen. Das attische Drama
ist seihständig auf heimischem Boden erwachsen; denn es ist nicht
zufälUg, wenn die Anfänge der Tragödie wie der Komödie gleich-
mäfsig auf Ikaria hinweisen. Denn in derselben Gemeinde ti'at auch
Susarion aus Megara auf, der erste attische Lustspieldichter und
äUerer Zeitgenosse des Thespis. "Weinbau und die Verehrung des
Dionysus bestand in Ikaria, soweit die Erinnerung reichte. Daher
rühmten sich die Bewohner jener Ortschaft, hier habe der Gott den
ersten Rebstock gepflanzt, von hier aus sei diese Cultur über die
Landschaft weiter verbreitet worden. Alte Volkssagen knüpften sich
an das Gedächtnifs des Ikarius, der den Dionysus gastlich bei sich
aufgenommen hatte, und an seine Tochter Erigone an; namentüch
das tragische Schicksal der letzteren wurde in Liedern besungen.")
Mit Reigentänzen und Liedern, mit allerlei Scherzen und Mumme-
reien wurden hier die Feste des Dionysus begangeo.*^) So lag es
nahe, dafs Susarion und Thespis in Erinnerung an die heimische
Sitte diesen mimischen Chortänzeu eine festere Form zu »eben
10) Dem Thespis wird dieses Verdienst nicht mit Unrecht gemeinhin zu-
geschrieben (Dioskor. Anlh. VII 410. 411 = 16. 17 I 2S4 Jac, Hoiaz A. P, 275 f.),
insofern die Tragödie erst jetzt festen Bestand gewann. Suidas 1 2, 1 172 : Oeams
ly.aQiOv nöXscoi ArTiy.rjs , XQayixbs sxxaiSexaros a.710 rov Tiocörov ysvouävov
TQuycoSiOTioiov Emyevovs rov ^txvcoriov Ti&a'usvos, cos St rivts devTSoos fisi^
E7itytvr,v äXloi S' avrov tiqcöxov roayixov yeriad-ai (paaL Dafs man den
Thespis als Nachfolger des Epigenes bezeichnete , der ein Menschenaller früher
lebte, hat Sinn; wenn aber andere ihm die sechszehnte Stelle anwiesen, so
rückten sie offenbar den Epigenes und die Erfindung der Tragödie bis in die
mythische Zeit hinauf. In dem sinnlosen xid-ifievos verbirgt sich wohl der Name
des fabelhaften [Themis, den] Malalas [Chionographia V 60 p. 142 ed. Bonn, an-
führt: ^Ev röii ;|f(>ö»'0ts 8e rois fisra Tr;v aXoxjiv TQoiaS Tia^^ "EXkr,aiv i&av-
/iut,ETO nQwroS Oifiii ovö/jcaif i^vqe yoQ ovros r^ayixas fiskcoSiaS xal «|-
idsro noäroi 8^ä.fj.aru\, also etwa fiexa 0ifi{iv]. Ueber Thespis und die
Anfänge der Tragödie schrieb Chamäleon.
11) Dieses Lied hiefs o/^rts Athen. XIV 61SE.
12) Eratosthenes bei Hygin Astrol. II 1 : 'Ixa^wl, xö&c nQÖixa neoi xqä-
yov ü)Q/r,aavxo. Diesen Vers bezieht Hygin auf die Bacchische Belustigung,
den sogenannten daxcohaofiöe oder Schlauchtanz, der auch in Ikaria nicht ge-
fehlt haben wird. Die Masken, welche man nach alter Sitte zum Gedächtnifs der
Er:gone an Bäumen aufhängte (auch bei den altitalischen Stämmen findet sich der
gleiche Brauch), weisen unzweideutig auf Mummereien und Maskenspiele hin.
256 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
unternahmen. Wie Susarion das Lustspiel schuf, so Thespis die
Tragödie, lag doch in jener Sage von dem Tode des Ikarius und
seiner Tochter etwas Tief-Ernstes. Die Tradition läfst den Thespis
mit einem Karren im Lande herumziehen und seine Maskenspiele auf-
führen.") Darin liegt nichts Unwahrscheinliches ; allein seine eigent-
liche Wirksamkeit gehört Athen an, und er mufs frühzeitig dort
aufgetreten sein. Die Uebeiiieferung, welche Solon diesen Spielen
zuschauen und seine Bedenken über die Zulässigkeit der neuen
Kunstart äiifsern läfst, braucht man nicht als Erdichtung zu ver-
werfen.*^) Ol. 61 ward bereits der Wettkampf für tragische Chöre
eingeführt'*), und Thespis selbst trug, wie billig, bei diesem ersten
Agon den Preis davon. Damals mufs Thespis schon in reiferem
Aller gestanden und den Höhepunkt seiner Kunst erreicht haben;
denn man konnte nicht eher daran denken, Preise auszusetzen, bis
dieses Schauspiel sich in der Gunst des Publikums hinlänglich be-
festigt hatte und auch andere Dichter sich bereits neben Thespis
versucht hatten. Die Stiftung des Agons setzt eine rege dichterische
13) Horaz A. P. 275 ff.: ignotiim tragicae genus invenisse Camenae dicitttr
et plaustris vexjsse poemata Thespis, quae canerent agereiitque penincli f'ae-
ciöus ora, obwohl hier sichtlich die Tradition von dem Ursprünge der Komö-
die eingemischt wird (s. A. 16).
14) Plut. Solon c. 29. Daraus macht Diog. Laert. I 59, Solon habe die Tra-
gödie des Thespis untersagt («ws avcofs?.?; tr^v ^f)sv8o?x>yiav). Die Erzählung führt
auf die Zeit unmittelbar vor der ersten Tyrannis des Pisistratus (Ol. 54), und die
Anfänge der Tragödie können recht wohl in diese Zeit fallen. Plutarch bemerkt
ausdrücklich, dafs damals der tragische Wetlkampf noch unbekannt war.
15) Die parische Chronik Ep. 43 setzt die Einrichtung des Agons in Ol. 61 ;
da der Archontenname halb verwischt ist, läfst sich das Jahr nicht sicher ermit-
teln, aber gemeint ist Ol. 61, 1 — 3, und auch Suidas sagt: iSiSa^s S' ini t^s ^a
^OlvfininSoi. Die lückeniiafte Stelle der Chronik hat man schon verschieden
ergänzt; die Vermulhung iSiSa^B (öQ)ä(fia iv a)ax{si, ist zwar sachlich gerecht-
fertigt, da die städtischen Dionysien für die Tragödie bestimmt waren, ist aber
abzuweisen, weil sie die Schriftzüge des Steines willkürlich abändert. Es ist
zu lesen: 05p' ov Otanis o noiTjxTje (dvixa) jtQwros, oi iSiSn^e%' nA(Xot')» t«»^««,
xai i)ted^ 6 {r)^nyoe (n&Xop) x^oqoI oder x^^V^- ^'^^ Zusatz r^aycoSia bis
ivixa war entbehrlich, weil die Wirksamkeit des Thespis hinlänglich bekannt
war; n^iuroi, nicht nQwxov, denn es war der erste tragische Agon. Die, welche
neben Thespis auftraten, waren sämmtlich Schüler des älteren Meislers; der
wohlerfahrene Balletmeister erlheilte förmlich Unterricht in seiner Kunst, Athen.
I 22A: Ol HQxaioi notrirai Oiams, IJ^arivai, K^arlros, fpfvvixos OQxyjaral
ixaXovfTO Sia ro fii] fiövov xa invrätv SgafiaTa avatpi^etv eis o^x^jatv rov
XOQOv, älln xni £^(0 tmv iÜioiv TTOitjfinran' SiSdaxeti- Toii ßovXoftevovS 6(>xfi<T&ni.
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. ERSTE GRUPPE. DIE AXFÄ.NGE. 257
Thätigkeit voraus. Nach dem Vorgange des Thespis hatten jüngere
Kräfte sich in dieser Richtung gebildet. Pisistratus, der selbst 3Ieister
IQ der Kunst der Verstellung war und an dem neuen Schauspiel
besonderes Wohlgefallen finden mochte, wird den Agon eingerichtet
haben, war doch Pisistratus gegen den Anfang Ol. 61 nach Athen
zurückgekehrt und hatte seine Herrschaft dauernd begründet. Thespis
mag übrigens noch geraume Zeit nach der Einrichtung des tragi-
schen Agons für die Bühne thätig gewesen sein ; wenigstens gilt Phry-
nichus, der zum ersten Male Ol. 67 siegte, als sein Schüler.
Der Dithyrambus, wie alle lyrische Dichtung, konnte den Mythus
nur in erzählender Form darstellen, wenn er auch, indem er die
Handelnden redend einführte und durch andere Mittel nach der
Weise des Epos die Schilderung belebte, [gröfsere Wirkung erzielte].
Erst Thespis legte den Grund zum Drama. Er führte die Handlung
als eine gegenwärtige vor. Der Chor stellte den Vorfall nachahmend
dar; dies war aber nur möglich, indem der Chormeister neben dem
Chore selbständig auftrat. Er sprach den Prolog, um den Zuschauer in
die Handlung einzuführen und alles zum Verständnifs Nothige mitzu-
theilen. Er stellte dann nach einander die hauptsächlichsten Träger
der Handlung dar, indem er bald Entschlüsse und Absichten darlegte,
bald in der Gestalt des Boten einen Vorgang, der sich eben zuge-
tragen, schilderte, dann wieder seine Empfindungen , je nachdem das
Ereignifs ihn freudig oder schmerzlich berührte, aussprach. Wie der
Chor während der Reden des Chormeisters sich ausruhte, so hatte
dieser während des Chorgesanges Gelegenheit, ein anderes Kostüm,
eine andere Maske anzulegen, wenn der Gang der Handlung solchen
Wechsel der Personen erforderte. So konnte eine zusammenhän-
gende dramatische Handlung recht gut durch einen Einzigen dar-
gestellt und durchgeführt werden. Eben zu diesem Behufe hatte
Thespis gleich anfangs den Gebrauch der Masken eingeführt.'®)
In dem Chor war bisher das epische und lyrische Element ver-
einigt. Dieses zwiespältige Wesen hatte etwas Schwerfalliges und
doch Ungenügendes. Jetzt tritt eine zweckmäfsige Sonderung ein.
16) Suidas: TtQtärov fiiv x^iaas rb n^oacoTiov ^tfivd'ic) ir^aytöSr^aev,
sh avS^axvT] iaxänaaev iv t^ irSeixwa&ai. xal ftexa ravx' siar,vsyxs xcci
rrjv rcöv n^occonsicov x^V^^v ^v fiiv^ o&ovt} xaraaxeväaas. Was Horaz Ars
poet. 277 vom Bestreichen des Gesichts mit Hefen erzälilt, ist irrthümlich von
der Komödie auf die Tragödie übertragen. (S. A. 13.)
Bergk, Griech. Literaturgeschichte UL IT
258 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Der Chor beschränkt sich auf sein eigenstes Gebiet des Lyrischen ;
die Darstellung des Epischen Tällt dem Chormeister zu. Aber die
Begebenheit wird nicht nach der Weise des epischen Erzählers als
ein der Vergangenheit angehörendes Ereignifs berichtet, sondern
als etwas Gegenwärtiges dargestellt; unmittelbar vor den Augen der
Zuschauer vollzieht sich die mit dem Scheine sinnHchen Lebens aus-
gestattete Handlung. Mochten auch die ersten Anfänge unvollkom-
men sein, so war doch der Grund zum Drama gelegt.
Jene Sonderung der früher verbundenen Elemente giebt sich
auch äufserlich kund. Die Lieder des Chores wurden nach wie vor
gesungen, mit Musik und orchestischen Bewegungen begleitet. Der
Chormeister begnügt sich mit der schlichten Recitation; aber auch
er bedient sich der gebundenen Rede. Lebhafte Mimik und ent-
sprechende äufsere Ausstattung aller bei dem Spiele BetheiUgten ver-
vollständigten den Eindruck der unmittelbaren Gegenwärtigkeit. Die
wohl meist umfangreichen Reden des Chormeisters") halten zugleich
den Zweck, dem Chore die nüthigen Ruhepunkte zu gewähren**),
obwohl öfter der Chor auch die Rede des Chormeisters mit seinen
ausdrucksvollen Tänzen begleiten mochte. An Abwechselung konnte
es nicht fehlen. Im Prolog wie in den Botenberichten war das
Epische vorherrschend, aber anderwärts mufste die Rede, wenn sie
die strenge Form des Monologes annahm, um eigene Entschlüsse
oder Gefühle darzulegen, sich dem lyrischen Tone nähern. Endlich
setzte sich der Chormeister auch mit dem Chorführer in Verbindung
und wechselte mit ihm Worte.") Mochte auch die Form des Ge-
spräches noch beschränkt sein, so haben wir doch den Anfang des
Dialoges, in welchem der eigentliche Schwerpunkt des dramatischen
Lebens liegt. Die Chorgesänge sind auch bei Thespis die Haupt-
sache. Das Lyrische nahm den breitesten Raum ein, und diese
Lieder wurden meist von lebhaften, ausdrucksvollen orchestischen
17) Es waren längere Reden, ^rjaen, Themisfius or. 26 p. 3S2, IT Dind. :
tÖ fiiv TtQciTOv 6 x^^os eionäv jiSev eis xove &eovs, Siantt Si n^htyöv t«
Kai Qf,civ iisiQsv (s. S. 26!) A. 64).
18) Diog. LaerU HI 56: Giifnts ira vnox^tTtjv i^tv^tr ini^ rot Smra-
naieo&at riv x^föv.
10) Die Gran)inatiker, wenn sie den Ursprung des Wortes imox^xirjw er-
klären, mögen dabei vorzugsweise diese kurzen Wcchselreden im Auge gehabt
haben.
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. ERSTE GRUPPE. DIE A>FÄ>GE. 259
Bewegungen begleitet; denn in dieser Kunst war Thespis Meister.
Noch später erhielten sich seine Tanzweisen in gutem Andenken.*")
Man darf von den Leistungen dieses Dichters, der eigentüch
die Tragödie schuf, nicht zu gering denken. Wie schon Epigenes,
so beschränkt sich auch Thespis nicht auf den Sagenkreis des Dio-
uysus, sondern bearbeitet auch heroische Mythen, wie die Titel seiner
Dramen beweisen.*') Wenngleich noch manches an den scherzhaften
bäuerischen Ton, der bei diesen Spielen hergebracht war, erinnern
mochte"), so mufs doch Thespis vorzugsweise Stoffe ernsteren In-
halts zum Gegenstande seiner Dichtung gewählt haben, und auch
der Sprache wird eine gewisse Feierlichkeit und Würde nicht ge-i
fehlt haben. Natürlich mufste in diesem Falle auch der Satyrchor
seine Maske aufgeben. Wie bedeutend die Wirksamkeit des Thespis in
dieser Beziehung war, sieht man daraus, dafs der Ausdruck Tragödie,
welcher früher auf das Satyrspiel und den hier herrschenden heiteren,
neckischen Ton geht, von jetzt an das ernste Trauerspiel bezeichnet.
Die Stücke des Thespis mögen grofsentheils schon früh unter-
gegangen sein. Man war in jener Zeit nicht achtsam genug, um
Dichtungen, welche nur für einmaligen Gebrauch bestimmt waren,
sorglahig zu erhalteo. Die Arbeiten des Thespis wurden durch die
Leistungen der Jüngeren bald übertroffen und geriethen in Ver-
gessenheit; nur einige Titel und ein Paar vereinzelte Bruchstücke
haben sich gerettet.*^) Um so eher konnte Herakhdes Pontikus wagen,
seine eigenen dramatischen Versuche unter Thespis' Namen zu ver-
öffentüchen.*^)
Der Weise des Thespis folgten zunächst seine Schüler, wie Chöriius.
20) Aristoph. Wesp. 1479, wo Tjytovi^eTO wörtlich zu verstehen ist.
21) Suidas verzeichnet vier Dramen: Z4d'Xa IleXiov r; 06oßas, 'le^els,
^Hi&eoi, nev&evs,
22) Dioskorides Anth. P. VII 411 = 17 I 248 Jac. : OiantSos evQsua rovro ■
To S' ay^oicärtv dv' vlav Tiaiyvia xai xa/iovi rotaSe xeXeiore^ovs AtaxiXoi
itvrpwae. Vgl. auch VII 410 = 16 I 248 Jac.
23) Man kannte wohl nur die Titel der Stücke, die Thespis seit Ol. 61
aufgeführt hatte; denn vor dem Agon wird man schwerlich an didaskalische
Aufzeichnungen gedacht haben. Die wenigen Verse, welche die Grammatiker aus
Thespis beibringen, darf man nicht deshalb verdächtigen, weil sie bereits das
Mafs des Trimeters haben.
24) So berichtet Aristoxenus, sein Zeitgenosse, bei Diog. Laert. V 92.
Einem solchen gefälsehten Drama gehören die anapästischen Verse an, welche
Clemens Aleiandrinus Str. V 570 aus Thespis beibringt.
17*
260 DRITTE PERIODE V0> 500 BIS 300 V. CHR. G.
Chörilus aus Athen, der zum ersten Male Ol. 64 sich am tragischen
Agon betheihgte.'") Ol. 70 trat er zugleich mit Aeschylus und Pra-
tinas auf, Ol. 74 mit Phrynichus*®); ja, er scheint sogar noch das
Auftreten des Sophokles Ol. 77, 1 erlebt und mit ihm um den Preis
gekämpft zu haben, so dafs er mehr als fünfzig Jahre für die Bühne
thätig war. In diesem langen Zeiträume hat die Tragödie mehr-
fachen Wandel erfahren. Auch Chörilus mufste davon berührt wer-
den. Zunächst brachte Pratinas das alte Satyrspiel wieder zu Ehren
und wies ihm neben der Tragödie eine selbständige Stellung an.
Chörilus schlofs sich offenbar der Neuerung seines Kunstgenossen
sofort an und mufs auch mit seinen Salyrdramen bei den Zeit-
genossen reichen Beifall eingeerntet haben.*'^ Chörilus war ein
fruchtbarer Dichter; allein die üeberlieferung, welche ilim 160 Stücke
beilegt, verdient keinen Glauben.'") Auch seine Arbeiten , die den
Anforderungen einer vorgeschrittenen Zeit nicht mehr recht genüg-
ten, geriethen bald in Vergessenheit.'^)
Die neue Form der tragischen Chöre, welche Thespis und seine
25) Suidas unter Xoi^iXos II 2, 1691. Damals war Tliespis wohl noch am
Leben.
26) Ol. 70, s. Suidas ÜQaxivae 11 2, 401. In Ol. "4 erwähnen den Chörilus
wenigstens Cyrillus adv. lulian. I p, 13 B ed. Paris 1638 und die Chronographen;
mit Sophokles verbindet ihn die Biographie des Sophokles: avvrjyorviaaTo S^
Alax'i^Xcf xal EvQtniSri xai XoiQiXfo xai läQiariq, dagegen die Bemerkung
des Suidas ^o<poxXr]S II 2, 838 . . . nQoe Oianiv xai XoiqIXov aycovt^ö/uero: ist
nicht wörtlich zu verstehen.
27) Darauf zielt der Vers eines unbekannten Komikers: rjvixa fiev ßaai-
Xsve Tjv XoiQiXoe iv aarvQon (Photius 3, 32).
28) Tragödien wurden damals nur an den grofsen Dionysien aufgeführt.
Die Tetralogie war noch unbekannt; jeder Dichter gab nur ein Stück, später
zwei (eine Tragödie nebst Salyrspiel). Es ist wohl 62 [s^iptovxa xai ß'\ zu
lesen, die sich passend auf einen Zeitraum von 50 Jahren vertheilen; auch
erscheint dann die Zahl von dreizehn Siegen angemessen.
29) Genannt wird nur A\f^AX6nr] (Pausan. I 14, 2), offenbar eine der späteren
Arbeiten, da sich schon im Titel der Einflufs des Phrynichus zeigt. Die geringen
Stilproben, die uns erhalten sind, wie wenn er die Steine Gebeine der Erde
(oaxä yr}«) oder die Flüsse Adern der Erde [fXsßes yrfi) nannte, verrathen
Vorliebe für bildlichen Ausdruck und jene unbewufste Poesie, wie sie der volks-
mafsigen Sprache eigen ist. Wenn der Komiker Alexis (.\lhen. IV 164 C) die litera-
rischen Schätze einer Bibliothek aufzählt und auch den Chörilus nennt, ist sicher-
lich nicht an den Tragiker, der damals längst verschollen war, sondern an den jün-
geren Epiker dieses Namens zu denken (s. Bd. II S. 4SI A. IM; und die anogiiftara
XoiQikov von Aristoteles fr. p. 1468B gehen wohl gleichfalls auf den Epiker.
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. ERSTE GRUPPE. DIE A>FÄ>GE. 261
Schüler eiDgeführt hatten, erfreute sich günstiger Aufnahme, aber
man fand doch, dafs die Beziehung auf den eigenthchen Anlafs all-
zu sehr zurücktrat. Indem Thespis bemüht war, die neue drama-
tische Dichtung in jeder Weise würdig auszustatten, indem er in
der Auswahl wie der Behandlung der Mythen das Niedrige und Possen-
hafte möghchst fernzuhalten suchte, erregte dies Anstofs und schien
zu der hergebrachten Weise der Dionysischen Festlust nicht recht zu
passen.**) Die Macht der Gewohnheit war zu grofs; man mochte
nicht gänzhch auf das satyrhafte, burleske Element Verzicht leisten.
Diesem Verlangen kam Pratinas entgegen. Pratinas aus Praiina».
Phhus mag als lyrischer Dichter zuerst in seiner Heimath und in
anderen Städten des Peloponnes aufgetreten sein; später wählte
er Athen zu seinem bleibenden Aufenthalte. Ol. 70 tritt er zusam-
men mit Aeschylus und Chörilus auf. Da Ol. 78, 1 sein Sohn ein
Satyrspiel aus des Vaters Nachlasse zur Aufführung bringt, wird
er nicht lange vorher gestorben sein.^') Der Beginn seines Wirkens
in Athen fällt sicherlich geraume Zeit vor Ol. 70. In PUius, wo
der Dionysusdienst eine hervorragende Stelle einnahm, war wohl
das Chorspiel der Satyrn gerade so wie in dem benachbarten Sikyon
eine seit Alters beliebte Volkslustbarkeit. Pratinas wird schon in
seiner Heimath als Chormeister sich in dieser Gattung versucht haben,
und als ihm in Athen gestattet ward, ein solches Maskenspiel auf-
zuführen, fand die ursprüngUche, kräftige Weise des dorischen Chor-
dichters, das groteske Wesen und der bäuerische Ton der Satyrn
Anklang.") Pratinas kam eben nur einem längst gehegten Wunsche
30) Dieser Vorwurf ist in dem bekannten Spnichverse ovSev npos xov
Jiöwaov aasgesprochen, der eben gegen Thespis und seine Schule gerichtet
war, wie Chamäleon berichtet, s. Photius s. v. (SuidasII 1, 1202): rb nQÖa&Bv
tlt xov Jiovvoov yoäfovrsi rovrois riyo}vit,ovro, oltieq xal ^axvQtna ile'yero'
laregov 8e f/sTaßdvrse eis ro tQayojSias y^a^eiv xara fiix^bv eis /iv&ovs
xai laro^ias är^Ttr^oav, (irjxsri roT d'eov ftvr,fiovevovT:£S. od'sv xai i7Ts<pa:-
VTjaav' xai Xa/iatXiiov iv r^ Tzsoi OeoTtiSoä rä na^aTikr^aia laxoQsl. Andere
brachten die Entstehung des Spruches mit Epigenes in Verbindung; allein in
Sikyon erregte diese Neuerung im Volke gewifs keinen Anstofs. (S. S. 254
A. S.) Der Vers wird Attika angehören und mag aus einer gleichzeitigen Ko-
mödie stammen. Minder passend bezieht Plutarch Qu. Symp. I 1, 5 den Vers
auf Phrynichus und Aeschylus.
31) Pratinas hat also die Einführung der Tetralogie noch erlebt; ob er
selbst sich der Neuerung anschlofs, ist unbekannt.
32) Dioskorides Anth. VII 37 = 28 I 252 Jac. rühmt von Sophokles, er habe
^62 DRITTE PERIODE V0.>' 500 BIS 300 V. CHR. G.
entgegen. Aber auf das ernste heroische Drama mochten die Athe-
ner nicht verzichten. Um jedem Ansprüche zu genügen, traf man
die Einrichtung, dafs jeder Dichter fortan eine Tragödie und ein
Satyrspiel aufführen sollte.^) So vollzog sich die strenge Scheidung
des tragischen und des satyrhaften Elementes. Die Tragödie ward
nicht verdrängt oder beeinträchtigt, sondern konnte erst von jetzt
an ihr höheres Ziel unbeirrt verfolgen. Aber auch das altherge-
brachte Satyrspiel kam wieder zu Ehren. Eben in dieser Gattung
bewährte Pratinas seine Meisterschaft. Er verstand vortrefflich den
bizarren, scherzhaften Ton zu treffen, der diesem volksmäfsigen Schau-
spiele eigen war. Aber er hat auch daneben Tragödien gedichtet, in
denen ausdrucksvolle Tanzweisen nicht fehlten.^^) Sonst wissen wir
über seine dramatischen Arbeiten nichts Näheres; denn bei der Fülle
der Produclionen fand auch Pratinas, da selbst auf seinem eigensten
Gebiete, dem Salyrdrama, vollkommen ebenbürtige Mitbewerber auf-
traten, später keine Beachtung mehr.'')
den Satyr rov ix 0hovvroe iri rqißoXov narsovra TtQivivov is ;u(>i;ffeof ax^fta
fiE&TjQiioaaro , und VII 707 = 29 I 252 Jac. von Sositheus: ixiaaofOQriae ya^
(ovrjQ (i^ia <t>Xiaai{ov val fin x^^ovs ^aTv^av; dann wird besonders Iiervorjje-
hoben,- wie dieser jüngere Dichter wieder zu der Weise des alten Satyrdramas
{xal Ttäliv eioatQftTjari rov ägaeva Jto^iSt Movffi] QX'd'fibv xrX.) zurückge-
kehrt sei. (S. S. 242 A. täU, S. 243 A. 156.)
33) Dieser Vergleich konnte natürlich nur im vollen Einverständnisse mit
den damals in Athen thätigen Dichtern zu Stande kommen; und wir wissen
ja, dafs Chörilus erfolgreich im Satyrspiel mit Pratinas wetteiferte. Aber dem
Pratinas kommt das Verdienst dieser Neuerung zu. daher Suidas II 2, 401 von
ihm sagt: xni i'ygaxfe TiQcärot üaivQovi. Die neue Einrichtung, wodurch die
Zahl der Stücke verdoppelt ward, bezeugt Zenobius V 40: Bio yovv rovro zois
SarvQOvs vaxeQov i'So^ev avrole jiQoeiaäyeiv, tva /urj Soxcäaiv dntXard'avea&nt
tov d'eov (wenn nicht UQoasiaäyeiv richtiger ist). (S. S. 236 A. 125.)
34) Athen. I 22 A. Suidas legt ihm 50 Dramen, darunter 32 (eine Hdschr.
30) Satyrstücke bei; man hat die Zahl 32 in 12 verändern wollen, indem man
irriger Weise die Form der Tetralogie voraussetzte. Pratinas wird anfangs
nur Satyrdramen gedichtet haben, dann immer eine Tragödie mit einem heile-
ren Nachspiele; so erscheint das Verliältnifs der Zahlen ganz angemessen. Nach
Suidas hat Pratinas nur einmal den Sieg erlangt. Dies klingt bei einem so
namhaften Dichter und der mäfsigen Zahl begabter Mitbewerber sehr anwahr-
scheinlich; es wird la zu lesen sein.
35) Wenn das längere Bruchstück bei Schol. Soph. Oed. Kol. 1375, wo der
Fluch des Oedipus in parodischer Weise behandelt wird, dem Pratinas gehörte,
künnt:?n wir einigermafscn eine Vorstellung von seiner Art gewinnen. Aber
Versbau und Sprache scheinen auf eine jüngere Zeit hinzuführen; vielleicht sind
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. ERSTE GRUPPE. DIE ANFÄNGE. 263
Dagegen seinen lyrischen Poesien that die grofse Zahl berühm-
ter Namen, welche diese Blüthezeit der L)Tik hervorbrachte, keinen
Eintrag, und diese Auszeichnung war eine wohlverdiente, wenn
schon vorzugsweise Gelehrte, welche die historische Entv^icklung der
Musik und Dichtkunst verfolgten, diese Poesien beachteten. Denn
Pratinas war mit der Geschichte seiner Kunst wohl vertraut. Er
hielt an dem strengen Stil der älteren Zeit fest; die Neuerungen,
welche durch Lasus in der Musik aufkamen , waren ihm verhafst.
So hatte er geeigneten Anlafs, in seiner männhchen freien Weise
seine Ansichten über die Aufgaben der Kunst auszusprechen und
dabei auch der alten Meister, an denen er mit liebevoller Pietät
hing, zu gedenken. Der noch erhaltene Eingang eines Tanzliedes
veranschauHcht am Besten die Art des reichbegabten Dichters.^) Ein
Hauch Dionysischer Begeisterung durchweht diese Verse; die reiche
Mannigfaltigkeit der metrischen Formen und die klangvolle, glänzende
Sprache harmoniren aufs Schönste. Hier macht eben Pratinas seinem
Unmuthe Luft und beklagt, dafs die Musik sich nicht mehr wie
früher dem Dichterworte unterordne, dafs die rauschenden Töne
der Flöte eine Herrschaft ausüben, die ihnen nicht gebühre.")
Ein Zeitgenosse des Pratinas war Phrynichus, der Sohn Phrynicho«.
des Polyphradmon aus Athen ^), unter den Vorgängern des Aeschy-
lus unstreitig der bedeutendste. Ol. 67 gewann er seinen ersten
Sieg.*') Sein historisches Drama, die Eroberung Milets durch die
die Verse einem Dichter der mittleren Komödie , wie Antiphanes, zuzuweisen.
Auf keinen Fall können sie von Timon aus Phlius herrühren; denn ein Lese-'
drama aus alexandrinischer Zeit konnte hier nicht erwähnt werden.
36) Man würde das Gedicht für einen DithjTambus halten, wenn es nicht
von Athenäus XIV 617 C ausdrücklich als Hyporchem bezeichnet würde. Ob es
für Athen bestimmt war, ist ungewifs. Ein Hyporchem (nicht , wie man ver-
muthet hat, ein dramatisches Gedicht) waren wohl auch die Jifiaivat ij Ka^vä-
■ztSes (Athen. IX 392 F), wahrscheinlich für eine peloponnesische Stadt gedichtet.
37) Dafs diese Polemik hauptsächlich gegen Lasus und die, weiche sich
dieser Richtung anschlössen, gerichtet ist, sieht man aus Flut, de mus. c. 29.
38) Irrthümlich unterscheidet Suidas II 2, 1555. 1556 (Eudocia) zwei "tragiker
dieses Namens. Dafs der Vater Polyphradmon hief», wird daduich bestätigt, dafs
der Sohn des Phrynichus den gleichen Namen führte, vgl. auch Pausan. X 31,4.
Der Tragiker Phrynichus wird nicht selten mit anderen gleichen N'amens (ein
Ballettänzer, ein komischer Dichter, ein athenischer Feldherr, sämmtlich jünger
und der Zeit des peloponnesischen Krieges angehörend) verwechselt.
39) Vielleicht trat er damals überhaupt zum ersten Male auf. Dals iha
Suidas einen Schüler des Thespis nennt, ist damit wohl vereinbar.
264 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CUR. G.
Perser, mufs unter dem frischen Eindrucke dieser Ereignisse Ol.
71, 3 geschrieben sein. Ol. 74 mag er mit Chürilus um den Preis
gerungen haben.^°) Ol. 75, 4 gewann er wieder den Preis*'), wahr-
scheinhch mit den Phönissen. Er starb, wie es scheint, in Sicilien,
wohin er wohl in Folge einer Einladung des Hiero sich begeben
hatte.^^) Phrynichus geht immer mehr darauf aus, der Tragödie einen
würdigen Inhalt zu geben ; die Trennung der Tragödie vom Satyr-
drama, die sich eben damals volhog, war diesen Bestrebungen gün-
stig. Phrynichus begnügt sich nicht, die altbekannten und liebge-
wonnenen Stoffe, welche die epischen und lyrischen Dichter schon
oft behandelt hatten, in der neuen Form, die sie erst recht wirksam
machte, vorzuführen"^), sondern er betritt eine ganz neue Bahn,
indem er Ereignisse der unmittelbarsten Gegenwart, wie den Fall
Milets, auf die Bühne brachte. Es war ein kühnes, ganz durchaus
von dem Herkönimhchen abweichendes Unternehmen. Erleichtert
wurde das Wagnifs dadurch, dafs eben der dramatischen Handlung
nur mäfsiger Raum vergönnt war und das Lyrische vorwaltete. Mit
seinen reichen künstlerischen Mitteln konnte der Tragiker hier um
so mächtiger auf das Gefühl einwirken, je näher das traurige Schick-
sal der stammverwandten Milesier das attische Publikum anging, und
der Erfolg entsprach vollkommen den Intentionen des Dichters; keiner
blieb ungerührt. Aber nicht deshalb wurde Phrynichus mit einer
40) "Wenigstens verzeichnet ihn Cyrillus adv. lulian. I p. 13B ed. Paris 1G38
unter dieser Olympiade mit Chörilus (s. S. 260 A. 2fi).
41) Themistokles war damals sein Choreg, Plut. Themist. c. 5.
42) Dies geht aus der lückenhaften Stelle ne^i xcafitpSiae HI 10 hervor:
<pQvvixo€ . . . fQÜSfxovoe t'&avev ip ^ixeXiq , wo offenbar neben dem Komiker
auch der Tragiker und sein Tod erwähnt war; der Epitomator zog dies un-
verständig zusammen. Hiero starb Ol. 78, 2 ; Phrynichus war wohl schon Ol.
78, 1 todt, als sein Sohn Polyphradmon neben Aeschylus auftrat. Nach Aelian
V. H. III 8 ward Phrynichus von den Athenern zum Feldherrn erwählt wegen
des Beifalls, den die kriegerischen Gesänge fanden, die er in einer Tragödie
für einen Pyrrhichistenchor gedichtet halte. Dafür liefse sich der analoge Fall
aus dem Leben des Sophokles anführen; nur ist Aelian ein gar unzuverlässiger
Gewährsmann. Möglicher Weise liegt eine Verwechslung mit dem athenischen
Strategen Phrynichus zu Grunde, vgl. Schol. Aristoph. Ran. 085, wo rirta .1«
rovrov xtofitxov noirjrriv Xe'yovaiv in r Qnytxov zu verbessern ist.
■V.i) Plutarch Ou. Symp. 11,5 stellt den Phrynichus hinsichllicii ilie»er
Bestrebungen auf gleiche Stufe mit Aeschylus: <P^vrixov xal ytia^vlov jijv
t^ayt^Blav eis fin&ove xai na&rj ji^oayvpTO>f,
DIE DRAM.\TISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. ERSTE GRUPPE. DIE A>FÄ>GE. 265
Geldbufse belegt und die Wiederaufführung seines Stückes unter-
sagt*^); denn er hatte ja nur der höchsten Aufgabe des Dichters
genügt, sondern aus poUtischen Gründen, hatten doch die Athener
theilnahmslos die lonier in dem Kampfe gegen die Perser ihrem
Schicksale überlassen, und das Gewissen manches hochgestellten und
einflufsreichen Mannes mochte durch die Erinnerung an seine Ver-
schuldung sehr unangenehm berührt werden. Jene Kränkung hielt
jedoch den Phrynichus nicht ab, später den Versuch zu erneuern,
und die poetische Verherrlichung des Sieges der Hellenen über die
Perser in den Phönissen, gewissermafsen das Gegenbild der früheren
Tragödie, war eine so dankbare Aufgabe, wie sie die Gunst des
AugenbHckes nicht häufig dem Dichter gewährt. Auch hatte Phry-
nichus hier keinen Anstofs zu befürchten.
An dem jungen Aeschylus, mit dem der anerkannte Meister
noch längere Zeit einträchtig zusammenwirkte"), fand er einen
gleichgesinnten Bundesgenossen'; war doch genügender Raum für
zwei Dichter vorhanden, die sich nicht sowohl ausschlössen, sondern
ergänzten. Phrynichus war eine sinnige, mehr weibliche Natur,
daher er auch zuerst Frauenrollen einführt.^®) Das grossartige, männ-
liche Pathos, die Gedankentiefe des Aeschylus hat er nicht erreicht,
44) Herodot VI 21: 7ioiT;aavTi <P^vixcp Sqäfia MiXt^tov aXcoaiv xai 8i-
Sä^avTi es SäxQva re Mneae t6 d'erjr^ov, xai e^Tjfiioiaav jutv tos avauvri-
aavxa oixTiia xaxa x^kifiOi S^äxf-riai., xai irciia^av ftr^xeti ftjjSiva xoäa&ai
rovicp z(p Sqäfiari. Strabo XIV 7 p. 635 berichtet dasselbe nach Kallisthenes.
Ammian. Marc. XXVIII 1, 4 berichtet, anfangs habe das Publikum den Dichter
wohlgefällig angehört, dann aber laut seinen Unwillen geäufsert: arbitrati non
eonsolandi gratia, sed probrose monendt, quae pertulerat amabilis civitas,
nulUs auctorum adminieulis fulta, hos quoque dolores scenicis adnumerasse
fabulis insolenter. Und auch der Schol. Aristoph. Wesp. 149U läfst den Dich-
ter mit seinem Stücke durchfallen. Diese Tragödie ist wohl frühzeitig ver-
schollen; nicht einmal der Titel steht fest. Als Milr^ov alcoais vfird das Stück
von Plutarch praec. reip. ger. IT, 9 und anderen, die den Herodot ausschreiben,
benannt. Man würde aber eher MiXtjtov ne^ais erwarten, vielleicht aber hiefs
es ne^ai; unter diesem Namen führt Suidas ein Stück des Phrj-nichus auf.
45) Würdig und voll Anerkennung spricht sich Aeschylus über sein Ver-
hältnifs zu Phrynichus bei Aristophanes Frösche 1299 aus, während Euripides
ebendaselbst 910 auf seine Weise als einen überwundenen Standpunkt gering-
schätzig herabsieht.
46) Suidas II 1, 1555: ngcHroe 6 <P^vixoe ywauceXov nQoaconov eia^yayev
iv T5 axrjv^. Die Titel seiner Dramen 'yiXxTjarii, 'AvS^ofiiSa, ^Hqiyüvr], nXev-
^wftai, JavatSei, ^oivKjaai bestätigen dies.
266 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
aber die wecliselvollen Geschicke des Menschenlebens in ergreifen-
den Bildern vorzuführen und Iheilnehmende Empfindungen wach-
zurufen verstand Phrynichus wie kein anderer. Welche Macht er
über die Gemüther ausübte, wie er die Zuhörer bis zu Thränen
rührte, beweist der Erfolg seines ersten historischen Dramas. Daher
tritt auch die Handlung bei ihm noch mehr als bei Aeschylus zu-
rück; dem Chor fällt die Hauptthätigkeit zu. Dafs übrigens Phrv-
nichus die Bedeutung des dramatischen Elementes wohl erkannte,
sieht man aus der bevorzugten Stelle, welche er dem iambischen
Trimeter zuwies.^') Aber seine Stärke liegt in den lyrischen Ge-
sängen, welche durch vollendete Kunst ausgezeichnet waren.'") In
dieser Beziehung steht er dem Aeschylus durchaus ebenbürtig zur
Seite, wenn auch seine Weise von der des jüngeren Tragikers wesent-
lich verschieden war."') Innigkeit und eine gewisse milde Anmuth,
die keiner der Späteren wieder erreicht, war den melodischen, klang-
vollen Liedern des Phrynichus eigen, daher diese lieblichen, wohl-
lautenden Weisen sich lange Zeit in frischer Erinnerung behaupte-
ten."^) Unterstützt wurde die Würde der Chorgesänge durch lebhafte
charakteristische Tanzweisen ; denn auch hier bewährte der Dichter
seine Meisterschaft, wie er selbst nicht ohne Befriedigung hervor-
hebt.'') Als Aeschylus die neue tetralogische Form einführte, schlofs
47) Suidas sagt zwar: xat svqstt^s xov xexQafiitQOv iyevexo. Dies ist ent-
schieden unrichtig; denn der trochäische Tetrameter war ja gerade in der alten
Tragödie vor Phrynichus das vorherrschende Versmafs; es ist t Qi^ir qov zu
lesen. Eingeführt hat diesen Vers in die Tragödie schon Thespis ; er wird ihn
namentlich in den Prologen gebraucht haben, aber erst durch Phrynichus gelangt
der Trimeter zur Herrschaft.
48) Aristot. Probl. 19, 31 p. 920 A 11: Jta li oi neql 'Pqvvixov ricav
fiäXXov fisXojtotoi ; Tj Sta ro noXXanXäaia elvai rore ra ftiXr] rtär fiixQtav
iv rnlt TQay^Slate; (die Stelle ist unvollständig ilborliefort).
49) Aeschylus deutet selbst darauf hin Aristoph. Frösche 1299. So ge-
braucht Phrynichus in der Parodos der Phönissen die enkomiologische Vers-
art, die Aeschylus nur im Prometheus anwendet.
50) Aristophanes' Komödien bieten dafür geeignete Belege dar.
51) S. das Distichon des Phrynichus bei Plut. üiiaest. Symp. VIH 9, 3, 10,
wohl aus der Grabschrift, die der Dichter für sich selbst entworfen hatte. Daher
Schol. Aristoph. Frösche tiSS: y.ivovfiirovs rovt xoQoie eiar;ye xrä irnXaiotTas;
letzteres ^thi wohl speciell auf das Drama 'j4rTnioi. Aelian V. H. III b spricht
sogar von einem Pyrrhichistenchor in einer Tragödie. So lag auch die Ver-
wechselung mit dem jöngeren Ballettänzer gleichen Namens sehr nahe.
DIE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. ERSTE GRLPPE. DIE ANFÄNGE. 267
sich auch Phrynichus ihm an.") Der scherzhafte Ton des Satyr-
dramas sagte wohl dem Phrynichus weniger zu; in dieser Gattung
blieb er hinter Pratinas und Aeschylus zurück.") Ueberhaupt fan-
den die Arbeiten des Phrynichus bei den Späteren nur geringe Be-
achtung.*^) \Me Pratinas, so war auch Phrynichus als melischer
Dichter thätig."*)
Phrynichus und Pratinas hinteiiiefsen Erben ihrer Kunst. Poly- Poiyphra-i
phradmon, des Phrynichus, und Aristias, des Pratinas Sohn, treffen """"^
wir Ol. 78. 1 im tragischen Wettkampfe neben Aeschylus*®); beide
folgten wohl den Fufstapfen ihrer Väter. Von dem ei'steren wissen
wir nur, dafs er eine Tetralogie, die Lykurgie, zur Aufführung brachte.
Aeschylus hat ebenfalls eine Lykurgie gedichtet. Für einen jungen Dich-
ter, der seine Kräfte wohl noch nicht ausreichend erprobt hatte, wäre
es ein gefahrvolles Wagnifs gewesen, sich mit dem grofsartigen Dichter-
geist des Aeschylus auf demselben Gebiete zu begegnen ; wahrschein-
lich hat Aeschylus erst später diesen Stoff von neuem bearbeitet.")
Etwas genauer sind wir über Aristias unterrichtet. Ob- Aristiaa.
wohl wie sein Vater für die attische Bühne thätig, mufs er doch
seiner Heiraath sich nicht gänzlich entfremdet haben; wenigstens
zeigte man noch später auf dem Marktplatze zu Phhus sein Grab-
52) Denn dafs dieser Fortschritt dem Phrynichus verdankt wurde, ist
eine völlig grundlose Hypothese der neuesten Zeit.
53) Auf tetralogische Form weisen die Titel Ai/vitriot und JavatSei
hin, die offenbar zusammengehören ; sonst aber ist es mifslich, aus den wenigen
uns überlieferten Titeln Combinationen über tetralogische Composition aufzu-
stellen. Der l^vraios war wohl ein SatjTStück.
54) Suidas macht nur neun (elf) Dramen des Phrynichus namhaft, der
offenbar weit mehr geschrieben hatte. Ob das Schicksal des Troilus in einer
Tragödie oder in einem lyrischen Gedichte vorkam, ist unsicher.
55) Erwähnt wird ein Hymnus auf Athene, ein Päan; ebenso hat Phry-
nichus nach Suidas II 2.1556 Gesänge für Chöre der Pyrrhichisten verfafst, die
jedoch Aelian V. H. IH S einer Tragödie zuweist.
56) Die Didaskalie der Sieben des Aeschylus: {^iax^los) ivixa..., Sev-
teQos l^oiariai negael, Tavrä^M, UalataraTs aarv^ixoTi toIs Iloaxtfov na-
TQos (hier ist offenbar der Name der dritten Tragödie ausgefallen), roiros IIoXv-
ifoäBficov ytvy.QvQyeiq ieToa^j)yiq.
57) Freilich könnte man vcrmuthen, dafs hier eben die Lykurgie des
Aeschylus zn verstehen sei und dafs Polyphradmon für den Verfasser nur die
Einübung des Chores unternahm. Da Aeschylus mit einer Tetralogie den ersten
Preis erhalten hatte, konnte er sich wohl für die zweite die dritte Stelle ge-
fallen lassen.
268 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
mahl.^) Aristias war besonders in Satyrdramen glücklich ; seine Lei-
stungen in dieser Gattung wurden denen seines Vaters und des
Aeschylus zur Seite gestellt.'^)
Die tragischen Chöre, welche zu Korinth die Dithyramben des
Arion vortrugen, zeigen die ersten Anfänge des dramatischen Ele-
mentes. Indem der Sikyonier Epigenes zur heroischen Sage über-
geht, ward durch die Einführung des profanen Elementes das Schau-
spiel nicht sowohl verwelthcht, sondern gewann einen ernsten Cha-
rakter. Indem die Thaten und erschütternden Schicksale der idealen
Gestalten aus der alten Sagenwelt dargestellt wurden, geht ein
schmerzlich- wehmüthiger Ton hindurch. Trauergesänge, welche an
die volksmäfsige Weise der Todtenklage erinnern, sind ein charakte-
ristisches Merkmal der alten Tragödie, wie dies noch die Dramen
des Aeschylus bezeugen.®") Dem Vorgange des Epigenes schlofs sich
Thespis in Athen an um Ol. 54. Aber erst Ol. 61 mit der Einsetzung
eines Wettkampfes für tragische Chöre durch Pisistratus beginnt die
Geschichte der dramatischen Poesie"), und die Tragödie selbst gewinnt
eine festere Form.") Man wählt mit Vorliebe bedeutende, würdige
58) Pausan.ll 13, 6.
59) Pausan.ll 13, 6. Auch die noch erhaltenen Titel und Bruchstücke des
Aristias deuten vorherrschend auf Satyrdramen hin.
60) Gewisse religiöse Culte boten Analogien dar, wie die Trauergesänge für
Leukothea. Merkwürdig ist besonders, dafs in alter Zeit die Megarenser, ent-
sprechend dem abhängigen Verhältnisse ihres Gemeinwesens von Korinth, jedem
Verstorbenen aus dem Geschlechte der Bacchiaden betrauern mufsten. Der Ur-
sprung der Sitte wird darauf zurückgeführt, dafs ein korinthischer Fürst aus
jenem stolzen Geschlechte mit einer megarischen Frau sich vermählt halte;
nach ihrem Tode sandten die Megarer einen Chor von fünfzig Jünglingen und
Jungfrauen nach Korinth, um die Königin zu betrauern, und dies ward alijähr-
lich wiederholt, s. Bekker An. I 281 und die Parömiographen II 1S8 unter Mcya-
^iav ScutQva, obwohl dieses Sprüchwort auch auf andere Weise erklärt ward.
61) Bis auf Ol. 61 gingen wohl auch die urkundlichen Aufzeichnungen,
die sogenannten Didaskalien, zurück.
62) Die Anfänge der Tragödie schildert in kurzen, aber klaren Umrissen
Aristoteles Poet. c. 4, 12 fr. p. 144!) A U fT Der Philosoph hat dabei nicht blofs
den verhältnifsmäfsig kurzen Zeitraum der attischen Tragödie von Thespis bis
auf Aeschylus im Auge, sondern auch was darüber hinausliegt; daher führt er
den Ursprung auf Improvisationen (avioaxsSinaxixij ß(>;f»j), auf die Vorsänger
des Dilh;-rambns, zurück, hebt hervor, dafs die Tragödie sich allmählich ent-
wickelt (xaTrt fiixQov r/v^^&T] TXQonyövxoiv xiX) und vielfachen Wandel er-
fahren (nolkas fiB-raßokai fitjaßalovaa inavaqjo).
I>IE DRAMATISCHE POESIE. DIE TRAGÖDIE. ERSTE GRIPPE. DIE ANFÄNGE. 269
Stoffe, und damit stellt sich auch ein feierhcher, pathetischer Stil
ein, wennschon es geraume Zeit dauerte, ehe man der altherkomra-
üchen Weise sich völhg entledigte.") Eingedenk der urspriingüchen
Bestimmung sang der Chor, wenn er die Orchestra betrat, zuerst
einen Hymnus auf Dionysus.®^) Diese Sitte kam wohl erst ab, nach-
dem der Dithyrambus neben der Tragödie wieder eine selbständige
Stellung gewann; aber selbst bei den jüngeren Dichtern hat sich
noch die Erinnerung an jenen Brauch erhalten.")
Indem das neue Maskenspiel immer mehr einen ernsten Charak-
ter annahm, drohte das alte Satyrdrama, welches bereits seinen Namen
an die neue Gattung abgetreten hatte, gänzHch zu verschwinden.
Da trat Pratinas in Athen auf, bewirkte die Sonderung der Tragödie
und des Satyrspiels und wies jedem seine gebührende Stelle an. So
gewann das Schauspiel eine bedeutende Erweiterung, indem jeder
der drei concurrirenden Dichter zwei Stücke zur Aufführung brachte.
Aber auch der Dithyrambus, aus dem die Tragödie hervorge-
gangen war, verstummt nicht, sondern nimmt einen neuen Auf-
schwung und entwickelt sich durch Lasus, Melanippides, Simonides
und später Pindar immer selbständiger. In Athen mochte zwai* zu-
nächst der Dithyrambus in den Hintergrund treten; aber wenn eine
wohlbeglaubigte UeberHeferung die Einsetzung eines Agons für Män-
nerchöre Ol. 68, 1 berichtet^), so wird man eben damals an den
63) Aristoteles Poet. c. 4, 14 p. 1449 A 19: IVt Si to ndye&oe ix (hxqojv
fiv&wv xal '/.i^Ecos ye/Mias Sia t6 ix aaivoixov fisraßa.'käiv oxvs ansaEuvvvd'r}.
Das Jyc beweist zur Genüge, dafs Aristoteles die ersten Anfänge auf Arion
und Epigeues, nicht auf Thespis zurückführt, und das satyrhafte Element wird
ausdrücklich als das ursprüngliche anerkannt.
64) Aristoteles bei Themistius or. 26 p. 382, 17 Bind.: ro (liv nqcöxov 6
XOQos eiaiav fßev eis lovs d'eovs, dann werden die Neuerungen des Thespis ge-
schildert (s. S. 25S A. 17). Euanthius p. 3, 2 Reifferscheid Ind. Vrat. W. S. 1S74 75 :
incensis iani altaribus et admoto hirco id genus carminis, qnod sacer chorus
reddehat Libero patri , tragoedia dicehatur , und nachher von der Komödie
p. 4, 13 : Simplex Carmen . . . fuit, quod chorus circa aras fumaiites nunc spa-
tiattu nunc consistens nunc revolvens gyros cum tibicine concinebat.
65) So stimmt der Chor in der Antigone des Sophokles unmittelbar vor
der Katastrophe 1115 einen Hymnus auf Dionysus an; und auch sonst bricht
die Erinnerung an die Bacchische Festlust durch, wie Antig. 153. Trachin. 220.
66) Die parische Chronik Ep. 46: atp^ ov xoQoi noänov Tjyooviaavro avSocäv,
ov SiSä^ai 'T7i6(Si)xoä 6 XaXxiSe(vi) ivix(rjaev). Das hqcötov geht nur auf
Athen, und auch hier waren Männerchöre nicht unbekannt; daraus war ja eben
270 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
grofsen Dionysien neben dem drainalischen \Vetlkampfe auch Preise
für kyklische Chöre gestiftet haben. Gleichzeitig vollzog sich eben
jene Trennung des Satyrdramas von der Tragödie.
Das Lyrische ist auch jetzt noch in der Tragödie die Haupt-
sache, und die ausdrucksvolle Mimik der orchestischen Bewegungen
hatte eine ganz andere Bedeutung als später. Die Reden des Chor-
meisters, welche die langen Chorheder unterbrachen, entliielten meist
einen Bericht und dergleichen. Es verflofs geraume Zeit, ehe das
Drama sich von der erzählenden Form loslöste. So ward auch Zeit
und Ort mit der im Epos herkömmlichen Freiheit behandelt.®^) Zum
Dialog fanden sich nur Ansätze. Erst bei Phrynichus mag das Wech-
selgespräch grofseren Raum beansprucht haben; dauiil hängt zu-
sammen, dafs der iambische Trimeter den trochäischen Telrameter,
das bisher übliche Versmafs, immer mehr zurückdrängt.^*) Die Dar-
stellung einer eigentlichen Handlung, die Entwicklung der Charak-
tere war noch unvollkommen. Die Personen äufsern ihre Ansichten
schon fertig. Indes, wenngleich das dramalisciie Element noch
wenig entwickelt war®"), darf man doch die Gewalt, welche die
das Drama hervorgegangen. Knabenchöre bestanden seit alter Zeit (s. Bd. il
S. 135 A. 98, S. 500 A. 9), und für diese mögen Lasus und Simonides (s. Bd. II
S. 359. 377) vor Ol. 08 Chorlieder gedichtet haben. Die Notiz der Chronik geht
sicherlich auf die Dionysien, nicht auf die Panathenäen (s. Bd. II S. 500 A. 9, doch
vgl. S. 377 A. 152); denn bei diesem Feste würde man gewifs die grofse Feier im
dritten Jahre der Ol. gewählt haben. Der Dichter Hypodikus ist gänzlich unbe-
kannt, wohl aber kennen wir aus dieser Zeit den Tynnichus ebenfalls aus Chalkis.
67) Aristot. Poet. c. 5, 4 p. 1449 B 13: ^ Se inonoita aögiaxoi reo x^övia
, . . xaiTOi To TiQÖirov ofioieae iv xoiii rgayqjSiais roino inoiovv xal iv xdis
intci. Erinnert doch selbst Aeschylus noch manchmal an diese ältere Weise.
68) Aristot. Poet. c. 4, 14 p. 1449 A 21 : to xe ^ixqov ix. xBxqafiixqov iafi-
ßtiov iyivero' to fiev yoQ nQÜ/tov xexQafiBXQco ixoaivxo Siä xo aaxvgixr;v xai
OQxriaxtxcoxiqav elvai xt^v Tioir/Oiv, kt^eioi Se yevofistTje avxrj ij fpvdit xo oixBioy
fiixoov sv^Ev, Vgl. auch Rhet. III 1 p. 1404 A30, wo er andeutet, dafs dieser
Uebergang (öiansQ (ol ras rgayioSias notovvxae) xai ix xü>v xexQafiixqtov tie
TO infxßtlov fiexeßrjaav, Siä xo xi^ Xvyi^ xovxo xiov ftixQtov öftoiöxaxoy elyai
rtöv äkXcav) auch auf die sprachliche Darstellung von Einflufs war, die mehr
und mehr der Sprache des gewöhnlichen Lebens sich annähert. Bereits Thespis
führte den Trimeter ein.
69) Aristoteles Poet. c. 4, 15 p. 1449 A 58 deutet an, dafs die innaoSluv
nl^r] erst allmählich zunahmen und Bedeutung gewannen. Die Darstellung
dieses Abschnittes der Poetik ist nicht gerade geschickt, aber für einen auf-
merksamen Leser doch verständig; sehr unverständig hat die neueste Kritik
durch Umstellungen alles in Verwirrung gebracht.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE- ZWEITE GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. 271
tragischen Stoffe in dieser neuen Form ausübten, nicht zu gering
anschlagen.
Zweite Gruppe.
Die Blüthezeit der Tragödie
von Ol. 70, l bis Ol. 93, 3.
Das Wirken der drei grofsen Tragiker füllt dieses Jahrhundert
aus. An sie schliefsen sich zahlreiche Dichter zweiten und dritten
Ranges an; denn der neuen Kunstgattung wandte sich die regste
Theilnahme zu. Dieser Zeitraum, welcher mit dem ersten Auftreten
des Aeschylus heginnt, mit dem Tode des Euripides und Sophokles
abschliefst, umfafst nicht nur die höhere Ausbildung und Vollendung
der Tragödie, sondern auch die Anfänge des Endes. Sehr bestimmt
sondern sich drei Stadien der tragischen Kunst ab.
Aeschylus' Hterarische Thäligkeit, die von Ol. 70, 1 bis 81, 1 Erstes
reicht, stellt die altere Weise der tragischen Poesie dar. Aber Aeschy- '*'^'""^
lus verharrt nicht auf der Stufe, welche seine Vorgänger inne hatten,
sondern anfangs mit Phrynichus und den älteren Dichtern , dann
mit dem jungen Sophokles einträchtig verbunden , wirkt er rastlos
für den Fortschritt der Kunst und mufs im vollen Sinne des Wor-
tes als der Gesetzgeber der Tragödie gelten. Aeschylus sorgt für
würdige äufsere Ausstattung und führt den zweiten Schauspieler ein.
Dadurch erst ward ein regelmäfsiger Dialog und die wahrhafte Dar-
stellung einer Handlung möglich. Indem dann Sophokles den dritten
Schauspieler hinzufügte, ward der selbständigen Entwicklung des
dramatischen Elementes noch mehr Spielraum eröffnet. Ebenso wird
dem Aeschylus die Form der Tetralogie verdankt. Diese reich ge-
gliederte Composition gestattete eine Reihe ergreifender Ereignisse,
ein umfassendes Bild des Lebens mit seinem jähen Wechsel von
Glück und Leid in wirksamster Weise vorzuführen. Mit dieser Er-
weiterung der Tragödie zum Dramencyklus war zugleich eine neue
Organisation des tragischen Chores verbunden. Während bisher
Chorlieder und epische Erzählungen die wesentlichsten Theile der
Tragödie waren, bringt Aeschylus das Dramatische, also den Kern
und das eigenste Wesen der neuen Kunstart, immer mehr zur Gel-
272 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
tung, jedoch ohne sofort dieses Princip mit voller Consequenz zu
entwickeln. Der Chor ist für die Tragödie noch unentbehrHch; er
hält die Theile der dramatischen Aclion zusammen. Hier legt der
Dichter den ganzen Reichthum seines gewaltigen Geistes nieder und
bekundet zugleich in der Behandlung der mehschen Partien seine
unübertroffene Meisterschaft. Mit sichthcher Vorliebe wählt sich der
Dichter Stoffe, wo die Leidenschaft in ihrer ganzen Naturkraft her-
vorbricht, titanische Charaktere, welche, gleichsam von einer dämo-
nischen Gewalt fortgerissen, ihr Ziel unverrückt im Auge haben und
entweder alle äufseren Hemmungen siegreich überwinden oder zu
Grunde gehen. Der Grofsheit und Bedeutung des Inhalts entspricht
die Form. Die kühne, erhabene, bilderreiche Sprache harmonirt mit
der ergreifenden Schilderung der tiefsten und schwersten Conflikte.
Aber noch wird der alterthümliche Charakter festgehalten; eine ge-
wisse Strenge und Schlichtheit ist der Grundzug dieser Poesie.
Zweites Die zweitc Stufe, die Vollendung der Tragödie, reicht von Ol.
Stadium, g^^ i jjjg g^^^-a Anfang der 90. Olympiade. Der Tod des Aeschylus
und das gleichzeitige Auftreten des Euripides markiren sehr bestimmt
den Beginn dieses Zeitabschnittes, während das Ende sich nicht so
genau abgrenzen läfst, was man nicht ledighch der unzureichenden
Ueberlieferung beimessen darf, sondern ebenso sehr in der Natur
der Dinge seinen Grund hat, indem der Uebergang zu dem dritten
Stadium sich allmähhch und fast unmerklich vollzieht.
Die Tragödie hatte bereits eine feste Gestalt gewonnen; jetzt
galt es, den inneren Ausbau weiter zu fördern. Die geschlossene
Form der einheitlichen Trilogie mufs der freien Composition weichen.
Drei Tragödien verschiedenen Inhalts, jede eine in sich abgerundete
Dichtung, empfahlen sich durch Mannigfaltigkeit der Darstellung und
Concentralion des dramatischen Interesses. Sophokles hat vorzugs-
weise dieser Form allgemeinen Eingang verschafft, obwohl schon
Aeschylus sich ab und zu darin versucht hatte. .letzt führte der
Fortschritt der Kunst zur Auflösung des Dramencyklus. Aber der
Zweifel ist berechtigt, ob die eigenthUmlichen Vorzüge der neuen
Kunstart das, was man aufgab, vollkonnnen ersetzten. Die Einzel-
tragödie wird wieder wie vor Allers Norm. Allein diese scheinbare
Rückkehr zu den Anlangen ist doch etwas wesentlich Neues. Der
Dichter beschränkt sich auf eine einzige Handhing; der mäfsige
Umfang des Dramas gestattete nicht sich ins \Veile zu verlieren.
DFE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. ZWEITE GRUPPE. DIE BLCTHEZEIT. 273
Die HandluDg wird verwickelter, die Personen zahlreicher; auf die
Zeichnung der Charaktere wird der Hauptnachdruck gelegt. Um
dafür Raum zu gewinnen, mufste man sich entschUefsen, die lyrischen
Partien immer mehr abzukürzen. Der Dialog ist jetzt der Schwer-
punkt, und die veränderte Stellung, welche Sophokles dem Chore
gegeben hatte, kommt zur ausschliefslichen Geltung. Daher greift
der Chor nicht mehr unmittelbar in die Handlung ein, sondern be-
gnügt sich dieselbe mit theilnehmenden Betrachtungen zu begleiten,
während der Antheil der handelnden Personen an dem lyrischen
Elemente sich gleich bleibt oder auch erweitert wird. Im Aeufsern
erfährt die Tragödie keine wesentliche Aenderung; nur die scenische
Ausstattung ward wieder mehr vereinfacht. Das Satyrspiel, der Keim,
aus welchem die Tragödie hervorgegangen ist, ward zwar nicht be-
seitigt, aber Euripides machte frühzeitig den Versuch, durch eine
Mittelgattung, durch die Verschmelzung tragischer und komischer
Elemente, das groteske Nachspiel zu ersetzen.
Dem Sophokles erkannte man unbestritten unter den Leben-
den die erste Stelle zu.') Aber er herrscht nicht unumschränkt. INebea
ihm tritt Euripides auf, der gleich von Anfang an seinen eigenen
Weg geht. Seine Stellung war zunächst schwierig, aber allmähhch
erwirbt sich der reichbegabte Dichter Anerkennung, und schon seit
dem Beginn des peloponnesischen Krieges gilt er als 'ebenbürtiger
Genosse des Sophokles*), obwohl aufserdem noch andere tüchtige
Kräfte für die tragische Bühne thätig waren. Aber auch Aeschylus
steht in hoher Achtung. Die Dramen des todten Meisters concur-
riren fortwährend im Wettkampfe. Dem Geiste, der laut und ver-
nehmhch aus diesen unvergleichlichen Werken sprach, war man
noch nicht entfremdet; mit aufrichtiger Liebe und Verehrung waren
viele, zumal das ältere Geschlecht, ihm zugethan.
Sophokles' reifste Arbeiten gehören diesem Zeiträume an. Hatte
er früher unwillkürlich dem Genius seines grofsen Lehrers gehuldigt.
1) Die Grabschrift (s. Biographie) : K^tTircp rüde rayic^ ^ofoxXrj n^ta-
Tsia Xaßovxa t^ Toayix^ xix,VTi, a'/rjua. ro aeftviiaxov (lies t^s x oayixr^i
xixvris) spricht nur das allgemeine Urtheil aus.
2) An den grofsen Dionysien traten sie gewifs häufig neben einander
auf. Neue Dramen des Sophokles und Euripides gehörten zum Begriff dieses
hohen Festes, und nur ungern mochte man den einen oder anderen missen,
vgl. Aristoph. Frieden 531 f.
Bergk, Griecb. Literaturgescbichte III. IS
274 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
SO tritt jetzt seine eigenthümliche Art in klar ausgeprägten Zügen
hervor. Euripides, der alle Zeit seine Selbständigkeit zu wahren
weifs, zeigt doch in seinen früheren Dichtungen eine gewisse Mäfsi-
gung und Selbstbeherrschung, die ihm später ganz fremd ist. So-
phokles und Euripides sind durchaus verschiedene Naturen, die sich
daher eher absliefsen als anzogen. Sophokles verläfst jetzt das Ge-
biet des Phantastischen und beschränkt sich auf das Rein-Mensch-
liche, aber er wird seinem Vorgänger nicht untreu. Wenn auch
die Charaktere des Sophokles nicht das Grofsartige haben wie bei
Aeschylus, so wahrt er doch die Würde der menschhchen Natur.
Mitten in den Stürmen der Leidenschaften behauptet die Poesie des
Sophokles eine gewisse Ruhe; bei aller Schroffheit ist doch meist
eine wohlthuende Milde über das, was von der Hand dieses Dichters
kommt, ausgegossen. Diese idealen Rilder des Lebens wirken er-
neuend und veredelnd. Sophokles giebt die Gesinnungen der Besten
seiner Zeit wieder und sucht das Volk zu dieser Höhe zu erheben,
während Euripides mehr zum Volke herabsteigt. Ein entschieden
realistischer Zug ist überall bei diesem Dichter wahrzunehmen, der
oft geradezu der alten Heroenzeit den Charakter und die Farbe der
unmittelbaren Gegenwart leiht. Wenn seine Helden sich in dieser
selbstbewufsten, absichtsvollen Weise aussprechen, hört man überall
die Tendenzen der Zeit, des Dichters eigene Empfindungen und
Reflexionen heraus. Euripides ist eine durch und durch subjektive
Natur; weder das gewaltige Pathos des Aeschylus, noch die mafs-
voUe Kunst der Charakteristik des Sophokles ist ihm gemafs, aber
die Dialektik der Leidenschaften versteht er wie kein anderer dar-
zustellen. Das aufserordentliche Geschick, mit dem er über alle
Mittel der rednerischen Kunst gebietet^ kam ihm dabei trefflich zu
Statten. Aber die Mitlebenden erfreuten sich gleichmäfsig an beiden
Dichtern und erkannten bereitwilHg die eigenthümlichen Vorzüge
eines jeden an.')
Nachdem die tragische Kunst ihren Höhepunkt erreicht hatte,
geht es rasch abwärts. Der Wendepunkt tritt nicht erst nach dem
gleichzeitigen Abscheiden der grofsen Meisler ein, sondern die Ver-
3) Aristoph. Frieden 530 : Jtowaian>, aiköiv, tfvyqfdtSv, ^fonltovs fi»-
l^v, xix^Mv, invlliatv Ei^tniSov deutet an, was die grofse Masse an jedem
Dichter vorzugsweise bewunderte.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. ZWEITE GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. 275
änderung, welche seit diesem Ereignisse selbst einem blöden Auge
nicht entgehen konnte, war schon seit Jahren vorbereitet.
Der dritte Abschnitt von Ol. 90 bis 93, 3 umfafst die letzten Drittes
Arbeiten jener Dichter. Hier erkennt man deutlich, wie ungünstig ^ '"™*
der Verlauf des grofsen Krieges wirkte; die verzehrende Unruhe der
Zeit, welche zwischen Extremen hin- und herschwankt und das
Gleichgewicht verloren hat, spricht sich vielleicht nirgends so deut-
lich aus, als in den gleichzeitigen dramatischen Produktionen. Ol.
89, 3 schlössen Athen und Sparta Frieden, aber die ersehnte Ruhe
trat nicht ein; da keiner es aufrichtig meinte, war an eine wirk-
liche Versöhnung nicht zu denken. Die feindselige Spannung fand
immer neue Nahrung; man liefs nicht ab, sich nach Kräften in-
direkt zu befehden, aller Orten war das kecke Spiel versteckter
Intrigue thätig. In Athen war die ältere Generation durch die Ver-
heerungen der Pest und des Krieges sehr zusammengeschmolzen;
ein neues, dem früheren gar unähnliches Geschlecht war inzwischen
herangewachsen. Leidenschaftliche Erregung und unruhige Hast be-
mächtigte sich der Gemüther; man trug sich mit vermessenen, hoch-
fliegenden Plänen. Dieser abenteuerhche Geist führte zu dem Feld-
zuge gegen Sicihen Ol. 91, 1. Wie man sich unüberlegt in dieses
gefahrvolle Unternehmen gestürzt hatte, so war die Ausführung wo-
möglich noch verfehlter. Seit dem Siege der Syrakusaner sind die
Athener auf ihre Vertheidigung beschränkt; die Peloponnesier be-
nutzen diese Wendung der Dinge und kündigen die Waffenruhe auf.
Mit dem Einfalle des Agis in Attika und der Besetzung von Deke-
lea, nur wenige Meilen von Athen gelegen^), beginnt Ol. 91, 3 die
dritte und letzte Periode des Kampfes. Die vollständige Niederlage
der Athener in Sicilien im folgenden Jahre rief nicht nur den Ab-
fall der schon längst unzufriedenen Bundesgenossen hervor, sondern
facht auch in Athen den alten Parteihader wieder an. Die Ohgarchen
beseitigen die demokratische Verfassung. Hatte auch dieses Regiment
nur kurzen Bestand, so dauert doch der Kampf der Factionen fort,
und der Staat, von inneren wie äufseren Feinden gleichmäfsig be-
droht, befindet sich in der schwierigsten Lage.
4) Nach Thukyd. VII 19 war Dekelea 120 Stadien von der Stadt entfernt;
nicht viel mehr betrug die Entfernung bis zur boeotischen Grenze. Die Festungs-
werke der Spartaner konnte man von Athen ans sehen {intfavee füxQt r^s
18*
276 LRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Wie zwischen den Schicksalen eines Volkes und seiner Litera-
tur eine beständige Wechselwirkung stattfindet, so vermag die drama-
tische Poesie am wenigsten sich dem Einflüsse der Zeit zu ent-
ziehen. Ein veränderter Geist tritt uns mehr und mehr entgegen;
die Tragödie nimmt sichtheh einen entschieden leidenschafthchen
Charakter an. Die Drangsale des Krieges und des Biirgerzwistes,
die Verwirrung der Gemüther stören auch den inneren Frieden und
die gefafste Haltung, deren der Dichter bedarf, wenn ihm sein Werk
gelingen soll. Euripides beherrscht jetzt die Bühne und bildet seine
eigenthümliche Art immer entschiedener aus. Neben dem erklärten
Lieblinge des athenischen Publikums tritt der alternde Sophokles
mehr und mehr in den Hintergrund und vermag sich dem Einflüsse,
den sein Genosse nach allen Seiten hin ausübt, nicht zu entziehen.
Aeschylus ist so gut wie vergessen ; seine grandiose Einfachheit sagte
dem verwöhnten Geschmacke dieser Zeit nicht mehr zu.^) Die an-
deren Dichter sind todt oder ziehen sich zurück. An ihre Stelle
treten junge Talente, welche entschieden der neuen Richtung hul-
digen, wie Agathon, dessen erstes Auftreten Ol. 90, 4 fällt; aber es
fehlt die nachhaltige Kraft. So fällt den bewährten Meistern, dem
Euripides und demnächst Sophokles, die Verpflichtung zu, den Aus-
fall zu ersetzen und für die Bedürfnisse der Bühne zu sorgen. In-
dem man sich immer mehr an rasches Arbeiten gewülint, läfst man
unwillkürlich von der Strenge der alten Kunst nach. Dies erkennt
man nirgends so deuthch, als in der flüchtigen Behandlung der
metrischen Technik, zumal in den Versen des Dialogs. Die stereo-
type Weise des Euripides war dem hastigen Produciren günstig.
Man gewöhnte sich jeden behebigen Stofl" nach einer festen fertigen
Norm zu bearbeiten. Die Masse, welche nur flüchtige Unterhaltung
suchte, nahm daran keinen Anstofs, während feiner gebildete Na-
turen, die den Reichthum und die Formvollendung der alten Kunst
zu würdigen verstanden, sich unangenehm berührt fühlten. Die
stolze Unabhängigkeit, welche früher die Dichter behauptet hatten,
ist dahin; willfährig fügt man sich den Wünschen des Publikums.
Der glückliche Ausgang des Trauerspiels, der auf Rührung hinarbei-
tet, ward entschieden bevorzugt; andererseits häuft man das Gräfs-
".) Dionysus bei Aristoph. Frösche 1413: rov ftiv yaf (d. i. Aeschylus)
jiyovfiui aotpoVf T(^ 8' (d. i. Euripides) rßoftat spricht nur das Urtheil der
Masse aus.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLLTOEZEIT. I.AESCH. 277
liehe und Frevelhafte, um die stumpfen Gemüther zu erschüttern,
gelallt sich im Ahenteuerhchen, um durch den Reiz der Neuheit zu
'wirken. Verwickelte Intriguenstücke , das getreue Abbild des da-
maligen Weltzustandes, wo rücksichtsloser Egoismus und berech-
nende Schlauheit Meister waren , übten vorzugsweise Anziehungskraft
aus. Die Chorlieder, welche sich nicht selten von der tragischen
Handlung vollständig ablösen , sind nur noch eine herkömmliche
Beigabe, die sich das Publikum gefallen liefs, weil die Musik der
neuen Schule, welche in der dithyrambischen Poesie bereits zur
Herrschaft gelangt war, jetzt auch in die Tragödie eindringt.
Als Euripides und Sophokles aus dem Leben schieden , war
niemand da, der sie nur einigermafsen ersetzen konnte. Zwar wandte
eine Anzahl jüngerer Talente sich diesem Berufe zu, aber diesen
frühreifen Dichtern fehlte es, wenn auch nicht an gutem Willen,
doch an Kraft und Ausdauer.®) So war die attische Bühne verwaist,
und schmerzhch empfand ein jeder den schweren Verlust.
I
A e s c h y 1 u s.
Aeschylus, der Sohn des Euphorion, aus einer alten Eupatri- Aeschyius*
denfamilie in Eleusis, macht ganz den Eindruck eines Mannes, der ^^''^°-
ebenso durch Adel der Geburt wie des Geistes ausgezeichnet war.")
Indem sein Geschlecht an dem uraUen Sitze jener heiligen Weihen
ansässig war, begreift man, wie der Sinn des Dichters frühzeitig auf
das Höhere und Unvergängliche sich richtete und ein tiefes reli-
giöses Gefühl seine gesammte Poesie beherrscht, wie denn auch
Aeschylus selbst jenem geschlossenen Kreise als Mitglied angehörte.*)
6) Aristoph. Frösche 89: ovxovr SreQ^ iar^ itTavd'a fisiQaxvXXta roa-
yipSiae nouivvra nXeiv fj fivQta, EvQmiSov ■nXeir tj araSiq» XaXiarsQa.
7) Die Nachrichten über die Lebensverhältnisse des Aeschylus gehen wohl
grofsentheils auf die Schrift des Chamäleon tcsqI Aiaxvh>v zurück; anderes
mag Heraklides Pontikus in seiner Schrift iisQi xQiäv Toayq)8ojtoiä,v (üiog.
Laert. V 8S) berührt haben. Wir besitzen aufser dem betreffenden Artikel bei
Suidas 1 2, 65 f. eine anonyme, mehrfach durch Zusätze von ungleichem Werthe
erweiterte Biographie des Dichters. Die Nachträge, soweit sie das Scenische
und Poetische betreffen, sind aus der /uovatxf] iaxo^ia (wohl des Dionysius) ent-
lehnt ; aus derselben Quelle stammen auch die werthvoUen Bemerkungen über
Chorlieder in den Schollen zu den Persern.
8) Daher legt Arislophanes in den Fröschen 886 dem Tragiker die Worte
278 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Geboren Ol. 63, 4®), nahm Aeschylus an den Perserkriegen thätigen
Antbeil. In allen bedeutenden Schlachten hat er mitgekämpft; nament-
lich bei Maralhon, wo er schwer verwundet wurde, zeichnete er
sich aus.'") In dem zweiten Kriege wohnte er den Schlachten bei
Artemisium, Salamis und Platää bei"), hat also als Augenzeuge später
jene denkwürdigen Begebenheiten geschildert. Sein Bruder Kyne-
geirus") nimmt unter den Helden der Perserkriege eine hervorragende
in den Mund: JrifiTytsq tj &^iyjaaa xijv ifirjv <pQtva, elvai fie räiv acjv a^iov
fivaxTjQiav, wo der Scholiast bemerkt: naQoaov ^EXevaivioe xöjv Srjficav 7,v o
AtoxvhiS, rj ori iv rois EXsvaiviois ireksiTO r« S^afiara rov Atax^hiv, wo
der Erklärer hätte sagen sollen : raiis 'EXsvaiviois irsxäXsaxo 6 AlayiXoi. Zur
Bestätigung dient die Anklage, die ihn gegen Ende seines Lebens traf.
9) Das Todesjahr des Aeschylus stand fest; die Angaben über sein Alter
und seine Geburt sind schwankend. Aeschylus starb Ol. 81, 1, nach der pari-
schen Chronik Ep. 59 69 Jahre alt, womit die fernere Angabe Ep. 48 stimmt, dafs
Aeschylus zur Zeit der Schlacht bei Marathon (Ol. 72, 3) 35 Jahre alt war; so er-
giebt sich Ol. 63, 4 als Geburtsjahr. Dies wird indirekt durch Suidas unterstützt,
der dem Aeschylus, als er Ol. 70, (1) zuerst auftrat, ein Alter von 25 Jahren giebt.
Wenn ihm Suidas nachher bei seinem Tode 58 Jahre zutheilt, so ist vrf offenbar
verschrieben für ^'. Der Biograph sagt: avvexQovias 8s UivSa^q» ysyovojs xaxu
xfjv fi 'OXvfiTtiäSa; die Zahl ist unbedingt fehlerhaft: man kann an die Blüthe-
zeit denken, die Eusebius 01.75,4(76,2) ansetzt, allein die Vergleichung mit
der Biographie Pindars {ysvofisvof ini ä^xovxoe 'Aßicovoi xaxa xovs xqövovi
Ala%vh}v) spricht für das Geburtsjahr; jedoch verhilft uns auch diese Parallel-
stelle zu keiner sicheren Verbesserung. Aufserdem wird in der Biographie
zweimal, aber jedes Mal in einem Zusatz von zweiter Hand, das Alter des Dich-
ters auf 65 (63) Jahre angegeben; dies führt auf Ol. 64, 4 oder 65, 2. Eine
sichere Entscheidung ist nicht zu gewinnen. Die Stelle endlich in der Bio-
graphie des Sophokles bedarf selbst der Berichtigung.
10) Aeschylus legte auf diese seine erste Waffenthat solches Gewicht, dafs
er in der Grabschrift, die er für sich selbst verfafste, wo er seines dichterischen
Verdienstes mit keinem Worte gedenkt, hinzufügte: aX'Ktiv J' evSoxt/iov Maqa-
&c6viov äXaoe av sinoi xai ßad'vxaixTjsts MTjSos iniaxnftsvoi (8. A. 30). Und nach
dem glaubwürdigen Zeugnisse des Heraklides Ponlikus (Eustratius zu Aristot.
Eth. Nie. III 2) wirkte vorzugsweise die Erinnerung an das Verdienst des Aeschy-
lus sowie seines Bruders Kynegeirus in der marathonischen Schlacht bei dem
bekannten Rechtshandel auf die Stimmung der Richter günstig ein (xütv 8txacxö>v
oufBvroJv ftüXiaxa 8ia xä n^axd'svxa avxi^ iv xfj ini Ma^ad'äJvi ftaxi]).
11) Dnfs Aeschylus bei Artemisium und bei Salamis focht, sagt Fausanias
I 14,5; dazu kommt das vollwichtige Zeugnifs eines Zeitgenossen, des Ion,
(Schol. Peiser 429: */a>»' iv xaTs^EniSrjfiiaie Tia^ilvat AiaxvXor -'^ •-■• ^VArr-
fuvtaxols ipriaC). Platüä neben Salamis nennt die Biographie.
12) Der Name wird bald Kvvaiyet^» bald Kvvt'yiifos gesclinrnen; die
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. I.AESCH. 279
Stelle ein, iodem er bei Marathon die fliehenden Feinde bis zu den
Schiffen verfolgte und dort kämpfend fiel, während ein zweiter Bruder
Ameinias bei Salamis den Preis der Tapferkeit erhielt.")
Ziemlich jung, Ol. 70, 1, wendet sich Aeschylus der tragischen
Poesie zu'^) und war von da an über vierzig Jahre für die Bühne
thätig. Doch ward es ihm anfangs nicht leicht, die Gunst der Athe-
ner zu gewinnen, indem er den älteren anerkannten Dichtern gegen-
über einen schweren Stand hatte, wie er auch, als er im Wettkampf
mit Simonides Ol. 72, 4 eine Elegie auf die bei Marathon gefallenen
Helden dichtete, den Kürzeren zog.'^) Erst Ol. 73, 4 ward ihm im
erstere Form hat bessere handschriftliche Gewähr, aber für die Kürze der Silbe
zeugt der Gebrauch der Dichter (freilich erst jüngerer wie Krinagoras).
13) Doch liegt vielleicht hier ein Irrthum vor; denn Herodot VllI 84 und 93
nennt diesen Ameinias na/.kTjvevs, während Aeschylus und sein Geschlecht der
Gemeinde Eleusis angehören. Obwohl ein solcher Wechsel der Gemeindeange-
hörigkeit nicht geradezu unzulässig erscheint, ist die Differenz doch auffallend;
auch fügt Herodot nicht den Namen des Vaters hinzu, während er den Kyne-
geirus als Sohn des Euphorion bezeichnet. Befremdend ist auch das Still-
schweigen des Heraklides (s. oben A. 7), der wohl der That des Kynegeirus, aber
nicht des Ameinias gedenkt. Erst Spätere nennen jenen Ameinias ausdrücklich
einen Bruder des Tragikers, wie Diodor XI 27, 2, Aelian V. H. V 1 9, Themistokles
ep. 13 p. 751 Herch. (hier werden in dem Briefe des Themistokles an Ameinias
als dessen Brüder Kynegeirus. der sich bei Marathon auszeichnete, und Aeschylus
ev navii tcö ßi(g xarä TiaiSeiav xai aco(pQoavvrjV SiaiptQOJV genannt) und der
Biograph. Aeschylus mag einen Bruder Ameinias gehabt haben, der aber sonst
unberühmt war, und die Gleichheit des Namens rief jenen Irrthum hervor. Einen
dritten Bruder Euphorion nennt nur Suidas; hier liegt gewifs eine Verwechse-
lung mit dem Vater oder Sohne des Dichters zu Grunde.
14) Suidas: riyojvi^ero S' avcos (lies n^äxos) iv rrj o (die Hdschr.
d"') 'OXvfinuxSi iTcüv cov xe' . Damit stimmt der Artikel ÜQaxivas II 1, 401:
avxrjYoivit,Bxo 8^ Ataxv)^ re xal XoioO.to sttI t^s o 'OlvfintäSos. Aeschy-
lus tritt also zum ersten Male in der Olympiade auf. wo Sophokles nach der
gewöhnlichen Ansicht geboren Mard; er siegt zum ersten Male in dem Jahre,
wo Euripides nach einigen geboren ward, und stirbt in demselben Jahre, wo
Euripides seine erste Tetralogie aufführte. Nach einer sinnigen Sage wird dem
jungen Aeschylus durch ein Traumgesicht sein künftiger Beruf geoffenbart: er
hütete die Trauben, da erschien ihm Nachts im Traume Dionysus und gebot
ihm , sich der tragischen Poesie zu widmen (r^ayepSiav tvoi^Tv) ; als es Tag
ward, machte er den Versuch, und die Arbeit ging ihm leicht von Statten,
Pausan. I 21, 2, der sich auf das eigene Zeugnifs des Dichters beruft.
15) Die pansche Chronik Ep. 49 verzeichnet in diesem Jahre einen Sieg des
Simonides, der unzweifelhaft auf den Agon mit Elegien zum Gedächtnifs der
Kämpfer bei Marathon zu beziehen ist.
2S0 TRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
tragischen Agon der Sieg zuerkannt/^) Ol. 76, 4 gewann er mit den
Persern und den anderen dazu gehörigen Dramen den Prei?. Ol. 77, 4
mufste er dem jugendlichen Sophokles nachstehen, aher Ol. 78, 1
siegte er wieder mit der Oedipodie, Ol. 80, 2 mit der Orestie.
Zeitweilig ward seine Thäligkeit durch Reisen nach Sicilien
unierbrochen. Wenn die Ueberiieferung Glauben verdiente, hätte
Aeschylus fortwährend seinen Aufenthalt zwischen Athen und Syrakus
getheilt. Dafs der Dichter längere Zeit sich am Hofe Hieros auf-
gehalten hatte, stand fest, aber die näheren Umstände waren nicht
bekannt. Man suchte behebig nach einem Anlasse, um die Ent-
fernung des Dichters von der lleimalh zu motiviren, und ergänzte
willkürlich die Lücken der Tradition.'") Offenbar folgte Aeschylus
einer Einladung des Uiero, der damals die namhaftesten Dichter
um sich versammelte'*), wahrscheinHch Ol. 77,1; denn auf den
Wunsch des Hicro leitete Aeschylus eine Aufführung seiner Perser,
die auch in Syrakus mit allgemeinem Beifall aufgenommen wurden.'')
Damals mag der Dichter auch das Gelcgenheitsstück, die Aetnäerin-
nen, verfafst haben'"'), um sich dem Herrscher, an dessen Hofe er
16) Die parische Chronik Ep. 50: AiaxvXoe o jtoirjrrjS rgayipSia n^törov
ivixTjae.
17) Die Thatsache war bekannt, aher über die Zeit und näheren Um-
stände wiifste man nichts Verlässiges; man erging sich daher in beliebigen
"Vermulhungen. Aeschylus soll von Atlien nach Syrakus gegangen sein, als
das Theater in Atlien einstürzte Ol. 7U, oder als er dem Simonides im Wett-
kampf unterlag Ol. 72, 4, also in einer Zeit, wo die Söhne des Deinomenes
noch gar nicht an das Regiment in Syrakus dachten; dann wieder, als er von
Sophokles besiegt wurde, Ol. 77, 4. Dies wird durch die Thatsache widerlegt,
dafs jene Niederlage für Aeschylus nur ein Antrieb zn erneuter Thäligkeil war,
und dafs er gleich im nächsten Jahre in Athen die Oedipodie mit glücklichstem
Erfolge aufführte. Ferner läfsl man ihn nach der Aufführung der Eumeniden
(Ol. so, 2) nach Syrakus wandern, und der Biograph wirft gar seinen Aufent-
hall in Syrakus am Hofe des Hiero mit seiner letzten Uebersiedelung nach Gela
zusammen.
18) Pausan. 12,.'^: ^fi JSvQaxovaae n^oe 'itQtava Aiax^'loe xal Stfnovi8r,i
iaraXrjaav,
It)) Dies bekundet der glaubwürdigste Zeuge, Eratosthenes (Schol. Aristoph.
Ran. 1084, mo nur 8iSaxd'f,vai [SeStSäxd'ni] in avaS iSn)(,9'f;vat [nvnSsSt-
ünx^'fti] zu verbessern ist), und die Biographie stimmt damit. (S. S. 295 A. 55.)
20) Der Biograph bringt freilich dieses Drama mit der Neugründung Kata-
nas tAetnas) Ol. 7r), 1 in Verbindung: il&wv joirvr fti 2'tMsi.t'ni- IspMroi n'ne
t}]v j4ixvriV xii^ovroe ineSet^aio -rng Aixraiat, oi(t>fiL,t'>fttvoi ßio%' nynd'oy
lo'ii cvroixi^ovai jt'v nöXtv. Dann mül'ste man einen zweimaligen Aufenthalt
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. I. AESCH. 281
gastliche AiifDahme gefunden hatte, dankbar zu erweisen. Diese
-Arbeit setzt einen längeren Aufenthalt und gewisse Vertrautheit mit
den örtlichen Verhältnissen voraus*'), wie auch sonst diese sicilische
Reise nicht wirkungslos an Aeschylus vorübergegangen sein wird.")
In die Heimath zurückgekehrt, setzt Aeschylus seine Thätigkeit
für die attische Bühne fort, und wenn Sophokles gleich mit seinem
ersten Versuche Ol. 77, 4 den Sieg über den älteren Dichter davon-
trug^^), so war dies für ihn nur ein Antrieb zu erneuten Anstren-
gungen, nicht im feindlichen Gegensatze, sondern in einträchtigem
Zusammenwirken mit seinem jüngeren Genossen. Dafs Aeschylus
seinem Berufe treu blieb, beweisen die Sieben vor Theben, welche
gleich im nächsten Jahre, Ol. 78, 1, aufgeführt wurden. Das Ver-
hältnifs zwischen Aeschylus und Sophokles ist ein durchaus freund-
schaftliches. Beide waren edle Charaktere, daher frei von Neid und
jener kleinlichen Mifsgunst, welche untergeordneten Geistern eigen
ist. Aeschylus, eine auf sich selbst gestellte IN'alur, hatte wohl bis-
her seinen Weg ziemlich einsam zurückgelegt*^); durch die Verbin-
dung mit dem jungen, nach den höchsten Zielen strebenden Sopho-
kles ward er zum edelsten Wetteifer angeregt. Wer von beiden den
des Aeschylus in Syrakns annehmen, um Ol. 76,1 und nochmals um 01.76,4,
wo die Perser zuerst in Athen aufgeführt wurden: allein jenes Gelegenheits-
stück kann recht gut ein Paar Jahre nach der Gründung der Stadt gedichtet sein.
21) Die Einsetzung des Cultus der Paliken, die in Sicilien, vor allem auf
dem Berge Aetna als segenspendende Dämonen seit Alters verehrt wurden,
Mar der wesentliche Inhalt des Dramas.
22) Die alten Grammatiker fanden bei Aeschylus manche den Sikelioten
eigenthümliche Ausdrücke wieder, Athen. IX 402 C : on Si AiayyXos StarQitpa;
iv ^ix£),iq 7io).}.cüi y.iy^or^rai ipojvais ^ix£/.ixais, ovSip d'avfiaaröv. Als genauen
Kenner sicilischer Verhältnisse bezeichnet ihn Macrobius V 19, 17: Aeschylus
tragicus, vir utique Siculus. Die lebendige Schilderung einer Eruption des
Aetna im Prometheus geht auf unmittelbare Beobachtungen zurück.
23) Der Biograph erzählt, Aeschylus habe Athen verlassen x«t« riras
fiiv VTT^ 'A&Tjvaicov y.aTaanox'Saa&eis y.ai ■fjaar/d'eis vicp ovri. 2!ofox?^l, was
man wohl berechtigt ist, auf das erste Auftreten des Sophokles zu beziehen.
Das Factum selbst scheint richtig, nur die Folgerung, die man daraus zog, ist
abzuweisen.
24) Mit dem Dichter Ion mag Aeschylus mehrfach verkehrt haben. Eine
Anekdote, die wohl eben auf dem Zeugnifs des Ion selbst beruht, läfst beide
Tragiker dem Faustkampfe bei den islhmischen Spielen zuschauen, und Ion
hatte in seinen Denkwürdigkeiten wiederholt des Aeschylus gedacht, aber nichts
deutet auf ein vertrauteres Verhällnifs hin.
282 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
anderen am meisten förderte, läfst sich nicht hestimmen. Gewifs
ist, dafs die Periode der reichsten und reifsten Thätigkeit des Aeschy-
lus die nächsten zehn Jahre seines Lebens umfafst.
Ol. 80, 3 verliefs Aeschylus, nachdem er im Jahre vorher mit
der Orestie einen glänzenden Erfolg gehabt halte, Athen und zog
sich nach Gela zurück. Bei seinem früheren Aufenthalte in SiciUen
hatte Aeschylus die Insel liebgewonnen und mochte sich unter Do-
nern besonders heimisch fühlen. Den nächsten Anlafs zu dieser
freiwilligen Verbannung aus der Heimalh gab ein Rechtshandel, in
den der wahrhaft fromme Dichter wegen angeblicher Anspielungen
auf die eleusinischen Mysterien verwickelt ward.") Einer bewufsten
Verletzung jenes Geheimdienstes war Aeschylus unfähig. Er wies
vor dem Areopag seine Unschuld nach ; mehr noch mochte die Er-
innerung an den hingebenden Patriotismus und die tapferen Thalen
des Dichters und seines Bruders im Perserkriege wirken. Er ward
daher freigesprochen, aber Athen war ihm verleidet. Aufserdem
25) Darauf bezieht sich Aristot. Eth. Nie. lII2p.llllA9: olov Xeyovres . . .
ovx eiSevai, ort anoQQTjta t]v, coaneQ Aiaxv^i ta fivartxä (von Clemens AI.
Str. II 387 falsch gedeutet, als sei Aeschylus nicht eingeweiht gewesen). Genaue-
res berichtet zu dieser Stelle der alte Erklärer (Eustratius) aus Heraklides Pon-
tikus: eine unvorsichtige Aeufserung in einer Tragödie erregte solchen Anstofs,
dafs der Dichter durch den Ausbruch des allgemeinen Unwillens genöthigt ward,
zu dem Altare des Dionysus seine Zuflucht zu nehmen ; daran schlofs sich dann
die gerichtliche Verhandlung vor dem Areopag (y^aft] aaeßeias Aeliaii V. H.
V 19) an. Weder Aelian noch Heraklides nennen ein bestimmtes Drama, Apsines
der Rhetor S. 390 IX 478 Walz die Eumeniden (auch der Biograph läfst den Tra-
giker in Folge dieses Stückes Athen verlassen, aber wegen der schreckhaften
Wirkung, die der Eumenidenchor hervorrief, eine durchweg abgeschmackte Fabe-
lei), wohl nur weil die Aufführung dieser Tragödie kurz vor die Entfernung
des Dichters fällt; denn in diesem Drama kommt nichts Mystisches, überhaupt
nichts, was ein öffentliches Aergernifs erregen konnte, vor. Aufserdem ist ein
solcher Vorfall mit der günstigen Aufnahme, welche die Orestie fand, unver-
einbar. Dieser Bühnentumult wird in das nächste .lahr Ol. 80, 3 fallen. Weiches
Drama dazu Anlafs gab, mögen schon die Alten nicht gewufst haben; das Stück
war vielleicht gar nicht erhallen. Eustratius zählt fünf Dramen auf, in denen
die alten Grammatiker Beziehungen auf die Mysterien fanden (To^oxiSas, 'le^tlat,
Siavtpot nerpoxvLarr^s, dann die Ipiiigenie und den Oedipus Ol. 7S, 1). .\uch
Aristophanes bezieht sich wohl auf diese Vorgänge, wenn er in den Fröschen
807 sagt: ovre yuQ ^Ad-rjvaimai. awißcuv^ Aiaxvlot. Es ist übrifrens ein
eigenlhüinliches Zusammentreffen, dafs Aeschylus, der im Jahre vorher in den
Eumeniden sich so warm der Rechte des Areopag» angenommen hatte, eben
vor diesem Gerichtshofe sich zu verantworten genöthigt ward.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRCPPE. DIEBLCTHEZEIT. I.AESCH. 2S3
mochte die Unzufriedenheit mit dem Gange der politischen Entwick-
lung mitwirken. Man kann sich wohl denken, wie ein Mann von
der Sinnesart des Aeschylus an dem öffenthchen Leben keine rechte
Freude mehr fand. Aeschylus gehört offenbar zu der gemäfsigten
Partei, welche das Heil des Staates im ruhigen Bewahren der vater-
ländischen Institutionen fand. Das stürmische Vorwärtseilen mufste
ihm als gefahrdrohend erscheinen, und eben dieses Gefühl des Mifs-
behagens trieb ihn in die Fremde. Immer aber wird uns eine weh-
müthige Empfindung ergreifen, wenn wir sehen, wie der grofse
Dichter fern von der Heimath, fern von seinen Freunden in einer
entlegenen Stadt Sicihens seine letzten Tage einsam verlebt.
Auch in Gela, wo der Dichter etwas über zwei Jahre zu-
brachte*^), war er nicht unthätig. In seinem Nachlasse fanden sich
eine Anzahl Dramen, für deren Aufführung sein Sohn Euphorion
Sorge trug.") Aeschylus starb Ol. 81, 1 im 69. Jahre'®) eines eigen-
thümlichen Todes, indem, wie eine landläufige Anekdote berichtet,
ein Adler eine Schildkröte auf den kalilen Scheitel des Greises, der
auf einem Felsen sitzend meditirte, herabfallen liefs.'^) Anlafs zur
26) Biogr. rgirov ^os.
2") Suidas I 2, 663 : EvfOQitov . . .os xat rdis Aiaxvhtv rov nar^os, oIs
fiTfTKO r,v imdEi^äfievos, reroaxis ivixrjaev.
2S) So die parische Chronik Ep. 59, über die abweichenden Angabea hin-
sichtlich des Lebensalters s. oben S. 278 A. 9.
29) Biographie, Aelian H. A. VII 16 u. a. Man hat dies lange Zeit als histo-
rische Thatsache aufgefafst, und ein ähnlicher Fall mag wirklich vorgekommen
sein. Darauf bezog sich Demokrit, wenn er die Wirkungen des Zufalls erklärte,
s. Schol. Aristot. S, 351 A 48 ff. : rov Se xaxayrjvai zov (paXay.QOv ro xoaviov rbv
aerov oiyiavra rr^ xskcövrjv (airiov), 071cos.ro ^^Xcöviov ^a^, jedoch ohne einen
Namen zu nennen, wie es scheint. Neuere haben das Ganze für eine spafshafte
Erfindung erklärt. Aber so schalen Witz über den Kahlkopf des gi'ofsen Dichters
würde die bildende Kunst schwerlich verewigt haben: ein geschnittener Stein
stellt diese Todesart des Aeschylus dar, wohl eben eine freie Beproduction
des Bildes, mit dem ursprünglich die Grabstelle geschmückt war. Dafs Adler
auf Schildkröten Jagd machen, ist nichts Ungewöhnliches (vgl. Hesych x^Xto-
vofäyot); nach dem Volksglauben findet der kranke Adler durch den Genufs
des Schildkrötenfleisches Genesung, wie Oppian in den 'I^evrixä (Paraphrase
des Euteknius S. 107) berichtet. Eine solche Symbolik entspricht ganz dem
Charakter der alterthümlichen Kunst. Daraus entstand später, als das rechte
Verständnifs dafür verschwunden war, jene Sage, indem man in rein materiel-
ler Weise den Adler mit dem Tode des Dichters in Verbindung brachte. Die
Schildkröte als Sinnbild der Poesie überhaupt oder speciell der Aeschyleischeo
2S4 IIRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Entstehung dieser Sage gab wohl eine bildHche Darstellung des
Dichters, wahrscheinHch eben auf seinem Grabsteine zu Gela, wo
der Adler mit der Schildkröte als sinnvolles Symbol andeuten sollte,
der Dichter sei genesen und durch den Tod von allem irdischen
Leide befreit. Die Bürger von Gela ehrten das Andenken des Aeschy-
lus in gebührender Weise; sie veranstalteten nicht nur ein üffent-
liches Lcichenbegängnifs, sondern errichteten ihm auch ein Denk-
mal.^") Noch in späterer Zeit suchten Reisende die letzte Ruhestätte
des Aeschylus auf, und tragische Dichter pflegten dort seinem An-
denken ein Todtenopfer darzubringen.^') Aber auch in Athen war
man seiner Verdienste wohl eingedenk ^^), indem man dafür Sorge
trug, seiner Poesie eine bleibende Wirkung zu sichern.
In der tragischen Dichtung fand Aeschylus seinen Lebensberuf;
nur nebenbei hat er sich in der Elegie versucht. So schrieb er
im Weltkampfc mit Simonides ein Trauergedicht zum Gedächtnifs
der bei Marathon gefallenen Helden ^^), zog aber dem Meliker gegen-
über, der wie kein anderer die Kunst, zu rühren und zarte Empßn-
dungen zu wecken, verstand, den Kürzeren.
Zahl der Mehr als vierzig Jahre war Aeschylus ununterbrochen für die
ramen. jjyjj,^^. tiiytjg. Der umfangreiche Nachlafs, soweit er den Alexandri-
nern vorlag, neunzig Dramen, darunter zwanzig Satyrstücke ^'), be-
Dichlkunst, die scliwerfällig wie eine Schildkröte, kühn wie ein Adler sei, auf-
zufassen widerstreitet dem Geiste des Allertlinms.
30) Die einfache Grabschrift in zwei Distichen (s. Biographie), welche der
dichterischen Thätigkeit mit keinem Worte gedenkt, sondern nur auf den An-
Iheil an der marathonischen Schlacht hinweist, soll Aeschylus selbst verfafst
haben. Athen. XIV 027 0, Paus. 11 4, 5.
31) Biographie,
32) S. nachher. Später ward dem Diciilcr im Theater eine Slaiuo er-
richtet, wie man auch auf dem Gemälde von der marathonischen Srhlaciit (in
der arou tioixÜ.i]) sein Bild erblickte. Paus. I 21, 2. Eine Marmorbüste aus später
Zeit und von mäfsigem künstlerischen Verdienst im Capitolinischen .Museum
hat man Aeschylus benannt, weil man eine gewisse Aehnlichkeit der Züge mit
den Darstellungen des Dichters auf Gemmen zu erkennen glaubt. Im Theater
zu Pompeji war, wie eine dort gefundene Maske mit der Aufschrift ^iayj'/.ov
andeutet, eine Abtheilung der Sitzplätze dem Dichter zu Ehren benannt, aber
nichts berechtigt zu der Annahme, dafs dort norli eine Statue des Aoschyliis
aufgestellt war.
33) Biographie.
34) Der Widerspruch zwischen Suidas: ^y^aftr nal iXeyela nal rpaytp-
8ias ivBvfiKovxa und dem Biographen: inolrjot Si S^aftaia o', tial ini toi»
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE RLÜTHEZEIT. I. AESCH. 255
kündet die grofse Fruchtbarkeit des Dichters. Von diesem reichen
Schatze sind auf uns nur sieben Tragödien und aufserdem eine mäfsige
Zahl Bruchstücke der verlorenen Dramen gekommen.
Man empfängt den Eindruck, dafs Aeschylus im Fluge der Be-
geisterung seine Dichtungen entwarf und ausführle; aber sie ruhen
nichts desto weniger auf gewissenhaften Studien. Reiflich erwog der
Dichter den Plan seiner Dramen und arbeitete sie sorgsam im Ein-
zelnen aus. Dies gilt besonders von den kunstreichen meHschen
Gesängen. Durchschnittlich kommt ein Zeitraum von zwei Jahren
auf eine Tetralogie. Anfangs mag er noch langsamer gearbeitet
haben, wie auch Sophokles und Euripides erst im reiferen Alter zu
rascherem Produciren gedrängt werden.
Wie erfolgreich die Bestrebungen des Aeschylus waren, zeigt
Tois aatv^ry-a afi(fißo7.a e, läfst sich leicht ausgleichen. Suidas versteht unter
rqaycoSiai Dramen, also sind die Satyrstücke mit inbegriffen, der Biograph
nennt die Tragödien Soauara und sondert davon die Satyrspiele. Nur ver-
mifst man hier eine Angabe der Zahl; denn jetzt sieht es aus, als habe
Aeschylus nur fünf Satyrdramen und alle von bestrittener Echtheit hinterlassen,
während wir noch jetzt eine gröfsere Zahl nachweisen können: offenbar ist
zu lesen : xal ini rovrois aazvqixa x', tw v au^ißoXa e. Nun stimmen beide
Gewährsmänner vollständig überein. Unter den fünf verdächtigten Stücken
sind wohl nicht blofs Satyrspiele, sondern auch Tragödien zu verstehen; wenig-
stens werden im Verzeichnisse ausdrücklich Altvalai yvr,aiai und Airvaiat
vod'oi unterschieden. Auch das Zahlen verhält nifs siebzig Tragödien, zwanzig
Satyrstücke erscheint ganz angemessen; denn da die Einführung der Tetralogie
erst später erfolgte , verbleiben für die Anfänge der Aeschyleischen Poesie
mindestens zehn Einzeldramen. Doch darf man nicht ohne Weiteres zwanzig
Tetralogien annehmen. Die Zahl der Tetralogien mag geringer, die der Einzel-
drameu gröfser gewesen sein : denn auch in der ersten Periode wird Aeschy-
lus Salyrstücke geschrieben haben, während andererseits wieder Satyrdramen,
für die später nur geringes Interesse vorhanden war, verloren gegangen sein
mögen. Aufserdem hat Aeschylus wohl auch später zuweilen eine einzelne
Tragödie gedichtet, wie die AiTvdiai; gerade bei einem Gelegenheitsstücke
mochte er zu der früheren Weise zurückkehren. So ist also eine genaue Be-
rechnung der Tetralogien nicht ausführbar. Der Biographie angehängt ist ein
alphabetisch geordnetes, aber unvollständiges Verzeichnifs ; hier werden drei-
undsiebzig Dramen aufgezählt (eigentlich nur zweiundsiebzig; denn <pQvytot
beruht auf einem Schreibfehler). Das Verzeichnifs war in fünf Reihen zu je
achtzehn Namen geschrieben; eine Columne ist ausgefallen. Diesen Verlast
können wir nur theihveise ergänzen; man vermifst aufserdem Plavxos üorvievs
und ^iavfos jterQOxvltar^s, auch die 'Alxftr^vri, OaXafionoioi, 'h^elat, HaXa-
fiTiSrii, <Pivavs und ^iigei^via.
286 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
die grofse Zahl der Siege: dreizehnmal ward ihm bei Lebzeiten
der erste Preis und noch öfter die gleiche Ehre dem todten Dichter
zuerkannt^); denn ein besonderes Gesetz gestattete gleich nach des
Aeschylus Tode die Zulassung seiner Dramen bei der Bewerbung
um den tragischen Preis. Diese älteren Stücke wurden den neuen
Tragödien gleich gehalten. Dafs durch diese Wiederaufführungen
die Poesie des Aeschylus manche Einbufse erlitt, ist nicht zweifel-
haft.*»)
Die ersten Arbeiten des Aeschylus werden sich von den Dich-
tungen der älteren Meister nicht wesentlich unterschieden haben ;
es waren dramatisch-lyrische Gedichte ohne rechten Fortschritt der
Handlung. Von diesen Anfängen ist uns nichts erhalten. Die Tra-
gödien, welche wir besitzen, erfordern zwei, zum Theil drei Schau-
spieler. Diese sieben Dramen zeigen wieder bemerkenswerthe Unter-
schiede und zerfallen in zwei Gruppen : dem mittleren Lebensalter
gehören die Perser, die Sieben vor Theben und die Schutz-
flehenden, der letzten Periode die Orestie und der Prome-
theus an.
Dramen der Im Drama tritt der Hauptperson eine andere gegenüber. Aus
ers^ien^ Pe- ^gj^ Kampfe der gegen einander wirkenden Kräfte geht der Fort-
35) Biographie: vixae Si ras näoae si'Xrjipe ly, ovx oXiyae Si ftsrn Ttlev-
iTiV vixae anrjveyxaro. Wenn Suidas sagt: vixae elXev xrj , so ist dies kein
"Widerspruch; hier sind eben die Siege nach dem Tode mitgezählt. Den Preis
erhielt der jedesmalige Chormeister, aber die Ehre des Sieges fiel natürlich
dem Verfasser zu. Darunter sind auch die vier Siege mit inbegriffen, welche
Eiiphorion (s. Suidas EvipoQiav I 2, 663) nach des Vaters Tode mit xaivai rga-
yt^Siat gewann. Doch ist diese Notiz vielleicht ungenau und von Siegen des
Euphorion mit älteren und neuen Stücken zu verstehen; denn sonst müfste
Aeschylus vier fertige Tetralogien hinterlassen haben.
36) Quintilians J^ugnifs X 1, 66: correctas eius fabulat in certamen de-
ferre posterioribus poetis Athenienses permisentnt ist vollkommen glaubwür-
dig. Die SävTQiai waren den alten Grammatikern nicht unbekannt, aber erst
Askiepiades fand zu Athen (Schol, Arisloph. Frösche 1344: ^v t*»-» täv ^■:iO'
■d-trtov, so ist statt Sta&eratv [Staatod'ev'iov Dübner nach Dobraeus] zu lesen)
die echte Gestalt des Stückes wieder, auf welche sich auch Plato Rep. II 381 D
bezieht. Wie man dazu kam, die Hera, welche in Gestall einer Priesterin Al-
mosen einsammelte, zu entfernen, liegt auf der Hand; nur sieht man nicht
recht ein, wie eine solche Episode zu dem Thema dieses Stückes pafsle. Auch
irrt Askiepiades, wenn er bei Aristopbanes eine Anspielung auf diese Partie
fand, da dort vielmehr Euripidcs parodirt wird.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRCPPE. DIE BLÜTHEZEIT. I.AESCH. 287
schritt der Handlung hervor; darin Hegt vorzugsweise das drama-
tische Interesse. Dieser Gegensatz kann aber nur dann wirksam
dargestellt werden, wenn sich zwei Schauspieler in die Aclion theilen.
Indem Aeschylus den Deuteragonisten einführt und so einen regel-
mäfsigen Dialog ermöglicht und zum Schwerpunkte des Dramas macht,
sucht er das Handeln und Leiden in voller Gegenwärtigkeit darzu-
stellen. Allein dieses Ziel hat der Dichter nicht mit einem Male
erreicht; es dauert geraume Zeit, ehe der Deuteragonist zur vollen
Anerkennung gelangt. Die Hauptperson nimmt überwiegend das In-
teresse in Anspruch. Die gegenüberstehende Macht wird nur in ihren
^Yirkungen dargestellt, nicht unmittelbar vor Augen gerückt; daher
kommt auch die Handlung nicht vollkommen zu ihrem Rechte.
So schildert in den Persern der Bote die Thaten der Hellenen,
welche hochherzig den Kampf mit der persischen Weltmacht auf-
nahmen. Hier fällt also die Katastrophe vor das Stück, und der
Dichter begnügt sich, nur die Folgen dieser Niederlage darzustellen.'^)
In den Sieben vor Theben ist zwar die Handlung in das Drama
selbst verlegt, aber auch hier kommt es nicht zur vollen Gegen-
wärtigkeit; nur Eteokles tritt auf. Der Conflikt der feindlichen Brüder
wird mehr geschildert, als wirküch zur Anschauung gebracht. Auch
in den Schutzflehenden werden die Söhne des Aegyptus nicht selbst
vorgeführt; jedoch ist ein Fortschritt nicht zu verkennen, indem die
feindliche Macht durch den Herold repräsentirt wird.
Erzählung und Beschreibung, wie in den Persern die Boten-
berichte, in den Sieben die Schilderung und Charakteristik der the-
banischen und argivischen Helden, beanspruchen einen breiten Raum;
daher wird dem eigentüchen Dialoge nur ein knappes Mafs vergönnt.
Das dramatische Leben ist gering, die Handlung einfach. Jedoch
nimmt man deutlich einen Fortschritt wahr, indem die Charaktere
in den Sieben schon mit viel bestimmteren Umrissen gezeichnet
werden, als in den Persern.
Nicht minder bezeichnend ist das Verhältnifs zwischen den Reden
der Schauspieler und den Gesängen des Chores. In diesen drei
Tragödien halten die gesprochenen Verse und die melischen Par-
tien sich vollkommen das Gleichgewicht. In den Anfängen der tra-
gischen Kunst war das lyrische Element das Vorwaltende, die Reden
37) Aehnlich auch Phrynichns in seinen Phönissen.
288 DRITTE PERIODE VO.N 500 BIS 300 V. CHR. G.
der Schauspieler nur eine Beigabe. Jetzt bringt Aeschylus das Drama-
tische zur Geltung, aber der Chor wird noch nicht zu einer blofsen
Nebenligur herabgesetzt; er hat noch mehr oder minder Anlheil an
der Handlung. Vorsichtig und schonend volkieht der Tragiker diese
Neuerung. Der Weise der ältesten Tragödie stehen die Schutzflehen-
den am allernächsten; denn hier ist der Chor noch selbst Träger
der dramatischen Handlung.'^) Aber auch in den Persern liegt der
Schwerpunkt eigenlüch im Chore. Der Atossa, dem Xerxes, dem
Schatten des Darius fallen nur Nebenrollen zu; daher werden auch
beide Dramen durch den Chor erölfnet.^®)
Die Perser. Die Perser, unter den erhaltenen sieben Tragödien des Aeschy-
lus wohl das älteste Stück, vergegenwärtigen keineswegs die Anfänge
der tragischen Kunst des grofsen Meisters ; denn das Drama ist Ol.
76, 4^°), also wenige Jahre nach den siegreichen Kämpfen gegen
die Meder aufgeführt. Die Perser sind das einzige historische Drama,
welches wir besitzen. Ereignisse der unmittelbaren Gegenwart, von
denen der Dichter nicht nur Augenzeuge war, sondern an denen
er sich selbst handelnd betheiligt hat, werden uns hier vorgeführt.
Aber wie Aeschylus unbeirrt durch persönliche Vorurtheiie oder Ab-
neigung den Freiheitskampf der Hellenen schildert, so ist über das
Ganze ein Geist der Versöhnlichkeit und Milde ausgegossen, so dafs
auch der besiegte Gegner in würdiger Weise dargestellt wird , die
den Dichter selbst am meisten ehrt.
An dem Sitze der persischen Fürsten (Persepolis?) vor dem
Palaste und in unmittelbarer Nähe der Königsgräber geht die Hand-
lung vor sich.") Der Chor, aus greisen Männern, den höchsten
Würdenträgern des Reiches, bestehend, eröfl'net das Stück, indem er
in seinem Gesänge das zahllose wohlgerüslete Heer, welches gegen
38) Da der Dichter nicht blofs eine Tochter des Danaus einrahren konnte,
mursle er den Chor zur Darstellung der Danaiden verwenden, aber er fügt
noch einen Nebenchor der Dienerinnen hinzu.
3!}) Die Perser beginnen mit einem Prolog in Trimetern, ebenso die Phö-
nissen des Phrynichus.
40) Die Didaskalie besagt: ^Eni Msvaivoi -rgaycoSöJv Alaxü^i ivixa </>i-
vel, Ui^aait, rXnvxq», IToour]x9si. Ob in einer Insclnifl von Teos bei Lebas
III 91 Si)äfiaxt IliQaaii die Tragödie des Aeschylus oder ein spätes liiera-
risches Produkt zu verstehen ist, läfst sich nicht erkennen.
41) Der Scholiast Aristoph. Frösche 1028 sagt: xa fiiv itQayfwra vnoxu-
rai ip Sovaoii, allein '
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRIPPE. DIE BLÜTHEZEIT. I. AESCH. 289
Hellas ausgezogen war. schildert, aber zugleich auch die Besorgnifs
ausspricht, dafs diese stolze Macht dem Untergange geweiht sei.
Denn dafs die Perser auf ein neues ungewohntes Unternehmen, auf
einen Zug in überseeische Länder, sich eingelassen haben, erfüllt
das Gemüth der Greise mit banger Furcht, die feindlich gesinnte
Gottheit möge den Fürsten in diese Versuchung geführt haben; denn
kein sterbHcher Mensch könne, wenn er einmal der verführerischen
Täuschung nachgegeben, aus dem Netze, in welches er sich ver-
strickt, entrinnen. Da erscheint die Königin Atossa, des Xerxes
Mutter, und theilt den Getreuen mit, wie ein Traumgesicht in der
letzten Nacht sie erschreckte. Sie habe zwei edle, reichgekleidete
Frauengestalten, eine in persischer, die andere in hellenischer Tracht,
gesehen ^^), welche zum Kampf bereit einander gegenüberstanden;
da habe ihr Sohn den Streit gehemmt und beide vor seinen Wagen
gespannt. Willig fügt sich die eine dem Joch, während die andere
den Wagen zertrümmert, so dafs der Lenker herabstürzte. Da trat
Darius voll Betrübnifs heran, und Xerxes, als er den Vater erbhckte,
zerrifs unter lautem Wehklagen seine Gewänder. So benutzt der
Dichter in wirksamster Steigerung das Ahnungsvolle des mensch-
lichen Herzens und rückt das dunkele Verhängnifs, was sich alsbald
verwirkHchen soll, vor das geistige Auge des Zuschauers.
Der Chor räth der bekümmerten Königin, mit Gebet und Opfern
sich den Göttern zu nahen, um die drohende Gefahr abzuwenden,
und vor allem den Geist des Darius um seinen Schutz und Segen
anzuflehen. Das Zwiegespräch, wo die Königin Fragen über Athen
und Griechenland an die Greise richtet, dient dem Dichter dazu,
um in knappen, aber kräftigen Zügen das Bild seiner freien Vater-
stadt zu entwerfen. In diesem Moment tritt eilenden Laufes ein
Bote auf und meldet den schweren Schlag, der die persische Macht
betroffen hat. Mit dramatischer Lebendigkeit wird die Entschei-
dungsschlacht bei Salamis geschildert. Der Dichter weifs bei aller
Ausführlichkeit doch den reichen Stoff vollkommen zu beherrschen
und Mafs zu halten. Und dasselbe gilt auch von dem folgenden Ge-
sänge des Chores, der, als plötzlich jene düstere Ahnung eines nahen
42) Beachtenswerte ist, wie hier einmal das Bewufstsein der ursprüng-
lichen Verwandtschaft der Völker durchbricht; denn Persien und Hellas werden
V. 185 als xaaiyvTjra yivovi tavTOv bezeichnet.
Bergk, Griecb. Literaiurgescbichte HI. 19
290 DRITTE PERFODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Unglücks sich verwirklicht hat, den unersetzlichen Verlust heklagt
und zugleich die Besorgnifs ausspricht, dafs auf die Kunde dieser
Niederlage die persischen Unterthanen in Vorderasien das drückende
Joch abschütteln würden. Indem Atossa das Todlenopfer am Grabe
des Gemahls darbringt, beschwört der Chor in einem kurzen, aber
lief empfundenen Liede den Schatten des weisen, vielgeliebten Herr-
schers, zu erscheinen. Und alsbald steigt der Geist des Darius empor
und erklärt, dafs Xerxes selbst durch seine Unbesonnenheit sich
dieses Unheil zugezogen , indem er unachtsam gegen des Vaters
Warnungen Hellas angriff und gegen der Gütler Willen sich das
Meer zu unterwerfen strebte. Darius verkündet weiteres Unglück;
auch der Rest des persischen Heeres sei dem Untergänge geweiht ^^),
weil man gegen die Heihgthümer der Gülter im Feindeslande ar-
gen Frevel verübt hal.''^) Unter nachdrücklichen Warnungen vor
Ueberrauth verabschiedet sich der Schalten. Passend schildert der
Chor in einem kurzen Gesänge das Glück, welches Persien unter
der Herrschaft des Darius genofs, sowie die grofse Macht, welche
derselbe, indem er sich weise zu beschränken verstand, erworben
hatte, während sein Nachfolger leichtsinnig alles aufs Spiel setzte.
Da tritt Xerxes selbst auf, ein erschüpflcr Flüchtling, in zerrissenem
Gewände, von Reue und Verzweiflung gequält, und mit einem Klag-
gesange, der zwischen dem unglücklichen Fürsten und seinen Ge-
treuen gleichmäfsig vertheilt ist, schliefst die Tragödie.
Die dramatische Handlung des Stückes ist gering. Neben den
43) Mit klaren Worten wird auf die Schlacht bei Platää hingewiesen
V. 805: kvd'a neSiov It4a(07i6e ^odle a^Set, (piXov niatjfia Boioixwv %d'ovi,
44) Wiederholt beruft sich Darius auf Orakelsprüche, die sich erfüllt hät-
ten, wie V. 739 und 800. Aufser delphischen Sprüchen waren noch, bevor der
Krieg begann, Orakel unter Musäus', Uakis' und anderer Namen in Umlauf, die
entweder direkt auf den Ausgang des Mederkrieges hindeuteten oder doili
darauf bezogen wurden, Herod. Vlll 20. 77. 96. Auch die l'erser hatten zum
Theil Kunde davon. Onomakritus theille dem Xerxes natürlich nur die den
Persern günstigen Sprüche mit; darunter bezog sich einer auch auf die Ueber-
brückung des Hellespontes (ilerod. VII (j : xov 'EkXr'janovTov oJs gev^'^^''« XQ^^v
eil? vtt' avSQos Utqaeoj). Mardonius kannte nach Herodot (IX 42) ein Orakel,
welches den Untergang des ganzen persischen Heeres verkündete, wenn er das
delphische Hciliglhum zerstören würde, Herodot bemerkt jedoch (IX 43) selbst,
dieses Orakel beziehe sich nicht auf die Perser, sondern auf die Hlyrier; daher
theilt er einen Spruch des Bakis mit, wo mit deutlichen Worten die Niederlage
der Meder am Asopus prophezeit wird.
1
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE DLÜTHEZEIT. I.AESCB. 291
umfangreichen melischen Partien nimmt das erzählende Element einen
breiten Raum ein , aber immer neue ergreifende Bilder werden in
rascher Folge und schicklicher Steigerung vorgeführt, und die lyri-
schen Ergüsse des Gefühls hegleiten jeden Moment der Handlung mit
stimmungsvollem Ausdruck und melodischen Klängen, so dafs eine
echt tragische Wirkung erzielt wird.
Die Perser waren das Mittelstück einer Trilogie. Aber kein stoff-
liches Band verknüpfte die einzelnen Dramen, sondern mitten unter
uralten mythischen Ueberlieferungen ^*) wird eine Begebenheit aus
der unmittelbaren Gegenwart vorgeführt. Dafs auch so ein gewisser
ideeller Zusammenhang zwischen den vier mit einander verbundenen
Stücken stattfand, läfst sich voraussetzen, aber nicht mehr nach-
weisen. Schon einige Jahre früher ^^) hatte Phrynichus unter dem
frischen Eindrucke der grofsen Ereignisse seine Phönissen gedich-
tet. Aber dies hielt Aeschylus nicht ab, sich von neuem an diesem
Stoffe zu versuchen. Aeschylus verdankt seinem Vorgänger gewifs
manches. Gleich der Eingang des Stückes mufs bei Phrynichus ähn-
hch angelegt gewesen sein. Aber auch in einem anderen sehr bedeut-
samen Punkte stimmen beide Tragiker überein, indem nicht so sehr
der patriotische Opfermuth der Hellenen und die VerherrHchung ihrer
Heldenthateu, sondern vielmehr der tiefe Fall der persischen Welt-
macht den eigenthchen ^Mittelpunkt bildet, daher auch in beiden
45) Auf die drei Tragödien Phineus, Perser, Glaokus folgte das Satyrdrama
Prometheus. Glaukus wird in den älteren Scholien ohne weiteren Znsatz auf-
geführt. Ist dies richtig, dann hatte damals Aeschylus noch kein anderes Stück
dieses Namens verfafst, so dafs ein erklärender Zusatz ebenso entbehrlich schien,
wie bei dem Satyrdrama, welches den Feuerraub des Prometheus darstellte.
Indes liest der jüngere Scholiast, der eine theilweise bessere und vollständigere
Handschrift benutzt hat, rXavxto Iloxviei. Dann schilderte diese Tragödie das
grauenhafte Schicksal des Sisyphiden, der von seinen eigenen Rossen zerrissen
ward. Die Vermuthungen der Neueren über den Inhalt und die speciellen Be-
ziehungen des anderen Stückes rXavxos Ilövrtos schweben ganz in der Luft,
da sie nur auf der unerwiesenen Voraussetzung beruhen, dafs eben dieses Stück
zur Persertrilogie gehört habe.
46) Die Phönissen des Phrynichus sind wahrscheinlich Ol. 75, 4 aufge-
führt Dafs Aeschylus mehrfach dem Phrynichus folgte, hatte der Rheginer
Glaukus nachgewiesen, s. Scholien (Hypothesis): rlavxos iv toI» ixeoI Alaxv}Mv
fjLv&ois ix liöv fPoiviaaüv <pQvvixov (prjai xovs Ildoaae ■naoansnoifiod'at. Ein
Eunuch, der die Sitze für den persischen Reichsrath mit Teppichen belegte,
eröffnete mit einem Prolog in Trimetern die Phönissen des Phrynichus.
19*
292 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Tragödien die HandluDg in den fernen Orient verlegt wird. Aber
indem so beide Dichter den gewaltigen Eindruck schilderten, den
die Kunde von den Siegen der Hellenen im Feindeslande hervor-
rief, setzten sie den Grofsthaten ihres Volkes das schönste Denkmal.
Im Uebrigen wird Aeschylus seine Selbständigkeit gewahrt haben.
Nur kann von einem politischen Gegensatze zwischen ihm und seinem
Vorgänger nicht die Rede sein. Denn die Vermuthung Neuerer,
als habe Phrynichus ganz besonders die Verdienste des Themistokles
hervorgehoben und lediglich im Parteiinteresse die Phönissen ge-
schrieben, um das bereits wankende Ansehen seines politischen
Freundes zu stützen, während Aeschylus den Ruhm des Aristides
und die Redeutung seiner mafsvoUen Pohtik in den Vordergrund
zu stellen suche, ist unbegründet. Wie Phrynichus sich im Leben
und im Reiche der Poesie zu den streitigen Fragen des Tages ver-
hielt, ist uns völlig unbekannt. Aeschylus aber, obwohl er seiner
ganzen Sinnesweise gemäfs der gerechten und besonnenen Politik
des Aristides den Vorzug vor der selbstsüchtigen Staatskunst des
Themistokles, der am liebsten krumme Pfade wandeile, geben mufste*^,
hat doch gerade in diesem Drama geflissentlich jede Reziehung auf
den Kampf der politischen Parteien vermieden. Wie der alte Z^^^e-
spalt der hellenischen Stämme und der erbitterte Hader der Par-
teien angesichts der drohenden Gefahr wenigstens momentan ver-
stummte und der beste Theil der Hellenen sich zur Abwehr des
gemeinsamen Feindes verband, so führt uns auch der Dichter das
grofsartige Schauspiel jenes einträchtig erkämpften Sieges über das
Rarbarenthum vor, ohne dafs ein Mifston die Harmonie des Ganzen
störte."') Während Aeschylus die Führer des Perserheeres überall
47) Dafs man in den Sieben gegen Theben die berühmten Verse 592: ov
yaq Sotcelv a^taros {Sixatos), aXk' clvai &£lei, ßad'eiav nXoxa Siä tpQSvoe xap-
novfievoe, i^ ^s ra xeSvt ßXaarävsi ßovXevfiaxa allgemein auf Aristides be-
zog , dafs nach einer freilich problematischen Ueberliefening das attische Thea-
terpublikum, als es zum ersten Male diese Verse vernahm, seine Blicke auf
den anwesenden Aristides richtete (Plut. Arist. c. '.)), ist bekannt. Aber die Verse
passen auch vortrefflich für die Schilderung des edeln Amphiaraus, und nichts
deutet auf eine vom Dichter beabsichtigte Nebenbeziehung hin. (S. S. 299 A. 04.)
4b) Ob Phrynichus nur den Sieg bei Salamis heraushob, die Schlacht bei
Platää überging, wie man vermuthet hat, läfst sich nicht erweisen, und wenn
es sich so verhielt, kann lediglich die Rücksicht auf die poetisclie Coniposilion
seines Dramas mafsgebend gewesen sein, nicht aber die Absicht, das Verdienst
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE, II. GKCPPE. DIE BLÜTHEZEIT. I. AESCH. 293
mit Namen bezeichnet, Avird kein Hellene genannt. Und wie hätte
auch der Dichter aus der Fülle glänzender Namen einzelne hervor-
heben können, ohne gegen andere ungerecht zu werden! Es waren
ja eben jene Siege eine gemeinsame That der Nation. Aufserdem
waren diese Begebenheiten und der ruhmvolle Antheil der Ein-
zelnen im frischen Andenken , so dafs es der Nennung der Namen
gar nicht bedurfte. Wohl aber ist eine tiefere ethische Beziehung
auf die unmittelbare Gegenwart nicht zu verkennen. Durch die Siege
über die Meder war das Selbstgefühl der Hellenen mächtig gehoben.
Die Besorgnifs, dafs das Volk sich über die Schranken der Zucht
und des Mafses hinwegsetzen werde, lag nahe. Indem der Tragiker
den tiefen Fall der persischen Macht schildert, der durch üeber-
muth und Götterverachtung des Königs wie des Volkes veranlafst
war, führt er ein Beispiel der Hinfälligkeit alles Irdischen, eine
ernste Warnung gegen Vermessenheit vor. In dem Satze, dafs De-
muth und Gottesfurcht dem Krieger allein den rechten Muth zu ver-
leihen vermag, während Hoffahrt und Uebermuth zum üebel aus-
schlägt, ist recht eigenthch der Kern der Tragödie enthalten ; daher
erkennt auch Aristophanes ^') die patriotische Tendenz des Stückes
gebührend an. Wohl haben andere griechische Dichter sich oftmals
ähnüch ausgesprochen, aber wenn irgend wo, so war damals dieser
Gedanke zeitgemäfs und durch die Erfahrungen des letzten grofsen
Krieges nahe gelegt. Auch Pindar, der mit Aeschylus in so vielen
Punkten übereinstimmt, äufserte sich in gleichem Sinne.
Eine gewisse lokale Färbung steht dieser Tragödie sehr wohl
an. Schon die zahlreichen persischen Namen, die der Dichter gewifs
nicht ohne Absicht an einzelnen Stellen häuft, machen einen fremd-
artigen Eindruck, während mit gutem Bedacht die Namen der frem-
den Götterwelt fern gehalten werden. Ja, Aeschylus trägt hier kein
Bedenken, die hellenischen Namen des Phöbus und Hermes, des
des Aristides dem des Themistokles gegenüber in Schatten zu stellen. Aeschy-
lus hebt die Waffenthaten der Hellenen in vielen Schlachten hervor, eben weil
er zeigen will, wie die persische Macht sowohl zu Wasser als zu Lande ge-
brochen ward. Dafs auch der Kampf auf der Insel Psyttalia (Aesch, Pers. 447 ff.),
wo der günstige Erfolg hauptsächlich dem Aristides verdankt ward, ausführ-
lich geschildert wird, ist nur sachgemäfs, und man darf darin keine Partei-
nahme für Aristides finden.
49) Aristophanes Frösche 1026.
^94 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Zeus und Aidoneus den Persern in den Mund zu legen. Wohl
aber hat er, von richtigem Gefühl geleitet, vermieden, eine Gottheit
auftreten zu lassen. Die Geistererscheinung leistet einen viel wirk-
sameren Dienst. Dafs in diesem Drama, welches nicht eine sagen-
hafte Begebenheit der fernen Vorzeit, sondern ein geschichtliches
Ereignifs aus nächster Nähe darstellt, eine Schhchtheit des Tones
herrscht, liefs sich von dem kunstverständigen Meister erwarten.
Wohl aber ist die Sprache, avo sie den Bilderschmuck nicht ver-
schmäht, wie in mancher eigenthümlichen Wendung dem orienta-
lischen Charakter angenähert, obschon der Dichter mit weiser Mäfsi-
gung verfuhr und dem Geiste der griechischen Sprache nicht untreu
wird.^) Die zahlreichen Interjectionen , unter denen sich manches
Ungewöhnliche findet*'), versetzen uns unwillkürlich in eine fremde
Empfindung, und noch wirksamer mochten die Melodien sein, welche
die Gesänge begleiteten.") Aber auch in Gedanken und Anschauungen
giebt sich das orientalische Wesen kund. So wird ganz besonderer
Werth auf den Prunk der äufseren Erscheinung gelegt. Die Worte
mit denen die Rede des Darius abschliefst"), erscheinen mit dem
Ernst der Situation nicht recht verträghch, erinnern aber unwill-
kürlich an die berufene Grabschrift des Sardanapalus. Das Jammer-
geschrei und die mafslosen Wehklagen des Xerxes und des Chores,
mit denen das Drama abschhefst, haben manche unpassend gefun-
den, aber Aeschylus hat auch hier nur getreu die Persersitte ge-
schildert.") Wenn Aeschylus die Herrschaft des Darius in idealem
Lichte schildert, so hat er damit sicherlich die Anschauungsweise
50) So nennt der Dichter die Fische des Meeres ävavSoi nalSes ras
aftiavrov (V. 577). Die Biene heifst schlechthin av&efAOVQyoe (V. (512), der reine
Quell Ttagd^Evos nrjyrj (V. 613). Ob auch oiaroSe'yftcav (V. 1020), d. h. der
Köcher hierher gehört, ist zweifelhaft. Hochallerthünalich ist ßakh)v a^x^^oe
ßaXlriv (V. 657. 665). Wie passend gerade hier Wendungen wie Sdanora Ssanö-
rov fV. 66ti) oder TTtaza ntaxwv (V. 6S1) sind, fühlt jeder.
51) Die Interjection o«, die mehrmals vorkommt, nennt der Scholiast cu
V. 116 UeQaixov &QT]vr]fta; doch verlangt das Metrum dort vielmehr wa.
52) Perser 937: MaQiavSvvov d'Qvvr]xli}^oi rcifixpo} TcoXvSax^w ictxxav,
1054 : tmßoiv to Mvaiov. Vgl. auch V. 633.
h:\) Perser 840 ff.
54) Man vcrfjleiche die Schilderung der Trauer über den Tod des Rciter-
führers Masistius bei Herodol IX 24, wo besonders die oiutoyr] anXeroi hervor-
gehoben wird, von der ganz Böotien wiederhalite: ol niv vw ßä^ßa^i tqöik^
it7> aftrioiü anod'aviivta drifiior Mnaiariov, fügt der Historiker hinzu.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. 11. GRDPPE. DIE BLÜTHEZEIT. I. AESCH. 295
getroffen, welche unter den Persern damals die herrschende war.
Dem Tragiker selbst mag dies nicht bewufst gewesen sein ; ihm kam
es hauptsächlich darauf an, durch diesen Contrast das unheilvolle
Regiment des Xerxes in das rechte Licht zu rücken.
Das Stück, welches mit Beifall aufgenommen wurde und den
ersten Preis erhielt, brachte Aeschylus bald nachher in Syrakus wieder
auf die Buhne, wohl nicht ohne Abänderungen im Einzelnen.")
Eine Andeutung findet sich noch da, wo Darius zur Atossa sagt^),
sie solle aus dem Palaste Kleider, wie sie für den König sich ziem-
ten, holen, dem Sohne entgegengehen und ihn in seinem Leide
trösten ; denn nur die Mutter werde dies vermögen. Man erkennt
deutlich, wie hier eine spätere Scene schon vorbereitet wird. Allein
die Ausführung entspricht nicht dieser Ankündigung; denn Atossa
erklärt sich zwar bereit, dem Gebote zu willfahren, und tritt ab,
erscheint aber nicht wieder, sondern mit den Klagegesängen des
Xerxes und der Greise schliefst das Drama. Uns liegt offenbar die
zweite Bearbeitung vor, wo der Dichter den Schlufs abgeändert hat,
ohne jedoch die Verse, welche einen anderen Ausgang ankündigen,
zu tilgen.
Die Sieben gegen Theben sind Ol. 78, 1 aufgeführt. Mitbewer- Die sieben
ber um den Preis waren Aristias und Polyphradmon , die Söhne /heb^eo
der älteren Kunstgenossen Pratinas und Phrynichus.'^ Aeschylus
55) Schol. Aristoph. Ran. 102S: Soxovai Si ovroi oi Tlsoaat vTto xov
Alcx^Xov SeStSä/^d'at (lies dvaSr.SiSäxd'ai) ev 2!vQaxovaais , anovSäaavros
'le'^tavos, cos <priaiv 'Eoaroa d'evrjs iv y Tieqi xcoftcpSiiäv, und der Biograph des
Aeschylus: <Paaiv vrtb ItQcovos a^nod'ivxa avaSiSä^at rovs Ilioaai iv 2i-
xeXiq xai liav evSoxifir^cai. Diese Nachricht beruht gewifs auf glaubwürdiger
Ueberlieferung. Aber wenn alte Erklärer des Aristophanes, wie Herodikus, einen
Beweis dafür in der Stelle des Aristophanes zu finden vermeinten, so ist bei
der fehlerhaften Ueberlieferung des Textes jener Stelle kein sicheres Resultat
zu gewinnen. Auch das Scholion ist arg entstellt; nur erkennt man, daCs jene
Grammatiker das Drama gerade so, wie wir es besitzen, vorfanden und den
Verlust der anderen Recension beklagten.
56) Perser S32.
57) Schon aus dem Schol. Aristoph. Ran. 1021 wufste man, dafs die Sieben
später als die Perser aufgeführt wurden. Die später aufgefundene Bemerkung
des Schol. (Hypothesis) zu unserer Tragödie bestätigt dies: iStSäjcdTj ini 0ea-
yeriSov olvftTttäSi. orj'. 'Evixa yiatco, OiSi-xoSi, 'Enxa ini 0r;ßae, ^fiyvl aa-
Tvgixfi. Jevzsooi 'Aoiariai Ileoael, TavxäXo}, Ilakaiaxais aaxvgixoTs zoTä
üoaxivov naroös. Toixot nokv<pQdS(i(ov /ivxov^yeiq xexoa^Myiq,
296 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
ging aus dem Wettkampfe als Sieger hervor. Der Titel des Dramas
scheint nicht recht zutreffend, da er den Krieg der Argiver gegen
Theben und den endhchen Sieg der Belagerten über ihre Feinde
in Aussicht stellt; allein der Tragiker behielt hier wie anderwärts
die herkömmliche, dem Publikum wohlbekannte Benennung bei.")
Eteokles eröffnet das Stück mit einer Rede an die Bürger der
Stadt, die er zu muthiger Abwehr des bevorstehenden Angrifles der
Argiver auffordert. Ein Bote, der auf Kundschaft ausgesandt war,
meldet, dafs die Feinde von allen Seiten einen Sturm auf die Stadt
vorbereiten und das Loos entscheiden werde, zu welchem Thore
jeder Fürst seine Krieger führen soll. Eteokles entfernt sich, nach-
dem er zu den Göttern um Rettung der bedrängten Kadmusburg
gebetet. Jetzt tritt der Chor der thebanischen Jungfrauen auf. Die
Nähe der drohenden Gefahr hat ihr Gemüth mit Angst erfüllt, und
mit demüthigen Bitten wenden sie sich an die Schutzgötter der Stadt.
Der zurückkehrende Eteokles schilt die jammernden Frauen, indem
er besorgt, ihre Wehklagen möchten den Mulh der Männer schwä-
chen. In diesem W^ortwechsel des Eteokles mit dem Chore wird
der Gegensatz zwischen der Energie des thatkräfligen Mannes und
der passiven Haltung der weiblichen Natur mit voller Lebendigkeit
vorgeführt. Eteokles tritt wieder ab, indem er dem Chore gebietet,
sich der bangen Furcht zu entschlagen und nach hellenischer Sitte
den Päan anzustimmen, um den Muth in der Brust neu zu beleben.
Die Mahnung des Fürsten ist nicht vergeblich. Ein gefafstes Wesen
spricht sich in dem Choriiede aus, obwohl, indem das Bild einer
eroberten Stadt mit düsteren Farben ausgemalt wird, mehr ruhige
Ergebung als muthiges Vertrauen durchblickt.
Eteokles kehrt zugleich mit dem Boten zurück, welcher berich-
tet, wie das Loos die Führer des feindlichen Heeres zum Angriff
auf die sieben Thore der Stadt vertheilt habe, indem er dabei sorg-
föltig die Schildzeichen der Einzelnen beschreibt. Eteokles stellt
jedem der argivischen Fürsten einen ebenbürtigen Krieger gegen-
über. Diese weit ausgeführte Scene'") scheint auf den ersten Blick
besser für das Epos als das Drama geeignet. Die Griechen waren
ein streitbares ritterliches Volk, hatten daher auch besonderes Wohl-
58) Korinna hatte für einen Jungfraucnchor 'Enxa tni ß^ßas (fr. 6) ge-
dichtet.
59) Sieben 369—719.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II.GRDPPE. DIE BLÜTHEZEIT. I. AESCH. 297
gefallen an kunstreich verzierten Rüstungen, daher auch die Dich-
ter sicher auf Beifall rechnen konnten, wenn sie an geeigneter
Stelle solche Schilderungen einflochten. Die Homerische Poesie war
vorausgegangen, und Aeschylus folgt auch hier den Spuren des
Epos. Der reflektirende Verstand wird einwenden, dafs im Äugen-
bhcke der höchsten Gefahr eine solche Schilderung der Wappen
unzeitig erscheine, und Euripides hat nicht unterlassen, seinen Vor-
gänger deshalb zu tadeln.^) Aeschylus mochte selbst diesen Vor-
wurf voraussehen. Daher sucht er das Verhalten des Eteokles zu
motiviren, indem er darauf hinweist, die Entscheidung des Kampfes
sei nicht sofort zu erwarten, da die Feinde wegen ungünstiger Vor-
zeichen zögerten.*') Indes diese leicht hingeworfene Rechtfertigung
würde nicht genügen, wenn der Dichter blofs die Gelegenheit er-
griffen hätte, um eine oberflächliche Neugier zu befriedigen. Allein
Aeschylus benutzt die Beschreibung der Wappen zu einer Charakte-
ristik ihrer Träger. So gewinnt selbst das Aeufserliche eine tiefe
Bedeutung ; die Helden des thebanischen Krieges treten uns als con-
krete Gestalten entgegen. Aeschylus flicht nicht eine lange zusam-
menhängende Erzählung des Boten ein, sondern Rede und Gegen-
rede, Dialog und mehscher Vortrag wechseln in stetiger Folge nach
dem Gesetze wohl abgewogener Symmetrie ab. Sowie der Bote
einen der übermüthigen Führer des feindhchen Heeres genannt und
beschrieben hat, antwortet Eteokles, indem er einen ebenbürtigen
Kämpfer ihm gegenüberstelU, und dann singt jedes Mal der Chor
eine kurze Strophe, mit seinen Wünschen die Wahl begleitend. So
erscheint die Scene als ein organischer Theil einer wohlgegliederten
Composition. Nur oberflächhche Beurtheiler können hier den un-
gemischten Stil der epischen Darstellung finden; alles ist vielmehr
von dramatischem Leben erfüllt. Es wird uns nicht nur das deut-
Hchste Bild des Krieges vor Augen geführt, sondern der ungestüme
60) Euripides Phönissen 751: ovofia S' ixdarov StaxQißf] noXXri leyetv
ix&o(öv in avtoTs TEi^eaiv ya&rjfiäviov. Euripides hat diesen Fehler, den er
an Aeschylus rügt, vermieden, indem er von Homer ein anderes Motiv ent-
lehnt und gleich im Eingange seines Dramas in einem Zwiegespräche zwischen
Antigone und dem Pädagogen die Heerführer mit ihren Schildzeichen beschreibt.
Freilich macht er sich nachher eines Pleonasmus schuldig, indem nochmals der
Bote in seinem Schlachtberichte nach epischer Weise ausführlich die Rüstun-
gen der Helden schildert.
61) Sieben 379.
298 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
heroische Geist durchdringt alles mit unwiderstehlicher Gewalt; selbst
die sonst zaghaften Jungfrauen des Chores schlagen einen geho-
benen Ton an. So ist diese Scenc, wo die Handlung stillzustehen
scheint, recht eigentlich der Mittelpunkt des Dramas. Wohl behan-
delt der Dichter mit einer gewissen läfslichen Freiheit das Mafs der
Zeit, aber er zeigt nur, wie er selbst die schwierigste Aufgabe glück-
lich zu lösen vermag. Der Gipfel des Pathos wird für den Schlufs
der Scene aufgespart, indem Eteokles erklärt, den Kampf am sieben-
ten Thore selbst zu übernehmen und der frevelhaften Herausforde-
rung des Polyneikes zu folgen, der, nur dem Gefühl der Rache ge-
horchend, nach des Bruders Blut verlangt. Die Bitten des Chores
vermögen nicht den Eteokles in seinem Entschlüsse wankend zu
machen. Erweifs, dafs sich das finstere Verhängnifs erfüllen wird,
und zieht ungebeugt in den letzten entscheidenden Kampf. Hatte
Eteokles schon früher**) und jetzt wiederholt auf den Fluch des
Vaters hingewiesen, der den unseligen Zwist der Brüder anfachte,
den Kriegszug des Landesflüchtigen gegen die Vaterstadt veranlafste
und jetzt zum Untergange des Hauses durch Wechselmord führen
sollte, so enthüllt nun der Chor in diesem bedeutsamen Momente
das furchtbare Geschick des Königshauses, wo Sünde und Fluch
sich von Geschlecht auf Geschleciit vererbt. Der Chor kann sich
der Furcht nicht entschlagen, dafs an den Söhnen des Oedipus
des Vaters Drohung, der Stahl solle der Theiler des Reiches sein,
sich erfüllen werde. Da tritt der Bote wieder auf und bringt die
Bestätigung. Die Stadt ist gerettet, aber die feindlichen Brüder sind
im Zweikampfe gefallen. Mit lakonischer Kürze wird das Entsetz-
liche berichtet. Der Dichter wufsle sehr wohl , wie hier kein Platz
für ausführliche epische Schilderung war. In feierlichem Zuge wer-
den die Leichen der nun im Tode vereinten Brüder herbeigetragen,
und mit der Todtenklage schliefst die Tragödie.
Mit Recht bewunderten die Zeitgenossen des Aeschyhis wie die
Nachlebenden den hohen kriegerischen Geist, der dieses Drama be-
seelt. Das Urtheil des Gorgias stimmt mit dem des Aristophanes voll-
kommen überein."^) Kein anderer Dichter war mehr berufen, eine
62) Sieben 70,
6;i) Gorgias bei Plutarch Quaest. Symp. VII 10, 2, 9: atcntQ xal rcv Alax^-
)a)v laroQOvat rns r^ayuiSiae iftnivovra noieiv, xal ovx, <"( Po^ylas elntv,
ev täiv Sqnfiäruiv airov fieajov "A^etot eJvai, xovi iura inl Or'jßai, aXXa
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. I. AESCH, 299
SO schwierige Aufgabe zu lösen als Aeschylus, der aus eigener Er-
fahrung den vollen Ernst des blutigen Krieges kannte und in der
Perserzeit so glänzend seinen Helden muth bewährt hatte. So er-
scheint die Tragödie recht eigentlich als ein mächtiger Nachklang
der Freiheitskriege, und man begreift vollkommen den ungetheilten
Beifall, mit dem das Geschlecht jener grofsen Zeit diese Leistung
des Aeschylus begrüfste. Bei dem unheilvollen Bruderzwiste schwebte
wohl unwillkürlich dem Dichter die verrätherische Verbindung des
Pausanias und Themistokles mit dem Perserkönige vor, war doch
die Besorgnifs, dafs der landesflüchtige athenische Staatsmann mit
fremder Hülfe seine Rückkehr erzwingen mochte, gar nicht unbe-
gründet. In den Worten, die der patriotisch gesinnte Dichter dem
verständigen Seher Amphiaraus in den Mund legt, hat er diesem
Gefühl den würdigsten Ausdruck verliehen.")
Die Kunst des Aeschylus zeigt sich besonders darin, dafs er
unser Interesse für Eteokles zu gewinnen weifs. Erleichtert wird
ihm diese schwierige Aufgabe dadurch, dafs gemäfs der Schlichtheit
der alten Tragödie noch nicht beide Brüder einander gegenüber
auftreten. Eteokles ist nach der Darstellung des Aeschylus der ältere
Bruder. So steht ihm das bessere Recht zur Seite; er kämpft für
seine Stadt und sein Land, während Polyneikes mit fremden Bun-
desgenossen die Heimath befehdet; und eben diese hingebende Vater-
landsliebe adelt den Charakter des Eteokles. Man hat ihn fromm
genannt; allein dieser Zug ist dem Helden des Aeschyleischen Dra-
mas fremd. Er ist nur frei von Uebermuth und Götterverachtung,
welche die feindüchen Führer kennzeichnet. Eteokles erscheint als
ein starrer, unbeugsamer Charakter. Den männlichen Muth, die Ener-
gie des Willens und Thatkraft hat der Dichter mit grofsen und
deutlichen Zügen gezeichnet. Hier ist nichts Steifes oder Conven-
tionelles, sondern eine lebensvolle heroische Gestalt tritt uns ent-
gegen , und der Charakter des Eteokles steht mit seinem Schicksal
vollkommen im Einklänge. Verflochten in ein unheilvolles Verhäng-
nifs, in Sünde erzeugt, in der tiefsten Zerrüttung der Familie auf-
Ttävra Jiovvaov. Aristoph. Frösche 1021: Jgäfta noir^aas 'Aoecos fisaxov . . .
Tot/S STfT inl Orjßas, o d'eaaäfievoe näe äv ris avrjo fioäad'T] Saios elvai.
64) Sieben 580 ff. Dafs man in diesen Versen ein indirektes Lob des Aristi-
des fand, ist wohl glaublich; ob jedoch Aristides zur Zeit der Aufführung dieser
Tragödie noch am Leben war, läfst sich nicht genau feststellen. (S, S. 292 A. 47.)
300 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. 0.
gewachsen, geht er unter der erdrückenden Last des väterlichen
Fluches zu Grunde. Als die letzte Entscheidung an ihn herantritt,
macht er gar keinen Versuch, der entsetzlichen Frevelthat auszu-
weichen, zu der die Drohung des Bruders wie des Vaters düstere
Prophezeiungen hindrängten. Mit eisiger Kälte spricht er den Ent-
schlufs aus, dem Bruder gegenüberzutreten. Die Bitten und Gründe
des Chores haben über ihn keine Macht; ihn beherrscht nur ein
Gedanke, dafs sein schuldbeladenes Geschlecht den Göttern tief ver-
hafst ist, dafs die furchtbare Saat des Verderbens aufgehen mufs,
dafs es für ihn keine Bettung, kein Entrinnen giebt. Nur ein Dich-
ter wie Aeschylus vermochte die rauhe Gröfse dieser Natur, die
trockenen Auges in den sicheren Tod geht und selbst vor dem
Aeufsersten nicht zurückbebt, so darzustellen, dafs eine reine Wir-
kung erzielt wird.
Die Gesänge des Chores füllen nahezu die Hälfte des Stückes"),
aber der Schwerpunkt ist in den Dialog verlegt. In den Persern,
wo Atossa, der Schatten des Darius und Xerxes nach oder neben
einander erscheinen, tritt dies lange nicht so merklich hervor, wie
hier, wo die dramatische Handlung sich in dem einen Eteokles con-
centrirt. Aber der Chor ist kein blofses Beiwerk, sondern ein un-
entbehrliches Ghed der dichterischen Composition. Schon der Gegen-
satz zwischen der Zaghaftigkeit der zarten Frauengemüther und der
trotzigen Energie des gewaltigen Kriegsherrn ist äufserst wirksam.
Die Gesänge des Chores dienen nicht blofs als Ruhepunkte mitten
unter den bewegten kriegerischen Scenen, sie begleiten nicht nur
mit dem Ausdrucke des Gefühls den Gang der Handlung, sondern
sind von echt dramatischem Leben erfüllt. Das tragische Pathos
gewinnt in diesen effektvollen Liedern den ergreifendsten Ausdruck.
Eben durch die Wechselwirkung und den harmonischen Einklang
zwischen dem Dialog und den melischeu Partien wird jene Stimmung
erzeugt, auf die jeder wahre tragische Dichter hinarbeitet.
Diese Tetralogie, wir können sie füglich Oedipodie nennen").
65) Ungefähr 460 Verse von 960 (denn liier endet das Drama des Aeschy-
lus) kommen auf die melischen [*arlien; wenn man auch die Trimeter des
Chores mitrechnet, stellt sich das Gleichgewicht vollkommen her.
66) Dieser Name ist zwar nicht überliefert, aber das kyklische Epos glei-
chen Namens spricht dafür. Ebenso nannte ja Aeschylus eine andere Tetralogie
nach dem Vorgange des Stesichorus Oreslle.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. I. AESCH. 301
stellt geradeso wie die Orestie den Fluch der Sünde dar, der sich
von Geschlecht auf Geschlecht vererbt. Drei Generationen des un-
sehgen Hauses der Labdakiden führt Aeschylus vor. Laius zeugt
trotz der wiederholten Warnungen des Orakels einen Sohn^'O, und
als Oedipus geboren ward, vermeinen die Eltern das drohende Ge-
schick, was der Gott ihnen verkündet hat, abwenden zu können,
indem sie das neugeborene Kind auf dem Kithäron aussetzen. Oedi-
pus' Geburt und Aussetzung bildete wohl den Inhalt der ersten Tra-
gödie^), des Laius; denn Aeschylus wird seiner Gewohnheit gemäfs
auch hier nur einen einzelnen Moment der Handlung herausgehoben
haben. Das zweite Drama schilderte den jähen Sturz des Oedipus
von der Höhe seines trügerischen Glückes. Auch ihm hatte Apollo
sein Schicksal — Vatermord und Blutschande — offenbart. Auch er
wähnt wie einst der Vater das Unheil von sich fernzuhalten, wenn
er die Heimath meidet, und fördert so selbst die Erfüllung des Göt-
terspruches, ohne zu ahnen, was er that. Die unausbleibhche Kata-
strophe hatte Aeschylus in dem Mittelstücke vorgeführt .®®) Oedipus,
indem er endlich das Geheimnifs seiner Geburt entdeckt und die
entsetzhchen Thaten ans Licht bringt, blendet sich selbst und ver-
flucht sein eigenes Geschlecht. Die Erfüllung des furchtbaren Vater-
fluches stellt eben die dritte Tragödie dar, während das Satyrdrama,
mit herkömmlicher Freiheit zurückgreifend, indem hier Oedipus das
Räthsel der Sphinx löste und Theben von der verderbhchen Land-
plage befreite, die Tetralogie abschlofs.
Die Oedipodie umfafst die düstere Geschichte des thebanischen
Königshauses, welches durch eine grausame Verflechtung des Schick-
sals Frevel auf Frevel häuft. Das heillose Vermächtnifs des Vaters
vererbt sich auf die Söhne und Enkel, bis endlich mit dem Unter-
gange der letzten SpröfsUnge dieses Stammes der Zorn der höheren
Mächte erlischt. Aeschylus geht nicht darauf aus, den Gehalt der
67) Dafs Aeschylus den Anfang des Unheils auf die schnöde Lust, zu der
Laius den schönen Chrysippus mifsbrauchte, und den Fluch des Pelops zurück-
führte, wie Neuere vermuthet haben, ist nicht zu erweisen.
68) In dem Chorgesange V. 745 ff. wird die Verschuldung des Laias deut-
lich bezeichnet und zugleich auf den Inhalt der ersten Tragödie hingewiesen.
Vgl. auch V. 691 und 802.
69) Die Hauptmomente sind zusammengefafst in den Worten des Chores
V. 772 ff., wo der Dichter gewissermafsen nur den Inhalt der vorhergehenden
Tragödie recapitulirt.
302 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Sage in ihrem ganzen Umfange zu erschöpfen, sondern schildert in
grofsen Umrissen das Wirken des Rachegeistes, indem er vieles nur
kurz andeutet, anderes ganz ühergeht. Die breite Ausführung schickt
sich für die epische, nicht für die dramatische Poesie. Aber die
vorzugsweise tragischen Motive weifs Aeschylus sehr wohl heraus-
zufinden und wirksam zu benutzen. Wie die uns erhaltene Tra-
gödie überall auf die beiden vorhergehenden Stücke zurückweist, so
wird der Dichter auch dort für die nolhwendige Verknüpfung Sorge
geti'agen haben. Der Vorwurf, als sei die Verbindung der einzelnen
Dramen, welche Aeschylus zu einer Trilogie vereinigte, nur eine
lose gewesen, ist unbegründet. Mit mehr Schein hat man an dem
Schlufs unserer Tragödie Anstofs genommen, der das moderne Ge-
fühl nicht recht befriedigt. Bei einem Einzeldrama würde man diesen
Mangel leichter nehmen, als bei dem Schlufsslück einer tragischen
Trilogie; denn dafs das Satyrspiel für das, was man hier vermifst,
keinen Ersatz bieten konnte, ist klar. Daher war man früher ge-
neigt, den Sieben die mittlere Stelle in der trilogischen Composilion
anzuweisen, so dafs noch eine andere Tragödie gefolgt sei, welche
die rechte Lösung brachte.'") Durch das urkundliche Zeugnifs der
Didaskalie ist diese Vermuthung für immer beseitigt. Andere, indem
sie unserer Tragödie die rechte Stelle anwiesen, glaubten, der Dich-
ter habe, als er die Oedipodie zur Aufführung brachte, beabsichtigt,
eine zweite Trilogie als Fortsetzung folgen zu lassen, und aus den
Bruchstücken der Epigonen sieht man, dafs Aeschylus das Thema
von dem Kampfe zwischen Argos und Theben wieder aufnahm. Allein
dafs dem Dichter eine solche Absicht fern lag, beweist unsere Tra-
gödie, indem sie die Söhne des Oedipus ohne iNachkommen sterben
läfst.")
Der Ausgang der Sieben bietet auch sonst mehrfachen Anlafs
zu Bedenken dar. Indem die Leichname der feindlichen Brüder in
feierlichem Zuge erscheinen und der Chor im Begriff ist, die Todtcn-
klage anzustimmen, treten Antigone und Ismene auf, um, wie der
Chor ankündigt, gleichfalls der Pllicht der Pietät zu genügen. Nun
70) MaD rielh auf die 'Elnioivtoi.
71) Sieben 827: tj rovs fioye^ove xai SvaSniftorae aTi'xrovs xXai'aiü noX»-
fiaqxovs, vgl. 091 und i)55. Irrthümlich hat man V. 902 in den nicht einmal
kritisch gesicherten Worten fttvel tnäara t' intyovots eine Beziehung auf die
Kpigonen zu finden vermeint.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. I. AESCH. 303
folgt aber nicht etwa ein Wechselgesang zwischen dem Chore und
den beiden Schwestern, sondern zunächst beweinen die thebanischen
Jungfrauen, in Halbchöre aus einander tretend, die Gefallenen; dann
erst tragen die Schwestern einen Trauergesang voll leidenschaftücher
Aufregung vor, an dem sich der Chor nur mit ein Paar Versen be-
theiligt. Hier geschieht also das Unglaubliche, dafs die Schwestern
lange Zeit hindurch während des umfangreichen Chorliedes ^*) sich
stumm und völlig theilnahmlos verhalten. Dann tritt ein Herold
auf und verkündet als Beschlufs der versammelten Berather der Ge-
meinde, den Eteokles, der den Tod für das Vaterland gestorben,
mit allen Ehren zu bestatten ; dagegen solle der Leichnam des Poly-
neikes, der ruchlos die Heimath mit Krieg überzogen, unbeerdigt
über die Grenze des Gebietes den Hunden und Raubvögeln als Frafs
hingeworfen werden. Da erklärt Antigone, sie werde eigenhändig
den Polyneikes bestatten, und läfst sich durch die warnenden Worte
des Herolds in ihrem Beschlufs nicht irre machen. Auch die An-
sichten des Chores sind getheilt; die eine Hälfte geleitet mit der
Antigone den todten Polyneikes, während die andere sich der Ismene
anschliefst, die dem Leichname des älteren Bruders folgt. So endet
die Tragödie mit einer ungelösten Verwickelung. Man hat zwar ge-
meint, gerade hier bethätige der Dichter seine Kunst, indem er auf
die weitere Fortsetzung der Sieben hinweise.") Allein wenn das
tragische Geschick der Antigone, die gegen das Verbot der Theba-
ner den Polyneikes bestatten will, den Inhalt einer neuen Tragödie
bilden sollte, konnte der Dichter gar keinen schhmmeren Mifsgriff
thun, als indem er das, was sich zur Exposition eines neuen Dramas
wohl eignete, als Schlufsscene dem letzten Stücke einer trilogischen
Composition anhängte und so das wesentliche Motiv der beabsich-
tigten Fortsetzung vorwegnahm. Wenn irgend wo, so ist hier die
Vermuthung nahe gelegt, dafs fremde Hände den Nachlafs des grofsen
Dichters überarbeitet haben.
Die Tragödie des Aeschylus schlofs mit der Todtenklage des
Chores ab. Die bedeutungsvollen Worte '^), dafs, nachdem der Fluch
72) Sieben 8T4-960.
73) Da die Sieben das Schlufsstück sind, konnte diese vermeintliche Fort-
setzung erst in einer neuen Trilogie erfolgen.
74) Sieben 960: Svolv x^arriaae i'Xtj^e Sai/iiop, indem der Gedanke mit
energischer Kürze zusammengefafst wird.
304 DRITTE PERODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
vollständig in Erfüllung gegangen und das den Göttern verhafste
Geschlecht des Laius durch den Wechselmord der beiden letzten
männlichen Sprossen vertilgt war, auch der böse Genius des Ge-
schlechtes erloschen sei, bezeichnen so bestimmt als mögüch den
Endpunkt des Dramas wie der Trilogie. Das moderne Gefühl mag
einen versöhnlicheren Abschlufs verlangen; dem männlichen Geiste
des Aeschylus steht diese Herbheit wohl an.") Antigone und Ismene,
wie alles Folgende, sind dem ursprüngHchen Entwürfe fremd. Aufscr-
dem aber mufs man auch die anapästischen Perikopen (V. 861 — 873)
ausscheiden; denn sie wurden nur eingeschaltet, um das Auftreten
der Schwestern vorzubereiten.^®)
Wenn wir so die Töchter des Oedipus entfernen, schHefst das
Stück nicht mehr mit einem eigentlichen Kommos, aber doch mit
einem Klageliede.") Der Threnos der Antigone und Ismene sondert
sich durch seinen Ton ^*) und die Behandlung des Technischen merk-
lich von der Weise des Aeschylus ab. So ist hier mit sichtlicher
Vorliebe ein Vers nicht selten unter zwei Personen verlheilt, was
von der Strenge der älteren Kunst abweicht und sehr deutlich auf
einen jüngeren Dichter hinweist; denn Aeschylus hat sich diese
Freiheit in melischen Partien nur ein und das andere Mal gestaltet.
75) Wenn man behauptet hat, eben das Erscheinen der Antigone und
Ismene wiese auf eine bessere Zukunft hin, nachdem eben das letzte schwere
Gericht ergangen, so ist dies eine ganz willkürliche Deutung. Die Töchter des
Oedipus theilen mit den Söhnen den gleichen Ursprung, und Antigone, wie
sie hier eingeführt wird, ist demselben unheilvollen Verhängnifs verfallen, wie
die Brüder.
76) Es ist möglich, dafs auf V. 873 gleich die Fortsetzung V. 961—1077
folgen sollte, indem der Bearbeiter den Schlufs der Tragödie, der sich dann
nur durch einen glücklichen Zufall erhielt, ganz beseitigte; dann hätte der
Fortsetzer wenigstens das lange Verstummen der Schwestern vermieden. Die
Anapästen des Chores V. 861—873 lassen sich mit einer solchen Anordnung
wohl vereinigen; jedoch hatte der Bearbeiter wohl zu viel Ehrfurcht vor dem
grofsen Dichter, um den gehaltvollen Gesang des Chores zu streichen.
77) Denn für den xonfioi sind to ano axrjvfje unentbehrlich. Es ist ein
d'^rivos geradeso wie Choeph. 22 fT.
78) In dem Klagegesange des Chores überwiegt die ruhige Betrachtung.
Der Wechselgesang der Schwestern hat einen bewegten Charakter; in kurzen
abgebrochenen Klagelauten giebt sich der heftige leidenschaftliche Schmerz
kund. Dies ist an sich ganz angemessen und würde kein Bedenken erregen,
wenn nicht andere gewichtige Gründe die Thätigkeit des Fortsetzers ver-
riethen.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLCTHEZEIT. I.AESCH. 305
Auch sonst stöfst man in dieser Schlufspartie auf manches, was
mit dem Stile des Aeschylus nicht recht harmonirt und deutUch die
Thätigkeit eines Ueberarbeiters verräth. Der Umfang dieser Tra-
gödie schien nach dem Mafsstabe der späteren Bühnenpraxis zu be-
schränkt. Als man daher die Sieben aus dem trilogischen Verbände
loslöste, um sie als selbständiges Stück aufzuführen, nahm man diese
Erweiterung vor, die nicht gerade sonderliches Geschick bekundet.
Denn abgesehen von den schon gerügten Uebelständen würde die
Parteinahme der einen Schwester für Eteokles, der anderen für
Polyneikes und der Zwiespalt, der sogar den Chor ergreift, gar wenig
zu der Intention des Aeschylus passen. Nicht einmal das Verdienst
selbständiger Erfindung kann man dem Verfasser dieser Partie zu-
erkennen; denn er hat offenbar die Antigone des Sophokles für
seinen Zweck benutzt. Diese Scenen sind also erst nach Ol. 84,
geraume Zeit nach dem Tode des Aeschylus, hinzugefügt, und nun
erregt es auch nicht das mindeste Bedenken, wenn hier drei Per-
sonen gleichzeitig auf der Bühne auftreten.'"') Denn es heifst das
richtige Verhältnifs völlig verkennen, wenn man behauptet hat, So-
phokles habe eben aus diesen Schlufsscenen der Sieben das Motiv
seiner Antigone entlehnt.*') Der Verfasser gehört unzweifelhaft zur
Sippe des Aeschylus; er ist ja im Uebrigen sichtlich bemüht, nach
dem Mafse seiner Begabung die Weise des grofsen Meisters nach-
zubilden. So liegt es am Nächsten, an Euphorion zu denken, der
mindestens bis Ol. 87 für die Bühne thätig war.
Die Schutzflehenden") stellen die Aufnahme des Danaus Di« Schuu-
und seiner Töchter in Argos dar. Auf der Flucht vor ihren Freiern,
den Söhnen des Aegyptus, sind die Jungfrauen mit ihrem greisen
Vater an der Küste von Argos gelandet und betreten so die Heimath
der lo, der Aeltermulter ihres Geschlechtes. An einer geweihten
Stätte unfern der Stadt Argos suchen sie mit Oelzweigen in der
Hand Schutz an den Altären der Götter. Als Pelasgus, der König
der Argiver, erscheint, geben sie sich zu erkennen und nehmen
79) Der Herold und die beiden Schwestern.
80) Aeschylus streut mit freigebiger Hand die Schätze seines reichen
Geistes aus, aber ist niemals am unrechten Orte verschwenderisch. Sophokles
aber ist nicht so arm an Erfindung, um nur von den Brosamen einer fremden
Tafel zu leben.
81) 'Ix£Tt8as.
Bergk, Griech. Literaturgescbichte III. 20
306 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
seinen Beistand gegen ihre Verfolger, die ihnen ein verhafstes Ehe-
bündnifs aufdringen wollen, in Anspruch. Der König, von schwan-
kenden Empfindungen bewegt, da er ebenso die Gefahr eines Krieges
scheut, wie den Zorn der Götter, die der Schutzflehenden sich thätig
annehmen, gewährt endlich die verlangte Zusage. Doch wagt er nicht
die volle Verantwortlichkeit auf sich zu nehmen, sondern überläfst
die letzte Entscheidung dem Volke, und auf des Fürsten Antrag ver-
heifst die Versammlung den Jungfrauen Schutz und gastliche Auf-
nahme. Inzwischen erscheint auch das Schiff mit den Söhnen des
Aegyptus am Strande. Alsbald tritt ihr Herold auf, der unter hef-
tigen Drohungen den Jungfrauen ihm zu folgen befiehlt. Schon ist
er im Begriff Hand anzulegen , als der König dazwischentritt und
den Herold hinwegreifst, der nahen Krieg ankündigend sich entfernt,
während die Danaiden in Argos einziehen. So ist zwar zunächst
die Gefahr abgewandt, aber zugleich ein weiterer Conflikt in Aus-
sicht gestellt. W^ährcnd Aeschylus in den Persern und in den Sieben
die sich bekämpfenden Mächte noch nicht unmittelbar einander gegen-
überstellt, sondern sich begnügt die eine Seite der dramatischen
Handlung darzustellen , vertritt in dieser Tragödie der Herold das
feindhche Princip, und der Kampf der entgegenstehenden Interessen
wird direkt zur Anschauung gebracht.
Die Schutzflehenden gehörten einer Tetralogie an, die im Mythus
selbst ihre Einheit halte. Denn dieses Drama kann nicht als ein selb-
ständiges Stück gelten, da die Verwicklung nur vorbereitet wird.
Es mufs aber als der erste Theil der Tetralogie betrachtet werden**);
denn es dient wesentlich der Exposition. Alles, was zum Verständ-
nifs des Thatsächlichen erforderlich ist, wird uns hier geboten ; aber
welche Tragödien damit verbunden waren, läfst sich nicht mit voller
Sicherheit ermitteln.") Man hat gewöhnlich vermuthet, das Stück
82) Wenn man mit Rücksicht auf das geringe dramatische Interesse der
Handlung die 'IxtnSes als das Mitlelstück ansieht, so ist dieses Argument durch-
aas nicht mafsgebend.
83) Am nächsten liegt es, an die Atylntioi und JaratSei zu denken.
Aus den Danaiden sind nur Bruchstücke erhalten; die Aegyplier kennt der
Katalog der Aeschyleischen Stücke. Das einzige aus dieser Tragödie angeführte
Fragmei.t ist vielmehr den '^IxsnSti entnommen; aber gerade dies spiicht für
die Verbindung beider Stücke, da falsche Cilate nicht selten auf diese Weise
entstanden sind. Andere betrachten die SaXafionoioi als Mittelslück oder finden
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLLTHEZEIT. I.AESCH. 307
sei gegen Ende der 79. Olympiade aufgeführt worden , indem man
Anspielungen auf das Biindnifs zwischen Athen und Argos , welches
damals enger geknüpft ward, zu finden glaubt; dann würde die Tra-
gödie zu den letzten Arbeiten des Aeschylus gehören. Allein dieser
Voraussetzung widerspricht der Eindruck, den das Stück auf jeden
unbefangenen Leser machen mufs. Die Schutzflehenden, wenn sie
auch nicht zu den Jugendarbeiten des Dichters zu rechnen sind,
gehören sicherlich jener mittleren Periode an, welche die ersten
Versuche trilogischer Composition umfafst. Das Lyrische waltet, ge-
rade wie in den Persern, entschieden vor. Da der Chor hauptsäch-
lich Träger der Handlung ist und aufser Danaus und dem Argiver-
fürsten nur noch ein Herold auftritt, aber in keiner Scene alle
gleichzeitig auf der Bühne sind, reichten zwei Schauspieler vollkom-
men aus.") Das ganze Stück hat einen überaus schlichten und alter-
thümlichen Charakter, mehr als jede andere der erhaltenen Tragö-
dien, von denen es sich besonders durch eine entschieden lokale
Färbung sehr bestimmt absondert. 3fan kann diesen eigenthüm-
lichen Ton nicht allein aus der Natur des Stoffes herleiten , der
allerdings bei Aeschylus von Einflufs ist. Wie glückhch hat nicht
der Dichter in den Persern in vielen kleinen und unscheinbaren
Zügen das orientalische Wesen uns leibhaftig vor Augen gerückt.
Allein hier müssen besondere Verhältnisse eingewirkt haben. Vor
allem fällt auf, dafs der Fürst von Argos nicht in der Würde des
patriarchalischen Rönigthums erscheint, wie man es bei einer Be-
gebenheit aus ferner Vorzeit und bei einem Dichter von der Sinnes-
art des Aeschylus erwarten sollte; sondern jener pelasgische Fürst
wird geradezu als oberster Beamter eines demokratischen Gemein-
wesens geschildert und überall mit sichthchem Nachdruck die Macht
darin einen Nebentitel für AiyvTCTioi. Als Satyrdrama fügt man die l4fivficovTi
hinzu ; alles dies ist ganz unsicher.
&4) Der dritte Schauspieler kann erst nach den Sieben (Ol. 78, 1), die in
ihrer ursprünglichen Gestalt nur zwei kennen, aufgekommen sein. Mit der Ver-
mehrung der Schauspieler steht aber auch die weitere Beschränkung der Chor-
partien in einem inneren Zusammenhange; in dieser Tragödie aber ist das Ver-
hältnifs zwischen dem Dialog und den melischen Partien ungefähr das gleiche,
wie in den Persern. Wie viel Personen den Chor der Hikeliden bildeten, ist
durchaus unsicher. Wenn das Drama ursprünglich nicht für Athen bestimmt
war, braucht man auch gar nicht den Mafsstab der attischen Bühnenpraxis an-
zulegen.
20*
308 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
und das Verdienst des Volkes hervorgehoben. Dann ist insbeson-
dere das ausführhche ChorHed*'), wo die Danaiden den Argivern
Heil und Segen wünschen, von so warmem und lebendigem Gefühl
erfüllt, dafs man dies schwerlich aus der dichterischen Situation
allein erklären kann. Auch finden sich gerade hier unverkennbare
Beziehungen auf Zustände der unmittelbaren Gegenwart, auf die in-
neren Verhältnisse des argivischen Staates. So tritt eigenthch der
Chor der fremden Jungfrauen aus seiner Rolle heraus, wenn er dem
argivischen Demos empfiehlt, die alten Geschlechter im Besitz ihrer
Ehrenrechte zu schützen*^), während sonst Aeschylus in der Regel
den individuellen Charakter des Chores sorgsam zu wahren sucht.
Die Annahme, als falle das Stück in die Zeit, wo Athen ein Bünd-
nifs mit Argos abschlofs, ist abgesehen von chronologischen Be-
denken nicht ausreichend, um diese Art der Behandlung zu er-
klären.
Wenn wir sehen, wie nicht nur ältere, sondern auch neue
Stücke des Aeschylus in Syrakus zur AufTührung kamen, so erscheint
es wohl denkbar, dafs Aeschylus auch für andere auswärtige Bühnen
thätig war, dafs er diese Tetralogie, welche einen Vorwurf aus den
sagenhaften Anfängen des argivischen Landes behandeU, eben für
Argos bestimmte ; denn nur dort konnten Andeutungen, wie wir sie
hier finden, gehörig gewürdigt werden.
Argos, nachdem es von den Spartanern unter Kleomenes hart
heimgesucht worden, erholt sich nur langsam. Erst nach den Perser-
kriegen blüht es rasch empor, und zwar finden wir dort ein ent-
schieden ausgebildetes demokratisches Regiment. In dieser Zeit wird
Aeschylus die Schutzflehenden gedichtet haben. Daher tritt auch in
diesem Drama der Demos in den Vordergrund, obwohl der Dichter
seinen pohtischen Ueberzeugungen nicht untreu wird, sondern an
schicklicher Stelle ernste Warnungen einflicht. Argos hatte damals
ofTenbar noch nicht mit Gewalt sich die ganze Landschaft unter-
worfen; noch standen die ehrwürdigen Mauern von Mykenä und
anderen argolischen Städten unversehrt. Aber Hader und Zwist
mochte bereits die Gemüther entzweien und die Führer des Volkes
S5) Hiket 625 ff.
86) Hiket. 61)8: 'PvXa.acoi rajtiri/n* atroTi {arifUas rt/tas M] r' Säfuov,
xo TfToXtv xQaxvvti.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLLTHEZEIT. I. AESCH. 309
sich mit weitgreifenden Plänen tragen; da war die Erinnening an
die Satzungen des althellenischen Rechtes wohl angebracht.*'^)
Durch die alterthümliche Färbung der Rede macht diese Tra-
gödie einen eigenen Eindruck. Wäre das Stück für Athen und das
feingebildete attische Publikum bestimmt gewesen, dann dürfte man
den Dichter von dem Vorwurfe, die Farben zu stark aufgetragen zu
haben, nicht ganz freisprechen; anders, wenn die Schutzflehenden
in Argos aufgeführt wurden. Was anderwärts fremdartig erschien,
selbst abstofsend wirken konnte, das mufste hier, wo ein patrio-
tisches Interesse, wo die alten Erinnerungen der Heimath mitwirk-
ten, in ganz anderer Weise das Ohr des Zuschauers berühren.
Aeschylus hebt es, an Ort und Stelle den sagenhaften üeber-
lieferungen nachzugehen. Sicherlich hat er auch Argos besucht. Ge-
rade diese Landschaft mufste für einen Dichter von so alterthüm-
hcher Sinnesweise und Gemüthstiefe wie Aeschylus eine besondere
Anziehungskraft haben. Nicht leicht gab es anderwärts eine so
reiche Fülle alter ehr^^•ürdiger Erinnerungen, die nicht nur in riesen-
haften Rauwerken, sondern auch in zahlreichen Götterdiensten und
Sagen, in Sitten und Rräuchen, wie in der Mundart des Volkes klar
und vernehmHch zu jedem redeten, der für das Altertimm empfäng-
lichen Sinn hatte. Aeschylus mochte in Argos gastliche Aufnahme
finden. Der Wunsch, ein Werk des grofsen Meisters zu sehen, er-
scheint begreiflich. So dichtete er für jene Stadt, vielleicht während
seines Aufenthaltes im Angesicht der ehrwürdigen Denkmäler der
Vorzeit, die Tetralogie, zu welcher die Schutzflehenden als einleiten-
des Stück gehörten.
Auch in den Schutzflehenden ist die dramatische Handlung ge-
ring, die Anlage des Stückes geradhnig und von höchster Einfach-
heit. Da die Töchter des Danaus, deren Schicksal hier entschieden
werden soll, unmittelbar an der Handlung Theil haben und zugleich
den Chor bilden, also eigenthch eine zwiefache Rolle ihnen zufällt,
nehmen sie nicht nur den meisten Raum, sondern auch voraugs-
weise unsere Theilnahme in Anspruch. Ueberhaupt macht das Drama
einen zwiespältigen Eindruck. Die Chorgesänge sind von unver-
gleichhcher Schönheit. Ebenso ausgezeichnet durch Zartheit der Em-
pfindung und Anmuth, wie durch tiefen Ernst und Erhabenheit der
87) Hiket. 701 ff.
310 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Gedanken, gehören sie zu den vollendetsten melischen Dichtungen
nicht nur bei Aeschyhis, sondern in der griechischen Poesie über-
haupt. Die Chorlieder sind der Schwerpunkt dieses Dramas. Hier
bewährt sich vollkommen der Grundsatz des Aeschylus, der die ly-
rischen Partien als die Nerven der Tragödie betrachtete. Der Dialog
dient gleichsam nur dazu, die Verbindung zwischen den Chorgesängen
herzustellen. So hat denn die Charakterschilderung der Personen,
welche neben dem Chore handelnd auftreten, etwas Unbefriedigen-
des. Der König von Argos, wie er ohne die gewöhnhchen Abzeichen
der fUrsthchen Gewalt erscheint**), erinnert nicht an die alte Heroen-
zeit, sondern an die letzten Inhaber des argivischen Thrones, die
wohl noch den Namen, aber nicht mehr die volle Gewalt des Königs
besafsen. Läfst sich dies auch aus der besonderen Bestimmung des
Stückes erklären, so kann man doch nicht leugnen, dafs der König
als ein schwächhcher, unselbständiger Charakter erscheint.
Koch viel auffallender aber ist die Art, wie Danaus eingeführt
wird, die den Gesetzen der dramatischen Kunst durchaus wider-
streitet. Er begleitet seine Töchter; aber als der König erscheint**),
verstummt er nicht nur vollständig, sondern ist auch so gut wie
verschwunden. Der König nimmt nicht die geringste Rücksicht auf
ihn; erst am Schlufs der Scene'*") redet er ihn ganz plötzlich als
Vater der Jungfrauen an und heifst ihn nach der Stadt gehen.
Aeschylus hat anderwärts vom Schweigen einen höchst wirksamen
Gebrauch gemacht; aber dafs der Vater seine Töchter in so schwie-
riger Lage sich selbst übeiiäfst, wie ein stummer, unterwürfiger Die-
ner den langen Verhandlungen beiwohnt, ist unnatürlich. Man
begreift, wie der Dichter nicht gern den Dialog unter drei Personen
verlheilen mochte. Dies konnte er aber sehr leicht vermeiden, wenn
er den Danaus unter einem schicklichen Vorwande, ehe der König
erschien, abtreten und erst gegen Ende der Scene zurückkehren
liefs. Es ist kaum denkbar, dafs sich Aeschylus eines solchen Fehlers
schuldig gemacht hat. Er wird die Scene in der eben angedeute-
ten Weise angelegt haben. Später hat man, um die Tragödie ab-
zukürzen, da der Vortrag der lyrischen Gesänge ein gröfseres Zeit-
mafs erheischte, die Verse, welche die Entfernung und das Wieder-
88) Hiket. 247.
8«.») Hiket. 234.
90) Hiket. 4 SU fT.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. I. AESCH. 311
auftreten des Danaus motivirten, gestrichen. Man hielt sie für
entbehrUch und glaubte vielleicht sogar dem Dichter einen Dienst
zu leisten, indem man das Kunstmittel des Schweigens auch hier,
freilich ganz an unrechter Stelle, anbrachte.
[Manuskript für die Analyse der Orcstie ündet sich nicht vor.]
*)Den Gipfel seiner Kunst bezeichnet die Orestie, wo die Die Orestie
ergreifenden Schicksale des Hauses der Atriden in ununterbroche-
ner Folge vorgeführt werden, und zwar gebührt hier wieder die
erste Stelle dem ersten Stücke. Agamemnons Tod ist die grofs-
artigste Tragödie überhaupt, die uns aus dem Alterthum erhalten
ist. Weniger befriedigen die Eumeniden. Die Aufgabe, wie sie
der Dichter sich hier gestellt hat, läfst nur schwer eine rein poe-
tische Behandlung zu. Die Vertheidigung des Muttermordes hat etwas
Spitzfindiges, Dialektisches, was sonst nicht die Art dieses Dichters
ist, und die Versöhnung, mit der das Stück endet, wird uns immer
nnzulänghch erscheinen.* (S. unten S. 335.)
Die Zeit der Aufführung des gefesselten Prometheus ist gefesselte
leider nicht überUefert ; allein der Totaleindruck lehrt, dafs die Tragö-Promeiheus.
die nicht zu den älteren Arbeiten gehört. Dies wird auch dadurch be- Abfassuns.
stätigt, dafs der gefesselte Titane einen verheerenden Ausbruch des
Aetna voraussagt. Eine solche Prophezeiung hat nur Bedeutung, wenn
sie sich auf eine bekannte Thatsache bezieht.") Offenbar gab die Erup-
tion des Berges, welche Ol. 76, 1 die Gegend von Katana verheerte^^),
dem Dichter dazu Anlafs, der bei seinem Aufenthah ein SiciUen Ol. 76, 4
[77, 1, s. S. 2S0] sich durch eigene Anschauung ein lebendiges Bild
von den Wirkungen eines solchen Naturphänomens erworben hatte.")
*) [Aas Ersch und Grubers Encyklopädie Erste Section, Theil 81, S. 362 B.]
91) Nur bei Seneca in der Medea 37Sff. findet sich ein wirklich prophe-
tisches Wort, indem der Dichter mit wunderbarem Scharfblicke die Entdeckung
einer neuen Welt voraussagt.
92) Thnkyd. III 116 (etwas abweichend die Angabe der parischen Chro-
nik Ep. 52). Der älteste bekannte Ausbruch des Aetna fällt in Ol. 21, der dritte
erfolgte erst geraume Zeit nach Aeschylus' Tode.
93) Also kann die Tragödie Prometheus erst nach den Persem Ol. 76, 4 [TT. 1]
gedichtet sein, was auch dadurch bestätigt wird, dafs das damals aufgeführte Satyr-
stück schlechthin n^o/irj&evs heifst. Unrichtig ist es, wenn man die Tragödie
Prometheus wegen ihrer vermeintlichen Einfachheit noch vor die Perser setzt.
Dafs der Prometheus in mehreren Handschriften voransteht, ist für die Chrono-
logie ohne alle Bedeutung und nur durch praktische Gründe bedingt. Andere
312 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Nur darf man nicht lediglich wegen dieser Beziehung das Drama in
die unmittelbare Nähe jenes vulkanischen Ausbruches rücken ; es gilt
vielmehr, die gesammte dichterische Arbeit ins Auge zu fassen.
Der Prometheus zeigt die meiste Verwandtschaft mit der Ore-
stie und gehört unzweifelhaft den letzten Lebensjahren des Dichters
an. Allerdings erinnert das Drama uns insofern noch an die ältere
Periode, als nur der Titane, nicht sein Gegner vorgeführt wird; die
feindHche Macht hat der Dichter nur durch untergeordnete Perso-
nen, die den Willen des Zeus repräsentiren, dargestellt. Allein wie
die bildende Kunst der Hellenen lange Zeit sich nicht an eine un-
mittelbare Vergegenwärtigung des höchsten Gottes gewagt hat, so
verzichtet auch Aeschylus mit richtigem Gefühle darauf, Zeus selbst
auf die Bühne zu bringen.^^) Sonst aber zeigt die Tragödie dmxh-
aus jenes entwickelte Leben, wie wir es in der Orestie antreffen.
Da nun Aeschylus nicht, wie man sich gewöhnlich vorstellt, seine
dichterische Thätigkeit mit jener Tetralogie abschlofs, sondern auch
in Gela röstig zu arbeiten fortfuhr, so darf man wohl den Pro-
metheus eben als die reife Frucht dieser letzten Lebensjahre be-
trachten. Daher ist es nicht auffallend, wenn die Tragödie sich
vielfach von anderen Dramen absondert. Ein eigenthümlicher Vor-
zug ist die wunderbare Redegevvalt und der leichte Flufs des Dia-
logs, sowie überhaupt die gleichmäfsige Fafslichkeit der Sprache in
allen Theilen des Dramas, ohne dafs die Würde des hohen Stiles
dadurch Einbufse erUtte. Sonst scheint Aeschylus manchmal mit
dem widerstrebenden Stoffe zu ringen ; hier ist er vollkommen Herr
der Form. Denselben leichten Flufs verräth auch der iambische
Trimeter, aber eben deshalb sind Auflösungen zahlreicher, als in
irgend einem anderen Stücke.^') Noch mehr weicht die Behandlung
der melischen Partien von der sonstigen Weise des Dichters ab. Der
wollen den Prometheus um Ol. 78, 1 oder 2 ansetzen, weil drei Schauspieler
mitwirken. Allein Sophokles hat ja diese Neuerung nicht gleich Ol. 77, 4 ein-
geführt. Ueberhaupt ist dieses Argument nicht entscheidend, da der Dichter
sich eines Parachoregems bedienen konnte. (S. S. ;U5. 31Ü A. 104.)
94) Nur in der *Fvx,ooxaaia erschien Zeus, die Todesloose abwägend,
auf dem &eoXoyeiov, aber als ruhiger, unparteiischer Verwalter des Schicksals,
während Aeschylus Scheu trug, den Gott seinem leidenschaftlichen, erbitterten
Widersacher gegenüberzustellen. (S. S. 344 A. ItJ'.t.)
95) Beachlenswerlh sind besonders die Anapästen im ersten Fufse des
Trimeters.
DIE DRAM. POESIE. DIE TR.\GÜDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. I.AESCH. 313
Dialog bildet entschieden den Schwerpunkt des Dramas ; das Lyrische
ist so viel als irgend möghch beschränkt.^ Hier zum ersten Male
wird bei Aeschylus von dem Bühnengesange Gebrauch gemacht. Aber
es ist sehr passend, dafs der Dichter den Prometheus, als er das Still-
schweigen bricht und seinem bekümmerten Herzen Luft macht, nicht
einen Monolog in Trimetern halten läfst, sondern den mehschen
Vortrag vorzieht, und der wiederholte Wechsel der Rhythmen ent-
spricht genau den verschiedenartigen Empfindungen , die auf ihn
einstürmen. Ebenso schildert lo bei ihrem ersten Auftreten in freien
lyrischen Mafsen das schwere auf ihr lastende Verhängnifs. So ver-
bleibt dem Chore nur ein mäfsiger Spielraum.®^) Diese Chorlieder
sind nicht nur von geringem Umfange, sondern es fehlt ihnen auch
das Schwunghafte, die hohen Gedanken, die wir sonst in den Chö-
ren des Aeschylus antreffen ^) ; aber sie haben dafür etwas ungemein
Zartes und Anmutbiges. Unwillkürlich wird man an die Weise des
Sophokles erinnert. Die leidenschaftliche Erregung, welche im Dia-
loge herrscht, wird durch die Milde und Anmuth dieser Gesänge
gedämpft. Die Okeaniden, obwohl überirdischen Ursprungs, gleichen
mehr sterblichen Frauen®®) und begnügen sich mit ihrer Theilnahme
jeden Abschnitt der Handlung zu begleiten.***) Dieses Mitleid, wel-
96) Die Ijrriscben Gesänge machen noch nicht den dritten Theil der Tra-
gödie ans.
97) Die Tragödie zählt schon 1100 Verse; davon verbleiben dem Chore
etifras über 150.
98) So erscheint besonders die Parodos im Vergleich mit der sonstigen
Weise des Aeschylus unbedeutend; dagegen das dritte Chorlied, welches ge-
rade die Mitte des Dramas (V. 526 ff.) bezeichnet, wird benutzt, um auf den
Grundgedanken der Dichtung hinzuweisen.
99) Der Chor besteht aus Okeaniden; denn die Handlung, welche eigent-
lich dem Reiche der Götter angehört, verlangte nothwendig auch hier das Mit-
wirken höherer Wesen. Aber der Dichter hat diesem Chore nichts in den
Mund gelegt, was nicht ebenso gut auch sterbliche Jungfrauen reden konnten,
man vergleiche besonders das Chorlied SS" ff. (besonders 901 ff.), wo Aeschylus auf
die sonst auch beim Chore geübte Kunst des Individualisirens verzichtet. Merk-
würdig ist auch V. 550f. : ov7Cors..Tav Jioe aofioviav d'vaxcöv Ttaos^iaai
ßovXai, da Prometheus ebenso wie die Okeaniden göttlichen Ursprungs sind.
Dies ist nicht Ungeschick; der Dichter brauchte sich nur genau an Hesiod zu
halten, um den Anstofs zu vermeiden; aber er zieht es vor, seine Intention
möglichst klar und unmifsverständlich kundzugeben.
100) Wie bei Sophokles, so ist auch hier der Chor als ängaxros xrjSev-
iTfi behandelt, der in Unterordnung verharrt und ohne eigentlichen Antheii an
314 DlUTTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
ches der Chor bei dem Anblicke des gefesselten Promelheus empfin-
det, steigert sich bis zu lauten Klagen über die neue Gewaltherr-
schaft, die Zeus rücksichtslos gehend macht. Ja der Chor spricht
sogar zuerst das bedeutsame Wort aus (V. 165), dafs diesem Regi-
mente eine grofse Gefahr drohe. Aber als Prometheus dies aufgreift
und daran die Hoffnung auf seine Erlösung knüpft, fällt der Chor
wieder in die jungfräuliche Zaghaftigkeit zurück, die der Grundzug
seines Charakters ist. Aeschylus konnte den Chor benutzen , um
gegenüber den trotzigen Aussprüchen des Titanen auf das Recht
des Zeus hinzuweisen, aber indem er diese Rechtfertigung für die
zweite Tragödie aufspart, begnügt er sich auf die grofse sitthche
Wahrheit hinzuweisen, dafs alles menschliche Sinnen und Trachten,
aller Eigenwille den göttlichen Ralhschlüssen gegenüber eitle Thor-
heit sei (V. 551 und 906). Wiederholt erhebt der Chor seine war-
nende Stimme (V. 928 ff.) und unterstützt sogar den Hermes (V. 1036),
aber hält doch nichts desto weniger bis zum letzten Augenblicke treu-
lich zu Prometheus (V. 1063 fr.). Naturgemäfs tritt daher auch eine
andere Behandlung der rhythmischen Formen ein."")
Wahrscheinlich ist der Prometheus erst nach dem Tode des
Aeschylus auf die Bühne gebracht. Er wird zu den vier Tetralogien
gehören, welche Euphorion aus des Vaters Nachlasse veröffentlichte.
Aber man darf dies nicht benutzen , um die Vermuthung neuerer
Kritiker zu rechtfertigen, welche, durch den ungewohnten Ton be-
troffen, diese Gesänge dem Aeschylus absprechen. Aeschylus mag
der Handlung die Rolle des Zuschauers übernimmt und so dazu dient, das
Bild des menschlichen Lebens, welches der tragische Dichter uns vorführt, zu
vervollständigen.
101) Das erste ionische Strophenpaar der Parodos ist einem Liede des
Anakreon nachgebildet; auch das zweite Strophenpaar zeigt denselben leichten
Fiufs und erinnert an Anakreontische Liederweisen. Im zweiten Chorliede
kehrt der ionische Rhythmus wieder; darauf folgen kurze trochäische Strophen,
deren Bildung von der sonstigen Weise des Aeschylus abweicht. Im dritten
Chorliede (520 ff.) wird sehr passend zunächst das feierliche enkomiologische
Versmafs angewandt, welclies in der melisrhcn Poesie eine ausgezeichnete Stelle
einnimmt, auch schon von Chörilus und Phrynichus in die Tragödie eingeführt
worden war, aber sonst bei Aeschylus nicht nachweisbar ist, während es bei
Sophokles und Euripides sehr beliebt ist. Im folgenden Strophenpaare treten
nicht minder passend Logaöden (anapästisch-iambische Reihen) ein. Das vierte
Chorlied (SS7) bewegt sich wieder im enkomiologischen Biiylhmus.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. I. AESCH. 315
nicht alle Dramen völlig zum Abschlufs gebracht haben. So sah sich
der Sohn genöthigt die letzte Hand anzulegen, Einzelnes hinzuzu-
setzen, manches abzuändern, aber er besafs gewifs so viel Pietät,
um nicht ohne zwingende Gründe dieses Mittel anzuwenden. Der
Dialog des Prometheus ist wie aus einem Gusse. Wollte man nun
die Cborlieder dem Euphorion zueignen, so müfste man annehmen,
der Entwurf des Dramas sei bis auf die melischen Partien ausge-
führt gewesen. Jüngere Dichter mögen zuweilen in dieser Art ge-
arbeitet haben, Aeschylus, der grofse Meister der melischen Kunst,
schwerlich.'"^) Man erkennt vielmehr hier die wunderbare Vielseitig-
keit des Aeschyhis, der sich hinsichtlich der Stellung und Verwen-
dung des Chores den Grundsätzen seines jüngeren Kunstgenossen
anschlofs, gleichsam um zu zeigen, welche dramatischen Wirkungen
auch er auf dem neuen Wege erreichen könne. Man erkennt deut-
lich, wie Aeschylus dem befreundeten Sophokles nicht sowohl ent-
gegentrat, sondern vielmehr auf seine Reformen einging.
Man hat behauptet, Prometheus sei auf der Bühne durch eine
Puppe dargestellt worden, weil ein Schauspieler in dieser unbequemen
Stellung nicht so lange habe ausharren können."") Allein mit Leich-
tigkeit liefs sich der Felswand eine Einrichtung geben, welche die
nöthigen Ruhepuukte dem Darsteller gewährte. Aufserdem wäre das
Starre, Unbewegliche einer todten Figur höchst störend. Prome-
theus ist ein eiserner Charakter. In der Scene, wo er an den Fels
geschmiedet wird, ziemt es sich, die gröfste Ruhe zu bewahren, aber
nachher, in Momenten leidenschafthcher Erregung, mufste der Dar-
steller, soweit es die Banden gestatteten. Leben und Bewegung
zeigen. Wenn ein Schauspieler die Rolle des Prometheus auf der
Bühne übernahm, dann sind für die Eingangsscene drei Darsteller
erforderhch. Dies hat nichts Befremdendes; denn das Drama gehört
zu den letzten Arbeiten des Aeschylus. Bereits hatte Sophokles diese
102) Befremdlich erscheint nur das kurze Chorlied 687 nach dem Abtreten
der lo. Vielleicht hat Euphorion dasselbe hinzugefügt, indem Aeschylus das-
selbe später auszuführen beabsichtigt hatte, oder die ursprüngliche Fassung ist
verkürzt; doch kann das ältere Lied nur mäfsigen Umfang gehabt haben, da
die Episode nicht über Gebühr ausgedehnt werden durfte.
103) Der übertriebene Realismus der Erklärer hat dafür auch geltend ge-
macht, Hephästus treibe den Keil durch die Brust des Titanen (s. S. 342 A. 164);
dies spreche entschieden gegen die Darstellung durch einen Lebenden.
316 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Neuerung eingeführt, von der jedoch Aeschylus, wie eben auch
unser Stück zeigt, nur sparsamen Gebrauch macht.'*") (S. 312 A. 93.)
Auch die durchsichtige, schlichte und doch würdevolle Sprache
der Tragödie kann man als ein Merkmal der letzten Periode an-
sehen, wo der Dichter die verschiedenen Stilarten neben einander
als wirksame Kunstmittel verwendet. AbsichtHch befleifsigt sich
Aeschylus bei diesem Stoffe, der Anlafs bot, das höchste Pathos zu
entfalten, der gröfsten Einfachheit und Klarheit. Daher hat das
Stück auch weniger als andere unter den Händen unwissender Ab-
schreiber gelitten. Indessen ist der Text, obwohl im Ganzen lesbar
überliefert , mehrfach durch gröfsere oder kleinere Lücken und ähn-
liche Fehler entstellt.'"')
Inhalt. Die erhaltene Tragödie stellt das Strafgericht dar. Hephästus,
von Kraft und Gewalt, den Dienern des höchsten Gottes, unterstützt,
führt den Prometheus in das ferne Skythenland und schmiedet ihn
an einen Felsen an. Während der Gott des Feuers Mitgefühl em-
pfindet und nur widerstrebend den Auftrag vollzieht, höhnen die
104) Nur in der ersten Scene sind drei Schauspieler gleichzeitig auf der
Bühne, aber nur zwei führen den Dialog, da Prometheus, seinem Charakter
entsprechend, beharrlich schweigt. Der Dichter konnte auch in dieser Scene
mit zwei Schauspielern sich behelfen, wenn er nur dem Hephästus das Wort
gab. Aber alsdann wäre auf diesen Monolog gleich wieder das Selbstgespräch
des Prometheus gefolgt; daher zieht der Tragiker die dialogische Form vor.
Aufserdem ist der klar ausgesprochene Gegensatz zwischen dem mitleidigen
Gotte und seinem rauhen Diener sehr wirksam.
105) So gewinnt das Zwiegespräch zwischen Prometheus und Okeanus
erst durch Umstellung der Verse rechten Sinn und Zusammenhang. Auf H'2<»
mufs Prometheus 340—346 erwidern, dann Okeanus 335 — 33U, Prometheus 330
— 334, Okeanus 347 fr., dem auch die handschriftliche Ueberlieferung diese
letzte längere Rede giebt, während die Herausgeber sehr unpassend sie dem
Prometheus zutheilen. Aber 306 sind ein Paar Verse ausgefallen und dadurch
der Personenwechsel verdunkelt; deim die Schlufsvcrse 367—376 gehören wie-
der dem Prometheus. Eine arge Verwirrung herrscht in der Schilderung der
Irrfahrten der lo 707 ff. und 700 IT., die man weder mit der vermeintlichen
Unkenntnifs des Dichters in geographischen Dingen entschuldigen, noch damit
rechtfertigen darf, dafs Prometheus eben die Irrfahrten der sinubethörten lo
vorzeichnet. Diese Partie ist zwiefach verunstaltet, durch Ausfall einer gröfse-
ren Anzahl Verse (die Abschreiber haben eine ganze Seite überschlagen) und
durch Umstellung. Auch kleinere Lücken hat man nicht beachtet. So ist nach
V. 809 ein Vers ausgefallen, wo der Dichter die Katarakten dos Nils schilderte;
darauf ist Aristides II S. 460 zu beziehen.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. I. AESCB. 317
rauhen Schergen den Titanen. Nachdem sie sich entfernt haben,
macht Prometheus, der hisher in stummem Schweigen verharrte,
seinen Empfindungen Luft. Vor sich das unermefshche Weltmeer,
hinter sich die menschenleere Einöde, ruft er im Gefühl der Ver-
lassenheit die iNaturmächte zu Zeugen des schweren Unrechts an,
welches ihn betrofFen.*"*) Da naht sich der Chor der Okeaniden und
giebt seine Theilnahme kund. Aber Prometheus antwortet trotzig,
der Herrschaft des Zeus drohe eine verborgene Gefahr; nur ihm
allein sei dieses Geheimnifs bekannt. Auf Bitten der Okeaniden be-
richtet er dann umständlich, weshalb Zeus diese harte Bufse über
ihn verhängt. Jetzt erscheint Okeanus, der greise Gott, der sich
der neuen Ordnung der Dinge gefügt, und bemüht sich den Tita-
nen milder zu stimmen. Er will versuchen den Zeus mit Prometlieus
auszusöhnen ; aber Prometheus weist das Anerbieten trotzig zurück,
und Okeanus entfernt sich. Ein wehmüthiger Klagegesang schhefst
diese Scene ab. Prometheus, gleichsam um sich selbst in seinen
unsäglichen Leiden zu trösten, schildert eingehend, was er für das
Menschengeschlecht gethan, und schliefst mit dem Gedanken, dafs
nicht blofs er selbst, sondern auch Zeus der Fügung des Schick-
sals unterworfen sei, indem er von neuem auf sein Geheimnifs hin-
deutet. Der folgende Chorgesang weist auf die Ohnmacht der Men-
schen hin und empfiehlt sich demüthig vor Zeus zu beugen, dessen
Willen sich keiner ungestraft zu widersetzen vermöge. Eine längere
Episode unterbricht scheinbar den Verlauf der Handlung. lo, des
Inachus Tochter, von den Qualen des Wahnsinns unstät umherge-
trieben, tritt auf. Zeus hatte sie einst gebebt und doch zugelassen,
dafs der eigene Vater sie verstöfst, der Zorn der eifersüchtigen Hera
sie verfolgt. lo, gleichsam eine Leidensgefährtin des Titanen, bricht
in herbe Klagen über ihr Geschick aus. Prometheus verkündet ihr,
dafs dem Zeus der Verlust seiner Herrschaft bevorstehe; nur er ver-
möge die Gefahr abzuwenden, wenn er seiner Fesseln ledig sei,
und diese Befreiung werde, wenn auch spät, durch einen Nach-
kommen aus los Geschlecht erfolgen. Nachdem Prometheus der
lo ihre ferneren Irrfahrten verkündet hat, eilt die Jungfrau, aufs
Neue vom Wahnsinn befallen, fort, von sympathischen Betrachtungen
106) Was bei den jüngeren Dichtern nur als Mittel rednerischer Kunst
erscheint, ist hier lief empfunden und wirksam.
318 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
der Okeaniden begleitet. Prometheus, indem er sein Geheimnifs
mehr und mehr enthüllt, wiederholt, Zeus werde sich einer Liebe
hingeben, die ihm den Thron koste. Der Chor warnt und räth zur
Mäfsigung, aber vergeblich. Prometheus, durch den Widerspruch
gereizt, stöfst harte Reden und Drohungen gegen den Götterkönig
aus. Jetzt tritt Hermes auf und verlangt im Auftrage des Zeus, er
solle offenbaren, woher die Gefahr drohe. Prometheus verweigert
entschieden jede Auskunft. Hermes stellt neue Pein in Aussicht.
Aber Prometheus bleibt standhaft; weder Drohungen noch milder
Zuspruch machen auf ihn Eindruck, und alsbald erfüllt sich die
Drohung. Prometheus wird mit dem Felsen, an dem er angeschmie-
det ist, unter Donner und Blitz in den Abgrund des Tartarus hinab-
geschleudert. Und indem er versinkt, ruft er Himmel und Erde
zu Zeugen an, welch schnödes Unrecht er leide.
Hier endet die Tragödie ; aber niemand wird glauben, dafs der
Dichter den Faden habe fallen lassen. Der Gegensatz bleibt am
Schlüsse des Dramas ebenso ungelöst, wie er am Anfange war, und
der Conflikt erscheint vielmehr noch gesteigert. Es ist ganz un-
möglich, mit einer so grellen Dissonanz zu schhefsen. Der gefesselte
Prometheus ist kein isohrt dastehendes Stück. Auch wenn kein aus-
drückliches Zeugnifs es verbürgte""), müfsten wir annehmen, dafs
in einer zweiten Tragödie die Lösung des Knotens erfolgte. Die
Fortsetzung und nothwendige Ergänzung unseres Dramas war der
befreite Prometheus.
Triiogie. Man nimmt an, Aeschylus habe auch in diesem Falle die strenge
trilogische Form festgehalten und die Einheit des stofflichen Zu-
sammenhanges gewahrt, so dafs zunüchst in einem einleitenden
Stücke der Feuerraub des Prometheus vorgeführt und die Bufse für
diese Verschuldung in Aussicht gestellt wurde. Darauf folgte als
Mitlelslück die vorliegende Tragödie oder das Strafgericht, welches
107) Glücklicher Weise fehlt es daran nicht, Schol. 511: iv ya^ r^ i^,i
Sfäfiart Xverat (o IlQOurj&eis), ons^ ififaivet 6 ^ia^vloi, und 522: T<p «f^»
dfiiftart (pvXÖTTet tovs Xöyovs. Der Sclioüast kannte das zweite Stflck gt-
nau, welches in der ausgewählten Sammlung der Alexandriner unmittelbar auf
unsere Tragödie folgte; denn beide Dramen bilden zusammen ein (ianzes. So auch
der Biograph : xat rivet fjSti liöv iQnyt^Siiüv aliqf Sk\ ftöviov oixovouoxt^ai
&eü>v, xad-uTieq oi nQu^i,&BiS. Ebenso ist bei Aiistol. Poet. c. 1^ p. \Ah(\ A 2
in einer zerrülleten Stelle, wo das xe^axäSBi berührt wurde, olov ai re ^Po^xtSai
xai npoftr^d'ivi xai oan iv "AiSov vielmehr oi UfOftrj&ale ZU flehreiben.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLITHEZEIT. I.AESCH. 319
Zeus über den Titanen verhängt, während die Befreiung des Pro-
metheus aus seinen Banden und die Versöhnung mit Zeus den In-
halt des dritten Dramas bildete. Die Entwendung des Feuers ist
zwar an sich kein recht geeigneter Vorwm-f für die tragische Poesie ;
auch hatte Aeschylus diesen Stoff bereits für ein Satyrstück benutzt.
Indes wegen der schweren Folgen, welche die That für Prometheus
hatte, konnte der Dichter in einer einheitlichen Trilogie wohl auch
diesen Abschnitt der Sage von neuem bearbeiten. Allein die erhal-
tene Tragödie selbst streitet entschieden mit einer solchen Voraus-
setzung. Gerade die Thatsachen, welche der Fesselung vorausgehen,
der Antheil des Prometheus am Titanenkampfe, der Baub des Feuere,
seine Verdienste um die Menschheit, werden in unserem Drama so
genau und ausführlich, zum Theil wiederholt geschildert, dafs für
ein einleitendes Drama, welches eben diese Thatsachen behandeln
mufste, kein Baum bleibt. Der Dichter hätte selbst alle Wirkung
zerstört, wenn er das, was eben erst den Zuschauern unmittelbar
vors Auge gerückt war, nochmals weitläufig wiederholt hätte, wäh-
rend es ein Beweis einsichtiger Oekonomie ist, dafs Aeschylus in
dieser Tragödie, welche die Darstellung der Prometheussage eröff-
nete, alles Vorausgegangene, was zum Verständnifs der Situation
nothwendig ist, in unser Drama einflocht. Nicht minder unglück-
lich ist ein anderer Versuch, die strenge trilogische Composition zu
retten, indem man auf den befreiten Prometheus noch ein drittes
Drama folgen läfst, welches die endgültige Aussöhnung des Titanen
mit Zeus dargestellt haben soll. Aber die Lösung des Confliktes
erfolgte bereits in der Fortsetzung des gefesselten Prometheus, und
es wäre ein unerträghcher Pleonasmus, hätte der Dichter darauf
noch ein Drama mit versöhnUchem Ausgange folgen lassen und so
die Lösung des Knotens auf zwei Stücke verlheilt.***) Aeschylus er-
lös) Das Verzeichnifs kennt nur drei Dramen: n^ofirjd-Evs SeafKÜrr^g, nvo-
fögos, XvöfiEvos. Da jedoch dasselbe nicht immer vollständig ist, bezieht man
diese Notiz auf drei Tragödien. Allein Iloo/uTjd-evs Tiv^fö^os ist das Satyrdrama,
sonst auch nvQxasts benannt, eine Variante, die hier, wo der Zusatz nicht von
des Dichters eigener Hand herrührt, am wenigsten befremdet. Auf das Satyr-
drama geht auch die .Notiz Schol. 94 : iv yao iiT nv^fo^cp y fivQMSas frjal
ScSi'ad-at avTÖv. Hier darf man an dem Präteritum keinen Anstofs nehmen.
Prometheus wird gesagt haben, ich führe meinen Entschlufs aus, sollte ich auch
30 000 Jahre dafür büfsen. Der Grammatiker konnte, ohne weilläufig zu wer-
den, seine kurze Relation gar nicht anders fassen.
320 DRITTE PERIODE V0^ 500 BIS 300 V. CHR. G.
kannte sehr wohl, dafs der Stoff, wenn er die rechte Wirkung üben
sollte, in zwei Tragödien zusammenzufassen war; daher zog er es
vor, einen freien Draraencyklus zu bilden. Wenn in der Perser-
trilogie jedes Drama in sich vollkommen abgeschlossen ist , so konnte
der Tragiker doch ein anderes Mal zwei Tragödien aufs Engste mit
einander verknüpfen und damit ein drittes selbständiges Trauerspiel
und ein Satyrdrama verbinden. Denn gerade jene Weise der Com-
position gestattete dem Dichter völlige Freiheit der Bewegung. Welche
Stücke mit dem gefesselten und dem befreiten Prometheus verbunden
waren, darüber lassen sich nur unsichere Vermuthungen aufstellen. "**j
Vielleicht wurde die Tetralogie durch die Heliaden eröffnet""), wo
Aeschylus den Sturz des Phaethon und die Trauer der Schwestern
dargestellt hatte. Auch dies war eine hochalterthümliche Sage, auch
hier war die Scene der Handlung in die weite Ferne gelegt. Dann
gehörte der ganze Dramencyklus dem unsichtbaren Reiche der Göt-
ter an.
Der bjfreite Von dem befreiten Prometheus ist uns eine ansehnliche
Prometheu8.^gj^j BpudjsjQcl^e erhallen, doch reichen sie nicht aus, um eine
vollkommen klare Vorstellung von der Anlage und Ausführung zu
gewinnen. Den Chor bilden die Titanen, die Blutsverwandten des
Prometheus, welche Zeus bereits aus der Gefangenschaft entlassen
hatte "O^ zu der sie nach dem Siege verurtheilt waren. Dadurch
wird gleich der versöhnliche Geist, der hier im Gegensatz zu dem
ersten Theile waltet, angedeutet. Aufser Prometheus traten seine
Mutter Themis, Herakles der Befreier und sicherlich auch Hermes
109) Für manchen dürfte es etwas Ansprechendes haben, wenn im dritten
Drama der Sagenkreis des Achilles benutzt ward. Indes die Vermählung der
Thetis mit Peleus war für eine selbständige Tragödie ein wenig geeigneter
Stoff, an dem sich auch Aeschylus, soviel wir wissen, niemals versucht hat;
hätte aber der Tragiker eine Heldenthat des Achilles vorgeführt, dann war die
Verbindung so lose, dafs ebenso gut jedes andere Thema diesen Dienst leisten
konnte. Sisyphus, in der Unterwelt büfsend, (£i<jvfoe nerQoxvliaTr';!) wäre wohl
ein nicht unpassendes Gegenstück zum Prometheus (s. S. 343 A. 108); allein
diese Tragödie mufs Aeschylus noch, bevor er Athen verliefs, aufgeführt haben.
110) Die Heliaden gehörten wohl zu dem Nachlasse des Aeschylus, da
Euphorion dieses Drama überarbeitet hatte. (S. S. 343 A. lOli.)
111) Nach der älteren Sage bei Hesiod sind die Titanen zu ewiger Ge-
fangenschaft verurtheilt. Die mildere Auffassung einer jüngeren Zeil läfst haupt-
sächlich unter dem Einflüsse der Orphiker ihre Fesseln gelöst werden, vgl.
Pindar Pylh. IV 291. (S. Bd. II S. 425. 426.)
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. I.AESCH. 321
auf."*) Das Stück ward ohne Prolog mit den Anapästen des Chores
eröffnet. Die Titanen begrüfsen ihren ehemaligen Genossen, der
noch in Fesseln schmachtet. In der Antwort des Prometheus*")
spricht sich nicht wie früher leidenschaftliche Erbitterung, sondern
mehr ruhige Fassung aus. Mit Ergebung trägt er sein hartes Ge-
schick; er wünscht sich den Tod, um von seinen Leiden befreit zu
sein, und weifs doch, dafs er nicht sterben kann. Dann wird die
Mutter aufgetreten sein ; denn durch Themis wurde wohl hauptsäch-
hch die Lösung gefördert. Später erschien Herakles, der ausge-
zogen war, um die goldenen Aepfel der Hesperiden zn holen. Pro-
metheus, der ihn sogleich erkennt, begrüfst ihn,"*) verkündet dem
Heros seine weiteren Schicksale und schreibt ihm den V^eg vor, der
zum Atlas und dem Hesperidengarten führte. Herakles tödtet den
Adler."'^) Ob er auch die Fesseln sprengte, läfst sich nicht sagen;
denn der fernere Verlauf des Dramas ist völlig dunkel. Unheimlich
düster zieht sich durch die frühere Tragödie die Prophezeiung, dafs
dem Zeus einst eine schwere Gefahr bevorstehe; aber nur um den
höchsten Preis will Prometheus, der das Unheil abwenden kann,
das erlösende Wort aussprechen. In dem zweiten Theile ward das
Geheimnifs offenbar, und die Gefahr, welche drohend über dem
Haupte des Götterkönigs zu schweben schien, verschwindet."^) Pro-
112) Das Personenverzeichnifs zum gefesselten Prometheus (K^tos xal
Bin, "Hfataros, ÜQOiuTjd'siS, XOQOS ^^xeaviBcov, 'ßxeacos, Fr], 'H^axXfjs,
'Eofir,s, ^Ia> ^Ivä/^ov) zählt die Personen beider Tragödien auf, die noch in der aus-
gewählten Sammlung der vorbyzantinischen Zeit, wie sich gebührte, verbunden
waren. Hermes ist nur einmal genannt, gehört aber offenbar beiden Stücken an.
113) Von Cicero Tusc. 11 lu in lateinische Senare übertragen.
114) Fr. 201 Di.: ^E^d'^ov Tiar^ös fioi (xal^e) tpiXTarov xixvov. Herakles
wird seine Verwunderung ausgesprochen haben, dafs Prometheus ihn sofort er-
kennt; der Titane wird ihm sowohl seine früheren Thaten erzählt, als auch
seine künftigen Abenteuer prophezeit haben. Diese Scene hatte mit der Begeg-
nung mit der lo im ersten Theile die gröfste Aehnlichkeit.
115) Hierher gehört der Vers fr. 205 Di.: lAyosvs 8^ 'ATtoXlcov oQd'bv i&i-
voi ßekoe. Nach Probns Verg. Ecl. VI 41 : Heracles Prometheum liberare , ne
offenderel patrem, timuit, und die Befreiung erfolgte erst, nachdem Prome-
theus sein Geheimnifs offenbart hatte.
116) Philodem. jr. elaeß. H 41 : xai rcv ngofn^^da Xvsu&ai «pr^aiv Ai-
ffX^Xos, ort TÖ ^^ytoy ifir;waev ro itegi 0äti8os , cos xQBtav eirj tov i§ avxri
yevvrid'itrca y.QeiTico xaraar^ai rov TxaxQÖS' o&sv xai d'vr^Tcö avvoixi^ovaiv
avTTjv avS^i [verbessert Philol. 21, 140]. Schol. Pind. Isth. VlII 26: re&QOJ.ijTai
Bergk, Griecb. Literaturgeschichte III. 21
322 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
metheus hatte gelobt, nur dann, wenn Zeus sich demüthige und ihn
aus der Haft entlasse, die Hand zur Rettung zu bieten ; aber offenbar
bewog Zeus' Milde den Titanen, der seinem starren Trotze entsagt,
des alten Schicksalsspruches Sinn zu enthüllen. Es war dies nicht
mehr die Bedingung seiner Freilassung. Das Orakel der Themis hat
für die festgegründete Herrschaft des Zeus keine Bedeutung mehr;
es dient nur dazu , um die unsterbhche Tochter des Nereus mit
einem sterblichen Manne zu verbinden, den die Götter um seiner
Frömmigkeit willen belohnen wollen, und zugleich den Spröfsling
dieser ungleichen Ehe zu verherrlichen, dem unter allen Helden der
Vorzeit des höchsten Ruhmes Preis zu Theil ward. So zei'streut
heiterer Sonnenglanz die finsteren Wolken, und die verschlungenen
Schicksalswege lösen sich befriedigend.*") Am Schlufs der Tragödie,
nachdem die Aussöhnung erfolgt war, ward auf die Sitte hingewiesen,
sich mit Weidenzweigen zu bekränzen, gleichsam eine ehrende Er-
innerung an die Fesselung des Titanen, welche die Menschheit ihrem
Wohlthäter widmete.
verhäitnirs Acschylus behandelt hier eine der inhaltreichsten und tief-
lus zirne-sinnigsten Mythen des Alterthums. Die Thaten und Leiden des Ti-
s'od. tanen Prometheus darzustellen mufste für den grofsen Dichtergeisl
rj iaxoQia naqä tc avyypa^evai xai TtoiTjTole' axQtßaJs 8e xelxai xal Tia^a
Aiaxv^V ^^ n^Ofitj&ei Sea/ucirj] (verschrieben für Xvofiivtp).
117) Nach Apollodor Bibl. II 5, 11, 10 tödtet Herakles nicht nur den Adler
und sprengt die Fesseln, sondern veranlafst auch den Cheiron aus freiem Ent-
schlüsse für Prometheus zu sterben. Auf diese Lösung wird unverkennbar hin-
gewiesen im Prometheus 1027, wo Hermes sagt, Prometheus habe nicht eher auf
Befreiung zu rechnen, n^iv av &scjv ne SiäSoxos rcHv acJv jiövtuv ipavf;, d'ekrjari
t sie avavyrjTOv /uoXelv yiiSr/v xvt(paiä. t' afi(pi Ta^xa^ov ßad"?]. Diese Worte
sehen nicht wie eine Bedingung aus, deren Erfüllung Hermes selbst nicht er-
wartet, sondern eher wie eine Hindeulung auf die Lösung des Knotens in der
zweiten Tragödie. Und doch ist schwer zu sagen, welchen Gebrauch der Dich-
ter von dem stellvertretenden Tode des Cheiron machon konnte; denn es wäre
eine ganz äufserliche Lösung des Confliktes, wenn Zeus, der den Prometheus
bereits aus freiem Entschlüsse der oberen Welt wiedergegeben hatte, ihn erst
dann von seinen Leiden befreit, nachdem ein anderer für ihn in den Hades
hinabgestiegen. Man erwartet, dafs die Versöhnung sich auf innerliche Weise
vollzieht. Für den dramatischen Zweck genügte die Befreiung durch Herakles,
und man kann sich nicht recht vorstellen, wie Aeschylus, der einfache Mittel
liebt, durch eine überflüssige Zugabe die reine Wirkung beeinträchtigt haben
sollte.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLLTHEZEIT. I.AESCH. 323
besonderen Reiz haben. Keiner der früheren Tragiker hatte sich an
diesen schwierigen Vorwurf gewagt, aber auch keiner der Jüngeren
unternimmt es, sich mit Aeschylus in einen ungleichen Wettkampf
einzulassen."*) Den wesenthchen Inhalt fand der Dichter vor; er
schliefst sich hauptsächUch an die üeberlieferung an, welche die
Hesiodischen Gedichte"^), jenes ehrwürdige Denkmal der hellenischen
Poesie, darboten, aber er verfährt mit Auswahl. Was den Gesetzen
der dramatischen Poesie nicht recht gemäfs ist, was seinen eignen
Intentionen nicht entspricht, wird ausgeschieden oder umgestaltet.
Nach Hesiod verleitet Prometheus die Menschen beim Opfer, welches
sie den Göttern darbrachten, Zeus zu überHsten. Zeus entzieht darauf
den Menschen das Feuer, so dafs der schnöde Gewinn nichts nützt
und die Schlauheit zu Schanden wird. Da sinnt Prometheus auf neue
List. Er entwendet heimlich das Feuer, um es den Menschen mit-
zutheilen, und nun trifft ihn der Zorn des Zeus mit seiner ganzen
Schwere. Aber auch die Menschen werden gestraft, indem das Ge-
schlecht der Frauen geschaffen wird '^) und damit alles Unheil über
die Menschen kommt, welche sich früher einer glücklichen Existenz
erfreuten. Ganz anders Aeschylus. Er verschmäht die aUerthümlich-
naive Sage vom Opferbetruge. In dem Kampfe des Zeus mit den
Titanen stand Prometheus anfangs auf Seite seiner Blutsverwandten
und war mit seiner Klugheit für sie ein Bundesgenosse von hohem
Werthe. Allein die Titanen, auf ihre rohe Kraft vertrauend, verachteten
118) Arg. Prom. 47 ff.: Ksirai 8e r; uv&onoita iv Ttaqexßäasi Tia^a 2o-
^oxXsi kv KoXxiai, naoa Se jEv^miSr] o/.cos ov xelzat.
119) Hesiod hat die Prometheussage zweimal, in den Werken und Tagen
47 ff. und dann in der Theogonie 510 ff. zum Theil in abweichender Gestalt behan-
delt. Für die didaktische Poesie war diese Sage besonders geeignet, aber auch
die lyrische Dichtung (Sappho fr. 145) hat diesen Stoff berührt. Neuere haben ver-
muthet, die Prometheussage sei auch in dem alten Epos der Titanomachie behan-
delt worden, aber diese Vermuthung entbehrt jedes Grundes. Der Verfasser dieses
Epos mag, nachdem er den Kampf geschildert hatte, erzählt haben, wie Zeus
nach dem Siege Ehren und Aemter unter die Götter, die ihm beigestanden,
austheilte; damit schlofs das Gedicht, welches den Verlauf einer einheitlichen
Handlung darstellte, schicklich ab. Hätte der Epiker die Prometheussage hin-
zugefügt, so mufste er auf die Einheit des Planes verzichten. Aeschylus konnte
also für diesen Vorwurf auch nicht die Titanomachie benutzen; nur in der
Schilderung des Götterkampfes, der dem Feuerraube vorausgeht, mag er Ein-
zelnes dem Epiker verdanken.
120) Oder nach der anderen Fassung Pandora.
21*
324 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
seine Ralhschläge. Da tritt er mit seiner Mutter Themis auf Seite
des Zeus und hilft ihm den Sieg erringen. Aber das gute Ein-
verständnifs war nicht dauernd. Zeus vertheilt die Ehrenämter
unter die Götter; um die Menschen, welche in hülflosem Elend
lebten, kümmert er sich nicht, sondern beabsichtigt das ganze Ge-
schlecht zu vertilgen und ein neues zu schaffen. Da nimmt sich
Prometheus der Menschheit an ; um sie vom Untergange zu erretten,
entwendet er das Feuer und verhilft so den Menschen zu einem
würdigen Dasein. Aber Prometheus begnügt sich nicht die Menschen
der Roheit zu entreifsen, den Grund zu aller höheren Cultur zu legen,
sondern er sucht sie auch von der Furcht des Todes zu befreien,
indem er trügerische Hoffnungen in ihre Brust pflanzt.''^*) Während
also nach Hesiod die Menschen ursprünglich im Zustande glücklicher
Unschuld lebten und nicht ohne eigene Verschuldung immer tiefer
herabsanken, erhebt sich bei Aeschylus die Menschheit aus anfäng-
licher Roheit und Hülflosigkeit zu einer besseren Existenz.
In der Charakterschilderung des Prometheus stimmen beide
Dichter überein. Hier wie dort erscheint der Titane als schlau und
arglistig, hier wie dort tritt er als Beschützer der Menschheit auf.
Aber indem er sich ihres Geschickes annimmt, greift er willkürlich
in die götthche Weltordnung ein, und indem er offen dem Rath-
schlusse des Zeus widerstrebt, ruft er durch fortgesetzten Trotz das
Strafgericht auf sich herab. Ebenso stimmt der Tragiker hinsicht-
lich des Grundgedankens mit dem allen Lehrdichter vollkommen
Uberein. Hesiod schliefst jedes Mal seine Erzählung des Mythus mit
den bedeutsamen W^orten ab, es sei vergeblich, sich gegen den Ralh-
schlufs des Zeus aufzulehnen. Das Schicksal des Prometheus ver-
anschaulicht eben den Gedanken, dafs alle Schlauheit der höheren
Weisheit gegenüber zu Schanden wird, dafs jede Empörung gegen
die Wellregierung durch schwere Bufse gesühnt werden mufs.'")
Aeschylus folgt treuhch den Spuren seines Vorgängers, wenn er an
bedeutsamer Stelle darauf hinweist, dafs menschliches Sinnen und
121) Vom Tode vermag Prometheus die Menschen nicht zu befreien, aber
er macht sie der Todesfurcht vergessen. Hier klingt eine Erinnerung an die
Pandorasage an.
122) Hesiod "W. und T. 105: ovrati ovrt nr^ faxt Jioi vöov i^ale'aa&ai,
Theog. 613: a»s oix ian Jtbs ttkey/ai vcov ovSi Trnofk&sh'.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. I.AESCH. 325
Trachten im \M(lerspruch mit den Fügungen der höheren Mächte
nichts auszurichten vermag.'*^)
Der Tragiker scheint aufser Hesiod auch dem alten Theologen
Pherekydes von Syros theilweise gefolgt zu sein. Wenn Prometheus
sagt'^), er habe schon zweimal erlebt, wie das Regiment der Götter
gestürzt wTirde, und auch Zeus, der dritte Götterkönig, werde dem
gleichen Schicksale nicht entrinnen, so kann man dies zwar mit
der gemeinen Ueberheferung, welche Hesiods Theogonie darstellt,
wo auf Uranus und Gaia Kronus und Rhea, dann Zeus und Hera
folgen, wohl vereinigen '**), aber merkw ürdig ist, dafs die alten Er-
klärer hier eine Beziehung auf Ophion und Eurynome fanden, die
in dem System des Pherekydes die Stelle des Uranus und der Gaia
einnahmen.'^) Wahrscheinlich fand sich im gelösten Prometheus
eine deutliche Hinweisung auf jene Götterkämpfe, woraus hervor-
ging, dafs auch nach der Anschauung des Aeschylus zuerst der
alte Schlangengott Ophion mit seiner Gemahlin die Herrschaft über
Himmel und Erde ausübte.'^^
Wenn Prometheus dem Götterkönig in der Erwartung trotzt,
dafs jenem eine grofse Gefahr bevorstehe, die er allein abzuwenden
vermöge , so ist dieses Motiv dramatisch äufserst wirksam, und eben
deshalb hat der Dichter jenen Zug auf die Prometheussage über-
tragen; nur darf man darin keine freie Erfindung erbhcken. Die
alte Sage läfst drei Generationen von Göttern auf einander folgen.^**)
Indem Kronus seinen Vater Uranus der Herrschaft beraubt, befürch-
tet er einst ein gleiches Schicksal von seinen Söhnen, und ein altes
Orakel hat ihm diese Vergeltung in Aussicht gestellt; daher ver-
birgt er ängstlich sein Geschlecht in der dunkeln Tiefe. Dennoch
erfüllt sich das Geschick : Zeus stürzt den Kronus vom Throne. Aber
123) Aesch. Prom, 550: ov7ioze..rav Jioe aQftoviav ^vaxcjv Tiofs^iaat
ßovXai.
124) Aesch. Prom. 957.
125) Nach Aeschylus sind gerade wie bei Hesiod die Titanen Kinder des
Uranus und der Chthon.
126) Der Schlangengott war der erste Herr des Himmels, vgl. Apoll. Rhod.
I 503. (S. Bd. II S. 425. 426, unten S. 343.)
127) Auch in dem, was Prom. 205 und 210 über das Verhällnifs der X&dv
und Faia bemerkt wird, findet sich vielleicht ein Anklang an Pherekydes.
128) Auf diesen Wechsel der Götterdynastien spielt Aeschylus auch im
Agam. 170 an, wo ovB^ ae^erai tiqiv uv zu lesen ist, d. h. er wird nicht
mehr geehrt.
326 DRITTE PERIODE V0> 500 BIS 300 V. CHR. G.
nun ward ihm das gleiche Loos verkündet; ein Schicksalsspruch
warnt den Zeus vor dem Sohne, der gewaltiger als er selbst sein
werde. Um sich seine Herrschaft für alle Zukunft zu sichern, nimmt
er die Metis, mit der er Liehe gepflogen, in sich auf und gebiert
die Athene aus dem eignen Haupte. Dieses Motiv ward später zur
Ausschmückung der Heldensage verwendet. Indem der Ruhm dos
Achilles das Andenken seines Vaters Peleus weit überstrahlte, führte
man dies auf eine alte Prophezeiung zurück. Als Zeus um die
Liebe der Thetis warb, habe Themis ihn gewarnt, weil der Spröfs-
ling einer solchen Verbindung ihm Unheil bringen würde; deshalb
sei die Meerfee einem sterblichen Manne vermählt worden."®) So
schildert schon Pindar in der letzten isthmischen Ode diesen Vor-
gang '^), und Aeschylus hat ihn später mit der Prometheussage ver-
knüpft"'). Daher macht der Tragiker auch den Titanen zum Sohne
der Themis "^) ; eben durch seine Mutter ist Prometheus in den Be-
sitz des Geheimnisses gelangt und droht damit dem Zeus.'*')
129) Vielleiclit war schon in den verlorenen genealogischen Gedichten
Hesiods die alte Göttersage auf Peleus und Achilles übertragen.
130) Piudar Islhm. VIII 30 II., gedichtet Ol. 75, 3. Pindar läfst Zeus und
Poseidon um Thetis' Liebe werben, während offenbar die ältere Ueberlieferung
nur von Zeus wufste (Schol. Siafaiverai. (lies Siatpi^srnt) Si roTs lomoTe xnl
iSta^övTtos c IJivSaQOS, dann ^r]TT]rtov rivi MarTjxolov&Tjaev 6 JlivSuQoi).
ApoUodor Bibl. 111 13, 5, 1 folgt in diesem Punkte dem Pindar. Wenn Melanip-
pides (offenbar der Jüngere) den Achilles als Spröfsling des Zeus bezeichnete
(fr. 9), so ist dies sicherlich eine willkürliche Neuerung.
131) Vielleicht folgte Aeschylus hierin dem Logographen Pherekydes, seinem
jüngeren Zeitgenossen. Selbst wenn das "Werk des Logographen damals noch
nicht veröffentlicht war, konnte er doch den Mittheilungen des sagenkundigen
Mannes manches verdanken. Pherekydes hatte im dritten Buche die Befreiung
des Prometheus erzählt und namentlich auch das Abenteuer des Herakles, der
die goldenen Hesperidenäpfel gewann, geschildert. Vielleicht fand .sich auch
bei Pherekydes die Prophezeiung wegen der Thetis mit der Achillessage ver-
knüpft. Nachdem er im ersten Buche gegen Ende die Geschichte der Aeakiden
behandelt hatte, mufs er im zweiten Buche von der Fesselung und Strafe df«;
Prometheus berichtet haben; auch die Sage von der lo und ihrem Wächter
Argus fand sicli bei Pherekydes. Kurz man nimmt so viel Berührnngspunkte
zwischen der Tragödie des Aeschylus und dem Logographen wahr, dnfs die
Vermuthung, der Tragiker habe die Schrift des Sagensammlers gekannt, sehr
glaublich erscheint.
132) Nach Hesiod Th. 501 ist Prometheus Sohn der Klymene, nach anderen
der Asia.
133) Nach Pindar verkündet Themis den Srhicksalssprurh, so wohl die
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. U. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. I. AESCH. 327
Der Ort der Handlung ist in den fernen Nordosten an das Ort der
Gestade des Okeanus in die Einöde des Skythenlandes verlegt"'*), *° ""^*
während in der zweiten Tragödie Prometheus am Kaukasus ange-
schmiedet seiner Erlösung harrt.'^*) Nach der ursprünglichen Vor-
stellung hilfst der Titane an dem uralten Götterberge seinen Frevel.
Als dann auch dieser Mythus aus dem unsichtbaren Reiche der
Götter auf die Erde verlegt wurde, erscheint der Kaukasus als Schau-
platz des göttlichen Strafgerichtes. Aber neben dieser allgemein
verbreiteten Vorstellung gab es eine andere, wonach Prometheus,
wie alle überwundenen Gegner des Zeus, in den Tartarus binabge-
stofsen ward.*^®) Diese Verschiedenheit der Sage hat der Dichter
glücklich benutzt. Es wäre höchst undramatisch gewesen, wenn der
Dichter die Einheit des Ortes in beiden Dramen festgehalten hätte.
Indem Prometheus am Schlufs der ersten Tragödie mit dem Felsen,
an den er gefesselt ist, unter Donner und Blitz in die Tiefe ver-
sinkt, erzielt der Dichter eine echt dramatische Wirkung, und zu-
gleich erscheint die Qual des Büfsenden, der bisher noch das Son-
nenlicht schaute, gesteigert. Im zweiten Stücke ward der Fels aus
dem finsteren Abgrunde wieder zu Tage gefördert. Damit deutet der
Tragiker an, dafs in dieser Milderung der Bufse sich der versöhn-
liche Sinn des Zeus kund giebt. Am Kaukasus erwartet der Titane
seinen Befreier.'^')
alte Sage, nach Aeschylus Prometheus, offenbar eine Neuerung des Tragikers
(Schol. Pindar Isthm. VIII 31). Apollodor Bibl. III 1 3, 5, 2 folgt dem Pindar, weist
aber dann mit k'vioi auf Aeschylus hin. Die späteren Mythographen lassen
meist durch Prometheus den Zeus gewarnt werden, wie Hygin 54, Clemens Ro-
manus Recognitiones X 20 ed. Mign.
134) Im Prolog ist dies mit klaren Worten ausgesprochen ; dafs die Scene
nicht am Kaukasus zu suchen ist, zeigt vor allem V. 719.
135) Die Parodos des Chores und die erste Rede des Prometheus geben
darüber genügenden Aufschlufs.
136) Wer sich der höheren Weltordnung widersetzt, wer sich in frevel-
haftem Trotz erhebt, wird verbannt aus der Welt, in der feste Regel und Har-
monie waltet; so schildert der Theolog Pherekydes (Origen. adv. Gels. VI c. 42
p. 665) die TaqraQirj fioloa, k'vd'a Zevs ixßäX)^i d'eäv orav ne i^vß^iar].
Es ist nicht unwahrscheinlich, dafs Pherekydes in seiner Theogonie auch des
Titanen Prometheus gedacht hatte. Daher führt auch Horaz Carm. II 18, 35. Epod.
17,67 den Prometheus unter den Bildern ewiger Qual im Hades an, wohl nach
dem Vorgange der Sappho (fr. 145).
137) Wie die Sage hinsichtlich des Locals der Bufse variirt, so auch in
Betreff der Erlösung, und zwar steht beides in engster Verbindung mit einan-
328 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Dafs Aeschylus hier die Fesselung des Prometheus an den Okea-
nus verlegt, ist, wenn man will, eine ISeuerung. Die unzuhingliche
Weltkunde der alten Zeit versetzt den Kaukasus an die äufsersten
Grenzen der Erde zu den Skythen und dem Strome des Okeanus.'^*)
Aeschylus schliefst sich den Vorstellungen seiner vorgeschrittenen
Zeit an und sondert die Tiefebene am Meeresstrande von dem Hoch-
gebirge des Binnenlandes. Indem die Fesselung am Okeanus voll-
zogen wird, gewinnt der Dichter zugleich schicklichen Anlafs, die
Okeaniden als Chor in dieser Tragödie zu verwenden.
Beachtenswerth ist der breite Baum, welchen geographische
Schilderungen in beiden Stücken einnahmen. Auch in diesem Punkte
wie anderwärts tritt das Streben nach streng durchgeführtem Paral-
lelismus hervor."^) Während im ersten Theile die fernen Länder
des Ostens und Südens geschildert werden, ward im zweiten Drama
das Weltbild durch die Beschreibung des Westens und Nordens ver-
vollständigt. Die Logographen entwickelten damals eine rege Hte-
rarische Thätigkeit. Mit lebhafter Theilnahme begleitete man ihre
genealogischen und ethnographischen Arbeiten, folgte ihrer Führung
durch das graue Alterthum, wie durch fremde, unbekannte Gegen-
den. So ward das Dunkel, das auf der Welt ruhte, allmählich ge-
lichtet; die wunderbaren Vorstellungen, welche man von den V' Or-
der. Den an den Götlerbeig oder den Kaukasus angeschmiedelen Titanen be-
freit Herakles, indem er den Adler erlegt; den in der Unterwelt büfsenden
erlöst Cheiron, indem er für ihn in den Tod geht. Dies ist nicht die gemeine
Sage; denn da wirkt Cheiron bei der Hochzeit des Peleus mit (der sogar der
befreite Prometheus beigewohnt haben soll) und erzieht nachher den Achilles.
Aeschylus kennt beide Sagen von der Befreiung des Titanen, aber schwerlich
hat er von beiden zugleich im befreiten Prometheus Gebrauch gemacht. Früh-
zeitig ist die Sage von der Erlösung des Titanen entstanden, die schon Hesiod
kennt. An Orten, wo Prometheus als Feuergott religiösen Cultus halte, ward
man mit Nothwendigkeit auf diese Umbildung des Mythus hingewiesen, aber
daneben behauptet sich noch immer die ältere Sage von der ewigen Pein des
übermüthigen Frevlers.
V.iS) So, Mie es scheint, auch der Logograph Pherekydcs (Schol. ApoUon.
IV 139G), der den Herakles mit dem SonnenschifTe auf dem Okeanus zum Pro-
metheus gelangen lüfsl; daher betrachten Herodorus und Agrötas den Prome-
theus als Beherrscher der Skythen.
139) Dabei war aber doch für Abwechselung ausreichend gesorgt durch
Verschiedenheit nicht nur der Handlung und der Zeit, sondern auch des Ortes
und des Chores.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRCPPE. DIE BLÜTHEZEIT. I. AESCH. 329
fahren überkommen halte, machen der historischeu Wahrheit Platz.
Da unternahm es der Dichter, die Phantasie seiner Zuhörer noch
einmal durch die fernen Räume zu führen, die er mit den Wunder-
gestalten der Sage bevölkert.
Die Anlage der Tragödie ist einfach; nur einmal wird der ge- Anlage,
radünige Entwurf durch eine Episode unterbrochen, welche jedoch
ihren Zweck vollkommen erfüllt. lo erscheint gerade wie Prome-
theus als ein Opfer des göttlichen Zornes; auch sie hat den Undank
des Zeus an sich erfahren. Das zarte, echt weibliche Wesen der
unglücklichen Jungfrau, die vom Wahnsinn getrieben landauf, landab
irrt, bildet zu der harten, männhchen Natur des Titanen ein passen-
des Gegenstück und verleiht der Darstellung den Reiz der Abwech-
selung. Allein auch thatsächlich steht die Episode mit dem Schick-
sale der Hauptperson in enger Verbindung. Herakles, ein Abkömm-
ling der lo, ist berufen, der künftige Befreier des Prometheus zu
werden. Prometheus, der die Zukunft ebenso genau wie die Ver-
gangenheit kennt, überrascht die staunende Jungfrau nicht nur durch
eine wahrheitsgetreue Schilderung ihrer bisherigen Schicksale, son-
dern enthüllt ihr auch den ferneren Verlauf ihrer Irrfahrten bis zum
Nilstrom, wo sie Erlösung finden soll, und verkündet ihr die Zu-
kunft ihres Geschlechts. Prometheus weifs, dafs einst Herakles seine
Bande sprengen wird, fühlt sich daher mit lo und ihrem Stamme
eng verbunden. So wird zugleich auf die Lösung des Confliktes,
die in der folgenden Tragödie eintrat, hingewiesen.
Der Held ist in diesem Drama ununterbrochen den Augen der
Zuschauer ausgesetzt, aber mit jeder Scene tritt eine neue Person
auf. Durch fortwährende Steigerung weifs der Dichter die Zuhörer
beständig in Spannung zu hahen. Anfangs ist in den längeren
Reden das erzählende Element vorwaltend, aber nach und nach ent-
wickelt sich immer mehr dramatisches Leben, die Leidenschaft wächst,
und der Charakter des Helden wird nach allen Seiten hin dar-
gelegt.
Die griechische Tragödie , besonders die ältere, liebt es, Indivi-
duen zu schildern, welche im Uebermafse der Kraft und des Selbst-
gefühls mit dem göttlichen Geschick in Conflikt gerathen. Echt tra-
gischer Art ist der Charakter wie das Schicksal des Prometheus, der
sich trotzig über alle Schranken erhebt, sich gegen die höheren
sittlichen Ordnungen auflehnt und so dem unvermeidlichen Gerichte
330 DRITTE PERIODE V0> 500 BIS 300 V. CHR. G.
verfällt. Demgemäfs wird auch der Held in dem vorliegenden Drama
aufgefafst, wo die Leidenschaft in ihrer ganzen Nalurkraft uns ent-
gegentritt. Prometheus achtet ebenso wenig auf die verständigen
Zureden und Vorstellungen Befreundeter wie auf die ernsten War-
nungen der Gegner, sondern weist mit verzweifelter Entschlossen-
heit jeden Versuch der Ausgleichung von sich. Ungebeugt durch
die harte Bufse ergeht sich der Unbesonnene in verwegenen Reden
und fordert kühn sein Geschick heraus.
Die Handlung der Tragödie bewegt sich auf mythischem Boden,
im Reiche der Götter. Gott steht gegen Gott; denn überall bei
Aeschylus wird der Titane als göttliches Wesen aufgefafst und er-
scheint gemäfs der alten Ueberheferung nicht sowohl als Repräsen-
tant, sondern als Wohlthäter der Menschheit. Aber Prometheus'
Thaten und Leiden stellen gleichsam symbolisch die Menschen natur
dar, welche den Zwiespalt des individuellen und des göttlichen Wil-
lens zu überwinden, den Kampf der Freiheit mit dem Schicksal
durchzukämpfen sucht. Der Trotz, das hohe Selbstgefühl des Ti-
tanen ist recht eigentlich ein Abbild der Zeit des Dichters, welche
kühn mit allen Ueberheferungen der Vergangenheit bricht und sich
selbst ihr Schicksal bestimmt.
Die vorliegende Tragödie ist nur ein Bruchstück, zum vollen
Verständnifs der Dichtung ist der zweite Theil unentbehrlich; um
so schmerzlicher empfinden wir diesen Verlust. Aber wir kennen
den grofsen Dichter genügend, um zu wissen, dafs er auch hier
seinem eigensten Wesen nicht untreu geworden sein wird. Aeschy-
lus liebt scharfe Contraste; demgemäfs wird hier nur die eine Seite
zur Anschauung gebracht. Prometheus stellt sich selbst als Wohl-
thäter der Menschheit dar, der schuldlos die härtesten Oualen er-
duldet""); nur schüchtern wagt der Chor hie und da ein Wort
des Tadels auszusprechen. Zeus, nur von seinen Gegnern gesdiil-
140) Gleichsam unwillkürlich entschlüpft dem Promelheiis V, 266 das
Eingeständnifs eigener Verschuldung. Nicht minder beachtenswerth sind die
Worte 511 (F., wo er sagt, nach unabänderlichem Schicksalsschlufs werde seine
Erlösung erst spät, nachdem durch schwere Leiden sein slolzer Sinn gebeugt
sei, erfolgen. Solche AeuCseiungen, die scheinbar der Situation nicht recht
entsprec'ien, mit dorn Charakter des Helden nicht liarmoniren, enthalfen einen
nicht mifszuverstchenden Wink, zu welchem Ausgange der Dichter die Hand-
lung hinzuführen beabsichtigte.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRIPPE. DIE BLÜTHEZEIT. I. AESCH. 331
dert, erscheint in einem Lichte, wie man es am wenigsten von dem
tief religiösen Sinne des Dichters erwarten sollte. Tyrannische Ge-
walt triumphirt über das Recht; so gewinnt auch die im Hinter-
grunde der neuen Herrschaft drohende Gefahr Bedeutung. Eine so
einseitige Auffassung entspricht nicht dem lebendigen Rechtsgefühle
des Aeschylus. Wir dürfen vertrauen , dafs er in der verlorenen
Tragödie die andere Seite mit allen Mitteln seiner Kunst zur An-
schauung gebracht haben wird , damit jedem sein Recht widerfahre.
Indem es aussieht, als sei Prometheus der unschuldig Leidende,
den Zeus in leidenschaftüchem Zorne strafe, hat man geglaubt, der
Tragiker habe sich die Aufgabe gestellt, ein Muster höchster Stand-
haftigkeit im Ertragen unverschuldeten Leides darzustellen. Weil
man den Prometheus als ein selbständiges, in sich abgeschlossenes
Drama betrachtete, lag diese Auffassung nahe. Aber wie jene Ver-
herrhchung des Prometheus mit der Idee der göttUchen Gerechtig-
keit, welche der Dichter sonst überall festhält, zu vereinigen sei,
darüber bleibt man die Antwort schuldig. Ebenso konnte nur eine
oberflächliche Betrachtung in dieser Tragödie ein pohtisches Ten-
denzstück finden. Allein nicht minder verfehlt ist die Ansicht, als
ob Aeschylus es in diesem Drama und seiner Fortsetzung eigenthch
auf eine Kritik der Sage abgesehen habe. Um jenen Widerspruch
zu lösen, nimmt man an, Zeus selbst sei im Verlaufe der Zeit ein
anderer geworden. Der Dichter habe eben die Entwicklung des
höchsten götlhchen Wesens zur Anschauung zu bringen versucht.
Dabei vergifst man, dafs dann nicht mehr Prometheus, sondern Zeus
der Mittelpunkt der dramatischen Handlung sein würde. Die Welt
ist dem Wandel unterworfen und in fortschreitender Entwicklung
begriffen; der Menschen Anschauungen von dem götthchen Wesen
sind veränderlich, wie dies eben die mythische Vorstellung von dem
Dynastienwechsel bezeugt, allein die Gottheit ist von Anfang an die
immer gleiche."')
Aeschylus, obwohl gebunden durch die Tradition, welche er
nicht preisgiebt, ist sich doch dieses Unterschiedes wohl bewufst.
Nicht Zeus verändert im Verlaufe der Zeit seinen Sinn, sondern
141) Per alte Theolog Pherekydes bekannte sich gleich im Eingange seines
Werkes zu dieser Ueberzeugung: Zsvs eis aei, und damit stimmt die .\aschau-
ung des Tragikers, der auch mit Pherekydes wohl bekannt war.
332 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Prometheus."*) Ueberall stellt der Dichter die göttliche Weltregie-
rung als gerecht dar und läfst sie zuletzt siegreich aus allen Wider-
sprüchen hervorgehen. Aeschylus, der lange und viel über die
schwierigsten Probleme des menschhchen Lebens nachgedacht hat,
wird auch dieses Mal bemüht gewesen sein, eine befriedigende Lo-
sung zu finden.
Die erste Tragödie stellt den Zusammenstofs des individuellen
Willens mit dem götthchen Rechte, der Freiheit mit der Nothwen-
digkeit dar. Aber mit der Strafe ist das Schicksal des Titanen nicht
abgeschlossen. Die Aufgabe der zweiten Tragödie war die Ausgleichung
des Widerspruches und eudhche Versöhnung. Geläutert und ge-
reinigt mufste Prometheus, nachdem sein starrer Sinn gebrochen
ist, aus der Prüfung hervorgehen. Indem er sein Unrecht erkennt
und begreift, wie der Einzelne unfähig ist, eigenmächtig in den Gang
der Weltordnung einzugreifen, demüthigt er sich vor der unergründ-
lichen Tiefe des götthchen Rathschlusses. Ob es dem Dichter, der
hier die höchsten Fragen des rehgiösen Bewufstseins berührt, ge-
lang, seine Aufgabe in vollkommen befriedigender Weise zu lösen,
wissen wir nicht.
Einführung Das bedeutendste Verdienst, welches sich Aeschylus erwarb, ist
Tetralogie, "'^zweifelhaft die Einführung der Tetralogie; darin gipfelt recht
eigentlich seine Kunst. Hätte man diese Weise der Composition
beibehalten und consequent fortgebildet, so würde die griechische
Tragödie eine ganz andere und man darf wohl sagen vollendetere
Gestalt gewonnen haben. Kein ausdrückliches Zeugnifs legt dem
Aeschylus diese Erfindung bei, aber auch kein anderer Name wird
genannt. Bei der Dürftigkeit der Ueberlieferung darf dieses Schwei-
gen nicht befremden. Nur Aeschylus, der allgemein als Gesetzgeher
der Tragödie anerkannt wird, nicht Phrynichus oder ein anderer
von den AeUeren kann den Gedanken gefafst haben, die Tragödie
zu einem organisch zusammenhängenden Dramencyklus zu erweitern,
wo auch das heitere Nachspiel der Satyrn sein altes Recht behaup-
tete. Die Vorliebe für das Epische ist ein Grundzug der Aeschy-
leischen Poesie. Die Richtung auf grofseund inhaltvolle Stolle, welche
zur vollen Wirkung einen breileren Raum verlangten, wie die sitt-
142) Gleich in der ersten Rede des Prometheus aus der SchluTstragödie
giebt sich die veränderte Stimmung sehr vernehmlich kund.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLLTHEZEIT. I. AESCH. 333
liehe Weltanschauung des Dichters, der überall in den menschUchen
Dingen einen inneren Zusammenhang, eine höhere Führung erkannte,
führten den genialen Meister fast mit ISothwendigkeit zu der neuen
Kunstform. Die trilogische Composition bot, wenn die mythische
Einheit festgehalten wurde, wesenthche Vortheile dar. Der Dichter
konnte dem bedeutenden Stoffe gerecht werden, indem er eine Folge
von Begebenheiten vorführte, was zugleich Gelegenheit zu einer tiefer
eindringenden Charakteristik der handelnden Personen gegeben, und
das Gesetz der sitthchen Weltordnung liefs sich in wirksamster Weise
zum Bewufstsein bringen. Aufserdem war die freie Bewegung durch
die Schranken der Zeit und des Ortes nicht gehemmt. Jetzt war es
möghch, selbst weit aus einander liegende Begebenheiten, die durch
ein inneres Band verknüpft waren, ohne Gewaltthätigkeit und schroffe
Uebergänge vorzuführen."')
Diese durchgreifende Reform der Oekonomie der Tragödie darf
man nicht in die Anfänge der dichterischen Laufhahn des Aeschy-
lus verlegen. Es bedurfte dazu nicht nur des vollen Einverständ-
nisses mit den anderen Dichtern, welche die neue Kunstform sich
aneignen mufsten, sondern auch der Mitwirkung der Behörden, da
der bedeutende Umfang dieser dramatischen Compositionen eine ver-
änderte Einrichtung der Festfeier nothwendig machte. Nur ein
Dichter, der allgemein als der erste seines Faches anerkannt war,
vermochte eine solche Neuerung ins Lehen zu rufen, und nur wenn
die allgemeinen Verhältnisse günstig waren, liefs sich die grofsartige
Idee verwirklichen. So lange die Freiheit und Selbständigkeit Athens
durch die persische Weltmacht bedroht war, konnte man nicht daran
denken, die beschränkten Mittel des Staates auf die Erhöhung des
Glanzes der dramatischen Spiele zu verwenden. Ein patriotischer
Mann wie Aeschylus war weit entfernt, zur Unzeit für seine Kunst
Ansprüche zu erheben. Erst nach dem zweiten Perserkriege, nach-
dem endgültig die Existenz des Staates sicher gestellt war, ist der
143) Man vergleiche nur die Orestie oder die Dramen der thebanischen
Tetralogie (Laias, Oedipus, die Sieben vor Theben). Auch ist das Drama dem
Epos gegenüber im Vortheil; indem es die Begebenheiten nicht in ununter-
brochener Folge darstellt, sondern die Hauptmomente heraushebt und die
Zwischenräume zu ergänzen der Phantasie der Zuschauer überläfst, vermag
der tragische Dichter selbst den inhaltvollsten Stoff in einen mäfsigen Raum
zusammenzudrängen.
334 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
rechte Zeitpunkt gekommen. '^^) Das gesteigerte Selbstbewufstsein
des Volkes, das Gefühl des Behagens, welches sich in allen Klassen
verbreitete, kam den Bestrebungen des Dichters entgegen, und bei
der günstigen Finanzlage des Staates, mit dessen Leitung hoch-
herzige Männer betraut waren , fiel es nicht schwer, die Mittel und
Wege für eine Erweiterung der Festfeier zu finden.
Unsere Kenntnifs der neuen Kunstform ist unzulänglich; denn
nur vier Tetralogien des Aeschylus sind urkundhch verbürgt'"), und
es ist nicht gerathen, nach blofser Vermuthung, die gar trügerisch
ist, die Titel der Aeschyleischen Tragödien zu einheithchen Gruppen
zu verknüpfen. Es ist dies um so weniger thunUch, da bereits
Aeschylus nicht immer die organische Einheit der Tetralogie fest-
hält, sondern sich auch der freieren Form bedient und Dramen ver-
schiedenartigen Inhalts mit einander verbindet, wie die Persertetra-
logie zeigt. Es war dies wohl eine Concession, welche Aeschylus
machte, um seine Mitarbeiter für seine Idee zu gewinnen, und es
ist begreiflich, dafs er von der Freiheit, welche anderen gestattet
war, auch selbst Gebrauch macht, wenn schon mit Mafs. Denn die
Einheit des mythischen Stoffes war für Aeschylus offenbar Norm,
während die Späteren nur noch ausnahmsweise solche Tetralogien
dichteten. Wenn Aeschylus auf den stofflichen Zusammenhang ver-
zichtete, war er gewifs darauf bedacht, in echt künstlerischer Weise
die Einzeldramcn mit einander zu verflechten. Indem andere Dich-
ter diese bequeme Form bevorzugten, mufste die Verbindung der
Theile leicht den Charakter des Zufälligen annehmen und so zur
Auflösung der tetralogischen Composilion führen. Daher «büfst die-
selbe allmähhch die rechte Bedeutung ein , wenn schon die äufsere
Form unverändert beibehalten wird.
Immerhin ist es für ein grofses Glück zu achten, dafs uns
eine Trilogie des Aeschylus, die Orestie, vollständig erhalten ist.
Von den Persern und den Sieben gegen Theben wissen wir wenig-
stens, welche Stelle sie in dem dramatischen Cyklus einnahmen.
144) Ol. 75, 4 ist wohl zum ersten Male mit Tetralogien gekämpft wor-
den, 8. oben S. 230.
145) Aus Ol. 70,4 <Ptvevs, üf'^aat, rXavxoe {fJorvieis), npofir]&eve, Ol.
78, 1 yläioe, OiSinmii, 'Enja ini 0T]ßai , ^'fty^, Ol. 80,2 die Orestie, 'yiya-
fiefiviov , XoTjfÖQOi, KvfieviSee , Il^ioTtvs, und in einem unbestimmten Jahre
die ylvxoiigytia (Schol. Arist. Thesm. 135), ^USa/roi, Bnaaa^idiS, i\saria>cut,
yivxov^oe.
DIE DRAM, POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLCTHEZEIT. I.AESCH. 335
Aber man mufs sich hüten, das Verfahren eines Dichters, der seine
Kunst mit voller Freiheit und mit sorgfältiger Rücksicht auf die
Natur seiner Aufgabe, aber stets mit sicherer Hand übt, nach jenen
uns vorliegenden Proben genau bestimmen zu wollen. Die theba-
nische Trilogie führt in Laius, Oedipus und dessen Söhnen drei
Geschlechter vor. Der Fluch der bösen That vererbt sich auf Kinder
und Kindeskinder; langsam aber sicher vollzieht sich das Strafge-
richt. In ähnlicher Weise wird in der Orestie der Fluch, welcher
auf dem Hause der Pelopiden lastet, durch den Untergang des Aga-
memnon, durch den Muttermord des Orestes, der die Rache vollzieht,
und schliefshch durch die Erlösung veranschauhcht , w eiche durch
richterlichen Spruch und göttliche Gnade dem Muttermörder zu Theil
wird. Aber anderwärts schreitet die Handlung rasch vorwärts; die
Ereignisse sind auf einen mäfsigen Raum zusammengedrängt, wie
in der Tetralogie, zu welcher die Schutzflehenden gehören, ebenso
in der Lykurgie und in dem Tragödiencyklus, zu welchem die home-
rische Ilias den Stoff bot "®) , wo Achilles offenbar in sämmtlichen
Stücken Träger der dramatischen Handlung war. Das Verhältnifs
zwischen den einzelnen Dramen war sicherhch bald fester, bald loser;
aber die drei Tragödien sind nicht als drei Akte eines einzigen Dramas
zu betrachten , sondern jede enthält eine abgeschlossene Handlung,
ist selbständiges Ghed eines gröfseren Ganzen.'") Wie das Epos,
zu Ende auslaufend, meist beruhigend und versöhnend abschüefst,
so scheint auch Aeschylus im dritten Stücke vorzugsweise diese be-
sänftigende Wirkung angestrebt zu haben. Eben daher hinterlassen
auch die Euraeniden, mit den Choephoren und dem Agamemnon zu-
sammengehalten, einen schwächeren Eindruck. Doch hat der Dichter
dies nicht durchgehends beobachtet. Die Sieben vor Theben, obwohl
146) MvgfiiSovse und "Extoqos Xvtqu nahmen wohl die erste und dritte
Stelle der Tetralogie ein; das Mittelstück lä/st sich nicht mit Sicherheit nach-
weisen.
147) Aber auch so ist die Verbindung der einzelnen Dramen eine innige:
die Auflösung der Tetralogie bringt bei Sophokles und Euripides keinen em-
pfindlichen Nachlheil, weil jedes Drama eine Dichtung für sich ist. Anders
bei Aeschylus: die Perser konnte man abtrennen, weil hier die Form der freien
Composition gewählt war, auch am ersten ein drittes Stück, wie die Sieben.
Aber der gefesselte Prometheus ist ohne seine Fortsetzung gar nicht recht ver-
ständlich, und auch den Schutzflehenden sieht man es an, dafs uns nur ein
Bruchstück einer gröfseren Dichtung vorliegt.
336 DRITTE PERIODE VO.N 500 BIS 300 V. CHR. G.
das dritte Drama, brechen schrofl" und ohne rechte Vermittelung ab,
und ähnHch wohl auch die anderen Compositionen, welche mit dem
Untergange des Helden endeten."*)
Reduktion Gleichzeitig mit der Einführung der Tetralogie mufs auch die
■ Reduktion des tragischen Chores erfolgt sein. Man durfte nicht den-
selben Sängern zumuthen hintereinander in vier Dramen aufzutreten;
dies würde ihre Kräfte überstiegen haben. Ebenso wenig aber konnte
man die Zahl der Choreuten entsprechend vermehren.*") Man ver-
theilte also den grofsen Chor von fünfzig Personen in vier Abthei-
lungen von je zwölf Choreuten, welche den Vortrag der melischen
Partien in den einzelnen Dramen übernahmen. Der Chor büfst aller-
dings dadurch das Imposante ein, welches ihn ausgezeichnet hatte.
Allein da durch die höhere Entwicklung des dramatischen Elementes
der Chor allmählich seine frühere Bedeutung verlor, wurde dies
weniger empfunden.
Beurtheiiung Bescheiden beugt sich Aeschylus vor der Dichtergröfse des Homer,
Aeschyius. wenn er im Bewufstsein, wie viel er der Anregung jener unvergäng-
lichen Werke schuldete, seine Tragödien Brosamen von dem reichen
Mahle Homers nannte.'*") Und doch war der Dichter seines eigenen
Werthes sich wohl bewufst. Es ist ein stolzes Wort, aber zugleich
ein Zeugnifs seines grofsen Sinnes, wenn er unbekümmert um die
schwankende Gunst oder Ungunst der Zeitgenossen seine Arbeiten
vertrauensvoll dem Urtheile der Nachwelt anheimstellt.'") Freilich
ist diese Erwartung nicht recht in Erfüllung gegangen. Aeschylus
148) Die Bestrafung des Lykurgus wird in der Lykurgie nicht gefehlt
haben, aber der Tod des thrakischen Fürsten war kein geeignetes Thema für
das Salyrspiel yivxovQyos. Eine vierte Tragödie mit satirischen Elementen ver-
setzt anzunehmen, so dafs Aeschylus schon die dem Euripides zugeschriebene
Neuerung vorausgenommen hätte, ist ebenso unwahrscheinlich. Die dritte Tra-
gödie Neaviaxoi wird die Strafe des Lykurgus dargestellt haben, während das
Satyrslück Avtcovqyos, ähnlich wie die ^ft'/l und der JjQcarsvt, eine Episode
aus dem früheren Leben des Helden nachholte.
149) Dann wären für eine Tetralogie 200, für die drei concurrirendcn Dich-
ter 600 Choreuten erforderlich gewesen.
löU) Athen. VIII 34" E: t«« avrov xQaytpSiat rtßiaxf} »Jva$ tXty» rtäv
'O/ir.QOv asyaXoJv Ssinvcov. (S. S. 'J42 A. U>4.)
151) Athen. VIII 347 E f.: filöaofos Si ijv TÖäv naw 6 j4toxvias, oe xni
ririr,9Bii aöixois nojt, coi Osöf^natoi »; XnfiatXiatv iv t<m ne^i y}oovr,i si^t;xtt;
£(pT] XQÖvv '''"* T^ayiijSiaS avmi&irnt , eiStoi ort xoftnirai ti^' nooarjxovaav
DFE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. I. AESCH. 337
ward durch seine Nachfolger in Schatten gestellt, und wenn schon
die Mitlebenden nicht immer die volle Bedeutung des Mannes er-
fafsten und gebührend würdigten, so ward die gewaltige Gröfse des
Dichters den schwächeren Geschlechtern der späteren Zeit mehr und
mehr eine fremde Erscheinung.
Als Aeschylus starb, brach die Nacht herein, sagte
Äristophanes.'^'') Dies ist nicht blofs Ausdruck der innigen Vereh-
rung, welche der Komiker alle Zeit dem Tragiker widmete, son-
dern man empfand allgemein schmerzlich die Schwere des Verlustes.
Daher bestimmten die Athener, die Dramen des Aeschylus nach wie
vor beim Agon der Tragiker zuzulassen.'") Wer ältere Stücke des
Dichters wieder aufführen wollte, durfte von dem Archon einen Chor
verlangen und sich um den Preis bewerben, der eigenthch nur für
neue Tragödien bestimmt war. Es war dies eine ungewöhnliche,
aber keineswegs bedeutungslose Auszeichnung. Man konnte das An-
denken des Meisters nicht würdiger ehren, als indem man sein Ver-
mächtnifs beim Volke lebendig erhielt und ihm eine dauernde Wir-
kung zu sichern suchte. So stand die Poesie des Aeschylus längere
Zeit in hohem Ansehen, Bis zum Beginn des peloponnesischen Krieges
152) Aristides Declam. 12 I S. 145: o 8i frjaiv lA^uirofävrie nsQi Ata'/;vhn)
axirov elvai re&vrixoros,
153) Biographie: ^Ad'rjVaiot 8i roaovrov riyänriaav Aiax^Xov, ms yjrjcpiaa-
a&at fiexa ^ävaxov avrov ihv ßovXlftevov SiSdaxeiv ra jiia'/i^Xov xOQOv Xau-
ßävovra. Schol. Aristoph. Acharn. 10: rifir/S Se fiEyiaTr,s erv^e naga ^Ad'rjvaiois
o Ai<s/;vkoe, xai fiovov avrov xa Sgafiaxa f^r^^iaf^nzi xoivm xal fieza ■d'avaxov
iStSäaxexo. Philostratus vit. Apoll. VI 11 : xä yao xov Aiax}>h)v yprjtpiaafievanf
avsSiSäaxexo xai ivixa ix xaivfjs. Der Preis wurde selbstverständlich dem
biSaaxaXoi zuerkannt, aber der Herold mochte jedes Mal bemerken, dafs er mit
Dramen des Aeschylus auftrete. Daher sagt Philostratus nicht unpassend: ixä-
Xoi<v 8e xal xed'vBcäxa eis Jiovvaia, und zwar fanden diese erneuten Auffüh-
rungen nicht blofs an den Lenäen, sondern auch an den grofsen Dionysien
statt. Die Nachkommen des Aeschylus haben vorzugsweise von diesem Privi-
legium Gebrauch gemacht. Für die unversehrte Erhaltung dieser Dichtungen
war die Einrichtung nicht günstig; denn die Versuchung lag zu nahe, Einzelnes
abzuändern, um dem veränderten Geschmacke des Publikums zu genügen oder
auch sein eigenes Talent zu bethätigen. Vollkommen zutreffend ist die Be-
merkung Quintilians X 1, 66: sed rudis (Aeschylus) in plerisque et tncompositus,
propter quod correctas eins fabulas in certamen deferre posterioribus poetis
Athenienses permiserunt, suntque eo modo multi coronati; nur ist die Erklä-
rung der Thatsache nicht richtig. (S, S, 286 A. 36.) Die Spuren solcher üeber-
arbeitung sind noch jetzt nachweisbar.
Bergk, Griecb. Literaturgeschichte III. 22
338 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
und noch darüber hinaus wurden seine Stücke fleifsig aufgeführt
und dem todten Dichter wiederholt der Siegespreis zuerkannt.'")
Die rückhaltslose Anerkennung, welche die Komiker dem Verdienste
des Aeschylus zollen, nicht um die Leistungen der Gegenwart durch
den Vergleich mit dem alten Meister herabzudrücken, sondern aus
voller Ueberzeugung ist ebenso ehrenvoll für den Tragiker, wie be-
zeichnend für den kritischen Standpunkt der Komüdie."*) Aber wie
das ältere Geschlecht, welches noch aus seiner Jugendzeit eine le-
bendige Erinnerung an den Dichter festhielt, allmShüch ausstarb'**),
ändert sich dies. Dem verwöhnten Geschmacke der Jüngeren er-
schien die Poesie des Aeschylus zu herb und einfach'"); immer
154) So ward das Andenken an die Poesie des Aeschylus lebendig er-
halten (doch darf man darauf nicht Aristoph. Frösche 868 beziehen). Wie man
an Aeschylus hing, zeigt Aristoph. Acharn. 10, wo Dikäopolis seinen Verdrufs
darüber ausspricht, dafs der frostige Theognis mit Tragödien auftrat , M'ährend
man erwartet hatte, Dramen des Aeschylus zu hören: die ersten Versuche des
Theognis müssen eben dem Anfange des grofsen Krieges angehören. Ol. 87, 1
siegt Euphorien über Sophokles und Euripides, wahrscheinlich mit Dramen
seines Vaters, und ähnlich ist wohl auch die Thatsache aufzufassen, dafs um
Ol. 87, 3 Philokles dem Sophokles (Oedipus Tyrannus) vorgezogen ward. Xeno-
kles, der 01.91,1 über Euripides siegt, gehört zwar nicht der Schule des
Aeschylus an und trat mit eigenen Arbeiten auf, mag aber doch der älteren
Tragödie näher als der neueren gestanden haben. So legt auch dieser Erfolg
für die Stimmung des Publikums Zeugnifs ab.
155) Die Verdienste des Aeschylus um die Hebung der tragischen Kunst
stellte Pherekrates in den K^anaxaloi fr. 8. 9 Com. II 1, 290 dar. Aristophanes
hat wiederholt dieses Thema beröhrt, sowohl in verlorenen Komödien , wie im
Gerytades (Athen. VIII 365 B = fr. 204 Di.), als auch am eingehendsten in den
Fröschen und gelegentlich in anderen erhaltenen Stücken. Aeschylus wird mit
unzweideutigen Worten als der erste tragische Dichter (x^äriffTos tjjv xe'xvTjv
770) anerkannt, der ebendeshalb in der Unterwelt den r^ayepSixb« d'QÖvoi inne
hat (Frösche 769); ihn führt daher auch Dionysus auf die Oberwelt zurück, um
die erstorbene tragische Poesie neu zu beleben.
156) Bei der älteren Generation waren die Dichtungen des Aeschylus in
gutem Andenken. Bei Symposien pflegte man melische Partien wie längere
Reden aus diesen Dramen vorzutragen, Aristoph. Wolken 1364 f.; der alte Strep-
siades erklärt daher den Aeschylus für den ersten der Dichter (n^öixov iv
noiTjxais 1306 ist nach 1368 einzuschalten).
157) Der Sohn des Strepsiades in den Wolken 1371, der es vorzieht, eine
Stelle aus Euripides zu recitiren, stellt diese veränderte Geschmacksrichtung an-
schaulicl; dar. Wenn Aristophanes (Athen. 130 C) diese durch einen passenden
Vergleich iliustrirte (xov ^A&rjvaion' Srifiov ovxe Tioir,xali riSfO^ai axXr^Qoli
xni dcxe/if^atv, ovxe Ilfaftvioie oxXrjQoiatv oÜvoü avvayovct ras ofdjvs ra xai
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II, GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. I. AESCH. 339
seltener wurden seine Tragödien aufgeführt.'^). An fleifsigen Lesern
und aufrichtigen Verehrern fehlte es dem Dichter zwar niemals, aber
er hat nicht die volle Gunst des Pubhkums in dem Mafse wie So-
phokles oder Euripides sich erworben."^)
Man darf den Einflufs der Zeit auf die geistige Entwicklung Einflufs der
eines grofsen Mannes nicht überschätzen , aber für Aeschylus ge- Ag^'t,y^i"s
stalteten sich die äufseren Verhältnisse besonders günstig. Die Pe-
riode, in welche seine Jugend und sein Mannesalter fällt, ist reich
an bedeutenden Ereignissen; eine unruhvolle, äufserlich wie inner-
lich bewegte Zeit hat der Dichter durchlebt. Aeschylus war nicht
blofs Augenzeuge, sondern unmittelbarer Theilnehmer des gewal-
tigen Kampfes gegen Persien. Die Demokratie, überall siegreich,
beseitigt rasch die letzten Schranken, welche der freien Entwick-
lung des Gemeinwesens im Wege standen. Die Philosophie, bis-
her mehr das Eigenthum einsamer Denker, tritt aus dieser Isohrung
heraus und gewinnt auf das geistige Leben der Nation entschie-
denen Einflufs. Ganz von selbst wurde ein dichterisches Gemüth
von so bedeutender Begabung zu der lebendigsten Gattung der Poesie,
zum Drama, hingeführt. Hier konnte Aeschylus alles das, was ihn
innerlich bewegte, rückhaltslos aussprechen, am wirksamsten ge-
stalten. Vor allem kommt auch dies dem Dichter zu Gute, dafs er
unter Menschen lebte, welche ihm Empfänglichkeit und Verständ-
nifs entgegentrugen. Der Beifall Gleichgesinnter war der mächtigste
Sporn, auf seiner Bahn rüstig vorwärtszuschreiten; denn auch den
gröfsten Geist wird die Theilnahmlosigkeit, die Kleinheit seiner Um-
gebung wie ein Bleigewicht herabdiücken. Wie das Gemüth des
Aeschylus überall durch unsichtbare Fäden mit dem Leben der
Nation zusammenhängt, so tragen auch seine Schöpfungen das Ge-
präge jener grofsen Zeit, während Sophokles' Dramen als freie Kunst-
T^v xoiXiav, aXX' avd'oafilq xal ninovt vexra^aTaysT), so hatte er vielleicht
eben auch den Aeschylus im Sinne.
15S) Ob die HaXafiiviai in dem Bruchstücke einer Didaskalie (Philol. 24,
S. 541) [CIA. II 2, 975 h] auf die Tragödie des Aeschylus zu beziehen sind, ist
ganz ungewifs. Die Aufführung der Iloonounoi, auf welche Alkiphron III 48, 1
(fr. 207 Di.) sich bezieht, geht entweder auf eine Anekdote aus unbestimmter
Zeit zurück oder ist eine freie Erfindung des Rhetors.
159) Wie wenig man später den Dichter gebührend zu schätzen ver-
stand, zeigt das l'rtheil Quintil. X 1, 66, der nur die damals herrschende An-
sicht wiedergiebt. (S. S. 337 A. 153.)
22*
340 DRITTE PERIODE VOiN 500 BIS 300 V. CHR. G.
werke gleichsam losgelöst und zeitlos dastehen. Und dabei hütet
sich Aeschylus willkürlich die unmittelbare Gegenwart hereinzuziehen,
was bei Euripides nicht selten den ruhigen, harmonischen Eindruck
des echten Kunstwerkes stört.
Aeschylus' Das Verdienst des Aeschylus würde, wenn wir die Arbeiten der
v!frgängern^^''§^°&^''' namenlhch des Phrynichus, vergleichen könnten, gewifs
und Nach- noch viel entschiedener hervortreten."") Aeschylus hat seinen Jilte-
ogera. ^^^ Genossen manches zu danken; er behandelt mehrfach die gleichen
Stoffe. Mit Phrynichus trifft er in den Persern und den Schutzfle-
henden zusammen und verwendet unbedenklich passende Motive, die
er bei jenem vorfand. Aber dabei weifs er doch seine Selbständig-
keit zu wahren. Insbesondere die melischen Partien hatten einen
sehr verschiedenen Charakter.'®') Hier verhält sich Aeschylus zu
Phrynichus etwa wie Pindar zu Simonides. Aeschylus und Pindar
bilden den hohen Stil aus, während ihre Vorgänger die leichte, an-
muthige Weise festhalten , welche in der Periode vor den Perser-
kriegen sich besonderer Gunst erfreute.
Allein nicht nur seine Vorgänger, sondern auch seine Nach-
folger insgesammt überragt der grofse Meister. Wie uns die Denk-
mäler der archaischen Plastik besonders darum ansprechen, weil
wir darin die reife Entwicklung der folgenden Zeit schon wie im
Keime beschlossen erbhcken, so trifft dies auch hier zu. Aber bei
Aeschylus fesselt uns nicht blofs die Verheifsung der Zukunft, die
Befriedigung des historischen Interesses, sondern die Geistesgewalt,
der Reichthum der Erfindung, der Adel der Gesinnung und die Tiefe
der Gedanken, mit welcher die Würde der Sprache harmonirt, ver-
leihen diesen Werken einen unvergänghchen Werlh. Aeschylus war
Dichter im vollsten Sinne des Wortes, der alle Zeit zu den ersten
gerechnet werden wird, wenn man auch zugeben mufs, dafs seine
Nachfolger dem Gipfel der dramatischen Kunst näher gekommen sind.
Aiteribüm- Die Pocsie des Aeschylus ist den Werken der archaischen bil-
' rakier. "tlcnden Kunst vergleichbar. Sie ist durch Einfachheit und angebore-
StreDffer
160) Biographie: orq» Si Soxel isXsutrsQos r^ayq>Sine nott}Tr,e Sof>oxl^
yayovivnt , Sfd'üie ftiv Soxsi, Xoyt^icd'oi 8 * ort nolhp ;|ra^7r(VTe(N>*' rjv ini
St'antSi, <PQvvix(p Mftl Xoi^iXf^ eis roaövSe ueys&ovi jt;v r^ay^Siav nfo-
nyaytiv, ^ in* AiaxvXf^ tinovra (lies intövta) $is xf^v ^ofoxXtove tk&eiv
rtXei6rT}xa.
161) Aristoph. Frösche «Uff.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRIPPE. DIE BLÜTHEZEIT. I. AESCH. 341
nen Adel ausgezeichnet ; sie hat etwas Ehrwürdiges, aber auch etwas
Herbes, Eckiges. Aeschylus' Tragödien sind weder von Härten noch
von Uebertreibung frei; erst bei näherer Betrachtung, bei wieder-
hoUer eingehender Beschäftigung wird man die staunenswerthe
Grofsheit begreifen und lieb gewinnen. Der strenge Stil ist Grundzug
dieser Dichtungen. Dies zeigt sich ebenso in den religiösen und
sitthchen Ansichten, wie in der Wahl des Stoffes, in der Anlage
und künstlerischen Composition, wie in der Sprache dieser Dramen.
Aeschylus, eine ernstgestimmte Natur, hat von Haus aus eine Nei-
gung zum Grofsen und Gewaltigen, einen stillen Zug zum Alter-
thümhchen, aber er bildet diesen Stil mit vollem Bewufstsein aus '^)
und handhabt ihn mit vollendeter Meisterschaft. Den Späteren sagt
diese Herbheit und Strenge nicht mehr zu ; die grandiose Schhcht-
heit und Keuschheit der Aeschyleischen Poesie war befangenen Be-
urtheilern kaum recht verständlich, erschien in ihren Augen als
ein empQndlicher Mangel.
Sophokles' Arbeiten sind abgerundeter ; Buhe, Klarheit und An-
muth sind darüber ausgegossen. Aber der Eindruck der Aeschylei-
schen Poesie ist mächtiger ; man fühlt, wie der Dichter seine eigene
grofse Seele ganz dem Werke eingehaucht hat. So wird uns reicher
Ersatz geboten für das, was dieser Poesie an letzter Formvollendung
abgeht. Die höchsten Ideen sind hier in der angemessensten Form
niedergelegt ; alles ist grofs, edel, würdevoll, hegt weit ab von dem
Gemeinen und Alltäghchen. Der Dichter hebt uns zu sich hinauf;
man fühlt sich freier und grösser, sowie man dieses geweihte Gebiet
betritt. Mit dem tiefen, ergreifenden Eindrucke, den der Agamemnon
hinterläfst, ist keine andere Tragödie zu vergleichen.
Aeschylus weifs überall aus der Sage das wahrhaft BedeutendeAuswabiund
und Sinnvolle herauszuheben. Ein richtiges Verständnifs der alten ^g^^^j{j"JJ,*
Mythenwelt, wie es nur aus liebevoller, hingebender Beschäftigung
entspringt, eine tiefsinnige Auffassung tritt uns hier entgegen.'^)
162) Bezeichnend ist, dafs Aeschylus der Aufforderung, für Delphi einen
Päan zu dichten, nicht folgte; er mochte nicht mit dem alten Liederdichter
Tynnichus in einen Wettkanipf sich einlassen, wie Porphyrius de abst. II 18
berichtet : naoaßaXXöusvov Si rbv eavTOV n^os rov ixeivov ravxhv rceiasad'at
TOtS ayäXfiaat loiie yatvols tiqos ra ag^ftla ' ravTa yng xaineo aTT/.äfS nenotrj-
ftiva d'ela vofii^ea&ai, xa 8e xaiya TTeguQyojS stQyaa/xeva d'avfint,ead'at fisv,
d'eov 8i So^ar rjrrov i^«»'.
163) Schon der alte Glaukos aus Rhegium schrieb Tieol Aiaxxi-ov ftl&atv
342 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Diese Sagenkunde verdankt der Tragiker vor allem dem eifrigen Stu-
dium der älteren epischen Dichter, Homers, Hesiods und der Rykli-
ker.'^^) Daher tritt hei ihm der troische Kreis in den Vordergund, dem
sich zunächst der thebanische und argivische anschhefsen. Aus der
llias und Odyssee, welche die älteren Tragiker noch gar nicht henutzt
zu hahen scheinen, entnimmt Aeschylus mehrfach den Stoff zu Tra-
gödien. Der Homerische Achilles, der durch seinen leidenschafthchen
Groll so unsägliches Leid üher die Achäer bringt, aber endhch, durch
den Tod des Patroklus aufs Schwerste getroffen, seinem Zorn und
der Unthätigkeit entsagt, sich mit Agamemnon versöhnt und nicht
eher ruht, als bis er Rektors Leiche seinem trauten Genossen als
Todtenopfer dargebracht hat, ist ein echt tragischer Held, nicht min-
der wie Odysseus, der nach vieljährigen Irrfahrten und Leiden un-
(Arg. Pers.), wo er über die Quellen des Tragikers, die Umbildungen der Sage,
die er vornahm, u. s. w. gehandelt haben wird. (S. S. 291 A. 46.)
164) Die bekannte Aeufserung des Dichters bei Athen. VIII 347E: ^Tti vovv
ßaXXöfiEvos T« Tov x«Aot5 xai laftn^ov ^iaxv?u)v, Se ras avrov XQaycoSias
zs/iaxr} slvai ^Xeye icbv 'OfiriQOv jueydlcov Seinvwv, hat man eben auf dieses
Abhängigkeitsverhältnifs beziehen wollen, so dafs der Dichter damit selbst
bezeuge, den Stoff seiner Tragödien aus Homer und den alten Epikern ent-
nommen zu haben. Wir wissen nicht, bei welchem Anlafs Aeschylus jene
Worte sprach, aber man darf dieselben keinesfalls in diesem materiellen Sinne
fassen, sind doch die Epiker keineswegs die einzige Quelle für Aeschylus ge-
wesen, sondern der Geist und die hohe Kunst der Homerischen Poesie ist ge-
meint. Ganz dasselbe läfst Aristophanes den Tragiker nur mit anderen Worten
sagen in den Fröschen 1040, wo das Verhältnifs zu Homer berührt wird: od'ev
r;firj fQ^v anofia^afttvrj noXXai a^etas inoirjaev üaTQÖxXcov, Tbvhqoiv &vfto-
Xeovrtüv xxX. Dankbar bekennt Aeschylus von dem grofsen Meister gelernt zu
haben, und auch wenn rsfiäxr], wie Athenäus zeigt, fette, erlesene Stücke
bezeichnet, ist der Ausdruck der Bescheidenheit doch nicht zu verkennen.
(S. S. 336.) — Wir können in vielen Fällen die Quelle nicht mehr mit Sicherheil
ermitteln. Das Motiv zu seiner 1'vxoaraaia entnahm Aeschylus nach dem Zeug-
nisse alter Grammatiker aus der Homerischen llias, aber vielleicht hatte schon
Arktinus in seiner Aelhiopis dieses Motiv benutzt. Wenn bei Aeschylus uns
hier und dort Mifsverständnissc der alten Poesie entgegentreten, so darf man
ihn nicht dafür verantwortlich machen, sondern er folgt nur irrigen Vorstel-
lungen, die damals allgemein verbreitet waren. So läfst er dem Prometheus
einen Keil durch die Brust treiben, weil man den Sinn des Hcsiodischen Ver-
ses Theog. 522 /ut'aov Sta xiov'' iXäaaai nicht mehr verstand (s. S. 315 A. 103).
Dieselbe Erscheinung wiederholt sich auch auf sprachlichem Gebiete : xoloa
gebraucht Aeschylus als gleichbedeutend mit aya&öe^ weil die Rhapsoden das"
Wort so bei Homer erklärten.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. I. AESCH. 343
erkannt in die Heimath zurückkehrt, in alter ungebrochener Helden-
kraft den ungleichen Kampf mit den übermüthigen Freiern besteht,
die treu ausharrende Gattin wiedergewinnt und seine Herrschaft neu
begründet. Aber nur ein ebenbürtiger Dichter wie Aeschylus konnte
wagen die Gesänge der unvergleichlichen Homerischen Epen in die
dramatische Form umzuwandeln, ohne den Vergleich mit dem alten
Meister zu scheuen.'") Anderes bot der reiche Liederschatz der
Meliker, vor allem Stesichorus, dar. Ebenso war Aeschylus mit den
Forschungen der älteren Logographen wohl vertraut; die Arbeiten
seines Zeitgenossen Pherekydes sind ihm offenbar nicht unbekannt
geblieben.'*)
Aber nicht minder schöpft Aeschylus unmittelbar aus dem Volke
selbst, indem er den Spuren des Alterthums in Sitten, Sprache und
Ueberheferung nachforscht, um den Meerglaukus zu schreiben"'),
sammelt er an Ort und Stelle aus dem Munde von Schiffern und
Fischern die Sagen über diesen räthselhaften Meergeist, auf den
seine Aufmerksamkeit vielleicht zuerst durch ein Gedicht Pindars
hingelenkt wurde. Argos und Theben, die beiden wichtigsten Städte
der mythischen Vorzeit, welche so oft der Schauplatz der tragischen
Handlung sind, kannte der Dichter unzweifelhaft aus eigener An-
schauung.
Aeschylus ist ein alterlhümüches Gemüth ; daher liebt er es, das
alte Göttergeschlecht der Titanen oder Heroen der grauen Vorzeit
darzustellen. Die Scene seiner Dramen ist nicht blofs auf der Erde,
sondern auch in der Unterwelt wie im Sisyphus *"*), oder im Olymp
165) Auf die Uias sind die Myrmidonen und Hektors Lösung, auf die
Odyssee Penelope und die 'Oaio^jöyoi, zurückzuführen; denn von beiden Tri-
logien ist nur das Mittelstück unbekannt. Die 'Oaroi^yot waren kein Satyr-
spiel, sondern eine Tragödie; die Bestattung der im Kampfe gefallenen Freier
gab, wie die Bruchstücke unverkennbar zeigen, zu dieser Benennung Anlafs.
166) Vgl. vorher S. 325 ff. zum Prometheus. In den Heliaden (s. S. 320
A. 110) verlegt Aeschylus den Tod des Phaethon in das Land der Iberer an die
Rhone, Pherekydes an den Po, aber der Tragiker mufs versucht haben beide
Traditionen zu vermitteln, da er der Klagelieder der Frauen am adriatischen
Meere gedachte.
167) r).avxos növrws vergl. Paus. IX 22,7: IItv8aq<o 8i xal Ataxv^
nwd'avouivots TtaQu "Avd'riSoviiov tüJ fiiv ovx int TioXv inrjX&ev qaat ri
is rXavxov, Aia/v).i^ Se xai ie 7toir]att' d^a/utTOS i^^sae. (S. S. 291 A. 45.)
168) üiavfoi Ttex^oxvhaxTjs, verschieden vom 2!Urv(poi SQaneTrjt, wie es
scheint, einem Satyrspiel. (S. S. 320 A. 109.)
344 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
wie in der Psychostasie'^^), wo Zeus, bevor Achilles und Memnon
den Zweikampf beginnen, die Todesloose der Helden im Beisein der
Thetis und Eos abwägt. In der ältesten Tragödie mag eben die
Handlung häufig ganz in das Reich der Götter verlegt worden sein.
Das griechische Drama geht von der Göttersage aus und wendet sich
dann erst der Darstellung der heroischen Welt zu. Da die lyrischen
Gesänge des Chores den Schwerpunkt bildeten und den Göttern vor-
zugsweise lange Reden zufielen, also die eigentliche Handlung gering
war, erschienen dergleichen Stoffe unbedenklich. Aeschylus folgt
diesem Vorgange, obwohl das dramatische Element bei ihm schon
reicher entwickelt war. Sein grofsartiger Genius war selbst die
schwierigste Aufgabe zu lösen befähigt, aber die folgenden Tragiker
verzichten auf dieses Gebiet. Von richtiger Selbsterkenntnifs ge-
leitet, führen sie die Götter nur nebenbei, gewöhnlich im Prolog
oder Epilog, ein.
Ueberhaupt bekundet Aeschylus bei der "Wahl des Stoffes eine
gewisse Vorhebe für das Uebernatürhche , Seltsame, Grauenhafte.
Selbst vor dem Abstofsenden und Widerwärtigen scheut er nicht
zurück, wie Phineus, dem die Harpyien das Mahl besudeln, und Glau-
kus, der von seinen Rossen zerrissen ward, beweisen"**); aber wir
dürfen voraussetzen, dafs Aeschylus auch hier mafsvoU verfuhr und
mit angeborenem Takte jene Fehler mied, in welche rhetorisirende
Dichter bei solchen Stoffen fast regelmüfsig verfallen. Und doch
liegt dem Aeschylus auch das Zarte und Rührende nicht fern, aber
nur mit Mafs lässt er dasselbe zu, daher auch die Darstellung weib-
hcher Charaktere, die in der jüngeren Tragödie immer allgemeiner
wird, seiner männhchen Sinnesart weniger zusagte.
Die überheferten Mythen giebt Aeschylus meist getreuUch wie-
der. Weder das Einfältig-Naive, noch das Seltsame und Fremdartige
pQegt er abzuändern, wie die Sage von dem Wahrzeichen beim Be-
ginn der troischen Heerfahrt in der Parodos des Agamemnon oder
die Prophezeiung von dem Tode des Odysseus durch den Rochen-
169) fvxoaraaia. Das Motiv ist aus Homers Ilias XXII 209 und dem epi-
Bchen Cyklus entnommen. (S. S. IJTi A. 94.)
17(h <Ptveve und rXnixos TTorvieve Ol. 76,4, zugleich mit den Persern
aufgeführt. Aber dieses historische Schauspiel nimmt sehr passend die mittlere
Stelle zwischen jenen mythischen Dramen ein (s. S. 291 und A. 45).
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. I.AESCH. 345
Stachel in den Psychagogen beweist."') Indem Aeschylus sich soviel
als möglich der volksmäfsigen Ueberlieferung anschliefst und selbst
rein lokalen Sagen folgt, konnten einzelne Widersprüche nicht aus-
bleiben. Im Prolog der Eumeniden wird die Erdgöttin als älteste
Inhaberin des delphischen Orakels bezeichnet, der dann Themis folgt.
So lautete die delphische Tradition, an der der Dichter nichts än-
dern durfte. Aber im Prometheus wird Themis mit der Erdmutter
für eins erklärt. Das ist nicht eigene Erfindung des Tragikers, son-
dern er schliefst sich genau an die im attischen Cultus herrschende
Auffassung an."*) Wenn Aeschylus die Artemis eine Tochter der
Demeter nannte, ganz abweichend von der herrschenden Vorstellung,
so führt Herodot dies auf ägyptischen Einflufs zurück."^) Der Dichter,
der mit dem Alterthume des Glaubens und Cultus wohl vertraut war,
mag manches, was ungewöhnlich und fremdartig erscheint, aus ent-
legener Quelle geschöpft haben, aber seine Vorliebe für religiöse
Spekulation führte ihn wolil auch zu selbständigen Neuerungen, die
leicht Anstofs erregen konnten."^)
171) Dergleichen pflegt die Phantasie des Dichters nicht zu erfinden, wohl
aber gefällt sich die volksmäfsige Sage in solchen seltsamen Vorstellungen.
Aeschylus konnte in den Vv^aycoyol , wo er die Erfüllung des alten Schick-
salsspruches schildert, der dem Odysseus den Tod verkündet hatte, recht gut
sich entweder der gemeinen ueberlieferung anschliefsen, welcher Sophokles (in
den Ninxqa) folgte, oder die Sage so modificiren, wie dies auf einem Vasen-
bilde entsprechend den Anforderungen der bildenden Kunst geschehen ist.
172) Aeschyl. Prom. 209 f. Unter den Inschriften der für Priester und
Priesterinnen bestimmten Sitzplätze des attischen Theaters finden sich 'legias
rijS 06ßitSos und 'EooTjföoots ß" Fr,? OdfiiSos, aufserdem aber auch ^Okr/ipoQov
U&Tiväe 0sfii8os und ieoecos 0t(fn8oi) [CIA. Uli, 350. 318. 323. 329].
173) Herod, II 156, vgl. Pausen. VIII 37,6. Wahrscheinlich in der Tetra-
logie, zu der die Schutzflehenden gehören.
174) Wenn Aeschylus in den Danaiden die Vermählung des Himmels mit
der Erde schildert, wenn ihm Poseidon der Zeus des Meeres (Pausan. II 24, 4),
oder in den Schutzflehenden (157) Hades Zeus der Todten ist, wenn er in den
SävToiai den Mond das Auge der Artemis [Arjrc^a x6^, fr. 169 Di.) nennt, so
tritt er aus dem Kreise nationaler Anschauungen nicht eigentlich heraus. Die Verse
der Heliaden fr. 65a Di.: Zevs iariv cu&tjq, Zsvi Se y^, Zeve 8^ ovQavoe, Zeii
roi T« Ttavra xcüri rävS' vndQxeQov sprechen einen Gedanken aus, der in den
Kreisen der Orphiker wohl schon längst laut geworden war. Wäre uns die Lykur-
gie des Aeschylus erhalten, so würde vielleicht manches dunkele Räthsel seine
Lösung finden. Wie der thrakische Lykurgus als Bekämpfer des Dionysusdienstes
auftritt, so ward in den Bassariden, dem zweiten Drama der Tetralogie, der
346 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Sophokles' Aristoteles bemerkt'"), die tragische Poesie erfordere entweder
Aeschyius^'^^'"®'^ Geist von glücklicher Begabung und klarem Verslande oder
eine enthusiastische Natur; denn die letztere wisse sich leicht in jede
Lage zu versetzen und den Affekt naturgetreu darzustellen, der an-
dere verstehe durch umsichtige Prüfung das Rechte zu finden. Mit
diesen Worten ist der Unterschied beider Dichter sehr gut bezeichnet,
und darauf läuft auch der Tadel des Sophokles hinaus, dafs Aeschy-
lus zwar das Rechte treffe '"), aber ohne es zu wissen, ein Vorwurf,
der eigentlich das höchste Lob enthält. Uebrigens weifs Aeschylus,
indem er seinem angeborenen Genius folgt, recht wohl, was er thut,
wenn ihm auch jede kleinhcbe Berechnung fern liegt, ja, er begeht
wohl zuweilen absichtlich in den Augen oberflächlicher Beurtheiler
einen Fehler, der sich bei näherer Betrachtung als eine verborgene
Tugend ausweist. Aeschylus besitzt jenen Enthusiasmus, jene Wärme
der Empfindung, die den wahren Dichter macht und unwillkürlich
den Zuhörer mit fortreifst. Ein Hauch Dionysischer Begeisterung
durchweht seine Poesie, und es ist wohl glaublich, dafs der Dichter
seine geistigen Kräfte durch den Genufs des Weines zu steigern ge-
wohnt war.'") Weder Sophokles noch Euripides haben diese Höhe
erreicht; bei beiden ist kühle Reflexion und Berechnung vorherrschend.
Gestaltende Den dramatischen Figuren aus der Epoche der Anfänge haflete
Kraft, -wohl uoch ctwas Mageres und Trockenes an. Aeschylus verstand
es, ihnen Fleisch und Blut zu verleihen. Von den Erinnyen hatten
die Griechen nur dunkle, unbestimmte Vorstellungen, aber mit wel-
cher Wahrheit weifs der Dichter die blutgierigen, Rache athmenden
Thraker Orpheus als Verehrer des Sonnengottes Apollo geschildert, der den Dio-
nysus verschmäht und eben dadurch seinen eigenen Untergang herbeiführt; und
eben in dieser Tragödie mag der Tragiker die Identität des Apollo und Dio-
nysus ausgesprochen haben, s. Macrobius Sat. I 18, Ü.
175) Aristot. Poet. c. 17 p. 1455 A 32.
176) Athen. X 428 F: 8i6 xai Sofoxlfie avxq^ fUft<p6ftsvoe Hayav ort, o
^iaxvXe, ei xal rh Siovia Ttoieii, aXX^ ovv ovx eiStos ye noteis , an laTOQtl
Xaftaildtov iv rcp neQi AiaxvXov. "Wie Athenäus hinzufügt, ward dieser Tadel
durch den übermäfsigen Weingenufs des Aeschylus veranlafst (fie&tmv yovp
fy^nips TöC jfay(pSiae). Grundlos ist die Vermuthung Neuerer, Sophokles
habe diesen Vorwurf in der Schrift ne^l x^Qo^ ausgesprochen.
17") Athen. I 22A, X 428 F. Lukian Demosth. 15: ov yaq ai rov Aicxv-
IjOV 6 KaXhad-dvr,t Sfti nov XiyoJV ras tQayt^Siai iv o'ivq) y^feiv d^O(>U(örxa
xnl ava&B^fiaivovxa xriv ^X'}*'- P'"^* Quacst. Symp. I 5, 4.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. I.AESCH. 347
Graueogeslallen vor das Auge zu führen! Darin offenbart sich die
Gröfse des echten Dichters, dafs er jedem Gebilde Leben und Energie
einhaucht; weder Sophokles noch Euripides besitzen diese gestal-
tende Kraft in gleichem Mafse. Der kühne Geist des genialen Meisters
durfte vieles wagen , ohne der Würde der Tragödie etwas zu ver-
gehen. In den Kabiren brachte er die Argonauten weintrunken
auf die Bühne'"*); im Agamemnon schildert die greise Amme die
erste Pflege des Kindes mit realistischer Derbheit. Aber Aeschylus
weifs alles, was er berührt, zu adeln ; unter seiner Hand gewinnt
auch das Widerwärtige und Abstofsende Grofsheit.
In seiner grofsartigen Einfachheit verschmäht Aeschylus die Einfachheit,
gangbaren Kunstgriffe, durch welche andere Dichter zu fesseln und
zu wirken suchen. Er versteht es, überall mit den einfachsten Mitteln
die Seele zu erfüllen und zu ergreifen. Bei keinem anderen Tra-
giker vollzieht sich die läuternde Wirkung in solcher Reinheit; man
fühlt sich durch diese Poesie gehoben und von allem Quälenden be-
freit. Eigenthümlich ist, dafs bei Aeschylus derjenige, welchen die
schwersten Schicksalsschläge getroffen haben, seinem Schmerze nicht
in lauten Klagen Luft macht, sondern in tiefe Trauer versenkt
schweigt."^) Dieses Kunstmittel verfehlte nicht leicht die beabsichtigte
Wirkung auszuüben; natürlich fiel dann dem Chore die Aufgabe zu,
die Gröfse des Unglücks anschaulich zu machen.
Die Kunst des Motivirens ist dem Aeschylus wohl bekannt. Aber
er macht davon nur mäfsigen Gebrauch ; selbst schroffe Uebergänge
werden nicht vermieden. Dem Hörer bleibt es überlassen, die Lücken
auszufüllen, und der schweigsame Dichter erzielt gerade durch diese
Entsagung den rechten Eindruck.
Charakteristisch ist die Vorliebe für das Ahnungsvolle. Daher Da«
benutzt der Dichter nicht nur Weissagungen, sondern auch wieder- >°oii'ie!'~
holt das Motiv des Traumes, welcher gleichsam den Schleier der
178) Athen. X 428 F. Später finden wir ähnliche Scenen bei Euripides,
-wie Herakles in der Alkesiis, vgl. Dio Chrysost. 32, 94 I 432 Di.
179) Der well- und menschenkundige Dichter gab damit nur die Natur
treu wieder, denn eurae leves loquuntur, ingenles stupent. Die Wirkung die-
ses Stillschweigens der Niobe oder des Achilles schildert Aristoph. Frösche 911
[S.Hermes 18, 482 ff.], vgl. auch die Biographie. Daher mag auch der Maier Ti-
manthes, der den Agamemnon verhüllten Hauptes bei dem Opfertode der Iphi-
geneia darstellte, die Anregung empfangen haben.
348 DRITTE PERIODE VOi\ 500 BIS 300 V. CHR. G.
verborgenen Zukunft lüftet. So wird in den Persern die Trauer-
botschaft schicklich durch das Traumgesicht der Atossa vorbereitet.
In den Choephoren deutet der Traum der Klytämnestra von der
Schlange, die sie gebar und an ihrer Brust nährte, auf die rächende
That des Orestes hin. In den Sieben wird auf ein Traumbild an-
gespielt, welches wahrscheinlich im Oedipus ausführhcher geschildert
war. Von höchster Wirkung sind im Agamemnon die düsteren, un-
heimlichen Prophezeiungen der Kassandra. Ebenso ist die Geister-
beschwörung in den Persern ganz dem Geiste der Aeschyleischen
Poesie gemäfs."")
Das Zarte. Aeschylus' starkem, männlichem Geiste sagt das Weiche, Schmel-
zende weniger zu'*'), und doch weifs er auch das Zarte und Rüh-
rende schicklich zu verwenden, wie die Episode von der Jo im Pro-
metheus zeigt. Unter den Frauencharakteren, welche sich durch
Mannigfaltigkeit auszeichnen, fehlen auch anmuthige Gestalten nicht.'")
Die Töchter des Danaus offenbaren eine Homerische Kunst, und man
mufs das Verdienst des Tragikers um so höher anschlagen , da die
Welt, in der er lebte, ihm nicht leicht entsprechende Vorbilder dar-
bot. Auch mufste die Darstellung der Frauenrollen durch Männer,
welche der treuen Wiedergabe der feinen unsichtbaren Züge des
weiblichen Naturells nicht günstig war, auf die poetische Behand-
lung einwirken, da der dramatische Dichter unwillkürlich auf die
Schauspieler gewisse Rücksicht nimmt.
Trotz der Einfachheit der Handlung zeigen doch schon die älte-
ren Arbeiten, wie die Perser, dafs der Dichter wohl bedacht war,
das dramatische Interesse zu steigern. Eine vollendete Meisterschaft
bekundet der Prometheus, wo wir von Scene zu Scene einen ste-
tigen Fortschritt wahrnehmen.
Die Leiden- Keiner der anderen Tragiker versteht so wie Aeschylus die ent-
«chaft. fgggejtgu Leidenschaften in all ihrer Furchtbarkeit vorzuführen, und
180) Biographie: rale re yä^ orpeai xal roU /uvd'ou ngos tkniriStv xtQa-
TtoBrj fiaXXov rj ngot anarriv xix^xai.
181) Biographie: avfina&stat r^ nkXo rt xd>v 8wa/tt'viov sts Saxfva aya-
yiiv ov jrarr.
182) Sophokles' Frauencharaktere haben meist etwas Herbes, fast Männ-
liches; nur die Dciancira in den Trachinierinnen erinnert an die Weise des
Aeschylus. Ob die Nausikaa des Sophokles ihrem Urbiide glich, Urst sich
nicht sagen.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. I. AESCH. 349
doch hält er die rechte GrenzHnie meist inne; er wird nicht leicht
gegen das Gesetz des Schönen und des Mafses verstofsen. Bei Sopho-
kles erscheint diese Gewalt der Leidenschaft bedeutend gemildert und,
wenn man will, vergeistigt, büfst aber eben darum an Ursprünglichkeit
und Naturwahrheit ein, während die rhetorische Kunst des Euripides
neben dem grofsartigen Pathos des alten Meisters kleinlich erscheint.
Aeschylus gilt mit Recht als Vertreter des hohen, strengen Stiles Der stu des
in der Tragödie.'") Seine Sprache zeigt eine Tiefe der dichterischen * ^ "*'
Anschauung, wie wir sie nur bei wenigen antreffen ; ein poetischer
Schimmer ist wie Morgenduft über alles ausgegossen , was seine
Hand schuf. Wie diese Dramen grofse Schicksale, gewaltige Leiden-
schaften schildern, so ist auch der Ausdruck grofsartig, ernst und
feierhch. Die gehobene Stimmung, die Energie des Pathos giebt sich
überall in der Rede kund. Alles ist darauf berechnet, den Zuhörer
zu der idealen Höhe der Götter- und Heroenwelt, welche der Dichter
schildert, emporzuheben. Kein anderer Tragiker übt eine solche
Gewalt über die Gemüther aus, mag er uns nun in schmerzUche
Wehmuth versenken oder tröstend und beruhigend über das leidvolle
menschliche Dasein erheben.
Diese Weise des dramatischen Vortrags verdankt Aeschylus nicht
sowohl seinen Vorgängern , sondern er hat diese Form geschaffen,
sich seinen eigenen Stil gebildet'"); denn die äUeste Tragödie,
welche das satyrhafte Element noch nicht ausgeschieden hatte, konnte
auch in der Sprache jene Mischung des Ernstes und des Possen-
haften nicht verleugnen. Phrynichus hielt zwar auf Reinheit und
1S3) Dionys. Hai. de comp. verb. 22 zählt den Aeschylus zu den Vertretern
der avairiQo. aqfiovia. In der Schrift de vett. Script, cens. 2, 10 charakterisirt er
den Dichter mit den Worten: tiqcütos xai t^s /isyakon^sneias i^ö/tevos xai
Tj&cäv xai na&cöv ro TToenov eiScoS xai xf, r^OTHxfi xai rfj xvoiq )^^si Sta-
tfeoövrcos xexoaurjfisvos, nokhxxov Si xai avros Srjfiiovoyos xai 7ro«jjTj;» iSicjv
ovofiäicav xai n^ayuärcov. Der Biograph : xara 8e tt]v avvd'saiv rr^s 7toir,aeo}S
^t})mi ro oSqov aai 7t läofia, ovofiaroTiottats xe xai inid'äion , ixt Si fiera-
foqaii xai näai role Svvafiivoii öyxov TJj (p^äaet ntQi&Bivai xQcofievos. Quin-
til. X t, 66: sublimis et gravis et grandiloquus saepe usque ad Vitium. Einzelne
Bemerkungen bei Dio Chrysost. orat. 52 II 15S in der Parallele, die er zwischen
den drei Tragikern zieht. Die lebendigste Charakteristik des Aeschyleischen
Stils bieten die Frösche des Aristophanes 914 ff.
184) Aristoph. Frösche 1005: dX?.^ a. jtQahos xäv 'EXXrjvatv jtvQytüaas
(rr]/iaxa atftva xai xocftrßai XQaytxov l^^ov.
350 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Schönheit der Form, aber seine milde Natur erhob sich nicht leicht
über ein gewisses mittleres Mafs.
Man hat gesagt, der Stil des Aeschylus zeige ein durchaus in-
dividuelles Gepräge. Dies ist nicht recht zutreffend; denn wie der
Sinn des Dichters ganz auf das Wesen der Sache, auf die hohe Auf-
gabe seiner Kunst gerichtet war, so ist die Entäufserung des blofs
Individuellen, die Abwesenheit jeder persönlichen Prätension ein
hervorstechendes Kennzeichen seiner Poesie. Der Stil des Aeschy-
lus entspringt ebenso sehr aus dem Charakter der Dichtung, wie
aus der innersten Natur des hohen Geistes, der diese Werke schuf.
Die äufsere Form ist dem Gehalte völhg entsprechend '*^) ; in beiden
gleichmäfsig offenbart der Dichter sein eigenstes Wesen.
Gleich in den Wortformen zeigt sich die Vorliebe des Dichters
für das Archaische. So ist bemerkenswerth, dafs noch einzelne Reste
des ionischen, d. h. des altattischen Dialektes erhalten sind. Aber
schon frühzeitig mögen die Schauspieler solche Anklänge an eine
überwundene Lautstufe entfernt haben.'*') Ebenso weiden zuweilen
rein dorische oder äolische Formen beigemischt.'") Noch viel ent-
schiedener tritt diese Neigung in der Diktion selbst hervor. Aeschy-
lus war mit dem allerlhümlichen poetischen Sprachschatze wohl ver-
traut, so dafs er überall den passendsten Ausdruck für die Sache zu
finden versteht.'**) Aber das Wohlgefallen an ungewöhnlicher Rede-
weise hält sich innerhalb der rechten Grenzen. Der Dichter hält sich
frei von jener Ueberladung, welche Fremdartiges und Verschollenes
185) Bei Aristophanes Frösche 1058 ff. vertheidigt sich Aeschylus gegen die
Kritik des Euripides sehr treffend : aväyxrj fieyäXoiv yvotficöv xai Siavoiäv i'aa
xai Tri Qrjfiara ilxreiv xaXXas etxos roie fjfit&iove rdis ^^fiaat ftei^oai
Xfirfid'at.
186) Die Kritiker haben sich beeifert, die sparsamen Spuren der las voll-
ständig zu tilgen.
1 87) Wie afersQi^äfisvos, asßi^oi, nsSaixfitos, neSn^aioe, nsSoutoe u. 8. w.
188) Vieles verdankt Aeschylus dem Homer und den Lyrikern, anderes
entlehnt er der Volkssprache; daher finden sich bei ihm zahlreiche yX^aoai
(so nannte man jeden Ausdruck, der von der gewöhnlichen Redeweise sich
entfernt, naoa StnXexiov ist). Aristot. Rhet. III 3 p. MOtj B 2 f. weist den Gebrauch
der yXäJaaai den Epikern zu, asfivov ya^ xai av^aSai, die zusammengesetz-
ten und neugebildeten Worte (8tnXä ovo^iara xai ntnoiTjftiva, III 2 p. 1401 B 20)
den Dithyrambikern, ovrot ynQ xfJOftüSet«; die Metapher steht dem drama-
tischen Dichter (d. h. in den dialogischen Partien, den laftßeia) wohl an, vgl.
auch Aristot. Poet. c. 22 p. 1459 A 8 ii.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. I. AESCH. 351
bis zur Unnatur häuft, um uns beständig Räthsel aufzugeben."^)
Das Gewohnte und Allgemeinfafsliche ist auch bei Aeschylus die
Grundlage ; der Reichthum seltener Worte, die nicht wie ein todter
Klang das Ohr trafen, sondern durch sinnliche Lebendigkeit wirkten,
verleihen der Darstellung Würde, Mannigfaltigkeit, Farbe. Es sind
Lichter, welche die kunstverständige Hand des Dichters aufsetzt, um
ihre Umgebung zu adeln. So stehen die verschiedenartigen Elemente
im besten Einklänge; denn sorgsam meidet Aeschylus den Fehler,
aus dem hohen Stil in das Platte zu verfallen. Dafs Aeschylus für
gewisse Ausdrücke besondere VorUebe zeigt, hat er mit den meisten
Dichtern gemein.'^) Die Wiederholung desselben Wortes in kurzem
Zwischenräume wird nicht ängstlich gemieden ; auch dies erinnert an
die Schlichtheit des archaischen Stils.
So reich auch die griechische Sprache ist, so reichte doch das
Vorhandene für den Dichter, der neue Bahnen einschlug und die
tragische Kunst auf eine bis dahin unbekannte Höhe zu erheben
strebte, nicht aus. Aeschylus besitzt vollkommene Gewalt über die
Sprache und weifs sich ihre Bildsamkeit wohl zu Nutze zu machen.
Die schöpferische Kraft der Rede offenbart sich hier auf das Deut-
lichste. Vielleicht kein anderer Dichter hat soviel Neues gebildet;
vieles mit Glück, was zum Theil auch von den Späteren beibehalten
wurde, anderes ist minder gelungen; namentlich bei den gewichtigen
und volltönenden Zusammensetzungen vermifst man öfter die rechte
Klarheit und Einfachheit. '^•) Unerschöpflich ist der Tragiker in
neuen Beiworten. Die Epitheta gehen nicht blofs auf das Aeufsere,
sondern auch auf das Geistige, den inneren Gehalt. Die Anschau-
üchkeit der epischen Diktion verbindet sich mit der wärmeren Em-
pfindung der lyrischen Poesie. Wh* sind natürhch nicht im Stande
1S9) Aristot. Poet. c. 22 p. 1458 A 23 : aW av Tis anavra roiavra Ttoirjarj,
^ ai'viyfia iaxai rj ßa^ßa^ia/ioi. Damit ist das Urtheil über Lykophron und
verwandle Bestrebungen gesprochen.
190) Wie z. B. ydvot, yvä&os, xiftaX^siv u. s. w.
191) Besonders liebt Aeschylus Composila, die aus zwei BegriflFsworten
gebildet sind, wie aofuaTOf&ogsTv, oQ&ofiavxaia; zwei Vorstellungen werden
zu einer ganz bestimmt umschriebenen verknüpft. Darin besteht vorzugsweise
das, was die Alten mit dem Ausdruck iQaytxhs öyxoi bezeichnen. Schon der
bedeutende Umfang und das Gewicht dieser sesquipedalia verba, dann das
Ungewohnte, denn es sind zum guten Theil Neubildungen, verfehlte nicht Ein-
druck zu machen.
352 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
überall zu entscheiden, was Aeschylus von Früheren überkam, was er
selbständig bildete, aber alles macht den Eindruck des Ursprüng-
lichen, noch nicht Verbrauchten. Hier weht uns erquickende Wal-
desfrische entgegen.
Aeschylus' reiche dichterische Phantasie reproducirt die Aufsen-
welt in voller Gegenständlichkeit. Er vermag das Bild , welches vor
seiner Seele steht, in die sinnHche Erscheinung einzuführen, jedes
Wort in Anschauung zu verwandeln und so die Einbildungskraft der
Zuhörer mächtig anzuregen. Eine Fülle der mannigfachsten Bilder und
Metaphern strömt dem Dichter unablässig zu. Dies ist kein äufserlicher
FHtter, keine angelernte Manier, sondern für einen Dichter von sol-
cher Ursprünglichkeit der Gedanken und Empfindungen war jene
Farbenpracht die angemessenste Form, um die Gegenstände der wirk-
lichen Welt in die künstlerische Darstellung zu übertragen, das, was
in dem tiefsten Innern seines enthusiastischen Gemüths lebendig
war, zu Tage zu fördern. Dieser Wechsel immer neuer und glän-
zender Bilder, diese Kühnheit der Uebertragungen ist wesentUch der
Grundton des Aeschyleischen Stiles. Bildlicher und eigenthcher Aus-
druck sind häufig nicht streng geschieden, sondern gehen unmittel-
bar in einander über. Des Gleichnisses bedient sich Aeschylus sel-
tener, aber seine Vergleichungen, obwohl meist nur in kurzen Um-
rissen angedeutet, sind immer treffend.'^*)
Etwas Herbes, wie es der archaischen Kunst eigen ist, haftet
auch der Poesie des Aeschylus an. Der keuschen Strenge und ge-
messenen Würde des Inhaltes entspricht die Darstellung. Aber Aeschy-
lus Hebt nicht so sehr gedrängte Kürze, obwohl er auch davon unter
Umständen schicklichen Gebrauch macht, sondern vielmehr Fülle
des Ausdrucks und behagliche Breite der Schilderung. Um den Ge-
genstand erschöpfend darzustellen'^'), werden oft synonyme Worte ge-
häuft; dies ist eben eine Eigenthümlichkeit der alten volksmäfsigen
Sprache. Aeschylus hält solche Tautologien, welche die Rede sinn-
lich beleben, den Eindruck verstärken, fest, wie ja auch das Epos
diese Wiederholung der Begriffe liebt. An die Weise der epischen
Dichtung erinnert vor allem die ungemeine Fülle charakteristischer
192) Besonders gern entnimmt er Gleichnisse wie Metapliern dem See-
leben, Fischfänge u. s. w. ; aber auch auf die Schreibkunst wird, gerade wie
bei Pindar, öfter angespielt.
193) Euripides krilisirt diese Gewohnheit bei Aristoph. Frösche 1154.
DJE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHE2E1T. I. AESCH. 353
Beiworte, die wir überall bei Aeschylus antreffen. Ebenso wird öfter,
statt die Sache einfach zu nennen, die Umschreibung gebraucht.
Der Satzbau ist im Ganzen schlicht und kunstlos; die Gedan-
ken werden mehr nach aller Weise aneinandergereiht, als zu aus-
geführten Perioden zusammengefügt. Die kürzeren Sätze sind über-
sichthch gegliedert; bei den gröfseren Massen vermifst man nicht
selten die rechte Symmetrie der Theile. Das Asyndeton ist bei
Aeschylus viel häufiger als bei seinen Nachfolgern.**^) Auch darin
giebt sich der alterthümhche Geist kund, indem die Sätze oder Satz-
theile unverbunden neben einander gestellt werden und der Dichter
es der Selhstthätigkeit des Zuhörers überläfst das Fehlende zu er-
gänzen.'*^) Freie Strukturen ***) sowie Anakoluthien finden sich in
ziemhcher Zahl. Aber in dieser abgebrochenen Redeweise darf man
nicht etwa eine Lässigkeit des Dichters finden, sondern sie ist in
der Regel beabsichtigt und wirksam, indem dadurch die Energie des
Ausdrucks erhöht, das besondere Gewicht des Gedankens hervorge-
hoben wird.'")
Aeschylus, dem die bewufste Berechnung der rhetorischen Kunst-
mittel noch fern lag, bekundet mehr eine natürliche Redegewalt;
aber diese vorherrschend naive Weise verschmäht weder Wortspiele,
noch rednerische Figuren. In der Vorliebe für Antithesen und
scharfsinnige Reflexionen, in humoristischen Zügen und der feinen
Ironie, die öfter hereinspielt, erkennt man deutlich, wie der attische
Dichter seine Stammesart nicht ganz verleugnet. EigeuthümUch ist
besonders die Gewohnheit, das Bild durch eine Beziehung auf den
gegenwäi'tigen Fall, durch einen der Wirkhchkeit entlehnten Zug
gleichsam aufzuheben.'**) Indem der Dichter so die Incongruenz an-
deutet, stört er gewissermafsen die Illusion, nicht sowohl um die
Kühnheit des Bildes zu mildern, sondern es ist auch dies eine ge-
194) Besonders wo synonyme Begriffe aneinandergereiht werden, läfst
Aeschylns das Asyndeton zu.
195) Auch die Aposiopese kommt mehrfach in Anwendung.
196) Auch hier zeichnet sich die Diktion des Dichters durch Mannigfaliig-
keit aus; es ßndet sich nicht wenig Eigenthämliches (wie z. ß. im Gebrauch
des Infinitivs).
197) Hierher gehört die Gewohnheit, einen Participialsalz im Nominativ vor-
anzustellen ohne Rücksicht auf die Struktur, welche das Nachfolgende erheischt.
19S) Z. B. ^Jli8a^ axä)jxsvToi (Ghoeph. 493), a^Sis änvQOi (Prom. SSO),
xvfta x^Qoaiov (Sieben 64),
Bergk, Griecb. Literaturgeschichte lil. 23
354 DRITTE PEKIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
wisse alterlhümliclie Herbheit, weiche an die bei den Jüngeren be-
liebte Figur des Oxymoron heranstreift. Die Wiederholung desselben
Wortes, die bei den jüngeren Dichtern besonders beliebt war, ist
auch dem Aeschylus nicht fremd '^); sie stammt aus der volksmäfsigen
Poesie, hat vorzugsweise in der Todlenklage ihre Stelle und wird
daher auch von Aeschylus zunächst in Klagegesängen, dann in an-
deren melischen Partien, aber immer mit Mäfsigung und mit Grund
angewandt. Die kräftige Sprache des Tragikers wirkt durch vollen
Klang; daher macht er von der Alliteration, von Gleichklängen und
was sonst der Lautmalerei dient nicht selten Gebrauch. Durch zahl-
reiche Interjektionen werden die verschiedenartigsten Empündungen
ausgedrückt; selbst die Häufung fremder Eigennamen ist niemals
störend.
Man wirft gewöhnlich dem Aeschylus vor, seine Darstellung
sei eintönig. In solcher Allgemeinheit ist dieser Tadel unbegründet;
man darf nicht glauben, dafs die Personen des Tragikers durch-
gehends die gleiche Sprache reden. Aeschylus ist Meister des hohen
Stils, aber er steigt auch zuweilen von dieser Höhe herab, wie die
Charakteristik und Redeweise des Wächters im Agamemnon, der
Amme in den Choephoren zeigt; auch die Scene in den Schutz-
flehenden, wo der ägyptische Herold auftritt, und mehrfach die Perser
bekunden diese Kunst des Individualisirens. Ebenso hegt der strengen
\N'eise des Dichters das Zarte und Rührende nicht fern; namentlich
wenn er Frauen einführt, sucht er diesen Empfindungen den pas-
senden Ausdruck zu geben. Obwohl die Darstellung des Aeschylus
einen bestimmt ausgeprägten Charakter bat und sich von der Weise
der beiden anderen Tragiker sehr merklich unterscheidet, so ist
doch die Verschiedenheit des Tones zwischen den einzelnen Stücken
nicht unerheblich, so dafs in dieser Hinsicht keines dem anderen
völlig gleich steht. Es ist erklärlich, wie bei einem Dichter, der
eine lange Reihe von Jahren für die ßühne wirkte, auch die sti-
listische Form sich mehrfach modificirte. Das Herbe und die alter-
thüniliche Strenge ward allmählich ermäfsigt; der Prometheus, eine
der letzten Arbeiten, zeigt eine Leichtigkeit der Darstellung und voll-
endete Spracbgewalt , wie keines der früheren Stücke. Aber dafs
199) Beachtenswcrth ist, dafs diese sogenannte Epizeuxis besondere im
Prometheus, sonst hauptsächlich in den &(tt;voi vorkommt.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLLTBEZEIT. I.AESCH. 355
auch die bewufsle Kunst des Dichters daran Antheil hat, erkennt
man deutUch, wenn man die drei Dramen der Orestie zusammen-
hält; man sieht, wie hier der Tragiker durch die Verschiedenheit
des Tones verschiedene Wirkungen hervorzubringen beabsichtigte.
Die hochalterthümhche Färbung der Schutzflehenden dient einer-
seits zur Charakteristik, hat aber aufserdem auch wohl in beson-
deren lokalen Rücksichten ihren Grund.
Die Stärke des Pathos, die sich in dieser feierlichen, klang-
vollen Sprache kundgab, mufste, unterstützt von dem Reize der
Neuheit, einen gewaltigen Eindruck machen. Auf ebenmäfsige, glatte
Form legte man damals noch weniger Werth; man übersah daher
eine gewisse SchwerfäUigkeit und liefs sich einzelne Härten gefallen.
Erst später, wo die ISachahmer des grofsen Tragikers seine Eigen-
tliüralichkeiten steigerten und mehr und mehr in eine geistlose
Manier verfielen, wo angesichts der Leistungen des Sophokles und
Euripides der Sinn für untadehge Schönheit der Form geschärft
worden war, weicht die unbedingte Bewunderung einer kühleren
Beurlheilung.^) Nicht immer weifs Aeschylus das rechte Mafs zu
halten ; manchmal geht die Kühnheit des Ausdrucks bis zur äufser-
sten Grenze des Erlaubten. Die überströmend^ Fülle der Rede, der
^Yechsel der Bilder beeinträchtigt zuweilen das Verständnifs, so dafs
es schwierig ist, den verborgenen Sinn zu enträthseln. Der Dichter
pflegt namentlich künstliche, langathmige Beiworte oder Metaphern
so zu häufen, dafs ihn nicht mit Unrecht der Vorwurf des Schwül-
sligen und Ueberschwänghchen trifl"t. Aber wenn wir auch bei
Aeschylus zuweilen Mafs und Harmonie vermissen, so ist doch seine
Sprache jeder Zeit der unmittelbarste Ausdruck eines hohen männ-
lichen Geistes. Gediegene Kraft, Adel und Würde, poetischer Schwung
tritt uns aus jeder Zeile entgegen; alles ist wahr und warm em-
pfunden, liegt weit ab von leerer Phraseologie. Wenn der Dichter
die wandelbaren Geschicke der Menschen schildert, wenn er er-
schütternde Bilder des Unterganges oder die glückHche Losung eines
200) Namentlich die Freunde der Euripideischen Poesie mochten scharfe
Kritik am Aeschylus üben, vgl. die Scene in den Wolken des Aristophanes
1364 ff., wo der junge Athener sich weigert nach des Vaters Wunsche eine
Stelle aus Aeschylus zu reciliren, den er -i^-öfpov nXiiov, a^azaiov, ffrc^^axo,
xQTifivoTtoiöv nennt. Und in den Fröschen 924 ff. spricht sich Euripides selbst
in ähnlichem Sinne über den alten Meister aus.
23*
356 DRITTE PERIODE VON 500 HIS 300 V. CHR. G.
unheilvollen Conflikles voiiührt, rauscht der Strom seiner begei-
sterten Rede mächtig dahin und reifst unser Gemüth unwillkürlich
mit fort. Die ganze Pracht und Herrlichkeit des Stils entfaltet sich
in den Chorgesängen. Die kommatischen Partien sind schon ein-
facher gehalten, wie der Dichter auch im Dialog mit den Mitteln
.seiner Kunst haushälterisch umgeht.
Das Verständnifs dieser Dichtungen ist nicht leicht; es erfordert
innige Vertrautheit. Der Erklärer mufs jede kleinhche Schulweisheit
fern halten, nichts willkürlich hereintragen, sondern sich ganz in
die einfache Grofsheit dieser Werke versenken.^"') Noch schwieriger
ist die Aufgabe des Kritikers.
II
Sophokles.
Sophokles' Sophokles, der Sohn des Sophillus, zu Athen Ol. 71, 1 geboren'),
Leben. o /
201) Gegen diese Grundsätze wird unzählige Mal gefehlt; man stöfst
überall auf Mifsgriffe der Ausleger. So erinnert man im Agara. 171 [TQinxzT;^)
au die Lokalsage der Eleer von dem Ringkampfe des Kronus und Zeus. V. 276
will man änre^os tpärts ironisch fassen, ein Gerücht, welches, obwohl es keine
Flügel hat, sich doch rasch verbreitet; aber amsQoe bezeichnet gerade die
Flügelschnelle des Gerüchtes (= //(««7rTe(>os[?]). V. 608 soll der Schauspieler, um
den wahren Sinn der heuchlerischen Rede der Klytämnestra zu enthüllen, nicht
ia&Xrjv ixelvc^, noXs/iiav rote SvacpQoaiv verbinden, sondern da&X^v, ixeivq/
jiokefiiav, role Svay^oaiv. Aerger kann man die Intention des Dichters nicht
mifsverstehen und zugleich der Sprache Gewalt anthun. V. 612 denkt man
gar bei x^^^^ov ßufae an die Kunst, dem Erze durch Beimischung anderer
Metalle verschiedene Farben zu geben.
1) Die anonyme Biographie des Sophokles, eine fleifsige, aber ziemlich
kritiklose Zusammenstellung von Notizen, hat hauptsächlich die Schrift des
Istrus aus Kallatis im Pontus (s. Steph. Byz. KaXlane) ne^i zgaytpSiai be-
nutzt, dessen Zeitalter unbekannt ist; jedoch mufs er später als Neanthes von
Kyzikus gelebt haben, den er offenbar als Gewährsmann für die Sage von So-
phokles' Tode anführte. Das Geburtsjahr des Dichters ist unsicher; doch kommt
nicht viel darauf an. Wenn Sophokles nach Diodor XIll lo:«. 4 Ol. 93, 3 90 .lahr
alt starb, war er Ol. 71, 1 geboren. Diodor folgt dem Apollodor; aber 00 Jalir
konnte runde Zahl sein, die der Chronograph mit Rücksicht auf die metrische
Form, welche für genaue Zeitbestimmung wenig günstig war, wählte. Nach
der parischen Chronik Kp. ()4 ist der Dichter Ol. 70, 4 geboren; denn sie giebl ihm
hei seinem ersten Auftreten Ol. 77, 4 28 Jahre, bei seinem Tode Ol. 93, 3 91 Jahre.
Der Biograph verlegt die Geburt in 01.71,2 (Archon IMiilippus), ist iber mit
sich selbst nicht recht im Einklänge, wenn er den Tragiker, als er zum Feld-
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRIPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II.SOPQ. 357
war Mitglied einer geachteten und wohlhabenden Familie*), die zu
der Gemeinde Kolonos in der unmittelbaren Nähe der Stadt ge-
hörte. Dort besafs wohl auch Sophokles ererbtes Grundeigenthum.^
Sagenhafte Erinnerungen knüpften sich an diese durch alte Heilig-
thüraer (hier lag ein den Erinnyen geweihter Hain), wie durch land-
schaftliche Reize ausgezeichnete Stätte. Hier mochte schon im zarten
Knabenalter, welches für die ersten Eindrücke so empfänglich ist,
das lebhafte Gefühl für Naturschönheit geweckt, das Verständnifs der
Sagenwelt erschlossen und der Sinn mit Ehrfurcht vor dem Höheren
erfüllt werden. Im zweiten Oedipus, wo Kolonos der Schauplatz der
Handlung ist und anschaulich geschildert wird, hat der Dichter dieser
seiner Heimath ein pietätvolles Andenken gewidmet.
Der Vater, Besitzer einer Fabrik^), sorgte gewissenhaft für die
körperliche und geistige Ausbildung des Knaben, der auch durch
Anmuth der äufseren Erscheinung sich empfahl. Daher ward ihm
herrn gewählt wurde. 55 Jahr alt sein läfst; dem Wortlaute gemäfs geht dies
auf das Jahr der Wahl Ol. 84, 3 (gegen Ende). Dies würde mit der parischen
Chronik (Ol. 70, 4) stimmen, aber es kann auch das folgende Jahr, wo Sopho-
kles Strateg war, gemeint sein; dies führt auf Ol. 71, 1 (Diodor). Die Angabe
des 55. Lebensjahres stützt sich unzweifelhaft auf die Elegie, deren Anfang Plut.
an seni sit ger. resp. c. 3, 5 erhalten hat : coStjv 'HqoSötco rev^sv ^o(fox).T;i sxicov
(ov jttvr' int Ttevrrjxovra. Dieses Gedicht fällt sicherlich in diese Zeit, aber
wir wissen nicht, ob es im Jahre der Wahl Ol. 84,3 oder der Strategie (Ol.
84, 4) gedichtet war. Damit sind also Ol. 70, 4 wie 71, 1 verträglich, ja selbst
Ol. 71, 2 ist nicht geradezu ausgeschlossen; denn wenn Sophokles in jenem Jahre
geboren war, trat er Ol. 84, 4 sein 55. Jahr an. Suidas II 2, S37 setzt die Geburt
in Ol. 73, während andere wenig verlässige Gewährsmänner dem Sophokles
mehr als 90 Jahre geben, so dafs man noch über Ol. 70, 4 hinaufgehen müfste.
2) Biographie : ixQäipri iv evno^iq. Dafs Sophokles reich war, deutet das
Amt eines iXkrjVorafiias, welches er bekleidete, an [CIA. I 237, s. unten S. 363
A. 21]. Ebenso war sein Enkel Sophokles tafiiai rtäv leoiSv x^fiaTow (CIA. II
643, s. unten S. 365 A. 32); dies setzt voraus, dafs er zu den Höchstbesteuerten
gehörte. Dafs der Dichter aus guter Familie war, kann man aus der Wahl
zum Strategen schliefsen; auf den Ausdruck principi loco genitus ist bei
einem Schriftsteller wie Plinius XXXVII 40 nicht viel zu geben. Islrus machte
den Sophokles zu einem Phliasier; vielleicht war seine Familie von dort ein-
gewandert.
3) Doch kann man dies aus Hermesianax V. 57 und Cicero de fin. V 1, 3
wo Sophokles als incola von Kolonos bezeichnet wird, nicht mit voller Sicher-
heit schliefsen.
4) Aristoxenus nannte ihn einen -zixiiov oder ;jo>lxn's, Istrus /laxat^o-
Tzoios, was der Biograph richtig auffafst.
358 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
die Auszeichnung zu Tlieil, als Vorsänger eines Knabencbores den
Siegespäan um das Tropäon der Schlacht bei Salamis anzustim-
men*), wie er auch später seine Gewandtheit als Bailspieler in der
Tragödie Nausikaa, sein Geschick im Citherspielen im Thamyras auf
der Bühne bekundete. Diese Vorbildung kam dem künftigen Tra-
giker wohl zu statten, der Musik, Gesang, Orchestik gründlich ver-
stehen mufste. Sein Lehrer in der Musik war Lamprus'), und So-
phokles hat den Unterricht dieses ausgezeichneten Meisters wohl
auch noch später genossen, als er sich für seinen Beruf vorberei-
tete. Wenn der Tragiker in seinen Choiiiedern eine bestimmte mu-
sikalische Richtung verfolgt, so darf man darin eben die Einwir-
kung dieses Unterrichtes erkennen.^)
Nicht vorschnell, sondern erst in reiferem Alter*) und gehörig
vorbereitet, wendet sich Sophokles der dramatischen Poesie zu.
Ol. 77, 4 beiheiligt er sich zum ersten Male am tragischen Welt-
kampfe ^), zugleich mit Aeschylus, aber mit so günstigem Erfolge,
dafs dem bisher unbekannten Dichter der erste Preis zuerkannt
wurde. Die Auszeichnung war um so gröfser, da ausnahmsweise
der berühmte Feldherr Kimon und seine neun CoUegen das Amt
der Preisrichter übernommen hatten.'") Der Wettstreit des jugend-
5) Athen. I 20 F, Biographie. Natürlich nicht unmittelbar nach der Schlacht,
denn da war für eine solche Festfeier keine Zeit (vgl. Herod. VllI 108), sondern
etwa bei der Wiederkehr des glorreichen Tages; damals war Sophokles un-
gefähr 17 Jahr alt. Dafs Sophokles öfter in gymnischen und musischen Wett-
kämpfen siegte, bezeugt der Biograph.
6) Biographie und Athen. I 20 F (Art nals öiv).
7) Auf Sophokles gehen wohl die Verse des Komikers Phrynichus fr. ine. 1.
Com. n 1, 601 bei Athen. II 44 D, wo einem Dichter der Vorwurf gemacht wird,
dafs er die weinerlichen, künstlichen Melodien des Wassertrinkors Lamprus
nachbilde.
8) Dafs Sophokles' Vater den Ruhm seines Sohnes nicht erlebte, sagt Plut.
de amore prolis c. 4.
9) Parische Chronik Ep. 56: ^oipoxXrie . . . ivixrioe rgayq/Siq irätv iHv
JJniJI. Eusebius Chron. II 102 setzt in ül. 77, 2 (3) das erste .\uftreten des So-
phokles und nennt gleich nachher Ol. 78, 1 Sophokles und Euripides. Der erste
Archon Apsephion leitete die Festfeier (es waren die städtischen Dionysien). Zu
den Dramen, welche Sophokles aufführte, gehörte der Triploiemus, nach Plinius
XVUI 65 145 Jahre vor Alexanders Tode (Ol. It4, 1) gegeben.
10) Hlutarch Kimon c. 8. Mit unzulänglichen Gründen hat man den ganzen
Hergang, der wie ihn I'lularch darstellt durchaus nicht den Charakter der Er-
findung an sich trägt, in das Reich der Anekdote verwiesen.
DIE DRAM. POESIE. DIE TBAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II.SOPH. .359
liehen Dichters mit dem anerkannten Meister der tragischen Kunst
hatte schon vorher eine ungewohnte Aufregung hervorgerufen; für
und wider mochte das PubHkum Partei ergreifen. Der Archon zog
es daher vor, statt wie üblich fünf Richter durch das Loos zu er-
nennen, die Entscheidung einer gewichtigeren Autorität anzuver-
trauen. Kiraon, der mit seinen CoUegen eben von einem erfolgreichen
Feldzuge heimgekehrt war") und im Begriff stand, seine Siegeslauf-
bahn von neuem zu beginnen, erkannte dem Sophokles den Preis
zu. Es ist eine völlig unbegründete Ueberheferung, dafs Aeschylus,
durch den überraschenden Erfolg des Sophokles gekränkt, Athen
verlassen und sich eine Zeit lang von der Bühne zurückgezogen
habe"); vielmehr bestand zwischen ihnen ein ungestörtes freund-
schaftliches Verhältnifs. Beide Dichter wirken einträchtig mit ein-
ander für die Vervollkommnung ihrer Kunst.
In seiner Jugend schlofs sich Sophokles, wie natürlich, an den
älteren Meister an, der die Bühne beherrschte. Nach Aeschylus hat
er sich gebildet *^) und fuhr längere Zeit in seiner Weise zu dichten
fort, ohne jedoch auf seine Selbständigkeit zu verzichten, gewinnt
doch der aufstrebende Sophokles in den letzten Jahren seines Zu-
sammenwirkens mit Aeschylus sichtlich auf den älteren Dichter Ein-
flufs. Auf Anregung des Sophokles erfuhr der Haushalt der Tra-
gödie nicht unwichtige Veränderungen, welche Aeschylus alsbald
adoptirt, wenn er auch seiner eigenen Art nicht untreu ward.
Sophokles' Organ war zu schwach und gestattete ihm nicht Sophokles'
nach herkömmlicher Sitte bei der Aufführung seiner Dramen mit- um die
zuwirken"); man gewährte ihm bereitwillig einen Stellvertreter. So Dramatur-
gie.
11) Plutarch nennt die Eroberung der Insel Skyros. Bei der Unsicher-
heit der Chronologie in diesem Theile der Geschichte Athens läfst sich darüber
nichts Genaueres feststellen.
12) Wie Plutarch erzählt.
13) Biographie: tt«^' Ata-/v).o) Si ttjv r^ay(pSiav ifiad'e. Indem Sopho-
kles in jüngeren Jahren in tragischen Chören mitwirkte, kam er vielleicht auch
mit Aeschylus in nähere persönliche Berührung.
14) Der Biograph, indem er die Neuerung des Sophokles aufzählt {tioX/A
Jxcuvov^yrjasv iv toIs ayüxsi.)^ erwähnt dies an erster Stelle: nqütxov (ikv xara-
Xvaas T15V vnöxQiOiv rov notTjrov Sia zr]v iSiav fnxQotfotviav; denn Sopho-
kles wird gleich bei dem Beginn seiner dramatischen Laufbahn diese Vergün-
stigung erbeten haben. Nur in der Nausikaa und im Thamyras trat er auf
der Bühne auf (Athen. I 20 F). Für ein Stück, nicht für eine Tetralogie mochte
360 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
schied sich von jetzt an der Beruf des dramatischen Dichters und des
Schauspielers vollständig. Wichtiger ist eine andere Neuerung, indem
Sophokles die Einführung eines dritten Schauspielers durchsetzte.
Dadurch wurde die Entfaltung eines reicheren dramatischen Lebens
möghch. Für die verschiedenen Nebenrollen war ein Darsteller ge-
wonnen, und erst jetzt konnte man den zweiten Schauspieler, der
bisher diesen Dienst nebenbei geleistet hatte, für seine eigentliche
Aufgabe vollständig verwenden. Wir begegnen dem dritten Schau-
spieler bereits bei Aeschylus in der Orestie und im Prometheus;
daraus sieht man, dafs damals diese Erweiterung der dramatischen
Mittel schon fest geregelt war. Aber das Verdienst dieser Reform
gebührt nicht dem Aeschylus, sondern, wie eine wohlbeglaubigte
Ueberlieferung bezeugt, dem Sophokles.") Aeschylus empfand bei
der Schlichtheit seiner Kunst, dann weil der Chor bei ihm vielfach
die Stelle eines Schauspielers vertrat, die hergebrachte Beschränkung
weniger und hätte auch später mit zwei Schauspielern auskommen
können. Daher beschränkt sich Aeschylus selbst in Scenen, wo
drei Schauspieler auf der Bühne sind, eigentlich mit dem Zwiege-
spräch; der dritte ist stumm oder betheiligt sich nur am Dialog,
indem er einen andern ablost. Auch bei Sophokles treffen wir suc-
cessive Wechselreden der drei Darsteller, aber anderwärts greift der
»bitte Theilnehmer wesentlich in die dramatische Entwicklung ein.
Wie Sophokles den dritten Schauspieler wahrhaft verwerthet, so
geht offenbar diese Neuerung von ihm aus.
Darauf weist auch die veränderte Stellung des Chores im Or-
ganismus der Tragödie hin, welche gleichfalls dem Sophokles ver-
dankt wird. In der älteren Tragödie bat der Chor mehr oder minder
Antheil an der Handlung und betheiligt sich daher auch wesentlich
an der Führung des Dialoges. Der Chor des Sophokles begnügt
sich mit einer passiven Haltung. Auch da, wo er ein lebhafteres
seine Kraft ausreichen, auch hat Sophokles vielleicht in jenen Dramen nur eine
Nebenrolle übernommen.
15) Aristot. Poet. c. 4, 16 p. 1449 A 18, Dikäarch (im Leben des Aeschylus),
Diog. Laert.IlI 50, der Biograph und Suidasll'i, 838. Nur der Biograph des Aeschy-
lus eignet diesem Dichter das Verdienst zu. Denn was Themist. XXVI 382, 19 Di.
aus Aristoteles {ne^i noiriivjv oder den Didaskalien) referirl: Aka%vh>i i^iiov
ijiox^ni]v (i^ev^Bp), kann nur für eine ungenaue Darstellung gelten, wenn
nicht vielmehr Sbvteqov zu lesen ist; denn eben dieser bedeutende Fortschritt
wird dem Aeschylus vridankt.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II.SOPH. 361
Interesse für die Handelnden an den Tag legt, greift er doch nie-
mals thätig ein; an dem Dialog participirt er nur noch momentan.
Der Chor giebt den individuellen Charakter, welchen Aeschylus sorg-
sam festhält, auf. Aber indem Sophokles das dramatische und lyrische
Element schärfer sondert, mufste er darauf bedacht sein, Ersatz zu
gewinnen. Für Sophokles, der den Chor, welcher bisher die Stelle
eines Schauspielers versehen hatte, ledigHch auf das Gebiet der Be-
trachtung beschränkte, war eine Vermehrung der Darsteller unent-
behrhch. Die Einführung des dritten Schauspielers und die verän-
derte Haltung des Chores bedingen sich gegenseitig und hängen auf
das Genaueste zusammen. Sophokles hat offenbar beide Reformen
gleichzeitig vorgenommen, und bei dieser Gelegenheit wird er auch
die Zahl der tragischen Choreuten von zwölf auf fünfzehn erhöht
haben.'^ An sich ist dies ein untergeordneter Punkt; dadurch wurde
nur der Gesang des Chores verstärkt. Aber zu dieser Veränderung
bedurfte es der Zustimmung der Behörden. Da wir nun den ver-
stärkten Chor bereits in der Orestie des Aeschylus antreffen, wird
auch diese Neuerung derselben Zeit angehören. Sophokles hat vor
Ol. 80, 2 aus eigenem Antriebe, aber in vollem Einverständnisse mit
Aeschylus und wohl auch den anderen Kunstgenossen jene Reformen
vorgeschlagen und dafür die öffentliche Genehmigung erlangt.
Damit hängt wahrscheinlich die Abfassung der Schrift über den
Chor zusammen.'^) Dafs ein denkender Künstler, der über alles,
was er Ihat, genaue Rechenschaft zu geben vermochte, sich über
die Grundsätze seiner Kunst im Zusammenhange aussprach, kann
nicht auffallen; allein in der klassischen Zeit hegt solchen theore-
tischen Erörterungen meist ein unmittelbarer praktischer Zweck zu
Grunde. Indem Sophokles, der über Ziel und Aufgabe der tragi-
schen Dichtung reiflich nachgedacht hatte, darauf ausging, das dra-
matische Element immer reicher zu entwickeln, sah er sich nicht
IH) Biographie und Suidas.
17) Suidas iyqaxpt . . .Köyov xaraioyciSTjv negi toi x,oqov ttoos OeOTttv
xal XoiQtXov ayiovi^öfievog. Dieser Znsatz ist dunkel; vielleicht deuten die
Worte an, dafs Sophokles gegen die Vertreter der alten Tragödie polemisirt
habe. (S. S. 21S A. 90.) Es kann aber auch eine abgerissene Notiz sein, wie
wenn der Biograph sagt: awr-yojviaaxo Sa Aia/;iho xai ElginiSr, xai Xoi-
gikfp xai l^oiOTiq xai äXXoii no).}.dii xai VoyaJvr» TßJ rt^, indem irrthümlich
der ungehörige Name des Thespis hinzugefügt ward.
362 DniTTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
nur genötliigt den Umfang der Cliorgesänge noch mehr als bisher
zu beschränken '*) , sondern er gab auch dem Chore selbst eine rein
betrachtende Haltung, indem er sich begnügt durch den Chor die
Empfindungen auszusprechen, welche die tragischen Vorgange auf
der Bühne hervorrufen. Sophokles wird in jener Schrift sein Ver-
fahren gerechtfertigt und zugleich daran seine Vorschläge über Ein-
führung eines neuen Schauspielers und Vermehrung der Choreuten
geknüpft haben. Sonst wird noch besonders das Verdienst des So-
phokles um die perspektivische Dekoration der Bühne hervorgehoben.")
In eine spätere Epoche fällt eine andere Neuerung, die nicht
die Oekonomie der Tragödie berührt, sondern nur die Preisverlhei-
lung beim tragischen Agon regelte. Es ward bestimmt, dafs die
Preisrichter nicht mehr wie bisher Tetralogie gegen Tetralogie ab-
wägen, sondern zunächst über jedes einzelne Drama ihre Stimme
abgeben sollten ; danach wurde schhefslich das Urtheil über die ge-
sammte Leistung jedes Dichters festgestellt.*") Da die Tragiker die
Form eines einheitlichen Dramencyklus so gut wie ganz hatten fallen
lassen und jedes Drama ein abgeschlossenes, für sich vollkommen
verständliches Werk war, so entsprach diese Weise, das Verdienst
der Preisbewerber zu ermitteln, durchaus den realen Verhältnissen.
Amheii am Vom öffentlichen Leben zog sich Sophokles nicht gerade grund-
offentiicben gjjt^lich zurück. Mehrfach und zu den verschiedensten Zeiten be-
Leben.
theiligt er sich an den Geschäften, indem er auch seinen bürger-
lichen Pflichten zu genügen bemüht war. So verwaltet er Ol. 84, 2
18) Dies beweisen die noch erhaltenen Dramen des Sophokles.
19) Aristot. Poet. c. 4, 16 p. 1449 A 18. Aber auch der Aeschyleischen
Tragödie war die atcrjvoyQafia nicht unbekannt, s. oben S. 43 A. 141. Der Bio-
graph schreibt dem Sophokles noch die Einführung der xa^miXt] ßatcrrjQia und
der Xevxai xQr^nlSee zu.
20) Dies ist der Sinn der vielfach mifsverstandenen Notiz, die wir ledig-
lich dem Suidas verdanken: xai avxos (lies Tr^xvroe) i;^|c -vov Sqäfia nfos
8gäfia aycavi^ea&ai , aXXa fit) TSXQaXoyiav. (S. S. 229 A. 104, S. 230 A. 108,
S. 234 A. 11»>. 120, S. 235 A. 122.) Aber nach wie vor wurden die vier Dramen
eines Dichters hinler einander an einem Tage gespielt; denn die Tetralogie
bildete alle Zeit einen festgefügten Organismus. War auch der Inhalt der ein-
zelnen Dramen verschieden, so war doch Auswahl und Heihenlolge darauf be-
rechnet, eine bestimmte Wirkung auszuüben. Man würde den Charakter eines
Kunstwerlies völlig verkannt haben, wenn man die Dramen eines Dichters ge-
trennt und auf mehrere Tage vertheill hätte. (S. S. 233.) Am wenigsten würde
Sophokles zu einer solchen Einrichtung die Hand geboten haben.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II. SOPH. 363
das Amt eines Schatzmeisters für die Tribute der Bundesgenossen.^')
Im folgenden Jahre ward er für Ol. 84, 4 zum Feldherrn erwählt,
eine Auszeichnung, die er nach der bekannten üeberlieferung zum
grofsen Theile seinem dichterischen Erfolge verdankte.**) Da in
jenem Jahre der Krieg mit den Samiern ausbrach, zog auch So-
phokles mit Perikles und der athenischen Flotte ins Feld und ward,
wie es scheint, vorzugsweise zu Verhandlungen mit den Bundesge-
nossen verwendet.*^) Als Ol. 91, 4 unter dem erschütternden Ein-
druck der Kunde von der Niederlage in Sicilien ein engerer Rath
von dreifsig bejahrten Männern eingesetzt wurde, der erste erfolg-
reiche Versuch der Ohgarchen, die demokratische Verfassung zu be-
seitigen, erscheint auch Sophokles als MitgHed dieser Behörde und
mufste sich später nach dem Sturze der Vierhundert deshalb verant-
worten.*^) Ebenso ward er mehrfach freiwillig oder gezwungen in
Rechtshändel verwickelt.*^) War Sophokles auch kein Mann des han-
21) Als 'EÄXrjvora/xiaz, s. die Inschrift bei Boeckh Staatsh. II 456 (nach
berichtigter Zeitbestimmung). [CIA. I 237.]
22) Biographie und Einleitung zur Antigene. Auch wird Sophokles unter
den Strategen im samischen Kriege aufgezählt in dem Verzeichnisse, welches
der Schol. des Aristides III 4S5 nach Androtion mittheilt.
23) Ion, mit dem Sophokles bei diesem Anlasse in Chios zusammentraf,
urtheilt über die Befähigung des Dichters zu solchen praktischen Aufgaben
nicht eben günstig: t« fiivtoi TioXirtxa ovxe aotpos ovxe oey.zTjoios rjv, a}j.^
<Js av Tts eh TÖtv xor^aräv 'A&rivaicov (Athen. XIII 604 D). und Sophokles be-
zieht sich selbst (ebendas.) auf das Urtheil des Perikles: iTieiSfi txeq Jls^ixXfjs
jtotslv fie %>7, arQaxTjyeiv S' ovx iniaraa&ai. Nach Suidas (MeXiaaos [Me/.r]-
TO«] II 1, 764, 171 hatte Sophokles ein Seegefecht mit Melissus, dem Anführer
der Samier, bestanden. Dies ist nicht unmöglich; es kann aber auch Aus-
schmückung sein, indem man den Naturphilosophen und den Tragiker als Geg-
ner auf einem fremden Gebiete einander gegenüberstellte. Ob Sophokles auch
noch später einmal das Amt des Strategen bekleidete, ist ungewifs; der Bio-
graph kennt nur diese Strategie, erwähnt dagegen Gesandtschaften des Sopho-
kles, von denen nichts weiter bekannt ist.
24) Aristot. Rhet. III 18 p. 141 S A 26. Der hier unter den n^oßovXot er-
wähnte Sophokles, der wegen seiner Thätigkeit bei der Einsetzung der Vier-
hundert zur Rechenschaft gezogen wurde, kann nur der Tragiker sein, nicht
der Oligarch Sophokles, der später zu den Dreifsig gehört; denn diesen würde
Aristoteles durch einen Zusatz kenntlich gemacht haben. Auch kann unmög-
lich Peisandros der Inquirent gewesen sein; es ist wohl TeiaavS^oe zu
schreiben.
25) Aristot. Rhet. I 14 p. 1374 B 35 erwähnt, dafs Sophokles als awt^o^os
auf Todesstrafe für den antrug, der den Euktemon beleidigt und dadurch zum
364 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G,
delnden Lebens, so hängt er doch mit treuer Liebe an seinem Vater-
lande-^"")
Auch ein priesterliches Amt hat Sophokles bekleidet.") Seine
würdevolle Erscheinung wie sein gottesfürchtiges Gemüth befähigten
ihn vor anderen dazu. Diesen religiösen Sinn hat er auch durch
mehrfache Stiftungen bekundet''*); daher erschien Sophokles als ein
bevorzugter LiebHng der Götter. Ein Päan auf Asklepius, wohl zur
Zeit der verheerenden Seuche zu Anfang des grofsen Krieges ge-
dichtet, scheint Anlafs zu der Sage gegeben zu haben, dafs der Heil-
gott selbst den Dichter seines Besuches würdigte.") Zur Erinnerung
daran ward dem Sophokles nach dem Tode ein Heroon errichtet
und alljährlich ein Opfer dargebracht.^")
lieber die häusUchen Verhältnisse des Tragikers ist nur soviel
bekannt, dafs er mit einer Athenerin Nikostrate verheirathet war.
Aus dieser Ehe stammt sein Sohn lophon, der den Vater überlebte.
Ein zweiter Sohn, Ariston, mit einer Sikyonierin Theoris erzeugt,
scheint früh gestorben zu sein.^') Aristons Sohn, der junge So-
Selbstmord getrieben hatte (Euktemon ist vielleicht der von Thukyd. VIII 30
erwähnte Strateg). Bei einem anderen Rechtshandel um Ol. 91, 1 berief sich
Sophokles auf seine 80 Jahre, s. Aristot. Rhet. III 15 p. 1416 A 15. Dies darf
man nicht auf den Rechtshandel mit lophon beziehen, der offenbar in die letzte
Lebenszeit des Dichters fällt; auch wäre eine Aeufserung, wie sie dort vorliegt,
im Munde des Sohnes eine mafslose Impietät. Kurz vor Sophokles' Tod fällt
das Zerwürfnifs mit lophon.
26) Wenn der Biograph sagt, Sophokles habe alle Einladungen von Für-
sten {noXXöiv ßaaiXeiov) abgelehnt und sich nicht entschliefsen können, Athen
zu verlassen, so denkt man an Iliero, Perdikkas und Archelaus; vielleicht han-
delt es sich aber nur um eine Aufforderung des Archelaus.
27) Des Heros Alkon, der als Heilgott verehrt ward (Biographie).
28) So das Heiligthum des 'HQaxXr,e fiT]vvxT;e auf Anlafs eines Traum-
gesichtes (Biographie), Altäre für Asklepius und auch wohl andere Heilgötter.
29) Plutarch Numa c. 4, Philostr. iun. Imag. c. 13 U 415 K., Etyra. M.
Ja^itov.
30) Nach dem Elym. M. ward Sophokles zur Erinnerung an die gastliche
Aufnahme des Asklepius unter dem Namen Js^imv {Ji^atv'?) unter die Heroen
aufgenommen, und auf diesen Hcroencultus ist offenbar die Notiz des Biogra-
phen zu beziehen : "lax^s 8i ipriaiv 'Adifjvaiovs Sut ttjv rov avS^os a^ex^v
xai \fnifiafia nBjioirjxivai x«t* Broe avr<^ &veiv. Diese Auszeichnung galt
nicht sowohl dem Dichter, sondern dem göttlicher Huld gewürdigten Priester.
— Dafs Sophokles die eleusinischen Weihen empfangen hatte, wird nicht aus-
drücklich bezeugt, ist aber sehr wahrscheinlich.
31) lieber lophon und Ariston 8. Biographie und Schol. Aristoph. Frösche 78
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II. SOPH. 365
phokles, war der Liebling des greisen Grofsvaters.'^) Daher bringt
auch er, nicht lophon, das letzte dichterische Vermächtnifs des Tra-
gikers auf die Bühne. Indem Sophokles kurz vor seinem Tode dar-
auf bedacht war, die Zukunft seines Enkels sicher zu stellen, glaubte
sich lophon zurückgesetzt und in seinen Rechten beeinträchtigt.
Doch ward das Zerwürfnifs durch Zuspruch der Freunde ausge-
glichen.^)
Sophokles war eine edle Natur, welche unwillkürlich einem
jeden Achtung einflöfste. Gefafst und ruhig betrachtet er die Wech-
selfalle des menschUchen Lebens. Selbst der Ernst der Zeit, der
Anblick der Leiden, die später Athen heimsuchten, scheint seine
(der den Ariston als vö&os vloe bezeichnet). Suidas II 2, S39 zählt fünf Söhne auf.
Diese Notiz ist wohl ebenso apokryph wie eine andere bei dem Schol. Aristoph.
Frösche 791. Athen. XIII 592 A nennt die Theoris eine Hetäre, die Sophokles als
Greis geliebt habe. Dafs dieses Verhältnifs in frühere Zeit fallen mufs, erhellt
schon daraus, dafs der Enkel der Theoris bei Sophokles' Tode dem Epheben-
alter nahe war. Ebenso ist es eine übel erfundene Anekdote, dafs Sophokles
in einem Chorliede seine Liebe zur Theoris offen bekannt habe, was der Ale-
xandriner Hermesianax für seine Zwecke verwerthet (Athen. XIII 59S D).
32) Es ist reine Willkür, wenn Neuere die Existenz des Ariston leugnen
und den jungen Sophokles zum Sohne des lophon machen. Dieser war offen-
bar in der Didaskalie Ol. 94. 3 als Sohn des Ariston bezeichnet (Einleit, zum
Oedipus Kol.) ; denn in diesem Falle war die Angabe des Vaters gerechtfertigt.
Dieser Sophokles wird wohl Ol. 95, 1 unter den Schatzmeistern der Athene
aufgeführt 2:o<po><[l?,s Kolmvfjdsv], s. Boeckh Staatsh. II 301 [CIA. II 643]. und
wenn in einer anderen Urkunde aus Ol. 101, 2 in einem Verzeichnifs von Weih-
geschenken [Rhangabis 233"] auch eine Gabe des Sophokles ^lofännos ix Ko-
Xtov»v angeführt wird, so ist dies wohl derselbe. lophon, der kinderlos sein
mochte, wird später den Sohn des Ariston adoptirt haben; denn dafs zwei Enkel
gleichmäfsig den Namen des Grofsvaters führten, ist nicht wahrscheinlich. Der
Sohn des jüngeren Sophokles wird 'JoyoUv 2hfoy)^ovs ix KoXcovov sein, der
als vTtoyQafifia-tei'S auf einer Inschrift aus der Zeit des Demosthenes erscheint
(Philistorl 189).
33) Dieser Vorgang, den der Biograph und andere mit mancherlei Varia-
tionen erzählen, ist anekdotenhaft ausgeschmückt, aber nicht erdichtet. Wenn
lophon kinderlos war (s. oben A. 32), hatte Sophokles um so mehr Grund, für
seinen Enkel zu sorgen. Die Verhandlung wird vor den Phratoren geführt wor-
den sein. Hier mochte lophon in leidenschaftlicher Aufregung beantragen, dem
Vater die Disposition über sein Vermögen zu entziehen, und Sophokles, um
zu beweisen, dafs er im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte sei, das Chorlied
aus dem Oedipus auf Kolonus V. 6(jSff., den er eben unter Händen hatte, vor-
tragen. In frischer Erinnerung an diesen Vorfall mag der Dichter Oed. Kol.
1192 ff. niedergeschrieben haben.
366 DRITTE PEIUOÜE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
natilrliche Heiterkeit nicht getrübt zu haben.^^) AnnnUhiger Scherz
stand ihm besonders in früheren Jahren immer zu Gebote.**) Fried-
fertig und von seltener Liebenswürdigkeit, welche alle gewann, blieb
Sophokles vor Conflikten bewahrt, denen schärfer ausgeprägte Na-
turen selten entgehen. Sein Verhältnifs zu Aeschylus, auf innige
Verehrung begründet, blieb sich unveränderhch gleich.*') Ebenso
fand zwischen Sophokles und Euripides, die im dichterischen VVelt-
kampf einander beständig begegneten und durchaus verschieden an-
gelegte Naturen waren, wohl eine gewisse Rivalität, aber keine Feind-
schaft gewöhnlicher Art statt.") Mit den besten Männern seiner
Zeit, einheimischen wie fremden, welche damals zahlreich Athen
aufsuchten, wie mit dem Dichter Ion und dem Historiker Herodot,
verkehrt Sophokles freundschaftlich.
Nach der herrschenden Sitte der Zeit fand Sophokles Woiilge-
fallen an schönen Knaben'*); auch der Frauenliebe mag er sich hin-
gegeben haben '^). Indes sein Verhältnifs zu Theoris kann ein voll-
kommen rechtmäfsiges gewesen sein; nur galten nach der Strenge
der attischen Gesetze Kinder, welche in der Ehe mit einer Auslän-
derin erzeugt waren, nicht für legitim. Er selbst pries sich im
Alter glücklich, dafs er Befreiung von den Leidenschaften gefunden
hatte.'")
Die äufsere Erscheinung des Sophokles mufs würdevoll und zu-
34) Aristoph. Frösche 82 bezeichnet treffend den Charakter des Sophokles
mit dem Ausdrucke svyoloe.
'ib) Ion bei Athen. XIII 603 F : avSpi naiSitoSei na^^ olvov xai 8s^t^.
36) Aristoph. Frösche 788 und 1515 f. ist dafür ein vollgültiger Zeuge.
37) Die Ueljjprlieferung weifs mancherlei von meist scherzhaften Aeufse-
rungen gegen einander zu berichten, wo wie gewöhnlich Wahres mit Falschem
vermischt ist. Solche Aeufserungen sind übrigens in dem bestimmten Momente,
wo sie gethan werden, vielleicht vollkommen berechtigt, werden auch von denen,
an die sie gerichtet sind, richtig aufgefafst; löst man sie von der augenblick-
lichen Situation los, fafsl sie allgemeiner, dann erscheinen sie leicht ungerecht
oder unwahr.
3b) Ion bei Athen. XllI 603 F und die glaubhafte Erzählung bei Plut. Pericl.
c. 8, um von anderen Anekdoten abzusehen.
39) Zu den völlig unverbürgten Anekdoten gehört der Verkehr des greisen
Sophokles mit der Hetäre Archippa, der er sein Vermögen hinterlassen habe,
Athen. XII' 502 H, was schon durch das Zengnifs des Fiato (s. A. 40) hinläng-
lich widerlegt wird.
4U) Plalo de Kep. 1329C.
»IE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II. SOPH. 367
gleich gewinnend gewesen sein, wie die zahlreichen bildhchen Dar-
stellungen beweisen.^*) Den vergänglichen Reiz der sinnlichen Jugend-
blüthe, welcher einst den Epheben auszeichnete, hat der Dichter im
Mannes- und Greisenaller mit den geistig belebten Zügen ange-
borenen Adels und milder Anmuth vertauscht. Das Bild des So-
phokles veranschauhcht am besten die Broncestatue im lateranischen .
Museum zu Rom. Der Dichter, eine kräftige, hohe Gestalt, ist in ruhi-
ger, gemessener Haltung stehend dargestellt, der linke Arm ist ganz
in das Gewand eingehüllt, während der rechte auf der Brust ruht;
im Ausdruck des Gesichtes prägt sich Ruhe und Klarheit, Ernst mit
Milde gepaart aus.^*)
Sophokles starb neunzig Jahre alt bald nach Euripides, wie es Sophokles'
scheint, im Spätjahre Ol. 93, 3 (andere verlegen seinen Tod in Ol.
93, 2 gegen Ende) ") und ward auf seiner väterlichen Grabstätte an
41) Die bedeutende Zahl von Statuen, Brustbildern und anderen Darstel-
lungen des Sophokles bekundet hinlänglich die grofse Popularität, welche der
berühmte Dichter genofs. Diese Bilder, verschiedenen Zeiten angehörend und
an Kunstwerlh ungleich, stellen den Dichter in verschiedenen Epochen seines
Lebens dar und weichen daher mehrfach von einander ab, aber das Gemein-
same ist doch nicht zu verkennen.
42) Diese Statue ist wohl eine Copie der Bildsäule, welche die Athener
auf Antrag des Lykurg (Pausan. I 21, 1) im Theater dem Sophokles errichteten.
Auch der Stil der Arbeit weist sie dieser Periode zu.
43) Den Tod des Sophokles setzt Diodor XIll 103, 4 in Ol. 93, 3, oflfenbar
nach Apollodor, der, wie Diodor hinzufügt, auch den Tod des Euripides in das
gleiche Jahr verlegte; ebenso die parische Chronik Ep. t»4 und die Einleitung
zum Oedipus auf Kolonus mit dem Zusätze qiaaiv oi TiXeiovs. Dies deutet auf
eine abweichende Angabe, nämlich 93, 2. Dafs Euripides und Sophokles fast zu
gleicher Zeit gestorben waren, stand fest, ebenso dafs Sophokles nach Euri-
pides starb (s. Suidas ^oqioxXfjs II 2, 838), aber als Todesjahr des Euripides ward
bald 93, 2, bald 3 bezeichnet; daraus erklärt sich dieses Schwanken. Ueber das
Spätjahr Ol. 93, 3 darf man nicht hinausgehen, da die im Winter Ol. 93, 3 aufge-
führten Frösche des Aristophanes den Tod beider Tragiker zur Voraussetzung
haben; auch der Schol. Aristoph. Friede 698, der von Ol. 89,3 an 17 Jahre zu
rechnen scheint, meint wohl eben Ol. 93, 3. Wenn Euripides 01.93,2 starb,
so konnte Sophokles, wie der Biograph des Euripides meldet, an dem Proagon
der grofsen Dionysien das Andenken seines Kunstgenossen, von dessen Tode
die Kunde eben eingetroffen sein mochte, ehren. Sophokles besafs noch geistige
Kraft genug, um eine Tetralogie aufzuführen, und dafs ihm unter diesen Umstän-
den der erste Preis zuerkannt wurde, ist erklärlich. Diodor XIII 103, 5 läfst ihn aus
Freude über diesen seinen letzten Sieg unmittelbar nachher sterben (er bezeich-
net es selbst als Sage — faai; diese Anekdote wiederholt sich öfter in den Jahr-
368 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHIl. G.
der Strafse, welche nach Dekelea lührle, beerdigt. Eine Sireue vou
Erz mit einer einfachen Aufsclnift bezeichnete das Grab/*) Auch
an das Begräbnifs knüpft sich eine das Andenken des grofsen Dich-
ters ehrende Sage. Als man die Leiche beisetzen wollte, halten die
Lakedämonier an dieser Stelle Schanzen aufgeworfen. Da soll Dionysus
dem Lysander wiederholt im Traume erschienen sein und ihm ge-
boten haben, die neue Sirene zu ehren. Als er erfuhr, Sophokles
sei gestorben, verstand er den Sinn des Traumgesichtes und gewährte
bereitwillig dem Dichter die letzte Ehre."**) Diese Erzählung steht
büchein der attischen Bühne); dann aber würde der Tod des Dichters noch in Ol.
93, 2 fallen. Satyrus (Biographie) läfst den Sophokles, während er seine Anti-
gene vorlas, sterben, indem ihm die Stimme versagte. Ob Satyrus an eine Vor-
lesung in vertraulichem Kreise dachte oder glaubte, die Vorlesung im Theater
habe die Stelle der Aufführung vertreten, läfst sich nicht sagen. Wohl aber
liegt diese Ueberlragung späterer Sitte auf die klassische Zeit der darauf folgen-
den Notiz zu Grunde : ol S' ori fisra xt}v tov S^a/uaroe avayvaiaiv, ote vt-
xcHv ixrjQv'/.d'rj, ;fa^ä vixrjd'eis i^ehnev. Auffallend ist die Erwähnung der
Antigone, da für ältere Stücke an den städtischen Dionysien kein Raum war.
Oder sollte in tendenziöser Absicht zur Zeit des Processes wegen der Schlacht
bei den Arginusen in einem Demos eine "Wiederaufführung der Antigone statt-
gefunden haben? .Jedenfalls konnte Sophokles an solchem Mifsbrauche kein
Wohlgefallen finden. Dafs Sophokles kurz vor seinem Tode noch einmal am
tragischen Agon theilnahm, ist recht gut denkbar, aber es ist nicht nöthig.
dafs er gleich darauf starb. Dagegen spricht der Ansatz des ApoUodor (wohl
auch hier mit Eratosthenes in Uebereinstimmung), der durch jene Anekdoten
nicht erscliütlert wird. Nach einer anderen weit verbreiteten Ueberlieferung
erstickte der greise Tragiker, wie Anakreon, an dem Kerne einer Weinbeere.
Dies würde mit dem Spätjahr Ol. 93, 3 stimmen. Wenn der Biograph den So-
phokles die Weintraube am Choenfeste als Geschenk erhalten läfst, so würde
dies auf Ol. 93, 2 führen; aber in der Winterzeit giebt es keine halbreifen Trau-
ben. Sonst hat diese Todesart nichts Auffallendes, und die Worte des Komi-
kers Phrynichus Musae fr. 1 Com. II 1,592, der den Sophokles glücklich pries,
weil er ovSkv vnofieivas xaxov gestorben sei, sind damit wolil vereinbar.
44) Biographie. Die Inschrift K^vtito} li^Ss züfto J!o<poxl^ Ti^torela
Xaßovxa 11] xQayixri Ttxvri axT^l^a. xb asfivörarov mag, wie Valer. Max. VIII
7, 12 aussagt, von lophon verfafst sein; das Epigramm bestand nur aus diesem
einen Distichon. Wenn Valerius bemerkt, es sei darin auf die letzte Arbeit,
den Oedipus auf Kolonus, Rücksicht genommen, so hat er offenbar seine Ouelle
mifsvers landen.
45) So der Biograph und andere. Dies ist chronologisch unzulässig, da
die Belag'Orung Athens durch die Lakedämonier gerade ein Jahr nachher beginnt.
Pausan. 1 21, 2 spricht von einem Einfall der Lakedämonier, ohne den Befehls-
haber namentlich zu bezeichnen. Man könnte also, um jene Ueberlieferung zu
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II.SOPH. 369
mit den Zeitverhältnisseo nicht in Einklang und ist vielleicht dahin
zu modificiren , dafs die Lakedämonier im Jahre darauf dem Opfer,
welches die Angehörigen des Dichters an seinem Todestage am Grahe
darbrachten, kein Hindernifs in den Weg legten.^®)
Mit den Schätzen der Nationallileratur ist Sophokles genau ver- Eifriges
traut. Aber keiner unter den älteren Dichtern hat so entschieden Homer.
auf ihn eingewirkt als Homer; den Spuren der Homerischen Poesie
geht er mit hebevoller Sorgfalt nach. Natürlich ist hier nicht von
sklavischer Nachahmung die Rede. Ein ebenbürtiger Geist wie So-
phokles wufste am besten den unvergleichlichen Gehalt der alten
epischen Dichtungen zu würdigen/") Diesen Werken verdankt er
mannigfache Anregung. Den Stoff zu zahlreichen Dramen hat So-
phokles aus Homer und den Kyklikern entnommen"); unbedenküch
wiederholt er Motive und Erfindungen seiner Vorgänger, jedoch ohne
auf seine Selbständigkeit zu verzichten , erheischte doch die drama-
tische Form eine reichere Ausführung, und das Publikum, welches
Wohlbekanntes in veränderter Fassung wieder antraf, hatte daran be-
sondere Freude. In der Schilderung der heroischen Zeit schliefst
Sophokles sich eng an jene Vorbilder an, indem er nur selten sich
retten, an Agis und einen Streifzug der Spartaner von Dekelea aus denken ;
indes ist eine solche Expedition um die Zeit der Schlacht bei den Arginusen
wenig wahrscheinlich.
46) Wenn Sophokles im Spätjahr Ol. 93, 3 starb, konnte die Jahresfeier
seines Todes mit der Einschliefsung Athens zusammenfallen. Aber auch dann
pafst der Name Lysander nicht recht, der Athen von der Seeseite blokirte und
bald darauf nach Samos abging.
47) Von Homer haben mehr oder minder alle griechischen Dichter ge-
lernt, aber das Urlheil (wohl des Ion), Sophokles allein verdiene ein Schüler
Homers genannt zu werden, ist nicht grundlos (Biograph , der auch 'Oftrj^ixöi
als Zuname des Dichters anzuführen scheint). Der Philosoph Polemo nannte
Homer den Sophokles unter den Epikern, Sophokles den Homer unter den
Tragikern, Diog. Laert. IV c. 3, 7 (20). (S. Bd. I S. 830 f.)
4S) Biographie : rovs re yaQ fivd'ovS ifSQSi xar i%POS tov rcoirjTOv xal
xrp/ 'OSvaaetav S^ iv tcoX^mIs Soäfiaffiv anoyqatpeiai, nicht ohne Uebertrei-
bung; denn auf die Ilias geht keine Tragödie des Sophokles zurück, auf die
Odyssee nur Navamäa und <Paiaic£e. Desto mehr Dramen (über dreifsig) lehnen
sich an die Kykliker an; mit Recht sagt Athen. VH 277 E: /;{««(»« ^' o ^yoxÄ^»
Ttj; ijTixt^ xvxXto, (US xai oJia S^äftara TtoiTJaat xazaxohrv&öiv Tr, kv rovrq»
fivd-ojxoiia. Und indem Sophokles den Stoff aus dieser Quelle schöpfte, hat
sicherlich auch der Geist und die Form dieser Poesien auf ihn eingewirkt.
ßtTfk, Griecb. Literaturgeschichte III. 24
370 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Anachronismen und ähnliche Verslöfse gegen die historische Treue
gestattet.'"') Den Einflufs der Homerischen Poesie nimmt man vor
allem in der Auffassung der Charaktere wahr."). Dies gilt nicht
allein von solchen Gestalten, die dem Epos und der Tragödie ge-
meinsam sind, wie z. ß. Aias oder Odysseus*')? sondern Sophokles
besitzt überhaupt wie Homer die Kunst der individuellen Charakter-
zeichnung in hohem Grade. Ebenso erinnert die Milde und dais
Gleichmafs des Tragikers an die Homerische Art; eine gewisse wohl-
Ihuende Ruhe wird selbst in der leidenschaftlichen Bewegung nicht
vermifst. Allgemeine Sentenzen sind mehrfach auf Homer als Quelle
zurückzuführen. Ebenso erinnern Bilder und Gleichnisse an das Epos;
nur befleifsigt sich Sophokles mehr jener gedrängten Kürze, welche
der dramatische Stil erfordert.") Vor allem aber verwendet Sophokles
eine Menge Worte und Formen, welche der epischen Sprache eigen-
thümhch sind^), und zwar in allen Theilen des Dramas, in erzäh-
lenden Partien und Chorgesängen natürlich häufiger als im Dialog,
immer aber mit Mafs und Auswahl. Besonders die früheren Arbeiten
mochten an den Stil der epischen Poesie erinnern, wie der Aias
zeigt. — Ebenso hat Soj)hokles die Arbeiten der anderen Tragiker
fleifsig studirt und verdankt seinen Vorgängern wie Zeitgenossen,
vor allen dem Aeschylus, aber auch dem Euripides vielfache .An-
regung.^^)
49) So in der Elektra die Beschreibung der Kampfspiele zu Olympia.
Beziehungen auf die unmittelbare Gegenwart werden mit richtigem Takte" ver-
mieden.
50) Treffend stellt der Biograph die Kunst der Charakteristik bei Sopho-
kles mit Homers Leistungen zusammen : r,&onoiEX Si xni Tioixlklst xal rols
i7tivor,fiaat rsxvixäx xorjrai 'OfiriQiycrjv ixfiarxöfievos x^Q^*'-
51) Auch in der Zeichnung der Tekmessa im Aias erinnert mancher Zug
an die Homerische Andromache.
52) Doch werden zuweilen auch ausgeführte Vergleichungen eingeflochten.
53) So gebraucht Sophokles tpgero&er, fiajQÖd'ev an Stelle des Genitivs.
Hierher gehören Worte wie afiaifinxeroe , nnsiot'atoe, dfieiTjt'öa und andere,
Partikeln wie ^«, rjSe oder t^e, Formeln wie fiovvos ait^ äXXcov, ftöroi fiövtoi
(herzustellen Aias [467?]», dann besonders stehende Epitheta, wie ilot 'OSnaasvf,
xJlvTa aijioXtn, fXixee ßove, m'&tav aiSr^QOt, xXvih IvaQn, d'oni wxx'ftlot rfjei.
54) Unbedenklich eignete sich Sophokles, was ihm gemafs war, von
anderen an. Die gelehrten Grammatiker, welche überall Plagiate erblickten,
•werden bei diesem Dichter Stoff genug zur Begründung dieser Anklage gefun-
den liaben. So schrieb Philostratus nafi T^e tov 2:o^oxXtov6 «lonfi« (Euseb.
Praep. Ev. X 3, 13).
I»IE DRAM POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II.SOPH. 371
Fast zwei Menschenalter hindurch hat Sophokles für die Bühne ge- Dauer der
arbeilet, obwohl er schon die ersten Jugendjahre überschritten hatte, '''^^^"g'^'g^j®''
als er Ol. 77, 4 seine ersten Dramen aufführte; von da an bis zu
seinem Tode Ol. 93, 3 war er ununterbrochen thätig. Auch bheb ihm
die Gunst des Pubhkums, welche ihm bei seinem ersten Auftreten in
so ehrenvoller Weise zu Theil geworden w ar, fortwährend treu. Zwan-
zigmal ward ihm der erste Preis zuerkannt, sonst stets der zweite**),
während Aeschylus nur dreizehnmal, Euripides sogar nur fünfmal
siegte und gar nicht selten sich mit der dritten Stelle begnügen mufste.
Die Alexandriner kannten hundertunddreifsig Stücke des So- Zahl der
phokles, von denen jedoch einige als unecht ausgeschieden wur-
den.^ Sophokles hat sich geistige Frische und Kraft bis ins höchste
Greisenalter bewahrt, wie seine letzten Arbeiten, der Philoktet und
der Oedipus auf Kolonos, der erst nach dem Tode des Dichters zur
Aufführung kam, beweisen. Diese Stücke vertheilen sich also über
einen Zeitraum von mehr als sechzig Jahren, und durchschnitthch
würde der Dichter alle zwei Jahre eine Tetralogie vollendet haben,
ein deulhcher Beweis, wie es Sophokles mit seiner Kunst nicht leicht
nahm, sondern seine Arbeiten sorgsam feilte und zur Reife gelangen
liefs. Zumal anfangs hat Sophokles nur langsam gearbeitet*^), wäh-
55) So der Biograph (mit Berufung auf den Pergamener Karystius). Suidas
giebl die Zahl der Siege auf 24, Diodor XIII 103,4 auf 18 an. Wenn Euphorion
und Philokles dem Sophokles vorgezogen wurden, so siegten sie wohl nicht
mit eigenen, sondern mit Aeschyleischen Dramen. Die Kränkung, dafs der Archon
sich weigerte, dem Sophokles einen Chor zu geben, von Kratinus in den Bov-
x6?.oi fr. 2 Com. 111,27 gerügt, fällt sicherlich in die Jugendzeit des Dichters.
56) Biographie: k/ei 8e S^aftara, ojs cpr^aiv'A^iaxo^avr^s, ^X', tovtcov Se
vsvö&evrai i^. Hier ist vielmehr ^ zu lesen; dies stimmt mit Suidas II 2, 839:
dSiSa^s Se S^dfiara ^xy, lös Ss tives xai noX)^ TtXsCco. Nämlich aufser
jenen 130 Dramen, die sich erhalten hatten, mochten andere frühzeitig unter-
gegangen sein, die man nur aus den Didaskalien kannte. Jene Zahl ergiebt
32 Tetralogien und zwei weitere Dramen. Die Zahl der Satyrdramen, so weit
sie als solche erkennbar sind, reicht nicht aus; der Verlust wird eben beson-
ders Satyrstücke betroffen haben. Ob Sophokles nach Art der Alkestis des
Euripides Schlufsdramen der Tetralogie gedichtet hat, ist ungewifs; auf keinen
Fall gehörte die Tvqu> in diese Kategorie. Aeltere Dramen hat Sophokles öfter
umgearbeitet. Wir kennen nicht mehr sämmtliche Titel; manches ist hier pro-
blematisch. Doppeltitel bereiten mehrmals Schwierigkeiten,
57) Die Antigene, Ol. 84, 3, als das dreifsigste Stück bezeichnet, gehört
zur achten Tetralogie; folglich kommt bis zu diesem Zeitpunkte auf jede Olym-
piade eine Tetralogie.
24*
372 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
rend später, besonders seit dem grofsen Kriege die Dramen wolil
rascher und in kurzen Zwischenräumen auf einander folgten.**) Es
begann eben damals die Produktivität auf diesem Gebiete entschieden
nachzulassen. So mufste Sophokles nebst Euripides den Ausfall durch
gesteigerte Thätigkeit zu decken suchen, gewifs nicht immer zum
wahren Vortheil der Kunst.
Sophokles hatte weit mehr Erfolg als Euripides. Er galt bei den
Zeitgenossen, nachdem Aeschylus gestorben war, als der erste Meister
seines Faches.*^) Aber fraglich ist, ob Sophokles, der sich von den
Extremen fernzuhalten sucht, so warme Verehrer und entschiedene
Anhänger hatte als Euripides, und selbst die gewaltige Erhabenheit
des Aeschylus, wenngleich sie einer Zeit, die auch in der Poesie
nach bequemem Genufs verlangte und die leichte, gefällige Form über
alles schätzte, schon fremd und fremder wurde, gewährte gleichge-
stimmten Naturen vorzugsweise die Erhebung des Gemülhs, die man
von der Tragödie fordert. Aristophanes behandelt den Sophokles
alle Zeit achtungsvoll, besonders in den Fröschen. Wenn er hier
nicht den Sophokles, sondern den Aeschylus dem Euripides gegen-
überstellt, so geschieht dies nicht blofs, um den Gegensatz in aller
Schärfe hervortreten zu lassen , sondern aus innerer Ueberzeugung
erkennt er dem Aeschylus den Preis der Iragischen Dichtung zu.
Gerade in dem Momente, wo die beiden grofsen Tragiker von dem
Schauplatze ihres Wirkens schieden, mochte man in Athen lebhaft
über die Vorzüge des einen und des anderen streiten, und wie da-
mals, so schwankte auch später*") die Entscheidung. Die harmonische
58) Sophokles und Euripides waren damals die entschiedenen Lieblinge
des Publikums; man empfand eine Lücke, wenn diese Dichter an den grofsen
Dionysien fehlten, s.Aristoph. Frieden 531 f. Auf gesteigerte Thätigkeit des So-
phokles deutet wohl auch ebendas. 697 der Spott, Sophokles sei in seinem
Greisenalter zum Simonides geworden und schreibe um des Lohnes willen,
was wohl nicht zu ernsthaft genommen werden darf.
59) Wenn in dem Epigramme auf dem Denkmale des Tragikers ihm die
nQuxela zuerkannt werden, so spricht sich darin wohl die aligemeine Stimme
aus, Xenoph. Mem. I 4, 3: ini /uiv Toiwv inötv noi^aet' Oftrj^r fyaye fiähaxa
TB&avfxaxa, ini Si Std'vQaftßt^ MeXavtnniSrjv, ini Si x^ayt^ySia 2!o<poxXta, ini
Se av8Qia%nonotTq JlolvxXtnov, ini Se ^(oyga<piq ZsT^tr. Auch Aristot. Poet,
c. 3, 4 p. 144h A '20 f. stellt beispielsweise Sophokl''< nii.l Vrlsi.uilmnes tnil Homor
zusammen.
(iO) Ouintil. X IJIT.
DIE DRAM. POESIE. DIE.TRAGÜDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II.SOPII. 373
Weise des Sophokles sprach alle Zeit viele an und wurde willig all-
gemein anerkannt, aber der Vertreter der neueren Tragödie sagte
doch vorzugsweise der Menge zu und gewann einen immer wachsen-
den Einflufs.
Dafs ein Dichter, der mehr als sechzig Jahre hindurch für seine ^p"*^**.®" '°
Kunst wirkte und unablässig auf seine Fortbildung bedacht war, in rischen Em-
diesem langen Zeiträume sich nicht vöUig gleich bleiben konnte,^J*''''"°*;'*'*
" DO 7 Sophokles.
liegt auf der Hand. Abgesehen von der Einwirkung, welche das
verschiedene Lebensalter nothwendig auf jede Dichternatur ausüben
wird, konnte sich auch Sophokles dem mächtigen Einflüsse einer
Zeit, die in hohem Grade bewegt war, sowie den .4nregungen an-
derer mitstrebender Dichter nicht entziehen. Plutarch hat uns eine
interessante Aeufserung des Sophokles überliefert®'), in welcher der
Dichter selbst seinen fortschreitenden Entwicklungsgang kurz und
bündig schildert. Allerdings ist zunächst vom Stil die Rede; allein da
die sprachHche Darstellung mit dem Geist und Charakter eines dichte-
rischen Werkes auf das Innigste verwachsen ist, so werden damit zu-
gleich die verschiedenen Stadien der Entwicklung seiner Poesie be-
zeichnet. Sophokles bekennt, dafs er in seinen ersten Jugendar-
beiten den feierlichen, würdevollen Stil der Aeschyleischen Tragödie
nachzubilden versucht habe; dann, indem er diesem Streben nach
Kühnheit und Gröfse entsagte und seinen eigenen Weg zu gehen
unternahm, haftete den weiteren Versuchen etwas Herbes und Strenges
an. Diese Arbeiten, nach einer festen Regel ausgeführt, waren nicht
einfach und natürlich genug. Der Dichter selbst tadelt ein gewisses
61) Plutarch de prof. in virt. c. 7, in einer freilich nicht unversehrt äber-
lieferten Stelle : Sanso ya^ 6 ^ofoxkr;s i'Xtys rov ALaxvhrv StansTiatxaiS (sehr.
StantTiXaxeoe) oyxov , eha to tiixqov xai xatärexvov rrj^ nvrov (sehr.
avroii) tcaxaaxsvr^s, roirov rjSr; {ueraßr;vat eis, diese einfache Ergänzun?
wird durch Plutarchs eigene Worte empfohlen) to t^s li^ecos fisxaßäXXeiv
slSos, oTxeo iaxlv T]d'ixeararov xai ßikriaxov ovtojs ol (fiüoaocpovvTes, orav
ix xwv navTjyv^ixäfv xai xaxaxexvcov eis xbv anxöuevov tj&ovS xai nä&ovs
Xoyov /iBxaßwaiv [xaxaßcöaiv bei Dübner] , ÖQxovxat rfjv cXrjd'T] tiooxojitjv xai
axvffov TtQoxÖTixeiv. Den Ausdruck xaxaaxevri wird Sophokles nicht gebraucht
haben; Plutarch wendet ihn gemäfs dem Sprachgebrauche der Späteren an. Die
Aenderung nvxvov statt nix^öv {nvxvov die gedrängte Kürze, wie bei Thuky-
dides, s. Dionys. de vett. scr. cens. c. 3 V 427 ed. Lips.) ist unnölhig; thxqÖv ist
soviel als avaxrj^v (übrigens ist nach Dionys. ad Pomp. c. 3 VI 775 die Kürze,
wenn sie der Deutlichkeit keinen Eintrag thut. rßv, wenn sie den Gedanken ver-
dunkelt, nixoöv).
374 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Uebermafs des Künstlichen.®") Endlich nach diesen verschiedenen
Versuchen entwickelte Sophokles sein glückliches Talent in aller
Selbständigkeit. Die Schroffheit und Härte ward gemildert; das künst-
liche, abgemessene Wesen machte der Naturwahrheit, der Zwang,
den sich der Dichter früher auferlegt hatte, einer freieren Bewegung
Platz. Sophokles ist bemüht, mit allen Mitteln den Reichthum in-
neren Lebens wiederzugeben.*'^
Von dem umfassenden literarischen Nachlasse des Sophokles ist
uns nur ein geringer Rest erhalten. Und selbst die Chronologie dieser
sieben Tragödien ist unsicher, da das Jahr der Entstehung meist
nicht überliefert ist, noch auch sich durch Combination feststellen
läfst. Diese Arbeiten reichen daher nicht aus, um uns einen voll-
ständigen Einblick in die Entwicklung des Tragikers zu gewähren ;
ebenso wenig bieten die ziemlich dürftigen Bruchstücke der verlorenen
Dramen Ersatz.
Zunächst trat der junge Sophokles in die Fufsstapfen des ihm
befreundeten und allgemein anerkannten Meisters. Mit Fug wird
daher Sophokles als Schüler des Aeschylus betrachtet. Wenn sich
auch keine Arbeil aus dieser Epoche erhalten hat, so zeigen doch
die Reste mehrerer verlorener Tragödien unverkennbare Anklänge
an den Aeschyleischen Stil.") Der Chor behauptete offenbar in diesen
Dramen noch seine hergebrachte Stellung®'*), wie überhaupt die
Stücke des Sophokles, die nach dem Chore benannt sind, vorzugs-
weise der früheren Zeit angehören dürften. Die freiere Form der
Tetralogie mag Sophokles gleich anfangs gebraucht haben, aber er
62) Man könnte glauben, die Milde sei eigentlich dem Sophokles von
Haus aus eigenthümlich, und nur, indem er seiner Natur nicht nachgeben
mochte, habe er in dieser Epoche zum Entgegengesetzten hingeneigt; aliein
Sophokles' eigene Worte sprechen gegen eine solche Auffassung.
63) Auch der Biograph, wenn er die Kunst der rid-onoita hervorhebt,
fügt hinzu: ^ari Se rovzo fieyiarov iv notfjrtx^, Stjlovv rj&os ^ nä^ot.
64| Hierher gehören aufser dem Triptolemus die ^ix/utiXcariSei, ^AvS^-
fiiSa, 'Ivaxos, Ko^xiSee, Uoifidves, TQtoiJMi u. a. Wenn alte Kritiker iiy Rhe-
sus den Sophokleischen Stil fanden, so kann sich dies nur auf diese Periode
beziehen. Eben diese Dramen boten auch den Chronographen reichlichen
StofT dar.
65) Der Chor hat meist noch einen bestimmt ausgesprochenen Charakter,
besteht aus Personen, die wesentlich zur Handlung gehören, wie '/^^orö/«»,
'TS^fOQOt, Ilotfteves,
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. 11. SOPH. 375
dichtete sicherlich auch zusammenhängende Draraencyklen nach der
Weise des Aeschylus.
Gleich nachdem Aeschyhis von Athen geschieden war, oder doch
nach seinem Tode mag Sophokles einen neuen Weg betreten haben,
indem er jene herbe, künsthche Weise des dramatischen Stils aus-
bildete. Mit Sicherheit läfst sich kein Drama dieser Epoche zuweisen ;
doch mögen Aias*) und die Trachinierinnen, welche zumeist
diesen Charakter zeigen, hierher gehören. Wenn anderes damit nicht
harmonirt, so erklärt sich dies daraus, dafs beide Tragödien nicht
in ihrer ursprünghchen Gestalt überliefert sind.
Die Antigene, Ol. 84, 3 aufgeführt, mag ungefähr den Anfang
der dritten und letzten Stufe bezeichnen.®®) Hier hat Sophokles, von
glücklichem Takte geleitet, die ihm gemäfse Art gefunden. Innerlich
mehr und mehr reifend, gewinnt er Harmonie und Gleichmafs und
erreicht allmählich den Höhepunkt seiner Kunst. Aber wie in den
Arbeiten der zweiten Periode Reminiscenzen an den Aeschyleischen
Stil nicht fehlten, so finden sich auch in den fünf Tragödien, die, ob-
wohl eine genauere Zeitbestimmung bei mehreren vermifst wird, doch
unverkennbar den Stempel dieser Epoche tragen, noch vielfache An-
klänge an die herbe und gekünstelte Manier früherer Jahre, und
wie einst der junge Sophokles auf den greisen Aeschylus eingewirkt
hatte, so erfuhr er selbst später den Einflufs des Euripides.®')
*) [Bei Ersch und Gruber S. 365 B wird zuerst Elektra genannt, deren Bespre-
chung hier gänzlich fehlt: ich rücke daher das Stück an dieser Stelle ein, s. S. 376.]
66) Hier beginnt bei Sophokles die axuri, wo, wie Aristoteles (Plut. comp.
Menandri et Arist. 2, 2) bemerkt: fiä/uara xai nXeiarr^v iniSoaiv hxfißävst t«
tceqI zr^v Xi^iv Toli yoücpovaiv. Sophokles hatte allerdings das vierzigste Le-
bensjahr damals schon längst überschritten; er ist eben keine frühreife Natur,
hat sich aber dafür Frische und Kraft des dichterischen Schaffens bis ins höchste
Alter bewahrt. Der Philoktet, vier Jahre vor seinem Tode geschrieben, zeigt
keine Spur von Alterschwäche oder Abnahme der Kraft.
67) Die letzten Arbeiten, Philoktet und Oedipus auf Kolonos,
zeigen dies mehrfach, aber schon viel früher, wie in der Phädra, die Sophokles
dem Hippolytus des Euripides gegenüberstellte, erkennt man den Einflufs des
jüngeren Kunstgenossen. Leichter Flufs der Rede, Vorliebe für das Senfentiöse,
die Bevorzugung weiblicher Charaktere sind das iMerkmal der Dramen aus der
Zeit des peloponnesischen Krieges, und man wird nicht fehl gehen, wenn man
den Aletes, die Aleaden, Kreusa, Tereus u. a. diesem Zeiträume zuweist. Wenn
Euripides öfter in Chorliedern rein persönliche Angelegenheiten berührte, so
ist ihm Sophokles auch hierin gefolgt, Pollux IV 111: xal 2o<poxlrs $8 nvxo
ix T^S Tigöi ixeivov afii)J.r,3 notti OTiariaxis, (öoTieo iv 'hrrorca.
376 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Kiekira. *) ^'i^gends tritt jenes künstliche und herbe Wesen , welches der
Dichter selbst als das charakteristische Merkmal dieser (zweiten) Pe-
riode bezeichnet, so deutlich hervor als in der Elektra. In dieser
Tragödie behandelt Sophokles denselben Stoff wie Aeschylus in den
Choephoren. Aber während bei Aeschylus Orestes die Hauptperson ist,
macht Sophokles die Elektra zum eigentlichen Mittelpunkte der Hand-
lung. Die Pflicht der Blutrache war für Elektra eigentlich nicht vor-
handen ; aber sie ist ganz von diesem einen Gefühle erfüllt. Sie ist
die Seele des Ganzen, die den Bruder zu der grausen That an-
treibt, welche er kaltblütig und ohne alles Bedenken vollzieht. Und
zu diesem schroffen, herben Wesen, welches die handelnden Per-
sonen zeigen, kommt das ausgebildete rhetorische Element hinzu,
welches in kunstreichster Weise hier mehr als in irgend einem
anderen Stücke die gesammte Darstellung durchdringt und beherrscht.
Jene kathartische Wirkung, die sonst dem Sophokles vortrefflich ge-
lingt, wird hier nicht recht erreicht, und nach der Wiedererkennung
sinkt das Stück entschieden.*
Aias. Wenn Sophokles im Aias®*) den ergreifenden Untergang des
Helden schildert, den die Volksmeinung dem Achilles als ebenbürtig
zur Seite stellte, der, in Athen als einer der zehn Stammheroen ver-
ehrt, zugleich ein patriotisches Interesse erweckte, so versetzt uns
der Tragiker sofort mitten in die Begebenheiten. Das Drama be-
ginnt eigentlich mit der Katastrophe. Die Ereignisse, welche vor-
ausgehen und diese verhängni fsvolle Wendung bedingen, bilden den
Hintergrund, werden aber nur ganz kurz berührt. Selbst die Ent-
stehung des Wahnsinns liegt vor der Handlung; nur einen Moment
zeigt uns der Dichter den an seiner Ehre empfindlich gekränkten
Helden in seiner rasenden Wuth. Alsbald kehrt das Bewufstsoin
zurück. Aias fühlt sich durch die Unthaten, welche er in der Ver-
wirrung dos Geistes begangen hat, lief erniedrigt. Ein mit Schimpf
und Schande bedecktes Dasein hat für den Helden keinen Werth ;
der Entschliifs, seinem Leben ein Ende zu machen, steht fest und
wird nicht ohne innere Bewegung , aber ohne eigentlichen Kampf
*) [S. S. 375.]
68) In den Didaskalien (s. Schol.) war das Stück einfach .^i'ne verzeich-
net; es war eben früher verfafst als der yii'ae ylox^ci, bedurfte also keines
Zusatzes. Dikäarch nannte es nicht unpassend ytintTo» 9'äynros; der gewöhn-
liche Zuname ftaartyo^ö^^ wird von den Schan>;pi«'lein hrrrühren.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II. SOPH. 377
mit sicherer Hand ausgeführt. Die Kunstform des Sophokles, ge-
mäfs der jedes Drama in sich abgeschlossen ist, gestattete keine
freie Bewegung; der Dichter mufste bei dem beschränkten Räume
darauf verzichten, den ganzen Verlauf der Ereignisse, die allmäh-
liche Entwicklung des Charakters, das Entstehen und Reifen des
Entschlusses zur That darzustellen ; er begnügt sich in rascher Folge
eine Reihe dramatisch wirksamer Scenen vorzuführen.
Sophokles war nicht der erste, der den Selbstmord des Aias
aus beleidigtem Ehrgefühl dramatisch bearbeitete. Das Verhältnifs zu
seinem Vorgänger legte dem Dichter manche Beschränkung auf und
übte auf die Gestaltung des Stoffes einen bestimmenden Einflufs
aus. Da Aeschylus in den Thrakerinnen '^) denselben Vorwurf be-
handelt hatte, suchte Sophokles so viel als möghcb seine Selbstän-
digkeit zu wahren.™) Bei Aeschylus bildeten kriegsgefangene Frauen
den Chor, bei Sophokles Krieger aus Salamis, die Dienstmannen des
Aias. Aeschylus liefs den Tod des Aias durch einen Boten melden,
Sophokles bringt den Selbstmord zu unmittelbarer Anschauung. Da
der Sage nach Aias' Körper mit Ausnahme einer Stelle gefeit war,
hatte Aeschylus ausführhch geschildert, wie der Held unter gött-
lichem Beistande endlich die tüdtliche Steile traf. Daraus kann man
zugleich schliefsen, dafs dem Aeschyleischen Aias jener Mangel an
Demuth, der ihm die Feindschaft der Götter zuzog, fremd war.
Sophokles dagegen ignorirt die Sage von der Unverwundbarkeit des
Helden. Aeschylus folgte dem älteren Dichter Arktinus, welcher
einfach die ursprüngliche Ueberlieferung wiedergegeben zu haben
scheint. Die schwere Kränkung, welche dem Aias bei der Ent-
scheidung über die Waffen des Achilles widerfahren war, umnachtete
den Geist des Helden, so dafs er an sich selbst Hand anlegte. Die
Ermordung der Herden mag auf volksmäfsiger Tradition beruhen,
aber weder Arktinus noch Aeschylus scheinen davon Gebrauch ge-
fi'J) 0of,aaai. Voran ging die onXoyt' xoiais; als drittes Stück der Tri-
logie betrachtet man die ^aÄaftiviai, aber der Inhalt dieses Dramas ist ganz
dunkel. Dafs Teukrus in einer Tragödie des Aeschylus eine hervorragende
Rolle spielte, als tapferer Kriegsmann dargestellt war, deutet Aristophanes
Frösche 1042 an ; aber dies kann sich auch auf ein ganz anderes Stück beziehen.
70) Schol. Ai. 833: i^i&evaai fiev Ti (öi TtgecßirtQcp fti; ßovÄTj&eis; ebenso
ist 815 zu schreiben: iacoe ovv xatvoroueiv ßoi)MU£voi xai ur xaraxoXov&ely
Tolt n Q ta ßvxi^ov Xxveaiv.
378 DRITTE PERIODE V0.> 500 BIS 300 V, CHR. G.
macht zu haben. Sophokles schhefst sich an den jüngeren Epiker
Lesches an, der, um nicht mit den Früheren zusammenzutreffen,
Iheils auf eigene Hand kühne Neuerungen einführt, theils das, was
seine Vorgänger verschmäht hatten, benutzt, wie eben hier den Rinder-
mord. Eigenthümhch ist dem Lesches der Antheil der Atliene an
der Entscheidung des Waffenstreils""); darin giebt sich die feindhche
Stellung der Göttin dem Helden gegenüber unzweideutig kund.
Der Aias gilt als ein Meisterstück der Sophokleischen Kunst. Man
rühmt ebenso die geschlossene Einheit der dramatischen Handlung
und den mit fester Hand angelegten Plan, wie die gelungene Aus-
führung im Einzelnen. Wer in die allgemeine Bewunderung nicht
einstimmt, hat immer einen schweren Stand, aber das allzu frei-
gebig gespendete Lob darf uns einer unbefangenen Prüfung nicht
überheben. Dieses Drama des Sophokles hat hohe Schönheiten,
aber neben vollendeten Partien finden sich andere, welche nicht
befriedigen. Der Abstand des Schlusses von dem ersten Theile der
Tragödie ist so augenfällig, dafs schon längst einzelne tadelnde
Stimmen laut wurden, welche die apologetischen Bemühungen der
Kritiker nicht zu widerlegen vermochten. Aber auch in dem ersten
Theile, der die bewufste Kunst des Dichters im hellsten Lichte zeigt,
kann man nicht umhin, sobald man seine Intentionen genauer ver-
folgt, Einsprache zu erheben.
Das Drama schliefst nicht mit dem Tode des Helden ab, son-
dern wird auch nach der Katastrophe noch fortgesetzt. Die letzte
Ehre des Begräbnisses, welche die Atriden dem Aias verweigern,
wird hauptsächlich durch Odysseus, den entschiedensten Widersacher
des unglücklichen Helden, durchgesetzt. So wird nicht nur das An-
denken des Aias gebührend geehrt, sondern auch der Edolmuth des
Odysseus verherrlicht. Lag diese Fortsetzung im ursprünglichen Plane
des Dichters, so mag man das Motiv als ein glücklich erfundenes
gelten lassen"); allein die Scenen, wo Teukrus mit den Atriden
71) Denn der Vers Hom. Od. XI 547 ist schwerlich echt.
72) So urlheilt auch Alexander Aphrodis. zu Aristot. Metaph. l\)'y, während
er es als Beispiel einer schlechten ineiaoSiMSr]! j^nyoiSia bezeichnet, wenn
ein Dichter die Wehklage der Hekuba mit dem Tode des Aias verbinden würde,
(es ist ttan^ae und nnQemriyayE zu verbessern). Dafs dieser zweite Theil auf
der Bühne wirksam war, deutet Libanius IV \'y\ an, indem er diese Partie mit
der MiXrixov ähoaa des Phrynichus, welche das Publikum bis zu Thrünen
rührte, vergleicht.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRIPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II.SOPH. 379
um die letzte Ehre seines Bruders rechtet, bis endlich der Streit
durch Vermittlung des Odysseus geschlichtet wird, heben zwar nicht
geradezu die Einheit der Handlung auf, stören jedoch in ihrer brei-
ten Ausführung das rechte Verhältnifs. Dafs dieses langgedebnte, über-
hängende iNachspiel das Mafs überschreitet, hat man gefühlt. Aber
wenn man den Anstofs dadurch zu beseitigen meint, dafs man sagt,
nicht der tragische Ausgang des Helden , sondern seine Bestattung
sei das Endziel des Dramas, mit dem Tode des Aias beginne eigent-
lich erst die Handlung, indem man sich auf die religiöse Anschau-
ung der Hellenen von der Nothwendigkeit des Begräbnisses beruft,
so wird der Schwerpunkt willkürlich verrückt."^).
Man bewundert die Rechtfertigung der Heldenehre des Aias
und zugleich, indem die Anerkennung aus Feindesmunde kommt,
den grofsen, edlen Sinn des Odysseus. Die Intention mag man als
wohlberechtigt gelten lassen. Aber auch ein mittelmäfsiger Dichter
kann einmal einen guten Gedanken haben oder von anderen ent-
lehnen; über den Werth oder Unwerth entscheidet vor allem die
Ausführung. Diese aber harmonirt nicht nur in keiner Weise mit
dem ersten Theile, sondern erscheint überhaupt des Sophokles un-
würdig.
In der Zeichnung der Charaktere verräth sich deutlich die gei-
stige Inferiorität des Fortsetzers, indem die Partei, welcher der Sieg
zufallen soll, im vortheilhaftesten Lichte dargestellt, die unterliegende
Partei mit entschiedener Ungunst behandelt wird. Agamemnon, ohne
aUen Adel und Gröfse, repräsentirt die typische Figur eines Ty-
rannen vom gewöhnüchen Schlage. Noch tiefer steht Menelaus^^),
der mit unversöhnlichem Hasse den todten Gegner verfolgt; dieser
rohe Kriegsgesell erinnert ganz an die spartanische Art. In dieser
Manier mochte die jüngere Tragödie nach dem Vorgange des Euri-
pides den alten LakonerfUrsten behandeln, aber Sophokles war nicht
gewohnt jeder Zeitströmung zu folgen und sucht sich von der Cari-
katur möglichst fernzuhalten.
Die Kunst des Dialoges wird gänzlich vermifst. In würdelosester
73) Ebenso wenig kann Rücksicht auf die trilogische Gotnposition , wie
andere glauben, dieses Nachspiel gefordert haben.
74) Dafs der Dichter beide Atriden nach einander einführt, läfst sich
rechtfertigen; aber allerdings wird dadurch die Fortsetzung in die Länge ge-
zogen.
380 DRITTE PERIODE YÜ.N 500 BIS 300 V. CHR. G.
Weise poltern, drohen und schimpfen die Heroen. Solche Scenen
mochten später dem ungebildeten Theile des Publikums wohl be-
hagen, aber Sophokles hält sich sonst auf der idealen Höhe der
Tragödie. Dafs Teukrus dem Gespräche zwischen Agamemnon und
Odysseus fern bleibt, ist nicht altertbümHche Einfachheit, sondern
der Verfasser empfand die Schwierigkeit, gleichzeitig drei Personen
am Dialog theilnehmen zu lassen.") Die Unfähigkeit, den Dialog
kunstgerecht zu führen, zeigt sich besonders in der Art, wie *4«h
Agamemnon zurückzieht; ein solches Ungeschick darf man einem
mit dem Technischen seines Berufes wohlbekannten Dichter, wie
Sophokles, nicht zutrauen. Von Plattheiten und Trivialitäten, welche
von der gewohnten Feinheit des Sophokles weit abliegen, bieten diese
Scenen eine ansehnhche Blüthenlese dar.'®)
Die Mängel und Schwächen dieser letzten Scenen sind schon
den alten Kritikern nicht entgangen , wie manche verständige, ta-
delnde Bemerkung in den Schoben bevveist.^') Hand in Hand geht
damit die offen hervortretende apologetische Tendenz, indem diese
Erklärer Einzelnes lobend hervorheben ; denn der Verdacht , als
hätten sie ein Werk fremder Hand vor sich, liegt ihnen fern.'*)
Anders verfährt die Kritik der neuesten Zeit. Indem sie nui* an
Einzelheiten haftet, sucht sie die Schwierigkeiten durch willkür-
liche Aenderungen oder Antithesen zu beseitigen , womit nichts ge-
wonnen wird.
Diese Schlufspartie unterscheidet sich sehr bestimmt von dem
ersten Theile. Die Sprache hat im Vergleich mit dem kräftigen,
farbenreichen Stile, der die ersten Scenen auszeichnet, etwas ent-
75) Der Schol. 1322 sucht das Schweigen des Teukrus künstlich zu recht-
fertigen.
76) Man vergleiche die Verse 1374. 1375, mit denen der Chor den Wort-
wechsel zwischen Agamemnon und Odysseus absclilierst, oder 1225, wo Teukrus
die Ankunft des Agamemnon ankündigt, oder gleich im Beginn des Nachspiels
1038. 1039.
77) Schol. 1123: rot rotavra aoipia/taxa ovh oixsla TpaytpStas, 112t): lö
8i TOtovro xMfiiaSiae fiäU^v, ov xQayipSiat. 1205 über das Chorlied: äxnt^r
fiev "nsQi i^onoe fteuvtjad'ai iv toIs na^ovatv; doch wird dies dann in Schutz
genommen. Auch die Schauspieler scheinen ab und zu an dem rohen Tone
Anstofs genommen zu haben; denn die Lesart des Didymus zul22.") ist nur
ein Verbesserungsversuch der Bühnenkünstler.
78) Wie Schol. 1131. 1199 beweisen.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLLTHEZEIT. II. SO PH. 381
schieden Nüchternes und Triviales. Aber auch die Behandlung der
Verse des Dialoges ist eine andere. Der Trimeter zeigt hier eine
gröfsere Strenge der Technik als im ersten Theile; Auflösungen
und Anapästen kommen nur in sehr mäfsiger Zahl vor.'®) Dies be-
weist, dafs der Dichter seine Arbeit fleifsig feilte und sich Mühe
gab, um etwas Befriedigendes zu leisten. Wer Sophokles für den
Verfasser dieser letzten Scenen hält, darf daher auch nicht, um die
Schwächen der Dichtung zu entschuldigen, sagen , Sophokles habe
den zweiten Theil rasch hingeworfen, da es ihm an Zeit gebrach,
um sein Werk sorgfältig auszuführen; denn dann würde diese Hast
des Producirens sich auch im Bau der Verse verrathen.
Alles deutet darauf hin, dafs hier eine Arbeit von fremder Hand
vorüegt. Bis V. 1027 mag die Arbeit des Sophokles reichen; von
da an beginnt die Thätigkeit des Fortsetzers.*") W'ie der Dichter
selbst das Stück zu Ende geführt hatte, läfst sich nur vermuthen.
Auch in der ursprünghchen Fassung ward offenbar die Bestattung
des Aias untersagt.*') Nachdem Teukrus seine Bedrängnifs geschil-
dert hatte, wird das Verbot der Atriden verkündet worden sein; da
trat Athene dazwischen und löste durch ihr Machtgebot die drohende
Verwicklung. Hier war Gelegenheit gegeben, dem tapfern Helden ein
ehrendes Gedächtnifs zu widmen und zugleich die Göttin, welche
den Todten gegen seine Feinde in Schutz nahm, in milderem Lichte
zu zeigen.*')
Der Fortselzer, welcher dieses Motiv aufnimmt und in seiner Weise
79) In dem zweiten Theile von 102S— 1420 finden sich nur fünf Anapästen
und neun Auflösungen, während man im Prolog 1 — 133 einen Anapästen und
neun Auflösungen zählt.
80) Auch in dem ersten Theile mag der Fortsetzer Einzelnes abgeändert
oder gestrichen haben; z. ß. 1022 ist eine fühlbare Lücke.
81) Dieser Ausgang wird im Monolog des Aias 827 ff. schicklich vorbe-
reitet. Vgl. auch 6SS ff.
82) Der d'eos ano firjxavrjs war hier an der Stelle. Athene, die im Pro-
log eine auffallende Härte und Grausamkeit gezeigt hatte, wird hier in ver-
söhnlichem Sinne sich ausgesprochen haben: die Göttin, nicht Odysseus, der
in dem älteren Drama nur ein nQoraxucov Ti^oatonov war, bedurfte der Recht-
fertigung von Seiten des Dichters. Indem Athene für die letzte Ehre des todten
Helden eintrat, ward >-ielleicht nicht nur auf seinen Grabhügel im troischen
Lande hingewiesen, sondern zugleich heroische Ehre in der Heimath in Aus-
sicht gestellt.
382 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
ausführt, hatte die Verhandlungen in der Antigene vor Augen.")
Aber er benutzt nicht die Gelegenheit, jenes Verbot durch Berufung
auf die Volkssitte zu rechtfertigen, welche eigenmächtigen Tod nicht
ungeahndet hefs und dem Selbstmörder die letzte Ehre entzog oder
doch verkürzte*'), sondern die Atriden folgen nur dem Gefühl der
Rache und des persönlichen Hasses; daher haben auch die Verthei-
diger ihnen gegenüber leichtes Spiel.") Die Lösung des Confliktes
wird dem Odysseus übertragen. Die herben Schmähungen, welche
im Verlaufe der Handlung auf diesen Heros, der als der Urheber
des ganzen Unheils erscheint, gehäuft waren, legten diese Ehren-
rettung nahe. Wenn schliefslich der Leichnam des Aias nicht ver-
brannt, sondern in der Erde beigesetzt wird, so mag dieser Zug dem
ursprünglichen Entwürfe entlehnt sein.'®)
Wir sind wohl berechtigt, diese Fortsetzung dem lopbon, dem
Sohne des Sophokles, zuzuweisen, dessen Hand man auch in der
Ueberarbeitung der Antigene zu erkennen glaubt. Wenn die Alten
die Poesie des lophon als frostig, breit und langweilig charakteri-
siren, so trifft dies hier vollkommen zu.*')
W^enn wir für das Verfehlte im zweiten Theile nicht Sophokles
selbst verantwortlich machen dürfen, so erscheint andererseits auch
die kunstreiche Anlage des ersten Theils keineswegs tadellos. So-
phokles, ein vorzugsweise denkender Dichter, sucht überall in den
Kern der Sage einzudringen, und wenn die Ueberlieferung ihm nicht
recht genügt, Gehalt hineinzulegen. So gewinnt oft ein schein'
83) Vergl. Scliol. 1131.
84) Arislot. EUi. Nie. V 15 p. 1138 A 6. Auf der Insel Kypern wurde dem
Selbstmörder die Bestattung entzogen (üio Chrysost. (14,3 II 207 Di.), in Athen
die Hand abgehauen und gesondert von dem Leichnam beigesetzt (Aeschines
Ctes. 244). Der Forlsetzer ignorirt dies, wie auch Sophokles in der Antigene
auf die bestehenden gesetzlichen Normen keine Rücksicht nimmt.
85) So beruft sich Odysseus 1343 einfach auf die &£ü:v roftoi, ohne der
roftoi nöXecoe, die in diesem Falle eine Ausnahme vorschrieben , zu gedenken.
86) So Lesches, dem Sophokles sich angeschlossen haben wird. Dafs man
in der Beerdigung hier eine Minderung der Heldenchre fand, zeigt I'hilostr.
Heroic. 12, 3 11 188 K.
87) Schol. Aristoph. Frösche 78: xtoftfpSBtTni (ö 'lofcüv) ini ry xal rfmxQos
xni fiaxQos {\ar. ftnlnxbe [so Diibner]) ehm. Damit stimmt das zusammenfas-
sende Urlheil des Scholiaslen über den zweiten Theil des Aias 1123: futnyä^
jfiv avaiQsatv inexreivat ro dfäfia &eXr,oas itfwxftvoaTO xni i'Xvaiv to r^a-
ytxbv nnd'os.
LIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II.SOPH. 383
bar geriogfügiger Stoff sittliche Bedeutung, ein von den Früheren in
hergebrachter Weise gezeichneter Charakter psychologische Tiefe und
fest umschriebene Gestalt; aber nicht immer ist dem Tragiker dieser
Versuch gelungen.
Wenn Aias bei nächtlicher Weile das Lager überfällt, so ist dies
ein nicht mifszuverstehendes Zeichen des Wahnsinns, und wenn er
statt der Atriden und des Odysseus die Herden mit den Hirten er-
würgt, so giebt sich eben darin recht unzweideutig die Verwirrung
des Geistes kund.®*) Sophokles dagegen, indem er alles sorgfältig
motivirt und den Untergang des Helden auf eigene Verschuldung
zurückzuführen sucht, läfst den Aias jenen Angriff bei klarem Ver-
stände und mit vollem Bewufstsein unternehmen*^); erst Athene ver-
wirrt, um die drohende Gefahr von dem Fürsten abzuwenden, seinen
Geist, so dafs sich die Wuth an den Rindern und Schafen austobt.
Der Enlschlufs, an den Feinden blutige Rache zu nehmen, ist aus
freier üeberlegung hervorgegangen; Aias ist daher auch dafür verant-
wortlich und trägt die Folgen, obschon das Eingreifen einer höheren
Macht das beabsichtigte Unheil abgewandt hatte. Diese künstliche
Unterscheidung ist psychologisch nicht gerechtfertigt und drückt
zugleich den Charakter des Helden herab. Die Ermordung der Her-
den, ein bedenklicher Vorwurf, den der dramatische Dichter ent-
weder ganz übergehen wird oder nur kurz berühren durfte, da die
Parodie des Heroenthums allzu nahe lag, wird bei Sophokles in den
Vordergrund gerückt und gewinnt eine Bedeutung, welche dieser
Vorfall ursprünglich gar nicht hatte. Denn die unheimliche Erin-
nerung an diese That bestimmt fortan die Entschlüsse des Aias und
entscheidet über sein Schicksal. Als Aias zur Besinnung kommt
und das Bild der grausen Verwüstung, die er angerichtet hat, über-
schaut, tritt der Gedanke an die unverdiente schwere Kränkung,
welche ihm durch den richterlichen Spruch beim Waffenstreite wider-
fahren war, in den Hintergrund. Diese vom lebhaftesten Ehrgefühl
beherrschte Seele wird nur von der Furcht gequäh, sich vor Freund
und Feind lächerlich gemacht zu haben. Dieses falsche Schamgefühl
88) So hatte offenbar auch Lesches den Vorgang dargestelh.
S9) Dies wird gleich im Prolog 44 mit Nachdruck hervorgehoben. Aias
selbst kommt wiederholt darauf zurück, indem er bedauert, dafs das Werk der
Rache ihm nicht gelang, wie 373. 447, und auch der Fortsetzer benutzt dieses
Motiv 1055 f.
384 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
treibt den Aias in den Tod ; so erfährl die hohe Heldengestalt eine
empfindhche Einbufse.
Allerdings erscheint das Unglück des Aias nach Sophokles als
ein seihst verschuldetes. Das stolze Selbstgeiühl des Helden über-
schreitet alle Schranken des Mafses. Aias kennt weder den Menschen
noch den höheren unsichtbaren Gewalten gegenüber Demutb; so ist
er den Göttern verhafst und sein Verderben entschieden. Dieser
Zug der Vermessenheit, der Götterverachtung ist dem Homerischen
Aias fremd. Schon die jüngeren Epiker, welche überhaupt den Hel-
den mit einer gewissen Ungunst behandeln, mochten seinen Stolz
nach jener Bichtung hin steigern. Sophokles verfolgt diese Spur
weiter, um das Strafgericht, welches über Aias ergeht, als ein wohl-
verdientes darzustellen. Athene greift nicht blofs aus Fürsorge für
die Achäer ein, sondern ist auch persöntich betheiligt. Aias hat
durch seinen Uebermuth die Göttin aufs Tiefste verletzt. Athene
spricht es nicht selbst aus; nur in dem herben Tone, in den höhnen-
den Worten verräth sich die Entfremdung. Wir erfahren die Vor-
gänge, durch welche Aias sich den Zorn der Göttin zuzog, erst später.**)
Der Seher Kalchas, welcher dem Teukrus alles offenbart, leistet hier
gute Dienste ; absichthch hat der Dichter dies aufgespart, um das tie-
fere Interesse für seinen Helden nicht gleich anfangs abzuschwächen.")
Sieht man von diesen Mifsgriffen ab, so wird man der kunst-
vollen Arbeit des reichbegabten Dichters die gebührende Anerken-
nung nicht versagen. Aias ist im grofsen Stil gehalten , sein Cha-
rakter mit wenigen, aber scharfen Linien umschrieben. Die gewaltige
Kraft und das hohe Selbstvertrauen ist die Quelle der Ueberhebung,
des Mangels an Demutb, der dem Helden verhängnifsvoll wird. Sein
ungemessener Stolz empfindet jede Kränkung der Ehre auf das Tiefste,
aber unter der schroffen Aufsenseile verbirgt sich ein warmes Herz
und empfänghches Gemüth. Dafs Aias zarler Emptindungen Hihig
yO) Aias 762 ff. Vorbereitet ist dieser Cliarakterzug schon im Prolog 112
und 127 ff., doch ist hier Aias seiner Sinne nicht mächtig. Mit den Belegen
der Götterverachtung, welche Kalchas anführt, vgl. die Bemerkung des Schol.
127. Das erste Beispiel erinnert an das übermülhige Werl des lokrischcn Aias
Hom. Odyss. IV 502 , und diese Stelle hatte wohl Sophokles, oder wer sonst
zuerst d^n Telamoniden darstellte, vor Augen.
91) Auch der Schol. 766 (vgl. zu 127) hat dies wohl beachtet; nur drückt
er sich nicht eben geschickt nii».
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II.SOPH. 355
ist, wenn er auch den Ausdruck zurückzudrängen sucht, zeigt sein
Verhältnifs zur Gattin und zum Sohne, sowie die Pietät, mit wel-
cher er an den greisen EUern und der Heimath hängt. Sehr glück-
hch hat des Dichters Kunst das Rauhe und Harte durch diesen mil-
den, versühnhchen Ton ermäfsigt. Tekmessa, die mit aller Hinge-
bung an Aias hängt, ist in dem düstern Lebensbilde ein wohlthuender
Ruhepunkt und erinnert, obwohl mit jener Sparsamkeit, die der
alten Kunst eigen ist, gezeichnet, an die Homerische Andromache.
Auch Odysseus zeigt menschliches Mitgefühl mit dem schweren Un-
glücke des Gegners.*') Die brüderliche Liebe des Teukrus, wenn
er auch zu spät kommt, um den Aias zu retten"^), ist klar aus-
gesprochen; doch war Teukrus in dem ursprünglichen Entwürfe
eine Nebenfigur, so dafs für eine genauere Charakteristik kein Raum
war.
Im Prolog") zeigt der Dichter nur einen Moment das grauen-
hafte Bild des Wahnsinnes, dem ein edler Held verfallen ist. Das
Zwiegespräch zwischen dem Cliore und Tekmessa giebt über die
Vorgänge in der Nacht und den Zustand des Aias, der nach der
That, als die Besinnung zurückkehrte, in dumpfes Brüten versunken
war, den nöthigen Aufschlufs. Ein lauter Klageruf aus dem ge-
schlossenen Zelte, indem Aias nach seinem Sohne Eurysakes und
seinem Bruder Teukrus ungestüm verlangt, unterbricht diese Ver-
handlungen. Tekmessa öffnet das Zelt, und Aias mitten unter den
blutigen Thieren, die er in seiner Raserei ermordet hat, wird sicht-
bar.^') Das Bewufstsein des tiefsten Elendes und unauslöschhcher
Schmach erfüUt sein Gemüth. Er hat mit dem Leben abgeschlossen
und spricht dies offen aus; vergeblich bemühen sich Tekmessa und
der Chor ihn von diesen Todesgedanken abzubringen. Der rührende
92) Odysseus war in dem Sopliokleischen Stücke nur ein Tt^rarixov
Ttgiatonov. Bemerkenswerth ist der Zug der Zaghaftigkeit, den der Tragiker
74 ff. diesem Charakter leiht.
93) Eigenthümlich ist, dafs Sophokles vergessen hat, dieses Säumen, wel-
ches verhängnifsvoll ward, irgendwie zu moti\iren.
94) Dafs Sophokles durch eine Göttin das Drama einleitet, rechtfertigt
der Scholiast mit den Worten : Saifiovicos Si eiaifEQsi Tt^oXoyi^ovaap Tr,v \4\h}-
väv, anid'avov yaq rbv ^lavia TtQoCovra sineiv tcsqi xäv avri^ jicTt^ay/ii-
van" ov8a fir/t> ireqös ris fpiiarnro t« roinvra xr),.
95) Hier kam das Ekkyklema in passendster Weise zur Anwendung.
Bergk, Grieeb. Literaturgeschichte III. 25
386 DHITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHK. G.
Abschied des Aias von seinem Sohne ist nur geeignet**), diese Be-
sorgnisse noch zu steigern, denen der Chor, nachdem das Zelt wie-
der geschlossen ist, in einem wehmüthigen Stasimon Ausdruck giebt.
Jetzt tritt Aias, gefolgt von Tekmessa, aus dem Zelte heraus.®^ Wäh-
rend seiner Rede verharrt die Frau in unterwürGgem Schweigen;
dem Schauspieler fiel die Aufgabe zu, durch stumme Aktion die in-
nere Empfindung auszudrücken.**) Die Ansprache des Aias, durch-
weg in dunklen, mehrdeutigen Worten gehalten, ist der letzte Ab-
schied von den Seinen. Während der Vorsatz, seinem Leben ein
Ende zu machen, unwandelbar feststeht, sucht er seine Umgebung
zu beruhigen; alles ist auf Täuschung abgesehen.*®) W'enn man meint,
mit der Hoheit dieses Heldencharakters sei solche Verstellung nicht
vereinbar, so vergifst man, dafs der Widerspruch das eigentliche Ge-
heimnifs des Seelenlebens ist. Der Dichter verdient vielmehr alles
Lob, dafs er seinen Charakter nicht abstrakt durchfuhrt. Wer mit
Todesgedanken umgeht, sucht den Entschlufs vor seiner Umgebung
zu verbergen; selbst geradsinnige Naturen, denen sonst jede Verstel-
lung fern liegt, zeigen in solchen Momenten eine überraschende
Schlauheit. Psychologisch ist dieser Zug im Wesen des Aias voll-
kommen gerechtfertigt, und Sophokles bewährt aufs Neue seine Men-
schenkenntnifs, sein grofses Talent der Seelenmalerei.
Der Chor geht willfährig auf die Täuschung ein ; er giebt sich
freudigen Hoffnungen hin und stimmt, nachdem Aias abgetreten ist,
ein bewegtes Tanzüed an, wie es Sophokles in ähnlichen Fällen
auch sonst verwendet. Da erscheint ein Bote mit schlimmer Kunde
und reifst, indem er die warnenden Worte des Kalchas berichtet,
den Chor aus seiner Sicherheit heraus. Tekmessa und der Chor
brechen ohne Zögern auf, um Aias aufzusuchen und wo möglich das
Unheil abzuwenden. Das Abtreten des Chores war nothwendig, um
den Selbstmord, der keine Zeugen duldete, auf der Bühne zu un-
96) Diese Scene ist anfangs lyrisch gelialten ; dann folgen längere Reden
abwechselnd mit dialogischen Partien.
97) Eurysakes, von dem Aias sich bereits verabschiedet hatte, bleibt
dieser Scene fern.
9S) Auch dies erinnert an die Weise des Aeschylus.
99) Es ist seltsam, wie manche neuere Ausleger die eigentliche Intention
dieser Rede gänzlich mirsverstehen konnten. Auch wärde ja Aias gerade dann,
wenn er hier in seinen Vorsätzen sich schwankend zeigte, seiner angeborenen
Natur untreu werden.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRIPPE. DIE BLLTHEZEIT. II.SOPH. 387
mittelbarer Anschauung zu bringen. Zugleich tritt ein Wechsel der
scenischen Decoration ein "*), während die Musik, die hier selbstän-
dig auftrat, in passender Weise die kurze Pause ausfüllte und die
ergreifende Scene, welche nun folgt, vorbereitete. Aias tritt auf und
stürzt sich, nachdem er den mit Recht als ein Meisterstück echter
Poesie gepriesenen Monolog gesprochen hat'*"), todesmuthig in das
Schwert, die verhängnifs volle Gabe seines grofsen Gegners Hektor.
Der Chor, der sich getheilt hatte, um Aias zu suchen, kehrt unver-
richteter Sache zurück und tritt von verschiedenen Seiten her auf
die Bühne. Auch Tekmessa erscheint wieder; sie erblickt zuerst
die Leiche und breitet ein Gewand darüber aus, um den Anblick
des traurigen Schauspiels zu verhüllen. Da tritt auch Teukrus nach
langem Säumen auf und betheihgt sich au der Trauer um den todten
Helden. Auf eine förmliche Todtenklage, wie sie in der älteren
Tragödie herkönunlich war, verzichtet Sophokles. Er fühlte das Mifs-
liche, mit dem Hederreichen Munde des alten Meislers sich in einen
Wettstreit einzulassen ; daher behilft er sich mit einer dramatisch be-
wegten und nicht unwirksamen Scene, welche die Stelle des Thre-
nos vertritt.
Der Aias ist wohl unter den sieben Dramen des Sophokles eines
der ältesten. Man empfängt den Eindruck, als müsse es jener zwei-
ten Periode der Sophokleischen Kunstart angehören, wo das Herbe
und Strenge vorwahete. Die eisige Kälte, der schneidende Hohn der
Athene im Prolog gleicht ganz dem grinsenden Lächeln, mit wel-
chem die achaische bildende Kunst die Schlachtenjungfrau darzustellen
pflegt. Ebenso erkennt man in der berechnenden Weise, mit wel-
100) Richtig bemerkt der Schol. S13: fieraxivslrai, ^ axrjvri, rov xo^v
i^eX&ovTOS' avayxaia Se t] i^o8os, iva sv^r; xaiQcv 6 Aias x^^^QOjaaa&ai iav-
röv. Die Dekoration der Bühne stellte eine einsame Waldgegend dar, Schol.
S15: fitrdxsiTat fj axrjvr; inl i^ifiov rivos ;|ro>ot<n'. Tgl. auch die Rhetorik ad
Herenn. I IS: Aiax in silva, postquam rescivit, qvae fecisset per insaniam,
gladio incubuit, und Quint. IV 2, 13 in solitudine, was freilich nicht auf das
Sophokleische Drama oder eine römische Bearbeitung bezogen werden darf,
sondern es geht dies auf eine Tragödie Tevx^os (Aristot. Rhet. II 23 p. 1398 A 4,
111 15 p. 1416 B 1, aber schwerlich der Tevxqos des Ion), in welcher Odyssens
und Teukrus sich gegenseitig die Ermordung des Aias schuld gaben, bis schliefs-
lich offenbar ward, dafs der Held durch eigene Hand gefallen war.
10t) Ob der Monolog in allen einzelnen Theilen unversehrt überliefert
ist, steht nicht fest; schon alte Kritiker nahmen an 841 ff. Anstofs.
388 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
eher der Tragiker den Charakter und das Schicksal des Helden moti-
virt, jenes künstliche Wesen, welches sich mit dem Einfach-Malür-
lichen nicht genügen läfst. Manches erinnert noch an den Stil des
Aeschylus, wie die Parodos, welche durch anapäslische Verse ein-
geleitet wird, dann der scenische Apparat, welcher reicher ist als
sonst hei Sophokles.
Dem Charakter der älteren Tragödie steht der Aias auch inso-
fern nahe, als dieses Stück, soviel sich erkennen läfst, Glied eines
zusammenhängenden Dramencyklus war. Der WalTenstreit würde
schicklich die Tragödie eröffnet hahen. So hätte der Dichter ein an-
schauliches Gemälde der herben Schicksalsverflechtung gehoten, der
Wahnsinn und Untergang des Helden erschiene dann natürlich mo-
tivirt; die früheren Vorgänge, unmittelbar vor unser Auge gerückt,
würden eine ganz andere Wirkung üben als jetzt, wo sie der Tra-
giker als bekannt voraussetzt und nur kurz berührt. Aber ein
Waffengericht hat Sophokles nicht geschrieben ; wir müssen also den
Aias als das erste Drama der Tetralogie betrachten. Daran schlofs
sich passend Teukrus an, ein öfter genanntes Stück, in welchem der
Bruder des Aias, weil er ohne diesen heimkehrt, von dem greisen
Telamon verstofsen ward. Indem Teukrus sein herbes Schicksal mit
Gleichmuth und Ergebung trug, bildete dieses Drama ein passendes
Gegenstück zum Aias. Im Aias (inden sich nicht mifszuverstehende
Hinweisungen auf diese Tragödie."^) Welches Stück die dritte Stelle
einnahm, läfst sich nicht mit Sicherheit ermitteln."")
Auch der Stil, der mehr als in allen anderen Dramen an Homer
102) So weist Aias 843 auf das Strafgericht über die heimkehrenden
Achäer, den grofsen Sturm auf der See, hin, der im Teukrus geschildert war,
849 und 625 ff. auf die Trauer der greisen Ellern, 1008 auf Teukrus' bevor-
stehendes Schicksal.
103) Man ist geneigt, den El^vaaxr,« heranzuziehen, so dafs der Tragiker
in dieser Trilogie die Geschicke des Aias, seines Bruders und seines Sohnes
zusammenfafste. Aber wir wissen über den hihalt dieser Tragödie nichts Ge-
naueres; auch ist uns von einem schweren Unglück, welches den Eurysakes
traf, nichts bekannt. Wenn die Tragödie die zweite Verbannung des Teukrus
aus Salamis schilderle, dann konnte sie eben wegen der allzu grofsen Aehnlich-
keit des Inhalts nicht wohl unmittelbar auf dieses Drama folgen. Hat aber
Altius in reinem Kurysakes die gleichnamige Tragödie des Sophokles vor Augen
gehabt, dann ist der Evfvoäxrjs eher als eine zweite Bearbeitung des Tevtt^:
anzuseilen.
DIE DP.AJf. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRIPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II. SOPH. .389
und den Ton der epischen Poesie sich anlehnt, weist diese Arbeit
einer verhältnifsniäfsig frühen Zeit zii.'°^) Wenn im Trimeter, der
hier noch mit der Strenge der alten Technik behandelt wird, Auf-
lösungen etwas zahlreicher vorkommen als in der Antigone und
Elektra, wenn bereits einige Mal ein Vers unter zwei Personen ver-
theilt wird'"*), eine Freiheit, die der Antigone fremd ist, so sind dies
keine untrüglichen Kennzeichen des Alters."^
Die Fortsetzung des Aias wird der letzten Periode des pelopon-
nesischen Krieges angehören ; denn diese Scenen sind wesentlich im
Ton und Charakter der jüngeren Tragödie gehalten. Man erkennt
hier bereits den Einflufs, den Euripides auf die jüngere Generation
ausübte. Daher wird Menelaus mit sichthcher Gehässigkeit als Ver-
treter des spartanischen Wesens geschildert; der Hohn über den Bo-
genschützen stimmt mit ähnhchen Ausfällen bei Euripides. Ueber-
haupl mögen damals solche mit gegenseitigen Verunghmpfungen ge-
würzte leidenschafthche Verhandlungen besonders behebt gewesen
sein. In dem ChorUede'*") findet der Ueberdrufs an den fruchtlosen
Mühen des Krieges einen zeitgemäfsen Ausdruck.
Die Trachinierinnen, an Umfang beschränkter als die übri-Oie Trachi-
gen Dramen des Sophokles'**}, rücken wie die Elektra und Antigone
104) Aias ist jedenfalls älter als die Antigone (Ol. S4, 3).
105) Aias 591 und 981, an beiden Stellen viermal hinter einander. Auch
in den Trachinierinnen , die der Zeit nach vielleicht dem Aias am nächsten
stehen, finden sich avrilaßai 409. 418 und 876 (hier im Uebergange zur me-
lischen Form),
106) Wenn in der Antigone Sophokles von den ävrilaßai keinen Ge-
brauch macht, so folgt daraus noch nicht, dafs diese Tragödie unter den sieben
Dramen das älteste ist. Ebenso wenig darf man darauf, dafs in der Antigone sich
die meisten organischen Composita (aus zwei BegrifTsworten gebildet) finden,
ein entscheidendes Gewicht legen. Am nächsten der Antigone stehen in dieser
Beziehung Elektra, Aias und Trachinierinnen, die jedoch schon erheblich weniger
Beispiele bieten, unter sich aber vollkommen stimmen. Ebenso wenig gewährt
das Verhältnifs der melischen Partien zu dem Dialoge (1 — 27-2. wenn wir die
letzte Partie ausscheiden) einen sicheren .\nhalt zur Zeitbestimmung. Wenn
Clemens AI. Str. VI 620 in einem Verse des Aias eine Nachahmung von Euri-
pides' Medea (Ol. S7, 1) findet, so ist dies ganz grundlos. Xur so viel ist ge-
wifs, dafs Sophokles diese Tragödie früher schrieb als den y4tas ^oxoSs ; daher
genügte auch die einfache Bezeichnung ^'t'ae.
107) Aias 1185-1222.
108) Die Zahl der Verse beträgt 127^.
390 DRITTE PERIODE V0> 500 BIS 300 V. CHR. G.
einen Frauen Charakter in den Vordergrund. Deianeira, von trüben
Ahnungen und Sorgen um den abwesenden Gatten gequäh, sendet
ihren Sohn HyUusaus, um den Vater aufzusuchen. Da langt die Kunde
an, dafs Herakles nach glückhch beendetem Kampfe mit Eurylus als-
bald heimkehren werde, und zugleich sendet der Sieger kriegsgefan-
gene Frauen, unter ihnen Eurytus' Tochter lole, welche durch den
Reiz ihrer jugendlichen Schönheit den Herakles gefesselt und so un-
freiwillig Anlafs zu der verderblichen Fehde gegeben hatte. Als Deia-
neira dieses Verhältnifs erfährt, welches der Bote vergebens zu verheim-
lichen gesucht hatte, erinnert sie sich ein Zaubermittel zu besitzen,
ein Vermächtuifs des sterbenden Nessus, und rasch entschlossen über-
sendet sie dem Flerakles das vergiftete Gewand in der Hoffnung, da-
durch den entfremdeten Gatten von neuem an sich zu fesseln. Kaum
ist der Bote fort, so belehrt zu spät eine Probe die Deianeira über
die geföhrliche Wirkung des Zaubers und erfüllt ihr Gemüth mit
banger Furcht. Hyllus kehrt zurück und berichtet der trostlosen
Mutter das Unheil, welches ihre Gabe über Herakles gebracht. Schwei-
gend entzieht sich Deianeira den rauhen Vorwürfen des Sohnes.
Eine Dienerin meldet den Selbstmord der Herrin, die Reue und den
Schmerz des Sohnes, der erst jetzt erföhrt, dafs die Unglückliche,
ohne es zu wissen und zu wollen, das Verderben des Vaters ver-
schuldete. Für den Schlufs der Tragödie hat der Dichter den Höhe-
punkt des Pathos aufgespart: Herakles, unrettbar dem Tode verfal-
len, von qualvollen Schmerzen gepeinigt, wird herbeigebracht und
theilt dem Sohne seinen letzten Willen mit.
Die Erklärer sind uneins, ob sich der Tragiker den Untergang
der Deianeira oder des Herakles eigentlich zum Vorwurf gewählt
habe, ob der Heros oder seine unglückliche Gattin die Hauptfigur
sei. Man begreift, wie solche Zweifel sich regen konnten ; denn die
Tragödie hat zwei Hauptpersonen; nur traten sie nicht neben, son-
dern nach einander auf. Im ersten Theile steht Deianeira im Vorder-
grunde. Herakles, das unglückliche Opfer der Eifersucht, tritt erst
auf, nachdem jene, von Reue und Verzweiflung ergrüTen, ihrem Leben
ein Ende gemacht hat. Während die schwer gekränkte Frau unser
volles Mitgefüiil in Anspruch nimmt, vermag der Dichter nicht nach-
träglich uns ein gleiches Interesse für den Helden einzuflöfsen. Die
Einheit (ler Handlung ist allerdings gewahrt; denn die verliängnifs-
volle Gabe, durch welche Deianeira die Liebe ties Gatten wiederzu-
»FE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II. SOPH. 391
gewinnen hofft, bringt dem Helden den Tod. Aber indem der Dichter
den Verlauf der Begebenheiten gemäfs der üeberUeferung wieder-
giebt, übersah er, dafs das Drama nicht nur Einheit der Handlung,
sondern auch des Schwerpunktes erheischt, um die rechte Wirkung
zu erzielen. Im Epos, welches freie Bewegung liebt, verträgt sich
auch die losere Verbindung der geschilderten Begebenheiten noch
mit der Einheit. Das Drama verlangt Concentration; hier müssen
alle Theile kunstvoll und harmonisch in einander gefügt sein, alles
sich um einen Mittelpunkt bewegen.
Das Thema, welches die verderbhchen Folgen der Eifersucht
veranschauHcht, war wohl geeignet, einen Dichter zu dramatischer
Bearbeitung aufzufordern. Aus Eifersucht tödtet Herakles den Ken-
tauren Nessus, der sterbend der Deianeira arglistig räth, ihr Ge-
wand mit seinem vergifteten Blute zu tränken, ein untrügliches Mittel,
um die Liebe ihres Gatten an sich zu fesseln. Von Eifersucht bei
dem Anblick der jugendlichen lole ergriffen, wendet Deianeira arg-
los den unheimlichen Zauber an , überschickt dem Gatten das ver-
giftete Gewand und führt so, ohne es zu wollen, sein und ihr Ver-
derben herbei. Allein so geeignet Deianeiras Charakter für die Tra-
gödie war, desto gröfsere Schwierigkeiten bot Herakles dar. Die
Tragödie, sowie sie ihren Höhepunkt erreicht hat, wählt ilire Helden
vorzugsweise aus den Sagenkreisen des ritterhchen Zeitalters. Die
Heroen der ältesten Zeit, welche vor den Anfängen höherer Cultur
liegt, sagten wegen des Gewahsamen, Rauhen und UebernatürUchen,
welches ihren Abenteuern und Schicksalen aufgeprägt war, einem
geläuterten Geschmacke weniger zu. Daher haben die griechischen
Tragiker die Heldengestalt des Herakles, die in Liedern und Sagen
so viel gefeiert war, nur selten auf die Bühne zu bringen gewagt.'"*)
Diese derbsinnUche Natur hat ihre eigenthche Stelle im Satyrspiele."")
Die ältere Tragödie beschränkt sich auf die Darstellung eines
Hauptcharakters, indem sie darauf verzichtet, den Kampf der feind-
lichen Mächte unmittelbar zur Anschauung zu bringen, IS'ur durch
Botenberichte und ähnliche Mittel wird die Einwirkung des Gegen-
spielers vergegenwärtigt. Gerade hier war diese Form durchaus an-
109) Als Nebenfigur war Herakles im befreiten Prometheus des Aeschy-
lus ganz passend; nur Euripides hat einen rasenden Herakles gedichtet.
110) Daher auch Euripides in der Alkestis den Heros schicklich ver-
wendet
392 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
gemessen, und wenn Sophokles sich hätte entschhefsen können, den
Vorwurf nach der Weise der archaischen Tragödie zu heliandeln, so
war es ein Leichtes, die Aufgabe vollkommen befriedigend zu lösen.
Herakles mufste im Hintergrunde bleiben ; die verhangnifsvollen Fol-
gen von Deianeiras Unbesonnenheit, welche dem geliebten Manne
unsägliche Schmerzen und frühen Tod bereitet, durften nur durch
epische Schilderung dargestellt werden. Die Verzweiflung der Deia-
neira, als das Unheil, welches sie gestiftet, in seiner ganzen Schwere
ihr klar wird, und der Entschlufs zu sterben, ebenso die Reue und der
liefe Schmerz des Sohnes, der erst, als es zu spät ist, den Zusammen-
hang erfährt und sich anklagt, die Mutter in den Tod getrieben zu
haben , mufste ausführhch dramatisch dargestellt werden , während
in dem vorHegenden Drama die gerade hier angewandte skizzen-
hafte Behandlung, zu der den Dichter der knappe Raum und die
beabsichtigte Fortführung der Handlung nöthigte, nicht recht befrie-
digt.'") Aufserdem war dem Chore ein gröfserer Antheil einzuräu-
räumen, um durch den Schwung der Lyrik erhebend und zugleich
versöhnend auf das Gemüth zu wirken. Im Aeschyleischen Stil aus-
geführt, wäre der Tod der Deianeira eine vortreffliche Tragödie ge-
worden.
Allein Sophokles, dem die dramatische Kunst vorzugsweise ihre
höhere Ausbildung verdankt, mochte nicht zu der älteren Weise zu-
rückkehren. Er fühlte jedoch sehr richtig, dafs es nicht möglich
war, die schwergekränkte Gattin und den Urheber ihres Leides Aug'
in Auge einander gegenüberzustellen."") Dies hat nicht einmal
Seneca gewagt, der doch in seiner derb realistischen Art von der
Feinfühligkeit des griechischen Dichters weit entfernt war. Aber in-
dem Sophokles das Nebeneinander mit dem Nacheinander vertauscht,
geht die volle Wirkung des Gegensatzes verloren. Die Seene, wo
111) Jetzt ist alles in dem sumiuarischen Berichte der Amme SOG — 016
zusammengefafst, wo insbesondere die Haltung des Hyilus gar niclit motivirt
wird; denn die beiden Verse '.»31.93") sind nur ein Nodibehelf.
112) Neuere haben gleichwohl diese Behandlung empfohlen. Andere meinen,
Sophokles lasse die Deianeira vor Herakles' Erscheinen sterben, um den Prota-
gonisten, der die Frauenrolle spielte, nachher als Herakles wieder auftreten zu
lassen. So gering darf man von der Kunst des Sophokles nicht denken, der
wohl in untergeordneten Punkten sich durch die Röcksicht auf die Hollenver-
theilung leiten liefs, aber niemals das Wesentliche der poetischen Gonception
von so äufserlichen Dingen abhängig machte.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II.SOPH. 393
der gewaltige Heros, von unerträglichen Schmerzen gefoltert, in laute
Wehklagen ausbricht, macht eher einen peinlichen als tragischen
Eindruck. Und wenn er sich bezwingt, so bewirkt dies weniger die
Erinnerung an sein thatenreiches Leben als das Gefühl der Beschä-
mung, dafs eine Frau ihm dieses Leid zugefügt, sowie das heftige Ver-
langen nach Rache. Als Herakles erfährt, woher das Gift stammt,
welches in seinen Adern tobt, erkennt er, dafs seine letzte Stunde
gekommen ist, und verlangt von dem Sohne, ihn auf den Gipfel des
Oeta zu bringen, um dort auf dem Scheiterhaufen zu sterben. Da-
mit endet die Tragödie. Der Versuchung, den Feuertod und die
Apotheose des Helden darzustellen, hat Sophokles nicht nachgegeben.
So wirksam diese Scene auf dem Theater sein mufste, so erkannte
doch der umsichtige Dichter, wie wenig jene Verklärung des Heros'")
mit den Voraussetzungen seiner Tragödie harmonire. Aber indem
das Stück unbefriedigend abschliefst, vermifst man auch die rechte
läuternde und erhebende Wirkung.
Von den Neueren sind die Trachinierinnen meist nicht eben
günstig, zuweilen geradezu ungerecht beurtheilt worden ; aber auch
die schwächlichen Versuche in apologetischer Richtung erweisen sich
als unzulängUch. Indem man die Mängel der dramatischen Composi-
tion fühlte und auch im Einzelnen manches Befremdliche wahrnahm,
glaubte man alles , was mit der Vorstellung von der hohen Vollen-
dung der Sophokleischen Kunst nicht recht im Einklänge schien,
auf Rechnung einer Ueberarbeitung setzen zu müssen, die entweder
der Dichter selbst oder eine fremde Hand vorgenommen habe. Ja,
man hat sogar die Vermuthung hingeworfen, die ganze Tragödie sei
nur irrthümlich unter Sophokles' Namen überliefert und eigentlich
von seinem Sohne lophon geschrieben. Allein das Stück zeigt im
Ganzen und Grofsen durchaus den Charakter des Sophokleischen
113) Denn in diesem Sinne fafsten die Hellenen den Feuertod des Hera-
kles auf, obwohl diese Sage eigentlich nur andeutet, dafs hier zum ersten Male
auf hellenischem Boden die Leichenverbrennung in Anwendung kam. Aber
allerdings spricht sich in dieser Sitte, deren Einführung das Aufkommen des
ritterlichen Wesens bezeichnet, eine freiere Auffassung der irdischen Dinge
aus. Das Verbrennen der Leiche auf dem Scheiterhaufen ist gleichsam ein den
Göttern dargebrachtes Opfer; alles Irdische wird von der Flamme verzehrt, das
Unvergängliche, von der sterblichen Hölle befreit, kehrt zu der Gemeinschaft
mit den höheren Mächten zurück.
394 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Stils. Das Ahnungsvolle, die Vorherbestimmung des Schicksals durch
Sehersprüche, die tiberall mit Nachdruck betont wird, verwendet
der Tragiker in gewohnter Weise. Nicht minder wirksamen Gebrauch
machte Sophokles nach seiner Art von den kurzsichtigen Täuschun-
gen, in denen die Handelnden fortwährend befangen sind, Deia-
neira glaubt, als die Kunde von der nahen Heimkehr des Gatten
anlangt, von allen quälenden Sorgen und düstern Ahnungen befreit
zu sein, und die Worte des Chores sind nur ein Widerhall der freu-
digen Stimmung, der sich die Herrin ilberläfst. Aber als Lichas
die gefangene lole überbringt und Deianeira die volle Wahrheit,
welche der Herold ihr vorenthalten hatte, erfährt, sieht sie sich ent-
täuscht und in ihren heiUgsten Gefühlen verletzt. Alle ihre Hoff-
nung setzt sie jetzt auf den Liebeszauber, der ihr das entfremdete
Herz des Gemahls wiedersewinnen soll, und wiederum theilt der
Chor diese trügerischen Erwartungen, während bereits die Herrin
die verderbliche Wirkung ihrer Gabe erprobt hat und von banger
Besorgnifs erfüllt ist. Bald wird die ganze Grüfse des Unheils, welches
Deianeira angerichtet, offenbar. Herakles ist unrettbar dem Tode
verfallen; seine Liebe hat sich in bittorn Hafs verkehrt, und der
grausam getäuschten Frau bleibt nichts übrig, als den Tod mit dem
Gatten zu theilen. Aber auch die Milhandelnden, Lichas und Hyllus.
sind in ähnliche Irrungen verstrickt. Die besten Absichten verkehren
sich regelmäfsig in das Gegentheil.
Das Drama, welches neben einzelnen auffallenden Gebrechen
hohe Schönheiten enthält, ist unzweifelhaft ein Werk von Sophokles'
Hand. Wenn die Einführung des Herakles, nachdem Deianeiras
Geschick entschieden ist, uns als störende Zugabe erscheint, so ge-
hört doch auch dieser Ausgang der Handlung unzweifelhaft dem
ursprünglichen Entwürfe an. Nur die Schlufsscene"^) niufs man
mit aller Entschiedenheit dem Dichter absprechen, nicht sowohl
weil sie nach den vorangehenden leidenschaftlichen Auftritten matt er-
scheint, sondern weil sie das sittliche Gefühl emplindlich verletzt
und den künstlerischen Forderungen nicht entspricht. Wenn
Herakles den Hyllus, der sich weigert eigenhändig den Vater noch
lebend auf den Scheiterhaufen zu legen und ebenso seinem natür-
lichen Gefühle folgend die Vermählung mit lole zurückweist, beide
111» TrnHiiii. 1211. -liTS.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II. SOPH. 395
Mal durch Androhen des väterlichen Fluches zum Schweigen bringt
und sich Gehorsam erzwingt, so erscheint schon dieses Mittel, zu-
mal in solcher Wiederholung, nicht recht statthaft.'") Man könnte
geneigt sein, die ganze Partie, wo der Sterbende dem Sohne die
letzten Aufträge giebt, dem Fortsetzer zuzuschreiben."') Allein der
Wunsch des Herakles, Hyllus möge ihn auf dem Oeta verbrennen,
hängt mit dem Orakel, auf welches sich Herakles beruft*"), genau
zusammen, und gerade hier ist die Hand des Sophokles nicht zu
verkennen ; es entspricht dies durchaus dem Grundton dieser Dich-
tung. Auch würde ein Fortsetzer schwerlich auf eigene Gefahi* jene
Wiederholung des Vaterfluches ersonnen haben, während, wenn er
im Original dieses Motiv vorfand, die Versuchung nahe lag, dasselbe
von neuem zu benutzen. Denn dafs Herakles den Sohn nöthigt,
die lole zur Gattin zu nehmen, ist eben Zuthat des Fortsetzers. In
der schlichten Erzählung des Epos würde man diesen unzarten Zug,
der sich mit der Sitte der alten Zeit rechtfertigen liefs, leichter er-
tragen. Allein bei einem Dichter wie Sophokles, der mit feinem
Sinne für das Schickhche und mit geläutertem sitthchem Gefühl
das Unzarte der alten Sagen zu mildern pflegt, hat dies etwas höchst
Befremdendes. Eine Abänderung war hier um so mehr geboten, da
in der Sophokleischen Dichtung Hyllus mit inniger Liebe seiner
Mutter zugethan ist und daher gegen lole, welche er als die Ur-
sache des ganzen Unheils ansah, eine natürliche Abneigung empfin-
den mufste, welche durch fremdes Machtgebot sich nicht besiegen
läfst. Hätte Sophokles dies gedichtet, so wäre er den Spuren der
Homerischen Kunst, die er sonst so glücklich zu finden weifs, hier
nicht nachgegangen, Sophokles hatte keinen Grund, dieses Ehebünd-
nifs zu erwähnen."*) Während er sonst am Schlufs der Tragödie sich
115) Man darf sich hier nicht auf die Vorliebe der griechischen Kunst
für den Paralielismus berufen, um diese Fassung zu rechtfertigen.
116) Denn auch die Partie unmittelbar vor 1216 enthält manches Bedenk-
liche; so vermifst man die Motivirung des Feuertodes, Auch in der Sprache
erscheint Einzelnes fremdartig.
117) Trachin. 116411. 11 TS.
IIS) Nach der Ueberlieferung ward lole die Gattin des Hyllus und Stamm-
mutler der dorischen Herakliden. Allein der dramatische Dichter geht nicht dar-
auf aus, alles, was ihm von seinen Helden bekannt ist, wie ein Logograph zu
verzeichnen; und der Abschlufs des Dramas mit einer Ehestiflung ist wohl der
Weise des Euripides, aber nicht des Sophokles gemäfs.
396 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
mit einer summarischen Darstellung abzußnden pflegt, hätte er
ohne Noth die peinvolle Situation verlängert. Der Forlsetzer da-
gegen hielt es für angemessen, die Zuhörer ilber das künftige
Schicksal der lole aufzuklären."^) Er hat auch die Anapästen am
Schlufs hinzugefügt, welche im grellsten Widerspruch mit den re-
ligiösen Anschauungen des Sophokles stehen."**) Die Thätigkeif
dieses Diaskeuasten, mag nun lophon oder ein anderer dieses Stück
für eine neue Aufführung zurecht gemacht haben, beschränkte sich
schweriich auf die letzte Partie des Dramas. Auch an anderen Stellen,
welche Bedenken erregen, wird er Einzelnes abgeändert, hinzuge-
fügt oder gestrichen haben.
Die Aufgabe, welche sich Sophokles hier gestellt hat, ist echt
dramatisch. Der Dichter schildert die verderbhche Macht der Eifer-
sucht, welche des Hauses Glück zerstört und beiden Gatten den
Untergang bereitet. Es ist dies nicht jene dämonische Gewalt der
Leidenschaft, welche Medea zu unnatürlichem Frevel treibt, sondern
Deianeira, obwohl sie die Kränkung tief empfindet, hegt doch in
ihrem milden Gemüth keinen Groll, weder gegen die Nebenbuh-
lerin, deren Geschick sie warmes Mitgefühl widmet, noch gegen
Herakles. Sie ist allein darauf bedacht, die Neigung des schuldigen,
aber noch immer geliebten Gatten wiederzugewinnen. So sendet
sie das verhängnifsvolle Gewand dem Gemahl, und als sie aus des
110) Es ist nicht die Art des Sophokles, den Forderungen i>lofser Neugier
entgegenzukommen. Auch war lole, die sich mit der wenig dankbaren Rolle
der stummen Person begnügen mufste, nicht eben geeignet, tiefere Theilnahme
zu erwecken.
120) Mit der Athetese einzelner Yerse (dieses belieble Mittel hat man
auch hier angewandt) kommt man nicht aus. Wie Sophokles selbst das Drama
zum Abschlufs gebracht halte, läfst sich nicht errathen: die Anwendung des
&e6e nno firjxnvr;« lag nahe, aber entspricht nicht der sonstigen Gewohnheit
des Dichters. Als Sophokles die Trachinierinnen schrieb, war ihm das Werk
des Pherekydes wohl nicht unbekannt. Dieser Logograph erzählte, dafs Hera-
kles vom Eurytus die lole als Gattin für seinen Sohn begehrt habe und, als
Eurytus dies abschlug, der Kampf entbrannte (Schol. Trach. ',\h\). Dieses Motiv
hätte der Tragiker benutzen können. Wenn lole als unschuldige Ursache der
traurigen Katastrophe, Deiuneiras Verdacht als unbegründet erschien, so ward
Herakles Opfer eines falschen Verdachtes; aber durch den Hinweis auf frühere
Verletzung der ehelichen Treue liefs sich der Untergang des Helden genügend
rechtfertigen. Ein solcher Ausgang des Dramas hätte ebenso sehr das sittliche
Gefühl befriedigt, wie er durch psychologische Wahrheit wirksam sein konnte.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLLTHEZEIT. II.SOPH. 397
eigenen Sohnes Munde die verderbliche Wirkung des Giftes erfahrt
und sie, obwohl unschuldig, sich als Urheberin ansehen mufs, giebt
sie mit eigener Hand sich den Tod.
Dieser erste Theil des Dramas bis zum Tode der Deianeira be-
kundet durchaus die Eigenthümlichkeit der Sophokleischen Kunst.
Der Adel einer milden, echt weiblichen Natur ist mit Zartheit und
vollem Verstand nifs geschildert. Allein der zweite Theil thut dieser
glückhchen Wirkung entschieden Abbruch. Herakles, dessen Tod
den Ausgang der Tragödie bildet, den der Dichter durchaus nicht
als blofse NebenOgur behandelt hat, vermag uns keinen rechten An-
theil einzuflöfsen , sondern stöfst uns eher zurück. Nur allzu treu
hält sich Sophokles an die üeberlieferung. Herakles erscheint hier
in der grotesken Weise der volksmäfsigen Sage, wenn er in dem
ersten Ausbruche des Zornes den unglückUchen Lichas, der ihm das
vergiftete Gewand überbracht hatte, mit gewaltiger Hand erfafst und
an einer Klippe zerschmettert. Der harte, felsenfeste Sinn des He-
rakles kennt kein mildes Gefühl; für die unglückliche Gattin hat
er nicht das geringste Wort der Theilnahme, auch nachdem er von
ihrer Unschuld unterrichtet ist ; für ihn ist es die tiefste Kränkung,
dafs er durch Weibeshand fallen mufs. Ausbrüche der Wuth und
Rache wechseln mit lauten Klagen und Schmerzensrufen ab, bis er
in dem letzten Momente gefafsleren Sinnes dem Sohne seine Auf-
träge ertheilt. Man mag den Heroismus und die Seelenstärke des
Herakles bewundern, der allmählich über die Schwäche seiner Natur
Herr wird, man mag zugeben, dafs hellenische Männer die letzten
Schicksale des Helden, der mehr als ein gewöhnUcher Heros war,
dem das Volk seit Alters götthche Verehrung zu widmen gewohnt
war, mit ganz besonderer Theilnahme anschauen mufsten, dafs ein
jeder sich in Gedanken die Erhebung des Herakles in den Kreis
der Olympier, das leuchtende Endziel eines mühevollen Erdenlehens,
vergegenwärtigte und so auch in der Verworrenheit menschlicher
Schicksale eine höhere Führung erkannte ; allein in der Kunst kommt
es nicht so sehr auf das Was, sondern auf das Wie an. Ob der
Dichter wohl daran that, den Herakles selbst einzuführen, ist pro-
blematisch. W^enn man behauptet, es sei dies geboten gewesen,
um die erschütterten Gemüther in eine sanftere Stimmung zu ver-
setzen, so ist von dieser Wirkung in dem Schlüsse der Sophoklei-
schen Tragödie nichts zu spüren. Es ist eine mifsliche Sache, wenn
398 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
man das, worauf der Dichter mit keinem Worte hindeutet, von
aufsen hineinträgt, und hier streitet das Stück, wenigstens wie es uns
vorliegt, ganz entschieden mit jenem versühnenden Gedanken, wel-
chen man der Dichtung unterlegt.
Da die Zeit der Abfassung der Tragödie nicht überhefert ist,
ergehen sich die Neueren in den verschiedensten Vermuthungen,
Indem man hier die vollendete Kunst des Sophokles vermifst, hat
man das Stück entweder für eine Jugendarbeit erklärt, wenigstens
als das älteste unter den noch vorhandenen Dramen bezeichnet,
oder den letzten Lebensjahren zugewiesen, indem man die Mängel
damit entschuldigt, dafs es dem Tragiker nicht vergönnt war, die
letzte Hand an sein Werk zu legen. Andere haben wieder poli-
tische Beziehungen zu finden geglaubt und daher die Trachinierinnen
in die erste Zeit des grofsen Krieges versetzt'^'), eine Vermuthung,
für welche das Drama nicht den mindesten Anhalt bietet."'^) Wenn
man dem Eindrucke vertrauen darf, welchen das Werk bei unbe-
fangener Prüfung macht, wird man dasselbe den älteren Arbeiten
des Sophokles zutheilen. Der Prolog, der passend mit dem alten
Spruche eröffnet wird, dafs man über eines Menschen Schicksal
nicht vor seinem Ende urlheilen dürfe, erinnert nicht sowohl an
Euripides, wie manche behauptet haben, sondern eher an die ein-
fache Weise der älteren Kunst. Dafs lole der Deianeira gegenüber
in stummem Schweigen verharrt, ist ganz der Art des Aeschylus
gemäfs. Dieses Mittel, von welchem der Gesetzgeber der Tragödie
wiederholt den wirksamsten Gebrauch gemacht hat, erschien den
Späteren allzu einfach und altvaterisch. Auch die Srhlichlheit der
Composilion spricht für jene Voraussetzung, ebenso die Freiheit,
mit welcher die Zeit der dramatischen Handlung bemessen wird. Zwar
ist das herkömmliche Mafs eines Tages festgehalten, aber mit wun-
derbarer Schnelligkeit wird der Weg von Trachis nach dem nord-
westlichen Vorgebirge der Insel Euböa und von dort nach dem
Schauplatze der Handlung wiederholt zurückgelegt.'") Dies erin-
121) Um Ol. S8, 3 mit HhiwoisunK auf Thukyd. III 1(2.
122) Andere rücken wieder die Trachinierinnen ganz nahe an den IMiilo-
ktet heran, indem sie voraussetzen, die sieben Tragödien des Dichters wären
in den Handschriften in chronologischer Folge überliefert, rine völlig grund-
lose Voraussetzung.
123) Nicht nur von Ilyllns und dem Beten, sondern ancli \on dem todt-
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. U. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II.SOPH. 399
nert an den Agamemnon des Aeschylus, wo der Sieger alsbald in
seiner Heimath erscheint, nachdem eben erst die Eroberung Troias
durch Feuerzeichen gemeldet war. Man erkennt hier eine Nach-
wirkung des alterthümlichen Stiles, der diese Verhältnisse mit läfs-
licher Freiheit zu behandeln hebte. Wenn Einzelnes nicht genügend
motivirt oder nur kurz angedeutet wird, so dafs die Klarheit der
Darstellung darunter leidet, wie die leidenschaftliche Neigung des
Herakles zur lole, dann die Abenteuer in Lydien bei der Omphale, so
ist wohl auch darin der archaische Charakter der Dichtung erkennbar.
Die Strenge, mit welcher in den Versen des Dialoges Auflö-
sungen vermieden werden (die Trachinierinnen stehen hierin auf
gleicher Stufe mit dem Aias und der Elektra) spricht gleichfalls
entschieden gegen die Ansicht, als ob die Tragödie der letzten Pe-
riode angehöre. Die stiUstische Kunst, die sonst die Arbeiten des
Sophokles auszeichnet, hat man vermifst, und in der That stöfst
man öfter auf gewisse Härten, auf eine künstliche Ausdrucksweise,
welche weder der Klarheit noch der Energie der Rede förderlich
ist.'") Wenn im ersten Theile ein gedämpfter Ton vorwaltet, so
hat der Dichter offenbar mit Absicht und durchaus passend den-
selben gewählt. Eine entschieden altertbümhche Färbung zeigt jedoch
die Sprache nicht, wenn auch wie überall einzelne ungewöhnHche
und seltene Worte oder Wortformen vorkommen. Die Chorlieder,
weder an Umfang bedeutend, noch durch hohe Gedanken ausge-
zeichnet, verbinden mit der mustergültigen Form zugleich für einen
Mädchenchor ungewöhnliche Kraft und Energie.'")
Die Antigene des Sophokles ward bereits im Alterthume, Amigone.
welches noch den gesammten Nachlafs des Dichters besafs, hochge-
kranken Herakles, den seine Begleiter vorsichtig tragen, um die Schmerzen
nicht zu steigern.
124) Vielleicht hat ab und zu die Ueberarbeitung ungünstig eingewirkt.
125) Das Verhältnifs der melischen Partien zum Dialoge ist wie 1:3.
Das Stück ist, wie es die ältere Tragödie liebt, nach dem Chore benannt; doch
mag der Dichter diese Bezeichnung vorgezogen haben, weil er weder den
Namen des Herakles noch der Deianeira füglich voranstellen konnte. Der Um-
fang der Chorlieder ist vielleicht bei der Umarbeitung hier und da verkürzt
worden ; noch erkennt man in dem Schlüsse des Liedes 49" ff. Spuren einer
Diaskeuase. In der zweiten Hälfte tritt eine Art Nebenchor, die Begleiter des
Herakles, auf, wie überhaupt in diesem Theile nur das männliche Element ver-
treten ist, während im ersten Theile das weibliche entschieden bevorzugt wird.
400 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
schätzt'^*); bei den Neueren, denen nur eine luäfsige Aus>vahl aus
jenem reichen Schatze vorüegt, ist die Bewunderung uugetheilt.
Schon der Kampf entgegengesetzter Principien, der in dieser Tra-
gödie ganz unverhüllt durchgeführt wird, hat für das moderne Be-
wufstsein besonderes Interesse. Liegt auch der Fall, um den es sicii
hier handelt, unserer Gefühlsweise fern, so ist doch der Zwiespalt
zwischen den Ordnungen des Staates und der individuellen Ueher-
zeugung, die sich mit den sittlichen Mächten im Einklänge fühlt
und ein höheres Recht für sich in Anspruch nimmt, immer neu.
Dann ist die Liebe des Hämon zur Antigone ein dem moderneu
Drama vorzugsweise zusagendes Motiv, obwohl der Dichter dieses Ver-
hältnifs mit jener keuschen Strenge behandelt, die er von seinem
Meister gelernt hatte, so dafs die Innerlichkeit und Tiefe der Emplin-
dung mehr angedeutet als ausgesprochen wird. Nicht minder hat
die bewufste Kunst der Charakterzeichnung, welche der Tragiker auch
in diesem Drama bewährt, allgemeine Anerkennung gefunden, und
doch wird gerade hier eine unbefangene Betrachtung diesem Urtheile
nicht durchweg beipflichten.
Die Antigone des Sophokles enthält das ergreifende Nachspiel
des unseligen Bruderzwistes, der die Söhne des Oedipus zu blutigem
Kampfe und Wechselmord hintrieb. Antigone bestattet im Wider-
spruche mit Kreons Verbot den Bruder, welcher frevelhaft die Waffen
gegen das eigene Vaterland ergriffen hatte, dem daher das Gesetz
die letzte Ehre versagte. Antigone, die nur die Pflicht der schwe-
sterlichen Pietät als Richtschnur ihres Handelns anerkennt und
trotzig sich gegen die staatliche Ordnung auflehnt, wird auf der
That ergriffen und zum Tode verurtheilt. Die Jungfrau kommt der
Schmach zuvor, indem sie selbst ihrem Leben ein Ende macht,
llämon, ihr Verlobter, stürzt sich ins Schwert; die Verzweiflung treibt
seine Mutter in den Tod. Nur Kreon bleibt am Leben, um Zeuge
des Unheils zu sein, welches sein Verbot veranlafst hatte.
Antigone steht im Vordergrunde. Sie übertrifft an Adel der Ge-
sinnung, Seelengröfse und Macht des Palhos alle anderen; auf sie
hat Sophokles allen Glanz seiner Poesie übertragen. Aber obwohl
126) Der Grammatiker SallusUus bemerkt in der Einleitung lu dieser
Tragödie : rb fiev Späfia zäiv xulXioriav JSofOHXiovs. Dioskorides Anlh. VlI 37
ep. 2H I 252 lac: E'izt aoi l/4vriy6itjv sinelv fiXoy, ovx av nftn^oti, e'ite xai
'JlXdxjQaf, aftipÖTt^ai ynQ nx^ov.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. 11. SOPH. 401
die Gestalt der heroischen Jungfrau über das gewöhnliche Mafs hin-
ausragt, ist sie doch natürlich- wahr geschildert und daher unserer
Empfindung nahe gerückt. Der auf den engen Kreis des Hauses
beschränkten Frau hegt es ob, den religiös-sitthchen Geist zu wahren
und zu pflegen. In dem weiblichen Herzen ist das Gefühl der Zu-
sammengehörigkeit und unzertrennlichen Gemeinschaft aller Glieder
der Familie vorzugsweise lebendig; selbst der Tod löst diese gehei-
hgten Bande nicht auf. Indem die Hinterbüebenen die letzte Ruhe-
stätte dem Abgeschiedenen bereiten, an seinem Grabe das Todten-
opfer darbringen, wird die Verbindung des Diesseits mit der dunklen,
geheimnifsvollen Welt des Jenseits erhalten. Wo es gilt, diese Sa-
tzungen der Urzeit zu vertheidigen, da tritt eben vor allem die Frau
ein. Dieser ideale Zug, die selbstvergessende, aufopfernde Liebe offen-
bart sich überall in der Heldin der Tragödie. Aber nur ein fester,
entschiedener Wille war fähig, den Kampf mit der rauhen Wirklich-
keit aufzunehmen. Antigone erscheint daher als ein schroffer, un-
beugsamer Charakter; ihr Heroismus steigert sich bis zum äufsersten
Trotz und zur äufsersten Härte. Von der Unverletzlichkeit der re-
hgiösen Pflicht, von der Reinheit ihrer Absichten ist Antigone über-
zeugt. Sie weifs recht wohl, dafs sie gegen die Ordnung des Staates,
deren Verteter Kreon ist, verstöfst. Aber das götthche Gesetz steht
ihr höher, und wiUig giebt sie ihr Leben hin.
Einen Charakter ohne Tadel konnte der Dichter, der einen tra-
gischen Conflikt darstellen wollte, nicht brauchen ; so ist auch An-
tigone nicht frei von Schuld. Obwohl Sophokles diesen Charakter
mit sichtlicher Vorhebe behandelt, hat er doch das Einseitige und
Widerspruchsvolle in deutlichen Zügen geschildert. Das Leidenschaft-
liche und Rasche des Handelns, welches Antigone von ihren Eltern
ererbt, giebt sich gleich anfangs kund; daher macht sie nicht einmal
den Versuch, den Kreon von seinem Entschlüsse abzubringen, son-
dern vollbringt sofort die entscheidende That und tritt dem Fürsten
mit äufserster Schrofilieit gegenüber, welche eine friedliche Lösung
des Zwiespaltes unmöglich machte. Antigone ist von inniger Liebe
zu ihrem Bruder erfüllt; aber damit contrastirt entschieden die rauhe,
lieblose Art, wie sie der Schwester begegnet. Hämon war nach des
Vaters Willen der Antigone verlobt ; aber in dem Herzen der Jung-
frau, die ganz von dem einen Gefühle beherrscht wird, ist für zarte
Regungen kein Raum. Nur einmal bricht der Ton inniger Theil-
Bergk, Griech. Literaturgeschichte III. 26
402 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CUR. G.
»ahme für Hämon durch.*") Der Dichter hat richtig erkannt, dafs
mit der Hoheit dieses Frauencharakters Erwiderung leiden schafthcher
Neigung unvereinbar war, und überträgt daher dieses Gefühl auf Hä-
mon. Wenn Antigene, nachdem ihr Schicksal entschieden ist, nicht
ohne schmerzliche Wehmuth zurückblickt und ihr trauriges Loos be-
klagt, so liegt darin kein Widerspruch. Antigone bereut nicht etwa
ihre That, sondern nach der Aufregung des Kampfes gewinnt momen-
tan eine ruhigere Betrachtung Raum; aber indem sie dann selbst dein
Todesurtheile zuvorkommt, bleibt sie ihrer leidenschafthchen Art treu.
Wohl kein griechischer Dichter hat so, wie der Verfasser der
Ilias, verstanden, unser Interesse gleichmäfsig für beide Parteien in
Anspruch zu nehmen. Für den Epiker ist es allerdings leichter als
für den dramatischen Dichter, diese Aufgabe zu lösen. Allein So-
phokles bewährt hier gar zu wenig die Homerische Kunst. Der Anti-
gone steht Kreon gegenüber, der ein vollkommen berechtigtes Princip,
das Recht und Interesse des Staates, vertritt. Es ist gewifs ein tra-
gisches Geschick, wenn ein Fürst, der in schwerer Zeit die Herr-
schaft übernommen hat, gleich das erste Mal, wo er seine fürsthche
Gewalt in Anwendung zu bringen berufen ist, mit den eigenen Ver-
wandten in unlösbaren Zwiespalt geräth. Aber der Dichter darf
keinen Tyrannen schildern, der im Gefühl der eben erst erlangten
Herrschaft hart und willkürlich verfährt, sondern einen Fürsten,
der, seines schwierigen Berufes sich wohlbewufst und von den besten
Absichten geleitet, die Pflichten seines Amtes gewissenhaft übt, auch
wenn er genöthigt ist gegen einen Verwandten die volle Strenge
des Gesetzes in Anwendung zu bringen. Die Rücksicht auf die Fa-
miUe kann für den, der das allgemeine W'ohl im Auge haben soll,
erst in zweiter Linie stehen. Wenn er in seinen Mitteln fehlgreift,
wenn er durch eigenes Verschulden und den Zwang der Vcrhidt-
nisse sich immer tiefer verstrickt und endlich untergeht, so kann
ein solcher Charakter auch im Falle seine Grüfse bewahren, und
unser Mitgefühl wird ihn begleiten.
Der Kreon des Sophokles vermag uns keine rechte Theilnahnie
cinzuflöfsen. Der Tragiker that recht, wenn er der schroffen Frauen-
natur einen Mann von eben so hartem, einseitigem Gharakler gegen-
überstellte. Gar mancher Zug des Bildes ist trelfend; die Pllicht
127) Antigone bl'l; (iciin Anli({onr, riirlif Umene. sprirhl Hio»;t> Wort»'.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. 11. SOPH. 403
gegen den Staat geht dem Kreon des Sophokles über alles. Anarchie
erscheint ihm als das schlimmste der Uebel. Das Volk ist selbst da,
wo der Fürst irrt, seinen Anordnungen Gehorsam schuldig. Nach-
giebigkeit ist in Kreons Augen unwürdige Schwäche. Der Wider-
stand, auf den er von allen Seiten stöfst, verhärtet seinen Sinn und
reifst ihn immer weiter fort. Auch dafs dem Kreon Ruhe und Selbst-
beherrschung abgeht, dafs der Dichter das leidenschaftliche, jähzor-
nige, argwöhnische Wesen mehr und mehr steigert, verdient keinen
Tadel. Aber die Ueberzeugung von der Rechtmäfsigkeit seines WoUens
und Handelns mufste unerschütterlich feststehen; dieses Bewufstsein
mufste den Grundzug seines Wesens bilden. Nur so war er seiner
Gegnerin ebenbürtig, die ganz von dem Glauben an ihr Recht er-
füllt ist. Kreon bezeichnet zwar wiederholt das Vergehen des Poly-
neikes als Landesverrath*^), aber er beruft sich nirgends auf die
Satzungen des Landrechtes, die er zu vollziehen verpflichtet war'*^),
sondern stellt sein Verbot als einen Akt seiner Herrschergewalt dar.
Dadurch geräth Kreon in eine schiefe Stellung ; er sinkt immer mehr
zu der Rolle des gewöhnlichen Tyrannen herab. Dem Kreon des
Sophokles fehlt die rechte Gröfse, der Adel der Gesinnung, und wenn
ihm allmähhch alles mifsglückt, ein Schlag nach dem anderen ihn trifft,
so erscheint er immer kleiner, immer schwächlicher. Die Warnungen
des Sehers, die er anfangs mit entschiedenem Mifstrauen anhört,
machen zuletzt einen tiefen Eindruck, den der Chor benutzt, indem
er in den König dringt, die Antigone freizulassen und den Leichnam
des Polyneikes zu bestatten. Kreon willigt in alles ein. Aber die
Motivirung dieser Wandlung, welche in Kreon vorgeht, ist unzu-
länglich; und doch kann der plötzliche, aber verspätete Entscblufs
das Unheil nicht mehr abwenden. Wenn Kreon schon hier seiner
Sinne kaum mächtig ist***), so erscheint er, nachdem die Katastrophe
eingetreten ist, völlig gebrochen und haltlos. Seine Reue verräth
ebenso wie die Umkehr den äufsersten Grad der Schwäche.
Der Eindruck des Schroffen und Herben, den die Hauptcha-
128) Antig. 199ff. 285 ff. 516 ff.
129) Natürlich beziehen sich Antigone und die anderen, welche dem König
entgegentreten, ebenso wenig auf die bestehende Rechtsordnung, sondern grei-
fen nur des Kreons Verbot an.
130) Die Worte 1108. 1109, welche hart an die Weise der Komödie strei-
fen, bekunden deutlich diesen Gemüthszostand.
26*
404 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
raktere machen, wird durch die Nehenfiguren ermJU'sigl. So steht
der Antigone ihre Schwester Ismene, eine milde, echt weibHche Natur,
dem Kreon sein Sohn Hämon zur Seite, ein offener, edler Cha-
rakter, der nur durch des Vaters Zorn und bittere Reden zu leiden-
schaftlichen Aeufserungen fortgerissen wird. Aber dafs später Hä-
mon neben der Leiche der Antigone das Schwert gegen den Vater
zückt und, als dieser ausweicht, sich selbst durchbohrt, erschien
schon dem Aristoteles als ein bedenkliches Wagnifs'^'), zu welchem
der tragische Dichter nicht ohne dringenden Grund sich entschliefsen
darf. Die dienenden Personen werden mit richtigem Takte behandelt;
indem ihre Gesinnung und Redeweise an die Sphäre des gewöhn-
lichen Lebens erinnert, sondert sie sich bestimmt von den heroischen
Charakteren ab. So hat namenthch die Figur des Wächters indivi-
duelles Leben und ist nicht ohne einen gewissen volksmäfsigen Hu-
mor gezeichnet.
Ist auch die Entscheidung wesentüch in die handelnden Per-
sonen verlegt, die für das, was sie thun, verantwortlich sind, ihre
Zukunft in sich selbst tragen "% so spielt doch auch die Vorstellung
einer düsteren, im Hintergrunde drohenden Macht mit herein ; be-
sonders bei der Heldin des Dramas wird die unheilvolle Wirkung des
Fluches, der sich von Geschlecht zu Geschlecht vererbt, wiederholt
hervorgehoben. Dies ist nicht etwa eine unbewufste Reminiscenz
an seinen grofsen Vorgänger, sondern Sophokles war nicht gesonnen,
diese Vorstellung, welche poetisch so wirksam ist, aufzugeben.
Der Chor besteht aus Greisen, die gewissennal'sen des Königs
Rath bilden"'), aber von Kreon berufen werden, nicht um die An-
gelegenheit zu berathen, sondern nur, um ihnen nachträglich das
Verbot mitzutheilen, welches des Königs Herolde bereits dem Volke zur
Nachahmung verkündet haben. Der Chor verharrt in der unterge-
ordneten Stellung, die ihm Sophokles anwies, aber erfüllt vollkommen
die ihm belassene Aufgabe. Jedes Lied ist für die Stelle, wo es
steht, durchaus passend, schliefst sich eng an die vorhergehende
13t) Aristoteles Poet. c. II p. 1454 A 1. Den doppolsinnigen Ausdruck
avrql xo^atd'eis 1235 hat Sophokles wohl absichtlich gewählt.
132) Vom Kreon sagt der Chor 1259 f.: ovx di.Xoxpiit*' artjv, all* avroi
afta^wv, aber auch von der Antigone 875: ff« S* nvröyvojros tukec* o^yä,
obwohl vorher auch der andere Gesichtspunkt beriicksichtigl wird 85(5: najQi^ov
S' ixiiven rtv' ad'Xov.
133) Antigone HJO.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II. SOPH. 405
Handlung an oder deutet auf das Folgende hin. Die Gesänge nehmen
nicht nur einen ziemlichen Raum ein, sondern sind auch, wie über-
all bei Sophokles, durch Anmutb und Eleganz der rhjihmischen Bil-
dungen ausgezeichnet und verbinden Mannigfaltigkeit mit reichem
Gehalt. Während die Parodos Dankbarkeit gegen die Götter wegen
der Errettung der Stadt aus grofser Gefahr und die Freude über den
unverhofften Sieg ausspricht, ergeht sich das erste Stasimon, welches
an den Bericht des Wächters sich anschlicsst, in Betrachtungen über
den erfinderischen Menschengeist, die, obwohl sich im Allgemeinen
haltend, doch nicht ohne Beziehung auf die dramatische Handlung
sind. Das zweite Stasimon gehört unbestritten zu den vorzüglichsten
meUschen Dichtungen des Sophokles. Angesichts des der Antigone
drohenden Todes gedenkt der Chor des unheilvollen Geschickes, wel-
ches das Geschlecht der Labdakiden heimsucht, und warnt vor Ver-
blendung, die den Menschen ins Verderben stürzt, indem er in seiner
Belhörung das Schlimme statt des Rechten erwählt. Auch hier macht
der Tragiker von der Amphibolie schickUchen Gebrauch. Diese Ge-
danken sind zunächst durch das Schicksal der Antigone hervorge-
rufen, aber ihre Bedeutung reicht weiter; die Warnung gilt vor allem
dem Kreon. Nach dem Streite zwischen Kreon und Hämon, der sich
von dem Vater lossagt, schildert der Chor die Allgewalt der Liebe,
welche selbst den Gerechten mit fortreifst. Der Umfang dieses Sta-
simons ist mäfsig, da gleich darauf das Klagelied der Antigone folgt,
welches der Chor mit kurzen Strophen unterbricht. Als Antigone ab-
geführt wird, singt der Chor das vierte Stasimon ; aber da er nicht
wagt seine Empfindungen offen auszusprechen, führt er nur eine Reihe
Bilder aus vergangener Zeit vor. Die Schicksale der Helden und
Heldenfrauen, die der Chor schildert, enthalten stets eine mehr oder
minder deutliche Beziehung auf die Gegenwart. Als Kreon sich end-
lich nachgiebig zeigt, stimmt der Chor, sich der Hoffnung hingebend,
noch lasse sich alles zum Guten wenden, einen schwungvollen Hym-
nus auf Dionysus an, den er bittet seiner geliebten Stadt hülfreich
beizustehen. Dieser freudig erregle Gesang bildet zu der traurigen
Katastrophe, die unmittelbar nachher eintritt, den schroffsten Gegen-
satz. In der Schlufsscene fällt dem Chore das Amt zu , die Aus-
brüche trostloser Verzweiflung des Kreon zu begleiten.*'^)
134) Während Kreon sein Unglück in dochmischen Versen beklagt, be-
dient sich der Chor des iambischen Trimeters.
406 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Die Ausführung im letzten Theile, wo alles auf die Entschei-
dung hindrängt, hat etwas Skizzenhaftes. Die Sinnesänderung, welche
sich bei Kreon vollzieht, ist nicht genügend vorbereitet. Hat auch
der Dichter die Eurydike nicht blofs eingeführt, um die Trauerbot-
schaft von dem Tode der Antigone und des Hämon anzubringen,
sondern um alles Unheil auf dem Haupte des Kreon zu häufen
und den tragischen Eindruck zu steigern, so wird doch dies nicht
erreicht; denn die Frau und Mutter, welche sich stillschweigend
während des Berichtes entfernt, um sich selbst den Tod zu geben
und dem Gatten zu fluchen, vermag uns kein rechtes Interesse ab-
zugewinnen.'^) Die Verzweiflung Kreons, dem nicht einmal die Er-
lösung durch den Tod beschieden ist, wird mit fliegender Hast ge-
schildert, und wir sind dem Dichter dankbar, dafs er den Anblick
dieser Jammergestalt uns so bald als möglich entzieht.'*')
Das Drama mag rasch entworfen und eben so rasch und in einem
Zuge niedergeschrieben sein. Daher die Frische und Lebendigkeit
der Darstellung; andererseits mag jene Eile den Mängeln, die in der
Durchführung der Idee hervortreten, zur Entschuldigung dienen.
Auffallend ist, dafs, während nach der Schilderung des Dichters die
feindlichen Brüder Tags vorher gefallen sind und Kreon sofort die
Heri^chaft antritt'^), also jenes verhängnifsvolle Verbot eine seiner
ersten Regierungshandlungen ist, gleichwohl diese Anschauung im
weitereu Verlaufe des Stückes nicht recht festgehalten wird, indem
das Verhältnifs wiederholt so aufgefafst wird, als habe Kreon schon
längere Zeit das Ruder des Staates geführt.'^) Offenbar gab der
Dichter seiner Neigung, alles sorgfaltig zu luotiviren, allzu sehr nach.
Störender ist in der letzten Rede der Antigone, als sie zum
Tode abgeführt wird und ihr Geschick beklagt, die Weise, wie die
heroische Jungfrau ihre Thal nochmals zu rechtfertigen sucht. Für
135) Eurydike spricht nur neun Verse (1183— 1H)1).
136) Es klingt fast wie Selbstkritik, wenn der Chor 1327 bemerkt: ß^-
Xicra yap xQäriOxa xav noalv xaxä,
137) Antig. S. 15. 156. 173.
13S) Antig. 289. 994 (wo sich die Erklärer auf künstliche Weise aus der
Noth helfen) inr)S und 1161. Denn dafs l»oreils die Vögel, die vom Leich-
name des Polyneikes kommen, alles verunreinigen (1016 f.), ist eine erlaubte
Freiheit i'i der Reliandlung der Zeit. Man darf darin nicht etwa Spuren einer
späteren Ueberarbeitung linden; jene Stellen sind unzweifelhaft so überliefen,
wie sie im ersten Kiitwiirfe lauteten.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II. SOPH. 4U7
den Bruder, sagt sie, giebt es, wenn Vater und Mutter gestorben
sind, keinen Ersatz; den Verlust des Gatten oder der Kinder kann
das Geschick, wenn es will, wieder ausgleichen: darum drängte es
mich so sehr, meinem Bruder den letzten Liebesdienst zu erweisen.
Diese Gedankenreihe stimmt vollständig, theilweise sogar im Wort-
laute, mit einer bekannten Erzählung bei Herodot'^j, wo eine edle
persische Frau, deren Angehörige zum Tode verurtheilt sind, vom
König Darius nicht des Gatten, sondern des Bruders Leben er-
bittet. Dafs eben jener Vorgang, den der Geschichtsschreiber schil-
dert, dem Tragiker vor Augen war, ist sicher. Während aber dort,
wo es sich um das Leben des Liebsten auf Erden handelt und der
König über den Vorzug, den die Frau dem Bruder giebt, sein Be-
fremden äufsert, die Antwort durchaus treffend ist, erscheint hier
diese Rechtfertigung weder des hohen Sinnes der Heldin würdig,
noch auch für die Verhältnisse der Antigene zutreffend, die sich
mit der Situation, in welcher sich die Gattin des Intaphernes be-
fand, gar nicht vergleichen hefsen. Die ganze Art der Beweisfüh-
rung hat im Munde der Antigone etwas Gemachtes und Sophistisches.
Um den Sophokles gegen diesen Vorwurf zu schützen, betrachten
die Neueren jene Verse meist als einen Zusatz von fremder Hand.**^
Aber gerade weil diese Motivining der That im Munde der Antigone
so befremdhch kUngt, hat schwerHch ein anderer, selbst nicht der
frostige lophon, gewagt die ursprüngliche Dichtung mit handgreif-
lichen Trugschlüssen zu bereichern. Diesen Mifsgriff wird der
Dichter selbst verschuldet haben."*) Herodot hielt sich damals,
als Sophokles seine Antigone dichtete, in Athen auf. Abgesehen von
der öffenthchen Vorlesung eines Abschnittes der Historien, welche
die Ueberlieferung in Ol. 83, 3 (4) verlegt, mag Herodot im Freun-
deskreise einzelne Partien seiner Arbeit milgetheilt, anderes münd-
139) Herodot UI 119 vgl. mit Aotig. 904 ff.
140) Man hat an lophon oder gar an die Interpolation eines Schauspielers
gedacht. DaCs Aristoteles Rhet. III 16 p. 1417 A 28 ff. sich auf diese Verse bezieht
und sie unbedenklich als Sophokleische zum Beleg einer spitzfindigen para-
doxen Beweisführung benutzt, ist allerdings noch kein ausreichender Beweis
für die Echtheit der Stelle.
141) Hier trifft die Bemerkung des Longin de subl. c. 33 zu: o ^£ IlivSa-
QOi xai o ^ipoxkrjS ori fiiv olov TvävTa i7itf/.£yovai tj yo^«, oßevvx/vrai 8'
aloytoi noXijäxn xo» ninrovCtv arvxBOTara.
408 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
lieh erzählt haben. Sophokles mufs damals mit Herodot freund-
schaftlich verkehrt haben'"); ihm lag also die Versuchung nahe,
eine solche Reminiscenz an das Werk seines Freundes einzuflech-
ten, welches, obschon unvollendet, die allgemeinste Theilnahme in
Anspruch nahm, hat doch der Tragiker auch in späterer Zeit in
seinem Oedipus auf Kolonos sich eine unverkennbare Anspielung
auf die Historien des Herodot gestattet.'*^}
Die Hauptcharaktere dieser Tragödie, Antigone und ihre Schwe-
ster Ismene, Kreon und sein Sohn Hämon, oder, wenn man will,
jene Namen fand Sophokles vor, aber die dramatische Handlung ist,
so viel sich erkennen läfst, freie Erfindung des Dichters."*) Die
Verweigerung der letzten Ehren für den im Kampfe gegen die
Vaterstadt gefallenen Polyneikes ist den Früheren unbekannt. Nach
tbebanischer Ueberlieferung, der Pindar gefolgt ist'"), waren sieben
Scheiterhaufen für die Leichen der feindlichen Führer errichtet.
Antigone und ihre Schwester erleben noch die Zeit des Heerzuges
der Epigonen'^"); dagegen ist Hämon nach den Kykhkern, schon
ehe Oedipus den Thron bestieg, als ein Opfer der Sphinx gefallen.'")
Freilich glauben die Neueren, Aeschylus habe bereits diesen Stoff,
wenn auch nur in kurzen Umrissen, behandelt; aus der letzten Scene
der Sieben habe Sophokles das Motiv seiner Antigone entlehnt.'**)
142) Dies beweist das gerade in dieser Zeit an Herodot gerichtete Epi-
gramm des Sophokles , s. Plutarch an seni sit ger. resp. c. 3, 5.
143) Oed. Kol. 337 und Herodot \l 35. Diese Hinweisung auf ägyptische
Landessitle ist zwar nicht gerade unpassend, aber in der Tragödie befremdlich;
und hier kann man die betreffenden Verse gar nicht missen.
144) Es ist sicher irrig, wenn in der zweiten vnöd'effie behauptet wird,
die xoivfj S6^a, der die Tragiker gefolgt seien, berichte die ausgezeichnete
Bruderliebe der Schwestern.
145) Pindar Ol. VI 15. Nem. IX 24. Bei Theben zeigte man die Gräber
der feindlichen Brüder unmittelbar neben einander. Alljährlich brachte man
ihnen ein gemeinsames Todtenopfer dar; aber noch immer gab sich nach der
Volkssage der alte Hafs kund, indem die Flamme und der Rauch des Opfers
eich jedes Mal theilte, s. Pausan. IX IS, 3.
146) So iMimnermus fr. 21 und Ion fr. 12, der Zeilgenosse des Sophokles,
s. Sallustius' Hypothcsis der Antigone.
147) Kinäthon in der Oedipodie, s. Schol. Eurip. Phon. 1760.
148) Dagegen läfst der Schol. Eurip. Phöniss. 1703 den Sophokles die erste
Anregung der Tragödie des Euripides verdanken {ant^/uara rfi £o<poxX*ovs
^Avuyovri naftox*), ohne zu bedenken, dafs die Phönissen mehr als ein Men-
schenalter später gedichtet sind.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRDPPE. DIE BLÜTHEZEIT. 11. SOPH. 409
Allein mit voller Zuversicht darf man behaupten, dafs diese ganze
Partie von fremder Hand zugesetzt ward'"^) und dafs eben die So-
phokleische Tragödie den Anlafs gab, das Drama des Aeschylus mit
diesem Schlüsse zu bereichern.'*") (S. oben S. 305.)
Indes die erste Anregung zur Conceplion der Antigone mag
Sophokles dem alten Meister, dem er so vieles schuldete, verdanken.
Aeschylus hatte in den Eleusiniern geschildert '**), wie Adrastus nach
dem unglücklichen Ausgange der ersten Heerfahrt durch Vermit-
telung des Theseus die Ausheferung der Todten von den The-
banern erlangt und die argivischen Helden auf attischem Gebiet
bestattet. JNach dem rohen Brauche der alten Heroenzeit versagt
der Sieger den gefallenen Feinden das Begräbnifs. Der attische König
brachte die humanere Sitte, nach der Schlacht die Todten auszu-
wechseln, zur Geltung, ein später von den Hellenen allgemein an-
erkanntes Gesetz. Dieser Sieg des neuen Kriegsrechtes, welches auch
im Feinde den Menschen zu ehren gebot, über die Härte der alten
Volkssitte war für die dramatische Poesie ein geeigneter Vorwurf
und bot zugleich dem patriotischen Dichter Gelegenheit dar, das
Verdienst, welches seine Vaterstadt, die sich ihrer religiösen und
humanen Gesinnung mit Fug rühmen durfte, sich um die Fortbil-
dung des Bechtes erworben hatte, zu verkünden.
Nichts lag näher, als dafs der jüngere Dichter an demselben
Punkte anknüpfte. Wie die Thebaner nach Aeschylus den Argi-
vern die Todtenehre verweigern, so entzieht Kreon bei Sophokles
dem Polyneikes, der mit jenen Argivern die Waffen gegen seine
Vaterstadt geführt hatte, die letzte Buhestätte. Aber gegen dieses
Verbot lehnt sich Antigone auf; ihr steht die Pflicht gegen den
149) Aeschylus, obwohl mit freigebiger Hand seine Schätze austheilend,
weifs doch hauszuhalten und wird nicht, um eine so störende Zugabe anzu-
bringen, den überlieferten Mythus in dieser Weise fortgebildet haben, um seinem
Nachfolger einen fertigen Stoif zu einem Drama darzubieten. Auch ist Sopho-
kles eine viel zu selbständige Natur, um so sltlavisch in die Fufstapfen seines
Lehrers zu treten.
150) Der Fortsetzer der Sieben weicht übrigens in einzelnen Punkten
von seinem Vorbilde ab. Bei Sophokles geht das Verbot von Kreon aus, hier
von der berathenden Körperschaft, eine wohlbegründete Abänderung. Bei So-
phokles steht Antigone allein; hier schliefst sich ein Theil des Chores der
Heldin an.
151) PJatarch Theseus c. 29.
410 DRITTE PERODE VON 500 BIS 300 V. CUR. G.
Bruder, das ungeschriebene güllliclie Gesetz hühcr als das Recht
des Staates, und ohne Bedenken opfert sie für diese Ueberzeugung
ihr Leben. Während bei Aeschylus in den Eleusiniern die Streit^
frage befriedigend geschlichtet wird und alles glücklich verläuft,
nimmt die Tragödie des Sophokles für alle Theile einen traurigen
Ausgang, und der Conflikl bleibt ungelöst; denn es liegt hier in der
That ein Widerstreit gleichberechtigter Interessen vor. Antigene
vertritt das Recht der Familie, macht die Forderungen der natür-
lichen Pietät geltend; Kreon ist berufen, das Recht der staatlichen
Ordnung zu wahren. Polyneikes hatte mit Beistand der Argiver
seine Heimath mit Krieg überzogen und sich dadurch des Hochver-
rathes schuldig gemacht. Wer dieses Vergehens überführt war, dem
versagte das Gesetz ein ehrliches Begräbnifs in der Heimath; er war
nicht würdig, wie jeder andere Bürger im Schoofse der mütterhchen
Erde zu ruhen. Man schaffte den Leichnam über die Grenze und
liefs ihn unbeerdigt liegen. Später ward die Härte des alten Brau-
ches meist insoweit ermäfsigt, dafs man den Todten aufserhalb des
Staatsgebietes verscharrte.'^^) Hatte einer sich der Vollstreckung des
152) Was Hochverrath war, wufste in Athen jedermann. Die Verwün-
schungen, welche in Athen in jeder Volksversammlung feierlich gegen jeden Ver-
such, die Verfassung anzutasten (die Sitte ist gewifs alt, aber die Formel hat
im Verlaufe der Zeit manche Zusätze erhalten; z. B, die Hindeutung auf hoch-
verrath eri sehe Verbindung mit den Medern, Aristoph. Thesm. 365, ward durch
die Machinationen der Peisistratiden veranlafst, s. Philipps Brief 2,7 p.462 Herch.),
wiederholt wurden, sollten eben dazu dienen, einen jeden an seine Pflicht zu
erinnern. Was das Solonische Gesetz über die Tf^oSörat und die ihnen gleich-
gestellten IeqÖgvXoi (Xenoph. Hell. I 7, 22) bestimmte, war in aller Gedächtnifs.
Dafs es den Verwandten des Themistokles nicht gestattet "war, die Gebeine des
grofsen Mannes in der Heimath beizusetzen, wufste zur Zeit, als Sophokles die
Antigene dichtete, in Athen jedermann (Thukyd. 1 1H8), und auch später verfährt
man nach denselben Grundsätzen, wie die Bestrafung der Führer der Oligar-
chen nach dem Sturze der Vierhundert beweist (s. das Psephisma bei Plutarch
dec. er. vit. Antiphon 28, und was Lykurg gegen Leokr. 1 13 bemerkt). Aus die-
ser Rede des Lykurg geht zur Genüge hervor, dafs das Gesetz auch in der
Zeit des Demosthenes volle Geltung hatte; der Fall des Phokiou ist allgemein
bekannt. So bestimmt auch die Bundesurkunde von Ol. 100, 3, dafs wer irgend-
wie sich gegen die Bestimmungen dieses Vertrages vergehen und mit dem Tode
bestraft werden würde: fiij xayrjra iv ifi'Axxntrj firjSi Iv tJj xciv cvfiftäxatv.
Es war dies offenbar ein allgemein in Griechenland üblicher Brauch; Diodor
XVI 25, 2 bezeichnet es als Ttaga näai roTt "EklrjOt xotvbi vöfioi aiäipovi gl-
nxec&ai rove ie^avkovi. Auch Plato Leg. IX 854 Ff. schreibt dasselbe vor, wie
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II. SOPH. 411
Unheils durch die Flucht entzogen und starb in der Fremde, so
war es den Angehörigen nicht gestattet seine Gebeine im heimi-
schen Boden beizusetzen. Kreon ist also vollkommen im Recht,
wenn er die Beerdigung des Polyneikes in der Heimath nicht zu-
liefs. Aber statt die Leiche über die Grenze zu schaffen, läfst er
sie in unmittelbarer Nähe der Stadt den Vögeln und Hunden preis-
geben und schärft nachdrücklich das Verbot ein , dem Hochverräther
die letzte Ehre zu erweisen. Dies verstöfst entschieden gegen das
Herkommen, welches nicht einmal den todten Verbrecher als einen
Schuldbefleckten im Lande duldet '"), und das Verbot der Bestattung
war in diesem Falle nur geeignet, zur Uebertretung anzureizen.
Hätte Kreon sich streng an die alte Satzung gehalten, so ward
der Conflikt vermieden ; denn Antigene vermochte nicht die Scher-
gen zu verhindern, die Leiche über die Grenze zu bringen. Wenn
sie dann den Bruder in fremder Erde bestattete, so genügte sie ihrer
er die gleiche Strafe aucli noch bei anderen Vergehen empfiehlt, gewifs in
Uebereinstimmung mit der Volkssitte (man vergleiche den Richterspruch gegen
die, auf denen das Kvltüvstov äyos haftete, Plut. Sol. c. 12,3). Das alte strenge
Gesetz gebot offenbar den Todten über die Grenze zu schaffen und dort unbeerdigl
liegen zu lassen (Diodor XVI 25, 2); später mochte man humaner verfahren und
den Leichnam dort einscharren, wie der Fall des Phokion zeigt. Die Versagung
der Bestattung war ein schweres Unglück, da der Todte nicht zur Ruhe gelan-
gen kann; aber auch wenn man den Leichnam aufserhalb des Staatsgebietes bei-
setzte, ward dies als ein Unglück betrachtet. In Griechenland war jeder mit
der Heimath so eng verwachsen, dafs es für ihn nur im vaterländischen Boden
rechte Ruhe gab. Der sterbende Polyneikes sagt daher bei Euripides Phöniss.
1451: y.ai y^s (piXr,s o/d'oiat xovcpd'TJvai y.aX6v (der Vers ist wieder in sein
Recht einzusetzen). Jedenfalls aber ward die Versagung des Grabes in der Hei-
math als die gröfste Schmach angesehen, Teles bei Stob. Floril. 40, S p. GS, 27 M,:
To yE iv rf, i8iq urj e^elvai racpfjvai Ticöi ovx ovetSos; Lm diesen Satz zu
widerlegen, führt der Philosoph aus, dafs die Kriegsführer, auf welche Athen
stolz sei, in der Fremde bestattet seien (dies zielt auf Themistokles), während
man die, welche der Demokratie Schande machten, auf Staatskosten beerdigte ;
dann wird noch auf Phokion angespielt, dessen Leiche man im megarischeu
Gebiet verscharrte.
153) Sowohl der Fortsetzer der Sieben des Aeschylus (1014: i^co ßahiv
ad'ajiTov aQnayTjv xvaiv, während es lOOS von Eteokles heifst: d'dnTetv yijs
tpih^s xazaaxafals, nicht filats wie die Hdschr. lesen) als auch Euripides
(Phöniss. 162S: rövSe S\ os TitQacov nchv naroiSa aiv äXXois i]/i.&e, HoXv-
vaixovi vixvv, ^Exßälsx^ äd'ajirov Tr^iS' oQCäv k^oj x^ovos), obwohl sie sonst
von der Darstellung bei Sophokles abhängig sind, schildern ganz correkt das
Verfahren.
412 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Pflicht, ohne das Gesetz des Staates zu verletzen; nur wenn sie ver-
sucht hätte die Gebeine heimhch in der Heimath beizusetzen, ver-
fiel sie der Ahndung. Aber der dramatische Dichter braucht einen
Conflikt. Weder Rücksicht auf das gemeine Beste, noch Unkenntnifs
seiner Pflicht, sondern nur kleinhche persönUche Rache, zu weicher
kein Grund vorlag'"), konnte den Kreon zu seinem Verfahren veran-
lassen. Der Dichter fühlte recht gut, dafs dieses Motiv nicht tragisch
war; er hilft sich, indem er uns über die wahre Sachlage täuscht.
Nirgends wird das Recht des Staates offen anerkannt, sondern das
Verfahren des Kreon erscheint als ein willkürliches, mit der Volks-
sitte nicht in Einklang stehendes Herrschergebot.'") Sophokles
niufste, wenn er sich auf den Boden des historischen Rechts stellte,
i'ückhaltslos und unzweideutig die gleiche Berechtigung beider Par-
teien anerkennen. Den Zeitgenossen war natürhch das Verhältnifs
nicht unbekannt; jeder Athener mufste wissen, welche Strafe den
Landesverräther traf; der Fall des Themistokles war noch in frischem
Andenken."*) Aber dies darf man nicht zur Entschuldigung des
154) Wenn Kreon, indem er die harte, aber nicht ungerechtfertigte Satzung
des Landrechts vollzieht, in einem Punkte willkürlich davon abweicht, so han-
delt er nicht aus dem inneren Antriebe menschlicher Natur, sondern weil es
der Dichter so wollte und brauchte. Dies wird immer eine erkältende Wirkung
ausüben.
155) Ein Ausweg bot sich dar. Sophokles konnte dieses Verfahren als den
letzten Willen des sterbenden Eteokles darstellen, den Kreon gelreu zu erfül-
len für seine Pflicht hielt. Bei Euripides, der es liebt, alles vorzubereiten und
zu motiviren, verlangt Eteokles, als er sich von Kreon verabschiedet, 776, die
Bestattung des Bruders in der Heimath nicht zu dulden, &vrjaxetv Se xhv &ä-
xfavra xav ^iXotv rie rj, wie andererseits der sterbende Polyneikcs Mutter
und Schwester bittet (1447 fr.), ihn in der vaterländischen Erde zu begraben und
von der erzürnten Volksgemeinde diese Erlaubnifs auszuwirken (nohv &vfiov-
ftevTjv Tia^yoQtlTOv).
156) Vielleicht hatten gerade in dieser Zeit die Angehörigen des Themi-
stokles seine Asche heimlich (denn an Errichtung eines Grabhügels ist nicht
zu denken; der Perieget Diodor bei Plutarch Them. c. 32 berichtet nur, was man
später glaubte; jedoch mag man später das Andenken des grofsen Mannes
durch ein Monument geehrt haben, wie die Verse des Komikers Plato fr. ine. 1
Com. II 2, 679 andeuten) nach Altika gebracht; der vorsichtige Thukydides nennt
es nur ein Gerücht, aber die Sache ist nicht unwahrscheinlich. Achnlichcs
wiederholt sich später bei dem Tode des Phokion. Ha da mochten legale Leute
in übertriebenem Eifer verlangen, man solle die Sache untersuchen und die Ge-
beine des Themistokles wieder über die Grenze schaffen. Nach .Andokides (fr. 3)
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLDTHEZEIT. II. SOPH. 413
Tragikers geltend machen ; vielmehr hatte er um so weniger Grund.
die Sachlage zu verdunkeln."') Jetzt verraifst man die gleich ab-
wägende Gerechtigkeit; der Dichter mifst mit doppeltem Mafse und
vermag daher auch nicht uns rechte Theilnahme für Kreon ein-
zuflöfsen, den Sophokles nicht nur mit sichthcher Ungunst, sondern
geradezu ungerecht und heblos behandelt.'**)
Wohl gab es noch einen anderen Weg. Sophokles konnte die
alte Rechtsgewohnheit, welche dem Hochverräther ein ehrliches Grab
in der Heimath verweigerte, im Interesse der Humanität anfechten;
dann mufste der Tragiker jenes Verbot des Kreon als eine Neue-
rung darstellen.*"*) Wenn hier zum ersten Male das Recht des
Staates sich gegen die urahe rehgiöse Satzung erhob, dann konnte
der unglückliche Ausgang des Streites benutzt werden, um zu zeigen,
wohin diese Neuerung, die aus einem Akte der Willkür hervorge-
gangen war, führe, die man eben deshalb, wenn sie auch bisher
wäre dies wirklich geschehen; es ist dies eine Tradition, die der Redner für
seinen Zweck benutzt. Thukydides als unglaubwürdig ignorirt. In diesem Mo-
mente konnte Sophokles die Idee gefafst haben, seine Antigone zu schreiben.
157) Die neueren Erklärer, indem sie nicht erkennen, wie der Dichter
absichtlich das Rechtsverhältnifs nicht klar darlegt, häufen MifsverständniTs auf
Mifsversländnifs.
158) Wenn Kreon innerlich gebrochen und seine That bereuend 1113:
SiSoixa ya^ /xtj revs xa&sarähas vöuovs aoiatov ff acö^ovxa rov ßiov TeXsiv,
so sieht dies wie ein Geständnifs aus, als habe er nur aus willkürlicher Laune
dem Polyneikes die letzte Ehre entzogen, als hätte die Rechtsordnung keinem,
auch nicht dem Hochverrälher das Grab in der Heimath versagt Auch hier
unterläfst es der Dichter klar auszusprechen, worin eigentlich die Schuld des
Kreon besteht. Hart and lieblos lautet das ürtheil des Chores am Schlüsse
der Tragödie 1348 ff. : TioXXa xo <poovelv evSaißioviae nQcörov vnäfx^'^' XQV
Se T« y' eU &sovs firjSiv aaemsiv xrL Diese Worte können natürlich nur
auf Kreon, über den ein schweres Gericht ergangen ist, hinweisen ; denn es ist
ein gründliches Mifsversländnifs, wenn die Erklärer meist in diesen Versen den
Grundgedanken der ganzen Tragödie suchen.
159) War dies die Ansicht des Sophokles, dafs Kreon etwas Neues, un-
gewöhnliches einführte, dann mufste er sich unzweideutig darüber aussprechen,
wie Aeschylus in ähnlichen Fällen stets das neue Recht dem alten offen gegen-
überstellt. Bemerkenswerth ist, dafs in der Fortsetzung der Sieben des Aeschy-
lus, wo der Chor sich spaltet und die Dissonanz ungelöst bleibt, der Theil,
welcher es mit Antigone hält, die Satzungen des Staates für wandelbar er-
klärt (lO'Of.), Bei Euripides spricht sich Antigone gegen Kreon ganz im Sinne
modemer Humanität aus.
414 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. Clin. G.
unangefochten bestanden hatte, sobald als möglich wieder beseitigen
müsse. Wenn Sophokles offen Partei ergriff, wenn er das eine
Princip als allein berechtigt anerkannte, das andere entschieden be-
kämpfte, indem er geltend machte, es sei unmenschlich, die Strafe
des Verbrechers über das Grab hinaus auszudehnen , dann schrieb
er ein Tendenzstück. Es ist freilich nicht gerade poetisch, wenn
die dramatische Handlung fremden Zwecken als Werkzeug dient;
auch entspricht es nicht der Gewohnheit des Sophokles, gegen be-
stehende Einrichtungen zu polemisiren. Aber es ist wohl denkbar,
dafs der Dichter Unbefangenheit des Urtheils genug besafs, um die
Volkssitle, welche seiner milden Weise nicht gemäfs war, zu mifs-
bilhgen; nur giebt er dieser Auffassung keinen rechten Ausdruck.'*)
Antigone, der der eine Bruder so werth ist als der andere, trägt nur
ihre subjektiven Empfindungen vor. Wenn Teiresias die schlimmen
Zeichen verkündet, in denen er die Mifsbilligung der Götter erblickt,
so mag dies dramalisch wirksam sein, reicht aber nicht aus, um
die Ueberzeugung anderer umzustimmen. Sophokles hat sich für
keinen dieser Wege recht entschieden, und eben diese unklare,
schwankende Haltung ist ein unleugbarer Fehler des Dramas.
Die Zeit der Aufführung der Tragödie läfst sich mit Hülfe der
Ueberlieferung, dafs Sophokles seine Wahl zum Feldherrn dem un-
getheilten Beifall verdankte, den dieses Drama fand, genau fest-
stellen. Mögen auch andere Rücksichten die Stimmen bei der Wahl
auf den Tragiker gelenkt haben, so Hegt doch kein Grund vor, die
Thatsache anzuzweifeln, dafs Sophokles unmittelbar nach der Auf-
führung der Antigone für das nächste Jahr zum Strategen ernannt
wurde. Es steht anderweitig fest, dafs Sophokles Ol. 84, 4 im ersten
Jahre des samischen Krieges dieses Amt bekleidete; folglich ward
die Antigone Ol. 84, 3 auf die Bühne gebracht. Da nun Euripides
in demselben Jahre den ersten Preis davon trug""), fiel dem So-
160) Sophokles hütet sich irgendwie direkt sich gegen die Satzungen
der Menschen zu Gunsten der göttlichen Rechlsordninig auszusprechen, wenn
man nicht etwa in das Geständnifs des Kreon lll.t und in die Schlufsverse
des Chores diese Deutung hineinlegen will.
l'U) Ol. 84, '.i unter dem Archon Diphilus erhielt Euripides nach der pa-
risrhen Chronik Ep. <)() das erste Mal den ersten Preis (Tv^cinov irixrjaev). Auch
wenn damals bereits an den Lenäen Tragödien aufgerührl wurden, haben doch
die beiden grofsen Meister sich um einen Chor fär die stadtischen Dionysien
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II. SOPH. 415
phokles der zweite zu, was alle Zeit als ein achtungswerther Erfolg
betrachtet ward.
Es ist nicht die Art des Sophokles, durch Anspielungen auf
Tagesfragen oder Vorgänge der nächsten Gegenwart die Blicke der
Zuhörer von der dramatischen Handlung abzulenken und um augen-
blickhchen Beifalls willen die dauernde Wirkung der Dichtung zu
beeinträchtigen. Allein der Dichter ist, zumal wenn er in einer leb-
haft erregten Zeit lebt, gegen die Eindrücke der Aufseuwelt nicht
unempfänglich; daher lohnt es sich, die Zeit der Abfassung einer
Tragödie zu ermitteln. Erst jetzt, nachdem wir wissen, dafs So-
phokles die Antigone Ol. 84, 3 schrieb, wird manche Einzelheit an-
schaulich , obwohl bei Sophokles das richtige Verständnifs seiner
Dramen niemals davon abhängig ist, da er zu sehr Dichter war,
um durch das Verfolgen von Nebenzwecken den künstlerischen
Werth seiner Schöpfungen zu schädigen. Die athenische Demokratie
stand damals in voller Blüthe; Perikles, nachdem er seines alten
Gegners Thukydides sich entledigt hatte, lenkte das souveräne Volk
durch die Macht seiner Persönhchkeit ganz nach eigenem Willen.
Die freisinnigen Worte, welche in der Antigone wiederholt gegen-
über der unumschränkten fürstlichen Gewalt fallen, sind gleichsam
der Wiederhall einer weit verbreiteten Stimmung und mufsten leb-
beworben und also an demselben Feste mit einander gekämpft. In der Einleitung
zur Antigone wird bemerkt, Sophokles sei svSoyifiTjaae iv t^ SiSaaxaXiq rr^s
^AvriyövTiS zum Feldherrn erwählt worden. Dieser Ausdruck ist für den zwei-
ten Preis ganz angemessen. Aristophanes Wolken 529 sagt von seinen Jatra-
).sTs, welche ebenfalls die zweite Stelle erhielten, a^iar^ rjxovaäxr.v , wozu der
Scholiast bemerkt: arri rov rivSoyifir,aav ov ya^ iviKT/aev (gew. oi yäo kvi-
yr/Oav), eTiei Bevxeqos ixoi&r, iv reo Soä/nari. Bestätigt wird dies durch die
offenbar verdorbenen Worte der Einleitung: XiXsxrai Sero S^äfta tovto rgta-
xoarlv SevrsQov. Diese Zahl ist irrig; denn Antigone kann nicht das vierte
Drama einer Tetralogie gewesen sein; es ist zu lesen: SeSiSaxrai Se lo
Sqäfia rovro r^iaxoarov Sevre^os (fjv). Also war die Antigone Mittelstück
einer Trilogie. lieber die anderen mit der Antigone verbundenen Dramen haben
wir keine Kunde; dafs weder der erste noch der zweite Oedipus hierher ge-
hören, ist schon oben S. 227 A. 100 erinnert. Eher könnte man daran denken,
ein verloren gegangenes Drama, die Epigonen, als drittes Stück zu betrachten,
aber bei Sophokles sind alle Vermuthungen dieser Art ganz unsicher. In V. 1080
— 1083 (wo ixd'qal in tx&Qq zu verändern ist) darf man keine Beziehung
auf die folgende Tragödie finden ; auch sind diese Verse vielleicht Zusatz von
zweiter Hand.
416 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
haften Beifall finden. Aber den Dichter trifft deshalb kein Tadel,
da diese Aeufserungen der dramatischen Situation angemessen sind.
Kreon glaubt überall in seiner Umgebung Verrath wahrzunehmen,
traut jedem, der ihm widerspricht, unlautere Motive zu und setzt
Bestechung voraus. Dadurch wird der mifstrauische Charakter eines
unumschränkten Gewalthabers gezeichnet. Aber seit dem offenkun-
digen Verrathe des Tansanias und dem unglückUchen Ausgange des
Themistokles lieh man solchen Verdächtigungen überall geneigtes
Ohr. Wenn in einem Chorliede, welches die Macht des Dionysus
preist, neben Eleusis und seinen Mysterien vor allem ItaHen als
ein jenem Gotte werthes Land bezeichnet wird***^), so mufs man
sich erinnern, dafs der bakchische Geheimdienst dort allgemein
verbreitet und der Name Italien in Athen damals in aller Mund
war, da eben in jenen Jahren'"^) die neue Niederlassung zu Sy-
baris gegründet ward, an welche sich grofse Erwartungen knüpften.
Das hohe Selbstgefühl, welches damals in Athen herrschte und durch
die philosophischen Studien, die mehr und mehr Eingang fanden,
genährt wurde, spiegelt sich deutlich in einem Chorliede wieder."*)
Zugleich aber weist der Tragiker auf die Schranken hin, welche der
Mensch nicht ungestraft überschreiten darf.
lophon mag später das Drama wieder zur Aufführung gebracht
haben"*), indem er wie herkömmlich hie und da eine Aenderung
anbrachte. An eine durchgreifende Umgestaltung ist jedoch nicht
zu denken; die Tragödie macht durchaus den Eindruck einer ein-
heitlichen Arbeit.
Wie die freie Dichtung des Sophokles von der kühnen Thal
der heroischen Jungfrau alsbald die volle Geltung einer alten volks-
mäfsigen Sage erlangte, sieht man aus der Fortsetzung der Sieben
des Aeschylus und den Phönissen des Euripides; aber es ist be-
162) ÄDtigone 1119, von den Kritikern mit Unrecht verdächtigt.
163) Ol. 83,3 und 84,1.
164) Anlig. 334 ff.
165) Auf eine bestimmte Ueberliefcrung deute! Gramer An. Ox. IV 315
hin: Tiolkn yaQ vo&evöftBvä iariv, cot »; üofoxXe'ovi 'AfriyötT]' ^Tai ya^
elvat ^^vTKftJJvra ('/oyjöJrroc) tov ^o^oxXdovt viov, wo freilich eine hand-
greifliche Uebertreibung vorliegt. Nach einer unverbürgten Anekdote (Bio-
graphie) hat Sophokles selbst unmittelbar vor seinem Tode die Antigene wieder
zur Aufführung gebracht.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II.SOPH. 417
greiflich, dafs kein Dichter dieses Motiv wieder aufnahm und in einem
selbständigen Drama bearbeitete.*^) Die Antigone des Euripides
knüpft zwar an die Tragödie des Sophokles an, schildert aber die
späteren Schicksale der Antigone und des Hämon, indem Euri-
pides, ganz abweichend von Sophokles, die Jungfrau und ihren Ver-
lobten jene Katastrophe überleben hefs. Wohl aber hat Accius das
Sophokleische Drama für die römische Bühne bearbeitet.
Der Oedipus der griechischen Sage ist das anschaulichste Bei- König oedi-
spiel eines tragischen Glückswechsels. '^^ Von den Eltern als Kind ^"^'
schonungslos dem Verderben preisgegeben, weil das Orakel ihnen
verkündet hatte, wie verhängnifsvoll der Sohn einst für Vater und
Mutter werden würde, ward der ausgesetzte Oedipus wunderbar
gerettet und wuchs in der Fremde unter der Obhut gütiger Pflege-
eltern heran. Um das Geheimnifs seiner Herkunft zu ergründen,
wendet er sich nach Delphi. Da das Orakel ihn vor Vatermord
und Blutschande warnt, beschliefst er fortan die Pfleger seiner Ju-
gend zu meiden; aber er sollte seinem Schicksal nicht entgehen.
Kaum hat der Heimathlose seine Wanderung angetreten, so trifl"t er
mitLaius auf demselben Wege zusammen. Ein Streit entspinnt sich;
Oedipus erschlägt nichts ahnend den Vater, zieht nach Theben, löst
das Räthsel der Sphinx und erhält zum Lohne für die Befreiung
von dieser Landplage den erledigten Thron und die Hand der ver-
wittweten lokaste. So erfüllt sich an Oedipus und seinem Ge-
schlechte das Verhängnifs trotz aller Warnungen und aller Versuche,
sich dem Unvermeidlichen zu entziehen. Ruhig flössen die Jahre
dahin; Oedipus schien sich eines ungetrübten Glückes zu erfreuen.
Da wird unerwartet der Schleier des Geheimnisses gehoben ; der
zwiefache Frevel des Vatermordes und der unheiligen Ehe kommt
ans Licht. lokaste macht mit eigener Hand ihrem Leben ein Ende;
Oedipus blendet sich selbst.
Diese wunderbare Schicksalsverflechtung, welche schon die alten
166) Ungenau die vnö&eais des Grammatikers Aristophanes: xBirat. r
(ivd'onoua xai sra^' EvQiniSr, iy'yivriyovr,; hier ist wohl äv na^sxßäast 9\is-
gefallen.
167) Euripides begann seine Antigone mit den Worten fr. 15". 158 Di.: ^
OtSlnove To ngärov evSaificov avijQ, elr' iysver' avd'is ad'Xtmraxoe ß^ormv
welche Aeschylus bei Aristoph. Frösche 1183 ff. kritisirt.
Bergk, Griecb. Literaturgeschichte III. ^'
418 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Epiker angezogen halte, niufste vor allem den Wetteifer der attischen
Tragiker entzünden; es gab kaum ein zweites Thema, welches
gleich geeignet war, ebenso Rührung und Theilnahrae für den un-
glücklichen Helden zu erwecken, wie die Gemüther mit unheim-
lichem Grauen zu erfüllen.'"') Aeschyliis hat zuerst in seiner the-
banischen Tetralogie die Sage von Oedipus zugleich mit dem Schick-
sal seines Vaters Laius und seiner Sühne Eteokles und Polyneikes
dramatisch bearbeitet.'®') Indem der Tragiker in stetiger Folge das
unselige Geschick dieses Hauses vorführte, das Fortwirken des
Fluches und der Sünde durch drei Geschlechter darstellte, trat das
Walten der Nemesis in ergreifendster Weise hervor. Sophokles be-
schränkt sich auf einen Abschnitt der Sage. Gerade Oedipus, dessen
Schicksal auf die Vergangenheit wie auf die Zukunft seines Ge-
schlechtes hinweist, war geeignet, der Held einer Einzeltragüdie
zu sein, und eben in dieser Beschränkung vermochte die Kunst des
Sophokles den Wettkampf mit der schlichten, alterthümlichen Grofs-
heit seines Vorgängers vollkommen zu bestehen. Zum dritten Male
ward dieser Vorwurf von Euiipides bearbeitet'™); wie ihm die Lö-
sung der schwierigen Aufgabe gelang, läfst sich aus den Trümmern
seines Oedipus nicht erkennen. Nur so viel sieht man, dafs er
auch diesmal nach Aeschylus und Sophokles neu zu sein verstand.
Ebenso haben die jüngeren Tragiker sich immer wieder an diesem
Stoffe versucht, der einem bühnenkundigen Dichter so viele Vor-
theile darbot.
Das alte Epos schilderte den ganzen Verlauf der Schicksale
168) Aristot. Poet. c. 14 p. 1453 ß 3ff. : Sei ya^ aal avev rov oQav ovrio
owearävai rov fivd'ov, aiare rov dxoiovra t« rc^äyfxaja yiyvöfieva xai tp^ir-
tei,v xal iXeelv ix tmv avfAßaivövriav, ane^ av nad'Oi xtt axoi'xov xoy toi
OtSinoSoe fivd'ov.
1Ü9) Leider ist uns von dem Oedipus des Aeschylus so gut wie nichts
erhalten. Auch über den Oedipus des Achäus wissen wir nichts Genaueres.
170) Dafs Euripides erst nach Sopholiles den Oedipus schrieb, wird zwar
nicht überliefert, ist aber kaum zu bezweifeln. Bei Euripides blendet sich
Oedipus nicht selbst, sondern alte Kriegsgefahrten des Laius vollziehen an dem
Unglücklichen diese Strafe; dadurch suchte der Tragiker die alte Sage, die
Ihm roh erscheinen mochte, zu verbessern. Die Entdeckung des Geheimnisses
erfolgt nach und nach; erst wird der Vatermord, später auch die Blutschande
an das Licht gezogen, also das, was Sophokles in geschlossener Einheit und
kunstreicher Concentration dargestellt hatte, successiv vorgeführt.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLCTHEZEIT. II.SOPH. 419
des Oedipus und war daher darauf bedacht, die Ereignisse mög-
lichst zusammenzudrängen; daher erfolgte die Entdeckung der
Frevel bald nach der Vermählung mit lokaste. Die Tragödie be-
schi'änkt sich auf die Darstellung der Katastrophe. Der Moment,
wo unerwartet die Wahrheit ans Licht kommt und das Glück des
Hauses vernichtet, war allein für das griechische Drama brauchbar,
und indem die Enthüllung des Geheimnisses in eine spätere Zeit
verlegt wird"'), nachdem Oedipus Jahre lang mit den Seinen in
Frieden gelebt hat, steigert sich die Wirkung der Peripetie. Die
Erfahrung, dafs die Vergeltung sicher, wenn auch spät, den Schul-
digen trifft, bewahrheitete sich so recht augenscheinlich.
Der Prolog der Sophokleischen Tragödie führt uns gleich Oe-
dipus selbst vor, der unter das Volk tritt, welches an den Altären
der Götter um Hülfe gegen die verheerende Seuche fleht. Ein greiser
Priester giebt dem Gedanken, der alle erfüllt, Ausdruck, indem er
den Oedipus beschwört, auch diesmal, wie früher, sich als Retter
in der Noth zu bewähren. Oedipus hatte schon aus eigenem An-
triebe den Kreon nach Delphi gesandt, um der Götter Willen zu
erkunden. Kreon kehrt zurück mit dem Bericht, das Orakel ge-
biete die Mörder des Laius, die im Lande weilen, zu bestrafen, um
durch diese Sühne Theben von aller Noth zu befreien. Oedipus
ist sofort bereit, dieser Vorschrift zu gehorchen, und befiehlt den
unbekannten Frevlern nachzuspüren. Teiresias wird gerufen, um
mit seiner Kunst hülfreiche Hand zu leisten. Als der Seher sich
weigert näheren Aufschlufs zu geben, da es Oedipus Unheil bringen
werde, geräth dieser in leidenschaftlichen Zorn und beschuldigt den
Teiresias der Mitwisserschaft an dem Morde des Laius. Der Seher
deutet mit geheimnifsvollen und doch kaum mifszuverstehenden Wor-
ten auf die Blutschuld und Blutschande des Königs, sowie auf das
Elend, welches ihm bevorsteht, hin. Oedipus, dessen Aufregung sich
steigert, verdächtigt den Kreon, den er beschuldigt, sich mit Tei-
resias zu seinem Sturze verschworen zu haben. Nachdem sich der
Seher entfernt, erscheint Kreon, und Oedipus wiederholt jene Ver-
dächtigung. Dafs Teiresias ihn als Mörder bezeichnet hatte, ist ihm
ein Beweis des geheimen Einverständnisses mit Kreon. Dieser setzt
171) Aeschylus mag dies besonders mit Rücksicht auf das dritte Drama
gethan haben; ihm sind die anderen gefolgt.
420 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
der Heftigkeit des Oedipus mafsvoUe Ruhe entgegen. Als der Streit
seinen Höhepunkt erreicht, als Oedipus dem Kreon mit dem Tode
droht, wird der Wortwechsel durch Dazwischenkunft der lokaste
geendet. lokaste sucht den Gatten zu beruhigen. Der Seher Kunst
sei eitel; dies habe sich an Laius bewährt, dem das Orakel ver-
kündete, er werde durch des Sohnes Hand fallen, während ihn
Räuber an einem Kreuzwege erschlugen und der Sohn in frühester
Kindheit umkam. Gleich einem Rlitzstrahle treffen die Worte der
Gattin den Oedipus.'") Er erinnert sich, wie er einst im Streit auf
der Heerstrafse einen Unbekannten erschlug, und die Ahnung taucht
auf, er selbst sei Laius' Mörder, gegen den er eben arglos Acht und
Fluch ausgesprochen hatte. Range Furcht und Resorgnifs bemäch-
tigen sich des Oedipus; aber er ahnt nicht, dafs Laius sein Vater
war, sondern besorgt, wenn er aus Theben ausgestofsen werden
sollte, könne sich doch noch an seinen Eltern in Korinth und ihm
selbst der verhängnifsvolle Schicksalsspruch erfüllen, der ihn einst
die Heimath zu meiden bestimmte. Da kommt die Rotschaft von
Korinth, König Polybus sei gestorben, Oedipus zu seinem Nachfolger
bestimmt. lokaste triumphirt, die Sehersprüche schienen sich als
eitler Trug zu bewähren. Allein Oedipus kann das Gefühl einer
drohenden Gefahr nicht loswerden; denn noch lebt Merope. Von
dieser Sorge sucht ihn der Rote zu befreien, indem er das Dunkel,
welches auf seiner Geburt ruhte, lichtet. Oedipus sei dem korinthischen
Königshause gar nicht blutsverwandt; er selbst habe einst von einem
Hirten des Laius im Gebirge ein Kind erhalten und zur Merope
gebracht, die es an Sohnes Statt aufzog. Rei diesem Rerichte wird
lokaste auf einmal das entsetzliche Geheimnifs klar, und sie be-
schwört den Gatten, von weiteren Nachforschungen abzustehen.
Allein Oedipus, von seiner quälenden Furcht befreit, besteht darauf,
sich Gewifsheit über seine Herkunft zu verschalTen. Diese sollte
ihm alsbald zu Theil werden. Der sehnlichst erwartete greise Diener
des Laius, der einst beauftragt war, den Knaben auszusetzen, und
aus Mitleid ihm das Leben gerettet hatte, der bei dem Tode seines
Herrn zugegen war und den Thäter längst erkannt hatte, wenn
ihm auch das verwandtschaftliche Verhällnifs verborgen blieb, er-
scheint und berichtet, obwohl widerstrebend, was er weifs. Jetzt
172) König Oedipus 726.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. IT. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II. SOPH. 421
wird dem Oedipus die ganze Wahrheit offenbar, und, vollständig ge-
brochen, nimmt er vom reinen Lichte der Sonne Abschied. Ein Bote
berichtet, was sich im Innern des Hauses zutrug. lokaste vermag
die Schande nicht zu überleben ; Oedipus beraubt sich selbst des
Augenlichtes. Indem der Dichter zum Schlufs den unglücklichen
nochmals vorführt und so die ganze Schwere des unheilvollen Ge-
schickes zur Anschauung bringt, ist er zugleich bemüht, das grauen-
hafte Schauspiel durch einen versöhnenden Zug zu mildern, indem
Kreon, der edelmüthig der früheren Kränkungen nicht gedenkt, dem
Verzweifelnden zum Tröste die Töchter zuführt.
König Oedipus bezeichnet den Gipfel der Sophokleischen
Kunst.'") In alter wie neuer Zeit hat diese Tragödie mit Recht die
ungetheilte Anerkennung gefunden ; nur darüber gehen die Ansich-
ten weit aus einander, ob der Dichter den Oedipus als Opfer eines
grausamen, unvermeidlichen Verhängnisses darstelle oder ihn für
seine Thaten und Leiden selbst verantwortUch mache. Der Mythus,
an dem der Tragiker nichts Wesenthches ändern durfte, stellt die
unausbleiblichen Folgen einer ungeheueren Verirrung dar. Aber
weil Oedipus unbewufst in dieses Verhängnifs verstrickt wird, er-
scheint die Bufse in keinem adäquaten Verhältnisse zur Schuld. Allein
eben deshalb war das Schicksal des Oedipus der dankbarste Stoff für
die tragische Poesie. Je unerforschlicher die Wege des Geschickes
sind, je weniger dem Leiden ein entsprechendes Mafs von Ver-
schuldung vorausgeht, desto wärmer ist unser Mitgefühl, desto ver-
zeihhcher erscheint der Irrthum. Aber der Dichter, wenn er nicht
173) LoDgin c. 33, indem er die tadellose Eleganz des Ion der gehalt-
vollen, wenn auch nicht immer fehlerfreien Poesie des Sophokles gegenüber-
stellt, fügt hinzu: ^ oiSels av ev <pQOväv erbe S^äftaros, rot OiSi^xoSoe, eis
ravTi ovvd'els xa "Iojvos tiüvt' avrtTifir,aairo e^s. Aristoteles nimmt in der
Poetik auf kein anderes Drama des Sophokles so häufig Bezug als auf den
Oedipus, und stets mit gebührender Anerkennung. In der Inhaltsangabe des
Dramas heifst es: Xuquvtios 8e rvQavvov jtdvxES airov iTityqücpovaiv, cos
i^a'xovra näar^i rrfi ^ofox}Jovs noiTjasois. Nur hat dieser Zuname nichts mit
dem poetischen Gehalte der Tragödie zu schaffen; sie erhielt später den Zu-
namen zum Unterschiede vom Oedipus in Kolonos, wo Oedipus als heimath-
loser Flüchtling auftritt, während er hier König von Theben ist. Andere nann-
ten diese Tragödie passender noöxsQos, wie ebendaselbst berichtet wird: 8ia
roi-s xQovoxs xöüv StSaaxaXicöv xai Sid za nody/iaxa. Sophokles selbst hatte
sein Drama einfach OiSinove genannt.
422 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
selbst an der höheren Gerechligkeil irre geworden ist oder darauf
ausgeht, unser sitlHches Gefühl zu verletzen, darf den Unglücklichen
nicht von aller Verantwortlichkeit freisprechen. Für Aeschylus war
die Losung der schwierigen Aufgabe, das Walten der Nemesis mit
dem Schicksale des Einzelnen in Einklang zu bringen, Schuld und
Sühne auszugleichen, einfacher. Die Form der Irilogischen Com-
posilion bot ungesuchl viele Vortheile dar, auf welche Sophokles im
Einzeldrama, wo das Schicksal des Helden isolirt wird, verzichten
mufsle. Den scharf ausgeprägten fatalistischen Zug der alten Ueber-
Heferung konnte und wollte Sophokles nimmer preisgeben. Er war
zu sehr Dichter, um auf dieses wirksame Motiv zu verzichten. Aber
er mildert das Herbe, indem er die Verirrung des Oedipus mit der
angeborenen Art seines Charakters in Verbindung setzt und so dra-
matisch zu begründen sucht. Freilich wird uns nicht die Thal selbst
als gegenwärtig vorgeführt, sondern die Enthüllung der Frevel,
welche unerwartet nach langer Zeit ein Zufall ans Licht bringt.
Jene Vorgänge, welche die Voraussetzung der dramatischen Hand-
lung bilden, werden in der Form der epischen Erzählung nach-
geholt.
Die Zeit der Aufführung ist nicht überliefert und läfst sich
nicht mit voller Sicherheit feststellen; doch mufs die Tragödie des
Sophokles der Medea des Euripides nahe stehen."*) Sie wird im
Beginn des grofsen Krieges wahrscheinlich Ol. 87, 3 gegeben sein,
ist also in der traurigen Zeit gedichtet, wo eine verheerende Seuche
Athen heimsuchte. Nicht mit Unrecht hat man im Eingange der
Tragödie in der ergreifenden Schilderung der Pest zu Theben ein
174) Klearchus bei Athen. VII 276 A bemerkt in Betreff der ygaftuartxr
rgayc^Sia des Kailias: n9>' rje noi^cat ra fieXt] xal rijv Sin&eatv EvQtniSrjv
iy MrjSsiq xai ^ofoxXia xov OlBinovv. Dies wird X 453 C näher dahin erläutert,
dafs Sophokles im Oedipus sich nach dem Vorgange des Kailias die Elision
am Ende des Trimeters gestattet habe. Die Bedeutung dieser Notiz darf man
nicht überschätzen, aber sie bietet einen Anhalt für die Fixirung der Chrono-
logie dar. Ausgeschlossen sind die Jahre 01.87, 1 und 87, 4; denn wir wissen
aus den Didaskalien, daTs 87, 1 Euphorion, Sophokles und Kuiipides, S7, 4
Euripides, lophon und Ion auftraten. Es bleibt also die Wahl zwischen Ol. 87, 2
und :<; doch hat das letztere .Jahr die meiste Wahrscheinlichkeit. Nach grund-
loser Verrauthung hat man das Stück in Ol. 91, I verlegen wollen. Dies wird
schon dadurch widerlegt, dafs damals Euripides und Xenokles concurrirlen;
fülglich ist für Sophokles und Philokles kein Kaum.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. IL GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II.SOPH. 423
Abbild der unmittelbaren Gegenwart zu finden geglaubt. Wohl konnte
ein Dichter wie Sophokles auch ohne äufseren Anlafs, ohne eigene
Anschauung ein solches Unglück mit lebhaften Farben ausmalen.
Dramatisch ist dieses Motiv vollkommen berechtigt; der Eintritt des
verhängnifsvollen Schicksalswechsels des Oedipus wird dadurch sehr
passend gekennzeichnet."*) Wenn man aber erinnert, Sophokles sei zu
feinfühlig gewesen, um gerade in dem AugenbUcke, wo seine eigene
Vaterstadt von dieser schweren Noth betroffen war, ein Bild auf der
Bühne vorzuführen, welches die Zuschauer allzu schmerzhch an die
traurige Gegenwart erinnern mufste, so ist dieser Einwand nichtig.
Es wäre vielmehr Zeichen einer weichlichen Natur, hätte der Dichter
aus solcher Rücksicht auf eine Schilderung verzichtet, welche ganz
geeignet war, die rechte Stimmung zu erzeugen."^) Die schwere
Zeit mufste ein ernstgestimmtes Geraüth auffordern, vor allem die
sittliche Erhebung der Zuhörer ins Auge zu fassen, statt sie von
ernsten Gedanken abzulenken und zu zerstreuen. Wenn Sophokles
gerade in diesem Drama überall, besonders in den Chorliedern,
nachdrücklich an die hohe Bedeutung der sittlichen Weltordnung
erinnert, welche nach unwandelbarem Gesetz der Menschen Ge-
schicke lenkt, so erscheint diese Mahnung in einer Zeit, wo alle Bande
der Zucht sich lockerten, vollkommen gerechtfertigt.'")
Wenn Sophokles sich mit dem zweiten Preise begnügen mufste,
indem Philokles ihm vorgezogen ward'"*), so darf man den Grund
dieser scheinbaren Zurücksetzung weder in dem beschränkten ür-
theile und üebelwoUen der Preisrichter, noch viel weniger in po-
175) Wie früher die Sphinx Theben heimsuchte, so jetzt die Seuche,
gleichviel, ob dies alte Ueberlieferung oder Erfindung des Tragikers war.
176) Der Dichter war hier vollkommen im Rechte; dagegen ist es ein
entschiedener Mifsgriff, wenn man emsig nach weiteren Beziehungen in dieser
Tragödie gesucht hat, wenn man überall Anspielungen auf Perikles za finden
glaubt.
177) Wie der sittliche Verfall damals offen zu Tage trat, hat Thuky-
dides als Augenzeuge meisterhaft geschildert.
178) Wenn in Aevvnöd'eais bemerkt wird: yaoidvrias Se rigawov anav-
rse avrov imyqäifovaiv a5s k^iypina Tidarje rrfi ^ocpoxlt'ovs 7toiT;<rsa}S, xaineo
r]Trr)d'ivra vno ^ihyxXiovs, Ss <pr]at JixaiaQxos , SO folgt daraus nicht, dafs
schon Dikäarch das ürlheil unbillig fand (so fassen es die Späteren auf, s.
Aristides II 334), sondern Dikäarch hatte nur nach den Didaskalien vermerkt,
dafs Philokles den ersten, Sophokles den zweiten Preis erhielt.
424 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
litischen Antipathien suchen, da das Drama des Sophokles, wenn
schon unter dem gewaltigen Eindruck der Zeitverhällnisse gedich-
tet, doch von jeder poHtischen Tendenz weit abliegt und nach
keiner Seite hin verletzend wirken konnte. Philokles wird nicht
mit eigenen Arbeiten , sondern mit einer Tetralogie des Aeschy-
lus concurrirt haben, und wenn die Kampfrichter dem alten
Meisler den ersten Preis zuerkannten, wird Sophokles selbst am
wenigsten in diesem Urtheile eine unverdiente Kränkung gefunden
haben.
Sophokles hat manchmal etwas Kühles, da bei seinem poetischen
Schaffen die Reflexion besonders Ihätig war. In dieser Tragödie ist
eine gewisse Wärme der Empfindungen wahrzunehmen, die um so
wohlthuender wirkt, je herber die Schicksalsverflechtung ist, welche
der Dichter uns vor Augen rückt. Auch der Chor, obwohl un-
selbständig wie immer bei Sophokles, wird doch sehr passend ver-
wandt, um die Zuhörer in die geeignete Stimmung zu versetzen."")
Diese Gesänge zeichnen sich nicht nur durch tiefen sittlichen Ge-
halt, sondern meist auch durch ungewöhnlichen Schwung und Feuer
aus; man fühlt hier gleichsam die läuternde Wirkung der schweren
Zeit, welche der Dichter mit seinen Zeitgenossen eben durchlebt
hatte. Wenn der Bau der Verse im Dialog weniger kunstgerecht
erscheint, so mag es unentschieden bleiben, ob die unruhige Zeit
nicht die nöthige Muse gönnte, oder ob diese lässigere Weise ab-
sichtlich mit Rücksicht auf die aufregende dramatische Handlung
gewählt ward.
Pbiioktet. Den Philoktet hat Sophokles Ol. 92, 3, also nur wenige Jahre
vor seinem Tode, geschrieben."") Aber das Stück zeigt keine Spur
von Altersschwäche; man sieht vielmehr, wie der Dichter damals
noch im vollen Besitz geistiger Frische war. Sophokles behandelt
hier einen Stoff, den schon Aeschylus und Euripides vor ihm be-
arbeitet hatten'"); aber auch wenn eine Vergleichung mit den Dramen
179) Das VerhältniTs der melischen Partien zum Dialoge ist etwa wie
1:3.
ISO) In dem Argument: iSi8äxSri ini rXavxinnov, nQÖnoi rpf. Leider
werden weder die anderen zur Tetralogie gehörenden Stücke, noch die Mit-
bewerber des Sophokles genannt.
181) Im Argument ist zuschreiben: xetrni k«« jrnp' j4iax'Xt^ [xal nag*
Ei(nniBri) 7} uvd-onoun. Euripides' Philoktet ist Ol. 87, 1 aufgeführt.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLDTHEZEIT. 11. SOPH. 425
seiner Vorgänger uns vergönnt wäre, so würde dies sicherlich der
Sophokleischen Dichtung keinen Eintrag thun.'*^) Der Philoktet
gehört zu den Intriguenstücken , einer Gattung, die der damals
herrschenden Richtung besonders zusagte. Allein im Vergleich mit
dem künstlichen dramatischen Apparate des Euripides erscheint die
Handlung schhcht, aber alles Einzelne ist mit grofser psychologischer
Kunst ausgeführt, so dafs Sophokles mit einfachen Mitteln eine be-
deutende V^'irkung erzielte.
Die Quelle der Fabel ist der epische Kyklus, Bei Lesches bringt
Diomedes den kranken Philoktet, der im Beginn des Krieges in
Lemnos ausgesetzt worden war, nach Troia zurück"^), weil ein
Seherspruch verkündet hatte, nur durch die ihr Ziel niemals ver-
fehlenden Geschosse des Herakles, welche Philoktet besafs, könne
Troia bezwungen werden. Für die schhchte epische Dichtung war
Diomedes die geeignetste Persönlichkeit, um diesen Auftrag auszu-
führen ; die Tragödie setzt an seine Stelle den Odysseus. So spitzt
sich der dramatische Conflikt zu; denn Odysseus hatte früher den
Philoktet an die öde Küste von Lemnos gebracht und mufste ihm
vor allen anderen verhafst sein. Dem Aeschylus, der, sei es nach
eigener Erfindung oder nach einer abweichenden Tradition'"), die
Rolle des Diomedes auf Odysseus überträgt, sind mit richtigem
Takte die anderen Tragiker gefolgt; nur gab Euripides, um die
Handlung reicher auszustatten, dem Odysseus den Diomedes als
182) Lehrreich ist die Parallele, welche Dio Chrysostomus LII zwischen
diesen drei Tragödien zieht. Jeder der drei Tragiker hat den Stoff anders be-
handelt. Sophokles, der letzte Bearbeiter, war in der schwierigsten Lage, aber
er verstand es, neu zu sein, ohne dem Geiste des allen Mythus zu nahe zu
treten.
163) Es ist unrichtig, wenn man glaubt, Lesches habe dem Diomedes
auch noch den Odysseus beigegeben. Bei dem Kykliker vollbringt Diomedes
allein diesen Auftrag; ebenso holt Odysseus den Neoptolemus von Skyros;
dann rauben beide Helden das Palladium. Diese Anordnung der Begebenheiten
entspricht der symmetrischen Anlage des Epos; es wäre ein Fehler gewesen,
wenn der Epiker einen Helden ohne Noth allzu oft vorgeführt hätte. Auch in
dem Gemälde in den Propyläen zu Athen (wohl von Polygnot, s. Pausanias
1 22, 6) holt Diomedes den Philoktet zurück.
184) Aus Pindar Pyth. 1 53 kann man schliefsen, dafs nach volksmäfsiger
Sage oder bei einem anderen Dichter (vielleicht einem Lyriker; denn an den
Philoktet des Epicharmus ist schwerlich zu denken) mehrere Heroen diesen
Auftrag vollzogen.
426 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G,
Begleiter'*'), während bei Sophokles den Auftrag, Philoktets Hülfe
für die gemeinsame Sache zu gewinnen, Neoplolemus unter Mit-
wirkung des Odysseus erhält, eine sinnreiche Neuerung, welche dem
Dichter Gelegenheit bot, sein grofses Talent in der Charakterzeich-
nung aufs Glänzendste zu bewähren.
Philoktet, auf der Fahrt nach Troia durch giftigen Schlangen-
bifs verwundet, wurde von den Achäern, denen die Gemeinschaft
mit dem kranken Helden als unerträgliche Last erschien, erbar-
mungslos verstofsen. An dem öden Strande von Lemnos bringt er,
in der Einsamkeit mühselig sein Leben fristend, gequält von schmerz-
voller, unheilbarer Krankheit, wie von dem Gefühl unverdienter, bit-
terer Kränkung, seine Tage zu. Endlich naht dem schwergeprüften
Dulder unerwartet die Stunde der Erlösung. Erst als man erfuhr,
dafs Troia nur mit Philoktets Hülfe erobert werden könne, erinnerte
man sich des Helden, den man dem bittersten Elende preisgegeben
hatte. Philoktet hatte gerechten Grund, dem Atriden und dem
Odysseus, der zur Ausführung der herzlosen That die Hand geboten
hatte, zu grollen. Und wieder ist Odysseus bereit, den Mann, der
ihn tödtlich hassen mufste, zurückzuführen, da seine Theilnahme für
den glücklichen Ausgang des langwierigen Krieges unentbehrlich
war. Der schlaue Odysseus war der geeignetste Mann, um diesen
schwierigen Auftrag zu vollziehen ; aber, um seinen Zweck sicher
zu erreichen, wählt er sich den jungen Sohn des Achilles zum Ge-
nossen. Neoptolemus soll durch kluge Verstellung das Vertrauen
des verbitterten Philoktet gewinnen, während Odysseus im Hinter-
grunde die Fäden des Anschlags unsichtbar lenkt. Neoptolemus,
der überlegenen Einsicht des gereiften Mannes sich unterordnend
und durch die lockende Aussicht auf hohen Ruhm bestimmt, ver-
steht sich, wenn auch widerstrebend, zu der zweideutigen, seiner
unwürdigen Rolle. Indem Neoptolemus vorgiebt, von den Atriden
und Odysseus, die ihm schweres Unrecht zugefügt, in bitterem Groll
geschieden zu sein, bringt Philoktet arglos dem Jünglinge, von dem
185) Aeschylus' Philoktet war eine änlTj r^y(pS{n; drei Personen (aiirser
den beiden Hauptßguren noch Athene) genügten. Euripides' Stack (eine nt-
nXtYftevT) TQayq}8ia) ffthrte aufser dem Lemnier Aktor auch noch eine Gesandt-
schaft der Troer ein, die gleichfalls um die Bundesgenossenschaft des kranken
Helden warben. Dieses Drama, unmittelbar vor dem Ausbruch des grofsen
Krieges gedichtet, war eben ein Zeit- und Sittenbild.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLDTHEZEIT. II. SOPH. 427
er keinen Verrath erwartet, volles Vertrauen entgegen und bittet
flehentlich ihn aus seiner trostlosen Lage zu befreien. Ein Bote,
der auf Geheifs des Odysseus berichtet, Diomedes und Odysseus seien
ausgezogen, um Philoktet im Guten oder mit Gewalt nach Troia zu
bringen, beschleunigt den Fortschritt der Handlung, indem Philoktet
zu raschem Aufbruch treibt. Aber ein heftiger Anfall der Krank-
heit führt eine Verzögerung und zugleich eine entscheidende Wen-
dung herbei. Denn Neoptolemus, bei dem Anbück der unsäglichen
Leiden von aufrichtigem Mitgefühl ergriffen und gerührt durch das
unbedingte Vertrauen des Helden, der den Bogen treuherzig in seine
Hand gelegt hatte, enthüllt ihm das künstliche Gewebe der Täu-
schung, erklärt aber zugleich, Philoktet müsse ihm nach Troia folgen,
und weigert sich den Bogen zurückzugeben. Der Unglückhche, der
sich verrathen sieht, braust in heftigstem Zorne auf und schildert
so herzbewegend das Elend, welches ihm bevorsteht, wenn er seines
einzigen Besitzes, der Pfeile des Herakles, beraubt sei, dafs der mit-
leidige Jüngling in seinem Entschlüsse zu schwanken beginnt. Da
tritt plötzlich Odysseus auf. Philoktet, der alsbald den verhafsten
Gegner erkennt, macht seinem Abscheu in leidenschaftlichen Worten
Luft. Odysseus setzt den Vorwürfen und Verwünschungen des Un-
glückhchen die gemessenste Buhe entgegen, erklärt, man bedürfe
seiner nicht, da der Besitz des Bogens genüge, und entfernt sich
mit Neoptoleinus, der während dieser Scene ein beredtes Schweigen
beobachtet und am Schlufs seine Gesinnung nicht verleugnet, indem
er dem Chor gebietet noch zurückzubleiben, vielleicht werde es ge-
lingen, den Philoktet umzustimmen, so dafs er sich fireiwiUig ent-
schliefse ihm nach Troia zu folgen. Allein der Zuspruch des Chores
bleibt wirkungslos. Die Verzweiflung des Philoktet, der sich nun
erst ganz elend und verlassen fühlt, erreicht hier den Gipfel. Er
betheuert mit dem heiligsten Eide, niemals in das Begehren seiner
Feinde zu wiUigen, die ihn einst ins Elend stiefsen und erst in der
Bedrängnifs sich seiner erinnern. Ja, der Gedanke des Selbstmords,
mit dem er schon früher gedroht hatte, taucht wieder auf; doch
lenkt er alsbald ein und zieht sich völlig gebrochen in die Felsgrotte
zurück. Inzwischen steht bei Neoptolemus der Entschlufs fest, was
er gefehh, wieder gut zu machen und dem Philoktet den Bogen zu-
rückzugehen. Nach einem lebhaften Wortwechsel mit Odysseus, der
sich vergeblich bemüht, ihn von diesem Gedanken abzubringen.
428 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
händigt er dem Philoktel seine Waffe aus. Umsonst versucht Odys-
seus dies mit Gewalt zu verhindern, und nur mit Mühe hält Neo-
ptolemus den Philoktet zurück, die Wirkung der unfehlbaren Ge-
schosse an seinem Gegner zu erproben. Neoptolemus erneuert mit
eindringhchen Worten seine Bitte, aus freiem Entschlüsse nachzu-
geben. Philoktel erkennt dankbar den Edelmuth des Jünglings an.
Der Sturm der Leidenschaft hat sich gelegt, und er ist ruhigem Zu-
spruche nicht mehr unzugänglich; aber zuletzt siegt doch das tief-
gewurzelte Mifstrauen, er vermag seinen Sinn nicht zu ändern. So
ist Neoptolemus bereit, das Wort, welches er ihm einmal gegeben
hatte, zu erfüllen und ihn in seine Heimath zurückzuführen.
Der Kampf der widerstrebenden Interessen ist auf eine Spitze
getrieben, wo eine innerliche Lösung unmöglich erscheint. Sollte
die dramatische Handlung nicht resultatlos ausgehen, so konnte nur
das Eingreifen einer höheren Macht eine befriedigende Entscheidung
herbeiführen. Sophokles trägt daher kein Bedenken, von diesem
Mittel, welches er sonst nur sparsam angewandt zu haben scheint, Ge-
brauch zu machen. Herakles, der vom Philoktet hochverehrte Heros,
dem sein Vater Pöas einst nahe gestanden halte, Herakles, dessen
Geschosse er selbst als letztes Vermächtnifs in seiner Hand hatte,
gebietet ihm nach Troia zu ziehen; dort werde er nicht nur Hei-
lung finden, sondern auch, mit Neoptolemus treu verbunden, IUods
Feste brechen und unsterblichen Ruhm gewinnen. Philoktet halte
diese Verheifsung schon früher vernommen, aber unter Umständen,
welche sein Mifstrauen wachrufen mufsten. Jetzt, wo Herakles'
Mund ihm den Spruch des Schicksals offenbart, welcher dem Schwer-
geprüften Erlösung zusichert, schwindet jeder Argwohn, und Philo-
ktet ist bereit, wieder als dienendes Glied der Volksgenossenschafl,
welche ihn ausgestofsen hatte, seine Pflicht zu erfüllen. Diese Um-
wandlung tritt nicht plötzlich ein; sie ist durch die frühere Scene
genügend vorbereitet. Schon der Edelmuth des Neoptolemus hatte
den Philoktet lief gerührt und seinen Trotz gebrochen, aber er
fürchtete, wenn er nachgebe, sich selbst untreu zu werden.
Der Philoktet des Sophokles, ein Drama von geschlossener Ein-
heit und streng symmetrischem Bau, beruht, obwohl die Verwick-
lung mehr oder minder durch Berechnung und List bedingt ist, auf
einfachen Voraussetzungen; auch liegt der Nachdruck nicht sowohl
auf der Situation , sondern auf der Charakterzeichnung. Das kUnst-
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II. SOPH. 429
lieh verschluDgene Spiel der Intrigue dient vor allem dazu, die Indivi-
dualität der Handelnden, ihr inneres Leben in klar umschriebenen
Zügen vorzuführen; denn es sind nicht typische Gestalten, sondern
lebendige Persönhchkeiten , deren Kämpfe des Dichters Kunst uns
vergegenwärtigt.
In erster Linie steht Philoktet, ein leidender Held, aber von
einer Seelenstärke und Grofsheit, dafs die Macht des tragischen Pa-
thos uns mit aller Gewalt ergreift und fortreifst. Vergeblich müht
man sich nachzuweisen, dafs Philoktet durch eigene Verschuldung
sich seine unerträglichen Leiden zugezogen habe.'*®) Allein in den
Worten des Dichters findet sich nicht die mindeste Andeutung. So-
phokles begnügt sich damit, dafs er auch diese Leiden als Schickun-
gen einer höheren Macht bezeichnet. Neoptolemus vermuthet '*^),
die Götter hätten deshalb das Unglück über Philoktet verhängt, um
ihn zu verhindern des Herakles siegreiche Geschosse eher auf die
Troianer zu richten, als bis die von den Göttern für den Unter-
gang Troias gesetzte Frist abgelaufen sei. Man mag diesen Ver-
such, die Verwundung des Helden durch den giftigen Schlangenbifs
und seine Aussetzung auf der Insel Lemnos zu motiviren, als einen
Nothbehelf betrachten, immer aber erscheint Philoktet als ein un-
schuldig Leidender, und gerade darum empfinden wir die innigste
Theilnahme mit seinem Geschick. Zugleich aber bewundern wir
die unerschütterliche Kraft und Willensstärke, welche er nach allen
Seiten hin bewährt. Aus der menschlichen Gesellschaft ausgestofsen,
bringt er unter den gröfsten Entbehrungen seine Tage zu, während
ein unheilbares Leiden seine Kräfte aufzehrt. Körperhche Pein dar-
zustellen ist immer eine bedenkhche Aufgabe für den dramatischen
Dichter; Jammer und Klagegeschrei scheint des Mannes unwürdig.
Aber Sophokles scheut sich nicht vor diesem kühnen Wagnifs.*^)
186) Es ist ein Fehlschlafs, wenn man sich auf Aristoteles Poet c. 13
p. 1452 B 34: ovte tovs imetxeis avS^as Sei fieraßaXXovrae cpaivsad'ai i^
evTvxicts eis Svarv^iav {ov yoQ tpoße^ov ovSe iXeeivov rovro, alXt ftax^ov
itjTiv) beruft; denn in unserer Tragödie tritt vielmehr der entgegengesetzte
Schicksalswechsel ein, Philoktet wird gerettet.
187) Philoktet 193. Der Chor erklärt 684 den Philoktet geradezu für
schuldlos.
188) Aehnlich in den Trachinierinnen, dann in dem verlorenen Drama
(den Niitxqa), welches den Tod des Odysseys durch den Rochenstachel dar-
stellte.
430 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Der Kampf mit den körperlichen Schmerzen, der dem willensstarken
Manne laute Wehklagen ausprefste, wird auf das Ergreifendste ge-
schildert, ohne dafs der Held an seiner Würde Einbufse erhlle.
Noch herber sind die Seelenschmerzen, welche in den verschieden-
sten Gestalten auf ihn eindringen. Standhaft widersteht Philoktet
allen Versuchungen, die ihm nahe treten. Er ist fest entschlossen,
eher hülflos unterzugehen, als irgend etwas zu thun, was seines
Charakters unwürdig, mit seiner Heldenehre unvereinbar schien.
Wohl ist Philoktet von Hafs und Mifstrauen gegen die, welche er
als die Urheber seines Unglücks betrachtet, erfüllt. Aber die schweren
Kränkungen, die er erfahren, rechtfertigen seine Erbitterung. Nicht
aus Trotz und Eigenwillen entspringt diese Unnachgiebigkeit, son-
dern aus dem hohen Selbstgefühl eines geradsinnigen Mannes, der
sich seines Werthes bewufst ist. Als Herakles herabsteigt und ihm
die Gewifsheit der nahen Erlösung giebt, folgt er willig. Dieser
starre Charakter war dennoch zarter Empfindungen fähig. Rührend
ist es, wie Philoktet zuletzt nicht ohne Wehmulh von der unerfreu-
lichen Stätte scheidet, auf der er lange, trübe Jahre verlebt hatte.
Oft getäuscht und betrogen, bringt er dem Sohne des Achilles volles
Vertrauen entgegen und hegt warmes Gefühl der Dankbarkeit für
jede Gutthat, die ihm der Jüngling zu erweisen bereit war.
Dem Philoktet gegenüber steht der jugendliche Sohn des Achil-
les, eine reine, unverdorbene Natur, die ihren angeborenen Adel
nicht verleugnet. Es war das erste Mal, dafs Neoptolemus am han-
delnden Leben theilnimmt. Pflichtgefühl und Bescheidenheit ge-
boten ihm, der Leitung des älteren erfahrenen Mannes zu folgen.
So fügt sich Neoptolemus anfangs den schlauen Rathschlägeu des
Odysseus, obwohl zögernd; denn es widerstrebt seinem Gefühl, das
Vertrauen eines Unglückhchen zu täuschen und durch Arglist sein
Ziel zu erreichen. Aber als der Trug über alles Erwarten gelungen
ist, kommt die Reue über ihn, und er empfindet es schmerzlich, dafs
er sich durch Odysseus vom geraden Wege hatte abbringen lassen.
Dieser innere Kampf, in dem seine bessere Natur «Icn Sieg davon-
trägt, wird nur angedeutet. Aber nachdem er otTenhcrzig dem Phi-
loktet alles bekannt hat, kann ihn nichts von dem Vorsalze ab-
bringen, was er gefehlt, wieder gut zu machen. Weder das Zureden
noch die Drohungen des Odysseus haben über ihn Gewalt. Er fürch-
tet nicht die Raclic der Alridrn, noch den Zorn der Acli.'it'r, j;i, »m-
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. If. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. H. SOPH. 431
ist bereit, hochherzig das gröfste Opfer zu bringen, indem er der
Aussicht auf Heldenruhm entsagt, um sein einmal verpfändetes Wort
zu halten."') Siegreich geht Neoptolemus aus dieser schweren Prü-
fung hervor; der unerfahrene Jünghng ist zum Manne gereift, der
nach freiem Entschlüsse handelt und fortan nur der Stimme in der
eigenen Brust folgt.
In schroffem Gegensatz zu beiden steht der klug berechnende,
welterfahrene Odysseus, die eigenthche Triebfeder der dramatischen
Handlung; aber das schlaue Gewebe seiner List erweist sich wirkungs-
los. Odysseus vermag dem energischen, schroffen Charakter des
Philoktet gegenüber ebenso wenig auszurichten, wie den offenen,
hohen Sinn des Neoptolemus dauernd für seine Zwecke zu benutzen.
Odysseus ist nicht unedel. Er verfolgt nicht persönhche Zwecke,
sondern wirkt unermüdUch im Dienste des Gemeinwesens ; aber hier
ist ihm jedes Mittel recht, wenn es zum Ziele führt. Nicht das
Gefühl, sondern die Berechnung des Verstandes ist für ihn mafs-
gebend.
Den Chor bilden nicht, wie bei den Vorgängern des Sophokles,
Bewohner der Insel Lemnos, sondern Krieger des Neoptolemus.
Dadurch wird der Eindruck der vollständigen Isolirung, in der Phi-
loktet lange Jahre zugebracht hatte, entschieden verstärkt. Da die
Buhne nur einmal auf kurze Zeit von den Schauspielern verlassen
wird, so bringt der Dichter den Chor in unmittelbare Beziehung zu
den handelnden Personen, und die Form des Wechselgesanges kommt
vorzugsweise in Anwendung.'**) Der Chor wird in der gewohnten
Weise des Sophokles benutzt; er zeigt warmes Mitgefühl mit dem
Unglück des Philoktet, aber er unterstützt auch nach Kräften den
Versuch des Neoptolemus, durch Verstellung seinen Zweck zu er-
reichen. Denn als Neoptolemus, in innerem Kampfe mit sich be-
griffen, unsicher schwankt, tritt der Chor, dem die veränderte Stim-
mung seines Gebieters noch verborgen ist, selbständiger auf und
räth ohne Verzug den günstigen Augenblick zu benutzen. Der üm-
189) Dafs diese Umwandlung wohl motivirt ist, deutet Aristot. Eth. Nie.
Vn 10 p. 1151 B IS an, und in der Thal kehrt Neoptolemus nur zu seiner eigenen,
ursprünglichen Natur zurück.
190) Nur in der Mitte des Dramas 676 findet sich ein eigentliches Stasi-
mon, um dem Darsteiler der anstrengenden Rolle des Philoktet eine kurze
Pause zu gewähren.
432 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
fang der melischen Partien ist übrigens gemäfs der Praxis der jün-
geren Tragödie beschränkt.'^') Sonst bestätigt die ziemlich freie
Behandhing der Verse des Dialoges die Ueberlieferung, dafs der
Philoktet zu den letzten Arbeiten des Sophokles gehörte.'^^)
oedipnsauf Das letzte Vermächlnifs des Dichters ist der Oedipus auf
Kolonos. .r , HT 1 • • iP 1 1 WT 1 !•
Kolon OS. Nach einer vielfach bezeugten Ueberlieferung hat So-
phokles dieses Drama hochbetagt geschrieben und aus Anlafs des
bekannten Zerwürfnisses mit seinem Sohne lophon die Parodos vor-
gelesen'®^), um zu beweisen, dafs er noch im vollen Besitz seiner
Geisteskräfte sei. Die Kritik der Neueren hat diesen Vorgang ange-
zweifelt. Aber selbst wenn das Ganze erfunden sein sollte, knüpft doch
die Anekdotendichtung meist an eine Thatsache an, wie eben hier
daran, dafs diese Tragödie die letzte Arbeit des greisen Dichters war.
Zur erwünschten Bestätigung dient die Nachricht, dafs das Drama erst
vier Jahre nach Sophokles' Tode Ol. 94, 3 durch seinen Enkel zum
ersten Male aufgeführt ward."*)
Demungeachtet haben Neuere, welciie hier eine politische Ten-
denz wahrzunehmen vermeinten, den zweiten Oedipus bald in den
Anfang des grofsen Krieges, bald um Ol. 90, 1 verlegt, oder man
bat auch, um jener Ueberlieferung gerecht zu werden, angenommen,
das Drama sei in früherer Zeit ausgearbeitet, aber erst viel später
durch den jungen Sophokles veröffentlicht worden. Diese Ver-
muthungen sind grundlos. In der Tragödie kommt nichts vor, was
191) Das Verhältnifs zum Dialog ist etwa wie 1 : 4.
192) Im Philoktet treffen wir mehr Auflösungen (120) als in jeder an-
deren Tragödie des Sophokles, aber im Vergleich mit der laxen Praxis, die
damals Euripides übte, erkennt man auch so die mafshaltende Art des So-
phokles.
193) Plutarch an seni resp. ger. c. 3, 3 ; nicht das ganze Drama, welches viel-
leicht noch gar nicht vollendet war. Cicero de sen. c. 7, 22 schreibt Oedipum
Coloneum recitasse und gebraucht nachher den Ausdruck carmen, wie er auch
de fin. V 1, 3 den Eingang dieser Tragödie als carmen mollissimum bezeichnet.
Cicero fand vielleicht in seiner Quelle aofia vor und war über die Sache selbst
nicht im Klaren.
194) Arg. Oed. Kol. : ini rsrelevTT^xÖTi rtp Tinmito üofOxX^S 6 viSols
iSiSn^ev, vioi wv ^A^iartovos, ini «^xo'TO* Mtxcayo« , oi iari rt'rn^roe ano
KaXXlov, i(p' ov ipaaiv ol nXeiove tov JSofoxXdn TsXnnt^at. Wahrscheinlich
geschal dies auf ausdrücklichen Wunsch des Dichters, der den geliebten Enkel
auf diese Weise beim Publikum einführen wollte. Als Sophokles starb, war
der Enkel wohl noch zu jung; daher die auffallende Verzögerung.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. H. SOPH. 433
eine bew ufste Bezugnahme auf allgemeine Zeitverhältnisse verriethe"') ;
am wenigsten darf man dem Dichter die Absicht unterlegen, auf
eine Versöhnung mit den Thebanern hinzuarbeiten. Mit mehr Schein
könnte man das entgegengesetzte Motiv voraussetzen. Allein wenn
auch in der Tragödie Theben und Athen einander nicht eben freund-
lich gegenüberstehen und dies mit der damaligen pohtischen Lage
stimmt, so ist dies durch die dramatische Handlung genügend moti-
virt. Sophokles hat diesen Antagonismus nicht hereingetragen; er
bot sich von selbst dar, und eben weil damals beide Staaten sich
entfremdet waren, erschien eine schonende Rücksicht um so weniger
geboten. Aber dies hält den Dichter nicht ab, in seiner mafsvollen
Weise mehrmals auch anerkennende Worte über die Thebaner ein-
zuflechten.'^)
Mit der Ueberheferung, welche den zweiten Oedipus an das
Ende der dichterischen Laufbahn des Sophokles setzt, stimmt auch
der Eindruck, den das Stück auf den unbefangenen Beurtheiler macht.
Das dramatische Interesse ist geringer als sonst; die Handlung schrei-
tet langsam vorwärts; die Charaktere treten nicht in so klar aus-
geprägten Zügen wie in den früheren Arbeiten uns entgegen ; dazu
kommt die behagUche Breite und Fülle der Darstellung. Kurz man
nimmt liier eine gewisse Abnahme der Kraft wahr, welche zuletzt
naturgemäfs auch bei dem lange Zeit jugendlich frischen Greise ein-
treten mufste."^
Von dem Oedipus auf Kolonos spricht das Alterthum mit un-
getheilter Anerkennung,'*) Es ist begreiflich, dafs man gerade die
195) Nur in dem Chorliede 698 ff. wird auf die Einfälle der Lakoner im
Anfange des Krieges, welche überall das Land verwüsteten und nur die heili-
gen Oelbäume verschonten, Bezug genommen.
196) Besonders 919 ff. 929. 937 ff. Die neueste Kritik hat diese Verse
entweder als Interpolationen aus späterer Zeit oder als Zusätze des jüngeren
Sophokles ausscheiden wollen, aber diese Operation ist zum Theil gar nicht
ausführbar. Der Versuch, die Mängel und wirklichen oder vermeinlichen Wider-
sprüche dieser Tragödie auf eine durchgreifende Umarbeitung von der Hand
des lophon zurückzuführen, wird wohl nicht leicht Zustimmung finden.
197) Wenn der Chor über die Noth des Greisenalters klagt (1211), so
ist diese Klage zwar schon an sich angemessen ; aber diese wie andere Aeufse-
rungen , die auf die persönlichen Verhältnisse des Dichters passen , gewinnen
doch erst so volle Bedeutung.
198) Argum. l: rb 8e S^fia rtöv d'avfiaaräi'. Argum. des Sallustius: äcpa-
Bergk, Griecb. Literaiurgescbicbte III. 28
434 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
letzte Dichtung des gefeierten Tragikers hochhielt; für die Athener
hatte schon die anmulhige Schilderung benachbarter Oertlichkeiten
etwas Ansprechendes. Ebenso werden heimische Erinnerungen ge-
schickt benutzt. Das Auftreten des Königs Theseus mufste dem
Nationalgefühle schmeicheln. Auch die Urtheile der Neueren lauten
fast ohne Ausnahme günstig. Man hat diesem Drama sogar eine
bevorzugte Stelle angewiesen; manche haben behauptet, der eigen-
thümUche Charakter der Sophokleischen Poesie stelle sich hier am
reinsten dar. Der Stoff, mehr für lyrische als dramatische Behand-
lung geeignet, übte unwillkürhch Einflufs auf Geist und Charakter
der Tragödie aus, und eben dieses lyrische Element, der mehr weiche,
rührende als kräftige Ton mag unbewufst auf das Unheil der Neue-
ren eingewirkt haben.
Das Drama, welches das Lebensende des greisen Oedipus und
zugleich seine Rechtfertigung darstellt, ist gewissermafsen eine Fort-
setzung und Ergänzung des Königs Oedipus. Der Gedanke, den
friedlosen Dulder endlich der Ruhe und Erlösung theilhaflig werden
zu lassen, mufste für den Dichter, der selbst an der Neige des Le-
bens stand, etwas ungemein Anziehendes haben. Hier fand er Ge-
legenheit, die Hebgewonnenen tragischen Gestalten noch einmal vor-
zuführen; hier konnte er sich über die höchsten sittlichen Probleme
aussprechen.
Der Oedipus auf Kolonos ist wesentlich als freie Dichtung zu
betrachten; was die Sage darbot, war wenig. Sophokles sah sich
daher vorzugsweise auf seine eigenen Hülfsmittel angewiesen. Die
attische Lokalsage eignete sich die letzten Tage des Oedipus zu."")
TOS Se iari y.a&öXov rj oixovofiCa iv rc^ S^äftaxi, tos ovSevi aXXi^ axeSov.
Schol. 237: f; oixovouia d-avfiaaxr]. Pie Editheit einzehier Verse wird be-
zweifelt, s. 237. lieber den Schlufs wird zu KUlO bemerkt orx swcaiatpQv-
vTfra; also fanden wohl manche Kritiker den Ausgang des Dramas schwächer.
199) Aeschylus folgt der alten Sage und läfst den Oedipus in Theben
sterben; dagegen bei Euripides am Schlufs der Phönissen wird Oedipus von
Kreon verbannt und verläfst unter dem Geleite der Antigone Theben, um, wie
ihm ein Orakel verkündet hat, in dem attischen Kolonos in Frieden zu sterben
(Phon. 1705 fr.). Man darf daraus nicht schliefsen, Euripides habe bereits die
Sophokleisrhe Dichtung gekannt, die dann eben nicht die letzte Arbeit des
Sophokles sein könnte; noch weniger darf man diese Uebereinstimmung mit
Sophokles benutzen, um die Echtheit des Schlusses der Pliönissen zu verdäch-
tigen. Euripides kannte die attische Tradition so gut wie Sophokles, der auf
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRIPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II. SOPH. 435
In Attika findet der Ausgestofsene Aufnahme und, nachdem er im
heiligen Bezirk der Eumeniden entsühnt ist, seine Grabesstätte. Zum
Dank dafür wird Oedipus fortan als Schutzgeist zum Segen des atti-
schen Landes walten. Diese Hülfe soll sich einstmals bei einem
Einfall der Thebaner wirksam erwiesen haben. An diese sagenhafte
Ueberlieferung knüpft Sophokles an. Aber diese Elemente reichten
für ein Drama nicht aus, welches vor allem Handlung verlangt. Daher
läfet der Dichter zunächst den Kreon, später den Polyneikes auf-
treten. Jeder sucht in selbstsüchtiger Absicht den Oedipus zu ge-
winnen und das Heil, welches den Athenern beschieden war, sich
zuzuwenden. So erscheint der Ausgestofsene, den man bisher ängst-
lich gemieden hatte, eifrig umworben. Während der Sohn sich als
demüthig Bittender naht, droht Kreon mit Gewalt und weist die
Töchter von der Seite des Greises. Indes steht keine ernstliche
Gefahr zu besorgen, da Theseus mit bereiter Hülfe nahe ist. Wohl
hat der Dichter die einfache Anlage durch reichen Scenenwechsel
zu beleben verstanden, aber die Handlung ist gering. Dem Helden
des Dramas Tällt wesentlich eine passive Rolle zu ; es fehlt die Ver-
wickelung und das Umschlagen des Geschickes. Nach einigen retar-
direnden Momenten endet das Stück mit der wunderbaren Entrückung
des Oedipus.
In mancher Beziehung erinnert dieses Drama an die Eume-
niden des Aeschylus. Wie dort der Fluch von dem Muttermörder
genommen wird, so wird hier die schwere Schuld des Vatermordes
und der blutschänderischen Ehe gesühnt. Nur treten bei Sophokles
an die Stelle des gerichthchen Urlheiles religiöse Ceremonien.***)
In beiden Fällen aber offenbart sich die götthche Gnade sichtbar
an dem Schuldbeladenen. Wie Aeschylus an heimische Institute
anknüpft und die mythischen Vorgänge der alten Zeit durch das
die Lokalsage als seine Qoelle 62 selbst hinzudeaten scheint ; wohl aber kann
der Schlufs der Euripideischen Tragödie zuerst in Sophokles den Gedanken an-
geregt haben, diesen Vorwurf dramatisch zu behandeln.
200) Darin, dafs Oedipus, ohne es zu wissen, den heiligen Hain der Eu-
meniden betritt, wo ihm beschieden war, Erlösung von der schweren Schuld
zu finden, welche jene Göttinnen zu rächen berufen waren, giebt sich der
günstige Wandel seines Schicksals kund. So gewinnt auch die Reinigungs-
ceremonie, der sich Oedipus unterwerfen mufs, weil er gegen das Verbot den
geheiligten Raum berührt hatte, tiefere Bedeutung (vgl. Schol. 462).
28*
436 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Interesse der unmittelbaren Gegenwart belebt, so weifs auch Sopho-
kles geschickt das patriotische Gefühl zu befriedigen, indem er in
Theseus, der bereitwillig dem Landesflüchtigen Schutz gewährt, die
anerkannte Humanität seiner Vaterstadt verherrhcht. Auch der Schau-
platz der Handlung war günstig. Hier hatte der Greis, in dem die
Erinnerung an seine Jugend recht lebendig werden mochte, Gelegen-
heit, in einem farbenreichen Gemälde die Anmuth seines Geburts-
ortes zu schildern, der alten Sagen und Heiligthümer von Kolonos
zu gedenken. Wenn Sophokles die Erinnyen nur beiläufig erwähnt,
indem er nachdrücklich und wiederholt die ehrfurchtsvolle Scheu
betont, mit der jeder sich der Stätte dieser Göttinnen nahte, so
mochte er nicht in die Fufsstapfen des Aeschylus treten, der den
Zorn jener Göttinnen in den Vordergrund rückt und mit der Um-
wandlung der Rachegeister in freundUch gesinnte Dämonen sein
Drama wirksam abschliefst.
Die Tragödie des Sophokles wirkt vorzugsweise auf Empfindung
und Gemüth. Ein vvehmüthiger Ton, das Gefühl von des Erden-
lebens Hinfälligkeit zieht sich hindurch, wird aber gemildert durch
tröstliche Hoffnungen, durch den Hinblick auf den Tod, der von
allen Leiden erlöst, ein Gedanke, welcher dem lebensmüden Greise
besonders nahe gelegt war. Namentlich in den Chorliedern finden
diese Empfindungen angemessenen Ausdruck. Das Rührende, welches
in dem Stoffe hegt, indem ein von den Erinnyen Verfolgler, auf dem
der Fluch schwerer Frevel lastet, nach Götterbeschlufs zuletzt in dem
heihgen Haine der Göttinnen Frieden und Ruhe findet, an der Stätte,
die man mit geheimem Grauen betrachtete und ängstlich mied, von
seiner Schuld befreit wird, hat der Dichter vorlrefl'lich benutzt. Gleich
die erste Scene, wo der blinde, hülflose Greis, den alle verlassen
haben, nur von der treuen Tochter begleitet, auftritt, eröfl'net in
angemessenster Weise das Stück. Echt poetisch und ergreifend ist
vor allem der Schlufs, wo Oedipus, als ihn eine Gölterstiumie abruft,
sich mit den Töchtern an die geweihte Stätte, wo er sterben sollte,
begiebt, nachdem er die Seinen gesegnet und entlassen hat, mit
Theseus allein bleibt und |)lötzlich der Erde entrückt wird. Solche
Scenen, die noch heute auf jedes empfängliche (icmüth einen liefen
Eindruck machen, konnten zur Zeit des Dichters um so weniger ihre
Wirkung verfehlen , da die Tragödie zugleich das patriotische Inter-
esse lebhaft in Anspruch nahm.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II. SOPH. 437
Allein die Sage von Oedipus' Tod in der Fremde war, unge-
achtet der poetischen Momente, doch für die Tragödie kein recht
günstiger Vorwurf; wenigstens die Art, wie Sophokles den Stoff
durch Handlung und leidenschaftlichen Kampf zu beleben versucht
hat, kann nicht recht befriedigen.
Dafs eine Weissagung den Oedipus nach Athen führt, um dort
Ruhe und Frieden zu finden, ist angemessen. Aber wenn auch den
Thebanern ein warnender Orakelspruch zugeht und auf diesen An-
lafs sowohl Kreon als auch Polyneikes den Ausgestofsenen als Bun-
desgenossen zu gewinnen suchen, indem jeder mit Hülfe des Oedipus
über den anderen zu siegen hofft, so entspricht dies freilich der
gemeinen WirkUchkeit; denn damals pflegte in Griechenland jede
der streitenden Parteien sich auf Orakel zu berufen. Bei Euripides,
der die Tragödie benutzt, um ein treues Zeit- und Sittenbild zu
liefern, würde dies keinen Anstofs erregen ; aber ein Dichter, der
den Glauben an diese Form der götthchen Offenbarung aufrecht
hält, mufste Bedenken tragen, sich in solchen Widerspruch zu ver-
wickeln.^') Entschuldigt wird diese Motivirung mit Hülfe der Ora-
kel nur dadurch, dafs der Dichter so am leichtesten die Einheit der
Zeit festzuhalten vermochte. Aufserdem aber ist das Verfahren der
Thebaner durchaus sophistisch. Man will den todten Oedipus nicht
der Fremde überlassen, aber er soll auch nicht den heimischen
Boden berühren, sondern maa will ihn hart an der Grenze gleich-
sam auf neutralem Gebiete bestatten**"), als ob durch eine so ge-
zwungene .\usdeutung sich das Verhängnifs abwenden liefse.
Kreon erscheint als ein ebenso hinteriistiger, wie gewaltsamer
Charakter; selbst im fremden Lande scheut er sich nicht Hand an
die anzulegen, welche sich unter den Schutz der Athener gestellt
hatten. Aber auch auf Oedipus föUt kein günstiges Licht, indem
er sich offen von seiner Heimath lossagt, um fortan im Falle eines
Kampfes zwischen Theben und Athen dem letzteren schützend bei-
zustehen. Noch unerfreuUcher ist die Begegnung des Oedipus mit
dem Sohne. Schon im Zwiegespräch mit Ismene, dann in dem
Wortwechsel mit Kreon trat der tiefe, unversöhnliche Groll gegen
201) Oedipus selbst, während er von der Untrüglichkeit seines Orakels
überzeugt ist, scheint das der Thebaner zu verdächtigen 794 (denn er kannte
diese Weissagung, s. 413).
202) Oed. Kol. 399.
438 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
die Söhne hervor. Als die Ankunft des Polyneikes gemeliiet wird,
verweigert Oedipus den Sohn vor sich zu lassen, und nur mit Mühe
läfst er sich hewegen, ihn anzuhören und seine Reden zu beant-
worten. Freilich ist die Gesinnung des entarteten Sohnes gegen
den Vater unverändert; nur selbstsüchtige Berechnung, nicht auf-
richtiges Mitgefühl hat ihn hergeführt. Aber auch Oedipus ist sich
gleich geblieben ; er gedenkt nur der Unnatur seiner Söhne, wie sie
mit herzloser Gleichgültigkeit den greisen Vater in die Verbannung
ziehen Hefsen, und in wildem Grimme spricht er den Fluch gegen
sein Geschlecht aus.
Es hegt hier ein unheilbarer Bruch vor. Man wird von dem
Dichter nicht verlangen, dafs er eine Aussöhnung, welche nicht mög-
lich war, herbeiführe, aber er durfte nicht durch seine Erfindungen
diese dunkeln Schäden in das hellste Licht rücken. Hier zeigt sich
wieder einmal recht deutlich die dem Sophokles eigenthümliche Her-
bigkeit.
Es gab für die Poesie keine würdigere Aufgabe, als zu schil-
dern, wie ein Mensch, der in unseliger Verblendung die schwerste
Schuld auf sich geladen hat, endlich durch lange Leiden geläutert
und mit Gott und Menschen versöhnt, sein Leben beschhefst. Aber
Oedipus, obwohl durch harte Prüfungen zur Selbsterkenntnifs ge-
langt, ist keineswegs völlig umgewandelt; seine alte Natur, seine
leidenschaftHche Heftigkeit bricht immer wieder hervor. So erscheint
er auch in den letzten Augenblicken seines Lebens unversöhnlichen
Sinnes gegen die Heimath wie gegen die Seinen; und wenn der
Dichter ihn auf eine Probe stellt, die er nicht bestehen kann, so
ist dies eben ein Mifsgriff. Die Götter haben es gut mit Oedipus
vor; sie wollen den, welchen sie früher schwer heimgesucht und
gebrochen hatten, wieder aufrichten."') Am deutlichsten offenbart
sich diese Huld in dem Lebensende des Dulders. Durch den Tod
wird Oedipus nicht nur von seinen Leiden erlöst, sondern gleich-
sam verklärt; die geheimnifsvolle Weihe seines Verschwindens be-
reitet seine Verehrung als Heros vor. Aber wir worden erst dann
recht an eine solche höhere Gnade glauben, wenn sie durch eine
innere Wandlung verdient ist, während bei Sophokles die Versöhnung
mehr äufserlicher Art ist. So macht die Tragötlie, obwohl sie liefen
203) Ihtnenrs Worte 394.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II. SOPH. 439
Gehalt in sich schüefst und viele Partien vortreffüch sind, doch
einen zwiespältigen Eindruck.
In der ungemeinen Fülle und behaglichen Breite der Darstel-
lung verräth sich das Greisenalter; dalier ist auch das Drama das
umfangreichste unter allen uns erhaltenen Stücken des Sophokles.^')
Besonders der Eingang und die Schlufspartie sind weit ausgeführt.
Gleichwohl hat der Dichter noch immer viel von seiner früheren
Kraft sich bewahrt; wo die Leidenschaft hervorbricht, wird die Ener-
gie des Ausdrucks nicht vermifst, wie selbst die Reden des alters-
schwachen Oedipus beweisen. Im Ganzen freilich hat die Sprache
etwas Einförmiges und steht in ihrer schmucklosen Weise öfter der
Prosa ziemHch nahe, aber daneben findet sich nicht wenig Ungewöhn-
liches. Man empfängt den Eindruck, als wenn Sophokles mit der
Form rang, die sonst sich willig fügte. \Yir können freihch nicht
immer entscheiden, ob der Dichter vergebhch nach dem rechten Aus-
drucke suchte, oder ob mangelhafte Ueberlieferung des Textes die
Schuld trägt. Dafs übrigens das Stück mit Sorgfalt ausgearbeitet ist,
beweisen die Verse des Dialoges, welche eine gröfsere Strenge der
Technik bekunden als der einige Jahre früher geschriebene Philo-
ktet. Der Chor, mit Rücksicht auf die Hauptperson aus Greisen der
nächsten Umgegend gebildet, zeigt mehr dramatisches Leben als
sonst bei Sophokles. Während Oedipus im Haine der Eumeniden
gleichsam festgebannt ist, erscheint der Chor sehr beweghch. Gleich
bei seinem ersten Auftreten, wo die Choreuten einzeln auf der Buhne
erscheinen, da sich die Nachricht verbreitet hat, dafs ein unbekann-
ter Fremdling an jener geweihten Stätte verweilt, die sonst kein
sterbhcher Fufs betreten durfte, giebt sich diese Aufregung kund.
Sehr bewegt ist auch die Haltung des Chores in der Scene, wo
Kreon die Entführnng der Antigone befiehlt '''*) ; doch wird natür-
lich jeder Ihätliche Conflikt zwischen dem Chore und den Begleitern
des Kreon vermieden. Die melischen Partien nehmen einen breiten
Raum ein**), wie es die Eigenthümlichkeit des Stoffes mit sich
brachte. So schliefst auch das Drama nach der Sitte der älteren
Tragödie mit einem Trauergesange der Töchter des Oedipus ab;
204) Die Zahl der Verse beträgt 1779.
205) Oed. Kol. 824 ff.
206) Auf die Gesänge des Chores und der handelnden Personen kommen
mehr als 500 Verse; also ist das Verhällnifs zum Dialog etwa wie 1 :2V».
440 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
denn ungeachtel der befriedigenden Lösung ist doch der Ernst vor-
waltend. Die Zahl der Personen überschreitet nicht gerade das
übliche Mafs, aber öfter als sonst sind vier Schauspieler gleichzeitig
auf der Bühne.'^) Doch wird die Regel, dafs nur drei sich am
Dialog betheiligen dürfen, nicht verletzt.
Dje verlöre- Ucbcr die Verlorenen Tragödien des Sophokles ist wenig zu
nen Dramen. o i o
sagen. Wir besitzen von den meisten nur dürftige Reste**), welche
nicht ausreichen, um von dem Gange der dramatischen Handlung
eine bestimmte Vorstellung zu gewinnen^"®); der Inhalt mancher
Dramen ist völhg dunkel. Auch Sophokles hat nach dem Vorgange
des Aeschylus zuweilen alterthümliche Sagen bearbeitet, welche He-
roen mit Gültern unmittelbar in feindhche oder freundliche Beziehung
bringen, wie in der Niobe, der Oreithyia, dem Triptolemus, dem
Thamyras, wohl besonders in jüngeren Jahren; denn für solche
Stoffe war der grandiose Ton der Aeschyleischen Tragödie einzig
passend. Dieselben Aufgaben halte zum Theil schon Aeschylus be-
handelt; aber gerade dies reizte den Sophokles, sich von neuem
daran zu versuchen. Der Meleager des Sophokles, ein vielbearbei-
teter Stoff, scheint wenig Beachtung gefunden zu haben, desto mehr
der Polyidus oder die Wiedererweckung des Glaukus, Minos' Sohn,
ein phantastisch-märchenhafter Vorwurf, den gleichmäfsig alle drei
Tragiker bearbeitet haben, welcher für Sophokles, der mit dem man-
tischen Wesen wohl vertraut war, besondere Anziehungskraft haben
mufste. Dem Sophokles eigenthümlich ist Dädalus, als Flüchtling in
Sicilien weilend und von Minos verfolgt.'^"*) Die Schicksale des Tele-
phus wurden in mehr als einem Drama vorgeführt.*") Auffallend
ist die Vernachlässigung des reichhaltigen Sagenkreises des Herakles;
aufser den Trachinierinnen gehört nur der Amphitryun hierher.
Desto mehr zog die Argonautensage mit ihrem alterthümlichen Cha-
207) Daher macht auch die Vertheilung der Rollen unter die Schauspieler
Schwierigkeiten.
208) Die Zahl der Bruchstücke (ungefähr tOOO) ist nicht so gering, aber
diese vertheilen sich auf mehr als 100 Dramen. Weder Chronographen, noch
Gnomensammler fanden hier so reichen Stoff wie bei Aeschylus oder Euripides.
209) So läfst sich oft nicht ermitteln, ob ein Stück als Tragödie oder
als Satyrspiel zu betrachten ist.
210) hl den Kafiixtoi; denn der JaiSnXoi war wohl ein Salyrdrama.
211) Hierher gehören '^XeäSai, Mvaoi, Tt'jXefOi (wenn hier nicht etwa
ein Doppellitel vorliegt).
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II.SOPH. 441
rakter den jungen Sophokles an. Die Erlösung der schwergeprüften
Tyro von ihrer Peinigerin durch ihre Söhne Pelias und Neleus in
zwiefacher Bearbeitung, die Rettung des Athamas vom Opfertode
durch Herakles*'^), die Argonauten auf Lemnos"^), der blinde Phi-
neus^'^), dann die düster- unheimüche Gestalt der Medea in drei
Tragödien*'*) führten die bedeutsamsten Momente der Sage vor. An
die noch erhaltenen drei Dramen aus dem thebanischen Sagenkreise
reihen sich ebensoviel untergegangene an, Alkmäon, Eriphyle und
die Epigonen. Nicht minder fleifsig ward die argivische Landes-
sage benutzt. Der Flufsgott Inachus"®) und das Geschick seiner
Tochter lo, Akrisius und seine Tochter Danae, die Befreiung der
Andromeda durch Perseus, Oenomaus nebst seiner Tochter Hippo-
dameia, vor allem aber die Gräuelthaten im Hause des Alreus und
Thyestes**") boten der Tragödie des Sophokles geeignete Stoffe dar.
Der patriotische Dichter versäumt aber auch nicht heimische Erin-
nerungen auf der Bühne vorzuführen, wie Prokris, Kreusa*'®}, Aegeus,
Phädra und Theseus zeigen. Hierher gehört auch der Tereus"^),
eine der geschätztesten Tragödien, welche die in Attika allgemein
verbreitete Sage von der Rache der Prokne, einen echt tragischen
Vorwurf und daher auch später mehrfach behandelt, darstellte.
Den troischen Sagenkreis, den jüngsten und zugleich populärsten
von allen, hat Sophokles entschieden bevorzugt. Ungefähr der vierte
Theil seiner Tragödien gehört hierher. Vor allem sind die Gedichte
des Stasinus, Arktinus und Lesches benutzt. Aber auch der Home-
rischen Odyssee und ihrer Fortsetzung, der Telegonie, sowie den
212) Es gab zwei Dramen Namens '4&äfiae von Sophokles, aber ver-
schiedenen Inhalts.
213) In den yi^fiviai, ein Stack, welches Sophokles später umgearbeitet
zu haben scheint.
214) Auch hier ist ein 0tvevs nqäxoi und Sbvteqos zu unterscheiden.
21 5) KoXxiSse, ^xv&at, 'Pit,or6fioi.
216) Der 'Iva^os, eine Tragödie, nicht Satyrspiel, wie man irrig annimmt,
gehört wohl mit zu den frühesten Arbeiten des Sophokles and stand in be-
sonderem Ansehen.
217) ^Axqeis und zwei verschiedene Tragödien nach ßviaTrjs benannt.
218) KQtovaa ist von 'Icav offenbar nicht verschieden.
219) Nach Schol. Aristoph. Vögel 281 hatte Sophokles zuerst diese Sage
dramatisch bearbeitet; allein Aeschylus scheint sich ebenfalls daran versucht
zu haben.
442 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
m
Nosten verdankt der Dichter manches tragische Motiv."") Bemerkens-
werth ist, dafs unter den zahlreichen HeldengestaUen dieses Kreises
Odysseus den Tragiker am häufigsten beschäftigte. Zwar hatte schon
das Epos diesen Charakter in grofsen Zügen lebensvoll gezeichnet;
aber die dramatische Poesie, welche über die reichsten Mittel ver-
fügt und das verborgene Innere des Menschen enthüllt, braucht den
Wettstreit mit der epischen Dichtung nicht zu scheuen. Für das
grofse Talent des Sittenmalers Sophokles war dieser vielgestaltige,
unergründUche Charakter eine der dankbarsten Aufgaben. Dieser
Dichter wird nicht müde, den Odysseus in den verschiedensten Le-
benslagen und Verwickelungen als Träger der dramatischen Hand-
lung oder doch als einflufsreiche Nebenfigur zu verwenden.
Scenen aus der ersten Periode des troischen Krieges waren
Paris, unter Hirten aufgewachsen und als Sieger im Kampfspiel von
seinen Eltern wiedererkannt, Odysseus, der sich wahnsinnig stellt,
um sich der Theilnahme am Kriege zu entziehen, der junge Achil-
les, in Skyros bei den Töchtern des Lykomedes verborgen, bereit-
willig dem Kampfsignale folgend, Iphigeneias Opfertod in Aulis, der
Zwist des Achilles und Agamemnon in Tenedos, das Vorspiel des
späteren Zornes"'), Protesilaus' Tod, die Zurückforderung der Helena,
Troilus, durch Achilles' Hand fallend, Palamedes, auf falsche Anklage
hin zum Tode verurtheilt; dann aus dem letzten Stadium des Krieges
Memnon, F'hiloktet in Troia*"), der Raub des Palladiums, Laokoons
Untergang, der Verrath des Sinon, das Gericht über den lokrischen
Aias wegen des Frevels an Kassandra, Polyxena, an Achilles' Grabe
geopfert, des tückischen Nauplius Rache bei der Heimfahrt der
Achäer, Teukrus, von seinem greisen Vater verstofsen, der vertrie-
bene Peleus, durch seinen Enkel Neoptolemus an seinen Feinden
gerächt, Chryses, Agamemnons Sohn, welcher in Orestes seinen Bru-
der erkennt und ihn sowie Iphigeneia gegen die V^erfolgung des Thoas
schützt, Hermiones Vereinigung mit Orestes, Nausikaas erste Begeg-
nung mit Odysseus, Odysseus' Einkehr b«>i den IMiäaken, Odysseus'
220) Mit Keclit sagt Athen. VII 277 E, Sophokles habe am epischen Kyklus
besonderes Wohlgefallen gefunden.
221) Unrichtig wird diese Tragödie ^A%aiatv avXXoyo» ^ ovrSatnpot für
ein Satyr.^türk gehalten.
222) l'hiioktet auf Leinnos ist die einzige uns erhaltene Tragödie des
friiisrhen Krt'ises.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLLTHEZEIT. II.SOPH. 443
Tod durch die Hand seines Sohnes Telegoniis und noch manches
Drama unbestimmten Inhalts.-*^) Man staunt, wenn man sieht, welche
Fülle wechselnder farbenreicher Bilder, die von der epischen Dich-
tung feste Gestalt empfangen hatten, hier mit dramatischem Leben
erfüllt, von neuem durch die kunstreiche Hand des Meisters dem Volke
vorgeführt wurde.'**)
Der dramatische Dichter nöthigt den Zuschauer, das, was aufBeurtheHung
der Bühne vor sich geht, gleichsam zu reproduciren, daher das Lesen Sophokles.
eines Dramas niemals die Aktion zu ersetzen vermag. Je lebendiger
der Dichter eine Begebenheit schildert, je mehr er uns für frem-
des Geschick zu interessiren weifs, desto mächtiger ist der Eindruck.
Sophokles erfüllt uns mit wärmster Theilnahme für die Gestalten
seiner poetischen Welt und hält uns in fortwährender Spannung.
Die Liebe und Hingebung, mit welcher der Tragiker arbeitet, der
Herzensantheil, den er an seinen Charakteren nimmt, theilt sich
unwillkürUch den Zuhörern mit. Wenn Aristoteles die Erweckung
von Furcht und Mitleid als die höchste Aufgabe der tragischen Poe-
sie bezeichnet und eben darin die läuternde und erhebende Wirkung
der Tragödie findet, so war Sophokles dieser Forderung sich voll-
kommen bewufst. Sophokles hascht nicht nach dem Bührenden^^);
er häuft nicht das Furchtbare und Schreckliche über Gebühr, aber
er benutzt diese Motive, wo sie der gewählte Stoff darbietet mit
sicherer Hand und weiser Mäfsigung, um die tragische Katharsis
wirksam zu vollziehen. Nicht nur gegen den Schlufs des Dramas
sucht Sophokles alle Mittel seiner Kunst aufzuwenden, um eine tief
erschütternde, mächtig ergreifende Wirkung hervorzubringen, son-
dern diese Aufgabe ist ihm fortwährend vor Augen. Hier leistet
ihm besonders die Amphibolie gute Dienste, ein Kunstmittel, welches
zwar zuweilen auch bei Aeschylus, dann später bei Euripides er-
scheint, aber von keinem anderen Tragiker nach dem Vorgange
Homers so häufig und zugleich so wirksam benutzt wird als von
223) Wie die l^vrrjvoQiSat, AtxuaXa>xi8es, EvQvat'txjjs.
224) Gelegentlich hat Sophokles auch Elegien und Epigramme gedichtet,
sowie einen Päan auf Asklepius (s. S. 364). Heber die Prosaschrift Tiegi xo^^
s. oben S. 361 f.
225) Schol. Soiih. Oed. Tyr. 264 : «/» (xwt^tixwZs Ifvoiais) y.ai TxXeovä^ei
Ev^hiiSt]«' o Ss ^0(poxAt,e n^oi ßaa^v uev avTcäv (iTtrsrai jr^ös tu xtvrjaat
xo &ear^ov.
444 «RITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Sophokles, namentlich im ersten Oedipus. Unbewufst und ohne
Ahnung sprechen die handelnden Personen am Rande des Abgrun-
des, der ihren Augen verborgen ist, Worte aus, deren volle Bedeu-
tung nur der Zuschauer zu fassen vermag, der die drohende Gefahr
und den verderblichen Ausgang kennt.
In seinen religiösen Anschauungen erinnert Sophokles überall
an Aeschylus, während ihn eine weite Kluft von Euripides scheidet.
Euripides wird unablässig von zersetzenden Zweifeln gequält, So-
phokles steht unangefochten da; sein edles und reines Gemüth wird
von keinem Zwiespalt berührt. Der Wandel der religiösen Ueber-
zeugungen, der sich gerade damals vollzog, hat auf ihn keine Macht.
Sophokles gehört seinem innersten Wesen nach noch der alten Zeit
an, aber diese fromme, gottesfürchtige Gesinnung äufserl sich in
milderer Form und mufste eben daher einer vorgeschrittenen Zeit
mehr zusagen als die strenge alterthümliche Weise des Aeschylus.
Wie der Dichter selbst eine mafsvolle, innerlich gefafste Natur ist,
so läuft auch der sitthche Grundgedanke seiner Poesie überall daraul
hinaus, dafs der Mensch Mals halte, dafs er seinen eigenen Willen den
höheren sitthchen Mächten unterordne und Resignation üben lerne.
Sophokles ist weit entfernt von dem Gedanken an die alles beherr-
schende Gewalt eines dunkeln Verhängnisses, welches willkürlich die
Geschicke der Menschen leitet. Das Schicksal ist vielmehr das Gesetz
der meuschlichen Natur selbst; das Unheil, welches den Menschen trifft,
erscheint mehr oder minder als nothwendige Folge eigener Verschul-
dung. Indem der sündige Trotz und Uebermuth gebrochen wird,
stellt sich das Gleichgewicht, die sitthche Wellordnung wieder her.
Die Vorstellung, dafs eine höhere Macht über des Menschen
Schicksal entscheidet, dafs jeder Frevel unerbittlich geahndet wird,
dafs selbst die kommenden Geschlechter für die Sünden der Väter
bUfsen müssen , war im Bewufstsein des hellenischen Volkes seit
unvordenklicher Zeit fest begründet. Sophokles, wie er die reli-
giösen Anschauungen seines Volkes, in denen er aufgewachsen war,
treulich aufrecht hält, ist aufserdem zu sehr eine dichterische Naiur,
um auf dieses wirksame Motiv zu verzichten. So leiht auch So-
phokles nicht selten den handelnden Personen oder dem Chore diese
Vorstellung, um dadurch den Eindruck des Dämonischen und Heber-
natürlichen hervorzubringen. Aber nicht minder fest steht ihm die
Ueberzeugung von der Verantwortlichkeit «les Menschen in sittlichen
DIE DR.\M. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. If. SOPH. 445
Dingen. Den liefsinnigen Gedanken des Heraklit, der Charakter des
Menschen ist sein Schicksal, wufste Sophokles nach seiner vollen
Bedeutung zu würdigen, und wie der weit- und menschenkundige
Dichter überall ein sittlich-psychologisches Interesse verfolgt, so sucht
er in des Menschen eigener Natur den Grund der heilsamen wie
der unheilvollen Entscheidung nachzuweisen. Ob ihm dieser Ver-
such, die Freiheit des menschUchen Willens mit der Vorherbeslim-
mung des Schicksals in Einklang zu bringen , immer gelang , ist
eine andere Frage. Wer vermag des Lebens tiefstes Geheimnifs be-
friedigend zu losen, wer will zwischen verschuldetem und unver-
schuldetem Leid die GrenzHnie ziehen, wer mafst sich an die ver-
borgenen Absichten einer höheren Macht zu errathen ? Am wenigsten
darf man von einem Dichter verlangen, dafs er eine endgültige Ent-
scheidung treffe und wie ein wohlgeschulter Philosoph alles auf eine
abstrakte Formel zurückführe.
Es ist nicht schwer, mancherlei W'idersprüche in den Tragödien
des Sophokles nachzuweisen, aber dies berechtigt uns noch nicht
dem Dichter ein unsicheres Schwanken in seinen Ansichten vorzu-
werfen. In der Antigene handelt die Heldin ebenso wie Kreon
ganz aus eigenem freien Entschlüsse, und beide tragen die volle
Verantworlhchkeit für die Folgen ihrer Thaten. Aber das unselige
Verhängnifs, welches auf dem Hause der Labdakideu ruhte, bildet
den dunkeln Hintergrund. Der Dichter war vollkommen in seinem
Rechte, wenn er den Spuren der alten Sage folgt und wiederholt
auf den Fluch und seine unabwendbaren, unheimlichen Wirkungen
hinweist. Den König Oedipus hat der Dichter keineswegs als schuld-
loses Opfer eines grausamen Schicksals dargestellt.*^) Auf ihm lastet
die unsehge Erbschaft des Vaters, und sein leidenschafthcher Sinn,
sein sicheres Selbstvertrauen fordern das Unheil heraus. Indem er
bemüht ist die drohende Gefahr abzuwenden , verwickelt er sich
selbst immer liefer und stürzt in den Abgrund des Verderbens. Im
zweiten Oedipus übernimmt der Tragiker selbst die Rechtfertigung
des unglücklichen. Oedipus hat ein klares Bewufstsein seiner Schuld
gewonnen, aber weder der Mord des Vaters, noch die blutschände-
rische Ehe mit der Mutter waren Werke eines freien Willens."')
226) Vgl. Aristot. Poet. c. 13, 5 p. 1453 A 11.
227) Oed. Kol. 267. .521 (wo man durchaus im Widerspruch mit der Ab-
sicht des Dichters sxaw schreibt statt ijvsyx^ ädxav ftiv) 962 ff.
446 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Unwissend erschlug er den Vater, dem Gebote der Nothwehr folgend,
unwissend schlofs er den ehelichen Bund, dem Verlangen der The-
baner nachgebend. Die Götter, die schon seit langer Zeit dem Ge-
schlechte zürnten, haben es so gefügt.^^) Dafs auch unverschulde-
tes Leid den Menschen trifft, zeigt der Pliiloklet. Der Dichter, der
mit frommer Gesinnung eine freiere Denkart zu vereinigen wufste,
verzichtet hier darauf, künsthch eine Verschuldung des Helden nach-
zuweisen; er begnügt sich mit der Andeutung, dafs das schwere
Schicksal nicht zufälhg sei, sondern den Plänen einer höheren Welt-
ordnung diene.
Das Geheimnifsvolle, welches in Träumen, Ahnungen, dunkeln
und zweideutigen Prophezeiungen Hegt, hat einen besonderen poeti-
schen Reiz. Auch Sophokles benutzt vielfach solche Motive und legt
namenthch ein entschiedenes Gewicht auf Orakel. Es war dies für
ihn nicht nur ein wirksames Kunstmittel, sondern er scheint einen
fast abergläubischen Respekt vor jeder Offenbarung der Zukunft ge-
hegt zu haben, im entschiedenen Gegensatz zu Euripides, der mit
leidenschaftlichem Eifer die Weissager und ihre Sprüche, den Apollo
und das delphische Orakel verhöhnt. Dafs Sophokles sich nicht
beirren liefs, durch Rücksichten auf die grofse Zahl der Zeilgenossen,
welche den Glauben an Weissagungen vollständig verloren halten,
mag man gelten lassen. Aber er hätte mehr Mafs hallen sollen*"),
schon weil ein allzu häufiger Gebrauch die Wirkung jedes Kunst-
mittels abschwächt. Aufserdem aber wird auch die Freiheit der
Handelnden wesentlich beeinträchtigt, wenn der Dichter selbst bei
den geringfügigsten Anlässen die Orakel herbeizieht.'*)
Der sittliche Ernst des Tragikers giebt sich in zahlreichen Gno-
men kund, aber Sophokles beobachtet hier eine verständige Mäfsi-
gung. Er ergeht sich nicht in breiten oder ungeliürigen Rellexionen ;
diese Sittensprüche und Lebensregeln sind der Situation und den
Charakteren genau angepafst. Und wenn auch manches Wort, wie
68 die dramatische Poesie mit sioli bringt, nur als Ansdnirk d«'r
T2H) Oed. Kol. 964.
22'.)) Dieses Uebermars trilt besonders im Oedipus auf Kolonos störend
hervor.
230) In der Elektra 35 ff. gebietet Apollo dem Orestes die Blutraciie paiiz
allein mit listigem Anschlag, ohne Hülfe eines Heeres von Riindesgonosscii, zu
volleiK-'kpii (lios ist ii«'lli>itv«»r>.(:i 11(1 lieh, dazu bedurfte es keines Orakels.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II.SOPH. 447
momentanen Stimmung, der leidenschaftlichen Befangenheit der Han-
tdelnden betrachtet werden darf, wenn besonders bei lebhafter De-
batte geradezu entgegengesetzte Ansichten sich geltend machen, so
tritt uns doch in den Tragödien des Sophokles eine in sich abge-
schlossene ethische Weltanschauung entgegen. Für sein Vaterland
hat der Dichter ein warmes Herz, aber er vermeidet Anspielungen
auf bestimmte Zeitverhältnisse. INoch viel weniger briugt er Per-
sonen der Gegenwart unter der Hülle mythischer Charaktere auf die
Buhne. Sophokles trägt Scheu, auf diese Weise den ehrwürdigen
Gestalten der Sage zu nahe zu treten und dadurch zugleich die Selb-
ständigkeit der tragischen Poesie zu beeinträchtigen.
Hatte schon Aeschvlus den Umfang der Chorlieder bedeutend Der Chor
® des
ermäfsigt, um die dramatische Handlung zu ihrem Rechte kommen Sophokles,
zu lassen, so geht Sophokles noch einen Schritt weiter. Der Chor
wird immer mehr aus seiner früheren Stellung verdrängt; er ist
jedoch, obwohl nur noch ein dienendes Ghed, nicht müfsig. Der
kunstverständige Dichter gebraucht ihn als willßihriges Werkzeug für
seine Intentionen und weifs sehr geschickt damit geeignete Wirkun-
gen zu erzielen.
Giebt auch der Chor des Sophokles seinen individuellen Cha-
rakter auf, so ist doch die Auswahl des Personals nicht gleichgültig.
Im .\ias und Philoktet bilden Krieger den Chor; damit ist ein nähe-
res persönliches Verhältnifs der AnhängUchkeit und Treue gegeben.
In der Antigone besteht der Chor nicht aus Frauen, wie sonst meist
in Tragödien, wo einer Frau die Hauptrolle zugetheilt ist, sondern
aus thebanischen Greisen ; so erscheint Antigone vollständig verein-
samt. Aber gerade die Isohrung dient dazu, die Gröfse dieses Charak-
ters in desto helleres Licht zu setzen. Andererseits sind die Greise,
denen vor allem oblag die Ordnung und Wohlfahrt des Staates aufrecht-
zuhalten, wohl geeignet, die Ansichten des Kreon zu unterstützen.
Der Chor des Sophokles, obgleich von der Handlung ausge-
schlossen, ist kein müfsiger Zuschauer, kein theilnahmloser Beobach-
ter. Bald mehr bald minder interessirf^') und den handelnden Per-
sonen ergeben, nimmt er aufrichtigen Antheil an ihrem Geschick.
Er ordnet sich unter, aber ohne knechtische Unterwürfigkeit, ohne
231) Sein eigenes L'nglück hebt der Chor nnr im Äias, einem der älteren
Stücke, wiederholt hervor. Auch im Oed. Kol. 1239 findet sich eine flüchtige
persönliche Beziehung.
448 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
auf seine eigenen Ansichten zu verzichten. Daher tröstet der Chor
oder ertheilt Rath, spricht seine Hoffnungen oder Besorgnisse aus.
Je weniger direkten Anlheil der Chor an der Handhing hat, desto
mehr tritt die Reflexion des Verslandes hervor. Aber diese allge-
meinen Gedanken über das menschliche Leben, welche der Dichter
aus dem Schatze seiner Erfahrung einflicht, diese religiösen und
sitthchen Betrachtungen, in denen sein frommes Gemüth sich offen-
bart, haben immer Bezug auf die Handlung."'*) Zu gleichem Zwecke
werden Ereignisse der Vorzeit benutzt, welche entweder die früheren
Schicksale des erlauchten Hauses ins Gedächtnifs zurückrufen oder
als passende Parallele dienen.
Die ChorUeder sind nicht losgelöst von den Vorgängen auf der
Buhne, sondern schliefsen sich an das Vorhergehende und Folgende
an, bereiten schicklich die kommenden Ereignisse vor.'"') Indem
der Chor sympathisch in die Klagen der Handelnden einstimmt, aus-
führlich ihr trauriges Geschick schildert, bringt er die Gröfse des
Unglücks uns recht zum Bevvufstsein und steigert so die tragische
Wirkung. Aber dann benutzt der Dichter auch wieder den Chor,
um den mächtigen Eindruck, den die erschütternden Ereignisse
hinterlassen, zu ermäfsigen, damit der. Zuschauer nicht ermalte und
die rechte Empfänglichkeit nicht verliere. Der Gegensatz zwischen
der gefafsten Haltung des Chores und der leidenschaftlichen Er-
regung der Handelnden wirkt wohlthuend. Indem der Dichter uns
in die Region ruhiger Betrachtung einführt, werden die Gefühle ge-
klärt, welche die aufserordentlichen Thaten und Schicksale, die ver-
hängnifsvollen IrrthUmer und Gefahren hervorrufen. Mitten im Auf-
ruhr der Leidenschaften, welche auf die höchste Spitze gelrieben
sind, macht sich die Reaktion des Verstandes geltend, der die Herr-
schaft über die peinlichen Empfindungen zu gewinnen bemüht ist.
So benutzt Sophokles mit weiser Berechnung den Chor, um die
232) So in der Anügone 3S2 über die unheilvollen Folgen der in einem
Geschlecht sich forterbenden Schuld, oder ebendaselbst 781 über die Gewalt
der Liebe, ein Thema, welches auch in den Trachin. 497, aber in ganz neuer
Weise behandelt wird. Oefler nimmt das Chorlied den Charakter eines Lob-
gesanges auf eine Gottheil an , wie sich solche hymnenartige Lieder auch bei
den anderen Tragikern finden.
233) So wird die Parodos zur Vervollständigung der Exposition Itenutzt.
Im Philoktet deutet der Schiufs des Chorliedes 719 ff. auf die glückliche Lö-
sung hin.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. IF. SOPH. 449
verschiedenartigsten Intentionen zu unterstützen. Daher darf man
auch vom Chore keine Consecpienz, keine feste Ansicht verlangen
oder glauben, in seinen Worten überall des Dichters eigene Gedanken
oder eine endgültige Entscheidung zu vernehmen. Das Urtheil des
Chores ist nicht frei von Befangenheit; indem er sich den Eindrücken
des Augenblicks hingiebt, können Widersprüche nicht ausbleiben.
Der Chor rühmt sich zwar zuweilen seiner Sehergabe^), aber nicht
seilen trägt er sich mit trügerischen Hoffnungen, wenn das Unheil
unmittelbar bevorsteht. Im Aias glaubt er an die Sinnesänderung
des Helden; im Oedipus theilt er den Irrthum des Unglücklichen;
in den Trachinierinnen erwartet er Gutes von der verhängnifsvoUen
Gabe der Deianeira. In solchen Momenten pflegt Sophokles dem
Chore ein heiteres Lied zu geben.*^*) Der Chor ist in seiner Be-
fangenheit ein getreues Abbild der menschlichen Natur, die hart am
Abgrunde des Verderbens sich arglos eitler Freude überläfst. Der
Zuschauer, der weiter sieht, theilt diese kurzsichtige Selbsttäuschung
nicht, aber die Wahrheit des Lebensbildes bewegt ihn stärker, als
wenn alle Reizmittel des tragischen Pathos in Bewegung gesetzt
würden. Sophokles, der Meister der dramatischen Technik, verfährt
mit weiser Mäfsigung; statt zu steigern, schlägt er einen anderen
Ton an und macht vom Contraste den glücklichsten Gebrauch. Er
weifs, dafs aus der Dissonanz die Harmonie, aus dem Gegensatz die
Versöhnung hervorgeht.
Im Wechselverkehr mit den handelnden Personen, namentlich
in den kommatischen Gesängen ^), dann aber auch in leidenschaft-
lichen Scenen, wenn der Chorführer bei hitzigem Wortwechsel Mäfsi-
gung anempfiehlt, oder bei anderen untergeordneten Anlässen"^)
versieht auch in der Sophokleischen Tragödie der Chor gewisser-
mafsen die Funktion eines Schauspielers.
Sophokles hat den Chor so verwandt, dafs er als ein integri-
234) So im König Oedipus 1086, wo das Gegentheil eintritt, oder Elektra
472, wo allerdings die Erwartungen in Erfüllung gehen; allein zu dieser Pro-
phezeiung bedurfte es keiner besonderen Voraussicht.
235) Aias 693, Trach. 633, Antig. 1115, Oed. Tyr. 1086.
236) Z. B. Philoktet 1081 — 1217.
237) Vgl. Oed. Kol. 461 ff. Bei solchen Gelegenheilen spricht der Chor
in Trimetern ; doch macht Sophokles davon weit beschränkteren Gebrauch als
Euripides.
Rergk, Griech. Literaturgeschichte III. 29
450 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
render Theil des Dramas, nicht blofs als eine entbehrliche Zugabe
oder gar als störendes Element erscheint; mit grofser, bewufster
Kunst gebraucht ihn der Dichter für die verschiedensten Zwecke und
weifs damit glückliche dramatische Wirkungen zu erzielen. Daher
finden die Alten in dieser Weise die Bestimmung des Chores aufs
Vollständigste erfüllt.»^)
Die Chorlieder des Sophokles mit ihrer anmuthigen Frische,
mit der gefälligen Eleganz der Diktion und den leichten sangbaren
Weisen fanden allgemeinen Anklang.*'®) Freilich die Fülle der Em-
pfindungen und Tiefe der Gedanken, die Kühnheit und Pracht der
Bilder und Worte, die reiche Mannigfaltigkeit rhythmischer Formen,
welche die Gesänge des Aeschylus auszeichnet, geht dem Sophokles
ab. Aeschylus war eben ein entschieden männlicher Charakter,
Sophokles eine mehr weibliche Natur; daher haben seine Chore
nicht das mächtig Ergreifende, sondern athmen mehr einen ruhig-
friedlichen Geist. Während Aeschylus' Lied wie ein gewaltiger Strom
sich ausbreitet und alles mit fortreifst, ermäfsigt Sophokles den un-
gestümen Ergufs der tragischen Muse; er hält sich auf einer ge-
wissen mittleren Hohe, gleich weit entfernt von dem feierlichen Ernste
seines Vorgängers, wie von der leichten, glatten Art des Euripides.
Aber was Sophokles dem Chore in den Mund legt, ist wahr und
warm empfunden und spricht zum Herzen. Der Ausdruck warmer
Gefühle, besonders schmerzlicher Wehmuth, gehngt dem Dichter vor-
zugsweise. Diese Lieder, obwohl sie in einem bestimmt abgegrenzten
Kreise sich bewegen, sind nicht eintönig. Sophokles, wie er überall
mit gröfster Besonnenheit verföhrt, wie er genau das Verhältnifs
jedes einzelnen Theiles zum Ganzen abwägt und die Wirkung be-
rechnet, sorgt für Abwechselung. Die vollendete Sauberkeit der
Form, der leichte Flufs und Wohllaut der Verse ist unzweifelhaft
das Ergebnifs sorgfältiger Arbeit; aber man empfängt durchaus den
Eindruck mühelosen Schaffens.
Der poetische Gehalt der Chorlieder ist nicht überall der gleiche.
Ain höchsten steht in dieser Beziehung König Ocdipus. Wie dieses
238) Arislot. Poet. c. 18 p. 1 15«) A 25 ff., Horaz A. P. 193.
239) Das y^^fvQÖv und t^Sinöv wird gerahmt Schol. Ued. Koi. 668, da»
r,8v Schol. Ai. 1193, besonders auch in den Tanzliedern vor der Kalastrophe,
8. Schol. Ai. 693.
DIE DRAM POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRIPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II.SOPH. 451
Drama eine ungewöhnliche Kraft und Energie mit tiefer Empfin-
dung verbindet, so gilt dies auch von den mehschen Partien, welche
die mächtige Wirkung der Tragödie wesentlich unterstützen. Die
Reflexion erscheint hier gemäfsigt; der Chor nimmt warmen Antheil
und spricht dieses Gefühl in angemessener Weise aus. Die Gesänge
in der Antigene, obwohl von vollendeter Schönheit der Form, be-
friedigen weniger; sie entsprechen nicht überall der Bedeutung der
Handlung."") Wenn Antigene zum Tode fortgeführt wird, so wendet
sich der Chor von der Gegenwart ab und versenkt sich in Erinnerun-
gen aus der Vorzeit. Dies hat etwas Kaltes und Unbefriedigendes;
die berechtigten Forderungen des Gemüthes werden hier zu wenig
berücksichtigt. Noch weit geringer ist die dramatische Wirkung des
Chores in der Elektra.
Mit grofser Kunst, unter steter Rücksicht auf die Verschieden- Der Dialog.
heit der Charaktere und die Mannigfaltigkeit der Situationen , be-
handelt Sophokles den Dialog. Die Gedanken wie der Ausdruck
sind genau abgewogen, alles darauf berechnet, eine bestimmte Wir-
kung zu üben. Der Entfaltung des Charakters dient ebenso gut das
ruhige Zwiegespräch wie der leidenschaftliche Wortwechsel, wo mit
schneidender Dialektik Vers um Vers Rede und Gegenrede aufeinan-
derfolgen , wo der eine den anderen immer zu überbieten , die
Gründe des Gegners zu widerlegen oder doch zu schwächen sucht,
indem er sie ihm vorwegnimmt und ihnen so die Spitze abbricht.
Gerade solche Scenen sind höchst kunstvoll nach einer bestimmten
Methode aufgebaut. Aber dabei hält sich Sophokles von der streng
Conventionellen Art wie von den sophistischen Künsten des Euri-
pides fern. Die Gründe, mit welchen die Streitenden ihre Sache
führen , sind meist aus der jedesmaligen Lage , aus dem Charakter
der Redenden hergeleitet, werden im Tone aufrichtiger Ueberzeugung
vorgetragen und üben eben deshalb eine mächtigere Wirkung aus
als täuschende Scheingründe. Vom Monologe, den die beständige
Gegenwart des Chores nicht wohl gestattete, wird nur selten Ge-
brauch gemacht."') Dagegen sind Scenen, an denen alle drei Schau-
spieler sich bctheihgen, häufiger ; doch ist auch hier das Zwiegespräch
vorherrschend. In den zahlreichen, bald längeren, bald kürzeren
240) Natürlich das gewaltige Stasimon Antig. 582 ff. ist auszunehmen.
241) So im Aias und im Prolog der Trachinierinnen.
29*
452 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Botenberichten tritt das Talent des Tragikers für charakteristische
Darstellung recht deutlich hervor."*)
Concentra- Indem Sophoklcs die festgeghederte, einheithche Trilogie auf-
tion des . . i • • i r. • • ■ w-.
Stoffes, giebt und m jedem Drama ein tragisches Ereignifs für sich darstellt,
verlangt die Geschlossenheit der selbständigen Tragödie eine weit
gröfsere Concentration des Stoffes. Aeschylus, der die ursprüng-
liche Form der trilogischen Composition festhielt, vermochte selbst
eine verwickelte Schicksalsverflechtung in ihrem ganzen Verlaufe dar-
zustellen. Sophokles verzichtet auf diese breite Behandlung des
Mythus; er versetzt uns sofort mitten in die Begebenheiten, indem
er das Vorausliegende entweder als bekannt voraussetzt oder an
passender Stelle nachholt. Die Manier des Euripides, die Voraus-
setzungen der dramatischen Verwickelung, selbst wenn sie einfach
und jedermann gegenwärtig sind, in einem ausführlichen Vorberichte
mitzutheilen , dann aber wieder über den Abschlufs der Handlung
hinauszugehen und eine Aussicht in die Zukunft zu eröffnen, sagt dem
künstlerischen Takte des Sophokles nicht zu. Er hält sich inner-
halb der selbstgezogenen Grenzen, versieht aber in dieser Beschrän-
kung eine Fülle dramatischen Lebens zu entwickeln. Indem Sopho-
kles einen dritten Schauspieler einführt, vermag er den zweiten
Darsteller vollständig zu verwerlhen. So gelangt auch die Gegen-
partei zu ihrem Rechte; der Kampf der feindlichen Gewalten wird
unmittelbar zur Anschauung gebracht und so eine wahrhaft drama-
tische Aktion ermöglicht."") Durch Nebenfiguren wird tue Handlung
erweitert; so gewinnt selbst ein einfacher Stoff Mannigfaltigkeit.
Diese contrastirenden oder ergänzenden Gestalten dienen besonders
auch dazu, die Träger der Handlung in die rechte Beleuchtung zu
rücken. Wie passend ist nicht der schrofl'en, trotzigen .4ntigone die
milde Schwester, dem Kreon sein Sohn Hämon zur Seite gestellt!
Vor der Gefahr, die Nebenhandlung allzusebr auszudehnen, bewahrt
den Sophokles ebenso die knapp bemessene Zeit, wie sein mafs-
haltender Sinn. Wegen dieser Gedrungenheit der Handlung ist der
242) Der ängstliche Wächter in der Antigone (223 (f.), der nicht zur Sache
kommen kann, weicht von dem üblichen Stil der Tragödie ab, ist aber ganz
naturgetreu gezeichnet.
243) AeschyluR schlierst sich in den Arbeiten seiner letzten Periode an
Sophokles aji. ,
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II.SOPU. 453
Tragiker sichtlich bemüht, die Einheit der Zeit und des Ortes streng
innezuhalten."^)
In der Auswahl und Gestaltung des Stoffes unterscheidet sich^uswahi des
Sophokles wesenthch von seinem Vorgänger. Aeschylus in seiner
schlichten Weise liebt die einfache Fabel; Sophokles zieht die ver-
flochtene Handlung vor, welche ein sorgfältiges Motiviren erfordert
und für die Charakterzeichnung besonders günstig ist. Daher werden
plötzlicher Schicksalswechsel und Erkennungsscenen in wirkungs-
vollster Weise angewandt; auch das künstlich verschlungene Spiel
der Intrigue fehlt nicht.
Die einzelnen Scenen sind nicht äufserlich aneinandergereiht, Durchiüh-
sondern kunstreich verflochten. Nach überdachtem, wohlerwogenem Hanlfiuii"
Plane wird die Handlung zu Ende geführt. Die Symmetrie der Con-
struktion wird auch von Sophokles treu bewahrt und dabei vom
Contraste der wirksamste Gebrauch gemacht. Ueberall in der An-
lage der Stücke, in der Anordnung der Handlung erkennt man den
hohen Runstverstand des Tragikers. Sorgfältig wird das Einzelne
vorbereitet und motivirt; alles ist darauf berechnet, die treibenden
Kräfte, welche die Handelnden unwiderstehUch mitfortreifsen , an-
schaulich zu machen. In allmähUcher Steigerung wird die Hand-
lung bis zum Höhepunkte geführt; für diesen entscheidenden Mo-
ment werden die reichsten Mittel der Poesie aufgespart. Ist der
Held auf der Höhe angelangt, wird er durch die Gewalt der Um-
stände abwärts getrieben, so begnügt sich Sophokles mit einer mehr
summarischen Ausführung. Mit der Umkehr beginnt eben für den
dramatischen Dichter der schwierigste Theil seiner Aufgabe. Un-
willkürhch läfst die Spannung nach ; es gilt durch erhöhte Energie,
durch neue überraschende Momente die Aufmerksamkeit zu fesseln
und eine tragische Wirkung zu erzielen. Die Kunst des Sophokles
bewährt sich auch hier; doch gehngt es ihm nicht immer, das Inter-
esse unvermindert wachzuhalten, und der Schlufs befriedigt in ge-
ringerem Grade.
Sophokles, an Jahren jünger als Aeschylus, älter als Euripides Der Kunst-
und mit beiden viele Jahre am tragischen Wettkampfe sich bethei- ^''^ra'"«'"
ligend, nimmt eine mittlere Stellung ein, doch steht er dem älteren Sophokles.
244) Im Aias findet ein Wechsel der Scenerie statt; ebenso wird die Zeit
mit zulässiger Freiheit behandelt.
454 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Meister weit näher als dem Vertreter der jüngeren Tragödie. In
der Kunst geht naturgemäfs das Strenge und Erhabene dem An-
inuthigen und GefälUgen voraus, während das Schöne die Gegen-
sätze einträchtig verbindet. Diese Mitte zu erreichen ist in der
Regel nur wenigen vergönnt. Sophokles' reichbegabte Dichternatur,
die stets auf die höchsten Ziele gerichtet war und unablässig an
ihrer Fortbildung arbeitet, vereinigt Gröfse mit Anmuth. Die Vor-
züge, welche uns bei den anderen gesondert entgegentreten, erschei-
nen hier harmonisch zusammenwirkend. Bei Sophokles übt kein
Element ein störendes Uebergewicht aus; was die Früheren oder
Zeitgenossen Trefdiches geleistet, nimmt er in sich auf, um es selb-
ständig zu verarbeiten.
Während bei Aeschylus alles kühn und grofsartig angelegt ist
und die charakteristische Darstellung, sowie die vollendete Schönheit
nur insoweit zu ihrem Rechte gelangen, als sie der Gröfse dienen,
strebt Sophokles vor allem nach Mafs und Harmonie. Eine gewisse
Ruhe, die wohlthuend wirkt, zeigt sich selbst in der Leidenschaft;
und doch erreicht das dramatische Leben bei Sophokles seinen Höhe-
punkt, während Euripides häufig über das rechte Mafs hinausgeht
und daher nur selten rechte Befriedigung und Erhebung des Ge-
müthes gewährt. Milde und Anmuth werden schon von den Alten
als das besondere Merkmal der Sophokleischen Art bezeichnet. Aber
man darf darin nicht das ausschliefsliche Gesetz seines Stiles er-
blicken. Der gefälligen Glätte ist so viel Rauheit, dem Zarten so viel
Herbes beigemischt, dafs man nicht recht weifs, nach welcher Seite
der Dichter vorzugsweise hinneigte; denn das Talent des Sophokles
ist viel zu reichhaltig, er übt seine Kunst zu sehr mit klarem Ver-
ständnifs und Bewufstsein, als dafs er lediglich dem inneren Zuge
seiner Natur folgen sollte. Und gerade dieser oft schneidende Con-
irast zwischen Strenge und Milde, zwischen leichter Eleganz und
alterthümlicher Hoheit übt die mächtigste Wirkung aus. Dem Dich-
ter ist es vor allem um Wahrheit und Treue der Darstellung zu
thun, und so wendet er nach BedUrfnifs die verschiedensten Mit-
tel der Kunst an. Aber in der Art, wie Sophokles durch Ab-
stufung, durch unmerkliche Uebergänge, durch richtige Vertheilung
von Licht und Schalten das Verschiedenste harmonisch zu vereinigen
weifs, zeigt sich seine Meisterschaft.
Aeschylus ist unbestritten eine reichere, gewaltiger«' N.iiiir. Nur
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II.SOPH. 455
ein wahrhaft originaler Dichter konnte so wie Aeschylus Begründer
und Gesetzgeber der Tragödie werden ; ihm gebührt mit vollem Recht
die erste Stelle. Allein diese Anerkennung darf uns gegen die sin-
nige Dichternatur des Sophokles, der die Erfindungen seines grofsen
Vorgängers weiter fortbildet und verfeinert, nicht ungerecht machen.
Nur wird ein unbefangener Beurtheiler nicht alles in herkömmUcher
Weise bewundern, noch weniger, durch den eigenthümhchen Zauber
dieser Poesie gefesselt, den Sophokles unbedingt über Aeschylus
erheben.
Den überheferten Stoff weifs Sophokles so zu gestalten, dafs Sophokie«'
er den Regeln der dramatischen Composilion wie den Anforderun- zur sage.
gen des höheren sitthchen Gesetzes entspricht. Sobald es die Rück-
sicht auf die Idee des Stückes, auf die künstlerische Anlage verlangt,
nimmt er keinen Anstand, von der Sage abzuweichen. Aber er
ändert dieselbe nicht willküriich ab, blofs um etwas Neues vorzu-
bringen oder einen momentanen Effekt zu erzielen. Sophokles tritt
noch mit einer gewissen Scheu und Ehrfurcht an die Mythenwelt
heran. Gleichwohl konnte er nicht umhin, die alte Heldengeschichte
öfter selbst in freier Weise umzubilden. Da bereits die Vorgänger
vieles vorweggenommen hatten, so galt es, neue Stoffe einzuführen
oder die schon von den Früheren bearbeitete .Aufgabe in anderer
Beleuchtung zu zeigen. Dies geUngt dem Dichter besonders auch
dadurch, dafs er Frauencharaktere in den Vordergrund rückt, wie
in der Elektra, wo Orestes sich mit der zweiten Rolle begnügt, oder
in den Trachinierinnen. Am häufigsten traf Sophokles mit Aeschy-
lus in demselben Thema oder doch ähnlichen Motiven zusammen.
Das unleugbare Talent des jüngeren Dichters bewährt sich oft auf
das Ueberraschendste. Er kopirt nicht seinen grofsen Vorgänger,
sondern es gelingt ihm, der Aufgabe neue Seiten abzugewinnen.
Aber öfter hat dieses Ausweichen von der breiten Bahn etwas Künst-
liches, während Aeschylus in seiner Schlichtheit, in seinem offenen
Sinne für das Natürliche das Rechte getroffen hatte. Sophokles ar-
beitet mit Bewufstsein; er war sicher im Stande, von allem, was er
that, Rechenschaft zu geben. Aber der angeborene Instinkt leitet
oft richtiger als die Berechnung; es kann ein Zug für den Mo-
ment wirksam und schicklich sein, während er für das Ganze sich
nachtheilig erweist. Dies ist dem Sophokles mehr als einmal be-
gegnet
456 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Die freiere Sopliokles hat die streog geschlossene Tetralogie, deren er sich
"'^|.^'*^^^nach Aeschylus' Vorgange anfangs noch öfter bedienen mochte, mit
Sophokles, der freieren Form vertauscht, welche bald allgemeine Geltung ge-
winnt. Jedes Drama ist eine vollkommen selbständige Dichtung;
aber nach wie vor betheiligt sich Sophokles jedes Mal mit drei Tra-
gödien und einem Satyrspiel am Wettkampfe *^*); an eine Auffüh-
rung einzelner Stücke ist nicht zu denken.^^^) Leider verläfst uns
die Ueberlieferung gerade über die Tetralogie des Sophokles. Nir-
gends werden die Titel der gleichzeitig aufgeführten Dramen ver-
zeichnet ; wir wissen daher auch nicht, wie die Kunst des Dichters die
verschiedenen tragischen Stoffe mit einander verband und gruppirte.
Es ist reine Willkür, wenn man die drei noch vorhandenen
Tragödien des thebanischen Sagenkreises zu einer einheitlichen
Trilogie vereinigen will. Diese Hypothese hat die wohlbeglaubigte
Ueberlieferung des Alterthums gegen sich. Die Antigone war kurz
vor dem samischen Kriege Ol. 84, 3 aufgeführt; den Oedipus auf
Kolonos schrieb der Dichter in der letzten Zeit des peloponne-
sischen Krieges, Ol. 93, 3, und erlebte nicht einmal die Aufführung
dieses Dramas, welche erst Ol. 94, 3 erfolgte. So hegt zwischen
beiden Tragödien mehr als ein Menschenalter. Wann der König
Oedipus aufgeführt wurde, ist nicht überliefert, aber so viel steht
fest, dafs er weder der Zeit der Antigone, noch des zweiten Oe-
dipus angehören kann.'*^)
Noch viel entschiedener sprechen innere Gründe gegen die
Herstellung eines zusammenhängenden Dramencyklus. Man hat
gewisse Mängel der Sophokleischen Kunst dunkel gefühlt, aber der
Versuch, dieselben mit der trilogischen Composition zu rechtfertigen.
245) Ol. 85, 2 und dann wieder Ol. 87, 1 sind in den Didaskalien Tetra-
logien des Euripides verzeichnet, und als Mitbewerber dieses Dichters trat Sopho-
kles auf, selbstverständlich ebenfalls mit vier Dramen. (S.S. 231. 21«> A. 162.)
246) Dieses Mifsverständnifs gründet sich nur auf die Notiz bei Suidas,
Sophokles habe zuerst die Sitte aufgebracht S^/ua n^oe S^äfia ayofviZead'ai,
aXla fiTj xer^aXoyiav, was nur auf die Preisrichter zu beziehen ist. (S. S. 230 IF.
362 A. 20.)
247) (S. S. 227 A. 100, S. 415 A. 161.) Auf den Widerspruch der Ueberliefe-
rung, die Antigone sei mit grofsom Beifall aufgenommen worden (wobei man die
Ertheilung des ersten Preises voraussetzt), während der König Oedipus nur den
zweiten Preis erhielt, ist nicht viel zu geben; denn auch die Antigene hat, wie
es scheint, nicht den ersten Preis gew» nnen.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLCTHEZEIT. II.SOPH. 457
erweist sich als durchaus unzulängHch. Wollte man auch den Zu-
sammenhang zwischen jenen drei Tragödien zugeben, so würden
doch die Schwächen des zweiten Oedipus in dieser Verbindung
nicht gemildert, sondern sie würden nun erst recht schroff hervor-
treten. Auch der Eindruck der Antigone bleibt ganz derselbe , mag
man sie als SchlufsstUck einer einheitUchen Trilogie oder als selb-
ständiges Drama betrachten. Ja, diese Ehrenrettung setzt den Dichter
in das allerungünstigste Licht ; denn indem man Dramen, welche für
eine getrennte Aufführung bestimmt waren, willkürlich mit einander
verknüpft, treten so viel Widersprüche, ein solcher Mangel an Einheit
und Folgerichtigkeit hervor, dafs man die Fähigkeit des Tragikers,
ein gröfseres organisch gegliedertes Kunstwerk zu schaffen, über-
haupt in Frage stellen müfste.
Oedipus auf Kolonos kann nicht als unmittelbare Fortsetzung
des König Oedipus gelten. Am Schlüsse des ersten Oedipus ver-
bannt sich der Unglückhche für immer aus der menschlichen Ge-
sellschaft. Dies ist die Bufse, welche er sich selbst auferlegt, um
sein Vergehen zu sühnen, und es war dies der schickUchste Aus-
gang, den Sophokles seiner Tragödie geben konnte. Dagegen nach
der Darstellung im zweiten Oedipus verweilt der Sohn des Laius
ruhig in Theben, und als er später wirkhch ausgestofsen wird, grollt
er leidenschafthch dem Kreon, sowie den Söhnen, welche die Ver-
bannung nicht hinderten. Jst auch dieser Verlauf mit der Schlufs-
scene des ersten Oedipus nicht geradezu unvereinbar, so mufste
doch der Dichter, wenn er die beiden Dramen in trilogischer Folge
verknüpfen wollte, diese Abweichung sorgfältig motiviren."^) Nach
der Antigone ist Oedipus unmittelbar, nachdem er sich selbst ge-
blendet hat , gestorben ; auch lokaste setzt eigenmächtig ihrem
Leben ein Ziel, und Antigone hat ihren Eltern die letzte Ehre er-
wiesen.^^j Aber nicht nur in diesem wichtigen Punkte, sondern
auch anderwärts tritt die Disharmonie der vermeinthchen Schlufs-
tragödie mit den beiden anderen Dramen grell hervor. Die Anti-
gone weifs nichts von der Vormundschaft des Kreon, sondern Oe-
dipus' Söhne treten sofort das Regiment an. Kurz, von den Vor-
248) Eben weil der Dichter keine engere Verbindung zwischen den beiden
Dramen beabsichtigt hat, nimmt er im zweiten Oedipus auf das frühere Stück
keine Rücksicht.
249) Anlig. 50 und 900.
458 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
aussetzungen , auf welchen die Fabel im zweiten Oedipus beruht,
ist in der Antigone keine Spur vorhanden. Diese Tragödie schliefst
ein Stück wie den zweiten Oedipus geradezu aus. Es ist unmög-
lich, ein ganz selbständiges und in sich abgeschlossenes Drama wie
die Antigone und die beiden Oedipus in dem Rahmen einer ein-
heitlichen Trilogie zusammenzufassen. Wenn Polyneikes im Oedi-
pus auf Kolonos im Vorgefühl des nahen Todes seine Schwester
bittet, ihn zu bestatten**"), so wird damit auf das ältere Stück hin-
gewiesen*'^'), aber nicht elwa die Antigone als Fortsetzung vorbe-
reitet; denn in diesem Drama handelt Antigone ganz aus freiem
Entschlüsse : der letzte Wille des Bruders ist in keiner Weise mafs-
gebend. Dieses Motiv, so nahe es auch lag, liefs der Dichter hier
absichtlich unbenutzt, weil es nicht zum Charakter seiner Heldin
zu passen schien.
Kreons Charakter wird in jeder von den drei Tragödien an-
ders aufgefafst. Bei einer Nebenßgur, die weder in der Sage, noch
in der alten Poesie besonders hervortrat und daher keine so klar
ausgeprägte Persönlichkeit war wie andere Heroen, hatte der Dichter
volle Freiheil. Er konnte in verschiedenen Dramen, welche keine
engere Beziehung aufeinander hatten, diese Gestalt jedes Mal gemäfs
den besonderen Verhältnissen der dramatischen Handlung verwen-
den, aber in einer einheitüchen Composition wären so widerspruchs-
volle Züge störend. Die verschiedene Art der Charakterzeichnung
ist eben der deutlichste Beweis, dafs eine Verbindung dieser Stücke
niemals beabsichtigt war.
Die Kunst In der Kunst der Charakteristik , in der psychologischen Ent-
der charak- wicklung der handelnden Personen offenbart sich vor allem das
lerreicn- o
nung bei grofse Talent des Sophokles."') Oft genügen wenige Striche, ein
opio ^*- ]^ejei,tsanies Wort, um einen Charakter in aller Bestimmtheit zu
zeichnen.**^) Mit sicherer Hand weifs der Dichter Licht und Schat-
250) Oed. Kol. 1410.
251) Der Dichter konnte seine Antigone als allgeniein bekannt voraus-
setzen.
252) Die Meisterschaft des Tragikers in diesem Punkte wird allgemein
anerkannt. Mit Recht sagt der alte Biograph: i^&onoiel Si ttai notxilX$t kcu
toli intvofjuaai rBxvtxcüe ;^p^T««, 'OftrjQixrp/ iKfiaxxöfievoi ;?«(>«»', und nach-
her: <5flr' ix fiixQov ^fitcrzfxiov ^ Xd^Boas fuäi oXov ri&onoulv TtQÖaunov'
i'art Bi xovTO fieytarov iv notr^rixi] Srjkovv rj9oe rj nn&oi.
253) Wie z. B. Anlig. 523; ovroi <Tvvdx9'ttv, akln avfi^tXeiv ifvv.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. 11. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II. SOPH. 459
ten zu vertheilen und vom Contiaste den wirksamsten Gebrauch zu
machen.^") Waren die Gestalten der älteren Tragödie meist fertige
Charaktere, so zeigen die des Sophokles eine viel bestimmtere Indi-
viduahtät. Der Dichter ist bemüht, ein reiches inneres Leben zur
Darstellung zu bringen. Indem er alles sorgrältig raotivirl, enthüllt
er die Triebfedern des Handelns und gewährt uns einen Einblick
in die verborgenen Seelenzustände.
Sophokles' Charaktere, wenn sie auch nicht das Grofsartige und
Titanische wie bei Aeschylus haben, entbehren doch nicht der Ener-
gie und jener mächtigen Leidenschaft, die wir von dem tragischen
Helden fordern; nur von allem Uebertriebenen und Gewaltsamen
hielt den Dichter sein angeborener Sinn für Mafs und Harmonie
fern. In grofsen Zügen und festen Umrissen schildert Sophokles
die veredelte Menschheit, welche uns menschhches Interesse ein-
flöfst.***) In dem Adel der Gesinnung, den der Dichter seinen Ge-
stalten einhaucht, giebt sich seine eigene Denkart, die Höhe der
Geistesbildung kund. Die Charaktere der handelnden Personen sind,
auch wenn sie nicht tadellos erscheinen, doch niemals alles sittlichen
Gehaltes bar. Hoheit und Würde zeichnet zumal die Hauptper-
sonen aus; denn Nebenfiguren werden schon um des Contrastes
willen öfter mit einem gewissen Reahsmus behandelt. Aber nie-
mals steigt der Tragiker zu der Prosa des nüchternen Alltagslebens
herab.
Sophokles besitzt eine nicht gewöhnliche Menschenkenntnifs*^;
deshalb läfst er zuweilen auch einen Widerspruch oder eine Um-
wandlung'"^ eintreten. Im Ganzen jedoch führt er seine Charak-
tere mit strenger Consequenz durch; das treue Festhalten an dem
einmal für Recht Erkannten galt eben als Merkmal eines tragischen
Helden. So haftet auch den Gestalten der Sophokleischen Tragödie
254) So wird im Prolog des Aias die nahezu verletzende SchroflTheit der
Göttin durch das menschliche Mitgefühl, welches Odysseus zeigt, ermäfsigt,
255) Dieser idealen Richtung, welcher Sophokles unwandelbar treu blieb,
war er sich wohl bewufst, vgl. Aristot. Poet. c. 25 p. 1460 B 33 : olov xai Ikxpo-
xkr-fi ftfir, avros fiev oiovs 8ei noteiv, EvQiniSrjv Se, oloi etat.
256) Zuweilen vermiTst man die Naturwahrheit, wie z. B. wenn Antigone
sich in politische Discussionen einläfst; dafs eine Jungfrau zur Wortführerin
republikanischer Grundsätze wird, stimmt nicht recht mit der hellenischen
Sitte.
257) Wie bei Neoptolemus im Philoktet.
460 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
eine gewisse Einseitigkeit an, die sich öfter bis zur Schroffheit stei-
gert. Aber wenn sich auch die herbe Art des Dichters in der Schil-
derung starrer Unbeugsamkeit gefiel, wie namentlich seine Heldinnen
(Elektra und Antigene) zeigen''**), so war er doch feinsinnig genug,
um diese Härte wieder zu mildern, indem selbst diese von heftigster
Leidenschaft getriebenen Naturen für weichere Empfindungi-n, für
menschUches Gefühl nicht unzugänghch sind. So hängt Elektra,
die in ihrer eisigen Kälte, ihrem bitteren Hasse fast etwas Abstofsen-
des hat, mit rührender Zärtlichkeit an dem Bruder; der herausfor-
dernde Trotz der Antigone entspringt wesenthch aus der Innigkeit
des Familiengefühls; die rauhe Kriegernatur des Aias empfindet das
tiefste Mitgefühl für das Schicksal der Seinen; der unversöhnlich
grollende und von bitteren Leiden gequälte Philoktet bekundet dem
jugendHchen Heldensohne des Achilles gegenüber das rührendste
Wohl wolle n.^°^) So söhnt uns der Dichter, wenn das harte Pathos
seiner Charaktere zu verletzen droht, wieder aus und bekundet aufs
Neue seine allen Extremen eigentlich abholde Natur.
Ganz besonders erkennt man den tiefen Kunstverstand des Tra-
gikers in der Art, wie er die Haupthelden mit theils ähnlichen, theils
entgegengesetzten Nebenfiguren umgiebt'^®*'), welche nach verschiede-
nen Richtungen hin in die Handlung eingreifen. Dadurch wird
nicht nur das Lebensbild reicher, sondern, indem diese Nebenper-
sonen bald fördernd, bald hemmend mit der Hauptperson in un-
mittelbare Berührung kommen , wird der Charakter des Helden nach
allen Seiten hin in helles Licht gesetzt, und immer neue Züge treten
hervor.
Die wenigen uns erhaltenen Dramen des Sophokles zeigen eine
ungemeine Mannigfaltigkeit menschlicher Charaktere, und die ver-
lorenen Stücke standen, wie die Ueberreste andeuten, an Reichlhum
und Abwechselung nicht nach. Da die griechische Tragödie ihre
Stoffe ausschliefslich der Heldensage entnimmt, konnte der Dichter
nicht umhin, dieselbe Persönlichkeit wiederholt, wenn auch in ver-
258) Jedoch hat Sophokles neben jenen Frauen, die einen fast mann-
lichen Charakter zeigen, echt weibliche, zarte Gestalten, wie Deianeira, Tek-
messa, geschaflen.
259) Nur die Träger der Handlung zeigen diese Doppelnatur; nicht d\e
Nebenfiguren.
260) Wie Ismene, Chrysolhemis.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II. SOPH. 461
schiedenen Lebenslagen, vorzuführen. Für ein untergeordnetes Ta-
lent lag die Versuchung nahe, sich selbst zu kopiren. Sophokles'
Kunst, die den Charakter jedes Mal aus den besonderen Verhältnissen
entwickelt, wufste auch diesen wiederkehrenden Gestallen den Reiz
der Neuheit zu verleihen.**')
Dem Charakter der Sophokleischen Tragödie entspricht genau ^er stii des
die sprachliche Form. Sophokles' Stil steht in der Mitte zwischen
Aeschylus und Euripides***), doch so, dafs er in den Anfängen seiner
Kunst noch an die feierliche Pracht seines Vorgängers erinnert,
während er später mehr zu Euripides hinneigt, jedoch ohne seiner
eigenen Art untreu zu werden. Es ist nicht zufallig, dafs keiner
der jüngeren Tragiker sich in der Nachbildung dieser Schreibart
versucht hat, während Aeschylus und Euripides, da jeder seinen
besonderen, leicht kenntlichen Stil hat, den er überall in Anwen-
dung bringt, zahlreiche Nachfolger fanden, wo freiüch das hohe
Pathos des einen, die rhetorische Virtuosität des anderen nicht selten
zu geistloser Manier ausarten mochte. Sophokles ist von jeder Manier
fern'^^); er hat eine ungemeine Gewalt über die Sprache, eine Aus-
wahl erlesener Worte steht ihm zu Gebote.*") So ist auch die Dai'-
stellung niemals monoton, sondern immer neu, immer angemessen
und im höchsten Grade wirksam. Der Kunst der Charakterzeichnung,
welche dem Sophokles eigen ist, dient auch der Stil. Er ist indivi-
261) So tritt Kreon in allen drei Tragödien des thebanischen Kreises
jedes Mal in anderer Gestalt auf. Odysseus ward in zahlreichen Tragödien aus
dem troischen Kreise in den verschiedensten Situationen vorgeführt und bot
dem Sophokles so Gelegenheit dar, sein reiches Talent zu bethätigen.
262) Was Dio Chrysostomus 52, 15 H 161 f. Di. von der Poesie des Sophokles
bemerkt, dafs sie die Mitte halte zwischen der der beiden Mitbewerber, asftvrjv
oi ziva xai fisya^MTtoSTxrj TtoiTjaiv rgayixcörara xai eveneffrara ^x^vcav, aaze
nXBiaxr^v tlvai riSovriv fiera vrfovS xai OsfivörTjros ivSeixwa&ai, gilt auch vom
Stile. Dionysius Hai. de complic. verb. c. 24 V 18" ed. Lips. nennt Sophokles als
Vertreter des mittleren Stiles unter den Tragikern. Plutarch de glor. Athen, c. 5
rühmt die Xoyitnrjs des Sophokles gegenüber der Weisheit des Euripides, den
hohen Worten des Aeschylus. Quintilian X 1, 68 erkennt die Verschiedenheit
des Stils zwischen Euripides und Sophokles an und fügt hinzu, man vermisse
bei dem ersteren die Würde : gravitas et cothumus et sonus Sophocli videtur
etse sublhiiior.
263) Eben deshalb haben auch die Komiker viel seltener Sophokieische
Verse parodirt.
264) Das Zierliche and Gewählte ist ein Grundzag der Sophokleischen
Diktion (Antiphanes 'Ayqolxos fr. 1 Com. IIl 3 : xQaytoSiav Tte^alvot J^ofoxXe'ovi).
462 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
(lualisirend, nach Mafsgabe der Personen untl der Situation mannig-
fach abgestuft. Durch passende Färbung, oft durch einen Strich
versteht Sophokles einen Charakter, die Stimmung des AugenbHcks
in das rechte Licht zu setzen.^*) Aber die stiUstische Kunst des
Sophokles hat nicht mit einem Male diese Höhe erreicht, sondern
verschiedene Stufen der Entwicklung zurückgelegt. Der Tragiker
selbst spricht sich darüber mit dem klaren Bewufstsein, welches ihm
eigen ist, aus."®*). In der ersten Periode erinnerte sein Stil an
Aeschylus. Sophokles schöpfte mit Vorliebe aus dem alterthümlichen
Sprachschatze, gebrauchte gern volksmäfsige Worte und Wendungen ;
bald jedoch entsagte er dieser Art, und indem er seiner eigensten
Natur folgte, suchte er die tragische Wirkung durch eine gewisse
Herbheit zu erreichen, die oft etwas Gesuchtes und Künstüches hatte.
Mit der Reihe der Jahre klärt sich dieses strenge Wesen ab; eine
Milde und Anmuth, die jedoch der Würde und Hoheit nie vergafs,
kommt immer mehr zur Geltung, und so bildet jetzt der Tragiker die
charakteristische Schreibart aus, die er mit vollendeter Meisterschaft
übt.*®') Wir können diesen allmähUchen Fortschrilt an den erhaltenen
Werken nicht mehr vollständig nachweisen; denn diese gehören theils
dem Uebergange von der zweiten zur dritten Stufe an, der sich offen-
bar allmählich vollzog, theils sind sie der letzten Periode zuzuweisen.
In voller Harmonie mit dem Wesen des Dichters hat auch sein
265) Biographie: Sar^ ix fiix^ov rifuanxCov rj Xe^ecoi /mäs olov r,&o-
noulv Ttqcatonov. Anfänge dieses charakteristischen Stils ßnden sich schon
bei Aesciiylus, während die Redeweise des Euripides weit gleichmäfsiger ist.
Der Bote spricht anders als der Heros; die Sprache der Leidenschaft unter-
scheidet sich von dem Ausdrucke ruhiger Leberlegung. In der Zurückforde-
rung der Helena zeigte die Rede des Menelaus lakonische Färbung. Daher
rührt die Ungleichartigkeit der Darstellung, welche alte Kunstrichler an Sopho-
kles tadelten. Plutarch de rect. aud rat. c. 13. Dionysius de vett. scr. cens. 2, 11
V 423 ed. Lips.: 6 fiev (^ocpoxXrie) noiriiixos iajtv iv lois ovö/ioat, xai noXiti-
KtS ix nollov 10V fieyid'ove eis Siäxsvov xofinov ixninTüiv, olov aie idtartixiiV
navxnnaai Tanetvöxrira xare^x^"^^- Longin ne^l i'tfove 33 : 6 Sa llit^a^oi xai
6 ^(poxXrji oxe fiev olov nävra ini(pkeyovai rt; fopä, aßivwvrcu 5' aX6yo}i
noXXc'ixn xai ninxovaiv arvxiaTaxa. Und dieser Tadel ist zuweilen berech-
tigt, vgl. Antig. 1108. (S. S. 407 A. 141.)
206) Plutarch de prof. in virt. c. 7, s. oben S. 373 ff. und A. 61.
267) Bezeichnend ist, daTs organische Composita, welche der poetischen
Darstellung vorzugsweise zusagen, bei Sophokles in den späteren Arbeiten viel
sparsamer angewandt werden als früher.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. II.SOPH. 463
Stil etwas Voroehmes und doch Einfaches; aber selbst Gewöholiches
und Alltägliches erscheint durch die Umgebung geadelt. Eine wohl-
thuende Milde, die sich jedoch vom >yeichlichen fern hält, ist über
die reifen Arbeilen des Dichters ausgegossen. Daher heben schon
die Alten die Feinheit und gefällige Anmuth als charakteristisches
Merkmal hervor*^). In den lyrischen Gesängen mochte dieser Ton
gleich anfangs vorherrschen; später kommt er auch in den drama-
tischen Partien immer mehr zur Geltung. Indes hat Sophokles das
Herbe wohl ermäfsigt, doch niemals vöUig abgethan^); an rechter
268) Aristophanes fr. 231 a Di. rühmt den honigsüTsen Mund des Soptiokles.
Wenn er hinzusetzt, Euripides habe ihm dies abzulernen versucht (o S' av ^ofo-
xXdovs rov fiiXiTi yexQia/uivov (oans^ xaSiaxov Tis^uXeiye ro ajofia) , so geht
dies eben auf die melischen Partien, wie auch Dio Chrysostomus 52 II 163 Di. an-
deutet, der hier bei Sophokles rjSovf] &avfia<nrj xai fieya}j07iQi7ieia findet und
sich eben auf das L'rtheil des Aristophanes bezieht ; denn auf den Stil des Euri-
pideischen Dialogs hat Sophokles keinen Einflufs ausgeübt. Mit einem beliebten
Bilde nannte man Sophokles /usXiTTa (dieser Zuname geht zunächst von den Komi-
kern aus, Schol. Soph. Oed, Kol. 17) eben wegen des lieblichen, einschmeicheln-
den Redeflusses in den Chorliedern (Schol. Aristoph. Wesp. 462, Soph. Ai. 1299),
dann aber als Charakter des Sophokleischen Stils überhaupt anerkannt. Bio-
graphie: (lövos Se ^Offoy-Xr^s a<p^ exaarov ro XafiTioov anavd'i^et' xad" o xal
ßte'Xtrra sXt'ysro, und so wird ihm die yXvxvrrjs zugeschrieben. Was die alten
Kunstrichter darunter verstehen, sieht man am besten aus den Rhetoren (wie
Hermogenes ns^i iSecöv II c. 4 p. 357 ö". = Rhet. III 313 ff. Walz , Aristides Rhet,
II 6), die sich vorzugsweise auf Xenophon beziehen. Als Hauptvertreter des Naiven
zeichnet er sich eben durch das Anmuthige und Gefällige aus : dies finden sie in
Vergleichungen , im Einflechten mythischer Erzählungen, in Naturschilderungen
(wie der Nymphengarten bei Sappho fr. 4, die Platane in Piatos Phaedrus 230 B),
in erotischen Anspielungen, in Erinnerungen an die rühmlichen Thaten der Vor-
fahren, oder was uns sonst persönlich näher berührt, eine angenehme Empfindung
erweckt. Hierhergehört ferner, wenn das L'nbelebte als belebt dargestellt wird
(z. B. wenn Plato sagt: r« ftiv x^Q^f^ "«* fa SevS^a oiSev fis d'iXei StSäoxeit;
wenn Sappho fr. 45 ihre Leier anredet, wenn Xerxes dem Meere droht (Herod.
VII 35), wenn Xenophon Kyneg. c. 3, 5 ff. in gemülhlichem Tone Ausdrücke von
den Menschen auf Hunde überträgt). Aber die yXvxvrriS schliefst die S^t/ivxtjs
nicht aus. Oft dient das Herbe dazu, den Eindruck des Naiv-Anmuthigen und
Gemüthlichen zu steigern; aber das Ungewöhnliche ist mit Mafs zu verwenden,
um nicht in den Fehler des Frostigen zu verfallen.
269) Manche, wie der Philosoph Polemo, hatten an solchen Stellen, wo
das Herbe und Strenge ganz unvermischt auftrat, besonderes Wohlgefallen, wo
Sophokles nach dem Komiker Phrynichus fr. fab. ine. 13 Com. II 2,605 dem pramni-
schen Weine glich oder, wie Aristophanes sich ausdrückte, ihm ein Molosser-
hund bei der Arbeit geholfen zu haben schien (Diog. Laert. IV c. 3, 7, (20)).
464 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Stelle angewandt, dient es dazu, den Eindruck des Aninutlngen zu
steigern.
Sophokles beherrscht die Sprache ; er weifs stets eine treffende
Bezeichnung zu finden*'"), jeden Gedanken in die gemäfse Form
einzukleiden. Wo das vorhandene Material nicht ausreicht, da pflegt
Sophokles auch wohl ein neues Wort auszuprägen ; jedoch hat er
nicht in dem Mafse wie Aeschylus die Sprache durch Neubildungen
bereichert. Desto mehr Neuerungen erlaubt er sich im Gebrauch
der Worte; an Kühnheit des metaphorischen Ausdrucks steht er
dem Aeschylus nicht nach."*) Gerade hier giebt sich die sinnige,
feinfühlige Natur des Sophokles deutUch kund. Seine Sprache ist
höchst mannigfaltig'^"), aber immer sinnlich-lebendig. Die Worte
sind noch nicht verbraucht, die Redewendungen durch beständige
Wiederholung verschlissen. So sind namentlich die Beiworte stets
passend gewählt und inhaltsvoll, geben ein klar umschriebenes Bild
des Gegenstandes.'"^) Eine gewisse Fülle der Rede, um die Sache
in desto helleres Licht zu setzen und die Bedeutsamkeit des Ge-
dankens gebührend hervorzuheben, wechselt ab mit gedrängter
Kürze und prägnanter Sparsamkeit des Ausdrucks.''") Wie alle
270) Daher rühmt der Biograph die evxaiQia des Sophokleischen Stiles,
die schon Aristophanes (xaiQos [xtjqos Dindorf] inexa&i^ero roie x^lleoty av-
Totj) anerliannt hatte, s. Biographie und fr. 231a Di.
271) Der Biograph hebt mit Becht die rcXfia hervor. Im Gebrauch der
Worte hat sich Sophokles vielfache Neuerungen gestattet; durch die Verbin-
dung und Umgebung erhält das Wort oft einen ganz anderen Sinn : oixonoiös
Phil. 32 hat Sophokles nicht neu gebildet, aber die Anwendung (was das Haas
zum Hause macht, wohnlich) ist neu; alXrj ftoT^a Ai. 51 G gebraucht So-
phokles gleichbedeutend mit Sre^os Saifimv; den Anker nennt der Tragiker
fr. 699 Di. vrjoi taxäe. Vgl. auch die Bemerkung des Hermogenes H c. 5 p. 366
= ni 324 W. über tpiXavSQoe yiralävrij.
272) ITotxdla beim Biographen.
273) Der Bronzekrug heifst Ant, 430 evx^oTTjros, weil er entsprechend
der Sitte der alten Zeit zusammengenietet war, die ilaia natSor^öfoi Oed. Kol.
701, weil das Ocl in der Gymnastik, in der Erziehung der heranwachsenden
Jugend zur Pflege des Körpers dient.
274) Dionysius de vetl. scr. cens. II 1 1 V 423 : 2otpoxXrii fiev ov 7rep«TTÖc tv
rols X'yoie, aXX' dvayxaToe ist in dieser Allgemeinheit nicht zutrefl'cnd. Auch
bei Sophokles wie bei den anderen Tragikern findet sich manches enlbehrlirhe
Wort. Die metrische Form, insbesondere das Gesetz der Sliohomythie erheischt
öfter Füll Worte: andererseits erzeugt die antistrophische Gliederung besonder
gegen den Schlufs der Strophe zuweilen eine weitgehende Brachylogie.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLDTHEZEIT. III. ELRIP. 465
Attiker zeigt auch Sophokles eine Vorhebe für Antithesen, für ^y ort-
spiele, für Unterscheidung sinnverwandter Ausdrücke; selbst in
Scenen, wo ein gesteigertes Pathos herrscht, werden solche Spiele
des Scharfsinnes und Witzes nicht vermieden.*^*)
Rasche unvermittelte Uebergänge sind dem Sophokles ganz ge-
läufig; es bedarf fortwährend der gespanntesten Aufmerksamkeit,
um den Intentionen des Dichters zu folgen. Die Perioden sind
nicht immer bequem und übersichthch geghedert, aber die bei
Aeschylus so behebte Anakoluthie kommt selten vor. Im Syntak-
tischen zeigt sich sehr viel Abweichendes und Anomales"®); hier
ist der Stil des Sophokles nicht immer frei von Härte. Der Dichter
behandelt eben die Sprache mit grofser Freiheit; er erlaubt sich
besonders die Worte nicht gemäfs der hergebrachten Gewohnheit,
sondern nach dem Sinne zu construiren.
Dieser eigenartige Stil, die Verzweiflung der Kritiker und Er-
klärer, bereitet jedem ernste Schwierigkeiten, der nicht dem Dichter
ein eingehendes, liebevolles Studium gewidmet hat und bemüht ist,
sich von allem Kleinlichen fern zu halten.*")
III
E u ri p id e s.
Mitten in den Unruhen des Perserkrieges, der Athen schwer Euripides
Leben.
275) Doch beobachtet Sophokles das rechte MaCs, hält sich vom Spitz-
findigen fern.
276) So werden häufig die active und mediale Verbalform mit einander
vertauscht, M'ie fä^etv El. 10S6, woran man ohne Grund Anstofs genommen
hat; ebenso findet sich ein Schwanken zwischen transitiver und intransitiver
Bedeutung bei Zeitwörtern, zwischen activer und passiver Funktion bei Adiec-
tivis. Wenn sehr häufig der Casus eines Nomens ohne Präposition gebraucht
wird, so hat sich eben in der dichterischen Rede noch das Gefühl für den vol-
len Werth der Casusformen lebendig erhalten.
277) Bald haftet man sklavisch am Buchstaben der Ueberlieferung und
versucht sich in den unnatürlichsten Deutungen, um die handschriftliche Lesart
zu retten, bald ändert man unverständig und mit schonungsloser Willkür. Im
Aias 93U läfst man sich Tiäfvvxa xal cpaed'ovra avecxiva^ei ruhig gefallen
(der Dichter wird tpat&ovros atsi geschrieben haben), und nicht minder ver-
unglückt ist die Erklärung des entsprechenden Verses SS.5, wo Boano^icov
Ttorafiäiv itpvSqii zu lesen ist. Ohne allen Sinn für Poesie hat man Antig.
104 ßkifa^ov in ß'ufa^ii verändert, während man ebendaselbst 335 xovto
(d. h. darum) als Subjekt fafst und auf av&Qionos bezieht.
bergk, Griech. Literaturgescbicbte lll. 30
466 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
heimsuchte, 01.75, 1 ward Euripides gehören'), und zwar in
einem welthistorischen Momente, am Tage der Schlacht hei Salamis,
den zwanzigsten Boedromion*), ehen auf jener Insel. Aeschylus,
damals in der Fülle männhcher Kraft, kämpfte auch an diesem glor-
reichen Tage für die Gröfse und Freiheit seiner Vaterstadt; So-
phokles, den sein jugendliches Alter noch von dem Waffendienste
fern hieh, half das Siegesfest mit feiern ; Euripides, der jüngste der
drei grofsen Tragiker, erhlickte das Licht des Tages zu derselben
Stunde, wo der Tod seine hlutige Ernte hielt. Der nüchterne Ver-
stand mag an dieser Gleichzeitigkeit Anstofs nehmen, an der doch
gar nichts Aufserordentliches ist; denn nach Salamis hatten die
Athener Rinder, Frauen und Greise gebracht, als das Mederheer,
alles mit Feuer und Schwert verwüstend, sich den Grenzen Attikas
näherte. Auch die Mutter des Euripides wird damals nach Salamis
geflüchtet sein und genas dort eines Sohnes^), der auch später
sich gern aus dem Geräusche der Stadt in die Einsamkeit jener
durch ihre Naturschönheit ausgezeichneten Insel zurückzog, um sich
ganz ungestört seinen dichterischen Studien widmen zu können.*)
1) Die Ouellen für unsere Kennlnifs der aufseien Lebensverhältnisse des
Dichters sind eine anonyme Biographie, eine ziemlich junge, planlos angelegte
Coropilation, ein Artikel bei Suidas I 2. 639 ff. (vgl. auch die Biographie von
Thomas Magister) und Gellius XV 20, der aus derselben Quelle wie der anonyme
Biograph schöpfte. Philochorus mufs sorgfältig über den Lebensgang des Euri-
pides gehandelt haben, wahrscheinlich in der dmarolTj ngoe ^AaxXrjTnäSrjv (Schol.
Eur. Hec. 1), offenbar eine Jugendarbeit dieses Alterthumsforschers, in welcher
er die Ansichten des Asklepiades berichtigte und vervollständigte, aber, wie es
scheint, nur auf Euripides sich beschränkte und bei diesem Anlasse auch das
Biographische, welches Asklepiades zum Schaden der Untersuchung nur wenig
beachtet haben mochte, berücksiciitigte, daher die Schrift auch ns^i Ev^mii^ov
(Suidas) oder tisqI TQayojSuöv {EvQiniSov, s, Schol. Hec. 1) betitelt wird.
2) Biographie, Flutarch (Ju. Symp. VllI 1, 1, 3. Das Jahr auch bei IMoifen.
Laert. II c. 5, 24 (45). Nach der parischen Chronik Ep. .')(» wäre Euripides Ol. 7:«, \
geboren, indem sie sein Lebensalter Ol. S4, 3 auf 43 Jahre angiebt. Suidas, der
die Geburt des Sophokles in Ol. 73, 4 versetzt, hat nach gewohnter Weise So-
phokles und Euripides verwechselt.
3) Biographie: kyewri&r} 8i kv HaXafüvt; daher wird er auf der Inschrift
CIG. 6052 HaXanaivios genannt. Vielleicht hatten die Ellern auf der ln>.(l
Grundbesitz.
4) Gellius XV 20. r> : Philochorus refert in insiila Sataminv ifrhinram fsse
taetram i'l horridam, in qua scriptitarit, von dem Biographen ansi<cschinückt,
als habe sich der Dichter die Grotte künstlich angelegt. Der (^hor der Troa-
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II.GRCPPE. DIE BLCTHEZEIT. III. ECRTP. 467
Euripides mag schon in jüngeren Jahren seinen Vater Mnesar-
chides') verloren hahen ; wenigstens erlebte er den Ruhm des Sohnes
nicht.*) Die Mutter Kleito mufs ein höheres Aller erreicht haben,
da Aristophanes bei jeder Gelegenheit dem Tragiker vorrückt, dafs
seine Mutter mit dem Ertrage ihres Krautgartens Handel treibe.^
Die wirthschaftliche Frau war offenbar eine bekannte Persönlich-
keit und wohl noch am Leben, als der Spott der Komödie sie um
des Sohnes willen verfolgte.*) Aus diesen Scherzen darf man keinen
nachtheiligen Schlufs auf die Stellung der Famihe ziehen^), die viel-
mehr zu den geachteten Geschlechtern gehörte."*) Auch deutet alles.
den 794 ff. feiert den Ruhm der Insel , und wenn es im Meleager fr. 534, 3 üi.
von Telamon heifst: ^aXafiiva xooficöv TtargiSa rr^r eiätiTre/Mv, so mag die
Erinnerung an die Stätte der eigenen Geburt mitgewirkt haben.
5) Auch Mnesarchus genannt, eine Art Abkürzung der längeren Namens-
form; auch heifst der ältere Sohn des Dichters ebenfalls Mnesarchides. Der
Biograph macht ihn zum xaTttjXos, offenbar nur, um für das angebliche Gewerbe
der Matter {^.axavÖTiiohs) ein Gegenstück zu gewinnen. Nach Suidas hättea
die Eltern , aus ihrer Heimath (wo, wird nicht gesagt) vertrieben, erst in Böp-
tien, dann in Attika gelebt; auch Nicolaus Damascenus (Stob. Flor. 44.4t
p. IS", 14 M.) nennt den Vater einen Böoter und spricht von zerrütteten Ver-
mögensverhältnissen. Aber die bürgerliche Berechtigung des Mnesarctiides kann
nicht bestritten gewesen sein, er gehörte zur Gemeinde Phlye (Athen. X 424 F).
6) Plntarch de am. prolis c. 4. Die Kleito, deren Erzbild nach Tatian
adv. Graec. c. 33 Amphistratus arl)eitete, ist offenbar von der Mutter des Tra-
gikers verschieden.
7) Aristophanes wiederholt, in den Acharnern 47S, Rittern 910, Thesmo-
phoriazusen 19 und Fröschen S40; darauf bezieht sich Plin. H. N. XXII c. 38, SO,
und der Historiker Theopompus (s. Gellius XV 20, t) wird diese Notiz auch nur
der Komödie verdanken. Es ist dies natürlich keine reine Erfindung; solcher
Hohn ist nur wirksam, wenn er sich an etwas Thatsächliches heftet. Als die
Peloponnesier das flache Land verwüsteten, konnte Kleito recht wohl ihre Kräu-
ter verwerthen.
S) Die Beziehung der Worte des Aristophanes Acharn. 457 cv8aiuovoir,s
woTtEo r, fxrjriQ norä ist nicht klar genug, um daraus zu schliefsen. dafs Kieito
damals nicht mehr am Leben war. Die Komödie hat möglicher Weise schon vor
Aristophanes diesen Witz aufgebracht.
9) Ebenso wenig ist Aristoph. Frösche 947: xoslriov ya^ »jr aoi (t6 yt-
vot) vi] JC ri To aavtoi beweisend.
10) Nach Philochorus (Suidas) gehörte des Dichters Familio rn den otpö-
8oa exyersTg; dies wird bestätigt durch Theophrast (Athen. X 424 Pj, welcher
berichtet, dafs Euripides am Apollofest den Dienst des oUoxoos verrichtete,
wozu nur Söhne der ersten Familien gewählt wurden. Nach dem Biographen
war er auch einmal nvQtpÖQOi des Apollo {Ztoarr^Qiov).
30*
468 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
was wir über die Erziehung uud den Lebensgang des Dichters er-
fahren, darauf hin, dafs die Eltern und er selbst in günstigen äufse-
ren Verhältnissen lebten. Der Vater scheint bei der Erziehung des
Sohnes besonders für die körperliche Ausbildung gesorgt zu haben.")
Eine Prophezeiung, dafs der Sohn einst in Wettkämpfen Siegeskränze
gewinnen werde, was auch, freiHch in anderer Art, in Erfüllung
ging, soll ihn in dieser Absicht bestärkt haben. Aber auch die Ent-
wicklung der geistigen Anlagen ward nicht vernachlässigt. Der früh-
zeitig erwachte Trieb zu künstlerischem Schaffen bestimmte ihn
zunächst, sich dem Berufe des Malers zu widmen'''); und diese Be-
schäftigung blieb nicht ohne Einflufs auf seine dichterische Entwick-
lung. Bei keinem anderen Tragiker zeigt sich eine so ausgesprochene
Vorliebe für malerische Situationen. Nicht nur in den erzählenden
Partien bekundet Euripides eine entschiedene Meisterschaft detaillir-
ter, anschaulicher Beschreibung, sondern dieses Element nimmt auch
in den Chorhedern einen breiten Raum ein ; diese Gesänge dienen
oft weit mehr der lebendigen Schilderung als dem Ausdruck der
Gefühle. Zeichnen und Malen war für Euripides gleichsam die Vor-
schule der dichterischen Thätigkeit "), welcher er sich alsbald aus-
schliefshch widmete. Bereits im fünfundzwanzigslen Lebensjahre,
Ol. 81, 1, trat Euripides mit seinem ersten dramatischen Versuche
hervor.") So ward in demselben Jahre, wo Aeschylus in Gela aus
11) Biogiapliie und das Orakel bei Eusebius Praep. Ev. V 33, loflf. Gellius
XV 20, 2, der daraus unverständig eine Weissagung der Chaldäer macht, erzähh,
in Olympia hal)e man ihn wegen seines jugendlichen Alters nicht zugelassen,
aber in den heimathlichen Agonen sei er mit Erfolg aufgetreten.
12) Biographie: tpaai 8e avrov xai ^wyQOfov ysvs'ad'at xai 8sixvva&at
avTOv Ttiväxta iv MeyÜQoie, ebenso Suidas. An blofscn Unterricht in der
Malerei darf man nicht denken; denn diese Kunst gehörte damals noch nicht
zu den Mitteln der Erziehung.
13) Auch ist beachtenswerth, dafs Euripides sich öfter auf Gemälde, wie
überhaupt auf Werke der bildenden Kunst bezieht.
14) Biographie: ^Q^nro Se SiSnaxeiv ini KaXXiov aQxovros xaxa oXvfi-
TTiäSa oySoTjxoarrjv nQtüxTjv i'rei n^ärq} (so ist zu schreiben). Das fünf-
undzwanzigste Lebensjahr giebt Thomas Magister an, der Biograph das sechs-
undzwanzigste, wohl nur Schreibfehler und nicht zu benutzen, um die Geburl
des Dichters höher hinaufzurücken; Gellius XV 20, 4 nennt irrlhümlich das
achtzehnte Jahr. Wenn Dio Chrysostomus 52, 3 II 158 Di. von Aeschylus und
Euripides sagt: xai ä/ia ov noJiiäxte i'atoe ij ovSdnoxa [xqf avxqi S^ftaxi ist
zu tilgen] avxrjyatviaavxo, so darf man aus der ersten Alternative keine Folge-
rung für ein früheres Auftreten des Euripides ziehen.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE DLLTHEZEIT. III.ELRIP. 469
dem Leben schied, der tragischen Bühne Athens rechtzeitig Ersatz
geboten, und fast volle fünfzig Jahre hat Euripides die einmal be-
tretene Bahn unermüdhch verfolgt.
Wenn man, «ie die meisten Neueren, den Biographen des Tra- Pbiiosophi-
gikers Glauben schenkt"), hätte Euripides schon in jugendlichem Studien.
Alter sich philosophischen Studien zugewandt und nach einander
die Unterweisung des Anaxagoras, der Sophisten und des Sokrates
genossen, indem er gewissermafsen die Sitte der nächsten Zeit anti-
cipirte, welche die Philosophie als ein unentbehrliches Bildungsmittel
der Jugend ansah. Allein Euripides steht anfangs, so viel sich er-
kennen läfst, philosophischen Bestrebungen ziemlich fern; eher scheint
er der mystischen Richtung der Orphiker ein gewisses Interesse ge-
widmet zu haben '^, ohne jedoch Befriedigung seines dunklen Dran-
ges zu finden. Erst im reifen Mannesalter, seit dem Beginne des
peloponnesiscben Krieges, folgt der Dichter mit lebhaftem Antheil
den Ergebnissen der Speculation.*^
Es ist entschieden irrig, wenn man Euripides als unmittelbaren
Schüler des Anaxagoras betrachtet.*') Man glaubt eine gewisse gei-
15)Gellius XV 20,4: mox a corporis cura ad excolendi animi Studium
transgressus auditor fuit physici Anaxagorae et Prodici rhetoris, in morali
autem philosophia Socratit. Biographie: avayvovs (lies anoYvovs) Si inl
loaycffSiav sr^änTj, xai noXXa ngoae^ev^e, Ti^oXöyovi [?^yovs Di.], fvaioXoyiae,
OTjTogeias, avayvcoQia/iovs, cos Stj axovarrjS yevoftsvos 'Ava^ayö^v xai Il^oSi-
xov xai JIocorayÖQov, y.ai J^cox^ärovs iral^s. Hier wird der Einflnfs der
philosophischen Studien auf die dichterische Entwicklung mit Recht hervorge-
hoben, aber überschätzt, indem eben diese Studien in die Jagendzeit des Dichters
verlegt werden.
16) Alkest. 969. Hippol. 953.
17) Eine Hindeulung auf die philosophischen Studien der Gegenwart fin-
det sich allerdings bereits in der Alkestis 962 ff., dann in der Medea 1081 ff., aber
von dem Einflüsse einer bestimmten philosophischen Schule, der bei einem
Dichter wie Euripides klar hervortreten würde, ist in den älteren Arbeiten nichts
wahrzunehmen. Auch die trostlose Ansicht über die letzten Dinge und die
Polemik gegen Zeus, der wir im Hippolytus begegnen 1363 ff., darf nicht auf
fremden Einflufs zurückgeführt werden. Diese Ansichten haben sich bei Euripides
selbständig, allerdings nicht ohne Einwirkung der Zeitverhältnisse, gebildet.
IS) So auCser Diogen. Laert. II c. 5. 20(45) schon Alexander Aetolus (bei
Gellius XV 20, 8), Chrysippus bei Galen de Hippocr. et Plat.IV 418 ed. Kühn und
Cicero Tusc. III 14,30. Nach Chrysippus, dem Cicero folgt, hätte Euripides im
Theseus fr. 392 Di. (wohl um Ol. S7 gedichtet) die bekannte Aeufserung des Anaxa-
goras, als er den Tod seines Sohnes erfnhr, f^Seiv 9'vfjrov yewriaas (ein Ausspruch,
470 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
stige Verwandtschaft zwisclien dem hohen Ernst, dem gefafsten Wesen
des Anaxagoras und der melancholischen Gemüthsverfassung des Euri-
pides zu erkennen. Allein diesen Zug, der in der innersten Natur,
in den eigenen Lebenserfahrungen des Tragikers hegründet ist, darf
man nicht als etwas Angelerntes ansehen und auf den Einflufs jenes
Denkers zurückführen. Da Anaxagoras kurz vor dem Ausbruch des
grofsen Krieges (Ol. 87, 2) Athen verliefs und nicht lange naclilier
starb, müfste dieser persönliche Verkehr in die vorangehenden Jahre
fallen. Wir finden in den Tragödien des Euripides die unzweideu-
tigsten Beziehungen auf die Ansichten jenes Naturphilosophen. Nun
sollte man erwarten, wenn der Dichter von Anaxagoras selbst für
speculative Interessen gewonnen ward, diesen Einflufs gerade in den
früheren Dramen wahrzunehmen. Es wSre sehr begreiflich, dafs
Euripides unter dem frischen Eindrucke, den ein in sich abgeschlos-
senes eigenartiges System auf ihn machen mufste, sich als Anhänger
dieser Lehre bekannte. Allein in der Alkestis, der Medea, dem Hip-
polytus deutet nichts auf solche Studien hin. Erst in den Arbeiten
der letzten Periode treffen wir jene Anklänge an die Physik des
Anaxagoras, und zwar zuerst in den Troaden'®) Ol. 91, 1 und der
Helena (1015) Ol. 91, 4, sowie in der weisen Melanippa'"), aufgeführt
der schon demSolon, später dem Xenophon beigelegt wird) vor Augen gehabt.
Allein die Verse aus dem Theseus haben damit nur eine entfernte Aehnlichkeit
(vielmehr erinnern an jenes Apophlhcgma die Verse aus dem Telamon des En-
nius bei Cicero Tusc. IH 13, 'i'*, aber ein Telamon des Euripides ist nicht nach-
weisbar). Aufserdem dürfte man aus der Benutzung dieser Anekdote noch gar
nicht auf persönlichen Verkehr mit dem Philosophen oder Abhängigkeit von
seinen Ansichten schliefsen. Ebenso wenig ist Alkesl. 10S5 oder auch 245 ein
Anklang an Anaxagoras zu finden. — Die Biographie (gegen Ende) läfst den
Euripides, durch Archelaus und Anaxagoras angeregt, sich der tragischen Poesie
zuwenden, und Suidas wiederholt dies nur mit veränderter Motivirung.
19) Troad. 884: a* y^s 6x;r,fia xani yrjs t'xo}v t'S^ar, hozu nor' eJ av,
Svaronaaroe eiSevat, Zeve, eiV nväyxrj (pvasoe, eirs voie ßQoräv, TtQoaev^ä'
fiTjv ae. Hier weist aber nur der Eingang (yfjs oxt}/*») auf Anaxagoras hin ;
nachher machen sich ganz andere Einflüsse geltend. Denn wenn lamblirlius
Protrept. c. S schreibt: ö vove yaQ Tjficöv 6 &eöi, ei'rs 'Ep/uortfios «JV« W»'«|a-
yö^as eine rovro, so hat zwar Euripides anderwärts in diesem Sinne sich ge-
äufsert, und man konnte wohl aus dem Systeme des Anaxagoras diese Con-
sequenz ziehen , aber nichts berechtigt diese Ansicht dem Anaxagoras selbst
zuzuschreiben.
2U) Die aofTj MelnriTinT} wird von .\ristophanes in den Thesmophoria-
/iis.n r>.J7 lind Her l.v>,i>.irala 1124 (fr. 4h7 Di.i parodirt, oifenbar damals ein
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÖTHEZEIT. III. ECRIP. 471
kui-z vor Ol. 92, 1, daiiu im Chrysippus (Ir. 836), gleichzeitig mit
den Phonissen verfafst. und im Orestes (1086 f. 1497) Ol. 92, 4, fer-
ner im Phaethon (fr. 776). der ziemlich derselben Zeit angehören wird,
sowie im Archelaus (fr. 230). Das Studium der Anaxagoreischen Phy-
siologie bezeichnet also die letzte Stufe"), nicht aber den Anfang der
Speculation des Euripides.-)
Seit dem Beginn des grofsen Krieges wird Athen der Tummelplatz
der Sophisten. Schriftstellerische Thätigkeit ist ihnen Nebensache;
sie wirken hauptsächlich durch ihre öffentlichen Vorträge, durch ihren
Unterricht. Ebendeshalb war auch die Wirkung ihrer Lehren eine
ganz unmittelbare; diese Ideen und Grundsätze fanden rasch die all-
gemeinste Verbreitung. Erst durch die Sophisten ward der lebhafte,
beweghche Geist des Euripides auf philosophische Studien hinge-
lenkt, und er schlofs sich bereitwilUg dieser Richtung an ; denn der
Geist der Neuerung, der verstandesmäfsigen Reflexion, der von An-
fang an die Poesie des Tragikers kennzeichnet, war den Bestrebun-
gen der Sophisten innerlich verwandt, und der Dichter mochte
hoffen, hier am ersten eine befriedigende Lösung der Zweifel, die
ihn quälten, zu finden. Wenn die Uebereinstimmung mit den An-
sichten der Sophisten sich nicht so deuthch und bestimmt im Ein-
zelnen nachweisen läfst, wie die Anlehnung an Lehrsätze des Anaxa-
goras, so darf man nicht vergessen, dafs dieser Naturphilosoph seinen
Anhängern einen positiven Gehalt bot, während die Richtung der
Sophisten eine vorherrschend negative war. Eben ans der Schule
der Sophisten stammt die entschieden subjektive Weltbetrachtung, der
Skepticismus in religiösen Dingen, die sophistische Dialektik, die wir
seit dieser Zeit in den Arbeiten des Euripides wahrnehmen.
neues Drama. In den Thesmophoriazusen 13 ff. wird geradezu die naturphilo-
sophische Manier des Euripides verspottet.
21) In den Schutzflehenden lassen sich keine Anklänge an Anaxagoras
nachweisen; denn 532 ff. (ohnehin nicht recht in den Zusammenhang passend
und daher wohl ein fremdartiger Zusatz) und 1140 ff. gehören einem Gedankeu-
kreise an, dem wir schon bei Epicharmus bei Plularch Consol. ad Apoll, c. 15
(fr. ine. 8 p. 25S Lorenz) begegnen.
22) Vielleicht erschien damals die Schrift des Archelaus und veraulafste
den Euripides zu einem eingehenden Studium der Schrift des Anaxagoras; da
die Sophisten für Physik kein Interesse hatten, war Euripides an Frühere ge-
wiesen. Somit kann von einem unmittelbaren, persöDlichen Einflufs des Ana-
xagoras auf Euripides nicht die Rede sein.
472 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Euripides mag alle angesehenen Sophisten, die in Athen auf-
traten, gehört haben, aber nicht jeder imponirte ihm. Von dem
Einflüsse des Gorgias ist nichts zu spüren. Schon die prunkhafle,
überladene Manier des gefeierten Redekünstlers mufste dem Euripides
widerstreben, der in seinem Stil das Einfache und Natürliche als
unabänderhche Norm anerkennt. Ebenso wenig wird er an dem
vielseitigen, aber ziemlich oberflächhchen Wissen des Hippias sonder-
liches Gefallen gefunden haben. Dagegen Protagoras und Prodikus,
welche auch die alte Ueberlieferung als Lehrer und Freunde des
Dichters bezeichnet, haben, zumal der erstere, an Euripides einen
gelehrigen Schüler gefunden.
Den Satz des Protagoras, der Mensch sei dasMafs aller
Dinge, hat zwar der Tragiker nicht mit denselben Worten wieder-
holt, aber er bekennt sich zu der gleichen Ansicht, indem er über-
all an menschhche Einrichtungen und Gesetze den Mafsstab sub-
jektiven Dafürhaltens anlegt. Die eigentliche Aufgabe der Rede-
kunst ist nach Protagoras, der schwachen Sache zum Sieg über die
stärkere zu verhelfen, das Unwahrscheinhche als wahrscheinlich dar-
zustellen. Und eben diese dialektische Kunst, welche, unbeküm-
mert um die Wahrheit, überall das Gegentheil von dem, was bis-
her gegolten hatte, zu beweisen sucht, und auf ein frivoles, wenn
auch geistreiches Spiel mit den Dingen hinausläuft, beherrscht die
Poesie des Euripides. Die skeptische Denkweise des Protagoras.
die Opposition gegen den Volksglauben findet bei Euripides den
vollständigsten Anklang, und der rücksichtslose Hohn, die Keckheit,
mit welcher der Dichter auf der Bühne die Grundlagen des Glau-
bens und der Sittlichkeit angriff, mufste weit nachtheiliger wirken,
als die mafsvolle Weise, in der Protagoras seine Zweifel vorgetragen
zu haben scheint. Vollkommen glaubwürdig erscheint die Ueber-
lieferung, dafs Protagoras zuerst im Hause des Euripides seine Schrift
über die GOtter vorlas, welche so grofsen Anstofs erregte, dafs er
Athen verlassen mufste.''^) Dies setzt vertrauten Verkehr voraus;
auch weisen in den Tragödien des Euripides wiederholte Beziehungen
nicht undeutlich auf jenen Soi)hist(n hin. Durch Protagoras ward
Euripides vielleicht auch mit den verwandten Ansichten älterer Skep-
23) Diogen. Laert. IX c. 8, 5 (54) : aveyvto ^' '^&rivt!<rtv 4p tf BvfiniSov
oixiq i; ät Ttvse Iv rf, MeynxXeiSov^ nXXoi S^ iv jivxsiqf, fia&T;rov rijr fotvrjv
avT(l> xfV^f*^o^ 'yigx'^y^QOv rov ßsoSorov.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRIPPE. DIE RLITHEZEIT. III.EURIP. 473
liker, wie des Diagoras, bekannt.^^) Höchst merkwürdig ist, dafs der
Dichter bereits kurz vor Ol. 88, 3 seine atheistischen Ansichten im
Bellerophontes ganz unverhüllt aussprach.'") Das Bild dieses Cha-
rakters, der ins Schrankenlose strebt und, weil ihn das Mifsgeschick
verfolgt, sich der Einsamkeit ergiebt, der an Gott und der Welt
verzweifelt und doch von Haus aus eine edel angelegte, von auf-
richtigem Wohlwollen beseelte Natur war, mufs als offenherziges
Selbstbekenntnifs des Dichters betrachtet werden, der gleichfalls ver-
zweifelte, weil er den Widerspruch zwischen seinen Idealen und der
äufseren Welt nicht zu überwinden vermochte. Noch fühlt man den
Ueberresten dieses Dramas an, dafs Euripides hier nicht mit kalter,
ruhiger üeberlegung sein Glaubensbekenntnifs niedergelegt hat, son-
dern die Kraft und Energie der Sprache entspringt aus warmer
innerer Leberzeugung; der Dichter mufs alle diese schmerzlichen
Erfahrungen selbst durchgemacht haben. Wäre uns diese Tragödie,
welche offenbar auf die Zuhörer eine nicht gewöhnliche Wirkung
ausübte, erhalten, so würden wir gewifs den klarsten Einblick in
das Innere des Dichters gewinnen.
Die Wirkung des Verkehrs mit Prodikus mochte weniger tief
gehen ; aber die Art, wie dieser feinfühlende Geist sittliche Probleme
behandelte, hatte sicher für Euripides Reiz. Noch erinnert manches
an die Lebensansichten der Sophisten, z. B. in den Schutzflehenden
die Rede des Theseus.^) Hier wird zwar die trübe Anschauung von
dem menschlichen Leben, welche Prodikus vertrat, bestritten, aber
diese Widerlegung ist ganz im Geist und Ton der modernen sophi-
stischen Bildung gehalten, während die nachdrückhch vorgetragene
Warnung^), aUe Leute sollten nicht versuchen, ihr Leben durch
künsthche Mittel zu fristen, da sie doch dem Gemeinwesen nichts
mehr zu nützen vermöchten , mit den Grundsätzen des Prodikus
stimmt. Auch die Untersuchungen dieser beiden Männer über die
24) Auf den Titel der Schrift des Diagoras anonvpyl^ovret Xoyot deutet
wohl Euripides selbst hin in einem allerdings verdorbenen Bnichstücke des
Bellerophontes (fr. 288 Di, am Schlufs).
25) In diesem Jahre bezieht sich Aristophanes in den Achamern 426 f. auf
jene Tragödie, die wohl nicht lange vorher gedichtet war.
26) Schulzfl. 196 ff., wo schon die Einleitung des Themas: l>U|c yä^ xts
tos ra x^iQOvn Tti-eico ßgordlaiv iart lüJv oftetvöriov unverkennbar eine Be-
ziehung auf eine besfimmfe Persönlichkeit enthält.
27) Schutzfl. 1108 ff.
474 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Sprache mufslen für Euiipides ein gewisses loleresse haben, wenn
er auch nicht gerade unmiltelharon Gewinn daraus zog.'")
Die Ueberlieferung läfst den Tragiker auch hei Sokrates in die
Schule gehen. Wie Anaxagoras ihn in die Naturphilosophie einge-
führl, die Sophisten in die Künste der dialektischen Methode ein-
geweiht, so soll Sokrates sein Lehrmeister in der Ethik geworden
sein. Dafs zwischen beiden ein gewisser personlicher Verkehr statt-
fand, ist wahrscheinhch. Sokrates, der nur selten das Theater be-
suchte, mochte gerade durch die dramatischen Arbeiten des Euri-
pides sich angezogen fühlen ; der Tragiker aber, der für alles em-
pftinghchen Sinn besafs, mag gleich bei dem ersten Hervortreten
des Philosophen, welches ungewöhnüches Aufsehen erregte, sich ihm
genähert haben, um seine Ansichten genauer kennen zu lernen. Die
Komödie hat dann in ihrer Weise dieses Verhältnifs ausgebeutet.
Wenn man den Lustspieldichtern Glauben schenkt, entspringt nicht
nur das Selbstgefühl des Euripides aus seinem Umgange mit Sokra-
tes, sondern der Philosoph bietet auch dem Tragiker hülfreiche Hand
bei der Abfassung seiner Stücke; den leichten Redeflufs, wie die
Fülle philosophischer Gedanken verdankt Euripides seinem Meister.*')
Sokrates ist eben den Komikern der Repräsentant der neuen Schul-
weisheit; der Tragiker erschien als ein Geistesverwandter. Daher
fafst Aristophanes in den Fröschen^) das Resultat seiner Kritik darin
zusammen, dafs er die Kunst des Euripides und die Weisheit dos
28) Wenn Aristophanes in den Fröschen 1180 die Prologe des Euripides
mit Rücksicht auf die oQd'öxtjS räv ircöv prüfen will, so ist damit angedeu-
tet, dafs er ihn auch in dieser Hinsicht als Vertreter der sophistischen Bildung
darstellen will.
29) Diog. Laert. 11 c. 5, 2 (18) theilt die Belege aus Telekleides, den IltSfirm
des Kallias (fr. 2 Com. II 2, 789). den Wolken des Aristophanes mit Besonders
bemerkenswerth sind die unheilbar verderbten Verse des Telekleides fr. inr. fab.
2. :i Com. II 1, 371, die auch der Biograph anführt; hier erscheint aut^er Sokrates
auch der Schwiegervater Mnesilochus als iMilarbeiter des Euripides. Sokrates
legt wie ein kundiger Opferpriester, der aus der Flamme weissagt, die Scheiter
zurecht (t« fQvyav vnoxi&rjtn, vgl. Aristoph. Friede 1021) und Schol.). Angespielt
wird offenbar auf ein später verschollenes Stück fp^vysi; denn der Witz wäre
ohne rechte Wirkung, wenn der Komiker einen Tragödientilel tingirl hätte. Dafs
Euripides mit seinem Schwiegervater vertraulich verkelirte, beweisen auch dir
Thesraophoriazusen des Aristophanes; daher konnte ihn Telekleides in Verbin-
dung mit Sokrates als Gehülfen des Tragikers einführen. [S. S. 4Sü, A. 71.]
30) Aristoph. Frösche 14iM if.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLLTHEZEIT. III. EURIP. 475
Sokrales auf gleiche Stufe stellt, indem er treffend bemerkt, die
philosophische Reflexion beeinträchtige die echte Poesie. Nur wenn
man den Tragiker mit Sokrates verkehren sah, konnte die Komödie,
die in der Regel von etwas Thatsächlichem ausgeht, um so zuver-
sichthcher jene Parallele ziehen. Allein ein engeres Verhältnifs hat
schwerhch stattgefunden; denn wenn sich auch manche gemein-
samen Berührungspunkte darboten, so waren diese Naturen doch
sehr verschieden angelegt. Während Sokrates der naturwissenschaft-
lichen Forschung aus dem Wege geht, vertieft sich Euripides in das
Studium des Anaxagoras ; während Sokrates, fern von theologischer
Speculation, sich an den Volksglauben hält, treffen wir bei dem
Tragiker eine entschieden skeptische Stimmung an; Sokrates be-
kämpft unablässig die Sophisten, denen Euripides willig sein Ohr
leiht. Nur auf dem ethischen Gebiete konnte der Einflufs der So-
kratischen Weltanschauung hervortreten ; aber davon ist wenig wahr-
zunehmen. So hält Euripides alle Zeit an dem volksraäfsigen Grund-
satze fest, nach besten Kräften dem Freunde Gutes, dem Feinde
Böses zuzufügen, während die Unterweisung des Sokrates Bedenken
gegen die unbedingte Gültigkeit erwecken mufste.^')
Auch mit den Schriften des Demokrit, welche bei den Zeit-
genossen nur geringe Beachtung fanden, mufs Euripides bekannt
gewesen sein; mit ihm begegnet er sich namentlich in der welt-
bürgerlichen Gesinnung.^) Nicht minder zeigt sich Bekanntschaft
mit den Lehren des tiefsinnigen Heraklit.'^) Euripides' Studien
31) Auch Sokrates kommt bei Xenophon wiederholt auf diesen Grundsatz
zurück; aber dafs er ihn nicht unbedingt guthiefs, zeigt Memor. II 2, 3. Plato
Krito 49 A giebt wohl die wahre Meinung des Sokrates wieder.
32) Auf Aeufserungen, wie im Phönix fr. SOS : ruf avrj lexfitjqioiaiv ei-
xoTcos cdiaxerat, was an den Grundsatz des Demokrit (fr. phys. 1 und 5 Mull.),
aus den Erscheinungen auf das Verborgene zu schliefsen, erinnert, darf man
sich so wenig berufen, wie wenn der Tragiker wiederholt empfiehlt, die Extreme
zu meiden und das rechte Mafs zu halten, um des waiiren Glückes theilhaftig
zu werden, was auch Demokrit lehrte; denn diese Wahrheiten waren Gemein-
gut. Aber fr. 1034 anas fiev ariQ aerS ne^äatuoi , anaaa Se x^(^^ avSoi
yswaii^ TtazQis (vgl. auch Phaethon fr. 774) erinnert an Demokrits Worte bei
Stob. Flor. 40, 7 p. 6.5, 5M.: avS^i ao<f(^ näaa yr, ßaTTj' yn;xrjS yoQ aya&iß
naTQie 6 ^finas xöauos. Und wenn jener Philosoph (Stob. Flor. 40, 6 p. 65, 1 M.)
Genügsamkeit und Einfachheit des Lebens empfiehlt, so fiadea sich auch dafür
bei Euripides bemerkenswerthe Parallelen, wie fr. 884.
33) Auf Heraklit geht vor allem die Anschauung zurück, leben heifse
476 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
beschränken sich übrigens nicht auf das philosophische Gebiet, son-
dern er besitzt überhaupt eine sehr umfassende Hierarische ßiklung.
Eine erlesene Büchersammlung, damals ein seltener Besitz, kam ihm
dabei zu Slatten.^0 Mit den Schätzen der NationalUteratur ist er
vollkommen vertraut. Wie die dramatischen Arbeiten der Vorgänger
und Zeitgenossen anregend und fördernd auf ihn einwirkten, erkennt
man deutlich.^) Dem lehrhaften Zuge seines Wesens sagten beson-
ders Dichtungen zu, in denen Frühere ihre reichen Lebenserfahrungen
niedergelegt hatten, wie die Elegien desTheognis, dessen Sinn-
sprüche Euripides häufig paraphrasirt.^*^) Die Abwechselung und
Mannigfaltigkeit der rhythmischen Behandlung, welche die lyrischen
Partien bei Euripides auszeichnet, setzt ein sorgfältiges Studium der
älteren wie der jüngeren Meister voraus ^^), und viele seiner Lieder
mag der Dichter Volksweisen abgelauscht haben. Ebenso gehörten
die verdienstlichen Arbeiten der Sagensammler zu den unentbehr-
lichen Hülfsmitteln des Tragikers.^*) Kurz, Euripides kann in der
klassischen Zeit vor vielen anderen auf den Ruhm eines gelehrten
eigentlich sterben , während der Tod das wahre Leben sei, fr. 46 Mull. (38 Schi.
59 Schust.). Dieser Gedanke, den Euripides im Polyidus fr. 639 aussprach und
nachmals im Phrixus fr. 830 wiederholte (daraus sind manche Irrthümer in den
Gitaten entsprungen), erregte, wie sich erwarten läfst, ungemeines Aufsehen
(vgl. Aristoph. Frösche 1082, wo der Komiker die Frauengestalien der Euripidei-
schen Tragödie charakterisirl: xai faaxovaas ov ^r^v to ^fjv). Nach Diogen.
Laerf. II c. 5, 7 (22) machte Euripides den Sokrates mit der Schrift des Hera-
klit bekannt.
34) Athen. 1 3A. Auch Arisfophanes Frösche 1409 und 943 deutet auf die
reiche Büchersammlung und die fleißigen Studien des Dichters hin.
35) Man erinnere sich nur der Medea des Neophron.
36( Bei der Polemik gegen die üeberschätzung der Gymnastik im Auto-
lykns fr. 284 hat Euripides ganz deutlich eine Elegie des Xenophanes vor Augen.
37) Biographie: yni roli fiiXeaiv kariv afi^ftTjroe, nn^ayxotvi^iiusrot rmi
fttiovotoie ayjSiv n/viai. Diese Vielseitigkeit, die selbst das Niedrige nicht
Tetsrhmäht, macht ihm Aristophanes Frösche 1301 ff. zum Vorwurf: ovrot 8' ajii
növTtov fiiXi (so ist statt ftev zu lesen) figet, noQt'iSiotv, axoXiotv MtXrftov,
Ka^ixwv ar^LTj/uiircav, d'qr,vo}v, ;^ojtto»»' (wohl richtiger x^Q'^''**'^ d. h. Tanz-
lieder und Tanzweisen). Wenn hier Meletus erwähnt wird, so ist ein solcher
Einflufs in den späteren Tragödien wohl denkbar; jedoch will Aristophanes
vielleicht nur sagen, in den melischen Partien des Euripides herrsche derselbe
Geist wie in den Trinkliedern des Meletus.
38) Aufser Pherckydes wird Euripides auch die Arbeiten seines Zeitge-
nossen, des Hellanikus, benutzt haben.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III. ELRIP. 477
Dichters Anspruch machen ; aber man mufs anerkennen, dafs er nie-
mals unzeitigen Gebrauch von seiner Gelehrsamkeit macht.'^)
Dem handelnden Leben steht Euripides fern; höchstens ward Euripides
er einmal mit einem öffenthchen Auftrage betraut*") oder in einen vom offent-
Rechtshandel verwickelt"') 5 denn dieser Gefahr konnte damals in i'^en Le-
Athen auch der Friedfertigste nicht entgehen. Der Dichter fühlte
keinen Beruf, aus seiner inneren Welt in das unruhige Gewühl des
Marktes hinabzusteigen. Aber Euripides war kein Einsiedler, der,
jede Berührung mit der Aufsenwelt sorgsam meidend, sich auf sein
Haus zurückzieht, sondern mit gewohntem Scharfbhck beobachtet
er das Thun und Treiben seiner stürmisch aufgeregten Zeit und
verfolgt mit lebhaftestem Antheil alle Fragen des Tages; davon legen
seine Tragödien überall Zeugnifs ab. Wiederholt hat der Dichter,
veranlafst durch die Ereignisse der Gegenwart, seine Poesie geradezu
in den Dienst der Politik gestellt, und es ist sehr merkwürdig, dafs
Euripides, der sonst den leitenden Staatsmännern Athens nicht näher
getreten zu sein scheint, eine Zeit lang mit Alkibiades vertrauten
Verkehr unterhalten haben mufs. Alkibiades benutzt den Dichter
nicht nur, um seinen Sieg in den olympischen Spielen zu verewigen,
sondern gebraucht ihn geradezu als Werkzeug für seine politischen
Zwecke.''*) Dem genialen Uebermuthe des jugendlichen Alkibiades,
der, wenn er wollte, durch seine Liebenswürdigkeit einen jeden be-
zauberte, vermochte selbst der ernste Euripides nicht zu wider-
stehen.*^) Auch mit Kritias bildete sich ein freundschaftlicher Ver-
39) Earipides beruft sich selbst wiederholt auf schriftliche Quellen, wie
Iphig. Aul. 798, Hippol. 451, oder deutet auf die Nächte hin, die er sinnend und
forschend zubrachte, Hippol. 375.
40) Aristot. Rhet. U 6 p. 1384 B 16 erwähnt Verhandlungen des Euripides
mit den Syrakusanern, was der Scholiast II 230 ed. Spengel auf eine Gesandt-
schaft bezieht. Da der Name des Euripides ohne weiteren Zusatz eingeführt
wird, kann wohl nur der Dichter gemeint sein, der ebenso gut wie Sophokles
einmal in Slaalsgeschäften verwendet werden konnte.
41) Aristot. Rhet. III 15 p. 1416 A 2S. Hygiänon verdächtigte in einem
Rechtshandel wegen Vermögenstausch (avTiSoais) die Glaubwürdigkeit seiner
eidlichen Aussage, indem er auf den berufenen Vers im Hippolyt 612 : r, yKwaa
0(1.0)110% , 4} 8i (f^Tiv avüJuoTos sich berief.
42) Wie die Andromache deullich zeigt.
43) Vielleicht ward die Bekanntschaft mit Alkibiades und Kritias durch
Sokrates vermittelt.
478 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
kehr; es war aber vorzugsweise Uebereinstimmung der philosophischen
Ansichten, welche jene Männer zusammenfiliirle/^) Berührung mit
den zeitgenössischen Dichtern konnte nicht ausbleiben. Sophokles,
ungefähr sechszehn Jahre älter, war bereits angesehen , als Euri-
pides um den tragischen Preis sich zu bewerben begann. Eine ge-
wisse Rivahtät war unvermeidich, zumal anfangs Euripides gegenüber
seinem vom Glück begünstigten Kunstgenossen nur geringen Erfolg
hatte; auch waren beider Naturen zu verschieden, als dafs sich ein
näheres Verhältnifs hätte bilden können. Aber von gehässigen Zänke-
reien und Fehden weifs selbst die Anekdotensucht der Späteren,
welche das Andenken grofser Männer vielfach entstellt hat, nichts
zu berichten. Eher mag sich Euripides an Agathon angeschlossen
haben "), dessen sophistisch-rhetorische Bildung sich mit der Rich-
tung des Euripides nahe berührte. Später führte sie ihr Geschick
an dem gastfreien Hofe des Archelaus zusammen *''), wo Euripides
auch mit anderen namhaften Dichtern, wie Timollieus, zusammen-
traf.
Häusliche Wie uuscrc Kenntnifs von dem äufseren Leben des Euripides
vcrhaitnisse.ggj, dürftig ist, SO wisscn wir auch nur wenig von seinen häuslichen
Verhältnissen, die, wie aus allem hervorgeht, nicht eben glücklich
waren. Nach der gemeinen Ueberlieforung war Euripides zweimal
verheirathet.") Die erste Ehe mit Melito mag nur von kurzer Dauer
gewesen sein. Später schlofs er eine zweite Verbindung mit Chörile,
der Tochter des Mnesilochus"), mit der er drei Söhne zeugte, von
44) Euripides scheint sogar eine dramatische Dichtung des Kritias, den
Peirithous, unter seinem Namen und seiner Verantwortlichkeit auf die Bühne
gebracht zu haben. S. nachher unter Kritias.
45) Daher läfst auch Aristophanes in den Thesmophoriazusen 88 den Knri-
pides bei Agathon Hülfe suchen. Der Anekdotensammler Aelian (V. H. 1121)
macht sogar den l'>uripides zum Liebhaber des jugendlichen Agathon und setzt
hinzu, man betrachte die Tragödie Chrysippus, in welcher Euripides die Leiiten-
schaft des Laius für den Sohn des Pelops schilderte, nls ein pnelisrhes Ih-ük-
mal dieses Verhältnisses.
46) Aelian. V. H. XIII 4.
47) Nur Mifsverständnifs ist es, wenn Geliius XV 20,6 den Dichter sogar
der Bigamie beschuldigt; dies hätte die Komödie sicherlich bis zum Ueberdrufs
ausgebeutet.
4H) So die Biographie im Anfang und Tlmmas Magister. Dai^egen Snidas
läfst den Dichter zuerst die Tochter des iMnesilochus heiralhen, und nachdem
er sie wegen Untreue verstofsen, eine neue F)he schliersen; ebenso die Biigra-
T»IE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRIPPE. DIE DLÜTHEZEIT. III. ECRIP. 479
denen einer Kaufmann, der andere Schauspieler ward, während der
jüngste, Euripides genannt, nach des Vaters Tode seine letzte Tetra-
logie aufführte und auch selbst Tragödien dicbtele.^^j Diese Ehe
inufs für Euripides eine Quelle herber Erfahrungen geworden sein.
Dafs er wegen Untreue sich von der Gattin scheiden liefs, ist un-
begründet.^) Die Ehe bestand trotz der Schuld der Frau fort, und
Kephisophon, der das Vertrauen des Arglosen bitter getäuscht hatte,
leistete nach wie vor dem Dichter bei seinen Arbeiten hülfreiche
Hand.") Diese Zerrüttung des Famihenlebens mufste schwer auf
dem Dichter lasten und sein melanchoUsches Gemüth mehr und
mehr verdüstern. Die Tradition, dafs die Schilderung der liebes-
kranken Phädra im ersten Hippolytus auf eigenen Erfahrungen des
Dichters beruht, erscheint vollkommen glaubwürdig, und wenn Euri-
phie in der Mitte Z. 94 Di. (ohne den Namen Melito zu nennen); diese Darstel-
lung ist unrichtig. Die N'amensform Xotoihj hat ebenso gute Gewähr als Xoi-
oivT} und wird durch Analogien geschützt.
49) Nach anderen war freilich dieser Euripides ein Bruderssohn des Dich-
ters, s. Snidas.
50) Chörile ist die Tochter des Mnesilochus (so die Biographen, was
auch Schol. Aristoph. Thesm. 1 bestätigt); daher ward auch ein Sohn aus dieser
Ehe nach dem mütterlichen Grofsvater benannt. Wenn Aristoph. Frösche 140S
sagt, man solle in die \Vagschale setzen: airös, ra TiaiSi^, r, yvvfi, Krjfiao-
<f(äv, so ist eben diese Frau zu verstehen, die offenbar den Dichter überlebte;
daraus ergiebt sich auch, dafs die Ehe nicht aufgelöst ward. Was der Bio-
graph Z. 9S von der Wiederverheirathung der Chörile und einer vermeintlichen
Anspielung darauf in der Elektra des Euripides erzählt, ist lediglich Erdichtung.
Euripides' erste Frau Melito wird nur von den Biographen erwähnt; es ist daher
zweifelhaft, ob der Dichter überhaupt zweimal verheirathet war. Möglicher
Weise hiefs die Tochter des Mnesilochus MtXtrco und ward von den Komikern
Xotgilrj genannt (ein Zuname, den Hekabe geführt haben soll, s. Schol. Hec. 1).
Den Mnesilochus in den Thesmophoriazusen des Aristophanes betrachten alte
und neuere Erklärer als Schwiegervater des Dichters, und Euripides nennt ihn
1165 tcriSearrjS iuös. Dies ist jedoch ein vieldeutiger Ausdruck; denn Mnesi-
lochus nennt ebenfalls 74 und 211 den Euripides seinen xij^effT^s, d. h. seinen
Schwiegersohn, was nicht gegen den Sprachgebrauch verstöfst. Aber der Mne-
silochus der Komödie kann auch der Schwager des Dichters sein, indem er
seines Vaters Namen führte, und dafür scheint 5S4: EvomiSrjv yna^ ävSga
xrjdeaxTjv rtva avrov, yiQovra, Sevo' avanejuy^ai r^fiegov zu sprechen.
51) In dem Famulus, den Aristophanes dem Euripides in den Acharnern
:<95 ff. zugesellt, erkennen die Scholiasten wohl richtig diesen Hausfreund, ziehen
aber daraus den falschen Schlufs, er sei Sklave gewesen; auf freie Herkunft
deutet schon der Name Kr,(fiao<f(äv.
480 DRITTE PERIODE VUN 500 BIS 300 V. CHR. G.
pides fortan nicht ahläfst, in seinen Tragödien die tiefen Schäden
der ehelichen VerliäUnisse offen zu legen, so fühlt mau durch, dafs
diese Schilderungen unter dem unmittelbaren Eindrucke cigeuen
Leides entstanden sind, dafs der Dichter den unheilbaren Rifs seines
häusHchen Glückes schmerzlich empfand. Diese Verstimmung macht
sich nicht nur in einzelnen, oft wenig motivirlen AusföUen gegen
die Frauen Luft, sondern mit Vorhebe werden individuell entwickelte
Frauencharaktere dargestellt, welche in ihrer Leidenschaft sich über
alle Schranken der Sitte hinwegsetzen. Mit scharfen Zügen schildert
Euripides, der die weibliche Natur recht eigentlich zum Gegenstande
unablässigen Studiums gemacht hat, die Schwächen und Fehler der
Frauen. Daher galt der Dichter allgemein als Weiberfeind.") Dieses
Motiv benutzt Aristophanes und dichtet in seinen Thesmophoria-
zusen die Verschwürung der athenischen Frauen, die wegen der
unglimpflichen Behandlung auf Rache gegen den Tragiker sinnen.
Aber indem der Komiker scheinbar die Vertheidigung der Frauen
übernimmt, sagt er ihnen SchUmmeres nach als Euripides und trifft
schliefslich auch hier mit seinem literarischen Widersacher in dem
letzten Resultate zusammen.
Euripides' Gerade wie Aeschylus, so starb auch Euripides fern von Athen.
1®V"® Doch trieb ihn nicht sowohl unverdiente Kränkung fort*'), sondern
O C n 1 C KS 316.
er folgte einer ehrenvollen Einladung des Königs Archelaus von
Makedonien. Ol. 92, 4 hat Euripides noch in Athen seinen Orestes
aufgeführt; unmittelbar nachher mufs er die Reise angetreten haben,
auf der er auch die abgelegene Landschaft Magnesia berührte und
dort ehrenvolle Aufnahme fand.**) Von dort begab er sich nach
52) S. die Biographie. Die Aeufseiung des Sophokles, welche Athen.
XIII 557 E aus Hieronymus berichtet (andere wiederholen sie, wohl nach der-
selben Quelle): EinovToe JSofoxlsl ztvoe, ort ftiaoyvvtje iariv Ei/QiniStji, 'Er ye
Tols i^ayt^Siaa, üft] 6 ^otpoxXlqi, Inei iV ye t^ xAt'i'»? fdoyvvrjs, klingt ganz
wahrscheinlich. Derselbe Hieronymus (Athen. XIII 604 E) berichtet noch eine
andere Anekdote, wo Euripides sich über die Schwäche des Sophokles gegen-
über schönen Knaben lustig machte, worauf Sophokles mit einem Epigramm
geantwortet haben soll.
5.'}) Nur Philodem de vitiis X p. 2i» ed. Sauppe, falls die Stelle auf Euri-
pides geht, scheint auf unerfreuliche Vorfälle, die allgemeine Schadenfreude er-
regten, hinzudeuten. Vgl. auch Thomas Magisters Biographie.
54) Biographie: fUTiorrj Si ir Mayvrjaiq xai n^^tviq iTi/u^dtj Mal «x«-
Afi/a. Er berührte diese abgelegene Landschaft auf der Reise nach Makedo-
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III. EÜRIP. 481
Pella, der neuen Hauptstadt Makedoniens ; denn Archelaus hatte den
alten Sitz seiner Vorfahren, das durch die landschaftlichen Reize
einer grofsartigen Gebirgsgegend ausgezeichnete Aegae, mit Pella ver-
tauscht und sich in dieser für den Verkehr günstig gelegenen Stadt
einen prachtvollen Palast erbaut. Hier bei Archelaus stand Euri-
pides in besonderer Gunst und Ehren.^^ Makedonien war bisher in
der Bildung entschieden zurückgeblieben ; aber je melir es an poli-
tischer Bedeutung gewann, desto mehr empfand man diese Ver-
nachlässigung. Archelaus war keineswegs ein makelloser Charakter
und entbehrte eigenthch der tieferen Bildung, fühlte aber doch, was
ihm und seinem Volke fehlte. Er stiftete einen musischen Agon zu
Dion am Olympus in Pierien, einer Stätte, an welche sich altehr-
würdige Erinnerungen knüpften.^) Dazu bedurfte es der Theilnahme
und Mitwirkung der Dichter, und so suchte der König die nam-
haftesten Männer seiner Zeit an sich zu ziehen, was ihm um so
leichter gelang, da der langwierige Ki'ieg, in welchem Griechenland
seine besten Kräfte verzehrte, die Künste des Friedens empfindlich
schädigte. Namentlich Athen büfst seine frühere Anziehungskraft
ein. So mufste das Asyl, welches die Freigebigkeit des Archelaus
eröffnete, hochwillkommen sein, und der Hof dieses prunkhebenden
Fürsten ward der Sammelplatz für Künstler und Dichter. Euripides,
der hier mit seinem Freunde, dem Tragiker Agathon, zusammen-
traf"!, vergafs jedoch über den Genüssen des Hoflebens seine Kunst
nicht, in der Tragödie Archelaus, wohl auf ausdrücklichen Wunsch
des Königs verfafst^), verherrlichte er das Andenken des Gründers
der Dynastie. Ebenso ist die letzte Tetralogie, welche erst nach
dem Tode des Tragikers, wohl Ol. 93, 3, der jüngere Euripides in
Athen in Scene setzte, in Makedonien gedichtet, wie besonders die
nien; denn es konnte ihm nicht in den Sinn kommen, Magnesien mit Athen zu
vertauschen.
55) Nur war Euripides weder Schatzmeister (so der Biograph), noch ge-
heimer Rath (Solin. collect, rerum memorab. IX 17) des Fürsten, wohl aber be-
zeugen manche Erzählungen den vertrauten Verkehr. Dafs Archelaus auch bei
dem Tode des Tragikers warme Theilnahme zeigte, berichtet Solinus a. a. 0.
56) Vielleicht fanden auch am Hofe selbst dramatische Aufführungen statt.
57) Aelian V. H. XUI 4.
58) Biographie; die abweichende Erzählung bei Diomedes III, I 488 K läfst
sich damit wohl in Einklang bringen.
Bergk, Griecb. Literaturgeschichte III. 31
482 DRITTE PERIODE V0> 500 BIS 300 V. CHR. G.
Bakchen deutlich zeigen'"), und vielleichl auch schon dort unter
persünhcher Leitung des Dichters aufgeführt worden.
Den tiefen Fall Athens hat Euripides nicht mehr erlebt; er
starb noch vor Sophokles Ol. 93, 2 oder 3 zu Anfang"), fern von der
Ileimath, die wiederzusehen ihm nicht beschieden war, in Arethusa^')
59) Eurip. Bakch. 565 fF.
60) Die Angaben schwanken; nach Apollodor (bei DiodorXllI 103, 5) stirbt
Euripides in demselben Jahre, wo Sophokles starb, also Ol. 93,3, und zwar
sicherlich noch vor Ende des Sommers; denn Euripides starb vor Sophokles,
und die im Winter dieses Jahres aufgeführten Frösche des Aristophanes setzen
voraus, dafs der Tod beider Dichter wenigstens um ein Paar Monate zurück-
liegt Auf dieses Jahr führt auch der Synchronismus bei Plutarch Quaest.
Symp. VIII 1, 1,3: anod'avivxoi 8i {Ev^ijiiSov), xad"' rjv (t'ifii^av) dyewi^&ri
Jiovvatos 6 ngeoßvxeQoe iwv iv 2!txeXiq xvqÜwoiv. Plularch denkt offenbar an
die Geburt des Dionysius, während derselbe vielmehr in diesem Jahre sich der
Herrschaft bemächtigte, und zwar um die Zeit der Wintersonnenwende (der
Tag liefs sich wohl, wie dies in der Natur einer solchen Usurpation liegt, kaum
genau bestimmen); folglich mufs der Tod des Euripides schon früher erfolgt
sein. Möglicher Weise fiel der Tod des Tragikers zwar nicht mit der Geburt,
aber doch dem Geburtstage des Tyrannen zusammen. Immerhin konnte Ti-
niäus (s. Plutarch), wenn Euripides in demselben Jahre starb, wo Dionysius'
Begiment begann , sagen : ofia tije Tvxrje lov fii/iTjT7,v i^ayovotjs rtöv x^ayi-
xaJr Tiad'cJv xal xov ay(ovtaTt]v ineiaayoiaTje. — Dagegen die parische Chronik
Ep. 63 verlegt den Tod des Euripides in Ol. 93, 2, ebenso Schol. Aristoph. Thes-
moph. 190 (Euripides sei Sxrtp i'rei vare^ov nach der Aufführung der Thesmo-
phoriazusen, die der Grammatiker in Ol. 92, 1 setzt, gestorben). Darauf führt
auch die Erzählung des Biographen, Sophokles habe mit seinen Schauspielern
und seinem Chore am Proagon, um das Andenken des Verstorbenen zu ehren,
Trauerkleider angelegt; demnach müfste noch vor den grofsen Dionysien Ol.
93, 2 die Todesnachricht aus Makedonien in Athen angelangt sein. Auch Diodor
weist auf diese abweichende Ueberlieferung hin, indem er hinzusetzt, es gebe
die Sage, Euripides sei in Makedonien von Hunden zerrissen worden fiixQov
ifjLTCQOo&ev rovTCov twv xQuviov, d. h. vor Ol. 93, 3. Vielleicht ist das Datum
OL 93, 2 das rechte. Es lag nahe, dem Syiichionismus zu Liebe, den Tod des
Euripides in das nächste Jahr zu verlegen. Eine sichere Entscheidung ist nicht
möglich; jedenfalls betrug die Differenz nur wenige Monate. Wann Etatosthcnes
den Tod des Euripides ansetzte, wissen wir nicht; er gab dem Dichter ein
Alter von 75 Jahren (Biographie, ebenso Suidas, während Philochorus sich mit
der unbestimmten Angabe über 70 Jahre all begnügte); demnacli würde Euri-
pides noch vor Ol. 75,1 geboren sein, wie auch die parische Chronik Ep. 50
seine Geburt höher hinaufrückl. Auf keinen Füll iiat ein Gelehrter ersten Hanges,
der niQi ucxaias MotfxqiSias schrieb, den Tod des Euripides auf Grund einer
rhetorischen Phrase des Timäus chronologisch fixirt.
61) Bii Arelhusa befand sich das Grabmal des Euripides, Authol. Pal. V1151
»IE DBAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLüTHEZEIT. III. EÜRIP. 483
unweit Ainphipolis am strymouischen Meerbusen. Euripides hatte
offenbar den König, den entweder Staatsgeschäfte oder die Jagd in
dieses Grenzland führten, begleitet, und als er sich Nachts von des
Königs Tafel in sein Quartier begab, wurde er von Hunden angefal-
len und erlag bald darauf seinen Wunden.")
>= ep. 7 II 226 Jac, Plutarch Lykurg c. 31, Ammian. Marc. XXVll 4, S, und damit
streitet auch nicht Slephanus von Byzanz BoQuiaxoe, der ihn bei dieser Ort-
schaft von Hunden angefallen werden läfst; nur Hermesianax V. 66 bei Athen.
XllI 598 D scheint den Tod nach Aegae zu verlegen.
62) So berichtet eine Meit verbreitete Tradition, die, wie sich erwarten
läfst, mannigfach variiert und ausgeschmückt ward. Schon im Allerthum als
Sage bezeichnet, begegnet sie Zw eifeln (Pausanias I 2, 2j. Nur Suidas kennt eine
abweichende Ueberlieferung, nach welcher der Tragiker von Frauen zerrissen
ward (auch der Biograph berichtet, da fs schon fiüher in Athen die erbitterten
Frauen einen Anschlag auf sein Leben auszuführen versuchten). Die Neueren
halten das Ganze für eine Erdichtung, für die man die Komödie verantwortlich
machen will. Dies wäre eine wenig glückliche Erfindung; eher könnte man in
den Hunden, die den Euripides zerrissen, die Komiker selbst wiederfinden, deren
Kritik den Dichter während seines Lebens so schonungslos zerfleischt hatte,
oder man könnte sagen, das Walten der Nemesis solle veranschaulicht werden,
indem der Dichter in seinem letzten Stücke, den Bakchen, die grause Jagd auf
den Pentheus so herzlos geschildert habe. Diese Todesait ist ungewöhnlich,
aber keineswegs unwahrscheinlich. Wenn Aristophanes nicht darauf anspielt,
so konnte ihn ein gewisses Gefühl für das Schickliche abhalten, das traurige
Lebensende seines alten Widersachers zu berühren; aber wenn Phrynichus Musae
fr. 1 Com. n 1, 592 ('as ruhige Abscheiden des Sophokles hervorhebt, so deutete
er vielleicht eben auf den L'nfall, der den Euripides betroffen halte, hin. Ob Zu-
fall, ob Tücke der Menschen dem Dichter verhängnifsvoll w ard, war natürlich nicht
zu ermitteln; um so mehr Spielraum war Veimuthungen vergönnt. Auf nächt-
liche Liebesabenteuer spielt Hermesianax V. 64 an ; Suidas 1 2, G40 nennt bestimmte
Namen (K^aitQct, des Königs Liebling oder eine Frau aus Arethusa), und dafs ein
solches Gerücht gleich anfangs in Athen verbleitet war, kann man aus den Versen
des Aristophanes Frösche 1046 f. schliefsen, wo Aeschylus dem Euripides zuruft:
a).). ini aoi toi xal ToIe aolaiv TioXXr, tioXXox ^mxa&iiio (17 yifpoSirr/}, loare
ye xavröv ae xar' oiv i'ßa/.tv, was eben auf den Tod des Dichters zu beziehen
ist. An einem Hofe, wie den makedonischen, war es schwer, der Intrigue zu
entgehen ; verschiedene Widersacher des Euripides werden genannt. Suidas sagt,
Arrhidäus und Krateuas (derselbe wird auch K^ars^oi genannt; Suidas macht irr-
thümlich beide zu neidischen Dichtern) hätten einen Diener des Königs Lysimachus
(Sixtt firtiüv oyo^oa&t'v^a) angestiftet, die Hunde auf Euripides zu hetzen. Dies
ist ofleubar Dekamnichus, den der König dem Euripides übergab, um ihn auspeit-
schen zu lassen, weil er durch eine unvorsichtige Aeufserung des Dichters Zorn
erregt hatte. Dieser Dekamnichus grollte seitdem dem Könige und stand später
mit Krateuas an der Spitze der Verschworenen, die den Archelaus ermordeten
3J*
484 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CUR. G.
Dauer der Euripides hat seine ganze Thätigkeit der tragischen Poesie ge-
sdien^Thä-'^^^^niet.'*') Frühzeitig, hereits im fiinfundzwanzigslen Jahre, Ol. 81, 1,
tigkeit. trat er auf und bheb diesem Berufe bis zum Ende seines Lebens
treu. Auch Euripides arbeitet anfangs langsam; seine vierte Tetra-
logie ward Ol. 85, 2 aufgeführt."') Erst seit dem Anfange des Krieges
entwickelt der Dichter eine ungemeine Thätigkeit; er betheihgt sich,
wenn auch nicht gerade in jedem Jahre, doch öfter mehi-ere Jahre
hinter einander am tragischen Wettkampfe.") Jene glückliche Stim-
mung, welche der beste Sporn zur Entfaltung dichterischen Talentes
zu sein pflegt, war dem Euripides nicht gegeben. Herbe persön-
liche Erfahrungen trübten die Ruhe seines Gemüthes. Die Leiden
und Unruhen eines langwierigen Krieges lasteten damals schwer auf
Athen und waren für poetisches Schaffen nichts weniger als günstig.
Das behaghche Gefühl einer gesicherten und allgemein geachteten
Stellung, welche Athen nach den Perserkriegen einnahm, hatte bis-
her auch die Dichter gehoben und getragen ; diese Gunst war un-
wiederbringhch dahin. Man merkte es jetzt auch den poetischen
(\iistot. Pol. V 8, 13 p. 1311 B 30 (F.); ihm konnte man füglich einen solchen Akt
der Rache an dem verhafsten Dichter zutrauen. — Euripides wurde bei Arethusa
bestattet; nurSuidas nennt Pella. Nach Gellius XV 20 weigerten sich die Make-
donier, den Athenern die Gebeine herauszugeben. Man begnügte sich, an der
Strafse nach dem Peiräeus ihm ein Kenotaphion zu errichten (Pausan. I 2, 2),
auf dem ein Epigramm des Timotheus oder des Historikers Thukydides (Anth.
Pal. VII 45 = 1 102 Jac.) stand. (Biographie.)
63) Aufser ein Paar Epigrammen, deren Echtheit nicht durchgehends ge-
nügend verbürgt ist, hat Euripides nur ein Lied {iniviy.oe) auf den olympischen
Wagensieg des Alkibiades verfafst. Die angeblichen Briefe des Euripides sind
ein schlechtes Machwerk aus später Zeit.
64) Zu dieser Tetralogie gehört die Alkestis. Die zweite Tetralogie gehört
wohl in 01.83, wo Euripides mit Aristarch von Tegea sich um den Preis be-
worben zu haben scheint (Suidas 'yf ^^ffTa^;fOb 1 1 , 7 1 8) , die dritte in Ol. 84,3,
wo der Dichter zum ersten Male siegte (s. parische Chronik Ep. 60). So kommt
noch nicht einmal auf jedes Jahr ein Drama.
65) Auf sechsundzwanzig Jahre mögen ungefähr achtzehn Tetralogien sich
vertheilen. Dafs Euripides anfangs nicht gewohnt war, allzu rasch zu arbeiten,
und dafs ihm nicht zu jeder Stunde das Produciren von Stalten ging, deutet
die Anekdote bei Valerius Maximus III 7, Ext. 1 p. 150 Halm an, wo Euripides
sich beklagt, dafs er binnen drei Tagen kaum drei Zeilen geschrieben habe,
während Akestor (so ist statt Alcestidi tragico zu verbessern) sich rühmt, mit
Leichtigkeit hundert Verse verfafst zu haben, worauf ihm Euripides erwidert: ted
hoc intercst, quod tut in triduuin tantummodo , tnei vero in omne tempus
iufficient. Die Anekdote selbst ist zur Verherrlichung des Euripides erfunden.
DFE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLLTHEZEIT. III.EURIP. 4S5
Produktionen nur zu deutlich an, dafs der höbere Aufsch^^"llng, wel-
chen die Freiheitskriege dem hellenischen Volksgeiste gegeben hat-
ten, mehr und mehr schwindet. Und doch durfte Euripides nicht
feiern. Sophokles, obwohl noch immer rüstig, war alt geworden;
die Zahl der Dichter zweiten Ranges schmolz sichtlich zusammen;
die Versuche problematischer Talente reichten nicht aus, um das
Bediirfoifs der Bühne zu decken. Eine gewisse Leichtigkeit des
Schaffens war dem Euripides angeboren ; jetzt ward seine Thätig-
keit in erhöhtem Mafse in Anspruch genommen. Es galt in knapp
bemessener Frist nicht etwa eine Tragödie, sondern einen Dramen-
cyklus zu entwerfen, auszuführen und einzuüben. Daher treten je
länger, je mehr die Spuren der Hast und Eilfertigkeit an diesen
Arbeiten hervor, zumal am Schlüsse der Dramen, welcher doch als
der schwierigste Theil die volle Kraft des Dichters in Anspruch nahm,
oder auch in der letzten Tragödie einer Tetralogie.
An den grofsen Dionysien wohnten Fremde aus den verschie- Ennpides
densten Theilen Griechenlands den scenischen Spielen der Athenerfremde Büh-
bei. So ward das Interesse für dramatische Vorstellungen in den °^°-
weitesten Kreisen geweckt und der Ruhm der grofsen Tragiker
überallhin verbreitet. Allmählich beginnt man auch an anderen
Orten Tragödien zu geben. Athenische Schauspieler tragen zunächst
die älteren, wohlbekannten Stücke vor, aber bald regt sich der Ehr-
geiz; man sucht die angesehensten Dichter zu gewinnen, um sich
den Genufs neuer Tragödien zu verschaffen. So hat auch Euripides
für fremde Bühnen gearbeitet.^) Die Andromache ist nicht zu Athen
gegeben. Dieses Stück, welches eine unverkennbare pohtische Ten-
denz verfolgt, war wohl für Argos bestimmt. Später hat Euripides
am Hofe des Archelaus nicht blofs die Aufführung älterer Dramen
geleitet, sondern dichtet auch dort die Tragödie Archelaus. Indem
er ein Bild aus der sagenhaften Vorzeit des makedonischen Landes
vorführte und den Gründer der Dynastie zum Helden einer Tragö-
die machte, genügte er der Pflicht der Dankbarkeit gegen den Für-
sten, der ihn mit Gunstbezeugungen überhäufte.")
66) Vielleicht deutet .\ristophanes darauf hin, weon erThesmoph. 390 von
Euripides sagt, er habe aller Orten die Frauen verunglimpft: tzov S' or^t
Siaßt'ßXrjx, OTtovneo ifiß^a/y tiaiv d'earai xai iqaycoSoi xai ypooi.
67) Biographie: «t» MaxsSoriav ne^l '^^j^tlaov yevouevos SuT^ixfe xnl
486 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Euripides Dem tragischen Dichter lag nicht nur die Verpflichtung ob, den
*'*bei"deT'^^^'' einzuübcn und die Aufführung seiner Dramen zu überwachen,
Composii!oi;sondern er mufste auch die mehschen Partien selbst componiren.
scben™Par- J® reicher und selbständiger gerade damals die musische Kunst sich
tien fremd erentfaltete, dcsto schwieriger ward es für den Dichter, dieser An-
*■ forderung vollständig zu genügen. Daher bediente sich Euripides
des Beirathes und der Unterstützung des Kephisophon"), und wenn
die Gesänge seiner Dramen besonders beliebt und allgemein ver-
breitet waren, so mag er diesen Erfolg zum guten Theil den Be-
mühungen seines Hausfreundes verdanken.'®) Auch Timokrates aus
Argos mag ab und zu dem Euripides denselben Dienst geleistet
haben.™) Aber die dichterische Thätigkeit wird davon nicht berührt;
Euripides' Dramen sind vollständig sein Werk; nirgends wird man
die Spur einer fremden Hand wahrnehmen.")
Euripides Anfangs scheint Euripides gegen die tadelnden Stimmen der
öberarbeitetj^ jjjj^ die im Publikum laut wurden, wie gegen die Stichelreden
seine Ira- ' ^ o o
gödien.i der Komiker empfindlicher gewesen zu sein. So hat er den Hippo-
lytus vollständig umgearbeitet und das, was Anstofs erregt hatte,
möglichst zu beseitigen gesucht. Auch sonst mag er ab und zu die
nachbessernde Hand an seine Arbeiten, wie an die Medea, gelegt
haben.") Später ward er gegen Angrifl'e on"enbar abgestumpft; er
68) Aristophanes spielt wiederholt darauf an Frösche 944. 140S. 1452.
Später in einer verlorenen Komödie (s. Biographie) [Geryt. fr. 231B Di.] bezeich-
net er die Sache nur als Gerücht: Kr,<pKxo(pcäv aoiare . . . ov Si fr»'«^»;« eis t«
Ttill^ EvotniSr], xai awsTcoieis coe (paal ttjv ueXcoSlav, daher auch der Bio-
graph meint, es sei dies nur eine neidische Erfindung; allein es ist sehr wahr-
scheinlich, dafs Euripides sich des Beirathes eines Sachverständigen bediente.
Thomas Magister macht den Kephisophon irrlhümlich zum Schauspieler.
fi'J) Plutarch Nikias c, 29.
70) Biographie: ol Si rn /utkrj fnal Kr^fiaotpäivTa (die Mdschr. lofMv-
T«) noielv fi TtfioxQaiijv '^Qyiiov, offenbar derselbe, der als StSiianaloi der
Andromache in der Inhaltsangabe bezeichnet und dort JrjitoM^nrrjt genannt wird;
ein Argiver würde JnftoxQÖTTje heifsen, daher ist Ttftox^ärf]i als der richtige
Name zu betrachten. [Vgl. Hermes X VIII 491— 495.]
71) Die angeblichen Hülfsleistungen des Sokrates oder Mnesilochus grün-
den sich nur auf Scherze der Komiker. (S. S. 474, A. 29.)
72) Auch eine doppelte Bearbeitung des Phrixus ist bezeugt. Die Um-
arbeitung einer Scene im Telephus beruht nur auf einer Vermuthung des Ari-
slarch (Srhol. Arisloph. Frösche 1400), aber der Vers mufs entweder in einer
Tragödie gestanden haben, die den Alexandrinern nur in einer neuen Recen-
»IE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLDTHEZEIT. III.ECRIP. 487
nimmt den Spott der Komödie gleichmiithig hin oder weist ihn nicht
ohne Selbstgefühl ah.")
Der äufsere Erfolg entsprach nicht gerade den Bestr«bungenDr»mati?che
des Dichters, der aus dem reichen Schitze seines Geistes unermdd- '■*'^®-
lieh immer neue Gaben dem Publikum bot. Nur fünfmal ward ihm
die Ehre des Sieges zuerkannf'), während Aeschylus und Sophokles
dieser Auszeichnung oftmals gewürdigt wurden. Den ersten Sieg'^)
gewann Euripides Ol. 84, 3, dann wieder Ol. 87, 4*'); schliefshch
wiinle nach dem Tode <les Dichters seine letzte Tetralogie gekriint.^)
sion vorlag, oder in einem Drama, welches frühzeitig untergegangen war. Nur
irrthümlich bezog man Aristophanes Frösche 1206 auf den Archelaus; dies ver-
anlaTste Aristarch zu der unstatthaften Hypothese einer zwiefachen Bearbeitung.
Der Prolog, auf den sich Aristophanes bezieht, gehört unzweifelhaft zu den
Dramen, welche schon die Alexandriner nicht mehr kannten. (S. S. 4S9, A. Sft.)
Kleinere Aenderungen mag Euripides auch später auf Anlafs neuer Aufführungen
vorgenommen haben. So schrieb er den anstöfsigen ersten Vers der weisen
Melanippe fr. 4S3: Zevs offns 6 Zev?, ov yno olSa :i).t]v Xöyco um: Zevs cos
ieXexrat r^s aXrjd'eCm r.To, eine Willfährigkeit, die schlechtverhülltem Hohn
ähnlich sieht; den .\nlafs giebt Plutarch Amatorius c. 13, 4 an: iiexaXaßdv Si
X^^ov ftlXov, i^nooEi (y«o) OJS k'oiics x(ö Sonuari ysyoauue'vta Ttmnjyvotxäs
xal 7tsoirr<ü3, i-D^^s r'ov arixov. Der Antheil, welchen Neuere dem jünge-
ren ßuripides an solchen Revisionen zuschreiben, ist durchaus problematisch.
73( Die Antwort des Tragikers auf die beständigen Invecliven der Komi-
ker ist uns in den Versen der Mehtvi:t7tTi Seauäris (Athen. XIV 6l3D = fr. 495)
erhalten. Dieses Stück ist früher geschrieben als die yieXavirtrtr, aofi; (die vor
Ol. 92. 1 gegeben wurde), heifst daher gewöhnlich schlechthin MelavirtTvri. Als
Erwiderung des Aristophanes auf jenen Ausfall des Euripides sind vielleicht
die Thesmophoriazusen zu betrachten. Die schale Anekdote, wie Euripides von
einem Kahlkopf verspottet ward (Florileginm Monacense 214 in Stob. Floril. IV 284
M.), bezieht sich wohl auf Aristophanes.
74) Gellius XVII 4, 3, Suidas; die abweichende Angabe (fünfzehn Sie?e)
bei dem Biographen und Thomas Magister ist nur ein Schreibfehler. Gellius
drückt sich nicht correkt ans, wenn er die Zahl der Siege mit der Zahl der
Dramen zusammenhält, da nicht einzelne Stücke, sondern Tetralogien concur-
rirten.
75) Parische Chronik Ep. 60: Ttoöirov ivixrjasv ... noxovros ^Ad'ijtn-fftv
Jtfilov, also vierzehn Jahre nach seinem ersten .Auftreten. Die .Angabe ist
wohl richtig, obwohl der Verfasser der Chronik die Lebenszeit des Dichters ab-
weichend bestimmt.
76) .Argument des Hippolytus. Wann Euripides zam dritten nnd vierten
Male diese Auszeichnung erhielt, ist unbekannt.
77) Suidas I 2, 641 : xfjv Si uiav usxn tt;v zsXevrr^ irtiSei^nusvov ro
Sffäfia rov nSehpiSov avroxi EvotrxiSov, vgl. Schol. .Aristoph. Frösche 67.
488 DRITTE periohe von 500 bis 300 v. cur. g.
Oefler mögen ihm iinmotivirter Weise sehr untergeordnete Dichter
vorgezogen sein'*); meist mufste Enripides sich mit der zweiten oder
gar der letzten Stelle hegnilgen.''®)
Zahl lier Euripidcs steht an Fruchtbarkeit den beiden anderen Tragikern
nicht nach. Er hat zweiundneunzig Dramen, also dreiundzwanzig
Tetralogien, gedichtet*"); wenigstens waren so viel den Alexandrinern
Dramen.
78) Wie Xenokles Ol. 91, 1 (Aelian V. H. II 8) ; aber wenn 01.87,1 Eupho-
rien den ersten, Euripides den dritten Preis erhielt, hat dies einen anderen
Grund.
79) Den zweiten Preis erhieHen 01.85,2 die Alkestis, 01.91,1 die Troa-
den und später die Phönissen, den dritten Preis Ol. 81, 1 die Peliaden, Ol. 87, 1
die Medea. Es ist irrig, wenn Neuere von Stücken sprechen, die nicht einmal
den dritten Preis erhalten hätten. Ein solcher Fall konnte gemäfs der Einrich-
tung des tragischen Agons gar nicht vorkommen.
80) Es wäre freilich denkbar, dafs Euripides zuweilen auch einzelne Tra-
gödien, namentlich für fremde Bühnen, schrieb, wie die Andromache [s. oben
S. 169*)] und den Archelaus. Allein dafs auch hier die tetralogische Composition
festgehalten Avurde, deutet Suidas an: insSai^ato 8b l'Xovs ivtavrove xß' (Vat.
xff'). Der Fehler ist nicht in der Zahl, sondern in den sinnlosen Worten oAous ivt-
avTOvs zu suchen ; es ist o ?.coe avröe zu schreiben. Nämlich die dreiundzwan-
zigste Tetralogie brachte, wie Suidas vorher bemerkt, der jüngere Euripides auf
die Bühne. Die Gesammtzahl der Dramen geben auf zweiundneunzig Suidas und
der Biograph an (hier findet sich auch die Variante 98, die nachher wiederkehrt,
ein offenbarer Schreibfehler); davon waren aber nur achtundsiebzig erhalten
(Biographie; auch bei Suidas ist otj' statt o^' zu lesen). Davon wurden drei
Dramen von den Kritikern als unecht verworfen (Biographie Tivvr,e, 'PaSäftav-
d-vi, TlsiQi&ov?); daher geben Suidas und Varro bei Gellius XVI! 4. 3 dem Euri-
pides nur fünfundsiebzig Dramen. Damit stimmt auch der Schlufs der Biogra-
phie: am^srai 5' aiiov S^öftara 1^', xal y' n^cs rovrots t« nt^tXeyo/isva'
oarvQiica Se rj'' airtleyerai Se xal toviiov to «'. Hier sind unter o^äfiara
Tragödien zu verstehen (zu denen auch die Alkestis und ähnliche Dramen ge-
rechnet wurden). Siebenundsochzig Tragödien nebst drei unechten giebt sieb-
zig; rechnet man die acht Satyrslücke hinzu, so erhält man achtundsiebzig.
Wenn sich mehr als achtzig Titel nachweisen lassen, so wird man einige als
problematisch ausscheiden müssen; der ^Enstöe war wohl nur aus den Dida-
skalien bekannt. Zu den frühzeitig verschollenen Stücken scheint auch die
i;xv)ila zu gehören, die Aristot Poet. c. 15 p. 1454 A. 31 und 2fi p. 14(U B XI er-
wähnt. Aus der letzteren Stelle könnte man auf einen Dilhymnibus srhlirfsen;
allein die erste weist auf eine Tragödie und zwar des Euripides hin, die offenbar
den Alexandrinern nicht mehr vorlag. Acht Salyrdrnmen lassen sich noch jetzt
nachweisen, aber dazu gehören die Oe^tarai, die schon in der alexandrinisrhen
Zeit verschollen waren. Offenbar war noch ein uns unbekanntes Salyrdrama
vorhanden, wahrsclieinlich Ha« von der Kritik beanslandct««, daher es nirgends
DIE DRAM. POESIE. DIETRAGÜDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III. ELRIP. 4S9
au? den Didaskalien bekannt. Denn diese besafsen nur acbtundsech-
zig Stücke; also war schon damals eine ansehnliche Zahl spurlos
untergegangen. Wir besitzen unter Euripides' Namen neunzehn
Stücke; davon ist jedoch der Rhesus auszuscheiden, den offenbar
eine andere Hand verfafst hat. Immerhin ist uns von den Arbeiten
des Euripides ungleich mehr erhalten als von seinen Vorgängern.
Aber obschon nahezu der vierte Theil seines dichterischen Nach-
lasses vorhegt, fehlt doch viel an Vollständigkeit; und wir müssen
gerade hier in unserem Urtheil vorsichtig sein, um nicht ungerecht
gegen den Dichter zu werden. Diese achtzehn Dramen sind sehr
ungleich an Werth; bedeutende oder doch allgemein anerkannte Ar-
beiten stehen unmittelbar neben Stücken, denen schon die Alten
geringe Beachtung geschenkt haben. Unser Urtheil über Euripides
würde zwar im Ganzen und Grofsen schwerlich anders ausfallen,
aber das bedeutende Talent des Mannes würde uns klarer entgegen-
treten, wenn ich will nicht sagen mehr, aber andere Dramen uns
tiberliefert wären. Denn leider sind gerade solche Stücke, welche
bei den Zeitgenossen den meisten Beifall fanden, welche auch später
zu den besten gerechnet wurden , wo grofse Vorzüge und dichte-
rische Schönheiten die Mängel offenbar überwogen, für uns ver-
loren, wie Telephus, Philoktet, Andromeda, Antiope und andere,
während manches geringhaltige Werk gerettet ist. Die sieben ersten
Tragödien") gehören einer Auswahl an, welche in der nachalexan-
drinischen Zeit für die Zwecke des Unterrichts getroffen ward. Man
citirt wird. Somit Maren siebzehn Dramen des Euripides schon für die Ale-
xandriner verloren, zum Theil Satyrstücke, aber auch Tragödien, wohl meist
aus der früheren Periode, wie z. B. der Prolog einer unbekannten Tragödie,
den Aristophanes in den Fröschen 1206 anführt, was alexandrinische Gramma-
tiker irrthümüch auf den Archelaus bezogen. Die Vermuthung, dafs Euripides
den Prolog dieser Tragödie umgearbeitet habe, ist unstatthaft; Aristophanes
konnte sich auf dieses Stück, weiches schwerlich schon in Athen zur Auffüh-
rung gekommen war, überhaupt nicht berufen. (S. S. 4S7, A. 72.) — Das alpha-
betisch geordnete Verzeichnifs neben dem Bildnisse des Dichters in der Vüla
Albani zu Rom (CIG. III 6047) reicht nur bis zum Buchstaben 0 und enthält
siebenunddreifsig Namen und macht auch sonst weder auf Vollständigkeit noch
Genauigkeit Anspruch.
81) Hekuba, Orestes, Phönissen, Medea, Hippolytas, Alkestis, Andromache.
Die ursprüngliche Sammlung enthielt mehr Dramen , aber die Byzantiner be-
gnügten sich wie anderwärts für den Schulgebrauch eben mit den ersten sieben
Stücken.
490 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
hob die Stücke heraus, welche sich auf der Bühne besonderer Gunst
erfreuten") oder die eigenlhümliche Art des Dichters am besten zu
veranschauHchen schienen, und ordnete die Dramen so, dafs die
leichteren Stücke vorausgingen, weil sie am besten geeignet waren,
in die Lektüre einzuführen. Bei der Erhaltung der übrigen Dramen")
scheint lediglich der Zufall gewaltet zu haben ; die Byzantiner schrie-
ben ab, nicht was ihrem Geschmacke besonders zusagte, sondern
was sich in den Bibliotheken gerettet hatte.
Perioden der u,yi die dichterische Entwicklung des Euripides vollständig zu
dichter!- , , „ . , • , , ■ i » ,
sehen Ent- übersehen, müfsten wir mehr von seinen Arbeiten aus der Jugend
wickiunp. jjjjj ßhithe des Mannesalters besitzen. Allein aus diesem Zeitraum,
der für die Ausbildung seines poetischen Charakters entscheidend
gewesen sein mufs, liegt uns nur die Alkestis vor. Da dieses Drama
die Stelle des Satyrspiels vertritt, kann es uns keine ausreichende
Vorstellung einer Euripideischen Tragödie aus dieser Periode ge-
währen. Jedoch bekundet die Alkestis und die anderen gleichzeitig
verfafsten Tragödien") sowie die Peliaden bereits die vollendete
Stilgewandtheit und den Reichthum an Sentenzen, die Vorliebe für
rührende Scenen und die Kunst im Ausmalen der SeelonzustSnde,
welche alle späteren Arbeiten des Dichters auszeichnen. Das red-
nerische Talent erkennt man besonders im Telephus und .\lkmäon.
Frauencharaklere treten sichtlich in den Vordergrund; die ideale
Heroenwelt wird dem wirklichen Leben näher gerückt, wie der lahme
Telephus im Bettlergewande, ein beständiger Gegenstand des Spottes
für die Komödie, zeigt. Die Peliaden waren für dramatische Be-
arbeitung ein ungewöhnlicher Stoff, aber der romantische Zug fehlt
nicht, der den Euripides reizt. Selbst die Form der Prologe be-
weist, dafs Euripides bereits die Grundsätze seiner Technik fest
geregelt hatte.
Der Anfang des grofsen Krieges bezeichnet auch für Euripiiles
den Anfang einer neuen Epoche. Die eigenlhümliche Art des Dich-
ters tritt jetzt in völlig klaren und bestimmten Zügen uns entgegen.
Euripides ist es, der vorzugsweise «lie weitere Entwicklung der dra-
82) Wie die Medea, der Orestes, die Phönissen.
83) Troaden, (Rhesus), Srhutzflehende, Ion, die taurische Iphigenie, Iphi-
genie in Aiilis, Baktheo, Kyklnps, Ueraltliden, Flelona, der rasen'ie Herakl»-«
und Elektia.
*^4) Kreterinnen, Alkmäon in Püophis und Telephus.
I IE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III. EURIP. 491
malischen Kunst begründet; von ihm sind nicht nur die späteren
Tragiker insgesaramt abhängig, sondern auch die Zeitgenossen wer-
den durch diese Neuerungen des Euripides berührt, selbst Sophokles,
obwohl sonst die Wege beider Dichter weit auseinandergingen.
Euripides, bereits in reiferen Jahren stehend, wendet sich mit Ent-
schiedenheit philosophischen Studien zu, und dieses Element macht
sich alsbald oft zur Ungebühr an wenig passender Stelle geltend. Der
denkende Geist ist bei Euripides nirgends zu verkennen.") Allein
erst jetzt scheint bei ihm ein tieferes Interesse für speculative Fragen
erwacht zu sein, und da eben damals durch den Einflufs der Sophi-
sten jene Ideen in weiteren Kreisen Eingang fanden, war dies für
den Dichter um so mehr ein Sporn, diese Richtung zu verfolgen. Die
reizbare Natur des Euripides war eben gegen jeden Eindruck von
aufsen empfänglich. So wirkt vor allem die Unruhe der gährenden,
tiefbewegten Zeit auf den Dichter ein und spiegelt sich in seinen
Arbeiten wieder; der leidenschaftliche Ton, der hier herrscht, stimmt
vollkommen zu der Gefühlsweise jener Zeit.
Die ersten Stücke dieser Epoche, die Medea, die Heraklide n,
weniger schon der Hippolytus, stehen der früheren Weise noch
ziemlich nahe. Aber mehr und mehr tritt uns in den folgends-n
Arbeiten ein kecker Geist, der an allem Bestehenden rüttelt, eine
mafslose Skepsis und innere Zerrissenheit des Gemüthes entgegen.
Unruhe des Herzens, Zweifel und Verzweiflung ist keine günstige
Stimmung für dichterische Produktion. Man erkennt dies am deut-
lichsten in der Art, wie Euripides mit der Götter- und Heroensage
umgeht. Aeschylus trat mit vollem Glauben an die Welt der Sage
heran; auch die harmonisch gestimmte Natur des Sophokles ward
durch die zahlreichen Widersprüche nicht berührt. Euripides glaubt
nicht mehr an die alten Ueberlieferungen ; die Mythenwelt hat sich
für ihn ausgelebt. Er ist daher unfähig, ihr neue Bedeutung und
Weiiie zu geben. Statt aber diese Stoffe ganz fallen zu lassen, treibt
er mit ihnen ein willkürliches Spiel und geht in der Profanation
weiter als irgend ein Dichter. Indem so diese ehrwürdigen Gestal-
ten, ihres idealen Glanzes beraubt, nur als Repräsentanten des gegen-
wärtigen Weltzustandes benutzt werden, verlieren sie allen inneren
*»5) Wenn Phädra im Hippol.375 sagt: 'HSti nox^ aXlcrn wxroe iv ua-
^9V XQov(i} d'vT^Tciiv ifoövTia^, tj Sie'ip^aornt ßCos xtX. (parodirt von Aristo-
phanes Frösche 931), so schildert offenbar der Dichter sich selbst
492 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Half. Eben die Wahlverwandtschaft zwischen dem Dichter und den
Personen, welche er dramatisch verkörpert, ruft eine Disharmonie
hervor, die uns mit Mifsbehagen erfüllt. Enripides hat eine ent-
schiedene Vorliebe für das Rührende, daher er auch den glücklichen
Ausgang in seinen Tragödien sichtlich bevorzugt; aber nicht minder
zieht ihn das Furchtbar-Gräfsliche an, was häufig dicht neben dem
Sentimentalen Platz greift. Ueberall nimmt man die Subjektiviist
des Dichters wahr. Herbe Polemik gegen die Satzungen des religiö-
sen Glaubens und kalter Hohn über die Orakel, mehr oder minder
direkte Beziehungen auf die Politik und Ereignisse des Tages, breite
Erörterungen socialer Fragen, Ausfalle gegen die Frauen, Kritik der
älteren Tragiker, Abwehr der Angriffe der Komödie, kurz, Herzens-
ergiefsungen über alles, was des Dichters Gemüth irgendwie berührte,
werden mit der dramatischen Handlung verflochten und nehmen
einen immer breiteren Raum ein. Nirgends ist die allgemeine Zer-
rüttung und Auflösung aller Verhältnisse so klar ausgesprochen, wie
in den Tragödien des Euripides, des hervorragendsten Vertreters jener
zersetzenden Richtung. Trotz der unleugbaren Virtuosität in allem
Technischen ist doch ein wirklicher Fortschritt nicht wahrnehmbar;
Euripides bildet nur seine eigenthümliche Manier entschiedener ans.
So büfst namentlich der Chor immer mehr seine frühere Bedeutung
ein, während die Bühnengesänge der Schauspieler sichtlich bevor-
zugt werden.
Euripides bheb seiner Art bis zum Ende seiner Laufbahn treu.
Allein eine so bewegliche Natur kann sich dem Einflüsse des heran-
nahenden Allers und der Umgebung nicht entziehen. UngeHdir um
die Mitte des grofsen Krieges, etwa mit Ol. 90, 1, beginnt die dritte
Periode seiner Thäligkeit. Euripides tritt in das Greisenalter ein;
seine geistige Kraft ist ungebrochen und die Produktivität eher noch
im Zunehmen begrifl'en. Aber die Arbeiten dieser letzten Epoche
tragen auch sichtlich die Spuren der Eilfertigkeit an sich, wie am
Augenfälligsten die sorglose Behandlung der Verse im Dialog beweist.
Von der Ruhe und dem gefafsten Wesen des höheren Allers ist
nichts wahrzunehmen ; vielmehr erscheint die Verstimmung und leiden-
schaftliche Unruhe, welche schon die Dichtungen der vorangehen-
den Jahre kennzeichnet, noch gesteigert. Die Zeil ist eben krank,
und der Dichter, der nicht im Stande ist, über diese Verworrenheil
»ich zu erheben und die krankbiiflcn Elemente ,uisznsrlieidt>n. !,'iebt
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRDPPE. DIE BLDTHEZEIT. III.ELRIP. 493
eben nur ein getreues Abbild seiner Umgebung wieder. Das Mafs-
lose in der Denkart und Handlungsweise der dramatiscben Charak-
tere, die Steigerung der Leidenschaften, die dann wieder mit plötz-
licher Abspannung wechselt, entspricht genau dem wüsten Treiben
und der Aufregung im öfFenthchen Leben wie der eigenen Gemüths-
verfassung des Dichters. Rasche, unvermittelte Uebergänge haben
daher nichts Auffallendes. Während in der Helena und Andro-
meda das Romantische überwiegt, tritt in den Phönissen und den
gleichzeitigen Dramen das philosophische und sentenziöse Element
entschieden hervor. Das Gleiche gilt von der Rehandlung der Mythen.
In der Helena ist es auf eine Ehrenrettung der viel verunglimpften
Heroine abgesehen, welche der Dichter schon in der Elektra in
Aussicht stellte, aber im Orestes kehrt er wieder zu der gewöhn-
üchen Vorstellung zurück.
Euripides' erster Versuch, die Peliaden, war wohl das erste ^'^^®^*'"
und zugleich vorzUghchste Stück der Tetralogie, mit welcher er OL
Sl, 1 den dritten Preis gewann.*^; Eine Frau, die düstere, unheim-
Hche Gestalt der Medea, war die Trägerin der dramatischen Handlung.
Doch halte auch Sophokles in den Wurzelgiäberinnen (PiZotÖ(.ioC)
offenbar schon vor Euripides denselben Stoff behandelt ; denn diese
Arbeit wird in die erste Periode des Sophokles fallen, wo der Dichter
noch den hohen Stil des Aeschylus festhielt, der für ein solches Thema
vorzugsweise geeignet war. Euripides zeigt gleich hier seine besondere
Art; leichten, gewandten Redeflufs und Vorhebe für allgemeine Sen-
tenzen nimmt man überall in den Bruchstücken der Pehaden wahr.
Später, Ol. 83, scheint sich Euripides mit Sophokles und Achäus
um den tragischen Preis beworben zu haben*'), und Ol. 84, 3
ward ihm zum ersten Male volle Anerkennung zu Theil.**) Wie er
damals über Sophokles den Sieg davontrug, der seine Antigon«Q
aufführte, so mufste er Ol. 85, 2 dem älteren Dichter nachstehen
und sich mit der zweiten Stelle begnügen.*^) Die Tetralogie, welche
86) Biographie. In ähnlicher Weise wird der Triptolemos als erste Ar-
beit des Sophokles bezeichnet.
8") Bei Suidas unter ^A^möi I 1, 214: iTteSeixwro Si xoipfj aiiy aiiq
(d.h. Sophokles) xal EvomiSr, utio xrfi ny ^OÄiuTziäSoä ist wohl ini zu lesen.
88) Parische Chronik Ep. 60 : Ev^t7iiSr;i izüv ojv JJJJIU x^aytoSia
TtQiÖTOV iyixrjaev . . . aQ^ovros ^Ad'r,vr}atv Jty>ikov.
89) Didaskalie der Alkestis: rb B^äfia inoi^d-tj t^'. iSiSäxd''! ini rXav-
494 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Euripides in jenem Jahre dem altischen Pubhkum bot, bestand
aus den Kreterinnen, dem Alkmüon in Psophis, dem Tele-
phus und der Alkestis. Alle diese Dramen fanden auch später
Anerkennung, wie die Parodien der Komödie beweisen; nament-
lich Telephus galt alle Zeil als eine der vorzüglichsten Arbeiten des
Dichters.
Aikt lis. Uns ist nur das Schlufsstück erhalten, zugleich das älteste Drama,
welches wir von Euripides besitzen. Gleichwohl ist die Alkestis
nicht recht geeignet, uns eine genügende Vorstellung von der Euripi-
deischen Tragödie zu geben ; denn es tritt uns hier manches Un-
gewöhnliche, ja Störende entgegen, daher man sich nicht wundern
darf, wenn die früheren Beurlheiler an dieser scheinbaren Dishar-
monie Anstofs nahmen. Erst seitdem wir wissen***), dafs die Alke-
stis bestimmt war, die Stelle des Satyrdran)as zu vertreten, ist der
richtige Standpunkt für die Beurtheilung gewonnen.
Das Satyrdrama galt als eine unentbehiliche Zugabe der tragi-
schen Trilogie. Bot auch die griechische Sage einem genialen Dich-
ter reiche Auswahl von Stoffen dar, welche sich für das heitere
Nachspiel eigneten, so war es doch meist nicht thuulich, ein Thema,
welches bereits von anderen auf die Bühne gebracht war, neu
zu bearbeiten ; denn die Situation nebst den Theilnehmern der
Handlung war meist gegeben und keiner so durchgreiieuden Ver-
änderung wie tragische Stoffe föhig. Euripides war eine ernst ge-
stimmte Natur; den ausgelassenen, possenhaften Ton des Satyrspiels
mochte er weniger treffen als die älteren Dichter; er schritt also
zu einer Neuerung. Denn dafs Euripides diese Spielart aufbrachte,
wird zwar nicht ausdrücklich bezeugt, ist aber wahrscheinlich, und
die Alkestis war wohl eben der erste Versuch dieser Arl. Die Zahl
T
teivov aQx,ovros rl X' (man findet hier die Bezoiclinung der Olympiade; dies
ist unsicher), n^töroe fjv IlofotcXifi, SsirsQos EiQiniSrjS; der drille Dichter wird
nicht genannt. Statt ig' ist «c' zu lesen; die Alkestis war das vierte Stück
der vierten Tetralogie, durchschnittlich kommt also auf jede Olympiade eine
Tetralogie. Auch Euripides arbeitet, wie Sophokles, in den früheren Jahren
langsam; erst mit dem höheren Alter nimmt seine Produktivität zu.
90) Die Didaskalie ist erst in neuerer Zeit aufgefunden. Hier wird be-
merkt : ro Si HfMifia xtofttxioji^nv ^e« ri,r Hnraai(>ofr;r (oder Mnraaxet>t^)
und IV Üi 9ffifi('t iait antvQixtJTSQOv, oii eis x^i^*' ""* ii^ovijv xmaai^iftt,
vgl. auch Schol. Oresl. 1086.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III. EURIP. 495
der Satyrdramen des Euripide» ist sehr niedrig '*) und steht in keinem
Verhältnifs zu der Zahl der Tragödien. Er wird also öfter ein mit
heiteren Elementen versetztes Trauerspiel als Schlufsstück der Te-
tralogie gedichtet haben; doch ist uns kein zweites Drama dieser
Gattung erhalten. Weder die Elektra, noch der Orestes, wenn sie
auch mehrfach an den Charakter der Alkestis erinnern, lassen sich
mit Sicherheit dieser Kategorie zuweisen.®*) Ob auch andere Dich-
ter dem Euripides auf dieser Bahn folgten, wissen wir nicht.
So nimmt die Alkestis als ein in seiner Art einziges Drama
unsere Aufmerksamkeit in erhöhtem Mafse in Anspruch. Es war
dies keine Rückkehr zu den ersten Anfängen, denen der Unterschied
der Tragödie und des Satyrdramas noch unbekannt war; denn ge-
rade der possenhafte Ton und das Groteske, Avelches mit den alten
Satyrchören unzertrennlich verbunden war, hat Euripides verschmäht,
sondern diese Vereinigung des Ernstes mit dem Scherze, des Er-
habenen mit dem Niedrigen ist etwas wesenthch Neues. Die ältere
Poesie der Hellenen hält auf Reinheit und strenge Sonderung der
Kunstformen; gemischte Gattungen kommen erst später auf, und es
ist nicht zufällig, dafs gerade Euripides diesen Versuch macht. Er
ist der vorgeschrittenste Dichter der klassischen Zeit; seine Poesie
enthält überall Keime und Ansätze zu Neubildungen, welche erst
die nächsten Geschlechter, manchmal, wie eben hier, erst späte Jahr-
hunderte zur Reife gelangen sahen.
Das Drama stellt den Tod der Alkestis, welche edelmüthig ihr
Leben für den Gatten hingiebt, und die wunderbaie Wiedervereini-
gung mit Admetus dar. Dem Admetus, der sich bei seiner Ver-
mählung den Zorn der Artemis zugezogen hatte, war frühzeitiger
Tod beschieden. Apollo, an dem Loose des Admetus, den er als
milden Herrn kennen gelernt hatte, warmen Antheil nehmend, be-
wog die Schicksalsgöttinnen, sein Leben zu verlängern, wenn einer
der Angehörigen für ihn zu sterben sich entschliefsen werde. Aber
weder Vater noch Mutter, nur die Gattin war zu dem Opfer bereit
Nach der Darstellung des Euripides liegen diese Vorgänge weiter
91) Die Alexandriner besafsen nur acht Salyrstücke; zwei (vielleicht aufser-
dem noch ein und das andere) waren ihnen aus den Didaskalien bekannt.
92) Alte Grammatiker stellen zwar diese beiden Dramen mit der Alkestis
«uf gleiche Linie; aber ob sie auch wirklich die vierte Stelle [in der Telra-
lofie einnahmen, ist nicht überliefert
496 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
zurück. Jahre lang hat Admetus aiit seiner Gatlin in glückhcher Ehe
gelebt ; der junge Sohn Eumelus tritt selbst im Drama auf und be-
klagt den frühen Tod der Mutter. Herakles, obwohl er nicht vveifs,
welches Unglück eben das gastüche Haus, welches er betrat, betroffen
hatte, ist doch von der Zusage der Alkestis, sich für ihren Gatten
aufzuopfern, unterrichtet.
Den Prolog spricht Apollo im Begriff, das ihm werthe Haus zu
verlassen, da sich der Todesgott naht, um sein Opfer in Empfang
zu nehmen^'); denn die letzte Stunde für Alkestis ist gekommen.
Apollo berichtet nicht nur über die früheren Vorgänge, soweit dies
zum Verständnifs der Situation nöthig war, sondern verkündet auch
dem Dämon des Todes, dafs Herakles ihm sein Opfer wieder eut-
reifseu werde. So wird der Zuschauer sofort über den Ausgang
des Dramas unterrichtet. Man erkennt gleich hier die Weise des
Euripides, der es nicht hebt, die Erwartung zu spannen und durch
überraschende Lösung zu Avirken. Der Wortwechsel des Apollo mit
dem Todesgotte konnte, in der kraftvollen Weise der Aeschyleischen
Tragödie ausgeführt, einen mächtigen Eindruck machen. Der Stil
des Euripides ist für solche Scenen wenig geeignet. Desto mehr
ist der Dichter auf seinem Gebiete, wenn er das Lebensende der
Alkestis darstellt, die ein selbstgewähltes Geschick mit Ergebung
trägt, aber doch nicht ohne schmerzliche Gefühle von Gatten und
Kindern scheidet. Alles ist einfach und naturwahr geschildert.'*)
Der Trauer um die Verstorbene giebt der Knabe Eumelus in einem
einfachen Liede Ausdruck, während der Chor, nachdem Admetus die
Anordnungen für das Leichenbegängoifs getroffen hat, die That der
Alkestis feiert, deren Andenken im Munde der Dichter fortleben
wird.")
93) Der Eingang ist ofTenbar der Alkestis des Phrynicliiis fr. 3 p. 55S Naiick
Dachgebil(|et, der gleichfalls den Todesdüinon einführte, s. Servius zu Verg.
Aen. IV 694.
94) Doch verleugnet Euripides auch hier nicht völlig seine Art; hierher
gehört die dringende Bitte der Sterbenden an den Galten, sich nicht wieder
zu verheirathen, den Kindern keine Stiefmutter zu geben (Alk. 315 ff.), ein Ge-
danke, der auch nachher mit Nachdruck wiederholt wird.
95) ßemerkenswerth ist hier die nicht mifszuverstehende Beziehung auf
die Gegenwart; denn Euripides sagt ausdrücklich (44(iff.), die Dichter würden
am Karneiifeste in Sparta und in Athen den Opfertod der Alkestis preisen:
fiikyf'ovoi xa&' eniÖTovüv t' oQsiav x^^vv (dies geht auf die Noniendicliter
in Sparta) iv t' äXv^ins kIioptu vuvots (d. h. die tragischen Chöre in Athen).
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III. EÜRIP. 497
Herakles, der auf ein neues Abenteuer auszieht, erscheint in
der Erwartung, im gastfreien Rönigshause gute Aufnahme zu finden.
Admetus, der sich nicht entschhefsen kann, dem Gaslfreunde den
Trauerfall mitzutheilen, sucht ihn durch ausweichende oder zwei-
deutige Antworten zu täuschen. Dieser Dialog, obwohl kunstreich
angelegt, macht einen entschieden peinlichen Eindruck. Selbst der
Chor wagt den Admetus zu tadeln , dafs er nicht offen alles dem
Ankommenden gestanden habe, begnügt sich aber dann in einem
Liede die Gastfreundschaft des Hauses zu preisen, in dem selbst
Apollo einstmals gern verweilte.
Das Stück beginnt mit der Katastrophe. Die Handlung ist ge-
ring**); daher hat der Dichter eine Scene eingeschaltet, die recht
eigentlich ein Füllstück ist. Der Vater des Admetus bringt der Sitte
gemäfs Liebesgaben für die Verstorbene herbei; dies giebt Anlafs
zu einem unerfreulichen Streite zwischen Vater und Sohn, indem
Admetus dem Greise die bittersten Vorwürfe macht, dafs er sich
nicht habe entschhefsen können, durch seinen Tod das Unheil von
der Famihe abzuwenden. In diesem Wortwechsel hat der Dichter
Gelegenheit, seine dialektische Kunst zu zeigen; aber unser Gefühl
wird empfindlich verletzt, indem der Vater zwar die ungerechten
Anklagen des Sohnes geschickt zurückweist, aber von der sittlichen
Kraft des Zornes wenig wahrzunehmen ist.*') Die folgende Scene
bildet dazu den schärfsten Contrast. Ein Diener, der über den Tod
der Herrin aufrichtig betrübt ist, schildert, wie Herakles im Gast-
gemache es sich wohl sein läfst. Alsbald tritt Herakles selbst auf,
trägt die Grundsätze seiner Lebensphilosophie vor und sucht ver-
geblich den Diener dafür zu gewinnen. Bei diesem Anlasse erföhrt
er alles, was ihm bisher verheimUcht worden war. Von plötzlicher
Hier ist eben an das Drama des Phrynichus zu denken. Ebenso hat er gewifs
einen bestimmten Nomensänger im Sinne. Der Mythus von der Alkestis, der
mit dem Apollinischen Sagenkreise zusammenhängt, mag ein beliebtes Thema
für die Kitharöden, die an den Karneen auftraten, gewesen sein.
96) Euripides konnte recht gut mit zwei Schauspielern aufkommen.
9") Eine solche Scene hätte Berechtigung, wenn der Tragiker die Vor-
gänge im Hause des Admetus, gleich nachdem der Schicksalsspruch bekannt
ward, schilderte; hier, wo Alkestis dem Tode bereits verfallen ist, sind diese
Vorwürfe verspätet. Am wenigsten war Admetus, der sich den stellvertretendea
Tod der Gattin gefallen liefs, berufen, diese Anklage gegen den Vater auszu-
sprechen.
Bergk, Griecb. Uteraturgescbicbte IIL 32
498 DlUTTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Reue ergrifl'en, fafst er den Enlschlufs, die Alkestis dem Todesgolle
zu enlreifsen und zu ihrem Gatten wieder zurückzuführen.
Jetzt kehrt Admetus in Begleitung des Chores'*) von der Lei-
chenbestallung zurück. Hier ist alles der Situation angemessen ge-
schildert; von der Fröhlichkeit des Satyrdramas lenkt der Dichter
wieder in den Ton des tragischen Pathos ein. Alle seine Kunst hat
Euripides für die Schlufsscene aufgespart, wo Herakles die tiefverhüllte
Gattin dem Admetus wieder zuführt, indem er vorgiebt, er habe das
Weib als Siegespreis in einem Wettkampfe gewonnen. Jener weigert
sich die Fremde in sein Haus aufzunehmen. Allmählich wird der
Schleier des Geheimnisses durchsichliger; Admetus giebt endlich nach,
und als er die Hand der PVau ergreift, um sie in das Haus zu führen,
schlägt Herakles das Gewaud der verhüllten Gestalt zurück, und die
Gatten sind von neuem mit einander verbunden. Dafs der Heros nur
ganz kurz berichtet, wie er die Alkestis dem Todesgotte abgerungen,
ist ebenso angemessen als das stumme Schweigen der Frau ^) ; denn
wer aus dem dunkeln Schattenreiche wieder ins Leben zurückkehrt,
der mufs zuvor mit den unterirdischen Göttern, denen er geweiht
war, sich abfinden, ehe er mit den Lebenden verkehren darf.
Bei Phrynichus hatten, wie es scheint, die Götter der Unter-
welt, gerührt durch die hingebende Liebe und Treue, den stellver-
tretenden Tod der Alkestis nicht angenommen und die Frau ihrem
Gatten zurückgegeben."^) Eine solche Lösung war für die über-
wiegend lyrische Tragödie der alten Zeit wohl geeignet, die jüngere
Tragödie, welche vor allem Handlung verlangt, konnte niclit gut
davon Gebrauch machen; auch moclile Euripides nicht denselben
Weg wie sein Vorgänger wandeln. Dafs Alkestis dem Herakles ihre
Errettung verdankt, ist eine freie Erfindung des Euripides, die alles
Lob verdient. Schon die Einführung eines thatkräftigen, energischen
98) Der Chor war 750 abgelrelen, s. Schul, zu 1118.
99) Durch die Sache selbst, nicht durch das Bedenken, einen dritten Schau-
spieler hinzuzunehmen , ist dieses Sciiweigcn motivirt: standen doch schon
längst dem tragischen Dichter drei Schauspieler zu Gebole.
100) Plato Symp. 179C deutet auf diese Fassung hin, die wohl auf volks-
mäfsigcr Sage ruht: t^ ixeivi]S {ywxijv oi i^soi) aveiaav nyaad'trrti itj) ^^yV-
Den Vers aus der Alkestis des Phrynichus fr. 2 p. 557N.: aäfta S' ä&a/ißi«
yvioSfiTjTOv rrj^ii (so ist zu verbessern) wird Hermes gesprochen haben, als
er dem Admetus die Gattin wieder zuführte und ihm gebot, die angegriirenc Frau
in den nächsten Tagen vor jeder heftigen Gcmüthserschütlerung zu bewahren.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLLTHEZEIT. III. EURIP. 499
Charakters, da alle übrigen mehr passive Naturen sind, gereicht dem
Drama zum Vortheil. Gerade Herakles aber war wie kein anderer
beföhigt, ein solches Wagnifs zu bestehen, und da derselbe zugleich
zu den behebtesten Helden des Satyrdramas gehurt, leistete er dem
Dichter, der darauf ausging, die rührenden und pathetischen Ele-
mente der Tragödie durch ein heiteres Zwischenspiel zu unterbrechen,
den besten Dienst.
Die Alkestis ist kein Satyrdrama im gewöhnUchen Sinne, noch
viel weniger eine Komödie oder gar Parodie des tragischen Pathos,
obwohl sie, wie schon die alten Kritiker bemerkten'*"), komische
Elemente enthält, sondern neben den ernsten und ergreifenden Le-
bensbildern ist auch dem heiteren Spiele des Humors Raum gelassen.
Herakles allein in seiner ungebrochenen Sinnhchkeit repräsentirt
diesen Zug, durch den die Erhabenheit des Palhos ermäfsigt und
der glückliche Ausgang schicklich vorbereitet wird; alle übrigen
Personen halten sich auf der Höhe des tragischen Kothurns, inso-
weit die reahstische Weise des Euripides es zuliefs. Eben durch
diese eigeuthümliche Vereinigung verschiedenartiger Bestandtheile,
durch die Auflösung der ernsten, wehmütbigen Stimmung in Heiter-
keit und Frohsinn war das Drama wohl geeignet, den Schlufs der
tragischen Tetralogie zu bilden. In Sprache und Versbau wird der
Charakter der Tragödie festgehalten ; von den Freiheiten , die man
sonst im Satyrdrama sich gestattet, ist nichts wahrzunehmen. Das
Stück, weil es die vierte Stelle einnahm, hat nur mäfsigen Umfang
und scheint vom Dichter rasch und in einem Zuge ausgeführt zu
sein, ohne dafs man die dem Euripides eigenthümhche Stilgewandt-
heit vermifste.
Schon vor Euripides hatte Phrynichus diesen Stoff dramatisch
bearbeitet'*"), der auch der melischen Poesie nicht fremd war, wie
101) In der vTtt&eais heifst es: 16 8e Soäfia iart aaxvQixüne^ov, ot»
eis xa^av xal rßovr^v xaraarotipei. naga itäv r^ayixoäv (lies XQtttxcJv)
hcßäXXBtat ds avoixsta t^s rpaytxr,s :xoirja£a}S o t£ '0(>f ffTi;» xal 17 'yihcTjaTiS,
tos ix avft<fooäs ftiv a^y^fitva, eis tvSaifiovCav Si xai %aoav xaraXrj^avja,
(a) ^«XTt ijm).)jov xioftcpSias i/^ifitva, vgl. auch Tzetzes Schol. zu seinen axixot
ntql SiafOQÜs notTjxcüv X b 92 Adn. in Döbners Ausgabe der Scholien zu Aristo-
phanes XXIV = Gramer Anecd. Oxon. 111 337. Dafs die Alkestis als Tragödie, nicht
als Satyrdrama zu betrachten ist, beweisen auch die Parodien des Aristophanes;
denn nur ganz ausnahmsweise nimmt die Komödie auf Satyrstücke Rücksicht.
102) Der Scholiast sagt ausdrücklich: rifto' ovSrttQw xeJrai rj ftv&onona ;
32*
500 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
der Tragiker selbst andeutet.'"^ So mag Euripides seinen Vorgängern
einzelne Züge entnommen haben, aber in allem Wesentlichen wahrt
er seine Selbständigkeit. Mit der Einheit der Zeit geht der Dichter
sehr frei um. Alkestis stirbt und wird beerdigt, was der Silte ge-
mäfs nicht an demselben Tage zulässig war; erst nach der Bestattung
entfernt sich Herakles und besteht den Kampf mit dem Dämon des
Todes, indem er vorgiebt, von einem Agon in der Nachbarschaft
als Sieger zurückzukehren.
Alkesiis ist der Mittelpunkt der Handlung und nimmt dalier
vorzugsweise unser Interesse in Anspruch. Wie der Dichter schon
in der Wahl dieses Stoffes seine Vorliebe für die Darstellung weib-
licher Charaktere und rührender Schicksalswendungen bekundet, so
hat er auch die Gestalt der Alkestis würdig und naturgemäfs ge-
zeichnet. Neben ihr sind, wie gewöhnlich bei Euripides, die männ-
lichen Figuren im Nachtheile; weder der schwache, gutmülhige Ad-
metus, noch weniger der greise Vater in seiner leidenschaftlichen
Erbitterung sind im Stande uns rechten Antheil einzuflOfsen, wäh-
rend Herakles, der Intention des Dichters gemäfs, ganz in der Weise
des Satyrspiels behandelt ist.
Lehrreich ist auch die Vergleichung mit den anderen zu dieser
Tetralogie gehörenden Dramen.'"^) Voranstanden die Kreterinnen'"),
welche die düstere, unheilvolle Geschichte des Hauses der Pelopiden,
den Bruderzwist zwischen Atreus und Thyestes, die buhlerische
Aerope und ihre Bestrafung darstellten. Auch hier stand ein Frauen-
charakter im Vordergrunde, aber er bildete einen schroffen Gegen-
satz zu der Alkestis, die für den Galten ihr Leben hingiebt und
zuletzt auf wunderbare W'eise mit ihm wieder vereint wird. Allein
auch in den beiden Mittelstücken traten Frauen auf, denen ein be-
deutender Antheil an der Handlung zugewiesen war, im .\lkmäon
die Tochter des Phegeus, deren Liebe der landesllüchlige Multer-
folglich kann Sophokles nicht, wie man vermulhet hat, dieses Thema bearbei-
tet haben. Wohl aber mög;en andere Tragiker an dem anziehenden Stoffe ihre
Kunst versucht haben. Wem der römische Dichter Accius gefolgt ist, wissen
wir nicht; Phrynichus' Drama war sicherlich nicht sein Vorbild.
103) Alkestis 454.
104) Die vTtö&eate: StvrtQOS Ev^tniSriS K^r;o<fau, l/ilxftaioJvt rty Sut
105) Die KQr;c(Tai waren wohl von dem OviaxTji versolupiUMi
»IE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLITHEZEIT. III.EIRIP. 501
mörder gewinnt, im Telephus Klytämnestra, welche dem hülfesuchen-
den Feinde an ihrem häuslichen Herde Schutz gewährt. Dem auf
Befriedigung der Rache gerichteten Sinn der Klytämnestra war wohl
im Alkmäon die liebende Hingebung der Arsinoe gegenübergestellt.
So enthielt dieser dramatische Cyklus eine grofse Mannigfaltigkeit
bedeutender und verschiedenartiger Frauencharaktere.
Die Medea ist Ol. S7, 1 an den städtischen Dionysien, wie schon Medea.
die Theilnahme der bedeutendsten Dichter an dem tragischen Agon
beweist, aufgeführt. Euphorien erhielt die erste, Sophokles die
zweite, Euripides die dritte Stelle."*) Da Euphorion unzweifelhaft
mit einer Tetralogie seines Vaters auftrat, war es recht eigentlich
ein Wettstreit der drei Koryphäen der tragischen Kunst, und das
Unheil der Preisrichter erscheint wohlberechtigt. Der Ausbruch des
peloponnesischen Krieges war wenige Tage vor der Festfeier er-
folgt.'"^ Euripides hat also seine Tragödie in einer Zeit ausgear-
beitet, wo man das Eintreten des längst vorbereiteten Ereignisses
jeden Augenbhck erwarten durfte, und manches Wort des Tragikers
mufste, auch ohne dafs man eine bewufste Absicht vorauszusetzen
braucht, unwillkürhch die Gedanken der Zuhörer von der drama-
tischen Handlung auf die Gegenwart hinlenken. Wenn der Chor
lasons schnöden Undank rügt "*) und klagt, es gebe in Hellas kein
Recht, keine Treue, keine Achtung vor dem Heiügen mehr, so hatte
dieser Ausdruck des sitlHchen Unwillens in einer Zeit, wo man sich
Rechtsverletzungen und Bruch der Verträge gegenseitig vorwarf, be-
sondere Bedeutung. Ebenso konnte das Lob Athens, der unbesieg-
ten heiligen Stadt des Erechtheus'*), nicht verfehlen, Eindruck zu
machen , wie denn der Dichter, der mit lebhaftem Antheil die Er-
eignisse des Tages begleitet, auch in den anderen gleichzeitig auf-
geführten Dramen seine patriotische Gesinnung wiederhoh bekundet.
Medea war das erste Stück der Tetralogie; darauf folgten der Phi-
loktet, ein verwickehes Intriguenslück, und Diktys. Der Inhalt des
106) S. die Didaskalie des Aristophanes : iStSay&rj ini Ilv&oScöooi' «^
XOVTOS oXv/intäSo: nt,' k'rti a. U^ätTOi Elfoqiojv, SevTSooi ^jox/.r;: , i^iros
El'QiTiiBrit Mr/Sei'q, <Pi},oxTr,rr,, JixTvi, Oe^iaraii aaxi-QOH. ov aoJ^STat.
107) Die Eroberung Platääs fällt auf den letzten Tag des Monats Anthe-
sterion.
108) Medea 410 ff.
109) Medea S24.
502 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Satyrdramas ist unbekannt. Da uns nur eine Tragödie erhalten ist,
läfst sich nicht beurtheilen, inwieweit der Dichter diese dem In-
halte nach sehr verschiedenen Dramen zu einem Ganzen verbunden
hat; wohl aber erkennt man in der Aufeinanderfolge der Stücke
eine bestimmte Absicht. Während die Medea für alle unheilvoll endet,
denn auch die Heldin, obwohl sie durch die Flucht der Vergeltung
entgeht, fügt sich selbst das schwerste Leid zu, hatte der Philoktet,
wo der verstofsene Dulder wieder zu Ehren kommt, einen versöh-
nenden Abschlufs. Die dritte Tragödie nahm einen zwiefachen Aus-
gang; mit dem Siege des Rechtes und der Belohnung der Treue
war zugleich die Strafe des Unrechtes und der Gewalllhat ver-
bunden.
Es ist wahrscheinlich, dafs Euripides die Medea später einer
Revision unterwarf, indem er, ohne etwas Wesentliches an der Cora-
posilion des Dramas zu ändern. Einzelnes, welches ihm selbst nicht
genügte oder mifsfallen halte, abänderte. Die Tragödie, wie sie uns
vorliegt, würde dann eben als die zweite Bearbeitung zu betrachten
sein."°)
Nach dem Tode des Pelias mufste lason seine Heimath ver-
lassen und verweilt mit Medea in Korinth. Um seine unsichere
Stellung in der Fremde zu befestigen, wirbt er um die Hand der
korinthischen Königstochter, die ihm Kreon bereitwillig zusagt. Medea,
über den schnöden Undank empört, giebt sich nicht unthätiger Ver-
110) Einzelne Cilate bei den Alten finden sich nicht mehr in unserem
Texte. Schol. Aristoph. Ach. 119 führt aus der Medea den leider unvollstän-
digen Vers an: u) d-B^fiößoilor anXnyxrov, den Arislophanes in lo &e^u6ßov-
Xov Ttocaxrov i^vQTj^ive änderte ; eine solche Parodie wirkle vernichtend, und
der Tragiker konnte sich wohl veranlaTst sehen, die Stelle abzuändern. Im
Frieden des Arislophanes 1012 heifst es vom Melanthius: elra fiorq>Setv ix Mr,-
ielas' iXöfiav, oXöfiav anoxrj^co^eit TrtS dr revrloiai Xoxevofieraä. Hier geht
freilich der Scholiast fehl, wenn er eine Parodie von Medea % findet, während
ein anderer meint, die Medea des Melanthius werde verspottet, olTenbar nur
eine Vermuthung; allein Arislophanes konnte recht gut jenem Tragiker ein
Paar Verse aus der berühnilen Medea des Euripides in den Mund legen. Wenn
dagegen Ennius in seiner Medea fr. 15 I 50 Ribb. den Vers des Euripides fitacS
oo<piarfiv, oarii ovx avr^ aofö: übersetzte, so kann er diese Gnome recht
gut aus einer anderen Tragödie des Dichters entnommen haben. Debrigens
sind alle Spuren einer doppelten Bearbeitung, welche man in unserem Teile tu
finden geglaubt hat, unsicher; nur eine Partie liegt unzweifelhaft in doppel-
ter Fassung vor, s. unten S. 512, A. 140.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III.EURIP. 503
zweifluDg hin, sondern sinnt auf Rache. Für die verstofsene Gat-
tin ist in dem Hause, welches eine neue Gebieterin erhalten sollte,
kein Raum. Kreon, von den Drohungen der Medea unterrichtet
und das Schlimmste fürchtend, verweist sie mit ihren Söhnen aus
dem Lande; aher der Medea gehngt es, einen kurzen Aufschub zu
erlangen, dessen sie bedarf, um ihre Rache zu vollziehen. Inzwischen
erscheint Aegeus, der König von Athen, der auf der Heimreise vom
delphischen Orakel begriffen war, und sichert der Medea Schutz
gegen ihre Feinde zu, wenn sie in Athen eine Zufluchtsstätte suchen
würde. Um so zuversichtlicher schreitet jetzt Medea zur Ausführung
ihrer Pläne. Während lason, durch die scheinbare Nachgiebigkeit
der Medea getäuscht, sich in Sicherheit wiegt, wird die Königstoch-
ter mit ihrem Vater ein Opfer der geheimen Zauberkünste. Und als
lason herbeieilt, nicht sowohl um den Frevel zu rächen, sondern
um seine Kinder dem Verderben zu entziehen, wenn die Korinther
an der Mörderin Vergehung üben, hat Medea bereits mit eigener
Hand die Söhne getödtet, um den treulosen Gatten an der Stelle
zu treffen, wo er allein verwundbar war, und entweicht auf einem
Drachenwagen mit den Leichen ihrer Kinder.
Die Fortsetzung der Medea enthielt eigentlich der Aegeus. Diese
offenbar später gedichtete Tragödie schilderte die Schicksale der
kolchischen Zauberin in Athen. Arge Thaten vollbringt Medea auch
in den beiden älteren Dramen"'), aber die leidenschaftliche Liebe
zu lason wie das Rachegefühl der schwergekränkten Frau dienen,
wenn auch nicht zur Rechtfertigung, doch zur Erklärung der Frevel.
Im Aegeus, wo Medea dem Stiefsohne Theseus nach dem Leben
trachtet, mufste sie zur herzlosen Intriguantin und gemeinen Gift-
raischerin herabsinken. Keine Kunst des Dichters vermochte für
einen solchen Charakter nachhaltig zu interessiren, und es ist sehr
bezeichnend, dafs die Parodie der Komiker sich an diesem Stücke
nicht versucht hat, offenbar weil es keinen rechten Anklang fand
und bald in Vergessenheit gerieth.
Aeschylus hat zwar den Sagenkreis der Argonauten benutzt,
aber die Schicksale der Medea hat er, soviel wir wissen, nicht dra-
matisch behandelt. Sophokles führte zuerst die kolchische Heroine
auf die Bühne. In drei Tragödien war ihr die Hauptrolle zugetheilt.
Itt) In den Peliaden und der Medea.
504 DRITTE PERIODE VON 500 DIS 300 V. CHR. G.
In den kolchischen Frauen gewann lason mit Medeas Hülfe das
goldene Vliefs; die Skythen schilderten die Abenteuer der Rückfahrt;
in den Wurzelgräberinnen trat Medea in Thessalien auf und voll-
zog für lason die Rache an Pehas. Diese drei Stücke"*) konnten
sehr wohl einen geschlossenen Dramencyklus bilden; doch sind bei
Sophokles alle solche Vermulhungen unsicher. Aber man darf vor-
aussetzen, dafs diese Tragödien zu den früheren Arbeilen des Sopho-
kles gehören, wo der Dichter noch mit Vorliebe hochalterthümliche,
gewaltige Sagenstoffe sich auswählte und ihnen eine entsprechende
Form gab. Die ferneren Schicksale der Medea hat Sophokles nicht
berührt.'") Euripides, der schon in seinem ersten Jugendversuche*")
den Tod des Pelias durch die Zauberkünste der Medea nach So-
phokles' Vorgange geschildert hatte, stellt in der Medea die grau-
same Rache des leidenschaftlichen Weibes an dem treulosen lason
dar, ein Stoff, welchen bereits Neopbron für die attische Bühne
bearbeitet hatte.
Die Grundzüge der Sage, welche Euripides hier behandelt, tref-
fen wir schon im Epos. Kreophylus oder wer sonst die Eroberung
von Oechalia gedichtet hatte, erzählte oflenbar in einer Episode "*},
dafs Medea, als sie in Korinth verweilte, den König Kreon durch
(iift tödtete und, um sich der Rache zu entziehen, nach Athen flüch-
tete; ihre Kinder, die sie im Heiligthume der Hera zurückliefs, wur-
den von den Verwandten des Königs ermordet, welche der Medea
auch dieses Verbrechen Schuld gaben. Auch der korinthische Dich-
ter Eumelus kannte Medea als Reherrscherin von Korinth, sowie
das Verbergen der Kinder im Heratempel; nur war der Vorgang
hier anders raotivirt."*) Thatsache ist, dafs die Korinther alljähr-
lich ein Sühnfest zum Andenken der ermordeten Söhne der Medea
feierten. Später mögen lyrische Dichter, wie Siniouide«. die Srliirk-
112) KoXxISk, S)cv&at, 'Pi^oröfiot.
113) Daher bemerkt der Scholiast der Medea: jinp' ot^«Tt'p<^ yilrai 7,
/ivd'onoita.
1 14) neXiüSei (s. oben S. 493),
115) Schol. Med. 276.
llf.i Pausanias II 3, 11. (S. Bd. II S. 08.) Auf dem Kasten des Kypselus
war Medea auf einem Throne sitzend, rechts lason, links Aphrodite stehend
dargestellt, was wohl ebenfalls auf dieses Herrsrheramt zu beziehen ist, dessen
auch Simonides gedacht hatte.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III. ELRIP. 505
sale der Medea in Korinth berührt haben , die sicherHch auch die
Aufmerksamkeit gelehrter Männer, welche die Sagen der Vorzeit
sammelten, wie Pherekydes, auf sich zogen. Euripides, der mit der
älteren Literatur wohl vertraut ist und eine gründliche Sagenkunde
sich angeeignet hat, kannte natürlich diese Quellen, als er daran
ging die Medea in Korinth dramatisch zu bearbeiten und ein "Werk
zu schaffen , welches jeder Zeit zu den bedeutendsten Leistungen
des Dichters gezählt worden ist.
Das Verdienst des Euripides wird jedoch einigcrmafsen dadurch
gemindert, dafs er an IVeophron einen Vorgänger hatte, der zuerst
den Mord der eigenen Kinder auf Medea übertrug und so einen
für die Tragödie geeigneten Stoff gewann."^) Denn dafs Euripides
die erste Anregung dem Neophron verdankte und mehrfach seinen
Spuren folgte, steht durch glaubwürdige Zeugnisse fest"*) und wird
durch die Vergleichung der Ueberreste aus dem Trauerspiele des
117) Die Sage, Euripides habe, von den Korinthern bestochen (Schol.
Med. 10, Aelian Y. H. V 21), die üeberlieferung in dieser Richtung abgeändert
und den Kindermord von den Korinthern auf Medea übertragen, ist eine schlecht
erfundene Anekdote, die man nicht benutzen darf, um die Priorität dieses Mo-
tives dem Euripides zuzusprechen. Wie gewöhnlich, haftet das Gerücht an
einem berühmten Namen.
118) Argument zur Medea: to S^fia SoxeX vnoßaXiad'ai TtaQa NeofQovoi
StuaxBväaas, cos JixaiaQx,o5 iv rcp Tie^i 'E).Xä8os ßCov xal ^AQiajoriXr^s iv vtio-
fivrjfiaat. Ein Mifsverständnifs der späteren Berichterstatter ist nicht denk-
bar. Denn dafs ein anderer Dichter später in die Fufstapfen des Euripides trat,
■war nicht auffallend und ist gerade bei diesem Thema mehrfach geschehen. Mit
diesem Nachweise hätten sich Männer wie Aristoteles und Dikäarch nicht befafst;
wohl aber hatte es für sie Interesse, das Verdienst der Priorität in das rechte
Licht zu setzen und darzuthun, dafs ein berühmter Tragiker wie Euripides eine
seiner besten Arbeiten eigentlich der Anregung eines fast vergessenen Dichters
verdanke; denn die Priorität von Neophrons Medea stand offenbar durch die
Didaskalien fest. Daher stellten jene Männer eine eingehende Vergleichung
beider Tragödien an; daher stammen auch die drei Bruchslücke der Medea
des Neophron p. 565 ff. N. (zwei sind in den Schollen , das dritte bei Stobäus
Floril. 20, 34, der wohl dieselbe Quelle benutzte oder vollständigere Scholien
besafs, erhalten), die sich wohl auf die wesentlichsten Punkte, in denen man
den Einflufs des Neophron erblickte, beziehen. Die Späteren, die nur diese ver-
gleichende Analyse kannten (denn die Alexandriner scheinen keine Abschriften
der Dramen des Neophron besessen zu haben) betrachten die Medea des Euri-
pides als eine blofse Umarbeitung jener fremden Tragödie oder schreiben auch
die Medea des Euripides geradezu dem Neophron zu (Diogen. Laert. II c. 17, 10
(134), Suidas 7VccV^<w II 1, 960).
506 DRITTE PERIODE VON' 500 BIS 300 V. CHR. G.
sikyonischen Dichlers bestätigt. Die Scene, wo Medea unentscliieden
schwankt, ob sie die grause That vollbringen soll, bis endlich das
Bedürfnifs der Rache über die MutterUebe siegt, unbestritten eine
der vorzüglichsten Partien der Euripideischen Tragödie, erinnert in
wesenthchen Zügen an die Darstellung bei Neophron. Anderwärts
geht Euripides seinen eigenen Weg, aber man sieht, wie die Ab-
sicht, mit seinem V^orgänger nicht zusammenzutreffen, ihn leitet.
Auch Neophron hatte den Aegeus eingeführt, aber sein Erscheinen
in Korinth schickUch motivirt. Die weise Frau, deren Ruf iu ganz
Hellas verbreitet ist, soll dem Konige den dunkeln Sinn des Orakels
enthüllen, während Euripides die Begegnung als eine zufallige dar-
stellt. Bei Euripides wie bei seinem Vorgänger prophezeit Medea
am Schlufs der Tragödie dem lason ein unglückUcbes Ende. Aber
da Neophron den Selbstmord des lason in Aussicht stellte, augen-
scheinlich eine Neuerung des Dichters, zog Euripides vor sich der
gemeinen Ueberlieferung anzuschliefsen."^) Indes, wieviel auch Euri-
pides seinem begabten Mitarbeiter schulden mag, so ist es doch
nicht zweifelhaft, dafs er ein selbständiges, seines grofsen Talentes
würdiges Werk schuf. Die Medea des Neophron gerieth in Ver-
gessenheit, während die Tragödie des Euripides ein Gegenstand all-
gemeiner Bewunderung und Nacheiferung ward.
Und dieser Beifall ist nicht unverdient; die Medea ist eine der
vollendetsten Arbeiten des Euripides aus dieser Periode und steht
den eigenthümlichen Charakter seiner Poesie am reinsten dar. Es
lag nahe, die düstere, unheimliche Erscheinung der Medea mit all
den Reizen, welche das Fremdartige auf die Phantasie ausübt, aus-
zustatten. Einzelne Züge werden auch von Euripid»'s benutzt. Die
zauberkundige, weise Frau aus dem fernen Norden '*"), welche später
119) Ohne allen Grund hat man die Verse des Euripides verdächtigt;
Aristoteles und Dikäarch fanden die Prophezeiung vor und verglichen eben
damit die abweichende Darstellung des Neophron. Auch erfordert die poefische
Gerechtigkeit, dafs, wenn der Hauptschuldige scheinbar straflos ausgeht, wenig-
stens in der Ferne das Walten der Nemesis gezeigt wird. Die Verse des Neo-
phron [fr. 3 p. 506, bei Nauck z. Th. abweichend] lauten: Talos ^d'e^el ya^ avro«
aiaxiotv f*^€V> ßgoxotrov äyxovrjv imanäaat Stpr, • roitt ae ftolfn tätv Mnxnir
ffycDv ftivti, {oTtois) 8i8n^Tje ftvQtovs iiprifii^vt &etär vntQ&a ftr^Ttor'
aiQead'ni tp^Bvne; denn so ist der Schlufs zu verbessern: rovs aXlovs ist
eine beigeschriebene Erklärung (rove av&Qtänove).
120) Den Ruf der weisen Medea erwähnt zwar auch Euripides, benutet
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRl PPE. DIE BLÜTHEZEIT. lü. EDRIP. 507
in Thessalien, dem eigentlichen Sitze des Zauberwesens und der
Giftmischerei, ihre verderblichen Künste geübt hat, wendet ihre ge-
heimnifsvoUen Mittel auch gegen die unglückhche Nebenbuhlerin an.
Dies ist ganz im Geiste der yolksmäfsigen Auffassung gehalten, ebenso
die Reise durch die Luft auf dem Schlangenwagen. Diese Vorstel-
lung, welche den Späteren ganz geläufig ist, wenn sie die Medea
ihren Wohnsitz wechseln lassen, gehört wesentlich zum Begriff der
geisterhaften Frau, die, wie sie über die geheimen Kräfte der Natur
verfügt, so auch an die Schranken des Ortes nicht gebunden ist,
sondern frei durch die Luft zieht, wohin sie will. Euripides, der
überhaupt das Wunderbare nicht verschmäht, kannte zu gut die
Praxis der Bühne, um auf dieses wirksame Mittel am Schlufs der
Tragödie zu verzichten. Allein sonst bleibt Euripides auch hier seiner
Weise treu. Aus dem geheimnifsvollen Halbdunkel der grauen Vor-
zeit wird die Heldin in die volle Beleuchtung des Tages gerückt;
selbst der Gegensatz zwischen der rohen Sitte der Barbaren und
der freien Cultur der Hellenen wird zwar angedeutet'-'), aber doch
nicht eigentüch für die Charakterzeichnung verwendet. Das eine
Gefühl der Rache beherrscht den Geist der Medea, aber es tritt
nicht als unbändige Naturgewalt, als blinde Raserei wie bei roheren
Naturen auf, sondern die Leidenschaft wird durch verständige Re-
flexion gemäfsigt. Heifser Rachedurst war den Hellenen wie über-
haupt den leicht erregbaren Völkern des Südens eigen. Fest haf-
tete die Erinnerung an jedes erlittene Unrecht im Gedächtnifs; man
ruhte nicht eher, als bis man das Bedürfnifs der Vergeltung be-
friedigt hatte. Nicht blofs die sagenhafte Vorzeil, für die tragischen
Dichter eine unerschöpfliche Fundgrube, bot rnchbare Beispiele un-
auslöschlichen Hasses in Menge dar, sondern auch die späteren Jahr-
hunderte zeigten, welch entsetzlicher Tbaten eine Leidenschaft, die
in der Volkssitte und öffentlichen Meinung einen kräftigen Rück-
halt hatte, fähig war, und die Frauen, zumal wenn sie durch den
Treubruch des Mannes auf das Tiefste verwundet waren, so dafs die
frühere Hingebung und Liebe sich in Hafs und Wuth verwandelte,
standen den Männern nicht nach. Eben weil die Frau nur dem
ihn aber nicht, um das Auftreten des Aegeus zu motiriren, sondern iäfst diesea
die Deutung des Orakels bei dem weisen Pittheus suchen. Dagegen prophe-
zeit Medea am Schlufs dem lason künftiges Unheil gerade wie bei Neoptiron.
121) Medea 533 ff. 1327 ff.
508 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
natürlichen Triebe folgt, weil die Empfindung tiefer geht, fiel es
ihnen noch weit schwerer, Nachsicht und Verzeihung zu üben.
Das Charaktergemälde des Euripides ruht auf feiner psycho-
logischer Beobachtung und hat durchaus innere Wahrheit. Euri-
pides kannte wie kein anderer griechischer Dichter alle Geheim-
nisse eines weibHchen Herzens. Die Frauen hatte er vorzugsweise
zum Gegenstande eines ununterbrochenen Studiums gemacht; daher
gelingt ihm auch die Darstellung der Frauencharaktere am meisten.
Aber indem der Tragiker aus dem Leben selbst die Vorbilder für
seine dramatischen Figuren entlehnt, wird die feine Grenzlinie zwi-
schen Poesie und Wirklichkeit nicht selten überschritten. Auch hier
kann man den Tragiker von diesem Fehler nicht völlig freisprechen.
Wenn Medea gleichsam zu ihrer Rechtfertigung die unbefriedigende
Stellung der Frauen schildert'"), so ist dieses Bild, Avelches der
menschenkundige Dichter von der Entsittlichung der Frauen, die
zum guten Theil durch die Ungunst der Verhältnisse und Schuld
der Männer bedingt war, entwirft, zwar für Athen und das damalige
Griechenland zutreffend; allein im Munde der Medca, die nicht wie
eine athenische Jungfrau durch den Willen der Eltern genülhigt ward,
einem unbekannten und ungeliebten Manne ihre Iland zu reichen,
sondern, von leidenschaftlicher Liebe ergriffen, im Widerspruch mit
ihrer Familie und unter Nichtachtung jeder Pietät dem fremden
Abenteurer gefolgt war, erscheinen diese Klagen durchaus unge-
hürig. Nicht minder störend ist es, wenn lason die Wohlthaten
aufzählt, die er der Medea erwiesen'"), und hervorhebt, ihm ver-
danke sie den Ruf der weisen Frau im hellenischen Lande, wohin
er sie gebracht, während sie in ihrer fernen Ileimath ein dunkles
Dasein geführt haben würde. Ja, lason selbst spricht mit deutlichen
Worten aus, dafs ihm die Geltung nach aufsen als des Lebens höch-
stes Ziel erscheint. Und in diesem Streben IrifTt Medea mit ilmi
zusammen; ihr gilt es als der gröfste Ruhm, wenn man rücksichts-
lose Vergeltung an Freunden wie an F'einden übt'"), und dieser
Ehrgeiz bestärkt sie in dem Vorsatze, ihren RaclieplHn mit fester
Iland auszuführen.
Die Composition des Dramas ist im Wesentlichen untadelig. In
122) Medea 214 0".
123) Medea M9 (T.
124) Medea 810 ff.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III.EüRIP. 509
ununterbrochenem Fortschritte und stetiger Steigerung wird die Hand-
lung fortgeführt ; den Eingang des Stückes erkannten schon die alten
Kritiker als vorzugsweise gelungen an.'-') Der Prolog ist lehendig und
weit entfernt von jeder stereotypen Manier, welcher Euripides später
huldigt. Die greise Amme und Vertraute schildert mit wenigen,
aber markigen Strichen den Zustand der Verzweiflung, in den Medea
verfallen ist, als sie von ihrem Gatten, dem sie alles geopfert hatte,
sich schmählich verrathen sieht. Die Bilder der Vergangenheit treten
vor ihren Geist, die Erinnerung an die Heimath und den alten Vater
wird wach; sie fühlt sich in der Fremde, in der Vereinsamung zwie-
fach elend. Aber die Dienerin kennt den leidenschafthchen Sinn
der dämonischen Frau zu gut; sie weifs, dafs diese scheinbare Ruhe
und rsiedergeschlagenheit nicht von Dauer ist, dafs Medea, sobald
sie die Energie des Wollens wiedergewonnen hat, alles thun wird,
um ihre Rache zu befriedigen. Indem Medea ihren BUck von den
Kindern, an denen sie bisher ihre Freude hatte, abwendet, fürchtet
die Amme das SchUmraste'^), und gleich darauf wird die Vorahnung
der grauenvollen That noch bestimmter ausgesprochen. Solche An-
deutungen der kommenden Ereignisse, welche Euripides in dieser
Tragödie mehrfach anwendet, erinnern an die Sophokleische Kunst.
Das folgende Gespräch der Amme mit dem Pädagogen dient zur
Vervollständigung der Exposition. Passend werden die beiden Kna-
ben der Medea vorgeführt, natürUch ohne sich am Dialog zu be-
theiligen, den der Dichter absichlhch in schhchtem Tone gehalten
hat.'") Wie das Gerücht der WirkUchkeit vorauszueilen pflegt, so
hat der Erzieher bereits vernommen, Kreon beabsichtige die Medea
aus dem Lande zu verweisen, und alsbald verwirklicht sich die Be-
sorgnifs des treuen Dieners. Kreon will durch dieses Gebot die
drohende Gefahr von sich und seinem Hause abwenden, beschleu-
nigt aber dadurch nur das Eintreten der Vergeltung. Die Zusammen-
kunft des lason mit Medea'**) kann natürlich zu keiner Verstän-
digung oder keinem Ausgleich führen, aber sie macht auch den Bruch
nicht ärger als er war, sondern dient nur dazu, die völlige Ent-
125) Argum.: STtatvelTat Si ij eiaßoXt] Siä ro .Ta^rtxaJs ayav f/^stv xt).,
126) Medea 36, vgl. 91.
127) Die Anrede des Pädagogen an die Dienerin 49: naXaiov o'ixoiy xrr,fta
Seanoivtjs i/j-r^s blieb von dem SpoU der Komödie nicht verschont,
128) Medea 446 ff.
510 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
fremdung der Gatten, das unheilbare Zerwürfnifs zu veranschau-
lichen, und Euripides fand hier Gelegenheit, sein grofses rednerisches
Talent aufs Neue zu bewahren. Die Einführung des Aegeus ist
keine müfsige Episode, sondern war nothwendig; denn die Heiniath-
lose bedurfte einer Zufluchtsstätte. Der Dichter konnte die Medea,
welche auf dem Drachenwagen davoneilt, um sich der Rache zu ent-
ziehen, nicht in die unbestimmte Ferne entweichen lassen. Allein
das Auftreten des Aegeus wird gar nicht motivirl*"); der Dichter
benutzt diese Scene hauptsächlich zu einem Intriguenspiele, indem
der Medea alles daran hegt, einen Rückhalt zu gewinnen."") Den
Schlufs der Tragödie trifft kein begründeter Tadel; die Entrückung
der zauberkundigen Kindesmörderin ist die angemessenste Lösung."')
Medea, indem sie den lason, der machtlos und innerhch gebrochen
ihr gegenübersteht, mit kaltem Hohn behandelt, bleibt auch hier ihrem
Charakter treu, und da lason, obwohl die erste und schwerste Schuld
auf ihm lastet, nicht unmittelbar von dem Strafgerichte betroffen
war, verkündet sie ihm ein schlimmes Lebensende. Aufserdem setzt
sie ein Sühnfest für die ermordeten Kinder in Korinlh ein, wie
Euripides auch sonst die dramatische Handlung gern mit einer seit
Alters bestehenden Institution in Verbindung bringt.
Der Schwerpunkt der Dichtung ruht in der Darstellung der
Charaktere. Vor allem ist Medea mit festen, markigen Zügen meister-
haft gezeichnet. Obwohl von Verbrechen zu Verbrechen schreitend,
entbehrt dieses Weib doch nicht der Kraft und Gröfse; die Gewalt
129) Darauf hat man den Tadel des Aristoteles Poet. c. 25, 19 p. 1461 B 19
beziehen wollen: c^d'rj S' iniTifitjOis xai aXoyia(s) xal ftoxdTfQin^e), orav fif]
aväyxTje oiarji fir^Siv ;u(>»j<TJ7Tot rcü nkoycp, (oant^ EvomlSr/i zti yiiysi, rj ttj
novriQia, eäaneg Iv 'O^tOTT] rov MeveXäov. Allein Aristoteles pflegt besonders
charakteristische, in die Augen fallende Beispiele anzuführen; das Auftreten
des Aegeus erscheint als zufällig, nicht gerade als unwahrscheinlich; auch mufste
der Deutlichkeit halber das Drama genannt werden. Es ist iv jm ^iyal zu
lesen; der Tadel wird auf die Art und Weise gehen, wie in dieser Tragödie
die Wiedererkennung des Theseus geschildert war.
130) Eigenthümlich ist, dafs Medea und Aegeus sich wie alte Bekannte
begrüfsen; in solchen Dingen nimmt es Euripides leicht.
131) Aristoteles Poet. c. 15, 7 p. 1454 A 37 findet diese Schiufssceue nicht
passend : t«S Xiaeit tÜv fiv&wv i^ avrov Sei lOv fiv&ov avftßalvBtv, nal fttf
aionBf iv MrjSeiu amb fir^xctvfje xal iv xtj 'IhnSi ja ntffi jor nTiönkow,
Medea auf .dem Schlangenwagen vertritt die Stelle des &E6i anö ftT]xavf,ti
daher gebraucht Aristoteles dieses Beispiel.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRIPPE. DIEBLÜTHEZEIT. III.EURIP. 511
der Leidenschaf L tritt uns hier so mächtig entgegen, dafs sie uns
unwillkürlich mit fortreifst und Theilnahme einflöfst. Medea hat ein
unversöhnliches Gemüth, welches keine Kränkung vergifst; Rach-
sucht ist die Triebfeder aller ihrer Handlungen, und sie hat Grund
genug, den lason zu hassen, der sie in ihren heihgsten Gefühlen
gekränkt und ihr mit schnödem ündanke gelohnt hatte, während
sie ihm alles aufopferte und selbst schwere Frevel um seinetwillen
zu begehen sich nicht scheute. Verlassen und hülflos bUckt Medea
mit Schmerz und Reue auf die Vergangenheil, während eine dunkle,
trostlose Zukunft vor ihr liegt. Das Gefühl der Rache bemächtigt
sich ihres Geistes mit unwiderstehlicher Gewalt ; jedes Mittel ist ihr
recht, dieses Redürfnifs zu befriedigen. Aber nicht willenlos wird sie
von blinder Leidenschaft fortgerissen, sondern zeigt kühle Rerech-
nung und ruhige Resonnenheit. Mit grofser Schlauheit weifs Medea
den Kreon zu überlisten, obwohl er dunkel ahnt '^^), dals seine ISach-
giebigkeit ihm Verderben bringen werde, und Medea hält auch mit
ihrem Hohne gegen den Thoren, der sich täuschen liefs, nicht zu-
rück.*^} Alle Künste der Verstellung bietet Medea auf, als es gilt,
den lason als Werkzeug für die Ausführung ihrer Anschläge auf
das Leben der verhafsten IS'ebenbuhlerin zu gewinnen.*") Nicht min-
der tritt diese berechnende Klugheit im Verkehr mit Aegeus hervor.
Dafs Kreon und seine Tochter der Rache als Opfer gefallen
sind, genügt der Medea nicht; ihr Hafs gilt vor allem dem lasen,
dem Urheber ihres Unglücks. Den lason und das Weib, welches
ihren berechtigten Ansprüchen feindlich entgegentrat , vernichtet zu
sehen ist der heifseste Wunsch ihres Herzens*"); aber von Anfang
an trägt sie sich mit dem Entschlüsse des Kindermordes.'^) Wohl
hängt ihr Herz an den Sühnen, aber sie hafst sie auch, weil sie
durch ihren Anblick an den Gatten erinnert wird; sie sollen ihr als
Mittel dienen , um auf ausgesuchte Weise die Rache zu befriedigen.
Einmal scheint es zwar, als könne ihr nur lasons Tod genügen "'') ;
132) Medea 349.
133) Medea 36S.
134) Medea 869 ff.
135) Medea 163.
136) Dies ist gleich in den ersten Worten, welche Medea spricht (113)
angedeutet,
137) Medea 375.
512 DRITTE PERIODE V0> 500 BIS 300 V. CHR. G.
allein dies ist nur ein vorübergehendes Schwanken, und auch dieser
Zug ist der Natur abgelauscht. Der Dichter schildert eben das all-
mähliche Reifen des Entschlusses, den inneren Zwiespalt des Ge-
müthes. iMedea scheut vor keiner ünthat zurück; sie giebt selbst
das Liebste preis. Dieses Verbrechen hat etwas Abstofsendes, aber
die Kunst des Dichters versieht das Unnatürliche zu mäfsigen. Medea
ist nicht alles menschlichen Gefühles ledig; sie hebt die Ihrigen.
Wenn in der Verhandlung mit lason der Gedanke an die Kinder
ihr Thränen entlockt, so ist dies nicht Heuchelei, sondern der Schmerz
über das bittere Leid, welches sie sich selbst zuzufügen im Begriff ist,
bricht durch '^), wie Medea auch nachher sich ihrer inneren Em-
pfindung hingiebt'^') und sogar schwankt, ob sie nicht von dem
Frevel abstehen und die Kinder retten solle."") Aber die Sophistik
der Leidenschaft bringt das natürliche Gefühl zum Schweigen ; wena
sie nur den verhafsten Gatten tödtlich kränken kann, scheut sie sich
nicht sich selbst das tiefste Leid anzulhun."') Diesen inneren Kampf
zwischen der Mutterhebe und dem Hasse gegen den verrätherischen
Gatten, zwischen der besseren Einsicht und der unbezwinghchen
Macht der Leidenschaft hat Euripides vortrelThch geschildert.
Medea überragt so sehr alle anderen Mithandelnden, dafs wir
ihnen nur ein untergeordnetes Interesse zu schenken vermögen.
138j Medea 900 ff. Nicht gerechtfertigt ist der Tadel der allen Kritiker:
fiifKpovTat Sa avr(^ ro firj nefvlaxivat xi]v vnöxQiaiv rfj MrjSsiq, dHä Tts-
asiv eis Säx^va, ors iTießovXevaev ^Iiiaofi xai t^ yvvaixi, (Argument.)
139) Medea 1005 ff.
140) Medea 1044 ff. und 1056 ff. Hier liegt übrigens ein auffallender
Wider>;pi uch vor. Zueist denkt sie an die Möglichkeit, ihre Kinder durch die
Flucht der Verfolgung der Feinde zu entziehen, nachher ist von diesem Aus-
wege, der so nahe lag, nicht die Rede. Medea stellt die Lage so dar, als müfsten
die Kinder noth wendig schmachvoll den rachsüchtigen Gegnern erliegen, und
deshalb sei es besser die Kinder selbst zu lödten, ein Gedanke, der auch 1237
wiederkehrt [ninQioxai 1064 ist nicht der Schicksals wille, sondern der eigene
Entschlufs; ebenso ist uvayxrj 1240 zu fassen). Dieser Widerspruch lälst sich
wohl durch die leidenschaftliche Aufregung erklären; allein wenn man genauer
zusieht, wird man finden, dafs der Schlufs des Monologes der Medea (1056 —
loSO) nur die Gedanken wiederholt, welche schon vorher ausgesprochen waren;
dies ist weit mehr geeignet den Eindruck abzuschwächen, als zu steigern. Offen-
bar liegt uns diese Scene in doppelter Bearbeitung vor; aber welche Fassung
dem ersten Entwürfe angehört, ist schwer zu entscheiden.
141) Medea 1360.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLl'THEZEIT. III.EURIP. 513
lason erscheint im ungüDstigsleü Lichte; während Medea in der
Verfolgung ihrer Ziele männüche Entschlossenheit und Thatkraft
bewährt, ist lason ein Schwächhng ohne Würde und Adel des Hel-
den, nur von selbstsüchtiger Berechnung geleitet.
In diesem ergreifenden Bilde mafsloser, frevelhafter Leidenscliaft,
die sich selbst zerstört, hat Euripides seine unübertroffene Kunst,
psychologische Probleme zu behandeln und uns in den Abgrund
des menschlichen Herzens blicken zu lassen, glänzend bewährt, aber
eine wahrhaft läuternde Wirkung darf man von der Poesie dieses
Dichters nicht verlangen. Auch seine glänzendsten Werke sind nicht
im Stande, uns über die Verworrenheit und die Widersprüche des
Lebens zu erheben.
Dem Chore, der aus korinthischen Frauen besteht, fällt, wie
hergebracht, die Stellung des Vertrauten zu; denn da er einmal da
ist, kann man ihn auf diese Art am passendsten verwenden. Dafs
der Chor mit Medeas hartem Geschick Mitgefühl hat und nach
Frauenart geneigt ist, der Frau gegen den Mann beizustehen"*), ist
verständlich; aber dafs er, nachdem Medea ihm den ganzen Rache-
plan mitgetheilt hat und ihn zum Schweigen verpflichtet, nur gegen
den Rindermord Einsprache erhebt*"), während er an dem An-
schlage der Fremden gegen das Leben der eigenen Fürstentochter
keinen Anstofs nimmt, ist stark. Der Tragiker hat es jedoch nicht
für nöthig erachtet, diese Anhänglichkeit der korinthischen Frauen
an Medea irgendwie zu motiviren.
Auch sonst wird man in den meüschen Partien dieser Tragödie
manches Befremdliche finden. Wenn der Chor im ersten Stasimon '^')
das Schicksal der Medea beklagt, spricht er zugleich die Hoffnung
aus, die Treulosigkeit des lason werde bewirken, dafs man endhch
aufhöre, die Frauen dieses Fehlers zu beschuldigen; ja, er scheint
zu erwarten*"), dafs die Rachethat, auf welche Medea eben sinnl,
dem Frauengeschlechte hohen Ruhm bereiten und allen üblen Leu-
mund zum Schweigen bringen werde. Hier spielt die Controverse
von der gedrückten Stellung der Frauen, welche Euripides in der
dramatischen Handlung dialektisch zu erörtern pflegte, in die Lyrik des
142) Medea 823.
143) Medea 816.
144) Medea 410 ff.
145) Die Darstellung ist nicht recht klar.
Bergk, Griech. I.iteraturgescbicbte IIl. . 33
514 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Chores herüber. Gar seltsam nimmt sich in einem Chorgesange, der
als natürlicher Ergufs eigener Empfindung erscheinen soll, auch die
Bemerkung aus, der Chor würde, wenn ihm die Gabe des Gesanges
verliehen wäre, ein Schmählied gegen die Männer anstimmen ; über-
haupt sind in diesem Stasimon die Gedanken nicht sowohl künst-
lich verschränkt, sondern willkürlich durcheinandergeworfen. Auch
in dem Stasimon (824 fl.) sieht man anfangs gar nicht, was das durch
zwei Strophen fortgesetzte Lob Athens gerade an dieser Stelle zu
bedeuten hat, wenn es auch dem Selbstgefühl der Zuhörer schmei-
cheln mufste. Erst nachher, wo der Chor die Medea vor dem Frevel
gegen die eigenen Kinder warnt, da keine Stadt die blutbefleckte
Mörderin aufnehmen werde, erkennt man die Hinweisung auf die
beabsichtigte Flucht nach Athen.'"} Recht unzeitig tritt die reflek-
lirende Manier des Euripides in einem anderen Chorliede hervor'"),
wo die Frauen, als Medeas Entscblufs, an ihr eigenes Blut Hand
anzulegen, nach langem inneren Kampfe feststeht, es für ein Glück
erklärt, keine Kinder zu haben, da diese den Eltern nur Mühe und
Sorgen bereiten. Und diese Betrachtung wird, als wenn es sich
um eine tiefsinnige Offenbarung handelte, mit den Worten einge-
leitet, Frauen pflegten zwar gewöhnHch nicht zu philosophiren, aber
die Anlage dazu sei ihnen nicht versagt, und sie selbst, d. h. die
Führerin des korinthischen Frauenchores, habe schon oftmals sich
auf solche Discussionen eingelassen."*) So ungehürig die Einleitung,
so erkältend wirkt die nüchterne, rein verständige Reflexion an die-
ser bedeutsamen Stelle, wo dem dramatischen Dichter Gelegenheit
geboten war, die herzbewegende Gewalt der Lyrik zur Geltung zu
bringen. Nicht minder seltsam nehmen sich die Klagen der alten
Dienerin aus'^'), dafs die Poesie wohl die Freuden und Genüsse
des Lebens zu erhöhen, aber nicht das Herzeleid zu beschwichtigen
14(3) In dem Stasimon 97G (T. scheint die Anipliiholie absichtlich gesucht
zu sein; der Chor ist von dem Untergange der Kinder überzeugt, aber mau
weifs nicht recht, ob er mehr die Rache der Korinther oder den Frevel der
Mutter fürchtet.
147) Medea lOSl CT.; hier wird die freie melische Form mit anapüstischen
Versen vertauscht.
148) Hier tritt die Neigung des Euripides zu piiilosophischen Krörlernngen
die den älteren Arbeiten fremd gewesen zu sein scheint, deutlich hervor.
149) Medea 190 fr.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III. ECRIP. 515
verstehe, und zwar werden diese weitausgeführlen Betrachtungen in
einem wenig geeigneten Momente angestellt. Kurz, in den lyrischen
Partien, wenn sie auch die formelle Gewandtheit nicht vermissen
lassen, welche wir überall in den älteren Dramen des Euripides an-
treffen, darf man nicht gerade die starke Seite dieser Tragödie
suchen.'*")
Zahlreiche Parodien und Spottreden der Komiker bezeugen zur
Genüge die allgemeine Gunst, deren die Medea des Euripides sich
erfreute, und dieser Werthschätzung that die Zeit keinen Eintrag.
Philosophen wie Menedemus und Chrysippus lasen mit Vorliebe
dieses Drama*"); jüngere Tragiker haben sich welteifernd nach Euri-
pides an demselben Stoffe versucht, und die Römer bheben hinler
den Griechen nicht zurück.'") Ebenso steht die bildende Kunst,
die gern und häufig diesen pathetischen Vorwurf behandelt, sicht-
hch unter dem Einflüsse des Euripides.
Man hat die Herakliden des Euripides nicht mit Unrecht ein HerakUden
Gelegenheitsstück genannt. In bestimmter Absicht mufs der Dich-
ter gerade diesen Stoff ausgewählt und bearbeitet haben ; überall
tritt die patriotische Tendenz des Dramas ganz unverhüllt auf. Aber
vergebhch bat man sich bemüht, politische Ereignisse aus der Zeit
des Tragikers nachzuweisen, welche der dramatischen Handlung voll-
kommen analog sind. Daher gehen auch die Ansichten ziemHch weit
aus einander, und es ist nicht gelungen, die Zeit der Aufführung des
150) Auch die Zeitgenossen des Euripides haben dies richtig gefühh. Die
Beschuldigung, Euripides habe die Melodien der Medea eigentlich der ;'(>«"-
(laTixrj TQaycoSCa des Kallias entlehnt (mit ungeschickter Uebertreibung Klearch
bei Athen. VII 276 A: atp' r^e notr^aai xa ft£^.T] xal r^v Siä&saiv Ev^miSr/v iv
MrjSsia xai ^otpoy.Xea tov OiSinow und X 453 E : waxe xov EvQcniSrjv fifj
fiovov vTiovoslad'ai xtjv MrjSsiav ivxev&ev TieTtoir^xevai näaav, u/Jm xai x6
ftiXoi avxb fiEXEvrivo/fixa faveoov etvai), geht auf den Spott der Komiker zurück,
welche dem Tragiker vorwerfen mochten, die Weisen des Chores in der Medea
erinnerten an die Ammenlieder in der Buchstabenkomödie des Kallias.
151) Diog. Laert. II c. IT, 10 (134). VII c. 7, 3 (180). Cicero soll nach einer
freilich schlecht verbürgten Erzählung (Ptolemaeus Hephaestio novar. historiar.
L. V) unmittelbar vor seinem Tode die Medea gelesen haben.
152) Ein Epigramm des Archimelus (Anth. VII 50 = ep. 2 II 63 Jac.) warnt
die geistlosen Nachahmer vor dieser ebenso schwierigen als verlockenden Auf-
gabe. Nachdem zuerst Ennius die Medea in Korinlh frei bearbeitet hatte (denn
die Medea des Accius behandelte ein verschiedenes Thema), dichteten Ovid,
Lucanus, Gariatius Maternus und Seneca eine Medea.
33*
516 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 3UU V. CHR. 0.
Stückes festzustellen.'") Es ist überhaupt ein Mifsgrirt', wenn ein
dramatischer Dichter eine Begebenheit aus ferner Vorzeit so behan-
delt, dafs sie nur eine durchsichtige Hülle für die Gegenwart ist
und die eigenen Zeitgenossen des Dichters unter der Maske mythi-
scher Figuren auftreten. Ohne dem überlieferten Stoffe Gewalt an-
zuthun, ist dies nicht ausführbar, und die Zuhörer künnen gar nicht
dem ruhigen Genüsse der poetischen Schöpfung sich hingeben , da
ihre Aufmerksamkeit fortwährend durch dieses getheilte Interesse in
Anspruch genommen wird. Von diesem Tadel können wir hier
Euripides unbedenkhch freisprechen; denn er folgt gerade in dieser
Tragödie in allen wesentlichen Punkten der heimischen Sage. Nichts-
destoweniger steht das Drama zu geschichtlichen Ereignissen der
Gegenwart, zu den Fragen des Tages, welche alle Gemüther auf das
Lebhafteste beschäftigten und aufregten, in engster Beziehung.
In dem Kampfe, welchen die Athener unverzagt gegen das
mächtige Argos zur Vertheidigung der Her.ikhden bestehen, die sich
ihrem Schutze anvertraut haben , tritt zum ersten Male der feind-
liche Gegensatz zwischen Attika und den peloponnesischen Staaten
hervor.'") Dieser Krieg aus sagenhafter Vorzeit ist das Vorspiel
einer Reihe heftiger Fehden zwischen den Athenern und Pelopon-
153) Neuere verlegen die Herakliden des Euripides in Ol. 89, 3 mit Be-
ziehung auf den einige Jahre vorher erfolgten Einfall der Spartaner unter
Pleistonax in Attika, andere in Ol. 8ü, 4 (Korkyra, welches damals die Hülfe
Athens gegen Korinth in Anspruch nahm, soll das historische Gegenbild der
heimathlosen Herakliden sein), andere wieder in Ol. 87,1, unmittelbar vor den
Ausbrucli des grofsen Krieges, auf die Lenäen, da die Medealrilogie den grofsen
Dionysien desselben Jahres angehört; dann hätte Euripides unmittelbar hinter
einander zwei Tetralogien aufgeführt. Vorsichtiger begnügen sich andere mit
einer ungefährea Zeitbestimmung (Ol. 87,2—88,2); dann hat man wieder auf
Ol. 88,3 geralhen; die Spartaner, welche nach der Eroberung von Sphakteria
die Hand zum Frieden bieten, soll der Dichter im Sinne gehabt haben. Die
meisten ziehen es vor, da in der Tragödie Argos und Athen sich gegenüber-
stehen, dem Wortlaute entsprechend alles auf die damalige Stellung beider
Staaten zu einander zu beziehen, und so hat man bald auf Ol. 89, 3, bald 90, 3
gerathen. Man fafst eben das Verhältnifs zwischen der Gegenwart und der
poetischen Handlung des Dramas zu materiell auf und vermag daher weder
die Intentionen des Dichters recht zu würdigen, noch die Zeit der Abfassung
der Tragödie sicher zu ermitteln.
1J4) Pausan. 1 32, (>: aftxöftsvoi Si oi nai9$s iitixat n^iöiov rort Iltlo-
novvrjaioii noiolai TiöXxftov tvqos 'yl&r^vaiovt, 0r;<n'an a^ns ovm ixdovros «»'-
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III. EURIP. 517
nesiern in lichteren Zeiten, nur dafs nicht mehr Arges, sondern
Sparta die führende Macht der Gegner ist. Aber alle früheren
Kämpfe treten zurück gegen die weltgeschichtliche Bedeutung des
langwierigen und folgenreichen Krieges, den Euripides von dem
ersten Anfange an durch alle Wechseltalle als Augenzeuge beobach-
tet hat, wenn ihm auch glückücher Weise nicht beschieden war,
den traurigen Ausgang zu erleben. Ganz von selbst bot sich dem
patriotischen Dichter, denn die aufrichtige Vaterlandsliebe des Euri-
pides wird auch sein entschiedenster Gegner anerkennen, der An-
lafs dar, diesen sagenhaften Stoff dramatisch zu bearbeiten und jene
Helden der alten Zeit als leuchtendes Vorbild für die Gegenwart
hinzustellen.
Die Tragödie kann nicht vor dem Ausbruche des Confliktes,
so lange die Entscheidung über Krieg und Frieden noch schwankte,
geschrieben sein; aber man darf sie auch nicht zu spät ansetzen.
Schon die sorgfältige Technik des Versbaues, ein bei Euripides nicht
trügerisches Merkmal, weist das Drama der ersten Periode des Krie-
ges zu. Aber wir können noch weiter gehen. Die Tragödie mufs
in den Anfang des Kampfes fallen, da der Dichter nicht nur mit
grüfster Entschiedenheit das gute Recht der Athener geltend macht,
sondern auch zuversichtlich auf einen günstigen Ausgang hofft. Denn
sehr bald müssen sich die Anschauungen des Dichters geändert
haben. Je mehr der Krieg sich in die Länge zog, desto mehr nahm
eine friedfertige Stimmung überhand. Euripides, wie seine Dich-
tungen vielfach nur der Ausdruck der öffentlichen Meinung sind,
kommt allmählich zu derselben Anschauung, die sein unversöhnlicher
Widersacher Aristophanes von Anfang an unerschütterlich vertrat.
Im Kresphontes, der wahrscheinlich Ol. 88, 3 aufgeführt ist, spricht
sich die Sehnsucht nach Ruhe und Frieden sehr bestimmt aus; im
Erechtheus, der ziemlich derselben Zeit angehören wird, begegnen
wir der gleichen Stimmung, wenn auch das Thema dieses echt
patriotischen Trauerspiels voraussetzen läfst, dafs der Tragiker seinen
Zeitgenossen kein unwürdiges Zurückweichen anrathen wollte.
Die Herakliden werden Ol. 87, 3, also im zweiten Kriegsjahre,
gedichtet sein.'^) Zum anderen Male war König Archidamus in Attika
155) In diesem Jahre ist wahrscheinlich der König Oedipus des Sopho-
kles aufgeführt, der damals dem Philokles bei der Vertheilung der Preise nach-
gesetzt wurde; Euripides wird also den dritten Preis erhalten haben.
518 DRITTE PERIODE VON 500 DIS 300 V. CHR. G.
eingefallen, Land auf und Land ab alles verwüstend. Perikles vergalt
diese Verheerungen durch Streifzilge an der pelopounesischen Küste ;
aber diese gewährten den Einzelnen, welche von den Leiden des
Krieges hart betroffen wurden, keinen Ersatz. Das Mifsvergnügen
mit der Kriegsführung des Perikles, der die Landschaft schutzlos dem
Feinde preisgab, trat schon im Jahre vorher bei gleichem Anlasse
hervor**®) und steigerte sich jetzt sehr entschieden, da die schlimme
Seuche hinzukam. Perikles erschien als der alleinige Urheber des
Krieges und ward für alles verantwortlich gemacht. Man knüpfte
sogar Unterhandlungen mit Sparta an '"), und da diese, wie zu er-
warten war, fruchtlos bheben, verurtheilte man den Perikles zu einer
hohen Geldbufse, wählte ihn aber dennoch wieder aufs Neue zum
Feldherrn und vertraute ihm die Leitung der öffentlichen Geschäfte
an. In dieser schwierigen Zeit war es Pflicht aller aufrichtigen Vater-
landsfreunde, den grofsen Staatsmann nach Kräften zu unterstützen.
Es war ein glücklicher Gedanke, dafs Euripides sich dazu entschlofs,
für die nächste Festfeier die Heraklidensage dramatisch zu bearbei-
ten, nicht um dem Stolze der Athener zu schmeicheln, sondern um
durch die Erinnerung an ein ruhmvolles Ereignifs aus dem Alter-
thume den Patriotismus wachzurufen, einen jeden zu thatkräftigeni
Handeln und treuer Pflichterfüllung anzufeuern, die Kleinmüthigen
und Verzagten aufzurichten.''^)
Wie sich Euripides in dieser Tragödie der Ueberlieferung mög-
lichst anschliefst, so ist auch die Darstellung im Einzelnen dem ge-
wählten Thema entsprechend. Wenn vieles unwillkürlich die Zu-
hörer an die unmittelbare Gegenwart erinnert und eben deshalb
besonders wirksam sein mufste, so pafst es doch vollkommen in den
Zusammenhang der poetischen Handlung. Nur hie und da geht
der Dichter über diese Grenzlinie hinaus. Das lebendige BihI, wel-
ches König Demophon von seiner schwierigen Stellung den Bürgern
gegenüber entwirft'"), entspricht genau der Lage, in welcher sich
156) Thukydides II 21, Plutarch Perikl. c. 35.
157) Thukydides II 59.
158) Die letzte Rede, welche Thukydides (II 60 ff.) den Perikles halten
läfst, veranschaulicht am besten die herrschende Slimmiing und hebt zugleich
die Gesichtspunkte hervor, auf welche ein einsichtiger und patriotischer Mann
in 80 ernster Lage seine Mitbürger hinweisen mufste.
ir>'H Kiirip. Heraklidon 41"> fT. Hier erinnert xnl ivf rrvMvai äv avaräatu
DIE DRAM. POESIE. DIETRAGÖDIE. II.GRüPPE. DIE BLÜTBEZEIT. III. ELRIP. 519
damals Perikles befand. Hier hat sichtlich die Rücksicht auf die
Gegenwart des Dichters Hand geleitet.'^) Ebenso sucht der argi-
vische Herold den König vom Kriege abzuhalten, indem er ihm
den allgemeinen Unwillen der Bürger in Aussicht stellt, wenn er
sie ohne dringende Gründe in ein so gefahrvolles Unternehmen ver-
wickelte.'®^) Die Beziehung auf Perikles ist hier nicht zu verkennen.
Ebendeshalb darf man auch die Tragödie nicht dem nächsten Jahre
zuweisen; denn im Frühjahr Ol. 87,4 hatte der Tod den Perikles
bereits allen Anfechtungen seiner Gegner entrückt.
Besonders bedeutsam ist der Schlufs der Tragödie, der nicht
sowohl durch die Rücksicht auf die dramatische Gestaltung des The-
mas, sondern durch die Tendenz des Dichters bestimmt wird. Eury-
stheus offenbart noch vor seinem Tode, dafs nach einem alten Götter-
spruche seine Grabstätte im attischen Lande den Athenern Glück
und Heil bringen werde; denn wenn jemals Nachkommen der Hera-
kbden, uneingedenk der Wohlthat und des Schutzes, den sie hier
genossen"*), Attika mit Krieg überziehen sollten, dann werde er
als feindUcher Dämon das ihm verhafste' Geschlecht verderben und
mit Schmach aus dem Lande treiben. Man fühlt deuthch, wie der
Dichter durch dieses Orakel die Athener, die eben durch die ver-
heerenden Einfälle der Peloponnesier in so grofse Verlegenheit ge-
rathen waren, über die Zukunft zu beruhigen sucht, und es traf
sich glücklich, dafs die Wirklichkeit jene Prophezeiung nicht augen-
blicklich widerlegte; denn im Frühjahr Ol. 87,3, wo die Herakliden
gegeben sind, verschonten die Peloponnesier Attika und wandten
sich sofort zur Belagerung von Platää.'")
av siaiSoie [aarmv tSots Härtung], rcäv fiev Xsyovrtov, (os Sixaiov t^v ^t'vots
ixiran aorjysiv, rcöv 8s ficooiav iurjy [iuov Elmsley] xaxriyoooivroov ganz an
die Darstellung des Thukydides II 21: xara ^varäasis re yiyvöuevot. kv TioXlfj
ioiSi fjaav, Ol fiev xe^.£vovTes e^isvat, ol Se rtvss ovx icävTss.
160) Durch Rücksicht auf die poetische Composilion ist diese Darstellung
nicht bedingt; der Tragiker hätte besser gethan, wenn er sich einfach an die
Tradition hielt, wonach das Orakel nur den Herakliden galt.
161) Eurip. Herakliden 165.
162) Sehr nachdrücklich schärft V. 307 ff. der greise lolaas den jungen
Herakliden die Pflicht der Dankbarkeit gegen Athen ein. Damit wird still-
schweigend auf das Unrecht der spartanischen Könige, der Nachkommen jener
Herakliden, hingewiesen, die eben jetzt Attika mit Krieg überziehen.
163) Vielleicht hatte zur Zeit der grofsen Dionysien die Belagerung Pia-
520 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CUR. G.
Der Stoff der Herakliden beruht auf heimischer Ueberlieferung ;
Euripidps fand ihn fertig vor und hat nichts WesentUches hinzu-
gethan oder abgeändert.'") Namentlich der Opfertod der Makaria
ist nicht freie Erfindung des Tragikers, sondern die attische Sage
berichtete von einem Orakel, welches Sieg verhiefs, wenn einer aus
dem Geschlechte der Merakhden freiwilhg sein Leben hingeben würde.
Da tödtet sich Makaria selbst'"), und die Athener hielten das An-
denken der heldenmüthigen Jungfrau in Ehren. Bei Euripides lautet
die Weissagung etwas anders: die Götter verlangen, Demophon solle
eine edle Jungfrau der Persephone opfern; aber Demophon mag
weder die eigene Tochter als Opfer darbringen, noch wagt er
seinen Bürgern dies zuzumuthen. Dies hat wohl der Tragiker hin-
zugedichtet, nicht sowohl um die Gefahr der Herakliden zu steigern
und den lleldenmuth der Jungfrau noch mehr zu verherrlichen,
sondern um die schwierige Stellung des attischen Königs in das
rechte Licht zu setzen.'^) Auch die Waffenthat des greisen lolaus,
der mit dem kriegerischen Feuer eines Jünglings den Eurystheus
angreift und besiegt, war überliefert. Doch lag eine zwiefache Tra-
dition vor. Die einen berichteten, lolaus, schon gestorben, sei wieder
aufgelebt, um an dem Kampfe theilzunehmen und alsbald in das
tääs bereits begonnen ; Euripides kann den Schlufs der Tragödie erst im letzten
Angenblicke hinzugedichtet haben. Wären die Herakliden Ol. 87, 4 (zugleich
mit dem Hippolytns) aufgeführt, so wäre die Prophezeiung alsbald zu Schanden
geworden, da die Peloponnesier im Sommer wieder in Attika einfielen (Thukyd.
III 1). Noch weniger ist an Ol. 87, 2 zu denken ; denn damals erfolgte der Ein-
fall gleich im Beginn des Frühjahres (Thukyd. If 47).
WA) Euripides ist wohl hauptsächlich dem Pherekydes gefolgt; nur liefs
der Logogiaph den Eurystheus im Kampfe fallen. Auch bei Herodot IX 27
beziehen sich die Athener auf den Schutz, den sie den Herakliden gewährt, und
den Sieg über Argos.
165) Man vergleiche die Erzählung bei Pausanias I 32, 7, die nicht durch
die Darstellung des Euripides beeinflufst ist. Das Andenken an den Tod der
Jungfrau haftete an der Quelle Makaria bei Marathon; darauf geht auch das
Sprüchwort ßäXl' ie Maxa^iay (s. Schollen zu Aristoph. Ritter 1151).
li>C)\ Herakliden 103 ff. Die Beziehung auf Perikles ist nicht zu verkennen.
Diese Neuerung ist nicht gerade glücklich; denn die alte Sage ist in ihrer Ein-
fachheit durchaus sinnvoll. Auch darin weicht der Tragiker von der Ueher-
lieferung ab, dafs er die Makaria nicht durch ihre eigene Hand sterben läfst
(560. 505/. Der Scholiast zu Aristoph. Kitter 1151 folgt, obwohl er sich auT
die Tragödie des Euripides beruft, doch der gemeinen Ueberlieferung.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRIPPE. DIE BLCtBEZEIT. IILEURIP. 521
Todtenreich zurückzukehren. Nach anderen bat der hochbetagte,
treue Genosse des Herakles den Zeus, nur auf einen Tag wieder
die aUe Jugendkraft zu gewinnen , und sein Gebet ward erhört.
Dieser Fassung der Sage folgt Euripides ^^) , und er selbst mag
dazu gedichtet haben, dafs zwei Sterne im dunkeln Gewölk sich
auf den Rossen niederlassen, nach dem Volksglauben ein günstiges,
Heil und Sieg verkündendes Wahrzeichen, dem der Dichter aber
absichtlich eine andere Deutung giebt, indem er es auf Herakles
und Hebe bezieht. Den lolaus stellt Euripides als einen schwachen,
ganz hinfäUigen Greis dar, obwohl er recht gut ihn als einen noch
immer rüstigen Mann hätte einführen können; aber der natürlichen
Auffassung, die für das Drama die geeignetere war, zieht er das
Wunderbare vor.
Das Orakel am Schlufs der Tragödie darf man nicht für eine
Erfindung des Euripides halten. Eine solche Weissagung würde
ganz unwirksam sein, wenn sie nicht im Volksglauben einen festen
Anhalt gehabt hätte'"*). Die Darstellung des Tragikers läfst übrigens
unklar, wie weit der Schutz des todten Eurystheus reichte, ob er
nur auf die marathonische Tetrapohs oder auf das gesammte attische
Gebiet zu beziehen ist; wahrscheinüch hat der Dichter absichtlich
sich für diese unbestimmte Fassung entschieden. Bekannt ist, mit
welchem Eifer man damals in Athen alte Weissagungen aufspürte
oder neue erdichtete, um dem Verlangen des grofsen Haufens zu
genügen, welcher einen Blick in die dunkele Zukunft zu thun be-
gehrte. Die Peloponnesier hatten bei dem zweiten Einfalle Mara-
thon verschont, während sie das übrige Land verwüsteten.'®^} Eben
in dieser Zeit mochte ein Orakel auftauchen, welches den Athenern
das Grab des Eurystheus zu ehren gebot, weil dieser den Athenern
Schutz gegen die Einfälle der Peloponnesier gewähren würde"");
167) Herakliden S51 ff.
168) Sophokles bei seiner bekannten Vorliebe für prophetische Schick-
salssprüche konnte dergleichen erfinden, nicht Euripides, wenn er auch in dieser
Zeit sich noch von der übereifrigen Polemik gegen solchen Aberglauben fern
hält.
169) Diodor XII 45, 1. Nach Schol. Soph. Oed. Kol. 701 beobachteten sie
im ganzen Kriege dasselbe Verfahren , weil eben die Herakliden, die Ahnherren
der spartanischen Könige, einst hier Zuflucht und Schutz gefunden hatten.
170) Das Grab des Eurystheus befand sich nach Euripides in Pallene beim
Tempel der Athene (1031, vgl. auch 849j. Nach Strabo VllI c. 19 p. .377 fiel er an
522 . DRITTE PERODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
und es bewährte sich insoweit, als die Lakedämonier im nächsten
Jahre den Einfall nicht wiederholten. Nur in diesem Zeitpunkte,
wo die Athener einer solchen Prophezeiung Vertrauen schenken
konnten, durfte Euripides es wagen , sein Drama mit dieser trost-
lichen Aussicht abzuschliefsen. Uebrigens scheint schon vor Euri-
pides Aeschylus in seinen Herakliden denselben Stoff behandelt zu
haben '''), und Euripides mag seinem Vorgänger manches zu danken
haben, während er anderwärts auch wieder seine Selbständigkeit zu
wahren gewufst haben wird.'"*)
Die Herakliden, im Beginn des grofsen Krieges gedichtet, sind
ein Kriegsdrama. Der Dichter erfüllt nur seinen Beruf, wenn er der
Anregung, welche die Gegenwart bot, willig folgte und ein Thema
aus der sagenhaften Vorzeit seiner Heimath wählte, welches trotz der
der Quelle Makaria; lolaus schnitt ihm das Haupt ab. Dies wurde zu Trikory-
thus beigesetzt, der Leichnam bei Gargettos beerdigt, was wohl so ziemlich
mit der Oertlichkeit bei Euripides stimmt. Nach Pausanias I 44, 10 zeigte man
das Grab des Eurystheus im megarischen Gebiete, wo er auf der Flucht von
lolaus getödtet ward, und auch Euripides (860) läfst ihn bei den skironischen
Felsen in Gefangenschaft gerathen. Die Sage liefs den Eurystheus im Kampfe
fallen und wohl an der Stelle, wo er starb, beerdigt werden. Vielleicht hat
man erst später eben auf Anlafs des Orakels dieser Grabstätte Aufmerksamkeit
zugewandt; daraus würden sich auch die widersprechenden Angaben einfach
erklären lassen. Euripides läfst den Eurystheus lebendig in Gefangenschaft
gerathen, damit Alkmene an ihm ihre Rache befriedige. Dies ist wohl eine
Neuerung des Tragikers; aber den Anlafs zu diesem Motiv fand er in der
Ueberlieferung, denn Alkmene sticht, als ihr Hyllus das Haupt des todten Fein-
des bringt, ihm die Augen aus, s. Apoilodor II 8, 1, '^.
171) Den Vers ov yaQ ti fisll^ov äXXo rovSs Tieiaoftai fr. 69 Di. konnte
Makaria sprechen, denn den Opfertod der Jungfrau halte gerade auch Aeschylus
dargestellt; indes können die Worte auch dem Eurystheus gehören, der ohne
Furcht in den Kampf zog. Aeschylus' ritterlicher Sinn liefs ihn gewifs im Kampfe
fallen, nicht als Opfer weiblicher Rache sterben; um so mehr halle Euripides
Grund, einen anderen Weg einzuschlagen. Sophokles hat diesen SloR" nicht
behandelt; denn der'IoXaoe dieses Dichters beruht nur auf einem Schreibfehler
für OlxXrje.
172) Euripides Herakliden 43 : vtas yag nao&tpofS aiSovfts&a 6xX<o :rtXn-
^aiv xanißiofjuoajaxelv enthält wahrscheinlich eine versteckte Polemik gegen
Aeschylus, in dessen Drama der Chor aus den Kindern des Herakles bestehen
mochte, so dafs auch die Töchter an den Altären Schutz suchten. Ebenso ist
391 eine kleinliche Kritik der Sieben des Aeschylus kaum zu verkennen. Da-
gegen ist die Vorstellung abzuweisen, als habe Euripides in den Herakliden
speciell die Schutzflehenden des Aeschylus vor Augen gehabt.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III. EüRIP. 523
Verschiedenheit der Verhältnisse zu einer Vergleichung mit der Ge-
genwart aufforderte. Einst stand Argos, jetzt Sparta den Athenern
gegenüber, jenes im Alterthume, dieses später die führende Macht
der Peloponnesier. Damals handelte es sich um treue ErfüUung
des gegebenen Wortes, um Gewährung des zugesagten Schutzes, jetzt
um Vertheidigung der MachtsteUung Athens. Aber hier wie dort
stand die Ehre und Grofse des Staates auf dem Spiele.
Ob es dem Tragiker gelungen ist, seine Aufgabe durchaus be-
friedigend zu lösen, ist eine andere Frage. In einem Tendenzdrama
wird die Darstellung der Charaktere unwillkürhch zur Nebensache.
Da zahlreiche Personen auftreten, war der Dichter auf knappe Be-
handlung angewiesen; die Ilerakliden werden nur als stumme Per-
sonen vorgeführt, deren Sache der greise lolaus vertritt. Hyllus wird
gar nicht sichtbar ; der Dichter findet sich mit einer epischen Schil-
derung seiner Thaten ab. Mit festen Zügen zeichnet Euripides den
argivischeu Herold Kopreus, der im Auftrage des Eunstheus die
AusHeferung der landesflüchtigen HerakUden verlangt. Das selbst-
bewufste, übermüthige Auftreten des Heroldes erinnert unwillkürhch
an die rauhe, herrische Weise der Spartiaten. Die Verhandlung
zwischen dem Herold und lolaus sowie dem attischen Könige hat
ganz den Charakter einer staatsrechtlichen Debatte, wozu die jüngst-
verflossenen Jahre dem Dichter die geeignetsten Vorbilder lieferten.
Der König ist, wie meist in der späteren Tragödie, eine ziemlich
unbedeutende Figur und verschwindet in der zweiten Hälfte des
Dramas vollständig. Das tragische Interesse concentrirt sich in der
Makaria, welche selbstvergessen und muthig sich für das Wohl an-
derer aufopfert. Dieses rührende Motiv freiwilliger Hingebung hat
Euripides schon in der Alkestis benutzt und auch später mit sicht-
Hcher Vorhebe wiederholt verwendet.*"^) Alkmene dagegen erscheint
als ein rachsüchtiges Weib ohne allen Seelenadel, wie der Dichter
diesen Charakter auch anderwärts zu schildern pflegt.
Der Chor, indem er die Abschnitte der Handlung begleitet und
die allgemeinen Gesichtspunkte geltend macht, entspricht in dieser
Tragödie vollkommen seiner Bestimmung; nur die Parodos ist ziem-
hch stiefmütterhch behandelt. Dagegen ist das erste Stasimon sehr
173) Und zwar in noch wirksamerer Weise wie in der Hekuba (Polyxena)
und der Iphigenie in Aulis; auch die Phönissen (Menökeus) gehören hierher
und unter den verlorenen Dramen der Erechtheus.
524 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
angemessen.'"") Nachdem der argivische Herold abgetreten ist, führt
der Chor aus, dafs ein Staat wie Athen, welches Argos vollkommen
gleich stehe, sich durch prahlerische Drohungen nicht einschüchtern
oder von der Bahn des Rechtes ablenken lasse; wohl wisse Athen
das Glück des Friedens zu schätzen, aber es sei auch bereit, jeden
ungerechten Angriff furchtlos abzuwehren. Dieses Lied ist der poe-
tischen Situation durchaus entsprechend, bezeichnet aber zugleich
auch treffend das damahge Verhältnifs zwischen Athen und Sparta.
Nachdem Makaria sich zum Opfertode entschlossen hat, schildert der
Chor*") den Unbestand des menschlichen Glückes und preist den
hochherzigen Sinn der edlen Jungfrau. Als lolaus sich zum Kampfe
rüstet und die Entscheidung bevorsteht, weist der Chor"®) auf die
Gröfse der Gefahr hin, welche ein Krieg mit einem Staate wie Ar-
gos bringe, hebt aber andererseits hervor, dafs Athen, nur von dem
Gefühle der Ehre und Pflicht geleitet, zur Vertheidigung einer ge-
rechten Sache die Waffen ergriflen habe und daher auf den Beistand
der Götter rechnen könne. Passend wird die Schutzpatronin des
attischen Landes angerufen; wie das Volk die Athene alle Zeit in
Ehren halte '^''), so dürfe es auch ihrer Hülfe vertrauen. Diese Er-
wartung ward nicht getäuscht; bald bringt ein Diener die Sieges-
botschaft, und die Freude des Chores äufsert sich in bewegter, aber
mafsvoller Rede. Denn fern von Selbstüberhebung spricht sich in
dem Liede ein demüthiger, gottesfttrchtiger Sinn aus."*)
174) Heraklidea 354 ff.
175) Herakliden öÜ8 If.
176) Herakliden 748 ff.
177) Noch vor wenigen Monaten 01.87,3 im Hekatoinbüon hatte Athen
trotz der schweren Bedrängnifs, welche die Verheerungen der Feinde und das
Umsichgreifen der Pest bereiteten, die grofsen Panathenäen in herkömmlicher
Weise mit Chören und Wettkampf der Ruderschiffe gefeiert, wie es hier der
Chor 780 (vsäJv d'^ auiXlm xOQÖJv je fioknai; so ist statt vsoip t' aotSai zu
lesen) schildert.
17S) Herakliden 8!l2 ff. Bemerkenswerth ist, dafs sich hier Euripides öfter
gegen die atheistischen Tendenzen erklärt, die damals, wo die Pest alle sitt-
lichen Ordnungen löste, ganz unverhohlen hervortreten mochten. Das Wahr-
leichen des verklärten Herakles, von dem der Bote berichtet hatte, beweist
dem Chore, dafs diesem Helden göttliche Khrc zu Theil geworden ist. Dabei
mnfs man sich erinnern, dafs der Cullus des Herakles zuerst in Maralbon Hin-
gang gefunden hat. So werden passend die Krinnerungen der alten Zeit mit
der Gegenwart verknüpft.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II.GRCPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III. EÜRIP. 525
Die Abneigung gegen die Lakonier, welche Euripides im Ver-
laufe des Krieges überall unveriiohlen kundgiebt, macht sich in den
HerakHden nirgends direkt Luft.''**) Den Glauben an Weissagungen
hat der Dichter wohl niemals getheilt; aber er folgt der Strömung
der Zeit, die jeder Prophezeiung willfährig Glauben schenkte, welche
den eigenen Wünschen und Hoffnungen entsprach. So benutzt auch
Euripides dieses Motiv, ohne dafs eine Spur von Polemik wahrzu-
nehmen wäre, die uns sonst bei Euripides oft unangenehm berührt.
Das Drama fällt gerade in die Zeit, wo Athen von der Pest heim-
gesucht wurde, aber der Dichter hat jene Hindeutung vermieden,
die leicht niederdrückend wirken konnte und zu der gehobenen
Stimmung des Dramas nicht pafste.'*") Wohl aber verräth sich in
den skeptischen Betrachlungen der Makaria'*') des Dichters eigene
Anschauungsweise von den letzten Dingen , so unpassend auch solche
Worte in dem Munde der Jungfrau klingen. Die grausame Behand-
lung des überwundenen Eurystheus entspricht nicht nur der Härte
der alten Zeit , sondern auch die nächste Vergangenheit bot Belege
dar; denn der peloponnesische Krieg ward von Anfang an mit
äufserster Rücksichtslosigkeit und grofser Erbitterung von beiden
Seiten geführt.**-)
Die Tragödie ist nicht unversehrt erhalten, wie schon der ge-
ringe Umfang vermuthen läfst.**^ Eine gröfsere Lücke ist in der
Mitte des Dramas deutlich wahrnehmbar. Denn von dem Opfertode
der Makaria ist nicht weiter die Rede; Alkmene scheint davon keine
Kunde zu haben, ohne dafs man übereingekommen wäre, ihr das
179) Nur einmal (1032 ff.?) wird passend eine historische Erinnerung benutzt.
180) Anders verfuhr Sophokles in seinem König Oedipus, und er war dabei
vollkommen in seinem Rechte.
151) HerakHden 593. Verwandten Anschauungen begegnen wir im Hippo-
lytus. Man erkennt hier, wie das Unglück der Zeit nicht zur Vertiefung des
sittlichen Bewufstseins, sondern zur Verzweiflung führte.
152) Die Korkyräer tödten die Kriegsgefangenen mit Ausnahme der Ko-
rinther (Thukjd. I 30); die Mordlust der Korinther bei der Verfolgung der Fliehen-
den schlägt zu ihrem eigenen Schaden aus (I hO); die Platäer erschlagen die
kriegsgefangenen Thebaner (11 5); die Athener lassen die spartanischen Gesand-
ten an den Perserkönig, deren sie sich hinteriistig bemächtigt hatten, ohne
Verhör hinrichten (II 67), hauptsächlich aus Hafs gegen Aristeas, der an der
Spitze der Gesandtschaft stand. Dieser Vorfall trug sich unmittelbar vor der
Aufführang der llerakliden zu.
1S.3) Das Drama zählt nur 10.55 Verse.
526 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Unglück zu verheiniliclien. Einen so augenfälligen Vcrslofs gegen die
dramatische Composition darf man selbst einem Dichter, der es in
solchen Dingen öfter leicht nimmt , nicht zutrauen."") Mehrfache
Bedenken erregt auch der Schlufs der Tragödie, der schwerlich
unversehrt überiiefert ist'"), wenn man auch zugeben mag, dafs
die Eile, mit welcher der Tragiker seine Arbeit zu Ende führte,
nachtheilig einwirkte. Ueberhaupt zeigt die Sprache dieser Tragö-
die etwas Abgerissenes und ist nicht frei von Härten. Man darf
dies wohl auf den Eiuflufs der aufgeregten Zeit zurückführen. Die
Bedrängnifs, in der damals Athen durch den Krieg und die unheil-
volle Krankheit versetzt wurde, war für ruhiges dichterisches Schaf-
fen nicht gerade günstig,
iiippoiyius. Ol. 87, 4 begegnen wir dem Euripides im tragischen Agon zu-
gleich mit lophou und Ion, und das Glück war ihm hold; denn er
trug über beide Mitbewerber den Sieg davon.**®) Auch ward der
184) Ausgefallen ist der Bericht über das Lebensende der Makaria ; daran
schlofs sich wohl die Klage der Alkniene und ein Chorlied an. Aufserdem mag
Demophon dem Andenken der Jungfrau besondere Ehren zuerkannt haben, wie
Euripides gern an bestehende Institutionen (hier das Ouellenfest an der Maka-
ria) anknüpft. Auch die Inhaltsangabe des Dramas und einzelne Citate bei den
Alten , die in unserem Texte nicht nachweisbar sind , deuten auf eine gröfsere
Lücke hin.
1 S5) lolaus hat den kriegsgefangenen Euryslheus am Leben gelassen, da-
mit Alkmene an dem Anblicke des besiegten Gegners sich weide (8S3. 940) ;
dann aber macht der Bote geltend, die Herrscher Athens duldeten nicht, dafs
der Gefangene getödtet werde (961) ; Eurystheus selbst beruft sich darauf und
auf die herkömmliche Sitte (1010). Hier verniifsl man in der Darstellung den
rechten Zusammenhang. Seltsam ist auch die Weise, wie Alkmene sich zu
helfen sucht (1020 IT.). Eurystheus, der zu sterben bereit ist, enthüllt das
Orakel; aber alles wird in einer Kürze, die kaum verständlich ist, mitgetheilt.
Offenbar hatte ihn das Orakel vor diesem letzten Zuge gewarnt, und er be-
reut ihm nicht gefolgt zu sein. t)ffenbar verderbt sind 1032 und 1041; nicht
der Alkmene, seiner erbittertsten Feindin, sondern nur dem Chore (der freilich
nur passive Assistenz leistet) kann Eurystheus sein Gehcimnirs miltheilen, noch
weniger braucht er sich die Todlenspende von der .Mkmcne zu erbitten.
1042 — 1044 stehen aufser allem Zusammenhang; hier ist wohl eine Lücke an-
zunehmen, während in den letzten Worten der Alkmene 104r> — 1052 zwei
verschiedene Fassungen verschmolzen scheinen ; aber wie es sich auch damit
verhalten mag, 10.00 steht in einem offenbaren Widerspruche mit 1024.
186) Argument zum Hippolylus: 'ESiSäxO-ti ini ^Enautifavot ä^xovxot
oXvftniaSi 7t^', trei S'. TtQÜxos Evf^niSrjs, 8$vxeQoi'hfwv, XQiroi'Ioty. Ob
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIEBLÜTHEZEIT. III.ELRIP. 527
Hippolytus, den der Dichter damals zur Aufführuug brachte,
allgemein als eine der vorzüglichsten Arbeiten betrachtet.**') Man
pflegt wohl diese Tragödie der Medea an die Seite zu setzen. Wie
Euripides dort die mafslose Rachsucht des gekränkten \Yeibes, so
hat er hier die verbrecherische Liebe der Frau in ergreifender Weise
dargestellt : doch ist Hippolytus die Hauptfigm", erst in zweiter Linie
kommt Phädra. Auch dieses Drama bietet ein Bild unbezwinghcher,
verzehrender Leidenschaft, aber es steht der Medea entschieden nach ;
der Hippolytus leidet an augenfäUigen Schwächen und bekundet im
Allgemeinen keinen Fortschritt.
Die Sage von der Liebe der Phädra zu ihrem Stiefsohne, welche
für sie selbst wie für den schuldlosen Jüngling verderbhch ward,
knüpft sich in Athen und Trözen an alte Götterdienste an.'**) Das
tragische Geschick des Hippolytus mag schon früher lyrische Dichter
angezogen haben "^); der alten Tragödie lag dieser Stoff fern. Eu-
ripides hat wohl zuerst diese Sage, welche seiner Art vor allem
gemäfs war, dramatisch bearbeitet. Schmerzliche Erfahrungen im
eigenen Hause mögen den ersten Anstofs zu dieser Dichtung ge-
geben haben, wie eine alte Ueberheferung berichtet, die man als
unglaubwürdig zu verwerfen pflegt.'^**) Allein bei Euripides, dessen
Poesie entschieden subjektiv ist und oft geradezu den Charakter der
Selbstbekenntnisse annimmt, kann man sich wohl vorstellen, wie
er das, was ihn innerlich quähe, dichterisch zu gestalten unter-
nahm, um sich von der drückenden Last zu befreien; ob ihm der
Versuch gelang, ist eine andere Frage.
lophon mit eigenen oder seines Vaters Tragödien concurrirte, steht dahin. Ueber
die anderen mit dem Hippolytus verbundenen Dramen ist nichts bekannt.
187) Argument: ro §i S^äjua rcüv 71qojt(ov. Wie beliebt das Stück war,
zeigen zahlreiche Parodien in der Komödie.
18S) Die Grundzüge der gemeinen Ueberlieferung, wie sie in Attika ver-
breitet war, giebt wohl Asklepiades (Schol. V. Hom. Odyss. XI 321) wieder; Plu-
tarch im Theseus c. 2S berührt diese Sage nur beiläufig.
189) Jungfrauenchöre, die das Andenken des Hippolytus feiern, erwähnt
Euripides Hipp. 1428.
190) Der Biograph, indem er die ehelichen Zerwürfnisse im Hause des
Euripides berührt, fügt hinzu: vor;aavza ti]v axoXaaiav «vrijs (seiner Frau)
y(>ö^at S^äfia top nQorsoov [noätrov Sgäfia xov Dindorf Z. 95 f.] 'InnöXvxov,
iv (ö rtiv avaiaxwriav i&^iäfißeve räiv ywatxäv. Man darf darin nicht ledig-
lich Erdichtungen der Komödie finden.
528 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Der Hippolytus, den Euripides Ol. 87, 4 sclirieb, war die Um-
arbeitung einer älteren Tragödie, welche offenbar vielfachen Anslofs
erregt hatte.'*') Daher entschlofs sich der Dichter eine durchgrei-
fende Umgestaltung seiner früheren Arbeit vorzunehmen. Auch
Sophokles hat eine Phädra gedichtet; eben weil der Versuch des
Euripides mifsfallen halte, mochte es ihn reizen das Thema in
seiner Weise zu behandeln'*^), und dadurch mufste Euripides um
so mehr bestimmt werden sein Drama umzuschreiben.
Schon die äufsere Umgebung der Handlung war in beiden
Stücken verschieden. Im ersten Hippolytus ist Athen der Schauplatz;
Theseus hat seine Hadesfahrt unternommen und gilt für todt. Die
jugendhche Gattin fühlt sich vereinsamt, und als Hippolytus nach
Athen kommt, wahrscheinlich um in die eleusinischen Mysterien
eingeweiht zu werden '^^}, fafst sie eine heftige Neigung zu dem
Stiefsohne."*) In der zweiten Bearbeitung wird die Scene nach
191) Die neue Bearbeitung erhielt den Zunamen ^Tefavr,f6Qoi (nach dem
Argument auch ürsfavias), weil der Held im Eingange des Stückes (73) der
Artemis einen Kranz darbringt, oder auch Ssvxsqos, wird aber zuweilen auch
unter dem Namen 4>aCSQa angeführt. Die erste Bearbeitung ward nur zum
Unterschied n^öreQos oder yakvnro/isvoe (wohl richtiger iyxaXvnröfuroi) ge-
nannt, weil Hippolytus aus Scham sich das Haupt verhüllte, als Phädra ihm
ihre Liebe gestand (Pollux IX 50, Schol. Theokr. H 10). Wenn es im Argument
heifst: ififaiverai Se vare^os ysy^aju/ievos. rb yaQ anqenei xal xazr;yooiai
a^wv iv rovTco SmQ&aixai, tm S^otfiari, so schliefst es dies nur aus inneren
Gründen, aber die Thatsache mufste sich auch chronologisch feststellen lassen ;
denn selbstverständlich war auch der erste Hippolytus in Athen aufgeführt wor-
den. Der zweite Hippolytus war nicht etwa eine theilweise Revision des
früheren, sondern ein wesentlich neues Stück; daher erhielt sich auch das
ältere Stück neben der Neugestaltung und wird häufig citirt.
192) Der Phädra des Sophokles diese Stelle anzuweisen ist man wohl
berechtigt: Sophokles kennt offenbar den ersten Hippolytus des Euripides, aber
nicht den zweiten. Sophokles wird seine Phädra kurz vor Ol. 87, 4 gedichtet haben.
193) Wenigstens war dieses Motiv ganz passend, vgl. Hippolyt. 20.
194) Sowohl bei Sophokles als bei Seneca (der die beiden Tragödien des
Euripides und die Sophokleische Phädra kannte) ist der Schauplatz der Hand-
lung ebenfalls in Athen. Auch bei Sophokles war die Abwesenheit des The-
seus mit der Hadesfahrt motivirt (s. die Verse fr. (103. (304 Di. bei Stob. Ed. Phys.
I 5, 13); Phädra, von dem Gatten verlassen, mufste so in dem verödeten Hause
für leidenschaftliche Eindrücke um so empfänglicher sein. Es ist keine Ver-
besserung, wenn Euripides in der zweiten Bearbeitung die Phädra mit Theseu»
nach Trözen ziehen läfst ; aber er wollte eln-n dem Publikum ein völlig neues
Stück bieten.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. H.GRLPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III. EURIP. 529
Trözen verlegt.'^*) Theseus miifs zur Saline des Mordes der Pallan-
liden das attische Land meiden und ist mit seiner Gattin zu Pit-
theus gezogen.
Ebenso war der Charakter der Phädra in beiden Tragödien ganz
verschieden aufgefafst. In dem älteren Stücke trat die Gattin des
Theseus, von ihrer Leidenschaft hingerissen, die sie nicht bemeistern
kann, thätig handelnd auf; sie versucht zunächst die Neigung des
Jünghngs durch Zauberkünste zu gewinnen *'®), dann gesteht sie
ofl'en ihre heifse Liebe, die Hippolytus mit Entrüstung abweist. Da
kehrt Theseus unerwartet aus dem Todtenreiche zurück. Phädra,
wohl um der Entdeckung zuvorzukommen, verleumdet den Schuld-
losen, als habe er ihr verbrecherische Anträge gemacht. Der Sohn
vertheidigt sich dem Vater gegenüber mit rednerischer Gewandtheit,
aber ohne Erfolg."^) Der verhängnifsvolle Fluch des Theseus geht
alsbald in Erfüllung, und nach dem traurigen Ende des Hippolytus
tödtet sich Phädra, von Reue und Verzeiflung ergriffen, mit eige-
ner Hand.
Der Hauptfehler des Dramas ist, dafs die Menschen als willen-
lose Werkzeuge der Götter erscheinen und daher für ihre Thaten
gar nicht verantwortlich sind. Das Einwirken der Gotter wird hier
nicht wie anderwärts als bequemes Hülfsmittel angewandt, um den
Knoten zu lösen , sondern die ganze dramatische Verwicklung ist
dadurch bedingt, Hippolytus, der in Wald und Feld dem Waid-
werke nachgeht, ist mit inniger Verehrung der jungfräulichen Göt-
tin Artemis zugethan. Der JüngHng, dessen Gemüth von der Leiden-
schaft der Liebe noch unberührt war, wendet sich von der Aphro-
dite ab; die Göttin, über diese Vernachlässigung erzürnt, sinnt auf
Rache und facht die stille Neigung der Phädra zu ihrem Stiefsohne
zu verzehrender Gluth an, welche ihr selbst wie dem Jünglinge den
Untergang bringt. So fallen Hippolytus und Phädra eigentlich als
195) Dies ist jedoch nicht freie Erfindung des Tragikers, sondern er schliefst
sich der trözenischen Sage (Pausan. II 32) an.
196) Schol. Theoer. U 10. Dieses Motiv war zur Exposition wohl geeignet
197) Ebenso bei Sophokles; auch bei ihm, wie bei Euripides bricht The-
seus in unwillige Klagen über den Schaden aus, den die Gewalt der Redekunst
stiftet, aber die Dichter haben gewissermafsen ihre Rollen ausgetauscht, indem
bei Sophokles die Beziehung auf den Einflufs der attischen Demagogen durch-
blickU
Bergk, Griecb. Literaturgeschichte III. 34
530 DRITTE TERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
schuldlose Opfer der Rachsucht der Aphrodite. Die Göttin setzt im
Prolog der Tragödie alles aus einander und verkitndet den Verlauf der
bevorstehenden Kat.nstrophe, während der Epilog der Artemis zufällt
Nachdem das Unglück hereingebrochen ist, offenbart sie dem Theseus
die Unschuld des Sohnes, verhelfst dem sterbenden Hippolytus die
Ehre des Heroencultus und entschuldigt ihr Unterlassen rechtzeitigen
Einschreitens für die Rettung des treuen Verehrers damit, dafs alte
Satzung den Göttern verbiete einander feindlich entgegenzutreten. •'*)
Die volksmäfsige Sage mag den Untergang des Hippolytus mit dem
Hafs der Aphrodite motivirt haben. Das griechische Epos macht
ausgedehnten Gebrauch von diesem Mechanismus, der auch der naiven
Weise der alten Tragödie nicht fremd war. Aber das jüngere Drama,
welches den Hauptnachdruck auf den psychologischen Procefs legt
und das Schicksal aus dem Charakter entwickelt, kann dieses Spiel
von aufsen einwirkender Kräfte füghch entbehren. Bei Euripides
erscheint dieser mythologische Apparat als eine entschieden störende
Zugabe. Der rationalistische Dichter, der nicht an die Götter des
Volkes glaubt, bringt mehr aus Hohn als aus Bequemlichkeit oder
Angewöhnung an das Herkommen den Gegensatz zwischen Aphro-
dite und Artemis an; denn diese Götterfiguren bilden nur den äufse-
ren Rahmen der Handlung, welche auch ohne solches Beiwerk voll-
kommen verständlich ist.'^)
Die Schutz- DJe Schutz flehen den*) sind ein patriotisches Gelegenheits-
Oehenden.
198) Hier bricht der verhaltene Groll, den der Tragiker gegen Zeus hegt,
den er gleichsam als seinen persönlichen Feind zu betrachten scheint, zum
ersten Male hervor, indem Artemis, sich auf die alte Göttersatzung berufend,
1331 geringschätzig hinzufügt: ijiel ony' i'a&t, Zrjva fttj foßovfiiiT] ovx nv
ttot' Tj?.&ov eis rSS' ntayvvrjS iytö, loar^ nvS^a Ttavrcor ^ii.raTOv ß^oräiv
ifioi d'nveiv iäaai. Die späteren Tragödien bieten zahlreiche Belege dieser
feindseligen Gesinnung dar.
199) Euripides hat Mohl auch in der ersten Bearbeitung den Untergang
des Hippolytus und der Phädra ähnlich motivirt, aber den todten Meclianismus
hat er gewifs nicht zweimal angewandt; dieser MifsgrifT wird der zweiten Aus-
gabe eigenthümlich angehören. Ebenso wenig wird Sophokles von den abge-
zogenen allegorischen Gestalten Gebrauch gemacht haben, sondern er schilderte
mit grofsarligen Zügen die Leidenschaft, die wie mit unwiderstehlicher Natur-
gewalt den Menschen ergreift, und das dunkele Vcrhängnifs, dem keiner zu
entrinnen vermag.
*) (Eigentlich mfifste nach Bergks späterer chronologischer Anordnung
hier Andromache folgen, s. unten S. 541 *).]
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE RLÜTHEZEIT. IIl.ELRIP. 531
drama, so gut wie die Herakliden. Mit Recht nennen die Alten
diese Tragödie einen Panegyrikus auf Atheo^'*); denn Euripides
knüpft an eine Erinnerung aus der sagenhaften Vorzeit des attischen
Landes an, welche von den Rednern, wenn sie das Lob Athens
feiern, fleifsig benutzt wurde. Die Athener waren stolz darauf, dafs
Theseus sich des Adrastus und der besiegten Argiver willfährig an-
nahm, die Herausgabe der Leichen, welche die Thebauer versagten,
erwirkte und so das Princip der Humanität zur Geltung brachte, zu
dessen Vertretung das attische Volk sich vorzugsweise berufen fühlte.
Schon Aeschylus hatte in seinen Eleusiniern diese vaterländische
Ueberheferung bearbeitet; Euripides versucht sich bei passender Ge-
legenheit in einer Nachbildung.
Die Heerfahrt der Sieben gegen Theben endete mit einer Nieder-
lage vor den Thoren der Stadt. Die Sieger verweigern die Todten
zur Restattung auszuliefern ; daher nehmen Adrastus und die Mütter
der gefallenen Helden als Schutzflehende Athens Vermittelung in
Anspruch. Aethra, die greise Mutter des Theseus, nimmt an dem
Schicksale der Hülfesuchenden, die sich im Heihgthume von Eleusis
niedergelassen haben ^'), warmen Antheil und schickt nach ihrem
Sohne. Theseus, obwohl anfangs abgeneigt, die Ritte zu gewähren,
giebt zuletzt den dringenden Vorstellungen nach, bestimmt die Volks-
gemeinde zu thatkräftiger Unterstützung und ist im Regriff, einen
Roten an Kreon abzusenden. Aber ein Herold der Thebaner kommt
ihm zuvor mit der überniüthigen Forderung, den Adrastus und die
Argiver noch vor Sonnenuntergang aus dem attischen Gebiete zu
weisen. Dadurch ist jede Vermittelung abgeschnitten, Theseus kün-
digt den Thebanern sofort den Krieg an, zu dem sein Volk schon
gerüstet war, und die Entscheidung läfst nicht lange auf sich war-
ten. Ein Rote meldet den Sieg der Athener; Theseus kehrt mit den
Leichen der argivischen Heerführer zurück, um ihnen bei Eleusis
die letzte Ruhestätte zu gewähren. Die übrigen Todten sind zu
Eleutherä beerdigt,=^)
200) Argument : zo Si Sgäfta iyxtöfnov 'A&rjvöJv.
201) Wie Aeschylus in den ^EXetxrivioi , so verlegt auch Euripides die
Handlung nach Eleusis, weil dort die Gräber der argivischen Helden gezeigt
wurden, und wahrt so die Einheit des Ortes, Die genauere Sage (ApoUodor
ni 7, 1,2) liefs den Adrastus am Altare des Mitleides zu Athen Schutz suchen.
202) Vgl. Plularch Thes. c. 29, der sich auf Philochorus und die herrschende
Ueberlieferung beruft, wie sie in Attika sich ausgebildet hatte; denn die the-
34*
532 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Der Kampf der Athener und Thebaner ist unzweifelhaft eigene
Erfindung des Euripides.'"') Die alte Ueberlieferung Uefs den Adra-
slus durch Vermittelung des Theseus die Auslieferung der Leichen
erwirken, und so hatte auch Aeschylus gedichtet. Euripides, der
seinem Vorgänger gar nicht folgen mochte, zieht es vor, die humane
Sitte des hellenischen Völkerrechts gegen die rohere Satzung der
alten Zeit durch einen Kriegszug zur Anerkennung zu bringen. Diese
Lösung war für einen dramatischen Dichter, dem die gestörte Ein-
heit der Zeit kein Bedenken verursachte, überaus bequem, und der
leichte Sieg der Athener über die verhafste Nachbarstadt mufste dem
Selbstgefühl seiner Zuhörer schmeicheln. Aufserdem werden so nicht
unpassend die langathraigen Reden der beiden Parteien wenigstens
durch die Schilderung einer wirkHchen Handlung unterbrochen. Allein
der Dichter fühlte, dafs die Bestattung der Todten, die nun folgen
mufste, nicht recht genügte, um dem Drama einen befriedigenden
Abschlufs zu geben. Er flicht daher eine Episode ein. Euadne, die
Gattin des Kapaneus, dessen Leichnam der Sitte gemäfs, weil er
vom Blitz erschlagen war, abgesondert von den übrigen beigesetzt
werden mufs, erscheint plötzhch auf einem steilen Felsen, erklärt,
sie sei entschlossen den Gemahl nicht zu überleben, springt in den
Scheiterhaufen und findet in den Flammen den Tod. Dieses Beispiel
hingebender, schwärmerisclier Liebe hat Euripides sicher der volks-
mäfsigen Ueberlieferung entnommen*"); aber es entsprach ganz der
Vorliebe des Dichters für duldende Heldinnen , die sich selbst auf-
opfern und durch ihren freiwilligen Untergang Rührung und Mit-
leid erwecken. Indem diese Scene mit allen Mitteln der Kunst
ausgestattet ist, konnte sie nicht verfehlen, die beabsichtigte Wirkung
zu üben.
banische Localsage kennt die Vermittelung des Tlieseus ebenso wenig wie den
Krieg mit Athen, sondern läTst die Todten freiwillig ausliefern, s. Pausaoias
I 39, 2; Apollodor III 7, 1, 2 folgt der Darstellung des Euripides.
203) So die attische Ueberlieferung, der sowohl Aeschylus als auch Kiiri-
pides folgen. Plutarch freilich Thes. c. 29 scheint einen Widerspruch in diesem
Punkte zu bezeugen; es ist aber zu schreiben: avfifiaorvQolat 8i rat« Ei'ot-
niSov 'Ixeriaiv xal oi Aiax^hn ^Ekevaivioi statt xaxafAaQTti^ovat 8s tiZv Ei^
^tniSov IxeriSojv.
20i) Dafs die Sage allgemein bekannt war, deutet Euripides 1015 an:
vielleicht war die That der Euadne ebenso wie der Opferlod der Alkestis von
lyrischen Dichtern mehrfach gefeiert worden.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRIPPE. DIE BLITHEZEIT. III.EIRIP. 533
Nach dieser Parekbase lenkt die Tragödie wieder in die ge-
wohnte Bahn ein. Die jungen Söhne der gefallenen Helden bringen
die Aschenkriige herbei und sprechen den Entschlufs aus, ihre un-
glücklichen Väter einst an den Thebanern zu rächen; dazwischen
ertönen die Klageheder der Grofsmutter, weiche mit ihren Diene-
rinnen den Chor bildet. Theseus ermahnt die Argiver, sie möchten
nie vergessen, wie viel sie Athen schuldeten. Um dieser Mahnung
den nöthigen Nachdruck zu geben, erscheint zum Schlufs Athene.
Sie begnügt sich nicht den Knaben zuzurufen , ihr Vorsatz werde
in Erfüllung gehen, sie würden einst mit glückhcherem Erfolge als
die Väter die Heerfahrt gegen Theben erneuern und ihr Ruhm
werde im Liede fortleben, sondern die Göttin fordert auch den The-
seus und Adrastus auf ein Schutz- und Trutzbündnifs zwischen ihren
Staaten für alle Zeiten abzuschhefsen. Poütische Beziehungen ziehen
sich durch das ganze Stück hindurch, aber hier werden wir un-
mittelbar auf den Boden der Wirkhchkeit versetzt. Nicht das Inter-
esse an der Fabel der Tragödie hat den Dichter bestimmt, diesen
Stoff von neuem zu bearbeiten , sondern die mythische Tradition
wird ledighch einem praktischen Zwecke dienstbar, und zwar ist
die ferne Vergangenheit nicht wie in den Herakliden .symbohsch
als Bild der Gegenwart aufzufassen, sondern es wird uns recht eigent-
lich eine Staatsaktion unter durchsichtiger Hülle vorgeführt. Die
Muse des Dichters ist vollständig im Interesse der Pohtik des Tages
thätig.*»)
Dem Ol. 89, 3 zwischen Athen und Sparta abgeschlossenen
Frieden trat Böotien nicht bei. Weder die Grenzveste Panakton**),
noch die attischen Kriegsgefangenen wurden herausgegeben ; dagegen
schlössen die Böoter und Spartaner ein Bündnifs, was in offenbarem
Widerspruche mit dem Friedensvertrage stand. Dafs in dieser Zeit
zu Athen eine gereizte Stimmung gegen Theben herrschte, ist be-
greiflich.'*") Politische Intriguen waren damals nach allen Richtungen
205) Verfehlt ist die Vermuthung, welche die Schutzflehenden in das
Todesjahr des Perikles Ol. 87, 4 (dann wären sie mit dem Hippolytus zusam-
men aufgeführt worden) oder in Ol. 88, 1 verlegt.
206) Wie die Böoter zuletzt Panakton schleiften, berichtet Thukydides
V39.
207) Vgl. Thukyd. V 42. Bei Euripides tritt diese Gereiztheit überall her-
vor, wo sich Gelegenheit darbot, vgl. 311 und 744.
534 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
hin thätig. So knüpften auch die Athener in den letzten Monaten
von Ol. 89, 4 auf Betrieh des Alkihiades mit den Argivern und ihren
Bundesgenossen Verhindungen an , um so auf der Halbinsel festen
Fufs gegen, Sparta zu gewinnen. Die Verhandlungen begannen im
Frühjahr, zogen sich aber, da Nikias und seine gleichgesinnten
Freunde den Plänen des Alkihiades entgegenwirkten, längere Zeit
hin; doch kam das Bündnifs zwischen Argos und Athen noch vor
Ablauf von Ol. 89 zu Staude.^*) Während diese Verhandlungen
schwebten, mufs Euripides den Plan entworfen und die Tragödie
rasch niedergeschrieben haben. Die Schutzflehendeu sind also an
den grofsen Dionysien Ol. 89, 4 aufgeführt. Gerade in diesem Mo-
mente, wo die Entscheidung noch schwankte, wo Alkihiades und
seine Parteigenossen einen hervorragenden Antheil an der Leitung
der auswärtigen Angelegenheiten erlangten und man grofse Hoff-
nungen auf den Sonderbund der Peloponnesier setzte, war die Dich-
tung zeitgemäfs und ganz geeignet, auf die üffentHche Meinung einen
bestimmenden Einflufs auszuüben.^*^)
Für ein politisches Gelegenheitsstück eignete sich der Slofl' vor-
trefflich. Athen, indem es treu seiner Aufgabe, alle Bedrängten zu
beschützen, sich der besiegten Argiver annimmt, erwirbt sich be-
gründete Ansprüche auf Dankbarkeit. Die Waffenbrüderschaft, welche
man damals zu erneuern im Begriff war ^"*), hat ein schickliches Vor-
208) Thukyd. V 47.
209) Nachdem das Bündnifs geschlossen war, mutste naturgemäfs eine
nüchterne Auffassung der Verhältnisse Platz greifen. Daher ist an eine Auf-
führung im Anfange von Ol. "JO nicht zu denken, ebenso wenig an das Ende
dieser Olympiade; denn nach der schweren Niederlage, welche die Argiver
bei Mantinea 01.90,3 erlitten, schlössen sie mit Sparta Frieden. Dies führte
zu einer Verfassungsänderung. Das oligarchischc Kegimcnt war jedoch von
kurzer Dauer; es wurde nach acht Monaten wieder aufgelöst, und alsbald hatte
auch die Freundschaft mit Sparta ein Ende. Die Schutzflelienden sind wäh-
rend der Verhandlungen aufgeführt ; die Gesandten der Argiver, Eleer und Man-
tineer mögen der Aufführung beigewohnt haben. Euripides greift der Wirk-
lichkeit vor, wenn er den Abschlufs des Bündnisses erwähnt ; dafs der Vertrag
bei F^uripides (1191 ff.) in der Hauptsache mit der Urkunde bei Thukyd. V 47
stimmt, hat nichts Auffallendes. Die Weihung eines Dreifufses in Delphi (1 197 ff.)
ist freie Dichtung des Euripides; die Urkunde verlangt die Errichtung einer
OTi'/fj} in Olymjiia. Dagegen die Vergrabung des Opfermehles (12U5) wird auf
aller Volkssage beruhen.
21ü) Schon in früherer Zeil hallen sich die Athener mtl Argos verbOn-
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. U. GRUPPE. DIE BLÜTÜEZEIT. III.EURIP. 535
bild an dem Bunde, den der Dichter durch Theseus und Adraslus
auf Geheifs der Schutzgötlin des attischen Landes beschworen läfst.
Indem Theseus die Argiver gegen Theben unterstützt, macht sich
die damalige Mifsstimmung der Athener gegen die Böoter Luft. Noch
Avar in Athen das Verfahren der Böoter, welche nach der Schlacht
bei Delion Ol. S8, 4 den Athenern die Bestattung ihrer Todten ver-
weigerten^"), ini frischen Andenken; so mufste auch dieses Motiv
der dramatischen Handlung besonders wirksam sein. Sparta wird
nm* einmal genannt"'^), indem den Lakoniern Grausamkeit und Treu-
losigkeit zum Vorwurf gemacht wird, Anschuldigungen, welche Euri-
pides bald nachher in der Andromache nachdrücklich wiederholt.
Hier hält er sich von weiteren Ausfallen fern, wohl nicht deshalb,
weil die mythische Begebenheit dazu keinen Anlafs bot, denn solche
Entsagung pflegt der Dichter nicht gerade zu üben, sondern weil
die pohtische Lage eine gewisse Rücksicht und Schonung empfahl."^)
In einer Tendenzdichtung kommen die poetischen Elemente,
welche der überlieferte Stoff bietet, nicht recht zur Gellung. Ebenso
wenig wird der Charakter der Zeit streng gewahrt; unwillkürhch
bricht ein zwiespältiges Wesen durch. So tritt Theseus nicht so-
wohl als Inhaber fürstUcher Gewalt, sondern als Vorsteher eines
republikanischen Gemeinwesens auf.*") Und wenn wiederholt auf
das jugendliche Aller des demokratischen Königs hingewiesen wird,
so liegt die Vermulhung nahe, der Dichter habe dabei an Alkibiades
gedacht, der trotz seiner Jugend bereits eine eiuflufsreiche Stellung
einnahm.*'^) Nichts kann ungehöriger sein als die weit ausgeführte
Discussiüu zwischen Theseus und dem thebanischen Herold über
Tyrannenherrschaft und Freistaat*'*); denn solche pohtische Erörte-
det und dadurch ihrer Mifsstimmung gegen Sparta Ausdruck gegeben. Thukyd.
I 102.
211) Tiiukyd. IV 'J9. lOl.
212) Euripides Schutzfl. 187: Sjiü^ttj fiiv (ufiij xcu nenoixiXxai TQoiiovi.
213) Nikias unterhandelt noch in Sparta unmittelbar vor dem Abschlufs
des Bündnisses mit Argos, Thukyd. V 46.
214) Theseus wird 351 und 404 geradezu als Begründer der attischen
Demokratie aufgefafst.
215) Thukyd. V 43. Sonst freilich erinnert nichts in der Charakteristik
des Theseus an Alkibiades; der Dichter wollte nur zeigen, auch ein jüngerer
Mann könne verständig die Staatsgeschärte führen.
21ti) Euripides Schutzfl. 403 ff.
536 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
rungen liegen dem heroischen Zeitalter fern und waren nicht ein-
mal durch die dramatische Situation gerechtfertigt. Aufserdem gal-
ten die Böoter als wortkarg; man wundert sich daher eine rein
schulmäfsige Auseinandersetzung aus dem Munde eines Thebaners
zu vernehmen. Der Dichter selbst hat das Unschickliche gefühlt"");
wahrscheinlich wird hier eine lebende Persönlichkeit naturgetreu
geschildert."*)
Da der gegebene Stoff nicht recht ausreichend erschien, verweilt
der Dichter länger als nöthig bei Nebendingen. So wird der Zug der
Sieben und der Anlafs der Heerfahrt sehr ausführlich geschildert*'-');
hierher gehört ferner die Charakterislik der gefallenen Helden, welche
Adrastus angesichts der Leichen auf Geheifs des attischen Königs
giebt."°) Auch hier vermifst man vollständig den heroischen Cha-
rakter; alles trägt den Ton und die Färbung der Gegenwart und
erinnert uns an einfache bürgerliche Verhältnisse."') Euadnes Tod
hängt mit der Haupthandlung nur lose zusammen und wird gar nicht
motivirt. Nur ein tiefer Schmerz, das Gefühl vollständiger Verein-
samung und Verzweiflung, konnte einen solchen Entschlufs erzeugen.
Aber Euadne wirft das Leben eigenthch aus frauenhafter Laune und
schlecht verhüllter Eitelkeit weg; denn sie denkt nur an den Ruhm
der Nachwelt, der einer so heroischen That nicht fehlen kann*"'^).
217) Schutzfl. 42Ü IT. 462.
218) Unwillkürlich wird man an die ausführlichen staatsrechtlichen Er-
örterungen zwischen böotischen und attischen Herolden bei Delion erinnert;
wenn Thukyd. IV 97—100 diese Verhandlungen im Detail mittheilt, so giebl er
gewifs ein annähernd treues Bild der Wirklichkeit.
219) Schutzfl. 116 fr.
220) Schutzfl. 838 fl". Der Schol. Oed. Kol. 220 bemerkt, es sei nicht die
Gewohnheit des Sophokles arco&sv ysvsnXoyotvTa ivoxlelv roTs d'eeoftevoii ■
alV o ye EvQniiSr,e roiovzoe' iv yovv rnli 'Ixixiai. tov Orjaea vnoTS&enat
ttyvoovvra rovs tibqI ilv "ASquotov k'vexn tov ftrjyvvai ih S^äfta.
221) Die didaktische Tendenz ist nicht zu verkennen: diese Schilderung
der gefallenen Helden soll dem heranwachsenden Geschlcchle geeignete Vor-
bilder vor Augen stellen. Wenn Thescus eine eingehende Beschreibung des
Kampfes ablehnt (846 fl".), so darf man darin keine Polemik gegen die Sieben
des Aeschylus flnden, sondern der Dichter giebt nur seiner subjektiven Em-
pfindung Ausdruck. Der Krieg ist ihm fremd; er vermag daher auch nicht recht
Kriegsscf'nen zu schildern, während Aeschylus, der an den Schlachten der Per-
serkriege ehrenvollen Anthcil genommen hatte, hier vollkommen zu Hausse war.
222) Schutzfl. 1014. 1061.
SIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE DLÜTHEZEIT. III. EURIP. 537
ja, sie ist sogar darauf bedacht, ihre persönhche Erscheinung in
möghchst günstigem Lichte darzustellen. Nicht in unscheinbarem
Trauerkleide, sondern in prunkendem Festgewande stürzt sie sich
in die Gluth des Scheiterhaufens.'^^) Eine solche Figur wird auf
der Bühne wirksam sein, aber unser Mitgefühl vermag sie nicht in
Anspruch zu nehmen.
Das ganze Drama ist mit Reflexioneu der verschiedensten Art,
politischen, morahschen und philosophischen, gesättigt; manchmal
wird geradezu ein bekannter Gemeinplatz in echt schulmäfsiger Ma-
nier erörtert."') Gleichwohl darf man dem Dichter die Anerkennung
nicht versagen, dafs er von manchen Unarten, welche seine späte-
ren Arbeiten häufig verunzieren und ungeniefsbar machen , sich fern
hält. Die Anklagen gegen Frauen sind hier verstummt; man be-
gegnet sogar Worten aufrichtiger Anerkennung."') Nirgends findet
sich eine Spur von Polemik gegen Orakel, von Spott und Hohn über
religiöse Dinge, sondern mit unverkennbarer Absichtlichkeit leiht
der Dichter namentlich dem Theseus einen frommen, gläubigen
Sinn. Euripides vermochte recht wohl Gesinnungen, die er nicht
theilte, nachzuempfinden. Die bittere oder leichtfertige Weise, mit
der er sonst den Volksglauben behandelt, hatte ihm sicher von Seiten
der Gegner wie der Freunde manchen herben Tadel zugezogen. Um
zu zeigen, dafs er der Belehrung nicht unzugänghch sei, beobachtet
Euripides hier eine ganz ungewohnte Mäfsigung.
Auch die Darstellung empfiehlt sich durch gewählten poetischen
223) Schutzfl. 1054 ff.
224) Vgl. 196 ff. Die Worte des thebanischen Herolds 466: aoi ftiv So-
xBiroi Tavr', ifioi Si rapTia erinnern an einen bekannten Vers des Elegien-
dichters Euenus von Faros fr. 1, 4. V. 913 wird die eiavS^ia als SiSaxros dar-
gestellt. Gar sonderbar nehmen sich die Reflexionen des Iphis, des Vaters der
Eoadne, aus lOSOff. ; die Polemik gegen die Mittel, das Leben za verlängern,
bringt einen entschieden modernen Zug herein. Politische Beziehungen werden
vielfach eingeflochten; bemerkenswerth ist besonders 231 ff. der Tadel des über-
triebenen Kriegseifers der Jugend (vgl. auch 160) und die conservative Gesin-
nung, die sich in dem Lobe des Mittelstandes kundgiebt. "Wiederholt wird der
Segen des Friedens gepriesen, so besonders nachdrücklich 4S4 ff. von dem the-
banischen Herold, aber auch von Adrastus "44 ff. und 949 ff., und auch Theseus
entschliefst sich nur nothgedrungen das Glück des Krieges zu versuchen. Noch
mag sich manche Anspielung auf Zeitverhältnisse finden, die ans nicht recht
verständlich ist, wie 320 ff.
225) Schutzfl. 294. 1101 ff.
538 DRITTE PERIODE Vü> 500 BIS 300 V. CHR. G.
Ausdruck.'^®) In den Chorgesängen, welche mit der Handlung eng
verflochten sind, herrscht ein eigenthünilich zarter und inniger Ton.
Der Chor besteht aus den Müttern der gefallenen Helden, also aus
greisen Frauen nebst ihren Dienerinnen."") Auch für das Auge
war durch Schaugepränge und scenische Ausstattung genügend ge-
sorgt. In allen diesen Beziehungen nimmt man deulhch den Ein-
flufs des Aeschylus wahr. Ein erneutes Studium der Werke dieses
Tragikers, wozu eben die Wahl des Stofl"es den Anlafs gab, übte
sichtlich eine günstige Wirkung aus.^**) Aber Euripides ist kein
Nachahmer, der seine Vorgänger ausschreibt, sondern die Dichtungen
des Aeschylus erfüllten unwillkürlich den Euripides mit Hochachtung
und lehrten diese eigenthünilich angelegte Natur Selbstbeherrschung
zu üben. Deshalb spricht auch aus den Scbulzflehenden ein ganz
anderer Geist als aus der Andromache, obwohl beide Stücke einan-
der ganz nahe stehen und auch im Wesentlichen die gleiche Tendenz
verfolgen. Jene Selbstverleugnung war eben nicht nachhaltig. In
der Andromache kehrt Euripides zu seiner Art zurück; ja, weil er
dort durch keine Rücksichten sich gehemmt fühlte, läfst er sich
vüUig gehen.
Die Schutzflehenden erfreuten sich gewifs einer günstigen Auf-
nahme; allein dauernden Erfolg konnte eine Arbeil, die durch das
Bedürfnifs des Augenblicks hervorgerufen war, nicht beanspruchen.
Nachdem das Drama seinen Dienst geleistet hatte, wurde es bei Seite
gelegt, daher auch die Aristophanische Komödie nirgends darauf an-
spielt. Später mag man die Tragödie, weil sie eine \'erherilichung
226) In den Versen des Dialogs kommen Auflösungen etwas häufiger vor
als in der Andromache, 167, dort nur 143; daraus folgt aber nicht, dafs die
Schutzflehenden später als die Andromache verfafst sind [s. nachher S. 543 A.;
S. 549 und Hermes XVIII 4'.)6, 2].
227) Fünf Mütter traten auf, jede offenbar von iwei Dienerinnen beglei-
tet, so dafs die Normalzahl des Chores (15) auch hiei festgehalten wurde.
Mehrmals theilt sich der Chor. Auch der Vortrag einzelner Choreuten kam vor;
doch bleibt hier vieles unsicher. Das melische Klement wird aufserdeni ver-
stärkt durch den Todesgesang der Euadnc und die Lieder der Knaben mit den
Aschenkrügen.
228) Aufser den Eleusiniern boten sich besonders die Schntzflehenden des
Aeschylus als Vorbild dar; die Digression über die Erhebung des Menschen-
geschlechtes aus rohem, halbthierischem Zustande (201 ff.) erinnert an den Pru-
iiietheus. Vor allem in den Chorlicdern weht uns ein Hauch Aescliyleischer
Poeüie an.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLLTHEZEIT. III.EIRIP. 539
Athens enthielt, ^vieder auf die Bühne gebracht haben; daher stofsen
wir auch auf manche fremdartige Zusätze, wie sie die Schauspieler
bei behebten Stücken einzuschalten pflegten.
Die Andromache schildert die schweren Prüfungen, welche Andromache
später Rektors Gattin trafen. Bei der Vertheilung der Kriegsbeute
war sie dem Sohne des Achilles zugefallen und ihm nach dem thes-
salischen Phthia gefolgt. Neoptolemus hatte mit der Andromache
einen Sohn Molottus erzeugt, dann aber Hermione, des Meuelaus
und der Helena Tochter, als Gattin heimgeführt. Da diese Ehe kinder-
los bheb, richtet sich der eifersüchtige Groll und Hafs der Hermione
gegen die unglUckhche Andromache und ihren Sohn. Indem Neopto-
lemus das delphische Orakel aufsucht und inzwischen Menelaus von
Sparta eintrifft, ist die Verlassene den Bänken ihrer Feinde völ-
hg preisgegeben. Ein leidenschaftlicher Wortwechsel zwischen den
beiden Frauen legt den unheilbaren Zwiespalt des Hauses dar und
beschleunigt die Katastrophe. Andromache hat am Altare der Thetis
Schutz gesucht, während ihr Sohn, den sie verborgen hatte, in die
Gewalt der Feinde gerathen ist. Um das Kind zu retten, entschliefst
sich die Mutter ihre Freistätte zu verlassen. Aber der treulose Mene-
laus ist nicht gesonnen, sein gegebenes Wort zu halten ; er läfst der
Andromache Fesseln anlegen, um sie zum Tode abzuführen. An dem
Untergange des Knaben, der vergebens das Mitleid des Menelaus zu
wecken versucht, soll Hermione ihre Rache befriedigen. In dieser
äufsersten Bedränguifs erscheint der greise Peleus als Befreier. Es
entspinnt sich ein lebhafter Wortkampf zwischen Menelaus und Pe-
leus, wobei der letztere sehr fernliegende und fremdartige Anklagen
erhebt, bis endlich Menelaus unter einem schickhcheu Vorwande
sich entfernt. Hermione, von ihrem Vater verlassen, voll Schmerz
über die getäuschte Hoffnung auf Befriedigung ihrer Rache und mit
banger Furcht der Rückkehr des Neoptolemus entgegensehend, ist in
voller Verzweiflung. Da tritt plötzlich Orestes auf, der früher mit
Hermione verlobt war, führt sie aus dem Hause, welches ihr ver-
hafst war, mit fort und ruft ihr tröstend zu, von ihrem Gatten habe
sie nichts zu befürchten, indem er andeutet, dafs er selbst einen
heimhchen Anschlag gegen Neoptolemus vorhabe. Kaum ist Peleus
von diesen Vorgängen unterrichtet, so erscheint auch ein Bote mit
der Trauerkunde, dafs Neoptolemus in Delphi durch Mörderhand ge-
fallen sei. Die Bahre mit dem Leichnam wird auf die Bühne ge-
540 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
bracht; der Todtenklage des unglücklichen Grofsvaiers macht die
Erscheinung der Thetis ein Ende, die zum Tröste nach all dem
Jammer verkündet, der Andromache Geschlecht sei berufen, im Mo-
losserlande die Herrschaft zu führen, Peleus aber solle, mit ihr und
seinem Sohne Achilles vereint, fortan im Kreise der Meergütter Ruhe
und Frieden finden.
Diese Fülle tragischer Situationen vermochte wohl die Erwar-
tung des gewühnhchen Theaterpublikums zu befriedigen, aber von
jener läuternden und erhebenden Wirkung, welche die echte Tra-
gödie ausübt, wird man hier nichts spüren. Die Gleichgühigkeit
gegen die bewährten Gesetze der dramatischen Form, welche bei
Euripides, je länger er für die Bühne arbeitet, immer mehr hervor-
tritt, kann selbst einem oberflächlichen Beobachter nicht entgehen;
denn das Drama zerfällt in zwei nur sehr lose mit einander verbun-
dene Theile. Andromache verschwindet in der zweiten Hälfte der
Tragödie vollständig; der Dichter sucht uns zu entschädigen, indem
er den Tod des Neoptolemus einflicht, ein Thema, welches schon So-
phokles in einer eigenen Tragödie behandelt hatte.^-') Euripides Hebt
es, Motive seiner Vorgänger in gedrängter Kürze als Beiwerk wieder
anzubringen. Kann schon an sich diese skizzenhafte Behandlung
keine volle dramatische Wirkung ausüben, so wird aufserdem durch
die Zwiespältigkeit der Handlung das Interesse nach verschiedenen
Seiten hingezogen und eine unruhige schwankende Stimmung er-
zeugt, welche für den tragischen Dichter nichts weniger als günstig
ist. Die Mängel des Stückes sind auch den alten Kritikern nicht
entgangen; vor allem nahm man an der Zeichnung der Gharaktere
vielfachen und nicht grundlosen Anstofs."°)
229) Die Hermione des Sophokles ist jedenfalls früher verfafst als die
Andromache des Euripides. Aufser dieser Tragödie des Sophokles mag Euri-
pides auch den Logographen Pherekydes benutzt haben, während er manches
nach freier Erfindung ausgestaltete, vgl. Schol. zu 1217. Aber auch sonst hat
Euripides in diesem Stücke manches willkürlich geneuert. So wird das Ver-
hällnifs des Hektor und der Andromache 221 ganz abweichend von Homers
Schilderung aufgofafst. Die alleren Erklärer fanden darin einen historischen
Verstofs; ein jüngerer verthcidigt den Dichter durch Berufung auf die 'A^yo-
lixa des Anaxikrates. Ob dieser Zeuge älter war als Euripides, ist fraglich;
immer aber trübt dieser Zug das reine Bild des Homerischen Helden.
230) Aristophanes von Byzanz rechnete dieses Drama zu den Stücken
zweiter Klasse, d. h. zu den minder gelungenen, und machte bei aller Aner-
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. IJ. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III.EDRIP. 541
Das Stück ist schon darum merkwürdig, weil es nicht in Athen,
sondern auf einer auswärtigen Bühne zur Aufführung kam; leider
wird der Ort nicht genannt. Allein da nach glaubhafter Ueberliefe-
rung Demokrates oder Timokrates von Argos, der dem Tragiker bei
der Composition der melischen Partien hülfreiche Hand zu leisten
pflegte, die Einübung der Tragödie übernommen halte '^'), so weist
dies auf Argos hin.*) Argos, nächst Athen die volkreichste Stadt in
kennung im Einzelnen manche Ausstellungen: tc Si Soäfia täv Seirä^tov 6
TCQO^Myos cafcös (lies aacfr-i) xai evXöycos ei^Tiftävos (lies sv ^r, (idv os), Art
(die Hdschr. san) Si xni rä iXsysia ra sv r^ S'qtivco xt^s l^vS^oftäxi^s. 'Ev
i(ä SevxtQcp ftsQEt of^ffis 'Eofitoj-Tjs To ßftaiMxov vcpaivovaa (lies o v (paivovaa ;
gemeint ist wohl im zweiten Tlieile der Tragödie die unpassende Rede der
Hermione 930 ff|, tcai 6 TZQoi ^AvSoofia'/riv koyos ov xaXiös (andere Handschriften
irrig xaxcös) exoiv (d. h. der Wortwechsel der beiden Frauen im ersten Theile).
Ei) Si xai (fehlt in einigen Handschriften) o IItjXsvs 6 xr.v^AfSoouäxr,v atpeXofievos.
Das Einschreiten des Peleus ist vollkommen gerechtfertigt ; nur die Ausführung
unterliegt der Kritik. Ist ei richtig, dann mufs man xal tilgen, aber es ist kaum
anzunehmen, dafs Aristophanes diese Partie für gelungen erklärte; es wird wohl
in Si xai zu lesen sein. Auch Didymus rügte in den Reden der handelnden
Personen manches als dem Charakter oder der Situation unangemessen, s. Schol.
329. 363. Gegen den wohlbegründeten Tadel der Kritik sucht ein jüngerer
Erklärer zu 32 vergeblich den Euripides in Schutz zu nehmen : ol fav/.cos tmo-
fivrjfiaxiaäuivoi iyxa'/.ovui xcö EvontiSri <paaxovxes ini xgayixois TtooacüTion
xtOftioäiav avxov Siared'sTa&ai' yvvouxcüv xe yag vTtovoiae xar' aXXr./.tov xai
tJihrvS xai cX/m oaa eis xcouojSiav avvxe).£i, xavxa aTta^uTtavxa xovxo x6
S^ua TteQieiXr^tfivai , ayvoovvxe?. oaa yao eis XQaycpSiav avvxe^M , xavxa
TteQtiyei , x'ov &dvaxot' xoi NeonxoXdnov xai ■d'Qrjvov JlrjXäios iv xi)^i , ansQ
kazi xoayioSias. Die Späteren, statt auf den besonnenen Leistungen der älteren
Meister fortzubauen, ziehen es vor, aus Eigendünkel ihnen zu widersprechen.
So zeigt sich hier wie anderwärts in dem Verständnifs der klassischen Werke
nur Rückschritt und handwerksmäfsige Routine.
231) Schol. Androm. 446: ov Si SiSaxxai yoQ 'Ad'^vr^aiv 6 Si KaXXi-
fiaxos eTiiyQatpTjvni fr,<rt xfj XQaycoSiq Jr^fiox^äxT^. Dies ist der gewöhnliche
Ausdruck von dem, der unter seinem Namen ein fremdes Werk zur Aufführung
bringt, (Schol. Aristoph. Ran. TS (lo^wv) ini rcy xali xov naxQos xgaycpSiats
eniyQätfead'ai xaiucoSetTai und jxt^i xcoucoSias lU 12 vom Aristophanes : xols
Xotnois (die Hdschr. xove Xomovs) inty^a^ofievos ivixa). Dem Kallimachus lag
also eine bestimmle Ueberlieferung über die Aufführung der Andromache vor;
war auch die Zeit nicht angegeben, so war doch sicher der Ort und der Si-
Säaxa/MS genannt. [S. Hermes XVIII 489 ff.]
*) [Diese Ansicht hat Bergk später selbst zurückgenommen (S. 169*);
vgl. hierzu wie zur folgenden .Auseinandersetzung, die ich weder habe streichen,
noch an eine andere Stelle, also vor die Schutzflehenden, rücken MoUen,
542 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Hellas, erscheint auch in Betracht ihrer pohtischen Stellung «Is der
geeignetste Ort, um den Werken eines attischen Dichters in jener
Zeit günstige Aufnahme zu gewahren ; ja, die politischen Beziehungen,
welche in dieser Tragödie recht augenfällig hervortreten , mufsten
gerade in Argos Anklang finden, ohwohl sie auch für das attische
Publikum wohl versländlich waren.*^^) Es ist wahrscheinhch , dafs
Euripides von Anfang an dieses Drama für jene fremde Bühne ent-
worfen und ausgearbeitet hat. Was ihn bestimmte, sich auswärts
einen neuen Schauplatz seiner Thätigkeit zu suchen, läfst sich nur
vermuthen. Eine persönliche Zurücksetzung, die er daheim erfahren
hatte, mochte mitwirken "^^j, aber doch erst in zweiter Linie; denn
Euripides steht hier unverkennbar im Dienste einer politischen Par-
tei, deren Pläne er durch diese Dichtung zu unterstützen suchte.
Da die Andromache in den attischen Didaskalien nicht ver-
zeichnet war, kannte man das Jahr der Aufführung nicht; aber die
alten Erklärer waren auf dem rechten Wege, wenn sie die Tra-
gödie in die Zeit unmittelbar nach dem Abschlüsse des Friedens
zwischen Athen und Sparta Ol. 89, 4 versetzen.^^) Dieser soge-
den späteren Aufsatz „Die Abfassungszeit der Andromache des Euripides" im
Hermes XVIII 487 ff., besonders 488 f. : „Eine neu aufgefundene didaskalische
Urkunde veranlafste mich, die Untersuchung wieder aufzunehmen. Die Tragö-
die ist, wie ich nach erneuter Prüfung des Dramas sowie der Scholien erkannt
habe, für Athen bestimmt und auch in Athen aufgeführt worden."]
232) Es ist möglich, daTs das Drama später auch in Athen aufgeführt wurde,
aber Parodien bei Aristophanes sind nicht nachweisbar; der Vers f*i] rbv i/növ
o'ixei vovv iyto ya^ d^xeaw bei Schol. Aristoph. Ran. 105 findet sich nicht in
der Andromache, kam aber auch schwerlich in der Andromeda, sondern eher
in der Anliope vor. Der Scholiast verglich wohl aus der Andromache 5S1
(nicht 237), den jedoch Aristophanes nicht im Sinne hat, und fügte dann den
richtigen Vers aus einer verlorenen Tragödie hinzu.
233) Die Worte des Chores 47(1 : reyrüroiv &^ vfivov awsgyäraiv Svolv
k'Qiv Movaai <piXovai xQnireiv, welche in auffallender Weise den Zusammen-
hang unterbrechen (aucli'sind sie nicht unversehrt überliefert), enthalten sicher-
lich eine persönliche Beziehung.
234) Schol. Androm. 44«: ravra ini rqf'yivSQOfiäxrjt n^oax^Fn-ri fr^aiv
EvQiTiiSris )j)iSoQOVfi£voe lole ^^napriärais Su rov ifeariüra nÖMuof • t<ni
yaQ Sr ^c-i TiaQeanovSfjxeaav eis yid'rjvniove, nad'änfQ o'i nepi ror <J>üoxoQOf
nvnyQnfOvaiv • eihx^n'öis Si roiis rov S^afintot x(>öfOve ovx tan Aaßtlr ' ov
HeBiSaxrai yuQ l^&r^vTjaiv. Der jüngere Scholiast, der in iiislorisclicn Dingen
schlecht bewandert war, sah nicht, dafs sein Vorgänger den Frieden des Nikias
meint, und macht daraus: xai tfairemi Si yeyQnfiftitov -lo Spann ir npx^ toi"
DTE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE HLÜTHEZEIT. III.EURIP. 543
nannte Friede des Nikias war eben nur eine kurze Waffenruhe, an
eine aufrichtige Versöhnung war nicht zu denken. Nicht einmal
die Friedensbedingungen wurden gewissenhaft vollzogen.*^) So fehlte
es nicht an Anlafs zu gegenseitigen Anklagen und Verdächtigungen.
Argos, welches bisher eine neutrale Haltung beobachtet hatte und
während des langen Friedenszustandes sichtlich erstarkt war, hielt
den Zeitpunkt für günstig, um seine Ansprüche auf eine führende
Stellung im Peloponnes zu erneuern. Deshalb verband sich Argos
mit Korintb, Elis und Mantinea, dagegen hatten die Verhandlungen
IIsßjOTcovvTjaiaxov TtoXs/tov. Die Neueren haben vermuthungsweise bald Ol,
S7, 2, bald 01.89.4 (89,2, auch 89,3), dann wieder Ol. 90, 1 oder 2. ja sogar
Ol. 92, 1 angesetzt. Entschieden verfehlt ist, die Andromache dem Anfange des
Krieges zuzuweisen ; Ol. ST war Euripides ununterbrochen für die attische Bühne
beschäftigt, so daCs ihm keine Zeit übrig blieb, für ein auswärtiges Theater
zu dichten; auch widerstrebt der ganze Charakter der Tragödie dieser Hypo-
these. Dagegen hat man aus der Behandlung des Trimeters mit Recht ge-
schlossen, das Stück möge um 01.89,4 verfafst sein. [Im Hermes heifst es
vielmehr S. 489: ,.Das Jahr läfst sich genau feststellen und ist bereits von
alten Grammatikern durch eine scharfsinnige Combination gefunden worden:
denn eine direkte Ueberlieferung lag auch ihnen nicht vor. Eine gehässige
Stimmung gegen Sparta tritt uns in dieser Tragödie überall entgegen; es ist
der Grundton der Dichtung, der durch die dramatische Handlung nicht genügend
motivirt erscheint; man empfängt vielmehr den Eindruck, Euripides habe die-
ses Thema ausgewählt und in tendenziöser Weise ausgeführt, um seinem Grolle
gegen Sparta Luft zu machen, insbesondere V. 445fr.- S. 490: „01.89,1 im
Frühjahr ward zwischen Sparta und Athen ein Waffenstillstand auf ein Jahr
abgeschlossen; noch ehe die Nachricht von diesem Vertrage nach der make-
donischen Küste gelangte, war Skione von den Athenern abgefallen, und Bra-
sidas weigerte sich, den Ort herauszugeben. Bald darauf fiel Mende ab und
stellte sich unter den Schutz der Spartaner: es war dies eine flagrante Ver-
letzung des eben erst geschlossenen Vertrages. Da die Verhandlungen resul-
tatlos verliefen, wurde der Krieg von beiden Theilen in jener Gegend fortge-
setzt, und als im Frühjahr Ol. 89,2 unmittelbar nach den grofsen Dionysien
der "Waffenstillstand abgelaufen war, wurde der Krieg von neuem begonnen.
Somit verlegt jener Grammatiker [Aristophanes von Byzanz oder vielmehr sein
Gewährsmann Kaliimachns] die Aufführung der Andromache auf die grofsen
Dionysien des Jahres Ol. 89, 2, indem er sehr richtig erkannte, dafs die leiden-
schaftliche Invective gegen die treulosen Spartaner der damaligen Situation
vollkommen entspricht." Den Scharfsinn des Kallimachus findet Bergk glän-
zend bewährt durch eine Inschrift, in welcher als Sieger im Agon der Tragiker
Ol. 89, 2 ein . . NEKPATHi: genannt wird, indem er diesen [Me)vex^äTTis mit
dem wohl verderbten Namen Jr^^oxQarr}! (oder TtuoxQnir,») identificirt]
235) Thukyd. V 35.
544 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CUR. G.
mit den Büotern keinen Erfolg; denn diese zogen es vor, ein Bünd-
nifs mit Sparta abzuschliefsen. In dieser Verbindung erblickte Athen
eine offenbare Verletzung des Friedensvertrages, und Alkibiades, dessen
Eitelkeit die Spartaner bei den Verhandlungen über den Frieden
empfindlich beleidigt hatten, nährte nach Kräften die unzufriedene
Stimmung, welche sich ebenso gegen Nikias wie gegen die Spar-
taner richtete. Alkibiades knüpfte auch auf eigene Hand mit den
Argivern Verbindungen an ; die schwankende, zweideutige Politik, zu
der Argos, wie meist die Mittelstaaten, hinneigte, entsprach so recht
dem Charakter des ehrgeizigen, aufstrebenden Alkibiades, der bald
einen hervorragenden Antheil an den öffentlichen Geschäften nahm
und noch vor Ablauf von Ol. 89, 4 den Abschlufs eines Bündnisses der
Athener mit Argos, Elis und Mantinea bewirkte.*^) Im folgenden
Jahre trat Alkibiades selbst in der Halbinsel auf, um den Bund der
Peloponnesier gegen Sparta zu organisiren."') Eben in diese Zeit,
Ol. 90, 1, oder in das nächste Jahr wird die Aufführung der Tra-
gödie fallen, die jedenfalls vor der Schlacht bei Mantinea Ol. 90, 3»
welche die politischen Verhältnisse wesentlich umgestaltete, gedich-
tet sein mufs."*)
Dafs Euripides damals dem Alkibiades persönlich nahe stand,
ist nicht zu bezweifeln; denn er verfafst das Festlied für die Feier,
welche Alkibiades nach seinem grofsen Wagensiege in den olym-
pischen Spielen veranstaltete. Die Zeit des Sieges ist nicht über-
liefert, aber 01.90, 1 hat gröfsere Wahrscheinlichkeit als 01.91,1.
236) Thukyd. V 47.
237) Thukyd. V 52.
238) Eine unverkennl)arc Hindeulung auf Mantinea findet sicli To3, wo
Menelaus sein Abtreten mit den Worten molivirt: ^ffr« yäo rte ov n^öaio ^ni^-
TJjs itöXig TIS, ^ Tipo Tov ftsp t]v <pilrj, vvv 8' iy.d'Qn noisl' Tt;v S' ine^sXd'elv
9'iXfo ax^axrjXaxfjaai, aiaze xsioiav [xvTioxEtQtov] Xaßslv. Hier erkannten sclion
die älteren Erklärer sehr rictitig eine politische Anspielung, was der jüngere
Scholiast mit einer nichtssagenden Phrase beseitigt: ivioi (paai na^a loi« /(wi-
vove alvixtead'at ra IleXonovvTjataxn' oinc nvnyxalov Si xaTaavxo^arrBtf tör
EvQtniiSTjv, aXXa tpäaxeiv nXäafinrt xax^rjod'at. Die Neueren geben zwar die
Beziehung auf die Gegenwart zu, haben aber vergebiirh «U-n Namen der Stadt
zu errathen versucht. Mantinea, in dessen Gebiet die Spartaner schon Ol. SU, 1
einen Einfall gemacht hatten (Thukyd. V 33), war dieser (iefahr vorzugsweise
ausgesetzt. [„Allein man mufs an Argos festhalten", Hermes X VIII 503. Da-
selbst wird 503fr. ausführlich erörtert, „wie mit dieser Datirung (der Andro-
inache auf Ol. 8i>, 2) die Beziehung auf die argivischen Händel vereinbar ist.")
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÜDIE. II. GRUPPE. DIE BLLTHEZEIT. III. EÜRIP. 545
Dafs Alkibiades die Abfassung dieses Gelegenheitsgedichtes nicht einem
der namhaften Mehker, welche zu solchen Diensten immer bereit
waren, sondern einem Tragiker, dem diese Aufgabe sehr fern lag,
übertrug, setzt ein intimeres Verhältnifs voraus. Die Andromache
aber beweist, wie Euripides ganz auf die Pläne des Alkibiades ein-
ging; denn das Drama verfolgt sichtlich den Zweck, die Zuhörer
gegen Sparta aufzureizen.^) Nachdem Andromache erkannt hat,
dafs sie von Menelaus hinterlistig getäuscht ist, macht sich ihr Un-
willen in leidenschafthcher Rede Luft.*^°) Aber es ist sehr bezeich-
nend, dafs diese rauhen Worte nicht sowohl gegen den Schuldigen,
sondern gegen die Spartaner insgesammt gerichtet sind; nicht die
Leidenschaft, welche übertreibt und verallgemeinert, spricht hier aus
Andromache, sondern der Dichter trägt nur Sorge, dafs kein Zwei-
fel aufkomme, wem die schwere Anklage eigentlich gelte. Die Spar-
taner sind ihm die verhafstesten aller Menschen, durchaus unredlich
und ränkevoll; sehr mit Unrecht nehmen sie eine bevorzugte Stel-
lung in Griechenland ein. Grausamkeit und Mordlust"*), schnöde
Habsucht*'*), vor allem aber Unzuverlässigkeit und Perfidiewird ihnen
Schuld gegeben. Der Vorwurf, am liebsten krumme Wege zu wan-
deln, selbst wo der gerade ebenso gut zum Ziele führte, war den
Spartanern oft genug und nicht ohne Grund gemacht worden**');
239) Man hat freilich auch in den Schlufsworten der Tragödie 1280 ff.,
wo Peleus die Bemerkung macht, man solle bei der Wahl der Gattin nicht
auf Reichthum, sondern auf Adel (der Geburt) sehen, den Grundgedanken der
Tragödie zu finden geglaubt. Aber dem Dichter kam es vor allem darauf an,
nach herkömmlicher Weise mit einem allgemeinen Gedanken abzuschliefsen,
und er wählt die Gnome, die sich zunächst darbot, vielleicht in der Absicht,
den eigentlichen Zweck des Dramas zu verhüllen ; doch mag auch ein beson-
deres Motiv mitgewirkt haben, s. unten S. 547.
240) Andrem. 445 ff. Dafs der Dichter sich der Maske der Andromache
nur bedient, um seine eigenen Ansichten vorzutragen, erkennen schon die alten
Erklärer. [Hermes XVUI 49S.]
241) Hier denkt man zunächst an die in Sparta traditionelle unmensch-
liche Behandlung der Hörigen, z. B. an das entsetzliche Blutbad, welches die
Spartaner anrichteten, indem sie zweitausend der kriegstüchtigsten Heloten er-
mordeten, Thukyd. IV 80.
242) Ein Erbfehler der Spartaner, vor dem sie schon vor langer Zeit das
delphische Orakel gewarnt hatte.
243) So von Aristophanes in den Acharnern 308 (Ol. 88, 3). Unwillkür-
lich erinnern die Anklagen bei Euripides an die Worte des Herodot IX 54:
liergk, Griecb. Literaturgeicbichte III. 35
546 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. tUIl. G.
aber eben jetzt hatte Alkibiades diese Anklage vor der albenisclien
Volksgemeinde angesichts der anwesenden spartanischen Gesandten
mit frecher Stirn ausgesprociien.*") Denn um das Ansehen des
Nikias daheim wie auswärts zu schwächen, um das gegenseitige Mifs-
trauen der Athener und Spartaner zu steigern, hatte sich Alkibiades
in das Vertrauen der lakonischen Abgeordneten eingeschlichen und
sie zu einer unwahren Aussage vor der Volksversammlung über-
redet. Diese alles Mafs überschreitende Perfidie, welche ganz ge-
eignet war, das Verhältnifs zwischen beiden Staaten für immer zu
vergiften, niufste jedem ehrhchen Manne zu Athen die Schamröthe
in die Wangen treiben. Auch mifsbiUigte man, als die nichtswür-
dige Intrigue des Alkibiades bekannt ward""*), allgemein sein Ver-
fahren, liefs sich aber doch gern die Resultate dieser ränkevollen
Politik gefallen."'') Die öffentliche Moral war eben schon lief er-
schüttert. So darf man sich nicht wundern, wenn Euripides noch
weiter geht und geradezu wörtlich den Vorwurf, den der gewissen-
lose Alkibiades damals gegen Sparta erhoben hatte, auf der Bühne
wiederholt.*") Der Dichter hat hier nicht, wie wohl anderwärts,
einen Zug der Gegenwart auf die dramatische Handlung übertragen,
um das Bild der fernen Vergangenheit zu beleben, sondern er han-
delt hier ganz als Partei- und Gesinnungsgenosse des rücksichtslosen
Staatsmannes, unbeirrt durch jedes moralische Bedenken; denn nie-
iniarüfiBvot ra yJaxeSat/uoviori' ^govr/fiara töi äXXa (p^oreornov xai a/./.a
hyovTcov. Es ist wohl denkbar, dafs man damals in Athen auf das Zeugnifs
des Historikers, dessen Werk bereits veröfFenllicht war, besonderes Gewicht
legte.
244) Thukyd. V 45: ßovXöftevos 8e avroie Ntxiov re anoartaat zai^a
t'noaxisv, *cal onaie iv jcp Sr^fKo SiaßaXu)%' avroCs, co: ovSir aXtjd'ii iv vio
Ixovaiv oiSi Xiyovaiv ovSe'nore laviä, rovt yi^yeiovi xai HXeioits xai Mav-
ttriui avfi/itaxovs Tion'iarj. Vgl. auch Plutarch Alk. c. 14.
245) Alkibiades war frech genug, um sich seiner gelungenen Perfidie zu
rühmen, und die spartanischen Gesandten werden auch niclit geschwiegen
haben.
246) Plutarch Alk. c. 15.
247) Man vergleiche die Verse des Euripides 446 ff. 2nä^xr,s ivomot, SöXia
ßovXtvtr,(/ta, xf'txSwv uvaxrti, ftr,xnro^Qi'i<fOi xoxöT»', iXixxa xovSiv iytie,
aXXit nar ni^i^ fQotovvrei mit der Darstellung bei Plutarch Alk. c. 14; ev&i'i
i ovv IfJXxißiüSr^* ivixtixo fttia xQavYtjS xai i QY'.S i fiam(t otx adixän; aXX'
uStxovfitfOt . nnicxoxt xal naXfiißoX^vi anoxaXcöy xai ftt^Hir lytii fit\%£
n^ü^at fir^i tlniiv i\xorxai.
DIE DRAM, POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III.ELRIP. 547
mals weniger hatte man in Athen ein Recht, über die ArgHst der
Lakonier zu klagen.
Alles ist darauf angelegt, Sparta so viel als möglich herabzu-
setzen, dem allgemeinen Hasse und der Verachtung preiszugeben.
Jlenelaus wird daher von der Andromache und von Peleus mit dem
ausgesuchtesten Hohne überhäuft; namenthch mufs er wiederholt
den Vorwurf der Feigheit hören. So wird auch die unweibliche
Erziehung der spartanischen Jungfrauen getadelt und geradezu ge-
sagt, in Sparta könne es keine sittsame Frau geben."')
Noch manche versteckte Beziehung, die uns nur nicht recht
klar ist, mag die Tragödie enthalten. So rügt Peleus mit bitteren
Worten die Sitte der Hellenen, einen gewonnenen Sieg dem Feld-
herrn zuzuschreiben, der doch nicht mehr dazu gethan habe als jeder
Einzelne im Heere; dabei wird nachdrückhch der Stolz und Ueber-
muth der Führer gegeifsell, welche mit Geringschätzung auf die
Masse des Volkes herabsehen, die doch eigentlich an Einsicht und,
wenn sie nur wolle, an Macht viel höher stehe."®) Diese Worte
sind zwar an Menelaus gerichtet, können aber nicht auf Sparta
zielen; wahrscheinlich leiht Euripides hier nur der gehässigen Stim-
mung Worte, welche in dem Kreise des Alkibiades und seiner Ge-
nossen damals gegen Männer wie Nikias und Laches herrschte, und
in dem überwiegend demokratisch gesinnten Argos konnten solche
Aeufserungen nur den lebhaftesten Beifall finden. Wenn derselbe
Peleus im Wortwechsel mit Menelaus einem jeden, der freien wolle,
sich eine brave Frau zu wählen empfiehlt^), so sind diese Worte
direkt an die Zuhörer gerichtet und müssen, da Peleus am Schlufs
der Tragödie nochmals darauf zurückkommt und auch der Chor sich
in ähnlichem Sinne äufsert"'), eine besondere Bedeutung haben ;
denn durch die Situation selbst läfst sich dieser Gedanke nicht ge-
nügend rechtfertigen. Eher läfst man es sich gefallen, dafs Peleus
die Vertheidigung des Rechtes illegitimer Rinder übernimmt.*"*) Bei
Euripides weifs man eben nicht, ob ein besonderer Anlafs und ten-
248) Andromache 595 ff.
249) Andromache 694 ft.
250) Andromache 623, wo schon der Scholiast bemerkt: StaXt'yerai ji^de
&iaTQOV.
251) Andromache 12S0 und 769 ff.«
252) Andromache 636.
35*
548 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
denziöse Absicht solchen Aeufserungen zu Grunde Hegt oder ob er
nur seinem Hange folgt, streitige Fragen, mit denen die Zeit sich
gerade beschäftigte, beiläufig zu erörtern.
Wenn wir die Aufführung der Andromache in die nächste Zeil
nach dem Abschlüsse des Friedens mit Sparta, in Ol. 90, 1 oder 2,
setzen, so stimmt damit der ganze Charakter des Dramas vollkom-
men ; denn hier tritt uns bereits in klar ausgeprägten Zügen die
Manier entgegen, welche das letzte Stadium der dichterischen Thätig-
keit des Euripides kennzeichnet. So macht sich die Verstimmung
des Dichters in zahlreichen Invektiven gegen die Frauen Luft; die
Abneigung gegen Sparta wird offen zur Schau getragen, gegen die
Orakel bald im Tone schüchternen Zweifels polemisirt, bald laute
Anklage erhoben'"), alles Züge, welche fast in jeder Arbeit des
Greiseuallers bei Euripides bis zum Ueberdrusse wiederkehren. Die
Sorglosigkeit, mit der die Oekonomie des Dramas gehandhabt wird,
obwohl zuweilen auch in den früheren Stücken wahrnehmbar, ist
im Zunehmen begriffen. Indem der Dichter eine Fülle von Stoff
in einem engen Räume zusammendrängt, kann er mit dem Gesetze
der Einheit der Zeit nicht recht auskommen*"), und, was ein weit
gröfserer Fehler ist, die Einheit der Handlung wird preisgegeben.
Die Behandlung der Charaktere ist durchaus im Geiste dieser Epoche
gehahen. Die reahstische Weise des Euripides streift den idealen
Schimmer, welcher die hellenische Heroenwelt umgiebt, mehr und
mehr ab. Diese heroischen Figuren haben einen einfachen, aber
sehr bestimmten Charakter. Euripides behandelt die Gestalten der
alten Sagenwelt, an die er nicht mehr glaubt, mit äufserster Will-
kür, so dafs man sie oft kaum wiedererkennt. Er macht sie beliebig
zu Trägern eigener Gedanken, und indem er ihnen concretes Leben
einzuhauchen sucht, zieht er nicht nur die, welche er mit sicht-
253) Andromache 1036. 1165. Bei der Schilderung der Ermordung des
Neoptolemus wird die delphische Gemeinde im ungünstigsten Lichte dargestellt,
und nachher (1241) ihr Benehmen geradezu schmachvoll genannt. Die Partei-
nahme des delphischen Orakels für Sparta und die Mittel, welche die Lako-
nier angewandt hatten, um die Vorsteher des Ileiligthums zu gewinnen, Maren
allgemein bekannt. Daraus erklärt sich die feindselige Stimmung des attischen
Dichters zur Genüge.
254) Die Ermordung des Neoptolemus in Delphi wird gemeldet, nachdem
Orestes, der Anstifter der Frevelthat, eben erst Phthia verlassen hatte, um
seinen Plan aussuföhren.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRIPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III. ELRIP. 549
lieber Ungunst behandelt, wie bier den Menelaus, Orestes und Her-
mione, berab, sondern der Andromacbe und dem Peleus, für die er
doch unser Interesse gewinnen will, ergebt es nicht viel besser.
Unbekümmert um die innere Wahrheit des Charakterbildes, folgt
Euripides ganz seiner Neigung zur Situationsmalerei und schlagfer-
tigen Rhetorik. Ein jeder führt seine Sache wie ein wohlgeschulter
Redner vor Gericht oder in der Volksversammlung; nicht selten
werden Fragen berührt, die dem Gegen stände völlig fremd sind.'*')
Ueberall aber giebt sich ein entschieden leidenschaftliches Wesen, eine
Hast und verzehrende Unruhe kund; so bat auch die Darstellung
gerade in dieser Tragödie etwas Abspringendes; die Gedankenreibe
wird nicht festgehalten, entgegengesetzte Ideen berühren sich öfter
unmittelbar.
Auch die Verse des Dialoges verralhen durch die zunehmende
Zahl der Auflösungen"*) sehr deutlich das Nachlassen von der frühe-
ren Strenge der Technik, während die ChorHeder noch die leichte
Eleganz und Sauberkeit der Form wahren ; aber sie lösen sich mehr
und mehr von der dramatischen Handlung ab. Der Chor der Tra-
gödie besteht aus einheimischen Frauen, welche in der Parodos ihre
Theilnahme mit dem traurigen Geschick der Andromacbe ausspre-
chen; aber diese Theilnahme, welche der Chor auch später bekun-
det, hat etwas SchwächUches. Das erste Stasimon "^) zieht sich auf
die Betrachtung der Vergangenheit zurück. Der Chor bezeichnet den
Streit der drei Göttinnen um den Preis der Schönheit als den An-
fang des Unheils und macht den Paris für alle Leiden, welche ebenso
die Troianer wie die Hellenen heimsuchten, verantworüch. Das
zweite Stasimon*") knüpft zwar an die Situation an, lenkt dann aber
gleich zu Reflexionen über die damalige politische Lage Griechenlands
ein. Wie eine vollständige Zerrüttung des Familienlebens nothwendig
eintritt, wenn die Neigung des Mannes zwischen der rechtmäfsigen
Gattin und einer anderen Frau sich theilt, so ist jede Doppelherr-
255) Man vergleiche nur das seltsame Gestandnirs der Hermione 931 —
954, wo das Thema xaxwv ywaitccov e'CaoSoC /u^ oTiäXeaav ganz in der sub-
jektiven Anschauungsweise des Euripides erörtert wird und durchaus die Fär-
bung der Zeit an sich trägt.
256) In der Andromache kommen 143 Auflösungen vor.
257) Andromache 274.
25S) Andromache 464.
550 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Schaft für den Staat verderblich, der zumal in gefahrvoller Zeit eines
kräftigen, einheitlichen Regiments bedarf. Dies zielt nicht etwa auf
die beiden Königshäuser in Sparta, denn diese Institution war damals
nur noch eine historische Reliquie ohne alle Redeutung, sondern auf
die inneren Zustände der griechischen Staaten"'), wo der Kainj)!
der feindlichen Faktionen, welche um die Herrschaft rangen, jede
gedeihliche Entwicklung, jede feste Leitung unmöglich machte. Das
dritte Chorhed^") ergehl sich zunächst in allgemeinen Retrachtungen
über die Vorzüge des Adels der Geburt und ererbten Resitzes, wenn
damit sittliche Tüchtigkeit verbunden ist, und verweilt dann bei den
Heldenthaten, welche Peleus in jungen Jahren im Centaiirenkarapfe,
als Theilnehmer der Argonautenfahrt und als Regleiter des Herakles
vor Troia vollbracht hatte. Hier leuchtet die Reziehung auf die
dramatische Handlung noch durch, während in dem letzten Liede'"'),
in der Schilderung der verhängnifsvollen Folgen des troischen Krie-
ges für alle Theile, die Hindeutung auf Hermione und Orestes als
rein äufserliche Zuthat erscheint. Eigenthümlich ist, dafs nach dem
Prologe noch vor dem Auftreten des Chores Andromache, indem sie
bei dem Heiligthume der Thetis Schutz sucht, einen kurzen Klag-
gesang in elegischem Versmafse anstimmt.'^'') Diese Form ist sonst
der Tragödie fremd, wird aber hier nicht unpassend angewandt, da
sie das argivische Publikum an die alten aulödischen Nomen erin-
nern mufste, welche dort gewifs noch nicht vergessen waren.
[Die Resprechung der Ilekabe, des Ion, des rasenden
Herakles und der Troerinnen (91, 1) liegt im Manuskript nicht
vor: auch der Aufsatz bei Ersch und Gruber bietet hierzu keine
Ergänzung.]
Eiekira. Wäre uns die dramatische Literatur der Griechen vollständiger
erhallen, könnten wir überall, wo jüngere Dichter einen schon früher
behandelten Stoff wieder auf die Rühne bringen, eine Vergleichung
anstellen, dann dürfte unser Urtheil vielfach anders ausfallen. Nicht
259) So stand in Alhen damals die Hc(ärie des Alkibiades dem Nikias
und den Aniiängern des Bestehenden gesrenüber, und ähnlicher Art waren die
Verhältnisse der meisten anderen Staaten; selbst das stabile Sparta blieb von
diesem Gegensatze nicht verschont. Euripides redet in diesem Chorliede ganz
offen der Tyrannis das Wort 4SI ff.
2ÜÜ) Andromache 7G6.
261) Andromache 1009.
262) Andromache 103.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRIPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III. ELRIP. 551
nur das Verdienst der neuen Bearbeitung würde klarer hervortreten,
sondern auch manche Verirrung im günstigen Lichte erscheinen.
An dem Muttermorde des Orestes haben die drei grofsen Tragiker
sich wetteifernd versucht; wir sind so glücklich, diese Dramen un-
versehrt zu besitzen, und können die Leistungen dieser Dichter genau
gegen einander abwägen. Während aber Sophokles, obwohl er seinem
Vorgänger vieles schuldet, selbständig die Aufgabe löst und seine
reiche dichterische Begabung glänzend bewährt, doch so, dafs die
einfache Gröfse des Aeschylus daneben ihren Werth behauptet, zeigt
sich bei Euripides ein entschiedener Abfall, und wenn man auch
seine ungünstige Stellung gegenüber den beiden älteren Meistern
berücksichtigt, so lassen sich doch damit seine Mifsgriffe nicht ent-
schuldigen. Euripides hätte eben besser gethan , von diesem Ver-
suche ganz abzustehen.
Die Zeit der Aufführung ist weder bei der Elektra des Sopho-
kles, noch des Euripides urkundüch überiiefert; dafs jedoch das
Stück des Sophokles dem reiferen mänuHchen Alter des Dichters
angehört, ist gewifs, Euripides kannte die Arbeit seines Rivalen, als
er seine Elektra schrieb, die, wie eine unverkennbare Anspielung
auf gleichzeitige Ereignisse andeutet, während des sicilischen Feld-
zuges gedichtet ward.^^) Die Tragödie ist wahrscheinhch Ol. 91, 2
an den städtischen Dionysien gegeben, als die Athener neue Ver-
stärkungen nach Sicilien absandten. In dieser Zeit, wo die Stadt
durch den Hermokopidenprocefs noch immer aufgeregt war, wo der
allgemeine Unwille sich gegen den geächteten Alkibiades wandte,
der sich ins Heerlager der Gegner begeben halte und die Spartaner
mit Rath und That unterstützte, in diesem Momente erscheint jene
V^'arnung vor den eidbrüchigen, fluch- und schuldbeladenen Frev-
lern, welche gegen Ende des Stückes die Dioskuren eindringlich aus-
sprechen, wohl motivirt. Und wenn Euripides mit klaren Worten
seine Helena in Aussicht stellt*"), welche Ol. 91, 4 aufgeführt wurde,
so dient dies nur zur Unterstützung dieser Zeitbestimmung. Die
Elektra rückt also unmittelbar an die Troaden heran. Wenn die Verse
des Dialoges hier minder nachlässig behandelt sind als dort***), so
263) Euripides Elektra 1347—1356.-
264) Elektra 12S0 ff.
2651 la der Elektra finden sich etwa 174 Auflösungen in 1060 Trimelern,
in den Troaden 203 Auflösungen in 850 Versen.
552 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
hat eben der Dichter auf diese Arbeit etwas mehr Sorgfalt ver-
wendet.
Den Orestes hatte Eiiripides wohl zum ersten Male, jedoch nur
als Nebenfigur, in der Andromache eingeführt; jetzt benutzt er die
Orestessage, die er in jüngeren Jahren absichlHch hatte liegen lassen,
weil der Stoff von den Früheren schon vielfach bearbeitet war, zu
mehreren Dramen, und unverzagt macht er sich gleich an das schwie-
rigste Problem, den Tod der Klytämnestra und des Aegisthus, in
der Hoffnung, dafs es ihm geUngen werde, dem Thema eine neue
Seite abzugewinnen.
Taurische Das Jahr der Aufführung dieser Tragödie ist unbekannt ; deut-
p igencia. j.^j^^ Anspielungen auf Zeitverhältnisse, welche anderwärts einen
Anhalt gewähren, fehlen, und dem Dichter, der sich hier von jenem
willkürhchen Hereinziehen der Gegenwart fern hält, darf die ver-
diente Anerkennung nicht versagt werden. Wenn nun in der Elektra,
deren Aufführung wir Ol. 91, 2 ansetzten, am Schlüsse auf die Frei-
sprechung von Orestes vor dem Gerichte des Areopags und seine
Ansiedelung in Arkadien hingewiesen wird, ohne der weiteren Ver-
folgung der Erinnyen und der Falirt des Orestes zu den Taurern
zu gedenken, so mufs die Iphigeneia später gedichtet sein. Denn
hätte Euripides damals bereits dieses Thema behandelt, so würde
er gewifs nicht jeder Beziehung auf seine Arbeit geflissentlich aus-
weichen. Aufserdem erinnert die Anlage und Composition dieses
Dramas ganz unverkennbar an die Helena (Ol. 91, 4 aufgeführt).
Man hat daher nicht mit Unrecht diese Dichtungen als gleichzeitig
bezeichnet. Aber eben weil beide Stücke einander so ähnUch sind,
können sie unmöglich zu demselben Dramencyklus gehört haben.
Die Iphigeneia wird ein Jahr früher, Ol. 91, 3, aufgeführt sein. Nun
wird freilich in der Elektra die Helena sebr bestimmt in Aussicht
gestellt; der Plan dieser Tragödie mufs schon damals im Ganzen
und Grofsen festgestanden haben, während die Erlösung des Orestes
vom Fluche des Muttermordes zwar berührt wird, aber ohne jede
Andeutung, dafs der Tragiker auch diesen Vorwurf in eigenthüni-
licher Weise zu behandeln beabsichtigte. Indes Euripides konnte
die Helena zurücklegen, um vorerst das andere Tliema auszuführen;
denn die Iphigeneia in die nächsten Jahre nach der Helena zu ver-
legen erscheint nicht gerathen. In dieser unruhigen, aufgeregten
Zeit während der inneren und äufseren Bedrängnisse .Athens nach
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III.EURIP. 553
der sicilisclien Niederlage vermochte Euripides, dessen Gemüth so
sehr durch die Eindrücke der Aufsenwelt bestimmt zu werden pflegt,
schwerlich ein Werk wie die Iphigeneia zu schaffen.
Aufserdem weisen gewisse Merkmale die Dichtung eben jener
Epoche zu. Wiederholt wird über das Trügerische der Orakel ge-
klagt, die den Menschen, statt ihn sicher zu leiten, vielmehr ins
Verderben stürzen. Allerdings bot die dramatische Situation Anlafs
zu solchen Aeufserungen dar, aber der leidenschaftliche, gereizte Ton
dieser Anklagen entspringt offenbar aus der persönlichen Gemüihs-
verfassung des Dichters. Nun stofsen wir aber auf ähnhche Aeufse-
rungen vorzugsweise in den Dramen, die in die Periode des siciliscfaen
Krieges fallen. Nach dem unglücklichen Ausgange jener Unterneh-
mung, nach dem Scheitern aller Hoffnungen war diese Stimmung
in Athen allgemein verbreitet. Euripides, der gleich anfangs die
Täuschungen, denen die urtheilslose Menge wiUig Glauben schenkte,
durchschaut hatte, spricht sich rechtzeitig mit aller Entschiedenheit
in diesem Sinne aus, noch ehe die Dinge jene unglückHche Wen-
dung nahmen. Nicht minder deutet die nachlässigere Art, mit welcher
der Trimeter im Dialog behandelt wird, auf dieselbe Zeit hin.^)
Die Helena ward gleichzeitig mit der Andromeda Ol. 91, 4 Helena,
aufgeführt '^^), und wenn sie auch nicht in dem Grade die Gemüther
bezauberte wie jene mit allen Reizmitteln der Euripideischen Kunst
reich ausgestattete Tragödie, so mufsten doch schon die kühnen
Neuerungen, welche der Dichter mit der Fabel der Helena vornahm,
Aufsehen erregen. Daher hat auch Aristophanes gleich im nächsten
266) In der Elektra ßnden sich ungefähr 174 Auflösungen (also etwas
weniger als in den Troaden, die das Jahr vorher, 01.91,1, geschrieben sind
und etwa 203 Auflösungen enthalten, ein Beweis, dafs der Dichter auf die
Elektra mehr Sorgfalt verwendet hat), in der Iphigeneia 2S3, in der Helena 390
aufgelöste Versfüfse. Der Umfang der Helena ist eben bedeutender; auch war
diese Tragödie wohl das dritte Stück der Tetralogie, sie verräth auch sonst
Spuren flüchtigen Arbeitens. Jedenfalls erkennt man deutlich das Zunehmen
dieser lässigen Handhabung der metrischen Technik.
267) Schol. Aristophan. Thesm. 1012: awSeSiSaxzai (17 livS^ofit'Sn) rf,
'EXevT}, vgl. ebend. 1060: insl Tteqvaiv kSiBäxdr^ r, 'AvSoofieSa. Welche Dra-
men mit der Andromeda und Helena verbunden waren, wissen wir nicht, keinen-
falls die taurische Iphigeneia. Eher könnte man an die weise Melanippe denken,
die jedenfalls in diesen Jahren gedichtet ist; doch ist auch diese Combination
nicht eben wahrscheinlich, da Euripides, der für Mannigfaltigkeit sorgt, schwer-
lich drei Frauen hinter einander als Hauptpersonen vorgeführt haben wird.
554 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. 0.
Jahre Ol. 92, 1 in seinen Thesmophoriazusen, wo er die Manier des
Euripides einer scharfen Kritik unterzieht, aufser der Andromeda
zumeist die Helena benutzt, um mit freiem Humor die tragischen
Situationen für seine komischen Zwecke zu verwerthen.*®®J Beide
Tragödien zeigen eine unverkennbare nahe Verwandtschaft. Die Vor-
liebe für das Ungewöhnliche, der romantische Zug, der dem Euri-
pides eigen ist, tritt deutüch hervor. Der Schauplatz, hier das alte
Wunderland Aegypten, dort die libysche Küste, ist beide Mal in
weite Ferne gerückt. In beiden Tragödien füllt den Frauen die
Hauptrolle zu. Hier wird Helena, die schönste der Frauen, aus der
Verbannung im Barbarenlande erlöst, und nach langer Trennung mit
ihrem Gatten neu verbunden, kehrt sie in die Heimath zurück; dort
wird die hbysche Königstochter durch einen hellenischen Helden,
den die wunderbare Schönheit der fremden Jungfrau fesselt, dem
Tode entrissen und nach Argos geführt. Hier wird mit grofser
Kühnheit die alte Sage in völlig neue Form gegossen und uns zu-
gemuthet, das Seltsamste für wirkHch oder doch möglich zu halten ;
dort erscheint das Wunderbare und Alterthümlichc nicht minder frei
mit Elementen modernster Bildung versetzt.
Schon am Schlüsse der Elektra'^''") deutet Euripides darauf hin.
dafs er mit der Conception dieses Dramas beschäftigt war. Denn
ohne dafs die Fabel jenes Stückes irgend einen Anlafs gegeben hätte,
flicht er ein, nur Helenas Scheinbild sei nach Troia entführt wor-
den, damit nach dem Bathschlusse des Zeus der Brand des verderb-
lichen Krieges sich entzünde; Helena habe die ganze Zeit in Aegyp-
ten im Hause des Proteus zugebracht und werde mit ihrem Gatten
wieder heimkehren.
Die Homerische Odyssee läfst den Menelaus mit der Helena auf
der Rückfahrt von Troia in Aegypten verweilen.*'") Es ist begreif-
lich, dafs, als später hellenische Ansiedler sich hier niederliefsen und
wifsbegierige Reisende immer zahlreicher das alte Culturland am Nil
aufsuchten, man eifrig den Spuren der heimisehen Heldensage nach-
ging. Da nun Stesichorus in seiner Palinodie, um den Ruf der
Helena zu retten, gedichtet hatte, die Troer hätten stall der wirk-
268) Aristoph. Thesmoph. 850 ff. Der Doppelsinn , welcher
vfjv 'Ekt'vTjv fiifiTjaofiai liegt, ist nicht zu verkennen.
200) Euripides Klektra 1280 fr.
270) Homer» Odyss. IV 227 ff.
III
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRIPPE. DIE BLLTHEZEIT. III. EURIP. 555
liehen Helena nur ein Schattenbild heimgebracht^*), so entstand
in den Kreisen der ägyptischen Fremdenführer jene seltsame Um-
bildung der Sage, welche Herodot berichtet.^'^) Paris, vom Sturm
verschlagen, landet an der Mündung des ISils mit der entführten
Helena und dem geraubten Gute. König Proteus (denn der Home-
rische Meergreis verwandelt sich hier in den Gebieter von Memphis)
hält auf strenges Recht und nimmt dem Entführer die Helena sammt
den Schätzen ab. Paris zieht allein nach Troia, während Helena
in Aegypten zurückbleibt. Daher sehen sich die Achäer nach der
Eroberung Troias, wo sie die Urheberin des Krieges zu finden hoff-
ten, in ihrer Erwartung getäuscht. Erst auf der Rückfahrt wird
Menelaus in Aegypten wieder mit seiner Gattin vereinigt.
Das Trugbild der Helena entlehnt Euripides dem Stesichorus;
die Vorstellung von dem Rathschlusse des Zeus, als er den troischen
Krieg anfachte, verdankt der Tragiker dem kyprischen Epos. Auf
Herodot und die ägyptische Legende ist der Aufenthalt der wahren
Helena am Nilstrom und ihre Wiedervereinigung mit Menelaus zu-
rückzuführen. Proteus erscheint bei Euripides wie in jener Le-
gende als Landesfürst; nur ist er nach der Tragödie bereits ver-
storben und ihm sein Sohn in der Regierung gefolgt^"), der für
die Absichten des Dichters brauchbarer war als der greise Vater.
Aus der hülfreichen Meerfei Eidothea in der Odyssee macht Euri-
pides die weise und zugleich wohlwollende Seherin Theonoe.
Im Prolog beklagt Helena ihr trauriges Loos. Hera hatte ein
luftiges Schattenbild, welches der Helena glich, untergeschoben, und
Paris hatte, im Glauben, die schönste der Frauen zu besitzen, diese
Truggestalt nach Troia geführt, während die wirkhche Helena an
der Mündung des Nils unter Barbaren verweilt. So dient alles dem
Rathschlusse des Zeus, welcher den Krieg entzündete, um die Mutter
Erde von der allzu grofsen Menschenmenge zu befreien und den
gewalligsten Helden in Hellas mit Ruhm zu verherrlichen. ^A'ährend
Helena als Verrätherin an ihrem Galten, als Urheberin eines un-
271) Stesichorus hat schwerlicli die Eutrückung der Helena nach Aegypten
gedichtet; dieser Zug wird wohl erst den späteren Berichterstattern verdankt,
272) Herodot U 112 fr.
273) Euripides nennt ihn 0soxXvftsvos; die Erinnerung an den Weissager
gleichen Namens in der Odyssee mag mitgewirkt haben, jedenfalls ist die Cor-
respondenz der Namen Osoxli^eroi und Osovörj nicht zufällig.
556 DRITTE PERIODE YOIS 500 BIS 300 V. CHR. G.
heilvollen Krieges erscheint und die Last dieser Verantwortlichkeit
sehr wohl empfindet, tröstet sie sich damit, dafs Hermes, als er sie
der Heimath entrückte, ihr verhiefs, sie würde einst noch an der
Seite des Gemahls die heimischen Fluren bewohnen. Um dem Gat-
ten die Treue zu wahren und dem yerhafsten Bündnisse mit dem
Aegypterkönige, der um ihre Hand wirbt, zu entgehen, flüchtet sich
Helena zu dem Grabe des Proteus. Da erscheint Teukrus, der an
der Küste gelandet war, um Theonoe über seine Zukunft zu befragen.
Er erkennt sofort die Helena und spricht unverhohlen seinen Ab-
scheu aus; aber Helena weifs ihr Geheimnifs zu wahren. Sie erhält
durch Teukrus Kunde von dem Schicksal der Ihrigen in der Heimalh"^),
von dem Falle Troias und der unheilvollen Rückfahrt. Von Menelaus
weifs Teukrus nur zu melden, dafs er für todt gelle. Helena beweint
in Gemeinschaft mit dem Chore ihr unsehges Geschick , sie wünscht,
dafs ihre Schönheit sich in das Gegentheil verwandeln möge, sie
klagt, dafs schhmmer Ruf ohne ihr Verschulden auf ihr laste, dafs
sie fern von der Heimalh und den Lieben unter Barbaren verweile.
Die einzige Hoffnung, dafs einst ihr Gemahl kommen und sie er-
lösen werde, ist dahin. Sie spricht ofTen aus, dafs sie nicht durch
das, was sie gethan, sondern durch seltsame Verkettung des Schick-
sals zu Grunde gehe, und ist entschlossen ihrem Leben selbst ein
Ende zu machen. Auf den Rath des Chores beschUefst Helena, da
sie von dem Tode des Menelaus nur unsichere Kunde hat, die
Schwester des ägyptischen Königs, die Seherin Theonoe, zu befragen.
Inzwischen erscheint Menelaus selbst vor dem Thore des könighchen
Palastes; wie ein zudringlicher Bettler von der alten Dienerin ab-
gewiesen, erPdhrt er, dafs Helena hier weilt. Helena, nachdem sie
von der Seherin vernommen hat, dafs ihr Gemahl noch lebt und
hierher kommen werde, kehrt zurück. Die fremdartige und doch
wohlbekannte Gestalt des Bettlers erschreckt die Helena. Auch Mene-
laus erkennt seine Gattin, mag aber noch weniger seinen Augen
trauen. Da überrascht ihn die Botscbaft seiner Genossen, dafs die
Frau , welche er bis hierher geführt und in einer Felsengrotte ver-
borgen hatte, plötzlich zum Himmel emporgestiegen sei und den
Trug der Hera enthüllt habe. Nun ist alle Noth vergessen ; die Gal-
len sehen sich nach langer Trennung wieder vereinigt. Auch der
274) Nach 136 sind ein Paar Verse ausgefallen, wo der Hermione ge-
dacht war. Tgl. 28r< uud 685.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III. ELRIP. 00 /
Bote, welcher anfangs dem wunderbaren Vorgange den Glauben ver-
sagte, bekennt offen seine Theilnahme an dem seltsamen Schick-
salswechsel seiner Gebieter und geht ab, um im Auftrage des Mene-
laus den Genossen zu melden, sie möchten am Meeresstrande des
Kampfes gewärtig sein, der dem Menelaus bevorstehe.
Menelaus und Helena verständigen sich , wenn ihnen der Weg
der Rettung verschlossen sei, lieber gemeinsam zu sterben. Als die
Seherin erscheint, fleht Helena sie um Hülfe an ; Menelaus aber er-
klärt, wenn man ihn der Gattin berauben wolle, so werde er mit
dem Könige auf Tod und Leben kämpfen, sollte man aber daran
denken, beide Galten durch die langsame Qual des Hungers zu
tödten, dann werde das Schwert ihnen Erlösung bringen. Die Sehe-
rin sagt zu das Geheimnifs zu bewahren und die Ankunft des Mene-
laus vor ihrem Bruder zu verbergeo. Alsbald verständigen sich die
Gatten über einen listigen Anschlag, der ihnen die Mittel zur Ret-
tung gewähren soll. Als der König erscheint, giebt Helena vor
durch den Fremden Nachricht von des Menelaus Tode erhalten zu
haben und verhelfst dem Fürsten ihre Hand zu reichen, wenn er
ihr vorher gestalte auf dem Meere ein Todtenopfer darzubringen.
Der König sagt bereitwiUig alles zu und gewälirt das Schiff nebst
den verlangten Opferthieren, Gewändern und Waffen.
Nach einem fremdartigen Chorgesange tritt Helena wieder auf,
um sich zu verabschieden und mit Menelaus das Schiff zu besteigen ;
der König, ohne Ahnung des Betruges, gebietet den Dienern in
allem dem Fremdlinge zu gehorchen. Bald aber kehrt einer von
den Schiffern zurück, der sich durch Schwimmen gerettet hatte, und
bringt die Kunde von dem gelungenen Verrathe. Des Königs Zorn
richtet sich gegen die Schwester, die er des Einverständnisses be-
schuldigt; er will den Fliehenden nacheilen, wird aber durch das
Erscheinen der Dioskuren zurückgehalten, welche ihm gebieten den
Willen des Zeus zu ehren, der in diesem Ausgange sich kund gebe.
Der Tragiker versucht sich an einer Apologie der Helena; denn
wenn die vielgescholtene Frau, welche als Urheberin eines lang-
wierigen, blutigen Krieges galt, um derenwillen so viele edle Helden
den Tod gefunden hatten, gar nicht dem Paris nach Troia folgte,
sondern in unfreiwilliger Verbannung in Aegypten verweilt und mit
treuer Liebe des Gatten eingedenk ist, dann wird ihre Schuld,
wenn auch nicht ganz getilgt, doch wesentlich gemindert. Ein sol-
558 DRITTE PEIIIÜDE VOA' 500 BIS 300 V. CHR. G.
dies Thema entspricht vollkomuien dem Geiste der Sophistik, welche
Lob und Tadel, Angrifl" und Rechtfertigung nicht nach objektivem
Mafse austheilt, sondern vor allem darauf bedacht ist, die bisher
gültige Auffassung zu verneinen und der Neigung zum Widerspruch
zu huldigen. Auch war es dem Euripides mit seiner Rechtfertigung
gar kein rechter Ernst; denn er kehrt alsbald zu der herkömm-
lichen Vorstellungsweise zurück.
Stesichorus konnte gemäfs der Freiheit, die dem Lyriker ge-
stattet ist, um den Zorn der Heroine zu besänftigen, erzählen, He-
lena habe nie ein Schiff betreten, nie den Boden Troias berührt;
nur ein wesenloses Schattenbild habe Paris entführt. Die Conse-
quenzen dieser freien Umgestaltung des Mythus liefsen sich hier
wohl verbergen. Anders ist die Stellung des dramatischen Dichters,
der die Thatsache in voller Gegenwärligkeit vor das Auge rückt;
denn wenn der grofse Kampf nur um eines täuschenden Schemens
willen unternommen wurde, dann wird der troischen Sage der feste
Boden entzogen, der Glaube an das, was bisher für wirklich gegol-
ten halte, aufs Tiefste erschüttert. Und das verbrauchte Mittel,
diesen abenteuerlichen Verlauf auf unmittelbare Veranstaltung der
Gölter zurückzuführen, erscheint als ein unzulänglicher Nothbehelf.
Aber gerade ein solches Waguifs halle in einer Zeit, die übersättigt,
nur noch für das Neue und Ungewohnte empfänghch ist, besonderen
Reiz, und nirgends erkennt man so deutlich wie hier die freie Art
des Euripides, mit der alten Ueberlieferung umzugehen, an die er
nicht mehr glaubt."')
Diese Tragödie zeigt eine aulTallende Aehnlichkeit mit der tau-
rischen Iphigeneia ; gleiche Situationen und Motive kehren in beiden
275) Es war ein ganz verfehlter Gedanke, wenn man die Helena für ein
politisches Gelegenheitsstück erklärt und überall versteckte Beziehungen auf
Alkibiades zu ßnden geglaubt hat, der berufen sei, Athen durch Anknüpfung
eines Bündnisses mit dem Perserkönige aus seiner gefährdeten Stellung zu
befreien. Nur die Einführung des Teukrus, dessen Stelle ebenso gut jeder an-
dere fahrende Achäerheld vertreten konnte, scheint nicht absichtslos. Die Grün-
dung des ky prischen Salamis (150) erinnert an die Stätte, wo Euripides ge-
boren ward und gern verweilte; der heimathlose Teukrus, der in Kypern ein
neues Vaterland fuidct, mufsle an die Athener erinnern, die sich damals nach
Kypern getlflchlet halten, wie Andokidcs. Attische Söldner und Abenlcurer
mochten namentlich den Euagoras bei seinen Unternehmungen unterstützen
vgl. Aristpph. Thesmoph. 44ß.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. H. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III. EURIP. 559
Dramen wieder. \Yider ihren Willen wird eine hellenische Frau in
fremdem Lande unter rohen Barbaren zurückgehalten ; da jeder Grieche,
der an diese unwirthhchen Küsten verschlagen wird, dem Tode ver-
fallen ist, erscheint alle Hoffnung auf Erlösung abgeschnitten. Den-
noch geschieht das Unerwartete; Helena wird durch ihren Gatten,
Iphigeneia durch den Bruder befreit, und in beiden Tragödien voll-
zieht sich dieser Schicksalswechsel mit Hülfe einer von weibhcher
Hand angelegten Intrigue, deren Opfer der arglose Gewalthaber wird.
Nur kommt in der Helena ein neues Motiv, die Liebe des Königs zu
der fremden Frau, hinzu. Auch der Chor besteht hier wie dort aus hel-
lenischen Frauen, welche in der Fremde treu zu der Heldin hallen."®)
Der Stoff, wie Euripides ihn zurecht macht, hat etwas Aben-
teuerUch-Phantastisches; allein die Behandlung ist überwiegend rea-
listisch. Jedoch vermifst man die lokale Färbung, wozu die fremd-
artige und zugleich wohlbekannte Umgebung schickUche Gelegenheit
darbot. Euripides liebt es, zumal in seinen älteren Stücken, Heroen
in armseliger Gestalt einzuführen, um Mitleid und Theilnahme zu
erwecken; so tritt auch hier der schiffbrüchige 3Ienelaus in zer-
limiptem Gewände auf, bettelt lun ein Almosen an fremder Thür
und mufs sich wie ein Landstreicher von der alten Dienerin ab-
weisen lassen.^^) Zuweilen streift die Tragödie hart an die Manier
des Lustspiels. Die Amphibolie des Ausdrucks übt bei Sophokles
vorzugsweise eine tragische Wirkung aus; hier hinterlassen diese
doppelsinnigen Reden, in denen sich z. B. Helena und Menelaus
ergehen, um den König zu täuschen und für ihren Plan zu gewin-
nen, durchaus den Eindruck einer Komödienscene. Ueberhaupt ist
das Motiv einer Doppelgängerin, welches unwillkürhch zu Verwechs-
lungen Anlafs geben mufste, weit mehr für ein Lustspiel als für
den Ernst und hohen Stil der Tragödie geeignet.
Die Wiedererkennung der Gatten wird nicht ohne Geschick,
aber in gewohnter Manier dargestellt; die Lösung des Knotens voll-
zieht sich in ganz oberQächlicher Weise durch Dazwischenkunft einer
Gottheit. Tieferes Interesse vermag uns keiner der Charaktere ein-
zuflöfsen, auch Helena nicht, deren Rechtfertigung eigentlich den
276) Wie die Anwesenheit hellenischer Frauen am Nilstrom zu recht-
fertigen sei, hat der Dichter, der es mit dem Moliviren nicht so genau nimmt,
verschwiegen.
277) Vgl. Helena 414 ff. 437 ff. (790) und 1204.
560 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Vorwurf des Dramas bildet."*) Jene Homerische Kunst, welche alles,
was sie berührt, adelt, welche selbst da, wo sie Unrecht und Frevel
schildert, uns wärmeren Antheil abzugewinnen versteht, war eben
dem Euripides versagt. Einen wohlthuenden Eindruck macht nur
die prophetische Jungfrau Theonoe, obwohl selbst diese reine Gestalt
aus den Conflikten des Lebens nicht unversehrt hervorgeht"'); denn
der Anhauch der Lüge trübt auch ihren lauteren Sinn. Ihr Bruder
erscheint als ein stumpfsinniger Barbar, der den ziemlich durch-
sichtig angelegten Anschlag nicht durchschaut, und nachdem Helena
und Menelaus seiner Macht entrückt sind, an der Schwester Rache
nehmen will, die er des Verrathes zeiht. Von der rhetorischen Kunst
wird ausgiebiger Gebrauch gemacht ; der Dichter sorgt sichtlich da-
für, dafs nach den Regeln der Technik jeder zu seinem Rechte
kommt und seine Ansicht gebührend geltend macht.^*°) Die Gütter-
welt wird in echt rationahstischer Weise verwendet ''*'); nur werden
blasphemische Ausfalle vermieden.**'^) Jedoch die Polemik gegen Ora-
kel, in den Tragödien dieser Epoche ein stehendes Thema, fehlt
auch hier nicht.*"}
Der Chor hat in diesem Drama, welches zu den umfangreich-
sten gehört***), anfangs eine ganz untergeordnete Stellung.**'} Erst
278) Menelaus ist nur das gefügige Werkzeug der Intrigue, welche Frauen-
hst ausgesonnen hat; Helena selbst leitet 1049 ihren Vorschlag mit den Wor-
ten ein: eixovaov, fjv ri xal yvvrj Xs^tj ooföv. Verletzend ist vor allem, dafs
Helena zum Scheine in die Heirath mit dem Könige einwilligt.
279) Vgl. Helena 1370. Theonoe selbst rechtfertigt ausführlich ihren Ent-
schlufs 1000 fr.
280) Nachdem Helena mit dialektischer Gewandtheil ihre Sache der Theonoe
gegenüber geführt hat, fordert der Chor den Menelaus zum Reden auf 945:
TOvi Se MsvtXeoi nod'cö Xöyovs axovaai rivae ä^el ■^fjvx,r,i negi. Nicht aus
innerem Antriebe handeln und reden die Personen, sondern der Dichter dirigirt
nach Belieben die dramatischen Figuren.
281) Vgl. aufser dem Prologe 878 ff.
282) Doch kann Euripides seine frivole Art, wenn er des Zeus gedenkt,
auch hier nicht unterdrücken, s. 490. Man beachte auch den herausfordernden
Ton 1441, sowie die wiederholte Klage, dafs der Mensch und sein Schicksal
ein Spielzeug der Götter sei (711. 1138).
283) Helena 744 ff.
284) Auf dieses Stück kommen nahezu 1700 Verse; es wird das drille
Stück der Tetralogie gewesen sein; daher tritt auch Theonoe unter K;ukpl!u'-
gleilung auf (8(35).
285) Die Bühnengesäiige der Helena bieten dnfür Ersatz.
DfE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. 11. GRUPPE. DIE RLüTHEZEIT. III.EL'RIP. 561
im letzten Theile tritt er mehr in den Vordergrund. Wenn er in
einem langen Gesänge-*®) Helenas Unglück beklagt, die Leiden des
Krieges schildert und seine friedliebende Gesinnung offen bekundet,
so sind diese Aeufserungen der Situation nicht unangemessen, mufs-
ten aber zugleich den Zuschauer an die unmittelbare Gegenwart er-
innern.**^) Das vorletzte Chorhed erscheint völlig von der Handlung
losgelöst^**); nur knüpft der Schlufs'*^) nicht undeutlich an die dio-
nysische Festfeier an, an welcher das Drama über die Bretter ging.
Doch liegt vielleicht dem Ganzen eine versteckte, uns unverständliche
Beziehung zu Grunde. Besser erfüllt der letzte Gesang**') seine Be-
stimmung.
[Die Analyse des Orestes fehlt.]
Wenn wir auf den Orestes die Phönissen folgen lassen, soPbönissen.
läfst sich zwar die Zeit der Aufführung dieses Dramas nicht genau
feststellen, doch gehört es jedenfalls zu den letzten Arbeiten, welche
Euripides, bevor er Athen verliefs, auf die Bühne brachte.*^') Die
286) Helena 1107 ff. Die Gedanken sind in diesem Chorliede merkwürdig
durch einander geworfen; man erkennt in diesem Mangel an Znsammenhang die
Hast, mit der Euripides dieses Drama ausführte.
287) Die Niederlage der Athener in Sicilien war ja in frischem Andenken;
auch der Klaggesang der Helena 362 ff. giebt dieser Empfindung Ausdruck.
288) Helena 1301 ff. Ein solches Lied konnte in jeder Tragödie an jeder
beliebigen Stelle eingeschaltet werden.
289) Helena 135Sff.
290) Helena 1451 ff.
291) S. Schol. Aristoph. Frösche 53: hier werden der Andromeda (auf-
geführt Ol. 91,4) als beißUig aufgenommene Stücke der letzten Zeit {n^o oXi-
yov) Hypsipyle, Phönissen und Antiope gegenübergestellt. Da Ol. 92, 4 durch
den Orestes in Anspruch genommen wird, bleibt für die Phönissen nur Ol. 92, 3
oder 93, 1. Nach der lückenhaften Didaskalie ist die Tragödie eni Navancoä-
tovs ägxovros aufgeführt; allein dieser Name ist der Archontenliste fremd.
Man könnte annehmen, derselbe sei als Ersatzmann für einen im Amtsjahre
verstorbenen Archon eingetreten; dann aber war dessen Name hinzuzufügen.
Man könnte an das Jahr des Euktemon 01.93,1 denken, da alle anderen in
Betracht kommenden Namen auch für die zweite Hälfte des Jahres gesichert
sind. Wahrscheinlich ist zu lesen: {i8iSä%d'T]) Sia Navatx^zovs (ini) a^
yovTos ... so dafs Nausikrates als SiSaaxalos fungirte, wie in anderen fällen
Timokrates (Demokrates) dem Euripides denselben Dienst leistete. — Anspie-
lungen auf Zeitverliältnisse fehlen nicht, aber gewähren keinen festen Anhalt
für die Fixirung der Chronologie. Höchstens könnte man sagen, Euripides
habe schon im Geiste vorausgesehen, wie die Gegensätze der Parteien in Athen
Bergk, Griecb. LUeraturgescbichte III. 36
562 DRITTE PERIODE V0> 500 BIS 300 V. CHR. G.
Tetralogie, zu welcher die Phünissen gehörten, wurde beiPällig auf-
genommen; der Dichter erhielt den zweiten Preis."*) Auch später
war das Stück ungemein beliebt, hat jedoch in alter wie neuer
Zeit sehr ungleiche Beurtheilungen erfahren. Während die einen
alles bewundern oder doch zu rechtfertigen suchen, setzen andere
des Dichters Leistung tief herab.-^^) Es gilt auch hier zwischen
diesen Extremen die rechte Mitte innezuhalten.
[Die Besprechung der aulischen Iphigeneia und der Häk-
chen ist nicht vorhanden.]
Kjkiops. Das Satyrdrama Kyklops, für uns der einzige Repräsentant
dieser Gattung und schon deshalb von besonderem Interesse, be-
handelt das bekannte Abenteuer des Odysseus mit Polyphemus, ein
Stoff, der für das humoristische Nachspiel der tragischen Trilogie
sich vortrefflich eignete und schon früher von Aristias benutzt wor-
den war.*^^) Euripides folgt, soweit die Gesetze der dramatischen
Dichtung, insbesondere des Satyrspieles, und seine Individuahtät es
früher oder später zum Bürgerkriege führen müfsten ; allein auf politische Pro-
phezeiungen pflegt sich der Dichter sonst nicht einzulassen. Ein merkwürdiges
Traumgesicht eines der attischen Feldherren unmittelbar vor der Arginusen-
schlacht berichtet Diodor XIII 97.
292) Die Phönissen M-aren das dritte Stück der Tetralogie ; vorhergingen
Oenomaus und Chrysippus (die Gattin und der Sohn des Pelops), letzteres Stück
durch die leidenschaftliche Liebe des Laius zu Chrysippus und den Fluch des
Pelops schon auf das dritte Stück hinweisend. Das Satyrdrama lag bereits den
Alexandrinern nicht mehr vor.
293) Wenn Aristophanes fr. 470 ff. und Strattis Com. II 2, 780 ff. parodische
Komödien unter gleichem Titel schrieben, so spricht dies für die Popularität der
Tragödie, welche ebenso sehr wie die Mängel den Spott der Komödie hervor-
rief. Die Mannigfaltigkeit pathetischer Scenen und die reiche Fülle allgemeiner
Sentenzen verfehlte nicht auf Zuschauer wie Leser günstig zu wirken (vgl. die
unter Aristophanes' von Byzanz Namen überlieferte Einleitung). Bedingt lautet
das Urtheil eines anderen Kritikers ebenda : xo S^äfta dan fiev laU axrjvtxali
offeai xaXXtOTOv, inei.(ao8 ttJüSei) Se xai naQanXrjqoJftarixöv, das man ge-
neigt sein könnte eben jenem Grammatiker zuzuschreiben; denn die Ausstellung
ist berechtigt, aber die Beweisführung ist nicht gerade glücklich ; denn die ge-
tadelte Thurmschau dient vortrefflich der Exposition. Der Versuch, die feind-
lichen Brüder zu versöhnen, endet natürlich resultatlos, ist aber echt drama-
lisch; die Einführung des Oedipus am Schlüsse des Stückes verdient mehr
wegen der Art und Weise als an sich Tadel.
294) Aus dem Kyklops des Aristias fr, 4 p. 563 N. ist nur ein sprächwört-
lich mehrfach verwendeter Vers erhalten: nnwltcai tc»» olvov htixiae vio>Q.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. 11. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III. EURIP. 563
ziiliefsen, der Darstellung der Odyssee.-"^^) Das Stück, welches keinen-
falls zu den älteren Arbeilen des Euripides gehört ^'^), hat nur mäfsi-
gen Umfang ; besonders die lyrischen Partien sind sehr beschränkt.*^')
Die ganze Behandlung hat etwas Skizzenhaftes; man empfängt den
Eindruck einer leicht hingeworfenen, aber doch mit Lust und Liebe
ausgeführten Dichtung.
Eine Felsengrolte an der Küste Siciliens, im Hintergrunde der
Berg Aetna, bildet die Scenerie. Ein Prolog des Silenus eröffnet
das Stück. Daraus erfahren wir, dafs er mit seinen Satyrn ein
Schiff bestiegen hatte, um seinen verschwundenen Herrn, den Dio-
nysus, aufzusuchen, an dieses unwirthhche Gestade verschlagen ward
und in die Gewalt des Polyphemus gerieth. Alsbald tritt der Chor
der Satyrn auf, welche die Herden des Kyklopen weiden und ihren
Liebhngstrank schmerzUch vermissen. Da landet Odysseus, gleich-
falls durch einen Sturm hierhergeführt, und ist bereit, Lebensmit-
tel, deren er bedarf, gegen kösthchen Wein von Maronea einzu-
tauschen. Bei diesem Handel werden sie vom heimkehrenden Ky-
klopen überrascht ; der heuchlerische Silenus giebt vor, die Fremden
hätten ihm mit Gewalt und unter Drohungen das Schlachtvieh ent-
rissen, während das Rechtsgefühl des Chores sich gegen diese Lüge
verwahrt. Odysseus, befragt, woher er komme, berichtet in Kürze
über die Rückfahrt von Troia, jedoch ohne seinen Namen zu nennen,
und räth dem Polyphemus seinen unmenschhchen Sitten zu ent-
sagen. Dies giebt dem Kyklopen Anlafs, seine Lebensansichten aus-
führiich darzulegen. Dafs der Riese als Verächter der Götter er-
scheint, ist ein Zug, den wir bereits in der Homerischen Schilderung
antreffen; ebenso wenig kann es befremden, wenn derselbe mit den
295) Nur in diesem einen Falle entnimmt Euripides den Stoff der Home-
rischen Poesie.
296) Wenn der Kyklop 203 mit den Worten ävex^ ttöqexb auftritt, so
darf man nicht eiwa eine Parodie des Kyklops bei Aristoph. Wespen 1326
finden wollen; es ist dies offenbar eine formelhafte Wendung. Euripides mag
sie öfter gebraucht haben (vgl, Troad. 308), und vielleicht wollte der Komiker
diese Manier des Euripides verspotten; nur ist nicht an eine specielle Beziehung
auf den Kyklops oder die Troaden (wie der Scholiast im Widerspruch mit der
Chronologie meint) zu denken, während dieselbe in den Vögeln 1720 zuläs-
sig wäre.
297) Das Stück enthält 709 Verse; das Lyrische nimmt etwas über ein
Siebentel ein.
36*
564 DRITTE PERIODE V0> 500 BIS 300 V. CHR. G.
Satyrn in der Werthschätzung des Sinnengenusses völlig überein-
stimmt. Aber diese Grundsätze werden in einem Tone vorgetragen,
welcher für die naturwüchsige Roheit durchaus nicht pafst. Hier
giebt sich der platte MateriaHsmus einer hochgebildeten, aber über-
sättigten Epoche in aller Nacktheit kund.-®') Euripides kann es eben
nicht lassen, seinen dramatischen Figuren die Farbe seiner Zeit zu
leihen. Indem Odysseus, an der Rettung verzweifelnd, mit seinen
Gefährten dem Kyklopen in die Hohle folgt, füllt ein kurzes Chor-
lied die Pause, und alsbald tritt Odysseus wieder auf. Da sich der
Dichter kurz fassen mufste, behilft er sich mit einem Berichte. Odys-
seus schildert, wie Polyphemus zwei von seinen Genossen verzehrte,
dann durch den ungewohnten Trunk, den er ihm reichte, in einen
Weinrausch verfiel, und verabredet zugleich mit dem Chore die
nöthigen Vorbereitungen zur Blendung des Riesen. Die Satyrn,
denen sich unerwartet eine Aussicht auf Erlösung aus der Gefangen-
schaft darbietet, stimmen ein leichtes, heiteres Lied an^®), welches
in Form und Ton ganz an die Weise der späteren Anakreontischen
Lieder erinnert. Der trunkene Kyklop, der jetzt wieder auftritt
und mit Odysseus (der bei diesem Anlasse, nach seinem Namen be-
fragt, sich als Nieman(P°°) bezeichnet) Worte wechselt*"), gleicht
eher einem gemeinen Athener, der im Weinrausche Nachts durch
die Strafsen zieht, als dem Unholde des alten Volksmärchens. Die
folgende Scene, wo Odysseus, nachdem der Kyklop mit Silenus sich
in die Höhle zurückgezogen hat, mit dem Chore die Ausführung der
Rache bespricht, dient nur dazu, die ängstliche Feigheit der Satyrn
anschaulich zu machen. Während Odysseus in der Höhle den glühen-
den Pfahl in das Auge des Kyklopen stöfst, singt der Chor ein Paar
Verse, wie überhaupt summarische Kürze den Schlufs des Dramas
kennzeichnet. Indem der geblendete Polyphemus sich vergeblich
abmüht, den verhafsten „Niemand" zu fassen, um sich an dem Ur-
heber seines Unglücks zu rächen, verhöhnt der Chor den ohnmäch-
tigen, unbehülflichen Riesen. Odysseus nennt jetzt seinen wahren
298) Bezeichnend ist die Polemik gegen die bestehenden Rechtsordnungen
(338), in der sich jene Zeit gefiel.
299) Kykiops 49(i (T.
300) OItis.
301) Die breit ausgefährten Scherze Ober den BÖMxiof 9e6« 521 fT. sind
ziemlich frostig.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III.EURIP. 565
Namen. Der Kyklop erinnert sich eines alten Schicksalsspruches,
und Odysseus zieht unter den Drohungen seines Feindes mit dem
Chore ab.
Eine tiefere Absicht wird niemand in diesem scherzhaften Nach-
spiele suchen ; am wenigsten ist es dem Euripides darum zu thun,
die götthche Gerechtigkeit zu retten. Wenn Odysseus sagt^), die
Götter seien verpflichtet, ihn aus dieser Noth zu helfen, denn sonst
gäbe es nur einen bhnden Zufall, dem die Götter selbst gehorchen
müfsten, so wiederholt der Dichter nur eine ihm geläufige Phrase,
wie auch schon früher sich Odysseus in ähnlichem Sinne geäufsert
hatte.*^) Euripides verleugnet auch hier seine skeptische Stimmung
nicht ^); ebenso wenig versäumt er die gewohnten Schmähreden
gegen Helena zu wiederholen. Demungeachtet erfüllt der Kyklops,
indem er den schalkhaften Ton des Satyrspiels festhält, seinen Zweck
weit besser als jene Dramen, welche zwischen Tragödie und Komö-
die in der Mitte stehen und unwillkürlich zur Parodie des Mythos
werden. Freilich wenn uns ein Satyrdrama des Aeschylus oder eines
anderen älteren Tragikers erhalten wäre, dann dürfte neben dem
kecken, grofsartigen Humor jener Dichter der Kyklops des Euripides
ziemlich matt und farblos erscheinen.
Der Einflufs des Euripides war mächtiger als der der anderen EinQufs des
Tragiker; schon die unmittelbaren Zeitgenossen können sich dieser ""'" "'
Wirkung nicht entziehen. Die stilistische Kunst, welche selbst die
entschiedensten Gegner anerkennen müssen, ist nicht nur für die
tragische Dichtung dieser Epoche, sondern auch für Aristophanes
und andere gleichzeitige Komiker ein Gegenstand nacheifernder Be-
wunderung. Die spätere Tragödie folgt fast ganz der Führung des
Euripides**^), aber auch das jüngere Lustspiel schhefst sich hinsicht-
lich der Technik seit Philemon und Menander so eng an dieses
Vorbild an, als es die Verschiedenheit der Aufgabe gestattete. Ebenso
302) Kyklops 606. Ebenso gut könnte man in der Rede des Kykiopen
312 das eigene Glaubensbekenntnifs des Dichters finden.
303) Kyklops 354 wird derselbe Gedanke, nur mit mehr Schärfe and Bit-
terkeit, ausgesprochen.
304) Dafs der Kyklop von Zeus und den Göttern nichts wissen will, ist
ein Zug, den Euripides schon bei Homer vorfand.
305) Lykophrons Alexandra, obwohl durchaus von der Weise des Euri-
pides abweichend, zeigt doch in der Sprache zahlreiche Reminiscenzen.
566 DRITTE PEBIODE V0> 500 BIS 300 V. CHR. G,
verdanken Dichter der verschiedensten Gattungen dem Enripides
mannigfache Anregung. Unter den Epikern verräth hesonders Non-
nus den Einflufs des Euripides, dann viele der jüngeren Epigram-
mendichter bis herab auf die Byzantiner. Sein unleugbares redne-
risches Talent zog vor allem die an, welche sich dem Studium der
Beredsamkeit widmeten, während die Philosophen der verschieden-
sten Schulen in dem Dichter einen Geistesverwandten erblickten.**}
Daher begegnen sich Schriftsteller, verschieden an Charakter und
Beruf, in dieser Vorliebe für Euripides, wie Plutarch und Lukian.
dann vor allem die Bomanschreiber.
Diese Wirkung beschränkt sich nicht auf das Gebiet der hel-
lenischen Zunge; nirgends vielleicht fand Euripides so treue und
eifrige Verehrer als in Bom. Es ist natürlich, dafs die Bömer sich
zunächst hauptsächlich in üebersetzungen und Nachbildungen Euri-
pideischer Dramen versuchten , während man zur Nachahmung des
Sophokles und Aeschylus erst später fortschritt. Des Euripides Name
war der populärste, seine Poesie sagte der herrschenden Zeitrichtung
am meisten zu; zumal Ennius, dessen nüchtern-verständiges Wesen
weit mächtiger war als seine poetische Begabung, scblofs sich bei
seinem entschieden ausgesprochenen Streben, im Sinne der Auf-
klärung zu wirken, auf das Engste an Euripides an. Später ward
Euripides nicht nur von den Tragikern, wie Seneca, sondern auch
von anderen fleifsig benutzt. Ovid, dessen Poesie so recht auf rhe-
torischer Grundlage ruht, war einer der gelehrigsten Schüler des
attischen Dichters. Theils durch Vermittelung der römischen Lite-
ratur, theils direkt hat die Poesie des Euripides lange Zeit auf das
Drama der Modernen als mafsgebendes Vorbild eingewirkt.
Euripides' Dramen wurden überall, wo es ein Theater gab, vor-
gestellt und erfreuten sich ungetheilten Beifalls.'"'} In Ermangelung
einer Schauspielertruppe pflegte >Mohl auch ein wandernder Künst-
ler eine Tragödie vorzulesen, um das allgemeine Verlangen zu be-
friedigen.*") Nicht minder zahlreich war der Kreis eifriger Leser.
306) Welch ausgedehnten Gebrauch von Citaten aus Euripides Chrysip-
pus machte, bezeugt Diogen. Laert. VII c, 3, 7 (180). Ebenso gehörte Krantor
zu den Bewunderern des Tragikers, Diogen. Laert. IV c. 5, Ü (26).
307) Welche Wirkungen der Enthusiasmus für Euripides bei einem er-
regbaren Publikum hervorzurufen im Stande war, vergegenwärtigt die ergöti-
liche Anekdote von den Abderiten (Lucian hisloria quomodo conscribenda sit 1).
308) Eine anschauliche Schilderung einer solchen Vorlesung in Hispalis
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLLTHEZEIT. III. EÜRIP. 567
Daher waren nicht nur einzelne Verse und Denksprüche, sondern
auch längere Reden oder Erzählungen und Lieder des Tragikers
jedem Gebildeten gegenwärtig.*") Die Grammatiker führten der
Jugend diese Leetüre zu. Die Lehrer der Redekunst empfahlen sie
nachdrücklich als unübertroffene Vorbilder. So hat Euripides auf
die Denk- und Sinnesweise der folgenden Jahrhunderte einen weit-
reichenden Einflufs ausgeübt.
Die Hoheit des Aeschylus, die Milde des Sophokles ging nicht
spurlos an der bildenden Kunst vorüber; allein die Poesie des Euri-
pides hat für die Entwicklung der Plastik und Malerei eine ungleich
höhere Bedeutung gewonnen. Von ihr gilt das Wort des Simonides,
dafs die Poesie eine redende Malerei, die Malerei eine stumme Poe-
sie sei. Am augenfäUigsten tritt dieser Einflufs hervor, wenn wir
sehen, wie durch die Hand des Bildhauers oder Malers Charaktere
der Euripideischen Tragödien, bekannte Scenen aus seinen Dramen
mit sichlücher Vorliebe reproducirt werden.^'") Allein nicht blofs
in dieser materiellen Weise, sondern vor allem anregend wirkt der
Tragiker auf die grofsen Künstler der nächsten Zeit und der Dia-
dochenperiode. Die bildende Kunst, deren Entwicklung mit der
Poesie nicht gleichen Schritt geht, sondern ihr folgt, war eben da-
mals in dasselbe Stadium eingetreten, welches die tragische Dichtung
durch Euripides erreichte. In der Hinneigung zu einer natura-
listischen Auffassung, in dem Streben nach Effekt, in der Richtung
auf das Pathetische begegnet sich die Plastik und Malerei dieser Zeit
in Spanien giebt Eunapius S. 80, vgl. Philostr. Vit. Apoll. V 9. Auch hier, wie
in Abdera, wird die Andromeda vorgetragen und ruft an beiden Orten die
gleiche Wirkung hervor.
3091 Alexander der Grofse führte bei jeder Gelegenheit Verse des Euri-
pides im Munde, s. Athen. XII 537 D (wieder wird Andromeda genannt), Plut.
Alexander c. 51. 53). Euripides' Dichtungen waren eben Gemeingut; daher wird
auch, abgesehen von Homer und Menander, kein anderer Dichter bei den Späteren
so häufig cilirt als Euripides. Auch die Römer schätzten den Tragiker hoch;
dem 0- Cicero, der selbst sich im Trauerspiele versuchte, erschien jeder Vers,
jeder Gedanke des Euripides bedeutend, ad Fam. XVI S: ego certe singi/los eius
versus singula eius (man hat aXrjd'eias vermulhet) testimonia puto.
310) Es ist irrig, wenn man Zeichnungen älterer Vasenmaler, wie des
Exekias, auf Euripides zurückzuführen versucht hat. Ebenso mag bei den
Werken der Späteren, wie bei etruskischen und römischen Grabdenkmälern
auch die jüngere Tragödie überhaupt mitgewirkt haben.
568 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. COR. G.
mit Euripides. Naturgemäfs mufslen die grofsen Meister sich vor-
zugsweise von dem geistesverwandten Dichter, der nach gleichen
Principien arbeitete, angezogen fühlen, und so ihre Werke mehr
und mehr jenen dramatisch-bewegten Charakter annehmen, der sie
kennzeichnet.
Beunheiiung Euriüides hatte anfangs keinen leichten Stand. Da er die be-
d6S
Euripides. treten e Bahn nicht verfolgen mochte, schlofs er sich weder an Aeschy-
lus, noch an Sophokles an, sondern geht seinen eigenen Weg und
erwarb sich daher nur allmählich Anerkennung. Seine äufseren Er-
folge waren niemals glänzend. Oft erregte er das lebhafte Mifs-
fallen des Publikums; besonders an den skeptischen Ausfällen des
Euripides nahm der gesunde Sinn des Volkes Anstofs.^") Die Athener
waren gewohnt, an ihren Dichtern scharfe Kritik zu üben; so hat
es dem Euripides niemals an Gegnern und leidenschaftlichen Tad-
lern gefehlt. Keiner hat ihn mit solcher Ausdauer und Consequenz
angegriffen als Aristophanes; noch zuletzt wird in den Fröschen über
den todten Tragiker und seine Poesie ein unbarmherziges Gericht
gehalten. Ebenso scheinen die anderen gleichzeitigen Komödien-
dichter, wenn sie auch schonender verfuhren , dem Tragiker nicht
gerade freundHch gesinnt gewesen zu sein. Allein gerade diese
scharfe und mitunter einseitige oder übertriebene Kritik der Komi-
ker beweist am besten, welche Bedeutung jene Bichtung hatte, die
Euripides mit Ausdauer verfolgte. Und aller dieser Anfechtungen
ungeachtet dringt der Dichter durch; anfangs huldigte wohl haupt-
sächlich die jüngere Generation dem Vertreter der neuen Bichtung."*)
311) Seneca Epist. 115, 15, wo eine Stelle über die Macht des Goldes über-
setzt wird: cum hi tiovissivii versus in tragoedia Euripidis pronuntiati essent,
latus populus ad eiciendutn et aclorem et Carmen consurrexit uno impetu,
donec Euripides in medium ipse prosilivit petens, ut oxspectarent vlderent-
que, quem admirator auri exitum. faceret: dabat in illa fahula poenas Bel-
liTophontes. Auch diese Stelle mag Anstofs erregt haben, aber sicherlich vor
allem die freigeistigen, irreligiösen Aeufserungen des Helden, auf die jene Anek-
dote sich ursprünglich beziehen mochte. In ähnlicher Weise vertheidigt sich
Euripides gegen den Tadel seines Ixion : ov fte'vrot TtQÖxtQov avri>v ix Ti;i
otnjvf}« i^Tjyayov, rj Tq> TQOxq> nQoar]Xö>aat (Piutarch de aud. poet. 4). Der Ein-
gang der Melanippe rief einen Sturm des Unwillens im Theater hervor (Plut.
Erotik. 13: axovm Si Stjtiov rov Ev^tniSrjv, (oe id'oqvßrj&ri noirceifttvoe
ciQXV*' ■'^ MtXavlnnrit).
312) Vgl. Aristophanes Wolken 1 370 ff.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRIPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III. ELRIP. 569
Allmählich wird er der entschiedene LiebUng des Publikums'");
selbst Gegner und Widerstrebende können seinem Einflüsse sich
nicht entziehen. Man kann aber nicht behaupten, dafs Euripides
mit unwürdigen Mitteln um Gunst geworben oder jeder augenbhck-
lichen Laune und Neigung der Menge gehuldigt habe. Euripides war
dem Pubhkum gegenüber eher schroff und weit davon entfernt, sich
unbedingt seinem Geschmacke zu fügen, wo derselbe mit der eige-
nen Ueberzeugung nicht stimmte.'") Aber indem er dem veränder-
ten Geiste der Zeit mit vollem Bewufstsein sich anschliefst und den-
selben in seiner Kunst zur Geltung zu bringen sucht, konnte dem
talentvollen, reichbegabten Dichter schhefslich der Erfolg nicht fehlen.
Bei Lebzeiten des Euripides waren die Meinungen getheilt; nach
seinem Tode gestaltet sich das ürtheil immer günstiger. Die jün-
geren Tragiker standen alle unter seinem Einflüsse, und doch war
keiner fähig ihn zu erreichen oder zu ersetzen; daher stieg Euri-
pides in der allgemeinen Achtung. Plato spricht von ihm mit An-
erkennung''^); Aristoteles berücksichtigt in der Poetik nächst So-
phokles hauptsächhch den Euripides, obwohl er seine Schwächen
nicht verkennt. Beide Dichter gelten ihm als die vorzügUchsten Ver-
treter der tragischen Kunst.^'®) Die Kritik der Alexandriner sucht,
unbeirrt durch die widersprechenden Beurtheilungen , welche der
Dichter bei den Früheren erfahren hatte, Lob und Tadel auf ein
richtiges Mafs zurückzuführen'"); später tauchen ohnmächtige Ver-
313) Dies bezeugt Aristophanes in den Fröschen: Dionysus, den die Sehn-
sucht nach dem dahingeschiedenen Dichter in den Hades hinabführt, erscheint
als Repräsentant der allgemeinen Stimmung.
314) Valer. Max. 111 7, Ext. 1 : ne Euripides quidem Athenis adrogans visus
est, cum postulante m popiilo, ut ex tragoedia quandam sententiam tolleret,
progressus in scaenam dixil se, ut eum doceret, non ut ab eo disceret, fabulas
componere solere. Die Abänderung, welche Euripides mit dem Eingange der
Melanippe vornahm (Plut. Erotik. 13), war nur eine scheinbare Nachgiebigkeit.
315) Plato Rep. VIII 568 A: ovx iros tj ze TQaywSia oXcos aoföv Soxei
elvat xai 6 Ev^tniSr;s Siatpioajv iv avTTj, wo der Philosoph eben nur das
allgemeine Urtheil ausspricht.
316) Der Redner Aeschines c. Timarch. 153 schreibt: 6 ovSevos t^tov
aoipos räv noir^TÖtv ElgmiSrie, Lykurg c. Leokr. 100: Sio xai Stxaicos av ru
Ev^miSrjv inaivt'aeur, ort ra re ä).X ojv aya&os TtotTjrfjS xai rovrov tov
ftvd'of (vom Opfertode der Tochter des Erechtheus) TtqoEiXsto noir^oat. In der
mittleren Komödie ist der (PiXevqmiSr^s (Com. I 341 M.) eine beliebte Bühnenfigur.
317) Namentlich Aristophanes von Byzanz und Didymus, die keineswegs
570 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
suche in apologetischer Richtung auf. Euripides steht der Denk-
und Gefühlsweise der Neueren näher als irgend ein früherer helle-
nischer Dichter. Daher war er nicht nur der erklärte Liehling der
Alexandriner und der Römer, sondern er hat auch lange Zeit hei
den Neueren ausschliefsliche Gunst genossen, während Aeschylus und
Sophokles nur geringe Beachtung fanden. Aher ehen diese Ueher-
schätzung mufste den Widerspruch hervorrufen. Hatte man früher
unbedingt alles an Euripides bewundert, so gefiel sich später die
Kritik darin , den Ruhmeskranz des Tragikers schonungslos zu zer-
pflücken. Aber immer von neuem ward der Versuch einer Ehren-
rettung gemacht. Wenn die Vergleichung mit seinen Vorgängern
nicht zu Gunsten des Euripides ausfallen konnte, so stellen seine
Freunde den Grundsatz auf, man müsse ihn mit einem anderen Mafs-
stabe messen. So schwankt das Urtheil über Euripides noch immer
zwischen unvereinbaren Gegensätzen.
Wenn kein anderer Dichter zu seiner Zeit Gunst und Ungunst
in solchem Mafse erfahren hat und wenn die gleiche Erscheinung
sich später wiederholt, so kann dies eigentliümliche Schicksal des
Euripides nur aus dem zwiespältigen Wesen seiner Poesie erklärt
werden. Wir blicken hier in eine geistige W'ell, wo die verschie-
denartigsten Elemente mit einander kämpfen. Licht und Schalten
sind fast gleichmäfsig vertbeilt; was den einen anzieht, stOfsl den
anderen zurück. In ästhetischer wie in sittlicher Beziehung fordert
der Dichter überall die Kritik heraus, und es wird schwer, ihm ge-
recht zu werden. Es ist viel leichter, die Schwächen und Mängel
seiner Poesie, welche in die Augen springen, als die Schönheiten
und Vorzüge ins rechte Licht zu setzen. Euripides entbehrt jener
inneren Harmonie, die wir bei den anderen grofsen Tragikern an-
treffen. Legt man ein Drama von Aeschylus oder Sophokles aus
der Hand, so wird man nie ohne das Gefühl eines reinen Genussos
scheiden. Die Hoheit und Gröfse des einen, wie die milde Klarheit
und der Adel des anderen werden nicht leicht verfehlen uns in (He
rechte Stimmung zu versetzen, mag auch immerhin Einzelnes unse-
rer Emi)findungsweise widerstreben oder den Forderungen eines
gesteigerten Kunstsinnes nicht völlig entsprechen. Ganz aiidcrs
darauf ausgelien, wie die Späteren, die Mängel der Euripideischen Kunst zu
rechtfertigen ; man vergleiche besonders die Schoiien zur Andromache.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III. EURIP. 571
Euripides. Einzelnes ist von unvergleichlicher Schönheit und üht
die mächtigste Wirkung aus, aber das Ganze wird uns selten wahr-
haft befriedigen und jene befreiende Gewalt bekunden, welche aller
echten und gesunden Poesie eigen ist.
Und doch ist Euripides trotz seiner Verirrungen ein reich be-
gabter, bedeutender Geist; er war eigentlich der letzte grofse Dich-
ter, den Athen, den Griechenland hervorgebracht hat, der eben, weil
er an der Grenzscheide zweier Epochen steht, schon vielfach auf
die Zukunft hindeutet und ihre Entwicklung wesentlich bestimmt.
Als Euripides auftrat, hatte die hellenische Poesie ihren Höhepunkt
bereits erreicht. Das entschiedene Hervortreten des Subjektiven, das
Vorherrschen der Reflexion ist ein deutliches Zeichen des heran-
nahenden Verfalls der Kunst. Bei Euripides ist dieses Element
mächtiger als bei jedem anderen. Seine Stücke tragen mehr oder
weniger den Charakter der Selbstbekenntnisse an sich ; alles ist vom
Eindrucke des Augenblickes abhängig, wie für die Wirkung des Augen-
blickes bestimmt. Es ist oft weit mehr ein psychologisches und cultur-
geschichlliches als ein ästhetisches Interesse, welches hier Befriedigung
findet. Aber gerade weil diese Dramen ein getreues Abbild der
Kämpfe jener Zeit sind, wie von dem, was der Dichter erlebte und
was ihn innerüch beschäftigte, ergriffen sie mit wunderbarer Gewalt
die Zeitgenossen und gleichgestimmte Gemüther der folgenden Jahr-
hunderte.
Da» innere Leben, das dichterische Schaffen des Euripides hängt
durch unsichtbare Eiden mit der Gegenwart zusammen; sein reiz-
bares Gemüth ist für alle Eindrücke empfänghch. Alle Bestrebungen
der Zeit wirken mehr oder minder auf diese universelle Natur ein ;
seine dramatischen Arbeiten sind recht eigentlich Erzeugnisse der
verworrenen, disharmonischen Welt, die ihn unigiebt. IS'ur wer ge-
nau vertraut wäre mit der Gemüthsverfassung des Dichters wie mit
den allgemeinen Zuständen, vermöchte uns das volle Verständnifs
dieser Werke zu erschliefsen. Die Zeit, welcher der Dichter ange-
hört, ist eine äufserst bewegte; sie ist durchaus erfüllt von einem
revolutionären, widerspruchsvollen Geiste; ein tiefer Bruch geht durch
sie hindurch. Dieser Zweifel, diese Zerrissenheit war nichts weniger
als günstig für die Pflege echter Poesie, welche Sammlung, ruhiges
und gefafstes Wesen erheischt. Euripides ist ganz ein Kind dieser
Zeit; seine zart organisirte Natur empfindet alle diese Unruhe und
572 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. COR. G.
Zerrissenheit mit; ein zwiespältiges Wesen, eine trübe, trostlose An-
sicht der Welt tritt uns überall bei ihm entgegen. Während das
Gemüth des Sophokles sich mit dem überlieferten Glauben beruhigt,
ist bei Euripides eine kalte, skeptische Betrachtung, eine rationali-
stische Auffassung der Dinge herrschend.
Frauen- Es ist immer ein Zeichen einer sinkenden Zeit, wenn in der
Charaktere. Ljteratur das weibHche Element vor dem männlichen bevorzugt wird;
darin äufsert sich eben die übermächtig werdende Subjektivität.'")
Gefordert wird diese Richtung dadurch, dafs, wenn eine Gattung der
Kunst ihren Höhepunkt erreicht hat, man vor allem darauf ausgeht,
neue, noch nicht verbrauchte Stoffe zu gewinnen. Daher treten
auch bei Euripides weibHche Charaktere entschieden in den Vorder-
grund. Mindestens in der Hälfte seiner Dramen fallt die Hauptrolle
oder doch ein wesenthcher Antheil an der Handlung Frauen zu^'^);
demgemäfs wird auch der Chor meist aus Frauen gebildet. Ebenso
ist nicht zu verkennen, dafs dem Dichter die Darstellung weiblicher
Charaktere in ungleich höherem Giade gehngt. Während die Män-
ner nicht seifen als charakterlose Schwächhnge erscheinen, denen
alle Würde abgeht, zeigen die leidenschaftlichen Frauen eine Ener-
gie des Willens und eine Klarheit des Geistes, die uns unwillkür-
lich Theilnahme einflöfst. Auch hier wird uns ein treues Zeit- und
Sittenbild geboten.
Euripides bringt die verschiedenartigsten Frauencharaktere auf
die Bühne. Das Motiv der Liebe, in der älteren Tragödie nur aus-
nahmsweise benutzt, hat den Dichter vorzugsweiee beschäftigt. Doch
reizte ihn nicht so sehr die Schilderung zarter innerer Neigung,
sondern er bewährt sein grofses Talent vor allem in der Darstellung
heifser, krankhafter, frevelnder Leidenschaft (Phädra, Kanake, Sthe-
neböa), wie in der Charakteristik verführerischer Frauen, welche
überall Unheil stiften (Helena, Aerope). Die Raserei der Eifersucht
und ungezügelte Rachgier (Medea, Hekuba), den Gipfel des Wahn-
sinns (Agaue in den Rakchen) weifs Euripides ergreifend zu schil-
dern. List und Verschlagenheit der Frauen ist ein Lieblingsthema;
nicht nur Helena, Medea (im Aegeus), Ino und andere, sondern auch
318) Aufserdem trägt dazu bei, dafs in solchen Zeiten die Frauen sich
häufig noch mehr ursprüngliches Wesen bewahrt haben.
311)) Dramen, in denen gar keine Frauen auftraten, wie der Philoktet,
bilden die Ausnahme.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III. EURIP. 573
reine ISaturen wie Iphigeneia haben Freude an dem künstlich ver-
schlungenen Spiel der Intrigue. Indes weifs Euripides auch den
Adel der Frauennatur zu zeichnen; so die hingebende Liebe der
Gattin in der Alkestis, die Mutlerliebe in der Danag; dann die selbst-
losen Heldinnen, welche wiUig, ja sogar aus freiem Entschlüsse ihr
Leben für andere aufopfern, wie Polyxena, Iphigeneia, Makaria.^^'')
Euripides ist mit den Empfindungen und dem Gemülhsleben
der Frauen vollkommen vertraut. Er hat namentlich ihre Fehler
und Schwächen gründUch studirt. Das häusliche Leben zu Athen
wie überall in Griechenland befand sich damals in tiefem Verfall;
die gedrückte Stellung der Frauen übte, je länger je mehr, einen
entsitthchenden Einflufs aus. \N'enn der permanente Kriegszustand,
seitdem der Bruch zwischen Athen und Sparta entschieden war, im
Allgemeinen auf die Morahtät ungünstig einwirkte, so scheint auch
die Frauenwelt davon berührt worden zu sein, daher Euripides,
dessen Phantasie von Anfang an Frauencharaktere anzogen und leb-
haft beschäftigten, mit sichtlicher Vorliebe immer mehr die Schat-
tenseite heraushebt. Aber der Dichter erscheint hier nicht blofs als
ruhiger, unbefangener Beobachter der Wirkhchkeit; die beständigen,
oft wenig motivirten Auslalle auf die Frauen verrathen eine gewisse
Gereiztheit. Es ist nicht zweifelhaft, dafs eigene unglückliche Er-
fahrungen, die zerrütteten häushchen Verhältnisse mitwirkten. Es
ist gewifs nicht Zufall, dafs der Dichter, dem der Frieden einer
glückhchen Häuslichkeit versagt war, in seinen Dramen so häufig
Bilder schlimmer Frauen zeichnet. Diese Schilderungen sind nicht
nur naturgetreu, sondern auch reichlich mit tendenziöser Zuthat ge-
sättigt. Der Dichter trägt seine Lehren und Warnungen mit dem
Tone fester Ueberzeugung vor, welche aus eigener Erfahrung ent-
springt. Jene leidenschaftlichen Invektivcn sind der Ausdruck des
quälenden Kummers, der des Dichters Gemüth belastete. (S. S. 479 f.)
Für die sittUche Hebung der Frauenwelt hat Euripides nichts
gethan. Er geht zwar nicht auf die Idee der Emancipation ein, die
damals auftauchte, aber ebenso wenig redet er der Rückkehr zu der
althellenischen Sitte das Wort, wo die Frau allgemeinste Achtung
genofs und dem Manne als würdige Genossin zur Seile stand, son-
320) Im Erechtheus verhält sich die zum Opfer bestimmle Königstochter
nur leidend; liier war der Patriotismus der Mutter (Praxithea) in den Vorder-
grund gerückt.
574 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
dem er kennt nur ein Mittel, um dem einreifsenden Verderben zu
steuern, die Verschärfung des Zwanges, der eben die Frauen demo-
ralisirt hatte. In der Berührung mit der Aufsenwelt findet er den
Grund aller Uebelstände. Der Dichter, der vorzugsweise Frauen auf
die Bühne bringt, vergifst nicht leicht, wenn eine Frau sich bücken
läfst, es zu entschuldigen.^*') Dieser Zug dient nicht zur Charakteristik
der heroischen Zeit (auf eine historisch treue Darstellung ist es bei
Euripides überhaupt nicht abgesehen), er ist auch nicht der Gegen-
wart entlehnt, welche solche Dinge schon leicht nahm, sondern es
ist dies eine persönliche Ansicht des Dichters, der den offenbaren
Widerspruch, in den er sich verwickelt, gar nicht inne wird.
Charakter An dem sittlichen Charakter des Euripides haftete kein Makel.
des
Euripides, Die Komodie, welche begierig jede Gelegenheit ergreift, um den
Tragiker zu verunglimpfen , würde ihre Neckereien nicht unterlassen
haben.
Das Gemüth des Dichters war ernst gestimmt und neigt zu
trüber Weltanschauung hin, wie dies in sinkenden Zeiten mehr oder
weniger bei jedem grofsen Manne der Fall ist. Herbe persönliche
Schicksale trugen dazu bei, diese JNaluranlage zu steigern. Daher
wird uns Euripides als finster und verbittert geschildert; herzliches
Lachen war ihm unbekannt, nicht einmal beim Weine gab er sich
dem Scherze und Spotte hin.^**) Auch die bildende Kunst, wenn
sie den Dichter darstellt^-^), leiht den Gesichtszügen, die Geist und
Empfindung verrathen, den scharf ausgeprägten Charakter tiefen
Ernstes, der nur durch einen gewissen gutmülhigen, wohlwollenden
Zug gemildert wird, und diese Auffassung entsprach gewifs der Wirk-
lichkeit. Dafs Euripides in seiner melanchohschen Gemüthsverfassung
321) Wie z. B. Phönissen 92, Andromache 877.
322) Alexander Aetolus bei Gellius XV 20, S, Biograph und Suidas I 2, 640.
Der Biograph hebt auch den starken Bartwuchs (vgl. Aristoph. Thesrooph. 190)
und die Sommerflecken im Gesicht hervor.
323) Von Euripides, der später die gröTste Popularilät genofs, sind uns
zahlreiche Bildnisse erhalten. Aufser einer mehr als lebensgrofsen Statue im
Museum Ohiaramonti zu Rom (wohl eine annähernd treue Reproduclion der
Bildsäule im allischen Theater, s. oben S. 38; eine andere in Konslantinopcl
bcBchreibt Christodorus Anlh. V = ep. 1 III 102 Jac.) und der kleinen Albanischen
Statue mit dem Verzeichnifs der Tragödien (s. S. 4H9, A. 80) kennl man mehrere
Büslen des Dichters, zum Theil Doppelhermen (Euripides mit Sophokles oder
auch Solen vereinigt) u. a. m.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II.GRLPPE. DIE BLLTHEZEIT. III. EL'RIP. 0/0
die Stille und Einsamkeit liebte, ist begreiflich, und es hat etwas
Ansprechendes, sich den Tragiker zu denken, wie er am hebsten
in einer Felsgrotte der Insel Salamis verweilte, den Blick auf die
bewegte Fläche des Meeres gerichtet, sinnend und dichtend. Daher
erklärte man auch die entschiedene Vorliebe, mit welcher Euripides
seine Metaphern und bildlichen Ausdrücke dem Meere und Schiffer-
leben entlehnt.^-^) Allein Euripides war kein Einsiedler, der grol-
lend sich vom Leben abwendet, sondern ungebrochenen Muthes
nimmt er den Kampf mit den Mächten der Welt immer von neuem
auf. Der Dichter hat in die verborgensten Falten des menschlichen
Herzens geschaut und übt die Seelenmalerei mit vollendeter Meister-
schaft. Diese seltene Menschenkenntnifs kann er sich nur durch
unmittelbare Berührung mit dem bunten Treiben der Welt erwor-
ben haben.
Wie Euripides selbst keine rechte Freude am Leben hat, wie
er den inneren Frieden nicht zu gewinnen vermag, so wenig darf
man von ihm die befreiende Wirkung erwarten, welche die echte
Poesie ausübt. Der wahre Dichter nimmt an dem, was er schafft,
inneren Herzensantheil. Daraus entspringt eine wohlthuende Wärme
und Innigkeit, die sich uns unwillkürlich mittheilt, wenn wir die
Dichtung uns aneignen. Diese Liebe zum Gegenstande, die das
Werk beseelt, empfinden wir nicht nur bei Homer, der in dieser
Hinsicht einzig dasteht, sondern auch bei Aeschylus und Sophokles.
Dem Euripides war jene glückhche Natur, welche mitten in den
Widersprüchen des Lebens die innere Harmonie zu wahren weifs,
versagt. Das Ringen und Kämpfen seines Geistes führt nicht zum
Siege, sondern zur Resignation. Er behandelt die Bilder seiner Phan-
tasie mit einer gewissen Gleichgültigkeit; daher lassen uns auch
seine dramatischen Gestalten häufig kaU. Der Dichter fühlt dies
selbst; ein wehmüthiges Geständnifs liegt in den Worten^): nur
aus innerer Herzensfreude vermag der Dichter etwas zu schaffen,
was andere erfreut; wen eigenes Leid drückt, der solle sich von
der Musenkunst fern halten. Ein anderes Mal klagt er'^, die alte
Zeit habe wohl Dichtungen geschaffen, um die Lust froher Tage zu
324) Biograph: od'sv xai i>c d-aXäaariS Xa/ußdret ras TiXeiove tüv OfWt-
ä:itt(Ov.
325) Schutzflehendc 180.
326) Medea 190 ff.
576 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
erhöhen, aber kein Sänger habe verslanden dem schwer beküm-
merten Herzen Trost und Hülfe zu gewähren. Und es sieht ganz
wie eine Selbstschilderung aus, wenn der Chor in der Alkestis
singt ^"), er habe alle Höhen und Tiefen durchforscht, er habe es
mit des Liedes Klängen und der Weisheit Lehren versucht, aber
gegen die bitlere Nothwendigkeit bieten weder des Orpheus fromme
Weisen, noch die Heilmittel der Asklepiaden Abhülfe. Man sieht,
wie tief Euripides das Bedürfnifs empfindet, sich durch des Geistes
rastlos schaffende Thätigkeit über das, was ihn innerlich quält, zu
erheben ; aber seine Poesie vermag weder ihm noch anderen diesen
Dienst zu leisten.^*®)
Die poiiti- ßgjjj handelnden Leben steht Euripides, der sich am liebsten
sehen An- ' '
sichten, in die Einsamkeit zurückzog, fern, aber er ist den Zeitereignissen
gegenüber nicht theilnahmlos. Dafs er mit scharfem Blicke und
steter Aufmerksamkeit die politischen Vorgänge beobachtet, beweisen
seine Dramen. Wohl kein anderer Tragiker hat so eingehend die
Fragen des Tages erörtert, so häufig die Zustände der unmittelbaren
Gegenwart berührt, wie Euripides, der eben auf diese Weise das
Bild der fernen Heroenzeit zu beleben sucht. Mehr als einmal ist
die dramatische Handlung nur eine durchsichtige Hülle für ganz
bestimmte politische Zwecke, wie in den Herakliden , in den Schutz-
flehenden und in der Andromache. Euripides hat nicht den Ehr-
geiz, sich auf der Rednerbühne geltend zu machen. Desto rückhalts-
loser sprach er vor dem l'ublikum im Theater seine Ansichten über
die öfl^enthchen Angelegenheiten aus. Hier glaubte er den rechten
Boden für eine gedeihliche Wirksamkeit zu finden und so dem Staate
mehr nützen zu können, als durch Betheiligung an dem unruhigen
Parteigetriebe.^)
Ein so subjektiver Charakter wie Euripides ist von den Slim-
327) Alkestis 9G2 ff.
32b) Eine ganz andere Gesinnung bekundet Hesiod, s. Band I 92G.
329) In der Anliope, wo der Dichter den Gegensatz zwischen politischer
Thätigkeit und dem beschaulichen, auf geistige Interessen gerichteten Leben
schilderte, halle er seine Grundsätze ausführlich dargelegt. Die Schwierigkeiten,
mit denen jeder, der damals in Alhen sich an politischen Dingen betheiligte,
zu ringen halte, werden öfter nachdrücklich hervorgehoben, am anschaulich-
sten im Ion 585 fr.; und wenn hier 63 3 ff. das stille Glück einer zurückge-
zogenen Existenz gepriesen wird, vernimmt man des Dichters eigenes Glaubens-
bekenntnifs.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. HI.ELRIP. 577
mungen des Tages abhängig; daher erscheinen seine poHtischen
Anschauungen wandelbar. Im Anfange des grofsen Krieges nimmt
er entschieden für Perikles und den Krieg Partei'^), aber bald
nachher agitirt er eifrig für den Frieden.^') Nach dem Frieden des
Mkias geht er wieder mit Alkibiades und der Kriegspartei gegen
Sparta ^^), wahrend in den Schutzflehenden noch die friedliche Stim-
mung vorwaltet. Aber wenn auch Euripides sich öfter durch die
Ereignisse oder durch seine nähere Umgebung bestimmen liefs, so
ist er doch in den wesentUchen Grundsätzen sich treu und gleich
geblieben. So sehr er auch mit den religiösen Anschauungen des
Kritias sympathisiren mochte, so fern steht er der politischen Rich-
tung dieses Staatsmannes und nimmt niemals weder für die Oli-
garchen noch auch für Sparta und die Lakedämonier Partei.
Hingebende warme VaterlandsHebe ist ein charakteristischer Zug
der Poesie des Euripides. Wiederholt wird der Satz ausgesprochen,
es giebt nichts, was dem Menschen theurer wäre als die Heimath;
daher wird auch das Unglück der Verbannung überall mit den leb-
haftesten Farben geschildert. Nur ein schlechter Mann wird sein
Vaterland gering achten. Wenn es sich um das Wohl des Vater-
landes handelt, verstummt jeder Eigenwille, jedes egoistische Inter-
esse; der rechte Bürger mufs bereit sein, mit Freuden alles, selbst
sein Leben aufzuopfern.^^ Jede Gelegenheit benutzt der patrio-
tische Dichter, um den Ruhm seiner Vaterstadt zu verkünden. Bald
werden die natürlichen Vorzüge Attikas, bald der Ruhm der Auto-
chthonie, das Glück einer freien Verfassung, die Humanität und das
lebendige RechtsgefOhl seiner Bürger, der empfängliche Sinn für
geistige Bildung gepriesen. ^'^) ISicht minder liebt es Euripides, vater-
ländische Stoffe zu bearbeiten^') und auch sonst gelegentüch die
330) In den Herakliden.
331) Im Erechtheus; auch im Kresphontes, der derselben Zeit angehört,
trat diese Tendenz hervor.
332) In der Andromache.
333) Die Verse Euripides fr. ine. 1034 Di. verrathen nicht sowohl eine
weltbürgerliche Gesinnung, sondern sind Worte eines aus der Heiraath Ver-
bannten, der sein Unglück mit Würde trägt.
334) Und zwar nicht blofs in den Stücken, wo Attika der Schauplatz der
Handlung war.
335) Lykurg gegen Leokr. 100 lobt den Euripides, weil er in seinem
Rergk, Griecb. Literaturgeschichte III. 37
578 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHH. G,
Erinnerung an heimische Institutionen aufzufrischen. Eben deshalb
zeigt er auch aufrichtigen Hafs gegen die Feinde seiner Vaterstadt.
Sparta ist der Hauptgegenstand seiner Abneigung, die sich unzwei-
deutig und nicht immer in passender Weise kund giebt."*) Aber
diese Antipathie gegen die Widersacher, diese warme Theilnahme für
die Grüfse und den Ruhm Athens ist frei von Engherzigkeit. Das
Gefühl des Zusammengehörens der hellenischen Stämme, das Bewufst-
sein von dem hohen Berufe der Nation gegenüber anderen Völkern
ist ihm gegenwärtig. Häufig wird in wirksamster Weise der Gegen-
satz zwischen Hellenen und Barbaren mit Nachdruck hervorgehoben."')
Bald dient die fremde Herkunft zur Entschuldigung und Rechtfer-
tigung, häufiger wird sie als Vorwurf und Anklage benutzt.^*)
Für das patriarchalische Königthum der Vorzeit hat Euripides
kein Verständnifs. Seine Könige auf der Bühne werden zu Zerr-
bildern der Tyrannis, oder wenn er sie in volksfreundlichem Lichte
schildert, bewahren sie kaum einen Schatten der fürstlichen Gewalt.
Euripides bekennt sich überall zu hberalen pohtischen Ansichten,
huldigt entschieden dem Fortschritt. Aber er ist nichts weniger als
Wortführer der damals herrschenden Ochlokratie; er hält an den
Grundsätzen der altischen Demokratie fest"'), ist aber nicht blind
gegen ihre Fehler und Ausartungen. Manch freies Wort, manche
ernste Rüge wird ausgesprochen. So tadelt er sehr entschieden
den Mifsbrauch und schädlichen Eintlufs der Redekunst im öffent-
lichen Leben. Die Vorzüge edler Herkunft und grofscn Besitzes
weifs der Dichter wohl zu schätzen, aber die sicherste Stütze des
Gemeinwesens ist ihm der Mittelstand; der Adel der Geburl, der
Reichthum hat nur dann Werth, wenn sittliche Tüchtigkeil und ver-
Erechtheus durch die Wahl dieses Stoffes seine patriotische Gesinnung bekun-
det habe.
330) In den letzten Jahren beobachtet der Dichter in diesem Punkte grörsere
Mäfsigung.
337) Die bekannten Verse in seinem letzten Stücke Iphigeneia Aul. 14im):
ßaqßä.Q(ov 8"'EXXt]vae a^^siv eixöe, aXV ov ßa^ßä^ove, fi^rcQ, EXXr^'oiv j'o
[UV yap SoiiXov, oi S^ ikevd'BQoi wiederholen nur, was er in früheren Jahren
im Tclephus (fr. 717) und Philoktet (adesp. fi '> N.', Di. p. 362 B) fast mit gleichen
Worten gesagt hatte.
338) Vgl. Medea 1330, Andrem. Ct'.>. (Hiö.
339) Besonders in den Schutzilehenden benutzt Euripides die Gelegen-
heit, um die Principicn der Demokratie darzulegen.
DIE DRAM, POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III.EURIP. 579
Ständige Einsicht damit verbunden sind, die auch dem armen und
geringen Manne nicht versagt sind. Der Dichter ist vorurtheilsfrei
genug, um offen auszusprechen, dafs von Natur alle Menschen gleich
sind; und wenn er die gleiche Berechtigung der unechten Kinder
wiederholt vertheidigt, so geht er über die Schranken der nationalen
Anschauung hinaus. Nirgends aber tritt die humane Gesinnung des
Dichters so deutlich hervor, als wenn er die Stellung der Sklaven
berührt. Es ist nicht zufällig, dafs Euripides Unfreie so häufig ein-
führt und ihnen wesentHchen Antheil an der dramatischen Hand-
lung zuweist; daher bietet sich überall Anlafs dai", das traurige Loos,
die gedrückte Lage des Sklaven anschauhch zu schildern. Euripides
erkennt auch in dem Sklaven die menschhche Würde an. Der un-
freie, der trotz der Erniedrigung der Knechtschaft den angeborenen
Adel der Menschheit zu behaupten weifs, ist dem freien Manne gleich
zu achten; daher verkehren auch die Sklaven bei Euripides mit
ihrem flerrn gerade wie mit Ihresgleichen.^"') Mit Vorhebe wird die
treue Hingebung der Diener gegen ihren Herrn geschildert; aber es
fehlt auch nicht an Beispielen milder Gebieter. Auch hier macht
sich Euripides von den Vorurtheilen seiner Zeit und Umgebung frei
und sucht eine bessere Zukunft vorzubereiten.
Die beständige Polemik gegen Orakel, die besonders in den Polemik
reiferen Jahren bemerkbar wird, hängt mit der skeptischen An- ^^^^^^
schauungsweise des Dichters eng zusammen ; aber auch andere Mo-
tive wirkten wohl mit. Der damals ganz offenkundig geübte Mifs-
brauch der Orakel und Sehersprüche zu selbstsüchtigen Zwecken
war recht geeignet, die Mantik um alle Achtung zu bringen. Delphi
nimmt während des peloponnesischen Krieges entschieden für Sparta
Partei ; daher ist es nicht auffallend, wenn die Abneigung des Dich-
ters gegen Sparta sich in gehässigen , oft poetisch gar nicht moti-
virten Schmähungen des delphischen Orakels äufsert. Wie die
Gegensätze sich unmittelbar berühren, so arbeiteten damals ent-
schiedener Unglaube und dumpfer Aberglaube sich gegenseitig in
die Hand. Mit dem Verschwinden der alten Behgiosität war auch
der Glaube an solche Offenbarungen tief erschüttert, und doch em-
pfand mau bei dem Schwanken aller Zustände das Bedürfnifs einer
340) Aristophanes Frösche 949 spottet nicht mit Unrecht über die Red-
seligkeit der Sklaven bei Euripides, denen der Dichter selbst philosophische
Reflexionen in den Mund legt.
37*
580 DUITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
liüheren Autorität; dies führte die Gemülher der Masse immer wieder
zu den Orakeln zurück. Das Unwesen der Spruchdeuter, welche
mit echten und gefälschten Prophezeiungen bewufst und unhewufst
als willfährige Werkzeuge die selbstsüchtigen Bestrebungen ehrgei-
ziger Staatsmänner unterstützten, trat in Athen gleich beim Anfange
des grofsen Krieges hervor.^") Dieses Treiben erreichte seinen höch-
sten Grad, als man den Feldzug gegen Sicilien vorbereitete. Der
Kriegseifer wurde hauptsächlich durch Orakel angefacht, welche die
ausschweifendsten Hoffnungen hervorriefen. ^^^) Besonders Alkibiades
benutzte diese Spruchdeuter für seine Zwecke ; alle Warnungen ver-
ständiger Männer wurden überhört. Bald trat eine Ernüchterung
ein, da die hochfliegenden Erwartungen sich nicht erfüllten. Als die
Sache einen ungünstigen Verlauf nahm und endlich das grofsartige
Unternehmen gänzlich scheiterte, wendete sich der allgemeine Zorn
und Unmuth gegen die Orakel.'"^) Euripides, der oftmals nur der
Meinung des Tages Ausdruck giebt, steigert gerade von diesem Zeit-
punkte an seine Angriffe.^'*) Vielleicht mischt sich auch eine ver-
sleckte Polemik gegen Sophokles ein, der von dem mantischen Ele-
mente sehr ausgedehnten Gebrauch macht. So berechtigt der Un-
wille des aufgeklärten Dichters in diesem Falle war, so unpassend
ist es, wenn er fortfährt das Orakel als Motiv der dramatischen
Handlung zu benutzen.
Nirgends tritt die subjektive Weise des Euripides so deutlich
hervor, wie in der Behandlung religiöser Fragen. Eine entschieden
skeptische Stimmung bricht überall hervor. Der Dichter hat seine
Bekenntnisse bald leise angedeutet, bald offen und rückhaltslos aus-
gesprochen; gerade hier können wir einen Blick in sein Inneres
thun. Das ganze Gemüthsleben liegt vor uns aufgeschlossen da, und
es ist oft mehr das pathologische Interesse am Dichter selbst, was
uns zu der Lektüre dieser Dramen zurückführt.
Auch der Zweifel, der tief in des Menschen innerster Natur
341) Thukyil. II 21; dats dieselbe Erscheinung sich auch anderwärts in
Griechenland wiederholte, erhellt aus II 8. Und eben in diesem Momente «t-
klärt sich Euripides im Philoktot (fr. 7*»:^) pnz enl<«-hiedpii i?»»iron «!if "\I.ii>tii\
und ihre Vertreter.
342) Plularch Nik. c. i:i.
343) Thukyd. VIII 1.
'Mi) Doch hat sicli Euripides niemals jenen lausihunijfii Hingegeben.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II.GRLPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III. EURIP. 581
begründet ist, hat seine Berechtigung. Je tiefer einer die ProLleme
des Menschenlebens, die unerforschlicheu Geheimnisse des Glaubens
und der göttlichen Dinge überdenkt, desto eher werden Zweifel auf-
tauchen und die Klarheit des Geistes, den Seelenfrieden trüben;
aber diese Unruhe, dieses Verzagen darf in der gesunden Dichter-
natur nicht zur herrschenden Stimmung werden. Auch Aeschylus hat
lange und viel die Räthsel des menschlichen Daseins erwogen, aber
er wird dieses Zwiespaltes Meister, während Euripides, von verzehren-
der Unruhe gequält, beständig zwischen Widersprüchen hin und
her schwankt.
Die Art des Euripides, religiöse Fragen zu behandeln, war ganz
geeignet, die Gemüther zu verwirren und ihnen allen Halt zu rauben ;
denn er vermag wohl den Glauben an die HeiUgkeil der alten Göt-
terwelt zu erschüttern, aber nicht die ewigen Wahrheiten in reine-
rer Form mit der Kraft innerer Ueberzeugung zu verkünden. Wohl
treffen wir auch bei Euripides einzelne Stellen an, wo er in wür-
diger Weise die Götter und ihr Walten, die Abhängigkeit des Men-
schen von höheren Mächten darstellt. Euripides hat eben oflenen
Sinn für alles Grofse und Bedrückende und weifs mit der wunder-
baren Kunst seiner einschmeichelnden Redegabe selbst Ueberzeugun-
gen, die er nicht theilt, wirksam vorzutragen.^'^) Aber diese Aeufse-
rungen religiöser Denkart verschwinden gegenüber der rationalisti-
schen Kritik, welche an der alten Sitte und dem alten Glauben
geübt wird ; der Geist des Zweifels beherrscht die Poesie des Euripides,
erscheint als der eigentliche Kern seiner religiösen Weltanschauung.
Nichts berührt so unangenehm, als der Mangel einer festen
Ueberzeugung. Wie Euripides den verschiedenartigsten Einflüssen
ausgesetzt war, so sind auch seine Ansichten schwankend; wir be-
gegnen den widersprechendsten Aeufserungen , nicht etwa blofs in
verschiedenen Dramen, denn dies liefse sich entschuldigen, sondern
öfter wird in einem Athem geradezu Unvereinbares ausgesprochen.^^)
345) Man vergleiche fr. ine. 905, wo Euripides die Grübeleien der Natur-
philosophen verwirft und den für einen unseligen Mann erklärt, der nicht beim
Anschauen dieser Welt Gottes Wirken inne werde (oe raSe Xetaawv d'eov
ovxi voei).
346) In den Troaden 884 ff. richtet Hekabe ihr Gebet an den Aether, den
sie darum mit Zeus für eins erklärt und zugleich sein Wesen als unbegreiflich
hinstellt, «i'z' avöyvr] fvaeoi eire voie ß^oTtöv, um zuletzt mit vollständiger
582 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Das letzte Vermächtnifs des Tragikers, die Bakchen, bieten dafür
zahlreiche Belege. Auf den ersten Anblick scheint der Dichter, der
dem Ziele seines Lehens nahe war, nach langen Kämpfen, wenn
auch nicht Ruhe, doch Resignation gewonnen zu haben ; sieht man
aber genauer zu, so tritt der innere Zwiespalt mit aller Macht her-
vor; Euripides ist sich auch jetzt treu geblieben. Man empfängt
den Eindruck, als sei es dem Dichter selbst nicht rechter Ernst,
als treibe er mit den höchsten Fragen ein frivoles Spiel; will man
ihn von dieser Anklage freisprechen, dann mag mau zusehen, ob
man ihn gegen den Vorwurf äufserster Unklarheit des Denkens und
der Verwirrung der Begriffe, die sich in solchen Widersprüchen ver-
räth, in Schutz nehmen kann.
Die hellenische Göttersage forderte unwillkürlich die Kritik
heraus. Weder vor der Reflexion des nüchternen Verstandes, noch
vor den Lehren einer vorgeschrittenen Naturkunde konnte sie be-
stehen, noch weniger aber den Anforderungen einer geläuterten
Sittlichkeit genügen. Schon längst war der Polytheismus kühnen
Zweifeln begegnet; gerade in dieser Zeit, welche alles Bestehende
einer zersetzenden Kritik unterzog, waren die reUgiösen Leber-
Heferungen und üeberzeugungen den heftigsten Angriffen ausgesetzt.
Die ganze Richtung des Euripides, seine naturphilosophischen Stu-
dien, sein vertrauter Verkehr mit den Sophisten, den Vertretern der
Aufklärung, führte nothwendig zum Zweifel. Polemik gegen die
Volksreligion ist immer noch mit einer rehgiösen Denkweise ver-
einbart. Aber Euripides geht weiter. Die Kritik der polytheistischen
Götterwelt, der Tadel der Weltordnung, die ihm ungerecht, planlos,
willkürlich erscheint, steigert sich zum Leugnen des Göttlichen über-
haupt. So behandelt Euripides den Zeus mit ganz besonderer Ungunst,
mit ausgesuchtestem Hohne. Eine unübersteigliche Kluft scheidet
das in sich zerfallene Gemüth des Euripides von dem tiefreligiösen
Sinne des Aeschylus.^") Auf diese skeptische Betrachtungsweise,
Accoiumodation an den Volksglauben d;is göttliche Strafgericiit, welches iiher
den Menschen waltet, anzuerkennen. Und zwar kokettirt der Dichter mit die-
sen verwirrten Plirasen ; denn damit auch der harthörige Zuschauer aufmerk-
sam werde, legt er dem Menelaus den Vers 8S!) ti <V icriv; et'xai tui dnai-
vians &eofv in den Mund.
:}4T) Man halte nur mit dem feierlichen Ernste des Chorliedes im Aga-
memnon 160: Zeit, oane nox' iaxiv, die Verse zasammen, mit denen vierzig
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRIPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III.ECRIP. 583
welche im Verlaufe der Zeit sich immer mehr steigert, war der Ver-
kehr mit Protagoras gewifs nicht ohne Einflufs ; aber man darf den
Unglauben des Tragikers nicht lediglich auf diese Quelle zurück-
führen. Diese Denkweise ist nicht angelernt, sondern erscheint als
das Resultat einer selbständigen geistigen Entwicklung. Man em-
pfängt den Eindruck, als müsse der Dichter in einer früheren Zeit
mit gläubiger Ueberzeugung und warmer Innigkeit an den Grund-
lagen des religiösen Glaubens fest gehalten haben, bis schwere Schick-
sale, herbe Lebenserfahrungen diesen Glauben erschütterten und die
Liebe und Verehrung in bitteren Hafs verwandelten.
Euripides hat den Glauben an die Welt der Sage verloren.
Wenn er demuugeachtet fortfährt, heroische Stoffe in seinen Tra-
gödien zu behandeln, so mufste er wenigstens das Eingreifen der
Götter, die Orakel u. s. w. beseitigen oder doch mögUchst beschrän-
ken. Aber der Dichter behält diesen Apparat bei, der ihm sehr
bequeme Dienste leistet. Er ändert nicht die alte üeberheferung
ab oder scheidet das Anstöfsige aus, sondern polemisirt gegen die
Sage und erklärt dieselbe für eine Erfindung der alten Dichter; aber
dann macht er auch wieder die Götter für das verantwortlich, was
die Sage ihnen zuschreibt, behandelt also die Tradition als etwas
Thatsäclüiches. Ist die kritische Stimmung schon an sich mit der
Poesie nicht recht vereinbar, so kann das beständige Schwanken
zwischen unvereinbaren Gegensätzen nur Mifsbehagen erregen.
Euripides" Stellung war eine besonders schwierige. Der Dich-
ter gehört einer Zeit an, wo alles sich umgestaltet, wo das Alte
seine Macht verhert, ehe noch das Neue sich selbständig gebildet
und entwickelt hat. In solchen Zeiten kann ein grofser Geist wohl
noch einmal den Versuch machen, das Ueberlieferte festzuhalten und
es in der ihm gemäfsen Weise zu reproducireh. Was in dieser Rich-
tung zu leisten war, hat Sophokles gethan, der im Ganzen unbe-
rührt bleibt von der verzehrenden Unruhe seiner Zeit. Euripides
konnte und mochte diesen Weg nicht weiter verfolgen ; für ihn gab
es nur eins, das Neue frisch und mit allen Kräften zu ergreifen.
Jahre später Euripides seine Melanippe eröffnete fr. 483.484: Zeit, oaxi?
Zeve, ov ya^ olSa nlijv Xoycp, und Zevs, cj? XiXsxxai t^s alr,d'siai vno, 'El-
Xrjv^ irixrs, an dieser Stelle und in solchem Zusammenhange der Ausdruck ent-
schiedenster Frivolität, und man wird den Wandel, der sich binnen eines Men-
schenalters vollzog, recht inne werden.
584 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CBR. G.
Aber er blieb auf halbem Wege stehen. Er hat nicht den Mulh,
sich von dem Herkommen ganz und gar loszusagen und ein völlig
neues Gebäude aufzuführen, sondern geht darauf aus, das Alte und
Ueberheferte mit den Ideen der neuen Zeit zu verschmelzen. Aber
diese Vermittelung ist ihm nicht recht gelungen; es entsteht etwas
Zwiespältiges, welches nirgends volle Befriedigung gewähren kann.
Euripides sucht die alten Geschichten nicht nach ihrem eigenen Geist
und ursprünghcher Bedeutung, sondern mit steter Rücksicht auf
unmittelbare Nutzanwendung darzustellen. Die Charaktere, die Ge-
sinnungen , die Sprache seiner Dramen gehören durchaus der Zeit
des Dichters an. Euripides berührt überall die treibenden Mächte,
die weltbewegenden Gedanken seiner Zeit. Niemand wird den dra-
matischen Dichter tadeln, wenn er die Charaktere mit dem reicheren
Inhalte der Gegenwart zu erfüllen, den Personen seiner Stücke kräf-
tigeres Leben einzuhauchen bemüht ist. Allein mit den Gestalten
der alten Sage und epischen Dichtung, die mit einer gewissen Nai-
vität und Entsagung behandelt sein wollen, war eine so durchgrei-
fende Umwandlung, welche die Heroen der Vorzeit ganz im Geiste
des Jahrhunderts handeln und reden läfst und bis zu der äufsersten
Grenze des Erlaubten fortschreitet, gar schwer zu vereinigen. Dieser
Versuch, die moderne Weltanschauung mit den Traditionen alter-
Ihümhcher Poesie zu vermitteln, offenbart nur die Rathlosigkeit der
Kunst. Euripides mufstc vielmehr, indem er diese Bahn betrat, nun
auch die ideale Welt des Mythus, die verbraucht war, an welche das
Volk nicht mehr recht glaubte, gänzlich fallen lassen.'^®) Hätte sich
der Dichter entschliefsen können, seinen Stoff aus der Geschichte
und aus dem Leben selbst zu entnehmen , dann wäre er der Be-
gründer der historischen Tragödie sowie des bürgerlichen Trauer-
spieles geworden. Jetzt treibt er mit den überlieferten Mythen ein
freies, willkürliches Spiel. Weder dem Alten noch dem Neuen wird
er gerecht; es besteht ein ungelöster Widerspruch, und alle Kunst
des Dichters ist nicht im Stande, diese innere Unwahrheit zu ver-
decken. Ueber Ansätze und Anfänge einer neuen Kunslform ist
daher auch Euripides nicht hinausgekommen.
348) Die Theorip des Aristoteles hält sich auch liier von jeder Kngherzig-
keit fern, indem sie das Festhalten an den herkömiulicheu Stoffen (lö»*' nn^a-
8eSofuvan> nv&av avxixeo&ai, Poet. c. 9. 8 p. 1451 B 24) nicht fQr unerlärslich
erklärt.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLLTHEZEIT. lU.EURIP. 585
Da Euripides nicht der Erste war, welcher die heroischen SagenAuswahiund
dramatisch bearbeitete, haben die Darstellungen der Epiker und jg/^}^,^"^
Lyriker für ihn geringere Bedeutung ^^) als die Arbeiten seiner un-
mittelbaren Vorgänger, mit denen er nicht selten in der Bearbei-
tung derselben Stoffe zusammentrifft. Mit Aeschylus und Sophokles
zugleich begegnet sich Euripides im Telephus, in der Iphigeneia, dem
Palamedes, Philoktet, in der Elektra, im Oedipus, Polyidus. An
Aeschylus lehnt er sich an in den Schutzflehenden, den Herakliden,
in den Bakchen und im Phaethon.^^^j Häufiger trifft er mit Sopho-
kles zusammen, wie im Alexander, Phrixus, in der Ino, den Pelia-
den, der Phädra, Danae, Andromeda, dem Oenomaus, Thyestes, Ion;
nur ist es öfter ungewifs, wer zuerst von beiden sich einen Vorwurf
erwählte,^**) Aber auch neue Stoße sucht Euripides zu gewinnen, wie
der rasende Herakles, Temenus, Archelaus, Sthenoböa, Auge, Ino,
Bellerophontes , Aeolus, Kresphontes, Melanippe (die erste, wie die
zweite) und Antiope zeigen; namenthch benutzt er, gerade wie Sopho-
kles, öfter die attische Sage, wie im Theseus, Erechtheus und in der
Alope. Euripides ist eigentlich ein moderner Geist, wendet sich daher
mit Vorhebe Aufgaben zu, welche der Denk- und Gefühlsweise seiner
Zeit nahe lagen. Aber wie wir bei ihm überall auf unvermittelte
Gegensätze stofsen, so hat er öfter auch wieder hochalterthümUche
Sagen behandelt. Sittüche Bedenken hegen dem Euripides ganz fern,
daher Aristophanes seine vernichtende Kritik des Tragikers gerade
gegen diesen Punkt richtet.^^) Selbst vor den widerwärtigsten Stof-
fen, wie der Behandlung der Blutschande im Aeolus, scheut Euri-
pides nicht zurück. Manchmal nimmt er bei der Wahl des Themas
auf die unmittelbare Gegenwart Rücksicht , wie in den politischen
Gelegenheitsstücken, den Herakliden und den Schutzflehenden.
349) In der Helena folgt Euripides dem Stesichorus, wie er auch ander-
wärts diesen Dichter benutzt hat.
350) Der Sisyphus des Euripides war ein Satyrdrama. Aeschylus hatte
diesen Stoff in einer Tragödie und in einem Satyrspiel behandelt; der Sisyphus
des Sophokles ist problematisch.
351) Zuweilen behandelt Euripides einen Stoff episodisch, wie die Poly-
xena in der Hekuba, den seine Vorgänger zu einem selbständigen Drama be-
nutzt hatten. Gleichheit des Titels deutet nicht nothwendig auf Gleichheit des
Inhaltes hin; der Aegeus des Sophokles scheint von dem Aegeus des Euripides
ganz verschieden gewesen zu sein.
352) Aristophan. Frösche 1043 ff.
586 DRITTE PERIODE V0> 500 BIS 300 V. CHR. G.
Von einem Dicliter, dessen Blick so ganz dem wirklichen Leben
zugewendet ist, darf man keine ehrfurchtsvolle Behandlung der My-
thenwelt verlangen. Wenn man jedoch meist den Euripides be-
schuldigt, dafs er allzu frei mit der Ueberlieferung umgehe und die
Sagen gar zu selbständig abgeändert habe, so ist dieser Vorwurf
in solcher Allgemeinheit nicht recht begründet. Freilich tindet sich
bei Euripides vieles, was gewifs nicht auf alter volksmafsiger Tra-
dition beruht, aber auch Aeschylus und Sophokles wie alle griechi-
schen Dichter haben in nicht wenigen Fällen den Mythus umge-
staltet. Begründeter Tadel trifft ihn nur dann, wenn er nach blofser
Laune die Sage abändert, wenn er Fremdartiges und Widerstreben-
des einführt, und von solcher Willkür hat Euripides sich nicht frei
gehalten. Aber andererseits trifft ihn auch wieder der Vorwurf, dafs
er allzu sehr von den überlieferten Stoffen abhängig ist, dafs er
statt Unpassendes auszuscheiden oder den höheren Forderungen der
Kunst gemäfs umzubilden, die verschiedenartigen, oft unvereinbaren
Elemente der volksmäfsigen Sage aufnimmt.
Schon die alten Kritiker tadeln den Euripides, dafs er öfter
eigenmächtige Abänderungen der überlieferten Sage sich erlaubt
habe"*); aber ob dieser Vorwurf immer begründet war, ist sehr
ungewifs. Manchmal schliefst gerade Euripides sich enger an seine
Vorgänger, an die Tradition an'*^) oder folgt auch einer zwar ab-
weichenden, aber doch wohl bezeugten Fassung.^) Nicht einmal
in der Darstellung desselben Mythus bleibt sich Euripides gleich;
wenn er die Helena schildert, folgt er bald der gemeinen Ueber-
lieferung, bald schliefst er sich den phantastischen Neuerungen des
Stesichorus an. In den Phönissen hat Oedipus nach der Entdeckung
seiner Blutschande sich selbst des Augenlichtes beraubt, wie die alte
Sage berichtete. Im Oedipus verläfst der Tragiker den herkömmlichen
Weg; der unglückliche Dulder wird, noch bevor das grauenvolle
Geheimnifs offenbar wurde, von den ehemaligen Waffengenossen des
:<53) Schol. Eiirip. Hckuba 1 nvToax^Siäl^et iv Tali yerea/Myinn.
'6bA) So ist bei Euripides in Uebereiiistimmung mit der gemeinen Tradi-
tion Polyneikes der jüngere Broder, während Sophokles das Verhiltnifs um-
kehrt.
355) Die StiTtung des Areopag wird von Euripides in der Eleklra 125811'.
in die Zeit des Kokrops verlegt, gemäTs der attischen Sage, walirend Aeschy-
lus in den Eiinieiiiden den Ursprung des Gerichtshofes an das Urlheil über
Orestes anknüpft.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III. EURIP. 587
Laiiis geblendet, um an dem Thäter den Tod ihres Herrn zu rächen.
Ob dies eigene Erfindung des Tragikers war oder ob er aus einer
unbekannten Quelle schöpfte, steht dahin. Im Chrysippus benutzte
Euripides die leidenschaftliche Liebe des Laius zu dem jugendlichen
Sohne des Pelops, die durch Sage und ältere Poesie bezeugt war,
um das verhängni fsvolle Schicksal des thebanischen Königshauses zu
motinren. Chrysippus, dessen edlen und reinen Charakter der Dich-
ter dem des Hippolytus ähnlich geschildert hatte, nimmt sich selbst
das Leben, und Pelops spricht über Laius, der ihm den Sohn ent-
führt und zur blutigen That getrieben hatte, den Fluch aus, der
sich an Laius und seinem Geschlechte in grauenvoller Weise er-
füllen sollte. Die ältere Tragödie geht in ihrer schlichten, treu-
herzigen Weise dem Unwahrscheinlichen und von dem gewöhnlichen
Weltlaufe Abweichenden nicht eben ängstlich aus dem Wege. Euri-
pides, bemüht alles sorgfältig zu motiviren und der verstandesmäfsi-
gen Auffassung gerecht zu werden, hat sich nicht selten Fiktionen
erlaubt oder giebt der üeberheferung den Vorzug, welche den An-
sprüchen einer kritischen, reflektirenden Zeit am besten zu genügen
schien^), selbst auf die Gefahr hin, höhere poetische Interessen
preiszugeben. Andererseits fühlt sich Euripides vielfach durch seine
Vorgänger gehemmt und sucht neue Wege einzuschlagen. So schlofs
seine Antigone mit der Vermählung der Heldin und des Hämon,
indem wohl durch Vermittlung einer Gottheit die glückliche Lösung
des Confliktes herbeigeführt wurde.^') Euripides ist reich an glück-
lichen poetischen Erfindungen, wenn er nur nicht die üble Gewohn-
heit hätte, oft selbst deren Wirkung wieder zu vernichten durch
seine kühle, verstandesmäfsige Reflexion oder durch unzeitige Pole-
mik, welche er gegen seine Vorgänger ausübt. So wird z. B. in
der Elektra die Wiedererkennung des Orestes sehr geschickt moti-
virt; wenn aber dabei die Choephoren des Aeschylus, und zwar in
ziemHch perfider Weise, kritisirt werden, so ist dies entschieden
unstatthaft. Man mag es gelten lassen, dafs der Dichter die An-
356) Daher rahmt Dio Chrysost. 52, 14 11 161, 24 Di. am Euripides: nleiarrjv
fiev iv roTs Ti^äy/iaai avveaiv xai jrid'avorrjra iTttSeixwrat, vergl. auch 52, 1 1
II 160, 21 : T] TS rov EvQirtiSov avveat: xai Tiegi ■nävra intfiiXeta , oJötc firite
anld'nvöv Ti xnl Trnor.tieXriutvov iäam ftrite a7t).cöe rois Ttoäyuaai yoi^ff&at.
357) Der Bericht bei Hygin c. 72 bezieht sich nicht auf die Antigone des
Euripides, sondern auf das Drama eines unbekannten Tragikers.
5S8 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
forderuugen seines kritischen Zeitalters zu befriedigen und still-
schweigend Mifsgriffe seiner Vorgänger zu verbessern sucht; aber
solche Kritik der Vorgänger ist dem Dichter selbst nicht immer
förderlich und, in einem ernsten Drama geübt, geradezu störend.
So tadelt Euripides in den Phönissen den Aeschylus, weil er zur
Unzeit vor der Schlacht die Schildzeichen ausführhch beschreiben
läfst. Aber wenn Euripides diese Scene nach der Schlacht verlegt,
so ist dies keine Verbesserung; denn vor dem Kampfe ist die
Schilderung der bedeutungsvollen Zeichen, die für ihre Träger ver-
hängnifsvoll wurden, wirksam, nach der Entscheidung erscheint diese
Beschreibung als eine ziemlich müfsige Zugabe. Euripides mufste
entweder seinem grofsen Vorgänger, der in poetischen Dingen rich-
tigen, angeborenen Takt besitzt, folgen oder, wenn er es besser
machen wollte, die Scene ganz weglassen; aber er entscheidet sich
auch hier, wie öfter, für eine Halbheit.
Euripides, der darauf ausgeht, die mythischen Stoffe zeitgemäfs
zuzurichten, bringt schon in seinen früheren Arbeiten gern einzelne
Züge modernen Lebens an. So verspricht Alkmene in den Ilera-
kliden^**) einem Dienstmanne, wie einem Sklaven, zum Lohn für
gute Botschaft die Freiheit, und dieser nimmt sich sogar heraus,
die Herrin an ihre Zusage zu erinnern. In der Hekuba*'®) ordnet
die troische Frau, ehe sie das Nachtlager aufsucht, ihr Haar und
beschaut sich im Spiegel, ganz wie eine eitle, gefallsüchtige Alhe-
nerin. Hier liegt gar nicht einmal die Absicht vor, die alte Zeit der
Gegenwart näher zu rücken, sondern der bizarre Dichter hat Freude
daran, die Einheit des Bildes durch heterogene Züge zu stören. Im
Verlaufe der Zeit geht Euripides noch viel weiter. Die Heroenwelt
wird immer menschlicher aufgefafst und dadurch der subjektiven
Emi)rindung näher gebracht. Aber der Ernst und die Würde, mit
welcher bisher die tragische Kunst diese Stotl'e behandelt halte, wini
empHndlich beeinträchtigt, indem der Dichter bis ins kleinste Detail
eingeht""), alle Richtungen der Zeit zur .Anschauung bringt, die
358) Eurip. Herakl. 789. 890.
:»59) Kurip. Hekuba 923.
360) Wie in der Auge die Heldin im Heiligllium der Athene niederkomnit ;
daher Aristoph. Frösche 1079 f.: ov n^ayotyove xaje'Ssi^ ovroi xni Tixroiaai
iv %oli ieQols. Diese ganze Manier des Tragikers verhülint .\ri8tophanes rhen-
daselbst 980 auf das Tretfendfite.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRIPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III. EIRIP. 5S9
socialen Fragen der Gegenwart erörtert. Und dicht daneben be-
gegnen wir öfter wieder Zügen alterthümlicher Roheit, die der Dich-
ter getreuHch wiedergiebt, während die vorgeschrittene Kunst der-
gleichen meidet oder doch zu mildern sucht. Besonders liebt es
Euripides, bestehende Zustände mit den dramatischen Vorgängen der
alten Zeit zu verknüpfen; so weist er in der Andromache auf die
Herrschaft der Nachkommen des Achilles im Molosserlande, in der
Medea auf das Sühnopfer der Korinther für den Kindermord hin;
in der taurischen Iphigeneia wird auf die Stiftung des attischen
Artemiscultus zu Halae und Brauron Bezug genommen. Der Epilog,
den häufig eine Gottheit spricht, leistet dabei gute Dienste.
Euripides ist mit dem Technischen der dramatischen Kunst wohP'.« oekono-
vertraut; erweifs, was auf der Bühne vorzugsweise wirksam ist. Daher ripideischen
beschränkt er sich auch nicht, wie Sophokles, auf geistige Mittel, Tragödie.
sondern liebt es, die theatralische Darstellung für das Auge gebüh-
rend zu berücksichtigen. Ueberhaupt sucht Euripides weit mehr
als seine Vorgänger den Wünschen und Neigungen des Pubükums,
denen die herkömmliche Sitte des dramatischen Wettkampfes erhöhte
Bedeutung verlieh, entgegenzukommen. Das Unerwartete übt auf
der Bühne die mächtigste Wirkung aus. Daher zieht Euripides der
einfachen Fabel die verwickelte Handlung vor. Von plötzUchem
Schicksalswechsel und Wiedererkennung wird ausgedehnter Gebrauch
gemacht, aber eben deshalb auch der streng symmetrische Bau des
Dramas, den die ältere Kunst festhält, mehr und mehr aufgegeben.
Ueberhaupt ist die Oekonomie der Euripideischen Tragödie keines-
wegs überall tadellos.^'j Dafs dem Dichter das Produciren leicht
ward, erkennt man deutüch; aber eben diese glückliche Naturanlage
und die Nöthigung, welche an den vielfach in Anspruch genomme-
nen Dichter je länger, je mehr herantrat, in kurz bemessener Frist
einen Dramencyklus zum Abschlufs zu bringen , führte zu einer ge-
wissen Hast, deren Spuren die Arbeiten des Dichters unverkennbar
zeigen. Die dramatische Anlage ist oft sehr lose. In den Troaden
wird eigenthch nur eine Reihe tragischer Bilder aneinandergereiht.
Episoden werden häußg eingeflochten ; der Stoff, den sich der Dich-
ter gewählt, erscheint ihm selbst entweder nicht ausreichend oder
361) AristoL Poet. c. 13, 6 p. 1453 A 29: Ev^miSrjs, ei xal riXla fiij av
oixovofisi, nAAo ronyitcwraros ys rätv itoir^ätv tfaivtrcm.
590 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
nicht geeignet, um die volle Wirkung zu erzielen. Eine solche
Episode ist oft an sich tadellos und wirksam, steht aber in keiner
rechten Verbindung mit dem Ganzen oder wird nicht genügend moti-
virt.^®'^) Gegen die Einheit der Handlung wird mehrfach gefehlt,
zumal in der späteren Periode. Zuweilen wird eine doppelte Hand-
lung eingeführt, so dafs die eine auf die andere folgt, statt sie in
einander kunstreich zu verflechten, was unter Umständen sehr wirk-
sam sein kann. So beginnt in dem zweiten Theile der Androraache
eine ganz neue Handlung, und die Hauptperson des Dramas ver-
schwindet vollständig.^''^) Mit der Einheit der Zeit und des Ortes
geht Euripides sehr frei um.
Eine gewisse Fülle der Handlung kennzeichnet die meisten
Dramen. Euripides begnügt sich nicht, wie Sophokles, mit dem
Nothwendigen, sondern geht auf eine möglichst vollständige Darstel-
lung aus; der Tragiker strebt das stolTliche Interesse des Publikums
zu befriedigen. Aber dazu reicht der knapp bemessene Raum einer
Einzeltragödie nicht recht aus; daher wird die Behandlung skizzen-
haft. Einzelnes erscheint überflüssig oder nicht genügend motivirt.^")
Aus der geringen Personenzahl entsprangen mancherlei Unzuträg-
hchkeiten. Das Gespräch in den Phönissen zwischen lokaste und
dem verstofsenen Sohne über die Leiden der Verbannung veran-
schaulicht zwar die Situation; aber in diesem Momente, wo Poly-
neikes die Mutter und die langentbehrte Heimath wieder begrüfst,
erwartet man nicht kalt verständige Ueflexionen, sondern den Aus-
druck warmen Gefühls zu vernehmen. Wenn in einer einleiten-
den Scene ein Begleiter des Polyneikes mit einem Vertrauten der
lokaste dieses Thema behandelte , würde man nichts daran auszu-
setzen haben. So fühlt sich Euripides aller Orten gehemmt.
362) Auf Euripides ist die Anmerkung des Aristoteles Poet. c. 9, 10 p. 1451
B 33 vollkommen anwendbar, wie die Medea, die Schutzflehenden, die Phönis-
sen und andere Dramen zeigen.
363) Bei Nebenfiguren geschieht dies ebenfalls; in der Eloktra wird dio
Heldin mit Pylades verlobt, ohne dafs auf den Landmann, an den sie früher
verheirathet war, Rücksicht genommen wird.
364) Die Phönissen bieten dafür einen Beleg dar. Aristoteles Poet. c. l^
p. 1456 A lOflr. bemerkt, dafs die Tragödie, wenn sie aus der Beschränkung
heraustrete und nach der Weise des Epos sich an die Darstellung umfangreicher
Handlungen wage, keinen rechten Erfolg erziele. Hier wird auch Euripides ge-
nannt, aber die Stelle ist in verderbter Gestalt überliefert.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III. ELRIP. 591
Nach der hergebrachten Oekonomie des Dramas kann auch Euri- Erzählung.
pides auf das epische Element nicht verzichten, und der Tragiker
ist nicht sowohl darauf bedacht, es zu ermäfsigen, sondern pflegt
sogar manches zu erzählen, was die ältere Kunst auf der Bühne
darstellt.*^) So geben die Prologe, welche die Form des Selbst-
gespräches regelmäfsig festhalten, Anlafs zu oft weit ausgedehnten
Erzählungen ; ebenso nehmen die Botenberichte einen breiten Raum
ein. In der Andromache, wo die Handlung des zweiten Theiles auf
einem ganz anderen Schauplatze vor sich geht, behüft sich der Dich-
ter nur mit diesem Auskunitsmittel. Ebenso wenig thut in den
Chorgesängen die Reflexion der Erzählung und Schilderung Eintrag.
Auch in diesen erzählenden Partien ist das grofse formale Geschick
des Dichters nicht zu verkennen.
Eiiripides, der mit künstlerischem Auge die Dinge anschaut,
versteht durch die Fülle sinnlicher Reahtät die Darstellung zu be-
leben, selbst eine verwickelte Situation klar und bestimmt vor das
Auge zu rücken, die Phantasie des Zuhörers anzuregen und zu fes-
seln. Dafs er in seiner Jugend die Malerkunst praktisch übte, Wieb
off'enbar nicht ohne Einflufs auf seine dichterische Entwicklung;
daher verweilt auch Euripides gern bei der Beschreibung von Kunst-
werken.^) So wird im Ion der Bilderschmuck des delphischen Tem-
pels geschildert, in der Hekuba der Stickereien des panathenäischen
Peplus gedacht, und in den Phönissen unterläfst es der Dichter nicht,
nach Aeschylus' Vorgange die Schildzeichen der Sieben vor Theben
zu beschreiben. Auch auf Werke der Architektur und Plastik wird
öfter Rücksicht genommen; man erkennt leicht, wie vertraut der
Dichter mit diesem Gebiete war.^') Jedoch darf man nicht glauben,
dafs die Plastik der damaügen Zeit eine tiefere Wirkung auf Euri-
365) Schol. Aesch. Eumen. Vi bezeichnet dies als vscot£qixÖv xai Eiqi-
TiiSstov. Man vergleiche beispielsweise den Prolog im Philoktet des Euripides
mit der Einleitung des Sophokleischen Aias.
366) Auch die verlorenen Dramen mögen manche Schilderung dieser Art
enthalten haben, vgl. Hypsipyle fr. 764.
367) Bemerkenswerlh ist, dafs, M-enn einer etwas nicht aus eigener An-
schauung kennt, er sich nicht blofs auf Hörensagen, sondern auch auf Gemälde
beruft, wie Hippel. 1005, Troad. 6S2, Ion 271 (ähnlich schon Aeschylus im
Prolog der Eumeniden 40 ff.). Auch in Vergleichungen bezieht sich Euripides
gern auf Gebilde von Künstlerhand, nicht nur Denkmäler der Architektonik, son-
dern auch der Sculptnr und Malerei.
592 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
pides ausgeübt habe. Die Kunst des Phidias und seine Schule hat
keine innere Verwandtschaft mit dem Tragiker; überhaupt pflegt die
hellenische Kunst jedes Mal dem Wandel zu folgen, der sich bereits
in der Literatur vollzogen hat.^^*) Naturschilderungen sind nicht
gerade häufig, obwohl es dem Dichter, der sich aus dem unruhigen
Treiben der Menschen in die Einsamkeit seiner heimathlichen Insel
zurückzuziehen pflegte, an lebendigem Naturgefühle nicht fehlte.*")
Geographische Schilderungen, die Aeschylus liebt und die auch in
den Jugendarbeiten des Sophokles noch öfter vorgekommen sein
mögen, sind dem Euripides fremd.
Der Prolog. Eine griechische Tragödie hat nur mäfsigen Umfang ; daher be-
schränkt sie sich häufig auf die Darstellung der Katastrophe. Euri-
pides geht darauf aus, innerhalb des knapp bemessenen Raumes das
Thatsächhche in möglichster Vollständigkeit zu geben und so das
stoffliche Interesse der Zuschauer gründlich zu befriedigen; daher
pflegt er ebenso im Eingange die vorangehenden Begebenheiten aus-
führlich zu berichten, wie er gern am Schlüsse eine weitere Aus-
sicht eröffnet. Dafs Euripides bemüht ist, die Voraussetzungen der
Handlung klar darzulegen, und so dem Verständnisse zu Hülfe kommt,
kann man nur billigen^'"); allein die Weise, wie er sich dieser Auf-
gabe entledigt, hat gerechten Anstofs erregt. Bei Aeschylus und
Sophokles hängt die einleitende Scene mit der eigenthchen Hand-
lung eng zusammen. Bei Euripides löst sich der Prolog mehr oder
weniger ab. Aeschylus und Sophokles zeigen in der kunstreichen Be-
handlung des Eingangs eine grofse Mannigfaltigkeit; Euripides arbeitet
den Prolog nach einem bestimmten Schema aus. Wenn Euripides
bei Aristophanes die Deuthchkeit und Bestimmtheit der Exposition in
seinen Dramen hervorhebt"'), so ist dieses Lob gerechtfertigt; wenn
368) Die entsprechenden Epoclicn der bildenden Kunst treten regelmäfsig
später ein als in der Poesie; so erinnert die Riclitung der Pl;t*tik «oit Skopn*
und Praxiteles entschieden an die Tragödie des Kuripides.
:Wi\)) Man vergleiche in einem Ghorliede des Phaethon tV. TT > die '^ ' ' '
riing des anbrechenden Morgens.
:no) Dafs Euripides regelmäfsig im Prolog dieser Vriptlicliiuug ii;uii-
kommt, während die anderen Dichter öfter im Verlaufe des Stückes an passen-
der Stelle das Notlüge nachholen, bemerkt auch Arislot, Rhel. 111 14 p. 1415 A 18,
a71) Aristoph. Frösche 1122, wo Euripides die Prologe des Aeschylus
kritisirl und ihm vorwirft: noaffie yap ^v iv ffi ffdoat xcHy nfayftartty.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III. EURIP. 593
er aber weiter an seinen Vorgängern die Fülle des Ausdrucks tadelt,
während bei ilun kein müfsiges Wort zu finden sei"*), so bekundet
der Tragiker allerdings auch hier seine präcise Redeweise, verfällt
aber demungeachtet öfter in den Fehler ermüdender WeitschweiGgkeit.
Neben Prologen, welche sich mit einer summarischen, fast trockenen
üebersicht der Situation begnügen, finden sich andere, wo der Dich-
ter über das Mafs des INothwendigen hinausgeht. Dabei wird alles
fern gehalten, was das Gefühl tiefer berührt, indem dies für spätere
Scenen aufgespart wird. Diese Zurückhaltung ist manchmal geradezu
verletzend. Nichts ist unpassender als der Prolog der Phonissen, wo
lokaste ohne jeden Herzeusantheil von Dingen redet, welche sie so
nahe berühren.^^) Diese Manier in die Handlung einzuführen, welche
die jüngeren dramatischen Dichter, nicht nur die Komiker, sondern
wohl auch die Tragiker nach Euripides' Vorgange mit sichtlicher
Vorhebe anwenden, betrachtet man als eine Eigenthümhchkeit dieses
Dichters"*), während es eher eine Rückkehr zu der ältesten Weise
der Tragödie sein dürfte. Allein was dort zu dem einfachen, schlich-
ten Wesen stimmen mochte und unter Umständen nothwendig war,
da bei dem Vorwalten des lyrischen Elementes und bei der Be-
schränktheit der dramatischen Handlung manche Einzelheit sonst
unverständlich gebheben wäre, zumal da in den Anfängen der sceni-
schen Poesie die Zuschauer mit dem Sagenkreise der Tragödie noch
nicht so vertraut waren wie später, das pafst nicht für die höhere
Stufe der Kunst, wo der Dichter die Mühe einer sorgfältigen Ex-
position nicht scheuen durfte.
Schon Aristophanes^*) findet das weite Ausholen, die Aufzählung
einer langen Genealogie, mit welcher der Prolog meist eröffnet wird,
unpassend und parodirt sehr ergötzüch die eintönige Manier der
Das Verdienst des Euripides erkannten auch die allen Kritiker an; so bemerken
sie zur Andromache : 6 nQ6)j>yoi aatp^s xai elloycos eiorjftevos.
372) Aristoph. Frösche 1178: xäv nov Sie t'inco Tainov rj arotßfjv i'Srjs
ivovcav e^ea zov Xöyov, xaxaTirvaoy.
373) Weit passender hätte der Dichter dieses Amt dem Pädagogen über-
tragen, den er gleich nachher auftreten läfst.
374) Thomas Magister: ro iv olq/t, toi Soäfiaros ir,v vno&eotv Starvnovv
xal Tov axooaxr^v oiaTiBQ ;i;£«^a^ß;^£r*' £t» ro SuTtooa&Ev Ev^mtöov te'xrr^fta.
375) Aristoph. Frösche 946. Vgl. die anonyme Rhetorik (Rhet. Gr. I 436
(= II 228, 16 W.]) iav firmle TiooQta&ev ä^'/r;, xa&aneo iv roTe TtoXloU (schreibe
Tt^oXöyots) nenoirixev EvQtniSrjS.
Bergk, Griech. Literaturgeschichte Hl. 38
594 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Euripideischen Technik. Man hat darauf hingewiesen, dafs, indem
Euripides von der zusammenhängenden Irilogischen Composition
keinen Gebrauch mehr machte, ein solcher Prolog gewissermafsen
ein ganzes Drama ersetzte , ohne zu beachten , dafs Sophokles , der
in gleicher Lage war, von diesem Mittel niemals Gebrauch machte.
Andere haben die Manier mit den Abänderungen, welche Euripides
an den überlieferten Mythen vornahm, zu rechtfertigen versucht.
Aber Euripides beobachtet dieses Verfahren auch da, wo er von
jeder Neuerung der Sagen sich fern hält; z. B. der Prolog der Phd-
nissen wiederholt nur Dinge, welche jedem Zuhörer vollkommen
gegenwärtig waren. Am ersten läfst man diese Entschuldigung gel-
len, wo die Anlage des Dramas so verwickelt ist, dafs der Zuhörer
ohne einen ausführhchen Vorbericht sich in dem Labyrinthe der
künstlich verschlungenen Intrigue nur schwer zurecht finden wilrde.
Diese Form, durch Erzählung der Vorgeschichte auf die kommenden
Ereignisse vorzubereiten, ist eben nur ein INothbehelf, für den sich
Euripides entschied, theils weil er es anders machen wollte als seine
Vorgänger, theils aus Bequemhchkeit, weil er die Mühe scheute,
durch die lebendigere Form des Wechselgespräches uns mitten in
die dramatische Handlung zu versetzen. Daher wird keines der er-
haltenen Dramen durch einen Dialog eröffnet ''*); wohl aber geht der
Monolog öfter in ein Wechselgespräch über. Meist tritt die Haupt-
person oder einer der Mithandelnden auf; von dem Hülfsmittel, eine
Nebenfigur einzuführen, um die nothwendigen V^orausselzungen der
Handlung darzulegen, macht Euripides nur selten Gebrauch."'} Denn
die Gottheiten, denen er gern dieses Geschäft überträgt"*), sind,
wenn auch nicht unmittelbar in die Handlung verflochten, doch mehr
cider minder dabei betheiligt, obwohl der Dichter dieses Hülfsmittel
meist recht wohl entbehren konnte. Er scheint dies selbst ge-
376) Nur die Iphigeneia in Aulis in ihrer gegenwärtigen Gestalt macht
eine Ausnahme. Diese Mittheilung, die nur für das Publikum bestimmt ist,
nimmt sich als Selbstgespräch im Munde der auftretenden Person oft seltsam
aus; in der Medea rechtfertigt daher auch die alte Amme ihr Erscheinen hl:
otad"' ifiegcis (i vjtfjXd's yfj xe xovQavt^ Xt'^at ftokovar] Savgo MtjStins rvxtti.
Aber dies setzt eine leidenschaftliche Gemülhsbewegung voraus; davon ist in
der Erzählung nichts wahrzunehmen.
377) Wie in der Medea.
37S) Hierher gehört auch der Prolog der Hekuba, wo der Geist des er-
raordetea Polydorus passend das Drama eröfinet.
DIE DRAM. POESIE. DIE TBAGÖDIE. II. GRIPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III.EDRIP. 595
fühlt ZU haben, und gleichsam um das Hereinziehen der höheren
Mächte zu rechtfertigen, läfst er dann die Entwicklung der Hand-
lung schon im voraus erzählen und zerstört so vollständig jede
Ueberraschung. Man hat auch darin einen Fortschritt der drama-
tischen Kunst zu finden vermeint, indem der Dichter nicht darauf
ausgegangen sei, die Neugierde zu befriedigen, sondern sich ledig-
lich auf die Wirkung der dramatischen Situation verlassen habe.
Diese Vertheidigung des Euripides ist nicht zutreffend. Es würde
diese Manier selbst dann ein Mifsgriff sein, wenn Euripides ver-
standen hätte den überwältigenden Eindruck einer überraschenden
Schicksalswendung auf seine dramatischen Figuren anschaulich zu
machen und so den Zuschauer in Spannung zu halten und mit
lebhafter Theilnahme zu erfüllen. Allein von dieser Sophokleischen
Kunst ist wenig bei Euripides zu spüren.
Wenn der Stil der klarste Ausdruck der Persönhchkeit ist, soDerStiide»
trifft dies vor allem bei Euripides zu. Die Sprache seiner Dramen ""'" **'
harmonirt vollkommen mit dem Geiste seiner Poesie, für die weder
der grandiose Ton des Aeschylus, noch die mafsvoUe, mehr indi-
vidualisirende Weise des Sophokles sich eignet. Von Anfang an
steht der Stil des Euripides durchaus auf dem Standpunkte der un-
mittelbaren Gegenwart^^); die Personen in seinen Tragödien reden
die eigene Sprache des Dichters. Je ungewohnter dieser Ton auf
der Bühne, desto mächtiger war die Wirkung. Euripides schuf eine
mustergültige Form für die Zeitgenossen, wie für die Nachfolgenden.
Die Sprache des Dichters ist leicht, fliefsend und geschmeidig;
was er sagen will, wird bestimmt und präcis ausgedrückt. Diese
Klarheit und Verständlichkeit^'") erreicht der Dichter besonders da-
durch, dafs er sich mögUchst an den herkömmlichen Ausdruck, an
die übliche Bedeutung der Worte hält und doch mit diesen ein-
fachen Mitteln die beabsichtigte Wirkung erzielt.^*') Obwohl die Er-
379) Wenn Horaz Ars Poet. 95 sagt: Et tragictu plerumque dolet sermone
pedestri, Tclephus aut Peleus, cum pauper et exul uterque Proicit ampullas
et sesquipedalia verba , Si curat cor spectantis tetigisse querela , hat er die
Tragödie des Euripides vor Augen. Neophron war vielleicht in diesem Punkte
Vorläufer des Euripides; jedenfalls schlofs er und Aristarchus sich dem Euri-
pides alsbald an.
380) Mit Recht wird der Vorzug der aa^riVEia allgemein bei Euripides
anerkannt (vgl. Thomas Magister, Dio Chry.sostomus 52, 14 II 161 Pi.).
381) Sehr richtig charakterisirt Krantor, der den Euripides hochschätzte,
38*
596 DRITTE PERIODE VON 500 DIS 300 V. CHR. G.
habenheit des tragischen Stils ihm fremd ist, versteht er doch in
ergreifender Weise dem tragischen Pathos Ausdruck zu verleihen.^*)
Seine stilistische Kunst beruht auf sorgPalligen Studien; Euripides
sammelt wie eine Biene passende Ausdrücke, eigenthümliche Ge-
danken und Bilder.^) Er wufste, dafs das Neue und Ungewohnte
besonderen Eindruck macht, aber er meidet sorgföltig jedes Ueber-
mafs. Mit feinem Takte wählt Euripides aus dem Sprachschätze das
Angemessene aus'"); die Redeweise der Gebildeten seiner Zeit ist
für ihn Norm. Allein er erkannte recht wohl, dafs der attische
Dialekt nicht für jedes Bedürfnifs ausreichte; daher wird öfter, als
man glaubt, ein alterthümliches Wort, eine seltene Sprachform ein-
geflochten. Aber wo der Dichter dergleichen zuläfst, ist es in der
Regel passend gewählt, dient dazu, der Darstellung eine bestimmte
Färbung zu geben, macht niemals einen fremdartigen oder stören-
den Eindruck^'); selbst der niedrige und alltägliche Ausdruck wird
seine stilistische Kunst Diog. Laert. IV 6 (26): Xiycov i^ytüSss elvai iv rcp xvqüo
rQaytxme a/ia xai avfiTtad'cos yqä-ipai. Wie sehr Euripides dem Sprachgebrauche
seiner Zeit huldigt, sieht man daraus, dafs er selbst edle Ausdrücke in gering-
schätzigem Sinne verwendet : itaXakörrii ist ihm E i n f a 1 1 , asfivös stolz, h o c h-
müthig(so auch Sophokles Ai. 1107), asuvvvsad'ai, grofsthun.
382) Longin. de suhl. c. 15: ijxiard yi roi ueyaXo^vr,i iSv oftioe zijv av-
tÖs avxov (fvaiv iv nokkoTe yevsad'ai r^ayixijv n^oariväyxaae , was durch
Beispiele erläutert wird.
383) Aristoph. Acharn. 39S : 6 vovs fiiv i'|a> ^XXiycov invXXia ovx k'vSov.
'EnvXXia sind nicht Verse {taftßela, wie der Scholiast das Wort fafst), sondern
der Komiker bezeichnet damit die kunstreiche Phraseologie des Tragikers, wie
er auch im Frieden 532 die iTtvXXia des Euripides den fieXt] des Sophokles
gegenüberstellt, indem er an jedem Dichter das hervorhebt, was am meisten
bewundert wurde; gleich nachher 534 nennt er den Euripides verächtlich einen
noirjxris Qtjfiaxioiv Sixavixcäv. In den Fröschen 941 rühmt sich Euripides,
dafs er die Tragödie von dem Bombast des Aeschylus befreit habe: layvava
fi&v Ttpiönarov avrrjv xal t» ßaQOS ayelXov invXXiois xal neoiTtarots xai
rsvrXioiat Xevxole, yvXov SiSove artoftvXfidrtav, ajio ßtßXicuv amj&iäv. Die
Kühnheit, welche die enthusiastischen Verehrer des Dichters bewunderten
{na^axexivSvvevuivov, Aristoph. Frösche 99), liegt mehr in den Gedanken als
in den Worten.
384) Arislot. Rhet. III 2 p. 1404 B 24 bezeichnet den Euripides als den ersten
Vertreter dieser Richtung : xXtTtreTai S' sv, iäv iie ix ttjs attad^iai SinXt'xjov
ixXiytav arJVTt&fj, onep livQtnlSr}« noiei xal iniSai^t nqänot.
385) So z. B. Kqoxh Elekt. r)25, ini^afsw (von den Drangsalen, welche
die Sphinx über Theben brachte) Phon. 45, xe'Xcjp Androm. 1034, xiyxQOfia
Phon. 138(>, das dorische Xr^e, das ionische ninXtaxa Hei. 532, das äolische
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III.EURIP. 597
durch die Umgebung geadelt.^) Daher war seine Darstellung durch
Mannigfaltigkeit ausgezeichnet^"), und mit Recht betrachten die alten
Rhetoren den Dichter als Vertreter des mittleren Stils.^*)
Das Epos und die lyrische Poesie haben manchen Beitrag ge-
liefert; indes dem Homer verdankt Em'ipides weniger als die älte-
ren Runstgenossen. Mit seinen Vorgängern hat Euripides vieles
Gemeinsame, doch im Ganzen weit mehr mit Aeschylus als mit
Sophokles. Anderes ist dem Tragiker eigenthümhch oder tritt uns
hier zuerst entgegen; inwieweit eine Neuerung im einzelnen Falle
vorliegt, läfst sich oft schwer entscheiden.^^) Im Allgemeinen findet
sich Üngewöhnüches mehr in den lyrischen als in den dramatischen
Scenen und hier wieder häufiger in den erzählenden Partien als
im Dialoge. Verhältnifsmäfsig die meisten Sprachneuerungen ent-
halten die späteren Arbeiten des Dichters.^)
TieSaioeiv Phon. 102", die abgekürzte Optativform tgifow fr. 895, der Dativ iv
(ftä statt qxori Meleag. fr. 53S; manches ist durch die Abschreiber verwischt,
wie slv statt elvai , der Nominativ des Reflexivpronomens t u. a. "Wenn er
einen Vers aus Aeschylus (Philokt. fr. 2i6) herübernimmt, so vertauscht er
ia&isi. mit d'oiväiai., s. Aristoteles Poet. c. 22, 7 p. 145S B 23. Aber Euripides
wendet Glossematisches niemals aus Ostentation an, sondern er verfährt mit so
feinem Takte, dafs man oft kaum merkt, wenn er ein seltenes Wort einflicht.
386) Vergl. Longin. de subl. c. 40.
387) Biograph: TtoixiXos rrj cpQäaet xai ixavos avaaxcväaai, ta eiQrjiteva,
ebenso Thomas Magister.
3S8) Biographie: TiXiofiaii Si fiiato /^orjaajuevos TiSQtyByove zr^ sQfir,vsiq
äxQfos sie a/ifoTSQov y^Qcüfisvos Tßls inixei^r^aeaiv, Dionys. Halle, de vett. cens.
2, 11 V 423 ed. Lips.; ebenso läfst er de comp. verb. c. 23 V 170 als Vertreter
der yXacpvQo. xai avdT,Qa avvd'eats unter den Tragikern nur den Euripides gel-
len. (S.S. 461, A.262,)
389) Jedenfalls hat Euripides nicht so viel geneuert als Aeschylus, und
die Neubildungen, mit denen er die Sprache bereichert, zeigen einen wesent-
lich verschiedenen Charakter.
390) Bezeichnend ist die Vorliebe des Euripides für abstrakte Ausdrücke,
namentlich Substantiva auf Jiä (solche Bildungen sind auch bei Aeschylus be-
liebt) und 016. Unter den Zusammensetzungen nehmen die mit noXvs (wie z. B.
3io).vfwxd'os, welches Sophokles nur im Oedipus auf Kolonos 65 gebraucht) oder
xaUe, mit SV oder 8vs im ersten Gliede gebildeten Worte die hervorragendste
Stelle ein, was eine gewisse Nüchternheit der poetischen Anschauung bekun-
det. Zeilworte, mit zwei Präpositionen componirt, wo man öfter die eine leicht
entbehren würde, sind häufig; besonders beliebt sind Zusammensetzungen mit
aini und avv. Einzelne Neubildungen , wie Sva&vriaxa} Elekt. 843, axaSio-
S^afiovfiai Herc. für. 863, xaxoßovXevo/tai Ion 877 entfernen sich von der stren-
598 DRITTE PERIODE VON 500 BiS 300 V. CHR. G.
Die Sauberkeit und gefällige Eleganz der Rede^'), der wohl-
gegliederte, leicht übersichtliche Satzbau *''^}, die Harmonie des Rhyth-
mus und Tonfalles, wie der natürliche Wohllaut der Sprache übten
eine mächtige Wirkung aus. Die Redegewalt des Dichters hat etwas
Hinreifsendes, und wenn er den leidenschaftlichen Drang seiner Seele
in die Worte legt, bestrickt er mit einem eigenthünüichen Zauber
die Gemüther. Nicht unpassend verglich ein alter Kritiker den
Redeflufs des Euripides mit Honigseim und Sirenengesang ^°^), daher
auch Aristophanes, indem er die Meislerschaft des Tragikers in der
Handhabung der stilistischen Kunst willig anerkennt und selbst
vieles von ihm gelernt zu haben eingesteht, dieses Lob dahin modi-
ficirt, Euripides habe seinerseits wieder der honigsüfsen Rede des
Sophokles nicht weniges zu danken.^^^) Und in der That steht die
Redeweise des Euripides dem Vortrage des Sophokles näher als der
glänzenden Sprache, dem hohen Stile des Aeschylus, der vorzugs-
weise den Eindruck des Heroischen macht. Auch hier ist ein uatur-
gen Regel der Gesetzmärsigkeit, welche die Sprache sonst beobachtet; awa-
aogieiv Phon. 394 ist durch die antithetische Wendung, die zu dieser Wortform
Anlafs gab, genügend gerechtfertigt; anderes dieser Art ist problematisch. Die
Beiworte gehen vorzugsweise auf die äufsere Gestalt und Erscheinung der
Dinge, haben nicht selten einen malerischen Charakter. Alles Gezwungene in
Worten und Wortverbindungen hat Euripides sorgfältig vermieden. In der
Medea 279: ovx i'artv arrjS sin^vooiaroi ixßaais mufs man Bvn^öexroe
herstellen, und die gleiche Verderbnifs liegt auch bei Aeschylus Pers. 91 in
anQoaoiaroe, bei Sophokles Oed. Kol. 1277 in SvajiQÖaoiaxoe vor.
391) Kofirpöv, ein dem Euripides selbst sehr geläufiger Ausdruck, ist
dafür das rechte Wort, welches freilich auch den Begrifi des navovQyov in sich
schliefst, daher Aristoph. Ritler 18 xo/iif/svQiTnxcjs. Anderwärts bezeichnet der
Komiker (s. A, 394) mit rov axofiaxos ro a-xqoyyvh}v das Abgerundete, den
leichten Flufs und Rhythmus des Euripideischen Stils. Den ^v&ftos x'^C<£<^
hebt auch Thomas Magister hervor.
.392) Anakoluthien finden sich nicht eben häufig und werden meist pas-
send angewandt, um die innere Bewegung des Gemüthes dadurch anzudeuten,
wie im Prolog der laurischen Iphigeneia.
393) Alexander Aetolus bei Gellius XV 20, 8 schildert das ernste, melan-
cholische Gcmüth des Dichters, fügt aber hinzu: aW o t« y^axf^at, toüt' ar
fitktjos xal aBtor}v(ov izarsvxtt.
394) Aristoph. ^Kiyyäs xarakaf^ßavovoat fr. 397: X^ä/iat yaf avrov rov
aröftaroe %<^ ajQoyyvXtit, xovi voZi S' ayoQaiovs rjrrov ^ xtivos noicü' und
/\(WToJf?c? fr. 231a: o J' av ^ofonkiovs lov /teXtxi xtxfto/utfov umne^
xaSiaxov ntQiiXeixi ro aröfta. (S. S. 4ti3, A. 26S.)
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLüTHEZEIT. III. EURIP. 599
gemäfser Gang der Entwicklung deutlich zu erkennen. Sophokles
führt die Erhabenheit der tragischen Diktion, die in Gefahr war, in
Schwulst und Unnatur auszuarten, auf das rechte Mafs zurück; er
verbindet Anmuth und Milde mit der Grofsheit und Würde, welche
die ideale Welt der Tragödie fordert. Euripides, der diese Stoffe
der Gegenwart näher bringt, verzichtet auf den Reichlhura poetischen
Schmuckes und sucht mehr durch vollendete Sauberkeit der Form,
durch gewählten Ausdruck, durch die nattirhche Frische und Leben-
digkeit des V^ortrags zu wirken.
Euripides, der stets die Wirkung genau berechnet, hält sich
nicht immer auf gleicher Höhe. Oft zieht er absichtlich das Schlichte,
scheinbar Kunstlose vor; manchmal that aber auch die Eilfertigkeit
des Producirens Eintrag. So finden sich neben durchaus vollende-
ten Partien lang hingezogene^) oder nur in flüchtigen Umrissen hin-
geworfene Stellen. Die Leichtigkeit der Rede führt unwillkürhch
zu einer gewissen Ueberfülle, daher Aristophanes wiederholt die
Geschwätzigkeit der Euripideischen Tragödie tadelt.^) Zuweilen,
namenthch in den Prologen, kommt die Darstellung der Prosa ziem-
lich nahe, indem nur hier und da ein dichterisches Wort oder Bild
eingeflochten wird, um die Rede über die Weise des Alltagslebens
zu erheben.
Der Stil des Euripides ist nicht frei von Manier. Aus der Rasch-
heit, mit welcher der Dichter arbeitete, und der Einfachheit seiner
Redeweise entspringt die Angewöhnung an gewisse conventionelle
Wendungen und Phrasen, welche er über Gebühr wiederholt."^
Ebenso kehren unverändert dieselben Verse wieder ^^), woran die
Kritik oft ohne Grund Anstofs genommen hat. So macht auch Euri-
395) Biographie: dv Se roTs a/ioißaiois neoKKros xai fo^ixös, yai iv
rois noaXciyote Se ox^VQoi.
396) Aristoph. Frösche 943: x^Xbv SiSoi? arcouvXuärmv , und 1069: elx^
av XaXuiv i7tirT]8evaai xai axatfivXiav iSiSa^as; vgl. auch 841 : <y ara>fivXu>-
avXXsxrdSri. Die Redseligkeit rechtfertigt Dio Chrysostomus 52, 9 II 160 in dem
Falle, wo ein Unglücklicher seine Erfahrungen schildert.
397) ^ofos, aoffia, <sofCC,e<sd'ai sind Lieblingsworte des Euripides;. auch
vavaxoXBw gebraucht er gern. Besonders geläufig ist ihm der Ausdruck fqov-
Sos (äv Tta&ei angewandt, s. Didymus Schol. Androm. 1054), den Aeschylus nur
einmal Suppl. S61, Sophokles mit Mafs verwendet ; Aristophanes parodirt diese
Manier in den Wolken 718, vgl. auch Frösche 1343.
398) Der Vers Medea 693 kam schon in den Peliaden fr 604.605 vor.
600 PRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHI». G.
pides von der Wiederholung desselben Wortes zu rhetorischen Zwecken
in den lyrischen Partien bis zum Ucbermafsc Gebrauch, so dafs
dieses Mittel zuletzt jede Wirkung verhert. Schon von Aristophanes
wird diese Manier verdientermafsen gerügt.^'®)
Das Vorherrschen des rhetorischen Elementes sondert die Dar-
stellung des Euripides sehr bestimmt von seinen älteren Berufs-
genossen ab.'"*) Diese rhetorische Kunst ist nicht sowohl angelernt,
denn des Dichters Jugend fällt in eine Zeit, wo man sich noch nicht
mit theoretischen Studien über solche Dinge befafste, sondern be-
ruht auf Naluranlage; aber Euripides hat nichts versäumt, um dieses
Talent auszubilden. Den politischen Debatten in der Volksversamm-
lung, den Gerichtsverhandlungen, an welche uns zahlreiche Scenen
dieser Dramen erinnern , ist der Tragiker gewifs nicht selten mit
lebhafter Theilnahme gefolgt. Mochte auch die schlichte Weise, welche
nocb lange sich dort behauptete, so wenig wie der hohe Stil eines
Perikles und anderer Wortfilhrer ihm zusagen, so ward er doch
durch das Studium der lebensvollen Wirklichkeit in seinen dichte-
rischen Arbeiten gefordert. Ebenso wenig darf man den Einflufs
unterschätzen, welchen später die Sophisten auf Euripides ausübten;
nur ist der Tragiker nicht so sehr als ihr Schüler zu betrachten,
sondern die Uebereinstimmung hinsichtlich der Ziele und Wege
fübrte die gleichgestimmten Naturen zusammen. Denn die That-
sache stebt fest, dafs Euripides in vorgerücktem Alter, seitdem er
mit den Sophisten in unmittelbare Berührung kam, eine wachsende
Vorliebe für das Spitzfindige und Subtile des Ausdrucks, für Gegen-
sätzlichkeit der Gedanken und Wortfiguren, für das deklamatorische
Pathos zeigt.'^') Eben deshalb bat der Tragiker, wie ihm Aristo-
3fl9) Aristoph. in den Fröschen 13liS und 1352 IT., wo er die Manier der
Monodien bei Euripides sehr glücklich nachbildet. Nur eine Abkürzung dieser
Figur (Epizeuxis) ist es, wenn Arisloph. Thesmoph. 1039 parodirend sagt: anb
Se avyyövtov nv — nro/ta •jiäd'ea, denn so ist statt nXV zu lesen. Verschie-
den davon, aber in der Wirkung ziemlicli gleich ist die von Aristoph. Frösche
1314 verspottete Manier des Vortrags Enripideisciier Lieder: r'iBittfuuüia-
9tri.
400) Biographie: QT)ioQiyiörarot Si rfi xarnaKevt;. Dionys. de Hai. veU.
cens. 2, 1 1 : nolif iv raXe ^rjrooiynis tioaymynls. Dio Chrysostomus 52. 1 1
II 160 nennt die Redeweise des Tragikers noyltT<Ko>T«Tf; xai (}r;ropit<(OTnrT], und
denn Aristophanes Frieden 534 ist er ytoi7)ti,t (»t^ftaxiafr SiMnrtxöir.
401) Die Wirkung dieser sophistischen Redekunst auf die Massen schil-
DIE DRAM. POESIE. DIETRAGÖDIE. 11. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. III.ELRIP. 601
phanes wiederholt vorwirft, mit seiner Weise, die dem Geschmacke
der Zeit entschieden zusagte, auf die rednerische Ausbildung seiner
Zeitgenossen unzweifelliaft grofsen Einflufs gewonnen.^*") Die Rhc-
toren, wenn sie auch nicht unbedingt alles an Euripides bewundern,
geben doch seinen Tragödien den Vorzug vor allen anderen'"^), weil
sie vollendete Muster rednerischer Kunst darboten und überhaupt
der künftigen Entwicklung der Literatur, die mehr und mehr ein
rhetorisches Gepräge annimmt, gleichsam den Weg vorzeichneten.
Aber die Rhetorik ist der Tod der echten Poesie; es ist ein un-
zweideutiges Zeichen des Verfalles, wenn diese formale Gewandtheit
als das vorzüglichste Bildungsmittel gilt und die höheren geistigen
Interessen eines Volkes dieser Virtuosität nachstehen.
dert Aristoph. Frösche 774: ol S^ axQOtoftevoi röjv dvriÄoytäv xai Xvyia/iöäv
x«t axQOfcöv v-jtEQE^ävriaav xavöfiiaav aofdrarov, wie auch nachher diese
Weise des Euripides anschaulich geschildert \»'ird 814 ff., 875 ff., 901 ff. Hier-
her gehört z. B. die Vorliebe des Euripides für Ausdrücke, wie yauos Siaya-
/tos, xäftaros evxäftaros, oSol avoSoi, Ttaod'svos anao&evos, t^fi^r; avvu(f03,
Mqya äveoya u. dergl., von Aristoph. Frösche 1334 rpvxav äxi-vyov k'/jovta parodirt.
Auch die anderen Tragiker verschmähen dieses Mittel nicht, aber keiner thnt
es dem Euripides gleich.
402) Aristoph. Frösche 1069. 1083. Schon in den Achamern 393 ff. läfst
der Komiker den Dikäopolis, dem daran gelegen ist, seine Sache erfolgreich zu
vertheidigen, sich bei Euripides Raths erholen.
403) Dionys. Hai. de vett. cens. 2, 11 vermifst zwar an den Charakteren des
Euripides die Würde und Grofsheit, aber empfiehlt sein Studium dem Redner;
ähnlich urtheilt Dio Chrysostomus 18, 7 I 28S der zugiebt, er habe die Würde der
Tragödie nicht recht gewahrt, aber die ztQoarjvsia und 7n&av6ri]s anerkennt.
Wenn derselbe 52, 14 U 161 den Philoktet charakterisirt : nXeiaTTjV fiiv iv rols
TtQäyfiaat avveaiv xal Tttd'avazTira, iTtiSsixwrai, dfirjxavav 8i xai ■d'avfiaoTTjv
kv rols /.oyois Sivafuv, xai rc rs infißsla aatpöJS xai xarcc ipvaiv xai Ttoh-
Tixöis iyovxa, xai rt (ii).ri ov fiovov rjSovi^., aXXa xai Ttof./.rjv tz^os doerrpf
7ia^äxÄ7]aiv, so fafst er nur die Vorzüge zusammen, die man insgemein an
Euripides schätzte. (Juintil. X 1, 67 f. läfst die Frage, ob Sophokles oder Euri-
pides als Dichter höher zu stellen sei (quorum in dispari dicendi via vier
Sit poeta melier), unentschieden, aber nimmt als allgemein zugestanden an,
dafs Euripides für den künftigen Redner wegen des rednerischen Charakters
seiner Sprache, der Fülle der Sentenzen, der philosophischen Lebensanschauung,
der dialektischen Kunst (dicendo ac respondendo cuilibet eorum, qui fuerunt
in foro diserti, comparandus), und der vollendeten Meisterschaft, mit der leiden-
schaftliche Gemüthsbewegungen, namentlich Rührung erweckt und dargestellt
werden, entschieden den Vorzug verdiene.
602 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Tragiker zweiten und dritten Raugres.
Die anderen Tragiker dieses Zeilraumes geriellien frühzeitig in
Vergessenheit. Der strahlende Glanz der grofsen Meister verdunkelt
alle ihre Mitbewerber. Auch waren die meisten, wie es scheint, von
untergeordneter Bedeutung. Doch darf man ihre Leistungen nicht
allzu geringschätzig beurtheilen. Es fand sich darunter mancher
begabter Dichter, der erfolgreich mit den Koryphäen wetteifert.
Leider ist unsere Kenntnifs sehr lückenhaft; nur dürftige Reste ihrer
Dramen sind erhalten. Hier und da bietet ein sachkundiges Urtheil
aus dem Alterthume einen Anhalt dar; aber viele lernen wir nur
aus den Angriffen und Neckereien der gleichzeitigen Komiker kennen.
I
Erstes sta- Neben Aeschylus wirkten längere Zeit noch die älteren Dichter,
'*'"'"■ später aufser dem jungen Sophokles Aristias und Polyphrad-
mon, die Sühne des Pratinas und Phrynichus.') Nach Aeschylus'
Abscheiden treten seine Nachkommen im Agon auf und üben die
ererbte Kunst über ein Jahrhundert lang aus.")
II
Zweites Der Tod des Aeschylus und der gleichzeitige erste Versuch des
Stadium, ßm-ipides, Ol. 81, 1, bezeichnet den Beginn des zweiten Stadiums,
und nach diesem Vorgange widmeten sich alsbald frische Kräfte
der tragischen Bühne: Aristarchus Ol. 81, Ion 01.82, Achäus
Ol. 83, unzweifelhaft die talentvollsten Dichter, welcher dieser ganze
Zeitraum aufser den drei Meistern hervorgebracht hat. Ihnen gebührt
nebst Agathon, der erst später auftritt und schon deutlich auf
die letzte Epoche hinweist, fügHch die zweite Stelle.') Abor he-
merkenswcrth ist, dafs keiner aus Athen stammt.
Aristarchus. Aristarchus aus Tegea in Arkadien trat Ol. 81, 4 auf^); eiu
1) S. oben S. 267 f.
2) S. oben S. 5fi und unten S. 0()S. (31Ü.
3) Die Alexandriner liefsen aufser den drei Meistern Ion und Achäus als
vorzugsweise klassiscbe Muster gelten, s. S. (>04f., A. l'J.
4) Unter diesem Jahre verzeichnet ihn Eusebius Chron. Fl 105; gemeint
ist Hohl das erste Auftreten. Suidas I 1,718 nennt ihn einen Zeitgenossen des
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. £1. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. A>D. TRAG. 603
fleifsiger Dichter, obwohl der äufsere Erfolg mäfsig war, da ihm nur
zweimal der erste Preis zuerkannt wurde.^) Um die Feststellung
der Oekonomie der Tragödie mufs er sich verdient gemacht haben ;
jedoch geht uns nähere Kunde ab.®) Sein Stil erinnert nicht so-
wohl an Aeschylus und die alte Tragödie, sondern steht der Rede-
weise der Gegenwart ganz nahe. Aristarchus war der einzige unter
den Tragikern zweiter Ordnung, den auch die Römer beachteten.')
Ion von Chios, aus einem reichen und wohl auch angesehe- lon-
nen Geschlecht*), eine bewegliche ionische Natur, mufs den gröfsten
Theil seines Lebens auf Reisen oder in der Fremde zugebracht
haben. Als ganz junger Mann, um Ol. 78, kam er nach Athen und
verkehrte dort namentlich mit Kimon.^) Seine poetischen und ge-
selhgen Talente machten ihn zu einem willkommenen Genossen des
Kreises, der sich in dem gastfreien Hause des berühmten Feldherm
versammelte. Ion rühmt daher auch später in seinen Denkwürdig-
keiten die feinen, gebildeten Umgangsformen des Kimon, während
ihm das ernste, gemessene Wesen des Perikles wenig zusagte.'")
Dafs der dem Kimon befreundete Dichter auch Sparta aufsuchte und
hier vom Könige Archidamus wohl aufgenommen wurde, ist erklär-
lich.") Bei der Festfeier der Isthmien verkehrte er mit Aeschylus,
den er sicherlich schon in Athen persönhch kennen gelernt hatte.")
Von Zeit zu Zeit mag Ion auch seine heimische Insel wieder auf-
gesucht haben. Dort traf er, wie er selbst anmuthig erzählt, Ol.
84, 4 mit Sophokles zusammen , der damals im samischen Kriege
Euripides und legt ihm ein Alter von mehr als hundert Jahren bei. Er wird
wohl erst in reifen Jahren sich der Poesie gewidmet haben.
5) Nach Suidas führte er siebzig Tragödien auf; ob die Satyrstücke mit
inbegriffen sind, ist ungewifs.
6) Suidas : tiocÖtos eis rb vvv airaif fij]xoS xa S^äfiaxa xaxiaxraev,
7) Den Achilles des Aristarchus hatte Ennius bearbeitet. (Nauck S. 564.)
S) Darauf scheint auch der Zuname Scnz&os, den sein Vater Orthomenes
führte, hinzudeuten.
9) Plufarch Kimon c. 9 und 16.
10) Plutarch Perikles c. 5. Vielleicht wirkte auch die Verschiedenheit
politischer Ansichten auf dieses Urtheil ein.
11) Während des Aufenthaltes in Sparta ist die Elegie gedichtet, von
der Athen. X 463 B ein Bruchstück mittheilt (fr. 2).
12) Plutarch de prof. in virt. c. S. Wahrscheinlich hatte Ion selbst in seinen
Denkwürdigkeiten die dort angefülirte Aeufserung des Aeschylus berichtet und
bei diesem Anlasse noch weitere Miltheilungen über Aeschylus hinzugefügt.
604 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
als Befehlshaber mit einer Abtheilung der attischen Flotte kurze
Zeit in Chios verweilte (S. 363). Seinen bleibenden Wohnsitz hatte
Ion in Athen aufgeschlagen; denn nur hier fand er den rechten Boden
lür seine literarischen Bestrebungen.")
Ion ist eine der eigenthümlichsten Erscheinungen dieser Zeit.
Lebhaft, angeregten und empfänghchen Geistes, zeichnet er sich durch
vielseitige Bildung und ungemeine literarische Bührigkeit aus");
seinen Buhm hat er jedoch vorzugsweise als Tragiker begründet.
Ol. 82 trat er zum ersten Male auf*') ; Ol. 87, 4 treffen wir ihn mit
Euripides und lophon im Wettkampfe an, wo er sich mit der drit-
ten Stelle begnügen mufste.'^) Aber ein anderes Mal hatte er bes-
seren Erfolg, indem er gleichzeitig im tragischen und dithyram-
bischen Agon den Preis erhielt.") Unter den Tragikern zweiten
Banges war Ion einer der geachtetsten '^), wenngleich seine Arbeiten
sich mehr durch sorgsames Studium und leichte, gewandte Darstel-
lung als durch grofsartigen Schwung und Originahtät des Geistes
empfahlen. '°) Bemerkenswerth ist, dafs er zuweilen Beziehungen auf
13) In Athen ist Ion auch gestorben , wie es scheint kurz vor Ol. 89, 3,
s. Arisloph. Frieden 837 und daselbst die Scholien. Ion wird also die Schwelle
des Greisenalters nicht viel überschritten haben.
14) Mit Recht bezeichnete ihn Kallimachus als Polygraphen. Ein Ver-
zeichnifs seiner Schriften geben Schol. Aristoph. Frieden 835, Suidas I 2, 103G
und Harpokration, wo zu lesen ist iy^arpe Se noXla, xai (liXrj xtA.
15) Suidas.
16) Didaskalie zu Euripides' Hippolytus.
17) Athen. I 3 F, Schol. Aristoph. Fried. 835 und Suidas. Durch eine Sen-
dung Weins von Chios dankte der freigebige Dichter den Athenern fär diese
Anerkennung.
18) Die Angaben über die Zahl seiner Tragödien schwanken zwischen
zwölf (also drei Tetralogien), dreifsig und vierzig. Wir kennen Titel und
Bruchstücke von elf Dramen, darunter ein Satyrspiel 'O/z^pd^i? ; nächstdem wer-
den am häufigsten genannt der <Polvi^ (Ion schrieb zwei Tragödien dieses
Namens) und die <pQovpoi. Die Komödien des Ion beruhen nur auf einem
Schreibfehler statt r^ayipSiai.
1<,>) Longin. de sublim, c. 33 stellt der tadellosen Millelmärsigkeit die nicht
immer fehlerfreien, aber auf die höchsten Ziele gerichteten Leistungen gegen-
über und nennt beispielsweise als Vertreter der ersten Gattung Bnkcitylides
und Ion, der anderen Pindar und Sophokles; die ersteren sind ihm nSiänrtarot
xal iv Tfp yXaipvQC^ nävTrj xexaXXty(ia^ftivoi, aber ovSeie av ev tpQoviüv Bvoi
S^ftaros, Tov OidinoSoe (von Sophokles), eis Tavro avv&eit ra 'Ituroe avtt-
TifiTiaaito ilr'c. Mit Ions Tragödien beschäftigten sich nicht ntir Grammatiker
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. A>D.TRAG, 605
die unmittelbare Gegenwart einflocht; so widmete er den Spartanern
und dem ihm persönUch befreundeten Archidamus ein ehrendes An-
denken.^") Aufserdem war aber Ion auch auf den verschiedensten
Gebieten der lyrischen Poesie mit Erfolg thätig ; er dichtete Elegien,
in welchen sein auf leichten Lebensgenufs gerichteter Sinn sich deut-
lich aussprach*'), Dithyramben, Hymnen, Päane, Enkomien, gesellige
Lieder und Epigramme.^) Ion hat vielleicht in seinen Dithyramben
zuerst jenen schwülstigen Stil aufgebracht, der seine Bilder nicht
auf der Erde, sondern in den höhereu Regionen der Wolken und
des Aethers sucht. Gerade für einen philosophisch gebildeten Dich-
ter lag die Versuchung nahe, in diese Manier zu verfallen, welche
den nie ruhenden Spott der Komödie herausforderte.")
Als Prosaschriftsteller versuchte sich Ion nach zwei Richtungen
hin; er interessirt sich gleichmäfsig für historische wie für philo-
sophische Studien. Diese Arbeiten, in denen er den ionischen Dia-
lekt festhielt, der auf diesen Gebieten noch ausschliefsliche Geltung
halte *^), gehören wohl meist dem reiferen Lebensaher an. Ions
wie Aristarch und Didymus, sondern sie fanden auch später Leser. Der Philo-
soph Arkesilans (Diog. Laert. IV 6, 4 (31)) interessirte sich in seiner Jugend be-
sonders für Ion.
20) Bei Sextus Empir. ad Math. II 24 p. öT9 Bkk. : oi yaq koyois Aäxaiva
jivQyovrat TioXtS, aXV evr av'AoT)? veoxf^os iftTisaTj OToaxcö, ßov).r] fiev a^X^i,
Xsio S' i7ts^eQyät,erai. Bei dem Erdbeben 01.79,1 hatte Archidamus trotz der
allgemeinen Bestürzung Geistesgegenwart genug, um eine Anzahl Spartiaten
um sich zu sammeln und damit den aufständischen Heloten entgegenzutreten.
Sextus bringt die Verse mit einer bekannten Anekdote, welche die Brachylogie
der Spartaner veranschaulichte, in Zusammenhang.
21) (S. Bd. II S. 511.) Ion war ein Freund des Weines und der Frauen
(Baton von Sinope in seiner Schrift Tteoi 'Icavos Athen. X 436 F); auch die Ueber-
reste seiner Dramen und Denkwürdigkeiten bestätigen dies.
22) Genannt wird ein Hymnus auf den Katjas (offenbar nicht für den
Cultus bestimmt; auch darin erkennt man eine Neuerung), ein Lobgedicht auf
Skythiades (Miller Melanges p. 3tJ4 (fr. 15)); ein dem Tragiker ßlschlich zuge-
schriebenes Epigramm auf den Tod des Euripides (fr. 8) gehört vielleicht dem
Rhapsoden Ion, mit dem auch der Scholiast des Aristophanes und Suidas den
Dichter verwechseln.
23) Vergl. Aristoph. Frieden 835, wo aber wohl zugleich auf die Vorstel-
lungen von dem Schicksale des Menschen nach dem Tode Rücksicht genom-
men wird, die Ion in seinem roiay/itos entwickelt haben wird.
24) Das einzige wörtlich angeführte Bruchstück des r^iayfios (s. FHG. II
49 M. fr. 12) zeigt allerdings keine ionischen Sprachformen, allein die Satzbildung
606 1>RITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
historische Arbeiten über die Urgeschichte von Chios und seine Denk-
würdigkeiten zeigen^*), dafs er die entlegene Vergangenheit ebenso
wie die nächste Gegenwart, aber nur insofern seine Ileimath und
eigene Person davon berührt wird, berücksichtigte. Ion war der Erste,
der seine persönlichen Erinnerungen aufzeichnete, um sie der Nach-
welt zu überliefern^*), ein deutlicher Beweis, wie das Individuum
sich mehr und mehr geltend macht, und er fand bald Nacbfolger.
Ion knüpfte diese Denkwürdigkeiten aus seinem Leben an seine
Reisen an, und da er mit den bedeutendsten Männern der Zeit in
Berührung gekommen war, mufs das Buch viel Interessantes ent-
halten haben.*^) Dafs Ion auch für Höheres Sinn hatte, zeigt seine
Beschäftigung mit philosophischen Problemen. Beachtenswerth ist,
wie er sich von dem Rationalismus der ionischen Naturphilosophie,
die gerade damals in Athen Eingang fand, zu der mystischen Rich-
tung des Pythagoras hinwandle. Ion mufs ein praktisch und theo-
retisch durchgebildeter Kenner der Musik gewesen sein; vielleicht
erinnert ganz an die Weise der las. Des altischen Dialektes liat sich hier Ion
schwerlich bedient; aber er mag die las hier mehr der Alibis angenähert haben,
wie er andererseits auch in seinen Tragödien zuweilen ionische Formen ein-
mischte. Dagegen die Bruchstücke der historischen Schriften machen den Ein-
druck der reinen volksmäfsigen las.
25) Xlov xriaie und ^ETuSrjfiiat oder vnofivfifAaia; denn dies sind nur
verschiedene Bezeichnungen desselben Werkes. Den Titel iniSr^^nai wird Ion
selbst gewählt haben; denn er schilderte seine Reiseerinnerungen (vgl. die latei-
nische L'eberselzung von Joannes Alexandrinus' Commenlar zu Hippokrales' Epi-
demien), seinen ersten Besuch in Athen wie später das Wiederseheu seiner Hei-
math; den bleibenden Aufenthalt in Athen hatte er olTenbar nicht berücksichtigt.
Aufserdem wird noch ein •rcQeaßevrtxös von Ion erwähnt, gewifs keine Rede,
wenn man auch }.6yoi zu ergänzen hat, sondern Bericht über eine Gesandt-
schaft, an der Ion Theil nahm; diese Schrift, deren Echtheil beslrillen war,
ist vielleicht von dem avvexSrjftrjTinöe nicht verschieden.
26) Dichter halten allerdings dies schon früher gelhan, aber absichtslos.
27) Von Staatsmännern werden in den Ueberreslen dieser Schrift Kimon
und Perikles, von Dichtern Aeschylus und Sophokles, von Philosophen Arche-
laus und Sokrates genannt. Das Werk enthielt, wie es die Natur solcher Auf-
zeichnungen mit sich brachte, zahlreiche Anekdoten, die Ion eben zur Charak-
teristik seiner Zeilgenossen miltheilte. Ion mag Einzelnes ausgeschmückt haben.
sein Unheil mag zuweilen befangen sein, aber seine WahrheiLsliebe zu ver-
dächtigen liegt kein Grund vor. Die anschauliche und lebendige Darstellung
zeigt jene behagliche Breite, die den loniern eigen ist; man vgl. die Probe,
welche Athen. Xlll W6 E— 6U4 D miltheill.
DIE DRAM. POESIE. DIETRAGÖBIE. II. GRUPPE. DIEBLCTHEZEIT. A.ND.TRAG. 607
waid er dadurch zu speculativor Forschung im Sinne der Pythago-
reischen Schule angeregt. Seine Schrift, Dreiheit betitelt**), weil
er überall die trichotomische Eintheilung durchführte, ward zwar
von den alten Kritikern angefochten; allein Isokrates legt sie un-
bedenkhch dem Ion bei. Auch Plato und Aristoteles beziehen sich
darauf und bezeugen so, obschon sie den Verfasser nicht nennen,
das Alter und Ansehen des Werkes.
Ach aus aus Eretria von der Insel Euböa, Ol. 74 geboren, Achius
also jünger als Sophokles, älter als Euripides, nahm Ol. 83 zum
ersten Male am tragischen Wettstreite Theil.-'^) Die Angaben über
die Zahl seiner Dramen sind schwankend; einmal gewann er den
ersten Preis.^") Im Satyrdrama mufs er Vorzüghches geleistet haben ;
in dieser Gattung übertraf er alle seine Zeitgenossen.^') Seine Dar-
stellung war mehr zierlich und elegant als einfach; öfter that die
2S) Tgiayfits oder Toiayuoi; davon ist der xoauoXoytxös (Snidas) offen-
bar nicht verschieden. Wenn Harpokration ('lory) sagt : KaXUftaxos avrtlsyscd'ai
tfr,atv wi 'fhiiyevovs, so liegt ein Fehler der Abschreiber vor; denn Epigenes.
der etwa den Anlangen der alexandrinischen Periode angehört, konnte Kalli-
machus diese Schrift nicht zuweisen. Epigenes wird vielmehr in seiner Schrift
über die Literatur der Orphiker die roiayfioi dem Ion znerst abgesprochen
haben (es ist wohl cos xai "EntyevriS zu schreiben). Wenn Suidas die tgtnyuoi
dem Orpheus beilegt, so ist dies ein handgreiflicher Irrthum. Demetrius von
Skepsis und Apollonides von Nikäa scheinen dagegen das Anrecht des Ion ver-
theidigt zu haben; es ist wohl zu lesen: avayoafovai Si Clmvoi, Äeyet Si)
iv avrqj rdSe. Neben drei realen Elementen (;rro, yr, ar,^) nahm Ion drei
ideale Mächte an (avvs<Ti;, xqäroi, tixri), s. den Anfang der Schrift bei Harpo-
kration (wo zu ergänzen ist Tiavra xQia Ttvo xal yr; xai ar,Q); darauf be-
ziehen sich Isokrates de antidosi 26S, Aristoteles de generatione et corruptione
II l p. 329A (und daselbst Philoponus), Plato Sophist. 242 C, wo er zugleich
auf Archelaus, den Zeitgenossen des Ion, Rücksicht nimmt; dagegen die Stelle
Leg. X SSS E ff. hält sich mehr im Allgemeinen oder zielt auch theilweise auf
Empedokles. Dafs Ion mit philosophischen Studien sich befafste, deutet auch
Aristophanes an.
29) Suidas I 1, 914; iTtsSeixwio Si xoivf, aiv (alrt^, d. h. Sophokles)
xrt* EiQtniSi^ ano xffi ny ^OXvfiTtiäSos, vielleicht richtiger ini, so dafs Achäus
eben in dieser Olympiade mit beiden Dichtern concurrirte.
30) Suidas giebt 44 (Eudocia 64), 30, 24 an.
31) Wenigstens Menedemus erkannte im Satyrdrama dem Aeschylus den
ersten, dem Achäus den zweiten Preis zu (Diogen. Laert. II IT, 10(133)), und da
dieser Philosoph auch den Sophokles hochschätzte, braucht man ihm keine
Parteilichkeit für seinen Landsmann unterzulegen.
608 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Neigung zu ungewühnlichem, dunklem Ausdruck dem Verständnisse
Eintrag.^*)
Neophron. iNcben Acliäus ist noch Neophron aus Sikyon zu nennen"),
der gleichfalls sich nach Athen wandte, um dort sein Talent gel-
tend zu machen. Er war ein Geistesverwandter des Euripides und
einer der ersten, der von der idealen Höhe herabstieg und das
Trauerspiel der Sphäre des Alltagslebens näher brachte.'*) Wahr-
scheinHch war Neophron älter als Euripides*'), der dann das neue
Princip mit bestem Erfolge weiter bildete, und eben deshalb mögen
die zahlreichen Arbeiten des Vorläufers frühzeitig verschollen sein.^)
Auch die Medea, der Euripides das Motiv seiner berühmten Tra-
gödie verdankte, scheinen die Alexandriner nur aus den Proben,
welche Frühere mitgetheilt, gekannt zu haben.
Sophokles und Euripides, obwohl rüstige Arbeiter, komilen doch
nicht allein die attische Bühne mit neuen Dramen versorgen, zumal
seitdem nicht nur an den städtischen Dionysien, sondern auch ao
den Lenäen Trauerspiele aufgeführt wurden; daher konnten neue
Mitarbeiter nur willkommen sein.
Euphorion. *) Nicht uur Aescbylus' Sohn E u p h o r i o n (S. 283) versucht sich
in den tragischen Weltkämpfen, sondern wir können die poetische
Thätigkeit dieser Familie mehrere Generalionen hindurch bis zu Ende
dieser Periode und bis zum Erlöschen der tragischen Dichtung in
Athen überhaupt verfolgen,
i'hiiokies. An Euphorion schhefst sich Philo kl es (S. 231), ein Schwester-
sohn des Aescbylus, an, der nicht ohne Erfolg tliätig war, wenngleich
er vielfache Angriffe von Seilen der Komiker erfuhr; dann seim* beiden
32) Athen. X 451 C.
33) Nur Suidas 11 l,t)(>0 verzeichnet die Variante Ntotpäv statt Neöf^cjt:
In diesen Artiiicl ist irrthümlich eine Notiz eingeschaltet, die in Ntn^xoi gehört.
34) Suidas : -nQÜioi eiarfyaye naiSayiüyovs xal oixeräfv ßäaavov.
35) Aus der Zeit zwischen dem Auftreten des Sophokles und Kuripides
wird kein Tragiker genannt; eben in diesen Jahren mag Neophron sich der
Bühnendichtung gewidmet haben. Einen älteren Tragiker Namens Euripides
kennt nur Suidas 1 2, (i3'.t, der ihm zwölf Dramen und zwei Siege beilegt
30) Nach Suidas schrieb Neophron 120 Stücke. Wenn die Medea des
Euripides als Ueberarbeitung des fremden Dramas (Argument Medea) oder ge-
radezu J-ls ein Werk des Neophron (Diogen. Laert. II 17,10(134), Suidas) be-
zeichnet wird, so ist dies handgreifliche Uebertreibung. (S. oben S. .'>o:» f.)
*) [Aus Erscli und Gruber S. 370 B.]
DIE DRAM. POESIE. DIE TR-^GÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. A>D. TRAG. 609
Söhne Morsimus und Meianthius, die zum Theil noch neben Morsimus.
ihrem Vater in der Zeit des peloponnesischen Krieges wirkten.*
Um den Anfang des peloponnesischen Krieges trat lophon, lophon.
der älteste Sohn des Sophokles^ auf; Ol. 87, 4 erlangte er den
zweiten Preis ^), ein sehr achtungswerther Erfolg, wenn dies sein
erster Versuch war. Später ward ihm auch die erste Stelle zuer-
kannt^), und er concm-rirt sogar im Wettkampfe mit dem eigenen
Vater.^°) Aristophanes spricht in den Fröschen (73 ff.) von lophon
mit Anerkennung, indem er sagt, er sei nach dem Tode des Sopho-
kles und Euripides der Einzige, welcher den UeberHeferungen der
echten Kunst treu bleibe, fügt jedoch hinzu, man müsse abwarten,
was er in Zukunft, wo er ganz auf sich angewiesen sei, leisten
werde. Hier wird auf das, wie es scheint, allgemein verbreitete und
wohl nicht grundlose Gerücht angespielt, der Vater habe dem Sohn
bei seinen Arbeiten hülfreiche Hand geboten. lophon war ein fleifsi-
ger Dichter^'), aber des Vaters Geist war ihm versagt; daher hat
er auch nicht vermocht sich dauernde Geltung zu verschaffen. Die
Komödie verspottet ihn wegen seiner frostigen und weitschweifigen
Manier^*), und wenn lophon den Schlufs des Aias hinzugedichtet
hat (S. 382), so ist diese Probe nicht gerade geeignet, eine beson-
ders günstige Vorstellung von seinem Talente zu erwecken. Dafs
lophon die älteren Dramen seines Vaters wieder auf die Bühne
brachte, ist nicht zu bezweifeln.")
37) Die Familie des Sophokles behauptet sich mehrere Generationen hin-
durch in Ansehen, und dieselben Namen kehren wieder, wie Inschriften be-
zeugen. Ein Sophokles ist nach Eukleides Schatzmeister, ein lophon, Sohn
des Sophokles, Schreiber einer Behörde in Demosthenes' Zeit, ein Sophokles,
Sohn des lophon, errichtet ein Weihgeschenk. (S. S. 357 A. 2, S. 365 A. 32.)
38) Didaskalie zu Euripides" Hippolytus.
39) Schol. Aristoph. Ran. 73 : ivixrjas ).afntQcüs k'it t,üivtos tov naxQos
avTov. Vielleicht trat er aber nur als SiSäaaaXos für den Vater ein, eben-
daselbst 78: kni töJ toIs rov nar^os roayepSiais iniy^ätpsad'ai xca/ucoSelzat.
40) Biographie des Sophokles.
41) Suidas giebt ihm fünfzig Dramen und macht sechs Stücke namhaft,
xai äXXa rivä rov TiaxQos ^ofoxXsovi, wohl nur späterer Zusatz, entlehnt aus
den Schollen des Aristophanes. In der Variante xara rov kann /uEra rov
liegen.
42) Schol. Aristoph. Ran. 78: inl r<^ y/vx^os xai /laxoos (andere Hand-
schriften finXaxbe [so Dübner]) elvai.
43) S. zur Antigone S. 4HJ.
Bergk, Griecb. Literaturgeschichte UI. 39
610 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Arieion. Auch ein anderer Sohn des Sophokles, Ariston, scheint sich
als tragischer Dichter versucht zu haben*'') (S. 364).
Theognis. Etwa gleichzeitig mit lophon mufs Theognis sich der tragi-
schen Poesie zugewandt haben. Dieser von Aristophanes wieder-
holt als frostig verspottete Dichter") war während des peloponne-
sischen Krieges, wie es scheint, ununterbrochen thätig.
Nikomachus. Sein Zeitgenosse Nikomachus trug einmal über ihn und Euri-
pides den Sieg davon.'"')
Gnesippus. Auch andere Dichter dieses Zeitraumes sind uns nur aus den
höhnenden Angriffen der Komödie bekannt, wie Gnesippus, Ver-
fasser erotischer Lieder, der sich aber auch in der Tragödie ver-
Akestor. suchte*'), Akestor, von den Choregen nur ungern geduldet, weil
er keinen sonderlichen Erfolg hatte, der sich aber dadurch nicht
stheneius. abschrecken liefs. Sthenelus' Dichtungen werden nicht nur als
geschmacklos bezeichnet, sondern man warf ihm auch vor, fremdes
Morjchus. Eigenthum sich angeeignet zu haben; Morychus**) und andere
problematische Namen darf man füglich übergehen.
III
Drittes Karkinus aus Akragas in SiciUen, aber zu Athen ansässig,
Stadium. ° ®
Karkinus wird öfter genannt, obwohl er weder ein bedeutender, noch sonder-
der Aeiiere.jjgjj produktiver Dichter gewesen zu sein scheint/') An die Weise
44) Diogen. Laert. VD 2, 9 (164).
45) Aristoph. Acharn. 11. 140, Thesmoph. 170; daher erhielt er den Zu-
namen Xtcöv. Auch dem politischen Leben stand er nicht fern, wenn der
Theognis, dem wir unter den sogenannten dreifsig Tyrannen begegnen, der
Tragiker ist, wie der Schol. Aristoph. Acharn. 11 ^x (lies eis) töüp T^täxovra
berichtet.
40) Suidas II 1, 989 Nixöfiaxoe, nicht zu verwechseln mit einem jungen
Tragiker, der aus Alexandria in Troas gebürtig war.
47) Athen. VllI 344 C nennt auch den Nothippus, der von den Komi-
kern als Schlemmer verspottet wird, Tragiker; vielleicht ist Nod'triTioi nur
eine komische Verdrehung des Namens rvrjatnnoe.
4S) Morychus wird zwar von der Komödie nicht selten wegen seines
luxuriösen Lebens angegriffen, aber nichts deutet auf dichterische Thätigkeit
hin; nur der Schol. Aristoph. Acharn. 887 bezeichnet ihn als Tragiker.
49) Darauf zielt der Witz des Aristophanes Frieden 794: xal yo(> ifnff/'
o naxiiQ (eben Karkinus) o 7ta^' iXniSai tlx' to S^äua yak^v Tr,i iantQns
rtTTrtyl««. Wenn einem das Wort im Munde stecken blieb, sagte man yaXijv
xmnntnojxev (Hekker An. I 31).
DIE DRAM. POESIE. »IE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. AND. TRAG. 611
der ältesten Tragödie sich anschliefsend , mufs er versucht haben, die
orchestische Begleitung der melischen Gesänge wieder mehr in Auf-
nahme zu bringen^); wie denn auch seine Söhne diese Kunst trieben.
Einer, Xenokles, widmete sich mit ungleichem Erfolge der xenokies.
tragischen Poesie; Ol. 91, 1 siegt er über Euripides"), während er
ein anderes Mal nach Aristophanes gründhch durchGeP^), wie über-
haupt die Komödie die manirierte Art dieses Dichters und sein
Haschen nach Effekt verspottet.*^) Auch in dieser Familie vererbt
sich die poetische Kunst durch drei Generationen; dem Sohne des
Xenokles, dem jüngeren Karkinus, offenbar dem talentvollsten Dich-
ter dieser Sippe, werden wir später begegnen. (S. 620.J
Athen war damals der Mittelpunkt für die vielseitigen Bestre-
bungen der Sophisten; auch die Tragödie kann sich diesen Ein-
wirkungen nicht entziehen. Das Drama, welches die Gegensätze
der alten und neuen Zeit, den Widerspruch der Pflichten und Rechte,
den Kampf der verschiedenen Interessen zur Anschauung zu bringen
pflegt, war vor allem für diesen Geist zersetzender Dialektik und
revolutionärer Neuerung empfänglich. Zumal die Ausbildung der rhe-
torischen Technik, welche vorzugsweise den Sophisten verdankt wird,
konnte diejenige Gattung der Poesie, deren Wirksamkeit zum guten
Theile auf Redegewandtheit beruht, nicht unberührt lassen. Daher
ist es nicht auffallend, wenn Vertreter und Anhänger der Sophistik
sich in der Tragödie versuchen.
Hippias von Elis, ein Universalgenie im vollen Sinne des Hippias.
Wortes, schrieb unter anderen Gedichten auch Tragödien'^), die
natürlich nicht auf die Bühne kamen, aber ebenso wenig nur für
50) Athen. I 22 A nennt unter den älteren Dichtern, welche in der Orche-
stik ausgezeichnete Fertigkeit erlangt hatten, mitten unter Tragikern auch den
Kratinus; hier ist entweder Kaoxivos zu lesen oder der Name ganz zu tilgen
(er kann irrthümlich aus dem vorhergehenden Jlqarivas entstanden sein). Die
Söhne des Karkinus, welche berufsroäfsig als XQayixoi »(»/lyar«»' thätig waren,
verspottet Aristophanes wiederholt.
51) Aelian V. H. II S. (S S. 231, A. 109, S. 4S&, A. TS.) Die Tetralogie des
Xenokies bestand aus dem Oedipus, Lykaon, den Bakchen und dem Satyr-
drama Athamas.
52) Aristoph. Wolken 1269.
53) Aristoph. Thesmoph. 169 nennt ihn geradezu einen schlechten Dichter,
vgl. ebendas. 441 und Frösche S6, wo der Scholiast xatfituSeixai cos ä^soToe
£v tf, noiTiasi [xai aXlriyooixös), und zum Frieden 792: Soxel fir,xavas xai re-
^atsias eiaäysiv iv loie Sqäfiaat. 54) Plato Hippias min. 368 C.
39*
612 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CBR. G.
Leser bestimmt waren. Der Sophist wird sie öffentlich vorgetragen
und diese populäre Form benutzt haben, um seine Ideen in weite-
ren Kreisen zu verbreiten.
Kritias. Rritias, der Zögling der Sophisten, ein wunderbar vielsei-
tiges Talent, Staatsmann und Redner ^^), Philosoph und Dichter, be-
trat dieselbe Bahn. Den Peirithous, eine Tragödie des Kritias, hat
Euripides offenbar einer seiner Tetralogien einverleibt und unter
eigenem Namen auf die Bühne gebracht. Kritias mag absichthch
manche Eigenthümüchkeiten des Euripideischen Stiles angenommen
haben, um das Publikum über den wahren Verfasser zu täuschen;
vielleicht hatte auch Euripides selbst die letzte Hand an die fremde
Arbeit gelegt.*®) Der phantastische Stoff, die Hadesfahrt des Pei-
rithous mit seinem Freunde Theseus, ward zu naturphilosophi-
schen und sitthchen Betrachtungen benutzt, in denen zwar ein
philosophisch geschulter Geist sich kund giebt, die aber nicht ge-
radezu Anstofs erregen konnten. Ganz anderer Art war der Si-
syphus. Hier trug Kritias seine atheistischen Grundsätze unver-
hüllt vor. Der Glaube an die Götter wird ohne alle Scheu als eine
Erfindung der Menschen bezeichnet. Auch diese Tragödie ward
von manchen dem Euripides zugeschrieben ") ; aber es ist schwer zu
glauben, dafs der Tragiker, obwohl er in seinen eigenen Arbeiten
sich öfter in ähnlichem Sinne ausgesprochen hat, die Verantwort-
lichkeil für ein Stück von dieser Tendenz übernommen haben sollte.
Der Sisyphus ist wohl niemals auf die Bühne gekommen. Das ein-
zige noch erhaltene gröfsere Bruchstück zeigt mehr einen redne-
rischen als dramatischen Charakter. Die eigene Art des Kritias, der
eben weniger Dichter als gewandter Redner war, prägte sich hier
55) Ueber Kritias' Elegien s. oben Bd. IIS. 511; von seinen Leistungen
als Prosaschriftsteller wird später die Rede sein.
56) Daher waren die Ansichten getheilt, wer der eigentliche Verfasser
sei, s. Athen. XI 496 B. Der Biograph des Kuripides zählt den Peirithous unter
den unechten Stücken auf.
57) Dieselben Verse werden bald dem Kritias, bald dem Euripides bei-
gelegt. Euripides hat ein Salyrdrama Sisyphus Ol. lU, 1 gedichtet, aber dessen
Echtheit war nicht bestritten; auch war das Drama des Kritias ofTenbar eine
Tragödie. Eine Tragödie dieses Namens wird unter den Euripideischen Stücken
nicht verzeichnet, auch unter den zweifelhaften Dramen nicht mit aufgeführl
Walu-scheinlich war der Sisyphus anonym überliefert und ward später von einigen
dem Euripides, von anderen mit besserem Rechle dem Kritia>j /nstetheill.
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLÜTHEZEIT. A>D. TRAG. 613
entschieden aus.-^j Es sind dies eigentlich nur Bestrebungen von
Dilettanten, die jetzt häufiger auftreten (auch dies ist ein charakteri-
stischer Zug der Zeit), aber keine nachhaltige Wirkung ausüben.
Eine ganz andere Bedeutung hat Agathon, der Vorläufer der Agathon.
Epigonen der tragischen Kunst , fällt doch auch sein erstes Auftreten
Ol. 90, 4 mit dem Beginn der letzten Phase der Blüthezeit der Tra-
gödie zusammen. *)Er ist der einzige, wirklich begabte Dichter
dieser ganzen Zeit, der aber nicht frei war von kleinlicher Manier
und aufserdem viel zu bequem, um nachhaltig die tragische Dich-
tung zu fördern.*
Durch glücklichen Zufall ist uns noch eine vollständige Tra- Rhesus,
gödie erhalten, welche offenbar von einem Nachfolger des Aeschy-
lus verfafst ist, der Rhesus. Der Vorwurf dieses Stückes ist der
Homerischen Ilias entnommen ; die Doloneia, eine Episode des troi-
schen Krieges, wird hier dramatisch bearbeitet. Jener Gesang der
Ilias, obwohl nicht dem alten Gedichte angehörig, ist doch von dem
dramatischen Leben erfüllt, welches das Homerische Epos kenn-
zeichnet; so lag für einen dramatischen Dichter die Aufforderung
nahe, sich an demselben Stoffe zu versuchen. Ob diese Wahl glück-
lich war, darüber läfst sich rechten ; dafs dem Verfasser des Rhesus
die Lösung der Aufgabe nicht sonderlich gelungen ist, wird allge-
mein zugestanden. Ohne durchgreifende Abänderungen liefs sich •
der Stoff nicht zum Drama umgestalten, und man könnte den Dich-
ter vielleicht eher tadeln, dafs er im Einzelnen allzu sehr an seinem
Vorbild haftete, als dafs er sich Abweichungen erlaubte.
Die Handlung geht im troischen Lager mitten in der Nacht
vor sich. Die brennenden Wachtfeuer der Achäer erregen den Ver-
dacht der aufgestellten Wachen ; Hektor vermuthet, die Feinde woll-
ten unter dem Schutze der Nacht abziehen, und will angreifen, was
Aeneas widerräth. So wird Dolon als Späher ausgesandt, der für
diesen gefahrvollen Dienst die Rosse des Achilles als Belohnung
fordert. Ein Hirte meldet die Ankunft des thrakischen Fürsten
58) Der Stil dieser Verse ist noch feiner, schmächtiger als bei Euripides,
für einen Athener, der der hohen Aristokratie angehört, ganz angemessen. Ob
Kritias noch andere Dramen geschrieben hat, ist ungewifs. Auf die Beschäf-
tigung des Kritias mit dramatischer Poesie scheint auch Plato anzuspielen,
Kritias 108 ß ff., Charmides 162 C.
*) [Ans Ersch and Gruber S. 371 A.]
614 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
Rhesus und seiner Krieger*"), der sein spätes Erscheinen entschul-
digt und im Tone stolzen Selbstgefühls verkündet, er gedenke auch
ohne die Troer das achäische Heer zu vernichten; ja, er macht
sogar dem Hektor den Vorschlag, nachher mit geeinten Kräften
Hellas selbst anzugreifen, um so sich völlige Genugthuung zu ver-
schaffen.®") Während Rhesus auf Rektors Rath sich zur Ruhe be-
giebt, um den Tag abzuwarten, schleichen Odysseus und Diomedes,
die den Dolon getödtet hatten, an das troische Lager heran. Da sie
Hektors Zelt leer finden, wollen sie unverrichteter Sache umkehren;
aber Athene weist sie an den schlafenden Rhesus zu überfallen und
seine edlen Rosse fortzuführen. Den Paris, der sich in diesem
Augenblicke nähert, entfernt die Göttin, indem sie die Gestalt der
Aphrodite annimmt. Inzwischen vollbringen Odysseus und Diome-
des das Wagstück und ziehen mit den erbeuteten Rossen durch die
Iroischen Wachen ab, da sie das Losungswort von Dolon erfahren
hatten. Gleichwohl schöpfen die Wachen Verdacht ; sie argwöhnen,
der verwegene Odysseus sei in das Lager eingedrungen. Da tritt
der verwundete Wagenlenker des Rhesus auf und berichtet die Er-
mordung seines Herrn. Hektor macht den Wächtern Vorwürfe wegen
ihrer Nachlässigkeit; der Wagenlenker klagt den Hektor und die
Troer als Urheber der Mordthat an. Hektor, der sofort auf Odys-
seus räth, läfst den Aufgeregten, den er vergebens zu beschwich-
tigen sucht, abführen. Der Sorge für die Restatlung des Todten
überhebt ihn die Muse, die Mutter des thrakischen Fürsten, welche
unter bitteren Klagen den Leichnam des Sohnes in die Heimath
fortführt, wo er als Heros verehrt werden soll."')
Man hat diese Tragödie allgemein dem Euripides beigelegt; es
war dies offenbar die herkömmliche üeberlieferung , der sich die
namhaftesten Kritiker in Alexandria und Pergamum, wie Aristopha-
nes, Aristarch und Krates, anschlössen.") Eine Restätigung glaubte
man in dem Zeugnisse der Didaskalien zu finden ; allein daraus er-
hellt nur, dafs auch Euripides ein Drama dieses Namens zur Auf-
führung gebracht hat.**^) Im Uebrigen hat der Rhesus nicht die enl-
59) Nach Homer ist Rhesus kurz vorher angekoinnien ; der Tragiker ver-
legt alles in die eine Nacht. 00) Rhesus 46S (f. (»1) Rhesus 962 ff.
62) Auch Parmeniskus legi die Tragödie dem Euripides bei, ebenso Dio-
nysodorus in seiner Schrift über die Irrthümer der Tragiker (Schol. Rhes. 495).
63) Der Rhesus des Kuripides mufs eine Jugendarbeit des Dichters ge-
DIE DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. II. GRUPPE. DIE BLCTHEZEIT. A>D. TRAG. 615
fernteste Aehnlichkeit mit der Weise des Euiipides, die gleich an-
fangs so bestimmt und klar sich ausprägte, dafs sie noch in den
Ueberresten seines ersten dramatischen Versuches, in den Peüaden,
erkennbar ist. Aber einem alexandrinischen Dichter, wie neuere
Kritiker vermuthet haben, kann das Drama ebenso wenig gehören,
welches bereits dem Dikäarch bekannt war.") Auch sind die lyri-
schen Partien mit so viel Verständnifs der Kunst behandelt, wie
man sie den alexandrinischen Tragikern kaum zutraut. Alles weist
darauf hin, dafs das Stück der klassischen Zeit angehört. Wollte
man annehmen, ein Späterer habe die Tragödie gedichtet in der
Absicht, sie dem Euripides unterzuschieben, so hätte er sicherhch
den Versuch gemacht, den Stil jenes Dichters nachzuahmen, wovon
sich nicht die geringste Spur zeigt. Schon im Alterthume spi-achen
manche Kritiker, von richtigem Gefühl geleitet, das Drama dem Euri-
pides ab und glaubten hier vielmehi' die Weise des Sophokles zu
erkennen ; daher haben auch neuere Kritiker den Rhesus als eine
Jugendarbeit dieses Tragikers betrachtet. Allein von dem Geiste
wesen sein; denn Krates entschuldigte die ünkenntnifs in astronomischen Din-
gen, die der Verfasser unserer Tragödie zu verrathen scheint, mit der Jugend
des Dichters, Schol. 515: KoaTTjs ayvoelv <fT;ai zbv Ev^tTtiSifV xt}v tieoI xa
fisxioäQa d'eatoiav, Sia xo viov irt f.lvai, oxe xbv "^Pr^aov iSiSaaxe. In der
Einleitung wird die Vorliebe für Astronomisches als Beweis, dafs Euripides
das Stück geschrieben habe, geltend gemacht: iv fiivxot xaii SiSaaxaXiats
coi yvTjOtov avayiyqanxai, xai i; TtSQi xä fisxäoaia ^i dv avxtü 7io/.v7iQayuo-
avvTj xbv Ev^miSrjv ofio'/Myei. Offenbar war in den Didaskalien aufser dem
Rhesus des Euripides kein anderes Drama mit gleichem Titel verzeichnet; sonst
würden die Kritiker nicht mit solcher Zuversicht sich auf diese Urkunden be-
rufen. Aber es fragt sich, ob die Didaskalien ohne Lücken überliefert waren ;
auch konnte unsere Tragödie ursprünglich NvxxsyQsaia oder nach dem Chore
<t>Qovooi benannt sein. Dafs das Stück für Athen bestimmt war, zeigen deut-
lich die Worte der Muse 93S ff.; auch ist es gewifs zur Aufführung gekommen,
da es sich auf der Bühne behauptet hat. Für wiederholte Aufführungen sprechen
namentlich die beiden Prologe in Trimetern, die Dikäarch kannte (Hypothesis) ;
den einen verwarf schon Dikäarch als unecht, x«t xäxa-av xivsi xöjv vtioxqix<5v
Steaxevaxoxei siev avxov. Gleichen Ursprungs wird auch der andere Prolog
gewesen sein, von dem Dikäarch nur den ersten Vers mittheilt. In den Hand-
schriften der Alexandriner fand sich offenbar keiner dieser Prologe vor.
64) Dikäarch, der Schüler des Aristoteles, hatte den Inhalt dieses Dramas
wiedererzählt (in der Hypothesis heifst es: 6 yovv Jixaia^x.O' dxxidsis xt;v vnö-
^eatv xov 'Pfiaov) und legte dasselbe ohne alles Bedenken dem Euripides bei ;
nur den einen Prolog verwarf er mit den Worten: Tre^os nävv xai oii n^enanf
Ev^iniSr}.
616 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
des Sophokles ist hier nichts wahrzunehmen, und wenn uns auch
keine von den frühesten Tragödien des Sophokles erhalten ist, so
können wir doch zuversichtlich voraussetzen, dafs sie des grofsen
IVamens nicht unwürdig waren. Indes enthält jene Bemerkung,
richtig verstanden, einen beachtenswerthen Fingerzeig. Sophokles
hat in der ersten Periode seiner dichterischen Thätigkeit sich vor-
zugsweise an Aeschylus angeschlossen und namentlich den Stil jenes
Meisters sich angeeignet, jedoch in der mafsvoUen Weise, die jedes
Werk des Sophokles kennzeichnet. An diese älteren Tragödien des
Sophokles mochte der Rhesus hinsichtlich der Behandlung der Sprache
erinnern; denn nur diesen Punkt hatten jene Kritiker im Auge.")
Der Rhesus ist eben von einem jüngeren Dichter aus der Schule
des Aeschylus verfafst, der in der Sprache wie überhaupt in dem
Aeufserhchen des Dramas sein Muster fleifsig copirt. Der Stil ist
sichtlich dem Aeschylus nachgebildet. Wie Aeschylus und die ältere
Tragödie, so zeigt auch der Verfasser des Rhesus eine gewisse Vor-
liebe für Pomp und Effekt, daher die wiederholte Einführung der
Götter, daher der Fackelzug am Ende der Tragödie. Gerade wie
die älteren Stücke des Aeschylus, so wird auch der Rhesus vom
Chor eröffnet. Und der Chor ist keine blofs äufserhche Zugabe;
er begnügt sich nicht die Vorgänge auf der Bühne mit seinen Be-
trachtungen zu begleiten, sondern betheiligt sich an der drama-
tischen Handlung und dient, gerade wie bei Aeschylus, dazu, das
Lebensbild zu vervollständigen. Selbst der geringe Umfang des
Stückes erinnert an die ältere Compositionsweise. Die Verse im
Dialog wie in den melischen Partien sind mit Sorgfalt gebildet und
genügen der Strenge der älteren Technik"'), ohne dafs man darum
berechtigt wäre, das Drama nahe an die Zeit des Aeschylus heranzu-
rücken. Denn die Nachfolger jenes Tragikers mögen alles dieses,
worin eben ihre Manier besteht, längere Zeit fast unverändert fest-
gehalten haben. Man sieht, der Dichter des Rhesus hat sich wohl das
Aeufserliche zu eigen gemacht, ist aber nicht im Stande, die Grofs-
65) In der Hypothesig : xovto ro Sqü/ia i'vtoi vod'ov vnsv6r;<rav, Evfuii-
Sov da ftfj tlvai' tov ya^ 2!oq>6xletov fiäXXov vnoifnivuv ;ifrt^«>rr^9«. Welche
Kritiker diese Ansicht vertraten, ist unhekannt.
(if)) Nur die Auflösung langer Silben im Trimeter kommt ziemlich häufig
vor, und schon deshalb kann das Stück nicht von einem Alexandriner her-
rühren; es mag der letzten Zeit des peloponnesischen Krieges oder auch den
nächsten Jahren nach Ol. 94, 2 angehören.
DIE DRAM. POESIE. DIETRAGÖDIE. II.GRÜPPE. DIE BLÜTHEZEIT. AND. TRAG. 617
heit und den tiefen sittlichen Gehalt des älteren Meisters zu erreichen ;
diese Leistung beruht ehen doch mehr auf Studium als auf ursprüng-
licher Begabung.
Am meisten befriedigen die melischen Partien. Den rechten
Ausdruck lyrischer Stimmung weifs der Verfasser des Rhesus wohl
zu treffen ; freilich mag er auch hier Vorbildern, die uns unbekannt
sind, manches schulden. So Hegt z. B. in dem Wächterhede ^ etwas
Einfach-Natürliches und Volksmäfsiges ; vielleicht hegt ein wirkliches
Volkslied zu Grunde. Dann gehngt manchem ein lyrisches Gedicht,
der unfähig ist, ein Drama zu dichten, eine Handlung in voller
Gegenwärtigkeit darzustellen, Charaktere lebendig zu schildern, die
Kunst des Dialoges wirksam zu handhaben. Und gerade hierin liegt
die Schwäche des Rhesus ; man vermifst wahrhafte Entwicklung der
Handlung und liefere psychologische Zeichnung der Charaktere. Die
handelnden Personen haben etwas Schattenhaftes und vermögen uns
keine rechte Theilnahme einzuflüfsen. Dafs die Gottheit mitten in
die Handlung eingreift, während sie bei den jüngeren Tragikern
gewöhnhch nur am Eingange oder Schlufs des Stückes auftritt, ist
zwar der Weise des Aeschylus gemäfs, aber nicht die rein äufser-
liche und mechanische Manier, mit welcher hier diese Aufgabe be-
handelt wird. Die Personen sind ohne alle Würde; durch Prahlen
und Schimpfen sucht der Dichter den Mangel des inneren Pathos
zu ersetzen ; eine liefere Idee sucht man vergebhch.
Während in den Aeufserhchkeiten der Typus der Aeschyleischen
Tragödie gewahrt ist, zeigt sich zugleich ein vielfach veränderter
Geist; man erkennt deutlich, wie Euripides und die jüngere Tra-
gödie indirekt eingewirkt hat. Dies zeigt sich schon in der grofsen
Zahl "von Personen, wie sie kaum in den späteren Stücken des Euri-
pides vorkommt, so dafs die Aufführung mindestens vier Schau-
spieler erforderte. Auch die Weise, wie Listen und Anschläge an-
gezettelt werden, die von der heroischen Würde weit entfernt ist,
erinnert an Euripides, ebenso die willkürhche Art, mit welcher der
Dichter die Tradition behandeU.^) Dem Aeschylus, wie überhaupt
67) Rhesus 527 ff.
68) So wird im Rhesus der Raub des Palladiums und die nrcoxsia aus
dem Zusammenhange der Ueberlieferung willkürlicli herausgerissen. Während
der archaische Stil von der Kunst des Motivirens oft zu wenig Gebrauch macht,
ist der Dichter des Rhesus sichtlich bemüht, das Einzelne zu begründen, wenn
auch nicht gerade in sehr geschickter Weise.
618 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
der älteren Poesie, ist solche Freiheit fremd, die in Griechenland
in der Regel erst da aufkommt, wo eine Kunstgattung bereits ihren
Höhepunkt überschritten hat.
Die Tragödie ist wohl der Versuch eines Anfängers'*), dem man
aber ein gewisses Talent nicht absprechen darf; denn die verwer-
fenden Urtheile der Neueren, die das Ganze meist als ein werth-
loses Machwerk betrachten, überschreiten das Mafs der BiUigkeit.
Es fehlt dem Stücke die Einheit, die Scenen sind lose aneinander-
gereiht, die Ausführung hat etwas Dürftiges und Skizzenhaftes; weder
Rektor noch Rhesus wahren die Würde des tragischen Helden. Diese
Mängel treten um so schroffer hervor, da uns eben nur ein Bruch-
stück einer Irilogischen Composition vorliegt, die der Dichter nach
der Weise des Aeschylus ausgeführt hatte; denn der Schlufs des
Dramas weist deutlich auf eine Fortsetzung hin.™) Der Verfasser
des Rhesus führt uns ein anschauliches Bild des Kriegs- und Lager-
lebens vor. Die Lieder des Chores, der sehr passend durch wacht-
habende Troer gebildet wird, erfüllen vollkommen ihren Zweck.
Auch fehlt es nicht an einzelnen dramatisch wirksamen Zügen. Ein
gewisser Realismus, der von der convenlionellen Weise der grie-
chischen Tragödie abweicht, verleiht der Darstellung etwas Frisches.
Den Stil des Rhesus bat man zu tief herabgesetzt, wenn man überall
nur den ungeschickten Nachahmer erblickt, der ohne Geschmack
und rechtes Verständnifs die Früchte seiner Studien verwerthet.
Die Redeweise ist nicht bunt oder ungleichartig, wie dies bei einem
eklektischen Verfahren zu sein pflegt, sondern eher eintönig zu
nennen. Der Dichter ist im Gegensatz zu den zeitgenössischen
Tragikern bemüht den hohen Stil der allen Tragödie festzuhalten,
durch kräftige Sprache und würdevollen Ausdruck die Wirkung der
Poesie zu steigern. Er bekundet daher eine entschiedene Vorliebe
69) Der Rhesus des Euripides war wohl bereits verschollen, als dieser
Dichter von neuem die Homerische Doloneia dramatisch zu bearbeiten unter-
nahm. Um so näher h^ die Aufforderung, sich gerade dieses Thema zu wählen;
um so eher konnte auch das neue Stück in den Kreisen der Schauspieler für
eine Arbeit des Euripides gelten. Es wird schon in dem Exemplar des Lykurg,
von dem ebenso Dikäarch wie die Alexandrinischen Kritiker abhängig sind,
den Tragödien des Euripides eingereiht gewesen sein.
70) Ganz unglücklich ist die Vorstellung, der Rhesus sei das Schlufsslück
einer Tetralogie gewesen und habe nach der Euripideischen Weise die Stelle
des Satyrdramas vertreten.
Dffi DRAM. POESIE. DIE TRAGÖDIE. DRITTE GRUPPE. DAS .NACHLEBEN. 619
für den alterthümlichen Sprachschatz. Aeschylus ist ihm Muster und
Vorbild ; daneben hat er auch Homer fleifsig benutzt. Aber er ver-
stand sich nur das Aeufsere anzueignen ; das eigentüche Geheimnifs
der Aeschyleischen Kunst, die grofsen Gedanken, die reiche Bilder-
pracht und die Kühnheit der Metaphern, büeb ihm verschlossen.
Immerhin können wir uns nur freuen, dafs neben den Arbeiten der
drei grofsen Tragiker das Werk eines jüngeren Mitbewerbers zur
Vergleichung vorliegt. Ist der künstlerische Werth der Leistung
auch nicht eben hoch anzuschlagen, so gehört sie doch einer Rich-
tung an, die im Anschlufs an Aeschylus sich lange Zeit nicht nur
neben Sophokles und Euripides behauptete, sondern noch später
beim Publikum Anklang fand.
Dritte Gruppe.
Das Nachleben der tragischen Poesie
von Ol. 94 bis 120.
[Die Ausarbeitung dieses Abschnittes fehlt.]
*)So erscheint die tragische Bühne mit dem Tode des Sophokles
und Euripides eigenthch vollständig verwaist, und die Klagen, welche
damals Aristophanes über die Unfähigkeit und Unproductivität der
jüngeren Tragiker erhebt, sind im Allgemeinen durchaus begründet.
[Aus der Familie des Aeschylus gehören hierher] nach dem
Kriege Astydamas der Aeltere, ein Sohn des Morsimus, der seiner As'ydamas
Zeit besondere Anerkennung genofs, und endlich sein Sohn, der "^^ ^^''"®"
jüngere Astydamas, der die Reihe beschliefst. Alle diese Dichter astydamas
(s. S. 608) waren nicht nui- durch die Bande des Blutes mit einander*^"" ^"°^*"'
verbunden, sondern bilden auch eine besondere Gruppe für sich. Mit
achtungsvoller Pietät hängen sie an ihrem grofsen Ahnherrn, frei-
lich ohne den Geist des Aeschylus zu besitzen , während sie das
Aeufserüche und Formelle sich leicht anzueignen vermochten.*
Bekannter ist der Sohn des Ariston, der jüngere Sophokles, Sophokles
der Ol. 94, 3 die letzte Arbeit seines Grofsvaters zur Aufführung'^*'" '"°^"*''
brachte, dann seit 95, 4 eigene Tragödien schrieb.'} Den nachhal-
*) [Aus Ersch und Grober S. 371 A und S. 370 B.]
1) DiodorXlV 53, 6, der ihm zwölf Siege giebt, womit Suidas II 2, 839
620 DRITTE PERIODE VON 500 BIS 300 V. CHR. G.
tigen Erfolg k<inn er nicht blofs seinem berühmten Namen verdankt
haben ; sonst vermögen wir über sein Verdienst nicht zu urtheileo.*)
Euripides *)'Sophokles Und der jüngere Euripi des, ein Neffe des gleich-
der Jünffcrc
namigen Dichters, mögen ziemhch fruchtbare Dichter gewesen sein,
vermochten aber mit ihren ephemeren Arbeiten nur dem unmittel-
baren Bedürfnifs der Bühne zu genügen.
Dionysius Unter den Dilettanten ist Dionysius der Aeltere, der bekannte
er Ae tere. rpyj,^^^ von Syrakus, ZU nennen, der ohne allen Beruf, aber mit
desto gröfseren Ansprüchen als tragischer Dichter auftrat und nament-
lich auch dem syrakusischen Theater eine selbständige Stellung zu
Antiphon, verschaffen suchte, für welches Antiphon, später hauptsächlich
Karkinus der jüngere Karkinus thätig waren. (S. 168).
ungere. Indessen behauptete Athen noch immer seinen hergebrachten
Einflufs, und ungefähr seit Ol. 100 treten auch wieder einzelne be-
gabtere Dichter auf, die wir hauptsächlich durch Aristoteles etwas
genauer kennen. Euripides ist für die meisten Vorbild und Muster;
aber das rhetorische Element ward noch entschiedener entwickelt
und beherrschte eigentlich ganz und gar die Poesie.
Theodektes. Theodektes von Phaseiis (S. 169) repräsentirt diese Richtung
am deutlichsten, während andere darauf verzichteten , ihre dramati-
schen Arbeiten auf die Bühne zu bringen und sie lediglich für
Chäremon. Leetüre bestimmten, wie Chäremon, dessen Dramen eben daher
durch gesuchten, farbenreichen Ausdruck sich von der nüchternen,
fast prosaischen Redeweise der anderen Tragiker dieser Zeit so be-
stimmt als möglich absondern.*
^a^e S^äfiara fi , oi St (paaiv ta, vixae Si sllsv S') nicht stimmt. Vierzig
Stücke genügen nicht für zwölf Siege, aber der Diciiter kann auch aufserhalb
Athens mit Einzeldramcn gekrönt worden sein. Mit dem Sohne des Ariston ist
nicht zu verwechseln Sophokles, Sohn eines Sophokles, Nachkomme des grofsen
Dichters, den Suidas 112, 839 nach dem alexandrinischen Siebengestirn ansetzt;
nach einer böolischcn Inschrift (CIG. I 1584) siegt er um Ol. 145 zu Orchomenos
am Feste der Charitesien.
2) Dieser Sophokles hat auch Elegien gedichtet.
*) [Aus Ersch und Gruber S. 371 A.]
Draek tos 3. B. UirsohfaM in Laipxtf.
PA
Bergk, Theodor
3057
Griechische
BA5
li teraturge schichte
Bd. 3
PLEASE DO NOT REMOVE
CARDS OR SLIPS PROM THIS POCKET
UNIVERSTTY OF TORONTO LIBRARY