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Full text of "Griechische Literaturgeschichte"

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GRIECfflSCHE 
LITERATÜEGESCHICHTE 


VON 


THEODOR  BERGK 


DRITTER  BAND 
AUS  DEM  NACHLASS  HERAUSGEGEBEN 

VON 

GUSTAV  HINRICHS 


BERLIN 

WEIDMANNSCHE  BUCHHANDLUNG 

1884 


3057 
OEC 1 3  1966 


i150«55 


VORWORT 


Als  Nachtrag  zum  zweiten  Bande,  welcher  mit  den  jüngeren 
Dithyrambikern  abschliefst,  mufs  ich  ein  Doppelblatt  folgen  lassen, 
welches  an  das  Ende  der  Besprechung  des  Euripides  gerathen  und 
bei  der  Ordnung  der  Manuskripte  durch  ein  hoffentlich  entschuld- 
bares Vei*sehen  dort  belassen  worden  war:  erst  als  der  Abschnitt 
über  Euripides  im  Druck  vollendet  wurde,  kam  es  wieder  zum 
Vorschein.  Ich  habe  dann  nochmals  zu  erinnern,  dafs  der  vor- 
liegende Band  über  die  attische  Tragödie  eine  genauere  Behand- 
lung von  Aeschylus'  Orestie  und  Sophokles'  Elektra  (auch  von  Euri- 
pides' Elektra,  taurischer  Iphigeneia  und  Phönissen),  ferner  über- 
haupt ein  Eingehen  auf  Euripides'  Ion,  Hekabe,  Rasenden  Herakles, 
Troerinnen,  Orestes,  Iphigeneia  in  AuUs  und  Bakchen  vermissen 
läfst,  während  er  sonst  bis  auf  Euphorion  und  Philokles  mit  seinen 
Söhnen  und  etliche  Nachzügler  des  vierten  Jahrhunderts,  die  Ver- 
treter der  dritten  Gruppe,  voll  zu  Ende  geführt  ist.  Die  chrono- 
logische Vertheilung  unter  das  dritte  Stadium  der  Blüthezeit  der 
Tragödie  war  vom  Verfasser  nicht  weiter  angedeutet  als  bei  Agathon : 
ich  habe  den  Einschnitt  hinter  den  nur  mit  Namen  aufgezählten 
Zeitgenossen  des  Theognis  vorgenommen  und  den  Rhesus  an  den 
Schlufs  gestellt,  obwohl  er  nach  der  gegebenen  Datirung  ebenso  gut 
auch  die  dritte  Gruppe  hätte  eröffnen  können.  Was  die  Ansichten 
Bergks  über   die  Andromache  des  Euripides  betrifft,   welche   er  in 


IV  VORWORT 

einem  späteren,  im  Hermes  XVIII  S.  487 — 510  publicirten  Aufsatz 
zum  Theil  anders  gefafst  hat,  so  habe  ich,  da  die  Untersuchung 
selbst  durch  ihre  Form  aus  dem  Rahmen  dieses  Buches  herausfiel, 
mich  begnügen  müssen,  das  Resultat  kurz  zu  referiren,  und,  ohne 
dem  Urtheil  der  Leser  über  die  Identificirung  der  Namen  . .  vex^a- 
rrjg  und  ^i^fiOXQccTrjg  oder  TifioxQciTrig  vorzugreifen,  die  ursprüng- 
liche Fassung  im  Zusammenhang  des  Textes  absichtlich  stehen  lassen. 

Berlin,  den  1.  Mai  1884. 

Onstay  Hiiirlchs. 


VERZEICHNISS  DES  mHALTES 


Seite 
Nachtrag  zu  den  jüngeren  Dithyrambikern IX — XI 

Dritte  Periode:  Die  neue  oder  attisehe  Zeit 

von  500  (Ol.  70)  bis  300  (Ol.  120)  v.  Chr.  Geb.  1—620 

DiedramatischePoesie 1 — 620 

Einleitung  (I  Charakteristik  der  dramatischen  Poesie  1.  II  Ursprung 
des  Dramas  3.  III  Feste  des  Dionysus  in  Athen  13.  Zahl 
der  Spieltage  23.  Die  Zeit  der  groCsen  Dionysien  25.  Der 
Proagon  29.  IV  Das  Theater  zu  Athen  33.  Ausstattung  der 
Bühne  4o.  Rechts  und  links  im  Theater  44.  Vertheilung 
der  Plätze  46,  Eintrittsgeld  47.  Zahl  der  Zuschauer  48. 
Frauen  und  Kinder  ausgeschlossen  49.  V  JiSaaxaXos  50. 
Der  Beruf  des  Tragikers  und  Komikers  streng  geschieden  55. 
Produktivität  56.  Vererbung  der  Kunst  56.  Fremde  Dichter 
den  einheimischen  gleichgestellt  57.  Preisrichter  57.  Preise 
59.  Die  Didaskalien  62.  Titel  der  Dramen  64.  Verzeich- 
nisse der  Dramen  66.  Wiederholte  Aufführungen  68.  Ueber- 
arbeitungen  69.  Interpolationen  der  Schauspieler  70.  Ly- 
kurgs Exemplar  der  Tragiker  71.  Untergeschobene  Dramen 
72.  VI  Die  Choregie  73.  VII  Der  Chor  und  seine  Organi- 
sation 75.  Koryphäus  7S.  Der  Prolog  79.  VIII  Die  Schau- 
spieler 81.  Masken  und  Kostüm  der  Schauspieler  95.  IX  Die 
Sprache  der  dramatischen  Poesie  101.  Die  metrische  Form 
106.  Der  iambische  Trimeter  107.  Der  iambische  Tetra- 
meter 111.  Der  trochäische  Tetrameter  111.  Anapästen  112. 
Die  melischen  Partien  des  Dramas  114.  Die  melischen  Par- 
tien der  Tragödie  116.  Die  melischen  Partien  der  Komödie 
118.  Der  Vortrag  der  Verse  im  Drama  126.  Oekonomie  des 
Dramas  129.  Chorlieder  131.  Bühnengesänge  139.  Klage- 
lieder 140.  Verhältnifs  der  Chorlieder  zum  Dialog  142.  Um- 
fang der  Dramen  143.  Eintheilung  in  Akte  144.  Epeisodien 
148.    Antistrophische  Gliederung.    Freie  Bildungen  151.    Re- 


VI  VEBZEICHMSS    DES    INHALTES 


Se^T* 


sponsion  der  antistrophischen  Theile  152.  Refrain  153.  Ver- 
theilung  eines  Verses  unter  mehrere  Personen  15:i.  Inter- 
jektionen aufserhalb  des  Verses  154.  Gleichklänge  154.  Sym- 
metrische Verhältnisse  in  den  dialogischen  Partien  155. 
Stichomythie  156.  Die  musikalische  Begleitung  157.  Die 
dramatische  Orchestik  161.  X  Das  Drama  aufserhalb  Athens 
167.    "Wirkungen  in  der  Fremde  170) 1-174 

Die  Tragödie 175—620 

Einleitung  (Charakteristik  der  tragischen  Poesie  175.  Wirkung 
und  Einflufs  der  Tragödie  175.  Mythische  Stoffe  178.  Art 
der  Darstellung  185.  Anachronismen  185.  Historische  Stoffe 
186.  Beziehungen  auf  die  Gegenwart  187.  Die  sittliche  "Welt- 
ordnung  und  das  Schicksal  189.  Die  Personen  der  Tragödie 
195.  Götter  195.  Heroen  196.  Frauen  196.  Kinder  197. 
Nebenfiguren  gewöhnliche  Menschen  197.  Zusammensetzung 
des  Chores  198.  Tragische  Charaktere  199.  Einheit  des  Or- 
tes und  der  Zeit  201.  Die  Hauptperson  204.  Episoden  205. 
Episches  Element  205.  Das  Gnomische  209.  Conventionel- 
les  210.  Gliederung  211.  Exodos  213.  Der  Chor  der  Tra- 
gödie 214.  Die  Tetralogie  222.  Aeschylus  führt  die  Tetra- 
logie ein  229.  (332.)  Tetralogie  bei  Sophokles  230.  (456.) 
Tragödie  an  den  Lenäen  235.  Die  Einzeltragödie  eine  [Ein- 
richtung des  Sophokles  235.  Das  Satyrdrama  236.  Stoffe 
des  Satyrdramas  238.  Versmafs  und  Sprache  des  Satyr- 
dramas 241.  Die  geschichtliche  Entwicklung  des  Satyrdramas 
242.  Veränderung  der  Organisation  244.  Grofse  Zahl  der 
tragischen  Dichtungen  245.  Der  Nachlafs  der  griechischen 
Tragiker  245.  Die  drei  grofsen  Tragiker  246.  Eintheilung 
247.  Recapitulation.  Idealer  Charakter  der  griechischen  Tra- 
gödie 248) 175     2:.J 

Erste  Gruppe.  Die  Anfänge  der  Tragödie  von  Ol.  (>I  bis  69 
(Thespis  255.    Chörilus  259.    Pratinas  261.    Phrynichus  263. 

Polyphradmon  267.     Aristias  267) 252     271 

Zweite  Gruppe.  Die  Biüthezeit  der  Tragödie  von  Ol.  7o,  1  bis 
Ol.  93,  3  (Erstes  Stadium  271.  Zweites  Stadium  272.  Drit- 
tes Stadium  275. 

Die  drei  grofsen  Tragiker  277—601.  I  Aeschylus  277 — 3.56. 
Aeschylus'  Leben  277.  Zahl  der  Dramen  2s4.  Dramen  der  ersten 
Periode  286.  Die  Perser  288.  Die  Sieben  gegen  Theben  295. 
I>if  Schut/fb'lienden  :{05.  Die  Oreslie  311.  Der  gefesselte  Pro- 
metheus. Die  Zeit  der  Abfassung  311.  Inhalt  316.  Trilogie  318. 
Der  befreite  Prometheus  318.    Verhältnifs  des  Aeschylus  zu 


VER/EICHMSS    DES    1>HALTES  MI 

X 

Seite 
Hesiod  322.     Ort  der  Handlung  327.    Anlage  329.  Einführang 

der  Tetralogie  332.  (229.)  Reduktion  des  Chores  336.  Be- 
urtheilung  desAeschylus  336.  Einflufs  der  Zeit  auf  Aeschy- 
lus  339.  Aeschylus'  Stellung  zu  Vorgängern  und  Nachfol- 
gern 340.  Alterthümlicher  Charakter.  Strenger  Stil  340. 
Auswahl  und  Behandlung  der  Mythen  341.  Sophokles"  Ur- 
theil  über  Aeschylus  346.  Gestaltende  Kraft  346.  Einfach- 
heit 347.  Das  Ahnungsvolle  347.  Das  Zarte  34S.  Die  Leiden- 
schaft 34S.  Der  Stil  des  Aeschylus  349.  II  Sophokles  356 
—  465.  Sophokles'  Leben  356.  Sophokles'  Verdienste  um 
die  Dramaturgie  359.  Antheil  am  öffentlichen  Leben  362. 
Sophokles'  Tod  367.  Eifriges  Studium  des  Homer  369.  Dauer 
der  dichterischen  Thätigkeit  371.  Zahl  der  Dramen  371. 
Epochen  in  der  dichterischen  Entwicklung  des  Sophokles  373. 
Elektra  376.  Aias  376.  Die  Trachinierinnen  3S9.  Antigene 
399.  König  Oedipus  417.  Philoktet  424.  Oedipus  auf  Ko- 
lonos  432.  Die  verlorenen  Dramen  440.  Beurtheilung  des 
Sophokles  443.  Der  Chor  des  Sophokles  447.  Der  Dialog 
451.  Concentration  des  Stoffes  452.  Auswahl  des  Stoffes 
453.  Durchführung  der  Handlung  453.  Der  Kunstcharakter 
des  Sophokles  453.  Sophokles'  Verhältnifs  zur  Sage  455. 
Die  freiere  tetralogische  Form  bei  Sophokles  456  (230).  Die 
Kunst  der  Charakterzeichnung  bei  Sophokles  458.  Der  Stil 
des  Sophokles  461.  Hl  Euripides  465—601.  Euripides'  Le- 
ben 465.  Philosophische  Studien  469.  Euripides  hält  sich 
vom  öffentlichen  Leben  fern  477.  Häusliche  Verhältnisse  478. 
Euripides'  letzte  Schicksale  480.  Dauer  der  dichterischen 
Thätigkeit  484.  Euripides  arbeitet  für  fremde  Bühnen  485. 
Euripides  bedient  sich  bei  der  Composition  der  melischen 
Partien  fremder  Hülfe  486.  Euripides  überarbeitet  seine  Tra- 
gödien 486.  Dramatische  Erfolge  487.  Zahl  der  Dramen  488. 
Perioden  der  dichterischen  Entwicklung  490.  Die  Peliaden 
493.  Alkestis  494.  Medea  501.  Herakliden  515.  Hippo- 
lytus  526.  Die  Schutzflehenden  530.  Andromache  539.  Elek- 
tra 550.  Taurische  Iphigeneia  552.  Helena  553.  Phönissen 
561.  Kyklops  562.  Einflufs  des  Euripides  565.  Beurthei- 
lung des  Euripides  568.  Frauencharaktere  572.  Charakter 
des  Euripides  574.  Die  politischen  Ansichten  576.  Polemik 
gegen  Orakel  579,  Religiöse  Ansichten  5S0.  Auswahl  und 
Behandlung  der  Mythen  585.  Die  Oekonomie  der  Euripi- 
deischen  Tragödie  589.  Erzählung  591.  Der  Prolog  592. 
Der  Stil  des  Euripides  595. 
Tragiker  zweiten  und  dritten  Ranges  602—619.   1  602.   II  An- 


VIII  VERZEICHNISS    DES    INHALTES 


Seite 


starclius  602.  Ion  603.  Achäus  607.  Neophron  608.  Eupho- 
rion  608.  Philokles  608.  Morsimus  609.  Melanthius  600. 
lophon  609.  Ariston  610.  Theognis  610.  Nikomachus  610. 
Gnesippus  610.  Akestor  610.  Sthenelus  610.  Morychus  610. 
III  Karkinus  der  Aeltcre  610.     Xenokles  611.     Hippias  611. 

Kritias  612.    Agathon  613.     Rhesus  613) 271—619 

Dritte  Gruppe.     Das  Nachleben  der  tragischen  Poesie  von  Ol.  94 
bis  120  (Astydamas  der  Aeltere  619.    Astydaraas  der  Jüngere 

619.  Sophokles   der  .lungere   619.     Euripides  der  Jüngere 

620.  Dionysius  der  Aeltere  620.    Antiphon  620.     Karkinus 

der  Jüngere  620.     Theodektes  620.     Chäremon  620)    .     .     .    619—620 


Nachtrag  zu  den  jüngeren  Dithyrambikern. 

(Bd.  U  S.  536  oder  544.) 

Wenn  man  lediglich  den  Erfolg  zum  Mafsstabe  des  inneren  anheile  der 
Werthes  macht,  mufs  man  diese  dem  Fortschritt  unbedingt  huldi-  '  sen. 
gende  Richtung  sehr  hoch  stellen.  Das  Ueberschwänglichc  der  Em- 
pfindung, die  Steigerung  des  Pathos,  wie  die  sinnliche  Pracht  und 
Virtuosität  der  Technik  mufsten  einer  tief  aufgeregten,  genufssüch- 
tigen  Zeit  vor  allem  zusagen.  So  gelangte  die  neue  Richtung  nicht 
nur  auf  dem  eigenen  Gebiete  bald  zu  ausschliefslicher  Herrschaft*), 
sondern  auch  die  Tragödie  schlofs  sich  alsbald  an.  Euripides  und 
Agathon,  bei  denen  der  subjektive  Zug  von  Anfang  an  mächtig  war, 
führten  den  dithyrambischen  Stil  in  die  Chorheder  und  Monodien  der 
dramatischen  Poesie  ein.  Nicht  blofs  die  grofsen  Städte,  wo  der 
revolutionäre  Geist  immer  schrankenloser  waltete,  sondern  auch  die 
abseits  Hegenden,  noch  wehig  von  dem  Fortschritt  der  Cultur  berührten 
Landschaften  nahmen  mit  Begeisterung  diese  lyrisch  -  musikalischen 
Schöpfungen  auf.  Die  einsamen  Bergkantone  Arkadiens'"'),  wie  die 
stillen  Städte  der  Insel  Kreta  ^),  wo  die  dem  hellenischen  Volke  ange- 
borene Gesangeslust  sich  unverändert  erhalten  hatte,  sagten  sich  von 
den  schlichten,  aber  gehaltvollen  Weisen  der  Väter,  an  denen  sie  mit 


1)  Nur  Einzelne  hielten  an  den  Ueberlieferungen  der  alten  Kunst  fest. 
Hierher  werden  die  von  Plut.  de  mus.  c.  21  erwähnten  Musiker  Andreas  von 
Korinth,  Thrasyllus  von  Phlius,  Tyrtäus  von  Mantinea  (Mantinea  galt  überhaupt 
als  treu  ergeben  der  alten  Musik,  Plut.  c.  32)  gehören.  Telesias  aus  Theben 
schwankte  eine  Zeit  lang,  wandte  sich  aber  später  von  dem  neuen  Stil  ab  und 
blieb  der  Weise  des  Pindar  und  Simonides  treu  (Plut.  c.  31). 

2)  Polyb.  IV  20. 

3)  Dekret  von  Knossos  CIG.  3053  zu  Ehren  der  Abgeordneten  der  ioni- 
schen Stadt  Teos:  insSei^axo  Mevexkfjs  fista  xid'öiQas  nXeovanis  xa  t£  Ti/io- 
&£ca  xal  IloXvtSco  xai  xwv  a.Q%ai(ov  afimv  jtoirjräv,  xa&cos  TtQoarjxsv  avSql 
TtenaiSsvfisvio. 


X  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

inniger  Pietät  geliangen  hatten,  los  und  gaben  sich  willig  dem  Ge- 
nüsse der  berauschenden  neuen  Kunst  hin.  Sonst  war  es  nicht 
üblich,  lyrische  Gedichte  von  neuem  aufzuführen ;  allein  die  Poesien 
der  jüngeren  Dithyrambiker  werden  gerade  so  wie  die  Tragödien 
und  später  die  Lustspiele  wiederholt^)  und  waren  aller  Orten  will- 
kommen; ja,  diese  Gedichte  fanden  sogar  eifrige  Leser.  Alexander 
läfst  sich  aufser  Stücken  der  drei  grofsen  Tragiker  auch  Dithyram- 
ben des  Philoxenus  und  Telestes  nachsenden.*) 

Anders  urtheilten  tiefer  bhckende  besonnene  Männer,  welche 
die  Herrhchkeit  der  alten  Kunst  zu  würdigen  wufsten ;  sie  vermifsten 
in  dem  neuen  Stile  sitthchen  Gehalt.  Dieses  geistreiche,  aber  zügel- 
lose Spiel  erschien  ihnen  als  Abfall  von  der  echten  musischen  Kunst, 
welche  berufen  ist,  den  Geist  harmonisch  zu  stimmen  und  die  Un- 
ruhe der  Seele  zu  beschwichtigen.  Sie  erkannten  sehr  wohl,  dafs 
das  Uebergreifen  der  Musik  die  klare,  objektive  Gestaltung  der  Poe- 
sie beeinträchtigen  müsse;  sie  sahen  voraus,  dafs  die  Musik,  welche 
in  der  Jugenderziehung  eine  so  wichtige  Stelle  einnahm,  auf  das 
heranwachsende  Geschlecht  einen  unheilvollen  Einflufs  ausüben  und 
den  Geist  revolutionärer  Neuerung  nähren  werde.  Schon  Pratinas 
tritt  mit  Entschiedenheit  den  ersten  Versuchen  der  neuen  Richtung 
entgegen ;  vor  allem  wird  die  Komödie ,  welche  ihres  hohen  Berufes 
alle  Zeit  eingedenk  war,  nicht  müde,  die.  Bestrebungen  jener  Män- 
ner, in  denen  sie  das  Verderben  der  wahren  Kunst  erblickte,  scharf 
und    schonungslos   zu    kritisiren.      Diese   Einmüthigkeit  beweist*), 


4)  Die  Perser  des  Timotheus  trug  der  Kitharöde  Pylades  an  den  Nemeen 
vor,  Flut.  Philopoemen  eil  (s.  Bd.  U  S.  529,  A.  8);  den  rasenden  Aias,  einen 
Dithyramb  desselben  Dichters,  führt  der  Flötenvirtuose  Timolheus  in  Athen 
wieder  auf  mit  einem  Chor  der  Pandionischen  Phyle  (dieser  Sieg  war  der 
erste  Erfolg  des  thebanischen  Virtuosen),  Lukian.  Hormon.  1.  Timotheus  selbst 
scheint  seinen  Hymnus  auf  Artemis,  der  für  Ephesus  bestimmt  war,  auch  in 
Athen  vorgetragen  zu  haben,  Plut.  de  aud.  poet.  c.  4. 

5)  Plut.  Alexander  c.  8. 

6)  Kratinus,  Eupolis,  Aristophanes  und,  soviel  wir  wissen,  alle  ihre  Be- 
rufsgenossen vertreten  ganz  denselben  Standpunkt.  .Am  Eingehendsten  hatte 
Pherekrates  im  Cheiron  Com.  II  326  ff.,  oder  wer  sonst  Verfasser  dieser  Komö- 
die war,  die  neue  Richtung  kritisirt,  als  deren  Hauptvertreter  Melanippides  der 
Aeltere,  Phrynis,  Kinesias  und  Timotheus  bezeichnet  werden.  Timotheus,  ob- 
wohl seine  Thätigkcit  früher  als  die  des  Kinesias  begonnen  haben  mag,  wird 
zuletzt  genannt,  weil  er  als  der  Talentvollste  und  Bedeutendste  vorzugsweise 
für  den  Verfall  der  Kunst  verantwortlich  gemacht  wird. 


^ACHTRAG    ZU    DKN  JÜNGEREN    DITHYRAMBIKERN.  XI 

dafs  wir  es  hier  nicht  mit  subjektiven  Anschauungen  Einzelner  zu 
thun  haben.  Ganz  den  gleichen  Ansichten  begegnen  wir  bei  den 
Philosophen,  nicht  nur  bei  Plato'),  dessen  strenges  Urtheil  in  ästhe- 
tischen Fragen  nicht  frei  von  Einseitigkeit  ist,  sondern  auch  bei 
Aristoteles,  der  vorurtheilsfrei  das  Tüchtige,  wo  es  auch  sich  findet, 
anzuerkennen  pflegt  und  für  jeden  wahren  Fortschritt  empßingüch 
ist.*)  Ebenso  steht  Aristoxenus,  unbestritten  der  gründlichste  Ken- 
ner der  griechischen  Musik,  entschieden  auf  Seite  der  alten  klassi- 
schen Meister  gegenüber  den  Bestrebungen  der  Neuerer,  die  er  für 
den  Verfall  der  Kunst  und  für  den  falschen  Geschmack  der  Zeit- 
genossen verantwortlich  macht.^)  Die  Versuche,  welche  man  in 
neuerer  Zeit  gemacht  hat,  den  dithyrambischen  Stil  gegen  jene  Vor- 
würfe zu  rechtfertigen,  sind  ledigUch  aus  dem  Geiste  des  Wider- 
spruchs entsprungen. 


7)  "Vergleiche  die  Schilderung  des  Verfalles  der  Kunst  in  den  Gesetzen 
III  700  D.  Im  Gorgias  501  E  f.  spottet  Plato  über  den  Kinesias  ganz  im  Geiste 
der  Aristophanischen  Komödie. 

S)  Aristot.  Pol.  VIII  6  p.  1341  A  10  bezeichnet  namentlich  den  EinfluTs 
der  für  Agone  bestimmten  Musik  auf  die  Jugenderziehung  als  nachtheilig:  ai 
(*ruE  Tf  71Q0S  rois  cywvas  Tois  zexvtxois  awieivovra  Bianovaiiev,  ftr^iE  ta 
&avfiaaia  xal  ns^ixxa  xäv  iQyoxv,  a  vvv  iXriXv&ev  sie  rove  aymvas,  ex  Si 
rwv  ayätvcov  eis  rr,v  TiaiSeiav. 

9)  Plut.  de  mus.  c.  31  und  27,  und  vor  allem  die  charakteristische  Stelle 
bei  Athen.  XIV  632  A. 


Druckfehler  des  zweiten  Bandes 

S.  VI  Z.  11  lies:  fortlaufenden  Nummerierung.  S.  VII  Z.  18:  Panätius  fällt 
in  die  folgende  Periode.  S.  VIII  Z.  1  lies :  Pamphilus.  S.  7  Z.  4  lies :  meisten 
statt  wenigsten.  S.  25  Z.  8  lies:  Kolossalstatue.  S.  42  Z.  15  v.  u.  lies:  Geres 
statt  gens.  S.  108  Z.  16  v.  u.  lies:  urkundlicher.  S.  110  Z.  9  lies:  welches  statt 
was.  S.  442  Z.  14  v.  u.  lies:  rexQaxrvv.  S.  540  Z.  2  v.  u.  lies:  lakonische.  S.  541 
Z.  14  V.  u.  lies:  xid-aQue. 


Druckfehler  des  dritten  Bandes 

S.  3  Kol.  lies:  Ursprung  des  Dramas  statt  Drama.  S.  18  Z.  18  lies:  ay^ls. 
S.  20  Z.  4  V.  u.  lies :  Ol.  103, 1  (wie  S.  168  Z.  6  v.  u.).  S.  22  Z.  5  v.  u.  lies:  Agons. 
S.  27  Z.  17  V.  u.  lies:  501  f.  statt  511).  S,  105  Z.  9  v.  u.  lies:  landschaftlichen. 
S.  130  Z.  3  V.  u.  lies:  ro  (lev.  S.  155  Z.  2  v,  u.  lies:  Antigene  631—765  und 
Z.  1  V.  u.  Sieben  375—673.  S.  229  und  230  Z.  4  v.  u.,  S.  235  Z.  16  v.  u.  lies: 
II  2,  838.  S.  232  Z,  4  v.  u.  lies:  verwirrten  statt  vermifsten.  S.  255  Z.  6  v.  u. 
lies:  Poet.  Astrol.  S.  461  Z.  11  v.u.  lies:  compos.  statt  complic.  S.  464  Z.  5 
V.  u.  lies:  löyois.  S.  484  Z.  20  v.  u.  lies:  des  Dichters  Thukydides  (so  hatte 
Bergk  statt  des  Historikers  Thukydides  geschrieben,  vgl.  PLG.  11267^), 


Die  dramatische  Poesie. 

Einleitung. 


iDdem  die  dramatische  Poesie  eioe  Handlung  sinnlich  vergegen-  cbarakteri- 
wärtigt  und  allem  den  Schein  des  wirklichen  Lebens  leiht,  wirkt  matischen 
der  dramatische  Dichter  ganz  unmittelbar  auf  das  Volk.  Nirgends  Poesie. 
offenbart  sich,  so  wie  hier,  die  unbedingte  Gewalt  der  Poesie  über 
die  Gemüther.  Diese  Wirkung  der  dramatischen  Kunst  war  um  so 
mächtiger,  da  diese  Spiele  nichts  Alltäghches,  sondern  ein  seltener 
Festgenufs  waren;  denn  das  griechische  Drama  hängt  auf  das  Engste 
mit  dem  rehgiösen  Cultus  zusammen.  Ward  auch  dieses  Band  all- 
mähhch  schwächer,  so  ist  es  doch  niemals  völUg  gelöst  worden.  So 
ruht  auf  diesen  Aufführungen  eine  ge\\isse  Weihe.  Erwartungsvoll 
und  in  gehobener  Stimmung  betrat  der  Zuschauer  das  Theater,  um 
ebenso  den  hohen  Ernst  der  Tragödie,  wie  die  muthwiUige  Lause 
des  Lustspiels  auf  sich  einwirken  zu  lassen  und  mit  offenem,  empfäng- 
lichem Sinne  die  Schöpfungen  des  Dichters  gleichsam  zu  reprodu- 
ciren.  Daher  hat  das  griechische  Theater,  indem  es  nicht  ausschliefs- 
lich  dem  Zeitvertreibe  dient  und  sich  vom  Geschmacke  und  von  der 
wechselnden  Gunst  des  Publikums  möglichst  unabhängig  zu  machen 
sucht,  lange  Zeit  eine  edlere  Richtung  behauptet.  Indem  es  neben 
dem  städtischen  Theater  eine  Anzahl  kleinerer  Bühnen  in  den  Land- 
gemeinden gab,  die,  wenn  sie  auch  nichts  Neues  brachten,  doch  die 
älteren  Stücke  wiederholten,  wurde  die  Theilnahme  an  der  drama- 
tischen Poesie  in  den  weitesten  Kreisen  verbreitet. 

Nur  unter  besonders  günstigen  Bedingungen  pflegt  sich  das 
Drama  zu  entwickeln ;  es  erscheint  immer  als  die  reifste  und  schönste 
Frucht  einer  bedeutenden  CuUurepoche.  Die  epische  und  lyrische 
Dichtung  haben  auch  bei  anderen  Völkern  des  Alterthums  Pflege 
gefunden,  aber  nur  die  poetische  Kunst  der  Hellenen  hat  diese  letzte         ^ 

Bergk,  Griecb.  Literaturgeachichte  III.  1 


2  DRITTE   PEKIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

und  hüchsle  Stufe  vermöge  eigener  Kraft  erreicht.  Wo  wir  sonst 
noch  Versuchen  in  der  dramatischen  Poesie  begegnen,  sind  sie  nicht 
aus  innerer  nationaler  Entwicklung  hervorgegangen,  sondern  eben 
auf  den  mächtigen  Einflufs  griechischer  Cultur  zurückzuführen. 

Die  ersten  Anfänge  der  Tragödie  wie  der  Komödie  treten  uns 
bereits  in  der  vorigen  Periode  entgegen.  Sie  gehen  von  den  mehr 
in  sich  abgeschlossenen  Doriern  aus.  Allein  die  höhere  Ausbildung 
der  dramatischen  Poesie  ist  fast  ganz  ausschliefslich  ein  Verdienst 
des  attischen  Stammes,  der  vermöge  der  angeborenen  Begabung 
und  der  Universalität  seines  Strebens  die  getrennten  Gebiete  der 
dichtenden  Kunst  zu  einigen  berufen  war.  Und  erst  jetzt  war  die 
Zeit  reif,  um  durch  das  Drama  den  Kreis  der  Dichtungsarten  ab- 
zuschhefsen.  Denn  naturgemäfs  kann  sich  das  Drama  erst  dann  frei 
und  selbständig  gestalten,  nachdem  sowohl  das  Epos  als  auch  die 
lyrische  Dichtung  zur  Reife  gelangt  sind ;  denn  die  dramatische 
Poesie  erinnert  ebenso  an  das  Epos,  wie  an  die  Lyrik,  sie  hat 
Theil  an  den  Eigenthümlichkeiten  beider  Gattungen  und  ist  doch 
selbst  wieder  etwas  Neueres  und  Höheres.  Die  Anmuth  der  behag- 
lichen epischen  Erzählung,  so  gut  wie  der  Zauber  des  lyrischen 
Gesanges  soll  nur  dazu  dienen ,  um  das  dramatische  Leben  zu  er- 
höhen. 

Gerade  in  diesem  Zeiträume,  und  zwar  vor  allem  in  Athen, 
waren  die  Bedingungen  vorhanden ,  um  die  Blüthe  der  dramatischen 
Dichtung  hervorzurufen  und  zu  fördern.  Es  war  eine  thatkräftige, 
emporstrebende  Zeit.  Der  Gesetzgeber  der  Tragödie  war  Augen- 
zeuge der  grofsen  welthistorischen  Ereignisse,  welche  damals  das 
Abendland  wie  den  Orient  erschütterten.  Die  Perserkriege  fallen 
gerade  zusammen  mit  den  Bemühungen  des  Acschylus  und  seiner 
Kunstgenossen,  der  Tragödie,  die  den  tiefen  Ernst  des  Lebens  aus- 
spricht, eine  würdige  Form  zu  geben.  Der  Aufschwung  der  Gei- 
ster unmittelbar  nach  den  Freiheitskriegen  kam  diesen  auf  die  höch- 
sten Ziele  gerichteten  Bestrebungen  entschieden  zu  statten.  Eine 
Epoche,  die  so  reich  war  an  grofsen  Männern  und  tüchtigen  Cha- 
rakteren, so  bildungsbedürflig  und  offenen  Sinnes  für  alles  Grofse 
und  Schöne,  besafs  nicht  nur  die  rechte  Empfänglichkeit  für  das, 
was  Dichter  ersten  Ranges  schufen ,  sondern  bot  auch  eben  jenen 
Meistern  Anregung  in  Fülle  dar.  Der  Staat  war  im  Innern  geordnet, 
aber  die  Parteikämple  dauerten  fort;  starke  Gegensätze  rangen  mit 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.     EI>LEITO'G.  ö 

einander  um  die  Herrschaft  und  gewährten  so  jene  Freiheit  der 
Bewegung,  welche  vor  allem  der  Komödie  zu  Gute  kam,  die  bei 
ihrer  rücksichtslosen  Kritik  der  öffentlichen  Zustände  keine  beengen- 
den Fesseln  ertragen  konnte.  Nicht  minder  mächtige  Wandelungen 
vollziehen  sich  auf  allen  Gebieten  des  geistigen  Lebens,  neue  Ideen 
und  Anschauungen  kommen  auf.  Gerade  in  Athen  vereinigen  sich 
wie  in  einem  Brennpunkte  die  verschiedensten  Richtungen,  indem 
man  die  höchsten  Probleme  zu  lösen  versucht.  Indem  überall  das 
Neue  mit  dem  AUen  im  Kampfe  liegt,  entstehen  schwere  Conflicte, 
aber  zugleich  erzeugt  sich  auch  eine  Vielseitigkeit  und  Höhe  der 
Bildung,  wie  sie  früher  unbekannt  war.  Das  griechische  Drama  ist 
recht  eigenthch  ein  Abbild  dieses  vielbewegten  Lebens ;  hier  finden 
wir  in  edler,  würdiger  Form  den  tiefen  Gehalt,  den  jene  Zeit  zu 
Tage  förderte,  niedergelegt. 

n 

In  dem.  griechischen  Cultus  liegt  von  Haus  aus  ein  dramati-  Ursprung 
sches  Element.*)  Nachahmende  Tänze  wie  die  Pyrrhiche  oder  den  Drama. 
Waffentanz  gab  es  seit  alter  Zeit;  die  Tanzlieder  hatten  überhaupt 
einen  entschieden  mimischen  Charakter.  Bald  wurde  die  Wirkung 
durch  Verkleidung  erhöht.  Man  nahm  beim  Festaufzuge  die  Gestalt 
des  Gottes  und  seiner  Begleiter  an  und  stellte  einen  Abschnitt  der 
heiUgen  Geschichte  in  voller  Gegenwärtigkeit  dar^),  und  indem  der 
Chor  einen  feierlichen  Hymnus  oder  ein  Processionslied  anstimmte, 
ward  die  stumme  Action  belebt.  In  den  verschiedensten  Culten  und 
Gegenden  Griechenlands  treffen  wir  solche  nachahmende  Vorstel- 
lungen an.    Namentlich  in  mvstischen  Culten  wurden  die  alten  Tra- 


1)  Vergl.  die  Bemerkungen  Strabos  X  467. 

2)  In  Kreta  stellte  man  die  Geburt  des  Zeus  dar,  Strabo  X  468,  in  Samos, 
in  Knossos  auf  Kreta,  in  Argos  die  Hochzeit  des  Zeus  und  der  Hera;  auch  das 
unter  dem  Namen  JaiSaXa  zu  Platää  gefeierte  Fest  gehört  hierher.  Der  Knabe, 
der  zu  Tanagra  am  Hermesfeste  ein  Lamm  auf  seinen  Schultern  um  die  Mauern 
der  Stadt  trug,  stellte  den  Hermes  dar;  an  den  Daphnephorien  in  Böotien  und 
Thessalien  trat  gleichfalls  einer  im  Kostüm  des  Apollo  auf,  begleitet  von  einem 
Jungfrauenchore.  In  Delphi  stellte  man  den  Mythus  vom  Kampfe  des  Apollo 
mit  dem  Drachen  in  seinem  ganzen  Verlaufe  dramatisch  dar  {orsnxriQiov  Plut. 
Quaest.  Graec.  c.  12),  und  auch  andere  Feste  in  Delphi  entbehrten  des  mimischen 
Elementes  nicht.  In  Delos  führte  der  unter  dem  Namen  ysQavos  bekannte  Tanz 
(PoU.IV  101)  das  Bild  der  aus  dem  Labyrinth  durch  Theseus  befreiten  Kinder  vor. 

1* 


4  DRITTE   PERIODE   VON   500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

ditionen,  die  den  eigentlichen  Kern  der  Geheinilehre  ausmachten, 
nicht  sowohl  in  Worten  überUefert,  sondern  mimisch  dargestellt  und 
so  recht  anschaulich  gemacht.^) 

Neben  dem  Ernste  halte  auch  der  naturwüchsige  Volkshumor 
Raum.  Zumal  an  Festen,  die  recht  eigentlich  für  das  Landvolk  be- 
stimmt waren,  herrschte  ein  derber,  kecker  Ton,  wie  im  Dienste 
der  Demeter,  wo  sich  unter  dem  Schutze  der  Rehgion  frühzeitig 
eine  sonst  unbekannte  Freiheit  der  Rede  entwickelte.'')  Auch  dem 
Dionysusdienste,  der  dem  Demetercultus  nahe  verwandt  ist  und 
wie  dieser  mystische  Elemente  in  sich  schliefst,  war  dieses  freie, 
übermüthige  Wesen,  die  Lust  an  Verkleidung  und  Mummerei  nicht 
fremd.*)  Aber  es  ist  nicht  zufällig,  dafs  gerade  aus  diesem  Cultus 
das  Drama  hervorging.  Dem  Dionysus  fällt  recht  eigentlich  das 
Mittleramt  zwischen  den  Menschen  und  den  höheren  Mächten  zu. 
Er  offenbart,  wie  kein  anderer,  seine  erlösende  und  befreiende 
Kraft.    Sinnliches  und  Geistiges  ist  in  dem  Wesen  des  Gottes  aufs 

3)  Diese  Ceremonien  und  Darstellungen  des  Mythus  heifsen  xa  Sqcofiiva, 
Plut.  de  prof.  in  virt.  c.  10:  Sgcofievcov  xal  Ssixwuivcov  raiv  isQÜv,  und  de  Is. 
und  Os.  c.  3  und  Ouaest.  Graec.  c.  12:  t^s  8s  'HgcatSoe  rc  nXeloxa  fivaxixov  iyet 
Xoyov,  ov  i'aaffiv  ai  ©v'iaSee,  ix  8e  rwv  SQOifiivcov  tpaveQcös  ^SfisXrjs  av  TtS 
a.vayo}yrfl>  sixäaete.  Euseb.  praep.  ev.  III  1 :  ol  neql  ras  leXeras  o^yiaoftoi  xai 
xt  Sqci  fteva  av/ißoXixcüe  iv  xale  lEQOVQyiaie  xfjv  xöjv  TtaXaitüv  ifivpaivei  8ta- 
voiav.  Pausan.  II  37,  2:  xa  Xsyofieva  ini  xols  S^tv/isvoie,  d.  h.  der  isQoe  Xöyoe, 
vergl.  III  22,  2:  äXXa  xs  is  xa  S^cö/isva  Xiyovxee.  Doch  kam  öfter  auch  münd- 
liche Unterweisung  hinzu,  Galen  de  usu  pari.  VII 14:  v}ms  rjad'a  TiQOi  xois 
BQOJfiivoie  xs  xai  Xsyofie'vois  vno  xcöv  iBQOfavxiöv.  J^äfia,  wenn  es  auch 
nicht  von  diesem  geheimen  Gottesdienst  gebraucht  wird,  berührt  sich  doch  mit 
den  Sgcöfisva;  denn  Sqäfia  ist  Handlung,  Aristot.  Poet.  3,  4:  o&ev  xai  Sqö.- 
fjutxa  xaXslad'ai  xivss  avrä  <pa<nv,  ort  fiifiovvxat  SQÖvxat. 

4)  Muthwilliger  Spott  und  Hohn,  der  sich  alles  erlaubte  und  auch  das 
Unanständigste  nicht  vermied,  war  hier  nicht  nur  durch  die  Sitte  des  Volkes 
gleichsam  geheiligt,  sondern  sogar  gesetzlich  erlaubt.  Auf  den  Demeter-  und 
Dionysusdienst  bezieht  sich  Aristot.  Pol.  VII  17,  8:  et  fii]  na^ä  xiai  &eoTs  xoi- 
ovxois,  oh  xai  xbv  xotd'aafiov  anoSiSoiatv  6  vbfwf  ttqos  Si  xovxoie  a^ir^atv 
6  vofws  xove  b'yovxas  rjXixlav  nXiov  jtQofixovaav  xai  VTxe^  avräv  xai  xexvotv 
xai  yvvaixcjv  xifiaXtpsiv  xove  ü'eovs.  Diese  Bestimmung,  welche  nur  die  un- 
reife Jugend  ausschliefst,  ist  offenbar  wörtlich  aus  dem  Gesetze  entlehnt. 

5)  In  Athen  wurde  an  den  Anlhesterien  die  Gattin  dos  zweiten  Archon 
(des  ßaatXsve)  mit  Dionysus  vermähll,  Dcmosthenes  in  Neaer.  73.  Hesychius 
Jioyvaov  yäfxos.  Die  Erzählung  bei  Plutarch  Nie.  3,  wo  ein  Sklave  des  Nikias 
den  Dionysus  darstellt,  gehört  wohl  nicht  hierher.  Aber  auch  anderwärts  wurde 
die  Hochzeit  des  Gottes  dargestellL 


DIE   DRAMATISCHE   POESIE.      EI>LEITL>G.  5 

Engste  verbunden.  Im  Dionysus  stellt  sich  das  Naturleben  in  seinen 
Gegensätzen  dar;  Licht  und  Dunkel,  ausgelassene  Freude  und  mafs- 
loser  Schmerz  berühren  sich  unmittelbar.  Dionysus,  der  nächtUche 
Gott,  ist  den  geheimnifsvollen  Mächten  der  Unterwelt  verwandt"), 
steht  aber  auch  den  freundlichen  Göttern  des  Lichtes  nahe.')  Die 
Traube,  das  Kind  der  Sonne,  ist  sein  Geschenk.*)  Die  Cuhur  der 
Rebe  steht  in  Griechenland  überall  in  unzertrennlicher  Verbindung 
mit  dem  Dienste  des  Gottes.  Aus  den  ländUchen  Festen  zu  Ehren 
des  Dionysus  ist  das  Drama  hervorgegangen.  Hier  herrschte  unge- 
zügelte Festlust®),  hier  war  ganz  von  selbst  der  Anlafs  zur  Ver- 
kleidung und  Maskenspiel  gegeben.  Die  Thaten  und  Leiden  des  Dio- 
nysus, die  Kämpfe,  welche  dieser  Cuhus  bei  seinem  ersten  Auftreten 
zu  bestehen  hatte,  die  Wunder,  durch  die  der  Gott  seine  siegreiche 
Macht  den  Verächtern  gegenüber  offenbarte,  die  phantastische,  bunte 
Weh  und  der  vielgestahige  Thiasus,  der  den  Gott  umgab,  boten  der 
Schaulust  und  dem  dramatischen  Spiel  den  dankbarsten  Stoff  dar. 
Der  Cultus  des  Dionysus  vereinigt  tiefen  Ernst  mit  ausgelas- 
sener Fröhlichkeit.    Daher  ist  auf  diesem  Boden  ebenso  die  Tragödie, 


6)  JMwaos  ist  nichts  anderes  als  ■d'eos  vvxios.  Daher  stellt  Heraklit  fr.  70 
Schleienn.  [132  Schuster]  den  Dionysus  mit  Hades  zusammen:  et  fii]  ya^  Jio- 
vvatp  TioitTtfjv  iTiotoivro  xai  v/ivsov  aofia  alSoioiaiv,  avaiSe'arar^  {av)  sioya- 
aro'  (oixoe  Si  li4tSr^s  xal  Jiowaos,  oreco  fiaivovrat  xai  Xr^vat^ovaiv,  wo  auf 
die  Lieder  der  Phallophoren  am  Kelterfeste  angespielt  wird ;  nur  ist  auch  hier 
dunkel,  zu  welchem  Satzgliede  aiSoioiaiv  gehört, 

7)  In  Delphi  ist  daher  der  Festkalender  zwischen  Apollo  und  Dionysus 
getheilt.  Dionysus  ist  Sonnengott  und  nächtlicher  Gott  zugleich  (II.  Argum. 
Demosth.  Mid.).  Am  kürzesten  Tage  ward  in  Delphi  die  mystische  Feier  be- 
gangen, die  recht  eigentlich  dem  d'shs  vvxtos  gilt;  im  Frühjahr,  wo  man  die 
Wiedergeburt  des  Gottes  feiert,  veranstaltet  man  Freudenfeste  für  den  Bgojuios, 
den  '7ax/os.  Auch  die  alten  Thraker  verehrten  besonders  den  "W.ios  und  den 
Jiowaos.  Nach  der  Darstellung  des  Aeschylus  war  Orpheus  ein  Diener  des 
Apollo  (ihm  schlofs  sich  wohl  auch  Lykurgus  an)  und  ward  deshalb  von  den 
Bassariden  getödtet  (Eratosth.  Katast.  24),  aber  am  Schlufs  der  Tragödie  mochte 
der  Tragiker  auf  die  Identität  beider  Gottheiten  hinweisen.  Aber  im  Cultus 
war  man  sich  der  Unterschiede  zwischen  Apollo  und  Dionysus,  zwischen  Päan 
und  Dithyrambus  wohl  bewufst,  vergl.  Athen.  XIV  62S  A. 

8)  Daher  heifst  in  der  alten  Dichtersprache  der  Wein  SöiQa  Juoviaov. 

9)  Dionysus  selbst  fßhrt  die  Zunamen  'E/.£v&£qös  C^Xev&e'^toe,  'Elevd'e- 
Qeie)  und  Aiaios.  Selbst  die  Gefangenen  wurden  gegen  Bürgschaft  an  diesen 
Tagen  entlassen,  Demostbenes  Androt.  68;  ebenso  war  Auspfändung  untersagt 
Demosthenes  Mid.  10. 


6  DRITTE   PERIODE   VON   500    BIS   300    V.  CHR.  G. 

welche  auf  Erhebung  des  Gemüthes  hinwirkt,  wie  die  heilere  Ko- 
mödie erwachsen.")  Die  Hauptfeste  des  Dionysus  werden  im  Herbst 
und  im  Frühjahr  gefeiert.  An  der  Weinlese  im  Späljahr  herrscht 
ungezügelte  Festlust;  im  Frühling,  wo  die  Natur  zu  neuem  Leben 
erwacht  und  die  Geburt  des  Gottes  gefeiert  wurde,  war  die  Fröh- 
lichkeit, indem  man  zum  ersten  Male  den  neuen  Wein  genofs,  mehr 
gehalten.  Ein  Lobgesang  auf  Dionysus  ward  an  beiden  Festen  vor- 
getragen, und  daran  knüpfen  sich  eben  die  Anßinge  der  Tragödie 
und  Komödie.  Wenn  man  bei  der  Weinlese  den  Phallus,  das  Sjinbol 
des  Segens  und  der  Fruchtbarkeit,  im  festUchen  Aufzuge  herumtrug, 
begnügte  man  sich  nicht  mit  dem  Absingen  des  Processionshedes, 
sondern  ging  bald  zu  improvisirten  Neckereien  und  derben  oder  un- 
anständigen Späfsen  über.  Man  geifselte  die  Gebrechen  und  Thor- 
heiten  der  allgemeinen  Zustände,  wie  einzelner  wohlbekannter  Per- 
sönlichkeiten. Aus  dem  Leben  selbst,  aus  der  Gegenwart  und  nächster 
Umgebung  nahm  man  den  Stoff.  Der  schlagfertige  Witz  des  Volkes 
betheihgte  sich  unmittelbar  an  diesen  Possen  und  steigerte  die  Aus- 
gelassenheit. Hier  treten  uns  die  Ursprünge  der  Komödie  entgegen, 
während  die  Tragödie  aus  dem  Dithyrambus  hervorging.")  Dem 
Frühjahrsfeste  gehört  dieser  enthusiastische  Hymnus  an,  in  welchem 
die  jauchzende,  brausende  Festlust  sich  mit  würdigem  Ernste  ver- 
band. Die  wechselnden  Schicksale  des  Gottes  bildeten  den  Inhalt 
des  Gesanges,  und  das  angeborene  Talent  des  Volkes  für  mimisch- 
plastische Darstellung  führte  allmählich  zur  Dramatisirung  der  heiligen 


10)  Die  seltsame  Notiz  bei  Donatus  zu  Terenz  Andr.  III  4,  11,  die  Tra- 
gödie gehöre  dem  Dionysus,  die  Komödie  dem  Apollo,  und  comoediam  cele- 
brafites  in  Apollinis  honorem  aram  conMittiebant,  beruht  auf  einem  Mifsvcr- 
sländnisse.  Dieser  Grammatiker  fand  in  einem  älteren  Commentare,  es  sei  der 
Altar  des  Apollo  zu  verstehen,  weil  in  der  Komödie  vor  dem  athenischen  Wohn- 
hause auf  der  Bühne  sich  ein  ßcofioe  ayvieve  befand  (in  dem  dort  angeführten 
Verse  des  Menander  ist  an'  ayvietoe  zu  lesen).  Um  nichts  besser  begründet 
ist  die  Bemerkung  in  der  Einleitung  des  Donatus  zu  Terenz:  i«  scena  duae 
arae  poni  solebant,  dextra  Liberi,  sinistra  eins  dei,  cui  Itidi  fiebant.  Eine 
solche  Einrichtung  wäre  für  Rom  wohl  passend,  wenn  nur  nicht  auch  hier 
wieder  auf  jenen  Vers  der  Andria  wieder  Bezug  genommen  würde;  dies  Slück 
ist  aber  bekanntlich  an  den  Megalesien,  nicht  an  den  ludi  ApolUnares  auf- 
geführt. 

11)  AristoU  Poet.  4,  14:  yavo/itvij  ovv  an*  a^im«  ovrocxtSiaariH^  Mal 
axnti  {fi  TpayipSia)  xal  j]  xcjfitp8ia,  rj  ftiv  ano  xäv  i^a^xövxoiv  rov  Bt&v- 
qaußov,  Tj  de  ano  löJv  ra  faXXma. 


DIE    DRAMATISCHE   POESIE.      EINLEITUNG.  7 

Geschichte,  indem  der  Vorsänger  dem  Chore  gegenüber  eine  selb- 
ständige Stellung  einnahm.  Wie  in  dem  Sagenkreise  des  Dionysus 
ernste  und  heitere  Elemente  ungeschieden  neben  einander  lagen,  so 
zeigte  sich  dieses  zwiespältige  >Yesen  auch  in  jenen  Festspielen.  Bald 
ward  der  Kreis  der  dramatischen  Stoffe  erweitert.  Man  geht  zu  der 
alten  Heroensage  über,  aber  das  burleske  Nachspiel,  welches  der 
ernsten  Tragödie  folgt,  hat  alle  Zeit  die  Erinnerung  an  die  Ursprünge 
treuhch  bewahrt. 

Wie  der  Dionysusdienst  überall  in  Griechenland  verbreitet  war, 
so  auch  die  mit  diesem  Cultus  verbundenen  volksthümlichen  Belu- 
stigungen. Insbesondere  bei  den  Doriern  im  eigentlichen  Hellas  wie 
in  den  Colonien  der  Westraark  führte  das  diesem  Stamme  cigen- 
thümliche  Talent  der  Nachahmung  zu  mimischen  Darstellungen.'*) 
Tragische  Chöre  traten  unter  den  Doriern  zuerst  auf.  Aber  noch 
weit  behebtcr  war  der  kecke  Hohn  muthwilliger  SpottHeder,  an  denen 
der  schlagfertige  Witz  der  Dorier  besondere  Freude  fand ,  daher  man 
bald  zu  dramatischer  Gestaltung  fortschritt.'')  Die  Anfänge  des  Lust- 
spiels gehören  den  Doriern  unbestritten  an.  Allein  die  höhere  Aus- 
bildung des  Dramas  war  den  Attikern  vorbehalten,  und  zwar  gehen 
die  ersten  Versuche  von  Ikaria  aus.")     Hier  trat  Susarion   um  Ol. 


12)  Daher  nahmen  auch  die  Dorier  den  Ruhm  für  sich  in  Anspruch,  so- 
wohl die  Tragödie  als  auch  die  Komödie  erfunden  zu  haben,  Aristoteles  Poet. 
3,5.  Nur  durften  sie  sich  nicht  auf  den  Ausdruck  S^äfia  berufen;  denn  wenn 
auch  das  Zeitwort  Soäv  der  dorischen  Mundart  besonders  geläufig  sein  mochte, 
so  gehört  es  ihr  doch  nicht  ausschliefslich  an. 

13)  Besonders  in  Sparta  gab  es  mimische  Tanzweisen  in  grofser  Zahl, 
nicht  nur  zu  Ehren  des  Dionysus,  sondern  auch  in  anderen  Götterdiensten 
(Pollux  IV  102  ff.).  Aber  die  meiste  Verwandtschaft  mit  der  Komödie  zeigen  die 
Darstellungen  der  sogenannten  SeixriXixTai  (über  die  Sosibius  ausführlich  ge- 
schrieben hatte,  s.  Suidas  Zoiaißioi  112,852),  die  sich  nicht  mit  stummem 
Geberdenspiel  begnügten,  sondern  in  schlichter  volksmäfsiger  Rede  komische 
Charaktere,  wie  den  Arzt  und  Quacksalber  aus  der  Fremde  oder  Sceneii  des 
gewöhnlichen  Lebens,  wie  Obstdiebstahl,  darstellten,  s.  Sosibius  bei  Athen. 
XIV  621 F,  wo  die  Verwandtschaft  dieser  Deikelikten  mit  den  Phallophoren  und 
ähnlichen  Possenspielen,  die  an  den  verschiedenen  Orten  immer  auch  einen  lo- 
kalen Charakter  annahmen,  anerkannt  wird. 

14)  Ikaria  ist  die  Heiniath  sowohl  der  Tragödie  als  der  Komödie,  Athen. 
II  40  A :  ano  fiid^^i  xal  t]  t^s  rgaycoSias  evQeaiS  iv  ^IxaQico  r^s  !^tt<x^ä  ev- 
Qi&T},  xai  xaz  avzov  rov  rrs  r^vyrji  xaiQov'  aq>'  oh  Srj  xal  r^yei^Sia  x6 
nQcörov  ixkr^dTi  t;  xü)fX(^Sia;  nur  hat  wohl  der  Epitomator  den  Gedanken  nicht 
ganz  genau  wiedergegeben. 


8  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300   V.  CHR.  G. 

49 — 54  zum  ersten  Male  mit  einem  komischen  Chore  auf.  Von  hier 
stammt  Thespis,  der  den  tragischen  Chor  aus  seiner  Heimath  nach 
Athen  verpflanzt.  Fortan  bheb  Atlien  der  eigenthche  Sitz  der  drama- 
tischen Poesie,  die  nur  in  einer  grösseren  Umgebung,  inmitten  eines 
bewegten  Volkslebens,  nicht  in  der  Stille  einer  kleinen  Landstadt 
gedeihen  konnte.  Die  Herrschaft  des  Pisistratus,  der  für  die  neue 
Kunst  günstig  gestimmt  war  und,  wenn  man  will,  selbst  ein  ge- 
wisses Schauspielertalent  besafs,  war  dieser  Entwicklung  forderlich.'*) 
Durch  die  Gründung  eines  Wettkampfes  für  tragische  Chüre  Ol.  61 
war  ein  fester  Boden  gewonnen.  Aus  den  pohtischen  Verhältnis- 
sen Athens  erklärt  sich  genügend,  wie  die  Komüdiendichlung,  ob- 
schon  ihr  Ursprung  hoher  hinaufreicht,  geraume  Zeit  sich  in  einer 
gewissen  Verborgenheit  hält,  während  die  Tragödie  sich  rascher  und 
stetiger  entwickelt  und  dann  erst  die  Komödie  diesem  Vorgange 
nachfolgt.  Zunächst  schied  sich  die  Tragödie  vollständig  vom  Di- 
thyrambus, wenn  auch  anfangs  die  Grenzhnie  noch  schwankend  sein 
mochte.  Beide  Galtungen  verfolgen  von  jetzt  an  selbständig  ihren 
eigenen  Weg.  Bald  führte  der  geläuterte  Kunstgeschmack  zu  einer 
Sonderung  der  zwiespältigen  Elemente  in  der  tragischen  Chorpoesie: 
das  ernste,  würdevolle  Trauerspiel  legte  die  Satyrmaske  ab,  die  fortan 
dem  heiteren,  neckischen  Nachspiele  verbheb.  Nun  machte  die  dra- 
matische Kunst  rasche  Fortschritte,  und  seit  Ol.  70,  noch  mehr  aber 
nach  glücklicher  Beendigung  der  ruhmvollen  Perserkriege  gelangen 
alle  Gattungen,  Tragödie,  Satyrspiel,  Komödie,  gleichmäfsig  zu  immer 
reicherer  und  reiferer  Ausbildung.  Angebahnt  und  vorbereitet  war 
diese  Entwicklung  schon  längst,  enlliäU  doch  das  homerische  Epos 
dramatische  Elemente  in  Fülle,  und  auch  der  lyrischen  Poesie  war 
der  dialogische  Vortrag  nicht  fremd.  Aber  erst  jetzt,  wo  das  Epos 
sich  ausgelebt,  die  Lyrik  ihren  Höhepunkt  erreicht  hatte,  war  die 
Zeit  gekommen  für  die  selbständige  Schöpfung  des  nationalen  Dra- 
mas, welches  ebenso  an  der  objecliven  Haltung  des  Epos  wie  an  der 
subjecliven  Empfindung  der  lyrischen  Dichtung  Theil  hat  und  ver- 
möge dieser  innigen  Verbindung  der  früher  gesonderten  Gebiete  doch 
etwas  wesenthch  Neues  ist.  In  der  dramatischen  Poesie,  welche 
eine    Handlung    unmittelbar    vergegenwärtigt   und   durch   Wechsel- 

15)  In  einer  Dionysusinaske  zu  Athen,  die  wohl  eben  in  dieser  Zeit  auf- 
gestellt ward,  glaubte  man  die  Züge  des  Tyrannen  wiederzufinden,  Athen. 
XU  533  C. 


DIE    DRAMATISCHE   POESIE.      EINLEITUNG.  9 

gespräch  und  lebendige  Mimik  allem  den  Schein  der  Wirklichkeit  ver- 
leiht, erreicht  der  nie  rastende  hellenische  Geist  die  höchste  Staffel 
der  Kunst.  Die  dramatische  Dichtung  ist  die  populärste,  weil  das 
menschliche  Leben  ihr  ausschüefslicher  Gegenstand  ist,  und  übt  die 
unmittelbarste  Wirkung  aus,  da  sie  ein  getreues  Abbild  der  Wirk- 
hchkeit ,  mit  allem  Reiz  und  Zauber  der  Kunst  ausgestattet ,  auf  der 
Bühne  vorführt.  Eine  Zeit,  die  so  mächtige,  welterschütternde  Er- 
eignisse durchlebte,  so  reich  an  grofsen  Thaten  und  tüchtigen  cha- 
raktervollen PersönHchkeiten  war,  mufste  die  begabten  Dichternatu- 
ren fast  mit  Nothwendigkeit  auf  dieses  Ziel  hinweisen  und  zugleich 
im  Volke  die  rechte  nachhaltige  Empfänghchkeit  für  die  neue  Dichtart 
wachrufen. 

Tragödie  und  Komödie,  obwohl  auf  gemeinsamem  Boden  er- 
wachsen ,  sind  doch  von  Anfang  an  streng  gesondert.  Jede  Gattung 
hängt  mit  einem  anderen  Feste  zusammen. 

Aristoteles  bezeugt,  dafs  die  Vorsänger  des  Phallusliedes  den 
ersten  Anstofs  zur  Komödiendicbtung  gaben.  Wenn  man  bei  der 
Weinlese  dem  Dionysus  ein  Dankopfer  darbrachte,  trug  man  bei 
der  Processiou  einen  Phallus  voran,  und  dabei  wurde  zu  Ehren  des 
Gottes  ein  keckes,  lustiges  Lied  angestimmt;  in  den  Pausen,  oder 
wenn  das  Lied  zu  Ende  gesungen  war,  wandte  sich  die  übermüthige 
Laune  gegen  den  ersten  besten  aus  der  Menge;  man  neckte  und 
verhöhnte  die  Begegnenden.'^)     Ein  deutliches  Bild  von  den  ersten 


16)  Der  Phallus,  das  Symbol  des  Dionysus  (des  'EXev&s^evs  in  Athen, 
Schol.  Arisloph.  Ach,  243 ;  als  phallischer  Gott  heifst  Dionysus  selbst  6od-6s,  Athen. 
II  38  C.  V  179E),  wurde  in  der  Procession  vorangetragen  (Plutarch  de  cup.  divit. 
c.  8.  Herodot  führt  diesen  Brauch,  TtofiTir;  tov  fa/.h)v,  fa/.Xos  6  t(Ö  Jioviaco 
Tieftnöfisvos  U  49  auf  den  Seher  Melampus  zurück ;  Heraklit  fr.  70  Schi,  bezieht 
sich  auf  die  Procession  und  die  dabei  abgesungenen  Lieder,  Tgl.  auch  Hesychius 
nt^ifaXXia'  tio/itct]  diovvaco  Ts)MVfiitnj  twv  ipaXXwv),  daher  auch  später  die 
attischen  Colonien,  wie  sie  an  den  grofsen  Panathenäen  Opfer  sandten  (Schol. 
Aristoph.  Nub.  386),  so  auch  an  den  Dionysien  einen  Phallus  darbrachten, 
und  die  gleiche  Yerpflichlung  lag  Mohl  auch  den  Bundesgenossen  ob,  natür- 
lich an  den  grofsen  Dionysien,  weil  nur  an  diesen  die  Vertreter  auswärtiger 
Staaten  sich  betheiligten.  So  ist  es  auch  erklärlich,  dafs  die  herkömmlichen 
Späfse  der  alten  Komödie  mit  Vorliebe  an  den  Phallus  anknüpfen.  Aristophanes 
tadelt  darum  seine  Kunstgenossen  (Nub.  538),  hat  aber  selbst  dieses  Motiv 
keineswegs  verschmäht.  Die  Lieder,  welche  man  bei  der  Procession  anstimmte, 
heifsen  9paP.^.»xa  (Arisloph.  Ach.  261),  tfaX)M<fOQixa,  *i9^iyß>Uot  (dieser  Ausdruck 
bezeichnet  sowohl  die  Sänger  als  auch  das  Lied  selbst).    Das  Strophische  war 


10  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS   300  V.  CHR.  G. 

Anfängen  des  Lustspiels  gewährt  uns  noch  Aristophanes  an  einigen 
Stellen  seiner  Komödien.")  An  den  ländhchen  Dionysien  in  Attika, 
die  nichts  anderes  sind  als  das  Fest  der  Weinlese,  welches  man  in 
eine  spätere  Zeit  des  Jahres  verlegte ,  hat  sich  der  alte  Brauch  un- 
verändert erhalten,  und  an  den  Lenäen,  dem  städtischen  Kelterfesle, 
traten  zuerst  in  Athen  selbst  die  Chöre  der  Phallophoren  auf.  Mit 
dem  Feste  der  Weinlese  hängt  die  Komödie  zusammen.'*)  Darauf 
geht  auch  die  alte  Benennung  TQvyqjöia.^^)  Daher  empfing  der  Sieger 
im  Wettkampf  der  komischen  Chöre  einen  Krug  Most  oder  Wein.'^°) 
Der  übhche  Name  Komödie  deutet  auf  die  ausgelassene  Festlust  hin, 
welche  die  dem  Dionysus  geweihten  Tage  kennzeichnet.")    Man  ge- 

ein  wesentliches  Element.  Die  Phallophoren  stimmen  nach  Semus  bei  Athen. 
XIV  622  C  einen  Hymnus  auf  Dionysus  an ,  sha  nQOSr^exovres  iTcä&a^ov  ovi 
av  nQoeXoivro',  daher  hiefsen  die  Sänger  und  ihre  Schmähreden  auch  iufißoi 
(Athen.  XIV  622 B),  in  Syrakus  iafißiaxai  (Athen.  V  181  C),  wie  auch  Epicharmus 
die  für  einen  solchen  Chor  bestimmten  Spottlieder  des  Aristoxenus  von  Selinunt 
lamben  nach  alter  Art  {ta/ußol  xaxa  rov  aQx.f^ov  xQÖnov)  nennt.  In  der 
Regel  aber  waren  es  improvisirte  Späfse;  dabei  heifsen  die  Sänger  auch  atro« 
Mäß8aXoi,  (Athen.  XIV  622  A). 

17)  Aristoph.  Acharn.  241  If.  und  Frösche  316  ff. 

18)  Schol.  Plato  Rep.  III  394  B :  xcoficp8ia  . . .  nguTSQov  fiev  if^  ila^orTjri 
rivi  xal  xaQTtäv  avyxoftiSfi  (d.  h.  der  rovyTjrös)  ytyvo/te'vrjs. 

19)  TQvycpSia  (bei  Aristophanes  auch  r^vytpSoi,  zQvyoSai/uovsg,  r^ytxol 
XOQoi)  ist  von  xQvyr],  die  Weinlese,  abzuleiten,  Athen.  II  40  B:  xal  xar'  aix'ov 
xov  T^S  XQvyr,s  xaiQÖv  {evQi&T}  17  XQaycoSia),  a<p  ov  Srj  xai  x^vyq>8ia  to  tiqu»- 
rov  ix7.rid'rj  17  xcofic^Sia,  nur  dafs  hier  (vielleicht  durch  Nachlässigkeil  des  Aus- 
zuges) die  Anfänge  der  Tragödie  mit  der  Komödie  vermengt  werden.  Die 
Grammatiker  leiten  den  Namen  von  xqv^  ab  und  beziehen  denselben  entweder 
auf  den  ausgesetzten  Preis,  oder  weil  man  in  Ermangelung  der  Masken  sich 
durch  Bestreichen  des  Gesichtes  mit  Trestern  unkenntlich  machte,  Schol.  Ari- 
stoph. Ach.  499. 

20)  Schol.  Aristoph.  Ach.  499 :  Sia  xo  XQvya  t'na&lov  Xaftßäyeiv,  xovj- 
t'axt  viov  olvov,  ursprünglich,  als  das  Fest  mit  der  Weinlese  zusammenfiel, 
Most,  später  als  die  Feier  verlegt  wurde,  neuen  Wein,  der  erst  gegen  das  Früh- 
jahr trinkbar  war  (Plut.  Qu.  Symp.  VIII  10,  3,  6),  den  man  aber  gerade  hier  nach 
herkömmlicher  Weise  xqv^  oder  yXevxoe  nennen  mochte,  Proleg.  n.  xo)fio)Siae 
III  7  ff:  XQvy(j)8iav  . .  8i,a  xo  xois  ev8oxifiovaiv  tni  x^yh;vai(^  y/.evxoi  8i8oa&atf 
ontd  ixälovv  xqvya,    Schol.  Plato  Rep.  111  394  B. 

21)  Ko}^(i)8ia  leitete  man  im  Altertliume  gewöhnlich  unrichtig  von  xoV>7 
das  Dorf,  Ortschaft  ab,  indem  diese  ursprünglich  ländliche  Lustbarkeit 
erst  später  in  der  Stadt  Eingang  gefunden  habe  (Schol.  Plat.  vaxeQov  St,  anb 
xov  xaxa  xcüftai  ä^^aad'ai  xavxrjv  ngU'  sii  äaxv  fiexeld'eh',  x(ijuq>8ia  mvo- 
uäa&t],   oder   wie  Pausanias   bei   Eu»<lathius  17Ö9:  oi   naÄmoi  xtuäivtn  xijv 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.      EINLEITUNG.  11 

nofs  reichlich  die  Gaben  des  Gottes,  bei  der  Weinlese  im  Herbst 
den  Most,  im  Frühjahr  den  neuen  >Yein.  Neckereien  konnten  nicht 
ausbleiben.  Sie  waren  an  diesen  Tagen  der  allgemeinen  Freude 
gleichsam  unter  den  Schutz  der  Götter  gestellt.  So  pflegten  nament- 
hch  Landleute,  die  auf  ihren  Wagen  zur  Stadt  fuhren,  die,  welchen 
sie  begegneten,  mit  allerlei  Spottreden  zu  necken"),  und  die  An- 
gegriffenen antworteten  in  gleichem  Tone.  Im  Frühjahre  an  den 
Choen  hat  dieser  volksmäfsige  Brauch  sich  lange  in  seiner  ursprüng- 
lichen Form  behauptet*^),  aber  an  den  Lenäen  gewann  er  erhöhte 
Bedeutung  ^^^3,  daher  die  Anfänge  der  Volksposse  mit  diesem  Feste 
zusammenhängen.  An  den  Lenäen  ward  der  Cultus  des  Dionysus 
mit  dem  Geheimdienste  der  eleusinischen  Göttinnen  verknüpft.")  An 
den  Festen  der  Demeter  war  Neckerei  und  Lästerung  von  jeher  ge- 
stattet.   Aus  dieser  Redefreiheit  des  Demeterdienstes  ist  die  iambische 


EvQsaiv  TOI  oivov  qSeiv  kfsvoov  xal  ToiiS  iavxöiv  tctoftr^as  xaxoXoysTv,  o&ey 

iöged'T;  xal  rb  xojfiqtSeTv).  Diese  Etymologie  gehört  den  attischen  Alterthums- 
forschern  an,  und  ihre  Zunflgenossen  bei  den  Doriern  benutzten  dies  als  Be- 
weis für  die  dorische  Herkunft  der  Komödie,  indem  sie  geltend  machten,  der 
Ausdruck  xcöfiTj  sei  der  dorischen  Mundart  eigenthümlich ,  den  Attikern  fremd 
(Aristot.  Poet.  3,  6,  Proleg.  n.  xcoficoSias  III  5),  was  nicht  begründet  ist.  Der  Name 
hängt  vielmehr  mit  xßjjaos,  xw/Mtgetv  zusammen,  wie  auch  Aristoteles  andeutet 
(ü5s  xcofitgSovS  ovx  ano  rov  xcofiä^eiv  Xe/^d'dvras ,  aX)M  rp  xara  xcöfias  ti^mvi] 
cnifinl^oftEvovs  ix  rov  aazecos).  Kcöfios  (Hom.  Hymn.  in  Alerc.  481 ,  Hesiod 
Schild  281)  bezeichnet  das  Herumschwärmen  in  den  Strafsen  eines  Ortes,  wo- 
mit gewöhnlich  ein  lustiges  Gelage  beschlossen  ward;  namentlich  an  den  Dio- 
nysusfesten  pflegten  die  jungen  Leute  scherzend  und  singend  durch  die  Strafsen 
zu  ziehen.  In  Athen  bildet  der  xäi/ios  noch  später  an  den  grofsen  Dionysien 
einen  integrirenden  Theil  der  Festfeier;  an  den  Lenäen  vertrat  die  navwxis 
die  Stelle  des  Komos. 

22)  Auch  stellten  sich  die  Höhnenden  wohl  auf  die  Wagen  der  Bauern, 
um  so  besser  gesehen  und  gehört  zu  werden,  Schol.  Lukian  Eunuch.  2. 

23)  Daher  die  sprichwörtliche  Redensart  ra  ix  rcöv  ofia^cov  axa  fifiaxa, 
vgl.  auch  Harpokration  nofinsia.  Die  Choen  meint  offenbar  Plato  Leg.  I  63"  ß, 
wenn  er  sagt,  iv  rale  afiä^ais  sei  ganz  Athen  im  Weine  berauscht. 

24)  Wenn  Photius  u.  a.  Gr.  (ra  ix  rcöv  dfza^öiv)  sagen:  tb  8'  avro  xal 
Tols  Ar]vaiois  vaisQov  inoiovv,  als  wäre  diese  Sitte  hier  erst  später  aufge- 
kommen, so  ist  dies  unrichtig.  Die  Sitte  ist  am  Kelterfest  ebenso  alt  wie  an 
den  Anthesterien;  vielleicht  soll  nur  angedeutet  werden,  dafs,  als  später  das 
Kelterfest  verlegt  wurde,  sich  der  Brauch  erhielt. 

25)  Der  mystische  lacchus  Sohn  der  Persephone:  diese  JSdreiQa  (oder  De- 
meter) ist  nicht  Athene,  wie  SchoL  Aristoph.  Ran.  378  sagt :  JSo^eiQav  eis  at^ijs. 
Aristoteles  Rhet.  III  18,  1419  A  3. 


12  DRITTE   PERIODE   VO.N    500    BIS   300   V.  CHR.  G. 

Poesie  des  Archilochus  erwachsen ,  die  mit  der  alten  attischen  Ko- 
mödie so  nahe  verwandt  ist.  In  Aegina  traten  Frauenchöre  auf, 
welche  ihr  Geschlecht  mit  kecken  Schmähreden  angriffen,  während 
sie  die  Männer  verschonten^),  und  die  gleiche  Sitte  ist  für  Epidaurus 
bezeugt.  In  Athen  genossen  die  Frauen  an  dem  Thesmophorien- 
feste  die  gleiche  Freiheit.")  Ebenso  war  es  Sitte,  an  den  Eleusinien, 
wenn  der  Festzug  zu  Ehren  des  mystischen  Dionysus,  des  Genossen 
der  Demeter  und  Persephone,  sich  am  19.  Boedromion  auf  der  hei- 
hgen  Strafse  von  Athen  nach  Eleusis  begab  und  den  Kephissus  über- 
schritt, die  Procession  mit  derben  Späfsen  zu  empfangen.*®)  Die 
Lenäen  also,  wo  die  Hohn-  und  SpottHeder  des  Dionysusdienstes 
sich  mit  den  altherkömmlichen  Späfsen  und  Possen  des  Demeter- 
cultus  berührten ,  waren  der  rechte  Boden  ,  um  die  Keime  des  Lust- 
spiels zu  zeitigen.***) 

Die  Tragödie  ist  aus  dem  Dithyrambus  hervorgegangen.  Die- 
ser Gesang  gehört  dem  Frühlingsfeste ^°),  in  Athen  den  städtischen 
Dionysien,  an.  Nach  herkömmlicher  Sitte  wurde  dem  Dionysus  ein 
Bock  geopfert.^')   Der  Chor  führte  seine  Reigentänze  auf,  indem  er 


26)  Herodot  V  83 :  d'vairjaC  rs  xal  xoqoXai  yvvaixr;totai  icsQxofioiai  iXä- 
axovro,  x^QTjyöJv  aTtoSeixwfievcov  ixaTtor]  lav  Saifiövcov  Säxa  avS^cöv  xtA.  ; 
denn  die  beiden  Göttinnen  Damia  und  Auxesia  stellen  nur  gesondert  das  Dop- 
pelwesen der  Demeter  dar,  die  ebenso  als  zürnende  und  strafende  wie  als 
Segen  spendende  Gottheit  ihre  Macht  offenbart, 

27)  Photius:  ^XT}via'  soqttj  'Ad'riVr/aiv  ...  iXoiSo^ovvxo  8  iv  avtri  vv- 
xrbs  ai  yvvalxee  aXlrj^atS'  ovrcoe  EvßovXoi. 

28)  Hesychius  yetpvQts  und  ysfVQiarai,  daher  yeipvQi^eiv  und  yayvQtaftoi 
(Strabo  IX  400)  Schmachreden  bezeichnet. 

29)  Daher  weist  das  Etym.  Magn.  (Tgayf^Sia)  die  Komödie  den  Festen  des 
Dionysus  und  der  Demeter  zu.  —  Wie  die  Stammesverwandtschaft  zwischen 
den  Hellenen  und  den  altilalischen  Völkerschaften  sich  vielfach  in  volksraäfsi- 
gen  Bräuchen  und  Instituten  kund  giebt,  so  ist  auch  auf  italischem  Boden  das 
nationale  Lustspiel  aus  gleichen  Anfängen  erwachsen,  vgl,  Horaz  Ep.  II  1,  139  ff, 

30)  Plato  Leg.  III  700  B  bezeichnet  ganz  richtig  das  Wesen  des  Dithyram- 
bus: xai  (iDm  (elSoe  <üSr;i)  Jtorvaov  yt'pean ,  olftui ,  St9v^aftßoe  Xeyöfteva. 
Daher  ist  auch  die  attische  Tragödie  mit  den  grofsen  Dionysien  verknüpft ;  un- 
richtig hat  man  versucht,  die  Anfänge  dieser  Gattung  auf  die  Lenäen  zurück- 
zuführen, 

31)  In  dem  illustrirtcn  attischen  Kalender  (Philol,  XXII  385ff.)  wird  die  Zeit 
der  städtischen  Dionysien  durch  zwei  Frauengeslalten ,  von  denen  eine  einen 
Kranz  in  der  Hand  trägt,  dann  durch  zwei  Männer  bezeichnet,  von  denen  der 
eine,  eine  untersetzte,  kräftige,  satyrhafte  Grslalt.  eint'n  Bock  zum  Opfer  führt, 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.      EIXLEITUiNG.  13 

den  Altar  und  das  Opfer  umkreiste.  Später  ward  daher  auch  der 
Bock  als  Preis  dem  siegreichen  Chormeister  zuerkannt.  Aber  nicht 
deshalb  heifsen  die  Chöre  tragische,  sondern  weil  die  Sänger  in  der 
Maske  der  Satyrn,  mit  Ziegenfellen  bekleidet,  auftraten.^)  Dies 
Kostüm  pafste,  so  lange  Mythen  aus  dem  Sagenkreise  des  Diony- 
sus  den  Inhalt  der  Choijlieder  bildeten  und  das  bäuerische,  groteske 
Wesen  vorherrschte.  Sowie  man  zur  Darstellung  heroischer  Mythen, 
zu  ernsten  und  würdigen  Stoffen  überging,  gab  man  die  Satyrmaske 
auf.  Aber  der  hergebrachte  IS'ame^^)  verblieb  nach  wie  vor  der  ern- 
sten Gattung  des  Dramas,  während  man  das  Nachspiel,  welches  den 
Charakter  der  alten  Volkslustbarkeit  festhielt,  Satyrdrama  nannte.*^) 

III 

In  Athen  wurden  im  sechsten  Monat  des  attischen  Jahres,  im  Feste  des 
Poseideon,  der  ungefähr  unserem  December  entspricht ^^),  die  länd-    Aiiien. 


der  andere,  schlank  und  jugendlich,  einen  Widder  geleitet.  Ersterer  ist  das 
herkömmliche  Opfer  des  Dionysus.  Der  Widder  geht  wohl  auf  das  Fest  Pandia, 
denn  an  die  Diasien  ist  nicht  zu  denken,  da  sie  in  den  Anthesterion  fallen, 
also  den  Dionysien  vorausgehen.  Der  Bock  ward  dem  Dionj-sus  nach  der  ge- 
wöhnlichen Ansicht  (Pausanias  bei  Eustathius  1769,  Euanthius  de  trag.)  geopfert, 
weil  er  den  Rebstock  benagt  und  schädigt;  darauf  geht  das  bekannte  Epigramm 
des  Euenus  Anthol.  I  97  lac.  n.  7 :  Kfjv  (le  fäyrjs  ini  gi^av,  oficos  exi  y.aoTto- 
tpoQTjaoi,  oaaov  inianelaal  aoi,  tqäye,  9'vofiivco. 

32)  Tqayiy.oi  rgönos,  xQayiy.oi  xoqoC  ist  gleichbedeutend  mit  aaxvQiicoi 
(Suidas  ^AQioJv  I  1,  716).  Die  richtige  Erklärung  von  roayojSoi,  xQayc^Sia  findet 
sich  neben  anderen  mehr  oder  minder  verfehlten  im  Etym.  Magn.  T^aycoSia  . . , 
ort  T«  7io/.Xa  Ol  yfiQoi  ix  aarvQcov  awiaravro,  6xS  iy.äiurvv  Tqäyovs.  Die  ge- 
wöhnliche Deutung  im  Alterthume  führt  den  Namen  auf  den  Bock  als  Preis  des 
Siegers  zurück. 

33)  Tgayixoi  xoQol,  rgaye^Sia. 

34)  ^TvQoi,  aaxvQixov  Bgäfia. 

35)  Die  Daten  des  attischen  Kalenders  auf  unsere  Zeitrechnung  zurück- 
zuführen ist  mifslich.  Abgesehen  von  der  regelmäfsig  wiederkehrenden  Ver- 
schiebung der  Monate,  die  durch  den  Charakter  des  Mondjahres  bedingt  ist, 
welches  von  Zeit  zu  Zeit  die  Einfügung  eines  Schaltmonates  erforderte,  unter- 
liegt auch  die  absolute  Feststellung  der  in  Griechenland  üblichen  Zeitrechnung 
vielfachen  Bedenken.  Später  sind  nicht  nur  im  ionischen ,  sondern  auch  im  atti- 
schen Kalender  die  Monate  um  eine  Stelle  vorgerückt,  so  daCs  z.  B.  der  Poseideon 
dem  römischen  Januar  (Plutarch  Caes.  37),  der  Anthesterion  dem  römischen 
März  entspricht  (Plutarch  Sulla  U,  Appian  B.  Civ.  ü  149;  ja  Macrobius  Sat. 
I  12, 14  setzt  sogar  den  Anthesterion  dem  April  gleich;  dies  gründet  sich  jedoch 
mehr  auf  eine  etymologische  Combination,  als  auf  chronologische  Berechnung). 


14  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

liehen  Dionysien**),  im  achten  Monat,  im  Anthesterion  (Februar), 
die  drei  Tage  dauernden  Anthesterien  gefeiert^);  darauf  folgten  im 
neunten  Monat,  Elaphebolion  (März),  die  städtischen  oder  grofsen 
Dionysien.^)  Besondere  Schwierigkeiten  macht  die  Feststellung  der 
Lenäen ,  die  nach  der  Ansicht  Neuerer  bald  mit  den  ländlichen  Dio- 
nysien ,  bald  mit  den  Anthesterien  zusammenfallen  sollen.  Allein  dafs 
die  Lenäen  ein  selbständiges  Fest  waren,  ist  sicher,  und  wenn  die 
Ueberlieferung  der  alten  Grammatiker  dasselbe  dem  siebenten  Mo- 
nate, dem  Gamelion  (Januar),  zuweist,  müssen  wir  uns  dabei  be- 
ruhigen.*) 

Die  Cultur  des  Rebstockes  und  der  Dienst  des  Dionysus  stehen 

36)  Ta  xar'  äyQove  (oder  8^/iove)  Jiovvaia. 

37)  Der  erste  Tag  der  'Avd'eatriQia,  die  sogen,  nt&oiyta,  fallen  auf  den 
elften,  die  Xoee,  der  Haupttag  der  Feier  auf  den  zwölften,  die  Xvr^ot  auf  den 
dreizehnten  Anthesterion. 

38)  Tä  iv  aazsi  {aarixa  oder  fieyaXa)  Jtovvoia,  nicht  selten  auch  schlecht- 
hin Jiovvaia  genannt,  als  das  glänzendste  Fest. 

39)  Aufser  den  äbereinstimmenden  Berichten  der  Grammatiker  ist  das 
Hauptzeiignifs  für  die  Feier  der  Lenäen  die  vielfach  mifsverstandene  Erklärung 
des  Plutarch  (fr.  XI  29)  bei  Proklus  zu  Hesiods  W.  u.  T.  504:  IIlovTaQxoe  ovSeva 
yrjal  firjva  yirjvaitSva  xaXslad'ni  TiaQo.  Boicorols,  vnoTtTBvei  Si  rj  rov  Bovxnriov 
avxov  Xeyeiv,  oe  ioriv  t]kiov  xov  aiyoxe'Qcov  Siiovros  . .  . .  rj  rov  Eq/nalov,  oe 
iart  ftera  rov  Bovxäxiov  xai  sie  lainov  iQxofisvos  xco  rafirjXimvi ,  xad"'  ov 
xai  ra  yirjvala  nag^  'yid'Tjvaioie,  In  der  Gleichstellung  des  Lenäon  bei  Hesiod 
mit  dem  böotischen  Bovxanoe  folgt  Plutarch  den  älteren  Erklärern.  Und  diese 
Parallele  ist  gegründet;  denn  in  Hesiods  Zeit  war  der  Lenäon  der  erste  Monat 
nach  der  Sonnenwende,  und  im  ersten  Monat  des  böotischen  Jahres  (welches  eben 
mit  dem  Wintersolstiz  oder  Eintreten  der  Sonne  in  das  Zeichen  des  Steinbocks 
begann),  im  Bovxnrioe,  steht  die  Sonne  im  Zeichen  des  Steinbocks.  In  den 
rj/iara  ßovSoQa  bei  Hesiod  fanden  diese  Erklärer  mit  Recht  eine  Bestätigung 
dieser  Ansicht.  Dagegen  die  Parallele  des  Hesiodischen  Lenäon  mit  dem  Hermäus, 
dem  zweiten  Monat  des  böotischen  Kalenders,  gehört  dem  Plutarch  eigenthüm- 
lich  an.  Er  schliefst:  der  ylrjvaiMv  mufs  von  dem  Feste  der  Lenäen  seinen  Namen 
erhalten  haben;  diese  werden  zu  Athen  im  Gamelion  gefeiert;  dieser  entspricht 
dem  böotischen '£^^^«(0«;  folglich  ist  der  ^i;;»'«««»' diesem  gleichzustellen.  Plu- 
tarch hat  dabei  den  attischen  Kalender  im  Auge,  daher  er  auch  (juaest.  Symp. 
III  7,  1,  2  die  Anthesterien  und  den  Monat  Anthesterion  dem  dritten  böotischen 
Monat,  dem  ngoararrj^ioe  gleichsetzt.  Dafs  in  der  klassischen  Zeit  die  Lenäen- 
feier  noch  in  die  Winterszeit  fällt  (Januar),  deutet  auch  Plato  Sympos.  223 C: 
oT£  fiaxQÜ>v  riöv  wxrtSv  ovacäv  an.  Denn  Agathon  hat  seinen  ersten  Sieg  an 
den  Lenäen  gewonnen.  Willkürlich  hat  man  wegen  der  30,000  Zuschauer  diesen 
Sieg  auf  <Me  grofsen  Dionysien  beziehen  Mollen,  wo  die  Erwähnung  der  langen 
Nächte  ganz  unpassend  sein  würde. 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.      EI>LEITU>G.  15 

in  engster  Verbindung.  Wie  der  Gott  als  Beschützer  des  Weinbaues 
verehrt  wird,  so  haben  auch  seine  Festtage  darauf  Bezug.  Das 
Hauptfest  war  natürlich  die  Weinlese,  die  in  Griechenland  in  den 
letzten  Theil  des  September  oder  Anfang  Octobers  fällt  ^°),  wobei 
die  rehgiose  Weihe  nicht  fehlen  durfte.")  Dies  sind  die  Lenäen, 
die,  wie  schon  der  >'ame  bezeugt,  nichts  anderes  als  das  Kelterfest 
waren  und  daher  gewifs  ursprünglich  auch  im  Herbst  gefeiert  wur- 
den."^) Das  zweite  Fest  sind  die  Anthesterien ,  wo  man  den  neuen 
Wein,  der  ausgegohren  hatte,  zuerst  genofs*^),  daher  der  erste  Tag 
des  Festes,  wo  man  die  Fässer  öffnete,  eben  danach  benannt  ist 
{Ili&oiyia);  der  folgende  Tag  heifst  das  Kannenfest  (Xoeg),  weil 
beim  Schmause  jeder  einen  Krug  ungemischten  Weines  vor  sich 
hatte;  der  dritte  Tag  sind  die  Chytren  {Xitqoi),  weil  man  dem  Her- 
mes allerlei  Früchte  als  Opfergaben  in  Töpfen  darbrachte.  Diese 
Verbindung  des  Hermes  und  Dionysus  hat   nichts  Auffallendes,   da 


H))  Hesiod  W.  u.  T.  611  flF, 

41)  Daher  ward  im  Pyanepsion  (October)  das  Fest  der  'Oaxo<p6^ta  zu  Athen 
gefeiert.  Hierhergehört  auch  ein  attisches  Bildwerk  (Philo).  XXII 385  ff.);  es 
ist  dies  kein  eigentlicher  Festkalender,  sondern  ein  illustrirter  Kalender.  Hier 
ist  das  Erntefest  durch  einen  Knaben  mit  der  Eiresione  bezeichnet,  die  Wein- 
lese durch  einen  Mann ,  der  die  Trauben  mit  den  Füfsen  ausprefst ;  daneben 
steht  eine  Kanephore,  die  man  auf  häusliche  Opfer  beziehen  kann  (Aristoph. 
Acharn.  242);  dann  folgt  das  Zeichen  des  Skorpion,  um  den  Eintritt  des  Win- 
ters anzudeuten.  Eine  Beziehung  auf  die  Lenäen  oder  andere  öfifentliche  Feste 
darf  man  hier  nicht  suchen. 

42)  Von  Xr,v6s,  die  Kelter,  was  etymologisch  mit  Xä^,  laxTtXetv  (Irp^os 
ist  3iüs  ylAKNOJ:,  wie  kr^vos,  die  Wolle,  aus  ^^XXO^ {lüxvr,},  entstanden) 
zusammenhängt,  leiten  die  .\lten  den  Namen  des  Festes  Xr^vaia  ab  (nur  Plutarch 
bei  Proklus  zu  Hesiod  erwähnt  eine  abweichende  Herleitung  von  Xr^voi,  Wolle, 
Wollenbinde),  was  die  Neueren  nicht  anfechten  durften.  Daher  heifst  das 
Kelterlied  intXrjvios  fii)MS  (Athen.  V  199A),  Dionysus  selbst  y/ijvalo»  (auf  einer 
Inschrift  von  Mykonus  bei  Le  Bas  Partie  IV  2058,  24  (s.  unten  S.  2fi,  A.  78)  Jt]vsvs, 
wohl  nur  verlesen  für  -^tjvsvs,  obwohl  anderwärts  dieser  Lautwandel  vorkommt), 
die  Bacchantinnen  ylr,vai.  Heraklit  (s.  A.  6  S.  5)  gebraucht  von  der  bacchischen 
Fesllust  den  Ausdruck  Xr^vail^eiv  (in  gleichem  Sinne  Xrjvevsiv  bei  Hesychius). 
Wenn  also  der  Schol.  Aristoph.  Ach.  378  sagt,  die  Lenäen  wären  iv  rcp  /ustotiio^m 
gefeiert  worden,  so  ist  dies  zwar  nicht  für  die  Zeit  des  Aristophanes,  wohl  aber 
für  die  Anfänge  des  Dionysusdienstes  zutreffend.  Nach  den  Grammatikern  nannte 
man  das  Lenäenfest  auch^^fißooaia,  womit  offenbar  der  Most  gemeint  ist;  auch 
diese  Benennung  pafst  eigentlich  nur  auf  das  alte  Kelterfest  im  Herbst. 

43)  Im  Antheslerion  war  der  junge  Wein  frühestens  geniefsbar,  Plutarch 
Ouaest.  Symp.  VIH  10,  3,  6;  vergl.  auch  III  7.  1,  1  f. 


16  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS   300  V.  CHR.  G. 

beide  GoUheilen  gleichmäfsig  zu  den  in  der  Unterwelt  waltenden 
Mächten  in  einem  näheren  Verhältnisse  stehen.  Der  Monat  Anthe- 
sterion  ist  gerade  wie  der  Fehruar  der  Römer  vorzugsweise  eine  Zeit 
der  Reinigung  und  Sühne.  Man  dankt  den  Göttern  für  den  Segen, 
den  sie  gespendet,  und  bittet  zugleich,  da  der  Frühling  naht,  wo 
alles  in  der  Natur  zu  neuem  Leben  erwacht,  ym  die  Fortdauer 
dieser  Gnade  und  Ihut  daher  alles  Unlautere,  alles,  was  den  Zorn 
oder  das  Mifsfallen  der  Götter  erregen  könnte,  von  sich  ab.  Zu- 
gleich mit  den  chthonischen  Gottheiten  gedenkt  man  aber  auch  der 
Verstorbenen,  die  in  der  Unterwelt  weilen.  Deshalb  hatten  die  Chy- 
Iren  den  düsteren  Charakter  eines  Todtenfestes;  denn  nach  altem 
Volksglauben  kehrten  um  diese  Zeit  die  Geister  der  Abgeschiedenen 
auf  die  obere  Welt  zurück. 

Die  Antheslerien  haben  ihre  ursprüngliche  Stelle  im  Festkalender 
alle  Zeit  behauptet,  während  die  Lenäen  vom  Spätjahr  mitten  in 
den  Winter  verlegt  wurden.  Diese  Verlegung  erscheint  bei  einem 
Feste,  welches  mit  der  Thätigkeit  des  Landmannes  eng  verwachsen 
und  daher  an  einen  bestimmten  Abschnitt  des  Jahres  geknüpft  war, 
doppelt  befremdlich.  Wir  greifen  wohl  nicht  fehl,  wenn  wir  diese 
Neuerung  auf  das  delphische  Orakel  zurückführen,  welches  alle  Zeit 
auf  die  Ordnung  des  religiösen  Lebens  der  hellenischen  Nation  einen 
weitreichenden  Einfluss  ausgeübt  hat.  Gerade  in  Delphi  walten 
eigenthUmliche  Verhältnisse  ob.  Der  Dienst  des  Apollo  nimmt  dort 
die  erste  Stelle  ein ,  ihm  ist  der  gröfsere  Theil  des  Jahres  geweiht. 
Dionysus  mufs  sich  mit  den  Wintermonaten  begnügen,  wo  Apollo 
nach  dem  in  Delphi'herrschenden  Volksglauhen  in  entfernten,  freund- 
Hcheren  Gegenden  verweilte.**)  Mitten  im  Winter  feierte  man  auf 
dem  rauhen  Parnafs  zur  Nachtzeit  bei  Fackelschein  den  Gelieimdienst 
des  Dionysus,  zu  dem  sich  Frauen  von  Nah  und  Fern  einfanden; 
auch  die  attischen  Frauen  nahmen  an  diesen  Orgien,  besonders  in 
der  älteren  Zeit,  regen  Antheil.")  Nach  dem  Vorgange  Delphis  und 
sicherlich  auf  ausdrückliches  Geheifs  des  Orakels  wurde    mm    riinh 


44)  Plularch  de  El  apud  Delphos  c.  9  :  rbv  fiev  nXXov  irtnvror  nnunt  xi,""*'- 
Trt«  Ttegi  TrtS  &vaiae,  aQxoftvov  Sa  x^tßtcüpo:  ineyei^avTee  tov  Sid^gafißov, 
■tbv  Se  natäva  xaranaiaavras ,  xpels  fifivas  avr'  ixeivov  rovxov  ttaxoKalovv- 
Trti  TOV  d'eöv. 

45)  Pausari.  X  .'^2,  7  und  X  4,  3.  Diese  Sitte  mufs  noch  in  der  Zeit  des 
Pausanias  sich  erhalten  haben. 


DIE    DRAMATISCHE   POESIE.      EINLEITLWG.  17 

das  allgemeine  Volksfest  der  Lenäen  in  die  winterliche  Zeit  verlegt. 
Man  mochte  um  so  mehr  geneigt  sein,  darauf  einzugehen,  da  gerade 
diese  Zeit  des  Jahres,  wo  der  Landmann  von  seinen  Arbeiten  aus- 
ruht, an  eigentlichen  Volkslustbarkeiten  vorzugsweise  arm  war.^®) 

Diese  Neuerung  mufs  frühzeitig  eingeführt  worden  sein.  Hesiod 
beschreibt  auf  das  Anschaulichste  in  den  Werken  und  Tagen  die 
Leiden  des  Winters  im  Lenäon;  denn  so  nennt  er  den  Monat^), 
ein  deutlicher  Beweis,  dafs  bereits  das  aUe  Kelterfest  verlegt  war. 
Die  ionischen  Niederlassungen  in  Kleinasien,  welche  von  Attika  aus- 
gehen, haben  in  ihrem  Kalender  gleichfalls  als  Wintermonate  den 
Poseideou  und  Lenäon,  auf  den  dann  mit  dem  Beginne  des  Früh- 
jahrs der  Anthesterion  folgt.  In  diesem  Monate  feierten  sie  das 
Anthesterienfest  genau  an  demselben  Tage  wie  zu  Athen."*^  Ebenso 
dürfen  wir  bei  den  loniern  die  Feier  der  Lenäen  in  dem  gleich- 
namigen Monate  voraussetzen.  In  Athen  heifst  dieser  Monat  Game- 
hon ^®);  dies  ist  wohl  der  alte  Name,  den  dieser  Monat,  noch  bevor 
die  Lenäen  in  denselben  verlegt  wurden,  im  attischen  Festkalender 
führte  und  auch  später  behauptete,  während  anderwärts  die  Benen- 
nung abgeändert  wurde. 

Die  Lenäen  gehören  der  Stadt  Athen  an.    Die  Dionysien  sind 


46)  So  wurden  ja  auch  die  l4}uäa,  die  als  Erntefest  eigentlich  sicher 
einer  früheren  Zeit  des  Jahres  angehörten,  in  Attika  im  Poseideon  gefeiert.  Bei 
der  Verlegung  der  Lenäen  mag  noch  das  Motiv  mitgewirkt  haben,  die  Frauen 
von  den  delphischen  Orgien  möglichst  zurückzuhalten. 

47)  Hesiod  W.  u.  T.  504,  das  erste  urkundliche  Zeugnifs  eines  griechischen 
Monatsnamens.  Die  Benennung  selbst  ist  wohl  nicht  auf  das  böotische  Askra, 
sondern  auf  das  lokrische  Naupaktus  zurückzuführen,  wo  dieser  Theil  des  Ge- 
dichtes entstanden  ist.  So  gewinnt  auch  die  Bemerkung  des  Schol.  Aristoph. 
Ach.  195:  Jiovvaia  eoQrrj  Jioviaov,  r,v  r,yov  NavTiäxrioi,  die  in  der  abge- 
brochenen Fassung  des  Auszugs  kaum  verständlich  ist,  Bedeutung.  Auch  in 
der  Schrift  über  den  Agon 

48)  Thukyd.  U  15.  In  der  alten  Inschrift  von  Teos  (CIG.  ü  3044)  [Roehl 
497,  32]  wird  ein  aydv  an  den  Anthesterien  unter  den  hauptsächlichsten  Festen 
dieser  Stadt  erwähnt;  in  der  Inschrift  von  Kyzikus  (II  3655,  20)  findet  eine  Be- 
kränzuiig  statt:  toIs  l^v&eazr^Qiots  iv  rq  d'eäxQci}.  wo  wir  wohl  an  scenische 
Spiele  denken  dürfen.  Auch  der  Monat  yirjvaioßäxxto:  in  dem  dorischen  Asty- 
paläa,  wo  eine  Bekränzung  role  Jtowaiots  dv  r^  ayävi  röv  iQayc^Bmv  statt 
finden  soll  (ü  2484,  16  AT.),  ist  wohl  eher  ein  Frühlingsmonat,  wie  der  Anthe- 
sterion. 

49)  In  Tenos  hiefs  dieser  Monat,  wie  es  scheint,  'Hgatciv. 
Bergk,  GriecL  Liieraturgeschichie  III.  2 


18  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

eigentlich  auch  nichts  anderes  als  das  alte  Kelterfest**'),  welches  aber 
die  Gemeinden  jetzt  ebenfalls  im  Winter,  im  Monat  Poseideon,  begin- 
gen.^') Die  grofsen  oder  städtischen  Dionysien,  unzweifelhaft  jüngeren 
Ursprungs,  vielleicht  erst  seit  der  Zeit  des  Pisistratus"),  sind  gewisser- 
mafsen  eine  Nachfeier  oder  Wiederholung  des  alten  Frühjahrsfestes 
der  Anlhesterien.  Aber  begünstigt  durch  die  Jahreszeit  und  nirgends 
gehemmt  durch  alte  Ueberheferung,  konnte  man  sich  vüUig  frei  be- 
wegen. Die  grofsen  Dionysien  verhalten  sich  zu  den  Lenäen  und 
Anthesterien,  wie  ein  neu  gegründeter  prachtvoller  Tempelbau,  z.  B. 
der  Parthenon,  zu  dem  Erechtheion  oder  einem  anderen  allen  Hei- 
ligthume,  an  das  sich  zahlreiche  ehrwürdige  Erinnerungen  heften. 
War  so  die  religiöse  Bedeutung  geringer,  so  wurde  das  Fest,  wie 
eben  alle,  welche  später  eingeführt  wurden,  mit  desto  grofserem 
Glänze  und  Aufwände  gefeiert. '  Das  Fest  heifst  die  städtischen  Dio- 
nysien, weil  die  Hauptfeier  auf  dem  Marktplatze  stattfand,  zum  Un- 

50)  Eine  Erinnerung  an  die  Identität  hat  sich  wohl  erhalten,  wenn  Ste- 
phanus  von  Byzanz  mit  Berufung  auf  Apollodor  sagt:  yli^vaios,  aycov  Jiovvaov 
iv  oyQols.  Doch  könnte  sich  dies  auch  darauf  beziehen,  dafs  das  Arjvaiov 
ursprünglich  nicht  zur  Stadt  gehörte,  Schol.  Aristoph.  Ach.  202. 

51)  Die  ländlichen  Dionysien  fielen  nicht  auf  einen  bestimmten  Tag,  son- 
dern waren  über  den  ganzen  Monat  vertheilt,  so  dafs  auch  die  benachbarten 
Gemeindeangehörigen  sich  an  einer  solchen  Feier  betheiligen  konnten.  Auch 
die  Dionysien  im  Piräus  gehören  in  diese  Kategorie. 

52)  Thukydides,  der  mit  der  älteren  Geschichte  seiner  Vaterstadt  wohl 
vertraut  war,  nennt  die  Anthesterien  aQX'''*oTe^a  Jiovvaia  (II  15),  eben  zum 
Unterschiede  von  den  grofsen  Dionysien.  Die  Lenäen  berücksichtigt  er  nicht, 
weil  diesen  die  Benennung  Jioviaia  nicht  zukam ,  ebenso  wenig  die  länd- 
lichen Dionysien,  da  er  nur  die  Feste  der  Stadt  Athen  im  Sinne  hat.  Sicher- 
lich wurde  das  neue  Fest  der  städtischen  Dionysien  mit  Genehmigung  des 
delphischen  Orakels  eingeführt:  darauf  ist  wohl  das  Orakel  in  Hexametern  bei 
Demosthenes  Mid.  52  zu  beziehen.  Dies  scheint  auch  Aristophanes  zu  bestätigen, 
der  Xub.  311  mit  den  Worten  rjQi  t'  dne^xof*^*'V  Booftin  x^Q^^  deutlich  auf 
diesen  Götterspruch  hinweist.  Dagegen  das  zweite  delphische  Orakel  in  Prosa 
(ähnlichen  Inhalts  ist  das  ausführlichere  in  der  Rede  gegen  Makartatus  66,  aber 
das  vorliegende  ist  doch  wohl  nicht  aus  jenem  excerpirt)  hängt  damit  nicht 
zusammen  und  geht  die  Dionysien  überhaupt  nichts  an.  Das  zweite  dodonäische 
Orakel  verordnet  Opfer  und  Chöre  für  Dionysus,  Opfer  für  Apollo  und  einen 
Ruhetag  für  Freie  und  Unfreie;  hier  handelt  es  sich  unzweifelhaft  um  eine 
aufserordentliche,  einmalige  Festfeier.  Das  erste  dodonäische  Orakel  pafst,  wie 
es  vorliegt,  überhaupt  nicht  für  den  Zweck  des  Demosthenes;  entweder  ist  es 
unvollständig  überliefert,  oder  der  Herausgeber  der  Rede  hat  eine  ungeschickte 
Auswahl  aus  den  ihm  vorliegenden  Urkunden  getroffen. 


DIE   DRA>UTISCHE   POESIE.     EI>"LEITU>G.  19 

terschiede  von  den  Anthesterien ,  die  an  das  alte  Cultuslocal  im  hei- 
ligen Bezirke,  das  sogen.  Lenäon,  gebunden  waren.") 

Man  scheint  zu  glauben,  dafs  die  Sitte,  an  den  Lenäen  und 
grofsen  Dionysien  sowohl  Komödien  als  auch  Tragödien  aufzuführen, 
von  Anfang  an ,  nachdem  ein  Agon  für  scenische  Spiele  eingerichtet 
wurde,  bestanden  habe.  Dies  ist  äufserst  unwahrscheinlich;  denn 
jene  Einrichtung  setzt  eine  ungemein  rege  literarische  Thätigkeit 
voraus,  die  sich  erst  allmäldich  entwickelt  hat.  Thatsache  ist,  dafs 
die  Tragödie  am  frühesten  eine  feste  Gestalt  gewinnt.  Schon  Pisi- 
stratus  führte  Ol.  61  einen  Agon  für  tragische  Chöre  ein,  und  zwar 
an  den  städtischen  Dionysien.^)  Denn  der  Dithyrambus,  aus  dem 
die  Tragödie  hervorging ,  ist  dem  Frühlingsfeste  des  Dionysus  eigen- 
thümlich.  Langsameren  Schrittes  folgt  die  Komödie  nach.  Väe  nun 
die  beiden  Gattungen  der  dramatischen  Poesie  stets  eine  selbstän- 
dige Stellung  behaupten,  so  trat  diese  Sonderung  gewifs  in  den 
Anfängen  noch  entschiedener  hervor.  Es  ist  nicht  glaublich,  dafs  man 
komische  Chöre  neben  den  tragischen  sofort  an  den  städtischen  Dio- 
nysien zugelassen  habe,  zumal  da  durch  das  Satyrspiel  ausreichend 
für  heitere  Festlust  gesorgt  war.  Die  Komödie  gehört  zunächst  den 
Lenäen  an.  Nur  an  einem  Feste,  welches  seit  AUers  bestand,  konnte 
das  Lustspiel  auf  die  unentbehrliche  freie  Bewegung  Anspruch  machen. 
Aus  den  bäuerischen  Spottreden,  die  mit  den  Lenäen  verbunden 
waren,  aus  den  improvisirten  Liedern  der  Phallusträger,  die  an  dem 
alten  Kelterfeste,  gerade  so  wie  an  den  ländüchen  Dionysien  ihre 
Stelle  hatten,  ist  die  Komödie  erwachsen. 

So  sind  also  ursprünglich  die  städtischen  Dionysien  für  tragi- 
sche, die  Lenäen  für  komische  Chöre  bestimmt.  Erst  später,  als  die 
Zahl  und  der  Eifer  der  Dichter  stetig  zunahm  und  die  Theilnahme 
des  Publikums  an  diesen  Schauspielen   immer  lebhafter  ward,  hat 

53)  Gewöhnlich  nimmt  man  an,  die  Benennung  t«  iv  aarei  Jiovvaia 
stehe  der  ra  xar'  ay^oie  Jiovxaia  gegenüber.  Das  sogenannte  yir^vaiov  ge- 
hörte offenbar  ursprünglich  nicht  zu  der  eigentlichen  Stadt,  rergl,  Schol.  Ari- 
stoph.  Acharn.  202.  Die  Gegend ,  wo  das  Heiliglhum  des  Dionysus  lag,  hiefs 
ytifxvai  und  war  wohl  eine  Art  Vorstadt,  wie  in  Sparta.  Thukydides  frei- 
lich II  15  scheint  gerade  den  südlichen  Theil  der  Unterstadt  mit  seinen  Hei- 
ligthümern,  wozu  das  Lenäon  gehört,  zu  den  ältesten  Theilen  der  Stadt  zu 
rechnen. 

54)  Auf  die  parische  Chronik  darf  man  sich  nicht  berufen ;  denn  die  Er- 
gänzung iv  oaret,  ist  unzulässig. 

2* 


20  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS   300  V.  CHR.  G. 

man  gleichmäfsig  an  beiden  Festen  Tragödien  und  Komödien  zu- 
gleich aufzuführen  begonnen.  Tragödien  lassen  sich  an  den  Le- 
näen  vor  Ol.  90,4  nicht  nachweisen'*'^);  dagegen  treffen  wir  an  den 
städtischen  Dionysien  bereits  vor  dem  peloponnesischen  Kriege  Ko^ 
mödien  an.'^)  Daher  wird  auch  hei  den  Stücken  dos  Aristophanes 
und  seiner  Altersgenossen  rcgelmäfsig  vermerkt,  ob  die  Aufführung 
an  den  Lenäen  oder  städtischen  Dionysien  stattfand.  Dafs  man  aber 
die  Komödie  bevorzugt  habe,  widerstrebt  allem  Herkommen.  Diese 
Neuerung  ist  nothwendig  für  beide  Gattungen  gleichzeitig  durchge- 
setzt worden.  Perikles  wird  der  Urheber  sein,  und  die  Auszahlung 
des  Theatergeldes  hängt  wohl  eben  mit  dieser  Verdoppelung  der 
Schauspiele  zusammen. 

Dafs  bei  den  uns  erhaltenen  Dramen  der  drei  grofsen  Tragiker 
die  Festfeier  niemals  näher  bezeichnet  wird,  ist  gewifs  nicht  zu- 
fälhg.")  Daraus  darf  man  schliefsen ,  dafs  sie  in  der  Regel  nur  für 
die  grofsen  Dionysien,  denen  die  Tragödie  eigentlich  angehört,  thätig 
waren.  Bei  Aeschylus,  der  jene  Neuerung  nicht  mehr  erlebte,  ist 
dies  selbstverständlich,  aber  auch  Sophokles  und  Euripides,  als  die 
angesehensten  Meisler  der  tragischen  Kunst,  behaupteten  dieses  Pri- 
vilegium, während  Anfänger  und  Dichter  untergeordneten  Ranges 
zufrieden  sein  mochten,  wenn  sie  an  den  Lenäen  einen  Chor  er- 
hielten.^*) 

Nun  erscheint  auch  die  verschiedene  Einrichtung  der  scenischen 
Spiele  an  diesen  Festen  im  rechten  Lichte.     An  den  Lenäen  wur- 


55)  In  diesem  Jahre  gewann  Agathon  seinen  ersten  tragischen  Sieg,  Athen. 
V  217  A:  ini  aQxovroi  Evfpi](iov  arefavovrai  yitjpaiots. 

56)  Dies  beweist  die  didaskalische  Inschrift  CIG.  229,  wo  Z.  2,  11  und 
vielleicht  13  iv  aarsi  vorkommt;  davon  fällt  Z.  2  wahrscheinlich  vor  den  pelo- 
ponnesischen Krieg,  Z,  13  in  Ol.  86,  1,  während  Z.  11  auf  Ol.  96,  2  geht.  Wenn 
die  Einrichtung  des  Theaters  im  Piräeus,  wo  ebenfalls  Komödien  und  Tragödien 
mit  einander  aufgeführt  wiu-den,  um  Ol.  83  anzusetzen  sein  dürfte,  könnte  man 
diese  Neuerung  eben  jener  Zeit  zuschreiben. 

57)  Nur  von  der  letzten  Tetralogie  des  Euripides  wird  ausdrücklich  be- 
zeugt, dafs  sie  nach  des  Dichters  Tode  iv  äaist  zur  Aufführung  kam,  Schol. 
Aristoph.  Ran.  67. 

58)  Wenn  der  Tyrann  Dionysius  seine  Tragödien  an  den  Lenäen  auffüh- 
ren liefs  01.103,2,  so  geschah  dies  wohl  aus  Berechnung;  er  mochte  an  den 
grofsen  Dionysien  von  Seiten  der  anwesenden  Fremden  mifsliebige  Demonstra- 
tionen erwarten,  während  er  au  den  Lenäen  von  Seiten  des  attischen  Publi- 
kums mehr  Rücksicht  erwarten  durfte. 


DIE   DRAMATISCHE   POESIE.      ELNLEITU>G.  21 

den  zuerst  Tragödien,  darauf  Komödien  gegeben.  An  den  städtischen 
Dionysien  beginnt  man  mit  dem  Lustspiele,  endet  mit  der  tragischen 
Tetralogie.  Es  geht  also  jedes  Mal  die  später  hinzugefügte  Gattung 
voran,  während  die  von  Anfang  an  bestehenden  Chöre  das  Recht 
behaupten,  zuletzt  aufzutreten.*^) 

Ob  es  in  Athen  aufser  den  Lenäen  noch  andere  scenische  Spiele 
gab ,  ist  ganz  unsicher.^)   Wohl  aber  pflegten  die  Gemeinden,  wenig- 

59)  Das  Gesetz  oder  vielmehr  Psepliisma  des  Euegorus  bei  Demosthenes 
Mid.  10  bezeugt  die  Folge:  orav  rj  TtOfiTifj  r,  r^  Jicrvacp  iv  ITeiQuieT  xal  oi 
xcoucpSoi  xai  oi  XQaycpSoi,  xai  17  eTii  Ar^vaico  TtOftTTTj  xal  oi  r^aycoSoi  xal  oi 
xof/u(pSoi,  xai  idis  ev  äarsi  JiorvaioiS  ^  nofiTir;  xai  oi  TtalSss  (hier  ist  xal 
oi  ävS oss  einzuschalten)  xai  6  xcäuos  xai  oi  xcaucoSoi  xai  oi  ToaycoSoi.  Auch 
im  Piräeus  wird  man  früher  nur  Tragödien  gegeben  haben ;  später  kamen  Ko- 
mödien hinzu.  Man  hat  ohne  triftige  Gründe  die  Echtheit  dieses  Gesetzes  be- 
zweifelt, welches  uns  natürlich  nur  im  Auszuge  erhalten  ist.  Man  hat  bei  dieser 
Aufzählung  die  Anthesterien  vermifst.  Ebenso  gut  hätte  man  an  der  Nicht- 
erwähnung der  Panathenäen  und  Eleusinien  Anstofs  nehmen  können:  an  diesen 
Festen  wird  eben  schon  ein  früheres  Gesetz  die  Auspfändung  eines  Bürgers 
untersagt  haben,  vergl.  Demosth.  Timocr.  39;  man  vgl.  auch  das  Gesetz  von 
Lampsakus  GIG.  3641  B. 

60)  Der  Schol.  Aristoph.  Ach.  504  kennt  nur  die  scenischen  Spiele  der 
Lenäen  und  grofsen  Dionysien,  doch  ist  ein  solches  Zeugnifs  nicht  entscheidend. 
Diog.  Laert.  III  56:  OQaavXXos  Se  <pr,ai.  xai  xa-ta  rr,v  rQaytxf;v  xerqtxXoyiav 
ixSolvai  avxbv  rovs  SiaXoyovS'  olov  ixsTvoi  rsr^aat  S^äuaaiv  ^ycoviXoyjo 
Jiovxaiois,  Ar,vaiois,  nava&r/vaioie,  Xvxqois  xrtX.  Dies  ist  ein  unverständiger 
Zusatz  des  Diogenes  zu  den  Worten  des  Thrasyllus;  denn  die  tetralogische 
Form  hat  mit  der  Zahl  der  Feste  nichts  zu  schaffen,  gesetzt  auch  die  That- 
sache,  dafs  an  vier  Festen  Tragödien  gespielt  wurden,  sei  richtig.  Dafs  in  der 
Blüthezeit  der  damaligen  Poesie  an  den  Panathenäen  keine  scenischen  Spiele 
gegeben  wurden,  ist  gewifs;  wenn  in  einer  Inschrift  (Ephem.  Archaeol.  ISdS, 
3453)  ein  navad'rjvaixov  d'e'aroov  erwähnt  wird,  so  ist  darunter  das  von  Lykurg 
erbaute  Odeum  zu  verstehen  [s.  Köhler  zu  CIA.  II  176,  17].  Nach  Lykurgs 
Zeit  könnten  immerhin  auch  die  Panathenäen  das  Drama  gekannt  haben,  so 
gut  wie  die  Eleusinien  (ßhangabis  S13  axrjvixoi  ayeöves  der  Tcxvixai  TteQi  tov 
Jtövxaov,  aber  gewifs  nur  in  beschränktem  iMafse;  denn  in  Eleusis  war  der 
yvfxvixbs  aycöv  alle  Zeit  die  Hauptsache).  Schwieriger  ist  die  Entscheidung 
hinsichtlich  des  Chytrenfestes.  Plutarch  im  Leben  des  Redners  Lykurg  §  10 
sagt,  er  habe  den  Agon  der  xco/icoSoi  an  den  Chytren,  der  in  Vergessenheit 
gerathen  war,  wiederhergestellt,  allein  die  Deutung  der  Worte  ist  nichts  we- 
niger als  klar;  die  meisten  beziehen  dieselbe  auf  eine  Probe  der  komischen 
Schauspieler  für  die  städtischen  Dionysien,  allein  auch  diese  Erklärung  ist 
bedenklich.  Xir^ivot  ayaivee  erwähnt  Philochorus  Schol.  Aristoph.  Ran.  218, 
aber  welcher  Art  sie  waren ,  ist  nicht  gesagt  (an  dem  vorhergehenden  Tage, 
den  Xöes,  fand  ein  Wettkampf  im  Trinken  statt).    Die  Worte  des  Aristophanes 


22  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300   V.  CHR.  G. 

stens  die  volkreicheren,  an  den  ländlichen  Dionysien  dramatische 
Aufführungen  zu  veranstalten.  Diese  Sitte  mufs  früh  aufgekommen 
sein").  Später,  wo  das  Interesse  daran  sich  steigerte,  durchzogen 
wandernde  Schauspieler  die  ganze  Landschaft.  Zuschauer  fanden 
sich  gewifs  stets  zahlreich  ein;  die  Schauspiele  der  nahe  liegenden 
Ortschaften  wurden  selbst  von  Athen  aus  besucht.  Daher  begann  man 
frühzeitig,  steinerne  Theater  zu  errichten,  wie  im  Piräeus®''),  welches 
wohl  zu  den  Anlagen  gehörte,  welche  Perikles  um  Ol.  83  durch 
den  Architekten  Hippodamus  aufführen  liefs.  Auch  in  Salamis  und 
Aexone  werden  Theater  erwähnt,  in  Thorikus  und  Eleusis  sind  noch 
jetzt  Ueberreste  solcher  Anlagen  erhalten.  Das  bedeutendste  war  das 
Theater  im  Piräeus.  Die  Dionysien  der  Hafenstadt  reihten  sich  den 
beiden  Hauptfesten  Athens  würdig  an ,  daher  auch  der  Staat  einen 
Theil  der  Kosten  der  Festfeier  trug.  Es  fand  wie  in  Athen  ein  Agon 
sowohl  für  komische  als  tragische  Chöre  statt"),  und  in  der  guten 
Zeit  begnügte  man  sich  hier  wohl  nicht  mit  Wiederholungen  älterer 
Stücke,  sondern  suchte  auch   neue   Dramen   vorzuführen."^)     Sonst 

gehen  nur  auf  die  nofinr}  und  den  xä/uos  an  den  Ghytren,  die  ebenfalls  im 
ylrjvaiov  gefeiert  wurden  (in  römischer  Zeil  hatten  die  ayoqavöfiot  wohl  nach 
Analogie  der  römischen  Aedilen  die  Leitung  dieser  Festfeier,  s.  Ephem.  199  Ar- 
chaeol.  Nova  1862, 1  199,  65).  Wenn  es  in  dem  Briefe  des  Hippolochus  bei  Athen. 
IV  130  D  heifst:  Ar^vaia  xai  Xvtqovs  d'stoQÖn',  so  kann  man  dies  auf  die  nouTir] 
beziehen;  aber  wenn  wir  vorher,  wo  die  Hochzeit  des  Karanus  geschildert  wird, 
lesen  (IV  129  ü):  iTiei?ßnXXovai,v  T]fäv  oi  xav  rote  Xvtqoh  xoiie  'A&rjvTjatv  kei- 
xovQyrjaavxes ,  so  geht  dies  wohl  auf  die  xexvlTat  ne^l  Jiöwaov;  denn  an  llhy- 
phallen  ist  nicht  zu  denken,  da  diese  gleich  nachher  auftreten.  Vielleicht  führ- 
ten in  der  Diadochenzeit  diese  Künstler  an  den  Ghytren  mimische  Darstellungen 
auf,  wie  wir  sie  später  in  Athen  antreffen  (Philostr.  Apollon.  IV  21).  Alkiphron 
II  3  kennt  Spiele  an  deu  Lenäen,  aber  nicht  an  den  Xöes  und  Xvr^oi.  Aelian 
H.  An.  IV,  43  kommt  gar  nicht  in  Betracht.  Aus  der  Anekdote  vom  Tode  des 
Sophokles  hat  man  geschlossen,  dafs  an  den  Choen  tragische  Dichter  ihre  Stücke 
vorgelesen  hätten;  diese  Erzählung,  die  unreife  Trauben  im  Beginn  des  Früh- 
jahres kennt,  ist  völlig  werthlos. 

61)  Komödien  mögen  früher  auf  dem  Lande  gegeben  worden  sein,  noch 
bevor  in  der  Stadt  ein  regelmäfsiger  Agon  bestand. 

62)  Thukyd.  VIH  93:  to  nQoe  t^  Movwxiq  Jiovvaiaxov  d'eaT^v. 

63)  Inschrift  im  GIG.  101,  29  und  das  Gesetz  des  Euegorus  bei  Demosthenes 
Mid.  10.  Die  Form  des  Agon  mufs  auch  in  anderen  Gemeinden  nicht  unbe- 
kannt gewesen  sein,  wie  Menander  (Schol.  Arisloph.  Ach.  202):  xar'  ay^iie 
tfay(^8oie  rjv  aymv  Jiovvaia  beweist;  deim  so  mufs  man  den  Vers  ergänzen. 

64)  Was  Aelian  V.  H.  11  13  von  der  Aufführung  Euripideischer  Stücke  im 
Piräeus  berichtet,  ist  nach  keiner  Seite  hin  entscheidend. 


DIE    DRAMATISCHE   POESIE.      EINLEITUNG.  23 

ist  jedoch  für  die  ländlichen  Dionysien  die  Wiederholung  älterer 
Stücke  als  Regel  zu  betrachten ;  namentlich  die  klassischen  Arbeiten 
der  anerkannten  Meister  behaupteten  sich  fortwährend  auf  diesen 
Bühnen.  Aeschines  trat,  als  er  Schauspieler  war,  wie  es  scheint, 
nur  in  Tragödien  des  Sophokles  und  Euripides  auf.®*)  Die  Tragö- 
dien erfreuten  sich  überhaupt  vorzugsweise  der  Gunst  des  Publi- 
kums^); aber  auch  Lustspiele  wurden  gegeben.")  Bemerkenswerth 
ist,  dafs  in  A^xone  das  Theater  nur  für  Komödien  bestimmt  war."*) 
Die  Mitgheder  dieser  Ortschaft  waren  wegen  ihrer  schhmmen  Läster- 
zunge berufen®®),  und  so  erscheint  die  Vorhebe  für  das  Lustspiel 
begreiflich.  Dafs  bei  diesen  theatralischen  Vorstellungen  der  Land- 
schaft ein  ziemlich  ungezwungener  Ton  herrschte  und  der  Schau- 
spieler den  Zuschauern  gegenüber  oft  keinen  leichten  Stand  halte, 
geht  aus  den  Schilderungen  der  Redner  hervor.™) 

Ueber  die  Zahl  der  Festtage  an  den  Lenäen  und  erofsen  Dio-  ^*'''  '**'' 

...  111  -1  r>-   ,         •  in      Spieltage. 

uysien  sind  wir  nur  unvollkommen  unterrichtet.  Sicher  ist,  dafs, 
als  die  dramatischen  Aufführungen  eine  gröfsere  Ausdehnung  ge- 
wannen, auch  die  Festfeier  in  entsprechender  Weise  erweitert  wurde. 


65)  Daher  sagt  auch  Plutarch  im  Leben  des  Redners  §  2:  ava'/.außävtov 
ini  o^oXr^s  ras  nakatas  XQayc^Sias. 

66)  Im  Theater  zu  Salamis  (CIG.  108,31)  werden  xQaycoSoi  erwähnt;  dies 
schliefst  jedoch  Komödien  nicht  aus;  nur  gebührt  den  Tragödien  die  bevorzugte 
Stelle. 

67)  In  KoUytus  wurden  Tragödien  und  Komödien  aufgeführt,  Demosth. 
de  cor.  ISO,  Aeschin.  Timarch.  157.  Bemerkenswerth  ist,  dafs  diese  Gemeinde, 
obwohl  zur  Stadt  gehörend,  doch  fortwährend  das  Recht  behauptet,  ihre  eige- 
nen Dionysien  zu  feiern. 

68)  Inschrift  aus  Ol.  116, 1  oder  116,  4  (Philol.  22,  568,  Uff.)  [CIA.  H  1,  585]: 
aveinelv  8e  ycai  Jiowaicov  roii  xcofKoSoTi  rdls  Al^oavriaiv  iv  rcä  O'edroep. 

69)  Stephanus  von  Byzanz  unter  Ai^a>%eta,  daher  Menander  (xrevijjoo^os 
fr.  5,  com.  IV  144  M.):  y^avs  ns  yay.o?.6yos  ex  Svoiv  Ai^coveoiv. 

70)  Die  Dionysien  wurden  wohl  in  den  meisten  Gemeinden  Attikas  ge- 
feiert, auch  wo  der  Weinbau  unbedeutend  war  oder  gar  nicht  existirte.  Sce- 
nische  Spiele  dürfen  wir  aber  doch  nur  in  den  bedeutenderen  Ortschaften  vor- 
aussetzen. In  Brauron  lassen  sie  sich  nicht  nachweisen;  an  dem  vielbesuchten 
Dionysusfeste  dieser  Gemeinde,  welches  alle  vier  Jahre  begangen  wurde,  fand  seit 
alter  Zeit  ein  Rhapsoden wettkampf  statt;  daher  war  für  das  Drama  kein  Raum. 
Später  übten  die  herumziehenden  Schauspieler  diese  Kunst  wohl  auch,  ohne 
dafs  ein  solches  Fest  die  Gelegenheit  darbot,  wie  Demosthenes  (de  cor.  262) 
andeutet :  denn  Aeschines  zieht  offenbar  zur  Zeit  der  Weinlese  als  Tritagonist 
im  Lande  herum,  stiehlt  übst  aus  den  Gärten  und  wird  dafür  durchgeprügelt. 


24  DRITTE    PERIODE   VON    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

Für  die  sUidlisclien  Dionysien  mflssen  wir  von  Anfang  an  zwei  Tage 
ansetzen.  Der  erste  Tag  war  für  den  Festzug ,  die  kyklischen  Chüre 
und  den  Schmaus  bestimmt,  der  folgende  für  den  Wettkampf  der 
Tragiker.  Sowie  sich  das  Satyrdrama  von  der  Tragödie  bestimmt 
absondert  und  man  auf  das  ernste  Drama  regehuäfsig  ein  heiteres 
Nachspiel  folgen  liefs,  reichte  ein  Tag  für  die  scenischen  Auffüh- 
rungen nicht  mehr  aus.  Wahrscheinlich  ward  schon  jetzt  die  Zahl 
der  Spieltage  auf  drei  erhöht,  sodafs  an  jedem  Tage  ein  Dichter 
mit  zwei  Stücken  auftrat.")  Um  so  leichter  war  später  der  Ueber- 
gang  zur  tetralogischen  Form.  Als  Aeschylus  diese  Compositionsweise 
einführte,  erlitt  der  Organismus  der  Festfeier  gar  keine  Aenderung. 
Jedem  Dichter  war  ein  voller  Tag  vergönnt,  und  damit  war  ganz 
von  selbst  ein  bestimmtes  Mafs  für  den  Umfang  der  Tetralogie  wie 
der  einzelnen  Dramen  gegeben.  Eine  Beschränkung  mufste  eintreten, 
als  in  der  Perikleischen  Zeit  an  beiden  Ilauptfesten  sowohl  tragische 
als  komische  Chöre  um  den  Preis  kämpften;  denn  die  Thatsache, 
dafs  an  demselben  Tage  Trauer-  und  Lustspiele  gegeben  wurden 
und  dafs  man  mit  drei  Spieltagen  auskam,  ist  sicher.")  Um  Raum 
für  die  Komödie  zu  gewinnen ,  niufsle  die  tragische  Tetralogie  sich 
mit  einem  kürzeren  Zeitraum  begnügen.")  Wenn  äufserlich  der 
Unterschied  zwischen  den  Dramen  des  Aeschylus,  welche  von 
dieser  Neuerung  noch  nicht  berührt  werden,  und  den  Stücken 
seiner  Nachfolger  nicht  sehr  merklich  hervortritt,  wenn  sogar  die 
Tragödien  des  Aeschylus  durchschnittlich  kürzer  sind  als  die  des 
Sophokles  und  Euripides^''),  so  darf  man  nicht  vergessen,  dafs  der 

71)  Denn  es  hat  wenig  Wahrscheinlichkeit,  dafs  man  sich  mit  zwei  Tagen 
begnügte;  dann  hätte  man  am  ersten  Tage  die  drei  Tragödien,  am  anderen  die 
dazu  gehörigen  Salyrspiele  aufführen  müssen. 

72)  Dafür  spricht  besonders  der  ursprüngliche  Betrag  des  sog.  &ataQtx6v; 
eine  Drachme  reicht  eben  für  drei  Tage  hin. 

73)  Darauf  geht  wahrscheinlich  die  Notiz  bei  SuidasI  1,  718  über  den  Tra- 
giker Aristarcli :  os  Tt^cüjoe  eis  ro  vvv  avxcJv  (ifjxos  ra  Sqäfnara  xaxearrjaev. 
Arislarchs  Wirksamkeit  gehört  eben  dei  Zeit  an,  wo  diese  Neuerung  eingeführt 
ward. 

74)  Eine  Tragödie  des  Aeschylus  zählt  durchschnittlich  1100  Verse;  nur 
der  Agamemnon  überschreitet  dieses  Mafs  erheblich.  Bei  Sophokles  schwankt 
die  Verszahl  der  einzelnen  Stücke  zwischen  1300  bis  15Ü0  Versen;  der  Oedipus 
auf  Kolonus  übertrifft  an  Umfang  alle  erhaltenen  Stücke  dieses  Tragikers.  Bei 
Euripides  zeigt  sich  ein  gröfseres  Schwanken:  die  kürzeste  Tragödie  sind  die 
Herakliden  (1050  Verse),  dann  die  Alkestis  (1163),  Hiketiden  (1250),  Andre- 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.     EI>LEITU>G.  25 

Vortrag  der  ausgedehnten  Chorgesänge  in  der  älteren  Tragödie  ver- 
hältnifsmäfsig  viel  Zeit  in  Anspruch  nahm.  Indem  nun  aber  durch 
die  selbständige  Entwicklung  des  dramatischen  Elementes  der  Um- 
fang der  lyrischen  Partien  bereits  sehr  ermäfsigt  war,  war  es  nicht 
so  schwierig ,  für  komische  Chöre  den  nüthigen  Raum  zu  gewinnen. 
Gleich  mit  frühem  Morgen  begann  die  Vorstellung  "),  und  man  stellte 
sich  rechtzeitig  im  Theater  ein.  An  den  Lenäen,  wo  die  Tage  be- 
deutend kürzer  waren,  mufste  man  noch  sorgföltiger  die  Zeit  aus- 
nutzen. 

Am  achten  Elaphebolion  ward  dem  Asklepius  ein  Opfer  dar-^'®  ^^j'  ^^^ 
gebracht,  und  der  sogenannte  Proagon  als  Einleitung  der  Festfeier  Dionysien. 
abgehalten.  Da  nun  Ol.  S9, 1  die  Athener  in  einer  Volksversamm- 
lung am  vierzehnten  Elaphebolion  den  Waffenstillstand  mit  Sparta 
genehmigen"^),  mufs  damals  die  Festfeier  schon  beendet  gewesen 
sein ,  und  da ,  wie  es  scheint ,  zwischen  dem  Proagon  und  dem  Feste 
selbst  stets  ein  freier  Zwischenraum  war,  so  müssen  die  vier  Tage 
der  grofsen  Dionysien  auf  den  zehnten  bis  dreizehnten  Elaphebohon 
fallen. 

Wir  wissen,  dafs  die  Lenäen  im  Monat  Gameliou  gefeiert  wur- 
den. Allein  auf  welchen  Tag  dieselben  fielen,  ist  nicht  überhefert, 
wie  wir  überhaupt  über  dieses  alte  Fest,  welches  gewifs  ursprünglich 
einen  sehr  ausgeprägten  religiösen  Charakter  hatte,  nichts  Näheres 
wissen.  Nur  so  viel  läfst  sich  erkennen,  dafs  mit  den  Lenäen  eine 
nächthche  Feier  verbunden  war,   die  dem   Dionysus   und  zugleich 


mache  (1260);  die  höchsten  Zahlen  zeigen  Ion  und  Iphigeneia  in  Aulis  (1630), 
Helena  und  Orestes  (1700),  die  Phönissen  (1765  Verse).  Der  Kyklops  zählt  nur 
700  Verse,  wie  wohl  der  Umfang  der  Satyrdramen  stets  beschränkt  war.  Der 
Rhesus  sondert  sich  auch  durch  seine  Kürze  (990  Verse)  von  der  Weise  des 
Euripides  ab  und  erinnert  an  die  Schule  des  Aeschylus.  Wir  können  übrigens 
nur  den  Umfang  des  einzelnen  Dramas  feststellen,  nicht  der  Tetralogie;  denn 
uns  ist  ja  nur  die  Aeschyleische  Orestie  (drei  Tragödien  ohne  das  Satyrstück) 
erhalten.  Wenn  übrigens  ein  Drama,  wie  der  Agamemnon  oder  Oedipus  auf 
Kolonus  oder  die  Phönissen,  das  normale  Mafs  überschritt,  wird  der  Dichter 
sich  eben  in  den  dazu  gehörigen  Dramen  kürzer  gefafst  haben,  so  dafs  keine 
Störung  entstand. 

75)  Aeschines  adv.  Ctesiph.  76:  xai  a/na  r^  ^/*t'Q<i  fiysiio  loie  nqeaßsaiv 
eis  xo  d'iaxQov  (an  den  grofsen  Dionysien). 

76)  Thukyd.  IV  118.   Der  Proagon  hat  wohl  stets  dieselbe  Stelle  im  Fest- 
kalender behauptet. 


k 


26  DRITTE   PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

(1er  Demeter  galt.^')  Für  solchen  geheimen  Gottesdienst  ist  der  zwan- 
zigste Monatstag  die  geeignetste  Zeit;  wir  dürfen  also  wohl  den 
zwanzigsten  Gamehon  für  die  Lenäen  ansetzen.'*)  Eben  an  diesem 
Tage  wird  auch  der  Agon  der  komischen  Chöre  stattgefunden  haben, 
steht  doch  die  Ausgelassenheit  des  Maskenspielcs  mit  der  Pannychis 
in  enger  Verbindung  und  geniefst  den  besonderen  Schutz  des  Dio- 

77)  Arislophanes  hat  in  den  Fröschen,  die  an  den  Lenäen  aufgeführt  sind, 
dieses  Motiv  sehr  glücklich  benutzt.  Daher  sagt  der  Koryphäus  des  Chores  der 
Mysten  V.  370:  ifieis  S^  avEyeiqexB  fioXnr^v  nal  navwxiSae  ras  ruistiQae, 
at  rfße  TtQtnovaiv  eoqxtj.  Dafs  diese  Pannychis  zu  der  Festfeier  der  Lenäen 
selbst  gehört,  dafs  sie  insliesondere  auch  der  Demeter  gilt,  zeigt  V,  390:  nai 
T^s  ff^s  ioQxr]e  a^icos  Tiaiaavxa  xai  axwxpavxa,  wo  der  Chor  die  Demeter, 
die  Herrin  der  heiligen  Orgien,  anruft.  Dafs  der  Fackelträger  der  eleusinischen 
Göttinnen  mitwirkte,  bezeugt  der  Schol.  Aristoph.  Frösche  479:  iv  xols  yirj- 
va'Cxois  dycöffi  xov  Jioviaov  6  SqSotxos  xaxextov  Xa/indSa  Xeyei '  xaXeTxB 
&eöv'  xai  oi  imaxoiovxes  ßocjai'  ^IsfieXT^'i'  "lax^e  nkovxoSöxa.  Auf  diese  Pan- 
nychis zielt  vielleicht  auch  der  Vers  des  Kallimachus  (Schol.  Aristoph.  Frösche 
216).  Es  gab  zwei  Heiligthümer  des  Dionysus.  Das  älteste  ward  nur  einmal 
im  Jahre,  am  zwölften  Anthesterion  (den  Xöse),  geöffnet,  Demosth.  Neaer.  76, 
wobei  die  sogenannten  yiqaiQai  fungirten.  Wenn  es  nun  in  der  Eidesformel 
(ebendas.  78)  heifst:  xai  xa  Oeöyvia  xai  xa  ^loßäu^Eia  ye^aiQO}  xtö  Jioviaco 
xaxa  xa  nctxqia  xai  iv  xols  xa&rjxovat  x^ovoie,  so  wird  deutlich  auf  zwei 
verschiedene  Feste  hingewiesen,  die  zu  verschiedener  Zeit  gefeiert  wurden.  Die 
Osöyvia  sind  wohl  eben  das  Frühlingsfest,  die  Anthesterien,  die  ^loßdxxsia  die 
Lenäen.  Die  Gerären  wurden  jedes  Jahr  gewählt,  fungirten  zunächst  im  Früh- 
jahr an  den  Anthesterien,  dann  gegen  Ende  des  Winters  an  den  Lenäen;  hier 
wurde  wohl  das  andere  Heiligthum  des  Gottes  benutzt. 

7S)  Eine  attische  Inschrift  (CIG.  523,  21),  die  offenbar  Vorschriften  über  ört- 
liche Opfer  enthält,  erwähnt  am  neunzehnten  Gamelion  xixxcoaeis  Jwin'oov, 
eine  ähnliche  Urkunde  bei  Rhangabis  II  2252  gegen  Ende  des  Gamelion  Opfer 
für  Dionysus;  dagegen  in  der  Inschrift  der  Ephemeris  Archaeol.  1S60,  4097,  65 
(Ürlichs  Verb,  der  Würzb.  Phil.  S.  7)  wird  in  einem  Psephisma  vom  elften  Gamelion 
ein  Opfer  derEpheben  t^  Jiovvaio  T<j5  ^Ekev&eQi]co,  denn  so  ist  wohl  zu  schrei- 
ben, erwähnt,  welches  iv  xfj  nofinfj  xov  Jioviaov  dargebracht  wurde.  Demnach 
muCs  in  späterer  Zeit  das  Lenäenfest  auf  den  Anfang  des  Monats  verlegt  worden 
sein.  Die  ixxXrjaia  xvQia  iv  T<j5  d'eaxQc^  ist  wohl  die  Versammlung,  welche 
ordnungsmäfsig  unmittelbar  nach  der  Festfeier  abgehalten  werden  mufste.  Diese 
Verlegung  der  Lenäen  kann  erst  nach  Ol.  116,3  (s.  die  Inschrift  CIG,  105)  er- 
folgt sein.  Auch  die  Dionysusfeste  anderer  Orte  geben  über  die  attische  Feier 
keinen  Aufschlufs.  In  einer  Inschrift  von  Mykonus  bei  Le  Bas  Partie  IV  2058 
•wird  für  Poseidon  am  zwölftcnPoseideon  ein  Opfer  erwähnt,  dann  offenbar  in 
einem  folgenden  Monate  (wohl  dem  Lcnäon):  SvoSsxäxst  Jioviaoi  Jfjvsi  (sehr. 
yirjveX)^  dann  Baxxtwros  Si  ivSsxäxBi  JiovvC^  Baxxei  x^f*f^oi  xaXhffxeicJv, 
darauf  folgen  Opfer  im  Hekatombäon. 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.     ELVLEITUÄG.  27 

nysus  und  der  Demeter.  Da  von  kyklischen  Chören  an  den  Lenäen 
in  der  klassischen  Periode  keine  Spur  wahrnehmbar  ist*'),  reichte 
die  Zeit  für  drei  Lustspiele  vollkommen  aus;  später,  als  der  Agon 
der  Tragiker  hinzukam,  waren  drei  Spieltage  erforderlich.*^) 

Nach  dem  peloponnesischen  Kriege  müssen  erhebliche  Aende- 
rungen  eingetreten  sein.  Die  Zahl  der  Lustspiele  wird  von  drei  auf 
fünf  erhöht*'),  sicherHch  an  beiden  Festen,  wie  die  schon  grofse 
Zahl  der  Dramen  aus  dieser  Periode  wahrscheinlich  macht.  Denn 
die  achthundert  Stücke  der  mittleren  Komödie,  die  sich  auf  einen 
Zeitraum  von  ungefähr  achtzig  Jahren  vertheilen,  ergaben  für  jedes 
Jahr  gerade  zehn  Komödien.  Die  Production  auf  diesem  Gebiete 
war  damals  sehr  bedeutend  und  wurde  natüdich  durch  diese  neue 
Einrichtung  entschieden  gesteigert.  Die  Sache  war  um  so  leichter 
ausführbar,  da  mit  dem  Wegfallen  des  Chores  die  Kosten  erheblich 
verringert  wurden,  und  auch  bei  den  Preisen  der  Dichter  wird 
man  mit  Rücksicht  auf  die  Finanzlage  möglichste  Sparsamkeit  be- 
obachtet haben  .*^) 


79)  Der  Dithyrambus,  der  dem  Frähjahrsfeste  zukommt,  war  dem  Lenäon 
fremd.  Die  Inschrift  (CIG.  213)  aus  der  Zeit  unmittelbar  nach  Eukleides  kennt 
Knaben-  und  Männerchöre  nur  an  den  Dionysien  (d.  h.  den  Jtovvaia  kv  äarsi), 
Thargelien,  Promethien  und  Hephästien.  Den  Agon  für  kyklische  Chöre  am 
Poseidonsfeste  im  Pirleus  hat  erst  Lykurg  eingeführt.  Erst  in  späterer  Zeit  mufs 
auch  an  den  Lenäen  der  Dithyrambus  Eingang  gefunden  haben,  wie  die  In- 
schrift Ephem.  Ärchaeol.  Nova  1S62,  I  219  beweist,  die  einen  Sieger  Ar^vata  8i- 
d'vQufißo)  nennt  (vgl.  Bd.  II  S.  511,  A.  11). 

80)  Das  Fest  wird  jetzt  vom  20.  bis  22.  Gamelion  gefeiert  worden  sein. 

81)  Die Didaskalie  IV  vom  Plutus  des  Aristophanos  bezeugt  dies  klar:  k8i~ 
Saxd^i  iTti  uQyovxos  AvxiTtÖLTQOv  (Ol.  9S,  1),  avraycovitofievov  avicö  Nixo^äoavS 
fiev  Aäxcoaiv,  Agiaro/isvovs  Sa  ASfir^rco,  Ntxofwvzos  Si  AScoviSi,  AXy.aiov 
8s  naatfäTj.  Ebenso  werden  in  dem  Bruchstück  der  Didaskalie  (CIG.  231)  aus 
OL  106,  2  und  3  jedes  Mal  fünf  komische  Dichter  mit  einem  Stück  aufgeführt; 
dieses  Verzeichnifs  geht  auf  die  grofsen  Dionysien.  An  welchem  Feste  Aristo- 
phanes  den  Plutus  aufführte,  ist  unbekannt. 

82)  Vielleicht  erhielt  nur  der  Sieger  einen  Preis,  wenigstens  werden  in 
jener  Urkunde  die  Dichter  nach  der  Reihenfolge,  in  der  sie  auftraten,  genannt, 
zuletzt  aber  der  Sieger  {ivixa)  namhaft  gemacht.  Doch  müssen  die  Preisrichter 
noch  immer  in  hergebrachter  Weise  durch  Zahlen  den  Werth  sämmtlicher  Stücke, 
die  concurrirten,  bezeichnet  haben,  da  Isaeus  de  Dicaeog.  der.  36,  um  den  ge- 
ringen Erfolg  eines  Choregen  zu  schildern,  sagt,  er  sei  mit  einem  kyklischen 
Chore  an  den  Dionysien  der  vierte,  mit  einem  tragischen  Chore  und  mit  Pyrrhy- 
chisten  der  letzte  gewesen. 


28  DRITTE   PERIODE   VON   500    BIS   300  V.  CHR.  G. 

Es  ist  nicht  wahrscheinlich,  dafs  diese  Neuerung  sich  auf  das 
Lustspiel  beschränkte;  denn  die  Tragödie  gilt  fortwährend,  nament- 
lich an  den  städtischen  Dionysien,  als  der  eigentliche  Glanzpunkt 
der  Festfeier.  Um  so  weniger  wird  man  sie  dem  Lustspiel  gegen- 
über zurückgesetzt  haben.  Liegt  auch  kein  ausdrückliches  Zeugnifs 
vor,  so  spricht  doch  die  Nachricht,  dafs  der  Schauspieler  Polus  in 
vier  Tagen  in  acht  Tragödien  auftrat,  für  die  Gleichstellung  beider 
Gattungen.")  So  ward  denn  auch  die  Festfeier  der  grofsen  Dio- 
nysien auf  sechs  Tage  ausgedehnt*^),  vom  elften  bis  sechszehnten 
Elaphebohon ") ;  und  in  gleicher  Weise  wird  man  zu  den  drei  Spiel- 
tagen der  Lenäen  zwei  neue  hinzugefügt  haben.  In  der  Diadochen- 
zeit  müssen  weitere  Reformen  stattgefunden  haben;  doch  ist  dies 
für  die  Geschichte  der  hterarischen  Entwicklung  ohne  jedes  Interesse. 

Dafs  man  gerade  jetzt  die  Zahl  der  concurrirenden  Tragiker 
erhöhte,  kann  befremdlich  erscheinen,  da  man  weder  die  Leistungen 
der  Bürger  für  öffentliche  Festhchkeiten  albu  sehr  in  Anspruch  neh- 
men durfte  und  nach  dem  Tode  der  grofsen  Meister  der  tragischen 

83)  Plutarch  an  seni  s.  resp.  ger.  c.  3 :  IlaiXov  tov  TQaycoSov  ^E^aroa&e- 
»'Tjs  xai  fPtXoxoQOS  iaroQOvaiv  eßSofirjxovra  ^xrj  ysyBvrifiivov,  oyrto)  tqaymdiai 
iv  TtTraoaiv  ^fttortts  Siaycoviaaa&ai  fttxQov  S'fiTtgoad'ev  r^e  reXsvTTJe,  was 
doch  nur  auf  Athen  gehen  kann.  Dagegen  der  Ausdruck,  den  Isaeus  gebraucht 
(s.  A.  S2),  TQaytoSole  vararos  gewährt  keinen  Aufschlufs.  Dafs  je  fünf  Komö- 
dien und  ebensoviel  tragische  Tetralogien  gegeben  wurden,  hat  seinen  Grund; 
so  wirkte  jede  der  zehn  Phylen  an  jedem  Feste  mit. 

84)  Plautus  Pseud.  59  ist  als  Zahlungstermin  festgesetzt:  et  rei  dies  haec 
praestitutasl  proxuma  Dionysia,  aber  321  wird  Aufschub  verlangt:  ut  oppe- 
riare  hos  sex  dies  saltern  modo  (denn  hos  sex  dies  festos  hat  keine  Gewähr). 

85)  Dies  ergiebt  sich  aus  den  Reden  des  Demosthenes  und  Aeschines  über 
den  Rechtshandel  des  Ktesiphon.  Am  achten  Elaphebolion,  wo  das  Opfer  für 
Askiepios  und  der  Proagon  stattfand,  wird  eine  Volksversammlung  gehalten, 
die  man  offenbar  der  Dringlichkeit  der  Sache  wegen  auf  diesen  Festtag  ver- 
legt hatte.  Man  könnte  glauben,  es  sei  dies  deshalb  geschehen,  weil  gleich 
am  nächsten  Tage  das  Fest  selbst  begann;  allein  es  müssen  erst  ein  Paar  freie 
Tage  gefolgt  sein,  da  inzwischen  die  makedonischen  Gesandten  eintreffen  und 
noch  eine  Volksversammlung  berufen  wird  (Aeschines  adv.  Cles.  68;  auch  bemerkt 
der  Scholiast  richtig,  der  Proagon  sei  oXiynn  i^/ue'^ate  fynqoad'Bv  ttqo  röjv 
(isyäXfov  Jtorvaieov  gefeiert  worden).  In  dieser  Versammlung  ward  beschlossen, 
die  Friedensverhandlungen  gleich  nach  den  Dionysien  {ev&vs  ftera  rr  Jiovtata) 
am  achtzehnten  und  neunzehnten  zu  eröffnen;  also  werden  die  Gesandten  am 
neunten  erschienen  sein.  Am  zehnten  wird  das  Volk  berufen,  vom  elften  bis 
sechszehnten  sind  die  Dionysien,  am  siebzehnten  die  UavSia  nebst  der  Ver- 
sammlung wegen  der  Festfeier. 


DIE    DRAMATISCHE   POESIE.      EINLEITUNG.  29 

Kunst  die  literarische  Regsamkeit  auf  diesem  Gebiete  sichtlich  nach- 
läfst;  indes  war  docli  die  Einrichtung  durchführbar.  Auch  in  der 
Tragödie  wurden  offenbar  die  Chorgesänge  auf  ein  mögHchst  knappes 
Mafs  zurückgeführt.  So  verursachte  auch  die  Einübung  der  Chöre 
weit  geringere  Kosten.  Dann  aber  Hefs  man  von  der  Strenge  der 
früheren  Zeit  nach,  die  nur  neue  Tragödien  zugelassen  hatte.  Wäh- 
rend an  den  grofsen  Dionysien  auch  jetzt  das  alle  Herkommen  fest- 
gehalten wurde,  wiederholte  man  an  den  Lenäen  vorzugsweise 
ältere  Stücke,  obwohl  auch  hier  noch  öfter  neue  Dramen  gegeben 
wurden.*^)  Hiermit  steht  die  Einrichtung  des  Lykurg  in  Verbin- 
dung, der  zur  Controlle  der  Schauspieler  eine  officielle  Abschrift 
der  Dramen  der  drei  Tragiker  anfertigen  liefs;  denn  die  Aufsicht  des 
Staates  erstreckte  sich  in  dieser  Beziehung  nur  auf  die  Theaterauf- 
führungen in  der  Stadt  und  im  Piräeus,  nicht  auf  die  Bühnen  der 
Landschaft. 

Den  Festen,  mit  welchen   scenische   Spiele  verbunden  waren,  Der  Pro- 
ging ein  Proagon  voraus,  wozu  man  das  Odeum  benutzte.*')     Der 

S6)  Erst  in  der  Zeit  nach  dem  peloponnesischen  Kriege  kommt  die  Be- 
zeichnung xaipol  ToaycpSoi  auf  im  Gegensatz  zu  nai.aiov  S^äfia  (s.  Inschrift 
bei  Le  Bas  Partie  I  460,  wie  es  scheint,  aus  Ol.  98,  2),  ein  deutlicher  Beweis,  dafs 
man  früher  an  beiden  Hauptfeslen  nur  neue  Tragödien  kannte.  Die  grofsen 
Dionysien  sind  aber  das  bevorzugte  Fest ,  und  der  ^Vettkampf  der  Tragiker  ist 
wieder  der  Mächtigste  Theil  der  Feier,  daher  findet  die  Verkündigung  öffent- 
licher Auszeichnung  xaivols  r^aycoSoTs  {■xaivcHv  roaycoScöv  ayätvi ;  in  der  Ephe- 
beninschrift  Z.  25,  Verh.  der  Würzb.  Phil.  S.  7  (s.  A.  78).  Jiowaimv  räv  ev  aaret 
rgaycpSäiv  töJ  xaivä  aytövi  ist  nur  Lesefehler)  statt.  Indem  auch  anderwärts 
nach  dem  Vorgange  Athens  Tragödien  an  dem  Dionysusfeste  aufgeführt  wurden, 
wird  jene  Sitte  oder  Unsitte,  bei  diesem  Anlasse  Ehrenbezeugungen  zu  procla- 
miren  u.  dergl.,  ganz  allgemein ;  man  vgl.  die  Inschriften  von  Ephesus  (Le  Bas 
Partie  V 136  B)  und  Keos  (Ephem.  Archaeol.  1858,  3267).  Wie  lange  übrigens  an 
den  grofsen  Dionysien  ausschliefslich  neue  Dramen  gegeben  wurden,  ist  un- 
sicher. Später  mag  nur  ein  Tag  für  die  xaivoi  roaycoSoi  reservirt  worden  sein, 
Plut.de  exil.  c.  10,  doch  ist  daraus  keine  Zeitbestimmung  zu  entnehmen,  da 
Plutarch  (oder  seine  Quelle)  sich  einen  Anachronismus  erlaubt  haben  kann.  In 
der  Zeit  des  Lukian  (encom.  Dem.  27)  führte  man  nur  noch  ältere  Stücke  auf. 
—  Dafs  an  den  Lenäen  auch  noch  neue  Tragödien  gegeben  wurden ,  bezeugt 
Plutarch  vit.  Isoer.  §  47,  wenn  er  sagt,  Aphareus  habe  zweimal  an  den  grofsen 
Dionysien  und  ebenso  oft  an  den  Lenäen  mit  seinen  Dramen  gesiegt.  Die  Ko- 
mödien beider  Feste  sind  selbstverständlich  auch  jetzt  immer  als  erste  Auffüh- 
rungen zu  betrachten.  Der  Komiker  Eudoxus  (nach  ApoUodor  bei  Diog.  Laert. 
VIII  8,  90)  gewann  fünf  lenäische,  drei  städtische  Siege. 

87)  Schol.  Aesch.  Ctes.  67  :  iyiyvovio  tiqo  rmv  fisya).cov  diowaiav  r^fte- 


30  DRITTE    PERIODE    VO."S    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Dichter  im  Purpurgewande  fühijt  hier  seine  Schauspieler  und  Choreuten 
bekränzt,  aber  ohne  Masken  dem  Publikum  vor.  So  halte  man  Ge- 
legenheit, nicht  nur  das  auf  der  Bühne  und  Orchestra  thätige  Per- 
sonal, sondern  auch  den  Dichter,  falls  er  noch  unbekannt  war, 
kennen  zu  lernen.  Der  Archon  nannte  wohl  den  Namen  jedes  Dich- 
ters, dem  er  einen  Chor  gegeben,  sowie  der  Schauspieler,  die  jenem 
überwiesen  waren.  Ebenso  wird  das  Publikum  hier  die  Titel  und 
Reihenfolge  der  aufzuführenden  Stücke  erfahren  haben.  Dafs  dabei 
Schauspieler  und  Choreulen  eine  Probe  ihrer  Kunst  ablegten  und 
so  das  Publikum  Gelegenheit  halte,  auch  die  Leistungen  des  Dich- 
ters im  voraus  zu  beurtheilen,  geht  aus  den  Nachrichten  der  Alten 
hervor,  obwohl  schwer  zu  sagen  ist,  wie  sich  eine  solche  Probe 
einrichten  liefs.**)  Der  Proagon  der  grofsen  Dionysien  ,  der  auf  den 
achten  Elaphebolion  fiel,  ist  sicher  bezeugt,  aber  wir  dürfen  die 
gleiche  Einrichtung  auch  für  die  Lenäen  voraussetzen.*') 


^«ts  oXiyais  i'/inQoad'ev  iv  reo  ^iSeico  xaXovftdvco  rcöv  rQaycoSaiv  ayatv  xot 
iniSei^is  ibv  fie'XXovai  Sgafiärcov  ayoivi^ead'at  iv  rt^  d'eiiz^eo,  St^  o  eToifiote 
n^oaycov  xaXelrai.  •  eiiiaai  de  Sixa  nQ0i(O7i(öv  ol  vnoxoiTai  yvftvoi.  Das  Odeum 
bezeugt  auch  Schol.  Arist.  Vesp.  1109:  {cpSsTov)  iaxi  rönos  &£ax^oeiSr;e,  iv  q 
eüo&aai  ra  Ttotr^/xara  ccTiayyeXXeiv,  tiqiv  rrfi  eis  rb  d'daxQOv  anayyeXias.  Vita 
Eurip. :  Xeyovat  Si  xal  2!c(poxXia  axovaavra,  ort  ireXevrrjaev  {EvgtTtiSr;«),  at- 
rov  ftsv  Ifiariqj  tpaic^  avri  TtOQfVQOv  tiqobX&eXv,  rbv  Si  x^QOv  xal  rove  ino- 
xQiras  aar£(pavcorove  eisayayeXv  iv  reo  nqoaycövi  xai  SaxQvaai  rov  Sr,fiov. 
Auch  wenn  diese  Nachricht  problematisch  sein  sollte,  ist  doch  der  Vorgang 
der  Wirklichkeit  gemäfs  geschildert.  Auf  diesen  Akt  bezieht  sich  auch  Plato 
Symp.  194  A:  imXfiaficov  fidvr'  av  ei'rjv,  a  'Ayä&ojv,  einelv  rov  ^cax^rrj,  ei 
iScov  rT]v  arjv  avS^eiav  xal  fieyaXocpQoaivrjv  avaßaivovros  ini  rov  oxQißavra 
juera  rcäv  vnoxQiriöv  xal  ßXixfavroe  ivavria  roaovrc^  d'enrQco  xrX.,  eine  Stelle, 
die  man  nicht  verstanden  hat.  Ebendaher  entnahm  Aristophanes  das  Motiv  zu 
seinem  Proagon. 

88)  Auf  keinen  Fall  fand  ein  wirklicher  Agon  statt;  denn  dadurch  wäre 
ja  dem  Urtheile  über  die  gesammte  Leistung  vorgegriffen  worden.  Der  Ausdruck 
nQoayiöv  erheischt  diese  Deutung  keineswegs.  Auch  darf  man  diese  Schau- 
stellung nicht  verwechseln  mit  der  Prüfung  der  Schauspieler,  die,  soweit  sie 
überhaupt  stattfand,  mindestens  einen  Monat  voiher  vorgenommen  ward. 

89)  Dies  beweist  auch  die  Stelle  aus  Piatos  Symposion;  denn  Agathon 
hat  seine  erste  Tetralogie  eben  an  den  Lenäen  gegeben.  Alle  jene  Nachrichten 
beziehen  sich  auf  den  Proagon  der  tragischen  Chöre.  Wenn  dieselbe  Einrich- 
tung auch  für  die  Komiker  bestand,  so  war  der  Act  jedenfalls  ein  ganz  ge- 
sonderter. Auch  werden  in  einer  Inschrift  Ephem.  Archaeol.  Nova  1862,  I  2'iO 
mehrere  Proagone  unterschieden;  der  Agonothet  wird  belobt,  weil  tr  iniriXeat 
roie  7ifoayüüv{ae)  rote  iv  roTe  ie^Xe  xara  ru  närqia. 


DIE    DRAMATISCHE   POESIE.      EIXLEITLNG.  31 

Die  Zuschauer  konnten  unmöglich  den  ganzen  Tag  nüchtern 
im  Theater  ausharren.  Dafs  man  vorher  ein  Frühstück  zu  sich  nahm, 
ist  selbstverständlich;  allein  dies  reichte  nicht  aus.  Wenn  Philo- 
chorus  berichtet,  in  der  älteren  Zeit  habe  man  während  der  Spiele 
Wein  und  Naschwerk  herumgereicht,  so  erscheint  dies  sehr  befremd- 
hch.^)  Vielmehr  wird  man  immer  eine  Pause  gemacht  haben;  so 
konnte,  wer  wollte,  ein  zweites  Frühstück  einnehmen.  An  den 
grofsen  Dionysien ,  wo  man  mit  der  Komödie  begann ,  trat  die  Pause 
zeitig  ein;  an  den  Lenäen  folgt  das  Frühstück  erst  spät,  weil  hier 
die  Tetralogie  vorangeht.^')  Darauf  zielt  der  Scherz  in  den  Vögeln 
des  Aristophanes"):  wer  Flügel  hat,  braucht  nicht  zu  warten,  bis  die 
Pause  eintritt,  sondern  er  kann,  wenn  er  sich  an  dem  Spiel  der 
Tragöden  langweilt,  jeder  Zeit  davoneilen ^^,  so  lange  er  will,  früh- 
stücken und  dann  zurückkehren,  um  dem  komischen  Chore  zuzu- 
schauen. Aristophanes'  Vögel  sind  an  den  grofsen  Dionysien  gegeben, 
aber  der  vorausgesetzte  Fall  pafst  nur  auf  die  Lenäen,  wo  die  Ko- 
mödie den  Beschlufs  machte. 

Dafs  an  jedem  Spiehage  immer  nur  eine   Komödie  aufgeführt 


90)  Philochorus  bei  Athen.  XI  464  F:  ^Ad'r,valoi  rot»  Jiowaiaxola  ayäai 
TO  ft£v  nQcJxov  Toiairjxöres  xai  TcencoxcTSS  eßäSi^ov  erti  xr^v  &iav  xal  doTE- 
^avojfiivoi,  e&Ecöqovv  (dies  ist  richtig,  und  dafür  bedurfte  es  kaum  der  Be- 
rufung auf  Pherekrates),  naQo.  Se  rov  ayöjva  ciavxa  olros  airoTi  covoxoelro 
xai  TQayr^ftara  TcaQetpioETo  (dies  ist  offenbar  nur  eine  Sage),  xai  xols  x'^qoIs 
etsiovatv  ive'xEOP  txiveiv  xai  8ir/ycovifffttrots  ot'  e^etioqevovxo  ivixEov  Tid/.iv. 
Auch  dies  ist  begründet,  dafs  man  die  Choreuten  vor  ihrem  Auftreten  und 
nachher  mit  dem  Nöthigen  versorgte.  Wohl  aber  versahen  sich  die  Zuschauer 
mit  Naschwerk;  darauf  geht  die  treffende  Bemerkung  des  Aristot.  Eth.  Nik. 
X  5,  1175  B  12:  olov  xai  iv  xdis  d'sdxQOiS  oi  x^ayr^fiaxiZovxES ,  oxav  (palXot 
Ol.  aycovi^ofiEvoi  (bat,  xöxe  /uäkiax    avxo  Socöai. 

91)  Das  S^iaxov  ist  eben  hier  wie  bei  den  Soldaten  im  Felde  an  keine 
bestimmte  Zeit  gebunden,  sondern  richtet  sich  nach  den  Umständen. 

92)  Aristoph.  Vögel  7S6  ff. 

93)  Für  die  Aufrechterhaltung  der  Ordnung  im  Theater  sorgten  ^aßSoyo- 
$ot,  Schol.  Aristoph.  Pac.  733.  Sie  sind  in  dem  Bilde  (Wieseler  Theatergebäude 
IV  6)  auf  der  Thymele  neben  dem  Flötenspieler  postirt  (diese  Figuren  sind 
nicht  als  Kampfrichter  zu  betrachten).  Offenbar  durfte  man  nicht  nach  Be- 
lieben während  des  Schauspieles  das  Theater  verlassen;  auch  darüber  hatten 
wohl  die  Stabträger  zu  wachen.  In  der  Zeit  des  Demosthenes  führt  auch  der 
Rath  eine  gewisse  Aufsicht  über  die  Ordnung  im  Theater  (Evxoa/zia),  wie  die 
Inschrift  aus  Ol.  109,2  im  Philistor  I  190  [CIA.  II  1,  114]  beweist,  wozu  wohl 
die  Händel  des  Midias  den  Anlafs  gegeben  hatten. 


32  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

wurde,  bezeugt  Aristophanes.'*)  Es  wurden  eben  an  jedem  Tage 
sowohl  Tragödien  als  Komödien  gegeben;  der  Ernst  wechselte  mit 
dem  Scherze  ab.  Aber  die  Folge  war  an  den  Festen  verschieden. 
An  den  Lenäen  gingen,  wie  schon  erinnert  wurde,  die  Tragödien 
voraus,  dann  folgte  die  Komödie.  An  den  grofsen  Dionysien  eröffnete 
der  komische  Chor  das  Spiel,  nachher  trat  der  tragische  auf;  ebenso 
im  Theater  des  Piräeus.^^) 

Am  letzten  Tage  erfolgte  offenbar  noch  die  Verkündigung  der 
Preise ,  welche  den  Schlufs  der  Festfeier  bildete.^)  An  den  grofsen 
Dionysien  fand  unmittelbar  nachher  eine  Volksversammlung  im  Theater 
statt"'),  wo  jeder,  der  an  dem  Feste  mitgewirkt  und  zu  einer  ße- 

94)  Aristoph.  Ekkles.  1158.  Wenn  Aristophanes  Vögel  787  von  xoQoi  rga- 
ycpSöiv,  die  an  einem  Tage  auftreten,  redet,  so  ist  dies  ganz  zutreffend;  für 
eine  Tetralogie  waren  eben  vier  Cliöre  erforderlich. 

95)  Gesetz  des  Euegorus  bei  Demoslh.  Mid.  10.  Hier  werden  eben  die 
tragischen  und  komischen  Chöre  in  der  Folge  genannt,  wie  sie  an  den  einzel- 
nen Spieltagen  der  verschiedenen  Feste  auftraten.  Wenn  Xenophon  Oecon.  3,  7 
sagt:  vvv  S'  iycö  aot  avvotSa  im  fisv  xcofK^Säjv  d'iav  xal  näw  nqoH  dvi- 
arafiivco  xal  nävv  fiaxqav  oSov  ßaSi^ovri  xai  ifie  avanei&ovrt  TtQO&vficos 
avv&eaad-ai,  kann  man  dies  auf  die  grofsen  Dionysien,  oder  wenn  man  lieber 
will,  mit  Rücksicht  »ni  fiaxoav  oSüv  auf  eine  ländliche  Feier  beziehen;  ver- 
kehrt ist  es,  wenn  man  hier  neben  den  Komödien  auch  die  Erwähnung  der 
Tragödien  verlangt  hat.  Die  Ekklesiazusen  des  Aristophanes  sind  offenbar  an 
den  Lenäen  gegeben;  denn  es  wird  auf  die  unmittelbar  darauf  folgende  Abend- 
mahlzeit hingewiesen.  Da  die  Frösche  gleichfalls  an  den  Lenäen  aufgeführt 
wurden,  sind  die  Worte  des  Chores  377  TJQiarrjrat.  S^  k^nQxovvxms  (die  man 
mit  sehr  verfehlten  Aenderungen  bedacht  hal)  vollkommen  zutreffend.  Es  ist 
das  eigentliche  äoiarov  (das  zweite  Frühstück)  gemeint,  wofür  der  Choreg  zu 
sorgen  hatte,  obwohl  natürlich  auch  die  Schauspieler,  die  gleich  am  Morgen 
auftraten,  nicht  nüchtern  waren.  Darauf  geht  die  Anekdote  bei  Hierokles  Phi- 
logelos  226,  wo  ein  Schauspieler  von  den  Agonotheten  vor  dem  Auftreten  einen 
Imbifs  begehrt,  damit  er  nicht  eines  jMeineides  sich  schuldig  mache,  wenn  er 
nachher  auf  der  Bühne  die  Worte  sprechen  müsse:  TjQiazTjan  vi]  t^  'AQrsfiiv 
fiaX'  rßeois.  Völlig  verfehlt  ist  die  Ansicht  einiger  Neueren,  als  habe  man 
Komödien  und  Tragödien  neben  einander   in  verschiedenen  Theatern  gegeben. 

96)  So  schwierig  auch  bei  der  beschränkten  Zeit  dies  sein  mochte,  konnte 
man  doch  die  Abstimmung  der  Preisrichter  und  die  Verkündigung  des  Urtheils 
nicht  hinausschieben,  da  gleich  am  nächsten  Tage  die  gesetzlich  vorgeschrie- 
bene Volksversammlung  gehalten  werden  mufste. 

97)  Auf  diesen  Tag  fallen  die  77«»-^*«,  und  gleich  nachher  trat  man  zur 
Volksversammlung  zusammen;  in  dem  Gesetz  bei  Demosth.  Mid.  8  ist  rr,  vare- 
Qala  tvJv  UavSioJv  eine  unzulässige  Aenderung  statt  iv  UavSiovi;  es  mufs, 
wie  Demosthenes  selbst  bezeugt,  /tera  ra  IlavSta  heifsen. 


DIE    DRAMATISCHE   POESIE.      EINLEITUNG.  33 

schwerde  Anlafs  gegeben  hatte,  die  nicht  bereits  durch  eine  Geld- 
bufse  beseitigt  worden  war,  belangt  werden  konnte.^)  Auch  der 
Dichter,  der  zum  Volke  sprach,  war  nicht  nur  morahsch  für  das, 
was  er  sagte,  verantwortHch,  sondern  man  konnte  ihn  auch  wohl 
eben  in  dieser  Versammlung  zur  Rechenschaft  ziehen.^)  Eine  ähn- 
liche Einrichtung  dürfen  wir  auch  bei  den  Lenäen  voraussetzen."^) 

IV 

Als  Local  für  die  dramatischen  Vorstellungen  ward  in  der  älterenOas  Theater 
Zeit  an  den  Lenäen  der  dem  Dionysus  geweihte  Bezirk""),  an  den 
grofsen  Dionysien  der  Marktplatz  benutzt.'"-)     Die  höchst  einfachen 
Einrichtungen  wurden  jedes   Mal  für   die  Festfeier  getroffen.     Der 
Mittelpunkt  war  der  Altar  des  Gottes."")    Um  diesen  stellt  sich  der 


9S)  S.  Demosth.  Mid.  8  fl.  Der  Vers  des  Eupolis  fr.  30  Com.  II  1,  518: 
av8^ss  koyKTzai  xütv  v'jtsvd'vvtov  %oqcJv  geht  entweder  auf  die  Preisrichter 
oder  das  Publikuin. 

99)  Nach  Aristoteles  Rhet.  III  15  p.  1416, 31  flf.  warf  Euripides  dem  Hygiä- 
non,  der  dem  Eide  des  Dichters  den  Glauben  absprach,  weil  er  im  Hippolylus  den 
Meineid  vertheidigt  habe,  vor,  dafs  er  nicht  recht  Ihue ,  ras  iy.  tdv  Jiowaiaxov 
aytövos  yqiffeis  sii  ra  SucaaTTjoia  äyovra  ■  ixet  yao  avxöiv  SeScoxsvai  Xoyov  ^ 
Scöaeiv,  ei  ßoi/^rai  xair^yooelv.  Wenn  Kleon  gegen  Aristophanes  eine  Be- 
schwerde beimBathe  anbrachte,  so  war  dies  wohl  ein  ungewöhnliches  Verfahren. 

100)  Darauf  geht  wahrscheinlich  ein  Beschlufs  vom  elften  Gamelion  (ent- 
sprechend der  späteren  Verlegung  des  Festes),  in  der  Volksversammlung  iv 
&eäiq(o  gefafst,  in  einer  die  Feier  der  Dionysien  betreffenden  Angelegenheit 
(die  Ephebeninschrift  I,  65,  Verh.  der  Würzburger  Phil.). 

101)  Photius:  yiTjvaiov,  neoißoXos  ixiyas  ^Ad'i^vT'ü'.Vy  iv  tu  rois  ayiövas 
r/yov  71^0  rov  d'earoov  oixoSofirj&i^vai.    Aehnlich  Hesychius  int  Arivaico  aycöv. 

102)  Photius  und  Timäus  Plat.  Glossar  unter  oQxh'^xqa,  aufserdem  Photius 
nnd  Hesychius:  t'xota,  to.  iv  rfi  ayoQÜ,  a^p'  ütv  id'etävro  zovi  Jtovvaiaxois 
aycävas,  tiqIv  r,  xaracxevaa&rivai  zo  iv  Jiovvaov  d'earoov.  Nur  wenn  man 
für  jede  Festfeier  ein  verschiedenes  Local  annimmt,  löst  sich  der  scheinbare 
Widerspruch  in  den  Angaben  der  Grammatiker  (s.  A.  53).  Natürlich  wurden 
ixqta  auch  im  Lenäon  jedes  Mal  aufgeschlagen.  Der  Vers  eines  Komikers  bei 
Photius  oQxriazoa  (fr.  an.  226  Com.  IV  658)  gehört  zu  einer  Parabase  in  Eupoli- 
deischen  Versen:  eis  z'r,v  0Qxr,azQav  ixt  yaq  rriv  &eav  töxeir^  ixet.  Hier 
ward  eine  Theateranekdote  aus  alter  Zeit  berührt,  die  sich  auf  die  tragischen 
Chöre  bezogen  haben  mufs;   denn  für  die  Komödie  war  das  Lenäon  bestimmt. 

103)  Dies  ist  die  sogenannte  ^i-^f;.»? ,  eigentlich  der  Altar  (Aesch.  Schutzfl. 
666),  dann  in  weiterem  Sinne  der  freie  Baum  vor  dem  Tempel,  wo  der  Altar 
errichtet  war.  so  Eurip.  Ion  46.  114.  So  nannte  man  auch  hier  sehr  bald  den 
Raum  um  den  Altar  des  Dionysus  oder  die  Orchestra  &vftiXr, ,  so  schon  Pratinas 

Bergk ,  Griech.  Literaiurgescbicbte  III.  3 


34  DRITTE   PERIODE   VON   500    BIS   300  V.  CHR.  G. 

Chor  auf;  der  geebnete  Raum,  welcher  für  die  Reigentänze  des 
Chores  bestimmt  war,  heifsl  daher  Orches.tra.  P'ilr  den  Schau- 
spieler war  ein  erhöhtes  hölzernes  Gerüst  errichtet*"^);  so  war  der- 
selbe für  jedermann  sichtbar  und  leicht  verständlich.  Dahinter  war 
ein  Zelt,  wo  der  Schauspieler  sein  Kostüm  anlegte."*)  So  ward  auch 
das  Auf-  und  Abtreten  der  handelnden  Personen  schicklich  vermit- 
telt. Für  die  Zuschauer  waren  Rrettergerüste  bestimmt'"*);  wer  hier 
keinen  Platz  fand,  suchte  in  der  Nachbarschaft  einen  passenden 
Standpunkt  zu  gewinnen.'*") 


bei  Athen.  XIV  617  C  ini  JiowaiäSa  TtoXvTtaTaya  d'vfiiXav.  Das  Wort,  dessen 
Bedeutung  im  Laufe  der  Zeit  mehrfach  modificirt  ward,  ist  von  Alten  und 
Neuen  nicht  selten  mi fsverstanden. 

104)  Dies  Gerüst  hiefs  ox^ißae  (s.  die  alten  Lexikographen)  und  ist  das 
später  sogenannte  koysTov,  wofür  man  auch  später  den  alten  Ausdruck  ox^lßae 
zuweilen  anwenden  mochte.  Erst  im  jüngeren  Sprachgebrauche  ist  ox^ißae 
der  Cothurn  der  tragischen  Schauspieler.  Auf  die  Bühne  der  ältesten  Tragödie 
würde  die  Notiz  des  Photius  u.  a. :  zQayixrj  axrjvr;'  nf^yfia  fiericoQOv,  tf>*  ov 
iv  d'emv  axevri  rivee  na^iövree  iXsyov  passen,  da  die  Handlung  sich  meist  im 
Gebiete  der  Götter  bewegte;  doch  ist  auf  solche  Bemerkungen  wenig  Verlafs. 
Auf  die  Anfänge  der  dramatischen  Poesie  noch  vor  Thespis  weist  Pollux  IV  123 
hin:  iXeoe  8^  r[v  r^ajie^a  ag^aia,  i(p  rjv  nqo  OtoniSoe  eh  ris  avaßa:  xoXi 
XOQExnaXe  anexQivaTO. 

105)  Hxrjvrj.  So  pflegten  noch  später  lierumziehende  Schauspieler  auf  dem 
Marktplatze  griechischer  Städte  ihre  Zelte  aufzuschlagen,  Plato  Leg.  VII  bl"  C: 
axTjvaS  re  Ttrj^avTae  xar'  ayoQav  xai  xaXXifcövovi  vnox^izas  eiaayayo/iet'ovs. 
Dionysius  der  Aeltere  schickte  nach  Olympia,  wo  es  kein  Theater  gab,  vergoldete 
und  mit  Purpurteppichen  verzierte  Zelte  (axr,vai,  Dionys.  Halic.  de  Lysia  indic. 
c.  29  erwähnt  nur  ein  Zelt),  welche  offenbar  für  die  Schauspieler  und  die  Dar- 
stellung der  eigenen  Tragödie  des  Dionysius,  nicht  für  die  Festgesandten  {&s<o- 
Qol)  bestimmt  waren  (DiodorXIV  109,1).  Später  seit  Aufführung  eines  stehen- 
den Theaters  nannte  man  das  Bühnengebäude,  aber  auch  speciell  die  Bühne 
axrjvrj.  Aber  im  gewöhnlichen  Leben  hiefs  axTjvrj  {axrjvai)  auch  ein  Platz  im 
Theater  (=  ^£0,  &eai),  vergl.  Aristoph.  Frieden  731  und  880,  sowie  den  Titel 
der  Aristophanischen  Komödie  JSxrjvat  xnraXafißävovaai. 

106)  'IxQia  bezeichnet  daher  den  Raum  für  die  Zuschauer,  den  man  ur- 
sprünglich allein  9iarQov  nannte,  während  man  später  den  Ausdruck  auf  die 
ganze  für  Schauspieler  bestimmte  Anlage  ausdehnte.  Die  Bezeichnung  XxQia 
erhielt  sich  auch  noch,  naclidem  das  alte  Brettergerüst  durch  den  steinernen 
Bau  ersetzt  war,  Aristoph.  Thesmoph.  395 :  ano  tüv  ixgicay  eiaiirai,  d.  h.  aus 
dem  Tiieater  heimkehren;  ebenso  spricht  Kratinus  fr.  51  Com.  U  1, 192  von  der 
ixQifov  xföftjaie. 

107)  So  ward  besonders  ein  Pappelbaum  beim  Lenäon  dazu  benutzt.  Dic- 
Mn  Sitz  auf  der  Pappel  erwähnte  noch  Kratinus  fr.  3S  Com.  II  1,  1S9,  indem  er 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.      EINLEITUNG.  35 

Ol.  70,  1,  als  Aeschylus  mit  Choerilus  und  Pratinas  die  Erst- 
linge seiner  Muse  aufführte  und  ein  ungewohnter  Zudrang  statt- 
finden mochte,  brach  das  Brettergerüst  zusammen,  um  ähnlichen 
Unfällen  für  die  Zukunft  vorzubeugen,  entschlofs  man  sich,  ein  festes 
geräumiges  Theater  aus  Stein  aufzuführen.'**)  Es  ist  nicht  bedeu- 
tungslos, dafs  gerade  in  dem  Zeitpunkte,  wo  die  dramatische  Kunst 
einen  höheren  Aufschwung  nimmt,  wo  insbesondere  die  Tragödie 
raschen  Schrittes  ihrer  Vollendung  entgegengeführt  ward,  die  Athener 
darauf  bedacht  waren,  statt  des  ärmlichen  Nothbehelfes,  mit  dem 
man  sich  längere  Zeit  begnügt  hatte,  einen  würdigen  Raum  für 
scenische  Vorstellungen  zu  schaffen.  Die  bühnenkundigen  Dichter 
werden  mit  ihren  Erfahrungen  den  Architekten  unterstützt  haben, 
um  einen  Bau  aufzuführen,  welcher  allen  Anforderungen  entsprach. 
Dieses  Theater,  von  dem  noch  jetzt  ansehnliche  Reste  erhahen  sind'°^), 
lag  am  südlichen  Abhänge  des  Burgfelsens.  Diese  OertHchkeit  bot 
nicht  nur  für  die  Anlage  des  Theaters  natürhche  Vortheile  dar,  in- 
dem Sitzreihen  für  die  Zuschauer  sich  an  die  Abdachung  des  Hü- 
gels anlehnten,  sondern  das  neue  Theater  grenzte  auch  unmittelbar 
an  das  Lenäon,  das  alte  Heiligthum  des  Dionysus."")    Dieser  Raum 


der  Anfänge  des  Lustspiels  gedachte,  s.  Hesychius  ^iyei^ov  &äa'  ar/et^os  r,v 
^Ad'Tpniai  7tXr,alov  rov  Isqov  (d.  h.  des  Dionysus  im  Lenäon,  die  Aenderung 
ixoiov  ist  unzulässig),  Sv&a,  rc^iv  ytvdad'at  d'ear^v,  ra  ixQia  inr^ywov.  Am 
Markte  scheinen  in  älterer  Zeit  auch  Pappeln  gestanden  zu  haben;  doch  scheint 
jene  Redensart  nur  auf  die  Lenäen  zu  gehen. 

108)  Suidas  II  2,  401 :  IJQartvas  .  .  .  avrriyiovi^ero  S'  Aiax^/^  T£  xeti 
Xot^iXto  ini  Tr,s  o  OkvfintaSoe  xai  n^cöros  s'yQaus  ^axi'QOvi '  iTtiSetxwfitvov 
Si  roCrov  awtßtj  za  i'xota,  s^'  ojv  earTjxsoav  oi  d'eazai,  Ttsaeiv,  y.ai  ix  roirov 
&iarQov  ipxoSoftT;&T;  A&rjvaion ;  denn  offenbar  ist  das  Einstürzen  der  Gerüste 
mit  jenem  Agon  Ol.  70  in  Verbindung  zu  bringen. 

109)  Erst  Ausgrabungen  der  neuesten  Zeit  haben  diese  Reste  aufgedeckt. 

110)  Pausan.  I  20,3,  daher  auch  Yitruv  V  9, 1  sagt,  in  Athen  biete  das 
Liberi  patris  fanum  bei  plötzlichem  Unwetter  den  Zuschauern  Zuflucht  dar. 
Vielleicht  ward  der  Raum,  den  man  früher  für  die  Feier  der  lenäischen  Schau- 
spiele verwandt  hatte,  ganz  oder  doch  zum  Theil  bei  dem  Neubau  benutzt. 
Auch  das  neue  Theater  Mar  eine  dem  Dionysus  geweihte  öertlichkeit;  daher 
heifst  es  tö  Jiowciaxbv  d'iarQov  (dies  ist  die  officielle  Benennung),  t^  Iv 
Jiovvaov  d'iaxQov  (daher  im  gewöhnlichen  Leben  Iv  Jiovvaov),  Aioviaun' 
oder  kurzweg  x6  d'iaxQov.  Demosth.  Mid.  55:  iv  avxiö  xtÖ  aycövt  xai  iv  r^ 
rov  &eov  Isqi^.  Ob  aber  Inschriften,  welche  iv  x^  xsfiivti  xoi  Jiovioov  auf- 
gestellt werden  sollen,  im  Theater  ihren  Platz  hatten,  ist  ungewifs,  obwohl 
sie  im  Theater  gefunden  worden  sind. 

Z* 


36  DRITTE    PERfODE    VON    500    BIS   300  V.  CHR.  G. 

wurde  fortan  für  die  dramatischen  Spiele   sowolil   der   Lenäen,   als 
auch  der  städtischen  Dionysien  benutzt.'") 

Der  Theaterpächter,  der  ein  Eintrittsgeld  erhob,  war  verpflichtet, 
das  Gebäude  in  gutem  Zustande  zu  erhalten.  Dadurch  ward  indes 
nur  für  das  Nothwendigsle  gesorgt.  Es  war  daher  ein  verdienstliches 
Werk,  dafs  man  in  der  Zeit  des  Demosthenes  sich  zu  einer  voll- 
ständigen Restauration  entschlofs.  Lykurg  nahm  sich  während  seiner 
nach  allen  Seiten  hin  wohlthätig  wirkenden  Finanzverwaltung  auch 
des  Theaters  an."^)  Der  steinerne  Bau  ward  nicht  nur  reparirt, 
sondern  wohl  auch  erweitert  und  verschönert.  Insbesondere  das 
Scenengebäude  mag  eine  reichere  Ausstattung  erhalten  haben,  aber 
es  ist  irrig,  wenn  man  meint,  damals  zuerst  sei  dieser  Theil  des 
Theaters  in  Stein  aufgeführt  worden.  In  römischer  Zeit,  wo  man 
auch  das   Theater  zu   Athen    für  Gladiatorenkämpfe  und    ahnhche 


111)  Die  Ausdrücke  Jiowaiaxov  d-earoor  uud  yiT]vai)c6v  bei  Pollux  IV  121 
sind  identisch.  Aristopli.  Thesmoph.  1059 :  ^Hxof . . .  ipte^  ne^vaiv  iv  r^Se  rav- 
Tcp  x^Q^V  EvQmiSr}  xavxr;  ^vvr]yo)vt^6fiT]v.  Dies  geht  auf  die  Andromeda  des 
Euripides,  die  sicher  an  den  grofsen  Dionysien  aufgeführt  wurde,  während  die 
Thesmophoriazusen  den  Lenäen  angehören. 

112)  Vergl.  das  Psephisma  des  Stratokies  bei  Plutarch  dec.  or.  vitt.  III  5 
(eine  Copie  dieser  Urkunde  ist  in  Athen  wieder  aufgefunden,  s.  Phiiol.  XXIV  86): 
n^oe  TB  Tovrots  rjftie^ya  naQaXaßcav  xovs  le  vetoaoixove  xai  Triv  axevod'r^riv 
xai  10  d'daxQov  ro  Jiovvataxbv  i^eioyäaaro  xai  inexi)^as ,  Pausan.  129,  16: 
oitcoSofirifiara  8i  inertXeae  /uev  ro  d'taxQOv  ixEQOJv  vnag^auivcov ;  doch  läfst 
sich  aus  der  Urkunde  so  wenig  wie  aus  Pausanias  mit  Sicherheit  schliefsen, 
dafs  die  Restauration  des  Theaters  schon  früher  begonnen  wurde.  Hyperides  in 
der  Rede  für  die  Söhne  Lykurgs  fr.  32  sagt  einfach:  (oxoS6fit]as  Si  xb  d^sax^ov, 
ro  caSelov,  vsmQia.  —  Sehr  mit  Unrecht  hat  man  auf  den  Thealerbau  die  In- 
schrift Ephem.  Archaeol.  1858  3453  [CIA.  II  t,  176]  beziehen  wollen,  wo  Lykurg 
Auszeichnungen  beantragt,  der  sich  um  die  rechtzeitige  Vollendung  des  axaBiov 
und  des  d'taxQOv  IlavadTjvaixöv  verdient  gemacht  hat;  denn  es  ist  reine  Will- 
kür, wenn  man  die  Worte  der  Urkunde  umstellt:  c/s  xijv  noirjaiv  xov  axaSiov 
xov  nava&rjvatxov  xai  xov  d'eäxQov.  Es  ist  hier  nur  von  den  Bauten  für  den 
gymnischen  und  musischen  Agon  det  Panathenäen  die  Rede.  Das  Panathenaische 
Theater  ist  nichts  anderes  als  das  von  Hyperides  erwähnte  Odeum,  gleichviel 
ob  darunter  ein  Neubau  oder  eine  Restauration  zu  verstehen  ist  (s.S.  21  A.  «>0). 
Nicht  minder  willkürlich  hat  man  auf  den  Theaterbau  eine  Inschrift  aus  Ol. 
109,2  (Philistorl  190  [CIA.  li  1,  144])  bezogen,  wo  der  Rath  belobt  wird,  weil 
er  inefteXrj&rj  xi^  evxoafiiai  xov  O'aaxQOv.  Es  handelt  sich  nicht  nm  die  Aus- 
schmückung des  Theaters  (diese  Erklärung  ist  sprachwidrig),  sondern  um  die 
Aafrechterhaltung  polizeilicher  Ordnung;  die  bekannten  Vorfülle  mit  Meidias 
Ol.  107,  2  machten  eine  verschärfte  Aufsicht  nothwendig  (s.  S.  31  A.  93). 


DIE   DRAMATISCHE   POESIE.      EINLEITUNG.  37 

Schauspiele  benutzte,  ward  später  ein   Umbau   vorgenommen,   wo- 
durch namentlich  die  Bühne  bedeutend  erweitert  ward."^) 

Schon  die  einfachen  Vorrichtungen,  welche  man  früher  für 
dramatische  Spiele  getroffen  hatte,  enthielten  alle  wesentlichen  Ele- 
mente des  Theaterbaues.  Das  Theater  zu  Athen  besteht  aus  drei 
Theilen.  Die  halbkreisförmige  Orchestra  in  der  Mitte,  für  den  Chor 
bestimmt,  wird  einerseits  begrenzt  durch  die  erhöhte  Bühne  der 
Schauspieler,  andererseits  durch  die  um  den  Halbkreis  sich  concen- 
trisch  erhebenden  Sitzreihen  für  die  Zuschauer.  An  dieser  Grund- 
form des  Theaters,  welche  den  Bedürfnissen  der  scenischen  Dar- 
stellung entsprach,  hielt  man  in  Griechenland  fest,  wenn  man  auch 
im  Verlaufe  der  Zeit  Einzelnes  abgeändert,  Anderes  hinzugefügt  hat. 
Doch  sind  wir  über  diese  Dinge  nur  sehr  unvollkommen  unter- 
richtet. Wenn  nach  glaubwürdiger  üeberlieferung  der  Theil  der 
Orchestra,  welcher  der  Bühne  zunächst  lag,  mit  einem  Bretterboden 
bedeckt  war  und  dies  der  eigenthch  für  den  Chor  bestimmte  Baum 
war,  so  ist  doch  fraglich,  ob  diese  Einrichtung  bereits  der  Blüthe- 
zeit  des  attischen  Theaters  angehört.^"')  Die  Bühne  für  die  Schau- 
spieler"'), verhältnifsmäfsig  breit,  aber  von  geringer  Tiefe  und  mit 
Holz  gedielt,  erhob  sich  mehr  oder  minder  über  der  Orchestra,  und 
durch   Stufen   war  eine  Verbindung   hergestellt."^     Das  Gebäude, 

113)  Damals  ward  auch  eine  neue  Vertheilung  der  Sitzplätze  vorgenom- 
men. In  der  vordersten  Reihe  waren  mehrere  Sessel  für  die  höheren  Staats- 
beamten wie  für  Priester  und  andere  Würdenträger  der  religiösen  Culte  auf- 
gestellt. Aber  auch  die  folgenden  Sitzreihen  bis  zur  zwanzigsten  waren  meist 
für  Priester,  dann  insbesondere  auch  für  Frauen,  welche  priesterliche  Functio- 
nen versahen,  oder  für  einzelne,  denen  durch  Volksbeschlufs  ein  Ehrenplatz 
eingeräumt  war,  bestimmt,  wie  die  neuesten  Ausgrabungen  gezeigt  haben.  Ge- 
hört auch  diese  Einrichtung  erst  der  römischen  Zeit  an,  so  sind  doch  die  Culte, 
abgesehen  von  einzelnen  Ausnahmen,  alt,  und  erst  jetzt  erkennt  man  die  un- 
gemein reiche  Entwicklung  des  religiösen  Lebens  in  dem  alten  Athen. 

114)  Die  Beschreibung  dieser  Einrichtung  bei  Suidas  II  2,  785  f.  und  im  Et. 
M.  axjjrij  (vergl.  Hermes  VI  491)  pafst  eben  nur  auf  spätere  Zeiten:  c/qx^otqu' 
avrrj  Se  iariv  o  ronos  o  ix  aaviScov  k'xcov  xo  S8a<pos,  i<f  ov  xai  d'earoi^avatv 
ol  fiJftoi,  elxa  fisra  xtjv  oQ/r^arQav  ßcofioi  r^v  rov  Jiovvaov,  leroaytovov 
oixo86fiTjfj.a  xsvov  inl  xov  ^iaov,  o  xaXelrai  d'vfiiXr^  naga  rb  d'ietv  fiera  rfiv 
d^fiiXvjV  Tj  xoviaxQa,  rovriari  xb  xäxco  i'Safos  xov  d'säxQov.  Auch  die  neue- 
sten Ausgrabungen  geben  darüber  keinen  genügenden  Aufschlufs.  Auf  keinen 
Fall  aber  darf  man  den  Altar  des  Dionysus,  die  eigentliche  O-v/uXt],  beseitigen. 

115)  Das  sogenannte  X.oyelov. 

116)  xXi/iaxes,  PoUux  IV  127. 


38  DRITTE    PERIODE   VON   500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

welches  den  Hinlergrund  der  Bühne  bildete  und  den  ganzen  Bau 
abschlofs,  war  für  die  mannigfachen  Bedürfnisse  der  dramatischen 
Spiele  unentbehrlich;  aber  die  ursprünglich  einfache  Anlage  mag 
successiv  erweitert  worden  sein.  Für  das  Akustische  war  ausreichend 
gesorgt,  so  dafs  die  Stimme  der  Schauspieler,  wie  der  Gesang  des 
Chores  in  allen  Theilen  des  weiten  Raumes  deutlich  vernommen 
wurde.  Die  Sitte,  den  Zuschauerraum  mit  Segeltüchern  zu  über- 
spannen, um  Schutz  gegen  Sonne  und  Regen  zu  gewinnen,  mag 
schon  in  der  klassischen  Zeit  aufgekommen  sein.*") 

Bildlicher  Schmuck  fehlte  nicht.  Gleich  vorn  an  den  Eingängen 
des  Theaters  erblickte  man  die  Helden  der  Perserkriege,  an  der 
Westseite,  also  in  der  Richtung  nach  dem  Meere  zu,  den  Sieger  von 
Salamis,  an  den  östlichen  Propyläen  den  Miltiades.  Diese  Bronze- 
statuen waren  ein  Werk  der  Perikleischen  Zeit."*)  Im  Innern  des 
Theaters  waren  Bildsäulen  dramatischer  Dichter  aufgestellt.  Neben 
den  drei  grofsen  Tragikern  fehlten  auch  Epigonen,  wie  Astydamas 
der  Aeltere,  nicht.  Diesem  mag  zuerst  eine  solche  Auszeichnung  zu- 
erkannt worden  sein"^),  und  eben  dadurch  ward  wohl  der  Redner 
Lykurg  veranlafst,  die  gleiche  Ehre  für  Aeschylus,  Sophokles  und 
Euripides  zu  beantragen."'")  Ebenso  ward  später  neben  manchen 
unbedeutenden  komischen  Dichtern  dem  Menander  ein  Standbild  er- 
richtet."')   Dagegen  das  Bild  des  Dionysus  auf  der  Orchestra  wurde 


117)  Wenigstens  scheint  im  Theater  des  Piräeus  (CIG.  I  102)  die  O^ia 
iareyaafitvTj  xaxa  xi  närqia  erwähnt  zu  werden. 

118)  Aristides  II  S.  216,  indem  er  bemerkt,  dem  Miltiades  gebühre  eigent- 
lich ein  Platz  auf  dem  rechten  Flügel,  er  sollte  nicht  aQiaxeQoaxäjtji  sein. 
Nach  dem  Schol.  III  S.  535  war  jeder  Statue  auch  das  Bild  eines  gefangenen 
Persers  beigegeben.    Vergl.  auch  Andokides  de  myst.  27. 

119)  Diog.  Laert.  II  43:  l^axvSajuavxa  TtQoxe^v  xwv  Tie^l  AlaxvXov  kxl- 
fiijoav  eixövt  x^^^'ll  ""d  zwar  im  Theater,  s.  die  Paroemiographen  {^uvri^v 
inaiveis),  noch  bei  Lebzeiten;  er  verfafste  selbst  das  Epigramm  dazu. 

120)  Plutarch  im  Leben  des  Lykurg  §  11.  Der  Antrag  scheint  von  Philinus 
angegriffen  worden  zu  sein,  wohl  wegen  eines  Formfehlers  (Harpokration  unter 
&ea)^ixä,  fPtXivoe  iv  x^  TiQoe  ^ofoxlsovt  xai  EvQiniSov  eixövas,  wo  man  den 
Namen  des  Aeschylus  vermifsl);  aber  Lykurg  wird  den  Hechtshandrl  gewonnen 
haben,  und  die  Statuen  der  drei  Tragiker,  welche  Pausanias  im  Theater  sah 
I  21,  1,  siml  unzweifelhaft  dieselben,  welche  damals  errichtet  wurden. 

121)  Pausan.  I  21,  1:  lixt  yag  /itj  MiravS^oi,  oiSsii  iy  7iotT;xi^  xojftqtSim 
xtöv  ie  Sö^av  Tjxövxcor.  Auf  dieselbe  Statue  bezieht  sich  auch  Dio  Chrysoslomus 
oder  wer  sonst  der  Verfasser  der  Hedr  ist,  31,llf).    .\lso  befand  sich  die  Statue 


DIE   DRAMATISCHE   POESIE.      EINLEITUNG.  39 

immer  nur  während  der  Festläge  aufgestellt.  Abends  wurde  dasselbe 
von  Epheben  bei  Fackelschein  ins  Theater  getragen,  nachdem  man 
zuvor  ein  Opfer  dargebracht  hatte'"),  wie  man  auch  vor  Beginn  der 
Spiele  dem  Dionysus  ein  Trankopfer  weihte.'") 

Auch  im  Piräeus  gab  es  ein  steinernes  Theater,  ebenso  in  an- 
deren Gemeinden  Attikas ;  meist  aber  wurde  nach  älterer  Weise  ein 
Gerüst  aufgeschlagen,  was  bisweilen  brechen  mochte.'*^)  Das  Theater- 
gebäude zu  Athen  ward  natürhch  Vorbild  für  alle  ähnlichen  Anlagen. 
Zuerst  wird  man  in  Syrakus,  nächst  Athen  der  wichtigsten  Stätte 
für  die  dramatische  Poesie,  ein  Theater  errichtet  haben'"),  bald  aber 
folgten  andere  Orte  nach. 


noch  im  2.  Jahrhundert  d.  Chr.  zu  Athen,  und  damit  wird  schon  die  Vermuthung 
widerlegt,  dafs  uns  in  der  Marmorstatue  des  Menander  im  vatikanischen  Mu- 
seum das  Oiiginal  erhalten  sei.  Aufserdem  war  dem  Menander  gewifs  ebenfalls 
eine  Bronzeslatue  errichtet;  folglich  kann  die  römische  Bildfigur  nur  für  eine 
Copie  gelten.  Die  neuesten  Ausgrabungen  haben  die  Basis  der  Statue  des 
Menander  zu  Tage  gefördert,  ebenso  andere  mit  dem  Namen  des  Thespis,  der 
Komiker  Timostratus  und  Dionysius,  dann  eines  unbekannten  Diomedes.  Dafs 
später  vielen  obscuren  Dichtern  diese  Ehre  zu  Theil  ward,  deutet  Pausanias 
an.  Athenäus  1 19E  erwähnt  neben  Aeschylus  eine  Statue  des  Eurykleides.  Dies 
kann,  Mie  der  Zusammenhang  zeigt,  nicht  der  bekannte  Staatsmann  zur  Zeit 
des  Chremonideischen  Krieges,  sondern  nur  ein  Gaukler  oder  dergleichen  ge- 
wesen sein.  Auf  eine  andere  Statue  eines  Ungenannten  bezieht  sich  Dio  Chry- 
sostomus  31,  116,  Pbilistor  III 3S5.  III  564.  IV  470. 

122)  Dio  Chrysostomus  31,  12t.  Genaueres  geben  die  Ephebeninschriflea 
(Verb,  der  Würzb.  Philol.)!  12:  tiar^yayov  Sa  xal  lov  Jwvvaov  arrö  t^s  iaxäQns 
dxaavjta  reo  d'eä,  und  II  12:  siaT]yayov  Si  xal  rcv  Jiöwaov  cnxo  t^s  dox^~ 
^ai  ft»  tö  d'tajoov  fteja  fcoro»,  und  dann  wird  hinzugefügt,  die  Epheben 
hätten  bei  dem  Festzöge  einen  Stier  geführt  und  dem  Gotte  geopfert  (daraus 
folgt  jedoch  nicht,  dafs  die  Ttounf,  und  &i<jia  später  fiel  als  der  Fackelzug), 
und  II  76:  xai  i'ov  Jioriaov  avv£iar;yayev  sU  ro  d'eazQov.  Vgl.  auch  Alkiphron 
n  3:  rov  i:z  (vielleicht  an  )  ia^tioas  vfxvr^aai  xöt'  i'roi  Jiöwaov.  Dafs  die 
Epheben  auch  an  den  Dionysien  im  Piräeus  Theil  hatten,  zeigt  Inschrift  113. 

123)  Die  höheren  priesterlichen  Würdenträger  und  Beamten  brachten  die 
Libation  dar,  so  die  zehn  Strategen  nach  Plul.  Cimon  c.  S.  Dafs  die  Sitte  auch 
später  bestand,  bezeugt  Philostratus  viL  Apoll.  IV  22. 

124)  Plautus  Cure.  V  2. 46. 

125)  Das  Theater  in  Syrakus,  dessen  Erbauer  der  Mimendichter  Sophron 
nannte,  ist  schwerlich  schon  unter  Hiero  erbaut.  Das  Theater,  welches  Poly- 
klet  neben  dem  Asklepiostempel  zu  Epidaurus  aufführte,  war  durch  vollendete 
Harmonie  der  Verhältnisse  ausgezeichnet,  Pausan.  II  27,5.  Wir  können  daraus 
schliefsen,  dafs  schon  zur  Zeit  des  peloponnesischen  Krieges  an  diesem  viel 


40  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Ausstattung         pje  Architektur  der  Fronte  des  Scenengebäudes'**)  war  wäh- 

der  Bühne.  ,  o  / 

rend  der  dramatischen  AulTührungen  durch  eine  Dekoration  den 
Bhcken  der  Zuschauer  entzogen.  Diese  gemalte  Wand  der  Scenen- 
fronte  war  so  eingerichtet,  dafs,  wenn  eine  Veränderung  des  Ortes 
der  Handking  eintrat,  sich  ein  anderes  Bild  zeigte"^');  meist  reichte 
man  jedoch  mit  einer  Dekoration  aus.  Da  die  Handlung  in  der 
Regel  im  Freien  vor  sich  geht,  war  in  der  Tragödie  gewöhnlich  ein 
fürstlicher  Palast  dargestellt  mit  drei  Thüren.  Die  mittlere  oder  Haupt- 
thilr  führte  in  die  fürsthchen  Gemächer,  die  Thür  rechts  in  die  Gast- 
zimmer, hnks  in  ein  Gcfängnifs'^);  aber  diese  Dekoration  konnte 
mit  Rücksicht  auf  die  besonderen  Verhältnisse  des  Stückes  mit  einer 
anderen  vertauscht  werden.  Im  Satyrdrama  zeigte  die  Bühnendeko- 
ration meist  eine  waldige  oder  gebirgige  Gegend  ^^) ,  in  der  Komödie 
ein  Bürgerhaus  zu  Athen.''")     Die  Periakten  an  den  beiden  Seiten 

besuchten  Kurorte  regelmäfsige  dramatische  Vorstellungen  stattfanden.  Derselben 
Zeit  gehört  auch  das  Theater  zu  Thasos  an,  s.  Hippokrates  Epid.  I  2. 

126)  Das  Bühnengebäude  heifst  axrjvy].  Allein  dieser  Ausdruck  wird  in  sehr 
verschiedener  Bedeutung  verwendet;  specieil  versteht  man  darunter  die  Fronte 
dieses  Gebäudes,  dann  die  Bühne  (loysiov,  nQoaxrivi,ov),  endlich  aber  auch  die 
Üekorationswand. 

127)  "Wie  in  den  Eumeniden  des  Aeschylus. 

128)  Pollux  IV  124:  xqicöv  Se  xwv  xara  ttjv  gxtjvtjv  d'voöiv  r]  fiiarj  ftiv 
ßaaiXeiov  r  a7ir]laiov  tj  olxoi  ^vSo^oe  rj  Ttäv  tb  TiQCoraycovtarovv  rov  S(>cifinroe' 
t]  Se  Se^iä  rov  SevceqaycoviaTOvvroi  aaraycöyiov'  rj  8e  aoiareQn  ^  t6  tvrsJie- 
ararov  txsi  ■jiQoaoinov  rj  isqov  i^QT^ficofievov  tj  äoixöe  iaziv '  iv  Sa  iQaytoSia 
7]  ftev  Ss^ia  d'vqa  ^evcov  iaxvp,  eioxri]  Se  rj  Xaiä.  Diese  Beschreibuug  der 
Dekorationswand  ist  weder  klar  noch  erschöpfend,  was  auch  bei  der  Fülle  der 
wechselnden  Details  nicht  möglich  war.  Vitruv  V  7,  S  drückt  sich  ganz  allgemein 
aus:  Uli  mcdiae  valvae  habeant  ornattis  aulae  regiae,  dextra  ac  sinisira  ho- 
spitalia.  Ein  Gastgemach  erfordert  die  Scene  der  Alkestis  des  Euripides,  ein 
Gefängnifs  die  Antigene  des  Sophokles.  Vor  dem  Königshause  fand  sich  ein 
Altar;  auch  Götterbilder  und  anderer  Schmuck  fehlte  nicht,  wie  die  tragischen 
Dichter  wiederholt  andeuten.  Im  Ajas  und  wo  sonst  die  Handlung  im  Feld- 
lager vor  sich  geht  stellte  die  Dekorationswand  Zelte  dar,  in  den  Eumeniden 
erst  das  delphische  Heiligthum,  dann  den  Tempel  der  Athene  auf  der  Burg  zu 
Athen;  auch  der  Ion  des  Euripides  spielt  vor  dem  delphischen  Tempel;  im 
Philoktet  des  Sophokles  war  eine  Felsengrotte,  im  Oedipus  auf  Kolonos  der 
heilige  Hain  dargestellt. 

129)  Vitruv  V  8,1. 

130)  Vitruv  V  8, 1.  Oefter  waren  zwei  Nachbarhäuser  dargestellt  oder  auch 
wohl  neben  dem  Hause  ein  Stall,  eine  Werkstatt  und  dergl.,  s.  Pollux  IV  125. 
Vor  dem  liause  durfte  der  Altar  des  Apollo  (ayvitvi)  nicht  fehlen,  auf  den  die 


DIE   DRAMATISCHE   POESIE.      EmLEITOG.  41 

der  Bühne  TervoUständigten  die  Dekoration.^^*)  Da  sie  beweglich 
waren  und  auf  jeder  Fläche  ein  anderes  Bild  darstellten ,  leisteten 
sie  besonders  bei  Veränderung  des  Ortes  gute  Dienste.  ?feben  den 
Periakten  führten  zwei  Zugänge  auf  die  Bühne '^*),  welche  für  die- 
jenigen Personen  bestimmt  waren,  die  entweder  aus  der  Stadt  oder 
Fremde  kamen, 

Wie  das  Leben  des  hellenischen  Volkes  durchgehends  den  Cha- 
rakter der  Oeffentlichkeil  zeigt  und  die  Kunst  eben  nur  ein  treues 
Abbild  dieser  Zustände  ist ,  so  beruht  auch  das  Trauerspiel  und  die 
alte  Komödie'^^)  auf  der  Voraussetzung,  dafs  die  Handlung  vor  aller 
Augen,  nicht  in  geschlossenen  Räumen  stattfindet.  Wie  sorgsam 
aber  auch  die  dramatischen  Dichter  bei  dem  Entwürfe  ihrer  Arbeit 
darauf  Rücksicht  nehmen  mochten,  so  waren  sie  doch  zuweilen  ge- 
nöthigt ,  wogen  der  eigenthümhchen  Natur  der  Sache  oder  aus  con- 
ventionellen  Rücksichten  einen  Vorgang  ins  Innere  des  Hauses  zu 
verlegen.  Dazu  diente  eine  besondere  Vorrichtung,  das  sogenannte 
Ekkyklema.'^)  Ein  Stück  der  Dekorationswand  ward  zur  Seite  ge- 
schoben, und  nun  zeigte  sich  den  Blicken  der  Zuschauer  eine  Art 
kleiner  Bühne,  welche  das  Innere  des  Hauses  und  was  darin  Yor 
sich   ging   unmittelbar  zur  Anschauung   brachte.     Die  Tragödie  hat 


Komiker  mehrfach  hinweisen.    Die   alte  Komödie  zeichnet   sich   durch  reiche 
Mannigfaltigkeit  der  Scenerie  aus. 

131)  Die  Tteoiay.Toi  waren  dreiseitige  Prismen,  die  gedreht  werden  konn- 
ten; jede  Fläche  war  mit  einer  gemalten  Dekoration  oder  einem  gewirkten 
Teppich  bedeckt,  PoüuxIV  126.  131,  Vitruv  V  7,  8. 

132)  Pollux  IV  126.  Darauf  gehen  auch  die  Worte  des  Vitruv  V  7,8:  *e- 
cundum  ea  loca  (d.  h.  wo  die  Periakten  sich  befinden)  versurae  sunt  procur- 
rentes,  quae  ef'ficiunt  una  a  fora,  altera  a  peregre  aditus  in  scaenam.  (S. 
unten  S.  45  A.  147.)  Es  gilt  dies  natürlich  nicht  nur  für  das  Auftreten,  sondern 
auch  für  den  Abgang  der  Schauspieler. 

133)  Für  das  griechische  Drama  war  dies  schon  deshalb  eine  Nothwen- 
digkeit,  weil  sich  nur  so  die  Verbindung  mit  dem  Chore  aufrecht  erhalten  liefs. 
Die  Komödie,  welche  später  auf  den  Chor  verzichtet  und  sich  auf  Vorgänge 
des  häuslichen  Lebens  beschränkt,  hält  nichts  desto  weniger  diese  Ueberlieferung 
alle  Zeit  fest. 

134)  Pollux  IV  128,  Schol.  Aristoph.  Acharn.  408.  Die  Maschine  ruht  auf 
Rädern,  um  sie  bequem  vorwärts  und  rückwärts  bewegen  zu  können;  denn  schon 
um  dem  Bilde,  welches  man  den  Zuschauern  zeigen  wollte,  die  nöthige  Beleuch- 
tung zu  geben,  war  ein  Vorschieben  dieser  Bühne  nothwendig.  Daher  sagt  auch 
Aristoph.  Thesmoph.  265:  ei'aeo  iis  tos  xä/^iata  u  si<jy.vx/.r,aär(a,  und  dies  ist 
auch  in  der  Bezeichnung  exy.vx/.r/fia  ausgedrückt. 


42  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

von  diesem  Mittel  sehr  wirksamen  Gebrauch  gemacht.'")  Noch  häu- 
figer und  in  freiester  Weise  mag  die  alte  Komödie  sich  des  Ekky- 
klema  bedient  haben'''),  wenn  aus  den  Lustspielen  des  Aristopha- 
nes  ein  Schlufs  auf  die  anderen  gestattet  ist. 

Da  Göltererscheinungen  in  der  Tragödie  häufig  vorkommen, 
bedurfte  es  einer  V'orrichtung,  um  eine  Gottheit  oder  einen  Heros 
schwebend  darzustellen.'")  Aber  auch  andere  Bühnenfiguren  treten 


136)  Im  Agamemnon  des  Aeschylus  zeigte  das  Ekkyklema  die  Klylämne- 
stra  mit  dem  blutigen  Schwerte  neben  den  Leichen  des  Gatten  und  der  Kas- 
sandra.  Ein  nicht  minder  ergreifendes  Bild  bot  das  folgende  Drama,  die  Choe- 
phoren,  dar,  wo  Orestes,  das  Gewand,  unter  welchem  einst  Klytämnestra  den 
Agamemnon  erschlagen  hatte,  in  der  Hand  haltend,  vor  seinen  Füfsen  die  Lei- 
chen der  Mutter  und  des  Aegisthus,  sichtbar  wird.  Ob  auch  in  dem  dritten 
Stücke  der  Trilogie  das  Ekkyklema  in  Anwendung  kam,  ist  unsicher;  die  Worte 
des  alten  Erklärers  (Schol.  Eum.  64)  lassen  auch  eine  andere  Auffassung  zu. 
Auch  Sophokles  und  Euripides  (dieser  Dichter,  wie  es  scheint,  seltener)  haben 
von  diesem  Mittel  Gebrauch  gemacht. 

136)  Bei  Aristophanes  finden  wir  eine  Anzahl  völlig  gesicherter  Beispiele 
des  Ekkyklemas,  und  zwar  werden  die  Dinge  hier  mit  genialer  Freiheit  behan- 
delt, indem  die  Personen,  welche  auf  der  Bühne  stehen,  mit  denen,  welche 
durch  das  Ekkyklema  sichtbar  werden,  ungehindert  verkehren,  als  befänden  sie 
sich  auch  im  Innern  des  Hauses,  wie  Dikäopolis  mit  Euripides  in  den  Achar- 
nern.  Noch  gröfsere  Kühnheit  zeigt  sich  in  den  Thesmophoriazusen ;  waren 
auch  die  alten  Erklärer  uneins,  ob  dort  das  ixxvitXr,fia  oder  die  ä^daroa  (Pol- 
lux  IV  127)  zur  Verwendung  kam,  so  ändert  dies  nichts;  denn  die  i^iöarga 
kann  eine  ganz  ähnliche  Maschinerie  gewesen  sein. 

137)  PolluxIV  128.  Es  gab  offenbar  verschiedene  Flug-  und  Hebemaschi- 
nen; aber  die  Verschiedenheit  des  Namens  deutet  nicht  noth wendig  auf  Ver- 
schiedenheit der  Vorrichtung  hin.  Der  gewöhnliche  Name  ist  fir,xavr,,  ein  Appa- 
rat, durch  den  eine  Bühnenperson  schwebend  über  der  Bühne  gehalten  wurde. 
Dies  wurde  durch  eine  Drehung  oder  Wendung  bewirkt,  daher  der  Ausdruck 
ar^ifeiv  von  der  Maschine  gebraucht  wird:  daher  brachten  auch  alte  Gramma- 
tiker den  Ausdruck  xaxnaxoofi]  tov  Soäfiaroi,  d.  h.  der  Ausgang  des 
Drama,  irrigerweise  damit  in  Verbindung,  weil  der  Schlufs  der  dramatischen 
Handlung  häufig  durch  den  O'ios  aTib  firjxavrji  herbeigeführt  wird,  s.  Suidas 
1 1,632  ano  ftrjxotviqi  [Bcrnhardy  xaxaarokriv].  Identisch  mit  der  fir^x^pv  sind  offen- 
bar die  aidioai;  denn  die  Beschreibung  bei  Pollux  IV  131  stimmt  vollkommen  mit 
der  Schilderung  der /«^jK«*"^  IV  128,  nur  dal's  er  hier  d-eoli  xai  ^qu»  noch  durch 
den  Zusatz  BelleQOfövxai  rj  Us^aäm  erläutert.  Der  Krahn  iyt'oatoi),  der  in  der 
Psychoslasie  des  Aeschylus  zur  Anwendung  kam,  war  wohl  auch  nichts  anderes 
als  die  gewöhnliche  ftTixnrri.  Ebenso  ist  die  xoäSt]  der  Komödie  identisch  (mit 
diesem  volksmäfsigen  Ausdruck  wird  ein  Komiker  die  Maschine  benannt  haben). 
Aristophanes  macht  davon  im  Frieden  Gebrauch,  wo  Trygäus  ein  Seilenätück 


DIE   DRAMATISCHE  POESIE.     EINLEITUNG.  43 

zuweilen  auf  einem  höheren  Standpunkte  auf'^),  wie  der  Wächter 
im  Agamemnon  des  Aeschylus  und  Antigone  in  den  Phönissen  des 
Euripides.  Ebenso  fehlten  Versenkungen  nicht,  um  Geistererschei- 
nungen vorzuführen.'^)  Donner  und  Blitz  nachzuahmen  verstand 
der  Theatermaschinist  recht  wohl.**') 

Anfangs  begnügte  sich  das  Drama  offenbar  mit  einfachen  Mit- 
teln; war  auch  der  Scenenschmuck  für  jede  Gattung  der  drama- 
tischen Poesie  verschieden  und  dem  besonderen  Charakter  entspre- 
chend, so  begnügte  man  sich  doch  mehr  mit  symbolischen  Andeu- 
tungen der  Oerthchkeit.  Erst  seit  der  Erbauung  eines  stehenden 
Theaters  ward  auch  die  Dekoration  der  Bühne  reicher.'^')  Man  wufste 


zu  dem  Bellerophon  der  Tragödie  bildet.  Das  argo^elov  (nach  Pollax  IV  132: 
TOtS  r^ocos  k'/Bi  TOI»  £«s  10  d'tiov  fted'eaTr^icÖTas  rj  rois  iv  7Te)Ayet  ^  tio'/.euco 
T£?^vrc5%'rai)  war  gewifs  ähnlich  construirt  und  unterschied  sich  nur  durch 
seine  abweichende  Bestimmung  und  Stelle  von  der  eigentlichen  ur,xavri.  Diese 
war  über  der  linken  Periakte  angebracht,  das  (JTQOfslov  wohl  über  der  rech- 
ten; ein  bestimmtes  Zeugnifs  fehlt,  denn  Schol.  Lukian  IV  S.  226:  ur,xavcäv  Sio 
fi£X£o}QiZ,ouivo}v  Tj  d^  aQiaxBocöv  d'EovS  y.ai  r^ocoas  dvefävi^s  ist  unvollständig. 
Wesentlich  verschieden  ist  das  d-so^Ajyeiov,  eine  schwebende  Bühne,  wohl  in 
der  Mitte  der  Bühne  angebracht,  hinreichend  stark  und  geräumig,  um  in  der 
Psychostasie  des  Aeschylus  eine  ganze  olympische  Götterversammlung  zu  tragen. 
Sie  war  vielleicht  eigens  für  diese  Tragödie  angefertigt  und  hat  sicherlich 
in  der  jüngeren  Tragödie  keine  Anwendung  mehr  gefunden.  Der  Chor  der 
Okeaniden  im  Prometheus  erscheint  mit  seinen  Flügelwagen  auf  der  linken 
Periakte,  denn  die  /ur^xavr;  war  dafür  zu  schwach;  auch  bedurfte  man  derselben, 
um  den  Okeanos  auf  seinem  Flügelrosse  einzuführen.  Götter  erscheinen  übrigens 
nicht  immer  in  der  Luft,  sondern  ausnahmsweise  auch  auf  der  Bühne,  und  es  ist 
nicht  immer  leicht,  eine  Entscheidung  zu  treffen,  wie  z.  B.  im  Prologe  des  Ajas. 

138)  PoUux  IV  129  nennt  axoTtr,  (Warte),  Mauer,  Thurm,  (fovxrcoQun' 
(eigentlich  Leuchtthurm,  dies  geht  vielleicht  auf  den  Prolog  des  Agamemnon) 
und  Stazsyi'a  (diese  bezieht  er  auf  die  Phönissen).  In  der  Komödie  leistet 
besonders  das  flache  Dach  des  Hauses  diesen  Dienst. 

139)  Wie  in  den  Persern  des  Aeschylus,  aber  auch  wohl  in  der  Komödie 
(vgl.  die  Jr^uoi  des  Eupolis  Com.  II  1,  455  ff.).  Auch  Flufsgölter  oder  die  Erin- 
nyen,  wenn  sie  aus  der  Tiefe  der  Erde  emporstiegen,  wurden  so  vorgeführt, 
Pollux  IV  132. 

140)  KeoavrooxoTtslov  und  ßoovrsTov  Pollux  IV  130.  Ueber  den  ftijxavo- 
noiöi  vgl.  Aristophanes  Frieden  173. 

141)  Aeschylus,  dann  aber  auch  Sophokles  haben  sich  um  die  Einführung 
der  axTjvoyoafia  verdient  gemacht;  ein  tüchtiger  Künstler,  der  Maler  Agathar- 
chos  (Vitruv  VII  praef.  §  11)  widmete  ihnen  seine  Dienste;  später  mag  Apollo- 
doru«,  mit  dem  Zunamen  axiayQa(pos,  sich  mit  der  Bühne  und  der  Dekoration 
beschäftigt  haben. 


44  DRITTE   PERIODE  VON  500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

sehr  wohl  die  Vortheile  zu  würdigen,  welche  eine  möglichst  voll- 
ständige Vergegenwärtigung  der  Handlung  darbietet,  aber  man  ging 
nicht  darauf  aus,  durch  täuschende  Illusion  blofs  die  äufseren  Sinne 
zu  befriedigen.  Manches  war  nur  angedeutet,  anderes  ergänzte  die 
lebhafte  Einbildungskraft  Iheilnehmender  Zuschauer.  Es  gilt  dies  be- 
sonders von  der  alten  Komödie,  die  bei  einer  entschiedenen  Rich- 
tung auf  das  Phantastische  doch  niemals  über  so  reiche  Mittel  wie 
die  Tragödie  verfügte. 

Die  Ausstattung  der  Bühne  war  mannigfaltig  genug,  um  die 
verschiedensten  scenischen  Darstellungen  möglich  zu  machen.  Zumal 
die  Tragödien  des  Aeschylus,  der  immer  neue  dramatische  Bilder 
vorführte  und  auf  würdige  Ausstattung  Werth  legte,  nahmen  die 
Maschinerie  des  Theaters  vielfach  in  Anspruch.  Bei  Sophokles  mufs 
alles  viel  einfacher  gewesen  sein '"),  wie  überhaupt  der  äufsere  Prunk, 
den  die  alte  Tragödie  nicht  verschmäht  hatte,  später  mehr  und  mehr 
ermäfsigt  wird,  sicherlich  zum  Vortheile  der  Kunst,  da  solche  äufsere 
Zuthat  nur  zu  leicht  den  Sinn  der  Zuschauer  von  dem  tieferen  poe- 
tischen Gehalte  ablenkt.  Leere  Schaugepränge,  grofsartige  Proces- 
sionen  auf  der  Bühne  und  dergleichen,  sind  den  Griechen  in  der 
klassischen  Zeit  unbekannt,  während  die  Römer  daran  vorzugsweise 
Wohlgefallen  fanden. 
Rechts  und  Ob  der  Chor  von    der  rechten  oder  linken  Seite   her   in   die 

Theater*  Orchestra  einzog,  ob  ein  Schauspieler  durch  den  rechten  oder  linken 
Seiteneingang  die  Bühne  betrat"^),  war  nicht  gleichgültig.  Die  Büh- 
nenpraxis verknüpfte  mit  jedem  dieser  Zugänge  eine  bestimmte  Be- 
deutung, und  der  Zuschauer,  der  mit  dieser  einfachen  Symbolik  ver- 
traut war,  wurde  dadurch  in  den  Stand  gesetzt,  sich  augenblickUch 
über  die  Voraussetzungen  der  dramatischen  Handlung  zu  orientiren. 
Die  linke  Seite  weist  auf  Stadt  und  Hafen,  die  rechte  auf  das  Land 
und  die  Fremde  hin.  Man  unterschied  also  sofort,  ob  einer  aus 
der  Nähe  oder  Ferne  kommt.  Diese  conventioneile  Ortsbezeichnung, 
welche  von  der  attischen  Bühne  ausgeht,  hat  allgemeine  Geltung 
erlangt.'*^)    Wenn  man  auf  der  Bühne  des  attischen  Theaters  stand 


142)  Euripides  kehrt  in  einzelnen  Dramen,  wie  z.  B.  in  den  Schulzflehen- 
den, wie  es  scheint,  wieder  zu  der  Weise  der  älteren  Tragödie  zurück. 

14r{)  Die  beiden  Eingänge  zur  Orchcstra  heifsen  ei'ioSoi  schlechthin  (Ari- 
stophanes),  die  Seileneingänge  der  Bühne  eliaoSoi  tii  axrjv^v. 

144)  Diese  Ausdrücke  links  und  rechts  gehören  der  Bühuenpraxis  an. 


DIE    DRAMATISICHE   POESIE.     EINLEITUNG.  45 

und  das  Gesicht  nach  dem  südhchen  Abhänge  der  Akropolis  und 
dem  Zuschauerräume  richtete,  hatte  man  zur  Linken  die  Stadt  Athen 
und  den  Hafen,  zur  Rechten  die  Landschaft.  Wenn  der  Chor  aus 
der  Heimalh  kommt,  so  tritt  er  von  der  Linken  auf"*),  kommt  er 
aus  der  Fremde,  so  wird  der  rechte  Eingang  benutzt.  In  der  Tra- 
gödie, wenigstens  bei  Sophokles  und  Euripides,  ist  die  erste  Form 
des  Einzugs  die  gewöhnhche,  weil  diese  Dichter  den  Chor  in  der 
Regel  aus  den  Rewohnern  des  Ortes  bilden,  wo  eine  Handlung  vor 
sich  geht.'^)  Ebenso  verhält  es  sich  mit  dem  linken  und  rechten 
Seiteneingange  der  Rühne."')  Der  Rote,  der  das  meldet,  was  sich 
im  Innern  des  Hauses  ereignet,  tritt  auf  der  hnken  Seite  auf,  wäh- 
rend der  Rote,  welcher  über  das,  was  sich  aufserhalb  zugetragen 
hat,  berichtet,  von  rechts  nach  hnks  geht.'^*)  Die  rechte  Periakte 
steUt  Rilder  aus  der  Landschaft ,  die  hnke  aus  Stadt  und  Hafen  dar'^) 
und  dient  zugleich  in  gewissen  Fällen  als  Ersatz  für  die  Maschine, 


sind  daher  auch  von  der  Bühne  aus  zu  verstehen,  und  die  Notizen  der  späte- 
ren Berichterstatter  sind  unter  sich  im  Einklänge. 

145)  Schol.  Aristid.  III  S.  535  sagt,  der  Chor  habe  beim  Einzüge  die  Zu- 
schauer zur  linken  und  die  tt^iwto«  rov  yooov  bildeten  den  linken  Flügel,  der 
im  Chor  als  Ehrenplatz  galt,  Mas  von  der  sonstigen  Sitte  abweicht.  Dann  wird 
noch  S.  536  hinzugefügt :  tva  sv^e&fi  ex  Ss^icöv  tov  olqxo^^os  (6  yo^ös).  Dies 
ist  nicht  der  eigentliche  Grund  (sondern  die  besten  Choreuten  sollten  sich  den 
Zuschauern  präsentiren),  aber  die  Thatsache  wird  richtig  sein.  Der  Vorsitzende 
Archon  halte  offenbar  seinen  Platz  auf  der  untersten  Stufe  des  ersten  Keiles 
der  Westseite,  d.  h.  er  safs  auf  dem  rechten  Flügel  der  Zuschauer,  als  dem 
Ehrenplatze.  Dafs  in  der  Zeit  Hadrians  die  Sitzplätze  der  Archonten  sich  auf 
der  entgegengesetzten  Seite  befanden,  ist  eben  eine  Neuerung.  Der  Einzug 
durch  den  linken  Eingang  Mar  am  gebränchiichsten;  daher  richtet  sich  die  Ord- 
nung der  Choreuten  darnach. 

146)  Bei  Aeschylus  finden  sich  mehrfache  Ausnahmen,  wie  z.B.  in  den 
Schutzflehenden;  in  den  Eumeniden  und  im  Prometheus  hält  der  Chor  keinen 
förmlichen  Einzug  in  die  Orchestra.  Für  den  Chor  der  Komödie  gilt  die  gleiche 
Norm;  kommt  er  aTto  ttjs  TiöXstos,  so  zieht  er  Sia  rrjs  d^tarsQäs  cnplSos,  da- 
gegen Sia  T^s  Se^iäi  ätplSos,  M'enn  er  otio  ayoov  auftritt,  s.  Ttsol  xauofSias 
IX  a  14  ff.  und  35  ff.,  X  c  34  ff. 

147)  VitruvVT,  S:  secundum  ea  loca  versurae  sunt  procurrentes,  quae 
efficiunt  una  a  f'oro,  altera  a  peregre  adittis  in  scaenam.  Die  Stelle  des  Pollux 
IV  126  über  diese  Ttä^oSot  ist  nicht  in  Ordnung. 

148)  Der  d^äyyeÄo»  geht  Sia  axoas  ir,s  Xaiäs,  der  ayys?/}S  ix  Se^köv 
jiQos  lawv  (MiQos,  wie  Tzetzes  sich  ausdrückt.  Ebenso  führt  nach  Pollux 
IV  125  die  rechte  Thür  der  Dekorationswaod  zur  Fremdenwohnung  {^evcäv). 

149)  Pollux  IV  126. 


46  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

welche  Göttererscheinungen  vorführte;  denn  auch  die  Maschine  war 
auf  der  linken  Seite  angebracht.'*")  Dies  ist  befremdlich,  da  nach 
der  herrschenden  Anschauung  der  Hellenen  die  rechte  Seite  für 
glückverheifsend  gilt  und  die  Götter  in  der  Tragödie  meist  als  hülf- 
reiche Wesen  erscheinen;  aber  hier  war  eben  die  Rücksicht  auf  die 
Zuschauer  mafsgebend,  denen  so  die  Götter  rechtshin  sichtbar  wur- 
den, wie  es  die  volksmäfsige  Vorstellung  verlangte. 
Vertheiiung  Die  untersten  Stufen,  als  die  besten  Plätze,  waren  den  geist- 

der  Plätze 

■  heben  und  weltlichen  Würdenträgern  vorbehalten ;  in  dem  geweihten 
Räume  des  Dionysus  hatte  der  Priester  des  Gottes,  wie  sich  gebührte, 
seinen  Sessel  gerade  in  der  Mitte  der  untersten  Sitzreihe."')  Selbst- 
verständhch  waren  dem  Vorsitzenden  Archon  und  denen,  die  ihn 
bei  der  Ordnung  der  Festfeier  unterstützten,  Ehrenplätze  angewiesen. 
Aber  auch  die  anderen  Archonten,  sowie  höhere  Reamte,  besonders 
die  Strategen,  genossen  unzweifelhaft  schon  in  der  klassischen  Zeit 
dieses  Vorrecht,  ebenso  Priester,  wenn  schon  nicht  in  der  Ausdeh- 
nung, wie  später'"),  dann  fremde  Gesandte  und  andere  Gäste  des 
Staates,  sowie  einzelne  RUrger,  denen  man  wegen  besonderer  Ver- 
dienste diese  Auszeichnung  zuerkannt  hatte.'")  Auch  den  Preis- 
richtern wird  man  vorzügliche  Sitzplätze  zugetheilt  haben.  Ebenso 
ward  den  Mitgliedern  des  Rathes  der  Fünfhundert,  dann  im  Interesse 
der  Zucht  und  Ordnung  den  Epheben  ein  abgesonderter  Raum  an- 
gewiesen.'") Die  übrigen  Plätze  waren  der  Rürgerschaft  ohne  Unter- 
schied zugänghch;  nur  scheint  man  die  obersten  Sitzstufen,  also  die 

150)  PoUux  IV  128:  xslrai  xara  rrjv  uQiareQav  tcÜqoSov  tmi^  r^r  axr]- 
vTjv  To  vtpoe,  ebenso  Schol.  zu  Clemens  Protr.  98.  Schol.  Lukian  IV  S.  224,  wo 
er  zwei  Maschinen  unterscheidet,  sagt  »J  i^  ä^iars^äv  d'eoie  xal  i^^ojai  ive- 

151)  Arisloph.  Frösche  297.  Der  mit  Reliefs  verzierte  marmorne  Sessel 
ist  noch  erhalten  [CIA.  III 1,  240]  und  gehört  vielleicht  der  Zeit  des  Lykurg  an, 
wenn  schon  die  Schriftzüge  ie^itoe  Jioviaov  'Elev&epitos  auf  eine  spätere 
Epoche  hinweisen. 

152)  Die  &g6vot  des  upofävtr,e  und  der  anderen  Priester  erwähnt  Dio 
Chrysostomus  31, 121,  er  hat  aber  seine  Zeil  im  Auge.  In  der  Zeit  des  Hadrian 
waren,  wie  die  Ausgrabungen  gezeigt  haben,  die  untersten  zwanzig  Sitzreihen 
vorzugsweise  für  das  priesterliche  Personal  bestimmt. 

153)  Vielleicht  ward  auch  berühmten  Dichtern  die  Proedrie  zuerkannt 
(Aristoph.  Ritter  536). 

154)  BovXevriKÖs  (tottoc),  ift]ßix6e,  Schol.  Aristoph.  Vögel  794,  Pollux 
IV  122. 


DIE   DRAMATISCHE   POESIE.      EINLEITUNG.  47 

entferntesten  und  schlechtesten  Plätze,  den  Metöken  und  Fremden 
zugetheilt  zu  haben.'") 

Der  Besuch  der  Schauspiele  war  anfangs  unentgehhch.  So  moch-  ^''"^'[j"^ 
ten  nicht  wenig  unberechtigte  sich  zudrängen  und  Unordnungen 
entstehen,  die  zumal  bei  den  gebrechhchen  Brettergerüsten  leicht 
eine  wirkliche  Gefahr  herbeiführen  konnten.  Man  führte  daher  ein 
Eintrittsgeld  ein  "^),  wahrscheinhch  bei  der  Erbauung  des  steinernen 
Theaters  Ol.  70.  Der  Staat  verpachtete  diese  Einnahmen  an  einen 
Unternehmer,  der  zugleich  das  Theater  in  bauhchem  Stande  zu  er- 
halten verpflichtet  war."')  Das  Eintrittsgeld  warmäfsig;  man  zahlte 
für  einen  jeden  Theatertag  zwei  Obolen  für  seinen  Platz.'**)  Gleich- 
wohl wurde  dadurch  den  ärmeren  Bürgern  der  regelmäfsige  Besuch 
der  Schauspiele  erschwert  oder  unmöglich  gemacht.  Man  war  jedoch 
verständig  genug,  eine  Einrichtung,  welche  sich  bewährt  hatte,  nicht 
aufzuheben,  sondern  Perikles  führte  wahrscheinhch  im  Zusammen- 
hang mit  der  Verdoppelung  der  dramatischen  Spiele  die  Auszahlung 
des  Theorikon  ein.'^^)  Jeder  attische  Bürger  erhielt  eine  Drachme, 
die  gerade  für  die  drei  Theatertage  der  Lenäen  wie  der  grofsen 
Dionysien  ausreichte.    Man  darf  diese  Spende  nicht  mit  den  übrigen 


155)  Darauf  deutet  Alexis  in  der  rwatxoxQaria  fr.  1  Com.  III 402  (also  in 
der  verkehrten  Welt,  m  o  die  Frauen  die  Stelle  der  Männer  einnehmen)  bei  Pol- 
lux  IX  49 :  ivzav&a  TieQi  ttjv  kayaTr^v  Sei  y.e^y.iSa  'Tfiäi  y.ad'iZoiaaS  d'ecDQEiv 
ü:s  ^evae.  Auch  Aristoph.  Acharn.  507.  50S  deutet  auf  die  Absonderung  der 
Metöken  von  den  Bürgern  hin ;  denn  an  Ausschlufs  der  Metöken  an  den  Lenäen 
ist  nicht  zu  denken,  da  ja  selbst  die  Leistung  der  Choregie  von  ihnen  gefordert 
wurde;  noch  weniger  darf  man  V.  50S  als  Zusatz  von  fremder  Hand  entfernen. 

156)  Schol.  Lukian  Timon  49. 

157)  Dieser  Unternehmer  heifst  daher  d'sarocovTjS  {d'ear^oTrcö/.T^s ,  oqx*- 
rixTcov).  Das  Theater  im  Piräeus  war,  wie  die  Inschrift  (GIG.  102)  zeigt,  für 
3300  Drachmen  verpachtet,  und  auch  hier  hatte  der  Pächter  vertragsmäfsig  die 
nöthigen  Reparaturen  zu  übernehmen.  Der  Gewinn  des  Unternehmens  mag 
trotzdem  nicht  unbedeutend  gewesen  sein. 

156)  Demosth.  de  corona  28.  Der  Staat  hatte  natürlich  den  Preis  fest- 
gestellt. Theuere  Plätze  gab  es  nicht.  Wer  das  Recht  der  TiQosSoia  besafs, 
zahlte  nichts,  aber  die  Rathsmitglieder  und  Epheben  werden  wohl  die  zwei 
Obolen  entrichtet  haben.  Wenn  der  Staat  in  besonderen  Fällen,  wie  für  Ge- 
sandte, Plätze  in  Anspruch  nahm  (der  Architekt  wies  sie  auf  Befehl  der  Be- 
hörden an,  xazavt'ficiv  &£av),  scheint  er  den  Architekten  dafür  entschädigt  zu 
haben,  wie  Demosthenes  andeutet. 

159)  Das  Theorikon  wurde  anfangs  aufser  den  Dionysien  nur  noch  an 
den  Panathenäen  ausgezahlt. 


48  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.    CHR.  G. 

auf  gleiche  Linie  stellen.  Hier  liegt  keine  politische  Berechnung  zu 
Grunde,  sondern  die  humane  Absicht  war,  jedem  berechtigten  Ge- 
nossen des  Gemeinwesens  den  Zutritt  gerade  zu  den  edelsten  Kunst- 
genüssen, welche  diese  Feste  darboten,  möglich  zu  machen.**')  Für 
den  Mifsbrauch,  welcher  später  mit  den  Theorikengeldern  getrieben 
wurde,  ist  der  Urheber  dieser  verständigen  Mafsregel  nicht  verant- 
worthch.  Dafs  in  Folge  dieser  neuen  Einrichtung  der  Besuch  des 
Theaters  bedeutend  zunahm,  ist  bezeugt,  wie  denn  überhaupt  das 
Interesse  an  scenischen  Darstellungen  sich  fortwährend  steigert. 
Zahl  der  \\\q  viel  Zuschaucr  das  attische  Theater  fassen  konnte,  ist  nicht 

'  überliefert.  An  den  Lenäen ,  wo  die  Bürgerschaft  gewissermafsen 
unter  sich  war'®'),  indem  nur  die  Fremden,  welche  sich  dauernd 
in  Athen  niedergelassen  hatten  oder  doch  dort  vorübergehend  auf- 
hielten, erschienen,  war  natürlich  die  Zahl  geringer.  Anders  an  den 
stadtischen  Dionysien,  die  im  Frühjahr  gefeiert  wurden,  wo  die 
SchilTfahrt  wieder  eröflnel  ward  und  daher  Kaufleute,  wie  Fremde 
aus  allen  Theilen  Griechenlands  sich  in  grofser  Zahl  einfanden ;  hier 
erschienen  auch  die  Abgeordneten  der  attischen  Bundesgenossen,  um 
ihre  jährlichen  Tribute  zu  zahlen.  Bei  dieser  Gelegenheit  entfaltete 
Athen  all  seinen  Glanz.  Es  war  ein  allgemeines  nationales  Fest,  und 
mit  wohlberechneter  Liberalität  gestattete  man  den  Fremden  ohne 
Ausnahme  den  Zutritt  zu  den  Schauspielen.  An  den  städtischen 
Dionysien  dürfte  die  Zahl  der  Zuschauer  durchschnittUch  mindestens 
30  000,  wo  nicht  mehr  betragen  haben.'")    Von  der  städtischen  Be- 


160)  Diese  Einrichtung  parst  ganz  zu  der  Sinnesweise  des  Perikles,  der 
ein  reges  Interesse  für  Volksbildung  besafs:  die  Vertheilung  des  Theorikon  ent- 
sprach dem  Priucip  der  Gleichheit,  und  zugleich  wurde  im  Interesse  der  Ord- 
nung und  Bequemlichkeit  das  Einlriltsgeld  beibehalten.  Vielleicht  gab  aber 
ein  anderer  die  erste  Anregung.  Plutarch  Pericl.  c.  9  schreibt:  T^snerat  n^ui 
XTjv  T<äv  Srjfxoaicüv  Siavo^trjv,  avfißovlevaavToi  avrtö  JtjftcjriSov  rov  0'Crj&'st\ 
(ÖS  'Aoiaxoxilrji  larö^Tjxe.  Dieser  Demonides  ist  ganz  unbekannt;  es  ist  wohl 
Dämon,  der  Sohn  des  Damonides,  drr  bekannte  Musiker  gemeint,  der  dem  Pe- 
rikles, obschoH  er  einer  ganz  anderen  politischen  Hiclitung  angehörte,  doch 
persönlich  nahe  stand.  Ebendeshalb  wird  sich  aber  der  Einflufs  des  Dämon 
nur  auf  das  Theorikon  beschränkt  haben. 

161)  Aristopli.  Acharn.  507. 

162)  Die  Zahl  der  Bürger  und  iMelöken  in  Anika  betrug  durchschnittlich 
30,000;  wenn  nun  auch  nicniuls  die  gcsamnite  erwachsene  männliche  Bevölke- 
rung des  Landes  im  Theater  anwesend  Mar,  so  mufste  man  doch  auf  die  zahl- 
reichen Fremden  Kücksicht  nehmen.     Das  Theater  war  wohl  geräumig  genug, 


DIE   DRAMATISCHE   POESIE.     EL>XEITCNG.  49 

völkerung  mochten  nur  wenige  zu  Hause  bleiben,  wenn  Schauspiel 
war,  und  aus  den  Landgemeinden,  selbst  den  entfernteren,  fanden 
sich  gerade  an  diesen  Festtagen  viele  ein,  die  sonst  nie  zur  Stadt 
gingen,  namentlich  seitdem  das  Theorikon  eingeführt  worden  war. 

Ob  auch  Frauen  und  Kinder  Zutritt  zu  den  dramatischen  Auf-Fj-auen  und 
führungen  hatten,  ist  eine  vielverhandelte  Frage.  Die  ganze  Slel-gg^chTossen' 
lung  der  Frauen  in  Athen,  sowie  die  Rücksicht  auf  eine  verständige 
Erziehung  der  Jugend,  die  selbst  ein  demokratisches  Gemeinwesen 
wie  Athen  nie  völhg  aufser  Acht  hefs,  sprechen  von  vornherein 
gegen  ihre  Zulassung.  Dann  würde  der  Umfang  des  Theaters,  so 
geräumig  er  auch  war,  schwerlich  ausgereicht  haben,  da  man  diese 
Erlaubnifs  doch  nicht  auf  eine  bestimmte  Zahl  beschränken  und  so 
ein  gehässiges  Privilegium  schaffen  durfte.  Thatsache  ist,  dafs  nir- 
gends abgesonderte  Plätze  für  Frauen  oder  Rinder  erwähnt  werden*^, 
und  eine  solche  Einrichtung  war  doch  unerläfshch.  Wären  Frauen 
im  Theater  gewesen,  so  würde  die  alte  Komödie,  wo  der  Dichter 
gern  die  Schranken  zwischen  Bühne  und  Zuschauerraum  überspringt 
und  sich  mit  dem  Pubhkum  in  unmittelbaren  Verkehr  setzt,  diese 
ergiebige  Quelle  des  Spafses  sicherlich  benutzt  haben.'") 


um  jene  Zahl  zu  fassen.  Daher  sagt  Plato  Sympos.  175 E,  wo  er  von  dem  ersteiv 
tragischen  Siege  des  Agathon  redet,  er  habe  sein  Talent  bewährt  iv  /läqrvaiv 
1CÖV  'E'ü.rywv  ix'fXov  i]  rgiaftvoiois.  Dieser  Ausdruck  pafst  eigentlich  auf  die 
grofsen  Dionysien,  die  den  Charakter  einer  panhellenischen  Panegyris  hatten, 
aber  Plato  drückt  sich  hyperbolisch  aus;  denn  Agathon  hatte  an  den  Lenäen 
gesiegt,  s.  Athen.  V  217  A  f.,  ein  Zeugnifs,  was  man  nicht  anzweifeln  darf. 

163)  Der  Schol.  Arisloph.  Ekkles.  22  sagt  freilich,  PhjTomachus  habe  ein 
Psephisma  beantragt,  wornach  die  Männer  und  Frauen  und  ebenso  die  Hetären 
wieder  abgesondert  sitzen  sollten.  Allein  dies  ist  nur  ein  Autoschediasma ;  der 
Sinn  der  Stelle  war  schon  den  Alten  dunkel ,  und  andere  lasen  statt  <Pv^ 
fiayos  vielmehr  K)^cfiayos  (ein  tragischer  Schauspieler).  Wenn  Alkibiades  als 
Choreg  (siatcav  eis  ro  d-taTQov)  auch  von  Frauen  bewundert  ward  (Athen. 
XII  534  C).  so  ist  damit  das  Publikum  auf  der  Strafse  und  den  Dächern  der 
Häuser  gemeint. 

164)  Aristoph.  Ekkles.  1146  werden  die  verschiedenen  Altersklassen  der 
Zuschauer  mit  den  Worten  xa)^li  ytQovra,  fisiodxiov,  TtatSiaxov  bezeichnet, 
wobei  an  die  Epheben  zu  denken  ist.  Ebensowenig  beweist  Wolken  539:  tdis 
TiaiSiots  iv'  fi  yÜMS  für  die  Anwesenheit  der  Kinder;  denn  dies  heifst  nur: 
ein  lächerlicher  Anblick  für  Kinder.  Wenn  es  im  Frieden  966  ovx  o.i  ywahcsi  y' 
fhaßov  heifst.  so  ist  mit  klaren  Worten  gesagt,  dafs  die  Frauen  nicht  im  Thea- 
ter, sondern  zu  Hause  sind.  Dafs  im  Theater  zu  Athen  später  zahlreiche  Plätze 
für  Priesterinnen  und  Jungfrauen,  wie  die  Hersephoren,  bestimmt  waren,  ist  erst 

Bergk,  Griech.  Literaturgeschichte  IlL  4 


50  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Wenn  man  gemeint  hat,  die  Theilnalmie  der  Frauen  sei  auf 
die  Tragödie  zu  beschränken'"),  so  erscheint  auch  dieser  vermit- 
telnde Versuch  nicht  glückhch,  wenn  man  bedenkt,  dafs  an  dem- 
selben Tage  in  unmittelbarer  Folge  Lustspiele  und  Trauerspiele  auf- 
geführt wurden.  Es  ist  nur  ein  Mifsbrauch,  wenn  in  der  Zeit  des 
Plato  und  später  nicht  nur  einzelne  Frauen  und  Kinder  mitbrach- 
ten, sondern  sogar  Sklaven  oder  Freigelassene  den  dramatischen 
Aufführungen  beiwohnten.'*') 


JiSäaxa-        Der  Dichter,  welcher  ein  Drama  zur  Aufführung  bringen  wollte, 
^s-    meldete  sich  beim  Archon.    Dieser  entschied  ganz  nach  eigenem  Er- 
messen, und  für  einen  jüngeren  Mann,  der  sich  noch  nicht  bewährt 
hatte,  mochte  es  nicht  leicht  sein,  einen  Chor  zu  erhalten '"),  wurde 


in  der  Zeit  der  römischen  Herrschaft  aufgekommen.  Unter  den  Sesseln  der  vor- 
dersten Reihe  sind  nur  zwei  Frauen  angewiesen ;  der  eine  trägt  den  Namen  der 
Athenion,  Priesterin  der  Athene  (die  in  der  zweiten  Hälfte  des  zweiten  Jahr- 
hunderts n.Chr.  lebte  [CIA.  Ul  1,  282]),  der  andere  hat  die  Aufschrift  le^eias 
'HXiov,  wahrscheinlich  der  gleichen  Zeit  angehörend  [CIA.  III  1,313]. 

165)  Wenn  dem  Euripides  bei  Aristophanes  Frösche  1050  ff.  vorgeworfen 
wird,  er  habe  auf  die  Frauen  nachtheiligen  Einflufs  ausgeübt,  so  folgt  daraus 
nicht,  dafs  sie  im  Theater  seine  Tragödien  aufführen  sahen,  sondern  dafs  sie 
seine  Stücke  lasen. 

166)  Plato  Gorg.  502  D  nennt  geringschätzig  das  Publikum  der  Dichter  im 
Theater:  Srjfiov  naidtov  rs  ofiov  xai  ywatxäiv  xal  avS^cäv  xal  SoiXojv  xai 
iXevd'iQMv.  Dafs  er  aber  nur  factische  Zustände  schildert,  nicht  von  einem 
Rechte  die  Rede  ist,  beweist  schon  die  Erwähnung  der  SoiJmi.  Man  vergleiche 
auch  Leg.  II  658  D  und  VII 817  C.  Bei  wachsender  Zuchtlosigkeit  mögen  eben  be- 
sonders Hetären  sich  eingedrängt  haben ;  daher  mag  der  Spottname  d-BaxqoTOQivrj 
(Athen.  IV  157  A)  rühren.  Theophrast  Char.  c.  9  schildert  den  Geizigen,  der  für 
seinen  Gastfreund  einen  Platz  im  Theater  nimmt,  und  nicht  nur  selbst  mit  zu- 
sieht, ohne  etwas  zu  zahlen  (es  ist  zu  lesen  nrj  Soi/s  io  /ue^oe  xai  avToe  &e<o- 
Qsiv),  sondern  am  anderen  Tage  sogar  seine  Kinder  und  den  Pädagogen  mitbringt. 
An  den  ländlichen  Dionysien  mag  in  dieser  Beziehung  von  jeher  gröfsere  Freiheit 
geherrscht  haben.  Beachtung  verdient  auch  eine  Aeufserung  des  Aristot.  Pol. 
VII  17,  9,  wo  er  verlangt,  das  Gesetz  solle  die  vemtsqoi  von  der  Komödie  aus- 
schliefsen  {n^lv  7}  r^v  ^Xtxiav  läßtaaiv,  iv  rj  xni  xaxaxkiaeoie  vnd^^si  xot- 
vtovtiv  fiSrj  xai  /it&rji  xxX.);  er  will  also,  wie  es  scheint,  auch  die  Epheben 
ausschliefsen. 

167)  Der  übliche  Ausdruck  ist  xo^"*'  «t^«»»'  und  ^o^ov  StSovai,  vom  Dich- 
ter xoQO*'  Xaßeiv  {i'x^tv),  daher  xoQOv  ötSövai  sprüchwörtlich  gebraucht  ward, 


DIE  DRAMATISCHE  POESIE.     EDiLEITUNG.  51 

doch  manchmal  selbst  ein  anerkannter  Meister  zurückgewiesen.**^ 
Persönhche  Vorurtheile  wirkten  vielfach  ein,  und  so  mögen  die 
Dichter  auch  aus  diesem  Grunde  das  Geschäft  der  Aufführung  manch- 
mal einem  anderen  übertragen  haben,  der  der  Gunst  der  Behörde 
sich  erfreute.  Ein  bestimmtes  Lebensalter  war,  wie  es  scheint,  nicht 
vorgeschrieben;  jedoch  wird  keiner  gewagt  haben,  sich  bei  dem 
Archon  zu  melden,  ehe  er  nicht  berechtigt  war,  seine  staatsbürger- 
üchen  Rechte  auszuüben.'®^  Von  einer  vorausgehenden  Prüfung 
der  Stücke  ist  keine  Spur  vorhanden.'"")  Bei  der  Komödie  würde 
dies  zu  einer  Art  Censur  geführt  haben,  die  der  Dichter  sich  nicht 
gefallen  lassen  konnte.  Früher  überwies  wohl  der  Archon,  der  ein 
Drama  angenommen  hatte,  dem  Dichter  ohne  Weiteres   einen  Cho- 


wenn  man  einem  Redefreiheit  gewährt  (Plato  Rep.  11  3S3C,  Leg.  Vü  81 7  D,  wo 
der  Scholiast  zu  der  ersten  Stelle  bemerkt:  rra^  yaQ  rols  l4&r]vaioia  x^Qov 
iTvy^avov  xcoucpSias  xai  xQaycoBlas  ytoujrcU  ov  irayrcs,  oXJl  oi  evSoxifiovv- 
les  xai  Soxiuaa&svres  a^ioi). 

168)  So  mufste  Sophokles  einem  ganz  obscuren  Dichter  nachstehen;  eine 
ähnliche  Zurücksetzung  erfuhr  Kratinus  (s.  Bovx6)u)i  fr,  l  und  2  Com.  II 1,  26  flf.). 

169)  Wenn  ein  Dichter  vor  dem  zwanzigsten  Jahre,  wie  z.  B.  Eupolis  im 
Alter  von  siebzehn  Jahren,  sein  erstes  Stück  auf  die  Bühne  brachte,  so  hat  er 
sicher  sich  eines  Stellvertreters  bedient.  Angeblich  soll  ein  Gesetz  das  dreifsigste 
Jahr  vorgeschrieben  haben;  so  berichtet  der  Schol.  Aristoph.  Wolken  510,  der 
nicht,  wie  manche  meinen,  von  den  Komikern,  sondern  allgemein  von  drama- 
tischen Dichtern  redet.  Dafs  dieser  Gewährsmann  einer  späten  Zeit  angehört, 
beweist  schon  der  Ausdruck  Soäfta  avayivdaxeiv  iv  ^eäiQca,  und  wenn  er  hin- 
zufügt, Aristophanes  habe  damals  das  dreifsigste  Jahr  erreicht  gehabt,  so  vergifst 
er  der  Ritter.  Ein  anderer  Scholiast  zu  V.  530  [adn.  p.  434  Did.]  schwankt  gar  zwi- 
schen dreifsig  und  vierzig  Jahren.  Die  Thatsachen  sprechen  entschieden  dagegen: 
Aeschylus,  Sophokles,  Euripides  sind  vor  dem  dreifsigsten  Jahre  aufgetreten. 
Agathon  war  sehr  jung,  als  er  seinen  Erstlingsversuch  auf  die  Bühne  brachte, 
in  eigener  Person,  wie  aus  allem  hervorgeht,  und  das  Gleiche  gilt  wohl  auch 
von  Sophokles.  Ebenso  haben  die  namhaften  komischen  Dichter  in  frühem  Alter 
sich  ihrem  Berufe  zugewandt,  wie  Eupolis,  Aristophanes,  Antiphanes,  Menan- 
der;  diese  haben  allerdings  zum  Theil  sich  eines  fremden  Namens  bedient.  — 
Ebenso  wenig  ist  die  Ansicht  Neuerer  gerechtfertigt,  Ausländer  hätten  keinen 
Chor  erhalten :  wie  man  lyrische  Dichter  ohne  alle  Ausnahme  zuliefs,  so  auch 
dramatische.  Ion  ist  wohl  stets  Bürger  von  Chios  geblieben.  Aber  die,  welche 
beständig  für  die  attische  Bühne  thätig  waren,  werden  in  der  Regel  auch  das 
Bürgerrecht  erlangt  haben. 

170)  In  Rom  mag  dies  nicht  ungewöhnlich  gewesen  sein.  Terenz  mufste 
auf  Verlangen  der  Behörde  sein  erstes  Stück  einem  älteren  bewährten  Dichter 
vorlesen,  s.  Sueton  vit.  Ter.  p.  292,  29  Roth. 

4* 


52  DRITTE   PERIODE   VON   500    BIS   300  V,  CHR.  G. 

regen.  Spater  entschied  darüber  das  Loos"'),  um  so  viel  als  mög- 
lich jede  Parteilichkeit  fernzuhalten.  Nämlich  der  Choreg,  der  das 
erste  oder  zweite  Loos  zog'"),  durfte  sich  den  Dichter  wühlen,  und 
zwar  fand  die  Verloosung  mindestens  einen  Monat  vor  der  Festfeier 
statt.'^^)  Ebenso  ward  die  Reihenfolge  der  dramatischen  Aufführun- 
gen durch  das  Loos  geregelt.'"^) 

Das  mühsame  Geschäft,  den  Chor  und  die  Schauspieler  einzu- 
üben, übernahm  der  Dichter  selbst.'")  Noch  Euripides  kam  dieser 
Verpflichtung  nach.'^^)  Die  Aufführung,  welche  für  die  dramatische 
Poesie  so  wesentlich  ist,  konnte  niemand  besser  als  der  Dichter,  in 
dessen  Geiste  das  Werk  entsprungen  war,  vorbereiten  und  über- 
wachen.'^')    Denn  dem  Dichter  kommt  es  auch  zu,  sein  Werk  dem 


171)  Bei  den  lyrischen  Chören  wurde  dies  Verfahren  beobachtet  (Demosth. 
Mid.  13),  aber  das  Gleiche  gilt  offenbar  auch  für  die  dramatischen  Aufführungen. 
Aus  Demosth.  Mid.  58  darf  man  nicht  schliefsen,  dafs  der  Choreg  sich  den  Dich- 
ter gewählt  habe;  denn  ^avvicov  6  rovs  r^ayixoi/s  x^Qovs  SiSäaxoav,  den  der 
xo^ybs  x^aycoSwv  anwirbt  (ifiia&äxjaxo),  ist  kein  tragischer  Dichter,  sondern 
nur  ein  vTtoSiSäaxakos. 

172)  Der  dritte  hatte  natürlich  keine  freie  "Wahl. 

173)  Darauf  deuten  wohl  die  unklaren  Worte  Arg.  II  Demosth.  Mid.  hin: 
7tavofiEin}i  Ss  TTjS  eoQxriS  iv  t^»  TtQtorcj}  firjvl  TtQoißäXXovto  oi  XOQVy^^  ''^V^ 
fiEXXovarjS  io^TTJe. 

174)  Aristoph.  Ekkles.  1158. 

175)  Daher  x'^QO'^  StSaaxetv,  S^äfia  SiSdaxeiv;  ebenso  bezeichnet  SiSa- 
ffxaXia  dieses  Geschäft,  wird  aber  dann  auch  auf  das  dramatische  Gebiet  über- 
tragen, und  der  Dichter  heifst  SiSäaxaXoe  oder  bestimmter  r^ayotSoStSuaxaXos, 
xcoft(^So8iSaaxalos,  weil  er  den  Chor  der  xQaytpSoi  oder  x(o/n(oSoi  einübt.  Diese 
Worte  sind  ganz  correkt  gebildet,  aber  Aristophanes  sagt  nach  dieser  Analogie 
auch  r^aycoSoTtoios,  xoifuoSonotrjTTje,  r^yfoSoTtoiofiovatxr],  und  die  Attikisten 
lassen  nur  diese  Formen  gellen,  nicht  r^ayojSioTioios,  xojfKoSionotös ,  obwohl 
diese  Worte  regelrecht  gebildet  sind  und  bei  den  Späteren  allgemein  üblich 
waren.  Die  Ausdrücke  xQuynjSoi,  xojfto'Soi  gehen  eigentlich  auf  den  Chor, 
aber  zuweilen  nennt  man  auch  den  Dichter  oder  den  Schauspieler  r^aycoSös, 
xiofttpSöe.  Mit  SiSnaxsiv  wechseln  ab  die  Ausdrücke  eiaayeip  S^äfia  (s.  A.  178), 
ferner  xa&uvat  8^ä/ia  und  xa&eaie  S^ä/uaroi,  was  zunächst  auf  den  Agon  der 
Dichter  zu  beziehen  ist,  bei  den  Späteren  auch  avayiyvcöaxeiv  S^äfta,  indem 
sie  mifsbräulich  die  Praxis  ihrer  Zeit  auf  die  klassische  Epoche  übertragen. 

176)  Plutarch  berichtet,  dafs  Euripides  dem  Chore  ein  in  mixolydischer 
Harmonie  gesetztes  Lied  vortrug,  und  als  einer  der  Choreuten  bei  dieser  ernsten 
Melodie  eine  lächelnde  Miene  zeigte,  dieses  ungebildete  Wesen  rügte. 

177)  Auf  den  Dichter  selbst  gehen  wohl  meist  auch  die  dramaturgischen 
Bemerkungen  (die  sogenannten  naQuityi^afai)  zurück,  welche  die  nöthige  An- 


DIE   DRA5UTISCHE  POESIE.    EI>XEITÜ>G.  53 

Publikum  persönlich  vorzurdhren  und  die  Darstellung  auf  der  Bühne 
zu  leiten.  Wie  das  Drama  aus  Chorgesängen  hervorgegangen  ist, 
so  war  es  Brauch,  dafs  der  dramatische  Dichter  den  Chor  anführte : 
während  der  Herold  seinen  Namen  verkündete,  zog  er  an  der  Spitze 
der  Choreuten  in  die  Orchestra."')  Wie  lange  sich  diese  Sitte  er- 
hieh,  wissen  wir  nicht;  aber  auch  später  wohnte  offenbar  der  Ver- 
fasser eines  Dramas  oder  wer  sonst  an  seiner  Stelle  die  Einübung  des 
Stückes  übernommen  hatte,  der  Aufführung  bei,  um  das  Ganze  zu 
überwachen  und,  wenn  es  galt,  mit  Rath  und  That  beizustehen.'") 
Stellvertretung  war  eigentUch  nicht  gestattet.  Wollte  oder  konnte 
ein  Dichter  sich  nicht  selbst  dieser  Mühe  unterziehen,  dann  mufste 
er  einem  anderen  sein  Drama  übergeben,  der  sich  in  eigenem  Namen 
bei  der  Behörde  meldete  und  den  Chor  einübte.'***)    Die  Dichter  der 


weisDng  für  die  Aufführung  des  Stückes  enthiehen.  In  der  Tragödie  (wo  übri- 
gens nur  dürftige  Reste  sich  erhalten  haben,  wie  Aeschyl,  Eumen.  120  ff.  fivyftoe, 
ciyfios,  fivyuös  SmXovs  o|vs)  könnten  sie  auch  von  späterer  Hand,  von  einem 
vnoSiSäaxalos.  hinzugefügt  sein,  aber  in  den  Komödien  des  Aristophanes ,  wo 
ja  in  der  Regel  keine  spätere  Aufführung  stattfand,  rühren  sie  unzweifelhaft 
vom  Dichter  selbst  her.  Die  TiaQeTttyQafai  bei  Aristophanes  sind,  wie  dies 
die  Natur  der  alten  Komödie  mit  sich  brachte,  weit  zahlreicher,  aber  keines- 
wegs vollständig  überliefert. 

178)  Ein  anschauliches  ßUd  dieser  alten  Sitte  giebt  Aristoph.  Ach.  11, 
wo  der  Herold  den  Tragiker  Theognis  aufruft :  ft'ffo/'  a  Oioyvt  rov  xo^v. 
Daher  der  Ausdruck :  aiaayew  Soäfia  =  SiSaaxeiv,  wie  in  der  Didaskalie  der 
Aristophanischen  Lysistrata:  etarjxrai  Sia  Ka}J.iaxQäxov. 

179)  Dies  beweist  die  Erzählung  von  Aeschylns,  der  einst  den  heftigen 
Unwillen  des  Publikums  sich  zuzog  und  genöthigt  war,  am  Altar  des  Dionysus 
Schutz  zu  suchen.  Aehnliches  wird  mehrfach  von  Euripides  berichtet.  Auf 
die  Anwesenheit  des  dtSäaxakoe  ist  wohl  auch  Aristoph.  Friede  763:  aiU' 
a^ÖLftevos  rrjv  axevr^v  ev&iis  i^cä^ovr  zu  beziehen.  Deutlicher  ist  Demosthenes 
Mid.  5S,  wo  Sannio,  6  rovs  r^ayixovs  xo^ovi  StSdaxojv,  von  einem  Choregen 
für  den  tragischen  Chor  gemiethet  war:  die  anderen  Choregen  wollten  diesen 
v7toSiSäaxa)u>s,  dessen  bürgerliche  Ehre  nicht  makellos  war,  nicht  zulassen, 
standen  aber  zuletzt  ab,  cJs  inXr,^oJ9^r,  rb  &ear^ov  xal  tov  ox^ov  avvst/.ey- 
fiivov  slSov  ini  xhv  ayäva. 

180)  Verschiedenartige  Motive  mögen  dabei  mitgewirkt  haben.  Mancher 
mochte  glauben,  ein  anderer  werde  leichter  vom  Archon  einen  Chor  erhalten; 
manche  trauten  sich  die  Fähigkeit,  einen  Chor  einzuüben,  nicht  recht  zu  oder 
scheuten  auch  diese  Mühe,  daher  nicht  nur  Anfanger  aus  Schüchternheit,  son- 
dern schon  bewährte  Dichter  ihre  Stücke  durch  andere  aufführen  liersen,  wie 
wir  bei  Aristophanes  sehen.  Diese  Sitte  erhielt  sich  auch  später,  obwohl  es 
jetzt  viel  leichter  war  einen  Chor  zu  erhalten  und  die  Arbeit  geringer,  da  der 


54  DRITTE   PERIODE  VON   500   BIS   300   V.  CHR.  G. 

alten  Komödie,  wie  Aristophanes,  haben  nicht  selten  zu  diesem  Aus- 
kunftsmittel ihre  Zuflucht  genommen."*)  Von  den  älteren  Tragikern 
ist  nichts  Aehnhches  bekannt"''),  nur  dafs  Euripides  die  Aufführung 
der  Andromache,  die  wahrscheinlich  für  das  Theater  in  Argos  be- 
stimmt war,  einem  Freunde  übertrug.'^)  Ebenso  werden  nachge- 
lassene Arbeiten  der  Tragiker,  wie  des  Pratinas,  Aeschylus,  Sopho- 
kles, Euripides,  durch  ihre  Angehörigen  auf  die  Bühne  gebracht. 
Dagegen  später  scheint  man  das  Geschäft,  das  Drama  einzuüben, 
meist  einem  Gehülfen  übertragen  zu  haben  "^),  den  man  wohl  zu- 
nächst zuzog,  wenn  es  galt,  ältere  Stücke  wieder  aufzuführen. 


Chor,  dessen  Einübung  die  meiste  Mühe  machte,  immer  mehr  reducirt  wurde 
oder  ganz  wegfiel;  aufserdem  hatte  man  an  dem  vnoSiSnaxaXoe  eine  wesent- 
liche Hülfe.  So  liefs  Eubulus  seine  Komödien  zum  Theil  durch  den  Komiker 
Philippus  aufführen,  und  damit  hängt  auch  zum  Theil  die  fortwährende  Un- 
sicherheit des  literarischen  Eigenthums  zusammen.  Z.  B.  von  der  Komödie  Näv- 
vu>v  war  es  zweifelhaft,  ob  sie  von  Eubulus  oder  Philippus  verfafst  war. 

181)  Nicht  nur  Aristophanes,  sondern  auch  Eupolis  übertrug  anderen 
dieses  Geschäft.  Der  Autolykus  dieses  Dichters  ward  8i,a  ^rifwargärov  aufge- 
führt, Athen.  V  216  D.  Der  Komiker  Plato  Ihut  dies  ganz  gewöhnlich,  und  als 
ihn  seine  Zunftgenossen  deshalb  verspotteten,  entschuldigte  er  sich,  indem  er 
sich  mit  den  arkadischen  Söldnern  verglich,  die  auch  für  andere,  nicht  für  sich 
thätig  waren :  auffallend  ist,  dafs  hier  die  Armuth  des  Dichters  als  Beweggrund 
angeführt  wird  (Sia  nsviav  Suidas  1 1,  738  lAQxäSas  ftifiovfiavoi),  denn  dafs  ein 
anderer  dem  Dichter  die  Ehre  abgekauft  habe,  ist  schwer  zu  glauben;  wohl  aber 
deshalb,  weil  das  Geschäft  des  xoQo8iSä.axnh>s  mit  mancherlei  Unkosten  ver- 
knüpft war,  wie  z.  B.  der  Dichter,  der  den  ersten  Preis  erhalten  hatte,  einen 
Schmaus  {imvixia),  wie  Agathon,  zu  veranstalten  pflegte,  dessen  Kosten  der 
empfangene  Preis  schwerlich  deckte. 

182)  "Wohl  aber  von  den  jüngeren,  wie  Aphareus,  s.  Plutarch  im  Leben 
des  Isokrates  §  47 :  SiSatrxakias  aanxae  xad'Tixev  s'  xai  Sit  irixrjasv  Sta  Jto- 
vvalov  xa&eie  xnl  St^  sxiQcov  exeqas  Svo  y/tjvaixäe. 

183)  Dafs  die  Andromache  nicht  in  Athen  aufgeführt  wurde,  ist  über- 
liefert. Aphareus,  der  Sohn  des  Isokrates,  scheint  die  Didaskalie  regelmäfsig 
einem  anderen  übertragen  zu  haben  (Plut.  vit.  X  or.  Isoer.  §  47). 

184)  'Tno8t8äaxah>e,  Plato  Ion  536  A:  oQfia&os  TiäfijtoXve  i^rjQnjrcu  yp- 
QBxnöJv  TS  xal  SiSaaxäkcov  xai  vnoSiSnaxnXtor.  Eine  Gesandtschaft,  welche 
die  Corporation  der  Bühnenkünstler  an  die  Amphiktyonen  abordnet  (Philol.  24, 
539, 70  ff.)  besteht  aus  einem  xQayc^Siai  noirir^e  und  vier  xQaytxoi  vnoStSätrxa- 
h)i.  Ein  solcher  vnoSiSäaxakoe  ist  der  Sannio  bei  Demosth.  Mid.  58.  Auf  den 
xno8iSäaxa)4}S  mufs  man  wohl  auch  Plutarch  praec.  ger.  reip.  17:  ftifitla^'ai 
rovs  vnoxQixoe  nn&oe  fiev  i'Stov  xnl  7;&os  xal  a^i<ujua  T<jJ  ayöävt  TtQoaxi&iv 
ras,  xov  üi  vnoßoXicos  axovovxai  xal  fir,  iraQBxßaivovxat  xove  ^v&fiovi  xal 
To  fuxQa  TTfi  Si8oftevT]S  i^ovaiae  vno  xav  x^axovvxoiv,  nicht  auf  den  Souffleur 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.     EINLEITUNG.  55 

Der  Beruf  des  tragischen  Dichters  ist  von  dem  des  Komikers  Der  Beruf 
völhg  gesondert;  die  Vertreter  jeder  Gattung  bilden  einen  Stand  ters  und 
für  sich."^)    In  der  klassischen  Zeit  hat,  so  viel  wir  wissen,  niemals  Komikers 

•'  .  streng  ge- 

ein  Dichter  sich  in  beiden  Gebieten  der  dramatischen  Poesie  ver-  schieden, 
sucht.'*^)  Das  Lustspiel  hat  eben  eine  ganz  andere  Aufgabe  als  die 
Tragödie,  setzt  eine  eigenthümhche  Anlage  und  Geistesrichtung  vor- 
aus. Wer  in  einer  Gattung  etwas  Tüchtiges  leisten  wollte,  mufste 
seine  ganze  Kraft  auf  dieses  Ziel  richten.  Ebenso  trat  niemals  ein 
tragischer  Schauspieler  in  einer  Komödie  oder  ein  komischer  im 
Trauerspiele  auf.'*^)  Plato  hält  sich  genau  an  die  wirklichen  Ver- 
hältnisse, wenn  er  sagt,  es  sei  nicht  möghch,  dafs  derselbe  Dichter 
zugleich  in  der  Tragödie  und  Komödie  es  zur  Meisterschaft  bringe.**®) 
Damit  stimmt  nicht  recht  der  Schlufs  des  Symposiums'*^),  wo  be- 
richtet wird,  Sokrates  habe  bewiesen,  dafs  derselbe  Dichter  Lust- 
spiele und  Trauerspiele  müsse  machen  können,  und  sowohl  Agathon 
als  auch  Aristophanes  hätten  zuletzt  diesem  Satze  beigestimmt.  Aber 
wir  erfahren  nicht,  ob  dies  ernsthaft  gemeint  war  oder  ob  Sokrates 
nur  mit  gewohnter  Schalkhaftigkeit  seine  dialektische  Kunst  hand- 
habt. Wohl  aber  wenden  die  dramatischen  Dichter,  jedoch  vorzugs- 
weise die  Tragiker,  ihre  Thätigkeit  nebenbei  anderen  Gattungen  der 
Poesie  zu.  Pratinas  und  Phrynichus  waren  mit  Erfolg  auch  für 
lyrische  Chöre  thätig,  was  in  dieser  Zeit,  wo  in  der  Tragödie  das 
lyrische  Element  noch  entschieden  vorherrschte,  nichts  Auffallendes 
hat.  Ebenso  werden  auch  später  Dithyramben  von  Tragikern  auf- 
geführt. Gelegenheitsgedichte,  wie  Elegien  und  Epigramme,  haben 
selbst  die  drei  ffrofsen  Tragiker  verfafst.    Bekannt  ist  die  Vielseitig- 


beziehen ;  doch  wird  auch  dieser  nicht  gefehlt  haben,  und  vielleicht  versah  eben 
der  vTtoSiSaaxa^MS  zugleich  diesen  Dienst. 

185)  Bei  Aristophanes  Gerytades  fr.  1  [198  Di.]  werden  Vertreter  jeder  Gat- 
tung {exaarTjS  t^s  riyvrjs)  der  zu  Athen  gepflegten  Poesie  gewählt.  Hier  vertritt 
Sannyrion  die  Komödie,  iVIeletus  die  Tragödie,  Kinesias  die  kyklischen  Chordichter. 

186)  Erst  seit  der  alexandrinischen  Zeit  ändert  sich  dies.  Von  Kallimachus 
und  Timon  dem  Sillographen,  von  Nikolaus  aus  Damaskus  und  dem  älteren  Philo- 
stratus  werden  Tragödien  und  Komödien  erwähnt. 

187)  Plato  Rep.  III  395  ß.    Für  die  Choreuten  gilt  selbstverständlich  diese 
Sonderung  nicht;  vgl,  Aristot.  Pol.  III  3:  x°Qov  ote  fisv  xcofiixov  ora  Si  tqu- . 
ytxbv  SxEQOv  slvai  <pafiev,  rmv  avröiv  ixoXXäxis  avd'Qcöncov  ovxcov. 

188)  Plato  Rep.  III  395 B. 

189)  Plato  Sympos.  223D. 


56  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

keit  des  Ion,  der  die  verschiedensten  Formen  der  Poesie  und  Prosa 
cultivirte.  Diese  Versatilität  ist  das  charakteristische  Merkmal  der 
Sophisten,  wie  Hippias  und  Kritias,  oder  der  Rhetoren,  wie  Theo- 
dektes;  aliein  für  sie  war  die  tragische  Poesie  nicht  eigentlich  Lebens- 
aufgabe. Viel  strenger  beschränkten  sich  die  Komiker  auf  ihr  Gebiet. 
Nur  Hermippus  schrieb  Spottgedichte,  eine  Form,  die  gerade  dem 
Lustspieldichter  besonders  nahe  lag,  und  Anaxandrides,  der  über- 
haupt eine  eigenartige  Natur  war,  Dithyramben. 

rroduktiTi-  Indem  man  einer  bestimmt  abgegrenzten  Aufgabe  sich  mit  hin- 

'"'■  gebender  Treue  widmet,  entspringt  daraus  jene  nachhaltige  Kraft  der 
Produktion,  welche  die  eigentliche  klassische  Periode  kennzeichnet. 
Die  namhaften  Vertreter  der  dramatischen  Poesie  zeigen  eine  bewun- 
dernswerthe  Fruchtbarkeit'""),  und  dabei  war  man  bemüht,  dem  Pu- 
bhkum  nur  reife  Arbeiten  zu  bieten.  Als  man  später  immer  mehr 
an  rasches  Producieren  sich  gewöhnte,  mufste  die  Gediegenheit  der 
Arbeit  nothwendig  darunter  leiden;  es  gilt  dies  ebenso  wohl  von  den 
Leistungen  der  jüngeren  Tragiker,  wie  der  Lustspieldichter. 

Wie  jede  Kunst  bei  den  Hellenen ,  so  hat  ganz  besonders  die 
dramatische  Poesie  ihre  herkömmlichen  Satzungen  und  Normen,  die 
erlernt  und  geübt  sein  wollen.  Daher  schlofs  sich  der  jüngere  häufig 
an  einen  älteren  Dichter  an,  um  unter  seiner  Leitung  sich  die  un- 
entbehrlichen Kenntnisse  und  Fertigkeiten  anzueignen;  aber  auch 
wo  kein  so  unmittelbares  Verhältnifs  stattfand,  bildete  sich  der 
Jüngere  meist  nach  einem  anerkannten  Meister  des  Faches,  dessen 
Arbeiten  ihm  als  Muster  und  Vorbild  dienten. 

Vererbung  Daher  vererbt  sich   die  Kunst  geradezu  in  gewissen  Familien ; 

der  Kunst.  ^^^  ^qI^h  wandelt  dieselbe  Bahn,  die  sein  Vater  mit  Erfolg  betreten 
hatte,  wofür  die  Geschichte  der  tragischen  Poesie  bis  auf  Euripides 
zahlreiche  Beispiele  darbietet.  Nirgends  tritt  diese  Stetigkeit  der 
Tradition  deutlicher  hervor,  als  in  der  Familie  des  Aeschylus,  welche 
mehr  als  ein  Jahrhundert  hin  durch  die  tragische  Kunst  nach  der 
Weise  ihres  grofsen  Ahnherrn  ausübte.  Ebenso  können  wir  diese 
Vererbung  in  der  Familie  des  Karkinus  durch  mehrere  Generationen 
nachweisen ,  und  auch  in  der  Geschichte  des  Lustspiels  wiederholt 
sich  dieselbe  Erscheinung. 

190)  Dagegen  die  Dilettanten,  welche  Aristophanes  in  den  Fröschen  S9fl'. 
verhöhnt,  waren  unproduktiv;  sie  kamen  meist  über  einen  ersten  Versuch  nicht 
iiinaus. 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.      EINLEITUNG.  57 

Athen  ist  die  Heimath  der  dramatischen  Poesie.    Daher  gehören    Fremde 
auch  die  Dichter,  welche  sich  thesem  Berufe  widmen ,  grofsentheils  ejnheimi- 
durch  Geburt  Attiiia  an ;  aber  Talente  aus  der  Fremde  waren  jeder     -'chen 
Zeit  willkommen.    Namentlich  für  den  Tragiker  begründet  die  Her-  ^gtent!^ 
kunft  keinen   Unterschied."")     Der  PhHasier  Pratinas,   der  Tegeat 
Aristarchus,  Achäus  aus  Eretria,  Ion  von  Chios,  Neophron  aus  Sikyon 
und  viele  andere  waren  beständig  für  die  attische  Bühne  thätig,  ohne 
irgendwie   auf  Hindernisse  zu   stofsen.     INur  die  Dichter  der  alten 
Komödie  sind  eigenthch  ohne  alle  Ausnahme  geborene  Athener.  Ein 
Lustspiel  von  so  ausgeprägter  lokaler  Färbung  schlofs  ganz  von  selbst 
die  BetheiUgung  Fremder  aus'®^),   aber  nach  dem  peloponnesischen 
Kriege  war  der  Zutritt  zu   der  komischen  Bühne  auch  Ausländern 
unverwehrt. 

Die  Einrichtung  eines  Wettkampfes  für  tragische  und  komische  Preisrichter. 
Chore  setzt  Preisrichter  voraus,  die  in  der  älteren  Zeit  der  Archon 
nach  eigenem  Ermessen  ernannte '^^),  indem  er  sie  durch  einen  Eid 
zu  gewissenhafter  Ausübung  ihres  Amtes  verpflichtete.'^')  Fünf  Rich- 
ter urtheilten  über  die  Leistungen  der  Lustspieldichter,  und  die 
gleiche  Einrichtung  ist  auch  für  das  Theater  zu  Syrakus  bezeugt. '^^) 
Wieviel  für  die  Tragödie  ernannt  wurden,  wird  nicht  berichtet,  wahr- 
scheinUch  sieben ;  wenigstens  treffen  wir  diese  Zahl  in  Alexandria.'^) 


191)  Die  Termuthung,  daTs  fremde  Tragiker  in  der  älteren  Zeit  ihre  Dra- 
men nur  an  den  Lenäen  aufführen  durften,  ist  unbegründet;  znr  Zeit  des  Pra- 
tinas traten  tragische  Chöre  nur  an  den  grofsen  Dionysien  auf. 

192)  Abgesehen  von  dem  Megarenser  Susarion,  dem  Begründer  des  Lust- 
spiels in  Attika,  und  Diokles,  der  Phliasler  und  Athener  heifst,  also  wohl  das 
Bürgerrecht  erlangt  hatte,  kommt  nur  der  Parode  Hegemon  von  Thasos,  der 
auch  Komödien  schrieb,  in  Betracht  (s.  Bd.  II  S.  4S7). 

193)  Es  ist  ein  singulärer  Fall,  wenn  bei  dem  ersten  Auftreten  des  So- 
phokles die  zehn  Strategen  zu  Preisrichtern  ernannt  wurden,  Plutarch  Cimon  c.  8. 

194)  Plutarch  Cimon  c.  8.  Pherekrates  (Kganaxaloi  fr.  16,  Com.  II  1,  293) 
warnt  die  Richter  ßifj  ^ntomteiv  luriS'  aSixcoe  xgiveiv,  und  droht  ihnen  mit 
schlimmer  Nachrede,  wenn  sie  dies  vergäfsen.    Aehnlich  Aristoph.  Ekkles.  1160. 

195)  Daraufgeht  das  Sprüchwort:  iv  nivit.  xoi.rwv  yovvaai  xslrcu  (s.  die 
Parömiographen  und  Hesychius). 

196)  Vitruv  VII  praef.  §  5  :  rejc  cum  iam  ex  civitatesex  lectos  {iudices  lit- 
teratos)  habuisset  nee  tarn  cito  septimum  idoneutn  inveniret.  Dieser  siebente 
war  der  Grammatiker  Aristophanes;  es  war  offenbar  ein  Agon  für  tragische 
Dichter.  Auch  Lukian  Harmonid.  c.  2 :  iv  roie  ayöüatv  ol  uev  TtolXoi  d'eaiai 
idaai  xporf]<jai  nors  xai  avgiaai,  xgivovat  Si  STitä  ^  nätne  r;  oaoi  Sr;  deutet 
darauf  hin.    Jedenfalls  war  die  Zahl  eine  ungleiche. 


58  DRITTE    PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Später  mufs  die  Ernennung  der  Preisrichter  von  dein  Archen  auf 
den  Rath  der  Fünfliundert  übertragen  worden  sein,  wobei  man  ein 
ziemlich  compliciertes  Verfahren  beobachtete,  indem  man,  wie  in 
manchen  anderen  Fällen,  das  Loos  mit  der  Wahl  verband.  Zunächst 
wählte  der  Rath  in  geheimer  Abstimmung  in  Gegenwart  der  Choregen 
eine  Anzahl  Preisrichter.  Ein  gewisser  Grad  von  Bildung  war  für 
dieses  Geschäft  unentbehrlich;  denn  es  galt,  nicht  nur  die  Leistungen 
der  Schauspieler  und  der  Chöre,  sondern  auch  der  Dichter  zu  be- 
urtheilen.  Daher  schien  freie  Wahl  unerläfslich,  und  zwar  wurden 
für  jeden  Agon  besondere  Preisrichter  bestimmt.''')  Die  Urnen, 
welche  die  Namen  der  Gewählten  enthielten,  wurden  darauf  von  den 
Prytanen  und  Choregen  versiegelt  und  von  den  Schatzmeistern  auf 
der  Burg  bis  zum  Feste  sorgfältig  verwahrt,  um  jedem  Unterschleife 
vorzubeugen.  Beim  Beginn  des  Schauspiels  looste  dann  der  Archon 
jedes  Mal  aus  den  Gewählten  die  gesetzHche  Zahl  der  Richter'*')  und 
verpflichtete  dieselben  durch  einen  Eid  zu  unparteiischem  Urtheil. 
Die  Richter  hatten  offenbar  ihren  bestimmten  Platz  im  Theater,  wo 
sie  der  Aufführung  der  Stücke  beiwohnten  "''),  und  traten  unmittel- 
bar nach  dem  Schlufs  der  Spiele  zu  gemeinsamer  Berathung  zu- 
sammen, um  das  Urtheil  zu  fällen.  In  der  Regel  werden  sie  nur 
der  öffentUchen  Stimmung  gefolgt  sein,  so  weit  sie  sich  kundgegeben 
hatte  *°°);  denn  sich  in    entschiedenen  Widerspruch  mit  der  Volks- 


197)  Die  Stellen  des  Lysias  4,3  und  Demosth.  Mid.  17  und  65  beziehen 
sich  speciell  auf  die  Wahl  der  Preisrichter  der  lyrischen  Chöre.  Allein  die  Haupt- 
steile  bei  Isokrales  17,  33fr.,  die  am  besten  das  Wahlverfahren  erläutert,  ist 
allgemein  gehalten,  und  es  ist  natürlich,  dafs  man  die  gleiche  Einrichtung  für 
alle  Chöre,  scenische  wie  lyrische,  traf. 

198)  Auf  diese  Weise  suchte  man  Bestechung  und  andere  unlautere  Ein- 
flüsse fernzuhalten.  Wenn  Midias  trotzdem  bei  der  Ausloosung  sich  an  die  Rich- 
ter herandrängt  und  den  Versuch  macht,  ihr  Unheil  zu  bestimmen,  so  ist  dies 
nur  ein  Beweis  seiner  schamlosen  Dreistigkeit.  Es  ist  unbegründet,  wenn  man 
vermuthet,  die  Richter  wären  erst  nach  der  Aufführung  ausgeloost  worden. 

199)  Wenigstens  für  Alexandria  bezeugt  dies  Vitruv  VII  praef  §  5:  m 
conventu  ludorum,  cum  secretae  sedes  iudicibus  essent  distribtitae,  cum  cete- 
ris  Aristopkanes  citatus ,  quemadmodum  fuerat  locus  ei  designatus,  sedit. 
Man  wird  dort  alles  der  attischen  Sitte  nachgebildet  haben. 

200)  Vitruv  VII  praef.  §6:  populus  cunclus  significando  monebat  iudices, 
quot  probarent,  und  dadurch  liefsen  sich  sechs  Richter  bestimmen,  quem  maxime 
animadverlerunt  miiltiludini  placuiste,  ei  primuin  praemium  ,  insequenti  secun- 
dum  tribuerunt.    Nur  Arislophanes  hatte  den  Math,  ein  sclbsiländiges  Urlheil  au»- 


DIE    DRAliATISCHE   POESIE.      EINLEITUNG.  59 

meinuDg  zu  setzen  war  nicht  gerathen,  da  die  Richter  für  ihre  Ab- 
stimmung verantworthch  waren.*")  Die  Entscheidung  über  den 
ersten  Preis  wird  nicht  gerade  schwierig  gewesen  sein  und  erfolgte 
wohl  oft  einstimmig.*^}  Weit  eher  mochten  Meinungsverschieden- 
heiten hervortreten,  wenn  es  galt,  den  anderen  Mitbewerbern  die 
ihnen  gebührende  Stelle  zuzuweisen,  zumal  wenn  die  Stimmen  im 
Pubhkum  über  den  Werth  der  Leistungen  getheilt  waren. 

Entsprechend  dem  Charakter  ländhcher  Festlust  erhielt  der  tra-  Preise, 
gische  Chor,  der  seine  Sache  am  besten  gemacht  hatte,  einen  Bock 
und  als  Zugabe  einen  Korb  mit  Feigen^,  der  komische  Chor  einen 
Krug  Wein  nebst  der  gleichen  Zugabe.*"*)    Diese  einfache  Sitte  wird 


zusprechen.  Auch  Plato  Leg.  II  659  A  klagt  über  den  nachtheiligen  Einflufs,  den 
das  Publikum  auf  die  Richter  ausübt  (vgl.  III  701 A  die  Bemerkungen  über  die 
■d'sarQoxoaria);  ja  in  Sicilien  und  Unteritalien  übertrug  man  damals  geradezu 
der  Abstimmung  der  Zuschauer  die  Entscheidung  (o  ^ixelixo;  ie  xal  ^IzaÄi>c6s 
vofios  vvv  TftJ  nkf^d'ei,  xwv  d'e.atöjv  eTtiroancov  xal  tov  viy.divra  SiaxQivoov 
xeiQOToviais).  Das  Publikum  liefs  sich  nicht  selten  durch  die  Geschicklichkeit 
des  SiSäaxa'/MS  oder  durch  die  Pracht  der  äufseren  Ausstattung,  also  das  Ver- 
dienst des  Choregen,  bestimmen.  Auch  mögen  nicht  selten  unlautere  Einflüsse 
eingewirkt  haben.  Wenn  Menander  nur  mäfsigen  Erfolg  hatte,  so  schrieb  man 
dies  vielleicht  mit  Unrecht  den  Intriguen  des  Philemon  zu.  Auf  die  drama- 
tischen Preisrichter  und  die  Ungerechtigkeit  des  Publikums,  nicht  auf  die  ge- 
wöhnlichen Gerichte  sind  die  Worte  des  Diphilus  zu  beziehen  im  Fäfiog  Com. 
IV  3S5  bei  Athen.  VI  254  E.  Dafs  es  Mittel  gab,  auf  die  Richter  einzuwirken, 
dafs  man  sogar  die  Wahl  durchs  Loos  zu  beeinflussen  vermochte,  und  dafs  Ehr- 
geizige solche  Mittel  nicht  verschmähten,  z.  ß,  um  ihrer  Phyle  den  Preis  zu 
verschaffen,  deutet  Lysias  4,  3  an. 

201)  Aeschines  Ctes.  232,  wo  allerdings  nur  von  den  Richtern  der  kykli- 
schen  Chöre  die  Rede  ist. 

202)  Aristoph.  Av.  445 :  jtäat  vtxäv  role  xQiraTs  xai  rots  d'earcüs  näai. 
Schol.  Arist.  Eq.  52S  läfst  den  Kratinus  hier  Siege  nafixfnjfei  gewinnen ,  doch 
ist  dies  vielleicht  nur  Vermuthung  des  Grammatikers.  Dafs  nicht  EinheUigkeit 
erforderlich  war,  sondern  auch  vier,  ja  sogar  drei  Stimmen  genfigten,  zeigen 
die  Didaskalien  (CIG.  229.  230). 

203)  Marmor  Parium  Z.  58 :  ajp'  ov  Os'anis  o  ^oitjxt^s  {ifävt])  ngcäros  .  .  . 
(xai  syie'&j]  6  {x)qäyoi  {d&/.ov).  Genauer  Dioskorides  in  seinem  Epigramm  auf 
Thespis  Anth.  VII  410  [16,  3  I  248  Jac.]:  Bäx/os  ore  igirriv  xar"  ayot  xoqov, 
(p  tQayos  a&'/Mv  xeomxbs  r^  avxcov  aÖQtyos  a&Xov  im  (so  ist  statt  roid'vv 
xaräyot,  a&liov,  ä&).ov  iri  ZU  lesen).  Horaz  A.  P.  220.  Vcrg.  Georg.  II 382  und 
die  griechischen  Grammatiker. 

204)  Marmor  Parium  Z.  55  von  der  Einführung  komischer  Chöre  durch  Susa- 
rioB:  xai  a&lov  irtd'Ti  TiQÖnov  iax,ö.S(o{v)  ä^ixo{s)  xai  oi'vov  {aufOQ)e{vi),  Hesych 


60  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  COR.  G. 

sich  bis  auf  Perikles  erhalten  haben.  Indem  man  damals  die  üffent- 
hchen  Feste  neu  ordnete  und  reicher  ausstaltete,  wird  man  nicht 
versäumt  haben,  auch  die  dramatischen  Dichter  zu  berüciisichtigen, 
welche  für  ihre  grofse  Mühe  vor  allen  anderen  Anspruch  auf  an- 
gemessene Belohnung  hatten.  Schon  längst  erhielt  jeder  Lyriker, 
der  auf  Bestellung  eines  Privatmannes  ein  wenn  auch  noch  so  kurzes 
Lied  dichtete,  einen  Ehrensold.  UnmügHch  konnte  der  Staat  ver- 
langen, dafs  die  scenischen  Dichter  lediglich  um  der  Ehre  willen, 
die  doch  nur  dem  Sieger  zu  Theil  wurde,  sich  einer  so  umfassen- 
den Leistung  unterziehen  sollte.  Man  mufste  also  durch  ausgesetzte 
Preise  alle  concurrirenden  Dichter  wenigstens  einigermafsen  ent- 
schädigen. 

Ein  verjährtes  Vorurtheil  bezeichnet  den  Dreifufs  als  Preis  des 
dramatischen  Dichters.  Allein  diese  Auszeichnung  kommt  in  Athen 
vielmehr  den  Lyrikern  zu,  die  an  den  Dionysien  und  Thargelien 
gesiegt  hatten,^')    INicht  minder  irrig  ist  die  Vorstellung,  der  Sieger 

V.  fiiad^os.  Der  Schol.  Plato  Rep.  III  394  C  nennt  statt  des  Weines  yXsvxos  (t(w|). 
Wenn  derselbe  Scholiast  sagt,  bei  dem  Agon  der  dithyrambischen  Chöre  habe 
der  erste  Dichter  einen  ßovs,  der  zweite  einen  a/nfo^evs  oi'vov,  der  dritte  einen 
TQayos  erhalten,  so  überträgt  er  willkärlich  die  attischen  Preise  für  Tragödie 
und  Komödie  auf  den  dithyrambischen  Agon,  wo  der  Sieger  (aber  nicht  in  Athen) 
einen  Stier  erhielt  (s.  Bd.  II  S.  505,  A.  23).  Nur  der  Sieger  empfing  einen  Preis,  die 
anderen  gingen  leer  aus.  Plularch  de  cup.  divit.  c.  8 :  ij  näiQioe  rcHv  Jiowaimv 
eoQTTj  to  nakatov  inifinexo  Srjfiorixrös  xal  iXaQcäs,  afitpoQeve  oi'vov  xai  xXt}- 
fiaris,  elra  iqkyov  iti  slkxev,  akXoS  iaxö-Swv  d^tn^ov  rxokov&ei  xofii^atv,  ini 
näai  Se  6  falXös  verbindet  verschiedene  Züge  zu  einem  Bilde.  Ebenso  geht  Plu- 
tarch  de  glor.  Ath.  c.  7 :  ov  ßovv  k'nnd'Xov  ikxovaas  i}  rqäyov,  ovSe  avsaxsfi- 
fie'vae  xirri^,  ov8i  Jiowaiaxfjs  tQvyoe  oScaSviae  auf  die  verschiedenen  Arten 
der  Chorsiege;  daher  werden  nachher  auch  rginoSes  iTuvixioi  erwähnt,  der 
Preis  des  Siegers,  der  dann  den  Göltern  geweiht,  das  Andenken  verewigt. 

205)  Im  Argum.  II  zur  Midiana  des  Demosthenes  wird  der  Dreifufs  ganz 
richtig  als  Preis  der  lyrischen  Chöre  bezeichnet:  rj^t^ov  vfivove  sie  rov  Jiow 
aov  qSovres  xni  t<^  vixöJvri  TQinovi  to  a&Xov  rjv.  Auch  wird  nirgends  ein 
Dreifufs  als  Weihgeschenk  für  einen  tragischen  oder  komischen  Sieg  erwähnt. 
Themistokles  weiht  als  Choreg  für  den  Tragiker  Phryniclms  einen  niva^,  Plut. 
Themist.  c.  5,  Thrasippus  als  Choreg  für  Ekphantides  ebenfalls  einen  nivai, 
Arislot.  Pol.  VIII  6,  6  (doch  ist  es  nicht  sicher,  ob  hier  von  einem  komischen 
Chor  die  Rede  war).  Bei  Lysias  21,  4  wird  eine  Choregie  für  einen  komischen 
Chor  unter  dem  Archonten  Eukleides  erwähnt,  die  sechszehn  .Minen  kostet  oiv 
T5  T^«  axevrji  nva&iaei ;  doch  hatte  der  Chor  vielleicht  nicht  den  ersten  Preis 
erlangt.  Bei  Theophrast  Char.  c.  22  weiht  der  Sieger  mit  einem  tragischen  Chore 
aus  Geiz  nur  eine  laivia  von  tlolz. 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.      EL>XEITUNG.  61 

sei  öffentlich  mit  einem  Epheukranze  und  Wollenbinden  geschmückt 
worden.  Freunde  und  Bekannte  pflegten  auf  diese  Weise  den  sieg- 
reichen tragischen  oder  komischen  Dichter  zu  ehren**),  nicht  der 
Staat.  Vielmehr  ist  man  berechtigt,  nach  der  Analogie  des  musischen 
Agons  an  den  Panathenäen  anzunehmen^),  dafs  der  Sieger  einen 
goldenen  Kranz  und  aufserdem  ein  Geldgeschenk,  die  beiden  ande- 
ren nur  einen  Ehrensold  erhielten.  Dieser  Kranz  wird  die  Form 
einer  Epheuranke  gehabt  haben  ^);  denn  der  Epheu  ist  dem  Dio- 
nysus  heihg.^)  Daher  war  es  auch  herkömmlich,  den  Beruf  des 
scenischen  Dichters  durch  einen  Epheukranz  anzudeuten.  Eigent- 
lich kam  der  Preis  wohl  dem  Choregen  zu,  aber  dieser  wird  ihn, 
wie  billig,  dem  Dichter  überlassen  haben.  Die  Ehrengabe  mag  nicht 
unbedeutend  gewesen  sein,  wahrscheinlich  höher  als  die,  welche  der 
Kitharode  empfing ""),  und  der  Tragiker  wird  wieder  mehr  erhalten 
haben,  als  der  komische  Dichter.  Dafs  die  Preise  liberal  bemessen 
waren,  darf  man  schon  daraus  schliefsen,  dafs  Aristophanes  dem 
greisen  Sophokles  Habsucht  vorwirft  und  ihn  deshalb  mit  Simonides 
zusammenstellt.^")  Gegen  Ende  des  peloponnesischen  Krieges  nöthigte 
die  ungünstige  Lage  der  Finanzen  zur  Sparsamkeit.  So  ward  das 
Honorar  der  scenischen  Dichter  verkürzt '^'^);   denn  die  Reduktion 


206)  Plato  Sympos.  212  E,  213  E,  Aristoph.  Ran.  393. 

207)  Inschrift  bei  Rhangabis  961. 

208)  Der  goldene  Kranz  für  den  Kitharöden  kostete  1000  Drachmen ;  der 
Kranz  für  den  dramatischen  Dichter  wird  sicher  nicht  wohlfeiler  gewesen  sein. 

209)  In  Acharnae,  wo  der  Sage  nach  der  erste  Epheu  wuchs,  führte  Dio- 
nysus  den  Zunamen  Kiaaos,  Pausan.  I  31,  6.  Mit  Epheu  bekränzt  man  sich  regel- 
mäfsig  am  Feste  des  Gottes,  vgl.  das  choregische  Denkmal  Ephem.  Archaeol.  1860, 
3785:  0)5  fiTj  ftooiris  alayßs  anoxiaaovftevos.  Auch  die  Phallophoren  waren  mit 
Epheu  und  Veilchen  geschmückt,  Athen.  XIV  622  C.  In  der  Ephebeninschrift  I  79 
wird  einer,  der  sich  um  das  Dionysusfest  verdient  gemacht  hat ,  xirrov  are- 
(pävc^  geehrt.  Der  Epheu  war  daher  das  SjTnbol  des  dramatischen  Dichters, 
s.  die  Epigramme  auf  Sophokles  Anth.  VII  21.  23,  36  [1.  2  I  100  Jac,  13,  2  IIl  12], 
auf  Kratinus  XIII  29  [4, 7  1 206],  auf  Aristophanes  IX  186  [25  II 102],  dann  Zeichen 
der  Dichterweihe  überhaupt  VI  279  und  öfter  bei  römischen  Dichtern. 

210)  Der  erste  Preis  für  den  Kitharöden  betrug  500  Drachmen,  die  übrigen 
erhielten,  wie  es  scheint,  300  Drachmen.  Als  Lykurg  kyklische  Chöre  am 
Feste  des  Poseidon  im  Piräeus  einführte,  betrug  der  erste  Preis  zehn  Minen, 
der  zweite  acht,  der  dritte  sechs.    (Plut.  vit.  X  or.  §  13). 

211)  Aristoph.  Frieden  695  ff. 

212)  Agyrrhius  und  Archinus  werden  als  Urheber  dieser  Mafsregel  bezeich- 
net, Schol.  Aristoph.  Ran.  367.  Ekkles.  102. 


62  DRITTE  PERIODE  VON  500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

traf  offenbar  nicht  blofs  die  Komiker.  Nur  wird  die  Komödie,  die 
überhaupt  keine  sonderhche  Gunst  genofs,  am  schhmmslen  gefahren 
sein,  und  es  lag  sehr  nahe,  jener  Mafsregel  persünHche  Motive  unter- 
zulegen, indem  die  leitenden  Staatsmänner  sich  durch  die  unabläs- 
sigen Angriffe  der  Lustspieldichter  verletzt  fühlen  mochten. 
Dte  Dida»-  Der  Choreg  oder  auch  die  Phyle,   deren  Chor  ein  Preis  zuer- 

kaiien.  ^^3^^^  ^gp^  pflegten  zum  Gedächtnifs  daran  ein  Weihgeschenk  zu 
stiften;  aber  es  ist  irrig,  wenn  man  meint,  auf  Grund  dieser  Denk- 
mäler habe  man  später  Verzeichnisse  der  aufgeführten  Dramen  zu- 
sammengestellt. Für  diesen  Zweck  waren  solche  Monumente  ganz 
unzulänglich,  da  sie  in  der  Regel  nur  errichtet  wurden,  wenn  einer 
den  ersten  Preis  gewonnen  hatte;  auch  enthielten  sie  keine  nähere 
Angabe  über  die  Stücke  des  Dichters.  Es  war  dies  nur  eine  unter- 
geordnete Quelle,  die  zur  Ergänzung  und  Vervollständigung  der  so- 
genannten Didaskahen  diente.^'^)  Denn  es  gab  urkundliche  Aufzeich- 
nungen über  die  aufgeführten  Theaterstücke.  V^^ie  hoch  dieselben 
hinaufreichten,  wissen  wir  nicht;  für  die  ersten  Anfänge  fehlten  wohl 
gleichzeitige  Dokumente,  man  wird  später  so  viel  als  thunhch  diese 
Lücken  zu  ergänzen  gesucht  haben.  In  der  ßlüthezeit  der  drama- 
tischen Poesie  führte  man  sorgfältige  Verzeichnisse^'")  über   die  an 


213)  So  z.  ß.,  wenn  bei  der  Orestie  des  Aeschylus,  die  den  ersten  Preis 
erhielt,  sich  die  Bemerkung  findet:  ixoQTjysi  SsvoxXtjs  l^fiSvsvs  (^äiptSvaios). 
Eine  unverständliche  Notiz  findet  sich  zum  Frieden  des  Aristophanes,  einem 
Stücke,  was  sich  mit  der  zweiten  Stelle  begnügen  raufste. 

214)  Noch  ist  uns  ein  Bruchstück  einer  solchen  Urkunde  aus  der  Demo- 
sthenischen  Zeit  erhalten,  CIG.  231.  Die  Inschrift  bezieht  sich  auf  die  städtischen 
Dionysien;  denn  auf  der  linken  Golumne  sind  die  Komödien  aus  Ol.  106,2  und 
3  verzeichnet,  auf  der  rechten  die  Tragödien  um  Ol.  108,  2  und  3.  Die  Zeilen 
dieser  rechten  Golumne  waren  wohl  länger,  da  die  Aufzählung  der  Tetralogie 
einen  gröfseren  Raum  beanspruchte;  demungeachlet  ist  das  Verzeichnifs  der 
Tragödien  um  acht  Jahre  voraus.  Aufser  dem  Schauspieler  (dem  wir  zuerst  in 
der  Didaskalie  des  Aristophanischen  Friedens  Ol.  89,  3  begegnen)  ward ,  wie 
es  scheint,  bei  den  Tragödien  auch  der  vnoSiSäffxaXoe  genannt.  "Wesentlich 
verschieden  davon  sind  zwei  andere  Inschriften  (229  und  230)  aus  Rom.  Es 
sind  dies  Verzeichnisse  komischer  Dichter  und  ihrer  Dramen;  wahrscheinlich 
gehören  beide  Steine  derselben  Urkunde  an,  da  die  Einrichtung  die  gleiche  ist. 
Dafs  hier  keine  attische  Originalurkunde  vorliegt,  beweist  schon  die  Bemerkung 
(229,9)  zu  den  JSax;^««  des  Lysippus:  avrai  ftövai  aw^oviai.  Auf  Grund  der 
Didaskalien  hat  ein  Grammatiker  die  Dichter  der  älteren  und  mittleren  Komö- 
die (ob  auch  der  neueren,  ist  nicht  zu  erkennen)  und  ihre  Siege  verzeichnet. 
Dafs  nicht  sämmliche  Dramen  genannt  waren,  beweist  die  mäfsige  Zahl  der 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.      EINLEITOG.  63 

den  beiden  Hauptfesten  aufgeführten  Lust-  und  Trauerspiele  mit 
Angabe  des  Jahres  und  der  ausgetheilten  Preise;  auch  ward  später 
der  erste  Schauspieler  vermerkt.  Ob  diese  Urkunden  ganz  unver- 
sehrt und  lückenlos  übediefert  waren,  steht  dahin;  jedenfalls  blieb 
noch  Stoff  für  eine  Nachlese  übrig,  nachdem  zuerst  Aristoteles  auf 
Grund  dieser  öffentlichen  Urkunden  ein  Verzeichnifs  der  in  Athen 
aufgeführten  Dramen  zusammengestellt  hatte.*'^)  Mit  dem  literarischen 
Nachlasse  der  Tragiker  war  dieser  grofse  Philosoph  vollkommen  ver- 
traut, und  er  erkannte  nicht  nur,  wie  unentbehriich  für  jede  histo- 
rische Forschung  ein  solches  Hülfsmittel  war,  sondern  unterzog  sich 
auch  selbst  dieser  mühevollen  Arbeit,  die  dann  Dikäarch  vervoll- 
ständigte. 


Titel  eines  Verfassers,  wie  auch  meist  ein  Zwischenraum  von  mehreren  Jahren 
die  einzelnen  Aufführungen  trennt.  Beim  Lysippus  wird  ausdrücklich  ivixa 
vermerkt;  die  Zahlzeichen  Pz/ £•,  welche  einige  Mal  vorkommen,  dürfen  weder 
auf  die  Reihenfolge  der  zusammen  aufgeführten  Stücke,  noch  auf  die  Stelle, 
welche  die  Preisrichter  den  concurrirenden  Dichtern  anwiesen,  bezogen  werden, 
sondern  sie  drücken  die  Stimmenzahl  aus,  welche  dem  Dichter  den  Sieg  zu- 
erkannte; also  ist  E  soviel  als  TiauxiT/fsi.  Aristoteles  wird  das  Resultat  an- 
gegeben haben,  soweit  es  sich  aktenmäfsig  ermitteln  liefs.  Man  sieht,  wie  für 
die  ältere  Zeit  die  Urkunden  noch  mangelhaft  waren,  da  mehrmals  statt  der 
Titels  blofs  xtofKoSla  steht.  Die  Siege  werden  in  der  Ordnung  aufgezählt,  dafs 
die  Lenäen  den  städtischen  Dionysien  voranslehen.  Die  Dichter  sind  nicht  in 
chronologischer  Folge,  sondern  in  alphabetischer  Ordnung  aufgeführt;  so  folgt 
auf  Lysippus  ein  Dichter  der  mittleren  Komödie  mit  zwei  Siegen  Ol.  96,  2  und 
97,  2,  dann  wieder  ein  Dichter  der  alten.  Nur  der  Name  des  Lysippus  ist  auf 
dem  Steine  erhalten,  aber  mit  Wahrscheinlichkeit  lassen  sich  die  anderen  An- 
gaben auf  Krates,  Myrtilus(?),  Anaxandrides  und  Anaxilas  zurückführen. 

215)  Aristoteles  JiSaaxaliai.  Hier  waren  sowohl  die  Arbeiten  der  dra- 
matischen Dichter,  als  auch  die  Erfolge  der  Lyriker  an  den  attischen  Festen 
in  chronologischer  Folge  verzeichnet,  und  zugleich,  was  sonst  für  die  äufsere 
Geschichte  des  Dramas  von  Wichtigkeit  war,  berücksichtigt.  Die  im  Schriften- 
verzeichnifs  des  Aristoteles  daneben  aufgeführten  Werke  vTxat  Jiowaiaxai  (vi- 
xföv  J.  aarty.cöv  xal  Ar,vai(ov)  und  tisqI  ToaycoSicüv  sind  wohl  davon  nicht 
verschieden.  JiSaaxa/.ia,  eigentlich  die  Einübung  eines  Chores,  bezeichnet 
dann  die  Aufführung  eines  lyrischen  oder  dramatischen  Gedichtes,  daher  auch 
das  Gedicht  selbst  so  genannt  wird.  So  sagt  Plutarch  Pericl.  c.  5,  die  loaytxi] 
SiSaaxaXia  (d.  h.  TfToaAoyt'o)  habe  ein  aatvqtxov  ucqo;,  Dioskorid.  Anth.  P. 
Vn  37  [28,  S,  I  252  Jac.]:  ix  noir-s  ^Se  SiSaaxaXirjS ,  d.h.  aus  welchem  Werke 
des  Sophokles.  Plutarch  im  Leben  des  Isokrates  §  47  von  Aphareus :  SiSaaxalias 
äoTixas  xa&Tjxev  g'  xai ....  irtgas  ß'  Arfvacxäs.  Daher  nannte  Aristoteles  jenes 
urkundliche  Verzeichnifs,  welches  für  alle  Folgenden  die  Grundlage  bildet,  Si- 
SaaxaXiat. 


64  DRITTE  PERIODE  VON  500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

Diese  Didaskalien  bildeten  die  Grundlage  für  die  bibliographischen 
und  kritischen  Arbeiten  der  alexandrinischen  und  pergamenischen 
Gelehrten.'^'*')  Jetzt  übersah  man  den  reichen  Ertrag  dieses  Gebietes 
.der  Poesie,  erkannte  aber  auch,  wie  bereits  nianches  Drama  gänz- 
lich verschollen  war.'"^)  Jene  Urkunden  leisteten  auch  da  gute 
Dienste,  wo  es  galt,  über  Stücke  zweifelhaften  Ursprungs  zu  ent- 
scheiden.'"*) Den  wesenthchsten  Gewinn  aber  zog  daraus  die  histo- 
rische Forschung;  nun  erst  war  man  im  Stande,  den  Entwicklungs- 
gang nicht  nur  der  dramatischen  Poesie  im  Grofsen,  sondern  auch 
der  einzelnen  Dichter  zu  verfolgen.  Endlich  war  für  das  Verständ- 
nifs  der  Komödie,  besonders  der  älteren  Periode,  die  Ermittelung 
der  Zeit  der  Abfassung  ganz  unentbehrlich. 
Titel  der  Die  Dramen   werden  vorzugsweise  nach   dem  Chore   oder  der 

°  Hauptperson^'^)  benannt.    Die  erste  Art  der  Bezeichnung  ist  beson- 


216)  Kallimachus  hatte  in  seinen  nivaxes  bei  den  dramatischen  Dichtern 
auch  die  Zeit  der  Aufführung  der  einzelnen  Stücke  verzeichnet.  Seine  Irrlhümer, 
die  aus  flüchtigem  Studium  der  Quellen  entsprangen,  hatte  schon  der  beson- 
nene Eratosthenes  theilweise  berichtigt,  dann  Aristophanes  in  den  Nachträgen 
zu  den  Ttivaxes  und  wohl  auch  in  seinen  Commentaren  zu  den  scenischen  Dich- 
tern. Die  pergamenischen  Grammatiker  setzten  diese  Arbeiten  fort.  Athenäus 
VIII  336  E,  wo  er  von  den  avayQatpai  Sqafiäxcov  handelt,  beruft  sich  nicht  nur 
auf  Kallimachus  und  Aristophanes,  sondern  auch  auf  oi  ras  iv  ÜBQyäfjii^  ava- 
y^afas  noirjaufievoi.  Diese  Arbeiten  zeichneten  sich  durch  gröfsere  Vollständig- 
keit aus,  da  die  Bibliothek  in  Pergamum  nianches  den  Alexandrinern  unbe- 
kannte Werk  besafs.  Aber  auch  anderwärts  waren  werlhvoUe  literarische 
Schätze  vorhanden.  Asklepiades  fand  zu  Athen  unbekannte  Verse  des  Aeschy- 
lus  (eV  Ttv«  rüiv  ano&sr cov,  so  ist  zu  lesen  Schol.  Aristoph.  Frösche  1344); 
•wahrscheinlich  hatte  sich  hier  eine  Tragödie  des  Dichters  in  der  echten  Gestalt 
erhalten,  die  den  Alexandrinern  nur  in  einer  üeberarbeitung  vorlag.  Speciell 
jie^i  SiSaaxaLcöv  schrieb  der  Pergamener  Karystius  (Athen.  VI  235  E). 

217)  Von  Euripides'  Stücken  war  schon  den  Alten  eine  ansehnliche  Zahl 
nur  dem  Namen  nach  bekannt;  besonders  Satyrstücke  müssen  frühzeitig  in 
Vergessenheit  gerathen  sein  (vgl.  die  Bemerkung  ov  atü^srai  in  der  Didas- 
kalie  der  Phönissen  und  der  Medea).  Weit  gröfser  mag  der  Verlust  an  Lust- 
spielen gewesen  sein  ;  besonders  die  Dichter  der  alten  Komödie  traf  dies  Schick- 
sal; von  Lysippus  war  nur  ein  Stück,  die  Baxxni,  erhalten. 

218)  Stücke,  die  nicht  für  die  attische  Bühne  bestimmt  waren,  wie  der 
Archelaus  und  die  Andromache  des  Euripides,  fehlten  selbstverständlich  in  den 
Didaskalien,  ebenso  Dramen,  die  gar  nicht  zur  Aufführung  gekommen  waren 
{(''diSaxra,  Athen.  VI  270  A). 

219)  Doch  bezeichnet  die  Titelrolle  nicht  immer  den  eigentlichen  Träger 
der  Handlung,  wie  der  Agamemnon  des  Aeschylus  zeigt. 


DIE    DRAMATISCHE   POESIE.     EINLEITUNG.  65 

ders  bei  den  älteren  Tragikern  und  Komikern  beliebt ,  da  der  Chor 
anfangs  den  Schwerpunkt  der  dramatischen  Aktion  bildete.  Aber 
auch  die  Handlung  des  Stückes  oder  bei  den  Komikern  öfter  ein 
nebensächlicher  Umstand  wird  zur  Namenschopfung  benutzt.^")  Der 
Dichter  selbst  legte  seiner  Arbeit  den  Namen  bei^*),  der  in  den 
öffentlichen  Urkunden  verzeichnet  ward.--"^)  Manchmal  wurde  später 
der  ursprüngliche  Titel  mit  einem  anderen  vertauscht ^^^);  ebenso 
kommen  Doppeltitel  in   ziemlicher  Anzahl  vor.'^^)     Man   trug  kein 


220)  So  onXaiv  x^iaie,  'iXiov  niqaie,  'EXävr,e  anairr/ais  und  andere  Tra- 
gödientitel. Die  BaTQaxoi  des  Aristophanes  sind  nach  dem  Xebenchore  benannt. 
Zumal  in  der  neueren  Komödie  sind  solche  Titel  nicht  ungewöhnlich,  wie  der 
Evvoixos  des  Jlenander.  der  0r,<TavQ6s  des  Philemon. 

221)  Aristophanes  kündigt  seine  Ritter  (Imisis)  eben  unter  diesem  Namen 
an,  und  so  wird  das  Stück  auch  von  Eupolis  genannt.  Die  Gitate  der  Komiker 
bieten  überhaupt  hinlängliche  Gewähr  für  die  Dramentitel  dar;  so  beruft  sich 
Aristophanes  auf  die  üe'^aai  und  "Etzt''  ini  Or^ßas  des  Aeschylus,  auf  die  Ly- 
kurgie  und  Orestie  desselben  Dichters,  auf  die  Andromache  des  Euripides  u.  s.  w. 

222)  Zweifelhaft  ist,  wie  die  Tetralogien,  die  entsprechend  der  Einheit 
des  mythischen  Stoffes  einen  CoUectivnamen  führten ,  in  den  Didaskalien  ver- 
zeichnet waren.  Wenn  der  Schol.  Aristoph.  Frösche  1124  schreibt:  Teroa- 
tjoyiav  (ptQovai  itjp  ^O^aareiav  ai  StSaay.aXiai,  li4yafiefivova,  XoT^fö^oiä,  Ev- 
fteviSas,  Jl^carea  aarv^ixör.  AgiaraQ^os  y.ai  'AjtoXXtä^'ios  r^ÜMyiav  /^yovai, 
XOJ^is  Tcöv  aarvQiy.cöv,  so  kann  man  dies  nur  so  verstehen,  dafs  in  den  Ur- 
kunden sowohl  der  Gesammtname  als  auch  die  Titel  der  einzelnen  Stücke  auf- 
geführt waren.  Dagegen  heifst  es  in  der  vTtöd'sais  des  Agamemnon:  ttqmtos 
AiaxvXoi  ^Ayauiuvmt.,  XorjfOQOis,  Evfisviai,  IlQonsl  aarvQiy.cö,  wo  der  Name 
'OQtoreia  übergangen  wird,  und  einer  ähnlichen  Abkürzung  begegnen  wir  in 
der  iTiö&eais  der  Sieben :  T(>t'Tos  noXvfQÜSfitov  AvxovQyeicc  rer^aXoyiq,  ■wäh- 
rend der  Schol.  Aristoph.  Thesmoph.  135  sich  sorgfältiger  ausdrückt:  ri;v  ts- 
T^a/Myiav  Xäysi  Avxov^ysiav,  ^HScovovs,  Baaaa^iSas,  Neavioxots,  Avxov^yov 
10V  oaxvqixöv. 

223)  So  hatte  Dikaearch  den  A'ias  fiaaxiyofOQOs  des  Sophokles  unter 
dem  Namen  Ai'avros  d'äva-ioe  eingeführt.  Gitate  bei  den  Alten  sind  oft  sehr 
trügerisch.  Aristoteles  Poet.  c.  17  schreibt  dv  reo  ^O^eorj]  und  versteht  darunter 
die  komische  Iphigenie  des  Euripides,  aber  der  Kürze  halber  zieht  er  jenen 
Ausdruck  vor. 

224)  So  wird  dasselbe  Stück  nach  dem  Chore  oder  der  Hauptperson 
(Handlung  des  Dramas)  benannt,  wie  bei  Aeschylus  die  <pQvyes  ^  "Extoqos  Xv- 
tqa,  bei  Sophokles  üavScÖQa  ^  HfVQoxoTiot.  Wo  das  Interesse  zwischen  zwei 
Personen  sich  ziemlich  gleichmäfsig  verlheilt,  schwankt  ebenfalls  zuweilen  die 
Bezeichnung.  Der  Hippolytus  des  Euripides  wird  auch  Phädra  genannt.  Bei 
Sophokles  sind  Olvö/uaos  und  'innoSä/teia  und  wohl  auch  'lojv  und  K^iovaa 
ein  Beleg  solcher  Doppeltitel. 

Bergk,  Griech.  Literaturgeschichte  III.  5 


66  DRITTE  PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Bedenken,  einen  Namen,  den  schon  ein  Vorgänger  gebraucht  hatte, 
zu  wiederholen;  ja  derselbe  Name  bezeichnet  ein  ganz  verschiedenes 
Thema."')  Dagegen  unterschied  man  gleichnamige  Dramen  desselben 
Dichters  durch  einen  Zusatz.  Das  ältere  Stück  war  gewöhnlich  ein- 
fach überschrieben;  das  jüngere  erhielt  öfter  schon  von  der  Hand 
des  Dichters  eine  genauere  Bezeichnung;  später  ward  gewöhnlich 
auch  das  ältere  durch  einen  Zunamen  kenntlich  gemacht."^)  Auf- 
fallende Titel  sind  der  Tragödie  fremd"'),  in  der  alten  Komödie 
dagegen  sehr  behebt. 
Verzeich-  Die  alexandrinischcu  und  pergameuischen  Grammatiker  legten 

Dramen'^  ^"  bibHograpliischen  Zwecken  Verzeichnisse  der  Dramen  der  ein- 
zelnen Dichter  an,  welche  allmählich  immer  mehr  vervollständigt 
wurden."®)  Manche  Stücke  waren  frühzeitig  untergegangen ,  ihr 
Andenken  hatte  sich  nur  durch  die  Didaskalien  erhalten"®);  andere 


225)  Man  vergleiche  z.  ß,  die  »Poiviaaai  des  Phrynichus  und  Euripides, 
die  'IxstiSes  des  Aeschylus  und  Euripides.  In  der  Blüthezeit  der  Kunst  nimmt 
man  es  mit  solchen  Aeufserlichkeiten  nicht  so  genau;  um  die  Bequemlichkeit 
der  künftigen  Literaturfreunde  war  man  unbekümmert. 

226)  So  war  der  rasende  Ajas  des  Sophokles,  offenbar  das  ältere  Stück, 
in  den  Didaskalien  einfach  u4ias  benannt;  später  fügte  man  fiaanyotpoQOi  hinzu, 
um  ihn  von  A'ias  yloxqöe  zu  scheiden,  der  wohl  gleich  anfangs  so  hiefs.  Der 
König  Oedipus  hiefs  ursprünglich  OiSinove.  Erst  nach  des  Dichters  Tode  kam 
der  Zusatz  rv^awoe  zur  Unterscheidung  von  dem  OiSinovs  ini  KoXtovco  auf; 
andere  nannten  ihn  TtQÖrsoos  {Sin  roie  x^ovovs  rtöv  SiSaaxnXtcHv  xal  Sin  t« 
ji^nyfiara).  Diese  Bezeichnung  TCQÖreooe  und  SsvreQoe  ist  nicht  ungewöhnlich, 
namentlich  um  verschiedene  Bearbeitungen  desselben  Dramas  zu  sondern ,  wie 
bei  Euripides  'innöXiros  ttqÖteqos  (xa^vTirö/uevoe)  und  Sevregos  {are^nvias) 
und  oftmals  bei  den  Komikern.  Auffallend  ist,  dafs  der  erste  Alkmäon  des 
Euripides  in  der  vnod'sais  der  Alkestis  den  Zunamen  Sin  ^'wfXSoi  erhält,  wäh- 
rend der  zweite  in  der  Didaskalie  bei  Schol.  Aristoph.  Frösche  67  einfach  WA- 
xfiaiaiv  heifst;  doch  verbirgt  wohl  hier  in  den  Verderbnissen  der  Handschriften 
sich  der  übliche  Zusatz  Sin  KoQiv9ov. 

227)  Ein  ganz  ungewöhnlicher  Titel  ist  fityn  Sqnfia  bei  Ion;  das  l^v^os 
des  Agathon  hiefs  vielmehr  yiv&evv. 

228)  Kallimachus  kannte  nur  die  zweiten  Wolken  des  Aristophanes,  wäh- 
rend dem  Eralosthenes  auch  die  erste  Bearbeitung  vorlag;  Krafes  halle  den 
Frieden  desselben  Dichters  in  zwei  verschiedenen  Ausgaben  vor  sich,  den  Ale- 
xandrinern war  nur  eine  bekannt.  Diese  Verzeichnisse  (7rtVrt»c«s)  waren  in 
zahlreichen  Abschriften  als  unentbehrliches  literarisches  Hülfsmittel  verbreitet. 
Cicero  im  Horlensius  bei  Nonius  (sumcre):  quarr  velim  dari  mi/ii,  Luct/lle,  in- 
dicem  tragicorum,  ut  sitmam,  qui  forte  mihi  desunt. 

229)  Dann  war  in  den  Verzeichnissen  die  Bemerkung  ov  C(ot,tXM  hincu- 


DIE    DRAMATISCHE   POESIE.      EINLEITUNG.  67 

Dramen  fehlten  dagegen  in  diesen  Urkunden,  weil  sie  für  eine  aus- 
wärtige Bühne  bestimmt  oder  auch  gar  nicht  zur  Aufführung  ge- 
langt waren. ^°)  Das  Natürhchste  war,  dafs  man  die  Stücke  mit  Hülfe 
der  Didaskahen  so  viel  wie  möglich  chronologisch  ordnete  ^^);  unter- 
geschobene Dramen  und  nachträglicher  Erwerb  mochten  am  Schlufs 
der  Verzeichnisse  eine  Stelle  finden.  Aber  viel  verbreiteter  müssen 
besonders  in  späterer  Zeit  alphabetisch  geordnete  Verzeichnisse  ge- 
wesen sein."^')    Diese  Anordnung  war  in  mancher  Hinsicht  bequem, 

gefügt.  Dies  Schicksal  hat  besonders  Satyrdramen  und  Komödien  betroffen. 
Stücke,  die  keinen  rechten  Erfolg  gehabt  hatten,  pflegte  der  Verfasser  zuweilen 
selbst  zu  vernichten,  wie  dies  von  Anaxandrides  überliefert  wird  (Athenäus 
IX  374 A). 

230)  So  die  Androniache  des  Euripides,  Schol.  Andr.  446:  siliyotvcöi  Se 
TOv  Soafiaros  xoovovi  ovx  eart  XaßsTv   ov  SsSiSay.rat  ya^  ^A^rpr^aiv. 

231)  Auf  chronologische  Folge  weisen  die  Bemerkungen  zur  Antigene 
des  Sophokles  und  zur  Alkestis  des  Euripides  hin.  Zur  Antigone  bemerkt  die 
vTiod'saiS:  XiXsxrac  Si  rb  Soäua  lovro  XQiäxoarov  Sevxeqov.  Dann  wäre  die 
Antigone  das  vierte  Stück  der  achten  Tetralogie,  aber  diese  Tragödie  kann 
nimmermehr  die  Stelle  eines  Satyrdramas  vertreten  haben.  Man  müfste  also 
annehmen,  in  jener  Zahl  seien  auch  Einzeldramen  mit  inbegriffen,  dies  hat 
aber  für  diese  frühe  Periode  geringe  Wahrscheinlichkeit;  ebenso  wenig  zuläs- 
sig ist  die  Auskunft,  Soöfta  sei  hier  nach  dem  Sprachgebrauch  der  Byzantiner 
gleichbedeutend  mit  TQaytoSia.  Die  offenbar  verdorbenen  Worte  sind  wohl  so 
zu  verbessern :  SeSiSaxTai  Se  ro  Soäua  rovro  roiayoarov  S svre ^os  {rjv). 
Die  Antigone  war  also  Mittelstück  einer  Trilogie.  und  Sophokles  erhielt  damals 
nicht,  wie  man  gewöhnlich  annimmt,  den  ersten,  sondern  nur  den  zweiten  Preis. 
Zur  Alkestis  des  Euripides  bemerkt  der  Scholiast:  to  S^äfia  inoird'T]  i^',  wo 
man  richtig  i;  geändert  bat;  es  war  dies  die  vierte  Tetralogie  des  Euri- 
pides. 

232)  So  die  noch  erhaltenen  Verzeichnisse  der  Tragödien  des  Aeschylus 
und  Euripides.  Auch  die  Komödien  des  Aristophanes  waren  ähnlich  geordnet. 
Das  rr,Qas  wird  als  das  neunte  Stück  bezeichnet,  was  richtig  ist,  indem  der 
Aeolosikon  in  doppelter  Bearbeitung  vorausging,  die  Vögel  als  fünfunddreifsig- 
stes  Stück,  wo  aber  statt  ^'  vielmehr  /'  zu  lesen  ist.  Das  Verzeichnifs  der 
Lustspiele  des  Plato  zerfällt  in  zwei  Abtheilungen,  beide  nach  alphabetischer 
Folge  geordnet.  Der  Zweck  dieser  Sonderung  ist  unklar:  vielleicht  besafs  die 
alexandrinische  Bibliothek  anfangs  die  Dramen  des  Plato  nicht  vollständig;  der 
spätere  Erwerb  ward  nachträglich  gleichfalls  in  alphabetischer  Ordnung  ver- 
zeichnet. Bei  Andronikus,  den  Suidas  ausschreibt,  ist  der  Nachtrag,  der  sieben 
Komödien  enthält  (darunter  einige  der  namhaftesten  Arbeiten  des  Dichters  neben 
zweifelhaften  Stücken),  an  die  Spitze  gestellt.  Auch  die  Verzeichnisse  der 
Dramen  bei  Suidas  sind  meist  alphabetisch  geordnet,  jedoch  ist  ans  verschie- 
denen Anlässen  die  Folge  nicht  immer  streng  beobachtet. 

5* 


68  DRITTE    PERIODE   VON    500    HIS    300  V.  CHR.  G. 

fühi-te  aber  einen  grofsen  Uebelsland  herbei,  indem  so  bei  den  Tra- 
gödien der  telralogische  Zusammenhang  völlig  zerstört  wurde, 
wiederhohe  Zur  Bewerbung  um  den  Preis  wurden  nur  neue  Dramen  zu- 
*"'^g|j[""' gelassen.  Es  war  eine  besondere  Auszeichnung,  wenn  man  nach  dem 
Tode  des  Aeschylus  gestattete,  die  Tragödien  dieses  Dichters  an  den 
öfl'entlichen  Festen  von  neuem  aufzuführen.  Später  mag  in  einzelnen 
Fällen  anderen  die  gleiche  Gunst  zu  Theil  geworden  sein;  so  wur- 
den die  Frösche  des  Aristophanes,  wie  es  scheint,  gleich  an  dem 
nächsten  Feste  wiederholt."^)  Dagegen  war  es  den  Dichtern  un ver- 
wehrt, ein  älteres  Stück,  nachdem  sie  dasselbe  überarbeitet  hatten, 
als  ein  neues  wieder  auf  die  Bühne  zu  bringen,  wie  der  Hippolytos 
des  Euripides,  der  Plutos  des  Aristophanes  und  andere  Beispiele 
beweisen.  Hergebracht  war  die  Wiederholung  älterer  Dramen  an 
den  ländlichen  Dionysien ,  sowie  auf  auswärtigen  Theatern.  Wenn 
die  Athener  die  fernere  Aufführung  der  Eroberung  Milets  von  Phry- 
nichus  untersagten^^),  so  kann  sich  dies  Verbot  eben  nur  auf  die 
Landgemeinden  beziehen.  Später,  wo  die  dichterische  Produktion 
zu  stocken  begann,  sah  man  sich  genöthigt,  auch  an  den  städtischen 
Festen  die  klassischen  Stücke  der  äheren  Tragiker  zu  wiederholen. 
Nur  die  grofsen  Dionysien  genossen  das  Vorrecht,  neue  Dramen  dem 
IHibhkum  zu  bieten.'^)  Für  die  Komödie  war  diese  Einrichtung 
erst  später  nothwendig,  da  während  der  klassischen  Epoche  und 
selbst  darüber  hinaus  an  originalen  Lustspielen  kein  Mangel  war.'-^'*) 


233)  Offenbar  auf  Grund  eines  besonderen  Beschhisses ,  gerade  so  wie 
ein  Psepbisma  die  Wiederaufführung  der  Tragödien  des  Aesiiiylus  anordnete, 
ein  anderes  das  Drama  des  Phrynichus  verbot. 

234)  Herodot  VI  21:  xat  indxa^av  firjxiri,  firjSsva  XQÖ-a&at  tOvt(o  tq; 
S^äfiaxi, 

235)  Schon  in  der  Demosthenischen  Zeit  war  die  Aufführung  neuer  Tra- 
gödien auf  die  grofsen  Dionysien  beschränkt,  Aeschin.  in  Ctes.  34:  ov8e  ix- 
x^rjaia^övrcov  li4d'T;vaicav,  nlXa  TQayioSäfv  nyan'i^ofieriov  xait'cävy  ovS'  ivav- 
xiov  TOv  Srjfiov,  alV  ivavriov  zäiv  EXXtjvojv,  iv'  rjfiiv  avrstSiöaiv,  olov  crSga 
tifiüjfiev,  wofür  nacliher  41  yiyvofisvcov  ta.v  iv  aaret  rpayioSätv  gesagt  wird. 

236)  Im  zweiten  Jahrhundert  n.  Chr.  begnügte  man  sich  in  Athen  ledig- 
lich ältere  Stücke  aufzuführen,  wie  Lukian  Dcmoslh.  27  bezeugt:  t^  Jto$naip 
TO  fiep  Ttoitjatv  xnivr;v  noielv  xotftipSiae  iq  TQayKjSiae  ixltketnrat.  Gewöhn- 
lich wurden  in  den  musischen  Agonen  der  späteren  Zeit  ältere  uud  neuere 
Dramen  zugleich  gegeben,  wie  die  böotischcn  Inschriften  beweisen,  s.  GIG.  I  1584, 
wo  rgayqfSot  und  xa)ft(^S6s  auf  die  Wiederholung  älterer  chorischer  Stücke 
geht.    Bei  neuen  Dramen  wird  der  Dichter  (noiijr^s  zpayi^SKov  oder  xatftqfSidir) 


DIE    DRAMATISCHE   POESIE.      E1>LEITL>"G.  69 

Dramatische  Dichtungen  fordern  vorzugsweise  die  Thätigkeit  der  ueberarbei- 
Ueberarbeiter  heraus*^),  wie  die  Erfahrung  aller  Zeiten  bestätigt.  '"°^®°' 
Auch  die  scenische  Poesie  der  Griechen  ist  diesem  Schicksal  so  wenig 
wie  das  alte  Epos  entgangen.  Während  wir  aber  dort  die  Umge- 
staltung der  originalen  Werke  meist  nur  vermuthungsweise  zu  ver- 
'  folgen  im  Stande  sind,  hegen  hier  bestimmte  Zeugnisse,  eine  wohl- 
beglaubigte Ueberlieferung  vor.  Theils  legen  die  Dichter  selbst  an 
ihre  Arbeiten  die  bessernde  Hand,  theils  unterziehen  sich  andere 
diesem  Geschäfte.  Aeschylus  mag  an  den  Persern  auf  Anlafs  einer 
neuen  AufTührung  einzelne  Aenderungen  vorgenommen  haben ;  später 
ward  das  Vermächtnifs  des  grofsen  Dichters  von  seinem  Sohne  Eupho- 
rion  und  vielleicht  noch  von  anderen  mit  grofser  Freiheit  behan- 
delt.**) Unter  den  Tragödien  des  Sophokles  zeigen  mehrere  noch 
jetzt  deutliche  Spuren  einer  neuen  Redaction,  die  wohl  meist  von 
fremder  Hand  herrührt.^^)  Der  Hippolytus  des  Euripides  ist  die 
zweite  Bearbeitung  eines  älteren  Stückes,  von  dem  uns  wenige  Ueber- 
reste  erhalten  sind.'"*)  Die  Dichter  der  alten  Komödie  pflegten, 
namenthch  wenn  ein  Drama  nicht  den  gewünschten  Erfolg  gehabt 
hatte,  eine  mehr  oder  minder  durchgreifende  Revision  vorzunehmen.**') 


mit  seinem  Schauspieler  genannt;  ähnlich  in  der  jüngeren  Inschrift  1585,  nur 
heifst  es  hier  r§aycp86s  TtaXaiäs  r^ayi^SiaS,  dann  Ttoirjrfis  xatv^s  xoaficoSias 
und  vnoxQixr^S  xaivt^s  xtuucoSias  oder  Ttoir^xrfi  y.aivr,i  r^aycpSias  und  VTtox^i- 
T^s  xaivTjs  T^aytoSias.  Neue  Dramen  neben  alten  finden  wir  noch  bei  dem 
musischen  Wettkampfe  im  karischen  Aphrodisias  aus  der  Zeit  der  Antonine, 
CIG.  II  2759,  in  einer  freilich  sehr  nachlässig  copirten  Urkunde.  Hier  kommen 
nicht  nur  je  drei  Preise  für  xojuioSoi  und  zoayioSoi  vor  (aufserdem  noch  xow^ 
xcofiepSdäv  und  xotvr,  XQayioScöv),  sondern  auch  für  xatvrj  xatficoSCa  und  xatvri 
■tqayoiSia,  und  was  noch  befremdlicher  ist,  für  die  aq/^aia  xcoficoSia  (die  ao^aia 
roayioSia  war  offenbar  gleichfalls  erwähnt);  denn  dieser  Agon  mufste  doch 
eigentlich  mit  dem  Agon  der  xioficoSoi  zusammenfallen. 

237)  Jiaaxevr;,  Siaaxevä^tiv.    Galen  T.  V  p.  3S  ß. 

238)  Ouintil.  X  l,  66:  Aeschylus  .  .  rudis  in  plerisque  et  incotnpositus, 
propter  quod  correctas  eins  fabulas  in  certamen  deferre  posterioril/us poe- 
tis  Alhenienses  pemiiserunt. 

239)  An  der  Antigene  schrieb  man  offenbar  dem  lophon  einen  gewissen 
Antheil  zu.  Daraus  ist  die  irrige  Auffassung,  als  sei  das  ganze  Drama  von  lophon 
verfafst  (Gramer  An.  IV  415),  entstanden. 

240)  Auch  die  Iphigenia  in  Aulis  dieses  Dichters  ist  nicht  in  ihrer  ur- 
sprünglichen Gestall  überliefert;  allein  diese  Interpolation  gehört  erst  der  nach- 
kiassischen  Zeit  an. 

241)  Enpolis  überarbeitete  seinen  Autolykus  (s.  Galen)  und  vielleicht  auch 


70  DUITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Aber  man  überarbeitete  auch  ältere  Stücke  von  anderen  Dichtern, 
die  einst  beifdUig  aufgenommen  worden  waren,  um  sie  in  einem 
neuen  Gewände  wieder  auf  die  Bühne  zu  bringen."")  Auch  die 
Dichter  der  mittleren  und  neueren  Komödie  müssen  noch  ab  und 
zu  die  nachbessernde  Hand  an  ihre  älteren  Arbeiten  gelegt  haben.'") 
liiterpoia-  Hier  ist   es  überall  auf  Erneuerung  und  Umgestaltung  eines 

Schauspie-  älteren  Werkes  abgesehen ,  der  sich  ein  Dichter  von  Beruf  unter- 
^"-  zieht.  Entschieden  nachtheilig  wirkten  dagegen  die  Bemühungen  der 
Schauspieler,  die  später  ohne  Scheu  oft  in  willkürlichster  Weise  sich 
an  den  klassischen  Stücken  versuchten.  Ein  Drama  vollständig  zu 
überarbeiten  und  den  Wünschen  des  Publikums  entsprechend  zu- 
recht zu  machen,  was  sich  die  römischen  Schauspieler  mit  den 
Komödien  des  Plautus  erlaubten,  hat  man  wohl  nur  selten  gewagt. 
Desto  mehr  ward  im  Einzelnen  abgeändert.  Man  fügte  längere  Par- 
tien hinzu,  wie  den  Prolog  im  Rhesus,  strich  anderes,  schaltete  ein- 
zelne Verse  ein,  corrigirte  den  Ausdruck,  wo  man  den  Dichter  nicht 
verstand  oder  verbessern   zu  können  glaubte.*^*)     Die  Stücke  der 


noch  andere  Dramen  (s.  Suidas  I  2, 634).  Aristophanes  hat  bekanntlich  mehrfach 
seine  Lustspiele  umgestaltet;  auch  die  Frösche  wurden  auf  Anlafs  der  zweiten 
Aufführung  revidirt. 

242)  Dies  geschah  besonders  in  den  Anfängen,  wo  die  Lustspiele  des 
Chionides  und  Magnes  dieses  Schicksal  hatten.  Darauf  gehen  die  Ausdrücke 
inixarrveiv  xai  7ire^vi%eiv,  welche  Phrynichus  offenbar  aus  einer  alten  Ko- 
mödie anführt  (Bekk.  An.  1  39 :  keyovai  Sa  ini  riöv  xa  TiaXaia  toiv  S^nfiäzcov 
fiEranoiovvTüiv  xai  fiaia^Qanrövroiv.  An  diese  vom  Schuhflicker  entlehnte 
Metapher  erinnert  ein  anderes  auf  das  Reinigen  der  Gewänder  anspielendes 
Bild  bei  Lysippus  (PoUiiX  VII  41):  6  8^  avayvdxpai  xai  d'eKÖans  Tna  akXoToiaS 
intvoias.  Nur  bezieht  sich  dieser  Vers  wohl  nicht  auf  das  Bearbeiten  fremder 
Dramen,  sondern  der  Komiker  rühmt  sich,  dafs  er  originell  sei  und  nicht  ande- 
ren ihre  Gedanken  entlehne. 

243)  Der  JrjftrjXQtoe  des  Alexis  war  eine  Ueberarbeitung  einer  älteren 
Komödie,  die  den  Titel  fPtXsrai^oe  führte.  Die  doppelten  Recensionen  der 
'ASel^oi  des  Menander,  sowie  der  Usqiv&ia  beruhen  zwar  nicht  auf  durchaus 
gesicherter  Ueberlieferung,  haben  aber  an  der  ngiüxr]  und  Sevxe^a  'EnUkrjffos 
dieses  Dichters  eine  Analogie. 

244)  Bei  Euripides  Phöniss.  271  änderte  man  ovx  ixf^üai,  weil  es  für 
die  Aussprache  nicht  recht  bequem  war.  In  der  Andromache  (i  verstand  man 
die  völlig  klaren  Worte  nicht,  corrigirte  daher  nicht  nur  willkürlich,  sondern 
fügte  auch  noch  einen  Vers  ein.  In  den  Phönissen  ward  der  völlig  müssige 
V.  52:  X'xi  axrpiTQ^  Sna&Xa  xr^aSs  lafißärsi  xO'oiö»  zugesetzt,  der  sich  schon 
durch  den  der  klassischen  Zeit  unbekannten  Ausdruck  ^na&Xot  als  Inlerpola- 


DIE    DRAMATISCHE   POESIE.      EL>LEITL>G.  71 

drei  Tragiker,  zumal  des  Euripides*^*),  waren  dieser  dünkelhaftea 
Interpolation  am  meisten  ausgesetzt.  Aber  auch  die  Lustspiele  des 
Menander  und  seiner  Zeitgenossen  werden  nicht  ganz  verschont  ge- 
büeben  sein."®) 

Diesem  Unwesen  suchte  der  Redner  Lykurg  zu  steuern.    Unter  Lykurgs 

°  Exemplar 

der  Aufsicht  des  Staatsschreibers  liefs  er  sorgfältige  Abschriften  von  der 
den  Werken  der  drei  Tragiker  anfertigen,  welche  im  Archiv  auf-  Tragiker. 
bewahrt  wurden  und  zur  ControUe  der  Schauspieler  dienen  sollten, 
denen  nicht  mehr  gestattet  ward,  zu  improvisiren  oder  behehig  den 
überüeferten  Text  abzuändern. ^^^  Man  darf  jedoch  den  Werth  dieser 
wohlgemeinten  Mafsregel  nicht  überschätzen.  Höchstens  wurde  da- 
durch der  immer  weiter  um  sich  greifenden  Verderbnifs  jener  Denk- 
mäler bei  den  Aufführungen  in  Athen  ein  Ziel  gesetzt;  für  die  aus- 
wärtigen Bühnen  war  das  Gesetz  wirkungslos.  Vor  allem  aber  fragt 
sich,  welchen  Anspruch  auf  Zuverlässigkeit  eben  jenes  öffentliche 
Exemplar  besafs.  Durchaus  correkte  und  den  Originalen  genau  ent- 
sprechende Abschriften  herzustellen  war  wohl  schon  damals  kaum 
möglich;  jedenfalls  konnte  nur  einer,  der  mit  den  Grundsätzen  diplo- 
matischer Kritik  wohl  vertraut  war,  diese  Aufgabe  befriedigend  lösen. 
Ob  es  zu  Athen  in  jener  Zeit  solche  Männer  gab,  ist  sehr  zu  be- 
zweifeln; dem  Staatsschreiber,  mochte  er  auch  noch  so  gewissenhaft 
verfahren,  wird  niemand  diese  Fähigkeit  zutrauen.  Dieses  attische 
Exemplar  erwarb  später  Ptolemäus  III  für  die  alexandrinische  Biblio- 


tion  kund  giebt;  die  alten  Kritiker  zeigen  auch  hier  richtiges  Sprachgefühl, 
zogen  es  aber  vor,  das  anstöCsige  Wort  durch  Correctur  zu  entfernen  statt  den 
Vers  zu  streichen. 

245)  Ebenso  finden  sich  in  denjenigen  Tragödien  des  Euripides,  die  am 
häufigsten  gespielt  wurden,  auch  die  meisten  Spuren  solcher  Interpolation,  wie 
in  der  Medea,  den  Phönissen. 

246)  In  den  Komödien  des  Aristophanes  finden  wir  auch  Interpolationen, 
die  jedoch  nicht  von  den  Schauspielern  herrühren. 

247)  Plutarch  im  Leben  der  zehn  Redner  §  11:  xa*  ras  r^ayq'Sias  airäiv 
(der  drei  Tragiker)  iv  xotv^  YQayjaudvon  gwÄarTeiv,  xai  t6v  t^»  nö/^cos  '/^afi- 
fiarea  Tta^avayiyva/axetv  lols  vnoxQtvofiävoiS'  ovx  i^eJvai  yao  avras  vTiox^ive- 
ffi9"oi.  Die  letzten  offenbar  verderbten  Worte  lassen  sich  nicht  mit  Sicherheit 
herstellen;  vielleicht  ist  zols  8'  vnoxoivoftivon  ovx  i^Eivai.  irrap'  avxa  (d.i. 
tubito,  aus  dem  Stegreif)  vnox^ivead'at.  Bedenken  erregt  auch  oix  i^eT- 
vat;  otx  i^r^  liegt  nahe,  ist  aber  wegen  der  Zweideutigkeit  dieses  Ausdrucks 
nicht  zu  empfehlen. 


72  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

thek.*'")  Die  dortigen  Gelehrten  mochten  bedeutende  Erwartungen 
von  dem  Werthe  dieser  Handschriften  hegen,  aber  man  sah  sich 
getäuscht.  Das  Exemplar  war  keineswegs  frei  von  Zusätzen  oder 
Veränderungen,  und  der  Gewinn  bestand  hauptsächlich  darin,  dafs 
man  jetzt  gleichsam  urkundhch  die  Fälschungen  der  Schauspieler 
nachzuweisen  vermochte.*^^) 
Unterge-  Dafs  die  Kritiker  des  Alterthums,   als  sie   die  Denkmäler   der 

Dramen,  dramatischen  Poesie  in  geordneter  Folge  übersahen,  manches  Werk 
seinem  Verfasser  absprachen  oder  doch  beanstandeten,  ist  erklärlich. 
Indem  die  Dichter  häufig  ihre  Stücke  unter  fremden  Namen  auf- 
fuhren liefsen  oder  .lungere  die  Arbeiten  ihrer  Vorgänger  umge- 
stalteten, mufste  nothwendig  eine  gewisse  Unsicherheit  der  Ueber- 
lieferung  entstehen.  Manches  herrenlose  Stück  ward  beUebig  einem 
berühmten  Namen  zugeschrieben.  Nicht  blofs  den  drei  grofsen  Tra- 
gikern, sondern  auch  den  jüngeren  entzog  die  Kritik  eine  Anzahl 
Dramen.*^)  Noch  ist  uns  eine  Tragödie  dieser  Gattung  erhalten, 
der  Rhesus,  über  dessen  Ursprung  die  Ansichten  im  Alterthum  ebenso 
getheilt  waren,  wie  in  der  neueren  Zeit.    Weit  mehr  Problematisches 


248)  Galen  in  Hippocr.  Epidem.  T.  XVII  l  p.  607  berichtet,  dafs  Ptolemäus 
sich  jenes  Exemplar  schicken  liefs,  um  davon  eine  Copie  anfertigen  zu  lassen, 
und  als  Unterpfand  den  Athenern  15  Talente  gab.  Er  behielt  aber  das  Origi- 
nal, sandte  den  Athenern  eine  Abschrift  auf  bestem  Papyrus  und  übeiiiefs  ihnen 
als  Ersatz  die  15  Talente.  Dafs  Ptolemäus  Euergetes  zu  verstehen  ist,  ergiebt 
sich  aus  p.  603. 

249)  Darauf  gehen  einzelne  Bemerkungen  der  Scholiasten,  wo  sie  mit 
voller  Bestimmtheit  eine  Lesart  den  Schauspielern  zuschreiben,  wie  zu  Eurip. 
Med.  82:  oL  8i  inoxoirai  tovio  ayv07;aavTes  fierartd'taai ,  909:  ol  S^  vrto- 
x^iral  ayvor;aavTes  yodfovaiv,  228:  ol  5'  inoxQixal  ov  avfiTieoKfsoönevoi  iqi 
iqÖtk^  keyovaiv.  Davon  mufs  man  wohl  die  Fälle  scheiden,  wo  sie  nur  nach 
Yermuthung  die  Thätigkeit  der  Schauspieler  annehmen,  vgl.  Arg.  Rhesus.  Schol. 
Med.  14S.  169,  Orest.  1366.  Die  Alexandriner  besafsen  eben  zum  Theil  ältere 
und  bessere  Handschriften,  waren  also  besser  im  Stande,  solche  Interpolationen 
nachzuweisen. 

250)  Dem  Aeschylus  sprachen  die  Kritiker  fünf  Dramen  ab  (in  dem  Kata- 
log werden  neben  den  yiirvalai  yvrjatm  auch  Alrvalat  vö&oi  angeführt;  vöd-ov 
Späfta,  vero&evTai  ist  der  übliche  Ausdruck),  dem  Sophokles,  wie  es  scheint, 
sieben,  dem  Euripides  drei  Stücke,  dem  Aphareus  zwei.  Doch  sind  alle  solche 
Angaben  mit  Vorsicht  aufzunehmen.  Nach  der  Biographie  des  Euripides  wurden 
Tivir^i,  ' Pu8äftav&vi ,  Ilsifid-ooi  als  unecht  verworfen;  hier  ist  der  '/'/.ffoe 
übergangen,  ebenso  der  JSiavfOi,  doch  ist  die  Entscheidung  hinsichtlich  dieses 
Stückes  unsicher. 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.      EI>LEITL>G.  73 

bot  flie  komische  Literatur  dar,  und  zwar  aus  allen  Epochen.^"*) 
Aber  literarischer  Betrug  hat  sich,  wenn  wir  von  einigen  Stücken 
des  Thespis  absehen,  auf  diesem  Gebiete  nicht  versucht.  Die  an- 
gebliche Danae  des  Euripides  und  die  Klytämnestra  des  Sophokles 
verdanken  erst  einer  viel  späteren  Zeit  ihre  Entstehung.*^*) 

VI 

Der  Staat  verwandte  bedeutende  Summen  auf  die  dramatischen  Die 
Aufführungen.*")  Aufser  den  Preisen  für  die  Dichter  und  dem  Honorar  °'"'^'** 
für  die  Schauspieler,  welches  wenigstens  später  ziemlich  hoch  gewesen 
sein  mag,  mufs  die  Staatskasse  noch  manche  andere  Ausgaben  be- 
stritten haben;  denn  es  ist  unrichtig,  wenn  man  meint,  der  Choreg 
habe  alle  Unkosten  übernommen.  Aber  auch  so  darf  man  dessen 
Leistungen  nicht  gering  anschlagen.  Die  einzelnen  Phylen  der  Bür- 
gerschaft stellten  den  Choregen  aus  ihrer  Mitte.*^')   Natürlich  waren 


251)  Von  Epicharmus  verwarfen  die  Kritiker  vier,  von  Aristophanes  eben 
so  viel  Komödien;  aber  auch  unter  den  Werken  des  Eupolis,  dann  besonders 
des  Plato,  Pherekrates  und  anderer  Dichter  der  alten  Komödie  fanden  sich  viel 
bestrittene  Dramen.  Auch  in  der  Schrift  neoi  xcoficodias  111  3  werden  die  xpEvSe- 
niyoafa  ausdrücklich  hervorgehoben :  (pdQexai  avrcHv  nävxa  ra  S^äfiata  r^e' 
aiv  tols  xfjevSeniy^afois.  Aber  auch  die  späteren  Zeiten  bieten  Belege  dafür 
dar;  die  üoocpvoa  wurde  von  einigen  dem  Timokles,  von  anderen  dem  Xenar- 
chus,  die  'AnoltTtovaa  dem  Diphilus  oder  Sosippus  zugeschrieben.  Bei  dem 
^ixeXixos  scheint  es  zweifelhaft  gewesen  zu  sein,  ob  Diphilus  oder  Philemon 
der  Verfasser  war. 

252)  Von  beiden  Tragödien  besitzen  wir  nur  den  Anfang;  die  Verfasser 
haben  es  nur  bis  zu  einem  Bruchstücke  gebracht.  Die  Danae  des  Euripides  ist 
das  Machwerk  eines  Byzantiners,  die  Klytämnestra  des  Sophokles  ein  ganz 
junges  Produkt,  welches  dem  Occident  angehört;  denn  der  Fälscher  hat  haupt- 
sächlich den  Agamemnon  des  Seneca  ausgebeutet. 

253)  Plutarch  de  Glor.  Athen,  c.  6  behauptet,  die  Athener  hätten  mehr  Geld 
auf  die  Aufführung  ihrer  klassischen  Trauerspiele  verwendet,  als  ihnen  die 
Freiheitskriege  und  die  Gewinnung  der  Hegemonie  kosteten.  Die  ganze  Stelle 
ist  darum  von  Bedeutung,  weil  sie,  wie  es  scheint,  auf  Demetrius  von  Phaleros 
zurückgeht  und  zeigt,  wie  in  der  Zeit  des  Aristoteles  politische  Männer  darüber 
urtheilten.  Aehnliche  Vorwürfe  macht  auch  Demosthenes  den  Athenern  Phi- 
lipp. I  35,  Leptin.  26. 

254)  An  den  Lenäen  wurden  auch  die  Metöken  zur  Choregie  herangezogen 
(Schol.  Aristoph.  Plut.  953),  dagegen  die  Betheiligung  an  den  aartxoi  xo^oi  war 
ein  ausschliefsiiches  Ehrenrecht  der  Bürger.  Zur  Choregie  war  nur  verpflich- 
tet, wer  ein  Vermögen  von  mindestens  drei  Talenten  hatte. 


74  DRITTE    PERIODE    VON    500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

nur  die  Wohlhabenden  zu  einer  solchen  Liturgie  verpflichtet.  Der 
Choreg  halte  dann  das  Chorpersonal  gleichfalls  aus  Angehörigen  seiner 
Phyle  zusammenzubringen,  ein  geeignetes  Local  für  die  Einübung 
des  Chores  zu  beschaffen,  für  die  Verpflegung  und  Bedienung  wäh- 
rend dieser  Zeit  zu  sorgen  und  zur  Aufführung  selbst  Masken,  Ge- 
wänder und  Schmuck  für  den  Chor  zu  liefern.  War  ein  Nebenchor 
erforderhch,  so  steigerte  dies  unter  Umständen  die  Kosten  erheb- 
lich*"); aber  auch  sonst  hatte  der  Choreg  manches  für  die  Auf- 
führung Erforderliche  zu  leisten."")  Man  unterzog  sich  jedoch  meist 
willig  solchen  Anforderungen.  Der  Ehrgeiz,  etwas  Vollendetes  vor- 
zuführen, war  zu  mächtig,  die  Ehre  des  Sieges  zu  lockend,  und  man 
wufste  recht  gut,  dafs  der  Glanz  der  äufseren  Ausstattung  zum  Er- 
folge wesentlich  beitrug.'"')  Erst  später  mag  knickeriges  Wesen  mehr 
und  mehr  überhand  genommen  haben.  Wenn  die  Komiker  sich  zu- 
weilen über  die  Sparsamkeit  der  Choregen  beklagten,  so  wird  dies 
wohl  oft  nur  ein  harmloser  Scherz  sein.  Die  Choregie  für  den 
tragischen  Dichter  war  kostspieliger,  als  für  die  Komödie,  weil  das 
heroische  Drama  einen  gewissen  Prunk  erforderte,  der  im  Lustspiel 
nicht  an  seiner  Stelle  war,  dann  weil  die  Zahl  der  Choreuten  im 
Trauerspiel  weit  gröfser  war.***) 

Als  der  Wohlstand  der  attischen  Bürgerschaft  abnahm,  mufste 
man  darauf  bedacht  sein,  diese  Verpflichtung  zu  erleichtern,  daher 
schon  Ol.  93,  3  gestattet  wurde,  dafs  zwei  zusammen  die  Choregie 
übernahmen."^)     Bald  ging  man  weiter,  indem  man  die  Ansprüche 


255)  Darauf  geht  wohl  die  ungeschickt  erzählte  Anekdote  bei  Plutarch 
Phok.  c.  19. 

256)  Aristoph.  Fried.  1022. 

257)  Isäus  Dicaeog.  36. 

258)  Der  komische  Chor  bestand  aus  vierundzwanzig,  der  tragische  aus 
fünfzehn  (früher  zwölf)  Personen,  aber  diese  Zahl  vervierfacht  sich  mit  Rück- 
sicht auf  die  tragische  Tetralogie.  Bei  Lysias  de  bonis  Aristoph.  29  und  42 
wird  der  Aufwand  für  eine  zweimalige  Choregie  für  einen  tragischen  Dichter 
auf  5000  Drachmen  angeschlagen.  Lehrreich  ist  besonders  eine  andere  Hede 
des  Lysias  (SojQoSonias  anoXoyia).  Hier  giebt  einer  Ol.  92,  2  für  den  tragischen 
Chor  an  den  grofsen  Dionysien  3000  Drachmen,  t)l.  94  für  den  komischen  Chor 
nebst  dem  Weihgeschenke  (4:  ovv  ifi  rfis  axsvr^i  avnd-iost)  1000  Drach- 
men aus. 

259)  Schol.  Arist.  Frösche  404.  Das  dort  aus  Aristoteles  angezogene  Ge- 
setz traf  nur  für  die  städtischen  Dionysien  jene  Bestimmung,  aber  unzweifel- 
haft galt  das  Gleiche  auch  für  die  Lenäen;  nur  mag  es  hier  schon  früher  ein- 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.     EIM-EITÜAG.  75' 

an  die  Choregie  für  ein  Lustspiel  auf  das  geringste  Mafs  herab- 
setzte.****) Die  Folge  war,  dafs  der  komische  Chor  fortan  mit  einer 
ganz  untergeordneten  Stelle  sich  begnügte  und  bald  ganz  beseitigt 
wurde.  Allein  die  Choregie  für  die  Komödie  blieb  nach  wie  vor 
bestehen.  Indes  ist  seit  dem  Ende  des  grofsen  Krieges  nicht  mehr 
die  Bereitwilhgkeit  wie  früher  vorhanden.  In  der  Zeit  des  Demo- 
sthenes  fand  sich  häufig  kein  Choreg*^'),  und  wenn  nicht  etwa  einer 
freiwillig  die  Leistung  übernahm,  mufste  der  Staat  eintreten. 

VII 

Wie  die  Tragödie  aus  dem  Dithvrambus  der  kvklischen  Chöre  D"  chor 

°  '  .  *  und  seine 

hervorgegangen  ist,  so  besteht  auch  der  tragische  Chor  anfangs  aus  organisa- 
fünfzig  Personen.*-)     Wenn   sich   Aeschylus  mit   zwölf  Choreuten 
begnügt,  so  hängt  diese  scheinbare  Verminderung  unzweifelhaft  mit 
der  Einführung  der  Tetralogie  zusammen.    Der  grofse  Chor  wurde 


tion. 


geführt  sein.     Ob  vereinzelte  Fälle  schon  früher  vorkamen,  ist  ungewifs;  in 
der  Didaskalie  der  Alkestis  des  Euripides  ist  Teiaias  i/oor/yei  zu  lesen. 

260)  Schol.  Aristoph.  Frösche  404  auf  Betrieb  des  Dithyrambendichters 
Rinesias.  Dafs  aber  die  Choregie  für  die  Komödie  demungeachtet  auch  nach 
dem  peloponnesischen  Kriege  fortbestand,  zeigt  die  Inschrift  CIG.  219,  wo  sie 
einer  offenbar  an  demselben  Feste  (den  grofsen  Dionysien)  für  einen  y.ixXios 
yoQÖs  und  xcouojSoi  übernimmt;  vgl.  auch  die  Inschrift  22S  und  eine  dritte  bei 
Le  Bas  Attique  85  {riSvyilcoTi  yogco  dioviaia). 

261)  Wenn  Demosthenes  Lept.  22  behauptet,  es  sei  kein  Mangel  an  sol- 
chen, welche  die  Choregie  übernehmen  konnten  oder  wollten,  so  ist  dies  eine 
rhetorische  Phrase,  durch  den  Zweck  seiner  Rede  entschuldigt;  dafs  es  that- 
sächlich  ganz  anders  war,  bezeugt  er  selbst  in  der  Rede  gegen  Midias.  Daher 
findet  sich  öfter  auf  Inschriften  6  Sr/uos  iyoQrjyet.  Merkwürdig  lautet  aus  rö- 
mischer Zeit  die  Inschrift  Ephem.  Archaeol.  1860,  3785:  6  Sfjftos  iveixa, 

262)  PoUu.x  IV  HO:  tÖ  na?.atöv  o  rgayucos  xoqos  Ttevrrixovra  f;aav 
axQt  läjv  EvfiBviSatv  ^iayjOxm '  n^ös  Si  xbv  Öx,/jov  avrcäv  rov  nXrjd'ovi  ix- 
nxor,d'ivTOi  avvsaxei'/^v  o  vöfios  eis  ikärrco  a^id'fiov  xbv  ypqöv.  Dafs  der 
grofse  Chor  unvermindert  bis  zu  den  Eumeniden  bestanden  habe,  wie  PoUux 
durch  eine  schlecht  erfundene  Anekdote  beweisen  will,  wird  eben  durch  die 
Orestie  widerlegt,  vgl.  Schol.  Aristoph.  Ritter  5S9:  o  dk  r^ayixbs  yoohs  t,t , 
WS  Aiayyhi'i  Ayafitfivovi ,  und  Schol.  Eumen.  5S5.  Also  hatte  damals  bereits 
Sophokles  die  Normalzahl  fünfzehn  (PoUux  IV  lOS)  eingeführt;  denn  dafs  dieser 
Dichter  nur  zwölf  Choreuten  vorfand,  ist  ausdrücklich  (Suidas  II 2,  SS3  und  der 
Biographen)  bezeugt.  Irrig  ist  es,  wenn  (Bekker  An.  II  746)  dem  tragischen  Chore 
vierzehn  oder  {negi  xco/xcaSias  IX  a  45  p.  XX)  sechszehn  Mitglieder  gegeben  wer- 
den; auch  TzetzesXb  109  spricht  von  sechszehn  Choreuten  im  Satyrdrama. 


76  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

eben  in  vier  kleinere  zerlegt,  von  denen  jeder  in  einem  Drama  mit- 
wirkte. Sophokles  erhöhte  bald  nachher  die  Zwolfzahl  auf  fünfzehn. 
Der  Chor  der  Komödie  hat  vierundzwanzig  Mitglieder.  Das  Lust- 
spiel, das  überall  der  Tragödie  nachsteht,  begnügt  sich  mit  der  Hälfte 
des  grofsen  kykliscben  Chores.*"^; 

Man  behielt  in  der  Tragödie  die  festgesetzte  Zahl  der  Choreuten, 
erst  zwölf,  dann  fünfzehn,  stets  bei,  auch  wo  die  Rücksicht  auf  die 
mythische  UeberHeferung  eine  gröfsere  oder  geringere  Zahl  erfor- 
derte. Für  die  jüngere  Tragödie,  welche  nicht  mehr  bestimmte  Per- 
sönlichkeiten im  Chore  verwendet,  war  ohnedies  die  Zahl  ziemlich 
gleichgültig.*") 

Nebenchöre  kommen  öfter  im  Trauerspiel,  wie  im  Lustspiel 
vor.  Ein  ^'ebenchor  verursacht  wenig  Umstände,  wenn  er  vor  der 
Parodos  des  eigentlichen  Chores  und  hinter  der  Bühne  sein  Lied 
vortrug.  So  sind  bei  Euripides  die  Begleiter  des  Hippolytus  blofse 
Statisten ;  das  kurze  Lied  wird  von  dem  Chore,  der  noch  nicht  die 
Orchestra  betreten  hat,  gesungen.^")  Ganz  ähnlich  verhält  es  sich 
bei  Aristophanes  mit  dem  Chor  der  Frösche ^''''),  nach  welchem  die 
Komödie  benannt  ist,  während  der  wirkliche  Chor,  weil  die  Haupt- 
handlung des  Stückes  in  die  Unterwelt  verlegt  ist,  durch  Genossen 
der  eleusinischen  Weihen   gebildet  wird.     Aber  manchmal  tritt  ein 


263)  Scliol.  Aristoph.  Ritter  589:  o  nsv  xeoftixoe  xoqos  xS',  tos  xal  ovxoi 
aTiT^^id'fiTjasv  if'Ogviaiv,  aöosvas  fiev  OQvte  ißf ,  &r]ksiai  Se  roaavTai.  Pollux 
IV  109. 

264)  So  sah  sich  Aeschylus  genöthigt,  in  den  Eumeniden  die  Zahl  der 
Rachegöttinnen  zu  vermehren,  in  den  Schutzflehenden  die  Zahl  der  Danaiden 
zu  verringern:  und  der  beigefügte  Nebenchor  der  Dienerinnen  trug  dazu  bei, 
das  abweichende  Zahlenverhältnifs  minder  bemerkbar  zh  machen.  Die  Schutz- 
flehenden gehören  zu  einer  tetralogischen  Compoäition.  Hier  ist  also  ein  Chor 
von  fünfzig  Personen  unzulässig;  und  wenn  in  einem  Bruchstück  wahrschein- 
lich aus  einer  anderen  zu  dieser  Tetralogie  gehörenden  Tragödie  (JavatSee) 
dem  Chore  geboten  wird,  sich  im  Kreise  um  das  Feuer  des  Altars  aufzustellen 
(xvxkq»  TtegiaxTjr',  iv  Xöxtp  t'  ansigovi  sv^aa&e),  so  war  dies  auch  für  eine 
geringere  Zahl,  zumal  wenn  noch  Dienerinnen   beigegeben  waren,  ausführbar. 

265)  Schol.  Hipp.  67:  I'tbqoi  Si  eiai  tov  x'^QOv,  xa&äneQ  iv  Ttpl/Ile^nt>- 
Boto '  ivrav&a  fisv  ow  Svfnrai  n(>oanoxg^O(to^(tt  toü  ano  tov  xo^oi;  ixel 
Si  oweatätTOi  tov  x'^P^v  ineiaäyet  ro  a&ftoiOfta,  wi  xai  iv  Avjtönrj  Svo 
Xogovi  eiaäyei  tov  tt  t>i]ßaio}v  yeQOVtcJv  Siökov  xai  tov  fteta  Jifxr.i. 

266)  Auf  gleiche  Weise  wird  auch  der  Chor  des  Agathon  im  Eingange 
der  Thesmophoriazusen  hinter  der  Bühne  gesungen  haben. 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.      EI>LEITü>G.  77 

zweiter  Chor  von  Sängern  in  geeignetem  Kostüme  auf,  wie  am 
Schlüsse  der  Eumeniden  des  Aeschylus  der  Fackeln  tragende  Chor, 
welcher  den  Rachegöttinnen  das  Geleite  giebt^®'),  oder  die  Lakonier 
in  der  Lysistrata  des  Aristophanes.  In  der  Tragödie  konnte  man 
füghch  einen  Chor,  der  bereits  in  einem  anderen  Stücke  aufgetreten 
war^''*),  dazu  verwenden.  Der  Cboreg  hatte  dann  nur  für  die  äufsere 
Ausstattung  zu  sorgen.*®^)  Verschieden  davon  sind  gemischte  Chöre, 
von  denen  besonders  die  Komödie  öfter  Gebrauch  macht.^'**) 

Der  tragische  Chor  zog  entweder  in  fünf  Reihen  zu  je  drei, 
oder  in  drei  Reihen  zu  je  fünf  Mann  in  die  Orchestra  ein.  Aehnlich 
war  der  komische  Chor  in  sechs  Reihen  zu  je  vier  oder  in  vier 
Reihen  zu  je  sechs  Mann  gegliedert.-"')  Und  er  behielt  diese  Stel- 
lung im  Viereck  auch  in  der  Regel  bei,   während  der  grofse  Chor 


I 


267)  Einen  Nebenchor  haben  auch  die  Schutzflehenden  des  Aeschylus, 
nicht  aber  das  gleichnamige  Stück  des  Euripides;  denn  die  fünf  Knaben  treten 
einzeln  auf,  bilden  keinen  Chor.  Der  Chor  dieser  Tragödie  ist,  wie  es  scheint, 
aus  den  Müttern  und  ihren  Begleiterinnen  gebildet. 

268)  Selbstverständlich  in  einem  Stück  desselben  Dichters. 

269)  Dafür  würde  der  Ausdruck  TtaQayoorjyr^ua  ganz  passend  sein,  den 
der  Schol.  der  Frösche  209  auf  jenes  Stück  anwendet. 

270)  In  den  Schutzflehenden  des  Euripides  scheint  der  Chor  aus  fünf  Müt- 
tern und  zehn  Dienerinnen  bestanden  zu  haben.  Ob  der  Chor  im  Theseus  aus 
Knaben  und  Mädchen  gebildet  war,  ist  unbekannt.  Für  die  gemischten  Chöre 
der  alten  Komödie  gilt  das  Gesetz,  dafs  die  Halbchöre  eine  ungleiche  Zahl 
zeigen,  also  dreizehn  Männer  und  elf  Frauen  oder  dreizehn  Frauen  und  elf 
Knaben,  dreizehn  Greise  und  elf  Jünglinge,  s.  Schol.  Arist.  Ritter  5S9  (wo  tois 
TiQeaßvxas  ji^^orexreTv  Svslv  faaiv  statt  8  siv  za  lesen  ist).  So  steht  Inder 
Lysistrata  der  Halbchor  der  Greise  dem  Halbchore  der  Frauen  gegenüber.  Da- 
gegen in  den  Wespen  sind  die  Knaben,  welche  den  Alten  voranleuchten,  nur 
ein  Parachoregem.  Im  Frieden  werden  nur  Statisten  verwandt,  um  die  Arbeit 
des  Chores  zu  unterstützen. 

271)  PoUux  IV  109  vom  tragischen  Chore:  xai  xaza  roeii  ftiv  eiar^saaf>, 
ei  naxa  ^vya  yiyvotro  tj  nn^oSos,  si  Si  xara  aroi^ovs,  ava  TCevrs  siar[saav.  Der 
komische  Chor  besteht  aus  sechs  !^vyd  oder  vier  arol^cot-  Die  Gliederung  des 
dramatischen  Chores  ist  identisch  mit  der  militärischen  Taktik :  ^vyov  (Glied) 
nennt  man  hier  die  Stellung  mehrerer  Soldaten  auf  einer  Linie  neben  einander, 
<rrr/cos  (die  Rotte)  heifst  eine  Reihe  Leute,  die  hinter  einander  aufgestellt  sind; 
drei  Rotten  neben  einander  bilden  also  Glieder  von  je  drei  Mann.  Gewöhnlich 
zog  wohl  der  dramatische  Chor  in  ^vyä.  auf;  auf  der  Orchestra  angelangt,  konnte 
er  dann  die  Stellung  verändern.  Bei  Aristophanes  in  den  Vögeln  zieht  der 
Chor  in  vier  Reihen  zu  sechs  Mann  [xaxa  aroixovs)  auf,  und  in  derselben  Stel- 
lung ward  in  den  Babyloniern  die  Parodos  vorgetragen. 


78  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS   300  V.  CHR.  G. 

der  älteren  Tragödie  und  der  Dithyrambendichter  sich  im  Kreise 
um  den  Altar  des  Gottes  aufzustellen  pflegte."')  Zuweilen  wird  diese 
feste  Ordnung  aufgegeben.'''^)  Wenn  der  Chor  von  leidenschaftlicher 
Aufregung  ergriffen  ist  oder  Neugier  und  Ungewifsheit  anschaulich 
geschildert  werden  soll,  treten  die  Choreuten  einzeln  oder  auch  in 
grüfseren  und  kleineren  Gruppen  auf. 

Von  der  Regel,  dafs  der  Chor  ohne  Unterbrechung  von  seinem 
ersten  Auftreten  bis  zum  Schlüsse  des  Stückes  gegenwärtig  ist,  fin- 
den sich  mehrfache  Ausnahmen.  Der  Wechsel  der  Scene  in  den 
Eumeniden,  wo  die  Handlung  aus  dem  delphischen  Heiligthume  nach 
der  Akropolis  von  Athen  verlegt  wird,  machte  auch  eine  momentane 
Entfernung  des  Chores  nothwendig.  Ebenso  war  der  Selbstmord 
des  Ajas  bei  Sophokles  mit  der  Anwesenheit  von  Zeugen  unverein- 
bar; während  der  Held  den  langen  Monolog  spricht  und  sich  in 
sein  Schwert  stürzt,  mufs  sich  der  Chor  fernhalten. 
Koryphäus.  Dor  Chor  Steht  als  Gesammtheit  den  Schauspielern  auf  der  Bühne 

gegenüber.  Der  Repräsentant  des  Chores,  gleichsam  sein  Sprecher, 
ist  der  Koryphäus,  der  den  Verkehr  mit  den  handelnden  Personen 
vermittelt.  Diese  Zwiegespräche  sind  eine  Erinnerung  an  die  An- 
fänge der  dramatischen  Poesie;  denn  hier  ist  der  Keim  des  Dialoges 
zu  suchen.  Aber  man  konnte  auch  später  nicht  darauf  verzichten, 
ohne  den  Chor  völlig  loszulösen.  Was  der  Koryphäus,  was  der  ganze 
Chor  vortrug,  darüber  schweigt  die  üeberliel'erung.  Dafs  in  der 
Tragödie  iambische  Trimeter,  welche  der  Chor  mit  den  Schauspielern 
wechselte,  dafs  die  anapästischen  Dimeter,  womit  das  Erscheinen  und 
Abtreten  der  Personen  angekündigt  wird,  dem  Koryphäus  zuzuweisen 
sind,  ist  sicher;  aber  wie  weit  der  Chorführer  am  Einzelvortrage 
melischer  Partien  betheiligt  war,  läfst  sich  nicht  genauer  feststellen. 
In  der  Komödie,  wo  der  Chor  mehr  oder  minder  in  die  Handlung  ver- 
flochten ist,  oft  geradezu  thätig  eingreift,  war  auch  die  Aufgabe 
des  Koryphäus  eine  viel  bedeutendere.    Er  führt  nicht  nur  mit  den 


272)  Die  alten  Grammatiker,  wie  r.  B.  Tzetzes  Prol.  zu  Lykophron,  legen 
daher  den  dramatischen  Chören  ein  xBTQäymvov  ox^f"  ^f'-  I'ai'iit  brachte  man 
sogar  den  Namen  xqayioSia  durch  ein  etymologisches  Kunststück  in  Verbin- 
dung (Bekker  An.  II  74t),  Et.  M.  7fi4).  Doch  müssen  auch  RuHdtänze  zuweilen 
vorgekommen  sein,  vgl.  Aesch.  Eum.  307,  Aristoph.  Thesmoph.  953. 

273)  Pollux  IV  103:  k'a&^  ore  8i  xai  xad''  ivn  inotovvro  rijv  na^oSov. 
Vgl.  Aeschylus'  Eumeniden  und  Sophokles'  Oedipus  auf  Kolonos. 


DIE   DRAMATISCHE   POESIE.      EINLEITUNG.  79 

Schauspielern  bald  längere,  bald  kürzere  Wechselreden,  sondern  steht 
auch  mit  dem  Chore  selbst  in  fortwährendem  Verkehr.  Die  Befehle 
und  Ermahnungen,  welche  häufig  an  die  Gesammtheit  der  Choreuten 
gerichtet  werden,  schicken  sich  nur  für  den  Führer. 

Der  Koryphäus  ist  der  Vorsänger. *^^)  Ursprünglich  übernahm 
der  Dichter  selbst  diese  Function.  Seitdem  aber  durch  Thespis  das 
dramatische  Element  hinzutrat,  mufste  er  dies  Geschäft  einem  ande- 
ren übertragen,  der  gründliche  musikalische  Bildung  und  praktische 
Erfahrung  besafs.  Bei  der  Einübung  des  Chores,  wie  bei  der  Auf- 
führung des  Dramas  leistete  er  wesentliche  Dienste;  von  seiner  Ge- 
schickhchkeil  hing  vielfach  der  Erfolg  ab.*^')  Zumal  in  der  Komö- 
die waren  die  Anforderungen  an  den  Koryphäus  noch  zahlreicher 
und  schwieriger,  als  in  der  Tragödie. 

Der  Koryphäus  hatte  seinen  bestimmten  Platz.  Im  tragischen 
Chor  nahm  er  beim  Einzüge  die  dritte  Stelle  der  linken  Reihe  ein'"®); 
denn  die  linke  Seite,  welche  den  Zuschauern  zugekehrt  war,  galt 
für  ehrenvoller  als  die  rechte.  Auf  der  linken  Seite  befanden  sich 
die  tüchtigsten  Choreuten,  während  man  die  Unansehnlichen  und 
Mindergeschickten  der  mittleren  Reihe  zuwies;  doch  war  man  Ihun- 
lichst  darauf  bedacht,  dafs  nur  stattliche  Figuren,  geübte  Sänger  und 
Tänzer  in  den  Chor  aufgenommen  wurden. 

Aus  dem  Chore  ist  die  Tragödie  hervorgegangen.  Erst  nach  und  Der  Prolog, 
nach  gelangt  das  Dramatische  zur  Geltung.    Wie  der  Chor  alle  Zeit 


274)  D.  h.  der  i^aQxcov,  wie  man  seit  Alters  den  Leiter  eines  Chores 
nannte,  später  auch  TiyBfiäv.  Auf  ihn  sind  die  Blicke  aller  Choreuten  gerichtet, 
Aristot.  Probl.  11,  22.  daher  ein  beliebtes  Bild  in  Vergleichungen,  Plato  Euthyd. 
276  B  :  (oaneg  vnb  SiSaay.ä).ov  y,oobi  cntoar^ufp'avxo?  aua  aved'ootSr-aav.  Colu- 
mella  XU  2 :  nbi  chorus  canentium  non  ad  certos  modos  neque  numeris  prae- 
euntis  magistri  consensit,  dissonum  qitiddam  ac  tumtiltuosum  audientibus 
canere  videtm:  Der  sogenannte  Aristoteles  de  mundo  c.  6  p.  399  A  14  ff.:  xad"- 
anBQ  iv  ;ijooß5  yoovcpaiov  yaräo^avTOS  awenr^xei  näs  6  xoQos  avSocov,  sad'^  ore 
y.ai  yvvaiy.eöv,  iv  SiafoooiS  fotvals  o^vrsoais  yai  ßaovTBQais  fiiav  a^fioviav 
xsoavvtvTiov,  ovrco?  k'^ei  xai  irti  tov  to  avuTtav  Stsnovros  &eov ,  und  noch- 
mals oitBQ  kv  x'>^'p  xo^'cpdios ,  Tovro  d'sbs  iv  xöauqt. 

275)  Demosth.  Mid.  60 :  i'ars  Sri  itov  tov&\  ort  rov  riysftöva  av  atpiXi] 
T«s,  oixttai  o  XotnoQ  yooös. 

276)  Photins  rglro?  aoiaxB^ov  und  Hesych.  aQurrB^ocrdrrjs.  Seine  ge- 
wöhnliche Stellung  war  in  der  Mitte,  d.  h.  der  Fronte;  daher  nennt  ihn  Plinius 
Ep.  II  14  fiBaöjcoQoe.  Athen.  IV  152B:  xd&r^vTat  ftiv  iv  xvxho,  ftiffo:  8'  6  x^- 
TtffTOS,  cüs  av  xoqxxpaiot  XOQOV. 


80  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

die  Handlung  begleitet  und  abscbliefst,  so  erwartet  man,  dafs  er  sie 
auch,  wenigstens  in  der  älteren  Zeit,  eingeführt  habe.  Gleichwohl 
hat  nach  glaubwürdiger  Ueberlieferung  schon  der  Gründer  der  Tra- 
gödie, Thespis,  sich  des  Prologes  bedient,  und  man  begreift,  wie 
gerade  in  den  Anfängen  der  dramatischen  Kunst  diese  Weise,  das 
Pubhkum  in  die  Sache  einzuführen,  gute  Dienste  leisten  mufsle. 
Die  Thatsache  selbst  darf  man  nicht  in  Zweifel  ziehen ,  aber  der 
Prolog  des  Thespis  und  seiner  Nachfolger  wird  nicht  das  Drama 
eröffnet  haben*"),  sondern  dieses  Amt  fiel  dem  Chore  zu.  Wenn 
das  Spiel  beginnen  sollte,  forderte  der  Herold  den  Dichter  auf,  mit 
seinem  Chore  in  die  Orchestia  einzuziehen."*)  Aeschylus  ist  in  den 
Persern  und  in  den  Schutzflehenden  der  allen  Sitte  noch  treu  ge- 
blieben.^^^)  In  beiden  Stücken  treten  die  handelnden  Personen  erst 
nach  dem  Einzüge  des  Chores  auf.  Auch  später  macht  dieser  Dich- 
ter noch  zuweilen  von  dieser  alterlhümlichen  Form  Gebrauch,  wie 
im  befreiten  Prometheus^*"),  und  dem  Meister  hat  sich  seine  Schule 
angeschlossen,  wie  man  am  Rhesus  sieht.^*')  Bei  den  anderen  Tra- 
gikern ist  dies  nicht  mehr  üblich;  auch  wo  der  Chor  gleichzeitig 
mit  einer  handelnden  Person  auftritt,  verharrt  er  so  lange  schwei- 
gend, bis  der  Prolog  gesprochen  war.^-)     Das   erste  Beispiel  eines 


277)  Der  Prolog  bei  Thespis  war  die  erste  Qr,ais,  und  der  Name  ist  viel- 
leicht erst  aufgekommen,  seitdem  er  an  die  Spitze  des  Dramas  trat.  Auch  später 
haben  sich  noch  einige  Reminiscenzen  an  diese  alte  Weise  erhalten.  Abgesehen 
von  der  Iphigeneia  in  Aulis  des  Euripides,  wo  nach  der  vorliegenden  Redaction 
der  Prolog  die  zweite  Stelle  einnimmt,  ward  auch  die  Audromache  desselben 
Dichters  durch  eine  Monodie  der  Heldin  eröffnet,  und  die  sich  daran  schliefsende 
Rede  des  Perseus  vertrat  die  Stelle  des  eigentlichen  Prologs.  Im  Miles  des 
Plautus  ist  der  Prolog  sehr  geschickt  an  die  Spitze  des  zweiten  Actes  gesetzt. 

278)  Aristoph.  Ach.  1 1 :  eXaay  io  Otayri  top  xoqÖv.  Diese  Formel  war 
damals  eigentlich  nicht  mehr  recht  anwendbar,  aber  der  Komiker  behält  sie 
bei,  weil  sie  für  seinen  Zweck  sich  eignete.  (S.  53,  A.  178.) 

279)  Diese  beiden  Dramen  entbehren  des  Prologs,  aber  die  der  Parodos 
vorausgehenden  Anapästen  des  Chores  vertreten  seine  Stelle,  daher  der  Schol. 
der  Perser:  ivzavd'a  Tz^oloyi^ei  x^^oe  TtQeaßvjöiv. 

260)  Auf  den  Chorgesang  der  Titanen  folgte  die  Ansprache  des  Prome- 
theus; ähnlich  wohl  auch  in  den  Myrmidonen,  wo  der  Prolog  in  Trimetern 
(Strabo  XIII  GIO)  sich  an  den  lyrischen  Eingang  angeschlossen  zu  haben  scheint. 

281)  Hier  ward  später  von  zweiter  Hand  ein  Prolog  in  lambcn  hinzu- 
gedichtet. Dafs  auch  die  Komödie  anfangs  durch  ein  Choriied  eröffnet  wurde, 
zeigen  «Mc  13ovHv)u)t  des  Kratinus. 

282)  So  im  Pliiloktet  des  Sophokles  und  anderwärts. 


DIE    DRAMATISCHE   POESIE.      EI>LEITÜ>'T;.  81 

einleitenden  Prologs  in  Trimetern,  auf  den  die  Parodos  des  Chores 
folgte,  bieten  die  Phönissen  des  Phrynichus  dar,  Ol.  75,  4,  also  noch 
vor  den  Persern  des  Aeschylus  aufgeführt.  Diese  Neuerung  wird 
wohl  erst  der  Zeit  des  Zusammenwirkens  dieser  Dichter  verdankt, 
wo  das  dramatische  Element  durch  Einführung  des  zweiten  Schau- 
spielers sich  einen  breiteren  Raum  eroberte.-*') 

VIII 

Schauspieler  von  Beruf  sind  den  Anfängen  des  Dramas  fremd;  »»e  schan- 
der  Dichter  selbst  übernahm  diese  Funktion.^'O  ß^i  der  Schhcht- 
heit  der  aUen  Kunst  hat  solche  Vielseitigkeit  nichts  Auffallendes. 
Der  Dichter  führte  die  Gestalten,  welche  er  geschaffen  hatte,  auch 
dem  Zuschauer  vor.  Das  volle  Verständnifs,  was  ein  fremder  Dar- 
steller sich  erst  durch  Studien  aneignen  mufste,  brachte  er  mit  und 
mufste  so,  wenn  er  anders  von  der  Natur  mit  ausreichenden  Mit- 
teln ausgestattet  war,  eine  mächtige  Wirkung  erzielen.  Durch  diese 
persönliche  Betheiligung  erlangte  der  dramatische  Dichter  zugleich 
die  vertrauteste  Bekanntschaft  mit  dem  Geheimnifs  des  dramatischen 
Lebens.  So  waren  alle  älteren  Tragiker  von  Thespis  bis  auf  Aeschy- 
lus zugleich  Schauspieler,  und  das  Gleiche  gilt  auch  von  der  älteren 
Komödiendichtung.'^*)  So  lange  die  dramatische  Handlung  in  engen 
Grenzen  verharrte,  kam  man  mit  einem  Darsteller  aus.  Allein  seit- 
dem Aeschylus  den  Umfang  der  Chorgesänge  beschränkte,  um  eine 
selbständige  reichere  Entwicklung  des  dramatischen  Lebens  herbei- 
zuführen, mufste  er  einen  Gehülfen  heranziehen,  dem  er  die  Neben- 
rollen übertrugt),   während  der  Dichter  zunächst  noch  immer  die 


283)  Aristoteles' Definition  Poet.  c.  12  p.  1452B  19:  fiiQoeolov  XQayioSCas 
rb  TtQo  xoQov  TtaoöSov  hält  sich  eben  an  die  später  gültige  Norm ,  ebenso  Euri- 
pides,  wenn  er  bei  Aristophanes  Frösche  1120  die  Prologe  des  Aeschylus  {rb 
TtQarov  rr,s  r^aycpSias  fteoos)  kritisirt. 

284)  Aristot.  Rhet.  III  1  p.  1403  B  22 :  xal  yao  eis  rrjv  XQayixiiv  xai  garp^- 
Siav  oxpB  TtUQr^'/.&sv  [rj  vTtoxoKTis)'  vTtsxoivovzo  yoLQ  avxol  ras  ronycoSias  ol 
Ttoir/rai  rb  Ttoürov,  wie  dies  von  Thespis,  Phrynichus,  Aeschylus  bekannt  ist. 
Selbständig  tritt  die  Schauspielkunst  erst  auf,  nachdem  Aeschylus  den  zweiten 
Darsteller  hinzufügte. 

285)  Der  Entwicklungsgang  der  Komödie  ist  im  wesentlichen  der  gleiche ; 
nur  fehlen  uns  für  die  Anfänge  bestimmte  Zeugnisse. 

286)  Thespis  führt  den  ersten,  Aeschylus  den  zweiten  Schauspieler  ein, 
wie  die  Ueberlieferung  nach  der  Ausdrucksweise  der  jüngeren  Zeit  lautet;  denn 

Bergk,  Griecb.  Literaturgeschichte  III.  6 


82  DRITTE    PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Hauptrollen  übernahm.  Nun  erst  war  ein  längerer  zusammenhän- 
gender Dialog  möglich.  Die  Personen  sprachen  nicht  blofs  für  sich 
oder  zum  Chore,  sondern  auch  zu  einander;  die  Handlung  wird 
bewegter.  Erst  jetzt  kann  von  einem  Schauspiele  die  Rede  sein, 
und  mit  der  Sache  steUte  sich  auch  der  entsprechende  Name  ein. 
Da  Sophokles  durch  die  Schwäche  seiner  Stimme  verhindert 
war,  bei  der  Aufführung  seiner  Stücke  persönhch  mitzuwirken, 
mufste  er  für  einen  Stellvertreter  sorgen.  Bereitwillig  wird  man  ihm 
diese  Erleichterung  gewährt  haben  ^^),  und  alsbald  machten  auch  die 


thatsächlich  war  der  zweite  Darsteller  des  Aeschylus  der  erste  wirkliche  Schau- 
spieler. 'TTtoxQiTTje,  die  übliche  Bezeichnung  der  Schauspieler  bei  den  Attikcrn 
(bereits  Hippokrates  bietet  einen  Beleg  dar),  ist  eigentlich  einer,  der  auf  eine 
Frage  antwortet.  'TnoxQivead'ai  ist  in  der  älteren  Sprache  so  viel  als  otto- 
xQivead'ai,  namentlich  bei  den  loniern,  so  in  dem  Homerischen  Hymnus  auf 
Apollo  1171:  vfieie  S'  sv  fidXa  näaai  imoxQivead'ai,  affjfiois  (d.  h.  einstim- 
mig antworten).  Aber  auch  den  Attikern,  wie  Thukydides  und  Aristophanes, 
ist  dieser  Sprachgebrauch  nicht  fremd,  daher  das  Zeitwort  (ebenso  vnoxQian) 
besonders  von  der  Antwort  eines  Orakels  gebraucht  wird.  Nach  den  alten 
Grammatikern  ist  der  Ausdruck  vnox^iTTjs  aufgekommen,  sobald  das  dramatische 
Element  in  der  Chordichtung  sich  zu  entwickeln  begann.  ApoUonius  Lex.  Hom. : 
vnoxqivairo  . .  TtQCJxaycoviarovvros  yuQ  rov  x^Q^^^  "^o  naXaiov  ovroi,  toaneQ 
anoxQirai  tjaav,  anox^ivo/isvoi  ttqos  tov  '/p^öv.  Aehnlich  Photius  und  Eusta- 
thius  o  qLTtoxqivöfiEvoi  TcjJ  xoq^  und  Pollux  IV  123.  Euanthius:  sed  primo 
una  persona  substituta  est  cantoribns ,  quae  respondens  alternis  choro  locu- 
pletavü  variavitque  rem  musicam,  tum  altera,  tum  tertia.  Es  ist  möglich, 
dafs  man  den  Chormeister  oder  Vorsänger,  der  zuerst  mit  dem  Chore  Worte 
wechselte,  bereits  vTtoxQirrjg  nannte.  Allein  ebenso  gut  kann  diese  Beziehung 
erst  der  Zeit  des  Aeschylus  ihren  Ursprung  verdanken ;  denn  erst  seitdem  dieser 
Dichter  einen  Gehülfen  als  zweiten  Darsteller  hinzunahm,  war  ein  eigentlicher 
ausführlicher  Dialog  möglich.  Erst  jetzt  kann  von  der  selbständigen  Thätigkeit 
eines  Schauspielers  die  Rede  sein,  und  als  bald  nachher  die  Dichter  dieser 
Function  gänzlich  entsagten,  gewinnt  der  Ausdruck  allgemeine  Geltung.  Daher 
sagt  man  jetzt  ra  nqäna  vnoxQivead'ai.  vom  Protagonisten,  vTiox^ivea&ai  nva 
eine  Rolle  spielen,  eine  dramatische  Person  darstellen.  Wenn  eine  bekannte 
Anekdote  dem  Solon  (Plut.  Solon  c.  30)  die  Worte:  ov  xnkiöe  vTioxQivr]  rov  'O/trj' 
Qixbv  ^OSvaasa  in  den  Mund  legt,  so  lag  dieser  Sprachgebrauch  jener  Zeil  noch 
ganz  fern.  —  Den  zweiten  Schauspieler  hat  übrigens  Aeschylus  wohl  erst  nach 
Ol.  73,  4  eingeführt,  wo  er  zum  ersten  Male  im  tragischen  Agon  über  seine 
Milbewerber  siegte. 

287)  Wohl  gleich  bei  seinem  ersten  dramatischen  Versuche  Ol.  77,4,  ob- 
schon  Sophokles  ausnahmsweise  sich  später  einmal  an  einer  Aufführung  be- 
theiligt hat.  Nach  dem  Vorgange  des  Sophokles  hat  dann  auch  Aeschylus  sich 
von  der  Bühne  zurückgezogen. 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.      El.NLEITL.NG.  83 

anderen  Dichter  von  dieser  Vergünstigung  Gebrauch.  So  traten  also 
jetzt  zwei  wirkliche  Schauspieler  in  jedem  Stücke  auf;  bald  nachher 
ward  ein  dritter  hinzugefügt,  den  wir  bereits  in  der  Orestie  des 
Aeschylus  Ol.  80,  2  antreffen.  Ob  diese  Neuerung  von  Sophokles 
oder  Aeschylus  ausging,  war  streitig."*)  Wenn  wir  aber  sehen,  dafs 
Sophokles,  um  das  dramatische  Element  immer  mehr  zu  entwickeln, 
den  Chor  noch  weiter  beschränkte  und  ihm  eine  veränderte  Stel- 
lung anwies,  so  wird  auch  die  Einführung  des  Tritagonisten ,  die 
demselben  Zwecke  dient,  von  Sophokles  ausgegangen  sein.  Aeschy- 
lus, der  einfachen  Weise  der  älteren  Kunst  treu  bleibend,  empfand 
nicht  so  sehr  das  Bedürfnifs,  die  Mittel  der  Darstellung  zu  steigern, 
aber  er  trat  auch  dem  Wunsche  seines  jüngeren  Kunstgenossen  nicht 
hindernd  in  den  Weg. 

Mit  dieser  geringen  Zahl  der  Schauspieler  hat  sich  im  Allge- 
meinen das  griechische  Drama  begnügt.  Man  erkannte  wohl,  dafs 
es  bei  der  Vermehrung  des  Personals  nicht  so  leicht  sein  würde, 
erprobte  tüchtige  Kräfte  zu  gewinnen;  blofse  Handlanger  aber  machen 
immer  einen  störenden  Eindruck,  selbst  wenn  man  ihnen  nur  unter- 
geordnete Rollen  anvertraut.  Daher  beobachtet  der  dramatische 
Dichter  in  der  Verwendung  der  handelnden  Personen  eine  weise 
Sparsamkeit.'"^)  Er  führt  keine  neue  Person  ein,  wo  eine  anwesende 
denselben  Dienst  leisten  kann,  und  entfernt  den  Darsteller  von  der 
Bühne,  sobald  seine  Rolle  beendet  ist.    Unter  Umständen  zog  man 


288)  Nach  Aristot.  Poet.  4, 13  p.  U49  A  18  führt  Aeschylus  den  zweiten, 
Sophokles  den  dritten  Schauspieler  ein  (t^sTs  Ss  xal  cxr^voyoafiav  ^o(poxXris). 
Aber  Theniistius  26, 382  berichtet  aus  demselben  Aristoteles :  Aia-/v).os  Si  rgirov 
i7ioxoiTf;v  xal  oxQißavras  (die  Variante  vnoxgirds  ist  nur  Schreibfehler,  und  man 
darf  nicht  rosTs  iTtox^näs,  noch  weniger  Sitrois  vnoxQixäi,  um  beide  Stellen 
in  Einklang  zu  bringen,  schreiben,  obwohl  es  eigentlich  Sevteqov  xal  TQi- 
Tov  heifsen  mufste).  Themistius  hat  oflfenbar  die  Schrift  Tteol  Ttoirixiöv  vor 
Augen,  und  solcher  Widerspruch  des  Aristoteles  in  einem  zweifelhaften  Falle 
hat  nichts  Auffälliges.  Dem  Aeschylus  legt  dies  Verdienst  die  Biographie  die- 
ses Dichters  bei,  dem  Sophokles  Dikäarch  (s.  Biographie  des  Aeschylus),  Dio- 
genes Laert.  c.  III  34,  56,  Biographie  des  Sophokles  und  Suidas  II  2,  S83. 

289)  Wie  gut  man  mit  diesen  Mitteln  auskam,  zeigt  die  Alkestis  des 
Euripides.  Hier  genügen  eigentlich  zwei  Schauspieler  und  ein  Parachoregema, 
aber  natürlich  hat  der  Dichter,  dem  damals  drei  Schauspieler  zur  Verfügung 
standen,  sich  nicht  ohne  Noth  auf  zwei  beschränkt.  Wie  man  sich  zu  helfen 
wufste,  zeigt  die  Bemerkung  des  Schol.  Aeschyl.  Choeph.  899:  ftereaxeiaaTai 
o  i^äyye?.os  si:  IlvXä8r,v,  iva  ftrj  räaaages  /Jycoaiv. 

6* 


84  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

jedoch  zur  Aushülfe  einen  vierten  Schauspieler  hinzu.  Diese  Lei- 
stung übernahm  der  Choreg^);  denn  der  Staat  stellte  nur  die  drei 
Schauspieler.  Schon  Aeschylus  hatte  einmal  von  diesem  Mittel  Ge- 
brauch gemacht.'*')  Ebenso  tritt  bei  Sophokles  im  Oedipus  auf 
Kolonos  ein  vierter  Schauspieler  auf;  denn  es  ist  unnatürlich ,  eine 
Rolle  wie  die  des  Theseus  unter  mehrere  Darsteller  zu  vertheilen, 
wenn  sich  eine  solche  Aushülfe  darbot.*^^)  AehnUch  verhält  es  sich 
mit  der  Andromache  des  Euripides. 

Für  die  Komödien  gelten  die  gleichen  Ordnungen.  Da  sie  an- 
fangs der  Unterstützung   des  Staates   entbehrte  und  auf  freiwillige 

290)  Aeschylus  in  dem  nicht  mehr  erhaltenen  Memnon  (Pollux  IV  110), 
aber  nicht  in  den  Choephoren  V.  899,  wo  sich  der  Dichter  einfacher  zu  helfen 
wufste.  Dies  Citat  bei  Pollux  cos  iv  L4yaftefivovt  AiayvXov,  was  man  nur  durch 
Annahme  eines  Irrthums  im  Citiren  auf  die  Choephoren  beziehen  könnte ,  be- 
ruht nur  auf  einem  Versehen  der  Abschreiber;  auch  zeigt  schon  der  Ausdruck 
IV  109  eineiv  ev  cpSfj,  dafs  von  der  betreffenden  Stelle  der  Choephoren  nicht  die 
Rede  sein  kann.  Uebrigens  wenn  auch  vier  Schauspieler  zugleich  auf  der  Bühne 
waren,  so  ist  doch  in  der  Regel  einer  stumm,  daher  Horaz  A.  F.  192  vorschreibt: 
nee  quarta  loqui  persona  laboret. 

291)  Daher  stammt  der  Ausdruck  naQaxoQrjyriua.  So  heifst  jede  aufser- 
ordentliche  Leistung,  zu  der  der  Choreg  eigentlich  nicht  verpflichtet  war,  die 
er  aber  im  Interesse  der  Sache  gern  übernahm.  Wenn  Pollux  IV  109  sagt: 
OTiöre  HSV  avrl  rerägrov  vnoxQirov  Se'oi  rtva  tcöv  y^ooevrdiv  etTisiv  iv  f^Sfjf 
naQaaxrjviov  xnXelxai  rb  ngäyua  {cos  iv  Ayauif^ivovi  Aiayiv'kov\ '  ei  Sa  retaft- 
ros  vnoxQiTTjS  n  naQafd'ey^ano ,  rovro  naoa/o^rjyrjfia  ovo/uä^srat,  xai  ne- 
n^nxd'ai  cpaaiv  avrb  iv  Aiaxvhyv  Mtuvori,  so  ist  diese  Darstellung  unvoll- 
ständig; denn  er  übergeht  gerade  die  Hauptsache,  die  Stellung  eines  Neben- 
chores, die  ebenfalls  unter  den  Begriff  des  Parachoregems  fallt  und  unter 
Umständen  mit  erheblichen  Kosten  verbunden  sein  mochte.  Nur  Pollux  unter- 
scheidet zwischen  dem  na^a^oQ^yri^a  und  nngciaxrjvtov.  Letzteres  bezeichnet 
den  besonderen  Fall,  wo  der  vierte  Darsteller  ein  Lied  vorzutragen  hat  (anb 
axtjvTJs  (liXos).  Hierzu  mochte  man  gewöhnlici»  einen  Choreuten  verwenden;  ob 
dieser  wirklich  auftrat  oder  nur  hinter  der  Bühne  sang,  während  ein  Statist 
seine  Stelle  vertrat,  ist  ungewifs.  Ein  Beispiel  dafür  bietet  Aristoph.  Friede  1 14 
(wo  der  Scholiast  d«n  allgemeinen  Ausdruck  nagaxo^Tjyrjfia  gebraucht).  Ebenso 
ist  der  Knabe  Molossus  in  der  Andromache  des  Euripides  ein  nctQaaxijvior. 

292)  Theseus  braucht  nicht  gerade  von  dem  vierten  Schauspieler  darge- 
stellt zu  werden.  Der  Tritagonist  konnte  diese  Rolle  übernehmen,  so  dafs  der 
vierte  Darsteller  für  die  Nebenrollen  verwandt  wurde.  Wo  eine  Person  später 
mit  völlig  verändertem  Charakter  auftritt,  hat  die  Verlheilung  der  Rolle  unter 
zwei  Schauspieler  nichts  Anstöfsiges;  ebenso  konnte,  wenn  einer  früher  agirt 
hatte  und  dann  nochmals  als  stumme  Person  auftrat,  füglich  ein  Statist  aus- 
helfen. 


DIE   DRAMATISCHE   POESIE.     ELNLEITUiNG.  85 

Leistungen  angewiesen  war,  fehlten  feste  Normen.  Daher  erschien 
schon  den  alten  Forschern  die  Vorgeschichte  des  attischen  Lustspiels 
dunkel.  Auch  hier  war  der  Chornieister  zugleich  darstellender  Künst- 
ler, allein  seit  Kratinus  wird  nach  dem  Vorgange  der  Tragödie  dies 
Geschäft  Schauspielern  von  Beruf  überlassen.'^^)  Die  Zahl  der  Dar- 
steller mag  in  der  ersten  Zeit  eine  nach  Umständen  wechselnde 
gewesen  sein."^^)  Allein  seit  der  Staat  den  komischen  Chor  dem  tra- 
gischen gleichstellte  und  der  Archon  dem  Dichter  einen  Choregen 
zuwies,  ist  auch  die  Komödie  an  eine  bestimmte  Regel  gebunden; 
seit  Kratinus  finden  wir  auch  hier  die  gesetzhche  Zahl  der  Schau- 
spieler. Wenn  wir  die  Fülle  von  Figuren,  den  raschen  Scenen- 
wechsel  in  den  Lustspielen  des  Aristophanes  ins  Auge  fassen,  scheint 
es  kaum  möghch,  mit  so  geringen  Kräften  auszukommen.  Allein 
diese  Beschränkung  bereitet  einem  Dichter,  wie  Aristophanes,  keine 
Verlegenheit.  Zwar  macht  er  von  der  Aushülfe  des  Parachoregems 
häufiger  Gebrauch  als  die  Tragiker,  aber  immer  in  mafsvoller  Weise. 
In  den  Vögeln  drängt  eine  Person  die  andere,  aber  nur  in  einer 
Scene,  wo  die  drei  Gesandten  der  Götter  vor  Peithetaeros  erschei- 
nen, treten  vier  Personen  auf.*^*)  In  manchen  Dramen,  nicht  nur 
in  den  beiden  letzten,  sondern  auch  in  äheren  Stücken,  wie  den 
Rittern,  reichen  drei  Darsteller  vollständig  aus.  Die  mittlere  Ko- 
mödie, die  sich  viel  weniger  frei  bewegt,  hatte  keinen  Anlafs,  die 
Mittel  der  Darstellung  zu  vermehren,  wie  die  jüngsten  Arbeiten  des 
Aristophanes,  die  Ekklesiazusen  und  der  Plutos,  beweisen,  welche 
bereits  dieser  Epoche  angehören.  Die  neuere  Komödie  zieht  sieb 
zwar  in  einen  eng  umschriebenen  Kreis  zurück,  allein  da  sie  vor- 
zugsweise verwickeitere  Handlungen  liebt,  könnte  man  vermuthen, 
es  sei  eine  Vermehrung  der  Schauspieler  eingetreten.    Jedoch  hat 


293)  Der  alte  Myllus  wird  als  Schauspieler  und  Dichter  bezeichnet.  Kra- 
tinus dagegen  bediente  sich  des  Krates  als  Darsteller.  Dafs  Aristophanes  in 
den  Rittern  selbst  eine  Rolle  übernahm,  ist  nur  ein  Mifsverständnifs  unwissen- 
der Erklärer. 

294)  Ileoi  xcJftcoSiai  IX  a  16:  ol  iv  t^  I^ttix^  tiqcüxov  oiarTjaäfiEvoi  z6 
knijrßtvfia  xr^t  xoifiioSiaa  —  r,aav  Sa  oi  Tie^i  2!ovaaQiiova  —  t«  7(o6ac07ia 
ainxTCos  eiatiyov .  .  .  'ETityevofievos  Ss  K^axTvos  x«Tf'ffT»7<Te  fiiv  tiocötov  xi  iv 
xf,  xoificoSia  TtQÖacoTia  fidxQi-  xqiwv.  Dies  wird  bald,  nachdem  Sophokles  den 
dritten  tragischen  Schauspieler  hinzugefügt  hatte,  geschehen  sein. 

295)  Der  Triballus  spricht  übrigens  nur  ein  Paar  barbarische  Worte. 


86  DRITTE   PERIODE    VON    500    BIS    300   V.  CHR.  G. 

eine  solche  Neuerung  wenig  Wahrscheinlichkeit^*'),  da  sonst  die 
Dichter  dieser  Epoche  an  dem  üherliel'erten  Organismus  des  Dramas 
nichts  Wesentliches  geändert  haben.  Erst  die  römischen  Lustspiel- 
dichter fügten  zwei  weitere  Darsteller  hinzu.  Für  die  Komödie  des 
Plautus  und  Terenz  ist  die  Fünfzahl  Norm'^''^),  und  man  reicht  nicht 
einmal  überall  aus.  Wie  es  die  älteren  römisclien  Tragiker  hielten, 
ist  unbekannt.  Da  indes  auch  in  Rom  beide  Gattungen  der  drama- 
tischen Poesie  in  solchen  äufserhchen  Dingen  gleichen  Schritt  hal- 
ten, dürfen  wir  wohl  auch   hier  die  Fünfzahl  voraussetzen.^"*)     Da- 


296)  Euanthius  (Terentius  cd.  Zeune  1774  p.  XXVI  f.)  bringt  allerdings  die 
fünf  Schauspieler  mit  den  fünf  Akten  in  Verbindung:  et  ad  ulti?num,  qui  pri- 
marum  partium,  qui  xectindarum  et  tertiarum,  qui  quartai'um  atque  quin- 
tarum  actores  essent,  distributa  et  divisa  quinquepartito  tota  est  fabula.  Allein 
dieser  Grammatiker  hatte  eben  die  römische  Bühne  vor  Augen  und  brachte  daher 
ganz  äusserlich  die  fünffache  Gliederung  des  Drama  mit  der  vermehrten  Zahl  der 
Spieler  in  Verbindung.  Von  ähnlichen  Vorstellungen  geht  auch  der  Scholiast  des 
Cicero  in  Gaecil.  15  aus.  Für  die  Fortdauer  der  alten  Praxis  in  der  griechischen 
Komödie  sprechen  besonders  die  Inschriften  von  Delphi,  welche  sich  auf  die 
Festfeier  der  HcoTti^ia  (gestiftet  nach  der  Vernichtung  der  Kelten  Ol.  125,  2) 
beziehen  (Wescher  n.  3  ff.).  Die  Ordnung  der  Festfeier  ist  QaxpcoSol,  xi&aQiarai, 
xi&aQcpSoi  (noiTjrai  TiQoaoSicov  n.  5),  TtalSes  xo^evrai,  avS^se  xOQSVTai,  aikr}- 
xal  mit  ihrem  8iSäa>caXoe,  r^aycoSoi  mit  ihrem  avXrjrrjS  und  SiSäay.alos,  xß>- 
ficpSoi  mit  avkTjzTjS  und  SiSaaxaXos;  den  Beschlufs  machen  xoQsvrai  xeo/utxoi 
(sieben  an  der  Zahl).  Dieser  Agon  ist  offenbar  nach  dem  Muster  Athens  eingerich- 
tet, für  drei  Tragödien  und  drei  Komödien  bestimmt;  doch  erscheinen  zuweilen 
nur  zwei  Dramen  der  einen  Gattung  (n.  6  ist  das  Verhältnifs  unklar).  Hier  ist 
die  Normalzahl  der  Schauspieler  festgehalten;  es  sind  immer  drei  r^ayioSoi 
und  ebensoviel  xcoficoSoi.  War  einmal  ein  vierter  Darsteller  nöthig,  so  wurde 
er  offenbar  der  Ehre  der  Aufzeichnung  nicht  gewürdigt.  Bezeichnend  ist,  dafs 
die  Schauspieler  immer  voranstehen ;  dann  folgt  der  Componist  (avXrjTi^),  zu- 
letzt der  SiSaaxaXos,  nicht  der  Verfasser,  sondern  der,  welcher  das  alte  Stück 
einübt,  der  sogenannte  vTioSiSäaxnXos.  Denn  offenbar  wurden  in  dieser  Zeit, 
wo  die  literarische  Produktion  immer  mehr  abstarb,  in  Delphi  keine  neuen 
Dramen  aufgeführt. 

297)  Diomedesp.  490K.:  In  Gracco  dramate  fcre  tres  persoiiae  solae  agunt, 

at   latini  scriptores  amplures  porsonas  in   fabulas  introdua-erunt,   ut 

speciosiores  frequentia  facerent.  Das  Verfahren  der  römisclien  Bearbeiter,  die 
einzelne  Scenen  aus  anderen  Dramen  einflochten,  (die  sogenannte  contaminatio) 
war  darauf  sicher  nicht  ohne  Einflufs.  Den  vierten  Schauspieler  erwähnt  Cicero 
In  Gaecil.  15. 

298)  Auch  spricht  Diomedes  ganz  allgemein  vom  Drama.  Die  Vorschrift 
des  Horaz  (A.  P.  192)  ist  nicht  entscheidend;  er  verlangt  nur,  dafs  in  einer 
Scene  sich  nicht  mehr  als  drei  am  Dialog  betheiligen  dürfen. 


DIE    DRAMATISCHE   POESIE.     ELNLEITCÄG.  87 

gegen  hält  sich  Seneca  wieder  streog  an  die  Regel  der  griechischen 
Bühne. 

Aiifser  den  Schauspielern  waren  auch  Statisten  erforderhch,  für 
welche  der  Choreg  zu  sorgen  verpflichtet  war.  So  traten  in  der 
Tragödie  gemäfs  der  herrschenden  Sitte  fürstliche  Personen  in  der 
Regel  mit  Gefolge  auf.^)  Nicht  selten  nimmt  eine  untergeordnete 
Buhnentigur  auch  an  der  Handlung,  aber  nicht  am  Dialoge  Theil.^) 
Solche  stumme  Personen,  welche  schon  bei  Aeschylus  und  Sopho- 
kles auftreten,  kommen  häufiger  in  den  figurenreichen  Dramen  des 
Euripides,  besonders  aber  bei  Aristophanes  vor. 

Dafs  z\\ischen  den  drei  Schauspielern  eine  gewisse  Rangord- 
nung und  Abstufung  stattfand,  beweisen  schon  die  herkömmhchen 
INamen  der  Protagonisten,  Deuteragonisten  und  Tritagonisten.  Als 
sicher  darf  man  annehmen,  dafs  die  Hauptrolle  als  die  schwierigste 
und  meist  auch  umfangreichste  dem  Protagonisten  zufiel^'};  denn 
es  ist  gewifs  irrig,  wenn  man  meint,  der  Protagonist  habe  stets  die 
Titelrolle  gespielt*^)  oder  den  Charakter  dargestellt,  der  unsere 
Theilnahine  am  meisten  in  Anspruch  nimmt.  Im  Agamemnon  des 
Aeschylus  hat  sicherhch  der  erste  Schauspieler  nicht  den  König, 
sondern  die  Klytämnestra  übernommen*");  denn  wenn  man  behaup- 


299)  doQvtpöqrifia  ist  der  allgemeine  Ausdruck  für  dies  Gefolge,  selbst 
in  der  Komödie,  weil  junge  lanzentragende  Krieger  den  Fürsten  begleiten. 

300)  Daher  der  Ausdruck  xöjyö»' rrooffa>;rov.  Bei  Diomedes  p.  491K. :  ideo- 
que  Horatius  ait:  ne  quarta  loqui  persona  laboret,  qi/ia  quarta  setnper  muta 
e^t;  man  mufs  vielmehr  quinta  schreiben. 

301)  Der  Protagonist  war  daher  nicht  selten  fortwährend  auf  der  Bühne, 
daher  der  Schol.  Cic.  in  Caecil.  15:  est  persona  primarum  pai'tium,  quae  sae- 
pius  acta  regreditur,  seeundarum  et  tertiarum,  quae  minus  minusque  pro- 
cedunt. 

302)  Aeschines  gab  als  Tritagonist  im  Oenomaus  des  Sophokles  die  Titel- 
rolle. Dafs  der  Titel  des  Stückes  nicht  mafsgebend  war,  beweist  Terenz,  der 
den  Namen  des  griechischen  Stückes  in  Phormio  umwandelt  Prol,  27:  quia  pri- 
mas  partis  qui  aget,  is  erit  Phormio  Parasitus  per  quem  res  geretur  maxume. 
Per  griechische  Titel  war  eben  dem  Publikum  nicht  recht  verständlich,  daher 
wird  der  Name  der  Hauptperson  subslituirt.  In  der  neuen  Komödie  fällt  die 
Hauptrolle  häufig  dem  intriganten  Sklaven  zu. 

303)  Ganz  unglücklich  ist  der  Gedanke,  dafe  in  einer  Tetralogie  derselbe 
Schauspieler  immer  dieselbe  Person  dargestellt  habe,  wie  in  der  Orestie  des 
Aeschylus  die  Klytämnestra,  die  in  allen  drei  Dramen  auftritt,  so  dafs  man 
dann  diese  Rolle  überall  dem  Tritagonisten  hat  zutheilen  wollen. 


88  «RITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V,  CHR.  G. 

tet,  dafs  Frauen  rollen  wegen  ihrer  mehr  passiven  Hallung  dem 
Deuleragonisten  zugefallen  seien,  so  ist  dies  in  solcher  Allgemeinheit 
nicht  zutreffend.  Nicht  nur  bei  Euripides,  sondern  auch  l)ei  Sopho- 
kles tritt  uns  in  weiblichen  Charakteren  ein  hochgesteigerles  Palhos 
entgegen.  Die  Darstellung  der  Elektra,  der  Antigone  und  Deiaueira 
des  Sophokles  wird  man  unzweifelhaft  dem  ersten  Darsteller  anver- 
traut haben.  Dem  Deuteragonisten  fallen  in  der  Regel  die  Rollen 
zu,  welche  dem  Hauptcharakter  am  Nächsten  stehen,  sich  mit  ihm 
freundlich  oder  feindlich  berühren.  Der  Tritagonist  übernahm  ge- 
wöhnlich eine  Reihe  kleinerer  Rollen^"');  allein  auch  dem  ersten 
und  zweiten  Schauspieler  wurden  nicht  selten  Nebenrollen  zuge- 
wiesen. Der  Tritagonist  mag  häufig  ein  Anfänger  gewesen  sein ; 
allein  deshalb  darf  man  von  seinen  Aufgaben  nicht  so  geringschätzig 
denken,  wie  gewöhnlich  geschieht,  wenn  man  meint,  er  habe  die 
Rollen  gespielt,  an  denen  nicht  viel  zu  verderben  war.^°*)  Im  Phi- 
loktet  des  Sophokles  erfordert  die  Darstellung  des  Odysseus  einen 
ebenso  tüchtigen  Spieler,  wie  die  des  Philoktet;  seine  Aufgabe  ist 
sogar  schwieriger  als  die  Rolle  des  Neoptolemos.  Wenn  dem  Trita- 
gonisten  häufig  die  Rolle  des  Königs  zufiel,  so  war  es  doch  nicht 
eine  allgemein  gültige  RegeP°°),  sondern  es  kommt  auf  die  Stellung 

304)  Der  Deuteragonist*  und  Tritagonist  ordnen  sich  dem  ersten  Schau- 
spieler unter,  mäfsigen  ihre  Stimme  und  suchen  sich  nicht  über  Gebülir  geltend 
zu  machen,  Cicero  in  Caecil.  15.  Der  tragische  Schauspieler  Theodorus  war 
so  eifersüchtig,  dafs  er  immer  zuerst  auf  der  Bühne  auftrat,  weil  er  die  Em- 
pfindlichkeit des  Publikums  für  erste  Eindrücke  kannte  (Arislot.  Polit.  VII  17 
p.  1336  B  28);  er  wird  in  diesem  Falle  wohl  auch  noch  die  Rolle  eines  TiQoranxcv 
TiQoaoiTtov  übernommen  haben.  So  wird  dieser  Schauspieler  in  der  Elektra  des 
Sophokles,  wo  er  sicherlich  die  Hauptrolle  der  Elektra  übernahm  (Polus  spielte 
ebenfalls  diese  Rolle,  Gellius  VI  3),  seinem  Grundsatze  gemäfs  im  Prolog  auch 
die  Rolle  des  Pädagogen  gegeben  haben,  vgl.  Plutarch  Qu-  Symp.  IX  1,  2  (wo 
ttxrjaae  auf  den  Protagonisten  hinweist). 

305)  Die  Aeufserungen  des  Demosthenes  in  der  Rede  vom  Kranze  oder 
der  Truggesandtschaft  sind  nicht  mafsgcbend,  da  er  mit  sichtlicher  Gering- 
schätzung die  Vergangenheit  seines  politischen  Gegners  behandelt;  auch  trat 
ja  Aeschines  nicht  im  Theater  zu  Athen  auf,  sondern  war  Tritagonist  bei  einer 
wandernden  Truppe.  Wenn  PoUux  IV  124  den  Tritagonisten  svreXi'araroi' 
:xQÖatonov  nennt,  so  versteht  er  darunter  gar  nicht  die  Rangordnung  der  Schau- 
spieler, sondern  die  verschiedene  Lebensstellung  im  Drama.  Bei  Pollux  ist  der 
König  der  Tx^oraytovicrriS,  während  er  auf  dem  Theater  häußg  durch  einen 
Tritagonisten  dargestellt  wurde. 

30Ü)  Man  legt  ungebührliches  Gewicht  auf  die  Aeufserung  des  Demosthenes 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.      EI>LEITU>G.  89 

ao,  welche  diese  Figur  in  der  dramatischen  Handlung  einnimmt,  und 
wenn  Kreon  in  der  Antigone  des  Sophokles  dem  dritten  Schauspieler 
anvertraut  wurde,  so  lag  gerade  bei  diesem  Charakter,  den  der  Dich- 
ter nicht  eben  mit  besonderer  Gunst  behandelt  hatte,  dem  Darsteller 
ob,  diese  Schwierigkeiten  durch  seine  Kunst  zu  überwinden.  Wir 
vermögen  überhaupt  nicht  in  jedem  einzelnen  Drama  mit  Sicher- 
heit die  verschiedenen  Rollen  unter  die  drei  Schauspieler  zu  ver- 
theilen.*")  Der  Dichter  wies  nach  eigenem  Ermessen  mit  Rücksicht 
auf  individuelle  Regabung  oder  Neigung,  so  weit  es  die  Anlage  des 
Dramas  gestattete,  jedem  Einzelnen  seine  Aufgabe  zu.  Es  ist  wohl 
denkbar,  dafs  ein  Schauspieler  auf  gewisse  Rollen  einen  Anspruch 
machte,  und  der  Dichter  mochte  solchen  Forderungen  gegenüber 
nicht  immer  leichten  Stand  haben,  aber  ein  einträchtiges  Zusammen- 
spielen, die  rechte  Totalwirkung  wäre  unmöglich  gewesen,  wenn  der 
einzelne  Schauspieler  mit  Rerufung  auf  seinen  Rang  befugt  gewesen 
wäre,  bestimmte  Rollen  zu  fordern  oder  abzulehnen.  Aufserdem  wird 
man  bei  wiederholten  Aufführungen  öfter  die  Vertheilung  der  Rollen 
abgeändert  haben.*^) 

de  f.  leg.  247 :  et>  anaai  roXs  S^duaai  toTs  roayiy.oTs  i^aiQeröv  eaxiv  c^otiso 
VEQaS  rois  rQizaycoviaiais  ro  rois  ivQavvcniS  xai  rovs  ra  oxr^rtroa  e^ovras 
slauvai.  Nach  der  richtigen  Bemerkung  des  luba  in  den  d-ear^ixai  lazo^iat 
fielen  diese  Rollen  meist  dem  dritten  Schauspieler  zu,  insiSr]  ^ttov  iari  na- 
■d'TjTtxt    xai  vTie^oyxa. 

307)  Daher  weichen  auch  die  Versuche  der  Neueren,  Genaueres  zu  er- 
mitteln, oft  weit  von  einander  ab.  Nur  selten  liegt  eine  bestimmte  üeber- 
lieferung  vor,  und  diese  ist  gewöhnlich  solchen  Hypothesen  nicht  günstig.  Im 
Orestes  des  Euripides  hat  man  die  erste  Rolle  der  Elektra  zutheilen  wollen, 
aber  wir  wissen  durch  das  Zeugnifs  des  Komikers  Strattis  fr.  1,  Com.  II  2,  763, 
dafs  vielmehr  die  Rolle  des  Orestes  dem  Protagonisten  Hegelochus  zugetheilt  war; 
denn  er  sprach  V.  279,  wie  wir  durch  Aristophanes  erfahren.  Strattis  aber  tadelt 
den  Archon,  dafs  er  durch  die  schlechte  Wahl  der  Schauspieler  besonders  der 
Wirkung  der  melischen  Partien  Eintrag  gethan  und  den  Genufs  der  Euripideischen 
Tragödie  gestört  habe.  Nun  hat  aber  Orestes  gar  nicht  zu  singen;  wahrscheinlich 
übernahm  Hegelochus  auch  die  schwierige  Gesangspartie  des  Phrygers,  so  dafs 
ausnahmsweise  die  Rolle  des  Orestes  unter  zwei  Darsteller  vertheilt  werden 
mufste.  Aehnlich  verhält  es  sich  mit  den  Phönissen.  Ein  Schauspieler  gab  die 
lokaste  und  die  Antigone  (s.  Schol.  V  93) ;  folglich  mufs  in  der  Scene,  wo  Mut- 
ter und  Tochter  zusammen  auftraten,  die  Rolle  der  Antigone  einem  anderen 
Spieler  übertragen  worden  sein. 

308)  Besonders  in  späterer  Zeit,  wo  talentvolle  Schauspieler  wohl  manch- 
mal absichtlich  den  Boten  spielten  oder  eine  andere  untergeordnete  Rolle  über- 
nahmen, Plutarch  Lvs.  c.  23, 


90  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS   300  V.  CHR.  G. 

Das  Verhältnifs  zwischen  Schauspieler  und  Dichter  war  anfangs 
ein  ganz  nahes,  persönhches.  Der  Dichter  bildete  den  Schauspieler 
als  seinen  Gehülfen  heran  und  verwandte  ihn,  wenn  er  sich  bewährt 
hatte,  regelmäfsig  in  seinen  Stücken.  So  konnte  der  darstellende 
Künstler  sich  ganz  in  die  Weise  und  Gedankenwelt  des  Dichters 
einleben;  er  war  ein  vertrauter  Freund  und  Genosse  des  Meisters. 
Als  Aeschylus  den  zweiten  Darsteller  einführte,  übertrug  er  dem 
Kleander  die  Nebenrollen;  später  nahm  er  den  Myniskus  aus  Chalkis 
hinzu.^^)  Seitdem  Aeschylus  sich  an  der  Aufführung  nicht  mehr 
beiheiligte,  wird  er  den  älteren  Gehülfen  als  Protagonisten,  den  an- 
deren als  Deuteragonisten  verwendet  haben.  Ebenso  hatte  der  Ko- 
miker Kratinus  an  Krates,  der  sich  später  der  Komödiendichtung 
zuwandte,  einen  erprobten  Darsteller  seiner  Dramen.  So  erscheint 
auch  die  Ueberlieferung,  dafs  Sophokles,  wenn  er  seine  Tragödien 
ausarbeitete,  dabei  die  EigenthUmlichkeil  der  Schauspieler  berück- 
sichtigte, denen  er  bestimmte  Rollen  zudachte,  vollkommen  glaub- 
würdig*'"); nur  wird  man  dies  auf  die  frühere  Lebensperiode  des 
Tragikers  beschränken  müssen. 

Indem  die  Dichter  sich  von  der  Aufführung  zurückzogen ,  trat 
eine  gewisse  Entfremdung  ein.  Die  Schauspieler  bilden  eine  selb- 
ständige Zunft,  erlernen  und  üben  ihre  Kunst  berufsmäfsig  aus.  Die 
Verdoppelung  der  scenischen  Spiele  seit  Perikles  erforderte  zahl- 
reiche Darsteller,  und  die  jüngeren  Dichter,  welche  jetzt  neben  den 
anerkannten  Meistern  auftraten,  mochten  es  schwer  empfinden,  dafs 
jene  über  bewährte  Künstler  verfügten,  während  sie  zumeist  auf  die 
Unterstützung  von  Anfängern  angewiesen  waren.  Die  gesetzlich 
bestehende  Form  des  dramatischen  Wettkampfs  verlangte  vollständige 
Gleichheit;  um  dieser  Forderung  zu  genügen,  vertheille  man  später 
die  Schauspieler  durchs  Loos  an  die  Dichter.'")  Die  Schauspieler  inel- 


309)  Biographie  des  Aeschyhis. 

310)  Biographie  des  Sophokles. 

311)  Photius  und  SuidaslI  1,  954:  vefirjoets  vnoxQnöiv  oi  noirjrai  iläftr 
ßavov  iQtls  vnoxQtrae  xXrqy  vsfirj&dvrae  vnoxQivofitvovs  t«  S^dftara,  cav  o  vi- 
xi^aaeeie  rovntov  äxQiroe  naQaXafißnvBxm.  Wann  diese  Acnderung  eingeführt 
ward,  ist  nicht  festzustellen.  Im  peloponnesischen  Kriege  inufs  die  alte  Sitte  be- 
reits beseitigt  gewesen  sein.  Daher  werden  jetzt  auch  nicht  mehr  Schauspieler 
in  Verbindung  mit  bestimmten  Dichtern  genannt;  denn  es  ist  nur  ein  Irrthum, 
wenn  Thomas  Magister  den  Kophisophon  als  Schauspieler  des  Euripides  be- 
zeichnet. >\'enn  Tlepolemus  und  Kleidemides  Schauspieler  des  Sophokles  heifsen, 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.      EINLEITUNG.  91 

deten  sich  beim  Archon.  Dieser  traf  eine  Auswahl;  jedoch  fand  vorher 
eine  Art  Prüfung  slatt.^'^)  ^Ver  in  einem  Stück  mitgewirkt  hatte,  wel- 
ches den  ersten  Preis  erhielt ^'^),  war  für  die  Zukunft  von  der  Probe 
befreit.  Die  Verloosung  fand  wohl  in  der  Art  statt ,  dafs  der  Dichter, 
der  das  erste  oder  zweite  Loos  zog,  aus  jeder  der  drei  Rangklassen 
der  Schauspieler  sich  einen  Darsteller  wählte  ^*^),  während  es  für  den 
dritten  keine  freie  Wahl  mehr  gab.  Die  Schauspieler  erhielten  für 
ihre  Leistungen  vom  Staate  ein  Honorar^*^);  wie  hoch  es  sich  be- 
lief, ist  unbekannt.  Wenn  Polus  oder  Aristodemus  für  zwei  Tage 
ein  Talent  empfing,  so  wissen  wir  nicht,  ob  sich  dies  auf  Athen 
bezieht.''^  Aber  es  läfst  sich  denken,   dafs  man  in  jener  Zeit,  um 

so  sind  dies  nur  schlechte  Erfindungen  des  Scholiasten  zu  Aristophanes  Wölk. 
1264  und  Frösche  791.  Pleisthenes  heifst  nur  deshalb  Schauspieler  des  Kar- 
kinus,  weil  er  in  dem  Ajas  dieses  Dichters  auftrat  (Miller  Melanges  de  litter. 
Grecque  S.  355). 

312)  Diese  Prüfung  darf  man  nicht  mit  dem  Proagon  verwechseln. 

313)  Der  Ausdruck  o  vmi^aas  bei  Photins  bezeichnet  offenbar  nicht  blofs 
den  Protagonisten,  sondern  jeden  der  drei  Schauspieler. 

314)  Wenigstens  verfuhr  man  so  bei  den  kyklischen  Chören,  wo  der 
Choreg  sich  den  Cnmponisten  wählen  durfte,  Demosth.  Mid.  13.  (S.  Bd.  II S.  504 
A.  20.)  Der  Archon  hatte  vorher  zu  bestimmen,  welche  Schauspieler  als  Prota- 
gonisten u.  s.  w.  beim  Agon  mitwirken  sollten.  Wenigstens  beklagt  sich  Strattis 
fr.  1,  Com.  112,  763  über  das  Ungeschick  des  Archon:  EiotniSov  Si  Sgäfia  8s- 
^närarov  Siixvaia^  'Ooe'azTjv,  HyiXoxov  rov  Kivväoov  uia&coaäuevos  ra  TTocÜTa 
rwv  htcäv  )^yeiv.  Freilich  scheint  es  mifslich,  dem  Archon  eine  solche  Ent- 
scheidung anzuvertrauen.  Vielleicht  war  es  Sitte,  dafs  der  Protagonist  sich  nach 
eigener  Wahl  mit  zwei  Kunstgenossen  verband  und  sich  mit  diesen  beim  Ar- 
chon meldete,  so  dafs  die  Behörde  nur  über  die  Zulassung  der  drei  Prota- 
gonisten oder,  wenn  man  will,  der  drei  Schauspielergesellschaften  entschied. 

315)  Strattis  fr.  1,  daher  auch  in  einem  sehr  jungen  Zusätze  der  Bio- 
graphie des  Aeschylus:  ovs  xai  to  xoiv'ov  exQetpev.  Sehr  mit  Unrecht  hat  man 
behauptet,  nur  der  Tritagonist  habe  ein  Honorar  erhalten,  aber  Demosth.  de 
cor.  262  geht  gar  nicht  auf  die  öffentlichen  Spiele,  sondern  auf  Privatunter- 
nehmungen, wo  man  den  dritten  Schauspieler  mit  kargem  Lohne  abfinden 
mochte,  während  die  Unternehmer  sich  in  die  Einnahme  theilten.  Auf  dies  Ver- 
häitnifs  zielt  auch  Plutarch  praec.  reip.  ger.  21,  3. 

316)  Gellius  XI  9,  Plutarch  Leben  der  10  Redner  Demosth.  66.  Dafs  der  Beruf 
der  Schauspieler  sehr  einträglich  war,  bezeugt  Isoer.  de  antid.  157.  Da  später 
die  Schauspieler  von  allen  Seiten  in  Anspruch  genommen  wurden  und  manch- 
mal wohl  ihre  Zusage  nicht  hielten,  mufsten  sie  Bürgschaft  für  ihr  rechtzeitiges 
Erscheinen  stellen,  s.  Aeschines  de  f.  leg.  19,  wo  die  Athener  sich  für  Aristo- 
demus um  Erlafs  der  Geldstrafe  verwenden,  die  ihn  traf,  weil  er  verhindert 
war,  sein  Versprechen  zu  erfüllen.    Ebenso  zahlte  Alexander  (Plut.  Alex.  c.  29) 


92  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300   V.  CHR.  G. 

Künstler  von  Ruf  zu  gewinnen,  welche  auswärts  überall  Gelegenheit 
zu  einer  gewinnreichen  Thäligkeit  fanden,  selbst  weitgehende  Forde- 
rungen gewähren  mufste.  In  den  öffentlichen  Urkunden  wurde  auch 
der  Name  des  Protagonisten  verzeichnet,^") 

Die  Schauspieler  waren  grofsenlheils  Athener  von  Geburt;  doch 
schlofs  man  nicht  grundsätzlich  Ausländer  von  der  Ausübung  dieser 
Kunst  aus.^'*)  Der  tüchtige  Künstler  war  jeder  Zeit  geachtet,  wenn 
schon  der  Stand  im  Allgemeinen  sich  keines  sonderlichen  sittlichen 
Rufes  erfreuen  mochte.^''^)  Die  Schauspieler  in  Athen  und  die  ande- 
ren bei  den  dramatischen  Aufführungen  mitwirkenden  Künstler  bil- 
den eine  eigene,  mit  besonderen  Vorrechten  ausgestattete  Corpora- 
tion.^*")  Sophokles  scheint  den  Grund  zu  dieser  Vereinigung  gelegt 
zu  haben.^*')  In  der  Zeit  des  Demosthenes  und  Aristoteles  war  die 

für  Athenodorus  die  Bufse,  als  er  in  Athen  an  den  Dionysien  nicht  mitwirken 
konnte. 

317)  Nicht  blofs  in  dem  Falle,  wo  die  Aufführung  den  ersten  Preis  davon 
trug,  sondern  ganz  allgemein.  Aber  natürlich  kam  die  Ehre  des  Sieges  vor 
allem  auch  dem  Protagonisten  zu  gute,  der  wesenüich  zu  diesem  Erfolge  mit- 
gewirkt halte;  daher  bemerkt  der  Schol.  Aesch.  de  f.  1.  15  von  Aristodemus: 
ivixa  Sie  ivil  Arjvaicav  {ylrjvaico). 

318)  Myniskus,  der  Schauspieler  des  Aeschylus,  stammte  aus  Chalkis, 
Aristodemus  aus  Metapont ;  doch  hat  dieser  vielleicht  später  das  attische  Bür- 
gerrecht erworben. 

319)  Aristot.  Probl.  30, 10  p.  956  B  11  ff.,  wo  der  Grund  in  den  schroflfen 
Gegensätzen  drückender  Armulh  und  rasch  erworbenen  Reichthums  gefunden 
wird ;  dazu  kam  später  das  unstete  Wanderleben.  Uebrigens  indem  keine  Frau 
sich  der  Bühne  widmen  durfte,  weil  dieser  Beruf  mit  dem  Begriffe  weiblicher 
Sittsamkeit  unvereinbar  erschien  (anders  in  der  spälrömischen  Zeit,  Donat  zu 
Ter.  Andr.  IV  3),  wurde  schon  dadurch  manch  unsittliches  Element  ferngehalten. 

320)  Ol  TVEQi  JtSvvaov  le^vlrai  nannten  sie  sich  selbst,  aber  der  Volkswitz 
zog  JiowaonöXaxES  vor,  Aristot.  Probl.  30,  10  956  B  11,  Rhet.  III  2  p.  1405  A  23, 
Athen.  XII  538  F,  aber  X435E  ist  Jiowai.ox6Xaxss  zu  schreiben. 

321)  Vita  Soph. :  yjjat  8e  "laxQOS  ...  tais  Si  Movcais  d'iaaov  ix  rcäv 
nenatSevfiivuv  awayayeiv.  Dafs  auch  später  dramatische  Dichter  der  Corpora- 
tion angehörten,  zeigen  die  Inschriften.  Ueber  die  attische  Genossenschaft  ver- 
gleiche besonders  die  Inscliriften  Philol.  24,  637  (Wesclier  Mon.  bilingue  de 
Delph.  202).  Später  bildete  sich  eine  ähnliche  Genossenschaft  indem  ionischen 
Teos  GIG.  3045  fl.  (der  Dionysusdiensl  und  ein  äyojv,  natürlich  kein  dramatischer, 
bestand  hier  seit  Alters,  wie  die  Inschrift  11  3044  [Roehl  497,  32,  s.  S.  17  A.  48], 
lehrt),  die  nachher  nach  Lebedos  ihren  Sitz  verlegte;  aufserdem  gab  es  noch 
andere  minder  bekannte.  Das  wichtigste  Privilegium  war  der  freie  ungehinderte 
Verkehr,  den  diese  ihrem  Beruf  nachgehenden  Künstler  unter  dem  Schulze  der 
Amphiktyonen,  später  der  Aetoler  und  Römer  genossen.  [S.  Philo!.  43,  233.] 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.      EINLEITUNG.  93 

Genossenschaft  schon  vollständig  organisirt  und  öffentlich  anerkannt, 
so  dafs  sie  in  ihren  Angelegenheiten  mit  den  Amphiktyonen  durch 
Abgeordnete  verhandelt.  Man  sieht  deuthch,  wie  die  dramatischen 
Spiele  damals  eine  nationale  Angelegenheit  waren,  welche  das  all- 
gemeine Interesse  in  Anspruch  nahmen. 

Noch  bei  Lebzeiten  des  Sophokles  und  Euripides  treten  nahm- 
hafte Künstler  auf,  wie  Rallipides,  Nikostratus  und  vor  allem  Polus 
der  Aeltere,  der  als  der  bedeutendste  Künstler  dieser  Epoche  er- 
scheint. Nach  dem  Abscheiden  der  grofsen  Tragiker  tritt  mit  dem 
Rückgange  der  Poesie  die  Theilnahme  für  die  darstellenden  Künst- 
ler in  den  Vordergrund;  daher  hat  der  Zeitraum  vom  Ende  des 
peloponnesischen  Krieges  bis  auf  Alexander  den  Grofsen  eine  un- 
gemeine Zahl  berühmter  Schauspieler  aufzuweisen^),  und  man 
pflegt  diese  Periode  als  die  eigentliche  Blüthezeit  der  Schauspieler- 
kunst zu  betrachten.  Wer  das  Verdienst  nur  nach  dem  Erfolge 
und  der  Anerkennung  zu  beurtheilen  gewohnt  ist,  könnte  wohl  ge- 
neigt sein ,  die  Leistungen  dieser  Künstler  weit  über  die  der  frühe- 
ren zu  setzen.  Denn  Schauspieler  von  Ruf,  deren  Thätigkeit  von 
allen  Seiten  her  in  Anspruch  genommen  wurde,  genössen  das  höchste 
Ansehen,  wurden  sogar  in  öffentlichen  Geschäften  vorwendet  oder 
trieben  wohl  auch  auf  eigene  Hand  Pohtik.  Diese  vielbewunderten 
Virtuosen  waren  eben  gleich  willkommen  an  Fürstenhöfen  wie  in 
Freistaaten.  Allein  darin  giebt  sich  eher  ein  Zeichen  des  Verfalles 
zu  erkennen,  lehrt  doch  eine  wohlbeglaubigte  Erfahrung,  dafs  die 
Zeit  der  grofsen  dramatischen  Dichter  in  der  Regel  auch  die  vor- 
zügUchsten  Bühnenkünstler  erzeugt.  Auch  in  Athen  nahm  damals 
offenbar  die  Virtuosität  der  Schauspieler  zu,  während  die  echte  Kunst 
immer  seltener  ward.^')  Der  Darsteller  stand  jetzt  höher  in  Ansehen 


322)  Jedoch  vorzugsweise  tragische  Schauspieler  (r^a'/cpSoi),  wie  Aristo- 
demus  und  Neoptolemus,  Athenodorus  und  Thessalus,  um  andere  zu  äbergehen; 
von  Komikern  ist  nur  Satyrus  zu  nennen,  der  nicht  nur  ein  Mann  von  red- 
licher und  patriotischer  Gesinnung,  sondern  auch  ein  tüchtiger  Künstler  war. 

323)  Aristot.  Poet.  26,  Rhet.  Uli.  Der  nachtheiiige  Einflufs,  den  diese 
Bühnenkünstler  auf  die  dramatische  Poesie  ausübten,  wird  Poet.  9, 10  p.  1451  B 
35 ff.  angedeutet:  roiavTai  8s  {ineiaoStcöSsts  rQayc^Biai)  notoivrai  vnb  fiev 
räv  (paiXcov  rcoir^räv  8i^  airois,  vtto  Si  rcäv  dyad'cäv  Su  xovs  vjtox^tTccS' 
aycoviafiara  yao  noiovvxsi  xai  naga  z^v  Bvvafiiv  ncc^areivavree  /tv&ov  7fO/L- 
?Mxte  Siaaroitpeiv  avayxot^ovTai  ro  ifs^r^s. 


94  DRITTE    PERIODE    VOxN    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

als  der  Dichter.  Die  Poesie  wie  die  Schauspieler  sind  von  den  Launen 
und  Neigungen  des  Publikums  abhängig  und  sinken  gleichmäfsig. 

Die  Leistungen  einer  so  persönlichen  und  für  augenblickliche 
Wirkung  bestimmten  Kunst  sind  die  vergänglichsten.  Was  die  grie- 
chischen Schauspieler  mit  den  ihnen  zu  Gebote  stehenden  Mitteln 
der  Darstellung  leisteten,  läfst  sich  nicht  genau  feststellen.  Der  be- 
deutende Umfang  des  Theaters,  sowie  der  Gebrauch  der  Masken 
legte  gewisse  Beschränkungen  auf.  Der  Schauspieler  mufste  auf  den 
Ausdruck  der  Empfindungen  in  Blick  und  Gesicht  verzichten,  aber 
auch  die  feineren  Nuancen  in  der  Stimme  und  Haltung  waren  bei 
der  grofsen  Zahl  der  Zuschauer  und  den  weiten  offenen  Räumen 
nicht  gut  anwendbar.  Indem  Frauenrollen  durch  Männer  gegeben 
wurden,  litt  die  feinere  Darstellung  weiblicher  Charaktere  nothwendig 
Einbufse. 

Vortrag  und  Modulation  der  Stimme,  Gang,  Bewegung  und 
Haltung  ward  wesentlich  durch  den  Charakter  der  Rolle  bedingt; 
denn  der  Sinn  für  das  Angemessene  und  Schickhche,  der  überall  die 
Schöpfungen  der  hellenischen  Kunst  auszeichnet,  verläugnet  sich  auch 
hier  nicht,  und  das  altische  Pubhkum  war  gebildet  genug,  um  jeden 
noch  so  geringfügigen  Verstofs  wahrzunehmen  und  unnachsichthch 
zu  rügen.  Noch  viel  stärker  machte  sich  der  Unterschied  zwischen 
Komödie  und  Tragödie  geltend.  Hier  herrschte  in  Sprache  und  Be- 
nehmen das  Pathetisch-Deklamatorische  vor.  Das  Lustspiel  neigt  zu 
possenhafter  Uebertreibung  und  Carikatur  hin,  ein  Element,  was 
selbst  die  neuere  Komödie  wohl  niemals  ganz  überwunden  hat.  In 
der  Tragödie  waren  Sprache  und  Haltung  in  vollständigem  Einklänge. 
Der  schwerrällige  Gang  auf  dem  Kothurn,  die  reichen  Gewänder,  der 
starre  Gesichtsausdruck  der  Maske  verlieh  der  Darstellung  etwas  Ge- 
messenes; nur  wo  das  Pathos  sich  steigerte,  mochte  alles  mehr  einen 
gewahsamen  Charakter  annehmen.  Der  weite  Raum,  den  der  Schau- 
spieler mit  seiner  Stimme  bewältigen  mufste,  gestattete  ihm  nicht 
so  rasch  zu  sprechen,  wie  es  im  täglichen  Leben,  zumal  bei  einem 
so  lebhaften  und  leicht  erregbaren  Volke  Brauch  war.  Daher  war 
die  Recitation  der  Verse  selbst  in  leidenschaftHch  bewegten  Stellen 
gehalten ;  daher  eignete  sich  auch  vorzugsweise  das  knappe  Mafs  des 
iambischen  Trimeters  für  den  Dialog  der  Tragödie.  Die  Komödie 
bewegt  sich  mit  gröfserer  Zwangslosigkcit,  ist  aber  doch  durch  die 
gegebenen  Verhältnisse  gleichfalls  eingeschränkt.    Es  war  eben  alles 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.     E1>LEITL>G.  95 

ao  eine  gewisse  Regel  gebunden ,  beruhte  auf  künstlerischer  Conven- 
tion. Es  gilt  dies  vor  allem  von  der  Tragödie.  Nicht  das  wirkliche 
Leben  führte  man  mit  Naturwahrheit  vor,  sondern  ein  veredeltes 
Abbild.  Aber  auch  in  der  Komödie  herrschte  nicht  die  rohe  Natür- 
lichkeil. Bald  jedoch  sagten  sich  einzelne  talentvolle  Schauspieler 
von  diesem  Conventionellen  Wesen  los  und  suchten  durch  ein  mehr 
realistisches  Spiel  mächtige  Wirkungen  zu  erzielen,  wie  Rallippides, 
ein  Zeitgenosse  des  Sophokles  und  Alkibiades,  der  stolz  darauf  war, 
das  Publikum  bis  zu  Thränen  zu  rühren.^") 

Glückliche  Naturanlage  ist  bei  dem  darstellenden  Künstler  die 
Hauptsache.  Statthcher  Wuchs  und  Anmuth  der  äufseren  Erscheinung 
gereichte  zu  besonderer  Empfehlung;  aber  vor  allem  wurde  auf  ein 
kräftiges  und  zugleich  wohlkhngendes  Organ  gesehen.^^^)  Es  galt,  die 
Bewegung  des  Gemüthes,  den  Ausdruck  der  Leidenschaften,  wenn 
man  die  beabsichtigte  Wirkung  erreichen  wollte,  in  stark  betonter 
Rede,  mit  ausdrucksvollen  Geberden,  in  scharfen  Contrasten  darzu- 
stellen. Ein  jedes  Talent  will  entwickelt  und  gebildet  werden.  Der 
dramatische  Dichter,  indem  er  das  Einstudieren  seiner  Stücke  per- 
sönUch  überwachte,  gab  dem  Schauspieler  die  nöthige  Anleitung. 
Durch  die  Tradition  bildete  sich  allmählich  ein  zusammenhängendes 
System  von  Regeln,  und  später  unterwiesen  bewährte  Schauspieler 
nicht  nur  Anfänger  in  dieser  Kunst,  sondern  auch  wer  öffenthch 
als  Redner  auftreten  wollte,  wie  Demosthenes,  benutzte  diesen 
Unterricht.  Die  Versuche  des  Aeschines  auf  der  Bühne  waren  die 
beste  Vorschule  für  seinen  künftigen  Beruf  als  Redner. 

Aus  den  Mummereien  des  Dionysusfestes  ging  das  Drama  her- Masken  und 
vor.    Wer  eine  fremde  Gestalt  annahm,  suchte  sein  Vorbild  auch  in  ^°''"'"  ^®'' 

Scnauspie- 

den  Gesichtszügen  möglichst  wiederzugeben  oder  doch  sein  Antlitz      ler. 
unkenntlich  zu  machen.    So  ist  auch  die  Maske  für  den  dramatischen 
Chor,   wie  für  die  Schauspieler   unentbehrlich  ^^J,   übernahm  doch 

324)  Xenoph.  Symp.  3, 11.  Myniskus,  der  Schauspieler  des  Aeschylus,  der 
noch  das  Auftreten  und  die  Erfolge  des  jungen  Kallippides  erlebte  und  an  den 
strengen  Sül  der  früheren  Zeit  gewöhnt  war,  nannte  ihn  geradezu  einen  Affen 
(Arist.  Poet.  26  p.  1461  B  34). 

325)  KaXUcpojvoi  vTtoxQtrai  Plato  Leg.  817  C,  Diodor  XV  7,  2,  toqov  xal 
yeycovbv  fcövrjjua  Alkiphron  HI  48.  Ueber  Theodorus,  der  seine  Stimme  so  in 
der  Gewalt  hatte,  dafs  er  sie  jedes  Mal  dem  einzelnen  Charakter  anzupassen 
verstand,  s.  Aristot.  Rhet.  III  2  p.  1404  B  22. 

326)  Ueber  Masken  und  Kostüme  verdanken  wir  das  Beste  der  zusam- 


96  DRITTE   PERIODE    VON    500    RIS    300    V.  CHR.  G. 

der  Darsteller  auf  der  Bühne  oft  nach  einander  ganz  verschiedene 
Rollen.  Die  Macht  der  überlieferten  Sitte  war  so  grofs,  dafs  es  ge- 
radezu für  unschicklich  galt,  sich  ohne  Maske  blicken  zu  lassen.'''^ 
Aufserdem  leistet  die  Maske  dem  Schauspieler  einen  wesentlichen 
Dienst,  indem  sie  die  Stimme  verstärkt.'")  Die  Maske  ist  nicht 
etwa  erst  aufgekommen,  seit  Phrynichus  Frauenrollen  aufl)rachte.'''*) 
Schon  Thespis  bediente  sich,  wenn  er  auftrat,  einer  Linuenmaske, 
ebenso  Choerilus^),  aber  erst  durch  Aeschylus  ward  dieselbe  ver- 
voUkommnet.'^') 

Die  Maske,  später  gewöhnlich  aus  Holz  gefertigt,  bedeckte  nicht 
nur  das  Gesicht,  sondern  den  gröfsten  Theil  des  Kopfes  und  machte 
mit  den  starren,  aber  scharf  ausgeprägten  Zügen,  den  grofsen  Augen- 
höhlen und  dem  weiten  Munde  einen  eigenartigen,  fast  unheimlichen 
Eindruck.^^'')     Diese   Masken   stellen   gemäfs  der  EigenthUmlichkeit 


menhängenden  Darstellung  bei  PoUux  IV  133  fr.  (wohl  hauptsächlich  beruhend  auf 
der  Schrift  des  Grammatikers  Aristophanes  ne^i  nooGcöncov,  welche  wohl  alle 
Gattungen  des  Dramas  berücksichtigte;  von  dem  Grammatiker  Sellius  mit  dem 
Zunamen  Homer  erwähnt  Suidas  II  1,  1109  eine  Schrift  ns^l  ycofiixcöv  nQoa- 
cöncov),  einiges  dem  Donat.  Dazu  kommen  scenische  Darstellungen  auf  Bild- 
werken, sowie  die  Zeichnungen  in  den  Handschriften  der  Komödien  des  Terenz, 
die  zunächst  zur  Instruktion  für  dramatische  Aufführungen  bestimmt  waren, 

327)  Theophrast  Char.  c.  6:  ö^fj^eiff^"«*  vrjfcov  rov  xöqSaxa  nQoaanelov 
ovx  k'xcov  iv  xMfiixq^  XOQV-  Demosth.  de  fals.  leg.  287 :  iv  raXs  nofinaie  ävev 
rov  TtQoacoTtov  xcofia^ei. 

328)  Der  tiefe  Klang  der  Stimme,  der  besonders  die  Tragöden  (ßaQvfou- 
voi)  charakterisirte,  wird  vorzugsweise  der  Maske  verdankt.  Erst  die  Römer 
liefsen  die  Maske  fallen  und  gaben  dem  Schauspieler  Gelegenheit,  die  Kunst 
des  Mienenspieles  zu  entwickeln.  Die  veränderte  Einrichtung  des  römischen 
Theaters,  wo  die  Orchestra  zu  Sitzplätzen  verwendet  ward  und  die  Zuschauer 
näher  an  die  Bühne  heranrückten,  war  darauf  gewifs  nicht  ohne  EinfluCs. 

329)  Allerdings  mochte  hier  die  Maske  besonders  noth wendig  sein,  da 
hinsichtlich  der  Haartracht  u.  s.  w.  beide  Geschlechter  in  der  Tragödie  sich  nur 
wenig  unterscheiden,  Servius  Verg.  Aen.  X  832. 

330)  Suidas  0Ea%a  I  2,  1 172  und  XoiqIXos  II  2, 1691.  In  alter  Zeit  verhüllte 
man  sich  bei  Aufzügen  das  Gesicht  mit  Laub  und  Blättern  oder  behalf  sich  mit 
Schminke;  in  der  Komödie  erhielt  sich  die  letztexe  Sitte  längere  Zeit. 

331)  Daher  wird  er  gewöhnlich  als  Erfinder  der  tragischen  Masken  bezeich- 
net, Horaz  A.  P.  278  personae  repcrtor,  Suidas  I  2,  65 :  evqe  TtQoacunBTn  Seiyn 
xai  xQtü/iaai  xexQKTfievn. 

332)  Dazu  kommt  die  oft  grelle  Färbung  der  Maske,  in  der  Komödie  die 
verzerrten  Gesichtszüge.  Daher  nannte  man  die  Masken  auch  /toQuoXvxeXn,  bei 
Aristophanes  {f^Qae  fr.  IS  [187  01.])  fragt  einer,  wo  das  Jtorvoiov  liege,  und 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.      EKNLEITOG.  97 

der  dramatischen  Poesie  der  Hellenen,  welche  sich  in  einer  gewissen 
Allgemeinheit  hält,  nicht  sowohl  Individuen  dar,  sondern  es  sind 
typische  Formen  für  bestimmte  Klassen  nach  Mafsgabe  des  Alters 
und  Geschlechtes,  der  Lebensstellung  oder  des  Charakters.^^)  Durch 
das  carikirt  Uebertriebene  unterschieden  sich  die  komischen  Masken 
von  der  mafsvoUen  Haltung  der  idealen  Tragödie.  Bemerkenswerth 
ist,  dafs,  während  die  Komödie  nur  das  höhere  Alter  und  die  Jugend 
kennt,  die  Tragödie  auch  das  mittlere  Alter  unterscheidet.  Mit  ein- 
fachen Mitteln,  durch  die  Verschiedenheit  der  Gesichtsfarbe,  wie  der 
Haartracht,  durch  die  Behandlung  der  Augenbrauen,  die  Form  der 
Nase  u.  s.  w.,  verstand  man  feinere  Nuancen  und  charakteristische 
Züge  auszudrücken. 

Götter  und  Heroen  dachte  sich  die  Phantasie  der  Griechen 
gröfser  und  schöner  als  sterbliche  Menschen,  daher  auch  Aeschylus 
die  Figuren  der  Tragödie,  welche  vorzugsweise  jenen  Kreisen  an- 
gehören, durch  künsthche  Mittel  über  das  Mafs  gewöhnlicher  Gröfse 
hinaushob.  Es  entsprach  dies  nicht  nur  der  Richtung  der  Tragödie 
auf  das  Erhabene  und  Würdevolle,  sondern  war  auch  durch  den 
bedeutenden  Umfang  des  Theaters  geboten,  wo  dem  entfernter  Sitzen- 
den selbst  statthche  Gestalten  verhältnifsmäfsig  klein  erscheinen 
mufsten.  Dazu  dient  vor  allem  der  Haaraufsatz  über  der  Stirn  ^^) 
und  der  hohe  Kothurn.^)    Um  aber  die  Gestalten  nicht  allzu  schlank 

erhält  zur  Antwort  onov  t«  /io^fiolvy.ela  nooaxqsfifiäwxat.  Die  Maske,  das 
gewöhnliche  Bacchische  Attribut,  wurde  vielfach  als  Ornament  verwendet. 

333)  Nur  die  alte  Komödie  macht  eine  Ausnahme.  Sie  hat  nur  für  ge- 
wisse typische  Figuren  ständige  Masken ;  die  lebenden  Persönlichkeiten,  welche 
sie  vorführte,  suchte  man  mit  möglichster  Treue,  wenn  schon  nicht  ohne  Cari- 
katur  wiederzugeben,  so  dafs  man  sie  sofort  erkannte,  PoUux  IV  134,  nsgi 
xcoficpSias  I  19  p.  XIV,  Aelian  V.  H.  II  13.  Als  Aristophanes  seine  Ritter  aufführte, 
fand  er  niemanden,  der  eine  ähnliche  Maske  des  gefürchteten  Kleon  anzufer- 
tigen gewagt  hätte,  s.  Ritter  231  f.  Inderseiben  Komödie,  die  aufserdem  zahl- 
reiche grotesk-phantastische  Figuren  vorführte,  war  die  Thätigkeit  des  Masken- 
machers {(jxevoTioioe)  vielfach  in  Anspruch  genommen. 

334)  Der  sogen,  öyyos,  aber  abgestuft  nach  Mafsgabe  der  Rolle.  Manche 
begnügten  sich  mit  einem  ßqu^vs  oyxos;  bei  anderen  versah  das  neglxoavov 
(eine  Kopfbekleidung)  diesen  Dienst.  Die  trauernde  Jungfrau  {xovqi/ios  naQ- 
d'tvoe,  Mie  Elektra  oder  Antigone,  vgl.  das  Epigramm  des  Dioskorides  2S,  8ff. 
Anth.  I  252  Jac.)  trägt  natürlich  keinen  oyxos,  sondern  ist  eben  am  geschorenen 
Haar  kenntlich;  andererseits  erhallen  auch  nicht- heroische  Figuren  diese  Aus- 
zeichnung, wie  der  Herold  und  Bote  (afrjvoTKoycov). 

335)  Der  xo&o^os,  eigentlich  eine  lydische  Fufsbekleidung  (Herod.  I  155, 
Bergk,  Griech.  LUeraturgeschichie  III.  " 


98  DRITTE   PERIODE   VON    500    RIS    300  V.  CHR.  G. 

erscheiDen  zu  lassen,  suchte  man  durch  Auspolstern  der  Brust  und 
des  Leibes,  durch  Bekleidung  der  Arme  und  ähnliche  Mittel"*)  ein 
richtiges  Verhältnifs  herzustellen.  Ganz  besonders  trug  die  Kleidung 
der  tragischen  Schauspieler  dazu  bei,  den  Eindruck  des  Feierlichen 
hervorzurufen.  Gleich  von  Anfang  an  waren  buntfarbige  prachtvolle 
Gewänder  in  der  Tragödie  beliebt.^")  Diese  Gewohnheit  stammt  aus 
den  alten  Dionysischen  Festzügen,  dann  aber  sorgte  Aeschylus,  wie 
er  überhaupt  die  Würde  der  äufseren  Erscheinung  hochstellte,  für 
prächtige  Kostüme.^^)  Ihm  wird  namentlich  die  Einführung  des 
langen  Schleppgewandes  verdankt.  Später  hat  Sophokles  sich  in 
ähnlicher  Weise  um  reichere  Ausstattung  des  Salyrchores  verdient 

VI  125),  mag  schon  bei  mimischen  Darstellungen  im  Dionysuscultus  gebraucht 
■worden  sein.  Aeschylus  fand  ihn  wohl  schon  in  der  Tragödie  vor  und  hat 
ihn  nur  erhöht,  und  zwar  je  wichtiger  die  Person,  desto  höher  war  der  Kothurn. 
Der  Kothurn  pafst  nicht  für  den  tragischen  Chor,  der  sich  ungehindert  und 
leicht  bewegen  mufste.  Die  Schuhe  der  Choreuten  hiefsen  vielleicht  u^ßvXai 
(Eurip.  Orest.  1470),  Suidas  aber  (unter  ^iff;(^Aos  I  2,  65)  scheint  darunter  den 
Kothurn  zu  verstehen :  rals  aQßvXais  roTs  xaXovfidvoiS  i/ußarais  )[Qijod'ai.  Sehr 
häufig  wird  die  Fufsbckleidung  der  Tragöden  ifißarai  oder  i/ißdSes  genannt, 
ganz  allgemeine  Ausdrücke  (=  Schuhe),  und  i/ußarat  heifsen  auch  wieder  die 
niedrigen  Schuhe  der  Komöden  (Pollux  IV  115),  welche  die  Römer  «occj^ä  nen- 
nen (griechisch  avxxos,  avxxäs,  Pollux  VII  SO,  nach  Hesychius  eine  phrygische 
Frucht).  Wenn  dem  Sophokles  (Biographie)  die  Einführung  der  Xsvxal  x^r^nlSei 
für  Schauspieler  und  Chor  zugeschrieben  wird,  so  handelt  es  sich  nicht  um 
eine  andere  Form  des  Schuhes,  sondern  nur  um  die  Farbe. 

336)  Lukian  lupiter  Iragoedus  c.  41 :  z«  TiQÖacona  rüiv  d'eöjv  aixa  xai  loie 
ifißärae  xal  TOvS  TioS/i^eis  x^föJvas  xal  x^a/ivSas  xai  ;ij£tpTJaS  xai  n^oya- 
axQiSia  xai  a eo fidria  xai  rälka,  oli  exslvot  asftvvvovai  xrjv  XQayt^Siav. 
Vit.  Aesch. :  xovs  vnoxQtxds  ;^««^rffi  axenuaas  xai  x(ö  av^/uaxi  (so,  nicht  acofia- 
xüj}  ist  zu  lesen)  iioyxcöaas.  Xei^lSss  sind  nicht  Handschuhe,  auch  nicht  Aermel 
der  Gewänder,  sondern  Bekleidungen  der  Arme. 

337)  Schon  Choerilus  sorgte  für  die  axevrj  xäJv  oxoXtäv  (Suidas  II  2, 1691) 
[Bernh.  oxtivt'^]. 

33S)  Athen.  I  21D:  wilaxvXoe  i^tvQe  xijv  xr;e  aioXrs  tinQtneiav  xai  ae- 
/ir6%r,xa,  tjv  t,TjXu)aavxBS  oi  iEQO<pävxai  xai  SaSoZ^Oi  dficfuvwvxai.  Aber  die 
priesteiliche  Tracht  wird  vielmehr  Vorbild  für  den  Tragiker  gewesen  sein,  und 
man  hat  wohl  richtig  ^TjXciaai  r]v  verbessert.  Darauf  zielt  auch  Aristoph. 
Frösche  1061,  wo  Aeschylus  sagt,  die  Halbgötter  in  seinen  Dramen  bedienlen 
sich  hoher  Worte,  xai  yuQ  xoiit  ifiaxiott  rifiöjv  ;)j(>tJvT«*  noXi)  aeftfoxegotct. 
Könige  trugen  auf  dem  Scepter  einen  Adler  (Aristoph.  Vögel  515),  wie  dies 
auch  Vasenbilder  vergegenwärtigen.  Die  Sitte,  den  Fürsten  in  der  Tragödie, 
auch  dem  Achilles  und  Neoploiemus,  ein  Diadem  zu  geben  (Donatus),  ist  wohl 
erst  in  der  Diadocheuzeil  aufgekommen. 


DIE    DRA>UTISCHE    POESIE.      EINLEITUNG.  99 

gemacht.^^)  Indes  pafst  dieser  Prunk  nicht  für  alle  Rollen.  Un- 
glückliche, wie  der  entthronte  Fürst,  der  heimathlose  Held,  die  in 
Trauer  versenkte  Jungfrau,  trugen  auch  äufserlich  ihr  Elend  und 
ihren  Jammer  zur  Schau.^'°)  Ebenso  wenig  kommt  das  tragische  Ko- 
stüm den  untergeordneten  Personen  zu.  Der  Landmann  oder  Hirt 
erschien  in  der  gewöhnlichen  griechischen  Bauerntracht,  in  Schaf- 
oder Ziegenfellen ^");  ebenso  traten  Herolde,  Boten  und  Diener  in 
der  ihrem  Stande  zukommenden  Tracht  auf.^*) 

Diese  Ausstattung  des  tragischen  Schauspiels  wird  vorzugsweise 
dem  Aeschylus  verdankt,  und  sie  war  für  die  Dramen  dieses  Dich- 
ters, welche  ein  grofsartiges  Bild  der  alten  Heldenzeit  vorführten, 
durchaus  zweckmäfsig.  Die  jüngere  Tragödie,  indem  sie  den  hohen 
Stil,  das  feierliche  Pathos  aufgiebt  und  mehr  und  mehr  eine  moderne 
Phvsiognomie  zeigt,  hätte  eigenthch  auch  den  Pomp  der  Aufführung 
ermäfsigen  müssen  ^^);  allein  man  hielt  an  dem  Hergebrachten  fest. 
So  machten  später  die  Masken  und  Kostüme  der  tragischen  Schau- 
spieler den  Eindruck  einer  völlig  fremden  Welt.***) 

339)  Dioskoiides  ep.  29  Anth.  I  252  Jac. 

340)  Durch  passende  Modificationen  der  Gesichtsfarbe,  der  Haartracht,  der 
Kleidung  rief  man  den  Eindruck  der  Erniedrigung  und  des  Unglücks  hervor: 
öfter  deuten  die  tragischen  Personen  selbst  darauf  hin,  vgl,  Sophokles  Oed. 
Kol.  1258.  Daher  wird  zuweilen  auch  ein  Wechsel  der  Maske  eingetreten  sein. 
Im  Oedipus  Tyrannus  erschien  der  unglückliche  Oedipus  am  Schlüsse  des  Dra- 
mas gewifs  in  anderer  Gestalt  als  im  Eingange,  üeberhaupt  verstand  man 
durch  passende  Attribute  die  typischen  Bühnenfiguren  mehr  und  mehr  zu  indi- 
vidualisiren.  Weissager,  wie  Teiresias,  waren  kenntlich  au  einem  netzartigem 
Ueberwurfe  (a/("j»'o»') ,  Reisende,  die  aus  der  Fremde  anlangten,  trugen  den 
thessalischen  breitkrempigen  Hut  {Ttäraaos). 

341)  JKfd-eoias  Varro  de  r.  r.  U  11. 

342)  Der  afr^voncuycov,  der  mit  dem  keilförmigen  Barte  an  Hermes  er- 
innerte, wurde  wohl  vorzugsweise  als  Herold  verwendet;  neben  ihm  versah 
auch  ein  jüngerer  {aytvEios)  die  Rolle  des  Boten.  —  Aufser  den  stehenden, 
für  jede  Tragödie  unentbehrlichen  Masken  gab  es  noch  andere,  die  nur  für 
eine  bestimmte  Rolle,  einen  besonderen  Fall  hergestellt  wurden,  i'xaxEva  Ttooa- 
wna  Pollux  IV  141  ff.,  wie  der  blinde  Phineus,  der  hörnertragende  Äktäon,  der 
Dämon  des  Todes  oder  der  Raserei  {Avaaa\  Flufsgötter,  Nymphen,  Kentauren 
u.  s.  w.,  von  denen  besonders  die  alte  Tragödie  vielfachen  Gebrauch  macht. 

343)  Einzelnes  mag  man  abgeändert,  namentlich  gewisse  Figuren  mehr 
individualisirt  haben.  So  trat  wohl  Odysseus  in  der  Schiffertracht  (Donatus  sagt 
palliatus)  auf,  die  vielleicht  zuerst  auf  der  Bühne  aufkam,  dann  von  der  Ma- 
lerei und  bildenden  Kunst  adoptlrt  ward. 

344)  Lukian   spottet  wiederholt  über  die  seltsame  Ausstattung  der  Tra- 


100  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300   V.  CHR.  G. 

Nicht  minder  conservativ  zeigt  sich  die  Komödie.  Jene  verzerr- 
ten Masken,  wie  sie  uns  zahlreiche  Bildwerke  und  Beschreihungen 
hinreichend  vergegenwärtigen"^),  passen  nicht  recht  für  den  Cha- 
rakter der  Lustspiele  des  Menander  und  Philemon ;  sie  sind  nur  für 
die  mittlere  Komödie  geeignet,  die  zur  Uebertreibung  noch  ent- 
schieden hinneigt  und  auch  manche  Figur  von  der  alten  Komödie 
überkommen  hatte.  Für  den  Haushalt  des  jüngeren  Lustspiels  ist 
diese  Ausstattung  ungeeignet.  Aber  wie  man  die  typischen  Cha- 
raktere der  Vorgänger  beibehielt,  so  auch  das  Kostüm,  und  so  wird 
diese  Praxis  auch  auf  das  römische  Theater  verpflanzt.  Mehr  als 
vierzig  Charaktermasken,  welche  für  die  verschiedenen  RoUenßicher 
der  Komödie  vollständig  ausreichten^^'"),  waren  mit  so  bestimmten 
Attributen  versehen,  dafs  man  gleich  beim  ersten  Auftreten  wufste, 
wen  man  vor  sich  hatte.^"")  Es  entspricht  dies  dem  convenlionellen 
Wesen  dieser  Dichtart,  aber  man  erkennt  auch  das  Geschick,  womit 
die  einzelnen  Lebensalter,  Geschlechter,  Stände  und  Charaktere  durch 
Gesichtsausdruck,  Haartracht,  Kleidung  sorgfällig  von  einander  ge- 
schieden waren;  besonders  die  Wahl  der  Farbe  des  Gesichtes,  des 
Haares,  des  Kostümes  war  bedeutsam.^'*) 

göden,  so  de  saltat.  27:  cos  siSBx&ee  a/xa  xal  (poßsQov  d'e'afia  «s  ftT]xoe  ä^ov&- 
ftov  rj<sxr,fiivos  avd'Qconos,  ifißäxais  irfjTjXöis  inoxov/xsvos ,  n^üatonov  vtieq 
xeyaXrjs  avareivöfisvov  dmxeijuevos  xai  aröfia  xe)(^rjvis  nafifieya,  tos  xaraTtiö- 
fiEvos  Tovs  d'earns,  iöi  Xeyeiv  7tQoaTSQviSi.a  xal  n^oyaaxQiSia,  n^oa&exrjv  xai 
imrexvTjTT^v  naxvTTjTa  n^oanotovfievoe,  cos  fiij  lov  ft^xovs  rj  a^^v&fiia  iv  Ae^rTÖ» 
fiäXXov  iXiyxotTO. 

345)  Hegi  xcoftcpSlas  I  19  p.  XIV:  iv  Ss  rfj  jutar]  xal  via  xa/n^Sia  dnirt]- 
8sS  ja  Tt^oaoineia  tiqos  ro  yeXoiorsQOv  dSri/utovpyrjaav  , . .  o^cä/isv  yovv  rae 
otpQvS  iv  role  TtooacJTtois  iffi  MevÜvSqov  xatfic^Sias  onoias  i'xei  xal  onots 
i^eOTQa/ufuvov  ro  aröfia  xal  oiiSe  xar'  avd'^ojTtcov  (piaiv.  Nur  ist  nicht  zu- 
treffend, wenn  bemerkt  wird,  aus  Furclit  vor  den  makedonischen  Gewalthabern 
sei  dies  geschehen. 

346)  Die  Zahl  der  typischen  Figuren  ward  nach  und  nach  vermehrt,  daher 
einzelne  nach  ihrem  Erfinder  'Eq/icoveios  und  yivxofi^Sswe  benannt  werden: 
Hermon  und  Lykomedes  waren  wohl  komische  Schauspieler  (PoUux  IV  88),  ob- 
wohl man  aus  dem  Etyra.  M.  (EQfia'vsia)  den  ersteren  auch  für  einen  axsvo' 
Ttoioe  halten  könnte. 

347)  Sorgfältig  war  nicht  nur  die  Hetäre  von  der  anständigen  Bürgers- 
tochter, die  Kupplerin  von  der  ehrbaren  Matrone  unterschieden,  sondern  auch 
unter  den  einzelnen  Klassen,  wie  den  Alten  und  Jungen,  den  Sklaven  und 
Soldaten,  den  Parasiten  und  Kupplern,  sonderten  sich  wieder  Spielarten  des 
Charakters  aus. 

348)  Für  die  Tracht  der  Greise  wählte  man  gewöhnlich  die  weifse  Farbe, 


DIE   DRAMATISCHE   POESIE.     EINLEITUNG.  101 

IX 

\\'ie  die  selbständige  Ausbildung  des  Dramas,  abgesehen  von^ie  Sprache 
der  dorischen  Komödie,  Attika  angehört,  so  wird  auch  die  sprach-  uschen  ' 
hebe  Form  dadurch  bedingt.^'*)  Da  bisher  die  Attiker  keinen  thäti-  Poesie, 
gen  Antbeil  an  der  Literatur  genommen  hatten^^),  ist  der  drama- 
tische Stil  wesentlich  als  eine  neue  Schöpfung  zu  betrachten.  Indem 
diese  Dichtart,  zumal  die  Tragödie,  auch  ein  episches  und  lyrisches 
Element  enthält,  waren  Homer  und  die  Lyriker  die  passendsten 
Führer.  Aber  die  attische  Mundart  bildet  die  Grundlage  nicht  nur 
für  den  Dialog  und  die  Erzählung,  sondern  auch  für  die  mehschen 
Partien.  Durch  das  Einmischen  fremder  Laute,  Wortformen  und 
Ausdrücke  wird  dieser  Grundton  nur  temperirt;  der  dramatische  Stil 
wird  durch  das  Epische  und  Lyrische  leise  gefärbt  und  belebt.  Be- 
merkenswerth  ist,  dafs  anfangs  die  Tragödie  die  Lautstufe  der  alten 
Atlhis,  die  von  der  las  nicht  verschieden  war,  mehrfach  festhielt. 
Bei  Aeschylus  haben  sich  noch  deutUche  Spuren  erhalten "') ;  ande- 
res mögen  die  Schauspieler  frühzeitig  getilgt  haben,  da  man  diesen 
Klängen  entfremdet  war.  Mit  feinem  Gefühl  trafen  die  Dichter  eine 
schickliche  Auswahl.  Alles,  was  allzu  sehr  an  die  Redeweise  des  täg- 
hchen  Lebens  erinnerte  und  mit  der  idealen  HaUung  der  Tragödie 
nicht  recht  vereinbar  schien,   ward   sorgfältig  gemieden^*);   daher 


für  Jünglinge  bunte  Gewänder  (Lonatus),  Sklaven  erscheinen  nur  leicht  be- 
kleidet; die  reiche  Erbtochter  war  an  dem  mit  Franzen  besetzten  Gewände 
kenntlich. 

349)  Der  Gebrauch  der  Atlhis  im  Drama  ist  nicht  nur  historisch  genügend 
gerechtfertigt,  sondern  dieser  Dialekt  eignet  sich  auch  vorzugsweise  für  diese 
Dichtart.  Der  Rhetor  Demetrius  §  177  IX  80  Walz  bemerkt  ganz  richtig,  dafs  die 
Atthis  besonders  der  Komödie  angemessen  sei,  aber  er  geht  zu  weit,  wenn  er  die 
Doris  wegen  ihrer  Neigung  zu  breiter  Aussprache  geradezu  verwirft:  SioneQ 
ovSe  iYOJucöSovv  ScoQi%ovres ,  aXß^i  nix^cüs  (1.  äxgcas)  rjTrixi^ov  t]  ya^  u4r- 
rixfj  y).{öaaa  avvsar^a/ifie'vov  rt  ^et  xai  Stjfiorixöv  xai  rais  zoiaiiais  eiiQU' 

Tte/.iaiS    TtQETtOV. 

350)  Nur  Selon  ist  zu  nennen,  da  die  Thätigkeit  des  Tyrtäus  Lakonien 
angehört. 

351)  Die  Kritiker  haben  dies  nicht  beachtet  und  solche  Formen  meist  be- 
seitigt, auch  bei  Ion,  wo  dergleichen  noch  weniger  befremden  darf.  Aeltere 
Formen  wie  oxpoiaro  u.  dergl.  finden  sich  nicht  nur  bei  Aeschylus  und  Sopho- 
kles, sondern  auch  bei  Aristophanes;  selbst  Euripides  verschmäht  nicht  das 
ionische  7ti'7t?.coxa. 

352)  Die  Tragiker   sagen  daher  iXaia,  ateros,  xXaico  (auch  wohl  xaioi),. 


102  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

zog  man  nicht  selten  die  durch  Wohllaut  oder  fremdartigen  Klang 
sich  empfehlenden  Formen  des  dorischen  und  äolischen  Dialektes 
vor.**^)  Von  der  Mischung  der  Mundarten  macht  man  üherhaupl 
ausgedehnten  Gebrauch.  Manches  ist  überall  zulässig;  lediglich  nach 
Bedürfnifs  des  Verses  wechselt  man  mit  den  verschiedenen  For- 
men^"); anderes  ist  vom  Dialog  ausgeschlossen.'")  Das  Epische 
trat  besonders  in  den  Botenberichten '*^),  dann  in  anapüstischen  Ver- 
sen hervor,  weil  dieses  Metrum  der  Weise  des  Heldenliedes  am  näch- 
sten steht.  Die  meisten  Anklänge  an  den  StiP")  des  Epos  finden 
wir  bei  Aeschylus.  In  den  melischen  Partien  der  Tragödie  erhält 
der  dorische  Dialekt  angemessene  Verwendung.  Zunächst  äufserte 
sich  darin  die  Macht  des  Herkommens,  des  historischen  Princips; 
denn  die  chorische  Poesie,  aus  der  die  Tragödie  entsprungen  ist, 
verdankt  ihre  Ausbildung  vorzugsweise  den  Doriern.  Aber  diese  Tra- 
dition wird  mit  vollem  Bewufstscin  aufrecht  erhalten ;  man  fühlt,  dafs 
die  dorische  Mundart  durch  kräftigen  Wohllaut,  durch  männliche 
Würde  sich  auszeichnet.  Daher  zog  man  in  den  feierlichen  Ge- 
sängen der  Tragödie,  die  sich  über  das  Mafs  des  Gewöhnhchen  er- 
hoben, die  vollen  Klänge  der  Doris  vor'*);  doch  ist  der  Gebrauch 


atel  {aei  nur  wo  Verkürzung  eintritt),  ebenso  in  der  zweiten  Pers.  Sing,  des 
Passivums  t;,  nicht  et,  wo  die  Kritiker  liöclist  willkürlich  jetzt  fiberall  die  jün- 
geren Formen  zu  substituiren  pflegen ;  daher  hält  die  Tragödie  selbst  6>()j;xc». 
0^7jxtos  u.  dergl.  fest. 

353)  Wie  'Ad'ava,  Suqöv,  ixari,  tcvvayos  (aber  xvvrjyerr]«),  yaftö^os,  tpa- 
evvde  (nicht  tpasivoe);  ja,  es  wirkt  dies  selbst  auf  die  Endung  ein,  Euripides 
sagt  '.Eo)  cpaevvav. 

354)  So  fiovvoe,  ^elvoe,  fiiaaos,  das  dorische  viv  (nicht  fiiv),  os&ev.  So- 
phokles liebt  besonders  das  verkürzte  T]fiiv  und  iifxtv.  Schon  die  zeitgenös- 
sische Kritik  nahm  daran  Anstofs.  Ariphrades  tadelt  die  Tragiker,  weil  sie 
aäd'ev,  viv,  Scofxäxcov  ano,  !^/«^Ae<yg  ntQi  sagten ,  was  niemand  im  gewöhn- 
lichen Leben  gebrauche.  Aristoteles  Poet.  22,  14  p.  1458  B  31  f.  nimmt  die  Tragö- 
die gegen  diese  unverständige  Kritik  in  Schutz.  Ariphrades,  ein  von  Aristophanes 
verspotteter  Kitharöde,  mufs  wohl  diese  Kritik  schriftlich  ausgeübt  haben. 

355)  Der  epische  Genitiv  oio  MJrd  im  Dialog  nicht  zugelassen;  erst  der 
Alexandriner  Lykophron  gebraucht  diese  Form  im  Trimetor. 

Jf?  M356)  So  fehlt  in  den  nyysXixai  ^r,asis  öfter  das  syllabische  Augment,  was 
man  sich  im  Dialog  niemals,  wohl  aber  in  lyrischen  Partien  erlaubt. 

357)  So  liebt  Aeschylus  die  Partikel  »jJc,  die  bei  Sophokles  und  Euripi- 
des nur  selten  vorkommt;  iSi  hat  Sophokles  einmal  zugelassen. 

358)  Hauptsächlich  zieht  man  das  klangvolle  lange  A  vor,  jedoch  consequent 
nur  in  Floxioiisondungen,  weniger  in  Stammsilben  und  AbieilunRen. 


r 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.      EI>XEITÜVG.  103 

dieses  Dialektes  keineswegs  auf  die  melischen  Partien  beschränkt.''*) 
Die  Sprache  der  Tragödie,  die  sehr  verschiedenartige  Elemente  ent- 
hält^"), darf  also  keineswegs  als  die  unvermischte  Atthis  gelten :  erst 
in  der  jungen  Tragödie  seit  Euripides  tritt  dieser  Dialekt  in  gröfse- 
rer  Reinheit  hervor,  ohne  jedoch  auf  alles  Traditionelle  zu  ver- 
zichten. 

Der  Stil  der  Tragödie  hat  im  Verlaufe  der  Zeit  mehrfachen 
Wandel  erfahren ;  die  Fülle  des  Ausdrucks,  die  Pracht  und  Kühnheit 
der  Bilder,  der  Pomp  der  klangvollen  Worte  wird  allmählich  er- 
mäfsigt.  Je  mehr  die  Tragödie  von  der  idealen  Höhe  in  das  Leben 
der  Gegenwart  herabsteigt,  desto  mehr  entsagt  sie  dem  plastischen, 
farbenreichen  Stile,  dem  hohen  Pathos.^*) 

Jeder  der  drei  Tragiker  hat  seinen  eigenen  Stil  ausgebildet,  der 
mit  dem  Charakter  und  der  Sinnesart  des  Dichters  durchaus  har- 
monirt.  An  Erhabenheit  und  Würde  der  Sprache  steht  Aeschylus 
unübertroffen  da.  In  den  altert hümlichen,  fremdartigen  Worten,  in 
den  kühnen,  überraschenden  Metaphern,  in  dem  phantastischen  Bil- 
derschmuck liegt  eine  Fülle  von  Poesie;  der  feierliche,  gemessene 
Ton  pafst  ganz  für  die  gigantischen  Gestalten,  welche  dieser  Dich- 
ter uns  vor  Augen  führt.  Aber  die  Gefahr,  in  Schwulst  und  leeres 
Wortgepränge  zu  verfallen,  lag  nahe,  und  die  Nachahmer  haben 
diese  Klippe   nicht  immer  gemieden.     Den   entgegengesetzten  Weg 


359)  ^Afios  gebranchea  Aeschylus  und  Sophokles  auch  in  iambischen  "Ver- 
sen, ebenso  Aeschylus  Ttori.  Dorismen  in  anapästischen  Versen  kommen  nicht 
häufig  vor. 

360)  Auch  im  Worlgebrauch  zeigt  sich  dies;  oxäaaa&ai,  ?.f;v,  TToraivtov 
und  andere  Dorismen  sind  nicht  selten,  anderes  ist  aus  örtlichen  Mundarten 
entlehnt. 

361)  Die  älteste  Tragödie  mag  dem  feierlichen  Stil  des  Epos  noch  ganz 
nahe  gestanden  haben,  wie  Aristot.  Rhet.  III  l  andeutet :  seitdem  man  den  tro- 
chäischen Tetrameter  mit  dem  iambischen  Trimeter  vertauschte,  habe  man  auch 
auf  die  Worte  verzichtet,  die  von  der  gewöhnlichen  Redeweise  allzu  sehr  sich 
entfernten  (öaa  naqu  tov  StäXexrov,  p.  1404  A  33);  die  ersten  Tragiker  hätten  den 
Redeprunk  angewandt,  auf  den  jetzt  bereits  das  Epos  verzichtet  habe.  Bei  Aeschy- 
lus werden  wir  übrigens  noch  überall  an  diese  ältere  Weise  erinnert,  und  auch 
später  schlugen  Einzelne  diesen  Ton  an.  Diese  tadelt  Aristoteles,  wenn  er  sagt, 
es  sei  verkehrt,  die  Epiker  nachzuahmen,  die  selbst  nicht  mehr  jener  Ausdrucks- 
weise sich  bedienten.  Seltene,  alterthümliche  Worte  {yhüaaai)  sind  das  Vorrecht 
des  epischen  Dichters;  der  dramatische  Dichter  zieht  im  iambischen  Vers  vor 
die  Metapher  als  Redeschmuck  zu  verwenden,  Aristot.  Rhet.  III  3  p.  1406  B  2  und 


104  KRITTE   PERIODE   V0>    500    BIS    300   V.  CHR.  G. 

schlägt  Euripides  ein,  der  an  Sicherheit  der  Formgehung  keinem 
nachsteht.  Euripides  schöpft  nicht  aus  dem  allerthümUchen  Sprach- 
schatze, sondern  wählt  aus  der  Redeweise  des  gewOhnhchen  Lehens 
aus,  was  der  Bildung  und  den  Bedürfnissen  der  Gegenwart  geniäfs 
ist.''*)  In  dem  hellen,  anmuthigen,  durchsichtigen  Stile  dieses  Dich- 
ters hat  der  Atticismus  den  reinsten  Ausdruck  gefunden.  Euripides, 
der  Zögling  der  Sophisten,  der  Meister  in  der  dialektischen  Kunst, 
versteht  mit  kluger  Berechnung  die  Mittel  der  Darstellung  auf  das 
V/irksamste  zu  handhaben.  Diese  leichte  Eleganz  und  Prücision, 
dieser  sanft  dahingleitende  Redeflufs  hat  etwas  Einschmeichelndes 
und  sagte  nicht  nur  dem  Geschmacke  der  Zeitgenossen  zu,  sondern 
ward  auch  für  seine  Nachfolger  IVorm  und  Gesetz.  Aeschylus  und 
Euripides  haben  jeder  einen  im  Ganzen  gleichmäfsigen  Stil,  so  ver- 
schieden auch  ihre  Art  ist.  Sophokles  hält  zwischen  diesen  entgegen- 
gesetzten Richtungen  eine  glückhche  Mitte,  indem  er  die  ideale 
poetische  Anschauung  mit  den  Anforderungen  der  realen  Wirklich- 
keit harmonisch  zu  verschmelzen  gewohnt  ist;  er  verschmäht  kein 
Mittel  der  Darstellung,  sucht  aber  alles  auf  das  richtige  Mafs  zurück- 
zuführen. Mit  Rücksicht  auf  den  Inhalt,  nach  der  Verschiedenheit 
der  redenden  Personen  wechselt  der  Stil,  der  für  Sophokles  ein 
höchst  wirksames  Mittel  der  Charakteristik  ist.  Daher  erscheint  die 
Schreibart  dieses  Tragikers  ungemein  mannigfaltig;  indem  sie  selbst 
leise  Nuancen  wiederzugeben  vermag  und  sich  immer  nach  Mafs- 
gabe  der  gestellten  Aufgabe  verwandelt,  zeigt  sie  den  gröfsten  Reicli- 
thum  eigenartiger  Wendungen  und  Ausdrücke.  Den  Stil  des  Aeschylus 
oder  Euripides  haben  viele  mit  mehr  oder  weniger  Erfolg  nach- 
gebildet, und  unter  den  Händen  der  Nachahmer  ward  die  Eigenthüm- 
lichkeit  der  Meister  leicht  zur  Manier;  die  Kunst  des  Sophokleischen 
Stils  war  für  jeden  anderen  unerreichbar.^") 

Poet.  22  p.  1459  A  11  ff.,  wo  er  hinzufügt:  iv  Si  toU  iafißeiote,  dia  to  ot« 
fiäXtaxn  Xi^iv  fjifieTad'ni,  Tuvra  ap/xcrrei  xwv  Ivofiajoir,  oaote  )cav  iy  löyo$e 
iii  xgTjaairo. 

362)  Aristoteles  Rhet.  1112  p.  1404  B  24f.:  xHinrerai  S'  et,  iäv  xie  tu 
rr,s  tloid'viai  SiaXi'xtov  ixXdyav  owrt&f,,  onsf  EvQtjtiSijs  noul  nai  vnsdat^e 
Tt^cüxos. 

363)  Datier  bezielien  sich  auch  die  Parodien  der  Komödie  vorzugsweise 
auf  Aeschylus  und  Euripides  (das  Paliios  des  einen,  die  Rhetorik  des  anderen 
forderten  unwillkürlich  dazu  auf),  während  Sophokleische  Verse  nur  selten  zu 
diesem  Zwecke  benutzt  werden. 


DIE    DRAMATISCHE   POESIE.      EINLEITUNG.  105 

Wie  die  Komödie  ihren  Stoff  unmittelbar  aus  dem  Leben  nimmt, 
so  ist  auch  ihre  Sprache  von  der  Redeweise  im  gewöhnhchen  Ver- 
kehr nicht  wesentlich  verschieden.  Die  Komödie  zeigt  überall  eine 
locale  Färbung.  Die  Lustspiele  des  Epicharmus  sind  in  syrakusani- 
schem  Dialekt,  die  Possen  des  Rbintho  in  tarentinischer  Mundart 
geschrieben ;  der  attischen  Komödie  liegt  die  Atthis  zu  Grunde.  Das 
Volksmäfsige  hat  in  der  Komödie  vorzugsweise  seine  Stelle;  je  mehr 
die  Sprache  des  Dichters  an  die  populäre  Weise  erinnert,  desto  mehr 
sagt  sie  der  Menge  zu,  die  sich  hier  heimisch  fühlt.  Aber  die  Dar- 
stellung der  älteren  attischen  Komödie  ist  nichts  weniger  als  ein- 
förmig, sondern  zeichnet  sich  durch  grolse  Mannigfaltigkeit  aus.  Die 
melischen  Partien  verlangen  reicheren  Schmuck  der  Rede ;  Dorismen, 
obwohl  mit  3Iäfsigung  angewandt,  befördern  den  Wohllaut.^®^)  Dann 
aber  haben  diese  Dichter  nicht  selten  die  verschiedenen  Stilarten 
der  epischen,  lyrischen  oder  tragischen  Poesie  mit  Glück  nachgebil- 
det.^*) Ebenso  gehört  es  zur  Charakteristik,  dafs  die  Angehörigen 
anderer  Stämme,  die  in  der  Komödie  auftreten,  sich  ihrer  heimischen 
Mundart  bedienten^®);  selbst  die  stammelnde  incorrekte  Rede  der 
Rarbaren  wird  nachgeahmt.^^^) 

Da  die  hterarische  Ausbildung  der  Komödie  später  beginnt  und 
sie  vielfach  dem  Vorgange  der  Tragödie  sich  anschliefst,  so  hat  auch 
der  Stil  des  Lustspiels  ähnhche  Wandelungen  erfahren.  Kratinus, 
der  Schöpfer  des  kunstgerechten  Lustspiels,  hält  sich  auf  einer  ge- 
wissen Höhe ;  auch  die  sprachhche  Form  harmonirt  mit  dem  idealen 
Zuge,  der  seiner  Poesie  eigen  war.  Seine  Nachfolger  ermäfsigen  die 
kraftvolle  Energie,   die  Fülle   des  poetischen  Rilderschmuckes   und 

364)  Epische  Formen  kommen  auch  in  der  Komödie  vereinzelt  in  ana- 
päslischen  Versen  vor,  dann  hauptsächlich,  wo  der  Ton  der  Orakelpoesie  oder 
des  Epos  parodirt  wird. 

365)  Häufig  zu  parodischen  Zwecken ,  aber  man  darf  nicht  jede  Nach- 
bildung aus  diesem  Gesichtspunkte  betrachten. 

366)  Bei  Aristophanes  reden  Lakonier,  Megarenser,  Böoter  in  ihrer  land- 
schaftlichen Mundart. 

367)  Wie  in  den  Thesmophoriazusen  des  Aristophanes  das  halb  barba- 
rische Griechisch  des  skythischen  Polizeisoldaten.  Aber  auch  zur  Charakteri- 
stik des  Persers  in  den  Acharnern,  des  Triballers  in  den  Vögeln  wird  das  fremde 
Idiom  benutzt.  Ileoi  xatficoSiai  X  d  7  p.  XXVII :  Sei  lov  xtoficoSonoiov  T^r  nä- 
iQiov  avxov  yXwaaav  roTs  TiQOOumots  Tte^trid'evat ,  tt^v  Se  iTttxcöoiov  av  r^ 
|tV<j>  [avrüi  ixeiv<ff  Dübner].  Der  punisch  redende  Karthager  bei  Plautus  gehört 
wohl  dem  römischen  Dichter,  nicht  dem  Original  an. 


106  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

nähern  sich  mehr  und  mehr  der  Sprache  des  gewöhnHchen  Lebens; 
besonders  Arislophanes  wetteifert  mit  Euripides  in  leichter,  geschmei- 
diger Rede.  Die  mittlere  Komödie  macht  zwar  den  Versuch,  einen 
höheren  Ton  anzuschlagen.^*'*}  Für  die  mythologischen  Stoffe,  die 
man  jetzt  mit  Voriiebe  behandelt,  war  eine  gewähltere  Ausdrucks- 
weise, der  feierliche  Pomp  der  Tragödie  nicht  unangemessen;  be- 
sonders einzelne  Dichter,  wie  Eubulus  und  Anaxandrides,  gefallen 
sich  in  diesem  tragischen  Stile.  Aber  man  lenkt  bald  wieder  in  das 
hergebrachte  Gleis  ein,  und  die  Sprache  der  neueren  Komödie  ist 
durchgehends  nüchtern,  farblos,  verwaschen. ^'^) 
Die  metri-  Das  griechische  Drama,  wie  es  aus  künstlerischem  Triebe  ent- 

sprungen ist,  hält  auch  die  Form  der  gebundenen  Rede  alle  Zeit 
fest.  Nicht  einmal  die  neuere  Komödie,  die  mitten  im  alltäghchen 
Leben  steht  und  die  Richtung  auf  das  Natürhche  mit  Entschieden- 
heit verfolgt,  hat  die  metrische  Form  gegen  die  prosaische  ver- 
tauscht. Nur  die  alte  Komödie  nimmt  sich  zuweilen  diese  Freiheit, 
wenn  sie  Gebete  an  die  Götter,  öffentliche  Urkunden,  und  was  sonst 
an  berkömmhche  Formeln  gebunden  ist,  einflicht  ^"j,  obwohl  sonst 
Mischung  von  Versen  und  ungebundene  Rede  innerhalb  desselben 
Werkes  dem  Charakter  der  griechischen  Kunst  widerstrebt,  da  sie 
sorgsam  auf  Reinheit  der  Form,  auf  Sonderung  der  Stilgattungen 
hält.  Auch  darf  man  in  jenem  Einmischen  der  Prosa  kein  dich- 
terisches Unvermögen  erblicken,  sondern  der  Komiker  bildet  eben 
alles  täuschend  der  Wirklichkeit  nach.    Der  rechte  Eindruck   wäre 


sehe  Form. 


368)  In  Arislophanes  Plutos  515:  nagnov  Jr^ovs  d-eQiaaa&ai.  bemerkt  der 
Scholiast:  TjSti  ro  k'nos  rovro  rfje  (liarji  xiofitf/Siai  o^e«. 

369)  IleQi  xü)jU(i>Siasl\a  14:  SiaXexrco  Si  (Siafe'^ovatr),  xa&o  fj  fisv  via 
10  aatpiarsQov  ^ox^>  "^fl  *'*'?  ''^W?,"*'''?  'y^i^'Si,  tj  Se  naXaia  ro  Seit'ov  xnl 
vxpT}X6v  rov  Xöyov ,   iviore  Si  xai  intrijSavovaa  Xi^eie  riväe.    Vgl.  V  1. 

370)  So  bewegt  sich  das  Gebet  bei  Arislophanes  Vögel  865  ganz  in  den  her- 
kömmlichen Formeln.  Ebendaselbst  1035  ff.  wird  der  allische  Kanzleistil  gleich- 
sam parodirl;  auch  der  Friedensvertrag  zwischen  den  Menschen  und  Fischen 
bei  dem  Komiker  Archippus  V;fd'vs  fr.  2,  Com.  11  2,  719  war  in  ungebundener 
Rede  abgefafst.  Dagegen  hat  Arislophanes  Tlicsmoph.  331  das  Gebet,  womit 
man  in  Athen  die  Volksversammlung  zu  eröffnen  pflegte,  in  iambischen  Tri- 
melern  frei  nachgebildet.  Wenn  bei  den  Tragikern  öfter  einzelne  Worte,  beson- 
ders Interjectionen,  aufserhalb  des  Verses  zu  stehen  scheinen,  wie  7lana^,  tl 
tpjii  av,  Id  &eoi,  so  isl  doch  meist  ein  beslimmlor  Hhythnnis  zu  erkennen, 
und   das  Ebenmafs  wird  nicht  gestört;  vgl.  Mar.  Victor  II  3,  30.  VI  T^K. 


DIE    DRAMATISCHE   POESIE.      EINLEITOG.  107 

leicht  verloren  gegangen,   hätte  man  auch  hier  die  metrische  Fas- 
sung durchgeführt. 

Von  richtigem  Gefühl  geleitet,  hat  das  griechische  Drama  sich  Der  iambi- 
für  den  Dialog  und  die  eigentlich  dramatischen  Partien  das  iam-*  ter. 
bische  Versmafs  gewählt,  weil  dasselbe  von  der  gewöhnlichen  Rede- 
weise und  der  ^Yirklichkeit  des  Lebens  sich  am  wenigsten  entfernt. 
Die  Schlichtheit  und  knappe  Form  des  sechsfüfsigen  lanibus  eignet 
sich  besser  für  die  gedrängte  Kürze  der  Darstellung,  als  die  beweg- 
teren und  anspruchsvolleren  Langverse.  So  sondern  sich  die  Reden 
der  handelnden  Personen  bestimmt  von  dem  mannigfaUigen  und 
kunstreichen  Bau  der  lyrischen  Partien  ab,  und  doch  ist  der  Dialog 
den  Gesetzen  der  Kunst  geraäfs  rhythmisch  geghedert.  Die  älteste 
Tragödie  hatte  neben  meüschen  Versen  sich  des  trochäischen  Tetra- 
meters bedient,  aber  schon  durch  Thespis  ward  der  iambische  Tri- 
meter  eingeführt  und  gelangt,  je  reiner  und  selbständiger  sich  das 
dramatische  Element  neben  dem  lyrischen  ausbildet,  immer  mehr 
zur  Herrschaft.  Das  Satyrspiel  mufs  sich  diesem  Vorgange  alsbald 
angeschlossen  haben.  Aber  noch  früher  ist  der  sechsfüfsige  lambus, 
der  von  Anfang  an  dem  Spott  und  Hohne  dienstbar  war,  im  Lust- 
spiel zur  Geltung  gekommen.  Schon  den  ersten  Versuchen  der 
attischen  Komödie  war  dieser  Vers  geläufig,  aber  daneben  machte 
man  auch  von  anderen  altherkömmlichen  Formen  Gebrauch.  Die 
Komödie  ist  aus  den  Processionshedern  der  Phallophoren  hervor- 
gegangen. Der  iambische  katalektische  Tetrameter,  ein  in  volks- 
mäfsigen  heiteren  Tanzweisen  behebtes  Mafs,  und  ebenso  der  anapä- 
stische Langvers,  der  Rhythmus  der  Marsch-  und  KriegsUeder,  waren 
für  die  muthwilhge  Laune  des  Lustspiels  wie  geschaffen.  Beide  Vers- 
arten sind  der  Komödie  als  ausschhefshcher  Besitz  verblieben ;  für 
den  ruhigen  Ernst  und  würdevollen  Ton  der  Tragödie  waren  diese 
Formen,  denen  ein  ganz  anderer  Charakter  aufgeprägt  ist,  ungeeig- 
net. Wohl  aber  ist  der  trochäische  Langvers  gemeinsames  Eigen- 
thum  beider  Gattungen.  Dieser  leicht  bewegüche  Rhythmus  schickt 
sich  recht  gut  für  das  Lustspiel ,  daher  auch  die  Komödie  der  Sike- 
lioten  den  trochäischen  und  daneben  den  anapästischeo  Langvers 
dem  schlichten  lambus  entschieden  vorzog. 

Der  iambische  Trimeter  ist  der  IS'ormalvers  fiir  alle  Gattungen 
des  Dramas;  nur  erftihrt  er  immer  eine  dem  Charakter  der  Gattung 
entsprechende  Behandlung.  Der  tragische  Trimeter  kommt  der  Sauber- 


108  DRITTE   PERIODE    VON    500    BIS    300   V.  CHR.  G. 

keit,  mit  welcher  Archilochus  diesen  Vers  ausarbeitete,  am  nächsteo, 
übeitrifTt  aber  sein  Vorbild  durch  eine  mehr  gemessene,  würdevolle 
Haltung;  die  meisten  Freiheiten  nimmt  sich  die  Komödie,  während 
das  Satyrdrama  die  Mitte  hält.  Archilochus  und  die  lambographen, 
die  mügHchst  auf  Reinheit  der  Form  halten,  mäfsigen  zwar  durch 
eingemischte  Spondeen  den  raschen  Gang  der  Trimeter,  vermeiden 
aber  sichthch  die  Auflösung  langer  Silben.  Gerade  in  diesem  Punkte 
tritt  der  Unterschied  der  Stilarten  der  dramatischen  Poesie  recht 
augenfällig  hervor.  Die  Tragödie  macht,  wie  sich  gebührt,  von  die- 
ser Freiheit  einen  weit  mafsvoUeren  Gebrauch,  als  das  Satyrspiel 
und  die  Komödie.  Aber  in  der  Tragödie  selbst  vollzieht  sich  ein 
merkwürdiger  Wandel ;  im  Verlaufe  der  Zeit  werden  die  Verse  immer 
bewegter,  indem  man  von  der  früher  geübten  Strenge  sich  lossagt, 
lag  die  Gefahr  nahe,  in  ein  lässiges,  zerfahrenes  Wesen  zu  verfallen, 
wenn  man  nicht  später  wieder  eingelenkt  hätte.  Zunächst  gestat- 
tete man  sich  die  Auflösung  langer  Silben  hauptsächhch  in  der 
dritten  oder  vierten  Stelle,  je  nachdem  die  Cäsur  den  einen  oder 
den  anderen  Fufs  thcilte,  um  so  ganz  schicklich  den  Anfang  eines 
neuen  Abschnittes  zu  markiren.^^')  Alhnählich  geht  man  weiter,  um 
in  den  einförmigen  Rhythmus  des  Verses  möghchst  Abwechselung  zu 
bringen.  Aeschylus  als  der  älteste  unter  den  drei  Tragikern  wahrt 
verhältnifsmäfsig  am  sorgfältigsten  die  Strenge  der  alten  Technik"*), 
aber  man  erkennt  bereits,  wie  die  freiere  Rehandlung  um  sich 
greift,  namentlich  in  den  jüngeren  Stücken."')    Noch  bedeutendere 


371)  Wie  die  Cäsur  viel  häufiger  im  dritten  als  im  vierten  Fufse  vor- 
kommt, so  verhält  es  sich  auch  mit  den  Auflösungen.  In  der  Komödie  ist  die 
Cäsur  nicht  mafsgebend,  und  zwar  finden  sich  bei  Aristophanes  gerade  im  vier- 
ten Fufse  besonders  zahlreiche  Auflösungen. 

372)  Aeschylus  beobä'chtet  meist  die  regelrechten  Cäsuren.  Sophokles  be- 
handelt den  Vers  mit  gröfserer  Freiheit,  aber  doch  nicht  ohne  Kunst.  Aeschy- 
lus liebt  es,  den  Gedanken  mit  dem  Ende  des  Verses  abzuschliefsen ,  wie  er 
auch  noch  den  Vers  unter  zwei  Personen  zu  vertheilen  meidet,  und  deshalb 
ist  er  wohl  auch  genöthigt,  hier  und  da  ein  sonst  entbehrliches  Wort  einzu- 
schalten. Euripides  bei  Aristophanes  Frösche  1178  macht  dem  Tragiker  den 
Gebrauch  solcher  Füllworte  (aroißai)  ausdrücklich  zum  Vorwurf,  aber  auch  die 
anderen  Tragiker  bieten  dafür  Belege:  namentlich  das  Gesetz  der  Stichomythie 
war  darauf  nicht  ohne  Einflufs. 

373)  Aeschylus  vermeidet  den  Anapäst  im  ersten  Fufse  des  Trimeters.  In 
den  älteren  Stücken  weichen  nur  die  Perser  ab,  wo  die  Eigennamen  diese 
Freiheit  genügend   rechtfertigen ;  «ahlreiche  Beispiele  finden   sich  dagegen  im 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.      EINLEITUNG.  109 

Unterschiede  treten  bei  Sophokles  hervor,  was  nicht  auffallen  kann, 
da  die  erhaltenen  sieben  Dramen  dieses  Dichters  sehr  verschiedenen 
Zeiten  angehören.  Der  Elektra,  wo  sich  die  wenigsten  Auflösungen 
finden,  steht  die  Antigone  am  nächsten;  der  Ajas,  die  Trachinierin- 
nen  und  König  Oedipus  bekunden  eine  erhebliche  Zunahme;  der 
Philoktet  (aufgeführt  Ol.  92,  3)  zeigt  eine  Freiheit,  die  der  des  Euri- 
pides  in  jener  Periode  ziemhch  nahe  kommt,  während  die  letzte 
Arbeit  des  Dichters,  der  Oedipus  auf  Kolonos,  wieder  gröfsere  Sorg- 
falt verräth  und  mit  den  Trachinierinnen  ungefähr  auf  gleicher  Li- 
nie steht.  Man  sieht  daraus,  dafs  die  gröfsere  oder  geringere  Anzahl 
der  Auflösungen  nicht  entscheidend  ist,  um  danach  allein  die  Zeit 
der  Abfassung  einer  Tragödie  festzustellen. 

Euripides  macht  ursprünglich  von  jener  Freiheit  nur  mit  Mäfsi- 
gung  Gebrauch,  wie  die  älteren  Arbeiten,  Alkestis,  Medea,  Hippo- 
lytus,  Hecuba,  Herakhden,  beweisen."*)  Allein  seit  Ol.  90  nimmt  man 
ein  entschiedenes  Nachlassen  von  der  früheren  Strenge  wahr.  Die- 
ser Wandel  vollzieht  sich,  so  viel  wir  urtheilen  können,  nicht  all- 
mählich, sondern  tritt  plötzlich  ein.  Auch  darf  man  darin  keine 
ausschliefsliche  EigenthümUchkeit  des  Euripides  finden,  der  nur  zu- 
erst die  Bande  lockerte;  denn  auch  die  anderen  gleichzeitigen  Tra- 
giker, wie  Sophokles  und  Agathon,  schhefsen  sich  der  neuen  Praxis 
an,  obwohl  keiner  so  weit  gegangen  sein  dürfte,  als  eben  Euripides. 
Es  ist  gewifs  nicht  zufällig,  dafs  gerade  gleichzeitig  mit  dem  Frieden 
des  Nikias,  Ol.  S9,  4,  der  die  gehoffte  Ruhe  nicht  brachte,  sondern 
die  allgemeine  Verwirrung  nur  steigerte,  auch  die  Tragödie  mehr 
und  mehr  ihre  ideale  Würde  und  Ruhe  aufgiebt  und  einen  ent- 
schieden leidenschaftlich  erregten  Charakter  annimmt.  Die  Poesie 
ist  eben  das  Abbild  ihrer  Zeit.  Der  Geist  und  die  Gesinnung  des 
Volkes  spiegelt  sich  unwillkürlich  in  den  literarischen  Erzeugnissen 

Prometheus  und  Agamemnon,  während  die  beiden  anderen  Dramen  dieser  Tri- 
logie  nur  wenige  Beispiele  darbieten.  Auch  Sophokles  beobachtet  diese  Mäfsi- 
gung;  in  der  Antigone  findet  sich  gar  kein  Anapäst  an  dieser  Stelle,  desto  mehr 
im  Philoktet.  Bei  Euripides  dagegen  wird  von  dieser  Freiheit  in  immer  aus- 
gedehnterem Mafse  Gebrauch  gemacht;  die  wenigsten  Belege  bieten  Alkestis, 
Hippolytus,  Medea  und  Herakliden,  denn  der  Rhesus,  der  gleiche  Strenge  zeigt, 
ist  kein  Werk  des  Euripides. 

374)  Auch  hier  ist  die  Zahl  der  Auflösungen  nicht  mafsgebend.  Im  Hippo- 
lytus (aufgeführt  Ol.  87,  4)  finden  sich  weniger  Abweichungen  von  der  strengen 
Technik  als  in  der  Medea,  die  Ol.  87, 1  gegeben  wurde. 


110  UUITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300    V.  CUR.  G. 

wieder,  und  ganz  naturgemäfs  giebt  sich  der  veränderte  Ton  der 
Tragödie  auch  in  der  Auflösung  der  rhythmischen  Gebundenheit 
kund.  Aber  noch  eine  andere  Ursache  wirkte  mit.  Die  Unruhe  der 
Zeit  war  der  dichterischen  Production  nicht  günstig.  Früher  hatte 
es  nie  an  zahheichen  Mitbewerbern  gefehlt,  jetzt  wurde  die  Thätig- 
keit  der  älteren  Dichter  in  erhöhtem  Mafse  in  Anspruch  genommen. 
Man  hatte  nicht  mehr  Zeil,  sein  Werk  langsam  zu  feilen,  und  ge- 
wohnte sich  an  rasches  Arbeiten ;  so  trägt  auch  die  metrische  Form 
die  Spuren  dieser  Eilfertigkeit  an  sich.  Diese  laxe  Praxis  nimmt 
immer  grofsere  Verhältnisse  an.  Den  Höhepunkt  stellt  der  Orestes 
des  Euripides  dar,  wo  der  tragische  Trimeter  sein  gemessenes  Wesen 
fast  ganz  cingebüfst  hat,  während  die  Verse  in  den  Bacchen,  obwohl 
nicht  tadellos,  doch  weniger  Auflösungen  zeigen."*)  Nach  dem  pelo- 
ponnesischen  Kriege  tritt  ein  Umschlag  ein.  Der  Bau  der  Verse  wird 
wieder  sorgfältiger;  vor  allem  zeichnet  sich  Moschion  durch  beson- 
dere Strenge  aus"^),  und  dasselbe  gilt  von  den  Alexandrinern;  nur 
im  Satyrdrama  hat  man  sich  alle  Zeit  mehr  Freiheit  gestattet. 

Auch  im  Dialog  der  Komödie  ist  der  iambische  Trimeter  das 
übliche  Versmafs,  und  die  lässigere  Behandlung  des  Metrums  har- 
monirt  hier  mit  dem  Charakter  der  Gattung.*'^  Aber  die  Verse  in 
der  alten  Komödie  unterscheiden  sich  nicht  nur  durch  leichten  Flufs, 
sondern  auch  durch  eine  gewisse  kräftige  Energie  vortheilhaft  vor 
dem  zerfahrenen  Wesen  der  neueren  Komödie."^)    Dann  treten  ge- 


375)  Man  sieht  auch  hier,  wie  die  grofsere  oder  geringere  Nachlässigkeit 
kein  untrügliches  Kriterium  für  die  Zeitbestimmung  ist.  Dramen  derselben  Te- 
tralogie mochten  in  diesem  Punkte  differiren:  die  Bacchen  und  die  Iphigeneia 
in  Aulis  gehören  zu  derselben  tetralogischen  Composition ;  doch  ist  gerade  hier 
eine  Vergleichung  -unstatthaft,  da  die  letztere  Tragödie  nicht  in  ihrer  ursprüng- 
lichen Gestalt  überliefert  ist. 

376)  Den  Theodektes  darf  man  nicht  nach  den  Versen  bei  Athen.  X454E 
beurtheilen. 

377)  Die  Tragödie  sorgt  dafür,  dafs  in  aufgelösten  Versfüfsen  wo  mög- 
lich Wortaccent  und  metrischer  Iclus  übereinstimmen  (nur  im  ersten  Fufse,  der 
alle  Zeit  gewisse  Freiheit  geniefst,  nimmt  man  es  nicht  so  genau,  und  in  der 
jüngeren  Tragödie  ist  man  auch  an  anderen  Stellen  darauf  minder  achtsam). 
Die  Komödie  ist  um  diese  Harmonie  ziemlich  unbekümmert,  doch  ist  man  auch 
hier  bemüht,  auffallende  Härten  zu  vermeiden. 

378)  So  pflegen  die  Dichter  der  neueren  Komödie  einsilbige  Worte  un- 
bedenklich im  Ausgange  des  Verses  zu  gebrauchen,  wie  xat;  gegen  die  l'elxT- 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.      El>LEITL>G.  111 

rade  auch  im  Versbau  der  komischen  Dichter  individuelle  Verschie- 
denheiten hervor,  auf  die  man  bisher  wenig  geachtet  hat. 

Der  iambische  katalektische  Tetrameter,  eine  in  volksmäfsigen  Der  iambi- 
Liedern,  besonders  Tanzweisen  sehr  beliebte  Form,  eignet  sich  mit  meter. 
seinem  kecken,  leichtfertigen  Wesen  so  recht  für  die  Komüdie,  wäh- 
rend er  von  der  Tragödie  gerade  so  wie  der  anapästische  Langvers 
ausgeschlossen  ist.  In  der  alten  Komödie  nimmt  er  eine  bevorzugte 
Stelle  ein.^^)  So  bedient  sich  der  Chor  sowohl  bei  seinem  Einzüge 
als  auch  bei  seinem  Abgange  öfter  dieses  Verses,  aber  auch  im 
Dialog  wird  er  verwendet,  besonders  wo  eine  lebhaft  erregte  Debatte 
stattfindet.  Auch  in  den  Ueberresten  der  Lustspiele  aus  der  mittle- 
ren Periode  können  wir  den  iambischen  Langvers  nachweisen.  Ebenso 
mag  er  der  neueren  Komödie  nicht  fremd  gewesen  sein ;  wenigstens 
machen  die  römischen  Komiker  davon  ausgedehnten  Gebrauch. 

Der  trochäische  Tetrameter  war  in  der  ältesten  Tragödie  dasDer  «rochäi- 
gebräuchhchste  Mafs.  Für  jene  3Iaskenspiele,  wo  das  satyrhafte  und  meter. 
das  tragische  Element  noch  friedlich  neben  einander  bestanden,  war 
dieser  beweghche  Vers  wohl  geeignet.^**')  Indem  durch  Thespis  sich 
das  Dramatische  selbständiger  entwickelte  und  der  iambische  Tri- 
raeter  aufliam,  ward  der  Gebrauch  der  Trochäen  mehr  und  mehr 
beschränkt;  doch  mag  Aeschylus  in  seinen  älteren  Arbeiten  dies 
Versmafs  noch  häufig  angewandt  haben,  wie  die  Perser  zeigen.^") 
In  der  nächsten  Zeit  verschwindet  es  fast  vollständig  und  behauptet 
sich  nur  noch  zuweilen  in  Schlufspartien.^*^)  Erst  seit  Ol.  90,  wo 
die  Tragödie  einen  weit  leidenschaftlicheren  Charakter  annimmt,  ge- 
winnt der  trochäische  Langvers  wieder  Boden.  Jetzt  finden  wir  das 
Metrum  nicht  nur  am  Schlufs,  sondern  häufig  auch  mitten  im  Drama 
gebraucht,  wo  das  Pathos  sich  steigert  und  der  aufgeregte  Ton  der 


einstimmung  zwischen  der  Satzgliederung  nnd  der  rhythmischen  Bewegung  des 
Verses  war  man  fast  gleichgültig. 

379)  Aristophanes  hat  vielleicht  zuerst  dieses  Metrum  im  Lustspiele  beson- 
ders cultivirt;  daher  nennen  die  alten  Metriker  den  Vers  fiixQov  ''A^taxotpä- 
veiov. 

380)  Aristot.  Rhet,  III  8  p.  1408  B  36  ff.:  6  8e  xQOxaios  M^Saxixcoreooi- 
oj;/ot  08  ta  itiQaftETQa'  iari  yuQ  TQOxeooi  Qv&/iös  [ra  rer^afteToa]. 

381)  Aeschylus  Pers.  155—175  und  215—248,  wälirend  zur  Erzählung 
des  Traumgesichtes  der  Trimeter  verwandt  wird,  dann  697 — 758  das  Gespräch 
des  Dareios  und  der  Atossa,  was  nachher  ebenfalls  zum  Trimeter  übergeht. 

382)  Aeschylus'  Agamemnon,  Sophokles'  Oedipus  Tyrannus. 


112  DRITTE    PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Rede  den  entsprechenden  rhythmischen  Ausdruck  verlangt.^")  Kicht 
minder  pafst  der  trochäische  Tetrameter  wegen  seines  frischen,  leben- 
digen Wesens  für  das  Lustspiel,  wie  ja  schon  Archilochus,  in  mehr 
als  einer  Hinsicht  der  Vorläufer  der  Komödie,  in  seinen  Spottliedern 
dies  Versmafs  mit  Vorliebe  gebraucht  hatte.  Epicharmus  und  wahr- 
scheinlich auch  die  anderen  sicilischen  Komiker  haben  diesen  Vers 
ungemein  häufig  angewandt,  so  dafs  der  iambische  Trimeter  sich 
hier  mit  einer  untergeordneten  Stelle  begnügen  mufste.  In  der 
älteren  attischen  Komödie,  namentlich  bei  Aristophanes,  wird  der 
trochäische  Langvers  häufig  in  der  Parodos  gebraucht,  wo  der  leichte, 
bewegliche  Rhythmus  schicklich  den  Einzug  des  Chores  auf  die  Or- 
chestra  begleitet.^^)  Aber  auch  in  den  darauf  folgenden  Scenen  wird 
öfter  dies  Versmafs  beibehalten ;  dann  findet  es  sich  regelmäfsig  in 
dem  Epirrhema  und  Antepirrhema  der  Parodos.  Die  mittlere  und 
neuere  Komödie  verwendet  gleichfalls  dieses  Versmafs,  besonders  in 
Monologen,  wo  anschauhche  Sittengemälde  mit  lebendiger  Mimik 
vorgetragen  wurden.^**) 
Anapästen.  Anapästische  Dimeter,  von  denen    bald  mehr,  bald  weniger  zu 

einer   festgeschlossenen  Gruppe  verbunden   werden^®'),   sind  ein  in 


383)  Hermogenes  Tte^t  iSeöjv  II  1  HI  302  Walz  empfiehlt  den  trochäischen 
Rhythmus  für  den  yoQyoe  Xoyos:  xai  roirov  ye  rsxfiriQia  ivaoyri  TioXXa.  ix 
T^ä  roayc^Siae,  iv&a  iTteiysffd'ai  6  Xeyeov  Soxel,  rgoxal'xdJs  awred'evxa  xal 
Tia^a  T<j5  MepävS^t^  ....  XQexet  yaq  üJs  ovtoie  ip  xovxois  o  Qv&fios.  So  geht 
in  den  Phönissen  des  Euripides  der  Streit  der  feindlichen  Brüder  zum  Schlufs 
V.  588  vom  Trimeter  zum  Telrameter  über.  Im  Orestes  kommt  Pylades  eilen- 
den Laufes  herbei,  und  das  aufgeregte  Zwiegespräch  mit  Orestes  (728—806) 
besteht  aus  trochäischen  Langzeilen.  Auch  Sophokles  gebraucht  es  wieder  in 
seinen  jüngeren  Arbeiten,  dem  Philoktet  und  Oedipus  auf  Kolonos  (doch  nur 
wenige  Verse). 

384)  Schol.  Aristoph.  Ach.  204:  ydy^anxat  Sa  xo  fis'xQoy  XQOxnl'xov,  itQoa- 
(pOQOv  xr]  X(öv  Sicoxövxcov  yeqövxcov  anovSfj.  xavxa  8e  TtoieTv  eiiö9a<jtv  oi 
Xiöv  Boafiäxtav  nonftai  xat/nxol  xnl  xQnytxoi,  ineiSav  S^Ofiaitos  etoaytaai 
xoi/S  xooove,  'iva  o  koyoe  avvx^exi]  xi^  S^äfiaxt  (n ^äy uax i). 

385)  Ein  weiteres  Gebiet  war  dieser  Versart  im  römischen  Lustspiele  ein- 
geräumt, wie  überhaupt  im  römischen  Drama  Langverse  entschieden  bevorzugt 
waren.  Auch  die  Tragiker  suchen  dadurch  das  Feierliche,  Gemessene  der  Dar- 
stellung zu  erhöhen. 

3S6)  In  der  Tragödie  haben  die  Systeme  weniger  Umfang;  umfangreichere 
Perikopen,  die  natürlich  nicht  in  einem  Athem  vorgetragen  werden  konnten, 
finden  sich  nur  in  der  Komödie,  wie  Aristoph.  Wolken  8S9  (62  Verse,  wohl 
eher  zwei  Systeme). 


DIE    DRAMATISCHE   POESIE.      EINLEITUNG.  113 

der  Tragödie  besonders  beliebtes  Versmafs.^^)  Oft  genügt  ein  solches 
System,  nicht  selten  folgen  mehrere  auf  einander.  Zumal  die  ältere 
Tragödie  pflegt  gemäfs  ihrer  VorHebe  für  feierhche  Würde  diesen 
anapästischen  Partien  eine  grofse  Ausdehnung  zu  geben.  Ursprüng- 
lich gebrauchte  wohl  nur  der  Chor  solche  Verse ;  später  werden  sie 
auch  den  handelnden  Personen  zugetheilt.^*^)  Der  Anapäst  ist  ein 
Marschrhythmus;  er  eignet  sich  daher  vor  allem,  um  den  Einzug  und 
Abzug  des  Chores  zu  begleiten.  Bei  Aeschylus  pflegt  der  Koryphäus 
die  Parodos  mit  anapästischen  Systemen  einzuleiten;  der  abziehende 
Chor  bedient  sich  später  regelmäfsig  dieses  Metrums.  Ebenso  wird 
das  Auf-  und  Abtreten  der  Schauspieler  durch  den  Chor  in  Ana- 
pästen angekündigt.^^)  Wenn  eine  Gottheit  oder  eine  dem  Chor  un- 
bekannte Persönhchkeit  auftritt,  führt  sie  sich  selbst  durch  ein  ana- 
pästisches System  ein.  Eigenthümlich  ist,  dafs  öfter,  besonders  in 
der  Parodos,  melische  Strophen  mit  anapästischen  Systemen  abwech- 
seln, welche  ebenfalls  dem  Chore  oder  einer  Bühnenögur  gehören.^ 
Die  freien  Anapästen  haben  hauptsächlich  in  Klagehedern  ihre  Stelle ; 
sie  stammen  offenbar  aus  volksmäfsiger  Poesie,  waren  seit  Alters, 
wenn  auch  nicht  in  der  eigentlichen  Todtenklage,  doch  beim  Leichen- 
zuge üblich.*") 


38")  Diese  Systeme,  aus  Dimetern  gebildet,  die  der  dramatischen  Poesie 
eigen  sind,  haben  ihr  Vorbild  vielleicht  in  dem  Heroldsrufe  zu  Olympia  und 
sind  daher  für  den  Koryphäus  des  Chores  ganz  angemessen.  Hier  ist  wohl 
zuerst  die  Freiheit  aufgekommen,  den  Anapästen  mit  dem  Daktylus  zu  ver- 
tauschen, die  zunächst  auf  die  erste  und  dritte  Stelle  (die  rechten  Füfse)  be- 
schränkt war,  s,  Diomedes  in  27, 1  505  K.  Der  Einschnitt  in  der  Mitte  wird  bald 
mehr,  bald  minder  sorgfältig  beobachtet;  Euripides  nimmt  es  in  den  strengen 
Systemen  damit  sehr  gewissenhaft. 

388)  Ein  Zwiegespräch  in  Anapästen  findet  sieb  in  der  Iphigeneia  in  Aulis 
bei  Euripides.  Auch  im  Wechselgespräch  zwischen  den  Schauspielern  und  dem 
Chore  werden  solche  anapästische  Systeme  verwandt. 

389)  Sophokles  und  Euripides  pflegen  nur  in  den  älteren  Stücken  das 
Abtreten  der  Schauspieler  so  vorzubereiten. 

390)  Dieser  Gegensatz  zwischen  dem  gleichnamigen  Rhythmus  der  Ana- 
pästen und  dem  reichen  Wechsel  der  melischen  Verse  ist  sehr  wirksam.  Aeschy- 
lus macht  von  dieser  Verbindung  in  der  Orestie  und  im  Prometheus  Gebrauch, 
Euripides  hauptsächlich  in  seinen  älteren  Stücken,  Sophokles  auch  noch  im 
Philoktet  V.  135  und  im  Oedipus  auf  Kolonos. 

391)  Auch  in  Rom  werden  anapästische  Verse  zu  Trauergesängen  {iiae- 
niae)  verwendet,  Seneca  Apocoloc.  c.  12. 

Bergk,  Griecb.  Literaturgeschichte  III.  8 


114  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Der  Komödie  eigenthümlich  ist  der  anapästische  Telraineter,  der 
ebenso  wenig  wie  der  iambische  Tetrameter  Eingang  in  die  Tragö- 
die gefunden  hat.^®*)  Wir  begegnen  dieser  Versform  nicht  nur  in 
den  spartanischen  Marsch-  und  Kriegshedern,  sondern  auch  in  den 
ersten  Versuchen  der  skoptischen  Chorpoesie  bei  Aristoxenus  von 
SeUnunt.  In  den  Processionshedern  der  Phallussänger,  wenn  der 
Chor  seine  Angriffe  nach  allen  Seiten  hin  richtete  und  die  Thor- 
heiten  der  Menschen  geifselte,  hatte  dieses  Versmafs  seine  Stelle;  von 
da  kam  es  in  die  sicilische^^^),  wie  in  die  attische  Komödie,  daher 
das  Hauptstück  der  Parabase,  die  noch  am  meisten  an  die  Anfänge 
des  volksthilmlichen  Lustspiels  erinnert,  in  der  Regel  in  anapästi- 
schen Tetrameiern  gedichtet  ist.  Dann  wird  es  besonders  in  Scenen 
verwendet,  wo  eine  lebhafte,  leidenschaftliche  Debatte  geführt  wird. 
Zum  Schlufs,  wenn  sich  das  Pathos  steigert,  werden  hier  die  ana- 
pästischen Langverse  regelmäfsig,  wie  auch  in  der  Parabase,  mit  dem 
kürzeren  Dimeter  vertauscht.  Sonst  ist  der  Gebrauch  dieser  aus  Di- 
metern  gebildeten  Systeme  in  der  Komödie  beschränkter  als  in  der 
Tragödie;  öfter  dienen  sie  zum  Abschlufs  einer  Scene,  kommen  aber 
auch  sonst  vor,  namenthch  wenn  der  Dichter  einen  ernsten  feier- 
lichen Ton  anschlägt  oder  Stellen  der  Tragiker  parodirt.  In  der 
mittleren  Komödie  ist  der  Dimeter  gleichfalls  ein  sehr  beliebtes  Vers- 
mafs, wird  jedoch  vorzugsweise  zu  weit  ausgeführten  Schilderungen 
benutzt;  in  den  üeberresten  des  Menander  und  seiner  Zeitgenossen 
erscheint  er  nur  selten.  Freie  Anapästen  finden  auch  in  der  alten 
Komödie  vielfach  Verwendung;  manchmal  wird  nur  der  tragische 
Ton  nachgeahmt,  aber  es  fehlt  auch  nicht  an  eigenthümhchen  Bil- 
dungen. 
Die  me-  j)je  lyrischen  Partien  des  Dramas  zeichnen  sich  durch  grofsen 

tien  des    Formenreichthum   aus;   doch  liegt,  so  viel   wir  urtheilen  können, 
Drama«,  j,icj)t  ei^c  wesentlich  neue   und  originale  Schöpfung  vor,   sondern 
die  dramatischen  Dichter  haben  aus  dem  reichen  Schatze  der  meli- 
schen  Poesie  dasjenige,  was  für  ihre  Zwecke  geeignet  war.  mit  Ver- 


392)  Auch  die  aUcn  römischen  Dramatiker,  denen  es  an  richtigem  Uotühi 
und  Verständnir«  des  ethischen  Charakters  nicht  gebrach,  haben  diese  Unter- 
scheidung wohl  beaclitet;  der  iambische  wie  der  anapastische  kataleküsche  Te- 
trameter ist  der  römischen  Tragödie  durchaus  fremd  geblieben. 

393)  Epicharmus  hat  sogar  zwei  Komödien  vollständig  in  diesem  Vers- 
maTse  gedichtet  (Hephaestion  c.  6). 


DIE    DRAMATISCHE   POESIE.      EINLEITUNG.  115 

ständnifs  ausgewählt  und  zum  Theil  in  eigenthümlicher  Weise  fort- 
gebildet. Hymnen  und  Processionslieder,  Päane  und  Dithyramben, 
Hyporcheme  und  Trauergesänge  boten  sich  als  passende  Vorbilder 
dar;  die  daktylischen  Chorüeder  hat  die  Tragödie  wohl  der  alten 
Nomenpoesie  entlehnt,  die  ionischen  Verse  den  Cultusgesängen  der 
Göttermulter  und  des  Dionysus,  aber  auch  die  Weisen  des  Volks- 
hedes  mag  die  Tragödie  nachgebildet  haben.  Aber  an  die  kunst- 
volle Gestaltung  der  Rhythmen ,  die  wir  in  der  chorischen  Lyrik 
antreffen,  erinnert  nur  die  ältere  Tragödie,  aber  auch  sie  läfst  sich 
mit  dem  Dithyrambus  und  anderen  Gattungen  der  Lyrik  in  keinen 
Wettstreit  ein.  Das  Drama  bildet  seinen  eigenen  Stil  aus.  Alles  ist 
schhchter,  die  Strophen  sind  von  mäfsigem  Umfange  und  einfachem 
Bau,  die  langen  Streckverse,  wie  sie  ehemals  in  dithyrambischen 
Dichtungen  üblich  waren,  sind  dem  Drama  unbekannt,  gekünstelte 
und  verschlungene  Wortstellung  wird  vermieden,  der  hohe  Stil  mit 
seiner  Gedankenfülle  und  glänzenden  Diction  macht  immer  mehr 
einer  leicht  fafshchen  Darstellung  Platz.  Es  kam  darauf  an,  dafs  ein 
gemischtes  Publikum,  die  grofse  Masse  der  Zuschauer  mit  Leichtig- 
keit dem  Gesänge  des  Chores  folgen  konnte.  Der  melische  Dichter, 
der  oft  nur  für  einen  kleinen  erlesenen  Kreis  thätig  war,  durfte  an 
sein  Publikum  andere  Anforderungen  stellen,  als  der  Bühnendichter. 
Auch  konnten  letztere  ihren  Chören,  die  aus  bürgerhchen  Sängern, 
nicht  aus  Virtuosen  bestanden,  nicht  allzu  viel  zumuthen,  so  allge- 
mein auch  musikalische  Bildung  gerade  in  Athen  früher  verbreitet 
war.  Die  Dithyramben  und  andere  lyrische  Dichtungen  hatten  nur 
einen  mäfsigen  Umfang;  die  zur  Einübung  des  Chores  vergönnte 
Zeit  reichte  aus,  um  selbst  schwierige  Aufgaben  zu  lösen.  Dagegen 
die  Chorheder,  zumal  der  Tragödie,  hatten  in  der  älteren  Zeit  einen 
sehr  bedeutenden  Umfang.  Der  dramatische  Dichter  mufste  also  wohl 
erwägen,  was  sich  mit  einem  solchen  Chore  leisten  liefs;  denn  da 
neben  dem  Drama  die  kyklischen  Chöre  fortbestanden  und  hier  wie 
dort  die  Zahl  der  Aufführungen  sich  immer  vermelu'te,  so  mufsten 
die  tüchtigen  Kräfte  sich  sehr  vertheilen.  Zwar  wird  allmähhch  das 
Chorlied  im  Drama  erheblich  beschränkt ;  allein  man  darf  nicht  ver- 
gessen, dafs  bereits  seit  dem  Beginn  des  grofsen  Krieges  gründliche 
musikalische  Bildung  im  Volke  seltener  ward.  Die  Dichter  mufsten 
dies  sehr  bald  empfinden  und  auf  das  Mafs  der  Kräfte  ihres  Chores 
gebührende  Rücksicht  nehmen. 

8* 


116  DRITTE   PERIODE   V0>    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Die  meii-  Die  Tragödie   hat  ihren  eigenlhümlichen  Stil ,   aber   innerhalb 

tien  der  ^^''  allgemeingültigen  Gesetze  bewegt  sich  jeder  Dichter  mit  Frei- 
Tragödie.  heit.  Gerade  bei  der  Ausübung  der  lyrischen  Kunst  ist  die  Indivi- 
dualität des  einzelnen  vor  allem  mafsgebend,  wie  man  an  den  drei 
grofsen  Tragikern  deutlich  sieht.  Aber  auch  andere  Rücksichten 
wirken  ein ;  mehr  oder  minder  wird  ein  jeder  durch  Vorgänger  und 
Mitstrebende  bestimmt.  Dieser  Einflufs  äufsert  sich  bald  in  positiver, 
bald  in  negativer  Weise.  Aeschylus  meidet  absichtlich  alles,  was  an 
die  Art  des  Phrynichus  erinnert,  und  bildet  in  voller  Selbständigkeit 
seinen  eigenen  Stil  aus.^*"*)  Dann  wirkt  unwillkürlich  nicht  nur  die 
fortschreitende  Entwicklung  der  Musik,  sondern  auch  der  Geschmack 
des  Publikums  auf  den  dramatischen  Dichter  ein.  Auch  die  Zu- 
schauer besalsen  ein  richtiges  Verständnifs  der  Kunst;  nicht  leicht 
gab  ('S  anderwärts  ein  so  empfängliches  und  wahrhaft  gebildetes 
Publikum,  wie  in  Athen.  Aristophanes  würde  nimmer  eine  so  ein- 
gehende scharfe  Kritik  an  den  Werken  der  lyrischen  und  tragischen 
Dichter,  an  den  Leistungen  der  damaligen  Musik  ausgeübt  haben, 
wenn  er  nicht  bei  seinen  Zeitgenossen  Sinn  dafür  voraussetzen  durfte. 
Aber  die  Masse  pflegt  der  allgemeinen  Strömung  zu  folgen,  und  in- 
dem die  Dichter  mehr  und  mehr  allzu  willHihrig  den  Wünschen  und 
Neigungen  der  Zuhörer  entgegenkamen,  mufste  die  echte  Kunst 
empfindliche  Einbufse  erleiden. 

Am  höchsten  steht  die  lyrische  Kunst  bei  Aeschylus,  der  den 
grofsen  Chormeistern,  Simonides  und  Pindar,  vollkommen  ebenbürtig 
erscheint.  Unter  den  Komikern  gebührt  dem  Aristophanes,  soweit 
wir  zu  urtheilen  vermögen,  der  Preis.  Für  Aeschylus  sind  die  me- 
lischen  Partien  der  Nerv  der  Tragödie.  Daher  tritt  der  eigenthüm- 
liche  Charakter  seiner  Poesien  gerade  hier  uns  in  seiner  ganzen 
Grofsheit  entgegen.  Diese  Chorlieder  haben  etwas  wahrhaft  Ergrei- 
fendes und  Erhabenes.  Wie  sie  an  Ausdehnung  die  der  jüngeren 
Dichter  weit  überlreflen,  so  zeigen  sie  auch  die  gröfste  Mannigfal- 
tigkeit metrischer  Bildungen,  und  zugleich  bekundet  der  Dichter  das 
feinste  Gefühl  für  den  ethischen  Charakter  der  rhythmischen  Form.'"*) 


394)  Aeschylus  sagt  selbst  bei  Aristoph.  Frösche  1298:  aXX'  ovv  fytu  ftav 
de  To  xaAov  ix  rov  xaXov  f,veyxov  av&\  iva  ftrj  rbv  avrur  <P^vixV  Xtiuäva 
MovacSv  liQOV  oy&eirjv  S^eniov. 

395)  Bfi  den  Kritikern  wird  daS  rechte  Vcrsländriifs  und  der  Sinn  für 
Bedeutsamkeit  der  metrischen  Form  nicht  selten  vermifsl.  So  hat  man  bei  Aeschy- 


DIE   DRAMATISCHE   POESIE.      EINLEITUNG.  117 

Einzelne  Versarten  gebraucht  Aeschylus  nur  in  beschränktem  Mafse, 
während  er  andere  sichlhch  bevorzugt;  so  nehmen  die  iambischen 
und  trochäischen  Strophen  eine  hervorragende  Stelle  ein,  demnächst 
Dochmien  und  Logaöden,  die  er  in  eigenartiger  Weise  behandelt. 

Je  mehr  der  Chor  seine  frühere  Bedeutung  einbüfst  und  die 
Tragödie  im  eigenthch  Dramatischen  ihren  Schwerpunkt  findet,  desto 
mehr  schwindet  auch  der  Reichthum  der  Formen;  nicht  nur  der 
Umfang  der  Chorlieder  wird  beschränkt,  sondern  auch  die  Behand- 
lung wird  immer  schhchter,  während  sich  die  Bühnengesänge  einer 
reicheren  Ausstattung  erfreuen.  Schon  Sophokles  beschränkt  sich 
auf  einen  weit  engeren  Kreis  von  Formen,  und  wie  dieser  Dichter 
scharfe  Gegensätze  und  Contrastc  eher  meidet  als  aufsucht,  so  tritt 
uns  auch  das  eigenthümhche  Wesen  der  einzelnen  Stilarten  nicht 
in  so  klar  ausgeprägten  Zügen  entgegen.  Milde  und  Anmuth  ist 
der  Grundton  seiner  Lieder,  die  nicht  das  Grofsartige  und  Gewaltige 
der  Aeschyleischen  Chorpoesie  zeigen^'®),  sondern  einen  mehr  ruhig- 
friedhchen  Eindruck  machen.  Wie  der  Chor  des  Sophokles  etwas 
Allgemeingültiges  hat,  so  sagt  dem  Dichter  das  logaodische  Vers- 
mafs  am  meisten  zu.  In  der  leichten  Eleganz  dieses  Rhythmus  und 
der  grofsen  Abwechslung,  deren  er  fähig  ist,  liegt  eben  von  Haus 
aus  etwas  Universelles. 

Auch  bei  Euripides  erfreuen  sich  die  Logaöden  besonderer 
Gunst,  aber  im  Vergleich  mit  Sophokles  treffen  wir  bei  diesem  Dich- 
ter eine  gröfsere  Mannigfaltigkeit  metrischer  Formen^);  zumal  iam- 
bische  Strophen  und  Dochmien  nehmen  einen  breiten  Raum  ein. 
Aber  wie  bei  Euripides  das  Individuelle  mit  aller  Macht  hervorbricht, 
wie  er  den  Neuerungen  der  Musik,  die  den  alten  strengen  Charakter 
immer  mehr  aufgiebt,  wiUig  huldigt,  hat  er  auch  viel  weniger  das 
Ethische  gewahrt.  Euripides  gefällt  sich  in  einer  leichten,  glatten, 
oft  spielenden ,   oberflächlichen  Weise ,   zumal   in   den  Chorhedern, 


lus  Perser  548  ff,  die   trochäischen   Strophen  durch  willkürliche  Aenderungen 
in  iambische  verwandelt. 

396)  Sophokles  verfolgt  wohl  mehr  die  Richtung,  welche  Phrynichus  ein- 
geschlagen hatte;  später  kann  er  übrigens  dem  mächtigen  Einflüsse  des  Euri- 
pides sich  nicht  ganz  entziehen. 

397)  So  verschieden  auch  sonst  die  Art  des  Euripides  von  der  des  Aeschy- 
lus ist,  stehen  sie  doch  in  dieser  Beziehung  einander  näher  und  berühren  sich 
vielfach  in  der  Auswahl  der  Versgattungen. 


118  DRITTE    PERIODE    V0>    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

während  für  die  Bühnengesänge  der  Ausdruck  des  leidenschaftlichen 
Pathos  aufgespart  wird.  Dem  Euripides  ist  der  liefe  feierliche  Ernst 
des  Aeschylus  ebenso  fremd,  wie  die  milde  Würde  des  Sophokles, 
die  in  ihrer  Art  nicht  minder  wirksam  ist;  überall  aber  behandelt 
Euripides  die  Form  mit  einer  Freiheit,  die  bis  zur  äufsersten  Grenze 
des  Erlaubten  geht. 
Die  meii-  Dje  Lyrik  des  Lustspiels  hat  verhältnifsmSfsig  mehr  volkslhüm- 

tien  der  üchc  Elemente  als  die  Tragödie  bewahrt.  Man  erkennt  dies  beson- 
Komödie.  (je^g  an  der  Vorliebe  für  die  Bildung  festgeschlossener  Versgruppen, 
wie  für  die  stetige  Wiederholung  desselben  Vei'ses.  Den  Ausgangs- 
punkt der  Komödie  bilden  Lieder  zu  Ehren  des  Dionysus  und  der 
Demeter.  Hier  waren  eben  diese  einfachen  Formen  seit  Alters  üb- 
lich; dann  aber  berührt  sich  die  Komödie,  deren  Element  ebenso 
scharfer  Spott  und  Hohn,  wie  ausgelassene  Heiterkeit  und  Lebens- 
lust ist,  vielfach  mit  verwandten  Schöpfungen  der  subjectiven  Lyrik. 
So  hat  die  alte  iambische  Poesie,  besonders  ihr  namhaftester  Ver- 
treter Archilochus,  ein  Meister  in  der  Kunst  der  rhythmischen  Form- 
gebung, vielfach  auf  Kratinus  und  seine  Genossen  eingewirkt.  Die 
Bildung  der  Strophen  ist  in  der  Komödie  meist  einfach,  aufser  wo 
die  Weise  der  höheren  Lyrik  oder  der  Tragödie  nachgeahmt  wird; 
denn  auch  hier  wird  von  der  Entlehnung  und  Parodie  nicht  selten 
Gebrauch  gemacht.^'*)  Im  Vergleich  mit  der  alten  Tragödie  ist  der 
Umfang  der  lyrischen  Partien  mäfsig;  der  Unterschied  beider  Gal- 
tungen giebt  sich  auch  in  der  formellen  Behandlung  der  Verse  kund. 
Gehäufle  Auflösungen,  wie  andererseits  der  beschränkte  Gebrauch  der 
Synkope  harmoniren  mit  dem  leichtbeweghchen  Wesen  dieser  Poesie. 
Wir  können  freilich  den  Kunslcharakler  der  Lyrik  in  der  Komödie 
nur  nach  den  Leistungen  des  Aristophanes  beurtheilen.  Der  enthu- 
siastische Kratinus  wie  der  feinsinnige  Eupolis  mögen  manches  Eigen- 
thUmhche  geschaffen  haben,  aber  sicher  stand  Aristophanes  ihnen 
nicht  nach.  Er  übt  mit  sicherer  Hand  seine  Kunst,  schlägt  alle  Töne 
an  und  bildet  mit  vollstem  Versländnifs  die  verschiedensten  Slil- 
arten  nach,  die  er  stets  passend  für  seine  Zwecke  verwendet.  Für 
die  mittlere  und  neuere  Komödie,  welche  den  Chor  fallen  läfst,  ist 
das  Melische  ohne  sonderliche  Bedeutung. 

39S)  Für  das  im  zartesten  Tone  gehaltene  lieMiclie  ;in;iitastisilir  l.ird  m  den 
Vögeln  209  fl'.  mag  Aristophanes  entweder  im  Volksgesang  oder  in  der  raelischen 
Poesie  eine  Vorlage  gefunden  haben,  aber  man  darf  darin  keine  Parodie  Anden. 


DIE    DRASUTISCHE   POESIE.     EI>"LEITU.>'G.  119 

Wir  finden  im  Drama  die  gröfste  Mannigfaltigkeit  rhythmischer 
Formen.  Alle  Versarten,  welche  der  künstlerische  Sinn  der  Hellenen, 
unterstützt  von  der  Bildsamkeit  der  Sprache,  geschaffen  hat,  treten 
uns  hier  entgegen.^®*)  Indem  die  dramatische  Poesie  aus  diesem 
reichen  Schatze  jedes  Mal  das  Angemessene  heraushob,  war  sie  im 
Stande,  die  verschiedensten  Stimmungen  klar  und  wirksam  auszu- 
drücken. Allein  auf  blofse  Abwechslung  ist  es  nicht  abgesehen.  Zu- 
weilen sind  in  einer  Tragödie  die  Chorheder  und  Bühnengesänge 
hinsichtlich  der  rhythmischen  Bildung  nahe  verwandt.  Bei  Aeschy- 
lus  herrschen  in  den  Eumeniden  die  Trochäen  vor,  bei  Euripides 
in  den  Schutzflehenden  die  lamben ,  in  dem  zweiten  Theile  der 
Phönissen  die  Daktylen.  Namenthch  die  alte  Kunst  Hebt  eine  ge- 
wisse Einfachheit  und  wendet  daher  gern  dieselben  Mittel  an,  in- 
sofern die  Rücksicht  auf  den  Inhalt  es  gestattet.  Jede  Versart  hat 
ihren  besonderen  Charakter,  ist  der  naturgemäfse  Ausdruck  einer 
Stimmung  des  Seelenlebens.  Die  Kunst  treibt  mit  diesen  Aielgestal- 
tigen  Formen  kein  willkürliches  Spiel,  sondern  trifft  ihre  Wahl  mit 
stetiger  Berücksichtigung  des  Gedankens  und  der  herrschenden  Em- 
pfindung. 

Wie  die  einzelne  Strophe  ein  Kunstwerk  im  vollen  Sinne  des 
Wortes  ist,  wo  jedes  Glied  in  einem  bestimmten  Verhältnifs  zu  dem 
Organismus  der  rhythmischen  Compositionen  steht,  so  wird  in  der 
Regel  eine  metrische  Grundform  festgehalten.  Die  Verbindung  mit 
einzelnen  fremdartigen  Elementen  hebt  die  Einheit  nicht  auf,  son- 
dern dient  dazu,  feinere  Nuancen  anzudeuten  und  zugleich  jede 
Eintönigkeit  fernzuhalten.  Unter  Umständen  tritt  das  secundäre  Ele- 
ment stärker  hervor,  so  dafs  in  der  Strophe  verschiedene  Versarten 
gleichmäfsig  vertreten  sind.  Man  mochte  auf  dieses  Mittel,  Abwechs- 
lung in  die  rhythmische  Composition  zu  bringen ,  um  so  weniger 
verzichten,  da  für  die  dramatische  Poesie  so  gut  wie  für  die  cho- 
rische Lyrik  die  überlieferte  Satzung  gilt,  dafs  der  architektonische 
Bau  der  Strophe  wie  die  begleitende  Melodie  stets  neu  sein  müsse. 
Es  war  nicht  gestattet,  weder  fremde  noch  eigene  Weisen  unver- 
ändert zu  wiederholen.'"*") 


399)  Nur  der  sogen.  lonicus  a  maiori  oder  das  Soladeische  Versmafs 
kommt  nicht  vor,  weil  es  überhaupt  der  Literatur  der  klassischen  Zeit  fremd 
geblieben  ist. 

400)  Nor  die  Komödie  erlaubt  sich  öfter,  wenn  sie  den  Stil  der  höheren 


120  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Das  daktylische  Versmafs,  wie  es  in  der  melischen  Poesie, 
zumal  in  der  religiösen  Lyrik,  einen  breiten  Raum  einnahm,  ist  auch 
der  Tragödie  nicht  fremd.  Die  daktylischen  Chorheder  des  Aeschy- 
lus,  die  dieser  Dichter  häufig  anwendet,  während  sie  bei  seinen 
Nachfolgern  nur  vereinzelt  vorkommen,  zeichnen  sich  entsprechend 
dem  Charakter  dieses  Rhythmus  durch  ruhige  Haltung  aus,  gleich- 
viel, ob  sie  dem  Ausdrucke  der  Gefühle  dienen  oder  epische  Schil- 
derung vorwaltet.  Auch  die  Komödie  bildet  zuweilen  daktylische 
Strophen,  wenn  sie  den  feierHchen  Ton  der  höheren  Poesie  an- 
schlagt.^") In  Bühnengesängen  begegnen  wir  diesem  Metrum  erst 
in  der  jüngeren  Tragödie,  in  den  späteren  Arbeiten  des  Euripides 
und  Sophokles.''*'*)  Euripides  hält  in  daktyHschen  Klageliedern  an- 
fangs die  antistrophische  Form  fest,  geht  aber  bald  zu  freieren  Bil- 
dungen über. 

Anapästische  Strophen,  welche  der  älteren  Lyrik  in  dem 
volksmäfsigen  Liede  sicher  nicht  fremd  waren,  kommen  nur  vereinzelt 
vor'""),  weil  das  Drama  von  diesem  Versmafse  anderweitig  den  aus- 
gedehntesten Gebrauch  macht.  So  nehmen  namentlich  die  freien 
Anapästen  alle  Zeit  eine  bevorzugte  Stelle  ein.^°*)  Diese  freien  Ana- 
pästen sind  öfters  antistrophisch  gegliedert;  meist  jedoch  wird  diese 
Fessel  abgestreift.  Wir  treffen  sie  in  Chorliedern,  wie  in  Bühnen- 
gesängen ,  oder  es  theilen  sich  auch  der  Chor  und  die  Schauspieler 
in  den  Vortrag.  Bei  Leichenbestattungen  war  dieser  Rhythmus,  der 
sich  für  die  aufgeregte  Stimmung  der  Leidtragenden  wohl  schickte, 
offenbar  seit  alter  Zeit  in  volksmäfsigen  Melodien  gebräuchlich.^'") 

Lyrik  oder  der  Tragödie  nachbildet,  fremde  Strophen  zu  wiederholen,  was  für 
diesen  bestimmten  Zweck  nothwendig  war,  und  dabei  werden  doch  meist  ein- 
zelne Abänderungen  vorgenommen. 

401)  Arisloph.  Wolken  275.  Vögel  1750. 

402)  Und  zwar  in  Monodien  wie  in  "Wechselgesängcn. 

403)  Bei  Sophokles  Oed.  R.  168  ist  der  Parömiacus,  der  mit  daktylischen 
und  iambischen  Reihen  verbunden  wird,  als  das  primäre  Element  zu  betrach- 
ten. Voran  geht  ein  daktylisches  Stiophenpaar:  das  Chorlied  hat  den  Charakter 
des  Päans.  Das  anapästische  Chorlied  der  Wächter  im  Rhesus  527  ist  wohl 
Nachbildung  eines  Volksliedes. 

404)  Nicht  nur  in  der  älteren  Tragödie  bei  Aeschylus,  sondern  auch  bei 
Euripides  finden  wir  diese  freien  Anapästen,  die  besonders  durch  den  rascheren 
Takl  (es  sind  dreizeitige  Füfse)  sich  von  den  strengen  sondern. 

405)  Aeschylus  Perser  936  deutet  darauf  hin,  ebenso  Aristophanes  in  den 
Fröschen  1302,  wenn  er  den   Euripides  seine  Melodien   entnehmen  läfst  ano 


DIE   DRAMATISCHE    POESIE.      EINLEITOG.  121 

Die  Tragödie  hat  diese  Weisen  im  Threnos  nachgebildet.  Auch  in 
der  alten  Komödie  sind  freie  Anapästen  eine  beliebte  Form,  welche 
nicht  blofs  zur  Nachahmung  des  tragischen  Pathos  dient,  sondern 
auch  sonst  verwendet  wird.  In  den  Anfängen  des  Lustspiels,  bei 
den  Umzügen  der  Phallophoren,  mochte  dieses  Versmafs,  was  ebenso 
für  Processionsheder  wie  für  die  bewegteren  Weisen  des  Watfentanzes 
sich  eignete,  für  persönliche  Ausfälle  verwendet  werden ;  daher  tref- 
fen wir  es  auch  noch  bei  Aristophanes  besonders  da  an,  wo  eine 
leidenschaftliche  Aufregung  ihren  Ausdruck  findet. 

Trochäische  Strophen  wendet  Aeschylus  in  seinen  Chorge- 
sängen mit  sichthcher  Vorliebe  an.  Der  Bau  dieser  Strophen  ist  ein- 
fach, der  umfang  meist  mäfsig.  Die  Grundform  des  Trochäus  wird 
überall  rein  bewahrt.  Dieser  rasche  Rhythmus  wird  nur  dadurch  ein 
geeigneter  Ausdruck  für  das  tragische  Pathos,  dafs  die  Reihen  in  der 
Regel  katalektisch  ausgehen  und  durch  häufige  Unterdrückung  der 
Thesis  Würde  und  Energie  gewinnen.  Mag  nun  Wehmuth  oder  Un- 
wille, ruhige  Ergebung  oder  ein  Segenswunsch  sich  in  diesen  Ge- 
sängen kundgeben,  der  Grundton  ist  immer  ein  tiefer  Ernst,  ein 
ruhig -gefafstes  Wesen.  Aeschylus  darf  wohl  als  der  Erfinder  dieser 
Stilart  betrachtet  werden.''**)  Seine  Nachfolger  scheinen  sie  nicht 
cultivirt  zu  haben;  nur  Euripides  hat  gemäfs  seiner  eklektischen 
Methode  sich  ein  und  das  andere  Mal  darin  versucht.  Auch  im  Lust- 
spiel kommen  trochäische  Strophen  vor,  sie  zeigen  aber  einen  we- 
senthch  verschiedenen  Charakter  und  erinnern  an  analoge  Bildungen 
der  mehschen  Poesie. 

Ganz  nahe  verwandt  sind  die  iam  bis  eben  Strophen,  die  in 
der  Tragödie  eine  hervorragende  Stelle  einnehmen.  Der  Ursprung 
dieser  Stilart  geht  wohl  auf  volksmäfsige  W  eisen  der  Todtenklage  und 


KaQucäv  avXrjftäxojv,  d'qrivcov.  Dafs  dort  Aeschylus  dem  Euripides  diesen 
Vorwurf  macht,  darf  man  nicht  urgiren:  beide  Dichter  schöpfen  aus  gleicher 
Quelle ,  aber  jeder  behandelt  sein  Thema  in  eigenlhümlicher  Weise.  Gerade 
Euripides  zeigt  für  diese  Stilart  eine  besondere  Vorliebe;  er  gebraucht  es  be- 
sobders  in  Monodien.  Hierher  gehört  auch  der  Gesang,  den  Ion  im  delphischen 
Heiligthume  anstimmt,  V.  82,  während  sonst  dies  Metrum  in  der  Regel  Aus- 
druck wehmüthiger  Klage  ist.  In  diesen  Gesängen  mag  besonders  die  ionische 
Tonweise  angewandt  worden  sein,  wie  die  Verse  (Schol.  Aeschyl.  Pers.  936): 
avXfi  MaqtavBwoii  y,a7M^oii  xqovcov  iaari  andeuten. 

406)  Aeschylus  behandelt  hier  das  trochäische  VersmaCs  ganz  nach  Ana- 
logie der  iambischen  Strophen. 


122  DRITTE    PERIODE    VOK    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

der  Trauerprocessionen  zurück.'"")  Aeschylus  mag  sie  zuerst  kunst- 
gerecht ausgebildet  haben.  Er  macht  von  dieser  Galtung  noch  weit 
ausgedehnteren  Gebrauch  als  von  den  trochsischen  Strophen  und 
offenbart  auch  hier  sein  bewunderungswürdiges  Talent,  mit  einfachen 
Mitteln  die  gröfste  Wirkung  zu  erzielen.  Nach  Aeschylus'  Vorgange 
bedient  sich  auch  Euripides  wiederholt  dieser  Form*"*),  die  bei  So- 
phokles nur  ausnahmsweise  vorkommt.  Der  strenge  Ernst  dieser 
Gattung  sagte  offenbar  dem  Sophokles,  der  mehr  das  Milde  und  An- 
muthige  liebt,  weniger  zu.  Die  Behandlung  der  iainbischen  Verse 
ist  dieselbe  wie  in  den  trochäischen  Strophen.  Durch  Ausschlufs  der 
irrationalen  Länge  wird  der  rasche  Charakter  des  iambischen  Rhyth- 
mus gewahrt,  während  die  häufige  Synkope  Abwechslung  und  den 
Ausdruck  energischer  Kraft  verleiht.^"^)  Auflösung  der  Längen  ist 
nicht  selten;  katalektische  Verse  wechseln  mit  akatalektischen,  kür- 
zere Strophen,  wie  sie  in  der  trochäischen  Gattung  öfter  vorkommen, 
sind  hier  nicht  üblich.  Die  Stilart  wird  in  Chorliedern,  besonders 
Klagegesängen,  aber  auch  in  Bühnengesängen  verwendet.  Der  lam- 
bus  als  ansteigender  Rhythmus  übertrifft  an  Energie  den  Trochäus, 
erreicht  aber  nicht  das  gesteigerte  leidenschaftliche  Pathos  der  Doch- 
mien.  JNicht  blofs  Schmerz  und  Klage,  Trauer  und  Verzweiflung 
findet  in  diesen  iambischen  Strophen  Ausdruck,  sondern  auch  ruhige 
Ergebung  und  ernste  Mahnung.  Die  durchsichtige,  mannigfachen 
Wechsels  fähige  Form  gestattete  die  verschiedenen  Bewegungen  der 
Seele  wiederzugeben,  immer  aber  tritt  uns  ein  gefafstes  Wesen, 
heroische  Würde  entgegen,  wie  jeder  empfinden  wird,  der  achtsam 
die  iambischen  Strophen  des  Aeschylus  durchgeht;  denn  Euripides 
hat  zwar  mit  gewohnter  Virtuosität  sich   die  Technik   dieser  Stilart 


407)  Hesychius:  KuQixa  fiikr],  dh'yero  ris  Ka^ixbs  (/n'f'fioi  ix  XQOxaiov 
xal  iäftßov  avyxeiftevoB ,  wo  i^  iäfißov  xal  XQOx^-iov  zu  schreiben  ist; 
denn  der  sogenannte  Antispast  ist  nichts  anderes,  als  die  hier  übliche  Form 
der  synkopirten  lamben.  Darauf  zielt  auch  Arislophanes  Frösche  1302  (ano 
KaoixMv  aiXTjfiäxoiv).  Doch  gab  es  auch  heitere  karische  Melodien,  vgl.  den 
Komiker  Plato  bei  Athen.  XV  665  D. 

408)  Wiederholt  in  den  Schutzflehenden  imd  in  den  Troaden. 

409)  Die  Synkope  wird  nicht  selten  in  unmittelbarer  Folge  wiederholt. 
Diese  Unterdrückung  des  schwachen  Takttheiles  ist  eine  Freiheit,  die  aus  der 
volksmäfsigen  Poesie  in  die  kunstgerechte  Dichtung  übergegangen  ist.  Der 
Tragödie  sagt  diese  Behandlung  des  Metrums  besonders  zii  und  ist  offenbar 
hier  vorzugsweise  ausgebildet  worden. 


DIE    DRAMATISCHE   POESIE.     EL>XErTÜNG.  123 

angeeignet,  aber  ihm  fehlt  die  Seelengröfse  und  Geistesgewalt  des 
älteren  Dichters.  Wenn  in  der  Komödie  ähnliche  Strophen  vor- 
kommen, so  soll  eben  der  tragische  Ton  nachgebildet  werden.  Auch 
sonst  verwendet  die  Komödie  in  mehschen  Partien  iambische  Reihen 
und  Verse,  aber  in  der  Form  des  geschlossenen  Systems,  und  diese 
Bildungen  unterscheiden  sich  sehr  bestimmt  durch  ihren  leichten, 
beweglichen  Rhythmus.  lambisch-trochäische  Bildungen  treffen 
wir  erst  in  der  jüngeren  Tragödie  bei  Euripides,  dann  bei  Sopho- 
kles in  seiner  letzten  Arbeit,  und  zwar  vorwiegend  in  Bühnenge- 
sängen. Diese  Stilart  ist  wegen  ihres  flüchtigen  Charakters  für  die 
Tragödie  minder  angemessen,  desto  besser  würde  sie  für  die  Ko- 
mödie passen;  aber  Aristophanes  gebraucht  sie  nur  selten,  zum  Theil 
eben  da,  wo  er  die  Manier  des  Euripides  parodirt. 

Choriambische  Verse  gebraucht  die  Tragödie  nur  in  be- 
schränktem Umfange,  meist  als  secundäres  Element^'");  häufiger  kom- 
men solche  Lieder  in  der  Komödie  vor.  Hier  wird  auch  nach  der 
Weise  der  melischen  Poesie  dieselbe  Versform  stetig  wiederholt. 

Der  ionische  Rhythmus,  der  etwas  Weiches  und  zugleich  Er- 
regtes hat  und  ursprüngUch  den  enthusiastischen  Gesängen  des  Diony- 
sus-  und  Demeterdienstes  angehört""),  wird  in  der  Tragödie  zu  weli- 
müthigen  Chorliedern  verwendet,  in  der  ersten  Epoche  häufiger"'^, 
bei  Sophokles  und  Euripides  nur  noch  vereinzelt. 

Der  feierhch- würdevolle  Rhythmus  der  enkoraiologischen 
Gattung,  wo  Daktylen  mit  schweren  Trochäen  verbunden  werden, 
eignet  sich  vor  allem  für  das  tragische  Chorlied.  Wenn  Aeschylus 
diese  Form  nur  im  Prometheus  benutzt  hat,  so  erklärt  sich  dies  wohl 
daraus,  dafs  er  die  betretenen  Pfade  mied  und  nicht  mit  Phrynichus 
zusammentreffen  mochte,  während  Sophokles  und  Euripides  davon 
häufig  Gebrauch  machen.  Durch  eine  gewisse  Einfachheit,  durch 
den  meist  mäfsigen  Umfang  der  Strophen  unterscheiden  sich  diese 
tragischen  Chorlieder  von  den  kunstreichen,  grofsartigen  Bildungen 


410)  Bei  Euripides  werden  Choriamben  in  der  Parodos  der  Bacchen  theils 
mit  dem  ionischen  Versmafse,  theils  mit  Logaöden  verbunden. 

411)  Daher  gebraucht  Euripides  sehr  passend  diesen  Rhythmus  in  den 
Bacchen.  Aristophanes  benutzt  ihn  in  den  Fröschen  für  den  Chor  der  Einge- 
weihten, während  er  sonst  der  Komödie  fremd  ist. 

412)  Wie  z.  B.  Aeschylus  in  den  Persern. 


124  DRLTTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

der  melischen  Dichter,  während  sich  Aristophanes  enger  an  diese 
älteren  Muster  anschUefst.'"^) 

Die  Verbindung  dreizeitiger  Daktylen  und  Anapästen  mit  lam- 
ben  und  Trochäen  gewinnt  in  der  dramatischen  Poesie  mehr  und 
mehr  Eingang.  Der  leichte  Flufs  dieser  Stilart,  die  sich  aufserdem 
durch  Mannigfaltigkeit  empfahl,  sagte  besonders  der  jüngeren  Tra- 
gödie zu  und  ist  auch  dem  Charakter  der  Komödie  gemäfs.  Strophen 
aus  daktyhschen  und  trochäischen  oder  iambischen  Versen,  sowie 
andere  aus  Anapästen  und  lamben  gebildet,  kommen  in  der  Tragödie 
häufig  vor,  und  zwar  halten  gewöhnlich  bei«le  Elemente  sich  das 
Gleichgewicht.  Dagegen  Strophen ,  wo  die  Trochäen  überwiegen, 
die  Daktylen  nur  als  secundäres  Element  auftreten,  eine  Gattung, 
für  die  heiter-anmuthige  Mimik  des  Hyporchems  wie  geschaffen,  pafst 
nicht  für  den  gemessenen  Ernst  der  Tragödie,  wohl  aber  für  das 
Satyrdrama  und  Lustspiel."'^) 

Die  logaödischen  Verse,  durch  leichte  Eleganz  wie  Reich- 
thum  der  Formen  ausgezeichnet,  erfreuen  sich  nicht  nur  in  der 
lyrischen  Poesie,  sondern  auch  im  Drama  besonderer  Gunst.  In  der 
Tragödie  findet  dies  Versmafs  gleich  anfangs  Aufnahme  und  erobert 
sich  ein  immer  weiteres  Gebiet.  Manche  Bildungen,  wie  die  glyko- 
neischen  Systeme,  gehen  aus  der  melischen  Dichtung  auf  die  Tra- 
gödie über.  Andere  sind  ausgeschlossen ;  dafür  werden  neuere  For- 
men in  gröfster  Abwechslung  geschaffen,  da  dieses  bildsame  Versmafs 
die  gröfste  Abwechslung  gestattete.  In  der  älteren  Tragödie  ist  der 
Gebrauch  der  Logaöden  noch  beschränkt;  Aeschylus  benutzt  die- 
selben besonders  zu  Klagegesängen.  Diese  logaödischen  Strophen 
hinterlassen  nicht  sowohl  den  Eindruck  ruhiger  Ergebung  (dazu 
verwendet  der  Tragiker  am  liebsten  den  ionischen  Rhythmus)  oder 
jener  leidenschafilichen  Aufregung  (wie  sie  besonders  in  iambischen 
Strophen  herrscht),  sondern  sie  nehmen  eine  mittlere  Stellung  ein. 
Daher  tritt  uns  hier  eine  ungemeine  Mannigfaltigkeit  der  Empfindun- 
gen entgegen,  die  Weichheit  steigert  sich  bis  zur  Energie  der  Leiden- 
schaft, und  in  entsprechender  Weise  wird  die  Form  behandelt;  denn 
Aeschylus  weifs  die  Vortheile   des  bildsamen  Metrums  wohl  zu  be- 

413)  Die  enkomiologischen  Strophen  bei  Aristophanes  sind  zum  Theil 
geradezu  Nachbildungen  wohlbekannter  Lieder  des  Stesichorus. 

414)  Solche  trochäo- daktylische  Strophen  finden  sich  im  Kyklops  des 
Eoripides,  dann  bei  Aristophanes. 


DIE   DRAMATISCHE   POESIE.      EI>LE[TL>G.  125 

nutzen,  ohne  der  Strenge  der  echten  Kunst  untreu  zu  werden.  In 
der  jüngeren  Tragödie  gewinnen  die  Logaöden  die  allgemeinste 
Geltung,  zumal  in  den  Chorgesängen;  denn  zu  Monodien  werden 
sie  seltener  verwandt.  Hier  erreicht  der  Formenreichthum  seinen 
Höhepunkt,  aber  es  reifst  auch  eine  gewisse  Willkür  ein,  welche 
gegen  die  Gesetze  der  strengen  Technik  verstöfst.^")  Diese  Bevor- 
zugung der  Logaöden  wird  dem  Sophokles  verdankt.  Es  hängt  dies 
unmittelbar  mit  der  veränderten  Stellung  zusammen,  welche  dieser 
Dichter  dem  Chore  an^%ies;  dann  aber  sagte  seinem  Naturell  die 
leichte  Anraulh  und  Glätte  dieses  Rhythmus  besonders  zu ,  daher 
kein  anderer  Tragiker  diese  Versform  so  bevorzugt  hat.  Auch  die 
Komödie  verwendet  Logaöden  gern  und  auf  die  verschiedenste  Weise, 
indem  sie  gerade  so  wie  im  Liede  bald  dieselbe  Versform  ununter- 
brochen wiederholt,  bald  die  systematische  Gliederung  anwendet, 
endhch  aber  auch  Strophen  bildet.  Manche  Strophenformen  sind 
der  Komödie  mit  der  chorischen  Lyrik  und  der  Tragödie  gemein- 
sam, aber  es  fehlt  auch  nicht  an  eigenthümhchen  Bildungen. 

Das  kretische  Versmafs,  welches  in  lebhaften  stürmischen 
Tanzweisen  seine  Stelle  hatte,  sagte  eben  deshalb  der  Tragödie  we- 
niger zu  und  wird  nur  selten  zu  Chorhedern  oder  Monodien  be- 
nutzt. In  der  Komödie  ist  dagegen  dieser  Rhythmus  sehr  beliebt 
und  tritt  theils  selbständig,  theils  in  Verbindung  mit  Trochäen  oder 
Anapästen  auf.  Das  bacchische  Metrum,  den  Processionsgesängen 
des  Dionysus  eigenthümhch  und  daher  für  tragische  Chöre  wohl  pas- 
send, erscheint  in  den  uns  erhaltenen  Denkmälern  nur  als  secun- 
däres  Element.  Desto  gebräuchlicher  ist  der  Dochmius.  Vermöge 
der  Anomalie  des  rhythmischen  Verhältnisses  und  des  reichen  For- 
menwechsels eignet  er  sich  vorzugsweise  zum  Ausdrucke  des  tragi- 
schen Pathos.  Ueberall,  wo  das  Gemüth  von  leidenschafthcher  Er- 
regung ergriffen  hin  und  her  schwankt,  hat  dieser  unruhig  bewegte 
Rhythmus  seine  Stelle.  Wir  treffen  ihn  daher  zumeist  in  Gesängen 
an,  in  denen  sich  tiefer  Schmerz  oder  ohnmächtige  Verzweiflung 
ausspricht.  Aeschylus  gebraucht  Dochmien  auch  in  freudig  erregten 
Liedern,  wenn  das  von  schwerer  Noth  und  Angst  befreite  Gemüth 
auljauchzt.    Die  ältere  Tragödie  verwendet  den  Dochmius  hauptsäch- 

415)  Namentlich  Euripides  macht  von  der  Freiheit  des  Polyschematismus 
den  ausgedehntesten  Gebrauch;  dies  rügt  schon  Aristophanes  in  seiner  Kritik 
der  Euripideischen  Melopöie  in  den  Fröschen  V.  80. 


126  DRITTE   PERIODE  VOK  500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

lieh  in  Chorliedero,  die  jüngere  mehr  in  Bühnengesiingen,  Sopho- 
kles besonders  gegen  den  Schlufs  des  Dramas  nach  dem  Eintreten 
der  Katastrophe,  Euripides  auch  an  anderen  Stellen,  und  zwar  macht 
dieser  Dichter  von  dem  Formenreichthum  des  vielgestaltigen  Metrums 
den  freiesten  Gebrauch.  In  der  Komödie  kommt  der  Dochmius  nur 
als  Nachahmung  des  tragischen  Stils  vor. 
Der  Vortrag  Von  der  Weise  des  Vortrags  in  den  einzelnen  Theilen  des  Dra- 

im  Drama.  Hi^s  ist  CS  schwer,  eine  klare  Vorstellung  zu  gewinnen,  da  die  Ueber- 
lieferung  ganz  unzulängUch  ist.  Dafs  für  gewisse  Partien  die  ein- 
fache Declamation,  für  andere  der  Gesang  in  Anwendung  kam,  steht 
fest,  aber  aufserdem  gab  es  auch  Stellen,  wo  die  Verse  mit  musi- 
kalischer Begleitung  recitirt  wurden,  und  gerade  über  den  Gebrauch 
dieses  melodramatischen  Vortrags  wissen  wir  nichts  Verlässiges.  Die 
iambischen  Trimeter,  das  eigenthche  Versmafs  für  die  dramatische 
Handlung,  wurden  einfach  gesprochen,  sowohl  im  Lustspiel  als  auch 
im  Trauerspiel.  Völlig  grundlos  ist  die  Vermuthung  Neuerer,  diese 
Verse  seien  in  der  Tragödie  ohne  Ausnahme  gesungen  oder  mit 
musikahscher  Begleitung  melodramatisch  vorgetragen  worden.^'")  Dafs 


416)  Aristoteles  Poet.  c.  6  p.  1449  B  29  f.  erläutert  seine  Definition  der  Tra- 
gödie: x^^lä  Tols  ei'Seai  ro  Sia  fiäTQOiv  kvta  fiövov  nt.qaivtad'ai  xai  näXiv 
i'reoa  Siä  fiiXovs.  Die  einfache  Declanaation  kann  doch  nirgends  anders  als  eben 
in  den  Versen  des  Dialoges  ihre  Stelle  haben.  Dann  c.  26  p.  1462  All,  wo  er 
die  Tragödie  mit  dem  Epos  zusammenstellt:  8t6ri  nävr^  t'xsi  oanneQ  ^  ino- 
Ttotta'  xal  ya^  (hier  ist  yjilc^  einzufügen)  rt^  (xixQc^  i^eart  x^<^^<^if  »««t  *'t« 
ov  fiix^ov  fiBQOi  rT}v  fiovffixfjv  xai  rfjv  oxptv  ä'xei.  Ferner  c.  1  p.  1447  ß  25  0",, 
wo  von  den  Kunstmilteln  Qv&fiös,  fitkoe,  fiiiQov  gehandelt  wird,  heilst  es,  die 
chorische  Lyrik  bediente  sich  derselben  afia  näaiv  (was  nicht  in  nnaat  zu 
ändern  ist),  die  Tragödie  und  Komödie  xara  jueQoe.  Auch  bemerkt  Aristot. 
4, 14  p.  1449  A  23  ausdrücklich,  dafs  mit  dem  Aufkommen  des  Dialogs  auch  das 
iambische  Versmafs  sich  sofort  eingestellt  habe:  U^stai  Se  yevofievtjs  airr}  rj 
(fvau  10  oixslov  nixqov  evQsv  ftäXi,axa  yuQ  Xexjtxuv  ru'v  fidn^wv  %o  iafi- 
ßel6v  iari  xxL  (vgl.  auch  Rhet.  111  1  und  8)  und  22,  10  p.  1459  A  11  f.:  iv  Se 
xoie  tafißeiois  Sia  xo  oxt  fiahaxa  Xt'^tv  fttfieTdd'ai,  xarTa  apjuoxxsi  xcäv  ovo- 
ft  'x(ov,  oaoi«  xav  iv  Xöyois  xie  x^riOaixo.  L'nd  nicht  blofs  der  eigentliche  Dia- 
log, sondern  auch  die  Qrjaete,  gleichviel  ob  sie  eine  Thatsache  berichteten  oder 
dem  Ausdruck  der  Empfindung  dienten,  wurden  gesprochen,  Plato  Rep.  X  605 C: 
'OfiTiQOv  rj  alXov  xivhs  xäiv  xpaytoSujnotwv  fttfiovftevov  xiva  xibv  r,^o}(ov  iv 
Ttiv&Ei  ovxa  xal  fiax^av  (>i]aiv  anoxeivovxn  iv  xols  oSv^ftoU  rj  xal  qSovxiii 
xe  xal  Honxofiivovs,  obwohl  gerade  in  diesem  Falle  zuweilen  melodramatischer 
Vortrag  stattgefunden  haben  mag.  Jene  verkehrte  Auffassung  l>eruhl  lediglich 
auf  einer  mi fsverstandenen  Steile  des  PUilarch  de  mus,  c.  2b,  ;<  über  die  na^a- 


DIE   DRAMATISCHE    POESIE.     EINLEITUNG.  127 

die  Trimeter  der  Komödie  für  den  Gesang  ungeeignet  waren,  zeigt 
schon  die  Behandlung  des  Versmafses/'^  Die  trochäischen  Telra- 
meter  der  Tragödie  wurden  wohl  immer  gesprochen,  wenigstens  läfst 
sich  mehscher  Vortrag  nicht  mit  Sicherheit  nachweisen,  aber  die 
Flöte  begleitete  die  Stimme  des  Schauspielers;  ob  von  Anfang  an, 
oder  ob  dies  eine  Neuerung  war,  die  um  Ol.  90  aufkam,  bleibt 
dahingestellt.'"*)  In  der  Komödie  darf  man  für  die  trochäischen 
Verse  der  Parabase  melischen  Vortrag  voraussetzen.^'^)  Dagegen  die 
dialogischen  Partien  in  der  Mitte  des  Dramas  wurden  offenbar  ein- 
fach gesprochen,  während  sich  für  den  Einzug  des  Chores,  wo  die 
Flötenspieler  vorausgingen,  die  melodramatische  Weise  empfiehlt, 
lieber  den  Vortrag  der  Anapästen  ist  es  schwer,   ein  sicheres 

xaiaXoyfi  (Bd.  11  S.  132,  A.  SS).  Bei  Archilochus  kam  sie  ab  und  zu  in  den 
la/ußsia  Tor,  die  gesungen  wurden.  In  der  Tragödie,  nicht  im  Dialog  (denn 
dann  wären  ja  die  Trimeter  in  der  Regel  gesungen  und  nur  ausnahmsweise 
jT^ös  aiiitiv  declamirt  worden),  sondern  wie  Aristoteles  Probl.  19,  6  p.  91SA10 
bezeugt  ey  wSaTs,  also  in  den  melischen  Partien,  d.  h.  vorzugsweise  in  den  ueXt] 
azib  axT]V7-3  oder  wo  sonst  die  Form  der  aTroleXvftäva  gebraucht  war.  Erst  die 
Schauspieler  der  späteren  Zeit  haben  auch  für  den  iambischen  Trimeter  diesen 
Vortrag  aufgebracht,  Lukian  de  salt.  c.  27 :  iviors  xal  TiegiaStov  ra  iafxßtia  ttai 
To  8r}  aiaxiOTOv  fisXtoSäv  ras  avfi<pOQas  xai  fi6v7]S  (lies  xara/uovTJs)  t^s 
fonnrs  vTiex&wov  Tia^exov  iavrov.  Für  diesen  Mifsbrauch,  den  Lukian  mit 
bitteren  Worten  rügt  {ao?/)ixia),  macht  er  nicht  die  alten  Dichter,  sondern  die 
Schauspieler  verantwortlich;  diese  Verirrung  lag  um  so  näher,  da  man  die 
melischen  Chorpartien  aus  der  Tragödie  ganz  auszuscheiden  pflegte.  Diodor 
XV  7,  2  überträgt  auf  die  klassische  Periode  die  Sitte  seiner  Zeit. 

417)  In  den  Komödien  des  Plautus  werden  die  in  Senaren  gedichteten 
Scenen  niemals  als  canlica.  sondern  als  diverbia  bezeichnet.  —  Für  die  iam- 
bischen Tetrameter  bei  Aristophanes  dürfen  wir  in  der  Parodos  und  Epodos 
des  Chores  melischen  Vortrag  voraussetzen ;  die  Verse  des  Dialoges  wurden  ge- 
sprochen. 

418)  Xenophon  Symp.  6,  3:  utoneg  Nitcoaroaroi  6  v:ioxotri;i  Terodfieroa 
TXQoe  tIv  ai'tJbv  y.areXsyev;  denn  nach  strengem  Sprachgebrauch  schliefst  xara- 
Xdyeiv  den  Gesang  aus.  Wenn  Xenophon  selbst  dies  als  ^8r,  zu  betrachten 
scheint,  so  bezeichnet  dieser  Ausdruck  im  weiteren  Sinne  auch  den  melodra- 
matischen Vortrag.  Nikostratus  war  tragischer  Schauspieler.  Dafür,  dafs  in 
der  Tragödie  trochäische  Verse  nicht  einfach  declamirt  wurden,  scheint  Aristot. 
Poet.  4,  14  p.  1449  A  24  zu  sprechen,  wo  er  dem  trochäischen  Tetrameter  den 
iambischen  Trimeter  als  fidXiara  Xexrtxbv  rcHv  fiir^cov  gegenüberstellt. 

419)  Wenigstens  spricht  dafür  Aristoph.  Friede  1171,  wo  mitten  im  Satze 
der  Chor  von  einer  melischen  Partie  zu  trochäischen  Langversen  übergeht;  doch 
ist  es  möglich,  dafs  gerade  hier  und  so  überall  in  der  Parabase  die  naqaxata- 
h>yri  in  Anwendung  kam. 


128  DUITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V,  CHR.  G. 

Ergebnifs  zu  gewinnen.  Für  die  aus  Dimetern  bestehenden  Systeme 
in  der  Parodos  und  Epodos  der  Tragödie,  sowie  für  die  Perikopen, 
welche  mit  melischen  Strophen  verflochten  sind,  ist  die  einfache 
Declamation  ausgeschlossen.  Sie  wurden  wohl  unter  Flötenbegleitung 
recitirt  und  vielleicht  war  diese  Weise  des  Vortrags  für  die  anapästi- 
schen Dimeter  bei  den  Tragikern  überhaupt  Norm;  doch  mag  unter 
Umständen  auch  vollständiger  Gesang  eingetreten  sein.^*°)  Wenn  die 
Komödie  den  anapäslischen  Langvers  in  dialogischen  Partien  gleich- 
sam als  Demegorie  anwendet,  so  ist  zwar  melischer  Vortrag  unstatt- 
haft, aber  die  Klänge  der  Flöte  konnten  sehr  passend  diese  erregte 
Debatte  begleiten,  wie  dies  in  der  Parabase  der  Fall  war."')  Aber 
ob  hier  der  Koryphäus  die  anapästischen  Langzeilen  melodramatisch 
oder  melisch  vortrug,  ist  ungewifs **'');  dagegen  die  alhemlose  Hast, 
mit  der  das  den  Schlufs  bildende  System  der  Dimeter  recitirt  wurde, 
ist  mit  dem  Gesänge,  der  stets  ein  gröfseres  Zeitmafs  beansprucht, 
unvereinbar."")  Dafs  übrigens  auch  der  Komödie  gesungene  ana- 
pästische Dimeter  nicht  fremd  waren,  bezeugt  Aristophanes  selbst.*") 
Für  die  freien  Anapästen,  sowohl  der  Tragiker  als  auch  der  Komi- 
ker, dürfen  wir  durchgehends  melischen  Vortrag  voraussetzen."**) 


420)  Für  die  Anapästen  im  Clirysippus  des  Euripides  fr.  1  [836  Di.]  bezeugt 
dies  Sextus  Empiricus  (na^ä  rols  r^ayixole  fielt]  xal  ardaifia) ,  ähnlich  wohl 
auch  die  Anapästen  in  den  Kretern  fr.  2  [475  a  Di.]  desselben  Dichters. 

421)  Aristoph.  Vögel  683  deutet  mit  klaren  Worten  darauf  hin. 

422)  Hesychius  und  Suidas  1  1,  354:  dvaTiataza  [-oi]'  xv^icos  ro  iv  rais 
TtttQaßäoeai  rtöv  yoQÜv  aofiara  ist  nicht  entscheidend ;  denn  nSeiv,  qa/ia  (aber 
nicht  fiikoe)  wird  auch  von  melodrannatischem  Vortrage  gebraucht.  So  läfst  auch 
das  aSovxai  Aristoph.  Plut.  1209  über  den  Vortrag  der  Anapästen  in  der  Exodos 
keinen  sicheren  Schlufs  zu. 

423)  Irrthümlich  sagt  Pollux  IV  112  von  dem  sogenannten  /laxQov  oder 
Ttvlyos:  ßgo-xv  fieXvS ^löv  kariv  dnvevaxi  qSöfievov.  Richtiger  drückt  sich 
Hephaestion  de  poem.  c.  14  aus:  anrevarl  Xeyea&ai.  Dafs  manchmal  die  eigent- 
liche Parabase  aus  rein  lyrischen  Versmafsen  gebildet  wird,  ist  für  die  ana- 
pästiscben  Langverse  nicht  entscheidend,  ebenso  wenig  dafs  das  vorangeiiende 
HOfifiärtov  öfter  ein  wirkliches  fit'loi  war.  Wo  die  Parabase  aus  lyrisciien 
Versen  bestand,  da  mag  manchmal  auch  das  jtvTyoe  ähnlich  gebildet  gewesen 
und  als  /lilo:  vorgetragen  worden  sein. 

424)  Aristoph.  Vögel  226:  ovnoxp  fisXioSsXv  av  TtagauHevä^nat,  was  auf 
das  vorhergehende  anmuthige  Lied  in  anapäslischen  Dimetern  zurückweist. 

425)  Hier  ist  auch  der  Dialekt  dorisch  gefärbt,  während  die  strengen  Sy- 
steme in  Dimetern,  sowie  die  Telrameter  den  attischen  Dialekt  hier  und  da 
mit  epischen  Formen  gemischt  .festhalten.     Doch  linden  sich  ab  und   zu  auch 


DIE   DRAMATISCHE  POESIE.     EINLEITUNG.  129 

Das  lyrische  und  dramatische  Element  waren  eigenthch  geson-  Oekonomic 
dert.  Die  melischen  Partien  gehören  dem  Chore,  der  in  den  Ruhe- 
punkten der  Handlung  seine  Gedanken  und  Empfindungen  kund 
giebt,  während  der  Dialog  und  alles,  was  gesprochen  wird,  den  Per- 
sonen der  Bühne  zufällt.  Indes  finden  auch  Uebergänge  statt;  wie 
sich  der  Chor  ab  und  zu  am  Gespräch  betheihgt,  so  bedienen  sich 
die  handelnden  Personen,  wenn  sie  von  leidenschafthcher  Bewegung 
ergriffen  werden,  der  lyrischen  Form.  Im  Dialoge  liegt  vorzugs- 
weise der  Schwerpunkt  des  Dramas.  Durch  den  Wechsel  der  Rede 
und  Gegenrede  wird  ebenso  der  Charakter  der  handelnden  Personen, 
wie  der  Fortschritt  der  Handlung  dargelegt.  Bald  wechseln  mit 
schneidender  Schärfe  Vers  um  Vers,  Halbvers  um  Halbvers;  dann 
folgen  wieder  längere  Reden.  Eine  gewisse  natürliche  Redegabe  ist 
dem  hellenischen  Volke  verliehen.  Durch  die  Gestaltung  des  öffent- 
lichen Lebens  ward  dies  Talent  frühzeitig  entwickelt,  zumal  in  Athen, 
wo  die  Debatten  der  Volksversammlungen,  die  Verhandlungen  vor 
Gericht  das  allgemeine  Interesse  in  Anspruch  nahmen.  Dieses  redne- 
rische Element  macht  sich  daher  auch  von  Anfang  an  in  der  Tra- 
gödie geltend.  Die  Scenen,  wo  Anklage  und  Rechtfertigung,  Angi'iff 
und  Abwehr  mit  steigender  Lebhaftigkeit,  oft  mit  leidenschafthcher 
Erbitterung  die  scharfe  Waffe  des  Wortes  führen,  sind  in  der  Regel 
mit  grofser  Kunst  und  weiser  Berechnung  der  Mittel  ausgearbeitet 
und  verfehlten  nicht  leicht,  auf  die  Zuhörer,  welche  den  Werth  die- 
ser Kunst  wohl  zu  würdigen  wufsten,  die  beabsichtigte  Wirkung 
auszuüben.  Uns  werden  diese  Reden,  wo  die  natürhche  Empfindung 
mehr  und  mehr  durch  dialektische  Kunst  ersetzt,  die  überzeugende 
Kraft  der  Wahrheit  spitzfindiger  Beweisführung  aufgeopfert  wird, 
nicht  sehen  kalt  lassen;  es  gilt  dies  namentlich  von  der  jüngeren 
Tragödie,  die  den  Einflüssen  der  sophistischen  Bildung  sich  nicht 
entziehen  kann.***)  Monologe,  in  welchen  die  Handelnden  ihre  Lage, 
ihre  Zustände  und  Absichten  darlegen,  sind  nicht  gerade  häufig.^*^ 

in  strengen  Systemen  Dorismen,  wie  bei  Euripides  Medea  (97  f.  111  f.  144  ff.  163), 
was  auf  Gesang  hindeutet;  nur  fragt  sich,  in  wie  weit  auf  die  Ueberlieferong 
des  Textes  Verlafs  ist. 

426)  Aristoteles  Poet.  c.  6  p.  1450B  7  bezeichnet  treffend  den  Unterschied: 
Ol  fiiv  yag  o(>;faM>*  Ttohrixcös  inoiovv  leyovras,  ol  8e  vvv  ^r;roQtxcäi ,  indem 
er  mit  Recht  die  charaktervolle  Beredsamkeit  der  berechneten,  künstlichen  Rhe- 
torik des  Verstandes  vorzieht. 

427)  So  der  Monolog  des  Prometheus  im  Eingange  der  Tragödie,  der  des 
Bergk,  Griech.  Literaturgeschichte  IH.  ,  9 


130  DRITTE  PERIODE  \0y  500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

Desto  beliebter  ist  die  Form  des  Botenberichtes  und  Erzählungen 
verwandter  Art,  welche  fast  in  keiner  Tragödie  fehlen  und  zuweilen 
selbst  im  Ausgange  des  Stückes  verwendet  werden,  indem  die  Kata- 
strophe nur  berichtet  wird,  was  eigentUch  dem  Wesen  der  drama- 
tischen Poesie  widerspricht.  Man  darf  darin  nicht  blofs  die  Macht 
des  Herkommens,  eine  Erinnerung  an  die  Anfänge  des  Dramas  er- 
blicken, sondern  schon  weil  auf  der  griechischen  Bühne  aus  con- 
ventionellen  Rücksichten  manches  nicht  dargestellt  werden  durfte, 
konnte  man  auf  dieses  Auskunftsmittel  nicht  verzichten.  Indem 
ferner  der  beschränkte  Umfang  des  griechischen  Dramas  den  Dich- 
ter nöthigte,  seinen  Stoff  möglichst  zu  concentriren,  leistete  das  Ein- 
mischen erzählender  Partien  erwünschte  Dienste;  daher  greift  auch 
Euripides ,  der  jene  Beschränkung  am  meisten  empfand ,  so  häufig 
zu  dieser  epischen  Form. 

Die  lyrischen  Partien  der  Tragödie  zerfallen  in  Chorlieder 
und  Gesänge  der  Schauspieler^'^);  diese  sind  wieder  entweder 
Monodien  oder  werden  abwechselnd  von  mehreren  vorgetragen.**®) 
Dazu  kommen  die  Klagelieder""),  in  denen  die  Tragödie  ihren 
Höhepunkt  erreicht.  An  diesen  betheihgen  sich  der  Chor  bald  allein, 
bald  auch  die  handelnden  Personen.  In  einem  solchen  Liede  lösen 
sich  einzelne  Choreuten  oder  auch  Abtheilungen  ab,  während  die 
eigentlichen  Chorgesänge  in  der  Regel  vom  gesammten  Chore  vor- 
getragen wurden.     Dies  ist  das  unterscheidende  Merkmal.''^')    Doch 


Ajas,   ehe  er  Hand  an  sich  legt.    Nur  Euripides  macht  besonders  im  Prolog 
ausgedehnten  Gebrauch  von  dieser  Form. 

428)  Xoqmä  und  ihnen  gegenüber  ra  ano  axijv^e  (auch  axijvixd,  axtj- 
vixr,  ipSrj). 

429)  Man  unterscheidet  daher  die  /lovipSla  und  to  afioßaia.  Schon  Ari- 
stophanes  in  den  Fröschen  1330,  wo  er  die  lyrische  Kunst  des  Euripides  kriti- 
sirt,  stellt  das  (xoQixa)  fiehj  dem  xäiv  /lovqfStüiv  tqötios  gegenüber;  daher 
rühmt  sich  auch  Euripides  ebendas.  944,  er  habe  die  Tragödie  mit  Monodien 
ausgestattet  {aver^sfov  fiovwSiais).  Die  Monodie ,  als  die  beliebteste  Form, 
vertritt  hier  die  Bühnengesänge  überhaupt.  Auch  die  Grammatiker  berücksich- 
tigen vorzugsweise  dieses  Moment,  Eukleides:  axrjvixov  8i  iaxiv,  ornv  toJv 
vnox^ircüv  {ets)  eie  c^Sfjv  <ps^Tjrai. 

430)  Kofifioi. 

431)  Aristoteles  bezeugt  dies  Poet.  c.i2  p.  1452  B  16:  xo^ixo*',  uai  xovxov 
X  fiiv  nrtQoSos,  x6  Si  axdaiftov  xoivd  fiev  dnävxtav  xavxa,  i'Stn  8i  xd  dno 
xfie  cxr^vrj«  xai  xöfifiot.  Freilich  ist  der  Sinn  dieser  Worte  vielfach  mifsverslanden 
worden;  indem  man  S^aftäxtov  zu  dnävxotv  ergänzt,  versteht  man  darunter  alle 


DIE   DRAMATISCHE   POESIE.    EIISLEITUNG.  131 

darf  man  nicht  jede  lyrische  Partie,  wo  Choreuten  und  Schauspieler 
zusammenwirken,  für  einen  Kommos  ansehen ;  nicht  sehen  wechselt 
der  meUsche  Vortrag  des  Schauspielers  mit  dem  vollstimmigen  Chor- 
gesange  ab/^^) 

Unter  den  Chorhedern   mufs  man  vor  allem   die  Parodos  vom  ChorUeder. 
Stasimon  unterscheiden.    Die  Parodos  ist  der  Gesang,  welchen  der 
Chor  bei  seinem   ersten  Auftreten  vorträgt.^)     Diese  Einzugsheder 

drei  Gattungen  der  dramatischen  Poesie,  während  Aristoteles  doch  nur  von  der 
Tragödie  handelt.  Will  man  also  S^a/zdrcov  suppliren ,  so  mufs  man  die  Be- 
merkung auf  die  Tragödie  beschränken,  und  der  Sinn  wäre,  Parodos  und  Sta- 
sima  kommen  in  jeder  Tragödie  vor,  sind  nothwendige  Theile,  nicht  aber 
Bühnengesänge  und  Klagelieder.  Für  diese  Auffassung  liefse  sich  mit  ge«  issem 
Schein  geltend  machen,  dafs  der  Bühnengesang  sich  erst  später  in  der  Tragödie 
selbständiger  entwickelt,  während  die  eigentlichen  Klagegesänge  vorzugsweise 
der  alten  Tragödie  angehören;  allein  xotv/  wäre  dann  ein  sehr  entbehrlicher 
Zusatz  und  nicht  minder  auffallend  der  Ausdruck  iSia.  Koiva  anävrcov  ist  ge- 
radeso zu  fassen,  wie  nachher  xöfifios  d'Qr^vos  xoivbs  %oqov  xai  ano  axr,vr^s. 
Die  Parodos  und  das  Slasimon  werden  nach  Aristoteles  von  dem  gesammten 
Chore  {aTtavree),  Bühnengesänge  und  Kommoi  von  Einzelnen  vorgetragen:  es 
ist  dies  naturgemäfs  und  gewifs  auch  mit  der  Praxis  in  Uebereinstimmung;  nur 
hat  man  sich  unter  Umständen  auch  von  der  Regel  abzuweichen  erlaubt.  "iSta 
{aa/iaxa)  ist  der  Kunstausdruck  für  Gesänge,  die  von  Einzelnen,  sowohl  Schau- 
spielern als  Choreuten,  vorgetragen  wurden,  s.  Biographie  des  Sophokles:  (fvai 
8i  ^A^iarö^evos,  eis  TtQcöros  rwv  ^A&r^vr,at  7iotrjT(öv  tiiv  4>Qvyiav  (isXoTtoitav 
eis  ra  iSia  aofiara  TtaqsXaße,  worunter  eben  Monodien  und  dergleichen  zu 
verstehen  sind. 

432)  So  in  der  Regel,  wenn  die  Parodos  oder  ein  Stasimon  die  Form  der 
melischen  afioißaXa  zeigt,  wo  der  Chor  als  Gesammtheit  den  Schauspielern  gegen- 
übertritt :  entschieden  irrig  rechnen  die  Neueren  auch  solche  Partien  zu  den  xc/tfioi. 
Zuweilen  findet  auch  hier  Einzelvortrag  der  Ghoreuten  statt;  dann  ist  gewöhn- 
lich der  poetische  Text  in  kurzen,  abgerissenen  Sätzen  unter  die  Sänger  vertheilt. 

433)  Die  Parodos  folgt  gewöhnlich  auf  den  Prolog.  Nur  in  den  Persern, 
den  Schutzflehenden  und  dem  Rhesus  wird  das  Drama  mit  der  Parodos  eröff- 
net; verschieden  ist  das  Verhalten  im  Philoktet,  wo  der  Chor  mit  Odysseus 
und  Neoptolemus  zugleich  auftritt,  aber  erst  nach  dem  Prologe  seinen  Gesang 
beginnt.  Die  Parodos  ist  das  Einzugslied  des  Chores,  Pollux  IV  108:  tj  fiev 
EiaoSos  TOI  )fOQot'  Tiä^oSos  xaX^lrai.  —  Die  Definition  der  nÜQoSos  bei  Aristo- 
teles Poet.  c.  12  p.  1452  B  22:  -/oqixov  8e  nÖQoSos  uev  fj  tc^coti]  /tf'liä  oXov 
Xoqov,  axaaiftov  Se  fiiXos  x^QO"^  ^o  ^vbv  dvanaiarov  xai  TQOx,alov  könnte 
ausreichend  erscheinen,  wenn  nur  die  Erklärung  des  aiäoi/iov,  die  ein  blofs 
negatives  Merkmal  angiebt,  welches  noch  dazu  kaum  verständlich  ist,  befrie- 
digen könnte.  Die  lückenhafte  und  verderbte  Ueberlieferung  des  Aristotelischen 
Textes  (wiederholt  von  dem  Grammatiker,  den  Tzetzes  jtBQi  rgayc^Sias  51 
[Rhein.  Mus.  IV  402  ff.  ed.  Dübner]  ausschreibt)  gab  schon  im  Alterthume  zu 

9* 


132  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

sind  nicht  nach  einem  bestimmten  Schema  gearbeitet.  Wir  finden 
mannigfaltige  Formen,  und  man  darf  nicht  glauben,  dafs  die  uns 
erhaltenen  Tragödien  auch  für  jede  Bildung  Belege  darbieten.  Die 
Parodos  wird  in  der  älteren  Tragödie  gewöhnlich  durch  eine  bald 
gröfsere,  bald  geringere  Anzahl  anapäslischer  Dimeter  eingeleitet  ^^^), 


allerlei  willkürliclien  und  verfehlten  Aenderungen  Anlafs.  Aristoteles  wird  ge- 
schrieben haben:  naQoSos  ftev  ri  nQanrj  Xi^ts  oXov  xoQOv  ((lexa)  avanai- 
axov  xai  r^oxot-lov,  aräatfiov  8e  fis'Xos  (oXov)  xoQOv  xo  {ftsra^v  8vo 
ineiaoSC oiv).  Die  letzten  Worte  /lera^v  Svo  ^7r£tffo^t<üf  waren  ausgefallen; 
una  nun  die  unentbehrliche  Definition  des  arafftuov  zu  gewinnen,  bildete  man 
sie  der  Erklärung  der  Parodos  nach,  indem  man  unverständig  das  positive  Merk- 
mal in  ein  negatives  verwandelte.  Wie  die  Verderbnifs  successiv  zunahm,  liefsen 
später  die  Abschreiber  die  Worte  f*era  avanaiarov  xal  r^oxaiov  aus.  Mancher 
wird  vielleicht  vorziehen  avev  avanaCaxov  xai  r^oxaiov  der  Definition  der 
Parodos  hinzuzufügen  und  dann  einfach  eine  Lücke  anzunehmen,  wo  dann 
ävev  in  dem  Sinne  von  ;^a>pi.'s  zu  fassen  wäre,  so  dafs  Aristoteles  damit  an- 
deutete, die  Anapästen  und  Trochäen  würden  nicht  vom  ganzen  Chore  vorge- 
tragen; denn  dafs  er  diese  Partien  als  zur  Parodos  gehörig  betrachtet,  ist 
gewifs.  Allein  jene  Erklärung  der  Worte  ist  hart,  viel  einfacher  ist  fisrn;  da- 
durch wird  die  Verbindung  anapästischer  und  trochäischer  Partien  mit  der 
Parodos  klar  ausgesprochen ;  über  die  Verschiedenheit  des  Vortrags  spricht  sich 
Aristoteles  nicht  weiter  aus.  Anapästische  Systeme  als  Einleitung  der  Parodos 
finden  sich  nicht  nur  bei  Aeschylus  ganz  gewöhnlich,  sondern  auch  bei  Sopho- 
kles im  Ajas  und  kamen  gerade  bei  diesem  Dichter  wie  bei  anderen  öfter  vor. 
Trochäen  in  der  Parodos  der  Tragödie  bezeugt  ausdrücklich  Schol.  Aristoph.  Ach. 
204,  und  in  den  Persern  des  Aeschylus  V.  155  geht  die  Parodos  zu  diesem  Metrum 
über.  —  Es  ist  reine  Willkür,  wenn  Eukleides  den  Ausdruck  Parodos  auf  die 
Einzugslieder  beschränken  wollte,  welche  ganz  bestimmt  den  Charakter  eines 
Marschliedes  an  sich  tragen,  wo  man  aus  den  Worten  selbst  entnimmt,  dafs 
der  Chor  sich  fortbewegt,  wie  im  Orestes  V.  140  f.  Die  Definition  des  Euklei- 
des :  TiÜQoSös  iartv  coSt]  xoQO^  yivofievt]  (richtiger  und  vollständiger  Schol. 
Eur.  Phoen.  202  ßaSi^ovroe  aSofisvrj)  afia  rfi  slaöSco,  (oaneo  iv  ^Ogiarr} 
liefse  sich  zwar  mit  der  hergebrachter  Vorstellung  vereinigen;  aber  der  eigent- 
liche Sinn  jener  Worte  wird  klar,  wenn  man  siebt,  dafs  Eukleides  die  Parodos  des 
Hippolylus  V.  121  fT.  für  ein  Stasimon  erklärt,  welches  der  Chor  auf  seinem  Stand- 
orte ruhig  verweilend  (a-iäe)  vorgetragen  habe.  In  diesem  Falle  wird  Eukleides 
den  vorausgehenden  Jägerchor  V.  61  ff.  als  Parodos  behandelt  haben  (s.  A.  445), 
aber  vielen  Tragödien  mufste  er  dann  die  Parodos  ganz  absprechen,  weil  sich 
keine  Andeutung  der  Bewegung  vorfand:  so  der  Schol.  Eurip.  Phoen.  202,  der 
dem  Eukleides  folgend  diese  Parodos  (als  solche  auch  von  Schol.  Aescb.  Pers. 
Arg.  anerkiinnt)  für  ein  Stasimon  erklärt,  dabei  aber  unverständig  die  gewohnte 
Erklärung  festhält,  Stasimon  sei  das  auf  die  Parodos  insrn  rr,v  nägoBor)  fol- 
gende Chorlied,  die  nun  nicht  mehr  pafste. 

434)  So  bei  Aeschylus,  bei  Sophokles  im  Ajas,  dann  im  Rhesus  (nur  fin- 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.      EINLEITUNG.  133 

welche  der  Roryphäus  eben  während  des  Einzuges  in  die  Orchestra 
Tortrug.''")  Dann  sang  der  gesammte  Chor  die  melischen  Strophen, 
indem  er  dabei  die  Thymele  umwandelte/^®)  Oefter  aber  ward,  in- 
dem der  Chor  seinen  gewöhnhchen  Standpunkt  auf  der  Orchestra 
einnahm,  der  Gesang  noch  weiter  fortgesetzt,  namentlich  bei  Aeschy- 
lus,  der  so  Gelegenheit  hat,  die  Fülle  grofser  Gedanken,  die  er  gern 
gleich  im  Eingange  der  Tragödie  auszusprechen  Hebt,  zu  entwickeln, 
wie  z.  B.  im  Agamemnon  und  in  den  Persern."'') 

Indem  man  den  Umfang  der  Parodos  mehr  und  mehr  be- 
schränkte, Uefs  man  die  einleitenden  Anapästen  fort  und  ersetzte 
sie  durch  ein  Musikstück.  Der  Chor  begann  seinen  Gesang  erst, 
nachdem  er  sich  auf  der  Orchestra  befand.*^)  So  besteht  die  Pa- 
rodos nur  aus  den  melischen  Strophen  des  Chores.  Dies  ist,  wenn 
keine  Bühnen person  anwesend  war,  später  die  übliche  Form.  Allein 
in  der  älteren  Tragödie  werden  zwischen  die  melischen  Strophen 
auch  anapästische  Perikopen  eingeschaltet."^)  Indem  der  Vortrag 
des  Koryphäus  den  Gesang  der  Choreuten  ablöst,  wird  Abwechslung 


det  sich  hier  die  Form  der  afioißala).  Aeschylus  gebraucht  solche  anapästische 
Perikopen  zuweilen  auch  als  Einleitung  der  Stasima ;  der  jüngeren  Tragödie  ist 
dies  fremd.  Eigenthümlich  ist,  dafs  die  Parodos  in  der  Hecuba  des  Euripides 
nur  aus  Anapästen  besteht.  Die  Stelle  der  Anapästen  vertraten  offenbar  zu- 
weilen auch  trochäische  Langverse,  s.  A.  384. 

435)  Die  Zahl  der  Verse  ist  oft  viel  zu  grofs,  als  dafs  der  eigentliche 
Einzug  zu  ihrem  Vortrag  ausgereicht  hätte;  der  Koryphäus  setzte  offenbar  seinen 
Vortrag  auf  der  Orchestra  fort. 

436)  Ursprünglich  stimmte  der  Chor  ein  Lied  zu  Ehren  des  Dionysus 
an;  daher  ist  auch  die  Form  der  Trias  (Strophe,  Gegenstrophe,  Abgesang),  die 
eigentlich  dem  Hymnus  zukommt,  in  der  Parodos  auch  noch  später  sehr  be- 
liebt. 

437)  Dieser  zweite  Theil  der  Parodos  nimmt  dann  den  Charakter  des 
Stasimonsan;  daher  wird  wohl  a^ich  in  solchen  ausgeführten  Einzugsliedern  die 
Epode  in  der  Mitte  gefunden  (aufser  Aeschylus'  Agamemnon  auch  bei  Euripides' 
Phönissen,  indem  eine  Strophentrias  die  Parodos  eröffnet),  während  sie  in  den 
Stasima  nur  am  Schlufs  vorkommt. 

438)  So  bei  Aeschylus  in  den  Choephoren,  wo  der  Chor,  den  Orestes 
alsbald  bemerkt,  stumm,  aber  von  der  yjilij  avlr^an  begleitet,  hereinzieht  und 
erst  nach  dem  Schlüsse  des  Prologs  sein  Lied  beginnt.  Im  König  Oedipus 
ziehen  die  Greise  und  Kinder,  welche  während  des  Prologs  anwesend  waren, 
ab,  und  die  Greise  kommen  als  Chor  wieder;  Musik  geht  dem  Chore  voraus. 

439)  Wie  in  der  Antigone  des  Sophokles;  eigentlich  ist  nur  die  Stellung 
der  anapästischen  Perikopen  verändert. 


134  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

gewonnen.  Dieselbe  Form  findet  sich  auch,  wenn  bei  dem  Einzüge 
des  Chores  Schauspieler  auf  der  Bilhne  anwesend  sind;  dann  werden 
die  anapästischen  Perikopen  dem  Schauspieler  zugetheilt.'"")  So  stehen 
sich  die  handelnden  Personen  und  der  Chor  nicht  fremd  oder  theil- 
nahmlos  gegenüber.  Die  jüngere  Tragödie  giebt  jedoch  in  diesem 
Falle  auch  den  Schauspielern  mehsche  Strophen.**') 

Nur  ausnahmsweise  tritt  der  Chor  zuerst  auf  der  Bühne  auf, 
wie  bei  Aeschylus  in  den  Sieben ,  wo  die  thebanischen  Jungfrauen 
sich  zu  den  HeiUglhümern  der  Königsburg  begeben,  um  den  Schutz 
der  Götter  für  die  bedrohte  Stadt  anzurufen.  Hier  ist  die  Bühne 
frei,  wahrend  sonst  die  handelnden  Personen  gegenwärtig  sind,  so- 
bald der  Chor  auf  dieser  ungewohnten  Stätte  erscheint.*")  Es  ist 
immer  innige  Theilnahme  an  dem  Schicksale  der  Handelnden,  leb- 
hafte Neugier,  leidenschafthche  Aufregung  oder  irgend  ein  beson- 
derer Anlafs,  welcher  den  Chor  auf  die  Bühne  führt.  Die  strenge 
Ordnung  erscheint  hier  aufgelöst;  die  Form  des  feierhchen  Einzugs- 
Hedes  pafst  hier  nicht,  die  antistrophische  Form  kann  mit  freien 
Bildungen  vertauscht  werden,  der  vollstimmige  Gesang  des  Chores 
sich  in  einzelne  Stimmen  auflösen ;  mit  den  Bühnenpersonen  werden 
meist  kurze  Reden  gewechselt.*") 


440)  So  bei  Aeschylus  im  Prometheus  (nur  ist  der  Chor  hier  nicht  auf 
der  Orchestra),  bei  Euripides  in  der  Medea  (wo  zwei  Schauspieler  sich  bethei- 
ligen), eigenthümlich  im  Ajas  des  Sophokles,  wo  nach  der  eigentlichen  Pa- 
rodos  (eine  Trias),  welche  durch  Anapästen  des  Chores  eröffnet  war,  anapä- 
stische afioißala  der  Tekmessa  und  des  Chores  folgen;  zum  Schlüsse  singt  der 
Chor  wieder  zwei  Strophen,  unterbrochen  durch  Anapästen  der  Tekmessa. 

441)  Vgl.  Sophokles'  Elektra  und  Euripides'  Elektra  (von  Plut.  Lys.  c.  15 
als  Parodos  bezeichnet). 

442)  So  bei  Sophokles  im  Oedipns  auf  Kolonos,  bei  Euripides  im  Orestes, 
etwas  anderer  Art  bei  Aeschylus  in  den  Eumeniden,  wo  der  Chor  der  Rache- 
göttinnen zuerst  schlafend  im  delphischen  Tempel  dargestellt  wird.  Im  Pro- 
metheus erscheint  er  mit  Hülfe  einer  Maschine  über  der  Bühne.  Werthlos  ist 
die  Bemerkung  Schol.  Hephaest.  128:  näqoSoi  xakclxat  rj  n^cinj  rmv  xoQ^ 
dnl  r^v  axTjvrjv  ei'aoSos,  welche  auf  die  römische  Zeit  geht. 

443)  Bei  der  Parodos  auf  der  Bühne  haben  die  xofiftmixrt  ihre  Stelle, 
wie  im  Oedipus  auf  Kolonos  und  im  Orestes  (hier  ist  überhaupt  der  Antheil 
des  Chores  auf  das  geringste  Mafs  beschränkt).  Diese  Einzugslieder  haben  eben 
viel  Abweichendes;  nur  die  Parodos  im  Prometheus  gleicht  einer  gewöhnlichen 
Parodos;  der  Chor  tritt  nur  deshalb  zuerst  gleich  auf  der  Orchestra  auf,  weil 
die  Okeaniden  als  Göttinnen  mit  Hülfe  der  Maschine  eingeführt  werden. 


DIE   DRAMATISCHE   POESIE.      EINLEITÜ>G.  135 

Die  Bühne  ist  für  die  Schauspieler  bestimmt;  der  Chor  darf  sie 
nur  vorübergehend  benutzen  und  vertauscht  sie  alsbald  mit  der  Or- 
chestra.  Daher  betrachtet  man  in  diesem  Falle  das  erste  Lied,  wel- 
ches der  Chor  von  seinem  gewohnten  Platze  aus  vorträgt,  nicht 
unpassend  als  die  Parodos  der  Tragödie."^  Der  Chor  kann  aber 
auch  zeitweilig  während  der  Handlung  abtreten;  sein  Wiedererscheinen 
nannte  man  Epiparodos/") 

Das  Auftreten  des  Chores  wird  in  der  Regel  schicklich  moti- 
virt;  entweder  giebt  der  vorangehende  Prolog,  indem  er  das  Er- 
scheinen des  Chores  ankündigt,  den  nöthigen  Aufschlufs,  oder  der 
Chor  theilt  selbst  das  mit,  was  zum  richtigen  Verständnifs  der  Situa- 
tion erforderhch  ist.'"®)  Nur  Euripides  verfährt  öfter  mit  einer  ge- 
wissen Sorglosigkeit  auch  da,  wo  die  Verhältnisse  des  Chores  ein 
genaueres  Motiviren  verlangen.  Das  Einzugslied  erinnert  nicht  selten 
an  rehgiöse  Gesänge,  besonders  Hymnen  oder  Processionslieder^"); 
anderwärts  zeigt  es  auch  den  Charakter  eines  Marschliedes  oder  eines 


444)  Plutarch  an  seni  s.  resp.  ger.  3  bezeichnet  daher  das  erste  Stasimon 
des  Oedipus  auf  Kolonos  V,  66S  als  nÖQoSos,  weil  erst  hier  der  Chor  sich  auf 
der  Orchestra  befindet.  Doch  wird  dieser  Sprachgebrauch  nicht  streng  beobach- 
tet ;  der  Schol.  Aristoph.  Wespen  270  nennt  das  zweite  Lied  im  Prometheus, 
wo  der  Chor  die  Orchestra  betritt,  V,  397  ein  aräatfiov. 

445)  Pollux  IV  108 :  ^  Se  xarä  j^oe^av  s^oSoi  cos  7iä?.iv  etaiövroav  fierd- 
araais ,  t}  8e  fiexa  ravzrjv  ei'aoSos  iniTtaooSos.  So  im  Ajas  des  Sophokles, 
wo  der  Scholiast  zu  V.  S13  bemerkt:  ueraxiveiTai  tJ  ascr^vfj  rov  z^pov  i^sX- 
■d'övros,  avayxaia  8s  t}  S^oBos,  iva  ev^rj  xaiQov  6  yä'i'as  ;f£tß(yffao'^«»  eavrov. 
Ebenso  in  der  Alkestis  des  Euripides,  s.  Schol.  918,  der  sich  auf  den  Ajas  be- 
ruft, und  in  der  Helena,  wo  der  Chor  V,  385  sich  mit  Helena  entfernt  und 
V.  515  wiedererscheint.  Der  Grammatiker  Eukleides  weicht  auch  hier  von 
dem  wohlbegründeten  Sprachgebrauche  ab,  wenn  er  sagt:  iTtirtä^oSos  Se  iariv, 
oxav  ireoos  xooos  dfixvrjrat  zov  nooxioov  7ta^£?.d'övros,  indem  er  im  Hippo- 
lytus  das  Lied  des  Jägerchores  (der  als  Nebenchor  zu  betrachten  ist)  als  Par- 
odos, das  Einzugslied  des  eigentlichen  Chores  als  Epiparodos  und  zugleich, 
weil  es  nicht  den  Charakter  eines  Marschliedes  hat,  als  Stasimon  bezeichnet. 
(S.  A.  433.) 

446)  Schol.  Aesch.  Pers.  Arg. :  na^oSixä ,  ore  ke'yst  5t'  ^v  airiav  TxaQ- 
Eariv,  ähnlich  Tzetzes  n.  rgay.  35,  wo  er  wahrscheinlich  den  Dionysius  aus- 
schreibt. Schol.  Soph.  Antig.  100:  inel  xal  ras  nQOfäasis  rr,s  siaöSov  rcäv 
XOQÖJv  Tti&avds  elvai  Sei,  und  ebendas.  155  die  richtige  Bemerkung,  dafs  der 
Dichter  mit  besonderer  Kunst  die  nöthige  Aufklärung  für  den  Schlufs  aufgespart 
habe. 

447)  Die  Parodos  im  König  Oedipus  kann  man  mit  einem  Päan  ver- 
gleichen. 


136  nniTTE  Periode  von  500  bis  300  ?.  chr.  g. 

Klagegesanges/")  Bei  Aeschylus,  wo  der  Chor  niemals  zur  Bedeu- 
tungslosigkeit herabsinkt,  ist  das  Einzugslied  kein  blofser  Schmuck 
des  Dramas,  sondern  erfüllt  den  Zweck,  die  Zuschauer  auf  die  be- 
vorstehenden Ereignisse  vorzubereiten  und  ihr  Gemüth  in  die  rechte 
Stimmung  zu  versetzen,  in  wirksamster  Weise.  Besonders  umfang- 
reich, gewichtig,  inhaltvoll  ist  die  Parodos,  wenn  der  Dichter  die- 
selbe benutzt,  um  den  Grundgedanken  klar  auszusprechen;  ander- 
wärts spart  er  dies  für  ein  späteres  Chorlied  auf,  wenn  die  Handlung 
an  einem  entscheidenden  Punkte  angelangt  ist/^^) 

Wie  der  Chor  lebhaftes  Interesse  an  der  dramatischen  Hand- 
lung nimmt,  so  begleitet  er  jeden  Abschnitt  mit  seinem  Urtheil, 
seinen  Wünschen  und  Erwartungen.  Obschon  der  Chor  seine  An- 
sicht auch  den  handelnden  Personen  gegenüber  theils  durch  seinen 
Sprecher,  theils  durch  seine  Gesammtheit  kund  giebt,  so  tritt  doch 
seine  Thätigkeit  vorzugsweise  dann  ein,  wenn  die  Bühne  momentan 
frei  ist.  Wie  die  Parodos  den  Uebergang  vom  Prolog  zum  ersten 
Auftritt  vermittelt,  so  trägt  auch  der  Chor  am  Schlüsse  jedes  Auf- 
trittes ein  bald  längeres,  bald  kürzeres  Lied  vor.  Diese  Chorlieder, 
wodurch  die  Abschnitte  der  dramatischen  Handlung  markirt  werden, 
heifsen,  eben  zum  Unterschiede  von  der  Parodos,  Stasima*"),  eben 


448)  So  unter  anderen  die  Parodos  in  den  Choephoren,  die  eine  Art  d-Q^- 
vos  (nicl)t  xofifios)  ist. 

449)  So  in  den  Eumeniden  V.  490— 565;  auch  im  Prometlieus  findet  sich 
das  bedeutsamste  Cliorlied  526 — 560  in  der  Mitte  der  Tragödie,  ebenso  bei 
Sophokles  in  der  Antigone  V.  582—625. 

450)  Die  Definition  des  Stasimons  bei  Aristoteles  c.  12  p.  1452  B  23,wie  sie 
oben  A.  433  vermuthungsweise  hergestellt  wurde :  axäai/xov  de  fiih>s  {o)mv)  xoqov 
%o  {ftera^v  Svo  insiaoSioiv)  entspricht  allen  Anforderungen;  denn  das  aräaifiov 
wird  vom  ganzen  Chor  vorgetragen  (Aristoteles  selbst  sagt  vorher  von  der  Paro- 
dos und  dem  aräaifiov,  sie  wären  xoiva  anävrcov)  und  tritt  da  ein,  wo  die  Hand- 
lung zu  einem  Ruhepunkte  gelangt  ist.  Hier  ist  der  schickliche  Moment  für  die 
ßetrachtungen  des  Chores,  und  zugleich  wird  Raum  gewonnen  für  das,  was 
inzwischen  aufserhalb  der  Bühne  vor  sich  geht.  Die  Definition  des  Chorliedes 
der  Komödie  neql  xtoftc^Siae  X  d  8  (der  Verfasser  benutzte  ein  vollständigeres 
Exemplar  der  Aristotelischen  Schrift)  ;^o()txt')v  iari  rh  vno  tov  xoQOv  fiiXoe 
qSöfiet'ov,  örav  i'xij  fie'ye&os  ixavöv,  fügt  ein  weiteres  Merkmal  hinzu;  dadurch 
werden  die  kurzen  Chorlieder  innerhalb  der  Epeisodien,  wie  z.  B.  Aeschylus* 
Schutzfl.  418 — 437  ausgeschlossen.  Dagegen  rrept  xcoftt^SiasWtn  30  ftiXos  xa- 
hilxai  XOQOV  ist  lückenhaft;  schon  Tzelzes  negl  xcoftioSint  13  hatte  keinen 
besseren  Text  vor  sich.  —  Weshalb  diese  Chorlieder  den  Namen  mäaifia  füh- 
ren,  ist  streitig,     ^znaifiov  /tiXoe  bildet  eigentlich   den  Gegensatz   zu  fuXos 


DIE    DRASUTISCHK    POESIE.      ELNLEITOG.  137 

weil  der  Chor  jetzt  seinen  gewohnten  Standort  auf  der  Orchestra 
einnimmt,  nicht  aber,  wie  meist  die  ahen  Grammatiker  berichten, 
weil  er  während  des  Vortrages  unbeweglich  dastand.     In  der  alten 


iQÖxtH^ov,  ßaaifiov  (Sophokles  im  Thamyras  fr.  22S  Di.:  TtqönoSa  fitlea'  xa  8^ 
oaa  xXvofiev  TQoxifitt  ßäaifia  x^Qeai  TtoSsat,  wo  vielleicht  Tt^önoXa  zu  lesen 
ist).  Daher  ist  araaifiov  so  viel  als  ruhig,  gemessen.  Aristoteles  gebraucht  es 
Probl.  XIX  4S  p.  922  B  14,  Pol.  IX  7  p.  1342  ß  13,  wo  er  von  Melodien  redet,  als 
gleichbedeutend  mit  (isyaXonQEntiS,  vgl.  auch  Athen.  XIV  629  D.  Allein  auf  den 
Charakter  dieser  Lieder,  der  höchst  mannigfaltig  war,  darf  man  den  Namen  axä- 
aiftov  nicht  beziehen,  sondern  sie  heifsen  axäaifia  im  Gegensatz  zur  TtagoSos, 
weil  der  Chor  jetzt  seinen  gewohnten  Standort  auf  der  Orchestra  einnimmt  {axa- 
ffts,  vgl.  Photius  xqIxos  a^iaxsQov,  Hesychius  ino-MX-niov,  Schol.  Aristoph.  Friede 
733 ;  dieser  Ort  war  durch  yga/^/uai  genau  bezeichnet),  während  er  bei  der  Paro- 
dos  in  die  Orchestra  einzieht,  um  zu  dieser  Stelle  zu  gelangen.  Dem  Wahren 
kommt  ziemlich  nahe  Schol.  Aesch.  Pers.  Einl. :  xcSv  '/oq^v  xa  fiev  iaxt  nagoStxd, 
oxs  Xiyst,  Si'  T]v  aixiav  nägsaxiv,  —  xa  Se  axäatfxq,  oxe  laxaxat  (d.  h.  6  %o^oe, 
denn  schwerlich  war  der  Ausdruck  axdaifiov  mit  dem  Stillstehen  der  Handlung 
auf  der  Bühne  in  Verbindung  gesetzt)  xal  uQx^a^  t^s  av/xfogäs  xov  Sgäf/axos 
(die  offenbare  Lücke  ist  etwa  durch  ^Xeos  xal  foßos  auszufüllen),  xd  Se  xo/i-- 
fiaxixd,  oxe  Xomov  ev  d'QTivcg  yivexai,  eine  Definition,  die  vielleicht  auf  Dio- 
nysius  von  Halikarnafs  zurückgeht.  Daran  schliefst  sich  Tzetzes  negi  xoaycpS^ 
48  ff.  an,  wonach  das  Stasimon  der  Protasis  des  Dramas  angehört,  während  bei 
der  Epitasis  seine  Stelle  durch  die  efjLfibXeia  (Tzetzes  58  ff.)  ersetzt  ward.  Allein 
nach  der  gewöhnlichen  Auffassung  der  Grammatiker  ist  das  axäaifiov  deshalb 
so  genannt,  weil  der  Chor  ruhig  auf  der  Orchestra  stand,  Schol.  Eurip.  Phoen, 
202 :  oxav  6  x^Q^s  fuxd  xr,v  naQoSov  Xeyr]  xi  fie'Xos  ävr;xov  xrj  vTto&east  dxi- 
vrjxos  fiivoiVf  axdaifiov  xaXelxai,  ebenso  Etym.  unter  axdaifiov:  oxav  6  xoode 
fiexd  xf]v  TidqoSov  Siaxid'r/xai  xi  fievcav  dxivr^xos  TtQos  xrjv  vTCod'eaiv  dv{r^xov), 
Eixoxojs  dv  axdaifiov  Xiyoixo.  Aehnlich  ebendas.  TtgoacoSiov  wird  axdatfia  fieXi] 
erklärt,  jedoch  ohne  bestimmte  Beziehung  auf  das  Drama,  Schol.  Aristoph. 
Frösche  1281  (irrthümlich  mit  dem  dort  gebrauchten  Ausdruck  axdais  fieXoiv 
in  Verbindung  gebracht,  wodurch  Neuere  sich  haben  irre  leiten  lassen),  Suidas 
II  2, 886  (wo  man  den  Zusatz  tj  axdaifiov  x6  xa^axcäSes  ganz  absondern  mufs). 
Die  Erklärung  in  den  Excerpten  aus  Eukleides:  aidaifios  Si  oxav  XQV  Xe'yeiv  axd- 
aifiov (lies  axdatfios  8e,  oxav  uqxV^^^  Xeyeiv  axds  xi  fieXos),  von 
Tzetzes  mehrmals  wiederholt,  würde  kaum  Erwähnung  verdienen,  da  sie  mit 
der  traditionellen  Auffassung  stimmt,  wenn  er  nicht  eben  davon  ausgehend  den 
Begriff  der  Parodos  anders  zu  fassen  versucht  und  deshalb  das  Einzugslied  im 
Hippolytus  für  ein  Stasimon  erklärt  hätte.  Die  Vorstellung  der  alten  Gram- 
matiker, welche  die  Orchestik  vom  Stasimon  so  gut  wie  ganz  ausschlieCsen,  ist 
hervorgerufen  durch  die  Klagen  der  Komiker  über  den  Verfall  der  Tanzkunst 
in  der  Tragödie  (der  Komiker  Plato  bei  Athen.  XIV  628  E  sagt  von  den  tragi- 
schen Chören  seiner  Zeit:  vvv  8^  otaneQ  dn6'nXr,xxoi  axdSrjv  iaxöixes  cogvovxai); 
vor  allem  aber  wurden  sie  in  dieser  Ansicht  bestärkt,  weil  in  der  römischen 
Zeit  der  Tanz  bei  Aufführung  der  Tragödie  vollständig  wegfiel. 


138  DRITTE   PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Tragödie  begleiten  orchestische  Bewegungen  nacli  Mafsgabe  des  In- 
haltes bald  lebhafter,  bald  mehr  gemessen  ein  jedes  Chorlied;  die 
jüngere  Tragödie  ermäfsigl  dieses  Element*"),  hat  jedoch  niemals  dar- 
auf verzichtet.  So  findet  sich  in  der  Regel  an  schicklicher  Stelle 
in  jenem  Drama  wenigstens  ein  Stasimon,  welches  vorzugsweise 
mannigfaltige  Tanzfiguren,  sowie  lebhafte  Mimik  erheischt"")  und 
öfter  unwillkürlich  an  die  rauschende  Lust  der  Dionysischen  Fest- 
feier erinnert,  wie  in  den  Trachinierinnen  des  Sophokles,  nachdem 
die  freudige  Kunde  von  der  bevorstehenden  Heimkehr  des  Herakles 
angelangt  ist."*")  Sophokles  pflegt  ein  solches  heiteres,  leichtes  Lied 
mit  entsprechenden  Tanzweisen  öfter  unmittelbar  vor  der  Katastrophe 
einzulegen.*")     Während   der  Zuschauer  schon  den  traurigen  Aus- 

451)  Cheironomie  und  Mimik  mochten  hier  mehr  und  mehr  die  eigent- 
lichen Tanzweisen  ersetzen  oder  doch  die  Bewegung  bedeutend  ermäfsigea 
(Athen.  XIV  629  D,  wo  er  den  Charakter  der  Tanzweisen  schildert,  verbindet  ora- 
aificäreQa  xai  noiytiXwTeqa  xal  rfjv  OQxrjdtv  anXovars'^ar  i'xovra);  vielleicht 
ward  auch  die  musikalische  Begleitung  entsprechend  modificirt,  indem  beson- 
ders bei  diesen  Stasima  Citherspiel  zur  Flöte  hinzutrat.  Wenn  in  einem  Sta- 
simon die  Epodenform  vorkommt,  war  wohl  auch  ein  Umzug  um  die  Thymele 
damit  verbunden. 

452)  Den  Grammatikern  ist  dies  nicht  entgangen;  daher  unterschieden  sie 
vom  araaifiov  entsprechend  der  ihnen  geläufigen  Vorstellung  die  dfifieXeta, 
d.h.  nicht  den  tragischen  Tanz,  sondern  eine  Gesangspartie  des  Chores,  wo 
dieser  Tanz  vorzugsweise  in  Anwendung  kam,  PolluxIV53:  r^ayqtSia,  naQ- 
oSos,  araatftov,  ififieleia,  xofifiarixd,  k'^oSoi.  Dieselben  lyrischen  Partien  der 
Tragödie  zählt  Tzetzes  auf  30  ff.,  wo  er  wahrscheinlich  Excerpte  aus  Dionysius 
verarbeitet:  die  i/ifieXeia  hat  ihre  Stelle  i^St]  Tt^oHOTtrovarje  rrje  r^aycoSias,  dar- 
auf folgt  V.  59  f.  der  xofifiöe  (axfiTjr  n^be  aiti]v  rjQfiivrjv  rQaytoSias).  Eukleides 
lehrt  dasselbe;  nur  gebraucht  er  daher  den  Ausdruck  vnoQxrjfia,  inav  6  xoQV 
yoe  c^SaQxfl  (die  Handschriften  a>BaQX£'iv)y  Xiysrai,  und  fügt  hinzu,  dafs  der 
T^'nofi  vTC0Qxr]narix6e  sich  eigentlich  mehr  für  das  Satyrdrama  als  die  Tra- 
gödie eigne:  wenn  er  dabei  besonders  die  Thätigkeit  des  Koryphäus  hervor- 
hebt, so  liegt  wohl  eine  alte  Ueberlieferung  zu  Grunde. 

453)  Sophokles  Trachin.  205,  wozu  der  Schoiiast  bemerkt :  ro  (ishSa^iov 
ovx  i'azi  aräai/uov,  aXV  vnb  trje  fSovrjS  oQxovvrat.  Die  Bemerkung  ist  rich- 
tig; denn  das  Lied  ist  mitten  in  die  Scene  eingelegt,  wird  auf  ausdrückliches 
Geheifs  der  Deianeira  vorgetragen,  dient  also  nicht,  wie  das  Stasimon,  zum  Ab- 
schlufs  des  Epeisodions;  aber  dem  Scholiasten  mochte  die  traditionelle  Auffas- 
sung des  Stasimons  vorschweben.    (S.  A.  542.) 

454)  So  in  der  Antigone  1115,  Ajas  693,  König  Oedipus  10S6,  während 
bei  Euripides  der  freudige  Triumphgesang  des  Chores,  wenn  das  Strafgericht 
den  Frevler  ereilt  hat,  mit  lebhaften  Tanzweisen  begleitet  wird,  wie  in  der 
Elektra  859,  im  rasenden  Herakles  763,  in  den  Bacchen  1153. 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.      EIKLEITÜNG.  139 

gang  voraussieht,  giebt  sich  der  Chor  freudigen  Hoffnungen  hin,  ohne 
in  seiner  Kurzsichtigkeil  das  drohende  Unheil  zu  ahnen,  und  eben 
durch  diesen  schroffen  Gegensatz  wird  die  tragische  Wirkung,  ver- 
stärkt. 

Der  Inhalt  der  Stasima  ist  so  mannigfaltig,  wie  die  wechsel- 
vollen Geschicke  der  Menschen,  welche  die  Tragödie  darstellt.'^) 
Doch  ward  die  Forderung,  dafs  die  Betrachtungen  des  Chores  sich 
jedes  Mal  an  die  Situation  anschliefsen  müssen,  zwar  in  der  Theorie 
alle  Zeit  als  wohlbegründet  anerkannt '*'*;,  aber  in  der  Praxis  später 
nicht  selten  vernachlässigt.''") 

Die  alte  Tragödie,  in  der  das  lyrische  Element  vorwaltet  und 
dem  Chore  ein  hervorragender  Antheil  an  der  Handlung  zufiel, 
schlofs  wohl  in  der  Regel  mit  einer  ausgeführten  melischen  Partie 
ab.  Auch  Aeschylus  hat  dies  noch  öfter  beobachtet.  Die  Schutz- 
flehenden und  die  Eumeniden  enden  mit  Chorliedern,  die  Sieben 
vor  Theben  und  die  Perser  mit  einem  Rommos.  Bühnengesänge 
und  Kommos  sind  auch  der  jüngeren  Tragödie  im  letzten  Akte  nicht 
unbekannt,  aber  ein  eigentliches  Chorhed  kommt  nicht  mehr  vor; 
nur  der  Koryphäus  pflegt  regelmäfsig  ein  Paar  Verse  zum  Schlüsse 
des  Dramas  zu  sprechen. 

Aufserdem  werden  öfter  mitten  in  einem  Epeisodion  kürzere 
Lieder  des  Chores,  die  zuweilen  nur  aus  ein  Paar  Versen  bestehen, 
an  passender  Stelle  eingeflochten.  Besonders  die  ältere  Tragödie, 
wo  das  Verhältnifs  zwischen  dem  Chore  und  den  handelnden  Per- 
sonen ein  viel  engeres  ist,  macht  davon  ausgedehnten  Gebrauch.''^) 

Auch  die  ältere  Tragödie  läfst   die  handelnden  Personen  ihreßühueng 

sänge. 

455)  Wenn  Pollux  IV  53  nach  ^oSos  noch  hinzufügt  evxrixa,  ifißar^gta, 
und  dies  sich  auch  auf  die  Tragödie  bezieht  (was  jedoch  nicht  sicher  ist),  so 
fügte  er  zu  den  nothwendigen  Theilen  noch  beispielsweise  andere  hinzu,  welche 
öfter  in  einer  Tragödie  vorkommen;  und  in  der  That  hat  das  Stasimon  sehr 
häufig  den  Charakter  eines  Gebetes  oder  hymnenartigen  Liedes,  während  es 
anderwärts  dem  Marschliede  gleicht. 

456)  Daher  die  Grammatiker  das  Stasimon  als  ein  fielos  avrixov  nQoe  ztjv 
inö&eaiv  definiren. 

457)  Vergl.  Aristot.  Poet.  c.  18  p.  1456  A  29  über  die  sogenannten  iftßöXtfia 
bei  Agathon,  dem  Euripides  und  die  jüngere  Tragödie  sich  willig  anschlofs. 

458)  So  bei  Aeschylus  in  der  Hauplscene  der  Sieben,  wo  jeder  Abschnitt 
des  Zwiegespräches  zwischen  Eleokles  und  dem  Boten  durch  ein  kurzes  Lied 
des  Chores  markirt  wird. 


140  DRITTE   PERIODE  VON  500  BIS  300  V.  CUR.  G. 

Gefühle  in  lyrischer  Form  aussprechen,  aber  nur  unter  Betheiligung 
des  Chores."^)  Hier  empfiehlt  die  enge  Beziehung  zwischen  Schau- 
spieler und  Choreuten  die  gleichniafsige  Durchführung  des  melischen 
Vortrags.  Dagegen  Monodien  sowie  Wechseigesänge  der  Schauspieler 
sind  der  ersten  Periode  noch  unbekannt;  wir  treffen  sie  zuerst  im 
Prometheus  des  Aeschylus.^®*')  Indem  durch  Sophokles  der  Umfang 
der  Chorgesänge  immer  mehr  beschränkt  ward,  lag  es  nahe,  den 
handelnden  Personen  einen  selbständigen  Antheil  an  dem  lyrischen 
Elemente  zuzuweisen,  um  so  dem  melischen  Vortrage  sein  gebühren- 
des Recht  in  der  Tragödie  zu  sichern.  Die  Bühnengesänge,  von 
unscheinbaren  Anfängen  ausgehend,  gewinnen  auf  Kosten  des  Chor- 
liedes eine  immer  gröfsere  Bedeutung.  Hier  findet  der  Schauspieler 
die  beste  Gelegenheit,  seine  Virtuosität  als  Sänger  und  pathetischer 
Darsteller  zu  bethätigen.  Daher  ward  auch  in  den  melischen  Par- 
tien, wo  Schauspieler  und  Chor  zusammenwirken,  der  Antheil  des 
letzteren  oft  auf  das  knappeste  Mafs  beschränkt.^®') 
Klagelieder.  Die  Bühnengesänge  berühren  sich  ganz  nahe  mit  dem  soge- 
nannten Kommos.^®*)     Der  Kommos  ist  eigentlich   die  Todtenklage, 


459)  Die  Form  dieser  afioißala  ist  sehr  mannigfaltig.  In  den  Sieben  des 
Aeschylus  203  wechselt  der  melisclie  Vortrag  des  Chores  mit  iambischen  Tri- 
metern  des  Eteokles  ab,  später  gehl  auch  der  Chor  zum  Trimeter,  also  zum  reinen 
Dialog  über;  in  den  Eumeniden  und  im  Prometheus  stehen  anapästische  Peri- 
kopen  der  handelnden  Personen  den  gesungenen  Strophen  des  Chores  gegen- 
über;  im  Agamemnon  1073  sind  die  prophetischen  Reden,  die  Kassandras  Munde 
entströmen,  in  melische  Form  gefafst,  der  Chor  spricht  dazwischen  iambische 
Trimeter,  geht  aber  dann  ebenfalls  zum  Lyrischen  über.  In  Sophokles'  Elektra 
1232  ff.  stehen  den  melischen  Versen  der  Elektra  die  Trimeter  des  Bruders 
gegenüber.  Durchgeführt  ist  die  melische  Form  für  alle  Theilnehmer  der  n/<o«- 
ßala  in  dem  Trauergesange  der  Choephorcn  315  (Orestes,  Elektra,  der  Chor), 
in  den  Schutzflehenden  836  (Wortwechsel  zwischen  Herold  und  Chor),  in  der 
Schlufsscene  der  Perser  921  (Kommos  zwischen  Xerxes  und  dem  Chore). 

460)  Der  Monolog  des  Prometheus  88  ff.  zeigt  gleichsam  die  ersten  schüch- 
ternen Anfänge  in  den  Klagen  der  lo;  ebendas.  561  ff.  tritt  uns  das  Melische 
vollständig  ausgebildet  entgegen.  Der  Klaggesang  der  Schwestern  am  Schlufs 
der  Sieben,  wo  der  Chor  nur  ein  Paar  Mal  einfällt,  ist  von  anderer  Hand  hin- 
zugefügt. 

461)  Die  Dichter  nahmen  eben  auf  die  Wünsche  der  Schauspieler  Rück- 
sicht; auch  mochte  es  später  nicht  leicht  sein,  unter  den  Choreulen  vollkom- 
men durchgebildete  Sänger  zu  finden. 

462)  Kofifivt.  Aeschylus  Choeph.  423  fxoxpa  uofifihv  'AQtov.  So  wird 
das  Wort  gewöhnlich  nach  der  Analogie  betont,  bei  Aristoteles  Hoft/uoe  (daher 


DIE   DRAMATISCHE   POESIE.     EINLEITCKG.  141 

WO  nach  uralter  Sitte  das  tieferregle  Gemiith  durch  äufsere  Zeichen 
wilden,  leidenschaftHchen  Schmerzes,  wie  durch  Worte  seine  Empfin- 
dungen kund  gab.  Bei  diesem  Anlasse  bricht  der  natürhche  poe- 
tische Trieb  unmittelbar  im  Volke  hervor.  Nachdem  jener  Brauch 
aus  dem  Leben  verbannt  war,  lebt  er  wenigstens  im  Beiche  der 
Kunst  auf  dem  Theater  noch  fort  und  verfehlt  nicht,  leicht  eine 
ergreifende  AYirkung  auszuüben.  Die  Todtenklage  ist  ein  charakte- 
ristisches Merkmal  der  alten  Tragödie  und  hat  gewöhnlich  ihre  Stelle 
am  Schlüsse  des  Dramas.^®^)  In  der  jüngeren  Tragödie  ist  der  Rom- 
mos  mehr  ein  schmerzlich-wehmüthiger  Rlagegesang ""),  dann  über- 
haupt ein  leidenschaftlich  erregtes  Lied  und  daher  auf  keine  be- 
stimmte Stelle  beschränkt.^®*) 

Der  Koramos  unterscheidet  sich  sehr  bestimmt  von  den  anderen 
Chorhedern.  Während  die  Stasima,  welche  die  einzelnen  Epeisodien 
trennen,  nur  die  Handlung  begleiten,  die  Empfindungen  und  Ge- 
danken aussprechen ,  welche  die  Vorgänge  auf  der  Bühne  hervor- 
rufen, greift  der  Kommos  in  die  Handlung  selbst  ein  und  bildet  so, 
mag  er  nun  die  Handlung  zum  Abschlufs  bringen  oder  bald  fördernd 
und  anregend,  bald  hemmend  einwirken,  immer  ein  mehr  oder  min- 
der wesentliches  Moment  der  Entwicklung.  Die  Lyrik  dieser  Ge- 
sänge ist  durchaus  dramatisch ;  daher  wirken  hier  Chor  und  Schau- 
spieler zusamraen.^*^)    Aber  der  Chor  betlieiligt  sich  in   der  Regel 

wohl  auch  der  mehrfach  vorkommende  Schreibfehler  xä/toe);  vielleicht  ward 
der  Accent  variirt,  wenn  das  Wort  in  technischem  Sinne  von  einer  melischen 
Partie  der  Tragödie  gebraucht  ward. 

-163)  Vgl.  Plato  Pol.  X  605  C  f. :  'OfirjQov  fj  a).}jOv  xivos  tcHv  r^ayepSiOTVoicäv 
ftiuovftevov  riva  rcöv  rqaxov  iv  nivd'ei  ovxa  xai  fiaxQttv  QTjaiv  aTioreivorra 
iv  loiz  odvofidii  tj  xal  qS<n-rae  te  xal  xonrofisvovs. 

464)  Daher  verlauscht  man  auch  den  Ausdruck  xouftos  mit  &qt;vos,  Schol. 
Aesch.  Pers.  l:  ja  Se  xoufiarixa,  ore  )u)i7iov  (d.  h.  der  Schlufs  des  Dramas)  iv 
d'oT]vcp  (oder  iv  d'Qr^vcoSia)  yivsrai.  Tzetzes  n.  r^ay.  66  unterscheidet,  wohl 
nach  Dionysius:  xoftfioe  Se  d'^T>i>ov  nsvd'txcöxsqov  nXe'ov'  6  &^T}voe  9^  iarlv 
rjQEfiioTBQOv  fie'Xos  (nicht  fie^os). 

465)  Stücke  mit  tragischem  Ausgang  haben  einen  solchen  kommatischen 
Gesang  meist  in  Verbindung  mit  der  Katastrophe,  aber  unter  Umständen  kann 
derselbe  an  jeder  anderen  Stelle  eingeflochten  werden. 

466)  Nur  in  den  Sieben  des  Aeschylus  stimmt  der  Chor  allein  (wenigstens 
nach  der  ursprünglichen  Fassung)  die  Todtenklage  an;  in  der  alten  Tragödie 
mag  dies  häufiger  vorgekommen  sein.  Sonst  gilt  die  Vorschrift  des  Aristoteles 
Poet.  c.  12  p.  1452  B  24:  xofifios  Si  &^r,vos  xoivos  x'^QO^  *«♦  «^o  axrjvr^s.  Tzetzes 
jr.  Tpoy.  65:  6  xo/ifios  xov  xoqov  . . .  inoxairdie  rjv  tos  noXv  avvriyfiivoe. 


142  DRITTE    PERIODE   VON    500    DIS    300  V.  CHR.  G. 

nicht  in  seiner  Gesammtheit"^),  sondern  löst  sich  in  Gruppen  auf, 
oder  es  werden  einzelne  Stimmen  laut,  um  den  Widerstreit  der  An- 
sichten recht  anschauhch  zu  machen.  Die  Vorgänge  auf  der  Bühne 
wirken  so  mächtig  auf  den  Chor,  dafs  er  seine  ruhige  Haltung  auf- 
giebt  und  von  der  Leidenschaft  der  handelnden  Personen  mit  fort- 
gerissen wird.  Diese  Erregung  giebt  sich  auch  in  der  Form  kund. 
Die  Rede  hat  meist  etwas  Abgebrochenes,  das  Lied  zerlegt  sich  in 
kurze  Glieder.''")  Die  ältere  Tragödie  bewährt  ihren  Sinn  für  Mafs, 
indem  sie  auch  in  solchen  Partien  die  antistrophische  Gliederung 
festzuhalten  pflegt.  Gerade  hier  wird  vorzugsweise  von  künstlicher 
Verflechtung  Gebrauch  gemacht  und  so  die  leidenschaftliche  Be- 
wegung, der  Sturm  der  Gefühle,  das  Schwanken  der  Entschlüsse, 
einem  bestimmten  Gesetz  unterworfen.  Die  jüngere  Tragödie  er- 
laubt sich  diese  Klagelieder  ebenso  frei  zu  behandeln,  wie  die  Bühnen- 
gesänge. Hier  werden  gleich  anfangs  neben  der  antistrophischen 
Form  freiere  Bildungen  zugelassen ;  später  ist  diese  Weise  vorherr- 
schend."**) In  den  Bühnengesängen  bedient  man  sich  zunächst  haupt- 
sächlich des  dochmischen  Versmafses,  welches  hier,  wo  das  ganze  Pa- 
thos der  Leidenschaft  hervorbricht,  besonders  angemessen  ist.  Die 
jüngere  Tragödie  strebt  nach  gröfserer  Abwechslung  und  verwendet 
mehrfach  auch  andere  Versarten,  wie  freie  Anapästen,  Daktylen,  oder 
verbindet  verschiedenartige  Formen,  wie  lamben  und  Trochäen,  mit 
einander.  Der  aufregende  Charakter  der  Monodien  bei  Euripides 
giebt  sich  besonders  in  den  gehäuften  Auflösungen  und  Zusammen- 
ziehungen, sowie  in  dem  öfteren  Rhythmenwechsel  kund."^") 
Verhäitnifs  Das  Verhältnifs  der  Chorheder  zu  den  dialogischen  Partien  ist 

lieder  lum  Sehr  verschieden.     Im  Allgemeinen  haben   die  Gesänge   der  älteren 
Dialog.    Tragödie   einen  bedeutenden   Umfang,   machen   den   Eindruck    des 


467)  Aristoteles  Poet.  c.  12  p.  1452  6  18:  i9ta  8i  ano  axr]vrfi  xai  xö/i/iot. 

468)  Kofifiarixä,  daher  auch  Pollux  IV  53  und  Schol.  Aesch.  Pers.  diesen 
Ausdruck  geradezu  für  xo/ifioe  gebrauchen.  Es  ist  ein  Mifsbrauch,  wenn  die 
Neueren  alle  afioißnXa  des  Chores  und  der  Bühnenpersonen  xou/anrixä  nennen. 
Eukleides  unterscheidet  mit  Recht  die  a/uotßala;  nur  ist  die  Definition  in  dem 
Auszuge :  a/toißalov  8e  iari,  t6  7tQ6(t)  Xöyov  i^  aftoißrjt  ksyöfievov  unpassend, 
weil  dies  die  Vorstellung  erweckt,  als  wären  die  Fälle  gemeint,  wo  der  Chor 
mit  den  Bühnenpersonen  Trimeler  wechselt. 

469)  Besonders  bei  Euripides,  weniger  bei  Sophokles. 

470)  In  den  Monodien  dieses  Dichters  glaubte  man  vor  allem  die  Beihülfe 
dea  Musikers  Kephisophon  zu  erkennen,  s.  Aristoph.  Frösche  944. 


DIE   DRAMATISCHE   POESIE.      EIXLEITÜKG.  143 

Massenhaften,  wie  bei  Aeschylus,  obwohl  bereits  dieser  Dichter  das 
lyrische  Element  mehr  und  mehr  beschränkte.  Die  Chorlieder  des 
Sophokles  und  Euripides  werden  immer  kürzer,  aber  selbst  die  Dra- 
men desselben  Dichters,  sogar  gleichzeitige  Arbeiten  zeigen  nicht 
unerhebhche  Differenzen.  In  den  Schutzflehenden  des  Aeschylus 
nehmen  die  Gesänge  des  Chores  mehr  als  die  Hälfte  des  Stückes 
für  sich  in  Anspruch."")  In  den  Persern  und  den  Sieben  halten 
sich  das  Lyrische  und  Dramatische  vollständig  das  Gleichgewicht, 
während  in  der  Orestie  der  Chor  sich  durchschnittlich  mit  dem 
dritten  Theile  begnügt;  nur  im  Agamemnon  ist  dem  Lyrischen  ein 
gröfserer  Raum  vergönnt.  Im  Prometheus  wird  der  Antheil  des 
Chores  noch  mehr  beschränkt."^^)  Bei  Sophokles  ist  in  der  Antigone 
(aufgeführt  Ol.  84,  3)  das  Verhältnifs  wie  1:2,  im  Ajas  und  in  der 
letzten  Arbeit  des  Dichters,  im  Oedipus  auf  Kolonos,  wie  1  :  2V2, 
im  Konig  Oedipus,  in  der  Elektra  und  den  Trachinierinnen  wie  1 :3, 
im  Philoktet  (Ol.  92,  3  gedichtet)  wie  1  :  4.  Bei  Euripides  nimmt 
schon  in  den  älteren  Stücken,  in  der  Alkestis  und  dem  Hippolytus, 
das  Lyrische  nur  etwas  mehr  als  ein  Fünftel  in  Anspruch,  in  der 
Medea  ist  es  noch  mehr  reducirt;  dagegen  zeigen  die  späteren  Ar- 
beiten, wo  die  Bühnengesänge  häufiger  und  umfangreicher  werden, 
wieder  eine  Zunahme."^) 

Der  Umfang  der  älteren  Stücke  scheint  im  Allgemeinen  geringer  umfang  der 
gewesen  zu  sein,  aber  ihre  Aufführung  nahm  mindestens  ebenso  viel  °'"'"^°- 
Zeit  in  Anspruch,  als  eine  Tragödie  des  Sophokles  oder  Euripides, 
da  der  Vortrag  der  ausgedehnten  meUschen  Partien  ein  weit  gröfseres 
Zeitmafs  erforderte.  Daher  konnte  man,  als  das  dramatische  Element 
sich  reicher  entwickelte  und  die  lyrischen  Stellen  verkürzt  wurden, 
unbedenkhch  dem  Stück   eine   gröfsere  Länge  geben."")     Ein  be- 


471)  Es  erklärt  sich  dies  aus  der  Stellung  des  Chores  in  diesem  Drama 
zur  Genüge. 

472)  Hier  kommen  auf  den  Chor  etwa  150  Verse,  dafür  aber  finden  sich 
auch  bereits  hier  Bühnengesänge.  Der  Prometheus  steht  eben  mit  den  Dramen 
des  Sophokles  und  Euripides  auf  gleicher  Stufe.  Trimeter  des  Chores,  in  den 
älteren  Stücken  des  Aeschylus  nur  selten  gebraucht,  kommen  im  Prometheus 
häufig  vor;  auch  die  Orestie  zeigt  schon  eine  Zunahme. 

473)  In  den  Phönissen  kommen  von  1765  Versen  etwa  500  auf  Chor  und 
Bühnengesänge. 

474)  Der  Tragiker  Aristarch  mag  an  dieser  Veränderung  einen  gewissen 
Antheil  gehabt  haben,  wie  Suidas  I  1,718  andeutet. 


144  DRITTE    PERIODE    VON    500   BIS  300  V,  CHH.  G. 

stimmtes  Mafs  für  das  einzelne  Drama  war  nicht  vorgeschrieben,  die 
uns  erhaltenen  Tragödien  ergeben  sehr  verschiedene  Zahlenverhält- 
nisse, wohl  aber  brachte  es  die  Einrichtung  des  tragischen  Wettkam- 
pfes mit  sich,  dafs  für  jede  Tetralogie  die  Länge  der  Zeit  bestimmt 
war,  welche  der  Dichter  nicht  beliebig  überschreiten  durfte/^*) 
Eintheiiung  Die  römischen  Komiker  theilen,  wie  die  noch  erhaltenen  Dra- 
men des  Plautus  und  Terenz  beweisen,  ihre  Stücke  regelmäfsig  in 
fünf  Akte  ab;  dieselbe  Ghederung  war  in  der  römischen  Tragödie 
üblich.  Horaz  empfiehlt  sie  als  unbedingte  Norm."'®)  Dafs  die  rö- 
mischen Dramatiker,  die  das  Formelle  der  Kunst  lediglich  den  Grie- 
chen verdankten,  keine  selbständige  Neuerung  eingeführt  haben,  ist 
gewifs.^")  Menander  und  die  anderen  Dichter  der  neueren  attischen 
Komödie  befolgten  denselben  Gebrauch""),  und  wir  dürfen  wohl 
annehmen,  dafs  die  Fünfzahl  der  Akte  bereits  in  der  mittleren  Ko- 
mödie, sowie  bei  den  jüngeren  Tragikern  seit  Euripides  Geltung 
hatte,  ist  doch  die  griechische  Tragödie  stets  um  einen  Schritt  dem 
Lustspiele  voraus.  Die  Theorie  der  dramatischen  Dichtung  war  aber 
damals  schon  vollkommen  ausgebildet;  man  arbeitet  allgemein  nach 
einem  fertigen  Schema."'^) 

475)  Innerhalb  dieser  Grenzen  war  dem  Dichter  freie  Bewegung  gestaltet: 
in  der  Orestie  kommen  auf  das  erste  Drama  nahezu  1700  Verse,  während  die 
beiden  anderen  Tragödien  noch  nicht  1100  Verse  umfassen.  Das  Satyrdrama 
war  wohl  in  der  Regel  kürzer  als  eine  Tragödie,  wenn  der  Kyklops  des  Euri- 
liides  und  derAgen,  der  S^aftäriov  genannt  wird  (Athen.  XIII  586  D.  XIII  595  E), 
einen  Schlufs  auf  andere  Dichtungen  dieser  Art  gestatten. 

476)  Horaz  Ars  Poet.  189.  Wenn  Cicero  ad  Quintum  fr.  I  1,  46  den  drit- 
ten Akt  als  den  letzten  bezeichnet  (ut  hie  tertius  annus  imperii  tui  tanquam 
tertius  actus  perfectissimus  et  ornatissimus  fuisse  videatur),  so  meint  er  wohl 
die  dreifache  Gliederung  der  dramatischen  Handlung  (itQÖraaie,  iniraais,  xaxa- 
axQotprj),  obwohl  es  nicht  unmöglich  ist,  dafs  die  römisclien  Dramatiker  sich 
zuweilen  mit  drei  Akten  begnügten. 

477)  Donat  zu  den  Adclphen  des  Terenz  verlangt  für  die  Komödie  quin- 
que  actut  choris  divisos  a  Graecis  poetU.  Euanthius  legt  diese  Einrichtung 
sogar  der  alten  Komödie  bei:  Comoedia  velus  ab  initio  cfiorus  fuit  paula- 
timque  (aitcto)  personarum  numero  in  quinqiie  actus  processil. 

479)  Andronikus  ne^l  xcofic^Siae  X  sagt  von  der  neueren  Komödie,  als  deren 
Hauptvertreter  er  den  Menander,  bei  den  Römern  Plautus  und  Terenz  bezeich- 
net :  ;(fp^Tnt  Sa  TtQoräaei  xai  inirnaei  xal  xazaarpOffj  6  TepivTtos  xai  eis  nerre 
ffxr^vas  Siatpei  rb  Sgäftn  (denn  so  ist  die  Stelle  zu  verbessern).  JSxrivai  ist 
oITenbar  der  bei  den  Griechen  übliche  Ausdruck  entsprechend  dem  lateinischen 
actus  (von  Festus  17  als  cerla  spatia  canticorum  deiinirt). 

479)  Wie  Antiphanes  in  der  noltjati  (Athen.  VI  222  A)  beweist. 


DIE    DRAMATISCHE   POESIE.     EI>LEITU>G.  145 

Indem  der  Chor  völlig  verschwindet  oder  doch  seine  frühere 
Bedeutung  einbüfst,  war  dies  von  entschiedenem  Einflüsse  auf  die 
Gestalt  des  Dramas.  Das  ältere  Drama,  wo  der  Chor  beständig  auf 
der  Orchestra  verweiU,  und  wenn  die  Schauspieler  abtreten,  die 
Zwischenzeit  bis  zu  ihrem  Wiedererscheinen  mit  seinen  Gesängen 
ausfüUt,  kennt  eigentlich  keine  Unterbrechung  der  Handlung;  denn 
auch  die  Chorheder  haben  stets  eine  gewisse  Beziehung  darauf.  Eine 
Gliederung  in  Akte,  wo  die  Handlung  in  den  Pausen  gleichsam  still- 
steht, ist  früher  der  Tragödie  und  Komödie  fremd;  sie  kommt  erst 
auf,  seitdem  man  die  Chorheder  beseitigt  oder  durch  Musikstücke 
ersetzt.  Dabei  galt  wohl  als  Regel,  dafs  der  Akt  jedes  Mal  da  ab- 
schüefst,  wo  die  Bühne  von  den  handelnden  Personen  gänzhch  ver- 
lassen war.  Für  die  römischen  Lustspieldichter  ist  freilich  dieses  Ge- 
setz nicht  mafsgebend^*"),  und  auch  die  Griechen  mögen  zuweilen 
sich  dieser  Fessel  entledigt  haben. 

Auf  dem  römischen  Theater  ward  die  Bühne  zwischen  den 
Akten  durch  einen  Vorhang  den  Blicken  der  Zuschauer  entzogen; 
auch  dieser  Brauch  ist  von  den  Griechen  entlehnt.  Wir  können 
freihch  in  Athen  den  Theatervorhang  nicht  vor  Ol.  115,  2  nach- 
weisen"**), aber  die  Sitte  ist  natürlich  weit  älter.  In  der  eigent- 
lichen Blüthezeit  der  dramatischen  Poesie  lag  dagegen  die  Bühne 
stets  ofl"en  vor  den  Augen  des  Pubhkums,  waren  doch  nicht  selten 
die    Schauspieler  auch  während  des   Chorgesanges   gegenwärtig.'*") 


4Su)  Besonders  Terenz  hat  dies  Gesetz  nicht  beobachtet,  daher  auch  Donat 
Miederholt  darüber  klagt,  es  sei  schwierig,  ein  Stück  dieses  Dichters  nach  Akten 
abzutheilen;  dieselbe  Bemerkung  macht  Euanthius.  Es  hängt  dies  wohl  zum 
Theil  mit  der  Art  zusammen,  wie  Terenz  das  griechische  Original  bearbeitete, 
indem  er  einzelne  Scenen  aus  einem  anderen  Stücke  einflocht;  daher  rührt  auch 
wohl  die  bedeutende  Zahl  der  handelnden  Personen  in  den  meisten  Komödien 
des  Terenz. 

481)  Als  Demetrius  Poliorketes  als  Sieger  in  Athen  einzog  und  man  ihm 
zu  Ehren  die  Jwvvata  in  Jrjfirjr^ta  verwandelte,  war  er,  wie  Duris  bei  Athen. 
Xn  536A  berichtet,  auf  dem  Theatervorhang  als  Herr  der  Welt  abgemalt  {ytyvo- 
fie'vcov  8e  itöv  JrjfirjrQicav  ^A&ijvriaiv  iyoäffEto  knl  tov  Tt^oaxTjviov  sni  t^s  oi- 
xovfiirtjs  o'/oviisvos).  IlQoaxTjviov ,  früher  die  Dekoration  der  Scenen  wand,  be- 
zeichnet ganz  passend  einen  solchen  Vorhang. 

4S2)  So  ist  Prometheus  bei  Aeschylus  im  ganzen  Stücke  auf  der  Bühne, 
in  den  Eumeniden  ist  das  letzte  Stasimon  ein  Wechselgesang  zwischen  Athene 
und  dem  Ciiore. 

Bergk,  Griech.  Literaturgeschichte  III.  lü 


146  Dl'.ITTE   PERIODE    VO.N    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Durch  die  neue  Einrichtung  wurde  nicht  nur  der  Wechsel  der  Deko- 
rationen erleichtert,  sondern  aucli  eine  freiere  Behandlung  der  Zeit 
und  des  Ortes  ermöglicht,  obwohl  man  von  dieser  Vergünstigung 
auch  jetzt  nur  mäfsigen  Gebrauch  gemacht  zu  haben  scheint,  indem 
man  an  der  hergebrachten  üeberheferung  festhielt. 

Der  Verlauf  der  dramatischen  Handlung  zerlegt  sich  naturgemäfs 
in  gewisse  Abschnitte.  Auch  die  Epeisodien  des  älteren  Dramas  ent- 
halten immer  eine  Begebenheit,  einen  wesentüchen  Moment  der 
Fabel,  und  die  Buhepunkle,  welche  die  bewegte  Handlung  erheischt, 
gaben  dem  Chore  Gelegenheit,  die  Handlung  mit  seinen  Betrach- 
tungen zu  begleiten.  Aber  dieser  Wechsel  der  Epeisodien  und  Chor- 
lieder ist  an  keine  unabänderliche  Regel  gebunden;  man  bewegt 
sich  mit  einer  gewissen  Freiheit.^")  Bei  Aeschylus  finden  wir  regel- 
mäfsig  vier  Chorlieder;  daher  zerfällt  jedes  Drama  in  fünf  oder,  wo 
der  Prolog  fehlt,  in  vier  gröfsere  Abschnitte."**)  Sophokles  hat  sich 
zwar  an   die  Weise  seines  Vorgängers  angeschlossen,  bewegt   sich 


483)  Dafs  die  alten  Grammatiker  die  Gliederung  des  Dramas  der  klassi- 
schen Zeit  beobachteten,  ist  nicht  zweifelhaft.  Der  Biograph  des  Aeschylus 
sagt :  iv  ftev  yaQ  Tri  ^lößr]  (Ni.6ßrj)  ?cos  xqitov  fiiQovs  intxad'Tjfidvr}  rq*  räfpta 
•töi.v  TtaiScov  ovSkv  (p^ty/stni.  iyxexnkvfifte'vr],  d.  h.  nachdem  das  zweite  Chor- 
lied gesungen  ist,  in  der  Mitte  des  Stückes.  Ganz  dasselbe  meint  Aristoph.  Ran. 
923,  wo  er  sagt,  bei  Aeschylus  schweigen  die  handelnden  Personen  wie  die 
trauernde  Niobe  oder  Achilles  ungebührlich  lange  Zeit,  während  der  Chor  seine 
endlosen  Lieder  singt,  bis  sie  endlich,  nachdem  das  Drama  zur  Mitte  gelangt 
ist  {iTiciSr]  ro  S^äfia  fßr}  fieaoi?]),  dieses  Stillschweigen  brechen.  In  den  jün- 
geren Abschriften  der  Biographie  hat  man  daraus  Scos  r^irris  ^jue'^as  gemacht, 
eine  unverständige  Aenderung;  denn  ein  dreitägiges  Schweigen  liefs  sich  wohl 
in  einem  Berichte  erwähnen,  aber  nicht  auf  der  Bühne  darstellen.  Der  Komi- 
ker Macho  in  Alexandria  führte  den  Grammatiker  Aristophanes  in  das  Ver- 
ständnifs  dieser  Gliederung  im  Lustspiele  ein,  Athen.  VI  241  F  (SiSäaxalos  yeto- 
f/eros  Twv  xarri  xtü/jc^Sinv  fte^div  ^AQiaiotpmovi  xov  yQafiumtxov,  von  der 
neueren  Kritik  mit  Unrecht  angefochten).  Auch  Vitruv  praef.  V  §  4  sagt:  Graeci 
quoque  poctae  cctnici  (wohl  verschrieben  statt  scenici)  interponentes  e  choro 
canlicum  divisirujii  spatia  fabularum;  ita  partes  cubica  ratione  facientet, 
intercapedinibiis  levant  actorum  pronvntiationes.  Was  Vitruv  von  der  cubica 
ratio  bemerkt,  die  er  mit  der  Beobachtung  bestimmter  Zahlenverhältnisse  in 
der  Poesie  der  Pythagoreer  zusammenstellt,  ist  ofTenbar  eine  künstliche  Spe- 
cuiation  Späterer,  die  möglicher  Weise  auch  Verrius  Flaccus  berührt  hat  (im 
Festus  ed.  0.  Müller  S.  17  actus  . . .  certa  spatia  canticorum);  vielleicht  hatte 
Vario  darüber  genauer  gelnindelt. 

484)  Der  Verfasser  des  Rhesus  hält  sich  nicht  an  dieses  Schema. 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.      EI>LE1TU??6.  147 

jedoch  nicht  immer  in  diesen  eng  umschriebenen  Schranken;  in 
der  Antigone  tritt  entsprechend  der  reichen  und  bewegten  Hand- 
lung die  Siebenzahl  an  die  Stelle  der  Fünfzahl,  auch  in  den  Trachi- 
nierinnen  kommt  man  mit  der  gewöhnlichen  Gliederung  nicht  aus. 
Bei  Euripides  ist  die  fünffache  Ghederung  gleichfalls  Norm***),  aber 
wo  die  Fülle  der  Begebenheiten,  die  Verwicklung  der  Fabel  es  nöthig 
macht,  geht  der  Dichter  darüber  hinaus.*'*)  Wenn  innerhalb  des 
Epeisodions  eine  neue  Person  auftritt,  so  zerfällt  dasselbe  wieder  in 
kleinere  Abschnitte.  Aeschylus  hat  in  den  älteren  Dramen  und  im 
Prometheus  gemäfs  der  Einfachheit  seiner  Poesie  immer  nur  ein- 
mal ein  Epeisodion  in  zwei  Auftritte  zerlegt;  nur  die  Orestie  zeigt 
bereits  eine  reichere  Ghederung.  Bei  Sophokles  und  Euripides  sind 
Epeisodien  von  zwei,  drei  und  noch  mehr  Auftritten  ganz  gewöhn- 
Hch  und  wiederholen  sich  öfter  in  demselben  Stücke.  Es  ist  be- 
greiflich, dafs  besonders  in  dem  letzten  Abschnitte,  wo  die  Ent- 
wicklung auf  die  Entscheidung  hindrängt,  immer  neue  Personen  auf 
der  Buhne  erscheinen  und  die  Auftritte  sich  häufen.  Schon  die 
Exodos  im  Agamemnon  des  Aeschylus  hefert  dafür  den  Beweis.  Auch 
werden  in  den  Epeisodien  zuweilen  kürzere  Lieder  des  Chores,  die 
man  nicht  mit  dem  Stasimon  verwechseln  darf,  eingelegt,  wo  der 
Dichter  einen  Ruhepunkt  für  angemessen  hielt.  Es  ist  übrigens 
nicht  immer  leicht,  die  richtige  Ghederung  festzustellen;  z.  B.  könnte 
es  auf  den  ersten  Anbhck  scheinen ,  als  wenn  der  Philoktet  des 
Sophokles  nur  aus  drei  oder  höchstens  vier  gröfseren  Abschnitten 
bestände;  allein  auch  diese  Tragödie  hält  an  der  normalen  Fünf- 
zahl fest.*«') 

Die  ältere  Komödie  stimmt  im  Wesentlichen  mit  der  Tragödie 
überein,  und  zwar  erinnern  die  beiden  letzten  Lustspiele  des  Ari- 
stophanes  schon  ganz  an  die  Weise  der  neueren  Komödie,  wie  wir 
sie   aus  den  Bearbeitungen   der  römischen  Bühnendichter  kennen; 


455)  Auch  in  der  Elektra  des  Euripides  sind  deutlich  fünf,  nicht  vier  Ab- 
schnitte zu  unterscheiden;  der  Chorgesang  V.  1147  ff.  bildet  den  Uebergang  zum 
Exodos. 

456)  In  den  Phönissen  haben  wir  sechs  Abschnitte,  ebenso  in  anderen 
Tragödien. 

4ST)  Hier  vertritt  die  umfangreiche  lyrische  Partie  1080  ff.,  welche  zwi- 
schen dem  Philoktet  und  dem  Chore  vertheilt  ist,  die  Stelle  des  Stasimons,  und 
dann  Tolgt  die  Exodos. 

10* 


148  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.    CHR.  G. 

nur  zerfallen  die  Ekklesiazusen  und  der  Plutus  nicht  in  fünf,  son- 
dern in  sechs  Akte/**) 
EpeUodien.  Dafs  der  Schauspieler  erst,  nachdem  der  Chor  das  Drama  ein- 

geleitet hatte,  auftrat,  zeigt  auch  der  Ausdruck  Ep  ei  so  dion,  womit 
man  jeden  gröfseren  Abschnitt  der  dramatischen  Handlung  bezeich- 
net**^), der  nach  beiden  Seiten  hin  von  Gesängen  des  Chores  ein- 
gefafst  ist.  Die  Rede-  des  Schauspielers  ist  anfangs  nichts  Anderes 
als  ein  Zwischenspiel,  welches   die  Pausen   der  Chorlieder  ausfüllt. 


488)  In  den  Ekklesiazusen  gebt  der  erste  Akt  mit  dem  dazu  gehörenden 
Cliorliede  von  V.  1 — 311,  der  zvv'eite  gleichfalls  mit  seinem  Chorliede  von  311 
—503,  der  dritte  von  501—729  (hier  ist  das  fehlende  Chorlied  durch  XOPOT 
bezeichnet),  der  vierte  Akt  von  730—876  (hier  steht  wieder  XOPOT),  der  fünfte 
Akt  von  877—1111  {XOPOT)\  den  sechsten  Akt  bildet  die  kurze  Exodos  von 
1112—1182.  Aehnlich  im  Plutus,  Akt  I  V.  1—321,  Akt  II  V.  322— 626,  Akt  DI 
\.  627—801,  Akt  IV  V.  802—958,  Akt  V  V.  959-1096,  Akt  VI  V.  1097—1208. 
Hier  fehlen  die  Chorlieder  durchgehends,  und  am  Schlufs  des  fünften  Aktes  ver- 
miCst  man  sogar  das  sonst  beigeschriebene  XOPOT;  dagegen  findet  sich  diese 
Parepigraphe  mitten  im  dritten  Akte  nach  V.  770,  wo  augenblicklich  die  Bühne 
verlassen  ist  und  eine  neue  Scene  beginnt,  daher  eigentlich  hier  ein  kurzes 
Chorlied  einzufügen  war,  um  die  Pause  auszufüllen;  im  Plutus  muCste  eben 
die  Musik  die  Stelle  des  fehlenden  Liedes  ersetzen.  Die  Regel,  dafs,  wenn  die 
Bühne  ganz  frei  ist,  ein  neuer  Akt  anhebt,  erlitt  wohl  auch  bei  den  griechi- 
schen Dramatikern  manche  Beschränkung. 

489)  Zunächst  nannte  man  wohl  die  erste  Rede,  welche  unmittelbar  auf 
die  Parodos  des  Chores  folgte,  später  jeden  Abschnitt  mit  Ausnahme  des  letz- 
ten, der  seinen  besonderen  Namen  hatte,  insiaöSiov.  ElaoSiov  im  Sinne  des 
später  üblichen  nägoSos  kennt  Marius  Vict.  II  11,  7,  VI  p.  99  K.:  hoc  melro  veteres 
satyricos  choros  modtilabanlur,  quod  Graeci  staöSiov  ab  ingressu  chori  satyrici 
appellabant  metrumque  ipsum  eiaöSiov  dixerunt.  Das  Satyrspiel  enthält  die 
ersten  Anfänge  der  dramatischen  Poesie.  Anapästen  wurden  auch  in  der  älteren 
Tragödie  im  Eingange  verwendet;  das  Satyrdrama  mag  besonders  freie  aufgelöste 
Anapästen,  von  denen  der  Grammatiker  handelt,  hier  gebraucht  haben.  E'iaoSot 
ist  der  eigentliche  Ausdruck  vom  Auftreten  des  Chores  (daher  heifsen  auch  so 
die  für  den  Chor  bestimmten  Zugänge  zur  Orchestra);  instaöSiov  ist  also  die 
darauf  folgende  Rede  des  Schauspielers,  ursprünglich  eine  Art  TtnQBQyov.  Mit 
der  Definition  des  Aristoteles  Poet.  c.  12  p.  1452B2(t:  dnsivöSiov  fitQos  o}mv 
TQaycffSiat  ro  fiera^  oXav  x^Q^^^  ^«^a>»' stimmt  ne^i  xo)/i(oSiai\d  8  (vila 
Aristoph.  16):  inataäSiöv  iaxi  ro  ftera^v  Svo  xoQixöiy  ftelän;  was  Tzetzes  so- 
wohl bei  der  Komödie  als  auch  der  Tragödie  durch  Xöyos  ^«ra^v  TiXrjv  /ttXmv 
XOQoni  8vo  ausdrückt.  Wenn  Pollux  IV  108  insiaöStov  iv  S^ä/taat  n^ny/ta 
n^iiy/tfrrt  cvranrofierov  sagt,  so  pafst  dies  nur  auf  die  jüngere  Komödie,  die 
keinen  Chor  mehr  besitzt ;  hier  ist  TtQÜyfta  soviel  als  Akt.  Jmlovr  ineiao- 
Siov  nennt  der  Schol.  Soph.  Phil.  1218,  wenn  zwei  Personen  auftreten. 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.      EINLEITUNG.  149 

Aber  bald  macht  das  dramatische  Element  sein  Recht  gehend  und 
beansprucht  einen  gröfseren  Raum ;  so  wird  der  Gesang  des  Chores 
beschränkt.  Er  dient  vorzugsweise  dazu,  die  Abschnitte  der  Hand- 
lung zu  trennen  und  zugleich  zu  verbinden,  ein  Epeisodion  abzu- 
schliefsen  und  ein  neues  vorzubereiten. 

Nur  ganz  ausnahmsweise  wird  das  Choriied  am  Schlüsse  des 
Abschnittes  vermifst,  wie  bei  Aeschylus  in  den  Eumeniden ;  im  ersten 
Theil  der  Tragödie  ist  Delphi,  im  zweiten  Athen  Schauplatz  der 
Handlung;  hier  tritt  also  eine  Ortsveränderung  ein,  die  durch  Scenen- 
wechsel  anschaulich  gemacht  werden  mufste.  Anscheinend  geht  der 
erste  Theil  völlig  unvermittelt  in  den  folgenden  über.  Dies  ist  un- 
moghch;  gleichwohl  darf  man  keine  Verstümmelung  des  Textes,  etwa 
den  Ausfall  eines  Chorliedes  voraussetzen.  Eben  weil  der  Dichter 
hier  die  Einheit  des  Ortes  preisgiebt,  kann  er  die  Pause  nicht  mit 
einer  melischen  Partie  ausfüllen ;  denn  der  Chor  mufs  sich  ebenso 
entfernen,  wie  Apollo  verschwindet  und  Orestes  durch  die  Verände- 
rung der  Dekoration  den  Rlicken  der  Zuschauer  entzogen  wird.  Der 
Dichter  wird  hier,  während  der  Scenenwechsel  vor  sich  ging,  ein 
Musikstück  eingelegt  haben. ^^*') 

Nicht  immer  ist  das  Epeisodion  als  ein  vollständiger  Akt  zu 
betrachten;  denn  dann  ist  die  Rühne  leer.  In  den  Persern  des  Aeschy- 
lus tritt  nach  dem  ersten  Stasimon  die  Königin  Atossa  auf^'},  und 
nach  einer  kurzen  Rede  folgt  wieder  ein  Lied,  womit  der  Chor  den 
Schatten  des  Darius  heraufbeschwört.  Während  dieses  Gesanges,  der 
als  das  zweite  Stasimon  zu  betrachten  \si^^^),  bleibt  die  Königin  auf 
der  Rühne ;  denn  sie  bringt  das  Todtenopfer  ihrem  Gatten  dar,  der 
alsbald  erscheint.    Hier  ist  also  das  Epeisodion  nichts  als  eine  ein- 


490)  Die  iMilr;  avkrjats  vertrat  hier  die  Stelle  des  Chorgesanges;  daher 
hat  diese  Tragödie  nur  zwei  Stasima.  Die  neueren  Erklärer  gehen  fehl,  wenn 
sie  dieses  Epeisodion  von  V.  177  bis  V.  306  fortsetzen,  so  dafs  der  Scenen- 
wechsel inmitten  des  Aktes  eintreten  würde. 

491)  Aeschylus  Pers.  59S. 

492)  Dieses  Lied  hat  durchaus  den  Charakter  eines  Stasimons;  so  ist  auch 
hier  die  Dreizahl  der  Stasima  festgehalten.  Auch  bei  Sophokles  Oed.  R.  ver- 
weilt Kreon  während  des  Stasimons  5S2  ff.  auf  der  Bühne,  aber  V,  780  tritt  er 
ab.  Ebenso  wird  Antigone  vor  dem  Beginn  des  Chorliedes  944  ff.  abgeführt, 
die  Anrede  V.  9S7  o)  nal  (vgl.  949)  verlangt  nicht  die  Anwesenheit  der  Anti- 
gone; aufserdem  ist  wohl  i'a^ov  ama  zu  lesen,  indem  der  Dichter  auf  den 
Zauber  des  bösen  Blickes  hindeutet. 


150  DRITTE    PERIODE   VON    500    BIS    300  V,  CHR.  G. 

zelne  Scene.  Anderwärts  gliedert  sich  ein  längerer  Akt  in  Abschnitte, 
wo  jedes  Mal  ein  kurzes  Chorlied  einen  schicklichen  Ruhepunkt  ge- 
währt."»') 

lieber  die  Zahl  der  Epeisodien  giebt  Aristoteles  keine  näheren 
Bestimmungen;  es  hatte  sich  damals,  wenigstens  für  die  Tragödie, 
noch  keine  feste  Norm  gebildet.  Dafs  die  Tragödie  der  allen  Zeit 
entsprechend  der  Schhchtheit  der  Handlung  und  geringen  Zahl  der 
Theilnehmer  sich  mit  einer  raäfsigen  Zahl  begnUgte,  während  man 
später,  wo  die  Handlung  reicher,  die  Ausführung  detaillirter  ward, 
weiter  ging,  wird  kurz  angedeutet.'"'")  Die  jüngere  Tragödie  eman- 
cipirt  sich  mehr  und  mehr  von  den  Fesseln  der  alten  Kunstform: 
man  begnügt  sich  nicht,  den  meist  schlichten  Stoff  durch  reichere 
Folge  der  Scenen  zu  beleben,  sondern  wendet  dieses  Mittel  auch 
ohne  innere  Nothwendigkeit  an,  nur  um  Effect  zu  erzielen.  Nicht 
blofs  mittelmäfsige  Talente  verfallen  aus  mangelhaftem  Verständnifs 
der  Kunst  in  diesen  Fehler,  sondern  auch  die  besseren,  indem  sie 
allzu  willfährig  auf  die  Wünsche  der  Schauspieler  oder  des  Publikums 
Rücksicht  nehmen."**) 


493)  So  bei  Sophokles  Philokt.  391  und  nochmals  507  (correspondirend 
mit  der  früheren  Strophe).  In  der  Elektra  823—870  findet  sich  ein  gemischter 
xofiftös  mitten  im  Epeisodion  als  Schlafs  einer  Scene.  Manchmal  begnügt  man 
sich  mit  zwei  iambischen  Trimetern  des  Chores,  wo  die  ältere  Tragödie  ein 
kurzes  Melos  einzulegen  pflegt,  vgl.  die  Bemerkung  des  Schol.  Eurip.  Med. 
517:  17  Si<Trtxia  {avrl)  rov  x°Q''^ov  iari'  xara  Se  rovrovs  tjSt]  (zove  XQÖ- 
vovs)  ra  rcöv  xo^atv  rjfiavQoiro.  t«  fiev  yoLQ  a(>/ata  Sia  xcöv  xo^öiv  iTiext- 
Xs'no.  Die  Stelle  des  Eupolis,  aufweiche  sich  der  Grammatiker  beruft,  ist  ver- 
dorben; man  weifs  nicht,  ob  der  Komiker  auf  die  Tragödie  oder  Komödie  zielt. 

494)  Aristot.  Poet.  c.  4,  14  p.  1449  A  28,  wo  er  die  fortschreitende  Entwick- 
lung der  tragischen  Kunst  schildert:  ^rt  Ss  ineiaoSicav  nXrjdT]  xal  t«  aX/.a  tos 
gxuffra  xoafiT)d'r,vat  Xiyexai.  Das  Gliedern  und  Ausführen  der  dramatischen 
Handlung  nennt  Aristoteles  ineiaoSiovv  c.  17,  4  p.  1455  B  13.  Diese  instaöSta 
müssen  oixEln  sein  in  der  Tragödie  wie  im  Epos,  im  Drama  avviofia,  während 
dem  Epiker  freiere  Bewegung  vergönnt  ist;  vgl.  auch  c.  24,  4  p.  1459B30. 

495)  Aristot.  Poet. c. fl,  10  p.  1 45 1  B  33 :  röJv  Si  änläv  fii&cop  »cai  Ti^ä^emv 
ni  inaiaoS  1(68 eis  eial  ;^e^(><ffTaf  Xsyeo  Si  dneiaoStiöStj  ftvd'oy,  iv  <j>  xa  dTtsia- 
öStn  fier^  nXXrjXa  ovr'  etxoe  ovr'  avdyxrj  elvat.  roiavrni  Se  jtoiovrrn$  twü  ftiv 
xwv  <f!ttvX(ov  noiT]rö)v  81'  aiiTOve,  vno  8e  rüiv  nyad'mv  8ia  Toiis  iinox^troS' 
ayoiviafiarn  yng  Troiovvree  nai  naga  rf}i>  8vva/utv  nngaTsivarrei  /ui&ov,  noX- 
Xäxu  SiaaxQifeiv  avayxä^ovxai  rb  ife^i;i.  in  diesem  Sinne  bezeichnet  der 
GrammatiKcr  Aristophanes  die  Phönissen  des  Euripides  als  8^f*a  inetaoStcü- 
8ee  «ai  naQnnXr,Q(ouajixöv. 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.      EL>LEITU.\G.  151 

Die  antistrophische  GHederung  ist  für  den  Gesang  des  drama-AnüstropUj- 
tischen  Chores  Norm:  die  Form,  eine  Epode  als  AbschUifs  auf  ein^^^,„g  y^^^ 
Strophenpaar  folgen  zu  lassen,  kommt  hauptsächüch  beim  ersten  Auf-  Bildungen. 
treten  des  Chores  vor,  doch  ist  dies  kein  unwandelbares  Gesetz,  noch 
auf  die  Parodos  zu   beschränken.**)     Künstüche  Verflechtung  der 
Strophen  kommt,  abgesehen  von  den  Klagehedern  der  älteren  Tra- 
gödie, nur  ausnahmsweise  vor;  zuweilen  finden  sich  einzelne  Stro- 
phen, denen  nichts  entspricht,  oder  Strophe  und  Gegenstrophe  sind 
durch   eine  dialogische  Partie  von    einander  getrennt.*^')     Wie  der 
Dithyrambus  später  die  Fesseln  der  antistrophischeu  Ghederung  ab- 
streift, ebenso  fühlte  sich  die  Tragödie  in  den  Bühnengesängen,  die 
leidenschaftliche  Erregung  durch   das  strenge  Mafs  zu  sehr  gebun- 
den''^*) und  zog  meist  freie  Bildungen  vor.'®^) 


496)  Wie  es  Einzugslieder  ohne  Epode  giebt,  so  findet  sich  dieselbe  um- 
gekehrt auch  in  Chorgesängen  am  Ende  des  Aktes ;  so  bei  Aeschylus  Prome- 
theus im  ersten  Stasimon,  welches  allerdings  die  Stelle  der  eigentlichen  Parodos 
vertritt  (aber  nicht  bei  Sophokles  im  ersten  Stasimon  des  Oedipus  auf  Kolonos 
unter  gleichen  Umständen),  ebenso  Prometheus  901,  Euripides  Hec.  943,  Phö- 
nissen  676.  Ursprünglich  mag  der  Chor  auch  bei  diesen  Stasima  mit  Epoden 
gerade  so  wie  in  der  Parodos  den  Allar  umwandelt  haben.  Nur  ausnahms- 
weise wird  eine  Proodos  (Euripides  Medea  131  ff.)  oder  eine  Mesodos  (Euri- 
pides El.  12.5.  126,  wo  ava  rov  avrbv  eyeioe  yöov  zu  lesen  ist,  und  150 — 158; 
denn  Phönissen  226  ist  als  Epode  zu  betrachten)  angewandt;  vgl.  Schol.  Ari- 
stopb,  Wesp.  270:  iStv  yao  ^o^iy-cöv  fitXciv  la  fiiv  i<XTi . . .  ra  Se  noocoSnca, 
Ta  8s  jueacpSixä,  ra  de  STtc^Sixä. 

497)  Eine  Einzelstrophe  gebraucht  Aeschylus  Prometheus  6SS;  bei  Sopho- 
kles Philoktet  folgt  auf  die  Strophe  391  erst  507  die  Gegenstrophe. 

49S)  Aristot.  Probl.  19,  15  p.  91SB26:  to  S^  avrb  airiov  xal  Stört  ra 
fiev  ano  rrfi  axrjvrjS  ovx  avTiargoipa,  ra  Se  rov  xo^ov  avriarQoyw  6  ftiv  yao 
vjiOK^irTjs  ayavtarrfi  aal  fiiurirrjS,  6  Se  xoQoi  rjrrov  fufielrai.  Vorher  p.  918 
B  21  heifst  es  von  der  Veränderung,  die  im  Dithyrambus  vorging:  noXlovs  ovv 
dya}vtari)c(JJS  aSeiv  ^akenov  ijv,  coare  ivuQfiövia  fiäX/Mv  fiiKTj  ivjjSoy,  offenbar 
fehlerhaft,  denn  gerade  das  unharmonische  Tonsystem  eignete  sich  wegen  seiner 
Schwierigkeit  am  wenigsten  für  den  Chor,  sondern  eben  für  Virtuosen;  es  ist 
wohl  /Uta  aQfiovia  ftäDxw  ra  fieXr^  iveSovv  zu  verbessern.  In  der  Tra- 
gödie fand  das  ytvos  ivaQfioviov  erst  spät  Eingang  (Plut.  de  mus.  c.  20  und 
c.  33)  und  ist  den  Chorliedern  wohl  hier  stets  fremd  geblieben. 

499)  Zuweilen  finden  sich  solche  auch  in  Chorliedern.  Die  Parodos  der 
Sieben  vor  Theben  wird  durch  die  freie  Form  der  anoleXvfidva  eröffnet,  in 
denen  die  Unruhe  und  Furcht,  welche  das  Gemüth  des  Chores  völlig  beherrscht, 
den  angemessensten  Ausdruck  findet;  darauf  folgen  antistrophische  gegliederte 
Gesänge,   in  denen  jene  Empfindung  mehr  leise  nachtönt.     Die   erste  Partie 


152  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

R^sponsion  In   den  Versen,  welche   in   Strophe  und  Antislrophe   einander 

^*p^°°p{,'g"'entsprechen ,  wird  meist  sorgsam  auf  Gleichmäfsigkeit  geachtet,  so 
Theiie.  dafs  Auflösung  der  Auflösung,  Zusammenziehung  der  Zusamnaen- 
ziehung  entspricht;  jedoch  wird  nicht  überall  die  gleiche  Strenge 
angewandt.**")  Die  älteren  Dichter,  wie  Aeschylus,  nehmen  es  in 
allen  diesen  Dingen  genauer,  doch  finden  sich  auch  hei  ihm  öfter 
Abweichungen,  die  man  nicht  beseitigen  darf.  Sophokles  verfährt 
schon  freier;  noch  mehr  haben  sich  Euripides  und  die  Komiker  er- 
laubt. Die  Kritiker  haben  diese  Unterschiede  zu  wenig  beachtet ; 
während  man  früher  um  solche  metrische  Feinheiten  ziemlich  un- 
bekümmert war,  hat  man  in  neuerer  Zeit  oft  buchst  willkürlich  die 
Ueberlieferung  abgeändert,  um  eine  vollständige  Responsion  auch  da 
herzustellen,  wo  sie  der  Dichter  gar  nicht  beabsichtigt  hatte.  Es 
kommt  eben  hier  nicht  nur  auf  die  Eigenthümlichkeit  des  Versmafses 
und  den  besonderen  Charakter  des  Liedes  an,  sondern  auch  ob  ein 
Dichter  seine  Arbeit  sorgsam  feilte  oder  rasch  hinwarf,  war  von 
Einflufs.«") 


(V.  78 — 134)  ist,  wie  der  äufsere  Umfang  und  das  Gewicht  der  Gedanken  be- 
weist, als  der  eigentliche  Schwerpunkt  der  Parodos  zu  betrachten  und  zerfällt 
wieder  in  zwei  Theiie,  eine  Art  Einleitung,  wo  der  Dichter  sich  der  Form  der 
ufioißaia  bedient,  um  die  Stimmung  des  Chores  klar  zu  veranschaulichen  (V.  TS 
— 103),  und  ein  Gebet  an  die  Götter  um  Abwehr  von  der  drohenden  Gefahr 
(V.  104 — 134),  die  Hauptpartie  des  Gesanges,  vom  ganzen  Chore  vorgetragen. 
Ganz  ähnlich  gliedert  sich  der  zweite  anlistrophische  Theil  in  aftotßala  (V.  135 
— 150)  und  vollstimmiger  Gesang  des  Chores  (V.  15  t — lfi2),  und  zwar  werden 
die  Motive  des  ersten  Theiles  nur  wiederholt:  im  ersten  Abschnitte  wird  wieder 
die  Situation  geschildert,  dann  folgen  Gebete. 

500)  Hierher  gehört  vor  allem  auch  der  Wechsel  zwischen  Länge  und 
Kürze  in  der  syllaba  miceps  im  Anlaut  wie  im  Inlaut  der  Verse.  Zuweilen 
werden  verschiedene  Versformen  als  Aeqnivalent  gebraucht,  eine  Freiheit,  die 
besonders  den  Logaöden  eigen  ist.  Ebenso  wechseln  synkopirle  Verse  mit 
nicht  synkopirten  in  Strophe  und  Antistrophe,  oder  die  Stelle  der  Synkope  ist 
veränderlich. 

501)  Wenn  es  auch  im  Allgemeinen  richtig  ist,  dafs  die  ältere  Kunst  sorg- 
fältiger darauf  achtet,  dafs  in  den  anlisirophischen  Theilen  alle  Formen  sich 
genau  entsprechen,  so  wirken  doch  auch  andere  Verhältnisse  ein.  Catull  hat 
in  dem  Ol.  Gediclile,  was  mehr  als  200  Verse  zählt,  in  den  glykoneischen  Ver- 
sen in  der  ersten  Hälfte  des  Gedichtes  constant  nur  den  Trochäus  im  Anlaute 
gebraucht;  in  der  zweiten  Hälfte  läfst  er  nicht  selten  auch  den  Spondeus  zu. 
iMan  sieht,  wie  der  Dichter  selbst  im  weiteren  Verlaufe  seiner  Arbeit  auf  die 
strenge  Durchführung  der  Regel  verzichtete.;    P^^* 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.      EINLEITUNG.  153 

In  manchen  Fällen,  namentlich  bei  Aeschylus,  wird  nach  der  Refrain. 
Weise  des  Volkshedes,  welche  auch  der  Kunstform  der  melischen 
Poesie  nicht  fremd  war,  der  Refrain  angewandt.  Eine  Interjektion 
oder  auch  ein  Vers,  der  einen  selbständigen  Gedanken  enthält,  wird 
am  Schlüsse  der  Strophen  wiederholt,  um  den  Grundton  des  Liedes, 
die  Stimmung,  welche  alles  beherrscht,  nachdrücklich  hervorzu- 
heben.**^) ISoch  wirksamer  ist,  wenn  eine  ganze  Periode  wiederholt 
wird,  lim  den  Grundgedanken  eines  Chorgesanges  recht  bestimmt 
hervortreten  zu  lassen.  Aeschylus  Hebt  diese  Art**^,  aber  auch  die 
Dramen  des  Sophokles  und  Euripides  bieten  einzelne  Belege  dar, 
obwohl  die  Abschreiber,  meist  aus  Unkenntnifs,  solche  Wiederholun- 
gen getilgt  haben.  Bemerkenswerth  ist,  dafs  nicht  selten  in  Strophe 
und  Antistrophe  dieselben  oder  ähnliche  Worte  ganz  an  der  gleichen 
Stelle  wiederkehren  und  dadurch  einen  besonderen  Nachdruck  ge- 
winnen. 

Die  ältere  Tragödie  hält  streng  darauf,  dafs  jedes  Mal  die  Rede  yertheiinng 
der  einzelnen  Person  mit  einem  vollständigen  Verse  abschhefst.    Den  „ni"  meh- 
Vers  zwischen  zwei  oder  sogar  drei  Personen  zu  vertheilen,  hat  man""«'«  ''«■^o- 
sich  anfangs  nicht  einmal  in  Stellen,  wo  das  Pathos  sich  entschieden 
steigert,  erlaubt.    Erst  später,  wo  die  Darstellung  leidenschaftlicher 
wird,  nimmt  man  sich  diese  Freiheit.^)    Die  leidenschaftliche  Erregt- 


502)  Besonders  Aeschylus  wendet  öfter  den  Refrain  an,  wie  im  Agamem- 
non 121  ff.  aXXivov  aXXtvov  eiTid,  rb  S^  ev  vixdrco;  nur  darf  man  darin  keine 
Nachahmung  gerade  der  sicilischen  Hirtenlieder  suchen. 

503)  So  wurden  in  dem  Gesänge  der  Eumeniden  die  letzten  vier  Verse 
der  Strophe  V.  329 :  i^l  8e  rw  Ts&vuevcp  xi).,  in  der  Antistrophe  wiederholt ; 
aber  man  hat  nicht  erkannt  [doch  s.  Kirchhoff],  dafs  der  Dichter  dasselbe  Kunst- 
mittel auch  in  den  beiden  anderen  Strophenpaaren  angewandt  hat,  und  müht 
sich  nun  vergeblich  ab,  die  gestörte  Symmetrie  herzusteilen.  Das  zweite 
Strophenpaar  schliefst  gleichmäfsig  mit  drei  Versen:  oxav  'Agr,?  xrX.  ab,  [wobei 
sich?]  Aeschylus  nur  im  Eingange  eine  leichte  Verände[rung  gestattet  hat?], 
ebenso  das  dritte  Strophenpaar  wiederum  [mit  drei  Versen:  fu'Xa  yao  ovv 
(\Xou\Eva  xt)..  Auch  die  Parodos  der  Perser  mag  auf  ähnliche  Weise  geschä- 
digt worden  sein.  Bei  Sophokles  Oedipus  Kol.  1S2  haben  zwar  die  Kritiker 
den  Ausfall  von  drei  Versen  nachgewiesen,  aber  nicht  erkannt,  dafs  diese  Lücke 
sich  mit  voller  Sicherheit  durch  Wiederholung  von  V.  199—201  ergänzen  läfst. 
Bei  Euripides  findet  sich  in  dem  wunderlichen  Chorliede  der  Bacchen  S77  die 
Schlufsperiode  der  Strophe:  rt  to  aofov  t  rl  to  xaXXiov  na^r  &s(5v  ye'oas 
iv  ßoorola  TJ  ^eJ^  vTxeo  xoQvq>äs  xcöv  ixd'qtov  x^eiaaco  xare'xeiv,  o  zi  xalov 
ipiXov  aisi  in  der  Antistrophe  wiederholt. 

504)  Der  Kunstausdruck  für  solche  Stellen,  wo  die  Personen   Halbverse 


154  DRITTE   PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

lieit  wird   zuerst  in   den  lyrischen  Partien  veranlafst  haben,  einen 
Vers  unter  mehrere  Personen  zu  verlheilen  ""*)  und  bald  nahm  der 
Dialog  das  gleiche  Recht  in  Anspruch, 
interjektio-         Interjektionen  aufserhalb  des  Verses  kommen  bei  Aeschylus  ver- 
"haibVe"  ''*^^^"'^*"^^'^^'8^  selten  und  immer  nur  bei  gesteigerter  Gemüthsbewegung 
ver»es.    als  Ausdnick  des  tiefsten  Schmerzes,  wie  der  höchsten  Freude  vor. 
Bei  Sophokles  werden  die  Beispiele  häufiger,  noch  mehr  bei  Euri- 
pides,  entsprechend  dem  gesteigerten  Palhos  der  jüngeren  Tragödie. 
Aber  nicht  selten  dient  dieses  Mittel  hier  lediglich  dazu,  um  in  mög- 
lichster Kürze  zwei  verschiedene  Gedankenreihen  zu  verknüplen.**^) 
Gleich-  Reimartige  Wendungen  sind  der  Tragödie  ziemlich  fremd  und 

*°*^""  mögen  manchmal  nur  dem  Zufall  ihren  Ursprung  verdanken ;  da 
meist  nur  die  Flexionsendungen  einander  entsprechen  oder  auch 
dasselbe  Wort  wiederholt  wird,  sind  sie  nicht  recht  wirksam.^')  Die 
Alliteration,  eine  Erinnerung  an  die  archaische  Poesie,  wenden  Aeschy- 
lus und  Sophokles  noch  öfter  an  ***),  während  Euripides  diese  Laut- 
malerei verschmäht.^"®) 

sprechen,  ist  amlaßni  (Hesycbius),  von  den  Ringern  entlehnt,  die  einander 
packen  und  zu  umschlingen  suchen.  Aeschylus  hat  nur  an  zwei  Stellen  diese 
Vertheilung  angewandt,  in  den  Sieben  V.  217  (doch  ist  dies  kein  einTacher 
Dialog,  sondern  hier  kam  wohl  beim  Vortrage  die  sogenannte  7ia^axaza?xtyr; 
in  Anwendung),  dann  sehr  passend  im  Prometheus  '.»SO.  Bei  Sophokles  findet 
sich  in  der  Antigene  kein  Beispiel,  wohl  aber  in  den  übrigen  Dramen,  beson- 
ders in  der  Elektra,  dem  Philoktet  und  vor  allem  im  Oedipus  auf  Kolonos. 
Euripides  macht  den  ausgedehntesten  Gebrauch  von  dieser  Freiheit. 

505)  Aeschylus  hat  in  den  melischen  a/ioißala  nur  sehr  selten  sich  der 
avTiXaßai  bedient,  wie  in  den  Persern  1059  und  1065:  denn  der  Schlufs  der 
Sieben,  wo  sich  zahlreiche  Belege  finden,  ist  nicht  von  Aeschylus  verfafst.  Die 
jüngeren  Tragiker,  wie  Sophokles  (besonders  im  Oedipus  auf  Kolonos)  und 
Euripides,  machen  in  Bühnengesängen  von  dieser  Freiheit  ausgedehnteren  Ge- 
brauch. Euripides  wendet  die  avnXaßai  sogar  mehrmals  in  demselben  Verse 
an,  und  Sophokles  ist  ihm  gefolgt.     Noch  freier  bewegt  sich  die  Komödie. 

50(1)  So  namentlich  i'a,  tSov,  flsv. 

507)  Bei  der  Formfülle  der  griechischen  Sprache  tritt  dieser  Gleichklaug 
meist  in  den  mehrsilbigen  Wortausgängen,  nicht  in  der  Stammsilbe,  der  Trä- 
gerin des  Begriffes,  hervor;  daher  machen  solche  Versausgänge,  wie  t,T]Tol<fUvov 
—  a^ekovftevov,  rjSovfie&a  —  Xvnoifisd'a,  iHߣßf.Tjftivr;  —  rjnazrjfiivr}  und  ähn- 
liche, die  sich  besonders  bei  Sophokles  finden,  keine  volle  Wirkung,  wohl 
aber  KQäxot  S'  ozto  x^ros  fieket  —  na^aßarov  oida/nq  nelai  in  der  Anti- 
gene b'3.  871. 

50S>  Besonders  Jl  und  K,  weil  diese  Consonanten  stärker  tönen,  werden 
7iir  AlliiiJ'taiinn  verwendet.    Wenn  bei  Acsrliyliis  öfter  im  Anfange  der  Verse 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.     EI>LEITL>G.  155 

Symmetrie  ist  das  Grundgesetz  der  antiken  Kunst;  darauf  be-  Symmetri- 
ruht  vorzugsweise  der  Bau  und  die  kunstvolle  Gliederung  der  Stro- ^j^j^'^g  "r^ 
phen,  aber  dieses  ebenmäfsige  Verhältnifs,  welches  in  den  lyrischenden  diaiogu 
Partien  zwischen  den  einzelnen  Gruppen  stattfindet,  wirkt  sichtlich^   jien 
auch  auf  andere  Theile   des  Dramas  ein.     So  entsprechen   sich  in 
der  Tragödie  iambische  Trimeter  des  Dialoges,  welche  mit  Chorge- 
sängen in  Verbindung  stehen,   öfter  in  ganz  ähnhcher  Weise,  wie 
jene  Chorüeder.     Manchmal  verzichtet  jedoch  der  Dichter  auf  voll- 
ständige üebereinstimmung  und  begnügt  sich  mit  ungefährem  Eben- 
mafse.     Man   mufs  sich   hüten,   durch  Umstellung  der  Verse  oder 
Annahme  von  Lücken  vollständige  Gleichheit  einzuführen.    Dasselbe 
Princip   nimmt   man   nicht  selten   auch  da  wahr,   wo  anapästische 
Systeme  in  gröfserer  oder  kleinerer  Zahl  auf  einander  folgen.    Auch 
diese  Gruppen  entsprechen  sich  oft  genau  hinsichtlich  des  Ümfangs 
und  der  Stellung,  sind  ganz  nach  Analogie  der  melischen  Strophen 
geghedert. 

Oefter  sind  sogar  ganze  Scenen  des  Dialoges  so  gestaltet,  dafs 
uns  ein  durchgehender  Parallelismüs  entgegentritt,  so  in  der  Anti- 
gone  des  Sophokles  die  Scene°'°},  wo  Kreon  und  Hämon,  in  leb- 
haftem Wortwechsel  begriffen,  einander  gegenüberstehen ;  hier  wahet 
kein  Spiel  des  Zufalls  ob,  sondern  man  nimmt  deulHch  die  bewufste 
Kunst  des  Dichters  wahr.  Allein  man  darf  diese  Beobachtung  nicht 
mifsbrauchen ;  man  hat  gesucht,  ein  solches  symmetrisches  Verhält- 
nifs auch  bei  Acschylus  in  der  Scene  der  Sieben  vor  Theben  her-» 
zustellen,  wo  der  Bote  seinen  Bericht  über  den  bevorstehenden 
feindlichen  Angriff  abstattet.*")  An  sich  wäre  es  wohl  angemessen, 
dafs  jeder  Abschnitt  dieser  Erzählung  hinsichtUch  der  Verszahl  jedes 
Mal  genau  mit  der  nachfolgenden  Erwiderung  des  Eteokles  über- 
einstimmte ;  allein  ohne  Gewaltsamkeit  läfst  sich  hier  dieses  Verhält- 
nifs nicht  herstellen. 


derselbe  Laut  mehrmals  wiederholt  wird,  z.  B.  in  den  Sieben,  so  ist  dies  wohl 
zufällig. 

509)  Mit  Ausnahme  der  "Wiederholung  der  Zischlaute,  wie  in  der  Medea 
V.  470:  "Eacaaä  ff',  cos  iaaai,v  'E?j.r;v(ov  oaot,  worüber  sich  schon  die  gleich- 
zeitigen Komiker  lustig  machen.  Da  Euripides  sonst  dergleichen  nicht  liebt 
und  gerade  dieser  Laut  für  Schauspieler  und  Sänger  sehr  unbequem  war,  möchte 
man  fast  vermuthen,  dafs  nur  der  Geist  des  Widerspruches  dazu  Anlafs  gab. 

510)  Sophokles'  Anligone. 

511)  Aeschylus'  Sieben. 


156  DRITTE   PERIODE    VOIS    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

sticho-  In  der  lebliaften  VVechselrede  der  handelnden  Personen  in  der 

mythie.  jpggjjjjje  findet  diese  Symmetrie  vorzugsweise  Anwendung.  Indem 
hier  Rede  und  Gegenrede  wie  Schlag  auf  Schlag  rasch  auf  einander 
folgen,  ist  es  ganz  gewöhnlich,  dafs  jeder  immer  einen  Vere  spricht; 
es  ist  dies  gleichsam  eine  Art  von  Zweikampf  in  Worten.  Man 
bezeichnet  diesen  Parallelismus  mit  dem  Kunstausdrucke  Sliclio- 
mythie.*''')  Man  darf  jedoch  diese  Methode  nicht  auf  den  einzelnen 
Vers  beschränken;  nach  Umständen  werden  jedem  auch  zwei  Verse 
oder  noch  mehr,  aber  in  der  Regel  die  gleiche  Zahl  zugetheilt, 
während  andererseits,  wo  die  Leidenschaft  wächst,  auch  Halbverse 
vorkommen.  Zuweilen  hat  man  sich  eine  Abweichung  von  der  strengen 
Regel  gestattet,  indem  eine  Person  zwei,  die  andere  nur  einen  Vers 
erhält,  besonders  wenn  man  den  anderen  ausforscht,  eine  Sache 
untersucht.  Hier  pflegt  die  Hast  des  Fragenden  sich  kurz  zu  fassen, 
während  die  Antwort  einen  breiteren  Raum  beansprucht;  jedoch 
wird  das  symmetrische  Verhältnifs  insofern  gewahrt,  als  diese  un- 
gleiche Vertheilung  der  Verse  stetig  durchgeführt  wird.  Reispiele 
der  Stichomythie  finden  sich  bei  den  Tragikern  überall,  am  häufig- 
sten bei  Euripides.  Dies  hängt  mit  dem  Vorwalten  des  dialektischen 
Elementes  zusammen ,  welches  diesem  Tragiker  eigenlhümlich  ist. 
Bei  Euripides  beginnen  die  Sprechenden  öfter  mit  ausführlichen 
Darlegungen;  indem  das  Pathos  zunimmt,  werden  die  Reden  kürzer, 
dann  folgen,  indem  die  Aufregung  ihren  Höhepunkt  erreicht,  ein- 
zelne Verse  oder  Halbverse;  allmählich  steigt  der  Dialog  wieder  auf- 
wärts und  schliefst  zuletzt  meist  mit  einer  längeren  Rede  ab.  Auch 
hier  erkennt  man  deutlich  eine  bewufste  Methode  des  Dichters."^) 
Unterbrechungen  der  regelmäfsigen  Stichomythie  kommen  öfter 
vor;  wo  die  Wichtigkeit  des  Gegenstandes  ein  längeres  Verweilen, 
eine  ausführUchere  Darlegung  erfordert,  war  lediglich  die  Rücksicht 
auf  den  Inhalt  mafsgebend.  Aber  auch  wenn  ein  neuer  Abschnitt 
des  Gespräches  beginnt,  wenn  die  Rede  zu   einem  anderen  Punkte 


512)  Pollux  IV  113:  arixofiv&elv  Sa  k'Xeyov  xo  nn^^  Iv  iaftßslov  avrtXe' 
VHVy  xai  tÖ  TiQayfia  art/COftv&inv. 

b['.\)  Auch  der  Komödie  ist  diese  Symmetrie  nicht  fremd,  doch  wird  die 
Stichomythie  seltener  als  in  der  Tragödie  angewandt  oder  doch  streng  durch- 
gefährt:  öfter  liegt  nur  eine  Nachahmung  des  tragischen  Stiles  vor,  wie  in 
den  Acharnern  des  Aristophanes  gegen  Ende  (1097  ff.),  wo  Laraachus  und  Di- 
käopolis  sich  gegenüberstehen. 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.     EINLEITUNG.  157 

übergeht  oder  auch  eine  neue  Person  auftritt,  verzichtet  man  auf 
Durchführung  der  Symmetrie.  In  diesen  Fällen  ist  die  Unterbrechung 
durch  die  Natur  der  Sache  genügend  gerechtfertigt;  anderwärts  mag 
eine  Verderbnifs  des  Textes  vorliegen;  denn  durch  die  Nachlässig- 
keit der  Abschreiber  ist  nicht  selten  der  Dialog  lückenhaft  über- 
liefert  oder  doch  die  Personenabtheilung  in  V^erwirrung  gerathen. 

Wenn  der  Chor  in  die  Orchestra  einzog,   gingen  die  MusikerDiemusika- 
voraus  und  nahmen  den  für  sie  bestimmten  Platz  auf  der  Thymele  'gie^ung^.' 
ein.*")    Die  Flöte  ist  das  eigentliche  Instrument  für  dramatische  Auf- 
führungen*'*);  sie  allein  war  im  Stande  mit  ihren  durchdringenden 

514)  Ebenso  beim  Abzüge  des  Chores  Schol.  Aristoph.  Wesp.  582:  t&os  riv 
iv  rais  i^öSois  rtöv  t^s  rgaycoSias  xoQiy.cöv  TiQoacöncov  7tQOT]ysla-d'at  avXrjrr^v, 
waxs  avXovvTa  nooninneiv.  Die  Anwesenheit  der  Musiker  in  der  Parodos  der 
Komödie  bezeugt  Aristophanes  Vögel  26S.  Wie  viele  Flötenspieler  mitwirkten, 
ist  nicht  überliefert,  bei  Aristophanes  ziehen  vier  voran,  doch  ist  dies  nicht  ent- 
scheidend. Wenn  einer  genannt  wird,  wie  Schol.  Aristoph.  Wesp.  528  (richtiger 
Suidas  I  2,  324:  i^öSioi  vofiot.  8i^  oiv  i^f^taav  ol  %oqol  xal  oi  avlr^rai),  so  ist 
dies  nur  eine  Brachylogie;  gerade  so  wird  auf  Vasenbildern  auch  nur  ein  Flö- 
tenspieler auf  dem  Bema  dargestellt.  Der  tibicen,  welcher  regelmäfsig  in  den 
Didaskalien  hei  Terenz  namhaft  gemacht  wird,  ist  der  Componist;  in  diesem 
Sinne  steht  auch  im  Griechischen  «vAj?t7;s.  Ein  Flötenbläser  hätte  weder  für 
die  Begleitung  des  Gesanges,  noch  weniger  aber  für  die  yü^  avXr^ats  ausge- 
reicht. Aber  man  wird  ein  gewisses  Mafs  nicht  überschritten  haben,  da,  wie 
Aristoteles  Probl.  19,  9  p.  918  A  27  bemerkt,  rb  ngos  noXXovs  avXt]ras  ij  XvQas 
■KoXXas  ovx  i]§iov,  ort  dfavi^si  rrjv  (pSrjv.  Ueber  die  Vortheile,  welche  die 
Flötenbegleitung  für  den  Chorgesang  darbot,  zumal  w  enn  die  Sänger  nicht  ganz 
tüchtig  waren,  vgl.  ebendas.  19,  43  p.  922  A  ff.  —  Zuweilen  hörte  man  auch 
Flötenspiel  hinter  der  Bühne,  s.  Schol.  Aristoph.  Frösche  1264.  Vögel  222. 

515)  In  der  älteren  Zeit  wird  die  Flöte  von  einfacher  Construclion  aus- 
gereicht haben;  später  sorgte  man,  schon  weil  die  Zahl  der  Zuschauer  bedeu- 
tend anwuchs,  für  stärkere  Instrumentation.  Die  Schilderung  bei  Horaz  A.  P. 
202  ff.  hat  auch  für  Athen  Gültigkeit.  Es  gab  sehr  verschiedene  Arten  der 
Flöten,  s.  PoUux  IV  81 ;  so  scheint  man  wenigstens  später  für  Chorlieder  den 
XOQixos  uDms,  dessen  Ton  mehr  etwas  Weiches  hatte  (daher  xooavÄTjs),  für 
Bühnengesänge  {cantica)  den  üv&ixos  avXoe  (Uvd'avXi^s),  der  einen  entschieden 
männlichen  Ton  hatte,  verwendet  zu  haben,  s.  Aristid.  Qmnt  II  S.  101,  Diomedes 
IV  p.  492  K.  Wie  man  in  Rom  mit  Rücksicht  auf  den  Ton  und  Charakter  des 
einzelnen  Dramas  diese  oder  jene  Flötenart  wählte,  erhellt  aus  den  Bemerkungen 
des  Donat  zu  Terenz.  —  Den  aiXos  als  mitwirkend  bei  einem  Chorliede  der 
Tragödie  erwähnt  Sophokles  ausdrücklich  Trachin.  216  ff.  (verschieden  ebendas. 
040,  wo  die  Flöte  nur  Symbol  der  Festfreude  überhaupt  ist;  auch  darf  man 
nicht  aviiXvQov  mit   den  alten  Erklärern  auf  das  Zusammenwirken  der  Flölc 


158  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Tönen  den  weiten  nnbedeckten  Raum  eines  griechischen  Theaters 
zu  erfüllen.  Die  Flötenniusik  hat  etwas  Aufregendes"*)  und  eignet 
sich  vor  allem  für  die  ekstatische  Begeisterung,  wie  für  die  üher- 
müthig- kecke  Lust  der  Feslfeier  des  Dionysus.  Sie  hat  daher  im 
Schauspiel,  welches  eben  zur  Ehre  dieses  Gottes  in  seinem  Heilig- 
thume  gegeben  wurde,  alle  Zeit  eine  bevorzugte  Stelle  behauptet. 
Die  sanfteren  TOne  der  Kithara,  welche  mehr  Ruhe  als  leidenschaft- 
liche Bewegung  ausdrücken,  daher  miifsigend  und  besänftigend  wir- 
ken, sind  von  der  Begleitung  der  dramatischen  Poesie  nicht  aus- 
geschlossen*'^, dürfen  aber  nur  als  secundäres  Element  betrachtet 
werden. 

Der  Grundsatz,  dafs  die  Musik  sich  dem  Dichterwort  unterzu- 
ordnen hat*'*),  gilt  vor  allem  von  der  älteren  Tragödie  zur  Zeit  des 
Phrynichus  und  Aeschylus,  die  auch  in  der  musischen  Kunst  un- 
übertrofTene  Meister  waren.*'^)  Zwar  eifert  bereits  ihr  unmittelbarer 
Zeitgenosse  Pratinas*^)  gegen  das  Bestreben,  die  Musik  aus  dieser 
dienenden  Stellung  herauszuführen,  indessen  dieser  Versuch  ward 
offenbar  zunächst  in  der  chorischen  Lyrik  gemacht,  die  dramatische 
Poesie  blieb  davon  unberührt.  Die  ältere  Tragödie  kennt  eigentUch 
nur  Chorheder;  der  Vortrag  dieser  Gesänge,  ausgeführt  von  einer 
gröfseren  Zahl  musikalisch  gebildeter  junger  Männer,  die  jedoch  nicht 
Sänger  von  Profession  waren,  erheischt  alle  Zeit  eine  gewisse  Ein- 
fachheit der  musikalischen  Begleitung.  Später  treten  diese  Chorlieder, 
einst  der  höchste  Schmuck  der  Tragödie,  mehr  und  mehr  zurück 
hinter  den  Bühnengesängen"'),   die  den  Schauspielern  Gelegenheit 


und  Saiteninstrumente  beziehen).    In  der  Komödie   wird  der  Flö(cnl)egleitung 
wiederholt  gedacht. 

516)  Aristot.  Pol.  VIII  7,  8  p.  1342  B  2. 

517)  Plutarch  de  glor.  Athen,  fi:  ngoalroianv  i'ti'  nilole  xai  Xv^nis  noir,- 
ral  Xeyovree  xal  qSovres'  st<pr}iuelv  x^^  xt^.  Iloraz  A.  P.  216:  sie  etiam  fidi- 
but  voces  crevere  severis. 

51 S)  Pratinas  bei  Athen.  XIV  617  D:  tov  aotSav  xareoraas  Die^is  ßaai- 
Xttav  6  5'   rtt'^s  rar s^ov  xoQeidxto'  xni  ynp  ia&^  vnri^exns. 

519)  Phrynichus  und  Aeschylus  machen  von  dem  chromatischen  Tonge- 
fichlechte  keinen  Gebrauch,  wohl  aber  Agalhon,  s.  Plut.  de  mus.  c.  20,  3.  Quaest. 
Symp.  III  1,3. 

520)  Pratinas  bei  Athen.  XIV  61 7 P. 

521)  Dieser  Unterschied  ist  von  durchgreifender  Bedeutung.  Per  Compo- 
nist  pflegte  bei  der  Wahl  der  Tonweise  darauf  gebührend  Rücksicht  zu  nehmen; 
die  XTTOfovytari  und  vnoBtaQiaii  wurden   niilil   in  ("liorlirdtrn.  sondern  nur  in 


DIE    DRAMATISCHE   POESIE.      EINLEITL>G.  159 

gaben,  ihre  Kunstfertigkeit  glänzend  zu  bethäligen.  So  gewinnt  die 
Thcatermusik  allmählich  einen  anderen  Charakter;  hatte  man  früher 
vorzugsweise  die  vollendete  Kunst  der  rhythmischen  Bildungen  und 
die  grofsartige  Schlichtheit  der  Melodien  hochgehalten,  so  wird  jetzt 
hauptsächlich  auf  reiche  und  mannigfaltige  Instrumentalbegleitung, 
auf  künstliche,  geschnürkelte  Melodien  Werth  gelegt.^-^) 

Die  Reform,  welche  Sophokles  mit  dem  Chore  vornahm,  wirkt 
auch  hier  ein.  Indem  der  Chor,  welcher  früher  mehr  und  minder 
Antheil  an  der  Handlung  hatte,  zu  einer  untergeordneten  Stellung 
herabgedrückt  wurde,  mufsle  auch  die  Manier  der  musikalischen 
Composition  mehrfache  Veränderungen  erleiden.  Die  dorische  Har- 
monie mit  ihrem  gemessenen  Ernste  mag  in  der  älteren  Tragödie 
häufig  Anwendung  gefunden  haben.^^)  Die  herbe,  strenge  ionische 
Tonart  wird  von  Aeschylus  in  Klageliedern  gebraucht.*")  Auch  die 
enthusiastische  phrygische  Harmonie  war  gewifs  den  Chorgesängeu 
nicht  fremd,  zumal  in  Dramen,  deren  Fabel  dem  bacchischen  Sagen- 
kreise entnommen  war,  wo  die  Tragödie  unwillkürlich  an  den  alten 
Dithyrambus  erinnerte'^),  war  sie  ganz  an  ihrer  Stelle.  Jetzt  mufste 
der  Componist,  weil   die  Rücksicht  auf  den  veränderten  Charakter 


den  Bühnengesängen    gebraucht,  wegen   des  nachahmenden  Charakters  dieser 
Melodien  {uifir^rixoC,  Aristot.  Probl.  19,  30  p.  920  A  10). 

522)  Plut.  de  mus.  c.  12,  5 :  ir^v  yag  oXiyoxooB iav  xai  Trjv  aTiXörr^xa  xai 
aefiv6rf}Ta  t^s  fioxaiyr^s  7Tavre?.cös  aoxai'yrjv  elvai  avftßdßrjxev.  c.  21,  4:  ol 
ftiv  yoiQ  vvv  fiXouad'eTs  (schreibe  <pi?.ofielels),  ol  Si  tote  (fi)J)6gvd'inot. 

523)  Die  dorische  Tonart,  vorzugsweise  als  r,d-ixr;  äoftovia  anerkannt, 
fand  selbst  in  Klageliedern  {TQayixoi  olxroi)  Anwendung,  s.  Plutarch  de  mus. 
c.  17,2;  neben  ihr  ward  besonders  die  mixolydische  Harmonie  (TTadr^rixT,)  ge- 
braucht; beide  sagten  dem  Charakter  der  älteren  Tragödie  am  meisten  zu. 

524)  Heraklides  bei  Athen.  XIV  625 B  charakterisirt  sie  mit  den  Worten: 
araTTjpcv  xai  axXr^oov,  oyxov  Se  e/ov  ovx  ayevvri "  8ib  xai  rr]  loayfoSia  Tt^os- 
ifiXf;s  rj  aQfiovia.  Aeschylus  gebraucht  sie  in  den  Schutzflehenden  (V.  69)  und 
in  dem  Threnos  der  Perser.  Klagelieder  wurden  auch  in  lydischer  Tonweise 
gesetzt,  Plut*  de  mus.  c.  17,3:  xai  ttsoI  tov  ylvSicv  oix  r-yvoei  xai  Txeql  rrß 
Icoos'  rjTTiararo  yao  cTir.  ToaycoSia  ravTTj  tf,  ueXonoitq  xe'x^rai  (lies  T«r- 
Trtts  T«Ts  jueX,o7tot'taig,  vgl.  Kratinus  bei  Athen.  XIV  63SF). 

525)  Die  phr^-gische  Harmonie  hatte  im  Dithyrambus  vorzugsweise  ihre 
Stelle,  Aristot.  Pol.  Vlll  7,  9  p.  1342  B  7,  Wenn  der  Biograph  des  Sophokles  be- 
richtet: yjjfft  Se^AQiarö^evos,  cos Tiocöros  rcöv  Ad'r^vr^d'ev  notrj'rcöviTjv  0^yiav 
ftsMTtottav  EIS  ra  i'Sia  qffftara  TtaQiXaßEv  xai  t<m  Si&v^außixcä  xoönw  xnrdui- 
hv,  so  ist  damit  nicht  gesagt,  dafs  Sophokles  zuerst  in  der  Tragödie  diese  Ton- 
art anwandte,  sondern  es  bezieht  sich  dies  nur  auf  Bühnengesänge  und  dergl. 


160  DUITTE    l'EKIOÜE    VÜ^    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

des  Chores  mafsgebend  war,  auf  manches  verzichten."'')  Der  reiche 
Wechsel  der  Melodien,  welcher  die  ältere  Tragödie  auszeichnete, 
machte  einer  gewissen  Einförmigkeit  Platz. 

Der  eigeuthche  Wendepunkt  tritt  in  der  Zeit  des  peloponne- 
sischen  Krieges  ein.  Den  Neuerungen  des  Timotheus,  welche  dem 
herrschenden  Geschmacke  zusagten  und  rasch  den  Beifall  der  Menge 
gewannen,  konnte  sich  auch  die  dramatische  Musik  nicht  entziehen. 
Euripides  und  Agathon  führten  den  Stil  der  Dithyrambiker  in  die 
Tragödie  ein,  und  indem  die  neue  Manier  sich  des  Theaters  be- 
mächtigte, war  ihre  Herrschaft  entschieden.*'") 

Flöte  und  Kithara  begleiten  nicht  nur  den  Gesang,  sondern 
auch  zwischen  den  Versen  oder  am  Schlüsse  der  Strophen  und  Ab- 
schnitte fielen  öfter  die  Instrumente  ein,  um  so  die  Wirkung,  welche 
der  Dichter  hervorrufen  wollte,  zu  verstärken.  Besonders  Aeschylus 
scheint  von  diesem  Kunstmittel  Gebrauch  gemacht  zu  haben.*^)  Aber 

526)  Der  Chor  besteht  jetzt  aus  gewöhnlichen  Menschen,  ist  ein  an^a- 
XTOS  xTjSsvTTje;  daher  pafst  jetzt  weder  die  vnoSoj^tari  (d.  h.  die  Alo},iaxi, 
Athen.  XIV  625  A),  noch  A\t  vnof^vyiari  für  Chorlieder,  denn  es  sind  ctQfiovitu 
TigaxTiyai,  sondern  für  Bühnengesänge,  Aristot.  Prob).  19,  ',iO  p.  920  A  9  und  4S 
p.  920  ß  25,  während  früher  diese  Harmonien  dem  tragischen  Chore  gewifs  nicht 
fremd  waren.  Da  der  Chor  jetzt  meist  aus  Greisen  oder  Jungfrauen  besteht, 
war  auch  darauf  Rücksicht  zu  nehmen ;  so  sind  z.  B.  die  avvrova  /lakr;  für 
Greise  ungeeignet,  s.  Aristot.  Pol  YIII  7,  10  p.  i:U2  A  24.  Ruhige  Ergebung,  stille 
Wehmuth  ist  der  Grundton  des  Sophokleischen  Chores  (Aristot.  Probl.  19,  4S 
p.  922B19:  a^fw^ei  avzcö  xo  yoBQuv  aal  rjav^iop  rjd'os  ttal  fiiXot);  daher  sagt 
ihm  vor  allem  die  jui^oXvSiati  zu ;  denn  von  dieser,  nicht  von  der  vnof^vyiari 
(oder  vielmehr  der  enthusiastischen  f^vyiari,  die  Aristoteles  für  den  Chor  un- 
geeignet findet,)  ist  die  Rede. 

527)  Aristoteles  Pol.  VIU  7  p.  1342  A  4  findet  für  die  d'earQixtj  fwiaixfj 
zwar  die  a.Q/ioi'iai,  Tt^axzitcai  xal  iv&ovaiaaxixai  besonders  geeignet,  aber  er 
räumt  ein,  dafs  sich  die  Strenge  der  alten  Kunst  nicht  aufrecht  erhalten  lasse, 
und  macht  Concessionen,  indem  er  p.  1342  A  24  auch  TiaQBxßdaeis  xiöv  fteXüiv, 
Ta  avvrova  xal  naQaxsxQcoafieva  zuläfst.  Das  Haschen  nach  Popularität,  das 
Bestreben  einander  zu  überbieten,  was  Plutarch  de  mus.  c.  12,5  mit  den  Wor- 
ten (piXdv&QOJTxos  xai  d'e/tarixos  (d.  h.  aytoviarixoe)  xfönos  bezeichnet,  ist  das 
charakteristische  IVlerkmal  dieser  Richtung. 

528)  Euripides  verspottet  bei  Aristopii.  Frösche  12S5  diese  Manier  des 
Aeschylus,  indem  er  nach  jedem  Verse  xoipXaxxö&Qax  xotpXaxxöd'Qax  einschal- 
tet. Damit  soll  eben  nur  der  Ton  der  musikalischen  Instrumente  und  zwar  wohl 
der  Flöte  (vgl.  bei  den  römischen  Komikern  hat  und  bitlubatta)  nachgeahmt 
werden,  was  nachher  zu  einem  Vergleiche  mit  dem  eintönigen  Gesänge  der 
Wasserschöpfer,  die  eben  nur  unverständliche  Interjektionen  wiederholen  moch- 


DIE   DRAMATISCHE    POESIE.      EI>XEITU.N:G.  161 

auch  ganz  selbständig  trat  die  Musik  auf,  indem  sie  auf  schickliche 
Art  Pausen  der  Handlung  ausfüllte'^),  wie  bei  Aeschylus  im  Ein- 
gänge der  Eumeniden,  wo  die  Priesterin  im  Heiligthume  des  Gottes 
verschwindet  und  nach  einiger  Zeit  zurückkehrt*^,  dann  in  der- 
selben Tragödie  nochmals  beim  Scenenwechsel.  Die  mittlere  und 
neuere  Komödie  mufs,  da  sie  keinen  Chor  hat,  regelmäfsig  von  die- 
sem Mittel  Gebrauch  gemacht  haben."') 

Die  lebendige  Plastik  des  Tanzes,  der  die  Schönheit  der  mensch-  Die  drama- 
lichen  Gestalt  in  ihren  Bewegungen  offenbart,  wufsten  die  Griechen  chestik. 
wohl  zu  würdigen,  während  die  römische  Sittenstrenge  diese  Kunst 
mit  den  Gesetzen  des  Anstandes  nicht  zu  vereinigen  vermochte.  Die 
Griechen  kannten  eine  unendhche  Mannigfaltigkeit  charaktervoller 
iSationaltänze.  Jede  Stimmung  fand  in  diesen  Tanzweisen  Ausdruck. 
Neben  dem  Adel  und  der  würdevollen  Haltung  war  auch  dem  über- 
müthigen  Bocksprunge  und  der  obscönen  Geberde  Raum  vergönnt. 
Für  das  bewegüche  Volk  der  Hellenen  war  der  Tanz  eine  ebenso 
natürhche  Lebensäufserung  wie   das  Singen^);   daher  stehen  auch 

ten,  benutzt  wird.  Der  Scholiast  des  Aristophanes  bezeichnet  sie  richtig  als  Com- 
plement  des  Rhythmus,  und  deutet  an,  dafs  dies  auch  zuweilen  im  Texte  der 
Lieder  angedeutet  war,  dafs  aber  die  Kritiker  willkürlich  ras  roiavras  iv  rols 
fiB)^at  TiQoad'iaeis  entfernten.  Euripides  selbst  weist  darauf  hin  (aräaiv  uekch' 
ix  Tiöv  xid'a^cpSixcäv  vöficov  si^yaaft6vip>) ,  dafs  Aeschylus  hierin  dem  Vor- 
gange der  alten  Nomendichter  folgte.  Plutarch  de  mus.  c.  2S,  5  führt  diese  Kunst- 
mittel auf  Archilochus  zurück:  oi'ovrai  8s  xai  ir-v  xoovaiv  ttjv  vno  rriv  co8r^ 
rovrov  tiqcÖtov  st-^elv,  Tois  S'  aQ)(,aCov:  Tiüvras  'noöayooSa  xooveiv.  Darauf 
ist  der  Kunstausdruck  StavXtov  zu  beziehen,  Hesychius:  onöxav  ev  tois  fieleai 
ftera^  TiaoaßäXXr^  fiih)5  ri  o  7toir/rTj£  naoaaica7ir,(yain:os  rov  X0(}ov "  na^a  Si 
TOIS  fiovatxols  T«  roiatra  fieaavXut.  In  etwas  anderer  Art  Schol.  Arisloph.  Frösche 
1264:  oxav  r^av^iai  nävTcov  yevouivrjs  spSov  6  av?.T]rTjS  «ffp,  wie  ivSov  zeigt. 

529)  Entweder  hörte  man  nur  die  Flöte  (rptXfj  avXi]<Tis),  oder  Flöte  und 
Rithara  wirkten  zusammen  (owavUa). 

530)  Schol.  Eum.  33:  7ia^'  oXiyov  iorjuos  rj  oxr;vr,  yivexai,  ovte  yäo  6 
XOQos  nto  Ttä^eaziv,  rj  re  le^eia  eiar^Xd'ev  eii  rov  vabv.  Hier  konnte  nur  die 
Musik  aushelfen. 

531)  Donatus  bemerkt  zur  Andria,  der  Akt  schliefse,  wenn  die  Bühne  von 
allen  verlassen  sei,  ut  in  ea  chorus  (d.  h.  in  der  römischen  Tragödie)  vel 
tibicen  (in  der  Komödie)  audiri  possit. 

532)  Schon  der  Musiker  Dämon  würdigte  die  ethische  Bedeutung  des 
Tanzes,  Athen.  XIV  628 C.  Was  Athenäus  über  den  Znsammenhang  zwischen 
Orchestik  und  kriegerischer  Ausbildung  bemerkt,  ist  wohl  aus  Aristoxenus  ent- 
lehnt, von  dem  auch  Plutarch  Quaest.  Symp.  IX  15  abhängig  ist. 

Bergk,  Griech.  Literaturgescbicbte  IIL  11 


162  DRITTE   PERIODE    VON    500    DIS    300  V.  CHR.  G. 

Gesang  und  Orchestik  in  der  innigsten  Verbindung;  es  gilt  dies 
namentlich  von  der  dramatischen  Poesie.  Schon  die  Bezeichnung 
des  für  den  Chor  im  Theater  bestimmten  Raumes,  Orchestra, 
spricht  hinlänglich  für  die  Bedeutung  dieser  Kunst,  zumal  in  den 
Anfängen  des  Dramas.  Jede  Gattung  der  dramatischen  Poesie  hatte 
ihre  eigenthümhchen  Tanzweisen,  welche  mit  dem  Charakter  der 
Dichtart  vollkommen  harmonirten.'^)  Der  tragische  Tanz,  die  soge- 
nannte Emmeleia'^''),  verlangt  mafsvolle  Haltung,  Ernst  und  feier- 
liche Würde,  während  für  die  Satyrchöre  ein  stürmisches  Wesen, 
muthwillige  Bewegungen  und  Geberden  wohl  pafsten.  Der  Ueber- 
muth  und  die  Ausgelassenheit  der  bacchantischen  Festlust  erreicht 
in  dem  Kordax  der  Komödie  den  Höhepunkt. 

Für  die  alte  Tragödie  war  die  Orchestik  von  grofser  Bedeu- 
tung.^) Thespis,  Pratinas  und  vor  allem  Phrynichus  wufsten  immer 
neue  Tanzfiguren  zu  erfinden  und  ihre  Chöre  auf  das  Beste  einzu- 
üben, aber  auch  Aeschylus  stand  in  dieser  Kunst  jenen  Meistern 
nicht  nach.^*®)  Der  Chor  begnügt  sich  nicht,  wie  man  gewöhnlich 
annimmt,  damit,  den  Vortrag  seiner  Lieder  durch  orchestische  Evo- 
lutionen und  ausdrucksvolle  Mimik  zu  unterstützen ,  sondern  das 
Festspiel  nahm  von  Anfang  bis  zu   Ende   seine  Thätigkeit  in  An- 


533)  Aristoxenus  schrieb  ncQl  zQaytxrje  o^x^aeos.  Die  umfangreiche  Schrift 
des  Aristokles  ne^l  xo^cäv,  lubas  d'earQixrj  iaroQia  und  andere  verwandte  Ar- 
beiten boten  reichen  Stoff  dar ;  denn  dies  Thema  hat  die  Gelehrten  später  viel 
beschäftigt,  vgl.  Lukian  de  salt.  33. 

534)  Die  ififieXeia  wird  zum  ersten  Male  bei  Herodot  VI  129  erwähnt; 
hier  wird  sie  im  Hause  des  Tyrannen  Kleisthenes  von  Sikyon  als  Flötenmelo- 
die zum  Tanze  aufgespielt.  Plato  Leg.  VII  $16B  stellt  der  friedlichen  Emmeleia 
die  kriegerische  Pyrrhiche  gegenüber;  nur  diese  beiden  Tanzweisen  läfst  er 
als  wahrhaft  schöne  gelten. 

535)  Daher  erklären  die  Grammatiker  (Photius)  r^ayq'Selv  durch  ;uop«v«v; 
vgl.  Aristoph.  Wesp.  149U  und  wohl  auch  Wolken  1U91,  wo  man  nur  nicht  an 
den  Tragiker  Phrynichus  denken  darf. 

536)  Athen.  I  21  Ef.  mit  Berufung  auf  Chamäleon  und  Aristophanes,  der  in 
einer  Komödie  dem  Tragiker  die  Worte  in  den  Mund  legte:  rolai  xoQo'n  nv- 
Tce  T(  axrjfiax'  inoiovv.  Diese  Worte  des  Chamäleon  darf  man  nicht  so  auf- 
fassen, wie  sie  Alhenäus  verstanden  zu  haben  scheint,  als  hätte  er  zuerst 
{n^iötos)  ohne  Hülfe  eines  Tanzmeisters  die  Chöre  eingeübt,  denn  dies  hatten 
die  älteren  auch  gethan,  sondern  Aeschylus  habe  anfangs  (to  n^dnov)  auf 
fremde  Hülfe  verzichtet,  später  den  sehr  geschickten  Künstler  Telestes  (8.  nach- 
her A.  538)  hinzugezogen. 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.      EINLEITUNG.  163 

Spruch.  Der  Chor  der  älteren  Tragödie  stand  nicht  als  unlhätiger 
Zuschauer  da,  während  die  Handlung  vor  seinen  Augen  sich  ab- 
spielte, sondern  er  folgte  jedem  Momente  der  Entwicklung  mit  reg- 
ster Theilnahme  und  begleitete  die  Reden  der  Schauspieler  mit  leb- 
haften Geberden  und  Bewegungen,  welche  unter  Umständen  selbst 
zu  dem  Rhythmus  des  Tanzes  übergehen  konnten.  Natürhch  war 
man  bedacht,  die  rechte  Grenzlinie  inne  zu  halten,  um  nicht  die 
Aufmerksamkeit  der  Zuschauer  von  der  Hauptsache  abzulenken.  So 
greift  alles  in  einander.  Die  Choreuten ,  indem  sie  jedes  Gefühl, 
welches  die  Vorgänge  auf  der  Bühne  in  ihrem  Gemüth  hervorrufen, 
durch  Stellung,  Gestikulation  und  rhythmische  Bewegung  des  Kör- 
pers auszudrücken  suchen,  sind  keine  blofsen  Statisten,  wie  später, 
sondern  beiheiligen  sich  unmittelbar  an  der  Handlung;  ihr  stummes, 
aber  allgemeinverständliches  Spiel  veranschaulicht  in  bewegten  Sce- 
nen  die  Bedeutung  des  Momentes."')  Wie  die  dramatische  Kunst 
der  Hellenen  eine  entschiedene  Richtung  auf  das  Plastische  hat,  so 
wird  sie  durch  schickliche  Anordnung  dafür  gesorgt  haben,  dafs  die 
Schauspieler  oben  auf  der  Bühne  und  die  Choreuten  unten  auf  der 
Orchestra  sich  als  eine  wohlgeordnete  symmetrische  Gruppe  darstell- 
ten. So  dient  alles  dazu,  die  Wirkung  des  reichen  dramatischen 
Bildes  zu  verstärken;  nichts  ist  müssig  oder  stört  die  Harmonie. 
Aeschylus,  der  bei  der  Aufführung  seiner  Dramen  alles  bis  ins  kleinste 
Detail  anordnete  und  überwachte,  verstand  es  auch,  tüchtige  Gehülfen 
heranzubilden,  welche  auf  seine  Intentionen  eingingen  und  in  selb- 
ständiger Weise  ihre  Kunst  übten."*) 

537)  Darauf  geht  die  Deßnition  der  Emmeleia  bei  Schol.  Aristoph.  Frösche 
896 :  iftfiiXeiav  oti  xaraxorjOTixcös  vvv  rr^v  tvqvd'fUav '  xv^icos  yaQ  r^  fisiä  fii- 
txtvi  iqayi-KTi  Iqxr^on ,  oi  Si  rj  nooe  raS  prjaeis  vnö^xv^^^'  Die  Emmeleia 
umfafst  eben  beides,  während  diese  Definitionen  immer  nur  ein  Moment  heraus- 
heben. 

53S)  Telestes  oder  Telesis,  der  als  6^x'l<''^V'  oder  o^;fjjffTo5<^affxa/o»  des 
Aeschylus  bezeichnet  wird  (Athen.  I  21 F)  und  besonders  bei  der  Aufführung  der 
Sieben  vor  Theben  sein  Talent  bewährte  (22  A:  dv  t<j5  c();^£lai9"a<  rois  Etito.  inl 
0T)ßai  favsQo.  Ttoiijaai  rä  TtQÖyftara),  war  nicht  Schauspieler,  der  die  Rolle 
des  Eteokles  übernommen  hatte,  sondern  Koryphäus  des  Chores.  Er  erfand  nicht 
nur  neue  Tanzweisen,  sondern  war  Tor  allem  geschickt,  durch  stummen  Ge- 
berdenausdruck und  das  Spiel  der  Arme  die  Handlung  zu  veranschaulichen. 
Dieses  Talent  konnte  er  zwar  auch  in  der  Parodos  und  anderen  Chorliedern  der 
Sieben  bethätigen,  aber  Aor  allem  in  der  Scene,  wo  der  Bote  auftritt,  und  zwar 
nicht  blofs  in  den  kurzen  melischen  Perikopen  des  Chores,  sondern  mit  seiner 

11* 


161  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

Die  Wirkung  der  Reformen ,  welche  Sophokles  mit  dem  Chor 
vornahm,  ist  auch  hier  leicht  erkennbar.  Der  Chor,  von  jeder  Theil- 
nahme  an  der  Handlung  ausgeschlossen,  verhält  sich  während  der 
Vorgänge  auf  der  Bühne  passiv ;  er  verzichtet  darauf,  durch  Gesten 
und  Tanzfiguren  die  Handlung  zu  veranschaulichen  und  auch  ohne 
Worte  seine  Empfindungen  kund  zu  geben. ^')  Die  Orchestik  des 
Chores  beschränkt  sich  fortan  auf  seine  eigenen  Lieder,  und  auch 
hier  nimmt  sie  einen  anderen  Charakter  an.  Die  Tanzweisen  der 
tragischen  Chöre  zeichneten  sich  ehemals  durch  bunte  Mannigfaltig- 
keit aus"");  die  Dichter  benutzten  volksmäfsige  Elemente  oder  er- 
fanden neue  kunstreiche  Figuren,  um  jedes  Mal  den  Inhalt  des  Lie- 
des, die  augenblickliche  Stimmung  möglichst  deutlich  für  das  Auge 
darzustellen.  In  der  jüngeren  Tragödie  gewinnt  der  Tanz  mehr  und 
mehr  eine  feste  typische  Form.  Die  gemessene  Ruhe  der  Emmeleia 
herrscht  entschieden  vor;  für  den  Ton  und  Inhalt  der  meisten  Sta- 
sima  würde  die  alte  Weise  nicht  recht  mehr  passen."')  Daneben 
finden  sich  jedoch  auch  bei  Sophokles  und  Euripides  einzelne  Chor- 
lieder, welche  lebhaftere  Tanzbewegungeu  erfordern  "*) ;  namentlich 


ausdrucksvollen  stummen  Mimik  begleitete  er  eben  den  Bericht  des  Boten  und 
die  Reden  des  Eleokles. 

539)  Nur  Karkinus  machte  den  Versuch,  das  orchestische  Element  wieder 
zu  Ehren  zu  bringen. 

540)  Pollux  IV  105:  xQayiMfii  o^xriaeoie  ra  axfifiaxa,  m/i^  X^iQi  o  xaXa- 
&ia)eoe,  x^^Q  xaran^avi^s,  ivXov  naQaXrjrpiS,  Smlfj,  9'eQfiavaxQli ,  xvßiarrjats, 
Tia^aßijvai  rerra^a.  Das  Verzeichnifs  ist  unvollständig;  es  fehlt  der  §i(ptaf*ös, 
von  den  Lexikographen  ausdrücklich  als  Spielart  der  Emmeleia  bezeichnet,  eine 
Nachahmung  des  kriegerischen  Schwertertanzes.  Aber  die  MoJMaaixr]  iftftilsia 
bei  Athen.  XIV  629  D  beruht  ebenso  wie  die  alxivvie  Ile^atxr;  auf  Irrthum;  es 
sind  dort  die  Worte  i/ifiileia  xö^Sa^  aixiwis  als  ungehörig  zu  streichen. 

541)  Den  Unterschied  der  alten  und  neuen  Zeit  veranschaulicht  der  Ko- 
miker Plato,  Athen.  XIV  628 E:  war'  ci'rts  ö^j^oIt'  ev,  &eaft'  tjv'  vtiy  Se  S^öi- 
oiv  ovSiv,  aXl'  üicTteQ  anoTtXrjxroi.  atäSriv  iaräxBS  coQvovxai,  wobei  natürlich 
etwas  üeberireibung  mit  unterläuft. 

542)  So  bei  Sophokles  im  Ajas  69S,  wo  der  Chor  freudig  bewegt  den 
Pan  anruft,  zu  erscheinen,  oncos  ftot  Nvaia  Kvcüoai'  oQxVf^"-"^^  avxoSafj  ^tviav 
iätpfjs,  viiv  ya^  iftol  fiälet  xogevaat.  Ebenso  das  Tanzlied  in  den  Trachinierin- 
nen  205  (vergl.  Schol.  xo  yaQ  fttJuSaQtov  ovx  Kaxi  axiiat/uor,  aXX'  vnb  xf;s 
^dovr^e  ^f;ijoiVra«) ,  wo  die  Beziehung  auf  die  bacchische  Festlusl  klar  ausge- 
sprochen ist.  (S.  A.  45:<.)  Hierhergehörtauch  das  Lied  OedipusTyr.  10S6;  nur 
eignen  sich  für  den  Chor  der  Greise  gemessenere  Evolutionen,  und  dasselbe  gilt 
von  Antig.  1115. 


DIE    DRAMATISCHE   POESIE.      EI>LEITU>G.  165 

da,  WO  die  Erinnerung  an  die  bacchische  Festlust  durchbricht.  Aber 
auch  die  Bühnengesänge  boten  dem  Schauspieler  Gelegenheit  dar, 
durch  lebhafte  Mimik  und  nachahmenden  Tanzschritt  die  Anschau- 
lichkeit der  Handlung  zu  erhöhen."^) 

Die  alte  Komödie  scheint  die  Weise  der  Aeschyleischen  Tra- 
gödie, durch  die  Mimik  und  Orchestik  des  Chores  der  Darstellung 
der  dramatischen  Handlung  gröfsere  Energie  und  Wahrheit  zu  geben, 
alle  Zeit  festgehalten  zu  haben ;  nur  war  in  der  Komödie  diese  stumme 
Mimik  viel  lebhafter  und  drastischer,  streifte  an  die  Carikatur  heran. 
Hier  erschlofs  sich  eine  unerschöpfliche  Quelle  naturwüchsiger  Komik, 
und  es  galt  hauptsächlich  das  Uebertriebene  zu  ermäfsigen,  dem 
Mifsbrauche  des  Gemeinen  vorzubeugen.  In  besonders  bewegten 
Momenten  pflegt  der  komische  Chor  seinen  Gefühlen  durch  Tanz- 
figuren Ausdruck  zu  geben  und  setzt  sich  auch  mit  den  handelnden 
Personen  in  unmittelbaren  Verkehr."^)  Namenthch  begleitet  der 
Chor  der  Komödie  mit  seinem  Geberdenspiel  und  seinen  orchesti- 
schen  Bewegungen  die  Reden  der  Schauspieler,  sobald  sie  aus  ana- 
pästischen oder  iambischen  Langversen  bestehen*^*),  wie  in  dem 
sogenannten  Agon,  oder  wo  sonst  ein  leidenschaftüches  Wortgefecht 
geführt  wird.  Eben  weil  diese  beiden  Versmafse  unwillkürhch  an 
die  damit  eng  verbundenen  Tanzweisen  der  Komödie  erinnerten, 
waren  sie  für  die  Tragödie  unbrauchbar. 

Tanzweisen  begleiten  in  der  alten  Komödie  den  Gesang  sowohl 
des  Chores  als  auch  der  handelnden  Personen.  Wie  Ton  und  Hal- 
tung dieser  Lieder  sehr  verschieden  war,  so  wechselnd  und  mannig- 
faltig waren  auch  die  orchestischen  Bewegungen.  Nicht  selten  mögen 


543)  So  bei  Euripides  in  den  Phönissen  das  Lied  der  lokaste  V.  30t  ff.  und 
im  Orestes  V.  1369  ff.  die  Monodie  des  phrj-gischen  Dieners, 

544)  Vergleiche  besonders  die  anschauliche  Scene  Aristoph.  Frieden  322  ff. 

545)  Schol.  Aristoph.  Wolken  1352:  ovrcoe  eXeyov  crqoe  %oocv  h'yeiv,  ore 
rov  vrcox^irov  Staiid'efitvov  xr,v  orjOtv  o  xc^^s  oiq^elro'  8ib  xai  ixf.e'yovrat 
a>e  iniTOTtXelaxov  iv  roTs  xoutvxois  xa  xexgäfiexQu  tj  xa  avanaiaxtxa  rj  xc 
iaußixu,  Siä  xb  SqSiots  kfininxeiv  iv  xovxois  xov  xoiovxov  ov&fiöv.  Der  Gram- 
matiker las  offenbar  i^Sri  Idysiv  XQV  tcqösxoqov;  man  mag  diese  Lesart  ver- 
werfen, aber  die  sachliche  Bemerkung  stammt  aus  guter  alter  Ueberlieferung. 
Hierher  gehören  auch  die  trochäischen  Tetrameter,  die  entweder  dem  Chor 
allein  gehören,  oder  zwischen  Chor  und  Schauspieler  vertheilt  sind :  hier  wird 
der  Chor,  auch  wenn  er  schweigt,  nicht  gefeiert  haben,  vergl.  Aristot.  Rhet. 
111  8  p.  140b  B  36:  o  8k  xQOxaios  xogSaxixwrsgos. 


166  DRITTE   PERIODE    VON    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

die  Dichter  possenhafte  volksmäfsige  Tänze  vorgeführt  haben,"')  Aber 
wie  die  alte  Komödie  auch  auf  ihrem  Höhepunkte  den  Zusammen- 
hang mit  den  ausgelassenen  Maskenscherzen  des  Dionysusfestes  nie 
verleugnet,  so  sagt  ihr  am  meisten  der  Kordax  zu,  ein  würdeloser, 
unzüchtiger  Tanz,  den  in  alter  Zeit  die  Festgenossen,  als  Satyren 
verkleidet,  aufzuführen  pflegten  *"),  und  das  Volk,  welches  mit  Zähig- 
keit an  der  beliebten  Lustbarkeit  festhielt,  forderte  vom  Chore  dieses 
Schauspiel.  Ein  Dichter,  der  von  dem  Herkommen  abzuweichen  wagte, 
mochte  seinen  Mitbewerbern  gegenüber  keinen  leichten  Stand  haben."') 
So  behauptet  sich  der  Kordax,  dessen  Unanständigkeit  man  wohl  er- 
mäfsigen,  aber  nicht  beseitigen  konnte,  ohne  den  eigenthchen  Cha- 
rakter des  Tanzes  preiszugeben."^) 

Die  S  i  k  i  n  n  i  s  des  Satyrspiels  ist  aus  gleicher  Wurzel  erwach- 
sen **°),  aber  wie  diese  Dichtart  eine  mittlere  Stellung  einnimmt,  so 
galt  es,  den  Uebermuth  und  die  Zügellosigkeit  dieser  Tanzweise  des 
Gemeinen  und  Unschönen  insoweit  zu  entkleiden,  als  es  die  V^er- 
bindung  mit  der  Tragödie  erforderte.  Raschheit  und  Energie  der 
Bewegung^'),  Muthwille  und  neckisches  Wesen  waren  die  charakte- 


546)  Athen.  XIV  629  F  und  Pollux  IV  101  ff.  führen  eine  namhafte  Zahl 
solcher  possenhafter  Tänze  auf. 

547)  Lukian  de  saltat.  22,  Arrian  Ind.  7.  Das  charakteristische  Merkmal 
war,  wie  Schol.  Aristoph.  Nub.  540  bemerkt,  dafs  die  Tanzenden  aiaxQÖJe  xivovai 
rrjv  oatpvv  (darin  berührte  sich  der  Kordax  mit  der  'iySis,  fiaxxQiaftos,  «tto- 
Kivoe,  aoßäe  und  wohl  noch  anderen  von  Pollux  und  Athenäus  aufgezählten 
Tanzweisen).  Gesteigert  ward  die  Ausgelassenheit  des  Kordax,  wenn  der  Phal- 
lus als  Zugabe  hinzutrat.  Daher  meinte  man  auch,  nur  ein  Trunkener  könne 
den  Kordax  tanzen,  Theophr.  Char.  c.  6. 

548)  Aristophanes  rühmt  ausdrücklich  in  den  Wolken  540,  dafs  er  in 
diesem  Drama  streng  den  Anstand  gewahrt,  weder  vom  Phallus,  noch  vom  Kor- 
dax {ovSs  xögSax"  el'Xxvaev)  Gebrauch  gemacht  habe,  während  er  dem  Eupolis 
(V.  555)  vorwirft,  diese  Mittel  nicht  zu  verschmähen.  Aber  Aristophanes  selbst 
hat  keineswegs  darauf  verzichtet,  wie  schon  der  Schoiiast  erinnert,  der  auf  die 
Wespen  (vgl.  1326  ff.  1482  ff.)  verweist. 

549)  Ob  die  mittlere  und  neuere  Komödie  von  der  Orchestik  Gebrauch 
machte,  läfst  sich  nicht  feststellen.  Die  Darstellung  lustiger  Gelage  auf  der 
Bühne  bot  wenigstens  dazu  Anlafs;  man  vergleiche  z.  B.  den  Stichus  des 
Plautus. 

550)  Die  Sikinnis  wird  ausdrücklich  als  ia^artxr]  o^xv^is  (Schol.  Hom.  II. 
U  617)  bezeichnet;  ähnlich  war  wohl  die  rv^ßaaia,  die  dithyrambische  Tanz- 
weise der  Lakonier  (Pollux  IV  104). 

551)  Athen.  XIV  Ü'.MC  (wo  statt  ov  yoQ  fx»i  nä&ot  aiit)  »;  oqxv^^^  ^*«> 


DIE   DRAMATISCHE   POESIE.     EINLEITUNG.  167 

ristischen  Kennzeichen  der  Sikinnis,  welche  offenbar  vielfacher  Modi- 
ficationen  fähig  war."*)  Die  alten  Meister  hatten  daher  Gelegenheit, 
ihr  Talent  io  der  Erfindung  neuer  Tanzflguren,  wie  in  der  Nach- 
bildung volksthümlicher  Weisen  zu  bewähren. 


Die  Schöpfung  der  dramatischen  Poesie  gehört  Athen  an ;  nur  Das  Drama 
die  Dorier  in  Siciüen  und  Unteritahen  haben  ihrem  angeborenen  A*hen». 
Naturell  gemäfs  an  der  Ausbildung  des  Lustspiels  Theil  genommen. 
In  Siciüen  gewinnt  die  Komödie  zuerst  eine  feste  Form.  Epichar- 
mus  und  seine  Genossen  bahnen  den  attischen  Komikern  den  Weg. 
Aber  das  Lustspiel  der  Sikelioten  war  doch  nur  eine  vorübergehende 
Erscheinung ;  es  fehlte  die  nachhaltige  Kraft,  welche  die  literarischen 
Leistungen  der  Attiker  auszeichnet.  Ebenso  tritt  in  Tarent  gegen 
Ende  dieser  Periode  Rhintho  mit  seinen  Phlyaken  auf.  Aber  auch 
diesem  Possenspiele  der  Italioten  war  keine  lange  Dauer  beschieden. 
Von  einer  selbständigen  Thätigkeit  tragischer  Dichter  aufserhalb 
Athens  nimmt  man  wenig  wahr.  Talentvolle  Dichter,  die  sich  etwas 
zutrauten,  brachten  ihre  Stücke  in  Athen  zur  Aufführung*^);  was 
hier  Beifall  gefunden  hatte,  dem  war  günstige  Aufnahme  auch  ander- 
wärts gesichert;  namentlich  wem  es  vergönnt  war,  an  den  grofsen 
Dionysien,  die  ganz  den  Charaker  eines  allgemeinen  nationalen  Festes 
hatten,  wo  man  auch  später  nur  neue  Dramen  zuliefs,  einen  Chor 
zu  erhalten,  fühlte  sich  durch  diese  Auszeichnung  hochgeehrt. 

Wohl  suchten  einzelne  Fürsten  den  Glanz  ihrer  Hofhahung 
durch  Errichtung  einer  tragischen  Bühne  zu  erhöhen,  und  indem 
sie  gemäfs  der  nie  ganz  erloschenen  Tradition  fürsthche  Freigebig- 
keit übten,  gelang  es  ihnen,  vorübergehend  einen  oder  den  anderen 
berühmten  Dichter  zu  gewinnen.  So  führte  Aeschylus  als  Gast  des 
Hiero  in  Syrakus   nicht  nur  ältere  Tragödien  wie   die  Perser   auf, 


oiSe  ßgaSvvsi  vielmehr  ^5*0 s  zu  lesen  ist).  Daher  stellte  man  sie  auch  mit  der 
Pyrrhiche  zusammen  (vgl.  auch  Hesychius:  o^xrjais  rts  ar^axioj-rixT]  HaxvQcav 
avvrovoe). 

552)  Auf  die  Tanzfiguren  des  Satyrchores  weist  Euripides  Kykl.  220: 
inei  /u,  av  iv  fidar}  xfi  yaaxeqi  TtrjScövres  anokeffair'  av  vno  rtöv  ax^lf^- 
xoiv  hin.  Ein  beliebter  Gharaktertanz  im  Satyrdrama  war,  wie  es  scheiot,  das 
ay.cÖ7ievft,a  (s.  Hesychius). 

553)  Plato  Laches  183  A  f. 


168  DRITTE   PERIODE    VON    500    BIS    300   V.  CHR.  G. 

sondern  dichtete  auch  mit  Bezug  auf  die  NeugrUndung  Katanas  seine 
Aetnäerinnei).  In  Makedonien,  welches  lange  Zeit  fast  von  allem 
geistigen  Verkehre  abgeschieden  war,  hatte  schon  Perdikkas  sich  den 
Bestrebungen  der  Kunst  und  Wissenschaft  nicht  abgeneigt  erwie- 
sen.*") Allein  weit  mehr  that  in  dieser  Richtung  sein  Nachfolger 
Archelaus,  eigentlich  ein  ruchloser  Charakter.  Die  Cultur,  welche  er 
sich  angeeignet  hatte,  verhallte  nur  äufserlich  die  innere  Roheil; 
aber  um  sein  Land  hat  er  sich  wesentliche  Verdienste  erworben. 
Der  Ruf  seiner  Reichthümer  und  seiner  Liberahtät,  sowie  der  Glanz 
der  neu  gegründeten  Hauptstadt  Pella  übte,  zumal  in  den  letzten 
Jahren  des  peloponnesischen  Krieges,  wo  das  Gefühl  der  Unsicher- 
heit aller  Verhältnisse  sich  der  Geraüther  bemächtigte,  eine  gewisse 
Anziehungskraft  aus.  Der  Epiker  Choerilus,  der  Dithyrambendichter 
Timotheus,  die  Tragiker  Agathon  und  Euripides,  sowie  noch  man- 
cher andere  fanden  am  makedonischen  Hofe  gasthche  Aufnahme. 
Hier  dichtete  Euripides  seinen  Archelaus,  hier  wird  er  auch  ältere 
Dramen  wieder  auf  die  Bühne  gebracht  haben ;  denn  Archelaus  hatte 
bei  Dion  an  den  Abhängen  des  Olympos  einen  musischen  Agon  ge- 
stiftet, wo  auch  scenische  Spiele  nicht  fehlten.***) 

In  Makedonien  konnte  die  Kunst  niemals  rechte  Wurzel  fassen, 
und  doch  erscheinen  diese  Bestrebungen  des  Archelaus  achtungs- 
werth  gegenüber  dem  Gebahren  des  älteren  Dionysius  von  Syrakus. 
Dieser  verband  die  Willkür  und  Grausamkeit  des  echten  Tyrannen 
mit  der  kleinhchen  Eitelkeit  des  Dilettanten;  so  übel  er  auch  wegen 
seiner  Missethaten  berufen  war,  gegen  die  selbst  die  nächste  Um- 
gebung nicht  geschützt  war,  bildet  er  sich  doch  wie  andere  Gewalt- 
haber seinen  Musenhof.  Xenarchus,  des  Mimendichters  Sophron 
Sohn,  und  der  Dithyrambendichter  Philoxenus  verweilten  hier  län- 
gere Zeit;  die  Tragiker  Karkinus  der  Jüngere  und  Antiphon  waren 
für  das  syrakusanische  Theater  thätig;  der  letzlere  leistete  aufserdem 
dem  Tyrannen  bei  seinen  eigenen  dichterischen  Versuchen  hülfreiche 
Hand.  Wie  Dionysius  seine  Tragödien  zu  Olynjpia,  Ol.  98,  1,  und 
zu  Atlien,  Ol.  103,  1,  aufl'ühren  liefs**®),  so  wird  er  sicherlich  diese 


554)  Der  Dilhyranibendichter  Melanippides  der  Jüngere  (8.  Bd.  II  538)  und 
Hippokrates  von  Kos  verweilten  längere  Zeil  am  Hofe  des  Perdikkas.  —  (S. 
Bd.  11  480.  540.) 

553)  Diodor  XVII  16. 

556)  Diodor  XIV  109.  XV  74.   (S.  oben  S.  20,  A.  5b). 


DIE    DRASUTISCHE    POESIE.      EI>"LEITL>G.  169 

literarischen  Versuche,  auf  die  er  sich  mehr  einbildete  als  auf  seine 
miütärischen  Erfolge,  seinen  ünterthanen  nicht  vorenthalten  haben, 
deren  mifsliebige  Kritik  er  nicht  zu  fürchten  hatte."^ 

Auch  für  andere  Fürstenhöfe  mögen  öfter  neue  Stücke  gedich- 
tet worden  sein;  so  schrieb  Theodektes  seinen  Mausolus  offenbar 
für  die  Artemisia  von  Halikarnafs.***)  Ebenso  müssen  einzelne  Städte 
sich  frühzeitig  für  die  tragische  Dichtung  lebhaft  interessirt  haben, 
wie  Argos.  Wahrscheinlich  war  schon  Aeschylus  für  die  dortige  Bühne 
thätig.^^)  Später  mag  Euripides  seine  Andromache  für  Argos  gedich- 
tet haben;  denn  dafs  die  Tragödie  nicht  in  Athen  zur  Aufführung 
kam,  ist  bezeugt,  und  die  offen  zu  Tage  hegenden  politischen  Ten- 
denzen des  Stückes,  insbesondere  die  leidenschaftliche  Polemik  gegen 
Sparta,  weisen  deutlich  auf  Argos  hin.*)  Hier  erkennt  man  zugleich, 
wie  die  Rücksicht  auf  das  Publikum  gerade  in  der  dramatischen 
Poesie  den  Geist  und  die  Färbung  des  einzelnen  Werkes  wesentlich 
bedingt;  denn  man  erhält  den  Eindruck,  als  hätten  sowohl  Aeschylus 
als  auch  Euripides  in  diesen  Dramen  die  Farben  stärker  als  gewöhn- 
lich aufgetragen.  Sie  wufsten  eben  im  voraus,  dafs  sie  einen  Zu- 
hörerkreis vor  sich  hatten,  dem  die  mafsvolle  Bildung  der  Athener 
abging. 

Nach  dem  peloponnesischen  Kriege  wurden  regelmäfsige  drama- 
tische Aufführungen  immer  allgemeiner.  Ueberall  werden  Theater  er- 
baut,  die  freilich  auch  für   andere   Zwecke  vielfach   benutzt  wur- 


55")  Da  Dionysius  ein  besonderer  Verehrer  des  Aeschylus  und  Euripides 
war,  werden  die  Dramen  dieser  Dichter  damals  auch  der  syrakusanischen  Bühne 
nicht  fremd  gewesen  sein.  In  Sicilien  mögen  die  Stücke  des  Euripides  früh- 
zeilig  Eingang  gefunden  haben.  Besonderer  Gunst  erfreuten  sich  die  meliscben 
Partien,  Plut.  Nie.  c.  29:  fiaXiara  yä.Q,  ais  ioixs,  tcHv  exioi  'EX).rjva)v  in6dr,aav 
avrov  XTiv  fiovaav  oi  ntgi  ^ixeXCav,  wo  berichtet  wird,  dafs  nach  der  Nieder- 
lage der  Athener  in  Sicilien  viele  ihre  Rettung  nur  dem  glücklichen  Zufall 
verdankten,  dafs  sie  Euripideische  Lieder  auswendig  wufsten. 

55S)  Gellius  X  IS,  7.  Nichts  berechtigt  jedoch,  neben  dem  Agon  für  Lei- 
chenreden auch  noch  einen  tragischen  Wettkampf  vorauszusetzen. 

559)  Aeschylus'  'ixeriSss  mit  den  anderen  dazu  gehörigen  Dramen  waren 
wohl  für  Argos  bestimmt. 

*)  [Diese  Meinung  hat  Bergk  kurz  vor  seinem  Tode  aufgegeben,  s.  Hermes 
XVIII  S.  4SS  f.:  „Die  Tragödie  ist,  wie  ich  nach  erneuter  Prüfung  des  Dramas  so 
wie  der  Scholien  erkannt  habe,  für  Athen  bestimmt  und  auch  in  Athen  auf- 
geführt worden."    Vgl.  auch  S.  503  ff,] 


170  DRITTE   PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

den,'®")  Die  ausgesetzten  Preise  (denn  nach  dem  Vorgange  Athens 
fand  meist  ein  Agon  statt)  trugen  wesentHch  dazu  bei,  die  Theil- 
nahme  zu  steigern.  Zunächst  wurden  Tragödien  gegeben,  meist  ältere 
klassische  Stücke,  vor  allem  von  Euripides;  doch  mag  man  auch  die 
Arbeiten  der  jüngeren  attischen  Tragiker  wiederholt  haben.  Von 
selbständiger  Thätigkeit  ist  nichts  wahrzunehmen,  und  diese  Verhält- 
nisse erfahren  auch  in  der  alexandrinischen  Epoche  und  später  keine 
wesentliche  Aenderung.  Nur  in  Alexandria  und  etwa  in  Athen  regt 
sich  der  Trieb,  aus  eigener  Kraft  etwas  zu  schaffen,  und  wenn  auch 
auf  anderen  Bühnen  noch  zuweilen  Dichter  mit  neuen  Dramen  auf- 
traten, so  ist  doch  von  einer  literarischen  Wirkung  keine  Rede, 
daher  manche  von  vornherein  auf  scenische  Darstellung  verzichteten 
und  ihre  Versuche  nur  für  Leser  bestimmten.  So  wurden  selbst 
jüdische  und  später  christliche  Stoffe  dramatisch  bearbeitet,  wie  der 
Auszug  der  Juden  aus  Aegypten  von  Ezechiel  im  zweiten  Jahrhun- 
dert und  die  Leiden  Christi,  gewöhnhch  dem  Gregorius  von  Nazianz 
zugeschrieben.^') 

Die  Stücke  der  alten  und  meist  auch  der  mittleren  attischen 
Komödie  trugen  so  entschieden  das  Gepräge  ihrer  Zeit  und  örtlichen 
Umgebung  an  sich,  dafs  eine  Uebertragung  auf  andere  Buhnen  nicht 
möglich  war.  Dagegen  das  neuere  Lustspiel  fand  wegen  seines 
allgemeingültigen  Charakters  alsbald  überall  Eingang.  Die  Stücke 
des  Menander  und  seiner  Kunstgenossen  wurden  sehr  bald  gerade 
sowie  die  Dramen  der  drei  grofsen  Tragiker  Jahr  aus  Jahr  ein  auf- 
geführt. Allein  abgesehen  von  Possenspielen  und  Parodien  regt  sich 
nirgends  das  Bestreben,  mit  jenen  Vertretern  des  attischen  Lustspiels 
sich  in  einen  Wettstreit  einzulassen ,  und  auch  in  Athen  erlischt 
seit  dem  Anfange  der  alexandrinischen  Epoche  die  Produktion  auf 
diesem  Gebiete  immer  mehr. 

Ungleich  höher  sind  die  Wirkungen  anzuschlagen,  welche  das 

Wirkungen  griechische  Drama  in  der  Fremde  ausübte.  Im  Orient  waren  an  den 

Fremde.   Fürstenhöfen,  wo  man  für  griechische  Bildung  nicht  unempfänglich 

war,  sehr  bald  auch  griechische  Tragödien  behebt.    Der  Parther- 

560)  Namentlich  zu  anderen  dichterischen  oder  musikalischen  Auffährun- 
gen:  in  Nemea  fand  im  Theater  ein  aYdiv  xi&a^(oSd5v  statt,  dem  Philopömen 
beiwohnte,  wobei  die  Perser  des  Timotheus  aufgeführt  wurden.  Die  Menutxung 
des  Theaters  zu  Volksversammlungen  ist  bekannt. 

561)  'E^aytoyri  und  X^iarbi  Ttna%o>v. 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.     EL>LE1TL>G.  171 

könig  Orodes  liefs  nach  dem  Siege  über  Crassus  durch  griechische 
Schauspieler  die  Bacchen  des  Euripides  aufführen.  Die  Wahl  der 
Tragödie  für  diesen  Anlafs  und  der  rohe  Muthwille,  den  man  wäh- 
rend des  Spiels  an  dem  blutigen  Haupte  des  Römers  verübte,  be- 
kunden hinlänghches  Verständnifs ;  ja  der  Orodes  und  sein  Bundes- 
genosse Artavasdes  von  Armenien  schrieb  sogar  selbst  griechische 
Trauerspiele.^^  Das  indische  Drama  verdankt  seine  Ausbildung 
wesentlich  der  Bekanntschaft  mit  der  griechischen  Schauspieldich- 
tung.«^) 

Viel  tiefer  geht  die  Wirkung  bei  den  nahe  verwandten  ita- 
lischen Stämmen,  weil  man  hier  die  griechischen  Dramen  nicht 
in  ihrer  originalen  Gestall  vorführte,  die  doch  nur  einem  kleinen 
Kreise  Gebildeter  verständlich  war,  sondern  übersetzte  und  bearbei- 
tete, bis  man  später  zu  selbständigen  Nachbildungen  überging.  So 
wurden  die  klassischen  Werke  der  griechischen  Dramatiker  in  Italien 
vollständig  eingebürgert;  nach  dem  Muster  der  Griechen  erstand 
eine  umfangreiche  einheimische  dramatische  Literatur,  Ein  gewisses 
mimisches  Talent  ist  der  altitahschen  Bevölkerung  eigen.  Unvoll- 
kommene Anfänge  der  dramatischen  Poesie  waren  längst  vorhanden ; 
um  so  gröfsere  Theilnahme  brachte  man  der  Einführung  des  grie- 
chischen Schauspiels  entgegen.  Bald  wurde  der  Sinn  für  künstlerische 
Form  geweckt,  und  man  wufste  den  Werth  einer  regelrecht  ange- 
legten dramatischen  Handlung  wohl  zu  würdigen. 

Die  römische  Literatur  beginnt  mit  dem  Drama,  also  derjeni- 
gen Gattung  der  Poesie,  womit  sonst  bei  naturgemäfsem  Verlaul'e 
die  Entwicklung  abschhefst.  Es  waren  dies  eben  keine  selbständigen 
Arbeiten,  sondern  massenweise  wurden  griechische  Lust-  und  Trauer- 
spiele übersetzt.  Daher  hat  es  auch  nichts  Auffallendes,  wenn  an- 
fangs derselbe  Dichter  gleichmäfsig  tragische  und   komische  Stoffe 


562)  Plutarch  Crassus  c.  33. 

563)  Manche  griechische  Culturelemente  mögen  auf  diesem  Wege  nach 
Indien  gelangt  sein;  so  ist  der  indische  Liebesgott  vielleicht  erst  dem  grie- 
chischen Eros  nachgebildet.  Die  Bekanntschaft  der  Völker  des  inneren  Asiens 
mit  den  klassischen  "Werken  der  griechischen  Tragödie  bezeugt  Plutarch  de 
fort.  Alex.  I  c.  5,  wo  er  die  Verdienste  Alexanders  um  die  Ausbreitung  helleni- 
scher Bildung  im  Orient  hervorhebt:  xal  ire^acHv  xai  2ovaiav(öv  (lies  ^oy- 
8iavü)v)  xal  reBqotaiav  naiSss  ras  Ev^miSov  xai  ^OfoxXiovi  r^aytaSias 
Tjdov. 


172  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

bearbeitet.  ludes  so  wie  man  höhere  Anforderungen  an  sich  selbst 
stellte,  tritt  auch  in  Rom  die  naturgemäfse  Theilung  ein.  Pacuvius 
und  Accius  beschränken  sich  auf  die  Tragödie,  ebenso  Plautus  und 
seine  Nachfolger  auf  die  Komödie.  Es  ist  leicht  erklärlich,  dafs  die 
ersten  Versuche,  das  Drama  nach  Rom  zu  verpflanzen,  von  Fremden 
ausgehen.  Livius  Andronicus  stammt  aus  Tarent,  wo  die  dramatische 
Poesie  mit  Vorliebe  gepflegt  wurde,  Nävius  aus  Campanien,  wo 
griechische  Cultur  seit  frühester  Zeit  feste  Wurzeln  gefafst  hatte, 
Ennius  aus  Rudiä  in  Calabrien,  sein  Schwestersohn  Pacuvius  aus 
ßrundusium. 

Der  Erfolg,  mit  dem  diese  Dichter  ihre  griechischen  Vorbilder 
wiedergaben,  war  sehr  verschieden,  und  die  unbeholfenen  Versuche 
sind  nicht  gerade  immer  die  ersten.  Die  Tragödie  erreicht  ihren 
Höhepunkt  in  Accius,  einem  begabten  Dichter,  eigentUch  dem  letz- 
ten neunenswerthen  Vertreter  der  Gattung,  die  Komödie  in  Plautus, 
den  keiner  seiner  Nachfolger  auch  nur  annähernd  erreicht.  Plautus 
besafs  alles,  was  den  wahren  Luslspieldichter  macht.  Wie  Grofses 
hätte  er  leisten  können,  wenn  er  sich  entschlossen  hätte,  seine  Stoffe 
unmittelbar  aus  dem  römischen  Volksleben  herauszugreifen,  statt  den 
trüben  Niederschlag  einer  fremden  Cultur,  die  sich  ausgelebt  hatte, 
zu  reproduciren.  Man  hat  zwar  später  den  Versuch  gemacht,  ein 
nationales  Lustspiel  zu  schafl'en,  aber  man  begnügte  sich  mit  der 
Veränderung  des  Kostüms  und  unwesentlichen  Aeufserlichkeiten. 
Afranius  meinte  das  Höchste  geleistet  zu  haben,  wenn  er  dem  Me- 
nander  die  römische  Toga  umwarf.  Verdienstlicher  war  jedenfalls 
das  Unternehmen,  das  allitalische  Possenspiel  zu  erneuern  und  lite- 
rarisch auszubilden.  Freihch  führten  die  stehenden  Figuren  der  Atel- 
lanen  nothwendig  eine  gewisse  Beschränkung  des  Gesichtskreises 
herbei,  aber  vor  den  tyi)ischen  Charakteren  des  griechischen  Lust- 
spiels halten  sie  wenigstens  den  Vorzug  des  Naturwüchsigen,  Volks- 
mäfsigen,  und  so  viel  auch  des  Rohen  und  Gemeinen  der  hier  dar- 
gestellten Handlung  anhaften  mochte,  so  sehr  auch  das  römische 
Volksleben  bereits  in  der  Zersetzung  begrifl'en  war,  so  mufsle  doch 
unwillkürlich  der  sittliche  Geist,  der  gerade  in  den  niederen  Schich- 
ten des  Volkes  noch  nicht  erloschen  war,  durchbrechen.  .\uch  in 
der  Tragödie  begegnen  wir  Ansätzen  zu  einem  nationalen  Drama, 
und  da  es  keine  einheimische  Sagendichtung  gab,  war  man  aus- 
schliefslirh    auf  das  Gebiet  der  Geschichte  angewiesen.     Die  Eriu- 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.      EI>LEITU>G.  173 

neruDgen  an  die  bewegte  Vergangenheit  Roms  und  die  grofsen  Män- 
ner, welche  diesen  Staat  geschaffen,  boten  reichhaltiges,  wenn  auch 
sprödes  Material  dar;  allein  der  rechte  Dichter  vermag  selbst  wider- 
strebenden Stoff  zu  bewältigen.  Indes,  da  man  das  Gesetz  der  Kunst 
als  etwas  Fertiges  und  Abgeschlossenes  von  den  Griechen  überkam, 
ist  das  historische  Drama  in  Rom  eine  ebenso  vereinzelte  Erschei- 
nung wie  in  Athen  geblieben. 

Die  Theilnahme  an  den  Erzeugnissen  der  griechischen  Bühne 
war  nicht  auf  Rom  beschränkte^);  die  Römer  sind  vielmehr  hier 
wie  anderwärts  nur  dem  Vorgange  ihrer  Nachbarn  gefolgt.  Die 
Etrusker  haben  sich  nicht,  wie  man  gewöhnlich  annimmt,  mit 
pantomimischen  Tänzen  begnügt,  worin  sie  allerdings  besondere 
Fertigkeit  besafsen^),  sondern  auch  dramatische  Spiele  waren  nicht 
unbekannt.  Die  tuskischen  Tragödien  des  Volnius,  deren  Varro 
gedenkt**'),  mögen  erst  einer  späteren  Zeit  angehören,  aber  nichts 
berechtigt  zu  der  Vermuthung,  dafs  dies  ein  vereinzelter  Versuch 
war,  lediglich  in  der  Absicht  unternommen,  um  eine  Sprache  neu 
zu  beleben,  die  bereits  im  Aussterben  begriffen  war.  Die  Reste 
alter  Theater  zu  Fäsulä,  Arretium  und  Adria  sind  zwar  ebenso  wenig 
als  die  zu  Cortona  aufgefundenen  Bronzefiguren  von  Schauspielern 
mit  Masken  und  Kothurnen  als  ein  voUgüUiges  Zeugnifs  für  dra- 
matische Aufführungen  anzusehen;  allein  die  zahlreichen  Sculptur- 
werke  etruskischer  Grabdenkmäler,  welche  mit  sichtlicher  Vorliebe 
Scenen  aus  griechischen  Tragödien,  besonders  des  Euripides  dar- 
stellen ,  wobei   zugleich  die   Einwirkung  des  nationalen   Elementes 


564)  Ob  andere  Städte  in  Latium  mit  Rom  wetteiferten,  ob  sie  nicht  viel- 
leicht ein  regelrechtes  Drama  besafsen,  ehe  Livius  Andronicus  auftrat,  läfst  sich 
bei  der  Dürftigkeit  unserer  Quellen  nicht  ermitteln;  sicher  ist,  daCs  in  diesen 
Municipalstädten  einst  grofse  geistige  Regsamkeit  und  Bildungstrieb  herrschte, 
bis  die  Centralisation  in  Rom  alle  diese  Keime  erstickte,  ohne  aus  dieser  Ver- 
ödung der  Landschaft  rechten  Vortheil  zu  ziehen,  vgl.  was  Cicero  pro  Archia 
c.  3  über  das  Studium  der  griechischen  Literatur  bemerkt. 

565)  Dafs  die  etruskischen  Künstler  in  Rom  nur  ihre  Tänze  aufführten 
{sine  carmine  ullo,  sine  imitandorum  carminum  acta,  Liv.  VII  2,  4),  ist  erklär- 
lich; denn  die  etruskische  Sprache  war  für  die  Bühne  etwas  durchaus  Fremdes. 

566)  Varro  de  1. 1.  V  55.  Dieser  Volnius  (oder  Volumnius?)  mag  ein  älte- 
rer Zeitgenosse  des  Varro  gewesen  sein. 

567)  Als  Nachbildungen  griechischer  Skulpturwerke  können  jene  etrus- 
kischen Aschenkisten  nicht  gelten;  wollte  man  aber  annehmen,  durch  griechi- 


174  DRITTE    PERIODE    V0>    500    BIS    300   V.  CHR.  G. 

unverkennbar  ist,  setzen  eine  einheimische  Bühne  voraus.**^)  Be- 
deutende dichterische  Begabung  mag  nicht  gerade  das  Erbtheil  der 
alten  Etrusker  gewesen  sein,  allein  von  einer  selbständigen  Blüthe 
des  Dramas  ist  auch  gar  nicht  die  Rede;  wohl  aber  mögen  die 
Etrusker,  deren  Kunst  überall  unter  dem  mächtigen  Einflüsse  helle- 
nischer Cultur  steht,  griechische  Tragödien,  vor  allem  die  des  Euri- 
pides  bearbeitet  haben,  und  zwar  gewifs  früher  als  die  Römer,  denen 
sie  in  der  äufseren  Civilisation  überall  voraus  waren.  Die  Osker 
in  Campanien  werden  nicht  zurückgeblieben  sein.  Nur  mochte  bei 
dieser  genufssüchtigen  Bevölkerung  das  Lustspiel,  welches  hier  ohne- 
dies verwandten  einheimischen  Elementen  begegnete*^),  vorzugs- 
weise Anklang  finden ,  während  der  gemessene  Ernst  der  Tragödie 
dem  herrschenden  Geschmacke  weniger  zusagte. 


sehe  oder  gar  römische  Tragödien ,  die  man  auf  etruskischen  Theatern  auf- 
führte, sei  jene  Richtung  der  Plastik  hervorgerufen  worden,  so  hat  diese  Er- 
klärung weit  geringere  Wahrscheinlichkeit,  als  die  Voraussetzung  einer  nationa- 
len Bühne. 

568)  Das  Fest  der  Weinlese  wurde  von  den  italischen  Stämmen  mit  Mas- 
kenscherzen ganz  wie  in  Griechenland  begangen;  vgl.  Vergil  Georg.  II  3S5  fT., 
wo  man  den  Zusatz  des  gelehrten  Dichters:  Troia  gens  mista  zu  Ausonii  co- 
loni  nicht  urgiren  darf. 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.      DIE    TRAGÖDIE.     EINLEITUNG.  175 

Die    Tragödie. 

Einleitung. 

Indem  der  tragische  Dichter  fremdes  Unglück,  fremde  Schuld  Charakien- 
mit  der  ergreifenden  Gewalt  der  ganzen  Wahrheit  vorführt,  erfüllt  gischen 
er  unsere  Seele  mit  Furcht  und  Mitgefühl.  Der  empfängliche  Zu-  Poesie- 
schauer  giebt  sich  völlig  der  Illusion  hin;  er  vergifst,  dafs  er  der 
Bühne  gegenüber  ist,  folgt  mit  wärmstem  Antheil  den  Geschicken  der 
handelnden  Personen,  begleitet  den  Helden  mit  banger  Furcht  und 
Besorgnifs  auf  seiner  gefahrvollen  Bahn.  Die  Kämpfe  und  Conflicte 
des  Lebens,  das  Unrecht  und  die  Sünde,  die  INoth  und  der  Jammer 
des  irdischen  Daseins  stehen  uns  nicht  als  etwas  Fremdes  gegen- 
über. Unsere  Leidenschaften  sind  von  denen,  die  der  Dichter  dar- 
stellt, nicht  verschieden ;  ein  ähnliches  Schicksal,  wie  es  den  tragi- 
schen Helden  heimsucht,  kann  einen  jeden  treffen.  Allein  Furcht 
empfinden  wir  nicht  so  sehr  für  uns;  ein  solches  egoistisches  Inte- 
resse mufs  der  echten  Kunst  gegenüber  verstummen.  Die  Erinnerung 
an  Selbsterlebtes,  an  ähnhche  Erfahrungen  Anderer  tritt  zurück  vor 
der  lebhaften  Sympathie,  welche  der  AnbHck  fremder  Leiden,  frem- 
den Schmerzes  hervorruft.  Ist  die  Katastrophe  eingetreten,  so  wird 
uns  die  Nichtigkeit  des  irdischen  Daseins  klar,  aber  zugleich  fühlen 
wir  uns  gehoben  und  geläutert  ebenso  durch  das  Schauspiel  mensch- 
hcher  Kraft  und  Energie,  die  sich  in  Kämpfen  und  Dulden  bewährt, 
bis  sich  ihr  Schicksal  erfüllt,  wie  durch  den  Hinblick  auf  eine  höhere 
Nothwendigkeit ,  die  sich  an  den  dunkeln  Verwickelungen  des  Le- 
bens offenbart.  So  wird  das  Gemüth  von  dem,  was  es  innerlich  ge- 
wollt, befreit,  des  Herzens  Unruhe  beschwichtigt,  und  der  Glaube 
an  eine  sittliche  Weltordnung  neu  befestigt.  Dies  eben  ist  die  läu- 
ternde und  erlösende  Kraft,  welche  aller  echten  Poesie  innewohnt, 
die  aber  nirgend  so  wirksam,  wie  in  der  Tragödie,  sich  äussert. 

Athen  übernimmt  mit  dem  Beginn  dieser  Epoche  die  Führung  Wirkung 
auf  dem  Gebiete   der  Literatur.     Die   epische  Dichtung  war  längst  ^^^  :^J.°"^* 
abgeschlossen,  die  Lyrik  bereits  auf  ihrem  Höhepunkte  angelangt;      die, 
nalurgemäss  tritt  nun  das  Drama  auf,  dessen  Pflege  sich  alsbald  die 


176  DRITTE    PERIODE  VON  500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

tüchtigsten  Kräfte  zuwenden.  Die  höhere  Ausbildung  der  dramati- 
schen Poesie,  ein  ausschhefsHches  Verdienst  der  Altiker,  beginnt  mit 
der  Tragödie,  deren  Blüthezeit  ein  volles  Jahrhundert  umfafst.  Was 
die  bedeutendsten  Vertreter  dieser  Gattung  geschaffen,  wirkte  nach 
verschiedenen  Seiten  hin  anregend.  Die  Komödie,  bisher  gering 
geachtet,  ordnet  ihren  Haushalt  nach  dem  Vorbilde  der  Tragödie, 
so  weit  die  Verschiedenheit  der  gestellten  Aufgabe  es  zuhefs,  und  tritt 
bald  mit  ebenbürtigen  Leistungen  auf.  Wie  Kratinus  an  Aeschylus 
erinnert,  so  Aristophanes  an  Euripides,  und  der  Komiker  gesteht 
selbst  zu,  dafs  er  bei  dem  Tragiker  in  die  Schule  gegangen  sei. 
AUmähhch  gestaltete  sich  das  Verhältnifs  minder  freundlich.  Wie  die 
Komödie  nach  allen  Seiten  hin  scharfe,  oft  rücksichtslose  Kritik  itbt. 
so  wird  sie  nicht  müde,  das  Verfehlte,  die  falschen  Richtungen  ge- 
rade der  zeitgenössischen  Tragiker  zu  geifseln,  eben  weil  diese  Kunst 
auf  dem  Gebiete  des  geistigen  Lebens  eine  der  ersten  Stellen  ein- 
nahm. Wenn  die  dithyrambische  Poesie  auf  die  Gestaltung  des  Ly- 
rischen in  der  jüngeren  Tragödie  vielfach  eingewirkt  hat,  so  bildet 
sie  auch  wieder  das  dramatische  Element  wetteifernd  mit  der  Tra- 
gödie aus. 

Das  Talent  leichter  gewandter  Conversation  ist  vorzugsweise  den 
Athenern  eigen.  Alle  Schichten  der  attischen  Gesellschaft  durchdringt 
der  Trieb  sich  mitzutheilen,  seine  Gedanken  in  Scherz  und  Ernst 
auszusprechen.  Aus  dem  Leben  ging  diese  Gewohnheit,  die  höchsten 
Fragen  wie  das  Geringfügigste  dialektisch  zu  erörtern,  in  die  Lite- 
ratur über,  und  gerade  die  Tragödie  bot  die  mannigfachsten  Vor- 
bilder für  diese  üebung  des  Geistes  in  mustergültiger  Form  dar. 
Aber  nicht  nur  die  dialogischen  Scenen,  sondern  auch  die  längeren 
Reden,  mit  denen  die  Helden  auf  der  Bühne  ihre  Sache  führen, 
hatten  für  die  Bürger  eines  politisch  hochentwickelten  Gemein- 
wesens, wo  die  Gabe  der  Rede  Eintlufs  und  Ansehen  verlieh,  beson- 
deren Reiz.  Die  mächtige  Beredsamkeit,  welche  zu  derselben  Zeit, 
wo  die  grofsen  Tragiker  wetteifernd  ihre  besten  Werke  schufen,  alle 
(iemüther  mit  sich  fortrifs,  empfing  sicherlich  von  der  Bühne  man- 
nigfache Anregung,  während  später  die  öffentlichen  Verhandlungen 
vor  der  Volksgemeinde  und  den  Gerichtshöfen  ebenso  wie  die  Vor- 
suche, die  Theorie  der  Redekunst  festzustellen,  nur  allzuviel  Einllufs 
auf  die  weitere  Entwicklung  tler  tragischen  Poesie  gewannen.  Die 
Verdienste  dieser  Dichter  um  die  Pflege  und  Ausbildung  der  Sprache 


DIE   DRAMATISCHE  POESIE.    DIE   TRAGÖDIE.    EI^O-ETTÜNG.  177 

► 

sind  unbestritten.  Die  durchsichtige  Klarheit  und  Geschmeidigkeit, 
die  Verstandesschärfe  wie  die  Reinheil  des  Ausdrucks,  welche  die 
Rede  der  Attiker  auszeichnet,  wird  zunächst  den  Bemühungen  der 
Tragiker  verdankt;  was  später  Gemeingut  war,  von  jedem  Gebildeten 
in  der  Schrift  wie  im  mündhchen  Verkehr  gebraucht  wurde,  tritt 
uns  hier  in  ursprüngücher  Frische  entgegen. 

IS'icht  minder  nachhaltig  ist  der  Einflufs  der  Tragödie  auf  die 
bildende  Kunst.  Indem  die  dramatische  Dichtung  in  unmittelbarer 
Gegenwärtigkeit  eine  Handlung  dem  Auge  vorführt,  mufste  sie  in 
ganz  anderer  Weise  als  Epos  und  Lyrik  auf  die  Plastik  und  Malerei 
einwirken.  Die  lebensvollen  Bilder  der  Bühne  ziehen  in  raschem 
Wechsel  vorüber.  Der  Künstler  mufste  sich  alsbald  angeregt  fühlen, 
durch  den  Meifsel,  durch  Erzgufs  oder  durch  den  Reiz  der  Farben 
das  Bild  zu  fixiren  und  so  dem  flüchtigen  Momente  dauernde  Wir- 
kung zu  sichern.  Allein  die  bildende  Kunst  begnügt  sich  nicht  mit 
Reproductionen.  Das  bewegte  Leben  der  dramatischen  Poesie,  welche 
nicht  nur  äufsere  Begebenheiten,  sondern  auch  innere  Seelenzustände 
darstellt  und  mit  allen  Mitteln,  geistigen  wie  sinnhchen,  ihren 
Schöpfungen  den  Schein  wirklichen  Lebens,  voller  Gegenständlichkeit 
zu  verleihen  vermag,  forderte  zu  einem  Wettstreite  in  verwandter 
Richtung  auf,  und  die  hellenische  Sculptur,  noch  mehr  aber  die  Ma- 
lerei, obwohl  der  Poesie  gegenüber  im  Nachtheil,  da  sie  in  der 
Wahl  der  Mittel  beschränkt  und  nur  auf  die  Darstellung  eines  Mo- 
mentes angewiesen  sind,  verfolgen  beharrlich  diese  Bahn.  Polygno- 
tus,  der  Meister  im  hohen  idealen  Stil,  in  der  Kunst,  den  Charakter 
heroischer  Gestalten  zur  Anschauung  zu  bringen,  unübertroffen,  ein 
Geistesverwandter  des  Aeschylus  und  Sophokles,  folgt  nicht  nur  den 
Spuren  des  Epos  und  der  Mehker,  sondern  behandelt  auch  Motive 
der  dramatischen  Poesie.')  Bei  ApoUodorus,  dem  Vorläufer  des  Zeuxis, 
von  dem  man  rühmte,  er  habe  zuerst  die  Pforten  der  wahren  Kunst 
erschlossen,  weil  er  Licht  und  Schatten  wirksam  zu  vertheilen  ver- 
stand, erklärt  sich  das  Bestreben,  seinen  Gestalten  den  täuschenden 
Schein  wirklichen  Lebens  zu  geben,   vielleicht  daraus,   dafs  er  ur- 


1)  Hierher  gehören  besonders  die  Gemälde  in  den  Propyläen,  dann  in  der 
bunten  Halle  {TtoixiXr])  Kassandra  und  Ajas'  Frevel.  Kassandra  kam  auch  auf 
dem  grofsen  delphischen  Bilde  vor.  Namentlich  an  Sophokles  erinnert  man- 
ches, wie  der  Thamyras;  doch  zeigt  der  Maler  auch  seine  Selbständigkeit;  bei 
der  Ermordung  des  Aegisthus  führte  er  die  Söhne  des  Nauplius  ein. 
Bergk,  Griech.  Literaturgescbichte  III.  12 


178  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

sprilDglich  Bühnenmaler  war')  und  so  Gelegenheit  hatte,  die  Ge- 
setze der  Perspektive  wie  die  Wirkungen  auf  der  Bühne  gründlich 
zu  Studiren.  Viel  entschiedener  als  Aeschylus')  und  Sophokles  hat 
Euripides  eingewirkt.  Die  Hauptfiguren  seiner  Dramen,  zumal  seine 
Frauencharaktere,  wie  Medea,  Phädra,  Iphigenia*),  Merope  und  an- 
dere, sind  unzähhge  Mal  in  Werken  der  Sculptur  und  Malerei  dar- 
gestellt worden.  Ueberhaupt  hat  dieser  Dichter,  bei  dem  das  tragische 
Pathos  am  intensivsten  erscheint  und  der  zugleich  ein  ungewöhn- 
liches Talent  malerisch  anschaulicher  Schilderung  bekundet,  der  jün- 
geren Schule  der  hellenischen  Plastik  und  Malerei  recht  eigentlich 
den  Weg  gewiesen.  In  der  Plastik  tritt  die  neue  Richtung  des 
Praxiteles  und  Skopas,  die  zu  dem  Ernste  und  der  Strenge  des  Stils 
von  Pheidias  in  entschiedenem  Gegensatze  steht,  obwohl  in  dem 
Entwicklungsgesetze  der  Kunst  selbst  begründet,  erst  hervor,  nach- 
dem die  Tragödie  das  Innere  des  menschhchen  Gemüthes  erschlos- 
sen hatte. 
Mythische  Die  griechische  Tragödie  behandelt  gegebene   Stoffe,  welche 

Stoffe,  fagt  ausnahmslos  dem  Gebiete  der  Sage  angehören;  denn  die  Zahl 
historischer  Dramen  war  gering.  Von  freier  Erfindung  hat  nur  ein- 
mal Agathon  Gebrauch  gemacht*);  denn  die  letzte  Arbeit  des  greisen 


2)  Der  Zuname  axtay^äfog,  den  Apollodorus  mit  Recht  führte,  ist  eigent- 
lich gleichbedeutend  mit  axrjvoy^äfos  (Hesychius  axta).  Auch  in  der  Wahl 
der  Gegenstände  ist  bei  Apollodorus  der  Einflufs  der  dramatischen  Poesie 
sichtbar. 

3)  Dafs  dem  Künstler,  der  die  Zeichnung  zu  der  Dariusvase  entwarf, 
Aeschylus'  Perser  gegenwärtig  waren,  ist  nicht  zu  verkennen.  Wenn  auf  einem 
Relief  die  Fesselung  des  Prometheus  dargestellt  ist  und  Nereiden  oder  Okea- 
niden  den  Hephästus,  der  eben  sein  Geschäft  vollendet  hat,  um  Erbarmen  für 
den  Titanen  anflehen,  so  ist  dieser  Zug  nicht  der  Sage  entlehnt,  sondern  man 
erkennt  deutlich  die  Einwirkung  der  Aeschyleischen  Tragödie. 

4)  Wenn  in  der  Erkennungsscene  bei  den  Taurern  Iphigeneia  mit  dem 
Briefe  in  der  Hand  erscheint,  so  geht  dies  unzweifelhaft  auf  die  scenische  Dar- 
stellung zurück. 

5)  Aristot.  Poet.  9,  7  p.  1451  B  19,  wo  er  ausführt,  dafs  die  Namen  der 
handelnden  Personen  in  der  Tragödie  meist  überliefert  und  bekannt  sind:  ov 
fiT}v  aXXa  xal  iv  rals  rgayc^Siate  iviais  fiiv  ir  tj  Stx)  löiv  yvtOQinoiv  iarlv 
ovOfiärafv,  tÖ  8i  aXXa  TienoiTj/teva,  iv  ivioui  Si  ovSäv,  olov  iv  Tiji  '^ya&a*- 
voe  "^v^n '  Oftoicoe  ya^  iv  tovt<j>  ta  je  Tt^yfiara  xai  t«  hvö/taxa  ii»noir,x<u, 
xai  ovSiv  7JTXOV  evfQaivei.  Allein  yiv&oi  ist  für  den  Titel  einer  Tragödie 
wenig  passend;  das  Stück  wird  I4v&eve  gehciTsen  haben. 


DIE   DRAMATISCHE   POESIE.     DIE    TRAGÖDIE.    EI2SLEITÜISG.  179 

Sophokles,  der  Oedipus  auf  Kolonos,  wenn  schon  die  dramatische 
Handlung  selbst  wesentlich  ein  Werk  des  Dichters  ist,  lehnt  sich 
doch  überall  in  Motiven  und  Charakteren  an  die  Ueberlieferung  an. 
Die  griechische  Tragödie  breitet  sich  über  das  ganze  Gebiet  der 
Sage  aus,  aber  sie  hat  die  Schätze  der  Tradition  weder  gleichmäfsig 
benutzt,  noch  viel  weniger  zu  erschöpfen  versucht.  Bei  der  un- 
endlichen Fülle  der  Sagen  war  dies  nicht  möglich,  aber  bezeich- 
nend ist,  dafs  die  Tragiker  nach  Euripides  am  wenigsten  darauf 
ausgehen,  neue  Pfade  einzuschlagen,  während  doch  sonst  die  Epi- 
gonen an  unverbrauchten  Stoffen  ihre  Kräfte  zu  üben  pflegen. 

Homer  und   die   kyklischen  Dichter  sind  die  Hauptquelle  der 
Sagenkunde  für  die  Tragiker.^)  Daher  erklärt  sich  auch  zur  Genüge 


6)  Frühzeitig  begann  die  gelehrte  Forschung  sich  mit  den  mythischen 
Stoffen,  welche  die  griechischen  Tragiker  behandelt  haben,  zu  beschäftigen, 
indem  man  ebensowohl  die  Quellen,  welche  sie  benutzten,  als  auch  die  Um- 
bildungen der  Sage,  welche  von  ihnen  ausgingen,  sowie  die  Abweichungen 
der  einzelnen  Dichter  unter  sich  nachzuweisen  bemüht  war.  Schon  Glaukus 
von  Rhegium  schrieb  tveqI  AiaxvXov  fivd'cov  (s.  die  Einl.  zu  Aeschylus'  Per- 
sern). Dikäarch  setzte  gewissermafsen  diese  Arbeit  fort  in  seinen  inod'dasie  tc5v 
2!ofox)^ove  xai  EvQmiSov  fivd'cov  (Sext.  Empir.  adv.  Math.  III  3  p.  697  Bekk.),  die 
sich  keineswegs  auf  eine  summarische  Angabe  des  Inhalts  der  Dramen  beschränk- 
ten; noch  sind  uns  Proben  dieser  Arbeit  (wenn  auch  nicht  immer  in  der  voll- 
ständigen Fassung)  zu  Euripides  Medea,  Alkestis  und  Rhesus  erhalten.  Das 
Hauptwerk  des  Isokrateers  Asklepiades  r^aycoSoiiftava  in  sechs  Büchern  wird 
von  den  Späteren  fleifsig  benutzt.  Philochorus  schrieb  tieqI  Hofoaliovs  fivd'cov 
(Suidas  II  2, 1 496)  und  eine  eniaroXij  tiqos  läaxXrjniäSrjv  eben  mit  Bezug  auf  die 
TQaycpSovfteva  (Schol.  Eurip.  Hecuba  1),  wohl  nicht  verschieden  von  der  eben- 
daselbst genannten  Schrift  tisqI  r^ayojSiwv.  Aufserdem  werden  rQayc^SovfjiEva 
von  Demaratus  einige  Mal  erwähnt.  Die  alten  Erklärer  der  Tragiker  haben  dann 
diese  Forschungen  ergänzt  und  fortgesetzt.  Man  glaubt  gewöhnlich  einen  Er- 
satz für  diese  untergegangene  Literatur  in  den  Fabulae  des  Hygin  zu  finden. 
Allein  die  Vermuthung,  dafs  hier  grofsentheils  nur  Inhaltsangaben  griechischer 
Tragödien  oder  lateinischer  Bearbeitungen  vorliegen,  ist  nicht  begründet;  aller- 
dings ist  c.  4  Ino  Euripidis ,  c.  8  Jntiopa  Euripidis  quam  scribit  Ennius 
überschrieben,  aber  gerade  bei  diesen  Kapiteln  ist  es  fraglich,  ob  sie  dem  ur- 
sprünglichen Werke  angehören.  Natürlich  sind  auch  die  Tragiker  direkt  oder 
indirekt  benutzt,  z.  B.  die  Erzählung  von  Archelaus  geht  auf  das  Drama  des 
Euripides  zurück,  aber  sie  sind  nicht  die  eigentliche  Quelle ;  daher  vermifst  man 
bei  Hygin  manches  beliebte  tragische  Thema,  während  daneben  Fremdartiges 
sich  findet.  Wenn  Hygin  mit  sichtlicher  Vorliebe  Liebesabenteuer  auswählt, 
welche  zu  einer  tragischen  Verwicklung  Anlafs  geben,  so  deutet  dies  auf  eine 
Stoffsammlung  nach  Art  des  Parthenius  hin. 

12* 


180  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

die  Bevorzugung  des  troischen  und  thebanischen  Kreises,  die  uns 
besonders  bei  Aeschylus  und  Sophokles  entgegentritt,  weniger  bei 
Euripides,  dem  überhaupt  der  Geist  des  heroischen  Epos  nicht  eben 
zusagte.  Es  ist  beachtenswerth,  dafs  dieser  Dichter  nur  den  Rhesus^ 
einer  Episode  der  Ilias,  die  nicht  dem  älteren  Gedichte  angehört, 
nachgebildet  hat,  während  Aeschylus  und  Sophokles  aus  der  Ilias 
wie  aus  der  Odyssee  Stoff  zu  mehreren  Dramen  entlehnten.  Aber 
auch  die  Hesiodische  Poesie,  die  unerschöpfliche  Fundgrube  alter 
Sagenkunde,  ward  nicht  vernachlässigt;  zumal  Aeschylus  verdankt  die- 
sem Dichter  vielfache  Anregung.  Den  Einflufs,  welchen  die  Um- 
dichtungen  der  Heldensage  durch  die  chorische  Lyrik  auf  die  Tra- 
giker ausübten,  vermögen  wir  zwar  nicht  genügend  nachzuweisen, 
dürfen  ihn  aber  nicht  gering  anschlagen.*)  Endhch  haben  die  Tragiker 
wie  alle  älteren  Dichter  nicht  selten  unmittelbar  aus  der  lebendigen 
Ueberlieferung  geschöpft;  so  wurden  selbst  rein  örtliche  Sagen  aus 
dem  Volksmunde  in  die  Poesie  eingeführt.') 

So  treten  neben  den  troischen  Kreis  die  Argonautensage,  neben 
die  düstere  Geschichte  der  thebanischen  Vorzeit  die  unheimlichen 
Erinnerungen  an  die  Greueltbaten  des  argivischen  Königshauses, 
neben  Herakles  sein  jüngeres  Abbild  Theseus.  Aber  auch  thessa- 
hsche,  korinthische,  attische,  kretische  und  andere  Sagen  werden 
fleifsig  bearbeitet.  Die  eigentliche  Göttersage  tritt  zurück;  nur  die 
Mythen,  welche  sich  auf  die  Einführung  des  Dionysusdienstes  in 
Griechenland  bezogen,  wo  die  siegreiche  Gewalt  des  Gottes  sich  in 
dem  Untergange  seiner  Widersacher  recht  deutlich  offenbarte,  waren 
ein  beliebter  Vorwurf  für  die  tragische  Dichtung,  die  ja  unmittelbar 
aus  dem  Cultus  des  Dionysus  hervorgegangen  ist. 

In  der  Auswahl  der  Stoffe  bekundet  jeder  der  drei  Tragiker 
seine  eigene  Art.   Der  alterthümliche  Geist  des  Aeschylus  verläugnel 


7)  Eine  nicht  mehr  vorhandene  Tragödie;  denn  das  erhaltene  Stück  gehört 
der  Schule  des  Aeschylus  an. 

8)  Am  meisten  dürfte  Stesichorus  auf  die  Tragiker  eingewirkt  haben; 
allein  auch  andere  Meliker,  wie  Ibykus  und  Simonides,  boten  der  dramatischen 
Poesie  geeignete  Stoffe  dar.  So  hatte  Simonides  in  einer  Parekbase  (fr.  209) 
die  Abfahrt  der  Achäer  und  den  Schatten  des  Achilles,  der  über  seinem  Grab- 
hügel erscheint  und  den  Opfertod  der  Polyxena  fordert,  auf  das  Anschaulichste 
geschildert. 

9)  Aeschylus  hatte  in  seinem  Gelegenheilsdrama,  den  ^iTva.la$,  die  iicl- 
lische  Sage  von  den  Paliken  benutzt. 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.     DIE    TRAGÖDIE.     EINLEITUNG.  181 

sich  auch  hier  nicht;  wenn  er  wiederholt  den  Mythus  vom  Prome- 
theus bearbeitet,  so  steigt  er  bis  zu  den  fernsten  Zeiten  der  Götter- 
geschichte hinauf;  aber  auch  sonst  berührt  er  mit  sichthcher  Vor- 
hebe die  Göltersage.  Ebenso  haben  die  Wunder  und  grauen  Gestalten 
der  älteren  Heroensage  für  ihn  besonderen  Reiz.  Dagegen  sind  ihm 
andere  Stoffe  fremd,  welche  gerade  die  folgenden  Tragiker  vorzugs- 
weise beschäftigten ,  wie  die  Thaten  des  Atreus  und  Thyestes ,  der 
Wahnsinn  des  Alkmäon ,  ebenso  Helena  oder  Antigone,  wie  über- 
haupt Frauen  Charaktere  bei  Aeschylus  noch  zurückstehen.  Sophokles 
hat  mit  Aeschylus  die  ideale  Richtung  gemein  und  folgt  wie  jener 
vorzugsweise  den  Spuren  der  epischen  Dichtung,  aber  er  entsagt 
der  Vorliebe  für  das  Alterthümliche,  da  der  feierliche  Ernst  und  die 
Erhabenheit  dem  herrschenden  Zeitgeschmacke  nicht  mehr  wie  ehe- 
dem zusagten.  Dagegen  führt  Sophokles  attische  Sagen,  wie  die 
vom  Triptolemus,  von  der  Prokris  und  andere,  in  die  Poesie  ein '"), 
an  die  sich  ein  besonderes  patriotisches  Interesse  knüpfte.  Nicht 
wenig  neuen  Stoff  verdankt  die  Tragödie  dem  Euripides.  Er  benutzt 
die  verschiedensten  Gebiete  der  Sage;  so  geht  er  in  seinem  Kres- 
phontes  bis  auf  die  Zeit  nach  der  W'anderung  der  Herakliden  herab, 
die  sonst  allgemein  als  Grenze  des  mythischen  Heldenzeitalters  gilt; 
ebenso  hat  er  in  seinem  Archelaus,  einem  echten  Gelegenheitsstücke, 
den  Stifter  des  makedonischen  Königshauses  auf  die  Bühne  ge- 
bracht. 

Wie  die  Tragiker  nach  dem  Vorgange  der  epischen  und  lyri- 
schen Dichter  den  reichen  Sagenschatz  der  Nation  nur  in  einer  neuen 
Kunstform  reproducieren,  so  meiden  sie  auch  nicht  das  Zusammen- 
treffen mit  ihren  eigenen  Vorgängern.  Derselbe  Stoff  wird  immer 
von  neuem  dramatisch  bearbeitet,  und  diese  üebereinstimmung  in 
der  materiellen  Grundlage,  diese  Wiederholung  derselben  Charaktere, 
Schicksale  und  Verwicklungen  that  der  Wirkung  keinen  Eintrag. 
So  hat  jeder  der  drei  Tragiker  eine  Ipbigenie  in  Aulis,  einen  Pala- 
medes,  einen  Philoktet  in  Lemnos,  einen  Oedipus,  dann  den  Mutter- 
mord des  Orestes  und  den  Tod  des  Glaukus  gedichtet.")    Den  Selbst- 


10)  Aeschylus  hat,  wie  es  scheint,  nur  die  attische  Sage  von  der  Entfüh- 
rung der  Oreithyia  durch  Boreas  dramatisch  bearbeitet,  vielleicht  erst,  nachdem 
Sophokles  diese  Bahn  betreten  hatte. 

11)  Das  Schicksal  des  Glaukus,  eines  Sohnes  von  Minos,  hatte  Aeschylus 


182  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS   300  V.  CHR.  G. 

raord  des  Ajas,  welchen  Aeschylus  in  den  Thrakerinnen  ")  dargestellt 
hatte,  führte  Sophokles  in  seiner  bekannten  Tragödie  wieder  vor; 
«benso  haben  beide  Dichter  den  Tod  des  Memnon  wie  des  Odys- 
seus  bearbeitet,  dann  begegnen  sie  sich  in  der  Niobe,  im  Athamas, 
Phineus,  Sisyphus  und  Telephus  in  Mysien.  Aeschylus  und  Euri- 
pides  haben  einen  Telephus  in  Argos  gedichtet,  ebenso  die  Sagen 
vom  Tode  des  Phaethon ")  und  des  Pentheus"),  sowie  vom  Ixion  ") 
dramatisch  behandelt.  Besonders  häufig  trelTen  Sophokles  und  Euri- 
pides  zusammen:  im  Alexandros,  wo  die  Wiederaufnahme  des  Paris  in 
das  troische  Königshaus  geschildert  wurde,  in  der  Antigone,  Danae'*) 
und  Andromeda,  im  Phrixus,  Alkmäon,  Oenomaus,  in  dem  Bruder- 
zwiste des  Atreus  und  Thyestes,  im  Ion,  Hippolytus'"'),  Meleager 
und  ßellerophon.  Ebenso  werden  die  Nachfolger  der  drei  Tragiker, 
die  sich  überhaupt  auf  einen  immer  engeren  Kreis  beschränken, 
nicht  müde,  die  bekannten  Themen  zu  wiederholen,  wie  Thyestes, 
Alkmäon  oder  Oedipus,  Achilles  und  Telephus,  Philoktet  und  Helena, 
oder  die  Zerstörung  Trojas,  Medea  und  Herakles.  Manchmal  wird 
eine  Episode  aus  einem  älteren  Drama  zu  einer  selbständigen  Dich- 
tung erweitert,  oder  auch  der  Inhalt  einer  bekannten  Tragödie  bei- 
läufig in  gedrängter  Kürze  wiederholt.'*) 

Ein  jeder  Dichter  behandelt  eben  die  Fabel  in  anderer  Weise 
und  in  eigenthümlichem  Geiste.  War  auch  der  Stoff  der  gleiche, 
so  gestattete  er  doch  meist  eine  verschiedenartige  Auffassung.  Dazu 
kommt,  dafs  diese  Sagen  zum  Theil  nur  in  allgemeinen  Umrissen 
überliefert  waren ;  denn  die  ältere  Poesie  halte  nicht  alles  erschöpft. 


in  den  Kor,oaai,  Sophokles  in  den  Mäv^en  (oder  auch  IIoXviSos  genannt), 
Euripides  im  IloXviSos  behandelt. 

12)  Aeschylus'  0grjaaat. 

13)  Aeschylus  in  den  'HhäSse,  Euripides  im  <Pas&o}p. 

14)  Aeschylus  im  Jlevd'eve,  Euripides  in  den  Bäxxat. 

15)  Auch  Sophokles  scheint  einen  Ixion  geschrieben  zu  haben. 

16)  Sophokles  dichtete  einen  \4xQiaiot. 

17)  Sophokles'  Kgiovaa  entsprach  dem  Ion  des  Euripides,  der  Hippolytus 
des  Euripides  der  <t>aiSQa  des  Sophokles. 

1$)  Die  lo  hat  Aeschylus  zu  einer  Episode  im  Prometheus  benutzt.  So- 
phokles dichtete  einen  'Ivaxoi.  Die  Sage  vom  Prometheus,  welche  Aeschylus 
in  mehreren  Dramen  bearbeitet  hatte,  flocht  Sophokles  in  den  KoXxiSei  ein. 
Der  Opfertod  der  Polyxena  bildete  den  hihall  der  gleichnamigen  Tragödie  des 
Sophokles.     Euripides  bringt  ihn  als  Beiwerk  in  der  Hccuba  an. 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.     DIE    TRAGÖDIE.     EINLEITUNG.  183 

sondern  vieles  nur  gelegentlich  und  andeutend  berührt.  Um  so 
freier  konnte  sich  der  dramatische  Dichter  bewegen.  Aber  auch  wo 
ein  Vorwurf  von  den  Epikern  oder  Lyrikern  in  selbständiger  Form 
dargestellt  war,  verlangte  doch  das  Gesetz  der  dramatischen  Poesie 
meist  eine  wesentlich  andere  Gestaltung.  Nach  der  Erzählung  der 
Kykliker  ward  Diomedes  ausgesandt,  um  den  verstofsenen  Philoktet 
von  Lemnos  zurückzuführen.  Dieser  Held  eignete  sich  für  die  schüchte 
Weise  des  Epos,  nicht  für  die  verwickelte  tragische  Handlung ;  hier 
bedurfte  es  eines  stärkeren  Gegensatzes,  um  die  rechte  Wirkung  zu 
erzielen.  Aeschylus  setzt  daher  an  die  Stelle  des  Diomedes  den 
Odysseys,  der  früher  den  Philoktet  ausgesetzt  hatte,  und  diesem 
Vorgange  sind  die  anderen  Tragiker  gefolgt,  nur  dafs  Euripides  dem 
Diomedes  und  Odysseus  dieses  Geschäft  überträgt  und  so  eine  Stei- 
gerung des  dramatischen  Lebens  gewinnt'^),  während  Sophokles  den- 
selben Zweck  in  anderer  Form  erreicht,  indem  er  dem  Odysseus 
den  jungen  Sohn  des  Achilles  Neoptolemus  zugesellt. 

Ohne  ümdichtungen  ging  es  nicht  ab.  An  dem  Thatsächlichen 
der  mythischen  Ueberlieferungen  haben  alle  Tragiker  mehr  oder 
minder  selbständige  Aenderungen  vorgenommen,  ja  derselbe  Dichter 
scheut  sich  nicht  in  verschiedenen  Dramen  nach  Mafsgabe  des  ver- 
schiedenen Standpunktes  der  Sage  eine  abweichende  Gestalt  zu  ge- 
ben und  so  mit  sich  selbst  scheinbar  in  Widerspruch  zu  gerathen. 
Man  hat  gewohnlich  den  Euripides  beschuldigt,  dafs  er  mit  der 
Ueberheferung  willkürlich  umgehe,  die  Mythen  allzufrei  abgeändert 
habe.  Und  in  der  That  finden  sich  in  den  Tragödien  des  Euripides 
nicht  wenige  und  starke  Abweichungen  von  der  volksmäfsigen  Sage, 
z.  B.  der  Inhalt  des  Orestes  ist  wesentUch  als  eigene  Erfindung  des 
Dichters  zu  betrachten.**)  Indes  auch  Aeschylus  und  Sophokles  habea 
wie  mehr  oder  weniger  alle  griechischen  Dichter  in  vielen  Punkten 
den  Mythus  umgestaltet  und  fortgebildet^');  allein  diese  Dichter  pfle- 


19)  Euripides  schliefst  sich  hier  der  Weise  des  Epos  an ,  welches  beide 
Helden  gern  vereint  wirken  läfst. 

20)  Daher  bemerkt  auch  der  Grammatiker  Aristophanes  na^^  oiSevi  xsl- 
xai  ^  fiv&oTxoua.  Allein  einzelne  Züge  verdankt  auch  hier  der  Dichter  der 
Ueberlieferung,  z.  B.  wenn  Elektra  dem  Pylades  vermählt  wird,  s.  Hellanikas 
bei  Pausan.  U  16,  7. 

21)  Das  unveräurserliche  Recht  des  Dichters,  die  mythische  Ueberlieferung^ 
abzuändern,  erkennt  auch  Aristoteles  an.    Manches  übrigens,  was  uns  erfunden 


184  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS   300  V.  CHR.  G. 

gen,  wo  es  gilt,  die  Ueberlieferung  der  kunstmafsigen  Form  des 
Dramas  anzupassen,  die  alte  Sage  mit  tieferem  Gehalt  zu  erfüllen 
oder  mit  den  Anforderungen  einer  vorgeschrittenen  Bildung  in  Ein- 
klang zu  setzen,  schonend  zu  verfahren.  Zumal  Aeschylus,  der  mit 
ehrfurchtsvoller  Scheu  an  die  Gestalten  der  Götter  und  Heroen  weit 
herantritt,  dichtet  im  Geist  der  alten  Sage.  Ganz  anders  verfährt 
Euripides.  Ihm  ist  der  Sinn  für  die  einfache  Gröfse  des  höheren 
Alterthums  fremd;  er  versetzt  unbedenklich  die  Heroen  aus  ihrer 
idealen  Sphäre  mitten  in  die  gemeine  Wirklichkeit  und  treibt  mit 
der  Ueberlieferung  ein  freies  Spiel,  die  er  nicht  selten  ganz  nach 
Laune  abändert'"'),  oft  recht  wirksam,  aber  durch  dies  Einmischen 
fremdartiger  und  widerstrebender  Züge  entsteht  etwas  Zwiespältiges. 
Wie  eben  die  Kunst  des  Euripides  sich  in  unvermittelten  Gegen- 
sätzen bewegt,  so  ist  er  andererseits  von  dem  Vorwurfe  nicht  frei 
zu  sprechen,  dafs  er  öfter  allzusehr  von  dem  überheferten  Stoffe 
abhängig  ist;  denn  statt  Unpassendes  und  Widersprechendes  aus- 
zuscheiden oder  den  höheren  Forderungen  der  Kunst  gemäfs  um- 
zubilden, nimmt  er  die  verschiedenen,  oft  geradezu  unmittelbaren 
Elemente  der  Sage  auf  und  verwendet  sie  für  seine  Zwecke.  Vor 
allem  aber  tritt  die  eigenthümUche  Geistesrichtung  in  der  Wahl  der 
mythischen  Stoffe  hervor,  wie  schon  der  Komiker  Aristophanes  in 
seiner  trefflichen  Kritik  des  Tragikers  bemerkt.") 

scheiRt,  weil  es  nicht  anderweitig  bezeugt  ist,  mag  auf  alter  Sage  beruhen. 
"Wenn  die  Tragiker  den  Opfertod  der  Iphigeneia  berühren,  so  wird  der  Zorn 
der  Artemis  jedes  Mal  anders  motivirt.  Sophokles  in  der  Elektra  folgt  dem 
kyprischen  Epos,  Aeschylus  in  der  Parodos  des  Agamemnon  einer  ganz  ande- 
ren Ueberlieferung  von  hochalterlhümlichem,  einfältigem  Gepräge,  daher  sie 
eben  den  Aeschylus  anzog,  während  nicht  leicht  ein  Dichter  dergleichen  aus- 
sinnt. Einer  poetischen  Erfindung  am  ähnlichsten  sieht  die  Darstellung  des 
Euripides  im  Prolog  der  Iphigeneia  in  Tauris,  die  in  sehr  feiner  Weise  das 
Lob  der  Iphigeneia  verkündet:  allein  die  flüchtige  Weise,  in  der  die  Sache 
berührt  wird,  setzt  eine  nähere  Bekanntschaft  mit  dieser  Fassung  voraus;  mög- 
licher Weise  sind  hier  ein  Paar  Verse  ausgefallen,  die  dem  Verständnifs  nach- 
halfen. 

22)  So  bemerkt  der  Scholiast  zur  Hecuba  V.  1 :   noklaxu  6  EvQiniitie 
aixoaxeStä^ei  iv  xots  yeveakoyiaie,  an  xai  eavxip  Ivioie  ivavxia  Xeysiv. 

23)  Aristoph.  Frösche  1050  IT.,  wo  Euripides  sich  damit  zu  rechtfertigen 
sucht,  dafs  er  die  Sage  von  der  Liebe  der  Phädra  nicht  erfunden  habe :  nöre- 
^v  S'  ovx  ovta  Xöyov  toItov  ns^i  rfje  <J>alS^as  ^vvs&rjxa,  worauf  ihm  Aeschy- 
lus erwidert:  aXX'  anoxQvmetv  xQV  ''^  novrj^bv  xöv  ya  noifiXTjv,  xai  /* ' 
na^yetv  fi^Sa  SiSäaxaiv. 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.     DIE    TRAGÖDIE.     ELNLEITOG.  185 

Indem  die  Handlung  meist  in  die  sagenhafte  Vorzeit  verlegt  Ar«  der 
wird,  trägt  auch  die  Darstellung  das  Kostüm  und  die  Farbe  jener  ^"'*  "°^' 
Epoche.  Denn  wenn  schon  der  Kunst  ein  gewisses  Mafs  von  Frei- 
heit gestattet  ist  und  der  wahre  Dichter  ein  reicheres  Leben  vor- 
zuführen, die  Handlungen  und  Charaktere  mit  tieferem  Inhalte  zu 
erfüllen  bestrebt  ist,  so  würde  er  doch  mit  der  Aufgabe,  die  er 
sich  gestellt  hat,  in  Widerspruch  gerathen,  wollte  er  von  den  Sitten 
und  Anschauungen,  von  dem  Bildungszustande  und  dem  Geiste  jener 
völlig  absehen;  denn  durch  solche  Gleichgültigkeit  geht  gerade 
das  Charakteristische  verloren,  die  Treue  und  Wahrheit  der  Schil- 
derungen wird  beeinträchtigt. 

Aber  man  verfährt  nicht  allzu  ängsthch;  an  das  poetische  Welt-Anachronis- 
bild  darf  man  nicht  den  strengen  Mafsstab  des  Historikers  anlegen. 
Anachronismen  kommen  häufiger  vor,  als  bei  den  epischen  Dichtern, 
die  jener  entlegenen  Zeit  noch  näher  standen,  während  die  Tragiker 
nur  auf  vielfach  vermitteltem  Wege  eine  Anschauung  der  heroischen 
Welt  gewinnen  konnten.") 

Dem  Aeschylus  gebührt  auch  hier  unbestritten  der  erste  Preis. 
Er  führt  uns  ein  lebendiges  Bild  der  Heroenzeit  in  grofsen  charak- 
teristischen Zügen  vor  das  Auge.  Sophokles  ermäfsigt  die  alter- 
thümhche  Färbung,  indem  er  mehr  das  Allgemeinmenschliche  her- 
vorhebt, sodafs  man  bei  diesem  Dichter  den  Gegensatz  zwischen  den 
Culturverhältnissen  seiner  Zeit  und  der  alten  Welt  kaum  empfindet. 
Euripides  steht  zu  sehr  unter  dem  Einflüsse  der  neuen  Zeit,  um 
sich  innerhalb  dieser  Schranken  zu  halten.  Er  besitzt  nicht  die  Ent- 
sagung, um  einfache  und  natürhche  Verhältnisse  einfach  zu  schil- 
dern, sondern  bringt  überall  Beziehungen  auf  die  Gegenwart,  auf 
das  Culturleben  seiner  Zeit  an,  so  dafs  die  rechte  Harmonie  ver- 
loren geht  und  ein  zwiespältiges  Wesen  überall  durchbhckt. 


24)  Die  tyrrhenische  Trompete  ist  das  gewöhnliche  Instrument  in  Kampf- 
scenen.  Schriftlicher  Verkehr  wird  unbedenklich  vorausgesetzt.  Euripides  führte 
in  seinem  Theseus  einen  des  Schreibens  und  Lesens  unkundigen  Hirten  ein, 
der  genau  die  Schriftzeichen  des  Namens  Orjaeve  beschreibt;  dieser  Einfall 
ward  so  beifällig  aufgenommen,  dafs  Agathon  in  Telephus  und  Theodektes 
denselben  copierten.  Ein  ähnliches  Kunststück  hatte  Sophokles  in  einem 
Satyrdrama  Amphiaraus  angewandt,  indem  hier  die  Schriftzüge  eines  Namens 
(Wortes)  durch  Tanzfiguren  auf  der  Orchestra  dargestellt  wurden,  Athen. 
X  454  F. 


186  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Historische  Nur  ausnahmsweise  haben  die  griechischen  Tragiker  sich  an 
^  "'  historischen  Stoffen  versucht,  obwohl  nicht  nur  die  ältere  Geschichte 
der  hellenischen  Stämme  und  Staaten  geeignete  Aufgaben  darbot, 
man  erinnere  sich  nur  der  heldenmiUhigen  Kämpfe,  welche  die 
Messenier  für  ihre  Unabhängigkeit  mit  den  Spartanern  führten,  son- 
dern es  auch  in  der  Gegenwart  an  tragischen  Conflikten  nicht  fehlte. 
Allein  die  Macht  des  Herkommens  war  zu  grofs;  wie  das  Epos  und 
die  lyrische  Dichtung  sich  auf  die  ideale  Welt  des  Mythus  beschränkt, 
so  folgt  auch  bereitwillig  die  Tragödie  diesem  V^organge,  so  ver- 
lockend auch  gerade  für  den  dramatischen  Dichter  die  Realität  des 
wirklichen  Lebens  sein  mufste.  Nur  Phrynichus  that  den  ktlhnen 
Griff,  indem  er  Begebenheiten  der  unmittelbaren  Gegenwart,  an  die 
sich  ein  bedeutendes  patriotisches  Interesse  knüpfte,  auf  die  Bühne 
brachte,  und  Aeschylus  schliefst  sich  mit  glücklichem  Erfolge  diesem 
Vorgange  an.  In  den  Persern  treten  uns  lebensvolle  Gestalten  der 
wirklichen  Welt  entgegen,  und  doch  unigiebt  sie  ein  idealer  Schim- 
mer, ohne  dafs  der  Dichter  der  geschichthchen  Wahrheit  untreu  wird. 
Allein  diese  Beispiele  stehen  vereinzelt  da.  Je  mehr  die  Tra- 
giker nach  Aeschylus  darauf  ausgehen,  durch  fesselnde  Verwicklung 
und  überraschende  Lösung  zu  wirken,  desto  entschiedener  wenden 
sie  vom  Historischen  sich  ab.  Die  Mythologie  bot  Belege  plötzlichen 
Schicksalswechsels  in  Fülle  dar,  und  auch  wo  man  das  beliebte  Motiv 
des  Mifsverständnisses  und  der  unerwarteten  Aufklärung  nicht  vor- 
fand, hefs  er  sich  mit  Leichtigkeit  anbringen,  während  in  der  Wirk- 
lichkeit die  Dinge  meist  einen  einfacheren  Verlauf  nehmen  und  der 
Dichter  einen  solchen  Stoff  nicht  so  frei  wie  sagenhafte  Ueberliefe- 
rungen  behandeln  mochte.  Erst  gegen  Ende  dieses  Zeitraums  dichtet 
Moschion  ^*)  wieder  einen  Themistokles.  Hier  war  also  der  griechische 
Held  Mittelpunkt  der  Tragödie,  während  Phrynichus  und  Aeschylus 
in  ihren  Dramen,  die  den  Perserkrieg  behandelten,  mit  gutem  Grunde 
den  Schauplatz  in  das  ferne  Morgenland  verlegten.**)  Das  Satyr- 
drama Agen  von  Python,  im  Heerlager  Alexanders  aufgeführt,  knüpft 
an  die  unmittelbare  Gegenwart  an,  und  so  werden  jetzt  historische 


25)  Moscliion  hat  vielleicht  auch  noch  andere  Tragödien  geschichtlichen 
Inhalts  gedichtet. 

2C)  Einen  Themistokles  hat  vielleicht  auch  der  Alexandriner  Philiskus 
gedichtet.  Ebenso  behandelten  wohl  die  KaaavS(fels  des  Lykophron  einen  ge- 
schichtlichen Stoff. 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.     DIE    TRAGÖDIE.     EOLEITCNG.  187 

Persönlichkeiten  mehrfach  für  das  Sat\Tspiel  heniitzt.    Doch  waren 
diese  Stücke  wohl  meist  für  ein  lesendes  Pubükum  bestimmt. 

Indem  so  die  griechischen  Tragiker  im  Allgemeinen  darauf  ver-Beziehuagen 
ziehten,  Begebenheiten  und  Charaktere  des  wirküchen  Lebens  poetisch  q /"„^'j^^ 
darzustellen,  übt  doch  die  Gegenwart  ihr  Recht  aus.  ünwillkürUch 
drängt  es  den  Dichter,  das  auszusprechen ,  was  ihn  in  seiner  Zeit 
näher  berührt  oder  was  ihn  innerüch  bewegt.  Gelegentliche  Be- 
ziehungen auf  Zeitverhältoisse  finden  sich  nicht  selten  in  der  grie- 
chischen Tragödie.  Hie  und  da  mag  selbst  die  Wahl  des  Gegenstan- 
des auf  solchen  Einfluss  zurückzuführen  sein,  aber  man  war  doch 
weit  entfernt ,  eine  mythische  Begebenheit  so  umzugestalten,  dafs  sie 
gleichsam  unter  der  Hülle  der  Allegorie  ein  Bild  der  eigenen  Zeit 
darbot.  Es  war  ein  unglücklicher  Gedanke,  wenn  man  meinte, 
Sophokles  habe  in  seiner  ergreifenden  Tragödie  unter  dem  Bilde 
des  Königs  Oedipus  eigentlich  den  Perikles  dargestellt,  obwohl  im 
Gange  der  dramatischen  Handlung  alles  anders  ist  und  durchaus 
nichts  im  Leben  des  attischen  Staatsmannes  an  die  Schicksale  des 
Oedipus  erinnert,  üeberhaupt  gehen  die  neueren  Erklärer  viel 
zuweit,  indem  sie  mit  übel  angebrachtem  Aufwand  von  Scharfsinn 
überall  offenen  oder  versteckten  Anspielungen  auf  Zeitverhältnisse 
nachspüren  oder  auch ,  auf  solche  vermeidlichen  Andeutungen  ge- 
stützt, die  unbekannte  Zeit  der  Abfassung  einer  Tragödie  zu  ermitteln 
suchen.  Dieses  Merkmal  ist  jedoch  sehr  trügerisch;  denn  ein  treffen- 
des Dichterwort  kann  oft  erst  später  besondere  Bedeutsamkeit  ge- 
winnen und  ganz  unerwartet  dem  jüngeren  Geschlechte  sein  Spiegel- 
bild vorfuhren"),  hat  doch  die  echte  Poesie  etwas  Prophetisches. 

Uebrigens  bewährt  gerade  hier  jeder  der  drei  attischen  Tragiker 
seine  eigene  Art.    Aeschylus,  wie  er  von  lebhaftestem  Interesse  für 


27)  Wenn  Euripides  im  Palaoiedes  fr.  591  Di.  den  Tod  dieses  Heros  mit  den 
Worten  beklagte :  ixaver^,  ixävsTE  xav  Tiavaocpov,  a  Javaoi,  rav  oiStv'  aXyv- 
vovaav  arßova  Movaäv,  SO  kann  man  sich  wohl  denken,  wie  bei  einer  späteren 
Aufführung  dieser  Ol.  91,  2  gedichteten  Tragödie  das  attische  Publikum  sich 
bei  diesen  Worten  nicht  ohne  Rührung  an  die  ungerechte  Verurtheilung  des 
Sokrates  erinnerte  (vgl.  Argum.  Isoer.  Busir.).  Die  Worte  bei  Aeschylus  Prom. 
1065,  die  durch  die  Situation  genügend  gerechtfertigt  sind,  konnten  recht  wohl 
später  bei  einem  besonderen  Anlasse  mächtigen  Anklang  finden;  wenn  sie  aber 
der  späte  Scholiast  auf  die  Anklage  wegen  Verrath,  die  Chares  gegea  Iphi- 
krales  anhängig  machte,  beziehen  will,  so  haben  diese  Verhältnisse  mit  der 
Ae^chyleischen  Tragödie  gar  keine  innere  Verwandtschaft. 


188  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

die  Geschichte  seiner  Heimath  erfüllt  ist  und  sein  feuriger,  erreg- 
barer Geist  von  den  mächtigen  Bewegungen  der  Zeit  tief  ergriffen 
ward,  arbeitet  unwillkürHch  unter  dem  Einflüsse  solcher  Stimmun- 
gen, aber  mit  verständiger  Mäfsigung  hält  er  in  der  Regel  alles 
fern,  was  das  Bild  der  heroischen  Welt  trüben  oder  einen  zwie- 
spältigen Eindruck  hervorrufen  könnte.  Sophokles,  obwohl  er  seinem 
Volke  nicht  entfremdet  war,  gestaltet  doch  den  wechselnden  Mei- 
nungen der  flüchtigen  Stunde  keinen  Zugang.  Er  arbeitet  nicht  für 
den  Augenbhck ;  ihm  lag  es  ganz  fern,  mit  den  gediegenen  Charakte- 
ren der  mythischen  Zeit  ein  willkürliches  Spiel  zu  treiben ;  so  hält 
sich  seine  Poesie  gleichmäfsig  auf  idealer  Höhe  und  ist  daher  für 
alle  Zeiten  gleich  verständlich.  Euripides  steht  auch  hier  zu  seinem 
älteren  Zeitgenossen  im  entschiedensten  Gegensatze.  Bei  ihm  ist  der 
subjektive  Geist  viel  zu  mächtig,  als  dafs  er  mit  voller  Hingebung 
an  dem  Gegenstand  arbeiten  könnte.  Wir  stossen  daher  bei  diesem 
Dichter  überall  auf  deutliche  Beziehungen  auf  die  socialen  und  poU- 
tischen,  die  rehgiösen  und  pohtischen  Fragen  des  Tages.  Er  ist 
sichtlich  bemüht,  durch  solche  Reizmittel  seine  Zuhörer  zu  fesseln, 
ihnen  die  Charaktere  und  Begebenheiten  der  fernen  mythischen  Zeit 
näher  zu  rücken,  aber  dergleichen  versteckten  Hintergedanken,  mö- 
gen sie  auch  augenblicklich  wirken ,  haftet  etwas  Erkältendes  an ; 
alle  solche  Tendenzen  haben  etwas  Gestaltloses,  was  der  echten 
Poesie  zuwider  ist. 

Die  griechische  Tragödie  behandelt  allgemeinbekannte  Stoffe. 
Dies  ist  in  vieler  Hinsicht  günstig,  da  es  dem  Dichter  die  Arbeit 
erleichtert,  aber  es  hat  auch  seine  Nachtheile.  Indem  der  Zuschauer 
den  wesentlichen  Verlauf  der  Fabel  im  voraus  kennt,  findet  das 
realistische  Interesse  keine  rechte  Befriedigung;  so  wird  die  stetige 
Theilnahme,  deren  vor  allem  der  dramatische  Dichter  bedarf,  leicht 
abgeschwächt.  Indes  thut  doch  dieses  Festhalten  der  wohlhekannten 
Welt  der  Sage  der  Wirkung  der  tragischen  Poesie  keinen  Eintrag. 
Es  ist  eben  nicht  auf  Befriedigung  blofser  Neugier  abgesehen;  der 
Dichter  versteht  die  gespannte  Erwartung,  die  ihn  Schritt  für  Schritt 
begleiten  soll,  wie  der  tragische  Held  sich  in  seiner  gefahrvollen 
Lage  benehmen  wird,  zu  wecken  und  zu  erhalten.  Im  König  Oedi- 
pus  wufste  jeder  den  Ausgang;  aber  durch  die  meisterhafte  Behand- 
lung der  Fahel  hält  Sophokles  den  Hörer  zwischen  Furcht  und 
Hofl'nung  schwebend  und  erzielt  so  die  gröfsle  Wirkung.    Auch  ist 


DIE   DRAMATISCHE    POESIE.     DIE    TRAGÖDIE.     ECSLEITÜNG.  189 

der  Dichter  nicht  so  streng  an  das  Gegebene  gebunden,  dafs  ihm 
jede  freie  Bewegung  versagt  wäre.  Wenn  man  auch  an  der  Grund- 
lage des  Mythus  meist  nichts  änderte,  so  zeigt  doch  der  Oedipus 
auf  Kolonos,  wie  sich  selbst  aus  dürftigen  Elementen  der  Ueber- 
lieferung  etwas  wesentüch  Neues  und  Selbständiges  bilden  liefs. 

Es  wird  niemals  gehngen,  das  Verhältnifs  eines  Volkes  zu  denoie  sittliche 
höchsten  Dingen  vollständig  zu  ergründen.  Ist  es  schon  schwierig,  yn^'^ja""* 
die  Entwicklung  des  sitthchen  Geistes  bei  einer  Nation ,  die  der  ScWcksai. 
lebendigen  Gegenwart  angehört,  zu  verfolgen,  so  steigern  sich  diese 
Schwierigkeiten,  wenn  ein  Volk  bereits  vom  Schauplatze  abgetreten 
ist  Andere  Völker  haben  den  Kern  ihrer  Glaubens-  und  Sittenlehre 
urkundlich  zusammengefafst ;  den  Hellenen  sind  solche  altehrwürdige 
Denkmäler  unbekannt.  >Vir  sind  lediglich  angewiesen  auf  die  zer- 
streuten Zeugnisse  der  griechischen  Literatur  und  Geschichte.  Aber 
dieses  Material  reicht  nicht  aus,  um  den  Ursprung  der  ethischen 
Gedanken  gleichsam  in  ihrer  Geburtsstätte  zu  belauschen,  den  Fort- 
schritt in  seinem  geschichtlichen  Verlaufe  klar  darzulegen.  Eine 
natürhche  Scheu  hält  manchen  ab,  des  Geistes  tiefstes  Geheimnifs 
in  Worte  zu  fassen,  und  selbst  wo  bestimmte  Aeufserungen  vorhegen, 
darf  man  denselben  nicht  ohne  Weiteres  allgemeine  Gültigkeit  zu- 
sprechen. Der  Unterschied  der  Zeiten,  die  vielfach  abgestuften  Grade 
des  sittlichen  Gefühls  und  der  intellektuellen  Bildung,  der  Wider- 
spruch zwischen  Wissen  und  Handeln  ist  so  grofs,  dafs  jedes  un- 
bedingte Unheil  unzulänglich  erscheint. 

Eben  weil  die  Hellenen  kein  fest  formulirtes,  auf  alter  Ueber- 
lieferung  beruhendes  Sittengesetz  besafsen,  tritt  vor  allem  an  die 
hellenischen  Dichter,  welche  berufen  waren,  Führer  ihres  Volkes  zu 
sein,  die  Forderung  heran,  dem  sitthchen  Geiste,  der  im  Volke  leben- 
dig ist,  Ausdruck  zu  verleihen,  sich  und  anderen  über  die  heihgsten 
Pflichten  und  höchsten  Aufgaben  Rechenschaft  zu  geben.*®)  Auch 
die  griechischen  Tragiker  haben  auf  dem  Grunde,  den  ihre  Vorgänger 
gelegt,  weiter  gebaut,  und  gerade  diese  ernste  Gattung  der  drama- 
tischen Poesie,  welche  uns  mitten  in  die  schwersten  ConÜikte  des 
Lebens  einführt  und  die  vielfach  verschlungenen  Pfade  der  Welt- 
ordnung am  deuthchsten  zur  Erscheinung  bringt,  konnte  ein  Ein- 


28)  Aristophanes  Frösche  1055  macht  diesen  Gesichtspunkt  bei  der  ße- 
urtheilung  des  Euripides  geltend. 


190  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

gehen  auf  ethische  Probleme  am  wenigsten  von  sich  weisen.  Allein 
man  darf  von  diesen  Dichtern  kein  abgeschlossenes  philosophisches 
System,  keine  fest  abgegrenzte  Glaubens-  und  Sittenlehre  verlangen. 
Die  Verschiedenheit  der  mythischen  Ueberlieferung,  welcher  der 
Dichter  folgt,  ebenso  wie  die  Form  der  dramatischen  Poesie  selbst 
gestatten  keine  vollständige  Harmonie  der  Anschauung ;  daher  rührt 
das  Schwanken  der  Ansichten,  je  nachdem  der  Chor  oder  die  han- 
delnden Personen  sich  äufsern.  Bald  lehnt  sich  der  tragische  Dich- 
ter an  den  älteren  Volksglauben  an,  indem  er  die  Idee,  welche  im 
überlieferten  Mythus  hegt,  treuhch  wiedergiebt.  Sehr  häufig  mag 
der  Dichter  auf  poetisch  wirksame  Züge  nicht  verzichten,  auch  wenn 
sie  mit  seinem  geläuterten  sittlichen  Bewufstsein  nicht  durchaus 
übereinstimmen,  während  er  anderwärts  diese  Schranken  durchbricht 
und  seine  eigene  Ueberzeugung  unverhüllt  kund  giebt;  aber  dann 
hält  er  auch  wieder  sein  Ürlheil  zurück,  indem  er  Scheu  trägt,  die 
höchsten  sittlichen  Fragen  zu  berühren. 

So  fehlt  es  nicht  an  zahllosen  Widersprüchen  und  Inconse- 
quenzen.  Eben  daher  finden  die  einen  bei  den  griechischen  Tragi- 
kern einen  trostlosen  Fatalismus,  während  sich  andere  abmühen, 
Charakter  und  Schicksal  der  tragischen  Helden  in  völligen  Einklang 
zu  setzen.  Diese  Theoretiker  der  strengen  Observanz,  die  ausschliefs- 
lich  den  Gedanken  der  persönlichen  Zurechnung  festhalten,  fördern 
weder  das  Verständnifs  der  dramatischen  Werke,  da  sie  unbeküm- 
mert um  die  Worte  und  Intentionen  des  Dichters  ihre  eigenen  Ge- 
danken hineinlegen,  noch  vermögen  sie  das  geheimnifsvolle  Räthsel 
des  Daseins  zu  lösen,  an  dessen  Abgründen  sie  mit  der  Siclierheit 
des  Machtwandlers  einherschreiten.  Denn  wer  will  wagen,  das  un- 
fehlbare Richteramt  zu  üben  oder  in  jedem  einzelnen  Falle  eine 
Berechnung  zwischen  Schuld  und  Leiden,  zwischen  Glück  und  Ver- 
dienst zu  ziehen.  Die  griechischen  Tragiker,  die  sehr  wohl  das 
Unzulängliche  der  menschlichen  Einsicht  erkannten,  halten  sich  be- 
scheiden in  gemessenen  Schranken. 

Es  liegt  in  der  Natur  des  Polytheismus,  dafs  der  Begriff  der 
höheren  Weltordnung  nicht  vollständig  mit  der  Vorstellung  des  höch- 
sten Wesens  zusammenfallt.  Wie  die  Götter  Glück  und  Unglück  ver- 
leihen, so  erscheint  vor  allem  der  Schicksalsschlufs  als  Wille  des 
Zeus;  aber  dann  ist  auch  Zeus  wieder  der  Nolhwendigkeil  unter- 
worfen, an  die  Gesetze  gebunden,  welche  das  Werden,  Bestehen  und 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.     DIE    TRAGÖDIE.     EL\LEITl>G.  191 

Vergehen  der  Dinge  bestimmen.*^)  Ebenso  wenig  vermochte  die 
griechische  Rehgion  den  ßegrilT  der  Vorherbestimmung  mit  der  Wil- 
lensfreiheit des  Menschen,  das  götthche  Strafgericht  und  die  mensch- 
hche  Verschuldung  völlig  in  Einklang  zu  setzen ;  es  bleibt  ein  Zwie- 
spalt, den  auch  die  Tragiker  nicht  recht  überwunden  haben. 

Aeschylus  und  Sophokles  stehen  im  Wesentlichen  auch  hier  auf 
dem  Boden  des  Volksglaubens;  nur  tritt  bei  jenem  mehr  das  Herbe 
der  alterthümhchen  Anschauungsweise  hervor,  während  Sophokles 
seinem  Charakter  gemäfs  dieses  strenge  Wesen  zu  mildern  bemüht 
ist.  Die  Vorstellung  eines  dunkeln,  alle  Verhältnisse  beherrschenden 
Schicksals  bildet  den  Hintergrund.  In  den  alten  Ueberiieferungen, 
denen  die  Dichter  folgen,  ist  diese  Anschauung  gegeben,  und  gerade 
für  die  tragische  Poesie  war  sie  besonders  wirksam.  Aber  dieses 
Verhängnifs  ist  keine  bhnde  Gewalt,  welche  mit  gleich  schonungs- 
loser Willkür  den  Schuldigen  wie  den  unschuldigen  heimsucht.  Wenn 
die  Tragiker  selbst  zuweilen  in  anderem  Sinne  sich  aussprechen,  so 
geschieht  dies  entweder,  um  den  Eindruck  des  Dämonischen,  Ueber- 
natürlichen  zu  steigern,  oder  sie  leihen  mit  Vorbedacht  den  drama- 
tischen Figuren  die  gewöhnhche  Volksmeinung.  Der  Untergang  des 
tragischen  Helden,  die  Leiden,  welche  den  Menschen  treffen,  ent- 
springen in  der  Regel  aus  eigener  Schuld,  wenn  man  auch  zuge- 
stehen mufs,  dafs  diese  Anschauung  nicht  immer  zu  voller  Klarheit 
ausgebildet  ist.  Der  Mensch  überhebt  sich,  empört  sich  gegen  die 
Gesetze  der  sittlichen  Weltordnung  und  geht  daran  zu  Grunde.  Selbst 
wo  die  Motive  des  Handelns  berechtigt  sind  und  so  die  Schuld  im 
milderen  Lichte  erscheint,  ist  doch  der  Eigenwille,  die  Selbstgerech- 
tigkeit, die  mafslose  Leidenschaft  strafbar.  Wie  schon  der  tiefsin- 
nige Heraklit  erkannt  hatte,  bereitet  sich  der  Mensch  selbst  sein 
Schicksal.*)  Das  Leiden,  was  den  Einzelnen  trifft,  ist  die  nothwen- 
dige  Folge  seiner  Verschuldung ;  so  erscheint  das  unheilvolle  Geschick 
als  gerechte  Vergeltung,  die  sittliche  Idee  der  Nemesis,  welche  kein 


29)  Aeschylus  hat  im  Prometheus  dieses  Problem  berührt. 

30)  Des  Menschen  Gemüth  ist  sein  Geschick  {^^os  av&gcoTiM  Saifiojv), 
lehrte  Heraklit  (fr.  57  Schi.  92  Schust.).  Damit  ist  ausgesprochen,  dafs  der  Mensch 
sich  in  die  bestehende  "Weltordnung,  die  so,  wie  sie  sein  soll,  eingerichtet  ist, 
fügen  mufs,  wenn  er  glücklich  werden  will ;  daher  erklärt  auch  Heraklit  es  für 
kein  Glück,  wenn  alle  Wünsche  des  Menschen  in  Erfüllung  gehen  würden  {av- 
&^(L>7toiat  yivta&ai  öxoaa  d-tiovfft,  ovx  afitivov  fr.  39  Schi.  S4  SchusL). 


192  DRITTE    PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Unrecht,  keine  Ueberhebung  duldet,  sondern  früher  oder  später  den 
Schuldigen  ereilt,  offenbart  sich  in  diesen  Fügungen.  So  wird  das 
Gemüth  nicht  zur  Verzweiflung  oder  trostlosen  Resignation  getrieben, 
sondern  fühlt  sich  ergriffen,  gehoben,  geläutert. 

Wenn  diese  höhere  Weltordnung,  die  zur  Erhaltung  des  Ganzen 
das  Gleichgewicht  der  Kräfte  gewissenhaft  wahrt  und  daher  auch 
darüber  wacht,  dafs  der  Mensch  in  den  ihm  angewiesenen  Schran- 
ken bleibt,  als  Mifsgunst  oder  Neid  des  götlhchen  Wesens  bezeich- 
net wird,  so  ist  dies  nur  eine  alte  volksmäfsige  Ausdrucksweise. 
Gerade  das  höhere  Alterthum  ist  von  der  Hinfälligkeit  alles  Irdischen 
durchdrungen ;  man  hat  zur  Genüge  erfahren,  wie  gerade  die  Fülle 
der  Wohlfahrt  den  Keim  des  Unterganges  in  sich  schhefst.  Den 
Menschen  ist  kein  dauerndes  Glück  beschieden,  und  die  Warnung, 
den  Zorn  oder  Neid  der  Götter  nicht  zu  reizen,  ist  eben  nichts 
Anderes  als  eine  Mahnung,  sein  Glück  bescheiden  und  ohne  Ueber- 
hebung zu  geniefsen,  des  plötzhchen  Schicksalswechsels  stets  ein- 
gedenk zu  sein.  Der  alterthümliche  Sinn  des  Aeschylus  hält  diese 
Anschauung  besonders  fest;  aber  gerade  bei  ihm  tritt  uns  die  ge- 
läuterte Vorstellung,  die  alles  Unwürdige  fern  hält,  klar  entgegen. 
Nicht  das  Glück  des  Schuldlosen^'),  sondern  der  Uebermuth  der 
Menschen  fordert  die  strafende  Nemesis  heraus*');  Entsagung  und 
Demuth  allein  vermag  der  Gunst  der  flüchtigen  Stunde  Dauer  zu 
verleihen. 

Diese  alterthümhche  Anschauung  nimmt  man  auch  da  wahr, 
wo  die  Gottheit  den  Menschen  bethört  und  ins  Unglück  stürzt.  Denn 
auch  hier  ist  das  Unglück  nichts  Anderes  als  die  Strafe  einer  Ver- 
schuldung; die  Gottheit  übt  das  ihr  zustehende  Rächeramt  aus.  Wenn 
bei  Aeschylus  der  Chor  der  Perser  sagt,  so  wie  ein  Gott  den  Men- 
schen mit  trügerischen  Hoffnungen  berücke,  vermöge  er  nicht  mehr 
dem  Netze  des  Unheils  zu  entrinnen,  so  ist  damit  recht  eigentlich 
der  Grundgedanke  dieser  Tragödie  ausgesprochen ,  dafs  frevelhafter 
Uebermuth  den  Menschen  ins  Verderben  stürzt,  indem  er,  in  thö- 
richtem  Wahne  befangen,   selbst  an   seinem  Untergange  arbeitel.") 

31)  Aeschylus  Perser  772 :  d'toe  ya^  o\>x  VX^Q'V'  ««'S  evtp^mv  ftpv. 

32)  Es  genügt  auf  das  Chorlied  im  Agamemnon  V.  757  ff.  zu  verweisen. 
3?)  Aeschylus  Perser  04  ff.    Wenn  derselbe  Dichter  in  der  Niobe  (fr.  151 

[160  Di.])  sagt,  9B0i  ftiv  aixiav  tpvBi  ßqoxoii,  oiav  xatcäiaat  Söifta  naftntjStjy 
&dXT] ,  so  konnte  zwar  Plato  Rep.  II  380  A,  der  die  Poesie  nicht  unbefangen  be- 


i 


DIE   DRAMATISCHE    POESIE.     DIE    TRAGÖDIE.     EEVLEITDNG.  193 

Wohl  ist  dem  Chor  in  diesem  Augenblicke  noch  nicht  das  volle 
Bewufstsein  der  Lage  aufgegangen,  aber  der  Dichter  bereitet  schon 
hier  den  Ausgang  vor,  erinnert  an  die  Lehre,  welche  der  weitere 
Verlauf  des  Dramas  eindringlich  ans  Herz  legt.  Wenn  Kreon  in  der 
Antigone  des  Sophokles  die  Gottheit  anklagt,  die  ihn  zu  seiner  Hand- 
lungsweise getrieben^*),  so  gesteht  er  damit  nur  seine  eigene  Schuld 
ein.  Anderwärts  wirkt  die  Sünde  der  Väter  nach,  die  sich  an  dem 
späteren  Geschlecht  rächt");  die  Erinnerung  an  das  Unheil,  welches 
drohend  über  dem  Haupte  der  Söhne  oder  Enkel  schwebt,  macht 
das  klare  Denken,  das  besonnene  Handeln  unraöghch,  lähmt  die 
Energie  oder  treibt  zu  neuer  Frevelthat  und  beschleunigt  so  die 
Katastrophe. 

Denn  nicht  immer  liegt  eigene  Verschuldung  vor.  Häufig  er- 
scheint das  Unheil  als  Erbtheil  der  Vergangenheit,  eine  Missethat, 
ein  Fluch  haftet  an  der  Geschichte  der  Familie,  ein  finsterer  Geist 
geht  durch  das  Haus  und  verstrickt  die  GHeder  in  seine  verderb- 
lichen Netze;  denn  jede  Schuld  rächt  sich,  jede  Uebertretung  der 
sittlichen  Ordnung  mufs  gesühnt  werden.  Bis  auf  Kinder  und  Kindes- 
kinder erstreckt  sich  auch  nach  dem  griechischen  Volksglauben  das 
Gesetz  der  Vergeltung.^)  Aeschylus,  dessen  ernster  Gesinnung  die 
alterthümliche  Weltanschauung  vorzugsweise  zusagte,  hat  besonders 
jenen  Glaubenssatz  festgehalten,  und  die  trilogische  Form  war  ganz 
geeignet,  die  Wahrheit  dieser  Erfahrung  in  das  hellste  Licht  zu  setzen. 
Allein  auch  dem  Sophokles  sind  solche  Gedanken  nicht  fremd,  ob- 
wohl bei  diesem  Dichter,  da  er  vorzugsweise  auf  psychologische  Cha- 


urtheilt  und  zu  sehr  am  Einzelnen  haftet,  fürchten,  dies  Wort  könne  auf  die 
Jugend  einen  nachtheiligen  Einflufs  ausüben,  aber  wir  dürfen  dem  grofsen  Dich- 
ter vertrauen,  der  auch  hier  für  das  richtige  Verständnifs  Sorge  getragen  haben 
•wird;  man  vergleiche  in  derselben  Tragödie  fr.  154  [155  Di.]:  ovfws  Se  norfws 
ovQÜvtp  xv^äv  avoo  ioa^e  ninrsi  x«t'  /us  TXQoatpcJvei  räSe'  yiyvioaxe  rav&Qia- 
nsia  fiT]  aeßeiv  ayav. 

34)  Sophokles  Ant.  1273  ff. 

35)  Sophokles  Ant.  594  ff. 

36)  Drei  Generationen  bilden  die  natürliche  Einheit  der  Familie;  über  das 
dritte  Geschlecht  reicht  gewöhnlich  die  Erinnerung  des  Einzelnen  nicht  hin- 
aus. Auch  im  bürgerlichen  Erbrecht  macht  sich  diese  Anschauung  geltend, 
namentlich  insofern,  als  entferntere  Seitenverwandte,  die  in  Ermangelung  der 
Nächstberechtigten  zur  Erbschaft  berufen  werden,  die  Erbfähigkeit  nur  bis  ins 
dritte  Glied  besitzen. 

BerKk.  Griecb.  Literaturgeicbichte  III.  13 


194  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

rakleristik  hinarbeitet,  die  Schicksalsmotive  überhaupt  nicht  in  dem 
Mal'se  vorwalten,  wie  bei  Aeschylus. 

Der  Gedanke,  dafs  jedes  Leid,  was  den  Menschen  trifft,  ohne 
Ausnahme  die  Folge  einer  Schuld  sei,  oder  dafs  das  Mafs  des  Un- 
glücks genau  dem  Grade  der  Verschuldung  entspreche,  lag  redlichen 
Gemüthern,  die  unbeirrt  durch  abstrakte  Formeln  voll  gläubigen 
Vertrauens  den  Weltlauf  beobachteten,  fern;  denn  dann  hätte  man 
auch  jedes  Glück  als  verdienten  Lohn  der  Tugend  ansehen  müssen, 
und  da  die  täghche  Erfahrung  lehrt,  dafs  oft  Unwürdige  sich  eines 
scheinbar  ungetrübten  Glückes  erfreuen,  so  hätte  man  nothwendig 
an  der  sittlichen  Weltordnung  irre  werden  müssen.  Es  giebt  auch 
Leiden,  die  das  Mafs  der  Schuld  übersteigen,  wie  bei  Oedipus,  oder 
einen  Schuldlosen  treffen,  wie  den  Philoktet.  Die  Schule  der  Lei- 
den ist  der  Prüfstein  des  sitthchen  Werthes  oder  Unwerthcs.  Die 
Gottheit,  indem  sie  Unglück  sendet,  führt  dadurch  den  Menschen 
auf  den  Weg  der  Tugend  und  des  rechten  Mafses.  Namenlhch 
Aeschylus  erhebt  sich  zu  dieser  Höhe  silthcher  Weltanschauung 
und  weist  mit  klaren  Worten  auf  die  läuternde  Wirkung  des  Un- 
glücks hin.^^)  Um  den  höheren  Rathschluss  zu  verstehen  und  eine 
befriedigende  Lösung  des  Zweifels  zu  finden,  darf  man  nicht  am 
einzelnen  Falle  haften,  sondern  muss  den  Zusammenhang  der  Welt- 
ordnung ins  Auge  fassen.  Sophokles  hat  dies  gefühlt,  wenn  er  im 
Philoktet  die  schwere  Prüfung  des  Helden  zu  motiviren  suchl^), 
wenn  uns  auch  diese  Rechtfertigung  der  göttlichen  Weltregierung 
zu  äusserlich  und  unbefriedigend  erscheinen  wird. 

Nach  dem  herrschenden  Volksglauben  ist  einem  jeden  sein  Loos 
im  voraus  angeordnet;  allein  diese  Nothwendigkeit  hebt  die  Frei- 
heit des  Handelns  nicht  auf.  Ohne  das  eigene  Mitwirken  würde  der 
Schicksalsspruch  sich  nicht  erfüllen,  und  dies  eben  ist  das  Tragische, 
dafs  der  Mensch,  indem  er  dem  drohenden  Unheil  auszuweichen 
sucht,  sich  immer  unauflöslicher  in  die  Fesseln  verstrickt.  Diese 
Vorstellung  tritt  daher  in  den  alten  Sagen  überall  hervor,  und  weil 


37)  Aeschylus  Ag.  t76:  JZ^vn  ...  rov  tpQOvelv  ßQorovS  oStoaavxa,  ror 
Ttä&ti  fiu&oe  &£'vra  xvQiovs  i'x^tv,  und  nachher  V.  250:  Jixa  Si  rote  uiv 
na&ovaiv  fin&eZv  ini^^snu.  Der  Redliche,  der  sich  fern  von  Frevel  iiält, 
wird  sich  auch  im  Unglück  niemals  ganz  elend  und  verlassen  fohlen,  Eume- 
niden  550. 

38)  Sophokles  Philokt.  196  8*. 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.     DIE    TRAGÖDIE.     EINLEITUNG.  195 

die  Schicksalsspriiche  meist  dunkel  und  vieldeutig  sind,  das  Geheim- 
nifsvoUe  über  des  Menschen  Geniüth  einen  besonderen  Reiz  ausübt, 
haben  die  Tragiker  mit  Vorliebe  diese  Motive  benutzt.  \yährend 
aber  Aeschylus  mit  weiser  Mäfsigung  verfahrt,  gefällt  sich  Sophokles 
darin,  bei  jeder  Gelegenheit  Orakel,  Sehersprüche  oder  Traunigesichte 
anzubringen;  indem  so  das  Geschick  des  Menschen  bis  ins  Einzelne 
als  vorherbestimmt  erscheint,  wird  die  Freiheit  des  Wollens  und 
Handelns  eigentlich  aufgehoben  und  die  Zurechnung  der  Schuld  in 
Frage  gestellt. 

Auch  Euripides  bringt  wohl  das  Unglück  des  Einzelnen  mit 
dem  Schicksalsschlusse  oder  mit  der  Schuld  der  Familie  in  Verbin- 
dung, aber  es  sind  dies  eben  nur  Reminiscenzen  an  die  alte  Ueber- 
lieferung.  Bei  Euripides  herrscht  nicht  sowohl  innere  Nothwendig- 
keit,  sondern  das  Spiel  des  Zufalls;  der  Begriff  der  sittlichen  Ver- 
antwortlichkeit des  Einzelnen  fehlt  eigentlich  ganz. 

Die  Tragödie   entnahm   zunächst  ihre  Stoffe  dem   Sagenkreise  Die  Pcrso- 
des  Dionysus,   aus  dessen  Cultus  sie  hervorgegangen  ist;  der  Gott  xTagö^dic 
selbst  und  die  dämonischen  Gestalten   seines  Gefolges  wurden  auf 
die  Bühne  gebracht.     Bald  aber  trat  man  aus  diesem  beschränkten 
Kreise  heraus  und  begann  die  Heldensage  dramatisch  zu  bearbeiten. 

Eine  gewisse  natürliche  Scheu  hielt  die  Dichter  zurück,  sich  an  Götter, 
der  Göttersage  zu  versuchen.  Der  kühne  Geist  des  Aeschylus  hat  dies 
wiederholt  gewagt;  nur  ein  Dichter  von  so  tief  religiösem  Sinne 
vermochte  diese  schwierige  Aufgabe  befriedigend  zu  lösen.  Im  ge- 
fesselten wie  im  befreiten  Prometheus  ist  die  Handlung  ganz  in  das 
Reich  der  Götter  verlegt.  In  den  Eumeniden  ist  das  Interesse  gleich- 
mäfsig  zwischen  der  Götter-  und  Heroenwelt  vertheilt,  aber  auch  in 
den  verlorenen  Dramen  dieses  Dichters  nahmen  die  Götter  nicht  sel- 
ten eine  hervorragende  Stelle  ein.^®)  Sophokles  ist  wohl  nur  in  seinen 
ältesten  Stücken,  wie  im  Triptolemus^**),  dem  Beispiele  des  Aeschy- 
lus gefolgt.  Später  erneuert  Euripides  diesen  Versuch  im  Phaethon 
und  in  den  Bacchen ,  wie  überhaupt  in  den  Dramen,  die  dem  Sagen- 


39)  So  in  der  tetralogischen  Composition  der  Lykurgie,  in  den  Heliaden, 
welche  das  Schicksal  des  Phaethon  darstellten,  in  der  Psychostasie,  wo  nach 
dem  Vorgange  der  Homerischen  liias  Zeus,  umgeben  von  den  anderen  Göttern, 
auf  dem  6eo).oy£Xov  erschien  und  die  Todesloose  des  Memncn  und  Achilles 
abwog,  wie  auch  Eos  den  todten  Sohn  in  ihren  Armen  tragend  erschien, 

40)  Hier  trat  Demeter  auf. 

13* 


196  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

kreise  des  Dionysus  angehörten,  der  Gott  nicht  leicht  fehlte.  Sonst 
werden  die  Götter  nur  vorübergehend  eingeführt,  indem  sie  nach 
der  Weise  des  Epos  in  die  Handlung  eingreifen,  besonders  in  der 
Einleitung,  noch  häufiger  am  Schlüsse  des  Dramas.  Und  es  ist  be- 
zeichnend, dafs  gerade  Euripides,  der  dem  alterthümlichen  Geist  der 
Sage  am  meisten  entfremdet  ist,  von  diesem  Mittel  vorzugsweise  Ge- 
brauch macht. 

Heroen.  Die  Gestalten  der  Heroensage  sind  die  eigentlichen  Träger  der 

Handlung  und  zwar  ist  bemerkenswerth,  dafs,  nachdem  Phrynichus 
zuerst  sich  an  der  Darstellung  von  Frauencharakteren  versucht  hatte"), 

Frauen,  die  Frauen  ein  sehr  wesenthches  Element  der  griechischen  Tra- 
gödie bilden.  Von  den  sieben  Stücken  des  Sophokles  macht  nur 
der  Philoktet  eine  Ausnahme.  Aeschylus  schlofs  sich  sofort  dem 
Vorgange  des  Phrjnichus  an.  Nicht  selten  mufs  er  die  Hauptrolle 
Frauen  überwiesen  haben  ^^),  wenn  schon  unter  den  erhaltenen 
Stücken  nur  die  Schutzflehenden  hierher  gehören,  wo  der  Schwer- 
punkt in  dem  Chore  der  Danaiden  liegt.  Im  Agamemnon  zieht  zwar 
der  König  vorzugsweise  die  Theilnahme  auf  sich,  allein  die  bedeu- 
tendste Rolle  ist  unbestritten  der  Klytämnestra  zugetheilt;  ihr  gegen- 
über steht  die  Seherin  Kassandra.  In  den  Persern  ist  der  Antheil 
der  handelnden  Personen  ziemlich  gleichmäfsig  abgewogen,  aber  die 
Königin  Atossa  nimmt  nicht  die  letzte  Stelle  ein.  Im  Prometheus 
wird  die  Episode  von  der  lo  eingeflochten ;  auch  in  den  Choephoren 
und  Eumeniden  fehlen  Frauen  nicht;  nur  in  dem  Kriegsdrama  der 
Sieben  vor  Theben  ist  dieses  Element  lediglich  durch  den  Chor  ver- 
treten; denn  Antigone  und  Ismene  sind  als  spätere  Zulhat  auszu- 
scheiden. Auch  bei  Sophokles  ist  den  Frauen  die  Hauptrolle  nicht 
selten  zugetheilt,  wie  in  der  Elektra  und  Antigone  und  in  manchen 
anderen  der  verlorenen  Stücke;  auch  in  den  Trachinierinnen  con- 
centrirt  sich  das  Interesse  überwiegend  in  dem  Schicksale  der  Deia- 
neira.  Bei  Euripides  nimmt  die  Darstellung  weiblicher  Charaktere 
noch  einen  viel  breiteren  Haum  ein. 

Hinsichtlich  der  Zusammensetzung  des  Chores  ergiebt  sich  das 
beachtenswerlhe  Resultat,  dafs  Aeschylus  mit  sichtlicher  Vorliebe  den 

41)  Suidas  II  2,  1555:  n^cÜTOS  6  (Pfvytxoe  yvpatxelop  jt^oatonov  »tat';ya- 
ytv  iv  "-^  axTjv^. 

42)  So  in  der  Ipliigeneia,  Niobe,  Peneiope,  Semele,  Europe,  Hypsipyle, 
Oreilhyia. 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.     DIE    TRAGÖDIE.     EI>LEITÜ>G.  197 

Chor  aus  Frauen  bildet;  nur  in  den  Persern  und  im  Agamemnon 
ist  der  Chor  aus  Greisen  zusammengesetzt.  In  den  verlorenen 
Stücken,  soweit  sie  nach  dem  Chore  benannt  sind,  waren  beide 
Geschlechter  fast  gleichmäfsig  vertreten.  Dagegen  hat  Sophokles 
nur  in  der  Elektra  und  in  den  Trachinierinnen  von  Frauenchören 
Gebrauch  gemacht,  während  sich  bei  Euripides  wieder  eine  ent- 
schiedene Bevorzugung  der  Frauen  zeigt.  Selbst  in  der  Iphigeneia 
zu  Aulis  treten  mitten  im  Lager  einheimische  Jungfrauen  auf;  nur 
in  dem  ältesten  Drama,  der  Alkestis,  dann  im  rasenden  Herakles  und 
den  Herakliden  wh-d  diese  Stelle  Greisen  überwiesen.^) 

Kinder  werden  wohl  bei  Euripides  nicht  zuerst  auf  die  Bühne  Kinder, 
gebracht"),  aber  kein  anderer  Tragiker  dürfte  von  diesem  Slittel, 
die  Zuschauer  zu  rühren,  so  ausgedehnten  Gebrauch  gemacht  haben. 
•Wie  es  in  Athen  bei  Gerichtsverhandlungen  üblich  war,  die  kleinen 
Kinder  des  Angeklagten  vorzuführen,  um  Mitleid  zu  erwecken  und 
die  Geschworenen  günstig  zu  stimmen,  gerade  so  verwendet  Euri- 
pides dieses  Motiv.  So  erscheint  in  den  SchutzQehenden  die  Mut- 
ter mit  ihren  unmündigen  Söhnen  auf  der  Bühne;  in  der  auhschen 
Iphigeneia  wird  Orestes  als  Kind  vorgeführt;  in  der  Alkestis  stimmt 
Eumelus  die  Todtenklage  um  die  Mutter  an;  in  der  Andromache 
ergreift  Menelaus  ihr  Kind  und  zückt  das  Schwert,  um  es  zu  tödten. 
Andere  Belege  boten  die  verlorenen  Tragödien  dar.  Hypsipyle  er- 
scheint mit  ihrem  Pflegekinde  Opheltes;  Telepbus  reifst  das  Kind 
Orestes  aus  der  Wiege  und  flüchtet  sich  mit  ihm  auf  den  Altar,  ein 
Zug,  der,  wie  es  scheint,  schon  in  der  gleichnamigen  Tragödie  des 
Aeschylus  vorkam ;  im  Erechtheus  richtet  der  sterbende  König  weise 
Lehren  an  den  jungen  Kekrops.  Im  Theseus  bestand  der  Chor  aus 
den  Kindern,  welche  Athen  als  blutiges  Opfer  dem  Minotaurus 
sandte.") 

Neben  den  Heroen  treten  auch  Menschen  gewöhnlichen  Schlages  Nebenfigu- 
ren gewöbn- 
liehe  Men- 

43)  Im  Rhesus,  der  von  einem  Nachfolger  des  Aeschylus  verfafst  ist,  wird 
der  Chor  sehr  passend  durch  die  Nachtwache  des  Lagers  gebildet. 

44)  Bei  Aeschylus  wird  in  den  Jiovvaov  roofoi  der  junge  Dionysus  nicht 
gefehlt  haben.  Sophokles  führt  im  Ajas  den  Knaben  Eurysakes  ein;  in  der 
Tyro  mögen  die  ausgesetzten  Zwillinge,  im  rasenden  Odysseus  das  Kind  Tele- 
machus  vorgekommen  sein.  Auf  Sophokles  konnte  freilich  zum  Theil  schon 
der  Vorgang  des  Euripides  Einflufs  ausüben. 

45)  Doch  war  dies  vielleicht  nur  ein  Nebenchor. 


198  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

auf:  Herolde  und  Boten,  Diener  und  Dienerinnen.  Schon  die  alte 
Tragödie  konnte  solche  Figuren  nicht  entbehren^®),  aber  bei  den 
jüngeren  Dichtern,  welche  die  Darstellung  der  Heroenwelt  dem  Leben 
der  Gegenwart  immer  näher  rücken,  gewinnen  sie  erhöhte  Bedeu- 
tung. Den  Pädagogen  hat  zuerst  Neophron  in  die  Tragödie  ein- 
geführt"), Euripides  weist  im  Hippolyt  die  Rolle  der  Vertrauten  der 
Amme  der  Phädra  zu. 
Zusammen-  Die  fortschreitende  Entwicklung  der  dramatischen  Kunst  hat 
"chores.^^^i'ch  die  Zusammensetzung  des  Chores  wesentlich  verändert.  Der 
Chor  der  Aeschyleischen  Tragödie  zeichnet  sich  durch  reiche  Man- 
nigfaltigkeit aus.  In  den  Eumeniden  treten  die  Rachegöttinnen  selbst 
auf,  im  gefesselten  Prometheus  die  Okeaniden ,  in  der  Fortsetzung 
die  befreiten  Titanen,  in  den  Schutzflehenden  die  Töchter  des  Da- 
naus, in  den  Persern  die  Grofswürdenträger  des  Reiches,  im  Aga- 
memnon die  argivischen  Greise,  in  den  Choephoren  und  in  den 
Sieben  ein  Jungfrauenchor.  Ganz  anders  bei  den  folgenden  Dich- 
tern. Indem  der  Chor  von  jedem  selbständigen  Antheil  an  der  Hand- 
lung ausgeschlossen  wird,  büfst  er  alles  inviduelle  Leben  ein ;  scharf 
und  bestimmt  sondert  sich  der  Chor  von  den  Hauptpersonen  der 
Bühne  ab.  Im  Gegensatz  zu  den  Heroen,  welche  hoch  über  ihre 
Umgebung  hervorragen,  stellt  er  gewöhnliche  Menschen  dar*')  und 
wird  daher  entweder  durch  das  Gefolge  einer  der  handelnden  Per- 
sonen gebildet  oder  besteht  aus  den  Bewohnern  des  Ortes,  wo  die 


46)  Aescliylus  gebraucht  den  Herold  in  den  Schutzflehenden,  den  Boten 
in  den  Persern  und  den  Sieben,  einen  Wächter  im  Agamemnon,  die  Amme  und 
einen  Diener  in  den  Choephoren,  die  delphische  Prieslerin  in  den  Eumeniden. 
Der  Herold  Talthybius  im  Agamemnon  gehört  der  alten  Sage  an  (wie  bei  So- 
phokles in  den  NinxQa  die  Euryklea);  K^nxos  und  Bia  im  Prometheus  sind 
mythische  Gestalten. 

47)  Suidas  II  1,  itßO:  NeocpQcov  .  .  .  TtQÖixoe  etarjyays  naiSayeoyovi  xni 
cixeröjv  ßäaavov.  Dieser  Dichter  wandelt  eben  dieselbe  Bahn  wie  Euripides. 
Der  Pädagog  findet  sich  auch  bei  Sophokles  in  der  Eleklra  und  bei  Euripides 
in  den  Phönissen. 

48)  Aristot.  Probl.  19,  48  p.  922  B  17  hält  eben  den  Standpunkt  der  jün- 
geren Tragödie  fest,  wenn  er  sagt:  ixBivoi  fiev  {ol  ano  axt;fiii)  yaQ  rj^oiwy 
fiifirjrai,  ol  Si  Tjyaftövts  rüv  a.QXf-io**'  ftövot  TjCnv  tj^cjss,  oi  Si  laoi  äv&QOJjroi, 
av  iartv  '  xoQÖs.  Erst  seit  den  Neuerungen  des  Sophokles  gilt  dieser  Grund- 
gatz,  daher  auch  Euripides  im  Phaelhon  den  Chor  aus  Dienerinnen  des  äthio- 
pischen Königshauses  bildet. 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.     DIE    TRAGÖDIE.     Ei:>fLEITU>G.  199 

Handlung  vor  sich  geht.")  Indem  der  Chor  nicht  mehr  dramatisch 
thätig  ist,  sondern  nur  die  Empfindungen  und  Betrachtungen,  zu 
denen  der  Verlauf  der  tragischen  Begebenheit  Anlafs  giebt,  ausspricht, 
wird  dieses  Amt  am  hebsten  bejahrten  Männern  oder  Jungfrauen 
zugewiesen;  denn  dem  Greisenaher  ziemt  die  ruhige  contemplative 
HahuDg,  während  das  innerhche  Gefühlsleben  in  jugendUcheu  Frauen- 
gemiithern  am  mächtigsten  ist.  Nur  das  Satyrdrama  bildet,  getreu 
dem  ahen  Herkommen,  fortwährend  seinen  Chor  aus  den  phanta- 
stischen Waldgeistern  des  Volksglaubens. 

Die  tragische  Dichtung  geht  treulich  den  Spuren  der  epischen  JF"?'**''^® 

Ciustr  3  fitere* 

nach  oder  schöpft  doch  aus  denselben  Quellen ;  aber  wie  das  Leben 
des  Volkes  inzwischen  vielgestaltiger  geworden,  so  ist  auch  die  Welt 
der  tragischen  Bühne  reicher.  Die  verschiedenartigsten  Charaktere 
werden  redend  und  handelnd  eingeführt,  und  indem  das  Drama  den 
Schein  des  Lebens  unmittelbar  vor  das  Auge  rückt,  übt  die  Persön- 
keit  in  ihrer  Totalität  die  mächtigste  Wirkung  aus. 

Die  Charaktere  der  griechischen  Heroenwelt  haben  etwas  Ein- 
faches, in  sich  Abgeschlossenes;  daher  führt  auch  die  Tragödie  zu- 
nächst mehr  fertige  Gestalten  vor,  die  in  ihrer  Naturbestimmtheit 
verharren.  Aber  je  mehr  sich  das  dramatische  Leben  regt,  desto 
mehr  gehen  die  Tragiker  darauf  aus,  das  Werden  und  Reifen  der 
Persönlichkeit,  die  Entwicklung  des  Charakters  darzustellen.  In  den 
älteren  Stücken  des  Aeschylus  erinnern  uns  die  handelnden  Per- 
sonen noch  an  das  Geradlinige  des  archaischen  Stils;  einen  ent- 
schiedenen Fortschritt  zu  lebensvoller  Zeichnung  bekunden  die  Ore- 
stie  und  der  Prometheus.  Prometheus  ist  eine  fest  bestimmte  Gestalt, 
welche  keiner  wesentlichen  Veränderung  fähig  erscheint,  aber  meister- 
haft wird  die  allmähliche  Steigerung  des  Pathos  dargestellt  und  so 
die  Katastrophe  herbeigeführt.  Mau  erkennt  hier  deutlich  den  gün- 
stigen Einflufs,  den  das  einträchtige  Zusammenwirken  mit  Sophokles 
auf  den  älteren  Dichter  ausübt.  Denn  Sophokles  ist  Meister  in  der 
psychologischen  Kunst;  seine  Charaktere  sind  concrete  Persönlich- 
keiten und  haben  individuelles  Leben.  Dabei  weifs  Sophokles'  mafs- 
volle  Natur  die  ideale  Würde  der  Kunst  zu  wahren,  während  Euri- 
pides  in  seinem  Streben  nach  Naturwahrheit  die  rechte  Grenzhnie 
nur  zu  oft  überschreitet.    Diese  durchaus  individuahsirten  Gestalten 


49)  Reia  willkürlich  erfanden  ist  der  Chor  der  Phönissen  bei  Euripides. 


200  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300   V.  CHR.  G. 

bilden  in  ihrer  nicht  selten  skizzenhaften  Behandlung  zu  den  Cha- 
rakteren des  Aeschylus,  welche  bei  aller  Sparsamkeit  des  Details 
doch  in  bestimmten  Umrissen  gezeichnet  sind,  den  schärfsten  Gegen- 
satz. Zwischen  der  grofsen,  breiten  Art  des  Aeschylus  und  dem 
Realismus  des  Euripides,  der  manchmal  der  I'orträtähnlichkeit  nahe 
kommt,  hält  Sophokles,  der  das  Individuum  ebenso  in  seiner  Be- 
sonderheit wie  in  seiner  Allgemeinheit  aufzufassen  versteh»,  die 
rechte  Mitte. 

Wenn  Aristoteles^)  verlangt,  der  Tragiker  solle  sittlich  tüchtige 
Persönhchkeiten,  edle  Charaktere  darstellen,  so  kann  man  dies  doch 
nur  in  bedingter  Weise  gelten  lassen.  Indem  der  tragische  Dichter 
den  Kampf  und  Widerstreit  der  Interessen  vorführt,  kann  er  nicht 
umhin,  auch  Gegenbilder  des  Grofsen  und  Edlen  zu  schildern;  aber 
auch  ohne  solche  Rücksicht  werden  die  Schicksale  ruchbarer  Frev- 
ler vielfach  ein  selbständiger  Vorwurf  der  tragischen  Poesie.  Die 
Thaten  des  Atreus,  Thyesles,  Sisyphus  und  anderer  sind  nicht  nur 
durch  Euripides  und  das  jüngere  Geschlecht,  sondern  bereits  durch 
Aeschylus  und  Sophokles  auf  die  Bühne  gebracht  worden.  Insofern 
auch  in  solcher  Verzerrung  des  menschlichen  Geistes  sich  die  Spu- 
ren einer  ursprünglich  grofsartig  angelegten  INatur  offenbaren,  übten 
diese  Stoffe  unwillkürlich  auf  den  Dichter  einen  besonderen  Reiz 
und,  wenn  sie  in  würdiger  Weise  behandelt  wurden,  auf  die  Zu- 
schauer eine  mächtige  Wirkung  aus.  Euripides  geht  weiter.  Er  sucht 
nicht  nur  mit  sichtlicher  Vorliebe  sich  solche  Stoffe  aus,  was  ihm 
schon  Aristophanes  zum  Vorwurf  macht*'),  sondern  er  hat  auch  seine 
Freude  daran,  ohne  Noth  die  heroischen  Charaktere  herabzuwür- 
digen.") Aber  im  Allgemeinen  hat  die  griechische  Tragödie  gemäfs 
ihrer  idealen  Richlung  vorherrschend  sitilich  tüchtige  Charaktere 
dargestellt.  Je  edler  ursprünglich  eine  Persünlichkeit,  desto  mehr 
nimmt  sie  unsere  Theilnahme  in  Anspruch,  desto  tragischer  erscheint 
ihr  Leiden  und  Mifsgeschick. 


50)  Arisiot.  Poof.  c.  15  p.  1454  A  33. 

51)  Aristopl).  Frösche  1011  ff. 

52)  Arisiot.  PocJ.  c.  15  p.  1454  A  28  beruft  sicli  auf  den  .Menelaus  des  Kuri- 
pides:  Saxt  Si  nagaSeiy/m  TtovriQlai  fiBV  i,&ovi  fii]  vmYxalov  olov  6  Mevt- 
).aoi  6  ly  ri^  ^Opiarr],  vgl,  auch  c.  25,  20  p.  MtU  15  21,  und  die  allen  Kritiker 
urlheiiten  ähnlich  über  das  ganze  Drama:  x^i^iaror  rou  jj&eaiv'  nkijv  yu^ 
Ili/.äSm)  närtti  <faxXoi  tiaiv  (v.  i;«j«»);  aliein  Pylades  sieht  mit  den  übrigen 
Charakteren  auf  ganz  gleicher  Linie. 


DIE   DRAMATISCHE    POESIE.     DIE    TRAGÖDIE.     EI>LEITDKG.  201 

Die  ältere  Tragödie  hat  etwas  entschieden  Männliches.  Sie  liebt 
es  daher  besonders,  Charaktere  darzustellen,  welche,  stolz  und  trotzig, 
mit  den  göttlichen  und  menschlichen  Gesetzen  in  Conflikt  gerathen ; 
indem  sie  ihr  Schicksal  selbst  durch  Uebermuth  herausfordern,  gehen 
sie  zu  Grunde,  wenn  sie  nicht  rechtzeitig  vor  der  Macht,  die  sie 
bekämpfen,  sich  beugen  und  das  Sittengesetz  anerkennen.  Dies  ist 
besonders  die  Weise  des  Aeschylus.  Sophokles  zeichnet  mit  Vorhebe 
passive  Helden,  die  eine  Reihe  furchtbarer  Prüfungen  bestehen  und 
durch  Verblendung  sich  ihr  Schicksal  bereiten.  Denn  das  Schicksal 
ist  keine  unbegreifliche  Willkür,  so  dafs  der  Mensch  nur  als  das 
willenlose  Spiel  des  Zufalles  oder  einer  blinden  iNolhwendigkeit  er- 
scheint, sondern  in  der  eignen  Brust  des  Menschen  wohnt  der  Dä- 
mon, seine  Natur  ist  sein  Schicksal. 

Aeschylus  und  Sophokles,  wenn  sie  die  ferne  Heldenzeit  der 
Nation  reproduciren,  entäufsern  sich  nicht  nur  ihrer  Subjectivität, 
sondern  sind  auch  innerhch  jener  Welt  nicht  entfremdet;  sie  wissen 
daher  den  heroischen  Gestalten  eine  Kraft  und  Fülle  inneren  Lebens 
zu  geben,  ohne  dem  Geist  und  Wesen  der  alten  Zeit  untreu  zu 
werden.  Euripides  steht  auf  einem  ganz  anderen  Lebensgrunde. 
In  ihm  ist  der  subjective  Geist  viel  zu  mächtig;  daher  wird  er  der 
idealen  Richtung  mehr  und  mehr  untreu.*^)  Statt  mit  hebevoller 
Hingabe  und  Entsagung  die  überiieferten  Stoffe  zu  behandeln,  statt 
die  Charaktere  der  Heroenwelt  in  dem  grofsen  Stil,  der  hier  einzig 
angemessen  war,  darzustellen,  leiht  er  ihnen  nicht  selten  die  Hal- 
tung und  Farbe  seiner  Zeit,  legt  ihnen  seine  eigenen  Gedanken  und 
Anschauungen  in  den  Mund  und  verfährt  überhaupt  mit  äufsersler 
Willkür.  Schon  Aristoteles  vermifst  in  der  Zeichnung  der  Charak- 
tere bei  Euripides  häufig  die  Angemessenheit  und  rechte  Conse- 
quenz.") 

Die  Einheit  des  Ortes  und  der  Zeit  ergiebt  sich  für  das  grie-  Einheit  des 
chische  Drama  von   selbst.    Die  Einrichtung  der  scenischen  Spiele  ^jer  ze".** 


53)  Sophokles  spricht  dies  in  seiner  Kritik  über  Enripides  offen  ans  bei 
Aristot.  Poet.  c.  25,  6  p.  1460  B  33:  J^OfOxXr;«  iq:r}  avxos  /uiv  oion  Sei  notsTv, 
EiQtniSr^v  Si  oloi  etffiv. 

54)  Aristot.  Poet,  c,  15  p.  1454  A  31.  Nur  ist  das  Beispiel  aus  der  Iphigeneia 
m  Aulis  (tov  oe  or(0(iö).ov  t]  bv  ^IXiSi  'Ifiyivsia'  ovSiv  vag  ä'oncsv  rj  ixe- 
rsiovaa  xp  iaregq)  nicht  gat  gewählt;  denn  gerade  hier  trifft  den  Euripides 
luin  Tadel. 


202  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

führte  mit  Nothwendigkeit  auf  die  Beobachtung  dieser  Gesetze.  In- 
dem der  Chor  beständig  auf  der  Orchestra  verweilt,  war  nicht  nur 
die  Veränderung  des  Ortes  eigentlich  ausgeschlossen,  sondern  auch 
der  Verlauf  der  Handlung,  der  keine  längere  Unterbrechung  gestat- 
tete, auf  das  knappeste  Zeitmafs  beschränkt.  Natürlich  gilt  dies  nur 
von  dem  einzelnen  Drama,  nicht  von  der  tragischen  Tetralogie,  welche 
volle  Freiheit  geniefst.  Die  drei  Tragödien  der  thebanischen  Tri- 
logie  des  Aeschylus  führen  die  Geschichte  des  Königshauses  während 
dreier  Generationen  vor.  Ebenso  sind  die  einzelnen  Dramen  der 
Orestie  durch  einen  längeren  Zwischenraum  getrennt.  Während  Aga- 
memnon im  ersten  Stücke  durch  MOrderhand  fällt,  steht  Orestes  im 
Knabenalter;  im  zweiten  Drama  ist  er  zum  Jüngling  herangereift. 
Zwischen  der  Fesselung  des  Prometheus  im  ersten  Drama  und  seiner 
Befreiung  in  der  zweiten  Tragödie  liegen  nach  der  Darstellung  des 
Dichters  nicht  Jahre,  sondern  Jahrtausende.  Nicht  minder  zulässig 
und  leicht  ausführbar  war  die  Veränderung  des  Ortes.  Im  gefessel- 
ten Prometheus  ist  die  Scene  an  die  ferne  Küste  des  Okeanus  ver- 
legt, in  der  Fortsetzung  an  die  steilen  Felshöhen  des  Kaukasus.  In 
den  beiden  ersten  Dramen  der  Orestie  geht  die  Handlung  zu  My- 
kenä,  in  den  Eumeniden  zu  Delphi  und  Athen  vor  sich. 

Allein  auch  im  einzelnen  Drama  wird  Zeit  und  Ort  zuweilen 
mit  läfslicher  Freiheit  behandelt,  zumal  bei  Aeschylus.  Dieser  Dichter 
steht  eben  der  Weise  der  epischen  Poesie  noch  näher,  und  die  Form 
der  Tetralogie  wirkte  unwillkürlich  auch  auf  die  einzelnen  Theile 
der  Composition  ein.  In  den  Eumeniden  ist  anfangs  der  Apollo- 
tempel zu  Delphi  Schauplatz  der  Handlung,  dann  die  Akropolis  von 
Athen  ^*),  und  zwischen  diesen  beiden  Theilen  der  dramatischen 
Handlung  wird  zugleich  der  Verlauf  eines  längeren  Zeitraumes  vor- 
ausgesetzt. Auch  im  Ajas  des  Sophokles  findet  Scenenwechsel  statt. 
Solcher  Ortswechsel  war  nur  ausführbar,  indem  der  Chor  sich  zeit- 
weilig entfernte. 

55)  Irrig  nimmt  man  einen  dreimaligen  Wechsel  der  Scene  ati.  indem 
man  die  Gericlilsverhandlimg  auf  den  Areopag  verlegt.  Aber  diese  findet  nach 
der  Intention  des  Dichters  ebenfalls  auf  der  Akropolis  statt,  und  Aeschylus 
deutet  nur  an,  dafs  für  die  Folgezeit  der  Areopag  zur  iMalstätte  bestimmt  sei. 
Man  mufs  V.  689  schreiben:  näyov  S'  a&Qtlxe  (statt  äQewf)  rövS'  l4/ua- 
^oviov  HS^av  aHTjväs  &\  ot'  t]k&ov  St}aiaiS  xarr  qi&övoy  atQaTijXnrovaai 
xni  Tiöhv  veifTixoXiv  t^J'  (d.  i.  die  Akropolis,  statt  xtivS*)  v\f^invf/ov  avxa- 
nvpyaxrav  tot«  xtA. 


DIE   DRAMATISCHE   POESIE.      DIE    TRAGÖDIE,     ELNLEITUNG.  203 

Weit  weniger  pflegt  sich  die  alte  Komödie  an  diese  Schranken 
zu  binden.  Phantastisch,  wie  sie  war,  traut  sie  auch  den  Zuschauern 
die  Fähigkeit  zu,  sich  in  ganz  andere  örtliche  Verhältnisse  zu  ver- 
setzen, über  einen  kürzeren  oder  längeren  Zeitraum,  als  wäre  er  nicht 
vorhanden,  hinwegzuspringen.  Im  Frieden  des  Aristophanes  spielt 
die  Handlung  abwechselnd  im  Himmel  und  auf  der  Erde.  In  den 
Acharnern  verknüpft  der  Dichter  mit  genialer  Willkür  gesonderte 
Zeitmomeute.  Dagegen  die  mittlere  und  ebenso  die  neuere  Komödie, 
obwohl  sie  durch  den  Wegfall  des  Chores  vollkommen  freie  Bewegung 
gewonnen  halte,  scheint  doch  von  dem  Wechsel  der  Zeit  und  des 
Ortes  nach  dem  Vorgange  der  Tragödie  nur  sehr  mäfsigen  Gebrauch 
gemacht  zu  haben.^) 

Es  ist  entschieden  irrig,  wenn  man  behauptet,  nur  auf  einer 
mifsverstandeuen  Aeufserung  des  Aristoteles  habe  man  die  Lehre 
von  der  Einheit  der  Zeit  aufgebaut,  die  dem  Philosophen  völlig  un- 
bekannt sei.*')    Freilich  ist  die  Ansicht  des  Aristoteles  uns  nicht  in 


56)  Bei  Terenz  im  Heautontimorumenos  wird  es  Nacht  (II  3,  7)  und  wieder 
Tag  (1111,1). 

57)  Aristot.  Poet.  c.  5  p.  1449  B  12  ff.  handelt  von  dem  verschiedenen  Um- 
fange des  Epos  und  der  Tragödie;  daher  ist  auf  den  ersten  Anblick  eine  nähere 
Bestimmung  über  die  Zeitdauer  der  Handlung  in  der  Tragödie  befremdend.  Man 
hat  daher  diese  Stelle  auf  das  Zeitmafs,  welches  die  Aufführung  eines  Dramas 
erfordert,  beziehen  wollen.  Da  nun  eine  griechische  Tragödie  nur  wenige  Stun- 
den in  Anspruch  nimmt,  also  das  hier  aufgestellte  Maximum  eines  Tages  {uia 
TtEoioSoi  TjXiov)  m\\.  der  Praxis  nicht  stimmt,  hat  man  behauptet,  iQayc^Sia  be- 
zeichne hier  die  tragische  Tetralogie.  Allein  dies  ist  gegen  den  Sprachgebrauch 
des  Aristoteles.  Noch  weniger  ist  die  weitere  Goncession  ^  uixqov  e^a).iArxsiv 
mit  dieser  Erklärung  vereinbar;  denn  auch  die  längste  Aufführung  konnte  und 
durfte  den  Raum  eines  Tages  nicht  überschreiten.  Noch  weniger  stimmt  die 
weitere  Bemerkung,  die  dann  besagen  würde,  in  den  Anfängen  (wo  man  nur 
Einzelstücke,  nicht  gröfsere  Compositionen  kannte)  dichtete  man  Dramen,  deren 
Vortrag  gerade  so  wie  der  der  epischen  Gedichte  mehrere  Tage  in  Anspruch 
nahm.  Wollte  Aristoteles  die  für  die  Aufführung  erforderliche  Zeit  bestimmen, 
so  mufste  er  sagen  fiiav  rjiUov  ftoloav,  d.  h.  den  vierten  Theil  eines  Tages,  was 
mit  den  realen  Verhältnissen  stimmt;  allein  Aristoteles  lehnt  eine  solche  Be- 
stimmung ausdrücklich  ab  (c.  7,  6  p.  1451  A6;  offenbar  ward  einmal  der  Ver- 
such gemacht,  die  Zeit  nach  der  Wasseruhr  zu  bestimmen).  Es  liegen  uns  hier 
nur  Excerpte  vor.  Die  Hand  des  Epitomators,  der  sehr  flüchtig  arbeitete,  er- 
kennt man  schon  in  der  vorhergehenden  unverständigen  Bemerkung  über  die 
metrische  Form,  ebenso  hier,  wo  Aristoteles  gesagt  haben  wird:  i'ri  Si  t^J 
fiTjyef  7j  fiev  yao  {iv  i).arrov t   firixst   to  reXo?  rri   ftiftr;aecüs  f^sf 


204  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

der  ursprünglichen  Form  überliefert,  aber  auch  so  ist  der  Grund- 
gedanke klar.  Die  Darstellung  eines  Dramas  ist  durch  die  Natur  der 
äufseren  Verhältnisse  auf  ein  geringes  Zeitmafs  beschränkt.  Wollte 
die  Tragödie,  so  wie  das  Epos,  eine  breite  Fülle  von  Ereignissen 
schildern  und  weit  entfernte  Zeiträume  in  diese  engen  Grenzen  zu- 
sammendrängen, dann  würde  die  Wirkung  ebenso  verloren  gehen, 
wie  wenn  man  die  Handlung  des  König  Oedipus  in  der  Darstellung 
bis  zum  Umfange  der  Homerischen  Ilias  ausdehnen  wollte.  Das  ge- 
ringe Zeitmafs,  was  der  Aufführung  einer  Tragödie  vergönnt  ist, 
nöthigt  den  dramatischen  Dichter,  die  Handlung  zu  concentriren. 
Daher  wird  der  Verlauf  der  Ereignisse  womöglich  in  den  Raum 
eines  Tages  zusammengefafst,  während  das  Epos  sich  freier  bewegt 
und  auch  die  ältere  Tragödie  noch  öfter  auf  jene  straffe  Composi- 
tionsweise  verzichtet.  Das  Gesetz  der  Einheit  der  Zeit,  welches 
man  aus  dieser  Stelle  abgeleitet  bat,  war  also  dem  Aristoteles  wohl- 
bekannt. 
Die  Haupt-  Entsprechend  der  Einheit  der  Handlung  verlangt  das  Drama 
person.  gjj^g  Hauptperson,  in  der  alle  Fülle  des  Handelns  oder  Leidens  sich 
concentrirt,  aber  andere  Charaktere  stehen  ihr  gegenüber,  welche 
ihre  Pläne  und  Interessen  bekämpfen  oder  fördern.  Indem  die  grie- 
chische Tragödie  sich  zunächst  mit  einem  Darsteller  begnügte,  trug 
alles  das  Gepräge  höchster  Einfachheit  an  sich.  Bald  kam  zu  der 
Hauptperson  eine  zweite  hinzu,  nun  erst  war  die  Darstellung  einer 
wahren  dramatischen  Handlung  möglich;  man  war  im  Stande,  den 
Kampf  und  Streit  der  Gegensätze  unmittelbar  vor  Augen  zu  bringen. 
Aber  Aeschylus  verzichtet  noch  darauf,  in  den  Sieben  vor  The- 
ben die  feindlichen  Hrüder  einander  gegenüberzustellen;  Polyneikes 
bleibt  im  Hintergrunde,  wirkt  nur  aus  der  Ferne  auf  die  dramatische 
Handlung  ein.  Erst  Euripidos  brachte  in  den  Phönissen  beide  Brüder 
auf  die  Bühne.  Indem  man  den  dritten  Darsteller  hinzunahm,  ge- 
wann man  die  Mittel,  um  auch  noch  andere  Personen  einzuführen, 
denen  ein  gewisser  Thcil  an  der  Handlung  zufällt,  und  so  das  Bild 


8 10  xal)  oTi  fiähaja  TteiQÜiai.  vjto  filav  jieQioSov  ^Xiov  elrai  r;  fiix^ov  ii' 
a).?Mrreiv,  f;  Sc  inoTiotta  aogtaros  T<j5  x9or(i>.  Die  Richtigkeil  der  Ergänzung 
ergiebt  sich  durch  Vergleicliung  mit  c.  2ü,  5  p.  1-162  A  IS.  Aristoteles  gehl  auch 
liier  von  di'r  Heobaclitung  der  Wirklichkeil  aus;  die  griechischen  Tragiker  haben, 
einzelne  Ausnahmen  abgerechnet,' dieses  Gesetz  beobachtel,  die  dramatische 
Handlung  fügt  sich  leicht  in  diesen  Rahmen. 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.     DIE    TRAGÖDIE.     EI^XElTÜ^G.  205 

des  Lebens  zu  vervollständigen.  Sophokles,  wie  er  durch  die  Ein- 
führung des  dritten  Schauspielers  die  Vollendung  der  dramatischen 
Kunst  anhahnt,  pflegt  auch  solche  Nehenpersonen  mit  besonderer 
Liebe  zu  behandeln;  aber  im  Allgemeinen  sind  die  Dichter  hiermit 
dem  Detail  sparsamer,  sie  begnügen  sich  oft  mit  blofsen  Andeu- 
tungen, zeichnen  den  Charakter  nur  in  flüchtigen  Strichen. 

Es  ist  nicht  immer  leicht,  die  Hauptperson  zu  bezeichnen.  Der 
Agamemnon  des  Aeschylus,  wie  er  dem  Stücke  den  Namen  giebt, 
ist  zwar  der  Mittelpunkt  des  tragischen  Interesses,  aber  weit  mehr 
ist  Klytämnestra  in  den  Vordergrund  gerückt.  Die  dämonische  Ge- 
walt des  Weibes,  die  der  Dichter  mit  scharfen  Zügen  zeichnet,  über- 
ragt entschieden  den  passiven  Helden.  Daher  kann  da,  wo  ver- 
schiedene Dichter  ganz  die  gleiche  Aufgabe  bearbeiten  und  die  Hand- 
lung selbst  in  den  wesenthchen  Zügen  unverändert  bleibt,  doch  die 
Stellung  der  Charaktere  eine  verschiedene  sein.  Wenn  Aeschylus  und 
Sophokles  den  Muttermord  des  Orestes  vorführen,  so  liegt  bei  jenem 
der  Hochton  auf  Orestes,  bei  diesem  auf  der  Elektra.  Die  meisten 
Schwierigkeiten  bereitet  Euripides;  seine  Dramen  entbehren  eben 
nicht  selten  der  rechten  Einheit.  Daher  vermag  man  zuweilen  kaum 
festzustellen,  wer  eigentlich  als  Träger  der  Handlung  zu  betrachten 
ist,  wie  z.  B.  in  den  Phönissen. 

Eigenthche  Episoden,  wie  sie  das  Epos  liebt,  hat  die  Tragödie  Episoden. 
nur  selten  eingeflochten,  da  ein  solches  Abweichen  von  der  geraden 
Linie  die  Einheit  der  Anschauung  leicht  stört  und  aufserdem  die 
knapp  zugemessene  Zeit  nichts  üeberschüssiges  duldet.  Eine  solche 
Parekhase  ist  das  Auftreten  der  lo  im  Prometheus  bei  Aeschylus, 
bei  Euripides  in  den  Phönissen  der  Opfertod  des  Menökeus. 

Das  epische  Element,  was  anfangs  im  Drama  fast  unvermittelt  Episches 
neben  dem  lyrischen  auftrat,  hat  auch  später,  nachdem  das  drama-     ^'"®'"- 
tische  bereits  zu  seinem  Rechte  gelangt  war,  sich  alle  Zeit  behauptet 
und  nimmt  in  manchen  Tragödien  einen  breiten  Raum  ein.")    W'as 


5S)  In  den  Auszügen  aus  der  fiovaixr,  larogia  (wohl  des  Dionysius  von 
Halikarnafs)  am  Schlufs  der  Biographie  des  Aeschylus  wird  die  herkömmliche 
Eintheilung  der  Poesie  in  drei  Gattungen,  äTtayyslrixov,  ftifirjnxov  (oder  Soa- 
fiarixäv)  und  uixtÖp  ganz  abstrakt  festgehalten.  Während  das  Homerische  Epos 
dem  fitxröv  zugezählt  wird  mit  Berücksichtigung  des  dramatischen  Elementes, 
wird  die  dramatische  Poesie  als  eine  reine  und  unvermischte  Gattung  bezeich- 
net: avrc  yäg  ivegyel  xai  liyei  afia  t«  ngoaiona  xal  aina  ib  xv^s  i';^f«. 


206  DRITTE    PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

vorher  geschehen  ist,  wird,  soweit  es  zum  Verständnifs  der  Fabe 
nOthig  erscheint,  häufig  auch  das,  was  später  sich  zuträgt  und  auf 
das  Schicksal  der  handelnden  Personen  von  Einflufs  ist,  bald  kürzer, 
bald  ausführlicher  berichtet.  Der  Prometheus  des  Aeschylus,  wo  der 
Held  dem  Chore  gegenüber  darlegt,  was  er  für  die  Menschheit  ge- 
than,  wie  er  sich  dadurch  das  Strafgericht  des  Zeus  zugezogen  habe, 
dann  der  lo  sowohl  ihre  bisherigen  Irrfahrten  schildert,  als  auch 
das  künftige  Geschick  vorher  verkündet,  bietet  für  beides  Belege 
dar.  Der  Prolog,  der  den  Zuschauer  einführen  soll,  ist  die  geeig- 
nete Stelle,  um  auf  Früheres  hinzuweisen,  der  Schlufs  der  Tragüdie, 
um  die  Zukunft  zu  enthüllen.  Hier  treten  gewöhnlich  Götter  oder 
Seher  auf,  vor  deren  geistigen  Augen  das  Werdende  klar  daliegt. 
Aber  auch  in  der  Einleitung  werden  unter  Umständen  Götter  zu 
solchen  Berichten  verwendet'^),  namentlich  bei  Euripides,  der,  ob- 
schon  er  anderwärts  von  dem  Vorwurfe  der  Nachlässigkeit  nicht 
immer  frei  zu  sprechen  ist,  gerade  in  diesen  Dingen  eine  lobens- 
werthe  Gründlichkeit  zeigt. 

Aber  auch  was  während  des  Stückes  sich  ereignet,  wird  häufig 
nur  berichtet,  vollzieht  sich  nicht  unmittelbar  unter  den  Augen  der 
Zuschauer.'")  Schon  Aristoteles,  wenn  er  von  dem  Unterschiede  der 
epischen  und  tragischen  Poesie  handelt,  bemerkt,  dafs  es  unzulässig 
sei,  wenn  ein  dramatischer  Dichter  die  Verfolgung  des  Hektor  durch 
Achilles,  so  wie  sie  die  Homerische  Ilias  schildert,  auf  die  Bühne 
bringen  wolle.")  Hier  ist  die  erzählende  Form  ganz  an  ihrer  Stelle, 
ebenso  wenn  Wunderbares  und  Uebernatürliches  wie  Verwandlungen 
eintraten;  doch  scheinen  die  Dichter  manchmal  dies  Gesetz  über- 
treten zu  haben.")  Kämpfe  und  Gefechte,  sowie  ähnliche  Actionen 
werden  niemals  auf  der  Bühne  dargestellt.  Die  beschränkte  Zahl 
der  Schauspieler,  sowie  die  geringe  Tiefe  der  Bühne  gestattete  solche 


59)  Aristot.  Poet.  c.  15,  7  p.  1454  B  5. 

60)  Manche  Dichter  verfuhren  in  dieser  Bezieliung  lässig,  indem  >io  Vor- 
gänge übergingen,  die  der  Zuschauer  wissen  mufste;  daraus  entsprangen  Un- 
klarheiten oder  Widersprüche.  Karkinus  hatte  diesen  Fehler  nicht  vermieden 
und  zog  sich  dadurch  das  Mifsfallen  des  Publikums  zu,  Aristot.  Poet.  c.  17 
p.  1455  A  26, 

61)  Aristot.  Poet.  c.  24,  8  p.  1460  A  15  und  c.  25,  5  p.  1460  B  26. 

62)  Wenn  Horaz  A.  P.  186  warnt:  ne  ...  avt  in  avem  /loc  ne  vertalur, 
Cadmut  in  anfeuern,  so  hat  er  bestimmte  Beispiele  vor  Augen,  wohl  den  Te- 
reuB  des  Sophokles  (Schol.  Aristoph.  Vög.  100)  und  den  Kadnnus  des  Euripides. 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.     DIE    TRAGÖDIE.     EINLEITUNG.  207 

Scenen  nicht.  Es  wäre  nicht  so  schwierig  gewesen,  dieser  Fesseln 
sich  zu  entledigen,  allein  man  verzichtete  gern  auf  volle  Gegen- 
ständhchkeit;  denn  die  Nachahmung  wird  hier  immer  etwas  Unzu- 
länghches  hehalten.  Das  äufserliche  Schaugepränge  vermag  niemals 
den  Schein  des  wirklichen  Lebens  hervorzurufen ;  nirgends  liegt  die 
Gefahr,  ins  Kleinliche  oder  gar  Lächerliche  zu  verfallen,  so  nahe  als 
hier.  Daher  ist  auch  der  Mord  und  blutige  Gewaltthat  von  der 
Bühne  verbannt"),  nicht  sowohl,  weil  man  solche  Scenen  für  un- 
vereinbar hielt  mit  dem  Maskenspiele,  welches  dem  Dionysus  geweiht 
war,  sondern  weil  man,  von  richtigem  Gefühl  geleitet,  einsah,  dafs 
eine  vollkommene  naturgetreue  Darstellung  sich  nicht  erreichen  üefs, 
und  dafs  gerade  bei  grofser  Virtuosität  des  Schauspielers  eine  solche 
Scene  leicht  einen  ganz  anderen  als  den  beabsichtigten  Eindruck 
macht.*")  Wo  die  erzählende  Form  meist  nicht  anwendbar  war,  half 
man  sich  damit,  dafs  man  durch  mehr  oder  minder  klare  Zeichen, 
durch  Klagelaule,  durch  Bemerkungen  des  Chores  den  Zuschauer 
ahnen  hefs,  was  hinter  der  Bühne  vorging,  und  wirkte  so  mächtiger 
auf  die  Phantasie  und  das  Gemüth  ein,  als  wenn  man  die  Hand- 
lung in  ihrer  Reahtät  darzustellen  versucht  hälte.^^) 


63)  Nur  bei  Sophokles  stürzt  sich  Ajas  vor  den  Augen  der  Zuschauer  in 
sein  Schwert.  Aeschylus  hatte  (in  den  O^f^affai)  den  Selbstmord  des  Helden 
durch  einen  Boten  melden  lassen,  wie  der  Schol.  Soph.  S15  berichtet.  Nur  ist 
seine  Bemerkung,  Sophokles  vtt'  oyjiv  ed'T]x£  ro  S^cousvov,  ixTiXr^^at  ßovlo- 
fievos  nicht  richtig:  über  einen  Selbstmord,  der  in  der  Einsamkeit  verübt  ward, 
konnte  glaubwürdig  nur  ein  heimlicher  Beobachter  berichten.  Dieses  Motiv  wird 
Aeschylus  benutzt  haben;  Sophokles  konnte  es  also  nicht  wiederholen  und 
wich  daher  von  dem  Herkommen  ab,  wie  derselbe  Schol.  vorher  sehr  richtig 
bemerkt :  i'acos  ovv  xaivotoueiv  ßovXöfisvos  yai  fxtj  xaraxo/Mvd'eiv  toIs  itsoov 
xivöe.  Ebenso  erinnert  derselbe  ganz  passend:  ^«tt«  Se  xa  roiavxa  Ttaoa  toTs 
TiaXaiois  anivia,  etcöd'aai  yoQ  T«  nsTiQayfidva  8i'  ayyelatv  anayyiX'keiv. 

64)  Philostratus  ApoUon.  VI  11  legt  dem  Aeschylus  dieses  Verdienst  bei: 
--5  To  vnij  axr^vi^s  ano&vr^axstv  inevÖTjoev,    cos  ftf]   iv   tpave^eo   atfäxroi  (vgl. 

vit.  Soph.  I  9 :  y.ai  a  enl  axrjt^iS  xs  xai  vtvo  axrjvTjS  XQV  Tioaxxstv),  Im 
Uebrigen  vergleiche  man  die  Vorschriften  bei  Horaz  A.  P.  179  ff.,  der  in  diesem 
Gedichte  wesentlich  die  Grundsätze  des  Aristoteles  vertritt  und  in  erwünschter 
Weise  die  Lücken  der  Poetik  des  griechischen  Philosophen  ergänzt. 

65)  So  im  Agamemnon  des  Aeschylus  und  in  der  Elektra  des  Sophokles. 
Zur  Elektra  1404  bemerkt  der  Scholiast  richtig:  vvv  xoiwv  ßomaris  iv  xf, 
ctvaiqiaEi  xrfi  KXtnaifivrjax^as  axovsi  o  ■d'eaxr^  xai  ivaQytaxeQOv  xo  jtoäyfta 
yiyvsxai  fj  8i *  ayyikov  arjuaivöfievov '  xai  xo  ipoqxixiv  xr,i  öxpecos  aTtsoxi,  x6 
8e  ivaQyes  ol8ev  ijaaov  xai  Sul  xffi  ßoijs  ingayftaxsvaaxo.    Vgl.  Schol.  B  Hom. 


208  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Da  dem  griecliisclicn  Tragiker  nur  ein  geringes  Zeitmafs  ge- 
stattet ist,  schreitet  die  Handlung  rasch  vorwärts;  daher  war  es  bei 
der  Fülle  des  Stoffes  unmöglich,  alles  dramatisch  darzustellen.  Hier 
leistet  die  erzählende  Form,  welche  Vorgänge,  die  zur  Fabel  noth- 
wendig  gehören,  in  möglichst  knappen  Umrissen  zu  schildern  ge- 
stattet, die  besten  Dienste,  So  wird  z.  B.  in  der  Antigene  des  So- 
phokles die  Beerdigung  des  Polyneikes  und  das  Ergreifen  der  Anti- 
gone  auf  frischer  That  nur  berichtet.  Dadurch  gewinnt  der  Dichter 
zugleich  ein  Mittel,  um  die  Einheit  der  Zeit  und  des  Ortes  ohne 
sonderliche  Mühe  zu  wahren. 

Meist  werden  Herolde,  Wächter  oder  andere  Diener  zu  solchen 
Mittheilungen  verwendet;  daher  ist  der  Bote  eine  stehende  Figur 
der  griechischen  Tragödie.®®)  Es  kann  aber  auch  eine  der  handeln- 
den Personen  jenes  Amt  übernehmen.  Der  Ton  dieser  Erzählungen 
erinnert  vielfach  an  den  epischen  Stil;  doch  ist  die  Darstellung  ge- 
drängter, es  werden  nur  die  wesentlichen  Punkte  hervorgehoben.") 
Am  wenigsten  duldet  der  Moment,  welcher  die  Aufmerksamkeit  der 
Beiheiligten  vorzugsweise  in  Anspruch  nimmt,  ein  behagliches  Ver- 
weilen; hier  ist  energische  Kürze  am  wirksamsten.  Bilder  und  aus- 
geführte Gleichnisse  werden  nur  sparsam  verwendet."®)  Ganz  ge- 
läußg  ist  der  rasche  Wechsel  zwischen  der  historischen  Zeitform  und 
dem  Präsens,  der  eben  dazu  dient,  das  Bild  zu  vergegenwärtigen.®') 
Durch  kurze,  aber  inhaltsvolle  Reden  der  handelnden  Personen  wird 


II.  VI  58 :  od'sv  xai  iv  rnls  TgayioSiais  xgvTirovai  roie  SQüirrne  t«  roiavra 
iv  Trtts  axrjvali  xai  i]  tpcovale  rialv  i^axovofis'vais  ij  8t'  ayysXtov  vaxEQOv  arj- 
fiaivovai  ia  TtQnxd'evza,  ovSev  aXX'  i]  tpoßoiinevoi  fti]  avrol  av/ufnarj&öjat 
rols  S^cofit'roiS. 

00)  Daher  der  Ausdruck  ayysXixi}  ^rjate  Bekk.  An.  I  26,  6.  Phiiostralus  vit. 
Soph.  I  9  betrachtet  die  Einführung  der  äyyeXot  und  i^äyye}u)t  als  eine  Erfin- 
dung des  Aeschylus;  allein  die  Botenberichte  sind  wohl  so  alt,  wie  die  Tra- 
gödie. Der  Vers  des  Thespis  (Chrysippus  tts^)*  «tto^o.  12):  ovx  i^a&()Tjaas  o7S' , 
tSiov  St  aoi  Xiyto  ist  offenbar  aus  einer  solchen  Erzählung  entnommen.  Man 
unterschied  zwischen  ayysloe  unA  i^äyyeXoe,  Ammonius:  äyyelos  näe  6  ryyeX- 
hov  T«  (liod'ev,  i^nyysXos  Se  ö  ra  ivSod'ev  jole  ^ai  Siayye'ÄXcav.  So  wird 
der  Bote  bei  Soph.  Antig.  1278  als  i^äyyekoe  bezeichnet. 

07)  Oft  heben  die  Boten  selbst  hervor,  dafs  sie  sich  kurz  fassen,  s.  Aesch. 
Per».  330,  Soph.  Elekt.  088. 

08)  So  z.  B.  Aesch.  Pers.  42.'>. 

09)  Manchmal  mag  aber  auch  die  Bequemlichkeil  für  das  Versmars  die 
Wahl  bestimmt  haben. 


DIE    DRAMATISCHE   POESIE.     DIE   TRAGÖDIE.    EINLEITUNG.  209 

die  Erzählung  dramatisch  belebt.  Der  Berichterstatter  ist  in  der 
Regel  nicht  theilnahmlos,  sondern  giebt  seiner  Empfindiing  Ausdruck, 
und  der  Dicbter,  indem  er  die  unmittelbare  Wirkung  auf  den  Augen- 
zeugen darstellt,  versetzt  dadurch  den  Zuschauer  in  die  beabsichtigte 
Stimmung.  Manchmal  zeichnen  die  Dichter  auch  mit  einigen  leich- 
ten Strichen  den  individuellen  Charakter  des  Erzählenden."'*j  Den 
epischen  Ton  hat  Aeschylus  in  solchen  Erzählungen,  wie  sich  er- 
warten läfst,  am  meisten  gewahrt''),  während  bei  Euripides  das  be- 
wegte dramatische  Element  entschieden  hervortritt.")  Manche  Par- 
tien sind  mehr  lyrisch  gehalten,  wie  die  ergreifende  Schilderung 
von  dem  wunderbaren  Lebensende  des  Oedipus  bei  Sophokles"), 
gemäfs  dem  ganzen  Charakter  dieser  Tragödie,  wo  das  dramatische 
Leben  hinter  dem  Ausdrucke  lyrischer  Empfindung  zurücktritt. 

Wie  das  Drama  vor  allem   die  Entwicklung   der  inneren  Zu-  ^    "!'  , 

"  Guotniscl. 

Stände  darstellt,  das  Gemilth  d^r  handelnden  Personen  enthüllt,  so 
führt  das  Aussprechen  der  Gefühle  und  der  Empfindungen,  das  Dar- 
legen der  Absichten  und  Pläne  nolhwendig  auf  allgemeine  Gedanken 
hin.'*)  Wer  sich  rechtfertigt,  wer  etwas  beweisen  oder  widerlegen 
will,  wer  andere  zu  belehren  oder  zu  überzeugen  sucht,  der  pflegt 
sich  auf  allgemeingültige  Sätze  und  anerkannte  Wahrheiten  zu  be- 
rufen, um  die  Berechtigung  seines  Strebens  darzuthun.  Diese  Gedan- 
ken sind  um  so  wirksamer,  je  mehr  sie  sich  aus  der  natürlichen  Lage 
der  Verhältnisse  ergeben,  je   mehr  sie  aus   der  Tiefe  des  Herzens 


70)  So  z.  B.  Sophokles  den  Wächter  in  der  Antigone. 

71)  Die  Schlachlenberichte  in  den  Persern  erinnern  an  die  Homerische 
Ilias,  die  Schilderung  der  Irrfahrten  der  lo  im  Prometheus  an  die  Hesiodische 
Poesie.  Aber  auch  Sophokles  hat  den  epischen  Ton  wohl  getroffen ,  wie  z.  B. 
in  der  Elektra  6S0  ff.  in  der  Schilderung  des  W'agenkampfes  zu  Delphi  und 
des  vorgeblichen  Todes  des  Orestes. 

72)  Man  vergleiche  z.  B.  in  der  Hecuba  .^18  ff.  den  Bericht  vom  Opfer- 
tode der  Polyxena. 

73)  Sophokles  Oed.  Kol.  15S6  ff.  Nur  ist  der  Bericht  durch  einige  schlimme 
Fehler  entstellt;  V.  1623  ist  zu  lesen:  fd'tyfia  8'  i6s  d-eoöv  (statt  ilaifvr]i) 
rtvos  &a'v^sv  avrcv  und  V.  1626  xaXei  ya^  avrov  noXlä  noXXaxri  &s6s  als 
störender  Zusatz  auszuscheiden. 

74)  Aristot  Poet.  c.  6  p.  1450  A  29  und  c.  19  p.  1456  A  36  über  die  Siävota ; 
wenn  er  bemerkt,  man  dürfe  nicht  den  Hauplnachdruck  darauf  legen,  c.  6,  16 
p.  1450  A  29:  in  inv  Tis  ifc^^s  &fj  ^r^asis  rjd'txas  xai  Xt'^etS  xat  Siavoias  ev 
nenoiTjuivai,  ol  rtoiTjast  o  tjv  t^s  T^aytpSias  i^yor,  so  hat  er  gewisse  bestimmte 
Beispiele,  wie  sie  die  Epigonen  der  tragischen  Kunst  darboten,  vor  Augen. 

Kergk,  Griech.  Lileraiurgeschichte  III.  14 


210  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

und  der  Fülle  eigener  Erfahrung  entspringen;  denn  der  Dichter 
mufs  sich  hüten  selbst  laut  zu  werden,  ein  Fehler,  in  den  Euripi- 
des  nicht  selten  verfällt,  wie  überhaupt  die  jüngere  Tragödie  jene 
verständige  Mäfsigung,  mit  welcher  die  älteren  Dichter  das  f^^noniiscbe 
Element  verwenden,  nicht  mehr  recht  kennt. 

An  bestimmten  Stellen  ist  dieser  gedankenmäfsige  Ausdruck  vor- 
zugsweise passend ;  so  schliefst  man  längere  Reden  gern  mit  einer  ge- 
wichtigen Sentenz.  Dieses  wirksame  Mittel  hat  die  griechische  Poesie 
schon  längst  gleichsam  unbewufst  angewandt,  bevor  die  rhetorische 
Kunst  daraus  die  Regel  abstrahirte.  Ebenso  wird  der  Ausgang  der  Dra- 
men schicklich  durch  einen  allgemeinen  Satz,  eine  sitthche  Betrachtung 
markirt,  ohne  dafs  man  berechtigt  wäre,  gerade  darin  immer  den 
eigentlichen  Grundgedanken  der  Tragödie  zu  finden.  Man  mufs  sich 
überhaupt  hüten,  überall  eine  bestimmte  Reflexion  oder  einen  be- 
stimmten Zweck  aus  der  Tragödie  herauszulesen.  In  jedem  echten 
Kunstwerke  liegt  ein  unerschöpflicher  Gehalt;  es  ist  nicht  möglich, 
diese  reiche  Fülle  auf  eine  abstrakte  Formel  zurückzuführen.  Je 
mehr  der  Dichter  seines  wahren  Berufes  eingedenk  ist,  desto  weni- 
ger arbeitet  er  auf  eine  bestimmte  Tendenz  hin.  Der  tragische  Dich- 
ter, indem  er  charaktervolle  Persönlichkeiten,  mächtige  Leidenschaften, 
ergreifende  Conllikte  schildert,  indem  er  den  Kampf  der  menschlichen 
Freiheit  mit  dem  Schicksal  unter  den  verschiedensten  Gestalten  vor- 
führt, verkündet  in  anschaulichen  Bildern,  aber  in  ganz  unmittel- 
barer Weise  den  Sieg  der  sittlichen  Mächte, 
conveniio-  Manches  ist  conventioneller  Art,  aber  höchst  zweckmSfsig,  z.  B. 

"*  "■  die  Weise,  wie  die  auftretenden  Personen  angekündigt  und  einge- 
führt werden;  denn  da  dem  Zuschauer  kein  Verzeichnifs  der  Han- 
delnden vorlag,  war  es  nothwendig,  ihr  Auftreten  vorzubereiten, 
sie  durch  Nennung  des  Namens  kenntlich  zu  machen.  Dieser  Forde- 
rung wird  in  der  Regel,  zumal  in  der  Tragödie,  genügt.  Wenn  eine 
Person  auf  der  Bühne  auftritt,  wird  sie  entweder  schon  vorher  an- 
gekündigt oder  nennt  sich  selbst");  häufig  vvird  gleich  der  Anfang  des 
Dialoges  benutzt,  um  die  sich  Unterredenden  kenntlich  zu  machen. 
Meist  führen  die  Dichter  mit  Geschick  die  Personen  auf  der  Bühne 
ein ;  manchmal  freilich  suchen  sie  nur  dieses  Geschäftes  sich  zu  ent- 

75)  Bei  Sophokles  nennt  Oedipus  im  Eingange  des  Oedipus  auf  Kolonos 
jtcinen  Namen;  dagegen  im  Oedipus  Tyrannus  ist  V.  S  wahrscheinlich  Zusatz 
eines  Srhauspielers. 


DIE   DRAMATISCHE    POESIE.     DIE    TR-iGÜDIE.     EI>LEITÜKG.  211 

ledigen,  weil  es  einmal  herkömmlich  ist.  Ebenso  pflegt  der  Chor 
bei  seinem  ersten  Auftreten,  namentlich  wenn  er  unangemeldet  oder 
unerwartet  erscheint,  zu  sagen,  wer  er  sei  und  was  er  wolle."')  ^Vie 
der  Dichter  für  das  richtige  Verständnifs  sorgt,  indem  er  das  Auf- 
treten der  handelnden  Personen  genügend  motivirt,  ebenso  erfährt 
der  Zuschauer  in  der  Regel,  wann  und  warum  dieselben  abtreten. 
Auch  da,  wo  zunächst  die  Rücksicht  auf  die  geringe  Zahl  der  Dar- 
steller die  Entfernung  einer  Person  erheischte,  wird  der  Abgang 
doch  immer  in  schickliche  Verbindung  mit  der  Handlung  gebracht. 

Wie  jede  organische  Composition  sich  dreifach  gliedert,  so  zer-  Gliederung, 
fällt  auch  die  Tragödie  in  di'ei  Theile,  Anfang,  Mitte,  Ende. 

Der  erste  Theil,  die  Exposition "'),  führt  den  Zuschauer  ein :  die 
Situation  wird  anschaulich  geschildert,  die  Pläne  und  Interessen  treten 
hervor,  die  Träger  der  Handlung  werden ,  wenn  auch  öfter  nur  mit 
kurzen  Strichen  gezeichnet,  doch  so,  dafs  man  die  Grundzüge  des 
Charakters  erkennt.  Nicht  immer  tritt  die  Hauptperson  gleich  auf, 
sondern  öfter  wird  ganz  passend  im  Eingange  eine  iSebenfigur  ver- 
wendet.'*) In  der  Einleitung  gilt  es  das  rechte  Mafs  zu  halten ;  der 
Zuhörer  darf  über  das,  was  zum  Verständnifs  nöthig  ist,  nicht  im 
Dunkeln  bleiben ,  aber  der  Dichter  mufs  sich  hüten ,  ihn  mit  allzu 
viel  Detail  zu  überschütten  und  so  das  Interesse  abzustumpfen. 
Euripides  ist  zwar  sorgfäUig  in  der  Exposition,  holt  aber  öfter  zu 
weit  aus  oder  greift  auch  schon  der  Lösung  vor. 

Der  zweite  Theil,  die  Verwicklung'^),  ist  das  eigenthche  Gebiet 
der  dramatischen  Handlung  und  zugleich  die  schwierigste  Aufgabe 
für  den  Dichter.  Hier  treten  die  feindhchen  Mächte  gegen  einander 
auf,  ihre  Absichten  und  Interessen  durchkreuzen  sich,  der  Conflikt 
spitzt  sich  immer  schärfer  zu,  retardirende  Scenen  mäfsigen  oft 
schicklich  den  allzu  raschen  Verlauf,  aber  die  Handlung  darf  sich 
auch  nicht  allzu  langsam  bewegen ;  denn  alles  drängt  unwillkürlich 
zur  Entscheidung   hin.     Die  Aufgabe   des  Dichters  ist  es,  den  Zu- 


76)  Eine  Ausnahme  macht  der  Philoktet  des  Sophokles.  Dieses  Unter- 
lassen wird  dadurch  gerechtfertigt,  dafs  hier  der  Chor  zugleich  mit  Neopto- 
lemus  auftritt. 

77)  Jl^oraais,  auch  siaßoXrj. 

78)  IlqoTartxov  ■jt^öcoKiov,  wie  bei  Aeschylus  im  Agamemnon  der  Wäch- 
ter in  sehr  passender  Weise  zu  diesem  Zwecke  eingeführt  wird. 

79)  ^Enizaaie. 

14* 


212  DRITTE   PERIODE   V0>-    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

schauer  während  des  zweifelhaften  Kampfes  in  Spannung  zu  halten ; 
dieses  ist  leichter,  wo  der  Ausgang  nicht  nur  den  handelnden  Per- 
sonen, sondern  auch  den  Zuschauern  verhorgen  ist.  Aber  der  grie- 
chische Tragiker  behandelt  allgemeinbekannle  Stoffe;  die  Lösung 
der  Verwicklung  ist  für  den  Zuschauer  in  der  Regel  kein  Geheim- 
nifs.  Hier  gilt  es  also,  nicht  sowohl  die  realistische  Neugier  zu  be- 
friedigen ,  sondern  den  innigsten  Antheil  an  den  Schicksalen  des 
tragischen  Helden  wachzuhalten.  Noch  schwieriger  ist  ein  anderes. 
Der  Zuschauer  neigt  sich  leicht  der  Gegenpartei  zu;  da  liegt  die 
Gefahr  nahe,  dafs  der  Dichter,  während  er  seinen  Helden  mit  sicht- 
licher Vorliebe  behandelt,  den  Gegner  in  allzu  ungünstigem  Lichte 
darstellt.  Aber  je  schärfer  und  schwerer  der  Conflikt  ist,  desto 
mehr  gilt  es,  das  Mafs  strenger,  unparteiischer  Gerechtigkeit  zu 
üben. 

Der  dritte  Theil,  die  Auflösung*"),  enthält  die  Entscheidung  des 
Kampfes,  der  mit  dem  Siege  oder  Untergange  des  Helden  endet,  und 
in  das  Schicksal  der  Hauptperson  sind  mittelbar  oder  unmittelbar 
gewöhnlich  auch  die,  welche  ihm  nahe  stehen,  verflochten.  Der 
Gipfel  der  Krisis  wird  meist  ins  Kurze  zusammengedrängt;  ein  breites 
Ausmalen  war  hier  nicht  an  der  Stelle.  Oft  begnügt  sich  der  Dich- 
ter mit  wenigen,  aber  inhaltvollen  Worten  die  Entscheidung  nur  an- 
zudeuten. Nach  der  Krisis  fällt  die  Handlung  gewöhnlich  rasch  ab, 
so  dafs  die  Darstellung  manchmal  etwas  dürftig  erscheint.  Man  könnte 
leicht  darin  einen  Mangel  finden,  und  zuweilen  mag  der  Dichter, 
wenn  die  Zeit  ihm  knapp  zugemessen  war,  mit  einer  gewissen  Eil- 
fertigkeit seine  Arbeil  abgeschlossen  haben;  aber  öfter  war  wohl 
die  Rücksicht  auf  das  Publikum  mafsgebend,  welches,  wenn  die  Ent- 
scheidung eingetreten  ist,  ungeduldig  den  Schlufs  verlangt.  Höch- 
stens das  Aufserordentliche,  wie  eine  Göttererscheinung  nach  der 
Weise  des  Epos,  vermag  die  Menge  zu  fesseln,  daher  der  bühnen- 
kundige Euripides  gern  von  diesem  Mittel  Gebrauch  macht,  welches 
insbesondere  bei  Tragödien  mit  glücklichem  Ausgange  sehr  passende 
Dienste  leistete.  Die  jüngere  Tragödie,  die  mehr  auf  Rührung  und 
mildere  Affekte  hinarbeitet  und  sich  den  Neigungen  des  Publikums 
fügt,  zieht  den  versöhnenden  Abschlufs  vor*'),   während   die  ältere 

80)  KaraaxQO^f). 

b\)  Aristot.  Foet.  c.  13  p.  115:»  A  22  weis!  den  Tragödion  mit  lierbeni  Aus- 
gange die  erste  Stelle  an  (dies  ist  iiini  ttaxa  lix^tiv  ynXUarri  jQnyqtSia)  und 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.     DIE    TRAGÖDIE.     EI>LE1TU>G.  213 

Tragödie  gemäfs  ihrem  entschieden  männhchen  Charakter  vorzugs- 
weise den  erschütternden  Untergang  menschüchen  Glückes  und 
menschlicher  Grüfse  darstellt.  Aber  wenn  der  Held  der  Uebermacht 
erhegt,  enipfiingt  mau  den  Eindruck  von  der  Nothwendigkeit  des 
Unterganges,  und  ebenso  bot  die  Form  der  Trilogie,  wenn  der  Held 
alle  Hindernisse  überwindet  und  siegreich  aus  dem  Conflikte  her- 
vorgeht, genügenden  Raum  für  eine  aufrichtige  Versöhnung  und 
Ausgleichung  der  Gegensätze  dar. 

Aeschylus  hebt  es  gerade  hier,  Chor  und  handelnde  Personen  Eiodos. 
in  die  engste  Beziehung  zu  setzen.  Die  Perser  schüefsen  mit  einem 
Klagegesange  zwischen  Xerxes  und  dem  Chore,  der  kurz  abbrechend 
sagt,  er  werde  den  unglückhchen  Fürsten  geleiten.  Am  Schlufs  des 
Agamemnon  wechselt  der  Chor  Worte  mit  Aegisthus  und  Klytämne- 
stra,  so  dafs  die  Königin  das  letzte  Wort  behält;  in  den  Choepho- 
ren  Orestes  und  der  Chor,  der  mit  einer  anapästischen  Perikope 
die  Handlung  abschhefst.  In  den  Eumeniden  ergreift  Athene  nach 
einem  Wechselgesange  mit  dem  Chore  der  Rachegöttinnen  nochmals 
das  Wort,  und  der  Nebenchor  singt  ein  kurzes  Schlufslied.  Im  Pro- 
metheus sind  die  anapästischen  Perikopen  zwischen  Prometheus, 
Hermes  und  dem  Chor  vertheilt;  dem  Titanen,  indem  er  in  den  Ab- 
grund versinkt,  kommen  natürHch  die  letzten  Verse  zu.  Dagegen  die 
Sieben  enden,  nachdem  Eteokles  im  Zweikampfe  gefallen  ist,  in  der 
ursprünglichen  Bearbeitung  mit  der  Todtenklage  des  Chores,  und 
ebenso  erhalten  die  Schutzflehenden  ihren  Abschlufs  durch  einen 
Chorgesang,  der  unter  die  Danaiden  und  ihre  Begleiterinnen  ver- 
theilt ist. 

Bei  Sophokles  endet  das  Drama  regelmäfsig  mit  dem  Abtreten 
des  Chores,  der  sich  mit  wenigen,  aber  passenden  und  meist  inhalts- 


nimmt  dabei  den  Earipides  gegen  den  Tadel  älterer  Kritiker  in  Sctiutz;  dann 
fährt  er  fort  p.  1453  A  30:  Sevre^a  8'  r,  Tt^corq  ß.eyofit'vT]  vno  iiv<ov  iaxlv  av- 
araaii.  tj  Si7iXr,v  rs  jr;v  avoraatv  e'xovaa  xad-aTtsQ  tj  ^OSvaasia  xai  re/.evrcöaa 
i§  ivavrias  rols  ßeXxioai  xai  x^i^oat,  Soxei  Sa  elvat  n^carrj  Sia  tt^v  tcüv  &eä- 
j^cjv  aa&eveiav  axoÄov&ovai  yao  oi  rtotr^jal  xax^  ^y.fjv  Ttoiovvres  roTi  d'ea-' 
Tals.  Während  Aristoteles  Tragödien  mit  gemischtem  Ausgange  gellen  läfst, 
erklärt  er  sich  ganz  entschieden  gegen  Stücke,  die  einfach  mit  der  Versöhnung 
der  feindlichen  Parteien  abschliefsen;  ein  solcher  Ausgang  schicke  sich  wohl 
für  die  Komödie,  aber  nicht  für  die  Tragödie.  Hier  hat  Aristoteles  wohl  Dra- 
men, wie  den  Orestes  des  Euripide«.  im  Sinne. 


211  DR[TTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

vollen  Versen  verabschiedet.")  Bei  Euripides  erinnern  nur  die  Troa- 
den,  welche  mit  einem  Klageliede  der  Hecnha  nnd  des  Chores 
schliefsen,  an  die  Art  des  Aescliylns;  sonst  aber  folgt  er  dem  Bei- 
spiele des  Sophokles.*')  Auch  Euripides  f'afst  sich  kurz;  nach  her- 
kömmlicher Weise  wird  meist  eine  Gnome  angebracht,  aber  der 
Gedanke  ist  manchmal  ganz  allgemein  gehalten  ohne  specielle  Be- 
ziehung auf  den  Verlauf  der  dramatischen  Handlung.  Wie  die  Kunst 
des  Euripides  etwas  Typisches  hat,  zumal  in  Nebendingen,  so  findet 
er  sich  gern  mit  einer  stehenden  Schlufsformel  ab.  Wenn  der  Chor 
am  Ende  der  Alkestis  den  Gedanken  ausspricht,  die  Schicksale,  welche 
die  Güller  senden,  seien  vielgestaltig,  vieles  Unerwartete  ereigne 
sich,  während  das  Erwartete  sich  nicht  erfülle,  oftmals  finde  die 
Gottheit  einen  überraschenden  Ausweg,  so  sind  diese  Verse  für  jenes 
Drama  sehr  angemessen ;  sie  werden  aber  auch  in  späteren  Stücken 
unverändert  wiederholt.*^)  Anderwärts  sieht  der  Tragiker  von  seinem 
Gegenstande  ganz  ab,  indem  er  sich  an  die  Siegesgöttin  wendet 
und  sie  bittet,  ihm  den  Kranz  zu  spenden"),  wie  ja  Euripides  auch 
sonst  gewohnt  ist,  persönhche  Beziehungen  einzuflechten. 
Der  Chor  Der  Chor  ist  die  eigenlHche  Wurzel  des  altischen  Dramas,  wel- 

Tngödie  ^^^^  ^'^^  '"  Streng  organischer  Weise  aus  den  Liedern  zu  Ehren  des 
Dionysus  entwickelt  hat.  Die  Gesänge  des  Chores  bilden  daher  alle 
Zeit  einen  wesenlHchen  Bestandtheil  der  griechischen  Tragödie;  sie 
haben  nicht  nur  historisch  ihre  Berechtigung,  weshalb  auch  die 
Versuche  anderwärts,  wo  diese  Bedingungen  nicht  gegeben  waren, 
den  Chor  im  Drama  einzuführen,  niemals  sonderlichen  Erfolg  hatten, 


82)  Anapästen  oder  auch  trochäische  Langverse  haben  hier  ihre  Stelle. 
Die  Schlufsverse  des  Oedipus  Tyrannus  darf  man  nicht  dem  Chore  entziehen. 

83)  Euripides  gebraucht  regelmäfsig  Anapästen ;  nur  im  Ion  ßnden  sich 
trochäische  Tetrameter,  im  Kyklops  iambische  Trimeter. 

84)  Diese  Verse  kehren  wieder  in  der  Medea  (wo  nur  der  erste  Vers 
variirt  wird),  in  der  Andromache,  der  Helena  und  den  Uacchen. 

85)  Diese  formelhafte  Wendung  findet  sich  in  den  Piiönissen,  im  Orestes 
und  in  der  taurischen  Iphigeneia;  hier  sind  diese  Verse  ullerdings  bedenklich 
und  können  Zusatz  zweiter  Hand  sein,  aber  in  den  Phönissen  sind  sie  unent- 
behrlich. Da  Euripides  nur  fünfmal  den  ersten  Preis  erhielt,  sieht  man.  dafs 
der  Erfolg  diesem  Wunsche  nicht  sonderlich  entsprach ;  die  Phönissen  mufsten 
«ich  mit  dem  zweiten  Preise  begnügen.  An  diese  Formel  des  Euripides  erin- 
nert auch  der  Schlufs  des  Rhesus  ',»1)5  f.:  raxn  J'  "v  vixrjv  Soirj  Saifiav  6 
fitd'^  rifiüiv-,  doch  lassen  diese  Worte  eine  doppelte  Auslegung  zu. 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.     DIE    TRAGÖDIE.     EINLEITUNG.  215 

sondern  sie  erfüllen  auch  einen  bestimmten  Zweck,  wenn  schon  es 
nicht  möglich  ist,  die  ganze  Bedeutung  dieser  chorischeu  Poesie  auf 
eine  abstrakte  Formel  zurückzuführen.  Man  hat  gesagt,  der  Chor 
sei  der  idealisirte  Zuschauer.  Allein  diese  Auffassung,  obwohl  sie 
den  Meisten  ebenso  treffend  als  geistreich  erscheint,  erweist  sich  als 
unzulänglich.  Der  Chor  hat  eben  im  Verlaufe  der  Zeit  vielfachen 
Wandel  erfahren;  er  wü*d  von  jedem  der  drei  grofsen  Tragiker  in 
eigenthümlicher  Weise  verwendet.  Aeschylus  hat  vorzugsweise  in 
den  Chorgesängen  seine  ideale  Wehanschauung  niedergelegt;  aber 
gerade  bei  diesem  Dichter  ist  der  Chor  am  wenigsten  ein  blofser 
Zuschauer,  sondern  betheiligt  sich  unmittelbar  an  der  dargestellten 
Begebenheit  oder  steht  doch  zu  dieser  in  der  engsten  Beziehung. 
Indem  bei  den  Nachfolgern  des  Aeschylus  der  Chor  immer  mehr 
dem  Gebiete  der  dramatischen  Handlung  entrückt  wird  und  sich 
begnügt,  dieselbe  mit  seinen  Empfindungen  und  Beflexionen  zu  be- 
gleiten, steht  er  deshalb  noch  nicht  auf  einem  höheren  Standpunkt, 
von  wo  er  unbeirrt  die  leidenschaftlichen  Conflikte  überschaut,  son- 
dern ist  häufig  nur  der  Wiederhall  der  handelnden  Personen  und 
entfernt  sich,  indem  er  ihre  Befangenheit  theilt,  immer  mehr  von 
jener  idealen  Höhe. 

Ursprünglich  dienten  die  Beden  der  Schauspieler  gleichsam  nur 
dazu,  die  Pausen  zwischen  den  Chorhedern  auszufüllen.  Später  ist 
der  Chor  das  Nebensächliche ;  nur  die  Buhepunkte  der  dramatischen 
Handlung  werden  durch  diese  Zwischengesänge  markirt.*®)  Je  selb- 
ständiger sich  das  dramatische  Element  entwickelt,  desto  kürzer 
werden  die  Chorlieder.  So  giebt  sich  schon  äufserlich  der  Wandel, 
der  sich  allmähhch  vollzog,  deutlich  zu  erkennen. 

Das  lyrische  und  dramatische  Element  stehen  nicht  schroff  ge- 
sondert einander  gegenüber.  Unwillkürlich  mufste  die  lebensvolle 
Darstellung  einer  Handlung  auch  auf  den  Ausdruck  lyrischer  Em- 
pfindung einwirken,  zumal  in  der  aUen  Tragödie,  die  sich  mit  einem 
Schauspieler  begnügte,  so  dafs  ein  eigentlicher  Dialog  nur  möglich 


S6)  Sehr  richtig  sagt  .\polionius  Lex.  Hom.  (vTiox^ivoiro)  von  den  An- 
fängen der  Tragödie:  TiQtoraycoviarovvjoi  jov  ^oqov  rb  Tca)M.iav  oixoi  ojansq 
arcoxQirai  r^aav ,  anoxQivöftevoi  tiqos  tov  ^oqÖv  ,  dagegen  Aristoteles  Poet, 
c.  4, 13  p.  1449  A  17  vom  Aeschylus,  der  den  zweiten  Schauspieler  hinzufügte: 
xn  zov   -/(pQov  rjhxtrcoae  ycai  xov   't.öyov  TtocOTaytaytaTTJv  Tta^eaxsvaasy. 


216  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

war,  indem  der  Darsteller  sich  mit  dem  Chore  in  unmittelbaren 
Verkehr  setzte.")  Es  war  freilich  nicht  leicht,  eine  gröfsere  Zahl 
von  Personen  wirklich  handelnd  einzuführen.^^)  Aeschylus  verfidn't 
mit  weiser  Mäfsigung,  wenn  er  die  Clioreuten  einzeln  und  indivi- 
duell thätig  auftreten  läfst.***)  Schon  der  Umstand,  dafs  der  Chor 
von  den  Schauspielern  gelrennt  sich  auf  der  Orchestra  befindet, 
hindert  engere  und  unmittelbare  Beziehungen;  denn  der  Dichter 
hat  sich  immer  nur  ausnahmsweise  gestattet,  den  Chor  auf  die 
Buhne  zu  bringen.  Wenn  trotz  der  Entfernung  sich  der  Chor 
an  der  Handlung  betheiligt,  so  wurde  dies  bei  der  feierlichen, 
gemessenen  Haltung  des  griechischen  Trauerspieles  weniger  em- 
pfunden. 

In  der  älteren  Tragödie  gehurt  der  Chor  wesentlich  mit  zur 
Handlung,  und  eben  deshalb  ist  er  von  dramatischem  Leben  erfüllt, 
zeigt  einen  individuellen  Charakter  und  hat  nicht  blofs  eine  histo- 
rische, sondern  auch  eine  künstlerische  Berechtigung.  Immer  aber 
liegt  darin  etwas  Zwiespältiges,  und  nur  einem  wahrhaft  grofsen 
Dichter  wie  Aeschylus  konnte  es  gelingen,  in  jedem  einzelnen  Falle 
das  Rechte  zu  treffen.  In  den  Schutzflehenden  bilden  die  Töchter 
des  Danaus,  um  deren  Geschick  es  sich  handelt,  den  Chor;  in  den 
Eumeniden  stehen  die  Hachegüttinnen,  die  den  Muttermord  zu  ahn- 
den berufen  sind,  dem  Bluträcher  gegenüber,  und  nicht  nur  über 
das  Schicksal  des  Orestes,  sondern  auch  über  die  künftige  Stellung 
der  Gottinnen  wird  eine  Entscheidung  getroffen.  Aber  auch  da,  wo 
der  Chor  nicht  eigentlich  thätig  eingreift,  verharrt  er  doch  nicht  in 
einer  rein  passiven  Haltung,  sondern  nimmt  den  innigsten  Antheil 
an  den  erschütternden  Schicksalen  der  handelnden  Personen.  Der 
Chor  hat  bei  Aeschylus  immer  einen  bestimmten  klar  ausgeprägten 


S")  Der  Koryphäos  des  Chores  vertrat  gevfissermarsen  die  Stelle  des 
zweiten  Schauspielers,  und  auch  später  rcpräsenlirt  derselbe  die  Gesanimtheit, 
wechselt  in  ihrem  Namen  mit  den  handelnden  Personen  Worte.  Aufserdem 
aber  kommen  auch  nicht  selten  Wechselgesänge  zwischen  dem  Chor  und  einer 
Bühnenperson  vor. 

bh)  Die  Theilung  des  grofsen  kyklischcn  Chores  von  fünfzig  Personen 
in  vier  Chöre  von  je  zwölf  (fünfzehn)  Theilnehniern  war  in  dieser  Hinsicht 
vortheilhaft. 

si»)  Wie  in  der  Scene  des  Agamemnon  V.  i:U4fr.  Auch  das  erste  Chor» 
lied  der  Kumeniden  und  andere  Gesänge  hat  man  unter  einzelne  Choreuten  zu 
vcrthcilen  versucht;  dies  ist  j«M|ncli  iiii<icher. 


DIE    DP.AMATISCHE    POESIE.     DIE    TRAGÖDIE.     EI>LEITL>G.  217 

Charakter.  Wie  verschieden  sind  nicht  die  Grofswürdenträger  der 
Perser  von  den  argivischen  Greisen  im  Agamemnon,  wie  unheimHch 
düster  sind  die  Gestalten  der  Eumeniden,  wie  zart  und  anmuthig 
die  Jungfrauenchöre!  Diese  reiche  Mannigfaltigkeit,  dieses  indivi- 
duelle Leben  ist  den  jüngeren  Tragikern  unbekannt;  auch  macht 
schon  der  Prometheus  des  Aeschylus  eine  Ausnahme.  Hier  erkennt 
man  in  der  Behandlung  des  Chores  deutlich  den  Einflufs  der  Neue- 
rungen des  Sophokles. 

Indem  der  Chor  mit  ganzem  Gemüthe  an  der  Handlung  An- 
theil  nimmt,  begleitet  er  dieselbe  mit  seinen  Betrachtungen;  Aus- 
brüche der  Freude  und  des  Schmerzes,  tröstender  Zuspruch  und 
ernste  Mahnungen,  innige  Gebete  und  Segenswünsche  wechseln  mit 
einander  ab.  Während  der  Chor  von  den  gewaltigen  Ereignissen 
tief  ergriffen  ist,  bewahrt  er  sich  doch  mitten  in  der  leidenschaft- 
lichen Aufregung,  die  ihn  umgiebt,  Ruhe  und  Besonnenheit  des 
Urtheils,  So  mäfsigt  in  den  Choephoren  der  Chor  die  stürmische 
Leidenschaft  der  Handelnden  und  lenkt  klar  verständig  ihren  Ent- 
schlufs  auf  das  Ziel  hin.  Aeschylus  benutzt  vor  allem  den  Chor, 
um  das  Gleichgewicht  herzustellen ,  um  die  ewige  AYahrheit  gegen- 
über den  schwankenden  menschUchen  Meinungen  geltend  zu  machen 
und  den  Glauben  an  die  höheren  sittlichen  Mächte  wachzurufen. 
Hier  hat  der  Tragiker  tiefernste  Gedanken,  seine  innersten  Empfin- 
dungen niedergelegt.  So  ruht  auf  dem  Chore  gleichsam  eine  reli- 
giöse Weihe.  Diese  grofsartigen  Gesänge  üben  eine  wahrhaft  läu- 
ternde und  reinigende  Wirkung  aus ;  hier  ist  in  der  That  der  Gipfel 
der  tragischen  Kunst  erreicht.  Es  wäre  schön  gewesen,  wenn  sich 
der  Chor  auf  dieser  Höhe  erhalten  hätte;  dies  war  aber  nur  so  lange 
erreichbar,  als  das  Lyrische  und  Dramatische  sich  im  Ganzen  und 
Grofsen  das  Gleichgewicht  hielten.  Je  mehr  alles  darauf  hindrängt, 
den  Dialog  zum  Schwerpunkte  des  Dramas  zu  machen,  desto  mehr 
mufste  auch  der  Chor  seiner  ursprünglichen  Bestimmung  entfremdet 
werden.  Sophokles'  Wirken  bezeichnet  diesen  Wendepunkt.  Die 
Neuerungen  dieses  Dichters  fanden  allgemein  Eingang,  und  wenn 
die  anderen  Kunstgenossen  darüber  hinausgingen,  so  ist  dies  nur 
die  nothwendige  Consequenz  des  ersten  Schrittes.  Während  Aeschy- 
lus, seinem  angeborenen  Genius  folgend,  immer  das  Rechte  zu  tref- 
fen weifs,  arbeitet  Sophokles  mit  vollem  Bewufstsein,  führt  alles  auf 
eine  bestimmte  Regel  zurück.    Es  ist  recht  bezeichnend ,  dafs  er  in 


218  DRITTE   PERIODE   VON    500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

einer  eigenen  Schrift  sein  Verfahren  rechtfertigte  und  die  anderen 
Dichter  dafür  zu  gewinnen  suchte.*") 

Die  Reformen  des  Sophokles  lassen  sich  auf  zwei  Gesichtspunkte 
zurückführen.  Er  schliefst  den  Chor  von  jedem  Antheil  an  der  Hand- 
lung aus;  nicht  gleichgültig,  aber  auch  nicht  von  Leidenschaft  fort- 
gerissen, soll  er  sein  Mitgefühl  aussprechen  und  gleichsam  eine  un- 
abhängige Würde  wahren.  Dann  gilt  als  Gesetz,  dafs  der  Chor  nicht 
mehr  aus  Heroen,  sondern  aus  Menschen  gewöhnlicher  Art  be- 
steht.*') Dadurch  ist  das  ideale  Element,  an  dem  auch  der  Chor 
Theil  hatte,  in  Frage  gestellt.  Die  räumliche  Sonderung  der  Cho- 
reuten von  den  Schauspielern  war  diesen  Neuerungen  günstig;  oben 
auf  der  Bühne  agiren  die  Darsteller,  unten  auf  der  Orchestra  stimmt 
der  Chor  seine  Gesänge  an.  Dies  mufste  die  Auffassung  unterstützen, 
als  ständen  den  Halbgöttern  einfache  Sterbhehe  gegenüber.  Es  wäre 
übrigens  ein  Leichtes  gewesen,  da  das  Orchestische  immer  mehr 
zurücktritt,  den  Chor  auf  die  Bühne  zu  bringen,  indem  man  die- 
selbe vertiefte;  aber  man  scheute  sich,  an  der  äufseren  Form,  wie 
sie  einmal  überUefert  war,  zu  rütteln,  während  man  kein  Bedenken 
trug,  eine  tief  eingreifende  Aenderung  vorzunehmen ,  die  sich  dem 
Blicke  des  oberflächhchen  Beobachters  leicht  entzog. 

Aristoteles,  so  gut  wie  die  Neueren,  erbücken  in  den  Grund- 
sätzen, welche  Sophokles  aufstellte,  einen  wesentlichen  Forlschrilt; 
allein  in  dieses  Lob  kann  man  nicht  unbedingt  einstimmen.  Das 
Zwiespältige,  was  der  alten  Weise  anhaftet,  ist  zwar  enffernf,  aber 


90)  Suidas  II  2,  833 :  ^OfOxXfjS  . . .  Xoyov  (iy^ay-'c)  xataloyäSt^v  ns^i  tov 
XOQOv,  nQos  0i<Tziv  xat  Xoi^iXov  aycort^ofieioi.  Dieser  Zusatz  deutet  eben 
auf  die  Polemik  iün,  die  Sophokles  in  dieser  Schrift  gegen  die  Vertreter  der 
alten  Tragödie  ausübte. 

!tl)  .\ristoteles  Poet.  c.  18,  7  p.  1456  A  25:  xal  top  xoqov  8i  iva  StX  vno- 
Xaßeiv  xÖjv  vtioxqitcÖv ,  xai  /uogiov  elrai  rov  okov,  xai  avvaytovi^ea&ai  fiij 
ü'ansQ  Ev^miSj],  «AA'  maneQ  JSo<fOxXel.  Deutlicher  spricht  sich  der  Pliilo- 
soph  über  seine  Grundsätze,  die  eben  der  Theorie  und  Praxis  des  Sophokles 
entsprachen,  in  den  Probl.  19,  18  p.  922  H  26  aus,  wo  er  di«'jenigen  Tonweisen, 
die  ein  n^nxrixbv  rj&oe  haben,  als  ungeeignet  für  den  Chor  bezeichnet:  fori  yao 
6  K^Qoi  xTjSevTrfi  nnqaxTOt'  etvoiav  yaf  (livov  ■:iaqi%txai  oli  nä^tajty. 
Jene  Tonweisen  passen  für  die  Schauspieler:  ixelroi  ften  yaq  tQ(ä(o$'  uiuf]- 
tai'  Ol  (ii  r^ya/uüres  ripv  uQxaiav  fiövot  r,anv  tj^aiei,  oi  Sa  Xaoi  äv^^conot, 
oiv  lottv  6  xo^^'-  Die  Vorschriften  des  Horaz  (A.  F.  193  (T.)  stimmen  damit 
völlig  überein. 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.     DIE    TF.AGÖDIE.     EL\LEITU>G.  219 

(1er  Dichter  verzichtet  zugleich  auf  sehr  wesentliche  Vortheile.  In- 
dem der  Chor  jetzt  aufserhalb  der  Handlung  steht,  lag  die  Ver- 
suchung nahe,  jede  engere  Beziehung  zu  lösen,  wie  dies  auch  alsbald 
geschah,  so  dafs  der  Chor  nicht  mehr  mit  seinen  Betrachtungen  bei 
der  Handlung  verweilt,  sondern  sich  geradezu  von  ihr  abwendet.^'^) 
Entsprechend  der  untergeordneten,  unselbständigen  Stellung  ver- 
tauscht der  Chor  das  individuelle  Leben  mit  einer  unbestimmten 
Allgemeinheit ;  alles  wird  einförmiger  und  gleichmäfsiger.  Greise  und 
Jungfrauen  sind  fortan  das  geeignetste  Organ,  um  Rath  und  Er- 
mahnung auszusprechen,  sich  in  allgemeinen  Betrachtungen  und  Re- 
flexionen zu  ergehen,  bei  den  Erinnerungen  der  Vorzeit  zu  verweilen, 
Trost  zu  spenden  oder  in  Riagen  auszubrechen.  Feste  Consequenz, 
einen  in  sich  geschlossenen  Charakter  darf  mau  nicht  mehr  vom 
Chor  erwarten,  sondern  man  stöfst  überall  auf  Widersprüche.  Los- 
gelöst von  der  Handlung,  ist  der  Chor  doch  nicht  frei  von  Befangen- 
heit; er  steht  durchaus  nicht  auf  einem  idealen  Standpunkte  über 
den  Parteien.  Eine  innerliche  Natur  wie  Sophokles,  der  ernsten 
Sinnes  und  zugleich  liebevoll  den  menschlichen  Geschicken  nach- 
geht, konnte  der  Weise  seines  grofsen  Vorgängers  nicht  völlig  untreu 
werden.  Wo  gewaltige  Leidenschaften  in  all  ihrer  Einseitigkeit  auf- 
treten, wo  die  GrenzHnie  zwischen  Recht  und  Unrecht  zu  schwan- 
ken scheint  und  dem  Dichter  daran  Hegt,  jede  unrichtige  Auffassung 
fernzuhalten,  da  benutzt  auch  Sophokles  den  Chor,  um  durch  den 
Mund  der  blofs  zuschauenden,  nicht  mithandelnden  Personen  ein 
ruhiges,  durch  den  Widerstreit  der  Parteien  unberirrtes  Urtheil  aus- 
zusprechen. Besonders  im  König  Oedipus  erscheint  Sophokles  der 
W^ürde  und  höheren  Bedeutung  des  tragischen  Chores  eingedenk, 
wenn  er  auch  das  grofsartige  Pathos  des  .4eschylus  nicht   erreicht. 


92)  Dafs  nur  Sophokles  die  rechte  Grenzlinie  inne  hielt,  die  anderen,  vor 
allem  Agathon  weiter  gingen,  bemerkt  Aristot.  Poet.  c.  18,  7  p.  1456  A  2S:  roTs 
Si  XoiTioli  T«  uSöfiEva  ov  fiäXlov  rov  fivd'ov  rj  alli^s  r^aytffSias  iariv  Sib 
ifißoXtfia  aoovaiv,  nocüjov  äp^avtos'Ayäd'covos  xov  toiovtov  xairoi  li  8ia- 
(pioet  TJ  kfißökifia  u8eiv  rj  or^aiv  f'l  äX/Mv  eis  aXXo  aqfiorreiv  r  iTXsiaöSiov 
olov.  Bei  Euripides  ist  dies  nicht  selten  der  Fall;  sehr  richtig  bemerkt  z.  B. 
der  Schol.  zu  Phönissen  1019:  noos  ovSiv  ravra'  iSei  ya^  rov  yfioov  oiy.ii- 
aaad'ai  rov  S'avarov  rov  Mevoiy.t'cas  rj  a.TioSäyjad'ai  rfjv  svipv;^iav  rov  veavi- 
axov'  a/.Xa  rä  nepi  OiSiTZOv  >cal  rr^s  2!(ftyyos  Strjyeircu  rä  ■TzoXXaxis  stot] flava. 
Bezeichnend  ist,  dafs  bei  Euripides  besonders  gegen  Ende  des  Dramas  die  Chor- 
lieder dem  Charakter  der  ifißohfia  sich  nähern. 


220  DRITTE   PERIODE  VON  500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

Aber  im  Allgemeinen  ist  der  Chor  für  Sophokles  nur  ein  Mittel, 
um  seine  künstlerischen  Absichten  zu  unterstützen. 

Im  Einzelnen  ist  das  Gebahren  dos  Chores  oft  nicht  eben  an- 
stOfsig  und  erfüllt  den  Zweck,  den  der  Dichter  vor  Augen  hatte; 
aber  wenn  man  die  Haltung  des  Chores  während  der  ganzen  Hand- 
lung überschaut,  so  erkennt  man,  dafs  er  häufig  nur  die  Weise  des 
grofsen  Haufens  repräsentirt,  der  stets  gesinnungs-  und  charakter- 
los ist.  In  der  Antigone  erhebt  sich  nur  ein  Chorlied  über  die 
Handlung  und  nimmt  unser  sittliches  Gefühl  wahrhaft  in  Anspruch ; 
im  Uebrigen  ist  der  Chor  stets  schwankend  und  unbestimmt,  folgt 
willenlos  fremdem  Impulse  und  verwickelt  sich  in  Widersprüche, 
was  gegen  die  Würde  der  echten  Tragödie  entschieden  verstüfst. 

Eben  weil  der  Chor  für  Sophokles  wesentlich  nur  ein  Mittel 
ist,  um  seine  politischen  Intentionen  zu  verstärken,  hilfst  derselbe 
mehr  und  mehr  seine  selbständige  Bedeutung  ein.  In  den  Trachi- 
nierinnen  ist  der  Chor  ganz  damit  einverstanden,  dafs  Deianeira  den 
Versuch  macht,  die  verlorene  Neigung  des  Gatten  durch  Liebes- 
zauber wiederzugewinnen,  und  als  dann  das  Unglück  mit  seiner  ver- 
nichtenden Gewalt  über  die  Aermste  hereinbricht,  als  der  Sohn  die 
Mutter  für  des  Vaters  Tod  verantwortlich  macht,  hat  der  Chor,  ob- 
wohl er  die  Unschuld  der  Deianeira  kennt,  kein  Wort  der  Reciit- 
fertigung.  Da  Deianeira  sich  schweigend  entfernt,  weifs  er  recht 
wohl,  dafs  sie  an  nichts  anderes  als  an  ihren  eigenen  Tod  denkt; 
aber  er  macht  keinen  Versuch,  sie  zurückzuhalten,  sondern  spricht 
das  harte  Wort  aus,  dafs  ihr  Schweigen  ein  Eingeständnifs  der 
Schuld  sei.  Im  Philoktet  empfindet  der  Chor  anfangs  inniges  Mit- 
gefühl mit  den  Leiden  des  schwer  gekränkten  Helden.  Psoch  ehe  er 
den  Philoktet  von  Angesicht  zu  Angesicht  sieht,  regt  sich  schon  bei 
der  Besichtigung  der  einsamen  Felsgrolte  warme  Theilnahme;  aber 
dies  hindert  den  Chor  nicht,  nachher  die  Täuschung  des  unglikk- 
lichen  Dulders  in  jeder  Weise  zu  fördern.  Der  Chor  klagt  die 
Atriden  des  Unrechtes  an,  indem  sie  angeblich  die  Waflen  des 
Achilles  seinem  Sohne  entzogen  und  dem  Odysseus  zusprachen,  nur 
um  den  Philoktet  in  der  Meinung  zu  bestärken ,  dafs  gemeinsamer 
Hals  ihn  und  Neoptolemus  auf  das  Festeste  verbinde.  Der  Chor  geht 
willig  auf  die  Vorstellung  ein,  als  wolle  Neoptolemus  den  Verlasse- 
nen in  seine  väterliche  lieiuiath  zurückfdhreu,  und  wie  dann  Phi- 
loktet, von  (ItT  (jualvollcii   Krauklifif  »'rschüplt  und  in  li(  len  Srhl;d' 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.     DIE    TR.\GÖDIE.     EIXLEITÜ.NG.  221 

versunken,  ganz  in  der  Gewalt  der  Fremden  ist  und  Neoptolemus 
reuig  zögert  den  entscheidenden  Schritt  zu  thun,  ist  es  der  Chor, 
der  ihn  zu  rücksichtslosem  Handeln  antreibt. 

So  erscheint  der  Chor  als  das  getreue  Abbild  des  Volkes,  der 
grofsen  unselbständigen  Masse.  Auch  das  Volk  ist  leicht  bestimmbar 
und  Hebt  es.  jedem  Eindruck  folgend,  ein  Unternehmen  im  ersten 
Beginnen  zu  fördern  und  gutzuheifsen,  um  es  dann,  wenn  ein  Um- 
schlag eintritt,  fallen  zu  lassen.  Gleichgültig  pflegt  es  sich  von  dem 
abzuwenden,  den  es  bisher  gehoben  und  getragen  hatte ;  aber  dann 
trifft  auch  N^ieder  das  Volk  mit  angeborenem  Gefühl  das  Rechte.  So 
dient  also  gewissermafsen  der  Chor  dazu,  das  Abbild  des  mensch- 
lichen Lebens,  welches  der  tragische  Dichter  unserem  Auge  vorführt, 
zu  vervollständigen. 

Euripides  behält  den  Chor  eigentlich  nur  bei,  weil  es  so  her- 
gebracht war.  Hätte  dieser  reichbegabte  Dichter  sich  entschliefsen 
können ,  eine  durchgreifende  Umgestaltung  der  tragischen  Poesie 
vorzunehmen,  er  würde  den  Chor  ganz  haben  fallen  lassen,  wie 
bald  nachher  die  Komödie  darauf  verzichtete;  denn  in  dem  Drama, 
wie  es  dem  Euripides  im  Geiste  vorschwebte,  war  für  den  Chor  kein 
rechter  Platz  mehr.  Eben  weil  das  Verhältnifs  des  Dichters  zum 
Chore  ein  äufserliches  ist,  behandelt  er  denselben  mit  gröfster  Frei- 
heit. Auch  Euripides  folgt  nicht  selten  der  Weise  des  Sophokles, 
aber  anderwärts  wird  man  mehr  an  den  Charakter  der  alten  Tra- 
gödie erinnert.  Oft  steht  der  Inhalt  der  Gesänge  in  gar  keiner 
näheren  Beziehung  zu  der  Handlung  oder  ist  auch  für  den  Cha- 
rakter des  Chores  wenig  angemessen ;  so  pafst  es  sehr  wenig  zu  der 
ländhchen  Scenerie  der  Elektra,  dafs  die  argolischen  Landmädchen 
die  Bildwerke  an  der  Rüstung  des  Achilles,  die  sie  nur  vom  Hören- 
sagen kennen,  schildern.  Euripides  Hebt  es,  wie  Agathon,  eine 
klangvolle  lyrische  Partie  einzuschalten,  nur  um  eine  Pause  der 
Handlung  auszufüllen  und  die  Zuschauer  mit  seinen  leichten,  gefäl- 
ligen Melodien  zu  unterhallen.  Manchmal  leiht  der  Dichter  dem 
Chor  geradezu  seine  individuellen  Ansichten ,  und  es  ist  erklärlich, 
dafs  auch  die  handelnden  Personen  sich  oft  gar  nicht  um  den  Chor 
kümmern  oder  doch  jedes  vertrautere  VerhäUnifs  fehlt.  Insbesondere 
in  den  späteren  Arbeiten  des  Euripides  wird  man  deutlich  inne, 
wie  der  Chor  nicht  mehr  auf  innerer  organischer  Nothwendigkeit 
beruht.    Gleichwohl  fanden  gerade  diese  melischen  Partien  bei  den 


222  DRITTE   PERIODE  VON    500    BIS   300   V.  CHR.  G. 

Zeitgenossen  entschiedenen  Beifall,  und  das  ausgezeichnete  Talent 
des  Tragikers  verleugnet  sich  auch  hier  nicht.  Einzelne  Chorlieder 
sind  in  ihrer  Art  vorzüglich;  auch  bei  Euripides  trefl'en  wir  neue 
oder  bedeutende  Gedanken.  Der  Chor  nimmt  öfter  einen  Anlauf, 
sich  mit  seinen  Betrachtungen  über  den  Conflikt  zu  erheben,  aber 
schon  der  Widerspruch,  dafs  die  Masse,  die  eben  noch  willenlos 
schwankte  oder  leidenschaftlich  Partei  nahm,  das  sittliche  Richterarat 
auszuüben  wagt,  wirkt  störend.  Und  wie  bei  dem  Dichter  der  Glaube 
an  die  Götterwelt  tief  erschüttert  ist,  wie  Euripides  die  Widersprüche 
zu  lösen  aufser  Stande  ist,  so  vermag  er  auch  nicht  uns  wahrhaft 
über  die  Verworrenheit  des  menschlichen  Lebens  zu  erheben.^^) 
nie  Tetra-  Nirgends  emplinden  wir  so  schmerzlich  das  Unzulängliche  der 

üeberlieferung,  als  bei  der  tragischen  Tetralogie.  Die  Entstehung 
dieser  Kunstform  ist  vollständig  in  Dunkel  gehüllt;  ihre  allmähliche 
Forlbildung  vermögen  wir  nur  theilweise  zu  verfolgen;  denn  unsere 
Quellen  schweigen  oder  bieten  nur  hier  und  da  eine  Andeutung 
dar."*}    Diesen  Mangel  zu  ersetzen,  reichen  die  Ueberreste  der  grie- 


93)  Manchmal  ist  die  Weise  dieser  Dichter  geradezu  unbegreiflich.  In  den 
Bacchen  spricht  der  Chor  V.  862  ff.,  als  der  Untergang  des  Pentheus  bevorsteht, 
den  Wunsch  aus,  in  einem  Reigentanze  sich  ungezügelter  bacchischer  Festlust 
hinzugeben,  indem  er  sich  mit  dem  Rehe  vergleicht,  M-as  den  Netzen  des  Jägers 
glücklich  entronnen  ist  —  diese  Vergleichung  mag  absichtslos  gewählt  sein, 
hat  aber  in  dem  Momente,  wo  Pentheus  wie  ein  gehetztes  Wild  unter  den 
Händen  der  wahnbethörten  Frauen  fallen  soll,  etwas  Verletzendes;  —  dann  be- 
zeichnet der  Chor  als  das  höchste  Erdenglück,  wenn  man  mit  starker  Hand 
seinen  Feind  niederhalten  könne.  Die  Beziehung  auf  Pentheus,  der  für  seinen 
Widerstand  gegen  den  neuen  Götterdienst  schwer  büfsen  mufs,  ist  klar,  und 
jene  Worte  enthalten  den  Grundgedanken  des  ganzen  Liedes;  daher  werden 
diese  Verse  in  der  Gegenstrophe  nochmals  wiederholt.  Aber  wie  eisiger  Hohn 
klingt  es,  wenn  dann  V.  88  der  alte  Spruch,  was  schön  ist,  ist  auch  lieb, 
hinzugefügt  wird.  Und  wenn  dann  der  Chor  auf  das  Walten  der  Nemesis  hin- 
weist, die  endlich  die  Frevler  und  Götlerverächler  heimsucht,  wenn  er  den 
Menschen  warnt,  sich  nicht  über  Sitte  und  Gesetz  zu  erheben,  in  dem  Glauben 
der  Väter,  der  seit  Alters  besteht,  Ruhe  und  Befriedigung  zu  suchen,  so  er- 
scheint diese  Betrachtung  in  solcher  Umgebung  als  hohle  Phrase. 

tl4)  Aristoteles  gedenkt  in  seiner  Abhandlung  über  die  Poetik  der  tragi- 
schen Tetralogie  mit  keinem  Worte.  Der  Philosojih,  der  nicht  so  sehr  den 
historischen  Gesichtspunkt  ins  Auge  fafst,  sondern  ein  praktisches  Interesse  ver- 
folgt, berücksichtigt  eben  fast  ausschliefslich  die  jüngere  Tragödie;  für  diese 
aber  war  die  tetnilogische  Form  ohne  rechte  Bedeutung.  Nur  indirekt  deutet 
er  einmal  darauf  hio,   wenn  er  c.  21,  '.\  p.  Il.">'.t  H'il   für   den  iiursoreii  Umfang 


niE    DRAMATISCHE    POESIE.     DIE    TRAGÜDIE.     EINLEITOG.  223 

chischen  Tragiker  nicht  aus.  Dafs  die  tragische  Poesie  nicht  mit 
so  grofsartig  angelegten  Compositionen  begann,  ist  gewifs.  Erst  als 
die  Kunst  mündig  ward ,  konnte  sie  diesen  entscheidenden  Schritt 
thun.  Wir  begegnen  der  tetralogischen  Form  zuerst  bei  Aeschylus, 
und  wenn  uns  auch  kein  Name  genannt  wird,  so  ist  es  doch  wahr- 
scheinlich, dafs  eben  dem  Gesetzgeber  der  Tragödie  dieser  Fortschritt 
verdankt  wird.  Indem  Aeschylus  darauf  ausging,  dem  Trauerspiele 
einen  würdigen  Inhalt  zu  geben  ^*),  mufste  er  sich  durch  die  Schran- 
ken des  Herkommens  beengt  fühlen.  Wetteifernd  mit  den  grofsen 
epischen  Dichtern,  sucht  er  der  dramatischen  Handlung  eine  gröfsere 
Ausdehnung  zu  geben.  Durch  die  tetralogische  Form  ward  er  in 
den  Stand  gesetzt,  das  verhängnifsvolle  Walten  des  Schicksals  in  den 
Thaten  und  Leiden  ganzer  Geschlechter  nachzuweisen  und  so  seine 
tiefsinnigen  Ideen  in  wirksamster  Form  auszusprechen.  Der  Fluch, 
der  sich  von  Geschlecht  zu  Geschlecht  vererbt,  war  ein  sehr  geeig- 
neter Vorwurf  für  den  tragischen  Dichter.  Gerade  die  Geschichte 
der  beiden  ältesten  Fürstengeschlechter  Griechenlands,  von  Theben 
und  von  Argos,  bot  Belege  für  jene  Erfahrung  dar.  Aeschylus  hat, 
so  viel  wir  wissen,  zum  ersten  Male  diese  Mythenkreise  dramatisch 
bearbeitet;  ihm  sind  Sophokles  und  die  anderen  gefolgt.  Liefs  sich 
auch  der  Gedanke  an  das  Walten  der  Nemesis  in  den  Geschicken 
eines  Individuums  in  einem  Einzeldrama  darstellen,  so  war  doch  die 
tetralogische  Form  viel  geeigneter,  um  den  erschütternden  Verlauf 
menschhcher  Schicksale,  der  sich  langsam  und  gemessenen  Schrittes, 
aber  sicher  vollzieht,  in  voller  Anschaulichkeit  vorzuführen.  Während 
das  Epos  in  ununterbrochener  Folge  die  Begebenheiten  schildert, 
hebt  der  dramatische  Dichter  nur  die  Hauptmomente  hervor,  indem 
er  das,  was  sich  in  den  Zwischenzeiten  zuträgt,  übergeht  oder  an 
geeigneter  Stelle  nachholt.  So  waren  auch  die  Schranken  der  Zeit 
und  des  Ortes,  welche  den  dramatischen  Dichter  vielfach  hemmten, 
keine  Fessel  mehr;  er  konnte  sich  eben  so  frei  wie  der  epische 
Erzähler  bewegen.*') 


des  Epos  ein  gewisses  Mafs  aufstellt  {Ti^oe  rb  ^Xf^d'os  Täiv  r^aycoSiöJv  rcäv 
eis  (liav  ay^oautv  rid'efiäveov  7ta^T]xoiev). 

95)  Aesclijius  führte  die  Tragödie  aus  der  früheren  Beschränkung  hervor 
(ix  fity.Qcöv  fivd'mv  Aristot.  Poet.  c.  4,  14  p.  1449  A  19),  und  eben,  um  gröfsere 
Stoffe  genügend  beherrschen  zu  können,  ward  die  neue  Form  aufgebracht. 

96)  Man  vergleiche  nur  die  drei  Tragödien   der  Orestie,   die  Sieben  vor 


224  DRITTE    TERIODE   VON    500    BIS   300  V.  CHR.  G. 

Wie  die  Bewegung  der  dramatischen  Handlung  sich  naturgemäfs 
in  gewissen  Abschnitten  vollzieht  und  wir  in  jedem  Stücke  wesent- 
lich drei  Theile,  Anlage,  Verwicklung  und  Lösung,  unterscheiden, 
so  gliedert  sich  auch  eine  grofsere  Composilion  dreifach."')  Jedes 
Drama  ist  eine  selbständige  Dichtung,  aber  die  einzelnen  Stücke 
sind  nicht  blofs  durch  eine  äufscrliche  Folge,  sondern  organisch 
mit  einander  verbunden,  und  nach  herküinmlicher  Sitte  schlofs  sich 
ein  Satyrspiel  an^*),  um  durch  harmlose  Heiterkeit  den  feierlichen 
Ernst  der  Tragödie  zu  mildern  und  so  gleichsam  den  Uebergang 
zu  der  allgemeinen  Fesllust  zu  vermitteln. 

Dafs  nicht  blofs  der  historische  Zusammenhang,  wie  er  durch 
den  überlieferten  Mythus  gegeben  war,  sondern  auch  ein  inneres 
Band  die  einzelnen  Theile  eines  solchen  Dramencyklus  verknüpfte, 
ist  gewifs,  wenn  wir  auch  das  Geheimnifs  dieser  Kunstform  genügend 
zu  ergründen  aufser  Stande  sind.  Nur  eine  Trilogie  ist  uns  voll- 
ständig erhalten,  die  Orestie  des  Aeschylus,  glücklicher  Weise  eine 
einheitliche  dramatische  Composilion.  Die  Versuche  der  Neueren, 
das  eigenthümliche  Wesen  der  Tetralogie  genauer  zu  bestimmen, 
gehen  unwillkürlich  von  der  Betrachtung  der  Orestie  aus;  aber  wer 
Avird  glauben,  dafs  dieses  eine  Dichterwerk  die  reiche  Mannigfaltig- 
keit der  griechischen  Kunst  erschöpfend  darstelle.  Die  Weise  des 
Aeschylus  lernen  wir  liier  kenneu,  und  wir  dürfen  wohl  glauben, 
dafs  der  grofse  Tragiker  hier  auf  dem  Höhepunkte  seiner  Entwick- 


Theben  mit  den  beiden  anderen  dazu  gebörigen  Dramen,  den  gefesselten  Pro- 
melbeus  mit  seiner  Forlsetzung. 

97)  Man  könnte  vermulhen,  in  der  ältesten  Tragödie  sei  der  Schauspieler 
(Darsteller)  immer  dreimal  aufgetreten,  und  aus  jedem  Zwischenspiele  {ineia- 
oSiot)  sei  dann  ein  selbständiges  Drama  hervorgegangen.  Allein  diese  äufser- 
liche  Erklärung  trifft  niclit  den  wesentlichen  Punkt. 

*.tS)  Diese  vier  mit  einander  verbundenen  Stücke  nannte  man  rsjQaloyia 
(Diog.Laert.  111  35,  50),  die  drei  Tragödien  mit  Anscblufs  des  Satyrspicls  rQiloyia 
(Scbol.  Aristoph.  Ran.  1121).  yiöyoe,  eigentlich  der  Inhalt,  die  Fabel  des  Stückes 
(Aristoph.  Wespen  54.  Frieden  50,  in  gleichem  Sinne  n^ayun  Hitter  Ht),  daher 
fr.  carm.  ine.  203:  tj8tj  Ss  At'|<u  zov  Xöyov  to'v  Tipty/inzoi;  auch  von  der 
Tragödie  Kratin.  fr.  150  Com.  II  1,  220:  omeQ  <t>tloxXtr}i  rov  Xöyov  Sii<f9^0Qev) 
bezeichnet  dann  das  Drama  selbst.  Als  man  später  den  Versuch  machte,  die 
Platonischen  Dialoge  mit  Hücksichl  auf  Verwandtschaft  des  Inhalts  zu  gruppiren, 
tbeilte  man  sie  in  Tetralogien  oder  Trilogien  ab;  und  ein  ahnliches  Verfahren 
wandle  Thrasyllus  auch  bei  Demokrit  an- 


DIE   DRAMATISCHE   POESIE.     DIE   TRAGÖDIE.     EINLEITUNG.  225 

luDg  angelangt  ist,  aber  dieses  Ziel  hat  er  gewifs  nicht  gleich  an- 
fangs erreicht. 

Man  hat  auf  verschiedene  Weise  das  Verhältnifs  der  einzelnen 
Tragödien  einer  Tetralogie  zu  bestimmen  versucht.  Auf  die  Orestie 
passen  die  Normen,  obwohl  sie  unter  einander  bedeutend  abweichen, 
so  ziemlich;  aber  sobald  man  sie  auf  andere  Glieder  eines  Dramen- 
cyklus  anwenden  will,  bewähren  sie  sich  nicht.  Die  Einen  glauben 
in  der  philosophischen  Formel  Satz,  Gegensatz,  V ermitte- 
ln ng  den  Schlüssel  zum  richtigen  Verständnifs  zu  finden.  Allein 
damit  stimmt  wenig  das  Schhifsstück  einer  Aeschyleischen  Trilogie, 
die  Sieben  vor  Theben;  denn  hier  wird  man  die  rechte  Vermitte- 
lung  und  Ausführung  vermissen,  selbst  wenn  man  den  fremdartigen 
Zusatz  am  Schlufs  gelten  läfst.  Ebenso  wenig  trifft  die  Behauptung 
zu,  dafe,  wie  das  dramatische  Interesse  seinen  Höhepunkt  in  der 
Mitte  erreiche,  so  auch  das  mittlere  Stück  durch  Gröfse  der  sinn- 
lichen Erscheinung  und  Mächtigkeit  der  Leidenschaft  auf  Phantasie 
und  Gemüth  am  tiefsten  einwirke.  Die  Sieben  vor  Theben  werden 
an  erschütternder  Wirkung  nicht  hinter  dem  Oedipus  zurückgeblieben 
sein.  Eher  mag  man  zugeben,  dafs  die  Idee  des  Ganzen  sich  vor- 
zugsweise im  letzten  Stücke  entfaltete.  Andere  meinen,  das  echte 
Drama  sei  bestimmt,  durch  Erhabenheit  und  Gröfse  des  Pathos  vor- 
zugsweise auf  Geist  und  Gemüth  zu  wirken ;  das  Mittelstück  habe 
seinen  Schwerpunkt  in  den  lyrischen  Gesängen  und  wirke  durch 
die  melodischen  Klänge  der  Musik  besonders  auf  Ohr  und  Gemüth, 
während  das  Schlufsstück  durch  Pracht  der  äufseren  Ausstattung 
zumeist  das  Auge  fesselte.  Allein  diese  Betrachtung,  welche  mehr 
an  das  Aeufserliche,  die  secundären  Mittel  der  Darstellung,  anknüpft, 
würdigt  zu  wenig  die  tiefere  Bedeutung  der  Aeschyleischen  Tragö- 
die. Auch  wollen  andere  Dramen  sich  in  dieses  Schema  nicht  ein- 
fügen ;  denn  niemand  wird  in  der  scenischen  Ausstattung  der  Sieben 
etwas  besonders  Imposantes  finden.  Endhch  hat  man  das  innerste 
Wesen  der  Trilogie  auf  den  Satz  des  griechischen  Volksglaubens, 
dafs  kein  Frevel  ungerächt  bleibt,  dafs  die  ISemesis  jede  Sünde, 
wenn  auch  oft  spät,  heimsucht,  zurückführen  wollen.  Allein  obwohl 
jene  Idee  auf  die  Bildung  der  Tetralogie  nicht  ohne  Einflufs  war, 
so  darf  man  doch  eine  Kunstform  nicht  lediglich  aus  einem  sittlich- 
religiösen  Glaubenssatze  ableiten.  Auch  ist  unsere  Kenntnifs  des  Nach- 
lasses der  griechischen  Tragiker  viel  zu  unzulänglich,   um   zu  er- 

tiergk,  Griecli.  Literaturgeschichte  lil.  t5 


226  »RITTE   PERIODE   VON   500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

liennen,  inwieweit  die  Nachfolger  des  Aeschylus  gerade  die  tetra- 
logische Compositionsweise  benutzen,  um  diesen  Gedanken  gellend 
zu  machen. 

Weder  bei  Aeschylus,  noch  bei  den  Dichtern,  welche  sich  seinem 
Beispiele  eng  anschlössen,  dürfen  wir  eine  strenge  unabänderliche 
Regel  voraussetzen.®')  Mit  Rücksicht  auf  die  Eigenthümlichkeit  der 
besonderen  Aufgabe  mufste  auch  das  Verhältnifs  der  Theile  eines 
dramatischen  Cyklus  sich  verschieden  gestalten.  Hier  mochte  das 
dramatische  Interesse  sich  im  stetigen  Fortschritte  steigern  und  im 
letzten  Theile  seinen  Gipfel  erreichen,  dort  die  beiden  ersten  Stücke 
durch  den  Anblick  erschütternder  Ereignisse  mächtig  wirken ,  wäh- 
rend die  dritte  Tragödie  den  beruhigenden  Abschlufs  brachte  und 
die  Bedeutung  des  Ganzen  ins  hellste  Licht  setzte.  Ebenso  wenig 
ist  es  zulässig,  die  geringen  Ueberreste  der  verlorenen  Dramen  nach 
Tetralogien  zu  ordnen.  Man  hat  grofsen  Scharfsinn  aufgewandt, 
um  zu  ermitteln,  welche  Stücke  zu  einem  grofseren  Ganzen  ver- 
bunden waren  und  wie  sie  auf  einander  folgten.  Es  ist  zwar  rich- 
tig, dafs,  wenn  wir  die  Titel  der  Aeschyleischen  Dramen  durchgehen, 
sich  ziemlich  bestimmt  gewisse  Gruppen  absondern  und  öfter  die 
Dreizahl  uns  ganz  von  selbst  entgegentritt,  da  eben  Aeschylus  meist 
dem  Faden  der  geschichtlichen  Ueberlieferung  folgend  seine  Tra- 
gödien dichtete.  Allein  bei  der  Dürftigkeit  der  Ueberlieferung  und 
der  Freiheit  der  dichterischen  Erfindung  sind  solche  Vermuthungen 
höchst  unsicher.'"**)    Bei  Sophokles  und  Euripides,  die  auf  jene  ge- 


99)  Die  noch  erhaltenen  Stücke  des  Aeschylus  zeigen  deutlich,  dafs  die 
Verbindung  der  einzelnen  Theile  einer  Trilogie  bald  enger,  bald  loser  war.  Die 
Schutzflehenden  weisen  mit  Nothwendigkeit  auf  eine  Fortsetzung  hin;  der  ge- 
fesselte Prometheus  fand  erst  im  folgenden  Drama  den  rechten  Abschlufs;  aber 
in  der  Orestie  ist  jede  Tragödie  so  in  sich  abgerundet,  dafs  man  zum  Verständ- 
nifs  nichts  Wesentliches  vermifst.  Wäre  uns  durch  einen  unglücklichen  Zufall 
nur  ein  oder  das  andere  Drama  dieser  Composition  erhalten,  wir  würden  das- 
selbe auch  in  seiner  Isolirung  gebührend  würdigen  und  geniefsen  können.  Diese 
Wahrnehmung  hat  etwas  Tröstliches;  in  noch  höherem  Grade  gilt  dies  natür- 
lich für  Tetralogien,  die  auf  stoffmäfsigen  Zusammenhang  verzichteten. 

100)  Man  mufs  sich  hüten,  Dramen,  welche  demselben  Sagenkreise  ange- 
hören, deshalb  als  zusammengehörig  zu  betrachten.  Aeschylus  hat  den  Mythus 
vom  Prometheus  zuerst  in  einem  Satyrstück  bearbeitet,  dann  später  zu  zwei 
Tragödi'^n  benutzt.  Wäre  jene  Voraussetzung  zutreffend,  dann  niüfste  man, 
unbekümmert  um  historische  Zeugnisse,  die  taurische  Iphigeneia  des  Euripides 
als  Fortsetzung  der  Iphigeneia  in  Aulis  ansehen,  wie  man  in  der  That  mit 


WE    DRAMATISCHE   POESIE.     DIE    TRAGÖDIE.     EI>LEITC>G.  227 

schlossene  Einheit  der  Compositionen  verzichten,  ist  jede  Combina- 
tion  dieser  Art  geradezu  unstatthaft. 

Die  Entstehung  der  Tetralogie  setzt  die  mythische  Einheit  aller 
vier  mit  einander  verbundenen  Dramen  oder  doch  wenigstens  der 
drei  Tragödien  voraus.  Aber  sehr  bald  gab  man  die  stoffliche  Ein- 
heit auf  und  brachte  einzelne  Stücke  verschiedenen  Inhalts  zusam- 
men auf  die  Bühne.  So  verliert  jene  Form,  obwohl  sie  sich  fort- 
während behauptet,  eigentlich  ihre  rechte  Bedeutung.  Aeschylus 
that  frühzeitig,  Ol.  76,  4,  diesen  Schritt,  wie  die  Tetralogie  der  Per- 
ser beweist.  Phineus,  die  Perser,  Glaukus  und  das  Satyrspiel  Pro- 
metheus bildeten  den  dramatischen  Cyklus.  Eine  historische  Tragödie 
war  mit  ganz  verschiedenartigen  mythischen  Dramen  vereinigt.  Der 
Triptolemus,  Sophokles'  erster  Versuch  Ol.  77,  4,  war  unzweifelhaft 
Theil  einer  freien  Tetralogie;  ebenso  trat  Aristias  Ol.  78,  1  mit  einer 
solchen  Composition  auf."")  Der  gefesselte  und  befreite  Prometheus 
müssen  ihren  Abschlufs  durch  Dramen  selbständigen  Inhaltes  em- 
pfangen haben.  Wenn  schon  die  ursprünghche  Form  der  Tetra- 
logie nicht  völhg  beseitigt  ward,  so  tritt  sie  doch  gegen  die  freiere 
Weise  bald  entschieden  in  den  Hintergrund.'**^)  Nicht  jeder  Stoff, 
der  den  dramatischen  Dichter  anzog,  eignete  sich  zu  einer  solchen 
breiten  Behandlung.  Mit  richtigem  Takte  wählte  Aeschylus  für  seine 
historische  Tragödie  die  Form  des  Einzeldramas,  und  es  lag  nahe, 
nun  auch  bei  den  anderen  damit  verbundenen  Stücken  die  Verein- 
zelung durchzuführen.  Die  bildende  Kunst,  welche  frühzeitig  be- 
gonnen hatte,  Scenen  aus  den  verschiedensten  Sagenkreisen  neben 
einander  darzustellen,  war  vorausgegangen,   und  wie  diese  Bilder- 


mafsloser  A^'illkür  die  beiden  Oedipus  des  Sophokles  und  die  Antigone  zu 
einer  Trilogie  zu  verknöpfen  gewagt  hat.  —  Die  Verzeichnisse  der  Tragödien, 
die  uns  erhalten  sind,  gewähren  keinen  Aufschlufs;  denn  sie  sind  alphabetisch 
geordnet.  Hier  ward  also  von  dem  Zusammenhang  der  tetralogischen  Compo- 
sition ganz  abgesehen,  und  zwar  nicht  nur  bei  den  jüngeren  Dichtern,  sondern 
auch  bei  Aeschylus. 

101)  Aristias  gab  damals  den  Perseus,  Tantalns,  (der  Name  der  drittea 
Tragödie  wird  vermifst)  und  das  Satyrspiel  die  Ringer  (IlaXaiorafl  während 
Aeschylus  die  Oedipodie,  Polyphradmon  eine  Lykurgie  zur  Aufführung  brachte. 

102)  Als  einheitliche  Tetralogien  aus  der  Zeit  des  peloponnesischen  Krieges 
sind  nur  die  Pandionis  des  Philokles  und  die  Oedipodie  des  Meletus  bekannt ; 
denn  der  Dramacyklus  des  Euripides,  zu  dem  die  Troaden  gehörten,  fällt  nicht 
unter  diese  Kategorie. 

15* 


228  DRITTE   PERIODE   VON   500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

gruppen  durch  den  Reiz  bunter  Mannigfaltigkeit  ansprachen,  so 
übten  sicherhch  auch  diese  freieren  dramatischen  Compositionen, 
wo  Stücke  verschiedenartigen  Inhalts  mit  einander  vereinigt  waren, 
auf  das  Pubhkum,  welches  Abwechslung  verlangte,  eine  besondere 
Anziehungskraft  aus.  So  trug  die  neue  Form  bald  den  Sieg  davon. 
Auch  konnte  der  Dichter,  da  die  Zuhörer  durch  wiederholte  Bear- 
beitung der  Mythen  schon  mit  dem  Thatsächhchen  vollkommen  ver- 
traut waren,  um  so  eher  auf  die  Darstellung  des  Ganzen  verzichten 
und  sich  begnügen,  einen  einzelnen  Moment  herauszuheben.  Aufser- 
dem  war  der  Dichter,  der  einen  schon  von  anderen  dramatisch 
bearbeiteten  Stoff  wieder  aufnahm,  indem  er  sich  engere  Grenzen 
setzte,  nicht  so  sehr  durch  Rücksichten  auf  seine  Vorgänger  ge- 
hemmt. 

Es  ist  Schade,  dafs  man  die  einheitliche  Tetralogie  fallen  liefs. 
Hätte  man  diese  Form  consequent  fortgebildet,  so  dafs  die  drei  mit 
einander  verbundenen  Tragödien  nicht  drei  selbständige  Stücke, 
sondern  nur  drei  Akte  eines  den  zusammenhängenden  Verlauf  einer 
Geschichte  darstellenden  Dramas  bildeten,  so  hätte  dieser  Weg  zur 
Vollendung  der  dramatischen  Poesie  geführt.  Dann  war  man  im 
Stande,  eine  bedeutende  Handlung  in  ihrem  ganzen  Verlaufe  ohne 
unnatürhche  Hast  vorzuführen ;  in  voller  GegenständUchkeit  konnte 
der  Dichter  die  Entwicklung  der  Charaktere  schildern,  die  Leiden- 
schaft von  ihrem  ersten  Anfange  bis  zu  ihrem  Höhepunkte  dar- 
stellen.'**') Es  war  eher  ein  Rückschritt,  dafs  man  die  stoffmäfsige 
Einheit  der  Tetralogie  aufgab ;  denn  die  neue  Form,  wo  jedes  Drama 
seinen  besonderen  Inhalt  hat  und  ein  abgeschlossenes  Ganze  für 
sich  bildet,  legt  dem  Dichter  gröfseren  Zwang  auf  als  die  ursprüng- 
liche Compositionsweise. 

Bei  der  Vereinigung  der  einzelnen  Stücke  zu  einer  freien  Te- 
tralogie mag  ebenso  Zufall  wie  Absicht  eingewirkt  haben.  Oofter, 
zumal  wenn  die  Zeit  drängte,  wird  der  Dichter  .4rbeilen,  welche 
gerade  zur  Reife  gelangt  waren,  ziemlich  lose  vereinigt  haben,  in- 


10!})  So  hat  Aeschylus  denselben  Charakter  in  mehreren  zusammenge- 
hörenden Tragödien  dargestellt,  wie  den  Prometheus,  die  Klytämneslra.  Orestes. 
Eine  solche  ronsequenle  Fortbildung  des  Dramas  hätte  allerdings  wohl  auch 
eine  Vermehrung  der  handelnden  Personen  erfordert;  allein  die  Rücksicht  auf 
die  vermehrten  Kosten  wäre  damals  kein  Hindernifs  gewesen,  sobald  die  Kunst 
entschlossen  war,  den  letzten  entscheidenden  Schritt  zu  thun. 


DIE   DRAMATISCHE   POESIE.    DDE   TRAGÖDIE.    ELNLEITÜ.NG.  229 

dem  er  nur  für  Abwechslung  sorgte,  damit  das  Interesse  der  Zu- 
schauer nicht  ermattete.  Dann  aber  mag  derselbe  auch  wieder  län- 
gere Zeit  eine  solche  Composition  vorbereitet  und  nach  einem  wohl- 
berechneten Plane  bestimmte  Dramen  zusammen  auf  die  Bühne 
gebracht  haben,  die  durch  ein  inneres  ßand,  eine  ideale  gedanken- 
mäfsige  Einheit  verknüpft  waren.  In  der  Aufeinanderfolge  der  Stücke 
ward  gewifs  eine  bestimmte  Rücksicht  beobachtet :  man  verband  Tra- 
gödien contrastirenden  oder  auch  verwandten  Inhalts  oder  suchte 
eine  angemessene  Steigerung  zu  erzielen.  Ein  sicheres  ürtheil  ist 
uns  nicht  vergönnt,  da  keine  vollständige  Tetralogie  dieser  Gat- 
tung vorUegt;  aber  selbst  wenn  uns  eine  erhalten  wäre,  \vürde  es 
mifsHch  sein,  danach  das  Verfahren  der  griechischen  Tragiker  zu 
beurtheilen,  da  hier  sicherhch  eine  grofse  Mannigfaltigkeit  statt- 
fand. 

Wann  die  Tetralogie  aufkam,  wem  diese  Compositionsweise  ver-  Aeschyjus 
dankt  wird,  ist  nicht  überhefert ;  dafs  sie  den  Anfängen  der  tragi-  j'^^ij^'^g 
sehen  Kunst  fremd  war,  liegt  auf  der  Hand.  Wie  bei  den  Griechen  ein. 
jede  Kunst  sich  ruhig  fortschreitend  in  streng  organischer  Weise 
entwickelte,  so  mufste  auch  die  Tragödie  die  Periode  unvollkomme- 
ner Versuche  bereits  zurückgelegt  haben,  ehe  man  den  letzten  ent- 
scheidenden Schritt  wagen  und  zu  einem  grofsartigen  umfassenden 
künstlerischen  Plane  übergehen  konnte.  Die  Einführung  der  Tetra- 
logie setzt  eine  sehr  rege  poetische  Thätigkeit  voraus,  ^'ur  ein  all- 
gemein anerkannter  Dichter  konnte  diese  bedeutende  Neuerung 
durchsetzen;  denn  es  bedurfte  dazu  ebenso  des  vollen  Einverständ- 
nisses der  anderen  namhaften  Tragiker,  wie  der  bereitwiUigen  Mit- 
wirkung der  Behörden.  Man  hat  nur  zwischen  Phrynichus  und 
Aeschylus  zu  wählen.  Allein  Phrynichus  hält  im  Wesentlichen  die 
hergebrachte  Kunstform  der  Tragödie  fest"*'),  während  sein  jünge- 
rer Kunstgenosse  Aeschylus  eine  Reihe  mehr  oder  minder  tief  ein- 
greifender Aenderungen  durchgeführt  hat.  Liegt  uns  auch  kein 
ausdrückliches  Zeugnifs  vor,  so  geht  auch  aller  inneren  Wahrschein- 
lichkeit nach  diese  wichtige  Aenderung  eben  von  dem  eigentlichen 


104)  Es  ist  die  äufeerste  Wülkfir,  wenn  man  die  Bemerkung  des  Suidas 
II  2,  833  unter  2k)<pox).r,s:  xai  atro»  ^o|c  rot  S^ua  n^oi  Sgäfia  aycavi^ea&aif 
aWt  ftr;  ifTQa'Koyiav  in  den  Artikel  4>ovvixos  versetzt  und,  um  dann  den  ge- 
wünsciiten  Sinn  zu  erlangen,  die  Worte  umstellt:    tov  rexQaloyiav^  aXXa  firi 


230  DIUTTE   PERIODE   V0>-   500    BIS   300  V.  CHR.  G. 

Gesetzgeber  der  Tragödie'"*)  aus,  der  eben  durch  diese  Form  der 
Tragödie  die  Grofsheil  und  Würde,  die  er  vor  allem  anstrebte,  ver- 
lieh. Natürlich  konnte  Aeschylus  erst,  nachdem  er  festen  Fufs  ge- 
fafst  hatte  und  als  Dichter  allgemein  anerkannt  war,  daran  denken, 
die  Oekonomie  der  Tragödie  zum  Abschlufs  zu  bringen.  Aeschylus 
hat  aber  nur  langsam  die  Gunst  des  Pubhkums  sich  errungen ;  denn 
erst  Ol.  73,  4  ward  er  als  Sieger  im  Agon  ausgerufen.  Vorher  und 
wohl  auch  noch  in  den  nächsten  Jahren  hat  Aeschylus  nach  her- 
gebrachter Weise  einzelne  Tragödien  gedichtet,  wie  dies  auch  das 
Verzeichnifs  seiner  Dramen  bezeugt.*'*)  Erst  nach  den  Perserkriegen, 
wo  die  tragische  Kunst,  von  der  allgemeinen  Theilnahme  getragen, 
immer  freier  und  schöner  sich  entwickelte,  wird  der  Gebrauch  auf- 
gekommen sein,  mit  drei  Tragödien  und  einem  Satyrstück  zu  streiten, 
und  es  ist  nicht  unwahrscheinlich,  dafs  Ol.  75,  4  das  Geburtsjahr 
der  neuen  Kunstform  war.*")  Wenn  damals  Phrynichus,  nicht  Aeschy- 
lus den  ersten  Preis  davontrug,  so  war  dies  eben  das  Schicksal  des 
grofsen  Dichters,  dafs  der  äufsere  Erfolg  seinen  Verdiensten  nie- 
mals recht  entsprach. 
Tetralogie  Gestützt  auf  eine  ziemlich  unklare  Ueberlieferung  eines  späten 

Sophokles.  Grammatikers'"*)   hat  man  vielfach   behauptet,   Sophokles  habe  die 


105)  Aeschylus,  nicht  Phrynichus  hat  die  Tragödie  zu  der  Höhe,  die  sie 
fortan  behauptet,  erhoben ,  vgl.  die  Biographie  des  Aeschylus :  koytl^e'a&eo,  ort 
noXX(^  XaXsTtojze^v  r,v  inl  OeantSi,  <pQvvixc^  te  xal  Xot^iXep  eis  xoaövS» 
fieye&ovs  ifjv  zQaycpSiav  n^oayayelv,  17  in^  AiaxvXco  EiTtövra  eis  rrjy  2o- 
(foxliovi  iX&elv  TBhdirjTa.  Auch  die  Redaction  des  tragischen  Chores,  die 
der  Zeit  des  Aeschylus  angehört  und  offenbar  mit  der  Einführung  der  Tetra- 
logie zusammenhängt,  spricht  dafür. 

106)  Unter  90  Dramen  waren  70  Tragödien,  20  Satyrspiele. 

107)  Plutarch  Themist.  5:  kviarjae  Si  {0efttazoxXr;e)  xai  xoQrjycäv  roayqt- 
Sole,  fieyaXtjv  rore  r^Sr]  otiovStjv  xai  ftXort/iiav  zov  aycüvoi  övros.  Phry- 
nichus war  damals  der  siegreiche  Dichter,  und  man  vermulhet  mit  Wahrschein- 
lichkeit, dafs  er  die  Phönissen  aufführte  und  eben  diesem  Stücke  seinen  Erfolg 
verdankte.  Man  hat  gemeint,  Phrynichus  habe  sich  der  trilogischen  Compo- 
sition  IJtQcat,  Hvvd'üjxoi,  <Poitiaaai  bedient;  dies  ist  jedoch  ganz  unsicher. 
Phrynichus  konnte  sich  der  neuen  Kunstform  accommodiren,  indem  er  in  freie- 
rer Weise  ein  historisches  Drama  mit  mythischen  Stücken  verknüpfte. 

10b)  Suidas  2o9POxA^'s  II  2,  S3:i :  xai  aircs  (Wes  n^cÜTOi)  i;(}^i  rol  Soäfia 
iiQot  Bgäfia  dyüfrU^ea&ai ,  aXXii  fifj  rar^aXoyiav  (die  Handschr.  ar^toXoyiav 
oder  OTQnroXoytlad-at;  Eudocia  läfst  den  ganzen  Salz  fort)  d.  b.  ritfaXoyiar 
■nfbi  Ttx^nXoyior. 


DIE   DRAMATISCHE   POESIE.     DIE   TRAGÖDIE.     EINLEITUNG.  2-31 

tetralogische  Form  völlig  aufgegeben  und  nur  Einzeltiratnen  ge- 
dichtet. Durch  einen  merkwürdigen  Zufall  ist  uns  allerdings  von 
Tetralogien  des  Sophokles  durchaus  nichts  Genaueres  überliefert; 
^leiD  es  ist  Thatsache,  dafs  die  anderen  Dichter  dieser  Epoche,  wie 
Euripides,  Philokles,  Xenokles,  Meletus'°^),  diese  Weise  der  Compo- 
sition  festhielten.  Es  ist  ferner  Thatsache,  dafs  Sophokles  selbst  mit 
den  Tetralogien  anderer  Dichter  unmittelbar  concurrirte.  Ol.  85,  2 
erhielt  Sophokles  den  ersten  Preis,  Euripides  mit  einer  Tetralogie, 
zu  welcher  die  Alkestis  geborte,  den  zweiten  Preis.  Ol.  87,  1  tritt 
Sophokles  wieder  neben  Euripides  auf""),  der  vier  Dramen  zur  Auf- 
führung brachte,  darunter  die  Medea.  Nun  ist  es  aber  ganz  un- 
denkbar, dafs  an  demselben  Feste  ein  Dichter  mit  vier  Stücken  auf- 
trat, während  ein  anderer  sich  mit  einem  begnügte;  es  wäre  dies 
ein  ganz  ungleicher  Kampf  gewesen,  üeberhaupt  konnte  es  un- 
möghcb  von  der  Willkür  der  Dichter  abhängen,  ob  sie  mit  Tetra- 
logien oder  Einzeldramen  sich  am  Agon  betheiligen  wollten,  da  alle 
diese  Verbältnisse  fest  geregelt  waren.  Die  tetralogische  Form  hat 
sich  vielmehr,  seitdem  Aeschylus  dieselbe  eingeführt  hatte,  im  Gan- 
zen unverändert  an  beiden  Hauptfesten  an  den  gröfseren  oder  städti- 
schen Dionysien  und  den  Lenäen  behauptet.  Auch  Sophokles  ist 
dieser  Ordnung  alle  Zeit  treu  geblieben.  Aber  während  bei  Aeschy- 
lus und  den  älteren  Dichtern  die  einzelnen  Stücke  der  tetralogischen 
Composition  in  der  Regel  durch  die  Einheit  des  Mythus  verbunden 
waren,  verzichtete  Sophokles  meist  auf  diesen  stofliichen  Zusammen- 
hang; er  zog  es  vor,  Stücke  verschiedenen  Inhalts  mit  einander  zu 


109)  Philokles  dichtete  eine  IlavSiovls  rexQaXoyia,  Schol.  Aristoph.  Vögel 
2S1.  Xenokles  erhielt  Ol.  91,  1  den  ersten  Preis  OiSinoSi,  Avxäovi,  Bäxxais, 
^ui&äfiavri  aajv^ixc^,  Euripides  den  zweiten  yiXs^ävSo(o,  HaXa/iTiSr^,  TQcoaat, 
üiavfio  aaxvQix^  (Aelian  V.  H.  II  S);  Meletus  führte  eine  OiSiTioSeia  auf 
(Aristoteles  bei  Schol.  Plat.  p.  330  Bekk.  =  p.  1573  B  21).  Von  Euripides  kennen 
wir  aufser  der  eben  angeführten  Tetralogie  (Ol.  91, 1)  und  den  später  zu  erwäh- 
nenden Dramencyklen  Ol.  85,  2  und  ST,  1  noch  zwei  Trijogien:  Oenomaus,  Chry- 
sippus,  Phönissen  und  die  letzte  Arbeit,  Jphigeneia  in  Aulis,  Alkmäon,  Bacchen. 
In  beiden  Fällen  wird  das  Satyrdrama  nicht  genannt;  es  war  wohl  schon  in 
der  alexandrinischen  Zeit  verschollen. 

HO)  Die  Didaskalie  der  Alkestis  des  Euripides:  n^cötoi  i^v  üofoxjiiji, 
SeirsQOi  EvqmiSrfi  K^r^aaan,  'Akx/iaicovi  rcji  Sia  f{o<fl8os,  Tr^Xe'fCjt,  ^Akx^' 
CTiSi  (Ol.  S5,  2)  und  die  Didaskalie  der  Medea:  7tQ(öxoi  Exxpo^itov,  SsvreQOi 
-2^ofoxXr,t,  TQt'roi  Ei-^inidr^s  Mr,Seta,  ^tloxT^xfi,  Jixzv't,   Oä^toraU  aarvqoii. 


232  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS   300  V.  CHR.  G. 

verknüpfen.   So  bildete  auch  jedes  Drama  der  Tetralogie  ein  in  sich 
abgeschlossenes  Ganze. 

Euripides  folgt  dem  Beispiele  des  Sophokles  und  bat  wohl  nie- 
mals mehrere  Tragödien  zu  einer  strengen  historischen  Einheit  ver- 
knüpft.'") IS'ur  die  Schule  des  Aeschylus  gab  die  Kunstform  des 
Meisters  nicht  auf"*),  aber  auch  sie  sah  wohl  häufig  von  der  Aus- 
führung eines  umfassenden  dramatischen  Planes  ab.  Die  jüngeren 
Tragiker  scheinen  ganz  allgemein  ihre  Stücke  einfach  aneinander- 
gereiht zu  haben.  So  ward  zwar  die  äufsere  Form  der  Tetralogie 
beibehalten,  aber  sie  büfste  durch  die  Isolirung  der  Stücke  ihre 
reclite  Bedeutung  ein.  Denn  selbst  der  ideelle  Zusammenhang,  der 
früher  gewifs  sorgfältiger  beobachtet  wurde,  mochte  mehr  und  mehr 
aufser  Acht  gelassen  werden,  indem  Sophokles  den  geschlossenen 
Organismus  eines  dramatischen  Cyklus  aufgiebt,  hat  er  eigenthch 
die  Auflösung  der  tetralogischen  Kunslform  herbeigeführt.  Freilich 
finden  sich  die  Anfänge  dieser  loseren  Verbindung  bereits  bei  Aeschy- 
lus, aber  es  ist  doch  etwas  anderes,  wenn  es  jetzt  Norm  wird,  auf 
den  historischen  Zusammenhang  zu  verzichten. 


111)  Sophokles  mag  wenigstens  in  der  früheren  Zeit  noch  Tetralogien  im 
vollen  Wortsinne  geschiieben  haben.  Von  Euripides  liefse  sich  nur  eine  Didas- 
kalie  mit  gewissem  Scheine  anführen,  Alexandres,  Palamedes,  Troaden,  Sisy- 
phus,  insofern  die  drei  Tragödien  ebenmäfsig  dem  troischen  Sagenkreise  an- 
gehören. Und  der  Alexandros ,  wo  der  (roische  Königssohn  wieder  in  seine 
Familie  aufgenommen  wird,  über  die  er  Verderben  bringen  sollte,  entspricht 
sehr  passend  den  Troaden,  die  den  Untergang  Troias  und  die  Erfüllung  der 
unheilvollen  Prophezeiung  darstellen:  allein  das  mittlere  Drama,  wo  der  schuld- 
lose Palamedes  durch  die  Ränke  des  Odysscus  ins  Verderben  gestürzt  wird, 
steht  weder  mit  der  ersten  noch  der  dritten  Tragödie  in  einem  inneren  Zu- 
sammenhange; wohl  aber  bildet  der  arglistige  Odysseus  zu  dem  schlauen  Si- 
syphus,  dem  Helden  des  Satyrspiels,  ein  schickliches  Gegenbild.  Ebenso  wenig 
bilden  die  Phönissen  mit  den  dazu  gehörenden  Tragödien  einen  wirklichen 
Sagencyklus.  Chrysippus,  Oedipus  und  Phönissen  würden  eine  richtige  Trilogie 
bilden ,  aber  den  Oedipus  wird  Euripides  schon  früher  geschrieben  haben.  So 
fehlt  der  Trilogie  das  unentbehrliche  Mittelglied,  und  er  dichtete  daher  als 
ersie  Tragödie  den  Oenomaus,  der  doch  nur  in  einem  entfernten  Verhältnisse 
zum  Chrysippus  stehen  konnte. 

112)  Dies  beweist  die  Pandionis  des  Philokles.  Auch  Melelus  dichtete 
eine  Oedipodie,  eine  Trilogie  vielleicht  Nikomachus,  nämlich  AeonröXsftoi,  TIsq- 
aii,  IJolv^fvr],  obwohl  es  kaum  möglich  ist,  aus  dem  vermifsten  Artikel  bei 
Suidas  II  l,9b'J  ein  verlussiges  Resultat  zu  gewinnen.  Dabei  ist  vorausgesetzt, 
dafs  die  meisten  Dramentitel  dem  älteren  Nikomachus  aus  Athen,  einem  Zeitge- 
nossen des  Euripides,  nicht  wie  Suidas  aiigicbt.  dem  Jüngern  Alexandriner  gehören. 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.     DIE    TRAGÖDIE.     EI>XEITÜ>G.  233 

Jene  üeberlieferimg  bei  Suidas  deutet  in  ihrer  kurzen  und  nicht 
gerade  klaren  Fassung  wohl  noch  auf  eine  andere  damit  zusammen- 
hängende Neuerung  hin.  Man  hat  vermuthet,  dafs,  während  früher 
die  vier  Dramen  zusammen  aufgeführt  wurden,  also  auf  jeden  Thea- 
tertag eine  Tetralogie  kam,  von  jetzt  an  an  jedem  Tage  immer  nur 
ein  SlUck  eines  der  drei  concurrirenden  Dichler  auf  die  Bühne  ge- 
bracht wurde.  Dies  war  ausführbar,  wenn  jedes  Drama  eine  voll- 
kommen selbständige  Dichtung  war,  und  man  begreift  sehr  wohl, 
wie  man  auf  eine  solche  Neuerung  fallen  konnte.  Bei  der  herkömm- 
lichen Praxis  war  der  Tragiker,  dessen  Stücke  am  ersten  Tage  auf- 
geführt wurden,  gegen  seine  Mitbewerber  einigermafsen  im  Nach- 
theile; denn  der  letzte  Eindruck  pflegt  in  der  Regel  der  stärkste 
zu  sein  "^,  und  die  Preisrichter  konnten  sich  diesem  Einflüsse  schwer 
entziehen.  Im  Interesse  der  Bilhgkeit  scheint  also  eine  solche  An- 
ordnung empfehlenswerth.  Gleichwohl  stehen  gegründete  Bedenken 
jener  Hypothese  entgegen.  Denn  einzelne  dichteten  auch  jetzt  noch 
Tetralogien  nach  alter  Weise;  diese  aber  wären  sehr  empfindlich 
geschädigt  worden,  wenn  man  willkürHch  den  Zusammenhang  gelöst 
hätte.  Dann  würden  drei  Tage  nicht  mehr  genügt  haben;  man 
mufste  nothwendig  noch  einen  vierten  Spieltag  zusetzen.  Von  einer 
solchen  Vermehrung  ist  jedoch  in  der  Zeit  des  Sophokles  keine  Spur 
wahi-zunehmen.  Aufserdem  hätte  diese  Einrichtung  genöthigt,  die 
drei  Satyrdramen  an  einem  Tage  hinter  einander  aufzuführen,  was 
höchst  unzweckmäfsig  war.  Endhch  würden  die  Komödiendichter 
wohl  das  gleiche  Recht  beansprucht  haben;  aber  aus  Aristophanes 
geht  deuthch  hervor,  dafs  hier  die  alte  Sitte  festgehalten  wurde."*) 
An  der  äufseren  Organisation  ward  offenbar  nichts  geändert"*); 
dagegen  hat  wohl  Sophokles  durchgesetzt,  dafs  die  Preisrichter  nicht 


113)  Daher  die  Klagen  des  Aristophanes  Eccles.  llöSff.  Aristoteles  freilich 
Polit.  VII  15,  10  p.  1336  B  33  urtheilt  in  einem  anderen  Falle,  wo  er  dem  tragi- 
schen Schauspieler  Theodorus  beipflichtet,  anders:  nävxa  ya^  are'^yofisv  xa 
TtQcäica  juäXlov. 

114)  Aristophanes  Eccles.  1154 ff.  Hätte  man  sich  entschlossen,  die  Ko- 
mödien an  einem  Tage  hinter  einander  aufzuführen,  so  mufste  man  nochmals 
einen  neuen  Spieltag  hinzusetzen. 

115)  Wenn  Aelian  V.  H.  II  13  berichtet,  Sophokles  habe  das  Schauspiel 
nur  selten  besucht,  sei  aber  in  das  Theater  gegangen:  e'i  nore  EiQiniSrjs  o  t^s 
Tgay{p8ias  noiTjrr^i  rjycavi^txo  xaivoTs  roaycpSoii,  so  deutet  auch  dies  darauf 
hin,  dafs  die  vier  Dramen  des  Euripides  an  einem  Tage  gegeben  wurden. 


234  DRITTE   PERIODE    VON    500    BIS   300  V.  CHR.  G. 

mehr  wie  früher  über  jede  Tetralogie  ihre  Stimmen  abgaben,  son- 
dern jedes  Drama  für  sich  als  eine  selbständige  Dichtung  beurtheil- 
len,  und  dann  erst  wurde  das  Resultat  über  die  gesammte  Leistung 
eines  Dichters  festgestellt."') 

Auch  nach  dem  peloponnesischen  Kriege  ward  die  Form  der 
tetralogischen  Composition  beibehalten.  Dafs  unter  Piatos  poetischen 
Jugendarbeiten  eine  Tetralogie  genannt  wird"^),  hat  zwar  keine  aus- 
reichende Beweiskraft,  da  dies  nur  ein  schriftstellerischer  Versuch 
war,  allein  die  Didaskalien  aus  der  Zeit  des  Demosthenes  bezeugen 
hinlänghch  das  Fortbestehen  der  alten  Praxis."*) 

Neben  den  Tetralogien  mag  man  seit  der  Zeit  des  Sophokles 
auch  begonnen  haben ,  ganz  selbständige  Einzeldramen  zu  dichten ; 
denn  da  das  Interesse  an  dramatischen  Aufführungen  immer  mehr 
zunahm  und  gröfsere  Gemeinden,  wie  der  Peiräeus,  sich  nicht  mehr 
mit  der  Wiederholung  älterer  Stücke  begnügen  mochten"^),  lag  es 
nahe,  dafs  die  altischen  Tragiker  auch  diesem  Bedürfnisse  zu  ge- 
nügen suchten.  Für  die  beschränkten  Mittel  dieser  Gemeinden 
waren  Tetralogien  nicht  geeignet;  hier  fand  das  Einzeldrama  seine 
passende  Stelle.'=^) 

116)  Dies  eben  ist  in  den  Worten  des  Suidas  S^äfin  jtQoi  S^/ia  ayoi- 
vCCfiod'ai,  aVka  ftrj  rsT^aloyiav  ausgesprochen. 

117)  Diog.  Laert.  [HI  56.  57.  Aeiian  V.  H.  II  30], 

118)  Die  Insclirift  im  CIG.  231  KaXXtar^azoe . .  .l4fifiX6xv t  'ISio{vt)  .  .  . 
Wie  es  in  Alexandria  gehalten  wurde,  ist  unbekannt. 

119)  Auf  diesen  kleineren  Bühnen  wird  man  frühzeitig  begonnen  haben, 
einzelne  Tragödien,  die  man  aus  dem  tetralogischen  Verband  loslöste,  zu  wie- 
derholen. 

120)  Die  Vermulhung,  an  den  Lenäen  habe  man  einzelne  Tragödien  auf- 
geführt und  eben  darauf  sei  die  Notiz  bei  Suidas  über  Sophokles  {S^ä/^a  ttqö» 
S^äfin  aycDvi^ead'ai)  zu  beschränken,  ist  nicht  begründet.  Dafs  an  den  Lenäen 
gerade  so  wie  an  den  grofsen  Dionysien  auch  während  des  peloponnesischen 
Krieges  Tetralogien  üblich  waren,  beweist  die  Oedipodie  des  Meletus ;  denn  sie 
ward  an  den  Lenäen  aufgeführt,  da  Aristophanes  in  den  Ilslapyoi,  die  den 
grofsen  Dionysien  desselben  Jahres  angehören,  sich  darauf  bezog,  Schol.  zu 
Plato  p.  330  Bekk.  Auf  dieselbe  Aufführung  geht  wohl  auch  der  Spott  des 
Komikers  Sannyrio  fr.  3.  Com.  II  2, 873 :  Melrjxov  i6v  ano  yh;vaiov  vsxqÖv.  Wenn 
der  Tyrann  Dionysius  an  den  Lenäen  eine  Tragödie '.ßxTO(>Ob  kvxQa  zur  Aufführung 
brachte  (s.  Tzelzes  Chiliad.  V  180),  so  beweist  dies  keineswegs,  dafs  der  Agon  auf 
Einzeldramen  beschränkt  war.  Flato  Sympos.  173A  sagt  von  dem  Siege  des 
Agalhon  an  den  Lenäen:  Zxe  jtj  n^cirrj  jfayiftSt'a  irixr;afy;  hier  ist  r^nyoiSia 
soviel  als  j^ayt^SoU  ro  tt^cjtov.     Aehnlich  ilnickl  siil»    die    parische  Chrmiik 


DIE   DRAMATISCHE    POESIE.     DIE    TRAGÜDIE.     EINLEITUNG.  235 

Dafs  auch  an  den  Lenäen  Tragödien  aufgeführt  wurden,  so  gutTragödie  an 
wie  Komödien  an  den  giofsen  Dionysien,  ist  sicher,  und  zwar  nicht 
erst  nach  Ablauf  des  fünften  Jahrhunderts,  wie  manche  meinen, 
sondern  weit  früher,  da  bereits  Aeschylus  sich  an  diesem  Agon  be- 
theiligte. Seit  Ol.  79,  wo  der  Komödie  nicht  nur  die  Choregie  für 
die  Lenäen  gewährt  wurde,  sondern  sie  auch  Zutritt  zu  dem  Haupt- 
feste erlangte,  traten  tragische  Dichter  regelmäfsig  auch  an  den 
Lenäen,  jedoch  nicht  mit  Tetralogien,  sondern  mit  einzelnen  Tra- 
gödien auf.'") 

i\un  gewinnt  auch  die  Ueberlieferung ,  Sophokles  habe  zuerst  Die  Einxei- 
den  Wettkampf  mit  einzelnen  Tragödien  aufgebracht,  ihr  rechtes  Jr^f'^n. 
Verständnifs.'^)  Sophokles  hat  Ol.  78  im  Einvernehmen  mit  Aeschylusnchtung  des 

Sophokles. 

Ep.  "2  voa  Sophokles  aus,  wo  nothwendig  eine  Tetralogie  vorauszusetzen  ist, 
und  der  gleiche  Ausdruck  ist  auch  vorher  Ep.  65  vom  ersten  Siege  des  Aeschy- 
lus gebraucht,  wo  offenbar  diese  Kunstform  noch  unbekannt  war. 

121)  Für  die  Zeit  vom  Tode  des  Aeschylus  bis  zum  Tode  des  Sophokles 
und  Euripides  (Ol.  81  —  93)  läfst  sich  dies  durch  Zahlen  erweisen.  Sophokles, 
Euripides  und  ihre  Zeitgenossen  Aristarch,  Achäus,  Ion,  Xeophron,  Philokles, 
lophon  haben  zusammen  mehr  als  600  Dramen  gedichtet.  Rechnen  wir  für  die 
übrigen  Tragiker  dieses  Zeitraumes,  welche  jenen  an  Fruchtbarkeit  nicht  gleich- 
kamen, 200  Stücke,  so  reicht  diese  Zahl  von  SOO  Dramen  gerade  aus,  wenn 
in  jedem  Jahre  an  den  grofsen  Dionysien  zwölf,  an  den  Lenäen  drei  Dramen 
zur  Aufführung  kamen;  jene  Zahl  wäre  viel  zu  gering,  wenn  damals  an  beiden 
Festen  Tetralogien  um  den  Preis  gekämpft  hätten.  Denn  eine  solche  Einrich- 
tung würde  1300  Dramen  erfordert  haben,  aber  andererseits  wäre  die  Zahl  zu 
hoch,  wenn  der  tragische  Agon  auf  die  grofsen  Dionysien  beschränkt  war. 

122)  SmAas  \l  2,  HZ  :  ^OfOxXr^S  ...xai  avTOS  {lies  7t  ^  cur  oi)  r;^^erov  Soäfia 
TtQos  Soäfia  ayojvi^ea&at,  aXla  firj  rsxQaXoyiav  (zwei  Hdschr.  ar^aToloyeTa&at, 
was  man  in  Ter^aXoyslo&ai  ändert,  aber  der  Sprachgebrauch  verlangt  rsTQa/u>- 
yaU).  Man  hat  diese  Notiz  sehr  verschieden  gedeutet  oder  auch  als  werthlos 
und  jeder  Gewähr  entbehrend  verworfen,  ja  man  hat  sogar  durch  Versetzung 
der  Negation  die  erste  Einführung  der  Tetralogie  gefunden  und  daher  alles  auf 
Phrynichus  bezogen.  Die  Worte  weisen  offenbar  auf  eine  veränderte  Einrich- 
tung des  Agons  hin,  die  eben  bei  der  ersten  Einführung  der  tragischen  Choregie 
an  den  Lenäen  getroffen  wurde,  also  den  längst  bestehenden  aarixos  aycov 
gar  nicht  berührte.  Plato  Symp.  1T3A  rfj  i^aycoSia  ivixr,<i£v  6  ^Ayctd'üiv  ist 
also  wörtlich  zu  verstehen;  denn  der  Sieg  ward  nach  Athenäus  V  217  A  an  den 
Lenäen  gewonnen.  Auch  Plato  deutet  darauf  hin,  wenn  er  von  den  langen  Näch- 
ten spricht,  hält  jedoch  diese  Aenderung  nicht  fest,  wenn  er  von  einem  hel- 
lenischen Publikum  bei  der  Feslfeier  redet.  Aeschylus  ist  ein  und  das  andere 
Mal  an  den  Lenäen  aufgetreten,  Sophokles  öfter,  da  er,  wie  es  scheint,  sechs- 
mal hier  den  Preis  erhielt.     Euripides'  erstes  Stück,  die  Peliaden,   können  aa 


236  DRITTE    PERIODE    VOIS    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

den  Agon  der  Tragiker  in  diesem  beschränkten  Umfange  an  den 
Lenäcn  geordnet,  um  so  jüngeren  Dichtern  Gelegeulieit  zu  geben, 
ihre  Kräfte  an  mäfsigeren  Aufgaben  und  in  einem  engeren  Kreise 
zu  versuchen.  Daraus  erklärt  sich,  dafs  der  Aulführung  von  Tragö- 
dien an  den  Lenäen  in  diesem  Zeiträume  nur  selten  gedacht  wird ; 
die  namhaften  Dichter,  zumal  Sophokles  und  Euripides,  waren  vor- 
zugsweise für  das  Hauptfest  thätig;  sie  dichteten  Tetralogien,  nicht 
einzelne  Tragödien. 

Das  Saiyr-  Aus  den  alten  Satyrchören  ist  die  Tragödie  hervorgegangen.'") 

drama.  ^^^^  nachdem  Thespis  das  dramatische  Element  ausbildete  und  seiner 
neuen  Schöpfung  einen  mehr  ernsten  Charakter  gab,  vermifste  man 
ungern  die  hergebrachte  Weise.  Pratinas  führte  den  Satyrchor  in 
Athen  wieder  ein  und  ist  als  der  erste  Begründer  des  Satyrdramas 
zu  betrachten'"),  welches  fortan  neben  der  Tragödie  seine  Stelle 
behauptete."'*)  Die  Einführung  der  Tetralogie  berührte  nothwendig 
auch  das  Satyrdrama ;  denn  indem  der  Tragödie  Raum  zu  voller  Ent- 
wicklung vergönnt  war  und  das  Satyrdrama  als  heiteres  Nachspiel 
den  Abschlufs  der  Composition  bildete,  erscheint  es  der  Tragödie 
nicht  mehr  vollkommen  gleichberechtigt. 

den  Lenäen  Ol.  81,  1  aufgeführt  sein;  doch  ist  dies  nicht  sicher,  da  man  auch 
einen  Dramencyklus  mit  dem  Namen  des  ersten  Stückes  bezeichnete,  wie  der 
Parthenopäus  des  Astydamas  beweist.  Die  Ghoregie  an  den  Lenäen  war  wegen 
der  Beschränkung  auf  ein  Drama  minder  kostspielig;  als  daher  Ol.  93,  3  das 
avvSvo  xo^iyeiv  für  den  ciffTitcde  aytov  gestattet  wurde,  bestand  doch  an  den 
Lenäen  die  frühere  Einrichtung  fort.  Erst  durch  die  Reform  der  scenischen 
Spiele  um  Ol.  97  wurde  die  Einrichtung  des  Sophokles  beseitigt. 

1 23)  Aristot.  Poet.  c.  4, 17  p.  1449  A  20.  Diese  ältesten  Satyrstücke,  wenn 
es  erlaubt  ist,  vor  Pratinas  diesen  Namen  zu  gebrauchen,  waren  rein  lyrischer 
Art,  Athen.  XIV  61 7 BIT. 

124)  Die  Schrift  des  Chamäleon  ne^i  aatvQoiv  handeile  offenbar  vom 
Satyrdrama  und  seinem  Ursprünge.  Dafs  die  Ausbildung  des  Satyrdramas,  das 
Verdienst  des  Pratinas,  auf  die  Anfange  der  Tragödie  durch  Thespis  folgt, 
deutet  Horaz  A.  P.  221   an. 

125)  Es  wird  jetzt  in  der  Regel  jeder  Dichter  eine  Tragödie  und  ein 
Salyrslück  aufgeführt  haben.  Wenn  dem  Ausdrucke  jigoetanyBtv  bei  den  Parö- 
miographen  {ovSev  n^oi  xov  Jiöwaov)  zu  trauen  ist,  (doch  darf  man  zur 
Unterstützung  dieser  Lesart  sich  nicht  auf  Mar.  Victor.  II  11,7,  VI  99  K.  berufen) 
ging  das  Salyrdrama  voran:  dann  hätte  erst  Aeschylus  das  groteske  Vorspiel 
zum  Nachspiel  gemacht.  Auf  die  Tetralogie  bezieht  sich  die  Glosse  bei  Photius 
u.  a.:  catvftxa  S^ä/inra  fiera  nkeiova  (r faytxä)  r,v  t&os  vnoxQivea&ai, 
iv  ole  fiexu^  TotTM  iftiywov  ngoi  Stii)(vaiv. 


DIE    DR.\MATISCHE   POESIE.     DIE   TRAGÖDIE.     EINLEITUNG.  237 

Das  Satyrdrama,  welches  gleichsam  den  Eindruck  eines  Wein- 
rausches macht,  hat  den  Charakter  des  alten  Maskenspieles  zu  Ehren 
des  Dionysus  am  reinsten  bewahrt.  Hier  äufserte  sich  die  ausge- 
lassene Festlust  unter  dem  Schutze  der  Religion  in  voller  Freiheit.'^*) 
So  behauptet  der  Gott  sein  durch  der  Väter  Sitte  geheiHgtes  Recht, 
und  zugleich  ward  der  Uebergang  von  dem  hohen  Ernst  der  Tra- 
gödie zu  den  Freuden  des  Festes,  welche  die  Zuschauer  nach  der 
Vorstellung  im  Theater  erwarteten,  durch  das  heitere  Nachspiel  schick- 
lich vermittelt*"),  aber  zugleich  ward  durch  die  enge  Verbindung 
der  Tragödie  der  kecke  Muthwille  des  Satyrchores  ermäfsigt.'^)  Ge- 
rade in  dem  Contraste  zwischen  den  heroischen  Charakteren  und 
der  fremdartigen  Umgebung,  in  der  sie  auftreten,  liegt  zum  guten 
Theil  die  Wirkung  des  Satyrdramas.  Indem  Götter  und  Dämonen, 
die  Helden  der  epischen  Dichtung  und  der  Tragödie,  mit  den  necki- 
schen, possenhaften  Waldgeistern  verkehren  und  seltsame,  mehr 
komische  als  ernste  Abenteuer  bestehen,  werden  sie  in  eine  niedere 
Sphäre  herabgezogen,  wissen  aber  doch  immer  ihre  angeborene 
Würde  zu  behaupten. ^^) 

Diese  Waldgeister,  das  Gefolge  des  Dionysus,  dem  die  Menschen 
das  Geschenk  des  Weines  verdanken,  erscheinen  als  die  Repräsen- 
tanten unverwüsthcher  Naturkraft  und  naiver  Sinnhchkeit.  Der  Ernst 
des  Lebens,  sittliches  Gefühl,  Sinn  für  Anstand  ist  ihnen  unbekannt ; 
alles  ist  auf  den  Genufs  des  Augenbhckes  gerichtet,  die  herzer- 
freuende Gabe  des  Gottes  steigert  den  Uebermuth  bis  zur  Frechheit. 
Die  üppige  Natur  der  Satyrn  verräth  sich  in  unzüchtigen  Bewegungen 


126)  Es  war  eine  Nachahmung  der  Nymphen,  Pane,  Satyrn  und  Silene 
in  der  Trunkenheil,  Plato  Gesetze  VII  Sl 5 C.  Sympos.  222D:  xo  aarvQtxöv  aov 
Soäfia  raiTO  xcu  aeiXrjvixov.  Politic.  303  C:  coaneQ  Sgäfia,  xa&äne^  kÖQrjd'ri 
vvv  St}  xevxavotxov  oQaad'ai  xal  aaxvQixöv  rtva  S'iaaov, 

127)  Plutarch  Pericl.  5  führt  das  Urtheil  des  Ion  über  Perikles  an,  dem 
das  ernste,  gemessene  Wesen  dieses  Staatsmannes  minder  zusagte,  als  die  Leut- 
seligkeit des  Kimon,  und  fügt  hinzu:  all'  'Icova  fiiv  öianeQ  XQayixrjv  StSa- 
axaXiav  a^ioiivza  rrjv  aQsxrjv  i'^siv  rt  nävrois  xal  aarvotxov  tieoos  käfisv. 

12S)  Das  Scherzhafte,  Neckische  ist  der  Grund  ton  des  Satyrdramas.  De- 
metrius  de  eloc.  169  Rhet.  IX  76  Walz  eignet  dem  Satyrstück  und  der  Komödie 
das  yeXolov,  der  Tragödie  ;Ka(WTCS  zu:  ovSe  ya^  inivoT^asisv  av  Tis  r^aycoSiav 
nai^ovaav,  inei  aaxvgov  yqä\pei.  avri  XQaycoSlas. 

129)  Ob  die  Dichter  immer  die  Grenzlinie  streng  inne  hielten,  steht 
dahin. 


238  »RITTE   PERIODE   VON    500   BIS   300  V.  CHR.  G. 

und  Späfsen.  Neckereien  und  Possen,  in  Worten  und  Thaten  ge- 
übt ,  ist  das  Element  der  Satyrn ;  ihr  Muthwille  kennt  keine  Gren- 
zen, ist  aber  doch  meist  harmlos  und  zieht  unwillkürlich  jeden,  der 
sich  naht,  in  diesen  Kreis  herein.  Das  Vorbild  des  Helden,  mit  dem 
sie  gerade  verkehren,  scheint  wohl  auch  ihre  schlummernde  That- 
kraft  zu  wecken,  aber  ihr  Muth,  der  sich  nur  in  prahlerischen  Re- 
den kund  giebt,  besteht  die  Probe  nicht.  Die  Satyrn  sind  feige 
und  unzuverlässige  Bundesgenossen.  Mit  diesem  Naturell  harmonirt 
die  äufsere  Erscheinung  und  Umgebung:  gewöhnHch  fast  nackend, 
häfslich  und  halb  thierisch  anzusehen'^"),  waren  sie  in  steter  un- 
ruhiger Bewegung.  Dem  Bocksfelle,  mit  dem  sie  in  der  Regel  be- 
kleidet auftraten,  entsprachen  die  muthwilligen  Bocksprünge.  Wilder 
Wald  und  einsames  Felsgebirg  ist  das  passende  Terrain  für  diese 
grotesken  Gesellen,  welche  von  höherer  Cultur  durchaus  unberührt 
sind. 

Der  Grundton  der  Lieder  des  Chores,  welcher  regelmäfsig  aus 
Satyrn  besteht"')  und  ebendaher  den  eigenthümlichen  Charakter 
der  Gattung  auf  das  Klarste  darstellt,  ist  ausgelassene  Heiterkeit. 
Der  Dichter  bewegt  sich  hier  vollkommen  frei;  daher  wandte  sich 
der  Chor  zuweilen  nach  Art  der  Parabase  in  der  Komödie  von  der 
Handlung  ganz  ab  zum  Publikum."*) 
Stoffe  des  Acschylus,  der  Gründer  der  Tetralogie,  bewahrt  auch  hier  seinen 

Satjrdramas.gjjjjj  für  künstlerische  Composition,  indem  bei  ihm  das  Nachspiel 
mit  der  tragischen  Trilogie  in  der  Regel  in  einem  organischen  Zu- 
sammenhange stand."')  Er  wufste  in  dem  Mythenkreise,  den  er 
sich  für  einen  dramatischen  Cyklus  erlesen  hatte,  immer  einen  Aus- 
läufer zu  finden,  der  sich  für  einen  Satyrchor  eignete.  Aeschylus* 
Nachfolger,  indem  sie  auf  den  stofflichen  Zusammenhang  der  Dra- 
men verzichten,  bewegen  sich  in  voller  Freiheil,  und  der  unerschopf- 


130)  Die  mannigfachen  Abstufungen  und  Varietäten  dieser  Begleiter  des 
Dionysus  vergegenwärtigen  zahlreiche  Denkmäler  der  bildenden  Kunst. 

131)  Daher  auch  statt  aarv^ixöv  S^ä/ua  ganz  gewöhnlich  der  Ausdruck 
eäiv^oi  (oäjvgos  Demetrius  de  eloc.  109)  vorkommt.  Frauenchöre,  z.  B.  von 
Nymphen  oder  Bacchantinnen,  lassen  sich  nicht  mit  Sicherheit  nachweisen. 

132)  Wie  die  Verse  aus  dem  Herakles  des  Astydamas  bei  Athen.  X  411  A 
beweisen;  auch  das  Eupolideische  Versmafs  erinnert  an  die  Komödie. 

133)  So  der  IJQiaxtxt  in  der  Orestie,  die  ^iy^  in  der  thebanischen  Te- 
tralogie, der  jitxoipyos  in  der  Lykurgie. 


DIE    DRAMATISCHE   POESIE.     DIE   TRAGÖDIE.     EINLEITUNG.  239 

liehe  Schatz  der  Sage  bot  eine  Fülle  geeigneter  Stoffe  zu  behebiger 
Auswahl  dar. 

Wie  Satyrn  den  Chor  bilden,  so  lag  nichts  näher,  als  den 
Mythenkreis  des  Dionysus  selbst  zu  benutzen."'')  Die  Erfindung  des 
"Weines  und  die  Wirkungen,  welche  die  ungewohnte  Gabe  des  Got- 
tes ausübte,  die  Kämpfe  des  Dionysus,  dessen  CuUus  bei  seiner  ersten 
Einführung  auf  hartnäckigen  Widerstand  stiefs,  Liebesabenteuer  und 
andere  heitere  neckische  Scenen  aus  seinem  bewegten  Leben  for- 
derten von  selbst  zu  dramatischer  Bearbeitung  auf.'")  Hätte  jedoch 
das  Satyrspiel  sich  fortwährend  in  diesem  Kreise  bewegt,  so  waren 
ermüdende  Wiederholungen  nicht  zu  vermeiden.  Man  sah  sich  daher 
nach  geeigneten  Stoffen  in  den  verschiedenen  Theilen  des  weiten 
Gebietes  der  Sage  um.  Mit  Vorhebe  wurden  Bilder  der  Urzeit,  wo 
die  Menschen  noch  im  Naturzustande  verharrten,  vorgeführt.  So 
schilderte  Sophokles  in  der  Pandora  die  Schöpfung  des  Menschen- 
geschlechts, Aeschylus  im  Prometheus  die  Mittheilung  des  Feuers.'^) 
Die  beliebtesten  Figuren  des  Satyrdramas  sind  Riesen  und  Unholde, 
wie  Antäus  und  Busiris,  der  Frevler  Salmoneus,  Räuber  und  gewalt- 
thätige,  ungeschlachte  Gesellen,  wie  Araykus,  Syleus,  Kerkyon,  der 
Kyklop  Polyphemus"^),  oder  Meister  der  List  und  Verschlagenheit, 
wie  Autolykus  und  Sisyphus,  dann  dämonische  Gestalten,  wie  die 
Zauberin  Kirke."*)  Hier  bot  sich  zugleich  Gelegenheit  dar,  die  ge- 
feierten Namen  der  Heroensage,  Herakles,  Theseus,  das  Brüderpaar 
der  Dioskuren,  Odysseus,  einzuführen  und  zu  zeigen,  wie  der  Adel 
ritterlichen  Wesens  in  den  Kämpfen  mit  roher  Gewalt   oder  über- 


134)  Ob  nach  dem  "Vorgänge  des  Asklepiades  (r^ayipSorfura)  und  anderer 
auch  die  Stoffe  des  Satyrdrannas  übersichtlich  zusammengestellt  wurden,  wissen 
wir  nicht;  die  aarv^ixä  des  Derkyllus  beruhen  auf  einem  erdichteten  Citate. 

135)  Hierher  gehören  der  AvAovqyoi  des  Aeschylus  (obwohl  wir  über  den 
Inhalt  des  Stückes  nichts  Genaueres  wissen),  das  Jiowaiaxov  Sqü/uu  des  So- 
phokles, der  "H^aiaToe  des  Achäus.  Euripides  im  Kykl,  V.  4  ff.,  11  und  38 
spielt  wohl  auf  bekannte  Satyrdramen  verwandten  Inhalts  an. 

136)  Auch  die  l4^yc6  des  Aeschylus  war  wohl  ein  Satyrspiel;  das  Er- 
staunen, welches  der  Anblick  des  ersten  Schiffes  erregen  mufste,  war  eine 
ganz  geeignete  Stimmung.  Wie  die  Menschen  das  Geschenk  ewiger  Jugend 
wieder  einbüfsten,  hatte  Sophokles  in  den  Kco<foi  und  schon  früher  Aristias  ge- 
schildert. 

137)  Den  blinden  Riesen  Orion  hatte  Sophokles  im  Krßa)üa)v  vorgeführt. 

138)  Auch  der  rXalxos  üörtioi  des  Aeschylus  war  wohl  ein  Satyr- 
drama. 


240  DRITTE    PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

natürliclieu  Mächten  sich  gläuzend  hewährt,  jedoch  nicht  ohne  Bei- 
mischung schalkhaften  Wesens  und  derben  Scherzes,  welcher  dieser 
Gattung  eigen  ist.  Daher  war  auch  Herakles  der  Liehhngsheld  des 
Satyrdramas.  Dieser  Heros,  der  voll  kühnen  Muthes  und  mit  un- 
verwüstlicher Kürperkraft  ausgerüstet,  die  weile  Welt  durchwandert 
und  die  seltsamsten  Abenteuer  besteht,  giebt  sich  dann  auch  wieder 
ungezügelter  Sinnenlust  hin.  Der  nimmersatte,  weintrunkene,  ver- 
liebte Heros  bot  nicht  nur  der  Komödie  der  Sikelioten  und  Attiker, 
sondern  vor  allem  dem  Satyrspiele  die  dankbarsten  Motive  dar. 
Achäus  schilderte  in  seinem  Linus  die  erste  Jugend  des  Helden, 
Sophokles  die  Hadesfahrt,  Euripides  sein  Verhältnifs  als  Dienstmann 
des  tückischen  Eurystheus  und  seinen  Kampf  mit  Syleus,  Achäus 
und  Ion  das  Liebesabenteuer  mit  der  lydischen  Omphale.  Erotische 
Scenen  aus  der  Götter-*^)  und  Heldensage  wurden  auch  sonst  mehr- 
fach behandelt,  da  der  Charakter  des  Satyrchores  für  solche  Stoffe 
sehr  geeignet  war  und  zugleich  der  Contrast  zwischen  der  Häfslich- 
keit  der  lüsternen  Waldgeister  und  dem  Reize  der  Schönheit  und 
Jugend  besonders  wirksam  sein  mufste.  Hierher  gehört  unter  an- 
deren die  Amymone  des  Aeschylus,  Helenas  Hochzeit  und  die  Lieb- 
haber des  Achilles  von  Sophokles. 

Die  Stoffe  des  Satyrdramas  waren  meist  heiterer  Natur;  aber 
auch  ernsthaften  Geschichten  wufste  man  eine  heitere  Seile  abzu- 
gewinnen.'^") Die  Züchtigung  eines  Frevlers,  der  Untergang  eines 
Unholdes  hatte  nichts  Ergreifendes,  sondern  diente  nur,  den  Muth- 
willen  und  Frohsinn  zu  steigern.  Eine  reiche  Auswahl  schicklicher 
Motive  bot  die  griechische  Volkssage,  zumal  das  Märchen,  der  Nie- 
derschlag des  Mythus,  dar"');  aber  auch  die  ältere  Poesie  ward  fleifsig 
benutzt. 


139)  Auch  andere  Bilder  der  alten  Göttersage  wurden  vorgefülirt;  die 
MoiQai  des  Achäus  stellten  wohl  dar,  wie  Apollo,  um  den  Adinetus  zu  retten, 
die  Schicksalsgöttinnen  durch  einen  Weintrunk  berauscht. 

140)  Von  manchem  Satyrdrama  läTst  sich  der  hihait  gar  nicht  genauer 
ermitteln.  Am  befremdlichsten  ist,  daCs  tragische  Gestalten,  wie  Amphiaraus 
und  Alkmäon,  bei  Sophokles  und  Achäus  als  Helden  eines  Satyrspiels  auftraten, 
vielleicht  in  Tetralogien,  wo  der  stofTliche  Zusammenhang  der  einzelnen  Drä- 
nen festgehalten  war. 

141)  Das  Märchenhafte  und  Wunderbare  ist  ein  charakteristischer  Zug  be- 
sonders des  älteren  Satyrspiels,  und  dazu  pafsl  sehr  wohl  die  ländliche  Um- 
gebung, in  der  die  Handlung  vor  sich  geht. 


DIE   DRAMATISCHE   POESIE.     DIE    TRAGÖDIE.     EINLEITUNG.  241 

Das  Satyrdrania  ist    schon   äufserlich   an    gewissen    formellen  versmaTs 
Eigenthümlichkeiten  erkennbar.     Der  Vers  des  Dialoges  wird  nicht^jg,  satyr-* 
nach  der  strengen  Regel  der  Tragödie  behandelt."')     Für  die  Ge-  dramas. 
sänge   des  Chores,   welche  mit   lebhaften  Tanzbewegungen  "^)   und 
ausdrucksvoller  Mimik  begleitet  wurden,  eigneten  sich  zumeist  leich- 
tere Rhythmen."')  Ebenso  ward  die  Erhabenheit  des  tragischen  Stiles 
ermäfsigt.     Volksthümhche  Ausdrücke,  welche  der  gewählten  Rede- 
weise  der  Tragödie  fremd   sind,   werden   mit   Vorliebe  gebraucht. 
Selbst  das  Derbe  und  Geraeine  wird  nicht  verschmäht.*")    Die  natur- 
wüchsige Sinnlichkeit  der  Stoffe,  welche  der  Dichter  hier  behandeU, 
verlangt  einen  entsprechenden  Ausdruck;  doch  ist  nicht  zu  verken- 
nen, dafs  die  heroischen  Figuren  sich  im  Ganzen  durch  mafsvoUere 
Haltung  von   dem  Chore  und  den   satyresken  Personen   absondern. 

Nur  ein  einziges  Drama  dieser  Gattung,  der  Kyklop  des  Euri- 
pides,  ist  uns  erhalten.  Von  den  SalyrstUcken  der  anderen  Tra- 
giker besitzen  wir  nur  dürftige  üeberreste  "'^) ;  denn  das  Interesse 
für  die  scherzhafte  Tragödie  war  später  selbst  in  gelehrten  Kreisen 
nur  sehr  mäfsig,  ja  schon  in  der  klassischen  Zeit"')  müssen  nicht 
wenige  Satvrdramen  durch  Achtlosigkeit  untergegangen  sein. 


142)  Der  Anapäst  soMie  Auflösungen  wurden  im  Trimeter  häufig  zugelassen. 

143)  Handschellen  [y.QÖrala),  ein  im  Cultus  des  Dionysus  und  der  Götter- 
mutter  beliebtes  Instrument,  war  wohl  öfter  Beigabe  des  Satyrchores:  doch 
geht  der  Ausdruck  y-ooros  aimvviSojv  (Eurip.  Kykl.  37)  nicht  nothwendig  dar- 
auf (er  bezeichnet  wohl  nur  das  heftige  Stampfen  mit  den  Füfsen).  Auch 
Künsteleien  fehlten  nicht:  im  Amphiaraus  des  Sophokles  stellten  die  Tanzfiguren 
die  Buchstaben  eines  Namens  dar  (Athen.  X  454 F).   (S.  S.  1S5  A.  24). 

144)  In  dem  älteren  Satyrdrama  war  die  Parodos  des  Chores  gewöhnlich 
in  freien  Anapästen  gedichtet,  Mar.  Vict.  II  11,  7  VI  99  K.  Ebenso  mufs  anfangs 
der  trochäische  Tetrameter  einen  breiten  Raum  eingenommen  haben  (Aristot. 
Poet.  c.  4,  14  p.  1449  A  22);  später  ward  er  durch  den  Trimeter  verdrängt. 

145)  Aristot.  Poet.  c.  4,  14  p.  1449  A  19  f.  bezeichnet  die  Xä^ts  y^^oia  als 
Eigenthümlichkeit  des  alten  Satyrspiels,  aber  dieser  Ton  ist  niemals  ganz  ver- 
wischt Morden,  floraz  A.  P.  222  ff.  giebt  über  die  Mischung  von  Ernst  und 
Scherz  verständige  Winke ;  ob  aber  immer  die  rechte  Grenzlinie  inne  gehalten 
wurde,  steht  dahin.  Verkleinerungsworte,  im  höheren  Stil  sorgfältig  gemieden, 
kommen  im  Satyrdrama  öfter  vor. 

14ü)  Oft  sind  wir  aufser  Stande  zu  ermitteln,  ob  ein  Drama  der  tragischen 
oder  der  satyrischen  Gattung  angehört. 

147)  D.  h.  gegen  Ende  der  Epoche,  wo  das  Wohlgefallen  an  diesen  Dra- 
men sichtlich  nachläfst;  denn  früher  war  es  anders.  Und  diese  älteren  Stücke 
mögen  auch  der  bildenden  Kunst  manchen  geeigneten  Vorwurf  dargeboten 
Bergl«,  Griecli.  Literaturgeschichte  III.  16 


242  DRITTE  PERIODE  VON  500  RIS  300  V.  CHR.  G. 

Hie  ge-  Der  erste  Preis  in   dieser   Gattung  gebührt    unbestritten   dem 

Kntwfcklung^^^^^^y^"^-  ^'^  zweitc  Stelle  wies  man  bald  dem  Fratinas  und  seinem 
des  Satyr- Sohne  Aristias"*),  bald  dem  Achäus  zu."*)  Doch  mufs  auch  Sopho- 
kles Vorzügliches  geleistet  haben;  nur  wird  er  die  groteske  Weise 
seiner  Vorgänger  ermafsigt,  den  rohen  Gesellen  feinere  Sitten  ge- 
liehen haben,  und  es  ist  nicht  zufällig,  dafs  dieser  Dichter  zuerst 
die  Prunkgewänder  der  Tragödie  einführte.*'")  Euripides,  dessen 
ernsthaftem  Wesen  die  ausgelassene  Fröhlichkeil  dieses  Nachspieles 
weniger  zusagte,  machte  den  Versuch,  dasselbe  durch  eine  Tragödie 
zu  ersetzen ,  wo  neben  dem  Ernste  auch  das  heitere  Element  nicht 
fehlte'"),  und  er  mag,  wie  schon  die  geringe  Zahl  der  ihm  zuge- 
schriebenen Satyrdramen  beweist,  sich  öfter  auf  diese  Art  mit  dem 
Herkommen  abgefunden  haben.  Allein  Euripides  mufs  auch  im 
Satyrdrama  sein  bedeutendes  Talent  glänzend  bewährt  haben.  Der 
Syleus,  wo  Herakles  in  die  Dienste  eines  gewaUthätigen  Gebieten 
eintritt,  um  das  Rächeramt  an  dem  wüsten  Gesellen  zu  vollziehen, 
gehörte,  wie  noch  jetzt  die  Bruchstücke  erkennen  lassen,  zu  den 
gelungensten  Arbeiten  des  Tragikers;  die  Sinnlichkeit  in  Herakles 
erschien  hier  durch  männhche  Würde  und  hohes  Selbstgefühl  ge- 
adelt, und  der  Contrast  mit  seinem  Gegner  wie  dem  Satyrchore 
mochte  diesen  Eindruck  noch  verstärken.*") 

Wie  die  tetralogische  Form  sich  auch  nach  dem  grofsen  Kriege 

haben ;  namentlicli  sind  einzelne  Scenen  bemalter  Vasen  direkt  auf  das  Satyr- 
spiel zurückzuführen.  Doch  darf  man  nicht  vergessen,  daCs  die  Kunst  der  Hel- 
lenen alle  Zeit  Bilder  des  dionysischen  Thiasos  in  bunter  Mannigfaltigkeit  dar- 
zustellen liebt.  Das  Vasenbild  mit  dem  Flötenspieler  Pronomus  ist  nicht  auf 
einen  Satyrchor,   sondern  auf  die  Aufführung  eines  Dithyrambus  zu  bezielien. 

148)  Pausan.  II  13,  5. 

149)  So  urtheilt  der  Philosoph  Menedemus  Diog.  Laert.  II  133. 

150)  Dioskorides  Anthol.  VII  37  =  2S  I  252  Jac,  mo  ein  Satyr  auf  dem 
Grabe  des  Sophokles  die  tragische  Maske  in  der  Hand  hält  und  das  Satyrdrama 
dieses  Dichters  der  unfeineren  Manier  des  alten  Spieles  von  Phlius  gegenüber- 
gestellt wird.  Goldenen  Schmuck  und  Purpurgewänder  gab  übrigens  Sophokles 
wohl  nur  den  üühnenfiguren,  während  der  Chor  auch  bei  ihm  die  conventio- 
nelle  Tracht  behielt.    (S.  S.  262  A.  32.) 

151)  Diese  Dramen,  welche  natürlich  keinen  Satyrchor  hatten,  galten  als 
Tragödien;  inwieweit  andere  Dichter  dem  Beispiele  des  Euripides  folgten,  ist 
unbekannt. 

l.':2)  Der  Syleus,  der  sich  durch  den  gehobenen  Ton  sehr  vorlheilhaft 
auszeichnet,  mufs,  wie  Philo  zeigt,  noch  später  fleifsige  Leser  gefunden,  ja 
vielleicht  sich  sogar  auf  der  Bühne  behauptet  haben. 


b 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.     DIE    TRAGÖDIE.     EI.NLEITU.NG.  2A'Ö 

erhielt,  so  behauptete  sich  auch  das  Satyrspiel,  obwohl  der  Charakter 
dieser  Dichtung  weder  der  Eigenart  der  jüngeren  Tragiker,  noch 
überhaupt  der  Richtung  jener  Zeit  sonderhch  gemäfs  war.*")  Wie 
man  jetzt  einzelne  Tragödien  schrieb,  so  auch  Satyrdramen. '*^)  Der 
bei  der  Feier  der  Dionysien  zu  Susa  Ol.  113,  4  aufgeführte  Agen,  von 
Python  oder  nach  anderen  von  Alexander  dem  Grofsen  selbst  ver- 
fafst,  schlofs  sich  wohl  als  Nachspiel  an  ältere  Tragödien  an.  Die 
Handlung  des  Stückes  spielt  bei  Babylon.  Die  Scherze  über  Har- 
palus,  der  mit  den  Schätzen  Alexanders  nach  Griechenland  entflohen 
war,  über  die  Buhlerin  Pythionike,  über  die  hungrigen  Athener 
erinnern  ganz  an  die  Komödie.  Ebenso  haben  die  Alexandriner,  wie 
Lykophron,  der  den  Philosophen  Menedemus  zur  Hauptfigur  eines 
Satyrdramas  machte,  ihre  Stoffe  öfter  der  unmittelbaren  Gegenwart 
entnommen.'")  Nur  Sositheus  hat,  wie  es  scheint,  nicht  ohne  Er- 
folg den  Versuch  gemacht,  das  alte  Satyrspiel  nach  klassischem  Muster 
wieder  zu  erneuern.'*^)  Die  Römer,  welche  sonst  nicht  leicht  eine 
von  den  Griechen  mit  Vorüebe  gepflegte  Dichtart  liegen  lassen, 
haben  sich,  soviel  wir  wissen,  niemals  im  Satyrdrama  versucht;  es 
mufs  daher  auffaUen,  dafs  Horaz  in  seiner  Poetik  (220  ff.),  die  doch 
sonst  überall  an  ein  unmittelbares  praktisches  Interesse  anknüpft, 
eingehend  über  diese  Galtung  der  Poesie  handelt.'") 

153)  Bekannt  ist  nur  der  'Hqux^s  ^aiv^ixöi  des  jüngeren  (so  wenig- 
stens Suidas  1 1,  814)  Astydamas. 

154)  Daher  erscheint  auf  Inschriften  aus  der  Diadochenzeit  und  später 
bei  musischen  Wettkämpfen  der  noirjifjs  aarvgcov  neben  dem  Tragiker. 

155)  Der  Chor  kann  auch  in  solchen  Stücken  nicht  gefehlt  haben  (denn 
sonst  hätten  sie  gar  kein  Anrecht  auf  den  Namen  des  Satyrdramas  gehabt), 
aber  er  war  wohl  sehr  beschränkt. 

156)  Dioskorides  Anth.  VII  TOT  =  29  I  252  Jac.  (s.  S.  262  A.  32).  Doch  mufe 
auch  Sositheus  entweder  Satyrstücke  in  neuem  Stil  geschrieben  oder  durch 
persönliche  Ausfälle  auf  Lebende  die  mythischen  Stoffe  gewürzt  haben,  wie 
sein  Angriff  auf  Kleanthes  beweist,  s.  Diog.  Laert.  VII  1T3. 

15")  Man  darf  den  Grund  nicht  darin  suchen,  weil  den  Römern  Satyrn, 
Sllene  u.  s.  w.  fremd  waren ;  denn  da  Bacchische  Culte  überall  in  Italien  ver- 
breitet waren,  konnte  es  auch  nicht  an  Verständnifs  dieser  Waldgeister  fehlen. 
Ebenso  wenig  kann  man  sagen,  das  Satyrdrama  sei  damals  bereits  völlig  anti- 
quirt  gewesen.  Aber  den  Römern  blieb  die  Form  der  Tetralogie  fremd.  Später 
ersetzte  die  Alellana,  welche  sich  als  exodium  an  die  Tragödien  anschlofs, 
das  Satyrspiel.  Vielleicht  hat  später  Pomponius  Secundus  den  Versuch  ge- 
niacht,  [Satyrspiele  nachzubilden,  vgl.]  Porphyrie  bei  Welcker  [Die  griechischen 
Tragödien  111  1363  f.]. 

16* 


244  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS   300  V.  CHR.  G. 

Tertnderung  Nach  dem  peloponnesisclien  Kriege  trat  eine  neue  Organisation 
''^saUo^n"'*^^'"  scenischen  Spiele  ins  Leben.  Eine  bestimmte  Ueberlieferung 
über  die  Reform  liegt  nicht  vor,  aber  die  Grundzüge  lassen  sich 
durch  inschriftUche  Urkunden  und  indirekte  Zeugnisse  feststellen. 
Während  früher  drei  Bewerber  um  den  Preis  für  das  beste  Lust- 
spiel auftraten,  werden  jetzt  fünf  zum  Wettkampfe  zugelassen,  so- 
wohl an  den  grofsen  Dionysien,  wie  an  den  Lenäen,  so  dafs  von 
jetzt  an  in  jedem  Jahre  zehn  neue  Komödien  zur  Aufführung  kamen. 
Für  die  Tragiker  wurde  die  herkömmliche  Dreizahl  festgehalten,  aber 
auch  hier  der  Thätigkeit  der  Dichter  ein  grofser  Raum  vergönnt, 
indem  an  den  Lenäen  nicht  mehr  wie  früher  Einzeldramen,  sondern 
Trilogien  aufgeführt  wurden,  so  dafs  von  jetzt  an  die  Tragiker  an 
beiden  Festen  in  der  Hauptsache  gleichgestellt  waren. 

Die  Form  der  Tetralogie  ward  abgeschafft.  Das  Satyrspiel  hatte 
sich  überlebt ;  es  sagte  weder  dem  Geschmacke  des  Publikums,  noch 
den  Neigungen  der  Dichter  recht  zu;  gleichwohl  liefs  man  es  nicht 
gänzUch  fallen.  An  den  grofsen  Dionysien  wurde  regelmäfsig  gleich 
zu  Anfang  der  tragischen  Spiele  ein  neues  Satyrdrama  aufgeführt; 
eine  ältere  klassische  Tragödie  von  einem  der  drei  grofsen  Meister 
schlofs  sich  an;  dann  erst  folgte  der  Wettkampf  mit  neuen  Dramen. 
Drei  Dichter  traten  mit  Trilogien  nach  einander  auf. 

Die  Blüthezeit  der  dramatischen  Poesie  war  vorüber.  Aber  die 
literarische  Regsamkeit  liefs  nicht  nach,  sondern  steigerte  sich,  da 
nach  dem  Abscheiden  der  grofsen  Dichter  die  Aussicht  auf  leichte- 
ren Erfolg  eine  grofse  Zahl  mittelmäfsiger  Talente  in  die  Bahn  rief. 
Die  Theilnahme  des  Publikums  für  dramatische  Aufführungen  war 
unvermindert,  und  wenn  man  auch  den  vollendeten  Leistungen  der 
älteren  Meister  gebührende  Achtung  zollte,  so  sagte  doch  das,  was 
die  Epigonen  boten,  dem  herrschenden  Geschmacke  mehr  zu.  Das 
Neue  übt  alle  Zeit  eine  besondere  Anziehungskraft  aus.  Dafs  diese 
gesteigerte  Produktion  der  echten  Kunst  nicht  gerade  förderlich  war, 
liegt  auf  der  Hand;  nur  hat  nicht  jene  Organisation  das  Ueberhand- 
nehmen  des  mechanischen  Schaffens  begünstigt,  sondern  der  Zu- 
drang  problematischer  Talente  rief  die  neuen  Einrichtungen  hervor, 
hiese  Veränderung  der  dramatischen  Spiele  war  nur  ausführ- 
bar, indem  man  die  Anforderungen  an  die  Leistungen  der  Clioregen, 
welche  bei  der  zunehmenden  Verarmung  der  Bürgerschaft  immer 
mehr  als  drückende  Last  empfunden  wurden,  bedeutend  ermäfsigte. 


DIE   DRAMATISCHE   POESIE.     DIE    TRAGÖDIE.     EINLEITUNG.  245 

Die  Dichter  liefsen  sich  dies  nicht  ungern  gefallen.  Das  lyrische 
Element  im  Drama  war  allmählich  immer  mehr  beschränkt  und  nur 
noch  ein  Beiwerk.  Die  neue  Richtung  der  Musik  fand  im  Dithy- 
rambus ihren  Ausdruck;  diesen  gesteigerten  Anforderungen  zu  ge- 
nügen war  für  die  dramatischen  Dichter  kaum  möglich.  So  wurde 
der  Chor  in  der  Tragödie  auf  das  knappeste  Mafs  zurückgeführt;  im 
Lustspiel  verschwand  er  bald  vollständig.  Nun  konnte  der  Schau- 
spieler seine  Kunst  ausschhefsHch  zur  Gehung  bringen.  Nicht  die 
Leistungen  der  Chöre  wie  ehedem,  sondern  die  Virtuosität  der  Schau- 
spieler bürgte  wesentlich  für  den  Erfolg  eines  Stückes,  gab  es  doch 
damals  zahlreiche  Vertreter  dieser  Kunst  voll  ausgezeichneter  Be- 
gabung. So  nimmt  jetzt  der  Protagonist  eine  dem  Dichter  nahezu 
ebenbürtige  Stellung  ein.  Daher  wurden  damals  für  die  vorzüg- 
hchsten  Leistungen  der  Schauspieler  in  der  Tragödie  wie  in  der 
Komödie  Preise  ausgesetzt. 

Mit  der  Vermehrung  der  dramatischen  Aufführungen  war  wenig- 
stens für  die  grofsen  Dionysien  nothwendig  auch  eine  Vermehrung 
der  Spieltage  verbunden.  Um  das  Interesse  des  PubUkums  an  sce- 
nischen  Vorstellungen  sich  zu  sichern,  mufste  man  das  Theatergeld 
wieder  einführen,  dessen  Vertheilung  in  den  Jahren  der  Noth  ein- 
gestellt worden  war. 

Die  Geschichte  der  tragischen  Poesie  in  der  klassischen  Epoche  Grofse  zahi 
umfafst  einen  langen  Zeitraum  von  nahezu  zwei  und  einem  halben  ^"  '"?*: 
Jahrhundert  (Ol.  61 — 120).    Mit  der  stetig  wachsenden  Theilnahme  tungeu. 
an  dramatischen  Aufführungen  wurde  auch  die  Thätigkeit  der  Dich- 
ter immer  mehr  in  Anspruch  genommen.'^*) 

Viele  dieser  Dramen  mögen  frühzeitig  verschollen  sein ;  schon  Der  Nacb- 
die  Alexandriner  kannten  manches  Stück  nur  aus  den  öffenthcheng^ig^g^jg'l.^g^ 
Aufzeichnungen.    Nicht   einmal  der  Nachlafs  der  grofsen  Tragiker  Tragiker, 
war  unversehrt  überliefert,     lieber  die  Summe  der  gesammten  Pro- 
duktion sind  wir  nicht  unterrichtet.    Uns  hegen  nur  Zahlenangaben 
vor  über  die  Arbeiten  der  namhaften  Tragiker,  und  auch  diese  sind 
unvollständig;    sie  ergeben    etwa   fünfzehn-    bis   sechszehnhundert 
Dramen.    Die  Alexandriner  hatten  in  ihren  BibUotheken  gewifs  eher 
mehr  als  weniger.    Von  diesem  Reichthum  ist  nur  eine  sehr  mäfsige 


15S)  In  den  ersten  Anfängen  waren  jährlich  drei  Dramen  erforderlich,  dann 
sechs,  nach  Einführung  der  Tetralogie  zwölf,  später  vierundzwanzig. 


246  DRITTE    PERIODE   V0>    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

Auswahl  auf  uns  gekommen.  Wir  besitzen  dreiunddreifsig  vollstän- 
dige Stücke,  sieben  Tragödien  von  Aeschylus,  ebenso  viele  von  So- 
phokles, neunzehn  von  Euripides"^),  darunter  ein  Satyrdrama.  Das 
älteste  Stück  sind  die  Perser  des  Aeschylus"^),  aufgeführt  Ol.  76,  4, 
das  jüngste  der  Oedipus  auf  Kolonos  von  Sophokles,  erst  einige 
Jahre  nach  des  Dichters  Tode,  Ol.  94,  3,  auf  die  Bühne  gebracht."') 
Die  drei  Unter  der  grofsen  Zahl   tragischer  Dichter  (ungefähr  sechszig 

^'°g""r  ""und  darüber  sind  uns  bekannt)  trugen  drei  unbestritten  den  ersten 
Preis  davon.  Während  sonst  das  Urtheil  der  Zeitgenossen  über  den 
Werth  hterarischer  Leistungen  oft  sehr  schwankend  ist  und  erst  ein 
späteres  Geschlecht  zu  einer  unbefangenen  Würdigung  vorschreitet, 
hat  sich  hier  frühzeitig  eine  feste  Norm  gebildet,  an  der  spätere 
Zeiten  nichts  Wesentliches  zu  ändern  vermochten.'**)  So  sehr  liefsen 
diese  drei  Koryphäen  der  tragischen  Kunst  alle  ihre  Mitbewerber 
hinter  sich,  obwohl  darunter  nicht  wenige  bedeutende  und  reich- 
begabte Dichter  waren.  Daher  ist  es  auch  nicht  auffallend,  dafs  im 
tragischen  Agon  öfter  ein  anderer  Dichter  jenen  Meistern  vorgezogen 
ward,  und  die  Richter  bewährten  nur  ihre  Unparteilichkeit,  wenn 
sie  die  tüchtige  Leistung  auch  eines  minder  anerkannten  Dichters 
auszeichneten ;  aber  das  Urtheil  im  Ganzen  und  Grofsen  stand  fest. 
Fand  auch  das  Verdienst  des  Aeschylus  bei  seinen  Lebzeiten  nicht 
immer  gebührende  Würdigung,  so  ward  man  doch  sofort  nach  seinem 
Tode  inne,  was  man  an  dem  grofsen  Meister  verloren  hatte.  Sopho- 
kles und  Euripides  standen  schon  bei  den  Zeitgenossen  in  höchstem 
Ansehen,  wie  Aristophanes  genugsam  bezeugt.  Sophokles  erfreute 
sich  während  seiner   langen   Laufbahn   ungetheilter  Anerkennung, 


159)  Eigentlich  gehören  dem  Euripides  nur  achtzehn  Dramen;  denn  der 
Rhesus  ist  von  einem  Unbekannten  verfafst. 

160)  Die  Zeit  der  Aufführung  der  Schutzflehenden  ist  nicht  äberliefert. 
IGl)  Aufser  dieser  letzten  Arbeit  des  Sophokles  sind  uns  auch  die  Bacchen 

und  die  Iphigeneia  in  Aulis,  des  Euripides  letztes  Vermächtnifs,  wahrschein- 
lich Ol.  93,  H  zu  Athen  gegeben,  erhalten.  Aus  der  alexandrinischen  Periode 
besitzen  wir  nur  ein  Drama,  die  Alexandra  des  Lykophron. 

1<»2)  Oefter  mögen  an  demselben  Feste  die  Dramen  dieser  Koryphäen  neben 
einander  aufgeführt  worden  sein,  da  Aeschylus"  Stücke  nach  seinem  Tode  beim 
Agon  der  neuen  Tragödien  zugelassen  wurden.  So  bewarben  sich  Ol,  S7,  t 
Euphorion  (d.  h.  mit  Tragödien  des  Vaters),  Sophokles  und  Euripides  um  den 
Preis,  Ol.  87,  3  Philokles  (wohl  ebenfalls  mit  Stücken  des  Aeschylus)  und  So- 
phokles; vielleicht  w;ir  Kiiripides  der  Dritte. 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.     DIE    TBAGÜDIE.     ELNLEITÜAG.  247 

■svie  kein  anderer  dranaatischer  Dichter;  man  huldigle  willig  dem 
grofsen  Talente  des  Meisters.  Sein  günstiges  Geschick  blieb  ihm  auch 
hier  treu,  und  das  milde  Wesen  des  Dichters  entwaffnete  den  Wider- 
spruch, während  die  schroffere  Natur  des  Euripides  sich  nur  all- 
mähfich  Bahn  brach  und  neben  begeisterten  Anhängern  alle  Zeit 
leidenschaftliche  Widersacher  fand. 

Aeschylus,  Sophokles,  Euripides  repräsentiren  drei  Stufen  der 
»dramatischen  Kunst,  und  wenn  es  erlaubt  ist,  das  Amt  des  Preis- 
richters zu  übernehmen,  so  werden  wir  unbedenklich  dem  Aeschylus 
den  ersten  Preis  zuerkennen;  dann  folgen  genau  nach  der  chrono- 
logischen Ordnung  Sophokles  und  Euripides.  Wohl  hat  die  Tragödie 
sich  auch  nach  Aeschylus  noch  weiter  entwickelt,  aber  der  Sohn 
des  Euphorion  überragt  doch  in  allem,  was  den  wahren  Dichter 
macht,  seine  iNachfolger.  Aristophanes,  der  an  feinem  Sinn  und 
Verständnifs  in  diesen  Dingen  unübertroffen  dasteht,  erkennt  mit 
wärmster  Bewunderung  die  unerreichte  Gröfse  dieses  Dichters  an, 
unbeirrt  durch  die  öffentliche  Meinung,  welche  damals  in  der 
Hochschätzung  des  Sophokles  einig  war,  während  Aeschylus  vie- 
len schon  veraltet  erschien,  über  Euripides  die  Stimmen  getheilt 
waren.'") 

Später  ward  dies  allgemeine  ürtheil  wohl  modiiicirt,  aber  nicht 
wesentüch  abgeändert.  Aeschylus  tritt  mehr  in  den  Hintergrund; 
man  bewahrt  ihm  zwar  alle  Zeit  Hochachtung,  aber  seine  Dramen 
verschwinden  nicht  nur  von  der  Bühne,  sondern  linden  auch  nur 
noch  einen  kleinen  Kreis  von  Lesern.  Sophokles  und  Euripides 
theilen  sich  in  die  Gunst.  Während  man  aber  die  vollendete  Kunst 
des  Sophokles  willig  anerkennt  und  ihm  die  erste  Stelle  einräumt, 
geniefst  doch  Euripides  eine  viel  grüfsere  Popularität.  Er  beherrscht 
recht  eigentlich  die  Masse  und  trägt,  wenn  man  den  Mafsstab  des 
Erfolges  anlegt,  den  ersten  Preis  davon. 

Die  Geschichte  der  tragischen  Poesie  zerlegt  sich  in  drei  Ab-Eimhaiiuag. 


163)  Xenophon  Mem.  I  4,  3  nennt  Sophokles  als  Hauptvertreler  der  Tra- 
gödie, Plato  im  Phaedius  208 C  Sophokles  und  Euripides,  und  in  der  Republik. 
VllI  568  A  wird  Euripides  als  der  Liebling  des  Publikums  bezeichnet.  Aeschylus 
wird  von  Plato  mehrfach  berücksiciitigl,  aber  meist,  um  gegen  seine  Poesie  zu 
polemisiren.  Aristophanes  spricht  von  Sophokles  überall  mit  Achtung,  aber 
die  milde  Weise  dieses  Dichters  konnte  stark  ausgeprägten  Naturen  weniger 
zusagen. 


248  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS   300  V.  CHR.  G. 

schnitte,  welche  die  ersten  Anfänge  von  Ol.  61 — 69,  die  ßlüthezeit 
von  Ol.  70—93,  das  Nachleben  von  Ol.  94—120  umfassen. 

Recapituia-  Schon  deshalb,  weil  die  Handlung  in  die  ferne,  jenseits  der 
Charakter  Gcschichte  liegende  Zeit  verlegt  wird,  welche  im  verklärten  Glänze 
der  griechi-(jgg  Heroenthums  erscheint,  hat  die  i^riechische  Tragödie  einen  ent- 

scben  Tra-  " 

gödie.  schieden  idealen  Charakter,  und  zugleich  ist  durch  diese  Beschrän- 
kung auf  den  Kreis  der  heroischen  Welt  die  ganze  Handlungsweise 
bedingt.  Alles  ist  einfach  und  schlicht,  die  Zahl  der  Personen  be- 
schränkt, Scenenwechsel  kommen  selten  vor,  die  Einheit  der  Zeit 
und  des  Ortes  wird  meist  gewahrt.  Der  Umfang  des  einzelnen  Dra- 
mas ist  nur  mäfsig.  Die  Einrichtung  des  Wettkampfes  zwischen  drei 
concurrirenden  Dichtern,  die  tetralogische  Form,  die  man  als  etwas 
Ueberliefertes  auch  später  festhielt,  gestatteten  keine  Ueberschreitung 
der  knapp  zugemessenen  Zeit.  Daher  schreitet  die  Handlung  meist 
rasch  und  ohne  Unterbrechung  vorwärts.  Der  Exposition  ist  in  der 
Regel  nur  ein  mäfsiger  Raum  vergünnt;  die  Katastrophe  füllt  haupt- 
sächüch  das  Drama ;  manchmal  fällt  sie  sogar  aufserhalb  und  wird 
als  bekannt  vorausgesetzt.  Manche  griechische  Tragödie  werden  die 
Neueren  kaum  als  ein  eigentliches  Drama  gelten  lassen. 

Das  Drama  stellt  Begebenheiten  dar,  wie  sie  aus  dem  Zusam- 
menwirken der  Charaktere  hervorgehen.  Aber  auch  hier,  wo  es 
gih,  das  Thun  und  Leiden,  die  Zwecke  und  Bestrebungen  der  Han- 
delnden darzustellen,  bleibt  die  griechische  Tragödie  ihrem  schlich- 
ten Wesen  treu.  Eben  weil  sie  den  einfachen  Weltzustand  der 
alten  sagenhaften  Zeit  vorführt,  haben  die  Charaktere  im  Ganzen 
etwas  Naives  und  Ungebrochenes,  sind  mehr  noch  von  der  Sitte 
und  dem  Herkommen  abhängig.  Zwar  gähren  auch  hier  mächtige 
Leidenschaften.  Schwere  Conllikte  waren  diesem  Geschlechte  so  wenig 
wie  den  Nachlebenden  erspart.  Die  alte  Zeit  war  nicht  ärmer;  denn 
die  Gefühle  und  Schicksale  der  Menschen  bleiben  sich  wesentlich 
gleich.  Aber  die  selbstbewufste  Reflexion  trat  zurück;  im  Kampfe 
mit  feindlichen  Mächten  schritt  man  rasch  und  ohne  langes  Zögern 
zur  entscheidenden  That.  Aber  dabei  bewahren  in  der  älteren  Tra- 
gödie die  handelnden  Personen  auch  mitten  im  Sturme  der  Leiden- 
schaft eine  gewisse  äufserliche  Ruhe.  Wenn  die  griechischen  Tra- 
giker diese  einfache  Gröfse  und  Energie  der  Charaktere  wiedergeben, 
so  haben  sie  nur  die  Treue  des  Weltbildes  gewahrt.    Wo  der  Dich« 


DIE   DRAMATISCHE    POESIE.      DIE    TRAGÖDIE.     EINLEITUNG.  249 

ter  complicirte,  eigenartige  Charaktere  zu  schildern  unternimmt,  wo 
die  Subjektivität  zur  Herrschaft  gelangt,  wie  bei  Euripides,  da  setzt 
man  sich  eben  über  die  Schranken  hinweg,  welche  naturgemäfs 
für  das  mythologische  Drama  gegeben  sind.  Denn  indem  Euripides 
den  tragischen  Helden  der  heroischen  Epoche  seine  eigenen  Ge- 
danken leiht,  das  Gepräge  seiner  Zeit  aufdrückt,  geht  das  Unbefan- 
gene, das  Frische  der  ursprünglichen  Natur  verloren;  alle  diese 
Figuren  haben  etwas  künstlich  Gemachtes.  Vom  richtigen  Gefühl 
geleitet,  beschränken  sich  die  Vorgänger  des  Euripides  auf  das  Noth- 
wendige;  nur  solche  Züge  werden  hervorgehoben,  welche  den  Grund- 
ton des  Wesens  veranschauHchen ,  die  Handlung  motiviren,  dem 
Grundgedanken  des  Dramas  dienstbar  sind.  Aber  eben  deshalb  tritt 
uns  ein  klares,  leicht  übersehbares  Bild  entgegen,  und  die  einzelnen 
Momente  des  Charakters  stehen  mit  einander  meist  in  vollkommener 
Harmonie.  Wenn  in  den  Anfängen  der  Kunst,  in  den  früheren 
Stücken  des  Aeschylus  die  Darstellung  der  Charaktere  noch  nicht 
zu  ihrem  vollen  Rechte  gelangt,  so  erinnert  diese  geradlinige,  skiz- 
zenhafte Behandlungsweise  ganz  an  die  bildende  Kunst  der  älteren 
Zeit.  Dafs  aber  die  tragischen  Dichter  bemüht  sind,  mit  dem  Fort- 
schritte der  Handlung  immer  mehr  auch  die  fortschreitende  Ent- 
wicklung des  Charakters  zur  Anschauung  zu  bringen,  zeigt  vor  allem 
Sophokles. 

Wie  die  griechische  Kunst  mit  seltener  Treue  an  der  Ueber- 
lieferung  festhält,  so  hat  auch  die  Tragödie  ihren  Ursprung  niemals 
verleugnet.  Aus  Chorliedern,  welche  ab  und  zu  durch  eine  längere 
Erzählung  unterbrochen  wurden,  ist  die  Tragödie  hervorgegangen; 
daher  bilden  die  episch  gehaltenen  Botenberichte  und  die  Gesänge 
des  Chores  alle  Zeit  ein  unentbehrliches  Element  des  Trauerspieles. 
So  erinnert  die  griechische  Tragödie  ebenso  an  die  epische  wie  die 
lyrische  Poesie.  Allein  diese  Elemente  machen  sich  doch  nicht  auf 
Kosten  des  Dramatischen  geltend,  sondern  die  Anmuth  der  behag- 
lichen Erzählung,  wie  der  Zauber  und  Wohllaut  des  lyrischen  Ge- 
sanges dient  nur  dazu,  das  dramatische  Leben  zu  erhöhen.  Wie 
vielfachen  Wandel  auch  der  tragische  Chor  allmählich  erfahren  hat, 
auch  die  vorgeschrittene  Kunst  mag  ihn  nicht  missen ;  dieses  Werk- 
zeug leistet  dem  Dichter  die  mannigfachsten  Dienste,  für  die  sich 
nicht  leicht  ein  passender  Ersatz  darbot.  Gerade  in  dem  Chore 
stellt  sich  jener  ideale  Zug,  welcher  der  griechischen  Tragödie  eigen 


250  DRITTE    PERIODE    V0>'    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

ist,  am  wenigsten  dar;  daher  benutzt  ihn  der  Dichter  vorzugsweise, 
um  den  lieferen  geistigen  Gehalt  zu  offenbaren,  die  Idee  des  Stückes 
klar  auszusprechen.  Musik  und  theilweise  orchestische  Bewegungen 
begleiten  die  lyrischen  Partien  der  Tragödie  und  dienen  wesentlich 
dazu,  die  Wirkung  zu  erhöhen,  obwohl  man  von  diesen  Kunstmit- 
teln im  Allgemeinen  nur  einen  mafsvoUen  Gebrauch  macht. 

Die  Sprache  ist  würdevoll  und  der  Stärke  des  dramatischen 
Pathos  angemessen;  erst  Euripides  hat  sie  der  Rede  des  tägUchen 
Lebens  näher  gerückt,  wie  überhaupt  dieser  Dichter  vorzugsweise 
eine  rhetorische  Kunst  entfaltet.  Der  Stil  der  Tragödie,  indem  er 
sich  auf  einer  gewissen  Höhe  hält,  ist  doch  nicht  eintönig.  Schon 
der  Wechsel  zwischen  erzählenden  Partien  und  lyrischen  Gesängen, 
zwischen  längeren  zusammenhängenden  Reden  der  handelnden  Per- 
sonen und  kurzen  Fragen  und  Antworten  verleiht  der  Darstellung 
Mannigfaltigkeit.  Namentlich  die  Stichomythie,  wo  im  Dialog  Vere 
um  Vers  Rede  und  Gegenrede  auf  einander  folgen,  stellt  die  Wech- 
selbeziehungen der  Einzelnen  anschaulich  dar.  Das  Gleichmäfsige 
thut  der  Energie  der  Spannung  keinen  Eintrag,  wie  ja  dieses  Ge- 
setz des  strengen  Parallelismus  auch  sonst  in  der  Tragödie  mafs- 
gebend  ist.  Gewichtige  Gnomen,  an  richtiger  Stelle  angebracht, 
sind  in  ihrer  gedrängten  sinnvollen  Kürze  besonders  wirksam;  sie 
offenbaren  nicht  nur  den  Seelenzustand  der  Sprechenden  oder  sol- 
len auf  den  anderen  Einflufs  ausüben,  sondern  dringen  auch  in 
das  Gemüth  des  Hörers  ein  und  sprechen  oft  vornehmlich  den  Grund- 
gedanken des  Dramas  aus. 

Die  äufsere  Ausstattung  der  Tragödie  war  diesem  idealen  Cha- 
rakter entsprechend.  Die  scenische  Darstellung  verschmäht  zwar 
nicht  die  geeigneten  Mittel,  aber  auf  Illusion  der  Sinne  war  es  schon 
deshalb  nicht  abgesehen,  weil  die  dramatischen  Aufführungen  am 
Tage  in  weiten  Räumen  unter  freiem  Himmel  stattfanden.  Viek-s 
bleibt  der  lebendigen  Phantasie  des  Zuschauers  zu  ergänzen  über- 
lassen. Es  ist  sehr  bezeichnend  für  die  Richtung  der  griechischen 
Tragödie,  dafs  im  Laufe  der  Zeit  der  äufsere  Pomp  immer  mehr 
ermäfsigt  wird,  nicht  aus  kleinlicher  Sparsamkeit,  sondern  um  nicht 
durch  l'runk  und  den  Reiz  des  äufseren  Scheines  den  Sinn  von 
dem  Wesentlichen  abzulenken.  Die  Schauspieler,  durch  den  Kothurn 
über  das  gewöhnliche  Mafs  erhoben,  in  würdigen  prachtvollen  Ge- 
wändern aiiftr«'l»MMl,  machten  schon  datliirrli  dfn  Kimliuck  des  Feier- 


DIE    DRAMATISCHE    POESIE.     DIE  TRAGÖDIE.     EIXLEITUNG.  251 

liehen.  Da  die  Frauenrollen  von  Männern  gegeben  wurden,  da  die 
Schauspieler  sich  durchgehends  der  Masken  bedienten,  fällt  das 
Mienenspiel  weg ,  das  Individuelle  wird  ferngehalten ,  alles  trägt  ein 
allgemeingültiges  Gepräge  an  sich.  Die  Natur  erscheint  gleichsam 
ideahsirt,  wie  ja  auch  der  Vortrag  auf  der  Bühne  offenbar  etwas 
Conventionelles  hatte.  Der  Schauspieler  mufste  laut  sprechen .  schon 
um  in  dem  grofsen  offenen  Räume  sich  verständHch  zu  machen ; 
aber  selbst  bei  der  Darstellung  der  leidenschaftlichen  Erregung  war 
die  Rede  gehalten  und  würdevoll.  Da  der  Gebrauch  der  Masken 
keinen  Wechsel  der  Gesichtszüge  verstattete,  so  gewannen  die  Gesti- 
kulation und  charakteristische  Stellungen  erhöhte  Bedeutung;  oft 
mag  das  stumme  Spiel,  eine  sprechende  Geberde  oder  eine  bedeut- 
same Pause  das  tiefere  Verständnifs  des  Dichterwerkes  wesenthch  ge- 
fördert haben.  Diese  lebendigen  Bilder  der  Bühne,  welche  an  die 
Gruppen  der  Sculptur  erinnern  mochten,  verliehen  dem  griechischen 
Trauerspiel  etwas  entschieden  Plastisches. 

Die  griechische  Tragödie  wird  wegen  ihrer  vorherrschend  idea- 
len Haltung  immer  etwas  Fremdartiges  behalten.  Diese  Schlichtheit 
wird  dem  verwöhnten  Gefühl  der  jN'eueren  leicht  als  Armuth  und 
Dürftigkeit  erscheinen.  Wie  die  moderne  Kunst  eine  entschiedene 
Richtung  auf  das  Realistische  gewonnen  hat,  so  vermag  die  alte 
Tragödie,  die  das  Reale  möglichst  beschränkt  oder  ausscheidet,  sol- 
chen Ansprüchen  nicht  zu  genügen.  Der  Tadel,  dafs  hier  nicht  so 
sehr  concrete  Persönlichkeiten,  sondern  allgemeine,  gleichsam  typi- 
sche Charaktere  vorgeführt  werden ,  ist  nicht  ganz  unbegründet. 
Allein  man  darf  den  Charakteren  der  griechischen  Tragödie  die  Natur- 
wahrheit nicht  absprechen;  es  sind  lebensvolle  Gestalten,  nur  nicht 
so  individuahsirt,  wie  es  die  Vertiefung  des  modernen  ßewufstseins 
verlangt. 

Die  Griechen  haben  zuerst,  ohne  durch  fremden  Vorgang  an- 
geregt oder  unterstützt  zu  werden ,  die  Tragödie  geschaffen  und 
dieser  neuen  Kunstgattung  eine  feste  Form  und  geregelte  Oekono- 
mie  gegeben.  Die  Kunst  der  griechischen  Dichter  ist  fähig,  auch 
im  engen  Räume  ein  Ganzes  darzustellen,  während  die  Neueren  sich 
oft  ins  Weite  verlieren  und  nicht  fertig  werden  können.  Trotz  der 
Beschränkung,  welche  die  antike  Kunst  sich  auferlegt,  hat  sie  Grofses 
geleistet  und  mit  mäfsigen  Mitteln  mächtige  Wirkungen  zu  erzeugen 
vermocht. 


252  DRITTE    PEniODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

In  den  Anfängen  jeder  Kunst  liegt  ein  eigenthümlicher  Reiz; 
in  ihnen  kündigt  sich  das  bereits  im  Keime  an,  was  später  in  Er- 
fülhing  gehen  soll.  Wollte  man  daher  die  griechische  Tragödie  auch 
nur  als  Vorstufe  für  die  weitere  Entwicklung  des  modernen  Dramas 
gelten  lassen,  so  würde  der  Nachlafs  jener  Dichter  schon  darum 
des  eingehenden  Studiums  würdig  erscheinen,  weil  sie  einen  un- 
bestrittenen Einflufs  auf  alle  ihre  Nachfolger  ausgeübt  haben,  denen 
sie  recht  eigentlich  den  Weg  bahnten.  Allein  diese  Dichter,  obwohl 
sie  einer  Epoche  angehören,  die  weit  hinler  uns  liegt,  haben  Werke 
geschaffen,  die  eine  unversiegbare  Quelle  des  edelsten  Genusses  und 
wahrhafter  Erhebung  darbieten.  Mag  auch  manches  nur  einem  klei- 
neren Kreise  recht  verständlich  sein,  der  sich  durch  das  Fremd- 
artige nicht  abschrecken  läfst,  bis  zu  dem  inneren  Kerne  vorzu- 
dringen, so  ist  doch  vieles  noch  heute  ebenso  wirksam  wie  ehedem, 
hat  eine  universelle  Bedeutung,  einen  bleibenden  Werlh,  über  den 
die  Zeit  keine  Macht  ausübt. 


Erste  Gruppe. 
Die  Anfänge  der  Tragödie 

von  Ol.  Gl  bis  69. 

Aristoteles  klagt,  dafs  die  ersten  AnOinge  der  KomOdiendichtung 
sich  nicht  genau  feststellen  liefsen ;  uns  geht  es  mit  den  Ursprüngen 
der  Tragödie  nicht  viel  anders.  Während  Aristoteles  mit  seinen  Mit- 
teln ihre  Entwicklung  Schritt  für  Schritt  verfolgen  konnte,  vermögen 
wir  nicht  mehr  aus  den  geringen,  unzureichenden ,  zum  Theil  sich 
widersprechenden  Resten  aller  Ueberlieferung  ein  nur  einigermafsen 
klares  Bild  von  den  Anfängen  und  der  allmählichen  Ausbildung  der 
Tragödie  zu  gewinnen. 

Tragischen  Chören  begegnen  wir  zuerst  bei  den  Doriern  in 
Korinth  und  Sikyon.  Diese  Neuerung  wird  an  den  Namen  des 
Arion  angeknüpft,  dem  dann  Epigen es  folgte.  Allein  Arion  wird 
nur  der  volksmäfsigen  Sitte  eine  feste  Form  verheben  haben;  durch 
ihn  erhielt  diese  Weise  der  Poesie  in  Korinth  zuerst  literarische 
Ausbildung.    Aristoteles  bezeichnet  ausdrücklich  die  ersten  Versuche 


DIE  DRAMATISCHE  POESIE.    DIE  TRAGÖDIE.  ERSTE  GRIPPE.    DIE  A>FÄ>GE.     253 

der  Tragödie  wie  der  Komödie  als  Stegreifdichtung.*)  Diese  müssen 
notbwendig  über  Arion  hinaiisreichen.  Aber  diese  Weise  wird  auch 
noch  fortbestanden  haben,  nachdem  den  Spielen  der  tragischen  Chore 
literarische  Pflege  zu  Theil  geworden  war,  und  es  ist  wohl  möghch, 
dafs  in  den  Anfängen  der  Kunst  ein  Dichter  zuweilen  nur  die  Chor- 
parlien  sorgfälliger  ausarbeitete  und  das  Uebrige  improvisirte.  Ein 
Chorlied  läfst  sich  nicht  aus  dem  Stegreife  vortragen ;  es  mufs  stets 
vorher  entworfen  und  eingeübt  werden.  Die  Improvisation  kann 
sich  nur  auf  die  Zwischenspiele  beschränken,  in  denen  eben  der 
Keim  der  dramatischen  Dichtung  zu  suchen  ist.^)  Nicht  Thespis 
hat  dieses  Element  zum  ersten  Male  zur  Geltung  gebracht,  sondern 
er  fand  es  bei  seinen  Vorgängern  und  hat  es  nur  weiter  ent- 
wickelt.2) 

Die  Dithyramben,  welche  Arien  um  Ol.  38  in  Korinth  aufführte, 
wurden  von  einem  Satvrchore  vorgetragen;  hier  tritt  also  die  mi- 
mische Darstellung  unzweideutig  hervor.  Dieses  Kostüm  war  ganz 
angemessen,  so  lange  der  Dithyrambus  sich  auf  Mythen  aus  dem 
Kreise  des  Dionysus  beschränkte.  Mit  diesen  Chorgesängen  waren 
Zwischenspiele  verbunden,  wo  ein  Einzelner  auftrat,  entweder  der 
Chorraeister  selbst  oder  auch  einer  der  Choreuten.^)    Der  Eingang, 


1)  Aristot.  Poet.  c.  4,  11  p.  1449  A  9.  Ebenso  Max.  Tyr.  37,  4:  Ud-r,vaiois 
r.  na}.aia  ftovaa  X^Qoi  TiaiScov  r,aav  xal  olvSqcÖv  ....  äattaza  qSorrss  avxo- 
ajcdSta'  fisransaovaa  d'  r,avxyj  ini  rs^vr^v  axo^sazov  '/ä.Qiros  iv  Oicr^i'ij  xal 
d'eaTQOts  xrX. 

2]  Auch  in  der  Komödie  wurden  nur  die  Spottreden  improvisirt,  nicht 
das  Phalloslied.     Maximus  Tyrius  geht  von  einer  unklaren  Vorstellung  aus. 

3)  Daher  sagt  Pollux  IV  123:  ehos  S'  r^v  xQÜ^teta  aQ^aia,  if^  r;v  noo 
OsaniSos  sh  zis  avaßas  rols  xoQsvrais  oTtexQivaTO.  Der  Platonische  Minos  321  A, 
der  die  Erfindung  der  Tragödie  für  Attika  in  Anspruch  nimmt,  rückt  sie  weit 
über  Thespis  und  Phrynichus  hinaus.  Minder  genau  drückt  sich  Diog.  Laert. 
Ill  56  aus  von  Thespis:  fiövos  6  yoQos  StsSgounnyev  Aehnlich  Athen.  XIV  630  G: 
awiGTriXS  Si  xai  aaTvQixTj  Tiäaa  Tioir^aiS  xb  7ia?Miov  ix  xoQÖ)v,  cos  xai  17 
xöxB  x^aycoSia'  SiÖTXtQ  ovSi  iTtoxQixaS  el^ev. 

4)  Aristoteles  a.  a.  0.  fülirt  die  Anfänge  der  Tragödie  auf  die  i^äoym'XES  xov 
St&vQafißov  zurück;  der  Vorsänger  war  in  der  Regel  der  Dichter  selbst  ixogo- 
StSaaxa/MS).  Suidas  dagegen  I  1,  716:  l^oicuv  . . .  xai  TtQwros  xoQov  axr^aat  xai 
Si&vQaiußov  äaat  xai  ovoftäaat  x6  aSöftsvov  inb  xov  X^Q^^  ^^^  ^axv^ovS 
eiasveyxeiv  iuiisioa  Xeyovxas.  Hier  wird  die  Declamation  der  Zwischenspiele 
dem  Gesänge  des  Chores  gegenübergestellt,  wohl  nicht  ganz  genau:  im  Dithy- 
rambus scheint  erst  Krexus  von  der  schlichten  Recitation  stellenweise  Gebrauch 
gemacht  zu  haben.    (S.  Bd.  II,  S.  242.  132.  537.) 


254  DRITTE   PERIODE   V0>    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

die  Mitte  und  der  Schlufs  des  Dithyrambus  boten  dazu  die  geeig- 
netste Stelle  dar.  Der  Vortrag  war  aber  auch  hier  wohl  melisch; 
denn  diese  Partien  waren  vorzugsweise  in  trochäischen  Tetrametern 
abgefafst,  und  der  neckische  possenhafte  Ton  mochte  zumeist  hier 
durchbrechen.') 

Auch  in  Sikyon  bestand  seit  Alters  die  Sitte,  dafs  tragische 
Chöre  am  Feste  des  Dionysus  zu  Ehren  des  Gottes  auftraten.  Hier 
aber  verliefs  man  zuerst  die  herkömmhche  Weise,  indem  man  heroische 
Stoffe  zum  Gegenstande  der  Darstellung  wählte  und  damit  dieser 
Poesie  einen  ernsteren  Charakter  verheb.  Wenn  man  in  Sikyon  die 
Thaten  und  Schicksale  des  Adrastus  darstellte,  so  führten  wohl  poli- 
tische Beweggründe  zu  dieser  Erneuerung  alter  vaterländischer  Er- 
innerungen, aber  eben  deshalb  trat  alsbald  der  Tyrann  Kleisthenes, 
der  nach  Ol.  50  sich  der  Herrschaft  bemächtigte  und  dieselbe  bis 
Ol.  67  behauptete,  dieser  ISeuerung  entgegen  und  führte  den  tra- 
gischen Chor  auf  seine  ursprünghche  Bestimmung  zurück.®)  Es  war 
wohl  der  Sikyonier  Epigenes'),  der  zuerst  den  Kreis  der  drama- 
tischen Stoffe  erweiterte*),  daher  auch  später  die  Sikyonier  geltend 
machten,  bei  ihnen  sei  eigenthch  die  Tragödie  entstanden.")  Allein 
über  diese  ersten  Versuche  sind  die  Dorier  nicht  hinausgekommen. 
Die  selbständige  Ausbildung  und  Vollendung  der  Tragödie  ist  ein 
ausschliefshches  Verdienst  der  Attiker. 


5)  Aristot.  Poet.  c.  4, 14  p.  1449  A  22.  Anapästen,  besonders  aufgelöste, 
mögen  namentlich  beim  ersten  Auftreten  des  Chores  üblich  gewesen  sein  (Mar. 
Viel.  II  11,  7  VI  99  K.),  wie  wir  diesen  Rhythmus  auch  im  Eingange  eines  Hypor- 
chemcs  von  Pralinas  antrefl'cn. 

G)  Herodot  V  67 :  zä  xe  Sti  akka  ol  ^ixvcövioi  irifiatv  xov  'AS^tjaxov 
yai  Sij  ti^oS  T(  nad'ea  nvzov  xQayixoiai  x^Q^lai  dyt'^ai^or,  xov  fikv  Jtövvaov 
ov  xtfitovxBS,  xov  Se  yiS^rjaxor.  Kkeiad'ev^e  8i  xoQovs  fiev  T<p  Jiovvat^ 
aTiiSwxe. 

7)  Suidas  {Odanis  \  2,  WVl)  bezeichnet  ihn  als  Vorgänger  des  Thespis. 

S)  Zenobius  V  40:  t^s  ya^  nott'jaecae  xu  tiqüHxov  ix  Si&vQÜftßov  rijv 
xaxtt^Xr^  eiki;yviaS  xal  xa  TiQue  xov  Jiovvaov  ovfjxovxa  nQayuaxevofidvTii 
^Eniytviii  6  ^ixvojpioe  ovx  ovxio  noi^aae  tpcovas  xovxov  xov  Äöyoy  OvSey 
7i(>is  xov  Jiüvvaov.  Die  Thalsache  ist  gewifs  richtig,  wenn  auch  das  Sprüch- 
wort  erst  spuler  in  Attika  entstunden  ist.    (S.  S.  2(31  A.  30.) 

9)  Aribtol.  Poet.  c.  3  p.  1448  A  29  fr. :  Sto  xal  avxmotovvxai  xr^e  xe  x^ayqi' 
Sias  xal  xtje  x(Oft(^hias  ol  JoiquI*  ,  xr}i  fiiv  xtufnoSiae  ol  Meya^is, . . .  xai 
rfjs  xQayi^Sias  Cvioi  xaJv  iv  FltkonowTiaoj.  Aristoteles  denkt  dabei  aufser 
den  Sikvoniern  wohl  auch  un  die  Phliusier. 


DIE  DRAMATISCHE  POESIE.    DIE  TRAGÖDIE.    ERSTE  GRUPPE.    DIE  A>FÄ>GE.     255 

Der  eigentliche  Begründer  der  Tragödie  ist  Thespis  aus  Ikaria^"),  Tiiespis. 
einer  kleinen  Ortschaft  unweit  Marathon.  Ein  näherer  Zusammen- 
hang mit  Epigenes  ist  nicht  wahrzunehmen.  Das  attische  Drama 
ist  seihständig  auf  heimischem  Boden  erwachsen;  denn  es  ist  nicht 
zufälUg,  wenn  die  Anfänge  der  Tragödie  wie  der  Komödie  gleich- 
mäfsig  auf  Ikaria  hinweisen.  Denn  in  derselben  Gemeinde  ti'at  auch 
Susarion  aus  Megara  auf,  der  erste  attische  Lustspieldichter  und 
äUerer  Zeitgenosse  des  Thespis.  "Weinbau  und  die  Verehrung  des 
Dionysus  bestand  in  Ikaria,  soweit  die  Erinnerung  reichte.  Daher 
rühmten  sich  die  Bewohner  jener  Ortschaft,  hier  habe  der  Gott  den 
ersten  Rebstock  gepflanzt,  von  hier  aus  sei  diese  Cultur  über  die 
Landschaft  weiter  verbreitet  worden.  Alte  Volkssagen  knüpften  sich 
an  das  Gedächtnifs  des  Ikarius,  der  den  Dionysus  gastlich  bei  sich 
aufgenommen  hatte,  und  an  seine  Tochter  Erigone  an;  namentüch 
das  tragische  Schicksal  der  letzteren  wurde  in  Liedern  besungen.") 
Mit  Reigentänzen  und  Liedern,  mit  allerlei  Scherzen  und  Mumme- 
reien wurden  hier  die  Feste  des  Dionysus  begangeo.*^)  So  lag  es 
nahe,  dafs  Susarion  und  Thespis  in  Erinnerung  an  die  heimische 
Sitte   diesen   mimischen    Chortänzeu   eine    festere  Form   zu   »eben 


10)  Dem  Thespis  wird  dieses  Verdienst  nicht  mit  Unrecht  gemeinhin  zu- 
geschrieben (Dioskor.  Anlh.  VII  410.  411  =  16.  17  I  2S4  Jac,  Hoiaz  A.  P,  275  f.), 
insofern  die  Tragödie  erst  jetzt  festen  Bestand  gewann.  Suidas  1  2, 1 172 :  Oeams 
ly.aQiOv  nöXscoi  ArTiy.rjs ,  XQayixbs  sxxaiSexaros  a.710  rov  Tiocörov  ysvouävov 
TQuycoSiOTioiov  Emyevovs  rov  ^txvcoriov  Ti&a'usvos,  cos  St  rivts  devTSoos  fisi^ 
E7itytvr,v  äXloi  S'  avrov  tiqcöxov  roayixov  yeriad-ai  (paaL  Dafs  man  den 
Thespis  als  Nachfolger  des  Epigenes  bezeichnete ,  der  ein  Menschenaller  früher 
lebte,  hat  Sinn;  wenn  aber  andere  ihm  die  sechszehnte  Stelle  anwiesen,  so 
rückten  sie  offenbar  den  Epigenes  und  die  Erfindung  der  Tragödie  bis  in  die 
mythische  Zeit  hinauf.  In  dem  sinnlosen  xid-ifievos  verbirgt  sich  wohl  der  Name 
des  fabelhaften  [Themis,  den]  Malalas  [Chionographia  V  60  p.  142  ed.  Bonn,  an- 
führt: ^Ev  röii  ;|f(>ö»'0ts  8e  rois  fisra  Tr;v  aXoxjiv  TQoiaS  Tia^^  "EXkr,aiv  i&av- 
/iut,ETO  nQwroS  Oifiii  ovö/jcaif  i^vqe  yoQ  ovros  r^ayixas  fiskcoSiaS  xal  «|- 
idsro  noäroi  8^ä.fj.aru\,  also  etwa  fiexa  0ifi{iv].  Ueber  Thespis  und  die 
Anfänge  der  Tragödie  schrieb  Chamäleon. 

11)  Dieses  Lied  hiefs  o/^rts  Athen.  XIV  61SE. 

12)  Eratosthenes  bei  Hygin  Astrol.  II  1 :  'Ixa^wl,  xö&c  nQÖixa  neoi  xqä- 
yov  ü)Q/r,aavxo.  Diesen  Vers  bezieht  Hygin  auf  die  Bacchische  Belustigung, 
den  sogenannten  daxcohaofiöe  oder  Schlauchtanz,  der  auch  in  Ikaria  nicht  ge- 
fehlt haben  wird.  Die  Masken,  welche  man  nach  alter  Sitte  zum  Gedächtnifs  der 
Er:gone  an  Bäumen  aufhängte  (auch  bei  den  altitalischen  Stämmen  findet  sich  der 
gleiche  Brauch),  weisen  unzweideutig  auf  Mummereien  und  Maskenspiele  hin. 


256  DRITTE   PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

unternahmen.  Wie  Susarion  das  Lustspiel  schuf,  so  Thespis  die 
Tragödie,  lag  doch  in  jener  Sage  von  dem  Tode  des  Ikarius  und 
seiner  Tochter  etwas  Tief-Ernstes.  Die  Tradition  läfst  den  Thespis 
mit  einem  Karren  im  Lande  herumziehen  und  seine  Maskenspiele  auf- 
führen.") Darin  liegt  nichts  Unwahrscheinliches ;  allein  seine  eigent- 
liche Wirksamkeit  gehört  Athen  an,  und  er  mufs  frühzeitig  dort 
aufgetreten  sein.  Die  Uebeiiieferung,  welche  Solon  diesen  Spielen 
zuschauen  und  seine  Bedenken  über  die  Zulässigkeit  der  neuen 
Kunstart  äiifsern  läfst,  braucht  man  nicht  als  Erdichtung  zu  ver- 
werfen.*^) Ol.  61  ward  bereits  der  Wettkampf  für  tragische  Chöre 
eingeführt'*),  und  Thespis  selbst  trug,  wie  billig,  bei  diesem  ersten 
Agon  den  Preis  davon.  Damals  mufs  Thespis  schon  in  reiferem 
Aller  gestanden  und  den  Höhepunkt  seiner  Kunst  erreicht  haben; 
denn  man  konnte  nicht  eher  daran  denken,  Preise  auszusetzen,  bis 
dieses  Schauspiel  sich  in  der  Gunst  des  Publikums  hinlänglich  be- 
festigt hatte  und  auch  andere  Dichter  sich  bereits  neben  Thespis 
versucht  hatten.   Die  Stiftung  des  Agons  setzt  eine  rege  dichterische 

13)  Horaz  A.  P.  275 ff.:  ignotiim  tragicae  genus  invenisse  Camenae  dicitttr 
et  plaustris  vexjsse  poemata  Thespis,  quae  canerent  agereiitque  penincli  f'ae- 
ciöus  ora,  obwohl  hier  sichtlich  die  Tradition  von  dem  Ursprünge  der  Komö- 
die eingemischt  wird  (s.  A.  16). 

14)  Plut.  Solon  c.  29.  Daraus  macht  Diog.  Laert.  I  59,  Solon  habe  die  Tra- 
gödie des  Thespis  untersagt  («ws  avcofs?.?;  tr^v  ^f)sv8o?x>yiav).  Die  Erzählung  führt 
auf  die  Zeit  unmittelbar  vor  der  ersten  Tyrannis  des  Pisistratus  (Ol.  54),  und  die 
Anfänge  der  Tragödie  können  recht  wohl  in  diese  Zeit  fallen.  Plutarch  bemerkt 
ausdrücklich,  dafs  damals  der  tragische  Wetlkampf  noch  unbekannt  war. 

15)  Die  parische  Chronik  Ep.  43  setzt  die  Einrichtung  des  Agons  in  Ol.  61 ; 
da  der  Archontenname  halb  verwischt  ist,  läfst  sich  das  Jahr  nicht  sicher  ermit- 
teln, aber  gemeint  ist  Ol.  61,  1 — 3,  und  auch  Suidas  sagt:  iSiSa^s  S'  ini  t^s  ^a 
^OlvfininSoi.  Die  lückeniiafte  Stelle  der  Chronik  hat  man  schon  verschieden 
ergänzt;  die  Vermulhung  iSiSa^B  (öQ)ä(fia  iv  a)ax{si,  ist  zwar  sachlich  gerecht- 
fertigt, da  die  städtischen  Dionysien  für  die  Tragödie  bestimmt  waren,  ist  aber 
abzuweisen,  weil  sie  die  Schriftzüge  des  Steines  willkürlich  abändert.  Es  ist 
zu  lesen:  05p'  ov  Otanis  o  noiTjxTje  (dvixa)  jtQwros,  oi  iSiSn^e%'  nA(Xot')»  t«»^««, 
xai  i)ted^  6  {r)^nyoe  (n&Xop)  x^oqoI  oder  x^^V^-  ^'^^  Zusatz  r^aycoSia  bis 
ivixa  war  entbehrlich,  weil  die  Wirksamkeit  des  Thespis  hinlänglich  bekannt 
war;  n^iuroi,  nicht  nQwxov,  denn  es  war  der  erste  tragische  Agon.  Die,  welche 
neben  Thespis  auftraten,  waren  sämmtlich  Schüler  des  älteren  Meislers;  der 
wohlerfahrene  Balletmeister  erlheilte  förmlich  Unterricht  in  seiner  Kunst,  Athen. 
I  22A:  Ol  HQxaioi  notrirai  Oiams,  IJ^arivai,  K^arlros,  fpfvvixos  OQxyjaral 
ixaXovfTO  Sia  ro  fii]  fiövov  xa  invrätv  SgafiaTa  avatpi^etv  eis  o^x^jatv  rov 
XOQOv,  älln  xni  £^(0  tmv  iÜioiv  TTOitjfinran'  SiSdaxeti-  Toii  ßovXoftevovS  6(>xfi<T&ni. 


DIE  DRAMATISCHE  POESIE.    DIE  TRAGÖDIE.   ERSTE  GRUPPE.    DIE  AXFÄ.NGE.     257 

Thätigkeit  voraus.  Nach  dem  Vorgange  des  Thespis  hatten  jüngere 
Kräfte  sich  in  dieser  Richtung  gebildet.  Pisistratus,  der  selbst  3Ieister 
IQ  der  Kunst  der  Verstellung  war  und  an  dem  neuen  Schauspiel 
besonderes  Wohlgefallen  finden  mochte,  wird  den  Agon  eingerichtet 
haben,  war  doch  Pisistratus  gegen  den  Anfang  Ol.  61  nach  Athen 
zurückgekehrt  und  hatte  seine  Herrschaft  dauernd  begründet.  Thespis 
mag  übrigens  noch  geraume  Zeit  nach  der  Einrichtung  des  tragi- 
schen Agons  für  die  Bühne  thätig  gewesen  sein ;  wenigstens  gilt  Phry- 
nichus,  der  zum  ersten  Male  Ol.  67  siegte,  als  sein  Schüler. 

Der  Dithyrambus,  wie  alle  lyrische  Dichtung,  konnte  den  Mythus 
nur  in  erzählender  Form  darstellen,  wenn  er  auch,  indem  er  die 
Handelnden  redend  einführte  und  durch  andere  Mittel  nach  der 
Weise  des  Epos  die  Schilderung  belebte,  [gröfsere  Wirkung  erzielte]. 
Erst  Thespis  legte  den  Grund  zum  Drama.  Er  führte  die  Handlung 
als  eine  gegenwärtige  vor.  Der  Chor  stellte  den  Vorfall  nachahmend 
dar;  dies  war  aber  nur  möglich,  indem  der  Chormeister  neben  dem 
Chore  selbständig  auftrat.  Er  sprach  den  Prolog,  um  den  Zuschauer  in 
die  Handlung  einzuführen  und  alles  zum  Verständnifs  Nothige  mitzu- 
theilen.  Er  stellte  dann  nach  einander  die  hauptsächlichsten  Träger 
der  Handlung  dar,  indem  er  bald  Entschlüsse  und  Absichten  darlegte, 
bald  in  der  Gestalt  des  Boten  einen  Vorgang,  der  sich  eben  zuge- 
tragen, schilderte,  dann  wieder  seine  Empfindungen ,  je  nachdem  das 
Ereignifs  ihn  freudig  oder  schmerzlich  berührte,  aussprach.  Wie  der 
Chor  während  der  Reden  des  Chormeisters  sich  ausruhte,  so  hatte 
dieser  während  des  Chorgesanges  Gelegenheit,  ein  anderes  Kostüm, 
eine  andere  Maske  anzulegen,  wenn  der  Gang  der  Handlung  solchen 
Wechsel  der  Personen  erforderte.  So  konnte  eine  zusammenhän- 
gende dramatische  Handlung  recht  gut  durch  einen  Einzigen  dar- 
gestellt und  durchgeführt  werden.  Eben  zu  diesem  Behufe  hatte 
Thespis  gleich  anfangs  den  Gebrauch  der  Masken  eingeführt.'®) 

In  dem  Chor  war  bisher  das  epische  und  lyrische  Element  ver- 
einigt. Dieses  zwiespältige  Wesen  hatte  etwas  Schwerfalliges  und 
doch  Ungenügendes.    Jetzt  tritt  eine  zweckmäfsige  Sonderung  ein. 

16)  Suidas:  TtQtärov  fiiv  x^iaas  rb  n^oacoTiov  ^tfivd'ic)  ir^aytöSr^aev, 
sh  avS^axvT]  iaxänaaev  iv  t^  irSeixwa&ai.  xal  ftexa  ravx'  siar,vsyxs  xcci 
rrjv  rcöv  n^occonsicov  x^V^^v  ^v  fiiv^  o&ovt}  xaraaxeväaas.  Was  Horaz  Ars 
poet.  277  vom  Bestreichen  des  Gesichts  mit  Hefen  erzälilt,  ist  irrthümlich  von 
der  Komödie  auf  die  Tragödie  übertragen.    (S.  A.  13.) 

Bergk,  Griech.  Literaturgeschichte  UL  IT 


258  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS   300  V.  CHR.  G. 

Der  Chor  beschränkt  sich  auf  sein  eigenstes  Gebiet  des  Lyrischen ; 
die  Darstellung  des  Epischen  Tällt  dem  Chormeister  zu.  Aber  die 
Begebenheit  wird  nicht  nach  der  Weise  des  epischen  Erzählers  als 
ein  der  Vergangenheit  angehörendes  Ereignifs  berichtet,  sondern 
als  etwas  Gegenwärtiges  dargestellt;  unmittelbar  vor  den  Augen  der 
Zuschauer  vollzieht  sich  die  mit  dem  Scheine  sinnHchen  Lebens  aus- 
gestattete Handlung.  Mochten  auch  die  ersten  Anfänge  unvollkom- 
men sein,  so  war  doch  der  Grund  zum  Drama  gelegt. 

Jene  Sonderung  der  früher  verbundenen  Elemente  giebt  sich 
auch  äufserlich  kund.  Die  Lieder  des  Chores  wurden  nach  wie  vor 
gesungen,  mit  Musik  und  orchestischen  Bewegungen  begleitet.  Der 
Chormeister  begnügt  sich  mit  der  schlichten  Recitation;  aber  auch 
er  bedient  sich  der  gebundenen  Rede.  Lebhafte  Mimik  und  ent- 
sprechende äufsere  Ausstattung  aller  bei  dem  Spiele  BetheiUgten  ver- 
vollständigten den  Eindruck  der  unmittelbaren  Gegenwärtigkeit.  Die 
wohl  meist  umfangreichen  Reden  des  Chormeisters")  halten  zugleich 
den  Zweck,  dem  Chore  die  nüthigen  Ruhepunkte  zu  gewähren**), 
obwohl  öfter  der  Chor  auch  die  Rede  des  Chormeisters  mit  seinen 
ausdrucksvollen  Tänzen  begleiten  mochte.  An  Abwechselung  konnte 
es  nicht  fehlen.  Im  Prolog  wie  in  den  Botenberichten  war  das 
Epische  vorherrschend,  aber  anderwärts  mufste  die  Rede,  wenn  sie 
die  strenge  Form  des  Monologes  annahm,  um  eigene  Entschlüsse 
oder  Gefühle  darzulegen,  sich  dem  lyrischen  Tone  nähern.  Endlich 
setzte  sich  der  Chormeister  auch  mit  dem  Chorführer  in  Verbindung 
und  wechselte  mit  ihm  Worte.")  Mochte  auch  die  Form  des  Ge- 
spräches noch  beschränkt  sein,  so  haben  wir  doch  den  Anfang  des 
Dialoges,  in  welchem  der  eigentliche  Schwerpunkt  des  dramatischen 
Lebens  liegt.  Die  Chorgesänge  sind  auch  bei  Thespis  die  Haupt- 
sache. Das  Lyrische  nahm  den  breitesten  Raum  ein,  und  diese 
Lieder  wurden   meist  von  lebhaften,  ausdrucksvollen  orchestischen 


17)  Es  waren  längere  Reden,  ^rjaen,  Themisfius  or.  26  p.  3S2,  IT  Dind. : 
tÖ  fiiv  TtQciTOv  6  x^^os  eionäv  jiSev  eis  xove  &eovs,  Siantt  Si  n^htyöv  t« 
Kai   Qf,civ  iisiQsv  (s.  S.  26!)  A.  64). 

18)  Diog.  LaerU  HI  56:  Giifnts  ira  vnox^tTtjv  i^tv^tr  ini^  rot  Smra- 
naieo&at  riv  x^föv. 

10)  Die  Gran)inatiker,  wenn  sie  den  Ursprung  des  Wortes  imox^xirjw  er- 
klären, mögen  dabei  vorzugsweise  diese  kurzen  Wcchselreden  im  Auge  gehabt 
haben. 


DIE  DRAMATISCHE  POESIE.    DIE  TRAGÖDIE.   ERSTE  GRUPPE.  DIE  A>FÄ>GE.      259 

Bewegungen  begleitet;  denn  in  dieser  Kunst  war  Thespis  Meister. 
Noch  später  erhielten  sich  seine  Tanzweisen  in  gutem  Andenken.*") 

Man  darf  von  den  Leistungen  dieses  Dichters,  der  eigentüch 
die  Tragödie  schuf,  nicht  zu  gering  denken.  Wie  schon  Epigenes, 
so  beschränkt  sich  auch  Thespis  nicht  auf  den  Sagenkreis  des  Dio- 
uysus,  sondern  bearbeitet  auch  heroische  Mythen,  wie  die  Titel  seiner 
Dramen  beweisen.*')  Wenngleich  noch  manches  an  den  scherzhaften 
bäuerischen  Ton,  der  bei  diesen  Spielen  hergebracht  war,  erinnern 
mochte"),  so  mufs  doch  Thespis  vorzugsweise  Stoffe  ernsteren  In- 
halts zum  Gegenstande  seiner  Dichtung  gewählt  haben,  und  auch 
der  Sprache  wird  eine  gewisse  Feierlichkeit  und  Würde  nicht  ge-i 
fehlt  haben.  Natürlich  mufste  in  diesem  Falle  auch  der  Satyrchor 
seine  Maske  aufgeben.  Wie  bedeutend  die  Wirksamkeit  des  Thespis  in 
dieser  Beziehung  war,  sieht  man  daraus,  dafs  der  Ausdruck  Tragödie, 
welcher  früher  auf  das  Satyrspiel  und  den  hier  herrschenden  heiteren, 
neckischen  Ton  geht,  von  jetzt  an  das  ernste  Trauerspiel  bezeichnet. 

Die  Stücke  des  Thespis  mögen  grofsentheils  schon  früh  unter- 
gegangen sein.  Man  war  in  jener  Zeit  nicht  achtsam  genug,  um 
Dichtungen,  welche  nur  für  einmaligen  Gebrauch  bestimmt  waren, 
sorglahig  zu  erhalteo.  Die  Arbeiten  des  Thespis  wurden  durch  die 
Leistungen  der  Jüngeren  bald  übertroffen  und  geriethen  in  Ver- 
gessenheit; nur  einige  Titel  und  ein  Paar  vereinzelte  Bruchstücke 
haben  sich  gerettet.*^)  Um  so  eher  konnte  Herakhdes  Pontikus  wagen, 
seine  eigenen  dramatischen  Versuche  unter  Thespis'  Namen  zu  ver- 
öffentüchen.*^) 

Der  Weise  des   Thespis   folgten   zunächst  seine   Schüler,   wie  Chöriius. 

20)  Aristoph.  Wesp.  1479,  wo  Tjytovi^eTO  wörtlich  zu  verstehen  ist. 

21)  Suidas  verzeichnet  vier  Dramen:  Z4d'Xa  IleXiov  r;  06oßas,  'le^els, 
^Hi&eoi,  nev&evs, 

22)  Dioskorides  Anth.  P.  VII  411  =  17  I  248  Jac. :  OiantSos  evQsua  rovro  ■ 
To  S'  ay^oicärtv  dv'  vlav  Tiaiyvia  xai  xa/iovi  rotaSe  xeXeiore^ovs  AtaxiXoi 
itvrpwae.    Vgl.  auch  VII  410  =  16  I  248  Jac. 

23)  Man  kannte  wohl  nur  die  Titel  der  Stücke,  die  Thespis  seit  Ol.  61 
aufgeführt  hatte;  denn  vor  dem  Agon  wird  man  schwerlich  an  didaskalische 
Aufzeichnungen  gedacht  haben.  Die  wenigen  Verse,  welche  die  Grammatiker  aus 
Thespis  beibringen,  darf  man  nicht  deshalb  verdächtigen,  weil  sie  bereits  das 
Mafs  des  Trimeters  haben. 

24)  So  berichtet  Aristoxenus,  sein  Zeitgenosse,  bei  Diog.  Laert.  V  92. 
Einem  solchen  gefälsehten  Drama  gehören  die  anapästischen  Verse  an,  welche 
Clemens  Aleiandrinus  Str.  V  570  aus  Thespis  beibringt. 

17* 


260  DRITTE   PERIODE   V0>    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Chörilus  aus  Athen,  der  zum  ersten  Male  Ol.  64  sich  am  tragischen 
Agon  betheihgte.'")  Ol.  70  trat  er  zugleich  mit  Aeschylus  und  Pra- 
tinas  auf,  Ol.  74  mit  Phrynichus*®);  ja,  er  scheint  sogar  noch  das 
Auftreten  des  Sophokles  Ol.  77,  1  erlebt  und  mit  ihm  um  den  Preis 
gekämpft  zu  haben,  so  dafs  er  mehr  als  fünfzig  Jahre  für  die  Bühne 
thätig  war.  In  diesem  langen  Zeiträume  hat  die  Tragödie  mehr- 
fachen Wandel  erfahren.  Auch  Chörilus  mufste  davon  berührt  wer- 
den. Zunächst  brachte  Pratinas  das  alte  Satyrspiel  wieder  zu  Ehren 
und  wies  ihm  neben  der  Tragödie  eine  selbständige  Stellung  an. 
Chörilus  schlofs  sich  offenbar  der  Neuerung  seines  Kunstgenossen 
sofort  an  und  mufs  auch  mit  seinen  Salyrdramen  bei  den  Zeit- 
genossen reichen  Beifall  eingeerntet  haben.*'^  Chörilus  war  ein 
fruchtbarer  Dichter;  allein  die  üeberlieferung,  welche  ilim  160  Stücke 
beilegt,  verdient  keinen  Glauben.'")  Auch  seine  Arbeiten ,  die  den 
Anforderungen  einer  vorgeschrittenen  Zeit  nicht  mehr  recht  genüg- 
ten, geriethen  bald  in  Vergessenheit.'^) 

Die  neue  Form  der  tragischen  Chöre,  welche  Thespis  und  seine 

25)  Suidas  unter  Xoi^iXos  II  2, 1691.  Damals  war  Tliespis  wohl  noch  am 
Leben. 

26)  Ol.  70,  s.  Suidas  ÜQaxivae  11  2,  401.  In  Ol.  "4  erwähnen  den  Chörilus 
wenigstens  Cyrillus  adv.  lulian.  I  p,  13 B  ed.  Paris  1638  und  die  Chronographen; 
mit  Sophokles  verbindet  ihn  die  Biographie  des  Sophokles:  avvrjyorviaaTo  S^ 
Alax'i^Xcf  xal  EvQtniSri  xai  XoiQiXfo  xai  läQiariq,  dagegen  die  Bemerkung 
des  Suidas  ^o<poxXr]S  II  2,  838  . . .  nQoe  Oianiv  xai  XoiqIXov  aycovt^ö/uero:  ist 
nicht  wörtlich  zu  verstehen. 

27)  Darauf  zielt  der  Vers  eines  unbekannten  Komikers:  rjvixa  fiev  ßaai- 
Xsve  Tjv  XoiQiXoe  iv  aarvQon  (Photius  3,  32). 

28)  Tragödien  wurden  damals  nur  an  den  grofsen  Dionysien  aufgeführt. 
Die  Tetralogie  war  noch  unbekannt;  jeder  Dichter  gab  nur  ein  Stück,  später 
zwei  (eine  Tragödie  nebst  Salyrspiel).  Es  ist  wohl  62  [s^iptovxa  xai  ß'\  zu 
lesen,  die  sich  passend  auf  einen  Zeitraum  von  50  Jahren  vertheilen;  auch 
erscheint  dann  die  Zahl  von  dreizehn  Siegen  angemessen. 

29)  Genannt  wird  nur  A\f^AX6nr]  (Pausan.  I  14,  2),  offenbar  eine  der  späteren 
Arbeiten,  da  sich  schon  im  Titel  der  Einflufs  des  Phrynichus  zeigt.  Die  geringen 
Stilproben,  die  uns  erhalten  sind,  wie  wenn  er  die  Steine  Gebeine  der  Erde 
(oaxä  yr}«)  oder  die  Flüsse  Adern  der  Erde  [fXsßes  yrfi)  nannte,  verrathen 
Vorliebe  für  bildlichen  Ausdruck  und  jene  unbewufste  Poesie,  wie  sie  der  volks- 
mafsigen  Sprache  eigen  ist.  Wenn  der  Komiker  Alexis  (.\lhen.  IV  164  C)  die  litera- 
rischen Schätze  einer  Bibliothek  aufzählt  und  auch  den  Chörilus  nennt,  ist  sicher- 
lich nicht  an  den  Tragiker,  der  damals  längst  verschollen  war,  sondern  an  den  jün- 
geren Epiker  dieses  Namens  zu  denken  (s.  Bd.  II  S.  4SI  A.  IM;  und  die  anogiiftara 
XoiQikov  von  Aristoteles  fr.  p.  1468B  gehen  wohl   gleichfalls  auf  den  Epiker. 


DIE  DRAMATISCHE  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.   ERSTE  GRUPPE.    DIE  A>FÄ>GE.      261 

Schüler  eiDgeführt  hatten,  erfreute  sich  günstiger  Aufnahme,  aber 
man  fand  doch,  dafs  die  Beziehung  auf  den  eigenthchen  Anlafs  all- 
zu sehr  zurücktrat.  Indem  Thespis  bemüht  war,  die  neue  drama- 
tische Dichtung  in  jeder  Weise  würdig  auszustatten,  indem  er  in 
der  Auswahl  wie  der  Behandlung  der  Mythen  das  Niedrige  und  Possen- 
hafte möghchst  fernzuhalten  suchte,  erregte  dies  Anstofs  und  schien 
zu  der  hergebrachten  Weise  der  Dionysischen  Festlust  nicht  recht  zu 
passen.**)  Die  Macht  der  Gewohnheit  war  zu  grofs;  man  mochte 
nicht  gänzhch  auf  das  satyrhafte,  burleske  Element  Verzicht  leisten. 

Diesem  Verlangen  kam  Pratinas  entgegen.  Pratinas  aus  Praiina». 
Phhus  mag  als  lyrischer  Dichter  zuerst  in  seiner  Heimath  und  in 
anderen  Städten  des  Peloponnes  aufgetreten  sein;  später  wählte 
er  Athen  zu  seinem  bleibenden  Aufenthalte.  Ol.  70  tritt  er  zusam- 
men mit  Aeschylus  und  Chörilus  auf.  Da  Ol.  78,  1  sein  Sohn  ein 
Satyrspiel  aus  des  Vaters  Nachlasse  zur  Aufführung  bringt,  wird 
er  nicht  lange  vorher  gestorben  sein.^')  Der  Beginn  seines  Wirkens 
in  Athen  fällt  sicherlich  geraume  Zeit  vor  Ol.  70.  In  PUius,  wo 
der  Dionysusdienst  eine  hervorragende  Stelle  einnahm,  war  wohl 
das  Chorspiel  der  Satyrn  gerade  so  wie  in  dem  benachbarten  Sikyon 
eine  seit  Alters  beliebte  Volkslustbarkeit.  Pratinas  wird  schon  in 
seiner  Heimath  als  Chormeister  sich  in  dieser  Gattung  versucht  haben, 
und  als  ihm  in  Athen  gestattet  ward,  ein  solches  Maskenspiel  auf- 
zuführen, fand  die  ursprüngUche,  kräftige  Weise  des  dorischen  Chor- 
dichters, das  groteske  Wesen  und  der  bäuerische  Ton  der  Satyrn 
Anklang.")   Pratinas  kam  eben  nur  einem  längst  gehegten  Wunsche 

30)  Dieser  Vorwurf  ist  in  dem  bekannten  Spnichverse  ovSev  npos  xov 
Jiöwaov  aasgesprochen,  der  eben  gegen  Thespis  und  seine  Schule  gerichtet 
war,  wie  Chamäleon  berichtet,  s.  Photius  s.  v.  (SuidasII  1,  1202):  rb  nQÖa&Bv 
tlt  xov  Jiovvoov  yoäfovrsi  rovrois  riyo}vit,ovro,  oltieq  xal  ^axvQtna  ile'yero' 
laregov  8e  f/sTaßdvrse  eis  ro  tQayojSias  y^a^eiv  xara  fiix^bv  eis  /iv&ovs 
xai  laro^ias  är^Ttr^oav,  (irjxsri  roT  d'eov  ftvr,fiovevovT:£S.  od'sv  xai  i7Ts<pa:- 
VTjaav'  xai  Xa/iatXiiov  iv  r^  Tzsoi  OeoTtiSoä  rä  na^aTikr^aia  laxoQsl.  Andere 
brachten  die  Entstehung  des  Spruches  mit  Epigenes  in  Verbindung;  allein  in 
Sikyon  erregte  diese  Neuerung  im  Volke  gewifs  keinen  Anstofs.  (S.  S.  254 
A.  S.)  Der  Vers  wird  Attika  angehören  und  mag  aus  einer  gleichzeitigen  Ko- 
mödie stammen.  Minder  passend  bezieht  Plutarch  Qu.  Symp.  I  1,  5  den  Vers 
auf  Phrynichus  und  Aeschylus. 

31)  Pratinas  hat  also  die  Einführung  der  Tetralogie  noch  erlebt;  ob  er 
selbst  sich  der  Neuerung  anschlofs,  ist  unbekannt. 

32)  Dioskorides  Anth.  VII  37  =  28  I  252  Jac.  rühmt  von  Sophokles,  er  habe 


^62  DRITTE    PERIODE    V0.>'    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

entgegen.  Aber  auf  das  ernste  heroische  Drama  mochten  die  Athe- 
ner nicht  verzichten.  Um  jedem  Ansprüche  zu  genügen,  traf  man 
die  Einrichtung,  dafs  jeder  Dichter  fortan  eine  Tragödie  und  ein 
Satyrspiel  aufführen  sollte.^)  So  vollzog  sich  die  strenge  Scheidung 
des  tragischen  und  des  satyrhaften  Elementes.  Die  Tragödie  ward 
nicht  verdrängt  oder  beeinträchtigt,  sondern  konnte  erst  von  jetzt 
an  ihr  höheres  Ziel  unbeirrt  verfolgen.  Aber  auch  das  altherge- 
brachte Satyrspiel  kam  wieder  zu  Ehren.  Eben  in  dieser  Gattung 
bewährte  Pratinas  seine  Meisterschaft.  Er  verstand  vortrefflich  den 
bizarren,  scherzhaften  Ton  zu  treffen,  der  diesem  volksmäfsigen  Schau- 
spiele eigen  war.  Aber  er  hat  auch  daneben  Tragödien  gedichtet,  in 
denen  ausdrucksvolle  Tanzweisen  nicht  fehlten.^^)  Sonst  wissen  wir 
über  seine  dramatischen  Arbeiten  nichts  Näheres;  denn  bei  der  Fülle 
der  Produclionen  fand  auch  Pratinas,  da  selbst  auf  seinem  eigensten 
Gebiete,  dem  Salyrdrama,  vollkommen  ebenbürtige  Mitbewerber  auf- 
traten, später  keine  Beachtung  mehr.'') 

den  Satyr  rov  ix  0hovvroe  iri  rqißoXov  narsovra  TtQivivov  is  ;u(>i;ffeof  ax^fta 
fiE&TjQiioaaro ,  und  VII  707  =  29  I  252  Jac.  von  Sositheus:  ixiaaofOQriae  ya^ 
(ovrjQ  (i^ia  <t>Xiaai{ov  val  fin  x^^ovs  ^aTv^av;  dann  wird  besonders  Iiervorjje- 
hoben,-  wie  dieser  jüngere  Dichter  wieder  zu  der  Weise  des  alten  Satyrdramas 
{xal  Ttäliv  eioatQftTjari  rov  ägaeva  Jto^iSt  Movffi]  QX'd'fibv  xrX.)  zurückge- 
kehrt sei.    (S.  S.  242  A.  täU,  S.  243  A.  156.) 

33)  Dieser  Vergleich  konnte  natürlich  nur  im  vollen  Einverständnisse  mit 
den  damals  in  Athen  thätigen  Dichtern  zu  Stande  kommen;  und  wir  wissen 
ja,  dafs  Chörilus  erfolgreich  im  Satyrspiel  mit  Pratinas  wetteiferte.  Aber  dem 
Pratinas  kommt  das  Verdienst  dieser  Neuerung  zu.  daher  Suidas  II  2,  401  von 
ihm  sagt:  xni  i'ygaxfe  TiQcärot  üaivQovi.  Die  neue  Einrichtung,  wodurch  die 
Zahl  der  Stücke  verdoppelt  ward,  bezeugt  Zenobius  V  40:  Bio  yovv  rovro  zois 
SarvQOvs  vaxeQov  i'So^ev  avrole  jiQoeiaäyeiv,  tva  /urj  Soxcäaiv  dntXard'avea&nt 
tov  d'eov  (wenn  nicht  UQoasiaäyeiv  richtiger  ist).    (S.  S.  236  A.  125.) 

34)  Athen.  I  22  A.  Suidas  legt  ihm  50  Dramen,  darunter  32  (eine  Hdschr. 
30)  Satyrstücke  bei;  man  hat  die  Zahl  32  in  12  verändern  wollen,  indem  man 
irriger  Weise  die  Form  der  Tetralogie  voraussetzte.  Pratinas  wird  anfangs 
nur  Satyrdramen  gedichtet  haben,  dann  immer  eine  Tragödie  mit  einem  heile- 
ren Nachspiele;  so  erscheint  das  Verliältnifs  der  Zahlen  ganz  angemessen.  Nach 
Suidas  hat  Pratinas  nur  einmal  den  Sieg  erlangt.  Dies  klingt  bei  einem  so 
namhaften  Dichter  und  der  mäfsigen  Zahl  begabter  Mitbewerber  sehr  anwahr- 
scheinlich; es  wird  la   zu  lesen  sein. 

35)  Wenn  das  längere  Bruchstück  bei  Schol.  Soph.  Oed.  Kol.  1375,  wo  der 
Fluch  des  Oedipus  in  parodischer  Weise  behandelt  wird,  dem  Pratinas  gehörte, 
künnt:?n  wir  einigermafscn  eine  Vorstellung  von  seiner  Art  gewinnen.  Aber 
Versbau  und  Sprache  scheinen  auf  eine  jüngere  Zeit  hinzuführen;  vielleicht  sind 


DIE  DRAMATISCHE  POESIE.    DIE  TRAGÖDIE.  ERSTE  GRUPPE.  DIE  ANFÄNGE.       263 

Dagegen  seinen  lyrischen  Poesien  that  die  grofse  Zahl  berühm- 
ter Namen,  welche  diese  Blüthezeit  der  L)Tik  hervorbrachte,  keinen 
Eintrag,  und  diese  Auszeichnung  war  eine  wohlverdiente,  wenn 
schon  vorzugsweise  Gelehrte,  welche  die  historische  Entv^icklung  der 
Musik  und  Dichtkunst  verfolgten,  diese  Poesien  beachteten.  Denn 
Pratinas  war  mit  der  Geschichte  seiner  Kunst  wohl  vertraut.  Er 
hielt  an  dem  strengen  Stil  der  älteren  Zeit  fest;  die  Neuerungen, 
welche  durch  Lasus  in  der  Musik  aufkamen ,  waren  ihm  verhafst. 
So  hatte  er  geeigneten  Anlafs,  in  seiner  männhchen  freien  Weise 
seine  Ansichten  über  die  Aufgaben  der  Kunst  auszusprechen  und 
dabei  auch  der  alten  Meister,  an  denen  er  mit  liebevoller  Pietät 
hing,  zu  gedenken.  Der  noch  erhaltene  Eingang  eines  Tanzliedes 
veranschauHcht  am  Besten  die  Art  des  reichbegabten  Dichters.^)  Ein 
Hauch  Dionysischer  Begeisterung  durchweht  diese  Verse;  die  reiche 
Mannigfaltigkeit  der  metrischen  Formen  und  die  klangvolle,  glänzende 
Sprache  harmoniren  aufs  Schönste.  Hier  macht  eben  Pratinas  seinem 
Unmuthe  Luft  und  beklagt,  dafs  die  Musik  sich  nicht  mehr  wie 
früher  dem  Dichterworte  unterordne,  dafs  die  rauschenden  Töne 
der  Flöte  eine  Herrschaft  ausüben,  die  ihnen  nicht  gebühre.") 

Ein  Zeitgenosse   des   Pratinas  war  Phrynichus,   der  Sohn  Phrynicho«. 
des  Polyphradmon  aus  Athen  ^),  unter  den  Vorgängern  des  Aeschy- 
lus  unstreitig  der  bedeutendste.     Ol.  67   gewann  er  seinen   ersten 
Sieg.*')     Sein   historisches  Drama,   die  Eroberung  Milets  durch  die 

die  Verse  einem  Dichter  der  mittleren  Komödie ,  wie  Antiphanes,  zuzuweisen. 
Auf  keinen  Fall  können  sie  von  Timon  aus  Phlius  herrühren;  denn  ein  Lese-' 
drama  aus  alexandrinischer  Zeit  konnte  hier  nicht  erwähnt  werden. 

36)  Man  würde  das  Gedicht  für  einen  DithjTambus  halten,  wenn  es  nicht 
von  Athenäus  XIV  617  C  ausdrücklich  als  Hyporchem  bezeichnet  würde.  Ob  es 
für  Athen  bestimmt  war,  ist  ungewifs.  Ein  Hyporchem  (nicht ,  wie  man  ver- 
muthet  hat,  ein  dramatisches  Gedicht)  waren  wohl  auch  die  Jifiaivat  ij  Ka^vä- 
■ztSes  (Athen.  IX  392  F),  wahrscheinlich  für  eine  peloponnesische  Stadt  gedichtet. 

37)  Dafs  diese  Polemik  hauptsächlich  gegen  Lasus  und  die,  weiche  sich 
dieser  Richtung  anschlössen,  gerichtet  ist,  sieht  man  aus  Flut,  de  mus.  c.  29. 

38)  Irrthümlich  unterscheidet  Suidas  II  2, 1555. 1556  (Eudocia)  zwei  "tragiker 
dieses  Namens.  Dafs  der  Vater  Polyphradmon  hief»,  wird  daduich  bestätigt,  dafs 
der  Sohn  des  Phrynichus  den  gleichen  Namen  führte,  vgl.  auch  Pausan.  X  31,4. 
Der  Tragiker  Phrynichus  wird  nicht  selten  mit  anderen  gleichen  N'amens  (ein 
Ballettänzer,  ein  komischer  Dichter,  ein  athenischer  Feldherr,  sämmtlich  jünger 
und  der  Zeit  des  peloponnesischen  Krieges  angehörend)  verwechselt. 

39)  Vielleicht  trat  er  damals  überhaupt  zum  ersten  Male  auf.  Dals  iha 
Suidas  einen  Schüler  des  Thespis  nennt,  ist  damit  wohl  vereinbar. 


264  DRITTE  PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CUR.  G. 

Perser,  mufs  unter  dem  frischen  Eindrucke  dieser  Ereignisse  Ol. 
71,  3  geschrieben  sein.  Ol.  74  mag  er  mit  Chürilus  um  den  Preis 
gerungen  haben.^°)  Ol.  75,  4  gewann  er  wieder  den  Preis*'),  wahr- 
scheinhch  mit  den  Phönissen.  Er  starb,  wie  es  scheint,  in  Sicilien, 
wohin  er  wohl  in  Folge  einer  Einladung  des  Hiero  sich  begeben 
hatte.^^)  Phrynichus  geht  immer  mehr  darauf  aus,  der  Tragödie  einen 
würdigen  Inhalt  zu  geben ;  die  Trennung  der  Tragödie  vom  Satyr- 
drama, die  sich  eben  damals  volhog,  war  diesen  Bestrebungen  gün- 
stig. Phrynichus  begnügt  sich  nicht,  die  altbekannten  und  liebge- 
wonnenen Stoffe,  welche  die  epischen  und  lyrischen  Dichter  schon 
oft  behandelt  hatten,  in  der  neuen  Form,  die  sie  erst  recht  wirksam 
machte,  vorzuführen"^),  sondern  er  betritt  eine  ganz  neue  Bahn, 
indem  er  Ereignisse  der  unmittelbarsten  Gegenwart,  wie  den  Fall 
Milets,  auf  die  Bühne  brachte.  Es  war  ein  kühnes,  ganz  durchaus 
von  dem  Herkönimhchen  abweichendes  Unternehmen.  Erleichtert 
wurde  das  Wagnifs  dadurch,  dafs  eben  der  dramatischen  Handlung 
nur  mäfsiger  Raum  vergönnt  war  und  das  Lyrische  vorwaltete.  Mit 
seinen  reichen  künstlerischen  Mitteln  konnte  der  Tragiker  hier  um 
so  mächtiger  auf  das  Gefühl  einwirken,  je  näher  das  traurige  Schick- 
sal der  stammverwandten  Milesier  das  attische  Publikum  anging,  und 
der  Erfolg  entsprach  vollkommen  den  Intentionen  des  Dichters;  keiner 
blieb  ungerührt.     Aber  nicht   deshalb  wurde  Phrynichus   mit  einer 


40)  "Wenigstens  verzeichnet  ihn  Cyrillus  adv.  lulian.  I  p.  13B  ed.  Paris  1G38 
unter  dieser  Olympiade  mit  Chörilus  (s.  S.  260  A.  2fi). 

41)  Themistokles  war  damals  sein  Choreg,  Plut.  Themist.  c.  5. 

42)  Dies  geht  aus  der  lückenhaften  Stelle  ne^i  xcafitpSiae  HI  10  hervor: 
<pQvvixo€ . . .  fQÜSfxovoe  t'&avev  ip  ^ixeXiq ,  wo  offenbar  neben  dem  Komiker 
auch  der  Tragiker  und  sein  Tod  erwähnt  war;  der  Epitomator  zog  dies  un- 
verständig zusammen.  Hiero  starb  Ol.  78,  2 ;  Phrynichus  war  wohl  schon  Ol. 
78, 1  todt,  als  sein  Sohn  Polyphradmon  neben  Aeschylus  auftrat.  Nach  Aelian 
V.  H.  III  8  ward  Phrynichus  von  den  Athenern  zum  Feldherrn  erwählt  wegen 
des  Beifalls,  den  die  kriegerischen  Gesänge  fanden,  die  er  in  einer  Tragödie 
für  einen  Pyrrhichistenchor  gedichtet  halte.  Dafür  liefse  sich  der  analoge  Fall 
aus  dem  Leben  des  Sophokles  anführen;  nur  ist  Aelian  ein  gar  unzuverlässiger 
Gewährsmann.  Möglicher  Weise  liegt  eine  Verwechslung  mit  dem  athenischen 
Strategen  Phrynichus  zu  Grunde,  vgl.  Schol.  Aristoph.  Ran.  085,  wo  rirta  .1« 
rovrov  xtofitxov  noirjrriv  Xe'yovaiv  in  r Qnytxov  zu  verbessern  ist. 

■V.i)  Plutarch  Ou.  Symp.  11,5  stellt  den  Phrynichus  hinsichllicii  ilie»er 
Bestrebungen  auf  gleiche  Stufe  mit  Aeschylus:  <P^vrixov  xal  ytia^vlov  jijv 
t^ayt^Blav  eis  fin&ove  xai  na&rj  ji^oayvpTO>f, 


DIE  DRAM.\TISCHE  POESIE.    DIE  TRAGÖDIE.  ERSTE  GRUPPE.   DIE  A>FÄ>GE.       265 

Geldbufse  belegt  und  die  Wiederaufführung  seines  Stückes  unter- 
sagt*^); denn  er  hatte  ja  nur  der  höchsten  Aufgabe  des  Dichters 
genügt,  sondern  aus  poUtischen  Gründen,  hatten  doch  die  Athener 
theilnahmslos  die  lonier  in  dem  Kampfe  gegen  die  Perser  ihrem 
Schicksale  überlassen,  und  das  Gewissen  manches  hochgestellten  und 
einflufsreichen  Mannes  mochte  durch  die  Erinnerung  an  seine  Ver- 
schuldung sehr  unangenehm  berührt  werden.  Jene  Kränkung  hielt 
jedoch  den  Phrynichus  nicht  ab,  später  den  Versuch  zu  erneuern, 
und  die  poetische  Verherrlichung  des  Sieges  der  Hellenen  über  die 
Perser  in  den  Phönissen,  gewissermafsen  das  Gegenbild  der  früheren 
Tragödie,  war  eine  so  dankbare  Aufgabe,  wie  sie  die  Gunst  des 
AugenbHckes  nicht  häufig  dem  Dichter  gewährt.  Auch  hatte  Phry- 
nichus hier  keinen  Anstofs  zu  befürchten. 

An  dem  jungen  Aeschylus,  mit  dem  der  anerkannte  Meister 
noch  längere  Zeit  einträchtig  zusammenwirkte"),  fand  er  einen 
gleichgesinnten  Bundesgenossen';  war  doch  genügender  Raum  für 
zwei  Dichter  vorhanden,  die  sich  nicht  sowohl  ausschlössen,  sondern 
ergänzten.  Phrynichus  war  eine  sinnige,  mehr  weibliche  Natur, 
daher  er  auch  zuerst  Frauenrollen  einführt.^®)  Das  grossartige,  männ- 
liche Pathos,  die  Gedankentiefe  des  Aeschylus  hat  er  nicht  erreicht, 

44)  Herodot  VI  21:  7ioiT;aavTi  <P^vixcp  Sqäfia  MiXt^tov  aXcoaiv  xai  8i- 
Sä^avTi  es  SäxQva  re  Mneae  t6  d'erjr^ov,  xai  e^Tjfiioiaav  jutv  tos  avauvri- 
aavxa  oixTiia  xaxa  x^kifiOi  S^äxf-riai.,  xai  irciia^av  ftr^xeti  ftjjSiva  xoäa&ai 
rovicp  z(p  Sqäfiari.  Strabo  XIV  7  p.  635  berichtet  dasselbe  nach  Kallisthenes. 
Ammian.  Marc.  XXVIII  1,  4  berichtet,  anfangs  habe  das  Publikum  den  Dichter 
wohlgefällig  angehört,  dann  aber  laut  seinen  Unwillen  geäufsert:  arbitrati  non 
eonsolandi  gratia,  sed  probrose  monendt,  quae  pertulerat  amabilis  civitas, 
nulUs  auctorum  adminieulis  fulta,  hos  quoque  dolores  scenicis  adnumerasse 
fabulis  insolenter.  Und  auch  der  Schol.  Aristoph.  Wesp.  149U  läfst  den  Dich- 
ter mit  seinem  Stücke  durchfallen.  Diese  Tragödie  ist  wohl  frühzeitig  ver- 
schollen; nicht  einmal  der  Titel  steht  fest.  Als  Milr^ov  alcoais  vfird  das  Stück 
von  Plutarch  praec.  reip.  ger.  IT,  9  und  anderen,  die  den  Herodot  ausschreiben, 
benannt.  Man  würde  aber  eher  MiXtjtov  ne^ais  erwarten,  vielleicht  aber  hiefs 
es  ne^ai;   unter  diesem  Namen  führt  Suidas  ein  Stück   des  Phrj-nichus  auf. 

45)  Würdig  und  voll  Anerkennung  spricht  sich  Aeschylus  über  sein  Ver- 
hältnifs  zu  Phrynichus  bei  Aristophanes  Frösche  1299  aus,  während  Euripides 
ebendaselbst  910  auf  seine  Weise  als  einen  überwundenen  Standpunkt  gering- 
schätzig herabsieht. 

46)  Suidas  II  1, 1555:  ngcHroe  6  <P^vixoe  ywauceXov  nQoaconov  eia^yayev 
iv  T5  axrjv^.  Die  Titel  seiner  Dramen  'yiXxTjarii,  'AvS^ofiiSa,  ^Hqiyüvr],  nXev- 
^wftai,  JavatSei,  ^oivKjaai  bestätigen  dies. 


266  DRITTE   PERIODE   VON   500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

aber  die  wecliselvollen  Geschicke  des  Menschenlebens  in  ergreifen- 
den Bildern  vorzuführen  und  Iheilnehmende  Empfindungen  wach- 
zurufen verstand  Phrynichus  wie  kein  anderer.  Welche  Macht  er 
über  die  Gemüther  ausübte,  wie  er  die  Zuhörer  bis  zu  Thränen 
rührte,  beweist  der  Erfolg  seines  ersten  historischen  Dramas.  Daher 
tritt  auch  die  Handlung  bei  ihm  noch  mehr  als  bei  Aeschylus  zu- 
rück; dem  Chor  fällt  die  Hauptthätigkeit  zu.  Dafs  übrigens  Phrv- 
nichus  die  Bedeutung  des  dramatischen  Elementes  wohl  erkannte, 
sieht  man  aus  der  bevorzugten  Stelle,  welche  er  dem  iambischen 
Trimeter  zuwies.^')  Aber  seine  Stärke  liegt  in  den  lyrischen  Ge- 
sängen, welche  durch  vollendete  Kunst  ausgezeichnet  waren.'")  In 
dieser  Beziehung  steht  er  dem  Aeschylus  durchaus  ebenbürtig  zur 
Seite,  wenn  auch  seine  Weise  von  der  des  jüngeren  Tragikers  wesent- 
lich verschieden  war."')  Innigkeit  und  eine  gewisse  milde  Anmuth, 
die  keiner  der  Späteren  wieder  erreicht,  war  den  melodischen,  klang- 
vollen Liedern  des  Phrynichus  eigen,  daher  diese  lieblichen,  wohl- 
lautenden Weisen  sich  lange  Zeit  in  frischer  Erinnerung  behaupte- 
ten."^) Unterstützt  wurde  die  Würde  der  Chorgesänge  durch  lebhafte 
charakteristische  Tanzweisen ;  denn  auch  hier  bewährte  der  Dichter 
seine  Meisterschaft,  wie  er  selbst  nicht  ohne  Befriedigung  hervor- 
hebt.'')   Als  Aeschylus  die  neue  tetralogische  Form  einführte,  schlofs 


47)  Suidas  sagt  zwar:  xat  svqstt^s  xov  xexQafiitQOv  iyevexo.  Dies  ist  ent- 
schieden unrichtig;  denn  der  trochäische  Tetrameter  war  ja  gerade  in  der  alten 
Tragödie  vor  Phrynichus  das  vorherrschende  Versmafs;  es  ist  t Qi^ir qov  zu 
lesen.  Eingeführt  hat  diesen  Vers  in  die  Tragödie  schon  Thespis ;  er  wird  ihn 
namentlich  in  den  Prologen  gebraucht  haben,  aber  erst  durch  Phrynichus  gelangt 
der  Trimeter  zur  Herrschaft. 

48)  Aristot.  Probl.  19,  31  p.  920  A  11:  Jta  li  oi  neql  'Pqvvixov  ricav 
fiäXXov  fisXojtotoi ;  Tj  Sta  ro  noXXanXäaia  elvai  rore  ra  ftiXr]  rtär  fiixQtav 
iv  rnlt  TQay^Slate;  (die  Stelle  ist  unvollständig  ilborliefort). 

49)  Aeschylus  deutet  selbst  darauf  hin  Aristoph.  Frösche  1299.  So  ge- 
braucht Phrynichus  in  der  Parodos  der  Phönissen  die  enkomiologische  Vers- 
art, die  Aeschylus  nur  im  Prometheus  anwendet. 

50)  Aristophanes'  Komödien  bieten  dafür  geeignete  Belege  dar. 

51)  S.  das  Distichon  des  Phrynichus  bei  Plut.  üiiaest.  Symp.  VIH  9,  3,  10, 
wohl  aus  der  Grabschrift,  die  der  Dichter  für  sich  selbst  entworfen  hatte.  Daher 
Schol.  Aristoph.  Frösche  tiSS:  y.ivovfiirovs  rovt  xoQoie  eiar;ye  xrä  irnXaiotTas; 
letzteres  ^thi  wohl  speciell  auf  das  Drama  'j4rTnioi.  Aelian  V.  H.  III  b  spricht 
sogar  von  einem  Pyrrhichistenchor  in  einer  Tragödie.  So  lag  auch  die  Ver- 
wechselung mit  dem  jöngeren  Ballettänzer  gleichen  Namens  sehr  nahe. 


DIE  DRAMATISCHE  POESIE.   DIE  TRAGÖDIE.  ERSTE  GRLPPE.  DIE  ANFÄNGE.       267 

sich  auch  Phrynichus  ihm  an.")  Der  scherzhafte  Ton  des  Satyr- 
dramas sagte  wohl  dem  Phrynichus  weniger  zu;  in  dieser  Gattung 
blieb  er  hinter  Pratinas  und  Aeschylus  zurück.")  Ueberhaupt  fan- 
den die  Arbeiten  des  Phrynichus  bei  den  Späteren  nur  geringe  Be- 
achtung.*^) \Me  Pratinas,  so  war  auch  Phrynichus  als  melischer 
Dichter  thätig."*) 

Phrynichus  und  Pratinas  hinteiiiefsen  Erben  ihrer  Kunst.  Poly-  Poiyphra-i 
phradmon,  des  Phrynichus,  und  Aristias,  des  Pratinas  Sohn,  treffen  """"^ 
wir  Ol.  78.  1  im  tragischen  Wettkampfe  neben  Aeschylus*®);  beide 
folgten  wohl  den  Fufstapfen  ihrer  Väter.  Von  dem  ei'steren  wissen 
wir  nur,  dafs  er  eine  Tetralogie,  die  Lykurgie,  zur  Aufführung  brachte. 
Aeschylus  hat  ebenfalls  eine  Lykurgie  gedichtet.  Für  einen  jungen  Dich- 
ter, der  seine  Kräfte  wohl  noch  nicht  ausreichend  erprobt  hatte,  wäre 
es  ein  gefahrvolles  Wagnifs  gewesen,  sich  mit  dem  grofsartigen  Dichter- 
geist des  Aeschylus  auf  demselben  Gebiete  zu  begegnen ;  wahrschein- 
lich hat  Aeschylus  erst  später  diesen  Stoff  von  neuem  bearbeitet.") 

Etwas    genauer  sind    wir    über  Aristias  unterrichtet.     Ob- Aristiaa. 
wohl  wie   sein  Vater  für  die  attische  Bühne  thätig,    mufs  er  doch 
seiner  Heiraath  sich   nicht  gänzlich  entfremdet  haben;   wenigstens 
zeigte  man  noch  später  auf  dem  Marktplatze  zu  Phhus  sein  Grab- 


52)  Denn  dafs  dieser  Fortschritt  dem  Phrynichus  verdankt  wurde,  ist 
eine  völlig  grundlose  Hypothese  der  neuesten  Zeit. 

53)  Auf  tetralogische  Form  weisen  die  Titel  Ai/vitriot  und  JavatSei 
hin,  die  offenbar  zusammengehören ;  sonst  aber  ist  es  mifslich,  aus  den  wenigen 
uns  überlieferten  Titeln  Combinationen  über  tetralogische  Composition  aufzu- 
stellen.    Der  l^vraios  war  wohl  ein  SatjTStück. 

54)  Suidas  macht  nur  neun  (elf)  Dramen  des  Phrynichus  namhaft,  der 
offenbar  weit  mehr  geschrieben  hatte.  Ob  das  Schicksal  des  Troilus  in  einer 
Tragödie  oder  in  einem  lyrischen  Gedichte  vorkam,  ist  unsicher. 

55)  Erwähnt  wird  ein  Hymnus  auf  Athene,  ein  Päan;  ebenso  hat  Phry- 
nichus nach  Suidas  II  2.1556  Gesänge  für  Chöre  der  Pyrrhichisten  verfafst,  die 
jedoch  Aelian  V.  H.  IH  S  einer  Tragödie  zuweist. 

56)  Die  Didaskalie  der  Sieben  des  Aeschylus:  {^iax^los)  ivixa...,  Sev- 
teQos  l^oiariai  negael,  Tavrä^M,  UalataraTs  aarv^ixoTi  toIs  Iloaxtfov  na- 
TQos  (hier  ist  offenbar  der  Name  der  dritten  Tragödie  ausgefallen),  roiros  IIoXv- 
ifoäBficov  ytvy.QvQyeiq  ieToa^j)yiq. 

57)  Freilich  könnte  man  vcrmuthen,  dafs  hier  eben  die  Lykurgie  des 
Aeschylus  zn  verstehen  sei  und  dafs  Polyphradmon  für  den  Verfasser  nur  die 
Einübung  des  Chores  unternahm.  Da  Aeschylus  mit  einer  Tetralogie  den  ersten 
Preis  erhalten  hatte,  konnte  er  sich  wohl  für  die  zweite  die  dritte  Stelle  ge- 
fallen lassen. 


268  DRITTE   PERIODE    VON    500    BIS    300  V.    CHR.  G. 

mahl.^)  Aristias  war  besonders  in  Satyrdramen  glücklich ;  seine  Lei- 
stungen in  dieser  Gattung  wurden  denen  seines  Vaters  und  des 
Aeschylus  zur  Seite  gestellt.'^) 

Die  tragischen  Chöre,  welche  zu  Korinth  die  Dithyramben  des 
Arion  vortrugen,  zeigen  die  ersten  Anfänge  des  dramatischen  Ele- 
mentes. Indem  der  Sikyonier  Epigenes  zur  heroischen  Sage  über- 
geht, ward  durch  die  Einführung  des  profanen  Elementes  das  Schau- 
spiel nicht  sowohl  verwelthcht,  sondern  gewann  einen  ernsten  Cha- 
rakter. Indem  die  Thaten  und  erschütternden  Schicksale  der  idealen 
Gestalten  aus  der  alten  Sagenwelt  dargestellt  wurden,  geht  ein 
schmerzlich- wehmüthiger  Ton  hindurch.  Trauergesänge,  welche  an 
die  volksmäfsige  Weise  der  Todtenklage  erinnern,  sind  ein  charakte- 
ristisches Merkmal  der  alten  Tragödie,  wie  dies  noch  die  Dramen 
des  Aeschylus  bezeugen.®")  Dem  Vorgange  des  Epigenes  schlofs  sich 
Thespis  in  Athen  an  um  Ol.  54.  Aber  erst  Ol.  61  mit  der  Einsetzung 
eines  Wettkampfes  für  tragische  Chöre  durch  Pisistratus  beginnt  die 
Geschichte  der  dramatischen  Poesie"),  und  die  Tragödie  selbst  gewinnt 
eine  festere  Form.")    Man  wählt  mit  Vorliebe  bedeutende,  würdige 


58)  Pausan.ll  13,  6. 

59)  Pausan.ll  13,  6.  Auch  die  noch  erhaltenen  Titel  und  Bruchstücke  des 
Aristias  deuten  vorherrschend  auf  Satyrdramen  hin. 

60)  Gewisse  religiöse  Culte  boten  Analogien  dar,  wie  die  Trauergesänge  für 
Leukothea.  Merkwürdig  ist  besonders,  dafs  in  alter  Zeit  die  Megarenser,  ent- 
sprechend dem  abhängigen  Verhältnisse  ihres  Gemeinwesens  von  Korinth,  jedem 
Verstorbenen  aus  dem  Geschlechte  der  Bacchiaden  betrauern  mufsten.  Der  Ur- 
sprung der  Sitte  wird  darauf  zurückgeführt,  dafs  ein  korinthischer  Fürst  aus 
jenem  stolzen  Geschlechte  mit  einer  megarischen  Frau  sich  vermählt  halte; 
nach  ihrem  Tode  sandten  die  Megarer  einen  Chor  von  fünfzig  Jünglingen  und 
Jungfrauen  nach  Korinth,  um  die  Königin  zu  betrauern,  und  dies  ward  alijähr- 
lich wiederholt,  s.  Bekker  An.  I  281  und  die  Parömiographen  II 1S8  unter  Mcya- 
^iav  ScutQva,  obwohl  dieses  Sprüchwort  auch  auf  andere  Weise  erklärt  ward. 

61)  Bis  auf  Ol.  61  gingen  wohl  auch  die  urkundlichen  Aufzeichnungen, 
die  sogenannten  Didaskalien,  zurück. 

62)  Die  Anfänge  der  Tragödie  schildert  in  kurzen,  aber  klaren  Umrissen 
Aristoteles  Poet.  c.  4,  12  fr.  p.  144!)  A  U  fT  Der  Philosoph  hat  dabei  nicht  blofs 
den  verhältnifsmäfsig  kurzen  Zeitraum  der  attischen  Tragödie  von  Thespis  bis 
auf  Aeschylus  im  Auge,  sondern  auch  was  darüber  hinausliegt;  daher  führt  er 
den  Ursprung  auf  Improvisationen  (avioaxsSinaxixij  ß(>;f»j),  auf  die  Vorsänger 
des  Dilh;-rambns,  zurück,  hebt  hervor,  dafs  die  Tragödie  sich  allmählich  ent- 
wickelt (xaTrt  fiixQov  r/v^^&T]  TXQonyövxoiv  xiX)  und  vielfachen  Wandel  er- 
fahren (nolkas  fiB-raßokai  fitjaßalovaa  inavaqjo). 


I>IE  DRAMATISCHE  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.   ERSTE  GRIPPE.    DIE  ANFÄNGE.       269 

Stoffe,  und  damit  stellt  sich  auch  ein  feierhcher,  pathetischer  Stil 
ein,  wennschon  es  geraume  Zeit  dauerte,  ehe  man  der  altherkomra- 
üchen  Weise  sich  völhg  entledigte.")  Eingedenk  der  urspriingüchen 
Bestimmung  sang  der  Chor,  wenn  er  die  Orchestra  betrat,  zuerst 
einen  Hymnus  auf  Dionysus.®^)  Diese  Sitte  kam  wohl  erst  ab,  nach- 
dem der  Dithyrambus  neben  der  Tragödie  wieder  eine  selbständige 
Stellung  gewann;  aber  selbst  bei  den  jüngeren  Dichtern  hat  sich 
noch  die  Erinnerung  an  jenen  Brauch  erhalten.") 

Indem  das  neue  Maskenspiel  immer  mehr  einen  ernsten  Charak- 
ter annahm,  drohte  das  alte  Satyrdrama,  welches  bereits  seinen  Namen 
an  die  neue  Gattung  abgetreten  hatte,  gänzHch  zu  verschwinden. 
Da  trat  Pratinas  in  Athen  auf,  bewirkte  die  Sonderung  der  Tragödie 
und  des  Satyrspiels  und  wies  jedem  seine  gebührende  Stelle  an.  So 
gewann  das  Schauspiel  eine  bedeutende  Erweiterung,  indem  jeder 
der  drei  concurrirenden  Dichter  zwei  Stücke  zur  Aufführung  brachte. 

Aber  auch  der  Dithyrambus,  aus  dem  die  Tragödie  hervorge- 
gangen war,  verstummt  nicht,  sondern  nimmt  einen  neuen  Auf- 
schwung und  entwickelt  sich  durch  Lasus,  Melanippides,  Simonides 
und  später  Pindar  immer  selbständiger.  In  Athen  mochte  zwai*  zu- 
nächst der  Dithyrambus  in  den  Hintergrund  treten;  aber  wenn  eine 
wohlbeglaubigte  UeberHeferung  die  Einsetzung  eines  Agons  für  Män- 
nerchöre Ol.  68,  1  berichtet^),   so  wird  man  eben   damals  an  den 


63)  Aristoteles  Poet.  c.  4, 14  p.  1449  A  19:  IVt  Si  to  ndye&oe  ix  (hxqojv 
fiv&wv  xal  '/.i^Ecos  ye/Mias  Sia  t6  ix  aaivoixov  fisraßa.'käiv  oxvs  ansaEuvvvd'r}. 
Das  Jyc  beweist  zur  Genüge,  dafs  Aristoteles  die  ersten  Anfänge  auf  Arion 
und  Epigeues,  nicht  auf  Thespis  zurückführt,  und  das  satyrhafte  Element  wird 
ausdrücklich  als  das  ursprüngliche  anerkannt. 

64)  Aristoteles  bei  Themistius  or.  26  p.  382, 17  Bind.:  ro  (liv  nqcöxov  6 
XOQos  eiaiav  fßev  eis  lovs  d'eovs,  dann  werden  die  Neuerungen  des  Thespis  ge- 
schildert (s.  S.  25S  A.  17).  Euanthius  p.  3,  2  Reifferscheid  Ind.  Vrat.  W.  S.  1S74  75 : 
incensis  iani  altaribus  et  admoto  hirco  id  genus  carminis,  qnod  sacer  chorus 
reddehat  Libero  patri ,  tragoedia  dicehatur ,  und  nachher  von  der  Komödie 
p.  4, 13 :  Simplex  Carmen  . . .  fuit,  quod  chorus  circa  aras  fumaiites  nunc  spa- 
tiattu  nunc  consistens  nunc  revolvens  gyros  cum  tibicine  concinebat. 

65)  So  stimmt  der  Chor  in  der  Antigone  des  Sophokles  unmittelbar  vor 
der  Katastrophe  1115  einen  Hymnus  auf  Dionysus  an;  und  auch  sonst  bricht 
die  Erinnerung  an  die  Bacchische  Festlust  durch,  wie  Antig.  153.  Trachin.  220. 

66)  Die  parische  Chronik  Ep.  46:  atp^  ov  xoQoi  noänov  Tjyooviaavro  avSocäv, 
ov  SiSä^ai  'T7i6(Si)xoä  6  XaXxiSe(vi)  ivix(rjaev).  Das  hqcötov  geht  nur  auf 
Athen,  und  auch  hier  waren  Männerchöre  nicht  unbekannt;  daraus  war  ja  eben 


270  DRITTE    PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

grofsen  Dionysien  neben  dem  drainalischen  \Vetlkampfe  auch  Preise 
für  kyklische  Chöre  gestiftet  haben.  Gleichzeitig  vollzog  sich  eben 
jene  Trennung  des  Satyrdramas  von  der  Tragödie. 

Das  Lyrische  ist  auch  jetzt  noch  in  der  Tragödie  die  Haupt- 
sache, und  die  ausdrucksvolle  Mimik  der  orchestischen  Bewegungen 
hatte  eine  ganz  andere  Bedeutung  als  später.  Die  Reden  des  Chor- 
meisters, welche  die  langen  Chorheder  unterbrachen,  entliielten  meist 
einen  Bericht  und  dergleichen.  Es  verflofs  geraume  Zeit,  ehe  das 
Drama  sich  von  der  erzählenden  Form  loslöste.  So  ward  auch  Zeit 
und  Ort  mit  der  im  Epos  herkömmlichen  Freiheit  behandelt.®^)  Zum 
Dialog  fanden  sich  nur  Ansätze.  Erst  bei  Phrynichus  mag  das  Wech- 
selgespräch grofseren  Raum  beansprucht  haben;  dauiil  hängt  zu- 
sammen, dafs  der  iambische  Trimeter  den  trochäischen  Telrameter, 
das  bisher  übliche  Versmafs,  immer  mehr  zurückdrängt.^*)  Die  Dar- 
stellung einer  eigentlichen  Handlung,  die  Entwicklung  der  Charak- 
tere war  noch  unvollkommen.  Die  Personen  äufsern  ihre  Ansichten 
schon  fertig.  Indes,  wenngleich  das  dramalisciie  Element  noch 
wenig   entwickelt   war®"),   darf  man   doch   die  Gewalt,   welche   die 

das  Drama  hervorgegangen.  Knabenchöre  bestanden  seit  alter  Zeit  (s.  Bd.  il 
S.  135  A.  98,  S.  500  A.  9),  und  für  diese  mögen  Lasus  und  Simonides  (s.  Bd.  II 
S.  359.  377)  vor  Ol.  08  Chorlieder  gedichtet  haben.  Die  Notiz  der  Chronik  geht 
sicherlich  auf  die  Dionysien,  nicht  auf  die  Panathenäen  (s.  Bd.  II  S.  500  A.  9,  doch 
vgl.  S.  377  A.  152);  denn  bei  diesem  Feste  würde  man  gewifs  die  grofse  Feier  im 
dritten  Jahre  der  Ol.  gewählt  haben.  Der  Dichter  Hypodikus  ist  gänzlich  unbe- 
kannt, wohl  aber  kennen  wir  aus  dieser  Zeit  den  Tynnichus  ebenfalls  aus  Chalkis. 

67)  Aristot.  Poet.  c.  5,  4  p.  1449  B  13:  ^  Se  inonoita  aögiaxoi  reo  x^övia 
, .  .  xaiTOi  To  TiQÖirov  ofioieae  iv  xoiii  rgayqjSiais  roino  inoiovv  xal  iv  xdis 
intci.    Erinnert  doch  selbst  Aeschylus  noch  manchmal  an  diese  ältere  Weise. 

68)  Aristot.  Poet.  c.  4,  14  p.  1449  A  21 :  to  xe  ^ixqov  ix.  xBxqafiixqov  iafi- 
ßtiov  iyivero'  to  fiev  yoQ  nQÜ/tov  xexQafiBXQco  ixoaivxo  Siä  xo  aaxvgixr;v  xai 
OQxriaxtxcoxiqav  elvai  xt^v  Tioir/Oiv,  kt^eioi  Se  yevofistTje  avxrj  ij  fpvdit  xo  oixBioy 
fiixoov  sv^Ev,  Vgl.  auch  Rhet.  III  1  p.  1404  A30,  wo  er  andeutet,  dafs  dieser 
Uebergang  (öiansQ  (ol  ras  rgayioSias  notovvxae)  xai  ix  xü>v  xexQafiixqtov  tie 
TO  infxßtlov  fiexeßrjaav,  Siä  xo  xi^  Xvyi^  xovxo  xiov  ftixQtov  öftoiöxaxoy  elyai 
rtöv  äkXcav)  auch  auf  die  sprachliche  Darstellung  von  Einflufs  war,  die  mehr 
und  mehr  der  Sprache  des  gewöhnlichen  Lebens  sich  annähert.  Bereits  Thespis 
führte  den  Trimeter  ein. 

69)  Aristoteles  Poet.  c.  4,  15  p.  1449  A  58  deutet  an,  dafs  die  innaoSluv 
nl^r]  erst  allmählich  zunahmen  und  Bedeutung  gewannen.  Die  Darstellung 
dieses  Abschnittes  der  Poetik  ist  nicht  gerade  geschickt,  aber  für  einen  auf- 
merksamen Leser  doch  verständig;  sehr  unverständig  hat  die  neueste  Kritik 
durch  Umstellungen  alles  in  Verwirrung  gebracht. 


DIE  DRAM.  POESIE.     DIE  TRAGÖDIE-     ZWEITE  GRUPPE.    DIE  BLÜTHEZEIT.       271 

tragischen  Stoffe  in  dieser  neuen  Form  ausübten,   nicht  zu  gering 
anschlagen. 


Zweite  Gruppe. 
Die   Blüthezeit   der   Tragödie 

von  Ol.  70,  l  bis  Ol.  93,  3. 

Das  Wirken  der  drei  grofsen  Tragiker  füllt  dieses  Jahrhundert 
aus.  An  sie  schliefsen  sich  zahlreiche  Dichter  zweiten  und  dritten 
Ranges  an;  denn  der  neuen  Kunstgattung  wandte  sich  die  regste 
Theilnahme  zu.  Dieser  Zeitraum,  welcher  mit  dem  ersten  Auftreten 
des  Aeschylus  heginnt,  mit  dem  Tode  des  Euripides  und  Sophokles 
abschliefst,  umfafst  nicht  nur  die  höhere  Ausbildung  und  Vollendung 
der  Tragödie,  sondern  auch  die  Anfänge  des  Endes.  Sehr  bestimmt 
sondern  sich  drei  Stadien  der  tragischen  Kunst  ab. 

Aeschylus'  Hterarische  Thäligkeit,  die  von  Ol.  70,  1  bis  81,  1  Erstes 
reicht,  stellt  die  altere  Weise  der  tragischen  Poesie  dar.  Aber  Aeschy-  '*'^'""^ 
lus  verharrt  nicht  auf  der  Stufe,  welche  seine  Vorgänger  inne  hatten, 
sondern  anfangs  mit  Phrynichus  und  den  älteren  Dichtern ,  dann 
mit  dem  jungen  Sophokles  einträchtig  verbunden ,  wirkt  er  rastlos 
für  den  Fortschritt  der  Kunst  und  mufs  im  vollen  Sinne  des  Wor- 
tes als  der  Gesetzgeber  der  Tragödie  gelten.  Aeschylus  sorgt  für 
würdige  äufsere  Ausstattung  und  führt  den  zweiten  Schauspieler  ein. 
Dadurch  erst  ward  ein  regelmäfsiger  Dialog  und  die  wahrhafte  Dar- 
stellung einer  Handlung  möglich.  Indem  dann  Sophokles  den  dritten 
Schauspieler  hinzufügte,  ward  der  selbständigen  Entwicklung  des 
dramatischen  Elementes  noch  mehr  Spielraum  eröffnet.  Ebenso  wird 
dem  Aeschylus  die  Form  der  Tetralogie  verdankt.  Diese  reich  ge- 
gliederte Composition  gestattete  eine  Reihe  ergreifender  Ereignisse, 
ein  umfassendes  Bild  des  Lebens  mit  seinem  jähen  Wechsel  von 
Glück  und  Leid  in  wirksamster  Weise  vorzuführen.  Mit  dieser  Er- 
weiterung der  Tragödie  zum  Dramencyklus  war  zugleich  eine  neue 
Organisation  des  tragischen  Chores  verbunden.  Während  bisher 
Chorlieder  und  epische  Erzählungen  die  wesentlichsten  Theile  der 
Tragödie  waren,  bringt  Aeschylus  das  Dramatische,  also  den  Kern 
und  das  eigenste  Wesen  der  neuen  Kunstart,  immer  mehr  zur  Gel- 


272  DRITTE   PERIODE   VON   500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

tung,  jedoch  ohne  sofort  dieses  Princip  mit  voller  Consequenz  zu 
entwickeln.  Der  Chor  ist  für  die  Tragödie  noch  unentbehrHch;  er 
hält  die  Theile  der  dramatischen  Aclion  zusammen.  Hier  legt  der 
Dichter  den  ganzen  Reichthum  seines  gewaltigen  Geistes  nieder  und 
bekundet  zugleich  in  der  Behandlung  der  mehschen  Partien  seine 
unübertroffene  Meisterschaft.  Mit  sichthcher  Vorliebe  wählt  sich  der 
Dichter  Stoffe,  wo  die  Leidenschaft  in  ihrer  ganzen  Naturkraft  her- 
vorbricht, titanische  Charaktere,  welche,  gleichsam  von  einer  dämo- 
nischen Gewalt  fortgerissen,  ihr  Ziel  unverrückt  im  Auge  haben  und 
entweder  alle  äufseren  Hemmungen  siegreich  überwinden  oder  zu 
Grunde  gehen.  Der  Grofsheit  und  Bedeutung  des  Inhalts  entspricht 
die  Form.  Die  kühne,  erhabene,  bilderreiche  Sprache  harmonirt  mit 
der  ergreifenden  Schilderung  der  tiefsten  und  schwersten  Conflikte. 
Aber  noch  wird  der  alterthümliche  Charakter  festgehalten;  eine  ge- 
wisse Strenge  und  Schlichtheit  ist  der  Grundzug  dieser  Poesie. 

Zweites  Die  zweitc  Stufe,  die  Vollendung  der  Tragödie,  reicht  von  Ol. 

Stadium,  g^^  i  jjjg  g^^^-a  Anfang  der  90.  Olympiade.  Der  Tod  des  Aeschylus 
und  das  gleichzeitige  Auftreten  des  Euripides  markiren  sehr  bestimmt 
den  Beginn  dieses  Zeitabschnittes,  während  das  Ende  sich  nicht  so 
genau  abgrenzen  läfst,  was  man  nicht  ledighch  der  unzureichenden 
Ueberlieferung  beimessen  darf,  sondern  ebenso  sehr  in  der  Natur 
der  Dinge  seinen  Grund  hat,  indem  der  Uebergang  zu  dem  dritten 
Stadium  sich  allmähhch  und  fast  unmerklich  vollzieht. 

Die  Tragödie  hatte  bereits  eine  feste  Gestalt  gewonnen;  jetzt 
galt  es,  den  inneren  Ausbau  weiter  zu  fördern.  Die  geschlossene 
Form  der  einheitlichen  Trilogie  mufs  der  freien  Composition  weichen. 
Drei  Tragödien  verschiedenen  Inhalts,  jede  eine  in  sich  abgerundete 
Dichtung,  empfahlen  sich  durch  Mannigfaltigkeit  der  Darstellung  und 
Concentralion  des  dramatischen  Interesses.  Sophokles  hat  vorzugs- 
weise dieser  Form  allgemeinen  Eingang  verschafft,  obwohl  schon 
Aeschylus  sich  ab  und  zu  darin  versucht  hatte.  .letzt  führte  der 
Fortschritt  der  Kunst  zur  Auflösung  des  Dramencyklus.  Aber  der 
Zweifel  ist  berechtigt,  ob  die  eigenthUmlichen  Vorzüge  der  neuen 
Kunstart  das,  was  man  aufgab,  vollkonnnen  ersetzten.  Die  Einzel- 
tragödie wird  wieder  wie  vor  Allers  Norm.  Allein  diese  scheinbare 
Rückkehr  zu  den  Anlangen  ist  doch  etwas  wesentlich  Neues.  Der 
Dichter  beschränkt  sich  auf  eine  einzige  Handhing;  der  mäfsige 
Umfang  des  Dramas  gestattete    nicht  sich   ins  \Veile   zu  verlieren. 


DFE  DRAM.  POESIE.    DIE  TRAGÖDIE.    ZWEITE  GRUPPE.    DIE  BLCTHEZEIT.       273 

Die  HandluDg  wird  verwickelter,  die  Personen  zahlreicher;  auf  die 
Zeichnung  der  Charaktere  wird  der  Hauptnachdruck  gelegt.  Um 
dafür  Raum  zu  gewinnen,  mufste  man  sich  entschUefsen,  die  lyrischen 
Partien  immer  mehr  abzukürzen.  Der  Dialog  ist  jetzt  der  Schwer- 
punkt, und  die  veränderte  Stellung,  welche  Sophokles  dem  Chore 
gegeben  hatte,  kommt  zur  ausschliefslichen  Geltung.  Daher  greift 
der  Chor  nicht  mehr  unmittelbar  in  die  Handlung  ein,  sondern  be- 
gnügt sich  dieselbe  mit  theilnehmenden  Betrachtungen  zu  begleiten, 
während  der  Antheil  der  handelnden  Personen  an  dem  lyrischen 
Elemente  sich  gleich  bleibt  oder  auch  erweitert  wird.  Im  Aeufsern 
erfährt  die  Tragödie  keine  wesentliche  Aenderung;  nur  die  scenische 
Ausstattung  ward  wieder  mehr  vereinfacht.  Das  Satyrspiel,  der  Keim, 
aus  welchem  die  Tragödie  hervorgegangen  ist,  ward  zwar  nicht  be- 
seitigt, aber  Euripides  machte  frühzeitig  den  Versuch,  durch  eine 
Mittelgattung,  durch  die  Verschmelzung  tragischer  und  komischer 
Elemente,  das  groteske  Nachspiel  zu  ersetzen. 

Dem  Sophokles  erkannte  man  unbestritten  unter  den  Leben- 
den die  erste  Stelle  zu.')  Aber  er  herrscht  nicht  unumschränkt.  INebea 
ihm  tritt  Euripides  auf,  der  gleich  von  Anfang  an  seinen  eigenen 
Weg  geht.  Seine  Stellung  war  zunächst  schwierig,  aber  allmähhch 
erwirbt  sich  der  reichbegabte  Dichter  Anerkennung,  und  schon  seit 
dem  Beginn  des  peloponnesischen  Krieges  gilt  er  als  'ebenbürtiger 
Genosse  des  Sophokles*),  obwohl  aufserdem  noch  andere  tüchtige 
Kräfte  für  die  tragische  Bühne  thätig  waren.  Aber  auch  Aeschylus 
steht  in  hoher  Achtung.  Die  Dramen  des  todten  Meisters  concur- 
riren  fortwährend  im  Wettkampfe.  Dem  Geiste,  der  laut  und  ver- 
nehmhch  aus  diesen  unvergleichlichen  Werken  sprach,  war  man 
noch  nicht  entfremdet;  mit  aufrichtiger  Liebe  und  Verehrung  waren 
viele,  zumal  das  ältere  Geschlecht,  ihm  zugethan. 

Sophokles'  reifste  Arbeiten  gehören  diesem  Zeiträume  an.  Hatte 
er  früher  unwillkürlich  dem  Genius  seines  grofsen  Lehrers  gehuldigt. 


1)  Die  Grabschrift  (s.  Biographie) :  K^tTircp  rüde  rayic^  ^ofoxXrj  n^ta- 
Tsia  Xaßovxa  t^  Toayix^  xix,VTi,  a'/rjua.  ro  aeftviiaxov  (lies  t^s  x oayixr^i 
xixvris)  spricht  nur  das  allgemeine  Urtheil  aus. 

2)  An  den  grofsen  Dionysien  traten  sie  gewifs  häufig  neben  einander 
auf.  Neue  Dramen  des  Sophokles  und  Euripides  gehörten  zum  Begriff  dieses 
hohen  Festes,  und  nur  ungern  mochte  man  den  einen  oder  anderen  missen, 
vgl.  Aristoph.  Frieden  531  f. 

Bergk,  Griecb.  Literaturgescbichte  III.  IS 


274  DRITTE    PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

SO  tritt  jetzt  seine  eigenthümliche  Art  in  klar  ausgeprägten  Zügen 
hervor.  Euripides,  der  alle  Zeit  seine  Selbständigkeit  zu  wahren 
weifs,  zeigt  doch  in  seinen  früheren  Dichtungen  eine  gewisse  Mäfsi- 
gung  und  Selbstbeherrschung,  die  ihm  später  ganz  fremd  ist.  So- 
phokles und  Euripides  sind  durchaus  verschiedene  Naturen,  die  sich 
daher  eher  absliefsen  als  anzogen.  Sophokles  verläfst  jetzt  das  Ge- 
biet des  Phantastischen  und  beschränkt  sich  auf  das  Rein-Mensch- 
liche, aber  er  wird  seinem  Vorgänger  nicht  untreu.  Wenn  auch 
die  Charaktere  des  Sophokles  nicht  das  Grofsartige  haben  wie  bei 
Aeschylus,  so  wahrt  er  doch  die  Würde  der  menschhchen  Natur. 
Mitten  in  den  Stürmen  der  Leidenschaften  behauptet  die  Poesie  des 
Sophokles  eine  gewisse  Ruhe;  bei  aller  Schroffheit  ist  doch  meist 
eine  wohlthuende  Milde  über  das,  was  von  der  Hand  dieses  Dichters 
kommt,  ausgegossen.  Diese  idealen  Rilder  des  Lebens  wirken  er- 
neuend und  veredelnd.  Sophokles  giebt  die  Gesinnungen  der  Besten 
seiner  Zeit  wieder  und  sucht  das  Volk  zu  dieser  Höhe  zu  erheben, 
während  Euripides  mehr  zum  Volke  herabsteigt.  Ein  entschieden 
realistischer  Zug  ist  überall  bei  diesem  Dichter  wahrzunehmen,  der 
oft  geradezu  der  alten  Heroenzeit  den  Charakter  und  die  Farbe  der 
unmittelbaren  Gegenwart  leiht.  Wenn  seine  Helden  sich  in  dieser 
selbstbewufsten,  absichtsvollen  Weise  aussprechen,  hört  man  überall 
die  Tendenzen  der  Zeit,  des  Dichters  eigene  Empfindungen  und 
Reflexionen  heraus.  Euripides  ist  eine  durch  und  durch  subjektive 
Natur;  weder  das  gewaltige  Pathos  des  Aeschylus,  noch  die  mafs- 
voUe  Kunst  der  Charakteristik  des  Sophokles  ist  ihm  gemafs,  aber 
die  Dialektik  der  Leidenschaften  versteht  er  wie  kein  anderer  dar- 
zustellen. Das  aufserordentliche  Geschick,  mit  dem  er  über  alle 
Mittel  der  rednerischen  Kunst  gebietet^  kam  ihm  dabei  trefflich  zu 
Statten.  Aber  die  Mitlebenden  erfreuten  sich  gleichmäfsig  an  beiden 
Dichtern  und  erkannten  bereitwilHg  die  eigenthümlichen  Vorzüge 
eines  jeden  an.') 

Nachdem  die  tragische  Kunst  ihren  Höhepunkt  erreicht  hatte, 
geht  es  rasch  abwärts.  Der  Wendepunkt  tritt  nicht  erst  nach  dem 
gleichzeitigen  Abscheiden  der  grofsen  Meisler  ein,  sondern  die  Ver- 


3)  Aristoph.  Frieden  530 :  Jtowaian>,  aiköiv,  tfvyqfdtSv,  ^fonltovs  fi»- 
l^v,  xix^Mv,  invlliatv  Ei^tniSov  deutet  an,  was  die  grofse  Masse  an  jedem 
Dichter  vorzugsweise  bewunderte. 


DIE  DRAM.  POESIE.     DIE  TRAGÖDIE.     ZWEITE  GRUPPE.    DIE  BLÜTHEZEIT.      275 

änderung,  welche  seit  diesem  Ereignisse  selbst  einem  blöden  Auge 
nicht  entgehen  konnte,  war  schon  seit  Jahren  vorbereitet. 

Der  dritte  Abschnitt  von  Ol.  90  bis  93,  3  umfafst  die  letzten  Drittes 
Arbeiten  jener  Dichter.  Hier  erkennt  man  deutlich,  wie  ungünstig  ^  '"™* 
der  Verlauf  des  grofsen  Krieges  wirkte;  die  verzehrende  Unruhe  der 
Zeit,  welche  zwischen  Extremen  hin-  und  herschwankt  und  das 
Gleichgewicht  verloren  hat,  spricht  sich  vielleicht  nirgends  so  deut- 
lich aus,  als  in  den  gleichzeitigen  dramatischen  Produktionen.  Ol. 
89,  3  schlössen  Athen  und  Sparta  Frieden,  aber  die  ersehnte  Ruhe 
trat  nicht  ein;  da  keiner  es  aufrichtig  meinte,  war  an  eine  wirk- 
liche Versöhnung  nicht  zu  denken.  Die  feindselige  Spannung  fand 
immer  neue  Nahrung;  man  liefs  nicht  ab,  sich  nach  Kräften  in- 
direkt zu  befehden,  aller  Orten  war  das  kecke  Spiel  versteckter 
Intrigue  thätig.  In  Athen  war  die  ältere  Generation  durch  die  Ver- 
heerungen der  Pest  und  des  Krieges  sehr  zusammengeschmolzen; 
ein  neues,  dem  früheren  gar  unähnliches  Geschlecht  war  inzwischen 
herangewachsen.  Leidenschaftliche  Erregung  und  unruhige  Hast  be- 
mächtigte sich  der  Gemüther;  man  trug  sich  mit  vermessenen,  hoch- 
fliegenden Plänen.  Dieser  abenteuerhche  Geist  führte  zu  dem  Feld- 
zuge gegen  Sicihen  Ol.  91,  1.  Wie  man  sich  unüberlegt  in  dieses 
gefahrvolle  Unternehmen  gestürzt  hatte,  so  war  die  Ausführung  wo- 
möglich noch  verfehlter.  Seit  dem  Siege  der  Syrakusaner  sind  die 
Athener  auf  ihre  Vertheidigung  beschränkt;  die  Peloponnesier  be- 
nutzen diese  Wendung  der  Dinge  und  kündigen  die  Waffenruhe  auf. 
Mit  dem  Einfalle  des  Agis  in  Attika  und  der  Besetzung  von  Deke- 
lea,  nur  wenige  Meilen  von  Athen  gelegen^),  beginnt  Ol.  91,  3  die 
dritte  und  letzte  Periode  des  Kampfes.  Die  vollständige  Niederlage 
der  Athener  in  Sicilien  im  folgenden  Jahre  rief  nicht  nur  den  Ab- 
fall der  schon  längst  unzufriedenen  Bundesgenossen  hervor,  sondern 
facht  auch  in  Athen  den  alten  Parteihader  wieder  an.  Die  Ohgarchen 
beseitigen  die  demokratische  Verfassung.  Hatte  auch  dieses  Regiment 
nur  kurzen  Bestand,  so  dauert  doch  der  Kampf  der  Factionen  fort, 
und  der  Staat,  von  inneren  wie  äufseren  Feinden  gleichmäfsig  be- 
droht, befindet  sich  in  der  schwierigsten  Lage. 

4)  Nach  Thukyd.  VII  19  war  Dekelea  120  Stadien  von  der  Stadt  entfernt; 
nicht  viel  mehr  betrug  die  Entfernung  bis  zur  boeotischen  Grenze.  Die  Festungs- 
werke der  Spartaner  konnte  man   von  Athen  ans  sehen  {intfavee  füxQt  r^s 

18* 


276  LRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

Wie  zwischen  den  Schicksalen  eines  Volkes  und  seiner  Litera- 
tur eine  beständige  Wechselwirkung  stattfindet,  so  vermag  die  drama- 
tische Poesie  am  wenigsten  sich  dem  Einflüsse  der  Zeit  zu  ent- 
ziehen. Ein  veränderter  Geist  tritt  uns  mehr  und  mehr  entgegen; 
die  Tragödie  nimmt  sichtheh  einen  entschieden  leidenschafthchen 
Charakter  an.  Die  Drangsale  des  Krieges  und  des  Biirgerzwistes, 
die  Verwirrung  der  Gemüther  stören  auch  den  inneren  Frieden  und 
die  gefafste  Haltung,  deren  der  Dichter  bedarf,  wenn  ihm  sein  Werk 
gelingen  soll.  Euripides  beherrscht  jetzt  die  Bühne  und  bildet  seine 
eigenthümliche  Art  immer  entschiedener  aus.  Neben  dem  erklärten 
Lieblinge  des  athenischen  Publikums  tritt  der  alternde  Sophokles 
mehr  und  mehr  in  den  Hintergrund  und  vermag  sich  dem  Einflüsse, 
den  sein  Genosse  nach  allen  Seiten  hin  ausübt,  nicht  zu  entziehen. 
Aeschylus  ist  so  gut  wie  vergessen ;  seine  grandiose  Einfachheit  sagte 
dem  verwöhnten  Geschmacke  dieser  Zeit  nicht  mehr  zu.^)  Die  an- 
deren Dichter  sind  todt  oder  ziehen  sich  zurück.  An  ihre  Stelle 
treten  junge  Talente,  welche  entschieden  der  neuen  Richtung  hul- 
digen, wie  Agathon,  dessen  erstes  Auftreten  Ol.  90,  4  fällt;  aber  es 
fehlt  die  nachhaltige  Kraft.  So  fällt  den  bewährten  Meistern,  dem 
Euripides  und  demnächst  Sophokles,  die  Verpflichtung  zu,  den  Aus- 
fall zu  ersetzen  und  für  die  Bedürfnisse  der  Bühne  zu  sorgen.  In- 
dem man  sich  immer  mehr  an  rasches  Arbeiten  gewülint,  läfst  man 
unwillkürlich  von  der  Strenge  der  alten  Kunst  nach.  Dies  erkennt 
man  nirgends  so  deuthch,  als  in  der  flüchtigen  Behandlung  der 
metrischen  Technik,  zumal  in  den  Versen  des  Dialogs.  Die  stereo- 
type Weise  des  Euripides  war  dem  hastigen  Produciren  günstig. 
Man  gewöhnte  sich  jeden  behebigen  Stofl"  nach  einer  festen  fertigen 
Norm  zu  bearbeiten.  Die  Masse,  welche  nur  flüchtige  Unterhaltung 
suchte,  nahm  daran  keinen  Anstofs,  während  feiner  gebildete  Na- 
turen, die  den  Reichthum  und  die  Formvollendung  der  alten  Kunst 
zu  würdigen  verstanden,  sich  unangenehm  berührt  fühlten.  Die 
stolze  Unabhängigkeit,  welche  früher  die  Dichter  behauptet  hatten, 
ist  dahin;  willfährig  fügt  man  sich  den  Wünschen  des  Publikums. 
Der  glückliche  Ausgang  des  Trauerspiels,  der  auf  Rührung  hinarbei- 
tet, ward  entschieden  bevorzugt;  andererseits  häuft  man  das  Gräfs- 

".)  Dionysus  bei  Aristoph.  Frösche  1413:  rov  ftiv  yaf  (d.  i.  Aeschylus) 
jiyovfiui  aotpoVf  T(^  8'  (d.  i.  Euripides)  rßoftat  spricht  nur  das  Urtheil  der 
Masse  aus. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLLTOEZEIT.  I.AESCH.       277 

liehe  und  Frevelhafte,  um  die  stumpfen  Gemüther  zu  erschüttern, 
gelallt  sich  im  Ahenteuerhchen,  um  durch  den  Reiz  der  Neuheit  zu 
'wirken.  Verwickelte  Intriguenstücke ,  das  getreue  Abbild  des  da- 
maligen Weltzustandes,  wo  rücksichtsloser  Egoismus  und  berech- 
nende Schlauheit  Meister  waren  ,  übten  vorzugsweise  Anziehungskraft 
aus.  Die  Chorlieder,  welche  sich  nicht  selten  von  der  tragischen 
Handlung  vollständig  ablösen ,  sind  nur  noch  eine  herkömmliche 
Beigabe,  die  sich  das  Publikum  gefallen  liefs,  weil  die  Musik  der 
neuen  Schule,  welche  in  der  dithyrambischen  Poesie  bereits  zur 
Herrschaft  gelangt  war,  jetzt  auch  in  die  Tragödie  eindringt. 

Als  Euripides  und  Sophokles  aus  dem  Leben  schieden ,  war 
niemand  da,  der  sie  nur  einigermafsen  ersetzen  konnte.  Zwar  wandte 
eine  Anzahl  jüngerer  Talente  sich  diesem  Berufe  zu,  aber  diesen 
frühreifen  Dichtern  fehlte  es,  wenn  auch  nicht  an  gutem  Willen, 
doch  an  Kraft  und  Ausdauer.®)  So  war  die  attische  Bühne  verwaist, 
und  schmerzhch  empfand  ein  jeder  den  schweren  Verlust. 

I 

A  e  s  c  h  y  1  u  s. 

Aeschylus,  der  Sohn  des  Euphorion,  aus  einer  alten  Eupatri-  Aeschyius* 
denfamilie  in  Eleusis,  macht  ganz  den  Eindruck  eines  Mannes,  der  ^^''^°- 
ebenso  durch  Adel  der  Geburt  wie  des  Geistes  ausgezeichnet  war.") 
Indem  sein  Geschlecht  an  dem  uraUen  Sitze  jener  heiligen  Weihen 
ansässig  war,  begreift  man,  wie  der  Sinn  des  Dichters  frühzeitig  auf 
das  Höhere  und  Unvergängliche  sich  richtete  und  ein  tiefes  reli- 
giöses Gefühl  seine  gesammte  Poesie  beherrscht,  wie  denn  auch 
Aeschylus  selbst  jenem  geschlossenen  Kreise  als  Mitglied  angehörte.*) 


6)  Aristoph.  Frösche  89:  ovxovr  SreQ^  iar^  itTavd'a  fisiQaxvXXta  roa- 
yipSiae  nouivvra  nXeiv  fj  fivQta,  EvQmiSov  ■nXeir  tj  araSiq»  XaXiarsQa. 

7)  Die  Nachrichten  über  die  Lebensverhältnisse  des  Aeschylus  gehen  wohl 
grofsentheils  auf  die  Schrift  des  Chamäleon  tcsqI  Aiaxvh>v  zurück;  anderes 
mag  Heraklides  Pontikus  in  seiner  Schrift  iisQi  xQiäv  Toayq)8ojtoiä,v  (üiog. 
Laert.  V  8S)  berührt  haben.  Wir  besitzen  aufser  dem  betreffenden  Artikel  bei 
Suidas  1  2,  65  f.  eine  anonyme,  mehrfach  durch  Zusätze  von  ungleichem  Werthe 
erweiterte  Biographie  des  Dichters.  Die  Nachträge,  soweit  sie  das  Scenische 
und  Poetische  betreffen,  sind  aus  der  /uovatxf]  iaxo^ia  (wohl  des  Dionysius)  ent- 
lehnt ;  aus  derselben  Quelle  stammen  auch  die  werthvoUen  Bemerkungen  über 
Chorlieder  in  den  Schollen  zu  den  Persern. 

8)  Daher  legt  Arislophanes  in  den  Fröschen  886  dem  Tragiker  die  Worte 


278  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Geboren  Ol.  63,  4®),  nahm  Aeschylus  an  den  Perserkriegen  thätigen 
Antbeil.  In  allen  bedeutenden  Schlachten  hat  er  mitgekämpft;  nament- 
lich bei  Maralhon,  wo  er  schwer  verwundet  wurde,  zeichnete  er 
sich  aus.'")  In  dem  zweiten  Kriege  wohnte  er  den  Schlachten  bei 
Artemisium,  Salamis  und  Platää  bei"),  hat  also  als  Augenzeuge  später 
jene  denkwürdigen  Begebenheiten  geschildert.  Sein  Bruder  Kyne- 
geirus")  nimmt  unter  den  Helden  der  Perserkriege  eine  hervorragende 


in  den  Mund:  JrifiTytsq  tj  &^iyjaaa  xijv  ifirjv  <pQtva,  elvai  fie  räiv  acjv  a^iov 
fivaxTjQiav,  wo  der  Scholiast  bemerkt:  naQoaov  ^EXevaivioe  xöjv  Srjficav  7,v  o 
AtoxvhiS,  rj  ori  iv  rois  EXsvaiviois  ireksiTO  r«  S^afiara  rov  Atax^hiv,  wo 
der  Erklärer  hätte  sagen  sollen :  raiis  'EXsvaiviois  irsxäXsaxo  6  AlayiXoi.  Zur 
Bestätigung  dient  die  Anklage,  die  ihn  gegen  Ende  seines  Lebens  traf. 

9)  Das  Todesjahr  des  Aeschylus  stand  fest;  die  Angaben  über  sein  Alter 
und  seine  Geburt  sind  schwankend.  Aeschylus  starb  Ol.  81,  1,  nach  der  pari- 
schen Chronik  Ep.  59  69  Jahre  alt,  womit  die  fernere  Angabe  Ep.  48  stimmt,  dafs 
Aeschylus  zur  Zeit  der  Schlacht  bei  Marathon  (Ol.  72,  3)  35  Jahre  alt  war;  so  er- 
giebt  sich  Ol.  63,  4  als  Geburtsjahr.  Dies  wird  indirekt  durch  Suidas  unterstützt, 
der  dem  Aeschylus,  als  er  Ol.  70,  (1)  zuerst  auftrat,  ein  Alter  von  25  Jahren  giebt. 
Wenn  ihm  Suidas  nachher  bei  seinem  Tode  58  Jahre  zutheilt,  so  ist  vrf  offenbar 
verschrieben  für  ^'.  Der  Biograph  sagt:  avvexQovias  8s  UivSa^q»  ysyovojs  xaxu 
xfjv  fi  'OXvfiTtiäSa;  die  Zahl  ist  unbedingt  fehlerhaft:  man  kann  an  die  Blüthe- 
zeit  denken,  die  Eusebius  01.75,4(76,2)  ansetzt,  allein  die  Vergleichung  mit 
der  Biographie  Pindars  {ysvofisvof  ini  ä^xovxoe  'Aßicovoi  xaxa  xovs  xqövovi 
Ala%vh}v)  spricht  für  das  Geburtsjahr;  jedoch  verhilft  uns  auch  diese  Parallel- 
stelle zu  keiner  sicheren  Verbesserung.  Aufserdem  wird  in  der  Biographie 
zweimal,  aber  jedes  Mal  in  einem  Zusatz  von  zweiter  Hand,  das  Alter  des  Dich- 
ters auf  65  (63)  Jahre  angegeben;  dies  führt  auf  Ol.  64,  4  oder  65,  2.  Eine 
sichere  Entscheidung  ist  nicht  zu  gewinnen.  Die  Stelle  endlich  in  der  Bio- 
graphie des  Sophokles  bedarf  selbst  der  Berichtigung. 

10)  Aeschylus  legte  auf  diese  seine  erste  Waffenthat  solches  Gewicht,  dafs 
er  in  der  Grabschrift,  die  er  für  sich  selbst  verfafste,  wo  er  seines  dichterischen 
Verdienstes  mit  keinem  Worte  gedenkt,  hinzufügte:  aX'Ktiv  J'  evSoxt/iov  Maqa- 
&c6viov  äXaoe  av  sinoi  xai  ßad'vxaixTjsts  MTjSos  iniaxnftsvoi  (8.  A.  30).  Und  nach 
dem  glaubwürdigen  Zeugnisse  des  Heraklides  Ponlikus  (Eustratius  zu  Aristot. 
Eth.  Nie.  III  2)  wirkte  vorzugsweise  die  Erinnerung  an  das  Verdienst  des  Aeschy- 
lus sowie  seines  Bruders  Kynegeirus  in  der  marathonischen  Schlacht  bei  dem 
bekannten  Rechtshandel  auf  die  Stimmung  der  Richter  günstig  ein  (xütv  8txacxö>v 
oufBvroJv  ftüXiaxa  8ia  xä  n^axd'svxa  avxi^  iv  xfj  ini  Ma^ad'äJvi  ftaxi]). 

11)  Dnfs  Aeschylus  bei  Artemisium  und  bei  Salamis  focht,  sagt  Fausanias 
I  14,5;  dazu  kommt  das  vollwichtige  Zeugnifs  eines  Zeitgenossen,  des  Ion, 
(Schol.  Peiser  429:  */a>»'  iv  xaTs^EniSrjfiiaie  Tia^ilvat  AiaxvXor  -'^  •-■•  ^VArr- 
fuvtaxols  ipriaC).    Platüä  neben  Salamis  nennt  die  Biographie. 

12)  Der  Name  wird  bald  Kvvaiyet^»  bald  Kvvt'yiifos  gesclinrnen;    die 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  I.AESCH.      279 

Stelle  ein,  iodem  er  bei  Marathon  die  fliehenden  Feinde  bis  zu  den 
Schiffen  verfolgte  und  dort  kämpfend  fiel,  während  ein  zweiter  Bruder 
Ameinias  bei  Salamis  den  Preis  der  Tapferkeit  erhielt.") 

Ziemlich  jung,  Ol.  70,  1,  wendet  sich  Aeschylus  der  tragischen 
Poesie  zu'^)  und  war  von  da  an  über  vierzig  Jahre  für  die  Bühne 
thätig.  Doch  ward  es  ihm  anfangs  nicht  leicht,  die  Gunst  der  Athe- 
ner zu  gewinnen,  indem  er  den  älteren  anerkannten  Dichtern  gegen- 
über einen  schweren  Stand  hatte,  wie  er  auch,  als  er  im  Wettkampf 
mit  Simonides  Ol.  72,  4  eine  Elegie  auf  die  bei  Marathon  gefallenen 
Helden  dichtete,  den  Kürzeren  zog.'^)    Erst  Ol.  73,  4  ward  ihm  im 


erstere  Form  hat  bessere  handschriftliche  Gewähr,  aber  für  die  Kürze  der  Silbe 
zeugt  der  Gebrauch  der  Dichter  (freilich  erst  jüngerer  wie  Krinagoras). 

13)  Doch  liegt  vielleicht  hier  ein  Irrthum  vor;  denn  Herodot  VllI  84  und  93 
nennt  diesen  Ameinias  na/.kTjvevs,  während  Aeschylus  und  sein  Geschlecht  der 
Gemeinde  Eleusis  angehören.  Obwohl  ein  solcher  Wechsel  der  Gemeindeange- 
hörigkeit nicht  geradezu  unzulässig  erscheint,  ist  die  Differenz  doch  auffallend; 
auch  fügt  Herodot  nicht  den  Namen  des  Vaters  hinzu,  während  er  den  Kyne- 
geirus  als  Sohn  des  Euphorion  bezeichnet.  Befremdend  ist  auch  das  Still- 
schweigen des  Heraklides  (s.  oben  A.  7),  der  wohl  der  That  des  Kynegeirus,  aber 
nicht  des  Ameinias  gedenkt.  Erst  Spätere  nennen  jenen  Ameinias  ausdrücklich 
einen  Bruder  des  Tragikers,  wie  Diodor  XI  27,  2,  Aelian  V.  H.  V  1 9,  Themistokles 
ep.  13  p.  751  Herch.  (hier  werden  in  dem  Briefe  des  Themistokles  an  Ameinias 
als  dessen  Brüder  Kynegeirus.  der  sich  bei  Marathon  auszeichnete,  und  Aeschylus 
ev  navii  tcö  ßi(g  xarä  TiaiSeiav  xai  aco(pQoavvrjV  SiaiptQOJV  genannt)  und  der 
Biograph.  Aeschylus  mag  einen  Bruder  Ameinias  gehabt  haben,  der  aber  sonst 
unberühmt  war,  und  die  Gleichheit  des  Namens  rief  jenen  Irrthum  hervor.  Einen 
dritten  Bruder  Euphorion  nennt  nur  Suidas;  hier  liegt  gewifs  eine  Verwechse- 
lung mit  dem  Vater  oder  Sohne  des  Dichters  zu  Grunde. 

14)  Suidas:  riyojvi^ero  S'  avcos  (lies  n^äxos)  iv  rrj  o  (die  Hdschr. 
d"')  'OXvfinuxSi  iTcüv  cov  xe' .  Damit  stimmt  der  Artikel  ÜQaxivas  II  1,  401: 
avxrjYoivit,Bxo  8^  Ataxv)^  re  xal  XoioO.to  sttI  t^s  o  'OlvfintäSos.  Aeschy- 
lus tritt  also  zum  ersten  Male  in  der  Olympiade  auf.  wo  Sophokles  nach  der 
gewöhnlichen  Ansicht  geboren  Mard;  er  siegt  zum  ersten  Male  in  dem  Jahre, 
wo  Euripides  nach  einigen  geboren  ward,  und  stirbt  in  demselben  Jahre,  wo 
Euripides  seine  erste  Tetralogie  aufführte.  Nach  einer  sinnigen  Sage  wird  dem 
jungen  Aeschylus  durch  ein  Traumgesicht  sein  künftiger  Beruf  geoffenbart:  er 
hütete  die  Trauben,  da  erschien  ihm  Nachts  im  Traume  Dionysus  und  gebot 
ihm ,  sich  der  tragischen  Poesie  zu  widmen  (r^ayepSiav  tvoi^Tv)  ;  als  es  Tag 
ward,  machte  er  den  Versuch,  und  die  Arbeit  ging  ihm  leicht  von  Statten, 
Pausan.  I  21,  2,  der  sich  auf  das  eigene  Zeugnifs  des  Dichters  beruft. 

15)  Die  pansche  Chronik  Ep.  49  verzeichnet  in  diesem  Jahre  einen  Sieg  des 
Simonides,  der  unzweifelhaft  auf  den  Agon  mit  Elegien  zum  Gedächtnifs  der 
Kämpfer  bei  Marathon  zu  beziehen  ist. 


2S0  TRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300   V.  CHR.  G. 

tragischen  Agon  der  Sieg  zuerkannt/^)  Ol.  76,  4  gewann  er  mit  den 
Persern  und  den  anderen  dazu  gehörigen  Dramen  den  Prei?.  Ol.  77,  4 
mufste  er  dem  jugendlichen  Sophokles  nachstehen,  aher  Ol.  78,  1 
siegte  er  wieder  mit  der  Oedipodie,  Ol.  80,  2  mit  der  Orestie. 

Zeitweilig  ward  seine  Thäligkeit  durch  Reisen  nach  Sicilien 
unierbrochen.  Wenn  die  Ueberiieferung  Glauben  verdiente,  hätte 
Aeschylus  fortwährend  seinen  Aufenthalt  zwischen  Athen  und  Syrakus 
getheilt.  Dafs  der  Dichter  längere  Zeit  sich  am  Hofe  Hieros  auf- 
gehalten hatte,  stand  fest,  aber  die  näheren  Umstände  waren  nicht 
bekannt.  Man  suchte  behebig  nach  einem  Anlasse,  um  die  Ent- 
fernung des  Dichters  von  der  lleimalh  zu  motiviren,  und  ergänzte 
willkürlich  die  Lücken  der  Tradition.'")  Offenbar  folgte  Aeschylus 
einer  Einladung  des  Uiero,  der  damals  die  namhaftesten  Dichter 
um  sich  versammelte'*),  wahrscheinHch  Ol.  77,1;  denn  auf  den 
Wunsch  des  Hicro  leitete  Aeschylus  eine  Aufführung  seiner  Perser, 
die  auch  in  Syrakus  mit  allgemeinem  Beifall  aufgenommen  wurden.'') 
Damals  mag  der  Dichter  auch  das  Gelcgenheitsstück,  die  Aetnäerin- 
nen,  verfafst  haben'"'),  um  sich  dem  Herrscher,  an  dessen  Hofe  er 

16)  Die  parische  Chronik  Ep.  50:  AiaxvXoe  o  jtoirjrrjS  rgayipSia  n^törov 
ivixTjae. 

17)  Die  Thatsache  war  bekannt,  aher  über  die  Zeit  und  näheren  Um- 
stände wiifste  man  nichts  Verlässiges;  man  erging  sich  daher  in  beliebigen 
"Vermulhungen.  Aeschylus  soll  von  Atlien  nach  Syrakus  gegangen  sein,  als 
das  Theater  in  Atlien  einstürzte  Ol.  7U,  oder  als  er  dem  Simonides  im  Wett- 
kampf unterlag  Ol.  72,  4,  also  in  einer  Zeit,  wo  die  Söhne  des  Deinomenes 
noch  gar  nicht  an  das  Regiment  in  Syrakus  dachten;  dann  wieder,  als  er  von 
Sophokles  besiegt  wurde,  Ol.  77,  4.  Dies  wird  durch  die  Thatsache  widerlegt, 
dafs  jene  Niederlage  für  Aeschylus  nur  ein  Antrieb  zn  erneuter  Thäligkeil  war, 
und  dafs  er  gleich  im  nächsten  Jahre  in  Athen  die  Oedipodie  mit  glücklichstem 
Erfolge  aufführte.  Ferner  läfsl  man  ihn  nach  der  Aufführung  der  Eumeniden 
(Ol.  so,  2)  nach  Syrakus  wandern,  und  der  Biograph  wirft  gar  seinen  Aufent- 
hall in  Syrakus  am  Hofe  des  Hiero  mit  seiner  letzten  Uebersiedelung  nach  Gela 
zusammen. 

18)  Pausan.  12,.'^:  ^fi  JSvQaxovaae  n^oe  'itQtava  Aiax^'loe  xal  Stfnovi8r,i 
iaraXrjaav, 

It))  Dies  bekundet  der  glaubwürdigste  Zeuge,  Eratosthenes  (Schol.  Aristoph. 
Ran.  1084,  mo  nur  8iSaxd'f,vai  [SeStSäxd'ni]  in  avaS iSn)(,9'f;vat  [nvnSsSt- 
ünx^'fti]  zu  verbessern  ist),  und  die  Biographie  stimmt  damit.  (S.  S.  295  A.  55.) 

20)  Der  Biograph  bringt  freilich  dieses  Drama  mit  der  Neugründung  Kata- 
nas tAetnas)  Ol.  7r),  1  in  Verbindung:  il&wv  joirvr  fti  2'tMsi.t'ni-  IspMroi  n'ne 
t}]v  j4ixvriV  xii^ovroe  ineSet^aio  -rng  Aixraiat,  oi(t>fiL,t'>fttvoi  ßio%'  nynd'oy 
lo'ii  cvroixi^ovai  jt'v  nöXtv.    Dann  mül'ste  man  einen  zweimaligen  Aufenthalt 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  I.  AESCH.      281 

gastliche  AiifDahme  gefunden  hatte,  dankbar  zu  erweisen.  Diese 
-Arbeit  setzt  einen  längeren  Aufenthalt  und  gewisse  Vertrautheit  mit 
den  örtlichen  Verhältnissen  voraus*'),  wie  auch  sonst  diese  sicilische 
Reise  nicht  wirkungslos  an  Aeschylus  vorübergegangen  sein  wird.") 
In  die  Heimath  zurückgekehrt,  setzt  Aeschylus  seine  Thätigkeit 
für  die  attische  Bühne  fort,  und  wenn  Sophokles  gleich  mit  seinem 
ersten  Versuche  Ol.  77,  4  den  Sieg  über  den  älteren  Dichter  davon- 
trug^^), so  war  dies  für  ihn  nur  ein  Antrieb  zu  erneuten  Anstren- 
gungen, nicht  im  feindlichen  Gegensatze,  sondern  in  einträchtigem 
Zusammenwirken  mit  seinem  jüngeren  Genossen.  Dafs  Aeschylus 
seinem  Berufe  treu  blieb,  beweisen  die  Sieben  vor  Theben,  welche 
gleich  im  nächsten  Jahre,  Ol.  78,  1,  aufgeführt  wurden.  Das  Ver- 
hältnifs  zwischen  Aeschylus  und  Sophokles  ist  ein  durchaus  freund- 
schaftliches. Beide  waren  edle  Charaktere,  daher  frei  von  Neid  und 
jener  kleinlichen  Mifsgunst,  welche  untergeordneten  Geistern  eigen 
ist.  Aeschylus,  eine  auf  sich  selbst  gestellte  IN'alur,  hatte  wohl  bis- 
her seinen  Weg  ziemlich  einsam  zurückgelegt*^);  durch  die  Verbin- 
dung mit  dem  jungen,  nach  den  höchsten  Zielen  strebenden  Sopho- 
kles ward  er  zum  edelsten  Wetteifer  angeregt.    Wer  von  beiden  den 


des  Aeschylus  in  Syrakns  annehmen,  um  Ol.  76,1  und  nochmals  um  01.76,4, 
wo  die  Perser  zuerst  in  Athen  aufgeführt  wurden:  allein  jenes  Gelegenheits- 
stück kann  recht  gut  ein  Paar  Jahre  nach  der  Gründung  der  Stadt  gedichtet  sein. 

21)  Die  Einsetzung  des  Cultus  der  Paliken,  die  in  Sicilien,  vor  allem  auf 
dem  Berge  Aetna  als  segenspendende  Dämonen  seit  Alters  verehrt  wurden, 
Mar  der  wesentliche  Inhalt  des  Dramas. 

22)  Die  alten  Grammatiker  fanden  bei  Aeschylus  manche  den  Sikelioten 
eigenthümliche  Ausdrücke  wieder,  Athen.  IX  402  C :  on  Si  AiayyXos  StarQitpa; 
iv  ^ix£),iq  7io).}.cüi  y.iy^or^rai  ipojvais  ^ix£/.ixais,  ovSip  d'avfiaaröv.  Als  genauen 
Kenner  sicilischer  Verhältnisse  bezeichnet  ihn  Macrobius  V  19,  17:  Aeschylus 
tragicus,  vir  utique  Siculus.  Die  lebendige  Schilderung  einer  Eruption  des 
Aetna  im  Prometheus  geht  auf  unmittelbare  Beobachtungen  zurück. 

23)  Der  Biograph  erzählt,  Aeschylus  habe  Athen  verlassen  x«t«  riras 
fiiv  VTT^  'A&Tjvaicov  y.aTaanox'Saa&eis  y.ai  ■fjaar/d'eis  vicp  ovri.  2!ofox?^l,  was 
man  wohl  berechtigt  ist,  auf  das  erste  Auftreten  des  Sophokles  zu  beziehen. 
Das  Factum  selbst  scheint  richtig,  nur  die  Folgerung,  die  man  daraus  zog,  ist 
abzuweisen. 

24)  Mit  dem  Dichter  Ion  mag  Aeschylus  mehrfach  verkehrt  haben.  Eine 
Anekdote,  die  wohl  eben  auf  dem  Zeugnifs  des  Ion  selbst  beruht,  läfst  beide 
Tragiker  dem  Faustkampfe  bei  den  islhmischen  Spielen  zuschauen,  und  Ion 
hatte  in  seinen  Denkwürdigkeiten  wiederholt  des  Aeschylus  gedacht,  aber  nichts 
deutet  auf  ein  vertrauteres  Verhällnifs  hin. 


282  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

anderen  am  meisten  förderte,  läfst  sich  nicht  hestimmen.  Gewifs 
ist,  dafs  die  Periode  der  reichsten  und  reifsten  Thätigkeit  des  Aeschy- 
lus  die  nächsten  zehn  Jahre  seines  Lebens  umfafst. 

Ol.  80,  3  verliefs  Aeschylus,  nachdem  er  im  Jahre  vorher  mit 
der  Orestie  einen  glänzenden  Erfolg  gehabt  halte,  Athen  und  zog 
sich  nach  Gela  zurück.  Bei  seinem  früheren  Aufenthalte  in  SiciUen 
hatte  Aeschylus  die  Insel  liebgewonnen  und  mochte  sich  unter  Do- 
nern besonders  heimisch  fühlen.  Den  nächsten  Anlafs  zu  dieser 
freiwilligen  Verbannung  aus  der  Heimalh  gab  ein  Rechtshandel,  in 
den  der  wahrhaft  fromme  Dichter  wegen  angeblicher  Anspielungen 
auf  die  eleusinischen  Mysterien  verwickelt  ward.")  Einer  bewufsten 
Verletzung  jenes  Geheimdienstes  war  Aeschylus  unfähig.  Er  wies 
vor  dem  Areopag  seine  Unschuld  nach ;  mehr  noch  mochte  die  Er- 
innerung an  den  hingebenden  Patriotismus  und  die  tapferen  Thalen 
des  Dichters  und  seines  Bruders  im  Perserkriege  wirken.  Er  ward 
daher  freigesprochen,   aber  Athen   war  ihm   verleidet.     Aufserdem 

25)  Darauf  bezieht  sich  Aristot.  Eth.  Nie.  lII2p.llllA9:  olov  Xeyovres  . . . 
ovx  eiSevai,  ort  anoQQTjta  t]v,  coaneQ  Aiaxv^i  ta  fivartxä  (von  Clemens  AI. 
Str.  II  387  falsch  gedeutet,  als  sei  Aeschylus  nicht  eingeweiht  gewesen).  Genaue- 
res berichtet  zu  dieser  Stelle  der  alte  Erklärer  (Eustratius)  aus  Heraklides  Pon- 
tikus:  eine  unvorsichtige  Aeufserung  in  einer  Tragödie  erregte  solchen  Anstofs, 
dafs  der  Dichter  durch  den  Ausbruch  des  allgemeinen  Unwillens  genöthigt  ward, 
zu  dem  Altare  des  Dionysus  seine  Zuflucht  zu  nehmen ;  daran  schlofs  sich  dann 
die  gerichtliche  Verhandlung  vor  dem  Areopag  (y^aft]  aaeßeias  Aeliaii  V.  H. 
V  19)  an.  Weder  Aelian  noch  Heraklides  nennen  ein  bestimmtes  Drama,  Apsines 
der  Rhetor  S.  390  IX  478  Walz  die  Eumeniden  (auch  der  Biograph  läfst  den  Tra- 
giker in  Folge  dieses  Stückes  Athen  verlassen,  aber  wegen  der  schreckhaften 
Wirkung,  die  der  Eumenidenchor  hervorrief,  eine  durchweg  abgeschmackte  Fabe- 
lei), wohl  nur  weil  die  Aufführung  dieser  Tragödie  kurz  vor  die  Entfernung 
des  Dichters  fällt;  denn  in  diesem  Drama  kommt  nichts  Mystisches,  überhaupt 
nichts,  was  ein  öffentliches  Aergernifs  erregen  konnte,  vor.  Aufserdem  ist  ein 
solcher  Vorfall  mit  der  günstigen  Aufnahme,  welche  die  Orestie  fand,  unver- 
einbar. Dieser  Bühnentumult  wird  in  das  nächste  .lahr  Ol.  80,  3  fallen.  Weiches 
Drama  dazu  Anlafs  gab,  mögen  schon  die  Alten  nicht  gewufst  haben;  das  Stück 
war  vielleicht  gar  nicht  erhallen.  Eustratius  zählt  fünf  Dramen  auf,  in  denen 
die  alten  Grammatiker  Beziehungen  auf  die  Mysterien  fanden  (To^oxiSas,  'le^tlat, 
Siavtpot  nerpoxvLarr^s,  dann  die  Ipiiigenie  und  den  Oedipus  Ol.  7S,  1).  .\uch 
Aristophanes  bezieht  sich  wohl  auf  diese  Vorgänge,  wenn  er  in  den  Fröschen 
807  sagt:  ovre  yuQ  ^Ad-rjvaimai.  awißcuv^  Aiaxvlot.  Es  ist  übrifrens  ein 
eigenlhüinliches  Zusammentreffen,  dafs  Aeschylus,  der  im  Jahre  vorher  in  den 
Eumeniden  sich  so  warm  der  Rechte  des  Areopag»  angenommen  hatte,  eben 
vor  diesem  Gerichtshofe  sich  zu  verantworten  genöthigt  ward. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRCPPE.  DIEBLCTHEZEIT.  I.AESCH.       2S3 

mochte  die  Unzufriedenheit  mit  dem  Gange  der  politischen  Entwick- 
lung mitwirken.  Man  kann  sich  wohl  denken,  wie  ein  Mann  von 
der  Sinnesart  des  Aeschylus  an  dem  öffenthchen  Leben  keine  rechte 
Freude  mehr  fand.  Aeschylus  gehört  offenbar  zu  der  gemäfsigten 
Partei,  welche  das  Heil  des  Staates  im  ruhigen  Bewahren  der  vater- 
ländischen Institutionen  fand.  Das  stürmische  Vorwärtseilen  mufste 
ihm  als  gefahrdrohend  erscheinen,  und  eben  dieses  Gefühl  des  Mifs- 
behagens  trieb  ihn  in  die  Fremde.  Immer  aber  wird  uns  eine  weh- 
müthige  Empfindung  ergreifen,  wenn  wir  sehen,  wie  der  grofse 
Dichter  fern  von  der  Heimath,  fern  von  seinen  Freunden  in  einer 
entlegenen  Stadt  Sicihens  seine  letzten  Tage  einsam  verlebt. 

Auch  in  Gela,  wo  der  Dichter  etwas  über  zwei  Jahre  zu- 
brachte*^), war  er  nicht  unthätig.  In  seinem  Nachlasse  fanden  sich 
eine  Anzahl  Dramen,  für  deren  Aufführung  sein  Sohn  Euphorion 
Sorge  trug.")  Aeschylus  starb  Ol.  81,  1  im  69.  Jahre'®)  eines  eigen- 
thümlichen  Todes,  indem,  wie  eine  landläufige  Anekdote  berichtet, 
ein  Adler  eine  Schildkröte  auf  den  kalilen  Scheitel  des  Greises,  der 
auf  einem  Felsen  sitzend  meditirte,  herabfallen  liefs.'^)     Anlafs  zur 


26)  Biogr.  rgirov  ^os. 

2")  Suidas  I  2,  663 :  EvfOQitov . .  .os  xat  rdis  Aiaxvhtv  rov  nar^os,  oIs 
fiTfTKO  r,v  imdEi^äfievos,  reroaxis  ivixrjaev. 

2S)  So  die  parische  Chronik  Ep.  59,  über  die  abweichenden  Angabea  hin- 
sichtlich des  Lebensalters  s.  oben  S.  278  A.  9. 

29)  Biographie,  Aelian  H.  A.  VII  16  u.  a.  Man  hat  dies  lange  Zeit  als  histo- 
rische Thatsache  aufgefafst,  und  ein  ähnlicher  Fall  mag  wirklich  vorgekommen 
sein.  Darauf  bezog  sich  Demokrit,  wenn  er  die  Wirkungen  des  Zufalls  erklärte, 
s.  Schol.  Aristot.  S,  351  A  48  ff. :  rov  Se  xaxayrjvai  zov  (paXay.QOv  ro  xoaviov  rbv 
aerov  oiyiavra  rr^ xskcövrjv  (airiov),  071cos.ro  ^^Xcöviov  ^a^,  jedoch  ohne  einen 
Namen  zu  nennen,  wie  es  scheint.  Neuere  haben  das  Ganze  für  eine  spafshafte 
Erfindung  erklärt.  Aber  so  schalen  Witz  über  den  Kahlkopf  des  gi'ofsen  Dichters 
würde  die  bildende  Kunst  schwerlich  verewigt  haben:  ein  geschnittener  Stein 
stellt  diese  Todesart  des  Aeschylus  dar,  wohl  eben  eine  freie  Beproduction 
des  Bildes,  mit  dem  ursprünglich  die  Grabstelle  geschmückt  war.  Dafs  Adler 
auf  Schildkröten  Jagd  machen,  ist  nichts  Ungewöhnliches  (vgl.  Hesych  x^Xto- 
vofäyot);  nach  dem  Volksglauben  findet  der  kranke  Adler  durch  den  Genufs 
des  Schildkrötenfleisches  Genesung,  wie  Oppian  in  den  'I^evrixä  (Paraphrase 
des  Euteknius  S.  107)  berichtet.  Eine  solche  Symbolik  entspricht  ganz  dem 
Charakter  der  alterthümlichen  Kunst.  Daraus  entstand  später,  als  das  rechte 
Verständnifs  dafür  verschwunden  war,  jene  Sage,  indem  man  in  rein  materiel- 
ler Weise  den  Adler  mit  dem  Tode  des  Dichters  in  Verbindung  brachte.  Die 
Schildkröte  als  Sinnbild  der  Poesie  überhaupt  oder  speciell  der  Aeschyleischeo 


2S4  IIRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Entstehung  dieser  Sage  gab  wohl  eine  bildHche  Darstellung  des 
Dichters,  wahrscheinHch  eben  auf  seinem  Grabsteine  zu  Gela,  wo 
der  Adler  mit  der  Schildkröte  als  sinnvolles  Symbol  andeuten  sollte, 
der  Dichter  sei  genesen  und  durch  den  Tod  von  allem  irdischen 
Leide  befreit.  Die  Bürger  von  Gela  ehrten  das  Andenken  des  Aeschy- 
lus  in  gebührender  Weise;  sie  veranstalteten  nicht  nur  ein  üffent- 
liches  Lcichenbegängnifs,  sondern  errichteten  ihm  auch  ein  Denk- 
mal.^") Noch  in  späterer  Zeit  suchten  Reisende  die  letzte  Ruhestätte 
des  Aeschylus  auf,  und  tragische  Dichter  pflegten  dort  seinem  An- 
denken ein  Todtenopfer  darzubringen.^')  Aber  auch  in  Athen  war 
man  seiner  Verdienste  wohl  eingedenk ^^),  indem  man  dafür  Sorge 
trug,  seiner  Poesie  eine  bleibende  Wirkung  zu  sichern. 

In  der  tragischen  Dichtung  fand  Aeschylus  seinen  Lebensberuf; 
nur  nebenbei  hat  er  sich  in  der  Elegie  versucht.  So  schrieb  er 
im  Weltkampfc  mit  Simonides  ein  Trauergedicht  zum  Gedächtnifs 
der  bei  Marathon  gefallenen  Helden  ^^),  zog  aber  dem  Meliker  gegen- 
über, der  wie  kein  anderer  die  Kunst,  zu  rühren  und  zarte  Empßn- 
dungen  zu  wecken,  verstand,  den  Kürzeren. 
Zahl  der  Mehr  als  vierzig  Jahre  war  Aeschylus  ununterbrochen    für  die 

ramen.  jjyjj,^^.  tiiytjg.    Der  umfangreiche  Nachlafs,  soweit  er  den  Alexandri- 
nern vorlag,  neunzig  Dramen,  darunter  zwanzig  Satyrstücke ^'),  be- 

Dichlkunst,  die  scliwerfällig  wie  eine  Schildkröte,  kühn  wie  ein  Adler  sei,  auf- 
zufassen widerstreitet  dem  Geiste  des  Allertlinms. 

30)  Die  einfache  Grabschrift  in  zwei  Distichen  (s.  Biographie),  welche  der 
dichterischen  Thätigkeit  mit  keinem  Worte  gedenkt,  sondern  nur  auf  den  An- 
Iheil  an  der  marathonischen  Schlacht  hinweist,  soll  Aeschylus  selbst  verfafst 
haben.  Athen.  XIV  027  0,  Paus.  11 4,  5. 

31)  Biographie, 

32)  S.  nachher.  Später  ward  dem  Diciilcr  im  Theater  eine  Slaiuo  er- 
richtet, wie  man  auch  auf  dem  Gemälde  von  der  marathonischen  Srhlaciit  (in 
der  arou  tioixÜ.i])  sein  Bild  erblickte.  Paus.  I  21,  2.  Eine  Marmorbüste  aus  später 
Zeit  und  von  mäfsigem  künstlerischen  Verdienst  im  Capitolinischen  .Museum 
hat  man  Aeschylus  benannt,  weil  man  eine  gewisse  Aehnlichkeit  der  Züge  mit 
den  Darstellungen  des  Dichters  auf  Gemmen  zu  erkennen  glaubt.  Im  Theater 
zu  Pompeji  war,  wie  eine  dort  gefundene  Maske  mit  der  Aufschrift  ^iayj'/.ov 
andeutet,  eine  Abtheilung  der  Sitzplätze  dem  Dichter  zu  Ehren  benannt,  aber 
nichts  berechtigt  zu  der  Annahme,  dafs  dort  norli  eine  Statue  des  Aoschyliis 
aufgestellt  war. 

33)  Biographie. 

34)  Der  Widerspruch  zwischen  Suidas:  ^y^aftr  nal  iXeyela  nal  rpaytp- 
8ias  ivBvfiKovxa  und  dem  Biographen:  inolrjot  Si  S^aftaia  o',  tial  ini  toi» 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  RLÜTHEZEIT.  I.  AESCH.      255 

kündet  die  grofse  Fruchtbarkeit  des  Dichters.  Von  diesem  reichen 
Schatze  sind  auf  uns  nur  sieben  Tragödien  und  aufserdem  eine  mäfsige 
Zahl  Bruchstücke  der  verlorenen  Dramen  gekommen. 

Man  empfängt  den  Eindruck,  dafs  Aeschylus  im  Fluge  der  Be- 
geisterung seine  Dichtungen  entwarf  und  ausführle;  aber  sie  ruhen 
nichts  desto  weniger  auf  gewissenhaften  Studien.  Reiflich  erwog  der 
Dichter  den  Plan  seiner  Dramen  und  arbeitete  sie  sorgsam  im  Ein- 
zelnen aus.  Dies  gilt  besonders  von  den  kunstreichen  meHschen 
Gesängen.  Durchschnittlich  kommt  ein  Zeitraum  von  zwei  Jahren 
auf  eine  Tetralogie.  Anfangs  mag  er  noch  langsamer  gearbeitet 
haben,  wie  auch  Sophokles  und  Euripides  erst  im  reiferen  Alter  zu 
rascherem  Produciren  gedrängt  werden. 

Wie  erfolgreich  die  Bestrebungen   des  Aeschylus  waren,   zeigt 


Tois  aatv^ry-a  afi(fißo7.a  e,  läfst  sich  leicht  ausgleichen.  Suidas  versteht  unter 
rqaycoSiai  Dramen,  also  sind  die  Satyrstücke  mit  inbegriffen,  der  Biograph 
nennt  die  Tragödien  Soauara  und  sondert  davon  die  Satyrspiele.  Nur  ver- 
mifst  man  hier  eine  Angabe  der  Zahl;  denn  jetzt  sieht  es  aus,  als  habe 
Aeschylus  nur  fünf  Satyrdramen  und  alle  von  bestrittener  Echtheit  hinterlassen, 
während  wir  noch  jetzt  eine  gröfsere  Zahl  nachweisen  können:  offenbar  ist 
zu  lesen :  xal  ini  rovrois  aazvqixa  x',  tw  v  au^ißoXa  e.  Nun  stimmen  beide 
Gewährsmänner  vollständig  überein.  Unter  den  fünf  verdächtigten  Stücken 
sind  wohl  nicht  blofs  Satyrspiele,  sondern  auch  Tragödien  zu  verstehen;  wenig- 
stens werden  im  Verzeichnisse  ausdrücklich  Altvalai  yvr,aiai  und  Airvaiat 
vod'oi  unterschieden.  Auch  das  Zahlen  verhält  nifs  siebzig  Tragödien,  zwanzig 
Satyrstücke  erscheint  ganz  angemessen;  denn  da  die  Einführung  der  Tetralogie 
erst  später  erfolgte ,  verbleiben  für  die  Anfänge  der  Aeschyleischen  Poesie 
mindestens  zehn  Einzeldramen.  Doch  darf  man  nicht  ohne  Weiteres  zwanzig 
Tetralogien  annehmen.  Die  Zahl  der  Tetralogien  mag  geringer,  die  der  Einzel- 
drameu  gröfser  gewesen  sein :  denn  auch  in  der  ersten  Periode  wird  Aeschy- 
lus Salyrstücke  geschrieben  haben,  während  andererseits  wieder  Satyrdramen, 
für  die  später  nur  geringes  Interesse  vorhanden  war,  verloren  gegangen  sein 
mögen.  Aufserdem  hat  Aeschylus  wohl  auch  später  zuweilen  eine  einzelne 
Tragödie  gedichtet,  wie  die  AiTvdiai;  gerade  bei  einem  Gelegenheitsstücke 
mochte  er  zu  der  früheren  Weise  zurückkehren.  So  ist  also  eine  genaue  Be- 
rechnung der  Tetralogien  nicht  ausführbar.  Der  Biographie  angehängt  ist  ein 
alphabetisch  geordnetes,  aber  unvollständiges  Verzeichnifs ;  hier  werden  drei- 
undsiebzig Dramen  aufgezählt  (eigentlich  nur  zweiundsiebzig;  denn  <pQvytot 
beruht  auf  einem  Schreibfehler).  Das  Verzeichnifs  war  in  fünf  Reihen  zu  je 
achtzehn  Namen  geschrieben;  eine  Columne  ist  ausgefallen.  Diesen  Verlast 
können  wir  nur  theihveise  ergänzen;  man  vermifst  aufserdem  Plavxos  üorvievs 
und  ^iavfos  jterQOxvltar^s,  auch  die  'Alxftr^vri,  OaXafionoioi,  'h^elat,  HaXa- 
fiTiSrii,  <Pivavs  und  ^iigei^via. 


286  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS   300   V.  CHR.  G. 

die  grofse  Zahl  der  Siege:  dreizehnmal  ward  ihm  bei  Lebzeiten 
der  erste  Preis  und  noch  öfter  die  gleiche  Ehre  dem  todten  Dichter 
zuerkannt^);  denn  ein  besonderes  Gesetz  gestattete  gleich  nach  des 
Aeschylus  Tode  die  Zulassung  seiner  Dramen  bei  der  Bewerbung 
um  den  tragischen  Preis.  Diese  älteren  Stücke  wurden  den  neuen 
Tragödien  gleich  gehalten.  Dafs  durch  diese  Wiederaufführungen 
die  Poesie  des  Aeschylus  manche  Einbufse  erlitt,  ist  nicht  zweifel- 
haft.*») 

Die  ersten  Arbeiten  des  Aeschylus  werden  sich  von  den  Dich- 
tungen der  älteren  Meister  nicht  wesentlich  unterschieden  haben ; 
es  waren  dramatisch-lyrische  Gedichte  ohne  rechten  Fortschritt  der 
Handlung.  Von  diesen  Anfängen  ist  uns  nichts  erhalten.  Die  Tra- 
gödien, welche  wir  besitzen,  erfordern  zwei,  zum  Theil  drei  Schau- 
spieler. Diese  sieben  Dramen  zeigen  wieder  bemerkenswerthe  Unter- 
schiede und  zerfallen  in  zwei  Gruppen :  dem  mittleren  Lebensalter 
gehören  die  Perser,  die  Sieben  vor  Theben  und  die  Schutz- 
flehenden, der  letzten  Periode  die  Orestie  und  der  Prome- 
theus an. 
Dramen  der  Im  Drama  tritt  der  Hauptperson  eine  andere  gegenüber.  Aus 
ers^ien^  Pe- ^gj^  Kampfe  der  gegen  einander  wirkenden  Kräfte  geht   der  Fort- 


35)  Biographie:  vixae  Si  ras  näoae  si'Xrjipe  ly,  ovx  oXiyae  Si  ftsrn  Ttlev- 
iTiV  vixae  anrjveyxaro.  Wenn  Suidas  sagt:  vixae  elXev  xrj ,  so  ist  dies  kein 
"Widerspruch;  hier  sind  eben  die  Siege  nach  dem  Tode  mitgezählt.  Den  Preis 
erhielt  der  jedesmalige  Chormeister,  aber  die  Ehre  des  Sieges  fiel  natürlich 
dem  Verfasser  zu.  Darunter  sind  auch  die  vier  Siege  mit  inbegriffen,  welche 
Eiiphorion  (s.  Suidas  EvipoQiav  I  2,  663)  nach  des  Vaters  Tode  mit  xaivai  rga- 
yt^Siat  gewann.  Doch  ist  diese  Notiz  vielleicht  ungenau  und  von  Siegen  des 
Euphorion  mit  älteren  und  neuen  Stücken  zu  verstehen;  denn  sonst  müfste 
Aeschylus  vier  fertige  Tetralogien  hinterlassen  haben. 

36)  Quintilians  J^ugnifs  X  1,  66:  correctas  eius  fabulat  in  certamen  de- 
ferre  posterioribus  poetis  Athenienses  permisentnt  ist  vollkommen  glaubwür- 
dig. Die  SävTQiai  waren  den  alten  Grammatikern  nicht  unbekannt,  aber  erst 
Askiepiades  fand  zu  Athen  (Schol,  Arisloph.  Frösche  1344:  ^v  t*»-»  täv  ^■:iO' 
■d-trtov,  so  ist  statt  Sta&eratv  [Staatod'ev'iov  Dübner  nach  Dobraeus]  zu  lesen) 
die  echte  Gestalt  des  Stückes  wieder,  auf  welche  sich  auch  Plato  Rep.  II  381  D 
bezieht.  Wie  man  dazu  kam,  die  Hera,  welche  in  Gestall  einer  Priesterin  Al- 
mosen einsammelte,  zu  entfernen,  liegt  auf  der  Hand;  nur  sieht  man  nicht 
recht  ein,  wie  eine  solche  Episode  zu  dem  Thema  dieses  Stückes  pafsle.  Auch 
irrt  Askiepiades,  wenn  er  bei  Aristopbanes  eine  Anspielung  auf  diese  Partie 
fand,  da  dort  vielmehr  Euripidcs  parodirt  wird. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRCPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  I.AESCH.      287 

schritt  der  Handlung  hervor;  darin  Hegt  vorzugsweise  das  drama- 
tische Interesse.  Dieser  Gegensatz  kann  aber  nur  dann  wirksam 
dargestellt  werden,  wenn  sich  zwei  Schauspieler  in  die  Aclion  theilen. 
Indem  Aeschylus  den  Deuteragonisten  einführt  und  so  einen  regel- 
mäfsigen  Dialog  ermöglicht  und  zum  Schwerpunkte  des  Dramas  macht, 
sucht  er  das  Handeln  und  Leiden  in  voller  Gegenwärtigkeit  darzu- 
stellen. Allein  dieses  Ziel  hat  der  Dichter  nicht  mit  einem  Male 
erreicht;  es  dauert  geraume  Zeit,  ehe  der  Deuteragonist  zur  vollen 
Anerkennung  gelangt.  Die  Hauptperson  nimmt  überwiegend  das  In- 
teresse in  Anspruch.  Die  gegenüberstehende  Macht  wird  nur  in  ihren 
^Yirkungen  dargestellt,  nicht  unmittelbar  vor  Augen  gerückt;  daher 
kommt  auch  die  Handlung  nicht  vollkommen  zu  ihrem  Rechte. 

So  schildert  in  den  Persern  der  Bote  die  Thaten  der  Hellenen, 
welche  hochherzig  den  Kampf  mit  der  persischen  Weltmacht  auf- 
nahmen. Hier  fällt  also  die  Katastrophe  vor  das  Stück,  und  der 
Dichter  begnügt  sich,  nur  die  Folgen  dieser  Niederlage  darzustellen.'^) 
In  den  Sieben  vor  Theben  ist  zwar  die  Handlung  in  das  Drama 
selbst  verlegt,  aber  auch  hier  kommt  es  nicht  zur  vollen  Gegen- 
wärtigkeit; nur  Eteokles  tritt  auf.  Der  Conflikt  der  feindlichen  Brüder 
wird  mehr  geschildert,  als  wirküch  zur  Anschauung  gebracht.  Auch 
in  den  Schutzflehenden  werden  die  Söhne  des  Aegyptus  nicht  selbst 
vorgeführt;  jedoch  ist  ein  Fortschritt  nicht  zu  verkennen,  indem  die 
feindliche  Macht  durch  den  Herold  repräsentirt  wird. 

Erzählung  und  Beschreibung,  wie  in  den  Persern  die  Boten- 
berichte, in  den  Sieben  die  Schilderung  und  Charakteristik  der  the- 
banischen  und  argivischen  Helden,  beanspruchen  einen  breiten  Raum; 
daher  wird  dem  eigentüchen  Dialoge  nur  ein  knappes  Mafs  vergönnt. 
Das  dramatische  Leben  ist  gering,  die  Handlung  einfach.  Jedoch 
nimmt  man  deutlich  einen  Fortschritt  wahr,  indem  die  Charaktere 
in  den  Sieben  schon  mit  viel  bestimmteren  Umrissen  gezeichnet 
werden,  als  in  den  Persern. 

Nicht  minder  bezeichnend  ist  das  Verhältnifs  zwischen  den  Reden 
der  Schauspieler  und  den  Gesängen  des  Chores.  In  diesen  drei 
Tragödien  halten  die  gesprochenen  Verse  und  die  melischen  Par- 
tien sich  vollkommen  das  Gleichgewicht.  In  den  Anfängen  der  tra- 
gischen Kunst  war  das  lyrische  Element  das  Vorwaltende,  die  Reden 


37)  Aehnlich  auch  Phrynichns  in  seinen  Phönissen. 


288  DRITTE    PERIODE    VO.N    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

der  Schauspieler  nur  eine  Beigabe.  Jetzt  bringt  Aeschylus  das  Drama- 
tische zur  Geltung,  aber  der  Chor  wird  noch  nicht  zu  einer  blofsen 
Nebenligur  herabgesetzt;  er  hat  noch  mehr  oder  minder  Anlheil  an 
der  Handlung.  Vorsichtig  und  schonend  volkieht  der  Tragiker  diese 
Neuerung.  Der  Weise  der  ältesten  Tragödie  stehen  die  Schutzflehen- 
den am  allernächsten;  denn  hier  ist  der  Chor  noch  selbst  Träger 
der  dramatischen  Handlung.'^)  Aber  auch  in  den  Persern  liegt  der 
Schwerpunkt  eigenlüch  im  Chore.  Der  Atossa,  dem  Xerxes,  dem 
Schatten  des  Darius  fallen  nur  Nebenrollen  zu;  daher  werden  auch 
beide  Dramen  durch  den  Chor  erölfnet.^®) 
Die  Perser.  Die  Perser,  unter  den  erhaltenen  sieben  Tragödien  des  Aeschy- 
lus wohl  das  älteste  Stück,  vergegenwärtigen  keineswegs  die  Anfänge 
der  tragischen  Kunst  des  grofsen  Meisters ;  denn  das  Drama  ist  Ol. 
76,  4^°),  also  wenige  Jahre  nach  den  siegreichen  Kämpfen  gegen 
die  Meder  aufgeführt.  Die  Perser  sind  das  einzige  historische  Drama, 
welches  wir  besitzen.  Ereignisse  der  unmittelbaren  Gegenwart,  von 
denen  der  Dichter  nicht  nur  Augenzeuge  war,  sondern  an  denen 
er  sich  selbst  handelnd  betheiligt  hat,  werden  uns  hier  vorgeführt. 
Aber  wie  Aeschylus  unbeirrt  durch  persönliche  Vorurtheiie  oder  Ab- 
neigung den  Freiheitskampf  der  Hellenen  schildert,  so  ist  über  das 
Ganze  ein  Geist  der  Versöhnlichkeit  und  Milde  ausgegossen,  so  dafs 
auch  der  besiegte  Gegner  in  würdiger  Weise  dargestellt  wird ,  die 
den  Dichter  selbst  am  meisten  ehrt. 

An  dem  Sitze  der  persischen  Fürsten  (Persepolis?)  vor  dem 
Palaste  und  in  unmittelbarer  Nähe  der  Königsgräber  geht  die  Hand- 
lung vor  sich.")  Der  Chor,  aus  greisen  Männern,  den  höchsten 
Würdenträgern  des  Reiches,  bestehend,  eröfl'net  das  Stück,  indem  er 
in  seinem  Gesänge  das  zahllose  wohlgerüslete  Heer,  welches  gegen 


38)  Da  der  Dichter  nicht  blofs  eine  Tochter  des  Danaus  einrahren  konnte, 
mursle  er  den  Chor  zur  Darstellung  der  Danaiden  verwenden,  aber  er  fügt 
noch  einen  Nebenchor  der  Dienerinnen  hinzu. 

3!})  Die  Perser  beginnen  mit  einem  Prolog  in  Trimetern,  ebenso  die  Phö- 
nissen  des  Phrynichus. 

40)  Die  Didaskalie  besagt:  ^Eni  Msvaivoi  -rgaycoSöJv  Alaxü^i  ivixa  </>i- 
vel,  Ui^aait,  rXnvxq»,  IToour]x9si.  Ob  in  einer  Insclnifl  von  Teos  bei  Lebas 
III  91  Si)äfiaxt  IliQaaii  die  Tragödie  des  Aeschylus  oder  ein  spätes  liiera- 
risches Produkt  zu  verstehen  ist,  läfst  sich  nicht  erkennen. 

41)  Der  Scholiast  Aristoph.  Frösche  1028  sagt:  xa  fiiv  itQayfwra  vnoxu- 
rai  ip  Sovaoii,  allein ' 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRIPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  I.  AESCH.     289 

Hellas  ausgezogen  war.  schildert,  aber  zugleich  auch  die  Besorgnifs 
ausspricht,  dafs  diese  stolze  Macht  dem  Untergange  geweiht  sei. 
Denn  dafs  die  Perser  auf  ein  neues  ungewohntes  Unternehmen,  auf 
einen  Zug  in  überseeische  Länder,  sich  eingelassen  haben,  erfüllt 
das  Gemüth  der  Greise  mit  banger  Furcht,  die  feindlich  gesinnte 
Gottheit  möge  den  Fürsten  in  diese  Versuchung  geführt  haben;  denn 
kein  sterbHcher  Mensch  könne,  wenn  er  einmal  der  verführerischen 
Täuschung  nachgegeben,  aus  dem  Netze,  in  welches  er  sich  ver- 
strickt, entrinnen.  Da  erscheint  die  Königin  Atossa,  des  Xerxes 
Mutter,  und  theilt  den  Getreuen  mit,  wie  ein  Traumgesicht  in  der 
letzten  Nacht  sie  erschreckte.  Sie  habe  zwei  edle,  reichgekleidete 
Frauengestalten,  eine  in  persischer,  die  andere  in  hellenischer  Tracht, 
gesehen ^^),  welche  zum  Kampf  bereit  einander  gegenüberstanden; 
da  habe  ihr  Sohn  den  Streit  gehemmt  und  beide  vor  seinen  Wagen 
gespannt.  Willig  fügt  sich  die  eine  dem  Joch,  während  die  andere 
den  Wagen  zertrümmert,  so  dafs  der  Lenker  herabstürzte.  Da  trat 
Darius  voll  Betrübnifs  heran,  und  Xerxes,  als  er  den  Vater  erbhckte, 
zerrifs  unter  lautem  Wehklagen  seine  Gewänder.  So  benutzt  der 
Dichter  in  wirksamster  Steigerung  das  Ahnungsvolle  des  mensch- 
lichen Herzens  und  rückt  das  dunkele  Verhängnifs,  was  sich  alsbald 
verwirkHchen  soll,  vor  das  geistige  Auge  des  Zuschauers. 

Der  Chor  räth  der  bekümmerten  Königin,  mit  Gebet  und  Opfern 
sich  den  Göttern  zu  nahen,  um  die  drohende  Gefahr  abzuwenden, 
und  vor  allem  den  Geist  des  Darius  um  seinen  Schutz  und  Segen 
anzuflehen.  Das  Zwiegespräch,  wo  die  Königin  Fragen  über  Athen 
und  Griechenland  an  die  Greise  richtet,  dient  dem  Dichter  dazu, 
um  in  knappen,  aber  kräftigen  Zügen  das  Bild  seiner  freien  Vater- 
stadt zu  entwerfen.  In  diesem  Moment  tritt  eilenden  Laufes  ein 
Bote  auf  und  meldet  den  schweren  Schlag,  der  die  persische  Macht 
betroffen  hat.  Mit  dramatischer  Lebendigkeit  wird  die  Entschei- 
dungsschlacht bei  Salamis  geschildert.  Der  Dichter  weifs  bei  aller 
Ausführlichkeit  doch  den  reichen  Stoff  vollkommen  zu  beherrschen 
und  Mafs  zu  halten.  Und  dasselbe  gilt  auch  von  dem  folgenden  Ge- 
sänge des  Chores,  der,  als  plötzlich  jene  düstere  Ahnung  eines  nahen 


42)  Beachtenswerte  ist,  wie  hier  einmal  das  Bewufstsein  der  ursprüng- 
lichen Verwandtschaft  der  Völker  durchbricht;  denn  Persien  und  Hellas  werden 
V.  185  als  xaaiyvTjra  yivovi  tavTOv  bezeichnet. 

Bergk,  Griecb.  Literaiurgescbichte  HI.  19 


290  DRITTE    PERFODE    VON    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

Unglücks  sich  verwirklicht  hat,  den  unersetzlichen  Verlust  heklagt 
und  zugleich  die  Besorgnifs  ausspricht,  dafs  auf  die  Kunde  dieser 
Niederlage  die  persischen  Unterthanen  in  Vorderasien  das  drückende 
Joch  abschütteln  würden.  Indem  Atossa  das  Todlenopfer  am  Grabe 
des  Gemahls  darbringt,  beschwört  der  Chor  in  einem  kurzen,  aber 
lief  empfundenen  Liede  den  Schatten  des  weisen,  vielgeliebten  Herr- 
schers, zu  erscheinen.  Und  alsbald  steigt  der  Geist  des  Darius  empor 
und  erklärt,  dafs  Xerxes  selbst  durch  seine  Unbesonnenheit  sich 
dieses  Unheil  zugezogen ,  indem  er  unachtsam  gegen  des  Vaters 
Warnungen  Hellas  angriff  und  gegen  der  Gütler  Willen  sich  das 
Meer  zu  unterwerfen  strebte.  Darius  verkündet  weiteres  Unglück; 
auch  der  Rest  des  persischen  Heeres  sei  dem  Untergänge  geweiht  ^^), 
weil  man  gegen  die  Heihgthümer  der  Gülter  im  Feindeslande  ar- 
gen Frevel  verübt  hal.''^)  Unter  nachdrücklichen  Warnungen  vor 
Ueberrauth  verabschiedet  sich  der  Schalten.  Passend  schildert  der 
Chor  in  einem  kurzen  Gesänge  das  Glück,  welches  Persien  unter 
der  Herrschaft  des  Darius  genofs,  sowie  die  grofse  Macht,  welche 
derselbe,  indem  er  sich  weise  zu  beschränken  verstand,  erworben 
hatte,  während  sein  Nachfolger  leichtsinnig  alles  aufs  Spiel  setzte. 
Da  tritt  Xerxes  selbst  auf,  ein  erschüpflcr  Flüchtling,  in  zerrissenem 
Gewände,  von  Reue  und  Verzweiflung  gequält,  und  mit  einem  Klag- 
gesange,  der  zwischen  dem  unglücklichen  Fürsten  und  seinen  Ge- 
treuen gleichmäfsig  vertheilt  ist,  schliefst  die  Tragödie. 

Die  dramatische  Handlung  des  Stückes  ist  gering.    Neben  den 


43)  Mit  klaren  Worten  wird  auf  die  Schlacht  bei  Platää  hingewiesen 
V.  805:  kvd'a  neSiov  It4a(07i6e  ^odle  a^Set,  (piXov  niatjfia  Boioixwv  %d'ovi, 

44)  Wiederholt  beruft  sich  Darius  auf  Orakelsprüche,  die  sich  erfüllt  hät- 
ten, wie  V.  739  und  800.  Aufser  delphischen  Sprüchen  waren  noch,  bevor  der 
Krieg  begann,  Orakel  unter  Musäus',  Uakis'  und  anderer  Namen  in  Umlauf,  die 
entweder  direkt  auf  den  Ausgang  des  Mederkrieges  hindeuteten  oder  doili 
darauf  bezogen  wurden,  Herod.  Vlll  20.  77.  96.  Auch  die  l'erser  hatten  zum 
Theil  Kunde  davon.  Onomakritus  theille  dem  Xerxes  natürlich  nur  die  den 
Persern  günstigen  Sprüche  mit;  darunter  bezog  sich  einer  auch  auf  die  Ueber- 
brückung  des  Hellespontes  (ilerod.  VII  (j :  xov  'EkXr'janovTov  oJs  gev^'^^''«  XQ^^v 
eil?  vtt'  avSQos  Utqaeoj).  Mardonius  kannte  nach  Herodot  (IX  42)  ein  Orakel, 
welches  den  Untergang  des  ganzen  persischen  Heeres  verkündete,  wenn  er  das 
delphische  Hciliglhum  zerstören  würde,  Herodot  bemerkt  jedoch  (IX  43)  selbst, 
dieses  Orakel  beziehe  sich  nicht  auf  die  Perser,  sondern  auf  die  Hlyrier;  daher 
theilt  er  einen  Spruch  des  Bakis  mit,  wo  mit  deutlichen  Worten  die  Niederlage 
der  Meder  am  Asopus  prophezeit  wird. 


1 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  DLÜTHEZEIT.  I.AESCB.      291 

umfangreichen  melischen  Partien  nimmt  das  erzählende  Element  einen 
breiten  Raum  ein ,  aber  immer  neue  ergreifende  Bilder  werden  in 
rascher  Folge  und  schicklicher  Steigerung  vorgeführt,  und  die  lyri- 
schen Ergüsse  des  Gefühls  hegleiten  jeden  Moment  der  Handlung  mit 
stimmungsvollem  Ausdruck  und  melodischen  Klängen,  so  dafs  eine 
echt  tragische  Wirkung  erzielt  wird. 

Die  Perser  waren  das  Mittelstück  einer  Trilogie.  Aber  kein  stoff- 
liches Band  verknüpfte  die  einzelnen  Dramen,  sondern  mitten  unter 
uralten  mythischen  Ueberlieferungen  ^*)  wird  eine  Begebenheit  aus 
der  unmittelbaren  Gegenwart  vorgeführt.  Dafs  auch  so  ein  gewisser 
ideeller  Zusammenhang  zwischen  den  vier  mit  einander  verbundenen 
Stücken  stattfand,  läfst  sich  voraussetzen,  aber  nicht  mehr  nach- 
weisen. Schon  einige  Jahre  früher  ^^)  hatte  Phrynichus  unter  dem 
frischen  Eindrucke  der  grofsen  Ereignisse  seine  Phönissen  gedich- 
tet. Aber  dies  hielt  Aeschylus  nicht  ab,  sich  von  neuem  an  diesem 
Stoffe  zu  versuchen.  Aeschylus  verdankt  seinem  Vorgänger  gewifs 
manches.  Gleich  der  Eingang  des  Stückes  mufs  bei  Phrynichus  ähn- 
hch  angelegt  gewesen  sein.  Aber  auch  in  einem  anderen  sehr  bedeut- 
samen Punkte  stimmen  beide  Tragiker  überein,  indem  nicht  so  sehr 
der  patriotische  Opfermuth  der  Hellenen  und  die  VerherrHchung  ihrer 
Heldenthateu,  sondern  vielmehr  der  tiefe  Fall  der  persischen  Welt- 
macht  den   eigenthchen  ^Mittelpunkt  bildet,   daher   auch   in  beiden 


45)  Auf  die  drei  Tragödien  Phineus,  Perser,  Glaokus  folgte  das  Satyrdrama 
Prometheus.  Glaukus  wird  in  den  älteren  Scholien  ohne  weiteren  Znsatz  auf- 
geführt. Ist  dies  richtig,  dann  hatte  damals  Aeschylus  noch  kein  anderes  Stück 
dieses  Namens  verfafst,  so  dafs  ein  erklärender  Zusatz  ebenso  entbehrlich  schien, 
wie  bei  dem  Satyrdrama,  welches  den  Feuerraub  des  Prometheus  darstellte. 
Indes  liest  der  jüngere  Scholiast,  der  eine  theilweise  bessere  und  vollständigere 
Handschrift  benutzt  hat,  rXavxto  Iloxviei.  Dann  schilderte  diese  Tragödie  das 
grauenhafte  Schicksal  des  Sisyphiden,  der  von  seinen  eigenen  Rossen  zerrissen 
ward.  Die  Vermuthungen  der  Neueren  über  den  Inhalt  und  die  speciellen  Be- 
ziehungen des  anderen  Stückes  rXavxos  Ilövrtos  schweben  ganz  in  der  Luft, 
da  sie  nur  auf  der  unerwiesenen  Voraussetzung  beruhen,  dafs  eben  dieses  Stück 
zur  Persertrilogie  gehört  habe. 

46)  Die  Phönissen  des  Phrynichus  sind  wahrscheinlich  Ol.  75,  4  aufge- 
führt Dafs  Aeschylus  mehrfach  dem  Phrynichus  folgte,  hatte  der  Rheginer 
Glaukus  nachgewiesen,  s.  Scholien  (Hypothesis):  rlavxos  iv  toI»  ixeoI  Alaxv}Mv 
fjLv&ois  ix  liöv  fPoiviaaüv  <pQvvixov  (prjai  xovs  Ildoaae  ■naoansnoifiod'at.  Ein 
Eunuch,  der  die  Sitze  für  den  persischen  Reichsrath  mit  Teppichen  belegte, 
eröffnete  mit  einem  Prolog  in  Trimetern  die  Phönissen  des  Phrynichus. 

19* 


292  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS   300  V.  CHR.  G. 

Tragödien  die  HandluDg  in  den  fernen  Orient  verlegt  wird.  Aber 
indem  so  beide  Dichter  den  gewaltigen  Eindruck  schilderten,  den 
die  Kunde  von  den  Siegen  der  Hellenen  im  Feindeslande  hervor- 
rief, setzten  sie  den  Grofsthaten  ihres  Volkes  das  schönste  Denkmal. 
Im  Uebrigen  wird  Aeschylus  seine  Selbständigkeit  gewahrt  haben. 
Nur  kann  von  einem  politischen  Gegensatze  zwischen  ihm  und  seinem 
Vorgänger  nicht  die  Rede  sein.  Denn  die  Vermuthung  Neuerer, 
als  habe  Phrynichus  ganz  besonders  die  Verdienste  des  Themistokles 
hervorgehoben  und  lediglich  im  Parteiinteresse  die  Phönissen  ge- 
schrieben, um  das  bereits  wankende  Ansehen  seines  politischen 
Freundes  zu  stützen,  während  Aeschylus  den  Ruhm  des  Aristides 
und  die  Redeutung  seiner  mafsvoUen  Pohtik  in  den  Vordergrund 
zu  stellen  suche,  ist  unbegründet.  Wie  Phrynichus  sich  im  Leben 
und  im  Reiche  der  Poesie  zu  den  streitigen  Fragen  des  Tages  ver- 
hielt, ist  uns  völlig  unbekannt.  Aeschylus  aber,  obwohl  er  seiner 
ganzen  Sinnesweise  gemäfs  der  gerechten  und  besonnenen  Politik 
des  Aristides  den  Vorzug  vor  der  selbstsüchtigen  Staatskunst  des 
Themistokles,  der  am  liebsten  krumme  Pfade  wandeile,  geben  mufste*^, 
hat  doch  gerade  in  diesem  Drama  geflissentlich  jede  Reziehung  auf 
den  Kampf  der  politischen  Parteien  vermieden.  Wie  der  alte  Z^^^e- 
spalt  der  hellenischen  Stämme  und  der  erbitterte  Hader  der  Par- 
teien angesichts  der  drohenden  Gefahr  wenigstens  momentan  ver- 
stummte und  der  beste  Theil  der  Hellenen  sich  zur  Abwehr  des 
gemeinsamen  Feindes  verband,  so  führt  uns  auch  der  Dichter  das 
grofsartige  Schauspiel  jenes  einträchtig  erkämpften  Sieges  über  das 
Rarbarenthum  vor,  ohne  dafs  ein  Mifston  die  Harmonie  des  Ganzen 
störte."')     Während  Aeschylus  die  Führer  des  Perserheeres  überall 


47)  Dafs  man  in  den  Sieben  gegen  Theben  die  berühmten  Verse  592:  ov 
yaq  Sotcelv  a^taros  {Sixatos),  aXk'  clvai  &£lei,  ßad'eiav  nXoxa  Siä  tpQSvoe  xap- 
novfievoe,  i^  ^s  ra  xeSvt  ßXaarävsi  ßovXevfiaxa  allgemein  auf  Aristides  be- 
zog ,  dafs  nach  einer  freilich  problematischen  Ueberliefening  das  attische  Thea- 
terpublikum, als  es  zum  ersten  Male  diese  Verse  vernahm,  seine  Blicke  auf 
den  anwesenden  Aristides  richtete  (Plut.  Arist.  c.  '.)),  ist  bekannt.  Aber  die  Verse 
passen  auch  vortrefflich  für  die  Schilderung  des  edeln  Amphiaraus,  und  nichts 
deutet  auf  eine  vom  Dichter  beabsichtigte  Nebenbeziehung  hin.  (S.  S.  299  A.  04.) 

4b)  Ob  Phrynichus  nur  den  Sieg  bei  Salamis  heraushob,  die  Schlacht  bei 
Platää  überging,  wie  man  vermuthet  hat,  läfst  sich  nicht  erweisen,  und  wenn 
es  sich  so  verhielt,  kann  lediglich  die  Rücksicht  auf  die  poetisclie  Coniposilion 
seines  Dramas  mafsgebend  gewesen  sein,  nicht  aber  die  Absicht,  das  Verdienst 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE,  II.  GKCPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  I.  AESCH.      293 

mit  Namen  bezeichnet,  Avird  kein  Hellene  genannt.  Und  wie  hätte 
auch  der  Dichter  aus  der  Fülle  glänzender  Namen  einzelne  hervor- 
heben können,  ohne  gegen  andere  ungerecht  zu  werden!  Es  waren 
ja  eben  jene  Siege  eine  gemeinsame  That  der  Nation.  Aufserdem 
waren  diese  Begebenheiten  und  der  ruhmvolle  Antheil  der  Ein- 
zelnen im  frischen  Andenken ,  so  dafs  es  der  Nennung  der  Namen 
gar  nicht  bedurfte.  Wohl  aber  ist  eine  tiefere  ethische  Beziehung 
auf  die  unmittelbare  Gegenwart  nicht  zu  verkennen.  Durch  die  Siege 
über  die  Meder  war  das  Selbstgefühl  der  Hellenen  mächtig  gehoben. 
Die  Besorgnifs,  dafs  das  Volk  sich  über  die  Schranken  der  Zucht 
und  des  Mafses  hinwegsetzen  werde,  lag  nahe.  Indem  der  Tragiker 
den  tiefen  Fall  der  persischen  Macht  schildert,  der  durch  üeber- 
muth  und  Götterverachtung  des  Königs  wie  des  Volkes  veranlafst 
war,  führt  er  ein  Beispiel  der  Hinfälligkeit  alles  Irdischen,  eine 
ernste  Warnung  gegen  Vermessenheit  vor.  In  dem  Satze,  dafs  De- 
muth  und  Gottesfurcht  dem  Krieger  allein  den  rechten  Muth  zu  ver- 
leihen vermag,  während  Hoffahrt  und  Uebermuth  zum  üebel  aus- 
schlägt, ist  recht  eigenthch  der  Kern  der  Tragödie  enthalten ;  daher 
erkennt  auch  Aristophanes  ^')  die  patriotische  Tendenz  des  Stückes 
gebührend  an.  Wohl  haben  andere  griechische  Dichter  sich  oftmals 
ähnüch  ausgesprochen,  aber  wenn  irgend  wo,  so  war  damals  dieser 
Gedanke  zeitgemäfs  und  durch  die  Erfahrungen  des  letzten  grofsen 
Krieges  nahe  gelegt.  Auch  Pindar,  der  mit  Aeschylus  in  so  vielen 
Punkten  übereinstimmt,  äufserte  sich  in  gleichem  Sinne. 

Eine  gewisse  lokale  Färbung  steht  dieser  Tragödie  sehr  wohl 
an.  Schon  die  zahlreichen  persischen  Namen,  die  der  Dichter  gewifs 
nicht  ohne  Absicht  an  einzelnen  Stellen  häuft,  machen  einen  fremd- 
artigen Eindruck,  während  mit  gutem  Bedacht  die  Namen  der  frem- 
den Götterwelt  fern  gehalten  werden.  Ja,  Aeschylus  trägt  hier  kein 
Bedenken,   die  hellenischen  Namen   des  Phöbus  und  Hermes,  des 


des  Aristides  dem  des  Themistokles  gegenüber  in  Schatten  zu  stellen.  Aeschy- 
lus hebt  die  Waffenthaten  der  Hellenen  in  vielen  Schlachten  hervor,  eben  weil 
er  zeigen  will,  wie  die  persische  Macht  sowohl  zu  Wasser  als  zu  Lande  ge- 
brochen ward.  Dafs  auch  der  Kampf  auf  der  Insel  Psyttalia  (Aesch,  Pers.  447  ff.), 
wo  der  günstige  Erfolg  hauptsächlich  dem  Aristides  verdankt  ward,  ausführ- 
lich geschildert  wird,  ist  nur  sachgemäfs,  und  man  darf  darin  keine  Partei- 
nahme für  Aristides  finden. 

49)  Aristophanes  Frösche  1026. 


^94  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Zeus  und  Aidoneus  den  Persern  in  den  Mund  zu  legen.  Wohl 
aber  hat  er,  von  richtigem  Gefühl  geleitet,  vermieden,  eine  Gottheit 
auftreten  zu  lassen.  Die  Geistererscheinung  leistet  einen  viel  wirk- 
sameren Dienst.  Dafs  in  diesem  Drama,  welches  nicht  eine  sagen- 
hafte Begebenheit  der  fernen  Vorzeit,  sondern  ein  geschichtliches 
Ereignifs  aus  nächster  Nähe  darstellt,  eine  Schhchtheit  des  Tones 
herrscht,  liefs  sich  von  dem  kunstverständigen  Meister  erwarten. 
Wohl  aber  ist  die  Sprache,  avo  sie  den  Bilderschmuck  nicht  ver- 
schmäht, wie  in  mancher  eigenthümlichen  Wendung  dem  orienta- 
lischen Charakter  angenähert,  obschon  der  Dichter  mit  weiser  Mäfsi- 
gung  verfuhr  und  dem  Geiste  der  griechischen  Sprache  nicht  untreu 
wird.^)  Die  zahlreichen  Interjectionen ,  unter  denen  sich  manches 
Ungewöhnliche  findet*'),  versetzen  uns  unwillkürlich  in  eine  fremde 
Empfindung,  und  noch  wirksamer  mochten  die  Melodien  sein,  welche 
die  Gesänge  begleiteten.")  Aber  auch  in  Gedanken  und  Anschauungen 
giebt  sich  das  orientalische  Wesen  kund.  So  wird  ganz  besonderer 
Werth  auf  den  Prunk  der  äufseren  Erscheinung  gelegt.  Die  Worte 
mit  denen  die  Rede  des  Darius  abschliefst"),  erscheinen  mit  dem 
Ernst  der  Situation  nicht  recht  verträghch,  erinnern  aber  unwill- 
kürlich an  die  berufene  Grabschrift  des  Sardanapalus.  Das  Jammer- 
geschrei und  die  mafslosen  Wehklagen  des  Xerxes  und  des  Chores, 
mit  denen  das  Drama  abschhefst,  haben  manche  unpassend  gefun- 
den, aber  Aeschylus  hat  auch  hier  nur  getreu  die  Persersitte  ge- 
schildert.") Wenn  Aeschylus  die  Herrschaft  des  Darius  in  idealem 
Lichte  schildert,   so   hat  er  damit  sicherlich  die  Anschauungsweise 

50)  So  nennt  der  Dichter  die  Fische  des  Meeres  ävavSoi  nalSes  ras 
aftiavrov  (V.  577).  Die  Biene  heifst  schlechthin  av&efAOVQyoe  (V.  (512),  der  reine 
Quell  Ttagd^Evos  nrjyrj  (V.  613).  Ob  auch  oiaroSe'yftcav  (V.  1020),  d.  h.  der 
Köcher  hierher  gehört,  ist  zweifelhaft.  Hochallerthünalich  ist  ßakh)v  a^x^^oe 
ßaXlriv  (V.  657.  665).  Wie  passend  gerade  hier  Wendungen  wie  Sdanora  Ssanö- 
rov  fV.  66ti)  oder  TTtaza  ntaxwv  (V.  6S1)  sind,  fühlt  jeder. 

51)  Die  Interjection  o«,  die  mehrmals  vorkommt,  nennt  der  Scholiast  cu 
V.  116  UeQaixov  &QT]vr]fta;  doch  verlangt  das  Metrum  dort  vielmehr  wa. 

52)  Perser  937:  MaQiavSvvov  d'Qvvr]xli}^oi  rcifixpo}  TcoXvSax^w  ictxxav, 
1054 :  tmßoiv  to  Mvaiov.    Vgl.  auch  V.  633. 

h:\)  Perser  840  ff. 

54)  Man  vcrfjleiche  die  Schilderung  der  Trauer  über  den  Tod  des  Rciter- 
führers  Masistius  bei  Herodol  IX  24,  wo  besonders  die  oiutoyr]  anXeroi  hervor- 
gehoben wird,  von  der  ganz  Böotien  wiederhalite:  ol  niv  vw  ßä^ßa^i  tqöik^ 
it7>  aftrioiü  anod'aviivta  drifiior  Mnaiariov,  fügt  der  Historiker  hinzu. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  11.  GRDPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  I.  AESCH.     295 

getroffen,  welche  unter  den  Persern  damals  die  herrschende  war. 
Dem  Tragiker  selbst  mag  dies  nicht  bewufst  gewesen  sein ;  ihm  kam 
es  hauptsächlich  darauf  an,  durch  diesen  Contrast  das  unheilvolle 
Regiment  des  Xerxes  in  das  rechte  Licht  zu  rücken. 

Das  Stück,  welches  mit  Beifall  aufgenommen  wurde  und  den 
ersten  Preis  erhielt,  brachte  Aeschylus  bald  nachher  in  Syrakus  wieder 
auf  die  Buhne,  wohl  nicht  ohne  Abänderungen  im  Einzelnen.") 
Eine  Andeutung  findet  sich  noch  da,  wo  Darius  zur  Atossa  sagt^), 
sie  solle  aus  dem  Palaste  Kleider,  wie  sie  für  den  König  sich  ziem- 
ten, holen,  dem  Sohne  entgegengehen  und  ihn  in  seinem  Leide 
trösten ;  denn  nur  die  Mutter  werde  dies  vermögen.  Man  erkennt 
deutlich,  wie  hier  eine  spätere  Scene  schon  vorbereitet  wird.  Allein 
die  Ausführung  entspricht  nicht  dieser  Ankündigung;  denn  Atossa 
erklärt  sich  zwar  bereit,  dem  Gebote  zu  willfahren,  und  tritt  ab, 
erscheint  aber  nicht  wieder,  sondern  mit  den  Klagegesängen  des 
Xerxes  und  der  Greise  schliefst  das  Drama.  Uns  liegt  offenbar  die 
zweite  Bearbeitung  vor,  wo  der  Dichter  den  Schlufs  abgeändert  hat, 
ohne  jedoch  die  Verse,  welche  einen  anderen  Ausgang  ankündigen, 
zu  tilgen. 

Die  Sieben  gegen  Theben  sind  Ol.  78,  1  aufgeführt.    Mitbewer-  Die  sieben 
ber   um   den  Preis   waren  Aristias  und  Polyphradmon ,   die   Söhne    /heb^eo 
der  älteren  Kunstgenossen   Pratinas   und  Phrynichus.'^     Aeschylus 


55)  Schol.  Aristoph.  Ran.  102S:  Soxovai  Si  ovroi  oi  Tlsoaat  vTto  xov 
Alcx^Xov  SeStSä/^d'at  (lies  dvaSr.SiSäxd'ai)  ev  2!vQaxovaais ,  anovSäaavros 
'le'^tavos,  cos  <priaiv  'Eoaroa d'evrjs  iv  y  Tieqi  xcoftcpSiiäv,  und  der  Biograph  des 
Aeschylus:  <Paaiv  vrtb  ItQcovos  a^nod'ivxa  avaSiSä^at  rovs  Ilioaai  iv  2i- 
xeXiq  xai  liav  evSoxifir^cai.  Diese  Nachricht  beruht  gewifs  auf  glaubwürdiger 
Ueberlieferung.  Aber  wenn  alte  Erklärer  des  Aristophanes,  wie  Herodikus,  einen 
Beweis  dafür  in  der  Stelle  des  Aristophanes  zu  finden  vermeinten,  so  ist  bei 
der  fehlerhaften  Ueberlieferung  des  Textes  jener  Stelle  kein  sicheres  Resultat 
zu  gewinnen.  Auch  das  Scholion  ist  arg  entstellt;  nur  erkennt  man,  daCs  jene 
Grammatiker  das  Drama  gerade  so,  wie  wir  es  besitzen,  vorfanden  und  den 
Verlust  der  anderen  Recension  beklagten. 

56)  Perser  S32. 

57)  Schon  aus  dem  Schol.  Aristoph.  Ran.  1021  wufste  man,  dafs  die  Sieben 
später  als  die  Perser  aufgeführt  wurden.  Die  später  aufgefundene  Bemerkung 
des  Schol.  (Hypothesis)  zu  unserer  Tragödie  bestätigt  dies:  iStSäjcdTj  ini  0ea- 
yeriSov  olvftTttäSi.  orj'.  'Evixa  yiatco,  OiSi-xoSi,  'Enxa  ini  0r;ßae,  ^fiyvl  aa- 
Tvgixfi.  Jevzsooi  'Aoiariai  Ileoael,  TavxäXo},  Ilakaiaxais  aaxvgixoTs  zoTä 
üoaxivov  naroös.      Toixot  nokv<pQdS(i(ov  /ivxov^yeiq  xexoa^Myiq, 


296  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

ging  aus  dem  Wettkampfe  als  Sieger  hervor.  Der  Titel  des  Dramas 
scheint  nicht  recht  zutreffend,  da  er  den  Krieg  der  Argiver  gegen 
Theben  und  den  endhchen  Sieg  der  Belagerten  über  ihre  Feinde 
in  Aussicht  stellt;  allein  der  Tragiker  behielt  hier  wie  anderwärts 
die  herkömmliche,  dem  Publikum  wohlbekannte  Benennung  bei.") 

Eteokles  eröffnet  das  Stück  mit  einer  Rede  an  die  Bürger  der 
Stadt,  die  er  zu  muthiger  Abwehr  des  bevorstehenden  Angrifles  der 
Argiver  auffordert.  Ein  Bote,  der  auf  Kundschaft  ausgesandt  war, 
meldet,  dafs  die  Feinde  von  allen  Seiten  einen  Sturm  auf  die  Stadt 
vorbereiten  und  das  Loos  entscheiden  werde,  zu  welchem  Thore 
jeder  Fürst  seine  Krieger  führen  soll.  Eteokles  entfernt  sich,  nach- 
dem er  zu  den  Göttern  um  Rettung  der  bedrängten  Kadmusburg 
gebetet.  Jetzt  tritt  der  Chor  der  thebanischen  Jungfrauen  auf.  Die 
Nähe  der  drohenden  Gefahr  hat  ihr  Gemüth  mit  Angst  erfüllt,  und 
mit  demüthigen  Bitten  wenden  sie  sich  an  die  Schutzgötter  der  Stadt. 
Der  zurückkehrende  Eteokles  schilt  die  jammernden  Frauen,  indem 
er  besorgt,  ihre  Wehklagen  möchten  den  Mulh  der  Männer  schwä- 
chen. In  diesem  W^ortwechsel  des  Eteokles  mit  dem  Chore  wird 
der  Gegensatz  zwischen  der  Energie  des  thatkräfligen  Mannes  und 
der  passiven  Haltung  der  weiblichen  Natur  mit  voller  Lebendigkeit 
vorgeführt.  Eteokles  tritt  wieder  ab,  indem  er  dem  Chore  gebietet, 
sich  der  bangen  Furcht  zu  entschlagen  und  nach  hellenischer  Sitte 
den  Päan  anzustimmen,  um  den  Muth  in  der  Brust  neu  zu  beleben. 
Die  Mahnung  des  Fürsten  ist  nicht  vergeblich.  Ein  gefafstes  Wesen 
spricht  sich  in  dem  Choriiede  aus,  obwohl,  indem  das  Bild  einer 
eroberten  Stadt  mit  düsteren  Farben  ausgemalt  wird,  mehr  ruhige 
Ergebung  als  muthiges  Vertrauen  durchblickt. 

Eteokles  kehrt  zugleich  mit  dem  Boten  zurück,  welcher  berich- 
tet, wie  das  Loos  die  Führer  des  feindlichen  Heeres  zum  Angriff 
auf  die  sieben  Thore  der  Stadt  vertheilt  habe,  indem  er  dabei  sorg- 
föltig  die  Schildzeichen  der  Einzelnen  beschreibt.  Eteokles  stellt 
jedem  der  argivischen  Fürsten  einen  ebenbürtigen  Krieger  gegen- 
über. Diese  weit  ausgeführte  Scene'")  scheint  auf  den  ersten  Blick 
besser  für  das  Epos  als  das  Drama  geeignet.  Die  Griechen  waren 
ein  streitbares  ritterliches  Volk,  hatten  daher  auch  besonderes  Wohl- 


58)  Korinna  hatte  für  einen  Jungfraucnchor  'Enxa  tni  ß^ßas  (fr.  6)  ge- 
dichtet. 

59)  Sieben  369—719. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.GRDPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  I.  AESCH.     297 

gefallen  an  kunstreich  verzierten  Rüstungen,  daher  auch  die  Dich- 
ter sicher  auf  Beifall  rechnen  konnten,  wenn  sie  an  geeigneter 
Stelle  solche  Schilderungen  einflochten.  Die  Homerische  Poesie  war 
vorausgegangen,  und  Aeschylus  folgt  auch  hier  den  Spuren  des 
Epos.  Der  reflektirende  Verstand  wird  einwenden,  dafs  im  Äugen- 
bhcke  der  höchsten  Gefahr  eine  solche  Schilderung  der  Wappen 
unzeitig  erscheine,  und  Euripides  hat  nicht  unterlassen,  seinen  Vor- 
gänger deshalb  zu  tadeln.^)  Aeschylus  mochte  selbst  diesen  Vor- 
wurf voraussehen.  Daher  sucht  er  das  Verhalten  des  Eteokles  zu 
motiviren,  indem  er  darauf  hinweist,  die  Entscheidung  des  Kampfes 
sei  nicht  sofort  zu  erwarten,  da  die  Feinde  wegen  ungünstiger  Vor- 
zeichen zögerten.*')  Indes  diese  leicht  hingeworfene  Rechtfertigung 
würde  nicht  genügen,  wenn  der  Dichter  blofs  die  Gelegenheit  er- 
griffen hätte,  um  eine  oberflächliche  Neugier  zu  befriedigen.  Allein 
Aeschylus  benutzt  die  Beschreibung  der  Wappen  zu  einer  Charakte- 
ristik ihrer  Träger.  So  gewinnt  selbst  das  Aeufserliche  eine  tiefe 
Bedeutung ;  die  Helden  des  thebanischen  Krieges  treten  uns  als  con- 
krete  Gestalten  entgegen.  Aeschylus  flicht  nicht  eine  lange  zusam- 
menhängende Erzählung  des  Boten  ein,  sondern  Rede  und  Gegen- 
rede, Dialog  und  mehscher  Vortrag  wechseln  in  stetiger  Folge  nach 
dem  Gesetze  wohl  abgewogener  Symmetrie  ab.  Sowie  der  Bote 
einen  der  übermüthigen  Führer  des  feindhchen  Heeres  genannt  und 
beschrieben  hat,  antwortet  Eteokles,  indem  er  einen  ebenbürtigen 
Kämpfer  ihm  gegenüberstelU,  und  dann  singt  jedes  Mal  der  Chor 
eine  kurze  Strophe,  mit  seinen  Wünschen  die  Wahl  begleitend.  So 
erscheint  die  Scene  als  ein  organischer  Theil  einer  wohlgegliederten 
Composition.  Nur  oberflächhche  Beurtheiler  können  hier  den  un- 
gemischten Stil  der  epischen  Darstellung  finden;  alles  ist  vielmehr 
von  dramatischem  Leben  erfüllt.  Es  wird  uns  nicht  nur  das  deut- 
Hchste  Bild  des  Krieges  vor  Augen  geführt,  sondern  der  ungestüme 

60)  Euripides  Phönissen  751:  ovofia  S'  ixdarov  StaxQißf]  noXXri  leyetv 
ix&o(öv  in  avtoTs  TEi^eaiv  ya&rjfiäviov.  Euripides  hat  diesen  Fehler,  den  er 
an  Aeschylus  rügt,  vermieden,  indem  er  von  Homer  ein  anderes  Motiv  ent- 
lehnt und  gleich  im  Eingange  seines  Dramas  in  einem  Zwiegespräche  zwischen 
Antigone  und  dem  Pädagogen  die  Heerführer  mit  ihren  Schildzeichen  beschreibt. 
Freilich  macht  er  sich  nachher  eines  Pleonasmus  schuldig,  indem  nochmals  der 
Bote  in  seinem  Schlachtberichte  nach  epischer  Weise  ausführlich  die  Rüstun- 
gen der  Helden  schildert. 

61)  Sieben  379. 


298  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

heroische  Geist  durchdringt  alles  mit  unwiderstehlicher  Gewalt;  selbst 
die  sonst  zaghaften  Jungfrauen  des  Chores  schlagen  einen  geho- 
benen Ton  an.  So  ist  diese  Scenc,  wo  die  Handlung  stillzustehen 
scheint,  recht  eigentlich  der  Mittelpunkt  des  Dramas.  Wohl  behan- 
delt der  Dichter  mit  einer  gewissen  läfslichen  Freiheit  das  Mafs  der 
Zeit,  aber  er  zeigt  nur,  wie  er  selbst  die  schwierigste  Aufgabe  glück- 
lich zu  lösen  vermag.  Der  Gipfel  des  Pathos  wird  für  den  Schlufs 
der  Scene  aufgespart,  indem  Eteokles  erklärt,  den  Kampf  am  sieben- 
ten Thore  selbst  zu  übernehmen  und  der  frevelhaften  Herausforde- 
rung des  Polyneikes  zu  folgen,  der,  nur  dem  Gefühl  der  Rache  ge- 
horchend, nach  des  Bruders  Blut  verlangt.  Die  Bitten  des  Chores 
vermögen  nicht  den  Eteokles  in  seinem  Entschlüsse  wankend  zu 
machen.  Erweifs,  dafs  sich  das  finstere  Verhängnifs  erfüllen  wird, 
und  zieht  ungebeugt  in  den  letzten  entscheidenden  Kampf.  Hatte 
Eteokles  schon  früher**)  und  jetzt  wiederholt  auf  den  Fluch  des 
Vaters  hingewiesen,  der  den  unseligen  Zwist  der  Brüder  anfachte, 
den  Kriegszug  des  Landesflüchtigen  gegen  die  Vaterstadt  veranlafste 
und  jetzt  zum  Untergange  des  Hauses  durch  Wechselmord  führen 
sollte,  so  enthüllt  nun  der  Chor  in  diesem  bedeutsamen  Momente 
das  furchtbare  Geschick  des  Königshauses,  wo  Sünde  und  Fluch 
sich  von  Geschlecht  auf  Geschleciit  vererbt.  Der  Chor  kann  sich 
der  Furcht  nicht  entschlagen,  dafs  an  den  Söhnen  des  Oedipus 
des  Vaters  Drohung,  der  Stahl  solle  der  Theiler  des  Reiches  sein, 
sich  erfüllen  werde.  Da  tritt  der  Bote  wieder  auf  und  bringt  die 
Bestätigung.  Die  Stadt  ist  gerettet,  aber  die  feindlichen  Brüder  sind 
im  Zweikampfe  gefallen.  Mit  lakonischer  Kürze  wird  das  Entsetz- 
liche berichtet.  Der  Dichter  wufsle  sehr  wohl ,  wie  hier  kein  Platz 
für  ausführliche  epische  Schilderung  war.  In  feierlichem  Zuge  wer- 
den die  Leichen  der  nun  im  Tode  vereinten  Brüder  herbeigetragen, 
und  mit  der  Todtenklage  schliefst  die  Tragödie. 

Mit  Recht  bewunderten  die  Zeitgenossen  des  Aeschyhis  wie  die 
Nachlebenden  den  hohen  kriegerischen  Geist,  der  dieses  Drama  be- 
seelt. Das  Urtheil  des  Gorgias  stimmt  mit  dem  des  Aristophanes  voll- 
kommen überein."^)    Kein  anderer  Dichter  war  mehr  berufen,  eine 

62)  Sieben  70, 

6;i)  Gorgias  bei  Plutarch  Quaest.  Symp.  VII 10,  2,  9:  atcntQ  xal  rcv  Alax^- 
)a)v  laroQOvat  rns  r^ayuiSiae  iftnivovra  noieiv,  xal  ovx,  <"(  Po^ylas  elntv, 
ev  täiv   Sqnfiäruiv   airov   fieajov  "A^etot  eJvai,   xovi  iura   inl  Or'jßai,  aXXa 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  I.  AESCH,     299 

SO  schwierige  Aufgabe  zu  lösen  als  Aeschylus,  der  aus  eigener  Er- 
fahrung den  vollen  Ernst  des  blutigen  Krieges  kannte  und  in  der 
Perserzeit  so  glänzend  seinen  Helden muth  bewährt  hatte.  So  er- 
scheint die  Tragödie  recht  eigentlich  als  ein  mächtiger  Nachklang 
der  Freiheitskriege,  und  man  begreift  vollkommen  den  ungetheilten 
Beifall,  mit  dem  das  Geschlecht  jener  grofsen  Zeit  diese  Leistung 
des  Aeschylus  begrüfste.  Bei  dem  unheilvollen  Bruderzwiste  schwebte 
wohl  unwillkürlich  dem  Dichter  die  verrätherische  Verbindung  des 
Pausanias  und  Themistokles  mit  dem  Perserkönige  vor,  war  doch 
die  Besorgnifs,  dafs  der  landesflüchtige  athenische  Staatsmann  mit 
fremder  Hülfe  seine  Rückkehr  erzwingen  mochte,  gar  nicht  unbe- 
gründet. In  den  Worten,  die  der  patriotisch  gesinnte  Dichter  dem 
verständigen  Seher  Amphiaraus  in  den  Mund  legt,  hat  er  diesem 
Gefühl  den  würdigsten  Ausdruck  verliehen.") 

Die  Kunst  des  Aeschylus  zeigt  sich  besonders  darin,  dafs  er 
unser  Interesse  für  Eteokles  zu  gewinnen  weifs.  Erleichtert  wird 
ihm  diese  schwierige  Aufgabe  dadurch,  dafs  gemäfs  der  Schlichtheit 
der  alten  Tragödie  noch  nicht  beide  Brüder  einander  gegenüber 
auftreten.  Eteokles  ist  nach  der  Darstellung  des  Aeschylus  der  ältere 
Bruder.  So  steht  ihm  das  bessere  Recht  zur  Seite;  er  kämpft  für 
seine  Stadt  und  sein  Land,  während  Polyneikes  mit  fremden  Bun- 
desgenossen die  Heimath  befehdet;  und  eben  diese  hingebende  Vater- 
landsliebe adelt  den  Charakter  des  Eteokles.  Man  hat  ihn  fromm 
genannt;  allein  dieser  Zug  ist  dem  Helden  des  Aeschyleischen  Dra- 
mas fremd.  Er  ist  nur  frei  von  Uebermuth  und  Götterverachtung, 
welche  die  feindüchen  Führer  kennzeichnet.  Eteokles  erscheint  als 
ein  starrer,  unbeugsamer  Charakter.  Den  männlichen  Muth,  die  Ener- 
gie des  Willens  und  Thatkraft  hat  der  Dichter  mit  grofsen  und 
deutlichen  Zügen  gezeichnet.  Hier  ist  nichts  Steifes  oder  Conven- 
tionelles,  sondern  eine  lebensvolle  heroische  Gestalt  tritt  uns  ent- 
gegen ,  und  der  Charakter  des  Eteokles  steht  mit  seinem  Schicksal 
vollkommen  im  Einklänge.  Verflochten  in  ein  unheilvolles  Verhäng- 
nifs,  in  Sünde  erzeugt,  in  der  tiefsten  Zerrüttung  der  Familie  auf- 


Ttävra  Jiovvaov.    Aristoph.  Frösche  1021:   Jgäfta  noir^aas  'Aoecos  fisaxov . . . 
Tot/S  STfT     inl  Orjßas,  o  d'eaaäfievoe  näe  äv  ris  avrjo  fioäad'T]  Saios  elvai. 

64)  Sieben  580  ff.  Dafs  man  in  diesen  Versen  ein  indirektes  Lob  des  Aristi- 
des  fand,  ist  wohl  glaublich;  ob  jedoch  Aristides  zur  Zeit  der  Aufführung  dieser 
Tragödie  noch  am  Leben  war,  läfst  sich  nicht  genau  feststellen.  (S,  S.  292  A.  47.) 


300  DRITTE   PERIODE  VON  500  BIS  300  V.  CHR.  0. 

gewachsen,  geht  er  unter  der  erdrückenden  Last  des  väterlichen 
Fluches  zu  Grunde.  Als  die  letzte  Entscheidung  an  ihn  herantritt, 
macht  er  gar  keinen  Versuch,  der  entsetzlichen  Frevelthat  auszu- 
weichen, zu  der  die  Drohung  des  Bruders  wie  des  Vaters  düstere 
Prophezeiungen  hindrängten.  Mit  eisiger  Kälte  spricht  er  den  Ent- 
schlufs  aus,  dem  Bruder  gegenüberzutreten.  Die  Bitten  und  Gründe 
des  Chores  haben  über  ihn  keine  Macht;  ihn  beherrscht  nur  ein 
Gedanke,  dafs  sein  schuldbeladenes  Geschlecht  den  Göttern  tief  ver- 
hafst  ist,  dafs  die  furchtbare  Saat  des  Verderbens  aufgehen  mufs, 
dafs  es  für  ihn  keine  Bettung,  kein  Entrinnen  giebt.  Nur  ein  Dich- 
ter wie  Aeschylus  vermochte  die  rauhe  Gröfse  dieser  Natur,  die 
trockenen  Auges  in  den  sicheren  Tod  geht  und  selbst  vor  dem 
Aeufsersten  nicht  zurückbebt,  so  darzustellen,  dafs  eine  reine  Wir- 
kung erzielt  wird. 

Die  Gesänge  des  Chores  füllen  nahezu  die  Hälfte  des  Stückes"), 
aber  der  Schwerpunkt  ist  in  den  Dialog  verlegt.  In  den  Persern, 
wo  Atossa,  der  Schatten  des  Darius  und  Xerxes  nach  oder  neben 
einander  erscheinen,  tritt  dies  lange  nicht  so  merklich  hervor,  wie 
hier,  wo  die  dramatische  Handlung  sich  in  dem  einen  Eteokles  con- 
centrirt.  Aber  der  Chor  ist  kein  blofses  Beiwerk,  sondern  ein  un- 
entbehrliches Ghed  der  dichterischen  Composition.  Schon  der  Gegen- 
satz zwischen  der  Zaghaftigkeit  der  zarten  Frauengemüther  und  der 
trotzigen  Energie  des  gewaltigen  Kriegsherrn  ist  äufserst  wirksam. 
Die  Gesänge  des  Chores  dienen  nicht  blofs  als  Ruhepunkte  mitten 
unter  den  bewegten  kriegerischen  Scenen,  sie  begleiten  nicht  nur 
mit  dem  Ausdrucke  des  Gefühls  den  Gang  der  Handlung,  sondern 
sind  von  echt  dramatischem  Leben  erfüllt.  Das  tragische  Pathos 
gewinnt  in  diesen  effektvollen  Liedern  den  ergreifendsten  Ausdruck. 
Eben  durch  die  Wechselwirkung  und  den  harmonischen  Einklang 
zwischen  dem  Dialog  und  den  melischeu  Partien  wird  jene  Stimmung 
erzeugt,  auf  die  jeder  wahre  tragische  Dichter  hinarbeitet. 

Diese  Tetralogie,  wir  können  sie  füglich  Oedipodie  nennen"). 


65)  Ungefähr  460  Verse  von  960  (denn  liier  endet  das  Drama  des  Aeschy- 
lus) kommen  auf  die  melischen  [*arlien;  wenn  man  auch  die  Trimeter  des 
Chores  mitrechnet,  stellt  sich  das  Gleichgewicht  vollkommen  her. 

66)  Dieser  Name  ist  zwar  nicht  überliefert,  aber  das  kyklische  Epos  glei- 
chen Namens  spricht  dafür.  Ebenso  nannte  ja  Aeschylus  eine  andere  Tetralogie 
nach  dem  Vorgange  des  Stesichorus  Oreslle. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  I.  AESCH.     301 

stellt  geradeso  wie  die  Orestie  den  Fluch  der  Sünde  dar,  der  sich 
von  Geschlecht  auf  Geschlecht  vererbt.  Drei  Generationen  des  un- 
sehgen  Hauses  der  Labdakiden  führt  Aeschylus  vor.  Laius  zeugt 
trotz  der  wiederholten  Warnungen  des  Orakels  einen  Sohn^'O,  und 
als  Oedipus  geboren  ward,  vermeinen  die  Eltern  das  drohende  Ge- 
schick, was  der  Gott  ihnen  verkündet  hat,  abwenden  zu  können, 
indem  sie  das  neugeborene  Kind  auf  dem  Kithäron  aussetzen.  Oedi- 
pus' Geburt  und  Aussetzung  bildete  wohl  den  Inhalt  der  ersten  Tra- 
gödie^), des  Laius;  denn  Aeschylus  wird  seiner  Gewohnheit  gemäfs 
auch  hier  nur  einen  einzelnen  Moment  der  Handlung  herausgehoben 
haben.  Das  zweite  Drama  schilderte  den  jähen  Sturz  des  Oedipus 
von  der  Höhe  seines  trügerischen  Glückes.  Auch  ihm  hatte  Apollo 
sein  Schicksal  —  Vatermord  und  Blutschande  —  offenbart.  Auch  er 
wähnt  wie  einst  der  Vater  das  Unheil  von  sich  fernzuhalten,  wenn 
er  die  Heimath  meidet,  und  fördert  so  selbst  die  Erfüllung  des  Göt- 
terspruches, ohne  zu  ahnen,  was  er  that.  Die  unausbleibhche  Kata- 
strophe hatte  Aeschylus  in  dem  Mittelstücke  vorgeführt .®®)  Oedipus, 
indem  er  endlich  das  Geheimnifs  seiner  Geburt  entdeckt  und  die 
entsetzhchen  Thaten  ans  Licht  bringt,  blendet  sich  selbst  und  ver- 
flucht sein  eigenes  Geschlecht.  Die  Erfüllung  des  furchtbaren  Vater- 
fluches stellt  eben  die  dritte  Tragödie  dar,  während  das  Satyrdrama, 
mit  herkömmlicher  Freiheit  zurückgreifend,  indem  hier  Oedipus  das 
Räthsel  der  Sphinx  löste  und  Theben  von  der  verderbhchen  Land- 
plage befreite,  die  Tetralogie  abschlofs. 

Die  Oedipodie  umfafst  die  düstere  Geschichte  des  thebanischen 
Königshauses,  welches  durch  eine  grausame  Verflechtung  des  Schick- 
sals Frevel  auf  Frevel  häuft.  Das  heillose  Vermächtnifs  des  Vaters 
vererbt  sich  auf  die  Söhne  und  Enkel,  bis  endlich  mit  dem  Unter- 
gange  der  letzten  SpröfsUnge  dieses  Stammes  der  Zorn  der  höheren 
Mächte  erlischt.     Aeschylus  geht  nicht  darauf  aus,   den  Gehalt  der 

67)  Dafs  Aeschylus  den  Anfang  des  Unheils  auf  die  schnöde  Lust,  zu  der 
Laius  den  schönen  Chrysippus  mifsbrauchte,  und  den  Fluch  des  Pelops  zurück- 
führte, wie  Neuere  vermuthet  haben,  ist  nicht  zu  erweisen. 

68)  In  dem  Chorgesange  V.  745  ff.  wird  die  Verschuldung  des  Laias  deut- 
lich bezeichnet  und  zugleich  auf  den  Inhalt  der  ersten  Tragödie  hingewiesen. 
Vgl.  auch  V.  691  und  802. 

69)  Die  Hauptmomente  sind  zusammengefafst  in  den  Worten  des  Chores 
V.  772  ff.,  wo  der  Dichter  gewissermafsen  nur  den  Inhalt  der  vorhergehenden 
Tragödie  recapitulirt. 


302  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Sage  in  ihrem  ganzen  Umfange  zu  erschöpfen,  sondern  schildert  in 
grofsen  Umrissen  das  Wirken  des  Rachegeistes,  indem  er  vieles  nur 
kurz  andeutet,  anderes  ganz  ühergeht.  Die  breite  Ausführung  schickt 
sich  für  die  epische,  nicht  für  die  dramatische  Poesie.  Aber  die 
vorzugsweise  tragischen  Motive  weifs  Aeschylus  sehr  wohl  heraus- 
zufinden und  wirksam  zu  benutzen.  Wie  die  uns  erhaltene  Tra- 
gödie überall  auf  die  beiden  vorhergehenden  Stücke  zurückweist,  so 
wird  der  Dichter  auch  dort  für  die  nolhwendige  Verknüpfung  Sorge 
geti'agen  haben.  Der  Vorwurf,  als  sei  die  Verbindung  der  einzelnen 
Dramen,  welche  Aeschylus  zu  einer  Trilogie  vereinigte,  nur  eine 
lose  gewesen,  ist  unbegründet.  Mit  mehr  Schein  hat  man  an  dem 
Schlufs  unserer  Tragödie  Anstofs  genommen,  der  das  moderne  Ge- 
fühl nicht  recht  befriedigt.  Bei  einem  Einzeldrama  würde  man  diesen 
Mangel  leichter  nehmen,  als  bei  dem  Schlufsslück  einer  tragischen 
Trilogie;  denn  dafs  das  Satyrspiel  für  das,  was  man  hier  vermifst, 
keinen  Ersatz  bieten  konnte,  ist  klar.  Daher  war  man  früher  ge- 
neigt, den  Sieben  die  mittlere  Stelle  in  der  trilogischen  Composilion 
anzuweisen,  so  dafs  noch  eine  andere  Tragödie  gefolgt  sei,  welche 
die  rechte  Lösung  brachte.'")  Durch  das  urkundliche  Zeugnifs  der 
Didaskalie  ist  diese  Vermuthung  für  immer  beseitigt.  Andere,  indem 
sie  unserer  Tragödie  die  rechte  Stelle  anwiesen,  glaubten,  der  Dich- 
ter habe,  als  er  die  Oedipodie  zur  Aufführung  brachte,  beabsichtigt, 
eine  zweite  Trilogie  als  Fortsetzung  folgen  zu  lassen,  und  aus  den 
Bruchstücken  der  Epigonen  sieht  man,  dafs  Aeschylus  das  Thema 
von  dem  Kampfe  zwischen  Argos  und  Theben  wieder  aufnahm.  Allein 
dafs  dem  Dichter  eine  solche  Absicht  fern  lag,  beweist  unsere  Tra- 
gödie, indem  sie  die  Söhne  des  Oedipus  ohne  iNachkommen  sterben 
läfst.") 

Der  Ausgang  der  Sieben  bietet  auch  sonst  mehrfachen  Anlafs 
zu  Bedenken  dar.  Indem  die  Leichname  der  feindlichen  Brüder  in 
feierlichem  Zuge  erscheinen  und  der  Chor  im  Begriff  ist,  die  Todtcn- 
klage  anzustimmen,  treten  Antigone  und  Ismene  auf,  um,  wie  der 
Chor  ankündigt,  gleichfalls  der  Pllicht  der  Pietät  zu  genügen.    Nun 


70)  MaD  rielh  auf  die  'Elnioivtoi. 

71)  Sieben  827:  tj  rovs  fioye^ove  xai  SvaSniftorae  aTi'xrovs  xXai'aiü  noX»- 
fiaqxovs,  vgl.  091  und  i)55.  Irrthümlich  hat  man  V.  902  in  den  nicht  einmal 
kritisch  gesicherten  Worten  fttvel  tnäara  t'  intyovots  eine  Beziehung  auf  die 
Kpigonen  zu  finden  vermeint. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  I.  AESCH.      303 

folgt  aber  nicht  etwa  ein  Wechselgesang  zwischen  dem  Chore  und 
den  beiden  Schwestern,  sondern  zunächst  beweinen  die  thebanischen 
Jungfrauen,  in  Halbchöre  aus  einander  tretend,  die  Gefallenen;  dann 
erst  tragen  die  Schwestern  einen  Trauergesang  voll  leidenschaftücher 
Aufregung  vor,  an  dem  sich  der  Chor  nur  mit  ein  Paar  Versen  be- 
theiligt. Hier  geschieht  also  das  Unglaubliche,  dafs  die  Schwestern 
lange  Zeit  hindurch  während  des  umfangreichen  Chorliedes ^*)  sich 
stumm  und  völlig  theilnahmlos  verhalten.  Dann  tritt  ein  Herold 
auf  und  verkündet  als  Beschlufs  der  versammelten  Berather  der  Ge- 
meinde, den  Eteokles,  der  den  Tod  für  das  Vaterland  gestorben, 
mit  allen  Ehren  zu  bestatten ;  dagegen  solle  der  Leichnam  des  Poly- 
neikes,  der  ruchlos  die  Heimath  mit  Krieg  überzogen,  unbeerdigt 
über  die  Grenze  des  Gebietes  den  Hunden  und  Raubvögeln  als  Frafs 
hingeworfen  werden.  Da  erklärt  Antigone,  sie  werde  eigenhändig 
den  Polyneikes  bestatten,  und  läfst  sich  durch  die  warnenden  Worte 
des  Herolds  in  ihrem  Beschlufs  nicht  irre  machen.  Auch  die  An- 
sichten des  Chores  sind  getheilt;  die  eine  Hälfte  geleitet  mit  der 
Antigone  den  todten  Polyneikes,  während  die  andere  sich  der  Ismene 
anschliefst,  die  dem  Leichname  des  älteren  Bruders  folgt.  So  endet 
die  Tragödie  mit  einer  ungelösten  Verwickelung.  Man  hat  zwar  ge- 
meint, gerade  hier  bethätige  der  Dichter  seine  Kunst,  indem  er  auf 
die  weitere  Fortsetzung  der  Sieben  hinweise.")  Allein  wenn  das 
tragische  Geschick  der  Antigone,  die  gegen  das  Verbot  der  Theba- 
ner  den  Polyneikes  bestatten  will,  den  Inhalt  einer  neuen  Tragödie 
bilden  sollte,  konnte  der  Dichter  gar  keinen  schhmmeren  Mifsgriff 
thun,  als  indem  er  das,  was  sich  zur  Exposition  eines  neuen  Dramas 
wohl  eignete,  als  Schlufsscene  dem  letzten  Stücke  einer  trilogischen 
Composition  anhängte  und  so  das  wesentliche  Motiv  der  beabsich- 
tigten Fortsetzung  vorwegnahm.  Wenn  irgend  wo,  so  ist  hier  die 
Vermuthung  nahe  gelegt,  dafs  fremde  Hände  den  Nachlafs  des  grofsen 
Dichters  überarbeitet  haben. 

Die  Tragödie   des  Aeschylus   schlofs  mit  der  Todtenklage   des 
Chores  ab.    Die  bedeutungsvollen  Worte '^),  dafs,  nachdem  der  Fluch 


72)  Sieben  8T4-960. 

73)  Da  die  Sieben  das  Schlufsstück  sind,  konnte  diese  vermeintliche  Fort- 
setzung erst  in  einer  neuen  Trilogie  erfolgen. 

74)  Sieben  960:   Svolv  x^arriaae  i'Xtj^e  Sai/iiop,  indem  der  Gedanke  mit 
energischer  Kürze  zusammengefafst  wird. 


304  DRITTE    PERODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

vollständig  in  Erfüllung  gegangen  und  das  den  Göttern  verhafste 
Geschlecht  des  Laius  durch  den  Wechselmord  der  beiden  letzten 
männlichen  Sprossen  vertilgt  war,  auch  der  böse  Genius  des  Ge- 
schlechtes erloschen  sei,  bezeichnen  so  bestimmt  als  mögüch  den 
Endpunkt  des  Dramas  wie  der  Trilogie.  Das  moderne  Gefühl  mag 
einen  versöhnlicheren  Abschlufs  verlangen;  dem  männlichen  Geiste 
des  Aeschylus  steht  diese  Herbheit  wohl  an.")  Antigone  und  Ismene, 
wie  alles  Folgende,  sind  dem  ursprüngHchen  Entwürfe  fremd.  Aufscr- 
dem  aber  mufs  man  auch  die  anapästischen  Perikopen  (V.  861 — 873) 
ausscheiden;  denn  sie  wurden  nur  eingeschaltet,  um  das  Auftreten 
der  Schwestern  vorzubereiten.^®) 

Wenn  wir  so  die  Töchter  des  Oedipus  entfernen,  schHefst  das 
Stück  nicht  mehr  mit  einem  eigentlichen  Kommos,  aber  doch  mit 
einem  Klageliede.")  Der  Threnos  der  Antigone  und  Ismene  sondert 
sich  durch  seinen  Ton  ^*)  und  die  Behandlung  des  Technischen  merk- 
lich von  der  Weise  des  Aeschylus  ab.  So  ist  hier  mit  sichtlicher 
Vorliebe  ein  Vers  nicht  selten  unter  zwei  Personen  verlheilt,  was 
von  der  Strenge  der  älteren  Kunst  abweicht  und  sehr  deutlich  auf 
einen  jüngeren  Dichter  hinweist;  denn  Aeschylus  hat  sich  diese 
Freiheit  in  melischen  Partien  nur  ein  und  das  andere  Mal  gestaltet. 


75)  Wenn  man  behauptet  hat,  eben  das  Erscheinen  der  Antigone  und 
Ismene  wiese  auf  eine  bessere  Zukunft  hin,  nachdem  eben  das  letzte  schwere 
Gericht  ergangen,  so  ist  dies  eine  ganz  willkürliche  Deutung.  Die  Töchter  des 
Oedipus  theilen  mit  den  Söhnen  den  gleichen  Ursprung,  und  Antigone,  wie 
sie  hier  eingeführt  wird,  ist  demselben  unheilvollen  Verhängnifs  verfallen,  wie 
die  Brüder. 

76)  Es  ist  möglich,  dafs  auf  V.  873  gleich  die  Fortsetzung  V.  961—1077 
folgen  sollte,  indem  der  Bearbeiter  den  Schlufs  der  Tragödie,  der  sich  dann 
nur  durch  einen  glücklichen  Zufall  erhielt,  ganz  beseitigte;  dann  hätte  der 
Fortsetzer  wenigstens  das  lange  Verstummen  der  Schwestern  vermieden.  Die 
Anapästen  des  Chores  V.  861—873  lassen  sich  mit  einer  solchen  Anordnung 
wohl  vereinigen;  jedoch  hatte  der  Bearbeiter  wohl  zu  viel  Ehrfurcht  vor  dem 
grofsen  Dichter,  um  den  gehaltvollen  Gesang  des  Chores  zu  streichen. 

77)  Denn  für  den  xonfioi  sind  to  ano  axrjvfje  unentbehrlich.  Es  ist  ein 
d'^rivos  geradeso  wie  Choeph.  22  fT. 

78)  In  dem  Klagegesange  des  Chores  überwiegt  die  ruhige  Betrachtung. 
Der  Wechselgesang  der  Schwestern  hat  einen  bewegten  Charakter;  in  kurzen 
abgebrochenen  Klagelauten  giebt  sich  der  heftige  leidenschaftliche  Schmerz 
kund.  Dies  ist  an  sich  ganz  angemessen  und  würde  kein  Bedenken  erregen, 
wenn  nicht  andere  gewichtige  Gründe  die  Thätigkeit  des  Fortsetzers  ver- 
riethen. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLCTHEZEIT.  I.AESCH.      305 

Auch  sonst  stöfst  man  in  dieser  Schlufspartie  auf  manches,  was 
mit  dem  Stile  des  Aeschylus  nicht  recht  harmonirt  und  deutUch  die 
Thätigkeit  eines  Ueberarbeiters  verräth.  Der  Umfang  dieser  Tra- 
gödie schien  nach  dem  Mafsstabe  der  späteren  Bühnenpraxis  zu  be- 
schränkt. Als  man  daher  die  Sieben  aus  dem  trilogischen  Verbände 
loslöste,  um  sie  als  selbständiges  Stück  aufzuführen,  nahm  man  diese 
Erweiterung  vor,  die  nicht  gerade  sonderliches  Geschick  bekundet. 
Denn  abgesehen  von  den  schon  gerügten  Uebelständen  würde  die 
Parteinahme  der  einen  Schwester  für  Eteokles,  der  anderen  für 
Polyneikes  und  der  Zwiespalt,  der  sogar  den  Chor  ergreift,  gar  wenig 
zu  der  Intention  des  Aeschylus  passen.  Nicht  einmal  das  Verdienst 
selbständiger  Erfindung  kann  man  dem  Verfasser  dieser  Partie  zu- 
erkennen; denn  er  hat  offenbar  die  Antigone  des  Sophokles  für 
seinen  Zweck  benutzt.  Diese  Scenen  sind  also  erst  nach  Ol.  84, 
geraume  Zeit  nach  dem  Tode  des  Aeschylus,  hinzugefügt,  und  nun 
erregt  es  auch  nicht  das  mindeste  Bedenken,  wenn  hier  drei  Per- 
sonen gleichzeitig  auf  der  Bühne  auftreten.'"')  Denn  es  heifst  das 
richtige  Verhältnifs  völlig  verkennen,  wenn  man  behauptet  hat,  So- 
phokles habe  eben  aus  diesen  Schlufsscenen  der  Sieben  das  Motiv 
seiner  Antigone  entlehnt.*')  Der  Verfasser  gehört  unzweifelhaft  zur 
Sippe  des  Aeschylus;  er  ist  ja  im  Uebrigen  sichtlich  bemüht,  nach 
dem  Mafse  seiner  Begabung  die  Weise  des  grofsen  Meisters  nach- 
zubilden. So  liegt  es  am  Nächsten,  an  Euphorion  zu  denken,  der 
mindestens  bis  Ol.  87  für  die  Bühne  thätig  war. 

Die  Schutzflehenden")  stellen  die  Aufnahme  des  Danaus  Di«  Schuu- 
und  seiner  Töchter  in  Argos  dar.  Auf  der  Flucht  vor  ihren  Freiern, 
den  Söhnen  des  Aegyptus,  sind  die  Jungfrauen  mit  ihrem  greisen 
Vater  an  der  Küste  von  Argos  gelandet  und  betreten  so  die  Heimath 
der  lo,  der  Aeltermulter  ihres  Geschlechtes.  An  einer  geweihten 
Stätte  unfern  der  Stadt  Argos  suchen  sie  mit  Oelzweigen  in  der 
Hand  Schutz  an  den  Altären  der  Götter.  Als  Pelasgus,  der  König 
der  Argiver,  erscheint,  geben   sie  sich  zu  erkennen   und   nehmen 


79)  Der  Herold  und  die  beiden  Schwestern. 

80)  Aeschylus  streut  mit  freigebiger  Hand  die  Schätze  seines  reichen 
Geistes  aus,  aber  ist  niemals  am  unrechten  Orte  verschwenderisch.  Sophokles 
aber  ist  nicht  so  arm  an  Erfindung,  um  nur  von  den  Brosamen  einer  fremden 
Tafel  zu  leben. 

81)  'Ix£Tt8as. 

Bergk,  Griech.  Literaturgescbichte  III.  20 


306  DRITTE    PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

seinen  Beistand  gegen  ihre  Verfolger,  die  ihnen  ein  verhafstes  Ehe- 
bündnifs  aufdringen  wollen,  in  Anspruch.  Der  König,  von  schwan- 
kenden Empfindungen  bewegt,  da  er  ebenso  die  Gefahr  eines  Krieges 
scheut,  wie  den  Zorn  der  Götter,  die  der  Schutzflehenden  sich  thätig 
annehmen,  gewährt  endlich  die  verlangte  Zusage.  Doch  wagt  er  nicht 
die  volle  Verantwortlichkeit  auf  sich  zu  nehmen,  sondern  überläfst 
die  letzte  Entscheidung  dem  Volke,  und  auf  des  Fürsten  Antrag  ver- 
heifst  die  Versammlung  den  Jungfrauen  Schutz  und  gastliche  Auf- 
nahme. Inzwischen  erscheint  auch  das  Schiff  mit  den  Söhnen  des 
Aegyptus  am  Strande.  Alsbald  tritt  ihr  Herold  auf,  der  unter  hef- 
tigen Drohungen  den  Jungfrauen  ihm  zu  folgen  befiehlt.  Schon  ist 
er  im  Begriff  Hand  anzulegen ,  als  der  König  dazwischentritt  und 
den  Herold  hinwegreifst,  der  nahen  Krieg  ankündigend  sich  entfernt, 
während  die  Danaiden  in  Argos  einziehen.  So  ist  zwar  zunächst 
die  Gefahr  abgewandt,  aber  zugleich  ein  weiterer  Conflikt  in  Aus- 
sicht gestellt.  W^ährcnd  Aeschylus  in  den  Persern  und  in  den  Sieben 
die  sich  bekämpfenden  Mächte  noch  nicht  unmittelbar  einander  gegen- 
überstellt, sondern  sich  begnügt  die  eine  Seite  der  dramatischen 
Handlung  darzustellen ,  vertritt  in  dieser  Tragödie  der  Herold  das 
feindhche  Princip,  und  der  Kampf  der  entgegenstehenden  Interessen 
wird  direkt  zur  Anschauung  gebracht. 

Die  Schutzflehenden  gehörten  einer  Tetralogie  an,  die  im  Mythus 
selbst  ihre  Einheit  halte.  Denn  dieses  Drama  kann  nicht  als  ein  selb- 
ständiges Stück  gelten,  da  die  Verwicklung  nur  vorbereitet  wird. 
Es  mufs  aber  als  der  erste  Theil  der  Tetralogie  betrachtet  werden**); 
denn  es  dient  wesentlich  der  Exposition.  Alles,  was  zum  Verständ- 
nifs  des  Thatsächlichen  erforderlich  ist,  wird  uns  hier  geboten ;  aber 
welche  Tragödien  damit  verbunden  waren,  läfst  sich  nicht  mit  voller 
Sicherheit  ermitteln.")    Man  hat  gewöhnlich  vermuthet,  das  Stück 


82)  Wenn  man  mit  Rücksicht  auf  das  geringe  dramatische  Interesse  der 
Handlung  die  'IxtnSes  als  das  Mitlelstück  ansieht,  so  ist  dieses  Argument  durch- 
aas nicht  mafsgebend. 

83)  Am  nächsten  liegt  es,  an  die  Atylntioi  und  JaratSei  zu  denken. 
Aus  den  Danaiden  sind  nur  Bruchstücke  erhalten;  die  Aegyplier  kennt  der 
Katalog  der  Aeschyleischen  Stücke.  Das  einzige  aus  dieser  Tragödie  angeführte 
Fragmei.t  ist  vielmehr  den  '^IxsnSti  entnommen;  aber  gerade  dies  spiicht  für 
die  Verbindung  beider  Stücke,  da  falsche  Cilate  nicht  selten  auf  diese  Weise 
entstanden  sind.  Andere  betrachten  die  SaXafionoioi  als  Mittelslück  oder  finden 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLLTHEZEIT.  I.AESCH.       307 

sei  gegen  Ende  der  79.  Olympiade  aufgeführt  worden ,  indem  man 
Anspielungen  auf  das  Biindnifs  zwischen  Athen  und  Argos ,  welches 
damals  enger  geknüpft  ward,  zu  finden  glaubt;  dann  würde  die  Tra- 
gödie zu  den  letzten  Arbeiten  des  Aeschylus  gehören.  Allein  dieser 
Voraussetzung  widerspricht  der  Eindruck,  den  das  Stück  auf  jeden 
unbefangenen  Leser  machen  mufs.  Die  Schutzflehenden,  wenn  sie 
auch  nicht  zu  den  Jugendarbeiten  des  Dichters  zu  rechnen  sind, 
gehören  sicherlich  jener  mittleren  Periode  an,  welche  die  ersten 
Versuche  trilogischer  Composition  umfafst.  Das  Lyrische  waltet,  ge- 
rade wie  in  den  Persern,  entschieden  vor.  Da  der  Chor  hauptsäch- 
lich Träger  der  Handlung  ist  und  aufser  Danaus  und  dem  Argiver- 
fürsten  nur  noch  ein  Herold  auftritt,  aber  in  keiner  Scene  alle 
gleichzeitig  auf  der  Bühne  sind,  reichten  zwei  Schauspieler  vollkom- 
men aus.")  Das  ganze  Stück  hat  einen  überaus  schlichten  und  alter- 
thümlichen  Charakter,  mehr  als  jede  andere  der  erhaltenen  Tragö- 
dien, von  denen  es  sich  besonders  durch  eine  entschieden  lokale 
Färbung  sehr  bestimmt  absondert.  3fan  kann  diesen  eigenthüm- 
lichen  Ton  nicht  allein  aus  der  Natur  des  Stoffes  herleiten ,  der 
allerdings  bei  Aeschylus  von  Einflufs  ist.  Wie  glückhch  hat  nicht 
der  Dichter  in  den  Persern  in  vielen  kleinen  und  unscheinbaren 
Zügen  das  orientalische  Wesen  uns  leibhaftig  vor  Augen  gerückt. 
Allein  hier  müssen  besondere  Verhältnisse  eingewirkt  haben.  Vor 
allem  fällt  auf,  dafs  der  Fürst  von  Argos  nicht  in  der  Würde  des 
patriarchalischen  Rönigthums  erscheint,  wie  man  es  bei  einer  Be- 
gebenheit aus  ferner  Vorzeit  und  bei  einem  Dichter  von  der  Sinnes- 
art des  Aeschylus  erwarten  sollte;  sondern  jener  pelasgische  Fürst 
wird  geradezu  als  oberster  Beamter  eines  demokratischen  Gemein- 
wesens geschildert  und  überall  mit  sichthchem  Nachdruck  die  Macht 


darin  einen  Nebentitel  für  AiyvTCTioi.   Als  Satyrdrama  fügt  man  die  l4fivficovTi 
hinzu ;  alles  dies  ist  ganz  unsicher. 

&4)  Der  dritte  Schauspieler  kann  erst  nach  den  Sieben  (Ol.  78, 1),  die  in 
ihrer  ursprünglichen  Gestalt  nur  zwei  kennen,  aufgekommen  sein.  Mit  der  Ver- 
mehrung der  Schauspieler  steht  aber  auch  die  weitere  Beschränkung  der  Chor- 
partien in  einem  inneren  Zusammenhange;  in  dieser  Tragödie  aber  ist  das  Ver- 
hältnifs  zwischen  dem  Dialog  und  den  melischen  Partien  ungefähr  das  gleiche, 
wie  in  den  Persern.  Wie  viel  Personen  den  Chor  der  Hikeliden  bildeten,  ist 
durchaus  unsicher.  Wenn  das  Drama  ursprünglich  nicht  für  Athen  bestimmt 
war,  braucht  man  auch  gar  nicht  den  Mafsstab  der  attischen  Bühnenpraxis  an- 
zulegen. 

20* 


308  DRITTE   PERIODE  VON  500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

und  das  Verdienst  des  Volkes  hervorgehoben.  Dann  ist  insbeson- 
dere das  ausführhche  ChorHed*'),  wo  die  Danaiden  den  Argivern 
Heil  und  Segen  wünschen,  von  so  warmem  und  lebendigem  Gefühl 
erfüllt,  dafs  man  dies  schwerlich  aus  der  dichterischen  Situation 
allein  erklären  kann.  Auch  finden  sich  gerade  hier  unverkennbare 
Beziehungen  auf  Zustände  der  unmittelbaren  Gegenwart,  auf  die  in- 
neren Verhältnisse  des  argivischen  Staates.  So  tritt  eigenthch  der 
Chor  der  fremden  Jungfrauen  aus  seiner  Rolle  heraus,  wenn  er  dem 
argivischen  Demos  empfiehlt,  die  alten  Geschlechter  im  Besitz  ihrer 
Ehrenrechte  zu  schützen*^),  während  sonst  Aeschylus  in  der  Regel 
den  individuellen  Charakter  des  Chores  sorgsam  zu  wahren  sucht. 
Die  Annahme,  als  falle  das  Stück  in  die  Zeit,  wo  Athen  ein  Bünd- 
nifs  mit  Argos  abschlofs,  ist  abgesehen  von  chronologischen  Be- 
denken nicht  ausreichend,  um  diese  Art  der  Behandlung  zu  er- 
klären. 

Wenn  wir  sehen,  wie  nicht  nur  ältere,  sondern  auch  neue 
Stücke  des  Aeschylus  in  Syrakus  zur  AufTührung  kamen,  so  erscheint 
es  wohl  denkbar,  dafs  Aeschylus  auch  für  andere  auswärtige  Bühnen 
thätig  war,  dafs  er  diese  Tetralogie,  welche  einen  Vorwurf  aus  den 
sagenhaften  Anfängen  des  argivischen  Landes  behandeU,  eben  für 
Argos  bestimmte ;  denn  nur  dort  konnten  Andeutungen,  wie  wir  sie 
hier  finden,  gehörig  gewürdigt  werden. 

Argos,  nachdem  es  von  den  Spartanern  unter  Kleomenes  hart 
heimgesucht  worden,  erholt  sich  nur  langsam.  Erst  nach  den  Perser- 
kriegen blüht  es  rasch  empor,  und  zwar  finden  wir  dort  ein  ent- 
schieden ausgebildetes  demokratisches  Regiment.  In  dieser  Zeit  wird 
Aeschylus  die  Schutzflehenden  gedichtet  haben.  Daher  tritt  auch  in 
diesem  Drama  der  Demos  in  den  Vordergrund,  obwohl  der  Dichter 
seinen  pohtischen  Ueberzeugungen  nicht  untreu  wird,  sondern  an 
schicklicher  Stelle  ernste  Warnungen  einflicht.  Argos  hatte  damals 
ofTenbar  noch  nicht  mit  Gewalt  sich  die  ganze  Landschaft  unter- 
worfen; noch  standen  die  ehrwürdigen  Mauern  von  Mykenä  und 
anderen  argolischen  Städten  unversehrt.  Aber  Hader  und  Zwist 
mochte  bereits  die  Gemüther  entzweien  und  die  Führer  des  Volkes 


S5)  Hiket  625  ff. 

86)  Hiket.  61)8:  'PvXa.acoi  rajtiri/n*  atroTi  {arifUas  rt/tas  M]  r'  Säfuov, 
xo  TfToXtv  xQaxvvti. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLLTHEZEIT.  I.  AESCH.      309 

sich  mit  weitgreifenden  Plänen  tragen;  da  war  die  Erinnening  an 
die  Satzungen  des  althellenischen  Rechtes  wohl  angebracht.*'^) 

Durch  die  alterthümliche  Färbung  der  Rede  macht  diese  Tra- 
gödie einen  eigenen  Eindruck.  Wäre  das  Stück  für  Athen  und  das 
feingebildete  attische  Publikum  bestimmt  gewesen,  dann  dürfte  man 
den  Dichter  von  dem  Vorwurfe,  die  Farben  zu  stark  aufgetragen  zu 
haben,  nicht  ganz  freisprechen;  anders,  wenn  die  Schutzflehenden 
in  Argos  aufgeführt  wurden.  Was  anderwärts  fremdartig  erschien, 
selbst  abstofsend  wirken  konnte,  das  mufste  hier,  wo  ein  patrio- 
tisches Interesse,  wo  die  alten  Erinnerungen  der  Heimath  mitwirk- 
ten, in  ganz  anderer  Weise  das  Ohr  des  Zuschauers  berühren. 

Aeschylus  hebt  es,  an  Ort  und  Stelle  den  sagenhaften  üeber- 
lieferungen  nachzugehen.  Sicherlich  hat  er  auch  Argos  besucht.  Ge- 
rade diese  Landschaft  mufste  für  einen  Dichter  von  so  alterthüm- 
hcher  Sinnesweise  und  Gemüthstiefe  wie  Aeschylus  eine  besondere 
Anziehungskraft  haben.  Nicht  leicht  gab  es  anderwärts  eine  so 
reiche  Fülle  alter  ehr^^•ürdiger  Erinnerungen,  die  nicht  nur  in  riesen- 
haften Rauwerken,  sondern  auch  in  zahlreichen  Götterdiensten  und 
Sagen,  in  Sitten  und  Rräuchen,  wie  in  der  Mundart  des  Volkes  klar 
und  vernehmHch  zu  jedem  redeten,  der  für  das  Altertimm  empfäng- 
lichen Sinn  hatte.  Aeschylus  mochte  in  Argos  gastliche  Aufnahme 
finden.  Der  Wunsch,  ein  Werk  des  grofsen  Meisters  zu  sehen,  er- 
scheint begreiflich.  So  dichtete  er  für  jene  Stadt,  vielleicht  während 
seines  Aufenthaltes  im  Angesicht  der  ehrwürdigen  Denkmäler  der 
Vorzeit,  die  Tetralogie,  zu  welcher  die  Schutzflehenden  als  einleiten- 
des Stück  gehörten. 

Auch  in  den  Schutzflehenden  ist  die  dramatische  Handlung  ge- 
ring, die  Anlage  des  Stückes  geradhnig  und  von  höchster  Einfach- 
heit. Da  die  Töchter  des  Danaus,  deren  Schicksal  hier  entschieden 
werden  soll,  unmittelbar  an  der  Handlung  Theil  haben  und  zugleich 
den  Chor  bilden,  also  eigenthch  eine  zwiefache  Rolle  ihnen  zufällt, 
nehmen  sie  nicht  nur  den  meisten  Raum,  sondern  auch  voraugs- 
weise  unsere  Theilnahme  in  Anspruch.  Ueberhaupt  macht  das  Drama 
einen  zwiespältigen  Eindruck.  Die  Chorgesänge  sind  von  unver- 
gleichhcher  Schönheit.  Ebenso  ausgezeichnet  durch  Zartheit  der  Em- 
pfindung und  Anmuth,  wie  durch  tiefen  Ernst  und  Erhabenheit  der 


87)  Hiket.  701  ff. 


310  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Gedanken,  gehören  sie  zu  den  vollendetsten  melischen  Dichtungen 
nicht  nur  bei  Aeschyhis,  sondern  in  der  griechischen  Poesie  über- 
haupt. Die  Chorlieder  sind  der  Schwerpunkt  dieses  Dramas.  Hier 
bewährt  sich  vollkommen  der  Grundsatz  des  Aeschylus,  der  die  ly- 
rischen Partien  als  die  Nerven  der  Tragödie  betrachtete.  Der  Dialog 
dient  gleichsam  nur  dazu,  die  Verbindung  zwischen  den  Chorgesängen 
herzustellen.  So  hat  denn  die  Charakterschilderung  der  Personen, 
welche  neben  dem  Chore  handelnd  auftreten,  etwas  Unbefriedigen- 
des. Der  König  von  Argos,  wie  er  ohne  die  gewöhnhchen  Abzeichen 
der  fUrsthchen  Gewalt  erscheint**),  erinnert  nicht  an  die  alte  Heroen- 
zeit, sondern  an  die  letzten  Inhaber  des  argivischen  Thrones,  die 
wohl  noch  den  Namen,  aber  nicht  mehr  die  volle  Gewalt  des  Königs 
besafsen.  Läfst  sich  dies  auch  aus  der  besonderen  Bestimmung  des 
Stückes  erklären,  so  kann  man  doch  nicht  leugnen,  dafs  der  König 
als  ein  schwächhcher,  unselbständiger  Charakter  erscheint. 

Koch  viel  auffallender  aber  ist  die  Art,  wie  Danaus  eingeführt 
wird,  die  den  Gesetzen  der  dramatischen  Kunst  durchaus  wider- 
streitet. Er  begleitet  seine  Töchter;  aber  als  der  König  erscheint**), 
verstummt  er  nicht  nur  vollständig,  sondern  ist  auch  so  gut  wie 
verschwunden.  Der  König  nimmt  nicht  die  geringste  Rücksicht  auf 
ihn;  erst  am  Schlufs  der  Scene'*")  redet  er  ihn  ganz  plötzlich  als 
Vater  der  Jungfrauen  an  und  heifst  ihn  nach  der  Stadt  gehen. 
Aeschylus  hat  anderwärts  vom  Schweigen  einen  höchst  wirksamen 
Gebrauch  gemacht;  aber  dafs  der  Vater  seine  Töchter  in  so  schwie- 
riger Lage  sich  selbst  übeiiäfst,  wie  ein  stummer,  unterwürfiger  Die- 
ner den  langen  Verhandlungen  beiwohnt,  ist  unnatürlich.  Man 
begreift,  wie  der  Dichter  nicht  gern  den  Dialog  unter  drei  Personen 
verlheilen  mochte.  Dies  konnte  er  aber  sehr  leicht  vermeiden,  wenn 
er  den  Danaus  unter  einem  schicklichen  Vorwande,  ehe  der  König 
erschien,  abtreten  und  erst  gegen  Ende  der  Scene  zurückkehren 
liefs.  Es  ist  kaum  denkbar,  dafs  sich  Aeschylus  eines  solchen  Fehlers 
schuldig  gemacht  hat.  Er  wird  die  Scene  in  der  eben  angedeute- 
ten Weise  angelegt  haben.  Später  hat  man,  um  die  Tragödie  ab- 
zukürzen, da  der  Vortrag  der  lyrischen  Gesänge  ein  gröfseres  Zeit- 
mafs  erheischte,  die  Verse,  welche  die  Entfernung  und  das  Wieder- 

88)  Hiket.  247. 
8«.»)  Hiket.  234. 
90)  Hiket.  4  SU  fT. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  I.  AESCH.      311 

auftreten  des  Danaus  motivirten,  gestrichen.  Man  hielt  sie  für 
entbehrUch  und  glaubte  vielleicht  sogar  dem  Dichter  einen  Dienst 
zu  leisten,  indem  man  das  Kunstmittel  des  Schweigens  auch  hier, 
freilich  ganz  an  unrechter  Stelle,  anbrachte. 

[Manuskript  für  die  Analyse  der  Orcstie  ündet  sich  nicht  vor.] 
*)Den  Gipfel  seiner  Kunst  bezeichnet  die  Orestie,  wo  die  Die  Orestie 
ergreifenden  Schicksale  des  Hauses  der  Atriden  in  ununterbroche- 
ner Folge  vorgeführt  werden,  und  zwar  gebührt  hier  wieder  die 
erste  Stelle  dem  ersten  Stücke.  Agamemnons  Tod  ist  die  grofs- 
artigste  Tragödie  überhaupt,  die  uns  aus  dem  Alterthum  erhalten 
ist.  Weniger  befriedigen  die  Eumeniden.  Die  Aufgabe,  wie  sie 
der  Dichter  sich  hier  gestellt  hat,  läfst  nur  schwer  eine  rein  poe- 
tische Behandlung  zu.  Die  Vertheidigung  des  Muttermordes  hat  etwas 
Spitzfindiges,  Dialektisches,  was  sonst  nicht  die  Art  dieses  Dichters 
ist,  und  die  Versöhnung,  mit  der  das  Stück  endet,  wird  uns  immer 
nnzulänghch  erscheinen.*  (S.  unten  S.  335.) 

Die  Zeit  der  Aufführung  des  gefesselten  Prometheus  ist  gefesselte 
leider  nicht  überUefert ;  allein  der  Totaleindruck  lehrt,  dafs  die  Tragö-Promeiheus. 
die  nicht  zu  den  älteren  Arbeiten  gehört.   Dies  wird  auch  dadurch  be-  Abfassuns. 
stätigt,  dafs  der  gefesselte  Titane  einen  verheerenden  Ausbruch  des 
Aetna  voraussagt.  Eine  solche  Prophezeiung  hat  nur  Bedeutung,  wenn 
sie  sich  auf  eine  bekannte  Thatsache  bezieht.")  Offenbar  gab  die  Erup- 
tion des  Berges,  welche  Ol.  76, 1  die  Gegend  von  Katana  verheerte^^), 
dem  Dichter  dazu  Anlafs,  der  bei  seinem  Aufenthah  ein  SiciUen  Ol.  76, 4 
[77, 1,  s.  S.  2S0]  sich  durch  eigene  Anschauung  ein  lebendiges  Bild 
von  den  Wirkungen  eines  solchen  Naturphänomens  erworben  hatte.") 


*)  [Aas  Ersch  und  Grubers  Encyklopädie  Erste  Section,  Theil  81,  S.  362  B.] 

91)  Nur  bei  Seneca  in  der  Medea  37Sff.  findet  sich  ein  wirklich  prophe- 
tisches Wort,  indem  der  Dichter  mit  wunderbarem  Scharfblicke  die  Entdeckung 
einer  neuen  Welt  voraussagt. 

92)  Thnkyd.  III  116  (etwas  abweichend  die  Angabe  der  parischen  Chro- 
nik Ep.  52).  Der  älteste  bekannte  Ausbruch  des  Aetna  fällt  in  Ol.  21,  der  dritte 
erfolgte  erst  geraume  Zeit  nach  Aeschylus'  Tode. 

93)  Also  kann  die  Tragödie  Prometheus  erst  nach  den  Persem  Ol.  76, 4  [TT.  1] 
gedichtet  sein,  was  auch  dadurch  bestätigt  wird,  dafs  das  damals  aufgeführte  Satyr- 
stück schlechthin  n^o/irj&evs  heifst.  Unrichtig  ist  es,  wenn  man  die  Tragödie 
Prometheus  wegen  ihrer  vermeintlichen  Einfachheit  noch  vor  die  Perser  setzt. 
Dafs  der  Prometheus  in  mehreren  Handschriften  voransteht,  ist  für  die  Chrono- 
logie ohne  alle  Bedeutung  und  nur  durch  praktische  Gründe  bedingt.    Andere 


312  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Nur  darf  man  nicht  lediglich  wegen  dieser  Beziehung  das  Drama  in 
die  unmittelbare  Nähe  jenes  vulkanischen  Ausbruches  rücken ;  es  gilt 
vielmehr,  die  gesammte  dichterische  Arbeit  ins  Auge  zu  fassen. 

Der  Prometheus  zeigt  die  meiste  Verwandtschaft  mit  der  Ore- 
stie  und  gehört  unzweifelhaft  den  letzten  Lebensjahren  des  Dichters 
an.  Allerdings  erinnert  das  Drama  uns  insofern  noch  an  die  ältere 
Periode,  als  nur  der  Titane,  nicht  sein  Gegner  vorgeführt  wird;  die 
feindHche  Macht  hat  der  Dichter  nur  durch  untergeordnete  Perso- 
nen, die  den  Willen  des  Zeus  repräsentiren,  dargestellt.  Allein  wie 
die  bildende  Kunst  der  Hellenen  lange  Zeit  sich  nicht  an  eine  un- 
mittelbare Vergegenwärtigung  des  höchsten  Gottes  gewagt  hat,  so 
verzichtet  auch  Aeschylus  mit  richtigem  Gefühle  darauf,  Zeus  selbst 
auf  die  Bühne  zu  bringen.^^)  Sonst  aber  zeigt  die  Tragödie  dmxh- 
aus  jenes  entwickelte  Leben,  wie  wir  es  in  der  Orestie  antreffen. 
Da  nun  Aeschylus  nicht,  wie  man  sich  gewöhnlich  vorstellt,  seine 
dichterische  Thätigkeit  mit  jener  Tetralogie  abschlofs,  sondern  auch 
in  Gela  röstig  zu  arbeiten  fortfuhr,  so  darf  man  wohl  den  Pro- 
metheus eben  als  die  reife  Frucht  dieser  letzten  Lebensjahre  be- 
trachten. Daher  ist  es  nicht  auffallend,  wenn  die  Tragödie  sich 
vielfach  von  anderen  Dramen  absondert.  Ein  eigenthümlicher  Vor- 
zug ist  die  wunderbare  Redegevvalt  und  der  leichte  Flufs  des  Dia- 
logs, sowie  überhaupt  die  gleichmäfsige  Fafslichkeit  der  Sprache  in 
allen  Theilen  des  Dramas,  ohne  dafs  die  Würde  des  hohen  Stiles 
dadurch  Einbufse  erUtte.  Sonst  scheint  Aeschylus  manchmal  mit 
dem  widerstrebenden  Stoffe  zu  ringen ;  hier  ist  er  vollkommen  Herr 
der  Form.  Denselben  leichten  Flufs  verräth  auch  der  iambische 
Trimeter,  aber  eben  deshalb  sind  Auflösungen  zahlreicher,  als  in 
irgend  einem  anderen  Stücke.^')  Noch  mehr  weicht  die  Behandlung 
der  melischen  Partien  von  der  sonstigen  Weise  des  Dichters  ab.    Der 


wollen  den  Prometheus  um  Ol.  78,  1  oder  2  ansetzen,  weil  drei  Schauspieler 
mitwirken.  Allein  Sophokles  hat  ja  diese  Neuerung  nicht  gleich  Ol.  77,  4  ein- 
geführt. Ueberhaupt  ist  dieses  Argument  nicht  entscheidend,  da  der  Dichter 
sich  eines  Parachoregems  bedienen  konnte.  (S.  S.  ;U5.  31Ü  A.  104.) 

94)  Nur  in  der  *Fvx,ooxaaia  erschien  Zeus,  die  Todesloose  abwägend, 
auf  dem  &eoXoyeiov,  aber  als  ruhiger,  unparteiischer  Verwalter  des  Schicksals, 
während  Aeschylus  Scheu  trug,  den  Gott  seinem  leidenschaftlichen,  erbitterten 
Widersacher  gegenüberzustellen.    (S.  S.  344  A.  ItJ'.t.) 

95)  Beachlenswerlh  sind  besonders  die  Anapästen  im  ersten  Fufse  des 
Trimeters. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TR.\GÜDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  I.AESCH.     313 

Dialog  bildet  entschieden  den  Schwerpunkt  des  Dramas ;  das  Lyrische 
ist  so  viel  als  irgend  möghch  beschränkt.^  Hier  zum  ersten  Male 
wird  bei  Aeschylus  von  dem  Bühnengesange  Gebrauch  gemacht.  Aber 
es  ist  sehr  passend,  dafs  der  Dichter  den  Prometheus,  als  er  das  Still- 
schweigen bricht  und  seinem  bekümmerten  Herzen  Luft  macht,  nicht 
einen  Monolog  in  Trimetern  halten  läfst,  sondern  den  mehschen 
Vortrag  vorzieht,  und  der  wiederholte  Wechsel  der  Rhythmen  ent- 
spricht genau  den  verschiedenartigen  Empfindungen ,  die  auf  ihn 
einstürmen.  Ebenso  schildert  lo  bei  ihrem  ersten  Auftreten  in  freien 
lyrischen  Mafsen  das  schwere  auf  ihr  lastende  Verhängnifs.  So  ver- 
bleibt dem  Chore  nur  ein  mäfsiger  Spielraum.®^)  Diese  Chorlieder 
sind  nicht  nur  von  geringem  Umfange,  sondern  es  fehlt  ihnen  auch 
das  Schwunghafte,  die  hohen  Gedanken,  die  wir  sonst  in  den  Chö- 
ren des  Aeschylus  antreffen  ^) ;  aber  sie  haben  dafür  etwas  ungemein 
Zartes  und  Anmutbiges.  Unwillkürlich  wird  man  an  die  Weise  des 
Sophokles  erinnert.  Die  leidenschaftliche  Erregung,  welche  im  Dia- 
loge herrscht,  wird  durch  die  Milde  und  Anmuth  dieser  Gesänge 
gedämpft.  Die  Okeaniden,  obwohl  überirdischen  Ursprungs,  gleichen 
mehr  sterblichen  Frauen®®)  und  begnügen  sich  mit  ihrer  Theilnahme 
jeden  Abschnitt  der  Handlung  zu  begleiten.***)    Dieses  Mitleid,  wel- 


96)  Die  Ijrriscben  Gesänge  machen  noch  nicht  den  dritten  Theil  der  Tra- 
gödie ans. 

97)  Die  Tragödie  zählt  schon  1100  Verse;  davon  verbleiben  dem  Chore 
etifras  über  150. 

98)  So  erscheint  besonders  die  Parodos  im  Vergleich  mit  der  sonstigen 
Weise  des  Aeschylus  unbedeutend;  dagegen  das  dritte  Chorlied,  welches  ge- 
rade die  Mitte  des  Dramas  (V.  526  ff.)  bezeichnet,  wird  benutzt,  um  auf  den 
Grundgedanken  der  Dichtung  hinzuweisen. 

99)  Der  Chor  besteht  aus  Okeaniden;  denn  die  Handlung,  welche  eigent- 
lich dem  Reiche  der  Götter  angehört,  verlangte  nothwendig  auch  hier  das  Mit- 
wirken höherer  Wesen.  Aber  der  Dichter  hat  diesem  Chore  nichts  in  den 
Mund  gelegt,  was  nicht  ebenso  gut  auch  sterbliche  Jungfrauen  reden  konnten, 
man  vergleiche  besonders  das  Chorlied  SS"  ff.  (besonders  901  ff.),  wo  Aeschylus  auf 
die  sonst  auch  beim  Chore  geübte  Kunst  des  Individualisirens  verzichtet.  Merk- 
würdig ist  auch  V.  550f. :  ov7Cors..Tav  Jioe  aofioviav  d'vaxcöv  Ttaos^iaai 
ßovXai,  da  Prometheus  ebenso  wie  die  Okeaniden  göttlichen  Ursprungs  sind. 
Dies  ist  nicht  Ungeschick;  der  Dichter  brauchte  sich  nur  genau  an  Hesiod  zu 
halten,  um  den  Anstofs  zu  vermeiden;  aber  er  zieht  es  vor,  seine  Intention 
möglichst  klar  und  unmifsverständlich  kundzugeben. 

100)  Wie  bei  Sophokles,  so  ist  auch  hier  der  Chor  als  ängaxros  xrjSev- 
iTfi  behandelt,  der  in  Unterordnung  verharrt  und  ohne  eigentlichen  Antheii  an 


314  DlUTTE   PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

ches  der  Chor  bei  dem  Anblicke  des  gefesselten  Promelheus  empfin- 
det, steigert  sich  bis  zu  lauten  Klagen  über  die  neue  Gewaltherr- 
schaft, die  Zeus  rücksichtslos  gehend  macht.  Ja  der  Chor  spricht 
sogar  zuerst  das  bedeutsame  Wort  aus  (V.  165),  dafs  diesem  Regi- 
mente  eine  grofse  Gefahr  drohe.  Aber  als  Prometheus  dies  aufgreift 
und  daran  die  Hoffnung  auf  seine  Erlösung  knüpft,  fällt  der  Chor 
wieder  in  die  jungfräuliche  Zaghaftigkeit  zurück,  die  der  Grundzug 
seines  Charakters  ist.  Aeschylus  konnte  den  Chor  benutzen ,  um 
gegenüber  den  trotzigen  Aussprüchen  des  Titanen  auf  das  Recht 
des  Zeus  hinzuweisen,  aber  indem  er  diese  Rechtfertigung  für  die 
zweite  Tragödie  aufspart,  begnügt  er  sich  auf  die  grofse  sitthche 
Wahrheit  hinzuweisen,  dafs  alles  menschliche  Sinnen  und  Trachten, 
aller  Eigenwille  den  göttlichen  Ralhschlüssen  gegenüber  eitle  Thor- 
heit  sei  (V.  551  und  906).  Wiederholt  erhebt  der  Chor  seine  war- 
nende Stimme  (V.  928  ff.)  und  unterstützt  sogar  den  Hermes  (V.  1036), 
aber  hält  doch  nichts  desto  weniger  bis  zum  letzten  Augenblicke  treu- 
lich zu  Prometheus  (V.  1063  fr.).  Naturgemäfs  tritt  daher  auch  eine 
andere  Behandlung  der  rhythmischen  Formen  ein."") 

Wahrscheinlich  ist  der  Prometheus  erst  nach  dem  Tode  des 
Aeschylus  auf  die  Bühne  gebracht.  Er  wird  zu  den  vier  Tetralogien 
gehören,  welche  Euphorion  aus  des  Vaters  Nachlasse  veröffentlichte. 
Aber  man  darf  dies  nicht  benutzen ,  um  die  Vermuthung  neuerer 
Kritiker  zu  rechtfertigen,  welche,  durch  den  ungewohnten  Ton  be- 
troffen, diese  Gesänge  dem  Aeschylus  absprechen.     Aeschylus  mag 


der  Handlung  die  Rolle  des  Zuschauers  übernimmt  und  so  dazu  dient,  das 
Bild  des  menschlichen  Lebens,  welches  der  tragische  Dichter  uns  vorführt,  zu 
vervollständigen. 

101)  Das  erste  ionische  Strophenpaar  der  Parodos  ist  einem  Liede  des 
Anakreon  nachgebildet;  auch  das  zweite  Strophenpaar  zeigt  denselben  leichten 
Fiufs  und  erinnert  an  Anakreontische  Liederweisen.  Im  zweiten  Chorliede 
kehrt  der  ionische  Rhythmus  wieder;  darauf  folgen  kurze  trochäische  Strophen, 
deren  Bildung  von  der  sonstigen  Weise  des  Aeschylus  abweicht.  Im  dritten 
Chorliede  (520  ff.)  wird  sehr  passend  zunächst  das  feierliche  enkomiologische 
Versmafs  angewandt,  welclies  in  der  melisrhcn  Poesie  eine  ausgezeichnete  Stelle 
einnimmt,  auch  schon  von  Chörilus  und  Phrynichus  in  die  Tragödie  eingeführt 
worden  war,  aber  sonst  bei  Aeschylus  nicht  nachweisbar  ist,  während  es  bei 
Sophokles  und  Euripides  sehr  beliebt  ist.  Im  folgenden  Strophenpaare  treten 
nicht  minder  passend  Logaöden  (anapästisch-iambische  Reihen)  ein.  Das  vierte 
Chorlied  (SS7)  bewegt  sich  wieder  im  enkomiologischen  Biiylhmus. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  I.  AESCH.    315 

nicht  alle  Dramen  völlig  zum  Abschlufs  gebracht  haben.  So  sah  sich 
der  Sohn  genöthigt  die  letzte  Hand  anzulegen,  Einzelnes  hinzuzu- 
setzen, manches  abzuändern,  aber  er  besafs  gewifs  so  viel  Pietät, 
um  nicht  ohne  zwingende  Gründe  dieses  Mittel  anzuwenden.  Der 
Dialog  des  Prometheus  ist  wie  aus  einem  Gusse.  Wollte  man  nun 
die  Cborlieder  dem  Euphorion  zueignen,  so  müfste  man  annehmen, 
der  Entwurf  des  Dramas  sei  bis  auf  die  melischen  Partien  ausge- 
führt gewesen.  Jüngere  Dichter  mögen  zuweilen  in  dieser  Art  ge- 
arbeitet haben,  Aeschylus,  der  grofse  Meister  der  melischen  Kunst, 
schwerlich.'"^)  Man  erkennt  vielmehr  hier  die  wunderbare  Vielseitig- 
keit des  Aeschyhis,  der  sich  hinsichtlich  der  Stellung  und  Verwen- 
dung des  Chores  den  Grundsätzen  seines  jüngeren  Kunstgenossen 
anschlofs,  gleichsam  um  zu  zeigen,  welche  dramatischen  Wirkungen 
auch  er  auf  dem  neuen  Wege  erreichen  könne.  Man  erkennt  deut- 
lich, wie  Aeschylus  dem  befreundeten  Sophokles  nicht  sowohl  ent- 
gegentrat, sondern  vielmehr  auf  seine  Reformen  einging. 

Man  hat  behauptet,  Prometheus  sei  auf  der  Bühne  durch  eine 
Puppe  dargestellt  worden,  weil  ein  Schauspieler  in  dieser  unbequemen 
Stellung  nicht  so  lange  habe  ausharren  können."")  Allein  mit  Leich- 
tigkeit liefs  sich  der  Felswand  eine  Einrichtung  geben,  welche  die 
nöthigen  Ruhepuukte  dem  Darsteller  gewährte.  Aufserdem  wäre  das 
Starre,  Unbewegliche  einer  todten  Figur  höchst  störend.  Prome- 
theus ist  ein  eiserner  Charakter.  In  der  Scene,  wo  er  an  den  Fels 
geschmiedet  wird,  ziemt  es  sich,  die  gröfste  Ruhe  zu  bewahren,  aber 
nachher,  in  Momenten  leidenschafthcher  Erregung,  mufste  der  Dar- 
steller, soweit  es  die  Banden  gestatteten.  Leben  und  Bewegung 
zeigen.  Wenn  ein  Schauspieler  die  Rolle  des  Prometheus  auf  der 
Bühne  übernahm,  dann  sind  für  die  Eingangsscene  drei  Darsteller 
erforderhch.  Dies  hat  nichts  Befremdendes;  denn  das  Drama  gehört 
zu  den  letzten  Arbeiten  des  Aeschylus.   Bereits  hatte  Sophokles  diese 


102)  Befremdlich  erscheint  nur  das  kurze  Chorlied  687  nach  dem  Abtreten 
der  lo.  Vielleicht  hat  Euphorion  dasselbe  hinzugefügt,  indem  Aeschylus  das- 
selbe später  auszuführen  beabsichtigt  hatte,  oder  die  ursprüngliche  Fassung  ist 
verkürzt;  doch  kann  das  ältere  Lied  nur  mäfsigen  Umfang  gehabt  haben,  da 
die  Episode  nicht  über  Gebühr  ausgedehnt  werden  durfte. 

103)  Der  übertriebene  Realismus  der  Erklärer  hat  dafür  auch  geltend  ge- 
macht, Hephästus  treibe  den  Keil  durch  die  Brust  des  Titanen  (s.  S.  342  A.  164); 
dies  spreche  entschieden  gegen  die  Darstellung  durch  einen  Lebenden. 


316  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Neuerung  eingeführt,  von  der  jedoch  Aeschylus,  wie  eben  auch 
unser  Stück  zeigt,  nur  sparsamen  Gebrauch  macht.'*")  (S.  312  A.  93.) 
Auch  die  durchsichtige,  schlichte  und  doch  würdevolle  Sprache 
der  Tragödie  kann  man  als  ein  Merkmal  der  letzten  Periode  an- 
sehen, wo  der  Dichter  die  verschiedenen  Stilarten  neben  einander 
als  wirksame  Kunstmittel  verwendet.  AbsichtHch  befleifsigt  sich 
Aeschylus  bei  diesem  Stoffe,  der  Anlafs  bot,  das  höchste  Pathos  zu 
entfalten,  der  gröfsten  Einfachheit  und  Klarheit.  Daher  hat  das 
Stück  auch  weniger  als  andere  unter  den  Händen  unwissender  Ab- 
schreiber gelitten.  Indessen  ist  der  Text,  obwohl  im  Ganzen  lesbar 
überliefert ,  mehrfach  durch  gröfsere  oder  kleinere  Lücken  und  ähn- 
liche Fehler  entstellt.'"') 
Inhalt.  Die  erhaltene  Tragödie  stellt  das  Strafgericht  dar.     Hephästus, 

von  Kraft  und  Gewalt,  den  Dienern  des  höchsten  Gottes,  unterstützt, 
führt  den  Prometheus  in  das  ferne  Skythenland  und  schmiedet  ihn 
an  einen  Felsen  an.  Während  der  Gott  des  Feuers  Mitgefühl  em- 
pfindet und   nur  widerstrebend   den  Auftrag  vollzieht,  höhnen  die 


104)  Nur  in  der  ersten  Scene  sind  drei  Schauspieler  gleichzeitig  auf  der 
Bühne,  aber  nur  zwei  führen  den  Dialog,  da  Prometheus,  seinem  Charakter 
entsprechend,  beharrlich  schweigt.  Der  Dichter  konnte  auch  in  dieser  Scene 
mit  zwei  Schauspielern  sich  behelfen,  wenn  er  nur  dem  Hephästus  das  Wort 
gab.  Aber  alsdann  wäre  auf  diesen  Monolog  gleich  wieder  das  Selbstgespräch 
des  Prometheus  gefolgt;  daher  zieht  der  Tragiker  die  dialogische  Form  vor. 
Aufserdem  ist  der  klar  ausgesprochene  Gegensatz  zwischen  dem  mitleidigen 
Gotte  und  seinem  rauhen  Diener  sehr  wirksam. 

105)  So  gewinnt  das  Zwiegespräch  zwischen  Prometheus  und  Okeanus 
erst  durch  Umstellung  der  Verse  rechten  Sinn  und  Zusammenhang.  Auf  H'2<» 
mufs  Prometheus  340—346  erwidern,  dann  Okeanus  335 — 33U,  Prometheus  330 
— 334,  Okeanus  347  fr.,  dem  auch  die  handschriftliche  Ueberlieferung  diese 
letzte  längere  Rede  giebt,  während  die  Herausgeber  sehr  unpassend  sie  dem 
Prometheus  zutheilen.  Aber  306  sind  ein  Paar  Verse  ausgefallen  und  dadurch 
der  Personenwechsel  verdunkelt;  deim  die  Schlufsvcrse  367—376  gehören  wie- 
der dem  Prometheus.  Eine  arge  Verwirrung  herrscht  in  der  Schilderung  der 
Irrfahrten  der  lo  707  ff.  und  700  IT.,  die  man  weder  mit  der  vermeintlichen 
Unkenntnifs  des  Dichters  in  geographischen  Dingen  entschuldigen,  noch  damit 
rechtfertigen  darf,  dafs  Prometheus  eben  die  Irrfahrten  der  sinubethörten  lo 
vorzeichnet.  Diese  Partie  ist  zwiefach  verunstaltet,  durch  Ausfall  einer  gröfse- 
ren  Anzahl  Verse  (die  Abschreiber  haben  eine  ganze  Seite  überschlagen)  und 
durch  Umstellung.  Auch  kleinere  Lücken  hat  man  nicht  beachtet.  So  ist  nach 
V.  809  ein  Vers  ausgefallen,  wo  der  Dichter  die  Katarakten  dos  Nils  schilderte; 
darauf  ist  Aristides  II  S.  460  zu  beziehen. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  I.  AESCB.      317 

rauhen  Schergen  den  Titanen.  Nachdem  sie  sich  entfernt  haben, 
macht  Prometheus,  der  hisher  in  stummem  Schweigen  verharrte, 
seinen  Empfindungen  Luft.  Vor  sich  das  unermefshche  Weltmeer, 
hinter  sich  die  menschenleere  Einöde,  ruft  er  im  Gefühl  der  Ver- 
lassenheit die  iNaturmächte  zu  Zeugen  des  schweren  Unrechts  an, 
welches  ihn  betrofFen.*"*)  Da  naht  sich  der  Chor  der  Okeaniden  und 
giebt  seine  Theilnahme  kund.  Aber  Prometheus  antwortet  trotzig, 
der  Herrschaft  des  Zeus  drohe  eine  verborgene  Gefahr;  nur  ihm 
allein  sei  dieses  Geheimnifs  bekannt.  Auf  Bitten  der  Okeaniden  be- 
richtet er  dann  umständlich,  weshalb  Zeus  diese  harte  Bufse  über 
ihn  verhängt.  Jetzt  erscheint  Okeanus,  der  greise  Gott,  der  sich 
der  neuen  Ordnung  der  Dinge  gefügt,  und  bemüht  sich  den  Tita- 
nen milder  zu  stimmen.  Er  will  versuchen  den  Zeus  mit  Prometlieus 
auszusöhnen ;  aber  Prometheus  weist  das  Anerbieten  trotzig  zurück, 
und  Okeanus  entfernt  sich.  Ein  wehmüthiger  Klagegesang  schhefst 
diese  Scene  ab.  Prometheus,  gleichsam  um  sich  selbst  in  seinen 
unsäglichen  Leiden  zu  trösten,  schildert  eingehend,  was  er  für  das 
Menschengeschlecht  gethan,  und  schliefst  mit  dem  Gedanken,  dafs 
nicht  blofs  er  selbst,  sondern  auch  Zeus  der  Fügung  des  Schick- 
sals unterworfen  sei,  indem  er  von  neuem  auf  sein  Geheimnifs  hin- 
deutet. Der  folgende  Chorgesang  weist  auf  die  Ohnmacht  der  Men- 
schen hin  und  empfiehlt  sich  demüthig  vor  Zeus  zu  beugen,  dessen 
Willen  sich  keiner  ungestraft  zu  widersetzen  vermöge.  Eine  längere 
Episode  unterbricht  scheinbar  den  Verlauf  der  Handlung.  lo,  des 
Inachus  Tochter,  von  den  Qualen  des  Wahnsinns  unstät  umherge- 
trieben, tritt  auf.  Zeus  hatte  sie  einst  gebebt  und  doch  zugelassen, 
dafs  der  eigene  Vater  sie  verstöfst,  der  Zorn  der  eifersüchtigen  Hera 
sie  verfolgt.  lo,  gleichsam  eine  Leidensgefährtin  des  Titanen,  bricht 
in  herbe  Klagen  über  ihr  Geschick  aus.  Prometheus  verkündet  ihr, 
dafs  dem  Zeus  der  Verlust  seiner  Herrschaft  bevorstehe;  nur  er  ver- 
möge die  Gefahr  abzuwenden,  wenn  er  seiner  Fesseln  ledig  sei, 
und  diese  Befreiung  werde,  wenn  auch  spät,  durch  einen  Nach- 
kommen aus  los  Geschlecht  erfolgen.  Nachdem  Prometheus  der 
lo  ihre  ferneren  Irrfahrten  verkündet  hat,  eilt  die  Jungfrau,  aufs 
Neue  vom  Wahnsinn  befallen,  fort,  von  sympathischen  Betrachtungen 


106)  Was  bei  den  jüngeren  Dichtern  nur  als  Mittel  rednerischer  Kunst 
erscheint,  ist  hier  lief  empfunden  und  wirksam. 


318  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

der  Okeaniden  begleitet.  Prometheus,  indem  er  sein  Geheimnifs 
mehr  und  mehr  enthüllt,  wiederholt,  Zeus  werde  sich  einer  Liebe 
hingeben,  die  ihm  den  Thron  koste.  Der  Chor  warnt  und  räth  zur 
Mäfsigung,  aber  vergeblich.  Prometheus,  durch  den  Widerspruch 
gereizt,  stöfst  harte  Reden  und  Drohungen  gegen  den  Götterkönig 
aus.  Jetzt  tritt  Hermes  auf  und  verlangt  im  Auftrage  des  Zeus,  er 
solle  offenbaren,  woher  die  Gefahr  drohe.  Prometheus  verweigert 
entschieden  jede  Auskunft.  Hermes  stellt  neue  Pein  in  Aussicht. 
Aber  Prometheus  bleibt  standhaft;  weder  Drohungen  noch  milder 
Zuspruch  machen  auf  ihn  Eindruck,  und  alsbald  erfüllt  sich  die 
Drohung.  Prometheus  wird  mit  dem  Felsen,  an  dem  er  angeschmie- 
det ist,  unter  Donner  und  Blitz  in  den  Abgrund  des  Tartarus  hinab- 
geschleudert. Und  indem  er  versinkt,  ruft  er  Himmel  und  Erde 
zu  Zeugen  an,  welch  schnödes  Unrecht  er  leide. 

Hier  endet  die  Tragödie ;  aber  niemand  wird  glauben,  dafs  der 
Dichter  den  Faden  habe  fallen  lassen.  Der  Gegensatz  bleibt  am 
Schlüsse  des  Dramas  ebenso  ungelöst,  wie  er  am  Anfange  war,  und 
der  Conflikt  erscheint  vielmehr  noch  gesteigert.  Es  ist  ganz  un- 
möglich, mit  einer  so  grellen  Dissonanz  zu  schhefsen.  Der  gefesselte 
Prometheus  ist  kein  isohrt  dastehendes  Stück.  Auch  wenn  kein  aus- 
drückliches Zeugnifs  es  verbürgte""),  müfsten  wir  annehmen,  dafs 
in  einer  zweiten  Tragödie  die  Lösung  des  Knotens  erfolgte.  Die 
Fortsetzung  und  nothwendige  Ergänzung  unseres  Dramas  war  der 
befreite  Prometheus. 
Triiogie.  Man  nimmt  an,  Aeschylus  habe  auch  in  diesem  Falle  die  strenge 

trilogische  Form  festgehalten  und  die  Einheit  des  stofflichen  Zu- 
sammenhanges gewahrt,  so  dafs  zunüchst  in  einem  einleitenden 
Stücke  der  Feuerraub  des  Prometheus  vorgeführt  und  die  Bufse  für 
diese  Verschuldung  in  Aussicht  gestellt  wurde.  Darauf  folgte  als 
Mitlelslück  die  vorliegende  Tragödie  oder  das  Strafgericht,  welches 


107)  Glücklicher  Weise  fehlt  es  daran  nicht,  Schol.  511:  iv  ya^  r^  i^,i 
Sfäfiart  Xverat  (o  IlQOurj&eis),  ons^  ififaivet  6  ^ia^vloi,  und  522:  T<p  «f^» 
dfiiftart  (pvXÖTTet  tovs  Xöyovs.  Der  Sclioüast  kannte  das  zweite  Stflck  gt- 
nau,  welches  in  der  ausgewählten  Sammlung  der  Alexandriner  unmittelbar  auf 
unsere  Tragödie  folgte;  denn  beide  Dramen  bilden  zusammen  ein  (ianzes.  So  auch 
der  Biograph :  xat  rivet  fjSti  liöv  iQnyt^Siiüv  aliqf  Sk\  ftöviov  oixovouoxt^ai 
&eü>v,  xad-uTieq  oi  nQu^i,&BiS.  Ebenso  ist  bei  Aiistol.  Poet.  c.  1^  p.  \Ah(\  A  2 
in  einer  zerrülleten  Stelle,  wo  das  xe^axäSBi  berührt  wurde,  olov  ai re  ^Po^xtSai 
xai  npoftr^d'ivi  xai  oan  iv  "AiSov  vielmehr  oi  UfOftrj&ale  ZU  flehreiben. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLITHEZEIT.  I.AESCH.      319 

Zeus  über  den  Titanen  verhängt,  während  die  Befreiung  des  Pro- 
metheus aus  seinen  Banden  und  die  Versöhnung  mit  Zeus  den  In- 
halt des  dritten  Dramas  bildete.     Die  Entwendung   des  Feuers  ist 
zwar  an  sich  kein  recht  geeigneter  Vorwm-f  für  die  tragische  Poesie ; 
auch  hatte  Aeschylus  diesen  Stoff  bereits  für  ein  Satyrstück  benutzt. 
Indes  wegen  der  schweren  Folgen,  welche  die  That  für  Prometheus 
hatte,  konnte  der  Dichter  in  einer  einheitlichen  Trilogie  wohl  auch 
diesen  Abschnitt  der  Sage  von  neuem  bearbeiten.   Allein  die  erhal- 
tene Tragödie  selbst  streitet  entschieden  mit  einer  solchen  Voraus- 
setzung.  Gerade  die  Thatsachen,  welche  der  Fesselung  vorausgehen, 
der  Antheil  des  Prometheus  am  Titanenkampfe,  der  Baub  des  Feuere, 
seine  Verdienste  um  die  Menschheit,  werden  in  unserem  Drama  so 
genau  und  ausführlich,   zum  Theil  wiederholt  geschildert,  dafs  für 
ein  einleitendes  Drama,  welches  eben   diese  Thatsachen   behandeln 
mufste,  kein  Baum  bleibt.     Der  Dichter  hätte  selbst  alle  Wirkung 
zerstört,  wenn  er  das,  was  eben  erst  den  Zuschauern   unmittelbar 
vors  Auge  gerückt  war,  nochmals  weitläufig  wiederholt  hätte,  wäh- 
rend  es  ein  Beweis   einsichtiger  Oekonomie  ist,  dafs  Aeschylus  in 
dieser  Tragödie,  welche  die  Darstellung  der  Prometheussage   eröff- 
nete,  alles  Vorausgegangene,   was  zum  Verständnifs  der  Situation 
nothwendig  ist,  in  unser  Drama  einflocht.     Nicht  minder  unglück- 
lich ist  ein  anderer  Versuch,  die  strenge  trilogische  Composition  zu 
retten,  indem  man  auf  den  befreiten  Prometheus  noch   ein  drittes 
Drama  folgen  läfst,  welches  die  endgültige  Aussöhnung  des  Titanen 
mit  Zeus   dargestellt  haben   soll.     Aber  die   Lösung   des  Confliktes 
erfolgte  bereits  in  der  Fortsetzung  des  gefesselten  Prometheus,  und 
es  wäre   ein   unerträghcher  Pleonasmus,  hätte  der  Dichter  darauf 
noch  ein  Drama  mit  versöhnUchem  Ausgange  folgen  lassen  und  so 
die  Lösung  des  Knotens  auf  zwei  Stücke  verlheilt.***)    Aeschylus  er- 
lös) Das  Verzeichnifs  kennt  nur  drei  Dramen:  n^ofirjd-Evs  SeafKÜrr^g,  nvo- 
fögos,  XvöfiEvos.    Da  jedoch  dasselbe  nicht  immer  vollständig  ist,  bezieht  man 
diese  Notiz  auf  drei  Tragödien.  Allein  Iloo/uTjd-evs  Tiv^fö^os  ist  das  Satyrdrama, 
sonst  auch  nvQxasts  benannt,  eine  Variante,  die  hier,  wo  der  Zusatz  nicht  von 
des  Dichters  eigener  Hand  herrührt,  am  wenigsten  befremdet.    Auf  das  Satyr- 
drama geht  auch  die  .Notiz  Schol.  94 :  iv  yao  iiT  nv^fo^cp  y   fivQMSas  frjal 
ScSi'ad-at  avTÖv.     Hier  darf  man   an  dem  Präteritum  keinen  Anstofs  nehmen. 
Prometheus  wird  gesagt  haben,  ich  führe  meinen  Entschlufs  aus,  sollte  ich  auch 
30  000  Jahre  dafür  büfsen.    Der  Grammatiker  konnte,  ohne  weilläufig  zu  wer- 
den, seine  kurze  Relation  gar  nicht  anders  fassen. 


320  DRITTE   PERIODE   V0^    500    BIS   300  V.  CHR.  G. 

kannte  sehr  wohl,  dafs  der  Stoff,  wenn  er  die  rechte  Wirkung  üben 
sollte,  in  zwei  Tragödien  zusammenzufassen  war;  daher  zog  er  es 
vor,  einen  freien  Draraencyklus  zu  bilden.  Wenn  in  der  Perser- 
trilogie  jedes  Drama  in  sich  vollkommen  abgeschlossen  ist ,  so  konnte 
der  Tragiker  doch  ein  anderes  Mal  zwei  Tragödien  aufs  Engste  mit 
einander  verknüpfen  und  damit  ein  drittes  selbständiges  Trauerspiel 
und  ein  Satyrdrama  verbinden.  Denn  gerade  jene  Weise  der  Com- 
position  gestattete  dem  Dichter  völlige  Freiheit  der  Bewegung.  Welche 
Stücke  mit  dem  gefesselten  und  dem  befreiten  Prometheus  verbunden 
waren,  darüber  lassen  sich  nur  unsichere  Vermuthungen  aufstellen. "**j 
Vielleicht  wurde  die  Tetralogie  durch  die  Heliaden  eröffnet""),  wo 
Aeschylus  den  Sturz  des  Phaethon  und  die  Trauer  der  Schwestern 
dargestellt  hatte.  Auch  dies  war  eine  hochalterthümliche  Sage,  auch 
hier  war  die  Scene  der  Handlung  in  die  weite  Ferne  gelegt.  Dann 
gehörte  der  ganze  Dramencyklus  dem  unsichtbaren  Reiche  der  Göt- 
ter an. 
Der  bjfreite  Von  dem  befreiten  Prometheus  ist  uns  eine  ansehnliche 
Prometheu8.^gj^j  BpudjsjQcl^e  erhallen,  doch  reichen  sie  nicht  aus,  um  eine 
vollkommen  klare  Vorstellung  von  der  Anlage  und  Ausführung  zu 
gewinnen.  Den  Chor  bilden  die  Titanen,  die  Blutsverwandten  des 
Prometheus,  welche  Zeus  bereits  aus  der  Gefangenschaft  entlassen 
hatte "O^  zu  der  sie  nach  dem  Siege  verurtheilt  waren.  Dadurch 
wird  gleich  der  versöhnliche  Geist,  der  hier  im  Gegensatz  zu  dem 
ersten  Theile  waltet,  angedeutet.  Aufser  Prometheus  traten  seine 
Mutter  Themis,  Herakles  der  Befreier  und  sicherlich  auch  Hermes 


109)  Für  manchen  dürfte  es  etwas  Ansprechendes  haben,  wenn  im  dritten 
Drama  der  Sagenkreis  des  Achilles  benutzt  ward.  Indes  die  Vermählung  der 
Thetis  mit  Peleus  war  für  eine  selbständige  Tragödie  ein  wenig  geeigneter 
Stoff,  an  dem  sich  auch  Aeschylus,  soviel  wir  wissen,  niemals  versucht  hat; 
hätte  aber  der  Tragiker  eine  Heldenthat  des  Achilles  vorgeführt,  dann  war  die 
Verbindung  so  lose,  dafs  ebenso  gut  jedes  andere  Thema  diesen  Dienst  leisten 
konnte.  Sisyphus,  in  der  Unterwelt  büfsend,  (£i<jvfoe  nerQoxvliaTr';!)  wäre  wohl 
ein  nicht  unpassendes  Gegenstück  zum  Prometheus  (s.  S.  343  A.  108);  allein 
diese  Tragödie  mufs  Aeschylus  noch,  bevor  er  Athen  verliefs,  aufgeführt  haben. 

110)  Die  Heliaden  gehörten  wohl  zu  dem  Nachlasse  des  Aeschylus,  da 
Euphorion  dieses  Drama  überarbeitet  hatte.    (S.  S.  343  A.  lOli.) 

111)  Nach  der  älteren  Sage  bei  Hesiod  sind  die  Titanen  zu  ewiger  Ge- 
fangenschaft verurtheilt.  Die  mildere  Auffassung  einer  jüngeren  Zeil  läfst  haupt- 
sächlich unter  dem  Einflüsse  der  Orphiker  ihre  Fesseln  gelöst  werden,  vgl. 
Pindar  Pylh.  IV  291.    (S.  Bd.  II  S.  425.  426.) 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  I.AESCH.     321 

auf."*)  Das  Stück  ward  ohne  Prolog  mit  den  Anapästen  des  Chores 
eröffnet.  Die  Titanen  begrüfsen  ihren  ehemaligen  Genossen,  der 
noch  in  Fesseln  schmachtet.  In  der  Antwort  des  Prometheus*") 
spricht  sich  nicht  wie  früher  leidenschaftliche  Erbitterung,  sondern 
mehr  ruhige  Fassung  aus.  Mit  Ergebung  trägt  er  sein  hartes  Ge- 
schick; er  wünscht  sich  den  Tod,  um  von  seinen  Leiden  befreit  zu 
sein,  und  weifs  doch,  dafs  er  nicht  sterben  kann.  Dann  wird  die 
Mutter  aufgetreten  sein ;  denn  durch  Themis  wurde  wohl  hauptsäch- 
hch  die  Lösung  gefördert.  Später  erschien  Herakles,  der  ausge- 
zogen war,  um  die  goldenen  Aepfel  der  Hesperiden  zn  holen.  Pro- 
metheus, der  ihn  sogleich  erkennt,  begrüfst  ihn,"*)  verkündet  dem 
Heros  seine  weiteren  Schicksale  und  schreibt  ihm  den  V^eg  vor,  der 
zum  Atlas  und  dem  Hesperidengarten  führte.  Herakles  tödtet  den 
Adler."'^)  Ob  er  auch  die  Fesseln  sprengte,  läfst  sich  nicht  sagen; 
denn  der  fernere  Verlauf  des  Dramas  ist  völlig  dunkel.  Unheimlich 
düster  zieht  sich  durch  die  frühere  Tragödie  die  Prophezeiung,  dafs 
dem  Zeus  einst  eine  schwere  Gefahr  bevorstehe;  aber  nur  um  den 
höchsten  Preis  will  Prometheus,  der  das  Unheil  abwenden  kann, 
das  erlösende  Wort  aussprechen.  In  dem  zweiten  Theile  ward  das 
Geheimnifs  offenbar,  und  die  Gefahr,  welche  drohend  über  dem 
Haupte  des  Götterkönigs  zu  schweben  schien,  verschwindet."^)    Pro- 


112)  Das  Personenverzeichnifs  zum  gefesselten  Prometheus  (K^tos  xal 
Bin,  "Hfataros,  ÜQOiuTjd'siS,  XOQOS  ^^xeaviBcov,  'ßxeacos,  Fr],  'H^axXfjs, 
'Eofir,s,  ^Ia>  ^Ivä/^ov)  zählt  die  Personen  beider  Tragödien  auf,  die  noch  in  der  aus- 
gewählten Sammlung  der  vorbyzantinischen  Zeit,  wie  sich  gebührte,  verbunden 
waren.    Hermes  ist  nur  einmal  genannt,  gehört  aber  offenbar  beiden  Stücken  an. 

113)  Von  Cicero  Tusc.  11  lu  in  lateinische  Senare  übertragen. 

114)  Fr.  201  Di.:  ^E^d'^ov  Tiar^ös  fioi  (xal^e)  tpiXTarov  xixvov.  Herakles 
wird  seine  Verwunderung  ausgesprochen  haben,  dafs  Prometheus  ihn  sofort  er- 
kennt; der  Titane  wird  ihm  sowohl  seine  früheren  Thaten  erzählt,  als  auch 
seine  künftigen  Abenteuer  prophezeit  haben.  Diese  Scene  hatte  mit  der  Begeg- 
nung mit  der  lo  im  ersten  Theile  die  gröfste  Aehnlichkeit. 

115)  Hierher  gehört  der  Vers  fr.  205  Di.:  lAyosvs  8^  'ATtoXlcov  oQd'bv  i&i- 
voi  ßekoe.  Nach  Probns  Verg.  Ecl.  VI  41 :  Heracles  Prometheum  liberare ,  ne 
offenderel  patrem,  timuit,  und  die  Befreiung  erfolgte  erst,  nachdem  Prome- 
theus sein  Geheimnifs  offenbart  hatte. 

116)  Philodem.  jr.  elaeß.  H  41  :  xai  rcv  ngofn^^da  Xvsu&ai  «pr^aiv  Ai- 
ffX^Xos,  ort  TÖ  ^^ytoy  ifir;waev  ro  itegi  0äti8os ,  cos  xQBtav  eirj  tov  i§  avxri 
yevvrid'itrca  y.QeiTico  xaraar^ai  rov  TxaxQÖS'  o&sv  xai  d'vr^Tcö  avvoixi^ovaiv 
avTTjv  avS^i  [verbessert  Philol.  21,  140].  Schol.  Pind.  Isth.  VlII  26:  re&QOJ.ijTai 

Bergk,  Griecb.  Literaturgeschichte  III.  21 


322  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

metheus  hatte  gelobt,  nur  dann,  wenn  Zeus  sich  demüthige  und  ihn 
aus  der  Haft  entlasse,  die  Hand  zur  Rettung  zu  bieten ;  aber  offenbar 
bewog  Zeus'  Milde  den  Titanen,  der  seinem  starren  Trotze  entsagt, 
des  alten  Schicksalsspruches  Sinn  zu  enthüllen.  Es  war  dies  nicht 
mehr  die  Bedingung  seiner  Freilassung.  Das  Orakel  der  Themis  hat 
für  die  festgegründete  Herrschaft  des  Zeus  keine  Bedeutung  mehr; 
es  dient  nur  dazu ,  um  die  unsterbhche  Tochter  des  Nereus  mit 
einem  sterblichen  Manne  zu  verbinden,  den  die  Götter  um  seiner 
Frömmigkeit  willen  belohnen  wollen,  und  zugleich  den  Spröfsling 
dieser  ungleichen  Ehe  zu  verherrlichen,  dem  unter  allen  Helden  der 
Vorzeit  des  höchsten  Ruhmes  Preis  zu  Theil  ward.  So  zei'streut 
heiterer  Sonnenglanz  die  finsteren  Wolken,  und  die  verschlungenen 
Schicksalswege  lösen  sich  befriedigend.*")  Am  Schlufs  der  Tragödie, 
nachdem  die  Aussöhnung  erfolgt  war,  ward  auf  die  Sitte  hingewiesen, 
sich  mit  Weidenzweigen  zu  bekränzen,  gleichsam  eine  ehrende  Er- 
innerung an  die  Fesselung  des  Titanen,  welche  die  Menschheit  ihrem 
Wohlthäter  widmete. 
verhäitnirs  Acschylus    behandelt  hier   eine  der    inhaltreichsten    und    tief- 

lus  zirne-sinnigsten  Mythen  des  Alterthums.     Die  Thaten  und  Leiden  des  Ti- 
s'od.     tanen  Prometheus  darzustellen   mufste  für  den  grofsen  Dichtergeisl 


rj  iaxoQia   naqä  tc   avyypa^evai  xai   TtoiTjTole'    axQtßaJs   8e  xelxai  xal  Tia^a 
Aiaxv^V   ^^  n^Ofitj&ei  Sea/ucirj]  (verschrieben  für  Xvofiivtp). 

117)  Nach  Apollodor  Bibl.  II  5,  11, 10  tödtet  Herakles  nicht  nur  den  Adler 
und  sprengt  die  Fesseln,  sondern  veranlafst  auch  den  Cheiron  aus  freiem  Ent- 
schlüsse für  Prometheus  zu  sterben.  Auf  diese  Lösung  wird  unverkennbar  hin- 
gewiesen im  Prometheus  1027,  wo  Hermes  sagt,  Prometheus  habe  nicht  eher  auf 
Befreiung  zu  rechnen,  n^iv  av  &scjv  ne  SiäSoxos  rcHv  acJv  jiövtuv  ipavf;,  d'ekrjari 
t  sie  avavyrjTOv  /uoXelv  yiiSr/v  xvt(paiä.  t'  afi(pi  Ta^xa^ov  ßad"?].  Diese  Worte 
sehen  nicht  wie  eine  Bedingung  aus,  deren  Erfüllung  Hermes  selbst  nicht  er- 
wartet, sondern  eher  wie  eine  Hindeulung  auf  die  Lösung  des  Knotens  in  der 
zweiten  Tragödie.  Und  doch  ist  schwer  zu  sagen,  welchen  Gebrauch  der  Dich- 
ter von  dem  stellvertretenden  Tode  des  Cheiron  machon  konnte;  denn  es  wäre 
eine  ganz  äufserliche  Lösung  des  Confliktes,  wenn  Zeus,  der  den  Prometheus 
bereits  aus  freiem  Entschlüsse  der  oberen  Welt  wiedergegeben  hatte,  ihn  erst 
dann  von  seinen  Leiden  befreit,  nachdem  ein  anderer  für  ihn  in  den  Hades 
hinabgestiegen.  Man  erwartet,  dafs  die  Versöhnung  sich  auf  innerliche  Weise 
vollzieht.  Für  den  dramatischen  Zweck  genügte  die  Befreiung  durch  Herakles, 
und  man  kann  sich  nicht  recht  vorstellen,  wie  Aeschylus,  der  einfache  Mittel 
liebt,  durch  eine  überflüssige  Zugabe  die  reine  Wirkung  beeinträchtigt  haben 
sollte. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLLTHEZEIT.  I.AESCH.      323 

besonderen  Reiz  haben.  Keiner  der  früheren  Tragiker  hatte  sich  an 
diesen  schwierigen  Vorwurf  gewagt,  aber  auch  keiner  der  Jüngeren 
unternimmt  es,  sich  mit  Aeschylus  in  einen  ungleichen  Wettkampf 
einzulassen."*)  Den  wesenthchen  Inhalt  fand  der  Dichter  vor;  er 
schliefst  sich  hauptsächUch  an  die  üeberlieferung  an,  welche  die 
Hesiodischen  Gedichte"^),  jenes  ehrwürdige  Denkmal  der  hellenischen 
Poesie,  darboten,  aber  er  verfährt  mit  Auswahl.  Was  den  Gesetzen 
der  dramatischen  Poesie  nicht  recht  gemäfs  ist,  was  seinen  eignen 
Intentionen  nicht  entspricht,  wird  ausgeschieden  oder  umgestaltet. 
Nach  Hesiod  verleitet  Prometheus  die  Menschen  beim  Opfer,  welches 
sie  den  Göttern  darbrachten,  Zeus  zu  überHsten.  Zeus  entzieht  darauf 
den  Menschen  das  Feuer,  so  dafs  der  schnöde  Gewinn  nichts  nützt 
und  die  Schlauheit  zu  Schanden  wird.  Da  sinnt  Prometheus  auf  neue 
List.  Er  entwendet  heimlich  das  Feuer,  um  es  den  Menschen  mit- 
zutheilen,  und  nun  trifft  ihn  der  Zorn  des  Zeus  mit  seiner  ganzen 
Schwere.  Aber  auch  die  Menschen  werden  gestraft,  indem  das  Ge- 
schlecht der  Frauen  geschaffen  wird  '^)  und  damit  alles  Unheil  über 
die  Menschen  kommt,  welche  sich  früher  einer  glücklichen  Existenz 
erfreuten.  Ganz  anders  Aeschylus.  Er  verschmäht  die  aUerthümlich- 
naive  Sage  vom  Opferbetruge.  In  dem  Kampfe  des  Zeus  mit  den 
Titanen  stand  Prometheus  anfangs  auf  Seite  seiner  Blutsverwandten 
und  war  mit  seiner  Klugheit  für  sie  ein  Bundesgenosse  von  hohem 
Werthe.  Allein  die  Titanen,  auf  ihre  rohe  Kraft  vertrauend,  verachteten 


118)  Arg.  Prom.  47  ff.:  Ksirai  8e  r;  uv&onoita  iv  Ttaqexßäasi  Tia^a  2o- 
^oxXsi  kv  KoXxiai,  naoa  Se  jEv^miSr]  o/.cos  ov  xelzat. 

119)  Hesiod  hat  die  Prometheussage  zweimal,  in  den  Werken  und  Tagen 
47  ff.  und  dann  in  der  Theogonie  510  ff.  zum  Theil  in  abweichender  Gestalt  behan- 
delt. Für  die  didaktische  Poesie  war  diese  Sage  besonders  geeignet,  aber  auch 
die  lyrische  Dichtung  (Sappho  fr.  145)  hat  diesen  Stoff  berührt.  Neuere  haben  ver- 
muthet,  die  Prometheussage  sei  auch  in  dem  alten  Epos  der  Titanomachie  behan- 
delt worden,  aber  diese  Vermuthung  entbehrt  jedes  Grundes.  Der  Verfasser  dieses 
Epos  mag,  nachdem  er  den  Kampf  geschildert  hatte,  erzählt  haben,  wie  Zeus 
nach  dem  Siege  Ehren  und  Aemter  unter  die  Götter,  die  ihm  beigestanden, 
austheilte;  damit  schlofs  das  Gedicht,  welches  den  Verlauf  einer  einheitlichen 
Handlung  darstellte,  schicklich  ab.  Hätte  der  Epiker  die  Prometheussage  hin- 
zugefügt, so  mufste  er  auf  die  Einheit  des  Planes  verzichten.  Aeschylus  konnte 
also  für  diesen  Vorwurf  auch  nicht  die  Titanomachie  benutzen;  nur  in  der 
Schilderung  des  Götterkampfes,  der  dem  Feuerraube  vorausgeht,  mag  er  Ein- 
zelnes dem  Epiker  verdanken. 

120)  Oder  nach  der  anderen  Fassung  Pandora. 

21* 


324  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

seine  Ralhschläge.  Da  tritt  er  mit  seiner  Mutter  Themis  auf  Seite 
des  Zeus  und  hilft  ihm  den  Sieg  erringen.  Aber  das  gute  Ein- 
verständnifs  war  nicht  dauernd.  Zeus  vertheilt  die  Ehrenämter 
unter  die  Götter;  um  die  Menschen,  welche  in  hülflosem  Elend 
lebten,  kümmert  er  sich  nicht,  sondern  beabsichtigt  das  ganze  Ge- 
schlecht zu  vertilgen  und  ein  neues  zu  schaffen.  Da  nimmt  sich 
Prometheus  der  Menschheit  an ;  um  sie  vom  Untergange  zu  erretten, 
entwendet  er  das  Feuer  und  verhilft  so  den  Menschen  zu  einem 
würdigen  Dasein.  Aber  Prometheus  begnügt  sich  nicht  die  Menschen 
der  Roheit  zu  entreifsen,  den  Grund  zu  aller  höheren  Cultur  zu  legen, 
sondern  er  sucht  sie  auch  von  der  Furcht  des  Todes  zu  befreien, 
indem  er  trügerische  Hoffnungen  in  ihre  Brust  pflanzt.''^*)  Während 
also  nach  Hesiod  die  Menschen  ursprünglich  im  Zustande  glücklicher 
Unschuld  lebten  und  nicht  ohne  eigene  Verschuldung  immer  tiefer 
herabsanken,  erhebt  sich  bei  Aeschylus  die  Menschheit  aus  anfäng- 
licher Roheit  und  Hülflosigkeit  zu  einer  besseren  Existenz. 

In  der  Charakterschilderung  des  Prometheus  stimmen  beide 
Dichter  überein.  Hier  wie  dort  erscheint  der  Titane  als  schlau  und 
arglistig,  hier  wie  dort  tritt  er  als  Beschützer  der  Menschheit  auf. 
Aber  indem  er  sich  ihres  Geschickes  annimmt,  greift  er  willkürlich 
in  die  götthche  Weltordnung  ein,  und  indem  er  offen  dem  Rath- 
schlusse  des  Zeus  widerstrebt,  ruft  er  durch  fortgesetzten  Trotz  das 
Strafgericht  auf  sich  herab.  Ebenso  stimmt  der  Tragiker  hinsicht- 
lich des  Grundgedankens  mit  dem  allen  Lehrdichter  vollkommen 
Uberein.  Hesiod  schliefst  jedes  Mal  seine  Erzählung  des  Mythus  mit 
den  bedeutsamen  W^orten  ab,  es  sei  vergeblich,  sich  gegen  den  Ralh- 
schlufs  des  Zeus  aufzulehnen.  Das  Schicksal  des  Prometheus  ver- 
anschaulicht eben  den  Gedanken,  dafs  alle  Schlauheit  der  höheren 
Weisheit  gegenüber  zu  Schanden  wird,  dafs  jede  Empörung  gegen 
die  Wellregierung  durch  schwere  Bufse  gesühnt  werden  mufs.'") 
Aeschylus  folgt  treuhch  den  Spuren  seines  Vorgängers,  wenn  er  an 
bedeutsamer  Stelle  darauf  hinweist,   dafs  menschliches  Sinnen    und 


121)  Vom  Tode  vermag  Prometheus  die  Menschen  nicht  zu  befreien,  aber 
er  macht  sie  der  Todesfurcht  vergessen.  Hier  klingt  eine  Erinnerung  an  die 
Pandorasage  an. 

122)  Hesiod  "W.  und  T.  105:  ovrati  ovrt  nr^  faxt  Jioi  vöov  i^ale'aa&ai, 
Theog.  613:  a»s  oix  ian  Jtbs  ttkey/ai  vcov  ovSi  Trnofk&sh'. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  I.AESCH.       325 

Trachten  im  \M(lerspruch  mit  den  Fügungen  der  höheren  Mächte 
nichts  auszurichten  vermag.'*^) 

Der  Tragiker  scheint  aufser  Hesiod  auch  dem  alten  Theologen 
Pherekydes  von  Syros  theilweise  gefolgt  zu  sein.  Wenn  Prometheus 
sagt'^),  er  habe  schon  zweimal  erlebt,  wie  das  Regiment  der  Götter 
gestürzt  wTirde,  und  auch  Zeus,  der  dritte  Götterkönig,  werde  dem 
gleichen  Schicksale  nicht  entrinnen,  so  kann  man  dies  zwar  mit 
der  gemeinen  Ueberheferung,  welche  Hesiods  Theogonie  darstellt, 
wo  auf  Uranus  und  Gaia  Kronus  und  Rhea,  dann  Zeus  und  Hera 
folgen,  wohl  vereinigen  '**),  aber  merkw  ürdig  ist,  dafs  die  alten  Er- 
klärer hier  eine  Beziehung  auf  Ophion  und  Eurynome  fanden,  die 
in  dem  System  des  Pherekydes  die  Stelle  des  Uranus  und  der  Gaia 
einnahmen.'^)  Wahrscheinlich  fand  sich  im  gelösten  Prometheus 
eine  deutliche  Hinweisung  auf  jene  Götterkämpfe,  woraus  hervor- 
ging, dafs  auch  nach  der  Anschauung  des  Aeschylus  zuerst  der 
alte  Schlangengott  Ophion  mit  seiner  Gemahlin  die  Herrschaft  über 
Himmel  und  Erde  ausübte.'^^ 

Wenn  Prometheus  dem  Götterkönig  in  der  Erwartung  trotzt, 
dafs  jenem  eine  grofse  Gefahr  bevorstehe,  die  er  allein  abzuwenden 
vermöge ,  so  ist  dieses  Motiv  dramatisch  äufserst  wirksam,  und  eben 
deshalb  hat  der  Dichter  jenen  Zug  auf  die  Prometheussage  über- 
tragen; nur  darf  man  darin  keine  freie  Erfindung  erbhcken.  Die 
alte  Sage  läfst  drei  Generationen  von  Göttern  auf  einander  folgen.^**) 
Indem  Kronus  seinen  Vater  Uranus  der  Herrschaft  beraubt,  befürch- 
tet er  einst  ein  gleiches  Schicksal  von  seinen  Söhnen,  und  ein  altes 
Orakel  hat  ihm  diese  Vergeltung  in  Aussicht  gestellt;  daher  ver- 
birgt er  ängstlich  sein  Geschlecht  in  der  dunkeln  Tiefe.  Dennoch 
erfüllt  sich  das  Geschick :  Zeus  stürzt  den  Kronus  vom  Throne.    Aber 


123)  Aesch.  Prom,  550:  ov7ioze..rav  Jioe  aQftoviav  ^vaxcjv  Tiofs^iaat 
ßovXai. 

124)  Aesch.  Prom.  957. 

125)  Nach  Aeschylus  sind  gerade  wie  bei  Hesiod  die  Titanen  Kinder  des 
Uranus  und  der  Chthon. 

126)  Der  Schlangengott  war  der  erste  Herr  des  Himmels,  vgl.  Apoll.  Rhod. 
I  503.   (S.  Bd.  II  S.  425.  426,  unten  S.  343.) 

127)  Auch  in  dem,  was  Prom.  205  und  210  über  das  Verhällnifs  der  X&dv 
und  Faia  bemerkt  wird,  findet  sich  vielleicht  ein  Anklang  an  Pherekydes. 

128)  Auf  diesen  Wechsel  der  Götterdynastien  spielt  Aeschylus  auch  im 
Agam.  170  an,  wo  ovB^  ae^erai  tiqiv  uv  zu  lesen  ist,  d.  h.  er  wird  nicht 
mehr  geehrt. 


326  DRITTE    PERIODE    V0>    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

nun  ward  ihm  das  gleiche  Loos  verkündet;  ein  Schicksalsspruch 
warnt  den  Zeus  vor  dem  Sohne,  der  gewaltiger  als  er  selbst  sein 
werde.  Um  sich  seine  Herrschaft  für  alle  Zukunft  zu  sichern,  nimmt 
er  die  Metis,  mit  der  er  Liehe  gepflogen,  in  sich  auf  und  gebiert 
die  Athene  aus  dem  eignen  Haupte.  Dieses  Motiv  ward  später  zur 
Ausschmückung  der  Heldensage  verwendet.  Indem  der  Ruhm  dos 
Achilles  das  Andenken  seines  Vaters  Peleus  weit  überstrahlte,  führte 
man  dies  auf  eine  alte  Prophezeiung  zurück.  Als  Zeus  um  die 
Liebe  der  Thetis  warb,  habe  Themis  ihn  gewarnt,  weil  der  Spröfs- 
ling  einer  solchen  Verbindung  ihm  Unheil  bringen  würde;  deshalb 
sei  die  Meerfee  einem  sterblichen  Manne  vermählt  worden."®)  So 
schildert  schon  Pindar  in  der  letzten  isthmischen  Ode  diesen  Vor- 
gang '^),  und  Aeschylus  hat  ihn  später  mit  der  Prometheussage  ver- 
knüpft"'). Daher  macht  der  Tragiker  auch  den  Titanen  zum  Sohne 
der  Themis  "^) ;  eben  durch  seine  Mutter  ist  Prometheus  in  den  Be- 
sitz des  Geheimnisses  gelangt  und  droht  damit  dem  Zeus.'*') 

129)  Vielleiclit  war  schon  in  den  verlorenen  genealogischen  Gedichten 
Hesiods  die  alte  Göttersage  auf  Peleus  und  Achilles  übertragen. 

130)  Piudar  Islhm.  VIII  30  II.,  gedichtet  Ol.  75,  3.  Pindar  läfst  Zeus  und 
Poseidon  um  Thetis'  Liebe  werben,  während  offenbar  die  ältere  Ueberlieferung 
nur  von  Zeus  wufste  (Schol.  Siafaiverai.  (lies  Siatpi^srnt)  Si  roTs  lomoTe  xnl 
iSta^övTtos  c  IJivSaQOS,  dann  ^r]TT]rtov  rivi  MarTjxolov&Tjaev  6  JlivSuQoi). 
ApoUodor  Bibl.  111  13,  5, 1  folgt  in  diesem  Punkte  dem  Pindar.  Wenn  Melanip- 
pides  (offenbar  der  Jüngere)  den  Achilles  als  Spröfsling  des  Zeus  bezeichnete 
(fr.  9),  so  ist  dies  sicherlich  eine  willkürliche  Neuerung. 

131)  Vielleicht  folgte  Aeschylus  hierin  dem  Logographen  Pherekydes,  seinem 
jüngeren  Zeitgenossen.  Selbst  wenn  das  "Werk  des  Logographen  damals  noch 
nicht  veröffentlicht  war,  konnte  er  doch  den  Mittheilungen  des  sagenkundigen 
Mannes  manches  verdanken.  Pherekydes  hatte  im  dritten  Buche  die  Befreiung 
des  Prometheus  erzählt  und  namentlich  auch  das  Abenteuer  des  Herakles,  der 
die  goldenen  Hesperidenäpfel  gewann,  geschildert.  Vielleicht  fand  .sich  auch 
bei  Pherekydes  die  Prophezeiung  wegen  der  Thetis  mit  der  Achillessage  ver- 
knüpft. Nachdem  er  im  ersten  Buche  gegen  Ende  die  Geschichte  der  Aeakiden 
behandelt  hatte,  mufs  er  im  zweiten  Buche  von  der  Fesselung  und  Strafe  df«; 
Prometheus  berichtet  haben;  auch  die  Sage  von  der  lo  und  ihrem  Wächter 
Argus  fand  sicli  bei  Pherekydes.  Kurz  man  nimmt  so  viel  Berührnngspunkte 
zwischen  der  Tragödie  des  Aeschylus  und  dem  Logographen  wahr,  dnfs  die 
Vermuthung,  der  Tragiker  habe  die  Schrift  des  Sagensammlers  gekannt,  sehr 
glaublich  erscheint. 

132)  Nach  Hesiod  Th.  501  ist  Prometheus  Sohn  der  Klymene,  nach  anderen 
der  Asia. 

133)  Nach  Pindar  verkündet  Themis  den  Srhicksalssprurh,  so  wohl  die 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  U.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  I.  AESCH.       327 

Der  Ort  der  Handlung  ist  in  den  fernen  Nordosten  an  das  Ort  der 
Gestade  des  Okeanus  in  die  Einöde  des  Skythenlandes  verlegt"'*),  *°  ""^* 
während  in  der  zweiten  Tragödie  Prometheus  am  Kaukasus  ange- 
schmiedet seiner  Erlösung  harrt.'^*)  Nach  der  ursprünglichen  Vor- 
stellung hilfst  der  Titane  an  dem  uralten  Götterberge  seinen  Frevel. 
Als  dann  auch  dieser  Mythus  aus  dem  unsichtbaren  Reiche  der 
Götter  auf  die  Erde  verlegt  wurde,  erscheint  der  Kaukasus  als  Schau- 
platz des  göttlichen  Strafgerichtes.  Aber  neben  dieser  allgemein 
verbreiteten  Vorstellung  gab  es  eine  andere,  wonach  Prometheus, 
wie  alle  überwundenen  Gegner  des  Zeus,  in  den  Tartarus  binabge- 
stofsen  ward.*^®)  Diese  Verschiedenheit  der  Sage  hat  der  Dichter 
glücklich  benutzt.  Es  wäre  höchst  undramatisch  gewesen,  wenn  der 
Dichter  die  Einheit  des  Ortes  in  beiden  Dramen  festgehalten  hätte. 
Indem  Prometheus  am  Schlufs  der  ersten  Tragödie  mit  dem  Felsen, 
an  den  er  gefesselt  ist,  unter  Donner  und  Blitz  in  die  Tiefe  ver- 
sinkt, erzielt  der  Dichter  eine  echt  dramatische  Wirkung,  und  zu- 
gleich erscheint  die  Qual  des  Büfsenden,  der  bisher  noch  das  Son- 
nenlicht schaute,  gesteigert.  Im  zweiten  Stücke  ward  der  Fels  aus 
dem  finsteren  Abgrunde  wieder  zu  Tage  gefördert.  Damit  deutet  der 
Tragiker  an,  dafs  in  dieser  Milderung  der  Bufse  sich  der  versöhn- 
liche Sinn  des  Zeus  kund  giebt.  Am  Kaukasus  erwartet  der  Titane 
seinen  Befreier.'^') 

alte  Sage,  nach  Aeschylus  Prometheus,  offenbar  eine  Neuerung  des  Tragikers 
(Schol.  Pindar  Isthm.  VIII  31).  Apollodor  Bibl.  III 1 3,  5,  2  folgt  dem  Pindar,  weist 
aber  dann  mit  k'vioi  auf  Aeschylus  hin.  Die  späteren  Mythographen  lassen 
meist  durch  Prometheus  den  Zeus  gewarnt  werden,  wie  Hygin  54,  Clemens  Ro- 
manus Recognitiones  X  20  ed.  Mign. 

134)  Im  Prolog  ist  dies  mit  klaren  Worten  ausgesprochen ;  dafs  die  Scene 
nicht  am  Kaukasus  zu  suchen  ist,  zeigt  vor  allem  V.  719. 

135)  Die  Parodos  des  Chores  und  die  erste  Rede  des  Prometheus  geben 
darüber  genügenden  Aufschlufs. 

136)  Wer  sich  der  höheren  Weltordnung  widersetzt,  wer  sich  in  frevel- 
haftem Trotz  erhebt,  wird  verbannt  aus  der  Welt,  in  der  feste  Regel  und  Har- 
monie waltet;  so  schildert  der  Theolog  Pherekydes  (Origen.  adv.  Gels.  VI  c.  42 
p.  665)  die  TaqraQirj  fioloa,  k'vd'a  Zevs  ixßäX)^i  d'eäv  orav  ne  i^vß^iar]. 
Es  ist  nicht  unwahrscheinlich,  dafs  Pherekydes  in  seiner  Theogonie  auch  des 
Titanen  Prometheus  gedacht  hatte.  Daher  führt  auch  Horaz  Carm.  II  18,  35.  Epod. 
17,67  den  Prometheus  unter  den  Bildern  ewiger  Qual  im  Hades  an,  wohl  nach 
dem  Vorgange  der  Sappho  (fr.  145). 

137)  Wie  die  Sage  hinsichtlich  des  Locals  der  Bufse  variirt,  so  auch  in 
Betreff  der  Erlösung,  und  zwar  steht  beides  in  engster  Verbindung  mit  einan- 


328  DRITTE    PERIODE   VON    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

Dafs  Aeschylus  hier  die  Fesselung  des  Prometheus  an  den  Okea- 
nus  verlegt,  ist,  wenn  man  will,  eine  ISeuerung.  Die  unzuhingliche 
Weltkunde  der  alten  Zeit  versetzt  den  Kaukasus  an  die  äufsersten 
Grenzen  der  Erde  zu  den  Skythen  und  dem  Strome  des  Okeanus.'^*) 
Aeschylus  schliefst  sich  den  Vorstellungen  seiner  vorgeschrittenen 
Zeit  an  und  sondert  die  Tiefebene  am  Meeresstrande  von  dem  Hoch- 
gebirge des  Binnenlandes.  Indem  die  Fesselung  am  Okeanus  voll- 
zogen wird,  gewinnt  der  Dichter  zugleich  schicklichen  Anlafs,  die 
Okeaniden  als  Chor  in  dieser  Tragödie  zu  verwenden. 

Beachtenswerth  ist  der  breite  Baum,  welchen  geographische 
Schilderungen  in  beiden  Stücken  einnahmen.  Auch  in  diesem  Punkte 
wie  anderwärts  tritt  das  Streben  nach  streng  durchgeführtem  Paral- 
lelismus hervor."^)  Während  im  ersten  Theile  die  fernen  Länder 
des  Ostens  und  Südens  geschildert  werden,  ward  im  zweiten  Drama 
das  Weltbild  durch  die  Beschreibung  des  Westens  und  Nordens  ver- 
vollständigt. Die  Logographen  entwickelten  damals  eine  rege  Hte- 
rarische  Thätigkeit.  Mit  lebhafter  Theilnahme  begleitete  man  ihre 
genealogischen  und  ethnographischen  Arbeiten,  folgte  ihrer  Führung 
durch  das  graue  Alterthum,  wie  durch  fremde,  unbekannte  Gegen- 
den. So  ward  das  Dunkel,  das  auf  der  Welt  ruhte,  allmählich  ge- 
lichtet; die  wunderbaren  Vorstellungen,  welche  man  von  den  V' Or- 


der. Den  an  den  Götlerbeig  oder  den  Kaukasus  angeschmiedelen  Titanen  be- 
freit Herakles,  indem  er  den  Adler  erlegt;  den  in  der  Unterwelt  büfsenden 
erlöst  Cheiron,  indem  er  für  ihn  in  den  Tod  geht.  Dies  ist  nicht  die  gemeine 
Sage;  denn  da  wirkt  Cheiron  bei  der  Hochzeit  des  Peleus  mit  (der  sogar  der 
befreite  Prometheus  beigewohnt  haben  soll)  und  erzieht  nachher  den  Achilles. 
Aeschylus  kennt  beide  Sagen  von  der  Befreiung  des  Titanen,  aber  schwerlich 
hat  er  von  beiden  zugleich  im  befreiten  Prometheus  Gebrauch  gemacht.  Früh- 
zeitig ist  die  Sage  von  der  Erlösung  des  Titanen  entstanden,  die  schon  Hesiod 
kennt.  An  Orten,  wo  Prometheus  als  Feuergott  religiösen  Cultus  halte,  ward 
man  mit  Nothwendigkeit  auf  diese  Umbildung  des  Mythus  hingewiesen,  aber 
daneben  behauptet  sich  noch  immer  die  ältere  Sage  von  der  ewigen  Pein  des 
übermüthigen  Frevlers. 

V.iS)  So,  Mie  es  scheint,  auch  der  Logograph  Pherekydcs  (Schol.  ApoUon. 
IV  139G),  der  den  Herakles  mit  dem  SonnenschifTe  auf  dem  Okeanus  zum  Pro- 
metheus gelangen  lüfsl;  daher  betrachten  Herodorus  und  Agrötas  den  Prome- 
theus als  Beherrscher  der  Skythen. 

139)  Dabei  war  aber  doch  für  Abwechselung  ausreichend  gesorgt  durch 
Verschiedenheit  nicht  nur  der  Handlung  und  der  Zeit,  sondern  auch  des  Ortes 
und  des  Chores. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRCPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  I.  AESCH.      329 

fahren  überkommen  halte,  machen  der  historischeu  Wahrheit  Platz. 
Da  unternahm  es  der  Dichter,  die  Phantasie  seiner  Zuhörer  noch 
einmal  durch  die  fernen  Räume  zu  führen,  die  er  mit  den  Wunder- 
gestalten der  Sage  bevölkert. 

Die  Anlage  der  Tragödie  ist  einfach;  nur  einmal  wird  der  ge- Anlage, 
radünige  Entwurf  durch  eine  Episode  unterbrochen,  welche  jedoch 
ihren  Zweck  vollkommen  erfüllt.  lo  erscheint  gerade  wie  Prome- 
theus als  ein  Opfer  des  göttlichen  Zornes;  auch  sie  hat  den  Undank 
des  Zeus  an  sich  erfahren.  Das  zarte,  echt  weibliche  Wesen  der 
unglücklichen  Jungfrau,  die  vom  Wahnsinn  getrieben  landauf,  landab 
irrt,  bildet  zu  der  harten,  männhchen  Natur  des  Titanen  ein  passen- 
des Gegenstück  und  verleiht  der  Darstellung  den  Reiz  der  Abwech- 
selung. Allein  auch  thatsächlich  steht  die  Episode  mit  dem  Schick- 
sale der  Hauptperson  in  enger  Verbindung.  Herakles,  ein  Abkömm- 
ling der  lo,  ist  berufen,  der  künftige  Befreier  des  Prometheus  zu 
werden.  Prometheus,  der  die  Zukunft  ebenso  genau  wie  die  Ver- 
gangenheit kennt,  überrascht  die  staunende  Jungfrau  nicht  nur  durch 
eine  wahrheitsgetreue  Schilderung  ihrer  bisherigen  Schicksale,  son- 
dern enthüllt  ihr  auch  den  ferneren  Verlauf  ihrer  Irrfahrten  bis  zum 
Nilstrom,  wo  sie  Erlösung  finden  soll,  und  verkündet  ihr  die  Zu- 
kunft ihres  Geschlechts.  Prometheus  weifs,  dafs  einst  Herakles  seine 
Bande  sprengen  wird,  fühlt  sich  daher  mit  lo  und  ihrem  Stamme 
eng  verbunden.  So  wird  zugleich  auf  die  Lösung  des  Confliktes, 
die  in  der  folgenden  Tragödie  eintrat,  hingewiesen. 

Der  Held  ist  in  diesem  Drama  ununterbrochen  den  Augen  der 
Zuschauer  ausgesetzt,  aber  mit  jeder  Scene  tritt  eine  neue  Person 
auf.  Durch  fortwährende  Steigerung  weifs  der  Dichter  die  Zuhörer 
beständig  in  Spannung  zu  hahen.  Anfangs  ist  in  den  längeren 
Reden  das  erzählende  Element  vorwaltend,  aber  nach  und  nach  ent- 
wickelt sich  immer  mehr  dramatisches  Leben,  die  Leidenschaft  wächst, 
und  der  Charakter  des  Helden  wird  nach  allen  Seiten  hin  dar- 
gelegt. 

Die  griechische  Tragödie ,  besonders  die  ältere,  liebt  es,  Indivi- 
duen zu  schildern,  welche  im  Uebermafse  der  Kraft  und  des  Selbst- 
gefühls mit  dem  göttlichen  Geschick  in  Conflikt  gerathen.  Echt  tra- 
gischer Art  ist  der  Charakter  wie  das  Schicksal  des  Prometheus,  der 
sich  trotzig  über  alle  Schranken  erhebt,  sich  gegen  die  höheren 
sittlichen  Ordnungen  auflehnt  und  so  dem  unvermeidlichen  Gerichte 


330  DRITTE    PERIODE    V0>    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

verfällt.  Demgemäfs  wird  auch  der  Held  in  dem  vorliegenden  Drama 
aufgefafst,  wo  die  Leidenschaft  in  ihrer  ganzen  Nalurkraft  uns  ent- 
gegentritt. Prometheus  achtet  ebenso  wenig  auf  die  verständigen 
Zureden  und  Vorstellungen  Befreundeter  wie  auf  die  ernsten  War- 
nungen der  Gegner,  sondern  weist  mit  verzweifelter  Entschlossen- 
heit jeden  Versuch  der  Ausgleichung  von  sich.  Ungebeugt  durch 
die  harte  Bufse  ergeht  sich  der  Unbesonnene  in  verwegenen  Reden 
und  fordert  kühn  sein  Geschick  heraus. 

Die  Handlung  der  Tragödie  bewegt  sich  auf  mythischem  Boden, 
im  Reiche  der  Götter.  Gott  steht  gegen  Gott;  denn  überall  bei 
Aeschylus  wird  der  Titane  als  göttliches  Wesen  aufgefafst  und  er- 
scheint gemäfs  der  alten  Ueberheferung  nicht  sowohl  als  Repräsen- 
tant, sondern  als  Wohlthäter  der  Menschheit.  Aber  Prometheus' 
Thaten  und  Leiden  stellen  gleichsam  symbolisch  die  Menschen natur 
dar,  welche  den  Zwiespalt  des  individuellen  und  des  göttlichen  Wil- 
lens zu  überwinden,  den  Kampf  der  Freiheit  mit  dem  Schicksal 
durchzukämpfen  sucht.  Der  Trotz,  das  hohe  Selbstgefühl  des  Ti- 
tanen ist  recht  eigentlich  ein  Abbild  der  Zeit  des  Dichters,  welche 
kühn  mit  allen  Ueberheferungen  der  Vergangenheit  bricht  und  sich 
selbst  ihr  Schicksal  bestimmt. 

Die  vorliegende  Tragödie  ist  nur  ein  Bruchstück,  zum  vollen 
Verständnifs  der  Dichtung  ist  der  zweite  Theil  unentbehrlich;  um 
so  schmerzlicher  empfinden  wir  diesen  Verlust.  Aber  wir  kennen 
den  grofsen  Dichter  genügend,  um  zu  wissen,  dafs  er  auch  hier 
seinem  eigensten  Wesen  nicht  untreu  geworden  sein  wird.  Aeschy- 
lus liebt  scharfe  Contraste;  demgemäfs  wird  hier  nur  die  eine  Seite 
zur  Anschauung  gebracht.  Prometheus  stellt  sich  selbst  als  Wohl- 
thäter der  Menschheit  dar,  der  schuldlos  die  härtesten  Oualen  er- 
duldet""); nur  schüchtern  wagt  der  Chor  hie  und  da  ein  Wort 
des  Tadels  auszusprechen.     Zeus,  nur  von  seinen  Gegnern  gesdiil- 


140)  Gleichsam  unwillkürlich  entschlüpft  dem  Promelheiis  V,  266  das 
Eingeständnifs  eigener  Verschuldung.  Nicht  minder  beachtenswerth  sind  die 
Worte  511  (F.,  wo  er  sagt,  nach  unabänderlichem  Schicksalsschlufs  werde  seine 
Erlösung  erst  spät,  nachdem  durch  schwere  Leiden  sein  slolzer  Sinn  gebeugt 
sei,  erfolgen.  Solche  AeuCseiungen,  die  scheinbar  der  Situation  nicht  recht 
entsprec'ien,  mit  dorn  Charakter  des  Helden  nicht  liarmoniren,  enthalfen  einen 
nicht  mifszuverstchenden  Wink,  zu  welchem  Ausgange  der  Dichter  die  Hand- 
lung hinzuführen  beabsichtigte. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRIPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  I.  AESCH.      331 

dert,  erscheint  in  einem  Lichte,  wie  man  es  am  wenigsten  von  dem 
tief  religiösen  Sinne  des  Dichters  erwarten  sollte.  Tyrannische  Ge- 
walt triumphirt  über  das  Recht;  so  gewinnt  auch  die  im  Hinter- 
grunde der  neuen  Herrschaft  drohende  Gefahr  Bedeutung.  Eine  so 
einseitige  Auffassung  entspricht  nicht  dem  lebendigen  Rechtsgefühle 
des  Aeschylus.  Wir  dürfen  vertrauen ,  dafs  er  in  der  verlorenen 
Tragödie  die  andere  Seite  mit  allen  Mitteln  seiner  Kunst  zur  An- 
schauung gebracht  haben  wird ,  damit  jedem  sein  Recht  widerfahre. 

Indem  es  aussieht,  als  sei  Prometheus  der  unschuldig  Leidende, 
den  Zeus  in  leidenschaftüchem  Zorne  strafe,  hat  man  geglaubt,  der 
Tragiker  habe  sich  die  Aufgabe  gestellt,  ein  Muster  höchster  Stand- 
haftigkeit  im  Ertragen  unverschuldeten  Leides  darzustellen.  Weil 
man  den  Prometheus  als  ein  selbständiges,  in  sich  abgeschlossenes 
Drama  betrachtete,  lag  diese  Auffassung  nahe.  Aber  wie  jene  Ver- 
herrhchung  des  Prometheus  mit  der  Idee  der  göttUchen  Gerechtig- 
keit, welche  der  Dichter  sonst  überall  festhält,  zu  vereinigen  sei, 
darüber  bleibt  man  die  Antwort  schuldig.  Ebenso  konnte  nur  eine 
oberflächliche  Betrachtung  in  dieser  Tragödie  ein  pohtisches  Ten- 
denzstück finden.  Allein  nicht  minder  verfehlt  ist  die  Ansicht,  als 
ob  Aeschylus  es  in  diesem  Drama  und  seiner  Fortsetzung  eigenthch 
auf  eine  Kritik  der  Sage  abgesehen  habe.  Um  jenen  Widerspruch 
zu  lösen,  nimmt  man  an,  Zeus  selbst  sei  im  Verlaufe  der  Zeit  ein 
anderer  geworden.  Der  Dichter  habe  eben  die  Entwicklung  des 
höchsten  götlhchen  Wesens  zur  Anschauung  zu  bringen  versucht. 
Dabei  vergifst  man,  dafs  dann  nicht  mehr  Prometheus,  sondern  Zeus 
der  Mittelpunkt  der  dramatischen  Handlung  sein  würde.  Die  Welt 
ist  dem  Wandel  unterworfen  und  in  fortschreitender  Entwicklung 
begriffen;  der  Menschen  Anschauungen  von  dem  götthchen  Wesen 
sind  veränderlich,  wie  dies  eben  die  mythische  Vorstellung  von  dem 
Dynastienwechsel  bezeugt,  allein  die  Gottheit  ist  von  Anfang  an  die 
immer  gleiche."') 

Aeschylus,  obwohl  gebunden  durch  die  Tradition,  welche  er 
nicht  preisgiebt,  ist  sich  doch  dieses  Unterschiedes  wohl  bewufst. 
Nicht  Zeus  verändert  im  Verlaufe  der  Zeit  seinen    Sinn,  sondern 


141)  Per  alte  Theolog  Pherekydes  bekannte  sich  gleich  im  Eingange  seines 
Werkes  zu  dieser  Ueberzeugung:  Zsvs  eis  aei,  und  damit  stimmt  die  .\aschau- 
ung  des  Tragikers,  der  auch  mit  Pherekydes  wohl  bekannt  war. 


332  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Prometheus."*)  Ueberall  stellt  der  Dichter  die  göttliche  Weltregie- 
rung als  gerecht  dar  und  läfst  sie  zuletzt  siegreich  aus  allen  Wider- 
sprüchen hervorgehen.  Aeschylus,  der  lange  und  viel  über  die 
schwierigsten  Probleme  des  menschhchen  Lebens  nachgedacht  hat, 
wird  auch  dieses  Mal  bemüht  gewesen  sein,  eine  befriedigende  Lo- 
sung zu  finden. 

Die  erste  Tragödie  stellt  den  Zusammenstofs  des  individuellen 
Willens  mit  dem  götthchen  Rechte,  der  Freiheit  mit  der  Nothwen- 
digkeit  dar.  Aber  mit  der  Strafe  ist  das  Schicksal  des  Titanen  nicht 
abgeschlossen.  Die  Aufgabe  der  zweiten  Tragödie  war  die  Ausgleichung 
des  Widerspruches  und  eudhche  Versöhnung.  Geläutert  und  ge- 
reinigt mufste  Prometheus,  nachdem  sein  starrer  Sinn  gebrochen 
ist,  aus  der  Prüfung  hervorgehen.  Indem  er  sein  Unrecht  erkennt 
und  begreift,  wie  der  Einzelne  unfähig  ist,  eigenmächtig  in  den  Gang 
der  Weltordnung  einzugreifen,  demüthigt  er  sich  vor  der  unergründ- 
lichen Tiefe  des  götthchen  Rathschlusses.  Ob  es  dem  Dichter,  der 
hier  die  höchsten  Fragen  des  rehgiösen  Bewufstseins  berührt,  ge- 
lang, seine  Aufgabe  in  vollkommen  befriedigender  Weise  zu  lösen, 
wissen  wir  nicht. 

Einführung  Das  bedeutendste  Verdienst,  welches  sich  Aeschylus  erwarb,  ist 
Tetralogie,  "'^zweifelhaft  die  Einführung  der  Tetralogie;  darin  gipfelt  recht 
eigentlich  seine  Kunst.  Hätte  man  diese  Weise  der  Composition 
beibehalten  und  consequent  fortgebildet,  so  würde  die  griechische 
Tragödie  eine  ganz  andere  und  man  darf  wohl  sagen  vollendetere 
Gestalt  gewonnen  haben.  Kein  ausdrückliches  Zeugnifs  legt  dem 
Aeschylus  diese  Erfindung  bei,  aber  auch  kein  anderer  Name  wird 
genannt.  Bei  der  Dürftigkeit  der  Ueberlieferung  darf  dieses  Schwei- 
gen nicht  befremden.  Nur  Aeschylus,  der  allgemein  als  Gesetzgeher 
der  Tragödie  anerkannt  wird,  nicht  Phrynichus  oder  ein  anderer 
von  den  AeUeren  kann  den  Gedanken  gefafst  haben,  die  Tragödie 
zu  einem  organisch  zusammenhängenden  Dramencyklus  zu  erweitern, 
wo  auch  das  heitere  Nachspiel  der  Satyrn  sein  altes  Recht  behaup- 
tete. Die  Vorliebe  für  das  Epische  ist  ein  Grundzug  der  Aeschy- 
leischen  Poesie.  Die  Richtung  auf  grofseund  inhaltvolle  Stolle,  welche 
zur  vollen  Wirkung  einen  breileren  Raum  verlangten,  wie  die  sitt- 


142)  Gleich  in  der  ersten  Rede  des  Prometheus  aus  der  SchluTstragödie 
giebt  sich  die  veränderte  Stimmung  sehr  vernehmlich  kund. 


DIE  DRAM.  POESIE.   DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLLTHEZEIT.  I.  AESCH.       333 

liehe  Weltanschauung  des  Dichters,  der  überall  in  den  menschUchen 
Dingen  einen  inneren  Zusammenhang,  eine  höhere  Führung  erkannte, 
führten  den  genialen  Meister  fast  mit  ISothwendigkeit  zu  der  neuen 
Kunstform.  Die  trilogische  Composition  bot,  wenn  die  mythische 
Einheit  festgehalten  wurde,  wesenthche  Vortheile  dar.  Der  Dichter 
konnte  dem  bedeutenden  Stoffe  gerecht  werden,  indem  er  eine  Folge 
von  Begebenheiten  vorführte,  was  zugleich  Gelegenheit  zu  einer  tiefer 
eindringenden  Charakteristik  der  handelnden  Personen  gegeben,  und 
das  Gesetz  der  sitthchen  Weltordnung  liefs  sich  in  wirksamster  Weise 
zum  Bewufstsein  bringen.  Aufserdem  war  die  freie  Bewegung  durch 
die  Schranken  der  Zeit  und  des  Ortes  nicht  gehemmt.  Jetzt  war  es 
möghch,  selbst  weit  aus  einander  liegende  Begebenheiten,  die  durch 
ein  inneres  Band  verknüpft  waren,  ohne  Gewaltthätigkeit  und  schroffe 
Uebergänge  vorzuführen."') 

Diese  durchgreifende  Reform  der  Oekonomie  der  Tragödie  darf 
man  nicht  in  die  Anfänge  der  dichterischen  Laufhahn  des  Aeschy- 
lus  verlegen.  Es  bedurfte  dazu  nicht  nur  des  vollen  Einverständ- 
nisses mit  den  anderen  Dichtern,  welche  die  neue  Kunstform  sich 
aneignen  mufsten,  sondern  auch  der  Mitwirkung  der  Behörden,  da 
der  bedeutende  Umfang  dieser  dramatischen  Compositionen  eine  ver- 
änderte Einrichtung  der  Festfeier  nothwendig  machte.  Nur  ein 
Dichter,  der  allgemein  als  der  erste  seines  Faches  anerkannt  war, 
vermochte  eine  solche  Neuerung  ins  Lehen  zu  rufen,  und  nur  wenn 
die  allgemeinen  Verhältnisse  günstig  waren,  liefs  sich  die  grofsartige 
Idee  verwirklichen.  So  lange  die  Freiheit  und  Selbständigkeit  Athens 
durch  die  persische  Weltmacht  bedroht  war,  konnte  man  nicht  daran 
denken,  die  beschränkten  Mittel  des  Staates  auf  die  Erhöhung  des 
Glanzes  der  dramatischen  Spiele  zu  verwenden.  Ein  patriotischer 
Mann  wie  Aeschylus  war  weit  entfernt,  zur  Unzeit  für  seine  Kunst 
Ansprüche  zu  erheben.  Erst  nach  dem  zweiten  Perserkriege,  nach- 
dem endgültig  die  Existenz  des  Staates  sicher  gestellt  war,  ist  der 


143)  Man  vergleiche  nur  die  Orestie  oder  die  Dramen  der  thebanischen 
Tetralogie  (Laias,  Oedipus,  die  Sieben  vor  Theben).  Auch  ist  das  Drama  dem 
Epos  gegenüber  im  Vortheil;  indem  es  die  Begebenheiten  nicht  in  ununter- 
brochener Folge  darstellt,  sondern  die  Hauptmomente  heraushebt  und  die 
Zwischenräume  zu  ergänzen  der  Phantasie  der  Zuschauer  überläfst,  vermag 
der  tragische  Dichter  selbst  den  inhaltvollsten  Stoff  in  einen  mäfsigen  Raum 
zusammenzudrängen. 


334  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

rechte  Zeitpunkt  gekommen. '^^)  Das  gesteigerte  Selbstbewufstsein 
des  Volkes,  das  Gefühl  des  Behagens,  welches  sich  in  allen  Klassen 
verbreitete,  kam  den  Bestrebungen  des  Dichters  entgegen,  und  bei 
der  günstigen  Finanzlage  des  Staates,  mit  dessen  Leitung  hoch- 
herzige Männer  betraut  waren ,  fiel  es  nicht  schwer,  die  Mittel  und 
Wege  für  eine  Erweiterung  der  Festfeier  zu  finden. 

Unsere  Kenntnifs  der  neuen  Kunstform  ist  unzulänglich;  denn 
nur  vier  Tetralogien  des  Aeschylus  sind  urkundhch  verbürgt'"),  und 
es  ist  nicht  gerathen,  nach  blofser  Vermuthung,  die  gar  trügerisch 
ist,  die  Titel  der  Aeschyleischen  Tragödien  zu  einheithchen  Gruppen 
zu  verknüpfen.  Es  ist  dies  um  so  weniger  thunUch,  da  bereits 
Aeschylus  nicht  immer  die  organische  Einheit  der  Tetralogie  fest- 
hält, sondern  sich  auch  der  freieren  Form  bedient  und  Dramen  ver- 
schiedenartigen Inhalts  mit  einander  verbindet,  wie  die  Persertetra- 
logie zeigt.  Es  war  dies  wohl  eine  Concession,  welche  Aeschylus 
machte,  um  seine  Mitarbeiter  für  seine  Idee  zu  gewinnen,  und  es 
ist  begreiflich,  dafs  er  von  der  Freiheit,  welche  anderen  gestattet 
war,  auch  selbst  Gebrauch  macht,  wenn  schon  mit  Mafs.  Denn  die 
Einheit  des  mythischen  Stoffes  war  für  Aeschylus  offenbar  Norm, 
während  die  Späteren  nur  noch  ausnahmsweise  solche  Tetralogien 
dichteten.  Wenn  Aeschylus  auf  den  stofflichen  Zusammenhang  ver- 
zichtete, war  er  gewifs  darauf  bedacht,  in  echt  künstlerischer  Weise 
die  Einzeldramcn  mit  einander  zu  verflechten.  Indem  andere  Dich- 
ter diese  bequeme  Form  bevorzugten,  mufste  die  Verbindung  der 
Theile  leicht  den  Charakter  des  Zufälligen  annehmen  und  so  zur 
Auflösung  der  tetralogischen  Composilion  führen.  Daher  «büfst  die- 
selbe allmähhch  die  rechte  Bedeutung  ein ,  wenn  schon  die  äufsere 
Form  unverändert  beibehalten  wird. 

Immerhin  ist  es  für  ein  grofses  Glück  zu  achten,  dafs  uns 
eine  Trilogie  des  Aeschylus,  die  Orestie,  vollständig  erhalten  ist. 
Von  den  Persern  und  den  Sieben  gegen  Theben  wissen  wir  wenig- 
stens,  welche  Stelle   sie   in   dem  dramatischen  Cyklus  einnahmen. 

144)  Ol.  75,  4  ist  wohl  zum  ersten  Male  mit  Tetralogien  gekämpft  wor- 
den, 8.  oben  S.  230. 

145)  Aus  Ol.  70,4  <Ptvevs,  üf'^aat,  rXavxoe  {fJorvieis),  npofir]&eve,  Ol. 
78,  1  yläioe,  OiSinmii,  'Enja  ini  0T]ßai ,  ^'fty^,  Ol.  80,2  die  Orestie,  'yiya- 
fiefiviov ,  XoTjfÖQOi,  KvfieviSee ,  Il^ioTtvs,  und  in  einem  unbestimmten  Jahre 
die  ylvxoiigytia  (Schol.  Arist.  Thesm.  135),  ^USa/roi,  Bnaaa^idiS,  i\saria>cut, 
yivxov^oe. 


DIE  DRAM,  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLCTHEZEIT.   I.AESCH.      335 

Aber  man  mufs  sich  hüten,  das  Verfahren  eines  Dichters,  der  seine 
Kunst  mit  voller  Freiheit  und  mit  sorgfältiger  Rücksicht  auf  die 
Natur  seiner  Aufgabe,  aber  stets  mit  sicherer  Hand  übt,  nach  jenen 
uns  vorliegenden  Proben  genau  bestimmen  zu  wollen.  Die  theba- 
nische  Trilogie  führt  in  Laius,  Oedipus  und  dessen  Söhnen  drei 
Geschlechter  vor.  Der  Fluch  der  bösen  That  vererbt  sich  auf  Kinder 
und  Kindeskinder;  langsam  aber  sicher  vollzieht  sich  das  Strafge- 
richt. In  ähnlicher  Weise  wird  in  der  Orestie  der  Fluch,  welcher 
auf  dem  Hause  der  Pelopiden  lastet,  durch  den  Untergang  des  Aga- 
memnon, durch  den  Muttermord  des  Orestes,  der  die  Rache  vollzieht, 
und  schliefshch  durch  die  Erlösung  veranschauhcht ,  w  eiche  durch 
richterlichen  Spruch  und  göttliche  Gnade  dem  Muttermörder  zu  Theil 
wird.  Aber  anderwärts  schreitet  die  Handlung  rasch  vorwärts;  die 
Ereignisse  sind  auf  einen  mäfsigen  Raum  zusammengedrängt,  wie 
in  der  Tetralogie,  zu  welcher  die  Schutzflehenden  gehören,  ebenso 
in  der  Lykurgie  und  in  dem  Tragödiencyklus,  zu  welchem  die  home- 
rische Ilias  den  Stoff  bot "®) ,  wo  Achilles  offenbar  in  sämmtlichen 
Stücken  Träger  der  dramatischen  Handlung  war.  Das  Verhältnifs 
zwischen  den  einzelnen  Dramen  war  sicherhch  bald  fester,  bald  loser; 
aber  die  drei  Tragödien  sind  nicht  als  drei  Akte  eines  einzigen  Dramas 
zu  betrachten ,  sondern  jede  enthält  eine  abgeschlossene  Handlung, 
ist  selbständiges  Ghed  eines  gröfseren  Ganzen.'")  Wie  das  Epos, 
zu  Ende  auslaufend,  meist  beruhigend  und  versöhnend  abschüefst, 
so  scheint  auch  Aeschylus  im  dritten  Stücke  vorzugsweise  diese  be- 
sänftigende Wirkung  angestrebt  zu  haben.  Eben  daher  hinterlassen 
auch  die  Euraeniden,  mit  den  Choephoren  und  dem  Agamemnon  zu- 
sammengehalten, einen  schwächeren  Eindruck.  Doch  hat  der  Dichter 
dies  nicht  durchgehends  beobachtet.   Die  Sieben  vor  Theben,  obwohl 


146)  MvgfiiSovse  und  "Extoqos  Xvtqu  nahmen  wohl  die  erste  und  dritte 
Stelle  der  Tetralogie  ein;  das  Mittelstück  lä/st  sich  nicht  mit  Sicherheit  nach- 
weisen. 

147)  Aber  auch  so  ist  die  Verbindung  der  einzelnen  Dramen  eine  innige: 
die  Auflösung  der  Tetralogie  bringt  bei  Sophokles  und  Euripides  keinen  em- 
pfindlichen Nachlheil,  weil  jedes  Drama  eine  Dichtung  für  sich  ist.  Anders 
bei  Aeschylus:  die  Perser  konnte  man  abtrennen,  weil  hier  die  Form  der  freien 
Composition  gewählt  war,  auch  am  ersten  ein  drittes  Stück,  wie  die  Sieben. 
Aber  der  gefesselte  Prometheus  ist  ohne  seine  Fortsetzung  gar  nicht  recht  ver- 
ständlich, und  auch  den  Schutzflehenden  sieht  man  es  an,  dafs  uns  nur  ein 
Bruchstück  einer  gröfseren  Dichtung  vorliegt. 


336  DRITTE    PERIODE   VO.N    500    BIS    300   V.  CHR.  G. 

das  dritte  Drama,  brechen  schrofl"  und  ohne  rechte  Vermittelung  ab, 
und  ähnHch  wohl  auch  die  anderen  Compositionen,  welche  mit  dem 
Untergange  des  Helden  endeten."*) 
Reduktion  Gleichzeitig  mit  der  Einführung  der  Tetralogie  mufs  auch  die 

■  Reduktion  des  tragischen  Chores  erfolgt  sein.  Man  durfte  nicht  den- 
selben Sängern  zumuthen  hintereinander  in  vier  Dramen  aufzutreten; 
dies  würde  ihre  Kräfte  überstiegen  haben.  Ebenso  wenig  aber  konnte 
man  die  Zahl  der  Choreuten  entsprechend  vermehren.*")  Man  ver- 
theilte  also  den  grofsen  Chor  von  fünfzig  Personen  in  vier  Abthei- 
lungen von  je  zwölf  Choreuten,  welche  den  Vortrag  der  melischen 
Partien  in  den  einzelnen  Dramen  übernahmen.  Der  Chor  büfst  aller- 
dings dadurch  das  Imposante  ein,  welches  ihn  ausgezeichnet  hatte. 
Allein  da  durch  die  höhere  Entwicklung  des  dramatischen  Elementes 
der  Chor  allmählich  seine  frühere  Bedeutung  verlor,  wurde  dies 
weniger  empfunden. 

Beurtheiiung  Bescheiden  beugt  sich  Aeschylus  vor  der  Dichtergröfse  des  Homer, 
Aeschyius.  wenn  er  im  Bewufstsein,  wie  viel  er  der  Anregung  jener  unvergäng- 
lichen Werke  schuldete,  seine  Tragödien  Brosamen  von  dem  reichen 
Mahle  Homers  nannte.'*")  Und  doch  war  der  Dichter  seines  eigenen 
Werthes  sich  wohl  bewufst.  Es  ist  ein  stolzes  Wort,  aber  zugleich 
ein  Zeugnifs  seines  grofsen  Sinnes,  wenn  er  unbekümmert  um  die 
schwankende  Gunst  oder  Ungunst  der  Zeitgenossen  seine  Arbeiten 
vertrauensvoll  dem  Urtheile  der  Nachwelt  anheimstellt.'")  Freilich 
ist  diese  Erwartung  nicht  recht  in  Erfüllung  gegangen.    Aeschylus 

148)  Die  Bestrafung  des  Lykurgus  wird  in  der  Lykurgie  nicht  gefehlt 
haben,  aber  der  Tod  des  thrakischen  Fürsten  war  kein  geeignetes  Thema  für 
das  Salyrspiel  yivxovQyos.  Eine  vierte  Tragödie  mit  satirischen  Elementen  ver- 
setzt anzunehmen,  so  dafs  Aeschylus  schon  die  dem  Euripides  zugeschriebene 
Neuerung  vorausgenommen  hätte,  ist  ebenso  unwahrscheinlich.  Die  dritte  Tra- 
gödie Neaviaxoi  wird  die  Strafe  des  Lykurgus  dargestellt  haben,  während  das 
Satyrslück  Avtcovqyos,  ähnlich  wie  die  ^ft'/l  und  der  JjQcarsvt,  eine  Episode 
aus  dem  früheren  Leben  des  Helden  nachholte. 

149)  Dann  wären  für  eine  Tetralogie  200,  für  die  drei  concurrirendcn  Dich- 
ter 600  Choreuten  erforderlich  gewesen. 

löU)  Athen.  VIII  34"  E:  t««  avrov  xQaytpSiat  rtßiaxf}  »Jva$  tXty»  rtäv 
'O/ir.QOv  asyaXoJv  Ssinvcov.    (S.  S.  'J42  A.  U>4.) 

151)  Athen.  VIII  347  E  f.:  filöaofos  Si  ijv  TÖäv  naw  6  j4toxvias,  oe  xni 
ririr,9Bii  aöixois  nojt,  coi  Osöf^natoi  »;  XnfiatXiatv  iv  t<m  ne^i  y}oovr,i  si^t;xtt; 
£(pT]  XQÖvv  '''"*  T^ayiijSiaS  avmi&irnt ,  eiStoi  ort  xoftnirai  ti^'  nooarjxovaav 


DFE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  I.  AESCH.     337 

ward  durch  seine  Nachfolger  in  Schatten  gestellt,  und  wenn  schon 
die  Mitlebenden  nicht  immer  die  volle  Bedeutung  des  Mannes  er- 
fafsten  und  gebührend  würdigten,  so  ward  die  gewaltige  Gröfse  des 
Dichters  den  schwächeren  Geschlechtern  der  späteren  Zeit  mehr  und 
mehr  eine  fremde  Erscheinung. 

Als  Aeschylus  starb,  brach  die  Nacht  herein,  sagte 
Äristophanes.'^'')  Dies  ist  nicht  blofs  Ausdruck  der  innigen  Vereh- 
rung, welche  der  Komiker  alle  Zeit  dem  Tragiker  widmete,  son- 
dern man  empfand  allgemein  schmerzlich  die  Schwere  des  Verlustes. 
Daher  bestimmten  die  Athener,  die  Dramen  des  Aeschylus  nach  wie 
vor  beim  Agon  der  Tragiker  zuzulassen.'")  Wer  ältere  Stücke  des 
Dichters  wieder  aufführen  wollte,  durfte  von  dem  Archon  einen  Chor 
verlangen  und  sich  um  den  Preis  bewerben,  der  eigenthch  nur  für 
neue  Tragödien  bestimmt  war.  Es  war  dies  eine  ungewöhnliche, 
aber  keineswegs  bedeutungslose  Auszeichnung.  Man  konnte  das  An- 
denken des  Meisters  nicht  würdiger  ehren,  als  indem  man  sein  Ver- 
mächtnifs  beim  Volke  lebendig  erhielt  und  ihm  eine  dauernde  Wir- 
kung zu  sichern  suchte.  So  stand  die  Poesie  des  Aeschylus  längere 
Zeit  in  hohem  Ansehen,  Bis  zum  Beginn  des  peloponnesischen  Krieges 


152)  Aristides  Declam.  12  I  S.  145:  o  8i  frjaiv  lA^uirofävrie  nsQi  Ata'/;vhn) 
axirov  elvai  re&vrixoros, 

153)  Biographie:  ^Ad'rjVaiot  8i  roaovrov  riyänriaav  Aiax^Xov,  ms  yjrjcpiaa- 
a&at  fiexa  ^ävaxov  avrov  ihv  ßovXlftevov  SiSdaxeiv  ra  jiia'/i^Xov  xOQOv  Xau- 
ßävovra.  Schol.  Aristoph.  Acharn.  10:  rifir/S  Se  fiEyiaTr,s  erv^e  naga  ^Ad'rjvaiois 
o  Ai<s/;vkoe,  xai  fiovov  avrov  xa  Sgafiaxa  f^r^^iaf^nzi  xoivm  xal  fieza  ■d'avaxov 
iStSäaxexo.  Philostratus  vit.  Apoll.  VI  11 :  xä  yao  xov  Aiax}>h)v  yprjtpiaafievanf 
avsSiSäaxexo  xai  ivixa  ix  xaivfjs.  Der  Preis  wurde  selbstverständlich  dem 
biSaaxaXoi  zuerkannt,  aber  der  Herold  mochte  jedes  Mal  bemerken,  dafs  er  mit 
Dramen  des  Aeschylus  auftrete.  Daher  sagt  Philostratus  nicht  unpassend:  ixä- 
Xoi<v  8e  xal  xed'vBcäxa  eis  Jiovvaia,  und  zwar  fanden  diese  erneuten  Auffüh- 
rungen nicht  blofs  an  den  Lenäen,  sondern  auch  an  den  grofsen  Dionysien 
statt.  Die  Nachkommen  des  Aeschylus  haben  vorzugsweise  von  diesem  Privi- 
legium Gebrauch  gemacht.  Für  die  unversehrte  Erhaltung  dieser  Dichtungen 
war  die  Einrichtung  nicht  günstig;  denn  die  Versuchung  lag  zu  nahe,  Einzelnes 
abzuändern,  um  dem  veränderten  Geschmacke  des  Publikums  zu  genügen  oder 
auch  sein  eigenes  Talent  zu  bethätigen.  Vollkommen  zutreffend  ist  die  Be- 
merkung Quintilians  X  1,  66:  sed  rudis  (Aeschylus)  in  plerisque  et  tncompositus, 
propter  quod  correctas  eins  fabulas  in  certamen  deferre  posterioribus  poetis 
Athenienses  permiserunt,  suntque  eo  modo  multi  coronati;  nur  ist  die  Erklä- 
rung der  Thatsache  nicht  richtig.  (S,  S,  286  A.  36.)  Die  Spuren  solcher  üeber- 
arbeitung  sind  noch  jetzt  nachweisbar. 

Bergk,  Griecb.  Literaturgeschichte  III.  22 


338  DRITTE    PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

und  noch  darüber  hinaus  wurden  seine  Stücke  fleifsig  aufgeführt 
und  dem  todten  Dichter  wiederholt  der  Siegespreis  zuerkannt.'") 
Die  rückhaltslose  Anerkennung,  welche  die  Komiker  dem  Verdienste 
des  Aeschylus  zollen,  nicht  um  die  Leistungen  der  Gegenwart  durch 
den  Vergleich  mit  dem  alten  Meister  herabzudrücken,  sondern  aus 
voller  Ueberzeugung  ist  ebenso  ehrenvoll  für  den  Tragiker,  wie  be- 
zeichnend für  den  kritischen  Standpunkt  der  Komüdie."*)  Aber  wie 
das  ältere  Geschlecht,  welches  noch  aus  seiner  Jugendzeit  eine  le- 
bendige Erinnerung  an  den  Dichter  festhielt,  allmShüch  ausstarb'**), 
ändert  sich  dies.  Dem  verwöhnten  Geschmacke  der  Jüngeren  er- 
schien  die  Poesie   des  Aeschylus   zu  herb   und  einfach'");    immer 

154)  So  ward  das  Andenken  an  die  Poesie  des  Aeschylus  lebendig  er- 
halten (doch  darf  man  darauf  nicht  Aristoph.  Frösche  868  beziehen).  Wie  man 
an  Aeschylus  hing,  zeigt  Aristoph.  Acharn.  10,  wo  Dikäopolis  seinen  Verdrufs 
darüber  ausspricht,  dafs  der  frostige  Theognis  mit  Tragödien  auftrat ,  M'ährend 
man  erwartet  hatte,  Dramen  des  Aeschylus  zu  hören:  die  ersten  Versuche  des 
Theognis  müssen  eben  dem  Anfange  des  grofsen  Krieges  angehören.  Ol.  87,  1 
siegt  Euphorien  über  Sophokles  und  Euripides,  wahrscheinlich  mit  Dramen 
seines  Vaters,  und  ähnlich  ist  wohl  auch  die  Thatsache  aufzufassen,  dafs  um 
Ol.  87, 3  Philokles  dem  Sophokles  (Oedipus  Tyrannus)  vorgezogen  ward.  Xeno- 
kles,  der  01.91,1  über  Euripides  siegt,  gehört  zwar  nicht  der  Schule  des 
Aeschylus  an  und  trat  mit  eigenen  Arbeiten  auf,  mag  aber  doch  der  älteren 
Tragödie  näher  als  der  neueren  gestanden  haben.  So  legt  auch  dieser  Erfolg 
für  die  Stimmung  des  Publikums  Zeugnifs  ab. 

155)  Die  Verdienste  des  Aeschylus  um  die  Hebung  der  tragischen  Kunst 
stellte  Pherekrates  in  den  K^anaxaloi  fr.  8.  9  Com.  II  1,  290  dar.  Aristophanes 
hat  wiederholt  dieses  Thema  beröhrt,  sowohl  in  verlorenen  Komödien ,  wie  im 
Gerytades  (Athen.  VIII  365  B  =  fr.  204  Di.),  als  auch  am  eingehendsten  in  den 
Fröschen  und  gelegentlich  in  anderen  erhaltenen  Stücken.  Aeschylus  wird  mit 
unzweideutigen  Worten  als  der  erste  tragische  Dichter  (x^äriffTos  tjjv  xe'xvTjv 
770)  anerkannt,  der  ebendeshalb  in  der  Unterwelt  den  r^ayepSixb«  d'QÖvoi  inne 
hat  (Frösche  769);  ihn  führt  daher  auch  Dionysus  auf  die  Oberwelt  zurück,  um 
die  erstorbene  tragische  Poesie  neu  zu  beleben. 

156)  Bei  der  älteren  Generation  waren  die  Dichtungen  des  Aeschylus  in 
gutem  Andenken.  Bei  Symposien  pflegte  man  melische  Partien  wie  längere 
Reden  aus  diesen  Dramen  vorzutragen,  Aristoph.  Wolken  1364 f.;  der  alte  Strep- 
siades  erklärt  daher  den  Aeschylus  für  den  ersten  der  Dichter  (n^öixov  iv 
noiTjxais  1306  ist  nach  1368  einzuschalten). 

157)  Der  Sohn  des  Strepsiades  in  den  Wolken  1371,  der  es  vorzieht,  eine 
Stelle  aus  Euripides  zu  recitiren,  stellt  diese  veränderte  Geschmacksrichtung  an- 
schaulicl;  dar.  Wenn  Aristophanes  (Athen.  130  C)  diese  durch  einen  passenden 
Vergleich  iliustrirte  (xov  ^A&rjvaion'  Srifiov  ovxe  Tioir,xali  riSfO^ai  axXr^Qoli 
xni  dcxe/if^atv,  ovxe  Ilfaftvioie  oxXrjQoiatv  oÜvoü  avvayovct  ras  ofdjvs  ra  xai 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II,  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  I.  AESCH.     339 

seltener  wurden  seine  Tragödien  aufgeführt.'^).  An  fleifsigen  Lesern 
und  aufrichtigen  Verehrern  fehlte  es  dem  Dichter  zwar  niemals,  aber 
er  hat  nicht  die  volle  Gunst  des  Pubhkums  in  dem  Mafse  wie  So- 
phokles oder  Euripides  sich  erworben."^) 

Man  darf  den  Einflufs  der  Zeit  auf  die  geistige  Entwicklung Einflufs  der 
eines  grofsen  Mannes  nicht  überschätzen ,  aber  für  Aeschylus  ge-  Ag^'t,y^i"s 
stalteten  sich  die  äufseren  Verhältnisse  besonders  günstig.  Die  Pe- 
riode, in  welche  seine  Jugend  und  sein  Mannesalter  fällt,  ist  reich 
an  bedeutenden  Ereignissen;  eine  unruhvolle,  äufserlich  wie  inner- 
lich bewegte  Zeit  hat  der  Dichter  durchlebt.  Aeschylus  war  nicht 
blofs  Augenzeuge,  sondern  unmittelbarer  Theilnehmer  des  gewal- 
tigen Kampfes  gegen  Persien.  Die  Demokratie,  überall  siegreich, 
beseitigt  rasch  die  letzten  Schranken,  welche  der  freien  Entwick- 
lung des  Gemeinwesens  im  Wege  standen.  Die  Philosophie,  bis- 
her mehr  das  Eigenthum  einsamer  Denker,  tritt  aus  dieser  Isohrung 
heraus  und  gewinnt  auf  das  geistige  Leben  der  Nation  entschie- 
denen Einflufs.  Ganz  von  selbst  wurde  ein  dichterisches  Gemüth 
von  so  bedeutender  Begabung  zu  der  lebendigsten  Gattung  der  Poesie, 
zum  Drama,  hingeführt.  Hier  konnte  Aeschylus  alles  das,  was  ihn 
innerlich  bewegte,  rückhaltslos  aussprechen,  am  wirksamsten  ge- 
stalten. Vor  allem  kommt  auch  dies  dem  Dichter  zu  Gute,  dafs  er 
unter  Menschen  lebte,  welche  ihm  Empfänglichkeit  und  Verständ- 
nifs  entgegentrugen.  Der  Beifall  Gleichgesinnter  war  der  mächtigste 
Sporn,  auf  seiner  Bahn  rüstig  vorwärtszuschreiten;  denn  auch  den 
gröfsten  Geist  wird  die  Theilnahmlosigkeit,  die  Kleinheit  seiner  Um- 
gebung wie  ein  Bleigewicht  herabdiücken.  Wie  das  Gemüth  des 
Aeschylus  überall  durch  unsichtbare  Fäden  mit  dem  Leben  der 
Nation  zusammenhängt,  so  tragen  auch  seine  Schöpfungen  das  Ge- 
präge jener  grofsen  Zeit,  während  Sophokles'  Dramen  als  freie  Kunst- 


T^v  xoiXiav,  aXX'  avd'oafilq  xal  ninovt  vexra^aTaysT),  so  hatte  er  vielleicht 
eben  auch  den  Aeschylus  im  Sinne. 

15S)  Ob  die  HaXafiiviai  in  dem  Bruchstücke  einer  Didaskalie  (Philol.  24, 
S.  541)  [CIA.  II  2,  975  h]  auf  die  Tragödie  des  Aeschylus  zu  beziehen  sind,  ist 
ganz  ungewifs.  Die  Aufführung  der  Iloonounoi,  auf  welche  Alkiphron  III  48,  1 
(fr.  207  Di.)  sich  bezieht,  geht  entweder  auf  eine  Anekdote  aus  unbestimmter 
Zeit  zurück  oder  ist  eine  freie  Erfindung  des  Rhetors. 

159)  Wie  wenig  man  später  den  Dichter  gebührend  zu  schätzen  ver- 
stand, zeigt  das  l'rtheil  Quintil.  X  1,  66,  der  nur  die  damals  herrschende  An- 
sicht wiedergiebt.    (S.  S.  337  A.  153.) 

22* 


340  DRITTE    PERIODE    VOiN    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

werke  gleichsam  losgelöst  und  zeitlos  dastehen.    Und   dabei  hütet 
sich  Aeschylus  willkürlich  die  unmittelbare  Gegenwart  hereinzuziehen, 
was  bei  Euripides  nicht  selten  den  ruhigen,  harmonischen  Eindruck 
des  echten  Kunstwerkes  stört. 
Aeschylus'  Das  Verdienst  des  Aeschylus  würde,  wenn  wir  die  Arbeiten  der 

v!frgängern^^''§^°&^'''  namenlhch  des  Phrynichus,  vergleichen  könnten,  gewifs 
und  Nach-  noch  viel  entschiedener  hervortreten."")  Aeschylus  hat  seinen  Jilte- 
ogera.  ^^^  Genossen  manches  zu  danken;  er  behandelt  mehrfach  die  gleichen 
Stoffe.  Mit  Phrynichus  trifft  er  in  den  Persern  und  den  Schutzfle- 
henden zusammen  und  verwendet  unbedenklich  passende  Motive,  die 
er  bei  jenem  vorfand.  Aber  dabei  weifs  er  doch  seine  Selbständig- 
keit zu  wahren.  Insbesondere  die  melischen  Partien  hatten  einen 
sehr  verschiedenen  Charakter.'®')  Hier  verhält  sich  Aeschylus  zu 
Phrynichus  etwa  wie  Pindar  zu  Simonides.  Aeschylus  und  Pindar 
bilden  den  hohen  Stil  aus,  während  ihre  Vorgänger  die  leichte,  an- 
muthige  Weise  festhalten ,  welche  in  der  Periode  vor  den  Perser- 
kriegen sich  besonderer  Gunst  erfreute. 

Allein  nicht  nur  seine  Vorgänger,  sondern  auch  seine  Nach- 
folger insgesammt  überragt  der  grofse  Meister.  Wie  uns  die  Denk- 
mäler der  archaischen  Plastik  besonders  darum  ansprechen,  weil 
wir  darin  die  reife  Entwicklung  der  folgenden  Zeit  schon  wie  im 
Keime  beschlossen  erbhcken,  so  trifft  dies  auch  hier  zu.  Aber  bei 
Aeschylus  fesselt  uns  nicht  blofs  die  Verheifsung  der  Zukunft,  die 
Befriedigung  des  historischen  Interesses,  sondern  die  Geistesgewalt, 
der  Reichthum  der  Erfindung,  der  Adel  der  Gesinnung  und  die  Tiefe 
der  Gedanken,  mit  welcher  die  Würde  der  Sprache  harmonirt,  ver- 
leihen diesen  Werken  einen  unvergänghchen  Werlh.  Aeschylus  war 
Dichter  im  vollsten  Sinne  des  Wortes,  der  alle  Zeit  zu  den  ersten 
gerechnet  werden  wird,  wenn  man  auch  zugeben  mufs,  dafs  seine 
Nachfolger  dem  Gipfel  der  dramatischen  Kunst  näher  gekommen  sind. 
Aiteribüm-  Die  Pocsie  des  Aeschylus  ist  den  Werken  der  archaischen  bil- 

'  rakier.  "tlcnden  Kunst  vergleichbar.    Sie  ist  durch  Einfachheit  und  angebore- 

StreDffer    

160)  Biographie:  orq»  Si  Soxel  isXsutrsQos  r^ayq>Sine  nott}Tr,e  Sof>oxl^ 
yayovivnt ,  Sfd'üie  ftiv  Soxsi,  Xoyt^icd'oi  8  *  ort  nolhp  ;|ra^7r(VTe(N>*'  rjv  ini 
St'antSi,  <PQvvix(p  Mftl  Xoi^iXf^  eis  roaövSe  ueys&ovi  jt;v  r^ay^Siav  nfo- 
nyaytiv,  ^  in*  AiaxvXf^  tinovra  (lies  intövta)  $is  xf^v  ^ofoxXtove  tk&eiv 
rtXei6rT}xa. 

161)  Aristoph.  Frösche  «Uff. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRIPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  I.  AESCH.     341 

nen  Adel  ausgezeichnet ;  sie  hat  etwas  Ehrwürdiges,  aber  auch  etwas 
Herbes,  Eckiges.  Aeschylus'  Tragödien  sind  weder  von  Härten  noch 
von  Uebertreibung  frei;  erst  bei  näherer  Betrachtung,  bei  wieder- 
hoUer  eingehender  Beschäftigung  wird  man  die  staunenswerthe 
Grofsheit  begreifen  und  lieb  gewinnen.  Der  strenge  Stil  ist  Grundzug 
dieser  Dichtungen.  Dies  zeigt  sich  ebenso  in  den  religiösen  und 
sitthchen  Ansichten,  wie  in  der  Wahl  des  Stoffes,  in  der  Anlage 
und  künstlerischen  Composition,  wie  in  der  Sprache  dieser  Dramen. 
Aeschylus,  eine  ernstgestimmte  Natur,  hat  von  Haus  aus  eine  Nei- 
gung zum  Grofsen  und  Gewaltigen,  einen  stillen  Zug  zum  Alter- 
thümhchen,  aber  er  bildet  diesen  Stil  mit  vollem  Bewufstsein  aus  '^) 
und  handhabt  ihn  mit  vollendeter  Meisterschaft.  Den  Späteren  sagt 
diese  Herbheit  und  Strenge  nicht  mehr  zu ;  die  grandiose  Schhcht- 
heit  und  Keuschheit  der  Aeschyleischen  Poesie  war  befangenen  Be- 
urtheilern  kaum  recht  verständlich,  erschien  in  ihren  Augen  als 
ein  empQndlicher  Mangel. 

Sophokles'  Arbeiten  sind  abgerundeter ;  Buhe,  Klarheit  und  An- 
muth  sind  darüber  ausgegossen.  Aber  der  Eindruck  der  Aeschylei- 
schen Poesie  ist  mächtiger ;  man  fühlt,  wie  der  Dichter  seine  eigene 
grofse  Seele  ganz  dem  Werke  eingehaucht  hat.  So  wird  uns  reicher 
Ersatz  geboten  für  das,  was  dieser  Poesie  an  letzter  Formvollendung 
abgeht.  Die  höchsten  Ideen  sind  hier  in  der  angemessensten  Form 
niedergelegt ;  alles  ist  grofs,  edel,  würdevoll,  hegt  weit  ab  von  dem 
Gemeinen  und  Alltäghchen.  Der  Dichter  hebt  uns  zu  sich  hinauf; 
man  fühlt  sich  freier  und  grösser,  sowie  man  dieses  geweihte  Gebiet 
betritt.  Mit  dem  tiefen,  ergreifenden  Eindrucke,  den  der  Agamemnon 
hinterläfst,  ist  keine  andere  Tragödie  zu  vergleichen. 

Aeschylus  weifs  überall  aus  der  Sage  das  wahrhaft  BedeutendeAuswabiund 
und  Sinnvolle  herauszuheben.     Ein  richtiges  Verständnifs  der  alten ^g^^^j{j"JJ,* 
Mythenwelt,  wie  es  nur  aus  liebevoller,   hingebender  Beschäftigung 
entspringt,    eine  tiefsinnige  Auffassung  tritt  uns  hier  entgegen.'^) 

162)  Bezeichnend  ist,  dafs  Aeschylus  der  Aufforderung,  für  Delphi  einen 
Päan  zu  dichten,  nicht  folgte;  er  mochte  nicht  mit  dem  alten  Liederdichter 
Tynnichus  in  einen  Wettkanipf  sich  einlassen,  wie  Porphyrius  de  abst.  II  18 
berichtet :  naoaßaXXöusvov  Si  rbv  eavTOV  n^os  rov  ixeivov  ravxhv  rceiasad'at 
TOtS  ayäXfiaat  loiie  yatvols  tiqos  ra  ag^ftla '  ravTa  yng  xaineo  aTT/.äfS  nenotrj- 
ftiva  d'ela  vofii^ea&ai,  xa  8e  xaiya  TTeguQyojS  stQyaa/xeva  d'avfint,ead'at  fisv, 
d'eov  8i  So^ar  rjrrov  i^«»'. 

163)  Schon  der  alte  Glaukos  aus  Rhegium  schrieb  Tieol  Aiaxxi-ov  ftl&atv 


342  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

Diese  Sagenkunde  verdankt  der  Tragiker  vor  allem  dem  eifrigen  Stu- 
dium der  älteren  epischen  Dichter,  Homers,  Hesiods  und  der  Rykli- 
ker.'^^)  Daher  tritt  hei  ihm  der  troische  Kreis  in  den  Vordergund,  dem 
sich  zunächst  der  thebanische  und  argivische  anschhefsen.  Aus  der 
llias  und  Odyssee,  welche  die  älteren  Tragiker  noch  gar  nicht  henutzt 
zu  hahen  scheinen,  entnimmt  Aeschylus  mehrfach  den  Stoff  zu  Tra- 
gödien. Der  Homerische  Achilles,  der  durch  seinen  leidenschafthchen 
Groll  so  unsägliches  Leid  üher  die  Achäer  bringt,  aber  endhch,  durch 
den  Tod  des  Patroklus  aufs  Schwerste  getroffen,  seinem  Zorn  und 
der  Unthätigkeit  entsagt,  sich  mit  Agamemnon  versöhnt  und  nicht 
eher  ruht,  als  bis  er  Rektors  Leiche  seinem  trauten  Genossen  als 
Todtenopfer  dargebracht  hat,  ist  ein  echt  tragischer  Held,  nicht  min- 
der wie  Odysseus,  der  nach  vieljährigen  Irrfahrten  und  Leiden  un- 


(Arg.  Pers.),  wo  er  über  die  Quellen  des  Tragikers,  die  Umbildungen  der  Sage, 
die  er  vornahm,  u.  s.  w.  gehandelt  haben  wird.   (S.  S.  291  A.  46.) 

164)  Die  bekannte  Aeufserung  des  Dichters  bei  Athen.  VIII  347E:  ^Tti  vovv 
ßaXXöfiEvos  T«  Tov  x«Aot5  xai  laftn^ov  ^iaxv?u)v,  Se  ras  avrov  XQaycoSias 
zs/iaxr}  slvai  ^Xeye  icbv  'OfiriQOv  jueydlcov  Seinvwv,  hat  man  eben  auf  dieses 
Abhängigkeitsverhältnifs  beziehen  wollen,  so  dafs  der  Dichter  damit  selbst 
bezeuge,  den  Stoff  seiner  Tragödien  aus  Homer  und  den  alten  Epikern  ent- 
nommen zu  haben.  Wir  wissen  nicht,  bei  welchem  Anlafs  Aeschylus  jene 
Worte  sprach,  aber  man  darf  dieselben  keinesfalls  in  diesem  materiellen  Sinne 
fassen,  sind  doch  die  Epiker  keineswegs  die  einzige  Quelle  für  Aeschylus  ge- 
wesen, sondern  der  Geist  und  die  hohe  Kunst  der  Homerischen  Poesie  ist  ge- 
meint. Ganz  dasselbe  läfst  Aristophanes  den  Tragiker  nur  mit  anderen  Worten 
sagen  in  den  Fröschen  1040,  wo  das  Verhältnifs  zu  Homer  berührt  wird:  od'ev 
r;firj  fQ^v  anofia^afttvrj  noXXai  a^etas  inoirjaev  üaTQÖxXcov,  Tbvhqoiv  &vfto- 
Xeovrtüv  xxX.  Dankbar  bekennt  Aeschylus  von  dem  grofsen  Meister  gelernt  zu 
haben,  und  auch  wenn  rsfiäxr],  wie  Athenäus  zeigt,  fette,  erlesene  Stücke 
bezeichnet,  ist  der  Ausdruck  der  Bescheidenheit  doch  nicht  zu  verkennen. 
(S.  S.  336.)  —  Wir  können  in  vielen  Fällen  die  Quelle  nicht  mehr  mit  Sicherheil 
ermitteln.  Das  Motiv  zu  seiner  1'vxoaraaia  entnahm  Aeschylus  nach  dem  Zeug- 
nisse alter  Grammatiker  aus  der  Homerischen  llias,  aber  vielleicht  hatte  schon 
Arktinus  in  seiner  Aelhiopis  dieses  Motiv  benutzt.  Wenn  bei  Aeschylus  uns 
hier  und  dort  Mifsverständnissc  der  alten  Poesie  entgegentreten,  so  darf  man 
ihn  nicht  dafür  verantwortlich  machen,  sondern  er  folgt  nur  irrigen  Vorstel- 
lungen, die  damals  allgemein  verbreitet  waren.  So  läfst  er  dem  Prometheus 
einen  Keil  durch  die  Brust  treiben,  weil  man  den  Sinn  des  Hcsiodischen  Ver- 
ses Theog.  522  /ut'aov  Sta  xiov''  iXäaaai  nicht  mehr  verstand  (s.  S.  315  A.  103). 
Dieselbe  Erscheinung  wiederholt  sich  auch  auf  sprachlichem  Gebiete :  xoloa 
gebraucht  Aeschylus  als  gleichbedeutend  mit  aya&öe^  weil  die  Rhapsoden  das" 
Wort  so  bei  Homer  erklärten. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  I.  AESCH.     343 

erkannt  in  die  Heimath  zurückkehrt,  in  alter  ungebrochener  Helden- 
kraft den  ungleichen  Kampf  mit  den  übermüthigen  Freiern  besteht, 
die  treu  ausharrende  Gattin  wiedergewinnt  und  seine  Herrschaft  neu 
begründet.  Aber  nur  ein  ebenbürtiger  Dichter  wie  Aeschylus  konnte 
wagen  die  Gesänge  der  unvergleichlichen  Homerischen  Epen  in  die 
dramatische  Form  umzuwandeln,  ohne  den  Vergleich  mit  dem  alten 
Meister  zu  scheuen.'")  Anderes  bot  der  reiche  Liederschatz  der 
Meliker,  vor  allem  Stesichorus,  dar.  Ebenso  war  Aeschylus  mit  den 
Forschungen  der  älteren  Logographen  wohl  vertraut;  die  Arbeiten 
seines  Zeitgenossen  Pherekydes  sind  ihm  offenbar  nicht  unbekannt 
geblieben.'*) 

Aber  nicht  minder  schöpft  Aeschylus  unmittelbar  aus  dem  Volke 
selbst,  indem  er  den  Spuren  des  Alterthums  in  Sitten,  Sprache  und 
Ueberheferung  nachforscht,  um  den  Meerglaukus  zu  schreiben"'), 
sammelt  er  an  Ort  und  Stelle  aus  dem  Munde  von  Schiffern  und 
Fischern  die  Sagen  über  diesen  räthselhaften  Meergeist,  auf  den 
seine  Aufmerksamkeit  vielleicht  zuerst  durch  ein  Gedicht  Pindars 
hingelenkt  wurde.  Argos  und  Theben,  die  beiden  wichtigsten  Städte 
der  mythischen  Vorzeit,  welche  so  oft  der  Schauplatz  der  tragischen 
Handlung  sind,  kannte  der  Dichter  unzweifelhaft  aus  eigener  An- 
schauung. 

Aeschylus  ist  ein  alterlhümüches  Gemüth ;  daher  liebt  er  es,  das 
alte  Göttergeschlecht  der  Titanen  oder  Heroen  der  grauen  Vorzeit 
darzustellen.  Die  Scene  seiner  Dramen  ist  nicht  blofs  auf  der  Erde, 
sondern  auch  in  der  Unterwelt  wie  im  Sisyphus  *"*),  oder  im  Olymp 

165)  Auf  die  Uias  sind  die  Myrmidonen  und  Hektors  Lösung,  auf  die 
Odyssee  Penelope  und  die  'Oaio^jöyoi,  zurückzuführen;  denn  von  beiden  Tri- 
logien  ist  nur  das  Mittelstück  unbekannt.  Die  'Oaroi^yot  waren  kein  Satyr- 
spiel, sondern  eine  Tragödie;  die  Bestattung  der  im  Kampfe  gefallenen  Freier 
gab,  wie  die  Bruchstücke  unverkennbar  zeigen,  zu  dieser  Benennung  Anlafs. 

166)  Vgl.  vorher  S.  325  ff.  zum  Prometheus.  In  den  Heliaden  (s.  S.  320 
A.  110)  verlegt  Aeschylus  den  Tod  des  Phaethon  in  das  Land  der  Iberer  an  die 
Rhone,  Pherekydes  an  den  Po,  aber  der  Tragiker  mufs  versucht  haben  beide 
Traditionen  zu  vermitteln,  da  er  der  Klagelieder  der  Frauen  am  adriatischen 
Meere  gedachte. 

167)  r).avxos  növrws  vergl.  Paus.  IX  22,7:  IItv8aq<o  8i  xal  Ataxv^ 
nwd'avouivots  TtaQu  "Avd'riSoviiov  tüJ  fiiv  ovx  int  TioXv  inrjX&ev  qaat  ri 
is  rXavxov,  Aia/v).i^  Se  xai  ie  7toir]att'  d^a/utTOS  i^^sae.    (S.  S.  291  A.  45.) 

168)  üiavfoi  Ttex^oxvhaxTjs,  verschieden  vom  2!Urv(poi  SQaneTrjt,  wie  es 
scheint,  einem  Satyrspiel.    (S.  S.  320  A.  109.) 


344  DRITTE   PERIODE    VON    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

wie  in  der  Psychostasie'^^),  wo  Zeus,  bevor  Achilles  und  Memnon 
den  Zweikampf  beginnen,  die  Todesloose  der  Helden  im  Beisein  der 
Thetis  und  Eos  abwägt.  In  der  ältesten  Tragödie  mag  eben  die 
Handlung  häufig  ganz  in  das  Reich  der  Götter  verlegt  worden  sein. 
Das  griechische  Drama  geht  von  der  Göttersage  aus  und  wendet  sich 
dann  erst  der  Darstellung  der  heroischen  Welt  zu.  Da  die  lyrischen 
Gesänge  des  Chores  den  Schwerpunkt  bildeten  und  den  Göttern  vor- 
zugsweise lange  Reden  zufielen,  also  die  eigentliche  Handlung  gering 
war,  erschienen  dergleichen  Stoffe  unbedenklich.  Aeschylus  folgt 
diesem  Vorgange,  obwohl  das  dramatische  Element  bei  ihm  schon 
reicher  entwickelt  war.  Sein  grofsartiger  Genius  war  selbst  die 
schwierigste  Aufgabe  zu  lösen  befähigt,  aber  die  folgenden  Tragiker 
verzichten  auf  dieses  Gebiet.  Von  richtiger  Selbsterkenntnifs  ge- 
leitet, führen  sie  die  Götter  nur  nebenbei,  gewöhnlich  im  Prolog 
oder  Epilog,  ein. 

Ueberhaupt  bekundet  Aeschylus  bei  der  "Wahl  des  Stoffes  eine 
gewisse  Vorhebe  für  das  Uebernatürhche ,  Seltsame,  Grauenhafte. 
Selbst  vor  dem  Abstofsenden  und  Widerwärtigen  scheut  er  nicht 
zurück,  wie  Phineus,  dem  die  Harpyien  das  Mahl  besudeln,  und  Glau- 
kus,  der  von  seinen  Rossen  zerrissen  ward,  beweisen"**);  aber  wir 
dürfen  voraussetzen,  dafs  Aeschylus  auch  hier  mafsvoU  verfuhr  und 
mit  angeborenem  Takte  jene  Fehler  mied,  in  welche  rhetorisirende 
Dichter  bei  solchen  Stoffen  fast  regelmüfsig  verfallen.  Und  doch 
liegt  dem  Aeschylus  auch  das  Zarte  und  Rührende  nicht  fern,  aber 
nur  mit  Mafs  lässt  er  dasselbe  zu,  daher  auch  die  Darstellung  weib- 
hcher  Charaktere,  die  in  der  jüngeren  Tragödie  immer  allgemeiner 
wird,  seiner  männhchen  Sinnesart  weniger  zusagte. 

Die  überheferten  Mythen  giebt  Aeschylus  meist  getreuUch  wie- 
der. Weder  das  Einfältig-Naive,  noch  das  Seltsame  und  Fremdartige 
pQegt  er  abzuändern,  wie  die  Sage  von  dem  Wahrzeichen  beim  Be- 
ginn der  troischen  Heerfahrt  in  der  Parodos  des  Agamemnon  oder 
die  Prophezeiung  von  dem  Tode  des  Odysseus  durch  den  Rochen- 


169)  fvxoaraaia.  Das  Motiv  ist  aus  Homers  Ilias  XXII  209  und  dem  epi- 
Bchen  Cyklus  entnommen.   (S.  S.  IJTi  A.  94.) 

17(h  <Ptveve  und  rXnixos  TTorvieve  Ol.  76,4,  zugleich  mit  den  Persern 
aufgeführt.  Aber  dieses  historische  Schauspiel  nimmt  sehr  passend  die  mittlere 
Stelle  zwischen  jenen  mythischen  Dramen  ein  (s.  S.  291  und  A.  45). 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  I.AESCH.      345 

Stachel  in  den  Psychagogen  beweist."')  Indem  Aeschylus  sich  soviel 
als  möglich  der  volksmäfsigen  Ueberlieferung  anschliefst  und  selbst 
rein  lokalen  Sagen  folgt,  konnten  einzelne  Widersprüche  nicht  aus- 
bleiben. Im  Prolog  der  Eumeniden  wird  die  Erdgöttin  als  älteste 
Inhaberin  des  delphischen  Orakels  bezeichnet,  der  dann  Themis  folgt. 
So  lautete  die  delphische  Tradition,  an  der  der  Dichter  nichts  än- 
dern durfte.  Aber  im  Prometheus  wird  Themis  mit  der  Erdmutter 
für  eins  erklärt.  Das  ist  nicht  eigene  Erfindung  des  Tragikers,  son- 
dern er  schliefst  sich  genau  an  die  im  attischen  Cultus  herrschende 
Auffassung  an."*)  Wenn  Aeschylus  die  Artemis  eine  Tochter  der 
Demeter  nannte,  ganz  abweichend  von  der  herrschenden  Vorstellung, 
so  führt  Herodot  dies  auf  ägyptischen  Einflufs  zurück."^)  Der  Dichter, 
der  mit  dem  Alterthume  des  Glaubens  und  Cultus  wohl  vertraut  war, 
mag  manches,  was  ungewöhnlich  und  fremdartig  erscheint,  aus  ent- 
legener Quelle  geschöpft  haben,  aber  seine  Vorliebe  für  religiöse 
Spekulation  führte  ihn  wolil  auch  zu  selbständigen  Neuerungen,  die 
leicht  Anstofs  erregen  konnten."^) 


171)  Dergleichen  pflegt  die  Phantasie  des  Dichters  nicht  zu  erfinden,  wohl 
aber  gefällt  sich  die  volksmäfsige  Sage  in  solchen  seltsamen  Vorstellungen. 
Aeschylus  konnte  in  den  Vv^aycoyol ,  wo  er  die  Erfüllung  des  alten  Schick- 
salsspruches schildert,  der  dem  Odysseus  den  Tod  verkündet  hatte,  recht  gut 
sich  entweder  der  gemeinen  ueberlieferung  anschliefsen,  welcher  Sophokles  (in 
den  Ninxqa)  folgte,  oder  die  Sage  so  modificiren,  wie  dies  auf  einem  Vasen- 
bilde entsprechend  den  Anforderungen  der  bildenden  Kunst  geschehen  ist. 

172)  Aeschyl.  Prom.  209  f.  Unter  den  Inschriften  der  für  Priester  und 
Priesterinnen  bestimmten  Sitzplätze  des  attischen  Theaters  finden  sich  'legias 
rijS  06ßitSos  und  'EooTjföoots  ß"  Fr,?  OdfiiSos,  aufserdem  aber  auch  ^Okr/ipoQov 
U&Tiväe  0sfii8os  und  ieoecos  0t(fn8oi)  [CIA.  Uli,  350.  318.  323.  329]. 

173)  Herod,  II  156,  vgl.  Pausen.  VIII  37,6.  Wahrscheinlich  in  der  Tetra- 
logie, zu  der  die  Schutzflehenden  gehören. 

174)  Wenn  Aeschylus  in  den  Danaiden  die  Vermählung  des  Himmels  mit 
der  Erde  schildert,  wenn  ihm  Poseidon  der  Zeus  des  Meeres  (Pausan.  II  24,  4), 
oder  in  den  Schutzflehenden  (157)  Hades  Zeus  der  Todten  ist,  wenn  er  in  den 
SävToiai  den  Mond  das  Auge  der  Artemis  [Arjrc^a  x6^,  fr.  169  Di.)  nennt,  so 
tritt  er  aus  dem  Kreise  nationaler  Anschauungen  nicht  eigentlich  heraus.  Die  Verse 
der  Heliaden  fr.  65a  Di.:  Zevs  iariv  cu&tjq,  Zsvi  Se  y^,  Zeve  8^  ovQavoe,  Zeii 
roi  T«  Ttavra  xcüri  rävS'  vndQxeQov  sprechen  einen  Gedanken  aus,  der  in  den 
Kreisen  der  Orphiker  wohl  schon  längst  laut  geworden  war.  Wäre  uns  die  Lykur- 
gie  des  Aeschylus  erhalten,  so  würde  vielleicht  manches  dunkele  Räthsel  seine 
Lösung  finden.  Wie  der  thrakische  Lykurgus  als  Bekämpfer  des  Dionysusdienstes 
auftritt,  so  ward  in  den  Bassariden,  dem  zweiten  Drama   der  Tetralogie,  der 


346  DRITTE   PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Sophokles'  Aristoteles  bemerkt'"),  die  tragische  Poesie  erfordere  entweder 
Aeschyius^'^^'"®'^  Geist  von  glücklicher  Begabung  und  klarem  Verslande  oder 
eine  enthusiastische  Natur;  denn  die  letztere  wisse  sich  leicht  in  jede 
Lage  zu  versetzen  und  den  Affekt  naturgetreu  darzustellen,  der  an- 
dere verstehe  durch  umsichtige  Prüfung  das  Rechte  zu  finden.  Mit 
diesen  Worten  ist  der  Unterschied  beider  Dichter  sehr  gut  bezeichnet, 
und  darauf  läuft  auch  der  Tadel  des  Sophokles  hinaus,  dafs  Aeschy- 
lus  zwar  das  Rechte  treffe '"),  aber  ohne  es  zu  wissen,  ein  Vorwurf, 
der  eigentlich  das  höchste  Lob  enthält.  Uebrigens  weifs  Aeschylus, 
indem  er  seinem  angeborenen  Genius  folgt,  recht  wohl,  was  er  thut, 
wenn  ihm  auch  jede  kleinhcbe  Berechnung  fern  liegt,  ja,  er  begeht 
wohl  zuweilen  absichtlich  in  den  Augen  oberflächlicher  Beurtheiler 
einen  Fehler,  der  sich  bei  näherer  Betrachtung  als  eine  verborgene 
Tugend  ausweist.  Aeschylus  besitzt  jenen  Enthusiasmus,  jene  Wärme 
der  Empfindung,  die  den  wahren  Dichter  macht  und  unwillkürlich 
den  Zuhörer  mit  fortreifst.  Ein  Hauch  Dionysischer  Begeisterung 
durchweht  seine  Poesie,  und  es  ist  wohl  glaublich,  dafs  der  Dichter 
seine  geistigen  Kräfte  durch  den  Genufs  des  Weines  zu  steigern  ge- 
wohnt war.'")  Weder  Sophokles  noch  Euripides  haben  diese  Höhe 
erreicht;  bei  beiden  ist  kühle  Reflexion  und  Berechnung  vorherrschend. 
Gestaltende  Den  dramatischen  Figuren  aus  der  Epoche  der  Anfänge  haflete 
Kraft,  -wohl  uoch  ctwas  Mageres  und  Trockenes  an.  Aeschylus  verstand 
es,  ihnen  Fleisch  und  Blut  zu  verleihen.  Von  den  Erinnyen  hatten 
die  Griechen  nur  dunkle,  unbestimmte  Vorstellungen,  aber  mit  wel- 
cher Wahrheit  weifs  der  Dichter  die  blutgierigen,  Rache  athmenden 


Thraker  Orpheus  als  Verehrer  des  Sonnengottes  Apollo  geschildert,  der  den  Dio- 
nysus  verschmäht  und  eben  dadurch  seinen  eigenen  Untergang  herbeiführt;  und 
eben  in  dieser  Tragödie  mag  der  Tragiker  die  Identität  des  Apollo  und  Dio- 
nysus  ausgesprochen  haben,  s.  Macrobius  Sat.  I  18,  Ü. 

175)  Aristot.  Poet.  c.  17  p.  1455  A  32. 

176)  Athen.  X  428 F:  8i6  xai  Sofoxlfie  avxq^  fUft<p6ftsvoe  Hayav  ort,  o 
^iaxvXe,  ei  xal  rh  Siovia  Ttoieii,  aXX^  ovv  ovx  eiStos  ye  noteis ,  an  laTOQtl 
Xaftaildtov  iv  rcp  neQi  AiaxvXov.  "Wie  Athenäus  hinzufügt,  ward  dieser  Tadel 
durch  den  übermäfsigen  Weingenufs  des  Aeschylus  veranlafst  (fie&tmv  yovp 
fy^nips  TöC  jfay(pSiae).  Grundlos  ist  die  Vermuthung  Neuerer,  Sophokles 
habe  diesen  Vorwurf  in  der  Schrift  ne^l  x^Qo^  ausgesprochen. 

17")  Athen.  I  22A,  X  428  F.  Lukian  Demosth.  15:  ov  yaq  ai  rov  Aicxv- 
IjOV  6  KaXhad-dvr,t  Sfti  nov  XiyoJV  ras  tQayt^Siai  iv  o'ivq)  y^feiv  d^O(>U(örxa 
xnl  ava&B^fiaivovxa  xriv  ^X'}*'-    P'"^*  Quacst.  Symp.  I  5,  4. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  I.AESCH.      347 

Graueogeslallen  vor  das  Auge  zu  führen!  Darin  offenbart  sich  die 
Gröfse  des  echten  Dichters,  dafs  er  jedem  Gebilde  Leben  und  Energie 
einhaucht;  weder  Sophokles  noch  Euripides  besitzen  diese  gestal- 
tende Kraft  in  gleichem  Mafse.  Der  kühne  Geist  des  genialen  Meisters 
durfte  vieles  wagen ,  ohne  der  Würde  der  Tragödie  etwas  zu  ver- 
gehen. In  den  Kabiren  brachte  er  die  Argonauten  weintrunken 
auf  die  Bühne'"*);  im  Agamemnon  schildert  die  greise  Amme  die 
erste  Pflege  des  Kindes  mit  realistischer  Derbheit.  Aber  Aeschylus 
weifs  alles,  was  er  berührt,  zu  adeln ;  unter  seiner  Hand  gewinnt 
auch  das  Widerwärtige  und  Abstofsende  Grofsheit. 

In  seiner  grofsartigen  Einfachheit  verschmäht  Aeschylus  die  Einfachheit, 
gangbaren  Kunstgriffe,  durch  welche  andere  Dichter  zu  fesseln  und 
zu  wirken  suchen.  Er  versteht  es,  überall  mit  den  einfachsten  Mitteln 
die  Seele  zu  erfüllen  und  zu  ergreifen.  Bei  keinem  anderen  Tra- 
giker vollzieht  sich  die  läuternde  Wirkung  in  solcher  Reinheit;  man 
fühlt  sich  durch  diese  Poesie  gehoben  und  von  allem  Quälenden  be- 
freit. Eigenthümlich  ist,  dafs  bei  Aeschylus  derjenige,  welchen  die 
schwersten  Schicksalsschläge  getroffen  haben,  seinem  Schmerze  nicht 
in  lauten  Klagen  Luft  macht,  sondern  in  tiefe  Trauer  versenkt 
schweigt."^)  Dieses  Kunstmittel  verfehlte  nicht  leicht  die  beabsichtigte 
Wirkung  auszuüben;  natürlich  fiel  dann  dem  Chore  die  Aufgabe  zu, 
die  Gröfse  des  Unglücks  anschaulich  zu  machen. 

Die  Kunst  des  Motivirens  ist  dem  Aeschylus  wohl  bekannt.  Aber 
er  macht  davon  nur  mäfsigen  Gebrauch ;  selbst  schroffe  Uebergänge 
werden  nicht  vermieden.  Dem  Hörer  bleibt  es  überlassen,  die  Lücken 
auszufüllen,  und  der  schweigsame  Dichter  erzielt  gerade  durch  diese 
Entsagung  den  rechten  Eindruck. 

Charakteristisch  ist  die  Vorliebe  für  das  Ahnungsvolle.    Daher     Da« 
benutzt  der  Dichter  nicht  nur  Weissagungen,  sondern  auch  wieder-     >°oii'ie!'~ 
holt  das  Motiv  des  Traumes,  welcher  gleichsam   den  Schleier  der 


178)  Athen.  X  428  F.  Später  finden  wir  ähnliche  Scenen  bei  Euripides, 
-wie  Herakles  in  der  Alkesiis,  vgl.  Dio  Chrysost.  32,  94  I  432  Di. 

179)  Der  well-  und  menschenkundige  Dichter  gab  damit  nur  die  Natur 
treu  wieder,  denn  eurae  leves  loquuntur,  ingenles  stupent.  Die  Wirkung  die- 
ses Stillschweigens  der  Niobe  oder  des  Achilles  schildert  Aristoph.  Frösche  911 
[S.Hermes  18,  482  ff.],  vgl.  auch  die  Biographie.  Daher  mag  auch  der  Maier  Ti- 
manthes,  der  den  Agamemnon  verhüllten  Hauptes  bei  dem  Opfertode  der  Iphi- 
geneia  darstellte,  die  Anregung  empfangen  haben. 


348  DRITTE    PERIODE    VOi\    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

verborgenen  Zukunft  lüftet.  So  wird  in  den  Persern  die  Trauer- 
botschaft schicklich  durch  das  Traumgesicht  der  Atossa  vorbereitet. 
In  den  Choephoren  deutet  der  Traum  der  Klytämnestra  von  der 
Schlange,  die  sie  gebar  und  an  ihrer  Brust  nährte,  auf  die  rächende 
That  des  Orestes  hin.  In  den  Sieben  wird  auf  ein  Traumbild  an- 
gespielt, welches  wahrscheinlich  im  Oedipus  ausführhcher  geschildert 
war.  Von  höchster  Wirkung  sind  im  Agamemnon  die  düsteren,  un- 
heimlichen Prophezeiungen  der  Kassandra.  Ebenso  ist  die  Geister- 
beschwörung in  den  Persern  ganz  dem  Geiste  der  Aeschyleischen 
Poesie  gemäfs."") 

Das  Zarte.  Aeschylus'  starkem,  männlichem  Geiste  sagt  das  Weiche,  Schmel- 

zende weniger  zu'*'),  und  doch  weifs  er  auch  das  Zarte  und  Rüh- 
rende schicklich  zu  verwenden,  wie  die  Episode  von  der  Jo  im  Pro- 
metheus zeigt.  Unter  den  Frauencharakteren,  welche  sich  durch 
Mannigfaltigkeit  auszeichnen,  fehlen  auch  anmuthige  Gestalten  nicht.'") 
Die  Töchter  des  Danaus  offenbaren  eine  Homerische  Kunst,  und  man 
mufs  das  Verdienst  des  Tragikers  um  so  höher  anschlagen ,  da  die 
Welt,  in  der  er  lebte,  ihm  nicht  leicht  entsprechende  Vorbilder  dar- 
bot. Auch  mufste  die  Darstellung  der  Frauenrollen  durch  Männer, 
welche  der  treuen  Wiedergabe  der  feinen  unsichtbaren  Züge  des 
weiblichen  Naturells  nicht  günstig  war,  auf  die  poetische  Behand- 
lung einwirken,  da  der  dramatische  Dichter  unwillkürlich  auf  die 
Schauspieler  gewisse  Rücksicht  nimmt. 

Trotz  der  Einfachheit  der  Handlung  zeigen  doch  schon  die  älte- 
ren Arbeiten,  wie  die  Perser,  dafs  der  Dichter  wohl  bedacht  war, 
das  dramatische  Interesse  zu  steigern.  Eine  vollendete  Meisterschaft 
bekundet  der  Prometheus,  wo  wir  von  Scene  zu  Scene  einen  ste- 
tigen Fortschritt  wahrnehmen. 

Die  Leiden-         Keiner  der  anderen  Tragiker  versteht  so  wie  Aeschylus  die  ent- 
«chaft.    fgggejtgu  Leidenschaften  in  all  ihrer  Furchtbarkeit  vorzuführen,  und 

180)  Biographie:  rale  re  yä^  orpeai  xal  roU /uvd'ou  ngos  tkniriStv  xtQa- 
TtoBrj  fiaXXov  rj  ngot  anarriv  xix^xai. 

181)  Biographie:  avfina&stat  r^  nkXo  rt  xd>v  8wa/tt'viov  sts  Saxfva  aya- 
yiiv  ov  jrarr. 

182)  Sophokles'  Frauencharaktere  haben  meist  etwas  Herbes,  fast  Männ- 
liches; nur  die  Dciancira  in  den  Trachinierinnen  erinnert  an  die  Weise  des 
Aeschylus.  Ob  die  Nausikaa  des  Sophokles  ihrem  Urbiide  glich,  Urst  sich 
nicht  sagen. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  I.  AESCH.      349 

doch  hält  er  die  rechte  GrenzHnie  meist  inne;  er  wird  nicht  leicht 
gegen  das  Gesetz  des  Schönen  und  des  Mafses  verstofsen.  Bei  Sopho- 
kles erscheint  diese  Gewalt  der  Leidenschaft  bedeutend  gemildert  und, 
wenn  man  will,  vergeistigt,  büfst  aber  eben  darum  an  Ursprünglichkeit 
und  Naturwahrheit  ein,  während  die  rhetorische  Kunst  des  Euripides 
neben  dem  grofsartigen  Pathos  des  alten  Meisters  kleinlich  erscheint. 

Aeschylus  gilt  mit  Recht  als  Vertreter  des  hohen,  strengen  Stiles  Der  stu  des 
in  der  Tragödie.'")  Seine  Sprache  zeigt  eine  Tiefe  der  dichterischen  *  ^  "*' 
Anschauung,  wie  wir  sie  nur  bei  wenigen  antreffen ;  ein  poetischer 
Schimmer  ist  wie  Morgenduft  über  alles  ausgegossen ,  was  seine 
Hand  schuf.  Wie  diese  Dramen  grofse  Schicksale,  gewaltige  Leiden- 
schaften schildern,  so  ist  auch  der  Ausdruck  grofsartig,  ernst  und 
feierhch.  Die  gehobene  Stimmung,  die  Energie  des  Pathos  giebt  sich 
überall  in  der  Rede  kund.  Alles  ist  darauf  berechnet,  den  Zuhörer 
zu  der  idealen  Höhe  der  Götter-  und  Heroenwelt,  welche  der  Dichter 
schildert,  emporzuheben.  Kein  anderer  Tragiker  übt  eine  solche 
Gewalt  über  die  Gemüther  aus,  mag  er  uns  nun  in  schmerzUche 
Wehmuth  versenken  oder  tröstend  und  beruhigend  über  das  leidvolle 
menschliche  Dasein  erheben. 

Diese  Weise  des  dramatischen  Vortrags  verdankt  Aeschylus  nicht 
sowohl  seinen  Vorgängern ,  sondern  er  hat  diese  Form  geschaffen, 
sich  seinen  eigenen  Stil  gebildet'");  denn  die  äUeste  Tragödie, 
welche  das  satyrhafte  Element  noch  nicht  ausgeschieden  hatte,  konnte 
auch  in  der  Sprache  jene  Mischung  des  Ernstes  und  des  Possen- 
haften nicht  verleugnen.     Phrynichus  hielt  zwar  auf  Reinheit  und 


1S3)  Dionys.  Hai.  de  comp.  verb.  22  zählt  den  Aeschylus  zu  den  Vertretern 
der  avairiQo.  aqfiovia.  In  der  Schrift  de  vett.  Script,  cens.  2,  10  charakterisirt  er 
den  Dichter  mit  den  Worten:  tiqcütos  xai  t^s  /isyakon^sneias  i^ö/tevos  xai 
Tj&cäv  xai  na&cöv  ro  TToenov  eiScoS  xai  xf,  r^OTHxfi  xai  rfj  xvoiq  )^^si  Sta- 
tfeoövrcos  xexoaurjfisvos,  nokhxxov  Si  xai  avros  Srjfiiovoyos  xai  7ro«jjTj;»  iSicjv 
ovofiäicav  xai  n^ayuärcov.  Der  Biograph :  xara  8e  tt]v  avvd'saiv  rr^s  7toir,aeo}S 
^t})mi  ro  oSqov  aai  7t läofia,  ovofiaroTiottats  xe  xai  inid'äion ,  ixt  Si  fiera- 
foqaii  xai  näai  role  Svvafiivoii  öyxov  TJj  (p^äaet  ntQi&Bivai  xQcofievos.  Quin- 
til.  X  t,  66:  sublimis  et  gravis  et  grandiloquus  saepe  usque  ad  Vitium.  Einzelne 
Bemerkungen  bei  Dio  Chrysost.  orat.  52  II  15S  in  der  Parallele,  die  er  zwischen 
den  drei  Tragikern  zieht.  Die  lebendigste  Charakteristik  des  Aeschyleischen 
Stils  bieten  die  Frösche  des  Aristophanes  914  ff. 

184)  Aristoph.  Frösche  1005:  dX?.^  a.  jtQahos  xäv  'EXXrjvatv  jtvQytüaas 
(rr]/iaxa  atftva  xai  xocftrßai  XQaytxov  l^^ov. 


350  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Schönheit  der  Form,  aber  seine  milde  Natur  erhob  sich  nicht  leicht 
über  ein  gewisses  mittleres  Mafs. 

Man  hat  gesagt,  der  Stil  des  Aeschylus  zeige  ein  durchaus  in- 
dividuelles Gepräge.  Dies  ist  nicht  recht  zutreffend;  denn  wie  der 
Sinn  des  Dichters  ganz  auf  das  Wesen  der  Sache,  auf  die  hohe  Auf- 
gabe seiner  Kunst  gerichtet  war,  so  ist  die  Entäufserung  des  blofs 
Individuellen,  die  Abwesenheit  jeder  persönlichen  Prätension  ein 
hervorstechendes  Kennzeichen  seiner  Poesie.  Der  Stil  des  Aeschy- 
lus entspringt  ebenso  sehr  aus  dem  Charakter  der  Dichtung,  wie 
aus  der  innersten  Natur  des  hohen  Geistes,  der  diese  Werke  schuf. 
Die  äufsere  Form  ist  dem  Gehalte  völhg  entsprechend  '*^) ;  in  beiden 
gleichmäfsig  offenbart  der  Dichter  sein  eigenstes  Wesen. 

Gleich  in  den  Wortformen  zeigt  sich  die  Vorliebe  des  Dichters 
für  das  Archaische.  So  ist  bemerkenswerth,  dafs  noch  einzelne  Reste 
des  ionischen,  d.  h.  des  altattischen  Dialektes  erhalten  sind.  Aber 
schon  frühzeitig  mögen  die  Schauspieler  solche  Anklänge  an  eine 
überwundene  Lautstufe  entfernt  haben.'*')  Ebenso  weiden  zuweilen 
rein  dorische  oder  äolische  Formen  beigemischt.'")  Noch  viel  ent- 
schiedener tritt  diese  Neigung  in  der  Diktion  selbst  hervor.  Aeschy- 
lus war  mit  dem  allerlhümlichen  poetischen  Sprachschatze  wohl  ver- 
traut, so  dafs  er  überall  den  passendsten  Ausdruck  für  die  Sache  zu 
finden  versteht.'**)  Aber  das  Wohlgefallen  an  ungewöhnlicher  Rede- 
weise hält  sich  innerhalb  der  rechten  Grenzen.  Der  Dichter  hält  sich 
frei  von  jener  Ueberladung,  welche  Fremdartiges  und  Verschollenes 

185)  Bei  Aristophanes  Frösche  1058  ff.  vertheidigt  sich  Aeschylus  gegen  die 
Kritik  des  Euripides  sehr  treffend :  aväyxrj  fieyäXoiv  yvotficöv  xai  Siavoiäv  i'aa 
xai  Tri  Qrjfiara  ilxreiv  xaXXas  etxos  roie  fjfit&iove  rdis  ^^fiaat  ftei^oai 
Xfirfid'at. 

186)  Die  Kritiker  haben  sich  beeifert,  die  sparsamen  Spuren  der  las  voll- 
ständig zu  tilgen. 

1 87)  Wie  afersQi^äfisvos,  asßi^oi,  nsSaixfitos,  neSn^aioe,  nsSoutoe  u.  8.  w. 

188)  Vieles  verdankt  Aeschylus  dem  Homer  und  den  Lyrikern,  anderes 
entlehnt  er  der  Volkssprache;  daher  finden  sich  bei  ihm  zahlreiche  yX^aoai 
(so  nannte  man  jeden  Ausdruck,  der  von  der  gewöhnlichen  Redeweise  sich 
entfernt,  naoa  StnXexiov  ist).  Aristot.  Rhet.  III  3  p.  MOtj  B  2  f.  weist  den  Gebrauch 
der  yXäJaaai  den  Epikern  zu,  asfivov  ya^  xai  av^aSai,  die  zusammengesetz- 
ten und  neugebildeten  Worte  (8tnXä  ovo^iara  xai  ntnoiTjftiva,  III  2  p.  1401  B  20) 
den  Dithyrambikern,  ovrot  ynQ  xfJOftüSet«;  die  Metapher  steht  dem  drama- 
tischen Dichter  (d.  h.  in  den  dialogischen  Partien,  den  laftßeia)  wohl  an,  vgl. 
auch  Aristot.  Poet.  c.  22  p.  1459  A  8  ii. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  I.  AESCH.      351 

bis  zur  Unnatur  häuft,  um  uns  beständig  Räthsel  aufzugeben."^) 
Das  Gewohnte  und  Allgemeinfafsliche  ist  auch  bei  Aeschylus  die 
Grundlage ;  der  Reichthum  seltener  Worte,  die  nicht  wie  ein  todter 
Klang  das  Ohr  trafen,  sondern  durch  sinnliche  Lebendigkeit  wirkten, 
verleihen  der  Darstellung  Würde,  Mannigfaltigkeit,  Farbe.  Es  sind 
Lichter,  welche  die  kunstverständige  Hand  des  Dichters  aufsetzt,  um 
ihre  Umgebung  zu  adeln.  So  stehen  die  verschiedenartigen  Elemente 
im  besten  Einklänge;  denn  sorgsam  meidet  Aeschylus  den  Fehler, 
aus  dem  hohen  Stil  in  das  Platte  zu  verfallen.  Dafs  Aeschylus  für 
gewisse  Ausdrücke  besondere  VorUebe  zeigt,  hat  er  mit  den  meisten 
Dichtern  gemein.'^)  Die  Wiederholung  desselben  Wortes  in  kurzem 
Zwischenräume  wird  nicht  ängstlich  gemieden ;  auch  dies  erinnert  an 
die  Schlichtheit  des  archaischen  Stils. 

So  reich  auch  die  griechische  Sprache  ist,  so  reichte  doch  das 
Vorhandene  für  den  Dichter,  der  neue  Bahnen  einschlug  und  die 
tragische  Kunst  auf  eine  bis  dahin  unbekannte  Höhe  zu  erheben 
strebte,  nicht  aus.  Aeschylus  besitzt  vollkommene  Gewalt  über  die 
Sprache  und  weifs  sich  ihre  Bildsamkeit  wohl  zu  Nutze  zu  machen. 
Die  schöpferische  Kraft  der  Rede  offenbart  sich  hier  auf  das  Deut- 
lichste. Vielleicht  kein  anderer  Dichter  hat  soviel  Neues  gebildet; 
vieles  mit  Glück,  was  zum  Theil  auch  von  den  Späteren  beibehalten 
wurde,  anderes  ist  minder  gelungen;  namentlich  bei  den  gewichtigen 
und  volltönenden  Zusammensetzungen  vermifst  man  öfter  die  rechte 
Klarheit  und  Einfachheit. '^•)  Unerschöpflich  ist  der  Tragiker  in 
neuen  Beiworten.  Die  Epitheta  gehen  nicht  blofs  auf  das  Aeufsere, 
sondern  auch  auf  das  Geistige,  den  inneren  Gehalt.  Die  Anschau- 
üchkeit  der  epischen  Diktion  verbindet  sich  mit  der  wärmeren  Em- 
pfindung der  lyrischen  Poesie.    Wh*  sind  natürhch  nicht  im  Stande 


1S9)  Aristot.  Poet.  c.  22  p.  1458  A  23 :  aW  av  Tis  anavra  roiavra  Ttoirjarj, 
^  ai'viyfia  iaxai  rj  ßa^ßa^ia/ioi.  Damit  ist  das  Urtheil  über  Lykophron  und 
verwandle  Bestrebungen  gesprochen. 

190)  Wie  z.  B.  ydvot,  yvä&os,  xiftaX^siv  u.  s.  w. 

191)  Besonders  liebt  Aeschylus  Composila,  die  aus  zwei  BegriflFsworten 
gebildet  sind,  wie  aofuaTOf&ogsTv,  oQ&ofiavxaia;  zwei  Vorstellungen  werden 
zu  einer  ganz  bestimmt  umschriebenen  verknüpft.  Darin  besteht  vorzugsweise 
das,  was  die  Alten  mit  dem  Ausdruck  iQaytxhs  öyxoi  bezeichnen.  Schon  der 
bedeutende  Umfang  und  das  Gewicht  dieser  sesquipedalia  verba,  dann  das 
Ungewohnte,  denn  es  sind  zum  guten  Theil  Neubildungen,  verfehlte  nicht  Ein- 
druck zu  machen. 


352  DRITTE    PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

überall  zu  entscheiden,  was  Aeschylus  von  Früheren  überkam,  was  er 
selbständig  bildete,  aber  alles  macht  den  Eindruck  des  Ursprüng- 
lichen, noch  nicht  Verbrauchten.  Hier  weht  uns  erquickende  Wal- 
desfrische entgegen. 

Aeschylus'  reiche  dichterische  Phantasie  reproducirt  die  Aufsen- 
welt  in  voller  Gegenständlichkeit.  Er  vermag  das  Bild ,  welches  vor 
seiner  Seele  steht,  in  die  sinnHche  Erscheinung  einzuführen,  jedes 
Wort  in  Anschauung  zu  verwandeln  und  so  die  Einbildungskraft  der 
Zuhörer  mächtig  anzuregen.  Eine  Fülle  der  mannigfachsten  Bilder  und 
Metaphern  strömt  dem  Dichter  unablässig  zu.  Dies  ist  kein  äufserlicher 
FHtter,  keine  angelernte  Manier,  sondern  für  einen  Dichter  von  sol- 
cher Ursprünglichkeit  der  Gedanken  und  Empfindungen  war  jene 
Farbenpracht  die  angemessenste  Form,  um  die  Gegenstände  der  wirk- 
lichen Welt  in  die  künstlerische  Darstellung  zu  übertragen,  das,  was 
in  dem  tiefsten  Innern  seines  enthusiastischen  Gemüths  lebendig 
war,  zu  Tage  zu  fördern.  Dieser  Wechsel  immer  neuer  und  glän- 
zender Bilder,  diese  Kühnheit  der  Uebertragungen  ist  wesentUch  der 
Grundton  des  Aeschyleischen  Stiles.  Bildlicher  und  eigenthcher  Aus- 
druck sind  häufig  nicht  streng  geschieden,  sondern  gehen  unmittel- 
bar in  einander  über.  Des  Gleichnisses  bedient  sich  Aeschylus  sel- 
tener, aber  seine  Vergleichungen,  obwohl  meist  nur  in  kurzen  Um- 
rissen angedeutet,  sind  immer  treffend.'^*) 

Etwas  Herbes,  wie  es  der  archaischen  Kunst  eigen  ist,  haftet 
auch  der  Poesie  des  Aeschylus  an.  Der  keuschen  Strenge  und  ge- 
messenen Würde  des  Inhaltes  entspricht  die  Darstellung.  Aber  Aeschy- 
lus Hebt  nicht  so  sehr  gedrängte  Kürze,  obwohl  er  auch  davon  unter 
Umständen  schicklichen  Gebrauch  macht,  sondern  vielmehr  Fülle 
des  Ausdrucks  und  behagliche  Breite  der  Schilderung.  Um  den  Ge- 
genstand erschöpfend  darzustellen'^'),  werden  oft  synonyme  Worte  ge- 
häuft; dies  ist  eben  eine  Eigenthümlichkeit  der  alten  volksmäfsigen 
Sprache.  Aeschylus  hält  solche  Tautologien,  welche  die  Rede  sinn- 
lich beleben,  den  Eindruck  verstärken,  fest,  wie  ja  auch  das  Epos 
diese  Wiederholung  der  Begriffe  liebt.  An  die  Weise  der  epischen 
Dichtung  erinnert  vor  allem  die  ungemeine  Fülle  charakteristischer 

192)  Besonders  gern  entnimmt  er  Gleichnisse  wie  Metapliern  dem  See- 
leben, Fischfänge  u.  s.  w. ;  aber  auch  auf  die  Schreibkunst  wird,  gerade  wie 
bei  Pindar,  öfter  angespielt. 

193)  Euripides  krilisirt  diese  Gewohnheit  bei  Aristoph.  Frösche  1154. 


DJE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHE2E1T.  I.  AESCH.     353 

Beiworte,  die  wir  überall  bei  Aeschylus  antreffen.   Ebenso  wird  öfter, 
statt  die  Sache  einfach  zu  nennen,  die  Umschreibung  gebraucht. 

Der  Satzbau  ist  im  Ganzen  schlicht  und  kunstlos;  die  Gedan- 
ken werden  mehr  nach  aller  Weise  aneinandergereiht,  als  zu  aus- 
geführten Perioden  zusammengefügt.  Die  kürzeren  Sätze  sind  über- 
sichthch  gegliedert;  bei  den  gröfseren  Massen  vermifst  man  nicht 
selten  die  rechte  Symmetrie  der  Theile.  Das  Asyndeton  ist  bei 
Aeschylus  viel  häufiger  als  bei  seinen  Nachfolgern.**^)  Auch  darin 
giebt  sich  der  alterthümhche  Geist  kund,  indem  die  Sätze  oder  Satz- 
theile  unverbunden  neben  einander  gestellt  werden  und  der  Dichter 
es  der  Selhstthätigkeit  des  Zuhörers  überläfst  das  Fehlende  zu  er- 
gänzen.'*^) Freie  Strukturen  ***)  sowie  Anakoluthien  finden  sich  in 
ziemhcher  Zahl.  Aber  in  dieser  abgebrochenen  Redeweise  darf  man 
nicht  etwa  eine  Lässigkeit  des  Dichters  finden,  sondern  sie  ist  in 
der  Regel  beabsichtigt  und  wirksam,  indem  dadurch  die  Energie  des 
Ausdrucks  erhöht,  das  besondere  Gewicht  des  Gedankens  hervorge- 
hoben wird.'") 

Aeschylus,  dem  die  bewufste  Berechnung  der  rhetorischen  Kunst- 
mittel noch  fern  lag,  bekundet  mehr  eine  natürliche  Redegewalt; 
aber  diese  vorherrschend  naive  Weise  verschmäht  weder  Wortspiele, 
noch  rednerische  Figuren.  In  der  Vorliebe  für  Antithesen  und 
scharfsinnige  Reflexionen,  in  humoristischen  Zügen  und  der  feinen 
Ironie,  die  öfter  hereinspielt,  erkennt  man  deutlich,  wie  der  attische 
Dichter  seine  Stammesart  nicht  ganz  verleugnet.  EigeuthümUch  ist 
besonders  die  Gewohnheit,  das  Bild  durch  eine  Beziehung  auf  den 
gegenwäi'tigen  Fall,  durch  einen  der  Wirkhchkeit  entlehnten  Zug 
gleichsam  aufzuheben.'**)  Indem  der  Dichter  so  die  Incongruenz  an- 
deutet, stört  er  gewissermafsen  die  Illusion,  nicht  sowohl  um  die 
Kühnheit  des  Bildes  zu  mildern,  sondern  es  ist  auch  dies  eine  ge- 


194)  Besonders  wo  synonyme  Begriffe  aneinandergereiht  werden,  läfst 
Aeschylns  das  Asyndeton  zu. 

195)  Auch  die  Aposiopese  kommt  mehrfach  in  Anwendung. 

196)  Auch  hier  zeichnet  sich  die  Diktion  des  Dichters  durch  Mannigfaliig- 
keit  aus;  es  ßndet  sich  nicht  wenig  Eigenthämliches  (wie  z.  ß.  im  Gebrauch 
des  Infinitivs). 

197)  Hierher  gehört  die  Gewohnheit,  einen  Participialsalz  im  Nominativ  vor- 
anzustellen ohne  Rücksicht  auf  die  Struktur,  welche  das  Nachfolgende  erheischt. 

19S)  Z.  B.  ^Jli8a^  axä)jxsvToi  (Ghoeph.  493),  a^Sis  änvQOi  (Prom.  SSO), 
xvfta  x^Qoaiov  (Sieben  64), 

Bergk,  Griecb.  Literaturgeschichte  lil.  23 


354  DRITTE    PEKIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

wisse  alterlhümliclie  Herbheit,  weiche  an  die  bei  den  Jüngeren  be- 
liebte Figur  des  Oxymoron  heranstreift.  Die  Wiederholung  desselben 
Wortes,  die  bei  den  jüngeren  Dichtern  besonders  beliebt  war,  ist 
auch  dem  Aeschylus  nicht  fremd '^);  sie  stammt  aus  der  volksmäfsigen 
Poesie,  hat  vorzugsweise  in  der  Todlenklage  ihre  Stelle  und  wird 
daher  auch  von  Aeschylus  zunächst  in  Klagegesängen,  dann  in  an- 
deren melischen  Partien,  aber  immer  mit  Mäfsigung  und  mit  Grund 
angewandt.  Die  kräftige  Sprache  des  Tragikers  wirkt  durch  vollen 
Klang;  daher  macht  er  von  der  Alliteration,  von  Gleichklängen  und 
was  sonst  der  Lautmalerei  dient  nicht  selten  Gebrauch.  Durch  zahl- 
reiche Interjektionen  werden  die  verschiedenartigsten  Empündungen 
ausgedrückt;  selbst  die  Häufung  fremder  Eigennamen  ist  niemals 
störend. 

Man  wirft  gewöhnlich  dem  Aeschylus  vor,  seine  Darstellung 
sei  eintönig.  In  solcher  Allgemeinheit  ist  dieser  Tadel  unbegründet; 
man  darf  nicht  glauben,  dafs  die  Personen  des  Tragikers  durch- 
gehends  die  gleiche  Sprache  reden.  Aeschylus  ist  Meister  des  hohen 
Stils,  aber  er  steigt  auch  zuweilen  von  dieser  Höhe  herab,  wie  die 
Charakteristik  und  Redeweise  des  Wächters  im  Agamemnon,  der 
Amme  in  den  Choephoren  zeigt;  auch  die  Scene  in  den  Schutz- 
flehenden, wo  der  ägyptische  Herold  auftritt,  und  mehrfach  die  Perser 
bekunden  diese  Kunst  des  Individualisirens.  Ebenso  hegt  der  strengen 
\N'eise  des  Dichters  das  Zarte  und  Rührende  nicht  fern;  namentlich 
wenn  er  Frauen  einführt,  sucht  er  diesen  Empfindungen  den  pas- 
senden Ausdruck  zu  geben.  Obwohl  die  Darstellung  des  Aeschylus 
einen  bestimmt  ausgeprägten  Charakter  bat  und  sich  von  der  Weise 
der  beiden  anderen  Tragiker  sehr  merklich  unterscheidet,  so  ist 
doch  die  Verschiedenheit  des  Tones  zwischen  den  einzelnen  Stücken 
nicht  unerheblich,  so  dafs  in  dieser  Hinsicht  keines  dem  anderen 
völlig  gleich  steht.  Es  ist  erklärlich,  wie  bei  einem  Dichter,  der 
eine  lange  Reihe  von  Jahren  für  die  ßühne  wirkte,  auch  die  sti- 
listische Form  sich  mehrfach  modificirte.  Das  Herbe  und  die  alter- 
thüniliche  Strenge  ward  allmählich  ermäfsigt;  der  Prometheus,  eine 
der  letzten  Arbeiten,  zeigt  eine  Leichtigkeit  der  Darstellung  und  voll- 
endete Spracbgewalt ,    wie  keines  der   früheren  Stücke.     Aber  dafs 


199)  Beachtenswcrth  ist,  dafs  diese  sogenannte  Epizeuxis  besondere  im 
Prometheus,  sonst  hauptsächlich  in  den  &(tt;voi  vorkommt. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLLTBEZEIT.  I.AESCH.     355 

auch  die  bewufsle  Kunst  des  Dichters  daran  Antheil  hat,  erkennt 
man  deutUch,  wenn  man  die  drei  Dramen  der  Orestie  zusammen- 
hält; man  sieht,  wie  hier  der  Tragiker  durch  die  Verschiedenheit 
des  Tones  verschiedene  Wirkungen  hervorzubringen  beabsichtigte. 
Die  hochalterthümhche  Färbung  der  Schutzflehenden  dient  einer- 
seits zur  Charakteristik,  hat  aber  aufserdem  auch  wohl  in  beson- 
deren lokalen  Rücksichten  ihren  Grund. 

Die  Stärke  des  Pathos,   die   sich  in  dieser  feierlichen,   klang- 
vollen  Sprache   kundgab,   mufste,  unterstützt  von   dem   Reize  der 
Neuheit,  einen  gewaltigen  Eindruck  machen.   Auf  ebenmäfsige,  glatte 
Form  legte  man  damals  noch  weniger  Werth;    man  übersah  daher 
eine  gewisse  SchwerfäUigkeit  und  liefs  sich  einzelne  Härten  gefallen. 
Erst  später,  wo  die  ISachahmer  des  grofsen  Tragikers  seine  Eigen- 
tliüralichkeiten   steigerten    und  mehr  und  mehr    in   eine   geistlose 
Manier  verfielen,  wo  angesichts  der  Leistungen  des  Sophokles  und 
Euripides   der  Sinn   für    untadehge  Schönheit  der  Form   geschärft 
worden  war,   weicht  die  unbedingte  Bewunderung   einer  kühleren 
Beurlheilung.^)     Nicht  immer  weifs  Aeschylus   das  rechte  Mafs  zu 
halten ;  manchmal  geht  die  Kühnheit  des  Ausdrucks  bis  zur  äufser- 
sten  Grenze  des  Erlaubten.    Die  überströmend^  Fülle  der  Rede,  der 
^Yechsel  der  Bilder  beeinträchtigt  zuweilen  das  Verständnifs,  so  dafs 
es  schwierig  ist,  den  verborgenen  Sinn  zu  enträthseln.   Der  Dichter 
pflegt  namentlich  künstliche,  langathmige  Beiworte  oder  Metaphern 
so  zu  häufen,  dafs  ihn  nicht  mit  Unrecht  der  Vorwurf  des  Schwül- 
sligen   und    Ueberschwänghchen  trifl"t.     Aber   wenn    wir    auch   bei 
Aeschylus  zuweilen  Mafs  und  Harmonie  vermissen,  so  ist  doch  seine 
Sprache  jeder  Zeit  der  unmittelbarste  Ausdruck  eines  hohen  männ- 
lichen Geistes.  Gediegene  Kraft,  Adel  und  Würde,  poetischer  Schwung 
tritt  uns  aus  jeder  Zeile  entgegen;    alles   ist  wahr  und  warm  em- 
pfunden, liegt  weit  ab  von  leerer  Phraseologie.    Wenn  der  Dichter 
die  wandelbaren   Geschicke   der   Menschen   schildert,   wenn  er  er- 
schütternde Bilder  des  Unterganges  oder  die  glückHche  Losung  eines 


200)  Namentlich  die  Freunde  der  Euripideischen  Poesie  mochten  scharfe 
Kritik  am  Aeschylus  üben,  vgl.  die  Scene  in  den  Wolken  des  Aristophanes 
1364 ff.,  wo  der  junge  Athener  sich  weigert  nach  des  Vaters  Wunsche  eine 
Stelle  aus  Aeschylus  zu  reciliren,  den  er  -i^-öfpov  nXiiov,  a^azaiov,  ffrc^^axo, 
xQTifivoTtoiöv  nennt.  Und  in  den  Fröschen  924  ff.  spricht  sich  Euripides  selbst 
in  ähnlichem  Sinne  über  den  alten  Meister  aus. 

23* 


356  DRITTE    PERIODE    VON    500    HIS    300   V.  CHR.  G. 

unheilvollen  Conflikles  voiiührt,  rauscht  der  Strom  seiner  begei- 
sterten Rede  mächtig  dahin  und  reifst  unser  Gemüth  unwillkürlich 
mit  fort.  Die  ganze  Pracht  und  Herrlichkeit  des  Stils  entfaltet  sich 
in  den  Chorgesängen.  Die  kommatischen  Partien  sind  schon  ein- 
facher gehalten,  wie  der  Dichter  auch  im  Dialog  mit  den  Mitteln 
.seiner  Kunst  haushälterisch  umgeht. 

Das  Verständnifs  dieser  Dichtungen  ist  nicht  leicht;  es  erfordert 
innige  Vertrautheit.  Der  Erklärer  mufs  jede  kleinhche  Schulweisheit 
fern  halten,  nichts  willkürlich  hereintragen,  sondern  sich  ganz  in 
die  einfache  Grofsheit  dieser  Werke  versenken.^"')  Noch  schwieriger 
ist  die  Aufgabe  des  Kritikers. 

II 

Sophokles. 
Sophokles'         Sophokles,  der  Sohn  des  Sophillus,  zu  Athen  Ol.  71,  1  geboren'), 

Leben.    o  / 

201)  Gegen  diese  Grundsätze  wird  unzählige  Mal  gefehlt;  man  stöfst 
überall  auf  Mifsgriffe  der  Ausleger.  So  erinnert  man  im  Agara.  171  [TQinxzT;^) 
au  die  Lokalsage  der  Eleer  von  dem  Ringkampfe  des  Kronus  und  Zeus.  V.  276 
will  man  änre^os  tpärts  ironisch  fassen,  ein  Gerücht,  welches,  obwohl  es  keine 
Flügel  hat,  sich  doch  rasch  verbreitet;  aber  amsQoe  bezeichnet  gerade  die 
Flügelschnelle  des  Gerüchtes  (=  //(««7rTe(>os[?]).  V.  608  soll  der  Schauspieler,  um 
den  wahren  Sinn  der  heuchlerischen  Rede  der  Klytämnestra  zu  enthüllen,  nicht 
ia&Xrjv  ixelvc^,  noXs/iiav  rote  SvacpQoaiv  verbinden,  sondern  da&X^v,  ixeivq/ 
jiokefiiav,  role  Svay^oaiv.  Aerger  kann  man  die  Intention  des  Dichters  nicht 
mifsverstehen  und  zugleich  der  Sprache  Gewalt  anthun.  V.  612  denkt  man 
gar  bei  x^^^^ov  ßufae  an  die  Kunst,  dem  Erze  durch  Beimischung  anderer 
Metalle  verschiedene  Farben  zu  geben. 

1)  Die  anonyme  Biographie  des  Sophokles,  eine  fleifsige,  aber  ziemlich 
kritiklose  Zusammenstellung  von  Notizen,  hat  hauptsächlich  die  Schrift  des 
Istrus  aus  Kallatis  im  Pontus  (s.  Steph.  Byz.  KaXlane)  ne^i  zgaytpSiai  be- 
nutzt, dessen  Zeitalter  unbekannt  ist;  jedoch  mufs  er  später  als  Neanthes  von 
Kyzikus  gelebt  haben,  den  er  offenbar  als  Gewährsmann  für  die  Sage  von  So- 
phokles' Tode  anführte.  Das  Geburtsjahr  des  Dichters  ist  unsicher;  doch  kommt 
nicht  viel  darauf  an.  Wenn  Sophokles  nach  Diodor  XIll  lo:«.  4  Ol.  93,  3  90  .lahr 
alt  starb,  war  er  Ol.  71,  1  geboren.  Diodor  folgt  dem  Apollodor;  aber  00  Jalir 
konnte  runde  Zahl  sein,  die  der  Chronograph  mit  Rücksicht  auf  die  metrische 
Form,  welche  für  genaue  Zeitbestimmung  wenig  günstig  war,  wählte.  Nach 
der  parischen  Chronik  Kp.  ()4  ist  der  Dichter  Ol.  70,  4  geboren;  denn  sie  giebl  ihm 
hei  seinem  ersten  Auftreten  Ol.  77,  4  28  Jahre,  bei  seinem  Tode  Ol.  93,  3  91  Jahre. 
Der  Biograph  verlegt  die  Geburt  in  01.71,2  (Archon  IMiilippus),  ist  iber  mit 
sich  selbst  nicht  recht  im  Einklänge,  wenn  er  den  Tragiker,  als  er  zum  Feld- 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II. GRIPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  II.SOPQ.      357 

war  Mitglied  einer  geachteten  und  wohlhabenden  Familie*),  die  zu 
der  Gemeinde  Kolonos  in  der  unmittelbaren  Nähe  der  Stadt  ge- 
hörte. Dort  besafs  wohl  auch  Sophokles  ererbtes  Grundeigenthum.^ 
Sagenhafte  Erinnerungen  knüpften  sich  an  diese  durch  alte  Heilig- 
thüraer  (hier  lag  ein  den  Erinnyen  geweihter  Hain),  wie  durch  land- 
schaftliche Reize  ausgezeichnete  Stätte.  Hier  mochte  schon  im  zarten 
Knabenalter,  welches  für  die  ersten  Eindrücke  so  empfänglich  ist, 
das  lebhafte  Gefühl  für  Naturschönheit  geweckt,  das  Verständnifs  der 
Sagenwelt  erschlossen  und  der  Sinn  mit  Ehrfurcht  vor  dem  Höheren 
erfüllt  werden.  Im  zweiten  Oedipus,  wo  Kolonos  der  Schauplatz  der 
Handlung  ist  und  anschaulich  geschildert  wird,  hat  der  Dichter  dieser 
seiner  Heimath  ein  pietätvolles  Andenken  gewidmet. 

Der  Vater,  Besitzer  einer  Fabrik^),  sorgte  gewissenhaft  für  die 
körperliche  und  geistige  Ausbildung  des  Knaben,  der  auch  durch 
Anmuth   der  äufseren  Erscheinung  sich  empfahl.    Daher  ward   ihm 


herrn  gewählt  wurde.  55  Jahr  alt  sein  läfst;  dem  Wortlaute  gemäfs  geht  dies 
auf  das  Jahr  der  Wahl  Ol.  84,  3  (gegen  Ende).  Dies  würde  mit  der  parischen 
Chronik  (Ol.  70,  4)  stimmen,  aber  es  kann  auch  das  folgende  Jahr,  wo  Sopho- 
kles Strateg  war,  gemeint  sein;  dies  führt  auf  Ol.  71,  1  (Diodor).  Die  Angabe 
des  55.  Lebensjahres  stützt  sich  unzweifelhaft  auf  die  Elegie,  deren  Anfang  Plut. 
an  seni  sit  ger.  resp.  c.  3,  5  erhalten  hat :  coStjv  'HqoSötco  rev^sv  ^o(fox).T;i  sxicov 
(ov  jttvr'  int  Ttevrrjxovra.  Dieses  Gedicht  fällt  sicherlich  in  diese  Zeit,  aber 
wir  wissen  nicht,  ob  es  im  Jahre  der  Wahl  Ol.  84,3  oder  der  Strategie  (Ol. 
84,  4)  gedichtet  war.  Damit  sind  also  Ol.  70,  4  wie  71,  1  verträglich,  ja  selbst 
Ol.  71,  2  ist  nicht  geradezu  ausgeschlossen;  denn  wenn  Sophokles  in  jenem  Jahre 
geboren  war,  trat  er  Ol.  84,  4  sein  55.  Jahr  an.  Suidas  II  2,  S37  setzt  die  Geburt 
in  Ol.  73,  während  andere  wenig  verlässige  Gewährsmänner  dem  Sophokles 
mehr  als  90  Jahre  geben,  so  dafs  man  noch  über  Ol.  70,  4  hinaufgehen  müfste. 

2)  Biographie :  ixQäipri  iv  evno^iq.  Dafs  Sophokles  reich  war,  deutet  das 
Amt  eines  iXkrjVorafiias,  welches  er  bekleidete,  an  [CIA.  I  237,  s.  unten  S.  363 
A.  21].  Ebenso  war  sein  Enkel  Sophokles  tafiiai  rtäv  leoiSv  x^fiaTow  (CIA.  II 
643,  s.  unten  S.  365  A.  32);  dies  setzt  voraus,  dafs  er  zu  den  Höchstbesteuerten 
gehörte.  Dafs  der  Dichter  aus  guter  Familie  war,  kann  man  aus  der  Wahl 
zum  Strategen  schliefsen;  auf  den  Ausdruck  principi  loco  genitus  ist  bei 
einem  Schriftsteller  wie  Plinius  XXXVII  40  nicht  viel  zu  geben.  Islrus  machte 
den  Sophokles  zu  einem  Phliasier;  vielleicht  war  seine  Familie  von  dort  ein- 
gewandert. 

3)  Doch  kann  man  dies  aus  Hermesianax  V.  57  und  Cicero  de  fin.  V  1,  3 
wo  Sophokles  als  incola  von  Kolonos  bezeichnet  wird,  nicht  mit  voller  Sicher- 
heit schliefsen. 

4)  Aristoxenus  nannte  ihn  einen  -zixiiov  oder  ;jo>lxn's,  Istrus  /laxat^o- 
Tzoios,  was  der  Biograph  richtig  auffafst. 


358  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

die  Auszeichnung  zu  Tlieil,  als  Vorsänger  eines  Knabencbores  den 
Siegespäan  um  das  Tropäon  der  Schlacht  bei  Salamis  anzustim- 
men*), wie  er  auch  später  seine  Gewandtheit  als  Bailspieler  in  der 
Tragödie  Nausikaa,  sein  Geschick  im  Citherspielen  im  Thamyras  auf 
der  Bühne  bekundete.  Diese  Vorbildung  kam  dem  künftigen  Tra- 
giker wohl  zu  statten,  der  Musik,  Gesang,  Orchestik  gründlich  ver- 
stehen mufste.  Sein  Lehrer  in  der  Musik  war  Lamprus'),  und  So- 
phokles hat  den  Unterricht  dieses  ausgezeichneten  Meisters  wohl 
auch  noch  später  genossen,  als  er  sich  für  seinen  Beruf  vorberei- 
tete. Wenn  der  Tragiker  in  seinen  Choiiiedern  eine  bestimmte  mu- 
sikalische Richtung  verfolgt,  so  darf  man  darin  eben  die  Einwir- 
kung dieses  Unterrichtes  erkennen.^) 

Nicht  vorschnell,  sondern  erst  in  reiferem  Alter*)  und  gehörig 
vorbereitet,  wendet  sich  Sophokles  der  dramatischen  Poesie  zu. 
Ol.  77,  4  beiheiligt  er  sich  zum  ersten  Male  am  tragischen  Welt- 
kampfe ^),  zugleich  mit  Aeschylus,  aber  mit  so  günstigem  Erfolge, 
dafs  dem  bisher  unbekannten  Dichter  der  erste  Preis  zuerkannt 
wurde.  Die  Auszeichnung  war  um  so  gröfser,  da  ausnahmsweise 
der  berühmte  Feldherr  Kimon  und  seine  neun  CoUegen  das  Amt 
der  Preisrichter  übernommen  hatten.'")     Der  Wettstreit  des  jugend- 


5)  Athen.  I  20  F,  Biographie.  Natürlich  nicht  unmittelbar  nach  der  Schlacht, 
denn  da  war  für  eine  solche  Festfeier  keine  Zeit  (vgl.  Herod.  VllI  108),  sondern 
etwa  bei  der  Wiederkehr  des  glorreichen  Tages;  damals  war  Sophokles  un- 
gefähr 17  Jahr  alt.  Dafs  Sophokles  öfter  in  gymnischen  und  musischen  Wett- 
kämpfen siegte,  bezeugt  der  Biograph. 

6)  Biographie  und  Athen.  I  20  F  (Art  nals  öiv). 

7)  Auf  Sophokles  gehen  wohl  die  Verse  des  Komikers  Phrynichus  fr.  ine.  1. 
Com.  n  1,  601  bei  Athen.  II  44  D,  wo  einem  Dichter  der  Vorwurf  gemacht  wird, 
dafs  er  die  weinerlichen,  künstlichen  Melodien  des  Wassertrinkors  Lamprus 
nachbilde. 

8)  Dafs  Sophokles'  Vater  den  Ruhm  seines  Sohnes  nicht  erlebte,  sagt  Plut. 
de  amore  prolis  c.  4. 

9)  Parische  Chronik  Ep.  56:  ^oipoxXrie  . . .  ivixrioe  rgayq/Siq  irätv  iHv 
JJniJI.  Eusebius  Chron.  II  102  setzt  in  ül.  77,  2  (3)  das  erste  .\uftreten  des  So- 
phokles und  nennt  gleich  nachher  Ol.  78, 1  Sophokles  und  Euripides.  Der  erste 
Archon  Apsephion  leitete  die  Festfeier  (es  waren  die  städtischen  Dionysien).  Zu 
den  Dramen,  welche  Sophokles  aufführte,  gehörte  der  Triploiemus,  nach  Plinius 
XVUI  65  145  Jahre  vor  Alexanders  Tode  (Ol.  It4,  1)  gegeben. 

10)  Hlutarch  Kimon  c.  8.  Mit  unzulänglichen  Gründen  hat  man  den  ganzen 
Hergang,  der  wie  ihn  I'lularch  darstellt  durchaus  nicht  den  Charakter  der  Er- 
findung an  sich  trägt,  in  das  Reich  der  Anekdote  verwiesen. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TBAGÖDIE.  II. GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  II.SOPH.       .359 

liehen  Dichters  mit  dem  anerkannten  Meister  der  tragischen  Kunst 
hatte  schon  vorher  eine  ungewohnte  Aufregung  hervorgerufen;  für 
und  wider  mochte  das  PubHkum  Partei  ergreifen.  Der  Archon  zog 
es  daher  vor,  statt  wie  üblich  fünf  Richter  durch  das  Loos  zu  er- 
nennen, die  Entscheidung  einer  gewichtigeren  Autorität  anzuver- 
trauen. Kiraon,  der  mit  seinen  CoUegen  eben  von  einem  erfolgreichen 
Feldzuge  heimgekehrt  war")  und  im  Begriff  stand,  seine  Siegeslauf- 
bahn von  neuem  zu  beginnen,  erkannte  dem  Sophokles  den  Preis 
zu.  Es  ist  eine  völlig  unbegründete  Ueberheferung,  dafs  Aeschylus, 
durch  den  überraschenden  Erfolg  des  Sophokles  gekränkt,  Athen 
verlassen  und  sich  eine  Zeit  lang  von  der  Bühne  zurückgezogen 
habe");  vielmehr  bestand  zwischen  ihnen  ein  ungestörtes  freund- 
schaftliches Verhältnifs.  Beide  Dichter  wirken  einträchtig  mit  ein- 
ander für  die  Vervollkommnung  ihrer  Kunst. 

In  seiner  Jugend  schlofs  sich  Sophokles,  wie  natürlich,  an  den 
älteren  Meister  an,  der  die  Bühne  beherrschte.  Nach  Aeschylus  hat 
er  sich  gebildet  *^)  und  fuhr  längere  Zeit  in  seiner  Weise  zu  dichten 
fort,  ohne  jedoch  auf  seine  Selbständigkeit  zu  verzichten,  gewinnt 
doch  der  aufstrebende  Sophokles  in  den  letzten  Jahren  seines  Zu- 
sammenwirkens mit  Aeschylus  sichtlich  auf  den  älteren  Dichter  Ein- 
flufs.  Auf  Anregung  des  Sophokles  erfuhr  der  Haushalt  der  Tra- 
gödie nicht  unwichtige  Veränderungen,  welche  Aeschylus  alsbald 
adoptirt,  wenn  er  auch  seiner  eigenen  Art  nicht  untreu  ward. 

Sophokles'  Organ    war   zu   schwach   und    gestattete   ihm   nicht  Sophokles' 

nach  herkömmlicher  Sitte  bei  der  Aufführung  seiner  Dramen  mit-    um  die 

zuwirken");  man  gewährte  ihm  bereitwillig  einen  Stellvertreter.     So  Dramatur- 
gie. 

11)  Plutarch  nennt  die  Eroberung  der  Insel  Skyros.  Bei  der  Unsicher- 
heit der  Chronologie  in  diesem  Theile  der  Geschichte  Athens  läfst  sich  darüber 
nichts  Genaueres  feststellen. 

12)  Wie  Plutarch  erzählt. 

13)  Biographie:  tt«^'  Ata-/v).o)  Si  ttjv  r^ay(pSiav  ifiad'e.  Indem  Sopho- 
kles in  jüngeren  Jahren  in  tragischen  Chören  mitwirkte,  kam  er  vielleicht  auch 
mit  Aeschylus  in  nähere  persönliche  Berührung. 

14)  Der  Biograph,  indem  er  die  Neuerung  des  Sophokles  aufzählt  {tioX/A 
Jxcuvov^yrjasv  iv  toIs  ayüxsi.)^  erwähnt  dies  an  erster  Stelle:  nqütxov  (ikv  xara- 
Xvaas  T15V  vnöxQiOiv  rov  notTjrov  Sia  zr]v  iSiav  fnxQotfotviav;  denn  Sopho- 
kles wird  gleich  bei  dem  Beginn  seiner  dramatischen  Laufbahn  diese  Vergün- 
stigung erbeten  haben.  Nur  in  der  Nausikaa  und  im  Thamyras  trat  er  auf 
der  Bühne  auf  (Athen.  I  20  F).    Für  ein  Stück,  nicht  für  eine  Tetralogie  mochte 


360  DRITTE  PERIODE  VON  500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

schied  sich  von  jetzt  an  der  Beruf  des  dramatischen  Dichters  und  des 
Schauspielers  vollständig.  Wichtiger  ist  eine  andere  Neuerung,  indem 
Sophokles  die  Einführung  eines  dritten  Schauspielers  durchsetzte. 
Dadurch  wurde  die  Entfaltung  eines  reicheren  dramatischen  Lebens 
möghch.  Für  die  verschiedenen  Nebenrollen  war  ein  Darsteller  ge- 
wonnen, und  erst  jetzt  konnte  man  den  zweiten  Schauspieler,  der 
bisher  diesen  Dienst  nebenbei  geleistet  hatte,  für  seine  eigentliche 
Aufgabe  vollständig  verwenden.  Wir  begegnen  dem  dritten  Schau- 
spieler bereits  bei  Aeschylus  in  der  Orestie  und  im  Prometheus; 
daraus  sieht  man,  dafs  damals  diese  Erweiterung  der  dramatischen 
Mittel  schon  fest  geregelt  war.  Aber  das  Verdienst  dieser  Reform 
gebührt  nicht  dem  Aeschylus,  sondern,  wie  eine  wohlbeglaubigte 
Ueberlieferung  bezeugt,  dem  Sophokles.")  Aeschylus  empfand  bei 
der  Schlichtheit  seiner  Kunst,  dann  weil  der  Chor  bei  ihm  vielfach 
die  Stelle  eines  Schauspielers  vertrat,  die  hergebrachte  Beschränkung 
weniger  und  hätte  auch  später  mit  zwei  Schauspielern  auskommen 
können.  Daher  beschränkt  sich  Aeschylus  selbst  in  Scenen,  wo 
drei  Schauspieler  auf  der  Bühne  sind,  eigentlich  mit  dem  Zwiege- 
spräch; der  dritte  ist  stumm  oder  betheiligt  sich  nur  am  Dialog, 
indem  er  einen  andern  ablost.  Auch  bei  Sophokles  treffen  wir  suc- 
cessive  Wechselreden  der  drei  Darsteller,  aber  anderwärts  greift  der 
»bitte  Theilnehmer  wesentlich  in  die  dramatische  Entwicklung  ein. 
Wie  Sophokles  den  dritten  Schauspieler  wahrhaft  verwerthet,  so 
geht  offenbar  diese  Neuerung  von  ihm  aus. 

Darauf  weist  auch  die  veränderte  Stellung  des  Chores  im  Or- 
ganismus der  Tragödie  hin,  welche  gleichfalls  dem  Sophokles  ver- 
dankt wird.  In  der  älteren  Tragödie  bat  der  Chor  mehr  oder  minder 
Antheil  an  der  Handlung  und  betheiligt  sich  daher  auch  wesentlich 
an  der  Führung  des  Dialoges.  Der  Chor  des  Sophokles  begnügt 
sich  mit  einer  passiven  Haltung.     Auch  da,   wo  er   ein  lebhafteres 

seine  Kraft  ausreichen,  auch  hat  Sophokles  vielleicht  in  jenen  Dramen  nur  eine 
Nebenrolle  übernommen. 

15)  Aristot.  Poet.  c.  4,  16  p.  1449  A  18,  Dikäarch  (im  Leben  des  Aeschylus), 
Diog.  Laert.IlI  50,  der  Biograph  und  Suidasll'i, 838.  Nur  der  Biograph  des  Aeschy- 
lus eignet  diesem  Dichter  das  Verdienst  zu.  Denn  was  Themist.  XXVI  382,  19  Di. 
aus  Aristoteles  {ne^i  noiriivjv  oder  den  Didaskalien)  referirl:  Aka%vh>i  i^iiov 
ijiox^ni]v  (i^ev^Bp),  kann  nur  für  eine  ungenaue  Darstellung  gelten,  wenn 
nicht  vielmehr  Sbvteqov  zu  lesen  ist;  denn  eben  dieser  bedeutende  Fortschritt 
wird  dem  Aeschylus  vridankt. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  II.SOPH.      361 

Interesse  für  die  Handelnden  an  den  Tag  legt,  greift  er  doch  nie- 
mals thätig  ein;  an  dem  Dialog  participirt  er  nur  noch  momentan. 
Der  Chor  giebt  den  individuellen  Charakter,  welchen  Aeschylus  sorg- 
sam festhält,  auf.  Aber  indem  Sophokles  das  dramatische  und  lyrische 
Element  schärfer  sondert,  mufste  er  darauf  bedacht  sein,  Ersatz  zu 
gewinnen.  Für  Sophokles,  der  den  Chor,  welcher  bisher  die  Stelle 
eines  Schauspielers  versehen  hatte,  ledigHch  auf  das  Gebiet  der  Be- 
trachtung beschränkte,  war  eine  Vermehrung  der  Darsteller  unent- 
behrhch.  Die  Einführung  des  dritten  Schauspielers  und  die  verän- 
derte Haltung  des  Chores  bedingen  sich  gegenseitig  und  hängen  auf 
das  Genaueste  zusammen.  Sophokles  hat  offenbar  beide  Reformen 
gleichzeitig  vorgenommen,  und  bei  dieser  Gelegenheit  wird  er  auch 
die  Zahl  der  tragischen  Choreuten  von  zwölf  auf  fünfzehn  erhöht 
haben.'^  An  sich  ist  dies  ein  untergeordneter  Punkt;  dadurch  wurde 
nur  der  Gesang  des  Chores  verstärkt.  Aber  zu  dieser  Veränderung 
bedurfte  es  der  Zustimmung  der  Behörden.  Da  wir  nun  den  ver- 
stärkten Chor  bereits  in  der  Orestie  des  Aeschylus  antreffen,  wird 
auch  diese  Neuerung  derselben  Zeit  angehören.  Sophokles  hat  vor 
Ol.  80,  2  aus  eigenem  Antriebe,  aber  in  vollem  Einverständnisse  mit 
Aeschylus  und  wohl  auch  den  anderen  Kunstgenossen  jene  Reformen 
vorgeschlagen  und  dafür  die  öffentliche  Genehmigung  erlangt. 

Damit  hängt  wahrscheinlich  die  Abfassung  der  Schrift  über  den 
Chor  zusammen.'^)  Dafs  ein  denkender  Künstler,  der  über  alles, 
was  er  Ihat,  genaue  Rechenschaft  zu  geben  vermochte,  sich  über 
die  Grundsätze  seiner  Kunst  im  Zusammenhange  aussprach,  kann 
nicht  auffallen;  allein  in  der  klassischen  Zeit  hegt  solchen  theore- 
tischen Erörterungen  meist  ein  unmittelbarer  praktischer  Zweck  zu 
Grunde.  Indem  Sophokles,  der  über  Ziel  und  Aufgabe  der  tragi- 
schen Dichtung  reiflich  nachgedacht  hatte,  darauf  ausging,  das  dra- 
matische Element  immer  reicher  zu  entwickeln,  sah  er  sich   nicht 


IH)  Biographie  und  Suidas. 

17)  Suidas  iyqaxpt . .  .Köyov  xaraioyciSTjv  negi  toi  x,oqov  ttoos  OeOTttv 
xal  XoiQtXov  ayiovi^öfievog.  Dieser  Znsatz  ist  dunkel;  vielleicht  deuten  die 
Worte  an,  dafs  Sophokles  gegen  die  Vertreter  der  alten  Tragödie  polemisirt 
habe.  (S.  S.  21S  A.  90.)  Es  kann  aber  auch  eine  abgerissene  Notiz  sein,  wie 
wenn  der  Biograph  sagt:  awr-yojviaaxo  Sa  Aia/;iho  xai  ElginiSr,  xai  Xoi- 
gikfp  xai  l^oiOTiq  xai  äXXoii  no).}.dii  xai  VoyaJvr»  TßJ  rt^,  indem  irrthümlich 
der  ungehörige  Name  des  Thespis  hinzugefügt  ward. 


362  DniTTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

nur  genötliigt  den  Umfang  der  Cliorgesänge  noch  mehr  als  bisher 
zu  beschränken  '*) ,  sondern  er  gab  auch  dem  Chore  selbst  eine  rein 
betrachtende  Haltung,  indem  er  sich  begnügt  durch  den  Chor  die 
Empfindungen  auszusprechen,  welche  die  tragischen  Vorgange  auf 
der  Bühne  hervorrufen.  Sophokles  wird  in  jener  Schrift  sein  Ver- 
fahren gerechtfertigt  und  zugleich  daran  seine  Vorschläge  über  Ein- 
führung eines  neuen  Schauspielers  und  Vermehrung  der  Choreuten 
geknüpft  haben.  Sonst  wird  noch  besonders  das  Verdienst  des  So- 
phokles um  die  perspektivische  Dekoration  der  Bühne  hervorgehoben.") 
In  eine  spätere  Epoche  fällt  eine  andere  Neuerung,  die  nicht 
die  Oekonomie  der  Tragödie  berührt,  sondern  nur  die  Preisverlhei- 
lung beim  tragischen  Agon  regelte.  Es  ward  bestimmt,  dafs  die 
Preisrichter  nicht  mehr  wie  bisher  Tetralogie  gegen  Tetralogie  ab- 
wägen, sondern  zunächst  über  jedes  einzelne  Drama  ihre  Stimme 
abgeben  sollten ;  danach  wurde  schhefslich  das  Urtheil  über  die  ge- 
sammte  Leistung  jedes  Dichters  festgestellt.*")  Da  die  Tragiker  die 
Form  eines  einheitlichen  Dramencyklus  so  gut  wie  ganz  hatten  fallen 
lassen  und  jedes  Drama  ein  abgeschlossenes,  für  sich  vollkommen 
verständliches  Werk  war,  so  entsprach  diese  Weise,  das  Verdienst 
der  Preisbewerber  zu  ermitteln,  durchaus  den  realen  Verhältnissen. 
Amheii  am  Vom  öffentlichen  Leben  zog  sich  Sophokles  nicht  gerade  grund- 

offentiicben  gjjt^lich  zurück.    Mehrfach  und  zu   den  verschiedensten  Zeiten    be- 

Leben. 

theiligt  er  sich  an  den  Geschäften,  indem  er  auch  seinen    bürger- 
lichen Pflichten  zu  genügen  bemüht  war.    So  verwaltet  er  Ol.  84,  2 

18)  Dies  beweisen  die  noch  erhaltenen  Dramen  des  Sophokles. 

19)  Aristot.  Poet.  c.  4,  16  p.  1449  A  18.  Aber  auch  der  Aeschyleischen 
Tragödie  war  die  atcrjvoyQafia  nicht  unbekannt,  s.  oben  S.  43  A.  141.  Der  Bio- 
graph schreibt  dem  Sophokles  noch  die  Einführung  der  xa^miXt]  ßatcrrjQia  und 
der  Xevxai  xQr^nlSee  zu. 

20)  Dies  ist  der  Sinn  der  vielfach  mifsverstandenen  Notiz,  die  wir  ledig- 
lich dem  Suidas  verdanken:  xai  avxos  (lies  Tr^xvroe)  i;^|c  -vov  Sqäfia  nfos 
8gäfia  aycavi^ea&ai ,  aXXa  fit)  TSXQaXoyiav.  (S.  S.  229  A.  104,  S.  230  A.  108, 
S.  234  A.  11»>.  120,  S.  235  A.  122.)  Aber  nach  wie  vor  wurden  die  vier  Dramen 
eines  Dichters  hinler  einander  an  einem  Tage  gespielt;  denn  die  Tetralogie 
bildete  alle  Zeit  einen  festgefügten  Organismus.  War  auch  der  Inhalt  der  ein- 
zelnen Dramen  verschieden,  so  war  doch  Auswahl  und  Heihenlolge  darauf  be- 
rechnet, eine  bestimmte  Wirkung  auszuüben.  Man  würde  den  Charakter  eines 
Kunstwerlies  völlig  verkannt  haben,  wenn  man  die  Dramen  eines  Dichters  ge- 
trennt und  auf  mehrere  Tage  vertheill  hätte.  (S.  S.  233.)  Am  wenigsten  würde 
Sophokles  zu  einer  solchen  Einrichtung  die  Hand  geboten  haben. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.    DIE  BLÜTHEZEIT.  II.  SOPH.     363 

das  Amt  eines  Schatzmeisters  für  die  Tribute  der  Bundesgenossen.^') 
Im  folgenden  Jahre  ward  er  für  Ol.  84,  4  zum  Feldherrn  erwählt, 
eine  Auszeichnung,  die  er  nach  der  bekannten  üeberlieferung  zum 
grofsen  Theile  seinem  dichterischen  Erfolge  verdankte.**)  Da  in 
jenem  Jahre  der  Krieg  mit  den  Samiern  ausbrach,  zog  auch  So- 
phokles mit  Perikles  und  der  athenischen  Flotte  ins  Feld  und  ward, 
wie  es  scheint,  vorzugsweise  zu  Verhandlungen  mit  den  Bundesge- 
nossen verwendet.*^)  Als  Ol.  91,  4  unter  dem  erschütternden  Ein- 
druck der  Kunde  von  der  Niederlage  in  Sicilien  ein  engerer  Rath 
von  dreifsig  bejahrten  Männern  eingesetzt  wurde,  der  erste  erfolg- 
reiche Versuch  der  Ohgarchen,  die  demokratische  Verfassung  zu  be- 
seitigen, erscheint  auch  Sophokles  als  MitgHed  dieser  Behörde  und 
mufste  sich  später  nach  dem  Sturze  der  Vierhundert  deshalb  verant- 
worten.*^) Ebenso  ward  er  mehrfach  freiwillig  oder  gezwungen  in 
Rechtshändel  verwickelt.*^)    War  Sophokles  auch  kein  Mann  des  han- 


21)  Als  'EÄXrjvora/xiaz,  s.  die  Inschrift  bei  Boeckh  Staatsh.  II  456  (nach 
berichtigter  Zeitbestimmung).  [CIA.  I  237.] 

22)  Biographie  und  Einleitung  zur  Antigene.  Auch  wird  Sophokles  unter 
den  Strategen  im  samischen  Kriege  aufgezählt  in  dem  Verzeichnisse,  welches 
der  Schol.  des  Aristides  III  4S5  nach  Androtion  mittheilt. 

23)  Ion,  mit  dem  Sophokles  bei  diesem  Anlasse  in  Chios  zusammentraf, 
urtheilt  über  die  Befähigung  des  Dichters  zu  solchen  praktischen  Aufgaben 
nicht  eben  günstig:  t«  fiivtoi  TioXirtxa  ovxe  aotpos  ovxe  oey.zTjoios  rjv,  a}j.^ 
<Js  av  Tts  eh  TÖtv  xor^aräv  'A&rivaicov  (Athen.  XIII  604 D).  und  Sophokles  be- 
zieht sich  selbst  (ebendas.)  auf  das  Urtheil  des  Perikles:  iTieiSfi  txeq  Jls^ixXfjs 
jtotslv  fie  %>7,  arQaxTjyeiv  S'  ovx  iniaraa&ai.  Nach  Suidas  (MeXiaaos  [Me/.r]- 
TO«]  II 1,  764, 171  hatte  Sophokles  ein  Seegefecht  mit  Melissus,  dem  Anführer 
der  Samier,  bestanden.  Dies  ist  nicht  unmöglich;  es  kann  aber  auch  Aus- 
schmückung sein,  indem  man  den  Naturphilosophen  und  den  Tragiker  als  Geg- 
ner auf  einem  fremden  Gebiete  einander  gegenüberstellte.  Ob  Sophokles  auch 
noch  später  einmal  das  Amt  des  Strategen  bekleidete,  ist  ungewifs;  der  Bio- 
graph kennt  nur  diese  Strategie,  erwähnt  dagegen  Gesandtschaften  des  Sopho- 
kles, von  denen  nichts  weiter  bekannt  ist. 

24)  Aristot.  Rhet.  III  18  p.  141 S  A  26.  Der  hier  unter  den  n^oßovXot  er- 
wähnte Sophokles,  der  wegen  seiner  Thätigkeit  bei  der  Einsetzung  der  Vier- 
hundert zur  Rechenschaft  gezogen  wurde,  kann  nur  der  Tragiker  sein,  nicht 
der  Oligarch  Sophokles,  der  später  zu  den  Dreifsig  gehört;  denn  diesen  würde 
Aristoteles  durch  einen  Zusatz  kenntlich  gemacht  haben.  Auch  kann  unmög- 
lich Peisandros  der  Inquirent  gewesen  sein;  es  ist  wohl  TeiaavS^oe  zu 
schreiben. 

25)  Aristot.  Rhet.  I  14  p.  1374  B  35  erwähnt,  dafs  Sophokles  als  awt^o^os 
auf  Todesstrafe  für  den  antrug,  der  den  Euktemon  beleidigt  und  dadurch  zum 


364  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G, 

delnden  Lebens,  so  hängt  er  doch  mit  treuer  Liebe  an  seinem  Vater- 
lande-^"") 

Auch  ein  priesterliches  Amt  hat  Sophokles  bekleidet.")  Seine 
würdevolle  Erscheinung  wie  sein  gottesfürchtiges  Gemüth  befähigten 
ihn  vor  anderen  dazu.  Diesen  religiösen  Sinn  hat  er  auch  durch 
mehrfache  Stiftungen  bekundet''*);  daher  erschien  Sophokles  als  ein 
bevorzugter  LiebHng  der  Götter.  Ein  Päan  auf  Asklepius,  wohl  zur 
Zeit  der  verheerenden  Seuche  zu  Anfang  des  grofsen  Krieges  ge- 
dichtet, scheint  Anlafs  zu  der  Sage  gegeben  zu  haben,  dafs  der  Heil- 
gott selbst  den  Dichter  seines  Besuches  würdigte.")  Zur  Erinnerung 
daran  ward  dem  Sophokles  nach  dem  Tode  ein  Heroon  errichtet 
und  alljährlich  ein  Opfer  dargebracht.^") 

lieber  die  häusUchen  Verhältnisse  des  Tragikers  ist  nur  soviel 
bekannt,  dafs  er  mit  einer  Athenerin  Nikostrate  verheirathet  war. 
Aus  dieser  Ehe  stammt  sein  Sohn  lophon,  der  den  Vater  überlebte. 
Ein  zweiter  Sohn,  Ariston,  mit  einer  Sikyonierin  Theoris  erzeugt, 
scheint  früh  gestorben   zu  sein.^')     Aristons  Sohn,   der  junge  So- 


Selbstmord  getrieben  hatte  (Euktemon  ist  vielleicht  der  von  Thukyd.  VIII  30 
erwähnte  Strateg).  Bei  einem  anderen  Rechtshandel  um  Ol.  91,  1  berief  sich 
Sophokles  auf  seine  80  Jahre,  s.  Aristot.  Rhet.  III  15  p.  1416  A  15.  Dies  darf 
man  nicht  auf  den  Rechtshandel  mit  lophon  beziehen,  der  offenbar  in  die  letzte 
Lebenszeit  des  Dichters  fällt;  auch  wäre  eine  Aeufserung,  wie  sie  dort  vorliegt, 
im  Munde  des  Sohnes  eine  mafslose  Impietät.  Kurz  vor  Sophokles'  Tod  fällt 
das  Zerwürfnifs  mit  lophon. 

26)  Wenn  der  Biograph  sagt,  Sophokles  habe  alle  Einladungen  von  Für- 
sten {noXXöiv  ßaaiXeiov)  abgelehnt  und  sich  nicht  entschliefsen  können,  Athen 
zu  verlassen,  so  denkt  man  an  Iliero,  Perdikkas  und  Archelaus;  vielleicht  han- 
delt es  sich  aber  nur  um  eine  Aufforderung  des  Archelaus. 

27)  Des  Heros  Alkon,  der  als  Heilgott  verehrt  ward  (Biographie). 

28)  So  das  Heiligthum  des  'HQaxXr,e  fiT]vvxT;e  auf  Anlafs  eines  Traum- 
gesichtes (Biographie),  Altäre  für  Asklepius  und  auch  wohl  andere  Heilgötter. 

29)  Plutarch  Numa  c.  4,  Philostr.  iun.  Imag.  c.  13  U  415  K.,  Etyra.  M. 
Ja^itov. 

30)  Nach  dem  Elym.  M.  ward  Sophokles  zur  Erinnerung  an  die  gastliche 
Aufnahme  des  Asklepius  unter  dem  Namen  Js^imv  {Ji^atv'?)  unter  die  Heroen 
aufgenommen,  und  auf  diesen  Hcroencultus  ist  offenbar  die  Notiz  des  Biogra- 
phen zu  beziehen :  "lax^s  8i  ipriaiv  'Adifjvaiovs  Sut  ttjv  rov  avS^os  a^ex^v 
xai  \fnifiafia  nBjioirjxivai  x«t*  Broe  avr<^  &veiv.  Diese  Auszeichnung  galt 
nicht  sowohl  dem  Dichter,  sondern  dem  göttlicher  Huld  gewürdigten  Priester. 
—  Dafs  Sophokles  die  eleusinischen  Weihen  empfangen  hatte,  wird  nicht  aus- 
drücklich bezeugt,  ist  aber  sehr  wahrscheinlich. 

31)  lieber  lophon  und  Ariston  8.  Biographie  und  Schol.  Aristoph.  Frösche  78 


DIE  DRAM.  POESIE.    DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  II.  SOPH.      365 

phokles,  war  der  Liebling  des  greisen  Grofsvaters.'^)  Daher  bringt 
auch  er,  nicht  lophon,  das  letzte  dichterische  Vermächtnifs  des  Tra- 
gikers auf  die  Bühne.  Indem  Sophokles  kurz  vor  seinem  Tode  dar- 
auf bedacht  war,  die  Zukunft  seines  Enkels  sicher  zu  stellen,  glaubte 
sich  lophon  zurückgesetzt  und  in  seinen  Rechten  beeinträchtigt. 
Doch  ward  das  Zerwürfnifs  durch  Zuspruch  der  Freunde  ausge- 
glichen.^) 

Sophokles  war  eine  edle  Natur,  welche  unwillkürlich  einem 
jeden  Achtung  einflöfste.  Gefafst  und  ruhig  betrachtet  er  die  Wech- 
selfalle des  menschUchen  Lebens.  Selbst  der  Ernst  der  Zeit,  der 
Anblick  der  Leiden,   die  später  Athen  heimsuchten,   scheint   seine 

(der  den  Ariston  als  vö&os  vloe  bezeichnet).  Suidas  II  2,  S39  zählt  fünf  Söhne  auf. 
Diese  Notiz  ist  wohl  ebenso  apokryph  wie  eine  andere  bei  dem  Schol.  Aristoph. 
Frösche  791.  Athen.  XIII  592  A  nennt  die  Theoris  eine  Hetäre,  die  Sophokles  als 
Greis  geliebt  habe.  Dafs  dieses  Verhältnifs  in  frühere  Zeit  fallen  mufs,  erhellt 
schon  daraus,  dafs  der  Enkel  der  Theoris  bei  Sophokles'  Tode  dem  Epheben- 
alter  nahe  war.  Ebenso  ist  es  eine  übel  erfundene  Anekdote,  dafs  Sophokles 
in  einem  Chorliede  seine  Liebe  zur  Theoris  offen  bekannt  habe,  was  der  Ale- 
xandriner Hermesianax  für  seine  Zwecke  verwerthet  (Athen.  XIII  59S  D). 

32)  Es  ist  reine  Willkür,  wenn  Neuere  die  Existenz  des  Ariston  leugnen 
und  den  jungen  Sophokles  zum  Sohne  des  lophon  machen.  Dieser  war  offen- 
bar in  der  Didaskalie  Ol.  94.  3  als  Sohn  des  Ariston  bezeichnet  (Einleit,  zum 
Oedipus  Kol.) ;  denn  in  diesem  Falle  war  die  Angabe  des  Vaters  gerechtfertigt. 
Dieser  Sophokles  wird  wohl  Ol.  95,  1  unter  den  Schatzmeistern  der  Athene 
aufgeführt  2:o<po><[l?,s  Kolmvfjdsv],  s.  Boeckh  Staatsh.  II  301  [CIA.  II 643].  und 
wenn  in  einer  anderen  Urkunde  aus  Ol.  101,  2  in  einem  Verzeichnifs  von  Weih- 
geschenken [Rhangabis  233"]  auch  eine  Gabe  des  Sophokles  ^lofännos  ix  Ko- 
Xtov»v  angeführt  wird,  so  ist  dies  wohl  derselbe.  lophon,  der  kinderlos  sein 
mochte,  wird  später  den  Sohn  des  Ariston  adoptirt  haben;  denn  dafs  zwei  Enkel 
gleichmäfsig  den  Namen  des  Grofsvaters  führten,  ist  nicht  wahrscheinlich.  Der 
Sohn  des  jüngeren  Sophokles  wird  'JoyoUv  2hfoy)^ovs  ix  KoXcovov  sein,  der 
als  vTtoyQafifia-tei'S  auf  einer  Inschrift  aus  der  Zeit  des  Demosthenes  erscheint 
(Philistorl  189). 

33)  Dieser  Vorgang,  den  der  Biograph  und  andere  mit  mancherlei  Varia- 
tionen erzählen,  ist  anekdotenhaft  ausgeschmückt,  aber  nicht  erdichtet.  Wenn 
lophon  kinderlos  war  (s.  oben  A.  32),  hatte  Sophokles  um  so  mehr  Grund,  für 
seinen  Enkel  zu  sorgen.  Die  Verhandlung  wird  vor  den  Phratoren  geführt  wor- 
den sein.  Hier  mochte  lophon  in  leidenschaftlicher  Aufregung  beantragen,  dem 
Vater  die  Disposition  über  sein  Vermögen  zu  entziehen,  und  Sophokles,  um 
zu  beweisen,  dafs  er  im  vollen  Besitz  seiner  geistigen  Kräfte  sei,  das  Chorlied 
aus  dem  Oedipus  auf  Kolonus  V.  6(jSff.,  den  er  eben  unter  Händen  hatte,  vor- 
tragen. In  frischer  Erinnerung  an  diesen  Vorfall  mag  der  Dichter  Oed.  Kol. 
1192  ff.  niedergeschrieben  haben. 


366  DRITTE    PEIUOÜE    VON    500    BIS    300  V.    CHR.  G. 

natilrliche  Heiterkeit  nicht  getrübt  zu  haben.^^)  AnnnUhiger  Scherz 
stand  ihm  besonders  in  früheren  Jahren  immer  zu  Gebote.**)  Fried- 
fertig und  von  seltener  Liebenswürdigkeit,  welche  alle  gewann,  blieb 
Sophokles  vor  Conflikten  bewahrt,  denen  schärfer  ausgeprägte  Na- 
turen selten  entgehen.  Sein  Verhältnifs  zu  Aeschylus,  auf  innige 
Verehrung  begründet,  blieb  sich  unveränderhch  gleich.*')  Ebenso 
fand  zwischen  Sophokles  und  Euripides,  die  im  dichterischen  VVelt- 
kampf  einander  beständig  begegneten  und  durchaus  verschieden  an- 
gelegte Naturen  waren,  wohl  eine  gewisse  Rivalität,  aber  keine  Feind- 
schaft gewöhnlicher  Art  statt.")  Mit  den  besten  Männern  seiner 
Zeit,  einheimischen  wie  fremden,  welche  damals  zahlreich  Athen 
aufsuchten,  wie  mit  dem  Dichter  Ion  und  dem  Historiker  Herodot, 
verkehrt  Sophokles  freundschaftlich. 

Nach  der  herrschenden  Sitte  der  Zeit  fand  Sophokles  Woiilge- 
fallen  an  schönen  Knaben'*);  auch  der  Frauenliebe  mag  er  sich  hin- 
gegeben haben '^).  Indes  sein  Verhältnifs  zu  Theoris  kann  ein  voll- 
kommen rechtmäfsiges  gewesen  sein;  nur  galten  nach  der  Strenge 
der  attischen  Gesetze  Kinder,  welche  in  der  Ehe  mit  einer  Auslän- 
derin erzeugt  waren,  nicht  für  legitim.  Er  selbst  pries  sich  im 
Alter  glücklich,  dafs  er  Befreiung  von  den  Leidenschaften  gefunden 
hatte.'") 

Die  äufsere  Erscheinung  des  Sophokles  mufs  würdevoll  und  zu- 


34)  Aristoph.  Frösche  82  bezeichnet  treffend  den  Charakter  des  Sophokles 
mit  dem  Ausdrucke  svyoloe. 

'ib)  Ion  bei  Athen.  XIII  603  F :    avSpi  naiSitoSei  na^^  olvov  xai  8s^t^. 

36)  Aristoph.  Frösche  788  und  1515  f.  ist  dafür  ein  vollgültiger  Zeuge. 

37)  Die  Ueljjprlieferung  weifs  mancherlei  von  meist  scherzhaften  Aeufse- 
rungen  gegen  einander  zu  berichten,  wo  wie  gewöhnlich  Wahres  mit  Falschem 
vermischt  ist.  Solche  Aeufserungen  sind  übrigens  in  dem  bestimmten  Momente, 
wo  sie  gethan  werden,  vielleicht  vollkommen  berechtigt,  werden  auch  von  denen, 
an  die  sie  gerichtet  sind,  richtig  aufgefafst;  löst  man  sie  von  der  augenblick- 
lichen Situation  los,  fafsl  sie  allgemeiner,  dann  erscheinen  sie  leicht  ungerecht 
oder  unwahr. 

3b)  Ion  bei  Athen.  XllI  603  F  und  die  glaubhafte  Erzählung  bei  Plut.  Pericl. 
c.  8,  um  von  anderen  Anekdoten  abzusehen. 

39)  Zu  den  völlig  unverbürgten  Anekdoten  gehört  der  Verkehr  des  greisen 
Sophokles  mit  der  Hetäre  Archippa,  der  er  sein  Vermögen  hinterlassen  habe, 
Athen.  XII'  502  H,  was  schon  durch  das  Zengnifs  des  Fiato  (s.  A.  40)  hinläng- 
lich widerlegt  wird. 

4U)  Plalo  de  Kep.  1329C. 


»IE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.    DIE  BLÜTHEZEIT.  II.  SOPH.     367 

gleich  gewinnend  gewesen  sein,  wie  die  zahlreichen  bildhchen  Dar- 
stellungen beweisen.^*)  Den  vergänglichen  Reiz  der  sinnlichen  Jugend- 
blüthe,  welcher  einst  den  Epheben  auszeichnete,  hat  der  Dichter  im 
Mannes-  und  Greisenaller  mit  den  geistig  belebten  Zügen  ange- 
borenen Adels  und  milder  Anmuth  vertauscht.  Das  Bild  des  So- 
phokles veranschauhcht  am  besten  die  Broncestatue  im  lateranischen  . 
Museum  zu  Rom.  Der  Dichter,  eine  kräftige,  hohe  Gestalt,  ist  in  ruhi- 
ger, gemessener  Haltung  stehend  dargestellt,  der  linke  Arm  ist  ganz 
in  das  Gewand  eingehüllt,  während  der  rechte  auf  der  Brust  ruht; 
im  Ausdruck  des  Gesichtes  prägt  sich  Ruhe  und  Klarheit,  Ernst  mit 
Milde  gepaart  aus.^*) 

Sophokles  starb  neunzig  Jahre  alt  bald  nach  Euripides,  wie  es  Sophokles' 
scheint,  im  Spätjahre  Ol.  93,  3  (andere  verlegen  seinen  Tod  in  Ol. 
93,  2  gegen  Ende) ")  und  ward  auf  seiner  väterlichen  Grabstätte  an 


41)  Die  bedeutende  Zahl  von  Statuen,  Brustbildern  und  anderen  Darstel- 
lungen des  Sophokles  bekundet  hinlänglich  die  grofse  Popularität,  welche  der 
berühmte  Dichter  genofs.  Diese  Bilder,  verschiedenen  Zeiten  angehörend  und 
an  Kunstwerlh  ungleich,  stellen  den  Dichter  in  verschiedenen  Epochen  seines 
Lebens  dar  und  weichen  daher  mehrfach  von  einander  ab,  aber  das  Gemein- 
same ist  doch  nicht  zu  verkennen. 

42)  Diese  Statue  ist  wohl  eine  Copie  der  Bildsäule,  welche  die  Athener 
auf  Antrag  des  Lykurg  (Pausan.  I  21, 1)  im  Theater  dem  Sophokles  errichteten. 
Auch  der  Stil  der  Arbeit  weist  sie  dieser  Periode  zu. 

43)  Den  Tod  des  Sophokles  setzt  Diodor  XIll  103,  4  in  Ol.  93,  3,  oflfenbar 
nach  Apollodor,  der,  wie  Diodor  hinzufügt,  auch  den  Tod  des  Euripides  in  das 
gleiche  Jahr  verlegte;  ebenso  die  parische  Chronik  Ep.  t»4  und  die  Einleitung 
zum  Oedipus  auf  Kolonus  mit  dem  Zusätze  qiaaiv  oi  TiXeiovs.  Dies  deutet  auf 
eine  abweichende  Angabe,  nämlich  93,  2.  Dafs  Euripides  und  Sophokles  fast  zu 
gleicher  Zeit  gestorben  waren,  stand  fest,  ebenso  dafs  Sophokles  nach  Euri- 
pides starb  (s.  Suidas  ^oqioxXfjs  II  2,  838),  aber  als  Todesjahr  des  Euripides  ward 
bald  93,  2,  bald  3  bezeichnet;  daraus  erklärt  sich  dieses  Schwanken.  Ueber  das 
Spätjahr  Ol.  93,  3  darf  man  nicht  hinausgehen,  da  die  im  Winter  Ol.  93,  3  aufge- 
führten Frösche  des  Aristophanes  den  Tod  beider  Tragiker  zur  Voraussetzung 
haben;  auch  der  Schol.  Aristoph.  Friede  698,  der  von  Ol.  89,3  an  17  Jahre  zu 
rechnen  scheint,  meint  wohl  eben  Ol.  93,  3.  Wenn  Euripides  01.93,2  starb, 
so  konnte  Sophokles,  wie  der  Biograph  des  Euripides  meldet,  an  dem  Proagon 
der  grofsen  Dionysien  das  Andenken  seines  Kunstgenossen,  von  dessen  Tode 
die  Kunde  eben  eingetroffen  sein  mochte,  ehren.  Sophokles  besafs  noch  geistige 
Kraft  genug,  um  eine  Tetralogie  aufzuführen,  und  dafs  ihm  unter  diesen  Umstän- 
den der  erste  Preis  zuerkannt  wurde,  ist  erklärlich.  Diodor  XIII 103,  5  läfst  ihn  aus 
Freude  über  diesen  seinen  letzten  Sieg  unmittelbar  nachher  sterben  (er  bezeich- 
net es  selbst  als  Sage  —  faai;  diese  Anekdote  wiederholt  sich  öfter  in  den  Jahr- 


368  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHIl.  G. 

der  Strafse,  welche  nach  Dekelea  lührle,  beerdigt.  Eine  Sireue  vou 
Erz  mit  einer  einfachen  Aufsclnift  bezeichnete  das  Grab/*)  Auch 
an  das  Begräbnifs  knüpft  sich  eine  das  Andenken  des  grofsen  Dich- 
ters ehrende  Sage.  Als  man  die  Leiche  beisetzen  wollte,  halten  die 
Lakedämonier  an  dieser  Stelle  Schanzen  aufgeworfen.  Da  soll  Dionysus 
dem  Lysander  wiederholt  im  Traume  erschienen  sein  und  ihm  ge- 
boten haben,  die  neue  Sirene  zu  ehren.  Als  er  erfuhr,  Sophokles 
sei  gestorben,  verstand  er  den  Sinn  des  Traumgesichtes  und  gewährte 
bereitwillig  dem  Dichter  die  letzte  Ehre."**)     Diese  Erzählung  steht 


büchein  der  attischen  Bühne);  dann  aber  würde  der  Tod  des  Dichters  noch  in  Ol. 
93,  2  fallen.  Satyrus  (Biographie)  läfst  den  Sophokles,  während  er  seine  Anti- 
gene vorlas,  sterben,  indem  ihm  die  Stimme  versagte.  Ob  Satyrus  an  eine  Vor- 
lesung in  vertraulichem  Kreise  dachte  oder  glaubte,  die  Vorlesung  im  Theater 
habe  die  Stelle  der  Aufführung  vertreten,  läfst  sich  nicht  sagen.  Wohl  aber 
liegt  diese  Ueberlragung  späterer  Sitte  auf  die  klassische  Zeit  der  darauf  folgen- 
den Notiz  zu  Grunde :  ol  S'  ori  fisra  xt}v  tov  S^a/uaroe  avayvaiaiv,  ote  vt- 
xcHv  ixrjQv'/.d'rj,  ;fa^ä  vixrjd'eis  i^ehnev.  Auffallend  ist  die  Erwähnung  der 
Antigone,  da  für  ältere  Stücke  an  den  städtischen  Dionysien  kein  Raum  war. 
Oder  sollte  in  tendenziöser  Absicht  zur  Zeit  des  Processes  wegen  der  Schlacht 
bei  den  Arginusen  in  einem  Demos  eine  "Wiederaufführung  der  Antigone  statt- 
gefunden haben?  .Jedenfalls  konnte  Sophokles  an  solchem  Mifsbrauche  kein 
Wohlgefallen  finden.  Dafs  Sophokles  kurz  vor  seinem  Tode  noch  einmal  am 
tragischen  Agon  theilnahm,  ist  recht  gut  denkbar,  aber  es  ist  nicht  nöthig. 
dafs  er  gleich  darauf  starb.  Dagegen  spricht  der  Ansatz  des  ApoUodor  (wohl 
auch  hier  mit  Eratosthenes  in  Uebereinstimmung),  der  durch  jene  Anekdoten 
nicht  erscliütlert  wird.  Nach  einer  anderen  weit  verbreiteten  Ueberlieferung 
erstickte  der  greise  Tragiker,  wie  Anakreon,  an  dem  Kerne  einer  Weinbeere. 
Dies  würde  mit  dem  Spätjahr  Ol.  93,  3  stimmen.  Wenn  der  Biograph  den  So- 
phokles die  Weintraube  am  Choenfeste  als  Geschenk  erhalten  läfst,  so  würde 
dies  auf  Ol.  93,  2  führen;  aber  in  der  Winterzeit  giebt  es  keine  halbreifen  Trau- 
ben. Sonst  hat  diese  Todesart  nichts  Auffallendes,  und  die  Worte  des  Komi- 
kers Phrynichus  Musae  fr.  1  Com.  II  1,592,  der  den  Sophokles  glücklich  pries, 
weil  er  ovSkv  vnofieivas  xaxov  gestorben  sei,  sind  damit  wolil  vereinbar. 

44)  Biographie.  Die  Inschrift  K^vtito}  li^Ss  züfto  J!o<poxl^  Ti^torela 
Xaßovxa  11]  xQayixri  Ttxvri  axT^l^a.  xb  asfivörarov  mag,  wie  Valer.  Max.  VIII 
7,  12  aussagt,  von  lophon  verfafst  sein;  das  Epigramm  bestand  nur  aus  diesem 
einen  Distichon.  Wenn  Valerius  bemerkt,  es  sei  darin  auf  die  letzte  Arbeit, 
den  Oedipus  auf  Kolonus,  Rücksicht  genommen,  so  hat  er  offenbar  seine  Ouelle 
mifsvers  landen. 

45)  So  der  Biograph  und  andere.  Dies  ist  chronologisch  unzulässig,  da 
die  Belag'Orung  Athens  durch  die  Lakedämonier  gerade  ein  Jahr  nachher  beginnt. 
Pausan.  1  21,  2  spricht  von  einem  Einfall  der  Lakedämonier,  ohne  den  Befehls- 
haber namentlich  zu  bezeichnen.    Man  könnte  also,  um  jene  Ueberlieferung  zu 


DIE  DRAM.  POESIE.   DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  II.SOPH.      369 

mit  den  Zeitverhältnisseo  nicht  in  Einklang  und  ist  vielleicht  dahin 
zu  modificiren ,  dafs  die  Lakedämonier  im  Jahre  darauf  dem  Opfer, 
welches  die  Angehörigen  des  Dichters  an  seinem  Todestage  am  Grahe 
darbrachten,  kein  Hindernifs  in  den  Weg  legten.^®) 

Mit  den  Schätzen  der  Nationallileratur  ist  Sophokles  genau  ver-  Eifriges 
traut.  Aber  keiner  unter  den  älteren  Dichtern  hat  so  entschieden  Homer. 
auf  ihn  eingewirkt  als  Homer;  den  Spuren  der  Homerischen  Poesie 
geht  er  mit  hebevoller  Sorgfalt  nach.  Natürlich  ist  hier  nicht  von 
sklavischer  Nachahmung  die  Rede.  Ein  ebenbürtiger  Geist  wie  So- 
phokles wufste  am  besten  den  unvergleichlichen  Gehalt  der  alten 
epischen  Dichtungen  zu  würdigen/")  Diesen  Werken  verdankt  er 
mannigfache  Anregung.  Den  Stoff  zu  zahlreichen  Dramen  hat  So- 
phokles aus  Homer  und  den  Kyklikern  entnommen");  unbedenküch 
wiederholt  er  Motive  und  Erfindungen  seiner  Vorgänger,  jedoch  ohne 
auf  seine  Selbständigkeit  zu  verzichten ,  erheischte  doch  die  drama- 
tische Form  eine  reichere  Ausführung,  und  das  Publikum,  welches 
Wohlbekanntes  in  veränderter  Fassung  wieder  antraf,  hatte  daran  be- 
sondere Freude.  In  der  Schilderung  der  heroischen  Zeit  schliefst 
Sophokles  sich  eng  an  jene  Vorbilder  an,  indem  er  nur  selten  sich 


retten,  an  Agis  und  einen  Streifzug  der  Spartaner  von  Dekelea  aus  denken ; 
indes  ist  eine  solche  Expedition  um  die  Zeit  der  Schlacht  bei  den  Arginusen 
wenig  wahrscheinlich. 

46)  Wenn  Sophokles  im  Spätjahr  Ol.  93, 3  starb,  konnte  die  Jahresfeier 
seines  Todes  mit  der  Einschliefsung  Athens  zusammenfallen.  Aber  auch  dann 
pafst  der  Name  Lysander  nicht  recht,  der  Athen  von  der  Seeseite  blokirte  und 
bald  darauf  nach  Samos  abging. 

47)  Von  Homer  haben  mehr  oder  minder  alle  griechischen  Dichter  ge- 
lernt, aber  das  Urlheil  (wohl  des  Ion),  Sophokles  allein  verdiene  ein  Schüler 
Homers  genannt  zu  werden,  ist  nicht  grundlos  (Biograph ,  der  auch  'Oftrj^ixöi 
als  Zuname  des  Dichters  anzuführen  scheint).  Der  Philosoph  Polemo  nannte 
Homer  den  Sophokles  unter  den  Epikern,  Sophokles  den  Homer  unter  den 
Tragikern,  Diog.  Laert.  IV  c.  3,  7  (20).  (S.  Bd.  I  S.  830  f.) 

4S)  Biographie :  rovs  re  yaQ  fivd'ovS  ifSQSi  xar  i%POS  tov  rcoirjTOv  xal 
xrp/  'OSvaaetav  S^  iv  tcoX^mIs  Soäfiaffiv  anoyqatpeiai,  nicht  ohne  Uebertrei- 
bung;  denn  auf  die  Ilias  geht  keine  Tragödie  des  Sophokles  zurück,  auf  die 
Odyssee  nur  Navamäa  und  <Paiaic£e.  Desto  mehr  Dramen  (über  dreifsig)  lehnen 
sich  an  die  Kykliker  an;  mit  Recht  sagt  Athen.  VH  277 E:  /;{««(»«  ^'  o  ^yoxÄ^» 
Ttj;  ijTixt^  xvxXto,  (US  xai  oJia  S^äftara  TtoiTJaat  xazaxohrv&öiv  Tr,  kv  rovrq» 
fivd-ojxoiia.  Und  indem  Sophokles  den  Stoff  aus  dieser  Quelle  schöpfte,  hat 
sicherlich  auch  der  Geist  und  die  Form  dieser  Poesien  auf  ihn  eingewirkt. 
ßtTfk,  Griecb.  Literaturgeschichte  III.  24 


370  DRITTE    PERIODE   VON    500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

Anachronismen  und  ähnliche  Verslöfse  gegen  die  historische  Treue 
gestattet.'"')  Den  Einflufs  der  Homerischen  Poesie  nimmt  man  vor 
allem  in  der  Auffassung  der  Charaktere  wahr.").  Dies  gilt  nicht 
allein  von  solchen  Gestalten,  die  dem  Epos  und  der  Tragödie  ge- 
meinsam sind,  wie  z.  ß.  Aias  oder  Odysseus*')?  sondern  Sophokles 
besitzt  überhaupt  wie  Homer  die  Kunst  der  individuellen  Charakter- 
zeichnung in  hohem  Grade.  Ebenso  erinnert  die  Milde  und  dais 
Gleichmafs  des  Tragikers  an  die  Homerische  Art;  eine  gewisse  wohl- 
Ihuende  Ruhe  wird  selbst  in  der  leidenschaftlichen  Bewegung  nicht 
vermifst.  Allgemeine  Sentenzen  sind  mehrfach  auf  Homer  als  Quelle 
zurückzuführen.  Ebenso  erinnern  Bilder  und  Gleichnisse  an  das  Epos; 
nur  befleifsigt  sich  Sophokles  mehr  jener  gedrängten  Kürze,  welche 
der  dramatische  Stil  erfordert.")  Vor  allem  aber  verwendet  Sophokles 
eine  Menge  Worte  und  Formen,  welche  der  epischen  Sprache  eigen- 
thümhch  sind^),  und  zwar  in  allen  Theilen  des  Dramas,  in  erzäh- 
lenden Partien  und  Chorgesängen  natürlich  häufiger  als  im  Dialog, 
immer  aber  mit  Mafs  und  Auswahl.  Besonders  die  früheren  Arbeiten 
mochten  an  den  Stil  der  epischen  Poesie  erinnern,  wie  der  Aias 
zeigt.  —  Ebenso  hat  Soj)hokles  die  Arbeiten  der  anderen  Tragiker 
fleifsig  studirt  und  verdankt  seinen  Vorgängern  wie  Zeitgenossen, 
vor  allen  dem  Aeschylus,  aber  auch  dem  Euripides  vielfache  .An- 
regung.^^) 

49)  So  in  der  Elektra  die  Beschreibung  der  Kampfspiele  zu  Olympia. 
Beziehungen  auf  die  unmittelbare  Gegenwart  werden  mit  richtigem  Takte" ver- 
mieden. 

50)  Treffend  stellt  der  Biograph  die  Kunst  der  Charakteristik  bei  Sopho- 
kles mit  Homers  Leistungen  zusammen :  r,&onoiEX  Si  xni  Tioixlklst  xal  rols 
i7tivor,fiaat  rsxvixäx  xorjrai  'OfiriQiycrjv  ixfiarxöfievos  x^Q^*'- 

51)  Auch  in  der  Zeichnung  der  Tekmessa  im  Aias  erinnert  mancher  Zug 
an  die  Homerische  Andromache. 

52)  Doch  werden  zuweilen  auch  ausgeführte  Vergleichungen  eingeflochten. 

53)  So  gebraucht  Sophokles  tpgero&er,  fiajQÖd'ev  an  Stelle  des  Genitivs. 
Hierher  gehören  Worte  wie  afiaifinxeroe ,  nnsiot'atoe,  dfieiTjt'öa  und  andere, 
Partikeln  wie  ^«,  rjSe  oder  t^e,  Formeln  wie  fiovvos  ait^  äXXcov,  ftöroi  fiövtoi 
(herzustellen  Aias  [467?]»,  dann  besonders  stehende  Epitheta,  wie  ilot  'OSnaasvf, 
xJlvTa  aijioXtn,  fXixee  ßove,  m'&tav  aiSr^QOt,  xXvih  IvaQn,  d'oni  wxx'ftlot  rfjei. 

54)  Unbedenklich  eignete  sich  Sophokles,  was  ihm  gemafs  war,  von 
anderen  an.  Die  gelehrten  Grammatiker,  welche  überall  Plagiate  erblickten, 
•werden  bei  diesem  Dichter  Stoff  genug  zur  Begründung  dieser  Anklage  gefun- 
den liaben.  So  schrieb  Philostratus  nafi  T^e  tov  2:o^oxXtov6  «lonfi«  (Euseb. 
Praep.  Ev.  X  3,  13). 


I»IE  DRAM  POESIE.    DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  II.SOPH.       371 

Fast  zwei  Menschenalter  hindurch  hat  Sophokles  für  die  Bühne  ge-  Dauer  der 
arbeilet,  obwohl  er  schon  die  ersten  Jugendjahre  überschritten  hatte, '''^^^"g'^'g^j®'' 
als  er  Ol.  77,  4  seine  ersten  Dramen  aufführte;  von  da  an  bis  zu 
seinem  Tode  Ol.  93,  3  war  er  ununterbrochen  thätig.  Auch  bheb  ihm 
die  Gunst  des  Pubhkums,  welche  ihm  bei  seinem  ersten  Auftreten  in 
so  ehrenvoller  Weise  zu  Theil  geworden  w  ar,  fortwährend  treu.  Zwan- 
zigmal ward  ihm  der  erste  Preis  zuerkannt,  sonst  stets  der  zweite**), 
während  Aeschylus  nur  dreizehnmal,  Euripides  sogar  nur  fünfmal 
siegte  und  gar  nicht  selten  sich  mit  der  dritten  Stelle  begnügen  mufste. 

Die  Alexandriner  kannten  hundertunddreifsig  Stücke  des  So-  Zahl  der 
phokles,  von  denen  jedoch  einige  als  unecht  ausgeschieden  wur- 
den.^ Sophokles  hat  sich  geistige  Frische  und  Kraft  bis  ins  höchste 
Greisenalter  bewahrt,  wie  seine  letzten  Arbeiten,  der  Philoktet  und 
der  Oedipus  auf  Kolonos,  der  erst  nach  dem  Tode  des  Dichters  zur 
Aufführung  kam,  beweisen.  Diese  Stücke  vertheilen  sich  also  über 
einen  Zeitraum  von  mehr  als  sechzig  Jahren,  und  durchschnitthch 
würde  der  Dichter  alle  zwei  Jahre  eine  Tetralogie  vollendet  haben, 
ein  deulhcher  Beweis,  wie  es  Sophokles  mit  seiner  Kunst  nicht  leicht 
nahm,  sondern  seine  Arbeiten  sorgsam  feilte  und  zur  Reife  gelangen 
liefs.    Zumal  anfangs  hat  Sophokles  nur  langsam  gearbeitet*^),  wäh- 


55)  So  der  Biograph  (mit  Berufung  auf  den  Pergamener  Karystius).  Suidas 
giebl  die  Zahl  der  Siege  auf  24,  Diodor  XIII  103,4  auf  18  an.  Wenn  Euphorion 
und  Philokles  dem  Sophokles  vorgezogen  wurden,  so  siegten  sie  wohl  nicht 
mit  eigenen,  sondern  mit  Aeschyleischen  Dramen.  Die  Kränkung,  dafs  der  Archon 
sich  weigerte,  dem  Sophokles  einen  Chor  zu  geben,  von  Kratinus  in  den  Bov- 
x6?.oi  fr.  2  Com.  111,27  gerügt,   fällt  sicherlich  in  die  Jugendzeit  des  Dichters. 

56)  Biographie:  k/ei  8e  S^aftara,  ojs  cpr^aiv'A^iaxo^avr^s,  ^X',  tovtcov  Se 
vsvö&evrai  i^.  Hier  ist  vielmehr  ^  zu  lesen;  dies  stimmt  mit  Suidas  II  2,  839: 
dSiSa^s  Se  S^dfiara  ^xy,  lös  Ss  tives  xai  noX)^  TtXsCco.  Nämlich  aufser 
jenen  130  Dramen,  die  sich  erhalten  hatten,  mochten  andere  frühzeitig  unter- 
gegangen sein,  die  man  nur  aus  den  Didaskalien  kannte.  Jene  Zahl  ergiebt 
32  Tetralogien  und  zwei  weitere  Dramen.  Die  Zahl  der  Satyrdramen,  so  weit 
sie  als  solche  erkennbar  sind,  reicht  nicht  aus;  der  Verlust  wird  eben  beson- 
ders Satyrstücke  betroffen  haben.  Ob  Sophokles  nach  Art  der  Alkestis  des 
Euripides  Schlufsdramen  der  Tetralogie  gedichtet  hat,  ist  ungewifs;  auf  keinen 
Fall  gehörte  die  Tvqu>  in  diese  Kategorie.  Aeltere  Dramen  hat  Sophokles  öfter 
umgearbeitet.  Wir  kennen  nicht  mehr  sämmtliche  Titel;  manches  ist  hier  pro- 
blematisch.    Doppeltitel  bereiten  mehrmals  Schwierigkeiten, 

57)  Die  Antigene,  Ol.  84,  3,  als  das  dreifsigste  Stück  bezeichnet,  gehört 
zur  achten  Tetralogie;  folglich  kommt  bis  zu  diesem  Zeitpunkte  auf  jede  Olym- 
piade eine  Tetralogie. 

24* 


372  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

rend  später,  besonders  seit  dem  grofsen  Kriege  die  Dramen  wolil 
rascher  und  in  kurzen  Zwischenräumen  auf  einander  folgten.**)  Es 
begann  eben  damals  die  Produktivität  auf  diesem  Gebiete  entschieden 
nachzulassen.  So  mufste  Sophokles  nebst  Euripides  den  Ausfall  durch 
gesteigerte  Thätigkeit  zu  decken  suchen,  gewifs  nicht  immer  zum 
wahren  Vortheil  der  Kunst. 

Sophokles  hatte  weit  mehr  Erfolg  als  Euripides.  Er  galt  bei  den 
Zeitgenossen,  nachdem  Aeschylus  gestorben  war,  als  der  erste  Meister 
seines  Faches.*^)  Aber  fraglich  ist,  ob  Sophokles,  der  sich  von  den 
Extremen  fernzuhalten  sucht,  so  warme  Verehrer  und  entschiedene 
Anhänger  hatte  als  Euripides,  und  selbst  die  gewaltige  Erhabenheit 
des  Aeschylus,  wenngleich  sie  einer  Zeit,  die  auch  in  der  Poesie 
nach  bequemem  Genufs  verlangte  und  die  leichte,  gefällige  Form  über 
alles  schätzte,  schon  fremd  und  fremder  wurde,  gewährte  gleichge- 
stimmten Naturen  vorzugsweise  die  Erhebung  des  Gemülhs,  die  man 
von  der  Tragödie  fordert.  Aristophanes  behandelt  den  Sophokles 
alle  Zeit  achtungsvoll,  besonders  in  den  Fröschen.  Wenn  er  hier 
nicht  den  Sophokles,  sondern  den  Aeschylus  dem  Euripides  gegen- 
überstellt, so  geschieht  dies  nicht  blofs,  um  den  Gegensatz  in  aller 
Schärfe  hervortreten  zu  lassen ,  sondern  aus  innerer  Ueberzeugung 
erkennt  er  dem  Aeschylus  den  Preis  der  Iragischen  Dichtung  zu. 
Gerade  in  dem  Momente,  wo  die  beiden  grofsen  Tragiker  von  dem 
Schauplatze  ihres  Wirkens  schieden,  mochte  man  in  Athen  lebhaft 
über  die  Vorzüge  des  einen  und  des  anderen  streiten,  und  wie  da- 
mals, so  schwankte  auch  später*")  die  Entscheidung.  Die  harmonische 


58)  Sophokles  und  Euripides  waren  damals  die  entschiedenen  Lieblinge 
des  Publikums;  man  empfand  eine  Lücke,  wenn  diese  Dichter  an  den  grofsen 
Dionysien  fehlten,  s.Aristoph.  Frieden  531  f.  Auf  gesteigerte  Thätigkeit  des  So- 
phokles deutet  wohl  auch  ebendas.  697  der  Spott,  Sophokles  sei  in  seinem 
Greisenalter  zum  Simonides  geworden  und  schreibe  um  des  Lohnes  willen, 
was  wohl  nicht  zu  ernsthaft  genommen  werden  darf. 

59)  Wenn  in  dem  Epigramme  auf  dem  Denkmale  des  Tragikers  ihm  die 
nQuxela  zuerkannt  werden,  so  spricht  sich  darin  wohl  die  aligemeine  Stimme 
aus,  Xenoph.  Mem.  I  4,  3:  ini  /uiv  Toiwv  inötv  noi^aet' Oftrj^r  fyaye  fiähaxa 
TB&avfxaxa,  ini  Si  Std'vQaftßt^  MeXavtnniSrjv,  ini  Si  x^ayt^ySia  2!o<poxXta,  ini 
Se  av8Qia%nonotTq  JlolvxXtnov,  ini  Se  ^(oyga<piq  ZsT^tr.  Auch  Aristot.  Poet, 
c.  3,  4  p.  144h  A  '20  f.  stellt  beispielsweise  Sophokl''<  nii.l  Vrlsi.uilmnes  tnil  Homor 
zusammen. 

(iO)  Ouintil.  X  IJIT. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE.TRAGÜDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  II.SOPII.      373 

Weise  des  Sophokles  sprach  alle  Zeit  viele  an  und  wurde  willig  all- 
gemein anerkannt,  aber  der  Vertreter  der  neueren  Tragödie  sagte 
doch  vorzugsweise  der  Menge  zu  und  gewann  einen  immer  wachsen- 
den Einflufs. 

Dafs  ein  Dichter,  der  mehr  als  sechzig  Jahre  hindurch  für  seine  ^p"*^**.®"  '° 
Kunst  wirkte  und  unablässig  auf  seine  Fortbildung  bedacht  war,  in  rischen  Em- 
diesem   langen  Zeiträume   sich   nicht   vöUig  gleich   bleiben  konnte,^J*''''"°*;'*'* 

"  DO  7  Sophokles. 

liegt  auf  der  Hand.  Abgesehen  von  der  Einwirkung,  welche  das 
verschiedene  Lebensalter  nothwendig  auf  jede  Dichternatur  ausüben 
wird,  konnte  sich  auch  Sophokles  dem  mächtigen  Einflüsse  einer 
Zeit,  die  in  hohem  Grade  bewegt  war,  sowie  den  .4nregungen  an- 
derer mitstrebender  Dichter  nicht  entziehen.  Plutarch  hat  uns  eine 
interessante  Aeufserung  des  Sophokles  überliefert®'),  in  welcher  der 
Dichter  selbst  seinen  fortschreitenden  Entwicklungsgang  kurz  und 
bündig  schildert.  Allerdings  ist  zunächst  vom  Stil  die  Rede;  allein  da 
die  sprachHche  Darstellung  mit  dem  Geist  und  Charakter  eines  dichte- 
rischen Werkes  auf  das  Innigste  verwachsen  ist,  so  werden  damit  zu- 
gleich die  verschiedenen  Stadien  der  Entwicklung  seiner  Poesie  be- 
zeichnet. Sophokles  bekennt,  dafs  er  in  seinen  ersten  Jugendar- 
beiten den  feierlichen,  würdevollen  Stil  der  Aeschyleischen  Tragödie 
nachzubilden  versucht  habe;  dann,  indem  er  diesem  Streben  nach 
Kühnheit  und  Gröfse  entsagte  und  seinen  eigenen  Weg  zu  gehen 
unternahm,  haftete  den  weiteren  Versuchen  etwas  Herbes  und  Strenges 
an.  Diese  Arbeiten,  nach  einer  festen  Regel  ausgeführt,  waren  nicht 
einfach  und  natürlich  genug.   Der  Dichter  selbst  tadelt  ein  gewisses 

61)  Plutarch  de  prof.  in  virt.  c.  7,  in  einer  freilich  nicht  unversehrt  äber- 
lieferten  Stelle :  Sanso  ya^  6  ^ofoxkr;s  i'Xtys  rov  ALaxvhrv  StansTiatxaiS  (sehr. 
StantTiXaxeoe)  oyxov ,  eha  to  tiixqov  xai  xatärexvov  rrj^  nvrov  (sehr. 
avroii)  tcaxaaxsvr^s,  roirov  rjSr;  {ueraßr;vat  eis,  diese  einfache  Ergänzun? 
wird  durch  Plutarchs  eigene  Worte  empfohlen)  to  t^s  li^ecos  fisxaßäXXeiv 
slSos,  oTxeo  iaxlv  T]d'ixeararov  xai  ßikriaxov  ovtojs  ol  (fiüoaocpovvTes,  orav 
ix  xwv  navTjyv^ixäfv  xai  xaxaxexvcov  eis  xbv  anxöuevov  tj&ovS  xai  nä&ovs 
Xoyov  /iBxaßwaiv  [xaxaßcöaiv  bei  Dübner] ,  ÖQxovxat  rfjv  cXrjd'T]  tiooxojitjv  xai 
axvffov  TtQoxÖTixeiv.  Den  Ausdruck  xaxaaxevri  wird  Sophokles  nicht  gebraucht 
haben;  Plutarch  wendet  ihn  gemäfs  dem  Sprachgebrauche  der  Späteren  an.  Die 
Aenderung  nvxvov  statt  nix^öv  {nvxvov  die  gedrängte  Kürze,  wie  bei  Thuky- 
dides,  s.  Dionys.  de  vett.  scr.  cens.  c.  3  V  427  ed.  Lips.)  ist  unnölhig;  thxqÖv  ist 
soviel  als  avaxrj^v  (übrigens  ist  nach  Dionys.  ad  Pomp.  c.  3  VI  775  die  Kürze, 
wenn  sie  der  Deutlichkeit  keinen  Eintrag  thut.  rßv,  wenn  sie  den  Gedanken  ver- 
dunkelt, nixoöv). 


374  DRITTE    PERIODE   VON    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

Uebermafs  des  Künstlichen.®")  Endlich  nach  diesen  verschiedenen 
Versuchen  entwickelte  Sophokles  sein  glückliches  Talent  in  aller 
Selbständigkeit.  Die  Schroffheit  und  Härte  ward  gemildert;  das  künst- 
liche, abgemessene  Wesen  machte  der  Naturwahrheit,  der  Zwang, 
den  sich  der  Dichter  früher  auferlegt  hatte,  einer  freieren  Bewegung 
Platz.  Sophokles  ist  bemüht,  mit  allen  Mitteln  den  Reichthum  in- 
neren Lebens  wiederzugeben.*'^ 

Von  dem  umfassenden  literarischen  Nachlasse  des  Sophokles  ist 
uns  nur  ein  geringer  Rest  erhalten.  Und  selbst  die  Chronologie  dieser 
sieben  Tragödien  ist  unsicher,  da  das  Jahr  der  Entstehung  meist 
nicht  überliefert  ist,  noch  auch  sich  durch  Combination  feststellen 
läfst.  Diese  Arbeiten  reichen  daher  nicht  aus,  um  uns  einen  voll- 
ständigen Einblick  in  die  Entwicklung  des  Tragikers  zu  gewähren ; 
ebenso  wenig  bieten  die  ziemlich  dürftigen  Bruchstücke  der  verlorenen 
Dramen  Ersatz. 

Zunächst  trat  der  junge  Sophokles  in  die  Fufsstapfen  des  ihm 
befreundeten  und  allgemein  anerkannten  Meisters.  Mit  Fug  wird 
daher  Sophokles  als  Schüler  des  Aeschylus  betrachtet.  Wenn  sich 
auch  keine  Arbeil  aus  dieser  Epoche  erhalten  hat,  so  zeigen  doch 
die  Reste  mehrerer  verlorener  Tragödien  unverkennbare  Anklänge 
an  den  Aeschyleischen  Stil.")  Der  Chor  behauptete  offenbar  in  diesen 
Dramen  noch  seine  hergebrachte  Stellung®'*),  wie  überhaupt  die 
Stücke  des  Sophokles,  die  nach  dem  Chore  benannt  sind,  vorzugs- 
weise der  früheren  Zeit  angehören  dürften.  Die  freiere  Form  der 
Tetralogie  mag  Sophokles  gleich  anfangs  gebraucht  haben,  aber  er 


62)  Man  könnte  glauben,  die  Milde  sei  eigentlich  dem  Sophokles  von 
Haus  aus  eigenthümlich,  und  nur,  indem  er  seiner  Natur  nicht  nachgeben 
mochte,  habe  er  in  dieser  Epoche  zum  Entgegengesetzten  hingeneigt;  aliein 
Sophokles'  eigene  Worte  sprechen  gegen  eine  solche  Auffassung. 

63)  Auch  der  Biograph,  wenn  er  die  Kunst  der  rid-onoita  hervorhebt, 
fügt  hinzu:  ^ari  Se  rovzo  fieyiarov  iv  notfjrtx^,  Stjlovv  rj&os  ^  nä^ot. 

64|  Hierher  gehören  aufser  dem  Triptolemus  die  ^ix/utiXcariSei,  ^AvS^- 
fiiSa,  'Ivaxos,  Ko^xiSee,  Uoifidves,  TQtoiJMi  u.  a.  Wenn  alte  Kritiker  iiy  Rhe- 
sus den  Sophokleischen  Stil  fanden,  so  kann  sich  dies  nur  auf  diese  Periode 
beziehen.  Eben  diese  Dramen  boten  auch  den  Chronographen  reichlichen 
StofT  dar. 

65)  Der  Chor  hat  meist  noch  einen  bestimmt  ausgesprochenen  Charakter, 
besteht  aus  Personen,  die  wesentlich  zur  Handlung  gehören,  wie  '/^^orö/«», 
'TS^fOQOt,  Ilotfteves, 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  11.  SOPH.       375 

dichtete  sicherlich  auch  zusammenhängende  Draraencyklen  nach  der 
Weise  des  Aeschylus. 

Gleich  nachdem  Aeschyhis  von  Athen  geschieden  war,  oder  doch 
nach  seinem  Tode  mag  Sophokles  einen  neuen  Weg  betreten  haben, 
indem  er  jene  herbe,  künsthche  Weise  des  dramatischen  Stils  aus- 
bildete. Mit  Sicherheit  läfst  sich  kein  Drama  dieser  Epoche  zuweisen ; 
doch  mögen  Aias*)  und  die  Trachinierinnen,  welche  zumeist 
diesen  Charakter  zeigen,  hierher  gehören.  Wenn  anderes  damit  nicht 
harmonirt,  so  erklärt  sich  dies  daraus,  dafs  beide  Tragödien  nicht 
in  ihrer  ursprünghchen  Gestalt  überliefert  sind. 

Die  Antigene,  Ol.  84,  3  aufgeführt,  mag  ungefähr  den  Anfang 
der  dritten  und  letzten  Stufe  bezeichnen.®®)  Hier  hat  Sophokles,  von 
glücklichem  Takte  geleitet,  die  ihm  gemäfse  Art  gefunden.  Innerlich 
mehr  und  mehr  reifend,  gewinnt  er  Harmonie  und  Gleichmafs  und 
erreicht  allmählich  den  Höhepunkt  seiner  Kunst.  Aber  wie  in  den 
Arbeiten  der  zweiten  Periode  Reminiscenzen  an  den  Aeschyleischen 
Stil  nicht  fehlten,  so  finden  sich  auch  in  den  fünf  Tragödien,  die,  ob- 
wohl eine  genauere  Zeitbestimmung  bei  mehreren  vermifst  wird,  doch 
unverkennbar  den  Stempel  dieser  Epoche  tragen,  noch  vielfache  An- 
klänge an  die  herbe  und  gekünstelte  Manier  früherer  Jahre,  und 
wie  einst  der  junge  Sophokles  auf  den  greisen  Aeschylus  eingewirkt 
hatte,  so  erfuhr  er  selbst  später  den  Einflufs  des  Euripides.®') 

*)  [Bei  Ersch  und  Gruber  S.  365  B  wird  zuerst  Elektra  genannt,  deren  Bespre- 
chung hier  gänzlich  fehlt:  ich  rücke  daher  das  Stück  an  dieser  Stelle  ein,  s.  S.  376.] 

66)  Hier  beginnt  bei  Sophokles  die  axuri,  wo,  wie  Aristoteles  (Plut.  comp. 
Menandri  et  Arist.  2,  2)  bemerkt:  fiä/uara  xai  nXeiarr^v  iniSoaiv  hxfißävst  t« 
tceqI  zr^v  Xi^iv  Toli  yoücpovaiv.  Sophokles  hatte  allerdings  das  vierzigste  Le- 
bensjahr damals  schon  längst  überschritten;  er  ist  eben  keine  frühreife  Natur, 
hat  sich  aber  dafür  Frische  und  Kraft  des  dichterischen  Schaffens  bis  ins  höchste 
Alter  bewahrt.  Der  Philoktet,  vier  Jahre  vor  seinem  Tode  geschrieben,  zeigt 
keine  Spur  von  Alterschwäche  oder  Abnahme  der  Kraft. 

67)  Die  letzten  Arbeiten,  Philoktet  und  Oedipus  auf  Kolonos, 
zeigen  dies  mehrfach,  aber  schon  viel  früher,  wie  in  der  Phädra,  die  Sophokles 
dem  Hippolytus  des  Euripides  gegenüberstellte,  erkennt  man  den  Einflufs  des 
jüngeren  Kunstgenossen.  Leichter  Flufs  der  Rede,  Vorliebe  für  das  Senfentiöse, 
die  Bevorzugung  weiblicher  Charaktere  sind  das  iMerkmal  der  Dramen  aus  der 
Zeit  des  peloponnesischen  Krieges,  und  man  wird  nicht  fehl  gehen,  wenn  man 
den  Aletes,  die  Aleaden,  Kreusa,  Tereus  u.  a.  diesem  Zeiträume  zuweist.  Wenn 
Euripides  öfter  in  Chorliedern  rein  persönliche  Angelegenheiten  berührte,  so 
ist  ihm  Sophokles  auch  hierin  gefolgt,  Pollux  IV  111:  xal  2o<poxlrs  $8  nvxo 
ix  T^S  Tigöi  ixeivov  afii)J.r,3  notti  OTiariaxis,  (öoTieo  iv  'hrrorca. 


376  DRITTE   PERIODE    VON    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

Kiekira.  *)  ^'i^gends  tritt  jenes  künstliche  und  herbe  Wesen ,  welches  der 

Dichter  selbst  als  das  charakteristische  Merkmal  dieser  (zweiten)  Pe- 
riode bezeichnet,  so  deutlich  hervor  als  in  der  Elektra.  In  dieser 
Tragödie  behandelt  Sophokles  denselben  Stoff  wie  Aeschylus  in  den 
Choephoren.  Aber  während  bei  Aeschylus  Orestes  die  Hauptperson  ist, 
macht  Sophokles  die  Elektra  zum  eigentlichen  Mittelpunkte  der  Hand- 
lung. Die  Pflicht  der  Blutrache  war  für  Elektra  eigentlich  nicht  vor- 
handen ;  aber  sie  ist  ganz  von  diesem  einen  Gefühle  erfüllt.  Sie  ist 
die  Seele  des  Ganzen,  die  den  Bruder  zu  der  grausen  That  an- 
treibt, welche  er  kaltblütig  und  ohne  alles  Bedenken  vollzieht.  Und 
zu  diesem  schroffen,  herben  Wesen,  welches  die  handelnden  Per- 
sonen zeigen,  kommt  das  ausgebildete  rhetorische  Element  hinzu, 
welches  in  kunstreichster  Weise  hier  mehr  als  in  irgend  einem 
anderen  Stücke  die  gesammte  Darstellung  durchdringt  und  beherrscht. 
Jene  kathartische  Wirkung,  die  sonst  dem  Sophokles  vortrefflich  ge- 
lingt, wird  hier  nicht  recht  erreicht,  und  nach  der  Wiedererkennung 
sinkt  das  Stück  entschieden.* 
Aias.  Wenn  Sophokles  im  Aias®*)   den   ergreifenden  Untergang  des 

Helden  schildert,  den  die  Volksmeinung  dem  Achilles  als  ebenbürtig 
zur  Seite  stellte,  der,  in  Athen  als  einer  der  zehn  Stammheroen  ver- 
ehrt, zugleich  ein  patriotisches  Interesse  erweckte,  so  versetzt  uns 
der  Tragiker  sofort  mitten  in  die  Begebenheiten.  Das  Drama  be- 
ginnt eigentlich  mit  der  Katastrophe.  Die  Ereignisse,  welche  vor- 
ausgehen und  diese  verhängni fsvolle  Wendung  bedingen,  bilden  den 
Hintergrund,  werden  aber  nur  ganz  kurz  berührt.  Selbst  die  Ent- 
stehung des  Wahnsinns  liegt  vor  der  Handlung;  nur  einen  Moment 
zeigt  uns  der  Dichter  den  an  seiner  Ehre  empfindlich  gekränkten 
Helden  in  seiner  rasenden  Wuth.  Alsbald  kehrt  das  Bewufstsoin 
zurück.  Aias  fühlt  sich  durch  die  Unthaten,  welche  er  in  der  Ver- 
wirrung dos  Geistes  begangen  hat,  lief  erniedrigt.  Ein  mit  Schimpf 
und  Schande  bedecktes  Dasein  hat  für  den  Helden  keinen  Werth ; 
der  Entschliifs,  seinem  Leben  ein  Ende  zu  machen,  steht  fest  und 
wird  nicht  ohne  innere  Bewegung ,   aber   ohne  eigentlichen  Kampf 


*)  [S.  S.  375.] 

68)  In  den  Didaskalien  (s.  Schol.)  war  das  Stück  einfach  .^i'ne  verzeich- 
net; es  war  eben  früher  verfafst  als  der  yii'ae  ylox^ci,  bedurfte  also  keines 
Zusatzes.  Dikäarch  nannte  es  nicht  unpassend  ytintTo»  9'äynros;  der  gewöhn- 
liche Zuname  ftaartyo^ö^^  wird  von  den  Schan>;pi«'lein  hrrrühren. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  II.  SOPH.      377 

mit  sicherer  Hand  ausgeführt.  Die  Kunstform  des  Sophokles,  ge- 
mäfs  der  jedes  Drama  in  sich  abgeschlossen  ist,  gestattete  keine 
freie  Bewegung;  der  Dichter  mufste  bei  dem  beschränkten  Räume 
darauf  verzichten,  den  ganzen  Verlauf  der  Ereignisse,  die  allmäh- 
liche Entwicklung  des  Charakters,  das  Entstehen  und  Reifen  des 
Entschlusses  zur  That  darzustellen ;  er  begnügt  sich  in  rascher  Folge 
eine  Reihe  dramatisch  wirksamer  Scenen  vorzuführen. 

Sophokles  war  nicht  der  erste,  der  den  Selbstmord  des  Aias 
aus  beleidigtem  Ehrgefühl  dramatisch  bearbeitete.  Das  Verhältnifs  zu 
seinem  Vorgänger  legte  dem  Dichter  manche  Beschränkung  auf  und 
übte  auf  die  Gestaltung  des  Stoffes  einen  bestimmenden  Einflufs 
aus.  Da  Aeschylus  in  den  Thrakerinnen '^)  denselben  Vorwurf  be- 
handelt hatte,  suchte  Sophokles  so  viel  als  möghcb  seine  Selbstän- 
digkeit zu  wahren.™)  Bei  Aeschylus  bildeten  kriegsgefangene  Frauen 
den  Chor,  bei  Sophokles  Krieger  aus  Salamis,  die  Dienstmannen  des 
Aias.  Aeschylus  liefs  den  Tod  des  Aias  durch  einen  Boten  melden, 
Sophokles  bringt  den  Selbstmord  zu  unmittelbarer  Anschauung.  Da 
der  Sage  nach  Aias'  Körper  mit  Ausnahme  einer  Stelle  gefeit  war, 
hatte  Aeschylus  ausführhch  geschildert,  wie  der  Held  unter  gött- 
lichem Beistande  endlich  die  tüdtliche  Steile  traf.  Daraus  kann  man 
zugleich  schliefsen,  dafs  dem  Aeschyleischen  Aias  jener  Mangel  an 
Demuth,  der  ihm  die  Feindschaft  der  Götter  zuzog,  fremd  war. 
Sophokles  dagegen  ignorirt  die  Sage  von  der  Unverwundbarkeit  des 
Helden.  Aeschylus  folgte  dem  älteren  Dichter  Arktinus,  welcher 
einfach  die  ursprüngliche  Ueberlieferung  wiedergegeben  zu  haben 
scheint.  Die  schwere  Kränkung,  welche  dem  Aias  bei  der  Ent- 
scheidung über  die  Waffen  des  Achilles  widerfahren  war,  umnachtete 
den  Geist  des  Helden,  so  dafs  er  an  sich  selbst  Hand  anlegte.  Die 
Ermordung  der  Herden  mag  auf  volksmäfsiger  Tradition  beruhen, 
aber  weder  Arktinus  noch  Aeschylus  scheinen  davon  Gebrauch  ge- 


fi'J)  0of,aaai.  Voran  ging  die  onXoyt'  xoiais;  als  drittes  Stück  der  Tri- 
logie  betrachtet  man  die  ^aÄaftiviai,  aber  der  Inhalt  dieses  Dramas  ist  ganz 
dunkel.  Dafs  Teukrus  in  einer  Tragödie  des  Aeschylus  eine  hervorragende 
Rolle  spielte,  als  tapferer  Kriegsmann  dargestellt  war,  deutet  Aristophanes 
Frösche  1042  an  ;  aber  dies  kann  sich  auch  auf  ein  ganz  anderes  Stück  beziehen. 

70)  Schol.  Ai.  833:  i^i&evaai  fiev  Ti  (öi  TtgecßirtQcp  fti;  ßovÄTj&eis;  ebenso 
ist  815  zu  schreiben:  iacoe  ovv  xatvoroueiv  ßoi)MU£voi  xai  ur  xaraxoXov&ely 
Tolt  n Q  ta ßvxi^ov  Xxveaiv. 


378  DRITTE    PERIODE    V0.>    500    BIS    300  V,  CHR.  G. 

macht  zu  haben.  Sophokles  schhefst  sich  an  den  jüngeren  Epiker 
Lesches  an,  der,  um  nicht  mit  den  Früheren  zusammenzutreffen, 
Iheils  auf  eigene  Hand  kühne  Neuerungen  einführt,  theils  das,  was 
seine  Vorgänger  verschmäht  hatten,  benutzt,  wie  eben  hier  den  Rinder- 
mord. Eigenthümhch  ist  dem  Lesches  der  Antheil  der  Atliene  an 
der  Entscheidung  des  Waffenstreils"");  darin  giebt  sich  die  feindhche 
Stellung  der  Göttin  dem  Helden  gegenüber  unzweideutig  kund. 

Der  Aias  gilt  als  ein  Meisterstück  der  Sophokleischen  Kunst.  Man 
rühmt  ebenso  die  geschlossene  Einheit  der  dramatischen  Handlung 
und  den  mit  fester  Hand  angelegten  Plan,  wie  die  gelungene  Aus- 
führung im  Einzelnen.  Wer  in  die  allgemeine  Bewunderung  nicht 
einstimmt,  hat  immer  einen  schweren  Stand,  aber  das  allzu  frei- 
gebig gespendete  Lob  darf  uns  einer  unbefangenen  Prüfung  nicht 
überheben.  Dieses  Drama  des  Sophokles  hat  hohe  Schönheiten, 
aber  neben  vollendeten  Partien  finden  sich  andere,  welche  nicht 
befriedigen.  Der  Abstand  des  Schlusses  von  dem  ersten  Theile  der 
Tragödie  ist  so  augenfällig,  dafs  schon  längst  einzelne  tadelnde 
Stimmen  laut  wurden,  welche  die  apologetischen  Bemühungen  der 
Kritiker  nicht  zu  widerlegen  vermochten.  Aber  auch  in  dem  ersten 
Theile,  der  die  bewufste  Kunst  des  Dichters  im  hellsten  Lichte  zeigt, 
kann  man  nicht  umhin,  sobald  man  seine  Intentionen  genauer  ver- 
folgt, Einsprache  zu  erheben. 

Das  Drama  schliefst  nicht  mit  dem  Tode  des  Helden  ab,  son- 
dern wird  auch  nach  der  Katastrophe  noch  fortgesetzt.  Die  letzte 
Ehre  des  Begräbnisses,  welche  die  Atriden  dem  Aias  verweigern, 
wird  hauptsächlich  durch  Odysseus,  den  entschiedensten  Widersacher 
des  unglücklichen  Helden,  durchgesetzt.  So  wird  nicht  nur  das  An- 
denken des  Aias  gebührend  geehrt,  sondern  auch  der  Edolmuth  des 
Odysseus  verherrlicht.  Lag  diese  Fortsetzung  im  ursprünglichen  Plane 
des  Dichters,  so  mag  man  das  Motiv  als  ein  glücklich  erfundenes 
gelten   lassen");    allein   die  Scenen,   wo  Teukrus  mit   den  Atriden 

71)  Denn  der  Vers  Hom.  Od.  XI  547  ist  schwerlich  echt. 

72)  So  urlheilt  auch  Alexander  Aphrodis.  zu  Aristot.  Metaph.  l\)'y,  während 
er  es  als  Beispiel  einer  schlechten  ineiaoSiMSr]!  j^nyoiSia  bezeichnet,  wenn 
ein  Dichter  die  Wehklage  der  Hekuba  mit  dem  Tode  des  Aias  verbinden  würde, 
(es  ist  ttan^ae  und  nnQemriyayE  zu  verbessern).  Dafs  dieser  zweite  Theil  auf 
der  Bühne  wirksam  war,  deutet  Libanius  IV  \'y\  an,  indem  er  diese  Partie  mit 
der  MiXrixov  ähoaa  des  Phrynichus,  welche  das  Publikum  bis  zu  Thrünen 
rührte,  vergleicht. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRIPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  II.SOPH.      379 

um  die  letzte  Ehre  seines  Bruders  rechtet,  bis  endlich  der  Streit 
durch  Vermittlung  des  Odysseus  geschlichtet  wird,  heben  zwar  nicht 
geradezu  die  Einheit  der  Handlung  auf,  stören  jedoch  in  ihrer  brei- 
ten Ausführung  das  rechte  Verhältnifs.  Dafs  dieses  langgedebnte,  über- 
hängende iNachspiel  das  Mafs  überschreitet,  hat  man  gefühlt.  Aber 
wenn  man  den  Anstofs  dadurch  zu  beseitigen  meint,  dafs  man  sagt, 
nicht  der  tragische  Ausgang  des  Helden ,  sondern  seine  Bestattung 
sei  das  Endziel  des  Dramas,  mit  dem  Tode  des  Aias  beginne  eigent- 
lich erst  die  Handlung,  indem  man  sich  auf  die  religiöse  Anschau- 
ung der  Hellenen  von  der  Nothwendigkeit  des  Begräbnisses  beruft, 
so  wird  der  Schwerpunkt  willkürlich  verrückt."^). 

Man  bewundert  die  Rechtfertigung  der  Heldenehre  des  Aias 
und  zugleich,  indem  die  Anerkennung  aus  Feindesmunde  kommt, 
den  grofsen,  edlen  Sinn  des  Odysseus.  Die  Intention  mag  man  als 
wohlberechtigt  gelten  lassen.  Aber  auch  ein  mittelmäfsiger  Dichter 
kann  einmal  einen  guten  Gedanken  haben  oder  von  anderen  ent- 
lehnen; über  den  Werth  oder  Unwerth  entscheidet  vor  allem  die 
Ausführung.  Diese  aber  harmonirt  nicht  nur  in  keiner  Weise  mit 
dem  ersten  Theile,  sondern  erscheint  überhaupt  des  Sophokles  un- 
würdig. 

In  der  Zeichnung  der  Charaktere  verräth  sich  deutlich  die  gei- 
stige Inferiorität  des  Fortsetzers,  indem  die  Partei,  welcher  der  Sieg 
zufallen  soll,  im  vortheilhaftesten  Lichte  dargestellt,  die  unterliegende 
Partei  mit  entschiedener  Ungunst  behandelt  wird.  Agamemnon,  ohne 
aUen  Adel  und  Gröfse,  repräsentirt  die  typische  Figur  eines  Ty- 
rannen vom  gewöhnüchen  Schlage.  Noch  tiefer  steht  Menelaus^^), 
der  mit  unversöhnlichem  Hasse  den  todten  Gegner  verfolgt;  dieser 
rohe  Kriegsgesell  erinnert  ganz  an  die  spartanische  Art.  In  dieser 
Manier  mochte  die  jüngere  Tragödie  nach  dem  Vorgange  des  Euri- 
pides  den  alten  LakonerfUrsten  behandeln,  aber  Sophokles  war  nicht 
gewohnt  jeder  Zeitströmung  zu  folgen  und  sucht  sich  von  der  Cari- 
katur  möglichst  fernzuhalten. 

Die  Kunst  des  Dialoges  wird  gänzlich  vermifst.    In  würdelosester 


73)  Ebenso  wenig  kann  Rücksicht  auf  die  trilogische  Gotnposition ,  wie 
andere  glauben,  dieses  Nachspiel  gefordert  haben. 

74)  Dafs  der  Dichter  beide  Atriden  nach  einander  einführt,  läfst  sich 
rechtfertigen;  aber  allerdings  wird  dadurch  die  Fortsetzung  in  die  Länge  ge- 
zogen. 


380  DRITTE    PERIODE    YÜ.N    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Weise  poltern,  drohen  und  schimpfen  die  Heroen.  Solche  Scenen 
mochten  später  dem  ungebildeten  Theile  des  Publikums  wohl  be- 
hagen, aber  Sophokles  hält  sich  sonst  auf  der  idealen  Höhe  der 
Tragödie.  Dafs  Teukrus  dem  Gespräche  zwischen  Agamemnon  und 
Odysseus  fern  bleibt,  ist  nicht  altertbümHche  Einfachheit,  sondern 
der  Verfasser  empfand  die  Schwierigkeit,  gleichzeitig  drei  Personen 
am  Dialog  theilnehmen  zu  lassen.")  Die  Unfähigkeit,  den  Dialog 
kunstgerecht  zu  führen,  zeigt  sich  besonders  in  der  Art,  wie  *4«h 
Agamemnon  zurückzieht;  ein  solches  Ungeschick  darf  man  einem 
mit  dem  Technischen  seines  Berufes  wohlbekannten  Dichter,  wie 
Sophokles,  nicht  zutrauen.  Von  Plattheiten  und  Trivialitäten,  welche 
von  der  gewohnten  Feinheit  des  Sophokles  weit  abliegen,  bieten  diese 
Scenen  eine  ansehnhche  Blüthenlese  dar.'®) 

Die  Mängel  und  Schwächen  dieser  letzten  Scenen  sind  schon 
den  alten  Kritikern  nicht  entgangen ,  wie  manche  verständige,  ta- 
delnde Bemerkung  in  den  Schoben  bevveist.^')  Hand  in  Hand  geht 
damit  die  offen  hervortretende  apologetische  Tendenz,  indem  diese 
Erklärer  Einzelnes  lobend  hervorheben ;  denn  der  Verdacht ,  als 
hätten  sie  ein  Werk  fremder  Hand  vor  sich,  liegt  ihnen  fern.'*) 
Anders  verfährt  die  Kritik  der  neuesten  Zeit.  Indem  sie  nui*  an 
Einzelheiten  haftet,  sucht  sie  die  Schwierigkeiten  durch  willkür- 
liche Aenderungen  oder  Antithesen  zu  beseitigen ,  womit  nichts  ge- 
wonnen wird. 

Diese  Schlufspartie  unterscheidet  sich  sehr  bestimmt  von  dem 
ersten  Theile.  Die  Sprache  hat  im  Vergleich  mit  dem  kräftigen, 
farbenreichen  Stile,  der  die  ersten  Scenen  auszeichnet,  etwas  ent- 


75)  Der  Schol.  1322  sucht  das  Schweigen  des  Teukrus  künstlich  zu  recht- 
fertigen. 

76)  Man  vergleiche  die  Verse  1374.  1375,  mit  denen  der  Chor  den  Wort- 
wechsel zwischen  Agamemnon  und  Odysseus  absclilierst,  oder  1225,  wo  Teukrus 
die  Ankunft  des  Agamemnon  ankündigt,  oder  gleich  im  Beginn  des  Nachspiels 
1038.  1039. 

77)  Schol.  1123:  rot  rotavra  aoipia/taxa  ovh  oixsla  TpaytpStas,  112t):  lö 
8i  TOtovro  xMfiiaSiae  fiäU^v,  ov  xQayipSiat.  1205  über  das  Chorlied:  äxnt^r 
fiev  "nsQi  i^onoe  fteuvtjad'ai  iv  toIs  na^ovatv;  doch  wird  dies  dann  in  Schutz 
genommen.  Auch  die  Schauspieler  scheinen  ab  und  zu  an  dem  rohen  Tone 
Anstofs  genommen  zu  haben;  denn  die  Lesart  des  Didymus  zul22.")  ist  nur 
ein  Verbesserungsversuch  der  Bühnenkünstler. 

78)  Wie  Schol.  1131.  1199  beweisen. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLLTHEZEIT.  II.  SO  PH.      381 

schieden  Nüchternes  und  Triviales.  Aber  auch  die  Behandlung  der 
Verse  des  Dialoges  ist  eine  andere.  Der  Trimeter  zeigt  hier  eine 
gröfsere  Strenge  der  Technik  als  im  ersten  Theile;  Auflösungen 
und  Anapästen  kommen  nur  in  sehr  mäfsiger  Zahl  vor.'®)  Dies  be- 
weist, dafs  der  Dichter  seine  Arbeit  fleifsig  feilte  und  sich  Mühe 
gab,  um  etwas  Befriedigendes  zu  leisten.  Wer  Sophokles  für  den 
Verfasser  dieser  letzten  Scenen  hält,  darf  daher  auch  nicht,  um  die 
Schwächen  der  Dichtung  zu  entschuldigen,  sagen ,  Sophokles  habe 
den  zweiten  Theil  rasch  hingeworfen,  da  es  ihm  an  Zeit  gebrach, 
um  sein  Werk  sorgfältig  auszuführen;  denn  dann  würde  diese  Hast 
des  Producirens  sich  auch  im  Bau  der  Verse  verrathen. 

Alles  deutet  darauf  hin,  dafs  hier  eine  Arbeit  von  fremder  Hand 
vorüegt.  Bis  V.  1027  mag  die  Arbeit  des  Sophokles  reichen;  von 
da  an  beginnt  die  Thätigkeit  des  Fortsetzers.*")  W'ie  der  Dichter 
selbst  das  Stück  zu  Ende  geführt  hatte,  läfst  sich  nur  vermuthen. 
Auch  in  der  ursprünghchen  Fassung  ward  offenbar  die  Bestattung 
des  Aias  untersagt.*')  Nachdem  Teukrus  seine  Bedrängnifs  geschil- 
dert hatte,  wird  das  Verbot  der  Atriden  verkündet  worden  sein;  da 
trat  Athene  dazwischen  und  löste  durch  ihr  Machtgebot  die  drohende 
Verwicklung.  Hier  war  Gelegenheit  gegeben,  dem  tapfern  Helden  ein 
ehrendes  Gedächtnifs  zu  widmen  und  zugleich  die  Göttin,  welche 
den  Todten  gegen  seine  Feinde  in  Schutz  nahm,  in  milderem  Lichte 
zu  zeigen.*') 

Der  Fortselzer,  welcher  dieses  Motiv  aufnimmt  und  in  seiner  Weise 


79)  In  dem  zweiten  Theile  von  102S— 1420  finden  sich  nur  fünf  Anapästen 
und  neun  Auflösungen,  während  man  im  Prolog  1 — 133  einen  Anapästen  und 
neun  Auflösungen  zählt. 

80)  Auch  in  dem  ersten  Theile  mag  der  Fortsetzer  Einzelnes  abgeändert 
oder  gestrichen  haben;  z.  ß.  1022  ist  eine  fühlbare  Lücke. 

81)  Dieser  Ausgang  wird  im  Monolog  des  Aias  827  ff.  schicklich  vorbe- 
reitet.   Vgl.  auch  6SS  ff. 

82)  Der  d'eos  ano  firjxavrjs  war  hier  an  der  Stelle.  Athene,  die  im  Pro- 
log eine  auffallende  Härte  und  Grausamkeit  gezeigt  hatte,  wird  hier  in  ver- 
söhnlichem Sinne  sich  ausgesprochen  haben:  die  Göttin,  nicht  Odysseus,  der 
in  dem  älteren  Drama  nur  ein  nQoraxucov  Ti^oatonov  war,  bedurfte  der  Recht- 
fertigung von  Seiten  des  Dichters.  Indem  Athene  für  die  letzte  Ehre  des  todten 
Helden  eintrat,  ward  >-ielleicht  nicht  nur  auf  seinen  Grabhügel  im  troischen 
Lande  hingewiesen,  sondern  zugleich  heroische  Ehre  in  der  Heimath  in  Aus- 
sicht gestellt. 


382  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

ausführt,  hatte  die  Verhandlungen  in  der  Antigene  vor  Augen.") 
Aber  er  benutzt  nicht  die  Gelegenheit,  jenes  Verbot  durch  Berufung 
auf  die  Volkssitte  zu  rechtfertigen,  welche  eigenmächtigen  Tod  nicht 
ungeahndet  hefs  und  dem  Selbstmörder  die  letzte  Ehre  entzog  oder 
doch  verkürzte*'),  sondern  die  Atriden  folgen  nur  dem  Gefühl  der 
Rache  und  des  persönlichen  Hasses;  daher  haben  auch  die  Verthei- 
diger  ihnen  gegenüber  leichtes  Spiel.")  Die  Lösung  des  Confliktes 
wird  dem  Odysseus  übertragen.  Die  herben  Schmähungen,  welche 
im  Verlaufe  der  Handlung  auf  diesen  Heros,  der  als  der  Urheber 
des  ganzen  Unheils  erscheint,  gehäuft  waren,  legten  diese  Ehren- 
rettung nahe.  Wenn  schliefslich  der  Leichnam  des  Aias  nicht  ver- 
brannt, sondern  in  der  Erde  beigesetzt  wird,  so  mag  dieser  Zug  dem 
ursprünglichen  Entwürfe  entlehnt  sein.'®) 

Wir  sind  wohl  berechtigt,  diese  Fortsetzung  dem  lopbon,  dem 
Sohne  des  Sophokles,  zuzuweisen,  dessen  Hand  man  auch  in  der 
Ueberarbeitung  der  Antigene  zu  erkennen  glaubt.  Wenn  die  Alten 
die  Poesie  des  lophon  als  frostig,  breit  und  langweilig  charakteri- 
siren,  so  trifft  dies  hier  vollkommen  zu.*') 

W^enn  wir  für  das  Verfehlte  im  zweiten  Theile  nicht  Sophokles 
selbst  verantwortlich  machen  dürfen,  so  erscheint  andererseits  auch 
die  kunstreiche  Anlage  des  ersten  Theils  keineswegs  tadellos.  So- 
phokles, ein  vorzugsweise  denkender  Dichter,  sucht  überall  in  den 
Kern  der  Sage  einzudringen,  und  wenn  die  Ueberlieferung  ihm  nicht 
recht   genügt,  Gehalt   hineinzulegen.     So   gewinnt   oft   ein  schein' 


83)  Vergl.  Scliol.  1131. 

84)  Arislot.  EUi.  Nie.  V  15  p.  1138  A  6.  Auf  der  Insel  Kypern  wurde  dem 
Selbstmörder  die  Bestattung  entzogen  (üio  Chrysost.  (14,3  II  207  Di.),  in  Athen 
die  Hand  abgehauen  und  gesondert  von  dem  Leichnam  beigesetzt  (Aeschines 
Ctes.  244).  Der  Forlsetzer  ignorirt  dies,  wie  auch  Sophokles  in  der  Antigene 
auf  die  bestehenden  gesetzlichen  Normen  keine  Rücksicht  nimmt. 

85)  So  beruft  sich  Odysseus  1343  einfach  auf  die  &£ü:v  roftoi,  ohne  der 
roftoi  nöXecoe,  die  in  diesem  Falle  eine  Ausnahme  vorschrieben ,  zu  gedenken. 

86)  So  Lesches,  dem  Sophokles  sich  angeschlossen  haben  wird.  Dafs  man 
in  der  Beerdigung  hier  eine  Minderung  der  Heldenchre  fand,  zeigt  I'hilostr. 
Heroic.  12,  3  11 188  K. 

87)  Schol.  Aristoph.  Frösche  78:  xtoftfpSBtTni  (ö  'lofcüv)  ini  ry  xal  rfmxQos 
xni  fiaxQos  {\ar.  ftnlnxbe  [so  Diibner])  ehm.  Damit  stimmt  das  zusammenfas- 
sende Urlheil  des  Scholiaslen  über  den  zweiten  Theil  des  Aias  1123:  futnyä^ 
jfiv  avaiQsatv  inexreivat  ro  dfäfia  &eXr,oas  itfwxftvoaTO  xni  i'Xvaiv  to  r^a- 
ytxbv  nnd'os. 


LIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  II.SOPH.      383 

bar  geriogfügiger  Stoff  sittliche  Bedeutung,  ein  von  den  Früheren  in 
hergebrachter  Weise  gezeichneter  Charakter  psychologische  Tiefe  und 
fest  umschriebene  Gestalt;  aber  nicht  immer  ist  dem  Tragiker  dieser 
Versuch  gelungen. 

Wenn  Aias  bei  nächtlicher  Weile  das  Lager  überfällt,  so  ist  dies 
ein  nicht  mifszuverstehendes  Zeichen  des  Wahnsinns,  und  wenn  er 
statt  der  Atriden  und  des  Odysseus  die  Herden  mit  den  Hirten  er- 
würgt, so  giebt  sich  eben  darin  recht  unzweideutig  die  Verwirrung 
des  Geistes  kund.®*)  Sophokles  dagegen,  indem  er  alles  sorgfältig 
motivirt  und  den  Untergang  des  Helden  auf  eigene  Verschuldung 
zurückzuführen  sucht,  läfst  den  Aias  jenen  Angriff  bei  klarem  Ver- 
stände und  mit  vollem  Bewufstsein  unternehmen*^);  erst  Athene  ver- 
wirrt, um  die  drohende  Gefahr  von  dem  Fürsten  abzuwenden,  seinen 
Geist,  so  dafs  sich  die  Wuth  an  den  Rindern  und  Schafen  austobt. 
Der  Enlschlufs,  an  den  Feinden  blutige  Rache  zu  nehmen,  ist  aus 
freier  üeberlegung  hervorgegangen;  Aias  ist  daher  auch  dafür  verant- 
wortlich und  trägt  die  Folgen,  obschon  das  Eingreifen  einer  höheren 
Macht  das  beabsichtigte  Unheil  abgewandt  hatte.  Diese  künstliche 
Unterscheidung  ist  psychologisch  nicht  gerechtfertigt  und  drückt 
zugleich  den  Charakter  des  Helden  herab.  Die  Ermordung  der  Her- 
den, ein  bedenklicher  Vorwurf,  den  der  dramatische  Dichter  ent- 
weder ganz  übergehen  wird  oder  nur  kurz  berühren  durfte,  da  die 
Parodie  des  Heroenthums  allzu  nahe  lag,  wird  bei  Sophokles  in  den 
Vordergrund  gerückt  und  gewinnt  eine  Bedeutung,  welche  dieser 
Vorfall  ursprünglich  gar  nicht  hatte.  Denn  die  unheimliche  Erin- 
nerung an  diese  That  bestimmt  fortan  die  Entschlüsse  des  Aias  und 
entscheidet  über  sein  Schicksal.  Als  Aias  zur  Besinnung  kommt 
und  das  Bild  der  grausen  Verwüstung,  die  er  angerichtet  hat,  über- 
schaut, tritt  der  Gedanke  an  die  unverdiente  schwere  Kränkung, 
welche  ihm  durch  den  richterlichen  Spruch  beim  Waffenstreite  wider- 
fahren war,  in  den  Hintergrund.  Diese  vom  lebhaftesten  Ehrgefühl 
beherrschte  Seele  wird  nur  von  der  Furcht  gequäh,  sich  vor  Freund 
und  Feind  lächerlich  gemacht  zu  haben.    Dieses  falsche  Schamgefühl 

88)  So  hatte  offenbar  auch  Lesches  den  Vorgang  dargestelh. 

S9)  Dies  wird  gleich  im  Prolog  44  mit  Nachdruck  hervorgehoben.  Aias 
selbst  kommt  wiederholt  darauf  zurück,  indem  er  bedauert,  dafs  das  Werk  der 
Rache  ihm  nicht  gelang,  wie  373.  447,  und  auch  der  Fortsetzer  benutzt  dieses 
Motiv  1055  f. 


384  DRITTE    PERIODE   VON    500    BIS   300  V.  CHR.  G. 

treibt  den  Aias  in  den  Tod ;  so  erfährl  die  hohe  Heldengestalt  eine 
empfindhche  Einbufse. 

Allerdings  erscheint  das  Unglück  des  Aias  nach  Sophokles  als 
ein  seihst  verschuldetes.  Das  stolze  Selbstgeiühl  des  Helden  über- 
schreitet alle  Schranken  des  Mafses.  Aias  kennt  weder  den  Menschen 
noch  den  höheren  unsichtbaren  Gewalten  gegenüber  Demutb;  so  ist 
er  den  Göttern  verhafst  und  sein  Verderben  entschieden.  Dieser 
Zug  der  Vermessenheit,  der  Götterverachtung  ist  dem  Homerischen 
Aias  fremd.  Schon  die  jüngeren  Epiker,  welche  überhaupt  den  Hel- 
den mit  einer  gewissen  Ungunst  behandeln,  mochten  seinen  Stolz 
nach  jener  Bichtung  hin  steigern.  Sophokles  verfolgt  diese  Spur 
weiter,  um  das  Strafgericht,  welches  über  Aias  ergeht,  als  ein  wohl- 
verdientes darzustellen.  Athene  greift  nicht  blofs  aus  Fürsorge  für 
die  Achäer  ein,  sondern  ist  auch  persöntich  betheiligt.  Aias  hat 
durch  seinen  Uebermuth  die  Göttin  aufs  Tiefste  verletzt.  Athene 
spricht  es  nicht  selbst  aus;  nur  in  dem  herben  Tone,  in  den  höhnen- 
den Worten  verräth  sich  die  Entfremdung.  Wir  erfahren  die  Vor- 
gänge, durch  welche  Aias  sich  den  Zorn  der  Göttin  zuzog,  erst  später.**) 
Der  Seher  Kalchas,  welcher  dem  Teukrus  alles  offenbart,  leistet  hier 
gute  Dienste ;  absichthch  hat  der  Dichter  dies  aufgespart,  um  das  tie- 
fere Interesse  für  seinen  Helden  nicht  gleich  anfangs  abzuschwächen.") 

Sieht  man  von  diesen  Mifsgriffen  ab,  so  wird  man  der  kunst- 
vollen Arbeit  des  reichbegabten  Dichters  die  gebührende  Anerken- 
nung nicht  versagen.  Aias  ist  im  grofsen  Stil  gehalten ,  sein  Cha- 
rakter mit  wenigen,  aber  scharfen  Linien  umschrieben.  Die  gewaltige 
Kraft  und  das  hohe  Selbstvertrauen  ist  die  Quelle  der  Ueberhebung, 
des  Mangels  an  Demutb,  der  dem  Helden  verhängnifsvoll  wird.  Sein 
ungemessener  Stolz  empfindet  jede  Kränkung  der  Ehre  auf  das  Tiefste, 
aber  unter  der  schroffen  Aufsenseile  verbirgt  sich  ein  warmes  Herz 
und  empfänghches  Gemüth.     Dafs  Aias  zarler  Emptindungen    Hihig 


yO)  Aias  762  ff.  Vorbereitet  ist  dieser  Cliarakterzug  schon  im  Prolog  112 
und  127  ff.,  doch  ist  hier  Aias  seiner  Sinne  nicht  mächtig.  Mit  den  Belegen 
der  Götterverachtung,  welche  Kalchas  anführt,  vgl.  die  Bemerkung  des  Schol. 
127.  Das  erste  Beispiel  erinnert  an  das  übermülhige  Werl  des  lokrischcn  Aias 
Hom.  Odyss.  IV  502 ,  und  diese  Stelle  hatte  wohl  Sophokles,  oder  wer  sonst 
zuerst  d^n  Telamoniden  darstellte,  vor  Augen. 

91)  Auch  der  Schol.  766  (vgl.  zu  127)  hat  dies  wohl  beachtet;  nur  drückt 
er  sich  nicht  eben  geschickt  nii». 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  II.SOPH.      355 

ist,  wenn  er  auch  den  Ausdruck  zurückzudrängen  sucht,  zeigt  sein 
Verhältnifs  zur  Gattin  und  zum  Sohne,  sowie  die  Pietät,  mit  wel- 
cher er  an  den  greisen  EUern  und  der  Heimath  hängt.  Sehr  glück- 
hch  hat  des  Dichters  Kunst  das  Rauhe  und  Harte  durch  diesen  mil- 
den, versühnhchen  Ton  ermäfsigt.  Tekmessa,  die  mit  aller  Hinge- 
bung an  Aias  hängt,  ist  in  dem  düstern  Lebensbilde  ein  wohlthuender 
Ruhepunkt  und  erinnert,  obwohl  mit  jener  Sparsamkeit,  die  der 
alten  Kunst  eigen  ist,  gezeichnet,  an  die  Homerische  Andromache. 
Auch  Odysseus  zeigt  menschliches  Mitgefühl  mit  dem  schweren  Un- 
glücke des  Gegners.*')  Die  brüderliche  Liebe  des  Teukrus,  wenn 
er  auch  zu  spät  kommt,  um  den  Aias  zu  retten"^),  ist  klar  aus- 
gesprochen; doch  war  Teukrus  in  dem  ursprünglichen  Entwürfe 
eine  Nebenfigur,  so  dafs  für  eine  genauere  Charakteristik  kein  Raum 
war. 

Im  Prolog")  zeigt  der  Dichter  nur  einen  Moment  das  grauen- 
hafte Bild  des  Wahnsinnes,  dem  ein  edler  Held  verfallen  ist.  Das 
Zwiegespräch  zwischen  dem  Cliore  und  Tekmessa  giebt  über  die 
Vorgänge  in  der  Nacht  und  den  Zustand  des  Aias,  der  nach  der 
That,  als  die  Besinnung  zurückkehrte,  in  dumpfes  Brüten  versunken 
war,  den  nöthigen  Aufschlufs.  Ein  lauter  Klageruf  aus  dem  ge- 
schlossenen Zelte,  indem  Aias  nach  seinem  Sohne  Eurysakes  und 
seinem  Bruder  Teukrus  ungestüm  verlangt,  unterbricht  diese  Ver- 
handlungen. Tekmessa  öffnet  das  Zelt,  und  Aias  mitten  unter  den 
blutigen  Thieren,  die  er  in  seiner  Raserei  ermordet  hat,  wird  sicht- 
bar.^') Das  Bewufstsein  des  tiefsten  Elendes  und  unauslöschhcher 
Schmach  erfüUt  sein  Gemüth.  Er  hat  mit  dem  Leben  abgeschlossen 
und  spricht  dies  offen  aus;  vergeblich  bemühen  sich  Tekmessa  und 
der  Chor  ihn  von  diesen  Todesgedanken  abzubringen.    Der  rührende 


92)  Odysseus  war  in  dem  Sopliokleischen  Stücke  nur  ein  Tt^rarixov 
Ttgiatonov.  Bemerkenswerth  ist  der  Zug  der  Zaghaftigkeit,  den  der  Tragiker 
74  ff.  diesem  Charakter  leiht. 

93)  Eigenthümlich  ist,  dafs  Sophokles  vergessen  hat,  dieses  Säumen,  wel- 
ches verhängnifsvoll  ward,  irgendwie  zu  moti\iren. 

94)  Dafs  Sophokles  durch  eine  Göttin  das  Drama  einleitet,  rechtfertigt 
der  Scholiast  mit  den  Worten :  Saifiovicos  Si  eiaifEQsi  Tt^oXoyi^ovaap  Tr,v  \4\h}- 
väv,  anid'avov  yaq  rbv  ^lavia  TtQoCovra  sineiv  tcsqi  xäv  avri^  jicTt^ay/ii- 
van"  ov8a  fir/t>  ireqös  ris  fpiiarnro  t«  roinvra  xr),. 

95)  Hier  kam  das  Ekkyklema  in  passendster  Weise  zur  Anwendung. 
Bergk,  Grieeb.  Literaturgeschichte  III.  25 


386  DHITTE    PERIODE    VON    500  BIS  300  V.  CHK.  G. 

Abschied  des  Aias  von  seinem  Sohne  ist  nur  geeignet**),  diese  Be- 
sorgnisse noch  zu  steigern,  denen  der  Chor,  nachdem  das  Zelt  wie- 
der geschlossen  ist,  in  einem  wehmüthigen  Stasimon  Ausdruck  giebt. 
Jetzt  tritt  Aias,  gefolgt  von  Tekmessa,  aus  dem  Zelte  heraus.®^  Wäh- 
rend seiner  Rede  verharrt  die  Frau  in  unterwürGgem  Schweigen; 
dem  Schauspieler  fiel  die  Aufgabe  zu,  durch  stumme  Aktion  die  in- 
nere Empfindung  auszudrücken.**)  Die  Ansprache  des  Aias,  durch- 
weg in  dunklen,  mehrdeutigen  Worten  gehalten,  ist  der  letzte  Ab- 
schied von  den  Seinen.  Während  der  Vorsatz,  seinem  Leben  ein 
Ende  zu  machen,  unwandelbar  feststeht,  sucht  er  seine  Umgebung 
zu  beruhigen;  alles  ist  auf  Täuschung  abgesehen.*®)  W'enn  man  meint, 
mit  der  Hoheit  dieses  Heldencharakters  sei  solche  Verstellung  nicht 
vereinbar,  so  vergifst  man,  dafs  der  Widerspruch  das  eigentliche  Ge- 
heimnifs  des  Seelenlebens  ist.  Der  Dichter  verdient  vielmehr  alles 
Lob,  dafs  er  seinen  Charakter  nicht  abstrakt  durchfuhrt.  Wer  mit 
Todesgedanken  umgeht,  sucht  den  Entschlufs  vor  seiner  Umgebung 
zu  verbergen;  selbst  geradsinnige  Naturen,  denen  sonst  jede  Verstel- 
lung fern  liegt,  zeigen  in  solchen  Momenten  eine  überraschende 
Schlauheit.  Psychologisch  ist  dieser  Zug  im  Wesen  des  Aias  voll- 
kommen gerechtfertigt,  und  Sophokles  bewährt  aufs  Neue  seine  Men- 
schenkenntnifs,  sein  grofses  Talent  der  Seelenmalerei. 

Der  Chor  geht  willfährig  auf  die  Täuschung  ein ;  er  giebt  sich 
freudigen  Hoffnungen  hin  und  stimmt,  nachdem  Aias  abgetreten  ist, 
ein  bewegtes  Tanzüed  an,  wie  es  Sophokles  in  ähnlichen  Fällen 
auch  sonst  verwendet.  Da  erscheint  ein  Bote  mit  schlimmer  Kunde 
und  reifst,  indem  er  die  warnenden  Worte  des  Kalchas  berichtet, 
den  Chor  aus  seiner  Sicherheit  heraus.  Tekmessa  und  der  Chor 
brechen  ohne  Zögern  auf,  um  Aias  aufzusuchen  und  wo  möglich  das 
Unheil  abzuwenden.  Das  Abtreten  des  Chores  war  nothwendig,  um 
den  Selbstmord,  der  keine  Zeugen  duldete,  auf  der  Bühne  zu  un- 

96)  Diese  Scene  ist  anfangs  lyrisch  gelialten ;  dann  folgen  längere  Reden 
abwechselnd  mit  dialogischen  Partien. 

97)  Eurysakes,  von  dem  Aias  sich  bereits  verabschiedet  hatte,  bleibt 
dieser  Scene  fern. 

9S)  Auch  dies  erinnert  an  die  Weise  des  Aeschylus. 

99)  Es  ist  seltsam,  wie  manche  neuere  Ausleger  die  eigentliche  Intention 
dieser  Rede  gänzlich  mirsverstehen  konnten.  Auch  wärde  ja  Aias  gerade  dann, 
wenn  er  hier  in  seinen  Vorsätzen  sich  schwankend  zeigte,  seiner  angeborenen 
Natur  untreu  werden. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRIPPE.  DIE  BLLTHEZEIT.  II.SOPH.      387 

mittelbarer  Anschauung  zu  bringen.  Zugleich  tritt  ein  Wechsel  der 
scenischen  Decoration  ein  "*),  während  die  Musik,  die  hier  selbstän- 
dig auftrat,  in  passender  Weise  die  kurze  Pause  ausfüllte  und  die 
ergreifende  Scene,  welche  nun  folgt,  vorbereitete.  Aias  tritt  auf  und 
stürzt  sich,  nachdem  er  den  mit  Recht  als  ein  Meisterstück  echter 
Poesie  gepriesenen  Monolog  gesprochen  hat'*"),  todesmuthig  in  das 
Schwert,  die  verhängnifs volle  Gabe  seines  grofsen  Gegners  Hektor. 
Der  Chor,  der  sich  getheilt  hatte,  um  Aias  zu  suchen,  kehrt  unver- 
richteter  Sache  zurück  und  tritt  von  verschiedenen  Seiten  her  auf 
die  Bühne.  Auch  Tekmessa  erscheint  wieder;  sie  erblickt  zuerst 
die  Leiche  und  breitet  ein  Gewand  darüber  aus,  um  den  Anblick 
des  traurigen  Schauspiels  zu  verhüllen.  Da  tritt  auch  Teukrus  nach 
langem  Säumen  auf  und  betheihgt  sich  au  der  Trauer  um  den  todten 
Helden.  Auf  eine  förmliche  Todtenklage,  wie  sie  in  der  älteren 
Tragödie  herkönunlich  war,  verzichtet  Sophokles.  Er  fühlte  das  Mifs- 
liche,  mit  dem  Hederreichen  Munde  des  alten  Meislers  sich  in  einen 
Wettstreit  einzulassen ;  daher  behilft  er  sich  mit  einer  dramatisch  be- 
wegten und  nicht  unwirksamen  Scene,  welche  die  Stelle  des  Thre- 
nos  vertritt. 

Der  Aias  ist  wohl  unter  den  sieben  Dramen  des  Sophokles  eines 
der  ältesten.  Man  empfängt  den  Eindruck,  als  müsse  es  jener  zwei- 
ten Periode  der  Sophokleischen  Kunstart  angehören,  wo  das  Herbe 
und  Strenge  vorwahete.  Die  eisige  Kälte,  der  schneidende  Hohn  der 
Athene  im  Prolog  gleicht  ganz  dem  grinsenden  Lächeln,  mit  wel- 
chem die  achaische  bildende  Kunst  die  Schlachtenjungfrau  darzustellen 
pflegt.    Ebenso  erkennt  man  in  der  berechnenden  Weise,  mit  wel- 


100)  Richtig  bemerkt  der  Schol.  S13:  fieraxivslrai,  ^  axrjvri,  rov  xo^v 
i^eX&ovTOS'  avayxaia  Se  t]  i^o8os,  iva  sv^r;  xaiQcv  6  Aias  x^^^QOjaaa&ai  iav- 
röv.  Die  Dekoration  der  Bühne  stellte  eine  einsame  Waldgegend  dar,  Schol. 
S15:  fitrdxsiTat  fj  axrjvr;  inl  i^ifiov  rivos  ;|ro>ot<n'.  Tgl.  auch  die  Rhetorik  ad 
Herenn.  I  IS:  Aiax  in  silva,  postquam  rescivit,  qvae  fecisset  per  insaniam, 
gladio  incubuit,  und  Quint.  IV  2,  13  in  solitudine,  was  freilich  nicht  auf  das 
Sophokleische  Drama  oder  eine  römische  Bearbeitung  bezogen  werden  darf, 
sondern  es  geht  dies  auf  eine  Tragödie  Tevx^os  (Aristot.  Rhet.  II  23  p.  1398  A  4, 
111  15  p.  1416  B  1,  aber  schwerlich  der  Tevxqos  des  Ion),  in  welcher  Odyssens 
und  Teukrus  sich  gegenseitig  die  Ermordung  des  Aias  schuld  gaben,  bis  schliefs- 
lich  offenbar  ward,  dafs  der  Held  durch  eigene  Hand  gefallen  war. 

10t)  Ob  der  Monolog  in  allen  einzelnen  Theilen  unversehrt  überliefert 
ist,  steht  nicht  fest;  schon  alte  Kritiker  nahmen  an  841  ff.  Anstofs. 


388  DRITTE   PERIODE   VON    500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

eher  der  Tragiker  den  Charakter  und  das  Schicksal  des  Helden  moti- 
virt,  jenes  künstliche  Wesen,  welches  sich  mit  dem  Einfach-Malür- 
lichen  nicht  genügen  läfst.  Manches  erinnert  noch  an  den  Stil  des 
Aeschylus,  wie  die  Parodos,  welche  durch  anapäslische  Verse  ein- 
geleitet wird,  dann  der  scenische  Apparat,  welcher  reicher  ist  als 
sonst  hei  Sophokles. 

Dem  Charakter  der  älteren  Tragödie  steht  der  Aias  auch  inso- 
fern nahe,  als  dieses  Stück,  soviel  sich  erkennen  läfst,  Glied  eines 
zusammenhängenden  Dramencyklus  war.  Der  WalTenstreit  würde 
schicklich  die  Tragödie  eröffnet  hahen.  So  hätte  der  Dichter  ein  an- 
schauliches Gemälde  der  herben  Schicksalsverflechtung  gehoten,  der 
Wahnsinn  und  Untergang  des  Helden  erschiene  dann  natürlich  mo- 
tivirt;  die  früheren  Vorgänge,  unmittelbar  vor  unser  Auge  gerückt, 
würden  eine  ganz  andere  Wirkung  üben  als  jetzt,  wo  sie  der  Tra- 
giker als  bekannt  voraussetzt  und  nur  kurz  berührt.  Aber  ein 
Waffengericht  hat  Sophokles  nicht  geschrieben ;  wir  müssen  also  den 
Aias  als  das  erste  Drama  der  Tetralogie  betrachten.  Daran  schlofs 
sich  passend  Teukrus  an,  ein  öfter  genanntes  Stück,  in  welchem  der 
Bruder  des  Aias,  weil  er  ohne  diesen  heimkehrt,  von  dem  greisen 
Telamon  verstofsen  ward.  Indem  Teukrus  sein  herbes  Schicksal  mit 
Gleichmuth  und  Ergebung  trug,  bildete  dieses  Drama  ein  passendes 
Gegenstück  zum  Aias.  Im  Aias  (inden  sich  nicht  mifszuverstehende 
Hinweisungen  auf  diese  Tragödie."^)  Welches  Stück  die  dritte  Stelle 
einnahm,  läfst  sich  nicht  mit  Sicherheit  ermitteln."") 

Auch  der  Stil,  der  mehr  als  in  allen  anderen  Dramen  an  Homer 


102)  So  weist  Aias  843  auf  das  Strafgericht  über  die  heimkehrenden 
Achäer,  den  grofsen  Sturm  auf  der  See,  hin,  der  im  Teukrus  geschildert  war, 
849  und  625  ff.  auf  die  Trauer  der  greisen  Ellern,  1008  auf  Teukrus'  bevor- 
stehendes Schicksal. 

103)  Man  ist  geneigt,  den  El^vaaxr,«  heranzuziehen,  so  dafs  der  Tragiker 
in  dieser  Trilogie  die  Geschicke  des  Aias,  seines  Bruders  und  seines  Sohnes 
zusammenfafste.  Aber  wir  wissen  über  den  hihalt  dieser  Tragödie  nichts  Ge- 
naueres; auch  ist  uns  von  einem  schweren  Unglück,  welches  den  Eurysakes 
traf,  nichts  bekannt.  Wenn  die  Tragödie  die  zweite  Verbannung  des  Teukrus 
aus  Salamis  schilderle,  dann  konnte  sie  eben  wegen  der  allzu  grofsen  Aehnlich- 
keit  des  Inhalts  nicht  wohl  unmittelbar  auf  dieses  Drama  folgen.  Hat  aber 
Altius  in  reinem  Kurysakes  die  gleichnamige  Tragödie  des  Sophokles  vor  Augen 
gehabt,  dann  ist  der  Evfvoäxrjs  eher  als  eine  zweite  Bearbeitung  des  Tevtt^: 
anzuseilen. 


DIE  DP.AJf.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRIPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  II.  SOPH.      .389 

und  den  Ton  der  epischen  Poesie  sich  anlehnt,  weist  diese  Arbeit 
einer  verhältnifsniäfsig  frühen  Zeit  zii.'°^)  Wenn  im  Trimeter,  der 
hier  noch  mit  der  Strenge  der  alten  Technik  behandelt  wird,  Auf- 
lösungen etwas  zahlreicher  vorkommen  als  in  der  Antigone  und 
Elektra,  wenn  bereits  einige  Mal  ein  Vers  unter  zwei  Personen  ver- 
theilt  wird'"*),  eine  Freiheit,  die  der  Antigone  fremd  ist,  so  sind  dies 
keine  untrüglichen  Kennzeichen  des  Alters."^ 

Die  Fortsetzung  des  Aias  wird  der  letzten  Periode  des  pelopon- 
nesischen  Krieges  angehören ;  denn  diese  Scenen  sind  wesentlich  im 
Ton  und  Charakter  der  jüngeren  Tragödie  gehalten.  Man  erkennt 
hier  bereits  den  Einflufs,  den  Euripides  auf  die  jüngere  Generation 
ausübte.  Daher  wird  Menelaus  mit  sichthcher  Gehässigkeit  als  Ver- 
treter des  spartanischen  Wesens  geschildert;  der  Hohn  über  den  Bo- 
genschützen stimmt  mit  ähnhchen  Ausfällen  bei  Euripides.  Ueber- 
haupl  mögen  damals  solche  mit  gegenseitigen  Verunghmpfungen  ge- 
würzte leidenschafthche  Verhandlungen  besonders  behebt  gewesen 
sein.  In  dem  ChorUede'*")  findet  der  Ueberdrufs  an  den  fruchtlosen 
Mühen  des  Krieges  einen  zeitgemäfsen  Ausdruck. 

Die  Trachinierinnen,  an  Umfang  beschränkter  als  die  übri-Oie  Trachi- 
gen  Dramen  des  Sophokles'**},  rücken  wie  die  Elektra  und  Antigone 


104)  Aias  ist  jedenfalls  älter  als  die  Antigone  (Ol.  S4,  3). 

105)  Aias  591  und  981,  an  beiden  Stellen  viermal  hinter  einander.  Auch 
in  den  Trachinierinnen ,  die  der  Zeit  nach  vielleicht  dem  Aias  am  nächsten 
stehen,  finden  sich  avrilaßai  409.  418  und  876  (hier  im  Uebergange  zur  me- 
lischen  Form), 

106)  Wenn  in  der  Antigone  Sophokles  von  den  ävrilaßai  keinen  Ge- 
brauch macht,  so  folgt  daraus  noch  nicht,  dafs  diese  Tragödie  unter  den  sieben 
Dramen  das  älteste  ist.  Ebenso  wenig  darf  man  darauf,  dafs  in  der  Antigone  sich 
die  meisten  organischen  Composita  (aus  zwei  BegrifTsworten  gebildet)  finden, 
ein  entscheidendes  Gewicht  legen.  Am  nächsten  der  Antigone  stehen  in  dieser 
Beziehung  Elektra,  Aias  und  Trachinierinnen,  die  jedoch  schon  erheblich  weniger 
Beispiele  bieten,  unter  sich  aber  vollkommen  stimmen.  Ebenso  wenig  gewährt 
das  Verhältnifs  der  melischen  Partien  zu  dem  Dialoge  (1 — 27-2.  wenn  wir  die 
letzte  Partie  ausscheiden)  einen  sicheren  .\nhalt  zur  Zeitbestimmung.  Wenn 
Clemens  AI.  Str.  VI  620  in  einem  Verse  des  Aias  eine  Nachahmung  von  Euri- 
pides' Medea  (Ol.  S7, 1)  findet,  so  ist  dies  ganz  grundlos.  Xur  so  viel  ist  ge- 
wifs,  dafs  Sophokles  diese  Tragödie  früher  schrieb  als  den  y4tas  ^oxoSs ;  daher 
genügte  auch  die  einfache  Bezeichnung  ^'t'ae. 

107)  Aias  1185-1222. 

108)  Die  Zahl  der  Verse  beträgt  127^. 


390  DRITTE    PERIODE    V0>    500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

einen  Frauen  Charakter  in  den  Vordergrund.  Deianeira,  von  trüben 
Ahnungen  und  Sorgen  um  den  abwesenden  Gatten  gequäh,  sendet 
ihren  Sohn  HyUusaus,  um  den  Vater  aufzusuchen.  Da  langt  die  Kunde 
an,  dafs  Herakles  nach  glückhch  beendetem  Kampfe  mit  Eurylus  als- 
bald heimkehren  werde,  und  zugleich  sendet  der  Sieger  kriegsgefan- 
gene  Frauen,  unter  ihnen  Eurytus'  Tochter  lole,  welche  durch  den 
Reiz  ihrer  jugendlichen  Schönheit  den  Herakles  gefesselt  und  so  un- 
freiwillig Anlafs  zu  der  verderblichen  Fehde  gegeben  hatte.  Als  Deia- 
neira dieses  Verhältnifs  erfährt,  welches  der  Bote  vergebens  zu  verheim- 
lichen gesucht  hatte,  erinnert  sie  sich  ein  Zaubermittel  zu  besitzen, 
ein  Vermächtuifs  des  sterbenden  Nessus,  und  rasch  entschlossen  über- 
sendet sie  dem  Flerakles  das  vergiftete  Gewand  in  der  Hoffnung,  da- 
durch den  entfremdeten  Gatten  von  neuem  an  sich  zu  fesseln.  Kaum 
ist  der  Bote  fort,  so  belehrt  zu  spät  eine  Probe  die  Deianeira  über 
die  geföhrliche  Wirkung  des  Zaubers  und  erfüllt  ihr  Gemüth  mit 
banger  Furcht.  Hyllus  kehrt  zurück  und  berichtet  der  trostlosen 
Mutter  das  Unheil,  welches  ihre  Gabe  über  Herakles  gebracht.  Schwei- 
gend entzieht  sich  Deianeira  den  rauhen  Vorwürfen  des  Sohnes. 
Eine  Dienerin  meldet  den  Selbstmord  der  Herrin,  die  Reue  und  den 
Schmerz  des  Sohnes,  der  erst  jetzt  erföhrt,  dafs  die  Unglückliche, 
ohne  es  zu  wissen  und  zu  wollen,  das  Verderben  des  Vaters  ver- 
schuldete. Für  den  Schlufs  der  Tragödie  hat  der  Dichter  den  Höhe- 
punkt des  Pathos  aufgespart:  Herakles,  unrettbar  dem  Tode  verfal- 
len, von  qualvollen  Schmerzen  gepeinigt,  wird  herbeigebracht  und 
theilt  dem  Sohne  seinen  letzten  Willen  mit. 

Die  Erklärer  sind  uneins,  ob  sich  der  Tragiker  den  Untergang 
der  Deianeira  oder  des  Herakles  eigentlich  zum  Vorwurf  gewählt 
habe,  ob  der  Heros  oder  seine  unglückliche  Gattin  die  Hauptfigur 
sei.  Man  begreift,  wie  solche  Zweifel  sich  regen  konnten ;  denn  die 
Tragödie  hat  zwei  Hauptpersonen;  nur  traten  sie  nicht  neben,  son- 
dern nach  einander  auf.  Im  ersten  Theile  steht  Deianeira  im  Vorder- 
grunde. Herakles,  das  unglückliche  Opfer  der  Eifersucht,  tritt  erst 
auf,  nachdem  jene,  von  Reue  und  Verzweiflung  ergrüTen,  ihrem  Leben 
ein  Ende  gemacht  hat.  Während  die  schwer  gekränkte  Frau  unser 
volles  Mitgefüiil  in  Anspruch  nimmt,  vermag  der  Dichter  nicht  nach- 
träglich uns  ein  gleiches  Interesse  für  den  Helden  einzuflöfsen.  Die 
Einheit  (ler  Handlung  ist  allerdings  gewahrt;  denn  die  verliängnifs- 
volle  Gabe,  durch  welche  Deianeira  die  Liebe  ties  Gatten  wiederzu- 


»FE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  II.  SOPH.      391 

gewinnen  hofft,  bringt  dem  Helden  den  Tod.  Aber  indem  der  Dichter 
den  Verlauf  der  Begebenheiten  gemäfs  der  üeberUeferung  wieder- 
giebt,  übersah  er,  dafs  das  Drama  nicht  nur  Einheit  der  Handlung, 
sondern  auch  des  Schwerpunktes  erheischt,  um  die  rechte  Wirkung 
zu  erzielen.  Im  Epos,  welches  freie  Bewegung  liebt,  verträgt  sich 
auch  die  losere  Verbindung  der  geschilderten  Begebenheiten  noch 
mit  der  Einheit.  Das  Drama  verlangt  Concentration;  hier  müssen 
alle  Theile  kunstvoll  und  harmonisch  in  einander  gefügt  sein,  alles 
sich  um  einen  Mittelpunkt  bewegen. 

Das  Thema,  welches  die  verderbhchen  Folgen  der  Eifersucht 
veranschauHcht,  war  wohl  geeignet,  einen  Dichter  zu  dramatischer 
Bearbeitung  aufzufordern.  Aus  Eifersucht  tödtet  Herakles  den  Ken- 
tauren Nessus,  der  sterbend  der  Deianeira  arglistig  räth,  ihr  Ge- 
wand mit  seinem  vergifteten  Blute  zu  tränken,  ein  untrügliches  Mittel, 
um  die  Liebe  ihres  Gatten  an  sich  zu  fesseln.  Von  Eifersucht  bei 
dem  Anblick  der  jugendlichen  lole  ergriffen,  wendet  Deianeira  arg- 
los den  unheimlichen  Zauber  an ,  überschickt  dem  Gatten  das  ver- 
giftete Gewand  und  führt  so,  ohne  es  zu  wollen,  sein  und  ihr  Ver- 
derben herbei.  Allein  so  geeignet  Deianeiras  Charakter  für  die  Tra- 
gödie war,  desto  gröfsere  Schwierigkeiten  bot  Herakles  dar.  Die 
Tragödie,  sowie  sie  ihren  Höhepunkt  erreicht  hat,  wählt  ilire  Helden 
vorzugsweise  aus  den  Sagenkreisen  des  ritterhchen  Zeitalters.  Die 
Heroen  der  ältesten  Zeit,  welche  vor  den  Anfängen  höherer  Cultur 
liegt,  sagten  wegen  des  Gewahsamen,  Rauhen  und  UebernatürUchen, 
welches  ihren  Abenteuern  und  Schicksalen  aufgeprägt  war,  einem 
geläuterten  Geschmacke  weniger  zu.  Daher  haben  die  griechischen 
Tragiker  die  Heldengestalt  des  Herakles,  die  in  Liedern  und  Sagen 
so  viel  gefeiert  war,  nur  selten  auf  die  Bühne  zu  bringen  gewagt.'"*) 
Diese  derbsinnUche  Natur  hat  ihre  eigenthche  Stelle  im  Satyrspiele."") 

Die  ältere  Tragödie  beschränkt  sich  auf  die  Darstellung  eines 
Hauptcharakters,  indem  sie  darauf  verzichtet,  den  Kampf  der  feind- 
lichen Mächte  unmittelbar  zur  Anschauung  zu  bringen,  IS'ur  durch 
Botenberichte  und  ähnliche  Mittel  wird  die  Einwirkung  des  Gegen- 
spielers vergegenwärtigt.    Gerade  hier  war  diese  Form  durchaus  an- 

109)  Als  Nebenfigur  war  Herakles  im  befreiten  Prometheus  des  Aeschy- 
lus  ganz  passend;  nur  Euripides  hat  einen  rasenden  Herakles  gedichtet. 

110)  Daher  auch  Euripides  in  der  Alkestis  den  Heros  schicklich  ver- 
wendet 


392  DRITTE   PERIODE   VON    500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

gemessen,  und  wenn  Sophokles  sich  hätte  entschhefsen  können,  den 
Vorwurf  nach  der  Weise  der  archaischen  Tragödie  zu  heliandeln,  so 
war  es  ein  Leichtes,  die  Aufgabe  vollkommen  befriedigend  zu  lösen. 
Herakles  mufste  im  Hintergrunde  bleiben ;  die  verhangnifsvollen  Fol- 
gen von  Deianeiras  Unbesonnenheit,  welche  dem  geliebten  Manne 
unsägliche  Schmerzen  und  frühen  Tod  bereitet,  durften  nur  durch 
epische  Schilderung  dargestellt  werden.  Die  Verzweiflung  der  Deia- 
neira,  als  das  Unheil,  welches  sie  gestiftet,  in  seiner  ganzen  Schwere 
ihr  klar  wird,  und  der  Entschlufs  zu  sterben,  ebenso  die  Reue  und  der 
liefe  Schmerz  des  Sohnes,  der  erst,  als  es  zu  spät  ist,  den  Zusammen- 
hang erfährt  und  sich  anklagt,  die  Mutter  in  den  Tod  getrieben  zu 
haben ,  mufste  ausführhch  dramatisch  dargestellt  werden ,  während 
in  dem  vorHegenden  Drama  die  gerade  hier  angewandte  skizzen- 
hafte Behandlung,  zu  der  den  Dichter  der  knappe  Raum  und  die 
beabsichtigte  Fortführung  der  Handlung  nöthigte,  nicht  recht  befrie- 
digt.'") Aufserdem  war  dem  Chore  ein  gröfserer  Antheil  einzuräu- 
räumen,  um  durch  den  Schwung  der  Lyrik  erhebend  und  zugleich 
versöhnend  auf  das  Gemüth  zu  wirken.  Im  Aeschyleischen  Stil  aus- 
geführt, wäre  der  Tod  der  Deianeira  eine  vortreffliche  Tragödie  ge- 
worden. 

Allein  Sophokles,  dem  die  dramatische  Kunst  vorzugsweise  ihre 
höhere  Ausbildung  verdankt,  mochte  nicht  zu  der  älteren  Weise  zu- 
rückkehren. Er  fühlte  jedoch  sehr  richtig,  dafs  es  nicht  möglich 
war,  die  schwergekränkte  Gattin  und  den  Urheber  ihres  Leides  Aug' 
in  Auge  einander  gegenüberzustellen."")  Dies  hat  nicht  einmal 
Seneca  gewagt,  der  doch  in  seiner  derb  realistischen  Art  von  der 
Feinfühligkeit  des  griechischen  Dichters  weit  entfernt  war.  Aber  in- 
dem Sophokles  das  Nebeneinander  mit  dem  Nacheinander  vertauscht, 
geht  die  volle  Wirkung  des  Gegensatzes  verloren.     Die  Seene,  wo 


111)  Jetzt  ist  alles  in  dem  sumiuarischen  Berichte  der  Amme  SOG — 016 
zusammengefafst,  wo  insbesondere  die  Haltung  des  Hyilus  gar  niclit  motivirt 
wird;  denn  die  beiden  Verse  '.»31.93")  sind  nur  ein  Nodibehelf. 

112)  Neuere  haben  gleichwohl  diese  Behandlung  empfohlen.  Andere  meinen, 
Sophokles  lasse  die  Deianeira  vor  Herakles'  Erscheinen  sterben,  um  den  Prota- 
gonisten, der  die  Frauenrolle  spielte,  nachher  als  Herakles  wieder  auftreten  zu 
lassen.  So  gering  darf  man  von  der  Kunst  des  Sophokles  nicht  denken,  der 
wohl  in  untergeordneten  Punkten  sich  durch  die  Röcksicht  auf  die  Hollenver- 
theilung  leiten  liefs,  aber  niemals  das  Wesentliche  der  poetischen  Gonception 
von  so  äufserlichen  Dingen  abhängig  machte. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  II.SOPH.      393 

der  gewaltige  Heros,  von  unerträglichen  Schmerzen  gefoltert,  in  laute 
Wehklagen  ausbricht,  macht  eher  einen  peinlichen  als  tragischen 
Eindruck.  Und  wenn  er  sich  bezwingt,  so  bewirkt  dies  weniger  die 
Erinnerung  an  sein  thatenreiches  Leben  als  das  Gefühl  der  Beschä- 
mung, dafs  eine  Frau  ihm  dieses  Leid  zugefügt,  sowie  das  heftige  Ver- 
langen nach  Rache.  Als  Herakles  erfährt,  woher  das  Gift  stammt, 
welches  in  seinen  Adern  tobt,  erkennt  er,  dafs  seine  letzte  Stunde 
gekommen  ist,  und  verlangt  von  dem  Sohne,  ihn  auf  den  Gipfel  des 
Oeta  zu  bringen,  um  dort  auf  dem  Scheiterhaufen  zu  sterben.  Da- 
mit endet  die  Tragödie.  Der  Versuchung,  den  Feuertod  und  die 
Apotheose  des  Helden  darzustellen,  hat  Sophokles  nicht  nachgegeben. 
So  wirksam  diese  Scene  auf  dem  Theater  sein  mufste,  so  erkannte 
doch  der  umsichtige  Dichter,  wie  wenig  jene  Verklärung  des  Heros'") 
mit  den  Voraussetzungen  seiner  Tragödie  harmonire.  Aber  indem 
das  Stück  unbefriedigend  abschliefst,  vermifst  man  auch  die  rechte 
läuternde  und  erhebende  Wirkung. 

Von  den  Neueren  sind  die  Trachinierinnen  meist  nicht  eben 
günstig,  zuweilen  geradezu  ungerecht  beurtheilt  worden ;  aber  auch 
die  schwächlichen  Versuche  in  apologetischer  Richtung  erweisen  sich 
als  unzulängUch.  Indem  man  die  Mängel  der  dramatischen  Composi- 
tion  fühlte  und  auch  im  Einzelnen  manches  Befremdliche  wahrnahm, 
glaubte  man  alles ,  was  mit  der  Vorstellung  von  der  hohen  Vollen- 
dung der  Sophokleischen  Kunst  nicht  recht  im  Einklänge  schien, 
auf  Rechnung  einer  Ueberarbeitung  setzen  zu  müssen,  die  entweder 
der  Dichter  selbst  oder  eine  fremde  Hand  vorgenommen  habe.  Ja, 
man  hat  sogar  die  Vermuthung  hingeworfen,  die  ganze  Tragödie  sei 
nur  irrthümlich  unter  Sophokles'  Namen  überliefert  und  eigentlich 
von  seinem  Sohne  lophon  geschrieben.  Allein  das  Stück  zeigt  im 
Ganzen  und  Grofsen   durchaus    den   Charakter  des  Sophokleischen 


113)  Denn  in  diesem  Sinne  fafsten  die  Hellenen  den  Feuertod  des  Hera- 
kles auf,  obwohl  diese  Sage  eigentlich  nur  andeutet,  dafs  hier  zum  ersten  Male 
auf  hellenischem  Boden  die  Leichenverbrennung  in  Anwendung  kam.  Aber 
allerdings  spricht  sich  in  dieser  Sitte,  deren  Einführung  das  Aufkommen  des 
ritterlichen  Wesens  bezeichnet,  eine  freiere  Auffassung  der  irdischen  Dinge 
aus.  Das  Verbrennen  der  Leiche  auf  dem  Scheiterhaufen  ist  gleichsam  ein  den 
Göttern  dargebrachtes  Opfer;  alles  Irdische  wird  von  der  Flamme  verzehrt,  das 
Unvergängliche,  von  der  sterblichen  Hölle  befreit,  kehrt  zu  der  Gemeinschaft 
mit  den  höheren  Mächten  zurück. 


394  DRITTE    PERIODE    VON    500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

Stils.  Das  Ahnungsvolle,  die  Vorherbestimmung  des  Schicksals  durch 
Sehersprüche,  die  tiberall  mit  Nachdruck  betont  wird,  verwendet 
der  Tragiker  in  gewohnter  Weise.  Nicht  minder  wirksamen  Gebrauch 
machte  Sophokles  nach  seiner  Art  von  den  kurzsichtigen  Täuschun- 
gen, in  denen  die  Handelnden  fortwährend  befangen  sind,  Deia- 
neira  glaubt,  als  die  Kunde  von  der  nahen  Heimkehr  des  Gatten 
anlangt,  von  allen  quälenden  Sorgen  und  düstern  Ahnungen  befreit 
zu  sein,  und  die  Worte  des  Chores  sind  nur  ein  Widerhall  der  freu- 
digen Stimmung,  der  sich  die  Herrin  ilberläfst.  Aber  als  Lichas 
die  gefangene  lole  überbringt  und  Deianeira  die  volle  Wahrheit, 
welche  der  Herold  ihr  vorenthalten  hatte,  erfährt,  sieht  sie  sich  ent- 
täuscht und  in  ihren  heiUgsten  Gefühlen  verletzt.  Alle  ihre  Hoff- 
nung setzt  sie  jetzt  auf  den  Liebeszauber,  der  ihr  das  entfremdete 
Herz  des  Gemahls  wiedersewinnen  soll,  und  wiederum  theilt  der 
Chor  diese  trügerischen  Erwartungen,  während  bereits  die  Herrin 
die  verderbliche  Wirkung  ihrer  Gabe  erprobt  hat  und  von  banger 
Besorgnifs  erfüllt  ist.  Bald  wird  die  ganze  Grüfse  des  Unheils,  welches 
Deianeira  angerichtet,  offenbar.  Herakles  ist  unrettbar  dem  Tode 
verfallen;  seine  Liebe  hat  sich  in  bittorn  Hafs  verkehrt,  und  der 
grausam  getäuschten  Frau  bleibt  nichts  übrig,  als  den  Tod  mit  dem 
Gatten  zu  theilen.  Aber  auch  die  Milhandelnden,  Lichas  und  Hyllus. 
sind  in  ähnliche  Irrungen  verstrickt.  Die  besten  Absichten  verkehren 
sich  regelmäfsig  in  das  Gegentheil. 

Das  Drama,  welches  neben  einzelnen  auffallenden  Gebrechen 
hohe  Schönheiten  enthält,  ist  unzweifelhaft  ein  Werk  von  Sophokles' 
Hand.  Wenn  die  Einführung  des  Herakles,  nachdem  Deianeiras 
Geschick  entschieden  ist,  uns  als  störende  Zugabe  erscheint,  so  ge- 
hört doch  auch  dieser  Ausgang  der  Handlung  unzweifelhaft  dem 
ursprünglichen  Entwürfe  an.  Nur  die  Schlufsscene"^)  niufs  man 
mit  aller  Entschiedenheit  dem  Dichter  absprechen,  nicht  sowohl 
weil  sie  nach  den  vorangehenden  leidenschaftlichen  Auftritten  matt  er- 
scheint, sondern  weil  sie  das  sittliche  Gefühl  emplindlich  verletzt 
und  den  künstlerischen  Forderungen  nicht  entspricht.  Wenn 
Herakles  den  Hyllus,  der  sich  weigert  eigenhändig  den  Vater  noch 
lebend  auf  den  Scheiterhaufen  zu  legen  und  ebenso  seinem  natür- 
lichen Gefühle  folgend  die  Vermählung  mit  lole  zurückweist,  beide 


111»  TrnHiiii.  1211.  -liTS. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  II.  SOPH.      395 

Mal  durch  Androhen  des  väterlichen  Fluches  zum  Schweigen  bringt 
und  sich  Gehorsam  erzwingt,  so  erscheint  schon  dieses  Mittel,  zu- 
mal in  solcher  Wiederholung,  nicht  recht  statthaft.'")  Man  könnte 
geneigt  sein,  die  ganze  Partie,  wo  der  Sterbende  dem  Sohne  die 
letzten  Aufträge  giebt,  dem  Fortsetzer  zuzuschreiben."')  Allein  der 
Wunsch  des  Herakles,  Hyllus  möge  ihn  auf  dem  Oeta  verbrennen, 
hängt  mit  dem  Orakel,  auf  welches  sich  Herakles  beruft*"),  genau 
zusammen,  und  gerade  hier  ist  die  Hand  des  Sophokles  nicht  zu 
verkennen ;  es  entspricht  dies  durchaus  dem  Grundton  dieser  Dich- 
tung. Auch  würde  ein  Fortsetzer  schwerlich  auf  eigene  Gefahi*  jene 
Wiederholung  des  Vaterfluches  ersonnen  haben,  während,  wenn  er 
im  Original  dieses  Motiv  vorfand,  die  Versuchung  nahe  lag,  dasselbe 
von  neuem  zu  benutzen.  Denn  dafs  Herakles  den  Sohn  nöthigt, 
die  lole  zur  Gattin  zu  nehmen,  ist  eben  Zuthat  des  Fortsetzers.  In 
der  schlichten  Erzählung  des  Epos  würde  man  diesen  unzarten  Zug, 
der  sich  mit  der  Sitte  der  alten  Zeit  rechtfertigen  liefs,  leichter  er- 
tragen. Allein  bei  einem  Dichter  wie  Sophokles,  der  mit  feinem 
Sinne  für  das  Schickhche  und  mit  geläutertem  sitthchem  Gefühl 
das  Unzarte  der  alten  Sagen  zu  mildern  pflegt,  hat  dies  etwas  höchst 
Befremdendes.  Eine  Abänderung  war  hier  um  so  mehr  geboten,  da 
in  der  Sophokleischen  Dichtung  Hyllus  mit  inniger  Liebe  seiner 
Mutter  zugethan  ist  und  daher  gegen  lole,  welche  er  als  die  Ur- 
sache des  ganzen  Unheils  ansah,  eine  natürliche  Abneigung  empfin- 
den mufste,  welche  durch  fremdes  Machtgebot  sich  nicht  besiegen 
läfst.  Hätte  Sophokles  dies  gedichtet,  so  wäre  er  den  Spuren  der 
Homerischen  Kunst,  die  er  sonst  so  glücklich  zu  finden  weifs,  hier 
nicht  nachgegangen,  Sophokles  hatte  keinen  Grund,  dieses  Ehebünd- 
nifs  zu  erwähnen."*)  Während  er  sonst  am  Schlufs  der  Tragödie  sich 


115)  Man  darf  sich  hier  nicht  auf  die  Vorliebe  der  griechischen  Kunst 
für  den  Paralielismus  berufen,  um  diese  Fassung  zu  rechtfertigen. 

116)  Denn  auch  die  Partie  unmittelbar  vor  1216  enthält  manches  Bedenk- 
liche; so  vermifst  man  die  Motivirung  des  Feuertodes,  Auch  in  der  Sprache 
erscheint  Einzelnes  fremdartig. 

117)  Trachin.  116411.  11  TS. 

IIS)  Nach  der  Ueberlieferung  ward  lole  die  Gattin  des  Hyllus  und  Stamm- 
mutler  der  dorischen  Herakliden.  Allein  der  dramatische  Dichter  geht  nicht  dar- 
auf aus,  alles,  was  ihm  von  seinen  Helden  bekannt  ist,  wie  ein  Logograph  zu 
verzeichnen;  und  der  Abschlufs  des  Dramas  mit  einer  Ehestiflung  ist  wohl  der 
Weise  des  Euripides,  aber  nicht  des  Sophokles  gemäfs. 


396  DRITTE    PERIODE    VON    500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

mit  einer  summarischen  Darstellung  abzußnden  pflegt,  hätte  er 
ohne  Noth  die  peinvolle  Situation  verlängert.  Der  Forlsetzer  da- 
gegen hielt  es  für  angemessen,  die  Zuhörer  ilber  das  künftige 
Schicksal  der  lole  aufzuklären."^)  Er  hat  auch  die  Anapästen  am 
Schlufs  hinzugefügt,  welche  im  grellsten  Widerspruch  mit  den  re- 
ligiösen Anschauungen  des  Sophokles  stehen."**)  Die  Thätigkeif 
dieses  Diaskeuasten,  mag  nun  lophon  oder  ein  anderer  dieses  Stück 
für  eine  neue  Aufführung  zurecht  gemacht  haben,  beschränkte  sich 
schweriich  auf  die  letzte  Partie  des  Dramas.  Auch  an  anderen  Stellen, 
welche  Bedenken  erregen,  wird  er  Einzelnes  abgeändert,  hinzuge- 
fügt oder  gestrichen  haben. 

Die  Aufgabe,  welche  sich  Sophokles  hier  gestellt  hat,  ist  echt 
dramatisch.  Der  Dichter  schildert  die  verderbhche  Macht  der  Eifer- 
sucht, welche  des  Hauses  Glück  zerstört  und  beiden  Gatten  den 
Untergang  bereitet.  Es  ist  dies  nicht  jene  dämonische  Gewalt  der 
Leidenschaft,  welche  Medea  zu  unnatürlichem  Frevel  treibt,  sondern 
Deianeira,  obwohl  sie  die  Kränkung  tief  empfindet,  hegt  doch  in 
ihrem  milden  Gemüth  keinen  Groll,  weder  gegen  die  Nebenbuh- 
lerin, deren  Geschick  sie  warmes  Mitgefühl  widmet,  noch  gegen 
Herakles.  Sie  ist  allein  darauf  bedacht,  die  Neigung  des  schuldigen, 
aber  noch  immer  geliebten  Gatten  wiederzugewinnen.  So  sendet 
sie  das  verhängnifsvolle  Gewand  dem  Gemahl,  und  als  sie  aus  des 


110)  Es  ist  nicht  die  Art  des  Sophokles,  den  Forderungen  i>lofser  Neugier 
entgegenzukommen.  Auch  war  lole,  die  sich  mit  der  wenig  dankbaren  Rolle 
der  stummen  Person  begnügen  mufste,  nicht  eben  geeignet,  tiefere  Theilnahme 
zu  erwecken. 

120)  Mit  der  Athetese  einzelner  Yerse  (dieses  belieble  Mittel  hat  man 
auch  hier  angewandt)  kommt  man  nicht  aus.  Wie  Sophokles  selbst  das  Drama 
zum  Abschlufs  gebracht  halte,  läfst  sich  nicht  errathen:  die  Anwendung  des 
&e6e  nno  firjxnvr;«  lag  nahe,  aber  entspricht  nicht  der  sonstigen  Gewohnheit 
des  Dichters.  Als  Sophokles  die  Trachinierinnen  schrieb,  war  ihm  das  Werk 
des  Pherekydes  wohl  nicht  unbekannt.  Dieser  Logograph  erzählte,  dafs  Hera- 
kles vom  Eurytus  die  lole  als  Gattin  für  seinen  Sohn  begehrt  habe  und,  als 
Eurytus  dies  abschlug,  der  Kampf  entbrannte  (Schol.  Trach.  ',\h\).  Dieses  Motiv 
hätte  der  Tragiker  benutzen  können.  Wenn  lole  als  unschuldige  Ursache  der 
traurigen  Katastrophe,  Deiuneiras  Verdacht  als  unbegründet  erschien,  so  ward 
Herakles  Opfer  eines  falschen  Verdachtes;  aber  durch  den  Hinweis  auf  frühere 
Verletzung  der  ehelichen  Treue  liefs  sich  der  Untergang  des  Helden  genügend 
rechtfertigen.  Ein  solcher  Ausgang  des  Dramas  hätte  ebenso  sehr  das  sittliche 
Gefühl  befriedigt,  wie  er  durch  psychologische  Wahrheit  wirksam  sein  konnte. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLLTHEZEIT.  II.SOPH.      397 

eigenen  Sohnes  Munde  die  verderbliche  Wirkung  des  Giftes  erfahrt 
und  sie,  obwohl  unschuldig,  sich  als  Urheberin  ansehen  mufs,  giebt 
sie  mit  eigener  Hand  sich  den  Tod. 

Dieser  erste  Theil  des  Dramas  bis  zum  Tode  der  Deianeira  be- 
kundet durchaus  die  Eigenthümlichkeit  der  Sophokleischen  Kunst. 
Der  Adel  einer  milden,  echt  weiblichen  Natur  ist  mit  Zartheit  und 
vollem  Verstand nifs  geschildert.  Allein  der  zweite  Theil  thut  dieser 
glückhchen  Wirkung  entschieden  Abbruch.  Herakles,  dessen  Tod 
den  Ausgang  der  Tragödie  bildet,  den  der  Dichter  durchaus  nicht 
als  blofse  NebenOgur  behandelt  hat,  vermag  uns  keinen  rechten  An- 
theil  einzuflöfsen ,  sondern  stöfst  uns  eher  zurück.  Nur  allzu  treu 
hält  sich  Sophokles  an  die  üeberlieferung.  Herakles  erscheint  hier 
in  der  grotesken  Weise  der  volksmäfsigen  Sage,  wenn  er  in  dem 
ersten  Ausbruche  des  Zornes  den  unglückUchen  Lichas,  der  ihm  das 
vergiftete  Gewand  überbracht  hatte,  mit  gewaltiger  Hand  erfafst  und 
an  einer  Klippe  zerschmettert.  Der  harte,  felsenfeste  Sinn  des  He- 
rakles kennt  kein  mildes  Gefühl;  für  die  unglückliche  Gattin  hat 
er  nicht  das  geringste  Wort  der  Theilnahme,  auch  nachdem  er  von 
ihrer  Unschuld  unterrichtet  ist ;  für  ihn  ist  es  die  tiefste  Kränkung, 
dafs  er  durch  Weibeshand  fallen  mufs.  Ausbrüche  der  Wuth  und 
Rache  wechseln  mit  lauten  Klagen  und  Schmerzensrufen  ab,  bis  er 
in  dem  letzten  Momente  gefafsleren  Sinnes  dem  Sohne  seine  Auf- 
träge ertheilt.  Man  mag  den  Heroismus  und  die  Seelenstärke  des 
Herakles  bewundern,  der  allmählich  über  die  Schwäche  seiner  Natur 
Herr  wird,  man  mag  zugeben,  dafs  hellenische  Männer  die  letzten 
Schicksale  des  Helden,  der  mehr  als  ein  gewöhnUcher  Heros  war, 
dem  das  Volk  seit  Alters  götthche  Verehrung  zu  widmen  gewohnt 
war,  mit  ganz  besonderer  Theilnahme  anschauen  mufsten,  dafs  ein 
jeder  sich  in  Gedanken  die  Erhebung  des  Herakles  in  den  Kreis 
der  Olympier,  das  leuchtende  Endziel  eines  mühevollen  Erdenlehens, 
vergegenwärtigte  und  so  auch  in  der  Verworrenheit  menschlicher 
Schicksale  eine  höhere  Führung  erkannte ;  allein  in  der  Kunst  kommt 
es  nicht  so  sehr  auf  das  Was,  sondern  auf  das  Wie  an.  Ob  der 
Dichter  wohl  daran  that,  den  Herakles  selbst  einzuführen,  ist  pro- 
blematisch. W^enn  man  behauptet,  es  sei  dies  geboten  gewesen, 
um  die  erschütterten  Gemüther  in  eine  sanftere  Stimmung  zu  ver- 
setzen, so  ist  von  dieser  Wirkung  in  dem  Schlüsse  der  Sophoklei- 
schen Tragödie  nichts  zu  spüren.    Es  ist  eine  mifsliche  Sache,  wenn 


398  DRITTE    PERIODE    VON    500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

man  das,  worauf  der  Dichter  mit  keinem  Worte  hindeutet,  von 
aufsen  hineinträgt,  und  hier  streitet  das  Stück,  wenigstens  wie  es  uns 
vorliegt,  ganz  entschieden  mit  jenem  versühnenden  Gedanken,  wel- 
chen man  der  Dichtung  unterlegt. 

Da  die  Zeit  der  Abfassung  der  Tragödie  nicht  überhefert  ist, 
ergehen  sich  die  Neueren  in  den  verschiedensten  Vermuthungen, 
Indem  man  hier  die  vollendete  Kunst  des  Sophokles  vermifst,  hat 
man  das  Stück  entweder  für  eine  Jugendarbeit  erklärt,  wenigstens 
als  das  älteste  unter  den  noch  vorhandenen  Dramen  bezeichnet, 
oder  den  letzten  Lebensjahren  zugewiesen,  indem  man  die  Mängel 
damit  entschuldigt,  dafs  es  dem  Tragiker  nicht  vergönnt  war,  die 
letzte  Hand  an  sein  Werk  zu  legen.  Andere  haben  wieder  poli- 
tische Beziehungen  zu  finden  geglaubt  und  daher  die  Trachinierinnen 
in  die  erste  Zeit  des  grofsen  Krieges  versetzt'^'),  eine  Vermuthung, 
für  welche  das  Drama  nicht  den  mindesten  Anhalt  bietet."'^)  Wenn 
man  dem  Eindrucke  vertrauen  darf,  welchen  das  Werk  bei  unbe- 
fangener Prüfung  macht,  wird  man  dasselbe  den  älteren  Arbeiten 
des  Sophokles  zutheilen.  Der  Prolog,  der  passend  mit  dem  alten 
Spruche  eröffnet  wird,  dafs  man  über  eines  Menschen  Schicksal 
nicht  vor  seinem  Ende  urlheilen  dürfe,  erinnert  nicht  sowohl  an 
Euripides,  wie  manche  behauptet  haben,  sondern  eher  an  die  ein- 
fache Weise  der  älteren  Kunst.  Dafs  lole  der  Deianeira  gegenüber 
in  stummem  Schweigen  verharrt,  ist  ganz  der  Art  des  Aeschylus 
gemäfs.  Dieses  Mittel,  von  welchem  der  Gesetzgeber  der  Tragödie 
wiederholt  den  wirksamsten  Gebrauch  gemacht  hat,  erschien  den 
Späteren  allzu  einfach  und  altvaterisch.  Auch  die  Srhlichlheit  der 
Composilion  spricht  für  jene  Voraussetzung,  ebenso  die  Freiheit, 
mit  welcher  die  Zeit  der  dramatischen  Handlung  bemessen  wird.  Zwar 
ist  das  herkömmliche  Mafs  eines  Tages  festgehalten,  aber  mit  wun- 
derbarer Schnelligkeit  wird  der  Weg  von  Trachis  nach  dem  nord- 
westlichen Vorgebirge  der  Insel  Euböa  und  von  dort  nach  dem 
Schauplatze   der  Handlung   wiederholt    zurückgelegt.'")   Dies   erin- 

121)  Um  Ol.  S8,  3  mit  HhiwoisunK  auf  Thukyd.  III  1(2. 

122)  Andere  rücken  wieder  die  Trachinierinnen  ganz  nahe  an  den  IMiilo- 
ktet  heran,  indem  sie  voraussetzen,  die  sieben  Tragödien  des  Dichters  wären 
in  den  Handschriften  in  chronologischer  Folge  überliefert,  rine  völlig  grund- 
lose Voraussetzung. 

123)  Nicht  nur  von  Ilyllns  und  dem  Beten,  sondern  ancli  \on  dem  todt- 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  U. GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  II.SOPH.       399 

nert  an  den  Agamemnon  des  Aeschylus,  wo  der  Sieger  alsbald  in 
seiner  Heimath  erscheint,  nachdem  eben  erst  die  Eroberung  Troias 
durch  Feuerzeichen  gemeldet  war.  Man  erkennt  hier  eine  Nach- 
wirkung des  alterthümlichen  Stiles,  der  diese  Verhältnisse  mit  läfs- 
licher  Freiheit  zu  behandeln  hebte.  Wenn  Einzelnes  nicht  genügend 
motivirt  oder  nur  kurz  angedeutet  wird,  so  dafs  die  Klarheit  der 
Darstellung  darunter  leidet,  wie  die  leidenschaftliche  Neigung  des 
Herakles  zur  lole,  dann  die  Abenteuer  in  Lydien  bei  der  Omphale,  so 
ist  wohl  auch  darin  der  archaische  Charakter  der  Dichtung  erkennbar. 

Die  Strenge,  mit  welcher  in  den  Versen  des  Dialoges  Auflö- 
sungen vermieden  werden  (die  Trachinierinnen  stehen  hierin  auf 
gleicher  Stufe  mit  dem  Aias  und  der  Elektra)  spricht  gleichfalls 
entschieden  gegen  die  Ansicht,  als  ob  die  Tragödie  der  letzten  Pe- 
riode angehöre.  Die  stiUstische  Kunst,  die  sonst  die  Arbeiten  des 
Sophokles  auszeichnet,  hat  man  vermifst,  und  in  der  That  stöfst 
man  öfter  auf  gewisse  Härten,  auf  eine  künstliche  Ausdrucksweise, 
welche  weder  der  Klarheit  noch  der  Energie  der  Rede  förderlich 
ist.'")  Wenn  im  ersten  Theile  ein  gedämpfter  Ton  vorwaltet,  so 
hat  der  Dichter  offenbar  mit  Absicht  und  durchaus  passend  den- 
selben gewählt.  Eine  entschieden  altertbümhche  Färbung  zeigt  jedoch 
die  Sprache  nicht,  wenn  auch  wie  überall  einzelne  ungewöhnHche 
und  seltene  Worte  oder  Wortformen  vorkommen.  Die  Chorlieder, 
weder  an  Umfang  bedeutend,  noch  durch  hohe  Gedanken  ausge- 
zeichnet, verbinden  mit  der  mustergültigen  Form  zugleich  für  einen 
Mädchenchor  ungewöhnliche  Kraft  und  Energie.'") 

Die  Antigene  des  Sophokles    ward   bereits  im   Alterthume,  Amigone. 
welches  noch  den  gesammten  Nachlafs  des  Dichters  besafs,  hochge- 


kranken  Herakles,   den  seine  Begleiter  vorsichtig  tragen,   um   die  Schmerzen 
nicht  zu  steigern. 

124)  Vielleicht  hat  ab  und   zu  die  Ueberarbeitung  ungünstig  eingewirkt. 

125)  Das  Verhältnifs  der  melischen  Partien  zum  Dialoge  ist  wie  1:3. 
Das  Stück  ist,  wie  es  die  ältere  Tragödie  liebt,  nach  dem  Chore  benannt;  doch 
mag  der  Dichter  diese  Bezeichnung  vorgezogen  haben,  weil  er  weder  den 
Namen  des  Herakles  noch  der  Deianeira  füglich  voranstellen  konnte.  Der  Um- 
fang der  Chorlieder  ist  vielleicht  bei  der  Umarbeitung  hier  und  da  verkürzt 
worden ;  noch  erkennt  man  in  dem  Schlüsse  des  Liedes  49"  ff.  Spuren  einer 
Diaskeuase.  In  der  zweiten  Hälfte  tritt  eine  Art  Nebenchor,  die  Begleiter  des 
Herakles,  auf,  wie  überhaupt  in  diesem  Theile  nur  das  männliche  Element  ver- 
treten ist,  während  im  ersten  Theile  das  weibliche  entschieden  bevorzugt  wird. 


400  DRITTE    PERIODE    VON    500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

schätzt'^*);  bei  den  Neueren,  denen  nur  eine  luäfsige  Aus>vahl  aus 
jenem  reichen  Schatze  vorüegt,  ist  die  Bewunderung  uugetheilt. 
Schon  der  Kampf  entgegengesetzter  Principien,  der  in  dieser  Tra- 
gödie ganz  unverhüllt  durchgeführt  wird,  hat  für  das  moderne  Be- 
wufstsein  besonderes  Interesse.  Liegt  auch  der  Fall,  um  den  es  sicii 
hier  handelt,  unserer  Gefühlsweise  fern,  so  ist  doch  der  Zwiespalt 
zwischen  den  Ordnungen  des  Staates  und  der  individuellen  Ueher- 
zeugung,  die  sich  mit  den  sittlichen  Mächten  im  Einklänge  fühlt 
und  ein  höheres  Recht  für  sich  in  Anspruch  nimmt,  immer  neu. 
Dann  ist  die  Liebe  des  Hämon  zur  Antigone  ein  dem  moderneu 
Drama  vorzugsweise  zusagendes  Motiv,  obwohl  der  Dichter  dieses  Ver- 
hältnifs  mit  jener  keuschen  Strenge  behandelt,  die  er  von  seinem 
Meister  gelernt  hatte,  so  dafs  die  Innerlichkeit  und  Tiefe  der  Emplin- 
dung  mehr  angedeutet  als  ausgesprochen  wird.  Nicht  minder  hat 
die  bewufste  Kunst  der  Charakterzeichnung,  welche  der  Tragiker  auch 
in  diesem  Drama  bewährt,  allgemeine  Anerkennung  gefunden,  und 
doch  wird  gerade  hier  eine  unbefangene  Betrachtung  diesem  Urtheile 
nicht  durchweg  beipflichten. 

Die  Antigone  des  Sophokles  enthält  das  ergreifende  Nachspiel 
des  unseligen  Bruderzwistes,  der  die  Söhne  des  Oedipus  zu  blutigem 
Kampfe  und  Wechselmord  hintrieb.  Antigone  bestattet  im  Wider- 
spruche mit  Kreons  Verbot  den  Bruder,  welcher  frevelhaft  die  Waffen 
gegen  das  eigene  Vaterland  ergriffen  hatte,  dem  daher  das  Gesetz 
die  letzte  Ehre  versagte.  Antigone,  die  nur  die  Pflicht  der  schwe- 
sterlichen Pietät  als  Richtschnur  ihres  Handelns  anerkennt  und 
trotzig  sich  gegen  die  staatliche  Ordnung  auflehnt,  wird  auf  der 
That  ergriffen  und  zum  Tode  verurtheilt.  Die  Jungfrau  kommt  der 
Schmach  zuvor,  indem  sie  selbst  ihrem  Leben  ein  Ende  macht, 
llämon,  ihr  Verlobter,  stürzt  sich  ins  Schwert;  die  Verzweiflung  treibt 
seine  Mutter  in  den  Tod.  Nur  Kreon  bleibt  am  Leben,  um  Zeuge 
des  Unheils  zu  sein,  welches  sein  Verbot  veranlafst  hatte. 

Antigone  steht  im  Vordergrunde.  Sie  übertrifft  an  Adel  der  Ge- 
sinnung, Seelengröfse  und  Macht  des  Palhos  alle  anderen;  auf  sie 
hat  Sophokles  allen  Glanz  seiner  Poesie  übertragen.     Aber  obwohl 

126)  Der  Grammatiker  SallusUus  bemerkt  in  der  Einleitung  lu  dieser 
Tragödie :  rb  fiev  Späfia  zäiv  xulXioriav  JSofOHXiovs.  Dioskorides  Anlh.  VlI  37 
ep.  2H  I  252  lac:  E'izt  aoi  l/4vriy6itjv  sinelv  fiXoy,  ovx  av  nftn^oti,  e'ite  xai 
'JlXdxjQaf,  aftipÖTt^ai  ynQ  nx^ov. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  11.  SOPH.       401 

die  Gestalt  der  heroischen  Jungfrau  über  das  gewöhnliche  Mafs  hin- 
ausragt, ist  sie  doch  natürlich- wahr  geschildert  und  daher  unserer 
Empfindung  nahe  gerückt.  Der  auf  den  engen  Kreis  des  Hauses 
beschränkten  Frau  hegt  es  ob,  den  religiös-sitthchen  Geist  zu  wahren 
und  zu  pflegen.  In  dem  weiblichen  Herzen  ist  das  Gefühl  der  Zu- 
sammengehörigkeit und  unzertrennlichen  Gemeinschaft  aller  Glieder 
der  Familie  vorzugsweise  lebendig;  selbst  der  Tod  löst  diese  gehei- 
hgten  Bande  nicht  auf.  Indem  die  Hinterbüebenen  die  letzte  Ruhe- 
stätte dem  Abgeschiedenen  bereiten,  an  seinem  Grabe  das  Todten- 
opfer  darbringen,  wird  die  Verbindung  des  Diesseits  mit  der  dunklen, 
geheimnifsvollen  Welt  des  Jenseits  erhalten.  Wo  es  gilt,  diese  Sa- 
tzungen der  Urzeit  zu  vertheidigen,  da  tritt  eben  vor  allem  die  Frau 
ein.  Dieser  ideale  Zug,  die  selbstvergessende,  aufopfernde  Liebe  offen- 
bart sich  überall  in  der  Heldin  der  Tragödie.  Aber  nur  ein  fester, 
entschiedener  Wille  war  fähig,  den  Kampf  mit  der  rauhen  Wirklich- 
keit aufzunehmen.  Antigone  erscheint  daher  als  ein  schroffer,  un- 
beugsamer Charakter;  ihr  Heroismus  steigert  sich  bis  zum  äufsersten 
Trotz  und  zur  äufsersten  Härte.  Von  der  Unverletzlichkeit  der  re- 
hgiösen  Pflicht,  von  der  Reinheit  ihrer  Absichten  ist  Antigone  über- 
zeugt. Sie  weifs  recht  wohl,  dafs  sie  gegen  die  Ordnung  des  Staates, 
deren  Verteter  Kreon  ist,  verstöfst.  Aber  das  götthche  Gesetz  steht 
ihr  höher,  und  wiUig  giebt  sie  ihr  Leben  hin. 

Einen  Charakter  ohne  Tadel  konnte  der  Dichter,  der  einen  tra- 
gischen Conflikt  darstellen  wollte,  nicht  brauchen ;  so  ist  auch  An- 
tigone nicht  frei  von  Schuld.  Obwohl  Sophokles  diesen  Charakter 
mit  sichtlicher  Vorhebe  behandelt,  hat  er  doch  das  Einseitige  und 
Widerspruchsvolle  in  deutlichen  Zügen  geschildert.  Das  Leidenschaft- 
liche und  Rasche  des  Handelns,  welches  Antigone  von  ihren  Eltern 
ererbt,  giebt  sich  gleich  anfangs  kund;  daher  macht  sie  nicht  einmal 
den  Versuch,  den  Kreon  von  seinem  Entschlüsse  abzubringen,  son- 
dern vollbringt  sofort  die  entscheidende  That  und  tritt  dem  Fürsten 
mit  äufserster  Schrofilieit  gegenüber,  welche  eine  friedliche  Lösung 
des  Zwiespaltes  unmöglich  machte.  Antigone  ist  von  inniger  Liebe 
zu  ihrem  Bruder  erfüllt;  aber  damit  contrastirt  entschieden  die  rauhe, 
lieblose  Art,  wie  sie  der  Schwester  begegnet.  Hämon  war  nach  des 
Vaters  Willen  der  Antigone  verlobt ;  aber  in  dem  Herzen  der  Jung- 
frau, die  ganz  von  dem  einen  Gefühle  beherrscht  wird,  ist  für  zarte 
Regungen  kein  Raum.     Nur  einmal  bricht  der  Ton   inniger  Theil- 

Bergk,  Griech.  Literaturgeschichte  III.  26 


402  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CUR.  G. 

»ahme  für  Hämon  durch.*")  Der  Dichter  hat  richtig  erkannt,  dafs 
mit  der  Hoheit  dieses  Frauencharakters  Erwiderung  leiden schafthcher 
Neigung  unvereinbar  war,  und  überträgt  daher  dieses  Gefühl  auf  Hä- 
mon.  Wenn  Antigene,  nachdem  ihr  Schicksal  entschieden  ist,  nicht 
ohne  schmerzliche  Wehmuth  zurückblickt  und  ihr  trauriges  Loos  be- 
klagt, so  liegt  darin  kein  Widerspruch.  Antigone  bereut  nicht  etwa 
ihre  That,  sondern  nach  der  Aufregung  des  Kampfes  gewinnt  momen- 
tan eine  ruhigere  Betrachtung  Raum;  aber  indem  sie  dann  selbst  dein 
Todesurtheile  zuvorkommt,  bleibt  sie  ihrer  leidenschafthchen  Art  treu. 

Wohl  kein  griechischer  Dichter  hat  so,  wie  der  Verfasser  der 
Ilias,  verstanden,  unser  Interesse  gleichmäfsig  für  beide  Parteien  in 
Anspruch  zu  nehmen.  Für  den  Epiker  ist  es  allerdings  leichter  als 
für  den  dramatischen  Dichter,  diese  Aufgabe  zu  lösen.  Allein  So- 
phokles bewährt  hier  gar  zu  wenig  die  Homerische  Kunst.  Der  Anti- 
gone steht  Kreon  gegenüber,  der  ein  vollkommen  berechtigtes  Princip, 
das  Recht  und  Interesse  des  Staates,  vertritt.  Es  ist  gewifs  ein  tra- 
gisches Geschick,  wenn  ein  Fürst,  der  in  schwerer  Zeit  die  Herr- 
schaft übernommen  hat,  gleich  das  erste  Mal,  wo  er  seine  fürsthche 
Gewalt  in  Anwendung  zu  bringen  berufen  ist,  mit  den  eigenen  Ver- 
wandten in  unlösbaren  Zwiespalt  geräth.  Aber  der  Dichter  darf 
keinen  Tyrannen  schildern,  der  im  Gefühl  der  eben  erst  erlangten 
Herrschaft  hart  und  willkürlich  verfährt,  sondern  einen  Fürsten, 
der,  seines  schwierigen  Berufes  sich  wohlbewufst  und  von  den  besten 
Absichten  geleitet,  die  Pflichten  seines  Amtes  gewissenhaft  übt,  auch 
wenn  er  genöthigt  ist  gegen  einen  Verwandten  die  volle  Strenge 
des  Gesetzes  in  Anwendung  zu  bringen.  Die  Rücksicht  auf  die  Fa- 
miUe  kann  für  den,  der  das  allgemeine  W'ohl  im  Auge  haben  soll, 
erst  in  zweiter  Linie  stehen.  Wenn  er  in  seinen  Mitteln  fehlgreift, 
wenn  er  durch  eigenes  Verschulden  und  den  Zwang  der  Vcrhidt- 
nisse  sich  immer  tiefer  verstrickt  und  endlich  untergeht,  so  kann 
ein  solcher  Charakter  auch  im  Falle  seine  Grüfse  bewahren,  und 
unser  Mitgefühl  wird  ihn  begleiten. 

Der  Kreon  des  Sophokles  vermag  uns  keine  rechte  Theilnahnie 
cinzuflöfsen.  Der  Tragiker  that  recht,  wenn  er  der  schroffen  Frauen- 
natur einen  Mann  von  eben  so  hartem,  einseitigem  Gharakler  gegen- 
überstellte.    Gar  mancher  Zug  des  Bildes  ist  trelfend;  die  Pllicht 


127)  Antigone  bl'l;  (iciin  Anli({onr,  riirlif  Umene.  sprirhl  Hio»;t>  Wort»'. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  11.  SOPH.      403 

gegen  den  Staat  geht  dem  Kreon  des  Sophokles  über  alles.  Anarchie 
erscheint  ihm  als  das  schlimmste  der  Uebel.  Das  Volk  ist  selbst  da, 
wo  der  Fürst  irrt,  seinen  Anordnungen  Gehorsam  schuldig.  Nach- 
giebigkeit ist  in  Kreons  Augen  unwürdige  Schwäche.  Der  Wider- 
stand, auf  den  er  von  allen  Seiten  stöfst,  verhärtet  seinen  Sinn  und 
reifst  ihn  immer  weiter  fort.  Auch  dafs  dem  Kreon  Ruhe  und  Selbst- 
beherrschung abgeht,  dafs  der  Dichter  das  leidenschaftliche,  jähzor- 
nige, argwöhnische  Wesen  mehr  und  mehr  steigert,  verdient  keinen 
Tadel.  Aber  die  Ueberzeugung  von  der  Rechtmäfsigkeit  seines  WoUens 
und  Handelns  mufste  unerschütterlich  feststehen;  dieses  Bewufstsein 
mufste  den  Grundzug  seines  Wesens  bilden.  Nur  so  war  er  seiner 
Gegnerin  ebenbürtig,  die  ganz  von  dem  Glauben  an  ihr  Recht  er- 
füllt ist.  Kreon  bezeichnet  zwar  wiederholt  das  Vergehen  des  Poly- 
neikes  als  Landesverrath*^),  aber  er  beruft  sich  nirgends  auf  die 
Satzungen  des  Landrechtes,  die  er  zu  vollziehen  verpflichtet  war'*^), 
sondern  stellt  sein  Verbot  als  einen  Akt  seiner  Herrschergewalt  dar. 
Dadurch  geräth  Kreon  in  eine  schiefe  Stellung ;  er  sinkt  immer  mehr 
zu  der  Rolle  des  gewöhnlichen  Tyrannen  herab.  Dem  Kreon  des 
Sophokles  fehlt  die  rechte  Gröfse,  der  Adel  der  Gesinnung,  und  wenn 
ihm  allmähhch  alles  mifsglückt,  ein  Schlag  nach  dem  anderen  ihn  trifft, 
so  erscheint  er  immer  kleiner,  immer  schwächlicher.  Die  Warnungen 
des  Sehers,  die  er  anfangs  mit  entschiedenem  Mifstrauen  anhört, 
machen  zuletzt  einen  tiefen  Eindruck,  den  der  Chor  benutzt,  indem 
er  in  den  König  dringt,  die  Antigone  freizulassen  und  den  Leichnam 
des  Polyneikes  zu  bestatten.  Kreon  willigt  in  alles  ein.  Aber  die 
Motivirung  dieser  Wandlung,  welche  in  Kreon  vorgeht,  ist  unzu- 
länglich; und  doch  kann  der  plötzliche,  aber  verspätete  Entscblufs 
das  Unheil  nicht  mehr  abwenden.  Wenn  Kreon  schon  hier  seiner 
Sinne  kaum  mächtig  ist***),  so  erscheint  er,  nachdem  die  Katastrophe 
eingetreten  ist,  völlig  gebrochen  und  haltlos.  Seine  Reue  verräth 
ebenso  wie  die  Umkehr  den  äufsersten  Grad  der  Schwäche. 

Der  Eindruck   des  Schroffen   und  Herben,  den  die  Hauptcha- 


128)  Antig.  199ff.  285  ff.  516  ff. 

129)  Natürlich  beziehen  sich  Antigone  und  die  anderen,  welche  dem  König 
entgegentreten,  ebenso  wenig  auf  die  bestehende  Rechtsordnung,  sondern  grei- 
fen nur  des  Kreons  Verbot  an. 

130)  Die  Worte  1108.  1109,  welche  hart  an  die  Weise  der  Komödie  strei- 
fen, bekunden  deutlich  diesen  Gemüthszostand. 

26* 


404  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS   300  V.  CHR.  G. 

raktere  machen,  wird  durch  die  Nehenfiguren  ermJU'sigl.  So  steht 
der  Antigone  ihre  Schwester  Ismene,  eine  milde,  echt  weibHche  Natur, 
dem  Kreon  sein  Sohn  Hämon  zur  Seite,  ein  offener,  edler  Cha- 
rakter, der  nur  durch  des  Vaters  Zorn  und  bittere  Reden  zu  leiden- 
schaftlichen Aeufserungen  fortgerissen  wird.  Aber  dafs  später  Hä- 
mon neben  der  Leiche  der  Antigone  das  Schwert  gegen  den  Vater 
zückt  und,  als  dieser  ausweicht,  sich  selbst  durchbohrt,  erschien 
schon  dem  Aristoteles  als  ein  bedenkliches  Wagnifs'^'),  zu  welchem 
der  tragische  Dichter  nicht  ohne  dringenden  Grund  sich  entschliefsen 
darf.  Die  dienenden  Personen  werden  mit  richtigem  Takte  behandelt; 
indem  ihre  Gesinnung  und  Redeweise  an  die  Sphäre  des  gewöhn- 
lichen Lebens  erinnert,  sondert  sie  sich  bestimmt  von  den  heroischen 
Charakteren  ab.  So  hat  namenthch  die  Figur  des  Wächters  indivi- 
duelles Leben  und  ist  nicht  ohne  einen  gewissen  volksmäfsigen  Hu- 
mor gezeichnet. 

Ist  auch  die  Entscheidung  wesentüch  in  die  handelnden  Per- 
sonen verlegt,  die  für  das,  was  sie  thun,  verantwortlich  sind,  ihre 
Zukunft  in  sich  selbst  tragen  "%  so  spielt  doch  auch  die  Vorstellung 
einer  düsteren,  im  Hintergrunde  drohenden  Macht  mit  herein ;  be- 
sonders bei  der  Heldin  des  Dramas  wird  die  unheilvolle  Wirkung  des 
Fluches,  der  sich  von  Geschlecht  zu  Geschlecht  vererbt,  wiederholt 
hervorgehoben.  Dies  ist  nicht  etwa  eine  unbewufste  Reminiscenz 
an  seinen  grofsen  Vorgänger,  sondern  Sophokles  war  nicht  gesonnen, 
diese  Vorstellung,  welche  poetisch  so  wirksam  ist,  aufzugeben. 

Der  Chor  besteht  aus  Greisen,  die  gewissennal'sen  des  Königs 
Rath  bilden"'),  aber  von  Kreon  berufen  werden,  nicht  um  die  An- 
gelegenheit zu  berathen,  sondern  nur,  um  ihnen  nachträglich  das 
Verbot  mitzutheilen,  welches  des  Königs  Herolde  bereits  dem  Volke  zur 
Nachahmung  verkündet  haben.  Der  Chor  verharrt  in  der  unterge- 
ordneten Stellung,  die  ihm  Sophokles  anwies,  aber  erfüllt  vollkommen 
die  ihm  belassene  Aufgabe.  Jedes  Lied  ist  für  die  Stelle,  wo  es 
steht,  durchaus   passend,  schliefst   sich   eng  an  die  vorhergehende 

13t)  Aristoteles  Poet.  c.  II  p.  1454  A  1.  Den  doppolsinnigen  Ausdruck 
avrql  xo^atd'eis  1235  hat  Sophokles  wohl  absichtlich  gewählt. 

132)  Vom  Kreon  sagt  der  Chor  1259  f.:  ovx  di.Xoxpiit*'  artjv,  all*  avroi 
afta^wv,  aber  auch  von  der  Antigone  875:  ff«  S*  nvröyvojros  tukec*  o^yä, 
obwohl  vorher  auch  der  andere  Gesichtspunkt  beriicksichtigl  wird  85(5:  najQi^ov 
S'  ixiiven  rtv'  ad'Xov. 

133)  Antigone  HJO. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  II.  SOPH.       405 

Handlung  an  oder  deutet  auf  das  Folgende  hin.  Die  Gesänge  nehmen 
nicht  nur  einen  ziemlichen  Raum  ein,  sondern  sind  auch,  wie  über- 
all bei  Sophokles,  durch  Anmutb  und  Eleganz  der  rhjihmischen  Bil- 
dungen ausgezeichnet  und  verbinden  Mannigfaltigkeit  mit  reichem 
Gehalt.  Während  die  Parodos  Dankbarkeit  gegen  die  Götter  wegen 
der  Errettung  der  Stadt  aus  grofser  Gefahr  und  die  Freude  über  den 
unverhofften  Sieg  ausspricht,  ergeht  sich  das  erste  Stasimon,  welches 
an  den  Bericht  des  Wächters  sich  anschlicsst,  in  Betrachtungen  über 
den  erfinderischen  Menschengeist,  die,  obwohl  sich  im  Allgemeinen 
haltend,  doch  nicht  ohne  Beziehung  auf  die  dramatische  Handlung 
sind.  Das  zweite  Stasimon  gehört  unbestritten  zu  den  vorzüglichsten 
meUschen  Dichtungen  des  Sophokles.  Angesichts  des  der  Antigone 
drohenden  Todes  gedenkt  der  Chor  des  unheilvollen  Geschickes,  wel- 
ches das  Geschlecht  der  Labdakiden  heimsucht,  und  warnt  vor  Ver- 
blendung, die  den  Menschen  ins  Verderben  stürzt,  indem  er  in  seiner 
Belhörung  das  Schlimme  statt  des  Rechten  erwählt.  Auch  hier  macht 
der  Tragiker  von  der  Amphibolie  schickUchen  Gebrauch.  Diese  Ge- 
danken sind  zunächst  durch  das  Schicksal  der  Antigone  hervorge- 
rufen, aber  ihre  Bedeutung  reicht  weiter;  die  Warnung  gilt  vor  allem 
dem  Kreon.  Nach  dem  Streite  zwischen  Kreon  und  Hämon,  der  sich 
von  dem  Vater  lossagt,  schildert  der  Chor  die  Allgewalt  der  Liebe, 
welche  selbst  den  Gerechten  mit  fortreifst.  Der  Umfang  dieses  Sta- 
simons  ist  mäfsig,  da  gleich  darauf  das  Klagelied  der  Antigone  folgt, 
welches  der  Chor  mit  kurzen  Strophen  unterbricht.  Als  Antigone  ab- 
geführt wird,  singt  der  Chor  das  vierte  Stasimon ;  aber  da  er  nicht 
wagt  seine  Empfindungen  offen  auszusprechen,  führt  er  nur  eine  Reihe 
Bilder  aus  vergangener  Zeit  vor.  Die  Schicksale  der  Helden  und 
Heldenfrauen,  die  der  Chor  schildert,  enthalten  stets  eine  mehr  oder 
minder  deutliche  Beziehung  auf  die  Gegenwart.  Als  Kreon  sich  end- 
lich nachgiebig  zeigt,  stimmt  der  Chor,  sich  der  Hoffnung  hingebend, 
noch  lasse  sich  alles  zum  Guten  wenden,  einen  schwungvollen  Hym- 
nus auf  Dionysus  an,  den  er  bittet  seiner  geliebten  Stadt  hülfreich 
beizustehen.  Dieser  freudig  erregle  Gesang  bildet  zu  der  traurigen 
Katastrophe,  die  unmittelbar  nachher  eintritt,  den  schroffsten  Gegen- 
satz. In  der  Schlufsscene  fällt  dem  Chore  das  Amt  zu ,  die  Aus- 
brüche trostloser  Verzweiflung  des  Kreon  zu  begleiten.*'^) 

134)  Während  Kreon   sein  Unglück   in  dochmischen  Versen  beklagt,  be- 
dient sich  der  Chor  des  iambischen  Trimeters. 


406  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Die  Ausführung  im  letzten  Theile,  wo  alles  auf  die  Entschei- 
dung hindrängt,  hat  etwas  Skizzenhaftes.  Die  Sinnesänderung,  welche 
sich  bei  Kreon  vollzieht,  ist  nicht  genügend  vorbereitet.  Hat  auch 
der  Dichter  die  Eurydike  nicht  blofs  eingeführt,  um  die  Trauerbot- 
schaft von  dem  Tode  der  Antigone  und  des  Hämon  anzubringen, 
sondern  um  alles  Unheil  auf  dem  Haupte  des  Kreon  zu  häufen 
und  den  tragischen  Eindruck  zu  steigern,  so  wird  doch  dies  nicht 
erreicht;  denn  die  Frau  und  Mutter,  welche  sich  stillschweigend 
während  des  Berichtes  entfernt,  um  sich  selbst  den  Tod  zu  geben 
und  dem  Gatten  zu  fluchen,  vermag  uns  kein  rechtes  Interesse  ab- 
zugewinnen.'^) Die  Verzweiflung  Kreons,  dem  nicht  einmal  die  Er- 
lösung durch  den  Tod  beschieden  ist,  wird  mit  fliegender  Hast  ge- 
schildert, und  wir  sind  dem  Dichter  dankbar,  dafs  er  den  Anblick 
dieser  Jammergestalt  uns  so  bald  als  möglich  entzieht.'*') 

Das  Drama  mag  rasch  entworfen  und  eben  so  rasch  und  in  einem 
Zuge  niedergeschrieben  sein.  Daher  die  Frische  und  Lebendigkeit 
der  Darstellung;  andererseits  mag  jene  Eile  den  Mängeln,  die  in  der 
Durchführung  der  Idee  hervortreten,  zur  Entschuldigung  dienen. 
Auffallend  ist,  dafs,  während  nach  der  Schilderung  des  Dichters  die 
feindlichen  Brüder  Tags  vorher  gefallen  sind  und  Kreon  sofort  die 
Heri^chaft  antritt'^),  also  jenes  verhängnifsvolle  Verbot  eine  seiner 
ersten  Regierungshandlungen  ist,  gleichwohl  diese  Anschauung  im 
weitereu  Verlaufe  des  Stückes  nicht  recht  festgehalten  wird,  indem 
das  Verhältnifs  wiederholt  so  aufgefafst  wird,  als  habe  Kreon  schon 
längere  Zeit  das  Ruder  des  Staates  geführt.'^)  Offenbar  gab  der 
Dichter  seiner  Neigung,  alles  sorgfaltig  zu  luotiviren,  allzu  sehr  nach. 

Störender  ist  in  der  letzten  Rede  der  Antigone,  als  sie  zum 
Tode  abgeführt  wird  und  ihr  Geschick  beklagt,  die  Weise,  wie  die 
heroische  Jungfrau  ihre  Thal  nochmals  zu  rechtfertigen  sucht.    Für 


135)  Eurydike  spricht  nur  neun  Verse  (1183— 1H)1). 

136)  Es  klingt  fast  wie  Selbstkritik,  wenn  der  Chor  1327  bemerkt:  ß^- 
Xicra  yap  xQäriOxa  xav  noalv  xaxä, 

137)  Antig.  S.  15.  156.  173. 

13S)  Antig.  289.  994  (wo  sich  die  Erklärer  auf  künstliche  Weise  aus  der 
Noth  helfen)  inr)S  und  1161.  Denn  dafs  l»oreils  die  Vögel,  die  vom  Leich- 
name des  Polyneikes  kommen,  alles  verunreinigen  (1016  f.),  ist  eine  erlaubte 
Freiheit  i'i  der  Reliandlung  der  Zeit.  Man  darf  darin  nicht  etwa  Spuren  einer 
späteren  Ueberarbeitung  linden;  jene  Stellen  sind  unzweifelhaft  so  überliefen, 
wie  sie  im  ersten  Kiitwiirfe  lauteten. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  II.  SOPH.      4U7 

den  Bruder,  sagt  sie,  giebt  es,  wenn  Vater  und  Mutter  gestorben 
sind,  keinen  Ersatz;  den  Verlust  des  Gatten  oder  der  Kinder  kann 
das  Geschick,  wenn  es  will,  wieder  ausgleichen:  darum  drängte  es 
mich  so  sehr,  meinem  Bruder  den  letzten  Liebesdienst  zu  erweisen. 
Diese  Gedankenreihe  stimmt  vollständig,  theilweise  sogar  im  Wort- 
laute, mit  einer  bekannten  Erzählung  bei  Herodot'^j,  wo  eine  edle 
persische  Frau,  deren  Angehörige  zum  Tode  verurtheilt  sind,  vom 
König  Darius  nicht  des  Gatten,  sondern  des  Bruders  Leben  er- 
bittet. Dafs  eben  jener  Vorgang,  den  der  Geschichtsschreiber  schil- 
dert, dem  Tragiker  vor  Augen  war,  ist  sicher.  Während  aber  dort, 
wo  es  sich  um  das  Leben  des  Liebsten  auf  Erden  handelt  und  der 
König  über  den  Vorzug,  den  die  Frau  dem  Bruder  giebt,  sein  Be- 
fremden äufsert,  die  Antwort  durchaus  treffend  ist,  erscheint  hier 
diese  Rechtfertigung  weder  des  hohen  Sinnes  der  Heldin  würdig, 
noch  auch  für  die  Verhältnisse  der  Antigene  zutreffend,  die  sich 
mit  der  Situation,  in  welcher  sich  die  Gattin  des  Intaphernes  be- 
fand, gar  nicht  vergleichen  hefsen.  Die  ganze  Art  der  Beweisfüh- 
rung hat  im  Munde  der  Antigone  etwas  Gemachtes  und  Sophistisches. 
Um  den  Sophokles  gegen  diesen  Vorwurf  zu  schützen,  betrachten 
die  Neueren  jene  Verse  meist  als  einen  Zusatz  von  fremder  Hand.**^ 
Aber  gerade  weil  diese  Motivining  der  That  im  Munde  der  Antigone 
so  befremdhch  kUngt,  hat  schwerHch  ein  anderer,  selbst  nicht  der 
frostige  lophon,  gewagt  die  ursprüngliche  Dichtung  mit  handgreif- 
lichen Trugschlüssen  zu  bereichern.  Diesen  Mifsgriff  wird  der 
Dichter  selbst  verschuldet  haben."*)  Herodot  hielt  sich  damals, 
als  Sophokles  seine  Antigone  dichtete,  in  Athen  auf.  Abgesehen  von 
der  öffenthchen  Vorlesung  eines  Abschnittes  der  Historien,  welche 
die  Ueberlieferung  in  Ol.  83,  3  (4)  verlegt,  mag  Herodot  im  Freun- 
deskreise einzelne  Partien  seiner  Arbeit  milgetheilt,  anderes  münd- 


139)  Herodot  UI  119  vgl.  mit  Aotig.  904  ff. 

140)  Man  hat  an  lophon  oder  gar  an  die  Interpolation  eines  Schauspielers 
gedacht.  DaCs  Aristoteles  Rhet.  III  16  p.  1417  A  28  ff.  sich  auf  diese  Verse  bezieht 
und  sie  unbedenklich  als  Sophokleische  zum  Beleg  einer  spitzfindigen  para- 
doxen Beweisführung  benutzt,  ist  allerdings  noch  kein  ausreichender  Beweis 
für  die  Echtheit  der  Stelle. 

141)  Hier  trifft  die  Bemerkung  des  Longin  de  subl.  c.  33  zu:  o  ^£  IlivSa- 
QOi  xai  o  ^ipoxkrjS  ori  fiiv  olov  TvävTa  i7itf/.£yovai  tj  yo^«,  oßevvx/vrai  8' 
aloytoi  noXijäxn  xo»  ninrovCtv  arvxBOTara. 


408  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

lieh  erzählt  haben.  Sophokles  mufs  damals  mit  Herodot  freund- 
schaftlich verkehrt  haben'");  ihm  lag  also  die  Versuchung  nahe, 
eine  solche  Reminiscenz  an  das  Werk  seines  Freundes  einzuflech- 
ten,  welches,  obschon  unvollendet,  die  allgemeinste  Theilnahme  in 
Anspruch  nahm,  hat  doch  der  Tragiker  auch  in  späterer  Zeit  in 
seinem  Oedipus  auf  Kolonos  sich  eine  unverkennbare  Anspielung 
auf  die  Historien  des  Herodot  gestattet.'*^} 

Die  Hauptcharaktere  dieser  Tragödie,  Antigone  und  ihre  Schwe- 
ster Ismene,  Kreon  und  sein  Sohn  Hämon,  oder,  wenn  man  will, 
jene  Namen  fand  Sophokles  vor,  aber  die  dramatische  Handlung  ist, 
so  viel  sich  erkennen  läfst,  freie  Erfindung  des  Dichters."*)  Die 
Verweigerung  der  letzten  Ehren  für  den  im  Kampfe  gegen  die 
Vaterstadt  gefallenen  Polyneikes  ist  den  Früheren  unbekannt.  Nach 
tbebanischer  Ueberlieferung,  der  Pindar  gefolgt  ist'"),  waren  sieben 
Scheiterhaufen  für  die  Leichen  der  feindlichen  Führer  errichtet. 
Antigone  und  ihre  Schwester  erleben  noch  die  Zeit  des  Heerzuges 
der  Epigonen'^");  dagegen  ist  Hämon  nach  den  Kykhkern,  schon 
ehe  Oedipus  den  Thron  bestieg,  als  ein  Opfer  der  Sphinx  gefallen.'") 
Freilich  glauben  die  Neueren,  Aeschylus  habe  bereits  diesen  Stoff, 
wenn  auch  nur  in  kurzen  Umrissen,  behandelt;  aus  der  letzten  Scene 
der  Sieben  habe  Sophokles   das  Motiv  seiner  Antigone   entlehnt.'**) 

142)  Dies  beweist  das  gerade  in  dieser  Zeit  an  Herodot  gerichtete  Epi- 
gramm des  Sophokles ,  s.  Plutarch  an  seni  sit  ger.  resp.  c.  3,  5. 

143)  Oed.  Kol.  337  und  Herodot  \l  35.  Diese  Hinweisung  auf  ägyptische 
Landessitle  ist  zwar  nicht  gerade  unpassend,  aber  in  der  Tragödie  befremdlich; 
und  hier  kann  man  die  betreffenden  Verse  gar  nicht  missen. 

144)  Es  ist  sicher  irrig,  wenn  in  der  zweiten  vnöd'effie  behauptet  wird, 
die  xoivfj  S6^a,  der  die  Tragiker  gefolgt  seien,  berichte  die  ausgezeichnete 
Bruderliebe  der  Schwestern. 

145)  Pindar  Ol.  VI  15.  Nem.  IX  24.  Bei  Theben  zeigte  man  die  Gräber 
der  feindlichen  Brüder  unmittelbar  neben  einander.  Alljährlich  brachte  man 
ihnen  ein  gemeinsames  Todtenopfer  dar;  aber  noch  immer  gab  sich  nach  der 
Volkssage  der  alte  Hafs  kund,  indem  die  Flamme  und  der  Rauch  des  Opfers 
eich  jedes  Mal  theilte,  s.  Pausan.  IX  IS,  3. 

146)  So  iMimnermus  fr.  21  und  Ion  fr.  12,  der  Zeilgenosse  des  Sophokles, 
s.  Sallustius'  Hypothcsis  der  Antigone. 

147)  Kinäthon  in  der  Oedipodie,  s.  Schol.  Eurip.  Phon.  1760. 

148)  Dagegen  läfst  der  Schol.  Eurip.  Phöniss.  1703  den  Sophokles  die  erste 
Anregung  der  Tragödie  des  Euripides  verdanken  {ant^/uara  rfi  £o<poxX*ovs 
^Avuyovri  naftox*),  ohne  zu  bedenken,  dafs  die  Phönissen  mehr  als  ein  Men- 
schenalter später  gedichtet  sind. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRDPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  11.  SOPH.      409 

Allein  mit  voller  Zuversicht  darf  man  behaupten,  dafs  diese  ganze 
Partie  von  fremder  Hand  zugesetzt  ward'"^)  und  dafs  eben  die  So- 
phokleische  Tragödie  den  Anlafs  gab,  das  Drama  des  Aeschylus  mit 
diesem  Schlüsse  zu  bereichern.'*")   (S.  oben  S.  305.) 

Indes  die  erste  Anregung  zur  Conceplion  der  Antigone  mag 
Sophokles  dem  alten  Meister,  dem  er  so  vieles  schuldete,  verdanken. 
Aeschylus  hatte  in  den  Eleusiniern  geschildert '**),  wie  Adrastus  nach 
dem  unglücklichen  Ausgange  der  ersten  Heerfahrt  durch  Vermit- 
telung  des  Theseus  die  Ausheferung  der  Todten  von  den  The- 
banern  erlangt  und  die  argivischen  Helden  auf  attischem  Gebiet 
bestattet.  JNach  dem  rohen  Brauche  der  alten  Heroenzeit  versagt 
der  Sieger  den  gefallenen  Feinden  das  Begräbnifs.  Der  attische  König 
brachte  die  humanere  Sitte,  nach  der  Schlacht  die  Todten  auszu- 
wechseln, zur  Geltung,  ein  später  von  den  Hellenen  allgemein  an- 
erkanntes Gesetz.  Dieser  Sieg  des  neuen  Kriegsrechtes,  welches  auch 
im  Feinde  den  Menschen  zu  ehren  gebot,  über  die  Härte  der  alten 
Volkssitte  war  für  die  dramatische  Poesie  ein  geeigneter  Vorwurf 
und  bot  zugleich  dem  patriotischen  Dichter  Gelegenheit  dar,  das 
Verdienst,  welches  seine  Vaterstadt,  die  sich  ihrer  religiösen  und 
humanen  Gesinnung  mit  Fug  rühmen  durfte,  sich  um  die  Fortbil- 
dung des  Bechtes  erworben  hatte,  zu  verkünden. 

Nichts  lag  näher,  als  dafs  der  jüngere  Dichter  an  demselben 
Punkte  anknüpfte.  Wie  die  Thebaner  nach  Aeschylus  den  Argi- 
vern  die  Todtenehre  verweigern,  so  entzieht  Kreon  bei  Sophokles 
dem  Polyneikes,  der  mit  jenen  Argivern  die  Waffen  gegen  seine 
Vaterstadt  geführt  hatte,  die  letzte  Buhestätte.  Aber  gegen  dieses 
Verbot   lehnt  sich  Antigone  auf;   ihr  steht   die  Pflicht   gegen   den 


149)  Aeschylus,  obwohl  mit  freigebiger  Hand  seine  Schätze  austheilend, 
weifs  doch  hauszuhalten  und  wird  nicht,  um  eine  so  störende  Zugabe  anzu- 
bringen, den  überlieferten  Mythus  in  dieser  Weise  fortgebildet  haben,  um  seinem 
Nachfolger  einen  fertigen  Stoif  zu  einem  Drama  darzubieten.  Auch  ist  Sopho- 
kles eine  viel  zu  selbständige  Natur,  um  so  sltlavisch  in  die  Fufstapfen  seines 
Lehrers  zu  treten. 

150)  Der  Fortsetzer  der  Sieben  weicht  übrigens  in  einzelnen  Punkten 
von  seinem  Vorbilde  ab.  Bei  Sophokles  geht  das  Verbot  von  Kreon  aus,  hier 
von  der  berathenden  Körperschaft,  eine  wohlbegründete  Abänderung.  Bei  So- 
phokles steht  Antigone  allein;  hier  schliefst  sich  ein  Theil  des  Chores  der 
Heldin  an. 

151)  PJatarch  Theseus  c.  29. 


410  DRITTE    PERODE    VON    500    BIS    300  V.  CUR.  G. 

Bruder,  das  ungeschriebene  güllliclie  Gesetz  hühcr  als  das  Recht 
des  Staates,  und  ohne  Bedenken  opfert  sie  für  diese  Ueberzeugung 
ihr  Leben.  Während  bei  Aeschylus  in  den  Eleusiniern  die  Streit^ 
frage  befriedigend  geschlichtet  wird  und  alles  glücklich  verläuft, 
nimmt  die  Tragödie  des  Sophokles  für  alle  Theile  einen  traurigen 
Ausgang,  und  der  Conflikl  bleibt  ungelöst;  denn  es  liegt  hier  in  der 
That  ein  Widerstreit  gleichberechtigter  Interessen  vor.  Antigene 
vertritt  das  Recht  der  Familie,  macht  die  Forderungen  der  natür- 
lichen Pietät  geltend;  Kreon  ist  berufen,  das  Recht  der  staatlichen 
Ordnung  zu  wahren.  Polyneikes  hatte  mit  Beistand  der  Argiver 
seine  Heimath  mit  Krieg  überzogen  und  sich  dadurch  des  Hochver- 
rathes  schuldig  gemacht.  Wer  dieses  Vergehens  überführt  war,  dem 
versagte  das  Gesetz  ein  ehrliches  Begräbnifs  in  der  Heimath;  er  war 
nicht  würdig,  wie  jeder  andere  Bürger  im  Schoofse  der  mütterhchen 
Erde  zu  ruhen.  Man  schaffte  den  Leichnam  über  die  Grenze  und 
liefs  ihn  unbeerdigt  liegen.  Später  ward  die  Härte  des  alten  Brau- 
ches meist  insoweit  ermäfsigt,  dafs  man  den  Todten  aufserhalb  des 
Staatsgebietes  verscharrte.'^^)    Hatte  einer  sich  der  Vollstreckung  des 


152)  Was  Hochverrath  war,  wufste  in  Athen  jedermann.  Die  Verwün- 
schungen, welche  in  Athen  in  jeder  Volksversammlung  feierlich  gegen  jeden  Ver- 
such, die  Verfassung  anzutasten  (die  Sitte  ist  gewifs  alt,  aber  die  Formel  hat 
im  Verlaufe  der  Zeit  manche  Zusätze  erhalten;  z.  B,  die  Hindeutung  auf  hoch- 
verrath eri  sehe  Verbindung  mit  den  Medern,  Aristoph.  Thesm.  365,  ward  durch 
die  Machinationen  der  Peisistratiden  veranlafst,  s.  Philipps  Brief  2,7  p.462  Herch.), 
wiederholt  wurden,  sollten  eben  dazu  dienen,  einen  jeden  an  seine  Pflicht  zu 
erinnern.  Was  das  Solonische  Gesetz  über  die  Tf^oSörat  und  die  ihnen  gleich- 
gestellten IeqÖgvXoi  (Xenoph.  Hell.  I  7,  22)  bestimmte,  war  in  aller  Gedächtnifs. 
Dafs  es  den  Verwandten  des  Themistokles  nicht  gestattet  "war,  die  Gebeine  des 
grofsen  Mannes  in  der  Heimath  beizusetzen,  wufste  zur  Zeit,  als  Sophokles  die 
Antigene  dichtete,  in  Athen  jedermann  (Thukyd.  1  1H8),  und  auch  später  verfährt 
man  nach  denselben  Grundsätzen,  wie  die  Bestrafung  der  Führer  der  Oligar- 
chen  nach  dem  Sturze  der  Vierhundert  beweist  (s.  das  Psephisma  bei  Plutarch 
dec.  er.  vit.  Antiphon  28,  und  was  Lykurg  gegen  Leokr.  1 13  bemerkt).  Aus  die- 
ser Rede  des  Lykurg  geht  zur  Genüge  hervor,  dafs  das  Gesetz  auch  in  der 
Zeit  des  Demosthenes  volle  Geltung  hatte;  der  Fall  des  Phokiou  ist  allgemein 
bekannt.  So  bestimmt  auch  die  Bundesurkunde  von  Ol.  100,  3,  dafs  wer  irgend- 
wie sich  gegen  die  Bestimmungen  dieses  Vertrages  vergehen  und  mit  dem  Tode 
bestraft  werden  würde:  fiij  xayrjra  iv  ifi'Axxntrj  firjSi  Iv  tJj  xciv  cvfiftäxatv. 
Es  war  dies  offenbar  ein  allgemein  in  Griechenland  üblicher  Brauch;  Diodor 
XVI  25,  2  bezeichnet  es  als  Ttaga  näai  roTt  "EklrjOt  xotvbi  vöfioi  aiäipovi  gl- 
nxec&ai  rove  ie^avkovi.    Auch  Plato  Leg.  IX  854  Ff.  schreibt  dasselbe  vor,  wie 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  II.  SOPH.     411 

Unheils  durch  die  Flucht  entzogen  und  starb  in  der  Fremde,  so 
war  es  den  Angehörigen  nicht  gestattet  seine  Gebeine  im  heimi- 
schen Boden  beizusetzen.  Kreon  ist  also  vollkommen  im  Recht, 
wenn  er  die  Beerdigung  des  Polyneikes  in  der  Heimath  nicht  zu- 
liefs.  Aber  statt  die  Leiche  über  die  Grenze  zu  schaffen,  läfst  er 
sie  in  unmittelbarer  Nähe  der  Stadt  den  Vögeln  und  Hunden  preis- 
geben und  schärft  nachdrücklich  das  Verbot  ein ,  dem  Hochverräther 
die  letzte  Ehre  zu  erweisen.  Dies  verstöfst  entschieden  gegen  das 
Herkommen,  welches  nicht  einmal  den  todten  Verbrecher  als  einen 
Schuldbefleckten  im  Lande  duldet '"),  und  das  Verbot  der  Bestattung 
war  in  diesem  Falle  nur  geeignet,  zur  Uebertretung  anzureizen. 

Hätte  Kreon  sich  streng  an  die  alte  Satzung  gehalten,  so  ward 
der  Conflikt  vermieden ;  denn  Antigene  vermochte  nicht  die  Scher- 
gen zu  verhindern,  die  Leiche  über  die  Grenze  zu  bringen.  Wenn 
sie  dann  den  Bruder  in  fremder  Erde  bestattete,  so  genügte  sie  ihrer 


er  die  gleiche  Strafe  aucli  noch  bei  anderen  Vergehen  empfiehlt,  gewifs  in 
Uebereinstimmung  mit  der  Volkssitte  (man  vergleiche  den  Richterspruch  gegen 
die,  auf  denen  das  Kvltüvstov  äyos  haftete,  Plut.  Sol.  c.  12,3).  Das  alte  strenge 
Gesetz  gebot  offenbar  den  Todten  über  die  Grenze  zu  schaffen  und  dort  unbeerdigl 
liegen  zu  lassen  (Diodor  XVI  25,  2);  später  mochte  man  humaner  verfahren  und 
den  Leichnam  dort  einscharren,  wie  der  Fall  des  Phokion  zeigt.  Die  Versagung 
der  Bestattung  war  ein  schweres  Unglück,  da  der  Todte  nicht  zur  Ruhe  gelan- 
gen kann;  aber  auch  wenn  man  den  Leichnam  aufserhalb  des  Staatsgebietes  bei- 
setzte, ward  dies  als  ein  Unglück  betrachtet.  In  Griechenland  war  jeder  mit 
der  Heimath  so  eng  verwachsen,  dafs  es  für  ihn  nur  im  vaterländischen  Boden 
rechte  Ruhe  gab.  Der  sterbende  Polyneikes  sagt  daher  bei  Euripides  Phöniss. 
1451:  y.ai  y^s  (piXr,s  o/d'oiat  xovcpd'TJvai  y.aX6v  (der  Vers  ist  wieder  in  sein 
Recht  einzusetzen).  Jedenfalls  aber  ward  die  Versagung  des  Grabes  in  der  Hei- 
math als  die  gröfste  Schmach  angesehen,  Teles  bei  Stob.  Floril.  40,  S  p.  GS,  27  M,: 
To  yE  iv  rf,  i8iq  urj  e^elvai  racpfjvai  Ticöi  ovx  ovetSos;  Lm  diesen  Satz  zu 
widerlegen,  führt  der  Philosoph  aus,  dafs  die  Kriegsführer,  auf  welche  Athen 
stolz  sei,  in  der  Fremde  bestattet  seien  (dies  zielt  auf  Themistokles),  während 
man  die,  welche  der  Demokratie  Schande  machten,  auf  Staatskosten  beerdigte ; 
dann  wird  noch  auf  Phokion  angespielt,  dessen  Leiche  man  im  megarischeu 
Gebiet  verscharrte. 

153)  Sowohl  der  Fortsetzer  der  Sieben  des  Aeschylus  (1014:  i^co  ßahiv 
ad'ajiTov  aQnayTjv  xvaiv,  während  es  lOOS  von  Eteokles  heifst:  d'dnTetv  yijs 
tpih^s  xazaaxafals,  nicht  filats  wie  die  Hdschr.  lesen)  als  auch  Euripides 
(Phöniss.  162S:  rövSe  S\  os  TitQacov  nchv  naroiSa  aiv  äXXois  i]/i.&e,  HoXv- 
vaixovi  vixvv,  ^Exßälsx^  äd'ajirov  Tr^iS'  oQCäv  k^oj  x^ovos),  obwohl  sie  sonst 
von  der  Darstellung  bei  Sophokles  abhängig  sind,  schildern  ganz  correkt  das 
Verfahren. 


412  DRITTE    PERIODE  VON  500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

Pflicht,  ohne  das  Gesetz  des  Staates  zu  verletzen;  nur  wenn  sie  ver- 
sucht hätte  die  Gebeine  heimhch  in  der  Heimath  beizusetzen,  ver- 
fiel sie  der  Ahndung.  Aber  der  dramatische  Dichter  braucht  einen 
Conflikt.  Weder  Rücksicht  auf  das  gemeine  Beste,  noch  Unkenntnifs 
seiner  Pflicht,  sondern  nur  kleinhche  persönUche  Rache,  zu  weicher 
kein  Grund  vorlag'"),  konnte  den  Kreon  zu  seinem  Verfahren  veran- 
lassen. Der  Dichter  fühlte  recht  gut,  dafs  dieses  Motiv  nicht  tragisch 
war;  er  hilft  sich,  indem  er  uns  über  die  wahre  Sachlage  täuscht. 
Nirgends  wird  das  Recht  des  Staates  offen  anerkannt,  sondern  das 
Verfahren  des  Kreon  erscheint  als  ein  willkürliches,  mit  der  Volks- 
sitte nicht  in  Einklang  stehendes  Herrschergebot.'")  Sophokles 
niufste,  wenn  er  sich  auf  den  Boden  des  historischen  Rechts  stellte, 
i'ückhaltslos  und  unzweideutig  die  gleiche  Berechtigung  beider  Par- 
teien anerkennen.  Den  Zeitgenossen  war  natürhch  das  Verhältnifs 
nicht  unbekannt;  jeder  Athener  mufste  wissen,  welche  Strafe  den 
Landesverräther  traf;  der  Fall  des  Themistokles  war  noch  in  frischem 
Andenken."*)     Aber  dies  darf  man   nicht  zur  Entschuldigung  des 


154)  Wenn  Kreon,  indem  er  die  harte,  aber  nicht  ungerechtfertigte  Satzung 
des  Landrechts  vollzieht,  in  einem  Punkte  willkürlich  davon  abweicht,  so  han- 
delt er  nicht  aus  dem  inneren  Antriebe  menschlicher  Natur,  sondern  weil  es 
der  Dichter  so  wollte  und  brauchte.  Dies  wird  immer  eine  erkältende  Wirkung 
ausüben. 

155)  Ein  Ausweg  bot  sich  dar.  Sophokles  konnte  dieses  Verfahren  als  den 
letzten  Willen  des  sterbenden  Eteokles  darstellen,  den  Kreon  gelreu  zu  erfül- 
len für  seine  Pflicht  hielt.  Bei  Euripides,  der  es  liebt,  alles  vorzubereiten  und 
zu  motiviren,  verlangt  Eteokles,  als  er  sich  von  Kreon  verabschiedet,  776,  die 
Bestattung  des  Bruders  in  der  Heimath  nicht  zu  dulden,  &vrjaxetv  Se  xhv  &ä- 
xfavra  xav  ^iXotv  rie  rj,  wie  andererseits  der  sterbende  Polyneikcs  Mutter 
und  Schwester  bittet  (1447  fr.),  ihn  in  der  vaterländischen  Erde  zu  begraben  und 
von  der  erzürnten  Volksgemeinde  diese  Erlaubnifs  auszuwirken  (nohv  &vfiov- 
ftevTjv  Tia^yoQtlTOv). 

156)  Vielleicht  hatten  gerade  in  dieser  Zeit  die  Angehörigen  des  Themi- 
stokles seine  Asche  heimlich  (denn  an  Errichtung  eines  Grabhügels  ist  nicht 
zu  denken;  der  Perieget  Diodor  bei  Plutarch  Them.  c.  32  berichtet  nur,  was  man 
später  glaubte;  jedoch  mag  man  später  das  Andenken  des  grofsen  Mannes 
durch  ein  Monument  geehrt  haben,  wie  die  Verse  des  Komikers  Plato  fr.  ine.  1 
Com.  II  2,  679  andeuten)  nach  Altika  gebracht;  der  vorsichtige  Thukydides  nennt 
es  nur  ein  Gerücht,  aber  die  Sache  ist  nicht  unwahrscheinlich.  Achnlichcs 
wiederholt  sich  später  bei  dem  Tode  des  Phokion.  Ha  da  mochten  legale  Leute 
in  übertriebenem  Eifer  verlangen,  man  solle  die  Sache  untersuchen  und  die  Ge- 
beine des  Themistokles  wieder  über  die  Grenze  schaffen.    Nach  .Andokides  (fr.  3) 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLDTHEZEIT.  II.  SOPH.      413 

Tragikers  geltend  machen ;  vielmehr  hatte  er  um  so  weniger  Grund. 
die  Sachlage  zu  verdunkeln."')  Jetzt  verraifst  man  die  gleich  ab- 
wägende Gerechtigkeit;  der  Dichter  mifst  mit  doppeltem  Mafse  und 
vermag  daher  auch  nicht  uns  rechte  Theilnahme  für  Kreon  ein- 
zuflöfsen,  den  Sophokles  nicht  nur  mit  sichthcher  Ungunst,  sondern 
geradezu  ungerecht  und  heblos  behandelt.'**) 

Wohl  gab  es  noch  einen  anderen  Weg.  Sophokles  konnte  die 
alte  Rechtsgewohnheit,  welche  dem  Hochverräther  ein  ehrliches  Grab 
in  der  Heimath  verweigerte,  im  Interesse  der  Humanität  anfechten; 
dann  mufste  der  Tragiker  jenes  Verbot  des  Kreon  als  eine  Neue- 
rung darstellen.*"*)  Wenn  hier  zum  ersten  Male  das  Recht  des 
Staates  sich  gegen  die  urahe  rehgiöse  Satzung  erhob,  dann  konnte 
der  unglückliche  Ausgang  des  Streites  benutzt  werden,  um  zu  zeigen, 
wohin  diese  Neuerung,  die  aus  einem  Akte  der  Willkür  hervorge- 
gangen war,  führe,   die  man  eben  deshalb,   wenn  sie  auch  bisher 


wäre  dies  wirklich  geschehen;  es  ist  dies  eine  Tradition,  die  der  Redner  für 
seinen  Zweck  benutzt.  Thukydides  als  unglaubwürdig  ignorirt.  In  diesem  Mo- 
mente konnte  Sophokles  die  Idee  gefafst  haben,  seine  Antigone  zu  schreiben. 

157)  Die  neueren  Erklärer,  indem  sie  nicht  erkennen,  wie  der  Dichter 
absichtlich  das  Rechtsverhältnifs  nicht  klar  darlegt,  häufen  MifsverständniTs  auf 
Mifsversländnifs. 

158)  Wenn  Kreon  innerlich  gebrochen  und  seine  That  bereuend  1113: 
SiSoixa  ya^  /xtj  revs  xa&sarähas  vöuovs  aoiatov  ff  acö^ovxa  rov  ßiov  TeXsiv, 
so  sieht  dies  wie  ein  Geständnifs  aus,  als  habe  er  nur  aus  willkürlicher  Laune 
dem  Polyneikes  die  letzte  Ehre  entzogen,  als  hätte  die  Rechtsordnung  keinem, 
auch  nicht  dem  Hochverrälher  das  Grab  in  der  Heimath  versagt  Auch  hier 
unterläfst  es  der  Dichter  klar  auszusprechen,  worin  eigentlich  die  Schuld  des 
Kreon  besteht.  Hart  and  lieblos  lautet  das  ürtheil  des  Chores  am  Schlüsse 
der  Tragödie  1348 ff. :  TioXXa  xo  <poovelv  evSaißioviae  nQcörov  vnäfx^'^'  XQV 
Se  T«  y'  eU  &sovs  firjSiv  aaemsiv  xrL  Diese  Worte  können  natürlich  nur 
auf  Kreon,  über  den  ein  schweres  Gericht  ergangen  ist,  hinweisen ;  denn  es  ist 
ein  gründliches  Mifsversländnifs,  wenn  die  Erklärer  meist  in  diesen  Versen  den 
Grundgedanken  der  ganzen  Tragödie  suchen. 

159)  War  dies  die  Ansicht  des  Sophokles,  dafs  Kreon  etwas  Neues,  un- 
gewöhnliches einführte,  dann  mufste  er  sich  unzweideutig  darüber  aussprechen, 
wie  Aeschylus  in  ähnlichen  Fällen  stets  das  neue  Recht  dem  alten  offen  gegen- 
überstellt. Bemerkenswerth  ist,  dafs  in  der  Fortsetzung  der  Sieben  des  Aeschy- 
lus, wo  der  Chor  sich  spaltet  und  die  Dissonanz  ungelöst  bleibt,  der  Theil, 
welcher  es  mit  Antigone  hält,  die  Satzungen  des  Staates  für  wandelbar  er- 
klärt (lO'Of.),  Bei  Euripides  spricht  sich  Antigone  gegen  Kreon  ganz  im  Sinne 
modemer  Humanität  aus. 


414  DRITTE   PERIODE    VON    500    BIS    300    V.  Clin.  G. 

unangefochten  bestanden  hatte,  sobald  als  möglich  wieder  beseitigen 
müsse.  Wenn  Sophokles  offen  Partei  ergriff,  wenn  er  das  eine 
Princip  als  allein  berechtigt  anerkannte,  das  andere  entschieden  be- 
kämpfte, indem  er  geltend  machte,  es  sei  unmenschlich,  die  Strafe 
des  Verbrechers  über  das  Grab  hinaus  auszudehnen ,  dann  schrieb 
er  ein  Tendenzstück.  Es  ist  freilich  nicht  gerade  poetisch,  wenn 
die  dramatische  Handlung  fremden  Zwecken  als  Werkzeug  dient; 
auch  entspricht  es  nicht  der  Gewohnheit  des  Sophokles,  gegen  be- 
stehende Einrichtungen  zu  polemisiren.  Aber  es  ist  wohl  denkbar, 
dafs  der  Dichter  Unbefangenheit  des  Urtheils  genug  besafs,  um  die 
Volkssitle,  welche  seiner  milden  Weise  nicht  gemäfs  war,  zu  mifs- 
bilhgen;  nur  giebt  er  dieser  Auffassung  keinen  rechten  Ausdruck.'*) 
Antigone,  der  der  eine  Bruder  so  werth  ist  als  der  andere,  trägt  nur 
ihre  subjektiven  Empfindungen  vor.  Wenn  Teiresias  die  schlimmen 
Zeichen  verkündet,  in  denen  er  die  Mifsbilligung  der  Götter  erblickt, 
so  mag  dies  dramalisch  wirksam  sein,  reicht  aber  nicht  aus,  um 
die  Ueberzeugung  anderer  umzustimmen.  Sophokles  hat  sich  für 
keinen  dieser  Wege  recht  entschieden,  und  eben  diese  unklare, 
schwankende  Haltung  ist  ein  unleugbarer  Fehler  des  Dramas. 

Die  Zeit  der  Aufführung  der  Tragödie  läfst  sich  mit  Hülfe  der 
Ueberlieferung,  dafs  Sophokles  seine  Wahl  zum  Feldherrn  dem  un- 
getheilten  Beifall  verdankte,  den  dieses  Drama  fand,  genau  fest- 
stellen. Mögen  auch  andere  Rücksichten  die  Stimmen  bei  der  Wahl 
auf  den  Tragiker  gelenkt  haben,  so  Hegt  doch  kein  Grund  vor,  die 
Thatsache  anzuzweifeln,  dafs  Sophokles  unmittelbar  nach  der  Auf- 
führung der  Antigone  für  das  nächste  Jahr  zum  Strategen  ernannt 
wurde.  Es  steht  anderweitig  fest,  dafs  Sophokles  Ol.  84,  4  im  ersten 
Jahre  des  samischen  Krieges  dieses  Amt  bekleidete;  folglich  ward 
die  Antigone  Ol.  84,  3  auf  die  Bühne  gebracht.  Da  nun  Euripides 
in  demselben  Jahre  den  ersten  Preis  davon  trug""),    fiel  dem  So- 


160)  Sophokles  hütet  sich  irgendwie  direkt  sich  gegen  die  Satzungen 
der  Menschen  zu  Gunsten  der  göttlichen  Rechlsordninig  auszusprechen,  wenn 
man  nicht  etwa  in  das  Geständnifs  des  Kreon  lll.t  und  in  die  Schlufsverse 
des  Chores  diese  Deutung  hineinlegen  will. 

l'U)  Ol.  84,  '.i  unter  dem  Archon  Diphilus  erhielt  Euripides  nach  der  pa- 
risrhen  Chronik  Ep.  <)()  das  erste  Mal  den  ersten  Preis  (Tv^cinov  irixrjaev).  Auch 
wenn  damals  bereits  an  den  Lenäen  Tragödien  aufgerührl  wurden,  haben  doch 
die  beiden  grofsen  Meister  sich  um  einen  Chor  fär  die  stadtischen  Dionysien 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  II.  SOPH.       415 

phokles  der  zweite  zu,  was  alle  Zeit  als  ein  achtungswerther  Erfolg 
betrachtet  ward. 

Es  ist  nicht  die  Art  des  Sophokles,  durch  Anspielungen  auf 
Tagesfragen  oder  Vorgänge  der  nächsten  Gegenwart  die  Blicke  der 
Zuhörer  von  der  dramatischen  Handlung  abzulenken  und  um  augen- 
blickhchen  Beifalls  willen  die  dauernde  Wirkung  der  Dichtung  zu 
beeinträchtigen.  Allein  der  Dichter  ist,  zumal  wenn  er  in  einer  leb- 
haft erregten  Zeit  lebt,  gegen  die  Eindrücke  der  Aufseuwelt  nicht 
unempfänglich;  daher  lohnt  es  sich,  die  Zeit  der  Abfassung  einer 
Tragödie  zu  ermitteln.  Erst  jetzt,  nachdem  wir  wissen,  dafs  So- 
phokles die  Antigone  Ol.  84,  3  schrieb,  wird  manche  Einzelheit  an- 
schaulich ,  obwohl  bei  Sophokles  das  richtige  Verständnifs  seiner 
Dramen  niemals  davon  abhängig  ist,  da  er  zu  sehr  Dichter  war, 
um  durch  das  Verfolgen  von  Nebenzwecken  den  künstlerischen 
Werth  seiner  Schöpfungen  zu  schädigen.  Die  athenische  Demokratie 
stand  damals  in  voller  Blüthe;  Perikles,  nachdem  er  seines  alten 
Gegners  Thukydides  sich  entledigt  hatte,  lenkte  das  souveräne  Volk 
durch  die  Macht  seiner  Persönhchkeit  ganz  nach  eigenem  Willen. 
Die  freisinnigen  Worte,  welche  in  der  Antigone  wiederholt  gegen- 
über der  unumschränkten  fürstlichen  Gewalt  fallen,  sind  gleichsam 
der  Wiederhall  einer  weit  verbreiteten  Stimmung  und  mufsten  leb- 


beworben und  also  an  demselben  Feste  mit  einander  gekämpft.  In  der  Einleitung 
zur  Antigone  wird  bemerkt,  Sophokles  sei  svSoyifiTjaae  iv  t^  SiSaaxaXiq  rr^s 
^AvriyövTiS  zum  Feldherrn  erwählt  worden.  Dieser  Ausdruck  ist  für  den  zwei- 
ten Preis  ganz  angemessen.  Aristophanes  Wolken  529  sagt  von  seinen  Jatra- 
).sTs,  welche  ebenfalls  die  zweite  Stelle  erhielten,  a^iar^  rjxovaäxr.v ,  wozu  der 
Scholiast  bemerkt:  arri  rov  rivSoyifir,aav  ov  ya^  iviKT/aev  (gew.  oi  yäo  kvi- 
yr/Oav),  eTiei  Bevxeqos  ixoi&r,  iv  reo  Soä/nari.  Bestätigt  wird  dies  durch  die 
offenbar  verdorbenen  Worte  der  Einleitung:  XiXsxrai  Sero  S^äfta  tovto  rgta- 
xoarlv  SevrsQov.  Diese  Zahl  ist  irrig;  denn  Antigone  kann  nicht  das  vierte 
Drama  einer  Tetralogie  gewesen  sein;  es  ist  zu  lesen:  SeSiSaxrai  Se  lo 
Sqäfia  rovro  r^iaxoarov  Sevre^os  (fjv).  Also  war  die  Antigone  Mittelstück 
einer  Trilogie.  lieber  die  anderen  mit  der  Antigone  verbundenen  Dramen  haben 
wir  keine  Kunde;  dafs  weder  der  erste  noch  der  zweite  Oedipus  hierher  ge- 
hören, ist  schon  oben  S.  227  A.  100  erinnert.  Eher  könnte  man  daran  denken, 
ein  verloren  gegangenes  Drama,  die  Epigonen,  als  drittes  Stück  zu  betrachten, 
aber  bei  Sophokles  sind  alle  Vermuthungen  dieser  Art  ganz  unsicher.  In  V.  1080 
— 1083  (wo  ixd'qal  in  tx&Qq  zu  verändern  ist)  darf  man  keine  Beziehung 
auf  die  folgende  Tragödie  finden ;  auch  sind  diese  Verse  vielleicht  Zusatz  von 
zweiter  Hand. 


416  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS   300  V.  CHR.  G. 

haften  Beifall  finden.  Aber  den  Dichter  trifft  deshalb  kein  Tadel, 
da  diese  Aeufserungen  der  dramatischen  Situation  angemessen  sind. 
Kreon  glaubt  überall  in  seiner  Umgebung  Verrath  wahrzunehmen, 
traut  jedem,  der  ihm  widerspricht,  unlautere  Motive  zu  und  setzt 
Bestechung  voraus.  Dadurch  wird  der  mifstrauische  Charakter  eines 
unumschränkten  Gewalthabers  gezeichnet.  Aber  seit  dem  offenkun- 
digen Verrathe  des  Tansanias  und  dem  unglückUchen  Ausgange  des 
Themistokles  lieh  man  solchen  Verdächtigungen  überall  geneigtes 
Ohr.  Wenn  in  einem  Chorliede,  welches  die  Macht  des  Dionysus 
preist,  neben  Eleusis  und  seinen  Mysterien  vor  allem  ItaHen  als 
ein  jenem  Gotte  werthes  Land  bezeichnet  wird***^),  so  mufs  man 
sich  erinnern,  dafs  der  bakchische  Geheimdienst  dort  allgemein 
verbreitet  und  der  Name  Italien  in  Athen  damals  in  aller  Mund 
war,  da  eben  in  jenen  Jahren'"^)  die  neue  Niederlassung  zu  Sy- 
baris  gegründet  ward,  an  welche  sich  grofse  Erwartungen  knüpften. 
Das  hohe  Selbstgefühl,  welches  damals  in  Athen  herrschte  und  durch 
die  philosophischen  Studien,  die  mehr  und  mehr  Eingang  fanden, 
genährt  wurde,  spiegelt  sich  deutlich  in  einem  Chorliede  wieder."*) 
Zugleich  aber  weist  der  Tragiker  auf  die  Schranken  hin,  welche  der 
Mensch  nicht  ungestraft  überschreiten  darf. 

lophon  mag  später  das  Drama  wieder  zur  Aufführung  gebracht 
haben"*),  indem  er  wie  herkömmlich  hie  und  da  eine  Aenderung 
anbrachte.  An  eine  durchgreifende  Umgestaltung  ist  jedoch  nicht 
zu  denken;  die  Tragödie  macht  durchaus  den  Eindruck  einer  ein- 
heitlichen Arbeit. 

Wie  die  freie  Dichtung  des  Sophokles  von  der  kühnen  Thal 
der  heroischen  Jungfrau  alsbald  die  volle  Geltung  einer  alten  volks- 
mäfsigen  Sage  erlangte,  sieht  man  aus  der  Fortsetzung  der  Sieben 
des  Aeschylus   und   den  Phönissen   des  Euripides;   aber  es  ist   be- 


162)  ÄDtigone  1119,  von  den  Kritikern  mit  Unrecht  verdächtigt. 

163)  Ol.  83,3  und  84,1. 

164)  Anlig.  334  ff. 

165)  Auf  eine  bestimmte  Ueberliefcrung  deute!  Gramer  An.  Ox.  IV  315 
hin:  Tiolkn  yaQ  vo&evöftBvä  iariv,  cot  »;  üofoxXe'ovi  'AfriyötT]'  ^Tai  ya^ 
elvat  ^^vTKftJJvra  ('/oyjöJrroc)  tov  ^o^oxXdovt  viov,  wo  freilich  eine  hand- 
greifliche Uebertreibung  vorliegt.  Nach  einer  unverbürgten  Anekdote  (Bio- 
graphie) hat  Sophokles  selbst  unmittelbar  vor  seinem  Tode  die  Antigene  wieder 
zur  Aufführung  gebracht. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  II.SOPH.       417 

greiflich,  dafs  kein  Dichter  dieses  Motiv  wieder  aufnahm  und  in  einem 
selbständigen  Drama  bearbeitete.*^)  Die  Antigone  des  Euripides 
knüpft  zwar  an  die  Tragödie  des  Sophokles  an,  schildert  aber  die 
späteren  Schicksale  der  Antigone  und  des  Hämon,  indem  Euri- 
pides, ganz  abweichend  von  Sophokles,  die  Jungfrau  und  ihren  Ver- 
lobten jene  Katastrophe  überleben  hefs.  Wohl  aber  hat  Accius  das 
Sophokleische  Drama  für  die  römische  Bühne  bearbeitet. 

Der  Oedipus  der  griechischen  Sage  ist  das  anschaulichste  Bei- König  oedi- 
spiel  eines  tragischen  Glückswechsels. '^^  Von  den  Eltern  als  Kind  ^"^' 
schonungslos  dem  Verderben  preisgegeben,  weil  das  Orakel  ihnen 
verkündet  hatte,  wie  verhängnifsvoll  der  Sohn  einst  für  Vater  und 
Mutter  werden  würde,  ward  der  ausgesetzte  Oedipus  wunderbar 
gerettet  und  wuchs  in  der  Fremde  unter  der  Obhut  gütiger  Pflege- 
eltern heran.  Um  das  Geheimnifs  seiner  Herkunft  zu  ergründen, 
wendet  er  sich  nach  Delphi.  Da  das  Orakel  ihn  vor  Vatermord 
und  Blutschande  warnt,  beschliefst  er  fortan  die  Pfleger  seiner  Ju- 
gend zu  meiden;  aber  er  sollte  seinem  Schicksal  nicht  entgehen. 
Kaum  hat  der  Heimathlose  seine  Wanderung  angetreten,  so  trifl"t  er 
mitLaius  auf  demselben  Wege  zusammen.  Ein  Streit  entspinnt  sich; 
Oedipus  erschlägt  nichts  ahnend  den  Vater,  zieht  nach  Theben,  löst 
das  Räthsel  der  Sphinx  und  erhält  zum  Lohne  für  die  Befreiung 
von  dieser  Landplage  den  erledigten  Thron  und  die  Hand  der  ver- 
wittweten  lokaste.  So  erfüllt  sich  an  Oedipus  und  seinem  Ge- 
schlechte das  Verhängnifs  trotz  aller  Warnungen  und  aller  Versuche, 
sich  dem  Unvermeidlichen  zu  entziehen.  Ruhig  flössen  die  Jahre 
dahin;  Oedipus  schien  sich  eines  ungetrübten  Glückes  zu  erfreuen. 
Da  wird  unerwartet  der  Schleier  des  Geheimnisses  gehoben ;  der 
zwiefache  Frevel  des  Vatermordes  und  der  unheiligen  Ehe  kommt 
ans  Licht.  lokaste  macht  mit  eigener  Hand  ihrem  Leben  ein  Ende; 
Oedipus  blendet  sich  selbst. 

Diese  wunderbare  Schicksalsverflechtung,  welche  schon  die  alten 


166)  Ungenau  die  vnö&eais  des  Grammatikers  Aristophanes:  xBirat.  r 
(ivd'onoua  xai  sra^'  EvQiniSr,  iy'yivriyovr,;  hier  ist  wohl  äv  na^sxßäast  9\is- 
gefallen. 

167)  Euripides  begann  seine  Antigone  mit  den  Worten  fr.  15".  158  Di.:  ^ 
OtSlnove  To  ngärov  evSaificov  avijQ,  elr'  iysver'  avd'is  ad'Xtmraxoe  ß^ormv 
welche  Aeschylus  bei  Aristoph.  Frösche  1183  ff.  kritisirt. 

Bergk,  Griecb.  Literaturgeschichte  III.  ^' 


418  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Epiker  angezogen  halte,  niufste  vor  allem  den  Wetteifer  der  attischen 
Tragiker  entzünden;  es  gab  kaum  ein  zweites  Thema,  welches 
gleich  geeignet  war,  ebenso  Rührung  und  Theilnahrae  für  den  un- 
glücklichen Helden  zu  erwecken,  wie  die  Gemüther  mit  unheim- 
lichem Grauen  zu  erfüllen.'"')  Aeschyliis  hat  zuerst  in  seiner  the- 
banischen  Tetralogie  die  Sage  von  Oedipus  zugleich  mit  dem  Schick- 
sal seines  Vaters  Laius  und  seiner  Sühne  Eteokles  und  Polyneikes 
dramatisch  bearbeitet.'®')  Indem  der  Tragiker  in  stetiger  Folge  das 
unselige  Geschick  dieses  Hauses  vorführte,  das  Fortwirken  des 
Fluches  und  der  Sünde  durch  drei  Geschlechter  darstellte,  trat  das 
Walten  der  Nemesis  in  ergreifendster  Weise  hervor.  Sophokles  be- 
schränkt sich  auf  einen  Abschnitt  der  Sage.  Gerade  Oedipus,  dessen 
Schicksal  auf  die  Vergangenheit  wie  auf  die  Zukunft  seines  Ge- 
schlechtes hinweist,  war  geeignet,  der  Held  einer  Einzeltragüdie 
zu  sein,  und  eben  in  dieser  Beschränkung  vermochte  die  Kunst  des 
Sophokles  den  Wettkampf  mit  der  schlichten,  alterthümlichen  Grofs- 
heit  seines  Vorgängers  vollkommen  zu  bestehen.  Zum  dritten  Male 
ward  dieser  Vorwurf  von  Euiipides  bearbeitet'™);  wie  ihm  die  Lö- 
sung der  schwierigen  Aufgabe  gelang,  läfst  sich  aus  den  Trümmern 
seines  Oedipus  nicht  erkennen.  Nur  so  viel  sieht  man,  dafs  er 
auch  diesmal  nach  Aeschylus  und  Sophokles  neu  zu  sein  verstand. 
Ebenso  haben  die  jüngeren  Tragiker  sich  immer  wieder  an  diesem 
Stoffe  versucht,  der  einem  bühnenkundigen  Dichter  so  viele  Vor- 
theile  darbot. 

Das  alte  Epos  schilderte    den   ganzen  Verlauf  der  Schicksale 


168)  Aristot.  Poet.  c.  14  p.  1453  ß  3ff. :  Sei  ya^  aal  avev  rov  oQav  ovrio 
owearävai  rov  fivd'ov,  aiare  rov  dxoiovra  t«  rc^äyfxaja  yiyvöfieva  xai  tp^ir- 
tei,v  xal  iXeelv  ix  tmv  avfAßaivövriav,  ane^  av  nad'Oi  xtt  axoi'xov  xoy  toi 
OtSinoSoe  fivd'ov. 

1Ü9)  Leider  ist  uns  von  dem  Oedipus  des  Aeschylus  so  gut  wie  nichts 
erhalten.    Auch  über  den  Oedipus  des  Achäus  wissen  wir  nichts  Genaueres. 

170)  Dafs  Euripides  erst  nach  Sopholiles  den  Oedipus  schrieb,  wird  zwar 
nicht  überliefert,  ist  aber  kaum  zu  bezweifeln.  Bei  Euripides  blendet  sich 
Oedipus  nicht  selbst,  sondern  alte  Kriegsgefahrten  des  Laius  vollziehen  an  dem 
Unglücklichen  diese  Strafe;  dadurch  suchte  der  Tragiker  die  alte  Sage,  die 
Ihm  roh  erscheinen  mochte,  zu  verbessern.  Die  Entdeckung  des  Geheimnisses 
erfolgt  nach  und  nach;  erst  wird  der  Vatermord,  später  auch  die  Blutschande 
an  das  Licht  gezogen,  also  das,  was  Sophokles  in  geschlossener  Einheit  und 
kunstreicher  Concentration  dargestellt  hatte,  successiv  vorgeführt. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLCTHEZEIT.  II.SOPH.       419 

des  Oedipus  und  war  daher  darauf  bedacht,  die  Ereignisse  mög- 
lichst zusammenzudrängen;  daher  erfolgte  die  Entdeckung  der 
Frevel  bald  nach  der  Vermählung  mit  lokaste.  Die  Tragödie  be- 
schi'änkt  sich  auf  die  Darstellung  der  Katastrophe.  Der  Moment, 
wo  unerwartet  die  Wahrheit  ans  Licht  kommt  und  das  Glück  des 
Hauses  vernichtet,  war  allein  für  das  griechische  Drama  brauchbar, 
und  indem  die  Enthüllung  des  Geheimnisses  in  eine  spätere  Zeit 
verlegt  wird"'),  nachdem  Oedipus  Jahre  lang  mit  den  Seinen  in 
Frieden  gelebt  hat,  steigert  sich  die  Wirkung  der  Peripetie.  Die 
Erfahrung,  dafs  die  Vergeltung  sicher,  wenn  auch  spät,  den  Schul- 
digen trifft,  bewahrheitete  sich  so  recht  augenscheinlich. 

Der  Prolog  der  Sophokleischen  Tragödie  führt  uns  gleich  Oe- 
dipus selbst  vor,  der  unter  das  Volk  tritt,  welches  an  den  Altären 
der  Götter  um  Hülfe  gegen  die  verheerende  Seuche  fleht.  Ein  greiser 
Priester  giebt  dem  Gedanken,  der  alle  erfüllt,  Ausdruck,  indem  er 
den  Oedipus  beschwört,  auch  diesmal,  wie  früher,  sich  als  Retter 
in  der  Noth  zu  bewähren.  Oedipus  hatte  schon  aus  eigenem  An- 
triebe den  Kreon  nach  Delphi  gesandt,  um  der  Götter  Willen  zu 
erkunden.  Kreon  kehrt  zurück  mit  dem  Bericht,  das  Orakel  ge- 
biete die  Mörder  des  Laius,  die  im  Lande  weilen,  zu  bestrafen,  um 
durch  diese  Sühne  Theben  von  aller  Noth  zu  befreien.  Oedipus 
ist  sofort  bereit,  dieser  Vorschrift  zu  gehorchen,  und  befiehlt  den 
unbekannten  Frevlern  nachzuspüren.  Teiresias  wird  gerufen,  um 
mit  seiner  Kunst  hülfreiche  Hand  zu  leisten.  Als  der  Seher  sich 
weigert  näheren  Aufschlufs  zu  geben,  da  es  Oedipus  Unheil  bringen 
werde,  geräth  dieser  in  leidenschaftlichen  Zorn  und  beschuldigt  den 
Teiresias  der  Mitwisserschaft  an  dem  Morde  des  Laius.  Der  Seher 
deutet  mit  geheimnifsvollen  und  doch  kaum  mifszuverstehenden  Wor- 
ten auf  die  Blutschuld  und  Blutschande  des  Königs,  sowie  auf  das 
Elend,  welches  ihm  bevorsteht,  hin.  Oedipus,  dessen  Aufregung  sich 
steigert,  verdächtigt  den  Kreon,  den  er  beschuldigt,  sich  mit  Tei- 
resias zu  seinem  Sturze  verschworen  zu  haben.  Nachdem  sich  der 
Seher  entfernt,  erscheint  Kreon,  und  Oedipus  wiederholt  jene  Ver- 
dächtigung. Dafs  Teiresias  ihn  als  Mörder  bezeichnet  hatte,  ist  ihm 
ein  Beweis  des  geheimen  Einverständnisses  mit  Kreon.    Dieser  setzt 


171)  Aeschylus  mag  dies  besonders  mit  Rücksicht  auf  das  dritte  Drama 
gethan  haben;  ihm  sind  die  anderen  gefolgt. 


420  DRITTE   PERIODE   VON   500    BIS   300  V.  CHR.  G. 

der  Heftigkeit  des  Oedipus  mafsvoUe  Ruhe  entgegen.  Als  der  Streit 
seinen  Höhepunkt  erreicht,  als  Oedipus  dem  Kreon  mit  dem  Tode 
droht,  wird  der  Wortwechsel  durch  Dazwischenkunft  der  lokaste 
geendet.  lokaste  sucht  den  Gatten  zu  beruhigen.  Der  Seher  Kunst 
sei  eitel;  dies  habe  sich  an  Laius  bewährt,  dem  das  Orakel  ver- 
kündete, er  werde  durch  des  Sohnes  Hand  fallen,  während  ihn 
Räuber  an  einem  Kreuzwege  erschlugen  und  der  Sohn  in  frühester 
Kindheit  umkam.  Gleich  einem  Rlitzstrahle  treffen  die  Worte  der 
Gattin  den  Oedipus.'")  Er  erinnert  sich,  wie  er  einst  im  Streit  auf 
der  Heerstrafse  einen  Unbekannten  erschlug,  und  die  Ahnung  taucht 
auf,  er  selbst  sei  Laius'  Mörder,  gegen  den  er  eben  arglos  Acht  und 
Fluch  ausgesprochen  hatte.  Range  Furcht  und  Resorgnifs  bemäch- 
tigen sich  des  Oedipus;  aber  er  ahnt  nicht,  dafs  Laius  sein  Vater 
war,  sondern  besorgt,  wenn  er  aus  Theben  ausgestofsen  werden 
sollte,  könne  sich  doch  noch  an  seinen  Eltern  in  Korinth  und  ihm 
selbst  der  verhängnifsvolle  Schicksalsspruch  erfüllen,  der  ihn  einst 
die  Heimath  zu  meiden  bestimmte.  Da  kommt  die  Rotschaft  von 
Korinth,  König  Polybus  sei  gestorben,  Oedipus  zu  seinem  Nachfolger 
bestimmt.  lokaste  triumphirt,  die  Sehersprüche  schienen  sich  als 
eitler  Trug  zu  bewähren.  Allein  Oedipus  kann  das  Gefühl  einer 
drohenden  Gefahr  nicht  loswerden;  denn  noch  lebt  Merope.  Von 
dieser  Sorge  sucht  ihn  der  Rote  zu  befreien,  indem  er  das  Dunkel, 
welches  auf  seiner  Geburt  ruhte,  lichtet.  Oedipus  sei  dem  korinthischen 
Königshause  gar  nicht  blutsverwandt;  er  selbst  habe  einst  von  einem 
Hirten  des  Laius  im  Gebirge  ein  Kind  erhalten  und  zur  Merope 
gebracht,  die  es  an  Sohnes  Statt  aufzog.  Rei  diesem  Rerichte  wird 
lokaste  auf  einmal  das  entsetzliche  Geheimnifs  klar,  und  sie  be- 
schwört den  Gatten,  von  weiteren  Nachforschungen  abzustehen. 
Allein  Oedipus,  von  seiner  quälenden  Furcht  befreit,  besteht  darauf, 
sich  Gewifsheit  über  seine  Herkunft  zu  verschalTen.  Diese  sollte 
ihm  alsbald  zu  Theil  werden.  Der  sehnlichst  erwartete  greise  Diener 
des  Laius,  der  einst  beauftragt  war,  den  Knaben  auszusetzen,  und 
aus  Mitleid  ihm  das  Leben  gerettet  hatte,  der  bei  dem  Tode  seines 
Herrn  zugegen  war  und  den  Thäter  längst  erkannt  hatte,  wenn 
ihm  auch  das  verwandtschaftliche  Verhällnifs  verborgen  blieb,  er- 
scheint und  berichtet,  obwohl  widerstrebend,  was  er  weifs.     Jetzt 


172)  König  Oedipus  726. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  IT.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  II.  SOPH.     421 

wird  dem  Oedipus  die  ganze  Wahrheit  offenbar,  und,  vollständig  ge- 
brochen, nimmt  er  vom  reinen  Lichte  der  Sonne  Abschied.  Ein  Bote 
berichtet,  was  sich  im  Innern  des  Hauses  zutrug.  lokaste  vermag 
die  Schande  nicht  zu  überleben ;  Oedipus  beraubt  sich  selbst  des 
Augenlichtes.  Indem  der  Dichter  zum  Schlufs  den  unglücklichen 
nochmals  vorführt  und  so  die  ganze  Schwere  des  unheilvollen  Ge- 
schickes zur  Anschauung  bringt,  ist  er  zugleich  bemüht,  das  grauen- 
hafte Schauspiel  durch  einen  versöhnenden  Zug  zu  mildern,  indem 
Kreon,  der  edelmüthig  der  früheren  Kränkungen  nicht  gedenkt,  dem 
Verzweifelnden  zum  Tröste  die  Töchter  zuführt. 

König  Oedipus  bezeichnet  den  Gipfel  der  Sophokleischen 
Kunst.'")  In  alter  wie  neuer  Zeit  hat  diese  Tragödie  mit  Recht  die 
ungetheilte  Anerkennung  gefunden ;  nur  darüber  gehen  die  Ansich- 
ten weit  aus  einander,  ob  der  Dichter  den  Oedipus  als  Opfer  eines 
grausamen,  unvermeidlichen  Verhängnisses  darstelle  oder  ihn  für 
seine  Thaten  und  Leiden  selbst  verantwortUch  mache.  Der  Mythus, 
an  dem  der  Tragiker  nichts  Wesenthches  ändern  durfte,  stellt  die 
unausbleiblichen  Folgen  einer  ungeheueren  Verirrung  dar.  Aber 
weil  Oedipus  unbewufst  in  dieses  Verhängnifs  verstrickt  wird,  er- 
scheint die  Bufse  in  keinem  adäquaten  Verhältnisse  zur  Schuld.  Allein 
eben  deshalb  war  das  Schicksal  des  Oedipus  der  dankbarste  Stoff  für 
die  tragische  Poesie.  Je  unerforschlicher  die  Wege  des  Geschickes 
sind,  je  weniger  dem  Leiden  ein  entsprechendes  Mafs  von  Ver- 
schuldung vorausgeht,  desto  wärmer  ist  unser  Mitgefühl,  desto  ver- 
zeihhcher  erscheint  der  Irrthum.    Aber  der  Dichter,  wenn  er  nicht 


173)  LoDgin  c.  33,  indem  er  die  tadellose  Eleganz  des  Ion  der  gehalt- 
vollen, wenn  auch  nicht  immer  fehlerfreien  Poesie  des  Sophokles  gegenüber- 
stellt, fügt  hinzu:  ^  oiSels  av  ev  <pQOväv  erbe  S^äftaros,  rot  OiSi^xoSoe,  eis 
ravTi  ovvd'els  xa  "Iojvos  tiüvt'  avrtTifir,aairo  e^s.  Aristoteles  nimmt  in  der 
Poetik  auf  kein  anderes  Drama  des  Sophokles  so  häufig  Bezug  als  auf  den 
Oedipus,  und  stets  mit  gebührender  Anerkennung.  In  der  Inhaltsangabe  des 
Dramas  heifst  es:  Xuquvtios  8e  rvQavvov  jtdvxES  airov  iTityqücpovaiv,  cos 
i^a'xovra  näar^i  rrfi  ^ofox}Jovs  noiTjasois.  Nur  hat  dieser  Zuname  nichts  mit 
dem  poetischen  Gehalte  der  Tragödie  zu  schaffen;  sie  erhielt  später  den  Zu- 
namen zum  Unterschiede  vom  Oedipus  in  Kolonos,  wo  Oedipus  als  heimath- 
loser  Flüchtling  auftritt,  während  er  hier  König  von  Theben  ist.  Andere  nann- 
ten diese  Tragödie  passender  noöxsQos,  wie  ebendaselbst  berichtet  wird:  8ia 
roi-s  xQovoxs  xöüv  StSaaxaXicöv  xai  Sid  za  nody/iaxa.  Sophokles  selbst  hatte 
sein  Drama  einfach  OiSinove  genannt. 


422  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

selbst  an  der  höheren  Gerechligkeil  irre  geworden  ist  oder  darauf 
ausgeht,  unser  sitlHches  Gefühl  zu  verletzen,  darf  den  Unglücklichen 
nicht  von  aller  Verantwortlichkeit  freisprechen.  Für  Aeschylus  war 
die  Losung  der  schwierigen  Aufgabe,  das  Walten  der  Nemesis  mit 
dem  Schicksale  des  Einzelnen  in  Einklang  zu  bringen,  Schuld  und 
Sühne  auszugleichen,  einfacher.  Die  Form  der  Irilogischen  Com- 
posilion  bot  ungesuchl  viele  Vortheile  dar,  auf  welche  Sophokles  im 
Einzeldrama,  wo  das  Schicksal  des  Helden  isolirt  wird,  verzichten 
mufsle.  Den  scharf  ausgeprägten  fatalistischen  Zug  der  alten  Ueber- 
Heferung  konnte  und  wollte  Sophokles  nimmer  preisgeben.  Er  war 
zu  sehr  Dichter,  um  auf  dieses  wirksame  Motiv  zu  verzichten.  Aber 
er  mildert  das  Herbe,  indem  er  die  Verirrung  des  Oedipus  mit  der 
angeborenen  Art  seines  Charakters  in  Verbindung  setzt  und  so  dra- 
matisch zu  begründen  sucht.  Freilich  wird  uns  nicht  die  Thal  selbst 
als  gegenwärtig  vorgeführt,  sondern  die  Enthüllung  der  Frevel, 
welche  unerwartet  nach  langer  Zeit  ein  Zufall  ans  Licht  bringt. 
Jene  Vorgänge,  welche  die  Voraussetzung  der  dramatischen  Hand- 
lung bilden,  werden  in  der  Form  der  epischen  Erzählung  nach- 
geholt. 

Die  Zeit  der  Aufführung  ist  nicht  überliefert  und  läfst  sich 
nicht  mit  voller  Sicherheit  feststellen;  doch  mufs  die  Tragödie  des 
Sophokles  der  Medea  des  Euripides  nahe  stehen."*)  Sie  wird  im 
Beginn  des  grofsen  Krieges  wahrscheinlich  Ol.  87,  3  gegeben  sein, 
ist  also  in  der  traurigen  Zeit  gedichtet,  wo  eine  verheerende  Seuche 
Athen  heimsuchte.  Nicht  mit  Unrecht  hat  man  im  Eingange  der 
Tragödie  in  der  ergreifenden  Schilderung  der  Pest  zu  Theben  ein 


174)  Klearchus  bei  Athen.  VII  276  A  bemerkt  in  Betreff  der  ygaftuartxr 
rgayc^Sia  des  Kailias:  n9>'  rje  noi^cat  ra  fieXt]  xal  rijv  Sin&eatv  EvQtniSrjv 
iy  MrjSsiq  xai  ^ofoxXia  xov  OlBinovv.  Dies  wird  X  453  C  näher  dahin  erläutert, 
dafs  Sophokles  im  Oedipus  sich  nach  dem  Vorgange  des  Kailias  die  Elision 
am  Ende  des  Trimeters  gestattet  habe.  Die  Bedeutung  dieser  Notiz  darf  man 
nicht  überschätzen,  aber  sie  bietet  einen  Anhalt  für  die  Fixirung  der  Chrono- 
logie dar.  Ausgeschlossen  sind  die  Jahre  01.87, 1  und  87,  4;  denn  wir  wissen 
aus  den  Didaskalien,  daTs  87,  1  Euphorion,  Sophokles  und  Kuiipides,  S7, 4 
Euripides,  lophon  und  Ion  auftraten.  Es  bleibt  also  die  Wahl  zwischen  Ol.  87,  2 
und  :<;  doch  hat  das  letztere  .Jahr  die  meiste  Wahrscheinlichkeit.  Nach  grund- 
loser Verrauthung  hat  man  das  Stück  in  Ol.  91,  I  verlegen  wollen.  Dies  wird 
schon  dadurch  widerlegt,  dafs  damals  Euripides  und  Xenokles  concurrirlen; 
fülglich  ist  für  Sophokles  und  Philokles  kein  Kaum. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  IL  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  II.SOPH.        423 

Abbild  der  unmittelbaren  Gegenwart  zu  finden  geglaubt.  Wohl  konnte 
ein  Dichter  wie  Sophokles  auch  ohne  äufseren  Anlafs,  ohne  eigene 
Anschauung  ein  solches  Unglück  mit  lebhaften  Farben  ausmalen. 
Dramatisch  ist  dieses  Motiv  vollkommen  berechtigt;  der  Eintritt  des 
verhängnifsvollen  Schicksalswechsels  des  Oedipus  wird  dadurch  sehr 
passend  gekennzeichnet."*)  Wenn  man  aber  erinnert,  Sophokles  sei  zu 
feinfühlig  gewesen,  um  gerade  in  dem  AugenbUcke,  wo  seine  eigene 
Vaterstadt  von  dieser  schweren  Noth  betroffen  war,  ein  Bild  auf  der 
Bühne  vorzuführen,  welches  die  Zuschauer  allzu  schmerzhch  an  die 
traurige  Gegenwart  erinnern  mufste,  so  ist  dieser  Einwand  nichtig. 
Es  wäre  vielmehr  Zeichen  einer  weichlichen  Natur,  hätte  der  Dichter 
aus  solcher  Rücksicht  auf  eine  Schilderung  verzichtet,  welche  ganz 
geeignet  war,  die  rechte  Stimmung  zu  erzeugen."^)  Die  schwere 
Zeit  mufste  ein  ernstgestimmtes  Geraüth  auffordern,  vor  allem  die 
sittliche  Erhebung  der  Zuhörer  ins  Auge  zu  fassen,  statt  sie  von 
ernsten  Gedanken  abzulenken  und  zu  zerstreuen.  Wenn  Sophokles 
gerade  in  diesem  Drama  überall,  besonders  in  den  Chorliedern, 
nachdrücklich  an  die  hohe  Bedeutung  der  sittlichen  Weltordnung 
erinnert,  welche  nach  unwandelbarem  Gesetz  der  Menschen  Ge- 
schicke lenkt,  so  erscheint  diese  Mahnung  in  einer  Zeit,  wo  alle  Bande 
der  Zucht  sich  lockerten,  vollkommen  gerechtfertigt.'") 

Wenn  Sophokles  sich  mit  dem  zweiten  Preise  begnügen  mufste, 
indem  Philokles  ihm  vorgezogen  ward'"*),  so  darf  man  den  Grund 
dieser  scheinbaren  Zurücksetzung  weder  in  dem  beschränkten  ür- 
theile  und  üebelwoUen  der  Preisrichter,  noch  viel  weniger  in  po- 


175)  Wie  früher  die  Sphinx  Theben  heimsuchte,  so  jetzt  die  Seuche, 
gleichviel,  ob  dies  alte  Ueberlieferung  oder  Erfindung  des  Tragikers  war. 

176)  Der  Dichter  war  hier  vollkommen  im  Rechte;  dagegen  ist  es  ein 
entschiedener  Mifsgriff,  wenn  man  emsig  nach  weiteren  Beziehungen  in  dieser 
Tragödie  gesucht  hat,  wenn  man  überall  Anspielungen  auf  Perikles  za  finden 
glaubt. 

177)  Wie  der  sittliche  Verfall  damals  offen  zu  Tage  trat,  hat  Thuky- 
dides  als  Augenzeuge  meisterhaft  geschildert. 

178)  Wenn  in  Aevvnöd'eais  bemerkt  wird:  yaoidvrias  Se  rigawov  anav- 
rse  avrov  imyqäifovaiv  a5s  k^iypina  Tidarje  rrfi  ^ocpoxlt'ovs  7toiT;<rsa}S,  xaineo 
r]Trr)d'ivra  vno  ^ihyxXiovs,  Ss  <pr]at  JixaiaQxos ,  SO  folgt  daraus  nicht,  dafs 
schon  Dikäarch  das  ürlheil  unbillig  fand  (so  fassen  es  die  Späteren  auf,  s. 
Aristides  II  334),  sondern  Dikäarch  hatte  nur  nach  den  Didaskalien  vermerkt, 
dafs  Philokles  den  ersten,  Sophokles  den  zweiten  Preis  erhielt. 


424  DRITTE   PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

litischen  Antipathien  suchen,  da  das  Drama  des  Sophokles,  wenn 
schon  unter  dem  gewaltigen  Eindruck  der  Zeitverhällnisse  gedich- 
tet, doch  von  jeder  poHtischen  Tendenz  weit  abliegt  und  nach 
keiner  Seite  hin  verletzend  wirken  konnte.  Philokles  wird  nicht 
mit  eigenen  Arbeiten  ,  sondern  mit  einer  Tetralogie  des  Aeschy- 
lus  concurrirt  haben,  und  wenn  die  Kampfrichter  dem  alten 
Meisler  den  ersten  Preis  zuerkannten,  wird  Sophokles  selbst  am 
wenigsten  in  diesem  Urtheile  eine  unverdiente  Kränkung  gefunden 
haben. 

Sophokles  hat  manchmal  etwas  Kühles,  da  bei  seinem  poetischen 
Schaffen  die  Reflexion  besonders  Ihätig  war.  In  dieser  Tragödie  ist 
eine  gewisse  Wärme  der  Empfindungen  wahrzunehmen,  die  um  so 
wohlthuender  wirkt,  je  herber  die  Schicksalsverflechtung  ist,  welche 
der  Dichter  uns  vor  Augen  rückt.  Auch  der  Chor,  obwohl  un- 
selbständig wie  immer  bei  Sophokles,  wird  doch  sehr  passend  ver- 
wandt, um  die  Zuhörer  in  die  geeignete  Stimmung  zu  versetzen."") 
Diese  Gesänge  zeichnen  sich  nicht  nur  durch  tiefen  sittlichen  Ge- 
halt, sondern  meist  auch  durch  ungewöhnlichen  Schwung  und  Feuer 
aus;  man  fühlt  hier  gleichsam  die  läuternde  Wirkung  der  schweren 
Zeit,  welche  der  Dichter  mit  seinen  Zeitgenossen  eben  durchlebt 
hatte.  Wenn  der  Bau  der  Verse  im  Dialog  weniger  kunstgerecht 
erscheint,  so  mag  es  unentschieden  bleiben,  ob  die  unruhige  Zeit 
nicht  die  nöthige  Muse  gönnte,  oder  ob  diese  lässigere  Weise  ab- 
sichtlich mit  Rücksicht  auf  die  aufregende  dramatische  Handlung 
gewählt  ward. 
Pbiioktet.  Den  Philoktet  hat  Sophokles  Ol.  92,  3,  also  nur  wenige  Jahre 
vor  seinem  Tode,  geschrieben."")  Aber  das  Stück  zeigt  keine  Spur 
von  Altersschwäche;  man  sieht  vielmehr,  wie  der  Dichter  damals 
noch  im  vollen  Besitz  geistiger  Frische  war.  Sophokles  behandelt 
hier  einen  Stoff,  den  schon  Aeschylus  und  Euripides  vor  ihm  be- 
arbeitet hatten'");  aber  auch  wenn  eine  Vergleichung  mit  den  Dramen 


179)  Das  VerhältniTs  der  melischen  Partien  zum  Dialoge  ist  etwa  wie 
1:3. 

ISO)  In  dem  Argument:  iSi8äxSri  ini  rXavxinnov,  nQÖnoi  rpf.  Leider 
werden  weder  die  anderen  zur  Tetralogie  gehörenden  Stücke,  noch  die  Mit- 
bewerber des  Sophokles  genannt. 

181)  Im  Argument  ist  zuschreiben:  xetrni  k««  jrnp'  j4iax'Xt^  [xal  nag* 
Ei(nniBri)  7}  uvd-onoun.     Euripides'  Philoktet  ist  Ol.  87,  1  aufgeführt. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLDTHEZEIT.  11.  SOPH.      425 

seiner  Vorgänger  uns  vergönnt  wäre,  so  würde  dies  sicherlich  der 
Sophokleischen  Dichtung  keinen  Eintrag  thun.'*^)  Der  Philoktet 
gehört  zu  den  Intriguenstücken ,  einer  Gattung,  die  der  damals 
herrschenden  Richtung  besonders  zusagte.  Allein  im  Vergleich  mit 
dem  künstlichen  dramatischen  Apparate  des  Euripides  erscheint  die 
Handlung  schhcht,  aber  alles  Einzelne  ist  mit  grofser  psychologischer 
Kunst  ausgeführt,  so  dafs  Sophokles  mit  einfachen  Mitteln  eine  be- 
deutende V^'irkung  erzielte. 

Die  Quelle  der  Fabel  ist  der  epische  Kyklus,  Bei  Lesches  bringt 
Diomedes  den  kranken  Philoktet,  der  im  Beginn  des  Krieges  in 
Lemnos  ausgesetzt  worden  war,  nach  Troia  zurück"^),  weil  ein 
Seherspruch  verkündet  hatte,  nur  durch  die  ihr  Ziel  niemals  ver- 
fehlenden Geschosse  des  Herakles,  welche  Philoktet  besafs,  könne 
Troia  bezwungen  werden.  Für  die  schhchte  epische  Dichtung  war 
Diomedes  die  geeignetste  Persönlichkeit,  um  diesen  Auftrag  auszu- 
führen ;  die  Tragödie  setzt  an  seine  Stelle  den  Odysseus.  So  spitzt 
sich  der  dramatische  Conflikt  zu;  denn  Odysseus  hatte  früher  den 
Philoktet  an  die  öde  Küste  von  Lemnos  gebracht  und  mufste  ihm 
vor  allen  anderen  verhafst  sein.  Dem  Aeschylus,  der,  sei  es  nach 
eigener  Erfindung  oder  nach  einer  abweichenden  Tradition'"),  die 
Rolle  des  Diomedes  auf  Odysseus  überträgt,  sind  mit  richtigem 
Takte  die  anderen  Tragiker  gefolgt;  nur  gab  Euripides,  um  die 
Handlung  reicher  auszustatten,    dem   Odysseus   den   Diomedes  als 

182)  Lehrreich  ist  die  Parallele,  welche  Dio  Chrysostomus  LII  zwischen 
diesen  drei  Tragödien  zieht.  Jeder  der  drei  Tragiker  hat  den  Stoff  anders  be- 
handelt. Sophokles,  der  letzte  Bearbeiter,  war  in  der  schwierigsten  Lage,  aber 
er  verstand  es,  neu  zu  sein,  ohne  dem  Geiste  des  allen  Mythus  zu  nahe  zu 
treten. 

163)  Es  ist  unrichtig,  wenn  man  glaubt,  Lesches  habe  dem  Diomedes 
auch  noch  den  Odysseus  beigegeben.  Bei  dem  Kykliker  vollbringt  Diomedes 
allein  diesen  Auftrag;  ebenso  holt  Odysseus  den  Neoptolemus  von  Skyros; 
dann  rauben  beide  Helden  das  Palladium.  Diese  Anordnung  der  Begebenheiten 
entspricht  der  symmetrischen  Anlage  des  Epos;  es  wäre  ein  Fehler  gewesen, 
wenn  der  Epiker  einen  Helden  ohne  Noth  allzu  oft  vorgeführt  hätte.  Auch  in 
dem  Gemälde  in  den  Propyläen  zu  Athen  (wohl  von  Polygnot,  s.  Pausanias 
1  22,  6)  holt  Diomedes  den  Philoktet  zurück. 

184)  Aus  Pindar  Pyth.  1  53  kann  man  schliefsen,  dafs  nach  volksmäfsiger 
Sage  oder  bei  einem  anderen  Dichter  (vielleicht  einem  Lyriker;  denn  an  den 
Philoktet  des  Epicharmus  ist  schwerlich  zu  denken)  mehrere  Heroen  diesen 
Auftrag  vollzogen. 


426  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G, 

Begleiter'*'),  während  bei  Sophokles  den  Auftrag,  Philoktets  Hülfe 
für  die  gemeinsame  Sache  zu  gewinnen,  Neoplolemus  unter  Mit- 
wirkung des  Odysseus  erhält,  eine  sinnreiche  Neuerung,  welche  dem 
Dichter  Gelegenheit  bot,  sein  grofses  Talent  in  der  Charakterzeich- 
nung aufs  Glänzendste  zu  bewähren. 

Philoktet,  auf  der  Fahrt  nach  Troia  durch  giftigen  Schlangen- 
bifs  verwundet,  wurde  von  den  Achäern,  denen  die  Gemeinschaft 
mit  dem  kranken  Helden  als  unerträgliche  Last  erschien,  erbar- 
mungslos verstofsen.  An  dem  öden  Strande  von  Lemnos  bringt  er, 
in  der  Einsamkeit  mühselig  sein  Leben  fristend,  gequält  von  schmerz- 
voller, unheilbarer  Krankheit,  wie  von  dem  Gefühl  unverdienter,  bit- 
terer Kränkung,  seine  Tage  zu.  Endlich  naht  dem  schwergeprüften 
Dulder  unerwartet  die  Stunde  der  Erlösung.  Erst  als  man  erfuhr, 
dafs  Troia  nur  mit  Philoktets  Hülfe  erobert  werden  könne,  erinnerte 
man  sich  des  Helden,  den  man  dem  bittersten  Elende  preisgegeben 
hatte.  Philoktet  hatte  gerechten  Grund,  dem  Atriden  und  dem 
Odysseus,  der  zur  Ausführung  der  herzlosen  That  die  Hand  geboten 
hatte,  zu  grollen.  Und  wieder  ist  Odysseus  bereit,  den  Mann,  der 
ihn  tödtlich  hassen  mufste,  zurückzuführen,  da  seine  Theilnahme  für 
den  glücklichen  Ausgang  des  langwierigen  Krieges  unentbehrlich 
war.  Der  schlaue  Odysseus  war  der  geeignetste  Mann,  um  diesen 
schwierigen  Auftrag  zu  vollziehen ;  aber,  um  seinen  Zweck  sicher 
zu  erreichen,  wählt  er  sich  den  jungen  Sohn  des  Achilles  zum  Ge- 
nossen. Neoptolemus  soll  durch  kluge  Verstellung  das  Vertrauen 
des  verbitterten  Philoktet  gewinnen,  während  Odysseus  im  Hinter- 
grunde die  Fäden  des  Anschlags  unsichtbar  lenkt.  Neoptolemus, 
der  überlegenen  Einsicht  des  gereiften  Mannes  sich  unterordnend 
und  durch  die  lockende  Aussicht  auf  hohen  Ruhm  bestimmt,  ver- 
steht sich,  wenn  auch  widerstrebend,  zu  der  zweideutigen,  seiner 
unwürdigen  Rolle.  Indem  Neoptolemus  vorgiebt,  von  den  Atriden 
und  Odysseus,  die  ihm  schweres  Unrecht  zugefügt,  in  bitterem  Groll 
geschieden  zu  sein,  bringt  Philoktet  arglos  dem  Jünglinge,  von  dem 


185)  Aeschylus'  Philoktet  war  eine  änlTj  r^y(pS{n;  drei  Personen  (aiirser 
den  beiden  Hauptßguren  noch  Athene)  genügten.  Euripides'  Stack  (eine  nt- 
nXtYftevT)  TQayq}8ia)  ffthrte  aufser  dem  Lemnier  Aktor  auch  noch  eine  Gesandt- 
schaft der  Troer  ein,  die  gleichfalls  um  die  Bundesgenossenschaft  des  kranken 
Helden  warben.  Dieses  Drama,  unmittelbar  vor  dem  Ausbruch  des  grofsen 
Krieges  gedichtet,  war  eben  ein  Zeit-  und  Sittenbild. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLDTHEZEIT.  II.  SOPH.      427 

er  keinen  Verrath  erwartet,  volles  Vertrauen  entgegen  und  bittet 
flehentlich  ihn  aus  seiner  trostlosen  Lage  zu  befreien.  Ein  Bote, 
der  auf  Geheifs  des  Odysseus  berichtet,  Diomedes  und  Odysseus  seien 
ausgezogen,  um  Philoktet  im  Guten  oder  mit  Gewalt  nach  Troia  zu 
bringen,  beschleunigt  den  Fortschritt  der  Handlung,  indem  Philoktet 
zu  raschem  Aufbruch  treibt.  Aber  ein  heftiger  Anfall  der  Krank- 
heit führt  eine  Verzögerung  und  zugleich  eine  entscheidende  Wen- 
dung herbei.  Denn  Neoptolemus,  bei  dem  Anbück  der  unsäglichen 
Leiden  von  aufrichtigem  Mitgefühl  ergriffen  und  gerührt  durch  das 
unbedingte  Vertrauen  des  Helden,  der  den  Bogen  treuherzig  in  seine 
Hand  gelegt  hatte,  enthüllt  ihm  das  künstliche  Gewebe  der  Täu- 
schung, erklärt  aber  zugleich,  Philoktet  müsse  ihm  nach  Troia  folgen, 
und  weigert  sich  den  Bogen  zurückzugeben.  Der  Unglückhche,  der 
sich  verrathen  sieht,  braust  in  heftigstem  Zorne  auf  und  schildert 
so  herzbewegend  das  Elend,  welches  ihm  bevorsteht,  wenn  er  seines 
einzigen  Besitzes,  der  Pfeile  des  Herakles,  beraubt  sei,  dafs  der  mit- 
leidige Jüngling  in  seinem  Entschlüsse  zu  schwanken  beginnt.  Da 
tritt  plötzlich  Odysseus  auf.  Philoktet,  der  alsbald  den  verhafsten 
Gegner  erkennt,  macht  seinem  Abscheu  in  leidenschaftlichen  Worten 
Luft.  Odysseus  setzt  den  Vorwürfen  und  Verwünschungen  des  Un- 
glückhchen  die  gemessenste  Buhe  entgegen,  erklärt,  man  bedürfe 
seiner  nicht,  da  der  Besitz  des  Bogens  genüge,  und  entfernt  sich 
mit  Neoptoleinus,  der  während  dieser  Scene  ein  beredtes  Schweigen 
beobachtet  und  am  Schlufs  seine  Gesinnung  nicht  verleugnet,  indem 
er  dem  Chor  gebietet  noch  zurückzubleiben,  vielleicht  werde  es  ge- 
lingen, den  Philoktet  umzustimmen,  so  dafs  er  sich  fireiwiUig  ent- 
schliefse  ihm  nach  Troia  zu  folgen.  Allein  der  Zuspruch  des  Chores 
bleibt  wirkungslos.  Die  Verzweiflung  des  Philoktet,  der  sich  nun 
erst  ganz  elend  und  verlassen  fühlt,  erreicht  hier  den  Gipfel.  Er 
betheuert  mit  dem  heiligsten  Eide,  niemals  in  das  Begehren  seiner 
Feinde  zu  wiUigen,  die  ihn  einst  ins  Elend  stiefsen  und  erst  in  der 
Bedrängnifs  sich  seiner  erinnern.  Ja,  der  Gedanke  des  Selbstmords, 
mit  dem  er  schon  früher  gedroht  hatte,  taucht  wieder  auf;  doch 
lenkt  er  alsbald  ein  und  zieht  sich  völlig  gebrochen  in  die  Felsgrotte 
zurück.  Inzwischen  steht  bei  Neoptolemus  der  Entschlufs  fest,  was 
er  gefehh,  wieder  gut  zu  machen  und  dem  Philoktet  den  Bogen  zu- 
rückzugehen. Nach  einem  lebhaften  Wortwechsel  mit  Odysseus,  der 
sich   vergeblich  bemüht,    ihn   von   diesem   Gedanken   abzubringen. 


428  DRITTE    PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

händigt  er  dem  Philoktel  seine  Waffe  aus.  Umsonst  versucht  Odys- 
seus  dies  mit  Gewalt  zu  verhindern,  und  nur  mit  Mühe  hält  Neo- 
ptolemus  den  Philoktet  zurück,  die  Wirkung  der  unfehlbaren  Ge- 
schosse an  seinem  Gegner  zu  erproben.  Neoptolemus  erneuert  mit 
eindringhchen  Worten  seine  Bitte,  aus  freiem  Entschlüsse  nachzu- 
geben. Philoktel  erkennt  dankbar  den  Edelmuth  des  Jünglings  an. 
Der  Sturm  der  Leidenschaft  hat  sich  gelegt,  und  er  ist  ruhigem  Zu- 
spruche  nicht  mehr  unzugänglich;  aber  zuletzt  siegt  doch  das  tief- 
gewurzelte  Mifstrauen,  er  vermag  seinen  Sinn  nicht  zu  ändern.  So 
ist  Neoptolemus  bereit,  das  Wort,  welches  er  ihm  einmal  gegeben 
hatte,  zu  erfüllen  und  ihn  in  seine  Heimath  zurückzuführen. 

Der  Kampf  der  widerstrebenden  Interessen  ist  auf  eine  Spitze 
getrieben,  wo  eine  innerliche  Lösung  unmöglich  erscheint.  Sollte 
die  dramatische  Handlung  nicht  resultatlos  ausgehen,  so  konnte  nur 
das  Eingreifen  einer  höheren  Macht  eine  befriedigende  Entscheidung 
herbeiführen.  Sophokles  trägt  daher  kein  Bedenken,  von  diesem 
Mittel,  welches  er  sonst  nur  sparsam  angewandt  zu  haben  scheint,  Ge- 
brauch zu  machen.  Herakles,  der  vom  Philoktet  hochverehrte  Heros, 
dem  sein  Vater  Pöas  einst  nahe  gestanden  halte,  Herakles,  dessen 
Geschosse  er  selbst  als  letztes  Vermächtnifs  in  seiner  Hand  hatte, 
gebietet  ihm  nach  Troia  zu  ziehen;  dort  werde  er  nicht  nur  Hei- 
lung finden,  sondern  auch,  mit  Neoptolemus  treu  verbunden,  IUods 
Feste  brechen  und  unsterblichen  Ruhm  gewinnen.  Philoktet  halte 
diese  Verheifsung  schon  früher  vernommen,  aber  unter  Umständen, 
welche  sein  Mifstrauen  wachrufen  mufsten.  Jetzt,  wo  Herakles' 
Mund  ihm  den  Spruch  des  Schicksals  offenbart,  welcher  dem  Schwer- 
geprüften Erlösung  zusichert,  schwindet  jeder  Argwohn,  und  Philo- 
ktet ist  bereit,  wieder  als  dienendes  Glied  der  Volksgenossenschafl, 
welche  ihn  ausgestofsen  hatte,  seine  Pflicht  zu  erfüllen.  Diese  Um- 
wandlung tritt  nicht  plötzlich  ein;  sie  ist  durch  die  frühere  Scene 
genügend  vorbereitet.  Schon  der  Edelmuth  des  Neoptolemus  hatte 
den  Philoktet  lief  gerührt  und  seinen  Trotz  gebrochen,  aber  er 
fürchtete,  wenn  er  nachgebe,  sich  selbst  untreu  zu  werden. 

Der  Philoktet  des  Sophokles,  ein  Drama  von  geschlossener  Ein- 
heit und  streng  symmetrischem  Bau,  beruht,  obwohl  die  Verwick- 
lung mehr  oder  minder  durch  Berechnung  und  List  bedingt  ist,  auf 
einfachen  Voraussetzungen;  auch  liegt  der  Nachdruck  nicht  sowohl 
auf  der  Situation ,  sondern  auf  der  Charakterzeichnung.    Das  kUnst- 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  II.  SOPH.      429 

lieh  verschluDgene  Spiel  der  Intrigue  dient  vor  allem  dazu,  die  Indivi- 
dualität der  Handelnden,  ihr  inneres  Leben  in  klar  umschriebenen 
Zügen  vorzuführen;  denn  es  sind  nicht  typische  Gestalten,  sondern 
lebendige  Persönhchkeiten ,  deren  Kämpfe  des  Dichters  Kunst  uns 
vergegenwärtigt. 

In  erster  Linie  steht  Philoktet,  ein  leidender  Held,  aber  von 
einer  Seelenstärke  und  Grofsheit,  dafs  die  Macht  des  tragischen  Pa- 
thos uns  mit  aller  Gewalt  ergreift  und  fortreifst.  Vergeblich  müht 
man  sich  nachzuweisen,  dafs  Philoktet  durch  eigene  Verschuldung 
sich  seine  unerträglichen  Leiden  zugezogen  habe.'*®)  Allein  in  den 
Worten  des  Dichters  findet  sich  nicht  die  mindeste  Andeutung.  So- 
phokles begnügt  sich  damit,  dafs  er  auch  diese  Leiden  als  Schickun- 
gen einer  höheren  Macht  bezeichnet.  Neoptolemus  vermuthet '*^), 
die  Götter  hätten  deshalb  das  Unglück  über  Philoktet  verhängt,  um 
ihn  zu  verhindern  des  Herakles  siegreiche  Geschosse  eher  auf  die 
Troianer  zu  richten,  als  bis  die  von  den  Göttern  für  den  Unter- 
gang Troias  gesetzte  Frist  abgelaufen  sei.  Man  mag  diesen  Ver- 
such, die  Verwundung  des  Helden  durch  den  giftigen  Schlangenbifs 
und  seine  Aussetzung  auf  der  Insel  Lemnos  zu  motiviren,  als  einen 
Nothbehelf  betrachten,  immer  aber  erscheint  Philoktet  als  ein  un- 
schuldig Leidender,  und  gerade  darum  empfinden  wir  die  innigste 
Theilnahme  mit  seinem  Geschick.  Zugleich  aber  bewundern  wir 
die  unerschütterliche  Kraft  und  Willensstärke,  welche  er  nach  allen 
Seiten  hin  bewährt.  Aus  der  menschlichen  Gesellschaft  ausgestofsen, 
bringt  er  unter  den  gröfsten  Entbehrungen  seine  Tage  zu,  während 
ein  unheilbares  Leiden  seine  Kräfte  aufzehrt.  Körperhche  Pein  dar- 
zustellen ist  immer  eine  bedenkhche  Aufgabe  für  den  dramatischen 
Dichter;  Jammer  und  Klagegeschrei  scheint  des  Mannes  unwürdig. 
Aber  Sophokles  scheut  sich   nicht  vor  diesem  kühnen  Wagnifs.*^) 


186)  Es  ist  ein  Fehlschlafs,  wenn  man  sich  auf  Aristoteles  Poet  c.  13 
p.  1452  B  34:  ovte  tovs  imetxeis  avS^as  Sei  fieraßaXXovrae  cpaivsad'ai  i^ 
evTvxicts  eis  Svarv^iav  {ov  yoQ  tpoße^ov  ovSe  iXeeivov  rovro,  alXt  ftax^ov 
itjTiv)  beruft;  denn  in  unserer  Tragödie  tritt  vielmehr  der  entgegengesetzte 
Schicksalswechsel  ein,  Philoktet  wird  gerettet. 

187)  Philoktet  193.  Der  Chor  erklärt  684  den  Philoktet  geradezu  für 
schuldlos. 

188)  Aehnlich  in  den  Trachinierinnen,  dann  in  dem  verlorenen  Drama 
(den  Niitxqa),  welches  den  Tod  des  Odysseys  durch  den  Rochenstachel  dar- 
stellte. 


430  DRITTE   PERIODE  VON  500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

Der  Kampf  mit  den  körperlichen  Schmerzen,  der  dem  willensstarken 
Manne  laute  Wehklagen  ausprefste,  wird  auf  das  Ergreifendste  ge- 
schildert, ohne  dafs  der  Held  an  seiner  Würde  Einbufse  erhlle. 
Noch  herber  sind  die  Seelenschmerzen,  welche  in  den  verschieden- 
sten Gestalten  auf  ihn  eindringen.  Standhaft  widersteht  Philoktet 
allen  Versuchungen,  die  ihm  nahe  treten.  Er  ist  fest  entschlossen, 
eher  hülflos  unterzugehen,  als  irgend  etwas  zu  thun,  was  seines 
Charakters  unwürdig,  mit  seiner  Heldenehre  unvereinbar  schien. 
Wohl  ist  Philoktet  von  Hafs  und  Mifstrauen  gegen  die,  welche  er 
als  die  Urheber  seines  Unglücks  betrachtet,  erfüllt.  Aber  die  schweren 
Kränkungen,  die  er  erfahren,  rechtfertigen  seine  Erbitterung.  Nicht 
aus  Trotz  und  Eigenwillen  entspringt  diese  Unnachgiebigkeit,  son- 
dern aus  dem  hohen  Selbstgefühl  eines  geradsinnigen  Mannes,  der 
sich  seines  Werthes  bewufst  ist.  Als  Herakles  herabsteigt  und  ihm 
die  Gewifsheit  der  nahen  Erlösung  giebt,  folgt  er  willig.  Dieser 
starre  Charakter  war  dennoch  zarter  Empfindungen  fähig.  Rührend 
ist  es,  wie  Philoktet  zuletzt  nicht  ohne  Wehmulh  von  der  unerfreu- 
lichen Stätte  scheidet,  auf  der  er  lange,  trübe  Jahre  verlebt  hatte. 
Oft  getäuscht  und  betrogen,  bringt  er  dem  Sohne  des  Achilles  volles 
Vertrauen  entgegen  und  hegt  warmes  Gefühl  der  Dankbarkeit  für 
jede  Gutthat,  die  ihm  der  Jüngling  zu  erweisen  bereit  war. 

Dem  Philoktet  gegenüber  steht  der  jugendliche  Sohn  des  Achil- 
les, eine  reine,  unverdorbene  Natur,  die  ihren  angeborenen  Adel 
nicht  verleugnet.  Es  war  das  erste  Mal,  dafs  Neoptolemus  am  han- 
delnden Leben  theilnimmt.  Pflichtgefühl  und  Bescheidenheit  ge- 
boten ihm,  der  Leitung  des  älteren  erfahrenen  Mannes  zu  folgen. 
So  fügt  sich  Neoptolemus  anfangs  den  schlauen  Rathschlägeu  des 
Odysseus,  obwohl  zögernd;  denn  es  widerstrebt  seinem  Gefühl,  das 
Vertrauen  eines  Unglückhchen  zu  täuschen  und  durch  Arglist  sein 
Ziel  zu  erreichen.  Aber  als  der  Trug  über  alles  Erwarten  gelungen 
ist,  kommt  die  Reue  über  ihn,  und  er  empfindet  es  schmerzlich,  dafs 
er  sich  durch  Odysseus  vom  geraden  Wege  hatte  abbringen  lassen. 
Dieser  innere  Kampf,  in  dem  seine  bessere  Natur  «Icn  Sieg  davon- 
trägt, wird  nur  angedeutet.  Aber  nachdem  er  otTenhcrzig  dem  Phi- 
loktet alles  bekannt  hat,  kann  ihn  nichts  von  dem  Vorsalze  ab- 
bringen, was  er  gefehlt,  wieder  gut  zu  machen.  Weder  das  Zureden 
noch  die  Drohungen  des  Odysseus  haben  über  ihn  Gewalt.  Er  fürch- 
tet nicht  die  Raclic  der  Alridrn,  noch  den  Zorn  der  Acli.'it'r,  j;i,  »m- 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  If.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  H.  SOPH.       431 

ist  bereit,  hochherzig  das  gröfste  Opfer  zu  bringen,  indem  er  der 
Aussicht  auf  Heldenruhm  entsagt,  um  sein  einmal  verpfändetes  Wort 
zu  halten."')  Siegreich  geht  Neoptolemus  aus  dieser  schweren  Prü- 
fung hervor;  der  unerfahrene  Jünghng  ist  zum  Manne  gereift,  der 
nach  freiem  Entschlüsse  handelt  und  fortan  nur  der  Stimme  in  der 
eigenen  Brust  folgt. 

In  schroffem  Gegensatz  zu  beiden  steht  der  klug  berechnende, 
welterfahrene  Odysseus,  die  eigenthche  Triebfeder  der  dramatischen 
Handlung;  aber  das  schlaue  Gewebe  seiner  List  erweist  sich  wirkungs- 
los. Odysseus  vermag  dem  energischen,  schroffen  Charakter  des 
Philoktet  gegenüber  ebenso  wenig  auszurichten,  wie  den  offenen, 
hohen  Sinn  des  Neoptolemus  dauernd  für  seine  Zwecke  zu  benutzen. 
Odysseus  ist  nicht  unedel.  Er  verfolgt  nicht  persönhche  Zwecke, 
sondern  wirkt  unermüdUch  im  Dienste  des  Gemeinwesens ;  aber  hier 
ist  ihm  jedes  Mittel  recht,  wenn  es  zum  Ziele  führt.  Nicht  das 
Gefühl,  sondern  die  Berechnung  des  Verstandes  ist  für  ihn  mafs- 
gebend. 

Den  Chor  bilden  nicht,  wie  bei  den  Vorgängern  des  Sophokles, 
Bewohner  der  Insel  Lemnos,  sondern  Krieger  des  Neoptolemus. 
Dadurch  wird  der  Eindruck  der  vollständigen  Isolirung,  in  der  Phi- 
loktet lange  Jahre  zugebracht  hatte,  entschieden  verstärkt.  Da  die 
Buhne  nur  einmal  auf  kurze  Zeit  von  den  Schauspielern  verlassen 
wird,  so  bringt  der  Dichter  den  Chor  in  unmittelbare  Beziehung  zu 
den  handelnden  Personen,  und  die  Form  des  Wechselgesanges  kommt 
vorzugsweise  in  Anwendung.'**)  Der  Chor  wird  in  der  gewohnten 
Weise  des  Sophokles  benutzt;  er  zeigt  warmes  Mitgefühl  mit  dem 
Unglück  des  Philoktet,  aber  er  unterstützt  auch  nach  Kräften  den 
Versuch  des  Neoptolemus,  durch  Verstellung  seinen  Zweck  zu  er- 
reichen. Denn  als  Neoptolemus,  in  innerem  Kampfe  mit  sich  be- 
griffen, unsicher  schwankt,  tritt  der  Chor,  dem  die  veränderte  Stim- 
mung seines  Gebieters  noch  verborgen  ist,  selbständiger  auf  und 
räth  ohne  Verzug  den  günstigen  Augenblick  zu  benutzen.    Der  üm- 

189)  Dafs  diese  Umwandlung  wohl  motivirt  ist,  deutet  Aristot.  Eth.  Nie. 
Vn  10  p.  1151  B  IS  an,  und  in  der  Thal  kehrt  Neoptolemus  nur  zu  seiner  eigenen, 
ursprünglichen  Natur  zurück. 

190)  Nur  in  der  Mitte  des  Dramas  676  findet  sich  ein  eigentliches  Stasi- 
mon,  um  dem  Darsteiler  der  anstrengenden  Rolle  des  Philoktet  eine  kurze 
Pause  zu  gewähren. 


432  DRITTE    PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

fang  der  melischen  Partien  ist  übrigens  gemäfs  der  Praxis  der  jün- 
geren  Tragödie  beschränkt.'^')     Sonst  bestätigt  die  ziemlich   freie 
Behandhing   der   Verse   des   Dialoges   die  Ueberlieferung,   dafs  der 
Philoktet  zu  den  letzten  Arbeiten  des  Sophokles  gehörte.'^^) 
oedipnsauf         Das  letzte  Vermächlnifs   des   Dichters  ist  der   Oedipus  auf 

Kolonos.    .r     ,  HT     1        •  •   iP     1      1  WT   1       !• 

Kolon  OS.  Nach  einer  vielfach  bezeugten  Ueberlieferung  hat  So- 
phokles dieses  Drama  hochbetagt  geschrieben  und  aus  Anlafs  des 
bekannten  Zerwürfnisses  mit  seinem  Sohne  lophon  die  Parodos  vor- 
gelesen'®^), um  zu  beweisen,  dafs  er  noch  im  vollen  Besitz  seiner 
Geisteskräfte  sei.  Die  Kritik  der  Neueren  hat  diesen  Vorgang  ange- 
zweifelt. Aber  selbst  wenn  das  Ganze  erfunden  sein  sollte,  knüpft  doch 
die  Anekdotendichtung  meist  an  eine  Thatsache  an,  wie  eben  hier 
daran,  dafs  diese  Tragödie  die  letzte  Arbeit  des  greisen  Dichters  war. 
Zur  erwünschten  Bestätigung  dient  die  Nachricht,  dafs  das  Drama  erst 
vier  Jahre  nach  Sophokles'  Tode  Ol.  94,  3  durch  seinen  Enkel  zum 
ersten  Male  aufgeführt  ward."*) 

Demungeachtet  haben  Neuere,  welciie  hier  eine  politische  Ten- 
denz wahrzunehmen  vermeinten,  den  zweiten  Oedipus  bald  in  den 
Anfang  des  grofsen  Krieges,  bald  um  Ol.  90,  1  verlegt,  oder  man 
bat  auch,  um  jener  Ueberlieferung  gerecht  zu  werden,  angenommen, 
das  Drama  sei  in  früherer  Zeit  ausgearbeitet,  aber  erst  viel  später 
durch  den  jungen  Sophokles  veröffentlicht  worden.  Diese  Ver- 
muthungen  sind  grundlos.    In  der  Tragödie  kommt  nichts  vor,  was 


191)  Das  Verhältnifs  zum  Dialog  ist  etwa  wie  1 :  4. 

192)  Im  Philoktet  treffen  wir  mehr  Auflösungen  (120)  als  in  jeder  an- 
deren Tragödie  des  Sophokles,  aber  im  Vergleich  mit  der  laxen  Praxis,  die 
damals  Euripides  übte,  erkennt  man  auch  so  die  mafshaltende  Art  des  So- 
phokles. 

193)  Plutarch  an  seni  resp.  ger.  c.  3,  3 ;  nicht  das  ganze  Drama,  welches  viel- 
leicht noch  gar  nicht  vollendet  war.  Cicero  de  sen.  c.  7,  22  schreibt  Oedipum 
Coloneum  recitasse  und  gebraucht  nachher  den  Ausdruck  carmen,  wie  er  auch 
de  fin.  V  1,  3  den  Eingang  dieser  Tragödie  als  carmen  mollissimum  bezeichnet. 
Cicero  fand  vielleicht  in  seiner  Quelle  aofia  vor  und  war  über  die  Sache  selbst 
nicht  im  Klaren. 

194)  Arg.  Oed.  Kol. :  ini  rsrelevTT^xÖTi  rtp  Tinmito  üofOxX^S  6  viSols 
iSiSn^ev,  vioi  wv  ^A^iartovos,  ini  «^xo'TO*  Mtxcayo« ,  oi  iari  rt'rn^roe  ano 
KaXXlov,  i(p'  ov  ipaaiv  ol  nXeiove  tov  JSofoxXdn  TsXnnt^at.  Wahrscheinlich 
geschal  dies  auf  ausdrücklichen  Wunsch  des  Dichters,  der  den  geliebten  Enkel 
auf  diese  Weise  beim  Publikum  einführen  wollte.  Als  Sophokles  starb,  war 
der  Enkel  wohl  noch  zu  jung;  daher  die  auffallende  Verzögerung. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  H.  SOPH.       433 

eine  bew  ufste  Bezugnahme  auf  allgemeine  Zeitverhältnisse  verriethe"') ; 
am  wenigsten  darf  man  dem  Dichter  die  Absicht  unterlegen,  auf 
eine  Versöhnung  mit  den  Thebanern  hinzuarbeiten.  Mit  mehr  Schein 
könnte  man  das  entgegengesetzte  Motiv  voraussetzen.  Allein  wenn 
auch  in  der  Tragödie  Theben  und  Athen  einander  nicht  eben  freund- 
lich gegenüberstehen  und  dies  mit  der  damaligen  pohtischen  Lage 
stimmt,  so  ist  dies  durch  die  dramatische  Handlung  genügend  moti- 
virt.  Sophokles  hat  diesen  Antagonismus  nicht  hereingetragen;  er 
bot  sich  von  selbst  dar,  und  eben  weil  damals  beide  Staaten  sich 
entfremdet  waren,  erschien  eine  schonende  Rücksicht  um  so  weniger 
geboten.  Aber  dies  hält  den  Dichter  nicht  ab,  in  seiner  mafsvollen 
Weise  mehrmals  auch  anerkennende  Worte  über  die  Thebaner  ein- 
zuflechten.'^) 

Mit  der  Ueberheferung,  welche  den  zweiten  Oedipus  an  das 
Ende  der  dichterischen  Laufbahn  des  Sophokles  setzt,  stimmt  auch 
der  Eindruck,  den  das  Stück  auf  den  unbefangenen  Beurtheiler  macht. 
Das  dramatische  Interesse  ist  geringer  als  sonst;  die  Handlung  schrei- 
tet langsam  vorwärts;  die  Charaktere  treten  nicht  in  so  klar  aus- 
geprägten Zügen  wie  in  den  früheren  Arbeiten  uns  entgegen ;  dazu 
kommt  die  behagUche  Breite  und  Fülle  der  Darstellung.  Kurz  man 
nimmt  liier  eine  gewisse  Abnahme  der  Kraft  wahr,  welche  zuletzt 
naturgemäfs  auch  bei  dem  lange  Zeit  jugendlich  frischen  Greise  ein- 
treten mufste."^ 

Von  dem  Oedipus  auf  Kolonos  spricht  das  Alterthum  mit  un- 
getheilter  Anerkennung,'*)    Es  ist  begreiflich,  dafs  man  gerade  die 


195)  Nur  in  dem  Chorliede  698  ff.  wird  auf  die  Einfälle  der  Lakoner  im 
Anfange  des  Krieges,  welche  überall  das  Land  verwüsteten  und  nur  die  heili- 
gen Oelbäume  verschonten,  Bezug  genommen. 

196)  Besonders  919  ff.  929.  937  ff.  Die  neueste  Kritik  hat  diese  Verse 
entweder  als  Interpolationen  aus  späterer  Zeit  oder  als  Zusätze  des  jüngeren 
Sophokles  ausscheiden  wollen,  aber  diese  Operation  ist  zum  Theil  gar  nicht 
ausführbar.  Der  Versuch,  die  Mängel  und  wirklichen  oder  vermeinlichen  Wider- 
sprüche dieser  Tragödie  auf  eine  durchgreifende  Umarbeitung  von  der  Hand 
des  lophon  zurückzuführen,  wird  wohl  nicht  leicht  Zustimmung  finden. 

197)  Wenn  der  Chor  über  die  Noth  des  Greisenalters  klagt  (1211),  so 
ist  diese  Klage  zwar  schon  an  sich  angemessen ;  aber  diese  wie  andere  Aeufse- 
rungen ,  die  auf  die  persönlichen  Verhältnisse  des  Dichters  passen ,  gewinnen 
doch  erst  so  volle  Bedeutung. 

198)  Argum.  l:  rb  8e  S^fia  rtöv  d'avfiaaräi'.  Argum.  des  Sallustius:  äcpa- 
Bergk,  Griecb.  Literaiurgescbicbte  III.  28 


434  DRITTE    PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

letzte  Dichtung  des  gefeierten  Tragikers  hochhielt;  für  die  Athener 
hatte  schon  die  anmulhige  Schilderung  benachbarter  Oertlichkeiten 
etwas  Ansprechendes.  Ebenso  werden  heimische  Erinnerungen  ge- 
schickt benutzt.  Das  Auftreten  des  Königs  Theseus  mufste  dem 
Nationalgefühle  schmeicheln.  Auch  die  Urtheile  der  Neueren  lauten 
fast  ohne  Ausnahme  günstig.  Man  hat  diesem  Drama  sogar  eine 
bevorzugte  Stelle  angewiesen;  manche  haben  behauptet,  der  eigen- 
thümUche  Charakter  der  Sophokleischen  Poesie  stelle  sich  hier  am 
reinsten  dar.  Der  Stoff,  mehr  für  lyrische  als  dramatische  Behand- 
lung geeignet,  übte  unwillkürhch  Einflufs  auf  Geist  und  Charakter 
der  Tragödie  aus,  und  eben  dieses  lyrische  Element,  der  mehr  weiche, 
rührende  als  kräftige  Ton  mag  unbewufst  auf  das  Unheil  der  Neue- 
ren eingewirkt  haben. 

Das  Drama,  welches  das  Lebensende  des  greisen  Oedipus  und 
zugleich  seine  Rechtfertigung  darstellt,  ist  gewissermafsen  eine  Fort- 
setzung und  Ergänzung  des  Königs  Oedipus.  Der  Gedanke,  den 
friedlosen  Dulder  endlich  der  Ruhe  und  Erlösung  theilhaflig  werden 
zu  lassen,  mufste  für  den  Dichter,  der  selbst  an  der  Neige  des  Le- 
bens stand,  etwas  ungemein  Anziehendes  haben.  Hier  fand  er  Ge- 
legenheit, die  Hebgewonnenen  tragischen  Gestalten  noch  einmal  vor- 
zuführen; hier  konnte  er  sich  über  die  höchsten  sittlichen  Probleme 
aussprechen. 

Der  Oedipus  auf  Kolonos  ist  wesentlich  als  freie  Dichtung  zu 
betrachten;  was  die  Sage  darbot,  war  wenig.  Sophokles  sah  sich 
daher  vorzugsweise  auf  seine  eigenen  Hülfsmittel  angewiesen.  Die 
attische  Lokalsage  eignete  sich  die  letzten  Tage  des  Oedipus  zu."") 


TOS  Se  iari  y.a&öXov  rj  oixovofiCa  iv  rc^  S^äftaxi,  tos  ovSevi  aXXi^  axeSov. 
Schol.  237:  f;  oixovouia  d-avfiaaxr].  Pie  Editheit  einzehier  Verse  wird  be- 
zweifelt, s.  237.  lieber  den  Schlufs  wird  zu  KUlO  bemerkt  orx  swcaiatpQv- 
vTfra;  also  fanden  wohl  manche  Kritiker  den  Ausgang  des  Dramas  schwächer. 
199)  Aeschylus  folgt  der  alten  Sage  und  läfst  den  Oedipus  in  Theben 
sterben;  dagegen  bei  Euripides  am  Schlufs  der  Phönissen  wird  Oedipus  von 
Kreon  verbannt  und  verläfst  unter  dem  Geleite  der  Antigone  Theben,  um,  wie 
ihm  ein  Orakel  verkündet  hat,  in  dem  attischen  Kolonos  in  Frieden  zu  sterben 
(Phon.  1705  fr.).  Man  darf  daraus  nicht  schliefsen,  Euripides  habe  bereits  die 
Sophokleisrhe  Dichtung  gekannt,  die  dann  eben  nicht  die  letzte  Arbeit  des 
Sophokles  sein  könnte;  noch  weniger  darf  man  diese  Uebereinstimmung  mit 
Sophokles  benutzen,  um  die  Echtheit  des  Schlusses  der  Pliönissen  zu  verdäch- 
tigen.  Euripides  kannte  die  attische  Tradition  so  gut  wie  Sophokles,  der  auf 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRIPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  II.  SOPH.      435 

In  Attika  findet  der  Ausgestofsene  Aufnahme  und,  nachdem  er  im 
heiligen  Bezirk  der  Eumeniden  entsühnt  ist,  seine  Grabesstätte.  Zum 
Dank  dafür  wird  Oedipus  fortan  als  Schutzgeist  zum  Segen  des  atti- 
schen Landes  walten.  Diese  Hülfe  soll  sich  einstmals  bei  einem 
Einfall  der  Thebaner  wirksam  erwiesen  haben.  An  diese  sagenhafte 
Ueberlieferung  knüpft  Sophokles  an.  Aber  diese  Elemente  reichten 
für  ein  Drama  nicht  aus,  welches  vor  allem  Handlung  verlangt.  Daher 
läfet  der  Dichter  zunächst  den  Kreon,  später  den  Polyneikes  auf- 
treten. Jeder  sucht  in  selbstsüchtiger  Absicht  den  Oedipus  zu  ge- 
winnen und  das  Heil,  welches  den  Athenern  beschieden  war,  sich 
zuzuwenden.  So  erscheint  der  Ausgestofsene,  den  man  bisher  ängst- 
lich gemieden  hatte,  eifrig  umworben.  Während  der  Sohn  sich  als 
demüthig  Bittender  naht,  droht  Kreon  mit  Gewalt  und  weist  die 
Töchter  von  der  Seite  des  Greises.  Indes  steht  keine  ernstliche 
Gefahr  zu  besorgen,  da  Theseus  mit  bereiter  Hülfe  nahe  ist.  Wohl 
hat  der  Dichter  die  einfache  Anlage  durch  reichen  Scenenwechsel 
zu  beleben  verstanden,  aber  die  Handlung  ist  gering.  Dem  Helden 
des  Dramas  Tällt  wesentlich  eine  passive  Rolle  zu ;  es  fehlt  die  Ver- 
wickelung und  das  Umschlagen  des  Geschickes.  Nach  einigen  retar- 
direnden  Momenten  endet  das  Stück  mit  der  wunderbaren  Entrückung 
des  Oedipus. 

In  mancher  Beziehung  erinnert  dieses  Drama  an  die  Eume- 
niden des  Aeschylus.  Wie  dort  der  Fluch  von  dem  Muttermörder 
genommen  wird,  so  wird  hier  die  schwere  Schuld  des  Vatermordes 
und  der  blutschänderischen  Ehe  gesühnt.  Nur  treten  bei  Sophokles 
an  die  Stelle  des  gerichthchen  Urlheiles  religiöse  Ceremonien.***) 
In  beiden  Fällen  aber  offenbart  sich  die  götthche  Gnade  sichtbar 
an  dem  Schuldbeladenen.  Wie  Aeschylus  an  heimische  Institute 
anknüpft   und   die   mythischen  Vorgänge  der  alten  Zeit  durch  das 


die  Lokalsage  als  seine  Qoelle  62  selbst  hinzudeaten  scheint ;  wohl  aber  kann 
der  Schlufs  der  Euripideischen  Tragödie  zuerst  in  Sophokles  den  Gedanken  an- 
geregt haben,  diesen  Vorwurf  dramatisch  zu  behandeln. 

200)  Darin,  dafs  Oedipus,  ohne  es  zu  wissen,  den  heiligen  Hain  der  Eu- 
meniden betritt,  wo  ihm  beschieden  war,  Erlösung  von  der  schweren  Schuld 
zu  finden,  welche  jene  Göttinnen  zu  rächen  berufen  waren,  giebt  sich  der 
günstige  Wandel  seines  Schicksals  kund.  So  gewinnt  auch  die  Reinigungs- 
ceremonie,  der  sich  Oedipus  unterwerfen  mufs,  weil  er  gegen  das  Verbot  den 
geheiligten  Raum  berührt  hatte,  tiefere  Bedeutung  (vgl.  Schol.  462). 

28* 


436  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

Interesse  der  unmittelbaren  Gegenwart  belebt,  so  weifs  auch  Sopho- 
kles geschickt  das  patriotische  Gefühl  zu  befriedigen,  indem  er  in 
Theseus,  der  bereitwillig  dem  Landesflüchtigen  Schutz  gewährt,  die 
anerkannte  Humanität  seiner  Vaterstadt  verherrhcht.  Auch  der  Schau- 
platz der  Handlung  war  günstig.  Hier  hatte  der  Greis,  in  dem  die 
Erinnerung  an  seine  Jugend  recht  lebendig  werden  mochte,  Gelegen- 
heit, in  einem  farbenreichen  Gemälde  die  Anmuth  seines  Geburts- 
ortes zu  schildern,  der  alten  Sagen  und  Heiligthümer  von  Kolonos 
zu  gedenken.  Wenn  Sophokles  die  Erinnyen  nur  beiläufig  erwähnt, 
indem  er  nachdrücklich  und  wiederholt  die  ehrfurchtsvolle  Scheu 
betont,  mit  der  jeder  sich  der  Stätte  dieser  Göttinnen  nahte,  so 
mochte  er  nicht  in  die  Fufsstapfen  des  Aeschylus  treten,  der  den 
Zorn  jener  Göttinnen  in  den  Vordergrund  rückt  und  mit  der  Um- 
wandlung der  Rachegeister  in  freundUch  gesinnte  Dämonen  sein 
Drama  wirksam  abschliefst. 

Die  Tragödie  des  Sophokles  wirkt  vorzugsweise  auf  Empfindung 
und  Gemüth.  Ein  vvehmüthiger  Ton,  das  Gefühl  von  des  Erden- 
lebens Hinfälligkeit  zieht  sich  hindurch,  wird  aber  gemildert  durch 
tröstliche  Hoffnungen,  durch  den  Hinblick  auf  den  Tod,  der  von 
allen  Leiden  erlöst,  ein  Gedanke,  welcher  dem  lebensmüden  Greise 
besonders  nahe  gelegt  war.  Namentlich  in  den  Chorliedern  finden 
diese  Empfindungen  angemessenen  Ausdruck.  Das  Rührende,  welches 
in  dem  Stoffe  hegt,  indem  ein  von  den  Erinnyen  Verfolgler,  auf  dem 
der  Fluch  schwerer  Frevel  lastet,  nach  Götterbeschlufs  zuletzt  in  dem 
heihgen  Haine  der  Göttinnen  Frieden  und  Ruhe  findet,  an  der  Stätte, 
die  man  mit  geheimem  Grauen  betrachtete  und  ängstlich  mied,  von 
seiner  Schuld  befreit  wird,  hat  der  Dichter  vorlrefl'lich  benutzt.  Gleich 
die  erste  Scene,  wo  der  blinde,  hülflose  Greis,  den  alle  verlassen 
haben,  nur  von  der  treuen  Tochter  begleitet,  auftritt,  eröfl'net  in 
angemessenster  Weise  das  Stück.  Echt  poetisch  und  ergreifend  ist 
vor  allem  der  Schlufs,  wo  Oedipus,  als  ihn  eine  Gölterstiumie  abruft, 
sich  mit  den  Töchtern  an  die  geweihte  Stätte,  wo  er  sterben  sollte, 
begiebt,  nachdem  er  die  Seinen  gesegnet  und  entlassen  hat,  mit 
Theseus  allein  bleibt  und  |)lötzlich  der  Erde  entrückt  wird.  Solche 
Scenen,  die  noch  heute  auf  jedes  empfängliche  (icmüth  einen  liefen 
Eindruck  machen,  konnten  zur  Zeit  des  Dichters  um  so  weniger  ihre 
Wirkung  verfehlen ,  da  die  Tragödie  zugleich  das  patriotische  Inter- 
esse lebhaft  in  Anspruch  nahm. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  II.  SOPH.       437 

Allein  die  Sage  von  Oedipus'  Tod  in  der  Fremde  war,  unge- 
achtet der  poetischen  Momente,  doch  für  die  Tragödie  kein  recht 
günstiger  Vorwurf;  wenigstens  die  Art,  wie  Sophokles  den  Stoff 
durch  Handlung  und  leidenschaftlichen  Kampf  zu  beleben  versucht 
hat,  kann  nicht  recht  befriedigen. 

Dafs  eine  Weissagung  den  Oedipus  nach  Athen  führt,  um  dort 
Ruhe  und  Frieden  zu  finden,  ist  angemessen.  Aber  wenn  auch  den 
Thebanern  ein  warnender  Orakelspruch  zugeht  und  auf  diesen  An- 
lafs  sowohl  Kreon  als  auch  Polyneikes  den  Ausgestofsenen  als  Bun- 
desgenossen zu  gewinnen  suchen,  indem  jeder  mit  Hülfe  des  Oedipus 
über  den  anderen  zu  siegen  hofft,  so  entspricht  dies  freilich  der 
gemeinen  WirkUchkeit;  denn  damals  pflegte  in  Griechenland  jede 
der  streitenden  Parteien  sich  auf  Orakel  zu  berufen.  Bei  Euripides, 
der  die  Tragödie  benutzt,  um  ein  treues  Zeit-  und  Sittenbild  zu 
liefern,  würde  dies  keinen  Anstofs  erregen ;  aber  ein  Dichter,  der 
den  Glauben  an  diese  Form  der  götthchen  Offenbarung  aufrecht 
hält,  mufste  Bedenken  tragen,  sich  in  solchen  Widerspruch  zu  ver- 
wickeln.^') Entschuldigt  wird  diese  Motivirung  mit  Hülfe  der  Ora- 
kel nur  dadurch,  dafs  der  Dichter  so  am  leichtesten  die  Einheit  der 
Zeit  festzuhalten  vermochte.  Aufserdem  aber  ist  das  Verfahren  der 
Thebaner  durchaus  sophistisch.  Man  will  den  todten  Oedipus  nicht 
der  Fremde  überlassen,  aber  er  soll  auch  nicht  den  heimischen 
Boden  berühren,  sondern  maa  will  ihn  hart  an  der  Grenze  gleich- 
sam auf  neutralem  Gebiete  bestatten**"),  als  ob  durch  eine  so  ge- 
zwungene .\usdeutung  sich  das  Verhängnifs  abwenden  liefse. 

Kreon  erscheint  als  ein  ebenso  hinteriistiger,  wie  gewaltsamer 
Charakter;  selbst  im  fremden  Lande  scheut  er  sich  nicht  Hand  an 
die  anzulegen,  welche  sich  unter  den  Schutz  der  Athener  gestellt 
hatten.  Aber  auch  auf  Oedipus  föUt  kein  günstiges  Licht,  indem 
er  sich  offen  von  seiner  Heimath  lossagt,  um  fortan  im  Falle  eines 
Kampfes  zwischen  Theben  und  Athen  dem  letzteren  schützend  bei- 
zustehen. Noch  unerfreuUcher  ist  die  Begegnung  des  Oedipus  mit 
dem  Sohne.  Schon  im  Zwiegespräch  mit  Ismene,  dann  in  dem 
Wortwechsel  mit  Kreon  trat  der  tiefe,  unversöhnliche  Groll   gegen 

201)  Oedipus  selbst,  während  er  von  der  Untrüglichkeit  seines  Orakels 
überzeugt  ist,  scheint  das  der  Thebaner  zu  verdächtigen  794  (denn  er  kannte 
diese  Weissagung,  s.  413). 

202)  Oed.  Kol.  399. 


438  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

die  Söhne  hervor.  Als  die  Ankunft  des  Polyneikes  gemeliiet  wird, 
verweigert  Oedipus  den  Sohn  vor  sich  zu  lassen,  und  nur  mit  Mühe 
läfst  er  sich  hewegen,  ihn  anzuhören  und  seine  Reden  zu  beant- 
worten. Freilich  ist  die  Gesinnung  des  entarteten  Sohnes  gegen 
den  Vater  unverändert;  nur  selbstsüchtige  Berechnung,  nicht  auf- 
richtiges Mitgefühl  hat  ihn  hergeführt.  Aber  auch  Oedipus  ist  sich 
gleich  geblieben ;  er  gedenkt  nur  der  Unnatur  seiner  Söhne,  wie  sie 
mit  herzloser  Gleichgültigkeit  den  greisen  Vater  in  die  Verbannung 
ziehen  Hefsen,  und  in  wildem  Grimme  spricht  er  den  Fluch  gegen 
sein  Geschlecht  aus. 

Es  hegt  hier  ein  unheilbarer  Bruch  vor.  Man  wird  von  dem 
Dichter  nicht  verlangen,  dafs  er  eine  Aussöhnung,  welche  nicht  mög- 
lich war,  herbeiführe,  aber  er  durfte  nicht  durch  seine  Erfindungen 
diese  dunkeln  Schäden  in  das  hellste  Licht  rücken.  Hier  zeigt  sich 
wieder  einmal  recht  deutlich  die  dem  Sophokles  eigenthümliche  Her- 
bigkeit. 

Es  gab  für  die  Poesie  keine  würdigere  Aufgabe,  als  zu  schil- 
dern, wie  ein  Mensch,  der  in  unseliger  Verblendung  die  schwerste 
Schuld  auf  sich  geladen  hat,  endlich  durch  lange  Leiden  geläutert 
und  mit  Gott  und  Menschen  versöhnt,  sein  Leben  beschhefst.  Aber 
Oedipus,  obwohl  durch  harte  Prüfungen  zur  Selbsterkenntnifs  ge- 
langt, ist  keineswegs  völlig  umgewandelt;  seine  alte  Natur,  seine 
leidenschaftHche  Heftigkeit  bricht  immer  wieder  hervor.  So  erscheint 
er  auch  in  den  letzten  Augenblicken  seines  Lebens  unversöhnlichen 
Sinnes  gegen  die  Heimath  wie  gegen  die  Seinen;  und  wenn  der 
Dichter  ihn  auf  eine  Probe  stellt,  die  er  nicht  bestehen  kann,  so 
ist  dies  eben  ein  Mifsgriff.  Die  Götter  haben  es  gut  mit  Oedipus 
vor;  sie  wollen  den,  welchen  sie  früher  schwer  heimgesucht  und 
gebrochen  hatten,  wieder  aufrichten."')  Am  deutlichsten  offenbart 
sich  diese  Huld  in  dem  Lebensende  des  Dulders.  Durch  den  Tod 
wird  Oedipus  nicht  nur  von  seinen  Leiden  erlöst,  sondern  gleich- 
sam verklärt;  die  geheimnifsvolle  Weihe  seines  Verschwindens  be- 
reitet seine  Verehrung  als  Heros  vor.  Aber  wir  worden  erst  dann 
recht  an  eine  solche  höhere  Gnade  glauben,  wenn  sie  durch  eine 
innere  Wandlung  verdient  ist,  während  bei  Sophokles  die  Versöhnung 
mehr  äufserlicher  Art  ist.    So  macht  die  Tragötlie,  obwohl  sie  liefen 


203)  Ihtnenrs  Worte  394. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  II.  SOPH.        439 

Gehalt  in   sich  schüefst  und  viele  Partien  vortreffüch   sind,   doch 
einen  zwiespältigen  Eindruck. 

In  der  ungemeinen  Fülle  und  behaglichen  Breite  der  Darstel- 
lung verräth  sich  das  Greisenalter;  dalier  ist  auch  das  Drama  das 
umfangreichste  unter  allen  uns  erhaltenen  Stücken  des  Sophokles.^') 
Besonders  der  Eingang  und  die  Schlufspartie  sind  weit  ausgeführt. 
Gleichwohl  hat  der  Dichter  noch  immer  viel  von  seiner  früheren 
Kraft  sich  bewahrt;  wo  die  Leidenschaft  hervorbricht,  wird  die  Ener- 
gie des  Ausdrucks  nicht  vermifst,  wie  selbst  die  Reden  des  alters- 
schwachen Oedipus  beweisen.  Im  Ganzen  freilich  hat  die  Sprache 
etwas  Einförmiges  und  steht  in  ihrer  schmucklosen  Weise  öfter  der 
Prosa  ziemHch  nahe,  aber  daneben  findet  sich  nicht  wenig  Ungewöhn- 
liches. Man  empfängt  den  Eindruck,  als  wenn  Sophokles  mit  der 
Form  rang,  die  sonst  sich  willig  fügte.  \Yir  können  freihch  nicht 
immer  entscheiden,  ob  der  Dichter  vergebhch  nach  dem  rechten  Aus- 
drucke suchte,  oder  ob  mangelhafte  Ueberlieferung  des  Textes  die 
Schuld  trägt.  Dafs  übrigens  das  Stück  mit  Sorgfalt  ausgearbeitet  ist, 
beweisen  die  Verse  des  Dialoges,  welche  eine  gröfsere  Strenge  der 
Technik  bekunden  als  der  einige  Jahre  früher  geschriebene  Philo- 
ktet.  Der  Chor,  mit  Rücksicht  auf  die  Hauptperson  aus  Greisen  der 
nächsten  Umgegend  gebildet,  zeigt  mehr  dramatisches  Leben  als 
sonst  bei  Sophokles.  Während  Oedipus  im  Haine  der  Eumeniden 
gleichsam  festgebannt  ist,  erscheint  der  Chor  sehr  beweghch.  Gleich 
bei  seinem  ersten  Auftreten,  wo  die  Choreuten  einzeln  auf  der  Buhne 
erscheinen,  da  sich  die  Nachricht  verbreitet  hat,  dafs  ein  unbekann- 
ter Fremdling  an  jener  geweihten  Stätte  verweilt,  die  sonst  kein 
sterbhcher  Fufs  betreten  durfte,  giebt  sich  diese  Aufregung  kund. 
Sehr  bewegt  ist  auch  die  Haltung  des  Chores  in  der  Scene,  wo 
Kreon  die  Entführnng  der  Antigone  befiehlt '''*) ;  doch  wird  natür- 
lich jeder  Ihätliche  Conflikt  zwischen  dem  Chore  und  den  Begleitern 
des  Kreon  vermieden.  Die  melischen  Partien  nehmen  einen  breiten 
Raum  ein**),  wie  es  die  Eigenthümlichkeit  des  Stoffes  mit  sich 
brachte.  So  schliefst  auch  das  Drama  nach  der  Sitte  der  älteren 
Tragödie   mit   einem  Trauergesange   der  Töchter   des  Oedipus  ab; 

204)  Die  Zahl  der  Verse  beträgt  1779. 

205)  Oed.  Kol.  824  ff. 

206)  Auf  die  Gesänge  des  Chores  und  der  handelnden  Personen  kommen 
mehr  als  500  Verse;  also  ist  das  Verhällnifs  zum  Dialog  etwa  wie  1 :2V». 


440  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

denn  ungeachtel  der  befriedigenden  Lösung  ist  doch  der  Ernst  vor- 
waltend. Die  Zahl  der  Personen  überschreitet  nicht  gerade  das 
übliche  Mafs,  aber  öfter  als  sonst  sind  vier  Schauspieler  gleichzeitig 
auf  der  Bühne.'^)  Doch  wird  die  Regel,  dafs  nur  drei  sich  am 
Dialog  betheiligen  dürfen,  nicht  verletzt. 
Dje  verlöre-         Ucbcr  die   Verlorenen  Tragödien   des  Sophokles   ist  wenig   zu 

nen  Dramen.  o  i  o 

sagen.  Wir  besitzen  von  den  meisten  nur  dürftige  Reste**),  welche 
nicht  ausreichen,  um  von  dem  Gange  der  dramatischen  Handlung 
eine  bestimmte  Vorstellung  zu  gewinnen^"®);  der  Inhalt  mancher 
Dramen  ist  völhg  dunkel.  Auch  Sophokles  hat  nach  dem  Vorgange 
des  Aeschylus  zuweilen  alterthümliche  Sagen  bearbeitet,  welche  He- 
roen mit  Gültern  unmittelbar  in  feindhche  oder  freundliche  Beziehung 
bringen,  wie  in  der  Niobe,  der  Oreithyia,  dem  Triptolemus,  dem 
Thamyras,  wohl  besonders  in  jüngeren  Jahren;  denn  für  solche 
Stoffe  war  der  grandiose  Ton  der  Aeschyleischen  Tragödie  einzig 
passend.  Dieselben  Aufgaben  halte  zum  Theil  schon  Aeschylus  be- 
handelt; aber  gerade  dies  reizte  den  Sophokles,  sich  von  neuem 
daran  zu  versuchen.  Der  Meleager  des  Sophokles,  ein  vielbearbei- 
teter Stoff,  scheint  wenig  Beachtung  gefunden  zu  haben,  desto  mehr 
der  Polyidus  oder  die  Wiedererweckung  des  Glaukus,  Minos'  Sohn, 
ein  phantastisch-märchenhafter  Vorwurf,  den  gleichmäfsig  alle  drei 
Tragiker  bearbeitet  haben,  welcher  für  Sophokles,  der  mit  dem  man- 
tischen  Wesen  wohl  vertraut  war,  besondere  Anziehungskraft  haben 
mufste.  Dem  Sophokles  eigenthümlich  ist  Dädalus,  als  Flüchtling  in 
Sicilien  weilend  und  von  Minos  verfolgt.'^"*)  Die  Schicksale  des  Tele- 
phus  wurden  in  mehr  als  einem  Drama  vorgeführt.*")  Auffallend 
ist  die  Vernachlässigung  des  reichhaltigen  Sagenkreises  des  Herakles; 
aufser  den  Trachinierinnen  gehört  nur  der  Amphitryun  hierher. 
Desto  mehr  zog  die  Argonautensage  mit  ihrem  alterthümlichen  Cha- 

207)  Daher  macht  auch  die  Vertheilung  der  Rollen  unter  die  Schauspieler 
Schwierigkeiten. 

208)  Die  Zahl  der  Bruchstücke  (ungefähr  tOOO)  ist  nicht  so  gering,  aber 
diese  vertheilen  sich  auf  mehr  als  100  Dramen.  Weder  Chronographen,  noch 
Gnomensammler  fanden  hier  so  reichen  Stoff  wie  bei  Aeschylus  oder  Euripides. 

209)  So  läfst  sich  oft  nicht  ermitteln,  ob  ein  Stück  als  Tragödie  oder 
als  Satyrspiel  zu  betrachten  ist. 

210)  hl  den  Kafiixtoi;  denn  der  JaiSnXoi  war  wohl  ein  Salyrdrama. 

211)  Hierher  gehören  '^XeäSai,  Mvaoi,  Tt'jXefOi  (wenn  hier  nicht  etwa 
ein  Doppellitel  vorliegt). 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  II.SOPH.       441 

rakter  den  jungen  Sophokles  an.  Die  Erlösung  der  schwergeprüften 
Tyro  von  ihrer  Peinigerin  durch  ihre  Söhne  Pelias  und  Neleus  in 
zwiefacher  Bearbeitung,  die  Rettung  des  Athamas  vom  Opfertode 
durch  Herakles*'^),  die  Argonauten  auf  Lemnos"^),  der  blinde  Phi- 
neus^'^),  dann  die  düster- unheimüche  Gestalt  der  Medea  in  drei 
Tragödien*'*)  führten  die  bedeutsamsten  Momente  der  Sage  vor.  An 
die  noch  erhaltenen  drei  Dramen  aus  dem  thebanischen  Sagenkreise 
reihen  sich  ebensoviel  untergegangene  an,  Alkmäon,  Eriphyle  und 
die  Epigonen.  Nicht  minder  fleifsig  ward  die  argivische  Landes- 
sage benutzt.  Der  Flufsgott  Inachus"®)  und  das  Geschick  seiner 
Tochter  lo,  Akrisius  und  seine  Tochter  Danae,  die  Befreiung  der 
Andromeda  durch  Perseus,  Oenomaus  nebst  seiner  Tochter  Hippo- 
dameia,  vor  allem  aber  die  Gräuelthaten  im  Hause  des  Alreus  und 
Thyestes**")  boten  der  Tragödie  des  Sophokles  geeignete  Stoffe  dar. 
Der  patriotische  Dichter  versäumt  aber  auch  nicht  heimische  Erin- 
nerungen auf  der  Bühne  vorzuführen,  wie  Prokris,  Kreusa*'®},  Aegeus, 
Phädra  und  Theseus  zeigen.  Hierher  gehört  auch  der  Tereus"^), 
eine  der  geschätztesten  Tragödien,  welche  die  in  Attika  allgemein 
verbreitete  Sage  von  der  Rache  der  Prokne,  einen  echt  tragischen 
Vorwurf  und  daher  auch  später  mehrfach  behandelt,  darstellte. 

Den  troischen  Sagenkreis,  den  jüngsten  und  zugleich  populärsten 
von  allen,  hat  Sophokles  entschieden  bevorzugt.  Ungefähr  der  vierte 
Theil  seiner  Tragödien  gehört  hierher.  Vor  allem  sind  die  Gedichte 
des  Stasinus,  Arktinus  und  Lesches  benutzt.  Aber  auch  der  Home- 
rischen Odyssee  und  ihrer  Fortsetzung,  der  Telegonie,   sowie   den 


212)  Es  gab  zwei  Dramen  Namens  '4&äfiae  von  Sophokles,  aber  ver- 
schiedenen Inhalts. 

213)  In  den  yi^fiviai,  ein  Stack,  welches  Sophokles  später  umgearbeitet 
zu  haben  scheint. 

214)  Auch  hier  ist  ein  0tvevs  nqäxoi  und  Sbvteqos  zu  unterscheiden. 

21 5)  KoXxiSse,  ^xv&at,  'Pit,or6fioi. 

216)  Der  'Iva^os,  eine  Tragödie,  nicht  Satyrspiel,  wie  man  irrig  annimmt, 
gehört  wohl  mit  zu  den  frühesten  Arbeiten  des  Sophokles  and  stand  in  be- 
sonderem Ansehen. 

217)  ^Axqeis  und  zwei  verschiedene  Tragödien  nach  ßviaTrjs  benannt. 

218)  KQtovaa  ist  von  'Icav  offenbar  nicht  verschieden. 

219)  Nach  Schol.  Aristoph.  Vögel  281  hatte  Sophokles  zuerst  diese  Sage 
dramatisch  bearbeitet;  allein  Aeschylus  scheint  sich  ebenfalls  daran  versucht 
zu  haben. 


442  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

m 

Nosten  verdankt  der  Dichter  manches  tragische  Motiv."")  Bemerkens- 
werth  ist,  dafs  unter  den  zahlreichen  HeldengestaUen  dieses  Kreises 
Odysseus  den  Tragiker  am  häufigsten  beschäftigte.  Zwar  hatte  schon 
das  Epos  diesen  Charakter  in  grofsen  Zügen  lebensvoll  gezeichnet; 
aber  die  dramatische  Poesie,  welche  über  die  reichsten  Mittel  ver- 
fügt und  das  verborgene  Innere  des  Menschen  enthüllt,  braucht  den 
Wettstreit  mit  der  epischen  Dichtung  nicht  zu  scheuen.  Für  das 
grofse  Talent  des  Sittenmalers  Sophokles  war  dieser  vielgestaltige, 
unergründUche  Charakter  eine  der  dankbarsten  Aufgaben.  Dieser 
Dichter  wird  nicht  müde,  den  Odysseus  in  den  verschiedensten  Le- 
benslagen und  Verwickelungen  als  Träger  der  dramatischen  Hand- 
lung oder  doch  als  einflufsreiche  Nebenfigur  zu  verwenden. 

Scenen  aus  der  ersten  Periode  des  troischen  Krieges  waren 
Paris,  unter  Hirten  aufgewachsen  und  als  Sieger  im  Kampfspiel  von 
seinen  Eltern  wiedererkannt,  Odysseus,  der  sich  wahnsinnig  stellt, 
um  sich  der  Theilnahme  am  Kriege  zu  entziehen,  der  junge  Achil- 
les, in  Skyros  bei  den  Töchtern  des  Lykomedes  verborgen,  bereit- 
willig dem  Kampfsignale  folgend,  Iphigeneias  Opfertod  in  Aulis,  der 
Zwist  des  Achilles  und  Agamemnon  in  Tenedos,  das  Vorspiel  des 
späteren  Zornes"'),  Protesilaus'  Tod,  die  Zurückforderung  der  Helena, 
Troilus,  durch  Achilles'  Hand  fallend,  Palamedes,  auf  falsche  Anklage 
hin  zum  Tode  verurtheilt;  dann  aus  dem  letzten  Stadium  des  Krieges 
Memnon,  F'hiloktet  in  Troia*"),  der  Raub  des  Palladiums,  Laokoons 
Untergang,  der  Verrath  des  Sinon,  das  Gericht  über  den  lokrischen 
Aias  wegen  des  Frevels  an  Kassandra,  Polyxena,  an  Achilles' Grabe 
geopfert,  des  tückischen  Nauplius  Rache  bei  der  Heimfahrt  der 
Achäer,  Teukrus,  von  seinem  greisen  Vater  verstofsen,  der  vertrie- 
bene Peleus,  durch  seinen  Enkel  Neoptolemus  an  seinen  Feinden 
gerächt,  Chryses,  Agamemnons  Sohn,  welcher  in  Orestes  seinen  Bru- 
der erkennt  und  ihn  sowie  Iphigeneia  gegen  die  V^erfolgung  des  Thoas 
schützt,  Hermiones  Vereinigung  mit  Orestes,  Nausikaas  erste  Begeg- 
nung mit  Odysseus,  Odysseus'  Einkehr  b«>i  den   IMiäaken,  Odysseus' 


220)  Mit  Keclit  sagt  Athen.  VII  277  E,  Sophokles  habe  am  epischen  Kyklus 
besonderes  Wohlgefallen  gefunden. 

221)  Unrichtig  wird   diese  Tragödie  ^A%aiatv  avXXoyo»   ^   ovrSatnpot  für 
ein  Satyr.^türk  gehalten. 

222)  l'hiioktet   auf  Leinnos   ist    die   einzige   uns   erhaltene  Tragödie  des 
friiisrhen    Krt'ises. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLLTHEZEIT.  II.SOPH.       443 

Tod  durch  die  Hand  seines  Sohnes  Telegoniis  und  noch  manches 
Drama  unbestimmten  Inhalts.-*^)  Man  staunt,  wenn  man  sieht,  welche 
Fülle  wechselnder  farbenreicher  Bilder,  die  von  der  epischen  Dich- 
tung feste  Gestalt  empfangen  hatten,  hier  mit  dramatischem  Leben 
erfüllt,  von  neuem  durch  die  kunstreiche  Hand  des  Meisters  dem  Volke 
vorgeführt  wurde.'**) 

Der  dramatische  Dichter  nöthigt  den  Zuschauer,  das,  was  aufBeurtheHung 
der  Bühne  vor  sich  geht,  gleichsam  zu  reproduciren,  daher  das  Lesen  Sophokles. 
eines  Dramas  niemals  die  Aktion  zu  ersetzen  vermag.  Je  lebendiger 
der  Dichter  eine  Begebenheit  schildert,  je  mehr  er  uns  für  frem- 
des Geschick  zu  interessiren  weifs,  desto  mächtiger  ist  der  Eindruck. 
Sophokles  erfüllt  uns  mit  wärmster  Theilnahme  für  die  Gestalten 
seiner  poetischen  Welt  und  hält  uns  in  fortwährender  Spannung. 
Die  Liebe  und  Hingebung,  mit  welcher  der  Tragiker  arbeitet,  der 
Herzensantheil,  den  er  an  seinen  Charakteren  nimmt,  theilt  sich 
unwillkürUch  den  Zuhörern  mit.  Wenn  Aristoteles  die  Erweckung 
von  Furcht  und  Mitleid  als  die  höchste  Aufgabe  der  tragischen  Poe- 
sie bezeichnet  und  eben  darin  die  läuternde  und  erhebende  Wirkung 
der  Tragödie  findet,  so  war  Sophokles  dieser  Forderung  sich  voll- 
kommen bewufst.  Sophokles  hascht  nicht  nach  dem  Bührenden^^); 
er  häuft  nicht  das  Furchtbare  und  Schreckliche  über  Gebühr,  aber 
er  benutzt  diese  Motive,  wo  sie  der  gewählte  Stoff  darbietet  mit 
sicherer  Hand  und  weiser  Mäfsigung,  um  die  tragische  Katharsis 
wirksam  zu  vollziehen.  Nicht  nur  gegen  den  Schlufs  des  Dramas 
sucht  Sophokles  alle  Mittel  seiner  Kunst  aufzuwenden,  um  eine  tief 
erschütternde,  mächtig  ergreifende  Wirkung  hervorzubringen,  son- 
dern diese  Aufgabe  ist  ihm  fortwährend  vor  Augen.  Hier  leistet 
ihm  besonders  die  Amphibolie  gute  Dienste,  ein  Kunstmittel,  welches 
zwar  zuweilen  auch  bei  Aeschylus,  dann  später  bei  Euripides  er- 
scheint, aber  von  keinem  anderen  Tragiker  nach  dem  Vorgange 
Homers  so  häufig   und  zugleich  so  wirksam  benutzt   wird  als   von 


223)  Wie  die  l^vrrjvoQiSat,  AtxuaXa>xi8es,  EvQvat'txjjs. 

224)  Gelegentlich  hat  Sophokles  auch  Elegien  und  Epigramme  gedichtet, 
sowie  einen  Päan  auf  Asklepius  (s.  S.  364).  Heber  die  Prosaschrift  Tiegi  xo^^ 
s.  oben  S.  361  f. 

225)  Schol.  Soiih.  Oed.  Tyr.  264 :  «/»  (xwt^tixwZs  Ifvoiais)  y.ai  TxXeovä^ei 
Ev^hiiSt]«'  o  Ss  ^0(poxAt,e  n^oi  ßaa^v  uev  avTcäv  (iTtrsrai  jr^ös  tu  xtvrjaat 
xo  &ear^ov. 


444  «RITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300   V.  CHR.  G. 

Sophokles,  namentlich  im  ersten  Oedipus.  Unbewufst  und  ohne 
Ahnung  sprechen  die  handelnden  Personen  am  Rande  des  Abgrun- 
des, der  ihren  Augen  verborgen  ist,  Worte  aus,  deren  volle  Bedeu- 
tung nur  der  Zuschauer  zu  fassen  vermag,  der  die  drohende  Gefahr 
und  den  verderblichen  Ausgang  kennt. 

In  seinen  religiösen  Anschauungen  erinnert  Sophokles  überall 
an  Aeschylus,  während  ihn  eine  weite  Kluft  von  Euripides  scheidet. 
Euripides  wird  unablässig  von  zersetzenden  Zweifeln  gequält,  So- 
phokles steht  unangefochten  da;  sein  edles  und  reines  Gemüth  wird 
von  keinem  Zwiespalt  berührt.  Der  Wandel  der  religiösen  Ueber- 
zeugungen,  der  sich  gerade  damals  vollzog,  hat  auf  ihn  keine  Macht. 
Sophokles  gehört  seinem  innersten  Wesen  nach  noch  der  alten  Zeit 
an,  aber  diese  fromme,  gottesfürchtige  Gesinnung  äufserl  sich  in 
milderer  Form  und  mufste  eben  daher  einer  vorgeschrittenen  Zeit 
mehr  zusagen   als   die  strenge  alterthümliche  Weise  des  Aeschylus. 

Wie  der  Dichter  selbst  eine  mafsvolle,  innerlich  gefafste  Natur  ist, 
so  läuft  auch  der  sitthche  Grundgedanke  seiner  Poesie  überall  daraul 
hinaus,  dafs  der  Mensch  Mals  halte,  dafs  er  seinen  eigenen  Willen  den 
höheren  sitthchen  Mächten  unterordne  und  Resignation  üben  lerne. 
Sophokles  ist  weit  entfernt  von  dem  Gedanken  an  die  alles  beherr- 
schende Gewalt  eines  dunkeln  Verhängnisses,  welches  willkürlich  die 
Geschicke  der  Menschen  leitet.  Das  Schicksal  ist  vielmehr  das  Gesetz 
der  meuschlichen  Natur  selbst;  das  Unheil,  welches  den  Menschen  trifft, 
erscheint  mehr  oder  minder  als  nothwendige  Folge  eigener  Verschul- 
dung. Indem  der  sündige  Trotz  und  Uebermuth  gebrochen  wird, 
stellt  sich  das  Gleichgewicht,  die  sitthche  Wellordnung  wieder  her. 

Die  Vorstellung,  dafs  eine  höhere  Macht  über  des  Menschen 
Schicksal  entscheidet,  dafs  jeder  Frevel  unerbittlich  geahndet  wird, 
dafs  selbst  die  kommenden  Geschlechter  für  die  Sünden  der  Väter 
bUfsen  müssen ,  war  im  Bewufstsein  des  hellenischen  Volkes  seit 
unvordenklicher  Zeit  fest  begründet.  Sophokles,  wie  er  die  reli- 
giösen Anschauungen  seines  Volkes,  in  denen  er  aufgewachsen  war, 
treulich  aufrecht  hält,  ist  aufserdem  zu  sehr  eine  dichterische  Naiur, 
um  auf  dieses  wirksame  Motiv  zu  verzichten.  So  leiht  auch  So- 
phokles nicht  selten  den  handelnden  Personen  oder  dem  Chore  diese 
Vorstellung,  um  dadurch  den  Eindruck  des  Dämonischen  und  Heber- 
natürlichen  hervorzubringen.  Aber  nicht  minder  fest  steht  ihm  die 
Ueberzeugung  von  der  Verantwortlichkeit  «les  Menschen  in  sittlichen 


DIE  DR.\M.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  If.  SOPH.       445 

Dingen.  Den  liefsinnigen  Gedanken  des  Heraklit,  der  Charakter  des 
Menschen  ist  sein  Schicksal,  wufste  Sophokles  nach  seiner  vollen 
Bedeutung  zu  würdigen,  und  wie  der  weit-  und  menschenkundige 
Dichter  überall  ein  sittlich-psychologisches  Interesse  verfolgt,  so  sucht 
er  in  des  Menschen  eigener  Natur  den  Grund  der  heilsamen  wie 
der  unheilvollen  Entscheidung  nachzuweisen.  Ob  ihm  dieser  Ver- 
such, die  Freiheit  des  menschUchen  Willens  mit  der  Vorherbeslim- 
mung  des  Schicksals  in  Einklang  zu  bringen ,  immer  gelang ,  ist 
eine  andere  Frage.  Wer  vermag  des  Lebens  tiefstes  Geheimnifs  be- 
friedigend zu  losen,  wer  will  zwischen  verschuldetem  und  unver- 
schuldetem Leid  die  GrenzHnie  ziehen,  wer  mafst  sich  an  die  ver- 
borgenen Absichten  einer  höheren  Macht  zu  errathen  ?  Am  wenigsten 
darf  man  von  einem  Dichter  verlangen,  dafs  er  eine  endgültige  Ent- 
scheidung treffe  und  wie  ein  wohlgeschulter  Philosoph  alles  auf  eine 
abstrakte  Formel  zurückführe. 

Es  ist  nicht  schwer,  mancherlei  W'idersprüche  in  den  Tragödien 
des  Sophokles  nachzuweisen,  aber  dies  berechtigt  uns  noch  nicht 
dem  Dichter  ein  unsicheres  Schwanken  in  seinen  Ansichten  vorzu- 
werfen. In  der  Antigene  handelt  die  Heldin  ebenso  wie  Kreon 
ganz  aus  eigenem  freien  Entschlüsse,  und  beide  tragen  die  volle 
Verantworlhchkeit  für  die  Folgen  ihrer  Thaten.  Aber  das  unselige 
Verhängnifs,  welches  auf  dem  Hause  der  Labdakideu  ruhte,  bildet 
den  dunkeln  Hintergrund.  Der  Dichter  war  vollkommen  in  seinem 
Rechte,  wenn  er  den  Spuren  der  alten  Sage  folgt  und  wiederholt 
auf  den  Fluch  und  seine  unabwendbaren,  unheimlichen  Wirkungen 
hinweist.  Den  König  Oedipus  hat  der  Dichter  keineswegs  als  schuld- 
loses Opfer  eines  grausamen  Schicksals  dargestellt.*^)  Auf  ihm  lastet 
die  unsehge  Erbschaft  des  Vaters,  und  sein  leidenschafthcher  Sinn, 
sein  sicheres  Selbstvertrauen  fordern  das  Unheil  heraus.  Indem  er 
bemüht  ist  die  drohende  Gefahr  abzuwenden ,  verwickelt  er  sich 
selbst  immer  liefer  und  stürzt  in  den  Abgrund  des  Verderbens.  Im 
zweiten  Oedipus  übernimmt  der  Tragiker  selbst  die  Rechtfertigung 
des  unglücklichen.  Oedipus  hat  ein  klares  Bewufstsein  seiner  Schuld 
gewonnen,  aber  weder  der  Mord  des  Vaters,  noch  die  blutschände- 
rische  Ehe   mit  der   Mutter  waren  Werke  eines  freien  Willens."') 

226)  Vgl.  Aristot.  Poet.  c.  13,  5  p.  1453  A  11. 

227)  Oed.  Kol.  267.  .521  (wo  man  durchaus  im  Widerspruch  mit  der  Ab- 
sicht des  Dichters  sxaw  schreibt  statt  ijvsyx^  ädxav  ftiv)  962  ff. 


446  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

Unwissend  erschlug  er  den  Vater,  dem  Gebote  der  Nothwehr  folgend, 
unwissend  schlofs  er  den  ehelichen  Bund,  dem  Verlangen  der  The- 
baner  nachgebend.  Die  Götter,  die  schon  seit  langer  Zeit  dem  Ge- 
schlechte zürnten,  haben  es  so  gefügt.^^)  Dafs  auch  unverschulde- 
tes Leid  den  Menschen  trifft,  zeigt  der  Pliiloklet.  Der  Dichter,  der 
mit  frommer  Gesinnung  eine  freiere  Denkart  zu  vereinigen  wufste, 
verzichtet  hier  darauf,  künsthch  eine  Verschuldung  des  Helden  nach- 
zuweisen; er  begnügt  sich  mit  der  Andeutung,  dafs  das  schwere 
Schicksal  nicht  zufälhg  sei,  sondern  den  Plänen  einer  höheren  Welt- 
ordnung diene. 

Das  Geheimnifsvolle,  welches  in  Träumen,  Ahnungen,  dunkeln 
und  zweideutigen  Prophezeiungen  Hegt,  hat  einen  besonderen  poeti- 
schen Reiz.  Auch  Sophokles  benutzt  vielfach  solche  Motive  und  legt 
namenthch  ein  entschiedenes  Gewicht  auf  Orakel.  Es  war  dies  für 
ihn  nicht  nur  ein  wirksames  Kunstmittel,  sondern  er  scheint  einen 
fast  abergläubischen  Respekt  vor  jeder  Offenbarung  der  Zukunft  ge- 
hegt zu  haben,  im  entschiedenen  Gegensatz  zu  Euripides,  der  mit 
leidenschaftlichem  Eifer  die  Weissager  und  ihre  Sprüche,  den  Apollo 
und  das  delphische  Orakel  verhöhnt.  Dafs  Sophokles  sich  nicht 
beirren  liefs,  durch  Rücksichten  auf  die  grofse  Zahl  der  Zeilgenossen, 
welche  den  Glauben  an  Weissagungen  vollständig  verloren  halten, 
mag  man  gelten  lassen.  Aber  er  hätte  mehr  Mafs  hallen  sollen*"), 
schon  weil  ein  allzu  häufiger  Gebrauch  die  Wirkung  jedes  Kunst- 
mittels abschwächt.  Aufserdem  aber  wird  auch  die  Freiheit  der 
Handelnden  wesentlich  beeinträchtigt,  wenn  der  Dichter  selbst  bei 
den  geringfügigsten  Anlässen  die  Orakel  herbeizieht.'*) 

Der  sittliche  Ernst  des  Tragikers  giebt  sich  in  zahlreichen  Gno- 
men kund,  aber  Sophokles  beobachtet  hier  eine  verständige  Mäfsi- 
gung.  Er  ergeht  sich  nicht  in  breiten  oder  ungeliürigen  Rellexionen ; 
diese  Sittensprüche  und  Lebensregeln  sind  der  Situation  und  den 
Charakteren  genau  angepafst.  Und  wenn  auch  manches  Wort,  wie 
68  die   dramatische  Poesie    mit  sioli    bringt,    nur  als  Ansdnirk    d«'r 

T2H)  Oed.  Kol.  964. 

22'.))  Dieses  Uebermars  trilt  besonders  im  Oedipus  auf  Kolonos  störend 
hervor. 

230)  In  der  Elektra  35  ff.  gebietet  Apollo  dem  Orestes  die  Blutraciie  paiiz 
allein  mit  listigem  Anschlag,  ohne  Hülfe  eines  Heeres  von  Riindesgonosscii,  zu 
volleiK-'kpii     (lios  ist  ii«'lli>itv«»r>.(:i  11(1  lieh,  dazu  bedurfte  es  keines  Orakels. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.   II.SOPH.       447 

momentanen  Stimmung,  der  leidenschaftlichen  Befangenheit  der  Han- 
tdelnden  betrachtet  werden  darf,  wenn  besonders  bei  lebhafter  De- 
batte geradezu  entgegengesetzte  Ansichten  sich  geltend  machen,  so 
tritt  uns  doch  in  den  Tragödien  des  Sophokles  eine  in  sich  abge- 
schlossene ethische  Weltanschauung  entgegen.  Für  sein  Vaterland 
hat  der  Dichter  ein  warmes  Herz,  aber  er  vermeidet  Anspielungen 
auf  bestimmte  Zeitverhältnisse.  INoch  viel  weniger  briugt  er  Per- 
sonen der  Gegenwart  unter  der  Hülle  mythischer  Charaktere  auf  die 
Buhne.  Sophokles  trägt  Scheu,  auf  diese  Weise  den  ehrwürdigen 
Gestalten  der  Sage  zu  nahe  zu  treten  und  dadurch  zugleich  die  Selb- 
ständigkeit der  tragischen  Poesie  zu  beeinträchtigen. 

Hatte  schon  Aeschvlus   den  Umfang  der  Chorlieder  bedeutend  Der  Chor 

®  des 

ermäfsigt,  um  die  dramatische  Handlung  zu  ihrem  Rechte  kommen  Sophokles, 
zu  lassen,  so  geht  Sophokles  noch  einen  Schritt  weiter.  Der  Chor 
wird  immer  mehr  aus  seiner  früheren  Stellung  verdrängt;  er  ist 
jedoch,  obwohl  nur  noch  ein  dienendes  Ghed,  nicht  müfsig.  Der 
kunstverständige  Dichter  gebraucht  ihn  als  willßihriges  Werkzeug  für 
seine  Intentionen  und  weifs  sehr  geschickt  damit  geeignete  Wirkun- 
gen zu  erzielen. 

Giebt  auch  der  Chor  des  Sophokles  seinen  individuellen  Cha- 
rakter auf,  so  ist  doch  die  Auswahl  des  Personals  nicht  gleichgültig. 
Im  .\ias  und  Philoktet  bilden  Krieger  den  Chor;  damit  ist  ein  nähe- 
res persönliches  Verhältnifs  der  AnhängUchkeit  und  Treue  gegeben. 
In  der  Antigone  besteht  der  Chor  nicht  aus  Frauen,  wie  sonst  meist 
in  Tragödien,  wo  einer  Frau  die  Hauptrolle  zugetheilt  ist,  sondern 
aus  thebanischen  Greisen ;  so  erscheint  Antigone  vollständig  verein- 
samt. Aber  gerade  die  Isohrung  dient  dazu,  die  Gröfse  dieses  Charak- 
ters in  desto  helleres  Licht  zu  setzen.  Andererseits  sind  die  Greise, 
denen  vor  allem  oblag  die  Ordnung  und  Wohlfahrt  des  Staates  aufrecht- 
zuhalten, wohl  geeignet,  die  Ansichten  des  Kreon  zu  unterstützen. 

Der  Chor  des  Sophokles,  obgleich  von  der  Handlung  ausge- 
schlossen, ist  kein  müfsiger  Zuschauer,  kein  theilnahmloser  Beobach- 
ter. Bald  mehr  bald  minder  interessirf^')  und  den  handelnden  Per- 
sonen ergeben,  nimmt  er  aufrichtigen  Antheil  an  ihrem  Geschick. 
Er  ordnet  sich  unter,  aber  ohne  knechtische  Unterwürfigkeit,  ohne 

231)  Sein  eigenes  L'nglück  hebt  der  Chor  nnr  im  Äias,  einem  der  älteren 
Stücke,  wiederholt  hervor.  Auch  im  Oed.  Kol.  1239  findet  sich  eine  flüchtige 
persönliche  Beziehung. 


448  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

auf  seine  eigenen  Ansichten  zu  verzichten.  Daher  tröstet  der  Chor 
oder  ertheilt  Rath,  spricht  seine  Hoffnungen  oder  Besorgnisse  aus. 
Je  weniger  direkten  Anlheil  der  Chor  an  der  Handhing  hat,  desto 
mehr  tritt  die  Reflexion  des  Verslandes  hervor.  Aber  diese  allge- 
meinen Gedanken  über  das  menschliche  Leben,  welche  der  Dichter 
aus  dem  Schatze  seiner  Erfahrung  einflicht,  diese  religiösen  und 
sitthchen  Betrachtungen,  in  denen  sein  frommes  Gemüth  sich  offen- 
bart, haben  immer  Bezug  auf  die  Handlung."'*)  Zu  gleichem  Zwecke 
werden  Ereignisse  der  Vorzeit  benutzt,  welche  entweder  die  früheren 
Schicksale  des  erlauchten  Hauses  ins  Gedächtnifs  zurückrufen  oder 
als  passende  Parallele  dienen. 

Die  ChorUeder  sind  nicht  losgelöst  von  den  Vorgängen  auf  der 
Buhne,  sondern  schliefsen  sich  an  das  Vorhergehende  und  Folgende 
an,  bereiten  schicklich  die  kommenden  Ereignisse  vor.'"')  Indem 
der  Chor  sympathisch  in  die  Klagen  der  Handelnden  einstimmt,  aus- 
führlich ihr  trauriges  Geschick  schildert,  bringt  er  die  Gröfse  des 
Unglücks  uns  recht  zum  Bevvufstsein  und  steigert  so  die  tragische 
Wirkung.  Aber  dann  benutzt  der  Dichter  auch  wieder  den  Chor, 
um  den  mächtigen  Eindruck,  den  die  erschütternden  Ereignisse 
hinterlassen,  zu  ermäfsigen,  damit  der. Zuschauer  nicht  ermalte  und 
die  rechte  Empfänglichkeit  nicht  verliere.  Der  Gegensatz  zwischen 
der  gefafsten  Haltung  des  Chores  und  der  leidenschaftlichen  Er- 
regung der  Handelnden  wirkt  wohlthuend.  Indem  der  Dichter  uns 
in  die  Region  ruhiger  Betrachtung  einführt,  werden  die  Gefühle  ge- 
klärt, welche  die  aufserordentlichen  Thaten  und  Schicksale,  die  ver- 
hängnifsvollen  IrrthUmer  und  Gefahren  hervorrufen.  Mitten  im  Auf- 
ruhr der  Leidenschaften,  welche  auf  die  höchste  Spitze  gelrieben 
sind,  macht  sich  die  Reaktion  des  Verstandes  geltend,  der  die  Herr- 
schaft über  die  peinlichen  Empfindungen  zu  gewinnen  bemüht  ist. 
So   benutzt  Sophokles   mit  weiser  Berechnung   den  Chor,   um   die 

232)  So  in  der  Anügone  3S2  über  die  unheilvollen  Folgen  der  in  einem 
Geschlecht  sich  forterbenden  Schuld,  oder  ebendaselbst  781  über  die  Gewalt 
der  Liebe,  ein  Thema,  welches  auch  in  den  Trachin.  497,  aber  in  ganz  neuer 
Weise  behandelt  wird.  Oefler  nimmt  das  Chorlied  den  Charakter  eines  Lob- 
gesanges auf  eine  Gottheil  an ,  wie  sich  solche  hymnenartige  Lieder  auch  bei 
den  anderen  Tragikern  finden. 

233)  So  wird  die  Parodos  zur  Vervollständigung  der  Exposition  Itenutzt. 
Im  Philoktet  deutet  der  Schiufs  des  Chorliedes  719  ff.  auf  die  glückliche  Lö- 
sung hin. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  IF.  SOPH.      449 

verschiedenartigsten  Intentionen  zu  unterstützen.  Daher  darf  man 
auch  vom  Chore  keine  Consecpienz,  keine  feste  Ansicht  verlangen 
oder  glauben,  in  seinen  Worten  überall  des  Dichters  eigene  Gedanken 
oder  eine  endgültige  Entscheidung  zu  vernehmen.  Das  Urtheil  des 
Chores  ist  nicht  frei  von  Befangenheit;  indem  er  sich  den  Eindrücken 
des  Augenblicks  hingiebt,  können  Widersprüche  nicht  ausbleiben. 
Der  Chor  rühmt  sich  zwar  zuweilen  seiner  Sehergabe^),  aber  nicht 
seilen  trägt  er  sich  mit  trügerischen  Hoffnungen,  wenn  das  Unheil 
unmittelbar  bevorsteht.  Im  Aias  glaubt  er  an  die  Sinnesänderung 
des  Helden;  im  Oedipus  theilt  er  den  Irrthum  des  Unglücklichen; 
in  den  Trachinierinnen  erwartet  er  Gutes  von  der  verhängnifsvoUen 
Gabe  der  Deianeira.  In  solchen  Momenten  pflegt  Sophokles  dem 
Chore  ein  heiteres  Lied  zu  geben.*^*)  Der  Chor  ist  in  seiner  Be- 
fangenheit ein  getreues  Abbild  der  menschlichen  Natur,  die  hart  am 
Abgrunde  des  Verderbens  sich  arglos  eitler  Freude  überläfst.  Der 
Zuschauer,  der  weiter  sieht,  theilt  diese  kurzsichtige  Selbsttäuschung 
nicht,  aber  die  Wahrheit  des  Lebensbildes  bewegt  ihn  stärker,  als 
wenn  alle  Reizmittel  des  tragischen  Pathos  in  Bewegung  gesetzt 
würden.  Sophokles,  der  Meister  der  dramatischen  Technik,  verfährt 
mit  weiser  Mäfsigung;  statt  zu  steigern,  schlägt  er  einen  anderen 
Ton  an  und  macht  vom  Contraste  den  glücklichsten  Gebrauch.  Er 
weifs,  dafs  aus  der  Dissonanz  die  Harmonie,  aus  dem  Gegensatz  die 
Versöhnung  hervorgeht. 

Im  Wechselverkehr  mit  den  handelnden  Personen,  namentlich 
in  den  kommatischen  Gesängen  ^),  dann  aber  auch  in  leidenschaft- 
lichen Scenen,  wenn  der  Chorführer  bei  hitzigem  Wortwechsel  Mäfsi- 
gung anempfiehlt,  oder  bei  anderen  untergeordneten  Anlässen"^) 
versieht  auch  in  der  Sophokleischen  Tragödie  der  Chor  gewisser- 
mafsen  die  Funktion  eines  Schauspielers. 

Sophokles  hat  den  Chor  so  verwandt,  dafs  er  als  ein  integri- 


234)  So  im  König  Oedipus  1086,  wo  das  Gegentheil  eintritt,  oder  Elektra 
472,  wo  allerdings  die  Erwartungen  in  Erfüllung  gehen;  allein  zu  dieser  Pro- 
phezeiung bedurfte  es  keiner  besonderen  Voraussicht. 

235)  Aias  693,  Trach.  633,  Antig.  1115,  Oed.  Tyr.  1086. 

236)  Z.  B.  Philoktet  1081  —  1217. 

237)  Vgl.  Oed.  Kol.  461  ff.  Bei  solchen  Gelegenheilen  spricht  der  Chor 
in  Trimetern ;  doch  macht  Sophokles  davon  weit  beschränkteren  Gebrauch  als 
Euripides. 

Rergk,  Griech.  Literaturgeschichte  III.  29 


450  DRITTE    PERIODE   VON    500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

render  Theil  des  Dramas,  nicht  blofs  als  eine  entbehrliche  Zugabe 
oder  gar  als  störendes  Element  erscheint;  mit  grofser,  bewufster 
Kunst  gebraucht  ihn  der  Dichter  für  die  verschiedensten  Zwecke  und 
weifs  damit  glückliche  dramatische  Wirkungen  zu  erzielen.  Daher 
finden  die  Alten  in  dieser  Weise  die  Bestimmung  des  Chores  aufs 
Vollständigste  erfüllt.»^) 

Die  Chorlieder  des  Sophokles  mit  ihrer  anmuthigen  Frische, 
mit  der  gefälligen  Eleganz  der  Diktion  und  den  leichten  sangbaren 
Weisen  fanden  allgemeinen  Anklang.*'®)  Freilich  die  Fülle  der  Em- 
pfindungen und  Tiefe  der  Gedanken,  die  Kühnheit  und  Pracht  der 
Bilder  und  Worte,  die  reiche  Mannigfaltigkeit  rhythmischer  Formen, 
welche  die  Gesänge  des  Aeschylus  auszeichnet,  geht  dem  Sophokles 
ab.  Aeschylus  war  eben  ein  entschieden  männlicher  Charakter, 
Sophokles  eine  mehr  weibliche  Natur;  daher  haben  seine  Chore 
nicht  das  mächtig  Ergreifende,  sondern  athmen  mehr  einen  ruhig- 
friedlichen Geist.  Während  Aeschylus'  Lied  wie  ein  gewaltiger  Strom 
sich  ausbreitet  und  alles  mit  fortreifst,  ermäfsigt  Sophokles  den  un- 
gestümen Ergufs  der  tragischen  Muse;  er  hält  sich  auf  einer  ge- 
wissen mittleren  Hohe,  gleich  weit  entfernt  von  dem  feierlichen  Ernste 
seines  Vorgängers,  wie  von  der  leichten,  glatten  Art  des  Euripides. 
Aber  was  Sophokles  dem  Chore  in  den  Mund  legt,  ist  wahr  und 
warm  empfunden  und  spricht  zum  Herzen.  Der  Ausdruck  warmer 
Gefühle,  besonders  schmerzlicher  Wehmuth,  gehngt  dem  Dichter  vor- 
zugsweise. Diese  Lieder,  obwohl  sie  in  einem  bestimmt  abgegrenzten 
Kreise  sich  bewegen,  sind  nicht  eintönig.  Sophokles,  wie  er  überall 
mit  gröfster  Besonnenheit  verföhrt,  wie  er  genau  das  Verhältnifs 
jedes  einzelnen  Theiles  zum  Ganzen  abwägt  und  die  Wirkung  be- 
rechnet, sorgt  für  Abwechselung.  Die  vollendete  Sauberkeit  der 
Form,  der  leichte  Flufs  und  Wohllaut  der  Verse  ist  unzweifelhaft 
das  Ergebnifs  sorgfältiger  Arbeit;  aber  man  empfängt  durchaus  den 
Eindruck  mühelosen  Schaffens. 

Der  poetische  Gehalt  der  Chorlieder  ist  nicht  überall  der  gleiche. 
Ain  höchsten  steht  in  dieser  Beziehung  König  Ocdipus.    Wie  dieses 


238)  Arislot.  Poet.  c.  18  p.  1 15«)  A  25  ff.,  Horaz  A.  P.  193. 

239)  Das  y^^fvQÖv  und  t^Sinöv  wird  gerahmt  Schol.  Ued.  Koi.  668,  da» 
r,8v  Schol.  Ai.  1193,  besonders  auch  in  den  Tanzliedern  vor  der  Kalastrophe, 
8.  Schol.  Ai.  693. 


DIE  DRAM  POESIE.    DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRIPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  II.SOPH.       451 

Drama  eine  ungewöhnliche  Kraft  und  Energie  mit  tiefer  Empfin- 
dung verbindet,  so  gilt  dies  auch  von  den  mehschen  Partien,  welche 
die  mächtige  Wirkung  der  Tragödie  wesentlich  unterstützen.  Die 
Reflexion  erscheint  hier  gemäfsigt;  der  Chor  nimmt  warmen  Antheil 
und  spricht  dieses  Gefühl  in  angemessener  Weise  aus.  Die  Gesänge 
in  der  Antigene,  obwohl  von  vollendeter  Schönheit  der  Form,  be- 
friedigen weniger;  sie  entsprechen  nicht  überall  der  Bedeutung  der 
Handlung."")  Wenn  Antigene  zum  Tode  fortgeführt  wird,  so  wendet 
sich  der  Chor  von  der  Gegenwart  ab  und  versenkt  sich  in  Erinnerun- 
gen aus  der  Vorzeit.  Dies  hat  etwas  Kaltes  und  Unbefriedigendes; 
die  berechtigten  Forderungen  des  Gemüthes  werden  hier  zu  wenig 
berücksichtigt.  Noch  weit  geringer  ist  die  dramatische  Wirkung  des 
Chores  in  der  Elektra. 

Mit  grofser  Kunst,  unter  steter  Rücksicht  auf  die  Verschieden-  Der  Dialog. 
heit  der  Charaktere  und  die  Mannigfaltigkeit  der  Situationen ,  be- 
handelt Sophokles  den  Dialog.  Die  Gedanken  wie  der  Ausdruck 
sind  genau  abgewogen,  alles  darauf  berechnet,  eine  bestimmte  Wir- 
kung zu  üben.  Der  Entfaltung  des  Charakters  dient  ebenso  gut  das 
ruhige  Zwiegespräch  wie  der  leidenschaftliche  Wortwechsel,  wo  mit 
schneidender  Dialektik  Vers  um  Vers  Rede  und  Gegenrede  aufeinan- 
derfolgen ,  wo  der  eine  den  anderen  immer  zu  überbieten ,  die 
Gründe  des  Gegners  zu  widerlegen  oder  doch  zu  schwächen  sucht, 
indem  er  sie  ihm  vorwegnimmt  und  ihnen  so  die  Spitze  abbricht. 
Gerade  solche  Scenen  sind  höchst  kunstvoll  nach  einer  bestimmten 
Methode  aufgebaut.  Aber  dabei  hält  sich  Sophokles  von  der  streng 
Conventionellen  Art  wie  von  den  sophistischen  Künsten  des  Euri- 
pides  fern.  Die  Gründe,  mit  welchen  die  Streitenden  ihre  Sache 
führen ,  sind  meist  aus  der  jedesmaligen  Lage ,  aus  dem  Charakter 
der  Redenden  hergeleitet,  werden  im  Tone  aufrichtiger  Ueberzeugung 
vorgetragen  und  üben  eben  deshalb  eine  mächtigere  Wirkung  aus 
als  täuschende  Scheingründe.  Vom  Monologe,  den  die  beständige 
Gegenwart  des  Chores  nicht  wohl  gestattete,  wird  nur  selten  Ge- 
brauch gemacht."')  Dagegen  sind  Scenen,  an  denen  alle  drei  Schau- 
spieler sich  bctheihgen,  häufiger ;  doch  ist  auch  hier  das  Zwiegespräch 
vorherrschend.     In  den   zahlreichen,  bald  längeren,  bald  kürzeren 


240)  Natürlich  das  gewaltige  Stasimon  Antig.  582  ff.  ist  auszunehmen. 

241)  So  im  Aias  und  im  Prolog  der  Trachinierinnen. 

29* 


452  DRITTE    PERIODE   VON    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

Botenberichten  tritt  das  Talent  des  Tragikers   für  charakteristische 
Darstellung  recht  deutlich  hervor."*) 
Concentra-  Indem  Sophoklcs  die  festgeghederte,  einheithche  Trilogie  auf- 

tion  des       .   .  i    •       •    i         r.  •  •     ■        w-. 

Stoffes,  giebt  und  m  jedem  Drama  ein  tragisches  Ereignifs  für  sich  darstellt, 
verlangt  die  Geschlossenheit  der  selbständigen  Tragödie  eine  weit 
gröfsere  Concentration  des  Stoffes.  Aeschylus,  der  die  ursprüng- 
liche Form  der  trilogischen  Composition  festhielt,  vermochte  selbst 
eine  verwickelte  Schicksalsverflechtung  in  ihrem  ganzen  Verlaufe  dar- 
zustellen. Sophokles  verzichtet  auf  diese  breite  Behandlung  des 
Mythus;  er  versetzt  uns  sofort  mitten  in  die  Begebenheiten,  indem 
er  das  Vorausliegende  entweder  als  bekannt  voraussetzt  oder  an 
passender  Stelle  nachholt.  Die  Manier  des  Euripides,  die  Voraus- 
setzungen der  dramatischen  Verwickelung,  selbst  wenn  sie  einfach 
und  jedermann  gegenwärtig  sind,  in  einem  ausführlichen  Vorberichte 
mitzutheilen ,  dann  aber  wieder  über  den  Abschlufs  der  Handlung 
hinauszugehen  und  eine  Aussicht  in  die  Zukunft  zu  eröffnen,  sagt  dem 
künstlerischen  Takte  des  Sophokles  nicht  zu.  Er  hält  sich  inner- 
halb der  selbstgezogenen  Grenzen,  versieht  aber  in  dieser  Beschrän- 
kung eine  Fülle  dramatischen  Lebens  zu  entwickeln.  Indem  Sopho- 
kles einen  dritten  Schauspieler  einführt,  vermag  er  den  zweiten 
Darsteller  vollständig  zu  verwerlhen.  So  gelangt  auch  die  Gegen- 
partei zu  ihrem  Rechte;  der  Kampf  der  feindlichen  Gewalten  wird 
unmittelbar  zur  Anschauung  gebracht  und  so  eine  wahrhaft  drama- 
tische Aktion  ermöglicht."")  Durch  Nebenfiguren  wird  tue  Handlung 
erweitert;  so  gewinnt  selbst  ein  einfacher  Stoff  Mannigfaltigkeit. 
Diese  contrastirenden  oder  ergänzenden  Gestalten  dienen  besonders 
auch  dazu,  die  Träger  der  Handlung  in  die  rechte  Beleuchtung  zu 
rücken.  Wie  passend  ist  nicht  der  schrofl'en,  trotzigen  .4ntigone  die 
milde  Schwester,  dem  Kreon  sein  Sohn  Hämon  zur  Seite  gestellt! 
Vor  der  Gefahr,  die  Nebenhandlung  allzusebr  auszudehnen,  bewahrt 
den  Sophokles  ebenso  die  knapp  bemessene  Zeit,  wie  sein  mafs- 
haltender  Sinn.    Wegen  dieser  Gedrungenheit  der  Handlung  ist  der 


242)  Der  ängstliche  Wächter  in  der  Antigone  (223  (f.),  der  nicht  zur  Sache 
kommen  kann,  weicht  von  dem  üblichen  Stil  der  Tragödie  ab,  ist  aber  ganz 
naturgetreu  gezeichnet. 

243)  AeschyluR  schlierst  sich  in  den  Arbeiten  seiner  letzten  Periode  an 
Sophokles  aji.  , 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  II.SOPU.      453 

Tragiker  sichtlich  bemüht,  die  Einheit  der  Zeit  und  des  Ortes  streng 
innezuhalten."^) 

In  der  Auswahl  und  Gestaltung  des  Stoffes  unterscheidet  sich^uswahi  des 
Sophokles  wesenthch  von  seinem  Vorgänger.  Aeschylus  in  seiner 
schlichten  Weise  liebt  die  einfache  Fabel;  Sophokles  zieht  die  ver- 
flochtene Handlung  vor,  welche  ein  sorgfältiges  Motiviren  erfordert 
und  für  die  Charakterzeichnung  besonders  günstig  ist.  Daher  werden 
plötzlicher  Schicksalswechsel  und  Erkennungsscenen  in  wirkungs- 
vollster Weise  angewandt;  auch  das  künstlich  verschlungene  Spiel 
der  Intrigue  fehlt  nicht. 

Die  einzelnen  Scenen  sind  nicht  äufserlich  aneinandergereiht,  Durchiüh- 
sondern  kunstreich  verflochten.  Nach  überdachtem,  wohlerwogenem  Hanlfiuii" 
Plane  wird  die  Handlung  zu  Ende  geführt.  Die  Symmetrie  der  Con- 
struktion  wird  auch  von  Sophokles  treu  bewahrt  und  dabei  vom 
Contraste  der  wirksamste  Gebrauch  gemacht.  Ueberall  in  der  An- 
lage der  Stücke,  in  der  Anordnung  der  Handlung  erkennt  man  den 
hohen  Runstverstand  des  Tragikers.  Sorgfältig  wird  das  Einzelne 
vorbereitet  und  motivirt;  alles  ist  darauf  berechnet,  die  treibenden 
Kräfte,  welche  die  Handelnden  unwiderstehUch  mitfortreifsen ,  an- 
schaulich zu  machen.  In  allmähUcher  Steigerung  wird  die  Hand- 
lung bis  zum  Höhepunkte  geführt;  für  diesen  entscheidenden  Mo- 
ment werden  die  reichsten  Mittel  der  Poesie  aufgespart.  Ist  der 
Held  auf  der  Höhe  angelangt,  wird  er  durch  die  Gewalt  der  Um- 
stände abwärts  getrieben,  so  begnügt  sich  Sophokles  mit  einer  mehr 
summarischen  Ausführung.  Mit  der  Umkehr  beginnt  eben  für  den 
dramatischen  Dichter  der  schwierigste  Theil  seiner  Aufgabe.  Un- 
willkürhch  läfst  die  Spannung  nach ;  es  gilt  durch  erhöhte  Energie, 
durch  neue  überraschende  Momente  die  Aufmerksamkeit  zu  fesseln 
und  eine  tragische  Wirkung  zu  erzielen.  Die  Kunst  des  Sophokles 
bewährt  sich  auch  hier;  doch  gehngt  es  ihm  nicht  immer,  das  Inter- 
esse unvermindert  wachzuhalten,  und  der  Schlufs  befriedigt  in  ge- 
ringerem Grade. 

Sophokles,  an  Jahren  jünger  als  Aeschylus,  älter  als  Euripides  Der  Kunst- 
und  mit  beiden  viele  Jahre  am  tragischen  Wettkampfe  sich  bethei-  ^''^ra'"«'" 
ligend,  nimmt  eine  mittlere  Stellung  ein,  doch  steht  er  dem  älteren  Sophokles. 


244)  Im  Aias  findet  ein  Wechsel  der  Scenerie  statt;  ebenso  wird  die  Zeit 
mit  zulässiger  Freiheit  behandelt. 


454  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Meister  weit  näher  als  dem  Vertreter  der  jüngeren  Tragödie.  In 
der  Kunst  geht  naturgemäfs  das  Strenge  und  Erhabene  dem  An- 
inuthigen  und  GefälUgen  voraus,  während  das  Schöne  die  Gegen- 
sätze einträchtig  verbindet.  Diese  Mitte  zu  erreichen  ist  in  der 
Regel  nur  wenigen  vergönnt.  Sophokles'  reichbegabte  Dichternatur, 
die  stets  auf  die  höchsten  Ziele  gerichtet  war  und  unablässig  an 
ihrer  Fortbildung  arbeitet,  vereinigt  Gröfse  mit  Anmuth.  Die  Vor- 
züge, welche  uns  bei  den  anderen  gesondert  entgegentreten,  erschei- 
nen hier  harmonisch  zusammenwirkend.  Bei  Sophokles  übt  kein 
Element  ein  störendes  Uebergewicht  aus;  was  die  Früheren  oder 
Zeitgenossen  Trefdiches  geleistet,  nimmt  er  in  sich  auf,  um  es  selb- 
ständig zu  verarbeiten. 

Während  bei  Aeschylus  alles  kühn  und  grofsartig  angelegt  ist 
und  die  charakteristische  Darstellung,  sowie  die  vollendete  Schönheit 
nur  insoweit  zu  ihrem  Rechte  gelangen,  als  sie  der  Gröfse  dienen, 
strebt  Sophokles  vor  allem  nach  Mafs  und  Harmonie.  Eine  gewisse 
Ruhe,  die  wohlthuend  wirkt,  zeigt  sich  selbst  in  der  Leidenschaft; 
und  doch  erreicht  das  dramatische  Leben  bei  Sophokles  seinen  Höhe- 
punkt, während  Euripides  häufig  über  das  rechte  Mafs  hinausgeht 
und  daher  nur  selten  rechte  Befriedigung  und  Erhebung  des  Ge- 
müthes  gewährt.  Milde  und  Anmuth  werden  schon  von  den  Alten 
als  das  besondere  Merkmal  der  Sophokleischen  Art  bezeichnet.  Aber 
man  darf  darin  nicht  das  ausschliefsliche  Gesetz  seines  Stiles  er- 
blicken. Der  gefälligen  Glätte  ist  so  viel  Rauheit,  dem  Zarten  so  viel 
Herbes  beigemischt,  dafs  man  nicht  recht  weifs,  nach  welcher  Seite 
der  Dichter  vorzugsweise  hinneigte;  denn  das  Talent  des  Sophokles 
ist  viel  zu  reichhaltig,  er  übt  seine  Kunst  zu  sehr  mit  klarem  Ver- 
ständnifs  und  Bewufstsein,  als  dafs  er  lediglich  dem  inneren  Zuge 
seiner  Natur  folgen  sollte.  Und  gerade  dieser  oft  schneidende  Con- 
irast  zwischen  Strenge  und  Milde,  zwischen  leichter  Eleganz  und 
alterthümlicher  Hoheit  übt  die  mächtigste  Wirkung  aus.  Dem  Dich- 
ter ist  es  vor  allem  um  Wahrheit  und  Treue  der  Darstellung  zu 
thun,  und  so  wendet  er  nach  BedUrfnifs  die  verschiedensten  Mit- 
tel der  Kunst  an.  Aber  in  der  Art,  wie  Sophokles  durch  Ab- 
stufung, durch  unmerkliche  Uebergänge,  durch  richtige  Vertheilung 
von  Licht  und  Schalten  das  Verschiedenste  harmonisch  zu  vereinigen 
weifs,  zeigt  sich  seine  Meisterschaft. 

Aeschylus  ist  unbestritten  eine  reichere,  gewaltiger«'  N.iiiir.    Nur 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  II.SOPH.      455 

ein  wahrhaft  originaler  Dichter  konnte  so  wie  Aeschylus  Begründer 
und  Gesetzgeber  der  Tragödie  werden ;  ihm  gebührt  mit  vollem  Recht 
die  erste  Stelle.  Allein  diese  Anerkennung  darf  uns  gegen  die  sin- 
nige Dichternatur  des  Sophokles,  der  die  Erfindungen  seines  grofsen 
Vorgängers  weiter  fortbildet  und  verfeinert,  nicht  ungerecht  machen. 
Nur  wird  ein  unbefangener  Beurtheiler  nicht  alles  in  herkömmUcher 
Weise  bewundern,  noch  weniger,  durch  den  eigenthümhchen  Zauber 
dieser  Poesie  gefesselt,  den  Sophokles  unbedingt  über  Aeschylus 
erheben. 

Den  überheferten  Stoff  weifs  Sophokles  so  zu  gestalten,  dafs  Sophokie«' 
er  den  Regeln  der  dramatischen  Composilion  wie  den  Anforderun-  zur  sage. 
gen  des  höheren  sitthchen  Gesetzes  entspricht.  Sobald  es  die  Rück- 
sicht auf  die  Idee  des  Stückes,  auf  die  künstlerische  Anlage  verlangt, 
nimmt  er  keinen  Anstand,  von  der  Sage  abzuweichen.  Aber  er 
ändert  dieselbe  nicht  willküriich  ab,  blofs  um  etwas  Neues  vorzu- 
bringen oder  einen  momentanen  Effekt  zu  erzielen.  Sophokles  tritt 
noch  mit  einer  gewissen  Scheu  und  Ehrfurcht  an  die  Mythenwelt 
heran.  Gleichwohl  konnte  er  nicht  umhin,  die  alte  Heldengeschichte 
öfter  selbst  in  freier  Weise  umzubilden.  Da  bereits  die  Vorgänger 
vieles  vorweggenommen  hatten,  so  galt  es,  neue  Stoffe  einzuführen 
oder  die  schon  von  den  Früheren  bearbeitete  .Aufgabe  in  anderer 
Beleuchtung  zu  zeigen.  Dies  geUngt  dem  Dichter  besonders  auch 
dadurch,  dafs  er  Frauencharaktere  in  den  Vordergrund  rückt,  wie 
in  der  Elektra,  wo  Orestes  sich  mit  der  zweiten  Rolle  begnügt,  oder 
in  den  Trachinierinnen.  Am  häufigsten  traf  Sophokles  mit  Aeschy- 
lus in  demselben  Thema  oder  doch  ähnlichen  Motiven  zusammen. 
Das  unleugbare  Talent  des  jüngeren  Dichters  bewährt  sich  oft  auf 
das  Ueberraschendste.  Er  kopirt  nicht  seinen  grofsen  Vorgänger, 
sondern  es  gelingt  ihm,  der  Aufgabe  neue  Seiten  abzugewinnen. 
Aber  öfter  hat  dieses  Ausweichen  von  der  breiten  Bahn  etwas  Künst- 
liches, während  Aeschylus  in  seiner  Schlichtheit,  in  seinem  offenen 
Sinne  für  das  Natürliche  das  Rechte  getroffen  hatte.  Sophokles  ar- 
beitet mit  Bewufstsein;  er  war  sicher  im  Stande,  von  allem,  was  er 
that,  Rechenschaft  zu  geben.  Aber  der  angeborene  Instinkt  leitet 
oft  richtiger  als  die  Berechnung;  es  kann  ein  Zug  für  den  Mo- 
ment wirksam  und  schicklich  sein,  während  er  für  das  Ganze  sich 
nachtheilig  erweist.  Dies  ist  dem  Sophokles  mehr  als  einmal  be- 
gegnet 


456  DRITTE   PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Die  freiere  Sopliokles  hat  die  streog  geschlossene  Tetralogie,  deren  er  sich 
"'^|.^'*^^^nach  Aeschylus'  Vorgange  anfangs  noch  öfter  bedienen  mochte,  mit 
Sophokles,  der  freieren  Form  vertauscht,  welche  bald  allgemeine  Geltung  ge- 
winnt. Jedes  Drama  ist  eine  vollkommen  selbständige  Dichtung; 
aber  nach  wie  vor  betheiligt  sich  Sophokles  jedes  Mal  mit  drei  Tra- 
gödien und  einem  Satyrspiel  am  Wettkampfe  *^*);  an  eine  Auffüh- 
rung einzelner  Stücke  ist  nicht  zu  denken.^^^)  Leider  verläfst  uns 
die  Ueberlieferung  gerade  über  die  Tetralogie  des  Sophokles.  Nir- 
gends werden  die  Titel  der  gleichzeitig  aufgeführten  Dramen  ver- 
zeichnet ;  wir  wissen  daher  auch  nicht,  wie  die  Kunst  des  Dichters  die 
verschiedenen  tragischen  Stoffe  mit  einander  verband  und  gruppirte. 

Es  ist  reine  Willkür,  wenn  man  die  drei  noch  vorhandenen 
Tragödien  des  thebanischen  Sagenkreises  zu  einer  einheitlichen 
Trilogie  vereinigen  will.  Diese  Hypothese  hat  die  wohlbeglaubigte 
Ueberlieferung  des  Alterthums  gegen  sich.  Die  Antigone  war  kurz 
vor  dem  samischen  Kriege  Ol.  84,  3  aufgeführt;  den  Oedipus  auf 
Kolonos  schrieb  der  Dichter  in  der  letzten  Zeit  des  peloponne- 
sischen  Krieges,  Ol.  93,  3,  und  erlebte  nicht  einmal  die  Aufführung 
dieses  Dramas,  welche  erst  Ol.  94,  3  erfolgte.  So  hegt  zwischen 
beiden  Tragödien  mehr  als  ein  Menschenalter.  Wann  der  König 
Oedipus  aufgeführt  wurde,  ist  nicht  überliefert,  aber  so  viel  steht 
fest,  dafs  er  weder  der  Zeit  der  Antigone,  noch  des  zweiten  Oe- 
dipus angehören  kann.'*^) 

Noch  viel  entschiedener  sprechen  innere  Gründe  gegen  die 
Herstellung  eines  zusammenhängenden  Dramencyklus.  Man  hat 
gewisse  Mängel  der  Sophokleischen  Kunst  dunkel  gefühlt,  aber  der 
Versuch,  dieselben  mit  der  trilogischen  Composition  zu  rechtfertigen. 


245)  Ol.  85,  2  und  dann  wieder  Ol.  87,  1  sind  in  den  Didaskalien  Tetra- 
logien des  Euripides  verzeichnet,  und  als  Mitbewerber  dieses  Dichters  trat  Sopho- 
kles auf,  selbstverständlich  ebenfalls  mit  vier  Dramen.  (S.S.  231.  21«>  A.  162.) 

246)  Dieses  Mifsverständnifs  gründet  sich  nur  auf  die  Notiz  bei  Suidas, 
Sophokles  habe  zuerst  die  Sitte  aufgebracht  S^/ua  n^oe  S^äfia  ayofviZead'ai, 
aXla  fiTj  xer^aXoyiav,  was  nur  auf  die  Preisrichter  zu  beziehen  ist.  (S.  S.  230 IF. 
362  A.  20.) 

247)  (S.  S.  227  A.  100,  S.  415  A.  161.)  Auf  den  Widerspruch  der  Ueberliefe- 
rung, die  Antigone  sei  mit  grofsom  Beifall  aufgenommen  worden  (wobei  man  die 
Ertheilung  des  ersten  Preises  voraussetzt),  während  der  König  Oedipus  nur  den 
zweiten  Preis  erhielt,  ist  nicht  viel  zu  geben;  denn  auch  die  Antigene  hat,  wie 
es  scheint,  nicht  den  ersten  Preis  gew»  nnen. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLCTHEZEIT.  II.SOPH.       457 

erweist  sich  als  durchaus  unzulängHch.  Wollte  man  auch  den  Zu- 
sammenhang zwischen  jenen  drei  Tragödien  zugeben,  so  würden 
doch  die  Schwächen  des  zweiten  Oedipus  in  dieser  Verbindung 
nicht  gemildert,  sondern  sie  würden  nun  erst  recht  schroff  hervor- 
treten. Auch  der  Eindruck  der  Antigone  bleibt  ganz  derselbe ,  mag 
man  sie  als  SchlufsstUck  einer  einheitUchen  Trilogie  oder  als  selb- 
ständiges Drama  betrachten.  Ja,  diese  Ehrenrettung  setzt  den  Dichter 
in  das  allerungünstigste  Licht ;  denn  indem  man  Dramen,  welche  für 
eine  getrennte  Aufführung  bestimmt  waren,  willkürlich  mit  einander 
verknüpft,  treten  so  viel  Widersprüche,  ein  solcher  Mangel  an  Einheit 
und  Folgerichtigkeit  hervor,  dafs  man  die  Fähigkeit  des  Tragikers, 
ein  gröfseres  organisch  gegliedertes  Kunstwerk  zu  schaffen,  über- 
haupt in  Frage  stellen  müfste. 

Oedipus  auf  Kolonos  kann  nicht  als  unmittelbare  Fortsetzung 
des  König  Oedipus  gelten.  Am  Schlüsse  des  ersten  Oedipus  ver- 
bannt sich  der  Unglückhche  für  immer  aus  der  menschlichen  Ge- 
sellschaft. Dies  ist  die  Bufse,  welche  er  sich  selbst  auferlegt,  um 
sein  Vergehen  zu  sühnen,  und  es  war  dies  der  schickUchste  Aus- 
gang, den  Sophokles  seiner  Tragödie  geben  konnte.  Dagegen  nach 
der  Darstellung  im  zweiten  Oedipus  verweilt  der  Sohn  des  Laius 
ruhig  in  Theben,  und  als  er  später  wirkhch  ausgestofsen  wird,  grollt 
er  leidenschafthch  dem  Kreon,  sowie  den  Söhnen,  welche  die  Ver- 
bannung nicht  hinderten.  Jst  auch  dieser  Verlauf  mit  der  Schlufs- 
scene  des  ersten  Oedipus  nicht  geradezu  unvereinbar,  so  mufste 
doch  der  Dichter,  wenn  er  die  beiden  Dramen  in  trilogischer  Folge 
verknüpfen  wollte,  diese  Abweichung  sorgfältig  motiviren."^)  Nach 
der  Antigone  ist  Oedipus  unmittelbar,  nachdem  er  sich  selbst  ge- 
blendet hat ,  gestorben ;  auch  lokaste  setzt  eigenmächtig  ihrem 
Leben  ein  Ziel,  und  Antigone  hat  ihren  Eltern  die  letzte  Ehre  er- 
wiesen.^^j  Aber  nicht  nur  in  diesem  wichtigen  Punkte,  sondern 
auch  anderwärts  tritt  die  Disharmonie  der  vermeinthchen  Schlufs- 
tragödie  mit  den  beiden  anderen  Dramen  grell  hervor.  Die  Anti- 
gone weifs  nichts  von  der  Vormundschaft  des  Kreon,  sondern  Oe- 
dipus' Söhne  treten  sofort  das  Regiment  an.    Kurz,  von  den  Vor- 

248)  Eben  weil  der  Dichter  keine  engere  Verbindung  zwischen  den  beiden 
Dramen  beabsichtigt  hat,  nimmt  er  im  zweiten  Oedipus  auf  das  frühere  Stück 
keine  Rücksicht. 

249)  Anlig.  50  und  900. 


458  DRITTE   PERIODE    VON    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

aussetzungen ,  auf  welchen  die  Fabel  im  zweiten  Oedipus  beruht, 
ist  in  der  Antigone  keine  Spur  vorhanden.  Diese  Tragödie  schliefst 
ein  Stück  wie  den  zweiten  Oedipus  geradezu  aus.  Es  ist  unmög- 
lich, ein  ganz  selbständiges  und  in  sich  abgeschlossenes  Drama  wie 
die  Antigone  und  die  beiden  Oedipus  in  dem  Rahmen  einer  ein- 
heitlichen Trilogie  zusammenzufassen.  Wenn  Polyneikes  im  Oedi- 
pus auf  Kolonos  im  Vorgefühl  des  nahen  Todes  seine  Schwester 
bittet,  ihn  zu  bestatten**"),  so  wird  damit  auf  das  ältere  Stück  hin- 
gewiesen*'^'), aber  nicht  elwa  die  Antigone  als  Fortsetzung  vorbe- 
reitet; denn  in  diesem  Drama  handelt  Antigone  ganz  aus  freiem 
Entschlüsse :  der  letzte  Wille  des  Bruders  ist  in  keiner  Weise  mafs- 
gebend.  Dieses  Motiv,  so  nahe  es  auch  lag,  liefs  der  Dichter  hier 
absichtlich  unbenutzt,  weil  es  nicht  zum  Charakter  seiner  Heldin 
zu  passen  schien. 

Kreons  Charakter  wird  in  jeder  von  den  drei  Tragödien  an- 
ders aufgefafst.  Bei  einer  Nebenßgur,  die  weder  in  der  Sage,  noch 
in  der  alten  Poesie  besonders  hervortrat  und  daher  keine  so  klar 
ausgeprägte  Persönlichkeit  war  wie  andere  Heroen,  hatte  der  Dichter 
volle  Freiheil.  Er  konnte  in  verschiedenen  Dramen,  welche  keine 
engere  Beziehung  aufeinander  hatten,  diese  Gestalt  jedes  Mal  gemäfs 
den  besonderen  Verhältnissen  der  dramatischen  Handlung  verwen- 
den, aber  in  einer  einheitüchen  Composition  wären  so  widerspruchs- 
volle Züge  störend.  Die  verschiedene  Art  der  Charakterzeichnung 
ist  eben  der  deutlichste  Beweis,  dafs  eine  Verbindung  dieser  Stücke 
niemals  beabsichtigt  war. 
Die  Kunst  In  der  Kunst  der  Charakteristik ,   in  der  psychologischen  Ent- 

der  charak-  wicklung  der  handelnden   Personen   offenbart  sich   vor  allem   das 

lerreicn-  o 

nung  bei  grofse  Talent  des  Sophokles."')     Oft  genügen  wenige  Striche,   ein 

opio  ^*- ]^ejei,tsanies  Wort,   um   einen    Charakter  in  aller  Bestimmtheit   zu 

zeichnen.**^)    Mit  sicherer  Hand  weifs  der  Dichter  Licht  und  Schat- 

250)  Oed.  Kol.  1410. 

251)  Der  Dichter  konnte  seine  Antigone  als  allgeniein  bekannt  voraus- 
setzen. 

252)  Die  Meisterschaft  des  Tragikers  in  diesem  Punkte  wird  allgemein 
anerkannt.  Mit  Recht  sagt  der  alte  Biograph:  i^&onoiel  Si  ttai  notxilX$t  kcu 
toli  intvofjuaai  rBxvtxcüe  ;^p^T««,  'OftrjQixrp/  iKfiaxxöfievoi  ;?«(>«»',  und  nach- 
her: <5flr'  ix  fiixQov  ^fitcrzfxiov  ^  Xd^Boas  fuäi  oXov  ri&onoulv  TtQÖaunov' 
i'art  Bi  xovTO  fieytarov  iv  notr^rixi]  Srjkovv  rj9oe  rj  nn&oi. 

253)  Wie  z.  B.  Anlig.  523;  ovroi  <Tvvdx9'ttv,  akln  avfi^tXeiv  ifvv. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  11.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  II.  SOPH.       459 

ten  zu  vertheilen  und  vom  Contiaste  den  wirksamsten  Gebrauch  zu 
machen.^")  Waren  die  Gestalten  der  älteren  Tragödie  meist  fertige 
Charaktere,  so  zeigen  die  des  Sophokles  eine  viel  bestimmtere  Indi- 
viduahtät.  Der  Dichter  ist  bemüht,  ein  reiches  inneres  Leben  zur 
Darstellung  zu  bringen.  Indem  er  alles  sorgrältig  raotivirl,  enthüllt 
er  die  Triebfedern  des  Handelns  und  gewährt  uns  einen  Einblick 
in  die  verborgenen  Seelenzustände. 

Sophokles'  Charaktere,  wenn  sie  auch  nicht  das  Grofsartige  und 
Titanische  wie  bei  Aeschylus  haben,  entbehren  doch  nicht  der  Ener- 
gie und  jener  mächtigen  Leidenschaft,  die  wir  von  dem  tragischen 
Helden  fordern;  nur  von  allem  Uebertriebenen  und  Gewaltsamen 
hielt  den  Dichter  sein  angeborener  Sinn  für  Mafs  und  Harmonie 
fern.  In  grofsen  Zügen  und  festen  Umrissen  schildert  Sophokles 
die  veredelte  Menschheit,  welche  uns  menschhches  Interesse  ein- 
flöfst.***)  In  dem  Adel  der  Gesinnung,  den  der  Dichter  seinen  Ge- 
stalten einhaucht,  giebt  sich  seine  eigene  Denkart,  die  Höhe  der 
Geistesbildung  kund.  Die  Charaktere  der  handelnden  Personen  sind, 
auch  wenn  sie  nicht  tadellos  erscheinen,  doch  niemals  alles  sittlichen 
Gehaltes  bar.  Hoheit  und  Würde  zeichnet  zumal  die  Hauptper- 
sonen aus;  denn  Nebenfiguren  werden  schon  um  des  Contrastes 
willen  öfter  mit  einem  gewissen  Reahsmus  behandelt.  Aber  nie- 
mals steigt  der  Tragiker  zu  der  Prosa  des  nüchternen  Alltagslebens 
herab. 

Sophokles  besitzt  eine  nicht  gewöhnliche  Menschenkenntnifs*^; 
deshalb  läfst  er  zuweilen  auch  einen  Widerspruch  oder  eine  Um- 
wandlung'"^ eintreten.  Im  Ganzen  jedoch  führt  er  seine  Charak- 
tere mit  strenger  Consequenz  durch;  das  treue  Festhalten  an  dem 
einmal  für  Recht  Erkannten  galt  eben  als  Merkmal  eines  tragischen 
Helden.    So  haftet  auch  den  Gestalten  der  Sophokleischen  Tragödie 


254)  So  wird  im  Prolog  des  Aias  die  nahezu  verletzende  SchroflTheit  der 
Göttin  durch  das  menschliche  Mitgefühl,  welches  Odysseus  zeigt,  ermäfsigt, 

255)  Dieser  idealen  Richtung,  welcher  Sophokles  unwandelbar  treu  blieb, 
war  er  sich  wohl  bewufst,  vgl.  Aristot.  Poet.  c.  25  p.  1460  B  33 :  olov  xai  Ikxpo- 
xkr-fi  ftfir,   avros  fiev  oiovs  8ei  noteiv,  EvQiniSrjv  Se,  oloi  etat. 

256)  Zuweilen  vermiTst  man  die  Naturwahrheit,  wie  z.  B.  wenn  Antigone 
sich  in  politische  Discussionen  einläfst;  dafs  eine  Jungfrau  zur  Wortführerin 
republikanischer  Grundsätze  wird,  stimmt  nicht  recht  mit  der  hellenischen 
Sitte. 

257)  Wie  bei  Neoptolemus  im  Philoktet. 


460  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

eine  gewisse  Einseitigkeit  an,  die  sich  öfter  bis  zur  Schroffheit  stei- 
gert. Aber  wenn  sich  auch  die  herbe  Art  des  Dichters  in  der  Schil- 
derung starrer  Unbeugsamkeit  gefiel,  wie  namentlich  seine  Heldinnen 
(Elektra  und  Antigene)  zeigen''**),  so  war  er  doch  feinsinnig  genug, 
um  diese  Härte  wieder  zu  mildern,  indem  selbst  diese  von  heftigster 
Leidenschaft  getriebenen  Naturen  für  weichere  Empfindungi-n,  für 
menschUches  Gefühl  nicht  unzugänghch  sind.  So  hängt  Elektra, 
die  in  ihrer  eisigen  Kälte,  ihrem  bitteren  Hasse  fast  etwas  Abstofsen- 
des  hat,  mit  rührender  Zärtlichkeit  an  dem  Bruder;  der  herausfor- 
dernde Trotz  der  Antigone  entspringt  wesenthch  aus  der  Innigkeit 
des  Familiengefühls;  die  rauhe  Kriegernatur  des  Aias  empfindet  das 
tiefste  Mitgefühl  für  das  Schicksal  der  Seinen;  der  unversöhnlich 
grollende  und  von  bitteren  Leiden  gequälte  Philoktet  bekundet  dem 
jugendHchen  Heldensohne  des  Achilles  gegenüber  das  rührendste 
Wohl  wolle  n.^°^)  So  söhnt  uns  der  Dichter,  wenn  das  harte  Pathos 
seiner  Charaktere  zu  verletzen  droht,  wieder  aus  und  bekundet  aufs 
Neue  seine  allen  Extremen  eigentlich  abholde  Natur. 

Ganz  besonders  erkennt  man  den  tiefen  Kunstverstand  des  Tra- 
gikers in  der  Art,  wie  er  die  Haupthelden  mit  theils  ähnlichen,  theils 
entgegengesetzten  Nebenfiguren  umgiebt'^®*'),  welche  nach  verschiede- 
nen Richtungen  hin  in  die  Handlung  eingreifen.  Dadurch  wird 
nicht  nur  das  Lebensbild  reicher,  sondern,  indem  diese  Nebenper- 
sonen bald  fördernd,  bald  hemmend  mit  der  Hauptperson  in  un- 
mittelbare Berührung  kommen ,  wird  der  Charakter  des  Helden  nach 
allen  Seiten  hin  in  helles  Licht  gesetzt,  und  immer  neue  Züge  treten 
hervor. 

Die  wenigen  uns  erhaltenen  Dramen  des  Sophokles  zeigen  eine 
ungemeine  Mannigfaltigkeit  menschlicher  Charaktere,  und  die  ver- 
lorenen Stücke  standen,  wie  die  Ueberreste  andeuten,  an  Reichlhum 
und  Abwechselung  nicht  nach.  Da  die  griechische  Tragödie  ihre 
Stoffe  ausschliefslich  der  Heldensage  entnimmt,  konnte  der  Dichter 
nicht  umhin,  dieselbe  Persönlichkeit  wiederholt,  wenn  auch  in  ver- 


258)  Jedoch  hat  Sophokles  neben  jenen  Frauen,  die  einen  fast  mann- 
lichen Charakter  zeigen,  echt  weibliche,  zarte  Gestalten,  wie  Deianeira,  Tek- 
messa,  geschaflen. 

259)  Nur  die  Träger  der  Handlung  zeigen  diese  Doppelnatur;  nicht  d\e 
Nebenfiguren. 

260)  Wie  Ismene,  Chrysolhemis. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  II.  SOPH.       461 

schiedenen  Lebenslagen,  vorzuführen.  Für  ein  untergeordnetes  Ta- 
lent lag  die  Versuchung  nahe,  sich  selbst  zu  kopiren.  Sophokles' 
Kunst,  die  den  Charakter  jedes  Mal  aus  den  besonderen  Verhältnissen 
entwickelt,  wufste  auch  diesen  wiederkehrenden  Gestallen  den  Reiz 
der  Neuheit  zu  verleihen.**') 

Dem  Charakter  der  Sophokleischen  Tragödie  entspricht  genau  ^er  stii  des 
die  sprachliche  Form.  Sophokles'  Stil  steht  in  der  Mitte  zwischen 
Aeschylus  und  Euripides***),  doch  so,  dafs  er  in  den  Anfängen  seiner 
Kunst  noch  an  die  feierliche  Pracht  seines  Vorgängers  erinnert, 
während  er  später  mehr  zu  Euripides  hinneigt,  jedoch  ohne  seiner 
eigenen  Art  untreu  zu  werden.  Es  ist  nicht  zufallig,  dafs  keiner 
der  jüngeren  Tragiker  sich  in  der  Nachbildung  dieser  Schreibart 
versucht  hat,  während  Aeschylus  und  Euripides,  da  jeder  seinen 
besonderen,  leicht  kenntlichen  Stil  hat,  den  er  überall  in  Anwen- 
dung bringt,  zahlreiche  Nachfolger  fanden,  wo  freiüch  das  hohe 
Pathos  des  einen,  die  rhetorische  Virtuosität  des  anderen  nicht  selten 
zu  geistloser  Manier  ausarten  mochte.  Sophokles  ist  von  jeder  Manier 
fern'^^);  er  hat  eine  ungemeine  Gewalt  über  die  Sprache,  eine  Aus- 
wahl erlesener  Worte  steht  ihm  zu  Gebote.*")  So  ist  auch  die  Dai'- 
stellung  niemals  monoton,  sondern  immer  neu,  immer  angemessen 
und  im  höchsten  Grade  wirksam.  Der  Kunst  der  Charakterzeichnung, 
welche  dem  Sophokles  eigen  ist,  dient  auch  der  Stil.   Er  ist  indivi- 

261)  So  tritt  Kreon  in  allen  drei  Tragödien  des  thebanischen  Kreises 
jedes  Mal  in  anderer  Gestalt  auf.  Odysseus  ward  in  zahlreichen  Tragödien  aus 
dem  troischen  Kreise  in  den  verschiedensten  Situationen  vorgeführt  und  bot 
dem  Sophokles  so  Gelegenheit  dar,  sein  reiches  Talent  zu  bethätigen. 

262)  Was  Dio  Chrysostomus  52, 15  H  161  f.  Di.  von  der  Poesie  des  Sophokles 
bemerkt,  dafs  sie  die  Mitte  halte  zwischen  der  der  beiden  Mitbewerber,  asftvrjv 
oi  ziva  xai  fisya^MTtoSTxrj  TtoiTjaiv  rgayixcörara  xai  eveneffrara  ^x^vcav,  aaze 
nXBiaxr^v  tlvai  riSovriv  fiera  vrfovS  xai  OsfivörTjros  ivSeixwa&ai,  gilt  auch  vom 
Stile.  Dionysius  Hai.  de  complic.  verb.  c.  24  V  18"  ed.  Lips.  nennt  Sophokles  als 
Vertreter  des  mittleren  Stiles  unter  den  Tragikern.  Plutarch  de  glor.  Athen,  c.  5 
rühmt  die  Xoyitnrjs  des  Sophokles  gegenüber  der  Weisheit  des  Euripides,  den 
hohen  Worten  des  Aeschylus.  Quintilian  X  1,  68  erkennt  die  Verschiedenheit 
des  Stils  zwischen  Euripides  und  Sophokles  an  und  fügt  hinzu,  man  vermisse 
bei  dem  ersteren  die  Würde :  gravitas  et  cothumus  et  sonus  Sophocli  videtur 
etse  sublhiiior. 

263)  Eben  deshalb  haben  auch  die  Komiker  viel  seltener  Sophokieische 
Verse  parodirt. 

264)  Das  Zierliche  and  Gewählte  ist  ein  Grundzag  der  Sophokleischen 
Diktion  (Antiphanes  'Ayqolxos  fr.  1  Com.  IIl  3 :  xQaytoSiav  Tte^alvot  J^ofoxXe'ovi). 


462  DRITTE   PERIODE    VON    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

(lualisirend,  nach  Mafsgabe  der  Personen  untl  der  Situation  mannig- 
fach abgestuft.  Durch  passende  Färbung,  oft  durch  einen  Strich 
versteht  Sophokles  einen  Charakter,  die  Stimmung  des  AugenbHcks 
in  das  rechte  Licht  zu  setzen.^*)  Aber  die  stiUstische  Kunst  des 
Sophokles  hat  nicht  mit  einem  Male  diese  Höhe  erreicht,  sondern 
verschiedene  Stufen  der  Entwicklung  zurückgelegt.  Der  Tragiker 
selbst  spricht  sich  darüber  mit  dem  klaren  Bewufstsein,  welches  ihm 
eigen  ist,  aus."®*).  In  der  ersten  Periode  erinnerte  sein  Stil  an 
Aeschylus.  Sophokles  schöpfte  mit  Vorliebe  aus  dem  alterthümlichen 
Sprachschatze,  gebrauchte  gern  volksmäfsige  Worte  und  Wendungen ; 
bald  jedoch  entsagte  er  dieser  Art,  und  indem  er  seiner  eigensten 
Natur  folgte,  suchte  er  die  tragische  Wirkung  durch  eine  gewisse 
Herbheit  zu  erreichen,  die  oft  etwas  Gesuchtes  und  Künstüches  hatte. 
Mit  der  Reihe  der  Jahre  klärt  sich  dieses  strenge  Wesen  ab;  eine 
Milde  und  Anmuth,  die  jedoch  der  Würde  und  Hoheit  nie  vergafs, 
kommt  immer  mehr  zur  Geltung,  und  so  bildet  jetzt  der  Tragiker  die 
charakteristische  Schreibart  aus,  die  er  mit  vollendeter  Meisterschaft 
übt.*®')  Wir  können  diesen  allmähUchen  Fortschrilt  an  den  erhaltenen 
Werken  nicht  mehr  vollständig  nachweisen;  denn  diese  gehören  theils 
dem  Uebergange  von  der  zweiten  zur  dritten  Stufe  an,  der  sich  offen- 
bar allmählich  vollzog,  theils  sind  sie  der  letzten  Periode  zuzuweisen. 
In  voller  Harmonie  mit  dem  Wesen  des  Dichters  hat  auch  sein 


265)  Biographie:  Sar^  ix  fiix^ov  rifuanxCov  rj  Xe^ecoi  /mäs  olov  r,&o- 
noulv  Ttqcatonov.  Anfänge  dieses  charakteristischen  Stils  ßnden  sich  schon 
bei  Aesciiylus,  während  die  Redeweise  des  Euripides  weit  gleichmäfsiger  ist. 
Der  Bote  spricht  anders  als  der  Heros;  die  Sprache  der  Leidenschaft  unter- 
scheidet sich  von  dem  Ausdrucke  ruhiger  Leberlegung.  In  der  Zurückforde- 
rung  der  Helena  zeigte  die  Rede  des  Menelaus  lakonische  Färbung.  Daher 
rührt  die  Ungleichartigkeit  der  Darstellung,  welche  alte  Kunstrichler  an  Sopho- 
kles tadelten.  Plutarch  de  rect.  aud  rat.  c.  13.  Dionysius  de  vett.  scr.  cens.  2,  11 
V  423  ed.  Lips.:  6  fiev  (^ocpoxXrie)  noiriiixos  iajtv  iv  lois  ovö/ioat,  xai  noXiti- 
KtS  ix  nollov  10V  fieyid'ove  eis  Siäxsvov  xofinov  ixninTüiv,  olov  aie  idtartixiiV 
navxnnaai  Tanetvöxrira  xare^x^"^^-  Longin  ne^l  i'tfove  33 :  6  Sa  llit^a^oi  xai 
6  ^(poxXrji  oxe  fiev  olov  nävra  ini(pkeyovai  rt;  fopä,  aßivwvrcu  5'  aX6yo}i 
noXXc'ixn  xai  ninxovaiv  arvxiaTaxa.  Und  dieser  Tadel  ist  zuweilen  berech- 
tigt, vgl.  Antig.  1108.     (S.  S.  407  A.  141.) 

206)  Plutarch  de  prof.  in  virt.  c.  7,  s.  oben  S.  373  ff.  und  A.  61. 

267)  Bezeichnend  ist,  daTs  organische  Composita,  welche  der  poetischen 
Darstellung  vorzugsweise  zusagen,  bei  Sophokles  in  den  späteren  Arbeiten  viel 
sparsamer  angewandt  werden  als  früher. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  II.SOPH.       463 

Stil  etwas  Voroehmes  und  doch  Einfaches;  aber  selbst  Gewöholiches 
und  Alltägliches  erscheint  durch  die  Umgebung  geadelt.  Eine  wohl- 
thuende  Milde,  die  sich  jedoch  vom  >yeichlichen  fern  hält,  ist  über 
die  reifen  Arbeilen  des  Dichters  ausgegossen.  Daher  heben  schon 
die  Alten  die  Feinheit  und  gefällige  Anmuth  als  charakteristisches 
Merkmal  hervor*^).  In  den  lyrischen  Gesängen  mochte  dieser  Ton 
gleich  anfangs  vorherrschen;  später  kommt  er  auch  in  den  drama- 
tischen Partien  immer  mehr  zur  Geltung.  Indes  hat  Sophokles  das 
Herbe  wohl  ermäfsigt,  doch  niemals  vöUig  abgethan^);  an  rechter 


268)  Aristophanes  fr.  231  a  Di.  rühmt  den  honigsüTsen  Mund  des  Soptiokles. 
Wenn  er  hinzusetzt,  Euripides  habe  ihm  dies  abzulernen  versucht  (o  S'  av  ^ofo- 
xXdovs  rov  fiiXiTi  yexQia/uivov  (oans^  xaSiaxov  Tis^uXeiye  ro  ajofia) ,  so  geht 
dies  eben  auf  die  melischen  Partien,  wie  auch  Dio  Chrysostomus  52  II  163  Di.  an- 
deutet, der  hier  bei  Sophokles  rjSovf]  &avfia<nrj  xai  fieya}j07iQi7ieia  findet  und 
sich  eben  auf  das  L'rtheil  des  Aristophanes  bezieht ;  denn  auf  den  Stil  des  Euri- 
pideischen  Dialogs  hat  Sophokles  keinen  Einflufs  ausgeübt.  Mit  einem  beliebten 
Bilde  nannte  man  Sophokles  /usXiTTa  (dieser  Zuname  geht  zunächst  von  den  Komi- 
kern aus,  Schol.  Soph.  Oed,  Kol.  17)  eben  wegen  des  lieblichen,  einschmeicheln- 
den Redeflusses  in  den  Chorliedern  (Schol.  Aristoph.  Wesp.  462,  Soph.  Ai.  1299), 
dann  aber  als  Charakter  des  Sophokleischen  Stils  überhaupt  anerkannt.  Bio- 
graphie: (lövos  Se  ^Offoy-Xr^s  a<p^  exaarov  ro  XafiTioov  anavd'i^et'  xad"  o  xal 
ßte'Xtrra  sXt'ysro,  und  so  wird  ihm  die  yXvxvrrjs  zugeschrieben.  Was  die  alten 
Kunstrichter  darunter  verstehen,  sieht  man  am  besten  aus  den  Rhetoren  (wie 
Hermogenes  ns^i  iSecöv  II  c.  4  p.  357  ö".  =  Rhet.  III  313  ff.  Walz ,  Aristides  Rhet, 
II 6),  die  sich  vorzugsweise  auf  Xenophon  beziehen.  Als  Hauptvertreter  des  Naiven 
zeichnet  er  sich  eben  durch  das  Anmuthige  und  Gefällige  aus :  dies  finden  sie  in 
Vergleichungen ,  im  Einflechten  mythischer  Erzählungen,  in  Naturschilderungen 
(wie  der  Nymphengarten  bei  Sappho  fr.  4,  die  Platane  in  Piatos  Phaedrus  230  B), 
in  erotischen  Anspielungen,  in  Erinnerungen  an  die  rühmlichen  Thaten  der  Vor- 
fahren, oder  was  uns  sonst  persönlich  näher  berührt,  eine  angenehme  Empfindung 
erweckt.  Hierhergehört  ferner,  wenn  das L'nbelebte  als  belebt  dargestellt  wird 
(z.  B.  wenn  Plato  sagt:  r«  ftiv  x^Q^f^  "«*  fa  SevS^a  oiSev  fis  d'iXei  StSäoxeit; 
wenn  Sappho  fr.  45  ihre  Leier  anredet,  wenn  Xerxes  dem  Meere  droht  (Herod. 
VII 35),  wenn  Xenophon  Kyneg.  c.  3,  5  ff.  in  gemülhlichem  Tone  Ausdrücke  von 
den  Menschen  auf  Hunde  überträgt).  Aber  die  yXvxvrriS  schliefst  die  S^t/ivxtjs 
nicht  aus.  Oft  dient  das  Herbe  dazu,  den  Eindruck  des  Naiv-Anmuthigen  und 
Gemüthlichen  zu  steigern;  aber  das  Ungewöhnliche  ist  mit  Mafs  zu  verwenden, 
um  nicht  in  den  Fehler  des  Frostigen  zu  verfallen. 

269)  Manche,  wie  der  Philosoph  Polemo,  hatten  an  solchen  Stellen,  wo 
das  Herbe  und  Strenge  ganz  unvermischt  auftrat,  besonderes  Wohlgefallen,  wo 
Sophokles  nach  dem  Komiker  Phrynichus  fr.  fab.  ine.  13  Com.  II  2,605  dem  pramni- 
schen  Weine  glich  oder,  wie  Aristophanes  sich  ausdrückte,  ihm  ein  Molosser- 
hund bei  der  Arbeit  geholfen  zu  haben  schien  (Diog.  Laert.  IV  c.  3,  7,  (20)). 


464  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Stelle  angewandt,  dient  es  dazu,  den  Eindruck  des  Aninutlngen  zu 
steigern. 

Sophokles  beherrscht  die  Sprache ;  er  weifs  stets  eine  treffende 
Bezeichnung  zu  finden*'"),  jeden  Gedanken  in  die  gemäfse  Form 
einzukleiden.  Wo  das  vorhandene  Material  nicht  ausreicht,  da  pflegt 
Sophokles  auch  wohl  ein  neues  Wort  auszuprägen ;  jedoch  hat  er 
nicht  in  dem  Mafse  wie  Aeschylus  die  Sprache  durch  Neubildungen 
bereichert.  Desto  mehr  Neuerungen  erlaubt  er  sich  im  Gebrauch 
der  Worte;  an  Kühnheit  des  metaphorischen  Ausdrucks  steht  er 
dem  Aeschylus  nicht  nach."*)  Gerade  hier  giebt  sich  die  sinnige, 
feinfühlige  Natur  des  Sophokles  deutUch  kund.  Seine  Sprache  ist 
höchst  mannigfaltig'^"),  aber  immer  sinnlich-lebendig.  Die  Worte 
sind  noch  nicht  verbraucht,  die  Redewendungen  durch  beständige 
Wiederholung  verschlissen.  So  sind  namentlich  die  Beiworte  stets 
passend  gewählt  und  inhaltsvoll,  geben  ein  klar  umschriebenes  Bild 
des  Gegenstandes.'"^)  Eine  gewisse  Fülle  der  Rede,  um  die  Sache 
in  desto  helleres  Licht  zu  setzen  und  die  Bedeutsamkeit  des  Ge- 
dankens gebührend  hervorzuheben,  wechselt  ab  mit  gedrängter 
Kürze   und    prägnanter   Sparsamkeit   des   Ausdrucks.''")     Wie    alle 

270)  Daher  rühmt  der  Biograph  die  evxaiQia  des  Sophokleischen  Stiles, 
die  schon  Aristophanes  (xaiQos  [xtjqos  Dindorf]  inexa&i^ero  roie  x^lleoty  av- 
Totj)  anerliannt  hatte,  s.  Biographie  und  fr.  231a  Di. 

271)  Der  Biograph  hebt  mit  Becht  die  rcXfia  hervor.  Im  Gebrauch  der 
Worte  hat  sich  Sophokles  vielfache  Neuerungen  gestattet;  durch  die  Verbin- 
dung und  Umgebung  erhält  das  Wort  oft  einen  ganz  anderen  Sinn :  oixonoiös 
Phil.  32  hat  Sophokles  nicht  neu  gebildet,  aber  die  Anwendung  (was  das  Haas 
zum  Hause  macht,  wohnlich)  ist  neu;  alXrj  ftoT^a  Ai.  51 G  gebraucht  So- 
phokles gleichbedeutend  mit  Sre^os  Saifimv;  den  Anker  nennt  der  Tragiker 
fr.  699  Di.  vrjoi  taxäe.  Vgl.  auch  die  Bemerkung  des  Hermogenes  H  c.  5  p.  366 
=  ni  324  W.  über  tpiXavSQoe  yiralävrij. 

272)  ITotxdla  beim  Biographen. 

273)  Der  Bronzekrug  heifst  Ant,  430  evx^oTTjros,  weil  er  entsprechend 
der  Sitte  der  alten  Zeit  zusammengenietet  war,  die  ilaia  natSor^öfoi  Oed.  Kol. 
701,  weil  das  Ocl  in  der  Gymnastik,  in  der  Erziehung  der  heranwachsenden 
Jugend  zur  Pflege  des  Körpers  dient. 

274)  Dionysius  de  vetl.  scr.  cens.  II  1 1  V  423 :  2otpoxXrii  fiev  ov  7rep«TTÖc  tv 
rols  X'yoie,  aXX'  dvayxaToe  ist  in  dieser  Allgemeinheit  nicht  zutrefl'cnd.  Auch 
bei  Sophokles  wie  bei  den  anderen  Tragikern  findet  sich  manches  enlbehrlirhe 
Wort.  Die  metrische  Form,  insbesondere  das  Gesetz  der  Sliohomythie  erheischt 
öfter  Füll  Worte:  andererseits  erzeugt  die  antistrophische  Gliederung  besonder 
gegen  den  Schlufs  der  Strophe  zuweilen  eine  weitgehende  Brachylogie. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLDTHEZEIT.  III.  ELRIP.    465 

Attiker  zeigt  auch  Sophokles  eine  Vorhebe  für  Antithesen,  für  ^y ort- 
spiele, für  Unterscheidung  sinnverwandter  Ausdrücke;  selbst  in 
Scenen,  wo  ein  gesteigertes  Pathos  herrscht,  werden  solche  Spiele 
des  Scharfsinnes  und  Witzes  nicht  vermieden.*^*) 

Rasche  unvermittelte  Uebergänge  sind  dem  Sophokles  ganz  ge- 
läufig; es  bedarf  fortwährend  der  gespanntesten  Aufmerksamkeit, 
um  den  Intentionen  des  Dichters  zu  folgen.  Die  Perioden  sind 
nicht  immer  bequem  und  übersichthch  geghedert,  aber  die  bei 
Aeschylus  so  behebte  Anakoluthie  kommt  selten  vor.  Im  Syntak- 
tischen zeigt  sich  sehr  viel  Abweichendes  und  Anomales"®);  hier 
ist  der  Stil  des  Sophokles  nicht  immer  frei  von  Härte.  Der  Dichter 
behandelt  eben  die  Sprache  mit  grofser  Freiheit;  er  erlaubt  sich 
besonders  die  Worte  nicht  gemäfs  der  hergebrachten  Gewohnheit, 
sondern  nach   dem  Sinne  zu  construiren. 

Dieser  eigenartige  Stil,  die  Verzweiflung  der  Kritiker  und  Er- 
klärer, bereitet  jedem  ernste  Schwierigkeiten,  der  nicht  dem  Dichter 
ein  eingehendes,  liebevolles  Studium  gewidmet  hat  und  bemüht  ist, 
sich  von  allem  Kleinlichen  fern  zu  halten.*") 

III 

E  u  ri  p  id  e  s. 
Mitten  in    den  Unruhen  des  Perserkrieges,   der  Athen  schwer  Euripides 

Leben. 


275)  Doch  beobachtet  Sophokles  das  rechte  MaCs,  hält  sich  vom  Spitz- 
findigen fern. 

276)  So  werden  häufig  die  active  und  mediale  Verbalform  mit  einander 
vertauscht,  M'ie  fä^etv  El.  10S6,  woran  man  ohne  Grund  Anstofs  genommen 
hat;  ebenso  findet  sich  ein  Schwanken  zwischen  transitiver  und  intransitiver 
Bedeutung  bei  Zeitwörtern,  zwischen  activer  und  passiver  Funktion  bei  Adiec- 
tivis.  Wenn  sehr  häufig  der  Casus  eines  Nomens  ohne  Präposition  gebraucht 
wird,  so  hat  sich  eben  in  der  dichterischen  Rede  noch  das  Gefühl  für  den  vol- 
len Werth  der  Casusformen  lebendig  erhalten. 

277)  Bald  haftet  man  sklavisch  am  Buchstaben  der  Ueberlieferung  und 
versucht  sich  in  den  unnatürlichsten  Deutungen,  um  die  handschriftliche  Lesart 
zu  retten,  bald  ändert  man  unverständig  und  mit  schonungsloser  Willkür.  Im 
Aias  93U  läfst  man  sich  Tiäfvvxa  xal  cpaed'ovra  avecxiva^ei  ruhig  gefallen 
(der  Dichter  wird  tpat&ovros  atsi  geschrieben  haben),  und  nicht  minder  ver- 
unglückt ist  die  Erklärung  des  entsprechenden  Verses  SS.5,  wo  Boano^icov 
Ttorafiäiv  itpvSqii  zu  lesen  ist.  Ohne  allen  Sinn  für  Poesie  hat  man  Antig. 
104  ßkifa^ov  in  ß'ufa^ii  verändert,  während  man  ebendaselbst  335  xovto 
(d.  h.  darum)  als  Subjekt  fafst  und  auf  av&Qionos  bezieht. 

bergk,  Griech.  Literaturgescbicbte  lll.  30 


466  DRITTE  PERIODE  VON  500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

heimsuchte,  01.75,  1  ward  Euripides  gehören'),  und  zwar  in 
einem  welthistorischen  Momente,  am  Tage  der  Schlacht  hei  Salamis, 
den  zwanzigsten  Boedromion*),  ehen  auf  jener  Insel.  Aeschylus, 
damals  in  der  Fülle  männhcher  Kraft,  kämpfte  auch  an  diesem  glor- 
reichen Tage  für  die  Gröfse  und  Freiheit  seiner  Vaterstadt;  So- 
phokles, den  sein  jugendliches  Alter  noch  von  dem  Waffendienste 
fern  hieh,  half  das  Siegesfest  mit  feiern ;  Euripides,  der  jüngste  der 
drei  grofsen  Tragiker,  erhlickte  das  Licht  des  Tages  zu  derselben 
Stunde,  wo  der  Tod  seine  hlutige  Ernte  hielt.  Der  nüchterne  Ver- 
stand mag  an  dieser  Gleichzeitigkeit  Anstofs  nehmen,  an  der  doch 
gar  nichts  Aufserordentliches  ist;  denn  nach  Salamis  hatten  die 
Athener  Rinder,  Frauen  und  Greise  gebracht,  als  das  Mederheer, 
alles  mit  Feuer  und  Schwert  verwüstend,  sich  den  Grenzen  Attikas 
näherte.  Auch  die  Mutter  des  Euripides  wird  damals  nach  Salamis 
geflüchtet  sein  und  genas  dort  eines  Sohnes^),  der  auch  später 
sich  gern  aus  dem  Geräusche  der  Stadt  in  die  Einsamkeit  jener 
durch  ihre  Naturschönheit  ausgezeichneten  Insel  zurückzog,  um  sich 
ganz  ungestört  seinen  dichterischen  Studien  widmen  zu  können.*) 


1)  Die  Ouellen  für  unsere  Kennlnifs  der  aufseien  Lebensverhältnisse  des 
Dichters  sind  eine  anonyme  Biographie,  eine  ziemlich  junge,  planlos  angelegte 
Coropilation,  ein  Artikel  bei  Suidas  I  2.  639  ff.  (vgl.  auch  die  Biographie  von 
Thomas  Magister)  und  Gellius  XV  20,  der  aus  derselben  Quelle  wie  der  anonyme 
Biograph  schöpfte.  Philochorus  mufs  sorgfältig  über  den  Lebensgang  des  Euri- 
pides gehandelt  haben,  wahrscheinlich  in  der  dmarolTj  ngoe  ^AaxXrjTnäSrjv  (Schol. 
Eur.  Hec.  1),  offenbar  eine  Jugendarbeit  dieses  Alterthumsforschers,  in  welcher 
er  die  Ansichten  des  Asklepiades  berichtigte  und  vervollständigte,  aber,  wie  es 
scheint,  nur  auf  Euripides  sich  beschränkte  und  bei  diesem  Anlasse  auch  das 
Biographische,  welches  Asklepiades  zum  Schaden  der  Untersuchung  nur  wenig 
beachtet  haben  mochte,  berücksiciitigte,  daher  die  Schrift  auch  ns^i  Ev^mii^ov 
(Suidas)  oder  tisqI  TQayojSuöv  {EvQiniSov,  s,  Schol.  Hec.  1)  betitelt  wird. 

2)  Biographie,  Flutarch  (Ju.  Symp.  VllI  1,  1,  3.  Das  Jahr  auch  bei  IMoifen. 
Laert.  II  c.  5,  24  (45).  Nach  der  parischen  Chronik  Ep. .')(»  wäre  Euripides  Ol.  7:«,  \ 
geboren,  indem  sie  sein  Lebensalter  Ol.  S4,  3  auf  43  Jahre  angiebt.  Suidas,  der 
die  Geburt  des  Sophokles  in  Ol.  73,  4  versetzt,  hat  nach  gewohnter  Weise  So- 
phokles und  Euripides  verwechselt. 

3)  Biographie:  kyewri&r}  8i  kv  HaXafüvt;  daher  wird  er  auf  der  Inschrift 
CIG.  6052  HaXanaivios  genannt.  Vielleicht  hatten  die  Ellern  auf  der  ln>.(l 
Grundbesitz. 

4)  Gellius  XV  20.  r> :  Philochorus  refert  in  insiila  Sataminv  ifrhinram  fsse 
taetram  i'l  horridam,  in  qua  scriptitarit,  von  dem  Biographen  ansi<cschinückt, 
als  habe  sich  der  Dichter  die  Grotte  künstlich  angelegt.     Der  (^hor  der  Troa- 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.GRCPPE.  DIE  BLCTHEZEIT.  III.  ECRTP.    467 

Euripides  mag  schon  in  jüngeren  Jahren  seinen  Vater  Mnesar- 
chides')  verloren  hahen ;  wenigstens  erlebte  er  den  Ruhm  des  Sohnes 
nicht.*)  Die  Mutter  Kleito  mufs  ein  höheres  Aller  erreicht  haben, 
da  Aristophanes  bei  jeder  Gelegenheit  dem  Tragiker  vorrückt,  dafs 
seine  Mutter  mit  dem  Ertrage  ihres  Krautgartens  Handel  treibe.^ 
Die  wirthschaftliche  Frau  war  offenbar  eine  bekannte  Persönlich- 
keit und  wohl  noch  am  Leben,  als  der  Spott  der  Komödie  sie  um 
des  Sohnes  willen  verfolgte.*)  Aus  diesen  Scherzen  darf  man  keinen 
nachtheiligen  Schlufs  auf  die  Stellung  der  Famihe  ziehen^),  die  viel- 
mehr zu  den  geachteten  Geschlechtern  gehörte."*)    Auch  deutet  alles. 


den  794  ff.  feiert  den  Ruhm  der  Insel ,  und  wenn  es  im  Meleager  fr.  534,  3  üi. 
von  Telamon  heifst:  ^aXafiiva  xooficöv  TtargiSa  rr^r  eiätiTre/Mv,  so  mag  die 
Erinnerung  an  die  Stätte  der  eigenen  Geburt  mitgewirkt  haben. 

5)  Auch  Mnesarchus  genannt,  eine  Art  Abkürzung  der  längeren  Namens- 
form; auch  heifst  der  ältere  Sohn  des  Dichters  ebenfalls  Mnesarchides.  Der 
Biograph  macht  ihn  zum  xaTttjXos,  offenbar  nur,  um  für  das  angebliche  Gewerbe 
der  Matter  {^.axavÖTiiohs)  ein  Gegenstück  zu  gewinnen.  Nach  Suidas  hättea 
die  Eltern ,  aus  ihrer  Heimath  (wo,  wird  nicht  gesagt)  vertrieben,  erst  in  Böp- 
tien,  dann  in  Attika  gelebt;  auch  Nicolaus  Damascenus  (Stob.  Flor.  44.4t 
p.  IS",  14  M.)  nennt  den  Vater  einen  Böoter  und  spricht  von  zerrütteten  Ver- 
mögensverhältnissen. Aber  die  bürgerliche  Berechtigung  des  Mnesarctiides  kann 
nicht  bestritten  gewesen  sein,  er  gehörte  zur  Gemeinde  Phlye  (Athen.  X  424  F). 

6)  Plntarch  de  am.  prolis  c.  4.  Die  Kleito,  deren  Erzbild  nach  Tatian 
adv.  Graec.  c.  33  Amphistratus  arl)eitete,  ist  offenbar  von  der  Mutter  des  Tra- 
gikers verschieden. 

7)  Aristophanes  wiederholt,  in  den  Acharnern  47S,  Rittern  910,  Thesmo- 
phoriazusen  19  und  Fröschen  S40;  darauf  bezieht  sich  Plin.  H.  N.  XXII  c.  38,  SO, 
und  der  Historiker  Theopompus  (s.  Gellius  XV  20,  t)  wird  diese  Notiz  auch  nur 
der  Komödie  verdanken.  Es  ist  dies  natürlich  keine  reine  Erfindung;  solcher 
Hohn  ist  nur  wirksam,  wenn  er  sich  an  etwas  Thatsächliches  heftet.  Als  die 
Peloponnesier  das  flache  Land  verwüsteten,  konnte  Kleito  recht  wohl  ihre  Kräu- 
ter verwerthen. 

S)  Die  Beziehung  der  Worte  des  Aristophanes  Acharn.  457  cv8aiuovoir,s 
woTtEo  r,  fxrjriQ  norä  ist  nicht  klar  genug,  um  daraus  zu  schliefsen.  dafs  Kieito 
damals  nicht  mehr  am  Leben  war.  Die  Komödie  hat  möglicher  Weise  schon  vor 
Aristophanes  diesen  Witz  aufgebracht. 

9)  Ebenso  wenig  ist  Aristoph.  Frösche  947:  xoslriov  ya^  »jr  aoi  (t6  yt- 
vot)  vi]  JC  ri  To  aavtoi  beweisend. 

10)  Nach  Philochorus  (Suidas)  gehörte  des  Dichters  Familio  rn  den  otpö- 
8oa  exyersTg;  dies  wird  bestätigt  durch  Theophrast  (Athen.  X  424  Pj,  welcher 
berichtet,  dafs  Euripides  am  Apollofest  den  Dienst  des  oUoxoos  verrichtete, 
wozu  nur  Söhne  der  ersten  Familien  gewählt  wurden.  Nach  dem  Biographen 
war  er  auch  einmal  nvQtpÖQOi  des  Apollo  {Ztoarr^Qiov). 

30* 


468  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

was  wir  über  die  Erziehung  uud  den  Lebensgang  des  Dichters  er- 
fahren, darauf  hin,  dafs  die  Eltern  und  er  selbst  in  günstigen  äufse- 
ren  Verhältnissen  lebten.  Der  Vater  scheint  bei  der  Erziehung  des 
Sohnes  besonders  für  die  körperliche  Ausbildung  gesorgt  zu  haben.") 
Eine  Prophezeiung,  dafs  der  Sohn  einst  in  Wettkämpfen  Siegeskränze 
gewinnen  werde,  was  auch,  freiHch  in  anderer  Art,  in  Erfüllung 
ging,  soll  ihn  in  dieser  Absicht  bestärkt  haben.  Aber  auch  die  Ent- 
wicklung der  geistigen  Anlagen  ward  nicht  vernachlässigt.  Der  früh- 
zeitig erwachte  Trieb  zu  künstlerischem  Schaffen  bestimmte  ihn 
zunächst,  sich  dem  Berufe  des  Malers  zu  widmen''');  und  diese  Be- 
schäftigung blieb  nicht  ohne  Einflufs  auf  seine  dichterische  Entwick- 
lung. Bei  keinem  anderen  Tragiker  zeigt  sich  eine  so  ausgesprochene 
Vorliebe  für  malerische  Situationen.  Nicht  nur  in  den  erzählenden 
Partien  bekundet  Euripides  eine  entschiedene  Meisterschaft  detaillir- 
ter,  anschaulicher  Beschreibung,  sondern  dieses  Element  nimmt  auch 
in  den  Chorhedern  einen  breiten  Raum  ein ;  diese  Gesänge  dienen 
oft  weit  mehr  der  lebendigen  Schilderung  als  dem  Ausdruck  der 
Gefühle.  Zeichnen  und  Malen  war  für  Euripides  gleichsam  die  Vor- 
schule der  dichterischen  Thätigkeit "),  welcher  er  sich  alsbald  aus- 
schliefshch  widmete.  Bereits  im  fünfundzwanzigslen  Lebensjahre, 
Ol.  81,  1,  trat  Euripides  mit  seinem  ersten  dramatischen  Versuche 
hervor.")     So  ward  in  demselben  Jahre,  wo  Aeschylus  in  Gela  aus 

11)  Biogiapliie  und  das  Orakel  bei  Eusebius  Praep.  Ev.  V  33,  loflf.  Gellius 
XV  20,  2,  der  daraus  unverständig  eine  Weissagung  der  Chaldäer  macht,  erzähh, 
in  Olympia  hal)e  man  ihn  wegen  seines  jugendlichen  Alters  nicht  zugelassen, 
aber  in  den  heimathlichen  Agonen  sei  er  mit  Erfolg  aufgetreten. 

12)  Biographie:  tpaai  8e  avrov  xai  ^wyQOfov  ysvs'ad'at  xai  8sixvva&at 
avTOv  Ttiväxta  iv  MeyÜQoie,  ebenso  Suidas.  An  blofscn  Unterricht  in  der 
Malerei  darf  man  nicht  denken;  denn  diese  Kunst  gehörte  damals  noch  nicht 
zu  den  Mitteln  der  Erziehung. 

13)  Auch  ist  beachtenswerth,  dafs  Euripides  sich  öfter  auf  Gemälde,  wie 
überhaupt  auf  Werke  der  bildenden  Kunst  bezieht. 

14)  Biographie:  ^Q^nro  Se  SiSnaxeiv  ini  KaXXiov  aQxovros  xaxa  oXvfi- 
TTiäSa  oySoTjxoarrjv  nQtüxTjv  i'rei  n^ärq}  (so  ist  zu  schreiben).  Das  fünf- 
undzwanzigste  Lebensjahr  giebt  Thomas  Magister  an,  der  Biograph  das  sechs- 
undzwanzigste, wohl  nur  Schreibfehler  und  nicht  zu  benutzen,  um  die  Geburl 
des  Dichters  höher  hinaufzurücken;  Gellius  XV  20,  4  nennt  irrlhümlich  das 
achtzehnte  Jahr.  Wenn  Dio  Chrysostomus  52,  3  II  158  Di.  von  Aeschylus  und 
Euripides  sagt:  xai  ä/ia  ov  noJiiäxte  i'atoe  ij  ovSdnoxa  [xqf  avxqi  S^ftaxi  ist 
zu  tilgen]  avxrjyatviaavxo,  so  darf  man  aus  der  ersten  Alternative  keine  Folge- 
rung für  ein  früheres  Auftreten  des  Euripides  ziehen. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  DLLTHEZEIT.  III.ELRIP.    469 

dem  Leben  schied,  der  tragischen  Bühne  Athens  rechtzeitig  Ersatz 
geboten,  und  fast  volle  fünfzig  Jahre  hat  Euripides  die  einmal  be- 
tretene Bahn  unermüdhch  verfolgt. 

Wenn  man,  «ie  die  meisten  Neueren,  den  Biographen  des  Tra-  Pbiiosophi- 
gikers  Glauben  schenkt"),  hätte  Euripides  schon  in  jugendlichem  Studien. 
Alter  sich  philosophischen  Studien  zugewandt  und  nach  einander 
die  Unterweisung  des  Anaxagoras,  der  Sophisten  und  des  Sokrates 
genossen,  indem  er  gewissermafsen  die  Sitte  der  nächsten  Zeit  anti- 
cipirte,  welche  die  Philosophie  als  ein  unentbehrliches  Bildungsmittel 
der  Jugend  ansah.  Allein  Euripides  steht  anfangs,  so  viel  sich  er- 
kennen läfst,  philosophischen  Bestrebungen  ziemlich  fern;  eher  scheint 
er  der  mystischen  Richtung  der  Orphiker  ein  gewisses  Interesse  ge- 
widmet zu  haben  '^,  ohne  jedoch  Befriedigung  seines  dunklen  Dran- 
ges zu  finden.  Erst  im  reifen  Mannesalter,  seit  dem  Beginne  des 
peloponnesiscben  Krieges,  folgt  der  Dichter  mit  lebhaftem  Antheil 
den  Ergebnissen  der  Speculation.*^ 

Es  ist  entschieden  irrig,  wenn  man  Euripides  als  unmittelbaren 
Schüler  des  Anaxagoras  betrachtet.*')  Man  glaubt  eine  gewisse  gei- 


15)Gellius  XV  20,4:  mox  a  corporis  cura  ad  excolendi  animi  Studium 
transgressus  auditor  fuit  physici  Anaxagorae  et  Prodici  rhetoris,  in  morali 
autem  philosophia  Socratit.  Biographie:  avayvovs  (lies  anoYvovs)  Si  inl 
loaycffSiav  sr^änTj,  xai  noXXa  ngoae^ev^e,  Ti^oXöyovi  [?^yovs  Di.],  fvaioXoyiae, 
OTjTogeias,  avayvcoQia/iovs,  cos  Stj  axovarrjS  yevoftsvos  'Ava^ayö^v  xai  Il^oSi- 
xov  xai  JIocorayÖQov,  y.ai  J^cox^ärovs  iral^s.  Hier  wird  der  Einflnfs  der 
philosophischen  Studien  auf  die  dichterische  Entwicklung  mit  Recht  hervorge- 
hoben, aber  überschätzt,  indem  eben  diese  Studien  in  die  Jagendzeit  des  Dichters 
verlegt  werden. 

16)  Alkest.  969.  Hippol.  953. 

17)  Eine  Hindeulung  auf  die  philosophischen  Studien  der  Gegenwart  fin- 
det sich  allerdings  bereits  in  der  Alkestis  962  ff.,  dann  in  der  Medea  1081  ff.,  aber 
von  dem  Einflüsse  einer  bestimmten  philosophischen  Schule,  der  bei  einem 
Dichter  wie  Euripides  klar  hervortreten  würde,  ist  in  den  älteren  Arbeiten  nichts 
wahrzunehmen.  Auch  die  trostlose  Ansicht  über  die  letzten  Dinge  und  die 
Polemik  gegen  Zeus,  der  wir  im  Hippolytus  begegnen  1363  ff.,  darf  nicht  auf 
fremden  Einflufs  zurückgeführt  werden.  Diese  Ansichten  haben  sich  bei  Euripides 
selbständig,  allerdings  nicht  ohne  Einwirkung  der  Zeitverhältnisse,  gebildet. 

IS)  So  auCser  Diogen.  Laert.  II  c.  5.  20(45)  schon  Alexander  Aetolus  (bei 
Gellius  XV  20,  8),  Chrysippus  bei  Galen  de  Hippocr.  et  Plat.IV  418  ed.  Kühn  und 
Cicero  Tusc.  III  14,30.  Nach  Chrysippus,  dem  Cicero  folgt,  hätte  Euripides  im 
Theseus  fr.  392  Di.  (wohl  um  Ol.  S7  gedichtet)  die  bekannte  Aeufserung  des  Anaxa- 
goras, als  er  den  Tod  seines  Sohnes  erfnhr,  f^Seiv  9'vfjrov  yewriaas  (ein  Ausspruch, 


470  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

stige  Verwandtschaft  zwisclien  dem  hohen  Ernst,  dem  gefafsten  Wesen 
des  Anaxagoras  und  der  melancholischen  Gemüthsverfassung  des  Euri- 
pides  zu  erkennen.  Allein  diesen  Zug,  der  in  der  innersten  Natur, 
in  den  eigenen  Lebenserfahrungen  des  Tragikers  hegründet  ist,  darf 
man  nicht  als  etwas  Angelerntes  ansehen  und  auf  den  Einflufs  jenes 
Denkers  zurückführen.  Da  Anaxagoras  kurz  vor  dem  Ausbruch  des 
grofsen  Krieges  (Ol.  87,  2)  Athen  verliefs  und  nicht  lange  naclilier 
starb,  müfste  dieser  persönliche  Verkehr  in  die  vorangehenden  Jahre 
fallen.  Wir  finden  in  den  Tragödien  des  Euripides  die  unzweideu- 
tigsten Beziehungen  auf  die  Ansichten  jenes  Naturphilosophen.  Nun 
sollte  man  erwarten,  wenn  der  Dichter  von  Anaxagoras  selbst  für 
speculative  Interessen  gewonnen  ward,  diesen  Einflufs  gerade  in  den 
früheren  Dramen  wahrzunehmen.  Es  wSre  sehr  begreiflich,  dafs 
Euripides  unter  dem  frischen  Eindrucke,  den  ein  in  sich  abgeschlos- 
senes eigenartiges  System  auf  ihn  machen  mufste,  sich  als  Anhänger 
dieser  Lehre  bekannte.  Allein  in  der  Alkestis,  der  Medea,  dem  Hip- 
polytus  deutet  nichts  auf  solche  Studien  hin.  Erst  in  den  Arbeiten 
der  letzten  Periode  treffen  wir  jene  Anklänge  an  die  Physik  des 
Anaxagoras,  und  zwar  zuerst  in  den  Troaden'®)  Ol.  91,  1  und  der 
Helena  (1015)  Ol.  91,  4,  sowie  in  der  weisen  Melanippa'"),  aufgeführt 


der  schon  demSolon,  später  dem  Xenophon  beigelegt  wird)  vor  Augen  gehabt. 
Allein  die  Verse  aus  dem  Theseus  haben  damit  nur  eine  entfernte  Aehnlichkeit 
(vielmehr  erinnern  an  jenes  Apophlhcgma  die  Verse  aus  dem  Telamon  des  En- 
nius  bei  Cicero  Tusc.  IH  13, 'i'*,  aber  ein  Telamon  des  Euripides  ist  nicht  nach- 
weisbar). Aufserdem  dürfte  man  aus  der  Benutzung  dieser  Anekdote  noch  gar 
nicht  auf  persönlichen  Verkehr  mit  dem  Philosophen  oder  Abhängigkeit  von 
seinen  Ansichten  schliefsen.  Ebenso  wenig  ist  Alkesl.  10S5  oder  auch  245  ein 
Anklang  an  Anaxagoras  zu  finden.  —  Die  Biographie  (gegen  Ende)  läfst  den 
Euripides,  durch  Archelaus  und  Anaxagoras  angeregt,  sich  der  tragischen  Poesie 
zuwenden,  und  Suidas  wiederholt  dies  nur  mit  veränderter  Motivirung. 

19)  Troad.  884:  a*  y^s  6x;r,fia  xani  yrjs  t'xo}v  t'S^ar,  hozu  nor'  eJ  av, 
Svaronaaroe  eiSevat,  Zeve,  eiV  nväyxrj  (pvasoe,  eirs  voie  ßQoräv,  TtQoaev^ä' 
fiTjv  ae.  Hier  weist  aber  nur  der  Eingang  (yfjs  oxt}/*»)  auf  Anaxagoras  hin ; 
nachher  machen  sich  ganz  andere  Einflüsse  geltend.  Denn  wenn  lamblirlius 
Protrept.  c.  S  schreibt:  ö  vove  yaQ  Tjficöv  6  &eöi,  ei'rs  'Ep/uortfios  «JV«  W»'«|a- 
yö^as  eine  rovro,  so  hat  zwar  Euripides  anderwärts  in  diesem  Sinne  sich  ge- 
äufsert,  und  man  konnte  wohl  aus  dem  Systeme  des  Anaxagoras  diese  Con- 
sequenz  ziehen ,  aber  nichts  berechtigt  diese  Ansicht  dem  Anaxagoras  selbst 
zuzuschreiben. 

2U)  Die  aofTj  MelnriTinT}  wird  von  .\ristophanes  in  den  Thesmophoria- 
/iis.n  r>.J7   lind  Her  l.v>,i>.irala  1124  (fr.  4h7  Di.i  parodirt,  oifenbar   damals   ein 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÖTHEZEIT.  III.  ECRIP.     471 

kui-z  vor  Ol.  92,  1,  daiiu  im  Chrysippus  (Ir.  836),  gleichzeitig  mit 
den  Phonissen  verfafst.  und  im  Orestes  (1086  f.  1497)  Ol.  92,  4,  fer- 
ner im  Phaethon  (fr.  776).  der  ziemlich  derselben  Zeit  angehören  wird, 
sowie  im  Archelaus  (fr.  230).  Das  Studium  der  Anaxagoreischen  Phy- 
siologie bezeichnet  also  die  letzte  Stufe"),  nicht  aber  den  Anfang  der 
Speculation  des  Euripides.-) 

Seit  dem  Beginn  des  grofsen  Krieges  wird  Athen  der  Tummelplatz 
der  Sophisten.  Schriftstellerische  Thätigkeit  ist  ihnen  Nebensache; 
sie  wirken  hauptsächlich  durch  ihre  öffentlichen  Vorträge,  durch  ihren 
Unterricht.  Ebendeshalb  war  auch  die  Wirkung  ihrer  Lehren  eine 
ganz  unmittelbare;  diese  Ideen  und  Grundsätze  fanden  rasch  die  all- 
gemeinste Verbreitung.  Erst  durch  die  Sophisten  ward  der  lebhafte, 
beweghche  Geist  des  Euripides  auf  philosophische  Studien  hinge- 
lenkt, und  er  schlofs  sich  bereitwilUg  dieser  Richtung  an ;  denn  der 
Geist  der  Neuerung,  der  verstandesmäfsigen  Reflexion,  der  von  An- 
fang an  die  Poesie  des  Tragikers  kennzeichnet,  war  den  Bestrebun- 
gen der  Sophisten  innerlich  verwandt,  und  der  Dichter  mochte 
hoffen,  hier  am  ersten  eine  befriedigende  Lösung  der  Zweifel,  die 
ihn  quälten,  zu  finden.  Wenn  die  Uebereinstimmung  mit  den  An- 
sichten der  Sophisten  sich  nicht  so  deuthch  und  bestimmt  im  Ein- 
zelnen nachweisen  läfst,  wie  die  Anlehnung  an  Lehrsätze  des  Anaxa- 
goras,  so  darf  man  nicht  vergessen,  dafs  dieser  Naturphilosoph  seinen 
Anhängern  einen  positiven  Gehalt  bot,  während  die  Richtung  der 
Sophisten  eine  vorherrschend  negative  war.  Eben  ans  der  Schule 
der  Sophisten  stammt  die  entschieden  subjektive  Weltbetrachtung,  der 
Skepticismus  in  religiösen  Dingen,  die  sophistische  Dialektik,  die  wir 
seit  dieser  Zeit  in  den  Arbeiten  des  Euripides  wahrnehmen. 


neues  Drama.    In  den  Thesmophoriazusen  13  ff.  wird  geradezu   die  naturphilo- 
sophische Manier  des  Euripides  verspottet. 

21)  In  den  Schutzflehenden  lassen  sich  keine  Anklänge  an  Anaxagoras 
nachweisen;  denn  532  ff.  (ohnehin  nicht  recht  in  den  Zusammenhang  passend 
und  daher  wohl  ein  fremdartiger  Zusatz)  und  1140  ff.  gehören  einem  Gedankeu- 
kreise  an,  dem  wir  schon  bei  Epicharmus  bei  Plularch  Consol.  ad  Apoll,  c.  15 
(fr.  ine.  8  p.  25S  Lorenz)  begegnen. 

22)  Vielleicht  erschien  damals  die  Schrift  des  Archelaus  und  veraulafste 
den  Euripides  zu  einem  eingehenden  Studium  der  Schrift  des  Anaxagoras;  da 
die  Sophisten  für  Physik  kein  Interesse  hatten,  war  Euripides  an  Frühere  ge- 
wiesen. Somit  kann  von  einem  unmittelbaren,  persöDlichen  Einflufs  des  Ana- 
xagoras auf  Euripides  nicht  die  Rede  sein. 


472  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Euripides  mag  alle  angesehenen  Sophisten,  die  in  Athen  auf- 
traten, gehört  haben,  aber  nicht  jeder  imponirte  ihm.  Von  dem 
Einflüsse  des  Gorgias  ist  nichts  zu  spüren.  Schon  die  prunkhafle, 
überladene  Manier  des  gefeierten  Redekünstlers  mufste  dem  Euripides 
widerstreben,  der  in  seinem  Stil  das  Einfache  und  Natürliche  als 
unabänderhche  Norm  anerkennt.  Ebenso  wenig  wird  er  an  dem 
vielseitigen,  aber  ziemlich  oberflächhchen  Wissen  des  Hippias  sonder- 
liches Gefallen  gefunden  haben.  Dagegen  Protagoras  und  Prodikus, 
welche  auch  die  alte  Ueberlieferung  als  Lehrer  und  Freunde  des 
Dichters  bezeichnet,  haben,  zumal  der  erstere,  an  Euripides  einen 
gelehrigen  Schüler  gefunden. 

Den  Satz  des  Protagoras,  der  Mensch  sei  dasMafs  aller 
Dinge,  hat  zwar  der  Tragiker  nicht  mit  denselben  Worten  wieder- 
holt, aber  er  bekennt  sich  zu  der  gleichen  Ansicht,  indem  er  über- 
all an  menschhche  Einrichtungen  und  Gesetze  den  Mafsstab  sub- 
jektiven Dafürhaltens  anlegt.  Die  eigentliche  Aufgabe  der  Rede- 
kunst ist  nach  Protagoras,  der  schwachen  Sache  zum  Sieg  über  die 
stärkere  zu  verhelfen,  das  Unwahrscheinhche  als  wahrscheinlich  dar- 
zustellen. Und  eben  diese  dialektische  Kunst,  welche,  unbeküm- 
mert um  die  Wahrheit,  überall  das  Gegentheil  von  dem,  was  bis- 
her gegolten  hatte,  zu  beweisen  sucht,  und  auf  ein  frivoles,  wenn 
auch  geistreiches  Spiel  mit  den  Dingen  hinausläuft,  beherrscht  die 
Poesie  des  Euripides.  Die  skeptische  Denkweise  des  Protagoras. 
die  Opposition  gegen  den  Volksglauben  findet  bei  Euripides  den 
vollständigsten  Anklang,  und  der  rücksichtslose  Hohn,  die  Keckheit, 
mit  welcher  der  Dichter  auf  der  Bühne  die  Grundlagen  des  Glau- 
bens und  der  Sittlichkeit  angriff,  mufste  weit  nachtheiliger  wirken, 
als  die  mafsvolle  Weise,  in  der  Protagoras  seine  Zweifel  vorgetragen 
zu  haben  scheint.  Vollkommen  glaubwürdig  erscheint  die  Ueber- 
lieferung, dafs  Protagoras  zuerst  im  Hause  des  Euripides  seine  Schrift 
über  die  GOtter  vorlas,  welche  so  grofsen  Anstofs  erregte,  dafs  er 
Athen  verlassen  mufste.''^)  Dies  setzt  vertrauten  Verkehr  voraus; 
auch  weisen  in  den  Tragödien  des  Euripides  wiederholte  Beziehungen 
nicht  undeutlich  auf  jenen  Soi)hist(n  hin.  Durch  Protagoras  ward 
Euripides  vielleicht  auch  mit  den  verwandten  Ansichten  älterer  Skep- 

23)  Diogen.  Laert.  IX  c.  8,  5  (54) :  aveyvto  ^'  '^&rivt!<rtv  4p  tf  BvfiniSov 
oixiq  i;  ät  Ttvse  Iv  rf,  MeynxXeiSov^  nXXoi  S^  iv  jivxsiqf,  fia&T;rov  rijr  fotvrjv 
avT(l>  xfV^f*^o^  'yigx'^y^QOv  rov  ßsoSorov. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRIPPE.  DIE  RLITHEZEIT.  III.EURIP.    473 

liker,  wie  des  Diagoras,  bekannt.^^)  Höchst  merkwürdig  ist,  dafs  der 
Dichter  bereits  kurz  vor  Ol.  88,  3  seine  atheistischen  Ansichten  im 
Bellerophontes  ganz  unverhüllt  aussprach.'")  Das  Bild  dieses  Cha- 
rakters, der  ins  Schrankenlose  strebt  und,  weil  ihn  das  Mifsgeschick 
verfolgt,  sich  der  Einsamkeit  ergiebt,  der  an  Gott  und  der  Welt 
verzweifelt  und  doch  von  Haus  aus  eine  edel  angelegte,  von  auf- 
richtigem Wohlwollen  beseelte  Natur  war,  mufs  als  offenherziges 
Selbstbekenntnifs  des  Dichters  betrachtet  werden,  der  gleichfalls  ver- 
zweifelte, weil  er  den  Widerspruch  zwischen  seinen  Idealen  und  der 
äufseren  Welt  nicht  zu  überwinden  vermochte.  Noch  fühlt  man  den 
Ueberresten  dieses  Dramas  an,  dafs  Euripides  hier  nicht  mit  kalter, 
ruhiger  üeberlegung  sein  Glaubensbekenntnifs  niedergelegt  hat,  son- 
dern die  Kraft  und  Energie  der  Sprache  entspringt  aus  warmer 
innerer  Leberzeugung;  der  Dichter  mufs  alle  diese  schmerzlichen 
Erfahrungen  selbst  durchgemacht  haben.  Wäre  uns  diese  Tragödie, 
welche  offenbar  auf  die  Zuhörer  eine  nicht  gewöhnliche  Wirkung 
ausübte,  erhalten,  so  würden  wir  gewifs  den  klarsten  Einblick  in 
das  Innere  des  Dichters  gewinnen. 

Die  Wirkung  des  Verkehrs  mit  Prodikus  mochte  weniger  tief 
gehen ;  aber  die  Art,  wie  dieser  feinfühlende  Geist  sittliche  Probleme 
behandelte,  hatte  sicher  für  Euripides  Reiz.  Noch  erinnert  manches 
an  die  Lebensansichten  der  Sophisten,  z.  B.  in  den  Schutzflehenden 
die  Rede  des  Theseus.^)  Hier  wird  zwar  die  trübe  Anschauung  von 
dem  menschlichen  Leben,  welche  Prodikus  vertrat,  bestritten,  aber 
diese  Widerlegung  ist  ganz  im  Geist  und  Ton  der  modernen  sophi- 
stischen Bildung  gehalten,  während  die  nachdrückhch  vorgetragene 
Warnung^),  aUe  Leute  sollten  nicht  versuchen,  ihr  Leben  durch 
künsthche  Mittel  zu  fristen,  da  sie  doch  dem  Gemeinwesen  nichts 
mehr  zu  nützen  vermöchten ,  mit  den  Grundsätzen  des  Prodikus 
stimmt.     Auch  die  Untersuchungen  dieser  beiden  Männer  über  die 


24)  Auf  den  Titel  der  Schrift  des  Diagoras  anonvpyl^ovret  Xoyot  deutet 
wohl  Euripides  selbst  hin  in  einem  allerdings  verdorbenen  Bnichstücke  des 
Bellerophontes  (fr.  288  Di,  am  Schlufs). 

25)  In  diesem  Jahre  bezieht  sich  Aristophanes  in  den  Achamern  426  f.  auf 
jene  Tragödie,  die  wohl  nicht  lange  vorher  gedichtet  war. 

26)  Schulzfl.  196  ff.,  wo  schon  die  Einleitung  des  Themas:  l>U|c  yä^  xts 
tos  ra  x^iQOvn  Tti-eico  ßgordlaiv  iart  lüJv  oftetvöriov  unverkennbar  eine  Be- 
ziehung auf  eine  besfimmfe  Persönlichkeit  enthält. 

27)  Schutzfl.  1108  ff. 


474  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Sprache  mufslen  für  Euiipides  ein  gewisses  loleresse  haben,  wenn 
er  auch  nicht  gerade  unmiltelharon  Gewinn  daraus  zog.'") 

Die  Ueberlieferung  läfst  den  Tragiker  auch  hei  Sokrates  in  die 
Schule  gehen.  Wie  Anaxagoras  ihn  in  die  Naturphilosophie  einge- 
führl,  die  Sophisten  in  die  Künste  der  dialektischen  Methode  ein- 
geweiht, so  soll  Sokrates  sein  Lehrmeister  in  der  Ethik  geworden 
sein.  Dafs  zwischen  beiden  ein  gewisser  personlicher  Verkehr  statt- 
fand, ist  wahrscheinhch.  Sokrates,  der  nur  selten  das  Theater  be- 
suchte, mochte  gerade  durch  die  dramatischen  Arbeiten  des  Euri- 
pides  sich  angezogen  fühlen ;  der  Tragiker  aber,  der  für  alles  em- 
pftinghchen  Sinn  besafs,  mag  gleich  bei  dem  ersten  Hervortreten 
des  Philosophen,  welches  ungewöhnüches  Aufsehen  erregte,  sich  ihm 
genähert  haben,  um  seine  Ansichten  genauer  kennen  zu  lernen.  Die 
Komödie  hat  dann  in  ihrer  Weise  dieses  Verhältnifs  ausgebeutet. 
Wenn  man  den  Lustspieldichtern  Glauben  schenkt,  entspringt  nicht 
nur  das  Selbstgefühl  des  Euripides  aus  seinem  Umgange  mit  Sokra- 
tes, sondern  der  Philosoph  bietet  auch  dem  Tragiker  hülfreiche  Hand 
bei  der  Abfassung  seiner  Stücke;  den  leichten  Redeflufs,  wie  die 
Fülle  philosophischer  Gedanken  verdankt  Euripides  seinem  Meister.*') 
Sokrates  ist  eben  den  Komikern  der  Repräsentant  der  neuen  Schul- 
weisheit; der  Tragiker  erschien  als  ein  Geistesverwandter.  Daher 
fafst  Aristophanes  in  den  Fröschen^)  das  Resultat  seiner  Kritik  darin 
zusammen,   dafs  er  die  Kunst  des  Euripides  und   die  Weisheit  dos 


28)  Wenn  Aristophanes  in  den  Fröschen  1180  die  Prologe  des  Euripides 
mit  Rücksicht  auf  die  oQd'öxtjS  räv  ircöv  prüfen  will,  so  ist  damit  angedeu- 
tet, dafs  er  ihn  auch  in  dieser  Hinsicht  als  Vertreter  der  sophistischen  Bildung 
darstellen  will. 

29)  Diog.  Laert.  11  c.  5,  2  (18)  theilt  die  Belege  aus  Telekleides,  den  IltSfirm 
des  Kallias  (fr.  2  Com.  II  2,  789).  den  Wolken  des  Aristophanes  mit  Besonders 
bemerkenswerth  sind  die  unheilbar  verderbten  Verse  des  Telekleides  fr.  inr.  fab. 
2.  :i  Com.  II  1,  371,  die  auch  der  Biograph  anführt;  hier  erscheint  aut^er  Sokrates 
auch  der  Schwiegervater  Mnesilochus  als  iMilarbeiter  des  Euripides.  Sokrates 
legt  wie  ein  kundiger  Opferpriester,  der  aus  der  Flamme  weissagt,  die  Scheiter 
zurecht  (t«  fQvyav  vnoxi&rjtn,  vgl.  Aristoph.  Friede  1021)  und  Schol.).  Angespielt 
wird  offenbar  auf  ein  später  verschollenes  Stück  fp^vysi;  denn  der  Witz  wäre 
ohne  rechte  Wirkung,  wenn  der  Komiker  einen  Tragödientilel  tingirl  hätte.  Dafs 
Euripides  mit  seinem  Schwiegervater  vertraulich  verkelirte,  beweisen  auch  dir 
Thesraophoriazusen  des  Aristophanes;  daher  konnte  ihn  Telekleides  in  Verbin- 
dung mit  Sokrates  als  Gehülfen  des  Tragikers  einführen.    [S.  S.  4Sü,  A.  71.] 

30)  Aristoph.  Frösche  14iM  if. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLLTHEZEIT.  III.  EURIP.    475 

Sokrales  auf  gleiche  Stufe  stellt,  indem  er  treffend  bemerkt,  die 
philosophische  Reflexion  beeinträchtige  die  echte  Poesie.  Nur  wenn 
man  den  Tragiker  mit  Sokrates  verkehren  sah,  konnte  die  Komödie, 
die  in  der  Regel  von  etwas  Thatsächlichem  ausgeht,  um  so  zuver- 
sichthcher  jene  Parallele  ziehen.  Allein  ein  engeres  Verhältnifs  hat 
schwerhch  stattgefunden;  denn  wenn  sich  auch  manche  gemein- 
samen Berührungspunkte  darboten,  so  waren  diese  Naturen  doch 
sehr  verschieden  angelegt.  Während  Sokrates  der  naturwissenschaft- 
lichen Forschung  aus  dem  Wege  geht,  vertieft  sich  Euripides  in  das 
Studium  des  Anaxagoras ;  während  Sokrates,  fern  von  theologischer 
Speculation,  sich  an  den  Volksglauben  hält,  treffen  wir  bei  dem 
Tragiker  eine  entschieden  skeptische  Stimmung  an;  Sokrates  be- 
kämpft unablässig  die  Sophisten,  denen  Euripides  willig  sein  Ohr 
leiht.  Nur  auf  dem  ethischen  Gebiete  konnte  der  Einflufs  der  So- 
kratischen  Weltanschauung  hervortreten ;  aber  davon  ist  wenig  wahr- 
zunehmen. So  hält  Euripides  alle  Zeit  an  dem  volksraäfsigen  Grund- 
satze fest,  nach  besten  Kräften  dem  Freunde  Gutes,  dem  Feinde 
Böses  zuzufügen,  während  die  Unterweisung  des  Sokrates  Bedenken 
gegen  die  unbedingte  Gültigkeit  erwecken  mufste.^') 

Auch  mit  den  Schriften  des  Demokrit,  welche  bei  den  Zeit- 
genossen nur  geringe  Beachtung  fanden,  mufs  Euripides  bekannt 
gewesen  sein;  mit  ihm  begegnet  er  sich  namentlich  in  der  welt- 
bürgerlichen Gesinnung.^)  Nicht  minder  zeigt  sich  Bekanntschaft 
mit  den  Lehren   des   tiefsinnigen  Heraklit.'^)     Euripides'  Studien 


31)  Auch  Sokrates  kommt  bei  Xenophon  wiederholt  auf  diesen  Grundsatz 
zurück;  aber  dafs  er  ihn  nicht  unbedingt  guthiefs,  zeigt  Memor.  II  2,  3.  Plato 
Krito  49  A  giebt  wohl  die  wahre  Meinung  des  Sokrates  wieder. 

32)  Auf  Aeufserungen,  wie  im  Phönix  fr.  SOS :  ruf  avrj  lexfitjqioiaiv  ei- 
xoTcos  cdiaxerat,  was  an  den  Grundsatz  des  Demokrit  (fr.  phys.  1  und  5  Mull.), 
aus  den  Erscheinungen  auf  das  Verborgene  zu  schliefsen,  erinnert,  darf  man 
sich  so  wenig  berufen,  wie  wenn  der  Tragiker  wiederholt  empfiehlt,  die  Extreme 
zu  meiden  und  das  rechte  Mafs  zu  halten,  um  des  waiiren  Glückes  theilhaftig 
zu  werden,  was  auch  Demokrit  lehrte;  denn  diese  Wahrheiten  waren  Gemein- 
gut. Aber  fr.  1034  anas  fiev  ariQ  aerS  ne^äatuoi ,  anaaa  Se  x^(^^  avSoi 
yswaii^  TtazQis  (vgl.  auch  Phaethon  fr.  774)  erinnert  an  Demokrits  Worte  bei 
Stob.  Flor.  40,  7  p.  6.5,  5M.:  avS^i  ao<f(^  näaa  yr,  ßaTTj'  yn;xrjS  yoQ  aya&iß 
naTQie  6  ^finas  xöauos.  Und  wenn  jener  Philosoph  (Stob.  Flor.  40,  6  p.  65,  1  M.) 
Genügsamkeit  und  Einfachheit  des  Lebens  empfiehlt,  so  fiadea  sich  auch  dafür 
bei  Euripides  bemerkenswerthe  Parallelen,  wie  fr.  884. 

33)  Auf  Heraklit  geht  vor  allem   die   Anschauung  zurück,  leben  heifse 


476  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300   V.  CHR.  G. 

beschränken  sich  übrigens  nicht  auf  das  philosophische  Gebiet,  son- 
dern er  besitzt  überhaupt  eine  sehr  umfassende  Hierarische  ßiklung. 
Eine  erlesene  Büchersammlung,  damals  ein  seltener  Besitz,  kam  ihm 
dabei  zu  Slatten.^0  Mit  den  Schätzen  der  NationalUteratur  ist  er 
vollkommen  vertraut.  Wie  die  dramatischen  Arbeiten  der  Vorgänger 
und  Zeitgenossen  anregend  und  fördernd  auf  ihn  einwirkten,  erkennt 
man  deutlich.^)  Dem  lehrhaften  Zuge  seines  Wesens  sagten  beson- 
ders Dichtungen  zu,  in  denen  Frühere  ihre  reichen  Lebenserfahrungen 
niedergelegt  hatten,  wie  die  Elegien  desTheognis,  dessen  Sinn- 
sprüche Euripides  häufig  paraphrasirt.^*^)  Die  Abwechselung  und 
Mannigfaltigkeit  der  rhythmischen  Behandlung,  welche  die  lyrischen 
Partien  bei  Euripides  auszeichnet,  setzt  ein  sorgfältiges  Studium  der 
älteren  wie  der  jüngeren  Meister  voraus ^^),  und  viele  seiner  Lieder 
mag  der  Dichter  Volksweisen  abgelauscht  haben.  Ebenso  gehörten 
die  verdienstlichen  Arbeiten  der  Sagensammler  zu  den  unentbehr- 
lichen Hülfsmitteln  des  Tragikers.^*)  Kurz,  Euripides  kann  in  der 
klassischen  Zeit  vor  vielen   anderen  auf  den  Ruhm  eines  gelehrten 


eigentlich  sterben ,  während  der  Tod  das  wahre  Leben  sei,  fr.  46  Mull.  (38  Schi. 
59  Schust.).  Dieser  Gedanke,  den  Euripides  im  Polyidus  fr.  639  aussprach  und 
nachmals  im  Phrixus  fr.  830  wiederholte  (daraus  sind  manche  Irrthümer  in  den 
Gitaten  entsprungen),  erregte,  wie  sich  erwarten  läfst,  ungemeines  Aufsehen 
(vgl.  Aristoph.  Frösche  1082,  wo  der  Komiker  die  Frauengestalien  der  Euripidei- 
schen  Tragödie  charakterisirl:  xai  faaxovaas  ov  ^r^v  to  ^fjv).  Nach  Diogen. 
Laerf.  II  c.  5,  7  (22)  machte  Euripides  den  Sokrates  mit  der  Schrift  des  Hera- 
klit  bekannt. 

34)  Athen.  1  3A.  Auch  Arisfophanes  Frösche  1409  und  943  deutet  auf  die 
reiche  Büchersammlung  und  die  fleißigen  Studien  des  Dichters  hin. 

35)  Man  erinnere  sich  nur  der  Medea  des  Neophron. 

36(  Bei  der  Polemik  gegen  die  üeberschätzung  der  Gymnastik  im  Auto- 
lykns  fr.  284  hat  Euripides  ganz  deutlich  eine  Elegie  des  Xenophanes  vor  Augen. 

37)  Biographie:  yni  roli  fiiXeaiv  kariv  afi^ftTjroe,  nn^ayxotvi^iiusrot  rmi 
fttiovotoie  ayjSiv  n/viai.  Diese  Vielseitigkeit,  die  selbst  das  Niedrige  nicht 
Tetsrhmäht,  macht  ihm  Aristophanes  Frösche  1301  ff.  zum  Vorwurf:  ovrot  8'  ajii 
növTtov  fiiXi  (so  ist  statt  ftev  zu  lesen)  figet,  noQt'iSiotv,  axoXiotv  MtXrftov, 
Ka^ixwv  ar^LTj/uiircav,  d'qr,vo}v,  ;^ojtto»»'  (wohl  richtiger  x^Q'^''**'^  d.  h.  Tanz- 
lieder und  Tanzweisen).  Wenn  hier  Meletus  erwähnt  wird,  so  ist  ein  solcher 
Einflufs  in  den  späteren  Tragödien  wohl  denkbar;  jedoch  will  Aristophanes 
vielleicht  nur  sagen,  in  den  melischen  Partien  des  Euripides  herrsche  derselbe 
Geist  wie  in  den  Trinkliedern  des  Meletus. 

38)  Aufser  Pherckydes  wird  Euripides  auch  die  Arbeiten  seines  Zeitge- 
nossen, des  Hellanikus,  benutzt  haben. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.    DIE  BLÜTHEZEIT.  III.  ELRIP.    477 

Dichters  Anspruch  machen ;  aber  man  mufs  anerkennen,  dafs  er  nie- 
mals unzeitigen  Gebrauch  von  seiner  Gelehrsamkeit  macht.'^) 

Dem  handelnden  Leben  steht  Euripides  fern;  höchstens  ward  Euripides 
er  einmal  mit  einem  öffenthchen  Auftrage  betraut*")  oder  in  einen  vom  offent- 
Rechtshandel  verwickelt"')  5  denn  dieser  Gefahr  konnte  damals  in  i'^en  Le- 
Athen  auch  der  Friedfertigste  nicht  entgehen.  Der  Dichter  fühlte 
keinen  Beruf,  aus  seiner  inneren  Welt  in  das  unruhige  Gewühl  des 
Marktes  hinabzusteigen.  Aber  Euripides  war  kein  Einsiedler,  der, 
jede  Berührung  mit  der  Aufsenwelt  sorgsam  meidend,  sich  auf  sein 
Haus  zurückzieht,  sondern  mit  gewohntem  Scharfbhck  beobachtet 
er  das  Thun  und  Treiben  seiner  stürmisch  aufgeregten  Zeit  und 
verfolgt  mit  lebhaftestem  Antheil  alle  Fragen  des  Tages;  davon  legen 
seine  Tragödien  überall  Zeugnifs  ab.  Wiederholt  hat  der  Dichter, 
veranlafst  durch  die  Ereignisse  der  Gegenwart,  seine  Poesie  geradezu 
in  den  Dienst  der  Politik  gestellt,  und  es  ist  sehr  merkwürdig,  dafs 
Euripides,  der  sonst  den  leitenden  Staatsmännern  Athens  nicht  näher 
getreten  zu  sein  scheint,  eine  Zeit  lang  mit  Alkibiades  vertrauten 
Verkehr  unterhalten  haben  mufs.  Alkibiades  benutzt  den  Dichter 
nicht  nur,  um  seinen  Sieg  in  den  olympischen  Spielen  zu  verewigen, 
sondern  gebraucht  ihn  geradezu  als  Werkzeug  für  seine  politischen 
Zwecke.''*)  Dem  genialen  Uebermuthe  des  jugendlichen  Alkibiades, 
der,  wenn  er  wollte,  durch  seine  Liebenswürdigkeit  einen  jeden  be- 
zauberte, vermochte  selbst  der  ernste  Euripides  nicht  zu  wider- 
stehen.*^)    Auch  mit  Kritias  bildete  sich  ein  freundschaftlicher  Ver- 


39)  Earipides  beruft  sich  selbst  wiederholt  auf  schriftliche  Quellen,  wie 
Iphig.  Aul.  798,  Hippol.  451,  oder  deutet  auf  die  Nächte  hin,  die  er  sinnend  und 
forschend  zubrachte,  Hippol.  375. 

40)  Aristot.  Rhet.  U  6  p.  1384  B  16  erwähnt  Verhandlungen  des  Euripides 
mit  den  Syrakusanern,  was  der  Scholiast  II  230  ed.  Spengel  auf  eine  Gesandt- 
schaft bezieht.  Da  der  Name  des  Euripides  ohne  weiteren  Zusatz  eingeführt 
wird,  kann  wohl  nur  der  Dichter  gemeint  sein,  der  ebenso  gut  wie  Sophokles 
einmal  in  Slaalsgeschäften  verwendet  werden  konnte. 

41)  Aristot.  Rhet.  III  15  p.  1416  A  2S.  Hygiänon  verdächtigte  in  einem 
Rechtshandel  wegen  Vermögenstausch  (avTiSoais)  die  Glaubwürdigkeit  seiner 
eidlichen  Aussage,  indem  er  auf  den  berufenen  Vers  im  Hippolyt  612  :  r,  yKwaa 
0(1.0)110%  ,  4}  8i  (f^Tiv  avüJuoTos  sich  berief. 

42)  Wie  die  Andromache  deullich  zeigt. 

43)  Vielleicht  ward  die  Bekanntschaft  mit  Alkibiades  und  Kritias  durch 
Sokrates  vermittelt. 


478  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.    CHR.  G. 

kehr;  es  war  aber  vorzugsweise  Uebereinstimmung  der  philosophischen 
Ansichten,  welche  jene  Männer  zusammenfiliirle/^)  Berührung  mit 
den  zeitgenössischen  Dichtern  konnte  nicht  ausbleiben.  Sophokles, 
ungefähr  sechszehn  Jahre  älter,  war  bereits  angesehen ,  als  Euri- 
pides  um  den  tragischen  Preis  sich  zu  bewerben  begann.  Eine  ge- 
wisse Rivahtät  war  unvermeidich,  zumal  anfangs  Euripides  gegenüber 
seinem  vom  Glück  begünstigten  Kunstgenossen  nur  geringen  Erfolg 
hatte;  auch  waren  beider  Naturen  zu  verschieden,  als  dafs  sich  ein 
näheres  Verhältnifs  hätte  bilden  können.  Aber  von  gehässigen  Zänke- 
reien und  Fehden  weifs  selbst  die  Anekdotensucht  der  Späteren, 
welche  das  Andenken  grofser  Männer  vielfach  entstellt  hat,  nichts 
zu  berichten.  Eher  mag  sich  Euripides  an  Agathon  angeschlossen 
haben "),  dessen  sophistisch-rhetorische  Bildung  sich  mit  der  Rich- 
tung des  Euripides  nahe  berührte.  Später  führte  sie  ihr  Geschick 
an  dem  gastfreien  Hofe  des  Archelaus  zusammen  *''),  wo  Euripides 
auch  mit  anderen  namhaften  Dichtern,  wie  Timollieus,  zusammen- 
traf. 
Häusliche  Wie  uuscrc  Kenntnifs  von  dem  äufseren  Leben  des  Euripides 

vcrhaitnisse.ggj,  dürftig  ist,  SO  wisscn  wir  auch  nur  wenig  von  seinen  häuslichen 
Verhältnissen,  die,  wie  aus  allem  hervorgeht,  nicht  eben  glücklich 
waren.  Nach  der  gemeinen  Ueberlieforung  war  Euripides  zweimal 
verheirathet.")  Die  erste  Ehe  mit  Melito  mag  nur  von  kurzer  Dauer 
gewesen  sein.  Später  schlofs  er  eine  zweite  Verbindung  mit  Chörile, 
der  Tochter  des  Mnesilochus"),  mit  der  er  drei  Söhne  zeugte,  von 


44)  Euripides  scheint  sogar  eine  dramatische  Dichtung  des  Kritias,  den 
Peirithous,  unter  seinem  Namen  und  seiner  Verantwortlichkeit  auf  die  Bühne 
gebracht  zu  haben.    S.  nachher  unter  Kritias. 

45)  Daher  läfst  auch  Aristophanes  in  den  Thesmophoriazusen  88  den  Knri- 
pides  bei  Agathon  Hülfe  suchen.  Der  Anekdotensammler  Aelian  (V.  H.  1121) 
macht  sogar  den  l'>uripides  zum  Liebhaber  des  jugendlichen  Agathon  und  setzt 
hinzu,  man  betrachte  die  Tragödie  Chrysippus,  in  welcher  Euripides  die  Leiiten- 
schaft  des  Laius  für  den  Sohn  des  Pelops  schilderte,  nls  ein  pnelisrhes  Ih-ük- 
mal  dieses  Verhältnisses. 

46)  Aelian.  V.  H.  XIII  4. 

47)  Nur  Mifsverständnifs  ist  es,  wenn  Geliius  XV  20,6  den  Dichter  sogar 
der  Bigamie  beschuldigt;  dies  hätte  die  Komödie  sicherlich  bis  zum  Ueberdrufs 
ausgebeutet. 

4H)  So  die  Biographie  im  Anfang  und  Tlmmas  Magister.  Dai^egen  Snidas 
läfst  den  Dichter  zuerst  die  Tochter  des  iMnesilochus  heiralhen,  und  nachdem 
er  sie  wegen  Untreue  verstofsen,  eine  neue  F)he  schliersen;  ebenso  die  Biigra- 


T»IE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRIPPE.  DIE  DLÜTHEZEIT.   III.  ECRIP.    479 

denen  einer  Kaufmann,  der  andere  Schauspieler  ward,  während  der 
jüngste,  Euripides  genannt,  nach  des  Vaters  Tode  seine  letzte  Tetra- 
logie aufführte  und  auch  selbst  Tragödien  dicbtele.^^j  Diese  Ehe 
inufs  für  Euripides  eine  Quelle  herber  Erfahrungen  geworden  sein. 
Dafs  er  wegen  Untreue  sich  von  der  Gattin  scheiden  liefs,  ist  un- 
begründet.^) Die  Ehe  bestand  trotz  der  Schuld  der  Frau  fort,  und 
Kephisophon,  der  das  Vertrauen  des  Arglosen  bitter  getäuscht  hatte, 
leistete  nach  wie  vor  dem  Dichter  bei  seinen  Arbeiten  hülfreiche 
Hand.")  Diese  Zerrüttung  des  Famihenlebens  mufste  schwer  auf 
dem  Dichter  lasten  und  sein  melanchoUsches  Gemüth  mehr  und 
mehr  verdüstern.  Die  Tradition,  dafs  die  Schilderung  der  liebes- 
kranken Phädra  im  ersten  Hippolytus  auf  eigenen  Erfahrungen  des 
Dichters  beruht,  erscheint  vollkommen  glaubwürdig,  und  wenn  Euri- 


phie  in  der  Mitte  Z.  94 Di.  (ohne  den  Namen  Melito  zu  nennen);  diese  Darstel- 
lung ist  unrichtig.  Die  N'amensform  Xotoihj  hat  ebenso  gute  Gewähr  als  Xoi- 
oivT}  und  wird  durch  Analogien  geschützt. 

49)  Nach  anderen  war  freilich  dieser  Euripides  ein  Bruderssohn  des  Dich- 
ters, s.  Snidas. 

50)  Chörile  ist  die  Tochter  des  Mnesilochus  (so  die  Biographen,  was 
auch  Schol.  Aristoph.  Thesm.  1  bestätigt);  daher  ward  auch  ein  Sohn  aus  dieser 
Ehe  nach  dem  mütterlichen  Grofsvater  benannt.  Wenn  Aristoph.  Frösche  140S 
sagt,  man  solle  in  die  \Vagschale  setzen:  airös,  ra  TiaiSi^,  r,  yvvfi,  Krjfiao- 
<f(äv,  so  ist  eben  diese  Frau  zu  verstehen,  die  offenbar  den  Dichter  überlebte; 
daraus  ergiebt  sich  auch,  dafs  die  Ehe  nicht  aufgelöst  ward.  Was  der  Bio- 
graph Z.  9S  von  der  Wiederverheirathung  der  Chörile  und  einer  vermeintlichen 
Anspielung  darauf  in  der  Elektra  des  Euripides  erzählt,  ist  lediglich  Erdichtung. 
Euripides' erste  Frau  Melito  wird  nur  von  den  Biographen  erwähnt;  es  ist  daher 
zweifelhaft,  ob  der  Dichter  überhaupt  zweimal  verheirathet  war.  Möglicher 
Weise  hiefs  die  Tochter  des  Mnesilochus  MtXtrco  und  ward  von  den  Komikern 
Xotgilrj  genannt  (ein  Zuname,  den  Hekabe  geführt  haben  soll,  s.  Schol.  Hec.  1). 
Den  Mnesilochus  in  den  Thesmophoriazusen  des  Aristophanes  betrachten  alte 
und  neuere  Erklärer  als  Schwiegervater  des  Dichters,  und  Euripides  nennt  ihn 
1165  tcriSearrjS  iuös.  Dies  ist  jedoch  ein  vieldeutiger  Ausdruck;  denn  Mnesi- 
lochus nennt  ebenfalls  74  und  211  den  Euripides  seinen  xij^effT^s,  d.  h.  seinen 
Schwiegersohn,  was  nicht  gegen  den  Sprachgebrauch  verstöfst.  Aber  der  Mne- 
silochus der  Komödie  kann  auch  der  Schwager  des  Dichters  sein,  indem  er 
seines  Vaters  Namen  führte,  und  dafür  scheint  5S4:  EvomiSrjv  yna^  ävSga 
xrjdeaxTjv  rtva  avrov,  yiQovra,  Sevo'  avanejuy^ai  r^fiegov  zu  sprechen. 

51)  In  dem  Famulus,  den  Aristophanes  dem  Euripides  in  den  Acharnern 
:<95  ff.  zugesellt,  erkennen  die  Scholiasten  wohl  richtig  diesen  Hausfreund,  ziehen 
aber  daraus  den  falschen  Schlufs,  er  sei  Sklave  gewesen;  auf  freie  Herkunft 
deutet  schon  der  Name  Kr,(fiao<f(äv. 


480  DRITTE    PERIODE    VUN    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

pides  fortan  nicht  ahläfst,  in  seinen  Tragödien  die  tiefen  Schäden 
der  ehelichen  VerliäUnisse  offen  zu  legen,  so  fühlt  mau  durch,  dafs 
diese  Schilderungen  unter  dem  unmittelbaren  Eindrucke  cigeuen 
Leides  entstanden  sind,  dafs  der  Dichter  den  unheilbaren  Rifs  seines 
häusHchen  Glückes  schmerzlich  empfand.  Diese  Verstimmung  macht 
sich  nicht  nur  in  einzelnen,  oft  wenig  motivirlen  AusföUen  gegen 
die  Frauen  Luft,  sondern  mit  Vorhebe  werden  individuell  entwickelte 
Frauencharaktere  dargestellt,  welche  in  ihrer  Leidenschaft  sich  über 
alle  Schranken  der  Sitte  hinwegsetzen.  Mit  scharfen  Zügen  schildert 
Euripides,  der  die  weibliche  Natur  recht  eigentlich  zum  Gegenstande 
unablässigen  Studiums  gemacht  hat,  die  Schwächen  und  Fehler  der 
Frauen.  Daher  galt  der  Dichter  allgemein  als  Weiberfeind.")  Dieses 
Motiv  benutzt  Aristophanes  und  dichtet  in  seinen  Thesmophoria- 
zusen  die  Verschwürung  der  athenischen  Frauen,  die  wegen  der 
unglimpflichen  Behandlung  auf  Rache  gegen  den  Tragiker  sinnen. 
Aber  indem  der  Komiker  scheinbar  die  Vertheidigung  der  Frauen 
übernimmt,  sagt  er  ihnen  SchUmmeres  nach  als  Euripides  und  trifft 
schliefslich  auch  hier  mit  seinem  literarischen  Widersacher  in  dem 
letzten  Resultate  zusammen. 
Euripides'  Gerade  wie  Aeschylus,  so  starb  auch  Euripides  fern  von  Athen. 

1®V"®     Doch  trieb  ihn  nicht  sowohl  unverdiente  Kränkung  fort*'),  sondern 

O  C  n  1 C  KS  316. 

er  folgte  einer  ehrenvollen  Einladung  des  Königs  Archelaus  von 
Makedonien.  Ol.  92,  4  hat  Euripides  noch  in  Athen  seinen  Orestes 
aufgeführt;  unmittelbar  nachher  mufs  er  die  Reise  angetreten  haben, 
auf  der  er  auch  die  abgelegene  Landschaft  Magnesia  berührte  und 
dort  ehrenvolle  Aufnahme  fand.**)     Von   dort   begab  er  sich   nach 


52)  S.  die  Biographie.  Die  Aeufseiung  des  Sophokles,  welche  Athen. 
XIII  557  E  aus  Hieronymus  berichtet  (andere  wiederholen  sie,  wohl  nach  der- 
selben Quelle):  EinovToe  JSofoxlsl  ztvoe,  ort  ftiaoyvvtje  iariv  Ei/QiniStji,  'Er  ye 
Tols  i^ayt^Siaa,  üft]  6  ^otpoxXlqi,  Inei  iV  ye  t^  xAt'i'»?  fdoyvvrjs,  klingt  ganz 
wahrscheinlich.  Derselbe  Hieronymus  (Athen.  XIII  604  E)  berichtet  noch  eine 
andere  Anekdote,  wo  Euripides  sich  über  die  Schwäche  des  Sophokles  gegen- 
über schönen  Knaben  lustig  machte,  worauf  Sophokles  mit  einem  Epigramm 
geantwortet  haben  soll. 

5.'})  Nur  Philodem  de  vitiis  X  p.  2i»  ed.  Sauppe,  falls  die  Stelle  auf  Euri- 
pides geht,  scheint  auf  unerfreuliche  Vorfälle,  die  allgemeine  Schadenfreude  er- 
regten, hinzudeuten.     Vgl.  auch  Thomas  Magisters  Biographie. 

54)  Biographie:  fUTiorrj  Si  ir  Mayvrjaiq  xai  n^^tviq  iTi/u^dtj  Mal  «x«- 
Afi/a.     Er  berührte  diese   abgelegene  Landschaft  auf  der  Reise  nach  Makedo- 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  III.  EÜRIP.    481 

Pella,  der  neuen  Hauptstadt  Makedoniens ;  denn  Archelaus  hatte  den 
alten  Sitz  seiner  Vorfahren,  das  durch  die  landschaftlichen  Reize 
einer  grofsartigen  Gebirgsgegend  ausgezeichnete  Aegae,  mit  Pella  ver- 
tauscht und  sich  in  dieser  für  den  Verkehr  günstig  gelegenen  Stadt 
einen  prachtvollen  Palast  erbaut.  Hier  bei  Archelaus  stand  Euri- 
pides  in  besonderer  Gunst  und  Ehren.^^  Makedonien  war  bisher  in 
der  Bildung  entschieden  zurückgeblieben ;  aber  je  melir  es  an  poli- 
tischer Bedeutung  gewann,  desto  mehr  empfand  man  diese  Ver- 
nachlässigung. Archelaus  war  keineswegs  ein  makelloser  Charakter 
und  entbehrte  eigenthch  der  tieferen  Bildung,  fühlte  aber  doch,  was 
ihm  und  seinem  Volke  fehlte.  Er  stiftete  einen  musischen  Agon  zu 
Dion  am  Olympus  in  Pierien,  einer  Stätte,  an  welche  sich  altehr- 
würdige Erinnerungen  knüpften.^)  Dazu  bedurfte  es  der  Theilnahme 
und  Mitwirkung  der  Dichter,  und  so  suchte  der  König  die  nam- 
haftesten Männer  seiner  Zeit  an  sich  zu  ziehen,  was  ihm  um  so 
leichter  gelang,  da  der  langwierige  Ki'ieg,  in  welchem  Griechenland 
seine  besten  Kräfte  verzehrte,  die  Künste  des  Friedens  empfindlich 
schädigte.  Namentlich  Athen  büfst  seine  frühere  Anziehungskraft 
ein.  So  mufste  das  Asyl,  welches  die  Freigebigkeit  des  Archelaus 
eröffnete,  hochwillkommen  sein,  und  der  Hof  dieses  prunkhebenden 
Fürsten  ward  der  Sammelplatz  für  Künstler  und  Dichter.  Euripides, 
der  hier  mit  seinem  Freunde,  dem  Tragiker  Agathon,  zusammen- 
traf"!, vergafs  jedoch  über  den  Genüssen  des  Hoflebens  seine  Kunst 
nicht,  in  der  Tragödie  Archelaus,  wohl  auf  ausdrücklichen  Wunsch 
des  Königs  verfafst^),  verherrlichte  er  das  Andenken  des  Gründers 
der  Dynastie.  Ebenso  ist  die  letzte  Tetralogie,  welche  erst  nach 
dem  Tode  des  Tragikers,  wohl  Ol.  93,  3,  der  jüngere  Euripides  in 
Athen  in  Scene  setzte,  in  Makedonien  gedichtet,  wie  besonders  die 


nien;  denn  es  konnte  ihm  nicht  in  den  Sinn  kommen,  Magnesien  mit  Athen  zu 
vertauschen. 

55)  Nur  war  Euripides  weder  Schatzmeister  (so  der  Biograph),  noch  ge- 
heimer Rath  (Solin.  collect,  rerum  memorab.  IX  17)  des  Fürsten,  wohl  aber  be- 
zeugen manche  Erzählungen  den  vertrauten  Verkehr.  Dafs  Archelaus  auch  bei 
dem  Tode  des  Tragikers  warme  Theilnahme  zeigte,  berichtet  Solinus  a.  a.  0. 

56)  Vielleicht  fanden  auch  am  Hofe  selbst  dramatische  Aufführungen  statt. 

57)  Aelian  V.  H.  XUI  4. 

58)  Biographie;  die  abweichende  Erzählung  bei  Diomedes  III,  I  488 K  läfst 
sich  damit  wohl  in  Einklang  bringen. 

Bergk,  Griecb.  Literaturgeschichte  III.  31 


482  DRITTE   PERIODE   V0>    500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

Bakchen    deutlich   zeigen'"),   und   vielleichl  auch  schon   dort  unter 
persünhcher  Leitung  des  Dichters  aufgeführt  worden. 

Den  tiefen  Fall  Athens  hat  Euripides  nicht  mehr  erlebt;  er 
starb  noch  vor  Sophokles  Ol.  93,  2  oder  3  zu  Anfang"),  fern  von  der 
Ileimath,  die  wiederzusehen  ihm  nicht  beschieden  war,  in  Arethusa^') 

59)  Eurip.  Bakch.  565  fF. 

60)  Die  Angaben  schwanken;  nach  Apollodor  (bei  DiodorXllI  103,  5)  stirbt 
Euripides  in  demselben  Jahre,  wo  Sophokles  starb,  also  Ol.  93,3,  und  zwar 
sicherlich  noch  vor  Ende  des  Sommers;  denn  Euripides  starb  vor  Sophokles, 
und  die  im  Winter  dieses  Jahres  aufgeführten  Frösche  des  Aristophanes  setzen 
voraus,  dafs  der  Tod  beider  Dichter  wenigstens  um  ein  Paar  Monate  zurück- 
liegt Auf  dieses  Jahr  führt  auch  der  Synchronismus  bei  Plutarch  Quaest. 
Symp.  VIII  1,  1,3:  anod'avivxoi  8i  {Ev^ijiiSov),  xad"'  rjv  (t'ifii^av)  dyewi^&ri 
Jiovvatos  6  ngeoßvxeQoe  iwv  iv  2!txeXiq  xvqÜwoiv.  Plularch  denkt  offenbar  an 
die  Geburt  des  Dionysius,  während  derselbe  vielmehr  in  diesem  Jahre  sich  der 
Herrschaft  bemächtigte,  und  zwar  um  die  Zeit  der  Wintersonnenwende  (der 
Tag  liefs  sich  wohl,  wie  dies  in  der  Natur  einer  solchen  Usurpation  liegt,  kaum 
genau  bestimmen);  folglich  mufs  der  Tod  des  Euripides  schon  früher  erfolgt 
sein.  Möglicher  Weise  fiel  der  Tod  des  Tragikers  zwar  nicht  mit  der  Geburt, 
aber  doch  dem  Geburtstage  des  Tyrannen  zusammen.  Immerhin  konnte  Ti- 
niäus  (s.  Plutarch),  wenn  Euripides  in  demselben  Jahre  starb,  wo  Dionysius' 
Begiment  begann ,  sagen :  ofia  tije  Tvxrje  lov  fii/iTjT7,v  i^ayovotjs  rtöv  x^ayi- 
xaJr  Tiad'cJv  xal  xov  ay(ovtaTt]v  ineiaayoiaTje.  —  Dagegen  die  parische  Chronik 
Ep.  63  verlegt  den  Tod  des  Euripides  in  Ol.  93,  2,  ebenso  Schol.  Aristoph.  Thes- 
moph.  190  (Euripides  sei  Sxrtp  i'rei  vare^ov  nach  der  Aufführung  der  Thesmo- 
phoriazusen,  die  der  Grammatiker  in  Ol.  92, 1  setzt,  gestorben).  Darauf  führt 
auch  die  Erzählung  des  Biographen,  Sophokles  habe  mit  seinen  Schauspielern 
und  seinem  Chore  am  Proagon,  um  das  Andenken  des  Verstorbenen  zu  ehren, 
Trauerkleider  angelegt;  demnach  müfste  noch  vor  den  grofsen  Dionysien  Ol. 
93,  2  die  Todesnachricht  aus  Makedonien  in  Athen  angelangt  sein.  Auch  Diodor 
weist  auf  diese  abweichende  Ueberlieferung  hin,  indem  er  hinzusetzt,  es  gebe 
die  Sage,  Euripides  sei  in  Makedonien  von  Hunden  zerrissen  worden  fiixQov 
ifjLTCQOo&ev  rovTCov  twv  xQuviov,  d.  h.  vor  Ol.  93,  3.  Vielleicht  ist  das  Datum 
OL  93,  2  das  rechte.  Es  lag  nahe,  dem  Syiichionismus  zu  Liebe,  den  Tod  des 
Euripides  in  das  nächste  Jahr  zu  verlegen.  Eine  sichere  Entscheidung  ist  nicht 
möglich;  jedenfalls  betrug  die  Differenz  nur  wenige  Monate.  Wann  Etatosthcnes 
den  Tod  des  Euripides  ansetzte,  wissen  wir  nicht;  er  gab  dem  Dichter  ein 
Alter  von  75  Jahren  (Biographie,  ebenso  Suidas,  während  Philochorus  sich  mit 
der  unbestimmten  Angabe  über  70  Jahre  all  begnügte);  demnacli  würde  Euri- 
pides noch  vor  Ol.  75,1  geboren  sein,  wie  auch  die  parische  Chronik  Ep.  50 
seine  Geburt  höher  hinaufrückl.  Auf  keinen  Füll  iiat  ein  Gelehrter  ersten  Hanges, 
der  niQi  ucxaias  MotfxqiSias  schrieb,  den  Tod  des  Euripides  auf  Grund  einer 
rhetorischen  Phrase  des  Timäus  chronologisch  fixirt. 

61)  Bii  Arelhusa  befand  sich  das  Grabmal  des  Euripides,  Authol.  Pal.  V1151 


»IE  DBAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLüTHEZEIT.  III.  EÜRIP.    483 

unweit  Ainphipolis  am  strymouischen  Meerbusen.  Euripides  hatte 
offenbar  den  König,  den  entweder  Staatsgeschäfte  oder  die  Jagd  in 
dieses  Grenzland  führten,  begleitet,  und  als  er  sich  Nachts  von  des 
Königs  Tafel  in  sein  Quartier  begab,  wurde  er  von  Hunden  angefal- 
len und  erlag  bald  darauf  seinen  Wunden.") 


>=  ep.  7  II  226  Jac,  Plutarch  Lykurg  c.  31,  Ammian.  Marc.  XXVll  4,  S,  und  damit 
streitet  auch  nicht  Slephanus  von  Byzanz  BoQuiaxoe,  der  ihn  bei  dieser  Ort- 
schaft von  Hunden  angefallen  werden  läfst;  nur  Hermesianax  V.  66  bei  Athen. 
XllI  598  D  scheint  den  Tod  nach  Aegae  zu  verlegen. 

62)  So  berichtet  eine  Meit  verbreitete  Tradition,  die,  wie  sich  erwarten 
läfst,  mannigfach  variiert  und  ausgeschmückt  ward.  Schon  im  Allerthum  als 
Sage  bezeichnet,  begegnet  sie  Zw  eifeln  (Pausanias  I  2,  2j.  Nur  Suidas  kennt  eine 
abweichende  Ueberlieferung,  nach  welcher  der  Tragiker  von  Frauen  zerrissen 
ward  (auch  der  Biograph  berichtet,  da fs  schon  fiüher  in  Athen  die  erbitterten 
Frauen  einen  Anschlag  auf  sein  Leben  auszuführen  versuchten).  Die  Neueren 
halten  das  Ganze  für  eine  Erdichtung,  für  die  man  die  Komödie  verantwortlich 
machen  will.  Dies  wäre  eine  wenig  glückliche  Erfindung;  eher  könnte  man  in 
den  Hunden,  die  den  Euripides  zerrissen,  die  Komiker  selbst  wiederfinden,  deren 
Kritik  den  Dichter  während  seines  Lebens  so  schonungslos  zerfleischt  hatte, 
oder  man  könnte  sagen,  das  Walten  der  Nemesis  solle  veranschaulicht  werden, 
indem  der  Dichter  in  seinem  letzten  Stücke,  den  Bakchen,  die  grause  Jagd  auf 
den  Pentheus  so  herzlos  geschildert  habe.  Diese  Todesait  ist  ungewöhnlich, 
aber  keineswegs  unwahrscheinlich.  Wenn  Aristophanes  nicht  darauf  anspielt, 
so  konnte  ihn  ein  gewisses  Gefühl  für  das  Schickliche  abhalten,  das  traurige 
Lebensende  seines  alten  Widersachers  zu  berühren;  aber  wenn  Phrynichus  Musae 
fr.  1  Com.  n  1,  592  ('as  ruhige  Abscheiden  des  Sophokles  hervorhebt,  so  deutete 
er  vielleicht  eben  auf  den  L'nfall,  der  den  Euripides  betroffen  halte,  hin.  Ob  Zu- 
fall, ob  Tücke  der  Menschen  dem  Dichter  verhängnifsvoll  w ard,  war  natürlich  nicht 
zu  ermitteln;  um  so  mehr  Spielraum  war  Veimuthungen  vergönnt.  Auf  nächt- 
liche Liebesabenteuer  spielt  Hermesianax  V.  64  an ;  Suidas  1  2,  G40  nennt  bestimmte 
Namen  (K^aitQct,  des  Königs  Liebling  oder  eine  Frau  aus  Arethusa),  und  dafs  ein 
solches  Gerücht  gleich  anfangs  in  Athen  verbleitet  war,  kann  man  aus  den  Versen 
des  Aristophanes  Frösche  1046 f.  schliefsen,  wo  Aeschylus  dem  Euripides  zuruft: 
a).).  ini  aoi  toi  xal  ToIe  aolaiv  TioXXr,  tioXXox  ^mxa&iiio  (17  yifpoSirr/},  loare 
ye  xavröv  ae  xar'  oiv  i'ßa/.tv,  was  eben  auf  den  Tod  des  Dichters  zu  beziehen 
ist.  An  einem  Hofe,  wie  den  makedonischen,  war  es  schwer,  der  Intrigue  zu 
entgehen ;  verschiedene  Widersacher  des  Euripides  werden  genannt.  Suidas  sagt, 
Arrhidäus  und  Krateuas  (derselbe  wird  auch  K^ars^oi  genannt;  Suidas  macht  irr- 
thümlich  beide  zu  neidischen  Dichtern)  hätten  einen  Diener  des  Königs  Lysimachus 
(Sixtt  firtiüv  oyo^oa&t'v^a)  angestiftet,  die  Hunde  auf  Euripides  zu  hetzen.  Dies 
ist  ofleubar  Dekamnichus,  den  der  König  dem  Euripides  übergab,  um  ihn  auspeit- 
schen zu  lassen,  weil  er  durch  eine  unvorsichtige  Aeufserung  des  Dichters  Zorn 
erregt  hatte.  Dieser  Dekamnichus  grollte  seitdem  dem  Könige  und  stand  später 
mit  Krateuas  an  der  Spitze  der  Verschworenen,  die  den  Archelaus  ermordeten 

3J* 


484  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300   V.  CUR.  G. 

Dauer  der  Euripides  hat  seine  ganze  Thätigkeit  der  tragischen  Poesie  ge- 

sdien^Thä-'^^^^niet.'*')  Frühzeitig,  hereits  im  fiinfundzwanzigslen  Jahre,  Ol.  81, 1, 
tigkeit.  trat  er  auf  und  bheb  diesem  Berufe  bis  zum  Ende  seines  Lebens 
treu.  Auch  Euripides  arbeitet  anfangs  langsam;  seine  vierte  Tetra- 
logie ward  Ol.  85,  2  aufgeführt."')  Erst  seit  dem  Anfange  des  Krieges 
entwickelt  der  Dichter  eine  ungemeine  Thätigkeit;  er  betheihgt  sich, 
wenn  auch  nicht  gerade  in  jedem  Jahre,  doch  öfter  mehi-ere  Jahre 
hinter  einander  am  tragischen  Wettkampfe.")  Jene  glückliche  Stim- 
mung, welche  der  beste  Sporn  zur  Entfaltung  dichterischen  Talentes 
zu  sein  pflegt,  war  dem  Euripides  nicht  gegeben.  Herbe  persön- 
liche Erfahrungen  trübten  die  Ruhe  seines  Gemüthes.  Die  Leiden 
und  Unruhen  eines  langwierigen  Krieges  lasteten  damals  schwer  auf 
Athen  und  waren  für  poetisches  Schaffen  nichts  weniger  als  günstig. 
Das  behaghche  Gefühl  einer  gesicherten  und  allgemein  geachteten 
Stellung,  welche  Athen  nach  den  Perserkriegen  einnahm,  hatte  bis- 
her auch  die  Dichter  gehoben  und  getragen ;  diese  Gunst  war  un- 
wiederbringhch  dahin.     Man  merkte   es  jetzt  auch   den  poetischen 

(\iistot.  Pol.  V  8, 13  p.  1311  B  30  (F.);  ihm  konnte  man  füglich  einen  solchen  Akt 
der  Rache  an  dem  verhafsten  Dichter  zutrauen.  —  Euripides  wurde  bei  Arethusa 
bestattet;  nurSuidas  nennt  Pella.  Nach  Gellius  XV  20  weigerten  sich  die  Make- 
donier,  den  Athenern  die  Gebeine  herauszugeben.  Man  begnügte  sich,  an  der 
Strafse  nach  dem  Peiräeus  ihm  ein  Kenotaphion  zu  errichten  (Pausan.  I  2,  2), 
auf  dem  ein  Epigramm  des  Timotheus  oder  des  Historikers  Thukydides  (Anth. 
Pal.  VII  45  =  1 102  Jac.)  stand.    (Biographie.) 

63)  Aufser  ein  Paar  Epigrammen,  deren  Echtheit  nicht  durchgehends  ge- 
nügend verbürgt  ist,  hat  Euripides  nur  ein  Lied  {iniviy.oe)  auf  den  olympischen 
Wagensieg  des  Alkibiades  verfafst.  Die  angeblichen  Briefe  des  Euripides  sind 
ein  schlechtes  Machwerk  aus  später  Zeit. 

64)  Zu  dieser  Tetralogie  gehört  die  Alkestis.  Die  zweite  Tetralogie  gehört 
wohl  in  01.83,  wo  Euripides  mit  Aristarch  von  Tegea  sich  um  den  Preis  be- 
worben zu  haben  scheint  (Suidas  'yf ^^ffTa^;fOb  1 1 ,  7 1 8) ,  die  dritte  in  Ol.  84,3, 
wo  der  Dichter  zum  ersten  Male  siegte  (s.  parische  Chronik  Ep.  60).  So  kommt 
noch  nicht  einmal  auf  jedes  Jahr  ein  Drama. 

65)  Auf  sechsundzwanzig  Jahre  mögen  ungefähr  achtzehn  Tetralogien  sich 
vertheilen.  Dafs  Euripides  anfangs  nicht  gewohnt  war,  allzu  rasch  zu  arbeiten, 
und  dafs  ihm  nicht  zu  jeder  Stunde  das  Produciren  von  Stalten  ging,  deutet 
die  Anekdote  bei  Valerius  Maximus  III  7,  Ext.  1  p.  150  Halm  an,  wo  Euripides 
sich  beklagt,  dafs  er  binnen  drei  Tagen  kaum  drei  Zeilen  geschrieben  habe, 
während  Akestor  (so  ist  statt  Alcestidi  tragico  zu  verbessern)  sich  rühmt,  mit 
Leichtigkeit  hundert  Verse  verfafst  zu  haben,  worauf  ihm  Euripides  erwidert:  ted 
hoc  intercst,  quod  tut  in  triduuin  tantummodo ,  tnei  vero  in  omne  tempus 
iufficient.   Die  Anekdote  selbst  ist  zur  Verherrlichung  des  Euripides  erfunden. 


DFE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLLTHEZEIT.  III.EURIP.  4S5 

Produktionen  nur  zu  deutlich  an,  dafs  der  höbere  Aufsch^^"llng,  wel- 
chen die  Freiheitskriege  dem  hellenischen  Volksgeiste  gegeben  hat- 
ten, mehr  und  mehr  schwindet.  Und  doch  durfte  Euripides  nicht 
feiern.  Sophokles,  obwohl  noch  immer  rüstig,  war  alt  geworden; 
die  Zahl  der  Dichter  zweiten  Ranges  schmolz  sichtlich  zusammen; 
die  Versuche  problematischer  Talente  reichten  nicht  aus,  um  das 
Bediirfoifs  der  Bühne  zu  decken.  Eine  gewisse  Leichtigkeit  des 
Schaffens  war  dem  Euripides  angeboren ;  jetzt  ward  seine  Thätig- 
keit  in  erhöhtem  Mafse  in  Anspruch  genommen.  Es  galt  in  knapp 
bemessener  Frist  nicht  etwa  eine  Tragödie,  sondern  einen  Dramen- 
cyklus  zu  entwerfen,  auszuführen  und  einzuüben.  Daher  treten  je 
länger,  je  mehr  die  Spuren  der  Hast  und  Eilfertigkeit  an  diesen 
Arbeiten  hervor,  zumal  am  Schlüsse  der  Dramen,  welcher  doch  als 
der  schwierigste  Theil  die  volle  Kraft  des  Dichters  in  Anspruch  nahm, 
oder  auch  in  der  letzten  Tragödie  einer  Tetralogie. 

An  den  grofsen  Dionysien  wohnten  Fremde  aus  den  verschie-  Ennpides 
densten  Theilen  Griechenlands  den  scenischen  Spielen  der  Athenerfremde  Büh- 
bei.  So  ward  das  Interesse  für  dramatische  Vorstellungen  in  den  °^°- 
weitesten  Kreisen  geweckt  und  der  Ruhm  der  grofsen  Tragiker 
überallhin  verbreitet.  Allmählich  beginnt  man  auch  an  anderen 
Orten  Tragödien  zu  geben.  Athenische  Schauspieler  tragen  zunächst 
die  älteren,  wohlbekannten  Stücke  vor,  aber  bald  regt  sich  der  Ehr- 
geiz; man  sucht  die  angesehensten  Dichter  zu  gewinnen,  um  sich 
den  Genufs  neuer  Tragödien  zu  verschaffen.  So  hat  auch  Euripides 
für  fremde  Bühnen  gearbeitet.^)  Die  Andromache  ist  nicht  zu  Athen 
gegeben.  Dieses  Stück,  welches  eine  unverkennbare  pohtische  Ten- 
denz verfolgt,  war  wohl  für  Argos  bestimmt.  Später  hat  Euripides 
am  Hofe  des  Archelaus  nicht  blofs  die  Aufführung  älterer  Dramen 
geleitet,  sondern  dichtet  auch  dort  die  Tragödie  Archelaus.  Indem 
er  ein  Bild  aus  der  sagenhaften  Vorzeit  des  makedonischen  Landes 
vorführte  und  den  Gründer  der  Dynastie  zum  Helden  einer  Tragö- 
die machte,  genügte  er  der  Pflicht  der  Dankbarkeit  gegen  den  Für- 
sten, der  ihn  mit  Gunstbezeugungen  überhäufte.") 


66)  Vielleicht  deutet  .\ristophanes  darauf  hin,  weon  erThesmoph.  390  von 
Euripides  sagt,  er  habe  aller  Orten  die  Frauen  verunglimpft:  tzov  S'  or^t 
Siaßt'ßXrjx,  OTtovneo  ifiß^a/y  tiaiv  d'earai  xai  iqaycoSoi  xai  ypooi. 

67)  Biographie:   «t»  MaxsSoriav  ne^l  '^^j^tlaov  yevouevos  SuT^ixfe  xnl 


486  DRITTE    PERIODE    VON    500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

Euripides  Dem  tragischen  Dichter  lag  nicht  nur  die  Verpflichtung  ob,  den 

*'*bei"deT'^^^''  einzuübcn  und  die  Aufführung  seiner  Dramen  zu  überwachen, 
Composii!oi;sondern   er  mufste  auch   die  mehschen  Partien   selbst  componiren. 
scben™Par-  J®  reicher  und  selbständiger  gerade  damals  die  musische  Kunst  sich 
tien  fremd  erentfaltete,   dcsto  schwieriger  ward   es   für  den  Dichter,   dieser  An- 
*■     forderung  vollständig  zu   genügen.     Daher  bediente   sich  Euripides 
des  Beirathes  und  der  Unterstützung  des  Kephisophon"),  und  wenn 
die  Gesänge  seiner  Dramen   besonders   beliebt  und   allgemein  ver- 
breitet waren,    so  mag  er  diesen  Erfolg  zum  guten  Theil  den  Be- 
mühungen seines  Hausfreundes  verdanken.'®)    Auch  Timokrates  aus 
Argos   mag  ab   und  zu   dem   Euripides    denselben    Dienst  geleistet 
haben.™)    Aber  die  dichterische  Thätigkeit  wird  davon  nicht  berührt; 
Euripides'  Dramen  sind  vollständig  sein  Werk;   nirgends  wird  man 
die  Spur  einer  fremden  Hand  wahrnehmen.") 
Euripides  Anfangs   scheint  Euripides  gegen   die   tadelnden  Stimmen  der 

öberarbeitetj^  jjjj^    die  im  Publikum  laut  wurden,  wie  gegen   die  Stichelreden 

seine  Ira-  '  ^  o   o 

gödien.i  der  Komiker  empfindlicher  gewesen  zu  sein.  So  hat  er  den  Hippo- 
lytus  vollständig  umgearbeitet  und  das,  was  Anstofs  erregt  hatte, 
möglichst  zu  beseitigen  gesucht.  Auch  sonst  mag  er  ab  und  zu  die 
nachbessernde  Hand  an  seine  Arbeiten,  wie  an  die  Medea,  gelegt 
haben.")     Später  ward  er  gegen  Angrifl'e  on"enbar  abgestumpft;  er 


68)  Aristophanes  spielt  wiederholt  darauf  an  Frösche  944.  140S.  1452. 
Später  in  einer  verlorenen  Komödie  (s.  Biographie)  [Geryt.  fr.  231B  Di.]  bezeich- 
net er  die  Sache  nur  als  Gerücht:  Kr,<pKxo(pcäv  aoiare . . .  ov  Si  fr»'«^»;«  eis  t« 
Ttill^  EvotniSr],  xai  awsTcoieis  coe  (paal  ttjv  ueXcoSlav,  daher  auch  der  Bio- 
graph meint,  es  sei  dies  nur  eine  neidische  Erfindung;  allein  es  ist  sehr  wahr- 
scheinlich, dafs  Euripides  sich  des  Beirathes  eines  Sachverständigen  bediente. 
Thomas  Magister  macht  den  Kephisophon  irrlhümlich  zum  Schauspieler. 

fi'J)  Plutarch  Nikias  c,  29. 

70)  Biographie:  ol  Si  rn  /utkrj  fnal  Kr^fiaotpäivTa  (die  Mdschr.  lofMv- 
T«)  noielv  fi  TtfioxQaiijv  '^Qyiiov,  offenbar  derselbe,  der  als  StSiianaloi  der 
Andromache  in  der  Inhaltsangabe  bezeichnet  und  dort  JrjitoM^nrrjt  genannt  wird; 
ein  Argiver  würde  JnftoxQÖTTje  heifsen,  daher  ist  Ttftox^ärf]i  als  der  richtige 
Name  zu  betrachten.    [Vgl.  Hermes  X VIII  491— 495.] 

71)  Die  angeblichen  Hülfsleistungen  des  Sokrates  oder  Mnesilochus  grün- 
den sich  nur  auf  Scherze  der  Komiker.    (S.  S.  474,  A.  29.) 

72)  Auch  eine  doppelte  Bearbeitung  des  Phrixus  ist  bezeugt.  Die  Um- 
arbeitung einer  Scene  im  Telephus  beruht  nur  auf  einer  Vermuthung  des  Ari- 
slarch  (Srhol.  Arisloph.  Frösche  1400),  aber  der  Vers  mufs  entweder  in  einer 
Tragödie  gestanden  haben,   die  den  Alexandrinern  nur  in    einer  neuen  Recen- 


»IE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLDTHEZEIT.  III.ECRIP.    487 

nimmt  den  Spott  der  Komödie  gleichmiithig  hin  oder  weist  ihn  nicht 

ohne  Selbstgefühl  ah.") 

Der  äufsere  Erfolg  entsprach  nicht  gerade  den  Bestr«bungenDr»mati?che 
des  Dichters,  der  aus  dem  reichen  Schitze  seines  Geistes  unermdd-  '■*'^®- 
lieh  immer  neue  Gaben  dem  Publikum  bot.  Nur  fünfmal  ward  ihm 
die  Ehre  des  Sieges  zuerkannf'),  während  Aeschylus  und  Sophokles 
dieser  Auszeichnung  oftmals  gewürdigt  wurden.  Den  ersten  Sieg'^) 
gewann  Euripides  Ol.  84,  3,  dann  wieder  Ol.  87,  4*');  schliefshch 
wiinle  nach  dem  Tode  <les  Dichters  seine  letzte  Tetralogie  gekriint.^) 


sion  vorlag,  oder  in  einem  Drama,  welches  frühzeitig  untergegangen  war.  Nur 
irrthümlich  bezog  man  Aristophanes  Frösche  1206  auf  den  Archelaus;  dies  ver- 
anlaTste  Aristarch  zu  der  unstatthaften  Hypothese  einer  zwiefachen  Bearbeitung. 
Der  Prolog,  auf  den  sich  Aristophanes  bezieht,  gehört  unzweifelhaft  zu  den 
Dramen,  welche  schon  die  Alexandriner  nicht  mehr  kannten.  (S.  S.  4S9,  A.  Sft.) 
Kleinere  Aenderungen  mag  Euripides  auch  später  auf  Anlafs  neuer  Aufführungen 
vorgenommen  haben.  So  schrieb  er  den  anstöfsigen  ersten  Vers  der  weisen 
Melanippe  fr.  4S3:  Zevs  offns  6  Zev?,  ov  yno  olSa  :i).t]v  Xöyco  um:  Zevs  cos 
ieXexrat  r^s  aXrjd'eCm  r.To,  eine  Willfährigkeit,  die  schlechtverhülltem  Hohn 
ähnlich  sieht;  den  .\nlafs  giebt  Plutarch  Amatorius  c.  13,  4  an:  iiexaXaßdv  Si 
X^^ov  ftlXov,  i^nooEi  (y«o)  OJS  k'oiics  x(ö  Sonuari  ysyoauue'vta  Ttmnjyvotxäs 
xal  7tsoirr<ü3,  i-D^^s  r'ov  arixov.  Der  Antheil,  welchen  Neuere  dem  jünge- 
ren ßuripides  an  solchen  Revisionen  zuschreiben,  ist  durchaus  problematisch. 

73(  Die  Antwort  des  Tragikers  auf  die  beständigen  Invecliven  der  Komi- 
ker ist  uns  in  den  Versen  der  Mehtvi:t7tTi  Seauäris  (Athen.  XIV  6l3D  =  fr.  495) 
erhalten.  Dieses  Stück  ist  früher  geschrieben  als  die  yieXavirtrtr,  aofi;  (die  vor 
Ol.  92.  1  gegeben  wurde),  heifst  daher  gewöhnlich  schlechthin  MelavirtTvri.  Als 
Erwiderung  des  Aristophanes  auf  jenen  Ausfall  des  Euripides  sind  vielleicht 
die  Thesmophoriazusen  zu  betrachten.  Die  schale  Anekdote,  wie  Euripides  von 
einem  Kahlkopf  verspottet  ward  (Florileginm  Monacense  214  in  Stob.  Floril.  IV  284 
M.),  bezieht  sich  wohl  auf  Aristophanes. 

74)  Gellius  XVII  4,  3,  Suidas;  die  abweichende  Angabe  (fünfzehn  Sie?e) 
bei  dem  Biographen  und  Thomas  Magister  ist  nur  ein  Schreibfehler.  Gellius 
drückt  sich  nicht  correkt  ans,  wenn  er  die  Zahl  der  Siege  mit  der  Zahl  der 
Dramen  zusammenhält,  da  nicht  einzelne  Stücke,  sondern  Tetralogien  concur- 
rirten. 

75)  Parische  Chronik  Ep.  60:  Ttoöirov  ivixrjasv  ...  noxovros  ^Ad'ijtn-fftv 
Jtfilov,  also  vierzehn  Jahre  nach  seinem  ersten  .Auftreten.  Die  .Angabe  ist 
wohl  richtig,  obwohl  der  Verfasser  der  Chronik  die  Lebenszeit  des  Dichters  ab- 
weichend bestimmt. 

76)  .Argument  des  Hippolytus.  Wann  Euripides  zam  dritten  nnd  vierten 
Male  diese  Auszeichnung  erhielt,  ist  unbekannt. 

77)  Suidas  I  2,  641 :  xfjv  Si  uiav  usxn  tt;v  zsXevrr^  irtiSei^nusvov  ro 
Sffäfia  rov  nSehpiSov  avroxi  EvotrxiSov,  vgl.  Schol.  .Aristoph.  Frösche  67. 


488  DRITTE  periohe  von  500  bis  300  v.  cur.  g. 

Oefler  mögen  ihm  iinmotivirter  Weise   sehr  untergeordnete  Dichter 
vorgezogen  sein'*);  meist  mufste  Enripides  sich  mit  der  zweiten  oder 
gar  der  letzten  Stelle  hegnilgen.''®) 
Zahl  lier  Euripidcs  steht  an  Fruchtbarkeit  den  beiden  anderen  Tragikern 

nicht  nach.     Er  hat  zweiundneunzig  Dramen,  also  dreiundzwanzig 
Tetralogien,  gedichtet*");  wenigstens  waren  so  viel  den  Alexandrinern 


Dramen. 


78)  Wie  Xenokles  Ol.  91,  1  (Aelian  V.  H.  II  8) ;  aber  wenn  01.87,1  Eupho- 
rien den  ersten,  Euripides  den  dritten  Preis  erhielt,  hat  dies  einen  anderen 
Grund. 

79)  Den  zweiten  Preis  erhieHen  01.85,2  die  Alkestis,  01.91,1  die  Troa- 
den  und  später  die  Phönissen,  den  dritten  Preis  Ol.  81, 1  die  Peliaden,  Ol.  87, 1 
die  Medea.  Es  ist  irrig,  wenn  Neuere  von  Stücken  sprechen,  die  nicht  einmal 
den  dritten  Preis  erhalten  hätten.  Ein  solcher  Fall  konnte  gemäfs  der  Einrich- 
tung des  tragischen  Agons  gar  nicht  vorkommen. 

80)  Es  wäre  freilich  denkbar,  dafs  Euripides  zuweilen  auch  einzelne  Tra- 
gödien, namentlich  für  fremde  Bühnen,  schrieb,  wie  die  Andromache  [s.  oben 
S.  169*)]  und  den  Archelaus.  Allein  dafs  auch  hier  die  tetralogische  Composition 
festgehalten  Avurde,  deutet  Suidas  an:  insSai^ato  8b  l'Xovs  ivtavrove  xß'  (Vat. 
xff').  Der  Fehler  ist  nicht  in  der  Zahl,  sondern  in  den  sinnlosen  Worten  oAous  ivt- 
avTOvs  zu  suchen ;  es  ist  o  ?.coe  avröe  zu  schreiben.  Nämlich  die  dreiundzwan- 
zigste Tetralogie  brachte,  wie  Suidas  vorher  bemerkt,  der  jüngere  Euripides  auf 
die  Bühne.  Die  Gesammtzahl  der  Dramen  geben  auf  zweiundneunzig  Suidas  und 
der  Biograph  an  (hier  findet  sich  auch  die  Variante  98,  die  nachher  wiederkehrt, 
ein  offenbarer  Schreibfehler);  davon  waren  aber  nur  achtundsiebzig  erhalten 
(Biographie;  auch  bei  Suidas  ist  otj'  statt  o^'  zu  lesen).  Davon  wurden  drei 
Dramen  von  den  Kritikern  als  unecht  verworfen  (Biographie  Tivvr,e,  'PaSäftav- 
d-vi,  TlsiQi&ov?);  daher  geben  Suidas  und  Varro  bei  Gellius  XVI!  4.  3  dem  Euri- 
pides nur  fünfundsiebzig  Dramen.  Damit  stimmt  auch  der  Schlufs  der  Biogra- 
phie: am^srai  5'  aiiov  S^öftara  1^',  xal  y'  n^cs  rovrots  t«  nt^tXeyo/isva' 
oarvQiica  Se  rj''  airtleyerai  Se  xal  toviiov  to  «'.  Hier  sind  unter  o^äfiara 
Tragödien  zu  verstehen  (zu  denen  auch  die  Alkestis  und  ähnliche  Dramen  ge- 
rechnet wurden).  Siebenundsochzig  Tragödien  nebst  drei  unechten  giebt  sieb- 
zig; rechnet  man  die  acht  Satyrslücke  hinzu,  so  erhält  man  achtundsiebzig. 
Wenn  sich  mehr  als  achtzig  Titel  nachweisen  lassen,  so  wird  man  einige  als 
problematisch  ausscheiden  müssen;  der  ^Enstöe  war  wohl  nur  aus  den  Dida- 
skalien  bekannt.  Zu  den  frühzeitig  verschollenen  Stücken  scheint  auch  die 
i;xv)ila  zu  gehören,  die  Aristot  Poet.  c.  15  p.  1454  A.  31  und  2fi  p.  14(U  B  XI  er- 
wähnt. Aus  der  letzteren  Stelle  könnte  man  auf  einen  Dilhymnibus  srhlirfsen; 
allein  die  erste  weist  auf  eine  Tragödie  und  zwar  des  Euripides  hin,  die  offenbar 
den  Alexandrinern  nicht  mehr  vorlag.  Acht  Salyrdrnmen  lassen  sich  noch  jetzt 
nachweisen,  aber  dazu  gehören  die  Oe^tarai,  die  schon  in  der  alexandrinisrhen 
Zeit  verschollen  waren.  Offenbar  war  noch  ein  uns  unbekanntes  Salyrdrama 
vorhanden,  wahrsclieinlich  Ha«  von  der  Kritik  beanslandct««,  daher  es  nirgends 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIETRAGÜDIE.  II.  GRUPPE.   DIE  BLÜTHEZEIT.  III.  ELRIP.    4S9 

au?  den  Didaskalien  bekannt.  Denn  diese  besafsen  nur  acbtundsech- 
zig  Stücke;  also  war  schon  damals  eine  ansehnliche  Zahl  spurlos 
untergegangen.  Wir  besitzen  unter  Euripides'  Namen  neunzehn 
Stücke;  davon  ist  jedoch  der  Rhesus  auszuscheiden,  den  offenbar 
eine  andere  Hand  verfafst  hat.  Immerhin  ist  uns  von  den  Arbeiten 
des  Euripides  ungleich  mehr  erhalten  als  von  seinen  Vorgängern. 
Aber  obschon  nahezu  der  vierte  Theil  seines  dichterischen  Nach- 
lasses vorhegt,  fehlt  doch  viel  an  Vollständigkeit;  und  wir  müssen 
gerade  hier  in  unserem  Urtheil  vorsichtig  sein,  um  nicht  ungerecht 
gegen  den  Dichter  zu  werden.  Diese  achtzehn  Dramen  sind  sehr 
ungleich  an  Werth;  bedeutende  oder  doch  allgemein  anerkannte  Ar- 
beiten stehen  unmittelbar  neben  Stücken,  denen  schon  die  Alten 
geringe  Beachtung  geschenkt  haben.  Unser  Urtheil  über  Euripides 
würde  zwar  im  Ganzen  und  Grofsen  schwerlich  anders  ausfallen, 
aber  das  bedeutende  Talent  des  Mannes  würde  uns  klarer  entgegen- 
treten, wenn  ich  will  nicht  sagen  mehr,  aber  andere  Dramen  uns 
tiberliefert  wären.  Denn  leider  sind  gerade  solche  Stücke,  welche 
bei  den  Zeitgenossen  den  meisten  Beifall  fanden,  welche  auch  später 
zu  den  besten  gerechnet  wurden ,  wo  grofse  Vorzüge  und  dichte- 
rische Schönheiten  die  Mängel  offenbar  überwogen,  für  uns  ver- 
loren, wie  Telephus,  Philoktet,  Andromeda,  Antiope  und  andere, 
während  manches  geringhaltige  Werk  gerettet  ist.  Die  sieben  ersten 
Tragödien")  gehören  einer  Auswahl  an,  welche  in  der  nachalexan- 
drinischen  Zeit  für  die  Zwecke  des  Unterrichts  getroffen  ward.   Man 


citirt  wird.  Somit  Maren  siebzehn  Dramen  des  Euripides  schon  für  die  Ale- 
xandriner verloren,  zum  Theil  Satyrstücke,  aber  auch  Tragödien,  wohl  meist 
aus  der  früheren  Periode,  wie  z.  B.  der  Prolog  einer  unbekannten  Tragödie, 
den  Aristophanes  in  den  Fröschen  1206  anführt,  was  alexandrinische  Gramma- 
tiker irrthümüch  auf  den  Archelaus  bezogen.  Die  Vermuthung,  dafs  Euripides 
den  Prolog  dieser  Tragödie  umgearbeitet  habe,  ist  unstatthaft;  Aristophanes 
konnte  sich  auf  dieses  Stück,  weiches  schwerlich  schon  in  Athen  zur  Auffüh- 
rung gekommen  war,  überhaupt  nicht  berufen.  (S.  S.  4S7,  A.  72.)  —  Das  alpha- 
betisch geordnete  Verzeichnifs  neben  dem  Bildnisse  des  Dichters  in  der  Vüla 
Albani  zu  Rom  (CIG.  III  6047)  reicht  nur  bis  zum  Buchstaben  0  und  enthält 
siebenunddreifsig  Namen  und  macht  auch  sonst  weder  auf  Vollständigkeit  noch 
Genauigkeit  Anspruch. 

81)  Hekuba,  Orestes,  Phönissen,  Medea,  Hippolytas,  Alkestis,  Andromache. 
Die  ursprüngliche  Sammlung  enthielt  mehr  Dramen ,  aber  die  Byzantiner  be- 
gnügten sich  wie  anderwärts  für  den  Schulgebrauch  eben  mit  den  ersten  sieben 
Stücken. 


490  DRITTE    PERIODE    VON    500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

hob  die  Stücke  heraus,  welche  sich  auf  der  Bühne  besonderer  Gunst 
erfreuten")  oder  die  eigenlhümliche  Art  des  Dichters  am  besten  zu 
veranschauHchen  schienen,  und  ordnete  die  Dramen  so,  dafs  die 
leichteren  Stücke  vorausgingen,  weil  sie  am  besten  geeignet  waren, 
in  die  Lektüre  einzuführen.  Bei  der  Erhaltung  der  übrigen  Dramen") 
scheint  lediglich  der  Zufall  gewaltet  zu  haben ;  die  Byzantiner  schrie- 
ben ab,  nicht  was  ihrem  Geschmacke  besonders  zusagte,  sondern 
was  sich  in  den  Bibliotheken  gerettet  hatte. 
Perioden  der         u,yi  die  dichterische  Entwicklung  des  Euripides  vollständig  zu 

dichter!-       ,  ,  „  .  ,  •  ,    ,     ■  i         »  , 

sehen  Ent-  übersehen,  müfsten  wir  mehr  von  seinen  Arbeiten  aus  der  Jugend 
wickiunp.  jjjjj  ßhithe  des  Mannesalters  besitzen.  Allein  aus  diesem  Zeitraum, 
der  für  die  Ausbildung  seines  poetischen  Charakters  entscheidend 
gewesen  sein  mufs,  liegt  uns  nur  die  Alkestis  vor.  Da  dieses  Drama 
die  Stelle  des  Satyrspiels  vertritt,  kann  es  uns  keine  ausreichende 
Vorstellung  einer  Euripideischen  Tragödie  aus  dieser  Periode  ge- 
währen. Jedoch  bekundet  die  Alkestis  und  die  anderen  gleichzeitig 
verfafsten  Tragödien")  sowie  die  Peliaden  bereits  die  vollendete 
Stilgewandtheit  und  den  Reichthum  an  Sentenzen,  die  Vorliebe  für 
rührende  Scenen  und  die  Kunst  im  Ausmalen  der  SeelonzustSnde, 
welche  alle  späteren  Arbeiten  des  Dichters  auszeichnen.  Das  red- 
nerische Talent  erkennt  man  besonders  im  Telephus  und  .\lkmäon. 
Frauencharaklere  treten  sichtlich  in  den  Vordergrund;  die  ideale 
Heroenwelt  wird  dem  wirklichen  Leben  näher  gerückt,  wie  der  lahme 
Telephus  im  Bettlergewande,  ein  beständiger  Gegenstand  des  Spottes 
für  die  Komödie,  zeigt.  Die  Peliaden  waren  für  dramatische  Be- 
arbeitung ein  ungewöhnlicher  Stoff,  aber  der  romantische  Zug  fehlt 
nicht,  der  den  Euripides  reizt.  Selbst  die  Form  der  Prologe  be- 
weist, dafs  Euripides  bereits  die  Grundsätze  seiner  Technik  fest 
geregelt  hatte. 

Der  Anfang  des  grofsen  Krieges  bezeichnet  auch  für  Euripiiles 
den  Anfang  einer  neuen  Epoche.  Die  eigenlhümliche  Art  des  Dich- 
ters tritt  jetzt  in  völlig  klaren  und  bestimmten  Zügen  uns  entgegen. 
Euripides  ist  es,  der  vorzugsweise  «lie  weitere  Entwicklung  der  dra- 


82)  Wie  die  Medea,  der  Orestes,  die  Phönissen. 

83)  Troaden,  (Rhesus),  Srhutzflehende,  Ion,  die  taurische  Iphigenie,  Iphi- 
genie  in  Aiilis,  Baktheo,  Kyklnps,  Ueraltliden,  Flelona,  der  rasen'ie  Herakl»-« 
und  Elektia. 

*^4)  Kreterinnen,  Alkmäon  in  Püophis  und  Telephus. 


I  IE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  III.  EURIP.    491 

malischen  Kunst  begründet;  von  ihm  sind  nicht  nur  die  späteren 
Tragiker  insgesaramt  abhängig,  sondern  auch  die  Zeitgenossen  wer- 
den durch  diese  Neuerungen  des  Euripides  berührt,  selbst  Sophokles, 
obwohl  sonst  die  Wege  beider  Dichter  weit  auseinandergingen. 
Euripides,  bereits  in  reiferen  Jahren  stehend,  wendet  sich  mit  Ent- 
schiedenheit philosophischen  Studien  zu,  und  dieses  Element  macht 
sich  alsbald  oft  zur  Ungebühr  an  wenig  passender  Stelle  geltend.  Der 
denkende  Geist  ist  bei  Euripides  nirgends  zu  verkennen.")  Allein 
erst  jetzt  scheint  bei  ihm  ein  tieferes  Interesse  für  speculative  Fragen 
erwacht  zu  sein,  und  da  eben  damals  durch  den  Einflufs  der  Sophi- 
sten jene  Ideen  in  weiteren  Kreisen  Eingang  fanden,  war  dies  für 
den  Dichter  um  so  mehr  ein  Sporn,  diese  Richtung  zu  verfolgen.  Die 
reizbare  Natur  des  Euripides  war  eben  gegen  jeden  Eindruck  von 
aufsen  empfänglich.  So  wirkt  vor  allem  die  Unruhe  der  gährenden, 
tiefbewegten  Zeit  auf  den  Dichter  ein  und  spiegelt  sich  in  seinen 
Arbeiten  wieder;  der  leidenschaftliche  Ton,  der  hier  herrscht,  stimmt 
vollkommen  zu  der  Gefühlsweise  jener  Zeit. 

Die  ersten  Stücke  dieser  Epoche,  die  Medea,  die  Heraklide  n, 
weniger  schon  der  Hippolytus,  stehen  der  früheren  Weise  noch 
ziemlich  nahe.  Aber  mehr  und  mehr  tritt  uns  in  den  folgends-n 
Arbeiten  ein  kecker  Geist,  der  an  allem  Bestehenden  rüttelt,  eine 
mafslose  Skepsis  und  innere  Zerrissenheit  des  Gemüthes  entgegen. 
Unruhe  des  Herzens,  Zweifel  und  Verzweiflung  ist  keine  günstige 
Stimmung  für  dichterische  Produktion.  Man  erkennt  dies  am  deut- 
lichsten in  der  Art,  wie  Euripides  mit  der  Götter-  und  Heroensage 
umgeht.  Aeschylus  trat  mit  vollem  Glauben  an  die  Welt  der  Sage 
heran;  auch  die  harmonisch  gestimmte  Natur  des  Sophokles  ward 
durch  die  zahlreichen  Widersprüche  nicht  berührt.  Euripides  glaubt 
nicht  mehr  an  die  alten  Ueberlieferungen ;  die  Mythenwelt  hat  sich 
für  ihn  ausgelebt.  Er  ist  daher  unfähig,  ihr  neue  Bedeutung  und 
Weiiie  zu  geben.  Statt  aber  diese  Stoffe  ganz  fallen  zu  lassen,  treibt 
er  mit  ihnen  ein  willkürliches  Spiel  und  geht  in  der  Profanation 
weiter  als  irgend  ein  Dichter.  Indem  so  diese  ehrwürdigen  Gestal- 
ten, ihres  idealen  Glanzes  beraubt,  nur  als  Repräsentanten  des  gegen- 
wärtigen Weltzustandes  benutzt  werden,  verlieren  sie  allen  inneren 

*»5)  Wenn  Phädra  im  Hippol.375  sagt:  'HSti  nox^  aXlcrn  wxroe  iv  ua- 
^9V  XQov(i}  d'vT^Tciiv  ifoövTia^,  tj  Sie'ip^aornt  ßCos  xtX.  (parodirt  von  Aristo- 
phanes  Frösche  931),  so  schildert  offenbar  der  Dichter  sich  selbst 


492  DRITTE   PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Half.  Eben  die  Wahlverwandtschaft  zwischen  dem  Dichter  und  den 
Personen,  welche  er  dramatisch  verkörpert,  ruft  eine  Disharmonie 
hervor,  die  uns  mit  Mifsbehagen  erfüllt.  Enripides  hat  eine  ent- 
schiedene Vorliebe  für  das  Rührende,  daher  er  auch  den  glücklichen 
Ausgang  in  seinen  Tragödien  sichtlich  bevorzugt;  aber  nicht  minder 
zieht  ihn  das  Furchtbar-Gräfsliche  an,  was  häufig  dicht  neben  dem 
Sentimentalen  Platz  greift.  Ueberall  nimmt  man  die  Subjektiviist 
des  Dichters  wahr.  Herbe  Polemik  gegen  die  Satzungen  des  religiö- 
sen Glaubens  und  kalter  Hohn  über  die  Orakel,  mehr  oder  minder 
direkte  Beziehungen  auf  die  Politik  und  Ereignisse  des  Tages,  breite 
Erörterungen  socialer  Fragen,  Ausfalle  gegen  die  Frauen,  Kritik  der 
älteren  Tragiker,  Abwehr  der  Angriffe  der  Komödie,  kurz,  Herzens- 
ergiefsungen  über  alles,  was  des  Dichters  Gemüth  irgendwie  berührte, 
werden  mit  der  dramatischen  Handlung  verflochten  und  nehmen 
einen  immer  breiteren  Raum  ein.  Nirgends  ist  die  allgemeine  Zer- 
rüttung und  Auflösung  aller  Verhältnisse  so  klar  ausgesprochen,  wie 
in  den  Tragödien  des  Euripides,  des  hervorragendsten  Vertreters  jener 
zersetzenden  Richtung.  Trotz  der  unleugbaren  Virtuosität  in  allem 
Technischen  ist  doch  ein  wirklicher  Fortschritt  nicht  wahrnehmbar; 
Euripides  bildet  nur  seine  eigenthümliche  Manier  entschiedener  ans. 
So  büfst  namentlich  der  Chor  immer  mehr  seine  frühere  Bedeutung 
ein,  während  die  Bühnengesänge  der  Schauspieler  sichtlich  bevor- 
zugt werden. 

Euripides  bheb  seiner  Art  bis  zum  Ende  seiner  Laufbahn  treu. 
Allein  eine  so  bewegliche  Natur  kann  sich  dem  Einflüsse  des  heran- 
nahenden Allers  und  der  Umgebung  nicht  entziehen.  UngeHdir  um 
die  Mitte  des  grofsen  Krieges,  etwa  mit  Ol.  90,  1,  beginnt  die  dritte 
Periode  seiner  Thäligkeit.  Euripides  tritt  in  das  Greisenalter  ein; 
seine  geistige  Kraft  ist  ungebrochen  und  die  Produktivität  eher  noch 
im  Zunehmen  begrifl'en.  Aber  die  Arbeiten  dieser  letzten  Epoche 
tragen  auch  sichtlich  die  Spuren  der  Eilfertigkeit  an  sich,  wie  am 
Augenfälligsten  die  sorglose  Behandlung  der  Verse  im  Dialog  beweist. 
Von  der  Ruhe  und  dem  gefafsten  Wesen  des  höheren  Allers  ist 
nichts  wahrzunehmen ;  vielmehr  erscheint  die  Verstimmung  und  leiden- 
schaftliche Unruhe,  welche  schon  die  Dichtungen  der  vorangehen- 
den Jahre  kennzeichnet,  noch  gesteigert.  Die  Zeil  ist  eben  krank, 
und  der  Dichter,  der  nicht  im  Stande  ist,  über  diese  Verworrenheil 
»ich  zu  erheben  und  die  krankbiiflcn  Elemente  ,uisznsrlieidt>n.  !,'iebt 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRDPPE.  DIE  BLDTHEZEIT.  III.ELRIP.    493 

eben  nur  ein  getreues  Abbild  seiner  Umgebung  wieder.  Das  Mafs- 
lose  in  der  Denkart  und  Handlungsweise  der  dramatiscben  Charak- 
tere, die  Steigerung  der  Leidenschaften,  die  dann  wieder  mit  plötz- 
licher Abspannung  wechselt,  entspricht  genau  dem  wüsten  Treiben 
und  der  Aufregung  im  öfFenthchen  Leben  wie  der  eigenen  Gemüths- 
verfassung des  Dichters.  Rasche,  unvermittelte  Uebergänge  haben 
daher  nichts  Auffallendes.  Während  in  der  Helena  und  Andro- 
meda  das  Romantische  überwiegt,  tritt  in  den  Phönissen  und  den 
gleichzeitigen  Dramen  das  philosophische  und  sentenziöse  Element 
entschieden  hervor.  Das  Gleiche  gilt  von  der  Rehandlung  der  Mythen. 
In  der  Helena  ist  es  auf  eine  Ehrenrettung  der  viel  verunglimpften 
Heroine  abgesehen,  welche  der  Dichter  schon  in  der  Elektra  in 
Aussicht  stellte,  aber  im  Orestes  kehrt  er  wieder  zu  der  gewöhn- 
üchen  Vorstellung  zurück. 

Euripides'  erster  Versuch,  die  Peliaden,  war  wohl  das  erste  ^'^^®^*'" 
und  zugleich  vorzUghchste  Stück  der  Tetralogie,  mit  welcher  er  OL 
Sl,  1  den  dritten  Preis  gewann.*^;  Eine  Frau,  die  düstere,  unheim- 
Hche  Gestalt  der  Medea,  war  die  Trägerin  der  dramatischen  Handlung. 
Doch  halte  auch  Sophokles  in  den  Wurzelgiäberinnen  (PiZotÖ(.ioC) 
offenbar  schon  vor  Euripides  denselben  Stoff  behandelt ;  denn  diese 
Arbeit  wird  in  die  erste  Periode  des  Sophokles  fallen,  wo  der  Dichter 
noch  den  hohen  Stil  des  Aeschylus  festhielt,  der  für  ein  solches  Thema 
vorzugsweise  geeignet  war.  Euripides  zeigt  gleich  hier  seine  besondere 
Art;  leichten,  gewandten  Redeflufs  und  Vorhebe  für  allgemeine  Sen- 
tenzen nimmt  man  überall  in  den  Bruchstücken  der  Pehaden  wahr. 

Später,  Ol.  83,  scheint  sich  Euripides  mit  Sophokles  und  Achäus 
um  den  tragischen  Preis  beworben  zu  haben*'),  und  Ol.  84,  3 
ward  ihm  zum  ersten  Male  volle  Anerkennung  zu  Theil.**)  Wie  er 
damals  über  Sophokles  den  Sieg  davontrug,  der  seine  Antigon«Q 
aufführte,  so  mufste  er  Ol.  85,  2  dem  älteren  Dichter  nachstehen 
und  sich  mit  der  zweiten  Stelle  begnügen.*^)    Die  Tetralogie,  welche 


86)  Biographie.  In  ähnlicher  Weise  wird  der  Triptolemos  als  erste  Ar- 
beit des  Sophokles  bezeichnet. 

8")  Bei  Suidas  unter  ^A^möi  I  1,  214:  iTteSeixwro  Si  xoipfj  aiiy  aiiq 
(d.h.  Sophokles)  xal  EvomiSr,  utio  xrfi ny   ^OÄiuTziäSoä  ist  wohl  ini  zu  lesen. 

88)  Parische  Chronik  Ep.  60 :  Ev^t7iiSr;i  izüv  ojv  JJJJIU  x^aytoSia 
TtQiÖTOV  iyixrjaev  . . .  aQ^ovros  ^Ad'r,vr}atv  Jty>ikov. 

89)  Didaskalie  der  Alkestis:  rb  B^äfia  inoi^d-tj  t^'.   iSiSäxd''!  ini  rXav- 


494  DRITTE    PERIODE  VON  500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

Euripides  in  jenem  Jahre  dem  altischen  Pubhkum  bot,  bestand 
aus  den  Kreterinnen,  dem  Alkmüon  in  Psophis,  dem  Tele- 
phus  und  der  Alkestis.  Alle  diese  Dramen  fanden  auch  später 
Anerkennung,  wie  die  Parodien  der  Komödie  beweisen;  nament- 
lich Telephus  galt  alle  Zeil  als  eine  der  vorzüglichsten  Arbeiten  des 
Dichters. 
Aikt  lis.  Uns  ist  nur  das  Schlufsstück  erhalten,  zugleich  das  älteste  Drama, 

welches  wir  von  Euripides  besitzen.  Gleichwohl  ist  die  Alkestis 
nicht  recht  geeignet,  uns  eine  genügende  Vorstellung  von  der  Euripi- 
deischen  Tragödie  zu  geben ;  denn  es  tritt  uns  hier  manches  Un- 
gewöhnliche, ja  Störende  entgegen,  daher  man  sich  nicht  wundern 
darf,  wenn  die  früheren  Beurlheiler  an  dieser  scheinbaren  Dishar- 
monie Anstofs  nahmen.  Erst  seitdem  wir  wissen***),  dafs  die  Alke- 
stis bestimmt  war,  die  Stelle  des  Satyrdran)as  zu  vertreten,  ist  der 
richtige  Standpunkt  für  die  Beurtheilung  gewonnen. 

Das  Satyrdrama  galt  als  eine  unentbehiliche  Zugabe  der  tragi- 
schen Trilogie.  Bot  auch  die  griechische  Sage  einem  genialen  Dich- 
ter reiche  Auswahl  von  Stoffen  dar,  welche  sich  für  das  heitere 
Nachspiel  eigneten,  so  war  es  doch  meist  nicht  thuulich,  ein  Thema, 
welches  bereits  von  anderen  auf  die  Bühne  gebracht  war,  neu 
zu  bearbeiten ;  denn  die  Situation  nebst  den  Theilnehmern  der 
Handlung  war  meist  gegeben  und  keiner  so  durchgreiieuden  Ver- 
änderung wie  tragische  Stoffe  föhig.  Euripides  war  eine  ernst  ge- 
stimmte Natur;  den  ausgelassenen,  possenhaften  Ton  des  Satyrspiels 
mochte  er  weniger  treffen  als  die  älteren  Dichter;  er  schritt  also 
zu  einer  Neuerung.  Denn  dafs  Euripides  diese  Spielart  aufbrachte, 
wird  zwar  nicht  ausdrücklich  bezeugt,  ist  aber  wahrscheinlich,  und 
die  Alkestis  war  wohl  eben  der  erste  Versuch  dieser  Arl.    Die  Zahl 

T 

teivov  aQx,ovros  rl  X'  (man  findet  hier  die  Bezoiclinung  der  Olympiade;  dies 
ist  unsicher),  n^töroe  fjv  IlofotcXifi,  SsirsQos  EiQiniSrjS;  der  drille  Dichter  wird 
nicht  genannt.  Statt  ig'  ist  «c'  zu  lesen;  die  Alkestis  war  das  vierte  Stück 
der  vierten  Tetralogie,  durchschnittlich  kommt  also  auf  jede  Olympiade  eine 
Tetralogie.  Auch  Euripides  arbeitet,  wie  Sophokles,  in  den  früheren  Jahren 
langsam;  erst  mit  dem  höheren  Alter  nimmt  seine  Produktivität  zu. 

90)  Die  Didaskalie  ist  erst  in  neuerer  Zeit  aufgefunden.  Hier  wird  be- 
merkt :  ro  Si  HfMifia  xtofttxioji^nv  ^e«  ri,r  Hnraai(>ofr;r  (oder  Mnraaxet>t^) 
und  IV  Üi  9ffifi('t  iait  antvQixtJTSQOv,  oii  eis  x^i^*'  ""*  ii^ovijv  xmaai^iftt, 
vgl.  auch  Schol.  Oresl.  1086. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  III.  EURIP.    495 

der  Satyrdramen  des  Euripide»  ist  sehr  niedrig  '*)  und  steht  in  keinem 
Verhältnifs  zu  der  Zahl  der  Tragödien.  Er  wird  also  öfter  ein  mit 
heiteren  Elementen  versetztes  Trauerspiel  als  Schlufsstück  der  Te- 
tralogie gedichtet  haben;  doch  ist  uns  kein  zweites  Drama  dieser 
Gattung  erhalten.  Weder  die  Elektra,  noch  der  Orestes,  wenn  sie 
auch  mehrfach  an  den  Charakter  der  Alkestis  erinnern,  lassen  sich 
mit  Sicherheit  dieser  Kategorie  zuweisen.®*)  Ob  auch  andere  Dich- 
ter dem  Euripides  auf  dieser  Bahn  folgten,  wissen  wir  nicht. 

So  nimmt  die  Alkestis  als  ein  in  seiner  Art  einziges  Drama 
unsere  Aufmerksamkeit  in  erhöhtem  Mafse  in  Anspruch.  Es  war 
dies  keine  Rückkehr  zu  den  ersten  Anfängen,  denen  der  Unterschied 
der  Tragödie  und  des  Satyrdramas  noch  unbekannt  war;  denn  ge- 
rade der  possenhafte  Ton  und  das  Groteske,  Avelches  mit  den  alten 
Satyrchören  unzertrennlich  verbunden  war,  hat  Euripides  verschmäht, 
sondern  diese  Vereinigung  des  Ernstes  mit  dem  Scherze,  des  Er- 
habenen mit  dem  Niedrigen  ist  etwas  wesenthch  Neues.  Die  ältere 
Poesie  der  Hellenen  hält  auf  Reinheit  und  strenge  Sonderung  der 
Kunstformen;  gemischte  Gattungen  kommen  erst  später  auf,  und  es 
ist  nicht  zufällig,  dafs  gerade  Euripides  diesen  Versuch  macht.  Er 
ist  der  vorgeschrittenste  Dichter  der  klassischen  Zeit;  seine  Poesie 
enthält  überall  Keime  und  Ansätze  zu  Neubildungen,  welche  erst 
die  nächsten  Geschlechter,  manchmal,  wie  eben  hier,  erst  späte  Jahr- 
hunderte zur  Reife  gelangen  sahen. 

Das  Drama  stellt  den  Tod  der  Alkestis,  welche  edelmüthig  ihr 
Leben  für  den  Gatten  hingiebt,  und  die  wunderbaie  Wiedervereini- 
gung mit  Admetus  dar.  Dem  Admetus,  der  sich  bei  seiner  Ver- 
mählung den  Zorn  der  Artemis  zugezogen  hatte,  war  frühzeitiger 
Tod  beschieden.  Apollo,  an  dem  Loose  des  Admetus,  den  er  als 
milden  Herrn  kennen  gelernt  hatte,  warmen  Antheil  nehmend,  be- 
wog  die  Schicksalsgöttinnen,  sein  Leben  zu  verlängern,  wenn  einer 
der  Angehörigen  für  ihn  zu  sterben  sich  entschliefsen  werde.  Aber 
weder  Vater  noch  Mutter,  nur  die  Gattin  war  zu  dem  Opfer  bereit 
Nach   der  Darstellung   des  Euripides  liegen   diese  Vorgänge  weiter 

91)  Die  Alexandriner  besafsen  nur  acht  Salyrstücke;  zwei  (vielleicht  aufser- 
dem  noch  ein  und  das  andere)  waren  ihnen  aus  den  Didaskalien  bekannt. 

92)  Alte  Grammatiker  stellen  zwar  diese  beiden  Dramen  mit  der  Alkestis 
«uf  gleiche  Linie;  aber  ob  sie  auch  wirklich  die  vierte  Stelle  [in  der  Telra- 
lofie  einnahmen,  ist  nicht  überliefert 


496  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS   300  V.  CHR.  G. 

zurück.  Jahre  lang  hat  Admetus  aiit  seiner  Gatlin  in  glückhcher  Ehe 
gelebt ;  der  junge  Sohn  Eumelus  tritt  selbst  im  Drama  auf  und  be- 
klagt den  frühen  Tod  der  Mutter.  Herakles,  obwohl  er  nicht  vveifs, 
welches  Unglück  eben  das  gastüche  Haus,  welches  er  betrat,  betroffen 
hatte,  ist  doch  von  der  Zusage  der  Alkestis,  sich  für  ihren  Gatten 
aufzuopfern,  unterrichtet. 

Den  Prolog  spricht  Apollo  im  Begriff,  das  ihm  werthe  Haus  zu 
verlassen,  da  sich  der  Todesgott  naht,  um  sein  Opfer  in  Empfang 
zu  nehmen^');  denn  die  letzte  Stunde  für  Alkestis  ist  gekommen. 
Apollo  berichtet  nicht  nur  über  die  früheren  Vorgänge,  soweit  dies 
zum  Verständnifs  der  Situation  nöthig  war,  sondern  verkündet  auch 
dem  Dämon  des  Todes,  dafs  Herakles  ihm  sein  Opfer  wieder  eut- 
reifseu  werde.  So  wird  der  Zuschauer  sofort  über  den  Ausgang 
des  Dramas  unterrichtet.  Man  erkennt  gleich  hier  die  Weise  des 
Euripides,  der  es  nicht  hebt,  die  Erwartung  zu  spannen  und  durch 
überraschende  Lösung  zu  Avirken.  Der  Wortwechsel  des  Apollo  mit 
dem  Todesgotte  konnte,  in  der  kraftvollen  Weise  der  Aeschyleischen 
Tragödie  ausgeführt,  einen  mächtigen  Eindruck  machen.  Der  Stil 
des  Euripides  ist  für  solche  Scenen  wenig  geeignet.  Desto  mehr 
ist  der  Dichter  auf  seinem  Gebiete,  wenn  er  das  Lebensende  der 
Alkestis  darstellt,  die  ein  selbstgewähltes  Geschick  mit  Ergebung 
trägt,  aber  doch  nicht  ohne  schmerzliche  Gefühle  von  Gatten  und 
Kindern  scheidet.  Alles  ist  einfach  und  naturwahr  geschildert.'*) 
Der  Trauer  um  die  Verstorbene  giebt  der  Knabe  Eumelus  in  einem 
einfachen  Liede  Ausdruck,  während  der  Chor,  nachdem  Admetus  die 
Anordnungen  für  das  Leichenbegängoifs  getroffen  hat,  die  That  der 
Alkestis  feiert,  deren  Andenken  im  Munde  der  Dichter  fortleben 
wird.") 

93)  Der  Eingang  ist  ofTenbar  der  Alkestis  des  Phrynicliiis  fr.  3  p.  55S  Naiick 
Dachgebil(|et,  der  gleichfalls  den  Todesdüinon  einführte,  s.  Servius  zu  Verg. 
Aen.  IV  694. 

94)  Doch  verleugnet  Euripides  auch  hier  nicht  völlig  seine  Art;  hierher 
gehört  die  dringende  Bitte  der  Sterbenden  an  den  Galten,  sich  nicht  wieder 
zu  verheirathen,  den  Kindern  keine  Stiefmutter  zu  geben  (Alk.  315  ff.),  ein  Ge- 
danke, der  auch  nachher  mit  Nachdruck  wiederholt  wird. 

95)  ßemerkenswerth  ist  hier  die  nicht  mifszuverstehende  Beziehung  auf 
die  Gegenwart;  denn  Euripides  sagt  ausdrücklich  (44(iff.),  die  Dichter  würden 
am  Karneiifeste  in  Sparta  und  in  Athen  den  Opfertod  der  Alkestis  preisen: 
fiikyf'ovoi  xa&'  eniÖTovüv  t'  oQsiav  x^^vv  (dies  geht  auf  die  Noniendicliter 
in  Sparta)  iv  t'  äXv^ins  kIioptu  vuvots  (d.  h.  die  tragischen  Chöre  in  Athen). 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  III.  EÜRIP.    497 

Herakles,  der  auf  ein  neues  Abenteuer  auszieht,  erscheint  in 
der  Erwartung,  im  gastfreien  Rönigshause  gute  Aufnahme  zu  finden. 
Admetus,  der  sich  nicht  entschhefsen  kann,  dem  Gaslfreunde  den 
Trauerfall  mitzutheilen,  sucht  ihn  durch  ausweichende  oder  zwei- 
deutige Antworten  zu  täuschen.  Dieser  Dialog,  obwohl  kunstreich 
angelegt,  macht  einen  entschieden  peinlichen  Eindruck.  Selbst  der 
Chor  wagt  den  Admetus  zu  tadeln ,  dafs  er  nicht  offen  alles  dem 
Ankommenden  gestanden  habe,  begnügt  sich  aber  dann  in  einem 
Liede  die  Gastfreundschaft  des  Hauses  zu  preisen,  in  dem  selbst 
Apollo  einstmals  gern  verweilte. 

Das  Stück  beginnt  mit  der  Katastrophe.  Die  Handlung  ist  ge- 
ring**); daher  hat  der  Dichter  eine  Scene  eingeschaltet,  die  recht 
eigentlich  ein  Füllstück  ist.  Der  Vater  des  Admetus  bringt  der  Sitte 
gemäfs  Liebesgaben  für  die  Verstorbene  herbei;  dies  giebt  Anlafs 
zu  einem  unerfreulichen  Streite  zwischen  Vater  und  Sohn,  indem 
Admetus  dem  Greise  die  bittersten  Vorwürfe  macht,  dafs  er  sich 
nicht  habe  entschhefsen  können,  durch  seinen  Tod  das  Unheil  von 
der  Famihe  abzuwenden.  In  diesem  Wortwechsel  hat  der  Dichter 
Gelegenheit,  seine  dialektische  Kunst  zu  zeigen;  aber  unser  Gefühl 
wird  empfindlich  verletzt,  indem  der  Vater  zwar  die  ungerechten 
Anklagen  des  Sohnes  geschickt  zurückweist,  aber  von  der  sittlichen 
Kraft  des  Zornes  wenig  wahrzunehmen  ist.*')  Die  folgende  Scene 
bildet  dazu  den  schärfsten  Contrast.  Ein  Diener,  der  über  den  Tod 
der  Herrin  aufrichtig  betrübt  ist,  schildert,  wie  Herakles  im  Gast- 
gemache es  sich  wohl  sein  läfst.  Alsbald  tritt  Herakles  selbst  auf, 
trägt  die  Grundsätze  seiner  Lebensphilosophie  vor  und  sucht  ver- 
geblich den  Diener  dafür  zu  gewinnen.  Bei  diesem  Anlasse  erföhrt 
er  alles,  was  ihm  bisher  verheimUcht  worden  war.    Von  plötzlicher 


Hier  ist  eben  an  das  Drama  des  Phrynichus  zu  denken.  Ebenso  hat  er  gewifs 
einen  bestimmten  Nomensänger  im  Sinne.  Der  Mythus  von  der  Alkestis,  der 
mit  dem  Apollinischen  Sagenkreise  zusammenhängt,  mag  ein  beliebtes  Thema 
für  die  Kitharöden,  die  an  den  Karneen  auftraten,  gewesen  sein. 

96)  Euripides  konnte  recht  gut  mit  zwei  Schauspielern  aufkommen. 

9")  Eine  solche  Scene  hätte  Berechtigung,  wenn  der  Tragiker  die  Vor- 
gänge im  Hause  des  Admetus,  gleich  nachdem  der  Schicksalsspruch  bekannt 
ward,  schilderte;  hier,  wo  Alkestis  dem  Tode  bereits  verfallen  ist,  sind  diese 
Vorwürfe  verspätet.  Am  wenigsten  war  Admetus,  der  sich  den  stellvertretendea 
Tod  der  Gattin  gefallen  liefs,  berufen,  diese  Anklage  gegen  den  Vater  auszu- 
sprechen. 

Bergk,  Griecb.  Uteraturgescbicbte  IIL  32 


498  DlUTTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Reue  ergrifl'en,  fafst  er  den  Enlschlufs,  die  Alkestis  dem  Todesgolle 
zu  enlreifsen  und  zu  ihrem  Gatten  wieder  zurückzuführen. 

Jetzt  kehrt  Admetus  in  Begleitung  des  Chores'*)  von  der  Lei- 
chenbestallung zurück.  Hier  ist  alles  der  Situation  angemessen  ge- 
schildert; von  der  Fröhlichkeit  des  Satyrdramas  lenkt  der  Dichter 
wieder  in  den  Ton  des  tragischen  Pathos  ein.  Alle  seine  Kunst  hat 
Euripides  für  die  Schlufsscene  aufgespart,  wo  Herakles  die  tiefverhüllte 
Gattin  dem  Admetus  wieder  zuführt,  indem  er  vorgiebt,  er  habe  das 
Weib  als  Siegespreis  in  einem  Wettkampfe  gewonnen.  Jener  weigert 
sich  die  Fremde  in  sein  Haus  aufzunehmen.  Allmählich  wird  der 
Schleier  des  Geheimnisses  durchsichliger;  Admetus  giebt  endlich  nach, 
und  als  er  die  Hand  der  PVau  ergreift,  um  sie  in  das  Haus  zu  führen, 
schlägt  Herakles  das  Gewaud  der  verhüllten  Gestalt  zurück,  und  die 
Gatten  sind  von  neuem  mit  einander  verbunden.  Dafs  der  Heros  nur 
ganz  kurz  berichtet,  wie  er  die  Alkestis  dem  Todesgotte  abgerungen, 
ist  ebenso  angemessen  als  das  stumme  Schweigen  der  Frau  ^) ;  denn 
wer  aus  dem  dunkeln  Schattenreiche  wieder  ins  Leben  zurückkehrt, 
der  mufs  zuvor  mit  den  unterirdischen  Göttern,  denen  er  geweiht 
war,  sich  abfinden,  ehe  er  mit  den  Lebenden  verkehren  darf. 

Bei  Phrynichus  hatten,  wie  es  scheint,  die  Götter  der  Unter- 
welt, gerührt  durch  die  hingebende  Liebe  und  Treue,  den  stellver- 
tretenden Tod  der  Alkestis  nicht  angenommen  und  die  Frau  ihrem 
Gatten  zurückgegeben."^)  Eine  solche  Lösung  war  für  die  über- 
wiegend lyrische  Tragödie  der  alten  Zeit  wohl  geeignet,  die  jüngere 
Tragödie,  welche  vor  allem  Handlung  verlangt,  konnte  niclit  gut 
davon  Gebrauch  machen;  auch  moclile  Euripides  nicht  denselben 
Weg  wie  sein  Vorgänger  wandeln.  Dafs  Alkestis  dem  Herakles  ihre 
Errettung  verdankt,  ist  eine  freie  Erfindung  des  Euripides,  die  alles 
Lob  verdient.    Schon  die  Einführung  eines  thatkräftigen,  energischen 


98)  Der  Chor  war  750  abgelrelen,  s.  Schul,  zu  1118. 

99)  Durch  die  Sache  selbst,  nicht  durch  das  Bedenken,  einen  dritten  Schau- 
spieler hinzuzunehmen ,  ist  dieses  Sciiweigcn  motivirt:  standen  doch  schon 
längst  dem  tragischen  Dichter  drei  Schauspieler  zu  Gebole. 

100)  Plato  Symp.  179C  deutet  auf  diese  Fassung  hin,  die  wohl  auf  volks- 
mäfsigcr  Sage  ruht:  t^  ixeivi]S  {ywxijv  oi  i^soi)  aveiaav  nyaad'trrti  itj)  ^^yV- 
Den  Vers  aus  der  Alkestis  des  Phrynichus  fr.  2  p.  557N.:  aäfta  S'  ä&a/ißi« 
yvioSfiTjTOv  rrj^ii  (so  ist  zu  verbessern)  wird  Hermes  gesprochen  haben,  als 
er  dem  Admetus  die  Gattin  wieder  zuführte  und  ihm  gebot,  die  angegriirenc  Frau 
in  den  nächsten  Tagen  vor  jeder  heftigen  Gcmüthserschütlerung  zu  bewahren. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLLTHEZEIT.  III.  EURIP.    499 

Charakters,  da  alle  übrigen  mehr  passive  Naturen  sind,  gereicht  dem 
Drama  zum  Vortheil.  Gerade  Herakles  aber  war  wie  kein  anderer 
beföhigt,  ein  solches  Wagnifs  zu  bestehen,  und  da  derselbe  zugleich 
zu  den  behebtesten  Helden  des  Satyrdramas  gehurt,  leistete  er  dem 
Dichter,  der  darauf  ausging,  die  rührenden  und  pathetischen  Ele- 
mente der  Tragödie  durch  ein  heiteres  Zwischenspiel  zu  unterbrechen, 
den  besten  Dienst. 

Die  Alkestis  ist  kein  Satyrdrama  im  gewöhnUchen  Sinne,  noch 
viel  weniger  eine  Komödie  oder  gar  Parodie  des  tragischen  Pathos, 
obwohl  sie,  wie  schon  die  alten  Kritiker  bemerkten'*"),  komische 
Elemente  enthält,  sondern  neben  den  ernsten  und  ergreifenden  Le- 
bensbildern ist  auch  dem  heiteren  Spiele  des  Humors  Raum  gelassen. 
Herakles  allein  in  seiner  ungebrochenen  Sinnhchkeit  repräsentirt 
diesen  Zug,  durch  den  die  Erhabenheit  des  Palhos  ermäfsigt  und 
der  glückliche  Ausgang  schicklich  vorbereitet  wird;  alle  übrigen 
Personen  halten  sich  auf  der  Höhe  des  tragischen  Kothurns,  inso- 
weit die  reahstische  Weise  des  Euripides  es  zuliefs.  Eben  durch 
diese  eigeuthümliche  Vereinigung  verschiedenartiger  Bestandtheile, 
durch  die  Auflösung  der  ernsten,  wehmütbigen  Stimmung  in  Heiter- 
keit und  Frohsinn  war  das  Drama  wohl  geeignet,  den  Schlufs  der 
tragischen  Tetralogie  zu  bilden.  In  Sprache  und  Versbau  wird  der 
Charakter  der  Tragödie  festgehalten ;  von  den  Freiheiten ,  die  man 
sonst  im  Satyrdrama  sich  gestattet,  ist  nichts  wahrzunehmen.  Das 
Stück,  weil  es  die  vierte  Stelle  einnahm,  hat  nur  mäfsigen  Umfang 
und  scheint  vom  Dichter  rasch  und  in  einem  Zuge  ausgeführt  zu 
sein,  ohne  dafs  man  die  dem  Euripides  eigenthümhche  Stilgewandt- 
heit vermifste. 

Schon  vor  Euripides  hatte  Phrynichus  diesen  Stoff  dramatisch 
bearbeitet'*"),  der  auch  der  melischen  Poesie  nicht  fremd  war,  wie 


101)  In  der  vTtt&eais  heifst  es:  16  8e  Soäfia  iart  aaxvQixüne^ov,  ot» 
eis  xa^av  xal  rßovr^v  xaraarotipei.  naga  itäv  r^ayixoäv  (lies  XQtttxcJv) 
hcßäXXBtat  ds  avoixsta  t^s  rpaytxr,s  :xoirja£a}S  o  t£  '0(>f ffTi;»  xal  17  'yihcTjaTiS, 
tos  ix  avft<fooäs  ftiv  a^y^fitva,  eis  tvSaifiovCav  Si  xai  %aoav  xaraXrj^avja, 
(a)  ^«XTt  ijm).)jov  xioftcpSias  i/^ifitva,  vgl.  auch  Tzetzes  Schol.  zu  seinen  axixot 
ntql  SiafOQÜs  notTjxcüv  X  b  92  Adn.  in  Döbners  Ausgabe  der  Scholien  zu  Aristo- 
phanes  XXIV  =  Gramer  Anecd.  Oxon.  111  337.  Dafs  die  Alkestis  als  Tragödie,  nicht 
als  Satyrdrama  zu  betrachten  ist,  beweisen  auch  die  Parodien  des  Aristophanes; 
denn  nur  ganz  ausnahmsweise  nimmt  die  Komödie  auf  Satyrstücke  Rücksicht. 

102)  Der  Scholiast  sagt  ausdrücklich:  rifto'  ovSrttQw  xeJrai  rj  ftv&onona  ; 

32* 


500  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

der  Tragiker  selbst  andeutet.'"^  So  mag  Euripides  seinen  Vorgängern 
einzelne  Züge  entnommen  haben,  aber  in  allem  Wesentlichen  wahrt 
er  seine  Selbständigkeit.  Mit  der  Einheit  der  Zeit  geht  der  Dichter 
sehr  frei  um.  Alkestis  stirbt  und  wird  beerdigt,  was  der  Silte  ge- 
mäfs  nicht  an  demselben  Tage  zulässig  war;  erst  nach  der  Bestattung 
entfernt  sich  Herakles  und  besteht  den  Kampf  mit  dem  Dämon  des 
Todes,  indem  er  vorgiebt,  von  einem  Agon  in  der  Nachbarschaft 
als  Sieger  zurückzukehren. 

Alkesiis  ist  der  Mittelpunkt  der  Handlung  und  nimmt  dalier 
vorzugsweise  unser  Interesse  in  Anspruch.  Wie  der  Dichter  schon 
in  der  Wahl  dieses  Stoffes  seine  Vorliebe  für  die  Darstellung  weib- 
licher Charaktere  und  rührender  Schicksalswendungen  bekundet,  so 
hat  er  auch  die  Gestalt  der  Alkestis  würdig  und  naturgemäfs  ge- 
zeichnet. Neben  ihr  sind,  wie  gewöhnlich  bei  Euripides,  die  männ- 
lichen Figuren  im  Nachtheile;  weder  der  schwache,  gutmülhige  Ad- 
metus,  noch  weniger  der  greise  Vater  in  seiner  leidenschaftlichen 
Erbitterung  sind  im  Stande  uns  rechten  Antheil  einzuflOfsen,  wäh- 
rend Herakles,  der  Intention  des  Dichters  gemäfs,  ganz  in  der  Weise 
des  Satyrspiels  behandelt  ist. 

Lehrreich  ist  auch  die  Vergleichung  mit  den  anderen  zu  dieser 
Tetralogie  gehörenden  Dramen.'"^)  Voranstanden  die  Kreterinnen'"), 
welche  die  düstere,  unheilvolle  Geschichte  des  Hauses  der  Pelopiden, 
den  Bruderzwist  zwischen  Atreus  und  Thyestes,  die  buhlerische 
Aerope  und  ihre  Bestrafung  darstellten.  Auch  hier  stand  ein  Frauen- 
charakter im  Vordergrunde,  aber  er  bildete  einen  schroffen  Gegen- 
satz zu  der  Alkestis,  die  für  den  Galten  ihr  Leben  hingiebt  und 
zuletzt  auf  wunderbare  W'eise  mit  ihm  wieder  vereint  wird.  Allein 
auch  in  den  beiden  Mittelstücken  traten  Frauen  auf,  denen  ein  be- 
deutender Antheil  an  der  Handlung  zugewiesen  war,  im  .\lkmäon 
die  Tochter  des  Phegeus,   deren  Liebe   der   landesllüchlige  Multer- 


folglich  kann  Sophokles  nicht,  wie  man  vermulhet  hat,  dieses  Thema  bearbei- 
tet haben.  Wohl  aber  mög;en  andere  Tragiker  an  dem  anziehenden  Stoffe  ihre 
Kunst  versucht  haben.  Wem  der  römische  Dichter  Accius  gefolgt  ist,  wissen 
wir  nicht;  Phrynichus'  Drama  war  sicherlich  nicht  sein  Vorbild. 

103)  Alkestis  454. 

104)  Die  vTtö&eate:   StvrtQOS  Ev^tniSriS  K^r;o<fau,   l/ilxftaioJvt   rty   Sut 

105)  Die  KQr;c(Tai  waren  wohl  von  dem  OviaxTji  versolupiUMi 


»IE  DRAM. POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLITHEZEIT.  III.EIRIP.    501 

mörder  gewinnt,  im  Telephus  Klytämnestra,  welche  dem  hülfesuchen- 
den Feinde  an  ihrem  häuslichen  Herde  Schutz  gewährt.  Dem  auf 
Befriedigung  der  Rache  gerichteten  Sinn  der  Klytämnestra  war  wohl 
im  Alkmäon  die  liebende  Hingebung  der  Arsinoe  gegenübergestellt. 
So  enthielt  dieser  dramatische  Cyklus  eine  grofse  Mannigfaltigkeit 
bedeutender  und  verschiedenartiger  Frauencharaktere. 

Die  Medea  ist  Ol.  S7, 1  an  den  städtischen  Dionysien,  wie  schon  Medea. 
die  Theilnahme  der  bedeutendsten  Dichter  an  dem  tragischen  Agon 
beweist,  aufgeführt.  Euphorien  erhielt  die  erste,  Sophokles  die 
zweite,  Euripides  die  dritte  Stelle."*)  Da  Euphorion  unzweifelhaft 
mit  einer  Tetralogie  seines  Vaters  auftrat,  war  es  recht  eigentlich 
ein  Wettstreit  der  drei  Koryphäen  der  tragischen  Kunst,  und  das 
Unheil  der  Preisrichter  erscheint  wohlberechtigt.  Der  Ausbruch  des 
peloponnesischen  Krieges  war  wenige  Tage  vor  der  Festfeier  er- 
folgt.'"^ Euripides  hat  also  seine  Tragödie  in  einer  Zeit  ausgear- 
beitet, wo  man  das  Eintreten  des  längst  vorbereiteten  Ereignisses 
jeden  Augenbhck  erwarten  durfte,  und  manches  Wort  des  Tragikers 
mufste,  auch  ohne  dafs  man  eine  bewufste  Absicht  vorauszusetzen 
braucht,  unwillkürhch  die  Gedanken  der  Zuhörer  von  der  drama- 
tischen Handlung  auf  die  Gegenwart  hinlenken.  Wenn  der  Chor 
lasons  schnöden  Undank  rügt  "*)  und  klagt,  es  gebe  in  Hellas  kein 
Recht,  keine  Treue,  keine  Achtung  vor  dem  Heiügen  mehr,  so  hatte 
dieser  Ausdruck  des  sitlHchen  Unwillens  in  einer  Zeit,  wo  man  sich 
Rechtsverletzungen  und  Bruch  der  Verträge  gegenseitig  vorwarf,  be- 
sondere Bedeutung.  Ebenso  konnte  das  Lob  Athens,  der  unbesieg- 
ten heiligen  Stadt  des  Erechtheus'*),  nicht  verfehlen,  Eindruck  zu 
machen ,  wie  denn  der  Dichter,  der  mit  lebhaftem  Antheil  die  Er- 
eignisse des  Tages  begleitet,  auch  in  den  anderen  gleichzeitig  auf- 
geführten Dramen  seine  patriotische  Gesinnung  wiederhoh  bekundet. 
Medea  war  das  erste  Stück  der  Tetralogie;  darauf  folgten  der  Phi- 
loktet,  ein  verwickehes  Intriguenslück,  und  Diktys.   Der  Inhalt  des 


106)  S.  die  Didaskalie  des  Aristophanes :  iStSay&rj  ini  Ilv&oScöooi'  «^ 
XOVTOS  oXv/intäSo:  nt,'  k'rti  a.  U^ätTOi  Elfoqiojv,  SevTSooi  ^jox/.r;: ,  i^iros 
El'QiTiiBrit  Mr/Sei'q,  <Pi},oxTr,rr,,  JixTvi,  Oe^iaraii  aaxi-QOH.    ov  aoJ^STat. 

107)  Die  Eroberung  Platääs  fällt  auf  den  letzten  Tag  des  Monats  Anthe- 
sterion. 

108)  Medea  410  ff. 

109)  Medea  S24. 


502  DRITTE   PERIODE    VON    500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

Satyrdramas  ist  unbekannt.  Da  uns  nur  eine  Tragödie  erhalten  ist, 
läfst  sich  nicht  beurtheilen,  inwieweit  der  Dichter  diese  dem  In- 
halte nach  sehr  verschiedenen  Dramen  zu  einem  Ganzen  verbunden 
hat;  wohl  aber  erkennt  man  in  der  Aufeinanderfolge  der  Stücke 
eine  bestimmte  Absicht.  Während  die  Medea  für  alle  unheilvoll  endet, 
denn  auch  die  Heldin,  obwohl  sie  durch  die  Flucht  der  Vergeltung 
entgeht,  fügt  sich  selbst  das  schwerste  Leid  zu,  hatte  der  Philoktet, 
wo  der  verstofsene  Dulder  wieder  zu  Ehren  kommt,  einen  versöh- 
nenden Abschlufs.  Die  dritte  Tragödie  nahm  einen  zwiefachen  Aus- 
gang; mit  dem  Siege  des  Rechtes  und  der  Belohnung  der  Treue 
war  zugleich  die  Strafe  des  Unrechtes  und  der  Gewalllhat  ver- 
bunden. 

Es  ist  wahrscheinlich,  dafs  Euripides  die  Medea  später  einer 
Revision  unterwarf,  indem  er,  ohne  etwas  Wesentliches  an  der  Cora- 
posilion  des  Dramas  zu  ändern.  Einzelnes,  welches  ihm  selbst  nicht 
genügte  oder  mifsfallen  halte,  abänderte.  Die  Tragödie,  wie  sie  uns 
vorliegt,  würde  dann  eben  als  die  zweite  Bearbeitung  zu  betrachten 
sein."°) 

Nach  dem  Tode  des  Pelias  mufste  lason  seine  Heimath  ver- 
lassen und  verweilt  mit  Medea  in  Korinth.  Um  seine  unsichere 
Stellung  in  der  Fremde  zu  befestigen,  wirbt  er  um  die  Hand  der 
korinthischen  Königstochter,  die  ihm  Kreon  bereitwillig  zusagt.  Medea, 
über  den  schnöden  Undank  empört,  giebt  sich  nicht  unthätiger  Ver- 


110)  Einzelne  Cilate  bei  den  Alten  finden  sich  nicht  mehr  in  unserem 
Texte.  Schol.  Aristoph.  Ach.  119  führt  aus  der  Medea  den  leider  unvollstän- 
digen Vers  an:  u)  d-B^fiößoilor  anXnyxrov,  den  Arislophanes  in  lo  &e^u6ßov- 
Xov  Ttocaxrov  i^vQTj^ive  änderte ;  eine  solche  Parodie  wirkle  vernichtend,  und 
der  Tragiker  konnte  sich  wohl  veranlaTst  sehen,  die  Stelle  abzuändern.  Im 
Frieden  des  Arislophanes  1012  heifst  es  vom  Melanthius:  elra  fiorq>Setv  ix  Mr,- 
ielas'  iXöfiav,  oXöfiav  anoxrj^co^eit  TrtS  dr  revrloiai  Xoxevofieraä.  Hier  geht 
freilich  der  Scholiast  fehl,  wenn  er  eine  Parodie  von  Medea  %  findet,  während 
ein  anderer  meint,  die  Medea  des  Melanthius  werde  verspottet,  olTenbar  nur 
eine  Vermuthung;  allein  Arislophanes  konnte  recht  gut  jenem  Tragiker  ein 
Paar  Verse  aus  der  berühnilen  Medea  des  Euripides  in  den  Mund  legen.  Wenn 
dagegen  Ennius  in  seiner  Medea  fr.  15  I  50  Ribb.  den  Vers  des  Euripides  fitacS 
oo<piarfiv,  oarii  ovx  avr^  aofö:  übersetzte,  so  kann  er  diese  Gnome  recht 
gut  aus  einer  anderen  Tragödie  des  Dichters  entnommen  haben.  Debrigens 
sind  alle  Spuren  einer  doppelten  Bearbeitung,  welche  man  in  unserem  Teile  tu 
finden  geglaubt  hat,  unsicher;  nur  eine  Partie  liegt  unzweifelhaft  in  doppel- 
ter Fassung  vor,  s.  unten  S.  512,  A.  140. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  III.EURIP.    503 

zweifluDg  hin,  sondern  sinnt  auf  Rache.  Für  die  verstofsene  Gat- 
tin ist  in  dem  Hause,  welches  eine  neue  Gebieterin  erhalten  sollte, 
kein  Raum.  Kreon,  von  den  Drohungen  der  Medea  unterrichtet 
und  das  Schlimmste  fürchtend,  verweist  sie  mit  ihren  Söhnen  aus 
dem  Lande;  aher  der  Medea  gehngt  es,  einen  kurzen  Aufschub  zu 
erlangen,  dessen  sie  bedarf,  um  ihre  Rache  zu  vollziehen.  Inzwischen 
erscheint  Aegeus,  der  König  von  Athen,  der  auf  der  Heimreise  vom 
delphischen  Orakel  begriffen  war,  und  sichert  der  Medea  Schutz 
gegen  ihre  Feinde  zu,  wenn  sie  in  Athen  eine  Zufluchtsstätte  suchen 
würde.  Um  so  zuversichtlicher  schreitet  jetzt  Medea  zur  Ausführung 
ihrer  Pläne.  Während  lason,  durch  die  scheinbare  Nachgiebigkeit 
der  Medea  getäuscht,  sich  in  Sicherheit  wiegt,  wird  die  Königstoch- 
ter mit  ihrem  Vater  ein  Opfer  der  geheimen  Zauberkünste.  Und  als 
lason  herbeieilt,  nicht  sowohl  um  den  Frevel  zu  rächen,  sondern 
um  seine  Kinder  dem  Verderben  zu  entziehen,  wenn  die  Korinther 
an  der  Mörderin  Vergehung  üben,  hat  Medea  bereits  mit  eigener 
Hand  die  Söhne  getödtet,  um  den  treulosen  Gatten  an  der  Stelle 
zu  treffen,  wo  er  allein  verwundbar  war,  und  entweicht  auf  einem 
Drachenwagen  mit  den  Leichen  ihrer  Kinder. 

Die  Fortsetzung  der  Medea  enthielt  eigentlich  der  Aegeus.  Diese 
offenbar  später  gedichtete  Tragödie  schilderte  die  Schicksale  der 
kolchischen  Zauberin  in  Athen.  Arge  Thaten  vollbringt  Medea  auch 
in  den  beiden  älteren  Dramen"'),  aber  die  leidenschaftliche  Liebe 
zu  lason  wie  das  Rachegefühl  der  schwergekränkten  Frau  dienen, 
wenn  auch  nicht  zur  Rechtfertigung,  doch  zur  Erklärung  der  Frevel. 
Im  Aegeus,  wo  Medea  dem  Stiefsohne  Theseus  nach  dem  Leben 
trachtet,  mufste  sie  zur  herzlosen  Intriguantin  und  gemeinen  Gift- 
raischerin  herabsinken.  Keine  Kunst  des  Dichters  vermochte  für 
einen  solchen  Charakter  nachhaltig  zu  interessiren,  und  es  ist  sehr 
bezeichnend,  dafs  die  Parodie  der  Komiker  sich  an  diesem  Stücke 
nicht  versucht  hat,  offenbar  weil  es  keinen  rechten  Anklang  fand 
und  bald  in  Vergessenheit  gerieth. 

Aeschylus  hat  zwar  den  Sagenkreis  der  Argonauten  benutzt, 
aber  die  Schicksale  der  Medea  hat  er,  soviel  wir  wissen,  nicht  dra- 
matisch behandelt.  Sophokles  führte  zuerst  die  kolchische  Heroine 
auf  die  Bühne.    In  drei  Tragödien  war  ihr  die  Hauptrolle  zugetheilt. 


Itt)  In  den  Peliaden  und  der  Medea. 


504  DRITTE    PERIODE    VON    500  DIS  300  V.  CHR.  G. 

In  den  kolchischen  Frauen  gewann  lason  mit  Medeas  Hülfe  das 
goldene  Vliefs;  die  Skythen  schilderten  die  Abenteuer  der  Rückfahrt; 
in  den  Wurzelgräberinnen  trat  Medea  in  Thessalien  auf  und  voll- 
zog für  lason  die  Rache  an  Pehas.  Diese  drei  Stücke"*)  konnten 
sehr  wohl  einen  geschlossenen  Dramencyklus  bilden;  doch  sind  bei 
Sophokles  alle  solche  Vermulhungen  unsicher.  Aber  man  darf  vor- 
aussetzen, dafs  diese  Tragödien  zu  den  früheren  Arbeilen  des  Sopho- 
kles gehören,  wo  der  Dichter  noch  mit  Vorliebe  hochalterthümliche, 
gewaltige  Sagenstoffe  sich  auswählte  und  ihnen  eine  entsprechende 
Form  gab.  Die  ferneren  Schicksale  der  Medea  hat  Sophokles  nicht 
berührt.'")  Euripides,  der  schon  in  seinem  ersten  Jugendversuche*") 
den  Tod  des  Pelias  durch  die  Zauberkünste  der  Medea  nach  So- 
phokles' Vorgange  geschildert  hatte,  stellt  in  der  Medea  die  grau- 
same Rache  des  leidenschaftlichen  Weibes  an  dem  treulosen  lason 
dar,  ein  Stoff,  welchen  bereits  Neopbron  für  die  attische  Bühne 
bearbeitet  hatte. 

Die  Grundzüge  der  Sage,  welche  Euripides  hier  behandelt,  tref- 
fen wir  schon  im  Epos.  Kreophylus  oder  wer  sonst  die  Eroberung 
von  Oechalia  gedichtet  hatte,  erzählte  oflenbar  in  einer  Episode  "*}, 
dafs  Medea,  als  sie  in  Korinth  verweilte,  den  König  Kreon  durch 
(iift  tödtete  und,  um  sich  der  Rache  zu  entziehen,  nach  Athen  flüch- 
tete; ihre  Kinder,  die  sie  im  Heiligthume  der  Hera  zurückliefs,  wur- 
den von  den  Verwandten  des  Königs  ermordet,  welche  der  Medea 
auch  dieses  Verbrechen  Schuld  gaben.  Auch  der  korinthische  Dich- 
ter Eumelus  kannte  Medea  als  Reherrscherin  von  Korinth,  sowie 
das  Verbergen  der  Kinder  im  Heratempel;  nur  war  der  Vorgang 
hier  anders  raotivirt."*)  Thatsache  ist,  dafs  die  Korinther  alljähr- 
lich ein  Sühnfest  zum  Andenken  der  ermordeten  Söhne  der  Medea 
feierten.    Später  mögen  lyrische  Dichter,  wie  Siniouide«.  die  Srliirk- 


112)  KoXxISk,  S)cv&at,  'Pi^oröfiot. 

113)  Daher  bemerkt  der  Scholiast  der  Medea:  jinp'  ot^«Tt'p<^  yilrai  7, 
/ivd'onoita. 

1 14)  neXiüSei  (s.  oben  S.  493), 

115)  Schol.  Med.  276. 

llf.i  Pausanias  II  3,  11.  (S.  Bd.  II  S.  08.)  Auf  dem  Kasten  des  Kypselus 
war  Medea  auf  einem  Throne  sitzend,  rechts  lason,  links  Aphrodite  stehend 
dargestellt,  was  wohl  ebenfalls  auf  dieses  Herrsrheramt  zu  beziehen  ist,  dessen 
auch  Simonides  gedacht  hatte. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  III.  ELRIP.    505 

sale  der  Medea  in  Korinth  berührt  haben ,  die  sicherHch  auch  die 
Aufmerksamkeit  gelehrter  Männer,  welche  die  Sagen  der  Vorzeit 
sammelten,  wie  Pherekydes,  auf  sich  zogen.  Euripides,  der  mit  der 
älteren  Literatur  wohl  vertraut  ist  und  eine  gründliche  Sagenkunde 
sich  angeeignet  hat,  kannte  natürlich  diese  Quellen,  als  er  daran 
ging  die  Medea  in  Korinth  dramatisch  zu  bearbeiten  und  ein  "Werk 
zu  schaffen ,  welches  jeder  Zeit  zu  den  bedeutendsten  Leistungen 
des  Dichters  gezählt  worden  ist. 

Das  Verdienst  des  Euripides  wird  jedoch  einigcrmafsen  dadurch 
gemindert,  dafs  er  an  IVeophron  einen  Vorgänger  hatte,  der  zuerst 
den  Mord  der  eigenen  Kinder  auf  Medea  übertrug  und  so  einen 
für  die  Tragödie  geeigneten  Stoff  gewann."^)  Denn  dafs  Euripides 
die  erste  Anregung  dem  Neophron  verdankte  und  mehrfach  seinen 
Spuren  folgte,  steht  durch  glaubwürdige  Zeugnisse  fest"*)  und  wird 
durch   die  Vergleichung  der  Ueberreste   aus   dem  Trauerspiele   des 


117)  Die  Sage,  Euripides  habe,  von  den  Korinthern  bestochen  (Schol. 
Med.  10,  Aelian  Y.  H.  V  21),  die  üeberlieferung  in  dieser  Richtung  abgeändert 
und  den  Kindermord  von  den  Korinthern  auf  Medea  übertragen,  ist  eine  schlecht 
erfundene  Anekdote,  die  man  nicht  benutzen  darf,  um  die  Priorität  dieses  Mo- 
tives  dem  Euripides  zuzusprechen.  Wie  gewöhnlich,  haftet  das  Gerücht  an 
einem  berühmten  Namen. 

118)  Argument  zur  Medea:  to  S^fia  SoxeX  vnoßaXiad'ai  TtaQa  NeofQovoi 
StuaxBväaas,  cos  JixaiaQx,o5  iv  rcp  Tie^i  'E).Xä8os  ßCov  xal  ^AQiajoriXr^s  iv  vtio- 
fivrjfiaat.  Ein  Mifsverständnifs  der  späteren  Berichterstatter  ist  nicht  denk- 
bar. Denn  dafs  ein  anderer  Dichter  später  in  die  Fufstapfen  des  Euripides  trat, 
■war  nicht  auffallend  und  ist  gerade  bei  diesem  Thema  mehrfach  geschehen.  Mit 
diesem  Nachweise  hätten  sich  Männer  wie  Aristoteles  und  Dikäarch  nicht  befafst; 
wohl  aber  hatte  es  für  sie  Interesse,  das  Verdienst  der  Priorität  in  das  rechte 
Licht  zu  setzen  und  darzuthun,  dafs  ein  berühmter  Tragiker  wie  Euripides  eine 
seiner  besten  Arbeiten  eigentlich  der  Anregung  eines  fast  vergessenen  Dichters 
verdanke;  denn  die  Priorität  von  Neophrons  Medea  stand  offenbar  durch  die 
Didaskalien  fest.  Daher  stellten  jene  Männer  eine  eingehende  Vergleichung 
beider  Tragödien  an;  daher  stammen  auch  die  drei  Bruchslücke  der  Medea 
des  Neophron  p.  565  ff.  N.  (zwei  sind  in  den  Schollen ,  das  dritte  bei  Stobäus 
Floril.  20, 34,  der  wohl  dieselbe  Quelle  benutzte  oder  vollständigere  Scholien 
besafs,  erhalten),  die  sich  wohl  auf  die  wesentlichsten  Punkte,  in  denen  man 
den  Einflufs  des  Neophron  erblickte,  beziehen.  Die  Späteren,  die  nur  diese  ver- 
gleichende Analyse  kannten  (denn  die  Alexandriner  scheinen  keine  Abschriften 
der  Dramen  des  Neophron  besessen  zu  haben)  betrachten  die  Medea  des  Euri- 
pides als  eine  blofse  Umarbeitung  jener  fremden  Tragödie  oder  schreiben  auch 
die  Medea  des  Euripides  geradezu  dem  Neophron  zu  (Diogen.  Laert.  II  c.  17, 10 
(134),  Suidas  7VccV^<w  II 1,  960). 


506  DRITTE    PERIODE    VON'    500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

sikyonischen  Dichlers  bestätigt.  Die  Scene,  wo  Medea  unentscliieden 
schwankt,  ob  sie  die  grause  That  vollbringen  soll,  bis  endlich  das 
Bedürfnifs  der  Rache  über  die  MutterUebe  siegt,  unbestritten  eine 
der  vorzüglichsten  Partien  der  Euripideischen  Tragödie,  erinnert  in 
wesenthchen  Zügen  an  die  Darstellung  bei  Neophron.  Anderwärts 
geht  Euripides  seinen  eigenen  Weg,  aber  man  sieht,  wie  die  Ab- 
sicht, mit  seinem  V^orgänger  nicht  zusammenzutreffen,  ihn  leitet. 
Auch  Neophron  hatte  den  Aegeus  eingeführt,  aber  sein  Erscheinen 
in  Korinth  schickUch  motivirt.  Die  weise  Frau,  deren  Ruf  iu  ganz 
Hellas  verbreitet  ist,  soll  dem  Konige  den  dunkeln  Sinn  des  Orakels 
enthüllen,  während  Euripides  die  Begegnung  als  eine  zufallige  dar- 
stellt. Bei  Euripides  wie  bei  seinem  Vorgänger  prophezeit  Medea 
am  Schlufs  der  Tragödie  dem  lason  ein  unglückUcbes  Ende.  Aber 
da  Neophron  den  Selbstmord  des  lason  in  Aussicht  stellte,  augen- 
scheinlich eine  Neuerung  des  Dichters,  zog  Euripides  vor  sich  der 
gemeinen  Ueberlieferung  anzuschliefsen."^)  Indes,  wieviel  auch  Euri- 
pides seinem  begabten  Mitarbeiter  schulden  mag,  so  ist  es  doch 
nicht  zweifelhaft,  dafs  er  ein  selbständiges,  seines  grofsen  Talentes 
würdiges  Werk  schuf.  Die  Medea  des  Neophron  gerieth  in  Ver- 
gessenheit, während  die  Tragödie  des  Euripides  ein  Gegenstand  all- 
gemeiner Bewunderung  und  Nacheiferung  ward. 

Und  dieser  Beifall  ist  nicht  unverdient;  die  Medea  ist  eine  der 
vollendetsten  Arbeiten  des  Euripides  aus  dieser  Periode  und  steht 
den  eigenthümlichen  Charakter  seiner  Poesie  am  reinsten  dar.  Es 
lag  nahe,  die  düstere,  unheimliche  Erscheinung  der  Medea  mit  all 
den  Reizen,  welche  das  Fremdartige  auf  die  Phantasie  ausübt,  aus- 
zustatten. Einzelne  Züge  werden  auch  von  Euripid»'s  benutzt.  Die 
zauberkundige,  weise  Frau  aus  dem  fernen  Norden  '*"),  welche  später 


119)  Ohne  allen  Grund  hat  man  die  Verse  des  Euripides  verdächtigt; 
Aristoteles  und  Dikäarch  fanden  die  Prophezeiung  vor  und  verglichen  eben 
damit  die  abweichende  Darstellung  des  Neophron.  Auch  erfordert  die  poefische 
Gerechtigkeit,  dafs,  wenn  der  Hauptschuldige  scheinbar  straflos  ausgeht,  wenig- 
stens in  der  Ferne  das  Walten  der  Nemesis  gezeigt  wird.  Die  Verse  des  Neo- 
phron [fr.  3  p.  506,  bei  Nauck  z.  Th.  abweichend]  lauten:  Talos  ^d'e^el ya^  avro« 
aiaxiotv  f*^€V>  ßgoxotrov  äyxovrjv  imanäaat  Stpr,  •  roitt  ae  ftolfn  tätv  Mnxnir 
ffycDv  ftivti,  {oTtois)  8i8n^Tje  ftvQtovs  iiprifii^vt  &etär  vntQ&a  ftr^Ttor' 
aiQead'ni  tp^Bvne;  denn  so  ist  der  Schlufs  zu  verbessern:  rovs  aXlovs  ist 
eine  beigeschriebene  Erklärung  (rove  av&Qtänove). 

120)  Den  Ruf  der  weisen  Medea  erwähnt  zwar  auch  Euripides,   benutet 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRl  PPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  lü.  EDRIP.    507 

in  Thessalien,  dem  eigentlichen  Sitze  des  Zauberwesens  und  der 
Giftmischerei,  ihre  verderblichen  Künste  geübt  hat,  wendet  ihre  ge- 
heimnifsvoUen  Mittel  auch  gegen  die  unglückhche  Nebenbuhlerin  an. 
Dies  ist  ganz  im  Geiste  der  yolksmäfsigen  Auffassung  gehalten,  ebenso 
die  Reise  durch  die  Luft  auf  dem  Schlangenwagen.  Diese  Vorstel- 
lung, welche  den  Späteren  ganz  geläufig  ist,  wenn  sie  die  Medea 
ihren  Wohnsitz  wechseln  lassen,  gehört  wesentlich  zum  Begriff  der 
geisterhaften  Frau,  die,  wie  sie  über  die  geheimen  Kräfte  der  Natur 
verfügt,  so  auch  an  die  Schranken  des  Ortes  nicht  gebunden  ist, 
sondern  frei  durch  die  Luft  zieht,  wohin  sie  will.  Euripides,  der 
überhaupt  das  Wunderbare  nicht  verschmäht,  kannte  zu  gut  die 
Praxis  der  Bühne,  um  auf  dieses  wirksame  Mittel  am  Schlufs  der 
Tragödie  zu  verzichten.  Allein  sonst  bleibt  Euripides  auch  hier  seiner 
Weise  treu.  Aus  dem  geheimnifsvollen  Halbdunkel  der  grauen  Vor- 
zeit wird  die  Heldin  in  die  volle  Beleuchtung  des  Tages  gerückt; 
selbst  der  Gegensatz  zwischen  der  rohen  Sitte  der  Barbaren  und 
der  freien  Cultur  der  Hellenen  wird  zwar  angedeutet'-'),  aber  doch 
nicht  eigentüch  für  die  Charakterzeichnung  verwendet.  Das  eine 
Gefühl  der  Rache  beherrscht  den  Geist  der  Medea,  aber  es  tritt 
nicht  als  unbändige  Naturgewalt,  als  blinde  Raserei  wie  bei  roheren 
Naturen  auf,  sondern  die  Leidenschaft  wird  durch  verständige  Re- 
flexion gemäfsigt.  Heifser  Rachedurst  war  den  Hellenen  wie  über- 
haupt den  leicht  erregbaren  Völkern  des  Südens  eigen.  Fest  haf- 
tete die  Erinnerung  an  jedes  erlittene  Unrecht  im  Gedächtnifs;  man 
ruhte  nicht  eher,  als  bis  man  das  Bedürfnifs  der  Vergeltung  be- 
friedigt hatte.  Nicht  blofs  die  sagenhafte  Vorzeil,  für  die  tragischen 
Dichter  eine  unerschöpfliche  Fundgrube,  bot  rnchbare  Beispiele  un- 
auslöschlichen Hasses  in  Menge  dar,  sondern  auch  die  späteren  Jahr- 
hunderte zeigten,  welch  entsetzlicher  Tbaten  eine  Leidenschaft,  die 
in  der  Volkssitte  und  öffentlichen  Meinung  einen  kräftigen  Rück- 
halt hatte,  fähig  war,  und  die  Frauen,  zumal  wenn  sie  durch  den 
Treubruch  des  Mannes  auf  das  Tiefste  verwundet  waren,  so  dafs  die 
frühere  Hingebung  und  Liebe  sich  in  Hafs  und  Wuth  verwandelte, 
standen    den  Männern    nicht   nach.     Eben  weil   die  Frau  nur  dem 


ihn  aber  nicht,  um  das  Auftreten  des  Aegeus  zu  motiriren,  sondern  iäfst  diesea 
die  Deutung  des  Orakels  bei  dem  weisen  Pittheus  suchen.     Dagegen  prophe- 
zeit Medea  am  Schlufs  dem  lason  künftiges  Unheil  gerade  wie  bei  Neoptiron. 
121)  Medea  533  ff.  1327  ff. 


508  DRITTE    PERIODE    VON    500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

natürlichen  Triebe  folgt,  weil  die  Empfindung  tiefer  geht,  fiel  es 
ihnen  noch  weit  schwerer,  Nachsicht  und  Verzeihung  zu  üben. 

Das  Charaktergemälde  des  Euripides  ruht  auf  feiner  psycho- 
logischer Beobachtung  und  hat  durchaus  innere  Wahrheit.  Euri- 
pides kannte  wie  kein  anderer  griechischer  Dichter  alle  Geheim- 
nisse eines  weibHchen  Herzens.  Die  Frauen  hatte  er  vorzugsweise 
zum  Gegenstande  eines  ununterbrochenen  Studiums  gemacht;  daher 
gelingt  ihm  auch  die  Darstellung  der  Frauencharaktere  am  meisten. 
Aber  indem  der  Tragiker  aus  dem  Leben  selbst  die  Vorbilder  für 
seine  dramatischen  Figuren  entlehnt,  wird  die  feine  Grenzlinie  zwi- 
schen Poesie  und  Wirklichkeit  nicht  selten  überschritten.  Auch  hier 
kann  man  den  Tragiker  von  diesem  Fehler  nicht  völlig  freisprechen. 
Wenn  Medea  gleichsam  zu  ihrer  Rechtfertigung  die  unbefriedigende 
Stellung  der  Frauen  schildert'"),  so  ist  dieses  Bild,  Avelches  der 
menschenkundige  Dichter  von  der  Entsittlichung  der  Frauen,  die 
zum  guten  Theil  durch  die  Ungunst  der  Verhältnisse  und  Schuld 
der  Männer  bedingt  war,  entwirft,  zwar  für  Athen  und  das  damalige 
Griechenland  zutreffend;  allein  im  Munde  der  Medca,  die  nicht  wie 
eine  athenische  Jungfrau  durch  den  Willen  der  Eltern  genülhigt  ward, 
einem  unbekannten  und  ungeliebten  Manne  ihre  Iland  zu  reichen, 
sondern,  von  leidenschaftlicher  Liebe  ergriffen,  im  Widerspruch  mit 
ihrer  Familie  und  unter  Nichtachtung  jeder  Pietät  dem  fremden 
Abenteurer  gefolgt  war,  erscheinen  diese  Klagen  durchaus  unge- 
hürig.  Nicht  minder  störend  ist  es,  wenn  lason  die  Wohlthaten 
aufzählt,  die  er  der  Medea  erwiesen'"),  und  hervorhebt,  ihm  ver- 
danke sie  den  Ruf  der  weisen  Frau  im  hellenischen  Lande,  wohin 
er  sie  gebracht,  während  sie  in  ihrer  fernen  Ileimath  ein  dunkles 
Dasein  geführt  haben  würde.  Ja,  lason  selbst  spricht  mit  deutlichen 
Worten  aus,  dafs  ihm  die  Geltung  nach  aufsen  als  des  Lebens  höch- 
stes Ziel  erscheint.  Und  in  diesem  Streben  IrifTt  Medea  mit  ilmi 
zusammen;  ihr  gilt  es  als  der  gröfste  Ruhm,  wenn  man  rücksichts- 
lose Vergeltung  an  Freunden  wie  an  F'einden  übt'"),  und  dieser 
Ehrgeiz  bestärkt  sie  in  dem  Vorsatze,  ihren  RaclieplHn  mit  fester 
Iland  auszuführen. 

Die  Composition  des  Dramas  ist  im  Wesentlichen  untadelig.    In 

122)  Medea  214  0". 

123)  Medea  M9  (T. 

124)  Medea  810  ff. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  III.EüRIP.    509 

ununterbrochenem  Fortschritte  und  stetiger  Steigerung  wird  die  Hand- 
lung fortgeführt ;  den  Eingang  des  Stückes  erkannten  schon  die  alten 
Kritiker  als  vorzugsweise  gelungen  an.'-')  Der  Prolog  ist  lehendig  und 
weit  entfernt  von  jeder  stereotypen  Manier,  welcher  Euripides  später 
huldigt.  Die  greise  Amme  und  Vertraute  schildert  mit  wenigen, 
aber  markigen  Strichen  den  Zustand  der  Verzweiflung,  in  den  Medea 
verfallen  ist,  als  sie  von  ihrem  Gatten,  dem  sie  alles  geopfert  hatte, 
sich  schmählich  verrathen  sieht.  Die  Bilder  der  Vergangenheit  treten 
vor  ihren  Geist,  die  Erinnerung  an  die  Heimath  und  den  alten  Vater 
wird  wach;  sie  fühlt  sich  in  der  Fremde,  in  der  Vereinsamung  zwie- 
fach elend.  Aber  die  Dienerin  kennt  den  leidenschafthchen  Sinn 
der  dämonischen  Frau  zu  gut;  sie  weifs,  dafs  diese  scheinbare  Ruhe 
und  rsiedergeschlagenheit  nicht  von  Dauer  ist,  dafs  Medea,  sobald 
sie  die  Energie  des  Wollens  wiedergewonnen  hat,  alles  thun  wird, 
um  ihre  Rache  zu  befriedigen.  Indem  Medea  ihren  BUck  von  den 
Kindern,  an  denen  sie  bisher  ihre  Freude  hatte,  abwendet,  fürchtet 
die  Amme  das  SchUmraste'^),  und  gleich  darauf  wird  die  Vorahnung 
der  grauenvollen  That  noch  bestimmter  ausgesprochen.  Solche  An- 
deutungen der  kommenden  Ereignisse,  welche  Euripides  in  dieser 
Tragödie  mehrfach  anwendet,  erinnern  an  die  Sophokleische  Kunst. 
Das  folgende  Gespräch  der  Amme  mit  dem  Pädagogen  dient  zur 
Vervollständigung  der  Exposition.  Passend  werden  die  beiden  Kna- 
ben der  Medea  vorgeführt,  natürUch  ohne  sich  am  Dialog  zu  be- 
theiligen, den  der  Dichter  absichlhch  in  schhchtem  Tone  gehalten 
hat.'")  Wie  das  Gerücht  der  WirkUchkeit  vorauszueilen  pflegt,  so 
hat  der  Erzieher  bereits  vernommen,  Kreon  beabsichtige  die  Medea 
aus  dem  Lande  zu  verweisen,  und  alsbald  verwirklicht  sich  die  Be- 
sorgnifs  des  treuen  Dieners.  Kreon  will  durch  dieses  Gebot  die 
drohende  Gefahr  von  sich  und  seinem  Hause  abwenden,  beschleu- 
nigt aber  dadurch  nur  das  Eintreten  der  Vergeltung.  Die  Zusammen- 
kunft des  lason  mit  Medea'**)  kann  natürlich  zu  keiner  Verstän- 
digung oder  keinem  Ausgleich  führen,  aber  sie  macht  auch  den  Bruch 
nicht  ärger  als  er  war,  sondern   dient   nur  dazu,  die  völlige  Ent- 


125)  Argum.:  STtatvelTat  Si  ij  eiaßoXt]  Siä  ro  .Ta^rtxaJs  ayav  f/^stv  xt)., 

126)  Medea  36,  vgl.  91. 

127)  Die  Anrede  des  Pädagogen  an  die  Dienerin  49:  naXaiov  o'ixoiy  xrr,fta 
Seanoivtjs  i/j-r^s  blieb  von  dem  SpoU  der  Komödie  nicht  verschont, 

128)  Medea  446  ff. 


510  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

fremdung  der  Gatten,  das  unheilbare  Zerwürfnifs  zu  veranschau- 
lichen, und  Euripides  fand  hier  Gelegenheit,  sein  grofses  rednerisches 
Talent  aufs  Neue  zu  bewahren.  Die  Einführung  des  Aegeus  ist 
keine  müfsige  Episode,  sondern  war  nothwendig;  denn  die  Heiniath- 
lose  bedurfte  einer  Zufluchtsstätte.  Der  Dichter  konnte  die  Medea, 
welche  auf  dem  Drachenwagen  davoneilt,  um  sich  der  Rache  zu  ent- 
ziehen, nicht  in  die  unbestimmte  Ferne  entweichen  lassen.  Allein 
das  Auftreten  des  Aegeus  wird  gar  nicht  motivirl*");  der  Dichter 
benutzt  diese  Scene  hauptsächlich  zu  einem  Intriguenspiele,  indem 
der  Medea  alles  daran  hegt,  einen  Rückhalt  zu  gewinnen."")  Den 
Schlufs  der  Tragödie  trifft  kein  begründeter  Tadel;  die  Entrückung 
der  zauberkundigen  Kindesmörderin  ist  die  angemessenste  Lösung."') 
Medea,  indem  sie  den  lason,  der  machtlos  und  innerhch  gebrochen 
ihr  gegenübersteht,  mit  kaltem  Hohn  behandelt,  bleibt  auch  hier  ihrem 
Charakter  treu,  und  da  lason,  obwohl  die  erste  und  schwerste  Schuld 
auf  ihm  lastet,  nicht  unmittelbar  von  dem  Strafgerichte  betroffen 
war,  verkündet  sie  ihm  ein  schlimmes  Lebensende.  Aufserdem  setzt 
sie  ein  Sühnfest  für  die  ermordeten  Kinder  in  Korinlh  ein,  wie 
Euripides  auch  sonst  die  dramatische  Handlung  gern  mit  einer  seit 
Alters  bestehenden  Institution  in  Verbindung  bringt. 

Der  Schwerpunkt  der  Dichtung  ruht  in  der  Darstellung  der 
Charaktere.  Vor  allem  ist  Medea  mit  festen,  markigen  Zügen  meister- 
haft gezeichnet.  Obwohl  von  Verbrechen  zu  Verbrechen  schreitend, 
entbehrt  dieses  Weib  doch  nicht  der  Kraft  und  Gröfse;  die  Gewalt 


129)  Darauf  hat  man  den  Tadel  des  Aristoteles  Poet.  c.  25,  19  p.  1461  B  19 
beziehen  wollen:  c^d'rj  S'  iniTifitjOis  xai  aXoyia(s)  xal  ftoxdTfQin^e),  orav  fif] 
aväyxTje  oiarji  fir^Siv  ;u(>»j<TJ7Tot  rcü  nkoycp,  (oant^  EvomlSr/i  zti  yiiysi,  rj  ttj 
novriQia,  eäaneg  Iv  'O^tOTT]  rov  MeveXäov.  Allein  Aristoteles  pflegt  besonders 
charakteristische,  in  die  Augen  fallende  Beispiele  anzuführen;  das  Auftreten 
des  Aegeus  erscheint  als  zufällig,  nicht  gerade  als  unwahrscheinlich;  auch  mufste 
der  Deutlichkeit  halber  das  Drama  genannt  werden.  Es  ist  iv  jm  ^iyal  zu 
lesen;  der  Tadel  wird  auf  die  Art  und  Weise  gehen,  wie  in  dieser  Tragödie 
die  Wiedererkennung  des  Theseus  geschildert  war. 

130)  Eigenthümlich  ist,  dafs  Medea  und  Aegeus  sich  wie  alte  Bekannte 
begrüfsen;  in  solchen  Dingen  nimmt  es  Euripides  leicht. 

131)  Aristoteles  Poet.  c.  15,  7  p.  1454  A  37  findet  diese  Schiufssceue  nicht 
passend :  t«S  Xiaeit  tÜv  fiv&wv  i^  avrov  Sei  lOv  fiv&ov  avftßalvBtv,  nal  fttf 
aionBf  iv  MrjSeiu  amb  fir^xctvfje  xal  iv  xtj  'IhnSi  ja  ntffi  jor  nTiönkow, 
Medea  auf  .dem  Schlangenwagen  vertritt  die  Stelle  des  &E6i  anö  ftT]xavf,ti 
daher  gebraucht  Aristoteles  dieses  Beispiel. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRIPPE.  DIEBLÜTHEZEIT.  III.EURIP.    511 

der  Leidenschaf L  tritt  uns  hier  so  mächtig  entgegen,  dafs  sie  uns 
unwillkürlich  mit  fortreifst  und  Theilnahme  einflöfst.  Medea  hat  ein 
unversöhnliches  Gemüth,  welches  keine  Kränkung  vergifst;  Rach- 
sucht ist  die  Triebfeder  aller  ihrer  Handlungen,  und  sie  hat  Grund 
genug,  den  lason  zu  hassen,  der  sie  in  ihren  heihgsten  Gefühlen 
gekränkt  und  ihr  mit  schnödem  ündanke  gelohnt  hatte,  während 
sie  ihm  alles  aufopferte  und  selbst  schwere  Frevel  um  seinetwillen 
zu  begehen  sich  nicht  scheute.  Verlassen  und  hülflos  bUckt  Medea 
mit  Schmerz  und  Reue  auf  die  Vergangenheil,  während  eine  dunkle, 
trostlose  Zukunft  vor  ihr  liegt.  Das  Gefühl  der  Rache  bemächtigt 
sich  ihres  Geistes  mit  unwiderstehlicher  Gewalt ;  jedes  Mittel  ist  ihr 
recht,  dieses  Redürfnifs  zu  befriedigen.  Aber  nicht  willenlos  wird  sie 
von  blinder  Leidenschaft  fortgerissen,  sondern  zeigt  kühle  Rerech- 
nung  und  ruhige  Resonnenheit.  Mit  grofser  Schlauheit  weifs  Medea 
den  Kreon  zu  überlisten,  obwohl  er  dunkel  ahnt  '^^),  dals  seine  ISach- 
giebigkeit  ihm  Verderben  bringen  werde,  und  Medea  hält  auch  mit 
ihrem  Hohne  gegen  den  Thoren,  der  sich  täuschen  liefs,  nicht  zu- 
rück.*^} Alle  Künste  der  Verstellung  bietet  Medea  auf,  als  es  gilt, 
den  lason  als  Werkzeug  für  die  Ausführung  ihrer  Anschläge  auf 
das  Leben  der  verhafsten  IS'ebenbuhlerin  zu  gewinnen.*")  Nicht  min- 
der tritt  diese  berechnende  Klugheit  im  Verkehr  mit  Aegeus  hervor. 
Dafs  Kreon  und  seine  Tochter  der  Rache  als  Opfer  gefallen 
sind,  genügt  der  Medea  nicht;  ihr  Hafs  gilt  vor  allem  dem  lasen, 
dem  Urheber  ihres  Unglücks.  Den  lason  und  das  Weib,  welches 
ihren  berechtigten  Ansprüchen  feindlich  entgegentrat ,  vernichtet  zu 
sehen  ist  der  heifseste  Wunsch  ihres  Herzens*");  aber  von  Anfang 
an  trägt  sie  sich  mit  dem  Entschlüsse  des  Kindermordes.'^)  Wohl 
hängt  ihr  Herz  an  den  Sühnen,  aber  sie  hafst  sie  auch,  weil  sie 
durch  ihren  Anblick  an  den  Gatten  erinnert  wird;  sie  sollen  ihr  als 
Mittel  dienen ,  um  auf  ausgesuchte  Weise  die  Rache  zu  befriedigen. 
Einmal  scheint  es  zwar,  als  könne  ihr  nur  lasons  Tod  genügen "'') ; 


132)  Medea  349. 

133)  Medea  36S. 

134)  Medea  869  ff. 

135)  Medea  163. 

136)  Dies  ist  gleich  in  den  ersten  Worten,  welche  Medea  spricht  (113) 
angedeutet, 

137)  Medea  375. 


512  DRITTE    PERIODE    V0>    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

allein  dies  ist  nur  ein  vorübergehendes  Schwanken,  und  auch  dieser 
Zug  ist  der  Natur  abgelauscht.  Der  Dichter  schildert  eben  das  all- 
mähliche Reifen  des  Entschlusses,  den  inneren  Zwiespalt  des  Ge- 
müthes.  iMedea  scheut  vor  keiner  ünthat  zurück;  sie  giebt  selbst 
das  Liebste  preis.  Dieses  Verbrechen  hat  etwas  Abstofsendes,  aber 
die  Kunst  des  Dichters  versieht  das  Unnatürliche  zu  mäfsigen.  Medea 
ist  nicht  alles  menschlichen  Gefühles  ledig;  sie  hebt  die  Ihrigen. 
Wenn  in  der  Verhandlung  mit  lason  der  Gedanke  an  die  Kinder 
ihr  Thränen  entlockt,  so  ist  dies  nicht  Heuchelei,  sondern  der  Schmerz 
über  das  bittere  Leid,  welches  sie  sich  selbst  zuzufügen  im  Begriff  ist, 
bricht  durch '^),  wie  Medea  auch  nachher  sich  ihrer  inneren  Em- 
pfindung hingiebt'^')  und  sogar  schwankt,  ob  sie  nicht  von  dem 
Frevel  abstehen  und  die  Kinder  retten  solle."")  Aber  die  Sophistik 
der  Leidenschaft  bringt  das  natürliche  Gefühl  zum  Schweigen ;  wena 
sie  nur  den  verhafsten  Gatten  tödtlich  kränken  kann,  scheut  sie  sich 
nicht  sich  selbst  das  tiefste  Leid  anzulhun."')  Diesen  inneren  Kampf 
zwischen  der  Mutterhebe  und  dem  Hasse  gegen  den  verrätherischen 
Gatten,  zwischen  der  besseren  Einsicht  und  der  unbezwinghchen 
Macht  der  Leidenschaft  hat  Euripides  vortrelThch  geschildert. 

Medea  überragt  so  sehr  alle  anderen  Mithandelnden,  dafs  wir 
ihnen   nur  ein   untergeordnetes   Interesse   zu   schenken   vermögen. 


138j  Medea  900  ff.  Nicht  gerechtfertigt  ist  der  Tadel  der  allen  Kritiker: 
fiifKpovTat  Sa  avr(^  ro  firj  nefvlaxivat  xi]v  vnöxQiaiv  rfj  MrjSsiq,  dHä  Tts- 
asiv  eis  Säx^va,  ors  iTießovXevaev  ^Iiiaofi  xai  t^  yvvaixi,   (Argument.) 

139)  Medea  1005  ff. 

140)  Medea  1044  ff.  und  1056  ff.  Hier  liegt  übrigens  ein  auffallender 
Wider>;pi  uch  vor.  Zueist  denkt  sie  an  die  Möglichkeit,  ihre  Kinder  durch  die 
Flucht  der  Verfolgung  der  Feinde  zu  entziehen,  nachher  ist  von  diesem  Aus- 
wege, der  so  nahe  lag,  nicht  die  Rede.  Medea  stellt  die  Lage  so  dar,  als  müfsten 
die  Kinder  noth wendig  schmachvoll  den  rachsüchtigen  Gegnern  erliegen,  und 
deshalb  sei  es  besser  die  Kinder  selbst  zu  lödten,  ein  Gedanke,  der  auch  1237 
wiederkehrt  [ninQioxai  1064  ist  nicht  der  Schicksals wille,  sondern  der  eigene 
Entschlufs;  ebenso  ist  uvayxrj  1240  zu  fassen).  Dieser  Widerspruch  lälst  sich 
wohl  durch  die  leidenschaftliche  Aufregung  erklären;  allein  wenn  man  genauer 
zusieht,  wird  man  finden,  dafs  der  Schlufs  des  Monologes  der  Medea  (1056 — 
loSO)  nur  die  Gedanken  wiederholt,  welche  schon  vorher  ausgesprochen  waren; 
dies  ist  weit  mehr  geeignet  den  Eindruck  abzuschwächen,  als  zu  steigern.  Offen- 
bar liegt  uns  diese  Scene  in  doppelter  Bearbeitung  vor;  aber  welche  Fassung 
dem  ersten  Entwürfe  angehört,  ist  schwer  zu  entscheiden. 

141)  Medea  1360. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLl'THEZEIT.  III.EURIP.    513 

lason  erscheint  im  ungüDstigsleü  Lichte;  während  Medea  in  der 
Verfolgung  ihrer  Ziele  männüche  Entschlossenheit  und  Thatkraft 
bewährt,  ist  lason  ein  Schwächhng  ohne  Würde  und  Adel  des  Hel- 
den, nur  von  selbstsüchtiger  Berechnung  geleitet. 

In  diesem  ergreifenden  Bilde  mafsloser,  frevelhafter  Leidenscliaft, 
die  sich  selbst  zerstört,  hat  Euripides  seine  unübertroffene  Kunst, 
psychologische  Probleme  zu  behandeln  und  uns  in  den  Abgrund 
des  menschlichen  Herzens  blicken  zu  lassen,  glänzend  bewährt,  aber 
eine  wahrhaft  läuternde  Wirkung  darf  man  von  der  Poesie  dieses 
Dichters  nicht  verlangen.  Auch  seine  glänzendsten  Werke  sind  nicht 
im  Stande,  uns  über  die  Verworrenheit  und  die  Widersprüche  des 
Lebens  zu  erheben. 

Dem  Chore,  der  aus  korinthischen  Frauen  besteht,  fällt,  wie 
hergebracht,  die  Stellung  des  Vertrauten  zu;  denn  da  er  einmal  da 
ist,  kann  man  ihn  auf  diese  Art  am  passendsten  verwenden.  Dafs 
der  Chor  mit  Medeas  hartem  Geschick  Mitgefühl  hat  und  nach 
Frauenart  geneigt  ist,  der  Frau  gegen  den  Mann  beizustehen"*),  ist 
verständlich;  aber  dafs  er,  nachdem  Medea  ihm  den  ganzen  Rache- 
plan  mitgetheilt  hat  und  ihn  zum  Schweigen  verpflichtet,  nur  gegen 
den  Rindermord  Einsprache  erhebt*"),  während  er  an  dem  An- 
schlage der  Fremden  gegen  das  Leben  der  eigenen  Fürstentochter 
keinen  Anstofs  nimmt,  ist  stark.  Der  Tragiker  hat  es  jedoch  nicht 
für  nöthig  erachtet,  diese  Anhänglichkeit  der  korinthischen  Frauen 
an  Medea  irgendwie  zu  motiviren. 

Auch  sonst  wird  man  in  den  meüschen  Partien  dieser  Tragödie 
manches  Befremdliche  finden.  Wenn  der  Chor  im  ersten  Stasimon  '^') 
das  Schicksal  der  Medea  beklagt,  spricht  er  zugleich  die  Hoffnung 
aus,  die  Treulosigkeit  des  lason  werde  bewirken,  dafs  man  endhch 
aufhöre,  die  Frauen  dieses  Fehlers  zu  beschuldigen;  ja,  er  scheint 
zu  erwarten*"),  dafs  die  Rachethat,  auf  welche  Medea  eben  sinnl, 
dem  Frauengeschlechte  hohen  Ruhm  bereiten  und  allen  üblen  Leu- 
mund zum  Schweigen  bringen  werde.  Hier  spielt  die  Controverse 
von  der  gedrückten  Stellung  der  Frauen,  welche  Euripides  in  der 
dramatischen  Handlung  dialektisch  zu  erörtern  pflegte,  in  die  Lyrik  des 

142)  Medea  823. 

143)  Medea  816. 

144)  Medea  410  ff. 

145)  Die  Darstellung  ist  nicht  recht  klar. 

Bergk,  Griech.  I.iteraturgescbicbte  IIl.  .  33 


514  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

Chores  herüber.  Gar  seltsam  nimmt  sich  in  einem  Chorgesange,  der 
als  natürlicher  Ergufs  eigener  Empfindung  erscheinen  soll,  auch  die 
Bemerkung  aus,  der  Chor  würde,  wenn  ihm  die  Gabe  des  Gesanges 
verliehen  wäre,  ein  Schmählied  gegen  die  Männer  anstimmen ;  über- 
haupt sind  in  diesem  Stasimon  die  Gedanken  nicht  sowohl  künst- 
lich verschränkt,  sondern  willkürlich  durcheinandergeworfen.  Auch 
in  dem  Stasimon  (824  fl.)  sieht  man  anfangs  gar  nicht,  was  das  durch 
zwei  Strophen  fortgesetzte  Lob  Athens  gerade  an  dieser  Stelle  zu 
bedeuten  hat,  wenn  es  auch  dem  Selbstgefühl  der  Zuhörer  schmei- 
cheln mufste.  Erst  nachher,  wo  der  Chor  die  Medea  vor  dem  Frevel 
gegen  die  eigenen  Kinder  warnt,  da  keine  Stadt  die  blutbefleckte 
Mörderin  aufnehmen  werde,  erkennt  man  die  Hinweisung  auf  die 
beabsichtigte  Flucht  nach  Athen.'"}  Recht  unzeitig  tritt  die  reflek- 
lirende  Manier  des  Euripides  in  einem  anderen  Chorliede  hervor'"), 
wo  die  Frauen,  als  Medeas  Entscblufs,  an  ihr  eigenes  Blut  Hand 
anzulegen,  nach  langem  inneren  Kampfe  feststeht,  es  für  ein  Glück 
erklärt,  keine  Kinder  zu  haben,  da  diese  den  Eltern  nur  Mühe  und 
Sorgen  bereiten.  Und  diese  Betrachtung  wird,  als  wenn  es  sich 
um  eine  tiefsinnige  Offenbarung  handelte,  mit  den  Worten  einge- 
leitet, Frauen  pflegten  zwar  gewöhnHch  nicht  zu  philosophiren,  aber 
die  Anlage  dazu  sei  ihnen  nicht  versagt,  und  sie  selbst,  d.  h.  die 
Führerin  des  korinthischen  Frauenchores,  habe  schon  oftmals  sich 
auf  solche  Discussionen  eingelassen."*)  So  ungehürig  die  Einleitung, 
so  erkältend  wirkt  die  nüchterne,  rein  verständige  Reflexion  an  die- 
ser bedeutsamen  Stelle,  wo  dem  dramatischen  Dichter  Gelegenheit 
geboten  war,  die  herzbewegende  Gewalt  der  Lyrik  zur  Geltung  zu 
bringen.  Nicht  minder  seltsam  nehmen  sich  die  Klagen  der  alten 
Dienerin  aus'^'),  dafs  die  Poesie  wohl  die  Freuden  und  Genüsse 
des  Lebens  zu  erhöhen,  aber  nicht  das  Herzeleid  zu  beschwichtigen 


14(3)  In  dem  Stasimon  97G  (T.  scheint  die  Anipliiholie  absichtlich  gesucht 
zu  sein;  der  Chor  ist  von  dem  Untergange  der  Kinder  überzeugt,  aber  mau 
weifs  nicht  recht,  ob  er  mehr  die  Rache  der  Korinther  oder  den  Frevel  der 
Mutter  fürchtet. 

147)  Medea  lOSl  CT.;  hier  wird  die  freie  melische  Form  mit  anapüstischen 
Versen  vertauscht. 

148)  Hier  tritt  die  Neigung  des  Euripides  zu  piiilosophischen  Krörlernngen 
die  den  älteren  Arbeiten  fremd  gewesen  zu  sein  scheint,  deutlich  hervor. 

149)  Medea  190  fr. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  III.  ECRIP.    515 

verstehe,  und  zwar  werden  diese  weitausgeführlen  Betrachtungen  in 
einem  wenig  geeigneten  Momente  angestellt.  Kurz,  in  den  lyrischen 
Partien,  wenn  sie  auch  die  formelle  Gewandtheit  nicht  vermissen 
lassen,  welche  wir  überall  in  den  älteren  Dramen  des  Euripides  an- 
treffen, darf  man  nicht  gerade  die  starke  Seite  dieser  Tragödie 
suchen.'*") 

Zahlreiche  Parodien  und  Spottreden  der  Komiker  bezeugen  zur 
Genüge  die  allgemeine  Gunst,  deren  die  Medea  des  Euripides  sich 
erfreute,  und  dieser  Werthschätzung  that  die  Zeit  keinen  Eintrag. 
Philosophen  wie  Menedemus  und  Chrysippus  lasen  mit  Vorliebe 
dieses  Drama*");  jüngere  Tragiker  haben  sich  welteifernd  nach  Euri- 
pides an  demselben  Stoffe  versucht,  und  die  Römer  bheben  hinler 
den  Griechen  nicht  zurück.'")  Ebenso  steht  die  bildende  Kunst, 
die  gern  und  häufig  diesen  pathetischen  Vorwurf  behandelt,  sicht- 
hch  unter  dem  Einflüsse  des  Euripides. 

Man  hat  die  Herakliden  des  Euripides  nicht  mit  Unrecht  ein  HerakUden 
Gelegenheitsstück  genannt.  In  bestimmter  Absicht  mufs  der  Dich- 
ter gerade  diesen  Stoff  ausgewählt  und  bearbeitet  haben ;  überall 
tritt  die  patriotische  Tendenz  des  Dramas  ganz  unverhüllt  auf.  Aber 
vergebhch  bat  man  sich  bemüht,  politische  Ereignisse  aus  der  Zeit 
des  Tragikers  nachzuweisen,  welche  der  dramatischen  Handlung  voll- 
kommen analog  sind.  Daher  gehen  auch  die  Ansichten  ziemHch  weit 
aus  einander,  und  es  ist  nicht  gelungen,  die  Zeit  der  Aufführung  des 


150)  Auch  die  Zeitgenossen  des  Euripides  haben  dies  richtig  gefühh.  Die 
Beschuldigung,  Euripides  habe  die  Melodien  der  Medea  eigentlich  der  ;'(>«"- 
(laTixrj  TQaycoSCa  des  Kallias  entlehnt  (mit  ungeschickter  Uebertreibung  Klearch 
bei  Athen.  VII  276  A:  atp'  r^e  notr^aai  xa  ft£^.T]  xal  r^v  Siä&saiv  Ev^miSr/v  iv 
MrjSsia  xai  ^otpoy.Xea  tov  OiSinow  und  X  453  E :  waxe  xov  EvQcniSrjv  fifj 
fiovov  vTiovoslad'ai  xtjv  MrjSsiav  ivxev&ev  TieTtoir^xevai  näaav,  u/Jm  xai  x6 
ftiXoi  avxb  fiEXEvrivo/fixa  faveoov  etvai),  geht  auf  den  Spott  der  Komiker  zurück, 
welche  dem  Tragiker  vorwerfen  mochten,  die  Weisen  des  Chores  in  der  Medea 
erinnerten  an  die  Ammenlieder  in  der  Buchstabenkomödie  des  Kallias. 

151)  Diog.  Laert.  II  c.  IT,  10  (134).  VII  c.  7,  3  (180).  Cicero  soll  nach  einer 
freilich  schlecht  verbürgten  Erzählung  (Ptolemaeus  Hephaestio  novar.  historiar. 
L.  V)  unmittelbar  vor  seinem  Tode  die  Medea  gelesen  haben. 

152)  Ein  Epigramm  des  Archimelus  (Anth.  VII  50  =  ep.  2  II  63  Jac.)  warnt 
die  geistlosen  Nachahmer  vor  dieser  ebenso  schwierigen  als  verlockenden  Auf- 
gabe. Nachdem  zuerst  Ennius  die  Medea  in  Korinlh  frei  bearbeitet  hatte  (denn 
die  Medea  des  Accius  behandelte  ein  verschiedenes  Thema),  dichteten  Ovid, 
Lucanus,  Gariatius  Maternus  und  Seneca  eine  Medea. 

33* 


516  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    3UU  V.  CHR.  0. 

Stückes  festzustellen.'")  Es  ist  überhaupt  ein  Mifsgrirt',  wenn  ein 
dramatischer  Dichter  eine  Begebenheit  aus  ferner  Vorzeit  so  behan- 
delt, dafs  sie  nur  eine  durchsichtige  Hülle  für  die  Gegenwart  ist 
und  die  eigenen  Zeitgenossen  des  Dichters  unter  der  Maske  mythi- 
scher Figuren  auftreten.  Ohne  dem  überlieferten  Stoffe  Gewalt  an- 
zuthun,  ist  dies  nicht  ausführbar,  und  die  Zuhörer  künnen  gar  nicht 
dem  ruhigen  Genüsse  der  poetischen  Schöpfung  sich  hingeben ,  da 
ihre  Aufmerksamkeit  fortwährend  durch  dieses  getheilte  Interesse  in 
Anspruch  genommen  wird.  Von  diesem  Tadel  können  wir  hier 
Euripides  unbedenkhch  freisprechen;  denn  er  folgt  gerade  in  dieser 
Tragödie  in  allen  wesentlichen  Punkten  der  heimischen  Sage.  Nichts- 
destoweniger steht  das  Drama  zu  geschichtlichen  Ereignissen  der 
Gegenwart,  zu  den  Fragen  des  Tages,  welche  alle  Gemüther  auf  das 
Lebhafteste  beschäftigten  und  aufregten,  in  engster  Beziehung. 

In  dem  Kampfe,  welchen  die  Athener  unverzagt  gegen  das 
mächtige  Argos  zur  Vertheidigung  der  Her.ikhden  bestehen,  die  sich 
ihrem  Schutze  anvertraut  haben ,  tritt  zum  ersten  Male  der  feind- 
liche Gegensatz  zwischen  Attika  und  den  peloponnesischen  Staaten 
hervor.'")  Dieser  Krieg  aus  sagenhafter  Vorzeit  ist  das  Vorspiel 
einer  Reihe  heftiger  Fehden  zwischen  den  Athenern  und  Pelopon- 

153)  Neuere  verlegen  die  Herakliden  des  Euripides  in  Ol.  89,  3  mit  Be- 
ziehung auf  den  einige  Jahre  vorher  erfolgten  Einfall  der  Spartaner  unter 
Pleistonax  in  Attika,  andere  in  Ol.  8ü,  4  (Korkyra,  welches  damals  die  Hülfe 
Athens  gegen  Korinth  in  Anspruch  nahm,  soll  das  historische  Gegenbild  der 
heimathlosen  Herakliden  sein),  andere  wieder  in  Ol.  87,1,  unmittelbar  vor  den 
Ausbrucli  des  grofsen  Krieges,  auf  die  Lenäen,  da  die  Medealrilogie  den  grofsen 
Dionysien  desselben  Jahres  angehört;  dann  hätte  Euripides  unmittelbar  hinter 
einander  zwei  Tetralogien  aufgeführt.  Vorsichtiger  begnügen  sich  andere  mit 
einer  ungefährea  Zeitbestimmung  (Ol.  87,2—88,2);  dann  hat  man  wieder  auf 
Ol.  88,3  geralhen;  die  Spartaner,  welche  nach  der  Eroberung  von  Sphakteria 
die  Hand  zum  Frieden  bieten,  soll  der  Dichter  im  Sinne  gehabt  haben.  Die 
meisten  ziehen  es  vor,  da  in  der  Tragödie  Argos  und  Athen  sich  gegenüber- 
stehen, dem  Wortlaute  entsprechend  alles  auf  die  damalige  Stellung  beider 
Staaten  zu  einander  zu  beziehen,  und  so  hat  man  bald  auf  Ol.  89,  3,  bald  90,  3 
gerathen.  Man  fafst  eben  das  Verhältnifs  zwischen  der  Gegenwart  und  der 
poetischen  Handlung  des  Dramas  zu  materiell  auf  und  vermag  daher  weder 
die  Intentionen  des  Dichters  recht  zu  würdigen,  noch  die  Zeit  der  Abfassung 
der  Tragödie  sicher  zu  ermitteln. 

1J4)  Pausan.  1  32,  (>:  aftxöftsvoi  Si  oi  nai9$s  iitixat  n^iöiov  rort  Iltlo- 
novvrjaioii  noiolai  TiöXxftov  tvqos  'yl&r^vaiovt,  0r;<n'an  a^ns  ovm  ixdovros  «»'- 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  III.  EURIP.    517 

nesiern  in  lichteren  Zeiten,  nur  dafs  nicht  mehr  Arges,  sondern 
Sparta  die  führende  Macht  der  Gegner  ist.  Aber  alle  früheren 
Kämpfe  treten  zurück  gegen  die  weltgeschichtliche  Bedeutung  des 
langwierigen  und  folgenreichen  Krieges,  den  Euripides  von  dem 
ersten  Anfange  an  durch  alle  Wechseltalle  als  Augenzeuge  beobach- 
tet hat,  wenn  ihm  auch  glückücher  Weise  nicht  beschieden  war, 
den  traurigen  Ausgang  zu  erleben.  Ganz  von  selbst  bot  sich  dem 
patriotischen  Dichter,  denn  die  aufrichtige  Vaterlandsliebe  des  Euri- 
pides wird  auch  sein  entschiedenster  Gegner  anerkennen,  der  An- 
lafs  dar,  diesen  sagenhaften  Stoff  dramatisch  zu  bearbeiten  und  jene 
Helden  der  alten  Zeit  als  leuchtendes  Vorbild  für  die  Gegenwart 
hinzustellen. 

Die  Tragödie  kann  nicht  vor  dem  Ausbruche  des  Confliktes, 
so  lange  die  Entscheidung  über  Krieg  und  Frieden  noch  schwankte, 
geschrieben  sein;  aber  man  darf  sie  auch  nicht  zu  spät  ansetzen. 
Schon  die  sorgfältige  Technik  des  Versbaues,  ein  bei  Euripides  nicht 
trügerisches  Merkmal,  weist  das  Drama  der  ersten  Periode  des  Krie- 
ges zu.  Aber  wir  können  noch  weiter  gehen.  Die  Tragödie  mufs 
in  den  Anfang  des  Kampfes  fallen,  da  der  Dichter  nicht  nur  mit 
grüfster  Entschiedenheit  das  gute  Recht  der  Athener  geltend  macht, 
sondern  auch  zuversichtlich  auf  einen  günstigen  Ausgang  hofft.  Denn 
sehr  bald  müssen  sich  die  Anschauungen  des  Dichters  geändert 
haben.  Je  mehr  der  Krieg  sich  in  die  Länge  zog,  desto  mehr  nahm 
eine  friedfertige  Stimmung  überhand.  Euripides,  wie  seine  Dich- 
tungen vielfach  nur  der  Ausdruck  der  öffentlichen  Meinung  sind, 
kommt  allmählich  zu  derselben  Anschauung,  die  sein  unversöhnlicher 
Widersacher  Aristophanes  von  Anfang  an  unerschütterlich  vertrat. 
Im  Kresphontes,  der  wahrscheinlich  Ol.  88,  3  aufgeführt  ist,  spricht 
sich  die  Sehnsucht  nach  Ruhe  und  Frieden  sehr  bestimmt  aus;  im 
Erechtheus,  der  ziemlich  derselben  Zeit  angehören  wird,  begegnen 
wir  der  gleichen  Stimmung,  wenn  auch  das  Thema  dieses  echt 
patriotischen  Trauerspiels  voraussetzen  läfst,  dafs  der  Tragiker  seinen 
Zeitgenossen  kein  unwürdiges  Zurückweichen  anrathen  wollte. 

Die  Herakliden  werden  Ol.  87,  3,  also  im  zweiten  Kriegsjahre, 
gedichtet  sein.'^)    Zum  anderen  Male  war  König  Archidamus  in  Attika 

155)  In  diesem  Jahre  ist  wahrscheinlich  der  König  Oedipus  des  Sopho- 
kles aufgeführt,  der  damals  dem  Philokles  bei  der  Vertheilung  der  Preise  nach- 
gesetzt wurde;  Euripides  wird  also  den  dritten  Preis  erhalten  haben. 


518  DRITTE    PERIODE    VON    500    DIS    300  V.  CHR.  G. 

eingefallen,  Land  auf  und  Land  ab  alles  verwüstend.  Perikles  vergalt 
diese  Verheerungen  durch  Streifzilge  an  der  pelopounesischen  Küste ; 
aber  diese  gewährten  den  Einzelnen,  welche  von  den  Leiden  des 
Krieges  hart  betroffen  wurden,  keinen  Ersatz.  Das  Mifsvergnügen 
mit  der  Kriegsführung  des  Perikles,  der  die  Landschaft  schutzlos  dem 
Feinde  preisgab,  trat  schon  im  Jahre  vorher  bei  gleichem  Anlasse 
hervor**®)  und  steigerte  sich  jetzt  sehr  entschieden,  da  die  schlimme 
Seuche  hinzukam.  Perikles  erschien  als  der  alleinige  Urheber  des 
Krieges  und  ward  für  alles  verantwortlich  gemacht.  Man  knüpfte 
sogar  Unterhandlungen  mit  Sparta  an '"),  und  da  diese,  wie  zu  er- 
warten war,  fruchtlos  bheben,  verurtheilte  man  den  Perikles  zu  einer 
hohen  Geldbufse,  wählte  ihn  aber  dennoch  wieder  aufs  Neue  zum 
Feldherrn  und  vertraute  ihm  die  Leitung  der  öffentlichen  Geschäfte 
an.  In  dieser  schwierigen  Zeit  war  es  Pflicht  aller  aufrichtigen  Vater- 
landsfreunde, den  grofsen  Staatsmann  nach  Kräften  zu  unterstützen. 
Es  war  ein  glücklicher  Gedanke,  dafs  Euripides  sich  dazu  entschlofs, 
für  die  nächste  Festfeier  die  Heraklidensage  dramatisch  zu  bearbei- 
ten, nicht  um  dem  Stolze  der  Athener  zu  schmeicheln,  sondern  um 
durch  die  Erinnerung  an  ein  ruhmvolles  Ereignifs  aus  dem  Alter- 
thume  den  Patriotismus  wachzurufen,  einen  jeden  zu  thatkräftigeni 
Handeln  und  treuer  Pflichterfüllung  anzufeuern,  die  Kleinmüthigen 
und  Verzagten  aufzurichten.''^) 

Wie  sich  Euripides  in  dieser  Tragödie  der  Ueberlieferung  mög- 
lichst anschliefst,  so  ist  auch  die  Darstellung  im  Einzelnen  dem  ge- 
wählten Thema  entsprechend.  Wenn  vieles  unwillkürlich  die  Zu- 
hörer an  die  unmittelbare  Gegenwart  erinnert  und  eben  deshalb 
besonders  wirksam  sein  mufste,  so  pafst  es  doch  vollkommen  in  den 
Zusammenhang  der  poetischen  Handlung.  Nur  hie  und  da  geht 
der  Dichter  über  diese  Grenzlinie  hinaus.  Das  lebendige  BihI,  wel- 
ches König  Demophon  von  seiner  schwierigen  Stellung  den  Bürgern 
gegenüber  entwirft'"),  entspricht  genau  der  Lage,  in  welcher  sich 


156)  Thukydides  II  21,  Plutarch  Perikl.  c.  35. 

157)  Thukydides  II  59. 

158)  Die  letzte  Rede,  welche  Thukydides  (II  60  ff.)  den  Perikles  halten 
läfst,  veranschaulicht  am  besten  die  herrschende  Slimmiing  und  hebt  zugleich 
die  Gesichtspunkte  hervor,  auf  welche  ein  einsichtiger  und  patriotischer  Mann 
in  80  ernster  Lage  seine  Mitbürger  hinweisen  mufste. 

ir>'H  Kiirip.  Heraklidon  41">  fT.    Hier  erinnert  xnl  ivf  rrvMvai  äv  avaräatu 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIETRAGÖDIE.  II.GRüPPE.  DIE  BLÜTBEZEIT.  III.  ELRIP.    519 

damals  Perikles  befand.  Hier  hat  sichtlich  die  Rücksicht  auf  die 
Gegenwart  des  Dichters  Hand  geleitet.'^)  Ebenso  sucht  der  argi- 
vische  Herold  den  König  vom  Kriege  abzuhalten,  indem  er  ihm 
den  allgemeinen  Unwillen  der  Bürger  in  Aussicht  stellt,  wenn  er 
sie  ohne  dringende  Gründe  in  ein  so  gefahrvolles  Unternehmen  ver- 
wickelte.'®^) Die  Beziehung  auf  Perikles  ist  hier  nicht  zu  verkennen. 
Ebendeshalb  darf  man  auch  die  Tragödie  nicht  dem  nächsten  Jahre 
zuweisen;  denn  im  Frühjahr  Ol.  87,4  hatte  der  Tod  den  Perikles 
bereits  allen  Anfechtungen  seiner  Gegner  entrückt. 

Besonders  bedeutsam  ist  der  Schlufs  der  Tragödie,  der  nicht 
sowohl  durch  die  Rücksicht  auf  die  dramatische  Gestaltung  des  The- 
mas, sondern  durch  die  Tendenz  des  Dichters  bestimmt  wird.  Eury- 
stheus  offenbart  noch  vor  seinem  Tode,  dafs  nach  einem  alten  Götter- 
spruche seine  Grabstätte  im  attischen  Lande  den  Athenern  Glück 
und  Heil  bringen  werde;  denn  wenn  jemals  Nachkommen  der  Hera- 
kbden,  uneingedenk  der  Wohlthat  und  des  Schutzes,  den  sie  hier 
genossen"*),  Attika  mit  Krieg  überziehen  sollten,  dann  werde  er 
als  feindUcher  Dämon  das  ihm  verhafste'  Geschlecht  verderben  und 
mit  Schmach  aus  dem  Lande  treiben.  Man  fühlt  deuthch,  wie  der 
Dichter  durch  dieses  Orakel  die  Athener,  die  eben  durch  die  ver- 
heerenden Einfälle  der  Peloponnesier  in  so  grofse  Verlegenheit  ge- 
rathen  waren,  über  die  Zukunft  zu  beruhigen  sucht,  und  es  traf 
sich  glücklich,  dafs  die  Wirklichkeit  jene  Prophezeiung  nicht  augen- 
blicklich widerlegte;  denn  im  Frühjahr  Ol.  87,3,  wo  die  Herakliden 
gegeben  sind,  verschonten  die  Peloponnesier  Attika  und  wandten 
sich  sofort  zur  Belagerung  von  Platää.'") 


av  siaiSoie  [aarmv  tSots  Härtung],  rcäv  fiev  Xsyovrtov,  (os  Sixaiov  t^v  ^t'vots 
ixiran  aorjysiv,  rcöv  8s  ficooiav  iurjy  [iuov  Elmsley]  xaxriyoooivroov  ganz  an 
die  Darstellung  des  Thukydides  II  21:  xara  ^varäasis  re  yiyvöuevot.  kv  TioXlfj 
ioiSi  fjaav,  Ol  fiev  xe^.£vovTes  e^isvat,  ol  Se  rtvss  ovx  icävTss. 

160)  Durch  Rücksicht  auf  die  poetische  Composilion  ist  diese  Darstellung 
nicht  bedingt;  der  Tragiker  hätte  besser  gethan,  wenn  er  sich  einfach  an  die 
Tradition  hielt,  wonach  das  Orakel  nur  den  Herakliden  galt. 

161)  Eurip.  Herakliden  165. 

162)  Sehr  nachdrücklich  schärft  V.  307  ff.  der  greise  lolaas  den  jungen 
Herakliden  die  Pflicht  der  Dankbarkeit  gegen  Athen  ein.  Damit  wird  still- 
schweigend auf  das  Unrecht  der  spartanischen  Könige,  der  Nachkommen  jener 
Herakliden,  hingewiesen,  die  eben  jetzt  Attika  mit  Krieg  überziehen. 

163)  Vielleicht  hatte  zur  Zeit  der  grofsen  Dionysien  die  Belagerung  Pia- 


520  DRITTE   PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CUR.  G. 

Der  Stoff  der  Herakliden  beruht  auf  heimischer  Ueberlieferung ; 
Euripidps  fand  ihn  fertig  vor  und  hat  nichts  WesentUches  hinzu- 
gethan  oder  abgeändert.'")  Namentlich  der  Opfertod  der  Makaria 
ist  nicht  freie  Erfindung  des  Tragikers,  sondern  die  attische  Sage 
berichtete  von  einem  Orakel,  welches  Sieg  verhiefs,  wenn  einer  aus 
dem  Geschlechte  der  Merakhden  freiwilhg  sein  Leben  hingeben  würde. 
Da  tödtet  sich  Makaria  selbst'"),  und  die  Athener  hielten  das  An- 
denken der  heldenmüthigen  Jungfrau  in  Ehren.  Bei  Euripides  lautet 
die  Weissagung  etwas  anders:  die  Götter  verlangen,  Demophon  solle 
eine  edle  Jungfrau  der  Persephone  opfern;  aber  Demophon  mag 
weder  die  eigene  Tochter  als  Opfer  darbringen,  noch  wagt  er 
seinen  Bürgern  dies  zuzumuthen.  Dies  hat  wohl  der  Tragiker  hin- 
zugedichtet, nicht  sowohl  um  die  Gefahr  der  Herakliden  zu  steigern 
und  den  lleldenmuth  der  Jungfrau  noch  mehr  zu  verherrlichen, 
sondern  um  die  schwierige  Stellung  des  attischen  Königs  in  das 
rechte  Licht  zu  setzen.'^)  Auch  die  Waffenthat  des  greisen  lolaus, 
der  mit  dem  kriegerischen  Feuer  eines  Jünglings  den  Eurystheus 
angreift  und  besiegt,  war  überliefert.  Doch  lag  eine  zwiefache  Tra- 
dition vor.  Die  einen  berichteten,  lolaus,  schon  gestorben,  sei  wieder 
aufgelebt,   um  an   dem  Kampfe   theilzunehmen   und  alsbald   in  das 


tääs  bereits  begonnen ;  Euripides  kann  den  Schlufs  der  Tragödie  erst  im  letzten 
Angenblicke  hinzugedichtet  haben.  Wären  die  Herakliden  Ol.  87,  4  (zugleich 
mit  dem  Hippolytns)  aufgeführt,  so  wäre  die  Prophezeiung  alsbald  zu  Schanden 
geworden,  da  die  Peloponnesier  im  Sommer  wieder  in  Attika  einfielen  (Thukyd. 
III  1).  Noch  weniger  ist  an  Ol.  87,  2  zu  denken ;  denn  damals  erfolgte  der  Ein- 
fall gleich  im  Beginn  des  Frühjahres  (Thukyd.  If  47). 

WA)  Euripides  ist  wohl  hauptsächlich  dem  Pherekydes  gefolgt;  nur  liefs 
der  Logogiaph  den  Eurystheus  im  Kampfe  fallen.  Auch  bei  Herodot  IX  27 
beziehen  sich  die  Athener  auf  den  Schutz,  den  sie  den  Herakliden  gewährt,  und 
den  Sieg  über  Argos. 

165)  Man  vergleiche  die  Erzählung  bei  Pausanias  I  32,  7,  die  nicht  durch 
die  Darstellung  des  Euripides  beeinflufst  ist.  Das  Andenken  an  den  Tod  der 
Jungfrau  haftete  an  der  Quelle  Makaria  bei  Marathon;  darauf  geht  auch  das 
Sprüchwort  ßäXl'  ie  Maxa^iay  (s.  Schollen  zu  Aristoph.  Ritter  1151). 

li>C)\  Herakliden  103  ff.  Die  Beziehung  auf  Perikles  ist  nicht  zu  verkennen. 
Diese  Neuerung  ist  nicht  gerade  glücklich;  denn  die  alte  Sage  ist  in  ihrer  Ein- 
fachheit durchaus  sinnvoll.  Auch  darin  weicht  der  Tragiker  von  der  Ueher- 
lieferung  ab,  dafs  er  die  Makaria  nicht  durch  ihre  eigene  Hand  sterben  läfst 
(560.  505/.  Der  Scholiast  zu  Aristoph.  Kitter  1151  folgt,  obwohl  er  sich  auT 
die  Tragödie  des  Euripides  beruft,  doch  der  gemeinen  Ueberlieferung. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRIPPE.  DIE  BLCtBEZEIT.  IILEURIP.    521 

Todtenreich  zurückzukehren.  Nach  anderen  bat  der  hochbetagte, 
treue  Genosse  des  Herakles  den  Zeus,  nur  auf  einen  Tag  wieder 
die  aUe  Jugendkraft  zu  gewinnen ,  und  sein  Gebet  ward  erhört. 
Dieser  Fassung  der  Sage  folgt  Euripides  ^^) ,  und  er  selbst  mag 
dazu  gedichtet  haben,  dafs  zwei  Sterne  im  dunkeln  Gewölk  sich 
auf  den  Rossen  niederlassen,  nach  dem  Volksglauben  ein  günstiges, 
Heil  und  Sieg  verkündendes  Wahrzeichen,  dem  der  Dichter  aber 
absichtlich  eine  andere  Deutung  giebt,  indem  er  es  auf  Herakles 
und  Hebe  bezieht.  Den  lolaus  stellt  Euripides  als  einen  schwachen, 
ganz  hinfäUigen  Greis  dar,  obwohl  er  recht  gut  ihn  als  einen  noch 
immer  rüstigen  Mann  hätte  einführen  können;  aber  der  natürlichen 
Auffassung,  die  für  das  Drama  die  geeignetere  war,  zieht  er  das 
Wunderbare  vor. 

Das  Orakel  am  Schlufs  der  Tragödie  darf  man  nicht  für  eine 
Erfindung  des  Euripides  halten.  Eine  solche  Weissagung  würde 
ganz  unwirksam  sein,  wenn  sie  nicht  im  Volksglauben  einen  festen 
Anhalt  gehabt  hätte'"*).  Die  Darstellung  des  Tragikers  läfst  übrigens 
unklar,  wie  weit  der  Schutz  des  todten  Eurystheus  reichte,  ob  er 
nur  auf  die  marathonische  Tetrapohs  oder  auf  das  gesammte  attische 
Gebiet  zu  beziehen  ist;  wahrscheinüch  hat  der  Dichter  absichtlich 
sich  für  diese  unbestimmte  Fassung  entschieden.  Bekannt  ist,  mit 
welchem  Eifer  man  damals  in  Athen  alte  Weissagungen  aufspürte 
oder  neue  erdichtete,  um  dem  Verlangen  des  grofsen  Haufens  zu 
genügen,  welcher  einen  Blick  in  die  dunkele  Zukunft  zu  thun  be- 
gehrte. Die  Peloponnesier  hatten  bei  dem  zweiten  Einfalle  Mara- 
thon verschont,  während  sie  das  übrige  Land  verwüsteten.'®^}  Eben 
in  dieser  Zeit  mochte  ein  Orakel  auftauchen,  welches  den  Athenern 
das  Grab  des  Eurystheus  zu  ehren  gebot,  weil  dieser  den  Athenern 
Schutz  gegen  die  Einfälle   der  Peloponnesier   gewähren   würde""); 

167)  Herakliden  S51  ff. 

168)  Sophokles  bei  seiner  bekannten  Vorliebe  für  prophetische  Schick- 
salssprüche konnte  dergleichen  erfinden,  nicht  Euripides,  wenn  er  auch  in  dieser 
Zeit  sich  noch  von  der  übereifrigen  Polemik  gegen  solchen  Aberglauben  fern 
hält. 

169)  Diodor  XII  45, 1.  Nach  Schol.  Soph.  Oed.  Kol.  701  beobachteten  sie 
im  ganzen  Kriege  dasselbe  Verfahren ,  weil  eben  die  Herakliden,  die  Ahnherren 
der  spartanischen  Könige,  einst  hier  Zuflucht  und  Schutz  gefunden  hatten. 

170)  Das  Grab  des  Eurystheus  befand  sich  nach  Euripides  in  Pallene  beim 
Tempel  der  Athene  (1031,  vgl.  auch  849j.   Nach  Strabo  VllI  c.  19  p.  .377  fiel  er  an 


522         .  DRITTE    PERODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

und  es  bewährte  sich  insoweit,  als  die  Lakedämonier  im  nächsten 
Jahre  den  Einfall  nicht  wiederholten.  Nur  in  diesem  Zeitpunkte, 
wo  die  Athener  einer  solchen  Prophezeiung  Vertrauen  schenken 
konnten,  durfte  Euripides  es  wagen ,  sein  Drama  mit  dieser  trost- 
lichen Aussicht  abzuschliefsen.  Uebrigens  scheint  schon  vor  Euri- 
pides Aeschylus  in  seinen  Herakliden  denselben  Stoff  behandelt  zu 
haben '''),  und  Euripides  mag  seinem  Vorgänger  manches  zu  danken 
haben,  während  er  anderwärts  auch  wieder  seine  Selbständigkeit  zu 
wahren  gewufst  haben  wird.'"*) 

Die  Herakliden,  im  Beginn  des  grofsen  Krieges  gedichtet,  sind 
ein  Kriegsdrama.  Der  Dichter  erfüllt  nur  seinen  Beruf,  wenn  er  der 
Anregung,  welche  die  Gegenwart  bot,  willig  folgte  und  ein  Thema 
aus  der  sagenhaften  Vorzeit  seiner  Heimath  wählte,  welches  trotz  der 


der  Quelle  Makaria;  lolaus  schnitt  ihm  das  Haupt  ab.  Dies  wurde  zu  Trikory- 
thus  beigesetzt,  der  Leichnam  bei  Gargettos  beerdigt,  was  wohl  so  ziemlich 
mit  der  Oertlichkeit  bei  Euripides  stimmt.  Nach  Pausanias  I  44,  10  zeigte  man 
das  Grab  des  Eurystheus  im  megarischen  Gebiete,  wo  er  auf  der  Flucht  von 
lolaus  getödtet  ward,  und  auch  Euripides  (860)  läfst  ihn  bei  den  skironischen 
Felsen  in  Gefangenschaft  gerathen.  Die  Sage  liefs  den  Eurystheus  im  Kampfe 
fallen  und  wohl  an  der  Stelle,  wo  er  starb,  beerdigt  werden.  Vielleicht  hat 
man  erst  später  eben  auf  Anlafs  des  Orakels  dieser  Grabstätte  Aufmerksamkeit 
zugewandt;  daraus  würden  sich  auch  die  widersprechenden  Angaben  einfach 
erklären  lassen.  Euripides  läfst  den  Eurystheus  lebendig  in  Gefangenschaft 
gerathen,  damit  Alkmene  an  ihm  ihre  Rache  befriedige.  Dies  ist  wohl  eine 
Neuerung  des  Tragikers;  aber  den  Anlafs  zu  diesem  Motiv  fand  er  in  der 
Ueberlieferung,  denn  Alkmene  sticht,  als  ihr  Hyllus  das  Haupt  des  todten  Fein- 
des bringt,  ihm  die  Augen  aus,  s.  Apoilodor  II  8,  1,  '^. 

171)  Den  Vers  ov  yaQ  ti  fisll^ov  äXXo  rovSs  Tieiaoftai  fr.  69  Di.  konnte 
Makaria  sprechen,  denn  den  Opfertod  der  Jungfrau  halte  gerade  auch  Aeschylus 
dargestellt;  indes  können  die  Worte  auch  dem  Eurystheus  gehören,  der  ohne 
Furcht  in  den  Kampf  zog.  Aeschylus'  ritterlicher  Sinn  liefs  ihn  gewifs  im  Kampfe 
fallen,  nicht  als  Opfer  weiblicher  Rache  sterben;  um  so  mehr  halle  Euripides 
Grund,  einen  anderen  Weg  einzuschlagen.  Sophokles  hat  diesen  SloR"  nicht 
behandelt;  denn  der'IoXaoe  dieses  Dichters  beruht  nur  auf  einem  Schreibfehler 
für  OlxXrje. 

172)  Euripides  Herakliden  43  :  vtas  yag  nao&tpofS  aiSovfts&a  6xX<o  :rtXn- 
^aiv  xanißiofjuoajaxelv  enthält  wahrscheinlich  eine  versteckte  Polemik  gegen 
Aeschylus,  in  dessen  Drama  der  Chor  aus  den  Kindern  des  Herakles  bestehen 
mochte,  so  dafs  auch  die  Töchter  an  den  Altären  Schutz  suchten.  Ebenso  ist 
391  eine  kleinliche  Kritik  der  Sieben  des  Aeschylus  kaum  zu  verkennen.  Da- 
gegen ist  die  Vorstellung  abzuweisen,  als  habe  Euripides  in  den  Herakliden 
speciell  die  Schutzflehenden  des  Aeschylus  vor  Augen  gehabt. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  III.  EüRIP.    523 

Verschiedenheit  der  Verhältnisse  zu  einer  Vergleichung  mit  der  Ge- 
genwart aufforderte.  Einst  stand  Argos,  jetzt  Sparta  den  Athenern 
gegenüber,  jenes  im  Alterthume,  dieses  später  die  führende  Macht 
der  Peloponnesier.  Damals  handelte  es  sich  um  treue  ErfüUung 
des  gegebenen  Wortes,  um  Gewährung  des  zugesagten  Schutzes,  jetzt 
um  Vertheidigung  der  MachtsteUung  Athens.  Aber  hier  wie  dort 
stand  die  Ehre  und  Grofse  des  Staates  auf  dem  Spiele. 

Ob  es  dem  Tragiker  gelungen  ist,  seine  Aufgabe  durchaus  be- 
friedigend zu  lösen,  ist  eine  andere  Frage.  In  einem  Tendenzdrama 
wird  die  Darstellung  der  Charaktere  unwillkürhch  zur  Nebensache. 
Da  zahlreiche  Personen  auftreten,  war  der  Dichter  auf  knappe  Be- 
handlung angewiesen;  die  Ilerakliden  werden  nur  als  stumme  Per- 
sonen vorgeführt,  deren  Sache  der  greise  lolaus  vertritt.  Hyllus  wird 
gar  nicht  sichtbar ;  der  Dichter  findet  sich  mit  einer  epischen  Schil- 
derung seiner  Thaten  ab.  Mit  festen  Zügen  zeichnet  Euripides  den 
argivischeu  Herold  Kopreus,  der  im  Auftrage  des  Eunstheus  die 
AusHeferung  der  landesflüchtigen  HerakUden  verlangt.  Das  selbst- 
bewufste,  übermüthige  Auftreten  des  Heroldes  erinnert  unwillkürhch 
an  die  rauhe,  herrische  Weise  der  Spartiaten.  Die  Verhandlung 
zwischen  dem  Herold  und  lolaus  sowie  dem  attischen  Könige  hat 
ganz  den  Charakter  einer  staatsrechtlichen  Debatte,  wozu  die  jüngst- 
verflossenen Jahre  dem  Dichter  die  geeignetsten  Vorbilder  lieferten. 
Der  König  ist,  wie  meist  in  der  späteren  Tragödie,  eine  ziemlich 
unbedeutende  Figur  und  verschwindet  in  der  zweiten  Hälfte  des 
Dramas  vollständig.  Das  tragische  Interesse  concentrirt  sich  in  der 
Makaria,  welche  selbstvergessen  und  muthig  sich  für  das  Wohl  an- 
derer aufopfert.  Dieses  rührende  Motiv  freiwilliger  Hingebung  hat 
Euripides  schon  in  der  Alkestis  benutzt  und  auch  später  mit  sicht- 
Hcher  Vorhebe  wiederholt  verwendet.*"^)  Alkmene  dagegen  erscheint 
als  ein  rachsüchtiges  Weib  ohne  allen  Seelenadel,  wie  der  Dichter 
diesen  Charakter  auch  anderwärts  zu  schildern  pflegt. 

Der  Chor,  indem  er  die  Abschnitte  der  Handlung  begleitet  und 
die  allgemeinen  Gesichtspunkte  geltend  macht,  entspricht  in  dieser 
Tragödie  vollkommen  seiner  Bestimmung;  nur  die  Parodos  ist  ziem- 
hch  stiefmütterhch  behandelt.    Dagegen  ist  das  erste  Stasimon  sehr 


173)  Und  zwar  in  noch  wirksamerer  Weise  wie  in  der  Hekuba  (Polyxena) 
und  der  Iphigenie  in  Aulis;  auch  die  Phönissen  (Menökeus)  gehören  hierher 
und  unter  den  verlorenen  Dramen  der  Erechtheus. 


524  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

angemessen.'"")  Nachdem  der  argivische  Herold  abgetreten  ist,  führt 
der  Chor  aus,  dafs  ein  Staat  wie  Athen,  welches  Argos  vollkommen 
gleich  stehe,  sich  durch  prahlerische  Drohungen  nicht  einschüchtern 
oder  von  der  Bahn  des  Rechtes  ablenken  lasse;  wohl  wisse  Athen 
das  Glück  des  Friedens  zu  schätzen,  aber  es  sei  auch  bereit,  jeden 
ungerechten  Angriff  furchtlos  abzuwehren.  Dieses  Lied  ist  der  poe- 
tischen Situation  durchaus  entsprechend,  bezeichnet  aber  zugleich 
auch  treffend  das  damahge  Verhältnifs  zwischen  Athen  und  Sparta. 
Nachdem  Makaria  sich  zum  Opfertode  entschlossen  hat,  schildert  der 
Chor*")  den  Unbestand  des  menschlichen  Glückes  und  preist  den 
hochherzigen  Sinn  der  edlen  Jungfrau.  Als  lolaus  sich  zum  Kampfe 
rüstet  und  die  Entscheidung  bevorsteht,  weist  der  Chor"®)  auf  die 
Gröfse  der  Gefahr  hin,  welche  ein  Krieg  mit  einem  Staate  wie  Ar- 
gos bringe,  hebt  aber  andererseits  hervor,  dafs  Athen,  nur  von  dem 
Gefühle  der  Ehre  und  Pflicht  geleitet,  zur  Vertheidigung  einer  ge- 
rechten Sache  die  Waffen  ergriflen  habe  und  daher  auf  den  Beistand 
der  Götter  rechnen  könne.  Passend  wird  die  Schutzpatronin  des 
attischen  Landes  angerufen;  wie  das  Volk  die  Athene  alle  Zeit  in 
Ehren  halte '^''),  so  dürfe  es  auch  ihrer  Hülfe  vertrauen.  Diese  Er- 
wartung ward  nicht  getäuscht;  bald  bringt  ein  Diener  die  Sieges- 
botschaft, und  die  Freude  des  Chores  äufsert  sich  in  bewegter,  aber 
mafsvoller  Rede.  Denn  fern  von  Selbstüberhebung  spricht  sich  in 
dem  Liede  ein  demüthiger,  gottesfttrchtiger  Sinn  aus."*) 


174)  Heraklidea  354  ff. 

175)  Herakliden  öÜ8  If. 

176)  Herakliden  748  ff. 

177)  Noch  vor  wenigen  Monaten  01.87,3  im  Hekatoinbüon  hatte  Athen 
trotz  der  schweren  Bedrängnifs,  welche  die  Verheerungen  der  Feinde  und  das 
Umsichgreifen  der  Pest  bereiteten,  die  grofsen  Panathenäen  in  herkömmlicher 
Weise  mit  Chören  und  Wettkampf  der  Ruderschiffe  gefeiert,  wie  es  hier  der 
Chor  780  (vsäJv  d'^  auiXlm  xOQÖJv  je  fioknai;  so  ist  statt  vsoip  t'  aotSai  zu 
lesen)  schildert. 

17S)  Herakliden  8!l2  ff.  Bemerkenswerth  ist,  dafs  sich  hier  Euripides  öfter 
gegen  die  atheistischen  Tendenzen  erklärt,  die  damals,  wo  die  Pest  alle  sitt- 
lichen Ordnungen  löste,  ganz  unverhohlen  hervortreten  mochten.  Das  Wahr- 
leichen  des  verklärten  Herakles,  von  dem  der  Bote  berichtet  hatte,  beweist 
dem  Chore,  dafs  diesem  Helden  göttliche  Khrc  zu  Theil  geworden  ist.  Dabei 
mnfs  man  sich  erinnern,  dafs  der  Cullus  des  Herakles  zuerst  in  Maralbon  Hin- 
gang gefunden  hat.  So  werden  passend  die  Krinnerungen  der  alten  Zeit  mit 
der  Gegenwart  verknüpft. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.GRCPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  III.  EÜRIP.    525 

Die  Abneigung  gegen  die  Lakonier,  welche  Euripides  im  Ver- 
laufe des  Krieges  überall  unveriiohlen  kundgiebt,  macht  sich  in  den 
HerakHden  nirgends  direkt  Luft.''**)  Den  Glauben  an  Weissagungen 
hat  der  Dichter  wohl  niemals  getheilt;  aber  er  folgt  der  Strömung 
der  Zeit,  die  jeder  Prophezeiung  willfährig  Glauben  schenkte,  welche 
den  eigenen  Wünschen  und  Hoffnungen  entsprach.  So  benutzt  auch 
Euripides  dieses  Motiv,  ohne  dafs  eine  Spur  von  Polemik  wahrzu- 
nehmen wäre,  die  uns  sonst  bei  Euripides  oft  unangenehm  berührt. 
Das  Drama  fällt  gerade  in  die  Zeit,  wo  Athen  von  der  Pest  heim- 
gesucht wurde,  aber  der  Dichter  hat  jene  Hindeutung  vermieden, 
die  leicht  niederdrückend  wirken  konnte  und  zu  der  gehobenen 
Stimmung  des  Dramas  nicht  pafste.'*")  Wohl  aber  verräth  sich  in 
den  skeptischen  Betrachlungen  der  Makaria'*')  des  Dichters  eigene 
Anschauungsweise  von  den  letzten  Dingen ,  so  unpassend  auch  solche 
Worte  in  dem  Munde  der  Jungfrau  klingen.  Die  grausame  Behand- 
lung des  überwundenen  Eurystheus  entspricht  nicht  nur  der  Härte 
der  alten  Zeit ,  sondern  auch  die  nächste  Vergangenheit  bot  Belege 
dar;  denn  der  peloponnesische  Krieg  ward  von  Anfang  an  mit 
äufserster  Rücksichtslosigkeit  und  grofser  Erbitterung  von  beiden 
Seiten  geführt.**-) 

Die  Tragödie  ist  nicht  unversehrt  erhalten,  wie  schon  der  ge- 
ringe Umfang  vermuthen  läfst.**^  Eine  gröfsere  Lücke  ist  in  der 
Mitte  des  Dramas  deutlich  wahrnehmbar.  Denn  von  dem  Opfertode 
der  Makaria  ist  nicht  weiter  die  Rede;  Alkmene  scheint  davon  keine 
Kunde  zu  haben,  ohne  dafs  man  übereingekommen  wäre,   ihr  das 

179)  Nur  einmal  (1032  ff.?)  wird  passend  eine  historische  Erinnerung  benutzt. 

180)  Anders  verfuhr  Sophokles  in  seinem  König  Oedipus,  und  er  war  dabei 
vollkommen  in  seinem  Rechte. 

151)  HerakHden  593.  Verwandten  Anschauungen  begegnen  wir  im  Hippo- 
lytus.  Man  erkennt  hier,  wie  das  Unglück  der  Zeit  nicht  zur  Vertiefung  des 
sittlichen  Bewufstseins,  sondern  zur  Verzweiflung  führte. 

152)  Die  Korkyräer  tödten  die  Kriegsgefangenen  mit  Ausnahme  der  Ko- 
rinther (Thukjd.  I  30);  die  Mordlust  der  Korinther  bei  der  Verfolgung  der  Fliehen- 
den schlägt  zu  ihrem  eigenen  Schaden  aus  (I  hO);  die  Platäer  erschlagen  die 
kriegsgefangenen  Thebaner  (11  5);  die  Athener  lassen  die  spartanischen  Gesand- 
ten an  den  Perserkönig,  deren  sie  sich  hinteriistig  bemächtigt  hatten,  ohne 
Verhör  hinrichten  (II  67),  hauptsächlich  aus  Hafs  gegen  Aristeas,  der  an  der 
Spitze  der  Gesandtschaft  stand.  Dieser  Vorfall  trug  sich  unmittelbar  vor  der 
Aufführang  der  llerakliden  zu. 

1S.3)  Das  Drama  zählt  nur  10.55  Verse. 


526  DRITTE    PERIODE   VON    500    BIS    300   V.  CHR.  G. 

Unglück  zu  verheiniliclien.  Einen  so  augenfälligen  Vcrslofs  gegen  die 
dramatische  Composition  darf  man  selbst  einem  Dichter,  der  es  in 
solchen  Dingen  öfter  leicht  nimmt ,  nicht  zutrauen."")  Mehrfache 
Bedenken  erregt  auch  der  Schlufs  der  Tragödie,  der  schwerlich 
unversehrt  überiiefert  ist'"),  wenn  man  auch  zugeben  mag,  dafs 
die  Eile,  mit  welcher  der  Tragiker  seine  Arbeit  zu  Ende  führte, 
nachtheilig  einwirkte.  Ueberhaupt  zeigt  die  Sprache  dieser  Tragö- 
die etwas  Abgerissenes  und  ist  nicht  frei  von  Härten.  Man  darf 
dies  wohl  auf  den  Eiuflufs  der  aufgeregten  Zeit  zurückführen.  Die 
Bedrängnifs,  in  der  damals  Athen  durch  den  Krieg  und  die  unheil- 
volle Krankheit  versetzt  wurde,  war  für  ruhiges  dichterisches  Schaf- 
fen nicht  gerade  günstig, 
iiippoiyius.  Ol.  87,  4  begegnen  wir  dem  Euripides  im  tragischen  Agon  zu- 

gleich mit  lophou  und  Ion,  und  das  Glück  war  ihm  hold;  denn  er 
trug   über  beide  Mitbewerber  den  Sieg  davon.**®)    Auch  ward  der 


184)  Ausgefallen  ist  der  Bericht  über  das  Lebensende  der  Makaria ;  daran 
schlofs  sich  wohl  die  Klage  der  Alkniene  und  ein  Chorlied  an.  Aufserdem  mag 
Demophon  dem  Andenken  der  Jungfrau  besondere  Ehren  zuerkannt  haben,  wie 
Euripides  gern  an  bestehende  Institutionen  (hier  das  Ouellenfest  an  der  Maka- 
ria) anknüpft.  Auch  die  Inhaltsangabe  des  Dramas  und  einzelne  Citate  bei  den 
Alten ,  die  in  unserem  Texte  nicht  nachweisbar  sind ,  deuten  auf  eine  gröfsere 
Lücke  hin. 

1 S5)  lolaus  hat  den  kriegsgefangenen  Euryslheus  am  Leben  gelassen,  da- 
mit Alkmene  an  dem  Anblicke  des  besiegten  Gegners  sich  weide  (8S3.  940) ; 
dann  aber  macht  der  Bote  geltend,  die  Herrscher  Athens  duldeten  nicht,  dafs 
der  Gefangene  getödtet  werde  (961) ;  Eurystheus  selbst  beruft  sich  darauf  und 
auf  die  herkömmliche  Sitte  (1010).  Hier  verniifsl  man  in  der  Darstellung  den 
rechten  Zusammenhang.  Seltsam  ist  auch  die  Weise,  wie  Alkmene  sich  zu 
helfen  sucht  (1020  IT.).  Eurystheus,  der  zu  sterben  bereit  ist,  enthüllt  das 
Orakel;  aber  alles  wird  in  einer  Kürze,  die  kaum  verständlich  ist,  mitgetheilt. 
Offenbar  hatte  ihn  das  Orakel  vor  diesem  letzten  Zuge  gewarnt,  und  er  be- 
reut ihm  nicht  gefolgt  zu  sein.  t)ffenbar  verderbt  sind  1032  und  1041;  nicht 
der  Alkmene,  seiner  erbittertsten  Feindin,  sondern  nur  dem  Chore  (der  freilich 
nur  passive  Assistenz  leistet)  kann  Eurystheus  sein  Gehcimnirs  miltheilen,  noch 
weniger  braucht  er  sich  die  Todlenspende  von  der  .Mkmcne  zu  erbitten. 
1042 — 1044  stehen  aufser  allem  Zusammenhang;  hier  ist  wohl  eine  Lücke  an- 
zunehmen, während  in  den  letzten  Worten  der  Alkmene  104r> — 1052  zwei 
verschiedene  Fassungen  verschmolzen  scheinen ;  aber  wie  es  sich  auch  damit 
verhalten  mag,  10.00  steht  in  einem  offenbaren  Widerspruche  mit  1024. 

186)  Argument  zum  Hippolylus:  'ESiSäxO-ti  ini  ^Enautifavot  ä^xovxot 
oXvftniaSi  7t^',  trei  S'.    TtQÜxos  Evf^niSrjs,  8$vxeQoi'hfwv,  XQiroi'Ioty.    Ob 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIEBLÜTHEZEIT.  III.ELRIP.    527 

Hippolytus,  den  der  Dichter  damals  zur  Aufführuug  brachte, 
allgemein  als  eine  der  vorzüglichsten  Arbeiten  betrachtet.**')  Man 
pflegt  wohl  diese  Tragödie  der  Medea  an  die  Seite  zu  setzen.  Wie 
Euripides  dort  die  mafslose  Rachsucht  des  gekränkten  \Yeibes,  so 
hat  er  hier  die  verbrecherische  Liebe  der  Frau  in  ergreifender  Weise 
dargestellt :  doch  ist  Hippolytus  die  Hauptfigm",  erst  in  zweiter  Linie 
kommt  Phädra.  Auch  dieses  Drama  bietet  ein  Bild  unbezwinghcher, 
verzehrender  Leidenschaft,  aber  es  steht  der  Medea  entschieden  nach ; 
der  Hippolytus  leidet  an  augenfäUigen  Schwächen  und  bekundet  im 
Allgemeinen  keinen  Fortschritt. 

Die  Sage  von  der  Liebe  der  Phädra  zu  ihrem  Stiefsohne,  welche 
für  sie  selbst  wie  für  den  schuldlosen  Jüngling  verderbhch  ward, 
knüpft  sich  in  Athen  und  Trözen  an  alte  Götterdienste  an.'**)  Das 
tragische  Geschick  des  Hippolytus  mag  schon  früher  lyrische  Dichter 
angezogen  haben  "^);  der  alten  Tragödie  lag  dieser  Stoff  fern.  Eu- 
ripides hat  wohl  zuerst  diese  Sage,  welche  seiner  Art  vor  allem 
gemäfs  war,  dramatisch  bearbeitet.  Schmerzliche  Erfahrungen  im 
eigenen  Hause  mögen  den  ersten  Anstofs  zu  dieser  Dichtung  ge- 
geben haben,  wie  eine  alte  Ueberheferung  berichtet,  die  man  als 
unglaubwürdig  zu  verwerfen  pflegt.'^**)  Allein  bei  Euripides,  dessen 
Poesie  entschieden  subjektiv  ist  und  oft  geradezu  den  Charakter  der 
Selbstbekenntnisse  annimmt,  kann  man  sich  wohl  vorstellen,  wie 
er  das,  was  ihn  innerlich  quähe,  dichterisch  zu  gestalten  unter- 
nahm, um  sich  von  der  drückenden  Last  zu  befreien;  ob  ihm  der 
Versuch  gelang,  ist  eine  andere  Frage. 


lophon  mit  eigenen  oder  seines  Vaters  Tragödien  concurrirte,  steht  dahin.  Ueber 
die  anderen  mit  dem  Hippolytus  verbundenen  Dramen  ist  nichts  bekannt. 

187)  Argument:  ro  §i  S^äjua  rcüv  71qojt(ov.  Wie  beliebt  das  Stück  war, 
zeigen  zahlreiche  Parodien  in  der  Komödie. 

18S)  Die  Grundzüge  der  gemeinen  Ueberlieferung,  wie  sie  in  Attika  ver- 
breitet war,  giebt  wohl  Asklepiades  (Schol.  V.  Hom.  Odyss.  XI  321)  wieder;  Plu- 
tarch  im  Theseus  c.  2S  berührt  diese  Sage  nur  beiläufig. 

189)  Jungfrauenchöre,  die  das  Andenken  des  Hippolytus  feiern,  erwähnt 
Euripides  Hipp.  1428. 

190)  Der  Biograph,  indem  er  die  ehelichen  Zerwürfnisse  im  Hause  des 
Euripides  berührt,  fügt  hinzu:  vor;aavza  ti]v  axoXaaiav  «vrijs  (seiner  Frau) 
y(>ö^at  S^äfia  top  nQorsoov  [noätrov  Sgäfia  xov  Dindorf  Z.  95  f.]  'InnöXvxov, 
iv  (ö  rtiv  avaiaxwriav  i&^iäfißeve  räiv  ywatxäv.  Man  darf  darin  nicht  ledig- 
lich Erdichtungen  der  Komödie  finden. 


528  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Der  Hippolytus,  den  Euripides  Ol.  87,  4  sclirieb,  war  die  Um- 
arbeitung einer  älteren  Tragödie,  welche  offenbar  vielfachen  Anslofs 
erregt  hatte.'*')  Daher  entschlofs  sich  der  Dichter  eine  durchgrei- 
fende Umgestaltung  seiner  früheren  Arbeit  vorzunehmen.  Auch 
Sophokles  hat  eine  Phädra  gedichtet;  eben  weil  der  Versuch  des 
Euripides  mifsfallen  halte,  mochte  es  ihn  reizen  das  Thema  in 
seiner  Weise  zu  behandeln'*^),  und  dadurch  mufste  Euripides  um 
so  mehr  bestimmt  werden  sein  Drama  umzuschreiben. 

Schon  die  äufsere  Umgebung  der  Handlung  war  in  beiden 
Stücken  verschieden.  Im  ersten  Hippolytus  ist  Athen  der  Schauplatz; 
Theseus  hat  seine  Hadesfahrt  unternommen  und  gilt  für  todt.  Die 
jugendhche  Gattin  fühlt  sich  vereinsamt,  und  als  Hippolytus  nach 
Athen  kommt,  wahrscheinlich  um  in  die  eleusinischen  Mysterien 
eingeweiht  zu  werden '^^},  fafst  sie  eine  heftige  Neigung  zu  dem 
Stiefsohne."*)     In   der  zweiten   Bearbeitung   wird   die   Scene   nach 


191)  Die  neue  Bearbeitung  erhielt  den  Zunamen  ^Tefavr,f6Qoi  (nach  dem 
Argument  auch  ürsfavias),  weil  der  Held  im  Eingange  des  Stückes  (73)  der 
Artemis  einen  Kranz  darbringt,  oder  auch  Ssvxsqos,  wird  aber  zuweilen  auch 
unter  dem  Namen  4>aCSQa  angeführt.  Die  erste  Bearbeitung  ward  nur  zum 
Unterschied  n^öreQos  oder  yakvnro/isvoe  (wohl  richtiger  iyxaXvnröfuroi)  ge- 
nannt, weil  Hippolytus  aus  Scham  sich  das  Haupt  verhüllte,  als  Phädra  ihm 
ihre  Liebe  gestand  (Pollux  IX  50,  Schol.  Theokr.  H  10).  Wenn  es  im  Argument 
heifst:  ififaiverai  Se  vare^os  ysy^aju/ievos.  rb  yaQ  anqenei  xal  xazr;yooiai 
a^wv  iv  rovTco  SmQ&aixai,  tm  S^otfiari,  so  schliefst  es  dies  nur  aus  inneren 
Gründen,  aber  die  Thatsache  mufste  sich  auch  chronologisch  feststellen  lassen ; 
denn  selbstverständlich  war  auch  der  erste  Hippolytus  in  Athen  aufgeführt  wor- 
den. Der  zweite  Hippolytus  war  nicht  etwa  eine  theilweise  Revision  des 
früheren,  sondern  ein  wesentlich  neues  Stück;  daher  erhielt  sich  auch  das 
ältere  Stück  neben  der  Neugestaltung  und  wird  häufig  citirt. 

192)  Der  Phädra  des  Sophokles  diese  Stelle  anzuweisen  ist  man  wohl 
berechtigt:  Sophokles  kennt  offenbar  den  ersten  Hippolytus  des  Euripides,  aber 
nicht  den  zweiten.  Sophokles  wird  seine  Phädra  kurz  vor  Ol.  87, 4  gedichtet  haben. 

193)  Wenigstens  war  dieses  Motiv  ganz  passend,  vgl.  Hippolyt.  20. 

194)  Sowohl  bei  Sophokles  als  bei  Seneca  (der  die  beiden  Tragödien  des 
Euripides  und  die  Sophokleische  Phädra  kannte)  ist  der  Schauplatz  der  Hand- 
lung ebenfalls  in  Athen.  Auch  bei  Sophokles  war  die  Abwesenheit  des  The- 
seus mit  der  Hadesfahrt  motivirt  (s.  die  Verse  fr.  (103.  (304  Di.  bei  Stob.  Ed.  Phys. 
I  5,  13);  Phädra,  von  dem  Gatten  verlassen,  mufste  so  in  dem  verödeten  Hause 
für  leidenschaftliche  Eindrücke  um  so  empfänglicher  sein.  Es  ist  keine  Ver- 
besserung, wenn  Euripides  in  der  zweiten  Bearbeitung  die  Phädra  mit  Theseu» 
nach  Trözen  ziehen  läfst ;  aber  er  wollte  eln-n  dem  Publikum  ein  völlig  neues 
Stück  bieten. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  H.GRLPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  III.  EURIP.    529 

Trözen  verlegt.'^*)  Theseus  miifs  zur  Saline  des  Mordes  der  Pallan- 
liden  das  attische  Land  meiden  und  ist  mit  seiner  Gattin  zu  Pit- 
theus gezogen. 

Ebenso  war  der  Charakter  der  Phädra  in  beiden  Tragödien  ganz 
verschieden  aufgefafst.  In  dem  älteren  Stücke  trat  die  Gattin  des 
Theseus,  von  ihrer  Leidenschaft  hingerissen,  die  sie  nicht  bemeistern 
kann,  thätig  handelnd  auf;  sie  versucht  zunächst  die  Neigung  des 
Jünghngs  durch  Zauberkünste  zu  gewinnen  *'®),  dann  gesteht  sie 
ofl'en  ihre  heifse  Liebe,  die  Hippolytus  mit  Entrüstung  abweist.  Da 
kehrt  Theseus  unerwartet  aus  dem  Todtenreiche  zurück.  Phädra, 
wohl  um  der  Entdeckung  zuvorzukommen,  verleumdet  den  Schuld- 
losen, als  habe  er  ihr  verbrecherische  Anträge  gemacht.  Der  Sohn 
vertheidigt  sich  dem  Vater  gegenüber  mit  rednerischer  Gewandtheit, 
aber  ohne  Erfolg."^)  Der  verhängnifsvolle  Fluch  des  Theseus  geht 
alsbald  in  Erfüllung,  und  nach  dem  traurigen  Ende  des  Hippolytus 
tödtet  sich  Phädra,  von  Reue  und  Verzeiflung  ergriffen,  mit  eige- 
ner Hand. 

Der  Hauptfehler  des  Dramas  ist,  dafs  die  Menschen  als  willen- 
lose Werkzeuge  der  Götter  erscheinen  und  daher  für  ihre  Thaten 
gar  nicht  verantwortlich  sind.  Das  Einwirken  der  Gotter  wird  hier 
nicht  wie  anderwärts  als  bequemes  Hülfsmittel  angewandt,  um  den 
Knoten  zu  lösen ,  sondern  die  ganze  dramatische  Verwicklung  ist 
dadurch  bedingt,  Hippolytus,  der  in  Wald  und  Feld  dem  Waid- 
werke nachgeht,  ist  mit  inniger  Verehrung  der  jungfräulichen  Göt- 
tin Artemis  zugethan.  Der  JüngHng,  dessen  Gemüth  von  der  Leiden- 
schaft der  Liebe  noch  unberührt  war,  wendet  sich  von  der  Aphro- 
dite ab;  die  Göttin,  über  diese  Vernachlässigung  erzürnt,  sinnt  auf 
Rache  und  facht  die  stille  Neigung  der  Phädra  zu  ihrem  Stiefsohne 
zu  verzehrender  Gluth  an,  welche  ihr  selbst  wie  dem  Jünglinge  den 
Untergang  bringt.     So  fallen  Hippolytus  und  Phädra  eigentlich  als 


195)  Dies  ist  jedoch  nicht  freie  Erfindung  des  Tragikers,  sondern  er  schliefst 
sich  der  trözenischen  Sage  (Pausan.  II  32)  an. 

196)  Schol.  Theoer.  U  10.  Dieses  Motiv  war  zur  Exposition  wohl  geeignet 

197)  Ebenso  bei  Sophokles;  auch  bei  ihm,  wie  bei  Euripides  bricht  The- 
seus in  unwillige  Klagen  über  den  Schaden  aus,  den  die  Gewalt  der  Redekunst 
stiftet,  aber  die  Dichter  haben  gewissermafsen  ihre  Rollen  ausgetauscht,  indem 
bei  Sophokles  die  Beziehung  auf  den  Einflufs  der  attischen  Demagogen  durch- 
blickU 

Bergk,  Griecb.  Literaturgeschichte  III.  34 


530  DRITTE    TERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

schuldlose  Opfer  der  Rachsucht  der  Aphrodite.  Die  Göttin  setzt  im 
Prolog  der  Tragödie  alles  aus  einander  und  verkitndet  den  Verlauf  der 
bevorstehenden  Kat.nstrophe,  während  der  Epilog  der  Artemis  zufällt 
Nachdem  das  Unglück  hereingebrochen  ist,  offenbart  sie  dem  Theseus 
die  Unschuld  des  Sohnes,  verhelfst  dem  sterbenden  Hippolytus  die 
Ehre  des  Heroencultus  und  entschuldigt  ihr  Unterlassen  rechtzeitigen 
Einschreitens  für  die  Rettung  des  treuen  Verehrers  damit,  dafs  alte 
Satzung  den  Göttern  verbiete  einander  feindlich  entgegenzutreten. •'*) 
Die  volksmäfsige  Sage  mag  den  Untergang  des  Hippolytus  mit  dem 
Hafs  der  Aphrodite  motivirt  haben.  Das  griechische  Epos  macht 
ausgedehnten  Gebrauch  von  diesem  Mechanismus,  der  auch  der  naiven 
Weise  der  alten  Tragödie  nicht  fremd  war.  Aber  das  jüngere  Drama, 
welches  den  Hauptnachdruck  auf  den  psychologischen  Procefs  legt 
und  das  Schicksal  aus  dem  Charakter  entwickelt,  kann  dieses  Spiel 
von  aufsen  einwirkender  Kräfte  füghch  entbehren.  Bei  Euripides 
erscheint  dieser  mythologische  Apparat  als  eine  entschieden  störende 
Zugabe.  Der  rationalistische  Dichter,  der  nicht  an  die  Götter  des 
Volkes  glaubt,  bringt  mehr  aus  Hohn  als  aus  Bequemlichkeit  oder 
Angewöhnung  an  das  Herkommen  den  Gegensatz  zwischen  Aphro- 
dite und  Artemis  an;  denn  diese  Götterfiguren  bilden  nur  den  äufse- 
ren  Rahmen  der  Handlung,  welche  auch  ohne  solches  Beiwerk  voll- 
kommen verständlich  ist.'^) 
Die  Schutz-         DJe  Schutz  flehen  den*)  sind  ein  patriotisches  Gelegenheits- 

Oehenden. 

198)  Hier  bricht  der  verhaltene  Groll,  den  der  Tragiker  gegen  Zeus  hegt, 
den  er  gleichsam  als  seinen  persönlichen  Feind  zu  betrachten  scheint,  zum 
ersten  Male  hervor,  indem  Artemis,  sich  auf  die  alte  Göttersatzung  berufend, 
1331  geringschätzig  hinzufügt:  ijiel  ony'  i'a&t,  Zrjva  fttj  foßovfiiiT]  ovx  nv 
ttot'  Tj?.&ov  eis  rSS'  ntayvvrjS  iytö,  loar^  nvS^a  Ttavrcor  ^ii.raTOv  ß^oräiv 
ifioi  d'nveiv  iäaai.  Die  späteren  Tragödien  bieten  zahlreiche  Belege  dieser 
feindseligen  Gesinnung  dar. 

199)  Euripides  hat  Mohl  auch  in  der  ersten  Bearbeitung  den  Untergang 
des  Hippolytus  und  der  Phädra  ähnlich  motivirt,  aber  den  todten  Meclianismus 
hat  er  gewifs  nicht  zweimal  angewandt;  dieser  MifsgrifT  wird  der  zweiten  Aus- 
gabe eigenthümlich  angehören.  Ebenso  wenig  wird  Sophokles  von  den  abge- 
zogenen allegorischen  Gestalten  Gebrauch  gemacht  haben,  sondern  er  schilderte 
mit  grofsarligen  Zügen  die  Leidenschaft,  die  wie  mit  unwiderstehlicher  Natur- 
gewalt den  Menschen  ergreift,  und  das  dunkele  Vcrhängnifs,  dem  keiner  zu 
entrinnen  vermag. 

*)  (Eigentlich  mfifste  nach  Bergks  späterer  chronologischer  Anordnung 
hier  Andromache  folgen,  s.  unten  S.  541  *).] 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  RLÜTHEZEIT.  IIl.ELRIP.    531 

drama,  so  gut  wie  die  Herakliden.  Mit  Recht  nennen  die  Alten 
diese  Tragödie  einen  Panegyrikus  auf  Atheo^'*);  denn  Euripides 
knüpft  an  eine  Erinnerung  aus  der  sagenhaften  Vorzeit  des  attischen 
Landes  an,  welche  von  den  Rednern,  wenn  sie  das  Lob  Athens 
feiern,  fleifsig  benutzt  wurde.  Die  Athener  waren  stolz  darauf,  dafs 
Theseus  sich  des  Adrastus  und  der  besiegten  Argiver  willfährig  an- 
nahm, die  Herausgabe  der  Leichen,  welche  die  Thebauer  versagten, 
erwirkte  und  so  das  Princip  der  Humanität  zur  Geltung  brachte,  zu 
dessen  Vertretung  das  attische  Volk  sich  vorzugsweise  berufen  fühlte. 
Schon  Aeschylus  hatte  in  seinen  Eleusiniern  diese  vaterländische 
Ueberheferung  bearbeitet;  Euripides  versucht  sich  bei  passender  Ge- 
legenheit in  einer  Nachbildung. 

Die  Heerfahrt  der  Sieben  gegen  Theben  endete  mit  einer  Nieder- 
lage vor  den  Thoren  der  Stadt.  Die  Sieger  verweigern  die  Todten 
zur  Restattung  auszuliefern ;  daher  nehmen  Adrastus  und  die  Mütter 
der  gefallenen  Helden  als  Schutzflehende  Athens  Vermittelung  in 
Anspruch.  Aethra,  die  greise  Mutter  des  Theseus,  nimmt  an  dem 
Schicksale  der  Hülfesuchenden,  die  sich  im  Heihgthume  von  Eleusis 
niedergelassen  haben  ^'),  warmen  Antheil  und  schickt  nach  ihrem 
Sohne.  Theseus,  obwohl  anfangs  abgeneigt,  die  Ritte  zu  gewähren, 
giebt  zuletzt  den  dringenden  Vorstellungen  nach,  bestimmt  die  Volks- 
gemeinde zu  thatkräftiger  Unterstützung  und  ist  im  Regriff,  einen 
Roten  an  Kreon  abzusenden.  Aber  ein  Herold  der  Thebaner  kommt 
ihm  zuvor  mit  der  überniüthigen  Forderung,  den  Adrastus  und  die 
Argiver  noch  vor  Sonnenuntergang  aus  dem  attischen  Gebiete  zu 
weisen.  Dadurch  ist  jede  Vermittelung  abgeschnitten,  Theseus  kün- 
digt den  Thebanern  sofort  den  Krieg  an,  zu  dem  sein  Volk  schon 
gerüstet  war,  und  die  Entscheidung  läfst  nicht  lange  auf  sich  war- 
ten. Ein  Rote  meldet  den  Sieg  der  Athener;  Theseus  kehrt  mit  den 
Leichen  der  argivischen  Heerführer  zurück,  um  ihnen  bei  Eleusis 
die  letzte  Ruhestätte  zu  gewähren.  Die  übrigen  Todten  sind  zu 
Eleutherä  beerdigt,=^) 

200)  Argument :  zo  Si  Sgäfta  iyxtöfnov  'A&rjvöJv. 

201)  Wie  Aeschylus  in  den  ^EXetxrivioi ,  so  verlegt  auch  Euripides  die 
Handlung  nach  Eleusis,  weil  dort  die  Gräber  der  argivischen  Helden  gezeigt 
wurden,  und  wahrt  so  die  Einheit  des  Ortes,  Die  genauere  Sage  (ApoUodor 
ni  7, 1,2)  liefs  den  Adrastus  am  Altare  des  Mitleides  zu  Athen  Schutz  suchen. 

202)  Vgl.  Plularch  Thes.  c.  29,  der  sich  auf  Philochorus  und  die  herrschende 
Ueberlieferung  beruft,  wie  sie  in  Attika  sich  ausgebildet  hatte;  denn  die  the- 

34* 


532  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

Der  Kampf  der  Athener  und  Thebaner  ist  unzweifelhaft  eigene 
Erfindung  des  Euripides.'"')  Die  alte  Ueberlieferung  Uefs  den  Adra- 
slus  durch  Vermittelung  des  Theseus  die  Auslieferung  der  Leichen 
erwirken,  und  so  hatte  auch  Aeschylus  gedichtet.  Euripides,  der 
seinem  Vorgänger  gar  nicht  folgen  mochte,  zieht  es  vor,  die  humane 
Sitte  des  hellenischen  Völkerrechts  gegen  die  rohere  Satzung  der 
alten  Zeit  durch  einen  Kriegszug  zur  Anerkennung  zu  bringen.  Diese 
Lösung  war  für  einen  dramatischen  Dichter,  dem  die  gestörte  Ein- 
heit der  Zeit  kein  Bedenken  verursachte,  überaus  bequem,  und  der 
leichte  Sieg  der  Athener  über  die  verhafste  Nachbarstadt  mufste  dem 
Selbstgefühl  seiner  Zuhörer  schmeicheln.  Aufserdem  werden  so  nicht 
unpassend  die  langathraigen  Reden  der  beiden  Parteien  wenigstens 
durch  die  Schilderung  einer  wirkHchen  Handlung  unterbrochen.  Allein 
der  Dichter  fühlte,  dafs  die  Bestattung  der  Todten,  die  nun  folgen 
mufste,  nicht  recht  genügte,  um  dem  Drama  einen  befriedigenden 
Abschlufs  zu  geben.  Er  flicht  daher  eine  Episode  ein.  Euadne,  die 
Gattin  des  Kapaneus,  dessen  Leichnam  der  Sitte  gemäfs,  weil  er 
vom  Blitz  erschlagen  war,  abgesondert  von  den  übrigen  beigesetzt 
werden  mufs,  erscheint  plötzhch  auf  einem  steilen  Felsen,  erklärt, 
sie  sei  entschlossen  den  Gemahl  nicht  zu  überleben,  springt  in  den 
Scheiterhaufen  und  findet  in  den  Flammen  den  Tod.  Dieses  Beispiel 
hingebender,  schwärmerisclier  Liebe  hat  Euripides  sicher  der  volks- 
mäfsigen  Ueberlieferung  entnommen*");  aber  es  entsprach  ganz  der 
Vorliebe  des  Dichters  für  duldende  Heldinnen ,  die  sich  selbst  auf- 
opfern und  durch  ihren  freiwilligen  Untergang  Rührung  und  Mit- 
leid erwecken.  Indem  diese  Scene  mit  allen  Mitteln  der  Kunst 
ausgestattet  ist,  konnte  sie  nicht  verfehlen,  die  beabsichtigte  Wirkung 
zu  üben. 


banische  Localsage  kennt  die  Vermittelung  des  Tlieseus  ebenso  wenig  wie  den 
Krieg  mit  Athen,  sondern  läTst  die  Todten  freiwillig  ausliefern,  s.  Pausaoias 
I  39,  2;  Apollodor  III  7,  1,  2  folgt  der  Darstellung  des  Euripides. 

203)  So  die  attische  Ueberlieferung,  der  sowohl  Aeschylus  als  auch  Kiiri- 
pides  folgen.  Plutarch  freilich  Thes.  c.  29  scheint  einen  Widerspruch  in  diesem 
Punkte  zu  bezeugen;  es  ist  aber  zu  schreiben:  avfifiaorvQolat  8i  rat«  Ei'ot- 
niSov  'Ixeriaiv  xal  oi  Aiax^hn  ^Ekevaivioi  statt  xaxafAaQTti^ovat  8s  tiZv  Ei^ 
^tniSov   IxeriSojv. 

20i)  Dafs  die  Sage  allgemein  bekannt  war,  deutet  Euripides  1015  an: 
vielleicht  war  die  That  der  Euadne  ebenso  wie  der  Opferlod  der  Alkestis  von 
lyrischen  Dichtern  mehrfach  gefeiert  worden. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRIPPE.  DIE  BLITHEZEIT.  III.EIRIP.    533 

Nach  dieser  Parekbase  lenkt  die  Tragödie  wieder  in  die  ge- 
wohnte Bahn  ein.  Die  jungen  Söhne  der  gefallenen  Helden  bringen 
die  Aschenkriige  herbei  und  sprechen  den  Entschlufs  aus,  ihre  un- 
glücklichen Väter  einst  an  den  Thebanern  zu  rächen;  dazwischen 
ertönen  die  Klageheder  der  Grofsmutter,  weiche  mit  ihren  Diene- 
rinnen den  Chor  bildet.  Theseus  ermahnt  die  Argiver,  sie  möchten 
nie  vergessen,  wie  viel  sie  Athen  schuldeten.  Um  dieser  Mahnung 
den  nöthigen  Nachdruck  zu  geben,  erscheint  zum  Schlufs  Athene. 
Sie  begnügt  sich  nicht  den  Knaben  zuzurufen ,  ihr  Vorsatz  werde 
in  Erfüllung  gehen,  sie  würden  einst  mit  glückhcherem  Erfolge  als 
die  Väter  die  Heerfahrt  gegen  Theben  erneuern  und  ihr  Ruhm 
werde  im  Liede  fortleben,  sondern  die  Göttin  fordert  auch  den  The- 
seus und  Adrastus  auf  ein  Schutz-  und  Trutzbündnifs  zwischen  ihren 
Staaten  für  alle  Zeiten  abzuschhefsen.  Poütische  Beziehungen  ziehen 
sich  durch  das  ganze  Stück  hindurch,  aber  hier  werden  wir  un- 
mittelbar auf  den  Boden  der  Wirkhchkeit  versetzt.  Nicht  das  Inter- 
esse an  der  Fabel  der  Tragödie  hat  den  Dichter  bestimmt,  diesen 
Stoff  von  neuem  zu  bearbeiten ,  sondern  die  mythische  Tradition 
wird  ledighch  einem  praktischen  Zwecke  dienstbar,  und  zwar  ist 
die  ferne  Vergangenheit  nicht  wie  in  den  Herakliden  .symbohsch 
als  Bild  der  Gegenwart  aufzufassen,  sondern  es  wird  uns  recht  eigent- 
lich eine  Staatsaktion  unter  durchsichtiger  Hülle  vorgeführt.  Die 
Muse  des  Dichters  ist  vollständig  im  Interesse  der  Pohtik  des  Tages 
thätig.*») 

Dem  Ol.  89,  3  zwischen  Athen  und  Sparta  abgeschlossenen 
Frieden  trat  Böotien  nicht  bei.  Weder  die  Grenzveste  Panakton**), 
noch  die  attischen  Kriegsgefangenen  wurden  herausgegeben ;  dagegen 
schlössen  die  Böoter  und  Spartaner  ein  Bündnifs,  was  in  offenbarem 
Widerspruche  mit  dem  Friedensvertrage  stand.  Dafs  in  dieser  Zeit 
zu  Athen  eine  gereizte  Stimmung  gegen  Theben  herrschte,  ist  be- 
greiflich.'*")   Politische  Intriguen  waren  damals  nach  allen  Richtungen 


205)  Verfehlt  ist  die  Vermuthung,  welche  die  Schutzflehenden  in  das 
Todesjahr  des  Perikles  Ol.  87,  4  (dann  wären  sie  mit  dem  Hippolytus  zusam- 
men aufgeführt  worden)  oder  in  Ol.  88,  1  verlegt. 

206)  Wie  die  Böoter  zuletzt  Panakton  schleiften,  berichtet  Thukydides 
V39. 

207)  Vgl.  Thukyd.  V  42.  Bei  Euripides  tritt  diese  Gereiztheit  überall  her- 
vor, wo  sich  Gelegenheit  darbot,  vgl.  311  und  744. 


534  DRITTE    PERIODE    VON    500   BIS  300  V.  CHR.  G. 

hin  thätig.  So  knüpften  auch  die  Athener  in  den  letzten  Monaten 
von  Ol.  89,  4  auf  Betrieh  des  Alkihiades  mit  den  Argivern  und  ihren 
Bundesgenossen  Verhindungen  an ,  um  so  auf  der  Halbinsel  festen 
Fufs  gegen,  Sparta  zu  gewinnen.  Die  Verhandlungen  begannen  im 
Frühjahr,  zogen  sich  aber,  da  Nikias  und  seine  gleichgesinnten 
Freunde  den  Plänen  des  Alkihiades  entgegenwirkten,  längere  Zeit 
hin;  doch  kam  das  Bündnifs  zwischen  Argos  und  Athen  noch  vor 
Ablauf  von  Ol.  89  zu  Staude.^*)  Während  diese  Verhandlungen 
schwebten,  mufs  Euripides  den  Plan  entworfen  und  die  Tragödie 
rasch  niedergeschrieben  haben.  Die  Schutzflehendeu  sind  also  an 
den  grofsen  Dionysien  Ol.  89,  4  aufgeführt.  Gerade  in  diesem  Mo- 
mente, wo  die  Entscheidung  noch  schwankte,  wo  Alkihiades  und 
seine  Parteigenossen  einen  hervorragenden  Antheil  an  der  Leitung 
der  auswärtigen  Angelegenheiten  erlangten  und  man  grofse  Hoff- 
nungen auf  den  Sonderbund  der  Peloponnesier  setzte,  war  die  Dich- 
tung zeitgemäfs  und  ganz  geeignet,  auf  die  üffentHche  Meinung  einen 
bestimmenden  Einflufs  auszuüben.^*^) 

Für  ein  politisches  Gelegenheitsstück  eignete  sich  der  Slofl'  vor- 
trefflich. Athen,  indem  es  treu  seiner  Aufgabe,  alle  Bedrängten  zu 
beschützen,  sich  der  besiegten  Argiver  annimmt,  erwirbt  sich  be- 
gründete Ansprüche  auf  Dankbarkeit.  Die  Waffenbrüderschaft,  welche 
man  damals  zu  erneuern  im  Begriff  war  ^"*),  hat  ein  schickliches  Vor- 


208)  Thukyd.  V  47. 

209)  Nachdem  das  Bündnifs  geschlossen  war,  mutste  naturgemäfs  eine 
nüchterne  Auffassung  der  Verhältnisse  Platz  greifen.  Daher  ist  an  eine  Auf- 
führung im  Anfange  von  Ol.  "JO  nicht  zu  denken,  ebenso  wenig  an  das  Ende 
dieser  Olympiade;  denn  nach  der  schweren  Niederlage,  welche  die  Argiver 
bei  Mantinea  01.90,3  erlitten,  schlössen  sie  mit  Sparta  Frieden.  Dies  führte 
zu  einer  Verfassungsänderung.  Das  oligarchischc  Kegimcnt  war  jedoch  von 
kurzer  Dauer;  es  wurde  nach  acht  Monaten  wieder  aufgelöst,  und  alsbald  hatte 
auch  die  Freundschaft  mit  Sparta  ein  Ende.  Die  Schutzflelienden  sind  wäh- 
rend der  Verhandlungen  aufgeführt ;  die  Gesandten  der  Argiver,  Eleer  und  Man- 
tineer  mögen  der  Aufführung  beigewohnt  haben.  Euripides  greift  der  Wirk- 
lichkeit vor,  wenn  er  den  Abschlufs  des  Bündnisses  erwähnt ;  dafs  der  Vertrag 
bei  F^uripides  (1191  ff.)  in  der  Hauptsache  mit  der  Urkunde  bei  Thukyd.  V  47 
stimmt,  hat  nichts  Auffallendes.  Die  Weihung  eines  Dreifufses  in  Delphi  (1 197  ff.) 
ist  freie  Dichtung  des  Euripides;  die  Urkunde  verlangt  die  Errichtung  einer 
OTi'/fj}  in  Olymjiia.  Dagegen  die  Vergrabung  des  Opfermehles  (12U5)  wird  auf 
aller  Volkssage  beruhen. 

21ü)  Schon  in   früherer  Zeil  hallen  sich  die  Athener  mtl  Argos  verbOn- 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  U.  GRUPPE.  DIE  BLÜTÜEZEIT.  III.EURIP.    535 

bild  an  dem  Bunde,  den  der  Dichter  durch  Theseus  und  Adraslus 
auf  Geheifs  der  Schutzgötlin  des  attischen  Landes  beschworen  läfst. 
Indem  Theseus  die  Argiver  gegen  Theben  unterstützt,  macht  sich 
die  damalige  Mifsstimmung  der  Athener  gegen  die  Böoter  Luft.  Noch 
Avar  in  Athen  das  Verfahren  der  Böoter,  welche  nach  der  Schlacht 
bei  Delion  Ol.  S8,  4  den  Athenern  die  Bestattung  ihrer  Todten  ver- 
weigerten^"), ini  frischen  Andenken;  so  mufste  auch  dieses  Motiv 
der  dramatischen  Handlung  besonders  wirksam  sein.  Sparta  wird 
nm*  einmal  genannt"'^),  indem  den  Lakoniern  Grausamkeit  und  Treu- 
losigkeit zum  Vorwurf  gemacht  wird,  Anschuldigungen,  welche  Euri- 
pides  bald  nachher  in  der  Andromache  nachdrücklich  wiederholt. 
Hier  hält  er  sich  von  weiteren  Ausfallen  fern,  wohl  nicht  deshalb, 
weil  die  mythische  Begebenheit  dazu  keinen  Anlafs  bot,  denn  solche 
Entsagung  pflegt  der  Dichter  nicht  gerade  zu  üben,  sondern  weil 
die  pohtische  Lage  eine  gewisse  Rücksicht  und  Schonung  empfahl."^) 
In  einer  Tendenzdichtung  kommen  die  poetischen  Elemente, 
welche  der  überlieferte  Stoff  bietet,  nicht  recht  zur  Gellung.  Ebenso 
wenig  wird  der  Charakter  der  Zeit  streng  gewahrt;  unwillkürhch 
bricht  ein  zwiespältiges  Wesen  durch.  So  tritt  Theseus  nicht  so- 
wohl als  Inhaber  fürstUcher  Gewalt,  sondern  als  Vorsteher  eines 
republikanischen  Gemeinwesens  auf.*")  Und  wenn  wiederholt  auf 
das  jugendliche  Aller  des  demokratischen  Königs  hingewiesen  wird, 
so  liegt  die  Vermulhung  nahe,  der  Dichter  habe  dabei  an  Alkibiades 
gedacht,  der  trotz  seiner  Jugend  bereits  eine  eiuflufsreiche  Stellung 
einnahm.*'^)  Nichts  kann  ungehöriger  sein  als  die  weit  ausgeführte 
Discussiüu  zwischen  Theseus  und  dem  thebanischen  Herold  über 
Tyrannenherrschaft  und  Freistaat*'*);  denn  solche  pohtische  Erörte- 


det  und  dadurch  ihrer  Mifsstimmung  gegen  Sparta  Ausdruck  gegeben.  Thukyd. 
I  102. 

211)  Tiiukyd.  IV  'J9.  lOl. 

212)  Euripides  Schutzfl.  187:  Sjiü^ttj  fiiv  (ufiij  xcu  nenoixiXxai  TQoiiovi. 

213)  Nikias  unterhandelt  noch  in  Sparta  unmittelbar  vor  dem  Abschlufs 
des  Bündnisses  mit  Argos,  Thukyd.  V  46. 

214)  Theseus  wird  351  und  404  geradezu  als  Begründer  der  attischen 
Demokratie  aufgefafst. 

215)  Thukyd.  V  43.  Sonst  freilich  erinnert  nichts  in  der  Charakteristik 
des  Theseus  an  Alkibiades;  der  Dichter  wollte  nur  zeigen,  auch  ein  jüngerer 
Mann  könne  verständig  die  Staatsgeschärte  führen. 

21ti)  Euripides  Schutzfl.  403  ff. 


536  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

rungen  liegen  dem  heroischen  Zeitalter  fern  und  waren  nicht  ein- 
mal durch  die  dramatische  Situation  gerechtfertigt.  Aufserdem  gal- 
ten die  Böoter  als  wortkarg;  man  wundert  sich  daher  eine  rein 
schulmäfsige  Auseinandersetzung  aus  dem  Munde  eines  Thebaners 
zu  vernehmen.  Der  Dichter  selbst  hat  das  Unschickliche  gefühlt""); 
wahrscheinlich  wird  hier  eine  lebende  Persönlichkeit  naturgetreu 
geschildert."*) 

Da  der  gegebene  Stoff  nicht  recht  ausreichend  erschien,  verweilt 
der  Dichter  länger  als  nöthig  bei  Nebendingen.  So  wird  der  Zug  der 
Sieben  und  der  Anlafs  der  Heerfahrt  sehr  ausführlich  geschildert*'-'); 
hierher  gehört  ferner  die  Charakterislik  der  gefallenen  Helden,  welche 
Adrastus  angesichts  der  Leichen  auf  Geheifs  des  attischen  Königs 
giebt."°)  Auch  hier  vermifst  man  vollständig  den  heroischen  Cha- 
rakter; alles  trägt  den  Ton  und  die  Färbung  der  Gegenwart  und 
erinnert  uns  an  einfache  bürgerliche  Verhältnisse."')  Euadnes  Tod 
hängt  mit  der  Haupthandlung  nur  lose  zusammen  und  wird  gar  nicht 
motivirt.  Nur  ein  tiefer  Schmerz,  das  Gefühl  vollständiger  Verein- 
samung und  Verzweiflung,  konnte  einen  solchen  Entschlufs  erzeugen. 
Aber  Euadne  wirft  das  Leben  eigenthch  aus  frauenhafter  Laune  und 
schlecht  verhüllter  Eitelkeit  weg;  denn  sie  denkt  nur  an  den  Ruhm 
der  Nachwelt,  der  einer  so  heroischen  That  nicht   fehlen  kann*"'^). 


217)  Schutzfl.  42Ü  IT.  462. 

218)  Unwillkürlich  wird  man  an  die  ausführlichen  staatsrechtlichen  Er- 
örterungen zwischen  böotischen  und  attischen  Herolden  bei  Delion  erinnert; 
wenn  Thukyd.  IV  97—100  diese  Verhandlungen  im  Detail  mittheilt,  so  giebl  er 
gewifs  ein  annähernd  treues  Bild  der  Wirklichkeit. 

219)  Schutzfl.  116  fr. 

220)  Schutzfl.  838  fl".  Der  Schol.  Oed.  Kol.  220  bemerkt,  es  sei  nicht  die 
Gewohnheit  des  Sophokles  arco&sv  ysvsnXoyotvTa  ivoxlelv  roTs  d'eeoftevoii  ■ 
alV  o  ye  EvQniiSr,e  roiovzoe'  iv  yovv  rnli  'Ixixiai.  tov  Orjaea  vnoTS&enat 
ttyvoovvra  rovs  tibqI  ilv  "ASquotov  k'vexn  tov  ftrjyvvai  ih  S^äfta. 

221)  Die  didaktische  Tendenz  ist  nicht  zu  verkennen:  diese  Schilderung 
der  gefallenen  Helden  soll  dem  heranwachsenden  Geschlcchle  geeignete  Vor- 
bilder vor  Augen  stellen.  Wenn  Thescus  eine  eingehende  Beschreibung  des 
Kampfes  ablehnt  (846  fl".),  so  darf  man  darin  keine  Polemik  gegen  die  Sieben 
des  Aeschylus  flnden,  sondern  der  Dichter  giebt  nur  seiner  subjektiven  Em- 
pfindung Ausdruck.  Der  Krieg  ist  ihm  fremd;  er  vermag  daher  auch  nicht  recht 
Kriegsscf'nen  zu  schildern,  während  Aeschylus,  der  an  den  Schlachten  der  Per- 
serkriege ehrenvollen  Anthcil  genommen  hatte,  hier  vollkommen  zu  Hausse  war. 

222)  Schutzfl.  1014.  1061. 


SIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  DLÜTHEZEIT.  III.  EURIP.    537 

ja,  sie  ist  sogar  darauf  bedacht,  ihre  persönhche  Erscheinung  in 
möghchst  günstigem  Lichte  darzustellen.  Nicht  in  unscheinbarem 
Trauerkleide,  sondern  in  prunkendem  Festgewande  stürzt  sie  sich 
in  die  Gluth  des  Scheiterhaufens.'^^)  Eine  solche  Figur  wird  auf 
der  Bühne  wirksam  sein,  aber  unser  Mitgefühl  vermag  sie  nicht  in 
Anspruch  zu  nehmen. 

Das  ganze  Drama  ist  mit  Reflexioneu  der  verschiedensten  Art, 
politischen,  morahschen  und  philosophischen,  gesättigt;  manchmal 
wird  geradezu  ein  bekannter  Gemeinplatz  in  echt  schulmäfsiger  Ma- 
nier erörtert."')  Gleichwohl  darf  man  dem  Dichter  die  Anerkennung 
nicht  versagen,  dafs  er  von  manchen  Unarten,  welche  seine  späte- 
ren Arbeiten  häufig  verunzieren  und  ungeniefsbar  machen ,  sich  fern 
hält.  Die  Anklagen  gegen  Frauen  sind  hier  verstummt;  man  be- 
gegnet sogar  Worten  aufrichtiger  Anerkennung."')  Nirgends  findet 
sich  eine  Spur  von  Polemik  gegen  Orakel,  von  Spott  und  Hohn  über 
religiöse  Dinge,  sondern  mit  unverkennbarer  Absichtlichkeit  leiht 
der  Dichter  namentlich  dem  Theseus  einen  frommen,  gläubigen 
Sinn.  Euripides  vermochte  recht  wohl  Gesinnungen,  die  er  nicht 
theilte,  nachzuempfinden.  Die  bittere  oder  leichtfertige  Weise,  mit 
der  er  sonst  den  Volksglauben  behandelt,  hatte  ihm  sicher  von  Seiten 
der  Gegner  wie  der  Freunde  manchen  herben  Tadel  zugezogen.  Um 
zu  zeigen,  dafs  er  der  Belehrung  nicht  unzugänghch  sei,  beobachtet 
Euripides  hier  eine  ganz  ungewohnte  Mäfsigung. 

Auch  die  Darstellung  empfiehlt  sich  durch  gewählten  poetischen 

223)  Schutzfl.  1054  ff. 

224)  Vgl.  196  ff.  Die  Worte  des  thebanischen  Herolds  466:  aoi  ftiv  So- 
xBiroi  Tavr',  ifioi  Si  rapTia  erinnern  an  einen  bekannten  Vers  des  Elegien- 
dichters Euenus  von  Faros  fr.  1,  4.  V.  913  wird  die  eiavS^ia  als  SiSaxros  dar- 
gestellt. Gar  sonderbar  nehmen  sich  die  Reflexionen  des  Iphis,  des  Vaters  der 
Eoadne,  aus  lOSOff. ;  die  Polemik  gegen  die  Mittel,  das  Leben  za  verlängern, 
bringt  einen  entschieden  modernen  Zug  herein.  Politische  Beziehungen  werden 
vielfach  eingeflochten;  bemerkenswerth  ist  besonders  231  ff.  der  Tadel  des  über- 
triebenen Kriegseifers  der  Jugend  (vgl.  auch  160)  und  die  conservative  Gesin- 
nung, die  sich  in  dem  Lobe  des  Mittelstandes  kundgiebt.  "Wiederholt  wird  der 
Segen  des  Friedens  gepriesen,  so  besonders  nachdrücklich  4S4  ff.  von  dem  the- 
banischen Herold,  aber  auch  von  Adrastus  "44  ff.  und  949  ff.,  und  auch  Theseus 
entschliefst  sich  nur  nothgedrungen  das  Glück  des  Krieges  zu  versuchen.  Noch 
mag  sich  manche  Anspielung  auf  Zeitverhältnisse  finden,  die  ans  nicht  recht 
verständlich  ist,  wie  320  ff. 

225)  Schutzfl.  294.  1101  ff. 


538  DRITTE    PERIODE   Vü>    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Ausdruck.'^®)  In  den  Chorgesängen,  welche  mit  der  Handlung  eng 
verflochten  sind,  herrscht  ein  eigenthünilich  zarter  und  inniger  Ton. 
Der  Chor  besteht  aus  den  Müttern  der  gefallenen  Helden,  also  aus 
greisen  Frauen  nebst  ihren  Dienerinnen."")  Auch  für  das  Auge 
war  durch  Schaugepränge  und  scenische  Ausstattung  genügend  ge- 
sorgt. In  allen  diesen  Beziehungen  nimmt  man  deulhch  den  Ein- 
flufs  des  Aeschylus  wahr.  Ein  erneutes  Studium  der  Werke  dieses 
Tragikers,  wozu  eben  die  Wahl  des  Stofl"es  den  Anlafs  gab,  übte 
sichtlich  eine  günstige  Wirkung  aus.^**)  Aber  Euripides  ist  kein 
Nachahmer,  der  seine  Vorgänger  ausschreibt,  sondern  die  Dichtungen 
des  Aeschylus  erfüllten  unwillkürlich  den  Euripides  mit  Hochachtung 
und  lehrten  diese  eigenthünilich  angelegte  Natur  Selbstbeherrschung 
zu  üben.  Deshalb  spricht  auch  aus  den  Scbulzflehenden  ein  ganz 
anderer  Geist  als  aus  der  Andromache,  obwohl  beide  Stücke  einan- 
der ganz  nahe  stehen  und  auch  im  Wesentlichen  die  gleiche  Tendenz 
verfolgen.  Jene  Selbstverleugnung  war  eben  nicht  nachhaltig.  In 
der  Andromache  kehrt  Euripides  zu  seiner  Art  zurück;  ja,  weil  er 
dort  durch  keine  Rücksichten  sich  gehemmt  fühlte,  läfst  er  sich 
vüUig  gehen. 

Die  Schutzflehenden  erfreuten  sich  gewifs  einer  günstigen  Auf- 
nahme; allein  dauernden  Erfolg  konnte  eine  Arbeil,  die  durch  das 
Bedürfnifs  des  Augenblicks  hervorgerufen  war,  nicht  beanspruchen. 
Nachdem  das  Drama  seinen  Dienst  geleistet  hatte,  wurde  es  bei  Seite 
gelegt,  daher  auch  die  Aristophanische  Komödie  nirgends  darauf  an- 
spielt.   Später  mag  man  die  Tragödie,  weil  sie  eine  \'erherilichung 

226)  In  den  Versen  des  Dialogs  kommen  Auflösungen  etwas  häufiger  vor 
als  in  der  Andromache,  167,  dort  nur  143;  daraus  folgt  aber  nicht,  dafs  die 
Schutzflehenden  später  als  die  Andromache  verfafst  sind  [s.  nachher  S.  543  A.; 
S.  549  und  Hermes  XVIII  4'.)6,  2]. 

227)  Fünf  Mütter  traten  auf,  jede  offenbar  von  iwei  Dienerinnen  beglei- 
tet, so  dafs  die  Normalzahl  des  Chores  (15)  auch  hiei  festgehalten  wurde. 
Mehrmals  theilt  sich  der  Chor.  Auch  der  Vortrag  einzelner  Choreuten  kam  vor; 
doch  bleibt  hier  vieles  unsicher.  Das  melische  Klement  wird  aufserdeni  ver- 
stärkt durch  den  Todesgesang  der  Euadnc  und  die  Lieder  der  Knaben  mit  den 
Aschenkrügen. 

228)  Aufser  den  Eleusiniern  boten  sich  besonders  die  Schntzflehenden  des 
Aeschylus  als  Vorbild  dar;  die  Digression  über  die  Erhebung  des  Menschen- 
geschlechtes aus  rohem,  halbthierischem  Zustande  (201  ff.)  erinnert  an  den  Pru- 
iiietheus.  Vor  allem  in  den  Chorlicdern  weht  uns  ein  Hauch  Aescliyleischer 
Poeüie  an. 


DIE  DRAM. POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLLTHEZEIT.  III.EIRIP.    539 

Athens  enthielt,  ^vieder  auf  die  Bühne  gebracht  haben;  daher  stofsen 
wir  auch  auf  manche  fremdartige  Zusätze,  wie  sie  die  Schauspieler 
bei  behebten  Stücken  einzuschalten  pflegten. 

Die  Andromache  schildert  die  schweren  Prüfungen,  welche Andromache 
später  Rektors  Gattin  trafen.  Bei  der  Vertheilung  der  Kriegsbeute 
war  sie  dem  Sohne  des  Achilles  zugefallen  und  ihm  nach  dem  thes- 
salischen  Phthia  gefolgt.  Neoptolemus  hatte  mit  der  Andromache 
einen  Sohn  Molottus  erzeugt,  dann  aber  Hermione,  des  Meuelaus 
und  der  Helena  Tochter,  als  Gattin  heimgeführt.  Da  diese  Ehe  kinder- 
los bheb,  richtet  sich  der  eifersüchtige  Groll  und  Hafs  der  Hermione 
gegen  die  unglUckhche  Andromache  und  ihren  Sohn.  Indem  Neopto- 
lemus das  delphische  Orakel  aufsucht  und  inzwischen  Menelaus  von 
Sparta  eintrifft,  ist  die  Verlassene  den  Bänken  ihrer  Feinde  völ- 
hg  preisgegeben.  Ein  leidenschaftlicher  Wortwechsel  zwischen  den 
beiden  Frauen  legt  den  unheilbaren  Zwiespalt  des  Hauses  dar  und 
beschleunigt  die  Katastrophe.  Andromache  hat  am  Altare  der  Thetis 
Schutz  gesucht,  während  ihr  Sohn,  den  sie  verborgen  hatte,  in  die 
Gewalt  der  Feinde  gerathen  ist.  Um  das  Kind  zu  retten,  entschliefst 
sich  die  Mutter  ihre  Freistätte  zu  verlassen.  Aber  der  treulose  Mene- 
laus ist  nicht  gesonnen,  sein  gegebenes  Wort  zu  halten ;  er  läfst  der 
Andromache  Fesseln  anlegen,  um  sie  zum  Tode  abzuführen.  An  dem 
Untergange  des  Knaben,  der  vergebens  das  Mitleid  des  Menelaus  zu 
wecken  versucht,  soll  Hermione  ihre  Rache  befriedigen.  In  dieser 
äufsersten  Bedränguifs  erscheint  der  greise  Peleus  als  Befreier.  Es 
entspinnt  sich  ein  lebhafter  Wortkampf  zwischen  Menelaus  und  Pe- 
leus, wobei  der  letztere  sehr  fernliegende  und  fremdartige  Anklagen 
erhebt,  bis  endlich  Menelaus  unter  einem  schickhcheu  Vorwande 
sich  entfernt.  Hermione,  von  ihrem  Vater  verlassen,  voll  Schmerz 
über  die  getäuschte  Hoffnung  auf  Befriedigung  ihrer  Rache  und  mit 
banger  Furcht  der  Rückkehr  des  Neoptolemus  entgegensehend,  ist  in 
voller  Verzweiflung.  Da  tritt  plötzlich  Orestes  auf,  der  früher  mit 
Hermione  verlobt  war,  führt  sie  aus  dem  Hause,  welches  ihr  ver- 
hafst  war,  mit  fort  und  ruft  ihr  tröstend  zu,  von  ihrem  Gatten  habe 
sie  nichts  zu  befürchten,  indem  er  andeutet,  dafs  er  selbst  einen 
heimhchen  Anschlag  gegen  Neoptolemus  vorhabe.  Kaum  ist  Peleus 
von  diesen  Vorgängen  unterrichtet,  so  erscheint  auch  ein  Bote  mit 
der  Trauerkunde,  dafs  Neoptolemus  in  Delphi  durch  Mörderhand  ge- 
fallen sei.     Die  Bahre  mit  dem  Leichnam  wird   auf  die  Bühne  ge- 


540  DRITTE    PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

bracht;  der  Todtenklage  des  unglücklichen  Grofsvaiers  macht  die 
Erscheinung  der  Thetis  ein  Ende,  die  zum  Tröste  nach  all  dem 
Jammer  verkündet,  der  Andromache  Geschlecht  sei  berufen,  im  Mo- 
losserlande die  Herrschaft  zu  führen,  Peleus  aber  solle,  mit  ihr  und 
seinem  Sohne  Achilles  vereint,  fortan  im  Kreise  der  Meergütter  Ruhe 
und  Frieden  finden. 

Diese  Fülle  tragischer  Situationen  vermochte  wohl  die  Erwar- 
tung des  gewühnhchen  Theaterpublikums  zu  befriedigen,  aber  von 
jener  läuternden  und  erhebenden  Wirkung,  welche  die  echte  Tra- 
gödie ausübt,  wird  man  hier  nichts  spüren.  Die  Gleichgühigkeit 
gegen  die  bewährten  Gesetze  der  dramatischen  Form,  welche  bei 
Euripides,  je  länger  er  für  die  Bühne  arbeitet,  immer  mehr  hervor- 
tritt, kann  selbst  einem  oberflächlichen  Beobachter  nicht  entgehen; 
denn  das  Drama  zerfällt  in  zwei  nur  sehr  lose  mit  einander  verbun- 
dene Theile.  Andromache  verschwindet  in  der  zweiten  Hälfte  der 
Tragödie  vollständig;  der  Dichter  sucht  uns  zu  entschädigen,  indem 
er  den  Tod  des  Neoptolemus  einflicht,  ein  Thema,  welches  schon  So- 
phokles in  einer  eigenen  Tragödie  behandelt  hatte.^-')  Euripides  Hebt 
es,  Motive  seiner  Vorgänger  in  gedrängter  Kürze  als  Beiwerk  wieder 
anzubringen.  Kann  schon  an  sich  diese  skizzenhafte  Behandlung 
keine  volle  dramatische  Wirkung  ausüben,  so  wird  aufserdem  durch 
die  Zwiespältigkeit  der  Handlung  das  Interesse  nach  verschiedenen 
Seiten  hingezogen  und  eine  unruhige  schwankende  Stimmung  er- 
zeugt, welche  für  den  tragischen  Dichter  nichts  weniger  als  günstig 
ist.  Die  Mängel  des  Stückes  sind  auch  den  alten  Kritikern  nicht 
entgangen;  vor  allem  nahm  man  an  der  Zeichnung  der  Gharaktere 
vielfachen  und  nicht  grundlosen  Anstofs."°) 


229)  Die  Hermione  des  Sophokles  ist  jedenfalls  früher  verfafst  als  die 
Andromache  des  Euripides.  Aufser  dieser  Tragödie  des  Sophokles  mag  Euri- 
pides auch  den  Logographen  Pherekydes  benutzt  haben,  während  er  manches 
nach  freier  Erfindung  ausgestaltete,  vgl.  Schol.  zu  1217.  Aber  auch  sonst  hat 
Euripides  in  diesem  Stücke  manches  willkürlich  geneuert.  So  wird  das  Ver- 
hällnifs  des  Hektor  und  der  Andromache  221  ganz  abweichend  von  Homers 
Schilderung  aufgofafst.  Die  alleren  Erklärer  fanden  darin  einen  historischen 
Verstofs;  ein  jüngerer  verthcidigt  den  Dichter  durch  Berufung  auf  die  'A^yo- 
lixa  des  Anaxikrates.  Ob  dieser  Zeuge  älter  war  als  Euripides,  ist  fraglich; 
immer  aber  trübt  dieser  Zug  das  reine  Bild  des  Homerischen  Helden. 

230)  Aristophanes  von  Byzanz  rechnete  dieses  Drama  zu  den  Stücken 
zweiter  Klasse,  d.  h.  zu  den  minder  gelungenen,   und    machte   bei  aller  Aner- 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  IJ.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  III.EDRIP.    541 

Das  Stück  ist  schon  darum  merkwürdig,  weil  es  nicht  in  Athen, 
sondern  auf  einer  auswärtigen  Bühne  zur  Aufführung  kam;  leider 
wird  der  Ort  nicht  genannt.  Allein  da  nach  glaubhafter  Ueberliefe- 
rung  Demokrates  oder  Timokrates  von  Argos,  der  dem  Tragiker  bei 
der  Composition  der  melischen  Partien  hülfreiche  Hand  zu  leisten 
pflegte,  die  Einübung  der  Tragödie  übernommen  halte '^'),  so  weist 
dies  auf  Argos  hin.*)    Argos,  nächst  Athen  die  volkreichste  Stadt  in 


kennung  im  Einzelnen  manche  Ausstellungen:  tc  Si  Soäfia  täv  Seirä^tov  6 
TCQO^Myos  cafcös  (lies  aacfr-i)  xai  evXöycos  ei^Tiftävos  (lies  sv ^r, (idv os),  Art 
(die  Hdschr.  san)  Si  xni  rä  iXsysia  ra  sv  r^  S'qtivco  xt^s  l^vS^oftäxi^s.  'Ev 
i(ä  SevxtQcp  ftsQEt  of^ffis  'Eofitoj-Tjs  To  ßftaiMxov  vcpaivovaa  (lies  o v  (paivovaa  ; 
gemeint  ist  wohl  im  zweiten  Tlieile  der  Tragödie  die  unpassende  Rede  der 
Hermione  930  ff|,  tcai  6  TZQoi  ^AvSoofia'/riv  koyos  ov  xaXiös  (andere  Handschriften 
irrig  xaxcös)  exoiv  (d.  h.  der  Wortwechsel  der  beiden  Frauen  im  ersten  Theile). 
Ei)  Si  xai  (fehlt  in  einigen  Handschriften)  o  IItjXsvs  6  xr.v^AfSoouäxr,v  atpeXofievos. 
Das  Einschreiten  des  Peleus  ist  vollkommen  gerechtfertigt ;  nur  die  Ausführung 
unterliegt  der  Kritik.  Ist  ei  richtig,  dann  mufs  man  xal  tilgen,  aber  es  ist  kaum 
anzunehmen,  dafs  Aristophanes  diese  Partie  für  gelungen  erklärte;  es  wird  wohl 
in  Si  xai  zu  lesen  sein.  Auch  Didymus  rügte  in  den  Reden  der  handelnden 
Personen  manches  als  dem  Charakter  oder  der  Situation  unangemessen,  s.  Schol. 
329.  363.  Gegen  den  wohlbegründeten  Tadel  der  Kritik  sucht  ein  jüngerer 
Erklärer  zu  32  vergeblich  den  Euripides  in  Schutz  zu  nehmen :  ol  fav/.cos  tmo- 
fivrjfiaxiaäuivoi  iyxa'/.ovui  xcö  EvontiSri  <paaxovxes  ini  xgayixois  TtooacüTion 
xtOftioäiav  avxov  Siared'sTa&ai'  yvvouxcüv  xe  yag  vTtovoiae  xar'  aXXr./.tov  xai 
tJihrvS  xai  cX/m  oaa  eis  xcouojSiav  avvxe).£i,  xavxa  aTta^uTtavxa  xovxo  x6 
S^ua  TteQieiXr^tfivai ,  ayvoovvxe?.  oaa  yao  eis  XQaycpSiav  avvxe^M ,  xavxa 
TteQtiyei ,  x'ov  &dvaxot'  xoi  NeonxoXdnov  xai  ■d'Qrjvov  JlrjXäios  iv  xi)^i ,  ansQ 
kazi  xoayioSias.  Die  Späteren,  statt  auf  den  besonnenen  Leistungen  der  älteren 
Meister  fortzubauen,  ziehen  es  vor,  aus  Eigendünkel  ihnen  zu  widersprechen. 
So  zeigt  sich  hier  wie  anderwärts  in  dem  Verständnifs  der  klassischen  Werke 
nur  Rückschritt  und  handwerksmäfsige  Routine. 

231)  Schol.  Androm.  446:  ov  Si  SiSaxxai  yoQ  'Ad'^vr^aiv  6  Si  KaXXi- 
fiaxos  eTiiyQatpTjvni  fr,<rt  xfj  XQaycoSiq  Jr^fiox^äxT^.  Dies  ist  der  gewöhnliche 
Ausdruck  von  dem,  der  unter  seinem  Namen  ein  fremdes  Werk  zur  Aufführung 
bringt,  (Schol.  Aristoph.  Ran.  TS  (lo^wv)  ini  rcy  xali  xov  naxQos  xgaycpSiats 
eniyQätfead'ai  xaiucoSetTai  und  jxt^i  xcoucoSias  lU  12  vom  Aristophanes :  xols 
Xotnois  (die  Hdschr.  xove  Xomovs)  inty^a^ofievos  ivixa).  Dem  Kallimachus  lag 
also  eine  bestimmle  Ueberlieferung  über  die  Aufführung  der  Andromache  vor; 
war  auch  die  Zeit  nicht  angegeben,  so  war  doch  sicher  der  Ort  und  der  Si- 
Säaxa/MS  genannt.    [S.  Hermes  XVIII  489  ff.] 

*)  [Diese  Ansicht  hat  Bergk  später  selbst  zurückgenommen  (S.  169*); 
vgl.  hierzu  wie  zur  folgenden  .Auseinandersetzung,  die  ich  weder  habe  streichen, 
noch  an   eine  andere   Stelle,  also  vor  die   Schutzflehenden,  rücken    MoUen, 


542  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Hellas,  erscheint  auch  in  Betracht  ihrer  pohtischen  Stellung  «Is  der 
geeignetste  Ort,  um  den  Werken  eines  attischen  Dichters  in  jener 
Zeit  günstige  Aufnahme  zu  gewahren ;  ja,  die  politischen  Beziehungen, 
welche  in  dieser  Tragödie  recht  augenfällig  hervortreten ,  mufsten 
gerade  in  Argos  Anklang  finden,  ohwohl  sie  auch  für  das  attische 
Publikum  wohl  versländlich  waren.*^^)  Es  ist  wahrscheinhch ,  dafs 
Euripides  von  Anfang  an  dieses  Drama  für  jene  fremde  Bühne  ent- 
worfen und  ausgearbeitet  hat.  Was  ihn  bestimmte,  sich  auswärts 
einen  neuen  Schauplatz  seiner  Thätigkeit  zu  suchen,  läfst  sich  nur 
vermuthen.  Eine  persönliche  Zurücksetzung,  die  er  daheim  erfahren 
hatte,  mochte  mitwirken "^^j,  aber  doch  erst  in  zweiter  Linie;  denn 
Euripides  steht  hier  unverkennbar  im  Dienste  einer  politischen  Par- 
tei, deren  Pläne  er  durch  diese  Dichtung  zu  unterstützen  suchte. 

Da  die  Andromache  in  den  attischen  Didaskalien  nicht  ver- 
zeichnet war,  kannte  man  das  Jahr  der  Aufführung  nicht;  aber  die 
alten  Erklärer  waren  auf  dem  rechten  Wege,  wenn  sie  die  Tra- 
gödie in  die  Zeit  unmittelbar  nach  dem  Abschlüsse  des  Friedens 
zwischen  Athen   und   Sparta  Ol.  89,  4   versetzen.^^)     Dieser  soge- 


den  späteren  Aufsatz  „Die  Abfassungszeit  der  Andromache  des  Euripides"  im 
Hermes  XVIII  487  ff.,  besonders  488  f. :  „Eine  neu  aufgefundene  didaskalische 
Urkunde  veranlafste  mich,  die  Untersuchung  wieder  aufzunehmen.  Die  Tragö- 
die ist,  wie  ich  nach  erneuter  Prüfung  des  Dramas  sowie  der  Scholien  erkannt 
habe,  für  Athen  bestimmt  und  auch  in  Athen  aufgeführt  worden."] 

232)  Es  ist  möglich,  daTs  das  Drama  später  auch  in  Athen  aufgeführt  wurde, 
aber  Parodien  bei  Aristophanes  sind  nicht  nachweisbar;  der  Vers  f*i]  rbv  i/növ 
o'ixei  vovv  iyto  ya^  d^xeaw  bei  Schol.  Aristoph.  Ran.  105  findet  sich  nicht  in 
der  Andromache,  kam  aber  auch  schwerlich  in  der  Andromeda,  sondern  eher 
in  der  Anliope  vor.  Der  Scholiast  verglich  wohl  aus  der  Andromache  5S1 
(nicht  237),  den  jedoch  Aristophanes  nicht  im  Sinne  hat,  und  fügte  dann  den 
richtigen  Vers  aus  einer  verlorenen  Tragödie  hinzu. 

233)  Die  Worte  des  Chores  47(1 :  reyrüroiv  &^  vfivov  awsgyäraiv  Svolv 
k'Qiv  Movaai  <piXovai  xQnireiv,  welche  in  auffallender  Weise  den  Zusammen- 
hang unterbrechen  (aucli'sind  sie  nicht  unversehrt  überliefert),  enthalten  sicher- 
lich eine  persönliche  Beziehung. 

234)  Schol.  Androm.  44«:  ravra  ini  rqf'yivSQOfiäxrjt  n^oax^Fn-ri  fr^aiv 
EvQiTiiSris  )j)iSoQOVfi£voe  lole  ^^napriärais  Su  rov  ifeariüra  nÖMuof  •  t<ni 
yaQ  Sr  ^c-i  TiaQeanovSfjxeaav  eis  yid'rjvniove,  nad'änfQ  o'i  nepi  ror  <J>üoxoQOf 
nvnyQnfOvaiv  •  eihx^n'öis  Si  roiis  rov  S^afintot  x(>öfOve  ovx  tan  Aaßtlr '  ov 
HeBiSaxrai  yuQ  l^&r^vTjaiv.  Der  jüngere  Scholiast,  der  in  iiislorisclicn  Dingen 
schlecht  bewandert  war,  sah  nicht,  dafs  sein  Vorgänger  den  Frieden  des  Nikias 
meint,  und  macht  daraus:  xai  tfairemi  Si  yeyQnfiftitov  -lo  Spann  ir  npx^  toi" 


DTE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  HLÜTHEZEIT.  III.EURIP.    543 

nannte  Friede  des  Nikias  war  eben  nur  eine  kurze  Waffenruhe,  an 
eine  aufrichtige  Versöhnung  war  nicht  zu  denken.  Nicht  einmal 
die  Friedensbedingungen  wurden  gewissenhaft  vollzogen.*^)  So  fehlte 
es  nicht  an  Anlafs  zu  gegenseitigen  Anklagen  und  Verdächtigungen. 
Argos,  welches  bisher  eine  neutrale  Haltung  beobachtet  hatte  und 
während  des  langen  Friedenszustandes  sichtlich  erstarkt  war,  hielt 
den  Zeitpunkt  für  günstig,  um  seine  Ansprüche  auf  eine  führende 
Stellung  im  Peloponnes  zu  erneuern.  Deshalb  verband  sich  Argos 
mit  Korintb,  Elis  und  Mantinea,  dagegen  hatten  die  Verhandlungen 


IIsßjOTcovvTjaiaxov  TtoXs/tov.  Die  Neueren  haben  vermuthungsweise  bald  Ol, 
S7,  2,  bald  01.89.4  (89,2,  auch  89,3),  dann  wieder  Ol.  90,  1  oder  2.  ja  sogar 
Ol.  92,  1  angesetzt.  Entschieden  verfehlt  ist,  die  Andromache  dem  Anfange  des 
Krieges  zuzuweisen ;  Ol.  ST  war  Euripides  ununterbrochen  für  die  attische  Bühne 
beschäftigt,  so  daCs  ihm  keine  Zeit  übrig  blieb,  für  ein  auswärtiges  Theater 
zu  dichten;  auch  widerstrebt  der  ganze  Charakter  der  Tragödie  dieser  Hypo- 
these. Dagegen  hat  man  aus  der  Behandlung  des  Trimeters  mit  Recht  ge- 
schlossen, das  Stück  möge  um  01.89,4  verfafst  sein.  [Im  Hermes  heifst  es 
vielmehr  S.  489:  ,.Das  Jahr  läfst  sich  genau  feststellen  und  ist  bereits  von 
alten  Grammatikern  durch  eine  scharfsinnige  Combination  gefunden  worden: 
denn  eine  direkte  Ueberlieferung  lag  auch  ihnen  nicht  vor.  Eine  gehässige 
Stimmung  gegen  Sparta  tritt  uns  in  dieser  Tragödie  überall  entgegen;  es  ist 
der  Grundton  der  Dichtung,  der  durch  die  dramatische  Handlung  nicht  genügend 
motivirt  erscheint;  man  empfängt  vielmehr  den  Eindruck,  Euripides  habe  die- 
ses Thema  ausgewählt  und  in  tendenziöser  Weise  ausgeführt,  um  seinem  Grolle 
gegen  Sparta  Luft  zu  machen,  insbesondere  V.  445fr.-  S.  490:  „01.89,1  im 
Frühjahr  ward  zwischen  Sparta  und  Athen  ein  Waffenstillstand  auf  ein  Jahr 
abgeschlossen;  noch  ehe  die  Nachricht  von  diesem  Vertrage  nach  der  make- 
donischen Küste  gelangte,  war  Skione  von  den  Athenern  abgefallen,  und  Bra- 
sidas  weigerte  sich,  den  Ort  herauszugeben.  Bald  darauf  fiel  Mende  ab  und 
stellte  sich  unter  den  Schutz  der  Spartaner:  es  war  dies  eine  flagrante  Ver- 
letzung des  eben  erst  geschlossenen  Vertrages.  Da  die  Verhandlungen  resul- 
tatlos verliefen,  wurde  der  Krieg  von  beiden  Theilen  in  jener  Gegend  fortge- 
setzt, und  als  im  Frühjahr  Ol.  89,2  unmittelbar  nach  den  grofsen  Dionysien 
der  "Waffenstillstand  abgelaufen  war,  wurde  der  Krieg  von  neuem  begonnen. 
Somit  verlegt  jener  Grammatiker  [Aristophanes  von  Byzanz  oder  vielmehr  sein 
Gewährsmann  Kaliimachns]  die  Aufführung  der  Andromache  auf  die  grofsen 
Dionysien  des  Jahres  Ol.  89,  2,  indem  er  sehr  richtig  erkannte,  dafs  die  leiden- 
schaftliche Invective  gegen  die  treulosen  Spartaner  der  damaligen  Situation 
vollkommen  entspricht."  Den  Scharfsinn  des  Kallimachus  findet  Bergk  glän- 
zend bewährt  durch  eine  Inschrift,  in  welcher  als  Sieger  im  Agon  der  Tragiker 
Ol.  89,  2  ein  . .  NEKPATHi:  genannt  wird,  indem  er  diesen  [Me)vex^äTTis  mit 
dem  wohl  verderbten  Namen  Jr^^oxQarr}!  (oder  TtuoxQnir,»)  identificirt] 
235)  Thukyd.  V  35. 


544  DRITTE   PERIODE  VON  500  BIS  300  V.  CUR.  G. 

mit  den  Büotern  keinen  Erfolg;  denn  diese  zogen  es  vor,  ein  Bünd- 
nifs  mit  Sparta  abzuschliefsen.  In  dieser  Verbindung  erblickte  Athen 
eine  offenbare  Verletzung  des  Friedensvertrages,  und  Alkibiades,  dessen 
Eitelkeit  die  Spartaner  bei  den  Verhandlungen  über  den  Frieden 
empfindlich  beleidigt  hatten,  nährte  nach  Kräften  die  unzufriedene 
Stimmung,  welche  sich  ebenso  gegen  Nikias  wie  gegen  die  Spar- 
taner richtete.  Alkibiades  knüpfte  auch  auf  eigene  Hand  mit  den 
Argivern  Verbindungen  an ;  die  schwankende,  zweideutige  Politik,  zu 
der  Argos,  wie  meist  die  Mittelstaaten,  hinneigte,  entsprach  so  recht 
dem  Charakter  des  ehrgeizigen,  aufstrebenden  Alkibiades,  der  bald 
einen  hervorragenden  Antheil  an  den  öffentlichen  Geschäften  nahm 
und  noch  vor  Ablauf  von  Ol.  89,  4  den  Abschlufs  eines  Bündnisses  der 
Athener  mit  Argos,  Elis  und  Mantinea  bewirkte.*^)  Im  folgenden 
Jahre  trat  Alkibiades  selbst  in  der  Halbinsel  auf,  um  den  Bund  der 
Peloponnesier  gegen  Sparta  zu  organisiren."')  Eben  in  diese  Zeit, 
Ol.  90,  1,  oder  in  das  nächste  Jahr  wird  die  Aufführung  der  Tra- 
gödie fallen,  die  jedenfalls  vor  der  Schlacht  bei  Mantinea  Ol.  90,  3» 
welche  die  politischen  Verhältnisse  wesentlich  umgestaltete,  gedich- 
tet sein  mufs."*) 

Dafs  Euripides  damals  dem  Alkibiades  persönlich  nahe  stand, 
ist  nicht  zu  bezweifeln;  denn  er  verfafst  das  Festlied  für  die  Feier, 
welche  Alkibiades  nach  seinem  grofsen  Wagensiege  in  den  olym- 
pischen Spielen  veranstaltete.  Die  Zeit  des  Sieges  ist  nicht  über- 
liefert, aber  01.90,  1  hat  gröfsere  Wahrscheinlichkeit  als  01.91,1. 

236)  Thukyd.  V  47. 

237)  Thukyd.  V  52. 

238)  Eine  unverkennl)arc  Hindeulung  auf  Mantinea  findet  sicli  To3,  wo 
Menelaus  sein  Abtreten  mit  den  Worten  molivirt:  ^ffr«  yäo  rte  ov  n^öaio  ^ni^- 
TJjs  itöXig  TIS,  ^  Tipo  Tov  ftsp  t]v  <pilrj,  vvv  8'  iy.d'Qn  noisl'  Tt;v  S'  ine^sXd'elv 
9'iXfo  ax^axrjXaxfjaai,  aiaze  xsioiav  [xvTioxEtQtov]  Xaßslv.  Hier  erkannten  sclion 
die  älteren  Erklärer  sehr  rictitig  eine  politische  Anspielung,  was  der  jüngere 
Scholiast  mit  einer  nichtssagenden  Phrase  beseitigt:  ivioi  (paai  na^a  loi«  /(wi- 
vove  alvixtead'at  ra  IleXonovvTjataxn'  oinc  nvnyxalov  Si  xaTaavxo^arrBtf  tör 
EvQtniiSTjv,  aXXa  tpäaxeiv  nXäafinrt  xax^rjod'at.  Die  Neueren  geben  zwar  die 
Beziehung  auf  die  Gegenwart  zu,  haben  aber  vergebiirh  «U-n  Namen  der  Stadt 
zu  errathen  versucht.  Mantinea,  in  dessen  Gebiet  die  Spartaner  schon  Ol.  SU,  1 
einen  Einfall  gemacht  hatten  (Thukyd.  V  33),  war  dieser  (iefahr  vorzugsweise 
ausgesetzt.  [„Allein  man  mufs  an  Argos  festhalten",  Hermes  X VIII  503.  Da- 
selbst wird  503fr.  ausführlich  erörtert,  „wie  mit  dieser  Datirung  (der  Andro- 
inache  auf  Ol.  8i>,  2)  die  Beziehung  auf  die  argivischen  Händel  vereinbar  ist.") 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÜDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLLTHEZEIT.  III.  EÜRIP.    545 

Dafs  Alkibiades  die  Abfassung  dieses  Gelegenheitsgedichtes  nicht  einem 
der  namhaften  Mehker,  welche  zu  solchen  Diensten  immer  bereit 
waren,  sondern  einem  Tragiker,  dem  diese  Aufgabe  sehr  fern  lag, 
übertrug,  setzt  ein  intimeres  Verhältnifs  voraus.  Die  Andromache 
aber  beweist,  wie  Euripides  ganz  auf  die  Pläne  des  Alkibiades  ein- 
ging; denn  das  Drama  verfolgt  sichtlich  den  Zweck,  die  Zuhörer 
gegen  Sparta  aufzureizen.^)  Nachdem  Andromache  erkannt  hat, 
dafs  sie  von  Menelaus  hinterlistig  getäuscht  ist,  macht  sich  ihr  Un- 
willen in  leidenschafthcher  Rede  Luft.*^°)  Aber  es  ist  sehr  bezeich- 
nend, dafs  diese  rauhen  Worte  nicht  sowohl  gegen  den  Schuldigen, 
sondern  gegen  die  Spartaner  insgesammt  gerichtet  sind;  nicht  die 
Leidenschaft,  welche  übertreibt  und  verallgemeinert,  spricht  hier  aus 
Andromache,  sondern  der  Dichter  trägt  nur  Sorge,  dafs  kein  Zwei- 
fel aufkomme,  wem  die  schwere  Anklage  eigentlich  gelte.  Die  Spar- 
taner sind  ihm  die  verhafstesten  aller  Menschen,  durchaus  unredlich 
und  ränkevoll;  sehr  mit  Unrecht  nehmen  sie  eine  bevorzugte  Stel- 
lung in  Griechenland  ein.  Grausamkeit  und  Mordlust"*),  schnöde 
Habsucht*'*),  vor  allem  aber  Unzuverlässigkeit  und  Perfidiewird  ihnen 
Schuld  gegeben.  Der  Vorwurf,  am  liebsten  krumme  Wege  zu  wan- 
deln, selbst  wo  der  gerade  ebenso  gut  zum  Ziele  führte,  war  den 
Spartanern  oft   genug  und   nicht  ohne  Grund   gemacht  worden**'); 


239)  Man  hat  freilich  auch  in  den  Schlufsworten  der  Tragödie  1280  ff., 
wo  Peleus  die  Bemerkung  macht,  man  solle  bei  der  Wahl  der  Gattin  nicht 
auf  Reichthum,  sondern  auf  Adel  (der  Geburt)  sehen,  den  Grundgedanken  der 
Tragödie  zu  finden  geglaubt.  Aber  dem  Dichter  kam  es  vor  allem  darauf  an, 
nach  herkömmlicher  Weise  mit  einem  allgemeinen  Gedanken  abzuschliefsen, 
und  er  wählt  die  Gnome,  die  sich  zunächst  darbot,  vielleicht  in  der  Absicht, 
den  eigentlichen  Zweck  des  Dramas  zu  verhüllen ;  doch  mag  auch  ein  beson- 
deres Motiv  mitgewirkt  haben,  s.  unten  S.  547. 

240)  Andrem.  445  ff.  Dafs  der  Dichter  sich  der  Maske  der  Andromache 
nur  bedient,  um  seine  eigenen  Ansichten  vorzutragen,  erkennen  schon  die  alten 
Erklärer.    [Hermes  XVUI  49S.] 

241)  Hier  denkt  man  zunächst  an  die  in  Sparta  traditionelle  unmensch- 
liche Behandlung  der  Hörigen,  z.  B.  an  das  entsetzliche  Blutbad,  welches  die 
Spartaner  anrichteten,  indem  sie  zweitausend  der  kriegstüchtigsten  Heloten  er- 
mordeten, Thukyd.  IV  80. 

242)  Ein  Erbfehler  der  Spartaner,  vor  dem  sie  schon  vor  langer  Zeit  das 
delphische  Orakel  gewarnt  hatte. 

243)  So  von  Aristophanes  in  den  Acharnern  308  (Ol.  88,  3).  Unwillkür- 
lich erinnern   die  Anklagen   bei   Euripides    an   die  Worte   des  Herodot  IX  54: 

liergk,  Griecb.  Literaturgeicbichte  III.  35 


546  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  tUIl.  G. 

aber  eben  jetzt  hatte  Alkibiades  diese  Anklage  vor  der  albenisclien 
Volksgemeinde  angesichts  der  anwesenden  spartanischen  Gesandten 
mit  frecher  Stirn  ausgesprociien.*")  Denn  um  das  Ansehen  des 
Nikias  daheim  wie  auswärts  zu  schwächen,  um  das  gegenseitige  Mifs- 
trauen  der  Athener  und  Spartaner  zu  steigern,  hatte  sich  Alkibiades 
in  das  Vertrauen  der  lakonischen  Abgeordneten  eingeschlichen  und 
sie  zu  einer  unwahren  Aussage  vor  der  Volksversammlung  über- 
redet. Diese  alles  Mafs  überschreitende  Perfidie,  welche  ganz  ge- 
eignet war,  das  Verhältnifs  zwischen  beiden  Staaten  für  immer  zu 
vergiften,  niufste  jedem  ehrhchen  Manne  zu  Athen  die  Schamröthe 
in  die  Wangen  treiben.  Auch  mifsbiUigte  man,  als  die  nichtswür- 
dige Intrigue  des  Alkibiades  bekannt  ward""*),  allgemein  sein  Ver- 
fahren, liefs  sich  aber  doch  gern  die  Resultate  dieser  ränkevollen 
Politik  gefallen."'')  Die  öffentliche  Moral  war  eben  schon  lief  er- 
schüttert. So  darf  man  sich  nicht  wundern,  wenn  Euripides  noch 
weiter  geht  und  geradezu  wörtlich  den  Vorwurf,  den  der  gewissen- 
lose Alkibiades  damals  gegen  Sparta  erhoben  hatte,  auf  der  Bühne 
wiederholt.*")  Der  Dichter  hat  hier  nicht,  wie  wohl  anderwärts, 
einen  Zug  der  Gegenwart  auf  die  dramatische  Handlung  übertragen, 
um  das  Bild  der  fernen  Vergangenheit  zu  beleben,  sondern  er  han- 
delt hier  ganz  als  Partei-  und  Gesinnungsgenosse  des  rücksichtslosen 
Staatsmannes,  unbeirrt  durch  jedes  moralische  Bedenken;  denn  nie- 


iniarüfiBvot  ra  yJaxeSat/uoviori'  ^govr/fiara  töi  äXXa  (p^oreornov  xai  a/./.a 
hyovTcov.  Es  ist  wohl  denkbar,  dafs  man  damals  in  Athen  auf  das  Zeugnifs 
des  Historikers,  dessen  Werk  bereits  veröfFenllicht  war,  besonderes  Gewicht 
legte. 

244)  Thukyd.  V  45:  ßovXöftevos  8e  avroie  Ntxiov  re  anoartaat  zai^a 
t'noaxisv,  *cal  onaie  iv  jcp  Sr^fKo  SiaßaXu)%'  avroCs,  co:  ovSir  aXtjd'ii  iv  vio 
Ixovaiv  oiSi  Xiyovaiv  ovSe'nore  laviä,  rovt  yi^yeiovi  xai  HXeioits  xai  Mav- 
ttriui  avfi/itaxovs  Tion'iarj.    Vgl.  auch  Plutarch  Alk.  c.  14. 

245)  Alkibiades  war  frech  genug,  um  sich  seiner  gelungenen  Perfidie  zu 
rühmen,  und  die  spartanischen  Gesandten  werden  auch  niclit  geschwiegen 
haben. 

246)  Plutarch  Alk.  c.  15. 

247)  Man  vergleiche  die  Verse  des  Euripides  446  ff.  2nä^xr,s  ivomot,  SöXia 
ßovXtvtr,(/ta,  xf'txSwv  uvaxrti,  ftr,xnro^Qi'i<fOi  xoxöT»',  iXixxa  xovSiv  iytie, 
aXXit  nar  ni^i^  fQotovvrei  mit  der  Darstellung  bei  Plutarch  Alk.  c.  14;  ev&i'i 
i  ovv  IfJXxißiüSr^*  ivixtixo  fttia  xQavYtjS  xai  i QY'.S i  fiam(t  otx  adixän;  aXX' 
uStxovfitfOt .  nnicxoxt  xal  naXfiißoX^vi  anoxaXcöy  xai  ftt^Hir  lytii  fit\%£ 
n^ü^at  fir^i     tlniiv  i\xorxai. 


DIE  DRAM,  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  III.ELRIP.    547 

mals  weniger  hatte  man  in  Athen  ein  Recht,  über  die  ArgHst  der 
Lakonier  zu  klagen. 

Alles  ist  darauf  angelegt,  Sparta  so  viel  als  möglich  herabzu- 
setzen, dem  allgemeinen  Hasse  und  der  Verachtung  preiszugeben. 
Jlenelaus  wird  daher  von  der  Andromache  und  von  Peleus  mit  dem 
ausgesuchtesten  Hohne  überhäuft;  namenthch  mufs  er  wiederholt 
den  Vorwurf  der  Feigheit  hören.  So  wird  auch  die  unweibliche 
Erziehung  der  spartanischen  Jungfrauen  getadelt  und  geradezu  ge- 
sagt, in  Sparta  könne  es  keine  sittsame  Frau  geben."') 

Noch  manche  versteckte  Beziehung,  die  uns  nur  nicht  recht 
klar  ist,  mag  die  Tragödie  enthalten.  So  rügt  Peleus  mit  bitteren 
Worten  die  Sitte  der  Hellenen,  einen  gewonnenen  Sieg  dem  Feld- 
herrn zuzuschreiben,  der  doch  nicht  mehr  dazu  gethan  habe  als  jeder 
Einzelne  im  Heere;  dabei  wird  nachdrückhch  der  Stolz  und  Ueber- 
muth  der  Führer  gegeifsell,  welche  mit  Geringschätzung  auf  die 
Masse  des  Volkes  herabsehen,  die  doch  eigentlich  an  Einsicht  und, 
wenn  sie  nur  wolle,  an  Macht  viel  höher  stehe."®)  Diese  Worte 
sind  zwar  an  Menelaus  gerichtet,  können  aber  nicht  auf  Sparta 
zielen;  wahrscheinlich  leiht  Euripides  hier  nur  der  gehässigen  Stim- 
mung Worte,  welche  in  dem  Kreise  des  Alkibiades  und  seiner  Ge- 
nossen damals  gegen  Männer  wie  Nikias  und  Laches  herrschte,  und 
in  dem  überwiegend  demokratisch  gesinnten  Argos  konnten  solche 
Aeufserungen  nur  den  lebhaftesten  Beifall  finden.  Wenn  derselbe 
Peleus  im  Wortwechsel  mit  Menelaus  einem  jeden,  der  freien  wolle, 
sich  eine  brave  Frau  zu  wählen  empfiehlt^),  so  sind  diese  Worte 
direkt  an  die  Zuhörer  gerichtet  und  müssen,  da  Peleus  am  Schlufs 
der  Tragödie  nochmals  darauf  zurückkommt  und  auch  der  Chor  sich 
in  ähnlichem  Sinne  äufsert"'),  eine  besondere  Bedeutung  haben ; 
denn  durch  die  Situation  selbst  läfst  sich  dieser  Gedanke  nicht  ge- 
nügend rechtfertigen.  Eher  läfst  man  es  sich  gefallen,  dafs  Peleus 
die  Vertheidigung  des  Rechtes  illegitimer  Rinder  übernimmt.*"*)  Bei 
Euripides  weifs  man  eben  nicht,  ob  ein  besonderer  Anlafs  und  ten- 


248)  Andromache  595  ff. 

249)  Andromache  694  ft. 

250)  Andromache  623,  wo  schon  der  Scholiast  bemerkt:  StaXt'yerai  ji^de 

&iaTQOV. 

251)  Andromache  12S0  und  769  ff.« 

252)  Andromache  636. 

35* 


548  DRITTE   PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

denziöse  Absicht  solchen  Aeufserungen  zu  Grunde  Hegt  oder  ob  er 
nur  seinem  Hange  folgt,  streitige  Fragen,  mit  denen  die  Zeit  sich 
gerade  beschäftigte,  beiläufig  zu  erörtern. 

Wenn  wir  die  Aufführung  der  Andromache  in  die  nächste  Zeil 
nach  dem  Abschlüsse  des  Friedens  mit  Sparta,  in  Ol.  90, 1  oder  2, 
setzen,  so  stimmt  damit  der  ganze  Charakter  des  Dramas  vollkom- 
men ;  denn  hier  tritt  uns  bereits  in  klar  ausgeprägten  Zügen  die 
Manier  entgegen,  welche  das  letzte  Stadium  der  dichterischen  Thätig- 
keit  des  Euripides  kennzeichnet.  So  macht  sich  die  Verstimmung 
des  Dichters  in  zahlreichen  Invektiven  gegen  die  Frauen  Luft;  die 
Abneigung  gegen  Sparta  wird  offen  zur  Schau  getragen,  gegen  die 
Orakel  bald  im  Tone  schüchternen  Zweifels  polemisirt,  bald  laute 
Anklage  erhoben'"),  alles  Züge,  welche  fast  in  jeder  Arbeit  des 
Greiseuallers  bei  Euripides  bis  zum  Ueberdrusse  wiederkehren.  Die 
Sorglosigkeit,  mit  der  die  Oekonomie  des  Dramas  gehandhabt  wird, 
obwohl  zuweilen  auch  in  den  früheren  Stücken  wahrnehmbar,  ist 
im  Zunehmen  begriffen.  Indem  der  Dichter  eine  Fülle  von  Stoff 
in  einem  engen  Räume  zusammendrängt,  kann  er  mit  dem  Gesetze 
der  Einheit  der  Zeit  nicht  recht  auskommen*"),  und,  was  ein  weit 
gröfserer  Fehler  ist,  die  Einheit  der  Handlung  wird  preisgegeben. 
Die  Behandlung  der  Charaktere  ist  durchaus  im  Geiste  dieser  Epoche 
gehahen.  Die  reahstische  Weise  des  Euripides  streift  den  idealen 
Schimmer,  welcher  die  hellenische  Heroenwelt  umgiebt,  mehr  und 
mehr  ab.  Diese  heroischen  Figuren  haben  einen  einfachen,  aber 
sehr  bestimmten  Charakter.  Euripides  behandelt  die  Gestalten  der 
alten  Sagenwelt,  an  die  er  nicht  mehr  glaubt,  mit  äufserster  Will- 
kür, so  dafs  man  sie  oft  kaum  wiedererkennt.  Er  macht  sie  beliebig 
zu  Trägern  eigener  Gedanken,  und  indem  er  ihnen  concretes  Leben 
einzuhauchen  sucht,  zieht  er  nicht  nur  die,  welche   er  mit  sicht- 

253)  Andromache  1036.  1165.  Bei  der  Schilderung  der  Ermordung  des 
Neoptolemus  wird  die  delphische  Gemeinde  im  ungünstigsten  Lichte  dargestellt, 
und  nachher  (1241)  ihr  Benehmen  geradezu  schmachvoll  genannt.  Die  Partei- 
nahme des  delphischen  Orakels  für  Sparta  und  die  Mittel,  welche  die  Lako- 
nier  angewandt  hatten,  um  die  Vorsteher  des  Ileiligthums  zu  gewinnen,  Maren 
allgemein  bekannt.  Daraus  erklärt  sich  die  feindselige  Stimmung  des  attischen 
Dichters  zur  Genüge. 

254)  Die  Ermordung  des  Neoptolemus  in  Delphi  wird  gemeldet,  nachdem 
Orestes,  der  Anstifter  der  Frevelthat,  eben  erst  Phthia  verlassen  hatte,  um 
seinen  Plan  aussuföhren. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRIPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  III.  ELRIP.    549 

lieber  Ungunst  behandelt,  wie  bier  den  Menelaus,  Orestes  und  Her- 
mione,  berab,  sondern  der  Andromacbe  und  dem  Peleus,  für  die  er 
doch  unser  Interesse  gewinnen  will,  ergebt  es  nicht  viel  besser. 
Unbekümmert  um  die  innere  Wahrheit  des  Charakterbildes,  folgt 
Euripides  ganz  seiner  Neigung  zur  Situationsmalerei  und  schlagfer- 
tigen Rhetorik.  Ein  jeder  führt  seine  Sache  wie  ein  wohlgeschulter 
Redner  vor  Gericht  oder  in  der  Volksversammlung;  nicht  selten 
werden  Fragen  berührt,  die  dem  Gegen  stände  völlig  fremd  sind.'*') 
Ueberall  aber  giebt  sich  ein  entschieden  leidenschaftliches  Wesen,  eine 
Hast  und  verzehrende  Unruhe  kund;  so  bat  auch  die  Darstellung 
gerade  in  dieser  Tragödie  etwas  Abspringendes;  die  Gedankenreibe 
wird  nicht  festgehalten,  entgegengesetzte  Ideen  berühren  sich  öfter 
unmittelbar. 

Auch  die  Verse  des  Dialoges  verralhen  durch  die  zunehmende 
Zahl  der  Auflösungen"*)  sehr  deutlich  das  Nachlassen  von  der  frühe- 
ren Strenge  der  Technik,  während  die  ChorHeder  noch  die  leichte 
Eleganz  und  Sauberkeit  der  Form  wahren ;  aber  sie  lösen  sich  mehr 
und  mehr  von  der  dramatischen  Handlung  ab.  Der  Chor  der  Tra- 
gödie besteht  aus  einheimischen  Frauen,  welche  in  der  Parodos  ihre 
Theilnahme  mit  dem  traurigen  Geschick  der  Andromacbe  ausspre- 
chen; aber  diese  Theilnahme,  welche  der  Chor  auch  später  bekun- 
det, hat  etwas  SchwächUches.  Das  erste  Stasimon  "^)  zieht  sich  auf 
die  Betrachtung  der  Vergangenheit  zurück.  Der  Chor  bezeichnet  den 
Streit  der  drei  Göttinnen  um  den  Preis  der  Schönheit  als  den  An- 
fang des  Unheils  und  macht  den  Paris  für  alle  Leiden,  welche  ebenso 
die  Troianer  wie  die  Hellenen  heimsuchten,  verantworüch.  Das 
zweite  Stasimon*")  knüpft  zwar  an  die  Situation  an,  lenkt  dann  aber 
gleich  zu  Reflexionen  über  die  damalige  politische  Lage  Griechenlands 
ein.  Wie  eine  vollständige  Zerrüttung  des  Familienlebens  nothwendig 
eintritt,  wenn  die  Neigung  des  Mannes  zwischen  der  rechtmäfsigen 
Gattin  und  einer  anderen  Frau  sich  theilt,  so  ist  jede  Doppelherr- 


255)  Man  vergleiche  nur  das  seltsame  Gestandnirs  der  Hermione  931  — 
954,  wo  das  Thema  xaxwv  ywaitccov  e'CaoSoC  /u^  oTiäXeaav  ganz  in  der  sub- 
jektiven Anschauungsweise  des  Euripides  erörtert  wird  und  durchaus  die  Fär- 
bung der  Zeit  an  sich  trägt. 

256)  In  der  Andromache  kommen  143  Auflösungen  vor. 

257)  Andromache  274. 
25S)  Andromache  464. 


550  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Schaft  für  den  Staat  verderblich,  der  zumal  in  gefahrvoller  Zeit  eines 
kräftigen,  einheitlichen  Regiments  bedarf.  Dies  zielt  nicht  etwa  auf 
die  beiden  Königshäuser  in  Sparta,  denn  diese  Institution  war  damals 
nur  noch  eine  historische  Reliquie  ohne  alle  Redeutung,  sondern  auf 
die  inneren  Zustände  der  griechischen  Staaten"'),  wo  der  Kainj)! 
der  feindlichen  Faktionen,  welche  um  die  Herrschaft  rangen,  jede 
gedeihliche  Entwicklung,  jede  feste  Leitung  unmöglich  machte.  Das 
dritte  Chorhed^")  ergehl  sich  zunächst  in  allgemeinen  Retrachtungen 
über  die  Vorzüge  des  Adels  der  Geburt  und  ererbten  Resitzes,  wenn 
damit  sittliche  Tüchtigkeit  verbunden  ist,  und  verweilt  dann  bei  den 
Heldenthaten,  welche  Peleus  in  jungen  Jahren  im  Centaiirenkarapfe, 
als  Theilnehmer  der  Argonautenfahrt  und  als  Regleiter  des  Herakles 
vor  Troia  vollbracht  hatte.  Hier  leuchtet  die  Reziehung  auf  die 
dramatische  Handlung  noch  durch,  während  in  dem  letzten  Liede'"'), 
in  der  Schilderung  der  verhängnifsvollen  Folgen  des  troischen  Krie- 
ges für  alle  Theile,  die  Hindeutung  auf  Hermione  und  Orestes  als 
rein  äufserliche  Zuthat  erscheint.  Eigenthümlich  ist,  dafs  nach  dem 
Prologe  noch  vor  dem  Auftreten  des  Chores  Andromache,  indem  sie 
bei  dem  Heiligthume  der  Thetis  Schutz  sucht,  einen  kurzen  Klag- 
gesang in  elegischem  Versmafse  anstimmt.'^'')  Diese  Form  ist  sonst 
der  Tragödie  fremd,  wird  aber  hier  nicht  unpassend  angewandt,  da 
sie  das  argivische  Publikum  an  die  alten  aulödischen  Nomen  erin- 
nern mufste,  welche  dort  gewifs  noch  nicht  vergessen  waren. 

[Die  Resprechung    der   Ilekabe,    des  Ion,    des   rasenden 
Herakles  und  der  Troerinnen  (91,  1)  liegt  im  Manuskript  nicht 
vor:    auch   der  Aufsatz   bei  Ersch   und  Gruber  bietet   hierzu  keine 
Ergänzung.] 
Eiekira.  Wäre  uns  die  dramatische  Literatur  der  Griechen  vollständiger 

erhallen,  könnten  wir  überall,  wo  jüngere  Dichter  einen  schon  früher 
behandelten  Stoff  wieder  auf  die  Rühne  bringen,  eine  Vergleichung 
anstellen,  dann  dürfte  unser  Urtheil  vielfach  anders  ausfallen.    Nicht 

259)  So  stand  in  Alhen  damals  die  Hc(ärie  des  Alkibiades  dem  Nikias 
und  den  Aniiängern  des  Bestehenden  gesrenüber,  und  ähnlicher  Art  waren  die 
Verhältnisse  der  meisten  anderen  Staaten;  selbst  das  stabile  Sparta  blieb  von 
diesem  Gegensatze  nicht  verschont.  Euripides  redet  in  diesem  Chorliede  ganz 
offen  der  Tyrannis  das  Wort  4SI  ff. 

2ÜÜ)  Andromache  7G6. 

261)  Andromache  1009. 

262)  Andromache  103. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRIPPE.    DIE  BLÜTHEZEIT.  III.  ELRIP.    551 

nur  das  Verdienst  der  neuen  Bearbeitung  würde  klarer  hervortreten, 
sondern  auch  manche  Verirrung  im  günstigen  Lichte  erscheinen. 
An  dem  Muttermorde  des  Orestes  haben  die  drei  grofsen  Tragiker 
sich  wetteifernd  versucht;  wir  sind  so  glücklich,  diese  Dramen  un- 
versehrt zu  besitzen,  und  können  die  Leistungen  dieser  Dichter  genau 
gegen  einander  abwägen.  Während  aber  Sophokles,  obwohl  er  seinem 
Vorgänger  vieles  schuldet,  selbständig  die  Aufgabe  löst  und  seine 
reiche  dichterische  Begabung  glänzend  bewährt,  doch  so,  dafs  die 
einfache  Gröfse  des  Aeschylus  daneben  ihren  Werth  behauptet,  zeigt 
sich  bei  Euripides  ein  entschiedener  Abfall,  und  wenn  man  auch 
seine  ungünstige  Stellung  gegenüber  den  beiden  älteren  Meistern 
berücksichtigt,  so  lassen  sich  doch  damit  seine  Mifsgriffe  nicht  ent- 
schuldigen. Euripides  hätte  eben  besser  gethan ,  von  diesem  Ver- 
suche ganz  abzustehen. 

Die  Zeit  der  Aufführung  ist  weder  bei  der  Elektra  des  Sopho- 
kles, noch  des  Euripides  urkundüch  überiiefert;  dafs  jedoch  das 
Stück  des  Sophokles  dem  reiferen  mänuHchen  Alter  des  Dichters 
angehört,  ist  gewifs,  Euripides  kannte  die  Arbeit  seines  Rivalen,  als 
er  seine  Elektra  schrieb,  die,  wie  eine  unverkennbare  Anspielung 
auf  gleichzeitige  Ereignisse  andeutet,  während  des  sicilischen  Feld- 
zuges gedichtet  ward.^^)  Die  Tragödie  ist  wahrscheinhch  Ol.  91,  2 
an  den  städtischen  Dionysien  gegeben,  als  die  Athener  neue  Ver- 
stärkungen nach  Sicilien  absandten.  In  dieser  Zeit,  wo  die  Stadt 
durch  den  Hermokopidenprocefs  noch  immer  aufgeregt  war,  wo  der 
allgemeine  Unwille  sich  gegen  den  geächteten  Alkibiades  wandte, 
der  sich  ins  Heerlager  der  Gegner  begeben  halte  und  die  Spartaner 
mit  Rath  und  That  unterstützte,  in  diesem  Momente  erscheint  jene 
V^'arnung  vor  den  eidbrüchigen,  fluch-  und  schuldbeladenen  Frev- 
lern, welche  gegen  Ende  des  Stückes  die  Dioskuren  eindringlich  aus- 
sprechen, wohl  motivirt.  Und  wenn  Euripides  mit  klaren  Worten 
seine  Helena  in  Aussicht  stellt*"),  welche  Ol.  91,  4  aufgeführt  wurde, 
so  dient  dies  nur  zur  Unterstützung  dieser  Zeitbestimmung.  Die 
Elektra  rückt  also  unmittelbar  an  die  Troaden  heran.  Wenn  die  Verse 
des  Dialoges  hier  minder  nachlässig  behandelt  sind   als  dort***),  so 

263)  Euripides  Elektra  1347—1356.- 

264)  Elektra  12S0  ff. 

2651  la  der  Elektra  finden  sich  etwa  174  Auflösungen  in  1060  Trimelern, 
in  den  Troaden  203  Auflösungen  in  850  Versen. 


552  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300   V.  CHR.  G. 

hat   eben   der   Dichter   auf  diese   Arbeit  etwas  mehr   Sorgfalt   ver- 
wendet. 

Den  Orestes  hatte  Eiiripides  wohl  zum  ersten  Male,  jedoch  nur 
als  Nebenfigur,  in  der  Andromache  eingeführt;  jetzt  benutzt  er  die 
Orestessage,  die  er  in  jüngeren  Jahren  absichlHch  hatte  liegen  lassen, 
weil  der  Stoff  von  den  Früheren  schon  vielfach  bearbeitet  war,  zu 
mehreren  Dramen,  und  unverzagt  macht  er  sich  gleich  an  das  schwie- 
rigste Problem,  den  Tod  der  Klytämnestra  und  des  Aegisthus,  in 
der  Hoffnung,  dafs  es  ihm  geUngen  werde,  dem  Thema  eine  neue 
Seite  abzugewinnen. 
Taurische  Das  Jahr  der  Aufführung  dieser  Tragödie  ist  unbekannt ;  deut- 

p  igencia.  j.^j^^  Anspielungen  auf  Zeitverhältnisse,  welche  anderwärts  einen 
Anhalt  gewähren,  fehlen,  und  dem  Dichter,  der  sich  hier  von  jenem 
willkürhchen  Hereinziehen  der  Gegenwart  fern  hält,  darf  die  ver- 
diente Anerkennung  nicht  versagt  werden.  Wenn  nun  in  der  Elektra, 
deren  Aufführung  wir  Ol.  91,  2  ansetzten,  am  Schlüsse  auf  die  Frei- 
sprechung von  Orestes  vor  dem  Gerichte  des  Areopags  und  seine 
Ansiedelung  in  Arkadien  hingewiesen  wird,  ohne  der  weiteren  Ver- 
folgung der  Erinnyen  und  der  Falirt  des  Orestes  zu  den  Taurern 
zu  gedenken,  so  mufs  die  Iphigeneia  später  gedichtet  sein.  Denn 
hätte  Euripides  damals  bereits  dieses  Thema  behandelt,  so  würde 
er  gewifs  nicht  jeder  Beziehung  auf  seine  Arbeit  geflissentlich  aus- 
weichen. Aufserdem  erinnert  die  Anlage  und  Composition  dieses 
Dramas  ganz  unverkennbar  an  die  Helena  (Ol.  91,  4  aufgeführt). 
Man  hat  daher  nicht  mit  Unrecht  diese  Dichtungen  als  gleichzeitig 
bezeichnet.  Aber  eben  weil  beide  Stücke  einander  so  ähnUch  sind, 
können  sie  unmöglich  zu  demselben  Dramencyklus  gehört  haben. 
Die  Iphigeneia  wird  ein  Jahr  früher,  Ol.  91,  3,  aufgeführt  sein.  Nun 
wird  freilich  in  der  Elektra  die  Helena  sebr  bestimmt  in  Aussicht 
gestellt;  der  Plan  dieser  Tragödie  mufs  schon  damals  im  Ganzen 
und  Grofsen  festgestanden  haben,  während  die  Erlösung  des  Orestes 
vom  Fluche  des  Muttermordes  zwar  berührt  wird,  aber  ohne  jede 
Andeutung,  dafs  der  Tragiker  auch  diesen  Vorwurf  in  eigenthüni- 
licher  Weise  zu  behandeln  beabsichtigte.  Indes  Euripides  konnte 
die  Helena  zurücklegen,  um  vorerst  das  andere  Tliema  auszuführen; 
denn  die  Iphigeneia  in  die  nächsten  Jahre  nach  der  Helena  zu  ver- 
legen erscheint  nicht  gerathen.  In  dieser  unruhigen,  aufgeregten 
Zeit  während  der  inneren  und  äufseren  Bedrängnisse  .Athens  nach 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  III.EURIP.    553 

der  sicilisclien  Niederlage  vermochte  Euripides,  dessen  Gemüth  so 
sehr  durch  die  Eindrücke  der  Aufsenwelt  bestimmt  zu  werden  pflegt, 
schwerlich  ein  Werk  wie  die  Iphigeneia  zu  schaffen. 

Aufserdem  weisen  gewisse  Merkmale  die  Dichtung  eben  jener 
Epoche  zu.  Wiederholt  wird  über  das  Trügerische  der  Orakel  ge- 
klagt, die  den  Menschen,  statt  ihn  sicher  zu  leiten,  vielmehr  ins 
Verderben  stürzen.  Allerdings  bot  die  dramatische  Situation  Anlafs 
zu  solchen  Aeufserungen  dar,  aber  der  leidenschaftliche,  gereizte  Ton 
dieser  Anklagen  entspringt  offenbar  aus  der  persönlichen  Gemüihs- 
verfassung  des  Dichters.  Nun  stofsen  wir  aber  auf  ähnhche  Aeufse- 
rungen vorzugsweise  in  den  Dramen,  die  in  die  Periode  des  siciliscfaen 
Krieges  fallen.  Nach  dem  unglücklichen  Ausgange  jener  Unterneh- 
mung, nach  dem  Scheitern  aller  Hoffnungen  war  diese  Stimmung 
in  Athen  allgemein  verbreitet.  Euripides,  der  gleich  anfangs  die 
Täuschungen,  denen  die  urtheilslose  Menge  wiUig  Glauben  schenkte, 
durchschaut  hatte,  spricht  sich  rechtzeitig  mit  aller  Entschiedenheit 
in  diesem  Sinne  aus,  noch  ehe  die  Dinge  jene  unglückHche  Wen- 
dung nahmen.  Nicht  minder  deutet  die  nachlässigere  Art,  mit  welcher 
der  Trimeter  im  Dialog  behandelt  wird,  auf  dieselbe  Zeit  hin.^) 

Die  Helena  ward  gleichzeitig  mit  der  Andromeda  Ol.  91,  4  Helena, 
aufgeführt '^^),  und  wenn  sie  auch  nicht  in  dem  Grade  die  Gemüther 
bezauberte  wie  jene  mit  allen  Reizmitteln  der  Euripideischen  Kunst 
reich  ausgestattete  Tragödie,  so  mufsten  doch  schon  die  kühnen 
Neuerungen,  welche  der  Dichter  mit  der  Fabel  der  Helena  vornahm, 
Aufsehen  erregen.    Daher  hat  auch  Aristophanes  gleich  im  nächsten 

266)  In  der  Elektra  ßnden  sich  ungefähr  174  Auflösungen  (also  etwas 
weniger  als  in  den  Troaden,  die  das  Jahr  vorher,  01.91,1,  geschrieben  sind 
und  etwa  203  Auflösungen  enthalten,  ein  Beweis,  dafs  der  Dichter  auf  die 
Elektra  mehr  Sorgfalt  verwendet  hat),  in  der  Iphigeneia  2S3,  in  der  Helena  390 
aufgelöste  Versfüfse.  Der  Umfang  der  Helena  ist  eben  bedeutender;  auch  war 
diese  Tragödie  wohl  das  dritte  Stück  der  Tetralogie,  sie  verräth  auch  sonst 
Spuren  flüchtigen  Arbeitens.  Jedenfalls  erkennt  man  deutlich  das  Zunehmen 
dieser  lässigen  Handhabung  der  metrischen  Technik. 

267)  Schol.  Aristophan.  Thesm.  1012:  awSeSiSaxzai  (17  livS^ofit'Sn)  rf, 
'EXevT},  vgl.  ebend.  1060:  insl  Tteqvaiv  kSiBäxdr^  r,  'AvSoofieSa.  Welche  Dra- 
men mit  der  Andromeda  und  Helena  verbunden  waren,  wissen  wir  nicht,  keinen- 
falls  die  taurische  Iphigeneia.  Eher  könnte  man  an  die  weise  Melanippe  denken, 
die  jedenfalls  in  diesen  Jahren  gedichtet  ist;  doch  ist  auch  diese  Combination 
nicht  eben  wahrscheinlich,  da  Euripides,  der  für  Mannigfaltigkeit  sorgt,  schwer- 
lich drei  Frauen  hinter  einander  als  Hauptpersonen  vorgeführt  haben  wird. 


554  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  0. 

Jahre  Ol.  92,  1  in  seinen  Thesmophoriazusen,  wo  er  die  Manier  des 
Euripides  einer  scharfen  Kritik  unterzieht,  aufser  der  Andromeda 
zumeist  die  Helena  benutzt,  um  mit  freiem  Humor  die  tragischen 
Situationen  für  seine  komischen  Zwecke  zu  verwerthen.*®®J  Beide 
Tragödien  zeigen  eine  unverkennbare  nahe  Verwandtschaft.  Die  Vor- 
liebe für  das  Ungewöhnliche,  der  romantische  Zug,  der  dem  Euri- 
pides eigen  ist,  tritt  deutüch  hervor.  Der  Schauplatz,  hier  das  alte 
Wunderland  Aegypten,  dort  die  libysche  Küste,  ist  beide  Mal  in 
weite  Ferne  gerückt.  In  beiden  Tragödien  füllt  den  Frauen  die 
Hauptrolle  zu.  Hier  wird  Helena,  die  schönste  der  Frauen,  aus  der 
Verbannung  im  Barbarenlande  erlöst,  und  nach  langer  Trennung  mit 
ihrem  Gatten  neu  verbunden,  kehrt  sie  in  die  Heimath  zurück;  dort 
wird  die  hbysche  Königstochter  durch  einen  hellenischen  Helden, 
den  die  wunderbare  Schönheit  der  fremden  Jungfrau  fesselt,  dem 
Tode  entrissen  und  nach  Argos  geführt.  Hier  wird  mit  grofser 
Kühnheit  die  alte  Sage  in  völlig  neue  Form  gegossen  und  uns  zu- 
gemuthet,  das  Seltsamste  für  wirkHch  oder  doch  möglich  zu  halten ; 
dort  erscheint  das  Wunderbare  und  Alterthümlichc  nicht  minder  frei 
mit  Elementen  modernster  Bildung  versetzt. 

Schon  am  Schlüsse  der  Elektra'^''")  deutet  Euripides  darauf  hin. 
dafs  er  mit  der  Conception  dieses  Dramas  beschäftigt  war.  Denn 
ohne  dafs  die  Fabel  jenes  Stückes  irgend  einen  Anlafs  gegeben  hätte, 
flicht  er  ein,  nur  Helenas  Scheinbild  sei  nach  Troia  entführt  wor- 
den, damit  nach  dem  Bathschlusse  des  Zeus  der  Brand  des  verderb- 
lichen Krieges  sich  entzünde;  Helena  habe  die  ganze  Zeit  in  Aegyp- 
ten im  Hause  des  Proteus  zugebracht  und  werde  mit  ihrem  Gatten 
wieder  heimkehren. 

Die  Homerische  Odyssee  läfst  den  Menelaus  mit  der  Helena  auf 
der  Rückfahrt  von  Troia  in  Aegypten  verweilen.*'")  Es  ist  begreif- 
lich, dafs,  als  später  hellenische  Ansiedler  sich  hier  niederliefsen  und 
wifsbegierige  Reisende  immer  zahlreicher  das  alte  Culturland  am  Nil 
aufsuchten,  man  eifrig  den  Spuren  der  heimisehen  Heldensage  nach- 
ging. Da  nun  Stesichorus  in  seiner  Palinodie,  um  den  Ruf  der 
Helena  zu  retten,  gedichtet  hatte,  die  Troer  hätten  stall  der  wirk- 

268)  Aristoph.  Thesmoph.  850  ff.    Der  Doppelsinn ,  welcher 
vfjv  'Ekt'vTjv  fiifiTjaofiai  liegt,  ist  nicht  zu  verkennen. 
200)  Euripides  Klektra  1280  fr. 
270)  Homer»  Odyss.  IV  227  ff. 


III 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRIPPE.  DIE  BLLTHEZEIT.  III.  EURIP.    555 

liehen  Helena  nur  ein  Schattenbild  heimgebracht^*),  so  entstand 
in  den  Kreisen  der  ägyptischen  Fremdenführer  jene  seltsame  Um- 
bildung der  Sage,  welche  Herodot  berichtet.^'^)  Paris,  vom  Sturm 
verschlagen,  landet  an  der  Mündung  des  ISils  mit  der  entführten 
Helena  und  dem  geraubten  Gute.  König  Proteus  (denn  der  Home- 
rische Meergreis  verwandelt  sich  hier  in  den  Gebieter  von  Memphis) 
hält  auf  strenges  Recht  und  nimmt  dem  Entführer  die  Helena  sammt 
den  Schätzen  ab.  Paris  zieht  allein  nach  Troia,  während  Helena 
in  Aegypten  zurückbleibt.  Daher  sehen  sich  die  Achäer  nach  der 
Eroberung  Troias,  wo  sie  die  Urheberin  des  Krieges  zu  finden  hoff- 
ten, in  ihrer  Erwartung  getäuscht.  Erst  auf  der  Rückfahrt  wird 
Menelaus  in  Aegypten  wieder  mit  seiner  Gattin  vereinigt. 

Das  Trugbild  der  Helena  entlehnt  Euripides  dem  Stesichorus; 
die  Vorstellung  von  dem  Rathschlusse  des  Zeus,  als  er  den  troischen 
Krieg  anfachte,  verdankt  der  Tragiker  dem  kyprischen  Epos.  Auf 
Herodot  und  die  ägyptische  Legende  ist  der  Aufenthalt  der  wahren 
Helena  am  Nilstrom  und  ihre  Wiedervereinigung  mit  Menelaus  zu- 
rückzuführen. Proteus  erscheint  bei  Euripides  wie  in  jener  Le- 
gende als  Landesfürst;  nur  ist  er  nach  der  Tragödie  bereits  ver- 
storben und  ihm  sein  Sohn  in  der  Regierung  gefolgt^"),  der  für 
die  Absichten  des  Dichters  brauchbarer  war  als  der  greise  Vater. 
Aus  der  hülfreichen  Meerfei  Eidothea  in  der  Odyssee  macht  Euri- 
pides die  weise  und  zugleich  wohlwollende  Seherin  Theonoe. 

Im  Prolog  beklagt  Helena  ihr  trauriges  Loos.  Hera  hatte  ein 
luftiges  Schattenbild,  welches  der  Helena  glich,  untergeschoben,  und 
Paris  hatte,  im  Glauben,  die  schönste  der  Frauen  zu  besitzen,  diese 
Truggestalt  nach  Troia  geführt,  während  die  wirkhche  Helena  an 
der  Mündung  des  Nils  unter  Barbaren  verweilt.  So  dient  alles  dem 
Rathschlusse  des  Zeus,  welcher  den  Krieg  entzündete,  um  die  Mutter 
Erde  von  der  allzu  grofsen  Menschenmenge  zu  befreien  und  den 
gewalligsten  Helden  in  Hellas  mit  Ruhm  zu  verherrlichen.  ^A'ährend 
Helena  als  Verrätherin   an  ihrem  Galten,   als  Urheberin   eines   un- 

271)  Stesichorus  hat  schwerlicli  die  Eutrückung  der  Helena  nach  Aegypten 
gedichtet;  dieser  Zug  wird  wohl  erst  den   späteren  Berichterstattern  verdankt, 

272)  Herodot  U  112  fr. 

273)  Euripides  nennt  ihn  0soxXvftsvos;  die  Erinnerung  an  den  Weissager 
gleichen  Namens  in  der  Odyssee  mag  mitgewirkt  haben,  jedenfalls  ist  die  Cor- 
respondenz  der  Namen  Osoxli^eroi  und  Osovörj  nicht  zufällig. 


556  DRITTE   PERIODE    YOIS    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

heilvollen  Krieges  erscheint  und  die  Last  dieser  Verantwortlichkeit 
sehr  wohl  empfindet,  tröstet  sie  sich  damit,  dafs  Hermes,  als  er  sie 
der  Heimath  entrückte,  ihr  verhiefs,  sie  würde  einst  noch  an  der 
Seite  des  Gemahls  die  heimischen  Fluren  bewohnen.  Um  dem  Gat- 
ten die  Treue  zu  wahren  und  dem  yerhafsten  Bündnisse  mit  dem 
Aegypterkönige,  der  um  ihre  Hand  wirbt,  zu  entgehen,  flüchtet  sich 
Helena  zu  dem  Grabe  des  Proteus.  Da  erscheint  Teukrus,  der  an 
der  Küste  gelandet  war,  um  Theonoe  über  seine  Zukunft  zu  befragen. 
Er  erkennt  sofort  die  Helena  und  spricht  unverhohlen  seinen  Ab- 
scheu aus;  aber  Helena  weifs  ihr  Geheimnifs  zu  wahren.  Sie  erhält 
durch  Teukrus  Kunde  von  dem  Schicksal  der  Ihrigen  in  der  Heimalh"^), 
von  dem  Falle  Troias  und  der  unheilvollen  Rückfahrt.  Von  Menelaus 
weifs  Teukrus  nur  zu  melden,  dafs  er  für  todt  gelle.  Helena  beweint 
in  Gemeinschaft  mit  dem  Chore  ihr  unsehges  Geschick ,  sie  wünscht, 
dafs  ihre  Schönheit  sich  in  das  Gegentheil  verwandeln  möge,  sie 
klagt,  dafs  schhmmer  Ruf  ohne  ihr  Verschulden  auf  ihr  laste,  dafs 
sie  fern  von  der  Heimalh  und  den  Lieben  unter  Barbaren  verweile. 
Die  einzige  Hoffnung,  dafs  einst  ihr  Gemahl  kommen  und  sie  er- 
lösen werde,  ist  dahin.  Sie  spricht  ofTen  aus,  dafs  sie  nicht  durch 
das,  was  sie  gethan,  sondern  durch  seltsame  Verkettung  des  Schick- 
sals zu  Grunde  gehe,  und  ist  entschlossen  ihrem  Leben  selbst  ein 
Ende  zu  machen.  Auf  den  Rath  des  Chores  beschUefst  Helena,  da 
sie  von  dem  Tode  des  Menelaus  nur  unsichere  Kunde  hat,  die 
Schwester  des  ägyptischen  Königs,  die  Seherin  Theonoe,  zu  befragen. 
Inzwischen  erscheint  Menelaus  selbst  vor  dem  Thore  des  könighchen 
Palastes;  wie  ein  zudringlicher  Bettler  von  der  alten  Dienerin  ab- 
gewiesen, erPdhrt  er,  dafs  Helena  hier  weilt.  Helena,  nachdem  sie 
von  der  Seherin  vernommen  hat,  dafs  ihr  Gemahl  noch  lebt  und 
hierher  kommen  werde,  kehrt  zurück.  Die  fremdartige  und  doch 
wohlbekannte  Gestalt  des  Bettlers  erschreckt  die  Helena.  Auch  Mene- 
laus erkennt  seine  Gattin,  mag  aber  noch  weniger  seinen  Augen 
trauen.  Da  überrascht  ihn  die  Botscbaft  seiner  Genossen,  dafs  die 
Frau ,  welche  er  bis  hierher  geführt  und  in  einer  Felsengrotte  ver- 
borgen hatte,  plötzlich  zum  Himmel  emporgestiegen  sei  und  den 
Trug  der  Hera  enthüllt  habe.  Nun  ist  alle  Noth  vergessen ;  die  Gal- 
len sehen  sich  nach  langer  Trennung  wieder  vereinigt.     Auch  der 


274)  Nach  136  sind  ein  Paar  Verse  ausgefallen,  wo  der  Hermione  ge- 
dacht war.  Tgl.  28r<  uud  685. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II. GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  III.  ELRIP.    00  / 

Bote,  welcher  anfangs  dem  wunderbaren  Vorgange  den  Glauben  ver- 
sagte, bekennt  offen  seine  Theilnahme  an  dem  seltsamen  Schick- 
salswechsel seiner  Gebieter  und  geht  ab,  um  im  Auftrage  des  Mene- 
laus  den  Genossen  zu  melden,  sie  möchten  am  Meeresstrande  des 
Kampfes  gewärtig  sein,  der  dem  Menelaus  bevorstehe. 

Menelaus  und  Helena  verständigen  sich ,  wenn  ihnen  der  Weg 
der  Rettung  verschlossen  sei,  lieber  gemeinsam  zu  sterben.  Als  die 
Seherin  erscheint,  fleht  Helena  sie  um  Hülfe  an ;  Menelaus  aber  er- 
klärt, wenn  man  ihn  der  Gattin  berauben  wolle,  so  werde  er  mit 
dem  Könige  auf  Tod  und  Leben  kämpfen,  sollte  man  aber  daran 
denken,  beide  Galten  durch  die  langsame  Qual  des  Hungers  zu 
tödten,  dann  werde  das  Schwert  ihnen  Erlösung  bringen.  Die  Sehe- 
rin sagt  zu  das  Geheimnifs  zu  bewahren  und  die  Ankunft  des  Mene- 
laus vor  ihrem  Bruder  zu  verbergeo.  Alsbald  verständigen  sich  die 
Gatten  über  einen  listigen  Anschlag,  der  ihnen  die  Mittel  zur  Ret- 
tung gewähren  soll.  Als  der  König  erscheint,  giebt  Helena  vor 
durch  den  Fremden  Nachricht  von  des  Menelaus  Tode  erhalten  zu 
haben  und  verhelfst  dem  Fürsten  ihre  Hand  zu  reichen,  wenn  er 
ihr  vorher  gestalte  auf  dem  Meere  ein  Todtenopfer  darzubringen. 
Der  König  sagt  bereitwiUig  alles  zu  und  gewälirt  das  Schiff  nebst 
den  verlangten  Opferthieren,  Gewändern  und  Waffen. 

Nach  einem  fremdartigen  Chorgesange  tritt  Helena  wieder  auf, 
um  sich  zu  verabschieden  und  mit  Menelaus  das  Schiff  zu  besteigen ; 
der  König,  ohne  Ahnung  des  Betruges,  gebietet  den  Dienern  in 
allem  dem  Fremdlinge  zu  gehorchen.  Bald  aber  kehrt  einer  von 
den  Schiffern  zurück,  der  sich  durch  Schwimmen  gerettet  hatte,  und 
bringt  die  Kunde  von  dem  gelungenen  Verrathe.  Des  Königs  Zorn 
richtet  sich  gegen  die  Schwester,  die  er  des  Einverständnisses  be- 
schuldigt; er  will  den  Fliehenden  nacheilen,  wird  aber  durch  das 
Erscheinen  der  Dioskuren  zurückgehalten,  welche  ihm  gebieten  den 
Willen  des  Zeus  zu  ehren,  der  in  diesem  Ausgange  sich  kund  gebe. 

Der  Tragiker  versucht  sich  an  einer  Apologie  der  Helena;  denn 
wenn  die  vielgescholtene  Frau,  welche  als  Urheberin  eines  lang- 
wierigen, blutigen  Krieges  galt,  um  derenwillen  so  viele  edle  Helden 
den  Tod  gefunden  hatten,  gar  nicht  dem  Paris  nach  Troia  folgte, 
sondern  in  unfreiwilliger  Verbannung  in  Aegypten  verweilt  und  mit 
treuer  Liebe  des  Gatten  eingedenk  ist,  dann  wird  ihre  Schuld, 
wenn  auch  nicht  ganz  getilgt,  doch  wesentlich  gemindert.    Ein  sol- 


558  DRITTE    PEIIIÜDE    VOA'    500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

dies  Thema  entspricht  vollkomuien  dem  Geiste  der  Sophistik,  welche 
Lob  und  Tadel,  Angrifl"  und  Rechtfertigung  nicht  nach  objektivem 
Mafse  austheilt,  sondern  vor  allem  darauf  bedacht  ist,  die  bisher 
gültige  Auffassung  zu  verneinen  und  der  Neigung  zum  Widerspruch 
zu  huldigen.  Auch  war  es  dem  Euripides  mit  seiner  Rechtfertigung 
gar  kein  rechter  Ernst;  denn  er  kehrt  alsbald  zu  der  herkömm- 
lichen Vorstellungsweise  zurück. 

Stesichorus  konnte  gemäfs  der  Freiheit,  die  dem  Lyriker  ge- 
stattet ist,  um  den  Zorn  der  Heroine  zu  besänftigen,  erzählen,  He- 
lena habe  nie  ein  Schiff  betreten,  nie  den  Boden  Troias  berührt; 
nur  ein  wesenloses  Schattenbild  habe  Paris  entführt.  Die  Conse- 
quenzen  dieser  freien  Umgestaltung  des  Mythus  liefsen  sich  hier 
wohl  verbergen.  Anders  ist  die  Stellung  des  dramatischen  Dichters, 
der  die  Thatsache  in  voller  Gegenwärligkeit  vor  das  Auge  rückt; 
denn  wenn  der  grofse  Kampf  nur  um  eines  täuschenden  Schemens 
willen  unternommen  wurde,  dann  wird  der  troischen  Sage  der  feste 
Boden  entzogen,  der  Glaube  an  das,  was  bisher  für  wirklich  gegol- 
ten halte,  aufs  Tiefste  erschüttert.  Und  das  verbrauchte  Mittel, 
diesen  abenteuerlichen  Verlauf  auf  unmittelbare  Veranstaltung  der 
Gölter  zurückzuführen,  erscheint  als  ein  unzulänglicher  Nothbehelf. 
Aber  gerade  ein  solches  Waguifs  halle  in  einer  Zeit,  die  übersättigt, 
nur  noch  für  das  Neue  und  Ungewohnte  empfänghch  ist,  besonderen 
Reiz,  und  nirgends  erkennt  man  so  deutlich  wie  hier  die  freie  Art 
des  Euripides,  mit  der  alten  Ueberlieferung  umzugehen,  an  die  er 
nicht  mehr  glaubt."') 

Diese  Tragödie  zeigt  eine  aulTallende  Aehnlichkeit  mit  der  tau- 
rischen  Iphigeneia ;  gleiche  Situationen  und  Motive  kehren  in  beiden 


275)  Es  war  ein  ganz  verfehlter  Gedanke,  wenn  man  die  Helena  für  ein 
politisches  Gelegenheitsstück  erklärt  und  überall  versteckte  Beziehungen  auf 
Alkibiades  zu  ßnden  geglaubt  hat,  der  berufen  sei,  Athen  durch  Anknüpfung 
eines  Bündnisses  mit  dem  Perserkönige  aus  seiner  gefährdeten  Stellung  zu 
befreien.  Nur  die  Einführung  des  Teukrus,  dessen  Stelle  ebenso  gut  jeder  an- 
dere fahrende  Achäerheld  vertreten  konnte,  scheint  nicht  absichtslos.  Die  Grün- 
dung des  ky prischen  Salamis  (150)  erinnert  an  die  Stätte,  wo  Euripides  ge- 
boren ward  und  gern  verweilte;  der  heimathlose  Teukrus,  der  in  Kypern  ein 
neues  Vaterland  fuidct,  mufsle  an  die  Athener  erinnern,  die  sich  damals  nach 
Kypern  getlflchlet  halten,  wie  Andokidcs.  Attische  Söldner  und  Abenlcurer 
mochten  namentlich  den  Euagoras  bei  seinen  Unternehmungen  unterstützen 
vgl.  Aristpph.  Thesmoph.  44ß. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  H.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  III.  EURIP.    559 

Dramen  wieder.  \Yider  ihren  Willen  wird  eine  hellenische  Frau  in 
fremdem  Lande  unter  rohen  Barbaren  zurückgehalten ;  da  jeder  Grieche, 
der  an  diese  unwirthhchen  Küsten  verschlagen  wird,  dem  Tode  ver- 
fallen ist,  erscheint  alle  Hoffnung  auf  Erlösung  abgeschnitten.  Den- 
noch geschieht  das  Unerwartete;  Helena  wird  durch  ihren  Gatten, 
Iphigeneia  durch  den  Bruder  befreit,  und  in  beiden  Tragödien  voll- 
zieht sich  dieser  Schicksalswechsel  mit  Hülfe  einer  von  weibhcher 
Hand  angelegten  Intrigue,  deren  Opfer  der  arglose  Gewalthaber  wird. 
Nur  kommt  in  der  Helena  ein  neues  Motiv,  die  Liebe  des  Königs  zu 
der  fremden  Frau,  hinzu.  Auch  der  Chor  besteht  hier  wie  dort  aus  hel- 
lenischen Frauen,  welche  in  der  Fremde  treu  zu  der  Heldin  hallen."®) 

Der  Stoff,  wie  Euripides  ihn  zurecht  macht,  hat  etwas  Aben- 
teuerUch-Phantastisches;  allein  die  Behandlung  ist  überwiegend  rea- 
listisch. Jedoch  vermifst  man  die  lokale  Färbung,  wozu  die  fremd- 
artige und  zugleich  wohlbekannte  Umgebung  schickUche  Gelegenheit 
darbot.  Euripides  liebt  es,  zumal  in  seinen  älteren  Stücken,  Heroen 
in  armseliger  Gestalt  einzuführen,  um  Mitleid  und  Theilnahme  zu 
erwecken;  so  tritt  auch  hier  der  schiffbrüchige  3Ienelaus  in  zer- 
limiptem  Gewände  auf,  bettelt  lun  ein  Almosen  an  fremder  Thür 
und  mufs  sich  wie  ein  Landstreicher  von  der  alten  Dienerin  ab- 
weisen lassen.^^)  Zuweilen  streift  die  Tragödie  hart  an  die  Manier 
des  Lustspiels.  Die  Amphibolie  des  Ausdrucks  übt  bei  Sophokles 
vorzugsweise  eine  tragische  Wirkung  aus;  hier  hinterlassen  diese 
doppelsinnigen  Reden,  in  denen  sich  z.  B.  Helena  und  Menelaus 
ergehen,  um  den  König  zu  täuschen  und  für  ihren  Plan  zu  gewin- 
nen, durchaus  den  Eindruck  einer  Komödienscene.  Ueberhaupt  ist 
das  Motiv  einer  Doppelgängerin,  welches  unwillkürhch  zu  Verwechs- 
lungen Anlafs  geben  mufste,  weit  mehr  für  ein  Lustspiel  als  für 
den  Ernst  und  hohen  Stil  der  Tragödie  geeignet. 

Die  Wiedererkennung  der  Gatten  wird  nicht  ohne  Geschick, 
aber  in  gewohnter  Manier  dargestellt;  die  Lösung  des  Knotens  voll- 
zieht sich  in  ganz  oberQächlicher  Weise  durch  Dazwischenkunft  einer 
Gottheit.  Tieferes  Interesse  vermag  uns  keiner  der  Charaktere  ein- 
zuflöfsen,   auch  Helena  nicht,  deren  Rechtfertigung  eigentlich  den 

276)  Wie  die  Anwesenheit  hellenischer  Frauen  am  Nilstrom  zu  recht- 
fertigen sei,  hat  der  Dichter,  der  es  mit  dem  Moliviren  nicht  so  genau  nimmt, 
verschwiegen. 

277)  Vgl.  Helena  414  ff.  437  ff.  (790)  und  1204. 


560  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Vorwurf  des  Dramas  bildet."*)  Jene  Homerische  Kunst,  welche  alles, 
was  sie  berührt,  adelt,  welche  selbst  da,  wo  sie  Unrecht  und  Frevel 
schildert,  uns  wärmeren  Antheil  abzugewinnen  versteht,  war  eben 
dem  Euripides  versagt.  Einen  wohlthuenden  Eindruck  macht  nur 
die  prophetische  Jungfrau  Theonoe,  obwohl  selbst  diese  reine  Gestalt 
aus  den  Conflikten  des  Lebens  nicht  unversehrt  hervorgeht"');  denn 
der  Anhauch  der  Lüge  trübt  auch  ihren  lauteren  Sinn.  Ihr  Bruder 
erscheint  als  ein  stumpfsinniger  Barbar,  der  den  ziemlich  durch- 
sichtig angelegten  Anschlag  nicht  durchschaut,  und  nachdem  Helena 
und  Menelaus  seiner  Macht  entrückt  sind,  an  der  Schwester  Rache 
nehmen  will,  die  er  des  Verrathes  zeiht.  Von  der  rhetorischen  Kunst 
wird  ausgiebiger  Gebrauch  gemacht ;  der  Dichter  sorgt  sichtlich  da- 
für, dafs  nach  den  Regeln  der  Technik  jeder  zu  seinem  Rechte 
kommt  und  seine  Ansicht  gebührend  geltend  macht.^*°)  Die  Gütter- 
welt  wird  in  echt  rationahstischer  Weise  verwendet ''*');  nur  werden 
blasphemische  Ausfalle  vermieden.**'^)  Jedoch  die  Polemik  gegen  Ora- 
kel, in  den  Tragödien  dieser  Epoche  ein  stehendes  Thema,  fehlt 
auch  hier  nicht.*"} 

Der  Chor  hat  in  diesem  Drama,  welches  zu  den  umfangreich- 
sten gehört***),  anfangs  eine  ganz  untergeordnete  Stellung.**'}    Erst 


278)  Menelaus  ist  nur  das  gefügige  Werkzeug  der  Intrigue,  welche  Frauen- 
hst  ausgesonnen  hat;  Helena  selbst  leitet  1049  ihren  Vorschlag  mit  den  Wor- 
ten ein:  eixovaov,  fjv  ri  xal  yvvrj  Xs^tj  ooföv.  Verletzend  ist  vor  allem,  dafs 
Helena  zum  Scheine  in  die  Heirath  mit  dem  Könige  einwilligt. 

279)  Vgl.  Helena  1370.  Theonoe  selbst  rechtfertigt  ausführlich  ihren  Ent- 
schlufs  1000  fr. 

280)  Nachdem  Helena  mit  dialektischer  Gewandtheil  ihre  Sache  der  Theonoe 
gegenüber  geführt  hat,  fordert  der  Chor  den  Menelaus  zum  Reden  auf  945: 
TOvi  Se  MsvtXeoi  nod'cö  Xöyovs  axovaai  rivae  ä^el  ■^fjvx,r,i  negi.  Nicht  aus 
innerem  Antriebe  handeln  und  reden  die  Personen,  sondern  der  Dichter  dirigirt 
nach  Belieben  die  dramatischen  Figuren. 

281)  Vgl.  aufser  dem  Prologe  878  ff. 

282)  Doch  kann  Euripides  seine  frivole  Art,  wenn  er  des  Zeus  gedenkt, 
auch  hier  nicht  unterdrücken,  s.  490.  Man  beachte  auch  den  herausfordernden 
Ton  1441,  sowie  die  wiederholte  Klage,  dafs  der  Mensch  und  sein  Schicksal 
ein  Spielzeug  der  Götter  sei  (711.  1138). 

283)  Helena  744  ff. 

284)  Auf  dieses  Stück  kommen  nahezu  1700  Verse;  es  wird  das  drille 
Stück  der  Tetralogie  gewesen  sein;  daher  tritt  auch  Theonoe  unter  K;ukpl!u'- 
gleilung  auf  (8(35). 

285)  Die  Bühnengesäiige  der  Helena  bieten  dnfür  Ersatz. 


DfE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  11.  GRUPPE.  DIE  RLüTHEZEIT.  III.EL'RIP.  561 

im  letzten  Theile  tritt  er  mehr  in  den  Vordergrund.  Wenn  er  in 
einem  langen  Gesänge-*®)  Helenas  Unglück  beklagt,  die  Leiden  des 
Krieges  schildert  und  seine  friedliebende  Gesinnung  offen  bekundet, 
so  sind  diese  Aeufserungen  der  Situation  nicht  unangemessen,  mufs- 
ten  aber  zugleich  den  Zuschauer  an  die  unmittelbare  Gegenwart  er- 
innern.**^) Das  vorletzte  Chorhed  erscheint  völlig  von  der  Handlung 
losgelöst^**);  nur  knüpft  der  Schlufs'*^)  nicht  undeutlich  an  die  dio- 
nysische Festfeier  an,  an  welcher  das  Drama  über  die  Bretter  ging. 
Doch  liegt  vielleicht  dem  Ganzen  eine  versteckte,  uns  unverständliche 
Beziehung  zu  Grunde.  Besser  erfüllt  der  letzte  Gesang**')  seine  Be- 
stimmung. 

[Die  Analyse  des  Orestes  fehlt.] 

Wenn  wir  auf  den  Orestes  die  Phönissen  folgen  lassen,  soPbönissen. 
läfst  sich  zwar  die  Zeit  der  Aufführung  dieses  Dramas  nicht  genau 
feststellen,  doch  gehört  es  jedenfalls  zu  den  letzten  Arbeiten,  welche 
Euripides,  bevor  er  Athen  verliefs,  auf  die  Bühne  brachte.*^')     Die 


286)  Helena  1107  ff.  Die  Gedanken  sind  in  diesem  Chorliede  merkwürdig 
durch  einander  geworfen;  man  erkennt  in  diesem  Mangel  an  Znsammenhang  die 
Hast,  mit  der  Euripides  dieses  Drama  ausführte. 

287)  Die  Niederlage  der  Athener  in  Sicilien  war  ja  in  frischem  Andenken; 
auch  der  Klaggesang  der  Helena  362  ff.  giebt  dieser  Empfindung  Ausdruck. 

288)  Helena  1301  ff.  Ein  solches  Lied  konnte  in  jeder  Tragödie  an  jeder 
beliebigen  Stelle  eingeschaltet  werden. 

289)  Helena  135Sff. 

290)  Helena  1451  ff. 

291)  S.  Schol.  Aristoph.  Frösche  53:  hier  werden  der  Andromeda  (auf- 
geführt Ol.  91,4)  als  beißUig  aufgenommene  Stücke  der  letzten  Zeit  {n^o  oXi- 
yov)  Hypsipyle,  Phönissen  und  Antiope  gegenübergestellt.  Da  Ol.  92,  4  durch 
den  Orestes  in  Anspruch  genommen  wird,  bleibt  für  die  Phönissen  nur  Ol.  92,  3 
oder  93,  1.  Nach  der  lückenhaften  Didaskalie  ist  die  Tragödie  eni  Navancoä- 
tovs  ägxovros  aufgeführt;  allein  dieser  Name  ist  der  Archontenliste  fremd. 
Man  könnte  annehmen,  derselbe  sei  als  Ersatzmann  für  einen  im  Amtsjahre 
verstorbenen  Archon  eingetreten;  dann  aber  war  dessen  Name  hinzuzufügen. 
Man  könnte  an  das  Jahr  des  Euktemon  01.93,1  denken,  da  alle  anderen  in 
Betracht  kommenden  Namen  auch  für  die  zweite  Hälfte  des  Jahres  gesichert 
sind.  Wahrscheinlich  ist  zu  lesen:  {i8iSä%d'T])  Sia  Navatx^zovs  (ini)  a^ 
yovTos ...  so  dafs  Nausikrates  als  SiSaaxalos  fungirte,  wie  in  anderen  fällen 
Timokrates  (Demokrates)  dem  Euripides  denselben  Dienst  leistete.  —  Anspie- 
lungen auf  Zeitverliältnisse  fehlen  nicht,  aber  gewähren  keinen  festen  Anhalt 
für  die  Fixirung  der  Chronologie.  Höchstens  könnte  man  sagen,  Euripides 
habe  schon  im  Geiste  vorausgesehen,  wie  die  Gegensätze  der  Parteien  in  Athen 

Bergk,  Griecb.  LUeraturgescbichte  III.  36 


562  DRITTE   PERIODE    V0>    500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

Tetralogie,  zu  welcher  die  Phünissen  gehörten,  wurde  beiPällig  auf- 
genommen; der  Dichter  erhielt  den  zweiten  Preis."*)  Auch  später 
war  das  Stück  ungemein  beliebt,  hat  jedoch  in  alter  wie  neuer 
Zeit  sehr  ungleiche  Beurtheilungen  erfahren.  Während  die  einen 
alles  bewundern  oder  doch  zu  rechtfertigen  suchen,  setzen  andere 
des  Dichters  Leistung  tief  herab.-^^)  Es  gilt  auch  hier  zwischen 
diesen  Extremen  die  rechte  Mitte  innezuhalten. 

[Die  Besprechung  der  aulischen  Iphigeneia  und  der  Häk- 
chen ist  nicht  vorhanden.] 
Kjkiops.  Das  Satyrdrama  Kyklops,  für  uns  der  einzige  Repräsentant 
dieser  Gattung  und  schon  deshalb  von  besonderem  Interesse,  be- 
handelt das  bekannte  Abenteuer  des  Odysseus  mit  Polyphemus,  ein 
Stoff,  der  für  das  humoristische  Nachspiel  der  tragischen  Trilogie 
sich  vortrefflich  eignete  und  schon  früher  von  Aristias  benutzt  wor- 
den war.*^^)  Euripides  folgt,  soweit  die  Gesetze  der  dramatischen 
Dichtung,  insbesondere  des  Satyrspieles,  und  seine  Individuahtät  es 


früher  oder  später  zum  Bürgerkriege  führen  müfsten ;  allein  auf  politische  Pro- 
phezeiungen pflegt  sich  der  Dichter  sonst  nicht  einzulassen.  Ein  merkwürdiges 
Traumgesicht  eines  der  attischen  Feldherren  unmittelbar  vor  der  Arginusen- 
schlacht  berichtet  Diodor  XIII  97. 

292)  Die  Phönissen  M-aren  das  dritte  Stück  der  Tetralogie ;  vorhergingen 
Oenomaus  und  Chrysippus  (die  Gattin  und  der  Sohn  des  Pelops),  letzteres  Stück 
durch  die  leidenschaftliche  Liebe  des  Laius  zu  Chrysippus  und  den  Fluch  des 
Pelops  schon  auf  das  dritte  Stück  hinweisend.  Das  Satyrdrama  lag  bereits  den 
Alexandrinern  nicht  mehr  vor. 

293)  Wenn  Aristophanes  fr.  470  ff.  und  Strattis  Com.  II  2,  780  ff.  parodische 
Komödien  unter  gleichem  Titel  schrieben,  so  spricht  dies  für  die  Popularität  der 
Tragödie,  welche  ebenso  sehr  wie  die  Mängel  den  Spott  der  Komödie  hervor- 
rief. Die  Mannigfaltigkeit  pathetischer  Scenen  und  die  reiche  Fülle  allgemeiner 
Sentenzen  verfehlte  nicht  auf  Zuschauer  wie  Leser  günstig  zu  wirken  (vgl.  die 
unter  Aristophanes'  von  Byzanz  Namen  überlieferte  Einleitung).  Bedingt  lautet 
das  Urtheil  eines  anderen  Kritikers  ebenda :  xo  S^äfta  dan  fiev  laU  axrjvtxali 
offeai  xaXXtOTOv,  inei.(ao8 ttJüSei)  Se  xai  naQanXrjqoJftarixöv,  das  man  ge- 
neigt sein  könnte  eben  jenem  Grammatiker  zuzuschreiben;  denn  die  Ausstellung 
ist  berechtigt,  aber  die  Beweisführung  ist  nicht  gerade  glücklich ;  denn  die  ge- 
tadelte Thurmschau  dient  vortrefflich  der  Exposition.  Der  Versuch,  die  feind- 
lichen Brüder  zu  versöhnen,  endet  natürlich  resultatlos,  ist  aber  echt  drama- 
lisch; die  Einführung  des  Oedipus  am  Schlüsse  des  Stückes  verdient  mehr 
wegen  der  Art  und  Weise  als  an  sich  Tadel. 

294)  Aus  dem  Kyklops  des  Aristias  fr,  4  p.  563  N.  ist  nur  ein  sprächwört- 
lich mehrfach  verwendeter  Vers  erhalten:  nnwltcai  tc»»  olvov  htixiae  vio>Q. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  11.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  III.  EURIP.    563 

ziiliefsen,  der  Darstellung  der  Odyssee.-"^^)  Das  Stück,  welches  keinen- 
falls  zu  den  älteren  Arbeilen  des  Euripides  gehört  ^'^),  hat  nur  mäfsi- 
gen  Umfang ;  besonders  die  lyrischen  Partien  sind  sehr  beschränkt.*^') 
Die  ganze  Behandlung  hat  etwas  Skizzenhaftes;  man  empfängt  den 
Eindruck  einer  leicht  hingeworfenen,  aber  doch  mit  Lust  und  Liebe 
ausgeführten  Dichtung. 

Eine  Felsengrolte  an  der  Küste  Siciliens,  im  Hintergrunde  der 
Berg  Aetna,  bildet  die  Scenerie.  Ein  Prolog  des  Silenus  eröffnet 
das  Stück.  Daraus  erfahren  wir,  dafs  er  mit  seinen  Satyrn  ein 
Schiff  bestiegen  hatte,  um  seinen  verschwundenen  Herrn,  den  Dio- 
nysus,  aufzusuchen,  an  dieses  unwirthhche  Gestade  verschlagen  ward 
und  in  die  Gewalt  des  Polyphemus  gerieth.  Alsbald  tritt  der  Chor 
der  Satyrn  auf,  welche  die  Herden  des  Kyklopen  weiden  und  ihren 
Liebhngstrank  schmerzUch  vermissen.  Da  landet  Odysseus,  gleich- 
falls durch  einen  Sturm  hierhergeführt,  und  ist  bereit,  Lebensmit- 
tel, deren  er  bedarf,  gegen  kösthchen  Wein  von  Maronea  einzu- 
tauschen. Bei  diesem  Handel  werden  sie  vom  heimkehrenden  Ky- 
klopen überrascht ;  der  heuchlerische  Silenus  giebt  vor,  die  Fremden 
hätten  ihm  mit  Gewalt  und  unter  Drohungen  das  Schlachtvieh  ent- 
rissen, während  das  Rechtsgefühl  des  Chores  sich  gegen  diese  Lüge 
verwahrt.  Odysseus,  befragt,  woher  er  komme,  berichtet  in  Kürze 
über  die  Rückfahrt  von  Troia,  jedoch  ohne  seinen  Namen  zu  nennen, 
und  räth  dem  Polyphemus  seinen  unmenschhchen  Sitten  zu  ent- 
sagen. Dies  giebt  dem  Kyklopen  Anlafs,  seine  Lebensansichten  aus- 
führiich  darzulegen.  Dafs  der  Riese  als  Verächter  der  Götter  er- 
scheint, ist  ein  Zug,  den  wir  bereits  in  der  Homerischen  Schilderung 
antreffen;  ebenso  wenig  kann  es  befremden,  wenn  derselbe  mit  den 


295)  Nur  in  diesem  einen  Falle  entnimmt  Euripides  den  Stoff  der  Home- 
rischen Poesie. 

296)  Wenn  der  Kyklop  203  mit  den  Worten  ävex^  ttöqexb  auftritt,  so 
darf  man  nicht  eiwa  eine  Parodie  des  Kyklops  bei  Aristoph.  Wespen  1326 
finden  wollen;  es  ist  dies  offenbar  eine  formelhafte  Wendung.  Euripides  mag 
sie  öfter  gebraucht  haben  (vgl,  Troad.  308),  und  vielleicht  wollte  der  Komiker 
diese  Manier  des  Euripides  verspotten;  nur  ist  nicht  an  eine  specielle  Beziehung 
auf  den  Kyklops  oder  die  Troaden  (wie  der  Scholiast  im  Widerspruch  mit  der 
Chronologie  meint)  zu  denken,  während  dieselbe  in  den  Vögeln  1720  zuläs- 
sig wäre. 

297)  Das  Stück  enthält  709  Verse;  das  Lyrische  nimmt  etwas  über  ein 
Siebentel  ein. 

36* 


564  DRITTE    PERIODE    V0>    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

Satyrn  in  der  Werthschätzung  des  Sinnengenusses  völlig  überein- 
stimmt. Aber  diese  Grundsätze  werden  in  einem  Tone  vorgetragen, 
welcher  für  die  naturwüchsige  Roheit  durchaus  nicht  pafst.  Hier 
giebt  sich  der  platte  MateriaHsmus  einer  hochgebildeten,  aber  über- 
sättigten Epoche  in  aller  Nacktheit  kund.-®')  Euripides  kann  es  eben 
nicht  lassen,  seinen  dramatischen  Figuren  die  Farbe  seiner  Zeit  zu 
leihen.  Indem  Odysseus,  an  der  Rettung  verzweifelnd,  mit  seinen 
Gefährten  dem  Kyklopen  in  die  Hohle  folgt,  füllt  ein  kurzes  Chor- 
lied die  Pause,  und  alsbald  tritt  Odysseus  wieder  auf.  Da  sich  der 
Dichter  kurz  fassen  mufste,  behilft  er  sich  mit  einem  Berichte.  Odys- 
seus schildert,  wie  Polyphemus  zwei  von  seinen  Genossen  verzehrte, 
dann  durch  den  ungewohnten  Trunk,  den  er  ihm  reichte,  in  einen 
Weinrausch  verfiel,  und  verabredet  zugleich  mit  dem  Chore  die 
nöthigen  Vorbereitungen  zur  Blendung  des  Riesen.  Die  Satyrn, 
denen  sich  unerwartet  eine  Aussicht  auf  Erlösung  aus  der  Gefangen- 
schaft darbietet,  stimmen  ein  leichtes,  heiteres  Lied  an^®),  welches 
in  Form  und  Ton  ganz  an  die  Weise  der  späteren  Anakreontischen 
Lieder  erinnert.  Der  trunkene  Kyklop,  der  jetzt  wieder  auftritt 
und  mit  Odysseus  (der  bei  diesem  Anlasse,  nach  seinem  Namen  be- 
fragt, sich  als  Nieman(P°°)  bezeichnet)  Worte  wechselt*"),  gleicht 
eher  einem  gemeinen  Athener,  der  im  Weinrausche  Nachts  durch 
die  Strafsen  zieht,  als  dem  Unholde  des  alten  Volksmärchens.  Die 
folgende  Scene,  wo  Odysseus,  nachdem  der  Kyklop  mit  Silenus  sich 
in  die  Höhle  zurückgezogen  hat,  mit  dem  Chore  die  Ausführung  der 
Rache  bespricht,  dient  nur  dazu,  die  ängstliche  Feigheit  der  Satyrn 
anschaulich  zu  machen.  Während  Odysseus  in  der  Höhle  den  glühen- 
den Pfahl  in  das  Auge  des  Kyklopen  stöfst,  singt  der  Chor  ein  Paar 
Verse,  wie  überhaupt  summarische  Kürze  den  Schlufs  des  Dramas 
kennzeichnet.  Indem  der  geblendete  Polyphemus  sich  vergeblich 
abmüht,  den  verhafsten  „Niemand"  zu  fassen,  um  sich  an  dem  Ur- 
heber seines  Unglücks  zu  rächen,  verhöhnt  der  Chor  den  ohnmäch- 
tigen, unbehülflichen  Riesen.     Odysseus  nennt  jetzt  seinen  wahren 

298)  Bezeichnend  ist  die  Polemik  gegen  die  bestehenden  Rechtsordnungen 
(338),  in  der  sich  jene  Zeit  gefiel. 

299)  Kykiops  49(i  (T. 

300)  OItis. 

301)  Die  breit  ausgefährten  Scherze  Ober  den  BÖMxiof  9e6«  521  fT.  sind 
ziemlich  frostig. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  III.EURIP.    565 

Namen.  Der  Kyklop  erinnert  sich  eines  alten  Schicksalsspruches, 
und  Odysseus  zieht  unter  den  Drohungen  seines  Feindes  mit  dem 
Chore  ab. 

Eine  tiefere  Absicht  wird  niemand  in  diesem  scherzhaften  Nach- 
spiele suchen ;  am  wenigsten  ist  es  dem  Euripides  darum  zu  thun, 
die  götthche  Gerechtigkeit  zu  retten.  Wenn  Odysseus  sagt^),  die 
Götter  seien  verpflichtet,  ihn  aus  dieser  Noth  zu  helfen,  denn  sonst 
gäbe  es  nur  einen  bhnden  Zufall,  dem  die  Götter  selbst  gehorchen 
müfsten,  so  wiederholt  der  Dichter  nur  eine  ihm  geläufige  Phrase, 
wie  auch  schon  früher  sich  Odysseus  in  ähnlichem  Sinne  geäufsert 
hatte.*^)  Euripides  verleugnet  auch  hier  seine  skeptische  Stimmung 
nicht ^);  ebenso  wenig  versäumt  er  die  gewohnten  Schmähreden 
gegen  Helena  zu  wiederholen.  Demungeachtet  erfüllt  der  Kyklops, 
indem  er  den  schalkhaften  Ton  des  Satyrspiels  festhält,  seinen  Zweck 
weit  besser  als  jene  Dramen,  welche  zwischen  Tragödie  und  Komö- 
die in  der  Mitte  stehen  und  unwillkürlich  zur  Parodie  des  Mythos 
werden.  Freilich  wenn  uns  ein  Satyrdrama  des  Aeschylus  oder  eines 
anderen  älteren  Tragikers  erhalten  wäre,  dann  dürfte  neben  dem 
kecken,  grofsartigen  Humor  jener  Dichter  der  Kyklops  des  Euripides 
ziemlich  matt  und  farblos  erscheinen. 

Der  Einflufs  des  Euripides  war  mächtiger  als  der  der  anderen  EinQufs  des 
Tragiker;  schon  die  unmittelbaren  Zeitgenossen  können  sich  dieser  ""'"  "' 
Wirkung  nicht  entziehen.  Die  stilistische  Kunst,  welche  selbst  die 
entschiedensten  Gegner  anerkennen  müssen,  ist  nicht  nur  für  die 
tragische  Dichtung  dieser  Epoche,  sondern  auch  für  Aristophanes 
und  andere  gleichzeitige  Komiker  ein  Gegenstand  nacheifernder  Be- 
wunderung. Die  spätere  Tragödie  folgt  fast  ganz  der  Führung  des 
Euripides**^),  aber  auch  das  jüngere  Lustspiel  schhefst  sich  hinsicht- 
lich der  Technik  seit  Philemon  und  Menander  so  eng  an  dieses 
Vorbild  an,  als  es  die  Verschiedenheit  der  Aufgabe  gestattete.    Ebenso 


302)  Kyklops  606.     Ebenso  gut  könnte  man  in  der  Rede  des  Kykiopen 
312  das  eigene  Glaubensbekenntnifs  des  Dichters  finden. 

303)  Kyklops  354  wird  derselbe  Gedanke,  nur  mit  mehr  Schärfe  and  Bit- 
terkeit, ausgesprochen. 

304)  Dafs  der  Kyklop  von  Zeus  und  den  Göttern  nichts  wissen  will,  ist 
ein  Zug,  den  Euripides  schon  bei  Homer  vorfand. 

305)  Lykophrons  Alexandra,   obwohl  durchaus  von   der  Weise  des  Euri- 
pides abweichend,  zeigt  doch  in  der  Sprache  zahlreiche  Reminiscenzen. 


566  DRITTE   PEBIODE    V0>    500  BIS  300  V.  CHR.  G, 

verdanken  Dichter  der  verschiedensten  Gattungen  dem  Enripides 
mannigfache  Anregung.  Unter  den  Epikern  verräth  hesonders  Non- 
nus  den  Einflufs  des  Euripides,  dann  viele  der  jüngeren  Epigram- 
mendichter bis  herab  auf  die  Byzantiner.  Sein  unleugbares  redne- 
risches Talent  zog  vor  allem  die  an,  welche  sich  dem  Studium  der 
Beredsamkeit  widmeten,  während  die  Philosophen  der  verschieden- 
sten Schulen  in  dem  Dichter  einen  Geistesverwandten  erblickten.**} 
Daher  begegnen  sich  Schriftsteller,  verschieden  an  Charakter  und 
Beruf,  in  dieser  Vorliebe  für  Euripides,  wie  Plutarch  und  Lukian. 
dann  vor  allem  die  Bomanschreiber. 

Diese  Wirkung  beschränkt  sich  nicht  auf  das  Gebiet  der  hel- 
lenischen Zunge;  nirgends  vielleicht  fand  Euripides  so  treue  und 
eifrige  Verehrer  als  in  Bom.  Es  ist  natürlich,  dafs  die  Bömer  sich 
zunächst  hauptsächlich  in  üebersetzungen  und  Nachbildungen  Euri- 
pideischer  Dramen  versuchten ,  während  man  zur  Nachahmung  des 
Sophokles  und  Aeschylus  erst  später  fortschritt.  Des  Euripides  Name 
war  der  populärste,  seine  Poesie  sagte  der  herrschenden  Zeitrichtung 
am  meisten  zu;  zumal  Ennius,  dessen  nüchtern-verständiges  Wesen 
weit  mächtiger  war  als  seine  poetische  Begabung,  scblofs  sich  bei 
seinem  entschieden  ausgesprochenen  Streben,  im  Sinne  der  Auf- 
klärung zu  wirken,  auf  das  Engste  an  Euripides  an.  Später  ward 
Euripides  nicht  nur  von  den  Tragikern,  wie  Seneca,  sondern  auch 
von  anderen  fleifsig  benutzt.  Ovid,  dessen  Poesie  so  recht  auf  rhe- 
torischer Grundlage  ruht,  war  einer  der  gelehrigsten  Schüler  des 
attischen  Dichters.  Theils  durch  Vermittelung  der  römischen  Lite- 
ratur, theils  direkt  hat  die  Poesie  des  Euripides  lange  Zeit  auf  das 
Drama  der  Modernen  als  mafsgebendes  Vorbild  eingewirkt. 

Euripides'  Dramen  wurden  überall,  wo  es  ein  Theater  gab,  vor- 
gestellt und  erfreuten  sich  ungetheilten  Beifalls.'"'}  In  Ermangelung 
einer  Schauspielertruppe  pflegte  >Mohl  auch  ein  wandernder  Künst- 
ler eine  Tragödie  vorzulesen,  um  das  allgemeine  Verlangen  zu  be- 
friedigen.*")    Nicht  minder  zahlreich  war  der   Kreis  eifriger  Leser. 

306)  Welch  ausgedehnten  Gebrauch  von  Citaten  aus  Euripides  Chrysip- 
pus  machte,  bezeugt  Diogen.  Laert.  VII  c,  3,  7  (180).  Ebenso  gehörte  Krantor 
zu  den  Bewunderern  des  Tragikers,  Diogen.  Laert.  IV  c.  5,  Ü  (26). 

307)  Welche  Wirkungen  der  Enthusiasmus  für  Euripides  bei  einem  er- 
regbaren Publikum  hervorzurufen  im  Stande  war,  vergegenwärtigt  die  ergöti- 
liche  Anekdote  von  den  Abderiten  (Lucian  hisloria  quomodo  conscribenda  sit  1). 

308)  Eine  anschauliche  Schilderung  einer  solchen  Vorlesung   in  Hispalis 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLLTHEZEIT.  III.  EÜRIP.    567 

Daher  waren  nicht  nur  einzelne  Verse  und  Denksprüche,  sondern 
auch  längere  Reden  oder  Erzählungen  und  Lieder  des  Tragikers 
jedem  Gebildeten  gegenwärtig.*")  Die  Grammatiker  führten  der 
Jugend  diese  Leetüre  zu.  Die  Lehrer  der  Redekunst  empfahlen  sie 
nachdrücklich  als  unübertroffene  Vorbilder.  So  hat  Euripides  auf 
die  Denk-  und  Sinnesweise  der  folgenden  Jahrhunderte  einen  weit- 
reichenden Einflufs  ausgeübt. 

Die  Hoheit  des  Aeschylus,  die  Milde  des  Sophokles  ging  nicht 
spurlos  an  der  bildenden  Kunst  vorüber;  allein  die  Poesie  des  Euri- 
pides hat  für  die  Entwicklung  der  Plastik  und  Malerei  eine  ungleich 
höhere  Bedeutung  gewonnen.  Von  ihr  gilt  das  Wort  des  Simonides, 
dafs  die  Poesie  eine  redende  Malerei,  die  Malerei  eine  stumme  Poe- 
sie sei.  Am  augenfäUigsten  tritt  dieser  Einflufs  hervor,  wenn  wir 
sehen,  wie  durch  die  Hand  des  Bildhauers  oder  Malers  Charaktere 
der  Euripideischen  Tragödien,  bekannte  Scenen  aus  seinen  Dramen 
mit  sichlücher  Vorliebe  reproducirt  werden.^'")  Allein  nicht  blofs 
in  dieser  materiellen  Weise,  sondern  vor  allem  anregend  wirkt  der 
Tragiker  auf  die  grofsen  Künstler  der  nächsten  Zeit  und  der  Dia- 
dochenperiode.  Die  bildende  Kunst,  deren  Entwicklung  mit  der 
Poesie  nicht  gleichen  Schritt  geht,  sondern  ihr  folgt,  war  eben  da- 
mals in  dasselbe  Stadium  eingetreten,  welches  die  tragische  Dichtung 
durch  Euripides  erreichte.  In  der  Hinneigung  zu  einer  natura- 
listischen Auffassung,  in  dem  Streben  nach  Effekt,  in  der  Richtung 
auf  das  Pathetische  begegnet  sich  die  Plastik  und  Malerei  dieser  Zeit 


in  Spanien  giebt  Eunapius  S.  80,  vgl.  Philostr.  Vit.  Apoll.  V  9.  Auch  hier,  wie 
in  Abdera,  wird  die  Andromeda  vorgetragen  und  ruft  an  beiden  Orten  die 
gleiche  Wirkung  hervor. 

3091  Alexander  der  Grofse  führte  bei  jeder  Gelegenheit  Verse  des  Euri- 
pides im  Munde,  s.  Athen.  XII  537  D  (wieder  wird  Andromeda  genannt),  Plut. 
Alexander  c.  51.  53).  Euripides'  Dichtungen  waren  eben  Gemeingut;  daher  wird 
auch,  abgesehen  von  Homer  und  Menander,  kein  anderer  Dichter  bei  den  Späteren 
so  häufig  cilirt  als  Euripides.  Auch  die  Römer  schätzten  den  Tragiker  hoch; 
dem  0-  Cicero,  der  selbst  sich  im  Trauerspiele  versuchte,  erschien  jeder  Vers, 
jeder  Gedanke  des  Euripides  bedeutend,  ad  Fam.  XVI  S:  ego  certe  singi/los  eius 
versus  singula  eius  (man  hat  aXrjd'eias  vermulhet)  testimonia  puto. 

310)  Es  ist  irrig,  wenn  man  Zeichnungen  älterer  Vasenmaler,  wie  des 
Exekias,  auf  Euripides  zurückzuführen  versucht  hat.  Ebenso  mag  bei  den 
Werken  der  Späteren,  wie  bei  etruskischen  und  römischen  Grabdenkmälern 
auch  die  jüngere  Tragödie  überhaupt  mitgewirkt  haben. 


568  DRITTE   PERIODE  VON  500  BIS  300  V.  COR.  G. 

mit  Euripides.  Naturgemäfs  mufslen  die  grofsen  Meister  sich  vor- 
zugsweise von  dem  geistesverwandten  Dichter,  der  nach  gleichen 
Principien  arbeitete,  angezogen  fühlen,  und  so  ihre  Werke  mehr 
und  mehr  jenen  dramatisch-bewegten  Charakter  annehmen,  der  sie 
kennzeichnet. 
Beunheiiung        Euriüides  hatte  anfangs  keinen  leichten  Stand.    Da  er  die  be- 

d6S 

Euripides.  treten e  Bahn  nicht  verfolgen  mochte,  schlofs  er  sich  weder  an  Aeschy- 
lus,  noch  an  Sophokles  an,  sondern  geht  seinen  eigenen  Weg  und 
erwarb  sich  daher  nur  allmählich  Anerkennung.  Seine  äufseren  Er- 
folge waren  niemals  glänzend.  Oft  erregte  er  das  lebhafte  Mifs- 
fallen  des  Publikums;  besonders  an  den  skeptischen  Ausfällen  des 
Euripides  nahm  der  gesunde  Sinn  des  Volkes  Anstofs.^")  Die  Athener 
waren  gewohnt,  an  ihren  Dichtern  scharfe  Kritik  zu  üben;  so  hat 
es  dem  Euripides  niemals  an  Gegnern  und  leidenschaftlichen  Tad- 
lern gefehlt.  Keiner  hat  ihn  mit  solcher  Ausdauer  und  Consequenz 
angegriffen  als  Aristophanes;  noch  zuletzt  wird  in  den  Fröschen  über 
den  todten  Tragiker  und  seine  Poesie  ein  unbarmherziges  Gericht 
gehalten.  Ebenso  scheinen  die  anderen  gleichzeitigen  Komödien- 
dichter, wenn  sie  auch  schonender  verfuhren ,  dem  Tragiker  nicht 
gerade  freundHch  gesinnt  gewesen  zu  sein.  Allein  gerade  diese 
scharfe  und  mitunter  einseitige  oder  übertriebene  Kritik  der  Komi- 
ker beweist  am  besten,  welche  Bedeutung  jene  Bichtung  hatte,  die 
Euripides  mit  Ausdauer  verfolgte.  Und  aller  dieser  Anfechtungen 
ungeachtet  dringt  der  Dichter  durch;  anfangs  huldigte  wohl  haupt- 
sächlich die  jüngere  Generation  dem  Vertreter  der  neuen  Bichtung."*) 


311)  Seneca  Epist.  115, 15,  wo  eine  Stelle  über  die  Macht  des  Goldes  über- 
setzt wird:  cum  hi  tiovissivii  versus  in  tragoedia  Euripidis  pronuntiati  essent, 
latus  populus  ad  eiciendutn  et  aclorem  et  Carmen  consurrexit  uno  impetu, 
donec  Euripides  in  medium  ipse  prosilivit  petens,  ut  oxspectarent  vlderent- 
que,  quem  admirator  auri  exitum.  faceret:  dabat  in  illa  fahula  poenas  Bel- 
liTophontes.  Auch  diese  Stelle  mag  Anstofs  erregt  haben,  aber  sicherlich  vor 
allem  die  freigeistigen,  irreligiösen  Aeufserungen  des  Helden,  auf  die  jene  Anek- 
dote sich  ursprünglich  beziehen  mochte.  In  ähnlicher  Weise  vertheidigt  sich 
Euripides  gegen  den  Tadel  seines  Ixion :  ov  fte'vrot  TtQÖxtQov  avri>v  ix  Ti;i 
otnjvf}«  i^Tjyayov,  rj  Tq>  TQOxq>  nQoar]Xö>aat  (Piutarch  de  aud.  poet.  4).  Der  Ein- 
gang der  Melanippe  rief  einen  Sturm  des  Unwillens  im  Theater  hervor  (Plut. 
Erotik.  13:  axovm  Si  Stjtiov  rov  Ev^tniSrjv,  (oe  id'oqvßrj&ri  noirceifttvoe 
ciQXV*'  ■'^  MtXavlnnrit). 

312)  Vgl.  Aristophanes  Wolken  1 370  ff. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRIPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  III.  ELRIP.    569 

Allmählich  wird  er  der  entschiedene  LiebUng  des  Publikums'"); 
selbst  Gegner  und  Widerstrebende  können  seinem  Einflüsse  sich 
nicht  entziehen.  Man  kann  aber  nicht  behaupten,  dafs  Euripides 
mit  unwürdigen  Mitteln  um  Gunst  geworben  oder  jeder  augenbhck- 
lichen  Laune  und  Neigung  der  Menge  gehuldigt  habe.  Euripides  war 
dem  Pubhkum  gegenüber  eher  schroff  und  weit  davon  entfernt,  sich 
unbedingt  seinem  Geschmacke  zu  fügen,  wo  derselbe  mit  der  eige- 
nen Ueberzeugung  nicht  stimmte.'")  Aber  indem  er  dem  veränder- 
ten Geiste  der  Zeit  mit  vollem  Bewufstsein  sich  anschliefst  und  den- 
selben in  seiner  Kunst  zur  Geltung  zu  bringen  sucht,  konnte  dem 
talentvollen,  reichbegabten  Dichter  schhefslich  der  Erfolg  nicht  fehlen. 
Bei  Lebzeiten  des  Euripides  waren  die  Meinungen  getheilt;  nach 
seinem  Tode  gestaltet  sich  das  ürtheil  immer  günstiger.  Die  jün- 
geren Tragiker  standen  alle  unter  seinem  Einflüsse,  und  doch  war 
keiner  fähig  ihn  zu  erreichen  oder  zu  ersetzen;  daher  stieg  Euri- 
pides in  der  allgemeinen  Achtung.  Plato  spricht  von  ihm  mit  An- 
erkennung''^); Aristoteles  berücksichtigt  in  der  Poetik  nächst  So- 
phokles hauptsächhch  den  Euripides,  obwohl  er  seine  Schwächen 
nicht  verkennt.  Beide  Dichter  gelten  ihm  als  die  vorzügUchsten  Ver- 
treter der  tragischen  Kunst.^'®)  Die  Kritik  der  Alexandriner  sucht, 
unbeirrt  durch  die  widersprechenden  Beurtheilungen ,  welche  der 
Dichter  bei  den  Früheren  erfahren  hatte,  Lob  und  Tadel  auf  ein 
richtiges  Mafs  zurückzuführen'");  später  tauchen  ohnmächtige  Ver- 


313)  Dies  bezeugt  Aristophanes  in  den  Fröschen:  Dionysus,  den  die  Sehn- 
sucht nach  dem  dahingeschiedenen  Dichter  in  den  Hades  hinabführt,  erscheint 
als  Repräsentant  der  allgemeinen  Stimmung. 

314)  Valer.  Max.  111  7,  Ext.  1 :  ne  Euripides  quidem  Athenis  adrogans  visus 
est,  cum  postulante  m  popiilo,  ut  ex  tragoedia  quandam  sententiam  tolleret, 
progressus  in  scaenam  dixil  se,  ut  eum  doceret,  non  ut  ab  eo  disceret,  fabulas 
componere  solere.  Die  Abänderung,  welche  Euripides  mit  dem  Eingange  der 
Melanippe  vornahm  (Plut.  Erotik.  13),  war  nur  eine  scheinbare  Nachgiebigkeit. 

315)  Plato  Rep.  VIII  568  A:  ovx  iros  tj  ze  TQaywSia  oXcos  aoföv  Soxei 
elvat  xai  6  Ev^tniSr;s  Siatpioajv  iv  avTTj,  wo  der  Philosoph  eben  nur  das 
allgemeine  Urtheil  ausspricht. 

316)  Der  Redner  Aeschines  c.  Timarch.  153  schreibt:  6  ovSevos  t^tov 
aoipos  räv  noir^TÖtv  ElgmiSrie,  Lykurg  c.  Leokr.  100:  Sio  xai  Stxaicos  av  ru 
Ev^miSrjv  inaivt'aeur,  ort  ra  re  ä).X  ojv  aya&os  TtotTjrfjS  xai  rovrov  tov 
ftvd'of  (vom  Opfertode  der  Tochter  des  Erechtheus)  TtqoEiXsto  noir^oat.  In  der 
mittleren  Komödie  ist  der  (PiXevqmiSr^s  (Com.  I  341  M.)  eine  beliebte  Bühnenfigur. 

317)  Namentlich  Aristophanes  von  Byzanz  und  Didymus,  die  keineswegs 


570  DRITTE    PERIODE    VON    500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

suche  in  apologetischer  Richtung  auf.  Euripides  steht  der  Denk- 
und  Gefühlsweise  der  Neueren  näher  als  irgend  ein  früherer  helle- 
nischer Dichter.  Daher  war  er  nicht  nur  der  erklärte  Liehling  der 
Alexandriner  und  der  Römer,  sondern  er  hat  auch  lange  Zeit  hei 
den  Neueren  ausschliefsliche  Gunst  genossen,  während  Aeschylus  und 
Sophokles  nur  geringe  Beachtung  fanden.  Aher  ehen  diese  Ueher- 
schätzung  mufste  den  Widerspruch  hervorrufen.  Hatte  man  früher 
unbedingt  alles  an  Euripides  bewundert,  so  gefiel  sich  später  die 
Kritik  darin ,  den  Ruhmeskranz  des  Tragikers  schonungslos  zu  zer- 
pflücken. Aber  immer  von  neuem  ward  der  Versuch  einer  Ehren- 
rettung gemacht.  Wenn  die  Vergleichung  mit  seinen  Vorgängern 
nicht  zu  Gunsten  des  Euripides  ausfallen  konnte,  so  stellen  seine 
Freunde  den  Grundsatz  auf,  man  müsse  ihn  mit  einem  anderen  Mafs- 
stabe  messen.  So  schwankt  das  Urtheil  über  Euripides  noch  immer 
zwischen  unvereinbaren  Gegensätzen. 

Wenn  kein  anderer  Dichter  zu  seiner  Zeit  Gunst  und  Ungunst 
in  solchem  Mafse  erfahren  hat  und  wenn  die  gleiche  Erscheinung 
sich  später  wiederholt,  so  kann  dies  eigentliümliche  Schicksal  des 
Euripides  nur  aus  dem  zwiespältigen  Wesen  seiner  Poesie  erklärt 
werden.  Wir  blicken  hier  in  eine  geistige  W'ell,  wo  die  verschie- 
denartigsten Elemente  mit  einander  kämpfen.  Licht  und  Schalten 
sind  fast  gleichmäfsig  vertbeilt;  was  den  einen  anzieht,  stOfsl  den 
anderen  zurück.  In  ästhetischer  wie  in  sittlicher  Beziehung  fordert 
der  Dichter  überall  die  Kritik  heraus,  und  es  wird  schwer,  ihm  ge- 
recht zu  werden.  Es  ist  viel  leichter,  die  Schwächen  und  Mängel 
seiner  Poesie,  welche  in  die  Augen  springen,  als  die  Schönheiten 
und  Vorzüge  ins  rechte  Licht  zu  setzen.  Euripides  entbehrt  jener 
inneren  Harmonie,  die  wir  bei  den  anderen  grofsen  Tragikern  an- 
treffen. Legt  man  ein  Drama  von  Aeschylus  oder  Sophokles  aus 
der  Hand,  so  wird  man  nie  ohne  das  Gefühl  eines  reinen  Genussos 
scheiden.  Die  Hoheit  und  Gröfse  des  einen,  wie  die  milde  Klarheit 
und  der  Adel  des  anderen  werden  nicht  leicht  verfehlen  uns  in  (He 
rechte  Stimmung  zu  versetzen,  mag  auch  immerhin  Einzelnes  unse- 
rer Emi)findungsweise  widerstreben  oder  den  Forderungen  eines 
gesteigerten    Kunstsinnes    nicht    völlig    entsprechen.      Ganz    aiidcrs 


darauf  ausgelien,  wie  die  Späteren,  die  Mängel  der  Euripideischen  Kunst  zu 
rechtfertigen ;  man  vergleiche  besonders  die  Schoiien  zur  Andromache. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  III.  EURIP.    571 

Euripides.  Einzelnes  ist  von  unvergleichlicher  Schönheit  und  üht 
die  mächtigste  Wirkung  aus,  aber  das  Ganze  wird  uns  selten  wahr- 
haft befriedigen  und  jene  befreiende  Gewalt  bekunden,  welche  aller 
echten  und  gesunden  Poesie  eigen  ist. 

Und  doch  ist  Euripides  trotz  seiner  Verirrungen  ein  reich  be- 
gabter, bedeutender  Geist;  er  war  eigentlich  der  letzte  grofse  Dich- 
ter, den  Athen,  den  Griechenland  hervorgebracht  hat,  der  eben,  weil 
er  an  der  Grenzscheide  zweier  Epochen  steht,  schon  vielfach  auf 
die  Zukunft  hindeutet  und  ihre  Entwicklung  wesentlich  bestimmt. 
Als  Euripides  auftrat,  hatte  die  hellenische  Poesie  ihren  Höhepunkt 
bereits  erreicht.  Das  entschiedene  Hervortreten  des  Subjektiven,  das 
Vorherrschen  der  Reflexion  ist  ein  deutliches  Zeichen  des  heran- 
nahenden Verfalls  der  Kunst.  Bei  Euripides  ist  dieses  Element 
mächtiger  als  bei  jedem  anderen.  Seine  Stücke  tragen  mehr  oder 
weniger  den  Charakter  der  Selbstbekenntnisse  an  sich ;  alles  ist  vom 
Eindrucke  des  Augenblickes  abhängig,  wie  für  die  Wirkung  des  Augen- 
blickes bestimmt.  Es  ist  oft  weit  mehr  ein  psychologisches  und  cultur- 
geschichlliches  als  ein  ästhetisches  Interesse,  welches  hier  Befriedigung 
findet.  Aber  gerade  weil  diese  Dramen  ein  getreues  Abbild  der 
Kämpfe  jener  Zeit  sind,  wie  von  dem,  was  der  Dichter  erlebte  und 
was  ihn  innerüch  beschäftigte,  ergriffen  sie  mit  wunderbarer  Gewalt 
die  Zeitgenossen  und  gleichgestimmte  Gemüther  der  folgenden  Jahr- 
hunderte. 

Da»  innere  Leben,  das  dichterische  Schaffen  des  Euripides  hängt 
durch  unsichtbare  Eiden  mit  der  Gegenwart  zusammen;  sein  reiz- 
bares Gemüth  ist  für  alle  Eindrücke  empfänghch.  Alle  Bestrebungen 
der  Zeit  wirken  mehr  oder  minder  auf  diese  universelle  Natur  ein ; 
seine  dramatischen  Arbeiten  sind  recht  eigentlich  Erzeugnisse  der 
verworrenen,  disharmonischen  Welt,  die  ihn  unigiebt.  IS'ur  wer  ge- 
nau vertraut  wäre  mit  der  Gemüthsverfassung  des  Dichters  wie  mit 
den  allgemeinen  Zuständen,  vermöchte  uns  das  volle  Verständnifs 
dieser  Werke  zu  erschliefsen.  Die  Zeit,  welcher  der  Dichter  ange- 
hört, ist  eine  äufserst  bewegte;  sie  ist  durchaus  erfüllt  von  einem 
revolutionären,  widerspruchsvollen  Geiste;  ein  tiefer  Bruch  geht  durch 
sie  hindurch.  Dieser  Zweifel,  diese  Zerrissenheit  war  nichts  weniger 
als  günstig  für  die  Pflege  echter  Poesie,  welche  Sammlung,  ruhiges 
und  gefafstes  Wesen  erheischt.  Euripides  ist  ganz  ein  Kind  dieser 
Zeit;  seine  zart  organisirte  Natur  empfindet  alle  diese  Unruhe  und 


572  DRITTE    PERIODE    VON    500  BIS  300  V.  COR.  G. 

Zerrissenheit  mit;  ein  zwiespältiges  Wesen,  eine  trübe,  trostlose  An- 
sicht der  Welt  tritt  uns  überall  bei  ihm  entgegen.  Während  das 
Gemüth  des  Sophokles  sich  mit  dem  überlieferten  Glauben  beruhigt, 
ist  bei  Euripides  eine  kalte,  skeptische  Betrachtung,  eine  rationali- 
stische Auffassung  der  Dinge  herrschend. 
Frauen-  Es  ist  immer  ein  Zeichen  einer  sinkenden  Zeit,  wenn   in  der 

Charaktere.  Ljteratur  das  weibHche  Element  vor  dem  männlichen  bevorzugt  wird; 
darin  äufsert  sich  eben  die  übermächtig  werdende  Subjektivität.'") 
Gefordert  wird  diese  Richtung  dadurch,  dafs,  wenn  eine  Gattung  der 
Kunst  ihren  Höhepunkt  erreicht  hat,  man  vor  allem  darauf  ausgeht, 
neue,  noch  nicht  verbrauchte  Stoffe  zu  gewinnen.  Daher  treten 
auch  bei  Euripides  weibHche  Charaktere  entschieden  in  den  Vorder- 
grund. Mindestens  in  der  Hälfte  seiner  Dramen  fallt  die  Hauptrolle 
oder  doch  ein  wesenthcher  Antheil  an  der  Handlung  Frauen  zu^'^); 
demgemäfs  wird  auch  der  Chor  meist  aus  Frauen  gebildet.  Ebenso 
ist  nicht  zu  verkennen,  dafs  dem  Dichter  die  Darstellung  weiblicher 
Charaktere  in  ungleich  höherem  Giade  gehngt.  Während  die  Män- 
ner nicht  seifen  als  charakterlose  Schwächhnge  erscheinen,  denen 
alle  Würde  abgeht,  zeigen  die  leidenschaftlichen  Frauen  eine  Ener- 
gie des  Willens  und  eine  Klarheit  des  Geistes,  die  uns  unwillkür- 
lich Theilnahme  einflöfst.  Auch  hier  wird  uns  ein  treues  Zeit-  und 
Sittenbild  geboten. 

Euripides  bringt  die  verschiedenartigsten  Frauencharaktere  auf 
die  Bühne.  Das  Motiv  der  Liebe,  in  der  älteren  Tragödie  nur  aus- 
nahmsweise benutzt,  hat  den  Dichter  vorzugsweiee  beschäftigt.  Doch 
reizte  ihn  nicht  so  sehr  die  Schilderung  zarter  innerer  Neigung, 
sondern  er  bewährt  sein  grofses  Talent  vor  allem  in  der  Darstellung 
heifser,  krankhafter,  frevelnder  Leidenschaft  (Phädra,  Kanake,  Sthe- 
neböa),  wie  in  der  Charakteristik  verführerischer  Frauen,  welche 
überall  Unheil  stiften  (Helena,  Aerope).  Die  Raserei  der  Eifersucht 
und  ungezügelte  Rachgier  (Medea,  Hekuba),  den  Gipfel  des  Wahn- 
sinns (Agaue  in  den  Rakchen)  weifs  Euripides  ergreifend  zu  schil- 
dern. List  und  Verschlagenheit  der  Frauen  ist  ein  Lieblingsthema; 
nicht  nur  Helena,  Medea  (im  Aegeus),  Ino  und  andere,  sondern  auch 

318)  Aufserdem  trägt  dazu  bei,  dafs  in  solchen  Zeiten  die  Frauen  sich 
häufig  noch  mehr  ursprüngliches  Wesen  bewahrt  haben. 

311))  Dramen,  in  denen  gar  keine  Frauen  auftraten,  wie  der  Philoktet, 
bilden  die  Ausnahme. 


DIE  DRAM. POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  III.  EURIP.    573 

reine  ISaturen  wie  Iphigeneia  haben  Freude  an  dem  künstlich  ver- 
schlungenen Spiel  der  Intrigue.  Indes  weifs  Euripides  auch  den 
Adel  der  Frauennatur  zu  zeichnen;  so  die  hingebende  Liebe  der 
Gattin  in  der  Alkestis,  die  Mutlerliebe  in  der  Danag;  dann  die  selbst- 
losen Heldinnen,  welche  wiUig,  ja  sogar  aus  freiem  Entschlüsse  ihr 
Leben  für  andere  aufopfern,  wie  Polyxena,  Iphigeneia,  Makaria.^^'') 

Euripides  ist  mit  den  Empfindungen  und  dem  Gemülhsleben 
der  Frauen  vollkommen  vertraut.  Er  hat  namentlich  ihre  Fehler 
und  Schwächen  gründUch  studirt.  Das  häusliche  Leben  zu  Athen 
wie  überall  in  Griechenland  befand  sich  damals  in  tiefem  Verfall; 
die  gedrückte  Stellung  der  Frauen  übte,  je  länger  je  mehr,  einen 
entsitthchenden  Einflufs  aus.  \N'enn  der  permanente  Kriegszustand, 
seitdem  der  Bruch  zwischen  Athen  und  Sparta  entschieden  war,  im 
Allgemeinen  auf  die  Morahtät  ungünstig  einwirkte,  so  scheint  auch 
die  Frauenwelt  davon  berührt  worden  zu  sein,  daher  Euripides, 
dessen  Phantasie  von  Anfang  an  Frauencharaktere  anzogen  und  leb- 
haft beschäftigten,  mit  sichtlicher  Vorliebe  immer  mehr  die  Schat- 
tenseite heraushebt.  Aber  der  Dichter  erscheint  hier  nicht  blofs  als 
ruhiger,  unbefangener  Beobachter  der  Wirkhchkeit;  die  beständigen, 
oft  wenig  motivirten  Auslalle  auf  die  Frauen  verrathen  eine  gewisse 
Gereiztheit.  Es  ist  nicht  zweifelhaft,  dafs  eigene  unglückliche  Er- 
fahrungen, die  zerrütteten  häushchen  Verhältnisse  mitwirkten.  Es 
ist  gewifs  nicht  Zufall,  dafs  der  Dichter,  dem  der  Frieden  einer 
glückhchen  Häuslichkeit  versagt  war,  in  seinen  Dramen  so  häufig 
Bilder  schlimmer  Frauen  zeichnet.  Diese  Schilderungen  sind  nicht 
nur  naturgetreu,  sondern  auch  reichlich  mit  tendenziöser  Zuthat  ge- 
sättigt. Der  Dichter  trägt  seine  Lehren  und  Warnungen  mit  dem 
Tone  fester  Ueberzeugung  vor,  welche  aus  eigener  Erfahrung  ent- 
springt. Jene  leidenschaftlichen  Invektivcn  sind  der  Ausdruck  des 
quälenden  Kummers,  der  des  Dichters  Gemüth  belastete.    (S.  S.  479  f.) 

Für  die  sittUche  Hebung  der  Frauenwelt  hat  Euripides  nichts 
gethan.  Er  geht  zwar  nicht  auf  die  Idee  der  Emancipation  ein,  die 
damals  auftauchte,  aber  ebenso  wenig  redet  er  der  Rückkehr  zu  der 
althellenischen  Sitte  das  Wort,  wo  die  Frau  allgemeinste  Achtung 
genofs  und  dem  Manne  als  würdige  Genossin  zur  Seile  stand,  son- 

320)  Im  Erechtheus  verhält  sich  die  zum  Opfer  bestimmle  Königstochter 
nur  leidend;  liier  war  der  Patriotismus  der  Mutter  (Praxithea)  in  den  Vorder- 
grund gerückt. 


574  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

dem  er  kennt  nur  ein  Mittel,  um  dem  einreifsenden  Verderben  zu 
steuern,  die  Verschärfung  des  Zwanges,  der  eben  die  Frauen  demo- 
ralisirt  hatte.  In  der  Berührung  mit  der  Aufsenwelt  findet  er  den 
Grund  aller  Uebelstände.  Der  Dichter,  der  vorzugsweise  Frauen  auf 
die  Bühne  bringt,  vergifst  nicht  leicht,  wenn  eine  Frau  sich  bücken 
läfst,  es  zu  entschuldigen.^*')  Dieser  Zug  dient  nicht  zur  Charakteristik 
der  heroischen  Zeit  (auf  eine  historisch  treue  Darstellung  ist  es  bei 
Euripides  überhaupt  nicht  abgesehen),  er  ist  auch  nicht  der  Gegen- 
wart entlehnt,  welche  solche  Dinge  schon  leicht  nahm,  sondern  es 
ist  dies  eine  persönliche  Ansicht  des  Dichters,  der  den  offenbaren 
Widerspruch,  in  den  er  sich  verwickelt,  gar  nicht  inne  wird. 
Charakter  An  dem  sittlichen  Charakter  des  Euripides  haftete  kein  Makel. 

des 

Euripides,  Die  Komodie,  welche  begierig  jede  Gelegenheit  ergreift,  um  den 
Tragiker  zu  verunglimpfen ,  würde  ihre  Neckereien  nicht  unterlassen 
haben. 

Das  Gemüth  des  Dichters  war  ernst  gestimmt  und  neigt  zu 
trüber  Weltanschauung  hin,  wie  dies  in  sinkenden  Zeiten  mehr  oder 
weniger  bei  jedem  grofsen  Manne  der  Fall  ist.  Herbe  persönliche 
Schicksale  trugen  dazu  bei,  diese  JNaluranlage  zu  steigern.  Daher 
wird  uns  Euripides  als  finster  und  verbittert  geschildert;  herzliches 
Lachen  war  ihm  unbekannt,  nicht  einmal  beim  Weine  gab  er  sich 
dem  Scherze  und  Spotte  hin.^**)  Auch  die  bildende  Kunst,  wenn 
sie  den  Dichter  darstellt^-^),  leiht  den  Gesichtszügen,  die  Geist  und 
Empfindung  verrathen,  den  scharf  ausgeprägten  Charakter  tiefen 
Ernstes,  der  nur  durch  einen  gewissen  gutmülhigen,  wohlwollenden 
Zug  gemildert  wird,  und  diese  Auffassung  entsprach  gewifs  der  Wirk- 
lichkeit. Dafs  Euripides  in  seiner  melanchohschen  Gemüthsverfassung 


321)  Wie  z.  B.  Phönissen  92,  Andromache  877. 

322)  Alexander  Aetolus  bei  Gellius  XV  20,  S,  Biograph  und  Suidas  I  2, 640. 
Der  Biograph  hebt  auch  den  starken  Bartwuchs  (vgl.  Aristoph.  Thesrooph.  190) 
und  die  Sommerflecken  im  Gesicht  hervor. 

323)  Von  Euripides,  der  später  die  gröTste  Popularilät  genofs,  sind  uns 
zahlreiche  Bildnisse  erhalten.  Aufser  einer  mehr  als  lebensgrofsen  Statue  im 
Museum  Ohiaramonti  zu  Rom  (wohl  eine  annähernd  treue  Reproduclion  der 
Bildsäule  im  allischen  Theater,  s.  oben  S.  38;  eine  andere  in  Konslantinopcl 
bcBchreibt  Christodorus  Anlh.  V  =  ep.  1  III  102  Jac.)  und  der  kleinen  Albanischen 
Statue  mit  dem  Verzeichnifs  der  Tragödien  (s.  S.  4H9,  A.  80)  kennl  man  mehrere 
Büslen  des  Dichters,  zum  Theil  Doppelhermen  (Euripides  mit  Sophokles  oder 
auch  Solen  vereinigt)  u.  a.  m. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.GRLPPE.  DIE  BLLTHEZEIT.  III.  EL'RIP.    0/0 

die  Stille  und  Einsamkeit  liebte,  ist  begreiflich,  und  es  hat  etwas 
Ansprechendes,  sich  den  Tragiker  zu  denken,  wie  er  am  hebsten 
in  einer  Felsgrotte  der  Insel  Salamis  verweilte,  den  Blick  auf  die 
bewegte  Fläche  des  Meeres  gerichtet,  sinnend  und  dichtend.  Daher 
erklärte  man  auch  die  entschiedene  Vorliebe,  mit  welcher  Euripides 
seine  Metaphern  und  bildlichen  Ausdrücke  dem  Meere  und  Schiffer- 
leben entlehnt.^-^)  Allein  Euripides  war  kein  Einsiedler,  der  grol- 
lend sich  vom  Leben  abwendet,  sondern  ungebrochenen  Muthes 
nimmt  er  den  Kampf  mit  den  Mächten  der  Welt  immer  von  neuem 
auf.  Der  Dichter  hat  in  die  verborgensten  Falten  des  menschlichen 
Herzens  geschaut  und  übt  die  Seelenmalerei  mit  vollendeter  Meister- 
schaft. Diese  seltene  Menschenkenntnifs  kann  er  sich  nur  durch 
unmittelbare  Berührung  mit  dem  bunten  Treiben  der  Welt  erwor- 
ben haben. 

Wie  Euripides  selbst  keine  rechte  Freude  am  Leben  hat,  wie 
er  den  inneren  Frieden  nicht  zu  gewinnen  vermag,  so  wenig  darf 
man  von  ihm  die  befreiende  Wirkung  erwarten,  welche  die  echte 
Poesie  ausübt.  Der  wahre  Dichter  nimmt  an  dem,  was  er  schafft, 
inneren  Herzensantheil.  Daraus  entspringt  eine  wohlthuende  Wärme 
und  Innigkeit,  die  sich  uns  unwillkürlich  mittheilt,  wenn  wir  die 
Dichtung  uns  aneignen.  Diese  Liebe  zum  Gegenstande,  die  das 
Werk  beseelt,  empfinden  wir  nicht  nur  bei  Homer,  der  in  dieser 
Hinsicht  einzig  dasteht,  sondern  auch  bei  Aeschylus  und  Sophokles. 
Dem  Euripides  war  jene  glückhche  Natur,  welche  mitten  in  den 
Widersprüchen  des  Lebens  die  innere  Harmonie  zu  wahren  weifs, 
versagt.  Das  Ringen  und  Kämpfen  seines  Geistes  führt  nicht  zum 
Siege,  sondern  zur  Resignation.  Er  behandelt  die  Bilder  seiner  Phan- 
tasie mit  einer  gewissen  Gleichgültigkeit;  daher  lassen  uns  auch 
seine  dramatischen  Gestalten  häufig  kaU.  Der  Dichter  fühlt  dies 
selbst;  ein  wehmüthiges  Geständnifs  liegt  in  den  Worten^):  nur 
aus  innerer  Herzensfreude  vermag  der  Dichter  etwas  zu  schaffen, 
was  andere  erfreut;  wen  eigenes  Leid  drückt,  der  solle  sich  von 
der  Musenkunst  fern  halten.  Ein  anderes  Mal  klagt  er'^,  die  alte 
Zeit  habe  wohl  Dichtungen  geschaffen,  um  die  Lust  froher  Tage  zu 

324)  Biograph:  od'sv  xai  i>c  d-aXäaariS  Xa/ußdret  ras  TiXeiove  tüv  OfWt- 
ä:itt(Ov. 

325)  Schutzflehendc  180. 

326)  Medea  190  ff. 


576  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

erhöhen,  aber  kein  Sänger  habe  verslanden  dem  schwer  beküm- 
merten Herzen  Trost  und  Hülfe  zu  gewähren.  Und  es  sieht  ganz 
wie  eine  Selbstschilderung  aus,  wenn  der  Chor  in  der  Alkestis 
singt ^"),  er  habe  alle  Höhen  und  Tiefen  durchforscht,  er  habe  es 
mit  des  Liedes  Klängen  und  der  Weisheit  Lehren  versucht,  aber 
gegen  die  bitlere  Nothwendigkeit  bieten  weder  des  Orpheus  fromme 
Weisen,  noch  die  Heilmittel  der  Asklepiaden  Abhülfe.  Man  sieht, 
wie  tief  Euripides  das  Bedürfnifs  empfindet,  sich  durch  des  Geistes 
rastlos  schaffende  Thätigkeit  über  das,  was  ihn  innerlich  quält,  zu 
erheben ;  aber  seine  Poesie  vermag  weder  ihm  noch  anderen  diesen 
Dienst  zu  leisten.^*®) 
Die  poiiti-  ßgjjj  handelnden  Leben   steht  Euripides,  der  sich  am  liebsten 

sehen  An-  '  ' 

sichten,  in  die  Einsamkeit  zurückzog,  fern,  aber  er  ist  den  Zeitereignissen 
gegenüber  nicht  theilnahmlos.  Dafs  er  mit  scharfem  Blicke  und 
steter  Aufmerksamkeit  die  politischen  Vorgänge  beobachtet,  beweisen 
seine  Dramen.  Wohl  kein  anderer  Tragiker  hat  so  eingehend  die 
Fragen  des  Tages  erörtert,  so  häufig  die  Zustände  der  unmittelbaren 
Gegenwart  berührt,  wie  Euripides,  der  eben  auf  diese  Weise  das 
Bild  der  fernen  Heroenzeit  zu  beleben  sucht.  Mehr  als  einmal  ist 
die  dramatische  Handlung  nur  eine  durchsichtige  Hülle  für  ganz 
bestimmte  politische  Zwecke,  wie  in  den  Herakliden ,  in  den  Schutz- 
flehenden und  in  der  Andromache.  Euripides  hat  nicht  den  Ehr- 
geiz, sich  auf  der  Rednerbühne  geltend  zu  machen.  Desto  rückhalts- 
loser sprach  er  vor  dem  l'ublikum  im  Theater  seine  Ansichten  über 
die  öfl^enthchen  Angelegenheiten  aus.  Hier  glaubte  er  den  rechten 
Boden  für  eine  gedeihliche  Wirksamkeit  zu  finden  und  so  dem  Staate 
mehr  nützen  zu  können,  als  durch  Betheiligung  an  dem  unruhigen 
Parteigetriebe.^) 

Ein  so  subjektiver  Charakter  wie  Euripides  ist  von  den  Slim- 

327)  Alkestis  9G2  ff. 

32b)  Eine  ganz  andere  Gesinnung  bekundet  Hesiod,  s.  Band  I  92G. 

329)  In  der  Anliope,  wo  der  Dichter  den  Gegensatz  zwischen  politischer 
Thätigkeit  und  dem  beschaulichen,  auf  geistige  Interessen  gerichteten  Leben 
schilderte,  halle  er  seine  Grundsätze  ausführlich  dargelegt.  Die  Schwierigkeiten, 
mit  denen  jeder,  der  damals  in  Alhen  sich  an  politischen  Dingen  betheiligte, 
zu  ringen  halte,  werden  öfter  nachdrücklich  hervorgehoben,  am  anschaulich- 
sten im  Ion  585  fr.;  und  wenn  hier  63 3  ff.  das  stille  Glück  einer  zurückge- 
zogenen Existenz  gepriesen  wird,  vernimmt  man  des  Dichters  eigenes  Glaubens- 
bekenntnifs. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  HI.ELRIP.    577 

mungen  des  Tages  abhängig;  daher  erscheinen  seine  poHtischen 
Anschauungen  wandelbar.  Im  Anfange  des  grofsen  Krieges  nimmt 
er  entschieden  für  Perikles  und  den  Krieg  Partei'^),  aber  bald 
nachher  agitirt  er  eifrig  für  den  Frieden.^')  Nach  dem  Frieden  des 
Mkias  geht  er  wieder  mit  Alkibiades  und  der  Kriegspartei  gegen 
Sparta  ^^),  wahrend  in  den  Schutzflehenden  noch  die  friedliche  Stim- 
mung vorwaltet.  Aber  wenn  auch  Euripides  sich  öfter  durch  die 
Ereignisse  oder  durch  seine  nähere  Umgebung  bestimmen  liefs,  so 
ist  er  doch  in  den  wesentUchen  Grundsätzen  sich  treu  und  gleich 
geblieben.  So  sehr  er  auch  mit  den  religiösen  Anschauungen  des 
Kritias  sympathisiren  mochte,  so  fern  steht  er  der  politischen  Rich- 
tung dieses  Staatsmannes  und  nimmt  niemals  weder  für  die  Oli- 
garchen  noch  auch  für  Sparta  und  die  Lakedämonier  Partei. 

Hingebende  warme  VaterlandsHebe  ist  ein  charakteristischer  Zug 
der  Poesie  des  Euripides.  Wiederholt  wird  der  Satz  ausgesprochen, 
es  giebt  nichts,  was  dem  Menschen  theurer  wäre  als  die  Heimath; 
daher  wird  auch  das  Unglück  der  Verbannung  überall  mit  den  leb- 
haftesten Farben  geschildert.  Nur  ein  schlechter  Mann  wird  sein 
Vaterland  gering  achten.  Wenn  es  sich  um  das  Wohl  des  Vater- 
landes handelt,  verstummt  jeder  Eigenwille,  jedes  egoistische  Inter- 
esse; der  rechte  Bürger  mufs  bereit  sein,  mit  Freuden  alles,  selbst 
sein  Leben  aufzuopfern.^^  Jede  Gelegenheit  benutzt  der  patrio- 
tische Dichter,  um  den  Ruhm  seiner  Vaterstadt  zu  verkünden.  Bald 
werden  die  natürlichen  Vorzüge  Attikas,  bald  der  Ruhm  der  Auto- 
chthonie,  das  Glück  einer  freien  Verfassung,  die  Humanität  und  das 
lebendige  RechtsgefOhl  seiner  Bürger,  der  empfängliche  Sinn  für 
geistige  Bildung  gepriesen. ^'^)  ISicht  minder  liebt  es  Euripides,  vater- 
ländische Stoffe  zu   bearbeiten^')   und  auch  sonst  gelegentüch  die 


330)  In  den  Herakliden. 

331)  Im  Erechtheus;  auch  im  Kresphontes,  der  derselben  Zeit  angehört, 
trat  diese  Tendenz  hervor. 

332)  In  der  Andromache. 

333)  Die  Verse  Euripides  fr.  ine.  1034  Di.  verrathen  nicht  sowohl  eine 
weltbürgerliche  Gesinnung,  sondern  sind  Worte  eines  aus  der  Heiraath  Ver- 
bannten, der  sein  Unglück  mit  Würde  trägt. 

334)  Und  zwar  nicht  blofs  in  den  Stücken,  wo  Attika  der  Schauplatz  der 
Handlung  war. 

335)  Lykurg  gegen  Leokr.  100  lobt  den  Euripides,  weil  er  in  seinem 

Rergk,  Griecb.  Literaturgeschichte  III.  37 


578  DRITTE    PERIODE    VON    500  BIS  300  V.  CHH.  G, 

Erinnerung  an  heimische  Institutionen  aufzufrischen.  Eben  deshalb 
zeigt  er  auch  aufrichtigen  Hafs  gegen  die  Feinde  seiner  Vaterstadt. 
Sparta  ist  der  Hauptgegenstand  seiner  Abneigung,  die  sich  unzwei- 
deutig und  nicht  immer  in  passender  Weise  kund  giebt."*)  Aber 
diese  Antipathie  gegen  die  Widersacher,  diese  warme  Theilnahme  für 
die  Grüfse  und  den  Ruhm  Athens  ist  frei  von  Engherzigkeit.  Das 
Gefühl  des  Zusammengehörens  der  hellenischen  Stämme,  das  Bewufst- 
sein  von  dem  hohen  Berufe  der  Nation  gegenüber  anderen  Völkern 
ist  ihm  gegenwärtig.  Häufig  wird  in  wirksamster  Weise  der  Gegen- 
satz zwischen  Hellenen  und  Barbaren  mit  Nachdruck  hervorgehoben."') 
Bald  dient  die  fremde  Herkunft  zur  Entschuldigung  und  Rechtfer- 
tigung, häufiger  wird  sie  als  Vorwurf  und  Anklage  benutzt.^*) 

Für  das  patriarchalische  Königthum  der  Vorzeit  hat  Euripides 
kein  Verständnifs.  Seine  Könige  auf  der  Bühne  werden  zu  Zerr- 
bildern der  Tyrannis,  oder  wenn  er  sie  in  volksfreundlichem  Lichte 
schildert,  bewahren  sie  kaum  einen  Schatten  der  fürstlichen  Gewalt. 
Euripides  bekennt  sich  überall  zu  hberalen  pohtischen  Ansichten, 
huldigt  entschieden  dem  Fortschritt.  Aber  er  ist  nichts  weniger  als 
Wortführer  der  damals  herrschenden  Ochlokratie;  er  hält  an  den 
Grundsätzen  der  altischen  Demokratie  fest"'),  ist  aber  nicht  blind 
gegen  ihre  Fehler  und  Ausartungen.  Manch  freies  Wort,  manche 
ernste  Rüge  wird  ausgesprochen.  So  tadelt  er  sehr  entschieden 
den  Mifsbrauch  und  schädlichen  Eintlufs  der  Redekunst  im  öffent- 
lichen Leben.  Die  Vorzüge  edler  Herkunft  und  grofscn  Besitzes 
weifs  der  Dichter  wohl  zu  schätzen,  aber  die  sicherste  Stütze  des 
Gemeinwesens  ist  ihm  der  Mittelstand;  der  Adel  der  Geburl,  der 
Reichthum  hat  nur  dann  Werth,  wenn  sittliche  Tüchtigkeil  und  ver- 

Erechtheus  durch  die  Wahl  dieses  Stoffes  seine  patriotische  Gesinnung  bekun- 
det habe. 

330)  In  den  letzten  Jahren  beobachtet  der  Dichter  in  diesem  Punkte  grörsere 
Mäfsigung. 

337)  Die  bekannten  Verse  in  seinem  letzten  Stücke  Iphigeneia  Aul.  14im): 
ßaqßä.Q(ov  8"'EXXt]vae  a^^siv  eixöe,  aXV  ov  ßa^ßä^ove,  fi^rcQ,  EXXr^'oiv  j'o 
[UV  yap  SoiiXov,  oi  S^  ikevd'BQoi  wiederholen  nur,  was  er  in  früheren  Jahren 
im  Tclephus  (fr.  717)  und  Philoktet  (adesp.  fi  '>  N.',  Di.  p.  362  B)  fast  mit  gleichen 
Worten  gesagt  hatte. 

338)  Vgl.  Medea  1330,  Andrem.  Ct'.>.  (Hiö. 

339)  Besonders  in  den  Schutzilehenden  benutzt  Euripides  die  Gelegen- 
heit, um  die  Principicn  der  Demokratie  darzulegen. 


DIE  DRAM,  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  III.EURIP.    579 

Ständige  Einsicht  damit  verbunden  sind,  die  auch  dem  armen  und 
geringen  Manne  nicht  versagt  sind.  Der  Dichter  ist  vorurtheilsfrei 
genug,  um  offen  auszusprechen,  dafs  von  Natur  alle  Menschen  gleich 
sind;  und  wenn  er  die  gleiche  Berechtigung  der  unechten  Kinder 
wiederholt  vertheidigt,  so  geht  er  über  die  Schranken  der  nationalen 
Anschauung  hinaus.  Nirgends  aber  tritt  die  humane  Gesinnung  des 
Dichters  so  deutlich  hervor,  als  wenn  er  die  Stellung  der  Sklaven 
berührt.  Es  ist  nicht  zufällig,  dafs  Euripides  Unfreie  so  häufig  ein- 
führt und  ihnen  wesentHchen  Antheil  an  der  dramatischen  Hand- 
lung zuweist;  daher  bietet  sich  überall  Anlafs  dai",  das  traurige  Loos, 
die  gedrückte  Lage  des  Sklaven  anschauhch  zu  schildern.  Euripides 
erkennt  auch  in  dem  Sklaven  die  menschhche  Würde  an.  Der  un- 
freie, der  trotz  der  Erniedrigung  der  Knechtschaft  den  angeborenen 
Adel  der  Menschheit  zu  behaupten  weifs,  ist  dem  freien  Manne  gleich 
zu  achten;  daher  verkehren  auch  die  Sklaven  bei  Euripides  mit 
ihrem  flerrn  gerade  wie  mit  Ihresgleichen.^"')  Mit  Vorhebe  wird  die 
treue  Hingebung  der  Diener  gegen  ihren  Herrn  geschildert;  aber  es 
fehlt  auch  nicht  an  Beispielen  milder  Gebieter.  Auch  hier  macht 
sich  Euripides  von  den  Vorurtheilen  seiner  Zeit  und  Umgebung  frei 
und  sucht  eine  bessere  Zukunft  vorzubereiten. 

Die  beständige  Polemik  gegen  Orakel,  die  besonders  in  den  Polemik 
reiferen  Jahren  bemerkbar  wird,  hängt  mit  der  skeptischen  An-  ^^^^^^ 
schauungsweise  des  Dichters  eng  zusammen ;  aber  auch  andere  Mo- 
tive wirkten  wohl  mit.  Der  damals  ganz  offenkundig  geübte  Mifs- 
brauch  der  Orakel  und  Sehersprüche  zu  selbstsüchtigen  Zwecken 
war  recht  geeignet,  die  Mantik  um  alle  Achtung  zu  bringen.  Delphi 
nimmt  während  des  peloponnesischen  Krieges  entschieden  für  Sparta 
Partei ;  daher  ist  es  nicht  auffallend,  wenn  die  Abneigung  des  Dich- 
ters gegen  Sparta  sich  in  gehässigen ,  oft  poetisch  gar  nicht  moti- 
virten  Schmähungen  des  delphischen  Orakels  äufsert.  Wie  die 
Gegensätze  sich  unmittelbar  berühren,  so  arbeiteten  damals  ent- 
schiedener Unglaube  und  dumpfer  Aberglaube  sich  gegenseitig  in 
die  Hand.  Mit  dem  Verschwinden  der  alten  Behgiosität  war  auch 
der  Glaube  an  solche  Offenbarungen  tief  erschüttert,  und  doch  em- 
pfand mau  bei  dem  Schwanken  aller  Zustände  das  Bedürfnifs  einer 

340)  Aristophanes  Frösche  949  spottet  nicht  mit  Unrecht  über  die  Red- 
seligkeit der  Sklaven  bei  Euripides,  denen  der  Dichter  selbst  philosophische 
Reflexionen  in  den  Mund  legt. 

37* 


580  DUITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

liüheren  Autorität;  dies  führte  die  Gemülher  der  Masse  immer  wieder 
zu  den  Orakeln  zurück.  Das  Unwesen  der  Spruchdeuter,  welche 
mit  echten  und  gefälschten  Prophezeiungen  bewufst  und  unhewufst 
als  willfährige  Werkzeuge  die  selbstsüchtigen  Bestrebungen  ehrgei- 
ziger Staatsmänner  unterstützten,  trat  in  Athen  gleich  beim  Anfange 
des  grofsen  Krieges  hervor.^")  Dieses  Treiben  erreichte  seinen  höch- 
sten Grad,  als  man  den  Feldzug  gegen  Sicilien  vorbereitete.  Der 
Kriegseifer  wurde  hauptsächlich  durch  Orakel  angefacht,  welche  die 
ausschweifendsten  Hoffnungen  hervorriefen. ^^^)  Besonders  Alkibiades 
benutzte  diese  Spruchdeuter  für  seine  Zwecke ;  alle  Warnungen  ver- 
ständiger Männer  wurden  überhört.  Bald  trat  eine  Ernüchterung 
ein,  da  die  hochfliegenden  Erwartungen  sich  nicht  erfüllten.  Als  die 
Sache  einen  ungünstigen  Verlauf  nahm  und  endlich  das  grofsartige 
Unternehmen  gänzlich  scheiterte,  wendete  sich  der  allgemeine  Zorn 
und  Unmuth  gegen  die  Orakel.'"^)  Euripides,  der  oftmals  nur  der 
Meinung  des  Tages  Ausdruck  giebt,  steigert  gerade  von  diesem  Zeit- 
punkte an  seine  Angriffe.^'*)  Vielleicht  mischt  sich  auch  eine  ver- 
sleckte Polemik  gegen  Sophokles  ein,  der  von  dem  mantischen  Ele- 
mente sehr  ausgedehnten  Gebrauch  macht.  So  berechtigt  der  Un- 
wille des  aufgeklärten  Dichters  in  diesem  Falle  war,  so  unpassend 
ist  es,  wenn  er  fortfährt  das  Orakel  als  Motiv  der  dramatischen 
Handlung  zu  benutzen. 

Nirgends  tritt  die  subjektive  Weise  des  Euripides  so  deutlich 
hervor,  wie  in  der  Behandlung  religiöser  Fragen.  Eine  entschieden 
skeptische  Stimmung  bricht  überall  hervor.  Der  Dichter  hat  seine 
Bekenntnisse  bald  leise  angedeutet,  bald  offen  und  rückhaltslos  aus- 
gesprochen; gerade  hier  können  wir  einen  Blick  in  sein  Inneres 
thun.  Das  ganze  Gemüthsleben  liegt  vor  uns  aufgeschlossen  da,  und 
es  ist  oft  mehr  das  pathologische  Interesse  am  Dichter  selbst,  was 
uns  zu  der  Lektüre  dieser  Dramen  zurückführt. 

Auch  der  Zweifel,   der   tief  in   des  Menschen  innerster  Natur 


341)  Thukyil.  II  21;  dats  dieselbe  Erscheinung  sich  auch  anderwärts  in 
Griechenland  wiederholte,  erhellt  aus  II  8.  Und  eben  in  diesem  Momente  «t- 
klärt  sich  Euripides  im  Philoktot  (fr.  7*»:^)  pnz  enl<«-hiedpii  i?»»iron  «!if  "\I.ii>tii\ 
und  ihre  Vertreter. 

342)  Plularch  Nik.  c.  i:i. 

343)  Thukyd.  VIII  1. 

'Mi)  Doch  hat  sicli  Euripides  niemals  jenen   lausihunijfii  Hingegeben. 


DIE  DRAM. POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.GRLPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  III.  EURIP.    581 

begründet  ist,  hat  seine  Berechtigung.  Je  tiefer  einer  die  ProLleme 
des  Menschenlebens,  die  unerforschlicheu  Geheimnisse  des  Glaubens 
und  der  göttlichen  Dinge  überdenkt,  desto  eher  werden  Zweifel  auf- 
tauchen und  die  Klarheit  des  Geistes,  den  Seelenfrieden  trüben; 
aber  diese  Unruhe,  dieses  Verzagen  darf  in  der  gesunden  Dichter- 
natur nicht  zur  herrschenden  Stimmung  werden.  Auch  Aeschylus  hat 
lange  und  viel  die  Räthsel  des  menschlichen  Daseins  erwogen,  aber 
er  wird  dieses  Zwiespaltes  Meister,  während  Euripides,  von  verzehren- 
der Unruhe  gequält,  beständig  zwischen  Widersprüchen  hin  und 
her  schwankt. 

Die  Art  des  Euripides,  religiöse  Fragen  zu  behandeln,  war  ganz 
geeignet,  die  Gemüther  zu  verwirren  und  ihnen  allen  Halt  zu  rauben ; 
denn  er  vermag  wohl  den  Glauben  an  die  HeiUgkeil  der  alten  Göt- 
terwelt zu  erschüttern,  aber  nicht  die  ewigen  Wahrheiten  in  reine- 
rer Form  mit  der  Kraft  innerer  Ueberzeugung  zu  verkünden.  Wohl 
treffen  wir  auch  bei  Euripides  einzelne  Stellen  an,  wo  er  in  wür- 
diger Weise  die  Götter  und  ihr  Walten,  die  Abhängigkeit  des  Men- 
schen von  höheren  Mächten  darstellt.  Euripides  hat  eben  oflenen 
Sinn  für  alles  Grofse  und  Bedrückende  und  weifs  mit  der  wunder- 
baren Kunst  seiner  einschmeichelnden  Redegabe  selbst  Ueberzeugun- 
gen,  die  er  nicht  theilt,  wirksam  vorzutragen.^'^)  Aber  diese  Aeufse- 
rungen  religiöser  Denkart  verschwinden  gegenüber  der  rationalisti- 
schen Kritik,  welche  an  der  alten  Sitte  und  dem  alten  Glauben 
geübt  wird ;  der  Geist  des  Zweifels  beherrscht  die  Poesie  des  Euripides, 
erscheint  als  der  eigentliche  Kern  seiner  religiösen  Weltanschauung. 

Nichts  berührt  so  unangenehm,  als  der  Mangel  einer  festen 
Ueberzeugung.  Wie  Euripides  den  verschiedenartigsten  Einflüssen 
ausgesetzt  war,  so  sind  auch  seine  Ansichten  schwankend;  wir  be- 
gegnen den  widersprechendsten  Aeufserungen ,  nicht  etwa  blofs  in 
verschiedenen  Dramen,  denn  dies  liefse  sich  entschuldigen,  sondern 
öfter  wird  in  einem  Athem  geradezu  Unvereinbares  ausgesprochen.^^) 


345)  Man  vergleiche  fr.  ine.  905,  wo  Euripides  die  Grübeleien  der  Natur- 
philosophen verwirft  und  den  für  einen  unseligen  Mann  erklärt,  der  nicht  beim 
Anschauen  dieser  Welt  Gottes  Wirken  inne  werde  (oe  raSe  Xetaawv  d'eov 
ovxi  voei). 

346)  In  den  Troaden  884  ff.  richtet  Hekabe  ihr  Gebet  an  den  Aether,  den 
sie  darum  mit  Zeus  für  eins  erklärt  und  zugleich  sein  Wesen  als  unbegreiflich 
hinstellt,  «i'z'  avöyvr]  fvaeoi  eire  voie  ß^oTtöv,   um  zuletzt  mit  vollständiger 


582  DRITTE    PERIODE    VON    500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

Das  letzte  Vermächtnifs  des  Tragikers,  die  Bakchen,  bieten  dafür 
zahlreiche  Belege.  Auf  den  ersten  Anblick  scheint  der  Dichter,  der 
dem  Ziele  seines  Lehens  nahe  war,  nach  langen  Kämpfen,  wenn 
auch  nicht  Ruhe,  doch  Resignation  gewonnen  zu  haben ;  sieht  man 
aber  genauer  zu,  so  tritt  der  innere  Zwiespalt  mit  aller  Macht  her- 
vor; Euripides  ist  sich  auch  jetzt  treu  geblieben.  Man  empfängt 
den  Eindruck,  als  sei  es  dem  Dichter  selbst  nicht  rechter  Ernst, 
als  treibe  er  mit  den  höchsten  Fragen  ein  frivoles  Spiel;  will  man 
ihn  von  dieser  Anklage  freisprechen,  dann  mag  mau  zusehen,  ob 
man  ihn  gegen  den  Vorwurf  äufserster  Unklarheit  des  Denkens  und 
der  Verwirrung  der  Begriffe,  die  sich  in  solchen  Widersprüchen  ver- 
räth,  in  Schutz  nehmen  kann. 

Die  hellenische  Göttersage  forderte  unwillkürlich  die  Kritik 
heraus.  Weder  vor  der  Reflexion  des  nüchternen  Verstandes,  noch 
vor  den  Lehren  einer  vorgeschrittenen  Naturkunde  konnte  sie  be- 
stehen, noch  weniger  aber  den  Anforderungen  einer  geläuterten 
Sittlichkeit  genügen.  Schon  längst  war  der  Polytheismus  kühnen 
Zweifeln  begegnet;  gerade  in  dieser  Zeit,  welche  alles  Bestehende 
einer  zersetzenden  Kritik  unterzog,  waren  die  reUgiösen  Leber- 
Heferungen  und  üeberzeugungen  den  heftigsten  Angriffen  ausgesetzt. 
Die  ganze  Richtung  des  Euripides,  seine  naturphilosophischen  Stu- 
dien, sein  vertrauter  Verkehr  mit  den  Sophisten,  den  Vertretern  der 
Aufklärung,  führte  nothwendig  zum  Zweifel.  Polemik  gegen  die 
Volksreligion  ist  immer  noch  mit  einer  rehgiösen  Denkweise  ver- 
einbart. Aber  Euripides  geht  weiter.  Die  Kritik  der  polytheistischen 
Götterwelt,  der  Tadel  der  Weltordnung,  die  ihm  ungerecht,  planlos, 
willkürlich  erscheint,  steigert  sich  zum  Leugnen  des  Göttlichen  über- 
haupt. So  behandelt  Euripides  den  Zeus  mit  ganz  besonderer  Ungunst, 
mit  ausgesuchtestem  Hohne.  Eine  unübersteigliche  Kluft  scheidet 
das  in  sich  zerfallene  Gemüth  des  Euripides  von  dem  tiefreligiösen 
Sinne    des  Aeschylus.^")      Auf  diese    skeptische   Betrachtungsweise, 


Accoiumodation  an  den  Volksglauben  d;is  göttliche  Strafgericiit,  welches  iiher 
den  Menschen  waltet,  anzuerkennen.  Und  zwar  kokettirt  der  Dichter  mit  die- 
sen verwirrten  Plirasen ;  denn  damit  auch  der  harthörige  Zuschauer  aufmerk- 
sam werde,  legt  er  dem  Menelaus  den  Vers  8S!)  ti  <V  icriv;  et'xai  tui  dnai- 
vians  &eofv  in  den  Mund. 

:}4T)  Man  halte  nur  mit  dem  feierlichen  Ernste  des  Chorliedes  im  Aga- 
memnon 160:  Zeit,  oane  nox'  iaxiv,  die  Verse  zasammen,  mit  denen  vierzig 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRIPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  III.ECRIP.    583 

welche  im  Verlaufe  der  Zeit  sich  immer  mehr  steigert,  war  der  Ver- 
kehr mit  Protagoras  gewifs  nicht  ohne  Einflufs ;  aber  man  darf  den 
Unglauben  des  Tragikers  nicht  lediglich  auf  diese  Quelle  zurück- 
führen. Diese  Denkweise  ist  nicht  angelernt,  sondern  erscheint  als 
das  Resultat  einer  selbständigen  geistigen  Entwicklung.  Man  em- 
pfängt den  Eindruck,  als  müsse  der  Dichter  in  einer  früheren  Zeit 
mit  gläubiger  Ueberzeugung  und  warmer  Innigkeit  an  den  Grund- 
lagen des  religiösen  Glaubens  fest  gehalten  haben,  bis  schwere  Schick- 
sale, herbe  Lebenserfahrungen  diesen  Glauben  erschütterten  und  die 
Liebe  und  Verehrung  in  bitteren  Hafs  verwandelten. 

Euripides  hat  den  Glauben  an  die  Welt  der  Sage  verloren. 
Wenn  er  demuugeachtet  fortfährt,  heroische  Stoffe  in  seinen  Tra- 
gödien zu  behandeln,  so  mufste  er  wenigstens  das  Eingreifen  der 
Götter,  die  Orakel  u.  s.  w.  beseitigen  oder  doch  mögUchst  beschrän- 
ken. Aber  der  Dichter  behält  diesen  Apparat  bei,  der  ihm  sehr 
bequeme  Dienste  leistet.  Er  ändert  nicht  die  alte  üeberheferung 
ab  oder  scheidet  das  Anstöfsige  aus,  sondern  polemisirt  gegen  die 
Sage  und  erklärt  dieselbe  für  eine  Erfindung  der  alten  Dichter;  aber 
dann  macht  er  auch  wieder  die  Götter  für  das  verantwortlich,  was 
die  Sage  ihnen  zuschreibt,  behandelt  also  die  Tradition  als  etwas 
Thatsäclüiches.  Ist  die  kritische  Stimmung  schon  an  sich  mit  der 
Poesie  nicht  recht  vereinbar,  so  kann  das  beständige  Schwanken 
zwischen  unvereinbaren  Gegensätzen  nur  Mifsbehagen  erregen. 

Euripides"  Stellung  war  eine  besonders  schwierige.  Der  Dich- 
ter gehört  einer  Zeit  an,  wo  alles  sich  umgestaltet,  wo  das  Alte 
seine  Macht  verhert,  ehe  noch  das  Neue  sich  selbständig  gebildet 
und  entwickelt  hat.  In  solchen  Zeiten  kann  ein  grofser  Geist  wohl 
noch  einmal  den  Versuch  machen,  das  Ueberlieferte  festzuhalten  und 
es  in  der  ihm  gemäfsen  Weise  zu  reproducireh.  Was  in  dieser  Rich- 
tung zu  leisten  war,  hat  Sophokles  gethan,  der  im  Ganzen  unbe- 
rührt bleibt  von  der  verzehrenden  Unruhe  seiner  Zeit.  Euripides 
konnte  und  mochte  diesen  Weg  nicht  weiter  verfolgen ;  für  ihn  gab 
es  nur  eins,   das  Neue  frisch  und  mit  allen  Kräften   zu  ergreifen. 


Jahre  später  Euripides  seine  Melanippe   eröffnete  fr.  483.484:   Zeit,  oaxi? 
Zeve,  ov  ya^  olSa  nlijv  Xoycp,  und  Zevs,  cj?  XiXsxxai  t^s  alr,d'siai  vno,  'El- 
Xrjv^  irixrs,  an  dieser  Stelle  und  in  solchem  Zusammenhange  der  Ausdruck  ent- 
schiedenster Frivolität,  und  man  wird  den  Wandel,  der  sich  binnen  eines  Men- 
schenalters  vollzog,  recht  inne  werden. 


584  DRITTE   PERIODE   VON    500  BIS  300  V.  CBR.  G. 

Aber  er  blieb  auf  halbem  Wege  stehen.  Er  hat  nicht  den  Mulh, 
sich  von  dem  Herkommen  ganz  und  gar  loszusagen  und  ein  völlig 
neues  Gebäude  aufzuführen,  sondern  geht  darauf  aus,  das  Alte  und 
Ueberheferte  mit  den  Ideen  der  neuen  Zeit  zu  verschmelzen.  Aber 
diese  Vermittelung  ist  ihm  nicht  recht  gelungen;  es  entsteht  etwas 
Zwiespältiges,  welches  nirgends  volle  Befriedigung  gewähren  kann. 
Euripides  sucht  die  alten  Geschichten  nicht  nach  ihrem  eigenen  Geist 
und  ursprünghcher  Bedeutung,  sondern  mit  steter  Rücksicht  auf 
unmittelbare  Nutzanwendung  darzustellen.  Die  Charaktere,  die  Ge- 
sinnungen ,  die  Sprache  seiner  Dramen  gehören  durchaus  der  Zeit 
des  Dichters  an.  Euripides  berührt  überall  die  treibenden  Mächte, 
die  weltbewegenden  Gedanken  seiner  Zeit.  Niemand  wird  den  dra- 
matischen Dichter  tadeln,  wenn  er  die  Charaktere  mit  dem  reicheren 
Inhalte  der  Gegenwart  zu  erfüllen,  den  Personen  seiner  Stücke  kräf- 
tigeres Leben  einzuhauchen  bemüht  ist.  Allein  mit  den  Gestalten 
der  alten  Sage  und  epischen  Dichtung,  die  mit  einer  gewissen  Nai- 
vität und  Entsagung  behandelt  sein  wollen,  war  eine  so  durchgrei- 
fende Umwandlung,  welche  die  Heroen  der  Vorzeit  ganz  im  Geiste 
des  Jahrhunderts  handeln  und  reden  läfst  und  bis  zu  der  äufsersten 
Grenze  des  Erlaubten  fortschreitet,  gar  schwer  zu  vereinigen.  Dieser 
Versuch,  die  moderne  Weltanschauung  mit  den  Traditionen  alter- 
Ihümhcher  Poesie  zu  vermitteln,  offenbart  nur  die  Rathlosigkeit  der 
Kunst.  Euripides  mufstc  vielmehr,  indem  er  diese  Bahn  betrat,  nun 
auch  die  ideale  Welt  des  Mythus,  die  verbraucht  war,  an  welche  das 
Volk  nicht  mehr  recht  glaubte,  gänzlich  fallen  lassen.'^®)  Hätte  sich 
der  Dichter  entschliefsen  können,  seinen  Stoff  aus  der  Geschichte 
und  aus  dem  Leben  selbst  zu  entnehmen ,  dann  wäre  er  der  Be- 
gründer der  historischen  Tragödie  sowie  des  bürgerlichen  Trauer- 
spieles geworden.  Jetzt  treibt  er  mit  den  überlieferten  Mythen  ein 
freies,  willkürliches  Spiel.  Weder  dem  Alten  noch  dem  Neuen  wird 
er  gerecht;  es  besteht  ein  ungelöster  Widerspruch,  und  alle  Kunst 
des  Dichters  ist  nicht  im  Stande,  diese  innere  Unwahrheit  zu  ver- 
decken. Ueber  Ansätze  und  Anfänge  einer  neuen  Kunslform  ist 
daher  auch  Euripides  nicht  hinausgekommen. 

348)  Die  Theorip  des  Aristoteles  hält  sich  auch  liier  von  jeder  Kngherzig- 
keit  fern,  indem  sie  das  Festhalten  an  den  herkömiulicheu  Stoffen  (lö»*'  nn^a- 
8eSofuvan>  nv&av  avxixeo&ai,  Poet.  c.  9.  8  p.  1451  B  24)  nicht  fQr  unerlärslich 

erklärt. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLLTHEZEIT.  lU.EURIP.    585 

Da  Euripides  nicht  der  Erste  war,  welcher  die  heroischen  SagenAuswahiund 
dramatisch  bearbeitete,  haben  die  Darstellungen  der  Epiker  und jg/^}^,^"^ 
Lyriker  für  ihn  geringere  Bedeutung  ^^)  als  die  Arbeiten  seiner  un- 
mittelbaren Vorgänger,  mit  denen  er  nicht  selten  in  der  Bearbei- 
tung derselben  Stoffe  zusammentrifft.  Mit  Aeschylus  und  Sophokles 
zugleich  begegnet  sich  Euripides  im  Telephus,  in  der  Iphigeneia,  dem 
Palamedes,  Philoktet,  in  der  Elektra,  im  Oedipus,  Polyidus.  An 
Aeschylus  lehnt  er  sich  an  in  den  Schutzflehenden,  den  Herakliden, 
in  den  Bakchen  und  im  Phaethon.^^^j  Häufiger  trifft  er  mit  Sopho- 
kles zusammen,  wie  im  Alexander,  Phrixus,  in  der  Ino,  den  Pelia- 
den,  der  Phädra,  Danae,  Andromeda,  dem  Oenomaus,  Thyestes,  Ion; 
nur  ist  es  öfter  ungewifs,  wer  zuerst  von  beiden  sich  einen  Vorwurf 
erwählte,^**)  Aber  auch  neue  Stoße  sucht  Euripides  zu  gewinnen,  wie 
der  rasende  Herakles,  Temenus,  Archelaus,  Sthenoböa,  Auge,  Ino, 
Bellerophontes ,  Aeolus,  Kresphontes,  Melanippe  (die  erste,  wie  die 
zweite)  und  Antiope  zeigen;  namenthch  benutzt  er,  gerade  wie  Sopho- 
kles, öfter  die  attische  Sage,  wie  im  Theseus,  Erechtheus  und  in  der 
Alope.  Euripides  ist  eigentlich  ein  moderner  Geist,  wendet  sich  daher 
mit  Vorhebe  Aufgaben  zu,  welche  der  Denk-  und  Gefühlsweise  seiner 
Zeit  nahe  lagen.  Aber  wie  wir  bei  ihm  überall  auf  unvermittelte 
Gegensätze  stofsen,  so  hat  er  öfter  auch  wieder  hochalterthümUche 
Sagen  behandelt.  Sittüche  Bedenken  hegen  dem  Euripides  ganz  fern, 
daher  Aristophanes  seine  vernichtende  Kritik  des  Tragikers  gerade 
gegen  diesen  Punkt  richtet.^^)  Selbst  vor  den  widerwärtigsten  Stof- 
fen, wie  der  Behandlung  der  Blutschande  im  Aeolus,  scheut  Euri- 
pides nicht  zurück.  Manchmal  nimmt  er  bei  der  Wahl  des  Themas 
auf  die  unmittelbare  Gegenwart  Rücksicht ,  wie  in  den  politischen 
Gelegenheitsstücken,  den  Herakliden  und  den  Schutzflehenden. 


349)  In  der  Helena  folgt  Euripides  dem  Stesichorus,  wie  er  auch  ander- 
wärts diesen  Dichter  benutzt  hat. 

350)  Der  Sisyphus  des  Euripides  war  ein  Satyrdrama.  Aeschylus  hatte 
diesen  Stoff  in  einer  Tragödie  und  in  einem  Satyrspiel  behandelt;  der  Sisyphus 
des  Sophokles  ist  problematisch. 

351)  Zuweilen  behandelt  Euripides  einen  Stoff  episodisch,  wie  die  Poly- 
xena  in  der  Hekuba,  den  seine  Vorgänger  zu  einem  selbständigen  Drama  be- 
nutzt hatten.  Gleichheit  des  Titels  deutet  nicht  nothwendig  auf  Gleichheit  des 
Inhaltes  hin;  der  Aegeus  des  Sophokles  scheint  von  dem  Aegeus  des  Euripides 
ganz  verschieden  gewesen  zu  sein. 

352)  Aristophan.  Frösche  1043  ff. 


586  DRITTE    PERIODE    V0>    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Von  einem  Dicliter,  dessen  Blick  so  ganz  dem  wirklichen  Leben 
zugewendet  ist,  darf  man  keine  ehrfurchtsvolle  Behandlung  der  My- 
thenwelt verlangen.  Wenn  man  jedoch  meist  den  Euripides  be- 
schuldigt, dafs  er  allzu  frei  mit  der  Ueberlieferung  umgehe  und  die 
Sagen  gar  zu  selbständig  abgeändert  habe,  so  ist  dieser  Vorwurf 
in  solcher  Allgemeinheit  nicht  recht  begründet.  Freilich  tindet  sich 
bei  Euripides  vieles,  was  gewifs  nicht  auf  alter  volksmafsiger  Tra- 
dition beruht,  aber  auch  Aeschylus  und  Sophokles  wie  alle  griechi- 
schen Dichter  haben  in  nicht  wenigen  Fällen  den  Mythus  umge- 
staltet. Begründeter  Tadel  trifft  ihn  nur  dann,  wenn  er  nach  blofser 
Laune  die  Sage  abändert,  wenn  er  Fremdartiges  und  Widerstreben- 
des einführt,  und  von  solcher  Willkür  hat  Euripides  sich  nicht  frei 
gehalten.  Aber  andererseits  trifft  ihn  auch  wieder  der  Vorwurf,  dafs 
er  allzu  sehr  von  den  überlieferten  Stoffen  abhängig  ist,  dafs  er 
statt  Unpassendes  auszuscheiden  oder  den  höheren  Forderungen  der 
Kunst  gemäfs  umzubilden,  die  verschiedenartigen,  oft  unvereinbaren 
Elemente  der  volksmäfsigen  Sage  aufnimmt. 

Schon  die  alten  Kritiker  tadeln  den  Euripides,  dafs  er  öfter 
eigenmächtige  Abänderungen  der  überlieferten  Sage  sich  erlaubt 
habe"*);  aber  ob  dieser  Vorwurf  immer  begründet  war,  ist  sehr 
ungewifs.  Manchmal  schliefst  gerade  Euripides  sich  enger  an  seine 
Vorgänger,  an  die  Tradition  an'*^)  oder  folgt  auch  einer  zwar  ab- 
weichenden, aber  doch  wohl  bezeugten  Fassung.^)  Nicht  einmal 
in  der  Darstellung  desselben  Mythus  bleibt  sich  Euripides  gleich; 
wenn  er  die  Helena  schildert,  folgt  er  bald  der  gemeinen  Ueber- 
lieferung, bald  schliefst  er  sich  den  phantastischen  Neuerungen  des 
Stesichorus  an.  In  den  Phönissen  hat  Oedipus  nach  der  Entdeckung 
seiner  Blutschande  sich  selbst  des  Augenlichtes  beraubt,  wie  die  alte 
Sage  berichtete.  Im  Oedipus  verläfst  der  Tragiker  den  herkömmlichen 
Weg;  der  unglückliche  Dulder  wird,  noch  bevor  das  grauenvolle 
Geheimnifs  offenbar  wurde,  von  den  ehemaligen  Waffengenossen  des 

:<53)  Schol.  Eiirip.  Hckuba  1    nvToax^Siäl^et  iv  Tali  yerea/Myinn. 

'6bA)  So  ist  bei  Euripides  in  Uebereiiistimmung  mit  der  gemeinen  Tradi- 
tion Polyneikes  der  jüngere  Broder,  während  Sophokles  das  Verhiltnifs  um- 
kehrt. 

355)  Die  StiTtung  des  Areopag  wird  von  Euripides  in  der  Eleklra  125811'. 
in  die  Zeit  des  Kokrops  verlegt,  gemäTs  der  attischen  Sage,  walirend  Aeschy- 
lus in  den  Eiinieiiiden  den  Ursprung  des  Gerichtshofes  an  das  Urlheil  über 
Orestes  anknüpft. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  III.  EURIP.    587 

Laiiis  geblendet,  um  an  dem  Thäter  den  Tod  ihres  Herrn  zu  rächen. 
Ob  dies  eigene  Erfindung  des  Tragikers  war  oder  ob  er  aus  einer 
unbekannten  Quelle  schöpfte,  steht  dahin.  Im  Chrysippus  benutzte 
Euripides  die  leidenschaftliche  Liebe  des  Laius  zu  dem  jugendlichen 
Sohne  des  Pelops,  die  durch  Sage  und  ältere  Poesie  bezeugt  war, 
um  das  verhängni fsvolle  Schicksal  des  thebanischen  Königshauses  zu 
motinren.  Chrysippus,  dessen  edlen  und  reinen  Charakter  der  Dich- 
ter dem  des  Hippolytus  ähnlich  geschildert  hatte,  nimmt  sich  selbst 
das  Leben,  und  Pelops  spricht  über  Laius,  der  ihm  den  Sohn  ent- 
führt und  zur  blutigen  That  getrieben  hatte,  den  Fluch  aus,  der 
sich  an  Laius  und  seinem  Geschlechte  in  grauenvoller  Weise  er- 
füllen sollte.  Die  ältere  Tragödie  geht  in  ihrer  schlichten,  treu- 
herzigen Weise  dem  Unwahrscheinlichen  und  von  dem  gewöhnlichen 
Weltlaufe  Abweichenden  nicht  eben  ängstlich  aus  dem  Wege.  Euri- 
pides, bemüht  alles  sorgfältig  zu  motiviren  und  der  verstandesmäfsi- 
gen  Auffassung  gerecht  zu  werden,  hat  sich  nicht  selten  Fiktionen 
erlaubt  oder  giebt  der  üeberheferung  den  Vorzug,  welche  den  An- 
sprüchen einer  kritischen,  reflektirenden  Zeit  am  besten  zu  genügen 
schien^),  selbst  auf  die  Gefahr  hin,  höhere  poetische  Interessen 
preiszugeben.  Andererseits  fühlt  sich  Euripides  vielfach  durch  seine 
Vorgänger  gehemmt  und  sucht  neue  Wege  einzuschlagen.  So  schlofs 
seine  Antigone  mit  der  Vermählung  der  Heldin  und  des  Hämon, 
indem  wohl  durch  Vermittlung  einer  Gottheit  die  glückliche  Lösung 
des  Confliktes  herbeigeführt  wurde.^')  Euripides  ist  reich  an  glück- 
lichen poetischen  Erfindungen,  wenn  er  nur  nicht  die  üble  Gewohn- 
heit hätte,  oft  selbst  deren  Wirkung  wieder  zu  vernichten  durch 
seine  kühle,  verstandesmäfsige  Reflexion  oder  durch  unzeitige  Pole- 
mik, welche  er  gegen  seine  Vorgänger  ausübt.  So  wird  z.  B.  in 
der  Elektra  die  Wiedererkennung  des  Orestes  sehr  geschickt  moti- 
virt;  wenn  aber  dabei  die  Choephoren  des  Aeschylus,  und  zwar  in 
ziemHch  perfider  Weise,  kritisirt  werden,  so  ist  dies  entschieden 
unstatthaft.    Man    mag  es  gelten  lassen,   dafs  der  Dichter  die  An- 


356)  Daher  rahmt  Dio  Chrysost.  52, 14  11 161, 24  Di.  am  Euripides:  nleiarrjv 
fiev  iv  roTs  Ti^äy/iaai  avveaiv  xai  jrid'avorrjra  iTttSeixwrat,  vergl.  auch  52,  1 1 
II  160,  21 :  T]  TS  rov  EvQirtiSov  avveat:  xai  Tiegi  ■nävra  intfiiXeta ,  oJötc  firite 
anld'nvöv   Ti  xnl  Trnor.tieXriutvov  iäam  ftrite  a7t).cöe   rois  Ttoäyuaai  yoi^ff&at. 

357)  Der  Bericht  bei  Hygin  c.  72  bezieht  sich  nicht  auf  die  Antigone  des 
Euripides,  sondern  auf  das  Drama  eines  unbekannten  Tragikers. 


5S8  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

forderuugen  seines  kritischen  Zeitalters  zu  befriedigen  und  still- 
schweigend Mifsgriffe  seiner  Vorgänger  zu  verbessern  sucht;  aber 
solche  Kritik  der  Vorgänger  ist  dem  Dichter  selbst  nicht  immer 
förderlich  und,  in  einem  ernsten  Drama  geübt,  geradezu  störend. 
So  tadelt  Euripides  in  den  Phönissen  den  Aeschylus,  weil  er  zur 
Unzeit  vor  der  Schlacht  die  Schildzeichen  ausführhch  beschreiben 
läfst.  Aber  wenn  Euripides  diese  Scene  nach  der  Schlacht  verlegt, 
so  ist  dies  keine  Verbesserung;  denn  vor  dem  Kampfe  ist  die 
Schilderung  der  bedeutungsvollen  Zeichen,  die  für  ihre  Träger  ver- 
hängnifsvoll  wurden,  wirksam,  nach  der  Entscheidung  erscheint  diese 
Beschreibung  als  eine  ziemlich  müfsige  Zugabe.  Euripides  mufste 
entweder  seinem  grofsen  Vorgänger,  der  in  poetischen  Dingen  rich- 
tigen, angeborenen  Takt  besitzt,  folgen  oder,  wenn  er  es  besser 
machen  wollte,  die  Scene  ganz  weglassen;  aber  er  entscheidet  sich 
auch  hier,  wie  öfter,  für  eine  Halbheit. 

Euripides,  der  darauf  ausgeht,  die  mythischen  Stoffe  zeitgemäfs 
zuzurichten,  bringt  schon  in  seinen  früheren  Arbeiten  gern  einzelne 
Züge  modernen  Lebens  an.  So  verspricht  Alkmene  in  den  Ilera- 
kliden^**)  einem  Dienstmanne,  wie  einem  Sklaven,  zum  Lohn  für 
gute  Botschaft  die  Freiheit,  und  dieser  nimmt  sich  sogar  heraus, 
die  Herrin  an  ihre  Zusage  zu  erinnern.  In  der  Hekuba*'®)  ordnet 
die  troische  Frau,  ehe  sie  das  Nachtlager  aufsucht,  ihr  Haar  und 
beschaut  sich  im  Spiegel,  ganz  wie  eine  eitle,  gefallsüchtige  Alhe- 
nerin.  Hier  liegt  gar  nicht  einmal  die  Absicht  vor,  die  alte  Zeit  der 
Gegenwart  näher  zu  rücken,  sondern  der  bizarre  Dichter  hat  Freude 
daran,  die  Einheit  des  Bildes  durch  heterogene  Züge  zu  stören.  Im 
Verlaufe  der  Zeit  geht  Euripides  noch  viel  weiter.  Die  Heroenwelt 
wird  immer  menschlicher  aufgefafst  und  dadurch  der  subjektiven 
Emi)rindung  näher  gebracht.  Aber  der  Ernst  und  die  Würde,  mit 
welcher  bisher  die  tragische  Kunst  diese  Stotl'e  behandelt  halte,  wini 
empHndlich  beeinträchtigt,  indem  der  Dichter  bis  ins  kleinste  Detail 
eingeht""),   alle  Richtungen   der   Zeit   zur  .Anschauung  bringt,    die 


358)  Eurip.  Herakl.  789.  890. 

:»59)  Kurip.  Hekuba  923. 

360)  Wie  in  der  Auge  die  Heldin  im  Heiligllium  der  Athene  niederkomnit ; 
daher  Aristoph.  Frösche  1079  f.:  ov  n^ayotyove  xaje'Ssi^  ovroi  xni  Tixroiaai 
iv  %oli  ieQols.  Diese  ganze  Manier  des  Tragikers  verhülint  .\ri8tophanes  rhen- 
daselbst  980  auf  das  Tretfendfite. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRIPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  III.  EIRIP.    5S9 

socialen  Fragen  der  Gegenwart  erörtert.  Und  dicht  daneben  be- 
gegnen wir  öfter  wieder  Zügen  alterthümlicher  Roheit,  die  der  Dich- 
ter getreuHch  wiedergiebt,  während  die  vorgeschrittene  Kunst  der- 
gleichen meidet  oder  doch  zu  mildern  sucht.  Besonders  liebt  es 
Euripides,  bestehende  Zustände  mit  den  dramatischen  Vorgängen  der 
alten  Zeit  zu  verknüpfen;  so  weist  er  in  der  Andromache  auf  die 
Herrschaft  der  Nachkommen  des  Achilles  im  Molosserlande,  in  der 
Medea  auf  das  Sühnopfer  der  Korinther  für  den  Kindermord  hin; 
in  der  taurischen  Iphigeneia  wird  auf  die  Stiftung  des  attischen 
Artemiscultus  zu  Halae  und  Brauron  Bezug  genommen.  Der  Epilog, 
den  häufig  eine  Gottheit  spricht,  leistet  dabei  gute  Dienste. 

Euripides  ist  mit  dem  Technischen  der  dramatischen  Kunst  wohP'.«  oekono- 
vertraut;  erweifs,  was  auf  der  Bühne  vorzugsweise  wirksam  ist.  Daher  ripideischen 
beschränkt  er  sich  auch  nicht,  wie  Sophokles,  auf  geistige  Mittel,  Tragödie. 
sondern  liebt  es,  die  theatralische  Darstellung  für  das  Auge  gebüh- 
rend zu  berücksichtigen.  Ueberhaupt  sucht  Euripides  weit  mehr 
als  seine  Vorgänger  den  Wünschen  und  Neigungen  des  Pubükums, 
denen  die  herkömmliche  Sitte  des  dramatischen  Wettkampfes  erhöhte 
Bedeutung  verlieh,  entgegenzukommen.  Das  Unerwartete  übt  auf 
der  Bühne  die  mächtigste  Wirkung  aus.  Daher  zieht  Euripides  der 
einfachen  Fabel  die  verwickelte  Handlung  vor.  Von  plötzUchem 
Schicksalswechsel  und  Wiedererkennung  wird  ausgedehnter  Gebrauch 
gemacht,  aber  eben  deshalb  auch  der  streng  symmetrische  Bau  des 
Dramas,  den  die  ältere  Kunst  festhält,  mehr  und  mehr  aufgegeben. 
Ueberhaupt  ist  die  Oekonomie  der  Euripideischen  Tragödie  keines- 
wegs überall  tadellos.^'j  Dafs  dem  Dichter  das  Produciren  leicht 
ward,  erkennt  man  deutüch;  aber  eben  diese  glückliche  Naturanlage 
und  die  Nöthigung,  welche  an  den  vielfach  in  Anspruch  genomme- 
nen Dichter  je  länger,  je  mehr  herantrat,  in  kurz  bemessener  Frist 
einen  Dramencyklus  zum  Abschlufs  zu  bringen ,  führte  zu  einer  ge- 
wissen Hast,  deren  Spuren  die  Arbeiten  des  Dichters  unverkennbar 
zeigen.  Die  dramatische  Anlage  ist  oft  sehr  lose.  In  den  Troaden 
wird  eigenthch  nur  eine  Reihe  tragischer  Bilder  aneinandergereiht. 
Episoden  werden  häußg  eingeflochten ;  der  Stoff,  den  sich  der  Dich- 
ter gewählt,  erscheint  ihm  selbst  entweder  nicht  ausreichend  oder 


361)  AristoL  Poet.  c.  13,  6  p.  1453  A  29:    Ev^miSrjs,  ei  xal  riXla  fiij  av 
oixovofisi,  nAAo  ronyitcwraros  ys  rätv  itoir^ätv  tfaivtrcm. 


590  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300    V.  CHR.  G. 

nicht  geeignet,  um  die  volle  Wirkung  zu  erzielen.  Eine  solche 
Episode  ist  oft  an  sich  tadellos  und  wirksam,  steht  aber  in  keiner 
rechten  Verbindung  mit  dem  Ganzen  oder  wird  nicht  genügend  moti- 
virt.^®'^)  Gegen  die  Einheit  der  Handlung  wird  mehrfach  gefehlt, 
zumal  in  der  späteren  Periode.  Zuweilen  wird  eine  doppelte  Hand- 
lung eingeführt,  so  dafs  die  eine  auf  die  andere  folgt,  statt  sie  in 
einander  kunstreich  zu  verflechten,  was  unter  Umständen  sehr  wirk- 
sam sein  kann.  So  beginnt  in  dem  zweiten  Theile  der  Androraache 
eine  ganz  neue  Handlung,  und  die  Hauptperson  des  Dramas  ver- 
schwindet vollständig.^''^)  Mit  der  Einheit  der  Zeit  und  des  Ortes 
geht  Euripides  sehr  frei  um. 

Eine  gewisse  Fülle  der  Handlung  kennzeichnet  die  meisten 
Dramen.  Euripides  begnügt  sich  nicht,  wie  Sophokles,  mit  dem 
Nothwendigen,  sondern  geht  auf  eine  möglichst  vollständige  Darstel- 
lung aus;  der  Tragiker  strebt  das  stolTliche  Interesse  des  Publikums 
zu  befriedigen.  Aber  dazu  reicht  der  knapp  bemessene  Raum  einer 
Einzeltragödie  nicht  recht  aus;  daher  wird  die  Behandlung  skizzen- 
haft. Einzelnes  erscheint  überflüssig  oder  nicht  genügend  motivirt.^") 
Aus  der  geringen  Personenzahl  entsprangen  mancherlei  Unzuträg- 
hchkeiten.  Das  Gespräch  in  den  Phönissen  zwischen  lokaste  und 
dem  verstofsenen  Sohne  über  die  Leiden  der  Verbannung  veran- 
schaulicht zwar  die  Situation;  aber  in  diesem  Momente,  wo  Poly- 
neikes  die  Mutter  und  die  langentbehrte  Heimath  wieder  begrüfst, 
erwartet  man  nicht  kalt  verständige  Ueflexionen,  sondern  den  Aus- 
druck warmen  Gefühls  zu  vernehmen.  Wenn  in  einer  einleiten- 
den Scene  ein  Begleiter  des  Polyneikes  mit  einem  Vertrauten  der 
lokaste  dieses  Thema  behandelte ,  würde  man  nichts  daran  auszu- 
setzen haben.     So  fühlt  sich  Euripides  aller  Orten  gehemmt. 


362)  Auf  Euripides  ist  die  Anmerkung  des  Aristoteles  Poet.  c.  9, 10  p.  1451 
B  33  vollkommen  anwendbar,  wie  die  Medea,  die  Schutzflehenden,  die  Phönis- 
sen und  andere  Dramen  zeigen. 

363)  Bei  Nebenfiguren  geschieht  dies  ebenfalls;  in  der  Eloktra  wird  dio 
Heldin  mit  Pylades  verlobt,  ohne  dafs  auf  den  Landmann,  an  den  sie  früher 
verheirathet  war,  Rücksicht  genommen  wird. 

364)  Die  Phönissen  bieten  dafür  einen  Beleg  dar.  Aristoteles  Poet.  c.  l^ 
p.  1456  A  lOflr.  bemerkt,  dafs  die  Tragödie,  wenn  sie  aus  der  Beschränkung 
heraustrete  und  nach  der  Weise  des  Epos  sich  an  die  Darstellung  umfangreicher 
Handlungen  wage,  keinen  rechten  Erfolg  erziele.  Hier  wird  auch  Euripides  ge- 
nannt, aber  die  Stelle  ist  in  verderbter  Gestalt  überliefert. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  III.  ELRIP.    591 

Nach  der  hergebrachten  Oekonomie  des  Dramas  kann  auch  Euri-  Erzählung. 
pides  auf  das  epische  Element  nicht  verzichten,  und  der  Tragiker 
ist  nicht  sowohl  darauf  bedacht,  es  zu  ermäfsigen,  sondern  pflegt 
sogar  manches  zu  erzählen,  was  die  ältere  Kunst  auf  der  Bühne 
darstellt.*^)  So  geben  die  Prologe,  welche  die  Form  des  Selbst- 
gespräches regelmäfsig  festhalten,  Anlafs  zu  oft  weit  ausgedehnten 
Erzählungen ;  ebenso  nehmen  die  Botenberichte  einen  breiten  Raum 
ein.  In  der  Andromache,  wo  die  Handlung  des  zweiten  Theiles  auf 
einem  ganz  anderen  Schauplatze  vor  sich  geht,  behüft  sich  der  Dich- 
ter nur  mit  diesem  Auskunitsmittel.  Ebenso  wenig  thut  in  den 
Chorgesängen  die  Reflexion  der  Erzählung  und  Schilderung  Eintrag. 
Auch  in  diesen  erzählenden  Partien  ist  das  grofse  formale  Geschick 
des  Dichters  nicht  zu  verkennen. 

Eiiripides,  der  mit  künstlerischem  Auge  die  Dinge  anschaut, 
versteht  durch  die  Fülle  sinnlicher  Reahtät  die  Darstellung  zu  be- 
leben, selbst  eine  verwickelte  Situation  klar  und  bestimmt  vor  das 
Auge  zu  rücken,  die  Phantasie  des  Zuhörers  anzuregen  und  zu  fes- 
seln. Dafs  er  in  seiner  Jugend  die  Malerkunst  praktisch  übte,  Wieb 
off'enbar  nicht  ohne  Einflufs  auf  seine  dichterische  Entwicklung; 
daher  verweilt  auch  Euripides  gern  bei  der  Beschreibung  von  Kunst- 
werken.^) So  wird  im  Ion  der  Bilderschmuck  des  delphischen  Tem- 
pels geschildert,  in  der  Hekuba  der  Stickereien  des  panathenäischen 
Peplus  gedacht,  und  in  den  Phönissen  unterläfst  es  der  Dichter  nicht, 
nach  Aeschylus'  Vorgange  die  Schildzeichen  der  Sieben  vor  Theben 
zu  beschreiben.  Auch  auf  Werke  der  Architektur  und  Plastik  wird 
öfter  Rücksicht  genommen;  man  erkennt  leicht,  wie  vertraut  der 
Dichter  mit  diesem  Gebiete  war.^')  Jedoch  darf  man  nicht  glauben, 
dafs  die  Plastik  der  damaügen  Zeit  eine  tiefere  Wirkung  auf  Euri- 


365)  Schol.  Aesch.  Eumen.  Vi  bezeichnet  dies  als  vscot£qixÖv  xai  Eiqi- 
TiiSstov.  Man  vergleiche  beispielsweise  den  Prolog  im  Philoktet  des  Euripides 
mit  der  Einleitung  des  Sophokleischen  Aias. 

366)  Auch  die  verlorenen  Dramen  mögen  manche  Schilderung  dieser  Art 
enthalten  haben,  vgl.  Hypsipyle  fr.  764. 

367)  Bemerkenswerlh  ist,  dafs,  M-enn  einer  etwas  nicht  aus  eigener  An- 
schauung kennt,  er  sich  nicht  blofs  auf  Hörensagen,  sondern  auch  auf  Gemälde 
beruft,  wie  Hippel.  1005,  Troad.  6S2,  Ion  271  (ähnlich  schon  Aeschylus  im 
Prolog  der  Eumeniden  40  ff.).  Auch  in  Vergleichungen  bezieht  sich  Euripides 
gern  auf  Gebilde  von  Künstlerhand,  nicht  nur  Denkmäler  der  Architektonik,  son- 
dern auch  der  Sculptnr  und  Malerei. 


592  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

pides  ausgeübt  habe.  Die  Kunst  des  Phidias  und  seine  Schule  hat 
keine  innere  Verwandtschaft  mit  dem  Tragiker;  überhaupt  pflegt  die 
hellenische  Kunst  jedes  Mal  dem  Wandel  zu  folgen,  der  sich  bereits 
in  der  Literatur  vollzogen  hat.^^*)  Naturschilderungen  sind  nicht 
gerade  häufig,  obwohl  es  dem  Dichter,  der  sich  aus  dem  unruhigen 
Treiben  der  Menschen  in  die  Einsamkeit  seiner  heimathlichen  Insel 
zurückzuziehen  pflegte,  an  lebendigem  Naturgefühle  nicht  fehlte.*") 
Geographische  Schilderungen,  die  Aeschylus  liebt  und  die  auch  in 
den  Jugendarbeiten  des  Sophokles  noch  öfter  vorgekommen  sein 
mögen,  sind  dem  Euripides  fremd. 
Der  Prolog.  Eine  griechische  Tragödie  hat  nur  mäfsigen  Umfang ;  daher  be- 

schränkt sie  sich  häufig  auf  die  Darstellung  der  Katastrophe.  Euri- 
pides geht  darauf  aus,  innerhalb  des  knapp  bemessenen  Raumes  das 
Thatsächhche  in  möglichster  Vollständigkeit  zu  geben  und  so  das 
stoffliche  Interesse  der  Zuschauer  gründlich  zu  befriedigen;  daher 
pflegt  er  ebenso  im  Eingange  die  vorangehenden  Begebenheiten  aus- 
führlich zu  berichten,  wie  er  gern  am  Schlüsse  eine  weitere  Aus- 
sicht eröffnet.  Dafs  Euripides  bemüht  ist,  die  Voraussetzungen  der 
Handlung  klar  darzulegen,  und  so  dem  Verständnisse  zu  Hülfe  kommt, 
kann  man  nur  billigen^'");  allein  die  Weise,  wie  er  sich  dieser  Auf- 
gabe entledigt,  hat  gerechten  Anstofs  erregt.  Bei  Aeschylus  und 
Sophokles  hängt  die  einleitende  Scene  mit  der  eigenthchen  Hand- 
lung eng  zusammen.  Bei  Euripides  löst  sich  der  Prolog  mehr  oder 
weniger  ab.  Aeschylus  und  Sophokles  zeigen  in  der  kunstreichen  Be- 
handlung des  Eingangs  eine  grofse  Mannigfaltigkeit;  Euripides  arbeitet 
den  Prolog  nach  einem  bestimmten  Schema  aus.  Wenn  Euripides 
bei  Aristophanes  die  Deuthchkeit  und  Bestimmtheit  der  Exposition  in 
seinen  Dramen  hervorhebt"'),  so  ist  dieses  Lob  gerechtfertigt;  wenn 


368)  Die  entsprechenden  Epoclicn  der  bildenden  Kunst  treten  regelmäfsig 
später  ein  als  in  der  Poesie;  so  erinnert  die  Riclitung  der  Pl;t*tik  «oit  Skopn* 
und  Praxiteles  entschieden  an  die  Tragödie  des  Kuripides. 

:Wi\))  Man  vergleiche  in  einem  Ghorliede  des  Phaethon  tV.  TT  >  die  '^  '   '  ' 
riing  des  anbrechenden  Morgens. 

:no)  Dafs  Euripides  regelmäfsig  im  Prolog  dieser  Vriptlicliiuug  ii;uii- 
kommt,  während  die  anderen  Dichter  öfter  im  Verlaufe  des  Stückes  an  passen- 
der Stelle  das  Notlüge  nachholen,  bemerkt  auch  Arislot,  Rhel.  111  14  p.  1415  A  18, 

a71)  Aristoph.  Frösche  1122,  wo  Euripides  die  Prologe  des  Aeschylus 
kritisirl  und  ihm  vorwirft:    noaffie  yap   ^v   iv  ffi   ffdoat   xcHy  nfayftartty. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  III.  EURIP.    593 

er  aber  weiter  an  seinen  Vorgängern  die  Fülle  des  Ausdrucks  tadelt, 
während  bei  ilun  kein  müfsiges  Wort  zu  finden  sei"*),  so  bekundet 
der  Tragiker  allerdings  auch  hier  seine  präcise  Redeweise,  verfällt 
aber  demungeachtet  öfter  in  den  Fehler  ermüdender  WeitschweiGgkeit. 
Neben  Prologen,  welche  sich  mit  einer  summarischen,  fast  trockenen 
üebersicht  der  Situation  begnügen,  finden  sich  andere,  wo  der  Dich- 
ter über  das  Mafs  des  INothwendigen  hinausgeht.  Dabei  wird  alles 
fern  gehalten,  was  das  Gefühl  tiefer  berührt,  indem  dies  für  spätere 
Scenen  aufgespart  wird.  Diese  Zurückhaltung  ist  manchmal  geradezu 
verletzend.  Nichts  ist  unpassender  als  der  Prolog  der  Phonissen,  wo 
lokaste  ohne  jeden  Herzeusantheil  von  Dingen  redet,  welche  sie  so 
nahe  berühren.^^)  Diese  Manier  in  die  Handlung  einzuführen,  welche 
die  jüngeren  dramatischen  Dichter,  nicht  nur  die  Komiker,  sondern 
wohl  auch  die  Tragiker  nach  Euripides'  Vorgange  mit  sichtlicher 
Vorhebe  anwenden,  betrachtet  man  als  eine  Eigenthümhchkeit  dieses 
Dichters"*),  während  es  eher  eine  Rückkehr  zu  der  ältesten  Weise 
der  Tragödie  sein  dürfte.  Allein  was  dort  zu  dem  einfachen,  schlich- 
ten Wesen  stimmen  mochte  und  unter  Umständen  nothwendig  war, 
da  bei  dem  Vorwalten  des  lyrischen  Elementes  und  bei  der  Be- 
schränktheit der  dramatischen  Handlung  manche  Einzelheit  sonst 
unverständlich  gebheben  wäre,  zumal  da  in  den  Anfängen  der  sceni- 
schen  Poesie  die  Zuschauer  mit  dem  Sagenkreise  der  Tragödie  noch 
nicht  so  vertraut  waren  wie  später,  das  pafst  nicht  für  die  höhere 
Stufe  der  Kunst,  wo  der  Dichter  die  Mühe  einer  sorgfältigen  Ex- 
position nicht  scheuen  durfte. 

Schon  Aristophanes^*)  findet  das  weite  Ausholen,  die  Aufzählung 
einer  langen  Genealogie,  mit  welcher  der  Prolog  meist  eröffnet  wird, 
unpassend  und   parodirt   sehr  ergötzüch   die  eintönige  Manier  der 


Das  Verdienst  des  Euripides  erkannten  auch  die  allen  Kritiker  an;  so  bemerken 
sie  zur  Andromache :  6  nQ6)j>yoi  aatp^s  xai  elloycos  eiorjftevos. 

372)  Aristoph.  Frösche  1178:  xäv  nov  Sie  t'inco  Tainov  rj  arotßfjv  i'Srjs 
ivovcav  e^ea  zov  Xöyov,  xaxaTirvaoy. 

373)  Weit  passender  hätte  der  Dichter  dieses  Amt  dem  Pädagogen  über- 
tragen, den  er  gleich  nachher  auftreten  läfst. 

374)  Thomas  Magister:  ro  iv  olq/t,  toi  Soäfiaros  ir,v  vno&eotv  Starvnovv 
xal  Tov  axooaxr^v  oiaTiBQ  ;i;£«^a^ß;^£r*'  £t»  ro  SuTtooa&Ev  Ev^mtöov  te'xrr^fta. 

375)  Aristoph.  Frösche  946.  Vgl.  die  anonyme  Rhetorik  (Rhet.  Gr.  I  436 
(=  II  228,  16  W.])  iav  firmle  TiooQta&ev  ä^'/r;,  xa&aneo  iv  roTe  TtoXloU  (schreibe 
Tt^oXöyots)  nenoirixev  EvQtniSrjS. 

Bergk,  Griech.  Literaturgeschichte  Hl.  38 


594  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300   V.  CHR.  G. 

Euripideischen  Technik.  Man  hat  darauf  hingewiesen,  dafs,  indem 
Euripides  von  der  zusammenhängenden  Irilogischen  Composition 
keinen  Gebrauch  mehr  machte,  ein  solcher  Prolog  gewissermafsen 
ein  ganzes  Drama  ersetzte ,  ohne  zu  beachten ,  dafs  Sophokles ,  der 
in  gleicher  Lage  war,  von  diesem  Mittel  niemals  Gebrauch  machte. 
Andere  haben  die  Manier  mit  den  Abänderungen,  welche  Euripides 
an  den  überlieferten  Mythen  vornahm,  zu  rechtfertigen  versucht. 
Aber  Euripides  beobachtet  dieses  Verfahren  auch  da,  wo  er  von 
jeder  Neuerung  der  Sagen  sich  fern  hält;  z.  B.  der  Prolog  der  Phd- 
nissen  wiederholt  nur  Dinge,  welche  jedem  Zuhörer  vollkommen 
gegenwärtig  waren.  Am  ersten  läfst  man  diese  Entschuldigung  gel- 
len, wo  die  Anlage  des  Dramas  so  verwickelt  ist,  dafs  der  Zuhörer 
ohne  einen  ausführhchen  Vorbericht  sich  in  dem  Labyrinthe  der 
künstlich  verschlungenen  Intrigue  nur  schwer  zurecht  finden  wilrde. 
Diese  Form,  durch  Erzählung  der  Vorgeschichte  auf  die  kommenden 
Ereignisse  vorzubereiten,  ist  eben  nur  ein  INothbehelf,  für  den  sich 
Euripides  entschied,  theils  weil  er  es  anders  machen  wollte  als  seine 
Vorgänger,  theils  aus  Bequemhchkeit,  weil  er  die  Mühe  scheute, 
durch  die  lebendigere  Form  des  Wechselgespräches  uns  mitten  in 
die  dramatische  Handlung  zu  versetzen.  Daher  wird  keines  der  er- 
haltenen Dramen  durch  einen  Dialog  eröffnet ''*);  wohl  aber  geht  der 
Monolog  öfter  in  ein  Wechselgespräch  über.  Meist  tritt  die  Haupt- 
person oder  einer  der  Mithandelnden  auf;  von  dem  Hülfsmittel,  eine 
Nebenfigur  einzuführen,  um  die  nothwendigen  V^orausselzungen  der 
Handlung  darzulegen,  macht  Euripides  nur  selten  Gebrauch."'}  Denn 
die  Gottheiten,  denen  er  gern  dieses  Geschäft  überträgt"*),  sind, 
wenn  auch  nicht  unmittelbar  in  die  Handlung  verflochten,  doch  mehr 
cider  minder  dabei  betheiligt,  obwohl  der  Dichter  dieses  Hülfsmittel 
meist  recht  wohl   entbehren   konnte.     Er  scheint  dies  selbst   ge- 


376)  Nur  die  Iphigeneia  in  Aulis  in  ihrer  gegenwärtigen  Gestalt  macht 
eine  Ausnahme.  Diese  Mittheilung,  die  nur  für  das  Publikum  bestimmt  ist, 
nimmt  sich  als  Selbstgespräch  im  Munde  der  auftretenden  Person  oft  seltsam 
aus;  in  der  Medea  rechtfertigt  daher  auch  die  alte  Amme  ihr  Erscheinen  hl: 
otad"'  ifiegcis  (i  vjtfjXd's  yfj  xe  xovQavt^  Xt'^at  ftokovar]  Savgo  MtjStins  rvxtti. 
Aber  dies  setzt  eine  leidenschaftliche  Gemülhsbewegung  voraus;  davon  ist  in 
der  Erzählung  nichts  wahrzunehmen. 

377)  Wie  in  der  Medea. 

37S)  Hierher  gehört  auch  der  Prolog  der  Hekuba,  wo  der  Geist  des  er- 
raordetea  Polydorus  passend  das  Drama  eröfinet. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TBAGÖDIE.  II.  GRIPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  III.EDRIP.    595 

fühlt  ZU  haben,  und  gleichsam  um  das  Hereinziehen  der  höheren 
Mächte  zu  rechtfertigen,  läfst  er  dann  die  Entwicklung  der  Hand- 
lung schon  im  voraus  erzählen  und  zerstört  so  vollständig  jede 
Ueberraschung.  Man  hat  auch  darin  einen  Fortschritt  der  drama- 
tischen Kunst  zu  finden  vermeint,  indem  der  Dichter  nicht  darauf 
ausgegangen  sei,  die  Neugierde  zu  befriedigen,  sondern  sich  ledig- 
lich auf  die  Wirkung  der  dramatischen  Situation  verlassen  habe. 
Diese  Vertheidigung  des  Euripides  ist  nicht  zutreffend.  Es  würde 
diese  Manier  selbst  dann  ein  Mifsgriff  sein,  wenn  Euripides  ver- 
standen hätte  den  überwältigenden  Eindruck  einer  überraschenden 
Schicksalswendung  auf  seine  dramatischen  Figuren  anschaulich  zu 
machen  und  so  den  Zuschauer  in  Spannung  zu  halten  und  mit 
lebhafter  Theilnahme  zu  erfüllen.  Allein  von  dieser  Sophokleischen 
Kunst  ist  wenig  bei  Euripides  zu  spüren. 

Wenn  der  Stil  der  klarste  Ausdruck  der  Persönhchkeit  ist,  soDerStiide» 
trifft  dies  vor  allem  bei  Euripides  zu.  Die  Sprache  seiner  Dramen  ""'"  **' 
harmonirt  vollkommen  mit  dem  Geiste  seiner  Poesie,  für  die  weder 
der  grandiose  Ton  des  Aeschylus,  noch  die  mafsvoUe,  mehr  indi- 
vidualisirende  Weise  des  Sophokles  sich  eignet.  Von  Anfang  an 
steht  der  Stil  des  Euripides  durchaus  auf  dem  Standpunkte  der  un- 
mittelbaren Gegenwart^^);  die  Personen  in  seinen  Tragödien  reden 
die  eigene  Sprache  des  Dichters.  Je  ungewohnter  dieser  Ton  auf 
der  Bühne,  desto  mächtiger  war  die  Wirkung.  Euripides  schuf  eine 
mustergültige  Form  für  die  Zeitgenossen,  wie  für  die  Nachfolgenden. 

Die  Sprache  des  Dichters  ist  leicht,  fliefsend  und  geschmeidig; 
was  er  sagen  will,  wird  bestimmt  und  präcis  ausgedrückt.  Diese 
Klarheit  und  Verständlichkeit^'")  erreicht  der  Dichter  besonders  da- 
durch, dafs  er  sich  mögUchst  an  den  herkömmlichen  Ausdruck,  an 
die  übliche  Bedeutung  der  Worte  hält  und  doch  mit  diesen  ein- 
fachen Mitteln  die  beabsichtigte  Wirkung  erzielt.^*')    Obwohl  die  Er- 

379)  Wenn  Horaz  Ars  Poet.  95  sagt:  Et  tragictu plerumque  dolet  sermone 
pedestri,  Tclephus  aut  Peleus,  cum  pauper  et  exul  uterque  Proicit  ampullas 
et  sesquipedalia  verba ,  Si  curat  cor  spectantis  tetigisse  querela ,  hat  er  die 
Tragödie  des  Euripides  vor  Augen.  Neophron  war  vielleicht  in  diesem  Punkte 
Vorläufer  des  Euripides;  jedenfalls  schlofs  er  und  Aristarchus  sich  dem  Euri- 
pides alsbald  an. 

380)  Mit  Recht  wird  der  Vorzug  der  aa^riVEia  allgemein  bei  Euripides 
anerkannt  (vgl.  Thomas  Magister,  Dio  Chry.sostomus  52,  14  II  161  Pi.). 

381)  Sehr  richtig  charakterisirt  Krantor,  der  den  Euripides  hochschätzte, 

38* 


596  DRITTE   PERIODE   VON    500    DIS    300  V.  CHR.  G. 

habenheit  des  tragischen  Stils  ihm  fremd  ist,  versteht  er  doch  in 
ergreifender  Weise  dem  tragischen  Pathos  Ausdruck  zu  verleihen.^*) 
Seine  stilistische  Kunst  beruht  auf  sorgPalligen  Studien;  Euripides 
sammelt  wie  eine  Biene  passende  Ausdrücke,  eigenthümliche  Ge- 
danken und  Bilder.^)  Er  wufste,  dafs  das  Neue  und  Ungewohnte 
besonderen  Eindruck  macht,  aber  er  meidet  sorgföltig  jedes  Ueber- 
mafs.  Mit  feinem  Takte  wählt  Euripides  aus  dem  Sprachschätze  das 
Angemessene  aus'");  die  Redeweise  der  Gebildeten  seiner  Zeit  ist 
für  ihn  Norm.  Allein  er  erkannte  recht  wohl,  dafs  der  attische 
Dialekt  nicht  für  jedes  Bedürfnifs  ausreichte;  daher  wird  öfter,  als 
man  glaubt,  ein  alterthümliches  Wort,  eine  seltene  Sprachform  ein- 
geflochten.  Aber  wo  der  Dichter  dergleichen  zuläfst,  ist  es  in  der 
Regel  passend  gewählt,  dient  dazu,  der  Darstellung  eine  bestimmte 
Färbung  zu  geben,  macht  niemals  einen  fremdartigen  oder  stören- 
den Eindruck^');  selbst  der  niedrige  und  alltägliche  Ausdruck  wird 

seine  stilistische  Kunst  Diog.  Laert.  IV  6  (26):  Xiycov  i^ytüSss  elvai  iv  rcp  xvqüo 
rQaytxme  a/ia  xai  avfiTtad'cos  yqä-ipai.  Wie  sehr  Euripides  dem  Sprachgebrauche 
seiner  Zeit  huldigt,  sieht  man  daraus,  dafs  er  selbst  edle  Ausdrücke  in  gering- 
schätzigem Sinne  verwendet :  itaXakörrii  ist  ihm  E  i  n  f  a  1 1 ,  asfivös  stolz,  h  o  c  h- 
müthig(so  auch  Sophokles  Ai.  1107),  asuvvvsad'ai,  grofsthun. 

382)  Longin.  de  suhl.  c.  15:  ijxiard  yi  roi  ueyaXo^vr,i  iSv  oftioe  zijv  av- 
tÖs  avxov  (fvaiv  iv  nokkoTe  yevsad'ai  r^ayixijv  n^oariväyxaae ,  was  durch 
Beispiele  erläutert  wird. 

383)  Aristoph.  Acharn.  39S :  6  vovs  fiiv  i'|a>  ^XXiycov  invXXia  ovx  k'vSov. 
'EnvXXia  sind  nicht  Verse  {taftßela,  wie  der  Scholiast  das  Wort  fafst),  sondern 
der  Komiker  bezeichnet  damit  die  kunstreiche  Phraseologie  des  Tragikers,  wie 
er  auch  im  Frieden  532  die  iTtvXXia  des  Euripides  den  fieXt]  des  Sophokles 
gegenüberstellt,  indem  er  an  jedem  Dichter  das  hervorhebt,  was  am  meisten 
bewundert  wurde;  gleich  nachher  534  nennt  er  den  Euripides  verächtlich  einen 
noirjxris  Qtjfiaxioiv  Sixavixcäv.  In  den  Fröschen  941  rühmt  sich  Euripides, 
dafs  er  die  Tragödie  von  dem  Bombast  des  Aeschylus  befreit  habe:  layvava 
fi&v  Ttpiönarov  avrrjv  xal  t»  ßaQOS  ayelXov  invXXiois  xal  neoiTtarots  xai 
rsvrXioiat  Xevxole,  yvXov  SiSove  artoftvXfidrtav,  ajio  ßtßXicuv  amj&iäv.  Die 
Kühnheit,  welche  die  enthusiastischen  Verehrer  des  Dichters  bewunderten 
{na^axexivSvvevuivov,  Aristoph.  Frösche  99),  liegt  mehr  in  den  Gedanken  als 
in  den  Worten. 

384)  Arislot.  Rhet.  III  2  p.  1404  B  24  bezeichnet  den  Euripides  als  den  ersten 
Vertreter  dieser  Richtung :  xXtTtreTai  S'  sv,  iäv  iie  ix  ttjs  attad^iai  SinXt'xjov 
ixXiytav  arJVTt&fj,  onep  livQtnlSr}«  noiei  xal  iniSai^t  nqänot. 

385)  So  z.  B.  Kqoxh  Elekt.  r)25,  ini^afsw  (von  den  Drangsalen,  welche 
die  Sphinx  über  Theben  brachte)  Phon.  45,  xe'Xcjp  Androm.  1034,  xiyxQOfia 
Phon.  138(>,   das  dorische  Xr^e,   das   ionische  ninXtaxa  Hei.  532,  das  äolische 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  III.EURIP.    597 

durch  die  Umgebung  geadelt.^)  Daher  war  seine  Darstellung  durch 
Mannigfaltigkeit  ausgezeichnet^"),  und  mit  Recht  betrachten  die  alten 
Rhetoren  den  Dichter  als  Vertreter  des  mittleren  Stils.^*) 

Das  Epos  und  die  lyrische  Poesie  haben  manchen  Beitrag  ge- 
liefert; indes  dem  Homer  verdankt  Em'ipides  weniger  als  die  älte- 
ren Runstgenossen.  Mit  seinen  Vorgängern  hat  Euripides  vieles 
Gemeinsame,  doch  im  Ganzen  weit  mehr  mit  Aeschylus  als  mit 
Sophokles.  Anderes  ist  dem  Tragiker  eigenthümhch  oder  tritt  uns 
hier  zuerst  entgegen;  inwieweit  eine  Neuerung  im  einzelnen  Falle 
vorliegt,  läfst  sich  oft  schwer  entscheiden.^^)  Im  Allgemeinen  findet 
sich  Üngewöhnüches  mehr  in  den  lyrischen  als  in  den  dramatischen 
Scenen  und  hier  wieder  häufiger  in  den  erzählenden  Partien  als 
im  Dialoge.  Verhältnifsmäfsig  die  meisten  Sprachneuerungen  ent- 
halten die  späteren  Arbeiten  des  Dichters.^) 


TieSaioeiv  Phon.  102",  die  abgekürzte  Optativform  tgifow  fr.  895,  der  Dativ  iv 
(ftä  statt  qxori  Meleag.  fr.  53S;  manches  ist  durch  die  Abschreiber  verwischt, 
wie  slv  statt  elvai ,  der  Nominativ  des  Reflexivpronomens  t  u.  a.  "Wenn  er 
einen  Vers  aus  Aeschylus  (Philokt.  fr.  2i6)  herübernimmt,  so  vertauscht  er 
ia&isi.  mit  d'oiväiai.,  s.  Aristoteles  Poet.  c.  22,  7  p.  145S  B  23.  Aber  Euripides 
wendet  Glossematisches  niemals  aus  Ostentation  an,  sondern  er  verfährt  mit  so 
feinem  Takte,  dafs  man  oft  kaum  merkt,  wenn  er  ein  seltenes  Wort  einflicht. 

386)  Vergl.  Longin.  de  subl.  c.  40. 

387)  Biograph:  TtoixiXos  rrj  cpQäaet  xai  ixavos  avaaxcväaai,  ta  eiQrjiteva, 
ebenso  Thomas  Magister. 

3S8)  Biographie:  TiXiofiaii  Si  fiiato  /^orjaajuevos  TiSQtyByove  zr^  sQfir,vsiq 
äxQfos  sie  a/ifoTSQov  y^Qcüfisvos  Tßls  inixei^r^aeaiv,  Dionys.  Halle,  de  vett.  cens. 
2, 11  V  423  ed.  Lips.;  ebenso  läfst  er  de  comp.  verb.  c.  23  V  170  als  Vertreter 
der  yXacpvQo.  xai  avdT,Qa  avvd'eats  unter  den  Tragikern  nur  den  Euripides  gel- 
len.  (S.S.  461,  A.262,) 

389)  Jedenfalls  hat  Euripides  nicht  so  viel  geneuert  als  Aeschylus,  und 
die  Neubildungen,  mit  denen  er  die  Sprache  bereichert,  zeigen  einen  wesent- 
lich verschiedenen  Charakter. 

390)  Bezeichnend  ist  die  Vorliebe  des  Euripides  für  abstrakte  Ausdrücke, 
namentlich  Substantiva  auf  Jiä  (solche  Bildungen  sind  auch  bei  Aeschylus  be- 
liebt) und  016.  Unter  den  Zusammensetzungen  nehmen  die  mit  noXvs  (wie  z.  B. 
3io).vfwxd'os,  welches  Sophokles  nur  im  Oedipus  auf  Kolonos  65  gebraucht)  oder 
xaUe,  mit  SV  oder  8vs  im  ersten  Gliede  gebildeten  Worte  die  hervorragendste 
Stelle  ein,  was  eine  gewisse  Nüchternheit  der  poetischen  Anschauung  bekun- 
det. Zeilworte,  mit  zwei  Präpositionen  componirt,  wo  man  öfter  die  eine  leicht 
entbehren  würde,  sind  häufig;  besonders  beliebt  sind  Zusammensetzungen  mit 
aini  und  avv.  Einzelne  Neubildungen ,  wie  Sva&vriaxa}  Elekt.  843,  axaSio- 
S^afiovfiai  Herc.  für.  863,  xaxoßovXevo/tai  Ion  877  entfernen  sich  von  der  stren- 


598  DRITTE   PERIODE   VON    500    BiS    300  V.   CHR.  G. 

Die  Sauberkeit  und  gefällige  Eleganz  der  Rede^'),  der  wohl- 
gegliederte, leicht  übersichtliche  Satzbau  *''^},  die  Harmonie  des  Rhyth- 
mus und  Tonfalles,  wie  der  natürliche  Wohllaut  der  Sprache  übten 
eine  mächtige  Wirkung  aus.  Die  Redegewalt  des  Dichters  hat  etwas 
Hinreifsendes,  und  wenn  er  den  leidenschaftlichen  Drang  seiner  Seele 
in  die  Worte  legt,  bestrickt  er  mit  einem  eigenthünüichen  Zauber 
die  Gemüther.  Nicht  unpassend  verglich  ein  alter  Kritiker  den 
Redeflufs  des  Euripides  mit  Honigseim  und  Sirenengesang ^°^),  daher 
auch  Aristophanes,  indem  er  die  Meislerschaft  des  Tragikers  in  der 
Handhabung  der  stilistischen  Kunst  willig  anerkennt  und  selbst 
vieles  von  ihm  gelernt  zu  haben  eingesteht,  dieses  Lob  dahin  modi- 
ficirt,  Euripides  habe  seinerseits  wieder  der  honigsüfsen  Rede  des 
Sophokles  nicht  weniges  zu  danken.^^^)  Und  in  der  That  steht  die 
Redeweise  des  Euripides  dem  Vortrage  des  Sophokles  näher  als  der 
glänzenden  Sprache,  dem  hohen  Stile  des  Aeschylus,  der  vorzugs- 
weise den  Eindruck  des  Heroischen  macht.    Auch  hier  ist  ein  uatur- 


gen  Regel  der  Gesetzmärsigkeit,  welche  die  Sprache  sonst  beobachtet;  awa- 
aogieiv  Phon.  394  ist  durch  die  antithetische  Wendung,  die  zu  dieser  Wortform 
Anlafs  gab,  genügend  gerechtfertigt;  anderes  dieser  Art  ist  problematisch.  Die 
Beiworte  gehen  vorzugsweise  auf  die  äufsere  Gestalt  und  Erscheinung  der 
Dinge,  haben  nicht  selten  einen  malerischen  Charakter.  Alles  Gezwungene  in 
Worten  und  Wortverbindungen  hat  Euripides  sorgfältig  vermieden.  In  der 
Medea  279:  ovx  i'artv  arrjS  sin^vooiaroi  ixßaais  mufs  man  Bvn^öexroe 
herstellen,  und  die  gleiche  Verderbnifs  liegt  auch  bei  Aeschylus  Pers.  91  in 
anQoaoiaroe,  bei  Sophokles  Oed.  Kol.  1277  in  SvajiQÖaoiaxoe  vor. 

391)  Kofirpöv,  ein  dem  Euripides  selbst  sehr  geläufiger  Ausdruck,  ist 
dafür  das  rechte  Wort,  welches  freilich  auch  den  Begrifi  des  navovQyov  in  sich 
schliefst,  daher  Aristoph.  Ritler  18  xo/iif/svQiTnxcjs.  Anderwärts  bezeichnet  der 
Komiker  (s.  A,  394)  mit  rov  axofiaxos  ro  a-xqoyyvh}v  das  Abgerundete,  den 
leichten  Flufs  und  Rhythmus  des  Euripideischen  Stils.  Den  ^v&ftos  x'^C<£<^ 
hebt  auch  Thomas  Magister  hervor. 

.392)  Anakoluthien  finden  sich  nicht  eben  häufig  und  werden  meist  pas- 
send angewandt,  um  die  innere  Bewegung  des  Gemüthes  dadurch  anzudeuten, 
wie  im  Prolog  der  laurischen  Iphigeneia. 

393)  Alexander  Aetolus  bei  Gellius  XV  20,  8  schildert  das  ernste,  melan- 
cholische Gcmüth  des  Dichters,  fügt  aber  hinzu:  aW  o  t«  y^axf^at,  toüt'  ar 
fitktjos  xal  aBtor}v(ov  izarsvxtt. 

394)  Aristoph.  ^Kiyyäs  xarakaf^ßavovoat  fr.  397:  X^ä/iat  yaf  avrov  rov 
aröftaroe  %<^  ajQoyyvXtit,  xovi  voZi  S'  ayoQaiovs  rjrrov  ^  xtivos  noicü'  und 
/\(WToJf?c?  fr.  231a:  o  J'  av  ^ofonkiovs  lov  /teXtxi  xtxfto/utfov  umne^ 
xaSiaxov  ntQiiXeixi  ro  aröfta.    (S.  S.  4ti3,  A.  26S.) 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLüTHEZEIT.   III.  EURIP.    599 

gemäfser  Gang  der  Entwicklung  deutlich  zu  erkennen.  Sophokles 
führt  die  Erhabenheit  der  tragischen  Diktion,  die  in  Gefahr  war,  in 
Schwulst  und  Unnatur  auszuarten,  auf  das  rechte  Mafs  zurück;  er 
verbindet  Anmuth  und  Milde  mit  der  Grofsheit  und  Würde,  welche 
die  ideale  Welt  der  Tragödie  fordert.  Euripides,  der  diese  Stoffe 
der  Gegenwart  näher  bringt,  verzichtet  auf  den  Reichlhura  poetischen 
Schmuckes  und  sucht  mehr  durch  vollendete  Sauberkeit  der  Form, 
durch  gewählten  Ausdruck,  durch  die  nattirhche  Frische  und  Leben- 
digkeit des  V^ortrags  zu  wirken. 

Euripides,  der  stets  die  Wirkung  genau  berechnet,  hält  sich 
nicht  immer  auf  gleicher  Höhe.  Oft  zieht  er  absichtlich  das  Schlichte, 
scheinbar  Kunstlose  vor;  manchmal  that  aber  auch  die  Eilfertigkeit 
des  Producirens  Eintrag.  So  finden  sich  neben  durchaus  vollende- 
ten Partien  lang  hingezogene^)  oder  nur  in  flüchtigen  Umrissen  hin- 
geworfene Stellen.  Die  Leichtigkeit  der  Rede  führt  unwillkürhch 
zu  einer  gewissen  Ueberfülle,  daher  Aristophanes  wiederholt  die 
Geschwätzigkeit  der  Euripideischen  Tragödie  tadelt.^)  Zuweilen, 
namenthch  in  den  Prologen,  kommt  die  Darstellung  der  Prosa  ziem- 
lich nahe,  indem  nur  hier  und  da  ein  dichterisches  Wort  oder  Bild 
eingeflochten  wird,  um  die  Rede  über  die  Weise  des  Alltagslebens 
zu  erheben. 

Der  Stil  des  Euripides  ist  nicht  frei  von  Manier.  Aus  der  Rasch- 
heit, mit  welcher  der  Dichter  arbeitete,  und  der  Einfachheit  seiner 
Redeweise  entspringt  die  Angewöhnung  an  gewisse  conventionelle 
Wendungen  und  Phrasen,  welche  er  über  Gebühr  wiederholt."^ 
Ebenso  kehren  unverändert  dieselben  Verse  wieder  ^^),  woran  die 
Kritik  oft  ohne  Grund  Anstofs  genommen  hat.    So  macht  auch  Euri- 


395)  Biographie:  dv  Se  roTs  a/ioißaiois  neoKKros  xai  fo^ixös,  yai  iv 
rois  noaXciyote  Se  ox^VQoi. 

396)  Aristoph.  Frösche  943:  x^Xbv  SiSoi?  arcouvXuärmv ,  und  1069:  elx^ 
av  XaXuiv  i7tirT]8evaai  xai  axatfivXiav  iSiSa^as;  vgl.  auch  841  :  <y  ara>fivXu>- 
avXXsxrdSri.  Die  Redseligkeit  rechtfertigt  Dio  Chrysostomus  52,  9  II  160  in  dem 
Falle,  wo  ein  Unglücklicher  seine  Erfahrungen  schildert. 

397)  ^ofos,  aoffia,  <sofCC,e<sd'ai  sind  Lieblingsworte  des  Euripides;. auch 
vavaxoXBw  gebraucht  er  gern.  Besonders  geläufig  ist  ihm  der  Ausdruck  fqov- 
Sos  (äv  Tta&ei  angewandt,  s.  Didymus  Schol.  Androm.  1054),  den  Aeschylus  nur 
einmal  Suppl.  S61,  Sophokles  mit  Mafs  verwendet ;  Aristophanes  parodirt  diese 
Manier  in  den  Wolken  718,  vgl.  auch  Frösche  1343. 

398)  Der  Vers  Medea  693  kam  schon  in  den  Peliaden  fr  604.605  vor. 


600  PRITTE  PERIODE  VON  500  BIS  300  V.  CHI».  G. 

pides  von  der  Wiederholung  desselben  Wortes  zu  rhetorischen  Zwecken 
in  den  lyrischen  Partien  bis  zum  Ucbermafsc  Gebrauch,  so  dafs 
dieses  Mittel  zuletzt  jede  Wirkung  verhert.  Schon  von  Aristophanes 
wird  diese  Manier  verdientermafsen  gerügt.^'®) 

Das  Vorherrschen  des  rhetorischen  Elementes  sondert  die  Dar- 
stellung des  Euripides  sehr  bestimmt  von  seinen  älteren  Berufs- 
genossen ab.'"*)  Diese  rhetorische  Kunst  ist  nicht  sowohl  angelernt, 
denn  des  Dichters  Jugend  fällt  in  eine  Zeit,  wo  man  sich  noch  nicht 
mit  theoretischen  Studien  über  solche  Dinge  befafste,  sondern  be- 
ruht auf  Naluranlage;  aber  Euripides  hat  nichts  versäumt,  um  dieses 
Talent  auszubilden.  Den  politischen  Debatten  in  der  Volksversamm- 
lung, den  Gerichtsverhandlungen,  an  welche  uns  zahlreiche  Scenen 
dieser  Dramen  erinnern ,  ist  der  Tragiker  gewifs  nicht  selten  mit 
lebhafter  Theilnahme  gefolgt.  Mochte  auch  die  schlichte  Weise,  welche 
nocb  lange  sich  dort  behauptete,  so  wenig  wie  der  hohe  Stil  eines 
Perikles  und  anderer  Wortfilhrer  ihm  zusagen,  so  ward  er  doch 
durch  das  Studium  der  lebensvollen  Wirklichkeit  in  seinen  dichte- 
rischen Arbeiten  gefordert.  Ebenso  wenig  darf  man  den  Einflufs 
unterschätzen,  welchen  später  die  Sophisten  auf  Euripides  ausübten; 
nur  ist  der  Tragiker  nicht  so  sehr  als  ihr  Schüler  zu  betrachten, 
sondern  die  Uebereinstimmung  hinsichtlich  der  Ziele  und  Wege 
fübrte  die  gleichgestimmten  Naturen  zusammen.  Denn  die  That- 
sache  stebt  fest,  dafs  Euripides  in  vorgerücktem  Alter,  seitdem  er 
mit  den  Sophisten  in  unmittelbare  Berührung  kam,  eine  wachsende 
Vorliebe  für  das  Spitzfindige  und  Subtile  des  Ausdrucks,  für  Gegen- 
sätzlichkeit der  Gedanken  und  Wortfiguren,  für  das  deklamatorische 
Pathos  zeigt.'^')     Eben   deshalb   bat  der  Tragiker,  wie   ihm  Aristo- 


3fl9)  Aristoph.  in  den  Fröschen  13liS  und  1352  IT.,  wo  er  die  Manier  der 
Monodien  bei  Euripides  sehr  glücklich  nachbildet.  Nur  eine  Abkürzung  dieser 
Figur  (Epizeuxis)  ist  es,  wenn  Arisloph.  Thesmoph.  1039  parodirend  sagt:  anb 
Se  avyyövtov  nv  —  nro/ta  •jiäd'ea,  denn  so  ist  statt  nXV  zu  lesen.  Verschie- 
den davon,  aber  in  der  Wirkung  ziemlicli  gleich  ist  die  von  Aristoph.  Frösche 
1314  verspottete  Manier  des  Vortrags  Enripideisciier  Lieder:  r'iBittfuuüia- 
9tri. 

400)  Biographie:  QT)ioQiyiörarot  Si  rfi  xarnaKevt;.  Dionys.  de  Hai.  veU. 
cens.  2,  1 1 :  nolif  iv  raXe  ^rjrooiynis  tioaymynls.  Dio  Chrysostomus  52.  1 1 
II  160  nennt  die  Redeweise  des  Tragikers  noyltT<Ko>T«Tf;  xai  (}r;ropit<(OTnrT],  und 
denn  Aristophanes  Frieden  534  ist  er  ytoi7)ti,t  (»t^ftaxiafr  SiMnrtxöir. 

401)  Die  Wirkung  dieser  sophistischen  Redekunst  auf  die  Massen  schil- 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIETRAGÖDIE.  11.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  III.ELRIP.    601 

phanes  wiederholt  vorwirft,  mit  seiner  Weise,  die  dem  Geschmacke 
der  Zeit  entschieden  zusagte,  auf  die  rednerische  Ausbildung  seiner 
Zeitgenossen  unzweifelliaft  grofsen  Einflufs  gewonnen.^*")  Die  Rhc- 
toren,  wenn  sie  auch  nicht  unbedingt  alles  an  Euripides  bewundern, 
geben  doch  seinen  Tragödien  den  Vorzug  vor  allen  anderen'"^),  weil 
sie  vollendete  Muster  rednerischer  Kunst  darboten  und  überhaupt 
der  künftigen  Entwicklung  der  Literatur,  die  mehr  und  mehr  ein 
rhetorisches  Gepräge  annimmt,  gleichsam  den  Weg  vorzeichneten. 
Aber  die  Rhetorik  ist  der  Tod  der  echten  Poesie;  es  ist  ein  un- 
zweideutiges Zeichen  des  Verfalles,  wenn  diese  formale  Gewandtheit 
als  das  vorzüglichste  Bildungsmittel  gilt  und  die  höheren  geistigen 
Interessen  eines  Volkes  dieser  Virtuosität  nachstehen. 


dert  Aristoph.  Frösche  774:  ol  S^  axQOtoftevoi  röjv  dvriÄoytäv  xai  Xvyia/iöäv 
x«t  axQOfcöv  v-jtEQE^ävriaav  xavöfiiaav  aofdrarov,  wie  auch  nachher  diese 
Weise  des  Euripides  anschaulich  geschildert  \»'ird  814  ff.,  875  ff.,  901  ff.  Hier- 
her gehört  z.  B.  die  Vorliebe  des  Euripides  für  Ausdrücke,  wie  yauos  Siaya- 
/tos,  xäftaros  evxäftaros,  oSol  avoSoi,  Ttaod'svos  anao&evos,  t^fi^r;  avvu(f03, 
Mqya  äveoya  u.  dergl.,  von  Aristoph.  Frösche  1334  rpvxav  äxi-vyov  k'/jovta  parodirt. 
Auch  die  anderen  Tragiker  verschmähen  dieses  Mittel  nicht,  aber  keiner  thnt 
es  dem  Euripides  gleich. 

402)  Aristoph.  Frösche  1069.  1083.  Schon  in  den  Achamern  393  ff.  läfst 
der  Komiker  den  Dikäopolis,  dem  daran  gelegen  ist,  seine  Sache  erfolgreich  zu 
vertheidigen,  sich  bei  Euripides  Raths  erholen. 

403)  Dionys.  Hai.  de  vett.  cens.  2, 11  vermifst  zwar  an  den  Charakteren  des 
Euripides  die  Würde  und  Grofsheit,  aber  empfiehlt  sein  Studium  dem  Redner; 
ähnlich  urtheilt  Dio  Chrysostomus  18,  7  I  28S  der  zugiebt,  er  habe  die  Würde  der 
Tragödie  nicht  recht  gewahrt,  aber  die  ztQoarjvsia  und  7n&av6ri]s  anerkennt. 
Wenn  derselbe  52,  14  U  161  den  Philoktet  charakterisirt :  nXeiaTTjV  fiiv  iv  rols 
TtQäyfiaat  avveaiv  xal  Tttd'avazTira,  iTtiSsixwrai,  dfirjxavav  8i  xai  ■d'avfiaoTTjv 
kv  rols  /.oyois  Sivafuv,  xai  rc  rs  infißsla  aatpöJS  xai  xarcc  ipvaiv  xai  Ttoh- 
Tixöis  iyovxa,  xai  rt  (ii).ri  ov  fiovov  rjSovi^.,  aXXa  xai  Ttof./.rjv  tz^os  doerrpf 
7ia^äxÄ7]aiv,  so  fafst  er  nur  die  Vorzüge  zusammen,  die  man  insgemein  an 
Euripides  schätzte.  (Juintil.  X  1,  67  f.  läfst  die  Frage,  ob  Sophokles  oder  Euri- 
pides als  Dichter  höher  zu  stellen  sei  (quorum  in  dispari  dicendi  via  vier 
Sit  poeta  melier),  unentschieden,  aber  nimmt  als  allgemein  zugestanden  an, 
dafs  Euripides  für  den  künftigen  Redner  wegen  des  rednerischen  Charakters 
seiner  Sprache,  der  Fülle  der  Sentenzen,  der  philosophischen  Lebensanschauung, 
der  dialektischen  Kunst  (dicendo  ac  respondendo  cuilibet  eorum,  qui  fuerunt 
in  foro  diserti,  comparandus),  und  der  vollendeten  Meisterschaft,  mit  der  leiden- 
schaftliche Gemüthsbewegungen,  namentlich  Rührung  erweckt  und  dargestellt 
werden,  entschieden  den  Vorzug  verdiene. 


602  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 


Tragiker  zweiten  und  dritten  Raugres. 

Die  anderen  Tragiker  dieses  Zeilraumes  geriellien  frühzeitig  in 
Vergessenheit.  Der  strahlende  Glanz  der  grofsen  Meister  verdunkelt 
alle  ihre  Mitbewerber.  Auch  waren  die  meisten,  wie  es  scheint,  von 
untergeordneter  Bedeutung.  Doch  darf  man  ihre  Leistungen  nicht 
allzu  geringschätzig  beurtheilen.  Es  fand  sich  darunter  mancher 
begabter  Dichter,  der  erfolgreich  mit  den  Koryphäen  wetteifert. 
Leider  ist  unsere  Kenntnifs  sehr  lückenhaft;  nur  dürftige  Reste  ihrer 
Dramen  sind  erhalten.  Hier  und  da  bietet  ein  sachkundiges  Urtheil 
aus  dem  Alterthume  einen  Anhalt  dar;  aber  viele  lernen  wir  nur 
aus  den  Angriffen  und  Neckereien  der  gleichzeitigen  Komiker  kennen. 

I 

Erstes  sta-  Neben  Aeschylus  wirkten  längere  Zeit  noch  die  älteren  Dichter, 

'*'"'"■     später  aufser  dem  jungen  Sophokles  Aristias   und  Polyphrad- 

mon,  die  Sühne  des  Pratinas  und  Phrynichus.')     Nach  Aeschylus' 

Abscheiden   treten  seine  Nachkommen  im  Agon  auf  und   üben  die 

ererbte  Kunst  über  ein  Jahrhundert  lang  aus.") 

II 

Zweites  Der  Tod  des  Aeschylus  und  der  gleichzeitige  erste  Versuch  des 

Stadium,  ßm-ipides,  Ol.  81,  1,  bezeichnet  den  Beginn  des  zweiten  Stadiums, 
und  nach  diesem  Vorgange  widmeten  sich  alsbald  frische  Kräfte 
der  tragischen  Bühne:  Aristarchus  Ol.  81,  Ion  01.82,  Achäus 
Ol.  83,  unzweifelhaft  die  talentvollsten  Dichter,  welcher  dieser  ganze 
Zeitraum  aufser  den  drei  Meistern  hervorgebracht  hat.  Ihnen  gebührt 
nebst  Agathon,  der  erst  später  auftritt  und  schon  deutlich  auf 
die  letzte  Epoche  hinweist,  fügHch  die  zweite  Stelle.')  Abor  he- 
merkenswcrth  ist,  dafs  keiner  aus  Athen  stammt. 
Aristarchus.         Aristarchus  aus  Tegea  in  Arkadien  trat  Ol.  81,  4  auf^);  eiu 

1)  S.  oben  S.  267  f. 

2)  S.  oben  S.  5fi  und  unten  S.  0()S.  (31Ü. 

3)  Die  Alexandriner  liefsen  aufser  den  drei  Meistern  Ion  und  Achäus  als 
vorzugsweise  klassiscbe  Muster  gelten,  s.  S. (>04f.,  A.  l'J. 

4)  Unter  diesem  Jahre  verzeichnet  ihn  Eusebius  Chron.  Fl  105;  gemeint 
ist  Hohl  das  erste  Auftreten.   Suidas  I  1,718  nennt  ihn  einen  Zeitgenossen  des 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  £1.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  A>D.  TRAG.   603 

fleifsiger  Dichter,  obwohl  der  äufsere  Erfolg  mäfsig  war,  da  ihm  nur 
zweimal  der  erste  Preis  zuerkannt  wurde.^)  Um  die  Feststellung 
der  Oekonomie  der  Tragödie  mufs  er  sich  verdient  gemacht  haben ; 
jedoch  geht  uns  nähere  Kunde  ab.®)  Sein  Stil  erinnert  nicht  so- 
wohl an  Aeschylus  und  die  alte  Tragödie,  sondern  steht  der  Rede- 
weise der  Gegenwart  ganz  nahe.  Aristarchus  war  der  einzige  unter 
den  Tragikern  zweiter  Ordnung,  den  auch  die  Römer  beachteten.') 

Ion  von  Chios,  aus  einem  reichen  und  wohl  auch  angesehe-  lon- 
nen  Geschlecht*),  eine  bewegliche  ionische  Natur,  mufs  den  gröfsten 
Theil  seines  Lebens  auf  Reisen  oder  in  der  Fremde  zugebracht 
haben.  Als  ganz  junger  Mann,  um  Ol.  78,  kam  er  nach  Athen  und 
verkehrte  dort  namentlich  mit  Kimon.^)  Seine  poetischen  und  ge- 
selhgen  Talente  machten  ihn  zu  einem  willkommenen  Genossen  des 
Kreises,  der  sich  in  dem  gastfreien  Hause  des  berühmten  Feldherm 
versammelte.  Ion  rühmt  daher  auch  später  in  seinen  Denkwürdig- 
keiten die  feinen,  gebildeten  Umgangsformen  des  Kimon,  während 
ihm  das  ernste,  gemessene  Wesen  des  Perikles  wenig  zusagte.'") 
Dafs  der  dem  Kimon  befreundete  Dichter  auch  Sparta  aufsuchte  und 
hier  vom  Könige  Archidamus  wohl  aufgenommen  wurde,  ist  erklär- 
lich.") Bei  der  Festfeier  der  Isthmien  verkehrte  er  mit  Aeschylus, 
den  er  sicherlich  schon  in  Athen  persönhch  kennen  gelernt  hatte.") 
Von  Zeit  zu  Zeit  mag  Ion  auch  seine  heimische  Insel  wieder  auf- 
gesucht haben.  Dort  traf  er,  wie  er  selbst  anmuthig  erzählt,  Ol. 
84,  4  mit  Sophokles  zusammen ,   der  damals   im   samischen  Kriege 

Euripides  und  legt  ihm  ein  Alter  von  mehr  als  hundert  Jahren  bei.  Er  wird 
wohl  erst  in  reifen  Jahren  sich  der  Poesie  gewidmet  haben. 

5)  Nach  Suidas  führte  er  siebzig  Tragödien  auf;  ob  die  Satyrstücke  mit 
inbegriffen  sind,  ist  ungewifs. 

6)  Suidas :  tiocÖtos  eis  rb  vvv  airaif  fij]xoS  xa  S^äfiaxa  xaxiaxraev, 

7)  Den  Achilles  des  Aristarchus  hatte  Ennius  bearbeitet.  (Nauck  S.  564.) 
S)  Darauf  scheint  auch  der  Zuname  Scnz&os,  den  sein  Vater  Orthomenes 

führte,  hinzudeuten. 

9)  Plufarch  Kimon  c.  9  und  16. 

10)  Plutarch  Perikles  c.  5.  Vielleicht  wirkte  auch  die  Verschiedenheit 
politischer  Ansichten  auf  dieses  Urtheil  ein. 

11)  Während  des  Aufenthaltes  in  Sparta  ist  die  Elegie  gedichtet,  von 
der  Athen.  X  463  B  ein  Bruchstück  mittheilt  (fr.  2). 

12)  Plutarch  de  prof.  in  virt.  c.  S.  Wahrscheinlich  hatte  Ion  selbst  in  seinen 
Denkwürdigkeiten  die  dort  angefülirte  Aeufserung  des  Aeschylus  berichtet  und 
bei  diesem  Anlasse  noch  weitere  Miltheilungen  über  Aeschylus  hinzugefügt. 


604  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

als  Befehlshaber  mit  einer  Abtheilung  der  attischen  Flotte  kurze 
Zeit  in  Chios  verweilte  (S.  363).  Seinen  bleibenden  Wohnsitz  hatte 
Ion  in  Athen  aufgeschlagen;  denn  nur  hier  fand  er  den  rechten  Boden 
lür  seine  literarischen  Bestrebungen.") 

Ion  ist  eine  der  eigenthümlichsten  Erscheinungen  dieser  Zeit. 
Lebhaft,  angeregten  und  empfänghchen  Geistes,  zeichnet  er  sich  durch 
vielseitige  Bildung  und  ungemeine  literarische  Bührigkeit  aus"); 
seinen  Buhm  hat  er  jedoch  vorzugsweise  als  Tragiker  begründet. 
Ol.  82  trat  er  zum  ersten  Male  auf*') ;  Ol.  87,  4  treffen  wir  ihn  mit 
Euripides  und  lophon  im  Wettkampfe  an,  wo  er  sich  mit  der  drit- 
ten Stelle  begnügen  mufste.'^)  Aber  ein  anderes  Mal  hatte  er  bes- 
seren Erfolg,  indem  er  gleichzeitig  im  tragischen  und  dithyram- 
bischen Agon  den  Preis  erhielt.")  Unter  den  Tragikern  zweiten 
Banges  war  Ion  einer  der  geachtetsten  '^),  wenngleich  seine  Arbeiten 
sich  mehr  durch  sorgsames  Studium  und  leichte,  gewandte  Darstel- 
lung als  durch  grofsartigen  Schwung  und  Originahtät  des  Geistes 
empfahlen. '°)    Bemerkenswerth  ist,  dafs  er  zuweilen  Beziehungen  auf 


13)  In  Athen  ist  Ion  auch  gestorben ,  wie  es  scheint  kurz  vor  Ol.  89,  3, 
s.  Arisloph.  Frieden  837  und  daselbst  die  Scholien.  Ion  wird  also  die  Schwelle 
des  Greisenalters  nicht  viel  überschritten  haben. 

14)  Mit  Recht  bezeichnete  ihn  Kallimachus  als  Polygraphen.  Ein  Ver- 
zeichnifs  seiner  Schriften  geben  Schol.  Aristoph.  Frieden  835,  Suidas  I  2, 103G 
und  Harpokration,  wo  zu  lesen  ist  iy^arpe  Se  noXla,  xai  (liXrj  xtA. 

15)  Suidas. 

16)  Didaskalie  zu  Euripides'  Hippolytus. 

17)  Athen.  I  3  F,  Schol.  Aristoph.  Fried.  835  und  Suidas.  Durch  eine  Sen- 
dung Weins  von  Chios  dankte  der  freigebige  Dichter  den  Athenern  fär  diese 
Anerkennung. 

18)  Die  Angaben  über  die  Zahl  seiner  Tragödien  schwanken  zwischen 
zwölf  (also  drei  Tetralogien),  dreifsig  und  vierzig.  Wir  kennen  Titel  und 
Bruchstücke  von  elf  Dramen,  darunter  ein  Satyrspiel 'O/z^pd^i? ;  nächstdem  wer- 
den am  häufigsten  genannt  der  <Polvi^  (Ion  schrieb  zwei  Tragödien  dieses 
Namens)  und  die  <pQovpoi.  Die  Komödien  des  Ion  beruhen  nur  auf  einem 
Schreibfehler  statt  r^ayipSiai. 

1<,>)  Longin.  de  sublim,  c.  33  stellt  der  tadellosen  Millelmärsigkeit  die  nicht 
immer  fehlerfreien,  aber  auf  die  höchsten  Ziele  gerichteten  Leistungen  gegen- 
über und  nennt  beispielsweise  als  Vertreter  der  ersten  Gattung  Bnkcitylides 
und  Ion,  der  anderen  Pindar  und  Sophokles;  die  ersteren  sind  ihm  nSiänrtarot 
xal  iv  Tfp  yXaipvQC^  nävTrj  xexaXXty(ia^ftivoi,  aber  ovSeie  av  ev  tpQoviüv  Bvoi 
S^ftaros,  Tov  OidinoSoe  (von  Sophokles),  eis  Tavro  avv&eit  ra  'Ituroe  avtt- 
TifiTiaaito  ilr'c.    Mit  Ions  Tragödien  beschäftigten  sich  nicht  ntir  Grammatiker 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  A>D.TRAG,  605 

die  unmittelbare  Gegenwart  einflocht;  so  widmete  er  den  Spartanern 
und  dem  ihm  persönUch  befreundeten  Archidamus  ein  ehrendes  An- 
denken.^") Aufserdem  war  aber  Ion  auch  auf  den  verschiedensten 
Gebieten  der  lyrischen  Poesie  mit  Erfolg  thätig ;  er  dichtete  Elegien, 
in  welchen  sein  auf  leichten  Lebensgenufs  gerichteter  Sinn  sich  deut- 
lich aussprach*'),  Dithyramben,  Hymnen,  Päane,  Enkomien,  gesellige 
Lieder  und  Epigramme.^)  Ion  hat  vielleicht  in  seinen  Dithyramben 
zuerst  jenen  schwülstigen  Stil  aufgebracht,  der  seine  Bilder  nicht 
auf  der  Erde,  sondern  in  den  höhereu  Regionen  der  Wolken  und 
des  Aethers  sucht.  Gerade  für  einen  philosophisch  gebildeten  Dich- 
ter lag  die  Versuchung  nahe,  in  diese  Manier  zu  verfallen,  welche 
den  nie  ruhenden  Spott  der  Komödie  herausforderte.") 

Als  Prosaschriftsteller  versuchte  sich  Ion  nach  zwei  Richtungen 
hin;  er  interessirt  sich  gleichmäfsig  für  historische  wie  für  philo- 
sophische Studien.  Diese  Arbeiten,  in  denen  er  den  ionischen  Dia- 
lekt festhielt,  der  auf  diesen  Gebieten  noch  ausschliefsliche  Geltung 
halte  *^),    gehören  wohl  meist   dem   reiferen  Lebensaher  an.     Ions 


wie  Aristarch  und  Didymus,  sondern  sie  fanden  auch  später  Leser.  Der  Philo- 
soph Arkesilans  (Diog.  Laert.  IV  6,  4  (31))  interessirte  sich  in  seiner  Jugend  be- 
sonders für  Ion. 

20)  Bei  Sextus  Empir.  ad  Math.  II  24  p.  öT9  Bkk. :  oi  yaq  koyois  Aäxaiva 
jivQyovrat  TioXtS,  aXV  evr  av'AoT)?  veoxf^os  iftTisaTj  OToaxcö,  ßov).r]  fiev  a^X^i, 
Xsio  S'  i7ts^eQyät,erai.  Bei  dem  Erdbeben  01.79,1  hatte  Archidamus  trotz  der 
allgemeinen  Bestürzung  Geistesgegenwart  genug,  um  eine  Anzahl  Spartiaten 
um  sich  zu  sammeln  und  damit  den  aufständischen  Heloten  entgegenzutreten. 
Sextus  bringt  die  Verse  mit  einer  bekannten  Anekdote,  welche  die  Brachylogie 
der  Spartaner  veranschaulichte,  in  Zusammenhang. 

21)  (S.  Bd.  II  S.  511.)  Ion  war  ein  Freund  des  Weines  und  der  Frauen 
(Baton  von  Sinope  in  seiner  Schrift  Tteoi  'Icavos  Athen.  X  436  F);  auch  die  Ueber- 
reste  seiner  Dramen  und  Denkwürdigkeiten  bestätigen  dies. 

22)  Genannt  wird  ein  Hymnus  auf  den  Katjas  (offenbar  nicht  für  den 
Cultus  bestimmt;  auch  darin  erkennt  man  eine  Neuerung),  ein  Lobgedicht  auf 
Skythiades  (Miller  Melanges  p.  3tJ4  (fr.  15));  ein  dem  Tragiker  ßlschlich  zuge- 
schriebenes Epigramm  auf  den  Tod  des  Euripides  (fr.  8)  gehört  vielleicht  dem 
Rhapsoden  Ion,  mit  dem  auch  der  Scholiast  des  Aristophanes  und  Suidas  den 
Dichter  verwechseln. 

23)  Vergl.  Aristoph.  Frieden  835,  wo  aber  wohl  zugleich  auf  die  Vorstel- 
lungen von  dem  Schicksale  des  Menschen  nach  dem  Tode  Rücksicht  genom- 
men wird,  die  Ion  in  seinem  roiay/itos  entwickelt  haben  wird. 

24)  Das  einzige  wörtlich  angeführte  Bruchstück  des  r^iayfios  (s.  FHG.  II 
49  M.  fr.  12)  zeigt  allerdings  keine  ionischen  Sprachformen,  allein  die  Satzbildung 


606  1>RITTE    PERIODE   VON    500    BIS    300   V.  CHR.  G. 

historische  Arbeiten  über  die  Urgeschichte  von  Chios  und  seine  Denk- 
würdigkeiten zeigen^*),  dafs  er  die  entlegene  Vergangenheit  ebenso 
wie  die  nächste  Gegenwart,  aber  nur  insofern  seine  Ileimath  und 
eigene  Person  davon  berührt  wird,  berücksichtigte.  Ion  war  der  Erste, 
der  seine  persönlichen  Erinnerungen  aufzeichnete,  um  sie  der  Nach- 
welt zu  überliefern^*),  ein  deutlicher  Beweis,  wie  das  Individuum 
sich  mehr  und  mehr  geltend  macht,  und  er  fand  bald  Nacbfolger. 
Ion  knüpfte  diese  Denkwürdigkeiten  aus  seinem  Leben  an  seine 
Reisen  an,  und  da  er  mit  den  bedeutendsten  Männern  der  Zeit  in 
Berührung  gekommen  war,  mufs  das  Buch  viel  Interessantes  ent- 
halten haben.*^)  Dafs  Ion  auch  für  Höheres  Sinn  hatte,  zeigt  seine 
Beschäftigung  mit  philosophischen  Problemen.  Beachtenswerth  ist, 
wie  er  sich  von  dem  Rationalismus  der  ionischen  Naturphilosophie, 
die  gerade  damals  in  Athen  Eingang  fand,  zu  der  mystischen  Rich- 
tung des  Pythagoras  hinwandle.  Ion  mufs  ein  praktisch  und  theo- 
retisch  durchgebildeter  Kenner  der  Musik  gewesen  sein;   vielleicht 

erinnert  ganz  an  die  Weise  der  las.  Des  altischen  Dialektes  liat  sich  hier  Ion 
schwerlich  bedient;  aber  er  mag  die  las  hier  mehr  der  Alibis  angenähert  haben, 
wie  er  andererseits  auch  in  seinen  Tragödien  zuweilen  ionische  Formen  ein- 
mischte. Dagegen  die  Bruchstücke  der  historischen  Schriften  machen  den  Ein- 
druck der  reinen  volksmäfsigen  las. 

25)  Xlov  xriaie  und  ^ETuSrjfiiat  oder  vnofivfifAaia;  denn  dies  sind  nur 
verschiedene  Bezeichnungen  desselben  Werkes.  Den  Titel  iniSr^^nai  wird  Ion 
selbst  gewählt  haben;  denn  er  schilderte  seine  Reiseerinnerungen  (vgl.  die  latei- 
nische L'eberselzung  von  Joannes  Alexandrinus'  Commenlar  zu  Hippokrales'  Epi- 
demien), seinen  ersten  Besuch  in  Athen  wie  später  das  Wiederseheu  seiner  Hei- 
math;  den  bleibenden  Aufenthalt  in  Athen  hatte  er  olTenbar  nicht  berücksichtigt. 
Aufserdem  wird  noch  ein  •rcQeaßevrtxös  von  Ion  erwähnt,  gewifs  keine  Rede, 
wenn  man  auch  }.6yoi  zu  ergänzen  hat,  sondern  Bericht  über  eine  Gesandt- 
schaft, an  der  Ion  Theil  nahm;  diese  Schrift,  deren  Echtheil  beslrillen  war, 
ist  vielleicht  von  dem  avvexSrjftrjTinöe  nicht  verschieden. 

26)  Dichter  halten  allerdings  dies  schon  früher  gelhan,  aber  absichtslos. 

27)  Von  Staatsmännern  werden  in  den  Ueberreslen  dieser  Schrift  Kimon 
und  Perikles,  von  Dichtern  Aeschylus  und  Sophokles,  von  Philosophen  Arche- 
laus und  Sokrates  genannt.  Das  Werk  enthielt,  wie  es  die  Natur  solcher  Auf- 
zeichnungen mit  sich  brachte,  zahlreiche  Anekdoten,  die  Ion  eben  zur  Charak- 
teristik seiner  Zeilgenossen  miltheilte.  Ion  mag  Einzelnes  ausgeschmückt  haben. 
sein  Unheil  mag  zuweilen  befangen  sein,  aber  seine  WahrheiLsliebe  zu  ver- 
dächtigen liegt  kein  Grund  vor.  Die  anschauliche  und  lebendige  Darstellung 
zeigt  jene  behagliche  Breite,  die  den  loniern  eigen  ist;  man  vgl.  die  Probe, 
welche  Athen.  Xlll  W6  E— 6U4  D  miltheill. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIETRAGÖBIE.  II.  GRUPPE.  DIEBLCTHEZEIT.  A.ND.TRAG.    607 

waid  er  dadurch  zu  speculativor  Forschung  im  Sinne  der  Pythago- 
reischen Schule  angeregt.  Seine  Schrift,  Dreiheit  betitelt**),  weil 
er  überall  die  trichotomische  Eintheilung  durchführte,  ward  zwar 
von  den  alten  Kritikern  angefochten;  allein  Isokrates  legt  sie  un- 
bedenkhch  dem  Ion  bei.  Auch  Plato  und  Aristoteles  beziehen  sich 
darauf  und  bezeugen  so,  obschon  sie  den  Verfasser  nicht  nennen, 
das  Alter  und  Ansehen  des  Werkes. 

Ach  aus  aus  Eretria  von  der  Insel  Euböa,  Ol.  74  geboren,  Achius 
also  jünger  als  Sophokles,  älter  als  Euripides,  nahm  Ol.  83  zum 
ersten  Male  am  tragischen  Wettstreite  Theil.-'^)  Die  Angaben  über 
die  Zahl  seiner  Dramen  sind  schwankend;  einmal  gewann  er  den 
ersten  Preis.^")  Im  Satyrdrama  mufs  er  Vorzüghches  geleistet  haben ; 
in  dieser  Gattung  übertraf  er  alle  seine  Zeitgenossen.^')  Seine  Dar- 
stellung war  mehr  zierlich   und  elegant  als  einfach;   öfter  that  die 


2S)  Tgiayfits  oder  Toiayuoi;  davon  ist  der  xoauoXoytxös  (Snidas)  offen- 
bar nicht  verschieden.  Wenn  Harpokration  ('lory)  sagt :  KaXUftaxos  avrtlsyscd'ai 
tfr,atv  wi  'fhiiyevovs,  so  liegt  ein  Fehler  der  Abschreiber  vor;  denn  Epigenes. 
der  etwa  den  Anlangen  der  alexandrinischen  Periode  angehört,  konnte  Kalli- 
machus  diese  Schrift  nicht  zuweisen.  Epigenes  wird  vielmehr  in  seiner  Schrift 
über  die  Literatur  der  Orphiker  die  roiayfioi  dem  Ion  znerst  abgesprochen 
haben  (es  ist  wohl  cos  xai  "EntyevriS  zu  schreiben).  Wenn  Suidas  die  tgtnyuoi 
dem  Orpheus  beilegt,  so  ist  dies  ein  handgreiflicher  Irrthum.  Demetrius  von 
Skepsis  und  Apollonides  von  Nikäa  scheinen  dagegen  das  Anrecht  des  Ion  ver- 
theidigt  zu  haben;  es  ist  wohl  zu  lesen:  avayoafovai  Si  Clmvoi,  Äeyet  Si) 
iv  avrqj  rdSe.  Neben  drei  realen  Elementen  (;rro,  yr,  ar,^)  nahm  Ion  drei 
ideale  Mächte  an  (avvs<Ti;,  xqäroi,  tixri),  s.  den  Anfang  der  Schrift  bei  Harpo- 
kration (wo  zu  ergänzen  ist  Tiavra  xQia  Ttvo  xal  yr;  xai  ar,Q);  darauf  be- 
ziehen sich  Isokrates  de  antidosi  26S,  Aristoteles  de  generatione  et  corruptione 
II  l  p.  329A  (und  daselbst  Philoponus),  Plato  Sophist.  242  C,  wo  er  zugleich 
auf  Archelaus,  den  Zeitgenossen  des  Ion,  Rücksicht  nimmt;  dagegen  die  Stelle 
Leg.  X  SSS  E  ff.  hält  sich  mehr  im  Allgemeinen  oder  zielt  auch  theilweise  auf 
Empedokles.  Dafs  Ion  mit  philosophischen  Studien  sich  befafste,  deutet  auch 
Aristophanes  an. 

29)  Suidas  I  1,  914;  iTtsSeixwio  Si  xoivf,  aiv  (alrt^,  d.  h.  Sophokles) 
xrt*  EiQtniSi^  ano  xffi  ny  ^OXvfiTtiäSos,  vielleicht  richtiger  ini,  so  dafs  Achäus 
eben  in  dieser  Olympiade  mit  beiden  Dichtern  concurrirte. 

30)  Suidas  giebt  44  (Eudocia  64),  30,  24  an. 

31)  Wenigstens  Menedemus  erkannte  im  Satyrdrama  dem  Aeschylus  den 
ersten,  dem  Achäus  den  zweiten  Preis  zu  (Diogen.  Laert.  II  IT,  10(133)),  und  da 
dieser  Philosoph  auch  den  Sophokles  hochschätzte,  braucht  man  ihm  keine 
Parteilichkeit  für  seinen  Landsmann  unterzulegen. 


608  DRITTE   PERIODE    VON    500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

Neigung  zu  ungewühnlichem,  dunklem  Ausdruck  dem  Verständnisse 
Eintrag.^*) 

Neophron.  iNcben  Acliäus  ist  noch  Neophron  aus  Sikyon  zu  nennen"), 

der  gleichfalls  sich  nach  Athen  wandte,  um  dort  sein  Talent  gel- 
tend zu  machen.  Er  war  ein  Geistesverwandter  des  Euripides  und 
einer  der  ersten,  der  von  der  idealen  Höhe  herabstieg  und  das 
Trauerspiel  der  Sphäre  des  Alltagslebens  näher  brachte.'*)  Wahr- 
scheinHch  war  Neophron  älter  als  Euripides*'),  der  dann  das  neue 
Princip  mit  bestem  Erfolge  weiter  bildete,  und  eben  deshalb  mögen 
die  zahlreichen  Arbeiten  des  Vorläufers  frühzeitig  verschollen  sein.^) 
Auch  die  Medea,  der  Euripides  das  Motiv  seiner  berühmten  Tra- 
gödie verdankte,  scheinen  die  Alexandriner  nur  aus  den  Proben, 
welche  Frühere  mitgetheilt,  gekannt  zu  haben. 

Sophokles  und  Euripides,  obwohl  rüstige  Arbeiter,  komilen  doch 
nicht  allein  die  attische  Bühne  mit  neuen  Dramen  versorgen,  zumal 
seitdem  nicht  nur  an  den  städtischen  Dionysien,  sondern  auch  ao 
den  Lenäen  Trauerspiele  aufgeführt  wurden;  daher  konnten  neue 
Mitarbeiter  nur  willkommen  sein. 

Euphorion.  *)  Nicht  uur  Aescbylus'  Sohn  E  u  p  h  o  r  i  o  n  (S.  283)  versucht  sich 

in  den  tragischen  Weltkämpfen,  sondern  wir  können  die  poetische 
Thätigkeit  dieser  Familie  mehrere  Generalionen  hindurch  bis  zu  Ende 
dieser  Periode  und  bis  zum  Erlöschen   der  tragischen  Dichtung  in 
Athen  überhaupt  verfolgen, 
i'hiiokies.  An  Euphorion  schhefst  sich  Philo  kl  es  (S.  231),  ein  Schwester- 

sohn des  Aescbylus,  an,  der  nicht  ohne  Erfolg  tliätig  war,  wenngleich 
er  vielfache  Angriffe  von  Seilen  der  Komiker  erfuhr;  dann  seim*  beiden 


32)  Athen.  X  451  C. 

33)  Nur  Suidas  11  l,t)(>0  verzeichnet  die  Variante  Ntotpäv  statt  Neöf^cjt: 
In  diesen  Artiiicl  ist  irrthümlich  eine  Notiz  eingeschaltet,  die  in  Ntn^xoi  gehört. 

34)  Suidas :  -nQÜioi  eiarfyaye  naiSayiüyovs  xal  oixeräfv  ßäaavov. 

35)  Aus  der  Zeit  zwischen  dem  Auftreten  des  Sophokles  und  Kuripides 
wird  kein  Tragiker  genannt;  eben  in  diesen  Jahren  mag  Neophron  sich  der 
Bühnendichtung  gewidmet  haben.  Einen  älteren  Tragiker  Namens  Euripides 
kennt  nur  Suidas  1  2,  (i3'.t,  der  ihm  zwölf  Dramen  und  zwei  Siege  beilegt 

30)  Nach  Suidas  schrieb  Neophron  120  Stücke.  Wenn  die  Medea  des 
Euripides  als  Ueberarbeitung  des  fremden  Dramas  (Argument  Medea)  oder  ge- 
radezu J-ls  ein  Werk  des  Neophron  (Diogen.  Laert.  II  17,10(134),  Suidas)  be- 
zeichnet wird,  so  ist  dies  handgreifliche  Uebertreibung.    (S.  oben  S.  .'>o:»  f.) 

*)  [Aus  Erscli  und  Gruber  S.  370  B.] 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TR-^GÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  A>D.  TRAG.    609 

Söhne  Morsimus  und  Meianthius,   die  zum  Theil  noch   neben  Morsimus. 
ihrem  Vater  in  der  Zeit  des  peloponnesischen  Krieges  wirkten.* 

Um  den  Anfang  des  peloponnesischen  Krieges  trat  lophon,  lophon. 
der  älteste  Sohn  des  Sophokles^  auf;  Ol.  87,  4  erlangte  er  den 
zweiten  Preis ^),  ein  sehr  achtungswerther  Erfolg,  wenn  dies  sein 
erster  Versuch  war.  Später  ward  ihm  auch  die  erste  Stelle  zuer- 
kannt^), und  er  concm-rirt  sogar  im  Wettkampfe  mit  dem  eigenen 
Vater.^°)  Aristophanes  spricht  in  den  Fröschen  (73  ff.)  von  lophon 
mit  Anerkennung,  indem  er  sagt,  er  sei  nach  dem  Tode  des  Sopho- 
kles und  Euripides  der  Einzige,  welcher  den  UeberHeferungen  der 
echten  Kunst  treu  bleibe,  fügt  jedoch  hinzu,  man  müsse  abwarten, 
was  er  in  Zukunft,  wo  er  ganz  auf  sich  angewiesen  sei,  leisten 
werde.  Hier  wird  auf  das,  wie  es  scheint,  allgemein  verbreitete  und 
wohl  nicht  grundlose  Gerücht  angespielt,  der  Vater  habe  dem  Sohn 
bei  seinen  Arbeiten  hülfreiche  Hand  geboten.  lophon  war  ein  fleifsi- 
ger  Dichter^'),  aber  des  Vaters  Geist  war  ihm  versagt;  daher  hat 
er  auch  nicht  vermocht  sich  dauernde  Geltung  zu  verschaffen.  Die 
Komödie  verspottet  ihn  wegen  seiner  frostigen  und  weitschweifigen 
Manier^*),  und  wenn  lophon  den  Schlufs  des  Aias  hinzugedichtet 
hat  (S.  382),  so  ist  diese  Probe  nicht  gerade  geeignet,  eine  beson- 
ders günstige  Vorstellung  von  seinem  Talente  zu  erwecken.  Dafs 
lophon  die  älteren  Dramen  seines  Vaters  wieder  auf  die  Bühne 
brachte,  ist  nicht  zu  bezweifeln.") 


37)  Die  Familie  des  Sophokles  behauptet  sich  mehrere  Generationen  hin- 
durch in  Ansehen,  und  dieselben  Namen  kehren  wieder,  wie  Inschriften  be- 
zeugen. Ein  Sophokles  ist  nach  Eukleides  Schatzmeister,  ein  lophon,  Sohn 
des  Sophokles,  Schreiber  einer  Behörde  in  Demosthenes'  Zeit,  ein  Sophokles, 
Sohn  des  lophon,  errichtet  ein  Weihgeschenk.    (S.  S.  357  A.  2,  S.  365  A.  32.) 

38)  Didaskalie  zu  Euripides"  Hippolytus. 

39)  Schol.  Aristoph.  Ran.  73 :  ivixrjas  ).afntQcüs  k'it  t,üivtos  tov  naxQos 
avTov.  Vielleicht  trat  er  aber  nur  als  SiSäaaaXos  für  den  Vater  ein,  eben- 
daselbst 78:  kni  töJ  toIs  rov  nar^os  roayepSiais   iniy^ätpsad'ai  xca/ucoSelzat. 

40)  Biographie  des  Sophokles. 

41)  Suidas  giebt  ihm  fünfzig  Dramen  und  macht  sechs  Stücke  namhaft, 
xai  äXXa  rivä  rov  TiaxQos  ^ofoxXsovi,  wohl  nur  späterer  Zusatz,  entlehnt  aus 
den  Schollen  des  Aristophanes.  In  der  Variante  xara  rov  kann  /uEra  rov 
liegen. 

42)  Schol.  Aristoph.  Ran.  78:  inl  r<^  y/vx^os  xai  /laxoos  (andere  Hand- 
schriften finXaxbe  [so  Dübner])  elvai. 

43)  S.  zur  Antigone  S.  4HJ. 

Bergk,  Griecb.  Literaturgeschichte  UI.  39 


610  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Arieion.  Auch  ein  anderer  Sohn  des  Sophokles,  Ariston,  scheint  sich 

als  tragischer  Dichter  versucht  zu  haben*'')  (S.  364). 

Theognis.  Etwa  gleichzeitig  mit  lophon  mufs  Theognis  sich  der  tragi- 

schen Poesie   zugewandt  haben.     Dieser  von  Aristophanes  wieder- 
holt als   frostig  verspottete  Dichter")  war  während  des  peloponne- 
sischen  Krieges,  wie  es  scheint,  ununterbrochen  thätig. 
Nikomachus.         Sein  Zeitgenosse  Nikomachus  trug  einmal  über  ihn  und  Euri- 
pides  den  Sieg  davon.'"') 

Gnesippus.  Auch  andere  Dichter  dieses  Zeitraumes  sind   uns  nur  aus  den 

höhnenden  Angriffen  der  Komödie  bekannt,  wie  Gnesippus,  Ver- 
fasser erotischer  Lieder,   der  sich  aber  auch   in   der  Tragödie  ver- 
Akestor.  suchte*'),  Akestor,  von  den  Choregen  nur  ungern  geduldet,  weil 
er  keinen  sonderlichen  Erfolg  hatte,  der  sich  aber   dadurch   nicht 

stheneius.  abschrecken  liefs.     Sthenelus'  Dichtungen  werden  nicht   nur  als 
geschmacklos  bezeichnet,  sondern  man  warf  ihm  auch  vor,  fremdes 

Morjchus.  Eigenthum  sich  angeeignet  zu  haben;  Morychus**)  und  andere 
problematische  Namen  darf  man  füglich  übergehen. 

III 

Drittes  Karkinus  aus  Akragas  in  SiciUen,   aber  zu  Athen   ansässig, 

Stadium.  °  ® 

Karkinus  wird  öfter  genannt,  obwohl  er  weder  ein  bedeutender,  noch  sonder- 
der  Aeiiere.jjgjj  produktiver  Dichter  gewesen  zu  sein  scheint/')    An  die  Weise 


44)  Diogen.  Laert.  VD  2,  9  (164). 

45)  Aristoph.  Acharn.  11.  140,  Thesmoph.  170;  daher  erhielt  er  den  Zu- 
namen Xtcöv.  Auch  dem  politischen  Leben  stand  er  nicht  fern,  wenn  der 
Theognis,  dem  wir  unter  den  sogenannten  dreifsig  Tyrannen  begegnen,  der 
Tragiker  ist,  wie  der  Schol.  Aristoph.  Acharn.  11  ^x  (lies  eis)  töüp  T^täxovra 
berichtet. 

40)  Suidas  II  1,  989  Nixöfiaxoe,  nicht  zu  verwechseln  mit  einem  jungen 
Tragiker,  der  aus  Alexandria  in  Troas  gebürtig  war. 

47)  Athen.  VllI  344  C  nennt  auch  den  Nothippus,  der  von  den  Komi- 
kern als  Schlemmer  verspottet  wird,  Tragiker;  vielleicht  ist  Nod'triTioi  nur 
eine  komische  Verdrehung  des  Namens  rvrjatnnoe. 

4S)  Morychus  wird  zwar  von  der  Komödie  nicht  selten  wegen  seines 
luxuriösen  Lebens  angegriffen,  aber  nichts  deutet  auf  dichterische  Thätigkeit 
hin;  nur  der  Schol.  Aristoph.  Acharn.  887  bezeichnet  ihn  als  Tragiker. 

49)  Darauf  zielt  der  Witz  des  Aristophanes  Frieden  794:  xal  yo(>  ifnff/' 
o  naxiiQ  (eben  Karkinus)  o  7ta^'  iXniSai  tlx'  to  S^äua  yak^v  Tr,i  iantQns 
rtTTrtyl««.  Wenn  einem  das  Wort  im  Munde  stecken  blieb,  sagte  man  yaXijv 
xmnntnojxev  (Hekker  An.  I  31). 


DIE  DRAM.  POESIE.  »IE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  AND.  TRAG.   611 

der  ältesten  Tragödie  sich  anschliefsend ,  mufs  er  versucht  haben,  die 
orchestische  Begleitung  der  melischen  Gesänge  wieder  mehr  in  Auf- 
nahme zu  bringen^);  wie  denn  auch  seine  Söhne  diese  Kunst  trieben. 

Einer,  Xenokles,  widmete  sich  mit  ungleichem  Erfolge  der  xenokies. 
tragischen  Poesie;  Ol.  91,  1  siegt  er  über  Euripides"),  während  er 
ein  anderes  Mal  nach  Aristophanes  gründhch  durchGeP^),  wie  über- 
haupt die  Komödie  die  manirierte  Art  dieses  Dichters  und  sein 
Haschen  nach  Effekt  verspottet.*^)  Auch  in  dieser  Familie  vererbt 
sich  die  poetische  Kunst  durch  drei  Generationen;  dem  Sohne  des 
Xenokles,  dem  jüngeren  Karkinus,  offenbar  dem  talentvollsten  Dich- 
ter dieser  Sippe,  werden  wir  später  begegnen.   (S.  620.J 

Athen  war  damals  der  Mittelpunkt  für  die  vielseitigen  Bestre- 
bungen der  Sophisten;  auch  die  Tragödie  kann  sich  diesen  Ein- 
wirkungen nicht  entziehen.  Das  Drama,  welches  die  Gegensätze 
der  alten  und  neuen  Zeit,  den  Widerspruch  der  Pflichten  und  Rechte, 
den  Kampf  der  verschiedenen  Interessen  zur  Anschauung  zu  bringen 
pflegt,  war  vor  allem  für  diesen  Geist  zersetzender  Dialektik  und 
revolutionärer  Neuerung  empfänglich.  Zumal  die  Ausbildung  der  rhe- 
torischen Technik,  welche  vorzugsweise  den  Sophisten  verdankt  wird, 
konnte  diejenige  Gattung  der  Poesie,  deren  Wirksamkeit  zum  guten 
Theile  auf  Redegewandtheit  beruht,  nicht  unberührt  lassen.  Daher 
ist  es  nicht  auffallend,  wenn  Vertreter  und  Anhänger  der  Sophistik 
sich  in  der  Tragödie  versuchen. 

Hippias   von   Elis,   ein  Universalgenie   im  vollen   Sinne   des  Hippias. 
Wortes,  schrieb   unter   anderen   Gedichten   auch  Tragödien'^),   die 
natürlich  nicht  auf  die  Bühne  kamen,  aber  ebenso  wenig  nur  für 

50)  Athen.  I  22  A  nennt  unter  den  älteren  Dichtern,  welche  in  der  Orche- 
stik  ausgezeichnete  Fertigkeit  erlangt  hatten,  mitten  unter  Tragikern  auch  den 
Kratinus;  hier  ist  entweder  Kaoxivos  zu  lesen  oder  der  Name  ganz  zu  tilgen 
(er  kann  irrthümlich  aus  dem  vorhergehenden  Jlqarivas  entstanden  sein).  Die 
Söhne  des  Karkinus,  welche  berufsroäfsig  als  XQayixoi  »(»/lyar«»'  thätig  waren, 
verspottet  Aristophanes  wiederholt. 

51)  Aelian  V.  H.  II  S.  (S  S.  231,  A.  109,  S.  4S&,  A.  TS.)  Die  Tetralogie  des 
Xenokies  bestand  aus  dem  Oedipus,  Lykaon,  den  Bakchen  und  dem  Satyr- 
drama Athamas. 

52)  Aristoph.  Wolken  1269. 

53)  Aristoph.  Thesmoph.  169  nennt  ihn  geradezu  einen  schlechten  Dichter, 
vgl.  ebendas.  441  und  Frösche  S6,  wo  der  Scholiast  xatfituSeixai  cos  ä^soToe 
£v  tf,  noiTiasi  [xai  aXlriyooixös),  und  zum  Frieden  792:  Soxel  fir,xavas  xai  re- 
^atsias  eiaäysiv  iv  loie  Sqäfiaat.  54)  Plato  Hippias  min.  368  C. 

39* 


612  DRITTE   PERIODE   VON    500  BIS  300  V.  CBR.  G. 

Leser  bestimmt  waren.    Der  Sophist  wird  sie  öffentlich  vorgetragen 
und  diese  populäre  Form  benutzt  haben,  um  seine  Ideen  in  weite- 
ren Kreisen  zu  verbreiten. 
Kritias.  Rritias,  der  Zögling  der  Sophisten,   ein  wunderbar  vielsei- 

tiges Talent,  Staatsmann  und  Redner  ^^),  Philosoph  und  Dichter,  be- 
trat dieselbe  Bahn.  Den  Peirithous,  eine  Tragödie  des  Kritias,  hat 
Euripides  offenbar  einer  seiner  Tetralogien  einverleibt  und  unter 
eigenem  Namen  auf  die  Bühne  gebracht.  Kritias  mag  absichthch 
manche  Eigenthümüchkeiten  des  Euripideischen  Stiles  angenommen 
haben,  um  das  Publikum  über  den  wahren  Verfasser  zu  täuschen; 
vielleicht  hatte  auch  Euripides  selbst  die  letzte  Hand  an  die  fremde 
Arbeit  gelegt.*®)  Der  phantastische  Stoff,  die  Hadesfahrt  des  Pei- 
rithous mit  seinem  Freunde  Theseus,  ward  zu  naturphilosophi- 
schen und  sitthchen  Betrachtungen  benutzt,  in  denen  zwar  ein 
philosophisch  geschulter  Geist  sich  kund  giebt,  die  aber  nicht  ge- 
radezu Anstofs  erregen  konnten.  Ganz  anderer  Art  war  der  Si- 
syphus.  Hier  trug  Kritias  seine  atheistischen  Grundsätze  unver- 
hüllt vor.  Der  Glaube  an  die  Götter  wird  ohne  alle  Scheu  als  eine 
Erfindung  der  Menschen  bezeichnet.  Auch  diese  Tragödie  ward 
von  manchen  dem  Euripides  zugeschrieben  ") ;  aber  es  ist  schwer  zu 
glauben,  dafs  der  Tragiker,  obwohl  er  in  seinen  eigenen  Arbeiten 
sich  öfter  in  ähnlichem  Sinne  ausgesprochen  hat,  die  Verantwort- 
lichkeil für  ein  Stück  von  dieser  Tendenz  übernommen  haben  sollte. 
Der  Sisyphus  ist  wohl  niemals  auf  die  Bühne  gekommen.  Das  ein- 
zige noch  erhaltene  gröfsere  Bruchstück  zeigt  mehr  einen  redne- 
rischen als  dramatischen  Charakter.  Die  eigene  Art  des  Kritias,  der 
eben  weniger  Dichter  als  gewandter  Redner  war,   prägte  sich   hier 


55)  Ueber  Kritias'  Elegien  s.  oben  Bd.  IIS.  511;  von  seinen  Leistungen 
als  Prosaschriftsteller  wird  später  die  Rede  sein. 

56)  Daher  waren  die  Ansichten  getheilt,  wer  der  eigentliche  Verfasser 
sei,  s.  Athen.  XI  496  B.  Der  Biograph  des  Kuripides  zählt  den  Peirithous  unter 
den  unechten  Stücken  auf. 

57)  Dieselben  Verse  werden  bald  dem  Kritias,  bald  dem  Euripides  bei- 
gelegt. Euripides  hat  ein  Salyrdrama  Sisyphus  Ol.  lU,  1  gedichtet,  aber  dessen 
Echtheit  war  nicht  bestritten;  auch  war  das  Drama  des  Kritias  ofTenbar  eine 
Tragödie.  Eine  Tragödie  dieses  Namens  wird  unter  den  Euripideischen  Stücken 
nicht  verzeichnet,  auch  unter  den  zweifelhaften  Dramen  nicht  mit  aufgeführl 
Walu-scheinlich  war  der  Sisyphus  anonym  überliefert  und  ward  später  von  einigen 
dem  Euripides,  von  anderen  mit  besserem  Rechle  dem  Kritia>j  /nstetheill. 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  A>D.  TRAG.  613 

entschieden  aus.-^j  Es  sind  dies  eigentlich  nur  Bestrebungen  von 
Dilettanten,  die  jetzt  häufiger  auftreten  (auch  dies  ist  ein  charakteri- 
stischer Zug   der   Zeit),   aber  keine  nachhaltige  Wirkung  ausüben. 

Eine  ganz  andere  Bedeutung  hat  Agathon,  der  Vorläufer  der  Agathon. 
Epigonen  der  tragischen  Kunst ,  fällt  doch  auch  sein  erstes  Auftreten 
Ol.  90,  4  mit  dem  Beginn  der  letzten  Phase  der  Blüthezeit  der  Tra- 
gödie zusammen.  *)Er  ist  der  einzige,  wirklich  begabte  Dichter 
dieser  ganzen  Zeit,  der  aber  nicht  frei  war  von  kleinlicher  Manier 
und  aufserdem  viel  zu  bequem,  um  nachhaltig  die  tragische  Dich- 
tung zu  fördern.* 

Durch  glücklichen  Zufall  ist  uns  noch  eine  vollständige  Tra-  Rhesus, 
gödie  erhalten,  welche  offenbar  von  einem  Nachfolger  des  Aeschy- 
lus  verfafst  ist,  der  Rhesus.  Der  Vorwurf  dieses  Stückes  ist  der 
Homerischen  Ilias  entnommen ;  die  Doloneia,  eine  Episode  des  troi- 
schen  Krieges,  wird  hier  dramatisch  bearbeitet.  Jener  Gesang  der 
Ilias,  obwohl  nicht  dem  alten  Gedichte  angehörig,  ist  doch  von  dem 
dramatischen  Leben  erfüllt,  welches  das  Homerische  Epos  kenn- 
zeichnet; so  lag  für  einen  dramatischen  Dichter  die  Aufforderung 
nahe,  sich  an  demselben  Stoffe  zu  versuchen.  Ob  diese  Wahl  glück- 
lich war,  darüber  läfst  sich  rechten ;  dafs  dem  Verfasser  des  Rhesus 
die  Lösung  der  Aufgabe  nicht  sonderlich  gelungen  ist,  wird  allge- 
mein zugestanden.  Ohne  durchgreifende  Abänderungen  liefs  sich  • 
der  Stoff  nicht  zum  Drama  umgestalten,  und  man  könnte  den  Dich- 
ter vielleicht  eher  tadeln,  dafs  er  im  Einzelnen  allzu  sehr  an  seinem 
Vorbild  haftete,  als  dafs  er  sich  Abweichungen  erlaubte. 

Die  Handlung  geht  im  troischen  Lager  mitten  in  der  Nacht 
vor  sich.  Die  brennenden  Wachtfeuer  der  Achäer  erregen  den  Ver- 
dacht der  aufgestellten  Wachen ;  Hektor  vermuthet,  die  Feinde  woll- 
ten unter  dem  Schutze  der  Nacht  abziehen,  und  will  angreifen,  was 
Aeneas  widerräth.  So  wird  Dolon  als  Späher  ausgesandt,  der  für 
diesen  gefahrvollen  Dienst  die  Rosse  des  Achilles  als  Belohnung 
fordert.     Ein   Hirte  meldet  die  Ankunft  des  thrakischen   Fürsten 


58)  Der  Stil  dieser  Verse  ist  noch  feiner,  schmächtiger  als  bei  Euripides, 
für  einen  Athener,  der  der  hohen  Aristokratie  angehört,  ganz  angemessen.  Ob 
Kritias  noch  andere  Dramen  geschrieben  hat,  ist  ungewifs.  Auf  die  Beschäf- 
tigung des  Kritias  mit  dramatischer  Poesie  scheint  auch  Plato  anzuspielen, 
Kritias  108  ß  ff.,  Charmides  162  C. 

*)  [Ans  Ersch  and  Gruber  S.  371  A.] 


614  DRITTE   PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

Rhesus  und  seiner  Krieger*"),  der  sein  spätes  Erscheinen  entschul- 
digt und  im  Tone  stolzen  Selbstgefühls  verkündet,  er  gedenke  auch 
ohne  die  Troer  das  achäische  Heer  zu  vernichten;  ja,  er  macht 
sogar  dem  Hektor  den  Vorschlag,  nachher  mit  geeinten  Kräften 
Hellas  selbst  anzugreifen,  um  so  sich  völlige  Genugthuung  zu  ver- 
schaffen.®") Während  Rhesus  auf  Rektors  Rath  sich  zur  Ruhe  be- 
giebt,  um  den  Tag  abzuwarten,  schleichen  Odysseus  und  Diomedes, 
die  den  Dolon  getödtet  hatten,  an  das  troische  Lager  heran.  Da  sie 
Hektors  Zelt  leer  finden,  wollen  sie  unverrichteter  Sache  umkehren; 
aber  Athene  weist  sie  an  den  schlafenden  Rhesus  zu  überfallen  und 
seine  edlen  Rosse  fortzuführen.  Den  Paris,  der  sich  in  diesem 
Augenblicke  nähert,  entfernt  die  Göttin,  indem  sie  die  Gestalt  der 
Aphrodite  annimmt.  Inzwischen  vollbringen  Odysseus  und  Diome- 
des das  Wagstück  und  ziehen  mit  den  erbeuteten  Rossen  durch  die 
Iroischen  Wachen  ab,  da  sie  das  Losungswort  von  Dolon  erfahren 
hatten.  Gleichwohl  schöpfen  die  Wachen  Verdacht ;  sie  argwöhnen, 
der  verwegene  Odysseus  sei  in  das  Lager  eingedrungen.  Da  tritt 
der  verwundete  Wagenlenker  des  Rhesus  auf  und  berichtet  die  Er- 
mordung seines  Herrn.  Hektor  macht  den  Wächtern  Vorwürfe  wegen 
ihrer  Nachlässigkeit;  der  Wagenlenker  klagt  den  Hektor  und  die 
Troer  als  Urheber  der  Mordthat  an.  Hektor,  der  sofort  auf  Odys- 
seus räth,  läfst  den  Aufgeregten,  den  er  vergebens  zu  beschwich- 
tigen sucht,  abführen.  Der  Sorge  für  die  Restatlung  des  Todten 
überhebt  ihn  die  Muse,  die  Mutter  des  thrakischen  Fürsten,  welche 
unter  bitteren  Klagen  den  Leichnam  des  Sohnes  in  die  Heimath 
fortführt,  wo  er  als  Heros  verehrt  werden  soll."') 

Man  hat  diese  Tragödie  allgemein  dem  Euripides  beigelegt;  es 
war  dies  offenbar  die  herkömmliche  üeberlieferung ,  der  sich  die 
namhaftesten  Kritiker  in  Alexandria  und  Pergamum,  wie  Aristopha- 
nes,  Aristarch  und  Krates,  anschlössen.")  Eine  Restätigung  glaubte 
man  in  dem  Zeugnisse  der  Didaskalien  zu  finden ;  allein  daraus  er- 
hellt nur,  dafs  auch  Euripides  ein  Drama  dieses  Namens  zur  Auf- 
führung gebracht  hat.**^)    Im  Uebrigen  hat  der  Rhesus  nicht  die  enl- 

59)  Nach  Homer  ist  Rhesus  kurz  vorher  angekoinnien ;  der  Tragiker  ver- 
legt alles  in  die  eine  Nacht.  00)  Rhesus  46S  (f.  (»1)  Rhesus  962  ff. 

62)  Auch  Parmeniskus  legi  die  Tragödie  dem  Euripides  bei,  ebenso  Dio- 
nysodorus  in  seiner  Schrift  über  die  Irrthümer  der  Tragiker  (Schol.  Rhes.  495). 

63)  Der  Rhesus  des  Kuripides  mufs  eine  Jugendarbeit  des  Dichters  ge- 


DIE  DRAM.  POESIE.  DIE  TRAGÖDIE.  II.  GRUPPE.  DIE  BLCTHEZEIT.  A>D.  TRAG.  615 

fernteste  Aehnlichkeit  mit  der  Weise  des  Euiipides,  die  gleich  an- 
fangs so  bestimmt  und  klar  sich  ausprägte,  dafs  sie  noch  in  den 
Ueberresten  seines  ersten  dramatischen  Versuches,  in  den  Peüaden, 
erkennbar  ist.  Aber  einem  alexandrinischen  Dichter,  wie  neuere 
Kritiker  vermuthet  haben,  kann  das  Drama  ebenso  wenig  gehören, 
welches  bereits  dem  Dikäarch  bekannt  war.")  Auch  sind  die  lyri- 
schen Partien  mit  so  viel  Verständnifs  der  Kunst  behandelt,  wie 
man  sie  den  alexandrinischen  Tragikern  kaum  zutraut.  Alles  weist 
darauf  hin,  dafs  das  Stück  der  klassischen  Zeit  angehört.  Wollte 
man  annehmen,  ein  Späterer  habe  die  Tragödie  gedichtet  in  der 
Absicht,  sie  dem  Euripides  unterzuschieben,  so  hätte  er  sicherhch 
den  Versuch  gemacht,  den  Stil  jenes  Dichters  nachzuahmen,  wovon 
sich  nicht  die  geringste  Spur  zeigt.  Schon  im  Alterthume  spi-achen 
manche  Kritiker,  von  richtigem  Gefühl  geleitet,  das  Drama  dem  Euri- 
pides ab  und  glaubten  hier  vielmehi'  die  Weise  des  Sophokles  zu 
erkennen ;  daher  haben  auch  neuere  Kritiker  den  Rhesus  als  eine 
Jugendarbeit   dieses  Tragikers   betrachtet.     Allein   von   dem   Geiste 


wesen  sein;  denn  Krates  entschuldigte  die  ünkenntnifs  in  astronomischen  Din- 
gen, die  der  Verfasser  unserer  Tragödie  zu  verrathen  scheint,  mit  der  Jugend 
des  Dichters,  Schol.  515:  KoaTTjs  ayvoelv  <fT;ai  zbv  Ev^tTtiSifV  xt}v  tieoI  xa 
fisxioäQa  d'eatoiav,  Sia  xo  viov  irt  f.lvai,  oxe  xbv  "^Pr^aov  iSiSaaxe.  In  der 
Einleitung  wird  die  Vorliebe  für  Astronomisches  als  Beweis,  dafs  Euripides 
das  Stück  geschrieben  habe,  geltend  gemacht:  iv  fiivxot  xaii  SiSaaxaXiats 
coi  yvTjOtov  avayiyqanxai,  xai  i;  TtSQi  xä  fisxäoaia  ^i  dv  avxtü  7io/.v7iQayuo- 
avvTj  xbv  Ev^miSrjv  ofio'/Myei.  Offenbar  war  in  den  Didaskalien  aufser  dem 
Rhesus  des  Euripides  kein  anderes  Drama  mit  gleichem  Titel  verzeichnet;  sonst 
würden  die  Kritiker  nicht  mit  solcher  Zuversicht  sich  auf  diese  Urkunden  be- 
rufen. Aber  es  fragt  sich,  ob  die  Didaskalien  ohne  Lücken  überliefert  waren ; 
auch  konnte  unsere  Tragödie  ursprünglich  NvxxsyQsaia  oder  nach  dem  Chore 
<t>Qovooi  benannt  sein.  Dafs  das  Stück  für  Athen  bestimmt  war,  zeigen  deut- 
lich die  Worte  der  Muse  93S  ff.;  auch  ist  es  gewifs  zur  Aufführung  gekommen, 
da  es  sich  auf  der  Bühne  behauptet  hat.  Für  wiederholte  Aufführungen  sprechen 
namentlich  die  beiden  Prologe  in  Trimetern,  die  Dikäarch  kannte  (Hypothesis) ; 
den  einen  verwarf  schon  Dikäarch  als  unecht,  x«t  xäxa-av  xivsi  xöjv  vtioxqix<5v 
Steaxevaxoxei  siev  avxov.  Gleichen  Ursprungs  wird  auch  der  andere  Prolog 
gewesen  sein,  von  dem  Dikäarch  nur  den  ersten  Vers  mittheilt.  In  den  Hand- 
schriften der  Alexandriner  fand  sich  offenbar  keiner  dieser  Prologe  vor. 

64)  Dikäarch,  der  Schüler  des  Aristoteles,  hatte  den  Inhalt  dieses  Dramas 
wiedererzählt  (in  der  Hypothesis  heifst  es:  6  yovv  Jixaia^x.O'  dxxidsis  xt;v  vnö- 
^eatv  xov  'Pfiaov)  und  legte  dasselbe  ohne  alles  Bedenken  dem  Euripides  bei ; 
nur  den  einen  Prolog  verwarf  er  mit  den  Worten:  Tre^os  nävv  xai  oii  n^enanf 
Ev^iniSr}. 


616  DRITTE    PERIODE    VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

des  Sophokles  ist  hier  nichts  wahrzunehmen,  und  wenn  uns  auch 
keine  von  den  frühesten  Tragödien  des  Sophokles  erhalten  ist,  so 
können  wir  doch  zuversichtlich  voraussetzen,  dafs  sie  des  grofsen 
IVamens  nicht  unwürdig  waren.  Indes  enthält  jene  Bemerkung, 
richtig  verstanden,  einen  beachtenswerthen  Fingerzeig.  Sophokles 
hat  in  der  ersten  Periode  seiner  dichterischen  Thätigkeit  sich  vor- 
zugsweise an  Aeschylus  angeschlossen  und  namentlich  den  Stil  jenes 
Meisters  sich  angeeignet,  jedoch  in  der  mafsvoUen  Weise,  die  jedes 
Werk  des  Sophokles  kennzeichnet.  An  diese  älteren  Tragödien  des 
Sophokles  mochte  der  Rhesus  hinsichtlich  der  Behandlung  der  Sprache 
erinnern;  denn  nur  diesen  Punkt  hatten  jene  Kritiker  im  Auge.") 
Der  Rhesus  ist  eben  von  einem  jüngeren  Dichter  aus  der  Schule 
des  Aeschylus  verfafst,  der  in  der  Sprache  wie  überhaupt  in  dem 
Aeufserhchen  des  Dramas  sein  Muster  fleifsig  copirt.  Der  Stil  ist 
sichtlich  dem  Aeschylus  nachgebildet.  Wie  Aeschylus  und  die  ältere 
Tragödie,  so  zeigt  auch  der  Verfasser  des  Rhesus  eine  gewisse  Vor- 
liebe für  Pomp  und  Effekt,  daher  die  wiederholte  Einführung  der 
Götter,  daher  der  Fackelzug  am  Ende  der  Tragödie.  Gerade  wie 
die  älteren  Stücke  des  Aeschylus,  so  wird  auch  der  Rhesus  vom 
Chor  eröffnet.  Und  der  Chor  ist  keine  blofs  äufserhche  Zugabe; 
er  begnügt  sich  nicht  die  Vorgänge  auf  der  Bühne  mit  seinen  Be- 
trachtungen zu  begleiten,  sondern  betheiligt  sich  an  der  drama- 
tischen Handlung  und  dient,  gerade  wie  bei  Aeschylus,  dazu,  das 
Lebensbild  zu  vervollständigen.  Selbst  der  geringe  Umfang  des 
Stückes  erinnert  an  die  ältere  Compositionsweise.  Die  Verse  im 
Dialog  wie  in  den  melischen  Partien  sind  mit  Sorgfalt  gebildet  und 
genügen  der  Strenge  der  älteren  Technik"'),  ohne  dafs  man  darum 
berechtigt  wäre,  das  Drama  nahe  an  die  Zeit  des  Aeschylus  heranzu- 
rücken. Denn  die  Nachfolger  jenes  Tragikers  mögen  alles  dieses, 
worin  eben  ihre  Manier  besteht,  längere  Zeit  fast  unverändert  fest- 
gehalten haben.  Man  sieht,  der  Dichter  des  Rhesus  hat  sich  wohl  das 
Aeufserliche  zu  eigen  gemacht,  ist  aber  nicht  im  Stande,  die  Grofs- 

65)  In  der  Hypothesig :  xovto  ro  Sqü/ia  i'vtoi  vod'ov  vnsv6r;<rav,  Evfuii- 
Sov  da  ftfj  tlvai'  tov  ya^  2!oq>6xletov  fiäXXov  vnoifnivuv  ;ifrt^«>rr^9«.  Welche 
Kritiker  diese  Ansicht  vertraten,  ist  unhekannt. 

(if))  Nur  die  Auflösung  langer  Silben  im  Trimeter  kommt  ziemlich  häufig 
vor,  und  schon  deshalb  kann  das  Stück  nicht  von  einem  Alexandriner  her- 
rühren; es  mag  der  letzten  Zeit  des  peloponnesischen  Krieges  oder  auch  den 
nächsten  Jahren  nach  Ol.  94,  2  angehören. 


DIE  DRAM. POESIE.  DIETRAGÖDIE.  II.GRÜPPE.  DIE  BLÜTHEZEIT.  AND. TRAG.  617 

heit  und  den  tiefen  sittlichen  Gehalt  des  älteren  Meisters  zu  erreichen ; 
diese  Leistung  beruht  ehen  doch  mehr  auf  Studium  als  auf  ursprüng- 
licher Begabung. 

Am  meisten  befriedigen  die  melischen  Partien.  Den  rechten 
Ausdruck  lyrischer  Stimmung  weifs  der  Verfasser  des  Rhesus  wohl 
zu  treffen ;  freilich  mag  er  auch  hier  Vorbildern,  die  uns  unbekannt 
sind,  manches  schulden.  So  Hegt  z.  B.  in  dem  Wächterhede ^  etwas 
Einfach-Natürliches  und  Volksmäfsiges ;  vielleicht  hegt  ein  wirkliches 
Volkslied  zu  Grunde.  Dann  gehngt  manchem  ein  lyrisches  Gedicht, 
der  unfähig  ist,  ein  Drama  zu  dichten,  eine  Handlung  in  voller 
Gegenwärtigkeit  darzustellen,  Charaktere  lebendig  zu  schildern,  die 
Kunst  des  Dialoges  wirksam  zu  handhaben.  Und  gerade  hierin  liegt 
die  Schwäche  des  Rhesus ;  man  vermifst  wahrhafte  Entwicklung  der 
Handlung  und  liefere  psychologische  Zeichnung  der  Charaktere.  Die 
handelnden  Personen  haben  etwas  Schattenhaftes  und  vermögen  uns 
keine  rechte  Theilnahme  einzuflüfsen.  Dafs  die  Gottheit  mitten  in 
die  Handlung  eingreift,  während  sie  bei  den  jüngeren  Tragikern 
gewöhnhch  nur  am  Eingange  oder  Schlufs  des  Stückes  auftritt,  ist 
zwar  der  Weise  des  Aeschylus  gemäfs,  aber  nicht  die  rein  äufser- 
liche  und  mechanische  Manier,  mit  welcher  hier  diese  Aufgabe  be- 
handelt wird.  Die  Personen  sind  ohne  alle  Würde;  durch  Prahlen 
und  Schimpfen  sucht  der  Dichter  den  Mangel  des  inneren  Pathos 
zu  ersetzen ;  eine  liefere  Idee  sucht  man  vergebhch. 

Während  in  den  Aeufserhchkeiten  der  Typus  der  Aeschyleischen 
Tragödie  gewahrt  ist,  zeigt  sich  zugleich  ein  vielfach  veränderter 
Geist;  man  erkennt  deutlich,  wie  Euripides  und  die  jüngere  Tra- 
gödie indirekt  eingewirkt  hat.  Dies  zeigt  sich  schon  in  der  grofsen 
Zahl  "von  Personen,  wie  sie  kaum  in  den  späteren  Stücken  des  Euri- 
pides vorkommt,  so  dafs  die  Aufführung  mindestens  vier  Schau- 
spieler erforderte.  Auch  die  Weise,  wie  Listen  und  Anschläge  an- 
gezettelt werden,  die  von  der  heroischen  Würde  weit  entfernt  ist, 
erinnert  an  Euripides,  ebenso  die  willkürhche  Art,  mit  welcher  der 
Dichter  die  Tradition  behandeU.^)     Dem  Aeschylus,   wie  überhaupt 

67)  Rhesus  527  ff. 

68)  So  wird  im  Rhesus  der  Raub  des  Palladiums  und  die  nrcoxsia  aus 
dem  Zusammenhange  der  Ueberlieferung  willkürlicli  herausgerissen.  Während 
der  archaische  Stil  von  der  Kunst  des  Motivirens  oft  zu  wenig  Gebrauch  macht, 
ist  der  Dichter  des  Rhesus  sichtlich  bemüht,  das  Einzelne  zu  begründen,  wenn 
auch  nicht  gerade  in  sehr  geschickter  Weise. 


618  DRITTE    PERIODE   VON    500    BIS    300  V.  CHR.  G. 

der  älteren  Poesie,  ist  solche  Freiheit  fremd,  die  in  Griechenland 
in  der  Regel  erst  da  aufkommt,  wo  eine  Kunstgattung  bereits  ihren 
Höhepunkt  überschritten  hat. 

Die  Tragödie  ist  wohl  der  Versuch  eines  Anfängers'*),  dem  man 
aber  ein  gewisses  Talent  nicht  absprechen  darf;  denn  die  verwer- 
fenden Urtheile  der  Neueren,  die  das  Ganze  meist  als  ein  werth- 
loses  Machwerk  betrachten,  überschreiten  das  Mafs  der  BiUigkeit. 
Es  fehlt  dem  Stücke  die  Einheit,  die  Scenen  sind  lose  aneinander- 
gereiht, die  Ausführung  hat  etwas  Dürftiges  und  Skizzenhaftes;  weder 
Rektor  noch  Rhesus  wahren  die  Würde  des  tragischen  Helden.  Diese 
Mängel  treten  um  so  schroffer  hervor,  da  uns  eben  nur  ein  Bruch- 
stück einer  Irilogischen  Composition  vorliegt,  die  der  Dichter  nach 
der  Weise  des  Aeschylus  ausgeführt  hatte;  denn  der  Schlufs  des 
Dramas  weist  deutlich  auf  eine  Fortsetzung  hin.™)  Der  Verfasser 
des  Rhesus  führt  uns  ein  anschauliches  Bild  des  Kriegs-  und  Lager- 
lebens vor.  Die  Lieder  des  Chores,  der  sehr  passend  durch  wacht- 
habende Troer  gebildet  wird,  erfüllen  vollkommen  ihren  Zweck. 
Auch  fehlt  es  nicht  an  einzelnen  dramatisch  wirksamen  Zügen.  Ein 
gewisser  Realismus,  der  von  der  convenlionellen  Weise  der  grie- 
chischen Tragödie  abweicht,  verleiht  der  Darstellung  etwas  Frisches. 
Den  Stil  des  Rhesus  bat  man  zu  tief  herabgesetzt,  wenn  man  überall 
nur  den  ungeschickten  Nachahmer  erblickt,  der  ohne  Geschmack 
und  rechtes  Verständnifs  die  Früchte  seiner  Studien  verwerthet. 
Die  Redeweise  ist  nicht  bunt  oder  ungleichartig,  wie  dies  bei  einem 
eklektischen  Verfahren  zu  sein  pflegt,  sondern  eher  eintönig  zu 
nennen.  Der  Dichter  ist  im  Gegensatz  zu  den  zeitgenössischen 
Tragikern  bemüht  den  hohen  Stil  der  allen  Tragödie  festzuhalten, 
durch  kräftige  Sprache  und  würdevollen  Ausdruck  die  Wirkung  der 
Poesie  zu  steigern.    Er  bekundet  daher  eine  entschiedene  Vorliebe 

69)  Der  Rhesus  des  Euripides  war  wohl  bereits  verschollen,  als  dieser 
Dichter  von  neuem  die  Homerische  Doloneia  dramatisch  zu  bearbeiten  unter- 
nahm. Um  so  näher  h^  die  Aufforderung,  sich  gerade  dieses  Thema  zu  wählen; 
um  so  eher  konnte  auch  das  neue  Stück  in  den  Kreisen  der  Schauspieler  für 
eine  Arbeit  des  Euripides  gelten.  Es  wird  schon  in  dem  Exemplar  des  Lykurg, 
von  dem  ebenso  Dikäarch  wie  die  Alexandrinischen  Kritiker  abhängig  sind, 
den  Tragödien  des  Euripides  eingereiht  gewesen  sein. 

70)  Ganz  unglücklich  ist  die  Vorstellung,  der  Rhesus  sei  das  Schlufsslück 
einer  Tetralogie  gewesen  und  habe  nach  der  Euripideischen  Weise  die  Stelle 
des  Satyrdramas  vertreten. 


Dffi  DRAM.  POESIE.    DIE  TRAGÖDIE.    DRITTE  GRUPPE.    DAS  .NACHLEBEN.       619 

für  den  alterthümlichen  Sprachschatz.  Aeschylus  ist  ihm  Muster  und 
Vorbild ;  daneben  hat  er  auch  Homer  fleifsig  benutzt.  Aber  er  ver- 
stand sich  nur  das  Aeufsere  anzueignen ;  das  eigentüche  Geheimnifs 
der  Aeschyleischen  Kunst,  die  grofsen  Gedanken,  die  reiche  Bilder- 
pracht und  die  Kühnheit  der  Metaphern,  büeb  ihm  verschlossen. 
Immerhin  können  wir  uns  nur  freuen,  dafs  neben  den  Arbeiten  der 
drei  grofsen  Tragiker  das  Werk  eines  jüngeren  Mitbewerbers  zur 
Vergleichung  vorliegt.  Ist  der  künstlerische  Werth  der  Leistung 
auch  nicht  eben  hoch  anzuschlagen,  so  gehört  sie  doch  einer  Rich- 
tung an,  die  im  Anschlufs  an  Aeschylus  sich  lange  Zeit  nicht  nur 
neben  Sophokles  und  Euripides  behauptete,  sondern  noch  später 
beim  Publikum  Anklang  fand. 


Dritte  Gruppe. 
Das  Nachleben  der  tragischen  Poesie 

von  Ol.  94  bis  120. 

[Die  Ausarbeitung  dieses  Abschnittes  fehlt.] 

*)So  erscheint  die  tragische  Bühne  mit  dem  Tode  des  Sophokles 
und  Euripides  eigenthch  vollständig  verwaist,  und  die  Klagen,  welche 
damals  Aristophanes  über  die  Unfähigkeit  und  Unproductivität  der 
jüngeren  Tragiker  erhebt,  sind  im  Allgemeinen  durchaus  begründet. 

[Aus  der  Familie  des  Aeschylus   gehören  hierher]   nach   dem 
Kriege  Astydamas  der  Aeltere,  ein  Sohn  des  Morsimus,  der  seiner  As'ydamas 
Zeit  besondere  Anerkennung  genofs,   und   endlich  sein   Sohn,   der "^^  ^^''"®" 
jüngere  Astydamas,  der  die  Reihe  beschliefst.    Alle  diese  Dichter  astydamas 
(s.  S.  608)  waren  nicht  nui-  durch  die  Bande  des  Blutes  mit  einander*^"" ^"°^*"' 
verbunden,  sondern  bilden  auch  eine  besondere  Gruppe  für  sich.    Mit 
achtungsvoller  Pietät  hängen   sie  an   ihrem  grofsen  Ahnherrn,  frei- 
lich ohne  den    Geist  des  Aeschylus  zu  besitzen ,  während   sie   das 
Aeufserüche  und  Formelle  sich  leicht  anzueignen  vermochten.* 

Bekannter  ist  der  Sohn  des  Ariston,  der  jüngere  Sophokles,  Sophokles 
der  Ol.  94,  3  die   letzte  Arbeit  seines   Grofsvaters  zur  Aufführung'^*'" '"°^"*'' 
brachte,  dann  seit  95,  4  eigene  Tragödien  schrieb.'}    Den  nachhal- 

*)  [Aus  Ersch  und  Grober  S.  371  A  und  S.  370  B.] 

1)  DiodorXlV  53,  6,  der  ihm  zwölf  Siege  giebt,  womit  Suidas  II 2,  839 


620  DRITTE    PERIODE    VON    500  BIS  300  V.  CHR.  G. 

tigen  Erfolg  k<inn  er  nicht  blofs  seinem  berühmten  Namen  verdankt 

haben ;  sonst  vermögen  wir  über  sein  Verdienst  nicht  zu  urtheileo.*) 

Euripides  *)'Sophokles  Und  der  jüngere  Euripi  des,  ein  Neffe  des  gleich- 

der  Jünffcrc 

namigen  Dichters,  mögen  ziemhch  fruchtbare  Dichter  gewesen  sein, 
vermochten  aber  mit  ihren  ephemeren  Arbeiten  nur  dem  unmittel- 
baren Bedürfnifs  der  Bühne  zu  genügen. 

Dionysius  Unter  den  Dilettanten  ist  Dionysius  der  Aeltere,  der  bekannte 

er  Ae  tere. rpyj,^^^  von  Syrakus,  ZU  nennen,  der  ohne  allen  Beruf,  aber  mit 
desto  gröfseren  Ansprüchen  als  tragischer  Dichter  auftrat  und  nament- 
lich auch  dem  syrakusischen  Theater  eine  selbständige  Stellung  zu 

Antiphon,  verschaffen  suchte,   für  welches  Antiphon,  später  hauptsächlich 

Karkinus   der  jüngere  Karkinus  thätig  waren.  (S.  168). 

ungere.  Indessen  behauptete  Athen  noch  immer  seinen  hergebrachten 
Einflufs,  und  ungefähr  seit  Ol.  100  treten  auch  wieder  einzelne  be- 
gabtere Dichter  auf,  die  wir  hauptsächlich  durch  Aristoteles  etwas 
genauer  kennen.  Euripides  ist  für  die  meisten  Vorbild  und  Muster; 
aber  das  rhetorische  Element  ward  noch  entschiedener  entwickelt 
und  beherrschte  eigentlich  ganz  und  gar  die  Poesie. 

Theodektes.  Theodektes  von  Phaseiis  (S.  169)  repräsentirt  diese  Richtung 
am  deutlichsten,  während  andere  darauf  verzichteten ,  ihre  dramati- 
schen Arbeiten   auf   die  Bühne   zu   bringen  und   sie   lediglich   für 

Chäremon.  Leetüre  bestimmten,  wie  Chäremon,  dessen  Dramen  eben  daher 
durch  gesuchten,  farbenreichen  Ausdruck  sich  von  der  nüchternen, 
fast  prosaischen  Redeweise  der  anderen  Tragiker  dieser  Zeit  so  be- 
stimmt als  möglich  absondern.* 


^a^e  S^äfiara  fi ,  oi  St  (paaiv  ta,  vixae  Si  sllsv  S')  nicht  stimmt.  Vierzig 
Stücke  genügen  nicht  für  zwölf  Siege,  aber  der  Diciiter  kann  auch  aufserhalb 
Athens  mit  Einzeldramcn  gekrönt  worden  sein.  Mit  dem  Sohne  des  Ariston  ist 
nicht  zu  verwechseln  Sophokles,  Sohn  eines  Sophokles,  Nachkomme  des  grofsen 
Dichters,  den  Suidas  112,  839  nach  dem  alexandrinischen  Siebengestirn  ansetzt; 
nach  einer  böolischcn  Inschrift  (CIG.  I  1584)  siegt  er  um  Ol.  145  zu  Orchomenos 
am  Feste  der  Charitesien. 

2)  Dieser  Sophokles  hat  auch  Elegien  gedichtet. 

*)  [Aus  Ersch  und  Gruber  S.  371  A.] 


Draek  tos  3.  B.  UirsohfaM  in  Laipxtf. 


PA 

Bergk,  Theodor 

3057 

Griechische 

BA5 

li teraturge  schichte 

Bd. 3 

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