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Full text of "Griechische Tragoedien"

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GRIECHISCHE  TRA60EDIEN 


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1    ULRICH  vonWILAMOWITZ-MOELLENDORFF. 


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GRIECHISCHE  TMGOEDIEN 


ÜBERSETZT 


ULRICH  VON  WILAMOWITZ-MOELLENDORFF 


ERSTER    BAND. 

I.  SOPHOKLES  OEDIPÜS. 

H.  EURIPIDES  HIPPOLYTOS. 

in.  EURIPIDES  DER  MÜTTER  BITTGANG. 

IV.  EURIPIDES  HERAKLES. 


ZWEITE   AUFLAGE. 


BERLIN 
WEIDMANNSCHE  BUCHHANDLUNG 

1899. 


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3663 
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I. 
SOPHOKLES 

O  E  D  I  P  U  S. 


Vorwort. 


Die  Übersetzungen  griechischer  Tragödien,  die  ich 
bisher  veröffentlicht  habe,  sind  von  dem  griechischen 
Texte  und  zum  Teil  von  Erläuterungen  begleitet  gewesen. 
Es  war  das  geboten,  da  meine  Arbeit  in  erster  Linie 
dahin  gegangen  war,  den  Text  zu  verstehen  und  verständ- 
lich zu  machen;  ich  halte  die  Form  auch  noch  für  die 
sachlich  richtige  und  hoffe  sie  noch  einmal  für  Agamemnon 
und  Eumeniden  anzuwenden.  Allein  sie  hat  den  Nach- 
teil, dals  die  Übersetzungen  kaum  über  die  Kreise  hin- 
auskommen, die  auch  den  gelehrten  Teil  des  Buches  lesen. 
So  bin  ich  oft  aufgefordert  worden,  besondere  Ausgaben 
der  Übersetzungen  zu  veranstalten.  Insbesondere  ist  mir 
gesagt  worden,  dafs  auf  Schulen,  die  die  griechische 
Sprache  nicht  lehren,  Übersetzungen  griechischer  Dramen 
gelesen  werden,  so  dafs  ich  geradezu  die  Ptlicht  hätte, 
diesen  die  meinen  zugänglich  zu  machen.  Dem  habe  ich 
mich  gefügt,  und  so  werden  diesem  Stücke,  das  ich  noch 
nicht  veröffentlicht  hatte,  unmittelbar  einige  von  Euripides 
folgen,  dann  allmählich  die  Orestie  des  Aischylos.  Da 
die  Dramen  zunächst  bestimmt  sind  einzeln  verbreitet  zu 
werden,  liefs  es  sich  nicht  vermeiden,  dafs  auch  hier 
jedem  ein  besonderes  Vorwort  beigegeben  ward. 


Einleitende  Bemerkunofen. 


Eine  griechische  Tragödie  pflegt  stofflich  den  Historien 
Shakespeares  zu  entsprechen,  denn  auch  hier  dramatisiert 
der  Dichter  ein  Stück  vaterländischer  Geschichte.  Aber 
Shakespeare  befriedigt  sein  Pablikum  schon  durch  die 
Masse  des  Stoffes,  der  ihm  als  solcher  interessant  ist; 
für  die  Athener  hat  er  meist  nur  die  Bedeutung  des 
Hintergrundes,  von  dem  sich  die  kurze  und  gedrängte 
Handlung  abhebt.  Die  Geschichte  darf  der  Dichter  im 
wesentlichen  als  bekannt  voraussetzen,  so  dafs  wenig  An- 
deutungen genügen;  scharf  markieren  mufs  er  nur,  wo 
er  an  den  Voraussetzungen  ändert.  Wenn  der  moderne 
Leser  gar  keine  vorgefafste  Meinung  mitbringt,  so  schadet 
das  nicht  viel,  denn  die  Geschichte  als  solche  läfst  ihn 
kalt;  Oedipus  ist  ihm  nicht  realer  als  Hamlet  oder  Lohen- 
grin.  Aber  wenn  die  Phantasie,  wie  hier,  sei  es  durch 
andere  grofse  Kunstwerke,  die  denselben  Stoff  behande  n, 
sei  es  durch  eine  nur  zu  oft  wenig  verläfsliche  Schul- 
tradition, voreingenommen  ist,  wird  die  Wirkung  sehr 
leicht  dadurch  beeinträchtigt,  dafs  Fremdartiges  hinein- 
getragen wird.  Daher  sei  die  Geschichte  von  Oedipus, 
die  das  Drama  uns  vorführt,  hier  nach  vorn  und  hinten 
in  dem  Sinne  des  Sophokles  ergänzt. 

Dem  König  Laios  von  Theben  offenbarte  Apollon,  er 
würde  mit  seiner  Gattin  lokaste  einen  Sohn  zeugen,  und 


dieser  würde  ihn  erschlagen.  Der  Sohn  ward  geboren, 
und  die  Eltern  liefsen  ihn  mit  durchbohrten  Fesselgelenken 
(wie  man  die  Hinterläufe  des  Hasen  durchbohrt  um  ihn 
zu  tragen)  auf  dem  Kithairon  aussetzen.  Das  ist  ein 
hohes  Waldgebirge  südlich  von  Theben,  dessen  westliche 
Abhänge  in  das  korinthische  Meer  schroff  abfallen.  Ein 
weiteres  Kind  bekamen  sie  nicht.  Jahre  vergingen,  da 
trieb  den  Laios  ein  Anlafs,  wie  er  griechischen  Staats- 
lenkern auch  zu  Sophokles'  Zeit  oft  kam^),  nach  Delphi 
zu  fahren,  um  den  Gott  zu  befragen.  Delphi  liegt  nur 
zwei  Tagereisen  von  Theben;  der  König  fuhr  ohne  weitere 
Bedeckung;  aufser  dem  Kutscher  waren  es  nur  vier 
Dienen  Ein  vornehmer  Herr  zu  Sophokles'  Zeit  reiste, 
wenn  er  einen  Wagen  nahm,  nicht  viel  anders.  Aber  es 
kehrte  nur  ein  Diener  heim 2),  derselbe  zuverlässige  Knecht, 
der  einst  das  Kind  ausgesetzt  hatte,  und  berichtete,  der 
König  und  die  übrigen  wären  von  Räubern  erschlagen 
worden,  als  sie  an  den  Kreuzweg,  genauer  Dreiweg, 
kamen,  an  die  sehr  ins  Auge  fallende  Stelle,  wo  heute 
wie  damals  der  Weg  von  Süden,  den  Laios  kam,  und  der 
von  Norden,  dessen  letzte  Station  heute  wie  damals  Daulis 
heifst,  zusammen  in  den  scharf  westlich  gerichteten  Weg 
nach  Delphi  münden;  nur  fahrbar  ist  der  Weg  nicht 
mehr.  In  Theben  war  man  nicht  in  der  Lage,  sich  viel 
um  den  Mord  zu  bekümmern,  der  im  Auslande  begangen 
war.  Die  Sphinx  war  erschienen  und  raubte  sich  täglich 
thebanische  Jünglinge,  so  lange  niemand  ihr  Rätsel  löste. 
In  der  Not  ward  die  Witwe  des  Laios  und  seine  Herr- 


')  Man  wird  hier  an  die  Sphinx  denken,  aber  der  Dichter 
hat  keine  besondere  Motivierung  nötig  befunden. 

2)  Wo  er  die  Heimkehr  dieses  Dieners  erzählt,  ist  dem 
Sophokles  ein  Versehen  passiert;  er  läfst  ihn  erst  nach  der 
Thronbesteigung  des  Oedipus  heimkehren,  der  doch  die  lokaste 
nicht  bekommen  konnte,  ehe  der  Tod  des  Laios  in  Theben 
bekannt  war. 


Schaft  dem  Bezwinger  der  Sphinx  als  Preis  ausgesetzt. 
Ein  fremder  Jüngling  trat  auf,  löste  das  Rätsel,  über- 
wand die  Sphinx  und  nahm  von  dem  Throne  und  lokaste 
Besitz^).  Er  nannte  sich  Oedipus,  Sohn  des  Polybos  und 
der  Merope,  des  Königspaares  von  Korinth.  Aber  er 
wollte  von  seiner  Heimat  nichts  mehr  wissen  und  schwieg 
von  seiner  Vorgeschichte.  Es  war  ihm  nämlich  in  Korinth 
zu  Ohren  gekommen,  dafs  er  vielfach  für  untergeschoben 
galt,  und  seine  Eltern  hatten  ihn  nur  halb  beruhigt;  er 
trug  auch  eine  Narbe  an  seinen  Ftifsen,  und  wenn  er  sie 
auch  nicht  achtete,  das  Verlangen,  über  seine  Herkunft 
Sicherheit  zu  erhalten,  lag  ihm  tief  in  der  Seele.  So  war 
er  heimlich  von  Korinth  nach  Delphi  gegangen,  ob  der 
Gott  ihm  die  Wahrheit,  die  er  ja  wufste,  offenbaren 
wollte.  Apollon  versagte  ihm  die  Antwort  und  stellte  ihm 
statt  dessen  Vatermord  und  Mutterehe  in  Aussicht.  Ob- 
wohl er  Zweifel  hegte,  konnte  er  das  doch  nur  auf 
Polybos  und  Merope,  die  er  als  Eltern  herzlich  liebte, 
beziehen.  So  hatte  er  sich- entschlossen  auf  die  Heimat 
gänzlich  zu  verzichten,  war  auf  Abenteuer  ausgezoge«, 
was  ihm  so  glücklich  ausging.  Dafs  er  an  dem  Kreuz- 
weg einen  alten  Mann  und  seine  fünf  Begleiter,  wie  er 
glaubte,  alle  erschlagen  hatte,  konnte  sein  Gewissen  nicht 
beschweren;  er  war  der  Angegriffene  gewesen,  und  eine 
solche  Selbsthilfe  auf  der  Landstrafse  war  noch  in  den 
solonischen  Gesetzen   ausdrücklich  als  berechtigter  Tot- 


1)  Man  wird  in  der  so  erzählten  Geschichte  ein  verbreitetes 
Märchenmotiv  nicht  verkennen,  Thron  und  Gattin  dem  Be- 
zwinger eines  Ungetüms  ausgesetzt,  ein  landfahrender  Fremd- 
ling, der  die  Aufgabe  wider  alles  Erwarten  löst;  oft  ist  es 
einer,  der  gar  nicht  besonders  schlau  ist.  So  ist  auch  Oedipus 
zuweilen  gefafst;  er  deutet  bei  Sophokles  darauf,  indem  er 
sich  den  Blöden  nennt  (397).  Aber  Sophokles  faulst  ihn  nicht 
so.  Was  er  wirklich  gewesen  ist,  hat  für  das  Drama  so  wenig 
Bedeutung  wie  der  ursprüngliche  Sinn  oder  die  Realität  der 
dramatisierten  Geschichte. 


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schlag  bezeichnet  worden.  Wieder  vergingen  Jahre.  lokaste 
hatte  ihm  zwei  Söhne,  die  der  Mannbarkeit  nun  schon 
nahe  waren,  und  zwei  Töchter  geboren,  da  brach  Mifs- 
wachs,  Viehsterben  und  Pest  aus.  Wie  das  zu  der  Ent- 
deckung der  Wahrheit,  zum  Selbstmorde  der  lokaste  und 
der  Selbstblendung  des  Oedipus  führte,  stellt  das  Drama 
dar.  Es  war  unvermeidlich,  dafs  der  Mörder  des  Laios 
das  Land  verliefs;  wenn  Kreon,  der  die  Herrschaft  ohne 
weiteres  übernimmt,  zunächst  noch  einmal  in  Delphi 
fragen  will,  so  ist  das  nur  ein  Mittel  des  Dichters,  fttr 
sein  Drama  einen  Abschlufs  zu  gewinnen  und  zugleich 
die  Pein  anzudeuten,  die  Oedipus  durch  die  Bevormundung 
seiner  Angehörigen  erleiden  wird.  Wir  haben,  nament- 
lich wegen  der  Prophezeiungen  des  Teiresias,  anzunehmen, 
dafs  er  dann  auf  dem  Kithairon  ausgesetzt  ward,  der 
nicht  mehr  thebanisches  Gebiet  war.  Aber  er  war  doch 
der  wenn  auch  regierungsunfähig  gewordene  König,  und 
er  ist  als  solcher  später  wieder  in  oder  bei  Theben  ge- 
halten worden.  Aber  als  seine  Söhne  herangewachsen 
waren  und  die  Herrschaft  für  sich  forderten,  vergalten  sie 
ihm,  dafs  er  nur  seine  Töchter  täglich  zu  seiner  Mahlzeit 
zugezogen  hatte  (V.  1463).  Nach  der  ältesten  Sitte,  die 
z.  B.  in  Sparta  dauernd  galt,  erhielt  der  König  bei  den 
gemeinsamen  Mahlen  das  beste  Stück  des  Opfertieres, 
wie  auch  die  Gefälle  der  Priester  meist  in  bestimmten 
Fleischstücken  bestanden.  Das  versagten  dem  Oedipus 
seine  Söhne,  erklärten  ihn  also  des  Königtumes  für  ver- 
lustig. Da  fluchte  er  ihnen,  und  da  sie  ihm  zum  Hohne 
alle  die  Kleinodien  auf  die  Tafel  setzen  liefsen,  die  Laios 
ererbt  und  besessen  hatte,  da  fluchte  er  ihnen  abermals^), 
dafs  sie  das  Erbe,  das  sie  so  eilig  hatten  anzutreten,  mit 
dem  Schwerte   teilen   und   ein  jeder  durch  des  anderen 


1)  Diese  zwei  Flüche  sind  uns  zufällig  aus  dem  alten  Epos 
erhalten. 


Hand  getötet  zur  Hölle  fahren  sollten.  Da  begann  Zwie- 
tracht zwischen  den  Herrschsüchtigen,  es  kam  zur  Ver- 
treibung des  jüngeren,  und  als  dieser  die  Völker  von 
Argos  und  den  diesem  zur  Heeresfolge  verbundenen 
Staaten  gegen  Theben  führte,  zu  dem  für  beide  tötlichen 
Zweikampf.  Das  war  das  Unheil,  das  sich  Oedipus  ebenso 
wie  seinen  Söhnen  bereitet  hatte  (V.  423).  Er  hat  den  Unter- 
gang seines  Geschlechtes  noch  erlebt.  Wie  er  gestorben  ist, 
das  bleibt  unsicher;  das  Los  des  blinden  Bettlers  ist  ihm 
jedenfalls  nicht  erspart  geblieben.  Man  darf  annehmen, 
dafs  er  schliefslich  bei  einem  Heiligtume  der  unterirdischen, 
höllischen  Mächte  eine  Ruhestatt  gefunden  hat,  denen 
der  Mann  des  Fluches  doch  einmal  angehörte.  Die 
Himmelsgötter  hatten  den  Unreinen  verstofsen,  wie  er  es 
sagt,  und  wie  es  nicht  anders  sein  konnte. 

Es  wird  gut  sein,  noch  besonders  einiges  hervorzu- 
heben, was  für  dieses  Drama  nicht  gilt.  Vor  allem  das 
Ende  des  Oedipus,  wie  es  Sophokles  viele  Jahre  später 
dargestellt  hat,  das  rührende  Bild  des  blinden  Bettlers, 
den  Antigene  nach  dem  Heimatdorfe  des  Sophokles  ge- 
leitet, Athen  aufnimmt  und  die  Unterirdischen  selber  in 
ihr  Reich  abholen.  Davon  existierte  sogar  noch  nichts 
in  der  Vorstellung  des  Dichters  oder  des  Publikums. 
Aber  auch  Antigene,  die  schwesterlichste  der  Seelen, 
ihren  Konflikt  mit  Kreon  und  ihren  Tod  müssen  wir  fern 
halten,  obwohl  Sophokles  seine  Antigene  eine  Reihe  Jahre 
früher  gedichtet  hatte.  Deren  Handlung  im  allgemeinen 
ist  nicht  ausgeschlossen^),  wie  die  des  Oedipus  auf  Kolonos, 
aber  die  handelnden  Personen  können  noch  nichts  von 
ihrer  Zukunft  ahnen,  die  Konflikte  sind  nicht  vorbereitet 


1)  Im  einzelnen  sind  Widersprüche  vorhanden.  Die  Anti- 
gene geht  begreiflicherweise  wenig  auf  die  Schicksale  des  Oedi- 
pus ein,  und  Sophokles  kann  dort  um  des  Effektes  für  seine 
Heldin  willen  erfinden,  dafs  sie  ihren  beiden  Eltern  die  letzten 
Ehren  erwiesen  hätte. 


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und  die  TöchtercheD,  die  hier  auftreten,  sind  keine  be- 
nannten Personen. 

Auch  ein  anderes  müssen  wir  ausschliefsen.  Laios  hat 
keine  Schuld  geerbt  oder  auf  sich  geladen;  es  war  ihm 
nicht  verboten,  einen  Sohn  zu  zeugen;  dafs  er  den  ge- 
borenen aussetzte,  war  sein  Vaterrecht.  Oedipus  hat  keine 
Schuld  geerbt;  er  hat  auch  keine  auf  sich  geladen.  Der 
Greis,  den  er  am  Kreuzweg  erschlug,  hatte  ihn  angegriffen. 
Wenn  wir  ihn  eine  ungerechte  Beschuldigung  gegen  Tei- 
resias  und  Kreon  erheben  sehen,  so  läfst  er  beide  un- 
gekränkt gehen,  wahrlich  anders  handelnd  als  ein  König 
nach  der  Anschauung  der  Athener  thun  würde,  und  nur 
ein  Respekt  vor  dem  Seher,  den  keiner  von  uns  teilen 
würde,  konnte  ihn  veranlassen,  denjenigen  nicht  wenig- 
stens in  Untersuchungshaft  zu  setzen,  der  ihm  ein  Ver- 
brechen zugeschoben  hatte,  von  dem  er  sich  frei  wufste. 
Also  trifft  das  entsetzliche  Unheil  einen  moralisch  durchaus 
Unschuldigen  und  moralisch  auch  nicht  erblich  Belasteten. 
Das  ist  die  bewufste  Absicht  des  Dichters,  denn  andere, 
sowohl  epische  Dichter  wie  der  grofse  Aischylos,  hatten 
auch  in  diese  Geschichte  das  Gleichgewicht  zwischen 
Schuld  und  Strafe  hineingebracht,  das  ihr  religiöses 
Empfinden  forderte.  Wenn  Sophokles  das  anders  ge- 
macht hat,  so  hat  er  eben  anders  empfunden  und  will, 
dafs  wir  anders  empfinden.  Er  zeigt  uns,  wie  ein  Mensch 
ohne  die  mindeste  subjektive  Schuld  objektiv  das  Ab- 
scheulichste begehen  kann  und  dann  die  Folgen  tragen 
mufs,  innerlich  und  äufserlich.  Gerade  weil  er  nichts 
dafür  kann,  sind  ihm  seine  Thaten  selbst  so  entsetzlich. 
Es  hat  im  Altertum  nicht  an  ernsthaften  Leuten  gefehlt, 
die  daher  so  geschlossen  haben:  wenn  Oedipus  einen  ge- 
rechten Totschlag  begangen  hat,  wenn  er  mit  einer  Frau 
Kinder  gezeugt  hat,  die  er  sich  durch  eine  wackere  That 
verdient  hatte,  so  liegt  das  uns  und  ihm  entsetzlich 
Scheinende,  dafs  die  Betroffenen  seine  Eltern  waren,  nur 


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in  der  Vorstellung  von  uns,  nicht  in  der  Natur  der  Dinge; 
da  sehen  wir  also,  dafs  diese  Vorstellungen  konventio- 
.nelle  Vorurteile  sind,  die  wir  abzulegen  haben.  Es  sind 
die  Verhältnisse,  es  ist  der  Zufall,  der  es  so  fügt  und 
ähnlich  alle  Tage  fügen  kann:  davon  mufs  das  sittliche 
Urteil  unabhängig  sein  oder  werden.  Es  war  also  eine 
thörichte  Konzession  an  die  konventionellen  Vorurteile 
der  Welt,  dafs  Oedipus  sich  blendete  und  sich  für  einen 
von  Gott  Verworfenen  hielt.  So  würde  noch  Zenon,  der 
Stifter  der  stoischen  Schule,  geurteilt  haben.  Es  ist 
nicht  erlaubt,  diese  kynische  Beurteilung  für  ein  leeres 
Paradoxon  anzusehen.  Vatermord  und  Blutschande  sind 
allerdings  Thaten,  die  ganz  unabhängig  von  der  subjektiven 
Verschuldung  unsühnbare  Verbrechen  scheinen;  daher 
entstehen  mit  zwingender  Notwendigkeit  solche  sittlichen 
Probleme,  wie  diese  Geschichte  sie  bietet.  Es  ist  hier 
ganz  gleichgiltig,  wie  wir  sie  lösen:  es  ist  aber  unbedingt 
nötig,  dafs  man  erkenne  und  anerkenne:  Sophokles  hat 
das  Problem  so  gestellt. 

Die  Verhältnisse,  der  Zufall  hat  es  so  gefügt,  sagten 
die  Kyniker;  das  Schicksal,  pflegen  die  Modernen  zu 
sagen.  So  haben  die  modernen  Dramatiker  gesagt,  die 
nach  dem  Oedipus  ähnliche  Fabeln  zu  erfinden  versuchten, 
so  sagen  mit  Vorliebe  die  christlichen  Kritiker,  um  mit 
dem  blinden  Schicksal  zugleich  den  blinden  Heiden  zu 
verdammen,  gleich  als  ob  sie  im  geringsten  in  der  Lage 
wären  diese  Geschichte  besser  mit  der  Theodicee  in 
Einklang  zu  bringen.  Von  einem  Schicksal  als  einer 
Ursache,  einer  wirkenden  Kraft  ist  bei  Sophokles  nirgend 
die  Rede  und  konnte  keine  Rede  sein.  Wenn  Oedipus 
sich  von  einem  Dämon  verfolgt,  zur  Blendung  verführt 
glaubt,  so  ist  das  inhaltlich  nur  eine  Projektion  des  Triebes 
in  ihm,  dem  er  wider  oder  ohne  Überlegung  gefolgt  ist, 
formell  redet  er  so,  weil  er  und  Sophokles  daran  glauben, 
dafs  ein  Mensch  von  einem  Dämon  besessen  sein  könne, 


12 

der  ihn  schädigt.  Insofern  kann  das  unpersönliche  ab- 
strakte Schicksal,  das  jemand  hat,  ihm  zu  einem  persön- 
lichen Dämon  werden,  der  ihn  hat,  beherrscht.  Das  ist 
eine  Empfindung,  die  sich  ganz  in  den  Bahnen  der  natür- 
lichen Religion  hält.  Die  Prädestination  dagegen  oder 
auch  die  Vorsehung,  wie  man  namentlich  in  den  Zeiten 
des  Rationalismus  für  Gott  zu  sagen  liebte,  sind  Begriffe, 
die  sowohl  eine  ausgebildete  philosophische  Spekulation 
wie  ein  starkes  Verblassen  des  Glaubens  an  eine  persön- 
lich wirkende  Gottheit  voraussetzen.  Gab  es  auch  zu 
beidem  Ansätze  zu  Sophokles'  Zeit,  so  lag  es  ihm  doch 
gänzlich  fern;  ausgebildet  ist  beides  erst  durch  die 
stoische  Philosophie,  aus  der  es  das  Christentum  einfach 
entlehnt  hat.  Für  Sophokles  und  daher  in  seinen  Dramen 
wirken  die  Götter,  die  liebenden  und  hassenden,  segnen- 
den und  verderbenden,  himmlischen  und  höllischen  Wesen, 
die  er  und  sein  Volk  verehrte,  fürchtete,  durch  Opfer 
und  Gebete  sich  gnädig  zu  stimmen  suchte. 

Aber  es  ist  sehr  bemerkenswert,  dafs  in  diesem  Drama 
kein  Gott  direkt  handelnd  eingreift.  ApoUons  Sprüche 
bringen  freilich  die  Handlung  in  Bewegung,  aber  er  thut 
nichts  und  hat  nichts  gethan  als  die  Wahrheit  den  Sterb 
liehen  mitgeteilt,  auch  über  die  Zukunft,  die  seiner  All- 
wissenheit bekannt  ist  und  die  er  den  Menschen  mitteilt, 
wenn  er  will,  soweit  er  will,  wie  er  will,  in  Delphi,  durch 
den  Seher,  den  Vogelflug  und  auf  vielen  anderen  Wegen. 
Damit  bestimmt  er  die  Zukunft  nicht,  und  es  thut  der 
menschlichen  Willensfreiheit  und  Verantwortung  keinen 
Abbruch,  dafs  ein  Gott  weifs,  was  sie  wollen  und  thun 
werden.  Wer  die  Sphinx,  wer  die  Pest  gesandt  hat,  er- 
fahren wir  nicht.  Die  letztere  mufste  kommen,  weil  ein 
ungesühnter  Mord  und  die  Anwesenheit  des  Mörders  das 
Land  befleckte.  Es  war  lebendiger,  auch  im  athenischen 
Rechte  anerkannter  Glaube,  dafs  eine  solche  Befleckung 
solche  Folgen  hatte,   und  dafs   sie  nur  beseitigt  werden 


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konnten,  wenn  die  Ursache  dieser  ansteckenden  Krank- 
heit entfernt  und  das  Land  gereinigt,  entsühnt,  wir  sagen 
am  besten  ganz  medizinisch,  desinfiziert  ward.  Aus  der- 
selben Anschauung  war  der  Vatermörder  und  Blutschänder 
zeitlebens  ein  Träger  solcher  Befleckung,  zum  mindesten 
in  seinem  Lande,  aber  genau  besehen  überall:  Oedipus 
und  Kreon  und  im  Grunde  der  Chor  wissen  das  sehr 
wohl.  Die  Weisungen  für  die  Entsühnung  wufste  und 
offenbarte  wieder  der  delphische  ApoUon  am  sichersten, 
der  unzählige  Male  in  solchen  Nöten  von  einzelnen  und 
von  Staaten  befragt  worden  ist.  All  dieses  sind  also 
Erscheinungen  des  wirklichen  Lebens,  wie  es  den  Dichter 
umgab ;  nichts  davon  schliefst  das  unmittelbare  Eingreifen 
einer  göttlichen  Person  ein.  Das  ist  um  so  bemerkens- 
werter, als  Sophokles  seinem  Glauben  gemafs  sonst  mit 
solchen  Zügen  in  seinen  Dramen  durchaus  nicht  sparsam 
ist.  Er  hat  es  hier  mit  bewufster  Absicht  ausgeschaltet. 
Wir  sehen  sich  das  Geschick  des  Oedipus  ganz  natür- 
lich menschlich  aus  den  Verhältnissen  entwickeln.  Wir 
sehen,  was  dabei  herauskommt.  Oedipus  epilogiert  ja 
selbst  und  giebt  dieselbe  Lehre  wie  der  Chor.  Das  ist 
also  des  Dichters  Lehre:  Mensch,  erkenne  dich  als  das 
was  du  bist,  erkenne  deine  Ohnmacht  und  die  Nichtig- 
keit deines  Glückes.  Das  sagt  er,  wie  Apollon  den,  der 
in  seinen  delphischen  Tempel  eintritt,  mit  dem  Spruche 
'Erkenne  dich  selbst'  begrüfst,  und  insofern  kann  man 
sagen,  dafs  dess-en  Geist  in  dem  Drama  weht.  Es  kann  die 
Tragödie  von  der  Nichtigkeit  des  Menschenglückes  heifsen. 
Da  ist  nichts  von  dem  Schicksal,  welches  den  Menschen 
erhebt,  wenn  es  den  Menschen  zermalmt.  Welcher  Ab- 
stand aber  auch  von  einer  Schicksalstragödie  wie  der 
Ahnfrau!  Dort  ein  Aufwand  von  Schreckmitteln,  Sturm 
und  Nacht  und  Gespenster  und  irrationale  Ahnungen  und 
Zufälligkeiten,  die  uns  freilich  gruseln  machen;  der  Dichter 
thut  nur   so,  als  wenn  er  daran  glaubte,  wir  aber  thun 


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auch  so,  weil  wir  uns  gern  gruseln  lassen.  Die  ganze 
Geschichte  bleibt  bestenfiills  eine  chimärische  Ausnahme, 
von  der  wir  auf  uns  nichts  übertragen.  Hier  dagegen 
vollzieht  sich  alles  in  ruhiger  Tageshelle,  geht  alles  natür- 
lich verständlich  zu,  den  Athenern  auch  das  wenige,  was 
uns  zuerst  befremdet.  Darum  greift  uns  der  Menschheit 
ganzer  Jammer  an  die  Seele,  werden  wir  unserer  eigenen 
irdischen  Nichtigkeit  schaudernd  inne.  Diese  Wirkung, 
die  uns  tiberwältigt,  ist  immer  neu,  auch  wenn  wir  die 
Verse  seit  Jahrzehnten  auswendig  wissen  und  als  wissen- 
schaftliches Objekt  vielfach  einzeln  unter  den  Händen 
gehabt  haben.  Vor  ihr  verblassen  alle  noch  so  weisen 
ästhetischen  Theorieen  von  den  Erfordernissen  für  den 
Charakter  eines  tragischen  Helden,  von  Furcht  und  Mit- 
leid, von  tragischer  Schuld  und  Gerechtigkeit  und  von 
versöhnendem  Schlüsse.  Es  ist  uns  ganz  einerlei,  ob 
diese  Wirkung  tragisch  heifsen  darf,  ob  sie  ästhetisch 
berechtigt  ist:  sie  ist  da,  wir  fühlen  sie,  wir  fühlen  das 
Göttliche  der  Poesie,  denn  sie  ist  stärker  denn  wir.  Aber 
sie  ist  schrecklich,  es  fehlt  jede  Milderung,  sie  schlägt 
uns  geradezu  zu  Boden. 

Es  ist  nicht  glaublich,  dafs  Sophokles  dies  so  beab- 
sichtigt hat;  jedenfalls  fühlte  er  es  nicht  so.  Denn  er 
besafs,  was  ihn  wieder  erhob.  Er  trug  in  einem  kind- 
lichen Herzen  eine  heifse  Religiosität.  Zu  der  Schwäche 
des  Menschen  ist  die  Macht  der  Götter,  zu  seiner  Hilfs- 
bedürftigkeit ihre  Gnade  das  Komplement.  Die  Selbst- 
genügsamkeit {avtaQxsta)  der  Tugend,  die  nicht  nur  die 
Stoa,  sondern  im  Grunde  schon  die  Sokratik  (Piaton  auf 
dem  Gipfel  seiner  Wirksamkeit  ausgenommen)  lehrt,  ist 
ihm  fremd,  und  wie  so  viele  tief  religiöse  Naturen  kam 
er  mit  dem  Begriffe  der  Gerechtigkeit,  dem  Gleichgewichte 
von  Thun  und  Leiden  nicht  aus.  Aber  er  glaubte  an  die 
Götter  ganz  wirklich,  wie  er  an  die  Orakel  glaubte.  Er 
hat  einen  neuen  Gott  wesentlich  selbst  in  Athen  eingeführt, 


15 

hat  ihn  in  einer  Vision  gesehen  und  ist  nach  seinem  Tode 
selbst  als  seliger  Heros  verehrt  worden.  Er  glaubte  oder 
hoffte,  dafs  die  Götter  denjenigen  beschützen  würden,  der 
sich  in  Wort  und  Werk  jener  Reinheit  befleifsigte,  die 
das  bedeutsame  Chorlied  in  der  Mitte  des  Dramas  be- 
zeichnet. Zu  ihr  gehört  wohl  auch  ein  sittlicher  Wandel, 
die  Beobachtung  der  ungeschriebenen  Gesetze  des  Ge- 
wissens, aber  vornehmlich  die  Werke  der  äufseren  Reli- 
gionsübung, die  das  heilige  Recht  und  die  kirchlichen 
Weisungen  Apollons  vorschrieben.  Jenes  Lied  spricht  es 
aus,  dafs  die  Leugnung  der  Wahrhaftigkeit  Delphis  dazu 
führen  müsse,  dieser  Religionsübung  und  damit  den  Tänzen 
des  Chores  und,  können  wir  hinzufügen,  dem  Dichten 
des  Dichters  jede  Berechtigung  zu  nehmen.  Einerlei  wie 
traurig  es  ist,  Oedipus  mufs  untergehen,  weil  daran  die 
Allmacht  der  Gottheit  hängt:  was  liegt  auch  dem  gegenüber 
an  dem  Glücke  eines  Sterblichen?  Was  sie  weiter  mit 
ihm  thun  wollen,  ist  der  Götter  Sache:  hat  etwa  der 
Mensch  sie  zu  meistern?  Und  wenn  sie  uns  selbst  so 
niederschlagen  wie  Oedipus,  dürfen  wir  sie  der  Ungerech- 
tigkeit zeihen?  Apollons  Licht  strahlt  hell,  sein  Auge 
durchschaut  alle  Wunder  Himmels  und  der  Erden:  was 
liegt  daran,  dafs  das  Auge  des  Unreinen  erlosch?  Es 
steht  bei  uns,  ob.  wir  den  Glauben  des  Sophokles  teilen, 
ob  er  uns  dem  Menschen  und  Gotte  genug  gethan  zu 
haben  scheint:  er  hat  seinen  Glauben,  ihm  hat  er  für 
Leben  und  Sterben  ausgereicht;  diesem  Glauben  verdanken 
wir  seine  Gedichte.  In  ihn  mufs  sich  hineinleben,  wer  sie 
verstehen  will.  Wollen  wir  bezweifeln,  dafs  Augustin  in 
Sophokles  und  nicht  in  seinen  beiden  Genossen  einen 
Geistesverwandten  anerkennen  würde? 

Die  gebildeten  Kreise  seiner  Zeit,  mit  denen  Sophokles 
lebte,  hatten  diese  Religiosität  nicht  mehr,  mochte  der 
Staat  sie  auch  offiziell  anerkennen  und  die  breite  Menge 
des  Volkes  an  ihrer  Übung  festhalten.    Insbesondere  der 


16 

delphische  Gott  und  die  Offenbarungen  der  Zukunft  wur- 
den immer  stärker  angezweifelt,  nicht  blofs  von  der  Auf- 
klärung, sondern  auch  von  anders  gestimmter  Religiosität, 
wie  der  des  Aischylos.  Sophokles  sah  sich  in  der  Thal 
von  Gesinnungen  umgeben,  wie  sie  sein  Chorlied  zeichnet, 
und  er  hatte  nicht  unrecht,  wenn  er  über  die  Zersetzung 
der  Moral  und  die  Gefährdung  der  ganzen  Staats-  und 
Gesellschaftsordnung  klagte.  Da  haben  wir  das  psycho- 
logische Moment,  das  ihn  dazu  antrieb,  in  diesem  Drama 
seinen  geliebten  Athenern  vorzuhalten :  sehet,  das  ist  der 
Mensch  und  sein  Glück:  sehet,  das  ist  der  Gott  und  seine 
Weisheit. 

Wir  wissen  nicht  genau,  wann  er  das  Drama  gedichtet 
hat,  doch  wahrscheinlich  nicht  eben  lange  nach  dem  Tode 
des  Perikles.  Es  hat  den  Preis  nicht  erhalten;  darüber 
ist  nichts  zu  sagen,  da  es  mit  drei  anderen  zusammen 
gegeben  ward,  von  denen  wir  nichts  wissen,  die  aber  für 
das  Urteil  mit  in  Betracht  kamen.  Aber  es  scheint  aller- 
dings nicht  sofort  nach  seiner  Bedeutung  anerkannt  zu 
sein,  vielleicht  weil  seine  Wirkung  auch  den  Athenern  zu 
schrecklich  war.  Erst  seit  Aristoteles  ist  es  des  Sophokles, 
für  viele  überhaupt  die  vollkommenste  Tragödie.  Dem 
Dichter  selbst  aber  ist  es  wert  geblieben,  und  die  Götter, 
die  ihn  liebten,  wie  er  sie  liebte,  haben  ihn  erst  zu  sich 
genommen,  als  der  Neunzigjährige  seinem  Oedipus  die 
Stätte  des  ewigen  Friedens  in  seinem  eigenen  Heimatdorfe 
bereitet  hatte.  Und  der  Dichter,  der  das  erschütterndste 
Bild  des  Menschen  geschaffen  hat,  den  die  Götter  ver- 
stofsen  haben,  lebt  in  alle  Ewigkeit  als  einer  ihrer  Lieb- 
linge, dessen  Haupt  ein  Abglanz  ihres  ewigen  Lichtes, 
dessen  Lippen  ein  Schimmer  ihres  seligen  Lächelns  um- 
spielt, weil  er  ihren  Frieden  in  seinem  frommen  Herzen 
getragen  hat. 


SOPHOKLES 

O  E  D  I  P  U  S. 


Giiech.  Tragödieo. 


PERSONEN. 

O  edip  US. 

lokaste,  seine  Gattin. 
Kreon,  ihr  Bruder. 
Teiresias. 
Ein  Priester. 
Ein  Korinther. 
Ein  Hirt 
Ein  Bote 
Chor:  die  Ratsherren  von  Theben. 
Zwei  Töchterchen  des  Oedipus.    Priester, 
Knaben,  Gefolge. 


}  Diener  des  Oedipus. 


Die  Hinterwand  der  Bühne  stellt  den  Kßnigspalast  von  Theben 
dar;  dicht  an  der  Thür,  wo  der  Prellstein  zu  stehen  kommen 
würde,  ein  Altar  des  Apollon,  andere  Altäre  iceiter  im  Vorder- 
grunde. Auf  diesen  sitzen  und  um  sie  stehen  viele  Knaben,  in 
Trauergeioändern,  Olivenzweige  mit  ivollenen  Binden  und  Schleifen 
in  den  Händen,  die  sie  auch  auf  die  Altäre  gelegt  haben.  Der 
Thür  des  Palastes  näher  stehen  einige  Greise,  durch  lange  weiße 
Gewänder  und  Kränze  im  Haar  als  Priester  kenntlich. 

Oedipus 

kommt   mit  stattlichem  beioaffnetem  Gefolge   aus   dem  Palaste  und 

bleibt  vor  der  Gruppe  stehen,  die  ihn  ehrfurchtsvoll  begrüfst. 

Ihr  Kinder,  junger  Sprofs  vom  alten  Stamme 
des  Kadmos,  saget  an,  was  sitzt  ihr  hier, 
des  Ölzweigs  hilfeheischend  Zeichen  haltend? 
Rings  ziehen  Weihrauchdüfte  durch  die  Stadt, 

6  rings  hallt  es  von  Gestöhn  und  Bittgesängen. 
Das  wollt'  ich  nicht  aus  fremdem  Botenmund 
vernehmen,  selbst  kommt  Oedipus  zu  euch, 
vor  dessen  Majestät  sich  jeder  beugt. 
Sprich,   Greis,   denn  schicklich  führest  du  das  Wort, 

10  was  treibt  euch  zu  dem  Bittgang?     Fürchtet  ihr 
Zukünft'ges,  oder  schreckt  euch  Gegenwärt'ges? 
Was  es  auch  sei,  ihr  könnt  euch  meines  Beistands 
getrösten;  ganz  gefühllos  müfst'  ich  sein, 
Nvenn  dieses  Schauspiel  mich  nicht  rühren  wollte. 
Der  angeredete  Priester. 

15  Du  siehst  uns,  Oedipus,  mein  Landesherr, 
an  den  Altären  deines  Hauses  sitzen, 
unflügge  Jugend  und  gebeugtes  Alter, 

2* 


20 

wir  Priester,  ich  des  Zeus,  und  Knaben  jene, 
erkoren  zu  dem  Bittgang.     Auf  den  Märkten, 

20  vor  beiden  Pallastempeln  und  an  Phoibos' 
Aschenaltare  drängt  sich  hilfeflehend 
das  andre  Volk.     Denn  wie  du  selber  siehst, 
mit  allzuhohen  Wogen  schlägt  das  Unheil 
zusammen  über  unsrer  Stadt;  das  Haupt 
vermag  sie  nicht  mehr  aus  dem  blut'gen  Schwalle 
zu  heben,  der  sie  in  den  Abgrund  zieht. 

25  Sie  stirbt  dahin,  des  Feldes  Früchte  faulen, 
sie  stirbt  dahin,  das  Vieh  der  Herden  fällt, 
der  Frauen  Wehen  bleiben  ohne  Frucht. 
Pest  ist  im  Land.     Der  fürchterliche  Gott 
mit  seinen  Fieberpfeilen  quält  das  Volk. 
Da  wird  das  Haus  des  Kadmosstarames  leer, 
und  unter  Seufzern,  unter  Grabgesängen 

30  bevölkert  sich  das  schwarze  Totenreich. 
Für  göttergleich  erachten  wir  dich  nicht, 
die  wir  hier  sitzen,  ich  und  diese  Knaben, 
doch  für  der  Männer  ersten  unbedingt, 
gewachsen  jeder  Lage,  wie  das  Leben 
sie  mit  sich  bringt,  wie  Götterzorn  sie  schafft. 

35  Du  hast  die  Stadt  von  dem  Tribut  erlöst, 
den  wir  der  Sphinx  für  ihre  Rätsel  brachten, 
und  dazu  hatten  wir  dich  nichts  gelehrt, 
dir  keinen  Rat  gegeben;  Götterbeistand 
gab  dir  die  Kraft  zum  Sieg.    So  sagt  und  glaubt  man. 

40  So  kommen  wir  denn  alle,  Oedipus, 
und  flehn  dich  an,  wie  alle  wir  zu  dir 
emporschau'n  als  dem  grofsen  Manne:  find'  uns 
ein  Rettungsmittel.     Mag  es  dir  ein  Gott, 
mag  irgendwer  dir's  eingegeben  haben; 
denn  auch  der  Rat,  der  ihm  von  aufsen  kommt, 

45  pflegt  nur  dem  klugen  Manne  zu  gedeihn. 
Auf,  mächtigster  der  Menschen,  richte  Theben 


21 


wieder  empor;  auf,  und  bedenke  dies: 
unsern  Erlöser  nennen  wir  dich  jetzt, 
weil  wir  dich  damals  hilfsbereit  erfanden, 
0  dafs  es  nie  von  deiner  Herrschaft  heifse, 

50  nach  der  Erhebung  brachte  sie  den  Fall. 
Befestige  des  Landes  Heil,  bewähre 
dich  als  denselben  heut,  der  unser  Glück 
einst  unter  günst'gen  Zeichen  gründete. 
Denn  willst  du  König  sein,  wie  du  es  bist, 

55  brauchst  du  zu  deinem  Ruhm  des  Volkes  Blüte. 
Wenn  die  Bemannung  fehlt,  was  ist  ein  Schiff, 
was  eine  Festung  ohne  Krieger  wert? 

Oedipus. 
Ihr  armen  Kinder,  eu'r  Verlangen  ist 
bekannt,  nur  zu  bekannt  mir.    Ja,  ich  weifs, 

60  ihr  leidet  alle,  doch  in  all  den  Leiden 
ist  keiner  doch,  der  litte  ?o  wie  ich. 
Denn  eure  Schmerzen  treffen  nur  den  einen, 
den  einzelnen,  für  sich  und  keinen  andern. 
Doch  meine  Brust  härmt  um  das  Vaterland, 
um  mich,  um  dich  sich  gleichermafsen  ab. 

65  So  weckt  ihr  denn  auch  keinen  Schlafenden 
aus  seiner  Trägheit,  nein,  ihr  könnt  mir  glauben, 
schon  manche  Thräne  weint'  ich,  manchen  Weg 
bin  ich  gegangen  in  der  Sorgen  Irrsal, 
und  was  ich  sorgsam  sinnend  ausgefunden 
als  einz'ges  Mittel  hab'  ich  euch  bereitet: 

70  ich  habe  Kreon,  des  Menoikeus  Sohn, 
den  Bruder  meiner  Gattin,  ausgesandt, 
von  Delphis  zukunftskund'gem  Sitze  Weisung 
zu  holen,  wie,  mit  welchem  Wort  und  Werke, 
ich  Theben  retten  könnte.     Beinah  sorg'  ich 
mich  schon  um  ihn,  wenn  ich  die  Tage  zähle; 

75  kaum  glaublich  ist's,  dafs  er  sich  so  verspätet. 
Indes,  sobald  er  da  ist,  müfst'  ich  ja 


22 


ein  Schurke  sein,  wollt'  ich  nicht  alles  thun, 
wie  es  Apollons  Offenbarung  fordert. 

Priester. 
Das  trifft  sich  gut;  just  wo  du  davon  redest, 
wird  mir  gemeldet,  dafs  sich  Kreon  naht. 
Oedipus. 
80  Heiland  Apollon,  dafs  er  uns  ein  Glück 
mitbringe,  leuchtend,  wie  sein  Auge  strahlt. 

Priester. 
Wohl  mufs  er  Freude  bringen,  sonst  bekränzte 
der  früchteschwere  Lorbeer  nicht  sein  Haupt. 

Oedipus. 
Bald  werden  wir*s  erfahren;  meine  Stimme 
85  erreicht  ihn  schon.     Nun,  lieber  Schwager  Kreon,* 
was  bringst  du  von  Apollon  für  Bescheid? 
Kreon, 
der  inziolsclien  von  der  Seite  herangekommen  ist. 
Guten,  denn  auch  das  Schwere  nenn'  ich  gut, 
wofern  nur  möglich  ist  es  zu  erreichen. 

Oedipus. 
Was  ist  des  Gottes  Antwort?     Deine  Rede 
90  erweckt  so  wenig  Zuversicht  als  Furcht. 
Kreon. 
Wenn  du's  in  diesem  Kreis  zu  hören  wünschest  — 
ich  bin  bereit,  doch  auch  hinein  zu  gehn. 

Oedipus. 
Sprich  nur  vor  allen.     Meine  Sorge  gilt 
viel  mehr  dem  Volk  als  meinem  eignen  Leben 
Kreon. 
93  So  künd'  ich  denn  des  Gottes  Wort.     Apollons 
Befehl  ist  deutlich.     Eine  Blutschuld  heifst 
der  Herr  uns  sühnen  und  nicht  länger  mehr 
im  Lande  dulden,  welches  sie  verpestet. 

Oedipus. 
Gieb  mir  das  Nähere  au.     Was  ist  die  Sühne? 


23 


Kreon. 
100  Verbannung  oder  Blut  um  Blut;  denn  Thebens 
Bedrängnis  sei  die  Folge  jenes  Mordes. 

Oedipus. 
Wer  ist  es,  dessen  Tod  der  Gott  bezeichnet? 

Kreon. 
Eh'  du  den  Thron  von  Theben,  Oedipus, 
bestiegst,  war  unser  König  Laios. 
Oedipus. 
105  Ich  weifs;  ich  hab's  gehört;  ich  sah  ihn  nie. 
Kreon. 
Den  Tod  des  Laios  an  seinen  Mördern 
zu  rächen  ist  der  deutliche  Befehl. 

Oedipus. 
Wo  sind  sie?    Wo  vermag  man  sie  zu  finden? 
VerschoU'ner  Thaten  Spur  verliert  sich  leicht. 
Kreon. 
110  Sie  sollen  hier  sein.     Was  Nachlässigkeit 
im  Dunkel  liefs,  entdeckt  der  Eifer  bald. 

Oedipus. 
Ward  Laios  in  seinem  Haus  ermordet? 
auswärts?  in  unserm  oder  fremdem  Lande? 

Kreon. 
Er  hatte  zum  Orakel  fahren  wollen 
115  und  ist  von  dieser  Fahrt  nicht  heimgekehrt. 
Oedipus. 
Und  fehlt  euch  jedes  Zeugnis?    Kehrte  keiner 
von  dem  Gefolge  heim  und  brachte  Meldung? 

Kreon. 
Sie  fielen  mit;  ein  Einziger  entfloh, 
der  auch  nicht  mehr  als  eins  zu  sagen  wufste. 
Oedipus. 
120  Was  war  es?     Schon  ein  schwacher  Anhaltspunkt 
genügt,  die  Untersuchung  weit  zu  führen. 


24 


Kreon. 

Es  wären  Räuber,  die  ihn  überfielen, 

nicht  einer,  sondern  überleg'ne  Zahl. 
Oedipus. 

Wie?    Räuber  hätten  das  gewagt?   Doch  nur, 
125  wenn  sie  von  Theben  aus  gedungen  waren. 
Kreon. 

Wahrscheinlich.     Doch  kein  Rächer  seines  Blutes 

erstand  dem  Laios  nach  solchem  Falle. 
Oedipus. 

An  eurem  König  ward  der  Mord  verübt: 

was  könnt'  euch  an  der  Untersuchung  hindern? 
Kreon. 
130  Die  Sphinx  mit  ihren  Rätseln.     Vor  der  Not 

des  Augenblicks  vergafs  man  alles  andre. 
Oedipus. 

Gut  denn,  ich  hole  die  Versäumnis  nach, 

ich  werd'  es  finden.     Hat  der  Gott,  hast  du 

des  Toten  dich  gebührlich  angenommen, 
136  so  werdet  ihr  in  mir,  wie  sich  gebührt, 

den  Helfer  finden,  der  für  diese  Stadt 

und  für  Apollon  einzutreten  weifs. 

Geschieht  es  doch  nicht  einem  fern  Verwandten, 

mir  selbst  geschieht's  zu  Liebe,  wenn  die  Blutschuld 
140  ich  löse,  denn  wer  Laios  erschlug, 

hebt  bald  auch  wider  mich  die  Mörderhand. 

So  treibt  mich  eigner  Vorteil,  ihm  zu  helfen. 

Auf,  schleunigst  auf,  ihr  Kinder,  nehmt  die  Zweige 

von  den  Altären  fort,  des  Bittgangs  Zeugen, 

und  gehe  jemand,  die  Thebaner  her 
145  zur  Volksversammlung  zu  bescheiden.     Alles 

zu  thun  bin  ich  bereit,  sei  es  zum  Heile, 

sei  es  zum  Untergang;  wir  folgen  Phoibos. 
Priester. 

Ja,  stehn  wir   auf,  ihr  Kinder.    Was  der  König 


25 

verspricht,  ist  die  Erfüllung  unsrer  Bitte. 

ApoUon  aber,  der  den  Spruch  gesendet, 
150  sei  hilfreich  und  erlös'  uns  von  der  Pest. 
Die  Bittgesandtschaft  zieht  ab;   auch  Kreon  und  seine  Begleiter; 
nur  Oedipus  bleibt  vor  dem  Schlosse  stehen  in  Erioartung  der  be- 
fohlenen Versammlung  des  Volkes. 

Der  Chor, 
15  Greise^  die  Vertreter  des  Volkes,  zieht  ein. 
Lieblich  tönet  der  Spruch  von  Delphis  goldenen  Hallen 

zu  meinem  stolzen  Theben  her. 
Furchtsam  schlägt  mir  das  Herz  und  bebt  in  banger 

Erwartung 
um  dich,  Phoibos,  delischer  Heiland. 
155  Forderst  Sühne  du  gleich, 
oder  im  Wechsel  der  Jahre 
wiederkehrende  Zahlung? 

Künd'  es,  himmlischer  Spruch,  du  Sohn  der  güldenen 

Hoffnung. 

Dir  mein  erstes  Gebet,  Zeus'  himmlische  Tochter  Athena, 
160  und  deiner  Schwester  Artemis, 

die  am  Rande  des  Marktes  als  Landbeschützerin  thronet, 

und  dir,  Fernhintrefier  ApoUon. 

Ihr  drei  Helfer  der  Not, 

jüngst  als  über  dem  Volke 

schon  die  Flamme  des  Todes 
165  aufschlug,  triebt  ihr  sie  fort:  erscheinet,  rettet  auch  beute. 

Ach,  die  Leiden,  die  wir  dulden, 

wer  zählt  sie? 
Seuche  wütet  im  Volke, 
170  Wehr  weifs  niemand  und  Waffen 
wider  die  Pest. 
Früchte  des  Feldes  wollen  nicht  reifen, 


26 


Wehen  nicht  lösen  der  Kreifsenden  Bürde, 
wandernder  Vögel  Zügen  vergleichbar, 
175  stärker  als  wilden  Feuers  Gewalt, 

drängen  sich  Scharen  von  Sterbenden  rings  auf  dem 

dämmernden  Wege 
zum  abendlichen  Hadesstrand. 

180  Ach  die  Schar,  die  so  dahinstirbt, 
wer  zählt  sie? 

Unbestattet  am  Boden 

liegen  die  Leichen,  sie  tragen 

weiter  den  Tod. 

Flehende  Reiser  erheben  am  Altar 

Braut  und  Greisin,  seufzen  um  Rettung. 
185  Bittende  Lieder  erschallen,  dazwischen 

gellender  Wehruf,  dumpfes  Gestöhn. 

Drum,  Zeus'  goldene  Tochter  Athena,  lafs  uns  erblicken 
der  Rettung  holdes  Angesicht. 

190  Ares,  nicht  der  erzbewehrte,  Ares  mit  der  lohen  Flamme 
gehet  um;   es  weckt  sein  Kommen  Wehgeschrei  und 

Totenklage, 
ünserm  Land  den  Rücken  kehrend, 
fahr'  er  hin,       tief  zum  Meeresgrunde, 

i9ö  wo  das  Schlofs      Amphitrites  raget, 
fahr'  er  hin,      fern  zum  Thrakerstrande, 
wo  die  See      brandend  scheucht  den  Schiffer. 
Sonst  ist's  aus;  der  Morgen 
rafft  dahin,      was  die  Nacht  verschonte. 

200  Vater  Zeus,       Flammenkraft  der  Blitze 
ruht  in  deiner  Hand:  des  Pestgotts  Feuer 
bänd'ge  du  mit  deinem  Donnerkeil. 

Von  der  goldgeflocht'nen  Sehne  schick',  Apollon,  deine 

Pfeile; 
205  ihren  Schutz,  der  niebezwungnen  Überwinder  alles  Bösen, 


27 


mögest  du  auch  uns  gewähren. 

Artemis,       komm  im  Feuerscheine, 

wie  du  fährst      über  Berg'  und  Wälder. 

Und  auch  dich      ruf  ich  nach  der  Heimat, 

210  der  im  Schwärm      rasender  Mänaden 
zieht  in  sel'gem  Taumel; 
feuchter  Glanz       schimmert  ihm  im  Auge, 
bunte  Binden  bänd'gen  seine  Locken: 
flamme,  Bakchos,  mit  der  Fichtenfackel 

215  nieder  ihn,  den  gottverhafsten  Gott. 

Oedipus. 
Ihr  bittet;  was  ihr  bittet,  kann  euch  werden: 
die  Pest  wird  weichen,  so  ihr  meinen  Worten 
Gehör,  ApoUon  eure  Dienste  leiht. 
Mir  selber,  der  ich  sie  verkünd',  ist  fremd 

220  die  Kunde,  fremd  die  That,  auf  die  sie  zielt; 
ich  würde  sonst  nicht,  jedes  Anhalts  bar, 
von  ferne  nur  danach  zu  spüren  brauchen. 
So  aber,  wo  ich  später  erst  als  Bürger 
in  eure  Reilien  eingetreten  bin, 

225  red'  ich  zu  euch,  zu  Thebens  ganzem  Volke. 
Wer  mir  darüber  Auskunft  geben  kann, 
von  wem  der  Mord  an  Laios,  dem  Sohne 
des  Labdakos,  verübt  ist,  soll  es  melden, 
und  falls  ihn  Furcht  zurückhält,  weil  er  selber 
Anklage  wider  sich  erheben  müfste  — 
nun,  Leides  wird  ihm  weiter  nichts  begegnen, 
die  Stadt  wird  er  verlassen,  ungekränkt. 

230  So  aber  als  Anstifter  oder  Thäter 
jemand  mir  einen  andern  nennen  kann, 
so  hehl'  er's  nicht.     Ich  zahl'  ihm  seinen  Lohn, 
und  meiner  weit'ren  Huld  sei  er  gewärtig. 
Hingegen,  wenn  ihr  schweigt,  wenn  mein  Befehl 
aus  Furcht  für  eignes  oder  fremdes  Wohl 


28 


mifsachtet  wird:  vernehmt  aus  meinem  Munde, 

236  was  ich  für  diesen  Fall  zu  thun  beschlofs. 
Der  Mörder,  wer's  auch  sein  mag,  ist  geächtet. 
So  weit,  wie  meine  Macht  und  Herrschaft  reicht, 
darf  niemand  Obdach  ihm  noch  Zuspruch  gönnen, 
noch  dulden  ihn  im  Kreis,  den  ihr  entsühnt 

240  mit  des  Altares  Wasser,  wenn  den  Göttern 
mit  Opfern  ihr  und  mit  Gebeten  naht. 
Ein  jeder  stofse  fort  ihn  aus  dem  Hause, 
denn  diese  Blutschuld  ist  der  Grund  der  Pest, 
wie  mir  von  seinem  pythischen  Orakel 
ApoUon  es  soeben  kundgethan. 
Das  ist  der  Beistand,  den  ich  selbst  dem  Gotte 

215  und  dem  erschlagnen  Manne  leisten  kann. 
Und  Fluch  dem  Thäter,  der  im  Dunkel  trotzt, 
mag  es  nun  einer,  mögen's  viele  sein. 
Im  Elend  soll  er  sterben  und  verderben. 
Und  gleicher  Fluch,  wie  ich  ihn  über  jenen 
soeben  aussprach,  soll  mich  selber  treffen, 

250  duld'  ich  ihn  wissentlich  an  meinem  Herde. 
Und  euch  verpflicht'  ich  drauf,  um  meinetwillen, 
um  Phoibos  willen,  um  des  Landes  willen, 
das  so  darniederliegt  in  Gram  und  Elend, 
air  dies,  wie  ich  es  aussprach,  zu  erfüllen. 

255  Denn  war'  es  auch  nicht  gottgebotne  Pflicht, 
ilir  hättet  gleichwohl  nicht  so  ungesühnt 
die  Blutschuld  lassen,  hättet  suchen  sollen, 
wo  euer  erster  Mann,  wo  euer  König 
erschlagen  war.     Und  jetzt,  da  ich  den  Thron 
besitze,  den  er  früher  eingenommen, 

Ä60  da  ich  das  Bette  seiner  Frau  erhalten, 
und  hätte  seinen  Samen  nicht  das  Schicksal 
vernichtet,  ihm  so  nahe  stehen  würde, 
dafs  unsre  Kinder  sich  Geschwister  wären  — 
und  jetzt,  da  traf  das  Unglück  auch  sein  Leben. 


29 


Darum  will  ich,  als  wär's  mein  eigner  Vater 

265  dafür  eintreten  bis  zum  äufsersten, 

den  zu  erreichen,  der  sein  Blut  vergofs, 
des  Labdakiden,  der  von  Polydoros, 
von  Kadmos,  von  Agenor  selber  stammt. 
Und  wer  nicht  thut,  wie  ich  befahl,  den  mögen 
die  Götter  strafen,  dafs  der  Erde  Schofs 

270  ihm  keine  Frucht,  dafs  seines  Weibes  Schofs 
kein  Kind  ihm  schenke,  dafs  die  Pest  ihn  treffe, 
die  jetzt  uns  heimsucht,  oder  schlimm're  noch. 
Euch  aber  und  das  ganze  Volk  von  Theben, 
dem  mein  Befehl  genehm  ist,  mögen  gnädig 
die  Götter  all'  und  Dike,  unsrer  Rache 

275  Genossin,  immerdar  zum  Heil  geleiten. 

Chorführer. 
Wie  es  dein  Bannfluch  fordert,  will  ich  reden. 
Wir  sind  die  Thäter  nicht,  wir  können  auch 
nicht  sagen,  wer  sie  sind;  das  Rätsel  mufste 
Apollon  lösen,  wer  der  Mörder  wäre. 

Oedipus. 
Ganz  recht,  nur  einem  Gotte,  was  er  selbst 
280  nicht  will,  abzwingen  —  welcher  Mensch  vermag's? 
Chorführer. 
Ein  zweites  möcht'  ich  sagen,  so  ich  darf. 

Oedipus. 
Ein  drittes  auch,  versäum'  es  nicht  zu  künden. 

Chorführer. 
Teiresias,  dem  Seherfürsten,  wird 
285  fast  alles  von  Apollon  offenbart: 

Gewifsheit  würd'  uns,  wenn  man  ihn  befragte. 

Oedipus. 
0,  keinesweges  hab'  ich's  unterlassen. 
Auf  Kreons  Rat  hab'  ich  zwei  Boten  schon 
nach  ihm  geschickt.  Längst  wundert  mich  sein  Säumen. 


30 


Chorführer. 
290  Das  andre  sind  wohl  alte  leere  Reden. 
Oedipus. 
Was  ist's?    Ich  wünsche  jedes  Wort  zu  prüfen. 

Chorführer. 
Man  hat  erzählt,  dafs  Wandrer  ihn  erschlugen. 

Oedipus. 
Ich  hab's  gehört.     Der's  sah  ist  nicht  zu  sehen. 

Chorführer. 
Nun,  wenn  er  noch  für  Furcht  empfänglich  ist, 
295  so  wird  er  deinem  schweren  Fluch  nicht  trotzen. 
Oedipus. 
Wer  solche  That  gewagt,  weicht  keinen  Worten. 

Chorführer. 
Es  lebt,  der  ihn  entlarvt:  da  führen  sie 
den  Seher  her,  den  gottbegnadeten, 
den  einz'gen,  dem  die  Wahrheit  eingeboren. 

Teiresias, 

ein  blinder,  hochbetagter  Greis,   wird  von  einem  Knaben 

herangeführt. 

Oedipus. 

300  Was  Menschenwitz  erkennt,  was  ihm  verschlossen, 
die  Wunder  all'  im  Himmel  und  auf  Erden, 
du  schaltest  frei  damit,  Teiresias. 
So  ist  dir  auch,  wenngleich  dein  leiblich  Auge 
sie  nicht  erblickt,  die  Seuche  nicht  verborgen, 
die  unser  Land  verhert.     Da  finden  wir 
Rettung  und  Heil  in  dir  allein,  mein  Fürst. 

305  Auch  hast  du  von  den  Boten  wohl  gehört, 
dafs  wir  nach  Delphi  schickten,  und  Apollon 
Befreiung  von  der  Pest  nur  dann  verheifst, 
wenn  wir  die  Mörder  Laios'  entdecken 
und,  sei's  mit  Tod,  sei's  mit  Verbannung,  strafen. 

310  So  gönn'  uns  denn  die  Hilfe  deiner  Kunst 


31 

der  Vogelschau  und  all'  der  andern  Wege, 
durch  die  der  Seher  ins  Verborgne  blickt, 
und  rette  Theben,  rette  dich  und  mich, 
erlös'  uns  von  der  Blutschuld  Fluch:  in  dir 
liegt  unser  einzig  Heil,  Teiresias, 
und  für  den  Mann  ist  ja  das  schönste  Streben, 
316  hilfreich  zu  sein,  wo  er,  und  wie  er  kann. 

Teiresias. 
Ach,  schlimm  ist  weise  sein,  wenn  unsre  Weisheit 
niemandem  frommt.     Dafs  ich  das  heut  vergafs  — 
ich  wufst'  es  ja  —  sonst  war'  ich  nicht  gekommen. 

Oedipus. 
Mifsmutig  seh'  ich  dich:  weshalb,  mein  Fürst? 

Teiresias. 
320  Lafs'  mich  nach  Haus,  so  wirst  du  dein  Geschick 
und  meines  ich  am  leichtesten  ertragen. 

Oedipus. 
Nicht  recht  noch  menschlich  war'  es,  wolltest  du 
den  Spruch  dem  Vaterlande  vorenthalten. 

Teiresias. 

Ich  sehe  ja,  dafs  dir  dein  Wort  zum  Heile 

325  auch  nicht  gereicht.    Dafs  mir  das  nicht  begegne  — 

Oedipus. 

Beim  Himmel,  nein,  verhehl'  es,  wenn  du's  weifst, 

uns  nicht.     Ganz  Theben  liegt  zu  deinen  Füfsen. 

Teiresias. 
Ganz  Theben  weifs  es  ja  auch  nicht.     Ich  sage 
nichts  weiter,  dir  dein  Unheil  zu  ersparen. 
Oedipus. 
330  Wie?     Wie,  du  weifst  es,  und  du  willst  nicht  reden, 
willst  mich  verraten  und  die  Stadt  verderben? 

Teiresias. 
Ich  thue  weder  dir  noch  mir  zu  nah. 
Was  fragst  du  noch;  von  mir  erfährst  du's  nicht. 


32 

Oedipus. 
Nichtswürdigster  —  denn  eines  Felsens  Ruhe 
835  kannst  du  empören  —  nein?  du  sagst  es  nicht? 
du  bleibst  so  kalt  und  starr  und  unzugänglich? 

Teiresias. 
Mein  trotzig  Weigern  schiltst  du;  dafs  du  selber 
nicht  minder  trotzig  forderst,  merkst  du  nicht. 

Oedipus. 
Wer  kann  bei  solchen  Worten  ruhig  bleiben, 
340  wenn  er  dich  so  dein  Land  verachten  sieht? 
Teiresias. 
Es  kommt  von  selbst,    auch  wenn  ich's  schweigend 

berge. 
Oedipus. 
Wenn  es  doch  kommt,  so  darfst  du  es  auch  sagen. 

Teiresias. 
Ich  schweige:  du  magst  meinethalben  wüten, 
so  toll,  wie  deiner  Leidenschaft  beliebt. 
Oedipus. 
345  Nun  wohl,  so  spreche  meine  Wut  denn  aus, 
was  ich  durchschaue.     Merke  dir,  ich  glaube, 
du  hast  die  That  geplant  und  auch  gethan, 
nur  nicht  den  Streich  geführt,  und  wärst  du  sehend, 
so  würd'  ich  dich  allein  des  Mordes  zeihen. 
Teiresias. 
350  Wahrhaftig?    Die  Befolgung  des  Befehles, 
den  du  erlassen  hast,  heisch'  ich  von  dir. 
Verwehrt  ist  dir  von  Stund'  an,  mich  und  diese 
Thebaner  anzureden:   der  Verfehmte, 
des  Blutschuld  auf  dem  Lande  liegt,  bist  du. 

Oedipus. 

Damit  willst  du  mir  kommen?  schämst  dich  nicht 

356  einmal?  als  ob  du  das  mir  bieten  dürftest, 

Teiresias. 

Ich  darfs;  der  Wahrheit  Macht  ist  stark  in  mir. 


33 

Oedipus. 
Wo  weifst  du's  her?  doch  nicht  von  deiner  Kunst? 

Teiresias. 
Von  dir;  du  hast  zum  Reden  mich  gezwungen. 

Oedipus  (höhnisch). 
Wie  war  es?  sprich  noch  einmal,  deutlicher. 

Teiresias. 
Hast  du  mich  eben  nicht  genug  verstanden? 
360  Zum  Reden  soll  ich  mich  verleiten  lassen. 
Oedipus. 
Ich  bin  mir  noch  nicht  klar.     Sprich  noch  einmal. 

Teiresias. 
Ich  sage,  du  hast  Laios  erschlagen. 

Oe  dipus. 
Zweimal  die  Frechheit;  nun,  du  sollst  es  büfsen. 

Teiresias. 
Willst  du  noch  mehr?  du  kannst  noch  wilder  werden. 
Oedipus. 
365  So  viel  du  magst;  es  wird  ja  doch  Geschwätz. 
Teiresias. 
Du  ahnst  den  Fluchbund  nicht,  ahnst  nicht  die  Schande, 
in  der  du  mit  dem  nächsten  Blute  lebst. 

Oedipus. 
Das  Lästern  wirst  du  noch  einmal  bereuen. 

Teiresias. 
Niemals,  so  lang  der  Thron  der  Wahrheit  steht. 
Oedipus. 
370  Er  steht,  nur  du,  du  bleibst  ihm  fern,  du  bist 
an  Aug'  und  Ohr,  an  Herz  und  Hirne  blind. 

Teiresias. 
Du  dauerst  mich;  du  willst  an  mir  verhöhnen, 
was  bald  an  dir  ganz  Theben  höhnen  wird. 

Oedipus. 
Die  Nacht,  das  ist  dein  Reich,  mir  thust  du  nichts, 
375  noch  einem,  der  das  Licht  der  Sonne  schaut. 

Qriech.  Tragödien.    I.  3 


34 

Teiresias. 
Nein,  denn  das  Schicksal  stürzt  dich  nicht  durch  mich. 
Da  reicht  Apollon  aus,  der  wird's  vollenden. 

Oedipus. 
Kamst  du  auf  diesen  Einfall  oder  Kreon? 

Teiresias. 
Nicht  Kreon  ist  dein  Untergang,  du  selbst. 
Oedipus. 

380  Wie  klammert  sich  doch  überall  der  Neid 
an  Reichtum,  Herrschaft,  jede  Fähigkeit, 
die  uns  erhebt  in  dieser  Welt  voll  Ehrgeiz, 
wenn  wegen  dieses  Throns,  den  mir  die  Stadt 
freiwillig,  ohne  Werben  übertrug, 
mich  Kreon  von  dem  Thron  zu  stürzen  trachtet, 

385  der  treue  Kreon,  der  bewährte  Freund. 
Und  das  voll  Hinterlist,  durch  eine  Falle, 
gestellt  von  solchem  Pfaffen,  solchem  Gaukler, 
solchem  verschmitzten  Ränkeschmied,  der  blind 
für  seine  Kunst  ist,  nur  für's  Geld  nicht  blind. 

390  Denn,  frag'  ich  dich,  wo  hast  du  wahr  gesagt? 
Warum  sprachst  du  der  Stadt  kein  Rettungswort, 
als  die  Unholdin  ihre  Rätsel  sang, 
und  freilich  Rätsel,  die  der  erste  beste 
nicht  lösen  konnte,  Seherkunst  allein! 

395  Da  zeigte  sich,  dafs  du  sie  nicht  besitzest, 
kein  Gott,  kein  Vogelflug  hat  dich's  gelehrt. 
Ich  mufste  kommen,  Oedipus,  der  blöde, 
kein  Vogel  lehrte  mich,  aus  eignem  Sinne 
fand  ich  die  Lösung  und  bezwang  die  Sphinx. 
Ich,  eben  der,  den  du  zu  stürzen  trachtest, 

400  in  Hoffnung,  Kreons  Throne  nah  zu  stehn. 
Ich  hoffe,  schlecht  bekommt  euch  diese  Weise, 
das  Land  zu  sühnen,  dir  und  deinem  Meister. 
Er  erhebt  dt)i  St(^  wider  Teiresias. 


35 

Dank's  deinem  Alter,  dafs  nicht  meine  Faust 
den  Hochverrat  dir  zu  Gemtite  führt. 

Chorführer. 

Mich  dünkt,  auch  deine  Worte,  Oedipus, 

406  wie  die  des  Sehers  sind  im  Zorn  gesprochen. 

Dessen  bedarf  es  nicht;  es  gilt  ja  einzig, 

die  Lösung  für  Apollons  Wort  zu  finden. 

Teiresias. 
Herrschst  du  auch  unumschränkt,  du  mufst  mir  doch 
darin  das  gleiche  Recht  einräumen,  Gleiches 
dir  zu  erwidern,  darin  bin  ich  frei. 

410  Apollons  Sklave  bin  ich  nur,  nicht  deiner, 

so  dafs  ich  Kreon  nicht  zum  Vormund  brauche. 
Du  hast  mir  meine  Blindheit  vorgeworfen; 
ich  sage  dir,  du  siehst  und  siehst  doch  nicht, 
in  welchem  Elend,  noch  bei  wem  du  wohnest. 

416  Weifst  du,  von  wem  du  stammst?  Du  ahnst  auch  nicht, 
dafs  du  der  Deinen  Feind  bist,  hier  wie  jenseits, 
dafs  dich  der  beiden  Eltern  Doppelfluch 
verfolgt  und  hetzt  und  aus  dem  Lande  jagt. 
Dann  deckt  dein  jetzt  so  helles  Auge  Nacht, 

420  dann  hallet  jede  Bucht,  hallt  jede  Klippe 
Kithairons  wieder  deinen  Weheruf, 
wenn  du  den  Unglücksport  der  Ehe  merkst, 
in  welche  dich  ein  günst'ger  Wind  verschlug. 
Und  all  das  Elend  ahnst  du  nicht,  das  du 

426  dir  selbst  und  deinen  Söhnen  gleich  bereitest. 
Nun  magst  du  meinen  Sehermund,  magst  Kreon 
beschimpfen  und  verlästern:  so  erbärmlich 
wird  nie  ein  Mensch  zu  Grunde  gehn  wie  du. 

Oedipus. 
Das  ist  zu  viel;  das  kann  ich  mir  von  ihm 
430  nicht  bieten  lassen.     In  den  Tod  mit  dir. 

Mir  aus  den  Augen,  rasch,  geh'  deines  Weges. 

3* 


36 

Teiresias. 
Du  riefst  mich  her,  sonst  war'  ich  nicht  gekommen. 

Oedipus. 
Ich  konnte  doch  nicht  wissen,  dafs  du  Unsinn 
vorbringen  würdest.     Schwerlich  hätt'  ich  sonst 
nach  meinem  Hause  dich  entbieten  lassen. 
Teiresias. 
436  Ich  bin  ein  Thor.    In  deinen  Augen,  ja. 
Den  Eltern,  die  dich  zeugten,  war  ich  weise. 

Oedipus. 
Wem?  Meinen  Eltern?    Bleib';  wer  zeugte  mich? 

Teiresias. 
Der  heut'ge  Tag  giebt  dir  Geburt  und  Grab. 

Oedipus. 
Mufst  du  denn  jedes  Wort  in  Rätsel  hüllen? 
Teiresias. 
440  Wer  löste  Rätsel  trefflicher  als  du. 
Oedipus. 
Ja,  spotte  nur,  darin  liegt  meine  Gröfse. 

Teiresias. 
Und  doch  ward  diese  Kunst  dein  Untergang. 

Oedipus. 
Sei's  drum.     So  rettet'  ich  mein  Vaterland. 

Teiresias. 
Dann  kann  ich  gehen.     Knabe,  führ'  mich  fort. 

Oedipus. 
Ja,  thu'  er  das.     Denn  deine  Gegenwart 
446  allein  ist  lästig.     Sind  wir  dich  erst  los, 

so  wirst  du  uns  nicht  weiter  Schmerzen  machen. 

Teiresias. 
Ich  gehe.    Doch  zuvor  will  ich  dir  sagen, 
weshalb  ich  herkam;  nicht  aus  Furcht  vor  dir, 
du  kannst  mir  nichts  anhaben.     Höre  denn. 
460  Der  Mann,  den  du  so  lange  suchst,  der  Mörder 
des  Laios,  den  du  verfolgst,  verfluchst. 


37 


der  Mann  ist  hier.     Er  gilt  für  eingewandert, 

doch  ist  ein  eingeborener  Thebaner. 

Bald  wird  ihm  offenbar  dies  Glück,  sein  Elend. 

Jetzt  sieht  sein  Auge  noch,  noch  ist  er  reich, 
455  bald  wird  er  mit  dem  Stab  den  Pfad  sich  tastend 

ein  blinder  Bettler  in  die  Fremde  ziehn. 

Bald  wird  es  offenbar,  dafs  er  zugleich 

Bruder  und  Vater  seiner  Kinder  ist, 

der  Frau,  die  ihn  geboren,  Sohn  und  Gatte, 
460  und  seines  Vaters  Witwenmann  und  Mörder. 

Geh,  überleg'  dir  das,  und  wenn  ich  log, 

dann  wirf  mir  vor,  dafs  ich  kein  Seher  sei. 
Teiresias  wird  von  dem  Knaben  hinausgeführt;  Oediptts  mit 
seinem  Gefolge  in  das  Haus. 

Chor. 

Wer  war  es? 

Wen  meint  der  zukunftskund'ge  Fels  von  Pytho? 
486  Wes  blut'ge  Faust  beging  die  ganz  verruchte  That? 

Beflügl'  er  seinen  Fufs  zur  Flucht 

geschwinder  als  das  schnellste  Rofs. 
470  Mit  Blitz  und  Brand  bewaffnet  stürmt 

Apollon  hinter  ihm,  verfolgen  ihn 

der  Hölle  grimme  Schergen  unentrinnbar. 

Es  flammte 

Befehl  vom  schnee'gen  Gipfel  des  Parnassos, 
475  der  jedermann  zur  Jagd  des  Unbekannten  ruft. 

Wohl  schweift  er  jetzt  im  wilden  Wald, 

in  Höhl'  und  Hag,  ein  toller  Stier. 

In  Einsamkeit  und  Elend  sucht 
480  sein  Fufs  vor  Delphis  Sprüchen  ein  Versteck: 

doch  sie  sind  um  ihn:  nie  erlahmt  ihr  Fittich. 

Und  wenn  auch  mit  schrecklichem  Dräuen 
der  weise  Prophet  mich  verwirret, 


38 

486  und  weifs  ich  in  schwebendem  Zweifel  mir  auch 

nicht  aus  und  nicht  ein, 

weifs  weder  zu  leugnen  noch  glauben: 

das  hört'  ich  doch  nimmer,  noch  hört'  ich  es  heot, 
490  dafs  Polybos'  Sohn  und  des  Labdakos  Stamm 

jemals  in  Fehde  gestanden. 

Was  giebt  mir  da  die  Gewähr, 

an  Oedipus'  Ehre,  die  jedermann  rühmt, 
495  zu  rütteln  und  Sühne  zu  nehmen 

für  Laios'  dunkelen  Mord? 

Und  wenn  auch  die  Götter  allwissend 

die  Thaten  der  Menschen  durchschauen: 
600  dafs  unter  den  Sterblichen  mehr  ein  Prophet 

verstünde  denn  ich, 

das  ist  keine  richtige  Sclrätzung. 

Des  einzelnen  Klugheit  und  Menschenverstand 
605  entscheidet.     Wie  sollt'  ich  vor  sichrem  Beweis 

verdammen?     Mit  eigenen  Augen 

sah  ich,  wie  er  stand  vor  der  Sphinx. 

Da  hat  er  Verstand,  hat  er  Liebe  bewährt 
610  zu  Theben:  ich  halt'  ihm  die  Treue, 

mir  bleibet  er  edel  und  grofs. 

Kreon 
kommt  von  der  Seite. 

Mitbürger,  unser  König  Oedipus 

hat  arger  Frevel  heftig  mich  beschuldigt. 

Das  hat  man  mir  gesagt,  so  komm'  ich  her. 

616  Ich  kann  es  nicht  ertragen.    Wenn  er  glaubt, 
ihm  sei  von  mir  in  dieser  schweren  Zeit 
ein  Leid  getlian  in  Worten  oder  Werken, 
so  mag  ich  keine  Stunde  länger  leben 
und  diesen  Schimpf  ertragen.     Nicht  den  Schaden 

620  furcht'  ich  so  sehr,  es  greift  mir  an  die  Ehre, 


39 

wenn  ihr,  wenn  meine  Freunde,  wenn  das  Land 
als  Hochverräter  mich  betrachten  sollen. 

Chorführer. 
Erhoben  ward  der  Vorwurf,  doch  vielleicht 
im  Drang  des  Jähzorns  mehr  als  mit  Bedacht. 
Kreon. 
ß25  Hat  es  geheifsen,  dafs  auf  mein  Betreiben 
der  Seher  seinen  Spruch  erlogen  habe? 

Chorführer. 
Es  hiefs  so,  doch  vielleicht  in  anderm  Sinne. 

Kreon. 
Mit  fester  Stimme  laut  und  unverblümt 
ist  die  Beschuldigung  erhoben  worden? 
Chorführer. 
630  Ich  weifs  nicht.    Was  der  König  thut,  dafür 
hab'  ich  kein  Auge.     Doch  da  kommt  er  selbst. 
Oedipus 
eilig  aus  dem  Palaste. 
Was  willst  du,  Mensch,  du  unterstehst  dich  noch, 
mit  frecher  Stirn  mir  vor  das  Haus  zu  kommen? 
Und  hast  auf  mich  den  Mordanschlag  gemacht, 
636  und  hast  mir  meine  Herrschaft  stehlen  wollen, 
und  beides  ist  entdeckt  und  liegt  am  Tage. 
Ich  bitte  dich,  hast  du  mich  für  so  dumm 
gehalten  oder  für  so  feige?    Sollte 
ich  nicht  die  Falle  merken,  die  du  stelltest? 
Wenn  ich  sie  merkte,  sollt'  ich  mich  nicht  wehren? 
640  War  nicht  dein  Unterfangen  eine  Dummheit, 
nach  einer  Krone  greifen  ohne  Geld 
und  Anhang?     Die  erreicht  nur,  wen  die  Macht 
des  Goldes  und  die  Gunst  des  Volkes  trägt. 

Kreon. 
Gieb  meiner  Gegenrede  gleichen  Raum. 
So  thut  man  das:  erst  hören,  dann  entscheiden. 


40 


Oedipus. 
546  Du  weifst  zu  reden.    Ich  weifs  nicht  zu  hören, 
auf  dich.    Ich  kenn'  als  Feind  dich  und  Verräter. 
Kreon. 
•    Vor  allem  höre,  wie  ich  das  erkläre. 
Oedipus. 
Vor  allem  sprich  mir  nicht  von  deiner  Unschuld. 

Kreon. 
Du  wähnst,  ein  unbelehrbar  starrer  Kopf 
650  sei  eine  Tugend;  darin  irrst  du  dich. 
Oedipus. 
Du  wähnest,  seinen  Schwager  zu  verraten 
sei  nicht  straffällig:  darin  irrst  du  dich. 

Kreon. 
Darin  geb'  ich  dir  Recht.     Nur  bitt'  ich,  mir 
zu  sagen,  was  ich  dir  zu  Leide  that. 
Oedipus. 
555  Den  hochehrwürd'gen  Seher  zu  befragen, 
hast  du  es  mir  geraten  oder  nicht? 

Kreon. 
Auch  jetzt  noch  wüfst'  ich  keinen  andern  Rat. 

Oedipus. 
Wie  lange  Zeit  ist's  her,  dafs  Laios  — 

Kreon. 
Dafs  Laios  —  ?   Wie  soll  ich  das  verstehen? 
Oedipus. 
660  Von  unbekannter  Hand  erschlagen  ward. 
Kreon. 
Das  liegt  schon  manches  lange  Jahr  zurück. 

Oedipus. 
War  damals  schon  Teiresias  im  Amte? 

Kreon. 
So  weise  war  er,  so  geehrt  wie  heut. 

Oedipus. 
Hat  meinen  Namen  damals  er  genannt? 


41 


Kreon. 
665  In  meiner  Gegenwart  mit  keinem  Worte. 
Oedipus. 
Ihr  habt  den  Mord  doch  aber  untersucht? 

Kreon. 
Das  thaten  wir,  gewifs,  doch  nichts  ergab  — 

Oedipus. 
So  war  die  Weisheit  damals  stumm;  wieso? 

Kreon. 
Ich  weifs  nicht,  und  in  solchem  Falle  schweig'  ich. 
Oedipus. 
670  Nun,  was  dich  selber  angeht,  wirst  du  wissen 
und  wirst  in  diesem  Fall  auch  reden  können. 

Kreon. 
Wenn  ich  es  weifs,  werd'  ich  es  nicht  verhehlen. 

Oedipus. 
Du  hast  es  ihm  gesteckt,  sonst  hätt'  er  mir 
den  Mord  des  Laios  nicht  zugeschoben. 

Kreon. 
Ob  er  das  sagt,  weifst  du;  jetzt  ist's  an  mir 
676  dich  zu  befragen,  wie  du  mich  befragtest. 
Oedipus. 
Thu's  nur:  als  Mörder  werd'  ich  nicht  erfunden. 

Kreon. 
Nun  also,  deine  Frau  ist  meine  Schwester. 

Oedipus. 
Thatsache,  die  ich  nicht  bestreiten  kann. 

Kreon. 
An  deiner  Herrschaft  hat  sie  gleichen  Anteil. 
Oedipus. 
580  Ein  jeder  Wunsch  wird  ihr  von  mir  erfüllt. 
Kreon. 
Und  ich,  als  dritter,  steh'  euch  beiden  gleich. 

Oedipus. 
Das  zeigt,  wie  treulos  du  die  Freundschaft  brichst. 


42 


Kreon. 
Im  Gegenteil,  du  mufst  dir  nur  die  Rechnung 
aufmachen.    .Erstens  überlege  dir, 

«85  ob  eine  Herrschaft  mit  beständ'ger  Furcht 
derjenigen  vorzuziehen  ist,  die  ruhig 
zu  schlafen  uns  erlaubt,  sofern  der  Inhalt 
von  beiden  gleich  ist.    Ich  begehre  minder 
den  Königsnamen  als  die  Königsmacht. 
Und  so  wird  jeder,  der  zu  rechnen  weifs. 

590  Jetzt  hab'  ich  alles  ohne  Furcht  durch  dich, 
und  war'  ich  König,  müfst'  ich  vieles  thun, 
was  mir  zuwider  ist.     Wie  sollte  mir 
das  Königtum  begehrenswerter  sein 
als  Macht  und  Einflufs  ohne  Last  und  Sorge? 
Noch  bin  ich  so  verblendet  nicht,  nach  Gütern 

596  zu  streben,  die  mir  keinen  Vorteil  bringen. 
Jetzt  beut  mir  jeder  Huldigung  und  Grufs, 
ein  jeder  kommt  zu  mir,  der  ein  Gesuch 
an  dich  hat,  denn  bei  mir  steht  die  Gewährung. 
Das  sollt'  ich  opfern  für  den  Königsthron? 

600  Unsinnig  handelt  kein  gesunder  Sinn. 
Nein,  der  Gedanke  hat  mich  nie  gelockt, 
und  niemand  würde  mich  dazu  verführen. 

Du  kannst  dich  überzeugen,  geh  nach  Delphi, 
frag'  nach,  ob  richtig  ich  den  Spruch  bestellte. 

605  Und  weiter,  wenn  du  findest,  dafs  ich  Ränke 
mit  dem  Propheten  spann,  so  sind  wir  einig, 
dann  töte  mich,  ich  stimme  ganz  wie  du. 
Doch  blofs  mit  unbewiesener  Behauptung 
darfst  du  mich  nicht  beschuld'gen.    Gleiches  Unrecht 

610  ist  es,  den  Ehrenmann  zum  Schurken  machen, 
wie  wenn  der  Schurke  gilt  als  Ehrenmann. 
Mit  einem  treuen  Freunde  giebt  der  Mensch 
sein  eignes  Leben  auf,  sein  teuerstes. 
Das  wirst  du  erst  allmählich  ganz  begreifen. 


43 

Des  Edlen  Wert  zu  schätzen  braucht  es  Jahre, 
61Ö  die  Nichtigkeit  durchschaut  der  erste  Tag. 

Chorführer. 
Ein  Jeder  mufs  von  der  Verteidigung 
befriedigt  sein,  der  gerne  sicher  geht. 
Ein  rasches  Urteil  strauchelt  nur  zu  leicht. 

Oedipus. 
Wenn  gegen  mich  Verrat  zu  raschem  Streiche 
ausholt,  mufs  ich  mich  rasch  zur  Wehre  setzen. 
620  Wenn  ich  bedachtsam  warten  will,  ist  bald 
sein  Spiel  gewonnen,  ich  hab'  nichts  erreicht. 

Kreon. 
Was  willst  du  denn?     Aus  Theben  mich  verbannen? 

Oedipus. 
Verbannen?    Keinesweges.     Sterben  sollst  du. 

Kreon. 
Gewifs.     Nur  erst  den  Nachweis  meiner  Tücke. 

Oedipus. 
626  Du  nimmst  mein  Wort  nicht  ernst,   du   willst  nicht 

folgen? 
Kreon. 
Du  siehst  nichts  mehr  vor  Wut. 

Oedipus. 

Mein  Wohl  genügend. 
Kreon. 
Du  mufst  auch  meins  bedenken. 

Oedipus. 

Deins?  Verbrecher. 
Kreon. 
Und  wenn  du  dich  versiehst  — 

Oedipus. 

Gehorcht  mufs  werden. 


44 

Kreon. 
630  Wahnsinn'gem  Herrscher  nicht. 
Oedipus. 

Der  Staat,  der  Staat! 
Kreon. 
Zum  Staat  gehör'  ich  auch,  nicht  du  allein. 

Chorführer. 
Ihr  Fürsten,  haltet  iime.     lokaste 
seh'  ich  zur  rechten  Stunde  dort  erscheinen. 
Legt  ihr  den  Hader  vor,  sie  wird  ihn  schlichten, 
lokaste, 

von  zwei  Dienerinnen  begleitet,  tritt  zwischen  sie, 
635  Wie  könnt  ihr  solchen  lauten  Zank  beginnen? 

Kommt  zu  euch.  Schämt  euch  doch,  die  Not  des  Landes 
mit  euren  eignen  Händeln  zu  vermehren. 
Komm  du  mit  mir,  geh'  auch  nach  Hause,  Kreon, 
Macht  nicht  aus  einer  Kleinigkeit  ein  Unglück. 

Kreon. 
Die  schwerste  Strafe,  Schwester,  will  dein  Gatte 
640  mir  auferlegen,  und  er  schwankt  nur  noch, 
ob  er  Verbannung  vorzieht  oder  Tod. 

Oedipus. 
So  ist's;  auf  einem  ruchlos  list'gen  Anschlag 
wider  mein  Leben  hab'  ich  ihn  ertappt. 

Kreon. 
Ich  will  verflucht  sein,  will  des  Lebens  nimmer 
646  froh  werden,  wenn  ich  das  geringste  that 
von  den  Verbrechen,  deren  du  mich  zeihst. 

lokaste. 
Um  aller  Götter  willen,  Oedipus, 
du  mufst  ihm  glauben.     Schon  der  Eid  genügt, 
und  ich,  wir  alle  hier  verbürgen  uns. 
Chor. 
660  Besinne  dich,  entschliefs'  dich,  Herr, 
gieb  unsern  Bitten  nach. 


45 

Oedipus. 
Was  ist's,  das  ich  gewähren  soll? 

Chor. 
Verteidigt  hatt'  er  sich  beredt, 
jetzt  macht  der  Eid  ihn  stark: 
du  mufst  dich  ihm  versöhnen. 
Oedipus. 
666  Du  weifst,  was  du  begehrest? 
Chor. 

Ja. 
Oedipus. 

Das  heifst? 
Chor. 
Einen  Freund,  der  so  hoch  sich  verschwor,  den  allein 
eine  schwanke  Vermutung  belastet,  den  sollst 
du  nicht  verwerfen,  verstofsen. 
Oedipus. 
So  wisse,  du  verlangst  damit  für  mich 
Verbannung  oder  Tod;  das  liegt  darin. 
Chor. 
660  Da  droben  die  Sonne,  die  Kön'gin  des  Himmels, 
die  ruf  ich  zum  Zeugen.     Wenn  solches  ich  sinne, 
so  will  ich  vergehen,  so  sei  ich  verworfen 
vor  Menschen  und  Göttern. 
665  Nur  frifst  mir  am  Herzen  die  Sorge: 
Wenn  eure  Verfeindung  hinzutritt, 
mein  Theben  übersteht  es  nicht. 
Oedipus. 
So  geh'  er.    Mag  es  mich  das  Leben  kosten, 
670  mag  es  in  Schanden  aus  dem  Land  mich  jagen, 
dein  Bitten  rührt  mich,  dir  thu  ich's  zu  Liebe, 
nicht  ihm;  ihm  folgt,  wo  er  auch  ist,  mein  Groll. 

Kreon. 
Du  giebst  im  Grolle  nach,  ich  seh'  dir's  an. 
Ist  erst  der  Zorn  verraucht,  so  kommt  die  Reue. 


46 


Es  ist  schon  recht,  dafs  solche  Sinnesart 
676  am  schwersten  an  sich  selbst  zu  tragen  hat. 
Oedip  US. 
Lafs  mich  in  Ruh'  und  geh. 
Kreon. 

Ich  werde  gehen, 
von  dir  verkannt,  vor  Theben  stets  derselbe. 

Kurze  Pause,  während  er  geht. 
Chor. 
Nun  Königin,  was  säumst  du  noch 
und  führst  ihn  nicht  ins  Haus? 
lokaste. 
68Q  Erst  mufs  ich  wissen,  was  geschah. 
Chor. 
Es  ward  auf  vages  Meinen  hin 
erhoben  ein  Verdacht. 
Da  wehrt  sich  auch  die  Unschuld. 

lokaste. 
Verdacht  von  beiden  Seiten? 
Chor. 
Ja. 
lokaste. 

Was  war's? 
Chor. 
0  rühre  nicht  weiter,  nicht  weiter  daran. 
685  Lafs'  ruhen  was  ruht,  wie  es  endlich  sich  gab. 
Du  weifst,  wie  Theben  schon  leidet. 

Oedipus. 
Seht  ihr,  das  kommt  heraus  bei  eurer  Weisheit, 
mich  gebt  ihr  preis,  und  lau  wird  euer  Eifer. 

Chor. 
Mein  König,  ich  hab'  es  dir  immer  versichert, 
690  als  blödsinnig  hätte  man  längst  mich  gezeichnet, 
unfähig  zu  jedem  vernünft'gen  Gedanken, 
wollt'  ich  dich  verleugnen. 


47 


Du  warst  es,  der  einst  aus  dem  Strudel 
696  mein  Theben  zum  Hafen  gesteuert: 

nur  find'  auch  heut  den  rechten  Kurs, 
lokaste. 
Lafs',  bitte,  mein  Gemahl,  auch  mich  den  Grund 
erfahren,  dafs  du  so  gewaltig  zürnest. 
Oedipus. 
700   Du  bist  mir  teurer  als  der  Rat  von  Theben, 
dir  will  ich  Kreons  Hinterlist  berichten. 

lokaste. 
Sprich,  was  berechtigt  dich  zu  diesem  Vorwurf? 

Oedipus. 
Er  sagt,  ich  hätte  Laios  erschlagen. 

lokaste. 
Aus  eigner  oder  fremder  Wissenschaft. 
Oedipus. 
705  Den  Seher  schiebt  er  vor,  den  niederträchtigen, 
den  eignen  Mund  hält  er  vorsorglich  rein. 

lokaste. 
Dann  überlafs'  dich  mir;  in  solcher  Sache 
kann  ich  dir  Ruhe  schaffen,  höre  nur, 
710  ich  gebe  dir  den  bündigsten  Beweis, 

dafs  Seherkraft  in  keinem  Menschen  wohnt. 
Dem  Laios  ward  einstmals  ein  Orakel, 
ich  will  nicht  sagen,  von  Apollon  selbst, 
doch  von  Apollons  Dienern.     Danach  sollte 
ihm  Tod  durch  einen  Sohn  beschieden  sein, 
der  ihm  aus  meinem  Schofs  erwachsen  würde. 
71Ö  Nun  haben  Laios,  wie  man  erzählt, 
an  einem  Kreuzweg  Räuber  umgebracht, 
und  seinen  Sohn  hat  er  am  dritten  Tage 
nach  der  Geburt  schon  mit  gebundnen  Füfsen 
durch  Sklavenhand  in  des  Gebirges  Öde 
720  aussetzen  lassen.    Also  hat  Apollon 


48 

den  Sohn  zum  Vatermörder  nicht  gemacht, 
noch  das  gefürchtete  Geschick,  den  Tod 
durch  Sohneshand,  dem  Laios  bereitet. 
So  etwas  achte  nicht:  was  uns  ein  Gott 
726  enthüllen  will,  das  sagt  er  deutlich  selber. 

Oedipus. 
Wie  mir  bei  deinen  Worten,  lokaste, 
der  Sinn  verstört,  das  Herz  erschüttert  wird. 

lokaste. 
Was  hat  dir  so  die  Sorge  wachgerufen? 

Oedipus. 
Irr'  ich  mich  nicht,  sprachst  du  von  einem  Kreuzweg, 
780  an  welchem  Laios  ermordet  sei. 

lokaste. 
So  sagte  man  und  sagt  man  wohl  noch  heute. 

Oedipus. 
Wo  liegt  der  Ort,  an  dem  die  That  geschah? 

lokaste. 
Im  Phokerlande,  wo  der  Weg  von  Daulis 
mit  dem  von  Delphi  her  zusammentrifft. 

Oedip  US. 
736  Wie  lange  Zeit  ist  seit  der  That  verstrichen? 

lokaste. 
Unmittelbar  bevor  du  Thebens  Thron 
bestiegst,  erhielten  wir  die  Todesnachricht. 

Oedipus. 
0  Zeus,  was  hast  du  über  mich  beschlossen. 

1 0  k  a  s  t  e. 
Was  ist  dabei  beängstigend,  mein  Gatte? 

Oedipus. 
740  Frag'  mich  noch  nicht.     Sag'  mir  von  Laios, 
wie  alt  er  war,  beschreibe  mir  sein  Äufsres. 

lokaste. 
Grofs,  auf  dem  Haupt  des  Alters  ersten  Schnee, 
im  Körperbau  nicht  sehr  von  dir  verschieden. 


49 

Oedipus. 
Weh  mir,  so  hab'  ich  erst  unwissentlich 
746  die  schwersten  Flüche   selbst  auf  raich  geschleudert. 

lokaste. 
Wie,  teurer  Herr?  Mich  bangt,  dich  so  zu  sehen. 

Oedipus. 
Ich  fürchte  sehr,  der  Seher  war  nicht  blind. 
Sag'  eines  noch,  dann  wird  es  sich  entscheiden. 

lokaste. 
Mich  bangt,  doch  frage   nur,  ich  steh  dir  Rede. 

Oedipus. 
7öo  Zog  Laios  mit  wenig  oder  vielen 
bewaffneten  Begleitern,  als  ein  Fürst? 

lokaste. 
Im  ganzen  fünf,  ein  Herold  unter  ihnen; 
ein  Wagen  nur,  auf  dem  der  König  fuhr. 

Oedipus. 
Ha,  damit  ist's  am  Tag.     Wer  hat  die  Kunde 
75Ö  euch  überbracht  und  so  die  That  erzählt? 

lokaste. 
Ein  Knecht,  der  einz'ge,  der  entronnen  war. 

Oedip  US. 
Befindet  er  sich  jetzt  in  unserm  Hause? 

lokaste. 
Das  nicht.     Als  er  bei  deiner  Rückkehr  dich 
als  Laios'  Nachfolger  traf,  da  bat 
760  er  flehentlich,  dafs  ich  ihn  auf  das  Land 
hinaus  und  zu  den  Herden  lassen  möchte, 
wo  selbst  sein  Auge  Theben  nicht  erreichte. 
Da  hab'  ich  ihn  entlassen.     Würdig  war  er, 
so  weit  ein  Sklav'  es  kann,  noch  höh'rer  Gunst. 

Oedipus. 
765  Dann  mufs  er  wieder  her,  so  schnell  als  möglich. 

1 0  k  a  s  t  e. 
Er  kommt;  allein  was  kann  dir  daran  liegen? 

Griech.  Tragödien.     I.  4 


50 


Oedipus. 

Ich  fürchte,  teures  Weib,  ich  habe  schon 
zu  viel  gesagt,  wozu  ich  sein  bedarf. 

lokaste. 
Er  wird  ja  kommen.     Jetzt  verdien'  auch  ich, 

770  dein  Ungemach  zu  kennen,  mein  Gemahl. 
Oedipus. 
Ich  werd'  es  dir  gewifs  nicht  vorenthalten, 
wo  auf  so  vieles  ich  gefafst  sein  mufs. 
Wer  hätte  näh'ren  Anspruch  auch,  zu  hören, 
wie  seltsam  mich  das  Schicksal  führt,  als  du. 
Der  König  von  Korinthos,  Polybos, 

776  und  Merope,  aus  dorischem  Geblüt, 

sind  meine  Eltern.     Unter  den  Korinthern 
hatt'  ich  den  ersten  Platz,  bis  mir  ein  Zufall 
begegnete,  der  mich  befremden  durfte, 
doch  hätt'  ich  ihn  so  ernst  nicht  nehmen  dürfen. 
Auf  einem  Gastmahl  warf  im  Rausche  mir 

780  ein  Zecher  vor,  ich  wäre  meinem  Vater 
untergeschoben.     Kaum  bemeistert'  ich 
den  Zorn  an  jenem  Abend;  Tags  darauf 
trug  ich  es  meinen  beiden  Eltern  vor. 
Sie  liefsen  die  Beleid'gung  schwer  den  Mann 
empfinden,  dem  das  Wort  entfallen  war. 

786  Das  that  mir  wohl  von  ihnen;  doch  die  Kränkung 
verwand  ich  nicht;  es  sprach  sich  weit  herum. 
So  zog  ich  hinter  meiner  Eltern  Rücken 
nach  Delphi.     Meiner  Frage  zwar  versagte 
der  Gott  die  Antwort,  doch  er  hatte  mir 

790  ein  andres  grauses  furchtbares  zu  sagen. 
Mir  sei  bestimmt  mit  meiner  eignen  Mutter 
ein  Menschenaugen  unerträgliches 
Geschlecht  zu.  zeugen  und  des  Vaters  Mörder 
zu  werden.     Als  ich  diesen  Spruch  vernahm, 
beschlofs  ich,  in  die  weite  Welt  zu  ziehn, 


51 

795  WO  nur  die  Sterne  mir  die  Richtung  zeigten, 
in  der  Korinthos  läge,  wo  ich  nie 
erfüllt  die  Unheilssprüche  sehen  könnte. 
Auf  meiner  Wand'rung  kam  ich  an  den  Platz, 
wo  jener  König  umkam,  wie  du  sagst. 

800  Und  da  —  ich  will  die  Wahrheit,  lokaste, 
dir  sagen,  als  ich  da  auf  jenen  Kreuzweg 
zugehe,  kommt  auf  einem  Wagen  mir 
ein  Herold  und  ein  Greis,  wie  du  ihn  schilderst, 
entgegen.     Aus  dem  Wege  wollen  mich 

805  der  Wagenlenker  und  der  Alte  treiben. 

Im  Zorn  schlag'  ich  den  Fuhrmann,   der  mich  stiefs, 
der  Alte  sieht  es,  wartet  ab,  bis  ich 
vorbei  am  Wagen  geh',  und  schlägt  die  Peitsche 
mir  mitten  über  meinen  Kopf.     Gebüfst 

810  hat  er's  mit  mehr  als  gleichem.    Schleunigst  sinkt  er, 
von  meinem  Stab  getroffen,  hintenüber 
und  rollt  vom  Wagen.     Und  die  andern  alle 
erschlag'  ich  auch.     Wenn  dieser  Unbekannte 
etwas  mit  Laios  zu  thun  hat,  dann 

815  ist  SO  unselig,  ist  so  gottverlassen 

kein  Mensch  wie  ich.    Kein  Bürger  und  kein  Fremder 
darf  Obdach  mir  gewähren,  mit  mir  reden; 
vom  Haus  mufs  er  mich  stofsen,  und  den  Fluch 

820  hab'  ich,  ich  selbst  auf  mich  herabbeschworen. 
Die  Gattin  des  Gemordeten  umarmen 
die  Mörderhände:  bin  ich  nicht  mit  Schande, 
nicht  ganz  mit  Fluch  behaftet?     Zieh'  ich  fort, 
in  die  Verbannung,  darf  ich  zu  den  Meinen 
niemals  zurück,  die  Heimat  nie  betreten, 

825  sonst  mufs  ich  meiner  Mutter  mich  verbinden 
und  meinen  Vater  morden,  Polybos, 
der  mich  gezeugt  und  aufgezogen  hat. 
So  einer  sagte,  diesen  Mann  verfolgt 
ein  grauser  Dämon,  wär's  zu  viel  gesagt? 

4* 


52 


830  Nein,  nein,  ihr  reinen  heil'gen  Himmelsherren, 
den  Tag  lafst  mich  nicht  schauen,  rafft  zuvor 
mich  fort  aus  dieser  Welt,  eh'  ich  das  Mal 
von  einem  solchen  Fluche  tragen  mufs. 

Chorführer. 
Bedenklich  ist  das  allerdings,  mein  König, 
886  doch  hoffe  noch,  bis  du  den  Zeugen  hörst. 

Oedipu?. 
Ja,  auf  den  Mann,  den  Hirten  will  ich  warten; 
das  ist  die  letzte  Hoffnung,  die  mir  bleibt. 

lokaste. 
Und  was  erwartest  du  von  seinem  Kommen? 

Oedipus. 
Ich  will  dir's  sagen.     Wenn  er  ganz  dasselbe 
840  aussagt  wie  du,  kann  ich  nicht  schuldig  sein. 

lokaste. 
Was  hab'  ich  so  besondres  ausgesagt? 

Oedipus. 
Von  Räubern  sprachest  du,  von  mehreren, 
die  ihn  erschlagen  hätten.     Wenn  der  Hirt 
die  Zahl  noch  festhält,  bin  ich  nicht  der  Mörder, 
846  denn  viele  können  nicht  zu  einem  werden. 
Doch  sagt  er,  einer  war's,  ein  einzelner, 
dann  ist  es  klar,  dann  liegt  die  That  auf  mir. 

lokaste. 
Geheifsen  hat  es  so,  verlafs  dich  drauf, 
er  kann  das  Wort  unmöglich  widerrufen. 
860  Doch  wenn  er  auch  von  seinem  früh'ren  Zeugnis 
abweichen  will,  das  kann  er  nicht  erreichen, 
dafs  es  mit  Laios'  Ermordung  wirklich 
so  zugegangen  wäre,  wie  es  sollte. 
Bedenke,  Oedipus,  ihm  hatte  Phoibos 
den  Tod  von  seines  Sohnes  Hand  gew^eissagt: 
866  das  arme  Kind  hat  ihm  doch  nimmermehr 
den  Tod  gegeben,  starb  ja  selbst  vorher. 


53 

Und  darum  werd'  ich  auf  Orakelsprüche 
fortan  nach  keiner  Seite  Rücksicht  nehmen. 

Oedipus. 
Du  hast  ganz  recht,  nur  —  schicke  nach  dem  Sklaven; 
860  man  soll  ihn  holen,  unterlafs  es  nicht, 
lokaste. 
Gleich  will  ich  schicken;  aber  komm  hinein; 
nie  werd'  ich  deinem  Wunsch  entgegenhandeln. 
Alle  ab  in  das  Schlafs. 

Chor. 

Mög'  ich  nimmer  in  dem  Streben  wanken, 

frommer  Reinheit  mich  in  Wort  und  Werken 
865  hinzugeben,  das  Gesetz  erfüllend, 

das  in  heil'gen  Äthers  Regionen 

ewiglich  einhergeht.     Eingeborne 

Tochter  ist's  des  Himmels,  nicht  der  Menschen 
870  sterbliches  Gemachte.     Nie  vergifst  es, 

nimmer  schläft  es. 

Gott  ist  stark  in  ihm:  nie  wird  es  altern. 

Willkürherrschaft  ist  die  Frucht  der  Hoffart, 
876  Hoffart,  die  nach  Ungebühr  und  Frevel 

gierig  hascht,  zum  höchsten  Gipfel  aufstrebt  — 

doch  zerscheitert  liegt  sie  bald  im  Abgrund 

kann  den  Fufs  zu  keinem  Schritt  mehr  regen. 

Aber  wo  das  Heil  des  Vaterlandes 
880  Ziel  dem  Streben  ist,  bet'  ich  zu  Gotte, 

nimmer  hemm'  er's: 

Gott  ist  unser  Hort,  nie  sein  vergess'  ich. 

Doch  wer  in  Wort  und  Werk  die  Bahn 
der  Frevel  geht,  nicht  Dike  scheut, 
885  der  Göttersitze  spottet, 

der  fahre  dahin  in  verfluchtem  Geschick. 


54 

Das  sei  des  Übermutes  Lohn, 

der  nach  Gewinn  in  Sünden  jagt, 
890  der  Ehre  Schranken  überspringt 

und  zum  Verbot'nen  dringt  in  eitlem  Streben. 

Wie  soll  der  Mensch  in  solcher  Zeit 
896  die  eigne  Brust  vor  Frevelmut  bewahren? 

Wenn  solches  Handeln  Ehre  bringt, 
was  tanzen  wir  noch  vor  den  Göttern? 

Nicht  zieh'  ich  mehr  in  frommer  Fahrt 
900  nach  Abai  zu  Apollon,  nicht 

zu  Delphis  Erdenuabel 
und  nicht  zu  dem  höchsten  oljmpischen  Zeus, 

wenn  dieses  Wort  nicht  aller  Welt 

handgreiflich  klar  sich  offenbart. 
906  Ja,  Zeus,  allmächtig  heifst  man  dich, 

schau'  her,  bewähr'  allmächtig  dich  und  ewig. 

Schon  sagt  man,  dafs  der  Götterspruch 

des  Laios  ein  taubes  Wort  gewesen, 

und  nirgend  glänzt  Apollons  Dienst: 
910      es  stürzen  die  Rechte  der  Götter. 

lokaste 

kommt  aus  dem  Schlosse,  von  Dienerinnen  begleitet,  und  bringt  im 
folgenden  an  dem  Altare  vor  dem  Schlosse  da^  Opfer,  von  dem  sie  redet. 

Ihr  seht  mich,  Fürsten  Thebens,  hier  mit  Kränzen 
und  Räucherwerk  erscheinen,  denn  mir  kam 
der  Wunsch  zu  heil'gen  Stätten  mich  zu  wenden, 
weil  Oedipus  von  mannigfachen  Sorgen 

916  zu  sehr  sein  Herz  erschüttern  läfst.     Er  schliefst 
nicht  mehr,  wie  dem  bedachten  Manne  ziemt, 
von  einem  auf  das  andre,  sondern  hört 
auf  jedes  Wort,  wenn  es  nur  Sorge  weckt. 
Da  nun  mein  Zuspruch  nicht  mehr  fruchten  will, 

920  so  komm'  ich  her,  Apollon,  Unheilswender, 
zu  dir,  der  du  zunächst  uns  stehst,  und  flehe 


55 

mit  diesen  Opfern:  schaff'  uns  eine  Lösung 
in  Frieden.     Alle  stehn  wir  voller  Bangen, 
wie  Schiffer,  wenn  der  Steuermann  verzweifelt. 
Ein  Korinther 

kommt  seitlich  auf  den  Chor  zu. 

Sagt,  Freunde,  kann  ich  wohl  von  euch  erfahren, 
925  wo  ist  das  Haus  der  Königs  Oedipus, 

noch  lieber,  wenn  ihr's  wifst,  wo  ist  er  selbst? 

Chorführer. 
Hier  Fremdling,  ist  sein  Haus,  er  ist  daheim, 
und  jene  Frau  ist  seiner  Kinder  Mutter. 

Korinther. 
Heil  dir  und  Heil  den  Deinen,  so  in  dir 
930  das  Eh'gemahl  des  Oedipus  ich  grüfse. 
lokaste. 
Dank,  Fremdling,  dir  für  deinen  Segenswunsch. 
Ich  wünsche  dir  ein  gleiches,  aber  sage, 
was  dein  Begehren,  deine  Botschaft  ist. 

Korinther. 
Ein  Glück  für  Oedipus  und  für  sein  Haus, 
lokaste. 
93ö  Was  für  ein  Glück?   Wer  hat  dich  hergesandt? 
Korinther. 
Ich  komme  von  Korinth  und  bringe  Freude, 
Freude  gewifs,  doch  freilich  Trauer  auch. 

lokaste. 
Was  kann  das  sein?  ein  Glück  zugleich  und  Trauer. 

Korinther. 
Die  Bürger  des  Korintherlandes  wollen 
940  zum  König  ihn  erheben,  also  hiefs  es. 
lokaste. 
Wie?    Herrscht  der  alte  Polybos  nicht  mehr? 

Korinther. 
Den  hält  der  Todesschlaf  im  Grab  umfangen. 


56 


1 0  k  a  s  t  c. 
Wie  sagst  du,  meines  Gatten  Vater  starb? 

Korinther. 
So  wahr  ich  lebe,  Polybos  ist  tot. 
lokaste. 
945  Geh',  Mädchen,  melde  schleunigst  das  dem  Herrn. 
Eine  Dienerin  in  das  Haus  ab. 
Ihr  Göttersprüche,  wohin  seid  ihr  nun? 
Da  hat  nun  Oedipus  so  lange  Jahre 
der  Heimat  fern  gelebt,  um  diesen  Mann 
nicht  zu  erschlagen,  und  nun  stirbt  der  Mann 
von  selbst  und  ohne  Schuld  des  Oedipus! 
Oedipus 
kommt  aus  dem  Hause. 
950  Weswegen,  liebste  Gattin,  lokaste, 

hast  du  mich  aus  dem  Hause  rufen  lassen? 

lokaste. 
Da  ist  ein  Mann,  den  höre,  dafs  du  lernest, 
wie  Phoibos'  heirge  Sprüche  sich  erfüllen. 

Oedipus. 
Wer  ist  der  Mann?  Was  hat  er  mir  zu  melden? 
lokaste. 
966  Ei,  ein  Korinther  ist's  und  bringt  die  Nachricht 
vom  Tod  des  Polybos.     Dein  Vater  starb. 

Oedipus. 
Ist's  möglich?  Fremdling,  gieb  mir  selbst  Bescheid. 

Korinther. 
Wenn  ich  dir  das  zuerst  bestät'gen  soll, 
ja,  Polybos  ist  tot,  verlafs  dich  drauf. 
Oedipus. 
960  Schlug  ihn  Gewalt?  Erlag  er  einer  Krankheit? 
Korinther. 
Des  Greises  Leben  löscht  ein  schwacher  Hauch. 

Oedipus. 
So  rafft'  ihn  Krankheit  hin,  versteh'  ich  recht? 


57 


Korinther. 
An  eines  vollen  Menschenlebens  Ziel. 

Oedipus. 
Ha, 

was  soll  ich  nun  noch  denken,  lokaste, 
965  von  Delphis  Sitz  und  von  der  Vögel  Kreischen? 
Sie  sagten  mir,  den  Vater  sollt'  ich  töten: 
jetzt  liegt  er  tot  im  Grab,  und  ich  bin  hier 
und  schlug  ihn  nicht.     Es  sei  denn,  er  verzehrte 
in  Sehnsucht  sich  nach  mir.    Dann  war'  ich  doch 
970  der  Anlafs  seines  Todes.     Nein,  die  Sprüche, 
die  mich  bedrohten,  sind  mit  Polybos 
ins  Grab  gesunken,  sie  sind  ab  und  tot. 

lo  käste. 
Hab'  ich  dir  das  nicht  immer  vorgehalten? 

Oedipus. 
Du  hast's,  doch  mich  verleitete  die  Angst. 
1 0  k  a  s  t  e. 
975  Nun  wirst  du  ihrer  gänzlich  dich  entschlagen. 
Oedipus. 
Wie,  mufs  ich  nicht  der  Mutter  Ehe  scheuen? 

1 0  k  a  s  t  e. 
Nichts  soll  man  fürchten,  glauben  soll  der  Mensch, 
dafs  Zufall  nur  regiert  und  Vorsehung 
in  keinem  Falle  sich  beweisen  läfst. 
Man  lebt,  wie's  eben  geht,  von  heut  auf  morgen. 
980  Die  Mutterehe  vollends  fürchte  nicht, 

die  hat)  so  mancher  schon  im  Traum  vollzogen. 
Mit  solchen  Dingen  lebt  man  am  bequemsten, 
wenn  man  sie  gänzlich  aus  dem  Sinn  sich  schlägt. 

Oedipus. 
Sehr  gut,  sehr  gut  ist  alles,  was  du  sagst, 
985  nur  —  meine  Mutter  lebt:  so  lang'  sie  lebt, 
mufs  ich  mich  furchten  trotz  den  schönen  Reden. 

lo  käste. 
Des  Vaters  Tod  ist  doch  ein  grofses  Licht. 


58 

Oedipus. 
Gewifs,  doch  schreckt  mich  noch  der  Mutter  Leben. 

Korinther. 
Um  welche  Frau  seid  ihr  so  sehr  in  Sorge? 
Oedipus. 
990  Um  Merope,  die  Frau  des  Polybos. 
Korinther. 
Was  ist  an  ihr,  das  euch  in  Angst  versetzt? 

Oedipus. 
Ein  fürchterliches  Götterwort,  mein  Freund. 

Korinther. 
Ist  es  Geheimnis  oder  darf  ich's  hören? 

Oedipus. 
Du  darfst.     Apollon  hat  mir  einst  geweissagt, 
995  die  Mutter  sollt'  ich  frein  und  eigenhändig 
des  Vaters  Blut  vergiefsen;  dies  der  Grund, 
dafs  ich  so  lange  fortblieb  von  Korinth. 
Zwar  lebt'  ich  glücklich,  doch  ein  reines  Glück 
wohnt  nur  an  Vaters  und  an  Mutter  Seite. 
Korinther. 
1000  Nur  diese  Furcht  hielt  dich  von  Hause  fem? 
Oedipus. 
Ja,  dieses  und  die  Furcht  des  Vatermordes. 

Korinth  er. 
Dann,  König,  hätt'  ich  dich  von  deiner  Sorge, 
da  ich  dir  wohl  will,  längst  befreien  sollen. 

Oedipus. 
An  reichstem  Lohne  sollt'  es  dir  nicht  fehlen. 
Korinther. 
1006  Das  w^ar  ja  grade  meines  Kommens  Absicht, 
dafs  du  mir  in  Korinth  gewogen  wärest. 

Oedipus. 
Noch  komm'  ich  nicht  in  meiner  Eltern  Haus. 

Korinther. 
Du  bist  ja  ganz  im  Dunkeln,  lieber  Herr. 


59 


Oedipus. 

Wieso?  beim  Himmel,  Alter,  klär'  es  auf. 

Korinther. 

1010  Aus  diesem  Grunde  kommst  du  nicht  nach  Hause? 

Oedipus. 

Ja,  dafs  des  Gottes  Spruch  sich  nicht  erfülle. 

Korinther. 
Du  willst  dich  an  den  Eltern  nicht  vergreifen? 

Oedipus. 
Das  ist's,  gewifs,  ist  meine  stete  Furcht. 

Korinther. 

Weifst  du,  du  sorgst  dich  gänzlich  ohne  Grund. 

Oedipus. 

1016  Unmöglich,  wenn  sie  meine  Eltern  sind. 

Korinther. 

Du  bist  nicht  aus  dem  Blut  des  Polybos. 

Oedipus. 
Wie  sagst  du?     Polybos  ist  nicht  mein  Vater? 

Korinther. 
Dein  Vater?     Grad'  so  gut  wie  ich,  nicht  mehr. 

Oedipus. 

Er  hat  mich  doch  gezeugt,  dich  kenn'  ich  nicht. 

Korinther, 

1020  Gezeugt  hat  er  so  wenig  dich  als  ich. 

Oedipus. 

Weswegen  nannt'  er  mich  denn  seinen  Sohn? 

Korinther. 
Aus  meinen  Händen  hat  er  dich  erhalten. 

Oedipus. 
Er  hätte  so  ein  fremdes  Kind  geliebt? 

Korinther. 
Weil  ihm  ein  eig'ner  Leibeserbe  fehlte. 
Oedipus. 
1025  Und  wie  kam  ich  zu  dir?    Als  Kind,  als  Sklave? 


60 

Korinther. 
Ich  fand  dich  in  den  Schhichten  des  Kithairon. 

Oedipus. 
Wie  kam  es,  dafs  du  das  Gebirg'  besuchtest? 

Korinther. 
Ich  weidete  die  Herden  auf  der  Alm. 

Oedipus. 
Du  warst  ein  Schäferknecht,  ein  Tagelöhner? 
Korinther. 
1030  Mein  Kind,  ich  war  damals  dein  Lebensretter. 
Oedipus. 
In  Nöten  trafst  du  mich?     Was  war  mit  mir? 

Korinther. 
Frag'  deine  Knöchel:  sie  sind  meine  Zeugen. 

Oedipus. 
Ach,  mufst  du  an  den  alten  Makel  rühren. 

Korinther. 
Ich  löste  dir  die  Fessel  von  den  Füfsen. 
Oedipus. 
1036  Ja,  diese  Schande  blieb  mir  von  der  Wiege. 
Korinther. 
So  ist  es;  davon  gab  man  dir  den  Namen. 

Oedipus. 
Wer  gab  ihn?     Vater,  Mutter?     Bitte  sprich. 

Korinther. 
Ich  weifs  nicht;  der  mag's  wissen,  der  dich  brachte. 

Oedipus. 
Du  fand'st  mich  nicht?    Ein  andrer  brachte  mich? 
Korinther. 
1040  Ein  andrer  Hirt;  der  übergab  dich  mir. 
Oedipus. 
Wer  war  es,  kannst  du  ihn  mir  kenntlich  machen? 

Korinther. 
Ein  Knecht  des  Laios;  so  nannt'  er  sich. 


61 


Oedipus. 
Des  Laios,  der  hier  einst  König  war? 

Korinther. 
Desselben;  dessen  Herde  hütet'  er. 
Oedipus. 
1045  Und  lebt  er  noch,  kann  ich  ihn  noch  vernehmen? 
Korinther. 
Das  müfst  ihr  wissen,  euer  Landsmann  ist's. 

Oedipus. 
Ist  einer  unter  euch,  die  ihr  hier  steht, 
der  etwas  weifs  von  dem  genannten  Hirten, 
der  auf  dem  Land  ihn  oder  hier  gesehen? 
1050  Sagt  an;  jetzt  gilt  mir  alles  ihn  zu  finden. 
Chorführer. 
Ich  glaube  wohl,  es  wird  derselbe  sein, 
nach  dem  du  eben  schicktest;  aber  besser 
als  alle  wird  die  Königin  es  wissen. 

Oedipus. 
Denkst  du,  es  ist  derselbe,  lokaste, 
1055  meint  er  den  Hirten,  den  wir  holen  liefsen? 
lokaste. 
Was  weifs  er?     Gänzlich  aus  dem  Sinne  schlage 
dir  sein  Gerede,  denke  nicht  daran. 

Oedipus. 
Wie?    Endlich  hab'  ich  Anhalt,  und  ich  sollte 
nicht  Klarheit  über  meine  Herkunft  suchen? 
lokaste. 
1060  Um  Gottes  willen,  wenn  dein  eignes  Leben 
dir  irgend  lieb  ist,  gieb  das  Suchen  auf; 
die  Qualen,  die  ich  dulde,  sind  genug. 

Oedipus. 
Du  kannst  ganz  ruhig  sein.     Und  wenn  als  Sklave 
aus  Sklavenstamm  ich  auch  erscheinen  sollte, 
dein  fürstliches  Geblüt  ist  nicht  gefährdet. 


62 

lokaste. 
0  folg'  mir,  ich  beschwör'  dich,  thu  es  nicht. 

Oedipus. 
1065  Ich  ruhe  nicht,  bis  ich  Gewifsheit  habe. 

lokaste. 
Dein  Wohl  will  ich,  ich  rate  nur  zum  Guten. 

Oedipus. 
Mich  ärgert  dieser  gute  Rat,  genug. 

lokaste. 
Unsel'ger, 
bleib'  ewig  deine  Herkunft  dir  verborgen. 

Oedipus. 
Geh'  einer,  ruf  er  mir  den  Hirten  her; 
1070  sie  lafst  mit  ihrem  Adelsstolze  geh'n. 

lokaste. 
Wehe  wehe. 

Unseliger,  das  ist  mein  letztes  Wort, 
kein  andres  werd'  ich  jemals  an  dich  richten. 
Ab  ins  Haus. 
Chorführer. 
Was  hat  die  Königin?  weswegen  stürzt 
so  tiefbewegt  sie  fort?     Sie  will  nicht  reden? 

1075  Ich  fürchte,  schlimmes  bricht  daraus  hervor. 
Oedipus. 
Es  breche,  was  da  wolle.     Meine  Herkunft, 
sei  sie  auch  noch  so  niedrig,  mufs  ich  kennen. 
Sie  ist  ein  Weib,  in  ihrer  Eitelkeit 
kränkt  es  sie  wohl,  dafs  ich  ein  Findling  bin. 

1080  Ich  aber  nenne  mich  des  Glückes  Kind, 

des  guten  Glücks,  das  macht  mir  keine  Schande. 
Von  dieser  Mutter  stamm'  ich.     Grofs  und  klein 
war  ich  wie  meine  Brüder,  wie  die  Monde, 
die  wechseln  auch.     So  bin  ich  und  so  bleib'  ich, 

1085  auch  wenn  ich  nie  erfahre,  wer  ich  bin. 


63 


Chor. 

Mag  aus  eigenem  Sinn, 

mag  ich  als  Seher  durchschauen  die  Zukunft, 
1090  morgen,  Kithairon,  erfähr'st  du's, 

morgen  Abend,  da  leuchtet  der  Vollmond, 

preiset  als  Landsmann  des  Oedipus  dich, 

und  die  ihn  nährte,  und  die  ihn  gebar, 

und  unsre  Tänze  werden  dir  danken, 
1095  dafs  unserm  Könige  Huld  du  bewiesen. 

Phoibos,  mein  Heiland, 

mög'  auch  dir  es  genehm  sein. 

Wer  erzeugte  dich,  Kind? 

Welche  der  zeitlos  lebenden  Nymphen 

1100  hat  dem  Pan  dich  geboren? 

Pan  überklettert  die  Klippen;  ApoUon 
waltet  der  Herden  auf  Sennen  und  Alm, 
und  in  den  Höhlen  ist  Hermes  zu  Haus. 
Oder  gewann  gar  der  Herr  auf  dem  Gipfel, 

1106  ohn'  es  zu  ahnen,  den  Sohn,  Dionysos? 
Kost  er  doch  gerne 
mit  schwarzäugigen  Mädchen. 

Der  Hirt  wird  widerstrebend  von  einigen  Dienern  herbeigeführt, 
Oedipus. 

1110  Wenn  ich,  ihr  Greise,  der  ich  nie  ihn  sah, 
vermuten  darf,  erblick'  ich  dort  den  Mann, 
nach  dem  ich  längst  verlange.     Wenigstens 
stimmt  er  im  Alter  zu  dem  Greise  hier, 
und  seine  Führer  glaub'  ich  zu  erkennen 

1115  als  meine  Diener.     Doch  du  hast  den  Hirten 
schon  sonst  gesehn,  du  mufst  es  besser  wissen. 

Chorführer. 
Ja,  wohl  erkenn'  ich  ihn.     Als  Hirtensklave 
dient'  er  dem  Laios,  treu  wie  nur  einer. 


64 

Oedipus. 
So  frag'  ich  den  Korinther  denn  zuerst. 
1120  Hast  du  den  Mann  gemeint? 
Korinther. 

Jawohl,  er  ist  es. 
Oedipus. 
Du  Greis,  hierher  den  Blick;  was  ich  auch  frage, 
antworte.     Warst  du  Knecht  des  Laios? 

Hirt. 
Ich  war's;  im  Haus  geboren,  nicht  gekauft. 

Oedipus. 
Und  welches  Handwerk,  welch'  Geschäft  betriebst  du? 
Hirt. 
1125  Die  längste  Zeit  hab'  Herden  ich  gehütet, 
Oedipus. 
Wo  pflegtest  deine  Schafe  du  zu  weiden? 

Hirt. 
Auf  dem  Kithairon  oder  in  der  Nähe. 

Oedipus. 
Ist  dieser  Mann  dir  dort  einmal  begegnet? 

Hirt. 
Bei  welchem  Anlafs?     Wer  denn  überhaupt? 
Oedipus. 
1130  Hier  dieser.     Hast  du  je  mit  ihm  verkehrt? 
Hirt. 
Im  Augenblick  kann  ich  mich  nicht  besinnen. 

Korinther. 
Das  ist  kein  Wunder,  gnäd'ger  Herr.    Doch  deutlich 
werd'  ich  ihn  darauf  bringen,  und  er  wird 
sich  schon  erinnern,  wie  auf  dem  Kithairon 
1135  er  mit  zwei  Herden,  ich  mit  einer  nur 

dreimal  vom  Frühjahr  bis  zum  Herbstesanfang 
sechs  ganze  Monde  wir  Nachbaren  waren. 


65 


Zum  Winter  trieb  mein  Vieh  ich  in  die  Hürde, 
er  seins  in  Laios'  Gehöft  zurück. 
1140  Nun,  ist  das  so  gewesen  oder  nicht? 
Hirt. 
Lang'  ist  es  her,  allein  du  sprichst  die  Wahrheit. 

Korinther. 
Nun  also,  weifst  du  noch,  wie  du  ein  Kind 
mir  gabst,  das  ich  als  meins  erziehen  sollte? 

Hirt. 

Was  soll  das?     Wozu  willst  du  daran  mahnen? 

Korinther. 

1145  Das  Kind  von  damals,  alter  Freund,  hier  steht  es. 

Hirt. 

Willst  du  wohl  schweigen,  in  den  Tod  mit  dir. 

Oedipus. 
Halt,  Alter,  schilt  mir  den  Korinther  nicht, 
denn  du  verdienst  die  Schelte  mehr  als  er. 

Hirt. 

Teuerster  Herr,  was  hab'  ich  denn  verbrochen? 

Oedipus. 

1150  Das  Kind,  von  dem  er  spricht,  willst  du  verleugnen. 

Hirt. 

Er  weifs  nicht,  was  er  sagt  und  macht  sich  unnütz. 

Oedipus. 
Mit  gutem  willst  du  nicht,  so  zwing'  ich  dich. 

Hirt. 
Bei  Gott,  verschone  mich,  ich  bin  ein  Greis. 

Oedipus. 

Vorwärts,  die  Hände  schnürt  ihm  auf  den  Rücken. 

Die  Diener  greifen  ihn. 

Hirt. 

1155  Was  that  ich  Ärmster  denn,  was  wollt  ihr  wissen? 

Oedipus. 

Du  gabst  ihm  jenes  Kind,  von  dem  er  spricht? 

Griech.  Tragödien.     I.  5 


66 

Hirt. 
Ja,  —  war'  ich  lieber  an  dem  Tag  gestorben. 

Oedipus. 
Das  wirst  du,  wenn  du  nicht  gehörig  aussagst. 

Hirt. 

Und  noch  vielmehr,  wenn  ich  die  Wahrheit  sage. 

Oedipus. 

1160  Ausflüchte,  glaub'  ich,  will  der  Mensch  noch  machen. 

Hirt. 

Nein,  nein;  ich  hab'  es  ja  schon  zugestanden. 

Oedipus. 
Wer  war  des  Kindes  Vater?     Wärest  du's? 

Hirt. 
Ich  war  sein  Vater  nicht,  mir  gab  es  jemand. 

Oedipus. 

Und  wer  Avar  das;  aus  welchem  Hause  kam  es? 

Hirt. 

1166  Um  Gotteswillen,  forsche  weiter  nicht. 

Oedipus. 

Es  ist  dein  Tod,  mufs  ich  dich  zweimal  fragen. 

Hirt 
Nun  denn  —  dem  Laios  gehört'  es  an. 

Oedipus. 
War's  ihm  verwandt,  war  es  ein  Sklavenkind? 

Hirt. 
Weh  mir,  das  Furchtbare,  jetzt  mufs  ich's  sagen. 
Oedipus. 
1170  Und  ich  es  hören,  doch  ich  mufs  es  hören. 
Hirt. 
Nun  ja,  es  hiefs  ein  Sohn  des  Laio.s; 
genau'res  sagt  am  besten  dir  dein  Weib. 

Oedipus. 
Sie  selber  hat  es  dir  gegeben? 
Hirt. 

Ja. 


67 


Oedipus. 
Und  wozu  gab  sie  dir's? 
Hirt. 

Ich  sollt'  es  töten. 
Oedipus. 
1176  Die  eigne  Mutter! 

Hirt. 
Das  Orakel  fürchtend. 

Oedipus. 
Welches? 

Hirt. 
Dafs  es  die  Eltern  morden  würde. 
Oedipus. 
Wie  konntest  du's  dem  Mann  da  überlassen? 

Hirt, 
Aus  Mitleid,  Herr.     Ich  dachte  ja,  er  würde 
es  in  die  Fremde,  wo  er  her  war,  führen. 
Nun  hat  er  es  zum  ärgsten  Leid  gerettet. 
1180  Denn  bist  du  der,  als  den  er  dich  bezeichnet, 

dann,  glaub'  mir,  bist  du  auch  —  ein  Mann  des  Un- 
glücks. 
Oedipus. 
Weh,  weh,  genug.     Weh,  jetzt  wird  alles  klar, 
Das  Sonnenlicht  schau  ich  zum  letzten  Mal. 
Ich  kenne  mich :  verfehmt  vor  der  Geburt, 
1185  im  Leben  ein  Blutschänder,  Vatermörder. 

Er  stürzt  in  das  Haus;  die  andern  seitlich  ab. 


Chor. 

Gleich  dem  Nichts 

acht'  ich  der  sterblichen  Menschen  Geschlechter. 
Wem,  wem  ward 
1190  mehr  vom  Glück  als  des  Wahnes  Rausch 

5* 


68 

und  vom  Wahn  die  Ernüchterung? 
Steht  vor  Augen  mir,  Oedipus, 
dein  Verhängnis,  ja  deins,  so  scheint  mir 
119Ö  nichts  mehr  glücklich  was  sterblich  ist. 

Über's  Mafs 

liat  er  die  Fülle  des  Segens  erworben, 
höchstes  Gedeih'n. 
Er  erlöste  das  Vaterland 
1200  aus  den  Klauen  des  Rätseltiers, 
darum  nenn'  ich  dich,  Oedipus, 
meinen  Könij?,  die  höchsten  Ehren 
zollte  das  grofse  Theben  dir. 

Und  nun?    Wes  Name  nennt  des  Unheils  mehr? 
1205  Wen  kettete  des  Schicksals  jäher  Wechsel 

an  fürchterlichere  Flüche, 

an  schwerere  Leiden? 

0  Majestät  des  Oedipus! 

konntest  als  Säugling  und  als  Gemahl 

Ruhe  du  finden  an  einem  Busen? 
1210  Wie  nur,  wie  konnte  das  Bette  des  Vaters 

dich  bis  zum  heutigen  Tage 

tragen  und  schweigen? 

Die  Zeit,  die  alles  schau'nde,  sträubte  sich 

zu  olfenbaren,  was  sie  selbst  gerichtet, 
1215  die  Ehe  der  Mutter,  die  Ehe, 

Blutschande  des  Sohnes. 

Hätt'  ich  dich  nimmer,  nimmer  geschaut. 

Mufs  ich  doch  klagen,  jämmerlich  klagen. 
1220  Doch  ich  gesteh'  es,  ich  sage  w'as  wahr  ist: 

dir  verdank'  ich  die  Rettung, 

dank'  ich  den  Frieden. 


69 


Ein  Diener  kommt  als  Bote  aus  dein  Palaste. 
Erlauchte  Ratsversammlung  der  Thebaner, 
sofern  ihr  noch  dem  Labdakidenhause 

1225  die  angestammte  Treue  nicht  verleugnet, 
wie  tiefe  Trauer  mufs  euch  dann  ergreifen 
bei  solcher  Botschaft  und  bei  solchem  Anblick, 
wie  euer  wartet.     Dieses  Königshaus 
birgt  so  viel  Greul  —  bald  werdet  ihr  sie  schauen  — 
dafs  keiner  von  der  Erde  Riesenströmen 
wegwüsche  die  Befleckung.    Eigner  Wille, 

1230  nicht  fremder  Zwang  vergofs   dies  Blut;   und  nichts 
rührt  tiefer  uns  als  selbstgewolltes  Leid. 

Chorführer. 
Wir  wufsten  schon  genug,  aus  vollstem  Herzen 
zu  weinen;  aber  sprich,  was  bringst  du  weiter? 

Bote. 
Das  eine  ist  rasch  gesagt  und  rasch  gehört: 

1236  De^  lokaste  Königsauge  brach. 
Chorführer. 
Die  Unglücksel'ge!    Was  gab  ihr  den  Tod? 

Bote. 
Sie  selbst.     Ihr  sollt  erfahren,  was  sie  litt, 
soweit  es  mein  Gedächtnis  geben  kann; 
und  doch  bleibt  euch  der  stärkste  Schmerz  erspart, 

1240  mit  eig'nen  Augen  solche  Qual  zu  schauen. 
Als  sie  in  wilder  Hast  das  Haus  betrat, 
flog  gradeswegs  sie  nach  dem  Schlafgemache, 
mit  beiden  Händen  ihre  Locken  raufend. 
Im  Zimmer  warf  sie  gleich  die  Thüre  zu 

1246  und  rief  den  langverstorb'nen  Laios, 
den  Gatten  ihrer  Jugend,  der  für  sich 
den  Mörder  ihr  erzeugte,  der  sein  Weib 
dem  eignen  Blute  hinterliefs,  um  Schande 
mit  ihr  zu  zeugen.     Weh  rief  sie  dem  Bette, 


70 


wo  sie  geboren  hatte,  graunvoll,  beides, 
1260  dem  Gatten  ihren  Gatten  und  dem  Kinde 
die  Kinder.     Wie  sie  dann  ums  Leben  kam, 
weifs  ich  nicht  mehr.     Ich  könnt'  es  nicht  zu  Ende 
betrachten:  Oedipus  kam  mit  Geschrei 
herein,  und  ihn  verfolgten  unsre  Blicke, 
wie  er  verstört  umherlief  und  von  uns 

1265  ein  Schwert  verlangte,  nach  der  Gattin  fragte, 
nicht  Gattin,  nach  der  Mutterbrust,  die  ihn 
gesäugt  und  seine  Kinder.     Rasend  war  er, 
ein  Dämon  mufs  es  ihm  verraten  haben, 

wir,  die  wir  ihn  umgaben,  sicher  nicht: 
1260  da  schrie  er  gräfslich  auf  und  sprang,  als  würd'  ihm 
der  Weg  gewiesen,  auf  die  Tliüre  zu; 
ein  Tritt,  und  krachend  stürzen  ihre  Flügel, 
er  stürmt  ins  Zimmer  —  da  erblicken  wir 
die  Frau  erhängt  in  einer  Schlinge  schwebend. 

1266  Als  er  sie-  sieht,  brüllt  er  entsetzlich  auf     * 
und  läfst  den  Strick  herunter.     Ausgestreckt 

lag  nun  die  Leiche;  da  —  es  war  zu  gräfslich  — 
die  gold'ne  Spange,  die  auf  ihrer  Schulter 
das  Kleid  zusammenhielt,  reifst  er  heraus, 

1270  fafst  sie  und  bohrt  sie  in  die  eignen  Augen 

und  schreit:  „So  etwas  sollt  ihr  nicht  mehr  sehn, 
wie  ich  es  that,  wie  ich  es  dulden  mufste. 
In  dieser  ew'gen  Nacht,  da  mögt  ihr  sehen, 
was  ich  nicht  sehen  darf,  und  wessen  Anblick 
mir  Wollust  wäre,  sollt  ihr  nicht  erkennen". 

1275  Zu  jedem  solchen  Ruf  ein  neuer  Stich. 
Die  Lider  sperrt  er  auf,  und  blutig  rollen 
ihm  die  Augäpfel  über  seine  Wangen. 
Es  rann  nicht  nur  ein  Blutstrom,  nein,  es  sprühte 
von  schwarzen  Tropfen  ein  Blutschauer  nieder. 

1280  So  haben  beide,  Mann  und  Frau,  vereint 
das  Leid  gefunden,  das  sich  jedes  suchte. 


71 

Das  alte  Glück  war  einst  fürwahr  ein  Glück, 

doch  heute,  Schmach  und  Gram  und  Tod  und  Schande 
1285  und  jede  Scheufslichkeit,  nicht  eine  fehlt. 
Chorführer. 

Ruht  er  nun  etwas  aus  von  seiner  Qual? 
Bote. 

Laut  fordert  er,  dafs  man  die  Thüren  öifne, 

der  ganzen  Stadt  den  Vatermörder  zeige, 

der  seine  Mutter  —  nein,  die  Lästerworte 
1290  Sprech'  ich  nicht  nach.     Und  aus  dem  Land  hinaus 

will  er  sich  werfen,  nicht  mehr  bleiben  will  er, 

fluchbringend,  wie  er  selbst  den  Fluch  sich  sprach. 

Doch  braucht  er  einen  Führer,  eine  Stütze, 

der  Körper  kann  die  Schmerzen  nicht  ertragen. 

Er  zeigt  sich  euch  sofort;  schon  öffnet  sich 
1295  das  Thor:  ein  Schauspiel  beut  sich  euren  Augen, 

das  auch  dem  ärgsten  Feinde  Mitleid  weckt. 
Oedipus 

geblendet,  blutüberströmt,  tritt  unsicheren  Schrittes  aus 

dem  Palaste. 

Chorführer. 

Ein  Anblick  entsetzlich  dem  menschlichen  Aug', 

entsetzlich,  wie  keinen  ich  jemals  gesehn. 

In  welch'  einem  Wahnsinn  hast  du's  gethan? 
1300  Von  welch'  einem  Dämon  warst  du  verführt? 

Auch  das  noch  zu  all  deinem  Schicksal! 
Weh  dir,  du  Mann  des  Fluches! 

Mich  schaudert.     Ich  wollte  so  vieles  mit  dir 
1305  besprechen,  betrachten,  erfragen,  doch  nein, 

zu  grau'nvoU  ist  mir  dein  Anblick. 
Oedipus. 

Wehe, 

Weh  mir,  ich  Mann  des  Fluches, 

wohin  führt  mich  mein  Schritt? 

mich  jammervollen. 


72 


1310  Wohin  verhallt  die  Stimme? 

Der  Dämon  packte  mich  — 

ach,  wohin  hat  er  mich  verschlagen? 
Chorführer. 

In  Elend,  das  kein  Ohr,  kein  Aug'  erträgt. 
Oedipus. 

Wolke  der  Finsternis 
1316  hüllet  mein  Auge,  sie  kam  unsagbar,  entsetzlich, 

nimmer  verzieht  sie  sich,  lichtet  sich  nimmer. 

Weh  mir. 

Weh  mir  noch  einmal,  doppelt  trifft  die  Seele 

der  Stiche  Schmerz  und  der  Erinn'rung  Marter. 
Chorführer. 

Ja,  wer  verdächte  dir  in  solchem  Schicksal 
1320  zwiefachen  Jammer  und  zwiefach  Gestöhn. 
Oedipus. 

Freund,  o  du  treuer  Freund. 

nimmst  du   dich  meiner  noch  an,  wagst  bei  mir  zu 

bleiben, 

ekelst  dich  nicht  meine  Blindheit  zu  warten! 

Ach  ja, 
1325  ich  kenn'  dich  wohl.     Die  Stimme  blieb  dem  Ohr 

vertraut,  wenn  auch  des  Auges  Licht  erlosch. 
Chorführer. 

Furchtbare  That!    Wie  konntest  du  die  Augen 

auslöschen?    Welcher  Dämon  trieb  dich  an? 
Oedipus. 

Apollon  war's. 

Apollon,  ihr  Freunde. 
1330  Voll  machen  wollt'  er  die  Leiden, 

voll  machen  wollt'  er  die  Frevel. 

Aber  den  Streich  hat  niemand  geführet  als  ich, 

ich  Frevler. 

Was  sollten  mir  die  Augen? 
1336  Es  giebt  nichts  mehr  auf  Erden  was  ich  sehen  mag. 


73 

Chorführer. 

Wohl  ist  das  also  wie  du  sagst. 
Oedipus. 

Was  sollt'  ich  gerne  sehen? 

Auch  hören  mag  ich  keines  Menschen  Trost. 
1340  Nein  führet  mich  weg, 

ich  bitt'  euch,  sofort 

hinweg  aus  dem  Land, 

den  Vervehmten,  Verfluchten. 

Die  Götter  im  Himmel, 
1345  sie  selber  haben  Oedipus  verstofsen. 
Chorführer. 

Wie  trifft  dich  doppelt,  dafs  du  deine  Lage 

so  klar  begreifst.     Hätt'  ich  dich  nie  gesehn! 
Oedipus. 

Ja,  wer's  auch  war, 

der  mir  von  den  Füfsen 
1350  hoch  auf  der  Senne  Kithairons 

die  quälende  Fessel  löste: 

hat  er  mein  Leben  gerettet,  so  hab'  er  den  Dank! 

ich  fluch'  ihm! 

0  war'  ich  da  verkommen! 
1365  Mir  und  den  Eltern  war'  ich  nicht  ein  solcher  Schmerz. 
Chorführer. 

Wohl  stimm'  ich  deinem  Wunsche  bei. 

Oedipus. 

Nicht  war'  ich  Vatermörder, 

nicht  hiefs'  ich  lieut  der  Mutter  Eh'gemahl. 
1360  Jetzt  bin  ich  verflucht, 

verfluchten  Geschlechts, 

erzeugt'  eine  Brut 

aus  dem  Schofse  der  Mutter. 

Ja,  jegliche  Sünde, 
1365  ist  sie  nur  scheufslich,  that  sie  Oedipus. 


74 

Chorführer. 
Ich  kann  nicht  glauben,  dafs  du  so  für  dich 
das  Beste  fandest.     Lieber  tot  als  blind. 

Oedipus. 
Nein,  keinen  Zuspruch  mehr;  lafst  mir  den  Glauben, 

1370  dafs  es  so  richtig  war,  wie  ich  gehandelt. 

Denn  wenn  ich  starb,  wie  sollte  da  mein  Auge 
den  Anblick  meines  Vaters,  meiner  armen 
Mutter  ertragen,  gegen  die  ich  beide 
Thaten  beging,  für  die  der  Strang  zu  milde. 
Und  sollt'  ich  mich  am  Anblick  noch  ergötzen 

3375  von  Kindern,  mir  geschenkt  von  —  still  davon. 
Nein,  nein,  mein  Aug'  ertrüg'  es  nimmermehr; 
noch  auch  die  Stadt,  die  Mauern  anzuschauen, 
die  heil'gen  Götterhäuser,  die  ich  mir 
erst  selbst  verschlofs,  ich  unglückseligster, 

1380  ich  stolzester,  vornehmster  der  Thebaner, 
der  sich  sein  Urteil  selber  sprach,  dafs  jeder 
ihn  von  sich  stöfst,  als  unrein,  als  versündigt 
an  Gott  und  an  des  Laios  Geschlecht. 
Und  diesem  Volk  sollt'  ich  ins  Auge  blicken, 

1385  vor  dem  ich  solchen  Schandfleck  aufgedeckt? 
Nein,  nimmermehr,  und  gab'  es  einen  Damm 
wider  die  Wellen  des  Gehörs,  gewifs, 
ich  schlöss'  das  arme  Haupt  auch  davon  ab; 
dann  war'  ich  blind  und  taub,  und,  ach,  wie  süfs, 

1390  wenn  nichts  die  Qualen  der  Erinn'rung  weckt. 
Ho,  warum  nähmest  du  mich  auf,  Kithairon, 
0  hättest  du  mir  gleich  den  Tod  gegeben, 
das  Vaterhaus  mich  nimmer  schauen  lassen. 
Und  du,  korinthisch  Haus  des  Polybos, 

1395  du  hegtest  mich  als  Heimat,  glücklich  war  ich. 
doch  unterm  Glücke  lauerte  der  Fluch, 
der  heut  mich  brandmarkt,  mich  und  mein  Geschlecht. 
Du  Kreuzweg  endlich  in  verborg'ner  Schlucht, 


75 


du  Dickicht  an  des  Hohlwegs  schmalem  Pfad, 
die  ihr  mein  Blut  von  meinen  Händen  trankt, 

1400  des  Vaters  Blut,  gedenkt  ihr  meiner  noch, 
dafs  ich  bei  euch  —  ich  welche  That  beging, 
dafs  ich  von  euch  hierherzog  —  was  zu  thun? 
ein  Bette  zu  besteigen,  ha  ein  Bette, 
dem  selber  ich  entsprossen,  dem  durch  mich 

140.5  von  Greueln  eine  Saat  entkeimen  sollte, 
Blut  Schändersippe,  Väter,  Brüder,  Söhne, 
Töchter,  Gattinnen,  Mütter,  jeder  Grad 
Blutschande  dieser  Welt.     Still  von  der  Schmach. 
Nicht  ziemt  zu  nennen  sich,  was  ich  dem  Lichte 

1410  sogar  entzogen.     Rasch,  um  Himmels  willen, 
hinaus  mit  mir,  bergt  mich  wohin  ihr  wollt, 
ermordet  mich,  versenket  mich  ins  Meer, 
nur  dafs  mich  euer  Blick  nicht  mehr  erreiche. 
Ja,  überwindet  euch  und  fafst  mich  an. 
mich  unglückseligen  Mann,  lafst  euch  erweichen 
und  heget  keine  Furcht:  es  steckt  nicht  an: 

1415  mein  Weh  zu  tragen  bin  nur  ich  im  Stande, 
Chorführer. 
Es  naht  zur  rechten  Zeit  für  deine  Bitte 
sich  Kreon  hier,  bei  ihm  steht  Rat  und  That, 
des  Landes  einz'gem  Hüter  nun  statt  deiner. 

Oedipus. 
Weh  mir,  wes  darf  ich  mich  von  ihm  versehen? 

1410  Mit  welchem  Worte  soll  ich  ihm  begegnen, 
denn  alles,  was  ich  an  ihm  that,  war  Frevel. 
Kreon 
kommt  mit  Gefolge. 
Nicht  Schadenfreude  treibt  mich,  Oedipus, 
nicht  schmähen  will  ich  deine  früheren  Frevel; 
allein,  wenn  ihr  auch  gegen  die  Geschlechter 
der  Menschen  keine  Rücksicht  mehr  empfindet, 

1426  scheut  wenigstens  die  Allernährerin, 


76 

die  Flamme  Helios'  des  Himmelsherrn, 
und  weist  ihr  solche  Greul  nicht  unverhüllt, 
die  weder  Erde,  weder  Himmelswasser 
noch  Licht  der  Sonne  bei  sich  dulden  können. 
Nein,  schleunigst  bringt  ihn  in  das  Haus  zurück. 
:43o  Verwandtenauge  mag  Verwandtenfrevel 
eher  ertragen,  wie  man  von  Verwandten 
allein  sich  frevelhaftes  sagen  läfst. 

0  e  d  i  p  u  s, 
Beim  Himmel,  da  du  so  mich  von  der  Furcht 
erlösest,  zu  dem  Frevelhaftesten 
der  Tugendhafteste  gekommen  bist, 
so  folge  mir:  es  ist  dein  eigner  Vorteil. 
Kreon. 
1435  Was  ist  der  Dienst,   den  du  so  dringend  heischest? 
Oedipus. 
Schaff'  mich  aus  Theben,  wirf  mich  hin,  wo  ich 
von  Menschenzuspruch  fern  verenden  kann. 

Kreon. 

Das  hätt'  ich  schon  gethan,  verlafs  dich  drauf, 

doch  will  ich  erst  aus  Delphi  Weisung  holen. 

Oedipus. 

1440  Ist  denn  der  Spruch  nicht  völlig  klar?    Er  fordert 

des  Vatermörders,  des  Verfehmten  Tod. 

Kreon. 
Wohl  hiefs  es  so,  allein  in  solcher  Lage 
ist  es  geraten  noch  einmal  zu  fragen. 

Oedipus. 
Um  mich  Verfluchten  zu  Apollon  schicken? 
Kreon. 
1445  Jetzt  wirst  auch  du  wohl  Zutrau'u  zu  ihm  haben. 
Oedipus. 
So  leg'  ich  dir  denn  meine  letzten  Wünsche 
ans  Herz  und  fleh'  dich  an.     Die  Leiche  drinnen 
bestatte,  wie  du  magst.     Sie  geht  dich  an, 


77 

und  billig  übernimmst  du  diese  Pflicht. 

1450  Was  mich  betrifft,  so  bleib'  es  meiner  Heimat 
Theben  erspart,  in  seinen  Mauern  mich 
lebend  zu  hegen.     Im  Gebirge  lasse 
mich  wohnen,  der  Kithairon  ist  mein  Reich. 
Vater  und  Mutter  hatten  ihn  zum  Grabe 
dem  Lebendem  bestimmt,  sie  gaben  mir  — 
den  Tod:  nach  ihrem  Wunsche  will  ich  sterben. 

1465  Das  Aveifs  ich  freilich,  keine  Krankheit  bringt 
noch  sonst  ein  menschlich  Leiden  mir  das  Ende. 
Wenn  ich  dem  sichren  Tod  entging,  so  bin  ich 
für  etwas  ganz  GraunvoUes  vorbehalten. 
Mag  mein  Geschick  denn  seine  Bahn  durchlaufen. 

1460      Und  meine  Kinder  —  um  die  Söhne,  Kreon, 
brauchst  du  dich  nicht  zu  kümmern:  wo  das  Leben 
den  Mann  auch  hinstellt,  braucht  er  nicht  zu  darben. 
Doch  meine  hilfsbedürft'gen  armen  Mädchen, 
für  die  noch  nie  der  Tisch  zu  keiner  Mahlzeit 

1465  gedeckt  ward  ohne  mich,  von  jeder  Speise, 
von  der  ich  afs,  erhielten  sie  ihr  Teil  — 
der  Mädchen  nimm  dich  an.     Am  liebsten  möchte 
ich  sie  noch  einmal,  wenn  ich  darf,  berühren 
mit  meiner  Hand  und  über  ihnen  weinen. 
Erlaub'  es,  Herr, 

Grofsmütiger,  erlaub'  es.     Wenn  die  Hand 
sie  fafst,  dann  wird  mir  wieder,  als  gehörten 

1470  sie  mir,  wie  einst,  da  ich  sie  sehen  konnte. 

Kreon  giebt  einen    Wink',  einer  seiner  Begleiter  geht  an  die  Thür, 

aus    der  sogleich    die    beiden    Töchter    des   Oedipus  heraustreten, 

Kinder  von  sechs  bis  acht  Jahren. 

Wie  wird  mir? 

Hör'  ich  nicht  wirklich  meine  Lieben  schluchzen? 

Ihr  Götter,  Kreon  hat  sich  mein  erbarmt 

und  meine  liebsten  Kinder  mir  geholt. 
1475  Ist  es  nicht  so? 


78 


Kreon. 
So  ist's,  vorsorglich  halt'  ich  dir  bereitet, 
was  längst  du  wünschtest,  was  dich  jetzt  erfreut. 

Oedipus. 
Ich  danke  dir,  und  möge  dir  die  Gottheit 
zum  Lohn  ein  bess'rer  Hüter  sein  als  mir. 

1480  Wo  seid  ihr,  meine  Töchter,  kommt  hierher, 
zu  meinen  Händen,  eures  Bruders  Händen, 
die  haben  eurem  Vater  so  entsetzlich 
die  einst  so  wackren  Augen  zugerichtet. 
Der  Vater  hatte  nicht  gesehn,  geahnt, 

1485  dafs  er  da  Sohn  war,  wo  er  Vater  ward. 

Ja,  sehen  kann  ich  euch  nicht  mehr,  doch  weinen, 
das  kann  ich  noch,  wenn  ich  das  bittre  Leben 
bedenke,  das  euch  in  der  Welt  bevorsteht. 
Denn  wo  ihr  immer  unter  Menschen  kommt, 

1490  von  jedem  Feste  stehlt  ihr  euch  nach  Hause, 
Thränen  der  Scham  statt  Festeslust  im  Auge. 
Und  wenn  ihr  erst  erwachsen  seid,  wie  soll 
ein  Bräutigam  euch  freien?     Wird  er's  wagen 
die  Schmach  auf  sich  zu  nehmen?     Euer  Leben 

1495  zerstört  sie,  wie  sie's  meinen  Eltern  that. 
Da  fehlt  ja  keine  Schande.     Vatermörder 
ist  euer  Vater  und  Gemahl  der  Mutter, 
die  ihn  gebar,  und  aus  demselben  Schofse 
gewann  er  euch,  der  ihn  getragen  hatte. 

1600  Wer  nimmt  sich  eine  Frau  mit  solcher  Schande 
als  Mitgift?     Niemand.     Meine  lieben  Mädchen, 
verblühen  müfst  ihr  gatten-,  kinderlos. 
Sohn  des  Menoikeus,  du  allein  bist  ihnen 
an  Vaters  statt  geblieben,  denn  wir  Eltern, 

iß06  wir  sind  ja  beide  tot,  gieb  es  nicht  zu, 

dafs  deine  Nichten  statt  im  Haus  des  Gatten 
zu  schalten  in  die  Fremde  betteln  gehu: 
vor  meinem  Lose  mufst  du  sie  bewahren. 


79 

Unmündig  siehst  du  sie,  entblöfst  von  allem, 
was  du  nicht  ihnen  gönnest.     Edler  Mann 
1510  gieb  mir  die  Hand,  dann  fühl'  ich  die  Gewährung. 
Euch,  meine  Töchter,  hätt'  ich  viel  zu  sagen, 
wenn  ihr  es  schon  verstündet;  jetzt  nur  dies: 
euer  Gebet  sei,  wo  ihr  leben  könnt, 
zu  leben,  doch  mit  einem  bess'ren  Glücke, 
als  eurem  Vater  es  beschieden  war. 
Kreon. 
1515  Setz'   ein  Ziel  nun   deinen   Thränen,    komm    hinein, 

zurück  ins  Haus. 
Oedipus. 
Folgen  mufs  ich,  wenn  auch  ungern. 
Kreon. 

Übermafs  thut  nirgend  gut. 
Oedipus. 
Doch  du  weifst,  was  ich  verlange, 
Kreon. 

Dafs  ich's  wisse,  sprich  es  aus. 
Oedipus. 
Dafs  du  aus  dem  Land  mich  treibest. 
Kreon. 
Das  ist  Phoibos'  Amt,  nicht  meins. 
Oedipus. 
Bin  ich  nicht  verhafst  den  Göttern? 
Kreon. 

So  gewähren  sie's  vielleicht. 
Oedipus. 
1520  Du  versprichst? 

Kreon. 
Was  ich  nicht  meine,  sag'  ich  nicht 
leichtsinnig  zu. 
Oedipus. 
Nun,  so  führe  mich  von  hinnen. 


80 


Kreon. 

Komm  und  lafs  die  Kinder  los. 
Oedipus. 
Nein,  die  nimm  mir  nicht. 
Kreon. 
Du  solltest  nicht  auf  jedem  Wunsch  bestehn, 
denn  auch  wo  du  es  erlangtest,  blieb  das  Glück  dir 

nimmer  treu. 
Oedipus. 
Männer  meines  Vaterlandes  Theben,  schauet  her  auf 

mich: 
1525  mir    gelang    des   Rätsels    Lösung,    ich    erstieg    den 

ersten  Platz, 
keiner  hat  zu  meinem  Glücke  ohne  Neid  eraporgesehn. 
Schaut   mich    an,    in    welchen   Abgrund    schwersten 

Jammers  ich  geriet. 
Selig  also  preiset  niemals  eines  Sterblichen  Geschick, 
der   noch   nach    dem  letzten   Tage  bang   erwartend 

vorwärts  blickt, 
1630  eh'  er   nicht   das   Ziel  erreicht   hat  unberührt   von 

Ungemach. 
Er  wird  in  den  Palast  geführt;  Kreon  folgt  ihm  mit  den  Kindern, 
der  Chor  zieht  ah. 


Zum  griechischen  Texte. 

Da  ich  den  griechischen  Text  dieses  Dramas  nicht 
drucken  lasse,  bin  ich  verpflichtet,  hier  darüber  Rechen- 
schaft zu  geben,  welche  Gestalt  desselben  ich  zu  Grunde 
gelegt  habe;  einzelne  Stellen  habe  ich  im  Hermes 
34,  55  besprochen.  Wirklich  genügend  könnte  das  nur 
so  geschehen,  dafs  ich  die  Abweichungen  von  der  Über- 
lieferung angäbe.  Aber  das  würde  ohne  viel  Mühe  und 
den  Aufwand  von  viel  Platz  gar  nicht  möglich  sein.  Der 
Oedipus  ist  in  vielen  Handschriften  erhalten,  zu  denen 
auch  die  zu  zählen  sind,  aus  denen  Eustathius  und  Suidas 
eine  grofse  Zahl  von  Versen  angeführt  haben.  Diese 
Zeugen  der  Überlieferung  geben  zwar  im  Grunde  einen 
einheitlichen  Text,  wie  schon  die  Lücken  und  schweren 
Verderbnisse  in  mehreren  Chorliedern  und  sonst  an 
einigen  unheilbaren  Stellen  zeigen^),  wo  der  Übersetzer 
sich  mit  dem  Versuche  behelfen  mufs,  den  Gedanken  zu 
ergänzen.  Aber  es  zeigt  sich  doch  eine  sehr  grofse  An- 
zahl kleiner  Varianten,  zwischen  denen  es  unmöglich  ist 
auf  Grund  der  Autorität  der  Handschriften  zu  entscheiden: 
weder  der  Glaube  an  den  allein  selig  machenden  Lau- 
rentianus  noch  der  an  zwei  Zeugen,   Laurentianus  und 


1)  214.  640.  892  (wo  rig  «Vt  tiot'  ^v  Tolad'  av  vßgiv  fhiloi 
xpv^aq  afxvvHv  das  erforderte  illustrieren  mag).  1206 — 9  = 
1216 — 20,  wo  schon  die  Arrhythmie  die  gemeiniglich  re- 
cipierten  Änderungen  widerlegt.     1526. 

Griech.  Tragödien.     I.  g 


82 

Parisinus  ist  haltbar^).  In  allen  diesen  Fällen  kann, 
abstrakt  genommen,  das  eine  so  gut  überliefert  sein  wie 
das  andere,  so  viel  auch  immer  erst  Versehen  der  letzten 
Jahrhunderte,  seit  dem  neunten,  sein  mögen  und  werden  ^j. 
Man  kommt  in  diesem  wie  in  vielen  Fällen  mit  Notwen- 
digkeit zu  der  Annahme,  dafs  in  Byzanz  eine  mafsgebende 
Handschrift  etwa  ini  Anfange  des  neunten  Jahrhunderts 
existiert  hat,  auf  die  unsere  Überlieferung  zunächst  zurück- 
geht. Sie  hat  nicht  wenige  Doppellesarten  enthalten,  von 
denen  gewifs  wieder  nicht  wenige  erst  durch  Irrtum  und 
Willkür  entstanden  waren,  seitdem  die  Ausgabe  veran- 
staltet worden  war,  welche  die  Textgestalt  des  Sophokles 
repräsentiert,  die  das  Altertum  uns  vermacht  hat.  Wir 
wissen,  dafs  das  durch  den  Grammatiker  Sallustius  ge- 
schehen ist,  der  in  das  vierte  oder  fünfte  Jahrhundert 
gehören  wird.  Die  schweren  Verderbnisse  dürfen  wir 
schon  in  seinem  Texte  voraussetzen,  und  sogar  sehr  leicht 
durchsichtige  kleine:  das  hat  sich  eben  durch  die  Ent- 
deckung eines  Fetzens  in  Oxj-rhynchos  gezeigt,  der  376 
und  434  so  verdorben  enthält  wie  unsere  Handschriften. 
Sallustius  ist  der  Verfasser  des  Kommentars  zu  Sopho- 
kles, den  unsere  Schollen  enthalten,  wenn  auch  ver- 
kürzt und  getrübt:  sie  beweisen  am  sichersten  die  Existenz 
des  Byzantinischen  Archetypus.  Sallustius  ist,  wie  sich 
von  selbst  versteht,  Kompilator,    aber    es   ist  nicht  aus- 


^)  Sehr  einleuchtend  hat  Bruhii  gezeigt,  dafs  F  unentbehr- 
lich ist  und  mehreres  Echte  enthält;  das  Gleiche  gilt  von 
der  schon  durch  ihr  Alter  empfohlenen  Handschrift  Vat.  40, 
die  1011  T(XQßü)v  für  Tttgßü),  1170  dxovny  neben  axovioy  er- 
halten hat. 

2)  Eine  lebhafte  philologische  Thätigkeit  für  die  Dichter 
ist  meines  Wissens  vor  dem  dreizehnten  Jahrhundert  nicht 
vorhanden  gewesen,  während  die  Prosaiker  in  der  Zeit  des 
Pliotius  und  Arethas  durchemendiert  und  interpoliert  wurden. 
Sie  müfste  erst  nachgewiesen  sein,  ehe  man  die  zahlreichen 
Verbesserungen  von  L,  die  wir  in  A,  und  in  ihm  selbst  von 
jüngerer  Hand  finden,  auf  Emendation  zurückführen  dürfte. 


83 


geschlossen,  dafs  die  lediglich  paraphrasierenden  Text- 
erklärungen ihm  selbst  angehören;  jedenfalls  dienen 
diese  zunächst  nur  dazu,  den  Text  zu  kontrollieren 
und  zu  sichern,  den  er  gab:  eine  von  den  Scholien 
bezeugte  Lesart  hat  ohne  weiteres  für  die  Vulgata  des 
fünften  Jahrhunderts  zu  gelten.  Sallustius  überlieferte 
selbstverständlich  Varianten:  schon  das  Aussehn  aller 
erhaltenen  Bücher  des  Altertums  garantiert  das,  und 
zwischen  ihm  und  der  frühalexandrinischen  Ausgabe,  die 
den  Text  einmal  fixiert  hat,  liegen  wieder  Jahrhunderte, 
in  denen  neben  wirklich  philologischem  Studium  auch 
allerhand  Schreibfehler  und  Entstellungen  entstanden 
sind  oder  sein  können.  Aber  jene  grundlegende  Aus- 
gabe ist  doch  die  dritte  feste  Station  aufwärts  von 
unseren  Handschriften.  Und  die  alten  Teile  der  Scholien 
samt  den  zahlreichen  antiken  Citaten  sind  Zeugnisse  für 
den  Text  in  dieser  Periode.  Immer  noch  mehr  als 
200  Jahre  liegen  zwischen  der  alexandrinischen  Ausgabe 
und  der  Handschrift  des  Dichters;  spurlos  waren  sie  an 
dem  Gedichte  gewifs  nicht  vorübergegangen,  hatte  doch 
z.  B.  die  Orthographie  in  mehreren  Stücken  gewechselt; 
allein  der  Philologe,  der  den  Text  feststellte,  wollte  diese 
Spuren,  soweit  sie  Entstellungen  waren,  entfernen  —  und 
doch  ist  nicht  anzunehmen,  dafs  er  in  allen  Fällen  mit 
so  grofser  Sicherheit  urteilen  konnte,  dafs  er  gar  keine 
Varianten  gegeben  hätte:  die  können  also  noch  in  den 
Scholien  stecken.  P^s  ist  traurig,  dafs  wir  im  wesent- 
lichen nur  solche  Allgemeinheiten  sagen  können,  dafs  der 
Text,  den  wir  haben,  so  jung  und  so  unsicher  überliefert 
ist;  aber  wer  die  Geschichte  des  Textes  begriffen  hat, 
sieht  sich  gezwungen,  eine  grofse  Masse  Varianten  zu 
häufen  und  darf  nicht  darüber  im  Unklaren  sein,  dafs 
er  nicht  nach  äufseren  Kriterien,  sondern  nach  dem 
Werte  der  Lesarten  auswählt.  So  unzählige  Sophokles- 
ausgaben es  giebt,  eine  die  ausreichend   über  die  Über- 

6* 


84 

lieferung  unterrichtete,  giebt  es  weder  vom  Texte  noch  von 
den  Scholien.  Zum  Glück  ist  die  Qualität  des  Textes 
im  ganzen  sehr  viel  besser  als  die  Zuverlässigkeit  seiner 
Bezeugung. 

Ich  helfe  mir  so  aus  der  Not,  dafs  ich  die  Ab- 
weichungen meines  Textes  von  der  Ausgabe  bezeichne, 
der  er  am  nächsten  kommt,  der  erklärenden  Ausgabe  von 
E.  Bruhn,  Berlin  1897.  Sein  kritischer  Apparat  enthält 
zwar  einige  Versehen,  ist  aber  mit  der  richtigen  Einsicht  in 
die  Überlieferung  und  sehr  praktisch  angefertigt.  Ich  bleibe 
im  Gegensatze  zu  Bruhn  bei  der  Lesart  der  Handschriften 
V.  111.  117.  159.  184.  191.  506.  668.  795.  840.  862. 
877  {ccTZotofiov).  906.  928.  1000.  1182.  1303.  1305.  1310. 
1380.  1461.  Aus  fremder  oder  eigener  Änderung  lese 
ich  217  rmi  &8Ö3i  für  ttji  voamif  229  aßXaßijg:  aaqaXr^g 
(Variante),  425  oa''  i^iamaeig:  ä  d'  i^iadasi,  665  dvafioQtag: 
dvdfioQcoi^  695  (jaXsvovffav:  aXvovaav.  696  EVTiofiTtog  av 
yivoio:  evtt.  ei  dvvai  yevov.  815  führen  die  handschrift- 
lichen Lesarten  auf  den  lückenhaften  Vers  tig  tovds 
7'  avÖQog  .  .  .  a&hcotsQog,  der  sich  der  Ergänzung  ent- 
zieht wie  695  u.  a.  825  fit]8':  fii^  fi'  (Variante);  867 
vxpiTZodeg  \  ovQCnviai  \  ai&eQi:  v„  ovgaviav  81'  ai&sna, 
1091  GS  ys  rov  (für  xa))  natQKotav  OidiTzov.  1213  axmv: 
äxov&\  1264  Tzlsxraiaiv  aimgataiv  ifiTisnXeyiisiniv  für 
nXentaig  iwoaig  i.  b  8s.  1280  fiovovfisva  für  fiovov  xatd. 
1338  r^v  (ytsQ-ATov:  ^  <Tt.  1465  Tcaö':  lö^v  8\  1564 fif. 
die  Änderungen  der  Verbalendungen,  welche  die  Zuteilung 
der  Rede  an  Oedipus  fordert,  nach  den  Scholien. 


.^.<^. 


II. 
EURIPIDES 

HIPPOLYTOS, 


Vorwort. 


Dieses  Drama  habe  ich  griechisch  und  deutsch  1891 
herausgegeben  und,  da  es  rasch  vergriffen  ward,  an  einer 
neuen  Auflage  vielfach  gearbeitet,  die  nun  nicht  kom- 
men wird.  Wenn  ich  statt  dessen  hier  die  verbesserte 
deutsche  Übersetzung  drucken  lasse,  so  mag  ich  zwar 
auf  den  griechischen  Text  und  die  Anmerkungen  ver- 
zichten, zu  denen  nur  wenige  Berichtigungen  hier  in  einem 
Anhang  stehen,  aber  die  Einleitung  habe  ich  nicht  ganz 
beseitigen  mögen.  Ich  meine,  sie  kann  dem  Leser  das 
Verständnis  von  Dingen  eröffnen,  auf  die  er  blofs  durch  das 
Gedicht  nicht  wohl  aufmerksam  wird.  Die  Gelehrsamkeit 
habe  ich  thunlichst  beseitigt;  was  ich  nach  dieser  Seite 
für  die  neue  Auflage  vorbereitet  hatte,  nicht  weniges, 
mufs  unter  den  Tisch  fallen.  Das  Vorwort  „Was  ist 
Übersetzen?"  hoffe  ich  an  eine  andere  Stelle  rücken  zu 
können,  da  es  mit  dem  Hippolytos  nichts  zu  thun  hat; 
es  mufs  mir  daran  liegen,  dafs  Günstige  und  Abgünstige 
erfahren  können,  weshalb  und  wozu  ich  übersetze. 


Zur  Einführung*, 


Der  Hippolytos  ist  das  einzige  erhaltene  Drama  des 
Euripides,  von  dem  wir  sicher  wissen,  dafs  es  (in  Ver- 
bindung mit  drei  unbekannten)  den  Sieg  davongetragen 
hat.  Seit  jenem  Frühlingstage  des  Jahres  428  ist  Hippo- 
lytos der  typische  Vertreter  der  männlichen  Keuschheit, 
die  lieber  unschuldig  stirbt  als  schuldig  wird  oder  sich 
durch  eine  andere  Sünde  rettet.  Das  hat  einzig  Euripides 
bewirkt.  Als  die  christliche  Legende  den  Märtyrertod 
des  Bischofs  Hippolytos  von  Portus  zu  verherrlichen 
hatte,  von  dem  sie  wenig  wufste  (hätte  sie  ihn  gut  ge- 
kannt, so  würde  sie  ihm  hoffentHch  keine  Altäre  gebaut 
haben),  hat  sie  auf  ihn  um  seines  Namens  willen  den 
Tod  durch  die  Pferde  übertragen,  Kirchen  sind  ihm  ge- 
weiht, und  noch  die  altflandrische  Kunst  hat  so  den  Tod 
illustriert,  den  die  griechische  Legende  aus  dem  Namen 
ihres  Helden  entnommen  hatte.  Fast  noch  mehr  hat  die 
liebeskranke  Phaidra  gewirkt.  Die  pathologischen  Er- 
scheinungen der  Leidenschaft,  wie  sie  Euripides  zuerst 
zur  Darstellung  gebracht  hat,  sind  während  des  ganzen 
Altertums  unzählige  Male  variiert  worden,  und  durch  die 
Nachahmer,  namentlich  Ovid,  aber  auch  die  griechischen 
Liebesromanc  haben  sie  auch  die  moderne  Dichtung  weithin 
beeinflufst^).     Die   ganze  Geschichte,    die  vor  Euripides 

1)  Für  das  Altertum  ist  das  mit  solider  Gelehrsamkeit  von 
A.  Kalkmann  gezeigt;  es  wird  sich  lohnen,  die  Arbeit  in  die 
folgenden  Zeiten  fortzusetzen. 


88 

wenig  geläufig  war,  ist  niemals  wieder  vergessen  worden. 
Ovid  hat  ein  geringes,  aber  im  Mittelalter  und  der  Re- 
naissance gern  gelesenes  Gedicht  darüber  gemacht  und 
Seneca  diejenige  seiner  Tragödien,  die  vielen  am  besten 
gefällt.  An  ihn,  aber  auch  an  Euripides  selbst,  hat 
Racine  mit  seiner  Phedre  angeknüpft,  deren  wirksamste 
Scenen  und  Wendungen  nichts  als  elegante  Über- 
setzungen und  Umbildungen  sind.  Durch  Schillers 
recht  anfechtbare  Übersetzung  und  mittelbar  durch  die 
Schlegelsche  Comparaison^)  ist  dies  Drama  Racines  in 
Deutschland  besonders  bekannt,  nicht  zum  besten  für 
den  feinen  Dichter  2),  der  hier  wirklich  nur  noch  durch 
das  gefallen  kann,  was  ihm  nicht  gehört:  aber  dieses 
reicht  immer  noch  aus,  einen  vollen  Bühnenerfolg  zu  er- 
reichen, wenn  die  Schauspielerin  so  zu  spielen  weifs,  wie 
der  originale  Dichter  es  auch  beabsichtigt  hatte  ^).  So 
hat  dieses  euripideische  Drama  so  vieles  was  accessorisches 
Interesse  weckt,  dafs  man  Gefahr  laufen  kann,  das  Wesent- 
liche darüber  zu  vergessen.  Wir  wollen  hier  auf  dieses 
ausschliefslich  den  Blick  richten;  hierzu  bedarf  der  moderne 
Leser  der  sachverständigen  Hinweisung. 

Wenn  man  von  der  athenischen  Burg  nach  Süden 
blickt,  so  erscheint  an  der  gegenüberliegenden  pelopon- 
nesischen    Küste    eine    scharfgezeichnete   Berglinie,    die 


1)  Comparaison  entre  la  Fhedre  de  Racine  et  celle  d'Euripide 
par  A.  W.  Schlegel,  Paris  1807,  viel  überlegter  und  durch- 
dachter als  seine  Vorlesungen  über  das  Drama,  wenn  auch 
beide  aus  verschiedener  Tendenz  nicht  ohne  Sophismen  ge- 
schrieben sind. 

')  Dafs  er  die  Keuschheit  nicht  begriff  und  durch  eine 
andere  Liebschaft  ersetzte,  ist  ein  Zeichen,  wie  viel  näher  dem 
echten  Christentum  Euripides  steht  als  die  triumphierende 
Gegenreformation. 

3)  Zufällig  besitzen  wir  die  Nachricht,  dafs  der  Schauspieler 
V.  315  mit  Stimme  und  Gesten  die  plötzliche  Bewegung  zu 
zeigen  und  aufzuspringen  pflegte,  als  ginge  er  auf  die  Jagd.  Ein 
französischer  Erklärer  fügt  hinzu  tout  d'accord  avec  Mme.  Rachel. 


89 


vulkanische  Halbinsel  Methana.  Unweit  von  dieser  lag 
Trozen,  eine  kleine  selbständige  Stadt,  die  mit  Athen 
durch  alte  auf  die  Gemeinsamkeit  der  Rasse  begründete 
Beziehungen  verbunden  war.  Sollte  doch  nach  der 
herrschenden  Überlieferung  Theseus,  der  Heros  Athens, 
der  Sohn  einer  trozenischen  Königstochter  sein;  sein 
himmlischer  Vater  Poseidon,  neben  dem  in  Athen  ein 
irdischer  stand,  ward  an  beiden  Orten  gleichermafsen 
verehrt.  Aus  Trozen  stammt  Hippolytos.  Nur  hier  be- 
safs  er  ein  grofses  Heiligtum  und  ward  als  Gott  verehrt. 
In  Athen  hat  er  es  zu  einem  wirklichen  Kulte  nicht  ge- 
bracht; die  Vorbedingung,  das  Haaropfer  der  Bräute, 
das  wir  sogleich  betrachten  werden,  war  in  Athen  nicht 
Sitte.  Er  hatte  vielmehr  nur  neben  einem  alten  Aphrodite- 
tempel M  ein  Mal,  das  als  Grabmal  gefafst  ward;  irgend- 
wann war  es  mitsamt  seiner  Geschichte  und  seiner  Ab- 
kunft herübergenommen  und  grade  zu  Euripides'  Zeit 
wenigstens  so  weit  anerkannt,  dafs  diese  Aphrodite  nach 
ihm  hiefs^),  so  dafs  auch  Euripides  eine  Gründungslegende 
des  Heiligtumes  erzählen  mufste  (V.  33);  aber  er  ist 
dennoch  ein  rein  trozenischer  Heros  oder  Gott  geblieben, 


1)  Die  Anlage  hat  sich  genau  an  das  trozenische  Vorbild 
gehalten.  Von  dem  Kultus  hat  sich  keine  sichere  Spur  er- 
halten; A.  Furtwängler  hat  mir  freundlich  die  Skizze  eines 
Reliefbruchsttickes  mitgeteilt,  das  in  der  Gegend  des  atheni- 
schen Heiligtumes  gefunden  ist  und  einen  nach  rechts  ge- 
wandten Jäger  mit  seinem  Hunde  zeigt,  über  dem  eine  Frau 
herabschauend  sitzt:  das  deutet  er  auf  Hippolytos,  sehr  an- 
sprechend, und  es  wäre  zu  wünschen,  dafs  dem  nachgegangen 
würde. 

2)  Die  Übertragung  hat  vielleicht  zur  Zeit  des  Euripides 
stattgefunden.  Asklepios,  der  Gott  einer  Nachbarstadt  Trozens, 
auch  in  Trozen  verehrt  und  früh  in  Beziehung  zu  Hippolytos 
gebracht  (den  er  vom  Tod  erweckt  haben  sollte),  ist  in  Athen 
der  Nachbar  jenes  Aphroditetempels  geworden,  in  dem  das 
Mal  des  Hippolytos  stand,  und  bald  ein  vielverehrter  Gott: 
aber  eingeführt  ist  er  erst,  wesentlich  durch  die  Initiative  des 
Sophokles,  zehn  Jahre  nach  der  Aufführung  dieses  Hippolytos. 


90 

so  dafs  wir  uns  nur  dorthin  zu  wenden  haben.  Da  wissen 
wir  vieles  nicht,  nach  dem  wir  verlangen,  und  es  ist  zu 
hoffen,  dafs  der  Boden  der  Stadt  noch  manche  Belehrung 
spenden  wird,  wenn  etwas  umsichtigere  Ausgrabungen 
gemacht  werden,  als  es  bisher  geschehen  ist.  Nur  durch 
die  litterarische  Tradition  wissen  wir,  dafs  das  Heiligtum 
des  Hippolytos  neben  einer  Laufbahn  unterhalb  eines 
Aphroditetempels  lag^),  und  in  diesem  Gräber  des  Hippo- 
lytos und  der  Phaidra  gezeigt  wurden.  Wenn  er  ein  Gott 
war,  so  konnte  er  kein  Grabmal  haben;  man  erzählte 
demnach  auch  von  seiner  Auferweckung  aus  dem  Tode. 
Das  Grab  dagegen  zeigt,  dafs  die  Geschichte  von  Phaidra 
und  Hippolytos'  unschuldigem  Tode  von  dem  Glauben 
anerkannt  war;  Euripides  selbst  giebt  uns  den  einzigen, 
aber  auch  einzig  für  uns  belangreichen  Zug  an,  dafs  die 
trozenischen  Jungfrauen  vor  der  Hochzeit  ihr  Haar  dem 
Hippolytos  darbrachten  und  dabei  ein  Lied  von  seinem 
unschuldigen  Tode  sangen  (Y.  1430).  Dies  Lied  hat  auch 
dem  Euripides  die  Geschichte  vermittelt.  Damit  ist  die 
Möglichkeit  gegeben  die  Stimmungen  zu  .erfassen,  die  zu 
dem  Glauben  an  dieses  göttliche  Wesen  und  zu  der  Ge- 
schichte geführt  haben. 

Ein  Gott  ist  der  Exponent  eines  Glaubens,  eines  Ge- 
fühles: von  diesem  mufs  man  ausgehen,  wenn  man  ihn 
begreifen  will.  Von  der  Hochzeitssitte  und  von  dem 
Gefühle  der  Braut  und  ihrer  Gespielen  müssen  wir  aus- 
gehen, und  wir  können  unsern  Weg  sicher  nehmen,  da 
die  Wissenschaft  über  sehr  viele  Analogieen  verfügt,  vor 
allem  aber  da  die  Naturformen  des  Lebens  und  die 
ewigen  Gefühle  des  menschlichen  Herzens  in  dem  Leben, 
das  uns  umgiebt,  und  in  unserem  eigenen  Herzen  dauern. 


1)  Das  Kultbild  zeigen  späte  Münzen  und  ein  viel  schönerer 
geschnittener  Stein  (Furtwäugler,  Meisterwerke  450).  Es  gab 
einen  Jäger,  dem  Meleager  ähnlich. 


91 


Hochzeit,  Geburt  und  Tod  sind  die  drei  Hauptmomente 
des  menschlichen  Lebens;  Geburt  und  Tod  natürlich 
nicht  für  die  Gehörnen  und  Sterbenden,  sondern  für  die 
Gemeinschaft,  in  die  sie  eintreten  und  aus  der  sie  scheiden. 
Man  sieht  die  Bedeutung  dieser  Momente  am  besten 
darin,  dafs  der  moderne  Mensch  ihnen  allein  noch  einen 
Schimmer  von  Heiligkeit  gelassen  hat;  obwohl  die  Lüge 
sich  an  sie  in  besonders  aufdringlicher  Form  heranmacht, 
und  statt  dafs  eine  in  festen  Formen  gehaltene  religiöse 
Handlung  dem  individuellen  Falle  die  Weihe  gäbe,  indem 
sie  das  ewige  Typische  festhielte,  in  der  Regel  ein  inner- 
lich gänzlich  unbeteiligter  und  unberufener  Mund  mit 
dem  Ansprüche  einer  höheren  Mission  den  individuellen 
Fall  zu  besprechen  sich  erdreisten  darf.  Aber  die 
Menschenseele,  auf  der  die  Bedeutung  des  Momentes 
selbst  lastet,  empfindet  seine  Heiligkeit  heute  genau  so 
flach  oder  tief  wie  zu  Euripides'  Zeit  und  wird  sich  an 
dem  Schimmer  religiöser  Weihe  zu  erbauen  versuchen, 
mag  er  noch  so  schwach  geworden  sein.  Die  Bedeutung 
und  Heiligkeit  des  Momentes  liegt  eben  in  dem  was  in 
dem  Vorgang,  der  gefeiert  wird,  nicht  individuell,  sondern 
typisch  ist.  Der  Ernst  des  Todes  ist  der  gleiche,  mögen 
sie  ein  junges  Leben  hinaustragen  oder  einen  Greis  nach 
langem  Ermatten  und  spätem  Erkalten,  der  keine  Lücke 
läfst.  Wenn  ein  Elternpaar  ihr  Kind  in  die  Gemeinschaft, 
der  sie  angehören,  einführen,  so  ist  vielleicht  einige 
Lebenserfahrung  nötig,  um  die  schwere  Verantwortung 
mitzuempfinden,  dafs  dies  Kind,  dem  die  Eltern  das 
leibhche  Leben  gegeben  haben,  an  die  Eltern  und  an 
die  Gemeinschaft,  in  die  es  eingeführt  wird,  die  Forde- 
rung hat,  dafs  man  ihm  eine  Seele  gebe.  Aber  ob  es 
ein  Junge  oder  ein  Mädchen  ist,  erwünscht  oder  un- 
erwünscht kam,  Grofsvater  oder  Grofsmutter  ähnlich  sieht 
oder  ähnlich  werden  soll,  das  sind  profane,  gleichgiltige 
Dinge.     So  ist  es  denn  auch  immer  ein  heiliger  Moment, 


92 


wenn  zwei  Menschen  den  Schwur  thun,  den  Lebensweg 
gemeinsam  zu  gehen,  von  dem  sie  nicht  wissen,  wohin 
er  führt,  aber  heilig  nicht  um  deswillen,  was  in  den 
Reden  vor  dem  Altar  und  beim  Hochzeitsmahl  gesagt 
wird,  sondern  um  deswillen,  was  tief  in  dem  jungfräulichen 
Herzen  der  Braut  verschlossen  bleibt,  ihr  vielleicht  selbst 
unbewufst,  und  was  ihrem  Haupte  an  diesem  Tage  einen 
Schimmer  der  Heiligkeit  verleiht. 

Das  Weib  steht  der  Natur  näher  als  der  Mann. 
Hochzeit  und  Geburtstagsfeier  sind  zunächst  weibliche 
Feste.  So  war  es  immer,  weil  die  Natur  es  vorschreibt 
aber  je  näher  das  Leben  der  Natur  steht  um  so  mehr, 
Und  für  eine  hellenische  Jungfrau  war  der  Hochzeitstag 
in  Wahrheit,  was  ihm  jetzt  nur  noch  die  Phrase  nach- 
sagt, das  Fest  ihres  Lebens.  Sie  erhielt  den  Gatten  so 
früh,  dafs  alle  die  Empfindungen,  die  jetzt  ein  Mädchen 
bei  der  Konfirmation  bewegen,  weil  sie  natürlich  und 
demnach  auch  berechtigt  sind,  sich  mit  denen  der  Ehe- 
schliefsung  vereinigten.  Die  Zeit  der  Freiheit  und  des 
Spieles  ist  vorbei ;  sie  trägt  Puppe  und  Ball  zur  Artemis, 
die  ihre  Kinderjahre  behütet  hat.  Es  beginnt  der  Ernst, 
die  Arbeit  und  die  Entsagung.  Fort  mufs  sie  aus  dem 
Elternhause;  eine  vertraute  Dienerin  wird  der  Unerfahrenen 
wohl  mitgegeben,  aber  sonst  lösen  sich  alle  Bande.  Sie 
wird  keine  Kränze  mehr  winden  für  die  Altäre  vor  dem 
Elternhause;  sie  wird  den  Grofseltern  keine  Spenden 
mehr  am  Neumond  auf  den  Friedhof  tragen;  sie  wird 
nicht  mehr  tanzen  mit  den  Gespielinnen,  noch  den  Korb 
der  Göttin  am  hohen  Festtage  in  der  Prozession  tragen. 
Andern  Hausgöttern  wird  sie  unterthan,  andere  Gräber 
wird  sie  schmücken,  und  Artemis  wird  sie  in  bitteren 
Wehen  anrufen.  Auf  dem  Söller  wird  sie  sitzen,  wie 
die  liebe  Mutter,  die  allzeit  geschäftige  Kunkel  drehend, 
dem  Gesinde  gebietend,  schaffend  und  sorgend,  und  des 
Abends  dienstwillig  und  freundlich    dem  heimkehrenden 


93 


Gatten  entgegenkommen,  der  ihr  Herr  ist.  Freilieb, 
vieles  wird  ihr  nun  auch  gestattet  und  offenbart,  wovon 
sie  bisher  ferngehalten  ward,  Herrin  wird  sie  im  Hause, 
mit  Ehrfurcht  wird  ihr  jeder  nahen,  und  sie  wird  zu  dem 
Feste  der  Demeter  gehen  dürfen,  vor  dem  Mutter  all- 
jährlich zu  fasten  pflegte  und  das  so  heilig  ist,  dafs  kein 
Kind  danach  fragen  durfte,  ja  selbst  Vater  nicht.  Eines 
aber  vor  allem:  nichts  ist  ihr  bisher  mehr  eingeschärft 
als  dafs  sie  einen  köstlichen  Schatz  besitzt,  der  ihr  teurer 
sein  mufs  als  das  Leben,  auf  dafs  Hestia  und  Arterais 
und  Athena  gnädigen  Auges  auf  sie  blicken:  diesen  Schatz 
soll  sie  jetzt  dahin  geben,  dem  unbekannten  Manne  und 
Herrn.  Warum?  Die  Eltern  wollen  es,  die  Götter  ge- 
bieten es.  Es  mufs  wohl  gut  sein,  aber  sie  versteht  es 
nicht  und  schaudert  in  ihrer  Unschuld.  Aber  sie  fügt 
sich.  Noch  einmal  zieht  sie  hinauf  in  das  Heiligtum, 
das  heimische  Sitte  solchem  Gebrauche  bestimmt  hat, 
und  bringt  der  Gottheit,  deren  Willen  sie  sich  beugt, 
das  Opfer  ihrer  Jungfrauschaft.  Sie  scheert  den  Locken- 
schmuck von  ihrem  freien  Haupte  und  legt  ihn  unter 
Thränen  auf  den  Altar,  während  die  Gespielinnen  ihr  das 
heilige  Lied  singen,  das  sie  manches  mal  mitgesungen 
hat  und  nun  nie  mehr  singen  darf:  das  Ijied  vom  Tode 
der  Jugend  und  Reinheit. 

Das  ist  das  Gefühl,  aus  welchem  die  trozenischen 
Mädchen  das  Lied  von  Hippolytos  sangen,  von  dem 
schönen  Jüngling,  der  für  seine  Keuschheit  starb.  Was 
ist  er  anders  als  der  Exponent  dieses  Gefühles?  Mit 
diesem  Gefühle  haben  wir  ihn  verstanden,  und  es  wird 
uns  ein  ganz  besonderes  Wohlgefallen  erregen,  dafs  die 
Mädchen  als  Träger  ihrer  Empfindung,  einer  durchaus 
weiblichen,  einen  Jüngling  geschaffen  haben.  Die  LTn- 
schuld  werden  beide  Geschlechter  als  etwas  Göttliches 
anerkennen;  aber  die  Männer  mögen  sie  nur  an  einer 
himmlischen   Jungfrau    wie    Athena   leiden:    auf    Erden 


94 

duldet  ihre  Eitelkeit  keine  Verherrlichung  der  Jungfräu- 
lichkeit, sondern  sie  bekämpfen  die  Amazonen,  und  jede 
Atalante  findet  schliefslich  ihren  Melanion. 

Dafs  aus  einem  Liede,  das  herkömmlich  gesungen 
wird,  eine  Person  gemacht  wird,  ist  ganz  gewöhnlich,  ja, 
man  mufs  sagen,  in  der  Anschauungsweise  jener  Zeit  ist 
es  nur  der  notwendige  Ausdruck  für  die  Macht  dieses 
Liedes;  es  giebt  dafür  eine  grofse  Zahl  unbezweifelter 
Belege.  Nicht  minder  gewöhnlich  und  durchsichtig  ist 
der  Vorgang,  dafs  die  heilige  Handlung,  die  die  Menschen 
um  ihrer  eigenen  Furcht  und  Hoffnung  willen  begehen, 
dargestellt  wird  als  eine  Erinnerung  an  einen  Vorgang 
alter  Zeit,  als  Erfüllung  eines  alten  Gelübdes  oder  die 
Sühnung  einer  alten  Schuld.  Für  das,  was  sie  in  sich 
selbst  wirksam  empfinden,  suchen  sie  sich  eine  Ursache, 
projizieren  die  gegenwärtigen  Gefühle  in  die  Vergangen- 
heit, verwandeln  eine  dauernde  oder  regelmäfsig  wieder- 
kehrende Stimmung  in  einen  einmaligen  vorbildlichen 
Akt  und  suchen  als  Träger  desselben  typische,  womög- 
lich altvertraute  Personen.  So  ist  Hippolytos  der  Expo- 
nent für  die  Sitte  des  bräutlichen  Haaropfers,  der  für  seine 
Unschuld  sterbende  und  nach  dem  Tode  verklärte  keusche 
Jüngling  geworden.  Es  ist  wahrscheinlich,  dafs  er  be- 
reits vorher  als  Gott  und  Beisitzer  Aphrodites  existierte; 
es  wäre  an  sich  auch  denkbar,  dafs  er  ein  alter  Held, 
der  Behüter  eines  Grabes,  also  schliefslich  ein  ver- 
storbener Mensch  gewesen  wäre.  Aber  das  alles  ist  vor 
seiner  Funktion  als  Hochzeitsdämon  verschwunden,  und 
jedenfalls  hier  kommt  er  nur  als  der  Held  jenes  Hoch- 
zeitliedes in  Betracht.  Schon  aus  dieser  seiner  Funktion 
und  aus  seinem  Kultsitze  Trozen  ergaben  sich  leicht 
einige  nähere  Bestimmungen  seiner  Person,  die  auch  für 
das  Drama  wichtig  sind.  Wenn  er  die  Liebe  floh,  so 
pafste  für  ihn  eine  Mutter  ähnlichen  Charakters,  und  so 
erhielt  er  eine  Amazone,  von  denen  man  in  Trozen  ebenso 


95 


gut  wie  in  Athen  erzählte.  Als  Vater  war  jeder  heroische 
Vertreter  von  Trozen  gleich  gut  verwendbar;  Theseus 
konnte  schon  als  Besieger  der  Amazonen  passend  er- 
scheinen, wenn  auch  über  sein  Liebesverhältnis  zu  der 
Mutter  des  Hippolytos  so  wenig  gehandelt  ward,  dafs 
diese  nicht  einmal  einen  Namen  hat.  Die  Keuschheit 
des  Hippolytos  war,  einerlei  wie  sehr  man  sie  bewunderte, 
wider  die  Natur,  also  wider  das  göttliche  Gesetz:  der 
Gegensatz  zu  Aphrodite,  die  das  Recht  der  Natur  und 
der  Götter  nach  dieser  Seite  vertritt,  ist  also  ohne 
weiteres  gegeben;  er  liegt  so  sehr  im  Wesen  des  Hippo- 
lytos, dafs  dieser  eben  darum  wahrscheinlich  zu  ähn- 
lichen die  Liebe  negierenden  und  darum  von  Aphrodite 
aus  dieser  Welt  entrückten  Gestalten  als  wesensgleich 
gehört,  zumal  auch  sein  Heiligtum  dem  der  Aphrodite 
benachbart  ist.  Andererseits  mufste  die  jungfräuliche 
Jägerin  Artemis  Gefallen  an  ihm  haben,  oder  es  lag  dies 
doch  in  Trozen  nahe,  wo  Artemis  unter  mehreren  Namen 
verehrt  ward,  auch  als  Retterin  zur  See,  wie  oft  in 
lonien;  dies  Heiligtum  lag  am  Meeresstrande  auf  einer 
DüneO;  unweit  wird  die  heilige  Wiese  (V.  73)  sich 
befunden  haben,  wie  deren  in  diesem  Kulte  oft  vor- 
kommen. Das  euripideische  Drama  ist  voll  konkreter 
Beziehungen  auf  die  trozenischen  Lokale,  .selbst  von 
der  Quelle,  an  der  der  Chor  wusch,  weifs  man  be- 
stimmtes. Das  hat  für  den  modernen  Leser  keine  Be- 
deutung, aber  die  Thatsache  zu  wissen  ist  für  die  allge- 
meine Auffassung  der  antiken  Dramatik  wertvoll.  So  ist 
es  durch  die  lokale  Vereinigung  der  trozenischen  Renn- 


^)  Sie  heifst  da  die  'Artemis  der  Eichen',  und  der  ganze 
Meerbusen  heifst  entsprechend  die  'Eichensee',  die  'saronische'. 
Da  ist  dann  ein  Heros  Saron,  'Eiche'  entstanden,  den  sie 
liebte  und  den  das  Meer  verschlang:  ein  Doppelgänger  des 
Hippolytos  nach  der  einen  Seite  seines  Wesens,  der  wohl  aus 
ihm  differenziert  ist;  er  hat  keine  andere  Bedeutung  als  den 
Namen  zu  erklären. 


96 


bahn  mit  dem  Artemistempel  bedingt,  dafs  Hippolytos  ein 
Freund  der  Rosse  nicht  minder  ist  als  der  Jagd.  Wich- 
tiger wird  das  noch  für  seinen  Tod.  Denn  wenn  es 
auch  einer  falschen  Deutung  seines  Namens  entstammt, 
dafs  seine  Pferde  ihn  zerreifsen,  so  wird  das  schauer- 
liche Naturgemälde,  das  Euripides  entwirft,  doch  erst 
verständlich,  wenn  man  weifs,  dafs  die  Nachbarschaft 
von  Trozen  ein  Centrum  für  die  in  Griechenland  so  über- 
aus häufigen  Erdbeben  ist.  Es  ist  unzweifelhaft,  dafs 
sich  hier  die  Erinnerung  an  ein  vulkanisches  Phänomen 
verbirgt,  eine  durch  unterseeische  Eruption  hervorgerufene 
Flutwelle,  die  dann  das  Ufer  überflutete.  Euripides  hat 
das  natürlich  Schauerliche  durch  die  Einführung  des 
Stieres  steigern  wollen,  offenbar,  weil  ihm  und  seinem 
Publikum  das  Natürliche  zu  fremdartig  und  daher  zu 
wenig  erhaben  vorkam. 

An  sich  würde  als  motivierende  Legende  des  Hoch- 
zeitsritus ganz  ausreichen,  dafs  Hippolytos  die  Liebe 
verschmähte  und  durch  eine  Flutwelle  umkam.  Aber 
tragisch,  oder  auch  menschlich  interessant  wird  seine 
Geschichte  erst  durch  die  Einführung  Phaidras.  Diese 
erklärt  sich  in  ganz  anderer  Weise.  Diese  Geschichte 
interessiert  durch  sieb,  einerlei  von  wem  sie  erzählt  wird; 
sie  hat  mit  diesem  Kulte  und  überhaupt  mit  der  Religion 
gar  nichts  zu  thun:  sie  ist  eine  Novelle. 

Novelle  nenne  ich  die  Erzählung  einer  menschhchen 
Begebenheit,  die  ohne  Anspruch  auf  geschichtliche  Wahr- 
heit oder  auf  symbolische  Bedeutung  lediglich  um  ihrer 
Merkwürdigkeit  willen  zur  Unterhaltung  erzählt  wird.  Das 
Reich  des  Menschlichen  reicht  natürlich  so  weit,  wie  ihm 
der  Glaube  der  Zeit  die  Grenzen  steckt:  wenn  Gespenster 
und  verwunschene  Prinzessinnen,  redende  Tiere  und  ein 
Schlaraffenland  geglaubt  werden,  so  darf  die  Novelle  mit 
ihnen  so  gut  wie  mit  betrogenen  Ehemännern,  dummen 
Kräh  winklern,  tugendhaften  Räubern  u.  dergl.  m.  rechnen, 


97 

welch  letztere  ihr  auch  heute  noch  zur  Verfügung  stehn. 
Seit  den  letzten  Jahrhunderten  des  Mittelalters  besitzt 
die  europäische  Litteratur  einen  grofsen  Schatz  von 
solchen  Novellen;  in  unübersehbarer  Fülle,  in  tausend 
Bearbeitungen,  immer  verändert  und  immer  dasselbe 
liegen  sie  vor  uns.  Es  ist  unzweifelhaft,  dafs  Europa 
sie  aus"  dem  Orient  erhalten  hat,  und  dafs  die  grofsen 
indischen  Sammlungen  an  Alter  und  Ursprünglichkeit 
hervorragen.  Aber  die  fast  allgemein  geltende  Ansicht, 
die  in  Indien  die  Heimat  dieser  Geschichten  sieht,  ist 
schon  dadurch  widerlegt,  dafs  einzelne  Stücke  mehr  als 
ein  Jahrtausend  früher  in  griechischen  und  lateinischen 
Fassungen  erhalten  sind,  und  dafs  die  Tierfabel  des 
Mittelalters  in  Ost  und  West  griechischer  Herkunft  ist. 
Ja,  ein  paar  Schwanke  von  betrogenen  Ehemännern,  die 
man  den  Griechen  am  wenigsten  zutrauen  würde,  werden 
ganz  zufällig  bei  Aristophanes  erwähnt.  Der  Philologe, 
der  wirklich  die  hellenische  Unterhaltungslitteratur  kennt, 
der  an  der  Sage  gelernt  hat,  den  Umfang  und  die  Be- 
deutung der  ungeschriebenen  Litteratur  zu  schätzen,  kann 
überhaupt  gar  nicht  erst  darüber  debattieren,  dafs  es  mit 
den  milesischen,  lydischen,  ionischen,  sy baritischen  Ge- 
schichten, mit  den  sieben  Weisen  und  der  Fahrt  in  das 
Wunderland  im  Verhältnis  zu  der  orientalischen  Novellistik 
genau  so  steht  wie  mit  Alexander  und  Aesop.  Der  Orient 
hat  in  dem  Novellenschatze  das  Erbe  des  Hellenismus  ge- 
rettet, das  Erbe  vieler  Jahrhunderte,  wo  in  seinen  weiten 
Reichen  über  allen  Völkern  die  einigende  und  ver- 
mittelnde Macht  der  hellenischen  Kultur  und  Sprache 
stand.  Diese  Macht  ist  durch  die  niedergedrückten 
Völker  zerstört  worden,  durch  Skythen  und  Parther  und 
Araber  und  Türken;  aber  wie  die  Blüte  des  Orients  die 
hellenische  Herrschaft  war,  so  zehrt  seine  Phantasie  an 
dem  Vermächtnis  des  Hellenismus,  und  dies  hat  er  dem 
barbarischen  Europa  wiedergegeben.     Es    versteht    sich 

Griech.  Tragödien.     I.  7 


98 

von  selbst,  dafs  die  Geschichten,  indem  sie  in  die  fremden 
Zungen  und  Gegenden  und  Sitten  tibergingen,  Eigentum 
der  andern  Völker  geworden  sind,  denen  nichts  an  ihrem 
individuellen  Verdienste  gekränkt  werden  soll.  Es  ver- 
steht sich  auch  von  selbst,  dafs  die  hellenistische  Novelle 
genau  die  Voraussetzungen  hat  wie  der  Hellenismus,  und 
dafs  darin  das  Hellenische  nicht  der  einzige  Faktor  ist. 
Ja  die  ionische  Novelle  schon,  die  man  um  500  auf  den 
Märkten  von  Milet  und  Samos  erzählte,  verarbeitete 
keineswegs  rein  hellenischen  Stoff,  sondern  die  gemischte 
Kultur  der  kleinasiatischen  Küste  und  die  Erkundungen 
eines  an  allen  Küsten  verkehrenden  Kaufmannsvolkes 
sind  ihre  Voraussetzungen.  Die  Kultur  der  Völker  um 
das  östliche  Mittelmeer  ist  ja  Jahrtausende  älter;  aber 
den  Hellenen  hatten  die  Götter  nun  einmal  beides  ge- 
geben, sowohl  die  Phantasie  wie  die  Form,  hatten  ihnen 
die  Aufgabe  gestellt,  die  Summe  aus  der  Kultur  der 
Jahrtausende  zu  ziehn,  indem  sie,  dieses  von  sich  heraus, 
den  freien  Staat,  den  freien  Menschen,  die  freie  Wissen- 
schaft hinzubrachten:  damit  waren  sie  auch  befähigt  und 
berufen,  den  Schatz  von  Kultur  und  Menschenerfahrung, 
von  Laune  und  Humor,  Schwanken  und  Fabeln  zu 
sammeln,  auszumünzen  und  unter  die  Leute  zu  bringen, 
der  dann,  so  und  so  oft  tiberprägt  oder  auch  umge- 
schmolzen, Jahrtausende  lang  kursiert  hat  und  noch 
kursiert.  Sie  haben  freilich  keinen  Homer  oder  Aesop 
für  die  Novelle  gehabt:  aber  wer  Vater  Herodotos  recht 
kennt,  der  weis  dennoch,  wo  die  Väter  der  Novellen  zu 
hause  sind  und  wie  sie  etwa  ausgesehen  haben. 

Die  Novelle  vom  keuschen  Jüngling  ist  in  Trozen  an 
den  Träger  des  Hochzeitskultes  herangetreten,  der  bereits 
vorher  oder  von  jetzt  ab  in  die  heroischen,  d.  h.  damals 
die  historischen  Personen  eingereiht  ward;  die  böse  Frau, 
die  ihn  verleumdete,  ward  gleichzeitig  unter  die  Heroen 
aufgenommen.     Die  Novelle  drang  sogar  in  das  Kultlied. 


99 

Eben  dieselbe  Novelle  läfst  die  Ilias  einen  ihrer  vor- 
nehmsten Helden  in  der  Geschichte  seines  Ahnherrn  er- 
zählen, der  eigentlich  ein  Lykier  ist,  also  nicht  einmal 
ein  Arier  oder  Semite.  Eben  dieselbe  berichtet  der 
herrschende  Stamm  des  Reiches  Israel  von  seinem  Ahn- 
herrn und  verlegt  sie  nach  Ägypten.  Es  ist  ein  ebenso 
aussichtsloses  wie  thörichtes  Unterfangen,  in  solchen 
Dingen  für  solche  Zeiten  um  Priorität  und  Originalität 
zu  rechten;  auch  die  Rasse  hat  zwar  für  die  Ausge- 
staltung in  jedem  Falle,  aber  nicht  für  das  Motiv  irgend 
welche  Bedeutung.  Das  der  Novelle  zu  gründe  liegende 
menschliche  Motiv  ist  von  allgemeiner  und  ewiger  Gültig- 
keit, so  dafs  es  so  wenig  auf  einen  Ausgangspunkt  zurück- 
geführt werden  darf,  wie  dem  Veilchen  und  der  Nachtigall, 
die  der  Frühling  in  den  Büschen  zu  neuem  Leben  weckt, 
von  Botanikern  und  Zoologen  eine  bestimmte  Heimat  zu- 
gewiesen werden  kann,  und  könnte  sie  es,  so  würden 
dadurch  Duft  und  Gesang  uns  nicht  mehr  noch  minder 
erfreuen. 

Auf  den  trozenischen  Hochzeitsdämon,  den  keuschen 
Jüngling,  der  die  Liebe  überhaupt  floh,  pafste  die  Novelle 
vorzüglich.  Das  sieht  jeder.  Wie  es  aber  zugegangen 
ist,  dafs  sie  sogar  in  das  Kultlied  Eingang  fand,  dem 
Euripides  sie  entnahm,  das  vermögen  wir  nicht  zu  sagen: 
da  ahnen  wir  das  Eingreifen  eines  alten  verschollenen 
Dichters,  und  wie  viele  der  Art  haben  thätig  sein  müssen, 
damit  der  unvergleichliche  Reichtum  der  Heldensage  ent- 
stand, den  die  Tragiker  vorfanden.  Erwähnt  wird  die 
Hippolytosgeschichte  in  den  letzten  Zeiten  des  Epos 
öfter,  Phaidra  kommt  sogar  in  einem  späten  Stücke  der 
Odyssee  vor;  aber  von  all'  dem  wissen  wir  nur,  dafs  es 
durch  Euripides  ganz  in  den  Schatten  gestellt  ward. 
Nicht  erst  durch  dieses  Drama.  Er  hatte  schon  vorher 
einmal  die  Geschichte  dramatisiert,  da  im  Zusammenhang 
der    Theseusgeschichte,    die    er    in    drei    Dramen    ver- 

7* 


100 

arbeitete,  verbunden  durch  das  Motiv,  von  dem  er  hier 
nur  noch  äufserlich  Gebrauch  macht,  die  drei  Wünsche, 
deren  Erfüllung  Poseidon  seinem  Sohne  gewährt  hat,  ein 
auch  uns  noch  vertrautes  Märchenmotiv.  Ist  es  hier 
nicht  ausgesprochen,  dafs  der  verhängnisvolle  Wunsch 
der  dritte  ist,  obwohl  er  das  sein  mufs,  so  sah  man  dort 
die  beiden  ersten,  Errettung  aus  dem  Labyrinth  und  aus 
dem  Hades,  sich  ebenso  erfüllen.  Der  Schauplatz  war 
nach  Athen  verlegt,  am  Schlüsse  ward  Hippolytos  auf- 
erweckt; das  alles  hat  Euripides  hier  zu  Gunsten  der 
einfachen  Tradition  des  Kultliedes  aufgegeben.  Die  Haupt- 
änderung aber  geht  den  Charakter  Phaidras  an.  Die 
Novelle  giebt  keine  wirklichen  Charaktere,  sie  kann  nur 
mit  ganz  schwarzen  oder  ganz  weifsen  Menschen  operieren, 
die  sich  lediglich  durch  das  charakterisieren,  was  sie 
thun.  Phaidra  handelte  wie  die  Anteia  der  Ilias  und 
Frau  Potiphar.  Nur  einen  Namen  mufste  sie  haben:  sie 
hat  einen  gewöhnlichen  Menschennamen  erhalten;  und 
die  Sage  forderte  eine  erlauchte  Herkunft:  so  ward  sie 
die  Gattin  des  Theseus,  Schwester  Ariadnes  und  Kreterin, 
was  den  Vorteil  bot,  dafs  die  Kreterinnen  wegen  ihrer 
Liebesverirrungen  berufen  waren.  Dem  entsprechend  hat 
sie  Euripides  in  der  ersten  Bearbeitung  charakterisiert. 
Dort  war  sie  die,  welche  Racine  von  Seneca,  dieser  eben 
aus  Euripides'  älterem  Drama  aufgenommen  haben:  sie 
trug  ihre  Liebe  dem  Hippolytos  geradezu  an,  suchte  ihn 
mit  allen  Mitteln,  auch  mit  der  Aussicht  auf  den  Thron 
des  Theseus,  zu  verführen,  benahm  sich  überhaupt  wie 
ein  verworfenes  Weib,  wie  sich  die  Athener  gern  eine 
Kreterin  dachten.  Eben  darum  ward  das  Stück  vom 
Publikum  abgelehnt.  Es  wird  gewifs  viel  Philistermoral 
dabei  thätig  gewesen  sein,  wie  sie  Aristophanes  von  sich 
giebt.  Sie  fanden  unschicklich,  dafs  auf  der  tragischen 
Bühne  eine  Königin  von  Athen  sich  ihrem  Stiefsohne  an- 
trug; das  wäre  zwar  leider  wirklich  passiert,  aber  so  etwas 


101 


stellte  man  eben  nicht  dar.  Es  ist  für  die  Emanzipa- 
tion des  weiblichen  Fleisches  vielleicht  mehr  bezeichnend 
als  für  den  Wechsel  der  Anstandsbegriffe,  dafs  der  Ver- 
traute Agrippinas  und  der  Höfling  Ludwigs  XIV.  diese 
Phaidra  wieder  vorgesucht  haben.  Aber  ganz  Unrecht 
können  die  Athener  nicht  gehabt  haben:  Euripides  hat 
ja  selbst  eine  andere  Phaidra  gedichtet,  die  moralisch 
schwerlich  viel  besser  als  die  freche  Buhlerin,  aber 
ganz  im  tragischen  Stile  gehalten  ist:  die  haben  die 
Athener  bewundert,  und  auch  wir  werden  die  erste 
neben  ihr  gar  nicht  nennen  mögen,  nicht  weil  die  Phi- 
listermoral in  der  Kunst  mitzusprechen  hätte,  sondern 
weil  erst  hier  der  Dichter  gethan  hat,  was  zu  können 
seine  besondere  Gröfse  ausmacht,  die  Menschen  darzu- 
stellen, wie  sie  sind,  weil  er  erst  hier  die  Handlung  als 
das  Produkt  des  Charakters  verständlich  gemacht  hat. 
Den  Reflexen  der  älteren  Fassung  in  der  neuen  und  voU- 
kommnen  nachzugehen,  sei  dem  denkenden  Leser  als  eine 
lohnende  Aufgabe  empfohlen^). 

Die  Phaidra  des  Euripides  ist  kein  gemeines  Weib; 
sie  ist  nicht  einmal  von  lebhafter  Sinnlichkeit,  vielmehr 
wiegt  ein  scharfer  Verstand  vor.  Sie  liebt  die  Tugend, 
wenigstens  redet  sie  sehr  viel  davon,  und  Bilder,  wie  sie 
Ophelias  Phantasie  beherrschen,  bringt  in  Phaidra  der 
Wahnsinn  nicht  an  die  Oberfläche;  aber  sie  weifs,  was 
an  den  Tag  kommen  müfste,  wenn  ihr  der  Spiegel 
vorgehalten  würde.  Sie  ist  durchaus  eine  Frau  der  vor- 
nehmen Welt,  kennt  und  erfüllt  ihre  Pflichten:  sie  hat 
Mann  und  Kinder,  Verwandte  und  gesellschaftliche  Stellung 
und  weifs  die  Rücksichten,  die  sie  allen  schuldig  ist,  wohl 


1)  Darüber  habe  ich  das  Nötigste  in  der  Einleitung  meiner 
ersten  Ausgabe  gesagt.  Das  erste  Stück,  Aigeus,  läfst  sich 
in  seinen  Grundlinien  herstellen,  wenn  man  einigen  neueren 
Entdeckungen  und  älteren  Vermutungen  folgt  und  mit  der 
Technik  des  Dichters  vertraut  ist. 


102 

zu  wahren.  Ihr  Ruf  ist  tadellos.  Aber  ein  innerliches  Ver- 
hältnis hat  sie  zu  Kindern  und  Mann  nicht,  geschweige 
zu  etwas  anderem.  Ihrem  Leben  fehlt  der  Segen  der 
Arbeit,  und  sie  ist  zu  gescheidt,  um  an  dem  Müfsiggange 
und  der  leeren  Geselligkeit  ein  Genüge  zu  finden.  Sie 
hat  schlaflose  Nächte,  in  denen  sie  weltschmerzlichen 
Gedanken  nachhängt.  So  ist  sie  für  die  Leidenschaft 
reif.  Plötzlich  tritt  ihr  in  dem  Stiefsohn  ein  Wesen  ent- 
gegen, das  sie  anstaunt,  schon  weil  sie  es  garnicht  ver- 
steht. Denn  er  ist  anders  als  alle  andern,  fest  und 
sicher  seiner  selbst,  die  Meinungen  der  Welt  als  Schwäche 
verachtend,  und  er  ist  ein  Weiberfeind.  Er  vereinigt  die 
derbe  Jugendlust  des  Mannes  mit  der  Herbheit  der  Jung- 
frau. Aus  ihm  macht  Phaidra  sich  das  Ideal  ihrer 
Träume.  Ein  Leben  frei  von  den  Fesseln  der  Konvention, 
ein  Leben  der  Freiheit  und  des  Gefühles,  wie  sie  es 
nicht  kennt,  erträumt  sie  sich  an  seiner  Seite.  Mit  ihm 
am  Bachesrande  Blumen  pflücken,  an  seiner  Seite  reiten 
und  jagen:  das  gäbe  ihrer  Existenz  einen  Inhalt.  So  ihr 
Gefühl.  Der  Verstand  schweigt  nicht,  und  sie  ist  ge- 
wohnt ihm  zu  folgen.  Sie  weifs,  dafs  sie  den  Fehltritt 
nie  thun  darf  noch  wird,  und  dafs  sie  ihr  Gefühl  in 
tiefster  Seele  verbergen  mufs.  Aber  lassen  kann  sie 
nicht  davon.  Es  wird  sie  verzehren;  sei's  drum,  denkt 
sie.  Sie  spielt  mit  Todesgedanken,  die  ihr  gewifs  im 
Momente  ernst  sind,  aber  die  niemand  ernst  nehmen 
kann;  „man  macht  nicht  viele  Worte,  wenn  man  den 
Abschied  giebt".  Was  sie  fürchtet,  ist  nicht  die  Sünde; 
bewahre,  sie  meint  ja,  nichts  dafür  zu  können,  dafs  sie 
liebt.  Was  sie  fürchtet  ist  die  Schande.  Repräsentation 
war  ihr  Leben.  Sie  war  die  unsträfliche  Gattin,  weil  es 
sich  schickte;  weil  es  sich  schickt,  wird  sie  auck  sterben: 
unmöglich  darf  sie,  Phaidra,  Minos'  Tochter,  Königin  von 
Athen,  einen  Skandal  erregen.  Nun  entlockt  ihr  die  ver- 
traute Dienerin  ihr  Geheimnis:    da  ist   es  ihr  eine  Be- 


103 

ruhigung,  dafs  das  entscheidende  Wort  nicht  aus  ihrem 
eigenen  Munde  gekommen  sei.  Und  als  die  Alte,  die  sie 
nur  zu  gut  kennt,  ihr  aus  der  Seele  spricht  und  als 
einzig  erstrebenswertes  Ziel  hinstellt,  der  süfsen  Sünde 
sich  ohne  die  Schande  hingeben  zu  können,  da  sieht  sie 
wohl  mit  Entsetzen  den  Abgrund  vor  ihren  Füfsen  sich 
aufthun,  aber  trotz  allen  grofsen  Worten  läfst  sie  die 
Alte  gewähren,  und  weifs  doch,  wessen  sie  sich  von  ihr 
zu  versehen  hat.  Wenn  der  Streich  gelingt  und  Hippolytos 
ihr  seine  Liebe  anbietet,  so  wird  sie  gewifs  nicht  ein  ja 
rund  heraus  sagen,  aber  sie  wird  noch  weniger  nein 
sagen  oder  gar  danach  handeln.  Da  erfolgt  die  Ab- 
lehnung, und  zwar  in  einer  Weise,  dafs  nicht  nur  der 
Eklat  da  ist,  sondern  dafs  die  mafslosen  Schmähungen 
des  Geliebten,  die  sie  anhören  mufs,  Phaidra  vollkommen 
die  Illusion  nehmen.  Nicht  nur  als  Person,  als  Frau  hat 
sie  ein  Recht  sich  verletzt  zu  fühlen,  und  sie  mufs  sicli 
auch  sagen,  dafs  dieser  Hippolytos  ihrem  Ideal  wenig 
entspricht.  Den  hat  sie  nie  geliebt,  und  sie  mufs  sich 
schämen  ihn  begehrt  zu  haben.  Die  Hoffnungen  auf 
etwas  Höheres  als  ihr  leeres  Leben  sind  schmählich  ge- 
scheitert, und  in  diesem  Leben  selbst  hat  sie  das  zu 
fürchten,  was  sie  allein  fürchtet,  die  Schande,  und  sogar 
die  Schande,  wie  sie  sich  vorredet,  ohne  die  Sünde. 
Jetzt  hat  sie  in  der  That  keinen  anderen  Ausweg  als 
den  Tod.  Ihre  Ehre,  die  ja  nicht  etw^as  Absolutes  ist, 
sondern  in  dem  Urteile  der  Welt  besteht,  ist  bedroht:  sie 
für  sich  und  ihre  Familie  zu  wahren  geht  sie  in  den 
Tod,  ohne  Furcht,  und  verleumdet  sie  den  ehemals  Ge- 
liebten, ohne  Bedenken. 

Zur  Seite  hat  Euripides  der  Phaidra  die  alte  Pflegerin 
gestellt,  die  sie  zu  dem  erzogen  hat,  was  sie  ist.  Es  ist 
nicht  eine  blofsc  Confidente,  wie  häufig  in  der  attischen 
Tragödie,  wenn  auch  eine  Nebenperson,  die  der  Dichter 
fallen  läfst,  sobald  er  ihrer  nicht  mehr  bedarf.    Die  Alte 


104 

ist  wirklich  die  ergebene  Dienerin  ihrer  Herrin;  deren 
Interesse  opfert  sie  alles,  und  wenn  sie  das  Leben  gering 
schätzt  und  die  Liebe  selbst  als  unverträglich  mit  einem 
verständigen  Egoismus  bezeichnet,  so  hält  sie  trotz  aller 
Frivolität  um  so  entschiedener  auf  den  äufseren  Schein.  Sie 
unterscheidet  sich  von  Phaidra  wesentlich  dadurch,  dafs  das 
Alter  sie  illusionslos  gemacht  hat,  und  dafs  sie  Initiative  hat. 
Wir  sehen  sie  zunächst  eifrig  bemüht,  zu  verhüten,  dafs 
Phaidra  sich  kompromittiert;  wenn  sie  den  Chor  nachher 
zum  Vertrauten  nimmt,  so  erzwingt  das  die  theatralische 
Notwendigkeit.  Natürlich  weifs  sie  längst,  dafs  Phaidra 
verliebt  ist;  sie  müfste  ja  stumpfsinnig  sein,  wenn  sie 
das  nicht  sähe,  und  für  jeden  Aufmerksamen  sagt  sie  es 
auch  deutlich  genug.  Aber  sie  weifs  nicht,  oder  doch 
nicht  sicher,  wer  der  Geliebte  ist.  Das  mufs  sie  heraus- 
bringen, und  nur  weil  sie  die  Aussichtslosigkeit  dieser 
Liebe  richtig  schätzt,  ist  sie  zunächst  aufser  sich,  als 
sie  der  Herrin  den  Namen  Hippolytos  entlockt  hat.  Das 
ist  nicht  Verstellung,  wie  man  denken  könnte,  denn  es 
stört  ihre  Rechnung  und  sie  mufs  einlenken.  Denn  sie 
überzeugt  sich  bald,  dafs  wirklich  kein  dritter  Weg 
bleibt.  Entweder  Hippolytos  oder  der  Tod,  so  steht  es 
für  Phaidra;  und  es  ist  doch  eine  Art  Liebe,  welche  der 
Alten  die  Sophismen  und  Cynismen  eingiebt,  mit  denen 
sie  sich  die  mindestens  stillschweigende  Einwilligung  ver- 
schafft, für  ihre  Herrin  zu  handeln.  Sie  hat  auch  ganz 
recht,  wenn  sie  ausspricht,  dafs  Phaidra  sie  ebenso  laut 
gelobt  haben  würde,  wenn  der  Anschlag  gelungen  wäre, 
wie  sie  sie  jetzt  verdammt.  Und  sie  läfst  in  ihrer  Für- 
sorge nicht  nach.  In  das  Wasser  zu  springen,  wie  die 
Oenone  Racines,  fällt  ihr  freilich  nicht  ein:  so  gröblich 
hat  Euripides  eine  Kammerfrau  nicht  verzeichnet.  Sie 
besorgt  den  Leichnam  der  Herrin.  Aber  verzeichnet  hat 
auch  er  in  etwas  seine  Kammerfrau.  Die  tiefen  Be- 
trachtungen, die  sie  an  Phaidi-as  Krankenbette  austeilt. 


105 

fallen  zum  Teil  wenigstens  aus  der  Rolle.  Der  Vorwurf 
des  Aristophanes,  dafs  selbst  die  alten  Weiber  bei  ihm 
philosophierten,  ist  ein  verdienter. 

Auch  Theseus  ist,  so  weit  er  uns  interessiert  und 
nicht  blofs  ein  Triebrad  der  Handlung  ist,  als  Folie  für 
Phaidra  (und  durch  seine  impulsive  Heftigkeit  für  den 
gemessenen  Hippolytos)  komponiert.  Wir  sehen  ihn  an 
ihrer  Bahre  seine  Trauer  und  dann  seine  Wut  gegen  den 
Schänder  ihrer  Ehre  leidenschaftlich  äufsern,  seinen 
Glauben  an  sie  zuversichtlich  bekennen:  so  sehr  hat  der 
alternde  Mann  die  junge  Frau  geliebt,  so  wenig  hat  er 
sie  verstanden.  Ihr  war  er  immer  gleichgiltig  gewesen, 
und  dafs  er  es  war,  darum  werden  wir  sie  schwerlich 
schelten. 

Das  Wesen  des  Hippolytos  läfst  sich  auf  Griechisch 
mit  einem  Worte  bezeichnen :  es  ist  avs7zaq}n68itov.  Aphro- 
dite ist  für  ihn  der  Teufel,  nicht  weil  er  das  so  gelernt 
hat,  sondern  weil  das  in  seiner  Natur  liegt:  ihm  geht 
alles  Aphrodisische  ab.  Das  gilt  keinesweges  blofs  von 
seiner  Keuschheit  an  Leib  und  Seele;  Aphrodite  verleiht 
dem  Menschen  ja  auch  Liebenswürdigkeit,  innerliche  und 
äufserliche.  Die  fehlt  dem  Hippolytos  ganz  und  gar. 
Freilich  ist  er  ein  kräftiger  schöner  Jüngling,  ergeben 
den  ritterlichen  Vergnügungen  und  Meister  in  diesen 
Künsten.  Aber  er  hat  ein  herrisches  Wesen  gegen 
jedermann  und  kann  gar  nicht  anders  als  anmafsend 
auftreten.  Dafs  sein  Gesinde  und  die  Genossen,  die 
ganz  unter  seiner  Tyrannei  stehen  werden,  ihn  vergöttern, 
dafs  die  Mädchen,  die  er  verachtet,  ihn  von  fern  an- 
schwärmen, steht  in  keinem  Widerspruch  dazu:  hoffärtige 
Jugend  erzielt  das  mit  noblen  Passionen  und  anmafslichem 
Gebaren  bei  Untergebenen  und  jungen  Mädchen  noch 
heute.  Aber  dem  Greise  der  ihn  warnt,  der  Kammerfrau 
und  ihrer  Herrin,  dem  Vater  und  selbst  der  Göttin,  die 
er   verehrt,    gegenüber   kommt    die    Unliebenswürdigkeit 


106 

seiner  Natur  zum  Vorschein.  Sie  wurzelt  in  seiner  Selbst- 
liebe, und  diese  in  dem  Gefühle  der  Bedürfnislosigkeit. 
Er  ist  sich  selbst  genug;  das  Gefühl,  xVnschlufs  zu  suchen, 
zu  lieben  und  geliebt  werden  zu  wollen,  in  welchem  Sinne 
auch  immer,  ist  ihm  ganz  fremd.  Kr  hat  auch  gar  keine 
höheren  Ziele  als  seine  Existenz,  die  er  als  die  Vollendung 
betrachtet.  Er  ist  kein  Grübler  und  kein  politischer 
Streber,  wie  der  Vater  ihm  vorwirft.  Er  fastet  nicht, 
sondern  freut  sich  auf  das  Jagdfrühstück ;  er  begeistert 
sich  nicht  an  dem  Qualm  mystischer  Erbauungslieder, 
sondern  an  dem  frischen  Dufte  der  Blumen,  die  er  auf 
der  Wiese  der  Artemis  pflückt.  Das  ist  sein  Vorrecht: 
mehr  verlangt  er  nicht.  Nun  tritt  ihm  von  aufsen  der 
verbrecherische  Antrag  entgegen,  der  sein  Wesen  im 
Kerne  verletzt;  er  mufs  unschuldig  wegen  des  Verbrechens, 
das  ihm  am  fernsten  liegt,  in  die  Verbannung  und  den 
Tod  gehen.  Beides  steigert  seinen  Tugendstolz  und  macht 
ihn  trotz  allem  Mitleid,  das  er  verdient  und  findet,  nicht 
liebenswürdig.  Er  ist  frei  von  menschlicher  Schwäche: 
das  mag  ihm  den  Himmel  öffnen :  auf  die  Erde  gehört  er 
nicht,  noch  unter  dieser  Götter  Regiment. 

Theseus  macht  seinem  Sohne  die  Vorwürfe,  die  auch 
uns  geläufig  sind  und  sich  am  kürzesten  dahin  zusammen- 
fassen lassen,  dafs  er  ihn  einen  Mucker  nennt.  So  wenig 
sich  ein  moderner  Leser,  der  an  die  konventionellen 
Vorstellungen  von  der  heiteren  Schönheitsreligion  der 
Hellenen  gewöhnt  ist,  dessen  in  einer  attischen  Tragödie 
vermutend  ist,  so  weitverbreitet  war  in  privaten  Kon- 
ventikeln  diese  Art  von  Selbstheiligung  auf  Grund  ge- 
heimer Offenbarungen  und  Weihungen  durch  Enthaltung 
von  den  sinnlichen  Genüssen  des  Lebens,  insbesondere 
von  dem  Fleischgenusse,  also  auch  den  blutigen  Opfern 
der  Volksreligion,  die  denn  auch  Theseus  dem  Hippolytos 
imputiert.  Euripides  hat  sich  wie  mit  ziemlich  allen 
Gedanken  und  Bestrebungen  seiner  Zeit  auch  mit  dieser 


107 

Art  Askese  und  Mystik  wiederholt  beschäftigt,  die  sich 
an  die  Namen  des  Orpheus  und  Pythagoras  knüpft ;  kann 
er  doch  selbst  den  Empedokles  gehört  haben,  der  als 
Prophet  dieser  Heilslehre  den  Peloponnes  durchzog.  Aber 
hier  hat  er  Sorge  getragen,  dafs  die  Bezichtigung  des 
Hippolytos  sogleich  als  unbegründet  erscheint,  und  es  ist 
ein  starkes  Mifsverständnis,  wenn  man  in  dessen  Gefährten 
eine  Bruderschaft  von  mystischen  Artemisdienern  gesehen 
hat,  die  wohl  nirgend  existiert  haben.  Um  so  bedeutsamer 
erscheint  seine  freiwillige  heiter-frische  Keuschheit,  wenn 
sie  nicht  aus  den  trüben  weltflüchtigen  Offenbarungen 
stammt.  Er  hat  nichts  zu  büfsen,  ist  nicht  krank  an 
Sündenschuld,  er  braucht  sein  Fleisch  nicht  abzutöten. 
Er  ist  nicht  keusch  wie  die  Helden  des  christlichen 
Mönchtums,  sondern  wie  Artemis  und  Athena  oder  wie 
seine  Mutter,  die  Amazone.  Er  bezwingt  nicht  das  ein- 
geborne  Böse,  er  folgt  nur  dem  eingebornen  Guten.  Die 
mystisch-asketische  Bewegung,  die  im  sechsten  Jahrhundert 
das  Hellenentum  durchzieht,  lebt  mächtiger  in  der  christ- 
hchen  Kirche  wieder  auf  und  erzeugt  das  grofsartigste 
Gebilde  widernatürlicher  und  übernatürlicher  Heiligkeit, 
das  Mönchtum.  Wichtiger  noch  als  der  geschichtliche 
Zusammenhang  ist  die  geschichtliche  Parallele.  Aber 
das  ist  eben  das  orphisch-pythagoreische  Wesen,  das 
Euripides  als  Muckertum  geifselt:  die  eingeborne  Rein- 
heit, die  auf  der  jungfräulichen  Wiese  der  Schönen-holden 
Blumen  pflückt,  ist  auch  der  ungebrochenen  reinen  Fröm- 
migkeit der  lebensfreudigen  Naturreligion  etwas  Bekanntes 
und  Heihges,  und  wir  werden  sie  wie  der  Dichter  höher 
stellen  als  die  Abtötung  des  Bösen.  Nur  werden  wir 
leider,  wie  er,  zugeben,  dafs  sie  in  dieser  Welt  nicht  be- 
stehen kann.  Wer  die  Bücher  der  alten  Christenheit 
liest,  den  wird  weniges  so  sehr  abstofsen,  als  wenn  die 
Männer,  die  er  gern  als  Heilige  und  als  Menschen  ver- 
ehren möchte,   auf  die  Yirginität  zu  reden  kommen  und 


108 


die  Reinheit  im  Schmutze  suchen,  während  sie  die  Natur 
lästern  und  damit  tief  unter  die  Religion  sinken,  die 
diese  offenbart.  Um  so  lieber  schreibe  ich  eine  Stelle 
aus,  die  mir  zufällig  aufgestofsen  ist:  es  sind  Worte  des 
heiligen  Martin  von  Tours,  die  Sulpicius  Severus  (Dial. 
II,  10)  mitteilt:  Boves  ex  parte  prata  depaverant^  porci 
etiam  nonnulla  suffoderant,  pars  cetera  quae  manebat  illae- 
sa,  diversis  ßoribus  quasi  picta  vernabat,  Speciem,  inquit, 
gerit  illa  coniugii,  quae  a  pecore  depasta  etsi  non  penitus 
gratiam  amisit  herbarum,  nullam  tarnen  florum  retiiiet  digni- 
tatem;  illa  vero  quae  porci  pecora  immunda  foderunt,  for- 
nicationis  imaginem  foedam  protendit;  ceterum  illa  portio 
quae  nullam  sensit  iniuriam,  gloriam  virginitatis  ostendit. 
lierbis  fecunda  luxuriat,  foeni  in  ea  fructus  exuberat,  et 
ultra  omneni  speciem  distincta  ßonbus  quasi  gemmis  mi- 
cantibus  ornata  radiat.  beata  species  ac  Deo  digna:  nihil 
enim  est  virginitati  comparandum.  Es  ist  die  vollkommenste 
Erläuterung  zu  der  Wiese  des  Artemis,  die  von  der 
Keuschheit  gehütet  wird :  und  doch,  wie  viel  wahrer  und 
frommer  ist  die  Keuschheit  des  Hippolytos  —  und  doch 
'lag  in  seinem  Wesen  auch  sein  Untergang'. 

Vielleicht  wird  mancher  Leser  am  meisten  bewundern, 
dafs  ein  Athener  der  perikleischen  Zeit  Charaktere  schaffen 
konnte,  deren  sich  der  Moderne  auf  der  Bühne  des  Oedipus 
nicht  vermutend  ist,  befangen  in  dem  leider  von  den  Philo- 
logen genährten  Wahne,  dafs  detaillierte  Seelengemälde 
den  modernen  Romanen  vorbehalten  wären.  Doch  da 
kostet  es  nur  Aufmerksamkeit  auf  jedes  Wort  und  den 
guten  Willen,  nachzudenken,  damit  man  bewundert,  wie 
viel  in  den  wenigen  Versen  steckt.  Bewunderungswürdiger 
ist,  dafs  Euripides  bei  dieser  psychologischen  Durch- 
bildung das  Grofse  und  Ganze  in  der  Religion  seines 
Volkes  nachempfand,  trotzdem  er  sich  ihr  innerlich  ab- 
gewandt hatte.  Hoffentlich  wird  es  nicht  an  Lesern  fehlen, 
die  ihm  grade  dafür  danken,  was  nur  halb  sein  Verdienst 


109 

ist,  die  Wiedergabe  dieser  Religion.  Das  gilt  ganz  be- 
sonders von  der  Einführung  der  beiden  Göttinnen,  die 
das  Drama  jetzt  ganz  unaufführbar  macht  und  doch  den 
ganz  besonderen  Vorzug  der  Tragödie  bildet.  Aphrodite 
und  Artemis  waren  Personen,  die  ihm  die  Volksvorstellung 
fertig  zur  Verfügung  stellte,  während  es  dem  Modernen 
schwer  fällt,  dem  Dichter  zu  folgen,  weil  er  nicht  mit- 
bringt, was  jener  voraussetzt.  Die  Aber  Weisheit  sieht 
freilich  in  dem  Prolog  eine  unvollkommene  Art  der  Ex- 
position i):  als  ob  sich  nicht  Hippolytos  und  Phaidra 
selbst  exponierten.  Für  das  Verständnis  von  dem  was 
geschieht  könnte  Aphrodite  fehlen,  und  ebenso  ist  Artemis 
nicht  dazu  da,  den  Knoten  zu  zerhauen,  weil  ihn  der 
Dichter  nicht  lösen  kann.  Die  Kammerfrau  und  der  Chor 
standen  ja  zur  Verfügung,  um  Theseus  von  der  Unschuld 
seines  Sohnes  zu  überzeugen.  Noch  viel  weniger  ist  die 
plumpe  Ungerechtigkeit  einer  Widerlegung  wert,  dafs  durch 
die  Göttinnen  an  den  Tag  käme,  der  Menschen  Leiden 
und  Thun  wäre  der  Erfolg  einer  blinden  Willkür,  heifse 
diese  nun  Gott  oder  Schicksal  oder  Zufall.  Diese  Men- 
schen haben  ihre  Handlungen  selbst  zu  verantworten,  sind 
ihrer  Geschicke  Urheber  selbst,   genau  so  weit  wie  wir 


1)  Der  Prolog  hat,  wie  öfter  bei  Euripides,  die  Absicht, 
die  Spanrning-  des  Beschauers  zu  erhöhen,  indem  er  ihn  auf 
eine  falsche  Fährte  lockt.  Aphrodite  sagt  zwar  den  Tod  von 
Phaidra  und  Hippolytos  voraus,  aber  nichts  davon,  dafs  sie 
das  Verbrechen,  zu  dem  sie  sie  treibt,  nicht  begehen  werden. 
Das  folgt  auch  aus  dem  Verhalten  der  Personen  zunächst 
durchaus  nicht.  Im  Gegenteil,  als  die  Kammerfrau  mit  voller 
Billigung  Phaidras  ins  Haus  geht,  dem  Hippolytos  den  Antrag 
zu  machen,  singt  der  Chor  ein  Lied,  das  die  Verderblicbkeit 
der  Liebe  schildert,  aber  als  Folge  des  Fehltritts:  auch  der 
Chor  erwartet  erst  das  Verbrechen,  dann  den  Untergang  beider. 
So  sollte  also  das  Publikum  thun.  Dafs  wir  das  nicht  so 
fühlen,  liegt  daran,  dafs  für  uns  Hippolytos  der  Held  ist,  den 
eben  dies  Drama  geschafifen  hat.  Sein  eigener  Erfolg  schwächt 
seine  unmittelbare   Wirkung  ab. 


110 

Menschen  es  überhaupt  smd.  Da  braucht  kein  Gott  vom 
Himmel  herabzukommen,  damit  eine  femme  incomprise  zu 
Fall  kommt,  ein  reiner  Jüngling  Blutschande  und  Mein- 
eid mehr  fürchtet  als  den  Tod,  und  der  alternde  Gatte 
einer  jungen  hübschen  Frau  in  der  Eifersucht  sich  ver- 
gifst.  Euripides  selbst  glaubt  an  die  Götter,  die  er  ein- 
führt, überhaupt  nicht,  oder  vielmehr  er  glaubt  an  sie 
nicht  wie  sein  Volk,  das  zu  ihnen  betet  und  ihnen  opfert, 
sondern  er  glaubt  an  sie,  wie  ich  bekenne,  auch  an  sie 
zu  glauben.  Aber  er  bedient  sich  des  ungeheuren  Vor- 
teils, dafs  er  die  höchst  realen  ewigen  Mächte,  die  in 
dem  sittlichen  Leben  der  Menschen  walten,  nicht  als 
körperlose  Abstraktionen  belassen  mufs,  wie  sie  sich  dem 
Denken  darstellen,  noch  zu  symbolischen  Schatten  aus 
eigner  Phantasie  gestalten  mufs:  die  Phantasie  seines 
Volkes  beut  sie  ihm  dar  als  leibhaftige  Götter,  zu  Per- 
sonen, man  möchte  sagen  von  Fleisch  und  Blut,  ausge- 
staltet in  der  ununterbrochenen  dichterischen  Arbeit  von 
Jahrhunderten.  Unsere  Lebenserfahrung  und  unser  Ge- 
wissen sagen  uns,  dafs  ein  Verhalten  wie  das  des  Hippo- 
lytos  wider  die  Natur  ist,  das  heifst  mit  anderm  Aus- 
druck wider  Gott,  dafs  solch  ein  Tugendstolz,  nicht  in 
den  Legenden,  aber  in  der  Wahrheit  sittlichen  Gefühles 
vor  dem  Falle  kommt,  nicht  in  die  Sünde,  die  er  flieht, 
aber  in  die  Sünde.  Wir  wissen  es,  dafs  die  elementare 
Gewalt  der  Leidenschaft  alle  Schranken  der  konventionellen 
Moral  zerbricht,  dafs  das  überhaupt  nur  ein  schwächliches 
Surrogat  der  Sittlichkeit  ist,  was  die  Rücksicht  auf  die 
Schicklichkeit  erzeugt.  Die  Keuschheit,  die  rein  bleibt 
um  des  Urteils  der  andern  willen,  ist  nicht  die  Pflegerin 
von  x^rtemis'  Wiesen.  Lebenserfahrung  und  Gewissen 
lehren  uns  gewifs  die  tiefe  Wahrheit,  dafs  die  Negation 
des  Geschlechtstriebes  nicht  gut  ist,  und  dafs  die  Gewalt 
der  Leidenschaft,  die  eine  unsträfliche  Frau  zu  dem  Ver- 
brechen der  Blutschande  treiben  kann,  eine  entsetzliche 


111 

Realität  ist.  Aber  wie  grau  und  blafs  sind  diese  Ge- 
danken gegenüber  der  Erscheinung  Aphrodites.  Die 
Göttin  spricht  das  alles  gar  nicht  aus.  Ihren  Willen 
spricht  sie  aus,  ganz  konkret,  als  mitthätige  Person  des 
Dramas.  Jene  allgemeinen  Gedanken  sind  durch  ihre 
Erscheinung  gegeben :  sie  ist  die  natürliche,  die  göttliche 
Gewalt,  die  Phaidra  und  Hippolytos  schuldig  werden  und 
büfsen  läfst.  Das  ist  sie  für  Euripides  und  für  uns :  für 
seine  Zuschauer  war  sie  die  Herrin  des  ein  paar  hundert 
Schritte  weiter  rechts  gelegenen  Heiligtums,  wo  sie  oder 
ihre  Frauen  opferten  und  beteten. 

Was  auf  Erden  Überhebung  ist,  unvereinbar  mit  der 
irdischen  Unzulänglichkeit,  wird  im  Himmel  Ereignis. 
Dort  waltet  Reinheit  und  Jungfräulichkeit,  die  nur  des- 
halb nichts  für  uns  ist,  weil  das  Fleisch  uns  verhindert 
nach  dem  zu  leben,  was  wir  als  recht  erkennen,  die  aber 
dennoch  die  Sehnsucht  edelster  Seelen  ist.  Wenn  dem 
totwunden  Hippolytos  der  Duft  des  Himmnls  die  Schmerzen 
lindert,  wenn  das  Ideal,  'dem  er  sich  angelobt  hat  ohne 
es  je  gesehen  zu  haben,  und  für  das  er  stirbt,  nun  in 
der  himmlischen  Jungfrau  leibhaft  erscheint  und  Frieden 
und  Versöhnung  auch  in  sein  verwundetes  Herz  träufelt: 
nun,  der  mufs  im  Kote  verfault  oder  in  Hoffart  erstickt 
sein,  dem  nicht  ein  warmer  Strahl  dieser  göttlichen  Er- 
scheinung ins  Herz  dringt^).      Für  die  Athener  war  das 


1)  Es  ist  nun  30  Jahre  her,  dafs  ich  die  Macht  dieser 
Scene  an  einer  alten  Dame  erprobt  habe.  Ihr  war  die 
griechische  und  überhaupt  die  wirklich  liohe  Poesie  nie  eine 
lebendige  Macht  geworden.  Die  klassische  Poesie,  die  sie 
als  solche  von  Kindheit  an  zu  respektieren  gewohnt  war,  war 
die  französische.  Das  Leben  hatte  ihr  die  deutsche  Romantik 
und  das  junge  Deutschland  nicht  einmal  in  ihren  besten  Ver- 
tretern nahe  gebracht.  Ida  Hahn -Hahn  hatte  ihr  nahe  ge- 
standen, Frivolität  und  Frömmelei  waren  ihr  also  nicht  fremd. 
Aber  ein  scharfer  Verstand  und  ein  lebhafter  Sinn  für  das 
Echte  half  ihr  immer  durch.  Nun  las  ich  ihr  meine  Über- 
setzung des  Hippolytos    vor.     Sie   brachte  natürlich  das  Vor- 


112 

die  Artemis,  die  auf  dem  Felsen  oberhalb  des  Aphrodite- 
tempels wohnte,  der  ihre  Töchter  als  kleine  Mädchen 
dienten,  und  die  ihren  Müttern  und  Gattinnen  in  schwerer 
Stunde  beigestanden  hatte. 

Euripides  hätte  die  Göttinnen  so  nicht  einführen 
können,  wenn  nicht  sein  Volk  an  sie  geglaubt  hätte.  Er 
würde  die  menschlichen  Charaktere  nicht  haben  mensch- 
lich dichten  können,  wenn  er  den  Glauben  seines  Volkes 
noch  geteilt  hätte.  Darin  liegt  sein  eigentümlicher  Vor- 
zug; aber  es  bleibt  ein  Mifsverhältnis,  und  auch  in  den 
vollen  Trank  der  Poesie,  den  er  uns  hier  kredenzt,  fällt 
ein  Tropfen  dieses  Giftes.  Seine  Götter  sind  keine 
Menschen,  und  sie  sind  doch  nur  zu  menschlich.  Aphro- 
dite ist  gehässig,  sie  kennt  weder  Verzeihen  noch  Er- 
barmen. Der  alte  Knecht  ist  frommer  als  die  Göttin, 
zu  der  er  betet.  Artemis  kann  vor  dem  menschlichen 
Gewissen  durch  das  Gesetz  des  Zeus,  das  der  Dichter 
erfindet,  nicht  entlastet  werden:  sie  hat  den  unschuldigen 
Liebling  ruhig  umkommen  lassen  und  will  erbarmungslos 
und  gehässig  sich  an  Aphrodite  rächen.  Der  leise  Vor- 
wurf des  Sterbenden,  auf  dessen  brechendes  Auge  die 
olympische  Reinheit  nicht  hinblicken  darf,  wird  in  unserm 
Herzen  zu  der  lauten  Anklage:  ihr  habt  für  Götter  des 
Menschlichen  zu  viel,  und  es  fehlt  euch  doch  das  Beste 
des  Menschen,  die  Liebe  die  für  andere  lebt.    Euripides 


Tirteil  mit,  dafs  Racine  das  alte  tote  Zeug  längst  überwunden 
hätte,  das  Gefühl,  dafs  ihrem  Herzen  Racine  auch  nicht  ge- 
nügte, und  die  richtig-e  Schätzung,  dafs  meine  Übersetzung 
so  unreif  sein  müfste  wie  ich.  So  war  ich  denn  sehr  ent- 
täuscht, denn  der  erhoffte  Erfolg  blieb  aus.  Aber  ich  las 
weiter,  denn  ich  glaubte  au  meine  Ideale.  Da  kam  das  Lied 
an  Aphrodite  hinter  dem  Boteubericht  und  die  Erscheinung 
der  Artemis.  Da  flammte  das  echte  Feuer  der  Begfeisterung 
in  den  lebhaften  Augen  der  Greisin  auf,  und  als  ich  fertig 
war,  sprang  sie  auf  ihre  gebrechlichen  Füfse,  klatschte  in  die 
Hände  und  rief:  'Das  ist  mehr  als  Racine:  hat  das  wirklich 
ein  Heide  gedichtet?' 


113 

hat  diese  Disharmonie  nicht  verhüllt,  im  Gegenteil,  er 
hat  sie  geflissentlich  hervorgezogen.  Das  ist  seine  Art 
oder  Unart.  Aber  auch  hier  bleibt  er  ehrlich  und  wahr: 
er  glaubt  an  den  unpersönlichen  Gott,  der  in  Natur  und 
Sittlichkeit  regiert,  aber  er  zürnt  seinem  Volke,  weil  es 
an  die  persönlichen  Götter  glaubt. 

Wie  gewöhnlich  hat  Euripides  auch  hier  sich  nicht 
gescheut  seine  eigensten  individuellen  Stimmungen  und 
Gefühle  trotz  der  dramatischen  Form  auszusprechen,  nicht 
nur  in  den  grofsen  Liedern  des  Chores,  der  bereits  als 
ein  konventionelles,  nicht  immer  bequemes  Stück  der 
theatralischen  Sitte  betrachtet  und  behandelt  wird,  son- 
dern auch  in  langen  Reden,  wie  sie  Phaidra  über  die 
Schwäche  des  menschlichen  Willens,  die  Amme  über  die 
Leiden  des  Lebens  führt.  Er  kannte  die  Qual  des 
Grübelns  in  schlafloser  Nacht;  er  war  nicht  glücklich 
dadurch  geworden,  dafs  er  die  Bücher  der  Geschichte 
und  das  Getriebe  der  Welt  kannte.  Den  sokratischen 
Glauben  an  die  Kraft  des  von  der  rechten  Einsicht  ge- 
lenkten Willens  hatte  er  nicht  erlangt;  überall  sah  er 
durch  die  Leidenschaften,  durch  die  Übertreibungen  auch 
der  edlen  Regungen  den  Menschen  schuldig  werden.  Es 
mochte  ihn  wohl  der  Wunsch  anwandeln,  dafs  die  alte 
weise  Mahnung,  die  sein  Volk  sich  darum  immer  vor- 
hielt, weil  es  immer  gegen  sie  verstiefs,  in  allem  befolgt 
würde  „alles  mit  Mafs",  „nimmer  zu  viel".  Auch  in  der 
Forschung,  die  er  doch  rastlos  trieb,  konnte  er  sich  wün- 
schen die  Mittelstrafse  zu  finden,  die  sein  Chor  in  dem 
letzten  grofsen  Liede  preist.  Es  mochte  ihm,  wenn  er 
in  seiner  einsamen  Grotte  auf  Salamis  des  Denkens  müde 
geworden  war,  selbst  der  Wunsch  kommen,  sorglos  und 
unbedacht  dem  Heute  zu  leben  —  aber  er  wufste  wohl, 
dafs  er  nicht  zurück  konnte,  nachdem  er  einmal  vom 
Baume  der  Erkenntnis  gegessen  hatte.  In  dieser  Welt 
ist   kein   Frieden,    das   weifs   er.      Wird    der   Tod   ihn 

Griech.  Tragödien.     I.  8 


114 


bringen?  Das  mag  er  hoffen,  aber  ach,  das  weifs  er 
nicht,  das  kann  niemand  ihn  lehren.  So  kommt  ihm  das 
Sehnen  nach  Entrückung  aus  dieser  engen  schalen  Welt. 
Die  Sonne,  die  er,  im  Scheiden  doppelt  schön,  hinter 
Moreas  Höhn  versinken  sieht,  scheint  den  Weg  zu  weisen 
zu  dem  fernen  Garten  der  Seligkeit  jenseits  des  Okeanos, 
von  dem  die  Märchen  seines  Volkes  erzählen.  Das  Volks- 
lied, „wenn  ich  ein  Vöglein  war",  summt  in  seinem  Ohre: 
so  dichtet  er  das  Lied:  ^,0  war'  ich  von  hinnen".  Was 
er  ersehnt  ist  nicht  die  Eudämonie,  die  sich  sein  Volk 
in  sinnlichem  Genüsse  ausmalt,  aber  Eudämonie  ist  es 
auch :  Friede  mit  Gott,  mit  dem  wahren  Gotte,  der  nicht 
im  aufserweltlichen  Paradiese,  sondern  im  eignen  sehn- 
suchtskranken Herzen  seine  Stätte  hat.  Das  Lied  legt 
er  dann  dem  Chor  in  den  Mund. 

Es  hat  sich  eine  ästhetische  Theorie  gebildet,  nach 
der  des  Tragikers  Pflicht  ist  mit  seiner  Person  ganz  zu 
verschwinden.  An  Shakespeare  ist  sie  gewonnen,  und 
ich  bin  geneigt,  sie  da  für  richtig  zu  halten.  Mag  sie 
es  überhaupt  sein,  mag  es  zu  den  Unvollkommenheiten 
der  athenischen  Tragödie  gerechnet  werden,  dafs  ihre 
Dichter  sich  als  die  berufenen  Lehrer  ihres  Volkes 
fühlten  und  daher  als  ganz  individuelle  Menschen  per- 
sönlich in  ihren  Dramen  wirken :  es  ist  so.  Wer  sie  auch 
schelten  will:  erst  mufs  er  sie  verstehn,  und  zwar  als 
individuelle  Menschen  verstehn.  Prospero  giebt  dem 
Ariel  den  Laufpafs  und  wird  wieder  Herzog  von  Mailand. 
Der  Schauspieler  William  Shakespeare  hängt  die  Poesie 
an  den  Nagel,  als  er  ein  respektabler  Herr  der  Gentry 
zu  werden  in  der  Lage  ist.  Die  drei  Athener  haben  ge- 
dichtet, fast  kann  man  sagen,  bis  übers  Grab  hinaus. 
Hinter  ihren  Werken  steigt  nicht  nur  ihr  Volk  und  sein 
Staat,  sein  Glaube  und  seine  Geschichte  empor,  sondern 
da  kommen  sie  selbst,  leibhaft,  geisterhaft,  wie  Heroen, 
und  doch  durch  ihre  leibhafte  Menschlichkeit  dämonisch 


115 

unsere  Herzen  bezwingend  —  wie  Goethes  braunes  Auge 
uns  aus  jedem  seiner  Werke  anblickt.  Das  gilt  von  allen 
dreien;  aber  weil  Euripides  sein  rastloses  Leben  lang 
gesucht  und  gefunden  und  wieder  verworfen  hat,  weil  er 
sich  kaum  je  am  Ziele  glaubt  und,  wenn  er  es  thut,  gleich 
wieder  zu  einem  andern  stürmt,  ist  das  Verständnis  seiner 
Werke  überhaupt  nur  durch  das  Verständnis  seiner  In- 
dividualität möglich. 


8* 


EURIPIDES 

HIPPOLYTOS 


PERSONEN. 


Aphrodite. 
Artemis. 


Theseus. 

Phaidra,  seine  Gattin. 

Hippolytos,  sein  Sohn. 

Ein  Greif 

Ein  Reitk: 

Eine  Kammerfrau  der  Phaidra. 


,      J-    Diener  des  Hippolytos 


Diener  des  Hippolytos  als  Nebenchor. 

Gefolge  der  drei  königlichen  Personen. 


Die  Hintericand  der  Bühne  stellt   die   Front   des  Konigsschlosses 

von  Trozen  dar,  in  der  Mitte  eine  geioaltige  Flügelthür.     Vor  dem 

Schlosse  stehen  eine  Statue  der  Aphrodite    und  eine  der  Artemis, 

vor  einer  jeden  ein  Altar. 

Aphrodite. 
Im  Himmel  und  auf  Erden  kennt  man  mich 
und  meiner  Gottheit  Wirken,  Aphrodites. 
In  allem  Volke,  das  vom  Kaukasus 
bis  zu  dem  Ozean  des  Atlas  wohnt, 

ö  erheb'  ich  den,  der  meinem  Scepter  huldigt, 
und  bringe  den  zu  Falle,  der  mir  trotzt. 
Denn  auch  die  Götter  sind  nicht  unempfänglich 
für  Ehren,  die  die  Menschen  ihnen  weihn. 
Wie  wahr  das  ist,  soll  sich  noch  heute  zeigen. 

10      Der  Sohn  des  Theseus  und  der  Amazone, 
Hippolytos,  des  frommen  Pittheus  Zögling, 
verwirft  den  Glauben  dieser  seiner  Heimat 
Trozen,  erklärt  mich  für  die  niedrigste 
der  Himmlischen,  verschmäht  der  Liebe  Freuden 
und  hat  sich  ew'ger  Keuschheit  angelobt. 

15  Doch  Artemis,  die  jungfräuliche  Schwester 
Apollons,  ehrt  und  preist  er  als  die  höchste 
der  Himmlischen,  und  stets  an  ihrer  Seite 
geht  er  dem  Waidwerk  mit  der  Meute  nach, 
gewürdigt  übermenschlicher  Gesellschaft. 

20  Das  gönn'  ich  ihnen  gern.     Wie  sollt'  ich  nicht? 
Doch  was  Hippolytos  an  mir  gefrevelt, 
das  räch'  ich,  heute  noch.     Rasch  ist's  gethan, 
von  langer  Hand  ist  alles  vorbereitet. 


120 


Die  Weihen  in  Eleusis  zu  empfangen, 

25  kam  vorlängst  er  einmal  aus  Pittheus'  Stadt 
hinüber  nach  Athen,  und  dabei  sah 
ihn  Phaidra,  seines  Vaters  edle  Gattin, 
und  fühlte  sich  von  Liebesleidenschaft 
ergriffen:  so  geschah's  durch  meinen  Willen. 
Schon  eh'  sie  noch  hierher  herüberkam, 

30  hat  sie  ihr  fernes  Lieben  kundgethan. 
Denn  einen  Aphroditetempel  baute 
sie  an  dem  Abhang  von  Athenas  Felsen, 
da  eben,  wo  der  Blick  Trozen  erreicht. 
Ich  aber  sprach:  'Hier  will  ich  künftig  wohnen 
als  Aphrodite  des  Hippolytos'. 

Als  Theseus  dann,  des  Pallantidenmordes 

35  Blutschuld  zu  büfsen,  fortzog  von  Athen 
und  hierher  mit  der  Gattin  fuhr,  ein  Jahr 
der  Sühne  fern  der  Heimat  zu  verbringen, 
da  ist's  um  sie  geschehen.     Liebeskrauk 
verzehrt  sie  ihren  Leib;  sie  schwärmt,  sie  stöhnt, 

40  doch  schweigt  sie:  keiner  weifs,  woran  sie  leidet. 
Allein  so  darf  die  Liebe  nicht  verlaufen. 
Sie  kommt  ans  Licht,  Hippolytos  erfährt  sie, 
und  es  erschlägt  den  Jüngling,  meinen  Feind, 
durch  seinen  Fluch  der  Vater.     Denn  Poseidon, 

45  der  Meeresherr,  hat  Theseus  als  Geschenk 
verheifsen,  dreimal  ohne  Weigern  ihm, 
was  immer  er  begehre,  zu  erfüllen. 
Auch  Phaidra  mufs,  wenn  auch  in  Ehren,  sterben. 
Denn  so  viel  gilt  ihr  Untergang  mir  nicht, 

50  dafs  ich  verzichten  sollt'  an  meinen  Feinden 
mich  so  zu  rächen,  dafs  es  mich  befriedigt. 

Indes  da  seh'  ich,  kommt  Hippolytos, 
ich  mach'  ihm  Platz.     Vom  Jagen  kehrt  er  heim, 
und  eine  Dienerschar  begleitet  ihn. 

55  Sie  huldigen  der  Herrin  Artemis 


121 

mit  lautem  Lobgesang.     Noch  ahnt  er  nicht, 

dafs  ihm  des  Todes  Pforten  aufgethan, 

und  er  das  Licht  zum  letzten  Male  schaut.     Ab. 

Hippolytos 
einen  Kranz  von  Feldblumen  in  der  Handj  in  Jagdkleidung, 
hinter  ihm  eine  Schar  von  Dienern^  ebenfalls  in  Kleidung  und 
Haltung  die  Bückkehr  von  der  Jagd  offenbarend;  der  Zug  geht 
auf  den  Altar  der  Artemis  zu.  Die  Lieder  loerden  während  des 
Gehens  gesungen.  Während  der  folgenden  Scene  sind  die  Diener 
um  den  Altar  mannigfach  beschäftigt. 

Folgt,  ihr  Gefährten,  beginnt  den  Gesang, 
singet  der  himmlischen  Tochter  des  Zeus, 
60        Artemis,  die  uns  beschirmet. 

Chor  der  Diener. 

Herrin,  erhabenste 

Herrin,  wir  grüfsen  dich, 

Tochter  des  Zeus. 
65  Leto  gebar  dich  ihm, 

dich  die  allerschönste.     Dir 

huld'gen  wir,  Artemis. 

Droben  im  güldnen  Saal, 

himmlischen  Vaters  Haus, 

wohnen  Jungfrauen  viel, 

himmlische,  reizende: 

aber  wir  huld'gen  dir, 
70  schönsten  der  Himmlischen, 

reinsten,  jungfräulichsten, 

Artemis,  dir. 

Hippolytos 

am  Altar,   auf  den  er  den  Kranz  legt. 

Dir  bring'  ich,  Herrin,  diesen  frischen  Kranz, 
den  ich  auf  nie  Versehrter  Aue  wand. 
75  Dort  wagt  der  Hirt  die  Herde  nicht  zu  treiben, 


122 

nie  hat  der  Sichel  Schneide  sie  berührt, 
jungfräulich  ist  die  Au',  und  nur  die  Biene, 
die  heil'ge,  schwärmt  durch  ihren  Frühlingsflor: 
denn  Keuschheil  ist  die  Nymphe,  die  sie  tränkt, 
und  keine  Blume  gönnt  sie  der  Gemeinheit. 
80  Dort  pflückt  die  Unschuld  nur,  die  eingeboren, 
nicht  anerzogen,  tief  im  Herzen  wohnt. 
So  nimm  denn,  teure  Herrin,  diesen  Schmuck 
des  güldnen  Haars  aus  meiner  reinen  Hand. 
Begnadet  bin  ich  ja  vor  allen  Menschen, 
85  um  dich  zu  sein,  mein  Wort  an  dich  zu  richten, 
der  Unsichtbaren  Antwort  zu  vernehmen: 
0  lafs  mich  also  wandeln  bis  ans  Grab. 
Als  er  sich  ahvendet    und   auf  die  Hausthür  zuschreitet^    vertritt 
ihm  ein  G  r  e  i  S ,  aus  dem  Chore  vortretend t  den   Weg 
Gebieter,  Grufs  gebührt  den  Herr'n  im  Himmel, 
magst  du  wohl  einer  guten  Mahnung  folgen? 
Hippolytos. 
90  Sehr  gern,  nicht  weise  war'  ich,  wollt'  ich's  nicht. 
Greis. 
Du  weifst  doch,  es  ist  Regel  in  der  Welt,  ~ 

Hippolytos. 
Was  soll  ich  wissen?     Wonach  fragst  du  mich? 

Greis. 
Dafs  niemand  Eigensinn  und  Hochmut  liebt. 
Hippolytos. 
95  Ja,  überall  macht  Hochmut  sich  verhafst. 
Greis. 
Doch  rücksichtsvolle  Höflichkeit  gefällt? 

Hippolytos. 
Gewifs.     Sie  ist  so  leicht  und  lohnt  so  reich. 

Greis. 
Und  so  empfinden  auch  die  Götter?  nicht? 


123 


Hippolytos. 
Ja.     Unser  Leben  ist  des  ihren  Abbild. 

Greis. 
Und  dennoch  kränkst  du  eine  hohe  Göttin? 

Hippolytos. 
100  Wen?    Hüte  deinen  Mund;  er  möchte  fehlen. 

Greis 

auf  die  Statue  deutend. 
Sie  steht  vor  deinem  Haus  hier,  Aphrodite. 
Hippolytos 

mit  flüchtiger  Geberde  des  Grußes. 

Mein  Leib  ist  keusch.     Von  ferne  grüfs'  ich  sie. 

Greis. 
Doch  sie  ist  grofs,  gewaltig  in  der  Welt. 

Hippolytos. 
Nicht  jeder  huldigt  jedem,  Gott  noch  Mensch. 
Greis. 
105  Du  bist  zu  weise;  mög'  es  dir  gedeihen. 

Hippolytos. 
Ich  mag  nicht  Götter,  die  im  Finstern  wirken. 

Greis. 
Sohn,  gieb  den  Göttern,  was  der  Götter  ist. 

Hippolytos 
sich  rasch  ahcendend. 

Ihr  seid  entlassen,  Diener,  geht  und  rüstet 
ein  Frühmahl.     Köstlich  Ding  ist  nach  der  Jagd 
110  ein  voller  Tisch.     Dann  müssen  auch  die  Pferde 
gestriegelt  werden.     Nach  dem  Essen  spannen 
wir  an;  ich  denke  weidlich  sie  zu  tummeln. 
Die  Diener  seitlich  ab.      Indem  er  auf  die  Uausthür  zu  an 
dern  Greise  vorbeigeht. 

Mit  deiner  Aphrodite  bleib'  mir  ferne. 


124 


Der  Greis  warteU  bis  die  Bühne  leer  ist,  dann  tritt  er 
an  den  Altar  der  Aphrodite. 

Ich  bin  für  solchen  hohen  Sinn  zu  alt, 
116  und  offen  reden  darf  der  Sklave  nicht, 

doch  beten  kann  ich  hier  vor  deinem  Bilde. 

Gebiet'rin  Aphrodite,  und  man  mufs 

nachsichtig  sein.     Wenn  übermüt'ge  Jugend 

zu  lästerlichen  Reden  sich  versteigt, 

so  überhör'  es.     Eine  Göttin  mufs 
120  erhaben  über  Menschenthbrheit  sein. 

Seitlich  ab. 

Chor  trozenischer  Frauen 

zieht  von  der  andern  Seite  ein. 

Ewig  jung  entsprudelt  ein  Quell  dem  Felsen, 
frischen  Strahles  Eimer  um  Eimer  füllend, 

125  unerschöpflich  rinnend  und  Leben  spendend. 
Eine  Gespielin 

traf  ich  dort,  ihr  blendendes  Linnen  spülend 
tief  im  Bach,  auf  sonnige  Hügelrücken 
weithin  breitend.     Sie  vertraute  zuerst  mir 

180  meiner  Königin  schweres  Leid. 

In  der  Kammer  liege  sie  krank,  gefesselt 
an  das  Siechbett;  über  dem  blonden  Haupte 

135  liege  tief  beschattend  der  dichte  Schleier, 
und  sie  verschmähe 
standhaft  jede  nährende  Gottesgabe, 
schon  drei  Tage  Speise  noch  Trank  berührend: 
niemand  kenne  des  Leidens  Grund.     So  strebt  sie 

140  stumm  dem  schrecklichen  Ende  zu. 

Dich  mufs,  Herrin,  ein  Gott  im  Groll, 
Rhea,  Hekate  oder  Pan 
oder  der  Korybanten  Schar 
sinnumnachtend  verfolgen. 


125 

145  Oder  bist  du  der  Jägerin 

Artemis  verfallen  und  siechst 

hin  zur  Strafe  für  ein  verfehltes  Opfer? 

Wenn  zum  üünensande  Trozens 

sich  die  schwellende  Hochflut  wälzt, 
150  kommt  die  Göttin  im  Strudel. 

Oder  hat  den  Gemahl,  Athens 

gottentsprofsnen  erhabnen  Herrn, 

arge  buhlende  Kunst  berückt, 

deiner  Lieb'  ihn  entfremdend? 
155  Kam  vom  kretischen  Heimatland 

über  das  Meer  ein  Schiffersmann, 

gern  im  gastfrei  freundlichen  Hafen  rastend? 

Bracht'  er  Kunde  der  Königin, 

dafs  sie  also  im  Kämmerlein 
iGo  liegt  in  Schmerzen  und  Ängsten? 

Ach,  ich  weifs,  das  leidige  Frauenschicksal 
läfst  die  Schmerzen  und  Ängste  schönster  Hoffnung 
Trübsinn  leicht  und  quälenden  Wahn  begleiten. 
165  Selbst  erfuhr  ich  es:  selbst  auch  hab'  ich's  bestanden. 
Denn  ich  flehte  zu  ihr,  die  die  grimmigen  Pfeile 
sendet  und  hemmt,  zu  der  himmlischen  Artemis :  immer 
hört  sie  errettend  mein  brünstiges  Flehn. 

Chorführerin. 
170  Seht,   Phaidras  Wärterin  kommt  aus  dem  Schlofs; 

sie  tragen  das  Bette  der  Fürstin  heraus. 
173  0  seht,  wie  so  bleich  und  verfallen  sie  ist. 

Wie  kam  dies  Leiden?     Was  suchen  sie  hier? 

So  frag'  ich  aus  sorgender  Seele. 

Phaidra   wird,  gelagert   auf  einem  Ruhebettey   von  Di&nerinnen 

herausgetragen,    loelche  sie  auch  rceiterhin  sorglich  umgeben.     Die 

alte  Kammerfrau  überwacht  den  Transport  und  beobachtet  dann 

eine  Weile  die  Kranke. 


126 

Kammerfrau. 
0  Menschenschwachbeit,  o  Krankheitspein! 
Was  thu'  ich?    Was  lass'  ich?    Wie  ist  es  dir  recht? 
Hier  bist  du  im  Freien,  hier  leuchtet  der  Tag, 
180  wir  trugen  dein  Bett  aus  der  Kammer  hierher: 
172  doch  finster  und  finsterer  schaust  du  darein. 
Wie  hast  du  hierher  dich  lange  gesehnt, 
und  doch,  bald  zieht  es  dich  wieder  zurück 
ins  Zimmer.     Es  wechselt  die  Laune  dir  schnell. 
Die  Freude  verfliegt;  was  immer  du  hast, 
das  wird  dir  zum  Ekel,  und  brennend  begehrst 
185  du  was  du  nicht  siehst. 

Sich  abwendend 

Ach  lieber  noch  selbst 
krank  liegen  als  Pfleger  des  Leidenden  sein. 
Dort  leibliche  Schmerzen:  in  diesem  vereint 
sich  des  Herzens  Angst  mit  den  Mühen  der  Hand. 
Das  menschliche  Leben  ist  Jammer  und  Not, 

190  Erlösung,  Frieden  ist  nirgend. 

Wohl  giebt  es  ein  andres,  ein  seliges  Sein, 
doch  liegt  es  verborgen  in  Dunkel  und  Dunst. 
Drum  klammert  die  eitele  Liebe  sich  fest 
an  den  gleifsenden  Schimmer  der  irdischen  Welt, 

195  blofs  w'eil  sie  ein  anderes  Leben  nicht  kennt, 
kein  Auge  die  Schatten  des  Todes  durchmifst, 
Wahnbilder  des  Glaubens  uns  irren. 

Phaidra. 
Ach,  hebt  mich  empor,  ach  stützt  mir  den  Kopf; 
matt  sinken  die  Glieder,  versagt  das  Gelenk. 

200  Stützt,  Mädchen,  den  Arm;   voll  ist  er,  doch  schlaff. 
Das  Kopftuch  drückt.     Nimm  ab;  lafs  frei 
sich  über  die  Schulter  ergiefsen  das  Haar. 

Kammerfrau. 
Geduld,  meine  Tochter.    Was  wirfst  du  so  wild 
dich  herum?    Mit  Mut  und  Fassung  erträgt 


127 

205  sich  die  Krankheit  leichter.     Bedenke,  du  bist 
ein  Mensch,  zum  Leiden  geboren. 

Phaidra. 
Ach,  könnt'  ich  mir  schöpfen  aus  rieselndem  Quell 
hellströmenden  Wassers  erquickenden  Trunk. 
210  Ach,  könnt'  ich  mich  lagern  auf  blumiger  Au 
im  Schatten  der  Pappeln:  da  kam'  ich  zur  Ruh. 

Kammerfrau. 
Was  sagst  du,  mein  Kind?     Wir  sind  nicht  allein. 
Wie  kannst  du  vor  Fremden  die  Wünsche  gesteh'n, 
die  rasende  Hitze  des  Fiebers  erzeugt? 
Phaidra 

aufspringend. 

215  Fort,  lafst  mich  hinaus,  ins  Gebirg',  in  den  Wald, 
wo  gierige  Meute  den  fleckigen  Hirsch 
nachkläffend  verfolgt.     0  Götter,  die  Lust 
durchzuckt  mich,  die  Bracken  mit  gellendem  Pfiff 
zu  hetzen,  zu  fassen  den  wuchtigen  Speer. 

220  Wie  würfe  die  Rechte  das  leichte  Geschofs 
an  der  lockenumflatterten  Wange  vorbei. 

Kammerfrau. 
Wie,  Tochter?    Was  heifst  dieser  brennende  Wunsch? 
Was  hast  mit  der  Jagd  du  zu  schaffen?    Wie  kommst 

225  du  dazu,  Quellwasser  zu  suchen?    Du  kennst 
den  tauigen  Anger  dicht  unter  dem  Thor: 
da  finden  wir  leicht  einen  kühlenden  Trunk. 

Phaidra. 
0  Artemis,  Herrin  am  Meeresgestad, 
wo  Rosse  zerstampfen  die  sandige  Bahn. 

230  0  dürft'  ich  mich  tummeln  in  deinem  Revier 
und  die  Füllen  regieren  veneti scher  Zucht. 

Kammerfrau. 
Und  das  nun  wieder,  Wahnsinn'ge,  was  soll's? 
Hoch  oben  im  Walde  noch  eben  der  Lust 


128 


des  Waidwerks  folgend,  nun  unten  am  Strand 
235  den  Wagen  besteigend!     Ein  Seher  allein 
errät,  welclier  Gott  dir  die  Sinne  verwirrt 
und  aus  dem  Geleise  geworfen. 

Pliaidra 

ist  wieder  auf  das  Lager  gesunken. 

Ich  UnglücksePge,  was  haV  ich  gethan? 
240  Wohin  mich  verloren  vom  Pfade  der  Zucht? 

Weh  mir,  mich  schlug  eines  Dämons  Fluch. 

Ich  war  von  Sinnen,  war  rasend.    Weh.  — 

Ich  bitte  dich,  Mütterchen,  decke  mich  zu. 

Ich  schäme  mich  so.     Was  hab  ich  gesagt! 
245  Verbirg  mich.     Es  brechen  die  Thränen  hervor, 

es  färbt  meine  Wangen  die  Röte  der  Scham. 

Denn  acb,  zur  Besinnung  zu  kommen  thut  weh. 

Wahnsinn  ist  schrecklich  —  und  doch,  niemals 

aufwachend  möcht'  ich  vergehen. 

Kammerfrau. 

250  Ich  hülle  dich  ein.     Wann  aber  umfängt 

mich  endlich  mit  friedlichem  Dunkel  das  Grab? 
Lang  hab'  ich  gelebt,  viel  hab'  ich  gelernt. 
Wo  immer  der  Mensch  an  den  Menschen  sich  schliefst, 
da  halt'  er  die  Neigung  in  Zaum  und  in  Mafs, 

255  dafs  nie  in  das  Mark  seiner  Seele  sie  dringt. 
Es  trage  das  Herz  nur  Bande,  die  leicht 
zu  lösen,  zu  lockern  und  fester  zu  ziehn. 
Zu  schwer  ist  die  Last,  wenn  ein  einziges  Herz 

260  für  zwei  will  sorgen  und  bangen,  wie  ich 

für  Phaidra  mich  härme.    Wohl  heifst  es  mit  Recht, 
was  immer  im  Leben  der  Mensch  übertreibt, 
gedeihet  ihm  selten,  bereitet  ihm  Pein 
viel  mehr  als  Gennfs.     So  sag  ich  denn  auch: 

265  bescheidet  euch  lieber,  erzwingt  nicht  das  Glück. 
Die  Erfahrenen  werden  mich  loben. 


129 

Chorführerin. 
Du  alte  treue  Pflegerin  der  Phaidra, 
der  Fürstin  schweres  Leiden  seh'  ich  wohl, 
doch  was  die  Krankheit  sei,  versteh  ich  nicht, 
270  und  bitte  dich,  du  mögest  mich  belehren. 

Kammerfrau. 
Sie  will  nicht  reden;  wie  soll  ich's  erfahren? 

Chorführerin. 
Du  weifst  auch  nicht,  woher  die  Krankheit  kam? 

Kammerfrau. 
Nein,  sag'  ich,  wieder  nein.    Sie  schweigt  von  allem. 

Chorführerin. 
Wie  kraftlos  sieht  sie  aus,  wie  abgezehrt. 

Kammerfrau. 
275  Drei  Tage  schon  verweigert  sie  die  Nahrung. 

Chorführerin. 
Aus  Krankheit  doch,  nicht  um  den  Tod  zu  suchen? 

Kammerfrau. 
Das  weifs  ich  nicht;  allein  es  führt  zum  Tode. 

Chorführerin. 
Wie  kann  der  Gatte  sie  gewähren  lassen? 

Kammerfrau. 
Sie  leugnet  alles  ab,  sagt,  ihr  sei  wohl. 

Chorführerin. 
280  Er  mufs  es  doch  in  ihren  Augen  lesen. 

Kammerfrau. 
Seit  ein'gen  Tagen  ist  er  aufser  Landes. 

Chorführerin. 
So  mufst  du  selbst  das  Äufserste  versuchen, 
um  diesem  Leiden  auf  den  Grund  zu  gehn, 
das  ihren  Körper,  ihren  Geist  zerrüttet. 

Kammerfrau. 
Versucht  ist  alles,  alles  war  vergebens, 
285  doch  soll's  auch  jetzt  an  meinem  guten  Willen 

Griech.  Tragödien.    I.  9 


130 

nicht  fehlen,  sehen  sollt'  ihr  und  die  Sorgfalt 
für  meine  kranke  Herrin  mir  bezeugen. 

Nun,  meine  liebe  Phaidra,  lafs  uns  beide 
das  Frühere  vergessen.    Du  sei  gut 

290  und  glätte  deiner  trüben  Stirne  Falten. 
Ich  habe  mich  zuerst  verleiten  lassen, 
jetzt  lenk'  ich  ein  und  biete  befsren  Rat. 
Wenn  du  ein  Leiden  hast,  das  im  Geheimen 
behandelt  werden  will,  hier  siehst  du  Frauen, 
erfahren  und  zur  Hilfe  gern  bereit. 

295  Und  darf  ein  Mann  von  deiner  Krankheit  hören, 
so  sprich  und  lafs  uns  einen  Arzt  bestellen. 
Nun?    Warum  schweigst  du?    Nein,  mein  Kind,  du 

darfst 
nicht  schweigen.     Wenn  ich  fehle,  schilt  mich  aus, 
doch,  hab'  ich  Recht,  so  mufst  du  mir  auch  folgen. 

300  Ein  Wort  nur,  einen  Blick.  —  Ich  armes  Weib, 
seht  ihr's,  ihr  Frauen,  alle  meine  Mühe 
ist  fruchtlos,  und  wir  bleiben  wo  wir  waren. 
Taub  war  sie,  fühllos  ist  sie  meinen  Bitten. 
Nun,  eines  merke  dir,  dann  magst  du  trotzig 

305  des  Zuspruchs  spotten  wie  die  wilde  See: 
dein  Tod  ist  ein  Verrat  an  deinen  Kindern, 
sie  werden  nie  des  Vaters  Thron  besteigen, 
ich  schwör'  dir's  —  bei  der  reis'gen  Amazone, 
die  deinen  Söhnen  einen  Herrn  gebar, 
den  Bastard,  dem  ächtbürtig  hoher  Sinn 
im  Busen  wohnet,  o,  du  kennst  ihn  gut, 

310  Hippolytos  — 

Phaidra, 

die  bisher  teihiahmlos  gelegen^  die  Decken  dbschüüeltid  und 

auffahrend. 

Ach! 
Kammerfrau. 

Geht  dir  das  zu  Herzen? 


131 

Phaidra. 
Du  hast  mir  weh  gethan;  beim  Himmel,  bitte, 
den  Namen  nenne  nicht  zum  zweiten  mal. 

Kammerfrau. 
Siehst  du,  du  bist  vernünftig.     So  bewähr'  es, 
erhalte  dich  und  deiner  Kinder  Glück. 
Phaidra. 
31Ö  Ich  liebe  meine  Kinder,  doch  es  rütteln 
an  meinem  Herzen  andre  Schicksalsstürme. 

Kammerfrau. 
Von  Blute  sind  doch  deine  Hände  rein? 

Phaidra. 
Rein  sind  die  Hände,  doch  befleckt  das  Herz. 

Kammerfrau. 
Durch  eines  Feindes  arge  Zauberkunst? 

Phai  dra. 
Es  ist  ein  Freund.     Wir  wollen's  beide  nicht: 
doch  ich  mufs  sterben,  und  er  muls  mich  töten. 
Kammerfrau. 
820  Hat  sich  dein  Gatte  wider  dich  vergangen. 
Phaidra. 
0  mög'  ich  nie  vor  Theseus  schuldvoll  stehn. 

Kammerfrau. 
Was  kann  dich  aber  sonst   zum  Selbstmord  treiben? 

Phaidra. 

Lafs  meine  Sünde  mir.    Dich  trifft  sie  nicht. 

Kammerfrau, 

ihr  zu  Füfsen  fallend. 

Absichtlich  nicht,  doch  willst  du  mich  verlassen. 

Phaidra. 

325  Was  thust  du?  Willst  mich  zwingen?  Fafst  die  Hand? 

Kammerfrau. 

kJa,  und  die  Kniee  auch.     Nimmer  lass'  ich  dich. 
Phaidra. 
Es  bringt  dir  Leid,  erfährst  du's,  bringt  dir  Leid. 
9* 


132 

Kammerfrau. 
Kein  gröfs'res  kenn'  ich,  als  dich  zu  verlieren. 

Phaidra. 

Das  wirst  du,  doch  mir  bringt  mein  Schicksal  Ehre. 

Kammerfrau. 

330  Und  da  verbirgst  du's?     Bitt'  ich    nicht  mit  Recht? 

Phaidra. 

Weil  meine  Schwachheit  ich  in  Tugend  wandle. 

Kammerfrau. 
So  sprich:  du  kannst  ja  nur  die  Ehre  steigern. 

Phaidra. 
Geh,  bei  den  Göttern,  lafs  die  Hand  mir  los. 

Kammerfrau. 

Nein,  du  gewährst  noch  nicht,  was  du  mir  schuldest. 

Phaidra. 

335  Ich  will's.     Dein  feierliches  Bitten  rührt  mich. 

Kammerfrau, 

aufstehend. 

So  schweig'  ich  denn.    Jetzt  ist  das  Wort  an  dir. 

Phaidra. 
Unsel'ge  Mutter,  welch  ein  Liebeswahn. 

Kammerfrau. 
Was  meinst  du,  Tochter?    Denkst  du  an  den  Stier? 

Phaidra. 
Du  arme  Schwester,  Dionysos'  Gattin! 
Kammerfrau. 
340  Was  fällt  dir  ein,  mein  Kind?    Du  schmähst  die 

Deinen? 
Phaidra. 
Ich  bin  die  dritte.     Kläglich  geh'  ich  unter. 

Kammerfrau. 
Ich  bin  entsetzt.     Wohin  versteigst  du  dich? 

Phaidra. 
Daher  mein  Unglück.    Längst  war  mir's  bestimmt. 


133 

Kammerfrau. 
Ich  weifs  noch  immer  das  Geheimnis  nicht. 

Phaidra. 
Ach! 
846  Sprich  du  es  aus,  was  ich  gestehen  soll. ' 
Kammerfrau. 
Ich  bin  kein  Seher.     Rätsel  lös'  ich  nicht. 

Phaidra. 
Was  fühlt  der  Mensch  wohl,  wenn  man  sagt,  er  liebe? 

Kammerfrau. 
Die  höchste  Süfsigkeit,  doch  Bittres  auch. 

Phaidra. 

So  scheint  das  letztere  mein  Teil  zu  sein. 

Kammerfrau. 

360  Was  sagst  du,  Tochter?  Wie?  du  liebst?  und  wen? 

Phaidra. 

Wer  ist  er  doch,  der  Sohn  der  Amazone  — 

Kammerfrau. 
Hippolytos? 

Phaidra 

sinkt  sich  verhüllend  auf  das  Bett  zurück. 

Du  sprachst  es  aus,  nicht  ich. 
Kammerfrau. 
Weh  mir.    Was  heifst  das,  Kind?    Es  ist  mein  Tod. 
Das  ist  zu  viel,  ihr  Frau'n,  zu  viel  für  mich, 
355  ich  übersteh'  es  nicht.    Verhafster  Tag, 
verhafstes  Leben.     Nein,  ich  springe,  stürze 
ins  Meer,  des  Daseins  Bürde  werf  ich  ab, 
wenn  so  die  Tugend  wider  ihren  Willen 
dem  Laster  sich  ergiebt.     Nein,  Aphrodite 
860  ist  nicht  nur  Gott,  ist  mehr,  was  sie  auch  sei, 
die  Phaidra,  mich,  das  ganze  Haus  vernichtet. 

Chorführerin. 
Habt  ihr  gehört,  ihr  Frauen? 
Habt  ihr  von  unsrer  Fürstin  eignen  Lippen 


134 

die  unerhörte  Kunde, 

das  Schreckenswort  vernomraen? 

0  teure  Herrin,  eher  mög'  ich  sterben, 

eh'  sich  in  meinen  Busen 

solch  ein  Gedanke  dränge. 
86Ö  Weh,  weh  uns  allen,  wehe! 

Du  UnglückseFge,  welch  Geschick  befiel  dich? 

0  Menschen,  Menschen,  nur  zum  Leid  geboren! 

Es  ist  um  dich  geschehn,  du  hast  dem  Lichte 

den  Frevel  offenbart:  wie  kannt  du  dauern 

nur  diesen  einen  kurzen  Tag? 

Zu  Ende  geht  es, 
370  und  wie  die  Schickung  Aphrodites  endet, 

ist,  ach,  zu  deutlich  schon: 

unsel'ge  Tochter  der  Pasiphae. 
Phaidra 
gefafst,  sich  erhebend  und  auf  den  Chor  zuschreitend. 

Die  ihr  Trozen  bewohnt,  den  äufsersten 

Vorhof  der  Pelopsinsel,  werte  Frau'n: 
876  woher  des  Menschenlebens  Elend  stammt, 

darüber  hab'  ich  manche  lange  Nacht 

auch  früher  schon  gegrübelt,  und  ich  finde, 

es  liegt  nicht  an  der  menschlichen  Vernunft. 

wenn  Menschen  sünd'gen.     Denn  die  Einsicht  haben 

ja  viele.     Sondern  so  mufs  man  es  ansehn. 
380  Was  gut  ist,  weifs  man  wohl  und  sieht  es  ein, 

allein  man  thut  es  nicht.     Bald  ist  man  träge; 

dann  wieder  thut  man  lieber  was  man  mag 

als  was  man  soll.     Ach,  dazu  beut  das  Leben 

so  viel  Versuchung!     Die  Gesellschaft  nimmt 

für  ihr  Geschwätz  uns  in  Beschlag.    Die  Mufse 

entnervt  uns  durch  Genufs.     Und  dann  die  Scham! 

Sie  ist  ja  doppelt;  Tugend  ist  die  eine, 
385  die  falsche  lastet  schwer  auf  unserm  Leben, 

und  liefsen  sich  die  Grenzen  sicher  ziehn. 


135 

so  würde  beide  nicht  dasselbe  Wort 
bezeichnen.    Also  dieser  Überzeugung 
leb'  ich,  und  wüfste  nicht,  was  mir  sie  rauben, 
zu  andrer  Ansicht  mich  bekehren  sollte. 

390      Nun  will  ich  auch  den  Fortgang  meines  Denkens 
entwickeln.     Als  die  Liebe  mich  verwundet, 
da  dacht'  ich  nach,  wie  ich's  in  Ehren  trüge. 
Und  so  begann  ich  denn  damit,  mein  Leiden 
in  Schweigen  zu  begraben.    Denn  der  Zunge 

395  soll  man  nicht  trauen.    Andrer  Leute  Sinn 
zu  tadeln  und  zu  meistern,  das  versteht  sie, 
und  schlägt  sich  selber  oft   die  schwersten  Wunden. 
Das  zweite  war,  den  Wahnsinn  mit  der  Kraft 
der  Tugend  niederkämpfen;  und  das  dritte, 
da  ich  der  Leidenschaft  mit  diesen  Mitteln 

400  nicht  Herr  ward,  war  zu  sterben.     Und  das  ist  — 

Zeichen  des  Entsetzens  hei  Chor  und  Kammerfrau. 

ich  dulde  keinen  Widerspruch  —  das  Beste. 

Denn  was  mich  ehrt,  dem  wünsch'  ich  viele  Zeugen, 

doch  meine  Schande  soll  verborgen  bleiben. 

Schmachvoll  war  meine  Leidenschaft,   das  wufst'  ich, 
405  und  ich,  mich  kannt'  ich  auch,  war  nur  ein  Weib. 
Die  Flüche  dieser  ganzen  Welt  verdient 

die  Frau,  die  ihrer  Ehre  Heiligtum 

zuerst  mit  einem  fremden  Mann  entweihte. 

Und  diese  Schande  hat  auf  ihr  Geschlecht 
410  zuerst  ein  Weib  aus  edlem  Haus  gebracht: 

denn  was  die  Höchstgestellten  sich  erlauben, 

erscheint  dem  Volk  notwendig  als  erlaubt. 

Nicht  minder  gilt  mein  Fluch  den  Heuchlerinnen, 

die,  sittsam  in  den  Worten,  insgeheim 

das  Ärgste  wagen. 

Zu,  der  Statue  Aphrodites. 

Schaumgeborne  Herrin, 
415  wie  finden  sie  den  Mut  nur  ihren  Gatten 


136 

ins  Angesicht  zu  sehn  und  zittern  nicht, 
die  Helfershelfer  ihrer  Missethaten, 
die  Nacht,  das  Dach,  die  Wände  könnten  plötzhch 
anklagend  eine  Stimm'  ertönen  lassen. 
Für  mich  ist  das  der  Tod,  ihr  guten  Frau'n, 

420  denn  niemals  soll  man  sagen,  dafs  den  Gatten, 
dafs  meine  lieben  Kinder  ich  entehrt. 
Mit  stolzen  freien  Tritten  sollen  sie 
den  gottgeweihten  Grund  Athens  beschreiten 
und  für  die  Mutter  nicht  erröten  müssen. 
Denn  wie  ein  Sklav'  schlägt  selbst  der  Trotzigste 

425  die  Augen  nieder,  wenn  ihn  das  Gedächtnis 
an  Vater-  oder  Mutterschande  drückt. 
Ja,  es  ist  wahr,  wie  köstlich  auch  das  Leben, 
einst  wiegt  es  auf,  die  Reinheit  des  Gewissens. 
Und  einmal  kommt  der  Tag,  wo  jedem  Sünder 
die  Zeit  den  Spiegel,  wie  dem  eitlen  Mädchen, 

430  vor's  Antlitz  hält  —  o  komm'  er  nie  für  mich. 
Chorführerin. 
Ja,  als  das  Höchste  gilt  der  ganzen  Welt 
die  Tugend,  und  der  Nachruhm  lohnt  sie  reich. 

Kammerfrau. 
Gebieterin,  als  plötzlich  deine  Lage 
mir  klar  ward,  war  ich  allerdings  entsetzt 
und  ganz  verzweifelt.    Doch  das  war  verkehrt. 

435  Jetzt  seh'  ich's  ein,  und  wenn  zum  zweiten  male 
man  etwas  ansieht,  sieht  man  richtiger. 
Dich  hat  nichts  Unerhörtes,  Ungeheures 
betroffen.     Aphrodite  hat  dich  heimgesucht, 
du  liebst,  was  Wunders?  wie  die  meisten  Menschen. 

440  und  da  willst  du  der  Liebe  wegen  sterben? 
und  alle  sonst,  die  lieben,  lieben  werden, 
die  sollen's  auch?    Ist  das  der  Liebe  Lohn? 
Denn  überwinden  läfst  die  Leidenschaft 
in  ihrem  Drang  sich  nicht.    Ihr  Joch  ist  sanft, 


137 


wenn  man  ihr  nachgiebt;  aber  wer  mit  Trotz 

446  und  Hochmut  ihr  entgegentritt,  den  schlägt  sie 
wer  wcifs  wie  hart  zu  Boden.     Aphrodite 
gebeut  in  Äthershöhn,  in  Meerestiefeii, 
allschaffend,  allerhaltend.     In  den  Busen 
pflanzt  sie  den  Trieb,  durch  den  die  Wesen  alle 

450  geworden  sind,  auf  die  die  Sonne  scheint: 
Wer  nun  die  Bücher  der  Geschichte  liest, 
und  wer  gelernt  hat,  was  die  Dichter  singen, 
der  weifs,  wie  Zeus  in  Liebesleiden schaft 
zu  Semele  entbrannte,  wie  sich  Eos, 

455  die  morgenlichte,  Kephalos  geraubt 
um  Liebe  willen.     Und  sie  wohnen  doch 
noch  heut  im  himmlischen  Verein  der  Götter 
und  werden  sich  darein  gefunden  haben, 
dafs  Leidenschaften  stärker  sind  als  sie. 
Und  du  willst  widerstehn?     In  die  Gesetze 
des  Weltalls  willst  du  dich  nicht  fügen?     Traun, 

460  das  hättest  du  dir  ausbedingen  müssen, 
eh'  du  in  dieser  Welt  geboren  wurdest 
und  unter  dieser  Götter  Regiment. 
Du  weifst  doch,  mancher  sehr  verständige  Mann 
sieht  seine  Gattin  fehlen,  doch  er  drückt 
ein  Auge  zu,  und  mancher  Vater  steht 

465  dem  Sohn  in  seinen  Liebesstreichen  bei. 
Denn  das  gehört  zur  Weltklugheit,  man  zieht 
das  Häfsliche  nicht  an  das  Licht,  und  darf 
mit  keinem  Dinge  zu  genau  es  nehmen. 
War  es  denn  zu  erreichen,  dies  Gesimse 
des  Daches  wirklich  wagerecht  zu  legen? 
Und  du  vermifst  dich,  wider  diesen  Strom 

470  zu  schwimmen,  der  dich  weggerissen  hat? 
Du  darfst  mit  dir  schon  ganz  zufrieden  sein, 
wenn  du  des  Guten  mehr  als  Böses  thust, 
dafür  bist  du  ein  Mensch.     Ja,  liebe  Tochter, 


138 


lass'  ab  von  deiner  Thorheit,  deinem  Hochmut, 
denn  nichts  als  Hochmut  ist  es,  stärker  sein 

475  zu  wollen  als  die  Götter.     Drum  entschliefse 
zur  Liebe  dich,  die  Götter  wollen's  so; 
allein  der  Weg  zur  Heilung  deines  Leidens 
mufs  unanstöfsig  sein :  den  heilst  es  suchen. 
Es  giebt  ja  Zauberlieder,   kräft'ge  Sprüche, 
es  mufs  sich  auch  für  dich  ein  Mittel  finden: 

480  wie  müfsten  sonst  die  Männer  erst  verzweifeln, 
wenn  Frauenlist  nicht  einen  Ausweg  wüfste. 

Chorführerin. 
Phaidra,  was  deine  Pflegerin  dir  rät 
ist  freilich  für  dein  Leiden  weit  bequemer, 
doch  stimm'  ich  dir  zu;  mag  auch  dieser  Beifall 
485  zu  hören,  zu  verdienen  bitter  sein. 

Phaidra. 
Das  ist  es,  was  in  Haus  und  Staat  das  Glück 
vernichtet,  diese  nur  zu  süfsen  Reden. 
Es  soll  das  Wort  nicht  unsern  Ohren  schmeicheln, 
es  soll  uns  lehren  Rühmliches  zu  thun. 

Kammerfrau. 

490  Was  predigst  du?     Ehrbare  Reden  helfen 
hier  nichts,  hier  hilft  allein  —  Hippolytos. 
Jetzt  heifst  es,  schleunigst   zum  Entschlüsse  kommen 
und  gradeswegs  aussprechen,  was  dir  fehlt. 
Ja,  stünde  nicht  dein  Leben  auf  dem  Spiele, 
und  könntest  du  vernünftig  dich  beherrschen, 

496  wie  würd'  ich  da,  nur  deine  Brunst  zu  stillen, 
zu  solchem  Schritte  raten?    Aber  so 
gilt  es  dein  Leben:  niemand  kann  uns  tadeln. 

Phaidra. 
Entsetzlich!     Schliefse  deinen  Mund  und  wage 
kein  zweites  Mal  ein  so  abscheulich  Wort. 


139 

Kammerfrau. 
500  Abscheulich?    Allerdings,  allein  für  dich 
viel  besser  als  das  Schöne.    Lieber  thun 
was  dich  erhält,  als  tugendstolz  mit  Worten 
dich  brüsten  und  daran  zu  gründe  gehn. 

Phaidra. 
Nein  nein,  um  Himmels  willen,  —  was  du  sagst 
ist  wahr,  doch  ist  abscheulich  —  geh'  nicht  weiter. 
Der  Liebe  Ketten  trag'  ich  noch  in  Ehren, 
506  doch  wenn  du  das  Abscheuliche  verteidigst, 
so  sink'  ich  in  den  Abgrund,  den  ich  fliehe. 

Kammerfrau. 
Nun,  wie  du  willst.    Du  hättest  allerdings 
nicht  lieben  sollen.     Aber  nun:  sei  folgsam, 
nun  ist  das  Beste,  willig  sich  ergeben. 

610  Ein  Zaubermittel,  eben  fiel  mir's  ein, 

hab'  ich  im  Hause,  das  die  Krankheit  heilt 
und  weder  Ehre  schädigt  noch  Verstand. 
Nur  darfst  du  mir  nicht  feige  sein:  ein  Zeichen 
von  deinem  Trauten  hab'  ich  freilich  nötig, 
ein  Band  nur,  eine  Locke.     Beide  müssen 

515  der  gleichen  Neigung  willig  sich  ergeben. 

Phaidra. 
Dein  Mittel,  ist's  ein  Trank,  ist's  eine  Salbe? 

Kammerfrau. 
Ich  weifs  nicht.   Rettung  brauchst  du,  nicht  Belehrung. 

Phaidra. 
Ich  fürchte  deine  Künste.     Bist  du  ehrlich? 

Kammerfrau. 
Was  argwöhnst  du?    Du  bist  gar  zu  bedenklich. 

Phaidra. 
620  Du  wirst  doch  nichts  an  Theseus'  Sohn  verraten? 


140 

Kammerfrau. 
Lass'  mich,  mein  Kind;  die  Sache  werd'ich  gut 
besorgen. 

Im  Abgehen  vor  der  Statue. 
Du  nur,  schaumgeborne  Herrin, 
leih  deinen  Beistand  mir;  sonst  weifs  ich  selber, 
was  ich  zu  sagen  habe,  wen  zu  fragen. 

Chor. 
626  Eros,  Eros, 

wo  du  den  Sterblichen  antrittst, 

träufelst  du  schmachtendes  Langen  ins  Auge, 

senkest  du  selige  Wonnen  ins  Herz. 

Nimmer  mit  wildüberschwänglichen  Trieben 

suche  mich  heim. 
630  Sengende  Flamme  noch  Stich  der  Gestirne 

brennet  so  heifs  wie  die  Pfeile  der  Kypris: 

Eros  schiefst  sie,  das  himmlische  Kind. 

Thorheit,  Thorheit! 

636  Opfert  das  Volk  der  Hellenen 

zwar  in  Olympias  Hain  Hekatomben 
und  in  den  pythischen  Gründen  Apolls: 
doch  dem  Tyrannen  der  Sterblichen,  Eros, 
opfern  wir  nicht. 

640  Huldvoll  erschliefst  er  die  Kammer  der  Kypris: 
aber  Verderben  und  Fluch  und  Verwüstung 
zeichnen  die  Erde,  wo  er  sie  betritt. 

645  In  Eurytos'  Veste 

erwuchs  eine  Jungfrau; 

sie  blüht'  in  Oichalias  Garten 

unschuldig  und  rein.  — 
550  Wie  die  Nymphe  vom  gierigen  Satyr  verfolgt, 

so  flieht  sie  verzweifelnd,  als  Feuer  und  Schwert 


141 

die  Veste  gehrochen,  den  Vater  gefällt. 

Doch  Herakles  ereilt  sie: 

die  Hochzeit  zwischen  Trümmern,    Mord    und  Brand 

hat  Aphrodites  Segen. 

655  Die  Mauern  von  Thehen, 

der  Sprudel  der  Dirke 

erzählen  vom  Walten  der  Kypris 

entsetzliche  Mär. 
660  Es  flammen  die  Blitze,  der  Donner  erkracht 

und  die  Sterbliche,  die  Dionysos  empfing, 

sinkt  nieder  aufs  Brautbett,  sinkt  in  den  Tod. 

Ja  furchtbar  ist  die  Liebe, 

furchtbar  und  süfs:  sie  führt  der  Biene  gleich 

den  Honig  und  den  Stachel. 

Phaidra, 

die  schon  länger  unruhig  an  der   Thiir  gehorcht  hat. 

565  Ihr  Frauen  haltet  ein,   ich  bin  verloren. 
Chorführerin. 
Was  ist  im  Hause,  das  dich  so  entsetzt? 

Phaidra. 
Still,  drinnen  redet  man.    Ich  will  es  hören. 

Chorführerin. 
Ich  schweige.     Doch   mir  ahnt,    es  folgt  ein  Unheil. 

Phaidra. 
Weh  mir, 
670  ich  Unglückselige,  was  mufs  ich  hören! 
Chorführerin. 
Welche  Rede,  welche  Stimme 
hörst  du?     Sprich,  geliebte  Fürstin, 
was  vernahmst  du  Fürchterliches, 
das  dich  also  schaudern  macht? 
Phaidra. 
675  Vernichtet  bin  ich.     Tretet  an  die  Thür 

und  hört  den  Lärm,  der  in  dem  Schlosse  tobt. 


142 

Chorführerin. 
Näher  stehst  du,  melden  kannst  du. 
was  zu  dir  vom  Schlofs  hervortönt. 
680  Bitte,  bitte,  künde  du  mir, 
welches  Unglück  brach  herein? 

Phaidra. 
Laut  schreit  der  reis'gen  Amazone  Sohn, 
Hippolytos,  schilt  meine  Dienerin. 

Chorführerin. 
686  Klänge  hör'  ich,  doch  verworren, 
deute  mir  die  wirren  Stimmen, 
denn  verständlich  kommt  die  Rede 
durch  die  nahe  Thür  zu  dir. 

Phaidra. 
0,  deutlich  spricht  er!     Schnöde  Kupplerin, 
590  Verrät'rin  ihres  Herren  schilt  er  sie. 

Chorführerin. 
Weh  uns,  weh,  du  bist  verraten. 
Teure,  keine  Hilfe  weifs  ich. 
Dein  Geheimnis  ist  am  Tag. 
Weh,  du  bist  verloren, 
696  weh,  verraten  durch  die  Dienerin. 

Phaidra. 
Vernichtet  hat  sie  mich;  sie  hat  mein  Leiden 
geoffenbart.     In  bestem  Glauben  suchte 
sie  Heilung;  doch  die  Arzenei  war  Gift. 

Chorführerin. 
Und  jetzt?  Was  thust  du?  Weifst  du  einen  Ausweg? 

Phaidra. 
Nur  eines  weifs  ich:  sterben  mufs  ich  gleich, 
600  jetzt  ist  der  Tod  das  einz'ge,  was  mich  rettet. 


143 


Hippolytos 

stürzt  aus  der  Palastthiire,   hinter  ihm  die  Kammerfrau,   die  ihn 
zurückzuhalten  versucht. 

Ihr  hellen  Sonnenstrahlen,  Mutter  Erde, 
was  hab'  ich  hören  müssen  —  Unerhörtes. 

Kammerfrau. 
Halt  inne,  Jüngling,  dafs  uns  niemand  höre. 

Hippolytos. 
Nein,  zu  abscheulich  ist's.     Ich  schweige  nicht. 
Kammerfrau. 
605  Bei  deinem  starken  Arm  beschwör'  ich  dich. 
Hippolytos 

sie  fortstojsend. 

Weg  mit  der  Hand.     Lass'  meinen  Mantel  los. 
Kammerfrau 

wirft  sich  ihm  in  den  Weg. 

Sieh  mich  zu  deinen  Füfsen,  schone  mich. 
Hippolytos 

halt  und  ruhig. 

Was  ist's?     Du  sagst  ja,  was  du  willst  sei  recht. 
Kammerfrau 

aufstehend. 

Unmöglich  darf  es  jedermann  erfahren. 
Hippolytos. 
610  Das  Rechte  zu  verbreiten  ist  doch  recht. 
Kammerfrau. 
Vergifs  nicht  deines  Eides,  lieber  Jüngling. 

Hippolytos. 
Die  Zunge  schwur:  das  Herz  ist  nicht  gebunden. 

Kammerfrau. 
Was  thust  du!     Willst  du  denn  die  Deinen  morden? 
Hippolytos. 
615  Die  Meinen?     Pfui!    Das  sind  Verbrecher  nicht. 
Kammerfrau. 
Sei  nicht  zu  streng.     Zu  sünd'gen  ist  ja  menschlich. 


144 

Hippolytos 

sich  abwendend.     Kamvierfrau  tritt  zur  Seite. 

Zeus,  warum  mufstest  du  das  Weib  erschaffen? 
Ein  Übel  ist's  von  falschgemünztem  Glanz. 
Wenn  du  das  Menschenvolk  fortpflanzen  wolltest, 
des  Weibes  hättest  du  entraten  sollen. 

620  Wir  konnten  ja  für  Silber,  Gold  und  Erz 
aus  deinen  Tempeln  uns  die  Knäblein  kaufen, 
dem  Wert  entsprechend  ihren  Preis  erlegend, 

624  und  ohne  Frauen  frei  zu  hause  wohnen. 

627      Ein  Übel  ist  das  Weib:  hier  der  Beweis. 
Der  eigne  Vater  giebt  die  Mitgift  drauf, 
um  seiner  Tochter,  die  er  zeugt'  und  nährte, 

630  als  eines  Übels  endlich  los  zu  werden. 

Der  Gatte  pflanzt  vergnügt  die  gift'ge  Blume 

in  seinen  Garten;  für  sein  falsches  Kleinod 

ist  ihm  kein  Kleid  zu  reich,  kein  Schmuck  zu  kostbar: 

634  und  so  vergeudet  er  sein  Hab  und  Gut. 

638  Am  besten  fährt  noch,  wem  ein  harmlos  Ding, 
unfähig  so  zum  Guten  wie  zum  Bösen, 
im  Hause  sitzt.     Die  Klugen  sind  entsetzlich. 

640  Bewahr'  uns  Gott  vor  einer  Frau,  die  mehr 
als  weiblichen  Verstand  hat.     Aphroditen 
versteht  sie  frecher  und  verschlagner  nur 
zu  dienen.     Davor  sichert  wenigstens 
die  Blödigkeit  das  ganz  beschränkte  Weib. 

64Ö  Und  vollends  Kammerfrau'n  und  Zofen  sollten 
verbannt  sein.     Zur  Gesellschaft  gebt  der  Frau 
nur  stumme  Bestien.     Reden,  Rede  tauschen 
taugt  nicht  für  sie.     Jetzt  kann  die  Arge  ruhig 
zu  haus  den  argen  Anschlag  fertig  machen, 

660  den  draufsen  ihre  Dienerin  bestellt. 

So  kamst  auch  du.  Verworfne,  trugst  dem  Sohn 
des  Vaters  unnahbare  Gattin  an. 
Ich  geh'  zum  heiigen  Quell,  in  seinem  Nafs 


145 


mein  Ohr  zu  baden.    Nein,  ich  bin  kein  Schurke, 
655  schon  von  dem  Worte  fühl'  ich  mich  besudelt. 
Und  wisse,  meine  Frömmigkeit  allein 
ist  eure  Rettung.     Denn  ich  würde  nie 
es  unterlassen  haben,  meinem  Vater 
die  Sache  vorzutragen,  hätt'  ich  nicht 
arglos  durch  einen  Eid  mich  fangen  lassen. 
660  Jetzt  räum'  ich  euch  den  Platz,  so  lange  Theseus 
abwesend  ist,  und  schweigen  wird  mein  Mund. 
Allein  bei  meines  Vaters  Heimkehr  werd'  ich 
zugegen  sein  und  mir  das  Schauspiel  gönnen, 
wie  ihr  ihn  aufnehmt,  du  und  deine  Herrin. 
Zwar  deine  Frechheit  kann  ich  mir  schon  denken, 
ich  habe  ja  die  Probe. 

Mit  einem  Blich  auf  Phaidra. 

Fluch  auf  euch. 
665  Nie  thu'  ich  meinem  Weiberhafs  genug, 

mag  auch  mein  Reden  überschwänglich  scheinen, 
denn  überschwänglich  ist  auch  ihre  Tücke. 
So  lang'  sie  nicht  zur  Tugend  sich  bekehren, 
lafst  mich  dabei,  mit  Hafs  sie  zu  verfolgen. 

Ab  zur  Seite. 

Phaidra. 

Weh,  wie  beklagenswert, 
670  wie  ganz  unselig  ist  der  Frauen  Schicksal. 

Die  Künste  sind  gescheitert, 

die  Hoffnung  hat  getrogen, 

das  Netz,  das  mich  umstrickt,  ist  unzerreifsbar. 

Mein  Urteil  ist  gesprochen. 

Du  lichte  Sonne  droben, 

du  liebe  Mutter  Erde, 

wie  soll  ich  der  Verdammnis  noch  entrinnen? 

Freundinnen,  wie  verberg'  ich  meine  Schande? 
675  Kann  denn  ein  Gott,  ein  Mensch  für  meine  Sache 

eintreten,  Beistand  leisten  einem  Frevel? 

Griech.  Tragödien.     I.  10 


146 


Ja,  was  mich  drückt,  ist  eine  Bürde, 

zu  schwer  zum  Tragen, 

und  abzuschütteln  nur  mit  meinem  Leben. 

Von  allen  Frauen,  ach, 

ist  das  beklagenswertste  Schicksal  meins. 

Chorführerin. 
680  Ja,  deiner  Botin  ist  die  List  mifslungen, 
entschieden  ist  es,  furchtbar  deine  Lage. 

Phaidra. 
Schandbarstes  Weib,  was  hast  du  mir  gethan? 
Dein  Kind  hast  du  vernichtet.     Vater  Zeus 
greife  zum  Donnerkeil,  zerschmettre  dich. 

685  Hab'  ich  es  nicht  gesagt?   Hab'  ich  nicht  klar 
den  Plan  durchschaut  und  dir  davon  zu  schweigen 
geboten,  was  mich  nun  beschimpft?    In  Ehren 
kann  ich  nun  nicht  mehr  sterben.    Doch  genug. 
Jetzt  giebt  es  andre  Sorgen.    Zornentbrannt 

690  wird  er  vor  Theseus  deiner  Frevel  mich 
bezicht'gen  und  die  Welt  mit  Lästerung 

693  erfüllen.     Fluch  dir,  Fluch  den  falschen  Freunden 
und  ihrer  schändlichen  Geschäftigkeit. 
Kammerfrau. 

696  Du  magst  mich  schelten,  weil  mein  Plan  mifslang; 
du  bist  so  schwer  gekränkt,  da  ist  dein  Urteil 
getrübt;  doch  wenn  du  mich  nur  hören  willst, 
kann  ich  mich  wohl  verteid'gen.  —  Teure  Herrin, 
ich  habe  dich  erzogen,  will  dir  wohl, 
und  suchte  Heilung  dir  für  deine  Krankheit. 
Die  hab'  ich  nicht  gefunden.     Aber  wäre 

700  mein  Plan  geglückt,  wie  hoch  würd'  ich  gepriesen! 
Der  Klugheit  Mafsstab  ist  ja  der  Erfolg. 

Phaidra. 
Heifst  das  genug  mir  thun,  erst  mich  verletzen 
und  dann  mit  leeren  Worten  es  gestehn? 


147 

Kammerfrau. 
Jawohl,  wir  reden  allzu  lang.    Ich  war 
706  nicht  klug.   Doch  Rettung  ist  auch  jetzt  noch  möglich. 
Phaidra. 
Kein  Wort  mehr.     Schlecht  hast  vorhin  du  geraten 
und  Schändliches  begonnen.    Heb'  dich  fort 
und  denk'  an  deine  Sachen.    Meine  werde 
ich  selber  gut  besorgen.     Nun  zu  euch, 
710  ihr  edlen  Frauen  von  Trozen:  so  viel 
gewähret  meiner  Bitte,  was  ihr  hier 
vernommen,  in  Stillschweigen  zu  begraben. 

Chorführerin. 
Ich  schwör'  es  bei  der  reinen  Artemis, 
von  deinem  Mifsgeschick  nichts  zu  verraten. 
Phaidra. 
713  Habt  Dank  dafür.    Noch  weifs  ich  einen  Ausweg, 
ein  köstlich  Mittel  ist's  in  meiner  Not. 
Die  Ehre  meiner  Kinder  kann  ich  retten, 
und  auch  für  mich  ist  es  bei  meinem  Schicksal 
das  Beste  noch.     Denn  meine  liebe  Heimat 
720  beschimpf  ich  nimmermehr,  vor  Theseus'  Augen 
werd'  ich  in  Schande  nimmermehr  erscheinen, 
wenn  es  mich  nur  ein  einz'ges  Leben  kostet. 

Chorführerin. 
So  willst  du  dich  zum  Äufsersten  entschliefsen? 

Phaidra. 
Ich  sterbe.     Wie,  soll  meine  Sorge  sein. 

Chorführerin. 
Sprich  nicht  so  gottlos. 

Phaidra. 

Gottlos  ist  dein  Tadel: 
72Ö  ich  thu'  es  Aphrodite  ja  zu  Liebe, 
die  mir  den  Untergang  bereitet  hat, 
wenn  ich  noch  heut  aus  diesem  Leben  scheide. 
Mir  war  die  Liebe  bitter;  ich  erlieg'  ihr. 

10* 


148 

Allein  noch  einem  andern  soll  mein  Tod 
verderblich  werden.     Seine  Tugend  sieht 
auf  meine  Qualen  stolz  herab.     Er  wird's 
730  verlernen,  wenn  er  selbst  in  dies  Geschick 
verflochten  ist,  und  wird  bescheiden  werden. 

Ab.     Die  Dienerinnen  tragen  das  Bett  hinein. 

Chor. 

0  war'  ich  von  hinnen, 

0  dafs  mich  die  Schatten 

der  Wolken  umfingen, 

ein  Gott  mich  befiedert 

den  Scharen  der  Vögel 

des  Himmels  gesellte! 
736  Dann  schwang'  ich  mich  über  die  wogende  Salzflut 
zu  Adrias  Küsten,  Eridanos'  Strudel, 
wo  Helios'  Töchter  um  Phaethon  klagen: 
es  rinnen  die  Thränen  der  Mädchen  zum  Meere, 
740  gerinnen  zu  gleifsendem  Bernstein. 

Zum  Garten  der  Götter 

der  Flug  mir  gelänge, 

wo  menschlichen  Schiffern 

der  Alte  der  Tiefe 
745  zu  fahren  verwehrt, 

wo  Atlas  die  Grenzen  des  Himmels  behütet, 
und  Hesperos'  Töchter  die  güldenen  Äpfel. 
Da  steht  der  Palast,  wo  der  König  der  Götter 
die  Hochzeit  begangen,  da  sprudelt  der  Nektar, 
da  spendet  die  Erde,  die  ew'ge,  den  Göttern 
750  die  Speise  des  seligen  Lebens. 

Weifs  beschwingte  Kreteryacht, 
über  Schaum  und  Schwall  der  See 
trugst  du  meine  Herrin  her 


149 


aus  des  Vaterhauses  Frieden. 

t66  Ach,  die  Braut  fand  in  der  Ehe 

Frieden  nicht. 
Unglticksvögel  gaben  euch 
das  Geleit  von  Kreta  her, 
flogen  euch  wohl  auch  entgegen, 

760  als  an  Munichos'  Gestade 

ihr  die  Anker  fallen  liefset 
und  das  feste  Land  betratet, 
Pallas'  heil'gen  Boden. 

766  Aphrodites  arger  Groll 

hat  mit  frevler  Leidenschaft, 
mit  verbot'nem  Liebesdrang 
ihre  Seele  tief  verwundet. 
Ach,  die  ungeheure  Schickung 
trägt  sie  nicht. 

770  Nein,  sie  eilt  zum  Brautgemach, 

windet  um  den  weifsen  Hals 
fester  Hand  die  Todesschlinge. 
Der  Versuchung  ihres  Herzens 
folgt  sie  nicht:  sie  wählt  die  Ehre 
und  befreit  sich  selbst  die  Seele 

776  von  der  Liebe  Stacheln. 

Kammerfrau, 

von  innen. 

Zu  Hilfe,  wer  dem  Schlosse  nah,  zu  Hilfe. 
Die  Fürstin,  Theseus'  Gattin,  ist  erhenkt. 

Chorführerin. 
So  ist  es  denn  geschehn;  erdrosselt  hängt 
sie  in  der  Schlinge.     Phaidra  ist  nicht  mehr. 

Kammerfrau, 

von  innen. 

780  So  eilt  euch  doch.    Wo  ist  ein  scharfer  Stahl, 
der  von  dem  Hals  den  Todesknoten  löse? 


150 

Chorftihrerin. 
Was  dünkt  euch,  Frauen,  treten  wir  ins  Schlofs, 
die  Kön'gin  aus  der  Schlinge  zu  befrei'n? 

Eine  Frau  des  Chores. 
Warum?  Der  Mägde  sind  genug  zur  Stelle, 
785  und  unberufnes  Handeln  ist  gefährlich. 

Einander  widerstrebende  Beioegungen  des  Chores. 
Kammerfrau, 

von  innen. 

So  streckt  sie  hin  und  bettet  ihren  Leib. 
Ach,  mufs  sie  so  das  Haus  des  Gatten  hüten! 

Chorführerin. 

Kein  Zweifel,  sie  ist  tot.     Habt  ihr  gehört, 

dafs  sie  den  Leichnam  auf  die  Bahre  betten? 

Theseus, 

bekränzt,  begleitet  von  einem  Gefolge  von  Geicappneten,  zieht 

auf  die  Bühne. 

790  Was  heifst  der  Lärm  in  meinem  Haus,  ihr  Frau'n? 
Es  klang,  als  ob  die  Mägde  wehe  riefen, 
und  am  geschloss'nen  Thore  find'  ich  nicht 
den  freudigen  Empfang,  wie  ihn  der  Wandrer 
erwartet,  der  von  heil'gen  Stätten  kommt. 
794  Stiefs  Pittheus'  Greisenalter  etwas  zu? 

Chorführerin. 
797  Dich  traf  ein  Schicksalsschlag;  doch  nicht  ein  Greis, 
ein  junges  Lebenslicht  erlosch,  mein  König. 

Theseus. 

Weh  mir.    Ist  mir  ein  Kind  hinweggenommen? 

Chorführerin. 

800  Sie  leben,  doch  zu  deinem  Schmerz  als  Waisen. 

Theseus. 

Was  sagst  du?  Meine  Gattin  tot?  Wie  starb  sie? 

Chorführerin. 
Erdrosselt  hat  sie  sich  mit  eigner  Hand. 


151 


Theseus. 
Ein  Anfall  ihrer  Schwermut?    Sagt,  was  war  es? 

Chorführerin. 
Nur  so  viel  wissen  wir.     Wir  kamen  selbst 
805  erst  eben  her,  dein  Unglück  zu  beweinen. 
Theseus. 

nimmt  den  Kranz  ah. 

Weh  mir,  was  trag'  ich  diese  Lorbeerreiser 
im  Haar  noch?    Keine  frohen  Götterfeste 
zu  schau'n  bin  ich  gekommen.     Auf,  ihr  Knechte, 
das.  Thor  gesprengt,  die  Riegel  fortgestofsen ! 
Ich  mufs  das  jammervolle  Schauspiel  sehn, 
810  mein  Weib,  das  sterbend  mich  zugleich  vernichtet. 

Die  MittelihUr  wird  geöffnet;  man  erblickt  die  aufgebahrte 
Leiche  Phaidras;  trauernde  Mägde  umgeben  sie. 

Chor. 
Unserge,  welch  Verhängnis! 
Du  hast  gethan,  du  hast  gelitten, 
was  unser  ganzes  Königshaus  zerstört. 
Was  gab  die  Kühnheit  dir, 
in  sünd'gem  Drang  mit  jäher  That 
den  Tod  zu  suchen 
815  als  Opfer  deiner  eignen  Hand? 
Und  wer  hat  es  vermocht 
den  Todesschatten  auf  dein  Haupt  zu  werfen? 

Theseus. 

Weh  mir,  mein  Vaterland, 
820  das  Ärgste  mufs  ich  schauen. 

0  Schicksal,  weh,  wie  suchest  du  mich  heim! 

Bin  ich  gezeichnet  mit  verborgnem  Fluch? 

Mein  Lebensglück  zerschellte, 

des  Unheils  Strudel  packte 

und  rifs  mich  fort,  und  nimmer  heb'  ich  mich 
824  auftauchend  aus  dem  Abgrund  an  das  Licht. 


152 


826  Wie  soll  ich  raten, 

was  dich  zum  Tod  getrieben? 

So  plötzlich,  wie  der  Vogel  der  entfleugt, 

bist  du  ins  Schattenreich  hinabgestürmt. 
830  0  Jammer,  Jammerlos, 

ein  Ahnherr  meines  Blutes 

hat  sich  mit  Sündenschuld  befleckt, 

und  ich  Unserger  mufs  es  büfsen. 

Chorführerin. 
Mein  Fürst,  bedenke,  nicht  der  Erste  bist  du, 
83Ö  schon  mancher  hat  ein  edles  Weib  verloren. . 

Theseus. 

Ins  Grab,  in  Grabesnacht 

hinunter  zieht  es  mich, 

da  deinen  trauten  Umgang  ich  verlor. 

Dein  Sterben  war  mir  tödlicher  als  dir. 
840  Wie  kam  in  deine  Seele 

der  mördrische  Gedanke? 

So  sagt  doch,  was  geschah?    Birgt  denn  umsonst 

das  Königshaus  der  Dienerinnen  Schar! 

Weh  mir,  ich  Armer, 

welch  Schauspiel  mufs  ich  sehen? 
845  Ich  sag',   ich  trag'  es  nicht.     Es  ist  zu  viel, 

das  Haus  verödet,  Waisen  meine  Kinder. 

Verlassen  hast  du  uns, 

verlassen,  liebste,  beste 
860  der  Frauen,  die  der  Sonne  Glanz, 

des  Mondes  Schimmer  je  beschienen. 
Tritt  zu  der  Leiche  empor. 

Chor. 
Du  ärmster,  ärmster  Mann, 
voll  Jammer  ist  dein  Haus;  das  Mitleid  treibt 
der  Zähren  reichsten  Strom  auf  meine  Wangen, 


153 


und  schaudernd  ahn'  ich  lange  schon 
85Ö  den  nächsten  Schlag. 

Theseus, 

an  Phaidras  Bahre. 

Sieh'  da. 

Da  hängt  an  ihrer  lieben  Hand  ein  Brief. 

Giebt  es  noch  weitres  Unheil  oder  trägt 

sie  scheidend  mir  für  meinen  Witwerstand 

und  unsre  Kinder  eine  Bitte  vor? 
860  Des,  arme  Phaidra,  kannst  du  sicher  sein, 

als  Gattin  kommt  kein  Weib   in  Theseus'  Haus. 

0,  wie  vertraut  blickt  mich  das  Siegel  an, 

das  der  Entschlafnen  goldner  Ring  gedrückt, 

ich  mufs  es  brechen,  mufs  die  Hülle  lösen 
865  und  sehen,  was  der  Brief  zu  melden  hat. 
Chor. 

Weh  wehe, 

zu  neuem  Schlage  stürmt 

ein  Dämon  auf  uns  ein. 

Das  Leben  hat  für  mich  den  Wert  verloren. 

Der  Schlag  ist  tödlich,  treff'  er  denn  auch  mich. 

Denn  weh,  am  Boden  liegt 

zertrümmert  und  zermalmt 
870  des  Königshauses  Glück. 

Theseus 

herunterhommend. 

874  Weh  mir,  auch  das  noch,  Unheil  über  Unheil! 

Chorführerin. 
876  Sag'  an,  was  ist  es,  so  ich's  hören  darf. 
Theseus. 
Zum  Himmel  schreit  der  Brief, 
Weh  schreit  er  über  unerhörte  That. 
Wo  berg'  ich  mich?     Es  ist  zu  viel. 
Ha,  welch'  ein  Höllenlied  ertönt 
880  aus  dieses  Briefes  Zeilen  mir  entgegen. 


154 

Chorftihrerin. 

Weh, 

was  so  beginnt,  kann  nur  in  Elend  enden 
Theseus. 

Nein,  das  vermag  mein  Mund 

nicht  mehr  zurückzuhalten, 

die  Unthat,  die  zu  nennen 

mich  schaudert,  die  mich  tötet. 

Vernimm's,  mein  Vaterland. 
885  Hippolytos  hat  es  gewagt,  mein  Bette, 

entehrend  meines  Hauses  Gott,  zu  schänden. 

Poseidon,  Vater,  du  gewährtest  mir 

drei  Bitten:  eine  thu'  ich  jetzt:  vernichte 

mir  meinen  Sohn.     Auch  nicht  um  einen  Tag 

entrinn'  er  seiner  Strafe,  wenn  du  wirklich 
890  Erfüllung  meiner  Wünsche  mir  vergönntest. 
Chorführerin. 

Um  Gottes  Willen,  nimm  das  Wort  zurück, 

mein  König,  du  bereust  es  noch,  gieb  nach. 
Theseus. 

Mit  nichten.     Aus  dem  Lande  bann'  ich  ihn 

noch  aufserdem.     Ein  Los  mufs  ihn  ereilen: 
895  entweder  meine  Bitte  wird  erhört, 

dann  schickt  Poseidon  heut  ihn  in  den  Hades. 

Sonst  mufs  er  flüchtig  werden  und  im  Elend 

ein  jämmerliches  Bettlerleben  führen. 
Chorführerin. 

Hier  kommt  dein  Sohn  zur  rechten  Zeit.  Mein  Fürst, 
900  lass'  nach  in  deinem  jähen  Zorn.     Bedenke, 

was  deinem  Haus  am  besten  frommen  mag. 
Hippolytos 

begleitet  von  einigen  Gefährten. 

Dein  Schreien  hört'  ich,  und  ich  kam,  mein  Vater, 

in  Hast;  allein  den  Grund  der  Klagen  weifs 

ich  nicht  und  wünsche,  dafs  du  mir  ihn  sagest.  — 


155 

90Ö  Ha,  was  ist  das?    Ich  sehe  deine  Gattin 

als  Leiche.     Traun,  ich  mufs  mich  sehr  verwundern. 
Noch  eben  ging  ich  von  ihr,  eben  noch 
war  lebend  und  gesund  sie.     Wie  denn  liegt  sie 
jetzt  auf  dem  Totenbett?    Was  stiefs  ihr  zu?  — 

910  Vater,  ich  wünsche  das  von  dir  zu  hören.  — 

Du    schweigst.     Ein   Unglück    darf  man   nicht    ver- 
schweigen. 
Neugierig  immer  brennt  das  Menschenherz 
am  heftigsten  auf  eines  Unglücks  Kunde. 
Und  es  ist  unrecht,  dafs  du  deinem  Nächsten, 

916  ja  mehr  als  Nächsten,  dein  Geschick  verbirgst. 

Theseus 

ohne  Hippolytos  anzusehen. 

0  Menschen,  Menschen,  eitles  Thorenvolk, 
was  lernt  ihr  tausend  Künste,  müht  euch  ab, 
um  alles  zu  ersinnen,  zu  erfinden: 
nur  eins  versteht  ihr  nicht,  erjagt  ihr  nicht, 
920  Narren  und  Schurken  zu  Verstand  zu  bringen. 

Hippolytos. 
Ein  grofser  Künstler  war'  es,  der  die  Einsicht 
den  Thoren  aufzunötigen  verstünde. 
Doch  jetzt  ist  nicht  die  Zeit  den  Witz  zu  üben; 
du  lässt  vor  Schmerz  der  Zunge  Zügel  fahren. 

Theseus 

wie  oben. 

925  0,  dafs  es  doch  ein  Unterscheidungszeichen, 
ein  sichres  Merkmal  gäbe  für  der  Freunde 
Gesinnung,  Treu'  und  Falschheit  zu  erkennen. 
Zwei  Stimmen  sollte  jeder  Mensch  besitzen, 
die  eine,  wahr  und  echt;  die  andre  möchte 

930  dann  bleiben,  wie  sie  wäre.     Denn  wir  könnten 
doch  mit  der  wahren  ihren  Trug  entlarven 
und  würden  durch  Verstellung  nicht  getäuscht. 


156 

Hippolytos. 
Hat  jemand  mich  vor  deinem  Ohr  verleumdet 
von  meinen  Freunden?    Liegt   trotz  meiner  Reinheit 
Verdacht  auf  mir?    Ich  staune,  staunen  machen 
936  mich  deine  wirren,  widersinn'gen  Reden. 

Theseus 

wie  oben. 
0,  über  diese  Menschen!     Bis  wohin 
soll  ihre  Frechheit  steigen?    Ist  kein  Ziel 
des  Menschenwitzes  frevlem  Mut  gesteckt? 
Wenn  von  Geschlecht  er  zu  Geschlecht  sich  steigert, 

940  und  jedes  es  dem  vor'gen  an  Verruchtheit 
zuvorthun  will,  so  werden  bald  die  Götter 
noch  eine  neue  Welt  erschaffen  müssen, 
denn  diese  fafst  das  Mafs  der  Frevel  nicht. 

Mit  plötzlicher  Wendung  auf  Hippolytos. 
Da  seht  ihn  an:  es  ist  mein  eigner  Sohn, 
mein  Weib  hat  er  geschändet.     Das  Verbrechen 

945  ist  durch  der  Toten  Zeugnis  klar  erwiesen. 

Hippolytos  wendet  sich  ab. 

Was  blickst  du  fort?    Hab'  ich  mich  überwunden 
und  trage  die  Befleckung  deines  Anblicks, 
so  sieh'  auch  mir  ins  Auge.     Also  du, 
du  bist  der  Auserwählte,  deinen  Umgang, 
den  keuschen,  reinen,  wählt  sich  eine  Göttin? 

950  Die  abgeschmackte  Gotteslästerung 

begeh'  ich  nicht,  blofs  auf  dein  Prahlen  hin 
an  einer  Gottheit  Unverstand  zu  glauben. 
Jetzt  wirf  dich  in  die  Brust,  erschachre  dir 
die  Heiligkeit,  weil  nur  blutlose  Kost 
'dich  nähre,  schwärme  jetzt  im  Dienst  des  Orpheus 
und  such'  andächtig  des  Propheten  Wort 

956  in  manchem  dicken  Buch.     Du  bist  erkannt. 
Vor  dieser  ganzen  Rotte  rat'  ich  jedem 


157 

sich  wohl  zu  hüten.     Ihre  frommen  Worte 
sind  Köder,  und  das  Ärgste  steckt  dahinter. 
Phaidra  ist  tot.     Soll  das  dich  retten?     Schurke, 

960  das  eben  überführt  dich.  Welcher  Eid, 
welcher  Beweis  vermöchte  mehr  als  sie, 
die  sterbend  dich  beschuldigt?  Du  wirst  sagen, 
sie  hätte  dich  gehafst,  der  Bastard  gelte 
nun  einmal  als  der  Echtgebornen  Feind. 
So  hat  sie  für  die  Ihren  schlecht  gesorgt, 

965  wenn  sie  sie  elend  machte,  dir  zu  schaden. 
Meinst  du,  der  Mann  sei  jäher  Sinnlichkeit 
nicht  unterworfen  wie  das  schwache  Weib? 
Ich  kenne  manchen  Jüngling,  der  den  Sinnen, 
wenn  Liebe  seinen  jungen  Kopf  verwirrt, 
nicht  besser  als  ein  Mädchen  widersteht. 

970  Nur  sieht  man  bei  dem  Mann  darüber  weg. 
Jetzt  also  —  doch  was  soll  der  eitle  Streit? 
Dort  steht  ein  sichrer  Zeuge,  jene  Leiche. 
Du  bist  verbannt.     Trozen  verläfst  du  gleich; 

976  Athens  geweihter  Boden,  jedes  Land, 

in  dem  mein  Scepter  herrscht,  ist  dir  verboten. 
Denn  wenn  ich  dies  von  dir  mir  bieten  lasse, 
so  soll  der  Sinis  mir  es  leugnen  dürfen, 
dafs  ich  ihn  schlug,  und  soll  das  meerbespülte 
Gefels  des  Skiron  mir  das  Zeugnis  weigern, 

980  dafs  ich  den  Missethätern  furchtbar  bin. 
Chorführerin. 
Ich  glaube  nicht  mehr  an  ein  volles  Glück 
auf  Erden.    Denn  das  höchste  liegt  am  Boden. 

Hippolytos. 
Mein  Vater,  eindrucksvoll  ist  deine  Rede 
durch  Leidenschaft  und  tiefen  Grimm.     Indessen 

985  die  Sache,  die  du  so  beredt  verfichst, 

ist,  wenn  mau  sie  genau  betrachtet,  schlecht. 
Hingegen  mir  gebricht  es  an  Gewandtheit, 


158 

mich  vor  dem  grofsen  Haufen  zu  verteid'gen. 
Vor  Meinesgleichen  und  im  kleinen  Kreise 
versteh'  ich's  besser.  Und  das  ist  natürlich. 
Denn  was  gebildeter  Geschmack  verwirft 
hat  für  das  Ohr  der  Menge  vollsten  Klang. 
990  Und  doch,  das  Unglück  kam;  ich  mufs  der  Zunge 
die  Zügel  lösen.     So  beginn'  ich  denn 
mit  dem,  was  du  als  ersten  Angriffspunkt 
geschickt  gestellt  hast.     Weil  ich  nichts  darauf 
erwidern  würde,  sollt'  es  mich  verderben. 
Sieh'  um  dich:  Auf  der  Erde,  da  du  wandelst, 
im  SonnenHcht,  das  deinen  Pfad  erhellt, 
Theseus  macht  Miene  aufzufahren. 

995  ist  keiner,  der  wie  ich  —  wenn  du  es  auch 
bestreitest  —  rein  und  ohne  Sünde  wäre; 
die  Götter  weifs  ich  recht  zu  ehren,  lebe 
mit  Freunden,  die  sich  fern  von  Freveln  halten, 
und  denen  etwas  schlechtes  anzuregen 
so  gut  wie  andern  darin  beizustehn, 
ihr  Ehrgefühl  verbeut.    Ich  selbst,  mein  Vater, 

1000  mifsbrauche  nicht  die  Freundschaft  durch  Gespötte 
noch  Heuchelei.     Nicht  ändert  mein  Verhalten 
Abwesenheit  noch  Gegenwart  der  Freunde. 
Und  über  das,  womit  du  mich  gefangen 
zu  haben  wähntest,  bin  ich  weit  erhaben. 
Mein  Leib  ist  keusch  bis  diesen  Tag  geblieben. 
Die  Liebe  kenn'  ich  nur  von  Hörensagen  — 

1005  und  etwa  von  Gemälden,  denn  auch  die 
hat  es  mich  nie  gereizt  mir  anzusehn. 
Jungfräulich  ist  mein  Herz.     Doch  meine  Tugend 
mag  dir  nicht  überzeugend  sein.     So  ist's 
an  dir:  beweise  du,  was  mich  verführte. 
War  etwa  Phaidras  Schönheit  so  vorzüglich 

1010  vor  allen  andern  Frauen?     Oder  hofft'  ich 
mit  deines  Betts  Besitze  deinen  Thron 


159 

als  Erbe  zu  erlangen?     Unverstand, 
Wahnwitz  war'  es  gewesen.     Doch,  zu  herrschen 
ist  auch  für  den  Yerständ'gen  süfs?     Bewahre. 
Als  ob  nicht  dessen  Urteil  längst  verblendet 

1016  sein  mufs,  den  eine  Krone  reizen  soll! 

Der  Erste  möcht'  ich  wohl  in  der  Hellenen 
Kampfspielen  sein,  allein  im  Staat  zufrieden 
im  zweiten  Rang  mich  halten  mit  den  Besten. 
Auch  so  bleibt  Raum  zu  schaffen  und  zu  wirken, 
und  da  man  die  Gefahr  der  Stellung  meidet, 

1020  so  lohnt  es  mehr  als  eines  Königs  Würde. 

Du  weifst  nun  Alles.     Nur  noch  Eines  bleibt. 
Wenn  für  mich  zeugen  könnt'  ein  Mann  wie  ich, 
oder  wenn  Phaidra  diesen  Streit  erlebte, 
so  liefse  handhaft  der  Beweis  sich  führen. 

1025  Jetzt  —  schwör'  ich  dir  bei  Zeus,  dem  Eidesrächer, 
bei  dieser  Erde,  nie  dein  Weib  berührt 
zu  haben,  nie  gewollt  es,  nie  gedacht. 

1029  Und  sterben  will  ich  ruhmlos,  namenlos, 

1031  und  wenn  ich  starb,  soll  auch  nicht  mein  Gebein 
im  Meer  noch  in  der  Erde  Ruhe  finden, 
so  ich  ein  falsches  Herz  im  Busen  trage. 
Ob  jene  dort  aus  Furcht  den  Tod  gesucht, 
das  weifs  ich  nicht;  ich  darf  nichts  weiter  sagen. 
Sie  hat  nicht  recht:  doch  hat  sie  recht  gethan. 

1035  Ich  habe  recht:  doch  schlecht  hab'  ich's  gehütet. 

Chorführerin. 
Du  hast  die  Klage  völlig  widerlegt, 
dein  feierlicher  Eid  beweist  genug. 

Theseus. 
Da  sieht  man  seine  Künste!     Seinen  Vater 
beschimpft  er  erst  und  glaubt  dann  dessen  Zorn 
durch  Mäfsigung  und  durch  Gelassenheit 
1040  zu  sänft'gen,  wie  der  Zaubrer  Blut  bespricht. 


160 

Hippolytos. 
Ich  wundre  mich  ob  deiner  Mäfsigung. 
Denn  wärest  du  mein  Sohn  und  ich  dein  Vater, 
ich  würde  dich  mit  Tod,  nicht  mit  Verbannung 
bestrafen,  hättest  du  mein  Weib  berührt. 
Theseus. 
1046  Wie  gnädig!     Nein,  so  sollst  du  mir  nicht  sterben, 
wie  du  die  Strafe  selber  dir  bemifst. 
Ein  schneller  Tod  ist  Gnade  für  den  Frevler. 
Nein,  flüchtig  irrend  fern  dem  Vaterlande 
1049  sollst  du  ein  elend  Bettlerleben  führen. 

■  Hippolytos. 
1051  0  Gott!     Du  willst  nicht  warten,  bis  die  Zeit 

mich  schuldlos  spreche?    Stöfst  mich  aus  dem  Lande? 

Theseus. 
Jenseits  des  Pontes  und  der  See  des  Atlas, 
so  ich  vermöchte,  was  mein  Grimm  begehrt. 
Hippolytos. 
10Ö5  Ins  Elend  soll  ich?     Eid,  Beweis,  Befragung 
der  Seher,  jede  Prüfung  lehnst  du  ab? 

Theseus. 
Hier  ist  der  Brief:  sein  Zeugnis  ist  Beweis. 
Darüber  brauch'  ich  nicht  das  Los  zu  werfen. 
Was  schiert's  mich,  wie  die  Vögel  droben  fliegen? 
Hippolytos. 
1060  0  Götter,  soll  ich  da  noch  weiter  schweigen, 
wenn  euch  die  Treu'  zu  halten  mich  vernichtet? 
Doch  nein.     Meineidig  würd'  ich  nur,  und  Glauben 
dort,  wo  es  not  thut,  fand'  ich  dennoch  nicht. 

Theseus. 

Genug,  mir  wird  dein  Tugendstolz  zu  arg. 

1066  Weg  aus  dem  Elternhause,  weg  sofort. 

Hippolytos. 

Wohin,  ich  Ärmster?    Wer  wird  eine  Zuflucht 

dem  bieten,  den  ein  solcher  Spruch  verbannt? 


161 

Theseus. 
Yielleicht  dafs  jemand  einen  Frauenschänder 
sich  gern  zum  Freund  und  Hausgenossen  nimmt. 
Hippolytos 

greift  schmerzlich  an  seine  Brust. 
1070  Ach,  bis  ins  Herz.     So  vor  der  Welt,  vor  dir 
als  Schurke  dazustehn  —  ich  möchte  weinen. 

Theseus. 
Die  Klagen  und  Bedenken  waren  damals 
am  Platz,  als  du  die  Frevelthat  begingst. 

Hippolytos. 
Ihr  MauerU;  Dächer,  Steine,  steht  mir  bei, 
1076  gewinnt  die  Sprache,  zeugt  für  meine  Reinheit. 
Theseus. 
Sehr  fein  berufst  du  dich  auf  stumme  Zeugen. 
Sieh  hier  dein  Werk:  sein  Schweigen  klagt  dich  an. 

Hippolytos. 
0  könnt'  ich  selbst  mir  gegenübertreten, 
dafs  ein  mitfühlend  Auge  mit  mir  weinte! 
Theseus. 
1080  Selbstanbetung  ist  freilich  deine  Stärke 

mehr  als  die  schuldige  Ehrfurcht  vor  den  Eltern. 

Hippolytos. 
0  meine  Mutter!    Ja,  ich  bin  ein  Bastard. 
Es  ist  mein  Fluch.    Ich  gönn'  ihn  keinem  Freunde. 

Theseus. 
Greift  ihn,  Trabanten.     Habt  ihr's  nicht  gehört, 
1085  dafs  ihm  sein  Urteil  längst  gesprochen  ist? 
Hippolytos. 
Der  büfst  es  schwer,  der's  wagt  mich  anzufassen. 
Wenn  deine  Wut  es  fordert,  komme  selbst. 

Theseus. 
Das  thu'  ich,  wenn  du  nicht  gehorchen  willst. 
Mitleid  mit  deinem  Elend  rührt  mich  nicht. 
Ah  in  das  Schloßt  dessen  Thor  sich  schliefst. 
Griech.  Tragödien.     I.  H 


162 

Hippolytos. 

1090  Entschieden  ist's,  so  scheint  es.     Wehe  mir, 
dafs  ich  verstehe,  wie  das  alles  kommt, 
allein  es  auszusprechen  nicht  verstehe. 
0  Artemis,  du  liebste  Göttin  mir, 
du  meine  Freundin,  meine  Jagdgenossin: 
fort  mufs  ich  von  Athen.     So  ruf  ich  denn 

109Ö  den  Scheidegrufs  der  Pallasstadt  hinüber. 
Und  du,  so  reich  an  Reizen  und  Genüssen 
für  jeden  Jüngling,  mein  Trozen,  leb'  wohl. 
Zum  letzten  male  grüfst  mein  Auge  dich. 
Kommt,  ihr  Gespielen  meiner  Jugendjahre, 
gebt  Zuspruch,  gebt  mir  auch  Geleit  hinaus. 

1100  Ich  bin  so  rein,  wie  keinen  Menschen  wieder 
ihr  sehen  werdet,  trotz  dem  Spruch  des  Vaters. 

Ab  mit  seinem  Gefolge. 

Chor. 

Freilich,  wenn  ich  den  Glauben  an  göttliches  Walten 

erfasse, 
schwindet  Angst  und  Qual. 
1106  Aber  der  gläubige  Wunsch,  eine  waltende  Vorsicht 

zu  finden, 
scheitert,  sobald  ich  das  Thun  und  das  Leiden  der  Men- 
schen betrachte. 
Heute  so,  morgen  so 
wechseln  der  Menschen  Geschicke 
1110  ohne  Frieden,  ohne  Rast. 

Gönne  das  Schicksal  mir  nichts  als  die  freundlichen 

Gaben  des  Zufalls, 
halte  Schmerz  mir  fern. 
Nicht  verlangt  mich  zu  tief  in  das  Wesen  der  Dinge 

zu  blicken, 


163 

1116  aber  auch  nicht  in  das  Dunkel  des  Aberglaubens  zu 

sinken. 
Wie  es  kommt,  frohen  Sinns, 
nehm'  ich  die  Gaben  des  Heute, 

nehm'  ich  die  des  Morgen  hin. 

1120  Glauben  und  Hoffen  ist  hin,   und  verdüstert  ist  mir 

die  Seele. 
Hellas'  hellsten  Stern 
sahen  wir  fliehen  hinaus  in  die  Fremde, 
1125  fliehen  durch  des  Vaters  Spruch. 

Dünen  des  Ufers  trozenischer  Heimat, 

Waldesdickicht,  seht,  von  euch 
scheidet,  der  hier  an  der  Seite  der  Göttin 
1130  Hirsch  und  Wolf  so  oft  gehetzt. 

Nicht  mehr  wird  er  die  Füllen  venetischer  Zucht  vor 

dem  Wagen 
tummeln  auf  dem  Strand. 
Hallen  und  Höfe  des  Schlosses,  sie  schweigen, 
1135  Lied  und  Laute  sind  verstummt. 

Artemis'  Lauben  im  buschigen  Haine 

stehen  leer  von  Schmuck  und  Kranz. 
1140  Die  dich  in  hoffendem  Herzen  getragen, 

manches  Mädchen  seufzt  dir  nach. 

Und  auch  mir  macht  dein  Verhängnis 

meine  Tage  kummervoll. 
1145  Ach,  wozu  bist  du  geboren? 

Ach,  ich  hadre  mit  den  Göttern. 

Die  ihr  alles  Schöne  schirmet, 

was  da  keimt  und  blüht  und  knospet, 

Drillingsschwestern,  Chariten, 

konntet  ihr  den  Reinen,  Keuschen 

so  verstofsen  aus  der  Heimat, 
1160  aus  dem  Vaterhause? 

11* 


164 

Chorführerin. 
Dort  seh'  ich  einen  von  Hippolytos' 
Begleitern  kommen.     Finster  blickt  sein  Auge. 

Der  Reitknecht 

tritt  von  der  Seite  auf. 

Wo  kann  ich  König  Theseus  finden?    Wifst  ihr's, 
1155  so  sagt  es  mir,  ihr  Frau'n.    Ist  er  im  Schlosse? 
Chorführerin. 
Da  tritt  er  selber  aus  dem  Schlofs  hervor. 

Theseus  kehrt  aus  der  Mittelthür  zurück. 

Reitknecht. 
Theseus,  ich  habe  dir  und  deinen  Bürgern, 
die  Attika  und  die  Trozen  bewohnen, 
zu  melden,  was  euch  tief  erschüttern  mufs. 
Theseus. 
1160  Was  ist  es?    Sind  die  beiden  Seh  wester  Städte 
von  einem  Unfall  plötzlich  heimgesucht? 

Reitknecht. 
Hippolytos  ist  tot,  so  gut  wie  tot. 
Nur  noch  nach  Augenblicken  zählt  sein  Leben. 

Theseus. 
Wie?    Hat  ihn  eines  Feindes  Hand  erschlagen, 
1166  dem  wie  dem  Vater  er  das  Weib  entehrte? 
Reitknecht. 
Er  fiel  durch  seines  eignen  Wagens  Rosse 
und  durch  den  Fluch,  den  du  an  deinen  Vater, 
den  Herrn  des  Meeres,  wider  ihn  gerichtet. 

Theseus. 
0  Himmel!    Ja,  du  bist  mein  rechter  Vater, 
1170  Poseidon,  da  du  meinen  Fluch  erhörtest. 
Sag'  an,  wie  hat  den  Schänder  meiner  Ehre 
das  Richtschwert  der  Gerechtigkeit  ereilt? 

Reitknecht. 
Wir  hielten  nah  am  meerbespülten  Ufer 
1175  und  striegelten  die  Rosse,  tief  betrübt: 


165 

denn  dafs  Hippolytos  durch  deinen  Spruch 
des  Lands  verwiesen  in  das  Elend  zöge, 
war  uns  gemeldet.    Und  da  kam  er  selbst, 
einstimmend  in  die  Weisen  unsrer  Thränen, 

1180  und  hinter  ihm  ein  unabsehbar  Heer 

von  Freunden  und  Gefährten  seiner  Jugend. 
Und  endlich  unterbrach  er  seine  Klagen: 
„Was  hilft  es,  sich  in  Trauer  zu  verlieren? 
Dem  Wort  des  Vaters  mufs  ich  folgen.     Auf, 
schirrt,  Knechte,  meinen  Wagen  an.     Trozen 

1186  giebt  es  für  mich  nicht  mehr."     Wir  eilten  uns, 
und  schneller,  als  das  Wort  es  sagen  kann, 
stand  angeschirrt  der  Wagen  vor  dem  Herrn. 
Der  stellt  sich  kundig  auf  des  Lenkers  Platz 
und  nimmt  die  Zügel  von  dem  Rand  der  Brüstung. 
Doch  erst  erhebt  er  noch  die  Hand  gen  Himmel 

1190  und  betet:  „Zeus,  wenn  ich  ein  Frevler  bin, 

so  will  ich  nicht  mehr  sein.    Und  gieb,  dafs  einmal, 
mag  ich's  erleben  oder  nicht,  mein  Vater 
erkenne,  welches  Unrecht  er  mir  thut." 
Darauf  nahm  er  die  Peitsche,  trieb  die  Stuten 

1195  gleichmäfs'gen  Schlages  an.    Wir  hielten  uns 

dicht  an  dem  Wagen  links  und  rechts.     So  ging's 
den  Weg  nach  Argos  und  Korinth  hinaus. 
Und  als  wir  nun  im  freien  Felde  waren, 
jenseits  der  Grenze,  wo  die  Küstenberge 

1200  sich  zu  dem  Golf  des  Saron  niedersenken, 
da  scholl  ein  unterirdisch  dumpf  Getöse 
wie  fernen  Donners  Grollen  uns  entgegen. 
Wir  schauderten.     Die  Pferde  stutzten  gleich 
gespitzten  Ohrs  und  reckten  ihre  Köpfe, 
indes  wir  fürchterlich  erschrocken  spähten, 

1205  woher  es  käme.     Da  entdeckten  wir 

beim  Hinblick  über  Uferhang  und  Brandung, 
dafs  sich  ein  ungeheurer  Wogenberg 


166 


emporhob  aus  der  See,  wie  nur  ein  Wunder 

ihn  schaffen  kann.    Schon  konnten  wir  nicht  mehr 

des  Skiron  Klippe  sehn,  bald  schwand  der  Isthmos, 

1210  bald  Epidauros'  Felsen.     Höher  schwoll 

und  wälzte  rings  von  Meeresgischt  umsprudelt 
die  Woge  sich  dem  Ufer  zu.     Und  da, 
da  wo  der  Wagen  stand,  da  barst  und  brach  sie, 
und  ihrem  Flutenschofs  entstieg  ein  Stier. 
Ein  ungeheures  Wunderwesen  war's. 

1215  Voll  ward  das  Felsgelände  seines  Brtillens 
und  brüllte  wieder,  schauerlich.     Sein  Anblick 
war  so,  dafs  keiner  hinzublicken  wagte. 
Da  packte  gleich  die  Stuten  jäher  Schrecken. 
Allein  der  Herr,  erfahren  wie  er  war, 

1220  zog,  wie  des  Wagenlenkers  Kunst  verlangt, 
die  Zügel  straff  und  warf  sich  hintenüber 
dem  Rudrer  gleich,  und  hing  sich  in  die  Zügel. 
Sie  aber  fafsten  mit  den  Zähnen  fest 
das  Stahlgebifs.    Und  Joch  und  Strang  und  Deichsel 

1225  und  ihres  Lenkers  Faust  vermochten  nicht 
den  Drang  der  Rasenden  zurückzuhalten. 
Noch  eins  versucht  er  wohl,  der  Fahrt  die  Richtung 
zum  weichen  Ufersand  hinab  zu  geben; 
doch  dann  erscheint  das  Untier  vor  dem  Wagen, 
und  das  Gespann  jagt,  scheugemacht,  zurück. 

1230  Doch  geht  die  tolle  Jagd  dem  Felsen  zu, 

so  folgt  der  Stier.     Er  brüllt  nicht  mehr.    Nur  nah 
und  immer  näher  kommt  er.     Endlich  drängt 
er  eins  der  Räder  an  die  Felsen  wand. 
Es  bricht.    Der  Wagen  stürzt  und  überschlägt  sich. 
Ein  gräfslich  Durcheinander  war  es.     Naben 

1235  und  Achsenpflöcke  flogen  durch  die  Luft. 
Doch  er,  der  Unglück sel'ge,  wird  geschleift, 
verstrickt  in  seiner  Zügel  wirre  Fesseln. 
Und  an  die  Felsen  schlägt  sein  Haupt.     Sie  reifsen 


167 

das  Fleisch  von  seinen  Gliedern.  Furchtbar  schreit  er : 

1340  „Halt,  halt,  ihr  Stuten.    Hab'  ich  euch  nicht  selbst 
an  meiner  Krippe  grofsgezogen?   Schont, 
bringt  mich  nicht  um.     0  meines  Vaters  Fluch! 
Kommt  keiner,  Hellas'  besten  Mann  zu  retten?" 
Ach,  mancher  wollt'  es  schon,  allein  wir  waren 
zu  weit  zurück.    Da  fallen  plötzlich  ihm 

1246  die  Fesseln  ab,  ich  weifs  nicht,  wie's  geschah, 
und  kaum  noch  atmend  sinkt  er  auf  die  Erde. 
Das  Ungeheuer  aber  und  die  Rosse 
sind  alle  fort,  verschwunden  in  den  Boden 
des  Felsenthals  —  ich  weifs  es  nicht  wohin. 
Ich  bin  ja  nur  ein  Knecht  aus  deinem  Hause, 

1250  mein  König.     Doch  das  weifs  ich,  nimmermehr 

werd'  ich  von  deinem  Sohn  was  Schlechtes  glauben. 
Da  mögen  sich  die  Weiber  allesamt 
erhenken,  mögen  Berge  sie  von  Briefen 
hoch  wie  der  Ida  schreiben.    Denn  ich  weifs, 

1256  unschuldig  ist  er,  ist  ein  edler  Mann. 

Chorführerin. 

Weh  uns.     Getroffen  hat  der  zweite  Schlag. 

Des  Schicksals  Schlufs  vollzieht  sich  unabwendlich. 

Theseus. 

Verhafst  ist  der  Getroff'ne  mir,  drum  freute 
die  Nachricht  mich.     Allein  er  ist  mein  Sohn. 
Auf  diese  heil'gen  Bande  nehm'  ich  Rücksicht: 
1260  mir  bleibt  die  Freude,  bleibt  das  Mitleid  fern. 

Reitknecht. 
Was  weiter?    Dürfen  wir  den  Ärmsten  holen? 
Wie  können  wir  in  deinem  Sinne  handeln? 
Ach  Herr,  wenn  ich  dir  raten  dürfte,  sei 
nicht  grausam  gegen  deines  Sohnes  Leiden. 


168 


Theseus. 
1266  Ja,  bringt  ihn  her.    Ins  Aug'  will  ich  ihm  schau'n 
und  mit  der  göttlichen  Entscheidung  ihn 
der  Unthat  überführen,  die  er  leugnet. 
Reitknecht  ab. 

Chor. 

Aphrodite,  du  lenkest  der  Menschen, 

lenkest  der  Götter  unbeugsamen  Sinn. 
1270  Eros  umflattert  mit  buntem  Gefieder 

hurtigen  Flugs  dich,  wenn  du  dahin  fährst 

über  die  Länder,  über  des  Meeres 

klangvoll  rauschende  Salzflut. 

Spreitet  Eros  die  goldenen  Flügel, 

stürmt  er  im  Fluge  wider  ein  Herz: 
1275  gleich  entbrennt  es  in  wilder 

rasender  Liebeswut. 

Eros'  Zauber  bezwinget  des  Waldes, 

zwinget  des  Meeres  wildes  Getier, 

alles  was  Erde  nährt, 

alles  was  Sonne  schaut, 
1280  zwinget  die  Menschen:  dein,  Aphrodite, 

dein  ist  das  Scepter  des  Alls. 
Artemis, 

die  während  des  Gesanges  unbemerkt  aufgetreten  ist. 

Horch'  auf,  des  edlen  Aigeus  Sohn, 
1286  der  Leto  Tochter  rufet  dir. 

Theseus,  Verblendeter,  wie  kannst 
du  des  Geschehenen  dich  freu'n? 
Ich,  Artemis,  verkünde  dir, 
du  hast  durch  ungerechten  Spruch 
ermordet  deinen  eignen  Sohn. 
Phaidras  Verleumdung  trautest  du 
aufs  Ungewisse;  doch  gewifs 
war  was  du  thatest  frevelhaft. 


169 

1290  Jetzt  wünsche  dich  zum  Tartaros 
entrückt,  zu  bergen  deine  Schmach, 
jetzt  wünsche  dir  ein  Flügelpaar, 
zu  flieh'n  von  diesem  Trauerort, 
den  dein  unheil'ger  Fufs  entweiht; 
denn  nirgend  ist  mehr  Raum  für  dich 

1295  im  Kreise  reiner  Menschen. 

Ja,  Theseus,  höre,  wie  es  um  dich  steht. 
Zwar  hilft  es  nichts  und  wird  dich  nur  betrüben, 
doch  kam  ich  deshalb  nur,  damit  dein  Sohn 
in  Ehren  sterbe,  wenn  ich  seine  Reinheit 

1300  dir  offenbart  und  Phaidras  Liebeswahn. 
Auch  sie  hat  nicht  unwürdig  sich  bewiesen, 
denn  ihre  Liebe  war  das  Werk  der  Göttin, 
die  alle  Jungfraun  des  Olympos  hassen, 
weil  unser  höchster  Schatz  die  Unschuld  ist. 
Und  Phaidra  hat  versucht,  die  Leidenschaft 
durch  Tugend  zu  bemeistern;  wider  Willen 

1305  ist  sie  den  Ränken  ihrer  Pflegerin 
erlegen,  die  dem  Jüngling  ihre  Liebe 
verriet  und  ihn  durch  schweren  Eid  zum  Schweigen 
verpflichtete.    Den  Antrag  wies  er  ab, 
wie  sich  gebührte;  doch  auch  seinen  Eid 
hat  er  gehalten  als  ein  frommer  Mann, 
so  schwer  du  ihn  auch  schlugst.     Sie  aber  schrieb 

1310  den  Lügenbrief  aus  Furcht  entdeckt  zu  werden 
und  brachte  deinem  Sohn  den  Untergang 
durch  Arglist.     Aber  du  hast  ihr  geglaubt. 

Theseus. 
Weh  mir. 

Artemis. 
Die  Rede  schmerzt  dich,  Theseus,  schweig'  und  höre. 
Du  mufst  noch  bittrer  klagen.     Weifst  du  auch, 
1315  dafs  die  Erfüllung  dreier  Wünsche  dir 
dein  Vater  zugeschworen,  und  du  einen, 


170 

der  einem  Feind  verderblich  werden  konnte, 

auf  deinen  Sohn  verbraucht?     Dein  ist  die  Schuld; 

Poseidon  mufste  sein  Versprechen  halten 

und  that  nur  recht.    Du  aber  stehst  als  Frevler 

1320  in  meinen  und  in  seinen  Augen  da, 
weil  weder  Zeugnis  du  noch  Seherwort 
abwarten  wolltest,  weder  untersuchtest 
noch  von  der  Zeit  Aufklärung  kommen  liefsest, 
vielmehr  in  Übereilung  die  Verwünschung 
aussprachst  —  die   deinem  Sohn  den  Tod  gebracht. 
Theseus. 

1326  Ach  Herrin,  sttirb'  ich  selbst. 
Artemis. 

Du  hast  gefehlt, 
und  doch  giebt  es  Verzeihung  auch  für  dich. 
Denn  Aphrodite  hat  es  so  gewollt, 
um  ihrem  Zorn  genug  zu  thun.     Es  kreuzt 
ein  Gott  nicht  eines  andern  Gottes  Wunsch; 

1330  er  steht  zur  Seite,  was  auch  jener  thue. 

Denn  glaube  mir,  nur  Scheu  vor  den  Gesetzen 
des  Zeus  hat  mich  vermocht  mit  anzusehn, 
wie  mir  zur  Schmach  der  Einz'ge  sterben  mufste, 
der  mir  vor  allen  Menschen  teuer  war. 

1335  Du  aber  hast  aus  Bosheit  nicht  gefehlt, 
du  ahntest  nichts,  und  deiner  Gattin  Tod 
verhinderte  die  Prüfung  durch  Verhör. 
Am  schwersten  freilich  trifft  dies  Unglück  dich, 
doch  traur'  auch  ich  darum.    Wir  Götter  sind 

1340  nicht  fühllos  für  des  Frommen  Tod.     Den  Frevler 
vernichten  wir  mit  Kind  und  Kindeskind. 

Chorführerin. 
Da  kommt  er,  der  Arme;  sein  lockiges  Haupt, 
sein  blühender  Leib  geschändet,  zerfetzt. 
Welch  Schicksal!     Wie  ist  zu  gedoppeltem  Leid 

1345  dies  Haus  von  den  Göttern  verurteilt! 


171 


Hippolytos 

wird  auf  einer  Bahre  von  einer  Anzahl  Diener  langsam  auf  die 

Bühne  getragen;    Artemis    steht   im  Hintergrunde,    so  dafs  er  sie 

nicht  sieht.     Theseiis  mit  seinem  Gefolge  und  der  Chor  stehen  auf 

der  andern  Seite. 

Weh  mir!    Weh  mir! 

Des  frevelen  Vaters  freveler  Fluch 

1350  hat  so  meine  Glieder  geschändet,  zerfetzt. 
Weh  mir,  so  mufs  ich  vergehen. 
Es  zucken  die  Schmerzen  mir  wild  durch  das  Haupt, 
es  wühlt  im  erbebendem  Hirne  der  Krampf; 
ach  gönnt  mir  Erschöpftem  Erholung. 

Sie  setzen  die  Bahre  hin.    Pause.    Dann  nehmen  sie  sie  loieder  auf. 

1365  Grausames  Gespann,  mit  der  eignen  Hand 
hatt'  ich  euch  erzogen,  ihr  Stuten,  und  ihr 
zerrisset  und  schleiftet  und  mordetet  mich. 
Halt  halt,  ihr  Träger,  habt  acht,  nicht  so  rauh 
berührt  mir  den  wunden,  zerschlagenen  Leib. 

1360  Wer  trat  meiner  rechten  Seite  zu  nah? 

Behutsam  erhebt  mich  und  schleppt  mich  voran 
gleichmäfsigen  Zugs,  den  der  Himmel  verläfst, 
der  Vater  in  sündigem  Wahne  verflucht. 
Zeus,  siehst  du  mich,  Zeus?    Ich  bin  es,  der  fromm 
die  Götter  geehrt,  ich  bin  es,  der  rein 

1365  und  keusch  wie  keiner  der  Menschen  gelebt. 
Jetzt  ist  bis  zum  Grunde  mein  Leben  zerstört, 
das  Grab  liegt  vor  mir,  und  niemand  dankt 
mir  ein  frommes,  unsträfliches  Leben. 

1370  0  wehe  mir,  weh,  da  kommen  sie  wieder, 
die  Schmerzen,  die  Schmerzen! 
Lafst  mich  doch  los. 

Mein  Arzt  ist  der  Tod;  wo  bleibt  er?     So  schlagt 
mich  doch  tot,  schlagt  ganz  mich  Unseligen  tot. 

1375  Mich  verlangt  nach   dem  Stofs  des   zerfleischenden 

Stahls, 


172 


Vernichtung,  Ruhe  zu  finden. 
Die  Diener,   die  ihn   auf  seinen  Befeld  niedergesetzt  haben   {auf 
die  Mitte  der  Bühne\   treten  nun  ah.     Er  bemerkt  den  Theseus. 

Unseliger  Fluch  aus  dem  Munde  des  Vaters! 

Das  Erbe  vergangner  Geschlechter, 
1380  die  Sünden  der  Ahnen,  der  blutbefleckten, 

sie  schreiten  nun  weiter,  sie  warten  nicht  mehr. 

Ach,  warum  brachen  auf  mich  sie  herein, 

den  Reinen,  Unschuldigen,  mich? 

Weh  mir,  was  thu'  ich? 

Wie  kann  ich  mein  Leben  von  diesen 
1386  grausamen  Qualen  erlösen? 

0,  käme  die  Nacht  und  brächte  mir  Schlaf 

im  schwarzen  Banne  des  Todes. 
Artemis 

hinter  ihm. 

In  welchem  Elend  find'  ich  dich,  du  Ärmster. 
1390  Dir  ward  dein  Edelmut  verhängnisvoll. 

Hippolytos. 
Himmlischer  Duft  umweht  mich.   Durch  die  Schmerzen 
empfind'  ich  ihre  Nähe,  mir  wird  leichter. 
Ist  Artemis,  ist  meine  Göttin  hier? 

Eichtet  sich  auf. 

Artemis 

vortretend. 

Sie  ist's,  die  Göttin,  die  dich  liebt,  mein  Freund. 
Hippolytos. 
1395  Und  siehst  du,  Herrin,  wie  es  um  mich  steht? 
Artemis. 
Ich  seh's,  und  war'  ich  sterblich,  würd'  ich  weinen. 

Hippolytos. 
Dein  Jagdgefährte,  dein  Begleiter  stirbt. 

Artemis. 
Er  stirbt;  doch  meine  Gunst  verläfst  ihn  nicht. 


173 

Hippolytos. 

Dein  Wagenlenker,  deiner  Wiesen  Pfleger.        , 

Artemis. 

1400  Kypris  entreifst  ihn  mir,  die  frevelkühne. 

Hippolytos. 

Ha,  nun  erkenn'  ich,  wer  den  Tod  mir  sandte. 

Artemis. 
Sie  warf  dir  vor,  dafs  du  sie  nicht  verehrtest, 
und  dafs  du  keusch  warst,   war  ihr  eine  Kränkung. 

Hippolytos. 
Jetzt  wird  mir  alles  klar.     Nicht  ich  allein, 
als  Opfer  Aphrodites  fallen  drei. 

Artemis. 

So  ist  es,  du,  dein  Vater,  seine  Gattin. 

Hippolytos. 

1405  Ach,  auch  den  Vater  mufs  ich  jetzt  beweinen. 

Artemis. 

Jawohl;  er  war  von  höh'rer  Macht  verblendet. 

Hippolytos. 
Mein  Vater,  hart  trifft  diese  Schickung  dich. 

Theseus, 
Zu  hart,  mein  Sohn.     Zur  Last  ist  mir  das  Leben. 

Hippolytos. 
Ja,  schwerer  schlägt  dein  Irrtum  dich  als  mich. 
Theseus. 
1410  Lag'  ich  statt  deiner  sterbend  auf  der  Bahre! 
Hippolytos. 
Poseidons  Gabe  ward  dir  nicht  zum  Heil. 

Theseus. 
0  hätt'  ich  niemals  jenen  Fluch  gesprochen! 
Hippolytos. 
1415  Dann  hätte  mich  dein  Jähzorn  doch  getötet. 
Theseus. 
Ja,  die  Besinnung  nahm  mir  Aphrodite. 


174 

Hippolytos. 
Ha,  wenn  doch  Menschenfluch  die  Götter  träfe. 

Artemis. 
Halt  inne.     Aphrodites  Götterzorn 
soll  dich,  den  Reinen  und  Unsträflichen, 
nicht  ungerochen  bis  ins  Grabesdunkel 

1420  hinab  verfolgen.     Rache  nehm'  ich  mir 
mit  diesen  meinen  Pfeilen,  die  des  Zieles 
niemals  verfehlen,  einst  an  dem,  den  sie 
von  allen  Sterblichen  am  meisten  liebt. 
Und  dir,  mein  armer  Freund,  will  ich  zum  Tröste 
die  höchsten  Ehren  in  Trozen  verleihn. 

1425  Eh  sie  zur  Hochzeit  schreitet,  soll  die  Jungfrau 
dir  ihren  Lockenschmuck  als  Opfer  bringen, 
und  noch  in  fernsten  Zeiten  wird  der  Zoll 
erhabner  Trauerfeier  dir  geweiht. 
Und  Lieder  schallen  aus  der  Mädchen  Mund 
und  singen  dich,  und  dafs  dich  Phaidra  liebte, 

1430  wird  unvergessen  sein.     Erlauchter  Theseus. 
nun  komm,  umarme,  küsse  deinen  Sohn, 
denn  unfreiwillig  hast  du  ihn  getötet. 
Der  Mensch  darf  sünd'gen,  wenn  ein  Gott  es  schickt. 

1436  Und  dir,  Hippolytos,  geb'  ich  den  Rat 
dem  Vater  nicht  zu  grollen.    Denn  es  lag 
in  deinem  Wesen  auch  dein  Untergang. 
Und  lebe  wohl.    Mein  Götterauge  mufs 
den  Anblick  eines  Sterbenden  vermeiden. 
Denn  uns  entweiht  der  kalte  Hauch  des  Todes, 
und  diesem  Ziele,  seh'  ich,  bist  du  nah. 
Ab. 

Hippolytos. 
1440  Leb'  wohl  auch  du,  steig'  auf  zum  reinen  Himmel. 
Lang'  hast  du  mich  geliebt:  der  sel'gen  Göttin 
wird  auch  der  Abschied  leicht.    Wie  du  befiehlst, 


175 

will  ich  mit  meinem  Vater  mich  versöhnen; 
ich  pflegte  ja  nach  deinem  Wort  zu  leben. 
Doch  ach,  schon  senkt  sich  Nacht  auf  meine  Lider : 
1446  mein  Vater,  fasse,  halte  deinen  Sohn. 

Sinkt  zurück,  Theseus  stützt  ihn. 

Theseus. 
Mein  Kind,  was  willst  du  mir  Unsergem  thun? 

Hippolytos. 
Tod,  Tod.    Des  Grabes  Pforte  seh'  ich  schon. 

Theseus. 
Du  läfst  mich  mit  dem  Fluch  der  Schuld  zurück? 

Hippolytos. 
Gewifs  nicht,  von  dem  Mord  Sprech'  ich  dich  frei. 

Theseus. 
1450  Ja?    Nimmst  du  mir  den  Frevel  von  der  Seele? 

Hippolytos. 
Bei  Artemis,  der  Jägerin,  ich  schwör'  es. 

Theseus. 
Du  Liebster,  ja  du  bist  ein  treuer  Sohn. 

Hippolytos. 
146Ö  Mögst  du  dich  meiner  Brüder  also  freu'n. 

Theseus, 

ihm  zärtlich  die  Hand  drückend. 

1464  So  fromm,  so  liebreich!    Dich  soll  ich  verlieren! 

Hippolytos. 
1463  Leb'  wohl,  leb'  wohl  auch  du,  mein  lieber  Vater. 

Theseus. 
1466  Du  überstehst,  du  darfst  mich  nicht  verlassen. 

Hippolytos. 
Ich  hab'  es  überstanden.    Ja,  der  Tod 
ist  da.    Mein  Vater,  schliefs  mein  brechend  Auge. 

Stirbt. 


176 


Theseus 

läfst  die  Leiche  auf  den  Boden  sinken  und  drückt  ihr  die  Augen 
zu ,'  die  Diener  nehmen  die  Bahre  auf  und  tragen  sie  in  das  Schlofs. 

1460  0,  welch  ein  Mann  ist  uns  hinweggenommen, 
dir,  heiliges  Athen,  dir,  Pelopsinsel. 
Und  ach,  wie  lange  werd'  ich  Unglückserger 
an  deinen  Schlag  gedenken,  Aphrodite. 

Ah,  der  Bahre  folgend. 

Chor 
im  Abziehen. 

Alle  Bürger  traf  zugleich  die  Trauer, 
146Ö  allen  rinnt  desselben  Schmerzes  Zähre, 

denn  ins  Weite  tönt  und  dringt  ins  Tiefste, 
wenn  ein  Schlag  die  höchsten  Häupter  trifft. 


Zum  griecliisclien  Texte. 

Ich  gebe  die  Abweichungen  von  meiner  früheren  Aus- 
gabe, aber  nicht  zu  dem  kritischen  Apparate.  Bekannt 
geworden  sind  mir  mittlerweile  die  Lesarten,  die  Papa- 
dop ulos  Kerameus  (hgoGolvfiix'^  BißXio&fjHt^  I,  Petersburg 
1893)  aus  einer  Handschrift  veröffentlicht  hat,  die  ich 
nach  älteren  Andeutungen  vergebens  gesucht  hatte  und 
die  sich  nun  in  Jerusalem  gefunden  hat;  das  bisher  Mit- 
geteilte ergiebt  nichts  von  Belang.  Ferner  hat  mir  eine 
Vergleichung  von  0  (Laur.  31,  10)  für  das  ganze  Stück 
vorgelegen;  das  ist  für  einige  Verse  von  Interesse^),  auf 
den  Text  hat  es  keinen  Einflufs.  Eine  Probe  einer  ge- 
ringeren Handschrift  derselben  Art  (Marcian,  620)  für 
mich  zu  vergleichen  hat  Emilio  Teza  in  Padua  nicht 
unter  seiner  Würde  gehalten.  Demselben  verdanke  ich 
eine  Anzahl  wertvoller  Ausstellungen  an  meiner  Über- 
setzung: so  sicher  ist  auch  in  diesen  Sprachen  das  Stil- 
gefühl des  berühmten  Kenners  aller  möglicher  Sprachen; 
allerdings  weifs  er  durch  eigene  Übung,  was  Übersetzen 
ist  und  was  es  nicht  ist.  Die  Anregung,  einige  eigne 
Aufstellungen  zurückzunehmen,  verdanke  ich  Kaibel;  in 
einer  schweren  Stelle  hat  H.  Weil  das  Ziel  gefunden,  zu 
dem  ich  nur  auf  dem  rechten  Wege  war.    In  anderen 


1)  Er  zeigt  z.  B.,  dafs  369  vor  der  Rasur  in  M.  TsUvTccffa^ 

ri  n  gestanden  hat. 

Griech.  Tragödien.    L  12 


178 

Fällen  konnte  ich  beiden  nicht  folgen.  Was  mir  sonst 
zu  Gesicht  gekommen  ist,  war  mir  unbrauchbar;  recht 
oft  sind  mir  Lesungen  vorgehalten,  die  ich  lange  vorher 
bedacht  und  verworfen  hatte.  Immerhin  mufs  ich  in 
einem  so  wohlerhaltenen  Drama  ziemlich  vieles  ändern, 
und  es  sind  nicht  wenige  Stellen,  wo  ich  fürchte,  dafs 
das  definitive  Verständnis  noch  nicht  erreicht  ist. 

33   Gsd  Weil:   Oedv. 

146  und  1130  Jixrvvav.  Dies  ergiebt  genaue  For- 
schung überhaupt  als  die  echte  Schreibung,  wie  die 
Sprache  fordert.  Jixrvva:  *Jint(6vrj  =  Vacuna:  Po- 
mona.  Die  Göttin,  die  gar  nicht  aus  Kreta  stammt, 
heifst  nach  der  Pflanze  bUxri, 

150  1EQG0V  ■&''  vTttQ  niXayog  {mXdyovg  codd.)  divcug  if 
fotiaig  äXfiag.  Das  trockene,  Festland  gewordene,  Meer  be- 
zeichnet wie  die  dxvfiavtoi  -ipdfia&oi  243  die  Düne  als 
früheren  Meeresgrund.  Die  Beziehung  auf  das  auch  228 
und  1132  genannte  Lokal  Limne  konnte  nur  Verstocktheit 
noch  leugnen.  Das  Heiligtum  der  Artemis  ist  die  (poißaia 
Xlfivri  an  der  'd-dXaada  reraymSr^g,  das  Pausanias  gelegent- 
lich des  Jägers  Saron  erwähnt,  II  30,  7.  Wahrscheinlich 
lag  dabei  auch  die  Wiese  und  hiefs  die  Göttin  zu  Euripides 
Zeit  Diktyna:  darauf  führen  seine  Angaben. 

198  atQste  der  Variante  uquis  wegen  oQ&ovte  vor- 
gezogen. 

272  le  beibehalten;  de^ag  gehört  zu  beiden  Verben, 
vgl.  Orest.  228. 

405  TZQog  rolaö''  gehalten. 

476  Dafs  XQV^  vor  XQV  bevorzugt  werden  mufs,  hat 
Diels  gezeigt. 

530  Die  Übersetzung  hat  den  Anklang  an  einen  volks- 
tümlichen Vers  gesucht,  als  Surrogat  für  das,  was  an 
dem  Original  unnachahmlich  war.  Sprichwörtlich  ist  auch 
im  Griechischen  ^vq  im  tzvqi  und  gerade  im  ersten  Hippo- 


179 

lytos  sagte  der  Chor  avtl  nvQog  yaQ  äXXo  ttvq  fisT^ov 
ißXdatofisv  yvvaixeg  tioXv  dvafiaxcotSQOv.  Hinzu  kommt 
der  volkstümliche,  aber  in  die  vornehme  Poösie  nicht 
leicht  eindringende  Glaube  an  die  Wirkung  der  Strahlen 
nichts  nur  der  Sonne,  deren  Stiche  wir  auch  kennen, 
sondern  auch  des  Mondes  {(jeltjvoßXtjtoi^  lunati)  und  der 
Sterne  (aatnoßXtjtoi,  siderati),  von  denen  die  Wirkung 
des  Sirius  speziell  Hek.  1101  erwähnt  wird. 

591 — 595  Hier  gestattet  die  bessere  Einsicht  in  diese 
Gattung  Dochmien,  die  wir  dem  Grenfellschen  Liede  ver- 
danken, die  Überlieferung  zu  verstehen ;  nur  dafs  Phaidra 
die  Interjektion  spräche,  ist  nicht  zulässig.  Nach  drei 
guten  Dochmien  kommt  ein  katalektischer  iambischer 
Dimeter  rd  xQVTztd  ydg  TTscprjve:  darin  steht  die  schreck- 
liche Neuigkeit,  und  nun  mit  neuen  Rhythmen  der  Aus- 
bruch des  Gefühles,  der  Abschlufs  der  Gesangnummer, 
did  8'  ülXvaai  aial  e  s  \  TtQodotog  h  cpilcov.  Vor  dem 
letztem  Dochmius  anapästisches  (dochmisches)  Metron 
und  iambisches  Metron  (Kretiker) ;  genau  wie  dort  dxata- 
(TtaGiTjg  svQsrijg. 

659  Hermann  hat  8a87]fiog  in  hhifirn  verändert,  weil 
ihm  die  Auslassung  der  Copula  im  Konjunktiv  anstöfsig 
war.  Er  wird  recht  behalten.  In  den  atticistischen 
Glossen,  die  Reitzenstein  im  Winterprogramm  von  Rostock 
1892  veröffentlicht  hat,  wird  S.  4  Euripides  für  sxdt^fisiv 
angeführt:  das  steht  sonst  nirgends. 

665  Ich  habe  hier  die  scenische  Anweisung  stehen 
lassen.  Reisch  in  Dörpfelds  und  seinem  Theaterbuch 
S.  205  schreibt  eine  andere  vor.  Aber  er  hat  V.  907  über- 
sehen, der  feststellt,  was  für  die  Stimmung  Phaidras 
entscheidend  ist,  dafs  sie  in  dieser  Scene  auf  der  Bühne 
war.  Es  ist  auch  ganz  falsch,  ein  Abtreten  und  Auf- 
treten zwischen  den  Zeilen  zu  lesen. 

737  Ich  schäme  mich,  die  überlieferte  Form  ata- 
XdaffovGir   geändert  zu  haben,    weil  es  alle  thaten:    der 

12* 


180 

Dichter  hat  hier  eine  zweisilbige  Senkung,  weil  der  ent- 
sprechende Vers  sie  an  einer  andern  Stelle  hat.  Den 
hatte  ich  schon  verschont. 

759  Ich  mufste  darauf  hinweisen,  dafs  die  epische 
Formel  ^eiScoQog  yaia  durch  ßiodcoQog  yßwv  glossogra- 
phisch  wiedergegeben  wird.  Vgl.  Et.  M.  C^idmnog.  Daher 
nennt  Empedokles   seine  Leben  schaffende  Aphrodite  so. 

759  Der  Einschub  von  ys  hinter  Knr^aiag  wird  den 
Sinn  sicher  stellen,  den  meine  Übersetzung  jetzt  deutlicher 
giebt.  Eine  Vermutung  Weils,  die  das  Versmafs  nicht 
zuläfst,  hat  mir  gezeigt,  dafs  das  nötig  war. 

773  re  gehalten. 

791  fjx^  ßaQsla  tiqogtzoIcov  a(f;Ueto  gehalten. 

816  Da  ich  für  die  Bühne  im  Deutschen  kein  Ekky- 
klema  vorschreiben  kann,  sage  ich  hier  ausdrücklich, 
dafs  Euripides  es  angewandt  hat.  Die  Zweifel  von 
Dörpfeld-Reisch  und  Bethe  sind  arge  Verirrungen.  Wenn 
sie  die  Schollen  nachgelesen  hätten,  so  würden  sie  ge- 
sehen haben,  dafs  die  Schauspieler  später  für  Phaidras 
erste  Scene  das  Ekkyklema  anwandten,  was  die  Gram- 
matiker berichtigen.  Da  konnte  der  Dichter  die  Maschine 
nicht  brauchen,  weil  sie  hätte  bis  730  stehen  bleiben 
müssen  und  dem  Spiele  hinderlich  geworden  wäre.  Dann 
aber  wollte  er  sie  auch  nicht  zweimal  anwenden.  Jetzt 
imputieren  sie  ihm,  dafs  er  die  Phaidra  einmal  lebendig 
und  einmal  tot  auf  die  Bühne  hätte  tragen  lassen,  wobei 
der  Brief  an  ihrer  Hand  baumelte.  Dafs  die  Leiche 
feierlich  zur  Prothesis  aufgebahrt  im  Hause  steht,  hat 
der  Dichter  wahrhaftig  deutlich  genug  gesagt.  Dieser 
Hintergrund  ist  für  die  Streitscene  von  grofser  Wirkung. 
Überall  wo  das  Haus  aufgemacht  und  sein  Inneres  gezeigt 
wird,  ist  es  herausgerollt  worden.  Wer  interpretieren 
kann,  mufs  das  sehen. 

830  und  848  Es  ist  richtiger,  beide  male  aial  zu 
setzen,  das  nur  an  erster  Stelle  erhalten  ist.    Ausfall  ist 


181 

leichter  als  Zusatz,  und  die  iambischen  Metra  sind  metrisch 
gefälliger. 

840  Meine  schwerverständliche  Änderung  mufs  falsch 
sein;  Theseus  fragt  nicht,  was  geschehen  sei,  sondern 
ärgert  sich,  dafs  er  nichts  hört.  Es  wird  einer  der  ganz 
verwüsteten  Verse  sein.  Ich  denke  etwa  ovös  xXvca, 
nod-Ev  ^avaaifiog  tvia. 

907  y.ai  8y  richtig ;  vgl.  zu  Choeph.  565. 

1279  Dafs  ich  die  Gattungen  der  Lebewesen  nicht 
ganz  richtig  abgegrenzt  hätte,  wurde  mir  durch  W.  Schulze 
Quaest.  Ep.  237  klar,  dem  ich  indes  auch  nicht  ganz  fol- 
gen kann.  Auch  klangen  die  Verse  nicht  gut.  Jetzt 
habe  ich  mit  der  Änderung  eines  Buchstabens  erreicht, 
dafs  die  Tiere  der  Berge  und  des  Meeres  und  die  die 
Erde  nährt  und  die  Sonne  sieht,  zwei  Ausdrücke  für  die 
Gesamtheit,  zu  zwei  Paaren  vereinigt  sind.  Und  es  folgt 
auf  vier  iambische  Metra,  durch  Synaphie  gebunden,  der 
in  593  aufgezeigte  Vers  „axaracrtaaitjg  svQstijg'':  die  un- 
endliche Masse  ist  vorzüglich  bezeichnet,  oqegxooov  anv- 
fivcüv  naXayimv  &^  oaa  re  yä  tQt(fsi  td  &''  aXiog  ai&6- 
fisvog  I  ÖEQHetai.    Darin  ist  td  ^'  aus  zdv  gemacht. 

1374  TiQoaaTiollvti  fjC  oXXvte  rov  övaSaifiov^  dfj.q)i- 
ütoiJLOv  Xoyyag  sQafzai.  Da  das  gute  anapästisch-dochmische 
Verse  sind,  so  ist  diese  Form  anzuerkennen,  in  der  nur 
afi(fiaz6fiov  aus  dficpitofiov  gemacht  ist,  auf  die  Anregung 
eines  allerdings  nicht  zuverlässigen  Scholions  hin,  also 
aus  Konjektur. 

1387  Dafs  ich  nicht  der  einzigen  Pariser  Handschrift 
zu  Liebe  tief  schneiden  durfte,  zeigt  die  Übersetzung  der 
überlieferten  Fassung. 


.^.^ 


in. 

HüRIPIDES 
DER  MÜTTER  BITTGANG. 

(HIKETIDES.) 


Vorwort. 


Die  Bearbeitung  dieses  Dramas  hatte  ich  in  der- 
selben Weise  angegriffen  wie  die  des  Hippolytos;  der 
Text  lag  fertig,  die  Einleitung  war  skizziert,  manche 
Anmerkung  geschrieben.  Das  wird  durch  diese  Veröffent- 
lichung praktisch  entwertet,  denn  schwerlich  werde  ich 
anders  als  gelegentlich  auf  einzelne  Stellen  zurück- 
kommen. Es  liefs  sich  aber  auch  die  Textgestalt,  der 
die  Übersetzung  folgt,  nicht  in  der  hier  notwendigen 
Kürze  darlegen ;  so  mufs  ich  leider  meinen  Fachgenossen 
manches  zu  raten  geben.  Ich  hätte  gern  den  Text,  den 
ich  als  unreifer  Anfänger  von  dem  Drama  gedruckt  habe, 
durch  einen  guten  ersetzt,  wie  ich  das  jetzt  kann;  einige 
Chorlieder,  die  ich  in  dem  Göttinger  Programme  Com- 
mentariolum  metricum  I  behandelt  habe,  mögen  als  Probe 
dienen.  Gestern  ist  der  Text,  den  Nikolaus  Wecklein 
eben  auf  Grund  fremder,  nicht  revidierter  Kollationen 
hat  drucken  lassen,  vor  meine  Augen  gekommen;  ich 
habe  die  ersten  hundert  Verse  gelesen ;  das  genügte.  Ich 
habe  schon  früher  erklärt,  dafs  ich  mich  zu  einer  Aus- 
einandersetzung mit  diesem  Herrn  nicht  herablasse;  es 
ist  auch  nicht  nötig:  6  (pd-ovog  avtog  iavxov  ioXg  ßsXsetrai 

Westend,  19.  November  1898. 


Einleitung. 


l)er  Glaube  an  das  so  zu  sagen  leibliche  Fortleben 
der  Seele  nach  dem  Tode  und  die  Verpflichtung  der 
Hinterbliebenen,  für  ihr  Wohlbehagen  zu  sorgen,  zunächst 
durch  die  feierliche  Bestattung,  dann  durch  regelmäfsige 
Totenopfer,  d.  h.  Speise  und  Trank  für  die  Seele,  ist  bei 
den  Hellenen  uralt:  dafür  zeugen  die  Grabbauten  Mykenes. 
Aber  ein  sehr  grofser  Fortschritt  in  der  Gesittung  war 
notwendig,  damit  die  Menschen  sich  gewöhnten  Hafs  und 
Verfolgung  mit  der  Vernichtung  des  irdischen  Lebens 
abgethan  sein  zu  lassen  und  der  Leiche  des  Feindes 
Grabesruhe  und  Pflege  durch  die  Anverwandten  zu  gönnen. 
Das  bedingte,  dafs  man  vorab  an  Götter  als  sittliche, 
allgemein  herrschende  Mächte  glaubte,  die  Gnade  zu 
üben  verlangten,  so  dafs  die  Furcht  vor  dem  Fortwirken 
der  feindlichen  Seele  gegenüber  der  Scheu  vor  diesen 
Göttern  zurücktrat.  Ehedem  übte  man  als  etwas  Er- 
laubtes und  Schönes,  wie  die  Helden  der  Ilias  drohen, 
die  Feindesleiche  zu  verstümmeln  und  den  Hunden  vor- 
zuwerfen, natürlich  im  Glauben,  dafs  man  damit  die 
Seele  schädigte;  erst  die  Menschlichkeit  eines  späteren 
Dichters  hat  den  Achilleus  Homers  davor  bewahrt,  so  an 
Hektor  zu  handeln.  Als  im  griechischen  Mutterlande 
der  dorische  Adel  den  Ton  angab,  hat  sich  das  Standes- 
gefühl herausgebildet,  das  wir  im  Kriege,  der  einzigen 
ernsthaften    Beschäftigung,    die   für   standesgemäfs   galt, 


186 

anerkannt  und  mafsgebend  finden.  Krieg  ist  Gottesurteil. 
Nach  der  Schlacht  hat  derjenige  Teil,  der  den  Rücken 
gewandt  und  also  das  Feld  verloren  hat,  einen  Herold, 
d.  h.  einen  heiligen  unverletzHchen  Boten,  zu  schicken 
und  sich  die  Toten,  die  in  der  Hand  des  Siegers  und 
von  diesem  ausgeplündert  sind,  zur  Bestattung  auszu- 
bitten.  Darin  liegt  das  Eingeständnis  der  Niederlage: 
dafür  darf  das  Gesuch  nicht  abgeschlagen  werden.  Das 
gilt  ebenso  als  Satz  des  göttlichen  Rechtes  (des  Völker- 
rechtes, wie  wir  sagen)  wie  dafs  ein  Gefangener,  der 
sich  ergeben  hat,  nicht  mehr  getötet  werden  darf.  Seit 
wir  die  Geschichte  etwas  genauer  übersehen,  gilt  dieses 
Recht  bereits  und  hat  immer  gegolten.  Mit  welchen 
Kämpfen  und  durch  welche  religiöse  Autorität  es  sich 
durchgesetzt  hat,  ist  nicht  mehr  zu  übersehen.  Wohl  aber 
finden  wir  auf  anderen  verwandten  Gebieten  die  Mensch- 
lichkeit noch  um  den  Bruch  des  alten  grausamen  Rechtes 
kämpfend.  Der  hingerichtete  Verbrecher  soll  ursprüng- 
lich gänzlich  vernichtet,  unschädlich  gemacht  werden. 
Daher  in  Athen,  Rom,  Sparta  die  Hinrichtung  wenigstens 
der  ärgsten  Verbrecher  in  der  Weise  vor  sich  geht,  dafs 
eine  Bestattung  unmöglich  wird.  Aber  sehr  früh  ist  das 
durchbrochen  worden  (wenigstens  für  die  freien  Menschen), 
während  in  dem  christlichen  Europa  der  Galgen  mit 
seinen  faulenden  Bewohnern  noch  nicht  eben  lange  ver- 
schwunden ist.  In  Athen  gehört,  wie  das  Beispiel  des 
Sokrates  zeigt,  das  Leben  dem  Staate,  die  Leiche  den 
Verwandten.  Da  erhob  sich  aber  eine  Schwierigkeit  bei 
den  Hochverrätern.  Unmöglich  dürfen  sie  im  Schofse 
ihrer  mütterlichen  Erde  ruhen,  die  sie  beleidigt  und  ver- 
leugnet haben.  Ähnlich  stellt  es  sich  mit  Frevlern,  deren 
Existenz  an  sich  eine  Verunreinigung  des  Landes  mit 
sich  brachte,  Oedipus  z.  B.  Da  hat  man  sich  in  dem 
gottesfürchtigen,  aber  menschlichen  Athen  so  geholfen, 
dafs  die  Bestattung  in  Attika  verboten,  aber  aufserhalb 


187 

der  Grenzen  gestattet  worden  ist.  Es  sind  infolge  späterer 
Verurteilung  Leichen  von  Hochverrätern  exhumiert  wor- 
den, die  zu  Hause  in  Ehren  begraben  waren.  Aber  auf 
den  Schindanger  kamen  sie  nicht.  Wie  sehr  noch  zu  der 
Zeit  der  Tragiker  diese  Probleme  die  Menschen  erregten, 
sieht  man  in  den  neuen  Geschichten,  die  sie  exemplifika- 
torisch  zu  lösen  versuchen.  Sophokles  läfst  im  Aias  die 
Menschlichkeit  siegen:  der  Tote,  der  einen  hochverräte- 
rischen Anschlag  schlimmster  Art  auf  sein  Heer  und  auf 
seine  Vorgesetzten  begangen  hat,  wird  von  seinen  An- 
gehörigen begraben:  das  gilt  schon  einfach  als  göttliches 
Recht,  wenn  auch  die  Heerführer  es  nur  widerwillig  an- 
erkennen. Schwieriger  stellt  sich  die  Sache  bei  Poly- 
neikes,  der  auch  nach  athenischem  Rechte  in  der  Heimat, 
gegen  die  er  zu  Felde  gezogen  war,  kein  Grab  finden 
durfte,  den  aber  Kreon  überhaupt  zu  begraben  verbietet, 
wodurch  er  sein  Recht  ganz  verliert.  Sophokles  hat  die 
Schwester  das  göttlich  milde  Recht  zum  Siege  führen 
lassen;  andere  haben  die  Gattin  des  Toten  eingeführt, 
die  ihn  zu  suchen  aus  Argos  kam.  Eine  andere  Schwie- 
rigkeit ergab  sich  bei  denen,  die  die  Götter  gezeichnet 
hatten.  Das  geschah  durch  den  Blitz.  Der  Glaube  ging 
so  weit,  dafs  die  himmlische  Flamme  nie  erlöschen  sollte, 
also  keine  irdische  ihr  Werk  stören  durfte.  Wenn  jeder 
Fleck  profanem  Gebrauche  entzogen  ward,  von  dem  der  Gott 
durch  seinen  Blitz  eigenhändig  Besitz  ergriffen  hatte  (das 
galt  allgemein,  in  Hellas  wie  in  Italien),  so  gehörte  ihm 
der  blitzgetroffene  Mensch  {ifoog^  V.  915).  Kapaneus, 
dessen  Einführung  in  dem  vorliegenden  Drama  dies  hier 
zu  erklären  zwingt,  war  von  der  Sage  als  ein  gewaltiger 
Frevler  eingeführt,  den  zur  Strafe  seiner  Vermessenheit 
der  Blitz  im  Augenblicke  traf,  wo  er  seine  lästerlichen 
Drohungen  wahr  machen  wollte.  Der  Blitz  hat  ihn  nach 
einer  Erzählung  ganz  und  gar  zerrissen,  die  Glieder  in 
die  Lüfte    entführt;    nur   der   brennende  Rumpf  fiel   zu 


188 

Boden  ^).  So  war  eine  Bestattung  unmöglich.  Hier  sehen 
wir  ihn  von  den  andern  Leichen  gesondert,  in  einer  Lade 
geborgen  innerhalb  eines  Heiligtumes  verbrannt  werden, 
eines  Grabes  und  also  auch  eines  Totenkultes  nicht  teil- 
haftig: dafür  kommt  seine  Frau  und  springt  in  die  Flamme. 
Das  erscheint  bei  Euripides  nur  als  ein  Überschwang  von 
Gattenliebe;  darin  ist  die  ursprüngliche  Geschichte  doch 
schon  getrübt,  die  besagte,  dafs  die  Liebe  und  Treue  der 
Gattin  den  Mann  auch  dann  nicht  verläfst,  wenn  er  als 
Frevler  von  den  Göttern  gezeichnet,  von  den  Menschen 
also  verworfen  ist,  so  dafs  sie  die  Vereinigung  mit  ihm 
nur  durch  die  Hingabe  der  ganzen  eigenen  Existenz  er- 
kauft: der  Triumph  Euadnes  über  das  ganze  weibliche 
Geschlecht  ist  erst  voll  verständlich,  wenn  man  sich  klar 
macht,  dafs  sie  freiwillig  gleichsam  den  Bannstrahl  des 
Himmels  auf  sich  nimmt.  Diese  opferwillige  Treue  des 
weiblichen  Geschlechtes  ist  erst  im  fünften  Jahrhundert 
entdeckt  worden;  die  Antigone  des  Sophokles,  die  Goethe 
mit  der  Euadne  des  Euripides  zusammenstellt,  ist  ein 
Beispiel  für  die  Liebe  der  Schwester  sowohl  als  für  die 
der  Tochter;  die  liebende  Gattin  hat  Euripides  oft  dar- 
gestellt, eingehender,  kaum  rührender  als  in  dieser  Epi- 
sode, aber  hier  liegt  eben  etwas  Tieferes  zu  Grunde,  und 
der  Ruhm  gebührt  eigentlich  dem  Dichter,  der  die  Euadne 
dem  Götterfeinde  treu  bleiben  liefs;  vermutlich  war  das 
Aischylos. 

Diese  beiden  Geschichten  gehören  in  den  Kreis  der 
thebanischen  Sage.  Ebendieselbe  hat  zu  dem  Muster- 
beispiel für  die  Auslieferung  der  im  Kampfe  Gefallenen 
herhalten  müssen.  Davon  war  in  den  homerischen  Epen 
keine  Rede,  in  denen  diese  Geschichten  erzählt  waren, 


1)  Bei  Euripides  selbst  Phoen.  1184:  dafs  das  die  alte 
epische  Tradition  war,  hat  das  Grab  von  Trysa  gelehrt;  so 
hat  es  sich  also  auch  Sophokles  in  der  Antigone  gedacht. 


189 

von  denen  die  Athena  des  Euripides  eines,  die  Epi- 
gonen, namentlich  anführt.  Wir  wissen  zufällig,  dafs  bei 
Homer  Adrastos  den  sieben  gefallenen  Helden  sieben 
Scheiterhaufen  baute  und  sich  dann  wunderte,  als 
Amphiaraos  nicht  zur  Stelle  gebracht  werden  konnte; 
ihn  hatte  die  Erde  mit  Wagen  und  Rossen  aufgenommen, 
damit  er  dem  unverdienten  Untergange  durch  Feindes- 
hand entzogen  würde.  Die  Thebaner  zeigten  den  Platz 
dieser  Scheiterhaufen  dicht  vor  den  Mauern  von  Theben. 
Dafs  gleichwohl  die  Geschichte  von  der  Verletzung  des 
Kriegsrechtes  hier  einsetzte,  hatte  einen  sehr  realen  Grund, 
der  gar  nichts  mit  der  epischen  Geschichte  zu  thun  hatte, 
sondern  die  Boeoter  anging,  die  jetzt  schon  seit  Jahr- 
hunderten ihre  Hauptstadt  in  dem  alten  Theben  des 
Kadmos  und  Amphion  hatten.  Die  Boeoter  haben  sich 
dem  allgemein  hellenischen  Kriegsrechte  niemals  vor- 
behaltlos gefügt,  sondern  selbst  nach  der  Schlacht  von 
Leuktra  die  Gefallenen  nur  unter  besonderen  Bedingungen 
herausgegeben;  von  der  entsprechenden  Verhandlung,  die 
zu  dem  euripideischen  Drama  die  nächste  Veranlassung 
gegeben  hat,  wird  noch  weiter  die  Rede  sein.  Das  er- 
regte das  Mifsfallen  der  Hellenen  und  besonders  der 
Athener,  die  als  Nachbarn  immer  mit  Theben,  dem  Vor- 
orte des  boeotischen  Bundes,  wenig  freundlich  standen 
und  vermutlich  unter  der  Schmälerung  des  Völkerrechtes 
mehrfach  zu  leiden  gehabt  hatten.  So  erzählten  sie 
gern,  dafs  bei  dem  grofsen  Siege  Thebens  über 
Argos,  von  dem  die  allgemein  bekannte  Sage  berichtete, 
erst  ihr  Einschreiten  Theben  dazu  vermocht  hätte  ^), 
dem  heiligen  Rechte  genug  zu  thun.  Ob  die  Einzel- 
geschichte   von    der    dem    Polyneikes    verwehrten    Be- 


^)  Später  wandte  maa  das  gar  so,  dafs  Theseus  damals 
den  Satz  des  Völkerrechtes  erst  eingeführt  hätte,  was  die 
Thebaner  damit  beantworteten,  es  wäre  vielmehr  ihr  Herakles 
der  Stifter  gewesen. 


190 

stattung  älter  ist  oder  diese  von  der  allgemeinen  Ver- 
weigerung, ist  noch  nicht  ermittelt.  Da  sie  verschiedene 
Rechtssätze  illustrieren,  können  sie  begrifflich  neben  ein- 
ander stehen;  aber  in  der  Geschichte  desselben  Krieges 
schliefsen  sie  einander  aus.  Älter  bezeugt  ist  die  weiter- 
gehende Erzählung,  und  für  sie  kam  als  Bestätigung 
den  Athenern  hinzu,  dafs  sie  das  Grab  der  Sieben  be- 
safsen.  Da  wo  der  Weg  von  Boeotien  nach  dem  Isthmos 
in  der  Nähe  von  Eleusis  vorbeikommt  (dahin  biegt  ein 
Seitenweg  ab ;  daher  heifst  der  Punkt  Kreuzweg)  stand  auf 
der  zu  Ehren  der  Göttinnen  von  Eleusis  wüst  liegenden 
Grenzflur  nach  Megara  zu  ein  Grabhügel,  der  für  das 
Grab  der  Sieben  galt.  Wenn  sie  auf  attischem  Boden 
bestattet  waren,  so  lag  es  nahe,  dafs  Athen  auf  ihre 
Bestattung  eingewirkt  hatte.  In  Wahrheit  war  der  Boden 
altmegarischer  Grund  und  hatte  Megaras  Gebiet  ehedem 
zu  Boeotien  gehört,  sodafs  es  voll  von  Erinnerungen  an 
den  Zug  der  Sieben  war.  Es  mag  sein,  dafs  in  Wahr- 
heit ein  altes  Hünengrab,  wie  an  sehr  vielen  Orten  in 
Griechenland,  vorhanden  war,  für  das  sich  dann  Inhaber 
aus  der  durch  das  homerische  Epos  allgemein  bekannten 
Sage  fanden.  Dafür  spricht,  dafs  auch  ein  Grab  bei 
Eleutherai  auf  der  Pafshöhe  des  Kithairon  denselben 
Anspruch  erhob:  denn  dafs  Euripides  durch  ein  Hilfs- 
motiv beide  Gräber  aebeneinander  zu  halten  versucht, 
kann  die  Dublette  nicht  verhüllen.  Übrigens  waren  die 
Gräber  schwerlich  weiter  als  bei  ihren  Umwohnern  be- 
kannt. Dafs  sie  es  wurden  und  die  neue  Heldenthat 
Athens  Geltung  erhielt,  ist  das  Werk  des  gröfsten  Eleu- 
siniers,  des  Tragikers  Aischylos,  der  die  Heiligtümer 
seines  Heimatsortes  und  den  Ruhm  seines  Vaterlandes 
mit  seiner  neuen  Kunst  verherrlicht  hat:  er  darf  als  der 
Schöpfer  dieser  Geschichte  gelten.  Wir  haben  von  seinem 
Werke  zwar  nur  wenige  Spuren,  allein  nach  einer  sehr 
wahrscheinlichen    Vermutung    hat    er    in    seiner    Früh- 


191 


zeit^),  schon  vor  dem  Perserkriege,  der  zum  ersten  Male 
ein  athenisches  Heer  unter  die  Mauern  von  Theben  führte, 
drei  zusammenhängende  Dramen  gedichtet,  von  denen 
das  erste,  Nemea,  die  unglücklichen  Zeichen  schilderte, 
die  den  Untergang  des  stolzen  Heeres  der  Sieben  ver- 
kündeten; im  zweiten,  den  Argeiern,  kam  bereits  der 
blitzgetroffene  Leichnam  des  Kapaneus  vor,  so  dafs  die 
Katastrophe  schon  hier  eingetreten  war;  das  dritte  hiefs 
die  Eleusinier  und  spielte  demnach  in  dem  Heimatsorte 
des  Dichters.  Darin  ward  behandelt,  wie  Theseus  durch 
diplomatische  Yermittelung  die  Thebaner  zur  Freigebung 
der  Leichen  vermochte,  und  natürlich  ihre  Beisetzung 
in  Eleusis.  Bei  der  grofsen  Einfachheit  der  Handlung 
in  der  ältesten  Tragödie  genügen  vollauf  die  drei  not- 
wendigen Scenen,  die  Bitte  des  Adrastos,  die  Verhandlung 
mit  Theben  und  die  Bestattung,  die  zu  Liedern  reichen 
Anlafs  bot.  Das  Detail  kann  man  sich  nur  spielend  aus- 
malen, und  für  den  subjectiven  Glauben,  dafs  zur  Be- 
lebung der  Totenklage  und  Erhöhung  der  Rührung  Euadne, 
die  bei  Euripides  so  gewaltsam  hineingezogen  wird,  auf- 
trat, glebt  es  keinen  objektiven  Beweis.  Aber  die  Bedeutung 
des  Gedichtes  ist  wohl  zu  spüren.  Sein  Einflufs  allein 
hat  den  Euripides  vermocht,  die  Handlung  nach  Eleusis 
zu  verlegen,  was  doch  eine  Anzahl  Hilfsmotive  nötig  ge- 
macht hat^),   und  was  ihm,  der  keine  persönliche  Ver- 


1)  Als  er  467  den  Zug  der  Sieben  vom  thebanischen  Stand- 
punkte dramatisierte,  hat  er  keine  Schilderung  der  Schlacht 
gegeben,  sehr  auffällig,  wenn  er  nicht  eben  eine  eigene  ältere 
Schilderung  zu  wiederholen  vermied.  Damit  rückt  diese  mit 
Sicherheit  vor  des  Dichters  sicilische  Reise,  476 — 74  etwa. 
Die  Einsetzung  des  Totenfestes  und  die  Weihung  des  Fried- 
hofes im  Jahi-e  475,  von  der  gleich  die  Rede  sein  wird,  hat 
Aischylos  nicht  mitgemacht.  Mit  ihr  kann  auch  die  eleusinische 
Geschichte  nichts  zu  thun  haben. 

*)  Der  Chor  kann  nicht  fort,  daher  mufs  Theseus  das  Heer 
nach  Eleusis  bescheiden :  am  Schlüsse  aber  geht  der  Chor  ab, 
gleich  als  ob  er  nicht  in  Eleusis  schwören  könnte.    Wie  wenig 


192 


bindung  mit  Eleusis  hatte,  um  so  weniger  nahe  lag,  als 
in  unmittelbarer  Nähe  Athens  am  Rofshügel,  dem  Heimats- 
dorfe  des  Sophokles,  erzählt  ward,  dafs  Adrastos  dort- 
hin auf  seiner  Flucht  gekommen  wäre^),  und  sicherlich 
bereits  (wie  in  allen  späteren  Berichten)  die  Bittgesandt- 
schaft der  Argeier  nach  der  Hauptstadt  gezogen  war. 
Gewifs  würden  wir  noch  mehrfach  Beziehungen  des  Euri- 
pides  auf  das  ältere  Werk  wahrnehmen,  das  er  ganz  in 
den  Schatten  gestellt  hat,  wenn  wir  die  Vergleichung 
anstellen  könnten.  Eins  ist  noch  kenntlich:  mit  der 
hämischen  Absichtlichkeit,  die  er  sich  öfter  hat  zu 
Schulden  kommen  lassen,  weist  Euripides  die  Beschreibung 
der  Schlacht  ab,  in  der  die  Sieben  gefallen  waren.  Sie 
war  im  Epos  ausführlich  mit  den  lebhaftesten  Farben 
geschildert;  aber  dem  kann  die  Abweisung  nicht  gelten: 
der  Epiker  weifs  die  Wahrheit  über  alles  von  der  Muse. 
Vielmehr  ist  das  die  Kritik  eines  Botenberichtes  der 
Aischyleischen  Tragödie,  dem  Euripides  seine  neue 
Charakteristik  der  Helden  entgegensetzt.  Nur  das  bleibt 
fraglich,  ob  jener  Bericht  in  den  Eleusiniern  oder  den 
Argeiern  des  Aischylos  stand.  Da  der  Chor  der  Eleusinier 
männlich  und  athenisch  war,  mufs  der  ganze  Charakter 
des  Dramas  von  dem  euripideischen  mit  seinen  weib- 
lichen Klagen  und  seiner  Rührung  verschieden  gewesen 

sein. 

*  * 


ihm  an  dem  Orte  lag,  zeigt  sich  darin,  dafs  der  Tempel, 
der  auf  der  Bühne  ist,  keine  Bedeutung  hat:  die  Hinterwand 
bleibt  geschlossen.  Auch  die  eleusinische  Eeligion  kommt 
nur  obenhin  vor. 

1)  Das  Rofs,  nach  dem  der  Hügel  hiefs,  sollte  das  des 
Adrastos  sein;  am  letzten  Ende  mit  Recht:  denn  dies  ßof« 
ist  ein  Kind  der  Erinys,  die  auch  auf  jenem  Hügel  verehrt 
ward,  in  Wahrheit  der  Fluchdämon,  der  den  Adrastos  in  das 
unentrinnbare  Verderben  führte. 


193 

Im  Jahre  475  haben  die  Athener  ein  grofses  neues 
Volksfest  zum  ersten  Male  begangen.  Der  Neubau  der 
Stadt,  die  von  den  Persern  verbrannt  war,  und  deren 
ümmauerung  in  den  neuen  Dimensionen  einer  Grofsstadt 
nur  mit  Mühe  durchgesetzt  war,  hatte  auch  die  Anlage 
eines  staatlichen  Friedhofes  mit  sich  gebracht,  der  nun 
eingeweiht  ward.  Er  war  bestimmt  für  diejenigen,  welchen 
der  Staat  für  besondere  Verdienste  ein  Grab  und  damit 
einen  staatlichen  Grabkult  gewährte,  in  erster  Linie  für 
die  gefallenen  Krieger.  Man  griff  mit  der  Verehrung  der 
nationalen  Heroen  etwas  weiter  zurück,  denn  wie  sollten 
z.  B.  diejenigen  fehlen,  die  Athen  von  den  Tyrannen  frei- 
gemacht hatten.  Für  sie  gab  es  „leere  Gräber",  deren 
Verehrung  der  Kultus  längst  kannte,  denn  mancher,  der 
ein  „Gedächtnismal"  vor  dem  Töpferthore  erhielt,  konnte 
in  seinen  leiblichen  Resten  nicht  überführt  werden.  Einer 
freilich,  von  allen  der  würdigste,  Theseus,  der  Gründer 
des  Staates  und  der  Demokratie,  ward  gleichzeitig  leib- 
lich, in  seinen  Gebeinen,  nach  Athen  zurückgeführt: 
Kimon  hatte  sie  auf  der  Insel  Skyros  aufgefunden,  die 
er  eben  erobert  hatte.  Aber  Theseus  hatte  in  dem 
Mauerringe  der  neuen  Stadt  ein  altes  Heiligtum  i),  wo  er 
denn  seinen  Einzug  gehalten  hat.  Das  Totenfest  ist  seit- 
dem ein  bedeutender  Tag  für  das  athenische  Volk  ge- 
worden, f»  lange  wenigstens,  wie  alljährlich  neue  Insassen 
dem  Friedhofe  zuzuführen  waren. 

Auch  wenn  nicht  so  schwere  Verluste  wie  gleich  475 
die  Stimmung  der  ganzen  Gemeinde  drückten,  waren 
doch  die  Angehörigen,  auch  die  Witwen  und  Waisen, 
zur  Stelle,  und  der  langgezogene  Scheideruf,  den  für  sie 
die  Sitte  vorschrieb,  schlofs  die  Feier.    Aber  ein  Ehren- 


1)  Ursprünglich  war  es  natürlich  aufserhalb  angelegt,  da 
Theseus  keine  göttlichen  Ehren  erhielt.  Es  war  ein  grofeer 
Bezirk,  damals  noch  ohne  Tempel. 

Griech.  Tragödien.     I.  13 


194 

tag  war  es  doch  auch  für  sie.  Denn  ihre  Lieben  waren 
eingegangen  in  die  Gemeinschaft  der  Heroen,  der  Ahnen- 
geister des  ganzen  Volkes,  und  lebten  nun  in  der  Ge- 
meinschaft mit  den  vaterländischen  Helden  der  Sage  und 
den  Freiheitshelden,  Harmodios  und  den  Salamiskämpfern. 
Völker  von  altem  Ruhme  und  altem  Nationalgefühl  führen 
ihre  Edelsten  nach  dem  Tode  durch  die  Beisetzung  an 
besonders  geweihter  Stätte  in  den  Kreis  der  Vertreter 
des  nationalen  Ruhmes  für  alle  Zeiten  ein.  Das  demo- 
kratische Athen  hatte  seinen  Kerameikos  viel  weiter  ge- 
öffnet: aber  dem  Gefühle  nach  war  er,  was  dem  Eng- 
länder Westminster,  dem  Franzosen  das  Pantheon  ist. 
Und  der  heroische  Totenkult  kam  noch  dazu:  es  war 
wahrlich  eine  bedeutende,  für  die  religiöse  Stimmung, 
aber  auch  für  die  Macht  des  demokratischen  Gedankens 
bezeichnende  Stiftung. 

Das  Ceremoniell  der  Feier  kennen  wir  zum  Teil;  es 
wurden  die  Gebeine  auf  Bahren  herangefahren,  geordnet 
nach  den  militärischen  Verbänden,  die  zugleich  den 
politischen  entsprachen,  zuletzt  eine  Bahre  der  Vermifsten: 
die  durften  der  Ehre  nicht  entbehren,  und  so  weit  war 
der  Glaube  schon  vergeistigt,  dafs  der  körperliche  Rest 
nicht  notwendig  war,  um  die  Seele  zu  beschwören.  Bann 
aber  war  der  Feier  ein  ganz  neues  Element  beigefügt: 
eine  Rede  an  die  Gemeinde,  wenn  man  will,  eine  Predigt. 
So  etwas  gab  es  in  dem  Gottesdienste  nirgend;  seinem 
ganzen  Wesen  war  es  fremd.  So  war  das  denn  auch 
hier  nur  ein  halb  ceremonieller  Akt.  Der  Redner  hatte 
keinerlei  geistliche  Funktionen;  aber  er  sollte  aus- 
sprechen, was  alle  empfanden.  Der  angemessene  Aus- 
druck für  diese  Empfindung  war  nicht  mehr  Gesang  und 
Tanz,  wie  bisher  im  Gottesdienste,  sondern  Prosarede, 
und  der  Wortführer  des  Gemeingefühles  war  weder  Pro- 
phet noch  Dichter,  sondern  der  politische  Redner.  Der 
Rat,  die  Volksvertretung,  in  deren  Händen  die  Exekutive 


195 


lag^),  wählte  ihn  aus,  meist  den  Mann,  der  auch  in  der 
Volksversammlung  das  Ohr  des  Volkes  beherrschte,  und 
er  hielt  eine  Gedächtnis-  und  Ermahnungsrede  an  das 
versammelte  Volk  allen  denen  zum  Gedächtnis,  die  das 
Totenopfer  empfingen,  die  neuen  in  die  Gemeinschaft 
einführend,  in  der  sie  Platz  nehmen  sollten,  die  Ge- 
meinde aber  mahnend  an  das  Vorbild  seiner  Heroen,  der 
Blutzeugen  für  Athens  Freiheit,  Ruhm  und  Herrlichkeit. 
Wie  dieser  feierliche  Anlafs  zu  einer  festlichen  Mahnrede 
die  Einsetzung  des  Totenfestes  gewissermafsen  zur  Ge- 
burtsstunde der  attischen  Beredsamkeit  macht,  die  ja 
nicht  minder  einflufsreich  für  die  Weltentwicklung  ge- 
worden ist  als  die  attische  Poesie,  das  haben  wir  hier 
nicht  zu  verfolgen;  aber  wohl  mufs  einleuchten,  dafs  im 
Laufe  weniger  Jahre  sich  eine  Tradition  ausbilden  mulste, 
sowohl  für  die  Haltung  der  ganzen  Ansprachen  wie  für 
die  Heldenthaten  der  Vorzeit,  die  in  dieser  Rede  Er- 
wähnung finden  mufsten.  Die  gedankentiefe  Rede,  die 
Thukydides  dem  Perikles  in  den  Mund  legt,  im  Grunde 
<ier  Epitaphios  des  grofsen  Athens,  dessen  Untergang 
sein  Werk  erzählt,  verschmäht  den  geschichtlichen 
Schmuck;  aber  wir  haben  genug  spätere  Reden,  wirklich 
oder  angeblich  bei  dieser  oder  nach  ihrer  Analogie  fin- 
gierter Gelegenheit  gehalten,  dafs  wir  die  Regel  wohl 
kennen;  es  konnte  nicht  jedes  Jahr  ein  Mann  von 
■eignem  Geiste  reden.  Im  fünften  Jahrhundert,  als  Athen 
die  V^orherrschaft  in  Griechenland  anstrebte,  traten  aus 
<ler  Heroenzeit  die  Geschichten  hervor,  die  sich  hierfür 
paradigmatisch  verwerten  liefsen;  fielen  minder  günstige 
Lichter  auf  Sparta,  Theben  oder  andere  Rivalen,  so  war 
das  nicht  unerwünscht:  auch  liefsen  sich  ja  die  Geschichten 
leicht  in  die  dem  Augenblick  angemessene  Beleuchtung 


^)  475—61  dürfte   die  Wahl   bei   dem  Rat   auf  dem  Ares- 
hügel gestanden  haben. 

13* 


196 

rücken.  Man  schelte  das  nicht:  es  ist  das  unvermeid- 
liche Schicksal  fester  Texte,  dem  Momente  gemäfs  mifs- 
deutet  zu  werden.  So  ist  denn  auch  die  Intervention 
Athens  zu  Gunsten  der  Argeier  je  nach  der  Temperatur 
der  Beziehungen  Athens  zu  Theben  und  Argos  behandelt 
worden.  Das  thut  nicht  nur  im  vierten  Jahrhundert 
Isokrates,  sondern  er  gesteht  und  rechtfertigt  seine  ver- 
schiedene Behandlung.  Irgend  ein  Redner  nach  Aischylos 
vor  Euripides  hat  aus  der  diplomatischen  eine  bewaffnete 
Intervention  gemacht;  es  war  so  erfreulich,  wenn  Athen 
schon  unter  Theseus  die  Böoter  zu  Paaren  getrieben 
hatte,  was  jetzt  so  schlecht  gelingen  wollte.  Herodotos 
hat  diese  Version  schon  gehört  und  giebt  sie  in  einer 
Rede  wieder,  die  er  den  Athenern  zu  ihrem  eignen  Lobe 
in  den  Mund  legt. 

Euripides  knüpft  mit  seinem  Drama  an  das  Totenfest 
an;  es  läfst  sich  passend  als  ein  dramatischer  Epitaphios 
bezeichnen^).  Nicht  nur,  dafs  er  eine  Geschichte  dra- 
matisiert, die  in  jenen  Reden  stehend  war  und  dort  die 
Form  erhalten  hatte,  die  er  befolgt:  er  führt  die  Ceremonie 
selbst  dem  Volke  vor,  dabei  den  Aufzug  der  Bahren, 
unter  denen  die  der  Vermifsten  nicht  fehlen;  er  legt  die 
Leichenrede  vor  der  Beisetzung  als  ein  Hauptstück  ein, 
und  die  Trauer  der  Mütter,  der  Waisen,  des  alten  Vaters, 
der  Gattin  (die  selbst  Thukydides  kurz  erwähnt),  alles 
kommt  zu  seinem  Rechte.  Der  Dichter  macht  die  Gefühle 
frei,  die  in  den  Herzen  der  Gemeindemitglieder  vorhanden, 
aber  verborgen  waren :  dazu  ist  er  Dichter.  Die  Leichen- 
rede selbst  steht  vielleicht  den  damals  wirklich  gehaltenen 


1)  Ein  kompetenter  Beurteiler,  der  Philologe  Aristophanes, 
hat  es  eine  Lobrede  auf  Athena  genannt;  das  ist  im  wesent- 
lichen dasselbe,  denn  die  panegyrischen  und  panathenäischen 
Reden  haben  denselben  Inhalt  wie  die  Epitaphien,  abgesehen 
von  dem  was  zu  den  Gräbern  gehört;  das  aber  wirkt  bei 
Euripides  besonders  stark. 


197 

nicht  ferner  als  die  des  Thukydides.  Um  so  befremd- 
licher klingt  sie  dem  modernen  Leser,  der  sie  in  einer 
Tragödie  findet ;  im  Altertum  war  sie  ein  beliebtes  Stück. 
Die  Menschen,  die  Adrastos  schildert,  sind  von  dem, 
was  ein  alter  Held  des  Epos  zu  sein  pflegt,  und  vollends, 
was  der  gotteslästerliche  Prahler  Kapaneus,  der  gigan- 
tische Hippomedon,  der  wilde  Tydeus,  der  in  der  Wut 
in  den  Schädel  des  erschlagenen  Feindes  einbifs,  ganz 
verschieden:  sie  sind  Typen  der  Krieger  und  Bürger,  die 
Athen  zu  begraben  pflegte.  Da  ist  der  vornehme,  loyal 
der  Demokratie  dienende  Reiche,  der  Arme,  der  sich 
aus  dem  Staatsdienst  ein  Handwerk  macht,  ohne  doch 
seine  Beamtenstellung  zu  mifsbrauchen,  der  stramme, 
geistiger  Bildung  abholde  Landjunker,  der  Virtuose  des 
Zweikampfes,  und  nicht  zum  mindesten  der  Metöke,  der 
Wahlathener,  den  zu  dem  Bürgerheere  zuzulassen  mit 
Recht  als  ein  Ruhm  athenischer  Weitherzigkeit  betrachtet 
ward.  Mag  jetzt  manchem  der  Abstand  zwischen  dem 
heroischen  Kostüme  und  dem  Inhalte  dieser  Rede  zu 
stark  sein:  den  Hörern  griff  sie  eben  darum  tiefer  ans 
Herz,  und  wenn  sie  ohne  Zweifel  bei  jeder  Person  den 
oder  jenen  genannt  haben,  auf  den  die  Charakteristik 
zutraf,  so  ist  die  verkehrte  Neugier  doch  erst  bei  den 
Modernen  hervorgetreten,  von  dem  Dichter  bestimmte 
Personen  gemeint  zu  denken,  wo  nur  die  individualisierende 
Lebenswahrheit  Einzelwesen  geschaffen  hat,  die  damals 
leben  konnten  —  wie  die  gleiche  Verirrung  in  den 
Mädchen  von  der  vorpersischen  Burg  Athens  Porträts 
bestimmter  Menschen  sehen  will,  weil  die  Künstler  dem 
typischen  Mädchenbilde  individuelle  Wahrheit  zu  leihen 
vermochten  und  gern  übten,  was  sie  konnten. 

Die  Gefallenen,  denen  Adrastos  die  Leichenrede 
hält,  sind  seine  Landsleute;  daher  konnte  Euripides  hier 
nicht  dem  Hochgefühle  Ausdruck  geben,    das   in  Athen 


198 

bei  der  Gedächtnisfeier  der  atheuischen  Helden  das 
weihevollste  und  erhebendste  war.  Das  fehlte  aber  dem 
Festspiele  nicht,  zu  dem  das  vorliegende  Drama  gehört. 
Es  ist  aus  anderen  Gründen  wahrscheinlich  gemacht 
worden,  dafs  er  zugleich  seinen  Erechtheus  aufführte, 
der  das  notwendige  Komplement  gab.  Da  ward  Athen 
selbst  in  der  Urzeit  von  einem  Barbarenheere  bedroht; 
ein  Orakel  forderte  die  Opferung  einer  Königstochter» 
und  deren  Mutter  gab,  statt  zu  klagen  und  zu  wider- 
streben, das  eigne  Kind  zu  Gunsten  des  Staates  freiwillig 
hin.  Der  menschlicher  fühlende  Dichter  liefs  sie  zwar 
diese  grofsherzigen  Erwägungen  in  einer  stolzen  Rede 
darlegen,  die  den  Patrioten  ungemein  gefallen  hat;  aber 
er  bestrafte  sie:  denn  ihre  beiden  andern  Töchter  folgten 
der  Schwester  freiwillig  in  den  Tod.  Und  noch  mehr. 
Der  Tod  der  Jungfrau  war  nur  die  Hälfte  des  Preises, 
der  für  die  Freiheit  und  Gröfse  Athens  gezahlt  werden 
mufste.  Erechtheus  selbst  ward  in  dem  Zweikampfe  mit 
dem  feindlichen  Heerführer  tötlich  verwundet.  Er  ging 
dafür  in  das  Heroentum  unmittelbar  ein,  indem  er  (wie 
alter  Glaube  war)  als  die  Hausschlange  des  Athenatempels 
auf  der  Burg  fortlebte:  die  Schlange  ist  die  gewöhnliche 
Form,  in  der  man  die  Körperlichkeit  der  Seele  des  Ver- 
storbenen denkt,  hier  also  des  Ahnherrn  aller  „Erech- 
thiden".  Da  war  also  Tod  für  das  Vaterland,  Ruhm 
und  Macht  Athens  um  das  edelste  Blut  erkauft,  ewiges 
Leben  in  heroischer  Verklärung  als  Lohn  für  die  Hingabe 
des  Blutes,  da  war  des  Preis  Athens,  seines  Bodens  und 
Himmels  und  Volkes,  ganz  wie  wir  es  auch  in  den  pro- 
saischen Epitaphien  finden.  Wie  gewöhnlich  haben  die 
Späteren  nur  Stücke  der  Reden,  nicht  der  Lieder  er- 
halten, die  doch  ungleich  geeigneter  waren,  die  Gemein- 
gefühle  auszudrücken,  und  diese  sind  mehr  wert  als  die 
Gründe,  die  an  den  Verstand  appellieren.  Euripides 
hatte  auch  für  diese  mehr  übrig  als  uns  lieb  ist;    aber 


199 


wie  er  die  Gefühle  lyrisch  zu  wecken  wufste,   das   sehen 
wir  ja  an  dem  erhaltenen  Drama. 


Der  Spätherbst  424  zerstörte  den  Athenern  die  Zu- 
versicht, mit  der  sie  auf  die  entschiedene  Überwindung 
der  feindlichen  Koalition  gehofft  hatten,  seit  die  Energie 
des  radikal  demokratischen  Staatsmannes  Kleon  und  die 
soldatische  Tüchtigkeit  des  tollkühnen  Feldherrn  Demo- 
sthenes  ihnen  über  Sparta  einen  vollen  Sieg  bei  Spha- 
kteria  in  die  Hände  gespielt  hatte.  Demosthenes  hatte 
einen  Angriff  auf  die  Böoter  von  zwei  Seiten  geplant. 
Aber  er  selbst  mufste  unverrichteter  Sache  umkehren 
und  erlitt  auf  der  Rückfahrt  bei  einem  andern  Hand- 
streiche eine  empfindliche  Schlappe.  Auf  der  anderen 
Seite  kam  es  zu  der  Schlacht  bei  Delion,  die  mit  verlust- 
reicher Flucht  des  athenischen  Heeres  endete.  Und  nun 
ereignete  sich,  was  den  Athenern  besonders  nahe  gehen 
mufste.  Die  Thebaner  weigerten  dem  athenischen  Herolde 
die  Abholung  der  Leichen,  so  lange  noch  Delion,  ein 
Heiligtum,  das  die  Athener  in  Böotien  besetzt  hatten,  in 
ihren  Händen  wäre,  und  gaben  sie  erst  viel  später  her- 
aus, als  dieser  Platz  von  ihnen  erobert  war.  Das  er- 
schien in  Athen  notwendig  als  Verletzung  des  Völker- 
rechtes; aber  man  hatte  nicht  die  Macht,  dagegen  vor- 
zugehen. Da  nun  in  demselben  Winter  eine  Expedition 
von  spartanischen  Freiwilligen  unter  dem  ausgezeichneten 
Führer  Brasidas  sich  in  der  athenischen  Provinz  Thrakien 
festsetzte  und  eine  Anzahl  der  wichtigsten  Städte  zum 
Abfalle  brachte,  erhielt  die  immer  vorhandene  Friedens- 
partei in  Athen  Oberwasser,  und  es  ward  im  Frühjahr 
423  mit  Sparta  ein  einjähriger  Waffenstillstand  verein- 
bart. Allein  der  erwartete  Friede  ward  noch  nicht  dar- 
aus. Brasidas  ward  immer  bedrohlicher,  und  in  Athen 
kam  mit  den  Wahlen  des  Frühjahres  422  Kleon  wieder 


200 

an  das  Ruder.  Sobald  er  im  Sommer  sein  Feldlierrn- 
amt  antrat,  ward  der  Waffenstillstand  gekündigt ;  er  ging 
mit  einem  zahlreichen  Heere  nach  Thrakien,  hatte  auch 
zunächst  Erfolg,  fiel  aber  ebenso  wie  Brasidas  bald  in 
einer  für  Athen  verlorenen  Schlacht.  Da  trat  in  Athen 
und  Sparta  die  Friedensneigung  wieder  hervor;  nach 
langen  Verhandlungen  brachte  der  April  421,  unmittel- 
bar nach  dem  Dionysosfeste  und  seinen  Spielen,  den 
Frieden,  den  man  nach  dem  athenischen  Feldherni 
Nikias  nennt.  Dafs  er  keine  Dauer  gehabt  hat,  liegt 
wesentlich  an  dem  Widerstreben  der  kleineren  Mächte, 
der  Böoter  und  dann  der  Argeier.  Diese  Erbfeinde  der 
Spartaner  hatten  ein  Menschenalter  früher  mit  Athen 
gegen  dieselben  Feinde  einen  langen  Kampf  geführt,  der 
aber  für  Argos  mit  einem  dreifsigjährigen  Frieden 
geendet  hatte,  dessen  Ablauf  im  Winter  421 — 420 
von  allen  Parteien  lange  zuvor  in  Rechnung  gezogen 
ward.  Kleon  hatte  schon  424  im  Auge,  mit  der  Demo- 
kratie in  Argos  das  alte  Bündnis  aufzunehmen;  beim 
Abschlüsse  des  Friedens  421  war  der  nun  führenden 
Partei  Argos  vielmehr  störend,  da  es  einer  Versöhnung 
mit  Sparta  hinderlich  war.  Danach  hat  man  ein  Jahr 
lang  hin  und  her  geschwankt,  am  meisten  in  dem  schlecht 
geleiteten  Argos:  die  Entscheidung,  die  420  durch  die 
Intriguen  des  Alkibiades  fiel,  bedingte  mit  dem  Bündnis 
zwischen  Argos  und  Athen  die  Entfremdung  mit  Sparta, 
also  die  Erneuerung  des  Krieges. 

Die  Niederlage  von  Delion  und  ihre  Folgen  haben 
dem  Euripides  zuerst  den  Gedanken  eingegeben  die  Ge- 
schichte zu  dramatisieren,  wie  Theseus  den  Bruch  des 
Völkerrechtes    an  den  Thebanern^)   gestraft  hatte.     Die 


1)  Geflissentlich  fällt  der  Hafs  nur  auf  Theben,  nicht  auf  die 
Böoter:  Athen  wünschte  diese  von  ihrem  Vorort  loszureifsen 
und  hat  in  der  That  öfter  mit  dieser  Politik  vorübergehenden 
Erfolg  gehabt. 


201 

gereizte  Stimmung  gegen  die  Überhebung  der  Sieger  ist 
unverkennbar,  und  in  dem  Berichte  von  der  siegreichen 
Schlacht  vor  Theben,  die  das  Lokal  genau  schildert  und 
manchen  Zug  aus  dem  Leben  bietet i),  wird  das  Publikum 
gern  das  Bild  einer  erhofften  Zukunft  gesehen  haben. 
Allein  die  Tendenz  des  Dichters  ist  die  Mahnung  zum 
Frieden,  vornehmlich  aus  der  Würdigung  der  Verluste 
an  edelstem  Menschenmaterial,  aber  auch  weil  der 
Krieg  überhaupt  eine  Thorheit  und  ein  Verbrechen  sei. 
Während  die  Kriegspartei  immerfort  die  Herrschaft 
Athens  im  Munde  führte,  wird  hier  die  Vergewaltigung 
der  Schwächeren  prinzipiell  verworfen  und  als  der  er- 
wünschte Zustand  hingestellt,  dafs  die  Staaten  friedlich, 
aber  selbständig  neben  einander  wohnten  (951)  und  ihre 
Streitigkeiten  durch  Verhandlung  beglichen  (747).  Das 
ist  das  Prinzip  der  Autonomie,  das  Sparta  im  Munde 
führte  und  Athen  421  prinzipiell  angenommen  hat.  Ver- 
antwortlich für  den  Krieg  und  seine  Leiden  werden  zuerst 
die  jungen  Streber  gemacht,  die  dabei  eigennützige  Ziele 
verfolgten;  ganz  dieselben  Vorwürfe  erhebt  Aristophanes 
gleichzeitig  gegen  die  athenischen  Offiziere.  Hinzutritt 
der  Mangel  an  Besonnenheit  bei  den  tollkühnen  Feld- 
herren, wo  die  Anwendung  auf  Demosthenes  sich  not- 
wendig einstellen  mufste.  Aber  schärfer  noch  wird  die 
leichtsinnige  Volksmasse  angegriffen,  die  den  verhängnis- 
vollen  Beschlufs    fafst    ohne    sich    die    Folgen    klar   zu 


1)  Die  Lederkappe  (717)  ist  im  Gegensatze  zu  dem  atheni- 
schen Erzhelm  spezifisch  böotisch.  Die  Einführung  der 
längst  nur  noch  beim  Wettrennen  und  in  Prozessionen  ge- 
brauchten Streitwagen  kommt  daher,  dafs  die  böotische 
Elitetruppe,  die  sich  auch  bei  Delion  ausgezeichnet  hatte,  aus 
alter  Zeit  den  nunmehr  unzutreffenden  Namen  „Wagenlenker 
und  Wagenkärapfer"  führten;  es  ist  die  spätere  „heilige 
Schar":  je  zwei  zu  einem  Paare  auch  durch  persönliche 
Herzensbande  zusammengeschlossen  wie  Achilleus  und  Pa- 
troklos. 


202 

machen,  die  sich  vom  Erfolge  berauschen  läfst,  gleich 
das  äufserste  zu  erreichen  hofft  und  für  besonnene  Er- 
wägungen taub  ist  (481.  728).  Die  Herrschaft  der  Masse 
(es  fällt  das  Wort  Pöbel  o'f)-oi;^  411)  ist  dem  Dichter 
verhafst,  und  es  giebt  höchstens  die  Entschuldigung, 
dafs  das  betrogene  Volk  nichts  dafür  könne,  die  Volks- 
verführer aber  um  so  verwerflicher  seien  (879):  das 
attische  Staatsrecht  kennt  in  der  That  eine  Anklage  auf 
Betrug  des  Volkes;  so  hilft  auch  hier  eine  Fiction  dazu, 
den  Souverän  vor  dem  Gesetz  unverantwortlich  zu  machen. 
Wenn  es  weiter  heilst,  dafs  die  Demagogen  sich  einen 
einzelnen  Erfolg  zu  Nutze  machen,  der  Strafe  des  Mifs- 
erfolges  aber  durch  neue  Ränke  und  Verläumdungen  zu 
entgehen  wüfsten  (465),  so  ist  die  Beziehung  auf  Kleon, 
seinen  Sieg  von  Pylos  und  seine  Popularität,  die  schon 
422  zur  Wiederwahl  führte,  ganz  deutlich:  die  Charak- 
teristik klingt  an  die  Darstellung  seines  Todfeindes  Aristo- 
phanes  an.  Was  man  ihm  besonders  verdachte,  dafs 
er  425  Friedensverträge  Spartas  zurückgewiesen  hatte, 
hat  hier  sogar  zu  der  Erfindung  eines  neuen  Zuges  der 
dramatisierten  Geschichte  geführt.  Eteokles  soll  sich 
noch  mit  Polyneikes  haben  vergleichen  wollen  und  von 
dem  kurzsichtigen  Trotze  der  Argeier  zurückgewiesen 
sein  (739):  davon  wufste  die  alte  Sage  so  wenig  wie 
die  spätere;  es  ist  lediglich  Spiegelung  der  Verhand- 
lungen von  425.  Die  Klage,  dafs  Athen  ein  Führer 
fehlte,  war  seit  dem  Tode  des  Perikles  bei  allen,  die 
Kleon  verwarfen,  stehend:  aber  es  wäre  verkehrt  zu 
glauben,  dafs  Euripides  gemeint  hätte,  es  gäbe  einen 
neuen  Theseus,  den  man  nur  an  das  Ruder  lassen  sollte; 
als  ein  Theseus  da  war,  ging  es  Athen  eben  anders  als 
heute,  wo  Demosthenes  und  Kleon  zu  Delion  geführt 
hatten.  Insbesondere  wird  geklagt,  dafs  man  für  die 
Feldherrnstellen  keine  ordentlichen  Leute  mehr  hätte: 
ganz  dasselbe  sagt  damals  ein  patriotischer  Komiker  „die 


203 


man  früher  nicht  einmal  in  eine  Kommission  zur  Wein- 
prohe  gewählt  haben  würde,  haben  wir  jetzt  zu  Feld- 
herren: mein  Vaterland,  wie  viel  mehr  Glück  hast  du 
als  Verstand".  Der  Vorwurf  des  Leichtsinnes  und  der 
Unbedachtsamkeit,  bei  Übelwollenden  der  anmafslichen 
Vielgeschäftigkeit,  wie  er  hier  gegen  Athen  erhoben  wird 
(323.  576),  ist  ebenfalls  aus  zeitgenössischen  Äufserungen 
zu  belegen;  hübsch  ist,  dafs  Theseus  auch  darin  ein 
Typus  seiner  Stadt  ist,  dafs  ihn  erst  seine  Mutter,  dann 
die  Landesgöttin  von  einem  übereilten  Schritte  zurück- 
halten mufs.  Das  wird  durch  das  Gefühl  des  noblesse 
oblige  im  edelsten  Sinne  wett  gemacht,  und  das  Ver- 
trauen auf  die  hilfreiche  Korrektur  der  Übereilung 
durch  die  schützende  Göttin  tritt  hinzu i).  An  der  Stellung 
Athens  ist  natürlich  die  Freiheit,  die  Demokratie,  das 
wichtigste,  die  mit  der  Herrschaft  des  Theseus  nicht  im 
Widerspruche  steht,  denn  das  wesentliche  dieser  Freiheit 
ist,  dafs  geschriebene  Gesetze  für  alle  verbindlich  sind 
und  die  Einzelwillkür  ausschliefsen,  ferner  dafs  alle  vor 
dem  Gesetze  gleich  sind  und  sich  nach  Mafsgabe  ihrer 
Befähigung  an  der  Verwaltung  beteiligen  können.  Es  ist 
sehr  bemerkenswert,  dafs  Theseus  darin  die  Gleichheit 
findet,  dafs  jeder  in  der  Volksversammlung  reden  kann, 
wenn  er  etwas  zu  sagen  hat,  dafs  aber  wer  das  nicht 
hat,  den  Mund  hält  (440).  Die  Stütze  der  Verfassung  wird 
in  dem  Mittelstand  gefunden,  wie  es  Solon  gesagt  hatte, 
der  ihm  selbst  angehörte,  und  wie  es  nachmals  Aristo- 
teles aussprechen  sollte.  Mit  dessen  „richtiger  Verfassung" 
harmoniert  die  von  Euripides  empfohlene  durchaus;  auch 
sie  schliefst  das  niedere  Volk,  auch  die  Bauern,  von  der 


1)  Dreifsig  Jahre  später,  als  Athens  Gröfse  zerschmettert 
war,  erzählte  mau  sich  als  ein  Wort  der  Alten,  dafs  den 
Athenern  alle  ihre  Übereilungen  und  Fehltritte  durch  be- 
sondere Gnade  der  Götter  zum  Guten  ausschlügen  (Aristo- 
phanes  Ekkles.  473). 


204 

aktiven  Beteiligung  an  der  Verwaltung  aus,  erst  recht 
den  Pöbel  und  seine  Begehrlichkeit,  weist  aber  die  selbst- 
süchtigen Oligarchen  ebenso  ab.  Es  waren  das  Ge- 
sinnungen, die  mit  aufrichtigster  Anhänglichkeit  an  die 
väterliche  Demokratie  und  glühendem  Patriotismus  wohl 
vereinbar  waren;  einer  besonderen  Partei  im  Staate  ge- 
hören sie  nicht  an,  und  aufser  den  radikalsten  Demo- 
kraten wird  sich  jeder  aus  dem  patriotischen  Festspiele 
entnommen  haben,  was  ihm  zusagte.  In  der  Verteidigung 
mafsvoller  Politik  und  der  Empfehlung  des  Friedens 
ging  Euripides  mit  den  Leuten  um  Nikias  zusammen: 
dafs  er  aber  ihrer  Partei  ganz  fern  stand,  sieht  man 
schon  daraus,  dafs  er  über  Sparta,  wie  immer,  nur  ein 
abweisendes  Wort  spricht,  während  diese  ideenlosen 
Kreise  auf  den  alten  Dualismus  der  kimonischen  Politik 
hinauswollten.  Eben  so  wenig  empfahl  Euripides  mit 
der  demokratischen  Aktionspartei  das  Bündnis  mit  Argos, 
wie  oberflächlicher  Betrachtung  scheinen  kann.  So  mufste 
er,  da  im  Interesse  von  Argos  der  Krieg  der  Grofsmächte 
lag,  -svie  sie  denn  grade  im  Momente  der  Friedensver- 
handlungen als  Störenfriede  bezeichnet  werden^).  Theseus 
engagiert  sich  selbst  durchaus  nicht  für  Argos,  das  viel- 
mehr mit  ausgesuchter  Nichtachtung  behandelt  wird:  er 
tritt  für  das  Völkerrecht  ein,  obwohl  er  den  Zug  der 
Sieben  mifsbilligt.  Athena  ist  weit  entfernt  ein  Bündnis 
zu  verlangen:  nur  Argos  erhält  eine  Verpflichtung  auf- 
erlegt, und  zwar  die,  Attika  nicht  mit  Krieg  zu  über- 
ziehen, und  Athen  im  Falle  der  Bedrohung  seines  Ge- 
bietes Hilfe  zu  leisten.  Das  ist  etw^as  ganz  anderes  als 
420  wirklich   vereinbart   worden    ist.     Was  Athena  sagt 


1)  Von  Aristophanes  im  Frieden,  dem  Stücke,  das  er  eil- 
fertig- hingeworfen  hat,  als  im  April  421  der  Abschlufs  des 
Friedens  in  Aussicht  stand.  Diese  Freude  über  das  gelungene 
Werk  ist  von  der  Mahnung  dazu  bei  Euripides  sehr  ver- 
schieden. 


205 

und  was  auf  ihren  Befehl  geschieht,  setzt  vielmehr  voraus, 
dafs  in  Athen  der  Glaube  bestand,  dafs  Argos  zu  solcher 
Leistung  moralisch  verpflichtet  wäre,  dafs  an  der  attischen 
Grenze  ein  Talisman  vergraben  wäre,  der  im  Falle  der 
Verletzung  des  attischen  Gebietes  durch  die  Argeier 
diesen  eine  Niederlage  bereiten  würde,  und  dafs  in 
Delphi  ein  Dreifufs  war,  der  aufser  der  Weihinschrift 
des  Herakles  eine  Inschrift  mit  dem  Eide  der  Argeier 
trug.  Dafs  ein  solches  Stück,  freilich  durch  einen  von 
Athen  angeregten  Betrug,  in  Delphi  gestanden  hat,  stimmt 
gut  zu  anderen  unlauteren  Machenschaften  der  Art^), 
die  nur  beweisen,  welche  Mittel  bei  der  Volksmasse  noch 
zogen;  der  Dichter  giebt  sich  den  Anschein,  diese  Dinge 
ernst  zu  nehmen.  Der  Glaube,  dafs  Argos  Attika  not- 
wendigerweise respektieren  müfste,  wird  schon  früher 
bei  ihm  von  einem  Vertreter  der  Herakliden,  des  Herren- 
standes aller  Dorer,  ausgesprochen  (Her.  310.  1042),  wo 
sich  die  Spitze  gegen  Sparta  richten  soll,  und  schon  ein 
Menschenalter  früher,  als  wirklich  ein  Bündnis  der  bei- 
den Staaten  bestand,  und  Argos  wirklich  für  die  Unver- 
sehrtheit des  attischen  Landes  zu  Felde  zog,  hatte  Aiscby- 
los  den  Orestes  zum  Danke  für  seine  Freisprechung  den 
Eid  leisten  lassen,    dafs    sein  Volk  niemals  gegen  Athen 


1)  Für  Euripides  war  der  Dreifufs  samt  Inschrift  gegeben ; 
das  sieht  man  daran,  dafs  es  ihm  Mühe  macht,  das  von  Hera- 
kles gezeichnete  Stück  in  die  Hände  des  Theseus  zu  bringen. 
Der  es  verfertigte,  betrachtete  Herakles  als  den  Vertreter  von 
Argos;  mag  er  ihm  selbst  die  Inschrift  beigelegt  haben  oder 
nicht,  sie  stand  doch  deshalb  auf  seinem  Weihgeschenke. 
Euripides  hat  sich  so  nah  an  die  Formen  gehalten,  die  wir 
auch  aus  gleichzeitigen  Urkunden  kennen,  dafs  wir  die  In- 
schrift herstellen  können.  'HQccxkijg  dvi^rjXir.  /urj  iiyat  liQydovg 
int  jrjy  yrjv  t^v  'AS-ijynicov  Int  xaxaii'  fccv  ds  Tig  cckXog  fnitjt, 
xcoXvfiv'  ictv  iSt  inioQXi^aavTtg  inlwGtv,  i^iokng  üvai,  xnt  aviovg 
xcit  to  ysvoq  avTÜiv  (1191  —  94).  Eine  Veranlassung  war  nicht 
angegeben:  daher  konnte  hier  Adrastos  den  Eid  schwören; 
in  den  Herakliden  ist  deren  Rettung  die  Veranlassung. 


206 

zu  Felde  ziehen  dürfe,  widrigenfalls  er  aus  seinem  Grabe 
die  Übertreter  strafen  würde  ^).  Entstanden  war  dieser 
Glaube  aus  der  alten  Verbindung  der  beiden  Städte,  die 
schon  zu  Peisistratos'  Zeiten  bestaud;  die  Fälschung  in 
Delphi  ist  notwendig  jünger  als  Aischylos,  konnte  aber 
schon  in  den  vierziger  Jahren  entstehen,  wo  ein  pelo- 
ponnesisches  Heer  auf  dem  Boden  Attikas  gestanden  hat. 

Aach  für  die  politische  Tendenz  dieses  Dramas  müfste 
man  eigentlich  den  Erechtheus  zuziehen,  aus  dem  wir  die 
Mahnrede  des  sterbenden  Erechtheus  haben,  der,  man  weifs 
nicht  recht  wem,  jedenfalls  einem  Kinde  und  zukünftigen 
Könige,  die  Pflichten  des  wahren  leitenden  Staatsmannes 
einschärft.  Das  geschieht  nach  der  Seite  der  Stellung 
zu  den  Bürgern,  also  im  Gegensatze  zu  der  etwas  kon- 
ventionell gehaltenen  Schilderung  des  Tyrannen,  die  liier 
Theseus  giebt  (444).  Die  Empfehlung  des  guten  Feld- 
herrn fehlt  nicht,  und  die  Freude  an  dem  Frieden  und 
seinen  Genüssen  hat  in  einem  Liede  Ausdruck  gefunden, 
von  dem  wir  ausdrücklich  überliefert  haben,  dafs  es  für 
den  Abschlufs  des  Friedens  Stimmung  gemacht  hat  (Fgm. 
369;  Plutarch  Nik.  9).  Man  kann  schwanken,  ob  die 
Dramen  422  oder  421  aufgeführt  seien;  aber  sie  passen 
besser  für  das  frühere  Jahr,  wo  der  Hafs  gegen  den 
lebenden  Kleon  angemessen,  der  Schmerz  über  den  Ver- 
lust von  Delion  noch  frisch,  die  Mahnung  wirklich  von 
Bedeutung  war;  genau  genommen  besagt  das  auch  unser 
Zeugnis.  Dafs  wir  einmal  kontrollieren  können,  wie 
lange  Euripides  an  einem  Werke  gearbeitet  hat,  ist  auch 
wertvoll. 

Er  hat  dieses  eine  Mal  durch  seine  Kunst  praktisch 
in  die  Geschicke  seines  Volkes  eingreifen  wollen,  nicht 
im  Dienste    und   nicht   einmal   in  Übereinstimmung   mit 


1)  Eumen.  765;  die  Wendung  ist  auch  da  fxrj  onla  Inoi- 
csitV  int  yccxüii.  Das  gegenwärtig  bestehende  Bündnis  sagt 
Apollon  671  voraus. 


207 

einer  bestimmten  Partei,  sondern  als  der  rechte  Lehrer 
seines  Volkes.  Selbst  ist  er  niemals  in  das  praktische 
Leben  eingetreten,  während  Sophokles  die  höchsten  Ämter 
in  Civil  und  Militär  bekleidet  hat.  Zwar  finden  sich  nicht 
selten  direkte  Anspielungen  auf  die  politischen  Ereignisse 
der  Gegenwart  bei  ihm,  was  Sophokles  seinerseits  ver- 
meidet, aber  das  sind  nur  Reflexe  des  allgemein  Inter- 
essierenden, wie  sie  der  ungemein  leicht  angeregte  und 
empfängliche  Dichter  aus  allen  Gebieten  nimmt  ^).  Dies- 
mal mufs  ihm  die  Lust  gekommen  sein,  als  Volksredner 
in  seiner  Weise  aufzutreten,  und  es  ist  bezeichnend,  dafs 
er  sich  da  mit  den  Reden  berührt,  die  das  Höchste  der 
damaligen  Prosa  waren;  mit  der  gleichzeitigen  Redekunst 
hat  er  viele  Beziehungen.  Er  hat  das  eine  Mal  die 
Stimmung  des  Volkes  getroffen;  gern  möchte  man  glauben, 
dafs  er  siegreich  war.  Aber  es  war  doch  ein  Abweg  für 
ihn.  Er  hat  sich  in  den  nächsten  Jahren  dem  Alkibiades 
genähert,  der  420  zuerst  hervortrat,  und  wegen  seines 
Lebensalters  auch  vorher  keine  Rolle  spielen  konnte. 
Aber  er  ist  an  ihm  bald  irre  geworden,  und  schon  415 
hat  er  die  ganze  Politik  als  ein  Werk  des  Eigennutzes, 
des  Truges  und  der  Grausamkeit  verworfen,  mit  pro- 
phetischem Blicke  den  Untergang  von  Hellas  voraus- 
sehend. Bald  ward  ihm  der  einzige  staatliche  Auftrag, 
von  dem  wir  wissen:  das  Gedicht  für  das  Grab  zu  ver- 
fassen, das  auf  dem  Staatsfriedhofe  den  Tausenden  er- 
richtet ward,  deren  Gebeine  auf  den  Schlachtfeldern 
Siciliens  moderten.  Bald  danach  hat  er  in  einer  Streit- 
scene  von  typischer  Bedeutung  die  vita  activa  gegenüber 
der  vita  contemplativa  verworfen  und  ist  dann  als  Greis 
aus  seiner  Vaterstadt,  deren  Todeskampf  begonnen  hatte, 


1)  Der  Art  ist  im  Herakles  188  die  Empfehlung  der  leichten 
Infanterie,  deren  Mangel  bei  Delion  sich  empfindlich  fühlbar 
gemacht  hatte,  und  für  die  sich  Demosthenes  interessierte, 
den  er  hier  angreift. 


208 


entwichen,  um  in  Makedonien  einen  Moment  zu  wähnen, 
den  Hafen  des  Friedens  gefunden  zu  haben,  bald  den 
Hafen  des  Todes  zu  finden. 

Ganz  fehlen  auch  hier  die  persönlichen  Geständnisse 
nicht.  Zwar  die  geschichtlich  ungemein  wichtige  Teleo- 
logie  (V.  195 — 215)  ist  nur  Wiedergabe  fremder  Ge- 
danken, wie  er  sie  liebt:  so  etwas  hörte  man  damals  in 
den  Disputationen  der  Weisheitslehrer.  Aber  persönlich 
charakteristisch  ist  das  Verhalten  zu  der  Wahrsagerei. 
Dafs  Theseus  den  Adrastos  für  ihre  Vernachlässigung 
schilt  und  ihre  Realität  auch  in  der  Teleologie  gläubig 
hinnimmt,  als  wenn  er  Xenophon  wäre,  bedeutet  nichts. 
Ersteres  war  durch  die  Sage  geboten,  das  andere  ge- 
hörte zu  dem  System,  das  Euripides  übernahm.  Aber 
welche  Anwendung  macht  er  davon?  Adrastos  hat  in- 
konsequent gehandelt,  indem  er  auf  ein  Orakel  seine 
Töchter  verheiratete  und  wider  ein  Orakel  den  Heeres- 
zug unternahm:  beide  Male  hatte  er  sich  für  das  Falsche 
entschieden.  Also  hat  das  Orakel  an  sich  keine  ver- 
bindliche Kraft.  So  mufste  Euripides  denken,  denn  er 
hielt  nichts  von  den  Prophezeiungen;  er  würde  sich 
freuen,  wenn  man  ihm  sein  eignes  Urteil  durchmerkte, 
aber  er  hat  es  diesmal  um  der  praktischen  Wirkung 
willen  verschleiert.  Wie  er  sein  politisches  urteil,  das 
nicht  immer  nach  dem  Gaumen  des  Publikums  war,  auf 
die  Personen  verteilt  hat,  wird  der  Leser  nicht  ohne 
Genufs  im  einzelnen  nachprüfen.  Ganz  individuell  sind 
zwei  Äufserungen.  Einmal  der  Wunsch  nach  einem 
zweiten  Leben  (1080);  er  kehrt  tiefer  und  poetischer 
im  Herakles  wieder,  wo  er  aber  ein  anderes  Komplement 
erhält  als  hier  in  dem  seltsamen  Geständnis,  dafs 
der  Dichter  nur  in  freudiger  Stimmung  mit  Erfolg  dichten 
könnte  (180).  Dort  verspricht  er,  unter  allen  Umständen 
der  Kunst  treu  zu  bleiben.  Dort  liegt  die  finsterste 
Stimmung   der  Resignation   über   dem  Ganzen;    so    weit 


209 

ist  er  hier  noch  nicht:  er  kann  trotz  allen  Einschrän- 
kungen, und  obwohl  er  meist  nur  schmerzlichste  Ge- 
fühle zum  Ausdruck  zu  bringen  hatte,  diesesmal  unmög- 
lich ohne  Freudigkeit  und  frohe  Zuversicht  gedichtet 
haben.  Er  fand  sie  damals,  für  einen  Moment  seiner 
Dichterlaufbahn,  in  der  politischen  Poesie;  wohl  um 
andere  traurige  Erfahrungen  zu  überwinden.  Aber  das 
hielt  nicht  an:  und  er  ward  doch  erst  ganz  wieder  er 
selbst,  als  er  auch  ohne  Freudigkeit  dichtete  und  dennoch 
Begeisterung  zu  erwecken  vermochte. 

Ohne  Frage  ist  ein  solches  Gelegenheitsstück  nicht 
ersten  Ranges,  am  wenigsten  bei  einem  Dichter,  dessen 
Stärke  es  ist,  Menschen  zu  bilden,  wo  er  hier  nur  Typen 
oder  höchstens  Skizzen  bringen  konnte.  Aber  es  lehrt 
besonders  deutlich,  welche  Stellung  die  Poesie  damals  in 
der  Welt  hatte,  wie  die  dramatischen  Spiele  an  heiliger 
Stätte  und  an  festlichem  Tage  dem  ganzen  Volke  einen 
inneren  Anstofs  geben  konnten,  zu  fühlen  und  zu  han- 
deln, wie  der  Dichter,  sein  berufener  Lehrer,  es  wollte. 
Das  ist  dem  Modernen  einleuchtender,  wenn  der  Dichter  mit 
dem  Parlamentsredner  konkurriert,  als  wenn  er's  mit  dem 
Prediger  thut,  denn  nur  jener  redet  noch  zu  dem  ganzen 
Volke.  Dann  aber  ist  ein  Gelegenheitsstück  ein  Moment- 
bild, das  man  freilich  nur  aus  der  momentanen  Situation 
heraus  verstehen  kann,  die  es  aber  auch  wie  nichts 
anderes  erhellt.  Und  die  von  421  ist  merkwürdig  genug. 
Endlich  wird  jede  neue  Betrachtung  die  Bewunderung 
für  das  Geschick  und  die  Kühnheit  des  Dichters  steigern. 


Die  Trauerstimmung,  in  der  Euripides  sein  Drama 
konzipierte,  führte  zu  der  Erfindung,  die  für  alles  ent- 
scheidend war,  der  Einführung  der  Mütter  als  Chor. 
Damit  das  Muttergefühl  sich  als  das  stärkste,  als  Hebel 
der    edlen  Handlung  bewiese,    sollte  Theseus  nicht   aus 

Griech.  Tragödien.    I.  14 


210 

eignem  Antrieb,  sondern  durch  seine  Mutter  zum  Ein- 
schreiten bewogen  werden^),  da  sie  den  Müttern  am 
besten  nachfühlen  konnte.  So  ergab  sich  Aithras  Ein- 
führung. Das  war  nur  durch  eine  sehr  kühne  Fiktion 
möglich,  denn  die  trozenische  Königstochter,  die  den 
Theseus  als  Jungfernkind  eigentlich  dem  Poseidon  ge- 
boren hatte  ^),  ist  nie  in  Athen  gewesen,  geschweige  als 
Königin:  und  hier  vollzieht  sie  gar  ein  Opfer  im  Namen 
der  attischen  Gemeinde.  Diese  Neuerungen  stellt  der 
Prolog  kurz  und  klar  als  Thatsachen  hin,  niemand  findet 
im  Stücke  etwas  daran,  und  so  erträgt  es  auch  der  Zu- 
schauer willig. 

Schwerer  war  die  Bildung  des  Chores.  Ihn  bildeten 
herkömmlich  15  Personen.  Der  Mütter  sind  sieben. 
Diese  Zahl  wird  ungemein  häufig  genannt,  und  dem  ent- 
spricht es,  dafs  die  Gefallenen  und  die  Scheiterhaufen 
immer  sieben  heifseu.  Was  den  Chor  angeht,  so  macht 
die  erste  Scene  die  Sache  noch  nicht  anstöfsig.  Da  sind 
die  Herrinnen  von  ihren  Mägden  gesondert,  beide  Teile 
stehn  an  verschiedenem  Orte,  das  Kostüm  unterscheidet 
sie,  und  beide  Teile  führen  sich  gesondert  ein.  Man 
wird  auch  das  erträglich  finden,  dafs  sich  nachher  der 
ganze  Chor  zusammenschliefst  und  dann  die  Dienerinnen 
als  solche  verschwinden;  allenfalls  auch,  dafs  an 
passender  Stelle  wieder  von  ihnen  Gebrauch  gemacht 
wird.  Aber  dafs  der  Chor  sich,  wie  es  in  andern  Dramen 
oft  geschieht,  in  zwei  Halbchöre  sondern  kann  und  beide 
als  aus  Müttern  bestehend  gedacht  werden,  ist  unserm 
an  der  Wahrscheinlichkeit  klebenden  Gefühle  befremdlich. 
Da   haben   wir   zu  lernen,    dafs  der  athenische  Dichter 


1)  Theseus  kommt  nicht  auf  die  Botschaft,  die  die  Mutter 
an  ihn  geschickt  hat,  sondern  von  selbst  aus  Sorge  um  sie: 
so  wird  seine  Kindesliebe  exponiert. 

2)  Poseidon,  so  oft  im  Hippoljtos  als  Vater  des  Theseus 
genannt,  erscheint  hier  nie. 


211 


mit    einem  Publikum    von    gefügiger   Phantasie   rechnen 
durfte. 

Wir  werden  noch  auf  viel  stärkere  Proben  gestellt.  In 
dem  Chore,  der  sich  die  sieben  Mütter  nennt,  dürfen 
wir  durchaus  nicht  an  die  einzelnen  denken.  Sonst 
müfste  lokaste,  die  Mutter  des  Polyneikes,  da  sein,  die 
weder  lebt  noch  aus  Theben  nach  Argos  versetzt  sein 
kann.  Die  Jägerin  Atalante  wird  gar  einmal  genannt: 
wir  dürfen  sie,  deren  Sohn  es  im  Namen  trägt,  dafs  sie 
nie  in  die  Ehe  und  die  Familie  aus  dem  Bergwalde 
übergegangen  ist,  wahrhaftig  unter  den  Greisinnen  nicht 
suchen.  Also  der  Chor  besteht  aus  den  Müttern,  aber 
nur  der  allgemeine  Begriff  der  Mutter,  nicht  in  den  ein- 
zelnen benannten  P'ersonen,  gilt  für  das  Drama.  Man 
denke,  dafs  die  Frau  des  Iphis,  die  Mutter  Euadnes, 
eigentlich  zugegen  ist.  Dafs  Philologen  ersten  Ranges 
die  einzelnen  Mütter  eingeführt  haben,  ja  sogar,  um 
15  Personen  herauszubekommen,  der  lokaste  zwei  Diene- 
rinnen als  Auszeichnung  beigegeben  haben,  andere  wieder 
ausgerechnet  haben,  es  wären  fünf  oder  vier,  weil  die 
oder  jene  nicht  dabei  sein  könnte,  ist  ein  Beweis,  wie 
abstrakt  sie  das  Gedicht  mit  dem  Verstände  aufgefafst 
haben.  Die  Siebenzahl  hat  nur  die  Bedeutung  der  kon- 
ventionellen Zahl,  die  fast  gleich  einem  Namen  ist:  es 
waren  eben  die  Sieben  gegen  Theben.  Selbst  Athena 
redet  von  sieben  Scheiterhaufen,  obwohl  der  Zuschauer 
nachrechnen  fast  mufs,  dafs  nur  vier  Leichen  dort  ver- 
brannt sind.  Immer  sollen  sieben  Leichen  geholt  werden, 
und  doch  weifs  jeder,  dafs  Polyneikes  und  Amphiaraos 
nicht  geholt  werden  können.  Auch  die  Knaben  sind  ein 
allgemeiner  Begriff:  namentlich  angeredet  wird  nur  der 
Sohn  des  Adrastos,  der  unter  den  Waisen  nichts  zu 
suchen  hatte;  dagegen  Diomedes  wird  von  Athena  als 
abwesend  genannt,  und  er  müfste  doch  seines  Vaters 
Tydeus  Asche  tragen.    Aber  wir  sollen  eben  in  der  Schar 

14* 


212 

von  Knaben,  die  auch  nur  den  Gattungsbegriff  repräsen- 
tieren, nicht  nach  dem  grofsen  Helden  Umschau  halten.  Eine 
feste  Zahl  ist  für  sie  allerdings  nicht  angegeben,  obwohl  die 
Epigonen  wieder  sieben  waren;  dafs  für  die  unbestimmte 
Zahl  ein  einzelner  singt,  ist  dem  Herkommen  entsprechend^), 
also  dem  athenischen  Publikum  nicht  anstöfsiger,  als  dafs 
der  Chorführer  immer  im  Namen  des  ganzen  Chores  redet, 
ohne  je  eine  gesonderte  Einzelperson  zu  werden. 

Diese  Verletzung  der  rationellen  Wahrscheinlichkeit, 
die  in  keinem  anderen  Drama  so  stark  ist  (in  der  alten 
Komödie  dagegen  ganz  allgemein  gilt),  mufs  man  willig 
dem  Dichter  zugeben;  die  Unwahrscheinlichkeiten,  die 
die  Handlung  dem  rationellen  Nachrechnen  darbietet, 
seien  unbesprochen.  Das  Spiel  hat  seine  Schuldigkeit 
gethan,  wenn  es  Stimmung  erzeugt,  natürlich  nicht  im 
Augenblick  verfliegende,  sondern  eine,  die  als  Stimmung 
dauert  und  die  Gesinnung  und  so  das  Handeln  des  Zu- 
schauers beeinflufst.  Zu  der  Erzeugung  dieser  Stimmung 
trägt  die  sinnliche  Darstellung  mehr  bei,  als  die  schul- 
meisterliche Erklärung  der  Dramen  sich  klar  zu  machen 
pflegt,  und  als  bis  vor  kurzem  die  Stubenästhetik  als  be- 
rechtigt zugab.  Schon  Aristoteles,  der  Mann  des  Ver- 
standes, und  von  seiner  Zeitkrankheit,  der  Rhetorik,  be- 
denklich angesteckt,  hat  gemeint,  die  Wirkungen  des 
Dramas  für  das  Auge  gingen  den  Maschinisten  mehr  an 
als  den  Dichter.  Dafs  die  athenischen  Dichter,  die  ja 
mitten  in  der  Theaterpraxis  standen,  anders  urteilten, 
lehren  ihre  Werke  gerade  in  den  verschiedenen  An- 
forderungen, die  sie  an  die  Darstellung  machen.  Hier 
bemühen  sich  die  von  dem  Übersetzer  aus  sorgfältiger 
Erwägung  des  Textes  zugesetzten  Bühnenanweisungen  der 


^)  Es  läfst  sich  aus.  der  Parodie  in  den  Wespen  des 
Aristophanes  zeigen,  dafs  Euripides  in  seinem  Thesens  einen 
Knahen  für  die  vierzehn  athenischen  Kinder  hat  singen  lassen, 
die  dem  Minotauros  vorgeworfen  wurden. 


213 

Phantasie  des  Lesers  zu  Hilfe  zu  kommen  ^),  der  diesem 
Werke  so  wenig  gerecht  wird,  wenn  er  es  nicht  in  der 
Phantasie  gespielt  sieht,  wie  etwa  der  Befehlsausgabe  in 
Kleists  Prinzen  von  Homburg  oder  dem  ersten  Akte  des 
Cyrano  de  Bergerac.  Aber  wir  wollen  doch  den  Wechsel 
der  Bilder  auch  hier  verfolgen.  Gleich  am  Anfang  eine 
wirksam  gestellte  Gruppe.  Oben  auf  dem  Altare,  wo 
der  Opferpriester  seinen  Stand  hat,  in  prächtigem  leuchten- 
dem Festgewand  die  greise  Fürstin,  unter  und  vor  ihr 
die  schwarze  Trauerschar,  zur  Seite  neben  dem  verhüllten, 
kauernden  Manne  und  den  Kindern  die  Klageweiber,  an 
denen  zerraufte  Haare  und  zerrissene  Wangen  die  Accente 
der  Trauer  ebenso  steigern,  wie  es  in  den  Rhythmen 
des  ersten  Liedes  geschieht.  Dem  antiken  Beschauer 
war  es  durch  die  herkömmlichen  Zeichen  der  bittenden 
Beschwörung  sofort  klar,  dafs  Aithra  nicht  vom  Altare 
herunter  kann:  sie  ist  durch  die  Zweige  genau  so  ge- 
bunden, wie  in  manchen  Gegenden  Deutschlands  die 
Schnitter  den  Vorübergehenden  mit  einem  Ährenkranze 
binden 2).  Die  Eingangsgruppe  giebt  die  Exposition  so- 
gleich vollkommen;  am  Schlüsse  des  ersten  Aktes,  wenn 
die  sorgliche  Sohneshand  des  Theseus  die  eigene  Mutter 
heimgeleitet,  wissen  wir,  dafs  die  andern  Mütter  auch  be- 
friedigt abziehen  werden:  Spannung  ist  diesmal  nicht  der 
Zweck  des  Spieles.  Ein  anderes  bewegtes  Bild  bringt 
der  zweite  Akt.  Theseus,  nun  in  voller  Rüstung,  mit 
seinem  Heere,  dessen  Anwesenheit  dem  Zuschauer  sinn- 


1)  Wir  haben  in  unsern  überlieferten  Texten  gerade  noch 
so  viel  Spuren,  um  zu  wissen,  dafs  solche  Bemerkungen  den 
antiken  Buchausgaben  der  Dramen  nicht  fremd  waren  und 
sehr  wohl  auf  die  Dichter  zurückgehen  können. 

2)  Das  geschieht  jetzt  nur  um  ein  Trinkgeld  zu  erlangen, 
das  die  Bindung  löst:  zu  Grunde  liegt  der  schöne  Gedanke, 
dafs  der  Müfsige  sich  von  der  Pflicht  loskaufe,  an  der  Bergung 
der  Gottesgabe  Hand  anzulegen,  durch  eine  Gabe  zu  Ehren 
der  Gottheit,  die  sie  dann  den  Fleifsigen  überläfst. 


214 

fällig  werden  mufs,  bildet  neben  der  Trauergesandtscbaft 
den  Hintergrund  für  die  Debatte  mit  dem  Vertreter  der 
Feinde.  Wenn  das  Heer  sich  in  Bewegung  setzt,  sind 
wir  des  Erfolges  sicher;  die  schwankende  Sorge  der 
Harrenden  zu  zeigen,  ist  der  Chor  für  das  Lied  des 
Zwischenaktes  geteilt.  Dann  eine  lediglich  rednerisch 
wirkende  Scene,  der  Schlachtbericht,  und  sofort  das 
Hauptsttick,  Leichenzug,  Totenklage,  Begrüfsung  der  ge- 
fallenen Söhne  durch  die  Mütter,  Grabrede,  feierlicher 
Abzug,  Vorbereitung  zur  Verbrennung,  die  in  dem  einen 
Scheiterhaufen  vor  unsern  Augen  vollzogen  wird.  Da, 
plötzlich,  ein  unerwartetes,  andersgeartetes  Bild;  schon 
die  ganz  anderen  Rhythmen  des  kurzen  Liedes,  ehe  Euadne 
auftritt,  präludieren  ihrem  Erscheinen,  der  bräutlich  ge- 
schmückten über  den  schwarzen  Gestalten,  und  dann  das 
gewagte,  in  Athen  doppelt  gewagte,  ihr  Sprung  in  die 
Flammen.  Als  Kontrast  zu  Euadnes  hohen  Tönen  die 
Verzweiflung  des  Greises,  zu  ihrer  Arie  sein  Raisonnement. 
Und  wieder,  im  letzten  Akte,  ein  neues  Bild :  die  Kinder, 
die  bisher  Statisten  waren,  im  Mittelpunkte,  und  die  helle 
Knabenstimme  neben  dem  Bafs  der  Männerstimmen  des 
Chores.  Endlich  die  liebe  Landesgöttin,  dem  Athener 
ein  vertrauter,  aber  doch  ein  heiliger  Anblick,  plötzlich 
erscheinend^),  das  Finale  hebend.  Mit  einem  Bilde 
schliefst  das  Drama  wieder,  dem  Widerspiele  des  Ein- 
gangsbildes; denn  dafs  die  Schauspieler  und  Tänzer  ab- 
marschieren müssen,  ist  nur  der  Zwang  der  unvoll- 
kommenen scenischen  Mittel;  wie  gern  würde  Euripides 
einen  Vorhang  gehabt  haben,  der  rechtzeitig  fiele 2). 


^)  Meist  wird  eine  solche  Göttererscheinung  vom  Chor 
angekündigt:  das  ging  hier  nicht  an,  wo  er  nicht  der  in- 
differente Zuschauer  der  Handlung  und  noch  dazu  der  Göttin 
fremd  war. 

2)  Man  kann  fragen,  weshalb  nicht  ein  feierlicher  Trauer- 
zug  das  Finale   bildete.     So   pflegte   die  älteste  Tragödie   zu 


215 

Ein  solches  Drama  erträgt  hinter  sich  kein  anderes, 
sondern  nur  etwa  ein  ausgelassen  heiteres  Scherzspiel, 
wie  es  die  tollen  Bursche  in  den  Ziegenfliefsen  dem  Gott 
zu  Ehren  darboten,  in  dessen  Heiligtume  man  sich  be- 
fand. Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  dafs  wir  hier  ein 
Stück  haben,  das  an  dritter  Stelle  in  der  Reihe  gegeben 
ward.  Selbstverständlich  haben  die  Dichter  die  Dramen 
je  nach  ihrer  Stelle  verschieden  angelegt.  Wie  belehrend 
und  genufsreich  wäre  es,  die  Bilder  zu  vergleichen,  die 
Euripides  vor  denen  der  Trauer  und  des  Trostes  der 
Trauer  geboten  hatte.  Man  erkennt,  dafs  der  Erechtheus 
viel  mehr  ruhige  Debatte  bot,  aber  auch  da  war  in  einem 
zweiten  Chore,  Vertretern  des  siegreichen  Heeres,  neben 
dem  die  Angst  und  die  Teilnahme  an  dem  Tode  der 
Königstöchter  ausdrückenden  weiblichen  Halbchore  für 
einen  Kontrast  und  starke  musikalische  und  scenische 
Effekte  gesorgt.  Von  dem  dritten  Stücke,  das  vermutlich 
in  der  Mitte  stand,  wissen  wir  bisher  nichts.  So  schliefst 
diese  Einleitung,  die  dem  Leser,  hoffentlich  nicht  ohne 
Dank,  zugemutet  hat,  sich  für  eine  Weile  nach  Athen 
zu  versetzen  und  an  den  momentanen  Stimmungen  und 
Strebungen  des  fremdem  alten  Volkes  Teil  zu  nehmen, 
mit  einem  peinlichen  Eingeständnis  des  Nichtwissens.  Es 
fehlt  etwas,  was  wir  eigentlich  brauchten,  um  das,  was 
wir  haben,  ganz  zu  würdigen.  Was  wir  verstehen,  ist 
durch  angestrengte  wissenschaftliche  Arbeit  ganz  allmählich 
gewonnen  worden:  der  Leser,  der  dieses  geniefst,  dürfte 
beherzigen,  dafs  er  daran  nicht  uninteressiert  ist,  dafs 
wir  Leute  vom  Fach  weiter  suchen  und,  so  Gott  will, 
finden;  aber  Suchen  und  Finden  hat  seine  Grenze  an  dem 
was  erhalten  ist.  Vereinigen  wir  uns  also  in  dem  Wunsche, 


schliefsen;  allein  als  neben  sie  ein  lustiges  Spiel  getreten 
war,  das  sich  aus  dem  Festzuge  der  dionysischen  Lust,  dem 
Komos,  entwickelt  hatte  und  daher  mit  solchem  Zuge  zu 
schliefsen  pflegte,  ist  das  ganz  abgekommen. 


216 

dafs  die  Erde  irgendwo  verborgen  halte,  was  keine 
Wissenschaft  nachschaffen  kann,  und  dafs  wir  durch  die 
Freude  an  der  alten  Poesie  nicht  minder  als  durch  red- 
liche Arbeit  an  ihr  die  Gunst  der  treuen  Mutter  ver- 
dienen, auf  dafs  sie  uns  spende,  was  sie  in  ihrem  Schofse 
geborgen  hält,  in  dem  Grabe,  aus  dem  das  ewige  Leben 
ersteht. 

Westend,  am  Totenfest  1898. 


EÜRIPIDES 

DER  MÜTTER  BITTGANG. 


PERSONEN. 

Athena. 

These  US,  König  von  Athen. 

Aithra,  seine  Mutter. 

Ad  rastos,  König  von  Argos. 

Iphis,  ein  Greis  aus  Argos. 

Euadne,   seine  Tochter,  Witwe  des  Kapaneus. 

Ein  Herold  der  Thebaner. 

Ein  Bote. 

Chor:  die  sieben  Mütter  der  Sieben  gegen  Theben 

mit  ihren  Mägden. 
Knaben,  Söhne  der  Sieben. 

Athenische  Krieger,  ein  athenischer  Herold 
und  anderes  Gefolge. 


De7i  Hintergrund  der  Bühne  bildet  die  Front  des  Demetertempels 
von  Eleusis.  Hechts  von  ihm  und  zum  Teile  ihn  überragend  der 
Burgberg  von  Eleusis.  Vor  dem  Tempel  steht  auf  der  Bühne  ein 
hoher  Altar,  auf  dessen  Stufen  sieben  alte  Frauen  (die  Mütter) 
in  der  Tracht  der  tiefsten  Trauer  Tcnieen  und  sitzen;  sie  haben 
zu  den  Füfsen  einer  alten  Frau  in  Jcöniglichem  Geicande,  der 
Aithra,  lange  von  Wollbinden  umwundene  Olivenzweige  hingelegt. 
Aithra  steht  auf  d6r  Plattform  des  Altares  unter  der  Feuerstelle, 
auf  der  die  Beste  eines  eben  gebrachten  Opfers  kenntlich  sind. 
Neben  den  alten  Frauken  zu  ebener  Erde  stehen  ihre  Mägde  in 
der  Tracht  von  Klageioeibern.  Adrastos  liegt,  ganz  in  sein 
Trauergewand  gehüllt,  am  Boden;  neben  ihm  eine  Anzahl  von 
Knaben,  ebenfalls  in  Trauer. 

Aithra. 

Die  du  am  Herde  von  Eleusis  thronest, 
Demeter,  und  ihr  andern  Götter  alle, 
die  ihr  die  Mutter  dienstbar  hier  umwohnt, 
gebt  euren  Segen  meinem  Sohne  Theseus 
und  seinem  Land  Athen  und  meiner  Heimat 
5  Trozen,  wo  ich  im  Glück  des  Vaterhauses 
friedlich  erwuchs,  bis  Pittheus  seiner  Aithra 
den  Aigeus  von  Athen  zum  Gatten  gab, 
um  so  Apollons  Sprüchen  zu  genügen. 
Der  Anblick  dieser  Frau'n  zu  meinen  Füfsen 
trieb  mich  zu  dem  Gebete.     Schwerer  Schickung 
gehorchend  sind  sie  mit  den  heil'gen  Zeichen 


220 


10  der  Bittgesandtschaft,  den  Olivenzweigen, 
aus  ihrer  Heimat  Argos  hergezogen. 
Denn  ihre  sieben  Heldensöhne  sind 
vor  Thebens  Burg  gefallen,  auf  dem  Zuge, 
den  Argos'  Fürst  Adrastos  unternahm, 

16  um  seinem  Schwiegersohne  Polyneikes 
des  Vatererbes  Anteil  zu  erstreiten. 
Als  nun  die  Mütter  ihre  toten  Söhne 
bestatten  wollten,  hat  der  Sieger  ihnen 
die  Heimholung  der  Leichen  abgeschlagen, 
im  Widerspruche  zu  dem  heil'gen  Recht. 

20  Auch  er,  der  dort  am  Boden  Reuethränen 
um  seiner  Heerfahrt  Mifsgeschick  vergiefst, 
Adrastos,  wünscht  von  mir  denselben  Dienst: 
bestimmen  soll  ich  meinen  Sohn,  den  Leichen 
durch  Unterhandlung  oder  durch  Gewalt 

26  Befreiung  und  Bestattung  auszuwirken. 
Nur  so  viel  ist  es,  was  er  von  Athen 
und  m.einem  Sohne  heischt.     Es  hatte  mich 
ein  Opfer  aus  der  Stadt  hierher  geführt. 
Auf  diesen  Äckern  ist  der  erste  Halm 

30  entsprossen,  ist  das  erste  Korn  gereift: 

hier  bracht'  ich  jetzt,  da  wieder  Pflügens  Zeit, 
ein  Opfer,  dafs  die  Arbeit  uns  gedeihe. 
Nun  aber  hält  mich  dieser  Kranz  von  Zweigen 
gefesselt  auf  des  Altars  heil'gem  Herde. 
Denn  Mitleid  fühl'  ich  mit  dem  grauen  Haare 

36  und  mit  dem  Unglück  der  verwaisten  Frau'n, 
und  die  Beschwörung  ehr'  ich.     Nach  der  Stadt 
hab'  ich  geschickt,  um  Theseus  herzubitten. 
Er  mag  das  Heiligtum,  das  von  der  Trauer 
entweiht  wird,  säubern,  mag  mit  frommer  That 

40  die  auferlegte  heil'ge  Pflicht  erfüllend 
mich  aus  dem  Banne  lösen:  handeln  läfst 
die  kluge  Frau  in  jedem  Fall  den  Mann. 


221 


Chor  der  Mütter, 
ohne  die  Stufen  des  Altares  zu  verlassen. 

Es  flehen  die  Greisinnin,  Greisin,  dich  an, 
du  siehst  uns  am  Boden,  wir  fassen  dein  Knie, 
erlös'  unsre  Söhne, 
45  bestrafe  den  Frevel. 

Die  Erschlagenen  liegen  verwesend, 
den  Tieren  des  Feldes  zum  Frafse. 

Du  siehst  an  der  Wimper  die  Zähre,  du  siehst 
die  Runzeln  der  Wange  vom  Nagel  zerfetzt, 
60  ein  jämmerlich  Schauspiel. 
So  raste  die  Trauer. 
Die  Erschlagenen  darf  ich  im  Sarge 
nicht  betten,  nicht  deckt  sie  die  Erde. 

Auch  du  hast  einst  dem  Gemahl  einen  Sohn 

65  als  Pfand  eurer  Liebe  geboren. 
Gedenke  des  eigenen  Muttergefühls 
und  fühle  mit  uns, 

den  ärmsten,  die  Schmerzen  der  Mutter. 
Bestimme  zum  rettenden  Zuge 
60  deinen  Sohn. 

Die  unbestatteten  Leiber 
unserer  Söhne  befreiend 
leg'  er  in  der  Mutter  Arm. 

Es  trieb  uns  die  Not,  an  der  Himmlischen  Herd 
bittflehend,  entweihend  zu  treten. 

66  Das  Recht  ist  mit  uns,  und  dein  ist  die  Macht, 
das  Leid,  das  uns  drückt, 

du  glückliche  Mutter,  zu  heilen. 
Erbarme  dich  unsrer  Verzweiflung, 
dafs  dein  Sohn 
uns  Ärmsten  die  Leichen  verschaffe, 


222 


dafs  die  zerschmetterten  Glieder 
70  hegen  kann  der  Mutterarm. 

Chor  der  Mägde, 
mit  wildem  Tanze. 

Auf,  ihr  Mägde,  lafst  zum  zweiten 

Gang  der  Totenklage 

eure  Fäuste  dröhnen. 

Leidet  mit  den  Leidenden, 

weinet  mit  den  Weinenden, 
75  schlingt  den  Totenreigen. 

Reifst  der  Wange  Weifs 

blutig  rot. 

0  o! 

Zu  der  Toten  Ehre 

ist's  der  Lebendigen  Schmuck. 

Diese  wilde  schmerzenreiche 

nimmersatte  Trauer 

reizt  mich  immer  wieder, 
80  wie  bespritzt  von  Meeresgischt 

immerdar  die  Klippe  trieft. 

Das  ist  Frauenschicksal: 

nie  erstirbt  der  Schmerz 

um  ein  Kind. 
86  0  o! 

könnt'  ich  nur  vergessen,  ' 

freudig  begrüfst'  ich  den  Tod. 
Theseus, 

kommt  von  links  mit  einigen  Oetoafneten. 
Wen  hör'  ich  klagen?    Von  Demeters  Tempel 
tönt  es  herüber  wie  von  Grabgesängen 
und  Brüsteschlagen.    Angstvoll  bebt  mein  Herz. 
90  Die  Mutter  säumt'  so  lang;  ich  ging  ihr  nach, 
sie  heimzuholen:  stiefs  ihr  etwas  zu? 
Ha, 
was  seh'  ich  dort?    Was  soll  ich  dazu  sagen? 


223 


Die  Mutter  find'  ich  auf  dem  Altar  sitzend, 
zu  ihren  Füfsen  rings  Olivenzweige, 
und  fremde  Frauen,  die  in  jedem  Zuge 
95  die  Trauer  zeigen.     Aus  den  greisen  Augen 
entströmen  Thränen  bis  zum  Boden  nieder, 
geschorne  Häupter,  schwarze  Mäntel,  nichts 
der  heil'gen  Stätte  noch  dem  Fest  gemäfs. 
Du  mufst  es  mir  erklären,  liebe  Mutter, 
ich  höre,  schlimmer  Neuigkeit  gewärtig. 
Aithra. 
100  Mein  Sohn,  der  sieben  Fürsten  Mütter  sind  es, 
die  vor  den  Thoren  Thebens  ihren  Tod 
gefunden  haben.     Hilfeflehend  halten 
sie  mit  den  Zweigen  also  mich  gebunden. 

Theseus. 
Wer  liegt  verhüllt  dort  schluchzend  auf  dem  Boden? 
Aithra. 
105  Adrastos  soll  es  sein,  der  Herr  von  Argos. 
Theseus. 
Die  Knaben  neben  ihm  sind  ihre  Kinder? 

Aithra. 
Nein,  sondern  Söhne  der  erschlagnen  Fürsten. 

Theseus. 
Weswegen  kam  zu  uns  die  Bittgesandtschaft? 

Aithra. 
Ich  weifs  es,  doch  sie  mögen  selber  reden. 
Theseus. 
110  Der  du  dort  unter  deinem  Mantel  weinst, 
enthülle  dich  und  hemme  das  Gestöhn. 
Wer  etwas  wiU,  mufs  seine  Zunge  regen. 
Adrastos, 
sich  erhebend. 

Fürst  von  Athen,  ruhmvoller,  sieggekrönter, 
ich  suche  Schutz  bei  deinem  Volk  und  dir. 


224 


Theseus. 
115  Was  fehlt,  dir,  was  begehrest  du  von  uns? 

Adrastos. 
Du  weifst  von  meinem  unheilvollen  Zuge? 

Theseus. 
Ihr  habt  in  Hellas  Lärm  genug  gemacht. 

Adrastos. 
Auf  ihm  verlor  ich  Argos'  beste  Männer. 

Theseus. 
So  pflegt  es  in  dem  leid'gen  Krieg  zu  gehn. 

Adrastos. 
120  Um  ihre  Leichen  sandten  wir  nach  Theben. 

Theseus. 
Den  Herold,  der  im  Schutz  des  Himmels  kommt? 

Adrastos. 
Ihm  hat  der  Sieger  das  Gesuch  geweigert. 

Theseus. 
Wie  konnten  sie  das  Völkerrecht  verletzen? 

Adrastos. 
Erfolg  berauscht;  sie  trotzten  auf  ihr  Glück. 

Theseus. 
126  Deswegen  bist  du  hier?    Ich  soll  euch  raten? 

Adrastos. 
Du  sollst  uns  die  Gefallenen  verschaffen. 

Theseus. 
Wo  ist  dein  Argos  und  sein  Stolz  geblieben? 

Adrastos. 
Am  Boden  liegt  es;  du  bist  unsre  Hoffnung. 

Theseus. 
Sprichst  du  zu  mir  im  Namen  deines  Staates? 

Adrastos. 
130  Ganz  Argos  bittet,  schaff'  die  Leichen  uns. 

Theseus. 
Aus  welchem  Grunde  zogst  du  wider  Theben? 


225 


Adrastos. 
Auf  meiner  beiden  Schwiegersöhne  Wunsch. 

Theseus. 
Wen  nahmst  du  dir  aus  deiner  Stadt  zum  Eidam? 

Adrastos. 
Im  eignen  Volk  hab'  ich  ihn  nicht  gefunden. 
Theseus. 
135  An  Fremde  gabst  du  Argos'  Königstöchter? 
Adrastos. 
So  ist's,  an  Tydeus  und  an  Polyneikes. 

Theseus. 
Was  konnte  dich  an  der  Verbindung  locken? 

Adrastos. 
Mir  war  ein  Rätselwort  Apolls  geworden. 

Theseus. 

Und  welchen  Freiern  gab  der  Gott  die  Mcädchen? 

Adrastos. 

140  Ein  Eber  und  ein  Löwe  sollt'  es  sein. 

Theseus. 

Wie  hast  du  dieses  Götterwort  gedeutet? 

Adrastos. 
Zwei  Fremde  standen  nachts  vor  meinem  Thor. 

Theseus. 
Gleich  zwei?    Wer  waren  sie,  erkläre  mir's. 

Adrastos. 
Tydeus  und  Polyneikes,  handgemein. 
Theseus. 
145  In  ihnen  sähest  du  die  beiden  Tiere? 
Adrastos. 
Ja;    in  dem  Kampf  fand  ich  die  Ähnlichkeit. 

Theseus. 
Was  hatte  sie  aus  ihrem  Land  vertrieben? 

Adrastos. 
Den  Tydeus  Schuld  an  eines  Vetters  Tod. 

Griech.  Trngödien.  15 


226 

Theseus. 
Und  warum  floh  der  Sohn  des  Oedipus? 

Adrastos. 
150  Er  wich  dem  Fluch  des  Brudermordes  aus. 

Theseus. 
Ein  weiser  Schritt  war  solche  Selbstverbanuung. 

Adrastos. 
Die  Heimat  hat  mit  Undank  ihn  vergolten. 

Theseus. 
Enthielt  der  Bruder  ihm  sein  Erbe  vor? 

Adrastos. 
Dagegen  schritt  ich  ein,  und  ward  geschlagen. 

Theseus. 
löö  Der  Seher  Künste  hast  du  doch  befragt? 

Adrastos. 
Ach,  da  berührst  du  meine  wunde  Seite. 

Theseus. 
Des  Himmels  Zuspruch  hat  dich  nicht  ermutigt? 

Adrastos. 
Im  Gegenteil;    Amphiaraos  warnte. 

Theseus. 
So  hast  du  leichten  Herzens  dir  die  Rücksicht 
auf  höhres  Walten  aus  dem  Sinn  geschlagen? 

Adrastos. 
160  Der  Jugend  lautes  Fordern  rifs  mich  fort. 

Theseus. 
Dir  war  es  mehr  um  Tapferkeit  zu  thun 
als  um  Besonnenheit.     Schon  mancher  Feldherr 
hat  damit  sich  den  Untergang  bereitet. 

Adrastos. 
Theseus,  du  bist  der  erste  Held  von  Hellas, 
du  herrschest  in  Athen.     Es  fällt  mir  schwer 
165  bittflehend  deine  Kniee  zu  umfassen. 


227 


Ich  bin  ein  alter  Mann  und  habe  selbst 
des  Königsthrones  Glanz  zuvor  gekostet, 
allein  ich  mufs  mich  meinem  Schicksal  fügen. 

Kniet  vor  Tlieseus  nieder. 
Erbarm  dich  meiner,  rette  die  Erschlagnen, 
erbarm  dich  ihrer  Mütter,  die  der  Söhne 

170  Verlust  im  Greisenalter  doppelt  trifft. 

Kaum  können  sie  die  welken  Glieder  regen, 
und  dennoch  haben  sie  den  weiten  Weg 
hieher  gewagt.     Es  war  kein  Pilgerzug 
zum  heiFgen  Herd  Demeters:  ihre  Kinder 
begraben  wollen  sie,  von  deren  Händen 

175  sie  selber  diesen  Dienst  für  sich  erhofften. 
Es  soll  der  Reiche  von  der  Armut  nicht, 
der  Glückliche  vom  Unglück  nicht  den  Blick 
abwenden,  sondern  weise  sich  die  Mahnung 
an  alles  Menschenschicksals  Unbestand 

179  vor  Augen  halten,  und  so  lang  die  Sonne 

des  Glücks  ihm  leuchtet,  frisch  und  willig  wirken. 
Bald  kommt  der  Schatten,  launisch  wendet  sich 
das  Glück  von  uns,  und  rasch  erlischt  im  Herzen 
die  Freudigkeit  des  Schaffens,  ohne  die 

180  kein  Kranz  errungen  wird.     Der  Dichter  selbst 
bedarf  zu  seinem  Werk  der  Freudigkeit, 

und  wenn  sie  fehlt,  so  ist's  zu  viel  verlangt, 
das  trüber  Sinn  Begeisterung  erwecke. 

Du  magst  nun  fragen,  weshalb  machst  du  uns 

185  den  Antrag,  keiner  Stadt  der  Pelopsinsel? 
Das  zu  begründen  fühl'  ich  mich  verpflichtet. 
Sparta  ist  fühllos  und  voll  Hinterlist, 
das  andre  klein  und  schwach.     Nur  dein  Athen 
ist  diesem  Werk  gewachsen.    Für  das  Unglück 

190  hat  es  Gefühl,  und  es  besitzt  in  dir 

den  rechten  Führer;  mancher  Staat  erlag, 
nur  weil  ein  Mann  von  Mut  und  Kraft  ihm  fehlte. 

15* 


228 


Chorführeriii. 
Dieselben  Bitten,  Theseus,  leg'  auch  ich 
dir  an  das  Herz,  erbarm  dich  unsres  Landes. 
Theseus. 

195  Du  rufst  ein  Wortgefecht  mir  in  den  Sinn, 
das  ich  einmal  geführt.     Da  stellte  jemand 
den  Satz  auf,  dafs  des  Übels  in  der  Welt 
mehr  wäre  denn  des  Guten.     Ich  vertrete 
das  Gegenteil.     Es  mufs  im  Menschenleben 

200  mehr  gut  als  böses  sein,  denn  war'  es  anders, 
die  Menschheit  würde  längst  nicht  mehr  bestehn. 
Ich  danke  jenem  Gotte,  der  dem  Menschen 
sein  Dasein  über  tierisch  rohe  Wildheit 
herausgehoben,  der  uns  die  Vernunft 
und  dann  die  Sprache  gab,  die  den  Gedanken 
in  sinnbelebten  Lauten  übermittelt. 

205  Er  gab  uns  des  Getreides  milde  Speise, 
das  Himmelsnafs,  das  unsern  Gaumen  letzt 
und  unsre  Saaten  tränkt.     Vor  Winterkälte 
den  Leib  zu  schützen  hat  er  uns  gelehrt, 
und  übers  Meer  zu  fahren,  um  durch  Tausch 

210  an  fremder  Länder  Gütern  Teil  zu  nehmen. 
Und  was  für  unsere  Einsicht  dunkel  bleibt, 
das  tlmt  dem  Seher  sich  im  Flug  der  Vögel, 
im  Feuer  und  im  Opferfleische  kund. 
So  hat  ein  Gott  das  Leben  uns  geordnet. 

215  Die  Gecken,  die  sich's  nicht  genügen  lassen! 
Doch  die  Vernunft  will's  besser  machen  könnea 
als  Gott;    die  Hoffart  sitzt  in  unserm  Herzen, 
wir  wären  klüger  als  die  Himmelsherrn. 

Auch  du,  Adrastos,  hast  in  diese  Rotte 
mit  deiner  falschen  Weisheit  dich  gestellt. 

220  Die  Töchter  hast  an  fremde  du  gegeben 
nach  dem  Orakel.     Damals  war  es  dir 
lebend'ges  Götterwort,  und  damit  brachtest 


229 

du  in  dein  reines  Haus  die  Ansteckung 

der  fremden  Sünde.     Klugheit  wird  sich  hüten 

die  Unschuld  mit  dem  Laster  zu  verbinden, 

226  und  nur  dem  reinen  reicht  sie  ihre  Hand. 
Denn  wer  sein  Los  an  einen  Sünder  kettet, 
den  wirft  mit  ihm  des  Himmels  Strafgericht 
zu  Boden,  mag  er  noch  so  schuldlos  sein. 
Dann  aber,  als  du  aufbrachst  in  den  Krieg, 

230  und  die  Propheten  ihre  Sprüche  sagten, 

verwarfst  du  sie,  da  trotztest  du  den  Göttern 
und  führtest  Argos  in  den  Untergang. 

Die  jungen  Herren  haben  dich  verführt; 
ihr  Ehrgeiz  braucht  den  Krieg,  und  nach  dem  Recht 
und  nach  der  Not  der  Bürger  fragt  er  wenig. 
Der  eine  sucht  den  Glanz  der  hohen  Stellung, 

236  der  andre  Macht  für  seine  Lüste,  jener 

das  Geld:    und  was  das  Volk  darunter  leidet, 
das  fragen  alle  nicht.     Es  giebt  im  Staate 
drei  Klassen:  faule  Drohnen  sind  die  Reichen, 
die  fordern  immer  mehr  für  sich.     Gefährlich 

240  wird  durch  den  Neid  das  arme  niedere  Volk, 
wenn  es  von  schnöden  Schmeichlern  aufgehetzt 
begehrlich  die  Besitzenden  befehdet. 
Der  Mittelstand  allein  erhält  den  Staat, 
gehorsam  dem  Gesetz  und  der  Verfassung. 

245  Und  da  soll  ich  mit  dir  ein  Bündnis  schliefsen? 
Wie  könnt'  ich  das  vor  meinem  Volk  vertreten? 
Geh'  deines  Weges.    Wenn  du  übel  dich 
beraten  hast,  so  magst  du  selber  sehn, 
wie  du  die  Folgen  trägst.     Uns  lafs  in  Frieden. 
Chorführer. 

260  Sie  haben  sich  vergangen;  doch  das  bringt 
die  Jugend  mit  sich:  soll's  der  Greis  entgelten? 

Adrastos. 
Nicht  mich  zu  richten  hab'  ich  dich  gebeten. 


230 

noch  wo  wir  etwa  wirklich  Unrecht  thaten, 
266  zu  schelten  und  zu  strafen.     Helfen  solltest 

du  uns  in  unsrer  Not.     Wenn  du  nicht  willst, 

so  mufs  ich  mich  bescheiden,  selbstverständlich. 
Brecht  auf,  ihr  alten  Frau'n,  doch  lafst  die  Zweige 

mit  umgekehrtem  Laub  auf  den  Altären 
260  zurück,  auf  dafs  die  Götter  und  die  Erde, 

Demeters  Fackeln  und  das  Sonnenlicht 

des  Zeuge  bleiben,  wie  vergeblich  wir 

262  den  Schutz  des  heil'gen  Rechtes  angerufen. 

Chorführer. 

So  sollen  wir  verzweifelt  heimwärts  ziehen 
und  unsre  Bitten  haben  keine  Kraft? 
Willst  du,  von  deinem  Sitz  herabzusteigen 
die  heil'gen  Zweige  mit  den  Füfsen  treten? 
Vergifst  du  ganz  die  Bande  der  Verwandtschaft? 

263  Aithra,  dein  Vater  Pittheus  war  der  Sohn 
des  Pelops:  von  der  Pelopsinsel  stammen 
wir  auch.    Es  rinnt  in  uns  dasselbe  Blut. 

266  Willst  du's  verleugnen  und  uns  alte  Frauen 
verlustig  unsres  Rechtes  von  dir  stofsen? 
Nein,  duld'  es  nicht.     Das  Wild  hat  seine  Höhle, 
der  Sklave  findet  Schutz  im  Gotteshause, 
ein  Staat  mufs  in  der  Not  bei  einem  Staate 

270  sich  Zuflucht  suchen,  und  ein  irdisch  Glück 
ist  niemals  für  die  Ewigkeit  gebaut. 

Chor  der  Mütter, 

indem  er  sich  müJisam  von  den  Stufen  des  Altars  erhebt. 

Steht  auf,  ihr  Armen,  vom  Herde  Demeters, 
steht  auf  und  fafst  bittflehend  sein  Knie. 
Er  hole  die  Leichen  von  Thebens  Burg, 
ach,  dort  verloren  wir  unsere  Knaben. 


231 

Zu  den  Mägden. 
275  Ach,  ich  sinke, 

kommt  ihr  jungen  Mägde, 

fasset,  führet, 

stützt  den  alten  Arm. 

Die  Mägde  geleiten  sie  zu  Theseus;  sie  fallen  ihm  zu  Fiifsen. 

Liebster,  erlauchter  Held  von  Hellas, 
sieh,  ich  umfasse  dein  Knie,  ich  halte 
die  gewaltige  Hand,  ich  recke  den  Arm 
nach  deiner  Wange,  hab  Erbarmen. 

280  Wie  Bettler  irren  wir  in  der  Fremde 
und  singen  klägliche  Totenweisen, 
wir  bitten  um  Gnade  für  unsere  Söhne. 
Mein  Sohn,  du  darfst  nicht  unbestattet 
zum  Frafse  den  Vögeln  die  Leichen  lassen, 
sie  waren  so  jung,  so  kräftig  wie  du. 
Wir  flehen  dich  an,  du  siehst  im  Auge 
die  Thräne,  du  siehst  uns  am  Boden  vor  dir. 

285  Wir  bitten  für  sie  um  Grabesfrieden. 

Während  des  folgenden  Gespräches  erheben  sie  sich,  die 

Dienerinnen  sind  hinzugetreten,    sodass  sich  der  CJior  als  solcher 

zusammenschliefst. 

Theseus. 

Mutter,  du  weinst  und  ziehst  des  Schleiers  Hülle 
dir  vor  die  Augen?     Ging  der  laute  Jammer 
so  nahe  dir?    Ich  fühlte  selbst  ein  Rühren. 
Erhebe  frei  dein  weifses  Haupt;  du  darfst 
290  nicht  weinen  auf  dem  heil'gen  Herd  der  Göttin. 

Aithra. 
0  Jammer. 

Theseus. 
Klage  nicht  um  fremden  Schmerz. 


232 


Aithra. 
Die  unglticksergen  Frau'n. 

Theseus. 

Du  bist  es  nicht. 
Aithra. 
Darf  ich  dir  etwas  sagen,  lieber  Sohn, 
was  Ehre  dir  und  deinem  Volke  bringt? 

Theseus. 
Sprich,  liebe  Mutter,  mir  ist  wohl  bewufst, 
der  beste  Rat  kommt  oft  aus  Frauenmund. 
Aithra. 
296  Ich  weifs  doch  nicht.     Was  ich  im  Herzen  trage, 
ist  wohl  für  mich  unschicklich  auszusprechen. 

Theseus. 
Vielmehr  es  würde  dein  nicht  würdig  sein, 
dem  Sohn  den  guten  Rat  vorzuenthalten. 

Aithra. 
Nein,  schweigen  mag  ich  nicht  um  hinterher 
es  zu  bereu'n,  dafs  ich  zur  Unzeit  schwieg. 
Und  wenn  mich  ängstlich  macht,  dafs  kluge  Rede 
an  Frauen  wenig  taugen  soll,  so  opfr'  ich 
300  doch  nicht  der  Angst  die  Wahrheit,  die  ich  kenne. 
Mein  Sohn,  vor  allem  sag  ich  dir,  bedenke, 
ob  du  nicht  irrst,  weil  du  der  Götter  Recht 
bei  Seite  schiebst.     Das  ist  dein  einz'ger  Fehler, 
sonst  urteilst  du  gerecht.     Und  weiter,  solltest 
du  kühn  eingreifen  ohne  selbst  gekränkt 
806  zu  sein,  so  würd'  ich  sicher  stille  schweigen. 
Allein  ganz  Hellas  wird  dadurch  beleidigt, 
wenn  ein  Gesetz,  das  alle  Staaten  bindet, 
ein  einzelner  mit  Füfsen  tritt.    Und  dir, 
der  du  den  Sinis  und  Prokruste  s  schlugst, 
ist  das  zu  ahnden  eingeborne  Pflicht. 
306  Da  fühl'  ich  keine  Scham,  wenn  ich  dich  mahne, 
die  Frevler,  die  den  Toten  ihren  Anspruch 


233 


auf  Grabesruhe  grausam  vorenthalten, 
durch  deine  starke  Hand  dazu  zu  zwingen 

310  und  der  Verletzung  dieses  Völkerrechtes 
Einhalt  zu  thun.     Es  sichert  den  Bestand 
der  menschlichen  Gesellschaft,  dafs  ein  Wächter 
des  Rechtes  lebt.     Leicht  möchte  jemand  sagen, 
es  hätte  dir  der  Mut  der  kühnen  That 

316  gefehlt,  als  du  Athen  den  Ruhmeskranz 
erringen  solltest;  den  gemeinen  Kampf 
mit  einem  Wildschwein  hättest  du  bestanden, 
doch  wo  es  galt,  den  Anblick  auszuhalten, 
wie  Feindeshelm  und  Lanzenspitze  funkeln, 
sei  deine  Feigheit  an  den  Tag  gekommen. 

320  Nein,  nein,   du  bist  mein  Sohn,    das  darfst  du  nicht. 
Du  siehst  ja,  wie  dein  Vaterland  Athen, 
wenn  sie  es  als  leichtsinnig  höhnen  wollen, 
den  Hohn  mit  stolzem  Auge  niederblitzt. 
Es  wächst  ja  in  den  Kämpfen.     Andre  Staaten, 
die  ruhig  und  bedacht  im  Finstern  sitzen, 

326  mögen  den  Blick  auch  scheu  zu  Boden  schlagen. 

Zeuch  hin,  mein  Sohn,  als  Retter  der  Erschlagnen, 
als  Helfer  in  der  Not  der  armen  Frauen. 
Ich  habe  keine  Furcht,  wenn  du  fürs  Recht 
ausziehst,  und  wenn  ich  Thebens  Glück  betrachte, 

830  vertrau'  ich,  seine  Würfel  fallen  auch 

noch  anders:  nichts  ist  ewig  vor  den  Göttern. 

Chorführerin. 
Wie  dank'  ich  dir.     Du  sorgst  für  deinen  Sohn 
und  mich.     Du  Liebste,  doppelt  ist  die  Freude. 

Theseus. 
Was  ich  Adrastos  vorgehalten  habe, 
335  das  bleibt  bestehn.     Ich  habe  dargelegt, 
durch  welche  Fehler  er  zu  Falle  kam. 


234 

Allein,  was  du  erinnerst,  liebe  Mutter, 

das  seh'  ich  auch.     Es  schickt  sich  nicht  für  mich 

Gefahren  auszuweichen,  und  ich  habe 

340  durch  manches  Werk  den  Glauben  der  Hellenen 
hervorgerufen,  dafs  ich  Missethat 
in  jedem  Fall  zu  strafen  übernehme. 
Da  darf  ich  mich  der  Mühe  nicht  entziehn. 
Was  würden  sonst  die  Neider  von  mir  sagen, 
wenn  du,  die  Mutter,  die  sich  um  mich  bangt, 

346  zuerst  mich  mahnest  diesen  Gang  zu  thun. 

Ich  will's.     Ich  geh'  und  hole  die  Gefall'nen 
durch  Unterhandlung.     Weigern  sie's,  so  wird  es 
mein  Schwert  erzwingen,  und  die  Gunst  der  Götter 
wird  diesmal  mit  uns  sein.     Ich  wünsche  nur, 
dafs  auch  das  ganze  Volk  den  Zug  beschliefst. 

350  Wenn  ich  es  will,  so  werden  sie's  beschliefsen; 
allein  die  Bürger  folgen  williger, 
wenn  sie  mitreden  dürfen.     Hab'  ich  selber 
doch  mein  Athenervolk  aus  Unterthanen 
zu  freien  Bürgern  gleichen  Rechts  erhoben. 
Adrastos  soll  mich  in  die  Volksversammlung 

356  begleiten,  meine  Worte  zu  bekräft'gen. 

Ist  der  Beschlufs  gefafst,  so  komm'  ich  wieder 
mit  einer  Schar  erlesner  Krieger  her 
und  warte  kampfbereit  auf  Kreons  Antwort, 
von  dem  ich  mir  die  Leichen  auserbitte. 

Nun  nehmt  von  meiner  Mutter,  greise  Frauen, 
die  heil'gen  Bande  fort.     Ich  führ'  sie  heim 

360  zu  Aigeus  Haus  mit  treuer  Sohneshand. 
Wohl  dem,  der  seinen  Eltern  jeden  Dienst 
zu  leisten  willig  ist.     So  schöne  Zinsen 
trägt  nichts.     Denn  was  man  seinen  Eltern  thut, 
empfängt  man  von  den  Kindern  einst  zurück. 

Die  Zioeige  werden  fortgeschafft^  Theseus  führt  Aithra  nach  UnJts 
ah;  Adrastos  folgt  ihm. 


235 

Chor. 
365  Reisiges  Argos,  mein  heimischer  Boden, 

hörst  du,  was  Theseus,  der  Held,  uns  verspricht? 
Hörst  du,  er  wahret  die  Rechte  der  Götter, 
tritt  für  die  Sache  von  Argos  ein. 

Dafs  ihm  gelänge,  der  Schande  zu  steuern, 
370  dafs  er,  entreifsend  durch  rettende  That 
blutigem  Moder  das  Kleinod  der  Mutter, 
Argos  gewinne  zu  treuem  Freund. 

Herrlicher  Ruhm  einem  Volke 
für  das  Recht  zu  streiten, 
und  es  belohnt  sich  mit  ew'gem  Danke. 
376  Was  beschliefst  Athen  für  uns? 
Wird  es  Beistand  uns  gewähren? 
Finden  endlich 
unsre  Söhne  Ruh  im  Grab? 

Schütze  das  Recht  der  Mutter, 
schütz'  es,  Volk  der  Pallas, 
wehre  dem  Bruche  des  Völkerrechtes. 
Frevlern  leihst  du  nie  den  Arm, 
du  vertrittst  die  gute  Sache: 
wer  in  Not  ist, 
380  findet  immer  Schutz  bei  dir. 

Theseus, 
geioappnet,  die  Keule  in  der  Hand,  an  der  Spitze  eines  stattlichen 
Gefolges   gewappneter  Krieger,    neben  ihm  ein  Herold.     Adrastos 
in  seinem  Gefolge. 
Wie  dich  dein  Heroldsamt  in  manches  Land 
im  Dienst  Athens  geführt  hat,  sollst  du  jetzt 
Asopos  und  Ismenos  überschreiten 
und  Thebens  hohem  Herrn  von  mir  bestellen: 
385  „Theseus  ersucht  dich,  zur  Bestattung  ihm 


236 

die  Leichen  auszuliefern;  ganz  Athen 

wirst  du  damit  verpflichten,  und  als  Nachbar 

erhofft  es  die  Erfüllung  seiner  Bitte." 

Wenn  sie  es  uns  gewähren,  kommst  du  heim; 

doch  weigern  sie's,  so  ist  mein  zweites  Wort: 

390  „Wir  kommen  zu  Besuch  mit  Schild  und  Speer." 
Auf  die  Seite  weisend^  von  der  er  kam. 
Dort  steht  das  Heer  schon  marschbereit  am  Brunnen 
Kallichoros,  man  zählt  die  Rotten  nach. 
Höchst  gern  und  willig  hat  die  Bürgerschaft 
den  Krieg  beschlossen,  meinen  Wunsch  durchschauend  — 

395  Allein  sieh'  da,  es  schneidet  mir  das  Wort 

ein  Herold  ab;  es  scheint,  er  kommt  aus  Theben. 

Verziehe  noch,  ob  er  vielleicht  den  Gang 

dir  spart  und  meinem  Wunsch  entgegenkommt. 

Ein  thebanischer  Herold 

tritt  von  rechts  auf. 

Wer  ist  der  Herr  des  Landes?    Botschaft  bring'  ich 
400  von  Kreon,  der  in  Theben  jetzt  gebietet, 
seitdem  Eteokles  am  siebten  Thore 
der  Kadmosstadt  von  Polyneikes'  Hand 
gefallen  ist.     An  wen  mufs  ich  mich  wenden? 

Theseus. 
Zunächst  hast  du  die  Rede  falsch  begonnen, 
wenn  du  hier  einen  Herren  suchst.     Athen 

406  ist  frei.     Das  Volk  gehorcht  nicht  einem  Manne. 
In  regelmäfs'gem  Wechsel  führen  selber 

die  Bürger  auf  ein  Jahr  das  Regiment, 

407  Reichtum  und  Adel  geben  keinen  Vorzug; 
die  Würdigkeit  entscheidet.     An  die  Spitze 
stellt  das  Vertrau'n  der  Stadt  den  besten  Manu. 
Nun  fahre  fort.     Theseus,  des  Aigeus  Sohn, 
giebt  dir  Bescheid,  des  freien  Volkes  Fürst. 


237 

Herold. 

409  Da  hast  du,  wie  im  Brettspiel,  einen  Zug 
uns  vorgegeben.    Eines  Mannes  Wille 
beherrscht  den  Staat,  den  ich  vertrete,  nicht 
die  Pöbelmasse  noch  ein  Volksbeschwätzer, 
der  nach  dem  eignen  Vorteil  hier  und  dorthin 
dem  Staat  die  Richtung  giebt.     Heut  glückt  es  ihm, 

415  da  jubeln  sie  ihm  zu,  und  führt  er  morgen 
zu  Niederlagen,  weifs  er  sich  der  Strafe 
durch  neues  Lug-  und  Trugwerk  zu  entziehn. 
Und  überhaupt,  unmöglich  wird  ein  Staat 
vom  bildungslosen  Pöbel  gut  verwaltet. 
Die  Mufse,  nicht  der  Drang  des  Augenblickes 

420  erzieht  den  Staatsmann,  und  dem  armen  Bauern, 
selbst  wenn  er  fähig  ist,  läfst  schon  die  Arbeit 
kaum  Zeit,  an  das  gemeine  Wohl  zu  denken. 
Ja,  das  empfindet  jeder  höh're  Sinn 
wie  eine  Pest,  wenn  einen  Schuft  sein  Mundwerk 

425  aus  seinem  Nichts  zu  Macht  und  Würden  hebt. 
Theseus. 
Ein  witz'ger  Herold.     Auch  noch  disputieren 
will  er  dabei.     Nun  gut.     Wenn  du  die  alte 
Streitfrage  vorgenommen  hast,  so  höre. 
Zum  Redezweikampf  hast  du  mich  gefordert. 
Das  schlimmste  für  ein  Volk  ist  Einzelherrschaft. 

430  Da  gilt  vor  allen  Dingen  kein  Gesetz, 
das  über  allen  stünde,  sondern  einer 
besitzt  die  Macht;  sein  Will'  ist  das  Gesetz. 
Wo  bleibt  die  Gleichheit  da?    Ganz  anders,  wo 

434  geschriebnes  Recht  gilt,  arm  und  reich  denselben 

437  Gesetzen  unterliegen,  der  geringe 

dem  grofsen  obsiegt  in  gerechter  Sache. 
Und  jener  Ruf  der  Freiheit  „wer  dem  Staate 
mit  gutem  Rate  dienen  will,  der  rede." 

440  Da  bringt  das  Reden  Ehre,  und  das  Schweigen 


238 

ist  jedem  unbenommen:  das  ist  Gleichheit. 
Und  weiter,  wo  das  Volk  die  Herrschaft  führt, 
da  freuen  alle  sich,  wenn  frischer  Nachwuchs 
die  Bürgerschaft  vermehrt.     Allein  ein  Fürst 

446  sieht  voller  Argwohn  auf  die  hochgemuten 
Jünglinge,  zittert  für  den  Thron  und  schafft 
sie  auf  die  Seite.     Kann  der  Staat  gedeihen, 
wenn  gleichsam  von  dem  Weizenfeld  im  Lenz 
die  Ährenhalme  weggesichelt  werden? 

450  Wozu  ein  Erbe  für  die  Kinder  sammeln, 
wenn's  nur  die  Schätze  des  Tyrannen  mehrt? 
Wozu  die  holden  Töchter  keusch  erziehn, 
ihm  zum  Genufs,  wenn  seine  Lust  sich  regt, 
zur  Schmach  den  Eltern?    Lieber  sei  ich  tot, 

455  als  meine  Kinder  der  Gewalt  zu  opfern. 

So  viel  zur  Abwehr  gegen  dich.    Nun  sage, 
was  du  von  uns  begehrst.    Du  würdest  bitter 
dein  Schwatzen  büfsen,  kämst  du  nicht  im  Namen 
von  Theben.     Seinen  Auftrag  soll  der  Bote 

460  bestellen  und  dann  schleunigst  wieder  gehn. 
In  Zukunft  möge  Kreon  einen  minder 
redsel'gen  Herold  nach  Athen  entsenden. 

Chorführerin. 
0,  wie  sich  die  Gemeinheit  vom  Erfolge 
zum  Übermut  verleiten  läfst.     Sie  freveln, 
als  ob  es  ihnen  niemals  fehlen  könnte. 
Herold. 
465  Jetzt  möcht'  ich  reden.    Über  diese  Sache 
bleib'  du  bei  deiner  Ansicht,  ich  bei  meiner. 

Durch  mich  befiehlt  euch  Thebens  ganzes  Volk, 
Adrastos  nicht  in  euer  Land  zu  lassen; 
ist  er  darin,  vor  Sonnenuntergang 
470  ihn  aus  dem  Land  zu  weisen,  die  Beschwörung 
der  Binden  und  der  Zweige  zu  zerreifsen 


239 


und  abzustebn  von  dem  Versuch  gewaltsam 
die  Leichen  zu  befrei'n.     Denn  Argos  geht 
euch  gar  nichts  an.     Gehorchst  du  meinen  Worten, 
so  wirst  du  deinen  Staat  vor  Sturm  bewahren: 
wo  nicht,  so  kommt  ein  Kriegesungewitter 

475  für  uns,  für  dich  und  deine  Bundsgenossen. 
Sieh'  dich  auch  vor,  auf  meinen  Antrag  nicht 
kurz  angebunden  ein  entrüstet  Nein 
zu  sagen,  pochend  auf  dein  freies  Volk. 
Vertrauensseligkeit  ist  für  den  Staat 
das  allerschlimmste,  sie  erzeugt  die  Kriege, 

480  weil  sie  die  Leidenschaft  gewähren  läfst. 

Denn  wenn  das  Volk  vor  der  Entscheidung  steht, 
ob  Frieden  oder  Krieg,  da  rechnet  niemand 
mit  seinem  eignen  Tode,  sondern  schiebt 
das  Übel  seinem  Nächsten  zu.     Es  sollte 
nur  jeder  bei  der  Abstimmung  den  Tod 
vor  Augen  haben,  Hellas  würde  dann 

48Ö  von  kriegerischem  Wahnwitz  nicht  zerrissen. 
Und  dabei  kennt  doch  jeder  gut  und  böse 
und  findet  von  zwei  vorgelegten  Dingen 
das  bess're  leicht  heraus.     Nur  dafs  der  Frieden 
dem  Menschen  besser  als  der  Krieg  bekommt, 
der  Frieden,  den  die  holden  Musen  lieben, 

490  die  HöUcngeister  hassen,  der  am  Wohlstand 
sich  weidet,  mit  dem  Flor  der  Kinder  scherzt, 
das  schlägt  sich  uns're  Thorheit  aus  dem  Sinn, 
und  Krieg  beginnen  wir  und  vergewaltgen 
den  schwäch'ren  Menschen  und  den  schwäch'ren  Staat. 
Auch  sind  es  Gottesfeinde,  deren  du 

495  dich  annimmst:    ihre  Frevel  haben  ihnen 

den  Tod  gebracht,  und  da  willst  ihre  Leichen 
du  zur  Bestattung  haben?    Kapaneus 
hat  sich  vermessen,  als  er  an  das  Thor 
die  Leiter  legte,  Theben  zu  zerstören, 


240 


ob  es  die  Götter  wollten  oder  nicht. 

Ist  es  nicht  mehr  gerecht,  dafs  blitzgetroflfen 
600  sein  Leichnam  schwelt?    Hat  nicht  die  Erde  sich 

geöffnet  um  des  Sehers  Viergespann 

in  ihren  Schlund  zu  zieh'n,  und  liegen  nicht 

am  Thor  die  andern  mit  gespaltnem  Schädel? 

Wenn  ihr  nicht  bess're  Richter  seid  als  Zeus, 
505  so  leugnet  nicht,  dafs  Gott  die  Frevler  schlug. 
Ein  braver  Mann  liebt  erstens  seine  Kinder, 

danach  die  Eltern  und  das  Vaterland. 

Das  soll  er  mehren,  nicht  ihm  Abbruch  thun. 

Verweg'ner  Führer  strauchelt  leicht.    Die  Ruhe 

des  Steuermanns  bewähret  sich  im  Sturm. 
510  Die  Vorsicht  ist  die  beste  Tapferkeit. 

Chorftihrerin. 

Wenn  Zeus  sie  so  bestrafte,  war's  genug; 

ihr  durftet  sie  so  schnöde  nicht  beschimpfen. 
Adrastos. 

Erbärmlicher  Geselle! 

Theseus. 

Schweig,  Adrastos, 

und  dräng'  dich  nicht  mit  deiner  Rede  vor. 
515  Der  Herold  kam  zu  mir  und  nicht  zu  euch, 

so  ist  es  meine  Sache  zu  erwidern. 

Zuerst  die  Antwort  in  dem  ersten  Punkte. 

Ich  wüfste  nicht,  dafs  Kreon  über  mich 

Herr  sei,  noch  dafs  ihm  seine  Macht  erlaubte, 
520  Athen  zu  zwingen.     Wir  Befehl  empfangen? 

Wahrhaftig,  eher  rinnt  zu  Berg  das  Wasser. 

Ich  bin  es  nicht,  der  diesen  Krieg  entzündet. 

Ganz  unbeteiligt  bin  ich  an  dem  Zuge 

der  Sieben  gegen  Theben:    was  ich  will 

ist  einzig  die  Bestattung  der  Gefall'nen. 

Ich  thu'  auch  Theben  nicht  zu  nah,  ich  dränge 


241 


625  es  nicht  zu  blutigem  Entscheidungskampfe, 
ich  schütze  nur  das  allgemeine  Recht 
von  Hellas:  worin  liegt  ein  Übergriff? 
Argos  hat  euch  beleidigt.     Gut.     Es  liegt 
am  Boden.     Ruhmvoll  habt  ihr  eure  Feinde 

530  besiegt,  zur  Schmach  für  sie.     Jetzt  seid  ihr  quitt. 
Verstattet  jetzt  den  Toten  ihren  Frieden. 

Was  einst  vereinigt  als  ein  Mensch  erschien, 
hat  sich  geschieden  in  die  Elemente. 
Zum  Äther  schwand  die  Seele;  Erde  ward 
der  Leib.     Wir  leben  ja  darin  zur  Miete 

536  auf  Lebenszeit;  dann  fällt  das  Haus  an  sie 
zurück,  die  es  erbaut'  und  unterhielt. 

Meinst  du,  wenn  die  Bestattung  ihr  verhindert, 
so  falle  dieser  Schimpf  allein  auf  Argos? 
0  nein,  ganz  Hellas  wird  davon  betroffen, 
wenn  jemand  den  Erschlagenen  ihr  Recht 

540  verweigert  und  sie  unbestattet  läfst, 

weil  es  den  Mut  der  Tapfern  lähmen  mufs. 

Mich  sollen  eure  grofsen  Worte  schrecken, 
mit  denen  du  mir  drohst,  und  wenn  die  Toten 
bestattet  werden,  wähnt  ihr  euch  bedroht? 
Wovon?    Wird  die  Zerstörung  Thebens  dann 

645  gelingen?     Werden  sie  im  Schofs  der  Erde 
sich  Söhne  zeugen,  die  dereinst  sie  rächen? 

547      Doch  mich  verdriefst  das  eitle  Zungenspiel. 

549  Ihr  Thoren,  lernt  doch  unsre  Menschenohnmacht 
begreifen.     Leben  ist  wie  Ringen.     Heute 
hat  der  die  Oberhand  und  morgen  jener, 
der  dritte  später.     Und  die  Gottheit  schaltet 
"  mit  uns  nach  Laune.     Wem  es  schlecht  ergeht, 
der  huldigt  ihr,  auf  das  sie  ihn  erhebe. 
Der  Glückliche,  besorgt  um  den  Bestand 

656  der  Gunst,  verehrt  sie  auch.     Wer  das  begreift, 
wird  mafsige  Unbill  mit  Geduld  ertragen 

Griech.  Tragödien.     I.  jg 


242 

und  nie  so  stark  die  Billigkeit  verletzen, 
dafs  er  sein  Land  damit  zu  Schaden  bringt. 

Was  soll  nun  werden?     Gebt  die  Leichen  uns 
heraus,  die  wir  der  heil'gen  Pflicht  genug 
660  zu  thun  bereit  sind.     Sonst  ist's  klar,  ich  komme, 
erzwinge  die  Bestattung.     Denn  es  soll 
in  Hellas  nie  die  Rede  gehn,  ein  Satz 
des  alten  Götterrechtes  sei  vor  mich 
gebracht  und  habe  nicht  sein  Recht  gefunden. 

Chorftihrerin. 
Sei  ruhig,  wer  des  Rechtes  Flamme  schützt, 
665  den  schiert  es  wenig  was  die  Menschen  reden. 
Herold. 
Darf  ich  mit  einem  Wort  dir  Antwort  geben? 

Theseus. 
So  viel  du  willst;  du  bist  nicht  eben  kurz. 

Herold. 
Die  Leichen  wird  dir  Theben  nie  gewähren. 

Theseus. 
Vernimm  die  Gegenrede,  so  du  magst. 
Herold. 
670  Gewifs,  ich  höre;  man  mufs  billig  sein. 
Theseus. 
Ich  hole  mir  die  Leichen  zur  Bestattung. 

Herold. 
Da  mufst  du  erst  noch  einen  Kampf  bestehn.     ^ 

Theseus. 
Manchen  ganz  andern  hab'  ich  schon  bestanden. 

Herold. 
Dir  ist  wohl  angeboren  stets  zu  siegen? 
Theseus. 
676  In  guter  Sache;  schlechte  führ'  ich  nicht. 
Herold. 
Ihr  Störenfriede,  du  und  dein  Athen. 


243 

Theseus. 
Viel  Kampf  und  Streit,  viel  Ehre  bei  den  Göttern. 

Herold. 
Kommt  nur,  das  Drachenvolk  streckt  euch  zu  Boden. 

Theseus. 
Vom  Wurme  kommt  kein  frischer  Kampfesmut. 

Herold. 
680  Noch  trotzt  du  jugendkühn,  bald  wirst  du's  fühlen. 

Theseus. 
Du  treibst  mir  mit  dem  Prahlen  nicht  die  Galle 
ins  Blut.     Mach  dich  aus  meinem  Lande  fort 
und  nimm  die  hohlen  Reden  wieder  mit. 
Das  führt  zu  keinem  Ziel. 

Herold  oh. 

Jetzt  heifst's  marschieren, 

586  das  ganze  Fufsvolk  und  die  Wagenkämpfer, 
die  Reiter  auch,  die  ihre  Rosse  kaum 
mit  schäumendem  Gebifs  zurücke  halten. 
Es  geht  nach  Theben  vor  die  sieben  Thore. 

690  Ich  selbst  den  scharfen  Stahl  in  meiner  Faust 

689  und  selbst  als  Friedensbote  ziehe  mit. 

Doch  du  bleibst  hier,  Adrastos,  denn  ich  mag 
mit  deinem  Glücke  nichts  zu  schaffen  haben. 
Ich  folge  meinem  Stern.    Mit  frischem  Heere 
zieh  ich  hinaus  in  einen  frischen  Krieg. 
Auch  wer  für  die  gerechte  Sache  ficht, 
bedarf  noch  eins  dazu,  der  Götter  Beistand. 

695  Trifft  das  zusammen,  ist  der  Sieg  ihm  sicher. 
Der  Tapferkeit  allein  gelingt  es  nicht: 
es  mufs  die  Gunst  der  Götter  mit  ihr  sein. 
Theseus  und  Gefolge  in  kriegerischem  Marsche  nach  rechts  ab. 

16* 


244 

Chor.     Erster  Halbchor. 
Mütter  der  grausam  gemordeten  Helden, 
grausam  geschlag'ne,  wie  schüttert 
mir  das  Herze  bange  Furcht. 
Zweiter  Halbchor. 
600  Dieser  neue  Ruf  der  Angst,  was  soll  er? 
Erster. 
Welchen  Ausgang  nimmt  der  Zug  des  Theseus? 

Zweiter. 
Meinst  du,  ob  zu  Kampf  es  kommt 
oder  gütlichem  Vergleich? 

Erster. 
Möglich,  dafs  es  sich  zum  besten  wendet, 
606  aber  wenn      blut'ge  Kämpfe  Brust  an  Brust 
wieder  am  Asopos  tosen  sollen. 
Weh,  mir  Armen, 
wie  verantwort'  ich's,  die  sie  hervorrief? 

Zweiter. 
Aber  wer  heut'  noch  im  Glücke  sich  brüstet 
kann  dem  Verhängnis  verfallen. 
Das  ist  meine  Zuversicht. 
Erster. 
610  Glaubst  du  an  Gerechtigkeit  der  Götter? 
Zweiter. 
Wer  denn  anders  lenkt  der  Menschen  Schicksal? 

Erster. 
Vieles  bringt  der  Lauf  der  Welt, 
was  von  Gott  nicht  kommen  kann. 

Zweiter. 
Dich  verblendet  nur  der  alte  Schrecken. 
Doch  es  gilt      Recht  um  Recht  und  Blut  um  Blut,. 
615  und  die  Götter  gönnen  nach  dem  Leide 
uns  Erquickung. 
Die  Entscheidung  steht  bei  ihrer  Allmacht. 


245 


Erster. 
Würd'  ich  versetzt  vom  eleusischen  Brunnen 
in  das  Gefild  der  thebanischen  Burg! 
Zweiter. 
620  Flügel  müfste  dir  ein  Gott  verleihen, 
dafs  du  zu  Ismenos'  Flut  sich  schwängst. 
Dann  nur  könntest  du  erfahren, 
wie  den  Freunden  es  ergeht. 
Erster. 
Wie  gelingt  es,  wie  gerät  es? 
Was  erreicht  der  starke  Held 
626  Theseus,  der  Athener. 

Zweiter. 
Beten  wir  wieder,  wie  oft  wir  gebetet  — 
ach  so  verrät  sich  die  Sorge  zuerst. 

Erster. 
Zeus,  du  hast  mit  der  Urmutter  lo 
einst  den  Ahnherrn  unsres  Stamms  erzeugt: 
630  werde  du  um  unsertwillen 

den  Athenern  Schutz  und  Schirm. 

Zweiter. 
Deines  Argos  Stolz  und  Stütze 
führ'  erlösend  aus  der  Schmach, 
rettend  zur  Bestattung. 

Ein  Bote 
in  Shlaventracht  kommt  eilig  von  rechts. 
Ihr  Frauen,  reiche  frohe  Botschaft  bring'  ich 
635  von  meiner  Rettung  (denn  ich  war  gefangen 
in  jener  Schlacht,  die  an  dem  Quell  der  Dirke 
das  Heer  der  sieben  Fürsten  lieferte) 
und  von  des  Theseus  Sieg.    Euch  lange  Fragen 
zu  sparen,  Kapaneus  hab'  ich  gedient, 
640  den  Zeus  mit  seinem  Donnerkeil  zermalmte. 


246 

Chorftihrerin. 
Mein  Freund,  willkommen  ist  mir  deine  Rettung, 
und  was  von  Theseus  du  erzählst,  doch  ganz 
beruhigt  bin  ich  erst,  wenn  auch  das  Heer 
der  Erechthiden  wohlbehalten  ist. 

Bote. 
Das  ist  es,  und  ich  wollte,  dem  Adrastos 

646  und  unsern  Leuten,  die  vom  Inachos 
vor  Theben  zogen,  war'  es  so  ergangen. 

Chorführerin. 
Wie  hat  der  Sohn  des  Aigeus  und  sein  Heer 
dem  Zeus  das  Siegesmal  errichten  können? 
Glücksbote,  mach  uns  glücklich  und  erzähle. 
Bote. 

660  In  hellem  Sonnenschein  lag  das  Gelände 
ganz  klar  vor  meinen  Augen,  und  ich  stand 
neben  Elektras  Thor  auf  einem  Turme, 
der  meinen  Blicken  weite  Rundsicht  bot. 
Da  sah  ich  das  Athenerheer  geteilt 
nach  den  drei  Waffen.     Weithin  dehnte  sich 

656  das  Fufsvolk,  wie  sie  sagten,  bis  hinauf 
an  das  Ismenion.     Am  rechten  Flügel 
der  königliche  Held  mit  seinen  Haufen, 
äem  Aufgebot  des  alten  Kekropslandes. 
Und  links  davon,  nicht  weniger  an  Zahl, 

662  die  Schwerbewaffneten  der  Küstengaue. 

660  Der  Aresquelle  grade  gegenüber 

stand  der  Streitwagen  Schar.     Am  Grab  Amphions 
schlofs  die  Schlachtordnung  mit  der  Reiterei. 
Das  Volk  von  Theben  hatte  vor  den  Mauern 

666  Stellung  genommen,  hinter  sich  die  Leichen, 
des  Kampfes  Preis,  und  Reiterei  und  Wagen 
den  Reitern  und  den  Wagen  gegenüber. 

Nun  drang  der  Heroldsruf  zu  aller  Ohren, 
den  Theseus  ausgehn  liefs :  „  Schweigt  all'  ihr  Krieger, 


247 


und  ihr  Thebanerscharen  schweigt  und  hört. 

670  Wir  kommen  nur  die  Leichen  zur  Bestattung 
zu  holen,  in  Verteidigung  des  Rechtes, 
das  allgemein  in  Hellas  gilt.     Wir  wünschen 
durchaus  kein  Blutvergiefsen."     Kreon  liefs 
den  Zuruf  unerwidert  und  verharrte 
schweigend  in  Kampfbereitschaft.     Da  begannen 

675  die  Lenker  der  Streitwagen  mit  der  Schlacht. 
Sie  fuhren  los  und  öffneten  die  Linie 
so  weit  dem  Gegner,  dafs  die  Kämpferpaare 
einander  nah  genug  zum  Stofse  kämen. 
Ein  erster  Gang;  die  Rosse  fliegen  weiter; 
allein  die  Lenker  führen  sie  mit  kurzer 
Rechtsschwenkung  bald  zu  neuem  Gang  zurück. 

680  Als  das  Gewühl  der  Wagenschlacht  von  Phorbas, 
dem  Führer  der  Athen'schen  Reiterei, 
bemerkt  ward,  ging  er  vor,  und  ebenso 
die  Reiter  der  Thebaner  gegenüber. 
Hier,  wo  ich  alles  selber  sah  (ich  stand 

685  da,  wo  die  Wagen  und  die  Reiter  fochten), 
kann  ich  die  ganze  Fülle  grauser  Bilder 
beschreiben;  aber  womit  fang  ich  an? 
Wie  ries'ge  Wolken  Staubes  himmelhoch 

689  aufstiegen,  wie  die  Scharen  vor-  und  rückwärts 
in  wiederholtem  Anprall  sich  bewegten, 

wie  Achsen  brachen,  Deichseln  splitterten, 

690  im  Riemenwerke  Pferd'  und  Menschen  schleiften, 
und  Blut  in  Strömen  flofs,  hier  einer  stürzte, 
ein  andrer  dort  kopfüber  auf  den  Boden 

von  dem  zerschellten  Wagen  niederflog 
und  tot  am  Wracke  des  Gefährtes  lag. 
695  Kreon  bemerkte,  dafs  der  Sieg  der  Reiter 
uns  zuzufallen  drohte:  drum  ergriff 
er  seinen  Schild  und  ging  zum  Angriff  vor. 
Auch  Theseus  liefs  sich  nichts  durch  Lässigkeit 


248 


entgeh  n;  er  nahm  sofort  die  Waflfen  auf, 
und  auf  der  ganzen  Linie  kam  es  nun 

700  zum  Sturme,  zum  Zusamraenstofs,  zum  Morde 
des  Handgemenges.     Laut  erscholl  der  Ruf: 
„Treibt  die  Athener  mit  dem  Speer  zurück." 
Und  ein  gewalt'ger  Kinger  war  das  Volk 
aus  Drachenblut.     Zum  Weichen  brachten  sie 

705  den  linken  Flügel  unsres  Heeres,  während 
besiegt  von  unserm  rechten  ihrer  floh. 
So  stand  die  Wage  der  Entscheidung  gleich. 
Da  war  es,  wo  der  Feldherr  sich  bewährte: 
er  liefs  sich  nicht  an  dem  errungnen  Vorteil 
genügen,  sondern  sprang  zur  schwachen  Stelle 

710  und  hob  die  Stimme,  dafs  die  Erde  dröhnte. 
„Hier  Stand  gehalten,  Kinder,  brechen  mufs 
sich  hier  der  Ansturm  der  Thebanerspeere, 
sonst  ist  es  um  Athenas  Ruhm  geschehn." 
Das  hob  den  Mut  des  ganzen  Heeres  wieder. 
Und  nun  ergriff  er  selbst  die  wucht'ge  Keule, 

716  die  er  sich  einst  in  Epidauros  brach, 

und  schwang  sie  wirbelnd  hin  und  her.     Da  flogen 
die  Hälse  mit  den  Köpfen  drauf  umher; 
denn  wie  die  Sichel  durch  die  Ähren  fährt, 
so  schnitt  das  Holz  die  Mahd  der  Lederhelme. 
Da  wandten  sie  sich  endlich  denn  zur  Flucht. 
Und  ich  begann  zu  jubeln  und  zu  tanzen 

720  und  klatschte  mit  den  Händen.     Auf  die  Thore 
zog  sich  die  Flucht,  und  drinnen  hob  ein  Schreien 
und  Heulen  an  von  Kindern  und  von  Greisen, 
und  alles  stürzte  zu  den  Tempeln.     Leicht 
war'  es  gewesen  in  die  Stadt  zu  dringen; 
doch  Theseus  machte  halt.     Nicht  die  Erob'rung 
von  Theben,  nur  die  Forderung  der  Leichen 

726  war  seines  Zuges  Zweck,  so  sagt'  er  selbst. 

Ja,  solchen  Feldherrn  soll  ein  Volk  sich  wählen, 


249 


der  in  der  Stunde  der  Entscheidung  Mut 
bewährt  und  doch  den  Übermut  des  Pöbels 
verachtet,  welcher  sich  im  Glück  vermifst 
die  allerhöchsten  Stufen  zu  erklimmen 
730  und  so  verscherzt,  was  er  gewinnen  konnte. 

Chorführerin. 
Jetzt,  wo  ich  diesen  nie  gehofften  Tag 
erlebe,  fühl'  ich  meinen  Schmerz  gelindert 
und  glaub'  an  Gott:  die  Frevler  sind  bestraft. 

Adrastos. 
Zeus,  wozu  spricht  man  von  Vernunft  bei  uns 

736  armsel'gen  Menschen?     Puppen  sind  wir  nur 
in  deiner  Hand,  und  handeln  so,  wie  dir 
es  just  beliebt.     Unwiderstehlich  war 
mein  Argos  und  wir  Führer  eine  Schar 
von  jugendstarken  Männern.     Wir  verschmähten 

740  den  billigen  Vergleich,  zu  dem  sich  uns 
Eteokles  erbot  —  und  sind  erlegen. 
Und  Kadmos'  Volk,  das  damals  siegreich  war, 
mifsbrauchte  wie  ein  reich  geword'ner  Bettler 
sein  Glück  im  Übermut  —  und  da  erlag 
es  auch  in  seines  Übermuts  Verblendung. 

744  Thörichte  Menschen!     Gütlich  mögt  ihr  nicht 

746  nachgeben,  und  ihr  thut's  im  Zwang  der  Lage. 
Und  eure  Staaten,  die  durch  Unterhandlung 
den  Streit  begleichen  könnten,  tragen  lieber 
durch  Blutvergiefsen  ihre  Händel  aus. 

750      Allein  wozu  das?     Gieb  uns  an,  wie  du 

dich  selbst  gerettet  hast;  dann  frag'  ich  weiter. 

Bote. 
In  der  Verwirrung,  als  das  flüchtige  Heer 
einstürmte,  könnt'  ich  durch  das  Thor  entrinnen. 

Adrastos. 
Bringt  ihr  die  Leichen  mit,  den  Preis  des  Kampfes? 


250 

Bote. 
755  Nur  die  der  sieben  Führer  bringen  wir. 
Adrastos. 
Nur  sie?    Wo  blieb  die  ganze  Schar  der  Toten? 

Bote. 
Sie  sind  begraben  im  Kithaironwald. 

Adrastos. 
Und  wer  begrub  sie?  diesseits  oder  jenseits? 

Bote. 
Theseus,  am  Felsen  von  Eleutherai. 
Adrastos. 
760  Wo  liefsest  du  die  unbegrab'nen  Leichen? 
Bote. 
Ganz  nahe;  guter  Will'  ist  rasch  am  Ziel. 

Adrastos. 
Der  Leichenträger  Arbeit  war  wohl  bitter? 

Bote. 
Und  dennoch  that  sie  keine  Sklavenhand. 

Adrastos. 
Wie?     So  viel  Rücksicht  gönnte  Theseus  ihnen? 

Bote. 
Hätt'st  du  gesehn,  wie  er  die  Leichen  pflegte. 
Adrastos. 
765  Er  selber  wusch  das  Blut  von  ihrem  Leibe? 
Bote. 
Und  hat  sie  aufgebahrt  und  ausgekleidet. 

Adrastos. 
Ein  peinlich  ekelhafter  Liebesdienst. 

Bote. 
Vor  Menschlichem  soll  sich  der  Mensch  nicht  ekeln. 

Adrastos. 
Was  gab'  ich  drum,  mit  ihnen  tot  zu  liegen. 
Bote. 
770  Was  hilft  das  Klagen?    Nichts  als  aus  den  Augen 
der  Mütter  neuer  Thränen  Flut  zu  wecken. 


251 


Adrastos. 
Dazu  bedürfen  schwerlich  sie  des  Lehrers. 
Allein  ich  geh'  dem  Leichenzug  entgegen, 
mit  Händegrufs,  mit  Thränen,  Grabgesängen 
die  toten  Kameraden  zu  empfangen, 
die  überlebend  einsam  ich  beweine. 
775  Ein  jeglicher  Verlust  an  Geld  und  Gut 
ist  zu  ersetzen:  nur  ein  Menschenleben, 
einmal  verloren,  ist  unwiderbringlich. 

Ah  nach  rechts  mit  dem  Boten  und  den  Knaben. 

Chor. 

Freud  und  Leid. 

Frische  Fülle  des  Ruhmes 
780  für  Fürst  und  Volk  der  Athener; 

für  uns  der  Anblick 

der  Leichen,  entsetzlich,  und  doch, 

wenn  uns  der  Tag      wider  alles  Hoffen 

erscheinen  soll,       wird  es  uns  ein  Augentrost. 

Denn  was  am  tiefsten  schmerzt, 
785  wir  haben's  sehen  müssen. 

Ehelos 

hätte  die  Ewigkeit, 

die  alte  Mutter  der  Tage, 

uns  lassen  sollen. 

Wozu  denn  Kinder  für  uns? 
790  Wohl  schien  uns  einst      unvermählt  zu  bleiben 

zu  schwere  Pein:       heute  wissen  wir  erst  recht, 

was  wirklich  wehe  thut: 

ein  theures  Kind  zu  missen. 

Ghorführerin. 

Dort  seh'  ich  schon  den  Leichenzug  sich  nah'n. 

Weh'  mir,  o  könnt'  ich  doch  im  Tod  vereint 
795  mit  meinen  Kindern  in  die  Grube  fahren. 


252 

In  feierlichem  ZiLge  loerden  von  Kriegern  sieben  verhüllte  Bahren 
auf  die  Bühne  getragen;  man  kann  bemerken,  dafs  die  beiden 
letzten  leer  sind.  Voran  dem  Zuge  schreitet  Ad  rastos  mit  den 
Knaben;  Theseus  mit  zahlreichem  kriegerischem  Gefolge  homnU 
hinterdrein. 

Adrastos. 
Auf,  ihr  Mütter  dieser  Toten, 
die  dem  Schattenreich  verfielen, 
800  gebt  mit  Thränen,  gebt  mit  Stöhnen 
meinem  Klaggestöhn  Bescheid. 

Chor. 
Weh  mein  Sohn,  mit  welchem  Rufe 
mufs  die  Mutter  dich  begrüfsen: 
du  im  Sarge  dort, 
sei  gegrtifst. 

Adrastos. 
805  Wehe,  weh! 

Chor. 
Wehe  mir,  mich  traf  der  Schlag. 

Adrastos. 
0,  o! 

Chor. 
Unsre  Söhne  frafs  das  Schwert. 

Adrastos. 
Ach,  wir  litten  — 

Chor. 
Litten  Leiden  über's  Mafs. 

Adrastos. 
Schaust  du  auch  auf  meinen  Jammer, 
Argos,  meine  Stadt? 

Chor. 
Ja,  sie  schaut  ihn,  schaut  auch  uns 
BIO  kinderlos,  verzweifelnd. 

Die    Träger    sind  jetzt    mitten    auf  die    Bühne   gekommen;    sie 
setzen  sie   auf  den  Befehl  des  Adrastos  vor  den  Müttern  nieder. 


253 

Adrastos. 
Führt  heran  die  blut'gen  Leichen, 
die  der  Siegeskampf  befreite; 
dafs  sie  fielen,  wie  sie  fielen, 
schmachvoll  war's  und  unverdient. 

Chor. 
Gebt  mir  Raum,  mit  meinen  Armen 
815  ihn  zu  fassen,  ihn  zu  drücken 
an  die  Mutterbrust, 
meinen  Sohn. 
Die  Mütter  wollen  sich  auf  die  Bahren  werfen,    Adrastos  winkt 
ab,  die  Mä^de  halten  sie  zurück. 

Adrastos. 
Nein,  genug. 

Chor. 
Leides  trag'  ich  wohl  genug. 

Adrastos. 
0,  o! 

Chor. 
Rufst  du  nicht  der  Mutter  so? 
Adrastos. 
820  Hört  mich  stöhnen. 

Chor. 
Stöhnest  unser  beider  Leid. 

Adrastos. 
Lag'  ich  doch  von  Thebens  Kriegern 
hingestreckt  im  Staub. 

Chor. 
Hätte  nie  ein  Gattenarm 
meinen  Leib  umfangen. 

Adrastos. 
Schaut  auf  dieses  Meer  von  Jammer, 
825  Mütter,  schaut  und  klagt. 


254 


Chor. 
Ach,  schon  längst  trägt  meine  Wange 
blut'ge  Furchen,  liegt  die  Asche 
auf  dem  grauen  Haupt. 

Adrastos. 
Wehe  wehe,  wehe  mir, 
dafs  die  Erde  mich  verschlänge, 
830  dafs  die  Stürme  mich  entrafften, 
dafs  der  Donnerkeil  des  Himmels 
meinen  Scheitel  träfe. 

Chor. 
Deiner  Töchter  Hochzeitsfeste 
wurden  dir  zum  Fluch,  zum  Fluche 
ward  dir  Phoibos'  Spruch. 
Doch  zu  uns 
835  kam  von  Theben  herüber  der  Dämon, 
der  scheufsliche  Kindesmörder, 
der  Dämon  des  Oedipus. 

Theseus 

tritt  hervor y  winkte  dafs  alles  schweige,  der  Chor  zurück, 
Adrastos  vortrete. 

Schon  als  du  vor  dem  Heer  die  Totenklage 
anstimmtest,  wollt'  ich  dir  die  Frage  stellen, 

840  Adrastos,  aber  hielt  sie  noch  zurück; 

jetzt  bitt'  ich  um  Bescheid:  wo  stammen  diese 
so  unvergleichlich  tapfern  Helden  her? 
Darüber  mufst  du  meine  jungen  Krieger 
aus  deiner  Kenntnis  weislich  unterrichten. 
Sie  selber  sah'n  die  unerhörte  Kühnheit, 

846  die  Theben  zu  erstürmen  sich  vermafs. 
Nur  mit  der  lächerlichen  Frage  will 
ich  dich  verschonen,  welchem  Gegner  jeder 
im  Kampfe  gegenüberstand,  und  wie 
der  Feindeslanze  Todesstofs  ihn  traf. 


255 

Es  schwindeln  beide,  Hörer  und  Erzähler, 
850  wenn  einer  kommt  und  will  im  Drang  der  Schlacht, 
wo  vor  den  Augen  die  Geschosse  schwirren, 
genau  gesehen  haben,  wie  die  andern 
fochten  und  fielen.     Danach  frag  ich  keinen 
und  glaube  keinem,  der  sich  unterfängt 

865  davon  zu  reden.     Angesichts  des  Feindes 
das  Nötigste  zu  sehn  ist  schwer  genug. 

Adrastos. 
Willkommnen  Auftrag  giebst  du  mir.     Ich  hatte 
es  selbst  gewünscht,  am  Grabe  meiner  Freunde 
der  Wahrheit  und  Gerechtigkeit  gemäfs 
zu  ihrem  Ruhm  zu  sprechen.     Höre  denn. 
860      Hier  dieser,  den  der  Blitz  des  Zeus  durchbohrte, 
ist  Kapaneus.     Er  war  ein  reicher  Mann, 
doch  pocht'  er  nie  auf  seine  Schätze,  blieb 
bescheiden  wie  der  Ärmste;  niemals  sah 
man  ihn  an  den  verschwenderischen  Tafeln, 

866  wo  Mäfsigkeit  verachtet  wird.     „Der  Adel," 
pflegt'  er  zu  sagen,  „zeigt  sich  nicht  im  Prassen; 
auch  schlichte  Kost  macht  satt."    Ein  echter  Freund, 
nicht  anders  ins  Gesicht  als  hinterm  Rücken, 

und  die  sind  selten.     Ohne  Falsch  das  Herz, 
870  leutselig  das  Gesicht;  kein  herrisch  Wesen 
zu  Bürgern  und  Gesinde.        Hier  der  zweite, 
Eteoklos,  in  andrer  Art  vortrefflich, 
ein  junger  Mann  von  kärglichem  Vermögen, 
doch  stets  in  Ämtern  und  in  Ehrenstellen 
876  des  Staates.     Seine  Freunde  haben  oft 

mit  Geld  ihn  unterstützt;  doch  wenn  er's  nahm, 
so  gab  er  nie  die  Freiheit  seines  Willens 
dem  Gold  gefangen.     Seine  Feindschaft  galt 
den  falschen  Führern,  nicht  dem  Volk.     Was  kann 
denn  auch  das  Volk  dafür,  dafs  man  es  schelte, 
880  weil  es  von  schlechtem  Rat  mifsleitet  wird? 


256 


Der  Dritte,  wieder  von  besondrer  Art, 
Hippomedon,  entschied  sich  schon  als  Knabe 
nicht  für  ein  Leben,  das  mit  milden  Sitten 
beschaulich  geistige  Genüsse  pflegt. 

885  Er  floh  die  Stadt  und  stählte  seinen  Leib 
mit  Reiten,  Jagen,  Schiefsen  für  den  Tag, 
wo  ihn  das  Vaterland  bedürfen  würde. 
Ein  andrer  war  der  Atalante  Sohn, 
Parthenopaios,  fast  ein  Knabe  noch, 

890  und  strahlend  schönen  Leibes.     In  Arkadien 
hatte  die  Jägerin  den  Sohn  geboren, 
allein  er  wuchs  in  Argos  auf,  und  hier 
hielt  er  sich,  wie  dem  schutzverwandten  Fremden 
wohl  ansteht,  so,  dafs  er  kein  Ärgernis 
noch  Anstofs  gab.     Rechthaberei  und  Zank 

895  vermied  er,  die  an  Fremden  unerträglich 
und  auch  an  Bürgern  sind.     Darauf  gewählt 
zum  Feldherrn  hat  für  Argos  er  gefochten, 
als  wär's  sein  Vaterland,  froh  seiner  Siege, 
mittrauernd  dem  Verluste.     Seine  Schönheit, 
von  Schmeichlern  und  Verführern  stets  umworben, 

900  hat  sich  vor  jedem  Fehltritt  streng  gehütet. 
Tydeus  lob'  ich  mit  einem  Wort  am  besten. 
Er  war  kein  Held  in  Worten,  doch  in  Waffen 
zu  disputieren  wufst'  er  meisterlich 

903  und  ungeübte  Gegner  stach  er  ab. 

909      Nach  dieser  Schilderung  wirst  du  dich,  Theseus, 
nicht  wundern,  dafs  sie  bei  dem  Sturm  zu  sterben 
den  Mut  besafsen.     Ehrgefühl  erwächst 
aus  guter  Zucht.    Und  wer  den  Mannesmut 
durch  Übung  sich  erwarb,  verschmäht  aus  Scham 
die  feige  Flucht.     Die  Tugend  läfst  sich  lernen, 
so  wahr  das  Kind  zu  hören  und  zu  sagen 

915  gelehrt  wird,  was  es  nicht  von  selbst  verstand. 


257 

Und  was  man  kann,  das  haftet  bis  zum  Alter. 
Drum  sorgt,  dafs  ihr  die  Kinder  gut  erzieht. 
Chor. 
Mein  Sohn. 

Ach,  ich  Arme,  dich  hab'  ich 
unter  dem  Herzen  getragen 
und  mit  Schmerzen  geboren 
und  mit  Sorgen  erzogen. 
920  Und  nun 

hat  der  Hades  * 

alle  die  Frucht  meiner  Mühen. 
Einsam, 

ohne  Stütze  steh'  ich  im  Alter, 
ach,  und  war 
eines  Sohnes  Mutter. 
Theseus. 
925  Und  für  Amphiaraos'  Würdigkeit 

zeugt  offenkundig  schon  der  Götter  Urteil. 
Sie  haben  ihn  samt  seinem  Viergespann 
hinunter  in  der  Erde  Schofs  entrückt. 
Mir  aber  steht  ein  Lob  des  Polyneikes 
930  aus  lautrem  Munde  zu.    Mein  Gastfreund  war  er, 
eh'  er  nach  Argos  aus  der  Vaterstadt 
freiwillig  auszuwandern  sich  entschlofs. 

Und  jetzt  —  du  weifst,  was  ich  mit  ihnen  thue? 
Adrastos. 
Ich  weifs  nur  dies:  was  du  verlangst,  geschieht. 

Theseus. 
Den  Kapaneus,  den  Zeus  gezeichnet  hat  — 
Adrastos. 
935  Verbrennst  du  einzeln;  er  gehört  den  Göttern. 
Theseus. 
So  ist's,  die  andern  all'  an  einem  Orte. 

Adrastos. 
Wo  also  findet  er  sein  Sondergrab? 

Griech.  Tragödien.    I.  17 


258 

Theseus. 
Hier  vor  dem  Tempel  schiebt'  ich  ihm  die  Scheiter. 

Adrastos. 
Das  bleibt  den  Dienerhänden  überlassen. 

Theseus. 
940  Ja,  doch  die  andern  uns.     Nehmt  auf  die  Bahren. 

Adrastos. 
Ihr  armen  Mütter,  kommt  zu  euren  Söhnen. 

Theseus. 
Halt  ein,  das  ist  nicht  angebracht,  Adrastos. 

Adrastos. 
Wie?     Soll  die  Mutter  nicht  ihr  Kind  berühren? 

Theseus. 
In  der  Entstellung?    Nein,  sie  trügen's  nicht. 

Adrastos. 
946  Ein  schaudervoller  Anblick,  Blut  und  Wunden. 

Theseus. 
Wozu  denn  ihre  Schmerzen  noch  vermehren? 

Adrastos. 
Ich  gebe  nach.     Ihr  müfst  euch  schon  gedulden, 
denn  Theseus  rät  uns  gut.     Wir  übergeben 
den  Flammen  ihren  Leib,  dann  möget  ihr 
die  Aschenurnen  an  den  Busen  drücken. 
960      0  Menschenthorheit,  wozu  schleift  ihr  Schwerter 
und  schlagt  euch  blut'ge  Wunden?    Haltet  inne. 
Fort  mit  dem  Streit.     Dann  mögen  eure  Staaten 
neben  einander  friedlich  sich  behaupten. 
Das  Leben  beut  so  wenig:  sollen  wir 
durch  Streit  und  Hader  selbst  es  uns  vergällen? 

Der  Leicheiizug  setzt  sidi  iiacJi  der  Seite,    von   der  er  hani,    in 
Betöegung ;    edle  folgen   außer  dem  Chor;    Pause  bis  die  Bühne 
leer  ist. 


259 
Chor. 


95Ö  Mutterglück  dahin, 

Mutterstolz  dahin, 

der  Platz  verloren 

unter  den  glücklichen  Müttern  von  Argos. 

Und  wie  wird  Artemis  wieder 

der  Greisin  ein  Knäblein  bescheren. 

So  ist  mir  das  Leben 
960  zwecklos  und  öde  geworden. 

Der  Wolke  gleich'  ich, 

die  über  den  Himmel  unstet 

die  Stürme  jagen. 

Sieben  Mütter  wir, 

sieben  Söhne  sie; 

sie  waren  unser, 
965  unser  die  herrlichsten  Helden  von  Argos. 

Jetzt  ohne  die  Stütze  des  Alters, 

jetzt  ohne  die  Freude  der  Mutter, 

dem  Reiche  des  Lichtes 

noch  dem  des  Todes  gehör'  ich. 

Nur  zwischen  beiden 

führ'  ich  in  Jammer  und  Öde 
970  ein  Dämmerleben. 

Geblieben  sind  mir  die  Zähren. 
In  allen  Winkeln  des  Hauses 
Andenken  an  ihn. 
Des  Hauptes  Schur, 
da  ist  mein  Kranz; 
ein  Grabgesang 
976  mein  Morgenpsalm; 
die  Himmlischen  wenden 
von  meiner  Trauer 


ihr  heiteres  Auge. 


17' 


260 

Allmorgendlich  heb'  ich 
von  thränenbetauten  Kissen 
zum  Tagewerke  der  Klage 
das  Haupt  empor. 

Chorführer. 
Seht  da,  schon  ist  für  Kapaneus  der  Bau 
980  errichtet,  seinem  gottverfallnen  Leibe 

das  Grab  bereitet,  stehn  die  Scheiterhaufen, 
die  Theseus  für  die  andern  Leichen  weiht, 
jenseits  der  heil'gen  Grenzen.     Aber  dort, 
auf  jenem  Felsen,  der  das  Tempeldach 
hoch  überragt,  Euadne,  Iphis'  Tochter, 
986  des  Blitzgetroff'nen  fürstliche  Gemahlin. 
Wenn  sie  zu  diesem  Gang  sich  aufgemacht, 
was  sucht  sie  dort  an  jähem  Felsenrand? 
Mittlerweile  war  der  Scheiterhaufen,  in  dem  die  Leiche  des  Ka- 
paneus   verborgen  ist,    rechts    neben  dem   Tempel,    unterhalb    des 
iAerragenden  Felsens,  errichtet  und  angezündet.     Auf  dem  Fdsen. 
erscheint  in  bräutlidier  Festtracht 

Euadne. 
990  Was  wollte  der  Glanz  und  der  Schimmer 

der  güldenen  Sonne,  was  wollte 

der  Mond,  den  flirrende  Lichter 

am  Zelte  des  Himmels  umtanzten, 
996  an  jenem  Tage,  da  mir 

das  Volk  mit  Jubelgesängen 

der  glücklichen  Braut  das  Geleit  gab 

zum  Haus  des  gefeierten  Gatten, 

des  erzgeschildeten  Kapaneus. 
1000  Ihn  such'  ich  heute.     Mit  flüchtigem  Fufs 

entwich  ich,  entstürmt'  ich  von  Hause. 

Wo  steht  sein  Scheiterhaufen? 

Ich  mufs  zu  ihm, 

zu  ihm  in  das  Flammengrab. 
1005  Ich  mufs  von  der  Qual  mich  erlösen, 


261 


abwerfen  die  Bürde  des  Daseins. 
Der  schönste  Tod,  den  Geliebten, 
so  Gott  ihn  uns  nimmt, 
im  Tod  begleiten. 

Chorführerin. 
Siehst  du  nicht  unter  dir  das  Holzgerüst, 
dem  Donnerer  geweiht?    Darinnen  liegt 
1010  dein  Gatte,  den  der  lohe  Blitz  bezwang. 

Euadne. 

Ich  seh'  es.     So  steh'  ich  am  Ziele. 

Es  fand  mit  glücklichem  Irrgang 

mein  Fufg  die  Stätte,  den  Felsen, 
1016  von  wo  den  Kranz  ich  erreiche, 

trotz  allem  die  Siegerin. 

Ich  spring'  in  die  Flammen,  im  Feuer 

umfang'  ich  den  Leib  des  Geliebten 
1020  und  schmiege  Busen  an  Busen. 

Hinab  in  die  Hallen  Persephones 

begleit'  ich  dich,  Lieber,  hinab  in  die  Gruft. 

Mein  Herz  hat  die  Treue  gehalten. 

Da  steht  dein  Scheiterhaufen, 
1025  das  Hochzeitsbett 

der  Treue,  das  Flammengrab. 

0  sei  dereinst  unsern  Kindern 

solch  Glück  in  der  Ehe  beschieden. 

Auf  ewig  eint  sich  dem  Gatten 

sein  mutiges  Weib 
1030  in  echter  Liebe. 

Chorführerin. 
Hier  kommt  dein  greiser  Vater  Iphis  selbst. 
Noch  ahnt  er  nicht,  was  ihm  zu  hören  hier 
bevorsteht,  was  ihn  tief  erschüttern  wird. 


262 

Iphis, 

ein  hochbetagter  Greis,  kommt  begleitet  von  einigen  Dienern  von 

rechts  auf  den  Chor  zu  ohne  Euadne  zn  bemerken. 

Ihr  armen  Frau'n,  ich  selbst  ein  armer  Greis, 
1035  den  um  sein  Kinderpaar  die  Doppelsorge 
hierhertrieb.     Meinen  Sohn  Eteoklos, 
der  unter  der  Thebaner  Schwerten  fiel, 
komm  ich  zu  holen,'  und  die  Tochter  such'  ich, 
die  aus  dem  Haus  entwich,  in  heifsem  Drange, 
1040  mit  ihrem  Gatten  Kapaneus  zu  sterben. 
So  lange  hielten  wir  sie  unter  Aufsicht; 
da  kam  dies  Unglück,  ich  vermochte  nicht 
mehr  Acht  zu  geben,  so  entfloh  sie  uns. 
Ich  dachte  sie  am  eh'sten  hier  zu  finden; 
gebt  Auskunft,  wenn  ihr  sie  gesehen  habt. 

Euadne. 
1045  Was  fragst  du  jene,  Vater?    Sieh,  hier  bin  ich. 
Schon  schweb'  ich  über  meines  Gatten  Grab, 
fast  wie  ein  Vogel,  aber  schweren  Fluges. 

Iphis. 
Ha  welche  Laune,  welch'  ein  Aufzug,  Tochter? 
Was  trieb  von  Hause  dich,  was  suchst  du  hier? 

Euadne. 
1050  Du  würdest  über  meinen  Plan  erzürnen; 
ich  möchte  nicht,  dafs  du  davon  erführest. 

Iphis. 
Ich  mufs;  der  Vater  hat  ein  Recht  darauf. 

Euadne. 
Du  dürftest  kaum  ein  billig  Urteil  fällen. 

Iphis. 
Weswegen  seh'  ich  dich  in  diesem  Schmucke? 

Euadne. 
1056  In  ganz  besondrer  Absicht  trag'  ich  ihn. 


263 

Iphis. 
Der  Trauer  Zeichen  hast  du  abgelegt. 

Euadne. 
Ja  wohl.    Ich  trage  neuen  Lebens  Kleid. 

Iphis. 
Und  zeigst  dich  so  am  Grabe  deines  Gatten? 

Euadne. 
Ja  wohl,  da  steh'  ich,  stolz  als  Siegerin. 

Iphis. 
1060  Als  Siegerin?    Wen  hast  du  überwunden? 

Euadne« 
Das  ganze  weibliche  Geschlecht,  mein  Vater. 

Iphis. 
In  klugem  Haushalt?    In  kunstreichen  Werken? 

Euadne. 
In  Treue.    Ich  teile  meines  Gatten  Grab. 

Iphis. 
Halt  ein,  durchsichtig  ist  das  Rätselwort. 

Euadne. 
1065  Hier  in  die  Glut  spring'  ich  zu  Kapaneus. 

Iphis. 
Mein  Kind,  das  sagt  man  nicht  vor  vielen  Zeugen. 

Euadne. 
Ganz  Argos  sollt'  es  hören,  das  begehr'  ich. 

Iphis. 
Du  darfst  die  That  nicht  thun,  ich  leid'  es  nicht. 

Euadne. 
Gleichviel.     Dein  Retterarm  erreicht  mich  nicht. 
1070  Schon  sink'  ich  hin.     Dir  thut  es  weh,  mein  Vater, 
uns  eint  der  Flammentod:  uns  ist  es  süfs. 

Sie  springt  in  die  Flammen. 


264 

Chor. 
Euadne, 

das  Ungeheure,  du  bast's  vollbracht. 

Iphis. 
Es  ist  um  mich  geschehn,  ihr  Frau'n  von  Argos. 

Chor. 
Du  armer  Vater, 
allkühnsten  Weibes 
Verzweiflungsthat 
1076  mufst  du  mit  eignen  Augen  schauen. 

Iphis. 
Mein  Unglück  findet  seinesgleichen  nicht. 

Chor. 

Unsel'ger  Greis, 
auch  du  bekamst  ein  Teil 
am  Fluch  des  Oedipus, 
wie  Argos'  ganzes  Volk, 
wie,  ach,  wir  alle. 

Iphis. 

1080  Ach,  warum  ist  dem  Menschen  es  versagt, 
zweimal  Jüngling  zu  sein,  zweimal  zu  altern? 
Wir  können  doch  aus  reiferer  Erkenntnis 
selbst  ein  Gesetz  verbessern;  nur  das  Leben 
bleibt,  wie  es  einmal  ward.    Wie  gerne  würde 

1085  man  seine  Fehler  in  dem  zweiten  Leben 
vermeiden,  wenn  es  uns  gestattet  wäre 
noch  einmal  jung  zu  sein.     Ich  sah  um  mich 
die  andern  Vater  werden,  da  begehrt'  ich 
auch  einen  Sohn,  und  das  ward  mein  Verhängnis. 
Hätt'  ich  im  ersten  Leben  schon  erfahren, 

1090  wie  schwer  der  Kinder  Tod  den  Vater  trifft, 
ich  stünde  heute  nicht  so  tief  gebeugt, 
wo  einen  Sohn  ich,  einen  Heldensohn, 
gewonnen  hatte,  nun  verloren  habe. 


265 


Genug  davon.     Was  soll  ich  nun  beginnen? 

1095  Nach  Hause  gehn?    Wo  Öde  nur  und  Mangel 
des  altersschwachen,  hilfsbedürft'gen  wartet? 
Geh'  ich  zu  Kapaneus?     So  lang'  Euadne 
noch  lebte,  war's  mein  liebster  Gang.     Doch  jetzt 
ist  sie  nicht  mehr,  die  immer  einen  Kufs 

1100  auf  meine  Lippen  drückte,  die  mein  Haupt 
in  ihre  Arme  nahm.     Ein  alter  Vater 
hat  an  der  Tochter  seine  wärmste  Freude. 
Ein  Sohn  ist  etwas  Höh'res,  Stolzeres, 
doch  er  versteht  es  nicht,  so  hold  zu  schmeicheln. 
Hinweg  mit  mir,  schafft  mich  nach  Haus  zurück, 

1105  geduckt  in  finstre  Winkel  will  ich  hungern, 
bis  meines  alten  Leibes  Kraft  erlischt. 
Wozu  noch  meines  Sohnes  Knochen  sammeln? 
Es  ekelt  mich,  noch  weiter  mit  der  Plage 
des  Alters  mich  zu  schleppen.     Ekelhaft 
die  Lebensgier.    Da  suchen  sie  dem  Tod 

1110  mit  Kräutern,  Tränken,  künstlichen  Rezepten 
ein  Weilchen  abzudingen.     Fort  mit  ihnen, 
sobald  sie  der  Gesellschaft  nutzlos  sind, 
ins  Grab  mit  ihnen,  Platz  gemacht  der  Jugend. 

Die  Diener  führen  ihn  nach  rechts  ah. 

Chorführerin. 

Weh  uns,  da  bringt  man  schon  die  Aschenreste 
1116  von  unsern  Söhnen,  Mägde,  haltet  uns. 

Der  greise  Leib  versagt,  die  Kniee  sinken 

in  solchem  Schmerz. 

Es  ist  zu  viel.    Ich  habe  manches  Jahr 

gelebt,  und  mancher  Harm  hat  mich  verwundet. 
1120  Die  gröfste  Marter,  die  man  denken  kann, 

ist  für  ein  Menschenherz  die  eignen  Kinder 

so  zu  begrüfsen. 


266 

Die  Knaben,  Asckenumen  tragend,  kommen  von  Theseua  und 

Ädrastoa    begleitet;    der  Chor   sondert  sich  wieder  in  Mütter  und 

Dienerinnen;    die  Knaben  treten  den  Müttern  gegenüber ^  die  von 

den  Mägden  gestützt  werden.   Es  singt  ein  Knabe  und  eine  Mutter 

für  alle. 

Knabe. 
Mutter  sieh, 

sieh  mich  Vaters  Asche  tragen. 
Aus  der  Glut      las  ich  sie. 
Sieh,  es  fafst  ein  kleiner  Krug, 
1126  klein,  doch  ach  so  schwer  an  Schmerzen, 
meinen  ganzen  Schatz. 

Mutter. 
Weh,  mein  Kind,      weh,  was  bringst  du 
für  des  Toten  liebe  Mutter? 
Thränen  und  ein  ärmlich 
1130  Häuflein  Staub      statt  des  Leibes, 
der  der  Stolz  von  Argos  war, 
ach,  in  Kraft  und  Schöne. 

Knabe. 
Kinderlos! 

Ich  bin  vaterlos,  bin  Waise, 
soll  fortan      kummervoll 
leben  in  dem  öden  Hause. 
Ach,  die  Hand  des  treuen  Vaters 
stützt  den  Sohn  nicht  mehr. 

Mutter. 
1136  Weh,  wohin      Qual  und  Wonne, 
die  gebärend,  nährend,  hegend 
ich  für  ihn  getragen. 
Manche  Nacht      bangen  Wachens, 
zärtlich  Wang'  an  Wang'  geschmiegt, 
ach,  wohin  das  alles. 


267 


Knabe. 
Ab  und  tot.     Weh  mein  Vater. 
Ab  und  tot  sie  alle,  fort 
1140  in  den  Äther. 

Feuer  brannte  sie  zu  Asche. 
In  die  Luft      weggeweht 
schwanden  sie  zum  Hades. 

Mutter. 
Vater,  hörst  du  deines  Sohnes  Klage? 
zieht  er  einst  für  dich  das  Racheschwert? 
1145  Dafs  er's  thäte,  lieber  Sohn. 

Knabe. 
Rache  kommt      für  den  Vater 
und  Vergeltung,  will  es  Gott. 
Dieses  Unheil 

darf  noch  keine  Ruhe  finden. 
Leids  genug,  Harms  genug 
liegt  auf  unsrer  Seele. 

Mutter. 
1160  Ja,  du  führst  dereinst  das  Heer  von  Argos 
erzgepanzert  an  Asopos'  Flut, 
rächest  deines  Vaters  Fall. 

Knabe. 
Vater,  mich  dünket,  ich  sehe  dich  noch. 

Mutter. 
Wie  er  den  Kufs  auf  die  Wange  dir  drückt? 
Knabe, 
iiöö  Aber  die  Stimme,  die  tröstet'  und  warnte, 
ist  in  die  Lüfte  verklungen. 
Mutter. 
Beiden  hinterliefs  er  Jammer, 
mir  der  Mutter,  du  vergifst 
nie  des  Sohnes  Schmerz. 


268 

Knabe. 
Ach,  wie  sie  drückt,  diese  tötliche  Last. 

Mutter. 
1160  Lafs  mich  umarmen  den  fühliosen  Staub. 

Knabe. 
Fürchterlich  Wort,  das  die  Zähren  mir  weckt, 
tief  mir  das  Herze  verwundet. 

Mutter. 
Ach,  der  liebsten  Mutter  liebste 
Augenweide,  dich  mein  Sohn, 
soll  ich  nimmer  schaun? 

These  US. 

1165  Schaut  her,  Adrastos  und  ihr  Frau'n  von  Argos, 
die  Knaben  tragen  ihrer  Väter  Asche. 
Ich  habe  die  Bestattung  dieser  Helden 
vollzogen,  und  wir  machen  ihre  Reste 
den  Kindern  zum  Geschenk,  mein  Volk  und  ich. 

1170  Ihr  seht,  was  wir  für  euch  gethan.     Vergefst 

es  nicht  und  bleibt  uns  dankbar.    Auch  den  Knaben 

legt  diese  Mahnung  an  das  Herz,  in  Ehren 

Athen  zu  halten,  dafs  die  fernsten  Enkel 

daran  gedenken,  was  ihr  uns  verdankt. 

Nun  mögt  ihr  gehn.     Wie  wir  euch  aufgenommen, 

1175  weifs  Zeus,  und  wissen  alle  Götter  droben. 

Adrastos. 
Wir  wissen  wohl,  was  du  für  unser  Argos 
gethan  hast,  Theseus,  hilfreich  in  der  Stunde 
der  Not.     Wir  werden  ewig  dankbar  sein. 
Denn  es  ist  Pflicht,  die  Wohlthat  zu  erwidern. 

Theseus. 
1180  Habt  ihr  noch  weiter  irgend  welche  Wünsche? 


269 

Adrastos 
Nein;  lebe  wohl,  und  wie  ihr  es  verdient, 
sei  Segen  dir  und  deiner  Stadt  beschieden. 

Theseus. 
Ich  danke  für  den  Wunsch,  und  möge  Segen 
euch  ebenfalls  beschieden  sein.     Lebt  wohl. 

Während   sie   sich   zum  Abgang  anschicken,   erscheint  in  der  Luft 

Athena. 
Vernimm  erst,  Theseus,  was  Athena  dir 
zu  thun  gebeut,  zu  Frommen  deines  Volkes. 

1185  Du  darfst  nicht  so  leichthin  die  Aschenkrüge 
zur  Heimführung  den  Knaben  überlassen. 
Erst  nimm  für  die  Wohlthaten,  die  ihr  Argos 
erwiesen  habt,  von  ihnen  einen  Eid. 
Adrastos  mufs  ihn  leisten;  denn  als  König 

1190  ist  er  befugt,  für  Argos  ganzes  Volk 
zu  schwören.    Dahin  laute  dieser  Eid, 
dafs  Argos  nie  die  Grenzen  Attikas 
als  Feind  betreten  solle,  jedem  andern 
bei  solchem  Unterfangen  Widerstand 
in  Waffen  leiste.     Sollten  sie  jedoch 
eidbrüchig  wider  euch  zu  Felde  ziehn, 

1195  so  fair  auf  ihren  Staat  des  Himmels  Fluch. 
Das  lafs  ihn  schwören.     Ferner  mufs  das  Blut 
der  Opfertiere  bei  dem  Eidesopfer 
in  einen  ganz  bestimmten  Kessel  rinnen. 
Den  weis'  ich  dir.     Als  Herakles  von  Troias 
Zerstörung  sich  zu  andern  Werken  wandte, 
hat  er  ein  Beutestück  dir  übergeben, 

1200  dafs  du  es  an  den  Herd  von  Delphi  weihtest. 
Ein  eh'rner  Dreifufs  ist's;  du  hast  ihn  noch 
in  deinem  Hause.    Über  diesem  Kessel 
sollst  du  die  Schafe  schlachten  und  den  Eid 
auf  seine  Wände  schreiben.    Übergiebst 


270 

du  dann  Apollon  dieses  "Weihgeschenk, 
so  wird  es  im  Gedächtnis  der  Hellenen 
den  Eid  erhalten  und  bekräftigen. 

1205  Das  Messer,  das  der  Schafe  Gurgeln  schneidet, 
um  Blut  zu  zapfen  für  das  Bundesopfer, 
sollst  du  vergraben  an  der  Feuerstätte 
der  sieben  Scheiterhaufen.     Denn  wenn  Argos 
wider  Athen  zu  ziehen  wagt,  so  scheucht 
sein  Anblick  sie  in  wilde  Flucht  zurück. 

1210  Ist  das  geschehn,  so  darfst  du  sie  entlassen. 

Und  gieb  das  Feld  am  Kreuzweg  nach  dem  Isthmos, 
wo  Feuer  ihren  Leib  geheiligt  hat, 
als  heil'ges  Land  dem  Götterpaare  hin. 

So  viel  für  dich.     Und  nun  zu  euch,    ihr  Knaben 
von  Argos.     Die  Eroberung  von  Theben 

1215  wird  euch,  sobald  ihr  mannbar  seid,  gelingen. 
Du  wirst,  Aigialeus,  die  Führung  haben, 
an  deines  Vaters  Statt,  und  Tydeus'  Sohn 
Diomedes  stöfst  aus  Kalj^don  zu  euch. 
Doch  wartet  nur,  bis  euch  der  erste  Flaum 
das  Kinn  beschattet,  dann  beginnt  sofort 

1220  ein  frisches  Heer  in  Argos  auszurüsten 
und  Thebens  sieben  Thore  zu  berennen. 
Sie  sollen  schwer  empfinden,  dafs  die  Brut 
der  Löwen  ausgewachsen,  die  Zerstörer 
der  Stadt  erstanden  sind.     So   will's  das  Schicksal. 
Die  Epigonen  wird  die  Nachwelt  euch 

1225  in  der  Hellenen  Heldenliedern  heifsen: 
das  ist  der  Lohn  der  gottgefäll'gen  Fahrt. 

Sie  verschwhidet, 

Theseus. 
Athena,  meine  Herrin,  ich  gehorche 
der  Mahnung,  die  von  einem  falschen  Schritte 
zurück  mich  hält,  und  will  sogleich  Adrastos 


271 


1230  den  Eid  abnehmen.    Halte  du  mich  nur 
auf  rechter  Bahn:  so  lang  du  gnädig  bist, 
steht  festgegründet  unsres  Volkes  Heil. 

Chorführer. 
Adrastos,  lafs  uns  gehn,  den  Eid  zu  leisten, 
mit  edlen  Thaten  haben  Fürst  und  Volk 
Athens  sich  unsre  Huldigung  verdient. 

Alle  ab. 


.-<..<^. 


IV. 

EURIPIDES 
HERAKLES. 


Griech.  Tragödien.     I.  18 


Vorwort. 


Da  ich  dieses  Drama  bereits  zweimal  mit  ausführ- 
licher Erklärung  herausgegeben  und  das  letzte  Mal,  erst 
vor  drei  Jahren,  eine  Übersetzung  beigefügt  habe,  so 
konnte  ich  hier  mich  im  wesentlichen  nur  wiederholen. 
Wer  sich  an  den  wenigen  Worten  der  Einführung  nicht 
genügen  läfst,  der  sei  auf  meine  Erklärung  hingewiesen; 
es  ist  mir  selbst  fraglich,  ob  ich  das  wesentlichste  aus- 
gehoben habe. 

Zum  Texte  habe  ich  nur  zu  sagen,  dafs  ich  gegen- 
über manchen  Vorschlägen,  auch  von  Seiten,  denen  ich 
gern  meine  eigene  Meinung  hingebe,  diesmal  ablehnend 
bleiben  raufs.  Nur  K.  Frey  hat  mit  der  Rechtfertigung 
der  Überlieferung  in  V.  530  dem  Dichter  eine  groFse 
Schönheit  zurückgegeben  und  auch  1403  mich  von  der 
Unhaltbarkeit  meiner  früheren  Ansicht  überzeugt. 

Westend,  24.  November  1898. 


Zur  Einführung'. 


Das  grofse  Lied  in  der  Mitte  dieses  Dramas,  in  dem 
der  Chor  sehnsüchtig  der  entschwundenen  Jugend  ge- 
denkt und  die  Beschwerden  des  Alters  beklagt,  gipfelt 
in  dem  Gelöbnis  der  Poesie  treu  zu  bleiben.  Niemand 
kann  darin  ein  persönliches  Geständnis  des  Dichters  ver- 
kennen. Der  Herakles  dieses  Dramas  entschliefst  sich 
am  Ende  trotz  allem  weiter  zu  leben:  das  ist  seine  Pflicht, 
nach  seinem  Urteil  wie  nach  dem  des  Theseus.  Das 
stimmt  zu  dem  Gelöbnis  in  jenem  Liede.  In  dem  Fest- 
spiele, das  Euripides  422  im  Interesse  des  Friedens 
dichtete^),  kommt  wie  hier  der  Wunsch  nach  einer  zweiten 
Jugend  vor;  da  will  der  Redende,  eine  Episodenfigur, 
möglichst  rasch  das  Grab  suchen.  Ebendort  erklärt  der 
Dichter  es  für  zu  viel  verlangt,  dafs  er  ohne  freudige 
Stimmung  mit  Erfolg  dichten  sollte.  Im  Augenblicke, 
wo  er  dichtete,  um  praktische  patriotische  Politik  zu 
machen,  fehlte  es  ihm  an  dieser  Freudigkeit  gewifs  nicht, 
um  so  weniger,  wenn  diese  Politik  Erfolg  hatte,  wie  das 
421  der  Fall  war.  Der  Herakles  ist  in  einer  wirklich 
freud-  und  trostlosen  Stimmung  gedichtet,  und  doch  giebt 
der  Dichter  die  Poesie  nicht  auf:  das  erklärt  jenes  Lied, 
das    begründet   aus  dem  tiefsten  das  ganze  Drama.     In 


1)  Vgl.  die  Einleitung  zu  „Der  Mütter  Bittgang**. 

18* 


276 

sofern  ist  auch  dieses  ein  individuelles  Geständnis,  und 
eben  daher  vermögen  wir  zu  erkennen,  wann  der  Dichter 
dieses  Stimmungsbekenntnis  abgelegt  hat.  Es  ist  der 
unvermeidliche  Rückschlag  gewesen,  als  die  hoffnungs- 
volle Stimmung  verflog,  die  die  politische  Gelegenheits- 
dichtung in  Euripides  erzeugt  hatte,  und  der  Gang  der 
Weltereignisse  jedem  einsichtigen  Patrioten  die  schwerste 
Sorge  wecken,  jedem  feiner  Organisierten  die  Beteiligung 
an  den  Parteikämpfen  verleiden  mufste^).  Den  Ansatz 
zu  seiner  Verbitterung  nimmt  man  schon  vorher  bei  dem 
Dichter  wahr;  er  mag  sich  auch  schon  alt  gefühlt  haben, 
als  er  die  Fünfzig  überschritt.  Seit  etwa  der  gleichen 
Zeit  war  er  den  unausgesetzten  geistreichen  Angriffen 
des  jungen  Aristophanes  ausgesetzt,  die  wohl  dazu  an- 
gethan  waren,  einem  reizbaren  Manne  das  Leben  zu 
verbittern;  als  Sokrates,  dessen  Gleichmut  und  Humor  un- 
erschütterlich waren,  auf  den  Tod  angeklagt  ward,  schob 
er  die  feindliche  Volksstimmung  zum  guten  Teile  auf 
eine  zuerst  sogar  vom  Publikum  abgelehnte  Komödie, 
die  vierundzwanzig  Jahre  alt  war.  Es  werden  gewifs 
noch  innere  und  äufsere  Erlebnisse  des  Euripides  hinzu- 
getreten sein,  die  wir  nicht  kennen:  unverkennbar  ist, 
dafs  sich  seit  421  vieles  in  seiner  Art  zu  dichten  ver- 
ändert, und  dafs  er  durch  einen  inneren  Kampf  und 
schmerzvolle  Resignation  zu  dem  Entschlüsse  gekommen 
ist,  trotz  allem  zu  dichten  oder  auch  zu  leben,  denn  das 
war  ihm  dasselbe.  Er  that  seine  Pflicht,  aber  freilich 
ohne  Freudigkeit.  Viele  Werke  hat  er  noch  verfafst, 
grade  die  zwar  nicht  an  sich,  aber  durch  ihren  Einflufs 


1)  Es  ist  die  Zeit,  wo  der  Menschenhasser  Timon  lebte 
oder  doch  auf  die  Bühne  gebracht  ward.  Der  Ekel  an  der 
Politik  spricht  sich  in  der  Komödie  Hyperbolos  von  Piaton 
aus.  Im  politischen  Leben  ist  das  Bezeichnendste,  dafs  man 
nach  langer  Pause  das  Mittel  des  Scherbengerichtes  versuchte, 
und  dals  es  ganz  erfolglos  blieb. 


277 


auf  die  Nachwelt  bedeutendsten.  Man  staunt  über  die 
oft  gewaltsame  Kühnheit,  mit  der  er  bald  die  überlieferten 
Geschichten,  bald  die  Charaktere,  bald  den  Stil  der 
Tragödie  verändert.  Im  Herakles  ist  die  Wirkung  trotz 
allen  Disharmonieen  noch  eine  erhabene,  aber  an  Kühnheit 
der  Erfindung  und  der  Umwertung  des  Überlieferten 
übertrifft  ihn  keines  auch  der  spätesten  Werke.  Dafs 
er  in  dem  ersten  Teile  seines  Dramas  den  Herakles 
der  Überlieferung  selber  hinstellt,  um  ihm  im  zweiten 
Teile  den  umgewerteten  gegenüberzustellen,  dafs  er  ein 
hohes  Ideal  seines  Yolkes  grade  da,  wo  er  es  als  unzu- 
reichend verwerfen  will,  noch  einmal  in  seiner  Erhaben- 
heit hinstellt,  sichert  dem  Drama  einen  Wert  auch  in 
deren  Augen,  denen  das  neue  Ideal  wider  Glauben  und 
Hoffen  geht.  Es  liegt  an  dieser  besonderen  Komposition, 
dafs  man  sich  erst  des  volkstümlichen  Herakles  be- 
mächtigen mufs,  ehe  man  den  euripideischen  würdigen 
kann. 

Herakles  war  seit  Jahrhunderten  auch  in  Attika  die 
volkstümlichste  Heldengestalt;  das  beweisen  am  besten 
die  Werke  der  bildenden  Kunst.  Grade  in  Attika  war 
derselbe  einer  der  am  meisten  verehrten  Götter,  und  der 
Athener  pflegte  in  jeder  Überraschung  und  jeder  plötz- 
lichen Regung  der  Angst  den  himmlischen  Nothelfer  an- 
zurufen, der  jetzt  freilich  am  Tische  seines  himmlischen 
Vaters  die  verdiente  Seligkeit  in  vollen  Zügen  genofs, 
aber  eingedenk  der  Mühsal  seines  Erdenlebens  den  Be- 
drängten und  Unterdrückten  wiUig  half.  Da  kann  es 
befremden,  dafs  vor  Euripides  Herakles  auf  der  athenischen 
Bühne  als  ernsthafte  Person  nicht  aufgetreten  ist,  so 
dafs  es  ein  grofses  Wagnis  war,  als  Euripides  ihn  gar 
selbst  in  den  Mittelpunkt  einer  Tragödie  stellte.  Er 
hat  damit  allerdings  das  Eis  gebrochen.  Zu  dieser  langen 
Zurückhaltung  der  Tragiker  wirkte  zweierlei  zusammen. 
Erstens  war  Herakles  ein  Dorer;  der  Athen  todfeindliche 


278 

Adel  im  Peloponnes  und  in  anderen  Landschaften  leitete 
sich  von  ihm  ab.  Oder  er  war  ein  Thebaner,  und  mit 
diesen  als  bäurisch  verachteten  Nachbaren  stand  Athen 
womöglich  noch  schlechter.  Wenn  nun  die  Heldenthaten 
des  Herakles  dramatisiert  wurden,  so  geschah  das  sicher 
zum  Ruhme  der  Feinde,  sehr  leicht  auf  Kosten  der 
Heimat.  Dazu  kam  zweitens,  dafs  schon  dorische  bur- 
leske Spiele  sich  des  Herakles  bemächtigt  hatten,  was 
dann  die  attischen  Dichter  um  so  Heber  aufgenommen 
hatten,  weil  sie  so  in  ihrem  himmlischen  Vertreter  die 
Nachbarn  verspotten  konnten.  So  war  Herakles  im 
Satyrspiele,  grade  auch  bei  Euripides,  eine  beliebte 
Figur;  auch  in  der  Komödie;  und  erschien  er  dann  in 
einer  Tragödie,  wie  in  der  Alkestis  des  Euripides,  so 
trug  er  einige  Züge  aus  dem  Satyrspiel  unvermeidlich 
an  sich.  Er  mufste  also  gleichsam  erst  in  seine  alte 
Reinheit  zurückgeführt  werden,  wenn  er  eine  wirklich 
tragisch  wirkende  Figur  werden  sollte.  Eben  dazu  hat 
Euripides  der  Darstellung  des  echten  Herakles  der  Sage 
die  Hälfte  seines  Dramas  gewidmet.  Diesen  wollen  wir 
uns  also  in  seinem  Wesen  vergegenwärtigen.  Es  kommt 
dabei  gar  nicht  darauf  an,  ob  die  Gestalt  des  Herakles 
gleich  von  Anfang  (wie  ich  persönlich  glaube)  die  Be- 
deutung gehabt  hat,  die  ich  darzulegen  versuche:  für 
Euripides  und  für  Pindaros  und  schon  für  Hesiodos, 
also  seit  mehreren  Jahrhunderten  hat  er  sie  gehabt,  das 
sagen  sie  selber.  Sie  wissen  was  sie  sagen:  wir  haben 
die  Pflicht  sie  zu  hören. 

Herakles  war  der  Sohn  des  Zeus  und  einer  Königs- 
tochter, also  berechtigt  im  Leben  den  Glanz  und  das 
Glück  der  fürsthchen  Stellung  zu  erwarten.  Statt  dessen 
hat  er  sein  Leben  in  Dienstbarkeit,  Mühe  und  Gefahr 
hinbringen  müssen.  Ob  ihn  der  Hafs  der  Himmelskönigin 
durch  das  ganze  Leben  verfolgt,  ob  er  der  Dienstmann 
eines  feigen  und  tückischen  Vetters  wird,    ob  ihm  ein 


279 


Götterspruch  die  Vollendung  seiner  Arbeiten  als  Be- 
dingung für  den  köstlichen  Lohn  der  Unsterblichkeit 
auferlegt,  das  sind  oder  scheinen  nur  verschiedene  Aus- 
drücke für  das  was  Euripides  die  Aufgabe  seines  Lebens 
nennt.  Schon  seine  Schutzwaffe,  die  Löwenhaut,  und 
.Keule  und  Pfeile  mufs  er  sich  erst  selbst  bereiten  und 
wenn  bei  diesem  oder  jenem  Abenteuer  ein  Gott  oder 
ein  Freund  an  seiner  Seite  erscheint,  so  ändert  das 
daran  nichts,  dafs  sein  Wirken  das  eines  einzelnen  ist. 
Die  Hilfe  der  Götter  ist  nichts  als  der  Exponent  seines 
Wirkens  im  Sinne  der  Götter  und  seines  Vertrauens  auf 
seinen  den  Göttern  wohlgefälligen  Beruf.  In  sehr  alter 
Zeit  ist  sein  Leben  einmal  in  Argos  in  einem  Cyklus 
von  Einzelkämpfen  dargestellt  worden,  ähnlich  wie  es 
in  dem  grofsen  Chorliede  des  Euripides  geschieht.  Der 
einfachen  Zeit  entsprechend  waren  es  wesentlich  wilde 
Bestien  oder  ihnen  gleichstehende  Unholde,  die  er  über- 
winden mufste,  und  dem  geographischen  Horizonte  jener 
Zeit  entsprechend  spielte  sich  alles  in  der  Nähe  von 
Argos  ab.  Damals  war  der  Westrand  der  Erde,  wo  die 
Rinder  des  Geryones  weideten,  noch  der  Westrand  der 
Pelopsinsel,  und  safsen  die  Amazonen  und  Thraker  in 
den  nächsten  nördüchen  Landschaften.  Eine  solche 
Reihe  von  Einzelabenteuern  gestattet  eine  ungemessene 
Erweiterung,  und  da  das  ganze  Leben  des  vornehmsten 
Helden  zu  füllen  war,  konnten  die  späteren  Dichter  den 
immer  höher  gehenden  Anforderungen  des  Publikums 
entgegenkommen.  Je  weiter  die  Welt  ward,  desto  weiter 
mufste  Herakles  wandern  um  seine  Aufgabe,  die  Be- 
friedung der  Welt,  zu  erfüllen:  an  ihren  Grenzen 
stehen  zum  Erweise  dieser  Erfüllung  seine  Säulen. 
Nichts  stand  im  Wege  mit  der  Steigerung  der  An- 
forderung an  vollendetes  Heldentum  aus  dem  Schützen 
und  Jäger  einen  Nahkämpfer,  Ringer  und  Feldherrn  in 
den  Formen  zu  machen,  die  mittlerweile  der  Adel,  der 


280 


in  Herakles  seinen  Ahn  verehrte,  ausgebildet  hatte.  Vor 
Troia  konnte  man  ihn  freilich  nicht  gut  führen,  da  die 
homerische  Dichtung,  die  ihn  nicht  gekannt  hatte,  sich 
nicht  mehr  umformen  liefs.  Also  erfand  man  einen 
früheren  Zug  des  Herakles  gegen  dieselben  troischen 
Feinde;  auf  die  Argo  dagegen  hat  man  ihn  noch  selbst 
bringen  können,  so  wenig  er  unter  die  Ruderer  pafste, 
weil  diese  Sage  keine  feste  poetische  Bearbeitung  ge- 
funden hatte.  Und  unübersehbar  sind  die  Wandersagen 
des  Helden,  die  mit  den  Zügen  seines  Volkes  über  die 
ganze  Erde  gingen.  Aber  neben  und  vor  diesen  zum 
Teil  viel  bunteren  und  feineren  Erfindungen  behielt  die 
alte  Reihe  der  Einzelkämpfe  immer  den  Vorrang.  Und 
so  lang  das  Heldenleben  gedehnt  ward:  neben  seinen 
ersten  Stationen  war  es  das  Ende,  das  in  seiner  Be- 
deutsamkeit vorwiegen  mufste.  Hat  sich  grade  auch  hier 
für  denselben  grofsen  Gedanken  eine  neue  Form  mehr- 
fach vor  die  alte  geschoben,  so  dafs  diese  zu  einem  der 
übrigen  Lebensabenteuer  herabsank,  so  ist  doch  grade 
hier  Euripides  mit  der  beste  Erklärer  der  ursprünglichen 
Züge^).  Als  der  Held  auf  der  Erde  und  im  Meere 
keinen  Gegner  mehr  zu  besiegen  hat,  bleiben  ihm  die 
Schwächen  der  eigenen  irdischen  Leiblichkeit  zu  tiber- 
winden. Das  Alter,  ein  spitznasiges,  verschrumpftes 
Männchen,  beschleicht  und  bedroht  ihn:  er  würgt  es, 
dafs  es  ihn  fahren  läfst.  Dann  droht  der  Tod.  Aber 
er  wartet  nicht,  bis  der  Dämon  ihn  antritt,  sondern 
steigt  selbst  in  die  Hölle  hinab,  und  holt  den  Tod,  der 
hier  als  ein  gräulicher  Hund  gedacht  wird,  an  das  Sonnen- 


^)  Die  Heraufholung  des  Kerberos  und  die  Herbei- 
schaffung der  goldenen  Äpfel  nach  Argos,  sind  als  Aufgabe 
des  Eurystheus  eigentlich  unsinnig.  Dafs  sie  den  anderen 
nicht  gleichartig  wären,  ist  unvergessen  geblieben.  Sobald 
der  Sinn  der  Äpfel  verblafste,  rückten  diese  vor  den  Ker- 
beros. So  bei  Euripides.  Aber  auch  hier  ist  die  ursprüngliche 
Ordnung  noch  ganz  spät  bezeugt. 


281 


licht,  das  die  Bestie  nicht  verträgt,  so  dafs  sie  winselnd 
in  ihre  Nacht  zurückflieht:  vor  dem  ist  der  Held  nun 
auch  sicher.  Da  macht  er  sich  denn  auf  die  "Wanderung 
nach  dem  Paradiese,  dem  Göttergarten  im  fernen  Westen  i), 
wo  der  Baum  mit  den  Äpfeln  der  Unsterblichkeit  steht. 
Ein  Drache  bewacht  sie;  den  erschlägt  er  und  pflückt 
sich  selbst  die  Speise  des  ewigen  Lebens.  Nun  ist  er 
Gott,  auch  dazu  durch  eigene  Kraft  erhöht;  nun  tritt  er 
in  die  himmlische  Familie  seines  Vaters  ein,  Hera  giebt 
ihm  ihre  Tochter  Hebe  zum  Weibe:  das  ist  die  ewige 
Jugend  2),  das  Kennzeichen  der  Göttlichkeit. 

Mensch  gewesen,  Gott  geworden,  Mühen  geduldet, 
Himmel  erworben,  das  ist  das  wesentliche  in  dem  Kul- 
tus des  Herakles,  den  Sophokles  gradezu  Gottmensch 
nennt,  das  liegt  den  zahllosen  Erzählungen  von  dem 
Allsieger  zu  Grunde,  das  ist  es,  weswegen  Pindaros,  der 
Prophet  der  Ideale  des  dorischen  Herrenstandes  und  des 
delphischen  Gottes,  nicht  müde  wird  den  Herakles  zu 
verherrlichen.  Hören  wir,  was  er  dem  Heldenkinde,  das 
eben  in  der  Wiege  die  Schlangen  gewürgt  hat,  von  dem 
Seher  vorführen  läfst: 

Alle  die  Tiere  des  Landes  und  Meeres, 
Scheusale,  reifsende,  recht-  und  friedlose, 
die  ihm  zu  bändigen,  alle  die  Menschen, 
wildeigenuützige,  frevelnden  Fufses 
aufser  den  Bahnen  des  Rechts  hinwandelnde, 
die  ihm  mordend  zum  Rechte  zu  führen 

vom  Geschick  beschieden  war. 
Ja,  wenn  die  Götter  zum  Krieg  der  Giganten 
schreiten,  dann  werden  des  Herakles  Pfeile 


*)  Es  ist  der,  welchen  Euripides  im  Hippolytos  732 
schildert. 

2)  Die  Ehe  mit  Hebe  und  das  Brechen  der  Apfel  sind 
im  Grunde  Dubletten. 


282 


niederstrecken  die  himmelstürmenden  Riesen: 
und  die  blonden  Häupter  der  Erdensöhne 

schleifen  im  Staube  der  Mutter. 
Er  aber  wird  den  köstlichen  Lohn  für  die  Mühen 
finden,  im  seligen  Hause  den  ewigen  Frieden: 
Hera  führt  ihm  die  Jugend  als  Braut  entgegen, 
an  dem  Tische  des  Zeus  begeht  er  die  Hochzeit: 
und  in  Ewigkeit  preist  er  des  hehren 

Weltenvaters  Regiment. 

Und  noch  eine  andere  Stelle,  wo  Pindar  aus  eignem 
Munde  das  Lebenswerk  des  Herakles  zusammenfafst: 
Er  hat  zum  Olympos  empor  sich  geschwungen, 
nachdem  er  die  Ränder  des  Erdenrundes 
und  die  See  durchmessen,  so  weit  sie  brandet  und  blauet, 
den  Schiffern  die  Pfade  befriedend. 
Nun  lebt  er  beim  Yater,  dem  Schwinger  der  Blitze, 
in  Seligkeit. 

Willkommen  der  Götter  empfing  den  Genossen 
und  Hebe  den  Gatten: 

so  wohnt  er  im  Himmel  im  güldenen  Schlosse 
als  Heras  Eidam. 

Sehe  denn  also  der  Leser,  der  das  euripideische  Ge- 
dicht mit  dem  rechten  Ernste  in  sich  aufnehmen  will, 
nicht  nur  von  all  den  niedrigen  und  unwürdigen  Vor- 
stellungen ab,  die  wir  von  Kindesbeinen  mit  dem  Namen 
des  Herkules  verbinden,  sondern  auch  von  dem  Lebens- 
ende, das  schon  zu  Enripides'  Zeit  neben  dem  hier  er- 
zählten und  sogar  mehr  als  dieses  verbreitet  war,  weil 
es  in  einem  homerischen  Gedichte,  wie  es  scheint,  sehr 
wirksam  erzählt  war,  der  Vergiftung  durch  den  mifs- 
glückten  Liebeszauber  seiner  Gattin  und  die  Selbst- 
verbrennung des  Helden.  Beides  ist  besonders  durch 
die  Trachinierinnen  des  Sophokles  noch  populärer  ge- 
macht worden,  die   dieser  aber  erst  angeregt  durch  den 


283 


Herakles  des  Euripides  gedichtet  hat^).  Diese  ganze 
Geschichte  durfte  Euripides  ignorieren,  wie  Pindaros  es 
durfte,  weil  sie  wirklich  dem  Wesen  des  Heros  wider- 
spricht und  in  dem  ionischen  Samos  erfunden  war,  das 
für  den  dorischen  Gottmenschen  keine  Pietät  besafs. 

Wenn  Euripides  den  Herakles  vor  dem  Falle  in 
seiner  ganzen  Gröfse  einführen  wollte,  so  mufste  er  sich 
als  Retter  in  der  Not  und  als  Sieger  in  der  schwersten 
Gefahr  bewähren:  dafür  hat  er  die  Bedrohung  seiner 
Frau  und  seiner  Kinder,  hat  er  den  ganzen  Inhalt  des 
ersten  Teiles  der  Tragödie  einschliefslich  der  Person  des 
Lykos  erfunden.  Man  ermesse  daran,  wie  weit  auch 
gegenüber  den  überlieferten  Geschichten  die  Freiheit  des 
Tragikers  ging.  Den  Kindesmord  hat  er  allerdings  nicht 
erfunden,  sondern  nur  die  Art,  wie  die  Unthat  geschieht, 
frei  gestaltet  und  die  Ermordung  der  Gattin,  um  den 
Helden  ganz  zu  vereinsamen,  hinzufügt.  Auch  diese 
Geschichte  war  vermutlich  die  Erfindung  eines  home- 
rischen Dichters,  jedenfalls  hatte  sie  für  das  Wesen  des 
Herakles  gar  keine  Bedeutung,  und  stand  am  Anfange 
seines  Lebens;  erst  Euripides  hat  sie  mit  kühnster 
Neuerung  an  das  Ende  gerückt  und  Sorge  getragen, 
dafs  alle  Grofsthaten  als  vollbracht  erwähnt  werden  2). 
Aber  aufgegriffen  hat  er  diese  Geschichte  mit  sicherer 
Hand,    weil  sie  ihm  die  Handhabe   bot,    den  unbezwing- 

1)  Es  ist  jüngst  von  einem  geistvollen  russischen  Ge- 
lehrten der  Versuch  gemacht,  das  Verhältnis  umzudrehen, 
mit  mehr  Gewalt  als  Glück.  Wer  sich  von  den  schillernden 
Behauptungen  zu  den  Texten  wendet,  wird  bald  sehen,  dafs 
das  Umdrehen  ein  Verdrehen  ist.  Andererseits  ist  durch  die 
Entdeckung  eines  geringen  Gediclites  des  Bakchylides  bestätigt, 
dafs  Sophokles  seine  ganze  Handlung  so  ziemlich  übernommen 
hat,  aus  dem  homerischen  Epos  natürlich,  nicht  aus  dem 
armseligen  Gedichte  des  Bakchylides.  Um  so  weniger  konnte 
sein  Drama  den  Herakles  auf  der  attischen  Bühne  einführen. 

2)  Geflissentlich  auch  die  Eroberung  Oichalias,  die  ge- 
meiniglich mit  der  Selbstverbrennung  verbunden  ist. 


284 


liehen  Helden  in  Schuld  und  Schmach  verstrickt  zu 
zeigen. 

Der  Glaube,  der  sich  in  der  Heraklessage  offenbart, 
ist  die  stärkste  und  konsequenteste  Vergöttlichung  der 
Menschenkraft,  die  unbedingte  Anerkennung  der  mensch- 
lichen Zulänglichkeit.  In  einem  typischen  Vorbilde  ist 
durch  sie  dem  Menschen  gesagt,  dafs  er  nur  zu  wollen 
braucht,  um  sich  selbst  den  Himmel  zu  erwerben.  Wenn 
Herakles  des  höchsten  Gottes  Sohn  ist,  so  nannten  sich 
sogar  die  adligen  Helden  Homers  ebenso,  ÖioyevEtg.  Es 
war  ein  Glaube,  der  den  Menschenadel  nicht  niedrig 
einschätzte,  denn  feil  war  die  Göttlichkeit  nur  um  ein 
Leben  voller  Arbeit  und  Mühe;  aber  der  Mensch  konnte 
doch  das  Ziel  alles  Strebens  erreichen  ganz  auf  sich 
gestellt,  mit  der  Götter  Hilfe  nur  in  so  fern,  als  sie 
eben  dem  Tüchtigen  beistehen,  der  das  ist,  was  er  sein 
soll.  Dieser  hohe  Glaube  sitzt  tief  in  dem  nachhome- 
rischen Heldentume  und  hat  ihm  allerdings  mit  die  Kraft 
gegeben,  das  höchste  zu  leisten.  Er  kehrt  in  anderer 
Form  wieder,  wenn  Sokrates  leugnet,  dafs  der  Mensch 
mit  Absicht  etwas  böses  thue,  und  glaubt,  dafs  die 
richtige  Erkenntnis  zum  richtigen  Handeln  ausreiche. 
Und  dann  wieder  in  dem  stoischen  Glauben  an  den  voll- 
kommenen Menschen,  den  Weisen.  Wir  wollen  nicht 
müde  werden,  diese  stolze  Selbstzuversicht  zu  bewundern, 
die  wertvollste  Gabe,  die  das  Dorertum  der  homerischen 
Kultur  zugebracht  hat.  Aber  nicht  minder  werden  wir 
es  billigen,  mancher  wird  es  höher  schätzen,  wenn  sich 
die  Selbsterkenntnis,  die  Einsicht  in  die  Schwäche  und 
Bedürftigkeit  und  Sündhaftigkeit  der  Menschennatur  von 
diesem  Glauben  abkehrt  oder  ihm  widerspricht. 

Für  Euripides  war  der  Glaube  an  den  eingeborenen 
Adel  der  Menschennatur,  der  aus  eigner  Kraft  das  Gute 
kann  und  sich  mit  eigner  Faust  den  Himmel  erstreitet, 
ein   verwerflicher   Wahn.      Er   kannte    die   Macht    der 


285 

Leidenschaften  und  die  Schwäche  des  Herzens  und  des 
Willens  zu  gut;  er  sah  die  Menschen  um  ihn  her  noch 
minder  geneigt  als  fähig  das  Rechte  zu  erkennen,  und 
selbst  wenn  sie  es  erkannten  aufser  stände  es  immer  zu 
wollen  oder  gar  zu  thun.  Der  Egoismus  offenbarte  sich 
in  der  Sophistenzeit,  wo  Sitte  und  Herkommen  und  jede 
Autorität  bestritten  ward,  in  rückhaltloser  Ehrlichkeit. 
Der  auf  sich  selbst  gestellte  Mensch  wird  ausschliefslich 
thun,  was  ihn  gelüstet,  ihm  nützlich  ist,  auf  den  Nächsten 
nur  so  weit  er  für  ihn  Wert  hat  Rücksicht  nehmen. 
So  denkt  er,  und  das  ist  der  volle  Gegensatz  zu  der 
Heraklessage.  Noch  ein  anderes  war  ihm  an  dieser  zu- 
wider. In  ihr  ist  der  Mensch  der  Mann  der  That,  der 
gewaltsamen,  blutigen,  ganz  natürlich,  weil  die  alte  Zeit 
und  die  dorische  Gesellschaft  keine  andere  Mannes- 
tüchtigkeit kannte.  Das  ist  dem  Denker  und  Dichter 
zu  eng,  und  gegen  die  Hochschätzung  der  physischen 
Leibeskraft  hatte  er  die  stärkste  Abneigung.  Gewalt 
däuchte  ihn  immer  verwerflich.  Er  hat  sie  wie  Leo 
Tolstoi  geradezu  als  widergöttlich  bezeichnet.  Der  Gewalt- 
mensch Herakles  wird  keinen  Frieden  schaffen,  am 
wenigsten  im  eigenen  Herzen.  So  nimmt  denn  Euripides 
diese  Gestalt  auf,  zeigt  sie  erst  ganz  in  der  Beleuchtung 
der  überlieferten  Vergöttlichung  des  Allsiegers,  um  dann 
die  Geschichte  in  seiner  Weise  weiter  zu  führen,  damit 
statt  des  Gottes  der  Mensch  in  seiner  Schwäche  und 
Sündenschuld  hervortrete.  Dazu  griff  er  die  Geschichte 
von  dem  Wahnsinn  und  dem  Kindesmorde  auf.  Er  be- 
hielt den  Wahnsinn  bei,  ja  sogar  dessen  Sendung  durch 
Hera,  die  vermutlich  dazu  erfunden  war,  die  Verant- 
wortung von  dem  unsträflichen  Helden  zu  nehmen,  jeden- 
falls so  gedeutet  werden  mufste,  sobald  man  den  Begriff 
der  moralischen  Verantwortung  hineinzog:  aber  er  hat 
diese  nur  zu  einem  Mittel  der  dramatischen  Veranschau- 
lichung gemacht.    Das  Verbrechen  und  der  Wahnsinn  sind 


286 

die  notwendigen  Folgen  der  herakleischen  Natur  ge- 
worden. Die  ungeheure  Überschätzung  der  Menschen- 
würde, die  den  Herakles  in  den  Himmel  hob,  wird  Lügen 
gestraft;  wir  sehen,  dieser  Glaube  an  die  eigene  Selbst- 
genügsamkeit führt  nicht  zur  Göttlichkeit,  sondern  zum 
Gröfsenwahnsinn.  Dazu  hat  der  Dichter  die  geniale 
Erfindung  gebraucht,  dafs  Herakles  die  Kinder  erschlägt, 
als  er  mit  seiner  Lebensaufgabe  fertig  ist,  oder  wie  er 
selbst  es  ausspricht,  dafs  dies  seine  dreizehnte  Arbeit 
ist.  Die  Sage  führt  ihn  unmittelbar  in  das  Paradies, 
als  er  auf  Erden  fertig  war;  auch  Euripides  stellt  die 
Frage,  was  wird  der  Allsieger  thun,  sobald  er  frei  ist. 
So  lange  ihn  der  Zwang  des  Lebens  von  Aufgabe  zu 
Aufgabe  rief,  hielten  ihn  die  Schranken  der  Menschheit 
auf  dem  rechten  Wege:  wir  sehen,  wie  er  die  Freiheit 
verträgt.  Die  Welt  hat  er  überwunden,  nur  einer  ist 
noch  übrig,  er  selbst:  dem  erliegt  er.  Als  er  sich  von 
dem  letzten  gerecht  vergossenen  Blute  reinigen  will, 
schrickt  er  zurück.  Der  Blutdunst,  in  dem  er  sein  Leben 
lang  gewandelt  ist,  hat  seinen  Sinn  umnebelt;  er  kann 
aufser  ihm  nicht  leben.  Er  mufs  weiter  morden.  Hervor- 
bricht ein  wilder  Hafs,  zunächst  gegen  den  Auftraggeber, 
dessen  Joch  er  doch  eben  los  ist.  Hervorbricht  eine 
mafslose  Eitelkeit,  die  sich  selber  zum  Sieger  ausruft, 
eine  sinnlose  Zerstörungslust,  die  die  Mauern  von  Mykene 
aus  den  Fugen  reifsen  will:  er  ruht  nicht  bis  er  wieder 
Blut  vergiefst,  sein  eigenes  Blut.  So  rast  er  bis  er  in 
physischer  Erschöpfung  zusammenbricht.  Auch  das  Ein- 
greifen Athenas  ist  nur  ein  dichterisches  Bild,  das  nur  für 
den  Glauben  der  Umstehenden  Realität  hat.  Und  keines- 
weges  ist  der  Ausbruch  der  Raserei  in  dem  Charakter 
des  Herakles  unvorbereitet.  Als  er  die  Gefahr  der 
Seinen  erfahren  hat,  flammt  er  ebenso  in  jähem  sinn- 
losem Zorne  auf,  will  ganz  Theben  zusammenschlagen 
und  würde    ohne  die  Besonnenheit  seines  Vaters  durch 


287 

diese  Hitze  seinen  ganzen  Anschlag  gefährdet  haben. 
Nicht  minder  verstockt  er  sich  in  eitlem  Trotze,  als  er 
seiner  Unthat  inne  geworden  ist;  nicht  Mitleid,  Trauer, 
Thränen  hat  er,  er  lästert  die  Götter,  er  weidet  sich 
an  seinen  Heldenthaten,  er  will  sterben  den  Göttern  zum 
Trotze  (V.  1243).  Sein  Verbrechen  kommt  aus  derselben 
Wurzel  seines  Wesens  wie  seine  Heldengröfse.  Die  Welt 
zu  bezwingen,  die  Welt  in  Trümmer  zu  schlagen  reicht 
diese  Selbstgenügsamkeit  des  Menschen  vielleicht  aus;  aber 
sie  ist  nicht  göttlich,  weil  sie  nicht  menschlich  ist.  Erst 
der  Mensch,  der  sich  seiner  Schwäche  bewufst  ist,  wird 
den  wahren  Menschenadel  zu  üben  stark  genug  sein, 
sich  selbst  zu  bezwingen  und  sich  zu  bescheiden  (V.  1227). 
Das  ist  es,  wozu  Theseus  eingeführt  wird.  Äufserlich 
ist  er  dazu  da,  die  Handlung  zum  Abschlüsse  zu  bringen, 
und  der  breiten  Masse  seines  Publikums  zu  Gefallen  hat 
Euripides  ein  paar  schwache  Fäden  der  athenischen.  Sage 
eingesponnen,  da  sie  so  gerne  ihren  heimischen  Helden 
als  grofsmütigen  Beschützer  des  Dorers  sahen,  daneben 
auch  an  das  Alter  und  die  Verbreitung  des  attischen 
Herakleskultes  gern  erinnert  wurden.  Für  Euripides  wäre 
ein  thebanischer  Freund  (den  ihm  die  Sage  nahe  legte  ^)) 
ziemlich  dasselbe  gewesen,  denn  was  den  gefallenen  Über- 
menschen aufrichtet,  ist  der  Mensch  und  seine  Liebe. 
Des  Freundes  bedarf  Herakles,  auf  den  er  sich  stütze, 
der  ihm  die  Last  des  Lebens  tragen  helfe.  Die  Liebe 
scheut  sich  nicht  vor  der  Befleckung  durch  die  Sünde 
des  Geliebten,    sie  weifs    dafs  der  Fluch  nicht  ansteckt. 


l)  In  der  älteren  Sage,  wo  Herakles  nur  die  Kinder 
tötete,  trat  er  deren  Mutter  Megara  an  seinen  Neffen  lolaos 
ab,  nicht  aus  Herzlosigkeit,  im  Gegenteil,  um  sie  gut  zu 
versorgen,  weil  er  ja  als  Mörder  aus  Theben  fort  mufste. 
Das  ist  dorische  Schätzung  der  Frau.  Nicht  anders  benimmt 
sich  der  Herakles  der  Trachinierinnen.  Sophokles  liefs  das 
wie  er  es  überkam:  Euripides  hat  Megara  lieber  sterben 
lassen. 


288 

und  vor  der  reinen  Menschenliebe  weichen  die  Erinyen, 
die  das  verstockte  Herz  bewohnen:  diese  Entsühnung 
ist  es,  welche  Theseus  dem  Herakles  bietet,  darum  preist 
dieser  in  seinem  letzten  Worte  den  Wert  dieser  Freundes- 
liebe, an  der  Amphitryon  (55)  und  Megara  (559)  ver- 
zweifelt hatten.  Und  diese  Liebe  hat  sich  Herakles 
verschafft  durch  eine  That,  die  ihm  kein  Schicksal  und 
kein  Eurystheus  auftrug,  durch  eine  That  freiwilliger 
Hingabe,  darum  die  einzige,  an  die  er  auch  in  tiefster 
Verbitterung  gerne  gedenkt  (1235).  Die  Menschheit  hat 
ihre  eigene  Unzulänglichkeit  einsehen  gelernt  in  bittersten 
Erfahrungen,  darum  genügt  ihr  die  Heraklesreligion  nicht 
mehr:  aber  sie  hat  auch  die  himmlische  Kraft  erkennen 
gelernt,  mit  welcher  sie  die  Wunden  lindern  kann,  die 
sie  sich  selbst  in  ihrer  Überhebung  schlägt:  die  Kraft 
der  Liebe. 

Aber  diese  hoffnungsfreudigen  Töne  sind  nicht  die 
einzigen,  in  die  das  Drama  ausklingt,  ja  es  sind  nicht 
die,  welche  am  meisten  ins  Ohr  fallen;  der  Dichter 
schlägt  sie  an,  ahnungsvoll  mehr  und  in  ein  anderes 
Reich  des  Empfindungslebens  weisend,  als  dem  sein  Held 
und  die  Helden  seines  Volkes  angehören.  Es  ist  ja 
nicht  der  Appell  der  Freundschaft,  dem  sich  Herakles 
ergiebt:  er  nimmt  die  Kraft  des  letzten  Entschlusses 
wenigstens  scheinbar  aus  eigener  Seele.  Euripides  wollte 
Herakles  als  Ideal  der  selbstgenügenden  Menschenkraft 
trotz  alledem  darstellen,  nur  nicht  als  das  der  archaischen, 
sondern  das  seiner  Zeit,  der  Sophistenzeit.  Darin  liegt 
eine  gewisse  Inkongruenz,  eine  Schädigung  des  wunder- 
baren Freundschaftsmotivs,  gewifs:  aber  darin  liegt  zu- 
gleich die  tiefste  Offenbarung  seines  eigenen  Glaubens. 
Herakles,  der  Sohn  des  Zeus,  den  Hera  verfolgt,  Hera 
und  ihre  Eifersucht,  die  ganze  bunte  Götterwelt  und  die 
Heldensage,  das  ist  ja  alles  nicht  wahr,  das  ist  ja  nichts 
als  eine  gotteslästerliche  Erfindung  der  Dichter.     Wenn 


289 

es  eine  Gottheit  giebt,  so  darf  ihr  nichts  von  Menschen- 
ähnlichkeit und  Beschränktheit  anhaften.  So  schlägt 
Herakles  mit  den  Waffen  der  philosophischen  Skepsis^) 
die  ganze  schöne  Welt  in  Trümmer.  Seine  eigenen 
Gotteslästerungen  fallen  damit  freilich  hin:  aber  um  so 
entzetzlicher  lastet  auf  ihm  der  Fluch  seiner  eigenen 
menschlichen  Sünde.  Und  ob  es  einen  sittlichen  Gott 
giebt,  darauf  erfolgt  keine  Antwort.  Das  ist  Antwort 
genug:  der  helle  Jubelruf  über  die  göttliche  Gerechtig- 
keit, den  der  Chor  vorher  erhoben  hat  (772),  gehört 
nicht  nur  dem  Teile  des  Dramas  an,  der  die  Voraus- 
setzungen der  Mythen  festhielt,  er  ist  sofort  durch  Iris 
und  Lj^ssa  Lügen  gestraft.  Nein,  Herakles  lehrt  uns 
etwas  anderes:  'Elend'  ist  das  Stichwort  seiner  letzten 
Rede.  Das  Leben  ist  auf  seinen  Wert  hin  geprüft  und 
hat  die  Probe  schlecht  bestanden:  so  urteilte  im  An- 
gesicht des  Todes  auch  Amphitryon  (502).  Aber  der 
schlofs  daraus  was  die  Menge  schliefst,  geniefse  das 
heut:  Herakles  sieht  tiefer.  Das  Leben  an  sich  ist  ihm 
kein  Genufs,  sondern  eine  Qual.  Und  dennoch  lebt  er 
weiter,  trägt  er  dies  Sklaventum  selbst  und  bittet  die 
Seinen,  ihm  tragen  zu  helfen.  Den  Selbstmord  verwirft 
er  ganz  ausdrücklich,  wahrlich  nicht,  weil  ihm  das  Leben 
allzu  lieb  gewesen  wäre;  darüber  ist  schon  Megara  (111) 
erhaben.  0  nein,  zu  leben  ist  unendlich  schwerer  als 
das  Leben  fortzuwerfen:  aber  das  ist  Menschenadel  und 
Menschenmut,  den  Schritt  der  Feigheit  nicht  zu  thun.  So 
überwindet  der  Weltenüberwinder  sich  selbst;  aber  ach, 
wozu?  dem  Elend  und  der  Schwachheit  des  Daseins  fest 


')  Die  Tirade  1340  ff.  ist  aus  dem  Lehrgedichte  des 
Xenophanes  geradezu  citiert,  das  der  homerischen  Götterwelt 
zuerst  mit  rücksichtslosem  Freimute  aus  moralischen  eben  so 
wohl  wie  aus  metaphysischen  Gründen  zu  Leibe  gegangen 
war.  Dies  ist  also  auf  die  Kenner  im  Publikum  berechnet, 
die  das  Citat  verstanden. 

Griech.  Tragödien.    I,  19 


290 


und  ohne  Illusion  ins  Auge  zu  schauen,  und  zu  sprechen: 
ich  trag'  es  dennoch i). 

Schopenhauer  hat  ja  wohl  in  der  Tragödie  die  Predigt 
des  Pessimismus  gehört,  unfähig,  wie  die  Philosophen 
meistens  sind,  zu  würdigen,  dafs  die  Poesie  und  zumal 
ihre  älteste  und  machtvollste  Erscheinungsform,  die  Sage, 
ein  Vollbild  der  in  einer  bestimmten  Zeit  und  Kultur 
vorhandenen  Stimmungen  und  Weltanschauungen  giebt, 
also  jederzeit  optimistisch  und  pessimistisch  zugleich  ist. 
Aber  der  Herakles  des  Euripides  in  dieser  seiner  letzten 
und  bedeutsamsten  Rede  ist  allerdings  eine  erschütternde 
Predigt  von  Menschenschwäche  und  Weltelend,  und  es 
ist  für  manchen  vielleicht  verführerisch,  in  dieser  pessi- 
mistischen Rede  die  Tendenz  des  Euripides  offenbart  zu 
sehen.  Ein  anderer  möchte  geneigt  sein,  die  Sprüche  von 
der  Freundschaft  gewissermafsen  als  Leitmotiv  zu  ver- 
folgen. Ein  dritter  könnte  in  den  Angriffen  auf  die  Götter 
des  Volksglaubens  die  Tendenz  sehen.  Den  letzten  Akt 
zu  übersehen  und  in  dem,  was  sinnlich  auf  der  Bühne 


*)  In  Georg  Forsters  Briefen  aus  Paris  findet  sich  die- 
selbe Gesinnung  wieder,  die  Herakles  und  Euripides  hier 
äufsern:  und  vielleicht  hilft  diese  Äüfserung  der  Verzweiflung 
dem  Leser  am  besten  dazu ,  den  tiefen  Schauder  nachzu- 
empfinden, den  Euripides  erwecken  will,  aber  erst  erweckt, 
wenn  man  durch  die  Hülle  der  Stilisierung  hindurch  dringt 
„für  mich  kann  weiter  nichts  mehr  sein  als  Arbeit  und  Mühe 

—  um  was?  um  elende  Selbsterhaltung  in  einem  genufs- 
und  freudeleeren  Dasein.  Hundertmal  habe  ich  nun  schon 
erfahren,  dafs  es  gröfser  ist  zu  leben  als  zu  sterben.  Jeder 
elende  Hund  kann    sterben.     Aber  wenn  hernach   der  Teufel 

—  oder  wer  ist  der  schadenfrohe  zähnefletschende  Geist  in 
uns,  der  so  einzusprechen  pflegt?  —  wenn  der  fragt,  was 
ist  dir  nun  die  Gröfse?  bist  du  nicht  ein  eitler  Narr,  dich 
fm-  besser  als  andere  zu  halten?  O  mein  Gott,  da  versink' 
ich  in  meinem  Staub,  nehme  meine  Bürde  auf  mich  und 
denke  nichts  mehr  als:  du  mufst,  bis  du  nicht  mehr  kannst. 
Dann  hat's  von  selbst  ein  Ende."  Sechs  Wochen  darauf  ist 
Forster  gestorben. 


291 

passiert  das  Wesentliche  zu  finden,  ist  den  Philistern  in 
Athen  gewifs  ihrer  Zeit  ebenso  begegnet,  wie  heute  den 
Philistern.  Aber  auch  abgesehen  von  diesen  geht  es 
nicht  an,  den  Inhalt  eines  so  tiefen  Gedichtes  in  ein 
kurzes  Schlagwort  zusammen  zu  fassen.  Die  ganze 
Heraklessage  hat  Euripides  in  sich  aufgenommen,  sie  hat 
€r  aus  seinem  Geiste  neugeboren,  nicht  die  vereinzelte 
Geschichte  vom  Kindermorde,  sondern  den  innersten 
Gehalt  der  ganzen  Sage.  Ohne  Zweifel  ist  dabei  ein 
durch  und  durch  disharmonisches  Werk  herausgekommen, 
und  dafs  die  Disharmonieen  gewollt  sind,  dafs  sie  aus 
der  ganzen  Anlage  mit  Notwendigkeit  folgten,  mildert 
sie  nicht.  Im  ersten  Teile  wird  mit  der  alten  Sage  auch 
ihr  Hintergrund,  der  Glaube  an  die  Götterwelt,  ihre 
Wunder  und  Widersprüche  anerkannt.  Das  hebt  der 
Dichter  im  zweiten  Teile  nicht  blofs  implicite  auf.  Was 
soll  es,  dafs  Theseus  noch  zuletzt  von  dem  Hasse  Heras 
redet?  Was  sollen  wir  von  dem  Eingreifen  Athenas 
halten,  das  doch  der  Chor  in  wunderbarer  Vision  spürt, 
wenn  Herakles  und  Amphitryon  es  ignorieren?  Dem 
Inhalte  entspricht  die  Stilisierung.  Die  prachtvollen 
Lieder,  die  die  alte  Heraklessage  teils  erzählen,  teils 
deuten,  tragen  fast  archaische  Züge.  Die  Göttererschei- 
nung i),  ihr  Reflex  in  dem  visionären  Liede  während 
der  Mordthat,  und  der  Botenbericht  können  als  Fort- 
bildungen aischyleischen  Stiles  gelten.  Daran  schliefst 
sich  die  Schlafscene,  gehalten  in  den  damals  aller- 
modernsten  metrischen,  also  auch  musikalischen  Formen, 


1)  Hier  ist  allerdings  Iris  mit  anstöfsiger  Geflissentlich- 
keit als  die  Kammerdienerin  Heras  charakterisiert,  und  dafs 
Lyssa,  die  doch  nichts  ist,  als  die  personifizierte  Raserei, 
zuerst  ihrer  Mission,  also  ihrem  Wesen  widerstrebt,  hebt  sie 
eigentlich  auf.  In  beidem  ofiPenbart  sich  ein  Hafs  gegen  die 
Götter,  wie  sie  die  Sage  und  der  naive  Glaube  bot,  der  zwar 
der  Kritik  aus  Xenophanes  präludiert,  aber  die  Götter  wirklich 
für  die  Bühne  ungeeignet  macht. 

19* 


292 

auch  sie  voll  buntester  Bewegung.  Und  dem  gegenüber 
der  Schlufsteil.  Sobald  Herakles  erwacht,  ist  von  Hand- 
lung, was  man  so  zu  nennen  pflegt,  kaum  noch  die  Rede. 
Der  Chor  wird  geradezu  als  nicht  vorhanden  behandelt; 
selbst  bei  dem  Auftreten  des  Theseus,  wo  doch  eine 
Gesangpartie  eingelegt  ist,  schweigt  er.  Und  statt  der 
bewegten  Bilder  und  des  lebhaften  Spieles,  nicht  blofs  in 
der  Wahnsinnsscene,  sondern  auch  im  ersten  Teile,  ver- 
harrt nun  Herakles,  an  dem  unser  Interesse  hängt,  unbe- 
weglich vor  der  Säule  sitzend,  und  treten  erst  Amphitryon, 
dann  Theseus  nur  ein  paar  mal  an  ihn  heran:  im  wesent- 
lichen bewegt  sich  nur  das  Gespräch  hin  und  her,  nicht 
die  Redner,  und  wenn  der  Schlufs  ein  plastisches  Bild 
voll  rührendsten  Affektes  bietet,  Herakles  seinen  Arm 
um  des  Freundes  Schulter  schlingend  und  schwankenden 
Schrittes  von  der  Bühne  fortziehend,  so  hebt  der  Dichter 
hervor,  dafs  dieses  Bild  als  Widerspiel  des  ungleich 
reicheren  gedacht  ist,  welches  die  Scene  des  rettenden 
Herakles  abschlofs.  In  allem  dem  ist  der  Wille  unver- 
kennbar, etwas  anderes,  neues,  schlicht  menschliches  im 
Gegensatze  zu  dem  Herkömmlichen,  bunt  Mythischen  zu 
liefern.  Dem  entspricht  auch  die  Führung  des  Dialoges 
und  die  sprachliche  Stilisierung.  In  schlichtesten  Worten 
die  tiefsten  Gedanken,  zwar  oft  zur  allgemein  giltigen 
Sentenz  abgeschliffen,  aber  nicht  als  Schmuckstück,  gleich 
gut  und  schlecht  überall  aufzusetzen,  sondern  durch  den, 
der  den  Spruch  prägt,  und  den  Ort,  wo  er  es  thut,  be- 
deutsam. Es  ist  eine  jener  euripideischen  Partieen,  die 
mit  dem  konventionellen  attischen  Stile  wirklich  streiten, 
noch  viel  mehr  also  mit  den  konventionellen  Vorstellungen 
der  Modernen  von  attischer  Weise.  So  darf  die  'Antike* 
nicht  empfinden  und  dichten;  das  ist  gleichermafsen 
wider  die  Hoffart  der  'Modernen',  wie  wider  die  Be- 
schränktheit derer,  die  sich  dem  'Geiste  des  Alter- 
tums', d.  h.  dem  konventionellen  Heroentume  des  Classi- 


293 


cisraus,  zum  Sklaven  geben.  Ob  es  sein  höchstes  ist, 
was  Euripides  mit  solchen  Partieen  erreicht  hat,  stehe 
dahin :  ein  höchstes ,  was  ihm  kein  Tragiker  vor  Goethe 
(auch  Shakespeare  nicht)  nachgethan  hat,  ist  es  gewifs, 
wenn  es  auch  von  der  Philistermasse  auf  der  Bühne 
eben  so  wenig  gewürdigt  sein  mag,  wie  heute  die  Natür- 
liche Tochter  oder  der  Schlufs  des  Tasso,  mit  dem 
man  diesen  Schlufs  wohl  vergleichen  mag. 

Aber  je  mehr  man  bei  tieferem  Einleben  der  Schön- 
heit der  einzelnen  Teile  und  der  Bedeutsamkeit  des  Ganzen 
bewufst  wird :  die  Disharmonie  tritt  um  so  greller  hervor, 
und  es  mag  wohl  Menschen  geben,  denen  es  trotz  aller 
Empfänglichkeit  für  Poesie  nicht  möglich  ist,  diesen 
peinlichen  Eindruck  zu  überwinden.  Die  haben  dann 
nicht  Unrecht,  wenn  sie  urteilen,  dafs  Euripides  bei 
seinem  Glauben  keinen  Herakles  hätte  dichten  sollen, 
die  ihm  vielleicht  die  Tragödie,  das  kirchliche  Festspiel, 
überhaupt  verwehren  möchten.  Und  doch  folgte  er  dem 
Gotte  in  seinem  Busen,  wenn  er  mit  den  Mitteln  seiner 
Kunst,  die  er  beherrschte  wie  wenige,  als  Lehrer  seines 
Volkes,  ein  Amt,  das  er  nicht  leicht  nahm,  aussprach 
und  darstellte  was  er  dachte  und  fühlte.  Die  Dishar- 
monie, ach  die  empfand  er  selbst  am  schmerzlichsten. 
Sein  Herz  blutete:  mit  seinem  Herzblut  hat  er  dieses 
Werk  geschrieben.  Wie  es  auch  sei,  das  kann  auch 
derjenige,  dem  es  zu  peinlich  ist,  nicht  verkennen,  dafs 
ihm  die  Musen,  denen  er  Treue  gelobte,  die  Treue  er- 
widert haben. 


EURIPIDES 

HERAKLES. 


PERSONEN. 

Iris,  die  Dienerin  der  Hera. 
Lyssa,  die  Raserei. 

Herakles. 

Megara,  seine  Gattin. 

Amphitryon,  sein  Vater. 

Lykos,  Tyrann  von  Theben. 

Theseus. 

Ein  Bote. 


Drei  Knaben,  Söhne  des  Herakles.     Gefolge  des  Lykos 
und  des  Theseus. 


Die  Hinterwand  der  Bühne  bildet  der  Palast  des  Herakles  in 
Theben;  in  der  Mitte  eine  gewaltige  Flügelthür.  Vor  dem  Hause 
in  der  Mitte  der  Bühne  ein  großer  Altar,  auf  dessen  Stufen 
Amphitryon,  Megara  und  die  drei  Meinen  Sohne  des  Herakles  sitzen. 

Amphitryon. 
Wer  kennt  ihn  nicht,  der  seines  Weibes  Liebe 
mit  Zeus  geteilt,  Amphitryon  von  Argos, 
Alkaios  des  Persiden  Sohn,  den  Vater 
des  Herakles.     Ich  bin's.     In  Theben  hier 
hab'  ich  mein  Haus  gegründet,  wo  die  Saat 

6  der  erdgebornen  Sparten  aufgesprossen, 
aus  deren  Reihen  eine  kleine  Schar 
Ares  verschonte,  die  in  ihren  Enkeln 
blühend  die  Kadmosstadt  bevölkerten. 
Kreon,  Menoikeus'  Sohn,  der  König  selber, 
war  ihres  Blutes.     Seine  Tochter  ist's 
die  hier  sitzt,  Megara.     In  hellem  Jubel 

10  sang  einst  zum  Flötenschall  ihr  Hochzeitslied 
das  Volk  des  Kadmos,  da  zu  meinem  Hause 
als  Braut  der  grofse  Herakles  sie  führte. 
Dann  zog  mein  Sohn  von  Theben,  wo  ich  mir 
ein  Heim  geschaffen,  weg,  verliefs  sein  Weib 
und  seine  Schwäher,  wollt'  in  Argos  wieder 

16  und  im  Kyklopenbau  Mykenes  wohnen, 
die  mit  dem  Blut  Elektryons  befleckt 
ich  meiden  mufs.     Und  da  nun  Herakles 
vom  Bann  mich  lösen  und  das  Vaterland 


298 


sich  öffnen  wollte,  bot  er  dem  Eurystheus 
für  unsre  Heimkehr  einen  hohen  Preis: 

20  die  ganze  Welt  zu  säubern,  zu  befrieden. 

Das  war  vielleicht  ein  Wahnsinn,  ihm  von  Hera 
gesandt;  vielleicht  berief  ihn  nur  das  Schicksal 
an  die  Aufgabe  seines  Lebens.     Sieghaft 
bestanden  waren  all  die  andern  Kämpfe, 
da  stieg  er  in  die  Höhle  Tainarons 
zuletzt  hinab,  den  Höllenhund  zum  Licht 

25  zu  holen  —  und  von  da  kehrt  er  nicht  wieder. 
Nun  hat  man  sich  von  Alters  her  in  Theben 
erzählt  von  einem  Lykos,  der  der  Dirke 
Gemahl  und  Fürst  der  siebenthor'gen  Stadt 
gewesen  sei,  bis  auf  den  weifsen  Rossen 

30  Zeus'  Zwillings  söhne,  Zethos  und  Amphion, 
erschienen  und  die  Herrschaft  sich  errangen. 
Von  dem  hat  kürzlich  ein  gleichnam'ger  Enkel, 
kein  Bürger  Thebens,  sondern  aus  Euboia 
einbrechend,  weil  die  Stadt  durch  Bürgerzwist 
zerrissen  war,  Kreon  gestürzt,  erschlagen, 
und  sich  zum  Herrn  an  seiner  statt  gemacht. 

36  Uns  aber  droht  des  Kreon  Schwäherschaft 
zum  allergröfsten  Unheil  auszuschlagen. 
Denn  während  Herakles  im  Schofs  der  Erde 
verzieht,  hat  dieser  neue  Landesherr 
Lykos,  die  Spuren  des  vergoss'nen  Blutes 
durch  neues  zu  verwischen,  sich  entschlossen, 

40  der  Söhne  Herakles'  und  seines  Weibes 
und  meiner,  wenn  ein  überlebter  Greis 
zu  rechnen  ist,  durch  Mord  sich  zu  entled'gen, 
damit  nicht  diese  Kinder  einst  als  Männer 
zu  blut'ger  Rechenschaft  ihn  für  den  Fall 
des  Kreontidenhauses  ziehen  könnten. 
Die  Knaben  steh'n  in  meiner  Hut,  denn  mir 

46  hat  scheidend  Herakles  sein  Haus  befohlen, 


299 


da  er  hinabstieg  in  das  Schattenreich. 
Um  also  Weib  und  Kinder  meinem  Sohne 
zu  retten,  hab'  ich  sie  hierher  geflüchtet, 
an  diesen  Altar  des  Erretters  Zeus; 
mein  Heldensohn  hat  ihn  als  Siegesdenkmal 

50  dem  Falle  von  Orchomenos  errichtet. 

So  harren  wir  denn  hier,  entblöfst  von  allem, 
von  Kleidung,  Speis'  und  Trank,  auf  nackter  Erde; 
das  Haus  ist  uns  verschlossen  und  versiegelt, 
auf  Rettung  keine  Hoffnung,  unsre  Freunde 

55  beweisen  meistens  sich  des  Namens  unwert, 
die  treuen  aber  können  uns  nicht  helfen. 
Das  lernt  der  Mensch  im  Unglück.     Möge  keiner, 
der  nur  ein  wenig  Mitleid  mit  mir  hat, 
solch  eine  Prüfungszeit  erleben  müssen, 
wo  sich  der  Wert  der  Freundschaft  offenbart. 
Megara. 

60  Mein  greiser  Vater,  einst  ruhmvoller  Feldherr, 
da  du  an  des  Thebanerheeres  Spitze 
die  Taphierburgen  brachst,  wie  ist  dem  Menschen 
doch  dunkel  alles  was  die  Götter  senden. 
Mir  schien  das  Glück  in  meinem  Yater  hold, 
denn  er  war  König,  und  dem  Blick  der  Welt 

66  scheint  jede  Krone  ja  im  vollen  Glänze 
beneidenswerter  Seligkeit  zu  strahlen; 
und  auch  das  Vaterglück  war  ihm  beschieden, 
und  seiner  Tochter  segensreicher  Bund 
führt'  Herakles  als  Schwiegersohn  ihm  zu  — 
und  jetzt  ist  all  das  ab  und  tot,  und  wir, 

70  du,  Greis,  und  ich,  wir  rüsten  uns  zum  Tode, 
so  auch  die  Söhne  Herakles',  die  Brut, 
die  Schutz  sich  unter  meinem  Fittich  sucht. 
Bald  kommt  der  eine  fragen,  bald  der  and're, 
„Mutter,  wo  ist  der  Vater  hin?    Was  macht  er? 

75  Wann  wird  er  wieder  kommen?"    Kindisch  spielend 


300 

geh'n  sie  den  Vater  suchen.    Ich  erzähle 
dann  Märchen,  sie  in  Ruh'  hineinzureden  — 
da  geht  die  Thtir,  sie  stutzen,  springen  auf, 
sich  an  des  lieben  Vaters  Knie  zu  schmiegen. 

80      Nun  also,  hast  du  einen  Ausweg,  Vater, 
auf  Rettung  eine  Hoffnung?     Deiner  harr'  ich, 
denn  heimlich  in  die  Fremde  zu  entweichen 
ist  schwerlich  möglich:  allzu  starke  Wachen 
steh'n  an  den  Thoren;  dafs  von  Freunden  uns 
Erlösung  käme,  hoff'  ich  auch  nicht  mehr. 

85  So  teile  mir  denn  mit,  was  du  beschlossen: 
sonst  ist  der  Tod  uns  nah  und  unausweichlich. 
Amphitryon. 

88  Es  fällt  mir  schwer,  mein  Kind,  in  solcher  Lage 
nichts  als  der  Worte  bill'gen  Trost  zu  bieten; 

87  wir  sind  ja  machtlos:  lafs  uns  Zeit  gewinnen. 
Megara. 

90  Hast  du  nach  weitrem  Leiden  noch  Verlangen, 
oder  ist  dir  das  Leben  gar  so  süfs? 

Amphitryon. 
Das  Leben  lieb,  mein  Kind,  und  süfs  die  Hoffnung. 

Megara. 
Auch  mir  so  süfs;  allein,  mein  greiser  Vater, 
was  man  nicht  hoffen  kann,  soll  man  nicht  hoffen. 

Amphitryon. 
Der  Krankheit  Aufschub  birgt  der  Krankheit  Heilung. 

Megara. 
Ich  fühle  nur  der  Ungewifsheit  Marter. 
Amphitryon. 

95  Ist  es  unmöglich,  dafs  in  dieser  Not, 

die  uns  umfängt,  ein   günst'ger  Umschwung  komme? 
kann  nicht  mein  Sohn,  dein  Gatte,  wiederkehren? 
Nein,  fasse  dich  und  stille  deinen  Kindern 
die  Thränen,  treib'  dein  bittres  Trostgeschäft 

100  mit  süfsen  Märchen  ihre  Furcht  zu  täuschen. 


301 


Auch  des  Geschickes  Stürme  legen  sich, 
so  gut  wie  der  Orkan  nicht  ewig  wütet, ' 
und  jedes  Menschenglück  ein  Ende  hat: 
denn  Leben  ist  Bewegung,  auf  und  ab. 
105  Der  ist  der  Tapferste,  der  das  Vertrauen 
auf  seine  Hoffnung  stets  bewahrt:  ein  Feigling 
wer,  wo  er  keinen  Ausgang  sieht,  verzweifelt. 

Chor, 

thebanische  Greise,  bekränzt,  Stäbe  in  den  Händen,  zieht  von  der 

Seite  herein  und  singt  dabei,  zuerst  den  meisten  Zuschauern  noch 

unsichtbar. 

Auf  zum  Schlofs  empor, 

zu  des  greisen  Freundes  Bett. 

Meine  Schritte  stützt  der  Stab, 

Wehruf  heb'  ich, 
110  gleich  dem  Schwan  ein  grauer  Sänger. 

Nur  ein  Schall  noch  bin  ich,  eines  Traumes 

nachtgebornes  "Wahngebild. 

Aber  schwank'  ich  auch, 

treu  doch  bin  ich  euch  geblieben, 

armen  vaterlosen  Waisen, 
115  altersschwachem  Kameraden, 

ihr,  die  seufzend  ruft  den  Gatten, 

den  der  Hades  drunten  hält. 

Fufs,  erlahme  nicht, 

spröde  Sehnen,  haltet  aus; 
120  freilich,  wenn  es  steilen  Hang 

aufwärts  ziehn  soll, 

lahmet  leicht  das  Rofs  am  Wagen. 

Fafs'  am  Arm,  am  Kleide  den  Genossen, 

wem  der  schwanke  Tritt  versagt. 
125  Stütze,  Greis,  den  Greis. 
127  Einst  im  Jugendmute  standest 


302 

126  jugendmut'gem  Kameraden 

Schild  an  Schild  du  ihm  zur  Seite, 
würdig  unsres  Vaterlandes, 
da  noch  ruhmvoll  Theben  war. 
Der  Chor  hat  nun   seinen  Platz  auf  der  Bühne,   zu   Seiten   des 

Altar  es,  auf  dem  die  Schauspieler  sitzen,  eingenommen. 
130  0  seht  sie  an,  in  ihren  Augen  funkelt 
des  Vaters  Trotz; 
des  Vaters  schwer  Geschick  ruht  auf  den  Söhnen: 

die  Dankbarkeit, 
die  wir  ihm  schulden,  gilt  auch  seinen  Kindern. 
135  Hellenenland, 

die  Knaben  wären  dir  emporgesprossen 
zu  Schirm  und  Schutz: 
du  wirst  sie  einst  vermissen. 

Chorführer. 
Es  naht  sich  Lykos,  unsres  Landes  Herrscher; 
dort  am  Palaste  seh'  ich  ihn  erscheinen. 

Lykos 

kommt  von  derselben  Seite  wie  vorher  der  Chor;  betoafnete 
Trabanten  folgen  ihm. 

140  Ich  frag'  euch,  Herakles'  Gemahl  und  Vater, 

so  ich  es  darf,  und  darf  euch  alles  fragen 

was  mir  beliebt,  denn  ich  bin  euer  Herr. 

Wie  lange  wollt  ihr  noch  das  Leben  schleppen? 

Wo  seht  ihr  Hoffnung,  Rettung  wo  vom  Tode? 
145  Vertraut  ihr  etwa,  dieser  Kinder  Vater, 

der  drunten  liegt  im  Hades,  kehre  wieder? 

Auch  weifs  ich  nicht,  was  ihr  denn  so  gewaltig, 

weil  euch  der  Tod  gewifs,  zu  klagen  habt. 

Da  sprengtest  du  die  leere  Prahlerei 

in  Hellas  aus,  Amphitrj-on,  dafs  Zeus 

Mitvater  deines  Sohnes  sei,  und  du 
160  rechnest  auf  Rücksicht,  denn  du  seist  die  Gattin 

des  ersten  Helden.     Was  ist  nur  dabei 


303 


Erhabnes,  wenn  er  eine  Wasserschlange 
erschlagen  oder  den  nemeischen  Löwen? 
Den  will  er  mit  den  Schlingen  seiner  Arme 
erdrosselt  haben,  hat  ihn  aber  wohl 
gefangen  in  den  Schlingen  einer  Falle. 

165  Und  das  sind  eure  Gründe!     Darauf  hin 
soll  ich  des  Herakles  Geschlecht  verschonen! 
Was  ist  denn  Herakles?    Den  Ruf  des  Mutes 
hat  er  im  Kriege  wider  wilde  Tiere 
gewonnen.     Darin  mag  er  tapfer  sein, 

sonst  nirgend.     Kam  doch  nie  an  seine  Seite 
160  ein  Schild,  noch  kam  er  jemals  in  Berührung 
mit  einem  Speere.     Seine  Waffen  sind 
die  feigen  Pfeile,  seine  Kunst  die  Flucht. 
Doch  Mannesmut  hat  keiner  noch  bewiesen 
als  Bogenschütze.    Dazu  heifst  es  fest 
im  Gliede  stehen  können  und  den  Anlauf 
des  Lanzenwaldes  festen  Aug's  ertragen. 

166  Mein  Handeln  aber,  alter  Mann,  ist  Klugheit, 
nicht  Grausamkeit.     Ich  weifs,  ich  habe  Kreon 
erschlagen,  und  ich  sitz'  auf  seinem  Thron: 

er  war  der  Vater  Megaras,  so  werd'  ich 
doch  nicht  gestatten,  dafs  in  seinen  Söhnen 
Bluträcher  meinem  Opfer  auferstehn. 
Amphitryon. 

170  Was  Zeus  an  dir  gehört,  mein  Sohn,  mag  Zeus 
verteidigen.     Des  Lykos  thöricht  Schmähn 
mit  Worten  hier  für  dich  zurückzuweisen, 
das  ist  auch  meines  Amts.    Ich  darf  nicht  dulden, 
dafs  du  beschimpft  wirst,  weise  drum  zurück 
zuerst  die  Lästerung  —  ja,  Lästerung 

175  ist  es,  der  Feigheit  Herakles  zu  zeihn. 
Und  meine  Zeugen  sind  die  Götter  selber. 
Den  Blitzstrahl  ruf  ich  auf,  den  Donnerwagen, 
auf  dem  er  fuhr  nach  der  Gigantenschlacht, 


304 


wo  sich  sein  Pfeil  dem  erdgebor'nen  Riesen 
mit  sich'rem  Fluge  durch  die  Rippen  bohrte, 

180  und  er  der  Himmlischen  Triumphzug  teilte. 
Geh  hin  zur  Pholoe,  zu  der  Kentauren 
vierschenklich  ungeschlachtem  Frevlerstamm, 
du  feigster  der  Tyrannen,  frage  die, 
wem  anders  sie  den  Ehrenpreis  des  Mutes 
als  ihm  zusprechen,  den  du  feige  schiltst. 

185  Ja  geh'  nur  nach  Euboia,  frage  dort  — 

dich  werden  sie  nicht  nennen;  selbst  die  Heimat 
kann  dir  nicht  eine  Heldenthat  bezeugen. 

Du  schiltst  auf  Pfeil  und  Bogen,  lerne  denn 
von  mir,  wie  sinnreich  die  Erfindung  ist. 

190  Der  Lanzenkämpfer  ist  der  Waffe  Sklave, 

193  wenn  ihm  die  Spitze  bricht,  so  ist  er  wehrlos, 

194  denn  eine  Waffe  nur  verteidigt  ihn; 

191  und  ficht  mit  Schlechten  er  in  einem  Gliede, 

192  so  fällt  er  durch  des  Nebenmannes  Feigheit. 

195  Dagegen  wessen  Hand  den  Bogen  führt, 

der  hat  den  Vorzug  (und  das  ist  der  gröfste), 
auch  wenn  er  tausend  Schüsse  schon  gethan, 
so  fehlt  ihm  nicht  die  Waffe,  sich  zu  wehren. 
Auch  trifft  von  ferne  sein  Geschofs;  der  Feind 
sieht  sich  getroffen,  sieht  doch  nicht  von  wem. 

200  Er  aber  steht  gedeckt  und  bietet  nicht 

dem  Gegner  seinen  Leib.     Das  ist  im  Kriege 
die  höchste  Kunst,  vom  Zufall  unabhängig 
dem  Feind  zu  schaden,  selbst  sich  wohl  zu  wahren. 
Dies  meine  Gründe.     Was  du  aufgeworfen, 

205  hab'  ich  in  jedem  Punkte  widerlegt. 

Nun  aber,  warum  sollen  diese  Knaben 
sterben?     Was  haben  sie  dir  Leids  gethan? 
Freilich,  hier  teil'  ich  deine  Schätzung  ganz: 
du  fürchtest  dich  in  deiner  Nichtigkeit 
vor  diesen  Heldenkindern;  aber  hart 


305 

210  ist's  doch  für  uns,  wenn  deine  Feigheit  wir, 
die  Tapfern,  mit  dem  Leben  büssen  sollen; 
denn  wenn  uns  Zeus  Gerechtigkeit  erwiese, 
so  war'  es  umgekehrt.     Doch  willst  du  wirklich 
den  Thron  von  Theben  selbst  behaupten:  gut, 
gestatt'  uns  dann,  dafs  als  Verbannte  wir 

215  das  Land  verlassen.     Aber  brauche  nicht 
Gewalt,  sonst  wirst  du  selbst  Gewalt  erfahren, 
wenn  dir  einmal  das  Glück  den  Rücken  kehrt. 

0  Theben,  Theben, 
jetzt  mufs  ich  dir  des  Vorwurfs  bittre  Gaben, 
die  rings  ich  auszuteilen  habe,  reichen. 
Ist  das  die  Hilfe,  die  du  Herakles 
und  seinen  Söhnen  bringst?     Und  doch  war  er's, 

220  der  sich  allein  dem  Volk  der  Minyer 
entgegenstellte,  der  allein  bewirkte, 
dafs  Theben  wieder  frei  sein  Haupt  erhob. 
Auch  Hellas  mufs  ich  tadeln;  ja,  ich  spreche 
es  aus,  es  handelt  schnöd'  an  Herakles. 
Mit  Speer  und  Schild  und  Fackeln  sollt'  es  kommen, 

225  die  Knaben  hier  zu  retten,  ihrem  Vater 
der  See,  der  Erde  Säub'rung  zu  vergelten. 
Doch,  meine  Kinder,  Theben  nicht  noch  Hellas 
beschützt  euch.     Euer  einz'ger  Schirm  bin  ich, 
und  ich  bin  nichts  mehr  als  ein  Schall  von  Worten. 

230  Dahin  ist  meine  Kraft.     Einst  schwellte  Stärke 
die  Glieder  mir,  jetzt  zittern  sie  vor  Alter  — 
ja  war'  ich  jung  und  meines  Armes  Herr, 
ich  fafst'  ein  Schwert  und  schlüge  jenem  Lykos 
die  blonden  Locken  blutig  rot,   ich  jagte 

235  den  Feigling  jenseits  des  Okeanos. 

Chorführer. 
Sei  auch  der  edle  Mann  nicht  flink  im  Reden: 
was  er  zu  sagen  habe,  weifs  er  stets. 

Griech.  Tragödien.    I.  20 


306 

Lykos. 
Mit  deinen  eitlen  "Worten  triff  mich  nur, 
ich  treffe  zum  Entgelt  dich  mit  der  That. 

240        Heda,  Trabanten,  ihr  zum  Helikon, 
ihr  zum  Parnasses;  die  Holzfäller  sollen 
Eichkloben  schneiden,  und  sobald  das  Holz 
herangefahren,  schichtet  mir  im  Kreise 
rings  um  den  Altar  einen  Scheiterhaufen 
und  brennet  die  da,  alle  wie  sie  sind, 

245  lebend'gen  Leib's  zu  Asche,  dafs  sie  lernen, 
dafs  heut'gen  Tags  in  Theben  nicht  der  Tote 
regiere,  dafs  jetzt  ich  der  König  bin. 

Euch  Greisen  aber,  die  ihr  meinem  Willen 
feindselig  seid,  euch  sag'  ich,  wenn  ihr  wagt 
aufzubegehren,  sollt  ihr  bald  nicht  blofs 
der  Herakleiden  Los  beweinen,  sondern 

250  des  eignen  Hauses  Mifsgeschick :  bedenkt, 
ich  bin  der  Herr,  und  ihr  seid  meine  Sklaven. 

Chorführer. 
Denkt  eurer  Ahnen,  Sparten,  die  der  Erde 
entsprossen,  keimend  aus  den  Drachenzähnen, 
die  Ares  aus  der  gier'gen  Kiefer  brach. 
Was  zaudert  eure  Hand,  den  Stab  zum  Streiche 

265  zu  heben,  der  euch  stützt?     Schlagt  ihr  nicht  blutig 
dies  Frevlerhaupt?    Er  ist  kein  Kadmossohn, 
der  Bettler,  und  er  herrscht  in  meinem  Erbe, 
der  hergelaufne  Fremdling.     Aber  nein, 
du  sollst  nicht  haben,  was  mit  sauren  Mühen 

260  sich  meine  Hand  erwarb.     Geh  nur  zurück, 
woher  du  kamst,  da  treibe  deine  Frevel. 
So  lang'  ich  lebe,  wirst  du  Herakles' 
Geschlecht  nicht  morden,  dazu  ist  der  Hades, 
der  ihn  gefesselt  hält,  nicht  tief  genug. 
Denn  du  hast  unsre  Stadt  zerstört  und  herrschest, 

26ö  er  that  ihr  gutes,  und  sein  Lohn  ist  Undank. 


307 

Und  da  ist's  unberufene  Einmischung, 
wenn  ich  eintrete  für  den  Freund  im  Grabe, 
wo  Freundschaft  er  am  dringendsten  bedarf! 

Der  Chor,  der  während  der  vorigen  Rede  mit  drohenden  Gebärden 

seine  Stöcke  erhebend  auf  Lyhos  zugegangen  ist,  tceicht  vor  dessen 

Trabanten  zurück,    die  sich  um  ihn  geschart   und  die  Speere  ge- 
fällt haben. 
Wie  sehnst  du  dich  nach  deinem  Speer,  mein  Arm; 
doch  du  bist  alt  und  morsch,  dein  Sehnen  ist 

270  vergebens.     Schweigen  lehrt'  ich  sonst  den  Mund, 
der  Sklave  mich  gescholten,  und  in  Ehren 
könnten  in  unsrer  Stadt  wir  wieder  wohnen, 
wo  du  dich  breit  machst,  weil  die  Bürgerschaft 
zwieträchtig  und  mifsleitet  sich  vergafs, 
sonst  wärst  du  nimmer  Thebens  Herr  geworden. 
Megara. 

275  Ich  dank'  euch,  treue  Greise;  freilich  ziemt 
dem  Freund  gerechter  Zorn  in  Freundessache; 
allein  ihr  dürft  nicht  in  Gefahr  geraten 
um  unsertwillen  eurem  Herrn  verfeindet. 
Vernimm  nun  meinen  Rat,  Amphitryon, 

280  ob  er  verständig  ist.     Gewifs,  ich  liebe 

die  Kinder;  könnt'  ich  anders  auch  als  lieben, 

die  ich  gebar  mit  Schmerzen  und  erzog? 

Auch  graut  mir  vor  dem  Tod.     Doch  's  ist  gemein, 

sich  wider  die  Notwendigkeit  zu  stemmen. 

Wir  müssen  sterben;  weil  wir's  müssen,  dürfen 

285  wir's  nicht  zerfetzt  von  Flammenzungcn  thun, 
als  Schauspiel  für  der  Feinde  Hohngelächter. 
Das  würd'  ich  schwerer  als  den  Tod  empfinden, 
denn  unsres  Hauses  Ehre  fordert  Mut. 
An  deinem  Namen  haftet  hoher  Kriegsruhm, 
und  das  verbeut  dir  einen  feigen  Tod. 

290  Für  meines  Gatten  Ruhm  —  da  brauchst  du  nicht 
erst  Zeugen  aufzurufen;  nein,  er  würde 

20* 


308 

das  Leben  seiner  Söhne  nimmermehr 

um  ihre  Schande  kaufen.    Wahrer  Adel 

fühlt  sich  in  seinen  Kindern  mit  getroffen. 

Ich  selbst  —  mufs  nach  des  Gatten  Vorbild  handehi. 

295  Hör'  auch  mein  Urteil  über  deine  Hoffnung. 
Du  glaubst  an  deines  Sohnes  Wiederkehr: 
wann  aber  war'  ein  Toter  auferstanden? 
So  sollen  wir  wohl  Lykos  milde  stimmen? 
Mit  nichten.    Mit  gemeinem  Gegner  soll 
man  überhaupt  vermeiden  zu  verhandeln. 

300  Dem  Mann  von  Bildung  aber  und  Erziehung 
kommt  man  entgegen  mit  Nachgiebigkeit; 
wo  Rücksicht  waltet,  ist  Verständ'gung  leicht. 
Auch  ist  mir  der  Gedanke  wohl  gekommen, 
Verbannung  für  die  Kinder  zu  erbitten. 
Allein  solch  ein  erbärmlich  Bettlerleben 

306  ist  auch  nur  elend.    Denn  man  sagt  mit  Recht, 
nur  einen  Tag  erblicke  der  Verbannte 
ein  freundliches  Gesicht  an  seinem  Wirte. 

So  gehe  denn  gleich  uns  dem  Tod  entgegen, 
dem  du  ja  doch  verfallen  bist.    Mein  Vater, 
ich  mahne  dich  an  deines  Blutes  Adel. 
Wer  ankämpft  wider  göttliches  Verhängnis, 

310  der  müht  sich  wohl  und  ringt,  allein  sein  Ringen 
und  Müh'n  ist  Thorheit.     Denn  was  mufs  geschehen^ 
geschieht;  kein  Mensch  vermag  es  je  zu  ändern. 

Chorführer. 
Wenn  ich  noch  Kraft  in  meinem  Arme  fühlte, 
dann  sollte  mir  schon  schleunig  stille  sein, 
wer  sich  an  dir  vergriffe.     Doch  ich  bin 
ohnmächtig.     Sieh  du  zu,  Amphitryon, 

315  wie  du  dich  der  Notwendigkeit  entziehst. 
Amphitryon. 
Den  Tod  zu  meiden  treibt  mich  nicht  die  Feigheit 
noch  Hang  am  eignen  Leben.     Nur  dem  Sohn 


309 

möcht'  ich  die  Kinder  retten;  doch  der  Wunsch 
scheint  unerfüllbar.     Nun  wohlan,  da  bin  ich, 
er  verlässt  den  Altar;   Megara  und  die  Kinder  folgen  ihm^ 

hier  hast  du  meinen  Kopf,  nun  zieh  das  Schwert. 
Gutwillig  stellen  sich  die  Opfer  dir 

320  zum  Foltern,  Schlachten,  Steinigen  bereit. 
Nur  eine  Gnade  bitten  wir,  mein  Fürst: 
gieb  vor  den  Kindern  mir  und  dieser  ärmsten 
Mutter  den  Tod.     Den  schaudervollen  Anblick 
erspar'  uns,  wie  im  Todeskampf  die  Kleinen 

325  nach  dem  Grofsvater  und  der  Mutter  rufen. 
Sonst  thu'  wie  dich's  gelüstet :  keiner  Waffe 
gebieten  wir,  des  Tod's  uns  zu  erwehren. 

Megara. 
Auch  ich  hab'  eine  Bitte;  beider  Wunsch 
erfüllst  du  leicht  mit  einem  Gnadenwort. 
Gestatte,  dafs  man  unser  Haus  mir  öffne 

330  (jetzt  sind  wir  ausgesperrt),  und  ich  die  Kinder 
zum  Tode  schmücke:  gönne  wenigstens 
den  Söhnen  das  von  ihres  Vaters  Erbe. 

Lykos. 
Das  sei  gewährt. 

Zu  detn  Gefolge: 

Trabanten,  löst  die  Riegel. 

Zu  den  Gefangenen: 

Geht,  nehmt  den  Schmuck;  mit  Kleidern  geiz'  ich  nicht. 
Doch  wenn  ihr  euren  Leib  mit  Festgewanden 
335  geschmückt  habt,  komm'  ich,  ihn  ins  Grab  zu  legen. 

Lykos  zur  Seite,  von  der  er  kam,  ah. 

Megara. 
Auf,  Kinder,  folget  eurer  armen  Mutter 
in  euer  Vaterhaus.     Noch  heifst  es  unser, 
doch  des  Besitzes  walten  andre  schon. 

Megara  und  die  Kinder  ab  ins  Haus. 


310 

AraphitryoD. 
Zeus,  meinem  Weib  bist  du  genaht  —  was  hilft  es? 

340  Zeus,  meines  Sohnes  Vater  hiefs  ich  dich  — 
was  hilft  es  mir?    Du  hieltest  nicht  die  Treue, 
die  ich  erwartet.     Grofser  Gott,  ich  Mensch 
bin  dir  an  Redlichkeit  weit  überlegen: 
Herakles'  Kinder  hab'  ich  nicht  verraten. 
Du  aber  wufstest  den  verbotnen  Weg 

345  zu  fremdem  Bett  vortrefflich  auszufinden, 
doch  Rettung  für  die  Deinen  weifst  du  nicht: 
an  Weisheit  fehlt  dir's,  Gott,  wo  nicht  an  Güte. 

Ab  ins  Haus. 

Chor. 
Greift  zu  festlichem  Gesänge 
Phoibos  in  der  goldnen  Laute 
350  melodienreiche  Saiten, 

so  beschliefst  der  Ruf  der  Klage 
seinen  Sang: 

aber  das  Lied,  das  dem  Helden  wir  singen, 
der  in  das  Dunkel  der  Erd'  und  der  Hölle 
schied  (sei  ein  Gott,  sei  ein  Mensch  nun  sein  Vater), 
355  werde  zum  Festlied,  flechte  zu  stolzem 
Kranz  seiner  herrlichen  Thaten  Gedächtnis: 
denn  die  Tugend,  bewährt  in  erhabenen 
Kämpfen,  ziert  noch  im  Tode. 
Erst  im  Haine  des  Zeus 
360       schlug  er  den  grimmigen  Leu'n, 

schlang  um  den  Rücken  das  Vliefs: 
über  dem  blonden  Gelock 
gähnte  der  feurige  Rachen. 

365  Der  Kentauren  wüste  Horden, 
die  in  wildem  Bergwald  hausten, 
streckten  seine  grimmen  Pfeile 


311 

mörderischen  Flugs  zu  Boden: 
zeugt  es  ihm, 

wallend  erbrausende  Flut  des  Peneios, 
endlose  fruchtbare  Thessalerfluren, 
die  ihr  zerstampft  eure  Saaten  erblicktet. 
370  Pelionschluchten,  Homolegründe, 

saget  es,  Nachbarn:   bewehret  mit  euren 
Fichten  brachen  sie  ein  in  Thessalien, 
das  ihre  Hufe  zertraten. 
376       Schlug  auch  das  scheckige  Reh, 

das  die  arkadische  Flur 

wühlte  mit  güldenem  Hörn, 

und  es  empfing  das  Geweih 

Artemis,  Herrin  des  Waidwerks. 

380  Halfterlos  an  blutbespritzten  Krippen 
schlangen  Diomedes'  Thrakerrosse 
wüsten  Frafs  in  unnahbarer  Wildheit; 
gierig  schroteten  die  eklen  Kiefern 
blut'ge  Glieder  von  zerrissnen  Menschen: 
385  aber  er  zwang  ihnen  ein  das  Gebifs  in  die  Mäuler, 
bändigte  sie;  sie  mufsten  den  Wagen  ihm  ziehen 
heim  nach  Myken  von  den  silbernen  Fluten  des  Hebros : 
und  Eurystheus'  Auftrag  war  vollendet. 
Wo  in  den  malischen  Golf 
390      sich  der  Anauros  ergiefst, 
fällte  den  Kyknos  sein  Pfeil: 
nicht  mehr  lauert  am  Weg 
mörd'risch  den  Gästen  der  Unhold. 

An  der  Erde  Westrand  steht  der  Garten, 
395  wo  der  Hesperiden  Lieder  schallen, 
in  dem  Laub  des  reichbelad'nen  Baumes 
schimmern  güldene  Äpfel,  doch  als  Wächter 
schlingt  sich  purpurn  um  den  Stamm  der  Drache: 


312 

aber  er  kam  und  erschlug  das  geringelte  Scheusal, 
400  pflückte  die  Frucht.    Er  stieg  in  die  Tiefen  des  Meeres, 
schuf  für  die  wilden  Gewässer  ein  sicheres  Bette: 
friedlich  fahren  nun  der  Menschen  Schifflein. 
Wo  auf  die  Erde  hinab 
nieder  der  Himmel  sich  senkt 
stemmt'  er  sich  gegen  die  Wucht, 
406      trug  er  des  himmlischen  Doms 
Sternenpaläste  für  Atlas. 

Wider  der  berittnen 
Amazonen  Scharen 
in  den  ströraereichen 
Steppen  der  Maeotis 
410  zog  er  durch  des  wilden 
Schwarzen  Meeres  Strudel, 
seinem  Heerbann  folgten 
Hellas  beste  Helden, 
nach  der  Arestochter 
goldgewirktem  Schmucke, 
415  auf  der  wilden  Jagd  des  Gürtels. 

Und  das  Kleinod  der  Barbarenjungfrau 
pranget  in  Mykenes  Schatzhaus 
als  Hellenenbeute. 

Dem  Wurme  von  Lerna 
420      brannt  er  aus  die  tausend 

mordzischenden  Häupter ; 

er  strich  ihren  Geifer 

an  seine  Geschosse: 

da  mufst'  ihm  erliegen 

Geryones'  Drillingskörper. 

426  Noch  von  manchen  Fahrten 
kehrt'  er  heim  als  Sieger; 
und  zur  letzten  Arbeit 


313 

stieg  ins  Reich  der  Thränen 
er  zum  Hades  nieder. 
Dort  hat  seines  Lebens 
Abschlufs  er  gefunden. 
Nimmer  kehrt  er  wieder, 
430  und  sein  Haus  steht  schutzlos. 
Charon  harrt  der  Kinder; 
gott-  und  rechtverlassen  gehen 
in  das  Reich  von  wannen  keine  Rückkehr 
bald  sie  ein.    Die  Deinen  harren 
435  deiner,  doch  du  fehlest. 
Ich  sollte  nur  kräftig 
mit  meinen  Genossen 
in  Jugend  noch  blühen: 
so  stünde  beschützend 
mein  Speer  vor  den  Kindern. 
Doch  ach,  wir  entbehren 
440       der  Jugend,  des  höchsten  Gutes. 
Aus    dem    Palaste    kommen    AmpJiitryon,    Megara   und    die 
Kinder,    diese   im  Festgeicande   und   mit  Bändern  und  Kränzen 
im  Haar. 

Chorführer. 
Sieh  da,  im  Leichenschmuck  die  weiland  Kinder 
des  einst  gewaltigen  Herakles;  sein  Weib 

445  zieht  ihre  Knaben,  die  sich  an  die  Füfse 

ihr  klammern,  mühsam  vorwärts;  hier  der  Greis, 
des  Helden  Vater  —  strömt  hervor,  ihr  Thränen: 

460  mein  altes  Auge  kann  euch  nicht  mehr  halten. 

Megara. 
Wohlan,  wo  ist  der  Priester,  wo  der  Schlächter? 
4ö3  Die  Opfer  sind  zum  letzten  Gang  bereit. 

So  führt  man  uns  in  jammervollem  Zuge 
465  zum  Tode,  meine  Kinder,  eines  Weges 

die  Mutter  mit  den  Söhnen,  Greis  und  Knaben. 


314 


Welch'  grausam  Schicksal,  meins  und  meiner  Kinder. 
Geboren  hab'  ich  euch,  hab'  euch  erzogen  — 
für  wen?     Nur  für  die  Feinde  wuchst  ihr  auf 
zu  Spott  und  Hohn,  zu  frevelhaftem  Morde. 

Ach  Gott, 
sie  geht  im  folgenden  zu  jedem  Kinde,  schließt  es  in  die 
Arme  und  herzt  es, 

460  wie  ist  mein  fröhlich  Hoffen  mir  gescheitert, 
das  eures  Vaters  Wort  in  mir  geweckt. 
Denn  dir  verlieh  der  Vater,  der  nun  tot  ist, 
das  Reich  von  Argos;  in  Eurystheus'  Schlofs 
solltest  du  wohnen,  solltest  König  sein 
in  des  Pelasgerlandes  reichen  Fluren; 

465  und  um  das  Köpfchen  hängt'  er  dir  die  Haut 
des  grimmen  Leu'n,  die  seine  Rüstung  war. 
Du  aber  warst  des  reis'gen  Thebens  Fürst; 
der  Vater  schenkte  dir,  weil  du  so  hübsch 
drum  batest,  die  Gefilde  meines  Erbteils; 

470  und  in  die  Hand  legt'  er  die  Keule  dir, 
die  schönbeschlagne  —  trügerisch  Geschenk. 
Und  die  des  Bogens  Meisterschufs  erwarb, 
die  Burg  Oichalias,  versprach  er  dir. 
So  träumte  stolz  in  Heldenkraft  der  Vater, 

475  drei  Söhnen  euch  drei  Reiche  zu  vermachen. 
Ich  aber  schaute  mich  nach  Bräuten  um, 
den  edelsten  und  schönsten,  aus  Athen, 
aus  Sparta  und  aus  Theben,  dafs  den  Mast 
an  eures  Glückes  Schiffe  fest  und  sicher 
der  würdigsten  Verwandtschaft  Taue  hielten. 

480  Und  das  ist  nun  dahin;  das  Glück  schlug  um. 
Als  Braut  umarmet  euch  die  Todesnächt, 
zum  Eh'bett  schmück'  ich  euch  das  Grab,  ihr  Ärmsten, 
und  der  Grofsvater  mufs  die  Hochzeit  rüsten, 
der  Schwäh'r  ist  Hades  —  graunvoU  Hochzeitsfest. 

485  Ach,  wen  von  euch  drück'  ich  zuerst  ans  Herz, 


315 

und  wen  zuletzt?     Für  wen  der  erste  Kufs, 
für  wen  der  letzte?     Könnt'  ich  wie  die  Biene 
doch  emsig  all'  den  Schmerz,  den  ich  um  alle 
empfinde,  sammeln  und  in  einem  Strom 
von  Thränen  allen  meinen  Gram  ergiefsen. 

490      Dir,  mein  Gemahl,  dir  ruf  ich,  Herakles, 
wenn  zu  den  Toten  dringt  ein  sterblich  Wort, 
erhöre  mich:  dein  Vater,  deine  Söhne 
sie  geh'n  zum  Tod,  zum  Tode  geh'  auch  ich, 
die  einst  die  Welt  als  dein  Gemahl  beneidet; 
hilf,  komm  und  sei's  als  Geist,  erscheine  mir: 

495  ja  selbst  als  Traumgebild  kannst  du  uns  retten, 
die  Feigheit  uns'rer  Mörder  flieht  vor  dir. 

Amphitryon. 
Mach'  alles  nur  bereit  zum  Tode,  Tochter, 

602  denn  dafs  wir  sterben  müssen,  scheint  gewifs. 
498  Ich  recke  meinen  Arm  empor  zu  dir, 

Zeus,  wenn  du  diese  Kinder  retten  willst, 
öoo  so  hilf,  ich  mahne  dich,  bald  ist's  zu  spät. 
Allein  dich  hab'  ich  schon  so  oft  gerufen, 

603  es  ist  verlor'ne  Müh'.     Ihr  greisen  Freunde, 
das  Menschenleben  währt  nur  eine  Spanne, 
und  doch,  es  wird  der  köstlichste  Genufs, 
wenn  man  den  Tag  dahinlebt  unbekümmert, 

605  was  Uns  der  Abend  bringe.     Denn  die  Zeit 
vermag  nicht  uns're  Wünsche  zu  erfüllen, 
sie  kommt,  giebt  was  sie  hat,  und  ist  vorüber. 
Seht  mich  nur  an.     Hoch  stand  ich  in  der  Welt, 
berufen  war  mein  Glück;  da  kam  das  Schicksal 

610  und  nahm  mir  alles,  spielend,  wie  die  Feder 
man  in  die  Lüfte  bläst.     Ob  irgend  wem 
Reichtum  und  Ruhm  beständig  sei  —  wer  weifs  es? 
So  lebt  mir  wohl,  die  ihr  ein  langes  Leben 
mir  treu  wart;  nimmer  sehen  wir  uns  wieder. 


316 

Megara. 
Mein  Vater, 

wie  wird  mir?     Seh'  ich  da  nicht  meinen  Trauten? 
Amphitryon. 
Ö16  Ich  weifs  nicht,  Tochter:  staunen  mufs  auch  ich. 
Megara. 
Er  ist  es,  den  wir  in  dem  Hades  glaubten, 
wenn  wir  kein  Traumbild  seh'n  am  hellen  Tag  — 
pfui  der  Kleingläubigkeit:  das  ist  kein  Traum, 
das  ist  er  selbst,  das,  Vater,  ist  dein  Sohn. 
620  Auf,  Kinder,  hängt  euch  an  des  Vaters  Kleider, 
herbei,  beeilt  euch,  lafst  nicht  los:  er  bringt 
euch  sich'rer  Hilfe  denn  der  Retter  Zeus. 
Herakles 

in  fürstlicher  Tracht,  ohne  Lötoenhaut,  aber  bewaffnet  mit  Kocher 
und  Bogen,   die  Keule  in  der  Hand.     Er  kommt   von  der  Seite, 
die  der  entgegengesetzt  ist,  von  der  Lykos  und   der  Chor  kamen, 
und  spricht  während  des  Gehens. 
Ich  grüfs'  euch.  Dach  und  Pforte  meines  Hauses. 
Wie  froh  bin  ich,  dem  Licht  zurückgegeben 
525  euch  wieder  zu  erblicken.     Ha,  was  ist  das? 
Die  Kinder  vor  dem  Hause?    Leichenschmuck 
auf  ihrem  Haupt?    In  einer  Schar  von  Männern 
mein  Eh'gemal?     Mein  Vater  dort  in  Thränen? 
Was  weint  er?    Nun  ich  tret'  hinzu  und  frage. 
630  Frau,  was  ist  unserm  Hause  zugestofsen? 
Megara. 
Mein  lieber  Gatte. 

Amphitryon. 

Kommst  du  doch  mein  Sohn, 
bist  du  gerettet,  rettend  Licht  dem  Vater. 

Herakles. 
Wie,  Vater?     Welches  Unheil  tref  ich  an? 
Megara. 
635  Zum  Tode  ging's.     Verzeih,  wenn  ich  vorweg 


317 

dir  vor  dem  Mund  die  Antwort  nehme,  Vater; 
ich  bin  ein  Weib,  mich  übermannt  die  Rührung, 
und  meine  Kinder  sollten  mit  mir  sterben. 

Herakles. 
Bewahr'  uns  Gott  vor  dem,  das  so  beginnt. 

Megara. 

Tot  ist  mein  Vater,  tot  sind  meine  Brüder. 

Herakles. 

640  Was  sagst  du?    wie  das?    welchem  Schwert  erlegen? 

Megara 

Lykos,  des  Landes  neuer  Fürst,  erschlug  sie. 

Herakles. 
In  offner  Feldschlacht  oder  durch  Verrat? 

Megara. 
Ein  Aufstand  bracht'  ihn  auf  den  Thron  der  Stadt. 

Herakles, 
Und  wie  bedrohte  dich  das  und  den  Vater? 
Megara. 
645  Der  Vater,  ich,  die  Kinder  sollten  sterben. 
Herakles. 
Wie?  diese  Waisen  schienen  Lykos  furchtbar? 

Megara. 
Sie  möchten  einst  den  Fall  des  Kreon  rächen. 

Herakles. 
Und  welch  ein  Aufzug?   Leichen  schmückt  man  so. 

Megara. 
So  waren  wir  schon  für  das  Grab  gerüstet. 
Herakles. 
650  Weh'  mir!  die  Hand  des  Todes  lag  auf  euch! 
Megara. 
Dich  hiefs  man  tot,  so  stand  uns  niemand  bei. 

Herakles. 
Woher  denn  diese  Kunde  der  Verzweiflung? 

Megara. 
Herolde  des  Eurystheus  brachten  sie. 


318 


Herakles. 

Doch  was  vermocht'  euch  aus  dem  Schlofs  zu  weichen  ? 

Megara. 

656  Gewalt;  sie  trieb  von  seinem  Bett  den  Vater. 

Herakles. 

Gewalt  an  einem  Greis?    Schämt'  er  sich  nicht? 

Megara. 
Lykos  und  Scham!  die  Göttin  kennt  er  nicht. 

Herakles. 
Und  wirklich,  weil  ich  fern  war,  half  euch  niemand? 

Megara. 

Wo  fände  je  der  Mensch  im  Unglück  Freunde! 

Herakles. 

660  Sind  ihnen  meine  Minyersiege  nichts? 

Megara. 

Noch  einmal  sag'  ich:  freundlos  ist  das  Unglück. 

Herakles. 
Fort  mit  dem  Leichenschrauck  aus  eurem  Haar, 
schlagt,  aus  des  Todes  Finsternis  erstanden, 
die  Augen  auf  zum  lieben  Sonnenlicht. 
666  Und  ich,  denn  hier  hat  dieser  Arm  zu  handeln, 
ich  gehe,  werfe  dieses  eingedrungnen 
Gewaltherrn  Thron  zu  Boden,  schlag'  sein  Haupt 
vom  Rumpfe,  werfs  den  Hunden  hin  zum  Frafse, 
und  die  Thebaner,  die  mir  meine  Thaten 
mit  Undank  lohnen,  schmettert  diese  Keule 
670  zu  Boden,  die  Genossin  meiner  Siege, 
durchbohren  diese  fittichschnellen  Pfeile. 
Mit  blut'gen  Leichen  dämm'  ich  den  Ismenos, 
und  purpurn  färbt  sich  Dirkes  klarer  Born. 
Wem  sollt'  ich  denn  bereiter  sein  zu  helfen 
676  als  Kindern,  Gattin,  Vater?   Fahrt  dahin, 
ihr  Siege,  heute  gilt  es  mehr  als  euch. 
Und  wenn  sie  sich  für  mich  geopfert  haben, 
so  mufs  auch  ich  für  sie  dem  Tod  mich  bieten. 


319 


War'  es  ein  Ruhm,  dafs  auf  Eurystheus'  Wort 
Ö80  mit  Löwen  und  mit  Drachen  ich  gestritten, 
wenn  heut  ich  meiner  eignen  Kinder  Tod 
zu  wehren  zagen  wollte.     Nein,  dann  war'  es 
vorbei  mit  Herakles,  dem  nie  Besiegten. 

Chorführer. 
Ein  würdig  Werk  freiwilligen  Entschlusses, 
den  greisen  Vater,  Weib  und  Kinder  retten. 

Amphitryon. 
685  Der  Freunde  Schutz,  der  Feinde  Trutz,  du  bist's 
und  sollst  es  sein.     Doch  übereile  nichts. 

Herakles. 
687  Was  ist  in  meinem  Plane  vorschnell,  Vater? 

Amphitryon. 
693  Dein  Einzug  ist  bemerkt;  da  du  bemerkt  bist, 

so  sieh  dich  vor,   dafs  nicht  dein  Anschlag  scheit're, 
wenn  du  dem  Feinde  Zeit  zum  Sammeln  läfst. 

Herakles. 
595  Mich  möchte  meinethalb  die  ganze  Stadt 
gesehen  haben;  aber  unterwegs 
war  mir  ein  übler  Vogelflug  begegnet, 
der  mir  verriet,  dafs  euch  ein  Unglück  zustiefs. 
Drum  zog"  ich  mit  Bedacht  verborgen  ein. 

Amphitryon. 

Gut  denn.  So  komm,  begrüfse  deinen  Herd 
600  und  gönne  deines  Angesichtes  Anblick 

dem  Vaterhause.    Lykos  kommt  schon  selbst, 

zum  Tode  Megara  und  deine  Knaben 

hinweg  zu  schleppen  und  auch  mich  zu  schlachten. 

Hier  aber  ihn  erwarten  hat  den  Vorteil 

der  Sicherheit  voraus  und  hindert  nichts; 

nur  setze  nicht  die  ganze  Stadt  in  Aufruhr, 
606  eh'  dieses  dir  gelungen,  lieber  Sohn. 


320 


Herakles. 
Ich  wiH's,  du  rätst  mir  gut.     So  tret  ich  ein. 
Spät  kehr'  ich  aus  dem  Reich  der  Finsternis, 
den  Klüften  Plutons  und  Persephones, 
nach  Haus  zurück.     Ich  darf  den  ersten  Grufs 
den  Göttern  meines  Hauses  nicht  versagen. 
Amphitryon. 
610  So  warst  du  wirklich  in  der  Unterwelt? 
Herakles. 
Sogar  den  Kerberos  bracht'  ich  empor. 

Amphitryon. 
Zwangst  du  ihn,  oder  schenkt'  ihn  dir  die  Göttin? 

Herakles. 
Ich  zwang  ihn;  sieghaft  durch  Eleusis'  Weihen. 

Amphitryon. 
Und  ist  das  Ungeheu'r  schon  in  Mykene? 
Herakles. 
615  Nein,  in  Hermione,  in  Koras  Hain. 
Amphitryon. 
So  weifs  Eurystheus  deine  Heimkehr  nicht? 

Herakles. 
Noch  nicht.     Ich  kam  erst  her,  nach  euch  zu  sehen, 

Amphitryon. 
Wie  aber  bliebst  im  Hades  du  so  lange? 

Herakles. 
Theseus  hab'  ich  erlöst;  das  hielt  mich  auf. 
Amphitryon. 
620  Wo  ist  er?     Nach  der  Heimat  wohl  zurück? 
Herakles. 
Ja,  nach  Athen  hat  er  sich  aufgemacht, 
froh,  aus  der  Unterwelt  entfloh'n  zu  sein. 

Doch  auf,  ihr  Kinder,  kommt  mit  eurem  Vater 
ins  Haus  zurück,  und  froher  ist  der  Eingang 
625  als  euer  Ausgang  war.     So  habt  doch  Mut, 
hört  auf  mit  Weinen;  fafs'  dich,  liebes  Weib, 


321 

du   brauchst  nicht  mehr  zu  zittern.    Lafst  doch  los, 

ich  habe  keine  Flügel,  und  ich  will 

euch,  meine  Liebsten,  wahrlich  nicht  verlassen! 
0, 

sie  lassen's  nicht,  sie  hängen  sich  nur  fester 
630  mir  an  die  Kleider.     War  der  Tod  so  nah? 

Nun  wohl,  so  heb'  ich  euch  mit  meinen  Armen 

und  ziehe  sacht  euch,  wie  ein  Lastschiff  vorwärts. 

Ich  schäme  mich  des  Liebesdienstes  nicht. 

Menschlich  Gefühl  ist  überall  dasselbe, 

und  Fürst  und  Sklave  hängt  an  seinen  Kindern: 
635  das  Geld  alleine  scheidet  hoch  und  niedrig, 

in  uns'rer  Kinder  Liebe  sind  wir  gleich. 

Alle  ab  in  den  Palast. 

Chor. 
Jugend,  dich  lieb'  ich,  Alter  du  drückest 
schwerer  als  Aetnas  Felsen  mein  Haupt, 
hast  meiner  Augen  Licht  mir  umschleiert. 
Weder  des  Persers  üppigen  Thron, 
645  weder  ein  Haus  voll  Gold  bis  zum  Giebel 
möcht'  ich  tauschen,  Jugend,  um  dich. 
Süfs  bist  du  dem  König, 
süfs  bist  du  dem  Bettler: 
660  aber  das  leidige  neidische  Alter 
hafs  ich  von  Herzen. 

0  dafs  es  die  Winde  jagten 

fern  hinaus  in  öde  Meere; 

war'  es  nie  hinabgestiegen 

in  die  Wohnungen  der  Menschen; 

möge  doch  am  Himmel  droben 

ewiglich  sein  Fittich  kreisen. 

655  War'  in  dem  Himmel  vernünftiges  Einsehn 
und  bei  den  Menschen  gesunder  Verstand: 

Griech.  Tragödien.     I.  21 


322 

doppeltes  Leben  wäre  des  Guten 
kenntliches  Zeichen.     Wieder  zum  Lichte 
660  kehrt'  er  vom  Grabe;  doch  die  Gemeinheit 
wäre  mit  einfachem  Leben  dahin. 
Dann  könnte  man  scheiden 
665  die  Guten  und  Schlechten, 

wie  an  dem  wolkigen  Himmel  der  Schiffer 
zählet  die  Sterne. 

Doch  so  gaben  uns  die  Götter 
für  die  Edlen,  für  die  Bösen 
670      kein  bestimmt  Erkennungszeichen, 
sondern  alles  steigt  und  sinket, 
wie  das  Zeitenrad  sich  drehet; 
nur  das  Geld  bleibt  immer  oben. 

Allzeit  will  ich  zu  holdem  Vereine 
676  Chariten  laden  und  Musen: 
ohne  die  Kunst  kein  Leben, 
immer  kränze  mein  Haupt  der  Epheu. 
Grau  ist  der  Sänger:  doch  tönet  sein  Lied, 
tönt  der  Erinn'rung  der  Mutter  der  Musen, 
(380  tönet  den  Siegen  des  Herakles. 

Bei  dem  Wein,  des  Gottes  Gabe, 
bei  dem  Klang  der  vollen  Laute, 
686      bei  dem  Schall  der  fremden  Flöte 
stellt  sich  noch  immer 
ein  meine  Meisterin  Muse. 

Paean  schallet  dem  Sohne  der  Leto, 

wenn  sich  in  festlichem  Reigen 
690  delische  Jungfrauen  schwingen: 

schair  auch  dem  Herakles  hier  ein  Paean. 

Grau  ist  der  Sänger,  doch  tönet  sein  Lied 

(grau  ist  die  Kehle  des  singenden  Schwanes), 
695  gilt  doch  dem  Rechte  mein  Festgesang. 


323 

Zeus  erzeugt'  ihn:  seine  Thaten 

hoben  ihn  zu  höh'rem  Adel, 

denn  der  Welt  bracht'  er  den  Frieden, 

bracht  er  Gesittung, 
700      scheuchte  die  Schrecken  der  Wildnis. 

Lykos 
mit  Gefolge  kommt  von  der  Seite,  AmpJiitryon  aus  dem  Palaste. 

Zeit  ist  es,  dafs  du  aus  dem  Hause  kommst, 
Amphitryon;  zu  lang  hat  es  gewährt, 
dafs  ihr  euch  mit  Gewanden  und  mit  Binden 
zum  Tode  schmücktet.     Auf  denn,  rufe  du 
den  Kindern  und  der  Frau  des  Herakles, 
705  hier  zu  erscheinen:  habt  ihr  euch  doch  selbst 
erboten,  willig  euch  dem  Tod  zu  stellen. 

Amphitryon. 
Ftlrst,  du  verfolgst  mich,  weil  in  Not  ich  bin, 
vergreifest  dich  an  mir,  weil  mein  Beschützer 
gestorben  ist;  du  solltest  deine  Plane 
mit  Schonung  trotz  der  Übermacht  betreiben. 
710  Allein  du  zwingst  uns:  sterben  müssen  wir, 
so  müssen  wir  geduldig  auch  gehorchen. 

Lykos. 
Nun,  wo  ist  Megara,  wo  sind  die  Kinder? 

Amphitryon. 
Sie  wird,  wenn  ich  von  hier  vermuten  darf  — 

Lykos. 
Was  ist  mit  ihnen?     Was  vermutest  du? 
Amphitryon. 
716  Schutzflehend  an  dem  heil'gen  Herde  sitzen. 
Lykos. 
Vergebens,  wenn  sie  um  ihr  Leben  fleht. 

Amphitryon. 
Und  eitlen  Ruf  zum  toten  Gatten  senden. 

Lykos. 
Ja,  der  ist  fort  und  nimmer  kehrt  er  wieder. 

21* 


324 

Amphitryon. 
Es  sei  denn,  dafs  ein  Gott  ihn  auferwecke. 

Lykos. 
720  Geh  zu  ihr,  führe  sie  zum  Haus  heraus. 

Amphitryon. 
Mitschuldig  würd'  ich  mich  des  Mordes  machen. 

Lykos. 
Uns  kümmern  die  Bedenklichkeiten  nicht, 
so  wollen  wir  die  Mutter  und  die  Kinder 
herholen:  kommt  mit  mir  herein,  Trabanten, 
726  dafs  froh  wir  schauen  unsrer  Sorgen  Ende.  Ab^ 

Amphitryon. 
Ja,  geh  nur  hin,  du  gehst  den  rechten  Weg, 
das  Ziel  wird  wohl  ein  anderer  bestimmen. 
Du  thatest  übel,  übles  nun  zu  leiden 
mach'  dich  gefafst.  —  Er  geht,  gewonnen  ist's. 
730  Das  Netz  von  Eisen  hält  ihn,  treue  Greise; 
den  Missethäter,  welcher  andern  Tod 
zu  bringen  dachte,  fafst  das  Schwert.    Ich  gehe, 
ich  will  ihn  fallen  sehn.    Des  Feindes  Strafe, 
des  Feindes  Sterben  ist  ein  süfser  Anblick.  Ab, 

Chor. 
786  Das  Leid  ist  aus:  gewaltig  stieg 
der  alte  Herr  empor  zum  Licht. 
Nun  flutet  neu  des  Lebens  Strom: 
Heil  euch,  gerechte  Götter. 

Chorführer. 
740  Wenn  spät  auch,  bist  du  doch  am  Ziel:   dein  Leben 
büfst  es,  dafs  wider  Bessre  du  gefrevelt. 

Chor. 
Die  Freudenthränen  halt  ich  nicht. 
746  Was  nie  zu  hoffen  ich  gewagt, 

ich  seh'  ihn  wieder,  meinen  ächten  König. 


325. 

Chorführer. 
Denkt  auch  an  das,  was  drinnen  sich  begiebt, 
Erreicht  ihn  wohl  was  wir  ihm  gönnen,  Freunde? 
Lykos 

von  innen. 
Weh  mir. 

Chor. 
750  Horch.    Aus  dem  Schlofs  ertönt  ein  Lied, 
ich  hör'  es  gern,  nah'  ist  der  Tod. 
Auf  stöhnt  der  Fürst,  der  dumpfe  Schrei 
ist  seines  Falles  Vorspiel. 

Lykos 

von  innen. 

Kadmeisch  Volk,  ich  falle  durch  Verrat. 
Chorführer. 
766  Verräter  selbst.    Dich  trifft  was  du  gethan, 
nun  dulde  deiner  Missethaten  Strafe. 

Chor. 
Wer  war  es,  der,  ein  schwacher  Mensch, 
sich  unterfing  mit  Narrenwort 
des  Himmels  sel'ge  Herrn  zu  zeihn  der  Ohnmacht? 
Chorführer. 
760  Gefährten,  überwunden  ist  der  Frevler, 

es  schweigt  das  Haus:  beginnt  den  Lobgesang. 
Chor. 
763  Reigen,  Reigen  und  Festesschmaus 

waltet  im  heiligen  Theben. 
76ö  Schatten  des  Glückes  verschwanden, 

Thränen  verschwanden,  es  kehrten  Jubel  und  Lieder. 
Fort  ist  der  neue  Herr,  zurück  der  alte, 
770      des  Todes  Hafen  hat  ihn  nicht  gehalten: 

was  wir  gehofft,  ist  Wahn  nicht  mehr,  ist  Wahrheit. 

Götter,  göttliches  Regiment 
waltet  der  Guten  und  Bösen. 


326 


Gold  und  Glanz  des  Erfolges 
776  führen   zu   Höhen   den   Menschen   und   machen   ihn 

schwindeln. 
Doch  ihre  Keule  schwingt  die  Zeit:  da  schaudert 
wer  pflichtvergessen  mit  der  Sünde  buhlte; 
780      zerscheitert  stürzt  der  Wagen  blut'gen  Ruhmes. 

Schmück'  dich,  Ismenos,  mit  Kränzen. 

Auf  zum  Reigen,  ihr  Gassen 

siebenthoriger  Thebe. 

Komm  aus  der  Tiefe, 

Dirke,  sprudelnde  Quelle, 
785  kommt,  ihr  Asopostöchter. 

Stimmt  in  die  festlichen  Lieder 

ein,  ihr  Nymphen,  zu  singen 

Kampf  und  Sieg  des  Herakles. 
790  Waldige  Kuppe  von  Pytho, 

Träger  der  Musenhaine, 

Helikon, 

hallet  vom  festlichen  Lobe 

unsrer  Mauern,  unsrer  Stadt, 
795       wo  der  erdgebornen  Sparten 

erzgeschirmte  Saat  entsprungen,  Thebens 
angestammte  Fürsten,  Thebens  Ehre. 

Wunder,  den  Helden  zu  zeugen 

nahten  sich  einem  Bette 
80O  Gott  und  Sterblichgeborner, 

und  es  umfing  sie 

Perseus'  Enkelin  beide. 

Längst  bekannte  mein  Glaube 

deinen  göttlichen  Vater: 
806  jetzt  bestätigt  die  Zeit  dir 

deine  Gröfse,  Herakles. 

Denn  aus  den  Klüften  der  Erde 


327 


kehrtest  du  wieder,  die  Hölle 

hielt  dich  nicht. 

Bist  mir  ein  besserer  Herrscher 
810  als  des  Lykos  Niedrigkeit. 

In  des  Schwerterkampfs  Entscheidung 

ist  er  eingetreten,  hat  erfahren, 

dafs  die  Götter  noch  das  Recht  beschützen. 

In   der  Luft  erscheinen  Iris,   eine  geflügelte  Jungfrau   in  Jioch' 
geschürztem  leichtem  Botengeivande,  und  Lyssa,    ein  bleiches  ge- 
flügeltes  Weib  mit  medusenhaßen  Zügen,  Schlangen  im  Haar,    in 
der  Hand  eine  Geifsel. 

Chorführer. 
815  Ha, 

erfafst  des  Unheils  Strudel  uns  von  neuen? 

Dort  überm  Haus  schaut  die  Erscheinung,  Freunde. 

Ein  Greis. 
Flieht, 
flieht  eilig,  ist  der  Fufs  auch  trag',  entweicht. 

Ein  Anderer. 
820  Apollon, 

hilf,  Heiland,  wende  mir  das  Unheil  ab. 

Iris. 
Fafst  Mut,  ihr  Greise.    Freilich,  Lyssa  ist's, 
der  Nacht  ist  sie  entsprossen,  die  ihr  seht, 
und  ich  bin  Iris,  Heroldin  der  Götter; 
doch  kommen  wir  der  Stadt  zu  keinem  Schaden, 

825  wir  suchen  eines  Mannes  Haus  nur  heim, 
des,  der  des  Zeus  und  der  Alkmene  Sohn 
sich  nennen  läfst.     So  lang'  die  schweren  Kämpfe 
er  noch  nicht  überstanden,  war  das  Schicksal 
sein  Schirm,  und  liefs  es  Vater  Zeus  nicht  zu, 
dafs  Hera  oder  ich  ein  Leid  ihm  thäten. 

830  Jetzt  ist  vollbracht,  was  ihm  Eurystheus  auftrug, 
jetzt  will  in  Blutschuld  Hera  ihn  verstricken 
durch  seiner  Kinder  Mord;  so  will  auch  ich. 
Auf,  jungfrcäu liehe  Tochter  finstrer  Nacht, 


328 

zusammen  nimm  dein  unerweichlich  Herz 

83Ö  und  hetze  Wahnsinn  wider  jenen  Mann, 
treib'  seinen  Fufs  zu  tollem  Tanz,  sein  Hirn 
zu  kindesmörderischer  Raserei, 
lafs  alle  Zügel  seiner  Mordlust  schiefsen, 
er  stofse  seiner  Söhne  blüh'nde  Schar 
mit  eignen  Händen  in  des  Todes  Rachen 

840  hinunter:  dann  erkennt  er  Heras  Hafs, 
und  auch  wie  ich  ihn  hasse  lernt  er  dann. 
Aus  war'  es  mit  den  Göttern,  wenn  ein  Mensch 
für  ihre  Strafen  unerreichbar  bliebe. 

Lyssa. 
Erlaucht  ist  meine  Mutter,  ist  mein  Vater, 
vom  Himmel  stamm'  ich  ab  und  von  der  Nacht; 

846  doch  widerwärtig  ist  mein  Amt  den  Göttern, 
und  selber  treib'  ich's  ohne  Freudigkeit, 
wenn  ich  ein  liebes  Haus  betreten  mufs. 
So  will  ich,  Iris,  dich  und  Hera  warnen, 
eh'  ich  euch  straucheln  sehn  mufs,  ob  ihr  nicht 
vielleicht  auf  meine  Worte  hören  mögt. 
Der  Mann,  in  dessen  Wohnung  ihr  micht  sendet, 

8Ö0  ist  nicht  gering  auf  Erden  noch  im  Himmel: 
unwegsam  Land  und  unwirtliches  Meer 
hat  er  befriedet,  hat  der  Götter  Dienst, 
der  unter  frechen  Frevlerhänden  wankte, 
auf  Erden  aufgerichtet,  er  allein. 
Darum  lafst  ab,  ich  rat'  es  Zeus'  Gemahlin, 
ich  rat'  es  dir:  ihr  wollt  ein  arges  Unrecht. 
Iris. 

865  Richte  du  nicht  meine  Plane,  Heras  Plane  richte  nicht. 
Lyssa. 
Nur  zu  lenken  deine  Schritte  such'  ich  auf  die  rechte 

Bahn. 
Iris. 
Nicht  zur  Tugend  hat  berufen  dich  die  Himmels- 
königin. 


329 
Lyssa 

mit  wilden  Gebärden. 
Zeug'  es  mir  die  Sonne  droben,  nicht  mein  Will'  ist's, 

was  ich  thu'. 
Aber  mufs  ich  denn  der  Hera,  mufs  ich  dir  zu  willen 

sein, 
860  mufs  ich  springen,  hetzen,  kläffen,  folgsam  wie  des 

Jägers  Hund, 
vorwärts  denn.     Die  See,  wenn  wütend  Woge  wider 

Woge  tost, 
stöhnet  also  nie,  die  Erde  zuckt  erbebend  also  nie, 
nie   der  Himmel,    wenn  in  wilden   blitzesschwangern 

Weh'n  er  kreifst, 
wie    jetzt   meine   Stöfse   rütteln   an    der   Brust   des 

Herakles. 
Und  das  Haus,  ich  reifs'  es  nieder,  und  den  Hof,  ich 

werf  ihn  drauf; 
865  doch  zuerst  mord'  ich  die  Kinder,   und  der  Mörder 

ahnt  es  nicht, 
dafs    er  tötet,    die  er  zeugte,    bis    ich   löse   meinen 

Bann. 
Ha,  sieh  da.    Die  Bahn  betritt  er,  schüttelt  grimmig 

schon  das  Haupt, 
stehet  lautlos,  rollt  die   trotz'gen  Augensterne  starr 

und  stumm, 
hoch  und  unstet  geht   der  Atem  ~  Stier  nun  brich 

zum  Stofse  vor. 
870  Furchtbar  brüllt  er  auf,   er  ruft  die  Keren  aus  der 

Höir  empor. 
Wart',  ich  lehr'  dich  besser  tanzen,  Schauder  pfeife 

dir  den  Takt. 
Iris,    schwinge    nur   zum    Himmel    den    erlauchten 

Götterfufs. 
Lyssa  schlüpfet  ungesehen  in  das  Haus  des  Herakles. 
Beide  verschwinden. 


330 

Chor. 
876  Weh,  weh,  weh,  weh, 

abgemähet  wird  die  Blüte 
meiner  Stadt,  der  Sohn  des  Zeus. 
Armes  Hellas,  du  verlierest 
deinen  Hort:  in  Lyssas  Wüten 
tanzt  er  nach  dem  schrillen  Takt. 

880  Der  Thränen  Fürstin  fährt  daher, 

zu  Wagen  fährt  sie, 
die  Geifsel  schwingt  sie, 
als  wär's  zum  Hohn, 
der  Xacht  gorgonenhaftes  Kind. 
Mit  tausend  Zungen 
die  Nattern  zischen 
um  Lyssas  aschenfahles  Haupt 

885  Es  stürzt  geschwinde 

das  Glück  der  Dämon: 
geschwinde  hauchen 
von  Vaters  Händen 
die  Kinder  ihre  Seelen  aus. 

Amphitryon 

von  innen. 

Weh,  weh,  ich  Armer. 

Chor. 
Weh  Zeus,  bald  wird  dein  Sohn 
sohnlos  am  Boden  liegen, 
es  bringen  ihn  arge  Dämonen, 
890  blutlüsterne  höllische  Geister 

mit  gräfslichen  Freveln  zu  Fall. 

Amphitryon 

von  innen. 

Weh,  mein  Haus. 


331 


Chor. 
Jetzt  geht  es  zum  Beigen; 
aber  es  bleibet  die  Pauke  dem  Feste  fern, 
ferne  der  schwärmende  Thyrsos. 
Amphitryon 

von  innen. 

Weh,  mein  Dach. 

Chor. 
Jetzt  geht  es  zum  Opfer; 

aber  nicht  Böckchen  und  Hinde  zerreifst  die  Lust 
896  wilddionysischen  Taumels. 

Amphitryon 
von  innen. 
Flieht,  Kinder,  flieht. 

Chor. 
Ha,  welch  ein  Ruf  des  Grauns. 
Ein  graunvoU  Lied  ergellt, 
den  Kindern  gilt  die  Jagd, 
und  Lyssas  wilde  Wut 
verfehlt  des  Zieles  nimmer. 

Amphitryon 

von  innen. 

900  Weh,  weh,  Jammer. 

Chor. 
Weh,  weh,  wie  klag'  ich 
den  greisen  Vater, 
die  arme  Mutter, 
die  ihre  Kinder 
umsonst  gebar. 

Amphitryon 

von  innen. 

905  Sieh,  sieh, 

am  Hause  rüttelt  Sturm,  die  Säulen  stürzen. 

Chor. 
Halt,  halt, 
was  suchst  du  im  Schlosse, 


332 

du  Himmelstochter? 
"Wie  einst  zu  dem  Kampfe 
du  zogst  der  Giganten, 
so  schreitest  du,  Pallas, 
und  bis  in  die  tiefsten 
Grundvesten  erschüttert 
der  Boden  erhebt. 

Bote 

kommt  aus  dem  Hause. 
910  Ihr  altersgrauen  Häupter  .  .  . 
Chor. 
Was  will,  was  will  dein  Ruf  von  mir? 

Bote. 
Da  drin  ist  alles  Grausen  .  .  . 

Chor. 
Zu  deuten  braucht's  nicht  fremder  Mund. 

Bote. 

Tot  sind  die  Kinder  .... 

Chor. 

Wehe. 
Bote. 
Ja  weint,     's  ist  weinenswert. 

Chor. 
Grausamer  Mord, 
916  grausame  Vaterhand. 

Bote. 
Wie  grausam,  weh,  sie  war,  wer  kann  es  schildern? 

Chor. 
Wie  willst  du  das  Gräfsliche  melden, 
der  Kinder,  des  Vaters  Verhängnis? 
Wie  brach,  von  den  Göttern  gesendet, 
020  das  Haus  und  das  Leben  der  Kinder 
zerstörend,  das  Unheil  herein? 


333 


Bote. 
An  dem  Altar  des  Zeus  stand  Herakles, 
zur  Sühnung  seines  Hauses  von  dem  Blute 
des  Lykos,  den  er  aus  dem  Haus  getilgt, 
ein  reinigendes  Opfer  zu  vollziehn; 

926  in  holdem  Kranz  umgaben  ihn  die  Söhne, 
Amphitryon  und  Megara.     Wir  hielten 
rings  um  den  Altar  schon  empor  die  Körbe 
in  andachtvollem  Schweigen,  Herakles 
erhob  den  Feuerbrand  schon  mit  der  Rechten, 
in  das  geweihte  Wasser  ihn  zu  tauchen  — 

930  da  hielt  er  inne;  schwieg;  der  Greis,  die  Kinder 
blickten  verwundert  auf  sein  Zögern  hin. 
Doch  er  war  wie  verwandelt.     Unstet  rollten 
die  Sterne  seiner  Augen,  während  blutig 
im  Weifsen  sich  ein  rot  Geäder  zeigte; 

936  Schaum  troff  ihm  von  dem  vollen  Bart  herab, 
und  also  hub  er  an  in  wirrem  Lachen: 
„Was  zünd'  ich,  Vater,  jetzt  die  reine  Flamme, 
dieweil  Eurystheus  lebt?  's  ist  doppelt  Arbeit, 
wo  ich  die  Hand  nur  einmal  rühren  könnte. 
Er^t  hol'  ich  des  Eurystheus  Haupt  dazu, 

940  dann  will  ich  mich  von  diesem  Blut  entsühnen. 
Die  Spenden  ausgegossen,  fort  die  Körbe, 
wer  giebt  mir  Pfeil  und  Bogen?    Wo  die  Keule? 
Wider  Mykene  zieh'  ich.     Hebebäume, 
Brechstangen  schafft  herbei  mir.     Wohlgefügt 

946  steht  der  Kyklopenbau  mit  Lot  und  Richtscheit: 
ich  reifs'  ihn  doch  mit  Eisenhaken  nieder." 
Nach  diesen  Worten  fing  er  an  zu  gehn, 
und  sagte,  dafs  er  führe,  that  als  stieg'  er 
zu  Wagen,  machte  mit  der  Hand  Gebärden 
als  schwang'  er  eine  Geifsel.     Lächerlich 

960  kam  es  uns  Dienern  vor  und  doch  entsetzlich. 
Und  einer  sah  den  andern  fragend  an 


334 

„ist  das  ein  Scherz  des  Herrn?    Ist  er  von  Sinnen?' 
Er  aber  wandelt'  auf  und  ab  im  Hause, 
und  als  er  mitten  auf  dem  Flure  stand, 
war  er  nach  seinem  Wort  in  Megara, 

955  trat  in  das  Zimmer,  warf  sich,  wie  er  war, 
zu  Boden,  um  das  Frühmal  einzunehmen. 
Nachdem  er  also  kurze  Rast  gehalten, 
erklärt'  er  durch  des  Isthmos  Schluchten  hin 
zu  wandern.     Hier  warf  er  die  Kleider  ab 
und  rang  und  focht  mit  niemand,  hiefs  als  Herold 

960  niemanden  schweigend  horchen,  wie  zum  Sieger 
er  selbst  sich  selber  ausrief.     Endlich  wollte 
er  in  Mykene  sein  mit  fürchterlichen 
Drohworten  an  Eurystheus.     Da  ergreift 
der  Vater  ihn  bei  der  gewalt'gen  Hand: 

965  „Mein  Sohn,  was  ist  dir?     Diese  Wanderschaft, 
was  soll  sie?     Hat  des  frischvergossnen  Blutes 
Dunst  deinen  Sinn  umnachtet?"     Aber  er 
stöfst  ihn  zur  Seite,  wähnend,  seine  Hand 
berühr'  Eurystheus'  Vater  Gnade  flehend, 
und  des  Eurystheus  Söhne  zu  erschiefsen 
spannt  er  den  Bogen,  legt  den  Pfeil  darauf    . 

970  wider  die  eignen  Kinder.     Zitternd  stürzen 
entsetzt  sie  auseinander;  in  den  Schofs 
der  armen  Mutter  flüchtet  sich  der  eine, 
in  einer  Säule  Schatten  springt  der  andre, 
der  dritte  duckt  wie  ein  gescheuchter  Vogel 

975  sich  hinterm  Altar;  und  die  Mutter  schreit 
„Halt,  willst  du,  Vater,  deine  Kinder  morden?" 
So  schreit  der  Greis  und  all'  die  Dienerschar. 
Doch  er,  mit  schauerlicher  Hurtigkeit, 
läuft  vor  der  Säul'  im  Halbkreis  hin  und  her, 
bis  er  dem  Knaben  gegenübersteht, 
und  trifft  ihn  in  das  Herz.     Rücküber  stürzt 

980  der  Knabe,  purpurn  färbt  den  Marmorsockel 


335 

sein  Blut.     Und  während  er  sein  Leben  aushaucht, 
erhebt  der  Vater  gellen  Siegesschrei: 
„das  war'  der  erste  von  Eurystheus'  Söhnen, 
der  mit  dem  Tod  des  Vaters  Hafs  mir  büfst," 
und  auf  den  zweiten  richtet  er  den  Bogen, 

985  der  hinter  des  Altares  Stufen  sicher 

sich  wähnte.     Doch  nun  springt  er  rasch  empor 
und  stürzt  dem  Vater,  eh'  er  schiefsen  kann 
entgegen,  streckt  nach  Hals  und  Kinn  die  Hand 
um  Gnade  flehend,  ruft  „mein  liebster  Vater, 
ich  bin's,  ich  bin  dein  Sohn.    Du  schiefst  nach  mir, 
nicht  nach  Eurystheus'  Knaben."     Herakles 

990  rollt  höhnisch  wild  das  Auge,  hebt  die  Keule, 
weil  für  den  Schufs  zu  nah  der  Knabe  stand, 
gleichwie  ein  Schmied  den  Hammer  hoch  empor, 
und  nieder  fährt  sie  auf  das  blonde  Köpfchen 
und  bricht  den  Schädel.     Nach  dem  zweiten  Opfer 

996  geht  es  nun  an  des  dritten  Knaben  Mord. 
Den  aber  hatte  Megara  im  Zimmer 
geborgen  und  die  Thüre  fest  verschlossen. 
Doch  er  beginnt  zu  brechen  und  zu  bohren, 
als  war'  er  nun  vor  dem  Kyklopenbau, 
die  Thür  weicht  aus  den  Angeln,  und  es  streckt 

1000  Mutter  und  Kind  derselbe  Pfeil  zu  Boden. 
Und  weiter  jagt  er  zu  des  Greises  Mord. 
Da  trat  ein  Gott  dazwischen.     Sichtbariich 
erschien  ein  Bild,  ganz  deutlich  zu  erkennen: 
Athena  war's,  den  erzgespitzten  Speer 
leicht  in  der  Linken  wiegend.     Und  sie  warf 
ein  Felsstück  an  die  Brust  des  Herakles. 

1005  Das  hemmt'  ihn  auf  der  Frevelbahn.     Er  brach 
in  Schlaf  zusammen;  mit  dem  Rücken  schlug 
er  wider  eine  Säule,  die  gestürzt 
beim  Fall  des  Hauses  auf  den  Fliesen  lag. 
Da  wagten  wir  uns  von  der  Flucht  zurück 


336 


1010  und  halfen  dem  Amphitryon  den  Herrn 

1009  mit  Stricken  und  mit  Gurten  an  den  Stumpf 

der  Säule  fest  zu  binden,  dafs  er  nicht 

erwacht  noch  weitre  Frevel  üben  könne. 

Nun  schläft  der  Ärmste,  keinen  süfsen  Schlaf. 

Gemordet  hat  er  Weib  und  Kind,  sein  Elend 
1015  hat  in  der  Menschenwelt  nicht  seines  gleichen.     Ab. 

Chor. 
Einst  erschien  der  Danaiden  Blutthat, 
die  das  Felsenschlofs  von  Argos  schaute, 
fürchterlich,  unfafsbar  den  Hellenen: 
aber  mehr,      fürchterlicher 
1020      ist  es  was  der  Sohn  des  Zeus  begangen. 
Auch  von  Proknes  Blutthat 
an  dem  einz'gen  Sohne 
weifs  ich  wohl  zu  sagen; 
schallen  doch  noch  heute 
ihre  Klagelieder. 
Aber  dir,       Gottverlassner, 
dreier  Söhne  Saat  war  dir  ersprossen: 
alle  drei.      Rasender,  erschlugst  du. 

1025         0,   0. 

Wo  find'  ich  einen  Wehruf, 

wo  einen  Grabgesang, 

wo  einen  Totenreigen? 

Die  Hirvterwand  öfnet  sich;   man   sieht  das  Innere  des  Hauses, 

Herakles,  schlafend  an  eine  SäidentromvMÜ  gefesselt;    rings  liegen 

die    Pfeile   verstreut,    Kocher,    Bogen    und    KeulCf    die    Leichen 

Megaras  und  der  Kinder. 

Ha, 

es  weichen  die  Riegel, 
es  springen  die  Pforten 
1030      des  hohen  Palastes. 
Wehe, 


337 

da  liegen  die  Söhne 
entseelt  um  den  Vater 
in  grauser  Gemeinschaft: 
er  aber  schläft  den  fürchterlichsten  Schlaf, 
vom  Morde  seines  eignen  Bluts  ermattet, 
1036  und  Gurten  und  Fesseln  und  Taue 
verankern  den  Leib  des  Helden 
gespannt  an  die  Säulen  des  Schlosses. 

Amplütryon  tritt  auf. 

Hier  wanket  auch  der  Greis  zu  seiner  Enkel 
1040  unflügger  Brut  den  schweren  Weg  heran. 
Amphitryon. 
Leise,  leise,  Fürsten  Thebens. 
Seine  Glieder  löst  der  Schlummer, 
gönnt  Vergessen  ihm  des  Elends. 
Chor. 
1045  Meine  Thränen,  meine  Seufzer 
gelten  dir,  mein  greiser  Feldherr, 
deinen  Enkeln,  deines  Sohnes 
siegumstrahltem  Heldenhaupte. 

Amphitryon. 
Bleibt  weiter  zurück, 

und  lärmt  nicht  und  schreit  nicht  und  weckt  ihn  nicht 
1060  Er  ruhet  so  sanft,  er  schlummert  so  fest.  [auf. 

Chor. 
Wehe,  was  für  Blut 

Amphitryon. 
0  schonet, 
schonet  mein. 

Chor. 

ist  dort  vergossen. 
Amphitryon. 
Nur  leise,  verhaltet  die  Rufe  der  Klage, 
1056  sonst  fährt  er  empor  und  sprenget  die  Bande, 

Griech.  Tragödien.     I.  22 


338 


und  mordet  die  Bürger 
und  mordet  den  Vater; 
sonst  schlägt  er  in  Trümmer 
die  ganze  Stadt. 

Chor. 
Nein,  ich  kann,  ich  kann  nicht  schweigen. 

Amphitryon. 
Still,  ich  tret'  herzu,  ich  horche, 
1060  horche  seines  Atems  Zügen. 
Chor. 
Schläft  er  noch? 

Amphitryon. 
Ja,  er  schläft, 
schläft  der  Schuld       dumpfen  Schlaf; 
seine  Pfeile  schwirrten 
zischend  von  der  Sehne, 
trafen  Weib  und  Kind. 

Chor. 
1065  Klage  nun 

Amphitryon. 
Ich  klage. 
Chor. 
Um  die  Enkel, 

Amphitryon. 
Wehe. 
Chor. 
Um  den  Sohn  auch, 

Amphitryon. 

Wehe. 

Chor. 
Greis  .  .  . 

Amphitryon. 

0  schweiget,  schweiget, 


339 

er  regt  sich,  er  wirft  sich  herum,  er  erwacht. 
1070  Ich  mufs  mich  verstecken.   Hier  deckt  mich  das  Haus. 

Er  tritt  dicht  an  die  Hinterwand,  aufser  Sehweite  des 
Schlafenden. 

Chor. 
Fasse  Mut.        Nacht  bedeckt      deines  Sohnes  Lider. 

Amphitryon 
vorsichtig  vortretend. 

Seht  euch  vor,     seht  euch  vor. 
Ich  in  meinem  Jammer, 
ich  Unserger  fürchte 
wahrlich  nicht  den  Tod. 
Aber  wenn  er  seinen  Vater  erschlägt, 
1075  wenn  er  von  Frevel  zu  Frevel  stürmt, 

wenn  er  mit  Blutschuld  die  blutigen  Hände  besudelt  — 

Chor. 
Wärest  du  doch  da  gefallen, 
als  du  wider  Pterelaos 
auf  den  Trümmern  seiner  Veste 
dich  zum  Einzelkampfe  stelltest, 
1080  deiner  Schwäher  Tod  zu  rächen. 

Amphitryon. 
Flieht,  flieht. 

Hinweg  von  dem  Hause,  hinweg. 
Er  erwachet,  der  rasende  Mann. 
Sonst  stürmt  er  von  Morde  zu  Morde 
und  reifst  in  dem  tosenden  Taumel 
1086  ganz  Theben  dahin. 

Seitlich  aufser  Sehweite  des  Herakles  tretend. 

Chorführer, 

während  der  Chor  dem  Amphitryon  folgt. 

"Woher  der  Grimm  dir,  Zeus,  in  dieses  Meer 
von  Jammer  deinen  eignen  Sohn  zu  stürzen? 

22* 


340 

Herakles. 

Ha, 

ich  lebe.    Vor  den  Augen  liegen  hell 
1090  Himmel  und  Erd'  im  Strahl  des  Helios: 

wie  hat  den  Sinn  mir  einer  wüsten  Wirrsal 

Brandung  ergriffen?     Heifser  Atem  strömt 

unsteten  Zuges  aus  den  Lungen  auf. 

Und  hier?  verankert  lieg'  ich  wie  ein  Schiff, 
1095  und  Taue  fesseln  Brust  und  Heldenarm 

an  einer  halbgeborst'nen  Säule  Stumpf; 

und  Leichen  liegen  rings  um  meinen  Sitz, 

der  Bogen,  die  befiederten  Geschosse 

zerstreut  am  Boden,  die  an  meiner  Seite, 
1100  mein  bester  Schutz,  in  sichrem  Schutze  ruhten. 

Bin  ich  im  Hades  wieder?    Hat  Eurystheus 

als  Doppelläufer  mich  hinabgesandt? 

nein,  nirgend  wälzt  hier  Sisyphos  den  Stein, 

und  nicht  ist  dies  das  Reich  Persephones. 
1106  Ich  starre,  staune,  bange  mich;  wo  bin  ich? 

Ho,  hört  mich  denn  kein  Freund,  von  keiner  Seite, 

kann  keiner  mich  von  dieser  Dumpfheit  heilen? 

denn  jedes  Bild  verschwimmt  mir  im  Gedächtnis. 
Amphitryon 

tritt  hervor. 

Darf  ich  mich  meinem  Schmerze  nahtf,  ihr  Greise? 
Chorführer 

tritt  mit  deni  Chore  hervor. 

1110  Ich  wag'  es  mit,  verlafs'  dich  nicht  im  Unglück. 
Herakles. 
Mein  Vater,  was  verhüllst  du  dich,  was  weinst  du? 
Was  bleibst  du  deinem  lieben  Sohne  fern? 

Amphitryon. 
Mein  Kind  —  du  bist's,  du  bleibst  es  auch  im  Elend. 

Herakles. 
Du  weinst  um  mich?    Stiefs  mir  denn  etwas  zu? 


341 

Amphitryon. 
1115  Ja,  und  ein  Gott  selbst  mülste  mit  dir  weinen. 
Herakles. 
Ein  schweres  Wort;  doch  sagst  du  noch  nicht,  was. 

Amphitryon. 
Du  siehst  es  selbst,  wenn  du  bei  Sinnen  bist. 

Herakles. 

Was  soll  an  mir  denn  anders  sein?    Sprich  aus. 

Amphitryon. 

1121  Noch  prüf  ich,  bist  du  wirklich  ganz  bei  Sinnen? 

Herakles. 
1120  Ha,  wieder  weichst  du  aus;  du  birgst  ein  Unglück. 

Amphitryon. 
1119  Wenn  dich  die  Höllenraserei  verliefs  — 
Herakles. 

1122  War  ich  denn  rasend?    Mir  ist  nichts  bewufst. 

Amphitryon 
löst  die  Fesseln. 

Darf  ich  des  Sohnes  Fesseln  lösen.  Freunde? 

Herakles. 

Sag'  mir  auch,  wer  sie  band;  ich  schäme  mich 

Amphitryon. 

1126  Genug  des  Jammers,  den  du  weifst.    Lafs  ab. 

Herakles. 

Reicht  denn  dein  Schweigen  hin  mich  zu  belehren? 

Amphitryon. 
Kannst  du  das  ansehn,  Zeus,  von  Heras  Thron? 

Herakles. 
Hat  sie  in  ihrem  Hafs  mich  heimgesucht? 

Amphitryon. 

Lafs  Heras  Thun  und  schick'  dich  in  das  Deine. 

Herakles. 

1130  Du  tötest  mich;  du  weifst  um  ein  Verbrechen. 

Amphitryon. 

Wohlan.     Schau  her:  hier  liegen  deine  Kinder. 


342 

Herakles. 
Welch  Anblick!    Wehe  mir,  ich  Unglückserger. 

Amphitryon. 
Mein  Sohn,    das  war  kein  Kampf,   mit  Kindern 

kämpfen ! 
Herakles. 
Was  für  ein  Kampf?    Wer  ist  der  Kinder  Mörder? 
Amphitryon. 
1135  Du  selbst  und  deine  Pfeile,  und  der  Gott 
von  dessen  Willen  du  das  Werkzeug  warst. 

Herakles. 
Ich?    Wie  das?    Vater,  Unheilsbote,  sprich. 

Amphitryon. 
Im  Wahnsinn  hast  du  es  vollbracht;  die  Antwort 
auf  solche  Frage  mufs  wohl  Gram  enthüllen. 

Herakles. 
So  bin  ich  auch  der  Mörder  meines  Weibes? 

Amphitryon. 
Wohin  du  rings  umher  das  Auge  wendest: 
nur  eine  Hand  hat  sich  darum  gerührt. 

Herakles. 

1140  Weh,  welche  Flut  von  Klagen  schwellt  mich,  weh. 

Amphitryon. 

Das  war  es,  was  mich  um  dich  weinen  liefs. 

Herakles. 

1144  Wo  fiel  der  Sturm  mich  an?    Wo  schlug  er  mich? 

Amphitryon. 
1146  Am  Altar,  als  du  deine  Hände  sühntest. 

Herakles. 
1142  Und  auch  das  Haus  rifs  ich  im  Wahnsinn  nieder? 
Amphitryon. 
Ich  habe  nur  die  Antwort:  überall, 
wohin  du  dich  auch  wendest,  triffst  du  Unheil. 


343 


Herakles. 

1146  Weh  mir,  was  karg'  ich  dann  mit  meinem  Blut, 
und  schlug  doch  schon  mein  Liebstes,  meine  Söhne? 
Was  such'  ich  nicht  den  Sturz  von  jähem  Felsen, 
was  stofs'  ich  nicht  ein  Schwert  in  meine  Brust 

1150  als  Richter  und  als  Rächer  meiner  Kinder? 
Was  strotzt  der  Leib  mir  noch  in  Manneskraft 
und  sucht  nicht  in  den  Flammen  aus  der  Schande, 
die  ihm  das  Leben  sein  mufs,  ein  Entrinnen? 
Doch  sieh,  ein  Hindernis  der  Todesplane 
naht  sich  mein  Freund,  mein  Yetter  Theseus  dort. 

1155  So  soll  ich  doch  gesehen  werden,  sehen 

soll  meinen  Kindesmord  mein  liebster  Freund! 
Weh  mir,  wohin?  In  Himmel  oder  Erde, 
wo  kann  ich  mich  vor  diesem  Fluche  bergen? 
Umhülle  wenigstens  mein  Haupt  die  Nacht. 

1160  Was  ich  beging,  ist  Schmach  und  Gram  genug; 
mit  Blutschuld  ist  mein  Haus  durch  mich  verpestet: 
vor  Ansteckung  will  ich  die  Reinen  wahren. 

Er  verhüllt  sich. 

Theseus 

mit  bewaffnetem  Gefolge  kommt   von   der  Seite,   von  der  Herakles 
gekommen  tcar. 

Ich  komme  Beistand  deinem  Sohn  zu  leisten, 

Amphitryon,  und  am  Asopos  liegt 

in  Waffen  eine  Schar  Athenerjugend, 
1165  die  mir  gefolgt  ist;  denn  es  drang  zu  uns 

die  Nachricht,  dafs  das  Scepter  dieses  Landes 

Lykos  an  sich  gerissen  und  zu  Kampfe 

und  Schlacht  sich  wider  euch  erhoben  habe. 

So  kam  ich,  Herakles  es  zu  vergelten, 
1170  dafs  er  mich  aus  der  Unterwelt  erlöst, 

ob  meines  Armes  oder  meines  Heeres, 

Amphitryon,  ihr  etwa  hier  bedürftet. 


344 


Doch  sieh!    Was  liegt  der  Boden  voller  Leichen? 
Ich  bin  doch  nicht  zu  spät  gekommen,  treffe 
doch  nicht  schon  unerhörte  That  vollbracht? 
Die  Kinder  hier,  wer  schlug  sie?    Hier  ein  Weib? 
1175  Wer  war  ihr  Gatte?    Nein,  das  war  nicht  Kampf, 
denn  Kinder  bleiben  fern  dem  Handgemenge, 
hier  ist  ein  andres,  schreckliches  geschehn. 

Amphitryon. 

Weh,  König  der  felsigen  Stadt  der  Oliven  — 

Theseus. 

1180  Weshalb  beginnt  mit  Wehruf  deine  Rede? 

Amphitryon. 

Uns  sandten  die  Götter  ein  grauses  Verhängnis. 

Theseus. 
Wes  sind  die  Kinder  hier,  um  die  du  weinst? 

Amphitryon. 
Mein  Sohn  ist  ihr  Vater,  der  Unglückserge: 
er  ist  auch  ihr  Mörder,  befleckt  mit  Blutschuld. 

Theseus. 
Bewahre  deinen  Mund  — 

Amphitryon. 
1185  Wie  gerne,  wie  gern,  wenn  ich  könnte. 
Theseus. 
Furchtbare  Kunde  — 

Amphitryon. 
Verloren  sind  wir,  sind  vernichtet. 

Theseus. 
Wie  schlug  er  sie? 

Amphitryon. 
Mit  den  ehernen  Buckeln  der  Keule, 
1190  mit  dem  Hydragifte  der  Pfeile. 
Theseus. 

1188  Wie?    Was  verführt'  ihn? 

Amphitryon. 

1189  Wahnsinnsanfall  ergriff  ihn. 


345 

Theseus. 
1191  Dann  ist  es  Hera,  die  ihn  also  heimsucht. 

Doch  sag',  wer  sitzt  dort  mitten  unter  Leichen? 

Amphitryon. 
Mein  Sohn,  mein  Sohn; 
er  ist  es,  der  Dulder  unsäglicher  Mühen, 
er  ist  es,  der  Schildgenosse  der  Götter 
im  Blachfeld  Phlegras,  da  die  Giganten  sie  schlugen. 

Theseus. 
0, 
1195  wen  hätte  je  das  Schicksal  so  verfolgt? 
Amphitryon. 
Keinen,  keinen 

vermagst  du  zu  nennen  auf  Erden, 
den  schwerere  Prüfungen  trafen, 
den  wildere  Stürme  verfolgten. 

Theseus. 
Was  birgt  er  sein  unselig  Haupt  im  Mantel? 

Amphitryon. 
Scham  erfüllt  ihn,  Scham  vor  dir, 
1200  Scham  vor  dem  Kreise  der  Treuen, 
Scham  vor  dem  Blute  der  Kinder. 

Theseus. 
So  kam  ich  mitzuweinen;  deck'  ihn  auf. 

Amphitryon. 
Herakles, 

lüfte  vom  Auge  den  Mantel, 
1205  zeige  der  Sonne  dein  Antlitz. 

Schämst  du  der  Thränen  dich?  schaue  mein  Flehen, 
wiegt  es  nicht  mehr  als  die  Scham? 
Dir  zu  den  Füfsen  lieg'  ich,  ich  fasse 
bittend  die  Rechte,  ich  fasse  dein  Kinn. 
Schau  auf  die  Thränen  des  Greises. 
1210  Hemme  den  rasenden  Löwengrimm, 


346 

denn  in  die  blutige  Bahn  des  Verbrechens 
will  er  dich  wieder  verführen,  von  Freveln 
wieder  zu  Freveln,  mein  Sohn. 

Theseus. 
Steh'  auf,  der  du  so  jammervoll  hier  kauerst. 

1215  Enthülle  dich:  ein  Freund  ist's  der  dir  ruft, 
und  also  schwarz  ist  keine  Finsternis, 
dein  schaudervolles  Unglück  zu  verbergen. 
Was  winkst  du  ängstlich  mit  der  Hand  mich  fort? 
Dich  anzureden  werde  mich  besudeln? 

1220  Mit  dir  geteiltes  Unglück  furcht'  ich  nicht; 

ich  teilte  ja  dein  Glück.     Das  geht  in  Rechnung 

auf  jenen  Tag,  wo  du  zum  Sonnenlicht 

mich  aus  der  Unterwelt  emporgeführt. 

Den  Freund  veracht'  ich,  dessen  Lieben  altert, 

der  wohl  die  guten  Tage  mit  geniefst, 

1225  doch  sich  der  Fahrt  im  Sturm  versagen  will. 
Steh'  auf,  enthülle  dein  unselig  Haupt, 
blick'  mir  ins  Auge:  das  ist  Menschenadel, 
der  seine  Schickung  ohne  Murren  trägt. 

Enthüllt  ihn, 

Herakles. 
Theseus,  du  siehst,  hier  liegen  meine  Kinder. 

Theseus. 
1230  Du  zeigst  mir  Jammer,  den  ich  sah  und  hörte. 

Herakles. 
Und  konntest  doch  mein  Haupt  dem  Lichte  zeigen? 

Theseus. 
Warum  nicht?    Ewig  ist  das  Element: 
du  bist  ein  Mensch  und  kannst  es  nicht  besudeln. 

Herakles. 
Flieh,  Sterblicher,  vor  meines  Fluches  Pest. 

Theseus. 
Es  wird  der  Freund  dem  Freunde  nie  zum  Fluche. 


347 

Herakles. 
1235  Hab'  Dank.     Was  ich  an  dir  that,  reut  mich  nicht. 

Theseus. 
Mein  Retter  warst  du:  Mitleid  biet'  ich  dir. 

Herakles. 
Ja,  Mitleid  brauch'  ich,  meiner  Söhne  Mörder. 

Theseus. 
Und  dankbar  trag'  ich  fremde  Schmerzen  mit. 

Herakles. 
Weifst  du,  ob  irgend  wer  so  Schweres  litt? 

Theseus. 
1240  Nein.     Himmelhoch  ist  deines  Unglücks  Gröfse. 

Herakles. 
Indes,  ich  bin  bereit.  ^Ich  mach'  es  wett. 

Theseus. 
Wähnst  du,  die  Götter  rühre  solches  Prahlen? 

Herakles. 
Trotzt  mir  die  Gottheit:  trotzen  kann  auch  ich. 

Theseus. 
Schweig.     Hohen  Worten  folgt  ein  tiefer  Fall. 

Herakles. 
1245  Mein  Mafs  ist  voll;  mehr  Leiden  fafst  es  nicht. 

Theseus. 
Was  planest  du?     Wohin  führt  dich  der  Grimm? 

Herakles. 
Zum  Hades;  wo  ich  war.     Diesmal  als  Leiche. 

Theseus. 
An  Selbstmord  denkt  nur  ein  gemeiner  Sinn. 

Herakles. 
Dich  traf  das  Unheil  nicht,  leicht  magst  du  meistern. 

Theseus. 
1260  Spricht  so  der  grofse  Dulder  Herakles? 
Herakles. 
Dies  hier  ist  mehr  als  jemals  ich  ertragen, 
und  ihre  Grenzen  hat  auch  die  Geduld. 


348 

Theseus. 
Du,  einer  Welt  Wohlthäter  und  Beschützer? 

Herakles. 
Was  hilft  mir  eine  Welt!     Hier  waltet  Hera. 

Theseus. 
Hellas  verbeut  dir  unbedachten  Selbstmord. 

Herakles, 

1268  So  höre  mich,  ich  werde  widerlegen 

was  du  mir  mahnend  vorhältst,  will  beweisen, 
dafs  ich  kein  Recht  zu  leben  mehr  besitze 
noch  je  besafs.     Denn  hier  von  diesem  stamm'  ich, 
der  mit  dem  Blute  seines  Ältervaters 

1260  befleckt  Alkmene  meine  Mutter  freite. 

Und  wo  ein  Haus  nicht  auf  gesundem  Grunde 
errichtet  ist,  da  büfsen  es  die  Kinder. 
Dann  hat  mich  Zeus  erzeugt  —  ich  will  von  Zeus 
nichts  weiter  sagen,  und,  Amphitryon, 

1265  sei  mir  nicht  böse,  meine  Kindesliebe 

gilt  dir  allein,  nicht  ihm.     Ihm  aber  danke 
ich  Heras  Hafs.     Noch  lag  ich  an  der  Brust, 
da  sandte  seine  Gattin  mich  zu  töten 
glutäug'ge  Nattern  in  die  Wiege  mir. 
Und  seit  die  Jugend  meine  Muskeln  stärkte  — 

1270  soll  ich  erst  all  die  Mühen  her  euch  zählen, 

die  ich  durchkämpft?     Wo  ist  ein  Leu,  ein  Riese, 

ein  feuerspeiend  Ungetüm  wie  Typhon, 

ein  Kampf  vierhufiger  Kentaurenhorden, 

den  ich  nicht  zu  bestehn  gehabt?     Die  Hydra, 

das  Ungeheuer,  dessen  hundert  Häupter 

sich  immerfort  nachwachsend  nur  vermehrten, 

1275  mufst'  ich  bezwingen,  mufste  nach  Bestehung 
von  ganzen  Scharen  solcher  Abenteuer 
sogar  ins  Schattenreich,  der  Todespforte 
dreiköpf  gen  Wächter  auf  zum  Licht  zu  holen, 


349 


weil  mir  Eurytlieus  es  gebot.  Und  hier 
siehst  der  Aufgaben  letzte  du  vollendet: 
die  eignen  Kinder  hab'  ich  umgebracht, 

1280  das  ist  der  Schlufsstein  in  dem  Unglücksbau. 
Und  nun  bin  ich  in  solcher  Zwangeslage: 
in  meinem  lieben  Theben  darf  als  Mörder 
ich  nicht  mehr  weilen.     Doch  gesetzt  ich  bliebe, 
kann  ich  mich  einem  Tempel,  einem  Kreis 
festlicher  Freunde  nahen?     Nein,  mich  drückt 
ein  Fluch,  dem  zu  begegnen  jeder  schaudert. 

1285  Kann  ich  nach  Argos?     Nein,  ich  bin  verbannt. 
Nun  gut,  so  zieh  ich  in  ein  fremdes  Land. 
Und  soll  ich  da  den  scheuen  Blick  ertragen, 
mit  dem  mich  jeder  mifst  (denn  jeder  kennt  mich), 
soll  mich  von  solchem  Hohne  hetzen  lassen: 
'Ist  das  nicht  Herakles  der  Sohn  des  Zeus, 

1290  der  Mörder  seiner  Frau  und  seiner  Kinder? 
Fort  mit  ihm  in  das  Elend,  weist  ihn  aus.' 

1294  Ich  sehe  schon,  wohin  es  mit  mir  kommt: 

mir  schallt  von  jedem  Flufs,  von  Meer  und  Land 
der  Ruf:  'zurück,  du  darfst  uns  nicht  betreten.' 
Und  also  werd'  ich  endlich  gleich  Ixion, 

1298  des  Feuerrad  in  ew'gem  Wirbel  kreist. 

1301  Was  soll  ich  da  noch  leben?  welchen  Wert 
hat  solches  Dasein  eines  Fluchbeladnen  ? 
Nein,  tanze  nur  des  Zeus  erlauchte  Gattin 
den  Siegesreigen,  lasse  den  Olympos, 
Zeus'  Berg,  erdröhnen  unter  ihren  Tritten: 

1305  sie  hat's  erreicht,  ihr  ist  ihr  Wunsch  erfüllt, 
zerschmettert  liegt  der  erste  Mann  von  Hellas, 
sein  Haus  zertrümmert  bis  ins  Fundament. 
Das  ist  ein  Gott  zu  dem  man  beten  könnte? 
Aus  Eifersucht  auf  eine  Sterbliche 
hat  Hera  den  Wohlthäter  der  Hellenen 

1310  zu  Grund  gerichtet  ohne  seine  Schuld. 


350 


Chorführer. 
Das  hast  du  recht  vermutet.    Diese  Schickung 
kommt  dir  von  keinem  andern  Gott  als  Hera. 

Theseus. 
Es  ist  wohl  leichter  zur  Geduld  zu  mahnen 
als  selbst  geduldig  Schicksalsschläge  tragen, 
allein  —  kein  einz'ger  Mensch  ist  ohne  Sünde, 

1315  kein  Gott,  wenn  wahr  ist  was  die  Dichter  singen. 
Sind  nicht  im  Himmel  Ehen,  welche  jedes 
Gesetz  verbietet?     War  es  nicht  ein  Gott, 
der  seinen  Vater  um  des  Thrones  willen 
in  Schmach  und  Ketten  warf?    Und  dennoch  wohnen 
sie  im  Olymp  und  haben  sich  darein 
gefunden,  dafs  sie  schuldig  worden  sind. 

1320  Wie  also  darfst  du,  sterbliches  Geschöpf, 
ein  Schicksal  unerträglich  finden  wollen, 
dem  sich  die  Götter  fügen?     Darum  meide 
zwar  Theben,  denn  die  Sitte  will  es  so, 
doch  komme  mit  mir  in  die  Stadt  der  Pallas. 
Dort  sühn'  ich  von  der  Blutschuld  deine  Hände 

1825  und  gebe  Wohnung  dir  und  Unterhalt. 

Den  Ehrensold,  den  mir  die  Stadt  verliehen, 
weil  ich  den  Stier  in  Kreta  überwand 
und  so  die  vierzehn  Kinder  rettete, 
den  schenk'  ich  dir.     Im  ganzen  Lande  sind 
mir  Güter  ausgesteckt;  so  lang  du  lebst, 

1330  sollst  du  ihr  einziger  Besitzer  heifsen, 

und  wenn  du  sterbend  in  den  Hades  eingehst, 
so  wird  mit  Opfern  und  mit  Ehrenbauten 
das  Land  Athenas  dein  Gedächtnis  ehren: 
Der  Preis  ist  wert,  dafs  ihn  Athen  verdiene, 
von  dem  gesamten  Hellas  Ruhm  zu  ernten, 

1335  weil  einem  grofsen  Mann  wir  hilfreich  waren. 
Ich  aber  kann  dir  also  meine  Rettung 

1337  vergelten:  jetzt  bedarfst  du  eines  Freundes. 


351 


Herakles. 

1340  Ach;  freilich  ist  das  Spiel  in  meinem  Weh, 
doch  dafs  ein  Gott  verbot'ner  Liebe  fröhne, 
dafs  Götterarme  Fesseln  je  getragen, 
das  hab'  ich  nie  geglaubt  und  will's  nicht  glauben, 
noch  dafs  ein  Gott  dem  andern  Gott  gebiete: 

1345  wahrhafte  Gottheit  kennet  kein  Bedürfnis, 
nur  frevle  Märchen  dichten  es  ihr  an. 

Ich  aber  hab'  in  allem  meinem  Jammer 
bedacht,  ob  nicht  der  Selbstmord  Feigheit  sei, 
denn  wer  des  Schicksals  Willen  sich  nicht  fügt, 

13Ö0  wagt  nimmer  vor  das  Feindesschwert  zu  treten. 
Ich  trag's  zu  leben.     Auf  denn  nach  Athen 
mit  dir,  und  tausend  Dank  für  deine  Wohlthat. 
Hab'  ich  doch  tausend  Mühen  auch  gekostet, 
und  keiner  wich  ich  aus,  und  keine  Thräne 

1355  kam  in  mein  Auge;  hätt'  ich  wohl  gedacht, 
dafs  es  noch  dahin  mit  mir  kommen  sollte, 
zum  Weinen.     Aber  jetzt  gebeut  das  Schicksal; 
es  sei:  sein  Sklave  mufs  ich  wohl  gehorchen. 

Vater,  du  siehst,  ich  zieh'  hinaus  ins  Elend, 
du  siehst,  ich  bin  der  Mörder  meiner  Kinder. 

1360  Nimm  du  dich  ihrer  an,  bestatte  sie, 

gönn'  ihnen  du  der  letzten  Thränen  Ehre, 
mir  wehrt  ja  diesen  Liebesdienst  die  Sitte. 
Leg'  sie  der  lieben  Mutter  an  die  Brust, 
in  ihren  Arm.     Vereinigt  lafs'  sie  ruh'n, 
die  ich  vereinigt  ahnungslos  erschlug. 

1365  Und  bleib'  in  Theben  wohnen;  elend  freilich 
wird  es  dir  sein,  allein  bezwinge  dich, 
und  hilf  auch  du  mir  mein  Verhängnis  tragen. 

JEr  erhebt  sich  und  tritt   im  folgenden  zu  den  einzelnen  Leichen. 
0  Kinder,  ich,  der  Vater  der  euch  zeugte, 
bin  euer  Mörder.     All  mein  Leben  lang 
hab'  ich  mich  abgemüht,  das  Erbteil  euch 


352 

zu  schaffen,  das  der  Vater  seinen  Kindern 

1370  als  schönste  Hinterlassenschaft  vermacht, 
des  Namens  Ehre  —  ihr  genofst  sie  nicht. 
Und  dich,  mein  armes  Weib,  hab'  ich  getötet, 
ein  schlechter  Dank  für  langes  banges  Harren, 
in  dem  du  meines  Bettes  Keuschheit  wahrtest. 
Weh,  wehe  meine  Gattin,  meine  Kinder, 

1375  weh,  weh  auch  über  mich,  wie  elend  bin  ich. 
Losreifsen  soll  ich  mich  von  Weib  und  Kindern. 
Wie  bitter  dieser  letzte,  süfse  Kufs, 
wie  bitter  diese  Waffen  hier  zu  tragen  — 
noch  schwank'  ich,  nehm'  ich  oder  lafs  ich  sie. 
Wenn  sie  nun  mahnend  meine  Seite  schlagen 
'mit  uns  erschlugst  du  Weib  und  Kind,  du  trägst 

1380  in  uns  die  Mörder  deiner  Lieben'.     Nein 

nicht  duld'  ich's  an  der  Schulter  sie  zu  führen. 
Und  doch  —  von  diesen  Waffen  mich  zu  trennen, 
mit  denen  mir  das  Herrlichste  gelang, 
das  Hellas  je  geschaut,  und  meinen  Feinden 
zu  schnödem  Tode  selber  mich  zu  liefern  — 

1385  elend  ist's  sie  zu  tragen:  doch  ich  trag'  sie. 
In  einem  unterstütze  du  mich,  Theseus, 
begleite  mich  und  hilf  den  Höllenhund 
nach  Argos  schaffen;  wag'  ich  es  allein, 
so  stöfst  in  meinem  Gram  mir  etwas  zu. 

1390       Ganz  Theben  ruf  ich  endlich:   Volk  des  Kadmos, 
schert  eure  Häupter,  teilet  meine  Trauer, 
kommt  zur  Bestattung  meiner  Kinder,  weint, 
doch  weinet  um  uns  alle,  weint  um  mich 
wie  um  die  Toten.     Alle  hat  uns  Heras 
Schickung  vernichtet:  alle  sind  wir  elend. 

Theseus 

tritt  zu  HeraMeSy  der  wieder  zusammengesunken  ist. 
Steh  auf,  Unseliger,  genug  der  Thränen. 


353 

Herakles. 
1395  Ich  kann  nicht;  meine  Glieder  sind  erstarrt. 
Theseus. 
So  wirft  das  Unglück  auch  den  Stärksten  nieder. 

Herakles. 
Ach, 
versteinert'  ich,  dafs  ich  vergessen  könnte. 

Theseus. 
Hör'  auf  und  reich'  die  Hand  dem  treuen  Diener. 

Herakles. 
Die  Hand  ist  blutig,  sie  wird  dich  besudeln. 
Theseus 

erhebt  ihn. 

1400  Greif  immer  zu,  getrost,  ich  furcht'  es  nicht. 

Herakles. 
Treu  wie  ein  Sohn  pflegst  du  den  Söhnelosen. 

Theseus. 
Ich  will  dich  führen,  fasse  meine  Schulter. 

Herakles. 
Ein  Freundespaar,  doch  elend  ist  der  eine. 

Iiidem  er  bei  den  ersten  Schritten  den  Aniphitryon  bemerkt. 

0  Vater,  welch  ein  Schatz  ist  solch  ein  Freund. 
Amphitryon, 
1405  Selig  die  Stadt,  die  solche  Männer  trägt. 

Herakles.  ^ 

Theseus, 
lafs  mich  umkehren,  meine  Kinder  sehn. 

Theseus. 
Soll  das  dem  Vaterherzen  Balsam  sein? 

Herakles. 
Es  zieht  mich  hin,  auch  an  des  Vaters  Brust. 
Amphitryon, 

ihn  umaTTnend. 

Hier,  meinen  Wunsch  erfüllst  du,  komm,  mein  Sohn. 

Griech.  Tragödien.     I.  23 


354 

Theseus. 
1410  So  hast  du  deiner  Thaten  ganz  vergessen? 

Herakles. 
Was  ich  auch  litt,  es  reicht  an  dieses  nicht. 

Theseus. 
Wer  dich  so  weibisch  sieht,  wird  dich  nicht  loben. 

Herakles. 
Schwach  schein'  ich  dir?  es  ist  das  erste  Mal. 

Theseus. 
Ja,  du  verleugnest  Herakles,  den  Helden. 

Herakles. 
1415  Was  war  im  Hades  drunten  deine  Gröfse? 

Theseus. 
Verloren  hatt'  ich  Mut  und  Selbstvertraun. 

Herakles. 
Und  sagst  von  mir,  dafs  mich  das  Unglück  beuge? 

Theseus. 
Brich  auf. 

Herakles 

löst  sich  aus  der   Umarmung. 
Leb',  Vater,  wohl. 
Amphitryon. 

Leb'  wohl,  mein  Sohn. 
Herakles. 
Wie  ich  dich  bat,  bestatte  meine  Kinder. 

Amphitryon. 
Und  wer,  mein  Sohn,  wird  mich  bestatten? 
Herakles. 

Ich. 
Amphitryon. 
Wann  kehrest  du  zurück? 

Herakles. 

Sind  erst  die  Kinder 
bestattet,  hol'  ich  nach  Athen  dich  nach. 
Doch  trage  fort  die  Leichen,  diese  Last 


355 

von  untragbarem  Jammer;  aber  mich, 
der  schmachvoll  ich  mein  Haus  zertrümmert  habe, 
ein  Lastschiff,  fluchbeladen,  schleppet  Theseus. 
1425  Ein  Thor,  dem  seine  Schätze,  seine  Stärke 
ein  höher  Gut  sind  denn  ein  treuer  Freund. 

Chorführer. 
So  gehen  denn  auch  wir,  voll  Schmerz,  voll  Thränen; 
den  wir  verloren,  war  der  Freunde  treuster. 

Herahles  und  Theseus  nach  der  Seite  ah  von  der  sie  harnen;  der 

Chor    nach    der    andern.     Amphitryou  tritt   zu   den  Kindern   in 

das  Haus,  dessen  Thore  sich  schliefsen. 


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Druck  Ton  W.  Pormetter  in  Berlin. 


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d     1Ö99 
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Vrfilamowitz-Moellendorff, 
Ulrich  von  (ed.) 

Griechische  Tragoedien 
2.  Aufl. 


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